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Title: Tom Sawyers Abenteuer und Streiche
Author: Twain, Mark
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Tom Sawyers Abenteuer und Streiche" ***

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STREICHE ***



    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
    ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Mark Twains

    ausgewählte

    humoristische Schriften

    Illustriert von =H. Schrödter= und =Albert Richter=

    Erster Band:

    Tom Sawyers Abenteuer und Streiche

    [Illustration]

    Stuttgart

    Verlag von Robert Lutz
    1908



    Tom Sawyers

    Abenteuer und Streiche

    Von

    Mark Twain

    Illustriert von =H. Schrödter=

    [Illustration]

    Stuttgart

    Verlag von Robert Lutz
    1908



Alle Rechte vorbehalten.


Druck von A. Bonz' Erben in Stuttgart.

[Illustration: Mark Twain]



Mark Twain.


Der amerikanische Humor ist eine eigenartige Pflanze, von der viele
glauben, daß sie nicht in fremden Boden versetzt werden kann.
Dennoch giebt es unter den Humoristen des Westens _einen_ Namen, der
weltbekannt ist: _Mark Twain_. Mark Twain ist durch die im Jahre 1892
in meinem Verlag erschienene Gesamtausgabe seiner besten humoristischen
Schriften auch in Deutschland in weitesten Kreisen bekannt geworden.
Es ist nur ein Zeichen seiner zunehmenden Volkstümlichkeit bei uns,
daß zur Herausgabe der vorliegenden illustrierten Ausgabe geschritten
werden konnte.

Daß es sich bei einer deutschen Ausgabe von Mark Twains humoristischen
Werken nur um eine, mit möglichster Sorgfalt getroffene Auswahl
handeln kann, versteht sich von selbst. Was sich ausschließlich auf
lokale Verhältnisse bezieht oder vergangene Zustände behandelt,
die für den Leser auch kein genügendes historisches Interesse mehr
haben, mußte ausgeschlossen werden. Dies ist auch der Grund, warum
gerade das umfangreiche Werk, durch welches Mark Twain zuerst seinen
Ruf begründete, »~Innocents Abroad~« (»Die Harmlosen auf Reisen«),
worin der Verfasser seine erste Reise nach Europa und in's Morgenland
schildert, nur durch die Wiedergabe einiger, besonders gelungener,
heiterer Scenen und Skizzen in unserer Sammlung[1] vertreten ist.

    [1] Band 6 derselben.

Der Humor des berühmten Amerikaners hat seitdem vieles von bleibenderem
Werte gezeugt. Er hat Typen geschaffen, die so ganz aus dem Leben
gegriffen sind, daß wir meinen, sie verkörpert vor uns zu sehen. Es
liegt etwas unwiderstehlich Packendes und Naturwahres in der harmlosen
Art, mit der er den Ernst des Lebens zu parodieren weiß und uns zwingt,
über die menschlichen Schwächen und Erbärmlichkeiten, die er uns
vorführt, zu lachen. Wir thun dies um so lieber, da wir Mark Twain, bei
allem Scherz, stets auf der Seite der Wahrheit und des Rechtes sehen,
wo es gilt, für echte Menschenwürde und Menschenliebe einzutreten und
jeden trügerischen und falschen Schimmer zu verachten. Dennoch werden
seine Schriften nie lehrhaft. Wenn sie auch häufig stark auftragen
und sich in Uebertreibungen gefallen, so ist doch jede Unnatur darin
vermieden, und es ist gerade das Ungesuchte in der Ausdrucksweise, was
ihnen die erquickende Frische und Ursprünglichkeit verleiht.

Mark Twains Lebenslauf spiegelt sich am besten in seinen Büchern
wieder, die zum großen Teil Selbstbiographie sind. Er hat sich, lange
bevor er Schriftsteller wurde, als praktisch brauchbares Glied der
Gesellschaft bewährt, und verschiedene Berufsarten, die er von Grund
aus kennen lernte, haben ihn in die engste Beziehung zum Volksleben
gebracht. Aber mitten in harter Arbeit, in Armut und Entbehrung
betrachtet Mark Twain schon von frühe auf die Menschen und Dinge mit
dem Auge des Dichters und Humoristen und bleibt dabei seiner Kernnatur
stets treu, selbst unter den wechselndsten Schicksalen.

Der Leser findet am Schluß des letzten (6.) Bandes eine eingehende
Lebensbeschreibung Mark Twains; an dieser einleitenden Stelle mag es
genügen, unseren Meister durch eine kleine Skizze einzuführen.

Samuel L. Clemens -- der sich als Schriftsteller Mark Twain nennt, --
wurde am 30. November 1835 in dem Städtchen Florida im gleichnamigen
Staate der Union geboren. Bald darauf zog sein Vater, ein strenger,
äußerst rechtschaffener Geschäftsmann, nach Hannibal am Mississippi,
wo der junge Clemens seine Knabenjahre verlebte. Er war kaum zwölf
Jahre alt, als der Vater starb; die Familie blieb in drückenden
Verhältnissen zurück, und der Knabe sah sich darauf angewiesen, für
sein eigenes Fortkommen zu sorgen. Trotz mangelhafter Schulbildung war
in ihm schon frühzeitig ein litterarischer Hang erwacht, den er, wie
so mancher seiner Landsleute, der später berühmt geworden ist, dadurch
zu befriedigen suchte, daß er als Lehrling in eine Druckerei eintrat.
Hierauf folgten nun mehrere Wanderjahre als Setzer und Buchdrucker, die
ihn bis nach New York und Philadelphia führten.

Siebzehn Jahre alt kehrte Clemens nach Hannibal zurück und begann nach
kurzer Frist ein Reisen auf andere Art. Das Leben auf dem Mississippi
zog ihn mächtig an, er ging zu Schiffe und erlernte den Lotsendienst
auf einem Dampfer zwischen St. Louis und New Orleans. Als jedoch durch
den zunehmenden Eisenbahnverkehr und den Ausbruch des Bürgerkrieges
die Stromfahrten in's Stocken gerieten, mußte sich der junge Mann nach
einem andern Beruf umsehen. Im 4. Bande dieser Sammlung findet sich
eine anschauliche Schilderung seiner Erlebnisse während jener Zeit.

Mehr durch die Umstände gezwungen als aus innerem Antrieb, schloß sich
Clemens nun den Rebellionstruppen an, doch nur auf wenige Wochen, denn
die unorganisierte Schar, zu welcher er gehörte, löste sich wieder auf.

Kurze Zeit nachher begleitete er seinen Bruder, der zum Vizegouverneur
von Nevada ernannt worden war, als dessen Privatsekretär nach
diesem Territorium; doch legte er dies Amt bald nieder und ging als
Goldgräber in die Bergwerke. Mark Twain hat uns die Wanderung nach
dem Felsengebirge und sein Leben unter den Bergleuten mit Meisterhand
beschrieben. Schätze fand er dort aber nicht. Er mußte endlich
einsehen, daß das Glück ihm abhold sei und war froh, eine Stelle als
Zeitungsredakteur in Virginia City zu erhalten. Seine Artikel im
»Enterprise« unterzeichnete er zum erstenmal mit »Mark Twain«, dem
Schriftstellernamen, welchen er sich gewählt hatte. Auf dem Mississippi
pflegen nämlich die Matrosen beim Handhaben des Senkbleis in ihrer
Seemannssprache »~Mark twain~« zu rufen, anstatt »~Mark two~«, und das
lag ihm noch von seiner Lotsenzeit her in der Erinnerung.

Im Jahre 1864 ging Clemens, gleichfalls als Redakteur, nach
San Francisco. Hier erschienen seine humoristischen Skizzen in
verschiedenen Blättern; bald ward sein Name an der Küste des Stillen
Ozeans allgemein bekannt, und zwei Jahre später schickte man ihn als
Zeitungskorrespondenten nach den Sandwichinseln. Von seinen Erlebnissen
im fernen Westen giebt uns das Buch »~Roughing It~«[2] eine ergötzliche
Beschreibung.

    [2] Band 4 und 5 der vorliegenden Ausgabe.

Nach San Francisco zurückgekehrt, trat Mark Twain als öffentlicher
Vorleser in Kalifornien und Nevada auf, wo dergleichen damals noch
etwas Neues war. In das Jahr 1867 fällt seine erste Reise nach Europa
und dem Orient, welche die »~Innocents Abroad~« schildern. Bald nach
seiner Heimkehr trat er in die Ehe und ließ sich nun zuerst in Buffalo
und darauf in Hartford nieder, welches seitdem der dauernde Wohnsitz
der Familie geblieben ist.

Sein Stillleben unterbricht Mark Twain zuweilen durch Vorlesungen
oder Reisen. Er ist in den letzten Jahrzehnten wiederholt in Europa
gewesen und hat jedesmal mit Vorliebe deutsche Lande zu einem längeren
Aufenthalt gewählt. Während er 1892 in Berlin weilte, wo er u. a. mit
dem deutschen Kaiser eine Begegnung hatte, ließ er sich im Herbst 1897
in Wien nieder, um da ein Jahr zu verbringen. Der Leser wird im letzten
Band dieser Sammlung eine Anzahl ergötzliche Skizzen finden, in welchen
sich die Reiseeindrücke wiederspiegeln, die Mark Twain auf seinen
verschiedenen Reisen in Deutschland, der Schweiz und sonst in Europa
empfangen hat.

    =Stuttgart=, Januar 1898.

            =Die Verlagshandlung Robert Lutz.=



Tom Sawyers

Abenteuer und Streiche.

[Illustration]



    Die meisten der im Tom Sawyer erzählten Abenteuer sind wirklich
    vorgekommen. Eines oder zwei habe ich selbst erlebt, die
    anderen meine Schulkameraden. Huck Finn ist nach dem Leben
    gezeichnet, Tom Sawyer ebenfalls, jedoch mit dem Unterschied,
    daß in ihm die Charaktereigenschaften mehrerer Knaben vereinigt
    sind.

    _Hartford_, 1876.

            =Der Verfasser.=



Erstes Kapitel.


»Tom!«

Keine Antwort.

»Tom!«

Tiefes Schweigen.

»Wo der Junge nun wieder steckt, möcht' ich wissen. Du -- Tom!«

Die alte Dame zog ihre Brille gegen die Nasenspitze herunter und
starrte drüber weg im Zimmer herum, dann schob sie sie rasch wieder
empor und spähte drunter her nach allen Seiten aus. Nun und nimmer
würde sie dieselbe so entweiht haben, daß sie durch die geheiligten
Gläser hindurch nach solchem geringfügigen Gegenstand geschaut hätte,
wie ein kleiner Junge einer ist. War es doch ihre Staatsbrille, der
Stolz ihres Herzens, welche sie sich nur der Zierde und Würde halber
zugelegt, keineswegs zur Benutzung, -- ebenso gut hätte sie durch
ein paar Kochherdringe sehen können. Einen Moment lang schien sie
verblüfft, da sie nichts entdecken konnte, dann ertönte wiederum
ihre Stimme, nicht gerade ärgerlich, aber doch laut genug, um von der
Umgebung, dem Zimmergerät nämlich, gehört zu werden: »Wart', wenn ich
dich kriege, ich -- --«

Sie beendete den Satz nicht, denn sie war inzwischen ans Bett
herangetreten, unter welchem sie energisch mit dem Besen herumstöberte,
was ihre ganze Kraft, all ihren Atem in Anspruch nahm. Trotz der
Anstrengung förderte sie jedoch nichts zu Tage, als die alte Katze, die
ob der Störung sehr entrüstet schien.

»So was wie den Jungen giebt's nicht wieder!«

Sie trat unter die offene Hausthüre und ließ den Blick über die Tomaten
und Kartoffeln schweifen, welche den Garten vorstellten. Kein Tom zu
sehen! Jetzt erhob sich ihre Stimme zu einem Schall, der für eine
ziemlich beträchtliche Entfernung berechnet war:

»Holla -- du -- To--om!«

Ein schwaches Geräusch hinter ihr veranlaßte sie, sich umzudrehen und
zwar eben noch zu rechter Zeit, um einen kleinen, schmächtigen Jungen
mit raschem Griff am Zipfel seiner Jacke zu erwischen und eine offenbar
geplante Flucht zu verhindern.

»Na, natürlich! An die Speisekammer hätte ich denken müssen! Was hast
du drinnen wieder angestellt?«

»Nichts.«

»Nichts? Na, seh' mal einer! Betracht' mal deine Hände, he, und was
klebt denn da um deinen Mund?«

»Das weiß _ich_ doch nicht, Tante!«

»So, aber _ich_ weiß es. Marmelade ist's, du Schlingel, und gar nichts
anderes. Hab' ich dir nicht schon hundertmal gesagt, wenn du mir _die_
nicht in Ruhe ließest, wollt' ich dich ordentlich gerben? Was? Hast
du's vergessen? Reich' mir mal das Stöckchen da!«

Schon schwebte die Gerte in der Luft, die Gefahr war dringend.

»Himmel, sieh doch mal hinter dich, Tante!«

Die alte Dame fuhr herum, wie von der Tarantel gestochen, und packte
instinktiv ihre Röcke, um sie in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig
war der Junge mit einem Satz aus ihrem Bereich, kletterte wie ein
Eichkätzchen über den hohen Bretterzaun und war im nächsten Moment
verschwunden. Tante Polly sah ihm einen Augenblick verdutzt, wortlos
nach, dann brach sie in leises Lachen aus.

[Illustration]

»Hol' den Jungen der und jener! Kann ich denn nie gescheit werden? Hat
er mir nicht schon Streiche genug gespielt, daß ich mich endlich einmal
vor ihm in acht nehmen könnte! Aber, wahr ist's, alte Narren sind
die schlimmsten, die's giebt, und ein alter Pudel lernt keine neuen
Kunststückchen mehr, heißt's schon im Sprichwort. Wie soll man aber
auch wissen, was der Junge im Schild führt, wenn's jeden Tag was andres
ist! Weiß der Bengel doch genau, wie weit er bei mir gehen kann, bis
ich wild werde, und ebenso gut weiß er, daß, wenn er mich durch irgend
einen Kniff dazu bringen kann, eine Minute zu zögern, ehe ich zuhaue,
oder wenn ich gar lachen muß, es aus und vorbei ist mit den Prügeln.
Weiß Gott, ich thu' meine Pflicht nicht an dem Jungen. ›Wer sein Kind
lieb hat, der züchtiget es‹, heißt's in der Bibel. Ich aber, ich --
Sünde und Schande wird über uns kommen, über meinen Tom und mich, ich
seh's voraus, Herr, du mein Gott, ich seh's kommen! Er steckt voller
Satanspossen, aber, lieber Gott, er ist meiner toten Schwester einziger
Junge, und ich hab' nicht das Herz ihn zu hauen. Jedesmal, wenn ich ihn
durchlasse, zwickt mich mein Gewissen ganz grimmig, und hab' ich ihn
einmal tüchtig vorgenommen, dann -- ja dann will mir das alte, dumme
Herz beinahe brechen. Ja, ja, der vom Weibe geborene Mensch ist arm
und schwach, kurz nur währen seine Tage und sind voll Müh und Trübsal,
so sagt die hl. Schrift und wahrhaftig, es ist so! Heut' wird sich der
Bengel nun wohl nicht mehr blicken lassen, wird die Schule schwänzen,
denk' ich, und ich werd' ihm wohl für morgen irgend eine Strafarbeit
geben müssen. Ihn am Sonnabend,[3] wenn alle Jungen frei haben,
arbeiten zu lassen, ist fürchterlich hart, namentlich für Tom, der die
Arbeit mehr scheut, als irgend was sonst, aber ich muß meine Pflicht
thun an dem Jungen, wenigstens einigermaßen, ich _muß_, sonst bin ich
sein Verderben!«

    [3] In Amerika, sowie in England, ist stets der Sonnabend ein
        schulfreier Tag.

Tom, der, wie Tante Polly sehr richtig geraten, die Schule schwänzte,
ließ sich am Nachmittag nicht mehr blicken, sondern trieb sich draußen
herum und vergnügte sich königlich dabei. Gegen Abend erschien er dann
wieder, kaum zur rechten Zeit vor dem Abendessen, um Jim, dem kleinen
Niggerjungen, helfen zu können, das nötige Holz für den nächsten Tag
klein zu machen. Dabei blieb ihm aber Zeit genug, Jim sein Abenteuer zu
erzählen, während dieser neun Zehntel der Arbeit that. Toms jüngerer
Bruder, oder besser Halbbruder, Sid,[4] hatte seinen Teil am Werke,
das Zusammenlesen der Holzspäne, schon besorgt. Er war ein fleißiger,
ruhiger Junge, nicht so unbändig und abenteuerlustig wie Tom. Während
dieser sich das Abendessen schmecken ließ und dazwischen bei günstiger
Gelegenheit Zuckerstückchen stibitzte, stellte Tante Polly ein, wie sie
glaubte äußerst schlaues und scharfes Kreuzverhör mit ihm an, um ihn zu
verderbenbringenden Geständnissen zu verlocken. Wie so manche andere
arglos-schlichte Seele glaubte sie an ihr Talent für die schwarze,
geheimnisvolle Kunst der Diplomatie. Es war der stolzeste Traum ihres
kindlichen Herzens, und die allerdurchsichtigsten kleinen Kniffe, deren
sie sich bediente, schienen ihr wahre Wunder an Schlauheit und List. So
fragte sie jetzt:

    [4] Abkürzung von Sidney.

»Tom, es war wohl ziemlich warm in der Schule?«

»Ja, Tante.«

»Sehr warm, nicht?«

»Ja, Tante.«

»Hast du nicht Lust gehabt schwimmen zu gehen?«

Wie ein warnender Blitz durchzuckte es Tom, -- hatte sie Verdacht? Er
suchte in ihrem Gesichte zu lesen, das verriet nichts. So sagte er:

»N--nein, Tante -- das heißt nicht viel.«

Die alte Dame streckte die Hand nach Toms Hemdkragen aus, befühlte den
und meinte:

»Jetzt ist dir's doch nicht mehr zu warm, oder?«

Und dabei bildete sie sich ein, bildete sich wirklich und wahrhaftig
ein, sie habe den trockenen Zustand besagten Hemdes entdeckt, ohne daß
eine menschliche Seele ahne, worauf sie ziele. Tom aber wußte genau,
woher der Wind wehte, so kam er der mutmaßlich nächsten Wendung zuvor.

»Ein paar von uns haben die Köpfe unter die Pumpe gehalten -- meiner
ist noch naß, sieh!«

Tante Polly empfand es sehr unangenehm, daß sie diesen belastenden
Beweis übersehen und sich so im voraus aus dem Felde hatte schlagen
lassen. Ihr kam eine neue Eingebung.

»Tom, du hast doch wohl nicht deinen Hemdkragen abnehmen müssen, den
ich dir angenäht habe, um dir auf den Kopf pumpen zu lassen, oder?
Knöpf doch mal deine Jacke auf!«

Aus Toms Antlitz war jede Spur von Sorge verschwunden. Er öffnete die
Jacke, der Kragen war fest und sicher angenäht.

»Daß dich --! Na, mach' dich fort. Ich hätte Gift drauf genommen, daß
du heut' mittag schwimmen gegangen bist. Wollen's gut sein lassen.
Dir geht's diesmal wie der verbrühten Katze, du bist besser, als du
aussiehst -- aber nur diesmal, Tom, nur diesmal!«

Halb war's ihr leid, daß alle ihre angewandte Schlauheit so ganz
umsonst gewesen, und halb freute sie sich, daß Tom doch einmal
wenigstens, gleichsam unversehens, in den Gehorsam hinein gestolpert
war.

Da sagte Sidney:

»Ja aber, Tante, hast du denn den Kragen mit schwarzem Zwirn aufgenäht?«

»Schwarz? Nein, er war weiß, so viel ich mich erinnere, Tom!«

Tom aber wartete das Ende der Unterredung nicht ab. Wie der Wind war er
an der Thüre, rief beim Abgehen Sid noch ein freundschaftliches ›wart',
das sollst du mir büßen‹ zu und war verschwunden.

An sicherem Orte untersuchte er darauf zwei eingefädelte Nähnadeln, die
er in das Futter seiner Jacke gesteckt trug, die eine mit weißem, die
andere mit schwarzem Zwirn, und brummte vor sich hin:

»Sie hätt's nie gemerkt, wenn's der dumme Kerl, der Sid, nicht verraten
hätte. Zum Kuckuck! Einmal nimmt sie weißen und einmal schwarzen Zwirn,
wer kann das behalten. Aber Sid soll seine Keile schon kriegen; der
soll mir nur kommen!«

Tom war mit nichten der Musterjunge seines Heimatortes, -- es gab aber
einen solchen, und Tom kannte und verabscheute ihn rechtschaffen.

Zwei Minuten später, oder in noch kürzerer Zeit, hatte er alle seine
Sorgen vergessen. Nicht, daß sie weniger schwer waren oder weniger
auf ihm lasteten, wie eines Mannes Sorgen auf eines Mannes Schultern,
nein durchaus nicht, aber ein neues mächtiges Interesse zog seine
Gedanken ab, gerade wie ein Mann die alte Last und Not in der Erregung
eines neuen Unternehmens vergessen kann. Dieses starke und mächtige
Interesse war eine eben errungene, neue Methode im Pfeifen, die ihm
ein befreundeter Nigger kürzlich beigebracht hatte, und die er nun
ungestört üben wollte. Die Kunst bestand darin, daß man einen hellen,
schmetternden Vogeltriller hervorzubringen sucht, indem man in kurzen
Zwischenpausen während des Pfeifens mit der Zunge den Gaumen berührt.
Wer von den Lesern jemals ein Junge gewesen ist, wird genau wissen,
was ich meine. Tom hatte sich mit Fleiß und Aufmerksamkeit das Ding
baldigst zu eigen gemacht und schritt nun die Hauptstraße hinunter,
den Mund voll tönenden Wohllauts, die Seele voll stolzer Genugthuung.
Ihm war ungefähr zu Mute, wie einem Astronomen, der einen neuen Stern
entdeckt hat, doch glaube ich kaum, daß die Freude des glücklichen
Entdeckers der seinen an Größe, Tiefe und ungetrübter Reinheit gleich
kommt.

Die Sommerabende waren lang. Noch war's nicht dunkel geworden. Toms
Pfeifen verstummte plötzlich. Ein Fremder stand vor ihm, ein Junge,
nur vielleicht einen Zoll größer als er selbst. Die Erscheinung eines
Fremden irgend welchen Alters oder Geschlechtes war ein Ereignis in
dem armen, kleinen Städtchen St. Petersburg. Und dieser Junge war
noch dazu sauber gekleidet, -- sauber gekleidet an einem Wochentage!
Das war einfach geradezu unfaßlich, überwältigend! Seine Mütze war
ein niedliches, zierliches Ding, seine dunkelblaue, dicht zugeknöpfte
Tuchjacke nett und tadellos: auch die Hosen waren ohne Flecken. Schuhe
hatte er an, Schuhe, und es war doch heute erst Freitag, noch zwei
ganze Tage bis zum Sonntag! Um den Hals trug er ein seidenes Tuch
geschlungen. Er hatte so etwas Zivilisiertes, so etwas Städtisches
an sich, das Tom in die innerste Seele schnitt. Je mehr er dieses
Wunder von Eleganz anstarrte, je mehr er die Nase rümpfte über den
›erbärmlichen Schwindel‹, wie er sich innerlich ausdrückte, desto
schäbiger und ruppiger dünkte ihm seine eigene Ausstattung. Keiner
der Jungen sprach. Wenn der eine sich bewegte, bewegte sich auch der
andere, aber immer nur seitwärts im Kreise herum. So standen sie
einander gegenüber, Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge. Schließlich
sagte Tom:

»Ich kann dich unter kriegen!«

»Probier's einmal!«

»N -- ja, ich kann.«

»Nein, du kannst nicht.«

»Und doch!«

»Und doch nicht!«

»Ich kann's.«

»Du kannst's nicht.«

»Kann's.«

»Kannst's nicht.«

Ungemütliche Pause. Dann fängt Tom wieder an:

»Wie heißt du?«

»Geht dich nichts an.«

»Will dir schon zeigen, daß mich's angeht.«

»Nun, so zeig's doch.«

»Wenn du noch viel sagst, thu' ich's.«

»Viel -- viel -- _viel_! Da! Nun komm 'ran!«

»Ach, du hältst dich wohl für furchtbar gescheit, gelt du! Du Putzaff'!
Ich könnt' dich ja unterkriegen, mit einer Hand auf den Rücken
gebunden, -- wenn ich nur wollt'!«

»Na, warum _thust_ du's denn nicht? Du _sagst's_ doch immer nur!«

»Wart', ich thu's, wenn du dich mausig machst!«

»Ja, ja, sagen kann das jeder, aber thun -- thun ist was andres.«

»Aff' du! Gelt du meinst, du seist was Rechtes? -- Puh, was für ein
Hut!«

»Guck' wo anders hin, wenn er dir nicht gefällt. Schlag' ihn doch
runter! Der aber, der's thut, wird den Himmel für 'ne Baßgeig' ansehen!«

»Lügner, Prahlhans!«

»Selber!«

»Maulheld! Gelt, du willst dir die Hände schonen?«

»O -- geh' heim!«

»Wart', wenn du noch mehr von deinem Blödsinn verzapfst, so nehm' ich
einen Stein und schmeiß' ihn dir an deinem Kopf entzwei.«

»Ei, natürlich, -- schmeiß' nur!«

»Ja, ich thu's!«

»Na, warum denn nicht gleich? Warum wartst du denn noch? Warum _thust_
du's nicht? Ätsch, du hast Angst!«

»Ich hab' keine Angst.«

»Doch, doch!«

»Nein, ich hab' keine.«

»Du hast welche!«

Erneute Pause, verstärktes Anstarren und langsames Umkreisen. Plötzlich
stehen sie Schulter an Schulter. Tom sagt:

»Mach' dich weg von hier!«

»Mach' dich selber weg!«

»Ich nicht!«

»_Ich_ gewiß nicht!«

So stehen sie nun fest gegeneinander gepreßt, jeder als Stütze ein
Bein im Winkel vor sich gegen den Boden stemmend, und schieben,
stoßen und drängen sich gegenseitig mit aller Gewalt, einander mit
wutschnaubenden, haßerfüllten Augen anstarrend. Keiner aber vermag dem
andern einen Vorteil abzugewinnen. Nachdem sie so schweigend gerungen,
bis beide ganz heiß und glühendrot geworden, lassen sie wie auf
Verabredung langsam und vorsichtig nach und Tom sagt:

»Du bist ein Feigling und ein Aff' dazu. Ich sag's meinem großen
Bruder, der haut dich mit seinem kleinen Finger krumm und lahm, wart'
nur!«

»Was liegt mir an deinem großen Bruder! Meiner ist noch viel größer,
wenn der ihn nur anbläst, fliegt er über den Zaun, ohne daß er weiß
wie!« (Beide Brüder existierten nur in der Einbildung.)

»Das ist gelogen!«

»Was weißt denn du?«

Tom zieht nun mit seiner großen Zehe eine Linie in den Staub und sagt:

»Da spring' 'rüber und ich hau' dich, daß du deinen Vater nicht von
einem Kirchturm unterscheiden kannst!«

Der neue Junge springt sofort, ohne sich zu besinnen, hinüber und ruft:

»Jetzt komm endlich 'ran und thu's und hau', aber prahl' nicht länger!«

»Reiz' mich nicht, nimm dich in acht!«

»Na, nun mach' aber, jetzt bin ich's müde! Warum kommst du nicht!«

»Weiß Gott, jetzt thu' ich's für zwei Pfennig!«

Flink zieht der fremde Junge zwei Pfennige aus der Tasche und hält sie
Tom herausfordernd unter die Nase.

Tom schlägt sie zu Boden.

Im nächsten Moment wälzen sich die Jungen fest umschlungen im Staube,
krallen einander wie Katzen, reißen und zerren sich an den Haaren
und Kleidern, bläuen und zerkratzen sich die Gesichter und Nasen und
bedecken sich mit Schmutz und Ruhm. Nach ein paar Minuten etwa nimmt
der sich wälzende Klumpen Gestalt an, und in dem Staub des Kampfes wird
Tom sichtbar, der rittlings auf dem neuen Jungen sitzt und denselben
mit den Fäusten bearbeitet.

[Illustration]

»Schrei ›genug‹,« mahnt er.

Der Junge ringt nur stumm, sich zu befreien, er weint vor Zorn und Wut.

»Schrei ›genug‹,« mahnt Tom noch einmal und drischt lustig weiter.

Endlich stößt der Fremde ein halb ersticktes »genug« hervor, Tom läßt
ihn alsbald los und sagt: »Jetzt hast du's, das nächste Mal paß' auf,
mit wem du anbindst!«

Der fremde Junge rannte heulend davon, sich den Staub von den Kleidern
klopfend. Gelegentlich sah er sich um, ballte wütend die Faust und
drohte, was er Tom alles thun wolle, »wenn er ihn wieder erwische.« Tom
antwortete darauf nur mit Hohngelächter und machte sich, wonnetrunken
ob der vollbrachten Heldenthat, in entgegengesetzter Richtung auf.
Sobald er aber den Rücken gewandt hatte, hob der besiegte Junge
einen Stein, schleuderte ihn Tom nach und traf ihn gerade zwischen
den Schultern, dann gab er schleunigst Fersengeld und lief davon wie
ein Hase. Tom wandte sich und setzte hinter dem Verräter her, bis zu
dessen Hause, wodurch er herausfand, wo dieser wohnte. Er pflanzte
sich vor das Gitter hin und forderte den Feind auf, heraus zu kommen
und den Streit aufzunehmen, der aber weigerte sich und schnitt ihm nur
Grimassen durch das Fenster. Endlich kam die Mutter des Feindes zum
Vorschein, schalt Tom einen bösen, ungezogenen, gemeinen Buben und hieß
ihn sich fort machen. Tom trollte sich also, brummte aber, er wollte es
dem Affen schon noch zeigen.

Erst sehr spät kam er nach Hause, und als er vorsichtig zum Fenster
hineinklettern wollte, stieß er auf einen Hinterhalt in Gestalt der
Tante. Als diese dann den Zustand seiner Kleider gewahrte, gedieh ihr
Entschluß, seinen freien Sonnabend in einen Sträflingstag bei harter
Arbeit zu verwandeln, zu eiserner Festigkeit.

[Illustration]



Zweites Kapitel.


Der Sonnabend-Morgen tagte, die ganze sommerliche Welt draußen war
sonnig und klar, sprudelnd von Leben und Bewegung. In jedem Herzen
schien's zu klingen und zu singen, und wenn das Herz jung war, trat der
Klang unversehens auf die Lippen. Freude und Lust malte sich in jedem
Antlitz, jeder Schritt war beflügelt. Die Akazien blühten und erfüllten
mit ihrem köstlichen Duft rings alle Lüfte.

Tom erschien auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Tünche und einem
langstieligen Pinsel. Er stand vor dem Zaun, besah sich das zukünftige
Feld seiner Thätigkeit, und es war ihm, als schwände mit einem Schlag
alle Freude aus der Natur. Eine tiefe Schwermut bemächtigte sich seines
ahnungsvollen Geistes. Dreißig Meter lang und neun Fuß hoch war der
unglückliche Zaun! Das Leben schien ihm öde, das Dasein eine Last.
Seufzend tauchte er den Pinsel ein und fuhr damit über die oberste
Planke, wiederholte das Manöver einmal und noch einmal. Dann verglich
er die unbedeutende, übertünchte Strecke mit der Riesenausdehnung
des noch ungetünchten Zaunes und ließ sich entmutigt auf ein paar
knorrigen Baumwurzeln nieder. Jim, der kleine Nigger, trat singend
und springend aus dem Hofthor mit einem Holzeimer in der Hand. Wasser
an der Dorfpumpe holen zu müssen, war Tom bis jetzt immer gründlich
verhaßt gewesen, in diesem Augenblick dünkte es ihm die höchste Wonne.
Er erinnerte sich, daß man dort immer Gesellschaft traf; Weiße,
Mulatten und Nigger-Jungen und -Mädchen waren da stets zu finden, die
warteten, bis die Reihe an sie kam und sich inzwischen ausruhten, mit
allerlei handelten oder tauschten, sich zankten, rauften, prügelten
und dergleichen Kurzweil trieben. Auch durfte man Jim mit seinem Eimer
Wasser nie vor Ablauf einer Stunde zurückerwarten, obgleich die Pumpe
kaum einige hundert Schritte vom Hause entfernt war und selbst dann
mußte gewöhnlich noch nach ihm geschickt werden. Ruft also Tom:

»Hör', Jim, ich will das Wasser holen, streich' du hier ein bißchen an.«

Jim schüttelte den Dickkopf und sagte:

»Nix das können, junge Herr Tom. Alte Tante sagen, Jim sollen nix thun
andres als Wasser holen, sollen ja nix anstreichen. Sie sagen, junge
Herr Tom wohl werden fragen Jim, ob er wollen anstreichen, aber er nix
sollen es thun -- ja nix sollen es thun.«

»Ach was, Jim, laß dir nichts weis machen, so redet sie immer. Her mit
dem Eimer, ich bin gleich wieder da. Sie merkt's doch gar nicht.«

»Jim sein so bange, er's nix wollen thun. Alte Tante sagen, sie ihm
reißen Kopf ab, wenn er's thun.«

»Sie! O Herr Jemine, die kann ja gar niemand ordentlich durchhauen,
-- die fährt einem ja nur mit der Hand über den Kopf, als ob sie
streicheln wollte, und ich möcht' wissen, wer sich daraus was macht.
Ja, schwatzen thut sie von durchhauen und allem, aber schwatzen thut
nicht weh, -- das heißt, so lang sie nicht weint dazu. Jim, da, ich
schenk' dir auch 'ne große Murmel, -- da und noch 'nen Gummi dazu!«

Jim schwankte.

»'nen Gummi, Jim, und was für ein Stück, sieh mal her!«

»O, du mein alles! Sein das prachtvoll Stück Gummi. Aber, junge Herr
Tom, Jim sein so ganz furchtbar bange vor alte Tante!«

Jim aber war auch nur ein schwacher Mensch, -- diese Versuchung erwies
sich als zu stark für ihn. Er stellte seinen Eimer hin und streckte
die Hand nach dem verlockenden Gummi aus. Im nächsten Moment flog er
jedoch, laut aufheulend, samt seinem Eimer die Straße hinunter, Tom
tünchte mit Todesverachtung drauf los, und Tante Polly zog sich stolz
vom Schlachtfeld zurück, Pantoffel in der Hand, Triumph im Auge.

[Illustration]

Toms Eifer hielt nicht lange an. Ihm fiel all das Schöne ein, das
er für diesen Tag geplant, und sein Kummer wuchs immer mehr. Bald
würden sie vorüber schwärmen, die glücklichen Jungen, die heute frei
waren, auf die Berge, in den Wald, zum Fluß, überall hin, wo's schön
und herrlich war. Und wie würden sie ihn höhnen und auslachen und
verspotten, daß er dableiben und arbeiten mußte, -- schon der Gedanke
allein brannte ihn wie Feuer. Er leerte seine Taschen und musterte
seine weltlichen Güter, -- alte Federn, Glas- und Steinkugeln, Marken
und sonst allerlei Kram. Da war wohl genug, um sich dafür einen
Arbeitstausch zu verschaffen, aber keineswegs genug, um sich auch
nur eine knappe halbe Stunde voller Freiheit zu erkaufen. Seufzend
wanderten die beschränkten Mittel wieder in die Tasche zurück, und Tom
mußte wohl oder übel die Idee fahren lassen, einen oder den andern der
Jungen zur Beihilfe zu bestechen. In diesem dunkeln, hoffnungslosen
Moment kam ihm eine Eingebung! Eine große, eine herrliche Eingebung!
Er nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich still und emsig an
die Arbeit. Da tauchte Ben Rogers in der Entfernung auf, Ben Rogers,
dessen Spott er gerade am meisten gefürchtet hatte. Ben's Gang, als
er so daher kam, war ein springender, hüpfender, kurzer Trab, Beweis
genug, daß sein Herz leicht und seine Erwartungen hoch gespannt waren.
Er biß lustig in einen Apfel und ließ dazu in kurzen Zwischenpausen ein
langes, melodisches Geheul ertönen, dem allemal ein tiefes gezogenes
ding--dong--dang, ding--dong--dang folgte. Er stellte nämlich einen
Dampfer vor. Als er sich Tom näherte, gab er Halbdampf, hielt sich
in der Mitte der Straße, wandte sich stark nach Steuerbord und glitt
drauf in stolzem Bogen dem Ufer zu, mit allem Aufwand von Pomp und
Umständlichkeit, denn er stellte nichts Geringeres vor als den ›Großen
Missouri‹ mit neun Fuß Tiefgang. Er war Schiff, Kapitän, Mannschaft,
Dampfmaschine, Glocke, alles in allem, stand also auf seiner eigenen
Schiffsbrücke, erteilte Befehle und führte sie aus.

»Halt, stoppen! Klinge--linge--ling.« Der Hauptweg war zu Ende,
und der Dampfer wandte sich langsam dem Seitenweg zu. »Wenden!
Klingelingeling!« Steif ließ er die Arme an den Seiten niederfallen.
»Wenden Steuerbord! Klingelingeling! Tschu! tsch--tschu--u--tschu!«

Nun beschrieb der rechte Arm große Kreise, denn er stellte ein
vierzig Fuß großes Rad vor. »Zurück, Backbord! Klingelingeling!
Tschu--tsch--tschu--u--sch!« Der linke Arm begann nun Kreise zu
beschreiben.

»Steuerbord stoppen! Lustig, Jungens! Anker auf -- nieder!
Klingeling! Tsch--tschuu--tschtu! Los! Maschine stoppen! He, Sie da!
Scht--sch--tscht!« (Ausströmen des Dampfes.)

Tom tünchte währenddessen und ließ den Dampfer Dampfer sein. Ben
starrte ihn einen Augenblick an und grinste dann:

»Hi--hi! Festgenagelt -- äh?«

Keine Antwort. Tom schien seinen letzten Strich mit dem Auge eines
Künstlers zu prüfen, dann fuhr er zart mit dem Pinsel noch einmal
drüber und übersah das Resultat in derselben kritischen Weise wie
zuvor. Ben marschierte nun neben ihm auf. Toms Mund wässerte nach dem
Apfel, er hielt sich aber tapfer an die Arbeit. Sagt Ben:

»Hallo, alter Junge, Strafarbeit, ja?«

»Ach, du bist's, Ben, ich hab' gar nicht aufgepaßt!«

»Hör' du, ich geh' schwimmen, willst du vielleicht mit? Aber gelt, du
arbeitst lieber, natürlich, du bleibst viel lieber da, gelt?«

Tom maß ihn erstaunt von oben bis unten.

»Was nennst du eigentlich arbeiten?«

»W--was? Ist das keine Arbeit?«

Tom tauchte seinen Pinsel wieder ein und bemerkte gleichgültig:

»Vielleicht -- vielleicht auch nicht! Ich weiß nur soviel, daß das dem
Tom Sawyer paßt.«

»Na, du willst mir doch nicht weis machen, daß du's zum Vergnügen
thust?«

Der Pinsel strich und strich.

»Zum Vergnügen? Na, seh' nicht ein, warum nicht. Kann unser einer denn
alle Tag 'nen Zaun anstreichen?«

Das warf nun ein neues Licht auf die Sache. Ben überlegte und
knupperte an seinem Apfel. Tom fuhr sachte mit seinem Pinsel hin und
her, trat dann zurück, um die Wirkung zu prüfen, besserte hie und da
noch etwas nach, prüfte wieder, alles ohne sich im geringsten um Ben
zu kümmern. Dieser verfolgte jede Bewegung, eifriger und eifriger mit
steigendem Interesse. Sagt er plötzlich:

»Du, Tom, laß mich ein bißchen streichen!«

Tom überlegte, schien nachgeben zu wollen, gab aber diese Absicht
wieder auf: »Nein, nein, das würde nicht gehen, Ben, wahrhaftig nicht.
Weißt du, Tante Polly nimmt's besonders genau mit diesem Zaun, so dicht
bei der Straße, siehst du. Ja, wenns irgendwo dahinten wär', da läg
nichts dran, -- mir nicht und ihr nicht -- so aber! Ja, sie nimmt's
ganz ungeheuer genau mit diesem Zaun, der muß ganz besonders vorsichtig
gestrichen werden, -- einer von hundert Jungen vielleicht, oder noch
weniger, kann's so machen, wie's gemacht werden muß.«

»Nein, wirklich? Na, komm, Tom, laß mich's probieren, nur ein ganz
klein bißchen. Ich ließ dich auch dran, Tom, wenn ich's zu thun hätte!«

»Ben, wahrhaftig, ich thät's ja gern, aber Tante Polly -- Jim hat's
thun wollen und Sid, aber die haben's beide nicht gedurft. Siehst du
nicht, wie ich in der Klemme stecke? Wenn du nun anstreichst, und 's
passiert was, und der Zaun ist verdorben, dann --«

»Ach, Unsinn, ich will's schon recht machen. Na, gieb her, -- wart', du
kriegst auch den Rest von meinem Apfel; 's ist freilich nur noch der
Butzen, aber etwas Fleisch sitzt doch noch drum.«

»Na, denn los! Nein, Ben, doch nicht, ich hab' Angst, du --«

»Da hast du noch 'nen ganzen Apfel dazu!«

Tom gab nun den Pinsel ab, Widerstreben im Antlitz, Freude im Herzen.
Und während der frühere Dampfer ›Großer Missouri‹ im Schweiße seines
Angesichts drauf los strich, saß der zurückgetretene Künstler auf einem
Fäßchen im Schatten dicht dabei, baumelte mit den Beinen, verschlang
seinen Apfel und brütete über dem Gedanken, wie er noch mehr Opfer
in sein Netz zöge. An Material dazu war kein Mangel. Jungen kamen in
Menge vorüber. Sie kamen um zu spotten und blieben um zu tünchen! Als
Ben müde war, hatte Tom schon Kontrakt gemacht mit Billy Fischer, der
ihm einen fast neuen, nur wenig geflickten Drachen bot. Dann trat
Johnny Miller gegen eine tote Ratte ein, die an einer Schnur zum Hin-
und Herschwingen befestigt war. So gings weiter und weiter, Stunde um
Stunde. Und als der Nachmittag zur Hälfte verstrichen, war aus Tom, dem
mit Armut geschlagenen Jungen mit leeren Taschen und leeren Händen,
ein im Reichtum förmlich schwelgender Glücklicher geworden. Er besaß
außer den Dingen, die ich oben angeführt, noch zwölf Steinkugeln, eine
freilich schon etwas stark beschädigte Mundharmonika, ein Stück blaues
Glas, um die Welt dadurch zu betrachten, ein halbes Blasrohr, einen
alten Schlüssel, um nichts damit aufzuschließen, ein Stück Kreide,
einen halb zerbrochenen Glasstöpsel von einer Wasserflasche, einen
Bleisoldaten, ein Stück Seil, sechs Zündhütchen, ein junges Kätzchen
mit nur einem Auge, einen alten messingnen Thürgriff, ein Hundehalsband
ohne Hund, eine Messerklinge, vier Orangenschalen und ein altes,
wackeliges Stück Fensterrahmen. Dazu war er lustig und guter Dinge,
brauchte sich gar nicht weiter anzustrengen die ganze Zeit über und
hatte mehr Gesellschaft beinahe, als ihm lieb war. Der Zaun wurde nicht
weniger als dreimal vollständig überpinselt, und wenn die Tünche im
Eimer nicht ausgegangen wäre, hätte er zum Schluß noch jeden einzelnen
Jungen des Dorfes bankerott gemacht.

Unserm Tom kam die Welt gar nicht mehr so traurig und öde vor. Ohne
es zu wissen, hatte er ein tief in der menschlichen Natur wurzelndes
Gesetz entdeckt, die Triebfeder zu vielen, vielen Handlungen. Um das
Begehren eines Menschen, sei er nun erwachsen oder nicht, -- das
Alter macht in dem Fall keinen Unterschied -- also, um eines Menschen
Begehren nach irgend etwas zu erwecken, braucht man ihm nur das
Erlangen dieses ›etwas‹ schwierig erscheinen zu lassen. Wäre Tom ein
gewiegter, ein großer Philosoph gewesen, wie zum Beispiel der Schreiber
dieses Buches, er hätte daraus gelernt, wie der Begriff von _Arbeit_
einfach darin besteht, daß man etwas thun _muß_, daß dagegen Vergnügen
das ist, was man freiwillig thut. Er würde verstanden haben, warum
künstliche Blumen machen oder in einer Tretmühle gehen ›Arbeit‹ heißt,
während Kegel schieben im Schweiße des Angesichts oder den Mont-Blanc
erklettern lediglich als Vergnügen gilt. Ja, ja, wer erklärt diese
Widersprüche in der menschlichen Natur! --

[Illustration]



Drittes Kapitel.


Tom erschien vor Tante Polly, die am offnen Fenster eines
Hinterzimmers saß, das Schlaf-, Wohn-, Eßzimmer, Bibliothek, alles
in sich vereinigte. Die balsamische Sommerluft, die friedliche Ruhe,
der Blumenduft, das einschläfernde Summen der Bienen, alles hatte
seine Wirkung auf sie ausgeübt, -- sie war über ihrem Strickstrumpf
eingenickt in Gesellschaft der Katze, die auf ihrem Schoße friedlich
schlummerte. Die Brille war zur Sicherheit ganz auf den alten, grauen
Kopf geschoben. Sie war fest überzeugt gewesen, daß Tom längst
durchgebrannt sei und wunderte sich nun nicht wenig, als er sich jetzt
so furchtlos ihrer Macht überlieferte.

»Darf ich jetzt gehen und spielen, Tante?« fragte er.

»Was -- schon? Ei, wie weit bist du denn?«

»Fertig, Tante.«

»Tom, schwindle nicht, du weißt, das kann ich nicht vertragen.«

»Gewiß und wahrhaftig, Tante, ich bin fertig.«

Tante Polly schien nur wenig Zutrauen zu der Angabe zu hegen, denn sie
erhob sich, um selbst nachzusehen; sie wäre froh und dankbar gewesen,
hätte sie nur zwanzig Prozent von Toms Aussage bestätigt gefunden. Als
sie aber nun den ganzen Zaun getüncht fand und nicht nur so einmal
leicht überstrichen, sondern sorgsam mit einer festen, tadellosen Lage
Tünche versehen, da kannte ihr Erstaunen, ihre freudige Ver- und
Bewunderung keine Grenzen.

»Na, so was!« stieß sie fast atemlos hervor. »Arbeiten _kannst_ du,
wenn du willst, Tom, das muß dir dein Feind lassen. Selten genug
freilich willst du einmal,« schwächte sie ihr Kompliment ab. »Aber nun
geh' und spiel', mach' dich flink fort. Daß du mir aber vor Ablauf
einer Woche wieder kommst, hörst du, sonst gerb' ich dir das Fell doch
noch durch!«

Sie war aber so gerührt von seiner Heldenthat, daß sie ihn zuerst noch
mit in die Speisekammer nahm und einen herrlichen, dicken, rotbackigen
Apfel auslas, den sie ihm einhändigte, daran den salbungsvollen
Hinweis knüpfend, wie Verdienst und ehrliche Anstrengung den Genuß
einer Gabe erhöhe, die man als Lohn der Tugend erworben, nicht durch
sündige Tücke. Und während sie die Predigt mit einer ebenso passend
als glücklich gewählten Schriftstelle schloß, hatte Tom hinterrücks
ein Stückchen Kuchen stibitzt, um sich den Lohn der Tugend wie die
Errungenschaft sündiger Tücke ganz gleich gut schmecken zu lassen.

Dann schlüpfte er hinaus und sah gerade, wie Sid die Außentreppe,
die zu dem Hinterzimmer des zweiten Stocks führte, hinauf huschte.
Erdklumpen waren zur Hand und im Moment war die Luft voll davon. Sie
flogen um Sid wie ein Hagelwetter, und ehe noch Tante Polly ihre
überraschten Lebensgeister sammelte oder zu Hilfe kommen konnte, hatten
sechs oder sieben ihr Ziel getroffen, Sid brüllte, und Tom war über
den Zaun gesetzt und verschwunden. Es gab freilich auch ein Thor, aber
für gewöhnlich konnte es Tom aus Mangel an Zeit nicht benutzen. Nun
hatte seine Seele Ruhe, jetzt hatte er abgerechnet mit Sid und ihm die
Verräterei mit dem schwarzen Zwirn heimgezahlt. Der würde ihn nicht so
bald wieder in Ungelegenheiten zu bringen wagen!

Tom schlich auf Umwegen hinter dem Stalle, um Haus und Hof herum,
bis er außer dem Bereich der Gefangennahme und Abstrafung war, dann
setzte er sich eiligst nach dem Hauptplatz des Dorfes in Trab, wo der
Verabredung gemäß zwei feindliche Heere sich eine Schlacht liefern
sollten. Tom war General der einen Armee, Joe Harper, sein Busenfreund,
General der zweiten. Die beiden ruhmgekrönten, großen Anführer ließen
sich aber nicht zum Fechten in Person herbei; bewahre, ganz nach
berühmten Mustern sahen sie nur von ferne zu, von irgend einer Erhöhung
herab, und leiteten die Bewegungen der kämpfenden Heere durch Befehle,
welche Adjutanten überbringen mußten. Nach langem, heißem Kampfe trug
Toms Schar den Sieg davon. Nun wurden die Toten gezählt, Gefangene
ausgetauscht, die Bedingungen zum nächsten Streit vereinbart und der
Tag für die daraus notwendig sich ergebende Schlacht festgesetzt, die
Armeen lösten sich auf, und Tom marschierte allein heimwärts.

Als er am Hause des Bürgermeisters vorüber kam, sah er ein fremdes,
kleines Mädchen im Garten, ein liebliches, zartes, blauäugiges Geschöpf
mit langen gelben, in zwei dicke Schwänze geflochtenen Haaren, weißem
Sommerkleid und gestickten Höschen. Der ruhmgekrönte Held fiel ohne
Schuß und Streich. Eine gewisse Anny Lorenz verschwand aus seinem
Herzen, ohne auch nur einen Schatten ihrer selbst zurück zu lassen. Tom
hatte seine Liebe zu besagter Anny für verzehrende Feuersglut gehalten,
und nun war es nur noch ein leise flackerndes, verlöschendes Flämmchen.
Monatelang hatte er um sie geworben, vor einer Woche erst hatte sie
ihm ihre Gegenliebe gestanden, sieben Tage lang war er der stolzeste,
glücklichste Junge des Städtchens gewesen und jetzt -- im Umdrehen
hatte sie sich empfohlen aus seinem Herzen, wie irgend ein fremder
Besuch, dessen Zeit um ist.

[Illustration]

Mit verstohlenen Blicken verfolgte Tom den neu auftauchenden Engel, bis
er bemerkte, daß sie ihn entdeckt hatte. Jetzt that er, als ob er sie
gar nicht sähe und begann nach echter Jungenart ›sich zu zeigen‹, in
der Absicht, ihre Bewunderung zu erringen. Eine Zeitlang trieb er es
so fort, aber mitten in irgend einer halsbrecherischen, gymnastischen
Leistung schielte er seitwärts und bemerkte, daß die Holde sich dem
Hause zuwandte. Er brach ab und sprang auf den Zaun zu, voller Bedauern
und in der Hoffnung, daß sie doch noch ein wenig länger verweilen
werde. Einen Moment blieb sie auf den Stufen stehen, näherte sich dann
aber schnell der Thüre. Tom stieß einen schweren, schallenden Seufzer
aus, als ihr Fuß die Schwelle berührte, im selben Moment aber erhellte
sich sein melancholisches Antlitz, -- sie hatte ein Stiefmütterchen
über den Zaun geworfen im Augenblick, da sie verschwand. Der Junge
rannte drauf los, blieb aber einen oder zwei Fuß von der Blume entfernt
stehen, beschattete die Augen mit der Hand und that, als habe er, weit
da unten in der Straße, etwas von großem Interesse entdeckt. Gleich
danach raffte er einen Strohhalm vom Boden auf, um ihn auf der Nase zu
balancieren, indem er den Kopf weit zurück warf, und als er sich dabei
hin und her bewegte, rückte er der Blume immer näher. Schließlich
berührte er sie mit seinem nackten Fuße, seine geschmeidigen Zehen
umschlossen dieselbe, auf einem Bein hüpfte er fort mit dem eroberten
Schatze und verschwand um die nächste Ecke. Aber nur für eine Minute,
-- nur bis er die Blume an seinem Herzen geborgen hatte oder auch
an seinem Magen vielleicht, -- Tom war nicht sehr bewandert in der
Anatomie und jedenfalls nicht allzu kritisch.

Jetzt kehrte er zu seinem früheren Standorte zurück und trieb sich am
Zaun herum, bis die Nacht hereinbrach, immer von Zeit zu Zeit seine
Kunststücke loslassend. Die blonde Schöne aber zeigte sich nicht
wieder, und Tom tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie sicher hinter
irgend einem der Fenster gestanden habe, und seine Aufmerksamkeiten
also nicht auf dürren Boden gefallen seien. Endlich bequemte er sich
widerstrebend zum Abzug, Kopf und Sinn voll wunderbarer Visionen.

Während des ganzen Abendessens war er in solch gehobener Stimmung,
daß seine Tante nicht klug draus wurde, ›was zum Kuckuck in den
Jungen gefahren sei!‹ Den Ausputzer, den er für Sids Beschießung mit
Erdklumpen erhielt, nahm er mit Lammesgeduld entgegen und schüttelte
ihn ebenso schnell wieder ab. Er probierte, der Tante vor der Nase
weg Zucker zu stibitzen, und kriegte dafür ordentlich auf die Pfoten.
Vorwurfsvoll meinte er:

»Tante, du klopfst doch den Sid nicht, wenn er Zucker nascht.«

»Der quält mich auch nicht so wie du. Was, ei wenn ich dir nicht
aufpaßte, du stecktest den ganzen Tag in der Zuckerdose!«

Gleich danach wollte sie in der Küche etwas holen und ging hinaus.
Sid, im Gefühl seiner Unstrafbarkeit, langte nach der Zuckerdose mit
einer Überhebung, die Tom unerträglich dünkte. Aber weh! -- Sids Hand
zitterte, die Dose entglitt den haltenden Fingern, fiel zu Boden und
zerbrach. Tom triumphierte, -- triumphierte _so_, daß er sich bezwang,
seine Zunge im Zaum hielt und atemlos, erwartungsvoll schwieg. Er
gelobte sich innerlich, kein Wort zu sagen, selbst wenn die Tante
wieder herein käme, sondern sich ganz stille zu verhalten, bis sie
frage, wer das Unheil angestellt, dann würde er berichten und welche
Wonne, wenn der geliebte ›Musterjunge‹ auch einmal was Ordentliches
abkriegte. Er platzte beinahe vor Ungeduld und konnte sich kaum auf dem
Stuhl halten, als nun die alte Dame hereintrat und sprachlos, Wutblitze
unter ihrer Brille hervor schleudernd, vor den Trümmern stand. »Jetzt
kommt's, jetzt geht's los,« frohlockte er. Im nächsten Moment fühlte er
sich gepackt, zu Boden geworfen, und schon hob sich die strafende Faust
zum zweiten- und drittenmal über seinem südlichen Rückenende, ehe er,
sprachlos vor Ueberraschung und Entrüstung, Worte fand:

»Laß los, Tante, was haust du _mich_ denn? Sid hat's ja gethan!«

Tante Pollys erhobene Faust sank noch einmal mechanisch mit
klatschendem Schlag, dann hielt sie ein, erstaunt, verwirrt, während
Tom, eines Ausbruchs tröstenden, selbstanklagenden Mitleids gewärtig,
vorwurfsvoll zu ihr emporstarrte. Aber alles, was sie sagte, als sie zu
Atem kam, war:

»Na, Gott weiß, an dir ist kein Schlag verloren, das ist mein Trost.
Nimm's einstweilen als Abschlagszahlung, hörst du!«

Danach aber empfand sie doch Gewissensbisse, und ihr gutes, weiches
Herz sehnte sich, dem armen, unschuldig Gezüchtigten ein liebevolles
Wort zu sagen. Aus Rücksichten der Disziplin aber enthielt sie sich
jeder Zusprache, die ihr doch nur als ein Eingeständnis des Unrechts
ausgelegt worden wäre. So schwieg sie denn und ging bekümmerten Herzens
ihrer Arbeit nach. Tom schmollte in einem Winkel und steigerte seine
Leiden ins Unendliche. Er wußte, daß die Tante innerlich vor ihm auf
den Knieen lag, und dies Bewußtsein that ihm wohl bis in die kleine
Zehe. Er wollte sich um niemanden, niemanden mehr kümmern. Er fühlte,
wie ihn von Zeit zu Zeit ein sehnsüchtiger, thränenverschleierter Blick
traf, er aber that, als merke er nichts und brütete nur stumm vor sich
hin. Er sah sich krank, sterbend auf seinem Bette hingestreckt. Die
Tante beugte sich über ihn und flehte händeringend um ein einziges,
kleines, armes Wort der Vergebung. Er aber wandte das Gesicht ab,
stumm, thränenlos und starb, -- starb, und das Wort der Vergebung
blieb ungesagt. Was würde sie dann thun? -- Oder er sah sich, wie man
ihn vom Fluß zurück brachte, tot, mit triefenden Haaren, blassem,
stillem Antlitz, endlich Ruhe und Frieden im armen, gequälten Herzen
-- für immer. Wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihre
Thränen stromweise fließen und sie Gott anrufen, ihren armen Jungen
wieder lebendig zu machen, den sie auch nie, nie wieder mißhandeln
wolle. Er aber läge da, kalt und still, ein armer Märtyrer, dessen
Leiden zu Ende. -- So arbeitete er sich dermaßen in Jammer und
Elend hinein, daß er beinahe in Schluchzen ausgebrochen wäre und am
Zurückdrängen desselben fast erstickte. Thränen standen in seinen
Augen, und alles erschien ihm in einem wässerigen Nebel. Wenn er mit
den Augen zwinkerte, kamen die Tropfen langsam die Nase herab und
träufelten von der Spitze hernieder. Dabei fühlte er sich so wohl in
seinem Schmerz, daß er denselben ängstlich vor der profanen Lust, dem
lärmenden Getriebe der Welt da draußen behütete. Als sein Bäschen Mary,
die acht Tage auf dem Lande zu Besuch gewesen war, glückselig nach der
›langen Abwesenheit‹ zur einen Thür herein tanzte, wie lauter Licht
und Sonnenschein, entschlüpfte Tom in Nebel und Wolken gehüllt durch
die andere. Weit in die Einsamkeit wanderte er hinweg. Ein Floß lockte
ihn; er setzte sich darauf und starrte in die Wellen des Stromes. Wenn
er nur auf einmal tot und ertrunken sein könnte, ohne etwas davon zu
wissen, ohne erst all das viele Wasser zu schlucken! Dann dachte er
an seine Blume, entnahm sie seinem Busen, verwelkt, zerknittert, und
ihr Anblick erhöhte noch sein wonniges Schmerzgefühl. Ob _sie_ ihn wohl
bemitleiden würde, wenn sie es wüßte? Oder würde auch sie sich abwenden
wie die übrige schnöde Welt? Wieder verlor er sich in einem Labyrinth
von Träumen und erhob sich zuletzt seufzend, um in die Dunkelheit
hinein zu wandern. Um zehn, halb elf schlich er die stille Straße
hinunter, in der die vergötterte Unbekannte wohnte. An ihrer Thüre
hielt er an. Kein Laut traf sein lauschendes Ohr, nur aus einem Fenster
des zweiten Stockes kam der trübe Schein eines einsamen Talglichts.
War dort der geheiligte Raum, der sie umschloß? Er kletterte über den
Zaun und stahl sich lautlos bis unter jenes Fenster. Voll Rührung
schaute er hinan, dann streckte er sich der Länge lang auf den Boden
aus, die Hände, welche die verwelkte Blume umschlossen, auf der Brust
faltend. So wollte er sterben, -- draußen in der kalten Welt, kein
Dach über seinem heimatlosen Haupte, keine Freundeshand, die ihm den
Todesschweiß von der Stirne wischte, kein liebendes Antlitz, das sich
mitleidsvoll über ihn beugte, wenn der letzte, große Kampf nahte. So
sollte _sie_ ihn sehen, wenn sie das Fenster öffnete, um dem jungen
Morgen zuzulächeln und ach -- würde sie wohl dem Toten eine Thräne
weihen, einen Seufzer hauchen über den leblosen stillen Rest, der alles
war, was von dem frohen, jugendfrischen, vor der Zeit in der Wurzel
geknickten, jungen Leben geblieben?

[Illustration]

Das Fenster öffnete sich. Die schrille Stimme einer Magd entweihte
die geheiligte Stille, und eine Sündflut von Wasser durchtränkte die
Gebeine des dahingestreckten Märtyrers.

Prustend und keuchend sprang unser Held auf und schüttelte sich
heftig. Ein Wurfgeschoß durchschwirrte die Luft, untermischt mit einem
halblauten Fluche, worauf ein klirrendes Splittern von Glas folgte.
Eine kleine, undeutliche Gestalt kletterte eiligst über den Zaun und
schoß in die Dunkelheit hinein.

Nicht lange danach, als Tom beim Schein eines Lichtstümpchens seine
durchnäßten Kleider besichtigte, erwachte Sid. Wenn der nun vorher die
Absicht gehabt hatte, allerlei unliebsame Anspielungen zu machen, so
besann er sich jetzt wohlweislich eines besseren und hielt Frieden, --
es blitzte Gefahr in Toms Auge. Dieser aber kroch ins Bett ohne weitere
unangenehme Förmlichkeiten wie Waschen oder Beten, wovon sich Sid im
Geiste getreulich Notiz machte, und die Stille der Nacht umfing das
Brüderpaar.

[Illustration]



Viertes Kapitel.


Die Sonne ging auf über der sonntäglich ruhigen Welt und strahlte
nieder auf das friedliche Städtchen, wie ein Segen von oben. Als das
Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familienandacht. Sie begann
mit einem Gebete, das sich ganz und gar aus festen Schichten biblischer
Kraftstellen aufbaute, die nur durch einen dünnen, spärlichen Mörtel
eigener Gedanken zusammen gehalten wurden. Auf den Zinnen dieses
stolzen Baues angelangt, krönte sie das Ganze mit einem dräuenden
Kapitel des Mosaischen Gesetzes, als stünde sie auf dem Berge Sinai
selber.

Danach gürtete Tom seine Lenden sozusagen und ging ans Werk, sich die
Bibelsprüche ›einzupauken‹. Sid, der Musterknabe, hatte seine Lektion
schon vor mehreren Tagen gelernt. Tom warf sich mit ganzer Energie auf
die Erlernung von fünf Versen und wählte dieselben aus der Bergpredigt,
da er keine kürzeren finden konnte.

Nach Verlauf einer halben Stunde hatte er denn auch glücklich einen
schwachen, allgemeinen Begriff von seiner Lektion, aber nichts weiter,
denn seine Gedanken reisten dabei mit Blitzesschnelle durch die ganze
weite, unbegrenzte Welt, die im engen Hirne schlummert, und seine
Finger waren rastlos thätig in allerhand angenehmen, ablenkenden
Zerstreuungen. Endlich erbarmte sich Bäschen Mary seiner und nahm
das Buch, um ihn zu überhören, während er sich durch den die Sprüche
verhüllenden Nebel mühsam seinen Weg zu bahnen suchte.

»Selig sind die -- ä -- ä --«

»Da geistig --«

»Richtig -- die da geistig ä -- ä --«

»Arm --«

»Arm sind. Selig sind, die da geistig arm sind, denn sie sollen --
sollen --«

»Denn ihrer --«

»Ja so! Selig sind, die da geistig arm sind, denn ihrer ist das
Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie -- sie --«

»S --«

»Denn sie -- ä --«

»S -- o --«

»Denn sie s -- s --, weiß der Kuckuck, wie das heißt!«

»Sollen!«

»Ach so -- sollen! Denn sie sollen -- denn sie sollen -- ä -- ä --
sollen Leid tragen. Selig sind, die da sollen -- die da sollen -- ä --
Leid tragen, denn sie sollen -- ä -- sollen was? Warum hilfst du mir
denn nicht, Mary, schäm' dich, so schlecht zu sein und am Sonntag noch
dazu!«

[Illustration]

»O, Tom, armer, dummer, dickköpfiger Kerl, ich will dich ja nicht
necken, Gott behüte. Ich mein's nur gut mit dir. Geh' und lern's
noch einmal und verlier' den Mut nicht, du wirst's schon in den Kopf
kriegen, und dann, Tom, dann schenk' ich dir auch was Schönes! Geh' und
sei ein guter Junge!«

»Schon recht. Aber was ist's, Mary, sag' mir erst, was es ist.«

»Das brauchst du nicht vorher zu wissen, Tom, du weißt, wenn ich sag',
es ist schön, so ist's wirklich was Schönes.«

»Ja, das weiß ich. Also vorwärts, gieb das Buch wieder her, Mary,
wollen's schon kriegen.«

Und er ›kriegte‹ es wirklich und zwar mit Glanz unter dem Doppeldruck
von Neugierde und voraussichtlichem Gewinn.

Mary gab ihm nach bestandener Probe ein funkelnagelneues Taschenmesser,
das mindestens eine Mark wert war unter Brüdern. Eine feine
Damaszenerklinge hatte es ja wohl nicht, auch keinen schön verzierten
eingelegten Griff von Elfenbein, aber um den Tisch anzuschnitzen
war's gerade recht, was Tom sofort probierte, und als er sich darauf
seelenvergnügt eben an den Schrank machen wollte, wurde er abgerufen,
um sich zur Sonntagsschule in den Staat zu werfen.

Mary reichte ihm eine Blechschüssel mit Wasser und ein Stück Seife,
womit er sich in den Hof begab. Hier stellte er die Schüssel auf eine
Bank, tauchte die Seife ins Wasser, legte solche dann zur Seite, goß
das Wasser aus, stülpte die Aermel auf und kam wieder zur Küche herein,
um sich eiligst sein trockenes Gesicht am Handtuch hinter der Thür
abzuwischen. Mary aber riß ihm das Tuch weg und sagte:

»Schämst du dich nicht, Tom? Das heiß' ich betrügen! Wasser wird dir
nichts schaden!«

Tom war ein wenig aus der Fassung gebracht. Die Schüssel wurde wieder
gefüllt und diesmal stand er eine kleine Weile davor, um sich Mut
zu machen, schöpfte dann tief Atem und begann das große Werk der
wöchentlichen Reinigung. Wie er nun zum zweitenmal die Küche betrat,
sich mit krampfhaft geschlossenen Augen und ausgestreckten Händen
nach dem Tuche hin tastend, bewiesen Seifenschaum und Wasser, die von
seinem Antlitz niederströmten, seine Ehrlichkeit glänzend. Als er dann
aber hinter dem Tuche hervor tauchte, war die schwere Prozedur noch
nicht zur Zufriedenheit ausgefallen. Das reine Gebiet erstreckte sich
nur bis zum Rande der Kinnlade, wo es ein Ende hatte, gleich einer
Maske. Außerhalb dieser Linie zeigte sich die ganze Partie um Hals
und Ohren in unberührt schwärzlichem Zustand. Nun legte Mary Hand an,
und als sie fertig war, bot Tom das Bild eines reinlichen, ehrlichen
Christenmenschen, ohne Unterschied der Farbe. Sein feuchtes Haar war
schön gebürstet, und die sonst so widerspenstigen Locken kräuselten
sich in ordentlich rührender Ergebung. Diese Locken waren Toms Qual, er
hielt sie für weibisch, schämte sich ihrer und that sein Möglichstes,
sie mit Hilfe von Fett und Wasser fest am Kopf anzukleben. Daß ihm
dies nur teilweise und unbefriedigend gelang, erfüllte sein Herz mit
Bitternis. Jetzt holte Mary seinen Sonntagsanzug, den er während zweier
Jahre nur an diesem geheiligten Tage getragen. Man sprach davon einfach
nur als von ›den andern Kleidern‹, und daraus läßt sich leicht auf den
Umfang von Toms Garderobe schließen. Als er sich dann hinein gestreckt
in diese ›anderen Kleider‹, legte Mary die letzte, verbessernde
Hand an, knöpfte die Jacke zu, zog ihm den riesigen, weißen Kragen
an, bürstete ihn aus und krönte das Ganze mit einem braunen, gelb
gefleckten Strohhut. Tom sah nun ungemein ehrbar und unbehaglich aus
und fühlte sich auch nicht minder unbehaglich, als er aussah. Für ihn
lag ein fast unerträglicher Zwang in ganzen und sauberen Kleidern, ein
Zwang, der ihn fortwährend reizte. Er hoffte, Mary würde wenigstens
seine Schuhe vergessen, aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch;
ehe er sich's versah, standen die Marterwerkzeuge, ordentlich mit Talg
eingeschmiert, wie es so Sitte war, lieblich lockend vor ihm. Jetzt
verlor er völlig die Geduld und schalt und brummte, er solle immer
alles thun, was er absolut nicht möge. Mary aber bat und schmeichelte:

»Bitte, Tom, sei so gut, bitte!«

So fuhr er denn brummend hinein in die schwarzen Plagegeister, blieb
aber bei sehr gereizter, übler Laune. Mary war auch bald fertig und die
drei Kinder machten sich zusammen auf nach der Sonntagsschule, einem
Ort, den Tom ebensosehr haßte, wie ihn Sid und Mary liebten.

Die Sonntagsschule dauerte von neun bis halb elf, danach kam noch der
Gottesdienst. Bei diesem blieben immer zwei unsrer kleinen Freunde
freiwillig zugegen, der dritte auch, aber ihn lockte etwas anderes, als
die Predigt. Die Kirche selbst war klein und schmucklos, sie mochte
in ihren geraden, hochlehnigen Bänken vielleicht dreihundert Menschen
fassen. An der Thüre zögerte Tom und ließ die andern vorgehen, während
er einen sonntäglich herausgeputzten Kameraden anredete:

»Sag' mal, Bill, hast du 'nen gelben Zettel?«

»Ja!«

»Was willst du dafür haben?«

»Was giebst du mir?«

»Ein Stück Süßholz und einen Angelhaken.«

»Zeig' mal her.«

Tom zeigte her, Bill prüfte und fand das Gebotene des Zettels wert,
so tauschten sie das Eigentum. Danach handelte Tom noch drei rote und
zwei blaue Zettel gegen einige ähnliche, kostbare Artikel ein. Zehn,
fünfzehn Minuten lang fuhr er in dieser Beschäftigung fort, jagte
allen möglichen Jungen Zettel in allen möglichen Farben ab und hatte
nach Verlauf dieser Zeit eine recht stattliche Anzahl zusammen, die er
schmunzelnd in die Tasche schob. Nun endlich betrat er inmitten eines
Schwarms sonntäglich gesäuberter, aber etwas geräuschvoller Jungen und
Mädchen die Kirche, setzte sich auf seinen Platz und begann sofort mit
dem ersten besten Streit. Der Lehrer, ein ernster, gutmütig aussehender
Herr, trat dazwischen, wandte dann aber für einen Moment den Rücken,
was Tom sofort dazu benutzte, einem Jungen auf der vorderen Bank in
die Haare zu fahren und einen anderen mit einer Nadel in den Arm zu
stechen. Der Getroffene fuhr drauf mit einem zornigen ›autsch‹ herum,
was ihm, da Tom mit Unschuldsmiene in sein Buch starrte, einen strengen
Verweis des Lehrers zuzog. Toms ganze Klasse schien nach seinem Muster
zugeschnitten -- unruhig, unaufmerksam, voller Tollheiten. Als sie
an's Aufsagen kamen, wußte nicht einer seine Verse vollständig, doch
stolperten sie durch mit Hängen und Würgen, so gut es eben ging. Die
Belohnung für zwei fehlerlos aufgesagte Verse bestand in einem kleinen,
blauen Zettel, auf den ein Bibelvers gedruckt war. Zehn blaue Zettel
konnten für einen roten eingetauscht werden, zehn rote wiederum für
einen gelben. Für zehn gelbe erhielt man dann vom Herrn Vikar eine
kleine, sehr einfach gebundene Bibel, die unter Brüdern vielleicht
vierzig Cents wert war. Wer unter meinen Lesern besäße wohl den Fleiß
und die Ausdauer, zweitausend Bibelverse auswendig zu lernen, und wenn
man ihm eine Prachtbibel von Doré böte? Und doch hatte sich Mary zwei
solcher Bibeln erobert, es war die geduldige, mühsame Arbeit zweier
Jahre. Nur die älteren, vernünftigen und ernsten Schüler brachten es
fertig, ihre Zettel zu sammeln und dieses langwierige und langweilige
Werk so lange durchzuführen, bis sie eine Bibel erhalten konnten. Eben
durch dies mühsame Erringen aber wurde die Auslieferung des hohen
Preises jedesmal zu einer feierlichen, denkwürdigen Begebenheit. Der
also Gefeierte erschien so groß und erhaben an einem solchen Ehrentage,
daß sich beim Anblick seiner Größe in der Brust jeglichen Zuschauers
ein heiliger Eifer und Ehrgeiz entzündete, der oftmals sogar viele
Wochen anhielt. Auch Toms glühendster Wunsch war es, einmal auf diese
Weise ausgezeichnet zu werden; nicht der Bibel halber, bewahre, ihm
ging's um die Ehre und den Ruhm, den Glanz, der die ganze Zeremonie
umstrahlte.

Nun trat der Herr Vikar, der die Sonntagsschule leitete, vor, ein
kleines Testament zugeklappt in der Hand haltend, zwischen dessen
Blättern sich der eine Zeigefinger barg, und bat um Aufmerksamkeit.
Wenn ein Sonntagsschul-Vikar seine herkömmliche kleine Ansprache
hält, so ist ihm ein Testament in der Hand so notwendig, wie das
unvermeidliche Notenblatt dem Sänger, der das Podium betritt, um das
Konzertpublikum mit einem Solo zu beglücken, -- das Warum bleibt
freilich ein Rätsel, denn weder Testament, noch Notenblatt wird von
dem betreffenden Dulder je eines Blickes gewürdigt werden. Dieser Herr
Vikar nun war eine etwas schmächtige, überschlanke Figur von etwa
fünfundzwanzig Jahren, mit sandgelbem Bocksbart und sandgelben Haaren.
Seine Miene war ernst, und feierlich war auch der Ton seiner Stimme,
als er nach dem Muster der gewöhnlichen Sonntagsschulredner begann:

»Jetzt, Kinder, paßt auf; setzt euch alle so gerade und ruhig, wie
ihr könnt und hört mir einmal ein paar Minuten lang recht aufmerksam
zu. So, jetzt ist's recht! So müssen 's gute, kleine Knaben und
Mädchen machen! Da sehe ich noch ein kleines Mädchen, das zum Fenster
hinausguckt. Kleine, du denkst wohl, ich säße dort auf dem Baum und
wolle den kleinen Vögelein da draußen etwas von unserm lieben Heiland
erzählen, was? (Unterdrücktes Kichern.) Zuerst also möchte ich euch
sagen, wie wohl es mir thut, so viele saubre, frohe, kleine Gesichter
an einem Ort, wie diesem, versammelt zu sehen, an dem sie lernen
sollen, gut und brav zu sein und das Rechte zu thun. --«

Und so weiter und so fort. Den Rest der Rede zu verzeichnen ist nicht
nötig, sie hielt sich ganz an bekannte Muster, die jeder von uns schon
tausendfältig gehört hat.

Das letzte Drittel der rednerischen Leistung wurde etwas gestört durch
Wiederaufnahme der Püffe und Stöße und anderen Zeitvertreibs unter
den schwarzen Schafen der kleinen Gemeinde. Ein Raunen und Flüstern
begann, das sich mehr und mehr ausbreitete, ja selbst die Grundfesten
solch unerschütterlicher Felsen wie Sid und Mary zu umspülen versuchte.
Mit dem schlußandeutenden Sinken des Tons in des Redners Stimme ließ
auch das Summen nach und der Schluß selbst wurde mit dem Ausbruch
allgemeinsten, dankbaren Schweigens begrüßt.

Ein großer Teil der Unruhe war durch einen ebenso erstaunlichen als
seltenen Zwischenfall verursacht worden -- es waren Fremde gekommen!
Der Bürgermeister erschien, begleitet von zwei Herren, einem alten,
schwächlich aussehenden und einem jüngeren, stattlichen mit schon
stark ergrauten Haaren. Voran ging eine Dame, offenbar die Frau des
letzteren, die ein Mädchen an der Hand führte. Tom war bis dahin
rastlos und unruhig gewesen, er hatte Gewissensbisse und konnte Anny
Lorenz nicht ansehen, deren Auge mit liebendem Blick das seine suchte.
Als er nun aber die Kleine erscheinen sah, fühlte er sich wie trunken
vor Wonne. Im nächsten Augenblick begann er mit Macht ›sich zu zeigen‹,
-- puffte seine Nachbarn, riß sie an den Haaren, schnitt Gesichter,
kurz bediente sich aller jener Künste, die imstande sind, ein kleines
Schulmädchenherz zu bezaubern und ihm Beifall abzugewinnen. Seiner
Wonne wurde nur ein Dämpfer aufgesetzt durch den Gedanken an die
Demütigung, welche er in jenes Engels Garten hatte erdulden müssen,
aber die Erinnerung hieran war doch nur in den Sand verzeichnet,
den schon jetzt die hochgehenden Wogen des Glücks, die seine Seele
überfluteten, wegzuschwemmen begannen. Den Fremden wurde der beste
Ehrenplatz angewiesen, und als des Vikars Rede zu Ende war, stellte
sich heraus, wer sie seien. Der stattliche, ergraute Herr in mittleren
Jahren entpuppte sich als eine große Persönlichkeit. Er war nichts
mehr und nichts weniger, als der oberste Richter des Kreises, das
erhabenste Produkt der Schöpfung, das die Kinder je geschaut, und sie
sannen drüber nach, aus welchem Stoff der wohl gemacht sein möge; halb
sehnten sie sich danach, seine Donnerstimme zu vernehmen, und halb
fürchteten sie sich davor. Er war aus Konstantinopel, zwölf Meilen
flußabwärts, also ein weitgereister Mann, der die Welt kannte. Was der
wohl alles schon gesehen hatte? Am Ende gar Washington und das ›Weiße
Haus‹, das sich die Kinder wie eine blendende, leuchtende, flimmernde
Masse von Eis und Schnee vorstellten, so weiß und so glänzend. Die
durch solche Gedanken erweckte ehrfurchtsvolle Scheu prägte sich in dem
atemlosen Schweigen, in den großen, runden, erstaunt drein starrenden
Augen aus. Das also war der große, gewaltige Kreisrichter Thatcher, der
Bruder ihres eignen Bürgermeisters, der Onkel von Willy Thatcher, der
da eben vortrat aus ihren Reihen und dem großen Mann die Hand bot, als
sei das nichts. Hätte Willy gewußt, was das Flüstern bedeutete, das
sich erhob, es hätte ihm wie Sphärenmusik in den Ohren geklungen!

»Sieh doch, Jim, Tom sieh doch! Er geht ja wahrhaftig hin und giebt ihm
die Hand! Und der schüttelt sie. Weiß Gott, ich gäb' drei Steinkugeln
drum, wenn ich der Willy wäre!«

Der Vikar begann sich nun ›zu zeigen‹, rannte hier hin, dort hin,
erteilte Befehle, Lob, Tadel, wie's gerade kam, und wo er nur
irgend was anbringen konnte. Der Bücherausteiler ›zeigte‹ sich in
übermäßigem Wichtigthun und Amtseifer, indem er mit den Armen voll
Bücher hin und her rannte. Die jungen Damen, welche die verschiedenen
Klassen unterrichteten, wollten gleichfalls nicht zurückbleiben, süß
lächelnd neigten sie sich über kleine Schülerinnen, die sie kurz
zuvor gescholten, hoben lieblich drohende Fingerlein gegen schlimme,
kleine Jungen und streichelten andre zärtlich und milde. Die jungen
Herren, welche als Lehrer wirkten, ›zeigten‹ sich in kleinen, ernsten
Strafreden, die sie ihren betreffenden Klassen hielten, und andern
ähnlichen Beweisen ihrer Autorität. Dabei hatten fast alle jugendlichen
Lehrer beiderlei Geschlechts ganz erstaunlich viel mit Bücherwechseln
zu thun in der Nähe der Kanzel, irrten sich erstaunlich oft in dem, was
sie holten, mußten wieder und wieder gehen, zwei-, dreimal und schienen
sich gewaltig darüber zu ärgern. Auch die kleinen Mädchen ›zeigten
sich‹ auf die verschiedenste Weise und die kleinen Jungen ›zeigten
sich‹ in ihrer Art, indem sie sich heimlich schubsten und die Luft
mit emporgeschleuderten Papierpfropfen erfüllten. Und über dem allem
thronte majestätisch der große Mann, ließ die Sonne seines Lächelns
erstrahlen und wärmte sich an seiner eigenen Größe, denn er selbst,
-- er ›zeigte‹ sich erst recht. Eines nur fehlte, um des Herrn Vikars
Glück vollständig zu machen in dieser erhabenen Stunde, und das war die
Möglichkeit der Erteilung eines Bibelpreises. Einige Schüler konnten
ein paar gelbe Zettel aufweisen, keiner aber hatte die genügende Zahl,
wie er sich bei einem Umfragen unter den ersten ›Gestirnen‹ leider
überzeugen mußte.

Da, im letzten Moment, als er schon jede Hoffnung fahren ließ, trat
Tom Sawyer vor mit neun gelben, neun roten und zehn blauen Zetteln, --
trat vor und verlangte eine Bibel! Das war ein Blitzschlag aus heiterem
Himmel! Der Herr Vikar hatte auf ein solches Ansinnen aus dieser
Himmelsrichtung jede Hoffnung aufgegeben gehabt, für die nächsten
zwanzig Jahre mindestens. Aber die unglaubliche Thatsache ließ sich
nicht wegleugnen, -- hier stand Tom und da waren die Zettel und sie
stimmten auf's Haar. Tom wurde also nach dem Ehrenplatze geleitet zu
dem Kreisrichter und den andern Auserlesenen, und die erstaunliche
Thatsache allen kund und zu wissen gethan. Das wirkte nun förmlich
versteinernd, war die außerordentlichste Begebenheit des Jahrzehnts,
und so nachhaltig und tief war der Eindruck derselben, daß er den
neuen Helden noch beinahe über den alten erhob und die Schule nun zwei
Wunder statt des einen zu bestaunen hatte. Die Jungen verzehrten sich
in Neid, zumeist aber diejenigen, die sich nun zu spät klar machten,
daß sie selbst zu diesem verhaßten Ruhme beigetragen, indem sie ihre
Zettel an Tom verhandelten für die Reichtümer, die er durch zeitweilige
Ablassung seiner Tünchungsprivilegien aufgerafft. Sie verachteten und
verdammten sich selbst als überlistete Opfer eines schwarzen Betrügers,
einer kriechenden, verräterischen Schlange.

Inzwischen wurde der Preis an Tom ausgeliefert mit so viel Pomp,
als der Vikar nur irgend bei der Gelegenheit anbringen konnte.
Der volle, richtige Schwung aber schien doch dabei zu fehlen; ihm
sagte der Instinkt, daß hier ein Geheimnis verborgen liege, welches
das Licht nicht vertrage, ja es scheuen müsse. Es war einfach ein
Ding der Unmöglichkeit, daß _dieser_ Junge zweitausend Körner der
Schriftweisheit in die Scheunen seines Geistes eingeheimst haben
sollte, dieser Junge, dessen Fähigkeiten nicht hinreichend schienen,
sich auch nur ein Dutzend solch köstlicher Früchte zu eigen zu machen.
Anny Lorenz war stolz und glücklich und bemühte sich, es Tom in ihren
Augen lesen zu lassen, der aber wollte nicht hersehen. Sie verwunderte
und grämte sich darüber; dann faßte sie Verdacht und paßte auf; ein
verstohlener Blick, den sie auffing, sagte ihr Welten und brach ihr
armes Herz. Sie war eifersüchtig, zornig, Thränen kamen, sie haßte alle
Welt, Tom aber zu allermeist, in ihrem Herzen.

Tom wurde dem Kreisrichter vorgestellt, aber die Zunge schien ihm wie
gelähmt, sein Atem stockte, sein Herz klopfte zum Zerspringen, teils
wegen der furchterregenden Größe des gewaltigen Mannes, hauptsächlich
aber, weil er _ihr_ Vater war. Er wäre gerne vor ihm niedergesunken,
wenn's nur dunkel gewesen wäre. Der große Mann legte die Hand auf Toms
Haupt, nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Burschen und fragte ihn wie
er heiße. Der Junge stammelte, stotterte und stieß endlich hervor:

»Tom.«

»Nun, doch nicht nur Tom, sondern --«

»Thomas.«

»So ist's recht, ich dachte mir wohl, es gehöre noch etwas dazu. Du
hast aber doch wohl noch einen andern Namen, denke ich, und den wirst
du mir doch auch sagen, nicht?«

»Nenne dem Herrn deinen vollen Namen, Thomas,« mahnte der Vikar, »und
sage auch ›mein Herr‹, oder ›Herr Kreisrichter‹, du mußt doch wissen,
was sich schickt!«

[Illustration]

»Thomas Sawyer, -- Herr Kreisrichter!«

»So, so ist's recht, das nenn' ich einen guten Jungen. Prächtiger
Bursche! Wirklich prächtiger Kerl! Zweitausend Verse ist viel, --
sehr viel! Aber, mein Kleiner, du wirst es gewiß nie bereuen, daß du
dir so viel Mühe drum gegeben. Wissen ist mehr wert, als alles in der
Welt, lernen und etwas wissen macht die großen und die guten Männer im
Leben. Auch du wirst wohl einmal ein guter, vielleicht ein großer Mann,
Thomas, und dann wirst du auf die Tage deiner Kindheit zurück sehen
und sagen: das alles verdanke ich den unbezahlbaren Wohlthaten, die ich
durch die Sonntagsschule genossen, verdanke es meinen guten Lehrern,
die mich zum Lernen anhielten, dem Herrn Vikar, der mich anfeuerte,
mich leitete, mir die schöne Bibel schenkte, eine wundervolle, fein
gebundene Bibel, die ich behalten durfte und ganz für mich allein
besitzen, -- alles, alles verdanke ich meiner guten, ausgezeichneten
Erziehung. So wirst du sprechen, Thomas, und du ließest dir dann für
kein Geld der Welt diese zweitausend Verse abkaufen, -- für kein Geld
der Welt, niemals! Und jetzt wirst du gewiß dieser Dame und mir etwas
mitteilen, was du weißt, was du gelernt hast, nicht wahr? Denn sieh,
wir sind stolz auf kleine Jungen, die etwas wissen. Ohne Zweifel
kannst du uns doch die Namen der Jünger des Herrn sagen? Du kennst sie
gewiß alle zwölf. Sag' uns einmal, wer waren die zwei ersten, die ihm
nachfolgten?«

Tom hatte während dessen immerzu an einem Knopf seiner Jacke herum
gedreht und möglichst dumm und einfältig dazu ausgesehen. Jetzt wurde
er glühend rot und bohrte die Augen beinahe in den Boden. Dem Vikar
sank das Herz in die Stiefel. Er wußte, daß der Junge unmöglich die
allereinfachste Frage beantworten konnte, warum auch mußte der Herr
Kreisrichter ihn fragen! Trotzdem fühlte er sich gedrungen, gleichsam
ermunternd zu sagen:

»Antworte dem Herrn, Thomas, -- fürchte dich doch nicht!«

Tom that nichts als rot und röter werden.

»Mir wirst du's doch sagen,« begann nun auch die Dame, »also die Namen
der beiden ersten Jünger waren --«

»_David_ und _Goliath_!«

Laßt uns den Schleier christlicher Barmherzigkeit über den Rest der
Scene breiten. Auch was Tante Polly später zu der Bibel sagte und wie
sie sich drüber freute, erwähnen wir besser nicht.



Fünftes Kapitel.


Der Montagmorgen fand Tom sehr niedergeschlagen. Das war eigentlich an
jedem Montagmorgen der Fall, denn damit begann ja eine neue Woche der
Plage und des Leidens in der Schule. Gewöhnlich begrüßte er diesen Tag
mit dem Wunsche, daß es lieber gar keine Feiertage geben möchte, denn
das machte die nun wieder aufzunehmenden Ketten der Sklaverei nur um so
drückender und fühlbarer.

Tom lag da und dachte nach. Plötzlich kam ihm die leuchtende Idee:
wenn er nun krank wäre, dann brauchte er doch nicht zur Schule. Das
war die einzige Möglichkeit. Er untersuchte und prüfte sein ganzes
Körpersystem. Nirgends fand sich auch nur das geringste Schadhafte. Von
neuem prüfte er. Diesmal meinte er leise Anzeichen von kolikartigen
Schmerzen zu verspüren, die er mit rasch aufkeimender Hoffnung liebend
zu beobachten begann. Trotzdem verringerten sich dieselben aber bei
näherer Betrachtung mehr und mehr und waren bald gänzlich verschwunden.
Wieder überlegte Tom. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer seiner
oberen Zähne wackelte bedenklich. Er frohlockte. Schon begann er sich
zu einem tiefen Stöhnen vorzubereiten, das er als Einleitung voraus
schicken wollte, als ihm noch zur richtigen Zeit der Gedanke kam, daß,
wenn er diesen Beweis von Krankheit ins Feld führe, die Tante ihm
einfach den Zahn ausreißen würde, und das that weh. Damit wollte er
also nur im Notfall herausrücken und jetzt erst noch ein bischen weiter
herum denken. Eine Weile war alles Sinnen umsonst, dann erinnerte er
sich, wie der Doktor einmal von einem Manne erzählt hatte, dem irgend
etwas, Tom wußte nicht mehr genau was, etwas wie kalter Brand oder
dergleichen, bei einem schlimmen Finger hinzugetreten sei, daß derselbe
zwei bis drei Wochen damit zu thun gehabt und schließlich beinahe
den Finger verloren habe. Zum Glück war Tom imstande, eine schlimme
Zehe aufzuweisen, die er sich vor ein paar Tagen einmal irgendwo
verletzt hatte. Die zog er nun eiligst unter der Decke vor, um sie
aufs eingehendste zu prüfen. Damit ließ sich was machen! Leider kannte
er die nötigen Symptome nicht, über die er sich beklagen mußte, aber
probieren wollte er's doch auf jeden Fall und so begann er denn laut
und tief aufzustöhnen.

Sid aber schlief ruhig und sorglos weiter.

Tom stöhnte lauter und meinte auf einmal wirklich Schmerz in der Zehe
zu spüren.

Sid gab kein Zeichen.

Tom keuchte schon förmlich vor Anstrengung. Einen Moment sammelte
er neue Kraft, hielt den Atem an und stieß dann eine ordentlich
fortlaufende Tonleiter von wunderbar echtem Stöhnen aus.

Sid schnarchte weiter.

Nun wurde Tom ärgerlich. Er begann den hartnäckigen Schläfer zu rütteln
und ›Sid, Sid‹ zu rufen. Das wirkte besser und nun begann das Stöhnen
von neuem. Sid gähnte, streckte sich, stützte sich dann mit einem
letzten Schnarcher auf seinen Ellbogen und starrte nach Tom hin. Tom
stöhnte weiter. Endlich ruft Sid:

»Tom, so hör' doch, Tom!«

Keine Antwort.

»Du, Tom, Tom, was ist los?« und er rüttelte ihn und starrte ihm voll
Angst ins Gesicht.

Tom stöhnte:

»Ach, Sid, laß los, du thust mir weh!«

»Herr Gott, was giebts, Tom? Ich muß die Tante rufen.«

»Nein, laß sein. Es wird schon vorüber gehen. Ruf' niemand.«

»Doch, natürlich, das muß ich. Stöhn' doch nicht so, Tom, das ist ja
schrecklich. Wie lang thut dir's denn schon weh?«

»Ach, Stunden lang. Autsch, autsch! Sei doch still, Sid, und laß mich
in Ruhe.«

»Warum hast du mich denn nicht früher geweckt? Herr Gott, Tom, hör'
auf, es macht einen ja elend, dich so stöhnen zu hören. Wo thut dir's
denn weh?«

»Ich verzeih' dir alles, Sid, was du mir je gethan hast. (Stöhnen.)
Alles, alles, Sid! Wenn ich tot bin --«

»O, Tom, du wirst doch nicht sterben? Sag' nein, Tom, komm, sag' nein.
Vielleicht --«

»Ich vergebe allen Menschen, Sid. (Tiefes Stöhnen.) Sag's allen.
Und, Sid, gieb du die schöne gelbe Thürklinke, die ich habe, und die
einäugige Katze dem Mädchen, das neulich erst gekommen ist und sag'
ihr --«

Aber Sid hatte schon seine Kleider aufgerafft und war verschwunden. Tom
litt nun in Wahrheit, so lebhaft arbeitete seine Einbildungskraft und
sein Stöhnen fing an erschreckend natürlich zu klingen.

Sid flog die Treppe hinunter und rief atemlos:

»Tante Polly, Tante Polly, komm schnell, Tom stirbt!«

»Stirbt?«

»Ja, ja, eil' dich doch, frag' nicht lang.«

»Dummheiten! Ich glaub's nicht.«

Trotzdem aber stürzte sie die Treppe hinauf, so schnell sie ihre alten
Beine tragen wollten, und Mary hinter ihr her. Blaß war auch sie
geworden und ihre Lippen zitterten. Am Bett angelangt, keuchte sie nur
so:

»Tom, Tom, was giebt's, was ist los?«

»Ach, Tante, ich --«

»Was giebt's -- was ist's, Kind, was fehlt dir?«

»Ach, Tante, ich -- ich hab' furchtbare Schmerzen da an meiner Zehe, --
ich hab' -- ja ich hab', glaub' ich -- den kalten Brand!«

Erleichtert aufseufzend sank jetzt die arme Tante auf einen Stuhl,
lachte ein wenig, weinte ein wenig, that dann beides zusammen, was sie
wieder so weit herstellte, daß sie Worte fand:

»Tom, Bengel, wie hast du mich erschreckt! Jetzt hör' aber auf mit
dem Unsinn und mach', daß du aus dem Bett kommst. Es ist Zeit zum
Aufstehen! Vorwärts -- oder ich geb' dir was, um deinen kalten Brand zu
wärmen!«

Das Stöhnen hörte auf und der Schmerz verschwand aus der Zehe.
Kleinlaut und niedergedrückt ob des verunglückten Experiments meinte
der Junge:

»Tante, wahrhaftig, ich glaubte, es müsse der kalte Brand sein, es that
so furchtbar weh, daß ich gar nicht mehr an meinen Zahn dachte.«

»An deinen Zahn? Was ist denn mit dem Zahn los?«

»Ach, der wackelt und thut gar schrecklich weh.«

»Na, na, nur nicht wieder stöhnen, ist ganz unnötig! Mund auf! Ja, der
wackelt richtig, daran stirbst du aber noch lange nicht! Mary, gieb
mir einen Seidenfaden und hol' ein Stück glühende Kohle aus der Küche!«

Eiligst rief Tom, der plötzlich ganz munter wurde:

»Bitte, bitte, Tantchen, zieh' ihn mir nicht aus, er thut schon
gar nicht mehr weh. Ei, ich will des Todes sein, wenn ich noch das
geringste spüre! Bitte, bitte, nicht, Tantchen, ich will ja doch
wahrhaftig nicht zu Hause und von der Schule wegbleiben.«

»So, du willst nicht zu Hause bleiben, mein Junge, willst durchaus
nicht, was? Also deshalb all der Lärm! Wärst wohl gern aus der Schule
weggeblieben und dafür fischen gegangen, gelt? Na, ich kenn' dich, Tom,
durch und durch, mir machst du keine Flausen vor, du Bengel! Tom, Tom,
und ich hab' dich doch so lieb und du, -- du denkst nur dran, wie du
deiner alten Tante das Herz brechen kannst. Geh, schäm' dich in deine
schwarze Seele hinein!«

Mittlerweile waren die zahnärztlichen Instrumente zur Stelle geschafft
worden. Ein Ende des Seidenfadens befestigte die Tante mit einer
Schlinge an Toms Zahn, während sie das andere um den Bettpfosten
schlang, so daß der Faden straff angespannt war. Dann ergriff sie
mit einer Zange die glühende Kohle und fuhr damit geschwind auf Toms
Gesicht los. Ein Ruck -- und der Zahn hing baumelnd am Bettpfosten.

Wie aber jede überstandene Prüfung ihren Lohn in sich trägt, so auch
diese. Als sich Tom später mit der neuerworbenen Zahnlücke auf der
Straße zeigte, war er ein Gegenstand des Neides für alle Kameraden,
denn keiner von ihnen war imstande, auf solch' neue, noch nie
dagewesene Weise auszuspucken, wie es nun Tom, durch die Lücke in der
Zahnreihe, that. Er zog ein ganzes Gefolge von Bewunderern hinter sich
her, die sich für die Schaustellung interessierten, und ein anderer
Junge, der bis dahin wegen eines verletzten Fingers der Mittelpunkt
der Verehrung und Bewunderung gewesen, sah sich plötzlich all seines
Ruhmes beraubt, er mußte ohne Erbarmen dem neu aufstrahlenden Gestirne
weichen und zurücktreten in den Schatten des Nichts. Sein Herz war ihm
drob schwer, und eine Verachtung heuchelnd, die ihm fern lag, meinte
er: das sei auch was Rechtes, so auszuspucken, wie Tom Sawyer. Da
schallte ihm ein höhnendes: saure Trauben, saure Trauben! entgegen und
beschämt schlich er zur Seite, ein entthronter Held.

Auf dem Weg zur Schule traf Tom den jugendlichen Paria des Ortes,
Huckleberry Finn, den Sohn des bekanntesten Stadt-Trunkenboldes.
Huckleberry war der Gegenstand des Abscheus und Hasses aller
Mütter der Stadt, die ihn fürchteten wie die Pest, weil er faul
und zuchtlos, roh und böse war, wie sie dachten, und weil -- ihre
eigenen Jungen ihn anstaunten und vergötterten, sich förmlich um
seine verbotene Gesellschaft rissen und alles drum gegeben haben
würden, wenn sie hätten sein dürfen, wie er. Tom, wie alle die andern,
›ordentlichen, anständigen Jungen‹, beneidete Huckleberry um seine
verlockende Existenz, und es war ihm streng untersagt worden, je mit
dem ›schlechten Kerl‹ zu spielen. Gerade darum that er es denn auch
gewissenhaft, wenn sich nur irgend Gelegenheit dazu fand -- und that
es mit Wonne. Huckleberry steckte immer in alten, abgelegten Kleidern
von Erwachsenen, deren Fetzen und Lumpen nur so um ihn herum hingen.
Sein Hut war nur die Ruine einer vormaligen Kopfbedeckung, deren Rand
zerfetzt auf die Schultern niederbaumelte. Sein Rock, wenn er überhaupt
einen trug, hing ihm bis auf die Füße und zeigte die hinteren Knöpfe
etwa in der Gegend der Kniekehlen. Nur _ein_ Träger hielt seine Hosen
an Ort und Stelle, Hosen, deren geräumige Sitzpartie zu leer war und
sich nur zuweilen im Winde blähte, während die ausgefransten Enden im
Schmutz nachschleiften, wenn sie nicht zufällig aufgekrempelt waren.
Huckleberry kam und ging, wie es ihm beliebte. Bei schönem Wetter
schlief er auf Treppenstufen oder sonst wo, bei schlechtem in leeren
Fässern, alten Kisten, oder wo er eben unterkriechen konnte, wählerisch
war er keineswegs. Er brauchte nicht zur Schule, nicht zur Kirche,
brauchte niemanden als Herrn anzuerkennen, brauchte keiner lebenden
Seele zu gehorchen. Er konnte schwimmen und fischen gehen, wann und
wo er wollte, konnte bleiben, so lang es ihm behagte. Niemand verbot
ihm, sich mit andern zu prügeln, und abends konnte er aufbleiben bis
Mitternacht und länger, ihn zankte keiner. Er war der erste, der
barfuß lief im Frühling und der letzte, der im Herbste wieder in das
lästige Leder kroch. Zu waschen brauchte er sich nie, zu kämmen auch
nicht, noch frische Wäsche anzuziehen, und fluchen konnte er wie ein
Alter, wundervoll. Mit einem Wort alles, alles, was das Leben schön
und angenehm macht, besaß dieser beneidete Huckleberry im reichsten
Maße. So dachte und fühlte jeder einzelne der armen, geplagten,
›anständigen‹ Jungen in St. Petersburg. Tom rief natürlich diesen für
ihn romantischsten aller Helden sofort an:

[Illustration]

»Holla, Huckleberry!«

»Holla, du selber!«

»Was hast du da?«

»Tote Katze.«

»Zeig' her, Huck. Herrgott, wie steif! Woher hast du's?«

»Gekauft von 'nem Jungen.«

»Was hast du dafür gegeben?«

»'ne Schweinsblase und 'nen blauen Zettel.«

»Woher war denn der blaue Zettel?«

»Von Ben Rogers, dem hab' ich vor vierzehn Tagen 'ne prachtvolle Gerte
dafür gegeben.«

»Zu was kann man denn tote Katzen brauchen, Huck?«

»Zu was? Ei, um Warzen zu vertreiben.«

»Nein! Wahrhaftig? Ich weiß noch was Besseres.«

»Du? Wird was recht's sein! Was denn?«

»Wasser aus faulem Holz!«

»Wasser aus faulem Holz! Ist den Kuckuck nix wert.«

»Nichts wert? Hast du's probiert?«

»Ich nicht, aber Bob Tanner.«

»Wer hat dir's gesagt?«

»Wer? Ei er hat's dem Willy Thatcher gesagt und der dem Johnny Baker
und der dem Jim Hollis und der dem Ben und der Ben 'nem alten Nigger
und der mir. Da, nun weißt du's!«

»Na und was weiter? 's ist ja doch nur gelogen! Die lügen alle
miteinander, bis auf den Nigger, den kenn' ich nicht. Aber ich kenn'
auch keinen Nigger, der nicht lügt, oder du? Jetzt aber erzähl', wie's
der Bob Tanner gemacht hat mit den Warzen, Huck!«

»Na, der hat seine Hand in 'nen alten Baumstumpf gesteckt, in dem
Regenwasser war.«

»Am Tag?«

»Natürlich.«

»Mit dem Gesicht nach dem Baum zu?«

»Gewiß, ich glaub' wenigstens.«

»Hat er was dazu gesagt?«

»Was weiß ich? -- wahrscheinlich nicht!«

»Aha! Da haben wir's! Und dann will der Kerl Warzen mit faulem Wasser
kurieren und stellt sich so an! Da kann's natürlich nichts nützen. Ich
will dir sagen, wie man's macht. Erst geht man ganz mutterseelenallein
mitten in den Wald, wo man einen alten Baumstumpf mit Wasser weiß und
dann, wenn's Mitternacht ist, stellt man sich mit dem Rücken nach dem
Stumpf zu, tunkt die Hand ins Wasser und sagt:

    Schreit die Eule, quakt der Frosch, scheint der Mond darauf,
    Faules Wasser, Zauberwasser zehr' die Warzen auf!

»Danach tritt man rasch mit geschlossenen Augen elf Schritt vor, dreht
sich dreimal um sich selbst und geht heim, ohne mit jemand ein Wort zu
reden. Denn wenn man das thut, ist der Zauber gebrochen!«

»Na, das läßt sich hören, so aber hat's der Bob nicht gemacht, das weiß
ich gewiß!«

»Ja, da hast du wahrlich recht, denn der ist jetzt noch der warzigste
Jung' in der Schule und wenn er sich mit dem faulen Wasser nicht dumm
angestellt hätte, so brauchte er keine einzige mehr zu haben. Ich bin
so schon über tausend Warzen los geworden, Huck. Ich greif' so viele
Frösche an, daß ich immer ein paar Dutzend Warzen an den Händen habe.
Manchmal nehm' ich auch eine Bohne.«

»Ja, Bohnen sind gut. Das hab' ich schon selbst probiert.«

»Wirklich? Wie machst du's?«

»Ei, ich nehm' die Bohne und schneid' sie in zwei Stücke, ritz' dann
die Warze blutig und tröpfle das Blut auf das eine Stück der Bohne und
vergrab' das um Mitternacht beim Vollmond am Kreuzweg. Das andre Stück
wird verbrannt. Jetzt zieht und zieht das blutige Stück und will das
andre nachziehn, und das Blut zieht mit und zieht, bis die Warze fort
ist. So mach' ich's.«

»Und das ist auch ganz richtig, Huck, nur hilft's noch mehr, wenn du
beim Vergraben sagst: ›Fort die Bohne, Warze fort, komm' nicht mehr zum
alten Ort.‹ Das ist ausgezeichnet, sag' ich dir. So macht's Joe Harper
und der war schon beinahe in Cronville und fast überall. Aber das mit
der toten Katze, das weiß ich nicht.«

»Na, das ist einfach. Du nimmst die tote Katze und gehst auf den
Kirchhof, so um Mitternacht herum, auf das Grab von irgend einem
schlechten Kerl. Schlag zwölf kommt dann der Teufel, vielleicht auch
zwei oder drei, man sieht sie nur nicht und hören thut man nur so was
wie Wind. Und wenn sie dann den Kerl mit sich fort nehmen, schmeißt man
ihnen die Katze nach und ruft:

    Will der Deubel sich versehn,
    Muß die Katze noch drein gehn,
    Warze fliegt auch hinterdrein,
    Werd' alle drei los dann sein!

»Das vertreibt dir jede Warze noch vor der Geburt.«

»Klingt nicht übel. Hast du's mal probiert, Huck?«

»Nee, aber die alte Mutter Josephine hat's mir gesagt.«

»Na, die muß es wissen, das soll ja 'ne Hexe sein.«

»Soll sein! Ist's, Tom, ist's, das weiß ich genau. Die hat meinen Alten
behext, das sagt der immer. Wie der einmal an ihr vorbeigegangen ist,
hat er grad' gesehen, wie sie ihn behext hat und da hat er einen Stein
genommen und den nach ihr geschmissen; wenn die sich nicht gebückt
hätt', wär' sie längst keine Hex' mehr. Na und in derselbigen Nacht
ist mein Alter von einer Mauer gefallen, auf der er gelegen hat und
geschlafen, weil er betrunken war und hat den Arm gebrochen.«

»Puh, das ist ja gräßlich! Woran hat er denn gemerkt, daß sie ihn
behext?«

»Woran? Ei, das weiß mein Alter ganz genau. Er sagt, wenn sie einen
immerzu anstarren und was dazu brummen, dann behexen sie einen,
besonders, wenn sie brummen und was vor sich hin murmeln. Dann sagen
sie das Vaterunser rückwärts.«

»Sag' mal, Huck, wann willst du denn das mit der Katze probieren?«

»Heut' nacht. Ich denk', da werden sie den alten Williams holen kommen.«

»Der ist aber schon am Sonnabend begraben worden, Huck, warum haben sie
ihn da nicht schon in der Nacht geholt?«

»Na, du redst auch, wie du's verstehst! Sonnabend mitternacht ist doch
schon Sonntag und da hat kein Teufel mehr was zu suchen hier oben. Der
wird sich schwer hüten, sich am Sonntag blicken zu lassen.«

»Daran hab' ich freilich nicht gedacht. Wahrhaftig, so ist's. Darf ich
mitgehen?«

»Meinethalben, wenn du dich nicht fürchtest.«

»Fürchten? Na, auch noch! Wirst du miauen vor unsrem Haus, wenn's Zeit
ist?«

»Ja, wenn du mich nicht warten läßt. Das letzte Mal hab' ich so lang
miauen müssen, bis euer alter Nachbar mit Steinen nach mir warf und
auf den Kater fluchte, der ihm keine leibliche Ruhe lasse. Zum Dank
hab' ich ihm 'nen Backstein durchs Fenster geschmissen, der wird an den
Kater denken! Aber verrat' du mich nicht.«

»Wo werd' ich! Damals hab' ich nicht kommen können, weil mir die Tante
immer auf den Hacken saß. Heut' aber komm' ich und wenn's Feuer und
Pech regnet. -- Was ist denn das, Huck?«

»Ach, nur 'ne Baumwanze.«

»Woher denn?«

»Aus dem Wald.«

»Was willst du dafür?«

»Ich -- ich weiß nicht, ich geb's gar nicht her.«

»Gut. 's ist auch nur 'ne ganz lumpig kleine Wanze.«

»Na, das kann jeder sagen, der keine hat. Mir ist sie groß genug, mir
ist sie lang gut.«

»Pah, ist auch was Rares! Ich könnt' tausend haben, wenn ich nur
wollte.«

»Na, warum willst du nicht? Gelt, du weißt warum, Alterchen! Die
Baumwanze hier ist was Seltenes, denn 's ist noch früh für Baumwanzen.
Wenigstens ist's die erste, die ich dies Jahr sehe!«

»Hör' du, Huck, ich geb' dir meinen schönen Zahn dafür.«

»Zeig' her.«

Tom zog ein Stückchen Papier hervor, das er sorgfältig aufrollte. Huck
sah prüfend hinein. Die Versuchung war groß. Zuletzt fragte er:

»Ist der auch echt?«

Ohne jede weitere Beteuerung öffnete Tom den Mund, um die Lücke zu
zeigen.

»Na, gut,« meinte Huck, »also abgemacht, schlag' ein!«

Tom barg die Wanze vorsichtig in einer kleinen Schachtel, die ähnlichem
Gewürm schon öfter zum Gefängnis gedient und immer für vorkommende
Fälle in Toms Tasche bereit war. Huck sackte den Zahn ein und beide
Jungen trennten sich, jeder in dem erhebenden Bewußtsein, einen sehr
guten Tausch gemacht zu haben.

Als Tom das kleine, einzeln gelegene Schulhaus erreichte, öffnete
er hastig die Thüre und eilte auf seinen Platz, als käme er eben
mit größtmöglicher Geschwindigkeit direkt von zu Hause angestürzt.
Geschäftig hing er seinen Hut an den Nagel, warf die Bücher auf den
Tisch, sich selbst auf die Bank und machte Miene, sich Hals über Kopf
in die Arbeit zu stürzen. Der Lehrer, der hoch oben hinter dem Katheder
auf einem hochlehnigen Rohrsessel thronte, und der bei der Stille,
die das eifrige Summen der lernenden Kinder nur noch einschläfernder
machte, ein klein wenig eingenickt war, erwachte von der Unterbrechung:

»Thomas Sawyer!«

Als Tom diesen seinen Namen in unverkürzter Schönheit an sein Ohr
schlagen hörte, wußte er, daß es nichts Gutes bedeute.

»Herr Lehrer!«

»Komm einmal hierher zu mir. Warum bist du wie gewöhnlich wieder zu
spät dran?«

Eben wollte Tom irgend eine kleine Notlüge zu Hilfe nehmen, als er zwei
lange, blonde Schwänze gewahrte, die an einem Rücken niederbaumelten,
den er sofort mit dem elektrischen Instinkt der Liebe erkannte. Und
neben jenem Rücken war der _einzig leere Platz_, bei den Mädchen
drüben. Schnell gefaßt sagte er daher:

»_Ich mußte noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden!_«

Dem Lehrer stand der Atem still; hilflos, ungewiß, starrte er den
kecken Sünder an. Das Summen der Lernenden verstummte, die Kinder
trauten ihren Ohren nicht ob dieser offenen Sprache, dachten, Tom müsse
verrückt geworden sein. Endlich, nach atemloser Pause, fand der Lehrer
Worte:

»Was -- was hast du gesagt?«

»Mußte noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden,« wiederholte Tom
sorglos.

Ein Mißverständnis war hier nicht möglich.

»Thomas Sawyer, auf dieses ganz außerordentlich erstaunliche Bekenntnis
kann nur die Rute antworten. Jacke herunter!«

Und nun tanzte des Lehrers Rute auf Toms Rücken, bis Hand und Arm fast
lahm waren und die Rute sich in Wohlgefallen auflöste. Dann folgte der
Befehl:

»Jetzt gehst du und setzest dich zur Strafe zu den Mädchen! Und laß dir
das als Warnung dienen! Marsch!«

Das Kichern, welches nun das Zimmer durchlief, schien den Jungen
sehr verlegen zu machen, in Wahrheit war es aber nur das Bewußtsein,
erreicht zu haben, wonach er gestrebt, nämlich sich seiner Gottheit
nahen zu dürfen. Standhaft wie ein Märtyrer, hatte er die Prügel
ertragen, die gleichsam die dunkle Pforte bildeten, durch die er nun
zu seinem Paradiese eingehen sollte. Vorsichtig ließ er sich ganz am
äußersten Ende der Bank nieder. Mit einem verächtlichen Zurückwerfen
des Kopfes rückte das Mädchen so weit als möglich von ihm weg. Das
Flüstern, Köpfezusammenstecken, Kichern und das bedeutungsvolle
Anstarren des armen Sünders dauerte noch eine Weile fort, Tom aber
schien keine Notiz davon zu nehmen. Still saß er da, hatte die
Arme über den Tisch gelegt und sah mit großer Aufmerksamkeit in
sein geöffnetes Buch. Allmählich hörte er auf, der Gegenstand der
allgemeinen Beachtung und Heiterkeit zu sein, und wieder füllte das
gewöhnliche Summen der Schule die sommerlich stille Luft. Jetzt begann
Tom verstohlene Blicke nach seiner Göttin zu werfen. Sie bemerkte
es, rümpfte das Näschen und wandte eine volle Minute lang den Kopf
ab. Als sie verstohlen wieder nach ihrem Banknachbar hinblinzelte,
lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stieß ihn weg, Tom legte ihn sorgsam
wieder vor sie; wieder stieß sie ihn fort, aber schon mit weniger
Heftigkeit. Geduldig schob Tom ihn zurück, da ließ sie ihn liegen.
Jetzt kritzelte Tom auf seine Tafel: »Bitte, behalt' ihn -- ich habe
noch mehr.« Sie las die Worte, gab aber kein Zeichen von sich, weder
zustimmend, noch verneinend. Jetzt begann der Junge etwas auf seine
Tafel zu zeichnen, das er mit der linken Hand vor ihren Blicken barg.
Eine Weile lang schien sie sich gar nicht darum zu kümmern, bald aber
begann sich menschliche Neugier in ihr zu regen, die sich in allerlei,
kaum bemerkbaren Zeichen kund gab. Tom zeichnete weiter, anscheinend
ganz in sein Werk versunken. Das Mädchen suchte auf unverfängliche
Art sich einen Blick auf die Zeichnung zu verschaffen, der Junge aber
verriet mit keiner Miene, daß er dies bemerkte. Endlich gab sie nach
und flüsterte zögernd:

»Du, laß mich doch mal sehen!«

Tom enthüllte nun das traurige Zerrbild eines Hauses mit zwei
windschiefen Giebeln, aus dessen Schornstein ein korkzieherartiges
Rauchwölkchen aufschwebte. Jetzt war des Mädchens ganzes Interesse
wach, und alles darüber vergessend, folgte sie mit Eifer der Vollendung
des Meisterwerks. Als es fertig war, bestaunte sie es einen Moment und
flüsterte dann:

»Wundervoll -- jetzt noch 'nen Mann!«

Der Künstler stellte einen Mann in den Vordergrund, lang wie ein
Mastbaum; mit einem Schritt hätte er über das Haus wegsteigen können.
Die Zuschauerin aber war nicht kritisch, ihr gefiel das Ungetüm und sie
wisperte:

»Der Mann ist prächtig -- nun mach' mich, wie ich daherkomme!«

Tom malte eine Art Achter mit einem kreisrunden Vollmond oben und vier
dünnen Streifen als Arme und Beine. Die sich weit spreizenden Finger
bedachte er mit einem ungeheuren Fächer. Das Original des Gemäldes
fühlte sich geschmeichelt und meinte:

»Nein, wie nett -- wenn ich doch zeichnen könnte!«

»Das ist leicht,« flüsterte Tom, »ich will dich's lehren!«

»O willst du? Wann?«

»Am Mittag. Gehst du zum Essen heim?«

»Wenn du bleibst, bleib' ich auch.«

»Gut, das ist also abgemacht. Wie heißt du?«

»Becky Thatcher. Und du? Ach, ich weiß, Thomas Sawyer.«

»So heiß ich nur, wenn ich Schelte oder Prügel krieg', sonst heiß' ich
Tom. Du rufst mich Tom, gelt?«

»Ja.«

Jetzt kritzelt Tom was auf die Tafel, mit der linken Hand das
Geschriebene zuhaltend. Diesmal wollte sie's gleich sehen. Tom sagte:

»O, 's ist nichts.«

»Doch, doch.«

»Nein, 's ist nichts, es liegt dir gar nichts dran, ob du's siehst.«

[Illustration]

»Doch, nein wirklich, bitte, laß mich sehen.«

»Du wirst's weitersagen.«

»Nein, nein und dreimal nein, gewiß und wahrhaftig nicht.«

»Wirst du's aber auch keinem Menschen sagen, so lang du lebst?«

»Nie im Leben, niemand! Nun zeig' aber auch.«

»Ach, dir liegt doch nichts dran!«

»Jetzt, wenn du so bist, Tom, da muß ich's sehen --« und sie legte ihre
kleine Hand auf die seine, worauf sich ein kleiner Kampf entspann. Tom
schien im Ernst widerstreben zu wollen, zog aber seine Hand allmählich
doch so weit zurück, daß die Worte sichtbar wurden: »_Ich liebe dich._«

»O, du Abscheulicher!« Und sie gab ihm einen tüchtigen Klapps auf die
Hand, wurde aber rot und schien gar nicht ungehalten.

Im selben Moment fühlte der Junge einen schicksalsschweren Griff an
seinem Ohr, dazu einen unwiderstehlich nach oben ziehenden Drang,
und ehe er wußte wie, befand er sich an seinem eigenen Platz unter
dem Feuer gewaltiger Lachsalven der ganzen Schule. Unerbittlich, wie
das Schicksal, starrte der Lehrer noch während einiger schrecklicher
Momente auf ihn nieder, begab sich aber dann schließlich feierlich
zurück nach seinem Thron, ohne ein Wort zu sagen. Und obgleich Toms Ohr
brannte, triumphierte sein Herz.

Als der Sturm in der Schule sich wieder gelegt hatte, machte Tom den
ernsten Versuch, zu lernen, aber der Sturm in seinem Innern war zu
gewaltig. Jetzt sollte er lesen, die Reihe war an ihm, er brachte
aber vor Stammeln und Stottern keinen Satz zusammen; dann kam die
Geographiestunde. Bei Tom wurden Seen zu Bergen, Berge zu Flüssen und
Flüsse zu Inseln, bis das Chaos wieder über die Welt hereingebrochen
zu sein schien. Beim Diktatschreiben, in dem er sonst einer der
Besten war, stolperte er über die kinderleichtesten Wörter, hatte in
einem Diktat von zehn Linien fünfzig Fehler und mußte die bleierne
Verdienstmedaille, die er bis dahin für diese seine erste und einzige
Kunst mit so viel Stolz getragen, ohne alle Gnade einer würdigeren
Brust überliefern.

[Illustration]



Sechstes Kapitel.


Je eifriger Tom sich bemühte, seine Gedanken fest auf das Buch zu
heften, um so rastloser schweiften sie rings in der Weite herum. So
gab er es denn zuletzt mit einem Seufzer und Gähnen auf. Ihm schien
die erlösende Mittagsstunde heute niemals schlagen zu wollen. Die
Luft draußen war vollständig regungslos, nicht der kleinste Hauch
belebte die Stille. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage.
Das eintönige Gemurmel der fünfundzwanzig eifrig studierenden Schüler
umspann die Seele mit demselben einschläfernden Zauber, der in dem
Gesumm der Bienen liegt. Hoch oben am blauen Sommerhimmel schwebten
zwei Vögel auf trägen Schwingen, sonst war draußen kein lebendes Wesen
zu erblicken, außer einigen Kühen, welche schliefen.

Toms Herz sehnte sich nach Freiheit, oder doch wenigstens darnach,
irgend etwas von Interesse zu haben, das ihm die schreckliche
Langeweile vertreiben helfe. Mechanisch wanderte seine Hand zur Tasche
und, siehe da, sein Antlitz erhellte ein Strahl dankbarer Rührung.
Verstohlen kam die kleine Schachtel zum Vorschein, die Baumwanze
wurde befreit und auf den langen schmalen Schultisch gesetzt. Die
unvernünftige Kreatur erglühte in diesem Augenblick wohl gleichfalls in
tiefster Dankbarkeit, doch diese Wonne kam verfrüht, denn kaum hatte
sie sich jubelnden Herzens marschfertig gemacht, als das grausame
Schicksal, in Gestalt einer Stecknadel in Toms Hand, ihrem Laufe eine
andere Richtung gab.

Toms Busenfreund saß neben ihm, leidend, wie dieser soeben noch
gelitten, und zeigte sich augenblicklich von tiefstem, dankbarstem
Interesse erfüllt für die neue Unterhaltung. Dieser Busenfreund war Joe
Harper. Die ganze Woche hindurch waren die beiden Jungen geschworene
Freunde, der Sonnabend nur sah sie regelmäßig als Gegner auf dem
Schlachtfelde. Joe zog sofort eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter
und begann sich mit Lust und Liebe am Einexerzieren der gefangenen
Wanze zu beteiligen. Von Minute zu Minute nahm die Sache an Interesse
zu. Bald meinte Tom, daß sie sich gegenseitig nur hinderten und somit
keiner den vollen Genuß an der Wanze haben könne. So nahm er denn Joes
Tafel vor sich hin auf den Tisch und zog von oben bis unten eine Linie
genau durch die Mitte derselben.

»Jetzt,« sagte er, »paß auf! So lang die Wanze auf deiner Seite ist,
darfst du sie treiben mit der Nadel und ich laß' sie in Ruhe. Brennt
sie dir aber durch und kommt zu mir herüber, dann siehst du zu, so
lang, bis sie mir wieder durchgeht. Hast du verstanden?«

»Schon gut, nur vorwärts,« trieb der ungeduldige Joe, -- »kitzle sie
mal ein bißchen!«

Die Wanze entwischte Tom schleunigst und passierte die Linie, nun war
die Reihe des ›Kitzelns‹ an Joe, gleich danach hatte sie wiederum den
Aequator gekreuzt. Dieser Wechsel wiederholte sich des öfteren. Während
nun der eine Junge die unglückselige Baumwanze mit der Nadel anspornte,
in nimmer erlahmendem Eifer, schaute der andere in atemloser Spannung
zu, die beiden Köpfe waren tief über die Tafel gebeugt, die beiden
Seelen schienen der ganzen übrigen Welt wie abgestorben. Endlich wollte
sich das launenhafte Glück für Joe entscheiden, an seine Fersen heften.
Die Wanze versuchte auf allen möglichen Wegen zu entwischen und wurde
bei der Jagd so lebhaft und erregt, wie die Jungen selber. Aber wieder
und wieder, gerade als sie den Sieg schon, so zu sagen, in Händen
hielt und Toms Finger juckten und zappelten vor Begier, in die Aktion
eingreifen zu können, gerade im entscheidenden Moment lenkte Joes Nadel
geschickt den Flüchtling nach seiner Seite zurück und wahrte sich den
Besitz dieses köstlichen Guts. Endlich konnte es Tom nicht länger mehr
aushalten, die Versuchung war zu groß. So streckte er denn die Hand aus
und begann mit seiner Nadel nachzuhelfen. Da aber wurde Joe zornig und
rief drohend:

»Tom, laß das bleiben!«

»Ich will dir ja nur ein klein bißchen helfen, Joe.«

»Ach was, helfen! Brauch' dich nicht, laß bleiben, sag' ich.«

»Kuckuck, noch einmal. Ich werd' doch auch ein bißchen helfen dürfen!«

»Laß bleiben, sag' ich dir!«

»Ich will aber nicht.«

»Du mußt -- die Wanze ist auf meiner Seite.«

»Hör' mal zu, Joe Harper. Wem gehört die Wanze denn eigentlich, dir
oder mir?«

»Das ist mir ganz einerlei. Eben ist sie auf meiner Seite der Linie und
du sollst sie nicht anrühren, oder --«

»Na, wettst du, daß ich's thu'? Die Wanze ist mein und ich kann mit ihr
machen, was ich will -- hol' mich der und jener! Her damit, sag' ich!«

Ein saftiger Hieb sauste hernieder auf Toms Schultern, ein
Zwillingsbruder desselben traf Joes Rücken; zwei Minuten lang waren die
Jungen in eine Staubwolke gehüllt, die aus ihren Jacken aufwirbelte,
zum ungeheuren Gaudium der ganzen Schule. Die beiden Sünder waren
zu versunken gewesen in ihre Beschäftigung, um das verhängnisvolle
Schweigen zu bemerken, das eingetreten war, als der Lehrer auf den
Fußspitzen nach ihnen hinschlich und dann hinter ihnen stehen blieb.
Er hatte eine hübsche Weile der seltenen Beschäftigung zugeschaut, ehe
er sich erlaubte, seinen Teil zur Mehrung des Vergnügens beizutragen.

Als die Schule dann um Mittag aus war, flog Tom auf Becky Thatcher zu
und wisperte ihr ins Ohr:

»Setz' deinen Hut auf und thu' als ob du heim wolltest. Wenn du an der
Ecke bist, laß die andern laufen und komm durch's Heckengäßchen zurück.
Ich mach's grad' auch so.«

So ging also jedes der beiden mit einem andern Haufen Kinder ab, am
Ende des Heckenpfads trafen sie einander und als sie dann zusammen
die Schule erreichten, hatten sie dieselbe ganz für sich allein. Sie
setzten sich neben einander, nahmen eine Tafel vor und Tom führte
Beckys mit dem Griffel bewaffnete Hand sorgsam mit der seinen und schuf
ein neues erstaunliches Wunder von Haus. Als das Interesse an der Kunst
etwas zu erlahmen begann, machten sich die zwei ans Plaudern. Tom
schwamm in einem Meer von Wonne. Jetzt fragte er:

»Magst du Ratten?«

»Puh nein, ich kann sie nicht ausstehen.«

»Ich auch nicht -- lebendige wenigstens. Aber tote, mein' ich, die man
an eine Schnur bindet und um seinen Kopf schwingt.«

»Nee, ich mach' mir überhaupt nicht viel aus Ratten, so oder so. Was
ich gern mag, ist Süßholz!«

»Das glaub' ich. Wollt', ich hätt' ein Stück!«

»Wirklich? Ich hab' eins. Da, du kannst ein bißchen dran kauen, mußt
mir's aber dann wiedergeben, gelt?«

Das war nun eine wundervolle Beschäftigung. So kauten sie denn
abwechselnd und baumelten dazu mit den Beinen gegen die Bank im
Uebermaß wonnigsten Behagens.

»Warst du schon einmal im Zirkus?« fragte Tom.

»Ja, und ich darf wieder hin, hat Papa versprochen, wenn ich sehr brav
bin.«

»Ich war schon drei- oder viermal -- nee noch viel, viel öfter dort.
Die Kirche ist gar nichts dagegen! Im Zirkus ist immer was los. Wenn
ich mal groß bin, werd' ich Hanswurst!«

»Wahrhaftig? Das wird reizend! Die sind immer so wunderhübsch gefleckt,
Hosen und Jacke und alles.«

»Das ist wahr. Und sie verdienen Haufen von Geld -- beinahe 'nen Dollar
im Tag, meint Ben Rogers. Sag' mal, Becky, warst du schon mal verlobt?«

»Was ist denn das?«

»Na, verlobt -- wenn man sich heiraten will.«

»Nein, nie.«

»Möchtest du's gern?«

»Vielleicht, ich weiß nicht. Wie ist's denn ungefähr?«

»Wie's ist? Ja, wie gar nichts eigentlich. Du brauchst nur 'nem Jungen
zu sagen, du wolltst keinen andern haben als ihn, nie, nie und nimmer,
dann giebst du ihm 'nen Kuß und die Geschichte ist fertig. Das kann
doch ein kleines Kind -- nicht?«

»'nen Kuß? Warum denn den?«

»Ja, das muß man, weil, -- kurz, sie thun's eben alle, das gehört dazu.«

»Alle thun's?«

»Ja, alle die in einander verliebt sind. Weißt du noch, was ich dir auf
die Tafel geschrieben habe?«

»J--ja.«

»Was denn?«

»_Ich_ sag's nicht.«

»Soll _ich's_ sagen?«

»J--ja -- aber ein andermal.«

»Nein, jetzt.«

»Nein, nicht jetzt -- morgen.«

»Ach nein, jetzt, bitte, bitte, Becky. Ich will's auch nur ganz, ganz
leise sagen. Soll ich?«

Da Becky zögerte, nahm Tom ihr Schweigen für Zustimmung, schlang den
Arm um sie, legte den Mund dicht an ihr Ohr und flüsterte ihr leise,
leise die uralte Zauberformel zu. Dann fuhr er ermunternd fort:

»Jetzt bist du dran. Nun mußt du's sagen -- ganz dasselbe.«

Eine Weile widerstand sie, und bat dann:

»Du mußt dein Gesicht dorthin drehen, daß du mich nicht sehen kannst,
dann sag' ich's. Du darfst's aber keinem, keinem Menschen wieder sagen,
gelt Tom, das versprichst du, gelt?«

»Nie im Leben, Becky, gewiß und wahrhaftig. Na -- denn los!«

Er wandte den Kopf ab, sie beugte sich schüchtern zu ihm, bis ihr Atem
seine Wange streifte und seine Locken bewegte, und flüsterte: »Ich --
liebe -- dich.«

Dann sprang sie auf, rannte um Bänke und Tische, Tom immer hinterdrein,
nahm zuletzt Zuflucht in einer Ecke des Zimmers und drückte ihr
Gesichtchen fest in die weiße kleine Schürze. Tom schlang die Arme um
ihren Hals und bat:

»Jetzt, Becky, ist's ja beinahe vorbei -- nur noch der Kuß. Du brauchst
dich doch davor nicht zu fürchten, das ist ja gar nichts. Bitte, Becky.«

Und er versuchte Schürze und Hände vom kleinen Gesicht zu lösen.

Allmählich gab sie nach und ließ die Hände sinken. Das Gesichtchen,
ganz rot und erhitzt von der Anstrengung, kam zum Vorschein und
unterwarf sich der Prozedur. Tom küßte die roten Lippen und sagte:

»So, jetzt ist's geschehen, Becky. Und von jetzt an, weißt du, darfst
du nur mich lieben und heiraten und gar, gar keinen andern, nie,
niemals, in alle Ewigkeit nicht. Willst du?«

»Nein, ich will nie 'nen andern lieben, Tom, und nie 'nen andern
heiraten als dich, aber du darfst's auch nicht thun, Tom, darfst auch
nie 'ne andere heiraten wollen.«

»Gewiß! Natürlich, das gehört auch dazu. Und immer auf dem Weg zur
Schule oder nach Hause mußt du mit mir gehen, wenn's niemand sieht, und
bei Gesellschaften wähl' ich dich und du mich zum Spiel, denn so macht
man's, wenn man verlobt ist.«

[Illustration]

»Nein, wie hübsch! Davon hab' ich noch gar nichts gewußt.«

»Ja, 's ist schrecklich lustig. Ei, ich und Anny Lorenz --«

Beckys große, erschreckte Augen verrieten Tom sofort seinen Mißgriff.
Verwirrt hielt er ein.

»O, Tom. Ich bin also nicht die erste, mit der du verlobt bist?«

Ihre Thränen flossen. Tom tröstete:

»Wein' nicht, Becky. Ich mach' mir gar nichts mehr aus der.«

»Doch, Tom, doch -- du weißt selbst, daß du dir noch was aus ihr
machst ...«

Tom versuchte den Arm um ihren Hals zu legen, sie aber stieß ihn fort,
wandte das Gesicht der Wand zu und schluchzte herzbrechend weiter. Tom
versuchte es noch einmal mit sanft zuredenden Worten und wurde wieder
zurückgewiesen. Nun regte sich sein Stolz, stumm schritt er der Thüre
zu und ging hinaus. Draußen drückte er sich eine Weile herum, rastlos
und unbehaglich, von Zeit zu Zeit nach der Thüre schielend, in der
Hoffnung, sie würde bereuen und kommen, ihn zurück zu holen. Sie aber
kam nicht. Nun wurde ihm schlecht zu Mute und er begann zu fürchten,
daß er selber im Unrecht sei. Es kostete ihn einen harten Kampf, noch
einmal Annäherungsversuche zu machen, doch wappnete er sich schließlich
mit Mannesmut und ging hinein. Dort stand Becky noch in ihrem Winkel
und weinte, das Gesicht gegen die Wand gepreßt. Toms Herz krampfte sich
zusammen bei dem Anblick. Er trat zu ihr, im Moment ratlos, wie er die
Verhandlungen einleiten sollte. Endlich stieß er zögernd hervor:

»Becky, ich -- ich mag keine andre mehr sehen, als dich.«

(Keine Antwort -- nur erneutes Schluchzen.)

»Becky,« -- (bittend.)

»Becky, willst du mir gar nichts sagen?«

(Heftiges Schluchzen.)

Tom grub in seinen Taschen und brachte endlich das Kleinod seines
Herzens, den Messingknopf irgend eines alten Deckels, zum Vorschein,
hielt ihr denselben vor, so daß sie ihn sehen konnte und sagte in
einladendem Tone:

»Bitte, Becky, nimm doch das da, sieh mal her!«

Sie aber schlug's unbesehen zu Boden. Nun wandte sich Tom wortlos,
schritt aus dem Hause und suchte das Weite, um für diesen Tag nicht zur
Schule zurück zu kehren. Bald ward es Becky klar, was sie verscherzt
hatte. Sie rannte nach der Thüre, auf den Hof, flog um die Ecke des
Hauses -- er war nicht mehr zu sehen. Nun erhob sie die Stimme:

»Tom, Tom, komm zurück, Tom!«

Atemlos lauschte sie, keine Antwort. Ihre einzigen Gefährten waren
Schweigen und Einsamkeit. Wieder setzte sie sich, um zu weinen, und als
dann die Schüler zu den Nachmittagsstunden herbei zu strömen begannen,
mußte sie ihre Trauer bergen, ihr gebrochenes Herz zur Ruhe bringen
und das Kreuz eines langen, trübseligen, schmerzvollen Nachmittags auf
sich nehmen, ohne unter diesen Fremden auch nur eine fühlende Brust zu
haben, die ihren Schmerz hätte teilen können. --



Siebentes Kapitel.


Tom schlich sich fort auf Seitenpfaden bald zur Rechten und bald
zur Linken, um dem Späherauge der zur Schule zurück pilgernden
Kinder zu entgehen. Er setzte einigemale über einen kleinen Bach, da
kreuzweises Ueberschreiten von Wasser ein gutes Mittel sein sollte,
sich geplanter Verfolgung sicher zu entziehen. Eine halbe Stunde später
sah man ihn oben hinter dem letzten hochgelegenen Haus des Städtchens
verschwinden, die Schule lag wie im Nebel weit hinter ihm. Nun kam er
in einen dichten Wald, bahnte sich mühsam einen Weg recht ins Dickicht
hinein und warf sich ins weiche Moos unter einer breitästigen Eiche
nieder. Nicht ein Lüftchen regte sich, die brütende Mittagsglut hatte
selbst den Sang der Vöglein verstummen machen. Die ganze Natur lag
regungslos, wie in Verzückung, nur das gelegentliche, wie aus weiter
Ferne ertönende Hämmern eines Spechtes unterbrach die lautlose Stille
und schien die ringsum herrschende Einsamkeit nur noch lastender
und fühlbarer zu machen. Des Knaben Seele badete sich gleichsam in
Schwermut, seine Gefühle befanden sich im glücklichsten Einklang mit
der Umgebung. Lange saß er so, die Ellbogen auf die Kniee, das Gesicht
in die Hände gestützt und dachte nach. Ihm schien das Leben im besten
Falle nur eine Last zu sein und er beneidete beinahe den Jimmy Hodges,
der kürzlich von dieser Last erlöst worden war. So friedlich und schön
dachte er's sich, da unten zu liegen, zu schlummern und zu träumen
für immer und immer, während der Wind in den Bäumen spielte und mit
den Blumen und Gräsern koste, die auf dem Grabe standen. Da gab es
dann nichts mehr, über das man sich zu quälen und zu grämen brauchte.
Wenn nur sein Sonntagsschul-Gewissen rein wäre, wie gerne würde er der
ganzen Welt Valet sagen. Und was jenes Mädchen betraf -- was hatte
er eigentlich gethan? Nichts. Er hatte es so gut gemeint, wie nur
einer in der Welt und war behandelt worden, wie ein Hund, -- wie ein
elender Hund. Sie würde es bereuen eines Tages -- wenn es zu spät wäre
vielleicht. Ach, wenn er nur sterben könnte, nur für _einige Zeit_!

Das elastische Herz der Jugend aber läßt sich nicht lange in ein und
dieselbe Form zusammenpressen. Tom glitt alsbald wieder ganz unmerklich
in die Interessen dieses Lebens zurück. Wie, wenn er allem den Rücken
kehrte und geheimnisvoll verschwände? Oder wenn er davon wanderte,
weit, weit, ewig weit fort, in ferne fremde Länder jenseits der See
und niemals wieder käme? Wie würde Becky zu Mute sein? Der Gedanke,
ein Hanswurst zu werden, stieg auch wieder in ihm auf, aber er wies
ihn mit Ekel von sich. Tollheit und Witze nebst gesprenkelten Trikots
waren jetzt förmlich eine Beleidigung für seinen Geist, der sich in das
nebelhafte, hehre Gebiet der Romantik aufgeschwungen hatte. Nein, ein
Soldat wollte er werden und nach langen, langen Jahren wiederkehren,
kriegsmüde, ruhmbedeckt. Oder, noch besser! Er wollte zu den Indianern
gehen, Büffel jagen, den Kriegspfad beschreiten in den wilden Bergen
und unermeßlich weiten Ebenen des ›Fernen Westens‹, und dann einmal
in grauer Zukunft zurückkehren als großer Häuptling, starrend von
Federn, scheußlich bemalt, und an einem schläfrigen Sommermorgen mit
gellendem Kriegsgeheul, welches das Blut gerinnen machte, in die
Sonntagsschule einbrechen, wo die Herzen und Augen seiner Kameraden
ihn förmlich verzehren würden vor sengendem Neid. Halt, es gab noch
etwas Größeres als selbst dieses! Ein Seeräuber wollte er werden! Das
war's. Jetzt lag seine Zukunft klar vor ihm, strahlend in unsagbar
blendendem Glanze. Wie würde sein Name die Welt erfüllen und alle
Menschen schaudern und erbeben machen! Wie glorreich würde er auf
seinem langen, niedrigen, kohlschwarzen Schnellsegler ›Sturmesfittich‹
die wogenden Wellen der See durchfurchen, während die düstere Flagge
vom Vordermast wehte, ein gefürchtetes Zeichen auf allen Meeren. Und,
auf dem Gipfel seines Ruhmes angelangt, wie wollte er plötzlich im
alten Städtchen erscheinen, in die Kirche treten, braun und verwettert,
in seinem schwarzen Sammtwams und der faltigen Pluderhose, seinen
hohen Stulpstiefeln, der roten Schärpe und dem mit wallenden Federn
besteckten Schlapphut, den Gürtel starrend von Reiterpistolen, das in
blutigen Metzeleien eingerostete Schwert an der Seite; sodann wollte er
die schwarze Flagge mit dem Totenschädel und den gekreuzten Gebeinen
darauf entfalten und mit einem das Herz zum Zerbersten schwellenden
Entzücken das Raunen und Flüstern hören: »Seht, das ist Tom Sawyer, der
Pirat! Der schwarze Würger der spanischen Meere!«

Ja, nun war's entschieden, seine Laufbahn festgestellt. Er wollte von
Hause weglaufen und dieselbe sofort antreten. Gleich am nächsten Morgen
wollte er's thun! Drum mußte er aber auch sofort an die Vorbereitungen
gehen. Es galt zunächst, all seine Reichtümer zusammen zu tragen. So
ging er denn zu einem verfaulten Baumstamm in der Nähe und begann an
einem Ende desselben mit seinem Messer den Boden aufzuwühlen. Bald
kam er auf Holz, das hohl klang. Er legte die Hand darauf und sprach
andächtig die Beschwörungsformel:

    »_Erscheine_, was nicht hier,
    Und was schon hier war, _bleibe_!«

Danach kratzte er die Erde vollends weg und legte eine fichtene
Schindel bloß. Diese hob er empor und nun zeigte sich eine schmucke,
kleine Schatzkammer, deren Boden und Wände ebenfalls aus Schindeln
bestanden. Eine _einzige_ Glaskugel lag darinnen. Toms Erstaunen war
grenzenlos. Verblüfft kratzte er sich am Kopfe und sagte:

»Na, das übersteigt denn doch alles!«

Drauf schleuderte er die Kugel zornig von sich und überlegte die Sache,
tief in Brüten versunken. Einer seiner festesten Glaubenssätze, die bis
jetzt ihm und seinen Kameraden für unfehlbar gegolten, war soeben ins
Wanken geraten. Wenn man eine solche Kugel vergrub, so hieß es, und die
nötigen Formalitäten dabei streng befolgte, dann nach vierzehn Tagen
an dem Platz wieder nachsah mit eben der Formel, die Tom gesprochen,
so würde man alle Kugeln, die man jemals im Leben verloren, um die
eingegrabene versammelt finden, einerlei, wie weit zerstreut sie
gewesen. So lautete der Satz. Und nun war das Ding fehlgeschlagen,
fraglos, zweifellos fehlgeschlagen. Toms ganzes Glaubensgebäude wankte
in seinen Grundfesten. Immer nur hatte er von dem Erfolg, niemals von
dem Mißglücken dieses Verfahrens gehört. Er selbst hatte es schon
einigemale probiert, und nur keinen Erfolg gehabt, weil er nie das
Versteck wieder auffinden konnte. Ratlos brütete er eine Zeitlang über
der Sache und kam schließlich zu der Einsicht, daß irgend eine Hexe die
Hand im Spiel gehabt und den Zauber gebrochen haben müsse. Davon wollte
er sich nun überzeugen. So suchte er denn herum, bis er einen kleinen
sandigen Fleck entdeckte, mit einer trichterförmigen Vertiefung in der
Mitte. Er legte sich flach auf den Boden, hielt den Mund dicht an diese
kleine Höhlung und rief:

    »Faulpelzkäfer, Faulpelz du,
    Sag' mir, was du weißt, im Nu!«

Da begann es im Sande zu arbeiten, und gleich danach erschien auf einen
Augenblick ein kleiner, schwarzer Käfer an der Oberfläche, der sich
aber alsbald erschreckt wieder zurückzog.

»Haha! Der wagt's nicht, was zu sagen. 's war also richtig eine Hexe!
Hab' mir's doch gedacht!«

Da er die Fruchtlosigkeit eines Versuchs, es mit Hexen und Dämonen
irgend welcher Art aufnehmen zu wollen, kannte, so gab er dies sofort
entmutigt auf. Dann fiel ihm ein, daß er doch wenigstens die Kugel
nehmen sollte, die er weggeworfen im ersten Zorn, und er begab sich
geduldig an's Suchen, konnte sie aber nicht finden. Nun ging er zur
Schatzkammer zurück, stellte sich sorgfältig wieder gerade so hin, wie
er zuvor gestanden, als er die Kugel weggeschleudert, nahm eine zweite
Kugel aus der Tasche, warf diese nach derselben Richtung und sagte:

»Bruder, such' den Bruder flink!«

Genau paßte er auf, wo sie hinflog, ging dann hin und sah nach.
Entweder war sie zu kurz oder zu weit geflogen, noch zweimal mußte
er dasselbe Experiment wiederholen. Das letztemal war es von Erfolg
begleitet. Die beiden Kugeln lagen nur einen Fuß weit von einander
entfernt.

Gerade im selben Moment ertönte von fern der schwache Klang einer
Blechtrompete durch die grünen Bogengänge des Waldes. Im Nu hatte
sich Tom seiner Jacke und Hosen entledigt, einen Hosenträger in einen
Gürtel verwandelt, einen Haufen Gestrüpp hinter dem faulenden Holzstamm
beiseite geschoben, sich eines Bogens samt Pfeilen, eines hölzernen
Schwertes und einer Blechtrompete bemächtigt und stürzte nun davon,
barfuß, in flatterndem Hemde. Bald darauf machte er Halt unter einer
großen Ulme, stieß antwortend seinerseits ins Horn, begann dann sich zu
recken und kriegerisch nach allen Seiten auszuspähen. Vorsichtig mahnte
er eine, nur im Geist vorhandene Schar von Getreuen:

»Haltet euch still, meine Tapferen! Versteckt euch, bis ich blase!«

[Illustration]

Jetzt erschien Joe Harper auf der Bildfläche, ebenso luftig gekleidet
und ebenso furchtbar gewappnet wie Tom. Da rief dieser:

»Halt! Wer wagt es den Sherwood-Forst zu betreten ohne meine
Erlaubnis?«

»Guy von Guisborne bedarf keines Sterblichen Erlaubnis. Wer bist du,
der du -- der du --«

»Es wagst eine solche Sprache zu führen,« fiel Tom schnell ein, denn
sie sprachen ›nach dem Buche‹ aus dem Gedächtnisse.

»Wer bist du, der du es wagst eine solche Sprache zu führen?«

»Ich, fragst du, wer ich sei? Ich bin Robin Hood, was dein klapperndes
Gebein alsbald erfahren soll.«

»Du wärest in der That jener berühmte Geächtete? Mit Freuden will ich
mit dir um das Recht der Herrschaft in diesem fröhlichen Forst ringen.
Sieh dich vor!«

Beide zogen ihre Lattenschwerter und ließen die andern Waffen zu Boden
fallen, nahmen Fechterstellung ein, Fuß an Fuß, und begannen einen
ernsten, regelrechten Kampf: »zwei Hiebe oben, zwei unten.« Alsbald
rief Tom:

»So, wenn du's los hast, laß' uns mal schneller 'rin gehen!«

Und sie gingen ›schneller 'rin‹ bis sie keuchten und schwitzten vor
Anstrengung. Nun brüllt Tom:

»Fall' doch, fall', warum fällst du nicht?«

»Ich? Fall' du selber. Du kriegst die dicksten Hiebe.«

»Darauf kommt's gar nicht an. _Ich_ kann nicht fallen. So steht's nicht
im Buch. Dort heißt's: ›Und mit einem gewaltigen Streiche von rückwärts
fällte er den armen Guy von Guisborne!‹ Du mußt dich also umdrehen und
ich hau' dich von hinten nieder.«

Um diese Autorität war nun nicht herum zu kommen, Joe drehte sich,
erhielt seinen Streich und fiel.

»Jetzt aber,« rief Joe, der ebenso flink wieder empor schnellte, »ist
die Reihe an mir, dich tot zu hauen. Los also, dreh' dich um -- was dem
einen recht ist, ist dem anderen billig. Nun, wird's bald?«

»Ja, aber, Joe, das kann ich doch nicht, so steht's ja gar nicht im
Buch.«

»Na, das ist dann einfach eine Gemeinheit, weiter sag' ich gar nichts.«

»Du, hör' mal, Joe, du könntest ja der Bruder Tuck sein oder Much, der
Müllerssohn, und mich mit einem Prügel für Zeit meines Lebens lahm
hauen. Oder, wart', ich weiß noch was Besseres. Du bist Robin Hood für
ein Weilchen und ich der Sheriff von Nottingham und du haust mich tot.«

Damit war nun Joe zufrieden, und so wurden denn beide Abenteuer mit
der nötigen Feierlichkeit in Scene gesetzt. Dann verwandelte sich Tom
wieder in Robin Hood und Joe, der die verräterische Nonne vorstellte,
ließ ihn sich an seiner Wunde zu Tode bluten. Zuletzt schleifte ihn der
vielseitige Joe, der nun eine ganze Bande trauernder Räuber darstellte,
nach vorn, legte Bogen und Pfeil in die zitternden Hände des Sterbenden
und dieser hauchte: »Wo dieser Pfeil niedersinken wird, da verscharret
die Reste des armen Robin Hood unter den Bäumen des Waldes.« Der Pfeil
entschwirrte der Sehne, Tom fiel zurück und würde gestorben sein, wenn
er nicht zufällig in einen Nesselbusch gesunken und für eine Leiche
etwas allzu lebhaft emporgesprungen wäre.

Drauf steckten sich die Jungen wieder in ihre Kleider, verbargen ihre
Waffenausrüstung und zogen von dannen, in Trauer versunken darüber, daß
das Zeitalter der Geächteten und Räuber entschwunden war. Vergeblich
fragten sie sich, welche Errungenschaft moderner Gesittung wohl diesen
Verlust aufzuwiegen vermöchte. Ihrem eigenen Gefühl nach wären die
beiden weit lieber ein einziges kurzes Jahr lang Räuber, vervehmte,
geächtete Räuber im Sherwood-Forste gewesen, als Präsident der
Vereinigten Staaten auf Lebenszeit.

[Illustration]



Achtes Kapitel.


Um halb zehn Uhr an jenem Abend wurden Tom und Sid wie gewöhnlich zu
Bette geschickt. Sie sprachen ihr Gebet und Sid war bald eingeschlafen.
Tom lag wach und wartete in rastloser Ungeduld. Als er schon meinte,
es müsse beinahe Morgen sein, schlug die Uhr zehn -- es war rein zum
Verzweifeln. Er würde sich im Bette herum geworfen haben, unaufhörlich
von einer Seite zur andern, wie es seine Nerven gebieterisch
verlangten, hätte er nicht gefürchtet, Sid dadurch zu wecken. So
lag er denn krampfhaft ruhig und starrte hinein in die Finsternis.
Allmählich begannen sich in der beinahe greifbaren Stille kleine, kaum
zu unterscheidende Geräusche bemerkbar zu machen. Erst drängte sich ihm
der Laut der tickenden Uhr auf. Alte Balken krachten geheimnisvoll.
Die Treppe knisterte leise. Augenscheinlich waren die Geister munter.
Ein taktmäßiges, gedämpftes Schnarchen klang aus Tante Pollys Zimmer.
Und jetzt begann auch noch einer Grille ermüdendes Zirpen, das mit
Genauigkeit zu lokalisieren kein menschlicher Scharfsinn je imstande
ist. Dann machte das unheimliche Ticken einer Totenuhr in der Wand,
am Kopfende des Bettes, Tom zusammenschaudern, -- bedeutete es doch,
daß jemands Tage gezählt seien. Nun erhob sich das klagende Geheul
eines Hundes in die Nachtluft, dem leiseres Gewinsel aus der Ferne
antwortete. Tom lag in reiner Todesangst da. Er war fest überzeugt,
daß die Zeit aufgehört, die Ewigkeit begonnen habe. Trotz allem
Bemühen, sich wach zu halten, begann er leise einzudämmern. Die Uhr
schlug elf, er aber hörte es nicht mehr. Auf einmal tönte mitten in
seine noch gestaltlosen Träume hinein das langgezogene, schwermütige
Miauen eines Katers. Das Oeffnen eines benachbarten Fensters, der Ruf:
›Verfluchtes Katzenpack!‹ und das Zersplittern einer gegen die Mauer
geschleuderten leeren Flasche ließ ihn entsetzt und urplötzlich wach
in die Höhe fahren. Eine Sekunde später war er angezogen, zum Fenster
hinaus und kroch auf allen Vieren auf dem Dache des Vorbaues entlang.
Dabei miaute er ein- oder zweimal mit großer Vorsicht, sprang dann auf
das Dach des Holzschuppens und von dort zu Boden. Huckleberry Finn
mit seiner toten Katze erwartete ihn. Die Jungen entfernten sich und
verschwanden im Dunkel. Eine halbe Stunde später wateten sie durch das
hohe Gras des Friedhofs.

Es war ein Friedhof nach der altmodischen Art des Westens und lag
auf einem Hügel, etwa eine halbe Stunde vom Städtchen entfernt. Ihn
umgrenzte ein wackeliger Bretterzaun, der sich abwechselnd bald nach
innen, bald nach außen lehnte, nirgends aber gerade stand. Gras und
Unkraut wucherten üppig über den ganzen Begräbnisplatz hin. Die alten
Gräber waren sämtlich eingesunken. Kein Grabstein war zu erblicken.
Wurmstichige Bretter schwankten statt dessen lose und schief auf den
verfallenen Hügeln, schienen nach einer Stütze zu suchen und keine
zu finden. ›Zum Gedächtnis an -- so -- und so‹ war einst auf ihnen
zu lesen gewesen, jetzt aber war's nicht mehr zu entziffern, auf den
meisten wenigstens nicht, selbst im hellsten Tageslicht.

Ein schwacher Windzug ächzte in den Bäumen; Tom war's, als müßte es das
Seufzen der Toten sein, die sich über die Störung beklagten. Die Jungen
sprachen nur wenig und nur im Flüsterton, denn Zeit und Ort, sowie
das feierliche, tiefe Schweigen versetzte sie in gedrückte Stimmung.
Bald fanden sie den frisch aufgeworfenen Haufen, den sie suchten, und
verschanzten sich in dem Schutze von drei großen Ulmen, die in einer
dichten Gruppe, wenige Fuß vom Grabe entfernt, wuchsen.

Dort warteten sie schweigend eine Zeitlang, die ihnen eine Ewigkeit
schien. Das Geschrei einer fernen Eule war alles, was die Totenstille
unterbrach. Toms Gedanken wurden niederdrückend, er mußte ein Gespräch
erzwingen um jeden Preis. So flüsterte er denn:

»Huckchen, meinst du, daß die toten Leute da drunten etwas dagegen
haben, daß wir hier sind?«

Worauf Huckleberry zurück flüsterte:

»Möcht's selber wissen. Aber gelt, 's ist furchtbar feierlich, nicht?«

»Weiß Gott, das ist's -- uff!«

Lange Pause, während die Jungen noch einmal innerlich der Sache
nachgrübelten. Wieder wisperte Tom:

»Du, Huckchen, glaubst du, daß der alte Williams uns hören kann?«

»Natürlich kann er, wenigstens sein Geist.«

Tom, nach einer Pause:

»Hätt' ich doch _Herr_ Williams gesagt! Ich hab's aber nicht bös
gemeint. Jedermann nennt ihn doch den alten Williams.«

»Ja, man kann nicht vorsichtig genug sein in dem, was man über die
Leute da drunten sagt, Tom.«

Dies war ein warnender Dämpfer und das Gespräch erstarb von neuem.
Plötzlich ergriff Tom den Arm seines Kameraden:

»Scht!«

»Was giebt's, Tom?« Und die zwei umklammerten sich gegenseitig,
atemlos, wild pochenden Herzens.

»Scht! Da ist's wieder. Hast du denn nichts gehört?«

»Ich --«

»Da, noch einmal! Jetzt mußt du's doch hören!«

»Herr Gott, Tom, da kommen sie! Gewiß und wahrhaftig, da kommen die
Teufel! Was sollen wir anfangen?«

»Ich weiß nicht. Ob sie uns sehen?«

»O, Tom, Tom, die sehen im Dunkeln, grad' wie die Katzen. Ach, wär' ich
doch nicht hierher gegangen.«

»Na, alter Waschlappen, fürcht' dich doch nicht so! Ich glaub' nicht,
daß die sich viel um uns kümmern. Wir thun ja niemand nichts Böses.
Wenn wir uns ganz mucks-mäuschenstill verhalten, merken sie vielleicht
gar nicht, daß wir da sind.«

»Ich will mich ja nicht fürchten, Tom, aber ich -- ich -- ach Gott, ich
klapper' nur so in meiner Haut.«

»Horch doch!«

Die Jungen steckten die Köpfe zusammen und atmeten kaum. Ein
unterdrücktes Geräusch wie von Stimmen ertönte vom andern Ende des
Friedhofs.

»Sieh, sieh dort!« hauchte Tom. »Was ist das?«

»'s ist Hexenfeuer. Ach Tom, das ist grausig.«

Einige undeutlich nebelhafte Gestalten näherten sich in dem Dunkel. Sie
schwangen eine altmodische Blechlaterne, die den Boden mit unzähligen
kleinen Lichtfleckchen besäete. Alsbald flüstert Huck schaudernd:

»Da, das sind die Teufel, gewiß und wahrhaftig! Und gleich drei auf
einmal! Herr Gott, Tom, wir sind hin! Kannst du beten?«

»Ich will's mal probieren. Aber fürcht' du dich doch nicht so, die thun
uns sicher nichts. Wart', ich bet'! ›Müde bin ich, geh zur Ruh, schließ
die beiden Augen zu, Vater laß --‹«

»Scht!«

»Was giebt's, Huck?«

»'s sind Menschen! Einer davon mal gewiß! Die eine Stimme kenn' ich,
die gehört dem alten Muff Potter.«

»Nee, wahrhaftig?«

»Na, ich wett' mein' Seel'. Rühr' du dich aber nicht, der merkt nichts
von uns. Ist natürlich wieder voll, wie gewöhnlich -- verflixter alter
Saufaus!«

»Schon gut, ich muckse mich nicht. Da, sie bleiben stehen, können's
nicht finden. Jetzt geht's wieder vorwärts, -- es wird heiß[5] -- kalt
-- ganz kalt -- jetzt lau -- da warm -- puh, nun wird's aber heiß --
heißer, glühend! Scht -- da sind sie! Huck, ich kenn' noch einen, 's
ist der Indianer-Joe.«

    [5] Dem Leser ist wohl das Spiel ›kalt oder warm‹ bekannt.

            Der Uebers.

»Der mörderische Lump! Teufel wären mir fast lieber! Auf was die wohl
aus sind?«

Letztere Worte waren bloß noch gehaucht, denn die drei Männer hatten
nun das Grab erreicht und standen kaum ein paar Fuß von dem Versteck
der Jungen entfernt.

»Hier ist's!« sagte die dritte Stimme; der, welcher gesprochen hatte,
hielt die Laterne in die Höhe und zeigte im Strahl des Lichtes das
Antlitz des jungen Doktors Robinson.

Potter und der Indianer-Joe schleppten eine Trage mit einem Seil und
ein paar Schaufeln drauf. Sie setzten ihre Last nieder und begannen das
Grab zu öffnen. Der Doktor stellte die Laterne zu Häupten desselben,
ging und setzte sich, mit dem Rücken gegen einen der Ulmenbäume
gelehnt. Er war so dicht bei den Jungen, daß diese ihn hätten berühren
können.

»Eilt euch, Leute!« sagte er mit leiser Stimme. »Der Mond kann jeden
Augenblick heraus kommen.«

Die brummten eine Antwort und fuhren fort zu graben. Eine Zeit lang
hörte man kein anderes Geräusch, als das Knirschen der sich ihrer
Last von Erde und Sand entladenden Schaufeln. Es klang unsäglich
eintönig. Endlich stieß ein Spaten mit dumpfem, hohlem Laut auf den
Sarg und in der nächsten Minute hatten die Männer diesen empor an die
Oberfläche gehoben. Sie brachen den Deckel mit ihren Schaufeln auf,
rissen den Leichnam heraus und warfen ihn roh zur Erde. Eben trat der
Mond hinter den Wolken vor und beleuchtete das starre, weiße Antlitz.
Die Trage wurde herbeigebracht, die Leiche darauf gelegt, mit einer
Decke verhüllt und mit dem Seile festgebunden. Potter holte ein großes
Klappmesser aus der Tasche, schnitt das niederhängende Ende des Seiles
ab und sagte:

»Jetzt ist das verfluchte Ding abgethan, Knochensäger, jetzt rückst du
mit noch 'nem Fünfer heraus, oder die Bescherung bleibt hier.«

»Recht gesprochen, beim Schinder!« bekräftigte der Indianer-Joe mit
einem Fluche.

»Hört mal, Leute, was soll das heißen?« sagte der Doktor. »Ihr habt
Vorausbezahlung verlangt und sie auch gekriegt und damit basta!«

»Jawohl, basta,« zischte der Indianer-Joe und sprang auf den Doktor zu,
der nun aufrecht stand. »Wir zwei sind noch lang' nicht fertig, daß
du's nur weißt. Vor fünf Jahren jagtest du mich wie einen Hund von der
Thüre deines Vaters weg, als ich um etwas zu essen bat; ›der Kerl ist
wegen ganz was andrem da‹, hieß es. Als ich dann sagte, das solltest
du mir ausfressen, und wenn's erst nach hundert Jahren wäre, da ließ
mich der Herr Vater als Strolch einsperren. Meinst du, das hätt' ich
vergessen? Ich hab' nicht umsonst Indianerblut in mir. Jetzt hab' ich
dich und jetzt kommt die Abrechnung, merk' dir's!«

Er fuchtelte dem Doktor dabei mit der geballten Faust unter der Nase
herum. Dieser schlug plötzlich aus und streckte den Schurken zu Boden.
Da ließ Potter sein Messer fallen und rief:

[Illustration]

»Was da! Ich laß meinen Kameraden nicht hauen.« Im nächsten Moment
hatte er den Doktor umklammert und die beiden rangen mit Macht und
Gewalt, Gras und Boden dabei wild zerstampfend. Der Indianer-Joe
sprang auf die Füße, seine Augen glühten und flammten vor Wut, er hob
Potters Messer vom Boden auf und umkreiste unheimlich, katzenartig
die Ringenden, nach einer Gelegenheit spähend. Plötzlich gelang es
dem Doktor, seinen Gegner abzuschütteln. Mit einem Griff riß er das
schwere, breite Brett, das auf Williams' Grabe gestanden, an sich und
schlug Potter damit zu Boden. Im selben Moment aber hatte auch der
Indianer-Joe die günstige Gelegenheit ersehen; bis zum Heft stieß er
das Messer in des jungen Mannes Brust. Der wankte und fiel teilweise
auf Potter, den er mit seinem Blute überströmte, -- da verkroch sich
der Mond hinter Wolken und entzog das gräßliche Schauspiel den Augen
der entsetzten Knaben, die in dem Dunkel sich eiligst davon machten.

Als der Mond wieder hervor trat, stand der Indianer-Joe vor den beiden
hingestreckten Gestalten und betrachtete sie. Der Doktor murmelte etwas
Unverständliches, holte ein- oder zweimal tief Atem und -- war still.
Der Mörder brummte:

»Jetzt ist's abgerechnet -- fahr' zur Hölle!«

Dann beraubte er die Leiche, wonach er das verhängnisvolle Messer
in Potters geöffnete rechte Hand steckte, sich selbst aber auf den
zertrümmerten Sarg setzte. Drei -- vier -- fünf Minuten verflossen, da
begann Potter zu stöhnen und sich zu bewegen. Seine Hand umschloß das
Messer, er hob's empor, warf einen Blick drauf und ließ es mit einem
Schauder fallen. Dann richtete er sich auf, schob den toten Körper
zurück, starrte drauf nieder und dann verwirrt in die Runde. Seine
Augen begegneten denen Joes.

»Herrgott, wie kam's denn, Joe?« fragte er.

»Ja, das ist 'ne faule Sache, Potter,« versetzte dieser, ohne sich zu
rühren. »Daß du aber auch gleich so drauf losgehen mußt!«

»Ich? Ich hab's doch nicht gethan!«

»Hör' mal, du, das Geschwätz wäscht dich noch lang' nicht weiß.«

Potter zitterte und wurde leichenblaß.

»Hab' ich doch gemeint, ich wär' nüchtern gewesen, was hab' ich auch
am Abend so trinken müssen, ich alter Esel. Ich hab's noch im Kopf,
das spür' ich -- schlimmer als im Anfang, wie wir kamen. Ich bin rein
wie im Dusel -- kann mich auf nichts besinnen. Sag' doch, Joe -- aber
ehrlich, alter Kerl, -- hab' ich's wirklich gethan, Joe? Ich hab's ja
gewiß und wahrhaftig nicht gewollt, auf Ehr' und Seligkeit, ich hab's
nicht thun wollen, Joe. Wie ist's denn eigentlich gewesen, Joe? Ach, 's
ist gräßlich -- und er so jung und hoch begabt!«

»Na, ihr beiden balgtet euch und er hieb dir eins mit dem Brett dort
über und du fielst um wie ein Sack. Dann rappeltest du dich wieder auf,
ganz taumelig und wackelig, griffst nach dem Messer und bohrtest es ihm
in die Rippen, gerade als er dir einen zweiten gewaltigen Klapps mit
dem Dings da versetzte. Seitdem lagst du da wie ein Klotz und hast dich
nicht gerührt.«

»O, ich hab' nicht gewußt, was ich thue. Will auf der Stelle tot
hinfallen, wenn ich's gewußt hab'. Daran ist nur der verdammte
Branntwein und die Aufregung schuld. Nie im Leben hab' ich's Messer
gezogen, Joe. Gerauft hab' ich, aber nie gestochen. Das kannst du von
jedem hören. Joe, verrat' mich nicht! Sag's, daß du mich nicht verraten
willst, Joe, bist auch 'n guter Kerl. Ich hab' dich immer gern gehabt,
Joe, und hab' dir's Wort geredet. Weißt du's nicht mehr? Gelt, du sagst
nichts, Joe?« Und der arme, geängstigte Kerl warf sich auf die Kniee
vor dem vertierten Mörder und faltete flehend die Hände.

»'s ist wahr, du hast immer zu mir gehalten, Muff Potter, und das will
ich dir jetzt gedenken. -- Das nenn' ich doch wie 'n ehrlicher Kerl
gesprochen, was?«

»O, Joe, du bist ein Engel. Ich will dich segnen, so lange ich lebe.«
Und Potter begann zu weinen.

»Na, komm, laß gut sein. Jetzt ist keine Zeit zum heulen und greinen.
Mach' dich fort, dort hinaus, ich geh' den Weg. Flink, los -- und daß
du mir keine Spuren zurücklässest!«

Potter schlug einen gelinden Trab an, der bald in ein Rennen ausartete.
Sein Geselle sah ihm nach und murmelte:

»Wenn er so benebelt ist vom Schnaps und vom Hieb, wie er aussieht, so
wird er nicht mehr an das Messer denken, bis er so weit weg ist, daß er
sich fürchtet allein hierher zurück zu kommen -- der Hasenfuß!«

Zwei oder drei Minuten später sah nur noch der Mond nieder auf den
Gemordeten, auf die verhüllte Leiche, den deckellosen Sarg und das
offene Grab. Lautlose Stille herrschte aufs neue.

[Illustration]



Neuntes Kapitel.


Die beiden Jungen flohen keuchend, sprachlos vor Entsetzen, dem
Städtchen zu. Von Zeit zu Zeit warfen sie angstvolle Blicke über die
Schultern zurück, als ob sie fürchteten, man könne sie verfolgen. Jeder
Baumstumpf, der sich am Wege erhob, schien ein Mensch und ein Feind,
dessen Anblick ihnen beinahe den Atem raubte. Als sie an einigen frei
gelegenen Häusern vorüber jagten, schien das Bellen der aufgestörten
Hofhunde ihren Sohlen Flügel zu verleihen.

»Wenn wir nur die alte Gerberei erreichen, ehe wir zusammenbrechen,«
keuchte Tom stoßweise zwischen das mühsame Atemholen hinein. »Ich kann
kaum mehr länger!«

Hucks Keuchen war seine einzige Antwort; die Jungen hefteten die Augen
fest auf das ersehnte Ziel ihrer Wünsche und strebten mit aller Macht,
es zu erreichen. Es rückte näher und näher und endlich stürzten sie,
Schulter an Schulter, durch die offene Thür und fielen atemlos in die
schirmenden Schatten des Raumes. Nach und nach mäßigten die jagenden
Pulse ihr Tempo und Tom flüsterte:

»Huckleberry, was denkst du, was draus werden wird?«

»Wenn der Doktor stirbt, wird einer baumeln.«

»Glaubst du?«

»Glauben? Das ist sicher!«

Tom dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Wer soll's denn sagen? -- Wir?«

»Unsinn! Wenn was dazwischen kommt und der Indianer-Joe doch nicht
baumeln muß, der würd' uns schön an den Kragen gehen, so gewiß ich hier
lieg'.«

[Illustration]

»Das hab' ich eben auch gedacht, Huck.«

»Wenn's einer sagen muß, so kann's ja der Muff Potter thun, dumm genug
ist er dazu. Beduselt ist er auch meistens.«

Tom sagte nichts, -- dachte weiter. Bald drauf flüsterte er:

»Huck, Muff Potter weiß ja von nichts. Wie kann der's sagen?«

»Warum weiß er von nichts?«

»Der hatte ja gerade den Hieb abgekriegt, als der andre zustach.
Glaubst du, daß der noch etwas gesehen haben kann, daß er noch was
weiß?«

»Allerdings mein' ich das, Tom!«

»Hör' du, der Hieb hat ihm am End' auch noch den Rest gegeben!«

»Das glaub' ich nicht, Tom. Der hatt' Branntwein im Kopf, ich hab's
gesehen. Wenn mein Alter voll ist, dürft' man ihm ohne Schaden mit 'nem
Kirchturm über den Kopf hauen, er würd's nicht spüren. Das sagt er
selber. Grad' so ist's mit Muff Potter natürlich. Wenn einer nüchtern
wäre, könnte er freilich am End' mit so 'nem Klapps genug haben.«

Nach einer anderen gedankenvollen Pause fragte Tom:

»Huckchen, bist du sicher, daß du reinen Mund halten kannst?«

»'s bleibt uns einfach gar nichts andres übrig, Tom. Das siehst du doch
selbst. Der Teufel von Indianerbrut schmisse uns ins Wasser, wie ein
paar Katzen, wenn wir nur davon mucksen wollten und er nicht richtig
drauf gehenkt würde. Hör' mal zu, Tom, wir müssen's uns gegenseitig
zuschwören, das müssen wir thun, schwören, daß wir nichts ausplappern!«

»Ist mir recht, Huck. 's wird wohl das beste sein. Heb' die Hand auf
und schwör' --«

»Nee, Tom, so leicht geht das nicht! Das ist freilich gut genug
für kleine, lumpige Sachen, -- besonders, wenn man was mit Mädchen
hat, die dummen Dinger verklatschen einen doch immer, wenn sie mal
in der Patsche sitzen, -- bei so was Großem aber, wie das, muß was
Schriftliches dabei sein -- und Blut!«

Tom war mit Leib und Seele bei dieser Idee. Sie war tief, düster,
unheimlich, -- mit der Zeit, dem Ort, den Umständen im Einklang. Er
hob eine reine Holzschindel auf, die dort im Mondlicht lag, nahm ein
Endchen Rotstift aus der Tasche, setzte sich so, daß der Mond die
Schindel beleuchtete und kritzelte darauf folgende Zeilen, jeden
Grundstrich mit einem krampfhaften Druck der Zunge gegen die Zähne
betonend, der bei den Haarstrichen mechanisch nachließ:

»_Huck Finn und Tom Sawyer, die schwören, daß sie hierüber den Mund
halden wollen und wollen auf der stelle tot umfallen, wann sie's
jehmals ausblautern._«

Huckleberry war voll Staunen und Bewunderung ob Toms Gewandtheit
im Schreiben und der Erhabenheit seines Stils. Flink zog er eine
Stecknadel aus seinem Jackenfutter und wollte sich eben sein Fleisch
ritzen, als Tom rief:

»Wart', thu's nicht. So 'ne Nadel ist von Messing und da könnt'
Grünspan dran sein.«

»Grünspan? Was ist das für 'n Span?«

»Gift ist's, -- weiter nichts. Schluck's nur mal runter, wirst schon
sehen!«

Tom langte dann eine von seinen Nähnadeln vor, wickelte den Faden
ab und jeder der Jungen stach sich damit in den Ballen der Hand und
quetschte einen Tropfen Blut hervor.

Mit Geduld, nach oftmaligem Quetschen, brachte denn auch Tom seine
Initialen zustande, wozu er die Spitze des kleinen Fingers als Feder
gebrauchte. Dann zeigte er Huckleberry, wie dieser ein ~H~ und ein
~F~ zu machen habe und der Eidschwur war gültig. Sie vergruben die
Schindel dicht an der Mauer, unter Anwendung von allerlei unheimlichen
Zeremonien und Zauberformeln, und die Fesseln, die ihre Zungen banden,
wurden als fest geschlossen, der Schlüssel dazu als weggeworfen
betrachtet.

Eine Gestalt schob sich in dem Moment verstohlen durch eine Lücke am
andern Ende des verfallenen Gebäudes, die Jungen aber bemerkten sie
nicht.

»Tom,« flüsterte Huckleberry, »werden wir nun niemals nichts von der
Geschichte sagen können, niemals?«

»Natürlich nicht. Was auch kommen mag, wir müssen den Mund halten.
Sonst fielen wir ja gleich tot um, hast du das schon vergessen?«

»Nee, -- aber -- ja, du hast recht.«

Eine Zeit lang flüsterten sie noch leise zusammen. Plötzlich schlug
ein Hund ein langgezogenes, unheimliches Geheul an, dicht vor ihrem
Schlupfwinkel, vielleicht zehn Schritte von ihnen entfernt. Die Jungen
umklammerten einander in Todesangst. Ihr Aberglaube hatte wieder die
Oberhand.

»Wen von uns meint er wohl?« ächzte Huckleberry.

»Weiß ich's? -- guck' durch den Ritz, schnell!«

»Guck' du, Tom!«

»Ich kann nicht -- kann's nicht, Huck!«

»Bitte, Tom, bitte! Da -- da ist's wieder!«

»Ach, Gottchen, wie dank' ich dir,« flüsterte Tom. »Ich kenn' die
Stimme, 's ist Harbisons Tyras seine.«

»Das ist 'n Glück, Tom, ich sag' dir, ich war halb tot vor Schreck;
dacht' schon, 's sei ein fremder Hund.«

Wieder heulte der Hund. Den Jungen sank das Herz abermals bis in die
unterste Zehenspitze.

»Ach, du mein alles,« stöhnte Huck, »das ist nicht Harbisons Tyras.
Guck' doch mal, Tom.«

Tom gab nach, obgleich er mit den Zähnen klapperte vor Furcht, und
legte sein Auge an die Ritze. Sein Flüstern war kaum verständlich, als
er zurück fuhr mit einem:

»Huck, 's ist _ein fremder Hund_!«

»Schnell, schnell, Tom, wen meint er von uns?«

»Er muß uns beide meinen, -- wir stehen dicht zusammen.«

»Tom, dann sind wir hin, ich sag' dir's. Wo ich hinkommen werde, für
mein Teil, weiß ich nur zu gut. Ich bin so oft gottlos gewesen.«

»Ach Huck, das kommt davon, wenn man die Schule schwänzt und immer
thut, was verboten ist. Ich hätt' grad' so gut und brav sein können
wie Sid, -- aber natürlich, das paßt mir nicht. Wenn ich noch mal mit
heiler Haut davon komme, so schwör' ich, daß ich mein Lebenlang in die
Sonntagsschule gehen will, -- ich Elender!«

Und Tom begann ein wenig zu schluchzen und sich die Augen zu reiben.

»Du, schlecht?« Auch Huckleberry schluchzte nun. »Ach was, Tom Sawyer,
du bist Gold, reines Gold, sag' ich dir, gegen mich. Ach, Gottchen,
Gottchen, Gottchen, -- ja, wenn ich nur halb die Gelegenheit gehabt
hätt', gut zu sein, wie du, Tom, ich --«

Tom brach plötzlich im Schluchzen ab und flüsterte freudig:

»Sieh' doch, Huck, sieh'! Er kehrt uns ja den _Rücken zu_!«

Nun schielte auch Huck durch die Ritze, Wonne im Herzen.

»Weiß Gott, so ist's! Hat er denn vorher das auch schon gethan?«

»Ei, freilich; ich Esel hab' aber gar nicht drauf acht gegeben. Na, das
ist herrlich! Jetzt aber, wen kann er meinen?«

Das Geheul verstummte. Tom spitzte die Ohren.

»Scht, -- was ist das?« flüsterte er.

»'s klingt wie -- na, wie Schweinegrunzen. Doch nein, -- da schnarcht
einer, Tom!«

»Wahrhaftig, so ist's! Woher kommt's wohl, Huck?«

»Ich glaub' von dort, vom anderen Ende. 's klingt wenigstens so.
Mein Alter hat dort manchmal geschlafen, aber, Herrgott, wenn _der_
schnarcht, fallen die Mauern ein. Ich glaub' auch nicht, daß der je
wieder hierher kommt.«

Noch einmal regte sich der Unternehmungsgeist in der Seele der Knaben.

»Huckchen, getraust du dir mitzukommen, wenn ich voran gehe?«

»Viel Lust hab' ich nicht, Tom. Wenn's nun der Indianer-Joe wäre?«

Tom fuhr zusammen und zögerte. Bald aber erhob sich die Versuchung
wieder mit aller Macht und die Jungen kamen überein, die Sache zu
untersuchen, aber Fersengeld zu geben, sowie das Schnarchen aufhöre. So
stahlen sie sich denn auf den Zehenspitzen, einer hinter dem andern,
dem Orte zu, von wo der Laut kam. Fünf Schritte etwa vom Schnarcher
entfernt, trat Tom auf einen Stock, der mit scharfem Knack zerbrach.
Der Mann stöhnte und wandte sich ein wenig, so daß sein Gesicht sich
dem Mondschein zukehrte. Es war Muff Potter. Den Jungen hatte das
Herz still gestanden, als der Mann sich regte, nun aber schwand ihre
Angst. Auf den Zehen schlichen sie hinaus durch die geborstene Mauer
und blieben in geringer Entfernung stehen, um ein Abschiedswort zu
tauschen. Wieder erhob sich jenes langgezogene, klägliche Geheul in die
Nachtluft hinein. Sie wandten sich und sahen den fremden Hund, nur ein
paar Schritte entfernt von dem Ort, an dem Potter lag, diesem den Kopf
zuwendend, mit der Schnauze gen Himmel deuten.

»Herr Jemine, den meint er!« riefen die beiden in einem Atem.

»Sag' mal, Tom, 's hat mir einer erzählt, daß um dem Johnny Miller sein
Haus 'n fremder Hund herumgeheult hätt' vor 'n paar Wochen und daß 'ne
Eule sich auf dem Dach gezeigt hat, und doch ist noch keiner tot dort.«

»Weiß ich. Das beweist aber gar nichts! Ist nicht am selben Sonnabend
die Grace Miller auf den Herd gefallen und hat sich schrecklich
verbrannt?«

»Wohl, aber tot ist sie doch nicht -- im Gegenteil viel besser.«

»Na, paß du nur auf, die muß sterben, so gewiß, wie der Muff Potter
dort sterben muß. So sagen die Nigger und die wissen Bescheid in den
Geschichten, Huck!«

Die Jungen trennten sich, in tiefes Nachdenken versunken.

Als Tom durch sein Schlafzimmerfenster zurückkroch, war die Nacht
beinahe vorüber. Er entkleidete sich mit der äußersten Vorsicht und
fiel in Schlaf, indem er sich selbst von Herzen Glück dazu wünschte,
daß niemand von seinem nächtlichen Ausflug etwas gemerkt habe. Armer,
blinder Tom! Er selbst hatte nichts gemerkt; er wußte nicht, daß der
sanft schnarchende Sid wachte, wach gewesen war seit einer Stunde.

Als Tom am andern Morgen die Augen aufschlug, war Sid angekleidet und
fort. Das Tageslicht draußen hatte ordentlich einen späten Schein, es
lag was Spätes in der ganzen Atmosphäre. Tom erschrak. Warum hat man
ihn nicht gerufen, -- ihn nicht geplagt wie gewöhnlich, bis er auf war?

Dieser Gedanke erfüllte ihn mit schlimmen Ahnungen. Innerhalb fünf
Minuten war er in den Kleidern und die Treppe hinunter, noch ganz
schwindelig und müde. Ihm war nicht wohl zu Mute. Die Familie saß noch
um den Tisch, das Frühstück war beendet. Keine Stimme des Vorwurfs
erhob sich, aber die abgewandten Augen aller, die Stille und so eine
Art Feierlichkeit, die das ganze Zimmer zu erfüllen schien, ließen des
armen Sünders Herz in ahnender Sorge erbeben. Er setzte sich nieder,
versuchte munter und unbefangen zu erscheinen, das aber war verlorne
Liebesmüh'. Kein Lächeln, keine Antwort kam; auch er verfiel in
Schweigen und sein Herz sank in die tiefsten Tiefen der Verzweiflung
und Bekümmernis.

Nach dem Frühstück nahm ihn die Tante beiseite und Tom lebte sichtlich
auf in der Erwartung, daß nun die wohlverdiente Züchtigung vom Stapel
laufen würde. Dem aber war nicht so. Tante Polly fing an zu weinen,
fragte, wie er es über sich gewänne, sie so zu betrüben, ihr altes Herz
beinahe zu brechen, und schloß damit, daß sie ihm sagte, er möge nur
hingehen, sich zu Grunde richten und ihre grauen Haare mit Schande in
die Grube bringen, sie könne ihn nicht mehr aufhalten, wolle es auch
gar nicht mehr probieren, es sei doch alles nutzlos und vergebens.
Das war schlimmer als die schlimmsten Prügel und Toms Herz war nun
noch matter und elender als sein Körper. Er weinte, bat um Verzeihung,
gelobte Besserung wieder und wieder und wurde schließlich entlassen mit
dem beschämenden Gefühl, doch nur halb und halb Vergebung und Vertrauen
in seine Gelöbnisse gefunden zu haben.

Er schlich aus dem Zimmer, zu elend selbst, um Rachegelüste gegen Sid,
den Verräter, zu spüren, und so war des letzteren hastige Flucht durch
die Hinterthüre unnötig. Trübselig und traurig machte er sich nach der
Schule auf und nahm mit Joe Harper zusammen seine Tracht Prügel für das
Schulschwänzen entgegen, mit der Miene eines Menschen, dessen Seele
schlimmeres Leid kennt und tot ist für die kleinen Kümmernisse dieser
Welt. Dann verfügte er sich nach seinem Platz, stützte die Ellenbogen
auf den Tisch, das Kinn auf die Hände, bohrte den Blick in die Wand
und saß da, ein Bild starrer Verzweiflung, die ihre Grenzen erreicht
hat und nicht weiter zu gehen vermag. Sein Ellenbogen ruhte auf irgend
etwas Hartem. Nach einer geraumen Zeit änderte er langsam und traurig
seine Stellung und nahm dies Etwas mit einem Seufzer zur Hand. Es
war in Papier eingeschlagen. Er entfaltete es. Ein langgezogener,
ungeheurer Seufzer folgte ... Es war jener Messingknopf, den er Becky
gestern geboten. Dieser letzte bittere Tropfen brachte den Becher
seiner Trübsal zum Ueberfließen.

[Illustration]



Zehntes Kapitel.


Kurz vor der Mittagsstunde durchzuckte das ganze Städtchen plötzlich
wie ein elektrischer Schlag die grausige Kunde. Es bedurfte nicht des
Telegraphen, von dem man sich damals überhaupt noch nichts träumen
ließ; die Nachricht flog von Mund zu Mund, von Gruppe zu Gruppe, von
Haus zu Haus, mit kaum geringerer Schnelle, als der elektrische Funke.
Natürlich gab der Lehrer für den Nachmittag frei, man würde ihm das
Gegenteil sehr verdacht haben. Ein blutiges Messer war dicht bei dem
Gemordeten gefunden worden und jemand hatte es als dem Muff Potter
gehörig erkannt, so lautete die Erzählung. Auch sollte ein Bürger,
der sich verspätet hatte, auf Potter gestoßen sein, wie er sich im
Bache wusch, gegen ein oder zwei Uhr morgens, und als er sich bemerkt
sah, eiligst davon schlich, -- lauter verdächtige Momente, namentlich
das Waschen, was für gewöhnlich sehr gegen Potters Art war. Die ganze
Stadt, so sagte man, sei schon abgesucht worden nach dem ›Mörder‹ (das
Publikum ist schnell bei der Hand mit Beweis und Urteilsspruch), er sei
aber nirgends zu finden. Reiter waren nach jeder Richtung abgesandt
und der Sheriff war überzeugt, daß man ihn noch vor Einbruch der Nacht
einfangen werde.

Die ganze Stadt wallfahrtete nach dem Friedhof. Toms Herzensnot
schwand; er schloß sich dem Zuge an, nicht, daß er nicht tausendmal
lieber wo anders gewesen wäre -- aber eine unheimliche, unerklärliche
Zauberkraft lockte und zog ihn dorthin. Am Schreckensorte angekommen,
schob und zwängte er seine kleine Person durch die dichte Menge
und stand bald vor dem gräßlichen Schauspiel. Es schien ihm ein
Menschenalter her, seit sein Blick zuletzt darauf geruht. Jemand
zwickte ihn am Arm. Er wandte sich und seine Augen trafen die
Huckleberrys. Wie auf Kommando sahen dann beide nach entgegengesetzter
Richtung, voll Angst, jemand könne den Blick bemerkt haben, den sie
sich zugeworfen. Jedermann aber schwatzte in unterdrücktem Flüsterton
und hatte genug zu thun mit dem furchtbar-schauerlichen Ereignis,
dessen Schauplatz man umstand.

[Illustration]

»Armer Bursche!« »Armer, junger Mensch!« »Dies sollten alle
Leichenräuber sich zur Lehre dienen lassen!« »Muff Potter muß baumeln
dafür, wenn sie ihn erwischen!« So etwa lauteten die Bemerkungen, die
fielen. Der Geistliche aber sagte: »Das war ein Gottesgericht, -- hier
sehen wir die Hand des Herrn.«

Tom zitterte vom Kopf bis zu den Füßen, denn sein Blick war auf das
stumpfsinnige Gesicht des Indianer-Joe gefallen. Im selben Moment
begann die Menge zu schwanken und zu drängen und einzelne Stimmen
riefen: »Da ist er, da ist er, dort kommt er selber!«

»Wer? Wer?« fragten zwanzig andere dagegen.

»Muff Potter!«

»Da, jetzt halten sie ihn an! Er dreht sich um -- haltet, haltet fest,
laßt ihn nicht durchbrennen!«

Leute, die in den Aesten der Bäume saßen, über Toms Kopf, meinten, Muff
versuche gar nicht zu entrinnen, -- er sähe nur ganz dumm und verblüfft
aus.

»Verdammte Frechheit das!« sagte einer, »wollte sich wohl noch mal in
Ruhe sein Werk beschauen; dachte nicht, Gesellschaft zu finden!«

Die Menge teilte sich nun und der Sheriff schritt mit großartiger
Wichtigkeit in Blick und Miene hindurch, Muff Potter am Arme haltend.
Des armen Burschen Gesicht sah ordentlich eingefallen aus und aus
den Augen starrte das Entsetzen, das ihn gebannt hielt. Als er vor
dem Gemordeten stand, schüttelte es ihn, wie ein Krampf, er barg das
Gesicht in den Händen und brach in Thränen aus.

»Ich hab's wahrhaftig nicht gethan, Freunde,« schluchzte er, »auf mein
Ehrenwort, ich hab's nicht gethan.«

»Wer hat dich denn beschuldigt?« schrie eine Stimme.

Der Schuß traf. Potter erhob die Augen und ließ sie in die Runde gehen,
qualvollste Hoffnungslosigkeit im Blick. Da sah er den Indianer-Joe und
rief:

»Ach, Joe, und du hast doch versprochen, daß du nie --«

»Ist dies hier Euer Messer?« Damit schob ihm der Sheriff das
Mordwerkzeug unter die Nase.

Potter wäre gefallen, wenn man ihn nicht aufgefangen und sachte zu
Boden hätte gleiten lassen. Dann stöhnte er:

»Hab's mir doch gedacht, wenn ich nicht käme und das -- Messer --« Ein
Schauder überlief ihn, dann winkte er mit der kraftlosen Hand dem
Indianer-Joe und flüsterte tonlos:

»Sag's ihnen, Joe, sag's ihnen, alles -- 's ist ja doch umsonst.«

Huckleberry und Tom hörten nun stumm und starr, wie der hartherzige
Mörder in heiterster Ruhe Zeugnis ablegte. Mit jedem Moment erwarteten
sie, daß der klare Himmel sich öffnen und der gerechte Gott seine
Zornesblitze auf das Haupt des ruchlosen Lügners schleudern müsse;
jeder weitere Moment der Verzögerung des Gerichtes erregte ihr größtes
Staunen. Und als er geendet hatte und noch lebend und unversehrt vor
ihnen stand, schwand der leise in ihrer Seele flackernde Trieb wieder,
den geschworenen Eid zu brechen und des armen Gefangenen Leben zu
retten. Solch ein Missethäter, wie Joe, mußte sich ja, das war ihnen
jetzt gänzlich klar, dem Teufel verschrieben haben. Sich mit dieser
Macht aber in einen Kampf um deren berechtigtes Eigentum einzulassen,
konnte allzu verhängnisvoll werden.

»Warum machtest du dich nicht davon? Weshalb kamst du hierher zurück?«
fragte einer den mutmaßlichen Mörder.

»Ich konnt' nicht anders, konnt' nicht anders,« stöhnte dieser. »Ich
hab' ja durchgehen wollen, aber 's hat mich immer wieder hierher
getrieben.« Und wieder schluchzte er herzbrechend.

Nochmals wiederholte der Indianer-Joe seine Aussage ebenso ruhig
und bekräftigte dieselbe endlich ein paar Minuten später bei der
Totenschau. Da immer noch keine Blitze herniederfuhren, sahen die
Jungen ihren Glauben bestätigt, daß Joe sich dem leibhaftigen
Gottseibeiuns verkauft habe. Er wurde ihnen nun zum Gegenstand des
schauerlichsten, unheimlichsten Interesses, wie sie es bis dahin
noch niemals empfunden, und ihre Blicke hingen wie gebannt an seinem
Antlitz. Sie beschlossen innerlich, ihm nachzuspüren, des Nachts
namentlich, wenn sich ihnen Gelegenheit dazu böte, in der stillen
Hoffnung, einen verstohlenen Blick auf seinen schauerlichen Herrn und
Meister thun zu können.

Der Indianer-Joe half die Leiche des Gemordeten auf einen Wagen heben,
der dieselbe wegbringen sollte, und es ging ein Flüstern durch die
Menge, daß die Wunde dabei leicht zu bluten begonnen. Huck und Tom
hofften schon, dieser glückliche Umstand möchte den Verdacht auf die
richtige Fährte lenken und fühlten sich daher sehr enttäuscht, als
einer der Zuschauer bemerkte:

»Kein Wunder! Drei Schritt davon war ja der Potter, da hat's freilich
bluten müssen!« --

Toms schreckliches Geheimnis und sein nagendes Gewissen störten ihm den
Schlaf für länger als eine Woche nach diesem Vorfall. Eines Morgens
beim Frühstück sagte Sid:

»Tom, du wirfst dich immer so herum und schwatzest so laut im Traum,
daß ich die halbe Nacht nicht schlafen kann.«

Tom erbleichte und senkte die Augen.

»Das ist ein schlimmes Zeichen,« meinte Tante Polly ernst. »Was hast du
auf dem Herzen, Tom?«

»Nichts, Tante, ich weiß von nichts.« Aber des Jungen Hand zitterte so,
daß er den Kaffee verschüttete.

»Und so dummes Zeug redst du,« fuhr Sid fort. »Heute nacht hast du
gesagt: ›Blut ist's, Blut und gar nichts andres!‹ Und das hast du immer
und immer wieder gesagt. Und dann hast du auch gesagt: ›Quäl' mich doch
nicht so -- ich will's ja gestehen.‹ Was gestehen? Was willst du denn
gestehen?«

Vor Toms Augen schwamm alles. Es läßt sich kaum ausdenken, was nun
hätte geschehen können, wäre nicht plötzlich der forschende Blick aus
Tante Pollys Auge geschwunden und sie Tom, ohne es zu wissen, zu Hilfe
gekommen, indem sie ausrief:

»Na, natürlich! 's ist der grausige Mord, der ihm zu schaffen macht.
Mir geht's grad' auch so. Ich träume jede Nacht davon. Ich hab' schon
geträumt, ich wär's selber gewesen!«

Mary sagte, ihr ginge es gerade auch so und Sid schien damit zufrieden
gestellt. Tom entzog sich den Blicken der Seinen, sobald er irgend
konnte, beklagte sich danach über Zahnweh eine Woche lang und band
sich ein dickes Tuch um Mund und Kinnlade jede Nacht. Er wußte
nicht, daß Sid ihn allnächtlich belauerte, zuweilen selbst die Binde
lockerte, sich auf die Ellenbogen stützte, über ihn beugte und lange,
lange lauschte, worauf er vorsichtig das Tuch an die alte Stelle
zurück schob. Toms Furcht und Angst verlor sich allmählich, der
ewige Zahnschmerz wurde langweilig und daher fallen gelassen. Wenn
es Sid wirklich gelungen war, aus Toms unzusammenhängendem Gemurmel
sich einen Vers zu machen, so behielt er alles für sich. -- Es war
Tom, als ob seine Schulkameraden es niemals satt bekommen könnten,
gerichtliche Totenschau zu halten über tote Katzen und dergleichen. Sid
fiel es dabei auf, daß Tom niemals die Rolle des Leichenbeschauers zu
übernehmen trachtete, obgleich er sonst gewohnt war, Anführer bei jeder
neuen Unternehmung zu sein. Er bemerkte auch, daß Tom auffallenderweise
niemals als Zeuge auftrat, ja sogar eine entschiedene Abneigung gegen
diese Art von Zeitvertreib an den Tag legte und sie mied, wo er nur
irgend konnte. Sid wunderte sich, wie gesagt, darüber, erwähnte aber
nichts. Endlich kamen denn auch die Totenschauen aus der Mode und
hörten auf, Toms Gewissen zu beunruhigen.

Jeden Tag, oder einen Tag um den andern, während dieser Zeit der
Trübsal, nahm Tom die Gelegenheit wahr, sich an das kleine, vergitterte
Kerkerfenster zu schleichen und dem ›Mörder‹ allerlei kleine
Trostgegenstände, deren er habhaft werden konnte, zuzuschmuggeln.
Das Gefängnis war ein winzig kleiner Backsteinbau, der am Ende des
Städtchens mitten in einem Sumpf stand. Wächter gab's keine, Gefangene
waren selten. Diese Opfergaben trugen sehr dazu bei, Toms Gewissen zu
erleichtern.

Die Einwohner des Städtchens hatten große Lust, auch dem Indianer-Joe
zu Leibe zu gehen wegen des Leichenraubes. So furchtbar war aber
sein Ruf, daß sich keiner fand, der sich dazu verstehen wollte, die
Leitung der Sache zu übernehmen, und so ließ man es denn bleiben.
Vorsichtigerweise hatte er in seinen beiden Aussagen gleich bei
der Rauferei begonnen, ohne erst den beabsichtigten Leichenraub
einzugestehen, der dieser voran gegangen war, und so hielt man es für
das Klügste, die Sache, einstweilen wenigstens, nicht vor Gericht zu
bringen.

[Illustration]



Elftes Kapitel.


Eine der Ursachen, weshalb Toms innerer Mensch begann, sich von seinen
geheimen Sorgen und Leiden abzuwenden, lag darin, daß ein neues und
wichtiges Interesse alle seine Gedanken in Beschlag nahm. Becky
Thatcher war aus der Schule fortgeblieben. Tom rang mit seinem Stolze
ein paar Tage lang, versuchte, sich die Gedanken an _sie_ aus dem
Kopf zu schlagen; aber umsonst. Zu seinem eigenen Erstaunen betraf
er sich selbst auf nächtlichen Streifereien um ihres Vaters Haus
herum, wobei ihm ganz elend zu Mute war. _Sie_ war krank. Wenn sie nun
sterben müßte? Verzweiflung, Wahnsinn lag in dem Gedanken. Ihn lockte
nichts mehr hienieden, kein Krieg, kein Seeräubertum. Die Sonne des
Lebens war entschwunden, nur die qualvollste Finsternis geblieben. Er
stellte seinen Reifen zur Seite zusamt dem Stock, an keinem Spielzeug
konnte er mehr Freude haben. Tante Polly begann sich zu grämen, zu
beunruhigen ob dieser Zeichen und setzte ihm mit allerhand Arzneien zu.
Sie war eine von denen, die auf Patent-Medizinen jeder Art schwören,
die jegliche neue Methode, unfehlbare Gesundheit zu verleihen, oder
die schadhaft gewordene auszuflicken, mit Enthusiasmus und nimmer
wankendem Vertrauen begrüßen. Alles neu Auftauchende dieser Art
mußte sofort probiert werden, es ließ ihr keine Ruhe, bis sie irgend
jemanden entdeckt hatte, an dem das Experiment gemacht werden konnte,
denn ihr selbst fehlte zu ihrem größten Leidwesen niemals etwas, das
solchen Eingriff erfordert hätte. Sie war auf alle Zeitschriften
für Gesundheitspflege abonniert und ihre harmlose Seele ergab sich
gläubig dem krassesten Unsinn, der schwarz auf weiß, mit dem nötigen
feierlichen Ernst vorgetragen, darin stand. All der theoretische
Schnickschnack, den sie enthielten darüber, wie man zu Bett gehen
müsse, wie aufstehen, was essen, was trinken, wie oft lüften, wie viel
und welcher Art sich Bewegung schaffen, welcher Gemütsverfassung sich
befleißigen, in was für Kleidung den äußeren Menschen stecken, all
dieser Schwindel war ihr Evangelium und niemals fiel es ihr auf, daß
die neuesten Nummern in der Regel das Gegenteil von dem empfahlen, was
die früheren angepriesen hatten. Sie war so arglos und leichtgläubig
wie ein Kind und ging ohne Zögern auf jeden Leim. So mit ihren
Quacksalberschriften und Mittelchen bewaffnet, saß sie, -- um ein
bekanntes Bild zu gebrauchen -- mit dem Sensenmann im Sattel auf dem
fahlen Rosse, während dicht hinter ihr die Hölle einhertrabte. In ihrer
schlichten Einfalt kam es ihr jedoch niemals in den Sinn, sie könne der
leidenden Menschheit etwas anderes sein als ein heilender Engel des
Trostes, der Balsam des Herrn in Person.

Kaltwasserkuren waren neu dazumal, und Toms leidender Zustand war
Wasser auf ihre Mühle. Morgens mit Tagesgrauen holte sie ihn aus seinem
Bett, schleppte ihn nach dem Holzschuppen und ertränkte ihn hier fast
in einer Sintflut kalten Wassers, das sie über ihn ergoß. Dann raspelte
sie ihn mit einem rauhen Tuche wie mit einer Feile ab, wobei er wieder
zu sich selbst kam, rollte ihn in ein nasses Betttuch und stopfte ihn
unter einen Berg von wollenen Decken, bis er sich die Seele fast aus
dem Leibe geschwitzt hatte, so daß »deren gelbe Flecken zu den Poren
heraus kamen,« wie Tom sagte.

Aber all dieser gründlichen Behandlung zum Trotz wurde der Junge
täglich schwermütiger, blasser, niedergeschlagener. Tante Polly fügte
nun heiße Bäder bei, Sitzbäder, Douchen und Sturzbäder. Der Junge
aber verharrte in seiner trübseligen Stimmung. Sie verstärkte nun die
Wasserkur durch strenge Diät und Zugpflaster und füllte ihn, als ob er
ein Krug gewesen wäre, alltäglich mit Wundertränken jeglicher Art bis
zum Rande.

Tom ließ alles mit sich beginnen, er war gleichgültig geworden
gegen jede Quälerei. Diese Phase seines Leidens erfüllte die Seele
der alten Dame mit Bestürzung. Die beängstigende Gleichgültigkeit
mußte gebrochen werden um jeden Preis. In dieser Krise hörte sie zum
erstenmal von einem Universal-Wundermittel, ›Schmerzenstöter‹ genannt.
Sie bestellte sofort einige Dutzend Flaschen, kostete und war von
Dankbarkeit durchglüht, es schien einfach Feuer in flüssiger Form.
Die Wasserbehandlung wurde nun eingestellt, zusamt allem andern und
›Schmerzenstöter‹ war hinfort die Losung. Tom bekam den ersten Löffel
voll, und seine Tante erwartete in tiefster Seelenangst das Resultat.
Ihrer Sorgen war sie augenblicklich ledig, Frieden zog in ihre Seele
ein, der Bann der ›Gleichgültigkeit‹ war gebrochen. Hätte sie ein Feuer
unter ihm angezündet, der Junge hätte kein tolleres, kein urkräftigeres
Interesse zeigen können.

Tom sah, daß die Zeit gekommen sei, sich aufzuraffen. Diese Art
von Leben mochte ja ganz romantisch sein, war auf die Dauer aber
nicht auszuhalten. Bei allem Ueberfluß an Abwechslung wurde es am
Ende doch monoton. Er sann daher auf Aenderung seiner Lage und
verfiel schließlich darauf, eine leidenschaftliche Neigung für den
›Schmerzenstöter‹ vorzugeben. Er verlangte so oft nach dem Wundertrank,
daß er damit förmlich zur Plage wurde und seine Tante ihn schließlich
anfuhr, er möge sich selber bedienen und sie in Ruhe lassen. Wäre
es nun Sid gewesen, so hätte kein Schatten ihr Entzücken ob solch
ungeahnten Erfolges getrübt, da es aber Tom war, beobachtete sie
verstohlen die Flasche. Die Flüssigkeit verminderte sich in der That,
ihr aber kam es niemals in den Sinn, daß der Junge die Gesundheit einer
Spalte des Fußbodens im Eßzimmer damit kuriere.

Eines Tages war Tom eben wieder damit beschäftigt, der Spalte die
gewohnte Dosis zu verabfolgen, als seiner Tante gelbe Katze daher
kam, einen Buckel machte, schnurrte, und, gierigen Blicks den Löffel
beäugelnd, um ein Pröbchen bettelte. Tom warnte:

»Bitt' nicht drum, Peter, wenn du's nicht brauchst.«

Peter deutete an, daß er's brauche.

»Ueberleg's nochmal, Peter.«

Peter hatte überlegt und war seiner Sache gewiß.

»Also, Peter, du willst's und du sollst's auch haben, denn _so_ bin ich
nicht. Wenn's dir aber nachher nicht schmeckt, so mach' niemand 'nen
Vorwurf, außer dir selber.«

Peter war einverstanden und so sperrte ihm Tom das Maul auf und goß den
›Schmerzenstöter‹ hinunter. Peter sprang ein paar Meter hoch in die
Luft, stieß dann ein gellendes Kriegsgeheul aus, setzte wie toll im
Zimmer herum, stieß gegen Möbelkanten, schmiß Blumentöpfe u. dergl. um
und richtete eine allgemeine Verwüstung an. Zunächst erhob er sich auf
die Hinterfüße, begann in wahnwitziger Verzücktheit zu tanzen, wobei
er den Kopf über die Schultern zurückwarf und der Welt in schallenden
Tönen seine Glückseligkeit kund und zu wissen that. Dann fing der tolle
Kreislauf von vorne an, Chaos und Verwüstung folgte seinen Spuren.
Tante Polly trat eben noch zur Zeit durch die Thüre, um zu sehen,
wie Peter ein paar doppelte Purzelbäume schlug und, ein gewaltiges
Schluß-Hurrah ausstoßend, durch das offne Fenster segelte, wobei er
den Rest der Blumentöpfe mit sich riß. Starr vor Staunen, stand die
alte Dame und sah ihm über ihre Brillengläser weg nach, Tom aber lag am
Boden und wollte sich ausschütten vor Lachen.

[Illustration]

»Tom, was zum Kuckuck fehlt der Katze?«

»Weiß ich doch nicht, Tante,« stieß der Junge, nach Luft schnappend,
hervor.

»So was hab' ich ja im Leben noch nicht gesehen. Was ist denn der Katze
in den Leib gefahren?«

»Weiß ich wahrhaftig nicht, Tante. Die Katzen machen's immer so, wenn's
ihnen wohl in der Haut ist.«

»So? Machen sie's immer so?« Es war etwas in ihrem Ton, das Tom mit
bangem Ahnen erfüllte.

»Ja, Tante, das heißt, ich -- ich glaub' wenigstens, daß sie's so
machen.«

»Du glaubst?«

»Ja--a -- Tante.«

Die alte Dame bückte sich nieder, Tom beobachtete sie mit von Furcht
geschärftem Interesse. Zu spät erriet er, wo sie hinaus wollte. Der
Stiel des verräterischen Löffels war eben noch sichtbar unter den
Fransen der Tischdecke. Tante Polly griff darnach und hielt ihn empor.
Tom schien verlegen und senkte die Augen. Tante Polly hob ihn ohne
Umstände an dem gewöhnlichen Henkel, -- seinem Ohr, -- zu sich herauf
und gab ihm mit der freien Hand einen gesunden Klapps.

»Jetzt, Junge, gesteh', warum hast du der armen, unvernünftigen Kreatur
so mitgespielt?«

»Ich -- ich hab's nur aus Mitleid gethan, -- Peter hat ja keine Tante.«

»Hat keine Tante! -- du Dummkopf. Was hat denn das damit zu schaffen?«

»Alles. Denn wenn Peter 'ne Tante hätte, so hätt' ihn die gewiß
ausgebrannt, hätt' ihm die Eingeweide geröstet bei lebendigem Leib,
ohne sich mehr dabei zu denken, als wenn er ein Mensch gewesen wäre.«

Tante Polly fühlte plötzliche Gewissensbisse. Das zeigte die Sache in
einem neuen Lichte. Was Grausamkeit gegen eine Katze war, konnte doch
vielleicht auch Grausamkeit gegen einen Jungen sein. Sie begann weich
zu werden, es that ihr leid. Die Augen wurden ihr feucht, sie legte die
Hand auf Toms Kopf und sagte sanft:

»Tom, ich hab's nur gut gemeint und -- es hat dir auch gut gethan, Tom.«

Dieser sah ihr treuherzig ins Gesicht und nur ganz leise blitzte der
Schelm ihm aus den Augen, als er im höchsten Ernste erwiderte:

»Ich weiß, daß du's nur gut gemeint hast, Tantchen, ich hab's aber
_auch_ mit dem Peter nur gut gemeint und dem hat's auch gut gethan, im
Leben ist er noch nicht so hübsch herumgefahren --«

»Ach, heb' dich fort, Tom, eh' du mich wieder bös' machst. Und
probier's doch mal, ob du nicht einmal ein braver Junge sein kannst;
und -- Medizin brauchst du keine mehr zu nehmen.«

       *       *       *       *       *

Tom kam vor der Zeit zur Schule. Man wollte beobachtet haben, daß dies
Außergewöhnliche in der letzten Zeit ganz regelmäßig stattgefunden.
Auch heute wieder, wie gewöhnlich seit kurzem, trieb er sich am Thore
des Schulhofes herum, anstatt wie sonst mit seinen Kameraden zu
spielen. Er sei krank, sagte er und sah auch so aus. Er versuchte den
Anschein zu erwecken, als schaue er überall anders hin, als gerade da,
wohin er wirklich schaute, -- den Schulweg hinunter. Jetzt tauchte Jeff
Thatcher am Horizonte auf, und Toms Antlitz erhellte sich. Einen Moment
starrte er hin, um sich dann voll Trauer abzuwenden. Als Jeff herankam,
redete ihn Tom an, suchte listig das Gespräch auf Becky zu lenken, Jeff
aber, der einfältige Kerl, wollte niemals den Köder sehen und anbeißen.

Tom schaute und schaute, -- voller Hoffnung, wenn wieder ein wehender
Mädchenrock auftauchte und voll Grimm, wenn dann die Eigentümerin
desselben die Erwartete nicht war. Zuletzt kamen keine Röcke mehr und
hoffnungslos sank er in sein dumpfes Brüten zurück. Er betrat allein,
vor den andern, das leere Schulhaus und setzte sich nieder, um weiter
zu dulden. Da trat noch ein verspäteter Rock durchs Thor, hoch auf
schlug Toms Herz in Wonne und Entzücken. Im nächsten Moment war er
draußen und geberdete sich wie ein Indianer, johlte, lachte, jagte
die Jungen vor sich her, setzte über den Zaun mit Gefahr für Leib und
Leben, schlug ein Rad, stellte sich auf den Kopf, kurz, er verrichtete
unzählige Heldenthaten und hielt dabei immer sein wachsames Auge auf
Becky geheftet, um zu sehen, ob sie Notiz davon nähme. Sie aber schien
sich seiner Gegenwart völlig unbewußt, sah gar nicht nach ihm hin.
Konnte es möglich sein, daß sie gar nicht wisse, er sei in der Nähe?
Nun begann er seine Heldenthaten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft
auszuführen. Er umkreiste sie mit wildem Geheul, riß einem Jungen die
Mütze vom Kopf und schleuderte diese auf das Dach des Schulhauses,
brach dann gewaltsam durch einen Haufen Jungen hindurch, die nach
allen Richtungen umpurzelten, fiel dabei selber zappelnd dicht vor die
Nase Beckys hin, diese beinahe mit sich zu Boden reißend. Sie aber
wandte sich, hob das Näschen in die Luft und er hörte sie sagen:

»Ph -- ph! 's giebt Jungens, die sich für furchtbar interessant halten,
-- immer müssen sie sich zeigen!«

Toms Wangen brannten. Er rappelte sich auf und schlich davon,
gedemütigt, vernichtet.

[Illustration]



Zwölftes Kapitel.


Tom war nun fest entschlossen. Er war finsterer, verzweifelter Gedanken
voll. Er kam sich als verlassener, freundloser Knabe vor, den niemand
liebte. Wenn sie erst merkten, zu was ihre Lieblosigkeit ihn getrieben,
würde es ihnen vielleicht leid sein. Er hatte versucht, das Rechte zu
thun, gut zu sein, sie ließen's ja nicht zu. Da sie ihn denn durchaus
los sein wollten, so sollten sie ihren Willen haben; natürlich würden
sie ihn allein für die Folgen verantwortlich machen, -- aber so
ist's immer! Hat ein Freudloser und Verstoßener das Recht zu klagen?
Jetzt, da sie ihn zum Aeußersten getrieben, wollte er das Leben eines
Verbrechers führen. Ihm blieb keine Wahl. Unter solchen Betrachtungen
war er weit über die Wiesen geschritten und die Schulglocke, welche
die Säumigen mahnte, klang ihm nur noch schwach ins Ohr. Er schluchzte
jetzt bei'm Gedanken, daß er nie, nie wieder diesen altvertrauten
Ton vernehmen solle, -- es war hart, so furchtbar hart, aber -- sie
zwangen ihn ja dazu. Da sie ihn vertrieben hatten, hinausgestoßen in
die kalte, unbarmherzige Welt, so mußte er sich drein ergeben, -- aber
er verzieh ihnen, verzieh ihnen allen. Das Schluchzen wurde stärker,
erschütternder.

In diesem Moment stieß er auf seines Herzens innigsten Freund -- Joe
Harper, der finster blickend daher trottete, augenscheinlich einen
schrecklichen, schwerwiegenden Entschluß in seiner Seele herumwälzend.
Hier waren offenbar ›zwei Seelen und ein Gedanke!‹ Tom, der sich die
Augen mit seinem Aermel wischte, fing an, etwas Unzusammenhängendes
hervor zu stottern, von einem Entschluß, sich den Mißhandlungen und dem
Mangel an Verständnis daheim durch seine Flucht in die weite Welt zu
entziehen, nie, niemals wiederzukehren, und schloß damit, daß er Joe
bat, ihm ein treues Gedenken zu bewahren.

Da zeigte sich aber, daß Joe just eben um ganz dasselbe hatte bitten
wollen und gerade zu dem Zweck gekommen war, Tom aufzuspüren. Seine
Mutter hatte ihn geprügelt, weil er Rahm getrunken haben sollte, von
dem er doch rein gar nichts wußte. Es sei klar, sie wolle nichts
mehr von ihm wissen und ihn los sein. Solchen Empfindungen gegenüber
-- was bleibe ihm da anders übrig, als sich darein zu ergeben? Möge
es ihr wohl ergehen und sie niemals bereuen, ihren armen Jungen
hinausgetrieben zu haben in die kalte, gefühllose Welt, um da zu leiden
und schließlich zu sterben.

Wie nun die zwei trauernden Jünglinge so dahin wandelten, schlossen
sie einen Pakt, fest zusammenzustehen wie Brüder, nicht voneinander zu
lassen, bis der Tod sie einst scheide und sie erlöse von ihrem Jammer.
Dann begannen sie Pläne zu schmieden. Joe war dafür, ein Eremit zu
werden, von harten Brotkrusten und Wasser in einer finstern Höhle zu
leben und eines Tages aus Not, Kälte und Kummer zu sterben. Nachdem er
aber Toms Plan gehört, gab er zu, daß das Leben eines Verbrechers doch
einige hervorragende Vorteile böte und willigte ein, als Seeräuber sein
Heil zu probieren.

Drei Meilen unterhalb St. Petersburg, an einer Stelle, wo der
Mississippi etwas mehr als eine Meile breit war, lag eine lange,
schmale, bewaldete Insel mit einer seichten Sandbank an der Spitze.
Diese Insel war nicht bewohnt, lag weit drüben gegen das andere Ufer
zu, das mit einem ausgedehnten, menschenleeren, fast undurchdringlichen
Walde bestanden war. Das schien ein Ort wie gemacht für das
Unternehmen, und so wurde denn die Jackson-Insel gewählt. Welches die
Opfer sein sollten für ihr Seeräubertum, das kam den Jungen nicht in
den Sinn. Vor allem trieben sie nun Huckleberry Finn irgendwo auf,
der sich ihnen sofort anschloß. Jegliche Laufbahn war ihm recht, er
war nicht wählerisch. Nachdem sie alles verabredet hatten, trennten
sie sich, um sich an einer einsamen Stelle des Flußufers, zwei Meilen
oberhalb des Städtchens, wieder zu treffen, um Mitternacht, zu ihrer
Lieblingsstunde. Dort wußten sie von einem kleinen Holzfloß, das
sie sich anzueignen gedachten. Jeder von den dreien wollte eine
Angelrute und Haken mitbringen, dazu solche Eßvorräte, deren er sich
auf möglichst versteckte und geheimnisvolle Weise bemächtigen konnte,
wie es Ausgestoßenen und Geächteten ihrer Art zukam. Bevor noch der
Nachmittag verflossen, war es ihnen gelungen, heimlicher Wonne voll,
im ganzen Städtchen das Gerücht zu verbreiten, es werde sich in Bälde
etwas sehr Merkwürdiges ereignen. Alle, die diesen Wink erhielten,
bekamen zugleich die Mahnung, zu schweigen und abzuwarten.

Um Mitternacht erschien Tom mit einem gekochten Schinken und noch
sonstigen Kleinigkeiten in dem dichten Untergehölz des steilen
Uferabhangs, das zum Sammelplatz bestimmt worden. Es war sternklar und
totenstill. Der mächtige Strom lag, ozeangleich, in friedlicher Ruhe
da. Tom lauschte einen Moment, kein Laut unterbrach die feierliche
Stille. Er ließ ein leises, langgezogenes Pfeifen ertönen, das von
unten erwidert wurde; zweimal noch pfiff Tom, beidemale wurde das
Signal in derselben Weise beantwortet. Nun fragte eine leise Stimme:

»Wer naht sich dort?«

»Tom Sawyer, der Schwarze, Rächer der spanischen Meere. Nennt Eure
Namen!«

»Huck Finn, die ›blutige Hand‹ und Joe Harper, der ›Schrecken der
See‹.« Tom hatte diese Titel aus seiner Lieblings-Litteratur geschöpft.

»Gebt das Feldgeschrei!«

In dumpfem, grauenvoll durchdringendem Flüsterton erklang von zwei
Stimmen zugleich dasselbe schreckliche Wort in die brütende Nacht
hinein:

»_Blut!_«

Nun kollerte Tom seinen Schinken über den Abhang und ließ sich selber
nachgleiten, wobei er Haut und Kleider empfindlich verletzte. Wohl
gab's einen leichten, bequemen Pfad, den Abhang hinunter und am
Ufer entlang, dem aber fehlten jene unerläßlichen Eigenschaften von
Schwierigkeit und Gefahr, die ein Seeräuber vor allen andern schätzt.

Der ›Schrecken der See‹ hatte eine riesige Speckseite geliefert und
sich halb krumm und lahm geschleppt, um sie herbeizubringen. Finn, der
›Blut-Händige‹, hatte einen Kochkessel gestohlen, dazu eine Portion
halbgetrocknete Tabaksblätter und einige Maiskolben, um Pfeifen draus
zu machen. Keiner der Piraten freilich rauchte oder kaute Tabak, als
nur er selber. Der ›Schwarze Rächer der spanischen Meere‹ meinte, man
könnte nimmermehr das Unternehmen ins Werk setzen, ohne Feuer an Bord
zu haben. Der Gedanke war weise, auch schritt man sofort zur That.
In der Entfernung glimmte ein Feuer auf einem großen Floße, dahin
schlichen sie nun und verschafften sich einen Holzbrand. Aus dieser
Expedition machten sie sich mit Wonne und umständlicher Wichtigkeit ein
gefährliches Abenteuer zurecht. Unterwegs hielten sie fast jede Minute
an, sagten ›Pst‹ und legten den Finger auf die Lippen. Ihre Hände
umfaßten eingebildete Schwertergriffe, leise Befehle wurden geflüstert,
daß, wenn der ›Feind‹ sich rege, er ›kalt gemacht‹ werden müsse, denn
›tote Menschen plaudern nichts mehr aus!‹ Die Jungen wußten freilich
mit Bestimmtheit, daß die Flößer unten in der Stadt waren, entweder
um Vorräte einzukaufen, oder um zu zechen, das war aber für sie kein
Grund, sich weniger piratenmäßig bei der Sache zu benehmen.

Glücklich zurückgekehrt von dem gefahrvollen Feuer-Raubzug, stießen
sie alsbald vom Lande. Tom hatte den Oberbefehl, Huck saß am hinteren
Ruder, Joe vorn. Tom stand mitten auf dem Floße. Finster blickend, mit
über der Brust gekreuzten Armen, erteilte er seine Befehle in leisem,
strengem Flüsterton.

»Luven! Vor den Wind!«

»Geluvt ist, Kap'tän.«

»Stet, Jungens, ste--e--et!«

»Stet ist's, Kap'tän.«

»Einen Strich rechts abgehen!«

»Ein Strich ist's!«

Während die Jungen das Floß unverweilt gegen die Mitte des Stromes
zutreiben ließen, verstand es sich von selbst, daß alle diese Befehle
nur der Form halber erteilt wurden und weiter gar nichts zu bedeuten
hatten.

»Welche Segel führt das Boot?«

»Hauptsegel, Topsegel und fliegenden Klüver, Kap'tän.«

»Oberbramsegel auf! Ihr dort flink, 'n halb' Dutzend an die
Fockmarsleesegel! Lustig, Jungens, rührt euch!«

»Eh, eh, Kap'tän!«

»Marssegel vom Hauptmast! Schoten und Brassen! Vorwärts, Jungens.«

»Eh, Kap'tän!«

»Ruder nach Lee -- hart an Backbord. Backbord -- Backbord! Nun Leute,
frisch drauf los. Stet -- ste--e--et!«

»Stet ist's, Kap'tän!«

Das Floß begann die Mitte des Stromes zu kreuzen und auf das andere
Ufer zuzuhalten. Die Jungen gaben der Spitze desselben die rechte
Richtung und zogen dann die Ruder ein. Kaum ein Wort wurde gewechselt
während der nächsten halben Stunde. Jetzt trieb das Floß am fernen
Städtchen vorüber. Zwei oder drei schimmernde Lichter zeigten, wo
dasselbe lag, in süßem, friedlichem Schlummer, jenseits dieser
endlosen, ungeheuren, sternbeschienenen Wasserflut, ohne Ahnung von
dem tief eingreifenden Ereignis, das soeben im Begriff war sich
abzuspielen. Der ›Schwarze Rächer‹ stand da mit gekreuzten Armen,
einen letzten Blick werfend auf den Schauplatz seiner früheren Freuden
und späteren Leiden, und wünschte sehnlichst, ›Sie‹ könnte ihn jetzt
sehen, da draußen auf der wilden See, der Gefahr und dem Tode ins
Antlitz schauend, unverzagten Herzens, mit einem grimmigen Lächeln auf
den Lippen seinem Untergang entgegengehend. Seiner Einbildungskraft
war es ein Geringes, die Jackson-Insel aus der Gesichtsweite des
Städtchens weg zu versetzen, und so sandte er demselben denn seinen
›letzten Blick‹, zufriedenen, wenngleich gebrochenen Herzens. Die
andern Piraten sandten desgleichen ihre letzten Blicke und blickten so
anhaltend und so lange, daß die Strömung sie beinahe aus dem Bereich
der Insel fortgetrieben hätte. Diese Gefahr aber wurde noch beizeiten
entdeckt und derselben mit Erfolg Einhalt gethan. Etwa um zwei Uhr
morgens trieb das Floß an der Sandbank auf, ungefähr hundert Meter
oberhalb der Spitze der Insel, und die Jungen wateten nun durch das
Wasser hin und zurück, bis sie ihre Ladung glücklich gelandet und in
Sicherheit gebracht hatten. Zu dem kleinen Floß gehörte auch ein altes
Segel, welches sie an einem heimlichen Plätzchen im Gebüsch als Zelt
ausspannten, um die Vorräte darunter zu bergen. Sie selbst aber wollten
unter freiem Himmel schlafen, in Wind und Wetter, wie es solchen
Ausgestoßenen der Menschheit zukam.

[Illustration]

Sie schichteten Holz zu einem Feuer auf neben einem dicken, alten,
abgestorbenen Baumstamm, der etwa zwanzig bis dreißig Schritte weit in
der düstern Tiefe des Waldes stand, brieten sich Speck zum Abendessen
und ließen sich's köstlich munden. Herrlich, unbeschreiblich schön
war das wilde, freie Leben im jungfräulichen Walde einer unbekannten,
unbewohnten Insel, weitab vom Getriebe der Menschen, und sie schwuren
sich, nimmermehr zurückzukehren in die Fesseln der Zivilisation. Das
aufglimmende Feuer beleuchtete ihre Gesichter und warf seinen roten
Schein auf die säulenartigen Baumstämme dieses grünen Waldtempels, auf
das schimmernde Laub und die alles umrankenden, wilden Reben. Als die
letzte knusperige Speckschnitte verschwunden, die letzte Brotkrume
aufgezehrt war, streckten sich die Jungen auf dem Moose aus, erfüllt
von köstlichstem Behagen. Wohl hätten sie ein kühleres Plätzchen finden
können, aber sie mochten sich das romantische Gefühl nicht versagen, am
leise flackernden Lager-Feuer zu rösten.

»Ist das nun nicht lustig?« fragte Joe.

»Famos,« bestätigte Tom.

»Was würden die Jungen sagen, wenn sie uns so sehen könnten!«

»Sagen? Ei, die ließen sich tot schlagen, wenn sie nur hier sein
könnten, -- he, Huckchen?«

»Das will ich meinen!« brummte Huckleberry, »mir wenigstens gefällt's
und ich wünsch' mir nichts anderes. Für gewöhnlich krieg' ich nicht
satt -- hier kann mich auch keiner herumstoßen und seine Stiefel an mir
abputzen, danke!«

»Das ist just ein Leben für mich,« jubelte Tom, »morgens braucht man
nicht aufzustehen, braucht nicht in die Schule, sich nicht zu waschen
und all den andern dummen Firlefanz. Siehst du nun, Joe, ein Pirat hat
gar nichts zu thun, so lang er am Lande ist, ein Eremit aber, der muß
beten, beten, beten bis er schwarz wird, und hat nie ein Vergnügen,
immer so allein für sich.«

»Das ist auch wahr,« meinte Joe, »ich hab' eben nicht weiter drüber
nachgedacht. Jetzt will ich selber viel lieber Seeräuber sein, seit
ich's probiert hab'.«

»Außerdem,« belehrte Tom, »giebt man heutzutage nicht mehr so viel
auf Eremiten, wie früher in alten Zeiten, während ein Pirat überall
geachtet ist. Ein Eremit muß auch immer auf dem allerhärtesten Platz
schlafen, den er finden kann, muß Asche auf sein Haupt streuen und --«

»Asche? Zu was denn die Asche auf den Kopf?« fragte Huck.

»Das weiß ich selber nicht. Aber das müssen sie -- alle Eremiten
thun's. Du hättst's auch zu thun, wenn du einer wärst.«

»Die sollten mir kommen,« versetzte Huck.

»Na, was thät'st du denn?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber Asche auf den Kopf sicher nicht.«

»Aber Huck, das müßtest du einfach. Wie wolltest du da drum herum
kommen?«

»Ei, ich würd's eben nicht leiden. Ich risse aus!«

»Ausreißen! Na, du wärst ein nettes altes Gestell von einem Eremiten,
weiß Gott, ein wahrer Schandfleck für die andern!«

Der ›Blut-Händige‹ gab keine Antwort, da er Besseres zu thun hatte. Er
war soeben damit fertig geworden, einen Maiskolben auszuhöhlen; nun
befestigte er einen Binsenhalm dran, stopfte den Kolben mit Tabak,
legte eine glühende Kohle darauf und hüllte sich in eine Wolke lieblich
duftenden Dampfes. Man sah ihm ordentlich an, wie er sich im höchsten
Stadium wollüstigen Behagens befand. Die andern Piraten neideten
ihm den Besitz solch imponierend lasterhafter Kunst und beschlossen
heimlich, dieselbe in kürzester Frist sich anzueignen. Nach einer Weile
fragte Huck:

»Was haben denn Seeräuber eigentlich zu thun?«

Worauf Tom erwiderte:

»O, die haben Zeitvertreib genug. Die kapern Schiffe und verbrennen
sie, nehmen alles Geld weg und vergraben's an ganz schrecklich
gruseligen Plätzen auf ihrer Insel, wo's Geister und solche Wesen
giebt, die den Schatz bewachen. Dann töten sie jedermann auf den
Schiffen -- lassen alle über die Planken springen --«

»Und die Frauen schleppen sie ans Land,« vervollständigte Joe, »die
töten sie nicht.«

»Nein,« stimmte Tom bei, »Frauen töten sie nicht, dazu sind sie zu
edel. Die Frauen sind auch immer sehr schön.«

»Und was für Kleider sie tragen! 's ist 'ne wahre Pracht; alles voll
Gold und Silber und Diamanten,« fiel Joe ganz begeistert ein.

»Wer?« fragte Huck.

»Nun die Piraten doch!«

Huck sah nachdenklich an seiner Gewandung hinunter.

»Na, meine Kleider sind dann schwerlich für einen Piraten geschaffen,«
bemerkte er mit einer gewissen erhabenen Trauer in der Stimme, »ich
habe aber keine anderen nicht!«

Seine beiden Kameraden trösteten ihn, die schönen Kleider würden
schnell genug kommen, wenn man nur erst auf Abenteuer auszöge. Sie
gaben ihm zu verstehen, daß seine ärmlichen Lumpen für den Anfang
genügen sollten, obgleich gut gestellte Seeräuber für gewöhnlich in
passender Garderobe auszögen.

Allmählich erstarb das Geplauder, Müdigkeit begann die Lider der
kleinen Strolche schwer zu machen. Die Pfeife entglitt den Fingern
des ›Blut-Händigen‹ und er schlief den tiefen Schlaf des Gerechten
und -- Müden. Der ›Schrecken der See,‹ ebenso auch der ›Schwarze
Rächer der Spanischen Meere‹ hatten größere Schwierigkeit im Erlangen
des Schlafes. Sie sagten ihre Gebete nur innerlich her, da keine
Autorität zugegen war, die sie zum Knieen und lauten Aufsagen
angehalten hätte. Zuerst hatten sie vorgehabt, gar nicht zu beten,
vor solchem Wagnis aber schreckten sie schließlich doch zurück, aus
Furcht, es könne ein ganz besonderer Donnerkeil vom Himmel auf ihre
schuldigen Häupter niedersausen. Als sie endlich, endlich, ganz nahe
am Rande des tiefen Abgrunds, Schlaf genannt, lagen und schon darein
zu versinken dachten, da nahte wiederum ein Etwas, ein Störenfried,
der sich nicht abweisen lassen wollte. Es war das Gewissen! Es überkam
sie eine unbestimmte Ahnung des Unrechts, das sie begangen mit ihrem
Davonlaufen, dann tauchte das gestohlene Fleisch auf und die Tortur
begann. Sie versuchten dem Gewissen vorzuhalten, wie sie oft und oft
Anlehen an die Speisekammer der Ihren gemacht in Aepfeln und andern
Süßigkeiten, das Gewissen aber gab sich mit solch durchsichtigen
Ausflüchten nicht zufrieden. Es bewies ihnen klar und unbestreitbar,
wie sich die Thatsache nicht umgehen lasse, daß das Einstecken von
Aepfeln, Süßigkeiten etc. nur ›krippsen‹ heiße, während das Wegnehmen
von Speckseiten, Schinken und ähnlichen wertvolleren Gegenständen,
einfacher, gewöhnlicher Diebstahl genannt werden müsse, -- wogegen
es ein dräuendes Gebot in der Bibel gab. Demzufolge beschlossen sie
innerlich, daß, solange sie das Piratengeschäft betrieben, ihre
Raubzüge nicht wieder mit dem Verbrechen des Diebstahls besudelt werden
dürften. Das Gewissen gab sich denn auch damit zufrieden, schloß einen
Waffenstillstand und unsre merkwürdig inkonsequenten ›Seeräuber‹
versanken in einen friedlichen, ungestörten Schlummer.

[Illustration]



Dreizehntes Kapitel.


Als Tom am Morgen erwachte, konnte er sich kaum besinnen, wo er
eigentlich sei. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und blickte um
sich, dann überkam ihn die Erinnerung. Der Tag begann eben zu grauen,
kühl und wonnig. Es lag ein köstliches Gefühl der Ruhe und des Friedens
in der tiefen, alles umfangenden Stille, dem Schweigen des Waldes. Kein
Blatt rührte sich, kein Ton unterbrach das sinnende Nachdenken der
großen Natur. Tautropfen perlten auf Blättern und Gräsern. Eine Schicht
weißer Asche bedeckte das Feuer, von dem sich ein dünnes, bläuliches
Rauchwölkchen in die stille Luft emporkräuselte. Joe und Huck schliefen
noch. Jetzt erklang, weit drüben im Walde, der Ruf eines Vogels,
ein andrer antwortete, dann hörte man das Hämmern eines Spechtes.
Allmählich lüftete sich das kühle, fahle Grau der Morgendämmerung,
ebenso allmählich vermehrten sich die Töne, das neu erwachte Leben
begann sich allenthalben kund zu thun. Das große Wunder, wie die Natur
den Schlaf abschüttelt und ihr Tagewerk aufnimmt, entfaltete sich vor
den Augen des staunenden Knaben. Eine kleine, grüne Raupe kam über ein
taufrisches Blatt daher gekrochen, von Zeit zu Zeit dreiviertel ihres
Körperchens in die Luft hebend und herum schnüffelnd, dann wieder
vorwärts strebend. »Aha, die kommt zum Anmessen,« dachte Tom und als
das Tierchen aus freien Stücken sich ihm näherte, saß er stockstill,
hoffend und bangend, je nachdem das Geschöpf die Richtung auf ihn zu
nehmen oder sich anderswo hinzuwenden schien. Als es aber zuletzt, nach
einem bangen Moment des Zweifels, während dessen es den gekrümmten
Körper in der Luft hin und her bewegte, sich ganz entschieden auf Toms
Bein gleiten ließ und die Reise längs desselben begann, da füllte
Freude Toms Herz, denn das bedeutete, daß er einen neuen Anzug bekommen
würde, -- ohne Zweifel eine glänzende Piratenuniform. Jetzt erschien
ein Zug von Ameisen, man wußte nicht woher, sie gingen auf Arbeit aus.
Eine derselben schleppte sich mutig mit einer toten Spinne, fünfmal
so groß als sie selber, und lootste dieselbe direkt einen Baumstamm
hinauf. Ein schwarzgeflecktes Johanniskäferchen erklomm die steile Höhe
eines Grashalms, Tom beugte sich dicht zu demselben nieder und sang:

    »Johanniskäferchen flieg',
    Der Vater ist im Krieg;
    Flieg, flieg, dein Häuschen brennt,
    's sitzen sieben Kinderchen drin!«

Und Johanniskäferchen entfaltete die kleinen Schwingen und flog davon,
um zu Hause nachzusehen, was den Jungen keineswegs verwunderte, wußte
er doch aus Erfahrung, wie leichtgläubig das dumme Ding sei, namentlich
in Betreff der Feuersbrünste, und er hatte der kleinen Einfalt schon
oftmals denselben Streich gespielt. Die Vögel lärmten nun förmlich im
Gezweige der Bäume. Ein Rotkehlchen saß in einem Aste über Toms Kopf
und schmetterte seine Triller aus voller Brust hinaus in den lichten
Morgen. Ein blauschwarzer Häher schoß nieder, gleich dem Strahl einer
blauen Flamme, setzte sich auf einen Busch, ganz dicht im Bereich
des Knaben, legte den Kopf auf die Seite und beäugelte die Fremden
mit lebhafter Neugierde. Ein graues Eichhörnchen und ein stämmiger
Bursch aus der Fuchs-Familie kamen angerannt, setzten sich auf die
Hinterbeine und betrachteten furchtlos die Eindringlinge. Die harmlosen
Geschöpfe hatten wohl noch niemals ein menschliches Wesen gesehen und
wußten offenbar nicht, ob man sich fürchten müsse oder freuen. Die
ganze Natur war jetzt völlig wach und in Bewegung. Gleich blitzenden
Lanzen drangen die goldenen Strahlen des Sonnenlichtes durch das dichte
Laubwerk nah und fern, auch kleine buntfarbige Schmetterlinge kamen
herbeigeflogen.

Tom ermunterte nun die beiden andern Piraten und eine Minute später
trabten sie mit einem Freudengeheul dem Ufer zu, warfen die Kleider ab
und jagten und überpurzelten sich in dem seichten, lauen Wasser bei der
Sandbank. Keine Spur von Sehnsucht empfanden sie nach dem Städtchen da
drüben, das jenseits der endlosen, majestätischen Wasserfläche noch im
Schlafe lag. Eine verirrte Welle, oder auch eine leichte Schwellung des
Stroms, hatte ihr Floß entführt, dies aber diente den Jungen nur zur
Befriedigung, denn durch sein Verschwinden waren gleichsam die Brücken
zwischen ihnen und der Zivilisation abgebrochen.

Wunderbar erfrischt kehrten sie in ihr Lager zurück, sorglos,
glückstrahlend und mit einem Wolfshunger. Bald flackerte das Feuer auf
in hellen Flammen; Huck entdeckte eine Quelle frischen, kalten Wassers
dicht beim Lager. Die Jungen machten sich Becher aus großen Eichen-
und Ahornblättern und fanden, daß Wasser, durch solch eigenartigen,
wilden Waldeszauber versüßt, der beste Ersatz für Kaffee sei. Während
Joe sich eben anschickte, Speckschnitten zum Frühstück abzuschneiden,
riefen ihm Huck und Tom zu, er möge eine Minute warten, griffen zur
Angel, liefen zum Flusse, warfen die Leine aus und ehe noch Joe Zeit
hatte, ungeduldig zu werden, waren sie schon zurück mit einem Vorrat
an Fischen, der für eine ganze Familie ausgereicht haben würde. Sie
brieten nun Fische zusamt dem Speck und noch nie hatte ihnen ein Fisch
so köstlich geschmeckt. Sie wußten ja nicht, daß ein Süßwasserfisch um
so besser ist, je schneller er in die Pfanne kommt, auch dachten sie
nicht daran, welche treffliche Würze Schlaf und Bewegung im Freien, das
Bad und ein gehöriger Hunger abgaben.

Nach dem Frühstück lagen sie im Schatten herum, während Huck sein
Pfeifchen schmauchte, und dann rüsteten sie sich, eine Entdeckungsreise
auf der Insel vorzunehmen. Lustig trabten sie dahin, über modernde
Baumstämme, durch wirres Unterholz, zu Füßen der erhabenen Fürsten der
Wälder, die von den Kronen bis zur Wurzel, als Zeichen ihrer Würde,
mit dem Wundergerank der Reben gleich einem duftenden Krönungsmantel
behangen waren. Hie und da trafen sie auf saftiggrüne, lauschige
Plätzchen, die mit weichem Grase und Blumen wie ausgepolstert waren.

Massenhaft fanden sie Dinge, die sie entzückten, nichts, das ihnen
seltsam vorkam. Sie entdeckten, daß die Insel vielleicht drei Meilen
lang und eine Viertelstunde breit sei und daß das Ufer, dem sie
zunächst lag, nur durch einen schmalen Kanal von etwa hundert Meter
Breite von derselben geschieden war. Jede Stunde einmal erfrischten
sie sich durch eine kleine Schwimmexkursion und so war der Nachmittag
schon weit vorgerückt, als sie zum Lager zurückkehrten. Sie waren zu
hungrig, um noch erst lange zu fischen, erquickten sich dagegen aufs
beste am kalten Schinken und warfen sich dann in den Schatten auf das
Moos, um zu plaudern. Das Gespräch erlahmte bald und hörte dann ganz
auf. Die Stille, die Feierlichkeit, die über dem Walde lag, begann,
zusamt dem Gefühl der Einsamkeit, die Gemüter der Knaben zu bedrücken.
Sie verfielen in Nachdenken. Eine Art unbestimmter Sehnsucht beschlich
sie, die alsbald leise Gestalt annahm, -- es war aufkeimendes Heimweh.
Selbst Finn, der ›Blut-Händige‹, träumte von seinen heimatlichen
Treppenstufen und leeren Schweineställen. Alle drei aber schämten sie
sich ihrer Schwäche und keiner hatte das Herz, seinen Gedanken Worte zu
geben.

Schon seit ein paar Minuten waren die Jungen sich undeutlich bewußt,
daß ein eigentümlicher Ton aus der Ferne zu ihnen herüberklang, gerade
wie man das Ticken einer Uhr hört, ohne sich davon Rechenschaft zu
geben. Jetzt aber gewann der geheimnisvolle Ton an Kraft und drängte
sich förmlich der Wahrnehmung auf. Die Jungen fuhren zusammen, sahen
sich an und richteten sich in lauschender Stellung empor. Ein langes
Schweigen folgte, tief und ununterbrochen, dann ertönte ein dumpfes,
dröhnendes ›Bum‹ aus der Entfernung über das Wasser herüber.

»Was ist das?« rief Joe mit unterdrückter Stimme.

»Möcht's selber wissen,« flüsterte Tom.

»Donner ist's keiner,« meinte Huck in ängstlichem Ton, »denn Donner --«

»Still,« gebot Tom, »schwätz' nicht; horch lieber!«

Wieder warteten sie eine Zeit lang, die eine Ewigkeit schien, dann
unterbrach dasselbe dumpfe ›Bum‹ die feierliche Stille.

»Laßt uns doch sehen, ob wir was entdecken können.«

Damit sprangen sie auf die Füße und rannten dem der Stadt gegenüber
liegenden Ufer zu. Vorsichtig teilten sie die Büsche und lugten hinter
denselben hervor auf das Wasser hinaus. Die kleine Dampffähre trieb,
vielleicht eine Meile unterhalb der Stadt, mit der Strömung daher.
Das breite Deck wimmelte von Menschen. Eine Menge Boote ruderten um
dieselbe herum oder ließen sich von den Wellen der Fähre treiben, die
Jungen aber konnten nicht sehen, was die Männer in den Booten thaten.
Alsbald brach eine dicke Wolke weißen Rauchs aus der einen Seite der
Fähre hervor und als sie sich zu erheben und zerstreuen begann, erklang
derselbe dumpfe Ton in den Ohren der lauschenden Knaben.

»Jetzt weiß ich's,« rief Tom, »da ist einer ertrunken.«

[Illustration]

»Das ist's, weiß Gott,« stimmte Huck bei, »so haben sie's vorigen
Sommer grad' auch gemacht, als der Bill Turner ertrunken war. Da haben
sie 'ne Kanone losgefeuert und da kommt dann der Tote herauf auf's
Wasser. Ja, und sie nehmen auch große Brote und stecken Quecksilber
hinein und lassen die schwimmen, und die schwimmen dann grad' drauf
los, wo ein Ertrunkener liegt und halten da an, damit man ihn findet.«

»Ja, davon hab' ich auch gehört,« bestätigte Joe, »woher das Brot das
wohl thut?«

»Na, das Brot selber thut's weniger, als das, was sie vorher drüber
sprechen, den Zauber, mein' ich,« sagte Tom.

»Aber sie sprechen gar nichts drüber,« versicherte Huck, »ich war ja
ganz nah' dabei und hab' alles gesehen.«

»Das wär' sonderbar,« meinte Tom, »vielleicht sagen sie's nur
leise. Natürlich ist's so, das könnt' ein Kind wissen,« fügte er
geringschätzend bei.

Die andern beiden gaben denn auch zu, daß Tom recht haben könne.
Von einem unvernünftigen Brot, das, unbelehrt durch irgend einen
Zauberspruch, mit solch ernster, wichtiger Sendung betraut werde, könne
man doch unmöglich viel Verstand erwarten.

»Weiß Gott, ich wollt', ich wär' drüben dabei,« rief Joe.

»Ich auch,« bekräftigte Huck, »ich gäb' alles drum, wenn ich wüßt', wer
da gesucht wird.«

Wieder lauschten die Jungen und beobachteten. Plötzlich tauchte ein
erleuchtender Gedanke blitzartig in Toms Hirn auf und er rief:

»Jungens, ich weiß, wer dort ertrunken ist -- wir sind's!«

Und sie fühlten sich als Helden im nächsten Augenblick. Das war
ein glorreicher Triumph! Sie wurden vermißt, betrauert, Herzen
brachen ihretwegen, Thränen flossen. Anklagende Erinnerungen an
Unfreundlichkeiten gegen diese armen, nun verlorenen Knaben tauchten
auf, Bedauern und Reue beschlich die betreffenden Herzen, und was noch
das Beste von allem war, die Verschwundenen bildeten das Gespräch der
ganzen Stadt. Alle andern Jungen mußten sie glühend beneiden um diese
glänzende, öffentliche Berühmtheit. Das war herrlich! Dafür lohnte es
sich wahrhaftig, Pirat zu sein!

Die Dämmerung begann, die Dampffähre kehrte zu ihrer gewöhnlichen
Beschäftigung zurück, die Boote verschwanden und die Piraten begaben
sich nach ihrem Lager. Sie strahlten förmlich vor Wonne und Eitelkeit
über ihre neue Größe und die glorreiche Unruhe, die sie verursachten.
Sie fingen Fische, bereiteten ihr Abendessen, verzehrten es und
vertrieben sich dann die Zeit damit, sich vorzustellen, was man zu
Hause wohl über sie sagte und dachte. Sich die Bilder der allgemeinen
Kümmernis, die ihretwegen herrschte, auszumalen und von ihrem
Standpunkt zu betrachten, gewährte ihnen die höchste Befriedigung.
Als aber die Schatten der Nacht sie zu umhüllen begannen, verstummte
allmählich das Gespräch. Sie saßen und starrten ins Feuer, während
ihre Gedanken offenbar ganz wo anders herumstreiften. Die Erregung
war verflogen und Tom und Joe konnten sich der leise mahnenden
Ueberzeugung nicht erwehren, daß gewisse Leute zu Hause weit weniger
Vergnügen haben würden an dem lustigen Abenteuer, als sie selber. Böse
Ahnungen tauchten auf, sie fühlten sich unruhig und unglücklich, ein
Seufzer nach dem andern entschlüpfte ihnen, ohne daß sie selber es
merkten. Dann streckte Joe schüchtern einen tastenden ›Fühler‹ vor, wie
wohl die andern dächten über eine Rückkehr zur Zivilisation, -- nicht
jetzt natürlich, aber --

Tom schmetterte ihn mit Verachtung nieder! Huck, der bis jetzt noch
keine Anwandlung von Schwäche empfand, stimmte Tom bei und der
Schwankende suchte sich alsbald heraus zu reden, um sich mit einem
möglichst geringen Makel mattherzigen Heimwehs aus der Sache zu ziehen.
Die Meuterei war für den Augenblick mit Erfolg unterdrückt.

Als die Nacht vollends hereinbrach, begann Huck einzunicken und
schnarchte sofort, dann kam die Reihe an Joe. Regungslos lag Tom,
auf seine Ellenbogen gestützt, und beobachtete die zwei aufmerksam.
Dann erhob er sich vorsichtig auf die Kniee und kroch im Gras umher,
beim schwach flackernden Schein des Feuers nach etwas suchend. Er las
ein Stück weißer, cylinderförmiger Sykomorenrinde nach dem andern
auf, untersuchte sie und wählte schließlich zwei derselben, die ihm
die besten schienen. Dann kniete er am Feuer nieder, kritzelte voll
Anstrengung etwas mit seinem Rotstift auf jedes der Stücke, rollte
eines zusammen, steckte es in seine Tasche und schob das andre in Joes
Hut, den er etwas entfernt von dem Eigentümer hinlegte. Demselben
Hut vertraute er dann noch einige Schuljungen-Kostbarkeiten von fast
unschätzbarem Werte an, als da sind ein Klumpen Kreide, ein Gummiball,
drei Fischhaken und eine kleine Glaskugel, die überall für ›echtes
Kristall‹ ging. Dann schlich er sich auf den Zehenspitzen unter den
Bäumen hin, bis er außer Hörweite war, worauf er sich geradeswegs nach
der Sandbank in Trab setzte.



Vierzehntes Kapitel.


Ein paar Minuten später befand sich Tom im seichten Wasser der Sandbank
und watete dem Illinois-Ufer zu. Noch reichte ihm das Wasser kaum bis
zur Brust, als er schon die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatte. Jetzt
aber erlaubte die Strömung kein weiteres Vordringen und kühn begab
er sich dran, die übrigen hundert Meter schwimmend zurückzulegen. Er
ließ sich von der Strömung treiben, die ihn rascher beförderte, als er
selber dachte. Doch gelang es ihm endlich, das Ufer zu erreichen und an
einer niederen Stelle desselben zu landen. Er fühlte in seiner Tasche
nach dem Rindenstück, fand es sicher an seinem Platz und schritt nun
mit triefenden Kleidern waldeinwärts am Ufer entlang. Kurz vor zehn
Uhr kam er an einen freien Platz, gerade dem heimatlichen Städtchen
gegenüber, und sah die Fähre im Schatten der Bäume am hohen Ufer
angekettet. Alles war still unter den funkelnden Sternen. Er kroch am
Ufer hinab, mit vorsichtigen Blicken ausspähend, glitt ins Wasser und
schwamm mit drei oder vier Stößen nach dem Boot, das an der Seite der
Fähre befestigt war. Dort streckte er sich unter die Ruderbank und
wartete atemlos. Alsbald ertönte eine heisere Glocke und eine Stimme
gab den Befehl zum Abstoßen. Eine bis zwei Minuten später wurde das
Boot von der Fähre scharf angezogen und die Fahrt hatte begonnen.
Tom beglückwünschte sich selber zu seinem Erfolg, er wußte, es war
die letzte Fahrt diesen Abend. Nach Verlauf von endlosen zwölf oder
fünfzehn Minuten standen die Räder still, Tom schlüpfte über Bord
und schwamm ans Ufer in der Dunkelheit, etwa fünfzig Meter unterhalb
des Städtchens landend, aus Furcht, noch späten Herumschwärmern zu
begegnen. Er flog durch einsame Gäßchen und befand sich nach kurzem am
hintern Zaun von seiner Tante Hof. Der Zaun war schnell überstiegen, er
näherte sich dem Hause und blickte durch das Fenster des Wohnzimmers,
in dem noch Licht brannte. Dort saßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe
Harpers Mutter dicht zusammen und redeten. Sie saßen vor dem Bett und
das Bett befand sich zwischen ihnen und der Thüre, welche direkt auf
den Hof führte. Tom trat auf den Zehen heran und begann leise auf die
Klinke zu drücken. Die Thüre gab nach und öffnete sich ein klein wenig
mit sanftem Knarren. Vorsichtig erweiterte Tom den Spalt, bis er ihn
für groß genug hielt, um sich auf den Knieen durchzuschieben. Dann
steckte er den Kopf durch und begann mutig vorwärts zu kriechen.

»Warum das Licht nur so flackert?« sagte Tante Polly. -- Tom beeilte
sich mit dem Hereinkriechen. »Herrgott, die Thür ist ja offen, so viel
ich seh'! Freilich ist sie's. Nehmen die Schrecknisse gar kein Ende!
Geh', Sid, mach' die Thür zu!«

Gerade zur rechten Zeit verschwand Tom unter dem Bett. Da lag er
mäuschenstill, um nur erst zu Atem zu kommen, dann kroch er weiter vor,
bis dahin, wo er fast seiner Tante Füße berühren konnte.

»Ja, wie ich gesagt hab',« fuhr diese fort, »schlecht war er nicht, was
man so schlecht heißt, -- nur immer voller Tollheiten, voller Unsinn
und immer oben hinaus, wißt ihr. Ihm konnte man's aber so wenig übel
nehmen wie einem Füllen; er dachte sich weiter nichts dabei, war weiß
Gott der gutherzigste Junge der lebte und --« sie begann zu weinen.

[Illustration]

»Grad' so war mein Joe, -- immer voller Teufeleien und zu jedem tollen
Streich aufgelegt, aber so selbstlos und gut dabei, wie nur möglich.
Und, der Himmel verzeih' mir's, ich, ich, seine eigene Mutter, geh' hin
und hau' ihn durch, weil ich mein', er hat den alten Rahm genommen,
denk' nicht dran, daß ich den doch selber fortgeschüttet hab', weil er
sauer geworden war. Und jetzt soll ich ihn nie wieder sehen in dieser
Welt, den armen, mißhandelten Jungen, nie, niemals wieder!« Und Frau
Harper schluchzte, als wolle ihr das Herz brechen.

»Ich hoffe, Tom ist besser dran, wo er ist,« begann Sid, »wenn er aber
hier in manchem besser --«

»_Sid!_« -- Tom fühlte ordentlich den strengen Mahnblick, das drohende
Funkeln in den Augen der alten Dame, obgleich er's nicht sehen konnte.

»Kein Wort weiter gegen meinen armen Tom, der nun von uns gegangen ist.
Der allmächtige Gott wird sich seiner schon annehmen, da brauchst du
dich nichts drum zu kümmern. O, Frau Nachbarin, ich weiß nicht, wie
ich's überleben soll, weiß nicht, wie ich's überleben soll! Er war mein
ganzer Trost, obgleich er mir mein altes Herz fast aus dem Leib heraus
quälte!«

»Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn
sei gelobt! Aber hart ist's, so arg hart! Erst vorigen Sonntag ließ mir
mein Joe einen Schwärmer grad' unter der Nase platzen, worauf ich ihm
eins versetzte, daß er umfiel. Da dacht' ich nicht, daß er so bald --
ach, Herr du meines Lebens, wenn ich wieder in derselben Lage wäre, ich
würde ihn an mein Herz drücken und küssen.«

»Ja, ja, ja, Nachbarin, ich weiß, wie Ihnen zu Mut sein muß, weiß es
ganz genau. Gestern nachmittag erst hat mein Tom dem unvernünftigen
Vieh, dem Peter, ›Schmerzenstöter‹ eingegossen, den er selber hat
nehmen sollen. Na, ich denk' die Katze reißt's Haus ein, so tobt die
herum. Und ich, Gott verzeih mir, geb' dem Jungen einen Klapps auf den
Kopf mit meinem Fingerhut; armer Junge, armer, armer, toter Junge! Er
hat's überstanden jetzt. Und die letzten Worte, die ich von ihm gehört
hab', waren, daß er mir vorwarf --«

Diese Erinnerung aber war zu viel für die alte Dame, sie brach
vollständig darunter zusammen. Tom schluchzte jetzt selber, mehr aus
Mitleid mit sich, als aus irgend einem andern Grund. Er hörte, daß Mary
weinte und von Zeit zu Zeit ein freundliches Wort über ihn dazwischen
warf. Seine eigene Meinung von sich stieg um ein Beträchtliches. Der
Kummer seiner Tante rührte ihn aber doch sehr und kaum konnte er
der Versuchung widerstehen, hervorzubrechen aus seinem Hinterhalt
und ihren Jammer in Freude zu verwandeln. Der theatralische Effekt,
den solche Scene notwendig hervorrufen mußte, reizte ihn gewaltig,
doch er erwehrte sich dessen tapfer und blieb still. Er fuhr fort
zu lauschen und merkte aus allerlei Bruchstücken der Reden, die er
zusammensetzte, daß man zuerst geglaubt hatte, er und die Kameraden
seien beim Schwimmen verunglückt. Dann wurde das kleine Floß vermißt.
Verschiedene Jungen gaben nun an, daß die Vermißten gesagt hätten, die
ganze Stadt solle bald was Neues erfahren. Die ›weisen Häupter‹ der
Gemeinde reimten sich nun verschiedenes zusammen und waren schließlich
darin einig, daß die Jungen auf dem Floß davon gegangen und baldigst in
der nächsten Stadt flußabwärts auftauchen dürften. Gegen Mittag aber
war das leere Floß aufgefunden worden, das etwa vier Meilen unterhalb
des Städtchens ans Ufer getrieben war, und da schwand jede Hoffnung.
Sie mußten ertrunken sein, sonst hätte sie der Hunger vor Nacht nach
Hause gejagt, wenn nicht noch früher. Man glaubte, die Suche nach
den Leichen sei hauptsächlich deshalb erfolglos geblieben, weil die
Ertrunkenen wohl mitten im tiefsten Wasser umgekommen sein mußten, denn
die Jungen waren flotte Schwimmer und hätten sich sonst sicherlich ans
Ufer gerettet. Das war am Mittwochabend. Wenn es nun nicht gelang, bis
Sonntag die Leichen aufzufinden, so mußte man jeder Hoffnung entsagen,
und es sollte an dem Tage ein Trauergottesdienst in der Kirche
abgehalten werden. Tom schauderte.

Frau Harper schluchzte ein ›Gutenacht‹ und erhob sich zum Gehen. Von
einem gemeinsamen Antrieb ergriffen, flogen die beiden verwaisten
Frauen einander in die Arme, weinten sich ein paar Minuten aus und
nahmen darauf Abschied. Tante Polly sagte Sid und Mary mit besonderer
Zärtlichkeit ›Gutenacht‹, Sid schluchzte ein bißchen, Mary aber weinte
aus Herzensgrund.

Jetzt kniete Tante Polly nieder und betete für Tom, so rührend, so
eindringlich, mit solch maßloser Liebe in jedem Wort, jedem Ton ihrer
alten, zitternden Stimme, daß der Missethäter unter dem Bett wieder
förmlich zerfloß in Thränen, lange ehe sie geendet hatte.

Er mußte sich sehr ruhig verhalten, eine ganze Zeit, nachdem sie zu
Bett gegangen war, denn wieder und wieder warf sie sich ruhelos von
einer Seite zur andern und stöhnte und jammerte vor sich hin. Endlich
aber wurde sie still, nur noch zuweilen schluchzte sie leise im
Schlafe auf. Jetzt stahl sich Tom unter dem Bett vor, richtete sich
ganz allmählich in die Höhe, beschattete das Licht mit seiner Hand
und betrachtete sie. Sein Herz floß über vor Mitleid. Er nahm die
Sykomorenrinde aus der Tasche und legte sie neben dem Lichte nieder. Da
schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf und er zögerte überlegend. Sein
Gesicht verklärte sich förmlich im Widerschein der erleuchteten Idee,
die ihm gekommen. Hastig nahm er die Rinde wieder an sich, beugte sich
über das alte Antlitz, hauchte einen Kuß auf ihre Lippen und stahl
sich, leise wie er gekommen, durch die Thüre, die er hinter sich schloß.

Er schlich den gleichen Weg zurück nach der Fähre, fand dort niemanden
und betrat kühn das Deck. Wußte er doch, daß sich um diese Zeit
nur ein Wächter dort befand und der zog sich für gewöhnlich in die
Kajüte zurück und schlief wie ein Sack. Er löste den Nachen von der
Seite, schlüpfte hinein und glitt bald darnach, vorsichtig rudernd,
stromaufwärts dahin. Als er eine Meile oberhalb der Stadt war, schlug
er die Richtung quer über den Fluß ein und legte sich tüchtig ins
Zeug. Er traf genau auf die Landungsstelle an der andern Seite. Diese
Leistung war für ihn nicht neu. Nun überlegte Tom, ob er nicht den
Nachen mitnehmen sollte, der doch sozusagen ganz legitime Beute für
einen Seeräuber wäre. Doch wußte er, daß man genaue Nachforschungen
nach dem Verbleib anstellen würde und die hätten am Ende zu unliebsamen
Entdeckungen führen können. So sprang er denn ans Ufer und begab sich
sofort in den Wald. Dort setzte er sich hin, ruhte lange, lange aus und
quälte sich dabei namenlos ab, um sich wach zu erhalten. Dann machte er
sich müde, matt und schläfrig auf den Heimweg. Die Nacht war schon weit
vorgerückt. Es wurde heller Tag, ehe er sich wieder am Ufer gegenüber
der Sandbank befand. Er ruhte sich nochmals aus, bis die Sonne ganz
aufgegangen war und den Strom mit ihrem Glanze übergoldete, dann warf
er sich ins Wasser und bald darauf stand er triefend am Eingang des
Lagers und hörte Joe sagen:

»Nein, Tom ist treu wie Gold, Huck, der kommt wieder, der kneift nicht
aus! Er weiß, daß das eine Ehrlosigkeit für einen Piraten wäre, und Tom
ist viel zu stolz, um so was zu thun. Er führt irgend etwas im Schilde,
das ist sicher, möcht' nur wissen was!«

»Na, aber die Sachen dort im Hut sind doch unser, nicht?«

»Beinahe, Huck, noch nicht ganz. Hier die Schrift auf der Rinde sagt:
›Die Sachen gehören euch, sollte ich nicht bis zum Frühstück zurück
sein --‹«

»Was hiemit der Fall ist,« rief Tom und betrat mit großartigem,
dramatischem Effekt die Scene.

Ein üppiges Frühstück, aus Speck und Fisch zusammengesetzt, war bald
zur Stelle. Die Jungen machten sich drüber her, Tom erzählte dabei
seine Abenteuer mit entsprechender Ausschmückung. Sein Ruhm warf einen
strahlenden Abglanz auf die andern. Die Erzählung verwandelte sie
alsbald in eine eitle, prahlerische, lärmende Heldenschar. Dann suchte
sich Tom ein stilles, verborgenes Winkelchen zum Schlafen, während die
andern Piraten sich fertig machten, um zu fischen und auf Entdeckungen
auszugehen.



Fünfzehntes Kapitel.


Nach dem Mittagessen begab sich die ganze Bande zur Sandbank auf die
Suche nach Schildkröten-Eiern. Mit Stöcken durchwühlten sie den Sand
und wo sie eine hohle Stelle fanden, gruben sie mit den Händen nach und
entdeckten oft fünfzig bis sechzig Eier in einem Loch, runde, weiße,
nußgroße Dinger. Am Abend bereiteten sie sich aus den gebackenen Eiern
ein köstliches Mahl, ebenso ein leckeres Frühstück am nächsten Morgen,
einem Freitag. Danach gingen sie zur Sandbank, schwammen und tollten
im Wasser herum und wälzten sich zur Abwechslung im heißen Sande, in
dem sie sich förmlich eingruben. Plötzlich kam ihnen der Gedanke, daß
der kleiderlose Zustand, in welchem sie sich befanden, die größte
Aehnlichkeit habe mit den Trikots der Zirkushelden. Augenblicklich
wurde ein Kreis in den Sand gezogen, der einen Zirkus vorstellen mußte,
einen Zirkus mit drei Clowns in demselben, denn keiner der Jungen
konnte sich entschließen, diesen stolzesten, begehrtesten aller Posten
einem andern zu überlassen.

Als dies Vergnügen bis zur Neige ausgekostet war, sprangen Huck und Joe
nochmals ins Wasser. Tom getraute sich nicht hinein, da er entdeckte,
daß er beim Ausziehen der Hosen seine Klapperschlangen-Klappern
verloren habe. Nur durch ein Wunder konnte er bis jetzt der Gefahr
eines Krampfes beim Schwimmen entgangen sein ohne den geheimnisvoll
wirkenden Schutz dieses Zaubermittels. Eifrig suchte er danach und als
er sie schließlich fand, die Zauber-Klappern, waren die andern des
Schwimmens müde und ruhebedürftig. Sie schlenderten nun am Ufer hin,
wurden schweigsam, verfielen in Brüten, blieben einer hinter dem andern
zurück und jeder ertappte sich darauf, daß er sehnsüchtig in die Weite
starrte, dorthin, wo das heimatliche Nest schläfrig im Sonnenbrande
dalag. Tom wurde sich mit einem Male bewußt, daß er mit der großen Zehe
›Becky‹ in den Sand schrieb. Aergerlich über seine unmännliche Schwäche
wischte er's aus, zog aber im nächsten Moment nichtsdestoweniger
dieselben magischen Linien auf's neue, fast gegen seinen Willen; er
konnte nicht anders. Wieder löschte er dieselben und entzog sich
dann der Versuchung, indem er den beiden Kameraden nachjagte und sie
zusammentrieb.

Joes Lebensgeister aber waren mittlerweile so gesunken, daß ein
Aufraffen derselben fast unmöglich schien. Er hatte solches Heimweh,
daß er es vor Elend kaum mehr aushalten konnte. Verräterische Thränen
waren dicht am Ueberfließen. Auch Huck war melancholisch geworden.
Tom war gleichfalls sehr niedergeschlagen, bemühte sich aber redlich,
es nicht zu zeigen. Seine Brust barg ein Geheimnis, das ihm aber zur
Mitteilung noch nicht reif schien. Sollte sich jedoch diese rebellische
Niedergeschlagenheit nicht bannen lassen, so mußte er am Ende doch
damit herausrücken. Mit erkünstelter Heiterkeit rief er plötzlich:

»Ich wett', Jungens, auf der Insel hier waren schon vor uns Piraten.
Laßt uns noch mal genau alles durchforschen. Vielleicht haben sie
irgendwo 'nen Schatz versteckt. Das wär' doch ein Hauptspaß, wenn wir
plötzlich auf eine verfaulte Kiste voll Gold und Silber stießen, was?«

Diese Aussicht vermochte indessen nur eine schwache Begeisterung zu
erregen, die alsbald erstarb, ohne ein Echo erweckt zu haben. Tom
versuchte es mit zwei oder drei anderen lockenden Vorschlägen, -- es
war verlorne Liebesmüh. Joe saß und bohrte mit einem Stock im Sand
herum und sah sehr brummig aus. Schließlich rief er ungestüm:

»Jungens, wir wollen's sein lassen. Ich will heim, hier ist's so
einsam.«

»Ach, Joe, wart' doch,« beruhigte Tom, »bald denkst du ganz anders
drüber. Denk' doch nur allein ans Fischen!«

»Was liegt mir am Fischen. Ich will heim!«

»Aber, Joe, wo findest du wieder einen Platz zum Schwimmen wie hier?«

»Schwimmen ist mir ganz egal. Ich mach' mir gar nichts mehr draus, seit
keiner da ist um's zu verbieten. Ich will heim.«

»Ach Papperlapapp! Wickelkind! Will seine Mama sehen, was?«

»Ja, das will ich auch! Ich will meine Mutter sehen, und wenn du eine
hättest, wolltest du's auch. Ich bin kein größeres Wickelkind als du!«
Und Joe schluchzte ein bißchen vor sich hin.

»Schön, schön! Laß das Kindchen zu seiner Mama gehen, gelt Huck? Armes,
kleines Wickelkind will die Mama sehen. Soll's haben, armes, kleines
Ding. Dir gefällt's hier, Huck, gelt? Wir zwei bleiben, nicht?«

Huck ließ ein sehr zweifelhaftes, gedehntes ›Ja--a--a‹ hören.

»So lang ich leb', red' ich mit dir nie wieder,« damit erhob sich Joe
und begann sich anzukleiden.

»Als ob mir daran was läge!« versetzte Tom geringschätzig, »wir
brauchen dich nicht. Geh heim und laß dich auslachen. Du bist ein
schöner Pirat, du! Huck und ich, wir sind keine Schreikinder, wir
bleiben hier, gelt Huck? Der mag laufen wohin er will, wollen schon
fertig werden ohne ihn!«

Tom war es aber doch nicht recht geheuer bei der Sache und
unruhig sah er zu, wie Joe wortlos und halsstarrig fortfuhr sich
anzukleiden. Es ängstigte ihn auch zu sehen, daß Huck aufmerksam den
Vorbereitungen Joes folgte, während er ein gefahrdrohendes Schweigen
beobachtete. Alsbald, ohne ein Wort des Abschiedes, begann Joe nach
dem Illinois-Ufer zuzuwaten. Tom sank das Herz bis in die äußerste
Zehenspitze. Er warf einen forschenden Blick auf Huck. Dieser vermochte
den Blick nicht auszuhalten und schlug die Augen nieder. Dann sagte er:

»Ich will auch fort, Tom! 's war vorher schon einsam und jetzt wird's
noch schlimmer. Komm, wir gehen mit!«

»Ich geh' nicht. Ihr könnt alle weg, wenn ihr wollt. Ich will bleiben.«

»Ich, ich denk', ich geh'!«

»Immerzu, wer hält dich denn?«

Huck begann seine Kleider aufzuraffen. Dabei sagte er:

»Tom, ich wollt', du gingst mit. Denk' mal drüber nach. Drüben am Ufer
wollen wir 'ne Zeit lang auf dich warten.«

»Na, da könnt ihr warten bis ihr schwarz werdet, das kann ich dir
sagen!«

Kummervoll wandte sich Huck ab und Tom stand und sah ihm nach, während
ihm das glühendste Verlangen, den beiden zu folgen, fast das Herz
abdrückte. Sein Stolz wollte das aber nicht zulassen. Von Augenblick
zu Augenblick hoffte Tom, die Jungen würden stehen bleiben, die
aber wateten entschlossen vorwärts, ohne sich umzusehen. Plötzlich
überfiel ihn das Bewußtsein, wie still und einsam es um ihn geworden,
mit niederschmetternder Gewalt. Einen letzten Strauß bestand er mit
seinem Stolze, dann stürzte er hinter den Kameraden her, denselben
nachbrüllend:

»Wartet, so wartet doch, ich muß euch etwas sagen!«

Die standen still und wandten sich. Als er sie erreichte, teilte er
ihnen sein Geheimnis mit. Sie hörten mürrisch zu; als ihnen aber klar
wurde, worauf er loszielte, stießen sie ein gellendes Kriegsgeheul aus
und erklärten den Plan für einen Kapitalspaß. Wenn er das gleich gesagt
hätte, wären sie niemals weggelaufen, versicherten sie. Tom redete sich
heraus, so gut er konnte. In Wahrheit aber hatte er gefürchtet, selbst
die Enthüllung dieses geheimnisvollen Plans vermöchte nicht, sie für
die Länge der Zeit auf der Insel festzuhalten, und darum hatte er sich
dies als letztes Lockmittel für den äußersten Notfall aufsparen wollen.

Lustig wanderten nun die Jungen zurück und warfen sich mit erneuter
Energie auf's Spiel, die ganze Zeit über Toms großartigen Plan
besprechend und dessen Genialität bewundernd. Nach einem leckeren
Mittagsmahl, aus Fisch und Eiern bestehend, erklärte Tom, daß er
nun rauchen lernen wolle. Joe gefiel der Gedanke, er wollte es auch
probieren. Huck machte also zwei Pfeifen zurecht und stopfte dieselben.
Die beiden neuesten Jünger in der Kunst des Rauchens hatten bis jetzt
ihr Talent nur an Schokolade-Zigarren erprobt, und das war keineswegs
ein Beweis von gereifter Männlichkeit.

Nun streckten sie sich ins Moos und begannen, freilich etwas zögernd,
drauf los zu dampfen, mit offenbar nicht allzu großer Zuversicht in
ihre Fähigkeiten, ganz gegen ihre sonstige Art und Weise. Der Rauch
hatte aber auch einen gar zu unangenehmen Geschmack, sie mußten sich
immerzu räuspern, doch Tom meinte:

»Ach, das ist ja ganz leicht; wenn ich das früher gewußt hätte, ei, ich
hätt's längst gelernt.«

»Ich auch,« bekräftigte Joe, »das ist ja rein gar nichts.«

»Na, wie oft hab' ich einem zugesehen, der geraucht hat, und mir
gewünscht, wenn du's doch nur auch könntest, hab' aber nie gedacht, daß
das möglich wär',« sagte Tom. »Aber so bin ich. Nicht Huck? Trau' mir
nichts zu! Hundertmal ist mir's schon so gegangen, gelt, Huck?«

»Weiß Gott, hab's auch schon gedacht,« bestätigte dieser.

»Grad' wie bei mir,« rief Joe, »tausendmal ist mir das schon passiert.
Erinnerst du dich, Huck, damals beim Schlachthaus, die andern waren
alle dabei, der Bob und der Johnny und der Jeff auch, da --«

»Ja, so ist's,« fiel Huck ein, ohne weiteres abzuwarten, »'s war just
an dem Tag, an dem ich meine schöne weiße Steinkugel verloren hatt' --
oder auch am Tag vorher.«

»Siehst du wohl,« rief Joe, »der Huck erinnert sich. -- Ich glaub', die
Pfeife hier könnt' ich den ganzen Tag lang rauchen, es ist mir kein
bißchen übel.«

»O, mir auch nicht,« fiel Tom ein, »ich könnt' auch den ganzen Tag
weiter rauchen. Der Jeff Thatcher aber, da wollt' ich alles wetten, der
könnt's nicht.«

»Jeff Thatcher! Herrgott, der wär' nach zwei Zügen geliefert. Der
sollt's nur mal probieren, der würd' was Schönes zu sehen kriegen!«

»Das glaub' ich auch -- und der Johnny Miller, -- na, den möcht' ich
mal dabei sehen.«

»Na und ich!« lachte Joe, »ei der, der könnt' das nicht besser, als
alles andre was er kann -- und er kann nichts! Der braucht's nur zu
riechen, dann wär' er schon hin!«

»Weiß Gott, so ist's. Ich wollt' nur eins, Joe, ich wollt', die Jungens
könnten uns so sehen!«

»Und ich erst!«

»Sagt mal, Jungens, wir reden gar nichts drüber und wenn wir dann mal
alle zusammen sind, geh' ich auf dich zu, Joe, und frag': ›Hast du 'ne
Pfeife da, Joe? Ich möcht' gern mal rauchen.‹ Und du sagst dann, so
ganz nachlässig, als ob's gar nichts wär: ›Ja, die alte hab' ich und
auch meine neue, aber mein Tabak ist nicht sehr gut.‹ -- ›Ach, macht
nichts‹, sag' ich dann, ›wenn er nur stark genug ist‹. Dann du heraus
mit den Pfeifen und angesteckt, -- Herrgott, die werden Augen machen!«

»Das wird wundervoll, Tom, wär's nur schon so weit.«

»Ja und dann sagen wir, das haben wir alles gelernt, wie wir als
Piraten ausgezogen sind und dann platzen sie erst recht vor Neid.«

»Na und ob! 's wird prächtig, Tom!«

[Illustration]

So plauderten sie und bramarbasierten, aber allmählich wurden sie
stiller und warfen nur noch gelegentlich eine Bemerkung hin. Die
Pausen wurden häufiger, im selben Maße, wie ein sonderbares Ausspucken
zunahm. Jede Pore innerhalb ihres Mundes schien zum rieselnden Brunnen
geworden. Sie waren kaum imstande, die Höhlungen unter der Zunge
schnell genug zu leeren, um eine Ueberschwemmung zu verhüten. Kleine
Ergüsse den Hals hinunter kamen trotz aller Eile vor, denen jedesmal
ein leichter Würganfall folgte. Beide Helden sahen nun recht blaß und
elend aus. Joes kraftlosen Fingern entsank die Pfeife, Toms Pfeife
folgte. Die Wasserwerke und Pumpen arbeiteten mit Macht. Endlich sagte
Joe mit schwacher Stimme:

»Hab' da irgendwo mein Messer verloren. Will lieber mal gehen und
suchen.«

Mit zitternden Lippen keuchte Tom:

»Ich helf' dir. Geh' du dorthin, ich mach' mich nach der Quelle. Nein,
Huck, bleib', du brauchst nicht zu kommen, wir werden's schon finden!«

Huck setzte sich also nieder und wartete ungefähr eine Stunde. Dann
fand er's langweilig und ging die Kameraden suchen.

Er fand sie auch, weit voneinander entfernt, mitten im Walde, beide
sehr blaß, beide schlafend. Etwas aber in ihrer Umgebung bewies ihm,
daß, falls sie Unannehmlichkeiten gehabt, sie sich derselben endgültig
entledigt hatten.

Beim Abendessen waren sie nicht allzu redselig, hatten eine etwas
niedergeschlagene Miene und als Huck zum Nachtisch seine Pfeife
hervorzog und sich bereit zeigte, auch die ihren zu stopfen, da dankten
sie, sagten, sie fühlten sich nicht ganz wohl, beim Mittagessen müsse
ihnen etwas nicht gut bekommen sein.

[Illustration]



Sechzehntes Kapitel.


Um Mitternacht ungefähr erwachte Joe und weckte die andern. Es lag
eine drückende Schwüle in der Luft, die nichts Gutes zu bedeuten
schien. Die Jungen schmiegten sich eng aneinander und suchten die
freundliche Nähe des Feuers, obgleich die brütende, lastende Hitze der
bewegungslosen Atmosphäre nahezu erstickend war. Stille saßen sie da,
atemlos wartend. Außerhalb des Lichtkreises, den das Feuer warf, schien
alles wie in schwarzer Nacht begraben. Alsbald erglomm ein zitternder
Schein, der für einen Moment das Laub der Bäume sichtbar hervortreten
ließ, um ebenso plötzlich zu erlöschen. Dann tauchte ein zweiter, schon
stärkerer Strahl auf. Ein dritter folgte. Wie leises Stöhnen zog's nun
durch das Geäste der Waldbäume, ein schwacher Lufthauch streifte die
Wangen der Knaben und diese erschauerten in dem Gedanken, der Geist
der Nacht habe sie mit seinem Fittiche berührt. Wieder folgte eine
Pause. Jetzt verwandelte ein unheimlicher Blitz die Nacht zum Tage
und ließ jeden kleinen Grashalm zu ihren Füßen deutlich hervortreten.
Zugleich enthüllte der Strahl aber auch drei weiße, bange, erschrockene
Gesichter. Ein dumpfer Donner stürzte rollend und krachend vom Himmel
nieder, um sich in leisem Grollen in der Ferne zu verlieren. Ein kühler
Luftstoß folgte, raschelte in den Blättern und jagte die Aschenflocken
des Feuers auf. Ein andrer zuckender, flammender Strahl fuhr nieder,
unmittelbar gefolgt von einem schmetternden Krach, der die Kronen der
Bäume zu Häupten der Knaben zerreißen zu wollen schien. In sprachlosem
Schreck umklammerten sich die Kinder in der trostlosen Finsternis, die
der Lichtflut folgte. Schwere, große Regentropfen fielen klatschend auf
die Blätter.

[Illustration]

»Schnell, Jungens, nach dem Zelt,« schrie Tom.

Sie sprangen in der Richtung desselben davon, stolperten über Wurzeln,
verfingen sich in den Rebenranken und waren in der Finsternis nicht
imstande, zusammen zu bleiben. Ein wütender Sturm raste in den Wipfeln
und verschlang jeden andern Laut. Die Blitze jagten einander, Schlag
auf Schlag folgte ohrenbetäubender Donner. Stromweise stürzte der
Regen nieder, vom Sturm flutartig am Boden hingefegt. Die Jungen
schrieen einander zu, aber der heulende Sturm und der dröhnende
Donner übertönten die schwachen Kinderstimmen vollständig. Doch
gelang es den Knaben allmählich, sich einer nach dem andern zum Zelte
durchzuschlagen, wo sie durchnäßt und zu Tode geängstigt Obdach zu
finden hofften. Daß ihr Leid ein geteiltes war, machte es leichter zu
tragen. Reden konnten sie nicht, das alte Segel klatschte wie rasend
im Sturm und erstickte jeden Laut. Stärker und stärker brauste der
Orkan, das Segel riß sich los und flog dahin auf Sturmesfittichen. Die
Jungen ergriffen sich bei den Händen und flohen, oftmals stolpernd und
sich wund fallend, dem Ufer zu, wo eine große, alte Eiche ihnen Schutz
bieten konnte. Der Kampf der Elemente hatte jetzt seinen Höhepunkt
erreicht. Am Himmel bildeten die unaufhörlich zuckenden Blitze ein
einziges großes Lichtmeer, so daß alles ringsum, grell beleuchtet,
in klaren, scharfen Umrissen hervortrat, die sturmgebeugten Bäume,
der aufgewühlte Strom mit den weißen Schaumköpfen, der treibende
Sprühregen. Die verschwommenen Zackenlinien der hohen Klippen am
jenseitigen Ufer lugten ab und zu aus dem Wolken-Vorhang, aus dem
zerstiebenden und sich wieder verdichtenden Regenschleier. Von Zeit zu
Zeit unterlag einer der alten Riesen des Waldes in dem gewaltigen Kampf
und stürzte krachend in das Unterholz zu seinen Füßen. Die furchtbaren
Donnerschläge folgten jetzt ununterbrochen mit ohrzerreißendem
Geknatter. Das Gewitter steigerte sich zu solcher Wucht, daß es schien,
als wolle es die Insel in Stücke reißen, sie verzehren in Feuersglut,
sie versenken in den Wellen des Stromes bis zu den Kronen der Bäume,
sie vom Erdboden weg fegen und jede lebende Kreatur auf derselben
vernichten in einem Augenblick. Entsetzlich, trostlos war die Nacht für
die jungen Herzen, die sich obdachlos der Wut der Elemente preisgegeben
sahen.

Endlich aber ließ der Kampf nach, die Schlacht war geschlagen, die
feindlichen Mächte zogen sich zurück, schwächer und schwächer wurde das
Drohen, das Grollen, Friede zog ein in die erregte Natur. Die Jungen
schlichen zum Lager zurück, noch ordentlich scheu und zitternd, und
fanden dort, daß sie alle Ursache hatten dem Himmel dankbar zu sein.
Die große Sykomore, die ihr Lager beschattete, lag vom Blitze gefällt,
-- sie wären verloren gewesen, hätten sie zur Zeit der Katastrophe
darunter geweilt.

Alles im Lager war durchnäßt, der Feuerherd mit einbegriffen.
Leichtsinnig wie ihr ganzes Geschlecht hatten die Jungen keinerlei
Vorsichtsmaßregeln gegen den Regen getroffen. Der Verlust des Feuers
war ein höchst beklagenswerter Umstand, denn unsere armen Seehelden
waren kalt und naß durch und durch. Wortreich beklagten sie ihre
mißliche Lage. Bald aber entdeckten sie, daß das Feuer sich an dem
alten Baumstamm, gegen den sie es geschichtet, aufwärts gefressen
hatte, daß ein Streifen desselben, ungefähr eine Hand breit, der
allgemeinen Ueberschwemmung entgangen war und, wenn auch schwach,
weiter glimmte. Mit Geduld und Ausdauer gelang es ihnen denn auch,
vermittelst kleiner Rindenstückchen und dürrer Zweige allmählich
ein lustig prasselndes Feuerlein zu entflammen, das Licht und Wärme
ausstrahlte und ihre Geister zu neuem Leben erweckte. Sie trockneten
sich und ihren gekochten Schinken, stärkten sich mit demselben
und saßen dann um's Feuer bis zum lichten Morgen, unter lebhafter
Erörterung ihrer nächtlichen Abenteuer, da es ringsum kein trockenes
Plätzchen gab, das ein Ausstrecken zum Schlafen erlaubt hätte.

Als die Sonne sich dann zeigte, wurden die Jungen von unwiderstehlicher
Müdigkeit befallen. Sie gingen nach der Sandbank, gruben sich dort tief
in den Sand und schliefen, bis die höher steigende Sonne sie allmählich
gelinde zu rösten begann. Müde und verschlafen rafften sie sich auf, um
nach dem Frühstück zu sehen und saßen dann verdrossen, wortkarg und mit
steifen Gliedern bei der Mahlzeit. Vorboten wiederkehrenden Heimwehs
begannen sich zu melden. Tom sah diese verhängnisvollen Zeichen und gab
sich alle Mühe, die Piraten aufzumuntern. Diese aber kümmerten sich
weder um Steinkugeln, noch um Zirkus oder Schwimmen, nichts vermochte
ihnen Interesse abzugewinnen. Da erinnerte er sie an den verlockenden,
geheimnisvollen Plan und es gelang ihm, einen Strahl der Freude auf
den vergrämten Gesichtern hervorzurufen. Den günstigen Moment benutzte
er schleunigst, um sie für ein neues Spiel zu begeistern, das er
ausgedacht. Sie wollten das Piratentum einmal beiseite werfen und zur
Abwechslung Indianer sein. Die neue Idee leuchtete ihnen ein und nach
kurzer Zeit hatten sie sich ihrer zivilisierten Kleidung entledigt und
in Indianer-Kostüm geworfen, das heißt, sich den ganzen Körper, vom
Scheitel bis zur Sohle, zebraartig mit dunkeln Schmutzstreifen bemalt.
Jeder der Jungen stellte natürlich einen Häuptling vor und so stürmten
sie in das Dickicht des Waldes zum Angriff auf irgend eine eingebildete
englische Niederlassung.

Dann trennten sie sich in drei verschiedene feindliche Stämme, gingen
aus ihrem Hinterhalt unter gellendem Kriegsgeheul aufeinander los und
töteten und skalpierten sich gegenseitig dem Tausend nach. Es war ein
blutiger Tag, mithin befriedigend für die Gemüter der Helden.

Als sie sich darnach mit tüchtigem Appetit und frohem Mut im Lager
sammelten, entstand eine neue und unvorhergesehene Schwierigkeit.
Feindliche Indianer konnten unmöglich das Brot der Gastfreundschaft
zusammen brechen, ohne zuvor Frieden zu schließen, und dies war
hinwiederum unmöglich ohne die unerläßliche Friedenspfeife. Wer hatte
je gehört, daß es ohne diese gegangen wäre? Zwei der Wilden wünschten
jetzt, sie wären Seeräuber geblieben. Es gab aber keinen andern Ausweg
aus der Klemme; so riefen sie denn mit möglichst heiterer Miene nach
der Pfeife und jeder that einen vollen Zug, als die Reihe an ihn kam.

Und siehe da, sie verdankten ihren Indianerspielen die Offenbarung
eines neuen Talentes: sie fanden, daß sie nun rauchen konnten,
wenigstens für kurze Zeit, ohne gezwungen zu sein, -- nach einem
verlorenen Messer oder dergl. zu suchen. Dies machte sie unsagbar stolz
und glücklich, und um die neuerworbene Kunst aus Mangel an Uebung
nicht zu verlernen, machten sie sich nach dem Abendessen sofort wieder
vorsichtig dahinter und beschlossen damit frohlockend den Abend. Sie
strahlten vor Glück und Stolz im Bewußtsein der großen Errungenschaft.
Diese ihre neueste Heldenthat dünkte ihnen glorreicher, als wenn sie so
und so viele Indianerstämme unterworfen und skalpiert hätten. Lassen
wir sie also nur ruhig rauchen und schwatzen und prahlen, da wir im
Augenblick keine weitere Verwendung für sie haben.

[Illustration]



Siebzehntes Kapitel.


In der kleinen Stadt herrschte inzwischen an jenem ruhigen
Sonnabend-Nachmittag durchaus keine Fröhlichkeit. Die Familie Harper
und Tante Polly samt den Ihren steckten sich in Trauerkleider unter
vielen Thränen. Eine ungewöhnliche Stille lag über dem Städtchen, in
welchem man sich im allgemeinen schon nicht über allzuviel Lärm und
Getriebe beklagen konnte. Mit zerstreuter Miene gingen die Leute ihren
Geschäften nach, redeten wenig dabei und seufzten oftmals. Selbst den
Kindern schien dieser Sonnabend der Schulfreiheit nicht die gewohnte
Freude zu gewähren. Es lag kein Zug in ihren Spielen und bald gaben sie
dieselben ganz auf.

Am Nachmittag schlich Becky Thatcher um das verlassene Schulhaus herum,
ihr war ganz melancholisch zu Mute. Doch auch dort fand sie keinen
Trost. Leise sprach sie vor sich hin:

»Könnt' ich doch nur seinen Messingknopf wieder finden! Jetzt hab' ich
gar kein Erinnerungszeichen mehr an ihn,« und sie unterdrückte ein
leises Schluchzen.

Dann blieb sie stehen und meinte sinnend:

»Grad' hier war's. O, wenn's noch einmal wäre, das würde ich nie mehr
sagen -- nie mehr, nicht für alle Welt. Jetzt aber ist er fort und ich
werde ihn nie, nie, niemals wieder sehen!«

Dieser Gedanke raubte ihr die letzte Fassung und unter strömenden
Thränen schlich sie davon. Nun erschien eine ganze Gruppe von Jungen
und Mädchen, Spielkameraden von Tom und Joe, auf dem Schulhof; sie
sprachen in leisem, bedrücktem Ton von den beiden Verlorenen, was Tom
gethan und gesagt das letzte Mal, als sie ihn gesehen, und wie Joe
gelächelt und was er gesagt; jede geringste Kleinigkeit erschien nun
von ahnungsschwerer Vorbedeutung. Dabei bezeichnete jeder Sprecher
den genauen Platz, an dem die Vermißten damals gestanden und dann
folgte jedesmal: »und ich stand da, grad' wie eben und der da, wo du
stehst, grad' so nah' und er lächelte -- so -- und mir lief's ganz kalt
über den Rücken -- ordentlich schauerlich -- warum, wußt' ich damals
freilich nicht, aber jetzt ist mir's klar.«

Nun entspann sich ein Streit darüber, wer die beiden zuletzt gesehen
im Leben, und viele rissen sich um diese traurige Auszeichnung, für
die sie Beweise vorbrachten, welche die Zeugen mehr oder weniger
glaubwürdig fanden. Schließlich, nach langer Debatte, war's endgültig
entschieden, wer die letzten Worte mit den Verschwundenen gewechselt
hatte, und die glücklichen Sieger erhielten dadurch eine Würde und
Wichtigkeit, welche die Bewunderung und den Neid der andern erregte.
Ein armer, kleiner Bursche, der sonst keine Auszeichnung irgend welcher
Art aufweisen konnte, sagte mit sichtlichem Stolze bei der bloßen
Erinnerung:

»Mich, mich hat der Tom Sawyer einmal tüchtig durchgeprügelt.«

Dieser Versuch aber, zu Ruhm zu gelangen, erwies sich als gänzlich
erfolglos. Die meisten Jungen konnten sich dessen rühmen, und dadurch
sank die Auszeichnung doch allzu sehr im Werte. Die Gruppe trollte von
dannen, halblauten Tones immer neue Erinnerungen an die verlorenen
Helden austauschend.

Am nächsten Morgen, als die Sonntagsschulstunde vorüber war, begann
die Glocke mit hohlem, dumpfem Klang anzuschlagen, anstatt wie sonst
feierlich zu läuten. Es war ein ungewöhnlich stiller Sabbat und der
klagende Ton stimmte zu der nachdenklichen, feierlichen Ruhe, die über
der ganzen Natur lag. Die Einwohner des Städtchens gingen zur Kirche
und verweilten einen Augenblick in der Vorhalle, um sich flüsternd
über das traurige Ereignis zu unterhalten. In der Kirche selbst aber
war's totenstill, nur das Rauschen der Frauengewänder unterbrach das
Schweigen. Keiner konnte sich erinnern, die kleine Kirche jemals so
voll gesehen zu haben. Eine tiefe, erwartungsvolle Pause entstand
und dann trat Tante Polly ein, gefolgt von Sid und Mary und der
Familie Harper, alle in tiefstem Schwarz. Die ganze Gemeinde zusamt
dem Geistlichen erhob sich achtungsvoll von ihren Plätzen, bis die
Trauernden durch ihre Reihen geschritten waren und in der vordersten
Bank Platz genommen hatten. Wiederum folgte tiefe Stille, nur hie und
da durch ersticktes Schluchzen unterbrochen, dann erhob der Geistliche
seine Stimme und betete. Ein ergreifendes Lied wurde gesungen, dann
folgte die Predigt.

In seiner Predigt entwarf der Geistliche ein solch glänzendes Bild von
den Tugenden, der Liebenswürdigkeit und den vielversprechenden Talenten
der Verlorenen, daß jeder der Zuhörer in der ehrlichen Meinung, dies
getreue Abbild wieder zu erkennen, einen Stich im Herzen fühlte, bei
dem Gedanken, wie beharrlich blind er selber gegen alle diese Vorzüge
gewesen und wie er ebenso beharrlich nur Fehler und Mängel in den armen
Jungen zu entdecken vermocht. Nun folgte manch rührender, hochherziger
Zug aus dem Leben der Dahingeschiedenen, der das Vorhergesagte
bekräftigen und beweisen sollte, und jedermann gingen nun erst die
Augen und das Verständnis auf dafür, wie groß und erhaben eigentlich
jene kleinen Vorkommnisse gewesen waren, die ihnen zur Zeit als die
ärgsten Schelmenstreiche und Teufeleien einer tüchtigen Tracht Prügel
wert erschienen. Die Versammlung wurde immer bewegter, je weiter der
Geistliche in seiner pathetischen Rede vorrückte, bis schließlich die
ganze Gesellschaft jegliche Fassung und Haltung verlor und sich in
vollem Chor dem Schluchzen und Seufzen der trauernden Hinterbliebenen
anschloß. Ja, den Geistlichen selbst übermannten seine Gefühle, er
verstummte und weinte auf offener Kanzel.

Ein Rascheln ertönte von der Emporkirche, auf das niemand achtete.
Einen Moment später knarrte eine Thüre, der Geistliche erhob seine
strömenden Augen über das verhüllende Taschentuch und -- stand und
starrte wie versteinert! Erst folgte ein Paar Augen der Richtung der
seinen, dann ein zweites, und plötzlich erhob sich, wie von einem
gemeinsamen Antrieb beseelt, die ganze Gemeinde und starrte auf
die drei ›toten‹ Jungen, welche gemächlich den Mittelgang herauf
marschierten, Tom voran, Joe hinter ihm, zuletzt Huck, eine wandelnde
Ruine in Lumpen. Die drei waren in jener unbenutzten Emporgalerie
verborgen gewesen und hatten ihre eigene Grabrede mit angehört!

Tante Polly, Mary und die Harpers stürzten sich auf die
wiedergeschenkten Ihrigen und erstickten dieselben fast mit Küssen und
Umarmungen. Der arme Huck aber stand daneben, blöde und verschüchtert,
wußte nicht, was er thun oder wo er sich bergen sollte vor so viel
starrenden Augen, von denen nicht eines ihm einen Willkommgruß bot. Er
wandte sich halb und versuchte fortzuschleichen, Tom aber faßte ihn und
rief:

»Tante Polly, das ist nicht recht und nicht schön. Es muß sich auch
jemand freuen, daß Huck wieder da ist.«

»Das müssen wir, Tom, mein Junge, und wollen's auch, armes, elternloses
Kind!« Wenn aber etwas das Gefühl des Mißbehagens bei Huck noch
vermehren konnte, so waren es die Zärtlichkeiten, mit denen Tante Polly
ihn überhäufte.

[Illustration]

Plötzlich rief der Geistliche mit aller Kraft seiner Lunge in den Lärm
hinein:

»Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren! -- Nun singt! -- Aber
herzhaft!«

Und sie sangen. Triumphierend, mit gewaltigem Klang erscholl das alte,
hehre Lob- und Danklied, die Töne stiegen und schwollen und schienen
die Grundfesten des Gebäudes zu erschüttern. Tom Sawyer, der Pirat,
blickte um sich, sah aller Augen auf sich gerichtet und fühlte, daß
dies der stolzeste Moment seines Lebens sei.

Als die Gemeinde die Kirche verließ, meinten alle, von Herzen gerne
würden sie sich noch einmal zum besten haben lassen, nur um ›Lobet den
Herren‹ wieder so erhebend singen zu hören.

       *       *       *       *       *

Das also war Toms großes Geheimnis gewesen: der Plan, mit seinen
Spießgesellen heimzukehren und ihrem eigenen Trauergottesdienst
beizuwohnen. -- Auf einem alten Baumstamm waren sie abends nach dem
Missouri-Ufer geschwommen, fünf oder sechs Meilen unterhalb des
Städtchens gelandet, hatten in dem Walde, der die Stadt begrenzte,
beinahe bis Tagesanbruch geschlafen, dann sich durch einige
Seitengäßchen zur Kirche geschlichen, wo sie in der Empore ihren Schlaf
vollendeten, inmitten eines Chaos von wackligen alten Kirchen-Bänken.

       *       *       *       *       *

Beim Frühstück am Montagmorgen waren Tante Polly und Mary besonders
zärtlich gegen Tom und voll Aufmerksamkeit gegen seine Wünsche. Man
sprach ungewöhnlich viel. Im Laufe der Unterhaltung äußerte Tante Polly:

»Na, Tom, ich will nicht sagen, daß es für euch Jungens nicht ein
Kapitalspaß gewesen sein muß, uns hier alle in Sorge und Kummer zu
wissen, während ihr's euch da draußen wohl sein ließet. Daß du aber
so hartherzig sein konntest, Tom, und mich so zappeln und mich grämen
lassen, das, Tom, das hätt' ich doch nicht von dir gedacht! Wenn du
hast herüber kommen können, um deine eigne Leichenrede zu hören, so
hättest du mir vorher wohl auch 'nen kleinen Wink geben dürfen, daß du
nicht tot seiest, sondern nur davongelaufen.«

»Ja, Tom, das ist wahr, das hättest du thun müssen,« stimmte Mary
bei, »und du würdest es wohl auch gethan haben, wenn du dran gedacht
hättest, -- gelt?«

»Ja, Tom?« fragte nun Tante Polly, deren Antlitz sich bei Marys Worten
bedeutend aufgeklärt, »sag' mal, hättest du's wirklich gethan, wenn du
dran gedacht hättest?«

»Ich -- ja, ich weiß nicht, ich -- ei, das hätt' ja alles verdorben.«

»Tom, ich dachte immer, so lieb würdest du mich doch wenigstens haben,«
sagte Tante Polly ganz vorwurfsvollen, betrübten Tones, wobei es dem
Jungen gar nicht wohl war. »'s wär schon was gewesen, wenn du nur dran
_gedacht_ hättest, auch ohne es zu thun.«

»Na, Tantchen,« beruhigte Mary, »das ist nun mal so Toms flüchtige Art
-- der ist immer so in der Hast und im Eifer, daß er nie an irgend
etwas denkt.«

»Um so schlimmer. Sid hätt' dran gedacht und Sid wär' auch gekommen und
hätt's gethan. Tom, du wirst nochmal dran zurückdenken, wenn's zu spät
ist, und wünschen, daß du besser gegen deine alte Tante gewesen wärst,
wo doch so wenig dazu gehört, mich --«

»Komm, Tantchen, du weißt, daß ich dich lieb hab', du mußt's ja wissen,
gelt?« schmeichelte Tom.

»Würd's besser wissen, wenn du's besser zeigtest.«

»Ich wollt', ich hätt' dran gedacht,« meinte Tom sinnend und mit
reuigem Ton, »jedenfalls aber hab' ich von dir geträumt. Das ist doch
schon etwas, nicht? Ei, in der Nacht vom Mittwoch träumte mir, ihr
säßet alle dort beim Bett, Sid saß auf dem Holzkasten und Mary dicht
daneben.«

»Ja und so war's auch, -- wie gewöhnlich. Ich bin froh, daß du dir in
deinem Traum wenigstens die Mühe gabst, an uns zu denken.«

»Ja und Joe Harpers Mutter war auch da, träumte ich.«

»Das war sie wirklich, Herr du mein, -- na und was weiter, Tom, was
weiter?«

»Viel noch, aber jetzt ist alles so verworren.«

»Na, besinn dich doch, probier's mal, kannst du nicht?«

»Wart' mal, ich mein' der Wind -- der Wind hätt' was ausgeblasen --«

»Ausgeblasen, nee Tom, besinn dich besser, der Wind --«

»Richtig, wart', jetzt hab' ich's. Der Wind hat das Licht flackern
machen und --«

»Herr, erbarm' dich! -- Weiter Tom, weiter!«

»Na und ich glaub' du sagtest: ›Was, seht doch mal die Thür' die --‹«

»Weiter Tom!«

»Wart' 'nen Moment, nur 'nen Moment! O ja, jetzt hab' ich's -- du
sagtest, sie sollten nach der Thüre sehen, die sei offen --«

»So wahr ich hier sitze, so sagt' ich, gelt Mary? Weiter!«

»Dann -- dann -- ja gewiß weiß ich's nicht mehr, aber ich meine, du
hätt'st Sid geheißen, sie zuzumachen und -- und --«

»So was lebt nicht mehr! Herr du mein Gott. Komm' mir nur keiner mehr
damit, daß Träume Schäume seien. Das soll die Harpern hören, eh' ich
'ne Stunde älter bin! Möcht' wissen, wie sie sich da 'raus reden wird
mit ihrem Unsinn von Aberglauben, über den sie so wohlweise schwatzt.
Weiter, Tom!«

»Na, jetzt ist mir alles klar wie Sonnenschein! Dann hast du gesagt,
ich wär' nicht schlecht, nur toll und voll Teufeleien und Unsinn, wüßt'
nicht mehr was ich thät' als wie ein -- ein -- ein Füllen, mein' ich,
war's, oder so etwas.«

»Richtig, richtig. Großer, allmächtiger Gott! Weiter, Tom!«

»Dann hast du geweint --«

»Weiß Gott, weiß Gott und nicht zum erstenmal. Dann --«

»Dann fing Joes Mutter auch an zu weinen und sagte, mit ihrem Joe sei's
grad' so und sie wollt' nur, sie hätt' ihn nicht durchgewichst um den
alten Rahm, den sie doch selber weggeschüttet --«

»Tom, Tom! Der Geist war über dir! Das ist ja die reine Eingebung, gar
nichts anderes! Gott sei mir gnädig! -- Weiter, Tom!«

»Dann kam Sid, der sagte --«

»Ich glaub', daß ich gar nichts gesagt hab',« warf Sid rasch ein.

»Doch, Sid, doch,« berichtigte Mary.

»Schweigt still und laßt Tom reden! Was hat Sid gesagt, Tom?«

»Der sagte -- na, ja, er hoffe, mir gehe es besser wo ich sei, wenn ich
aber manchmal besser --«

»Na, was sagt ihr nun?« triumphierte Tante Polly. »Seine eignen Worte!«

»Und du, Tantchen, du bist ihm eklich über den Mund gefahren, du --«

»Das bin ich, weiß Gott, das bin ich! Ein Engel muß uns belauscht
haben: Ein heiliger Himmelsengel muß irgendwo verborgen gewesen sein!«

»Und dann erzählte Frau Harper, wie Joe ihr einen Schwärmer
unter der Nase losgebrannt, und du erzähltest von Peter und dem
›Schmerzenstöter‹.«

»So wahr ich lebe!«

»Und dann redetet ihr alle durcheinander, wie man den Fluß abgesucht
nach uns und daß am Sonntag der Trauergottesdienst sein solle, und dann
habt ihr euch umarmt, die Frau Harper und du, und geweint und dann ging
sie weg.«

»Grad' so war's, grad' so! So wahr ich hier auf meinem Stuhl sitze!
Tom, du hättest es nicht besser erzählen können, wenn du dabei gewesen
wärest. Und dann was? Weiter, Tom!«

»Und dann hast du für mich gebetet, ich hab' dich gesehen und jedes
Wort gehört. Dann hast du dich ins Bett gelegt und ich war so betrübt,
daß ich ein Stück Rinde nahm und drauf schrieb: ›Wir sind nicht tot,
wir sind nur davon gegangen, um Seeräuber zu werden.‹ Das hab' ich auf
den Tisch zum Licht hingelegt, und du hast so gut ausgesehen und so
betrübt, wie du da gelegen hast und geschlafen, daß ich mich über dich
beugen mußte und dich küssen.«

»Hast du das gethan, Tom, wirklich und wahrhaftig? -- _Darum_ will ich
dir alles, alles verzeihen!« Und sie riß den Jungen in einer ihn fast
erstickenden Umarmung an sich und Tom hatte dabei das Bewußtsein eines
elenden, erbärmlichen Schurken.

»Freundlich und lieb war's ja,« murmelte Sid, den andern hörbar, vor
sich hin, »aber -- doch nur im Traum!«

»Halt den Mund, Sid, man thut im Traum immer doch nur das, was man auch
wachend thun würde. Hier hast du einen schönen Goldreinetten-Apfel,
Tom, den hab' ich dir aufgehoben, falls du je wieder gefunden werden
solltest, -- jetzt macht euch fort in die Schule! Wie dankbar bin ich
unserm Gott und Vater, daß ich dich wieder hab'. Er ist barmherzig und
gnädig mit denen, die an ihn glauben und seine Gebote halten, obgleich
ich, weiß Gott, ein unwürdiges Gefäß seiner Güte bin. Wenn er aber nur
denen, die's verdienen, seinen Segen geben wollte und ihnen helfen in
der Not und der Trübsal, so würde man hier unten keinen frohen Ton mehr
hören, und wenige würden zu seiner Ruhe eingehen, wenn die lange Nacht
einst kommt. So, und nun hebt euch fort, Sid, Mary, Tom -- ihr habt
mich lang genug aufgehalten.«

Die Kinder trollten zur Schule und die alte Dame machte sich fertig, um
Frau Harper aufzusuchen und ihren Unglauben mit Toms wunderbarem Traum
zu besiegen. Sid war zu klug, um den Gedanken laut werden zu lassen,
der ihn beseelte, als er das Haus verließ. Dieser Gedanke war:

»Ziemlich durchsichtig -- ein so ellenlanger Traum und ohne den
winzigsten, kleinsten Irrtum! Wenn das nicht --«

[Illustration]

Welch ein Held war Tom geworden! Er hüpfte und galoppierte jetzt nicht
mehr, wenn er auf der Straße ging, sondern mit würdevoller Haltung,
wie sie einem gewesenen Piraten geziemte, stolzierte er einher in dem
Bewußtsein, daß das Auge der Oeffentlichkeit auf ihm ruhe. Das war in
der That der Fall. Wohl versuchte er sich zu stellen, als sähe er die
Blicke nicht, als höre er die Bemerkungen nicht, während er so dahin
schritt, und doch waren sie Nektar und Ambrosia für ihn. Kleinere
Jungen folgten truppweise seinen Spuren, stolz darauf, mit ihm gesehen,
von ihm geduldet zu werden, der an ihrer Spitze einher marschierte wie
der Tambourmajor an der Spitze seiner Kompagnie. Jungen seines Alters
thaten als wüßten sie gar nichts davon, daß er überhaupt weg gewesen,
verzehrten sich aber trotzdem beinahe vor Neid. Sie würden alles drum
gegeben haben, seine gebräunte, sonnverbrannte Haut, seine glänzende,
weltkundige Berühmtheit zu besitzen, Tom aber hätte keinen dieser
beiden Faktoren hergegeben, nicht für alles -- nicht für einen Zirkus!

In der Schule machte man so viel Aufhebens von ihm und Joe,
solches Staunen, solche Bewunderung strahlte den Beiden aus aller
Augen entgegen, daß die zwei Helden gar bald eine unerträgliche
Aufgeblasenheit zeigten. Sie begannen den eifrig lauschenden Hörern
ihre Abenteuer zu schildern, -- ohne aber je über den Anfang
hinauszukommen, denn eine solche Erzählung konnte kein Ende haben, wenn
eine Einbildungskraft wie die ihre stets unerschöpfliches Material
lieferte. Als sie dann schließlich ihre Pfeifen hervorzogen und mit
größter Unbefangenheit zu schmauchen begannen, da war der Gipfel des
Ruhms erklommen.

Tom beschloß, sich unabhängig zu machen von Becky Thatcher. Ruhm war
ihm genügend, nach Liebe fragte er nichts mehr. Er wollte sein Leben
dem Ruhme weihen. Jetzt, da er ein berühmter Held geworden, werde sie
wohl versuchen, Frieden zu schließen, dachte er. Aber sie sollte sehen,
daß er mindestens so gleichgültig sein könne wie andre Leute. Dort kam
sie eben. Tom that, als bemerke er sie nicht. Er wandte sich ab und
einer Gruppe von Jungen und Mädchen zu, mit denen er eifrig zu plaudern
begann. Bald sah er, daß sie mit glühenden Wangen und glänzenden Augen
umhertrippelte, ihre Gefährtinnen neckte, sie herumjagte und vor Lachen
aufkreischte, wenn es ihr gelang, eine zu erhaschen. Auch bemerkte
er, daß dies meistens in seiner unmittelbaren Nachbarschaft der Fall
war und daß ihn dann jedesmal ihr Blick streifte. Das schmeichelte
seiner sündlichen Eitelkeit und anstatt sich dadurch versöhnen zu
lassen, stellte er sich nur noch mehr, als ob er von ihrer Existenz
überhaupt nichts wisse. Alsbald gab sie das Herumtollen auf, drückte
sich unentschlossen von einer Gruppe zur andern, seufzte ein-, zweimal
und sah verstohlen und bedeutungsvoll nach Tom hin. Jetzt bemerkte
sie, daß dieser sich angelegentlich mit Anny Lorenz zu thun machte. Ein
jäher Schmerz durchzuckte sie, ihr ahnte nichts Gutes. Sie versuchte
sich fortzustehlen, ihre Füße aber wurden zu Verrätern und trugen sie
statt dessen gerade zu der Gruppe hin. Einem Mädchen, das dicht neben
Tom stand, rief sie mit übertriebener Lebhaftigkeit zu:

»Ei, Mary Austin, du böses Mädchen, warum warst du gestern nicht in der
Sonntagsschule?«

»Ich war ja dort -- hast du mich nicht gesehen?«

»Nein! Warst du wirklich dort? Wo hast du denn gesessen?«

»In der Klasse von Fräulein Peters, wo ich immer sitze. Ich hab' dich
gesehen.«

»Wirklich? Nein, wie komisch, daß ich dich nicht gesehen habe, ich
wollte dir von dem Picknick erzählen.«

»O, das ist lustig! Wer will eins geben?«

»Meine Mama will mir erlauben eins zu halten.«

»Das ist ja prächtig, -- hoffentlich darf ich auch kommen?«

»Natürlich. Es ist ja _mein_ Picknick. Es darf jeder kommen, den ich
haben will, und dich will ich.«

»Nein wie reizend! Wann soll's denn sein?«

»Bald. Vielleicht noch vor den Ferien.«

»Wird das lustig werden! Wirst du alle einladen?«

»Gewiß, alle die meine Freunde sind -- oder sein wollen,« ein
verstohlener Blick traf Tom; der aber schwatzte mit Anny Lorenz vom
Sturm auf der Insel und wie der Blitz die große Sykomore gefällt und in
Splitter gerissen hatte, ›keine drei Schritte von ihm entfernt‹.

»Darf ich auch kommen?« fragte Grace Miller.

»Ja.«

»Und ich?« fragte Sally Rogers.

»Gewiß!«

»Ich auch?« fiel Susanne Harper ein, »und mein Joe auch?«

»Natürlich.«

Und mit Jubel und Händeklatschen hatte jedes in der Gruppe um Erlaubnis
gefragt, bis auf Tom und Anny. Immer weiter plaudernd wandte er sich
kühl ab und nahm Anny mit sich. Beckys Lippen zitterten, Thränen
traten in ihre Augen. Mühsam barg sie diese Zeichen des Herzeleids
unter erzwungener Lebhaftigkeit, fuhr fort zu plappern und zu lachen,
aber das Picknick hatte jetzt jeden Reiz für sie verloren und alles
übrige dazu. Sobald sie konnte, schlich sie davon, versteckte sich
und weinte sich einmal ordentlich aus. Dann saß sie mürrisch und
tiefgekränkt da, bis die Schulglocke läutete. Das rüttelte sie auf und
mit rachedurstigem Blick sprang sie empor, schüttelte die langen Zöpfe
zurecht und war jetzt mit sich darüber im reinen, was sie zu thun habe.

[Illustration]

In der Pause setzte Tom sein Scharmuzieren mit Anny fort, voll
jubelnder Selbstzufriedenheit. Er versuchte sich dabei stets in Beckys
Nähe zu halten, um sie mit dem Anblick zu foltern. Erst fand er sie
nicht; endlich erspähte er sie und siehe da -- sein Thermometer sank,
sank bis ins Bodenlose hinein. Da saß sie ganz behaglich auf einem
Bänkchen hinter dem Schulhause, saß und schaute mit Alfred Tempel
zusammen in ein Bilderbuch. Und so versunken waren die beiden und
so dicht hatten sie die Köpfe über dem Buch zusammengesteckt, daß
sie nichts zu bemerken schienen von dem, was um sie her vorging in
der weiten Welt. Eifersucht rieselte glühend heiß durch Toms Adern.
Er haßte sich selber, daß er die Gelegenheit verpaßt, die Becky ihm
geboten, um wieder gut Freund zu werden. Er nannte sich einen Narren,
einen Dummkopf und was dergleichen liebenswürdige Titel mehr sind.
Beinahe hätte er geweint vor Aerger. Anny schnatterte inzwischen lustig
weiter, denn ihr Herz frohlockte und jubilierte, während Toms Zunge ihm
beinahe den Dienst versagte. Kaum hörte er, was Anny plauderte, und
jedesmal, wenn sie, seine Antwort erwartend, innehielt, brachte er nur
ein zerstreutes ›ja‹ oder ›nein‹ heraus und zwar meist am verkehrten
Platze. Immer wieder lenkte er seine Schritte nach der Hinterseite
des Schulhauses, als würden seine Augen von dem verhaßten Schauspiel
angezogen. Gegen seinen Willen zog es ihn hin, und es machte ihn
beinahe toll, daß Becky Thatcher anscheinend nicht im entferntesten
dran dachte, daß er auch noch unter den Lebenden weile. Sie aber sah
ihn recht wohl, wußte, daß sie Siegerin blieb im Kampfe, freute sich,
daß er litt und zwar schlimmer, als sie zuvor hatte leiden müssen.
Annys ahnungsloses, fröhliches Geplauder wurde unerträglich. Tom
deutete an, daß er etwas zu thun habe und fort müsse, daß die Zeit
verrinne -- umsonst, das Mädel schwatzte weiter. Tom dachte: ›Hol' sie
der Kuckuck; soll ich sie denn heut' gar nicht wieder los werden?‹
Zuletzt, als es ihn nicht länger hielt, gab ihm die arglose Seele das
Versprechen, nach der Schule auf ihn zu warten. Er eilte ganz wütend
davon.

»Jeder andere Junge,« dachte Tom zähneknirschend, »jeder andere Junge
in der ganzen Stadt, nur nicht _der_. So 'n geschniegelter Aff', der
sich für Gott weiß was hält, und meint, er sei viel besser als unser
einer. Na, gut! Hab' ich dich am ersten Tag durchgedroschen, als du
kaum in die Stadt hereingerochen hattest, du Tugendspiegel, werd'
ich's auch jetzt noch fertig bringen. Wart', wenn ich dich mal allein
erwisch', dann setzt's was!«

Im Eifer hieb er um sich, als ob er den Feind jetzt schon unter den
Fäusten hätte, -- fuchtelte in der Luft umher und schlug mit Händen und
Füßen aus.

»Na, bist du nun zufrieden, Kerl, he? Schrei ›genug, genug‹ sag' ich
dir! Da lauf' und das nächste Mal hüt' dich!«

Damit endete die eingebildete Züchtigung sehr zur Zufriedenheit Toms.

In der Mittagspause flüchtete sich Tom nach Hause. Er konnte Annys
Glückseligkeit nicht mehr mit ansehen und die Qualen der Eifersucht
nicht länger ertragen. Becky hatte sich von neuem an das Bilderbesehen
mit Alfred gemacht, als aber Minute auf Minute verrann und kein Tom
sich zeigte, um sich ärgern zu lassen, da verringerte sich ihr Triumph
und es lag ihr nichts mehr an der Sache. Erst wurde sie ernst und
zerstreut, dann tief niedergeschlagen. Zwei- oder dreimal spitzte
sie die Ohren, als sich ein Schritt näherte, jedesmal aber war's
vergebliches Hoffen. Zuletzt wurde ihr ganz erbärmlich zu Mute und sie
wünschte innigst, es nicht so weit getrieben zu haben. Der arme Alfred,
welcher sah, daß sie sich ihm unmerklich entzog, munterte sie fort und
fort auf: »Sieh' mal, hier ist 'was Schönes, sieh' doch nur her,« bis
ihr zuletzt die Geduld ausging und sie mit dem unwilligen Rufe: »Was
liegt mir dran, laß mich in Ruhe,« in Thränen ausbrach und davonrannte.

Alfred hielt sich ritterlich an ihrer Seite und versuchte sie zu
trösten. Sie aber schleuderte ihm entgegen:

»Laß mich in Frieden; ich kann dich nicht ausstehen!«

So blieb denn der Junge zurück und sann hin und her, was er ihr wohl
gethan haben könne, denn vorher hatte sie ihm doch versprochen,
während der ganzen Mittagspause Bilder mit ihm anzusehen. Sie aber
rannte weiter, immerzu weinend. Alfred schlich sich nachdenklich in
das einsame Schulzimmer zurück; er war sehr gedemütigt und ärgerlich,
denn jetzt ging ihm ein Licht auf, daß das Mädel ihn nur benutzt habe,
um ihren Aerger an Tom Sawyer auszulassen. Diese Ueberzeugung trug
nicht dazu bei, ihm Tom lieber zu machen. Er sehnte sich nach einer
Gelegenheit, diesem etwas einzubrocken, natürlich ohne sich selber
bloßzustellen. Da fiel ihm Toms Lesebuch ins Auge und ein Gedanke schoß
ihm plötzlich durch den Kopf. Er schlug das Buch an der Stelle auf, die
sie am Nachmittag brauchen würden, und goß Tinte drüber. Becky, die im
selben Moment hinter ihm zum Fenster hereinlugte, sah alles mit an,
verriet sich aber nicht. Sie wandte sich heimwärts in der Absicht, Tom
aufzusuchen und ihm alles zu erzählen, dann würden sie schnell wieder
gut Freund sein. Ehe sie aber halbwegs zu Hause war, hatte sie sich
anders besonnen. Der Gedanke daran, wie Tom sie behandelt, als sie von
ihrem Picknick gesprochen, überfiel sie plötzlich wieder mit glühender
Beschämung. Sie beschloß, ihm seine Prügel für das verschmierte Buch zu
gönnen und ihn obendrein von Herzen zu hassen und zu verabscheuen für
immer und ewig.

[Illustration]



Achtzehntes Kapitel.


Tom kam sehr verdrießlich zu Hause an, und die ersten Worte, mit denen
ihn seine Tante begrüßte, zeigten ihm, daß hier nicht viel Trost für
seinen Kummer zu holen sein werde.

»Tom, ich möchte dir wahrhaftig das Fell über die Ohren ziehen.«

»Ei, Tante, was hab' ich denn gethan?«

»Meiner Treu! Fragt der Bursch' auch noch! Geh' ich da hin zu der
Harpern, der alten Einfaltspinselin, will ihr von deinem Traum erzählen
und ihr beweisen, daß Träume gar kein Unsinn sind, und seh' mir einer,
lacht sie mir grad' ins Gesicht und sagt, sie hab's aus dem Joe
herausgekriegt, daß du hier gewesen seist und alles selber gehört und
gesehen habest an dem Abend. Ich denk' mich rührt der Schlag! Tom, was
soll denn aus 'nem Jungen werden, der so was thun kann? Ich könnt' mir
meine letzten paar grauen Haare ausreißen, wenn ich dran denk', daß du
mich hast hingehen lassen zu der Harpern, um mich lächerlich zu machen,
ohne auch nur ein Wort zu verlieren.«

Das zeigte Tom die Sache allerdings in einem anderen Lichte. Seine
Pfiffigkeit vom Morgen war ihm wie ein guter Scherz erschienen, wie
ein Geniestreich sogar. Jetzt kam ihm sein Verhalten erbärmlich und
gemein vor. Er hing den Kopf, kein Wort der Entschuldigung wollte ihm
einfallen. Endlich stammelte er:

»Tantchen, ich wollt', ich hätt's nicht gethan -- ich hab' aber
wirklich nicht so dran gedacht.«

»Ach, Kind, du denkst ja nie. Denkst nie an die andern, immer nur an
dich und dein Vergnügen. Daran hast du wohl gedacht, den ganzen Weg von
der Jackson-Insel hierher zu machen, nur um über uns und unsern Jammer
zu lachen. Und daran hast du auch gedacht, deine alte Tante mit dem
verlogenen Traum zum Narren zu machen, _daran_ aber denkst du nicht,
wie du uns Spott und Schande und Kummer ersparen kannst.«

»Tantchen, jetzt weiß ich, wie erbärmlich es von mir war, aber so hab'
ich's nicht gemeint, weiß Gott, wahrhaftig nicht! Und dann bin ich auch
nicht herüber geschwommen, um mich über euch lustig zu machen.«

»Warum sonst?«

»Nur um dir zu sagen, daß du dich nicht um uns sorgen solltest, da wir
nicht ertrunken seien.«

»Tom, Tom, ich wäre die dankbarste alte Seele in der weiten Welt, wenn
ich wirklich glauben könnte, du hättest _den_ guten Gedanken gehabt.
Aber so war's gewiß nicht, Tom, so war's nicht, und das weißt du auch
selber, Tom.«

»Weiß Gott, Tante, so war's, weiß Gott! Ei, ich will gleich tot
umfallen, wenn's anders war.«

»O, Tom, lüg' nicht, -- thu's nicht, Kind. Es macht ja nur alles
tausendmal schlimmer.«

»Es ist nicht gelogen, Tante, es ist die reine Wahrheit. Ich wollte nur
nicht, daß du dich so grämen solltest, einzig und allein deshalb kam
ich.«

»Ich gäb' die ganze Welt drum, wenn ich das glauben könnte, -- es
würde fast alle deine Dummheiten aufwiegen, Tom. Ei, ich wollte gar
nichts davon sagen, daß du so schlecht gewesen und davongelaufen bist,
wenn ich _das_ nur glauben könnte. Aber, Kind, Kind, es kann ja nicht
sein, 's geht gegen alle Vernunft; warum hättest du's mir dann damals
doch nicht gesagt und wärst so davongeschlichen?«

»Warum? Ja, siehst du, Tantchen, als ihr vom Trauergottesdienst und all
dem spracht, da schoß mir der Gedanke durch den Kopf, zu kommen und
uns unterdessen in der Kirche zu verstecken und ich war so voll davon,
daß ich mir's nicht verderben wollte. 's war doch auch kapital, gelt?
So drückte ich mich denn heimlich davon und steckte meine Rinde wieder
ein.«

»Welche Rinde?«

»Ei, die Rinde, auf die ich geschrieben hab', daß wir als Piraten
davongelaufen seien. Ich wollt' jetzt, du wärst wach geworden, wie ich
dich geküßt hab', wahrhaftig ich wollt's!«

Der strenge Ausdruck im Gesicht der Tante ließ etwas nach, plötzliche
Zärtlichkeit strahlte warm aus den treuen Augen.

»_Hast_ du mich geküßt, Tom?«

»Natürlich.«

»Hast du's wirklich gethan, Tom?«

»Gewiß, Tante, gewiß und wahrhaftig!«

»Warum hast du mich geküßt, Tom?«

»Weil ich dich lieb hab' und weil du da gelegen hast und geseufzt und
gestöhnt, und das hat mir leid gethan.«

Die Worte klangen wahr. Die alte Dame konnte ein Zittern in ihrer
Stimme nicht ganz unterdrücken als sie sagte:

»Küß mich noch einmal, Tom -- und mach', daß du weg kommst, 's ist Zeit
zur Schule, du hast mich genug geärgert.«

Im Moment, da er weg war, stürzte sie zum Schrank und riß die traurigen
Ueberreste der Jacke hervor, in der er Seeräuber gewesen. Dann stand
sie still, drückte die Lumpen an ihre Brust und flüsterte:

»Nein, ich wag's nicht. Armer Kerl, ich glaub' er hat gelogen, aber
-- es war so gut und lieb gelogen, ordentlich tröstlich für mein
altes Herz. Ich hoffe, der Herr, -- nein, ich _weiß_, der Herr wird
ihm verzeihen, denn weiß Gott, diesmal hat mein Tom aus Gutherzigkeit
geflunkert. Ich will auch gar nicht wissen, daß es geflunkert war,
lieber seh' ich gar nicht nach.«

So legte sie die Jacke weg und stand noch eine Minute sinnend davor.
Zweimal streckte sie die Hand nach dem Kleidungsstück aus und zweimal
zog sie dieselbe wieder zurück. Noch einmal wagte sie sich vor und
sprach sich selber Mut zu mit dem Gedanken: Die Lüge war ja gut
gemeint, von Herzen gut gemeint, es soll mich weiter nicht kümmern.
Damit hatte sie die Hand in die Jackentasche versenkt. Einen Moment
später las sie unter strömenden Thränen, was Tom auf jenes bewußte
Rindenstück gekritzelt hatte und stammelte schluchzend:

»Jetzt könnt' ich dem Jungen verzeihen, und wenn er eine Million Sünden
auf dem Gewissen hätte.«

[Illustration]



Neunzehntes Kapitel.


In der Art und Weise, wie ihn Tante Polly küßte, lag etwas, das Tom
wunderbar wohlthat. Seine Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen und
er fühlte sich urplötzlich wieder leichtherzig und froh. Er stürmte der
Schule zu und hatte das Glück unterwegs auf Becky zu stoßen. Da er sich
immer von seiner augenblicklichen Stimmung leiten ließ, so rannte er
ohne einen Moment der Ueberlegung auf sie zu und rief treuherzig:

»Becky, ich war heute morgen ganz abscheulich gegen dich, ich will nie,
nie wieder so sein, so lang ich lebe, nur sei wieder gut, willst du?«

Das Mädchen blieb stehen und sah ihm verächtlich in's Gesicht:

»Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, Herr Thomas Sawyer, wenn Sie mich
in Zukunft mit Ihrer Gesellschaft verschonen wollten, ich werde nie
wieder mit Ihnen reden.«

Sprach's, warf den Kopf zurück und schritt stolz von dannen.
›Herr‹ Thomas Sawyer war starr vor Staunen, daß er nicht einmal
Geistesgegenwart genug hatte zu einem ›Wie Sie wünschen, Jungfer
Patzig‹, und erst dran dachte, als es zu spät war. So sagte er denn
kein Wort, war aber nichtsdestoweniger in heller Wut. Er schlich nach
dem Schulhof und wünschte nur, sie wäre ein Junge und er könnte sie
durchbläuen für diese unerhörte Beleidigung. Als er gerade in ihre
Nähe kam, schleuderte er ihr eine beißende Bemerkung ins Gesicht. Sie
entgegnete im selben Ton und der Bruch war vollständig. Becky konnte in
ihrem Racheeifer kaum den Beginn des Unterrichts erwarten, so brannte
sie darauf, Tom seine Prügel für das verschmierte Buch erhalten zu
sehen. Wenn sie je noch den Schatten eines Zweifels in sich verspürt
hatte, ob sie Alfred Tempel nicht doch angeben wolle, so war derselbe
durch Toms letzte Liebenswürdigkeit auf Nimmerwiederkehr verscheucht.

Das arme Ding -- sie ahnte nicht, welch' drohendes Unheil über ihrem
eignen Haupte schwebte. Der Lehrer, Herr Dobson, ein Mann in mittleren
Jahren, hegte einen übertriebenen, unerfüllbaren Ehrgeiz in der Brust.
Der Traum seines Lebens war gewesen, ein Arzt zu werden, seine Armut
aber hatte es gefügt, daß nur ein Volksschullehrer aus ihm wurde. Jeden
Tag griff er, wenn die verschiedenen Klassen beschäftigt waren, zu
einem geheimnisvollen Buche, in das er sich eifrig vertiefte. Dasselbe
hielt er strenge unter Schloß und Riegel. Jedes seiner Schulkinder
brannte vor Neugierde, einmal einen Blick hineinwerfen zu können, nie
aber wollte sich die Gelegenheit hiezu bieten. Jedes der Kinder, Knaben
und Mädchen, hatte seine eigene Ansicht über das Buch, aber niemals war
es gelungen, Näheres zu erfahren. Als eben Becky an der offenen Thür
des Zimmers vorüberhuschte, bemerkte sie, daß der Schlüssel des Pultes
steckte. Das war ein köstlicher Moment, der ausgenutzt werden mußte.
Sie blickte sich rasch um und sah sich ganz unbeobachtet; im nächsten
Augenblick hielt sie das Buch in Händen. Das Titelblatt: ›Anatomie von
Professor Soundso‹, diente nicht dazu, sie über den Inhalt aufzuklären,
so begann sie denn hastig die Blätter umzuwenden. Gleich zu Anfang kam
sie auf ein wundervoll koloriertes Bild, -- eine menschliche Figur. --
Im selben Moment fiel ein Schatten auf das Buch, Tom Sawyer trat zur
Thüre herein und erhaschte noch einen Blick auf das Bild. Hastig wollte
Becky das Buch schließen, hatte aber in ihrer Aufregung das Unglück,
das Bild von oben bis beinahe zur Mitte durchzureißen. Das Buch flog
ins Pult, sie drehte den Schlüssel um und brach in bittres Schluchzen
aus vor Scham und Aerger.

»Tom Sawyer,« rief sie, »du bist doch so gemein wie du nur sein kannst.
Einen so zu überfallen und auszuspionieren, was man thut!«

»Wie konnt' ich denn wissen, was du dir zu schaffen machst?«

»Du solltest dich vor dir selber schämen, Tom Sawyer; jetzt wirst du
hingehen und mich verklatschen beim Lehrer und -- Herr du mein Gott,
was fang' ich an? Ich bin noch niemals geschlagen worden in der Schule
und heut' -- heut' haut mich der Lehrer sicherlich durch.«

Dann, als Tom nichts antwortete, stampfte sie mit dem kleinen Fuße auf
und rief:

»Na, dann sei so gemein und verrat' mich, wenn dir's Spaß macht. Aber
wart', dir blüht auch nichts Gutes, denk' nur an mich -- niederträchtig
-- niederträchtig!« Und mit einem erneuten Strom von Thränen stürzte
sie davon.

Tom stand ordentlich betäubt ob solch vulkanischen Ausbruchs. Dann
sagte er zu sich selber:

»Was so'n Mädel für eine Närrin ist! Noch niemals Prügel gekriegt!
Herrgott, was liegt mir an einer Tracht mehr oder weniger? So sind aber
die Mädels, so dünnfellig und hasenfüßig. Es fällt mir gar nicht ein,
sie zu verklatschen, aber 's kommt doch heraus. Der alte Dobson wird
natürlich fragen, wer's war, und wenn keiner antwortet, fragt er einen
nach dem andern, dann merkt er's schon am Gesicht. So'n Mädel verrät
sich immer selber, da ist keine Schneid drin. Die Sache ist kritisch
für das arme Ding, die Becky, kriegen thut sie's, da ist kein Zweifel.
Na, mir kann's recht sein, die säh' mich auch von Herzen gern in
derselben Klemme. Mag sie zusehen, wie sie's ausbadet!«

Tom gesellte sich dem Haufen der lärmenden Kameraden draußen wieder zu;
bald drauf erschien der Lehrer und der Unterricht begann. Die Studien
zogen Tom nicht sehr an. Jedesmal, wenn er zu den Mädchen hinüber sah,
beunruhigte ihn Beckys Gesichtchen. Genau genommen hatte er gar keine
Ursache, sie zu bemitleiden, und doch, mochte er thun was er wollte,
er konnte sich des Mitleids nicht erwehren. Jetzt entdeckte der Lehrer
das besudelte Lesebuch, wodurch Toms ganze Aufmerksamkeit für seine
eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen wurde. Das rüttelte auch
Becky aus ihrer Gramversunkenheit auf und sie folgte den Vorgängen mit
großer Aufmerksamkeit. Sie glaubte nicht, daß Tom imstande sein werde,
sich herauszulügen, und sie hatte recht. Sein Leugnen schien die Dinge
für ihn nur zu verschlimmern. Als dann die Verhandlung den Höhepunkt
erreichte, trieb es sie förmlich, aufzuspringen und Alfred Tempel
anzugeben, doch zwang sie sich zur Ruhe, denn sie sagte sich: »Tom
klatscht doch, daß ich das Bild zerrissen hab'. Ich sag' kein Wort, und
wenn's ihm an's Leben geht.«

Tom steckte seine Prügel ein und schritt auf seinen Platz zurück,
durchaus nicht niedergeschlagen. Er dachte selber, es sei möglich, daß
er die Tinte über's Buch geschüttet, ohne es zu wissen, dergleichen
konnte ja passieren. Geleugnet hatte er's überhaupt nur der Form halber
und weil's so Sitte war; dann hatte er aus Prinzip dabei beharrt.

Eine ganze Stunde verstrich; nickend saß der Lehrer auf seinem Throne,
das Summen der vor sich hin murmelnden, lernenden Kinder wirkte
einschläfernd. Allmählich rappelte sich Herr Dobson in die Höhe,
gähnte, schloß sein Pult auf, griff nach seinem Buch und fingerte dran
herum, unentschieden, ob er es nehmen solle oder nicht. Schläfrig sahen
die Schüler nach ihm hin, zwei derselben verfolgten sein Thun mit
gespannten Blicken. Noch immer schien Herr Dobson nicht entschieden;
endlich nahm er das Buch zur Hand und lehnte sich in seinen Stuhl
zurück, um zu lesen.

Tom warf einen raschen Blick auf Becky. Diese starrte um sich wie ein
gehetztes Reh, das den todbringenden Lauf auf sich gerichtet sieht, so
hilflos, so verzweifelt. Im Moment war aller Groll dahin. Etwas mußte
geschehen, aber sofort, mit Blitzesschnelle, sonst war's zu spät.
Doch die dringende Nähe der Gefahr schien seine Erfindungsgabe völlig
zu lähmen. Wenn er nun hinstürzte, dem Lehrer das Buch entriß, damit
die Flucht ergriff? Eine einzige Sekunde überlegte er und -- hin war
die Gelegenheit, der Lehrer öffnete das Buch. Wäre nur der verlorene
Moment noch einmal zu erhaschen, Tom fühlte sich jetzt zu allem fähig.
Zu spät! Becky war nicht mehr zu helfen. Im nächsten Moment traf des
Lehrers Auge die aufschauenden Schüler, die Augen senkten sich vor
seinem Blick, es lag ein Etwas drin, das selbst den Unschuldigsten
unter ihnen mit Scheu und Furcht erfüllte. Eine Pause entstand, während
welcher man wohl bis zehn zählen konnte. Der Lehrer schien Kraft
sammeln zu müssen. Dann kam's:

»Wer hat dieses Buch zerrissen?«

Kein Laut. Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Die
beängstigende Stille dauerte an. Auf einem Gesicht nach dem andern
suchte der Lehrer die Zeichen der Schuld.

»Benjamin Rogers, hast du das Buch zerrissen?«

Verneinung. Eine weitere Pause.

»Joe Harper, du?«

Erneute Verneinung. Toms Unbehagen stieg und stieg unter der langsamen
Qual dieses Verfahrens. Der Lehrer ließ den Blick über die Reihen der
Knaben schweifen, überlegte eine Weile und wandte sich dann den Mädchen
zu:

»Anny Lorenz?«

Ein Schütteln des Kopfes.

»Grace Miller?«

Dasselbe Zeichen.

»Susanne Harper?«

Erneute Verneinung. Das nächste Mädchen war Becky. Tom zitterte
vom Kopf bis zu den Füßen vor Aufregung; er empfand die ganze
Hoffnungslosigkeit der Lage.

»Rebekka Thatcher« -- (Tom sah, daß ihr Gesicht vor Entsetzen blaß war
wie der Tod) -- »hast du -- nein, sieh' mich an -- (sie hob die Hände
in stummem Flehen) hast du dies Buch zerrissen?«

Ein Gedanke schoß wie ein Blitz durch Toms Gehirn. Er sprang auf und
rief laut in die herrschende Stille hinein:

»_Ich hab's gethan._«

Sprachlos ob solcher unerhörten, unglaublichen Tollheit starrten ihn
aller Augen an. Tom stand einen Moment regungslos da, um seine etwas
aus der Fassung geratenen Lebensgeister zu sammeln, und als er dann
nach dem Katheder schritt, seine Strafe in Empfang zu nehmen, strahlten
ihm aus Beckys Augen Ueberraschung, Dankbarkeit, Anbetung in solch'
reichem Maße entgegen, daß sie ihn für hundert vollwichtiger Trachten
Prügel hätten entschädigen können. Begeistert durch den Edelmut seiner
eignen That entschlüpfte ihm auch nicht der leiseste Schrei bei der nun
folgenden Züchtigung, der unbarmherzigsten, die Herr Dobson in seinem
Leben austeilte. Ja, als der Lehrer die Strafe noch durch zwei Stunden
Nachsitzen verschärfte, nahm Tom auch dies mit dem äußersten Gleichmut
hin, wußte er doch, wer außerhalb der Schulmauern auf ihn warten und
jede Minute bis zu seiner Befreiung aus der Gefangenschaft zählen würde.

Am Abend desselben Tages ging Tom zu Bett, von finsteren Racheplänen
gegen Alfred Tempel erfüllt. Becky hatte ihm voller Reue und Scham
alles eingestanden, ja selbst ihre eigne Verräterei nicht verschwiegen.
Der Durst nach Rache aber wich bald milderen Gefühlen, lieblicheren
Bildern, und Tom fiel in Schlaf, während ihm Beckys letzte Worte noch
träumerisch süß im Ohre nachklangen:

»Tom, wie _konntest_ du so edel sein?«

[Illustration]



Zwanzigstes Kapitel.


[Illustration]

Die großen Ferien rückten immer näher. Der Lehrer, ernst von Natur,
wurde strenger und anspruchsvoller von Tag zu Tag, sollte doch seine
Schule Ehre einlegen am verhängnisvollen, großen Tag der Prüfung. Seine
Rute und sein Lineal kamen gar nicht mehr zur Ruhe, zum wenigsten bei
den kleineren Schülern. Nur die großen Knaben und die jungen Damen
von der Sonntagsschule entgingen einer Züchtigung. Und Herrn Dobsons
Prügel waren was wert unter Brüdern, denn obgleich er unter seiner
Perücke einen vollständig kahlen und glänzenden Schädel barg, so
stand er doch noch im kräftigsten Mannesalter und die Stärke seiner
Muskeln ließ nichts zu wünschen übrig. Als der große Tag näher und
näher rückte, kam alle die Tyrannei, die in ihm schlummerte, an's
Tageslicht. Mit grausamer Lust ahndete er die geringsten Versäumnisse
und Fehler. Die Folge davon war, daß die Kinder ihre Tage in Schreck
und Qual, ihre Nächte mit Schmieden finstrer Rachepläne verbrachten.
Sie ließen sich keine Gelegenheit entgehen, dem Lehrer einen Streich
zu spielen, der aber blieb immer Meister. Die Strafe, die jedem
solchen kleinen Racheakt auf dem Fuße folgte, war so großartig, so
niederschmetternd, daß die Jungen den Kampfplatz jedesmal vollständig
›geschlagen‹ verließen. Zuletzt entstand eine Verschwörung und ein Plan
wurde ausgeheckt, der den glänzendsten Sieg versprach. Die Verschwörer
zogen den Sohn des Anstreichers in's Vertrauen, welcher Lehrling bei
seinem Vater war, setzten ihm den Plan auseinander und baten um seine
Hilfe. Der hatte nun wieder seine eignen Gründe, sich dem Racheplan
anzuschließen, denn der Lehrer wohnte im Hause des Anstreichers und
hatte dem Jungen genügend Ursache zum gründlichsten Hasse gegeben. Die
Frau des Lehrers wollte in den nächsten Tagen zu einem Besuche auf's
Land gehen und so stand der Ausführung des Planes nichts im Wege. Der
Lehrer pflegte sich zur würdigen Vorbereitung bei großen Gelegenheiten
aus der Flasche nachhaltig Mut zuzusprechen, und der Anstreicherjunge
versprach, am Prüfungsabend, wenn der Lehrer das nötige Stadium des
›Mutes‹ erreicht habe und in seinem Stuhle ein Stärkungsschläfchen
halte, ›die Sache schon besorgen zu wollen.‹ Knapp zur rechten Zeit
wolle er ihn dann schleunigst wecken und in aller Eile zur Schule
spedieren.

Als die Zeit erfüllet war, trat dann das große Ereignis ein. Um acht
Uhr abends erstrahlte das Schulhaus im Glanz der Kerzen und im Schmuck
der Gewinde aus Laub und Blumen. Majestätisch thronte der Lehrer auf
seinem Katheder, die schwarze Tafel hinter sich. Auf Bänken zu beiden
Seiten saßen die Eltern der Kinder und die Würdenträger der Stadt, vor
dem Katheder dehnten sich die Reihen der Schüler, hier die Knaben,
die dermaßen gewaschen und herausgeputzt waren, daß man ihnen das
Unbehagen ansah, dort die Mädchen, in schneeweißem Musselin, sichtbar
durchdrungen von dem erhebenden Bewußtsein, in bloßen Armen, blau
und roten Bändern und mit Blumen im Haar zu glänzen. Den Hintergrund
bildete ›das Volk‹.

Die Prüfung begann. Ein winzig kleiner Junge erhob sich und rezitierte
mit einem Schafsgesicht:

    »Kaum glaubt ihr, daß solch' kleiner Wicht,
    Wie ich, es wagt und zu euch spricht,« etc.

wobei er seinen Vortrag mit den peinlich genauen, stoßweisen Bewegungen
einer Maschine begleitete, noch dazu einer Maschine, die etwas aus der
Ordnung geraten zu sein schien. Doch stolperte er sicher, wenn auch
zu Tode geängstigt, bis zum Schluß hindurch, klappte den Oberkörper
verbeugend nach unten, bekam einen wahren Beifallssturm von dem
dankbaren Publikum und zog sich aufatmend zurück.

Ein kleines, verschüchtertes Mädchen lispelte ihr:

    »Ein kleines Lämmchen, weiß wie Schnee,
    Ging einstens auf die Weide,«

machte einen mitleiderregenden Knix, erhielt ihren Anteil an Applaus
und setzte sich glühend rot und glückselig wieder hin.

Tom Sawyer trat nun vor, voll stolzer aber trügerischer Zuversicht,
und begann mit donnerndem Pathos und verzückten Gebärden die berühmte
Ode an die ›Freiheit‹ zu deklamieren. Aber wehe! In der Mitte etwa
angelangt, -- verließ ihn just das Gedächtnis, das ›Lampenfieber‹
ergriff ihn, seine Kniee zitterten, er drohte zusammenzusinken oder zu
ersticken. Wohl hatte er des Hauses Mitleid für sich, aber auch des
Hauses Schweigen. Finster blickte der Lehrer, drohend zog er die Stirne
in Falten; dies machte das Unheil vollständig. Tom stammelte, stotterte
noch eine Weile, gab's dann auf und zog sich zurück, jeder Zoll ein
geschlagener Held! Ein schwacher Beifallsversuch, der sich erheben
wollte, wurde im Keime erstickt.

Jetzt folgten:

    »Auf brennendem Deck der Knabe stand.«

Dann:

    »Hernieder kam einst Assurs Macht«

und andre dergleichen deklamatorische Kleinodien. Nun kamen Leseübungen
und ein regelrechtes Kreuzfeuer in der Kunst des Buchstabierens. Die
magere Lateinklasse bestand ihre Sache mit Ehren. Dann nahte der
Hauptakt des ganzen Abends, -- der Vortrag von selbstgefertigten
Aufsätzen und Gedichten der ›jungen Damen‹. Der Reihe nach trat jede an
den Rand der Estrade, räusperte sich, erhob ihr von einem zierlichen
Band umschlungenes Manuskript, und begann zu lesen mit dem nötigen
Aufwand von Ausdruck und Gefühl. Die Themata waren dieselben, wie
sie ihre Mütter, Großmütter und zweifellos alle weiblichen Vorfahren
der Familie bis zurück zu den Kreuzzügen schon bearbeitet hatten:
›Freundschaft‹ -- ›Erinnerungen früherer Tage‹ -- ›Die Religion in der
Geschichte‹ -- ›Das Land der Träume‹ -- ›Die Vorteile der Kultur‹ --
›Vergleiche und Verschiedenheiten der politischen Regierungsformen‹ --
›Melancholie‹ -- ›Kindliche Liebe‹ -- ›Herzenswünsche‹ -- u. s. w., u.
s. w.

Die meisten dieser Ergüsse zeichneten sich durch eine starke Vorliebe
für das Gefühlvolle aus. Die großartigste Verschwendung erhabener
Ausdrücke und Redewendungen war ebenfalls ein gemeinsamer Zug, ebenso
das gewaltsame Herbeiziehen allgemein bekannter und beliebter Phrasen
und Zitate. Den Schluß bildete hier wie dort unweigerlich eine
möglichst stark aufgetragene moralische Nutzanwendung. Einerlei, was
der behandelte Gegenstand gewesen, mit kühnem Sprung lief das Ende ohne
Unterschied in eine äußerst erbauliche Betrachtung aus, die sich nicht
ohne Rührung anhören ließ und einen schmeichelhaften Rückschluß auf die
Tugenden der schönen Mahnerin gestattete.

Der erste Aufsatz, der vorgetragen wurde, betitelte sich: »_Dies also
ist das Leben?_« Vielleicht hat der Leser Geduld genug, einen Auszug
hieraus nachzulesen:

    »Trunkenen Auges, mit wonnebebendem Herzen schaut der
    jugendliche Geist den zu erwartenden Freuden des Lebens
    entgegen. Geschäftig malt ihm die Einbildungskraft
    rosenfarbene Bilder der Wonne vor. Im Geiste sieht sich
    die jugendliche Schöne als ›Dame von Welt‹, inmitten des
    wogenden, festlichen Getriebes, scherzend, lachend, umkost,
    umworben, gefeiert, ›schauend und geschaut‹! Ihre anmutige
    Gestalt gleitet in wehenden, weißen Gewändern auf den
    Wellen des wirbelnden Tanzes dahin, ihr Auge strahlt am
    hellsten, ihr Schritt ist der elastischste in der ganzen
    heiteren Gesellschaft. Unter solch' gaukelnden, lockenden
    Phantasiegebilden schwindet schnell die Zeit und die ersehnte
    Stunde erscheint, die Stunde, welche Einlaß bringen soll
    in jene elysische Welt, die solche Wonneträume zu wecken
    vermag. Wie zauberisch erscheint dem geblendeten Auge Alles
    und Jedes! Jede neue Scene ist reizender, lockender als die
    vorhergegangene. Doch kurze Zeit nur währt der Rausch! Bald
    zeigt es sich, daß unter der glänzenden Außenseite Hohlheit
    sich birgt. Die Schmeichelei, die einst die Seele fesselte,
    verletzt nun das Ohr mit schrillem Klang, der Ballsaal verliert
    seine Reize. Mit zerrütteter Gesundheit, verbitterten Herzens
    wendet sich das ›Kind der Welt‹ ab, die Ueberzeugung tief
    im Busen bergend, daß irdische Freuden das Verlangen der
    unsterblichen Seele nicht zu befriedigen imstande sind!«

    Und so weiter.

Ein beifälliges Gemurmel unterbrach von Zeit zu Zeit den Vortrag.
Ein: ›wie schön‹! ›gut gesagt‹! oder ›wie wahr‹! ließ sich deutlich
unterscheiden, und nachdem das Ding mit einer besonders erhebenden
Schlußbetrachtung geendet, wurde der Beifall ordentlich enthusiastisch.

Dann erhob sich ein schlankes, melancholisch aussehendes Mädchen,
dessen Gesicht jene interessante Blässe zeigte, die von Pillen und
schlechter Verdauung herrührt, und las ein ›Gedicht‹ vor. Folgende
Verse desselben mögen genügen:


Lebewohl einer Missouri-Maid an Alabama.

    »Leb' wohl, Alabama, dich liebe ich,
    Und doch muß lassen, muß meiden ich dich.
    Es naget die Trauer am Herzen mein,
    In heißer Sehnsucht gedenk' ich dein.
    Wie hab' ich die blum'gen Wälder durchstreift,
    Längs den Ufern deiner Gewässer geschweift,
    Dem Murmeln der Wellen träumend gelauscht,
    In Aurorens Strahl mich wonnig berauscht.
    Nicht scheu verberg' ich mein übervoll Herz,
    Erröt' nicht, zu zeigen den brennenden Schmerz.
    Er gilt ja nicht Fremden im fernen Land,
    Den Freunden, den Lieben nur, die ich gekannt.
    Sie waren mein Trost mir, mein ganzes Glück;
    Alabamas Thäler ersehn' ich zurück.
    Ach, nun ich's verloren, erkenn' ich's zu spät:
    Dort wurzelt mein Leben, mein Herz, -- zu spät!«

Zunächst erschien eine schwarzäugige und schwarzhaarige junge Dame auf
dem Podium, machte eine wirkungsvolle Kunstpause, nahm eine tragische
Haltung an und begann gemessenen, ausdrucksvollen Tones vorzulesen:


Eine Vision.

    »Dunkel und stürmisch war die Nacht. Am Himmelszelte oben
    flimmerte nicht ein einziger Stern, nur das dumpfe Dröhnen
    des Donners vibrierte beständig im geängstigt lauschenden
    Ohre, während grelle Blitze in entfesselter Wildheit die
    wolkigen Himmelskammern durchrasten und der Macht zu spotten
    schienen, die der große Franklin sich über sie angemaßt.
    Selbst die stürmischen Winde kamen einmütig hervor aus ihrer
    geheimnisvollen Höhle und schnaubten und tosten einher, als
    wollten sie durch ihre Gegenwart die tolle Scene noch toller
    machen. Zu eben solcher Stunde, gleich dunkel, gleich trostlos
    und entsetzungsvoll, schrie einst mein ganzes Sein nach dem
    Balsam menschlichen Mitgefühls. Umsonst! Da plötzlich:

    ›Erschien sie, die mein Trost, mein Führer und mein Rat,
    Mein Glück im Gram, mein All' an meine Seite trat.‹

    Sie schwebte daher, wie eines jener glänzenden,
    anmutbeschwingten Wesen, mit denen Jugend und Romantik sich
    die sonnigen Fluren ihres Eden bevölkern, eine Königin der
    Schönheit, nur mit ihrer eignen, unvergleichlichen Lieblichkeit
    angethan und geschmückt. So leise war ihr Schritt, keinen Laut
    rief er hervor und nur der magische Wonneschauer, der mein
    ganzes Sein bei ihrer sanften Berührung durchrieselte, verriet
    mir ihre Gegenwart, sonst wäre sie entschwebt gleich andern
    sich dem Auge nicht selbstbewußt aufdrängenden Schönheiten,
    unbemerkt und ungesucht. Gleich eisigen Thränen auf dem
    Gewande des Dezembers lag eine eigentümliche Traurigkeit
    auf den geliebten Zügen, als sie, ernst auf die draußen
    kämpfenden Elemente hinweisend, mich die beiden durch dieselben
    dargestellten Wesen betrachten hieß.« --

Dieser nächtliche Gespensterspuk füllte zehn Seiten des Manuskripts
und endete in einer Predigt von solch niederschmetternder,
hoffnungraubender Wirkung auf alle Nichtgläubigen, daß der Aufsatz
den ersten Preis gewann und einstimmig für die beste Leistung des
Abends erklärt wurde. Der Bürgermeister des Städtchens überreichte der
glückstrahlenden Verfasserin in feierlicher Ansprache den Preis, indem
er sagte, es sei bei weitem ›das Beredteste, Pathetischste‹, was er je
gehört, ja daß der große Daniel Webster selber hätte stolz drauf sein
dürfen.

Beiläufig mag noch bemerkt werden, daß die Zahl der Aufsätze, in denen
das Wort ›wunderbar‹ mit Vorliebe angewendet und der menschlichen
Erfahrung als ›einer Seite im Buche des Lebens‹ erwähnt wurde, den
üblichen Durchschnitt erreichte.

[Illustration]

Nun erhob sich der Lehrer, der durch den Erfolg des Abends so
sanftmütig und weich geworden war, daß sein Wesen beinahe an
Liebenswürdigkeit streifte, schob seinen Stuhl zurück, wandte dem
Publikum den Rücken und begann auf der schwarzen Tafel eine Karte
von Amerika zu entwerfen, um die Geographie-Uebungen daran vornehmen
zu können. Seine unstäte Hand aber wollte ihm nicht parieren bei der
Sache, ein unterdrücktes Gekicher lief durch das Haus. Er wußte,
was es bedeutete und nahm alle Kraft zusammen, um sich mit Ehren
herauszuziehen. Er fuhr mit dem Schwamm über die mißlungenen Linien
und machte sich geduldig auf's neue dran, nur um sie mehr und mehr
zu verrenken, und das Gekicher wurde immer deutlicher. Mit Macht und
ganzer Aufmerksamkeit warf er sich nun auf sein Werk, entschlossen,
sich durch die augenscheinliche Heiterkeit nicht aus der Fassung
bringen zu lassen. Er fühlte, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren;
er glaubte nun endlich im richtigen Fahrwasser zu sein und doch dauerte
das Gekicher fort, ja es nahm sogar noch zu. Und Grund genug dazu
war vorhanden. Im oberen Stock befand sich eine Dachkammer, in deren
Fußboden eine Klappe angebracht war, unter der just eben der Lehrer
stand. Durch diese Klappe nun erschien eine Katze, die an einem um
die Hinterbeine geschlungenen Seile hing und der man um Kopf und Maul
einen dicken Lappen gewickelt hatte, um sie am Schreien zu hindern. Als
sie so langsam niedersank, krümmte sie sich nach oben und versuchte
sich mit den Pfoten am Seil festzuklammern, umsonst! Sie griff mit den
Pfoten nur in die unfaßbare, haltlose Luft. Das Gekicher schwoll und
schwoll. Die Katze war jetzt nur noch sechs Zoll von dem Haupte des
ahnungslosen Lehrers entfernt. Sie sank tiefer und tiefer; noch eine
Spanne und nun schlug sie die verzweifelten Krallen in die Perücke des
schulmeisterlichen Hauptes, klammerte sich fest an dem willkommenen
Halte und wurde im selben Moment zurückgezogen zur Klappe, die
Siegestrophäe fest in den räuberischen Klauen! Des Schulmeisters kahler
Schädel aber erstrahlte in ungeahnter, zauberischer Pracht, -- der Sohn
des Anstreichers hatte denselben _vergoldet_!

Dies bereitete der Festlichkeit ein jähes Ende. Die Jungen waren
gerächt, -- die Ferien da!

    _Anmerkung._ Die oben angeführten sog. ›Aufsätze‹ sind ohne
    Veränderung einem Buche entnommen, das den Titel führt: »Prosa
    und Poesie von einer Dame des Westens.« Als genaue Studien nach
    dem bekannten ›Schulmädchen-Muster‹ sind sie infolgedessen weit
    glücklichere Beispiele, als bloße Nachbildungen hätten sein
    können.

[Illustration]



Einundzwanzigstes Kapitel.


Tom fand, daß die ersehnten Ferien schon acht Tage nach dem Beginn sich
in endloser, öder Weise vor ihm zu dehnen begannen. Er wußte kaum,
was er mit sich anfangen sollte in dieser langen, langen Zeit. Becky
Thatcher war mit ihren Eltern auf ihr Landgut gereist, um die Wochen
der Freiheit dort zu verbringen, und hatte den letzten Lichtstrahl
in dieser endlosen Nacht der Langeweile mit sich genommen. Ein paar
Kindergesellschaften dienten nur dazu, die klaffende Lücke von Beckys
Abwesenheit um so fühlbarer zu machen. Eine mitleidige Masernepidemie
erbarmte sich der gelangweilten Jugend, bot aber in ihrem milden
Charakter nicht einmal die Aussicht, daß man zur Abwechslung hie und da
um das gefährdete Leben irgend eines Kameraden zittern konnte. Auch sie
verlief langweilig und eintönig wie alles andre.

Endlich kam Leben in die schläfrige Atmosphäre. Der Mordprozeß kam
vor Gericht und wurde sofort zum Thema jeglichen Stadtgespräches. Er
benahm Tom alle Ruhe. Jede neue Erwähnung der Mordthat sandte ihm
einen Schauder zum Herzen. Sein böses Gewissen und seine Angst ließen
ihn in jeder darauf bezüglichen Bemerkung einen ›Fühler‹ wittern, den
man ausgestreckt, um ihn zu sondieren. Freilich erschien es ihm bei
näherer Ueberlegung gar nicht möglich, daß man in ihm einen Mitwisser
der That vermuten könne, gleichwohl war ihm nicht wohl bei der Sache;
fortwährend überlief es ihn, bald heiß, bald kalt. An einsamem Ort
nahm er Huck beiseite, um sich mit diesem zu besprechen. Welche
Erleichterung mußte es gewähren, das Siegel auf den Lippen nur für eine
kleine Weile zu lösen, die Hälfte der Bürde auf die Schultern eines
Mitfühlenden, eines Leidensgefährten zu wälzen. Außerdem lag Tom daran,
sich Gewißheit über Hucks unverbrüchliches Schweigen zu verschaffen.

»Huck, hast du jemals irgend einem Menschen davon erzählt?«

»Von was?«

»Du weißt schon selber.«

»Ach so! Na, natürlich nicht.«

»Kein Wort?«

»Nicht ein einziges Wörtchen, nee, weiß Gott! Was fragst du?«

»Na ich -- ich hatte Angst.«

»Weißt's ja doch selber, Tom Sawyer, wir zwei wären kalt nach drei
Tagen, wenn das heraus käme!«

Tom fühlte sich etwas beruhigter. Nach einer Pause:

»Huck, gelt, 's kann dich keiner zwingen, was zu sagen, oder?«

»Mich zwingen! Na, wenn ich Lust hätte, daß mich der Indianer-Hund
ersäufte, ja, dann wär's möglich, daß ich's sage -- sonst nicht!«

»Na, dann ist's gut! Ich denk', wir sind sicher, so lang wir reinen
Mund halten. Laß uns aber noch mal schwören. Ich mein', 's ist
sicherer!«

»Meinethalben.«

Und wieder schwuren die Jungen einen grausig feierlichen Eid.

»Worüber schwatzen sie gerade hauptsächlich in der Stadt, Huck? Ich
hab' alles durcheinander gehört!«

»Schwatzen? Ei, Muff Potter, Muff Potter und nichts als Muff Potter,
immer und ewig. Mir treibt's den kalten Schweiß aus, wenn ich nur den
Namen höre. Am liebsten steckt' ich mir Baumwolle in die Löffel!«

»Gerad' so geht's bei mir, grad' so! Ich glaub' der ist verloren.
Dauert er dich nicht auch manchmal?«

»Ei immer, beinahe immerzu. Viel wert ist er ja nicht, aber er hat doch
keinem 'was zuleid' gethan. Stibitzt wohl mal 'nen Fisch, um Geld für
Schnaps zu kriegen und sich zu besaufen, und bummelt den ganzen Tag
herum, aber -- Herrgott, -- das thut ja jeder -- wenigstens beinah'
jeder. Aber er ist doch ein guter Kerl. Einmal hat er mir 'nen halben
Fisch gegeben und sich selber an der andren Hälfte hungrig gegessen,
und oft und oft hat er mir geholfen, wenn ich irgendwo in der Patsche
saß.«

»Und mir hat er Drachen geflickt, Huck, und Angelhaken an der Leine
festgemacht. Weiß Gott, ich wollt', wir könnten ihn freimachen! Ich
gäb' was drum!«

»Du lieber Himmel, das würde doch nicht viel helfen, Tom, den hätten
sie gleich wieder fest!«

»Das ist ja wahr, aber ich kann's gar nicht mit anhören, wenn sie so
über ihn losziehen, als wär' er der leibhaftige Gottseibeiuns, und er's
doch gar nicht gethan hat.«

»So geht's mir grad', Tom. Herrgott, da schwatzen sie daher, als sei er
der blutdürstigste Hund im Land und nur aus Versehen nicht schon längst
irgendwo aufgeknüpft.«

»Ja, weiß Gott, ich hab' sogar gehört, wie einer sagte, wenn sie den
freiließen, dann sollte er sofort gelyncht werden. O, du meine Güte!«

»Und das thäten sie auch, so wahr ich hier steh'!«

Lange noch schwatzten die Jungen so zusammen, aber Trost brachte
es ihnen nicht. Mittlerweile brach die Dämmerung herein und sie
befanden sich plötzlich vor dem kleinen, einsamen Gefängnis, in der
uneingestandenen Hoffnung, ein gütiges Geschick könne irgend eine
Wendung zum Besseren herbeiführen, wodurch sie von ihrer Qual befreit
würden. Es geschah aber nichts. Die Engel und alle guten Geister
schienen ihre Hände von dem unglücklichen Gefangenen abgezogen zu haben.

[Illustration]

Wie oftmals zuvor schon traten die Jungen zu dem kleinen Gitter heran
und reichten Potter Tabak und Feuerzeug hindurch. Der lag am Boden und
Wächter waren keine da.

Seine rührende Dankbarkeit hatte ihnen zuvor schon tief in's Herz
geschnitten und that's diesmal mehr als je. Als feige, elende Verräter
der schlimmsten Art aber fühlten sie sich, wie Potter sagte:

»Ihr seid ungeheuer gut gewesen gegen mich, Jungens, -- besser als
irgend wer in der Stadt. Und ich gedenk's euch, weiß Gott, ich thu's.
Oft sag' ich zu mir selber: ›hast doch all deiner Lebtag den Jungen
nur Guts gethan, hast den Schlingeln die Drachen geflickt und die
besten Fischplätze gewiesen, aber nee, Dankbarkeit giebt's nicht, alle
haben den alten Muff vergessen, der jetzt so tief in der Tinte sitzt,
alle -- nur der Tom nicht und der Huck nicht, die haben ihn nicht
vergessen,‹ sag' ich, ›und der alte Muff, der vergißt sie auch nicht.‹
Seht, Jungens, ich hab' ja was Furchtbares gethan, so betrunken und
verrückt wie ich war, nur so kann ich's mir erklären, jetzt soll ich
baumeln dafür und geschieht mir schon recht. Es geschieht mir recht,
sag' ich, und 's wird wohl auch das Beste für mich sein, glaub' ich.
Na, wollen's gut sein lassen, nicht weiter davon schwatzen. Möcht'
nicht, daß euch schwer um's Herz wird, weil ihr so gut gegen mich
gewesen seid. Was ich nur sagen wollt', Jungens, betrinkt euch nie,
wenn ihr groß seid, dann müßt ihr auch niemals hier sitzen, in dem
schrecklichen Loch. Wie, stellt euch doch mal 'n bißchen so her, 's ist
ein Gottestrost, freundliche Gesichter zu sehen, wenn man so in der
Patsche sitzt, und ich seh' weiter keine, als eure. Gute, freundliche
Gesichter -- gute, liebe Gesichter! Stellt euch doch mal so, steig'
mal einer auf den andern, daß ich euch auch berühren kann, -- so! So
ist's recht! Nun gebt mir die Hände, so, eure kleinen Pfoten können ja
durch's Gitter durch, meine Tatzen sind zu breit dazu. Kleine Hände,
-- kleine, schwache Hände, haben dem alten Muff Potter 'ne Masse Gutes
gethan und würden's noch mehr thun, wenn sie könnten, gelt Jungens? So,
und nun trollt euch, sonst wird der alte Muff weich wie ein Waschlappen
und das taugt nichts.«

Tom schlich sich elend und zerschlagen nach Hause und seine nächtlichen
Träume waren aller Schrecken voll. Am folgenden Tag und den Tag
darnach trieb er sich um den Gerichtssaal herum. Es zog ihn fast
unwiderstehlich hinein, und er mußte sich mit aller Macht bezwingen,
draußen zu bleiben. Huck ging es gerade so. Sie mieden einander nun
geflissentlich. Sie liefen von Zeit zu Zeit hinweg, um sich alsbald
von derselben unheimlichen Anziehungskraft zurückgetrieben zu sehen.
Tom spitzte die Ohren, sobald eine Gruppe Neugieriger den Saal
verließ, hörte aber nur Schlimmes und Schlimmeres, die Kette der
Beweise schloß sich von Minute zu Minute eherner und unerbittlicher
um den armen Potter. Am Schluß der zweiten Tagessitzung hieß es, daß
des Indianer-Joe Aussage fest und unerschütterlich gleich einer Mauer
stünde, und darüber, wie das Verdikt der Geschworenen ausfiele, könne
kaum noch ein Zweifel bestehen.

An diesem Abend trieb sich Tom noch sehr spät draußen herum, kam
durch's Fenster heim und befand sich in einem Zustand furchtbarster
Aufregung. Stundenlang wälzte er sich auf seinem Lager, ehe er
einschlafen konnte.

[Illustration]

Des andern Morgens strömte die ganze Stadt dem Gerichtssaal zu, denn
heute war ja der große Tag, an dem die Entscheidung fallen sollte.
Beide Geschlechter waren zahlreich vertreten unter der dicht gedrängten
Zuhörerschaft. Nach langer Pause des Wartens traten die Geschworenen
in den Saal und nahmen ihre Plätze ein. Kurz danach brachte man Potter
herein, bleich, hohlwangig, in Ketten. Verschüchtert und hoffnungslos
saß er da, während all die neugierigen Augen ihn erbarmungslos
anstarrten. Ebenso fiel der Indianer-Joe auf, der stumpfsinnig
dreinstierte, wie gewöhnlich. Eine neue Pause folgte, dann erschien
der Richter, und der Sheriff verkündete den Beginn der Verhandlung.
Das übliche Köpfe-Zusammenstecken und Geflüster der Advokaten und
das Rascheln und Zurechtkramen der Papiere folgte. Alles dies, in
Verbindung mit den daraus entstehenden Verzögerungen, bildete eine
ebenso eindrucksvolle als unheimliche Einleitung zu dem folgenden
Drama.

Nunmehr wurde ein Zeuge aufgerufen, welcher aussagte, daß er Muff
Potter in frühester Morgenstunde des Tages, der die Entdeckung der
Mordthat brachte, gesehen habe, wie sich derselbe am Bach wusch und
sich sofort heimlich davon schlich, als er sich beobachtet sah. Nach
einigen weiteren Fragen überwies der Staatsanwalt den Zeugen der
beklagten Partei: »Der Herr Verteidiger hat das Wort.«

Für einen Moment erhob der Angeklagte die Augen, senkte sie aber sofort
nieder, als sein Verteidiger sagte:

»Ich verzichte darauf.«

Der nächste Zeuge beschwor, daß man das Messer in der Nähe der Leiche
gefunden. Wieder wies der Staatsanwalt den Zeugen dem Verteidiger zu,
und abermals verzichtete dieser auf jede Frage.

Ein dritter Zeuge gab an, das Messer in dem Besitz Potters gesehen zu
haben. Der Staatsanwalt überweist denselben zum dritten Mal an den
Verteidiger:

»Der Herr Verteidiger hat das Wort.«

Und zum dritten Mal erwiderte dieser ruhig und kalt:

»Ich verzichte!«

Eine leise Unruhe begann sich im Publikum bemerkbar zu machen. Wollte
dieser Verteidiger denn das Leben seines Klienten ohne jeglichen
Versuch zur Rettung preisgeben?

Mehrere Zeugen sagten aus, wie sich Potter unverkennbar schuldbewußt
benommen, da man ihn zum Schauplatz der That gebracht. Auch sie konnten
den Zeugenstand ohne weiteres Kreuzverhör verlassen.

Jede Einzelheit der äußerst gravierenden Vorfälle, die an jenem
denkwürdigen Morgen auf dem Friedhofe stattgefunden und deren sich
jeder Anwesende erinnerte, wurde von glaubwürdigen Zeugen erhärtet,
nicht einen dieser Zeugen aber unterwarf Potters Verteidiger auch
nur dem kleinsten Verhör. Die Verblüffung und Unzufriedenheit des
Publikums hierüber gab sich in lautem Murren kund, was von Seiten des
Vorsitzenden einen Tadel und einen Verweis zur Folge hatte. Jetzt nahm
der Staatsanwalt das Wort:

»Durch den Eid ehrenwerter Männer erhärtet, deren einfaches Wort über
jeden Verdacht erhaben ist, sehen wir uns gezwungen, das Verbrechen,
um das es sich hier handelt, dem unglücklichen Beklagten zur Last zu
legen. Wir halten den Fall hiemit für erwiesen.«

Ein Stöhnen entrang sich des armen Potters gequälter Brust, er schlug
die Hände vor's Gesicht und wiegte den Oberkörper hin und her, im
Uebermaß des Schmerzes. Tiefes, lautloses, peinliches Schweigen
herrschte im Hause. Manch hartes Mannesherz war bewegt, und der Frauen
Mitleid bezeugte sich in Strömen von Thränen. Endlich ergriff der
Verteidiger das Wort:

»Meine Herren Richter und Geschworenen. -- Bei Beginn dieser
Verhandlungen gaben wir unsre Absicht kund, zu Gunsten unseres Klienten
geltend zu machen, daß er die furchtbare That in dem Zustand eines
durch Uebermaß geistiger Getränke herbeigeführten sinnlosen Deliriums
beging, ein Zustand, der an sich schon jede Verantwortung ausschließen
sollte. Wir haben diese Absicht aufgegeben, wir werden uns hierauf
nicht weiter berufen.«

Sich zum Gerichtsdiener wendend rief er dann:

»Man führe Thomas Sawyer vor!«

Verwundertes Staunen zeigte sich auf jedem Antlitz, dasjenige Potters
nicht ausgenommen. Jedes Auge haftete in steigendem Interesse an Tom,
als dieser sich nun erhob und dem Zeugenstand zuschritt. Verwirrt genug
sah der Knabe aus und war dabei augenscheinlich in höchster Angst. Das
Verhör begann:

»Thomas Sawyer, wo befanden Sie sich am siebzehnten Juni um die
Mitternachtsstunde?«

Tom streifte flüchtig mit seinem Blick die eiserne Stirn des
Indianer-Joe, und die Zunge versagte ihm den Dienst. Atemlos lauschte
die Menge, die Worte wollten nicht kommen. Nach ein paar Augenblicken
jedoch raffte sich der Junge zusammen, es gelang ihm, Gewalt über seine
Stimme zu bekommen, soweit wenigstens, daß er einem Teil des Hauses
verständlich wurde:

»Auf dem Friedhofe.«

»Ein wenig lauter, bitte. Nur keine Angst! Sie waren also --«

»Auf dem Friedhofe.«

Ein verächtliches Lächeln zuckte über das Gesicht des Indianer-Joe.

»Befanden Sie sich irgendwo in der Nähe vom Grabe des alten William?«

»Ja, Herr Anwalt.«

»Könnten Sie nicht ein klein wenig lauter reden? Wie nahe ungefähr
waren Sie wohl?«

»So nahe, wie ich hier bei Ihnen stehe.«

»Hielten Sie sich versteckt oder nicht?«

»Ich war versteckt.«

»Wo?«

»Hinter den Ulmen, die dort dicht beim Grabe stehen.«

Der Indianer-Joe fuhr fast unmerklich zusammen.

»War noch sonst jemand mit Ihnen?«

»Ja, ich war dorthin gegangen mit --«

»Halt, einen Augenblick. Wir wollen den Namen noch nicht hören, darauf
kommen wir später zurück. Hatten Sie etwas mitgebracht?«

Tom zögerte und sah verwirrt vor sich nieder.

»Heraus damit, mein Junge, nur nicht ängstlich. Die Wahrheit zu reden
ist immer ehrenhaft. Also, was hattest du bei dir?«

Unbewußt war der Frager von dem förmlichen Ton eines öffentlichen
Inquirenten in den aufmunternden, väterlichen verfallen, der unsrem
Helden gegenüber weit mehr am Platze war. Dadurch ermutigt stammelte
dieser zögernd:

»Nur -- nur -- nur 'ne tote Katze!«

Ein leises Gekicher ließ sich vernehmen, dem sofort Einhalt geboten
wurde.

»Wir werden uns späterhin erlauben, das betreffende Gerippe den Herrn
Geschworenen als Beweis vorzulegen. Und jetzt, mein Sohn, erzähl' du
mir alles, was du gesehen hast, erzähl's ganz schön auf deine Art,
verbirg uns nichts, vergiß nichts und vor allem fürcht' dich nicht.«

Tom begann -- stotternd, zögernd im Anfang, da er sich aber mit seinem
Thema erwärmte, flossen ihm die Worte leichter und leichter. Nach ein
paar Momenten erstarb jedes andere Geräusch im ganzen, weiten Saale,
nur der Laut der klaren, hellen Knabenstimme war hörbar. Jedes Auge
war auf den Jungen gerichtet, offnen Mundes, mit verhaltenem Atem
folgte man seinen Worten, Richter, Geschworene, Publikum schienen der
Welt entrückt, so gefesselt waren sie von der drastischen Schilderung
der grausigen That. Die atemlose Erregung der Versammlung hatte ihren
Höhepunkt erreicht, als der Junge sagte: »Und wie der Doktor mit
dem Brett auf den Muff Potter einhieb und der umfiel, da sprang der
Indianer-Joe mit dem Messer auf und --«

Krach! Rasch wie der Blitz war der Indianer-Joe mit einem Sprung
emporgeschnellt, dem Fenster zugestürzt, die ihm im Weg Stehenden
zur Seite schleudernd, und ehe man zur Besinnung kam, hatte er sich
hindurchgeschwungen und -- war verschwunden!



Zweiundzwanzigstes Kapitel.


Wiederum war Tom zum strahlenden Helden der Stadt geworden, -- ein
Liebling der Alten, der Neid der Jugend. Sein Name wurde sogar durch
den Druck unsterblich gemacht, das Blättchen der Stadt erging sich in
vielen Lobpreisungen seiner Heldenthat. Einige seiner Mitbürger dachten
allen Ernstes dran, daß er Aussicht haben könne, einstmals Präsident zu
werden -- d. h., wenn er nicht zuvor gehenkt würde.

Wie gewöhnlich schloß die unbeständige, gedankenlose Welt Muff Potter
jetzt an ihr Herz, schmeichelte ihm und hätschelte ihn so ausgiebig,
wie sie ihn zuvor beschimpft hatte. Da ihr dies Verfahren im Grund aber
zur Ehre gereicht, wollen wir's nicht weiter tadeln.

Toms Tage waren Tage des Glanzes und des Entzückens, seine Nächte
dagegen Zeiten des Grauens. Der Indianer-Joe spukte in all seinen
Träumen, Tod und Vernichtung standen ihm im Gesichte geschrieben. Keine
Versuchung, noch so groß, gab es nun, die den Jungen hätte bewegen
können, nach Einbruch der Nacht sich hinaus zu wagen. Der arme Huck
befand sich ganz im selben Zustand des Schreckens und Entsetzens, denn
Tom hatte am Abend vor der letzten Gerichtsverhandlung dem Verteidiger
von Muff Potter die ganze Sache haarklein gebeichtet und Huck
zitterte davor, daß sein Anteil an der Geschichte doch noch ruchbar
werden könnte, trotzdem ihm des Indianer-Joe Flucht die Qual eines
öffentlichen Erscheinens vor Gericht erspart hatte. Der arme Bursche
hatte freilich den Herrn Verteidiger beschworen, reinen Mund zu halten,
und dieser hatte es ihm auch versprochen; aber welche Sicherheit bot
ihm das? Seit die Gewissensqual Tom dazu getrieben, dem Verteidiger
bei Nacht und Nebel jenes grause Geheimnis zu enthüllen, das ihm mit
schauerlichen, unheimlichen Eiden für ewig auf die Lippen gesiegelt
schien, war Hucks Vertrauen in das menschliche Geschlecht erschüttert,
ja vernichtet. Alltäglich erfüllten Muff Potters rührende Dankesbeweise
Tom mit Freude und Stolz, daß er geredet, und allnächtlich wünschte
er inständig, das Geheimnis bewahrt zu haben. Einmal fürchtete Tom,
man möchte den Indianer-Joe niemals erwischen, dann wieder entsetzte
ihn der Gedanke, daß man ihn doch später finden könne. Er fühlte mit
Bestimmtheit, daß er keinen ruhigen Atemzug mehr thun könne, ehe dieser
Mensch nicht tot sei und er seine Leiche gesehen habe.

Belohnungen waren ausgesetzt, die ganze Gegend durchsucht worden, aber
kein Indianer-Joe wurde gefunden. Man hatte eines jener allwissenden,
scheue Ehrfurcht einflößenden Wunderwesen, einen Detektiv aus St.
Louis, verschrieben. Der schnüffelte umher, schüttelte sein weises
Haupt, sah geheimnisvoll aus, und hatte denselben erstaunlichen Erfolg,
den die meisten Angehörigen seines Berufes erringen, das heißt, er
entdeckte, wie er sagte, ›den Schlüssel zum Rätsel‹. Da man aber
besagten Schlüssel nicht des Mordes verklagen und henken konnte, fühlte
sich Tom, nachdem der weise Mann gegangen, ebenso unsicher als zuvor.

Die Tage schleppten sich langsam dahin, zum Glück aber nahm ein jeder
neue Tag ein klein wenig von der Seelenangst mit sich hinweg, die auf
dem armen Knaben lastete.



Dreiundzwanzigstes Kapitel.


[Illustration]

Es naht einmal eine Zeit in dem Leben eines jeden Jungen von echtem
Schrot und Korn, wo er ein rasendes Verlangen empfindet, nach
verborgenen Schätzen zu graben. Dies Verlangen nun überfiel eines Tages
unsern Tom mit Allgewalt. Er wollte sich gleich mit Joe Harper in
Verbindung setzen; dieser war jedoch nicht zu finden. Dann schaute er
sich nach Ben Rogers um, und der war fischen gegangen. Zufällig stieß
er auf Huck Finn, den ›Rot-Händigen‹, und in Ermangelung der andern war
ihm dieser auch recht. Tom zog ihn beiseite an einen geheimen Ort und
teilte ihm im Vertrauen den Plan mit. Huck war einverstanden. Huck war
immer bereit, die Hand zu irgend einem Unternehmen zu bieten, welches
Vergnügen versprach und kein Kapital erforderte, denn er hatte einen
Ueberfluß von der Zeit, die _kein_ Geld ist.

»Wo sollen wir graben?« fragte Huck.

»Na, so 'n bißchen überall.«

»Was? giebt's denn überall 'nen Schatz?«

»Wie du nur so fragen magst! Die sind immer nur an ganz besonderen
Plätzen. Mal auf 'ner Insel, dann in 'ner alten, verfaulten Kiste, die
unter einem alten, vermoderten Baumstamm verscharrt ist, grad' da, wo
der Schatten um Mitternacht hinfällt; gewöhnlich aber steckt der Schatz
unter'm Boden eines Hauses, in dem's spukt.«

»Wer steckt 'n denn da hin?«

»Wer? Ei, Räuber natürlich, wer denn sonst? Etwa 'n Vikar, der die
Sonntagsschule hält, was?«

»Was weiß ich? Das weiß ich aber gewiß, ich würd' den Schatz nicht
irgendwo vergraben, wenn er mein wär', sondern nehmen und ausgeben und
lustig damit leben.«

»Ich auch. Räuber aber machen's anders, die vergraben ihn immer und
lassen ihn liegen.«

»Und gucken gar nie mal danach?«

»Nee. Sie wollen wohl, aber dann haben sie die Zeichen vergessen, oder
sterben gewöhnlich. Na, auf jeden Fall liegt der Schatz da 'ne Ewigkeit
und wird rostig. Und dann nach einiger Zeit entdeckt mal einer ein
altes, gelbes Papier, auf dem steht, wie man die Zeichen finden kann,
ein Papier, an dem man 'ne Woche lang und länger 'rum buchstabieren und
entziffern muß, denn 's steht nichts weiter drauf, als geheimnisvolle
Krakelfüße und Hieroglyphen.«

»Hiero -- was?«

»Hieroglyphen -- Bilder und Gekritzel und solches Zeug, von dem man
meint, es habe keinen Sinn.«

»Hast _du_ denn so 'n Papier, Tom?«

»Nee.«

»Na, und wo willst du denn da die Zeichen finden?«

»Zeichen? Ich brauch' keine Zeichen. Ich weiß ja genau, daß der Schatz
immer unter 'nem Spukhaus, oder auf 'ner Insel, oder unter 'nem alten,
abgestorbenen Baum liegt, der noch einen Ast in die Höhe streckt. Na,
wir haben ja die Jackson-Insel schon mal 'n bißchen abgesucht, dort
können wir's noch mal probieren. Dann haben wir ja das alte, verfallene
Spuknest, droben am Stillhausbach, und Haufen von alten, abgestorbenen
Bäumen überall, -- Haufen, sag' ich dir!«

»Na, und unter allen liegt einer vergraben?«

»Unsinn! Du fragst wie du's verstehst. Natürlich nicht.«

»Wie willst du dann aber wissen, welches der rechte ist?«

»Ei, wir probieren's eben überall.«

»Herrgott, Tom, da geht ja der ganze Sommer drauf.«

»Das wohl! Gelt, wenn du dann aber 'nen alten Topf mit hundert
blitzeblanken Dollars drin kriegst, oder 'ne Kiste voll Diamanten, dann
wärst du nicht böse?«

Hucks Augen glühten.

»Das -- das wär' 'n Fressen für mich; das Geld genügte mir, die
Diamanten ließ ich dir!«

»Schon recht. Ich werf' sie nicht weg, sag' ich dir, Dummkopf! Ei,
einer davon ist oft mehr wert, als zwanzig Dollars, 's giebt keinen,
der nicht zum wenigsten sechzig, siebzig Cents oder 'nen Dollar gilt.«

»Nee! Wahrhaftig?«

»Na, das kann dir 'n Wickelkind sagen! Hast du denn nie mal einen
gesehen, Huck?«

»Nee. Nicht daß ich wüßte!«

»O, Könige haben ganze Haufen davon.«

»Na, ich kenn' aber keine Könige, Tom.«

»Glaub's wohl! Nee, wenn du mal nach Europa gingst, könnt'st du sie in
Scharen 'rumhopsen sehen.«

»Hopsen die denn?«

»Hopsen? -- Bist wohl verrückt? Nein, hopsen thun sie nicht.«

»Na, was sagst du's denn?«

»Däsbartel! Ich wollt' ja nur sagen, dann könnt'st du sie _sehen_, --
nicht hopsen, natürlich, -- weshalb sollten sie denn hopsen? Ich meinte
nur, so im allgemeinen würdest du 'ne Menge davon sehen, überall 'rum.
Zum Beispiel den alten, buckeligen Richard.«

»Richard -- wie heißt er weiter?«

»Ei, Richard bloß, hat keinen anderen Namen. Könige haben nur einen
Rufnamen.«

»Wahrhaftig?«

»Weiß Gott, sie haben nur einen.«

»Na, wenn's ihnen recht ist, Tom, mir kann's eins sein. Ich möcht' aber
kein König sein und nur so einen lumpigen Namen haben, grad' wie 'n
elender Nigger. Aber sag' mal, wo wollen wir denn zuerst graben?«

»Weiß selber nicht. Wie wär's, wenn wir uns mal zuerst an den alten
Baum machten, da drüben auf dem Hügel über'm Stillhausbach?«

»Mir recht!«

So verschafften sie sich denn eine alte, ausgediente Hacke und Schaufel
und machten sich auf ihren Marsch von drei Meilen. Heiß und außer
Atem kamen sie an und warfen sich zum Ausruhen in den Schatten einer
benachbarten Ulme, holten ihre Pfeifen hervor und dampften wacker drauf
los.

»So mag ich's,« sagte Tom.

»Ich auch.«

»Sag' mal, Huck, wenn wir hier 'nen Schatz finden, was willst du dann
mit deinem Teil anfangen?«

»Ich? Ei, ich eß' jeden Tag Kuchen und Pasteten, und trink' Wein und
Sodawasser dazu. Und dann geh' ich in jeden Zirkus, der kommt und --
na, ich will mir schon ein vergnügtes Leben machen!«

»Und sparen willst du dir gar nichts?«

»Sparen? Zu was?«

»Ei, um später was zum Leben zu haben.«

»Würd' mir nichts helfen, Tom. Mein Alter kommt gewiß mal wieder zum
Vorschein, und wenn ich's nicht vorher thät', hätt' der bald genug mit
allem aufgeräumt, darauf wett' ich. Was willst du denn mit deinem Teil
anfangen, Tom?«

»Ich? ich kauf' mir erst mal eine neue Trommel und ein richtiges
Schwert und eine rote Krawatte und 'ne junge Bulldogge und dann -- dann
verheirat' ich mich.«

»Verheirat'st dich?«

»Jawohl.«

»Tom, du -- bist wohl übergeschnappt?«

»Wart' nur -- dann sollst du's erleben.«

»Na, Tom, das ist einfach das Dümmste, was du thun kannst. Nimm nur
mal meinen Alten und meine Mutter an. Nichts als Keilerei! Die haben
immerzu aufeinander losgedroschen, das weiß ich noch ganz gut.«

»Das will gar nichts sagen. Das Mädchen, das ich heirat', prügelt sich
nicht herum.«

»Tom, glaub's nicht, die sind alle gleich. Das Zuhauen versteht 'ne
jede. Ueberleg' dir's noch ein Weilchen, sag' ich dir -- überleg'
dir's. Wie heißt denn das Mädel?«

»'s ist kein Mädel -- es ist ein Mädchen.«

»Na, das kommt auf eins heraus. Mädel oder Mädchen, 's ist ganz
dasselbe, gehupft wie gesprungen. Na also, wie heißt sie, Tom?«

»Will dir's vielleicht später mal sagen. Jetzt nicht.«

»Mir auch recht. Nur werd' ich, wenn du dich verheirat'st, noch viel
alleiner sein als je.«

»Nein, das sollst du nicht. Du kommst und wohnst bei mir. Na, jetzt laß
uns aber vorwärts machen und an die Arbeit gehen.«

Eine halbe Stunde lang gruben und schwitzten sie. Kein Erfolg. Noch
eine halbe Stunde der Mühe und des Schweißes. Derselbe Erfolg. Jetzt
sagte Huck:

»Liegt so 'n Schatz immer so tief drunten?«

»Manchmal, -- nicht immer. Gewöhnlich nicht. Wir haben eben vermutlich
nicht den richt'gen Platz getroffen.«

[Illustration]

Sie wählten eine andere Stelle und fingen von neuem an. Etwas weniger
rasch als im Anfang ging die Arbeit von statten, doch machten
sie Fortschritte. Stillschweigend mühten sie sich eine Weile ab.
Schließlich stützte sich Huck auf seine Schaufel, wischte sich mit
seinem Aermel die Schweißtropfen von der Stirn und fragte:

»Wo gehen wir nachher hin, wenn wir hier fertig sind?«

»Ei, an den alten Baum, denk' ich, der dort auf dem Cardiff-Hügel
hinter dem Haus der Witwe Douglas steht.«

»Einverstanden! Wird uns aber die Witwe den Schatz nicht wegnehmen? Der
Baum steht doch auf ihrem Boden.«

»_Die_ uns wegnehmen? Sollt's mal probieren! Wer so 'nen Schatz findet,
dem gehört er auch. 's kommt gar nicht drauf an, wo er gefunden wird.«

Das lautete beruhigend. Die Arbeit schritt voran. Endlich sagte Huck:

»Hol's der Geier! 's muß wieder der falsche Platz sein. Was meinst du?«

»Sonderbar ist's, Huck, ich versteh's nicht recht. Manchmal steckt
Hexerei dahinter. Vielleicht ist's jetzt auch hier so.«

»Dummes Zeug! Hexen haben am Tag keine Macht.«

»Wahr ist's, daran hab' ich nicht gedacht. Ach, jetzt weiß ich, was
schuld ist! Was wir für einfältige Narren sind! Man muß ja doch erst
wissen, wo der Schatten des Baumes um Mitternacht hinfällt, und da
liegt der Schatz.«

»Na, dann hol's der Teufel! Dann ist ja die ganze Graberei umsonst
gewesen. Hol's der Henker, alles mit'nander, müssen also in der Nacht
den scheußlich weiten Weg noch einmal machen! Kannst du los kommen?«

»Freilich kann ich. Heut' nacht muß es jedenfalls sein, denn wenn einer
kommt, und sieht die Wühlerei und die Löcher, dann weiß er gleich,
was los ist, macht sich selber dahinter und schnappt uns am Ende die
Bescherung vor der Nase weg.«

»Gut also. Ich werd' diese Nacht kommen und miauen.«

»Schön. Komm her, wir verstecken unsre Hacke und Schaufel im
Gebüsch.« --

Zur festgesetzten Zeit waren denn auch die Jungen in der Nacht an
Ort und Stelle. Wartend saßen sie im Schatten. Es war ein einsamer
Ort und eine von Alters her feierliche Stunde. Geister flüsterten im
raschelnden Laube, Gespenster lauerten in dunkeln Ecken und Winkeln,
das dumpfe, tiefe Gebell eines Hundes erscholl aus der Ferne, dem
eine Eule mit hohler Grabesstimme antwortete. Diese ahnungsvolle
Feierlichkeit der Stunde lastete auf den beiden Jungen, sie sprachen
wenig. Nach einer Weile, als sie dachten, nun müsse Mitternacht da
sein, machten sie einen Strich, wo der Mondschein den Schatten des
Baumes hinwarf, und begannen zu graben. Ihre Hoffnungen stiegen.
Das Interesse wuchs, und der Fleiß hielt ehrlich Schritt. Das Loch
wurde tiefer und tiefer, aber jedesmal, wenn sie die Hacke auf etwas
Festes aufklingen hörten und ihnen das Herz voll freudiger Erwartung
laut klopfte, war's nichts als erneute Enttäuschung. Ein Stein war's
gewesen, oder ein alter Holzknüppel! Endlich sagte Tom:

»Es nutzt nichts, Huck, 's ist wieder der falsche Platz.«

»'s kann nicht sein, Tom, wir haben ja den Schatten auf's Haar
abgezirkelt.«

»Weiß ich. Aber da ist noch was anderes.«

»Was denn?«

»Ja sieh'. Wir haben doch die Zeit nur so ungefähr erraten. Am Ende
war's zu spät oder zu früh.«

Huck ließ die Schaufel sinken.

»Das ist's, weiß Gott!« sagte er. »Da liegt der Hund begraben! Ich
meine, wir lassen die Sache bleiben. Wie sollen wir je die richtige
Zeit herausfinden, und außerdem -- 's ist so gruselig hier um die Zeit
in der Nacht mit all den Geistern und Gespenstern, die nur so in der
Luft herum flattern. Ich mein' immerzu, 's stünd' einer hinter mir,
aber ich fürcht' mich herumzuschauen, weil ja auch einer vor mir sein
könnt', der nur auf die Gelegenheit wartet, bis ich den Kopf dreh'.
Seit ich hier bin, läuft's mir fortwährend eiskalt über den Rücken!«

»Mir geht's beinah' ebenso, Huck. Weißt du, meistens liegt auch bei so
'nem Schatz irgend ein toter Mensch vergraben, der Wache halten soll.«

»Herr, du mein Gott!«

»Ja, so ist's, das hab' ich oft gehört.«

»Tom, ich befaß' mich nicht gern mit den Toten. Die machen einem immer
nur Ungelegenheiten.«

»Ich hab' auch keine Lust, sie aufzuwecken. Denk' mal, wenn der hier
plötzlich seinen Schädel 'raus streckte und was sagen wollte.«

»Tom, Tom, hör' auf. 's ist schauerlich!«

»Das ist's, Huck. Mir ist auch kein bißchen wohl dabei, sag' ich dir.«

»Komm, Tom, wir stecken's auf und graben mal wo anders.«

»Gut, 's ist am End' besser.«

Tom dachte ein Weilchen nach und sagte dann:

»Im Gespensterhaus. Das ist der richt'ge Ort!«

»Hol's der Geier. Ich mag keine Häuser, in denen's spukt, Tom. Weiß
Gott, Gespenster sind fast noch schlimmer als tote Menschen. Die mögen
meinethalben mal plötzlich, ohne daß man dran denkt, den Mund aufthun
und einen erschrecken, aber die kriechen doch nicht herum in ihren
Leichentüchern wie die Gespenster, und sehen einem plötzlich über die
Schulter, wenn man gar nicht an sie denkt, und klappern mit den Zähnen
und Beinern. Das könnt' ich nicht aushalten, Tom, -- kein Mensch könnt'
so was.«

»Ja, aber, Huck, Gespenster spuken doch nur in der Nacht. Am Tag werden
sie uns dort am Graben nicht hindern.«

»Das ist wohl wahr. Aber du weißt selber, daß keiner hier gern dem
Gespensterhaus nah' geht, bei Tag nicht und nicht bei Nacht!«

»Na, das ist doch auch nur, weil mal einer da ermordet worden ist.
Aber gesehen hat man nie was Unheimliches in der Nacht um das Haus
herum, höchstens mal 'n blaues Licht am Fenster vorbeihuschen, -- keine
richtigen Gespenster.«

»Na, wo du aber so 'n blaues Flämmchen siehst, Tom, kannst du Gift
drauf nehmen, daß 'n Geist dicht dahinter ist. Das ist doch so klar wie
was! Denn wer anders als Geister braucht so'n Licht?«

»Das kann sein. Aber auf keinen Fall kommen sie bei Tag heraus. Also
brauchen wir uns gar nicht zu fürchten.«

»Gut, mir soll's recht sein. Wir wollen das Gespensterhaus vornehmen.
Aber -- aber ich glaub' riskiert ist's doch!«

Unter diesem Geplauder waren sie am Fuß des Hügels angelangt. Dort,
inmitten des mondbeglänzten Thales, stand das ›Gespensterhaus‹,
gänzlich vereinsamt, mit längst verfallener Umzäunung. Ueppig rankendes
Unkraut überzog Treppenstufen und Thürschwelle, der Schornstein war
in Trümmer zerfallen; leer starrten die Fensterhöhlen, ein Teil des
Daches war eingesunken. Eine Weile blickten die Jungen unverwandt
auf den gespenstischen Ort, immer halb in Erwartung, die blauen
Flämmchen hinter den Fenstern vorbeihuschen zu sehen. Sie sprachen im
Flüstertone, wie es zu Zeit und Umständen paßte. Dann rissen sie sich
los von der unheimlichen Stätte, die sie in weitem Bogen umkreisten,
und schlugen sich heimwärts durch die Wälder, welche die Rückseite des
Cardiff-Hügels mit ihrem Grün schmückten.

[Illustration]



Vierundzwanzigstes Kapitel.


Um die Mittagsstunde des nächsten Tages fanden sich die Jungen wiederum
am Schauplatz ihrer nächtlichen Thaten ein, um ihr Werkzeug zu holen.
Tom war sehr ungeduldig und konnte gar nicht schnell genug nach dem
›Gespensterhaus‹ kommen. Huck, etwas gemäßigter in seinem Eifer, sagte
plötzlich:

»Sag' mal, Tom, weißt du, was heut' für 'n Tag ist?«

Tom ließ im Geiste die Wochentage an sich vorüber ziehen und hob dann
den Kopf erschreckten Blickes:

»Ei, der Tausend, daran hab' ich gar nicht gedacht, Huck.«

»Na, ich zuerst auch nicht. Mit einem Male aber fiel's mir siedend heiß
ein, daß heut' Freitag sei.«

»Potz Blitz! man kann doch nie vorsichtig genug sein, Huck. Wir hätten
schön in die Patsche geraten können, wenn wir mit so was am Freitag
angefangen hätten.«

»Hätten geraten können? Ich sag' _wären_ geraten! 's giebt Glückstage,
aber der Freitag ist keiner!«

»Das weiß jeder Narr. Du denkst doch nicht, daß du der erste bist, der
das herausgefunden, Huck?«

»Hab' ich das vielleicht gesagt? Und der Freitag allein ist noch nicht
alles, -- hab' 'nen scheußlich schlechten Traum gehabt, heut' nacht --
hab' von Ratten geträumt.«

»Ist's möglich? Na, 'n sichres Zeichen von Pech. Bissen sie sich
herum?«

»Nein.«

»Na, dann ist's gut, Huck. Wenn sie sich nicht herumbeißen, soll's nur
bedeuten, daß irgendwo Unheil lauert, weißt du. Da brauchen wir einfach
nur die Augen gut aufzumachen und dem Pech aus dem Weg zu gehen. Auf
jeden Fall aber wollen wir's heut' sein lassen und lieber spielen.
Kennst du Robin Hood, Huck?«

»Nee, wer ist's?«

»O, der war einer der größten Männer, die je in England lebten, und der
Beste dazu. Er war ein Räuber.«

»Patent! Wollt' ich wär's. Wen hat er denn beraubt?«

»Ei, nur Sheriffs und Bischöfe und reiche Leute und Könige und
dergleichen. Die Armen aber ließ er ganz in Ruhe, die hatte er lieb.
Mit denen hat er immer alles ganz brüderlich geteilt.«

»Das muß ja 'n Staatskerl gewesen sein.«

»Das war er, weiß Gott, Huck. Das war einfach der beste Mensch, der je
gelebt hat. So giebt's jetzt gar keine Menschen mehr, sag' ich dir. Der
konnte jeden Mann in England zwingen mit _einer_ Hand, man durfte ihm
die andere festbinden. Und dann nahm er seinen Eiben-Bogen und traf
jedes Zehn-Centstück auf anderthalb Meilen Entfernung.«

»Was ist denn ein Eiben-Bogen?«

»Was weiß ich? Eben irgend ein Bogen natürlich. Und wenn er dann das
Geldstück nur am Rande traf, statt in der Mitte, da setzte er sich hin
und weinte -- und fluchte. Komm', laß uns Robin Hood spielen, 's ist
fein, sag' ich dir. Ich zeig's dir, wie.«

»Mir recht.«

So spielten sie denn Robin Hood den ganzen Nachmittag, hie und da einen
sehnsüchtigen Blick nach dem alten ›Gespensterhaus‹ da unten werfend
und sich über die Aussichten und Möglichkeiten des folgenden Tages
unterhaltend. Als die Sonne bedenklich gen Westen sich neigte, schlugen
sie den Heimweg ein, quer durch die langen Schatten, welche die Bäume
nun warfen, und waren bald in den Wäldern des Cardiff-Hügels dem Auge
entschwunden. --

Am Sonnabend, kurz nach der Mittagsstunde, stellten sich die Jungen
wieder an jenem bewußten alten Baume ein. Erst rauchten und schwatzten
sie ein Weilchen im Schatten desselben, dann wühlten sie noch ein wenig
in ihrem letzten Loch herum, nicht sehr hoffnungsvoll allerdings,
sondern nur, weil Tom meinte, es sei schon so oft vorgekommen, daß
man beim Schatzgraben dem gesuchten Schatz auf sechs Zoll Entfernung
nahe gekommen und das Ding darnach mutlos aufgegeben habe, nur damit
ein anderer dann mit einem einzigen Spatenstich die ganze Herrlichkeit
entdecke. Die Sache schlug indes wieder fehl, und so schulterten die
Jungen ihr Werkzeug und gingen davon, in dem erhebenden Bewußtsein,
mit dem Glück nicht gespielt zu haben, sondern im Gegenteil jedes
Erfordernis getreulich erfüllt zu haben, das zu dem Geschäft des
Schatzgrabens gehört.

Als sie das Gespensterhaus erreichten, lag etwas so Schauerliches
und Unheimliches in der Totenstille, die dort unter der sengenden
Sonnenglut herrschte, etwas so Bedrückendes in der Einsamkeit und
Verlassenheit des Ortes, daß die Jungen einen Moment lang sich nicht
getrauten hinein zu gehen. Dann schlichen sie nach der Thür und
hielten zitternd Umschau. Sie sahen eine mit Unkraut überwucherte
Stube vor sich, den Boden ohne Dielen, die Wände ohne Bewurf, mit
einem eingesunkenen Kamin, mit leeren Fensterhöhlen und einer halb
verfallenen Treppe. Allenthalben hingen Fetzen von verstäubten,
verlassenen Spinngeweben herum. Vorsichtig, zögernd traten die Jungen
ein, beschleunigten Pulses, im Flüsterton redend, gespitzten Ohres,
bereit, den geringsten Laut aufzufangen, die Muskeln gespannt, um
jeden Moment zum Rückzug bereit zu sein.

[Illustration]

Bei näherer Bekanntschaft mit dem Ort verringerte sich allmählich
ihre Furcht, und unsere beiden Helden unterwarfen die Lokalität einer
genauen und eingehenden Prüfung, nicht ohne dabei im stillen ihre
eigene Kühnheit zu bewundern und zugleich darob zu erstaunen. Unten
fertig, wollten sie sich nun auch oben umsehen. Das hieß so viel, als
sich den Rückzug abschneiden, aber sie waren nun einmal im Zuge, sich
gegenseitig im Herausfordern der Gefahr zu überbieten, und so warfen
sie denn ihr Werkzeug in einen Winkel und stiegen hinauf. Oben fanden
sie dieselben Zeichen des Verfalls. In einem Winkel entdeckten sie
einen Wandschrank, der irgend ein Geheimnis zu bergen versprach, --
dies Versprechen war aber Täuschung und Betrug: der Schrank war leer.
Der Mut schien ihnen nun voll und ganz wiedergekehrt, und eben waren
sie im Begriff, hinunter und an die Arbeit zu gehen, als --

»Sscht!« sagte Tom.

»Was giebt's?« flüsterte Huck, vor Schreck erbleichend.

»Sscht! Da! Hörst du?«

»Ja! O, du meine Güte! Laß uns rennen!«

»Still, halt dich ruhig und muckse dich nicht. Sie kommen grad' auf die
Thür los.«

Die Jungen streckten sich auf dem Boden aus, spähten mit den Augen
durch die Astlöcher in den Dielen und warteten zitternd vor verhaltener
Furcht und Erregung.

»Sie bleiben stehen -- nein -- sie kommen -- da -- da sind sie. Kein
Wort mehr, Huck. Herrgott, wären wir doch mit heiler Haut aus der
Patsche!«

Zwei Männer traten ein. Jeder der Jungen sagte zu sich selber:

»Der eine ist der alte, taubstumme Spanier, den man in der letzten Zeit
ein- oder zweimal in der Stadt gesehen hat, -- den andern kenn' ich
nicht.«

›Der andere‹ war ein zerlumpter, ungekämmter Kerl, dessen Gesicht nicht
eben einnehmend war. Der Spanier war in seine ›Serape‹ gehüllt, er
hatte einen buschigen, weißen Schnauzbart; langes, weißes, wehendes
Haar stahl sich unter seinem breiträndigen Hute vor, dazu trug er grüne
Augengläser. Als sie herein kamen, redete eben ›der andere‹ mit leiser
Stimme auf ihn ein. Sie ließen sich auf dem Boden nieder, das Gesicht
der Thüre zugewandt und mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt. Der
Sprechende fuhr in seinen Bemerkungen fort. Je länger er sprach, desto
mehr verlor sich sein vorsichtiges Wesen und desto lauter wurden seine
Worte.

»Nein,« sagte er, »ich hab's mir überlegt, aber ich mag nicht. 's ist
mir viel zu gefährlich.«

»Gefährlich,« brummte der ›taubstumme‹ Spanier, zum größten Erstaunen
der lauschenden Jungen, »Hasenfuß!«

Diese Stimme ließ die Jungen voll Entsetzen erbeben und nach Atem
ringen. Es war die Stimme des Indianer-Joe.

Ein Schweigen folgte, dann sagte dieser:

»Was giebt's wohl Gefährlicheres, als das letzte Stückchen, das ich
dort drüben geliefert, -- damit wies er mit dem Finger nach der
Richtung der Stadt, -- und ist da vielleicht was 'raus gekommen dabei?«

»Das ist was anderes! Soweit flußaufwärts und kein anderes Haus in der
Nähe! Wie soll überhaupt etwas 'raus kommen, wenn wir keinen Erfolg
gehabt haben.«

»Na, und was ist gefährlicher, als bei Tag hierher kommen? Ei jedem,
der uns sähe, müßten wir doch verdächtig scheinen.«

»Das weiß ich. Aber nach dem dummen Stückchen von neulich war kein
Platz so gelegen. Ich muß weg aus der Bude hier! Hab's gestern schon
gewollt, nur nutzte es nichts, da die verteufelten Jungens da oben beim
alten Baum vor unserer Nase ihr Spiel trieben.«

Die ›verteufelten Jungens‹ erbebten bei dieser Bemerkung und
beglückwünschten sich innerlich, daß sie sich des Freitags erinnert und
beschlossen hatten, einen Tag zu warten. Wie wünschten sie jetzt, statt
eines Tages ein Jahr gewartet zu haben! Die zwei Männer kramten nun
Nahrungsmittel aus und machten sich eine Mahlzeit zurecht. Nach einer
langen, gedankenvollen Pause sagte der Indianer-Joe:

»Will dir mal was sagen, Kamerad. Du machst dich wieder flußaufwärts,
wo du hingehörst, und bleibst dort, bis du von mir Nachricht hast.
Ich schleich' mich noch mal in die Stadt, geh's wie's will, und halt'
Umschau. An das ›gefährliche Stückchen‹ gehen wir dann erst, wenn ich
die Zeit dazu für gekommen halte. Dann auf und davon nach Texas!«

Dieser Plan ließ sich hören und fand keinen Widerspruch. Die Männer
begannen zu gähnen und Joe sagte:

»Ich bin todmüde! An dir ist die Reihe zu wachen!«

Er kauerte sich zusammen und begann alsbald zu schnarchen. Sein
Kamerad stieß ihn ein paarmal an, worauf er stille ward. Alsbald
begann der Wächter zu nicken, sein Kopf sank tiefer und tiefer, nun
schnarchten beide Männer.

Die Jungen holten tief und dankerfüllt Atem. Tom wisperte:

»Jetzt gilt's, komm!«

Huck erwiderte:

»Ich kann nicht. Ich fiel' geradeswegs tot hin, wenn sie aufwachen.«

Tom trieb, Huck zögerte. Schließlich erhob sich Tom vorsichtig und
leise und schickte sich an, allein sein Heil zu probieren. Beim ersten
Schritt aber, den er vorwärts that, krachte die alte, morsche Diele so
laut und drohend, daß er plötzlich halbtot vor Schreck wieder umsank.
Einen zweiten Versuch wagte er nicht. So lagen denn die Jungen und
zählten die träge sich dahinschleppenden Sekunden, bis sie meinten,
alle Zeit müsse aufgehört haben, ja die Ewigkeit schon grau geworden
sein, und sie waren heißen Dankes voll, als sie bemerkten, daß die
Sonne sich zu neigen begann.

Einer der Schlafenden hörte jetzt auf zu schnarchen. Der Indianer-Joe
richtete sich empor, starrte um sich, lächelte grimmig über seinen
Kameraden, dessen Kopf auf die Kniee gesunken war, stieß ihn mit dem
Fuße an und sagte:

»Na, du bist ein Wächter, das muß ich sagen! Uebrigens einerlei, 's ist
ja nichts passiert.«

»Meiner Treu, -- ich hab' doch nicht -- hab' ich wirklich geschlafen?«

»So 'n bißchen, sollt' ich denken. Na, Zeit zum Abzug für uns, Kamerad!
Was thun wir mit dem bißchen Baren, das wir noch haben?«

»Weiß ich's? Hier lassen, wie wir's immer gemacht haben, das wird wohl
am besten sein. Können's doch nicht herumschleppen, bis wir nach dem
Süden gehen. Sechshundertundfünfzig Dollars ist 'ne ordentliche Last!«

»Na gut, -- schon recht! Liegt ja auch nichts dran, wenn wir noch mal
hierher müssen.«

»Nee, aber dann möcht' ich doch raten in der Nacht zu kommen, wie
früher, 's ist doch besser für alle Fälle!«

»Ganz gut, aber hör' mal zu. Es kann 'ne gute Weile dauern, eh' sich
die rechte Gelegenheit findet zu dem Stückchen, das wir vorhaben. 's
könnt' uns was zustoßen. 's ist an gar keinem so sehr guten Orte hier.
Wir wollen's ordentlich vergraben, -- tief vergraben.«

»Das ist 'ne gute Idee,« meinte der Kamerad, ging quer durch den Raum
auf's Kamin zu, kniete nieder, hob einen von den hinteren Steinen
desselben in die Höhe und nahm einen Beutel heraus, worin es bei der
Berührung vielversprechend klang. Dem entnahm er zwanzig oder dreißig
Dollars für sich selber, ebensoviel für den Indianer-Joe, und reichte
dann den Beutel dem Letzteren, der in einer Ecke auf den Knieen lag und
mit seinem langen und breiten Messer den Grund aufwühlte.

Die Jungen vergaßen ihre ganze Angst und all ihr Elend in einem
Augenblick. Mit glänzenden, gierigen Blicken folgten sie jeder
Bewegung. Solches Glück! Der Strahlenglanz desselben überstieg jede
Einbildungskraft! Sechshundert Dollars waren ja Geld genug, um ein
halbes Dutzend Jungen reich zu machen. Das nannte man Schatzgraben
unter den glücklichsten Umständen, da gab's keine hindernde
Ungewißheit, wo man eigentlich nachzugraben habe. Sie stießen einander
beständig an, mit beredten, leicht verständlichen Rippenstößen, die
einfach bedeuten sollten: »Herrgott, bist du nun nicht froh, daß wir
hier sind?«

Joes Messer stieß auf etwas Hartes.

»Holla,« sagte er.

»Was giebt's?« fragte der andre.

»Eine verfaulte Diele, -- nee 's ist 'ne Kiste, glaub' ich. Schnell,
pack' an und wir wollen bald dahinter kommen, was die hier soll. Laß
gut sein, ich hab' 'n Loch hinein gebrochen.«

Er griff in die Kiste und zog die Hand sofort wieder heraus.

[Illustration]

»Mensch, 's ist Geld!«

Die beiden Männer untersuchten nun die Handvoll Münzen. Es war Gold.
Die Jungen oben waren ebenso entzückt, wie die zwei Strolche unten.

Joes Kamerad sagte:

»Damit wollen wir kurzen Prozeß machen. Dort liegt 'ne alte, rostige
Hacke in der Ecke, drüben auf der andern Seite des Kamins. Ich hab's
eben gesehen.«

Er sprang hin und brachte die Hacke und Schaufel der Jungen herbei.
Der Indianer-Joe nahm die Hacke, besah sie kritisch, schüttelte den
Kopf, murmelte etwas in sich hinein und machte sich dann an die Arbeit.

Die Kiste war bald bloßgelegt. Sie war nicht sehr groß, mit eisernen
Bändern beschlagen und schien sehr stark gewesen zu sein, ehe der
Zahn der Zeit sie benagt hatte. Die Männer starrten in glückseligem
Schweigen nieder auf den gleißenden Schatz.

Endlich flüsterte Joe:

»Kamerad, das sind Tausende von Dollars.«

»Man hat immer gemunkelt, daß Murrells Bande sich mal 'nen Sommer hier
herumgetrieben hätte,« bemerkte der Fremde.

»Weiß wohl,« bestätigte Joe, »und dies hier sieht, meiner Treu, ganz
danach aus.«

»Jetzt können wir auch das andre Stückchen aufgeben, was!«

Der Halbindianer runzelte finster die Stirn. Dann sagte er:

»Du verstehst mich nicht, wenigstens die Sache nicht, um die sich's
handelt. 's ist mir diesmal nicht um's Stehlen, -- 's ist Rache, die
ich haben will.« Dabei flammten seine Augen in grellem Feuer auf. »Dazu
brauch' ich dich und deine Hilfe. Wenn wir das hinter uns haben -- dann
auf nach Texas! Und jetzt mach' dich heim zu deiner Hanne und deinen
Bälgern und wart' bis ich dich rufe.«

»Soll mir recht sein! Was aber fangen wir mit dem da an -- vergraben's
wieder?«

»Ja. (Ueberwältigendes Entzücken oben.) Nein! Beim Henker, nein!
(Tiefste Niedergeschlagenheit eine Treppe hoch.) Beinah' hätt' ich's
vergessen. An der Hacke war ja frische Erde! (Den Jungen wurde wind
und weh vor Schreck und Angst.) Was hat 'ne Hacke und Schaufel hier zu
thun? Gar mit frischer Erde dran? Wer hat sie hergebracht -- und wo
sind die Kerls hin? Hast du was gehört -- jemand gesehen? Was! Wieder
vergraben, damit die Kerls nachher kommen und sehen, daß der Grund
frisch aufgewühlt ist? Nee, so dumm sind wir nicht. Wir schleppen's in
meine Höhle!«

»Na, natürlich. Hätt' früher daran denken können. Meinst du Nummer
Eins?«

»Nein, Nummer Zwei, unter dem Kreuz. Der andre Platz ist nichts wert,
-- zu gewöhnlich.«

»Mir auch recht! Bald wird's dunkel genug sein, um abziehen zu können.«

Der Indianer-Joe erhob sich und ging von Fenster zu Fenster, immer
vorsichtig hindurchspähend. Bald darauf sagte er:

»Wer kann wohl das Werkzeug hergeschleppt haben? Am End' sind sie oben!«

Den Jungen versagte der Atem. Der Indianer-Joe legte die Hand an das
dolchartige Messer, das in seinem Gürtel steckte, hielt einen Moment
überlegend inne, und wandte sich dann der Treppe zu. Die Jungen dachten
an den Wandschrank, aber ihre Kraft hatte sie vollständig verlassen.
Schon krachten die Tritte auf der Treppe, -- die fast unerträgliche Not
ihrer Lage weckte die erlahmte Entschlossenheit der Jungen, -- eben
wollten sie dem rettenden Schranke zufliehen, als sich ein Splittern
und Krachen der morschen Balken vernehmen ließ und der Indianer-Joe
inmitten der Treppentrümmer schleunigst wieder unten landete. Fluchend
raffte er sich auf, und sein Kamerad sagte:

»Zu was all den Umstand. Wenn's wirklich jemand ist und sich einige da
droben versteckt halten, gut, laß ihnen ihr Vergnügen, was liegt dran?
Wenn sie 'runter springen wollen und mit uns anbinden, so mögen sie nur
kommen. In fünfzehn Minuten ist's dunkel, laß sie uns folgen, wenn sie
wollen, mir sollt's recht sein. Meiner Meinung nach haben die Kerls,
welche die Sachen hier ablegten, wer's nun immer gewesen sein mag, uns
erblickt, uns für Geister, Teufel oder sonst was gehalten und sind
davon gerannt. Die rennen noch, ich möcht' fast wetten.«

Joe brummte noch eine Weile vor sich hin, dann stimmte er seinem
Gefährten bei, daß sie das noch übrig bleibende Tageslicht benutzen
müßten, um zur Flucht alles in Bereitschaft zu setzen. Kurz danach
schlüpften sie im tiefsten Dämmerlicht aus dem Hause und schlugen mit
ihrer kostbaren Last die Richtung nach dem Flusse ein.

Tom und Huck erhoben sich, noch ganz zitternd, aber wie erlöst, und
starrten den Männern durch die Spalten nach, die sich in den Wänden
des Hauses befanden. Ihnen folgen? Das fiel ihnen nicht ein. Sie
waren zufrieden, ohne gebrochenen Hals den sicheren Boden wieder zu
erreichen, und wandten sich ohne Zögern dem über den Hügel nach der
Stadt führenden Pfade zu. Sie redeten nicht viel zusammen, waren zu
beschäftigt damit, sich selber gründlich Vorwürfe zu machen über die
bodenlose Dummheit, Hacke und Spaten mit dorthin zu nehmen und liegen
zu lassen. Ohne das hätte der Indianer-Joe niemals Verdacht gefaßt.
Er hätte gewiß das Silber bei dem Golde verscharrt, bis er seine
›Rachepläne‹ ausgeführt gehabt, und dann wäre ihm die überraschende
Entdeckung geworden, daß beides verschwunden: Silber wie Gold!
Schweres, bittres Verhängnis, daß sie die Werkzeuge mit dahin schleppen
mußten! Sie beschlossen, diesem Spanier gut aufzupassen, wenn er sich,
um eine Gelegenheit für seinen Racheakt auszukundschaften, wieder in
der Stadt sehen ließe, und ihm dann nach ›Nummer Zwei‹ zu folgen, wo es
auch sein möge. Plötzlich überkam Tom ein entsetzensvoller Gedanke:

»Rache? Wenn er uns damit meint, Huck!«

»Red' nicht so!« bat dieser, der bei der bloßen Idee vor Schreck
beinahe umfiel.

Dann besprachen sie den Gedanken hin und her, und als sie daheim
anlangten, waren sie übereingekommen, daß er vielleicht sonst irgend
jemand im Auge haben, oder wenigstens doch nur Tom meinen könne, da ja
Tom allein gegen ihn gezeugt hatte.

Ein schwacher, sehr schwacher Trost war es für Tom, allein in Gefahr
zu sein. Einen Kameraden auch hierin zu besitzen, würde die Sache
wesentlich erleichtert haben, so dachte er bei sich in seiner Unschuld;
Huck aber schien andrer Meinung zu sein.

[Illustration]



Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Am nächsten Morgen beim Erwachen erschienen Tom die Erlebnisse des
verflossenen Tages wie ein böser, schwerer Traum. Er grübelte und sann,
und je mehr er nachdachte und überlegte, desto mehr kam es ihm vor, daß
er geträumt habe. So viel Geld auf einmal beisammen zu sehen konnte ja
gar nicht Wirklichkeit sein. In seinem bisherigen Leben hatte er nie
mehr als fünfzig Dollars auf einem Brett vor sich gesehen. Tausende von
Dollars aber auf einem Haufen, das überstieg seine ausschweifendsten
Vorstellungen, selbst von verborgenen Schätzen.

Noch ganz benommen von seinen Hirngespinsten kleidete er sich an,
schlang wie geistesabwesend sein Frühstück hinunter und machte sich
alsbald auf, Huck zu suchen und sich von ihm die Bestätigung zu holen,
daß alles nur Traum und Schaum gewesen. Er fand diesen am Ufer des
Flusses in einem Nachen, mit den Beinen über den Bootrand baumelnd und
mürrisch vor sich hin starrend.

»Morr'n, Huck.«

»Morr'n, Tom. Verdammtes Pech, das, mit der Hacke und Schaufel!«

Also war's doch kein Traum, sondern greifbare, wirkliche Wirklichkeit!
Tom erzählte Huck von seinen Gedanken diesen Morgen.

»Schöner Traum!« brummte der als Antwort, »hätt' was Niedliches werden
können, wenn die Stiege nicht zusammengekracht wär'. Mir hat's auch
die ganze Nacht geträumt, aber nur von dem Teufel von Spanier und von
seiner ›Nummer Zwei‹.«

In Bezug auf diese rätselhafte Nummer ergingen sich die Jungen in
allerhand Vermutungen. Schließlich kamen sie überein, es solle wohl die
Nummer des Zimmers in irgend einer Herberge bedeuten, und Tom machte
sich auf den Weg, es auszukundschaften.

Nach einer halben Stunde kam er zu Huck zurück und erzählte diesem,
daß von den beiden Wirtshäusern der Stadt wohl nur eins in Frage
kommen könne, denn in Nummer Zwei des einen wohne schon seit lange ein
allgemein bekannter und geachteter junger Mann. Nummer Zwei des andren
Wirtshauses dagegen sei selbst dem Sohn des Hauses ein Geheimnis. Der
sage, es werde immer geschlossen gehalten und nur bei Nacht höre er
zuweilen Geräusch und sehe Licht darin. Er habe immer gedacht, es müsse
dort spuken.

»Das hab' ich entdeckt, Huck,« schloß Tom ganz erregt seinen Bericht.
»Das ist so gewiß die Nummer Zwei, die wir suchen, so gewiß, wie ich
hier vor dir steh'!«

»Wird wohl so sein, Tom. Was sollen wir aber thun?«

»Laß mich 'n bissel nachdenken.«

Und Tom dachte eine lange Weile nach, dann sagte er:

»Paß mal auf. Siehst du, die Hinterthür von der Nummer Zwei führt in
den kleinen, engen Gang zwischen dem Wirtshaus und der alten Mausefalle
von Ziegelbrennerei. Du kaperst nun alle Thürschlüssel, die du irgend
erwischen kannst, und ich nehm' meiner Tante ihre, und in der ersten
dunklen Nacht schleichen wir hin und probieren ob einer paßt. Daß du
dich fein nach dem Spanier umsiehst! Der sagt ja, er wolle kommen
und herumschnüffeln wegen seiner Rache. Und wenn du ihn entdeckst,
dann folgst du ihm und siehst, ob er nach meiner Nummer Zwei geht,
wenn nicht, ist's natürlich Essig! Also, heut' abend! Bring' nur brav
Schlüssel mit!«

Am Abend waren Huck und Tom bereit zu ihrem Abenteuer. Sie trieben sich
in der Nachbarschaft der Herberge herum, konnten aber nirgends etwas
Verdächtiges erspähen. Um ungesehen das Experiment mit den Schlüsseln
vornehmen zu können, war die Nacht viel zu hell, und so zog sich denn
Tom bald nach zehn Uhr zurück, heimwärts, dem warmen Neste zu, während
Huck, der etwas länger aushielt, gegen zwölf in einem leeren Zuckerfaß
für die Nacht unterkroch.

Dienstag nacht verfolgte die Jungen derselbe Unstern, ebenso Mittwoch.
Donnerstag endlich standen dicke Wolken am Himmel und versprachen eine
schöne, dunkle Nacht. Beizeiten stellte sich Tom ein, bewaffnet mit der
alten Blechlaterne seiner Tante und einem großen Handtuch, um dieselbe
zu verhüllen. Er barg die Laterne in Hucks Zuckerfaß, und die Wacht
begann. Eine Stunde vor Mitternacht wurde die Herberge geschlossen
und ihre Lichter, die einzigen in der Nachbarschaft, ausgelöscht.
Kein Spanier war gesehen worden. Niemand hatte den schmalen Gang auf
der Rückseite des Hauses betreten oder verlassen. Alles schien dem
Unternehmen günstig. Die schwärzeste Finsternis herrschte, und die
Totenstille ringsum wurde nur hie und da durch fernes Donnerrollen
unterbrochen.

Tom lief nach seiner Laterne, zündete sie an, hüllte sie fest in das
Handtuch und die beiden Abenteurer tasteten sich durch die Finsternis
nach dem Wirtshaus hin. Huck stand Schildwache und Tom schlich sich in
den dunklen Gang hinein. Nun kam eine Pause unerträglich heimlichen,
angstvollen Wartens, die auf Hucks Gemüt lastete, gleich einem
erdrückenden Berge. Er begann sich heiß nach einem wieder auftauchenden
Strahl der Laterne zu sehnen, der ihm zeigte, daß Tom noch am Leben
sei.

Stunden schienen verflossen, seit Tom verschwunden war. Gewiß hatte
er irgendwo das Bewußtsein verloren, war am Ende gar tot, vielleicht
war ihm das Herz gebrochen vor Schreck und Aufregung. In seiner Angst
rückte Huck dem Gäßchen näher und näher, den Kopf voll schrecklicher
Befürchtungen und jeden Augenblick auf eine Katastrophe gefaßt, die
ihm den Atem vollends benehmen würde. Viel Atem zum Wegnehmen blieb
nicht übrig; er war kaum noch imstande, denselben fingerhutvollweise
einzuziehen, und sein Herz mußte bei dem Tempo, in dem es schlug,
baldigst ganz den Dienst versagen. Plötzlich blitzte ein Lichtstrahl
auf, und Tom schoß keuchend an ihm vorüber.

»Fort,« schrie er, »fort, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Ein Wiederholen der Warnung war unnötig, einmal genügte. Huck
rannte mit Riesenschritten davon, als ob es hinter ihm brenne, Tom
hinterdrein. So stürzten die Jungen unaufhaltsam davon, bis sie den
Schuppen eines alten, unbenutzten Schlachthauses erreichten, am unteren
Ende des Ortes. Gerade als sie unter dies Obdach geschlüpft waren,
brach das Gewitter los und der Regen strömte nieder. Nachdem Tom zu
Atem gekommen war, stöhnte er:

»Ach, Huck, 's war gräßlich. Ich probierte erst zwei von den
Schlüsseln, so leise ich konnte, die machten aber 'n solchen Lärm, daß
mir übel und weh wurde vor Angst. Ich konnte sie auch gar nicht im
Schloß umdrehen. Dann, ohne selber zu wissen, was ich thu', faß' ich
nach der Klinke, drücke und -- auf springt die Thür. Sie war gar nicht
verschlossen gewesen! Ich hinein, werf' das Tuch von der Laterne und --
Heiliger Gott!«

»Was -- was war's, Tom?«

»Huck! Ich trat fast auf 'ne Hand, und wie ich näher hin seh', ist's
dem Indianer-Joe seine.«

»Puh!« stöhnte Huck wortlos.

»Weiß Gott! Da lag er am Boden und schlief ganz fest, mit dem alten
Pflaster über dem einen Aug' und weit ausgestreckten Armen.«

»Um alles in der Welt, sprich, -- was hast du denn da gemacht? Ist er
aufgewacht?«

»Nee, der rührt sich nicht. Er muß betrunken gewesen sein. Ich greif'
nur flink nach meinem Tuch und stürz' davon.«

[Illustration]

»Ich hätt' nicht mehr an das Tuch gedacht, das wett' ich.«

»Na, aber ich! Tante Polly hätt' mir 'nen feinen Tanz aufgespielt, wenn
ich's verloren hätt'!«

»Hör' du, Tom, hast du die Kiste gesehen?«

»Huck, nach der hab' ich mich gar nicht umgeschaut. Hab' keine Kiste
und hab' auch kein Kreuz gesehen. Nichts hab' ich gesehen, als 'ne
Flasche und 'nen Zinnbecher am Boden neben dem Indianer-Joe! Ja, zwei
Fäßchen und viele Flaschen hab' ich noch außerdem im Zimmer gesehen.
Weißt du jetzt, was in dem Zimmer spukt?«

»Wieso?«

»Dickkopf! Schnaps spukt drin, Schnaps! Und der Wirt dort gehört zum
Mäßigkeitsverein! Ob wohl alle die Mäßigkeitsvereinler so 'n Spukzimmer
haben? he, Huck?«

»Wird wohl so sein! Wer hätt' aber so was gedacht? Sag' mal, du,
Tom, wär' denn das nicht jetzt grad' die richt'ge Zeit, um die Kiste
auszuführen? Wenn der Indianer-Joe doch betrunken ist.«

»Ei, so versuch's doch!«

Huck schauderte.

»Nee, lieber nicht!«

»Ich auch lieber nicht, Huck. Nur _eine_ Flasche leer neben dem Kerl,
das ist nicht genug. Ja, wenn's drei gewesen wären, dann ließe sich
weiter drüber reden!«

Eine lange Pause des Nachdenkens folgte. Dann sagte Tom:

»Paß mal auf, Huck. Ich mein', wir sollten das Ding gar nicht mehr
probieren, bis wir sicher wissen, daß der Joe nicht drin ist. 's ist zu
gruselig! Wir passen jede Nacht auf, und einmal muß er doch 'raus aus
seinem Loch, dann wollen wir die Kiste schon kriegen, schneller als der
Blitz.«

»Mir recht. Ich will jede Nacht wachen, die ganze Nacht durch, wenn du
nur den Rest besorgen willst.«

»Gut, wollen's so machen. Du brauchst dann nur zu kommen und vor unsrem
Haus zu miauen, und wenn ich schlaf', wirfst du mir 'ne Hand voll Kies
ans Fenster, das wird mich schon wach kriegen!«

»Topp, 's gilt!«

»Jetzt ist's da draußen auch besser geworden, Huck, der Sturm hat
aufgehört und ich muß heim. 's muß schon bald Morgen sein. Du gehst
noch mal hin und wachst, willst du?«

»Ich hab's gesagt, Tom, daß ich's thu', und ich thu's auch! Und wenns
'n Jahr lang dauert, ich spuk' jede Nacht in dem Gäßchen dort herum.
Bei Tag schlaf' ich und bei Nacht wach' ich.«

»Schön. Aber wo wirst du schlafen?«

»Auf Ben Rogers Heuboden. Der hat nichts dagegen und Onkel Jakob, --
weißt du, der alte Nigger, der im Hause ist -- auch nicht. Dem hab' ich
schon oft 's Wasser geschleppt, und er giebt mir manchmal was zu essen,
wenn er selber was hat. 's ist 'n guter Nigger, Tom. Der hat mich gern,
weil ich nie thu', als ob ich was Besseres wär'. Manchmal hab' ich
mich, weiß Gott, schon hingesetzt und mit ihm gegessen. Das brauchst du
aber niemand zu sagen, Tom. Wenn einer so gräßlich hungrig ist, thut er
manches, was er sonst für gewöhnlich nicht thät'!«[6]

    [6] Unsere Geschichte spielt in der Zeit vor Aufhebung der
        Sklaverei.

»Na, also Huck, wenn ich dich bei Tag nicht brauch', laß ich dich
schlafen und stör' dich nicht weiter. Und wenn in der Nacht was los
ist, springst du zu mir 'rüber und miaust.«

[Illustration]



Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Das erste, was Tom am Freitagmorgen hörte, war eine sehr angenehme
Neuigkeit, -- Becky Thatcher war mit den Ihren am Abend vorher
zurückgekehrt. Vor diesem Ereignis mußte der Indianer-Joe zusamt seinem
Schatze in den Hintergrund treten, und Becky, die einzige Becky, nahm
das ganze Interesse des Knaben ein. Er sah sie wieder, und die beiden
verbrachten einen köstlichen Tag in Gesellschaft der Schulkameraden bei
›Blindekuh‹ und ›Verstecken‹. Um das Glück des Tages voll zu machen
hatte Becky von ihrer Mutter die Erlaubnis erwirkt, am folgenden Tage
das längst geplante und immer wieder verschobene Picknick halten
zu dürfen, was ungeheuren Enthusiasmus und Jubel erregte. Becky
insbesondere war außer sich vor Entzücken, und Tom nicht minder. Vor
Sonnenuntergang noch wurden die Einladungen herumgeschickt, und die
sämtliche jugendliche Bevölkerung des Städtchens war in einem Fieber
der Erwartung und der emsigen Vorbereitung. Toms Erregung hielt ihn bis
zu später Stunde wach, wobei er immer auf Hucks Miau-Signal wartete.
Wie herrlich wäre es gewesen, die Gesellschaft folgenden Tages mit dem
aufgefundenen Schatze zu verblüffen! Diese Hoffnung aber trog, -- kein
Signal störte die Ruhe der Nacht.

Endlich tagte der Morgen, und um zehn oder elf Uhr sammelte sich
eine lärmende, wonnetrunkene Gesellschaft vor dem Hause der Familie
Thatcher. Alles war zum Aufbruch bereit. Aeltere Leute pflegten die
Picknicks niemals durch ihre Gegenwart zu stören, die Kinder hielt man
unter den Fittigen einiger junger Damen von achtzehn und einiger junger
Herren von ungefähr vierundzwanzig Jahren für genügend beschützt. Man
hatte für diese Gelegenheit die alte Dampffähre gemietet, und alsbald
setzte sich die heitre, bunte Menge, beladen mit vielversprechenden
Vorratskörben, die Hauptstraße hinunter in Bewegung. Sid war unwohl
und mußte dem Vergnügen entsagen; Mary war ihm zum Trost und zur
Gesellschaft zurückgeblieben. Das letzte, was Frau Thatcher zu Becky
sagte, war:

»Ihr werdet wohl spät zurückkommen, Kind, am Ende thust du besser, für
diese Nacht bei einer deiner Freundinnen zu bleiben, die nahe beim
Landungsplatz der Fähre wohnen.«

»Dann bleib' ich bei Suschen Harper, Mama.«

»Meinetwegen; und hörst du, daß du dich hübsch ordentlich beträgst und
niemand zur Last fällst.«

Als sie dann zusammen die Straße hinunter trabten, sagte Tom zu Becky:

»Du -- paß' mal auf, was wir thun wollen. Anstatt daß wir mit Joe
Harper heimgehen, steigen wir den Berg hinauf und bleiben die Nacht bei
der Witwe Douglas. Die hat gewiß Gefrorenes, -- sie hat immer welches,
ganze Haufen davon, und wird sich schrecklich freuen, wenn wir zu ihr
kommen.«

»O, das wird aber köstlich!«

Danach überlegte sich's Becky aber doch einen Moment und meinte:

»Was wird aber meine Mama dazu sagen?«

»Ei, wie soll denn die's erfahren?«

Wieder sann Becky ein Weilchen nach und sagte dann zögernd:

»Recht ist's ja nicht -- aber --«

»Aber, -- Unsinn! Deine Mutter erfährt's nicht, und was ist denn
weiter Schlimmes dabei! Alles, was sie will, ist, daß du für die Nacht
gut aufgehoben bist, und ich wette, sie hätt' dich ebensogut dorthin
geschickt, wenn sie nur dran gedacht hätte. Das weiß ich ganz gewiß!« --

Frau Douglas, die das größte und schönste Haus des Städtchens besaß
und deren glänzende Gastfreundschaft die Wonne aller bildete, die sie
je genießen durften, bewies sich als allzu verlockender Köder. Dieser
und Toms Beredsamkeit trugen denn auch den Sieg davon und es wurde
beschlossen, gegen niemanden etwas über das Programm für die Nacht
verlauten zu lassen.

Auf einmal fiel es Tom ein, daß Huck am Ende gerade in derselben
Nacht kommen könne, um ihm das verabredete Zeichen zu geben. Dieser
Gedanke trübte seine freudigen Erwartungen um ein Beträchtliches, aber
er konnte sich doch nicht entschließen, den Plan mit Frau Douglas
aufzugeben. Warum sollte er auch? Er dachte bei sich, in der Nacht
zuvor sei ja auch alles ruhig geblieben, warum sollte das Signal gerade
diese Nacht ertönen? Das sichere Vergnügen, das er sich vom Abend
versprach, überwog bei weitem die unsichere Aussicht auf den Schatz,
und recht wie ein Junge beschloß er, der stärkeren Neigung nachzugeben
und sich für den Rest des Tages jeden Gedanken an die Geldkiste aus dem
Kopf zu schlagen.

Drei Meilen unterhalb der Stadt landete die Fähre in einer rings mit
Wald umstandenen Bucht. Die fröhliche Gesellschaft schwärmte aus dem
Boote, und bald tönten die Wälder und felsigen Höhen von Geschrei und
Gelächter wieder. Alle die verschiedenen Methoden, sich heiß und müde
zu machen, wurden der Reihe nach durchgegangen, bis allmählich einer
nach dem andern von den Herumschwärmenden sich im Lager einstellte,
ausgerüstet mit dem nötigen Appetit, und nun die Vertilgung der
mitgebrachten leckeren Sachen beginnen konnte. Nach der Mahlzeit
folgte ein erquickendes Ruhe- und Plauderstündchen im Schatten der
breitästigen Eichen, bis dann jemand rief:

»Wer kommt mit zur Höhle?«

Alle waren sofort bereit, ganze Bündel von Kerzen wurden ausgekramt
und es folgte ein allgemeines Erklettern des Hügels. Hoch oben lag
die Mündung der Höhle, eine schwarze, gähnende Oeffnung, geformt wie
der lateinische Buchstabe ~A~. Die massive, eichene Thür stand weit
offen. Im Innern sah man zunächst eine schmale, kleine Kammer, kalt
wie ein Eiskeller, von der Natur mit festen Kalkmauern umgeben, die
viel Feuchtigkeit ausschwitzten. Etwas romantisch Geheimnisvolles lag
darin, von diesem finstren, kalten Orte aus hineinzuschauen in das
sonnbeglänzte, grüne Land. Der Zauber aber, der die Geister zuerst
gefangen hielt, verlor bald seinen Reiz und das Herumtollen begann
von neuem. Sobald irgend jemand versuchte, eine Kerze anzuzünden,
stürzte sich alles darauf los und es entspann sich ein Kampf gegen den
tapferen Verteidiger. Das Licht wurde ihm schließlich entrissen, zu
Boden geworfen und ausgelöscht, worauf eine neue Hetzjagd mit demselben
Ausgang folgte. Da aber jedes Ding sein Ende hat, so ordnete sich
allmählich der Zug und bewegte sich vorsichtig den steilen Abstieg
des Hauptgangs der Höhle hinunter. Mit düsterem, unruhigem Schein
bestrahlte die flackernde Reihe der Lichter die mächtigen Felswände
zu beiden Seiten, fast bis hinauf zu dem Punkte, wo sie in einer Höhe
von etwa sechzig Fuß zusammenstießen. Dieser Hauptgang war nicht
mehr als acht oder zehn Fuß breit. Alle paar Schritte zweigten andre
hochgewölbte und noch engere Felsspalten nach beiden Seiten ab, denn
die Mc. Douglas-Höhle war eigentlich nur ein ungeheures Labyrinth
gewundener Gänge, die ineinander und wieder auseinander liefen und
nirgends ein Ziel oder Ende hatten. Es hieß, daß man Tage und Nächte
lang durch dies krause, verschlungene Gewirr von Spalten und Klüften
wandern könne, ohne jemals ein Ende der Höhle zu finden; daß man
hinunter und hinunter, tiefer und immer tiefer bis in's Innerste der
Erde steigen könne und doch immer dasselbe finden würde -- Labyrinth
unter Labyrinth in endloser Folge. Keiner kannte die Höhle ganz, das
war ein Ding der Unmöglichkeit. Die meisten der jungen Leute kannten
einen Teil derselben, und für gewöhnlich wagte sich niemand über diesen
allgemein begangenen Teil hinaus. Tom Sawyer kannte von der Höhle nicht
mehr als die andern.

[Illustration]

Der ganze Zug bewegte sich noch immer geschlossen den Haupteingang
entlang, allmählich aber begannen sich Gruppen und Paare zu lösen und
in den Seitengängen zu verschwinden. Hier flogen sie lautlos dahin
durch die unheimlichen Gänge, uneingestandenen Grausens voll, und
überraschten und erschreckten andere an Punkten, wo die einzelnen Gänge
sich kreuzten oder auch zusammenliefen. Halbe Stunden lang konnte man
sich so meiden oder finden, ohne sich jemals aus dem bekannten Teil der
Höhle zu entfernen.

Allmählich fand sich ein Teil der Gesellschaft nach dem andern wieder
an der Mündung der Höhle ein, atemlos, fröhlich, glückselig, vom
Kopf bis zu den Füßen mit Talg betröpfelt, mit Lehm beschmiert, aber
entzückt, berauscht von dem genossenen Vergnügen des Tages. Man war
erstaunt, daß es da draußen mittlerweile schon beinahe Nacht geworden
war. Die Glocke der Fähre mahnte seit beinahe einer halben Stunde
schrill zur Heimkehr. Dieser Schluß der Abenteuer des Tages war aber
ganz nach dem Sinn der jugendlichen Gesellschaft, die gewohnt war,
jeden Freudenkelch bis zur Neige zu schlürfen. Als die Fähre mit ihrer
tollen Fracht in den Strom hinaus stieß, bedauerte nur einer an Bord
die verschwendete Zeit der letzten Stunde, und das war der Kapitän.

Huck war bereits auf seinem allnächtlichen Lauscherposten, als die
Lichter der Fähre am Ufer vorüber glitten. Er hörte kein Geräusch
an Bord, denn die jungen Leute waren zahm und still geworden, so
zahm und still, wie man zu werden pflegt, wenn man sich in Lust und
Uebermut totmüde getobt hat. Huck sann nach, was für ein Boot dies
sein könne, und warum es nicht am gewöhnlichen Halteplatze anlege;
dann wanderten seine Gedanken weiter, um sich voll und ganz auf sein
Vorhaben zu richten. Die Nacht war wolkig und dunkel. Zehn Uhr kam, das
Geräusch der Wagen erstarb, einzelne Lichter begannen zu erlöschen,
der Fußgänger wurden weniger und weniger, das Städtchen bereitete
sich zum nächtlichen Schlummer vor und überließ den kleinen Lauscher
sich selber, dem rings herrschenden Schweigen und den Geistern der
Finsternis. Elf Uhr nahte, auch die Lichter der Herberge erloschen,
Dunkel überall. Huck harrte und lauschte, eine lange, bange Zeit, wie
ihm schien. Nichts erfolgte. Sein Vertrauen begann zu wanken. Hatte
dies geduldige Ausharren wohl irgend einen Wert? Würde es irgend einen
Nutzen haben? Ob er's nicht viel besser ganz sein ließe und sich gar
nicht weiter um die Sache kümmerte?

Da schlug ein Geräusch an sein Ohr. Im Moment war er ganz atemlose
Aufmerksamkeit. Eine Thüre schloß sich leise und sacht. Er sprang an
die Ecke der kleinen Gasse, und fast gleichzeitig huschten zwei dunkle
Gestalten an ihm vorüber, deren eine irgend etwas Gewichtiges unter dem
Arme zu tragen schien. Das mußte die Geldkiste sein! Der Schatz wurde
also fortgeschleppt! Sollte er nach Tom rufen? Das wäre hirnverbrannt
gewesen, denn einstweilen konnten die Kerle mit der Beute Gott weiß
wohin verschwinden -- auf Nimmerwiedersehen. Behüte, er wollte sich an
ihre Sohlen heften und im sicheren Schutz der Dunkelheit ihrer Spur
folgen. Während er so mit sich selber in's reine kam, war er behende
hinter den Männern her geglitten, katzenartig, barfuß, denselben gerade
genügend Vorsprung lassend, um sie noch im Auge behalten zu können.

Eine Strecke weit gingen sie der Flußstraße entlang und bogen dann
zur Linken in ein Seitengäßchen ein. Diese verfolgten sie bis dahin,
wo ein Fußpfad nach dem Cardiff-Berge abzweigte, welchen sie nun
einschlugen, dann ging's an des Wallisers Haus vorbei, höher und immer
höher den Berg hinan. Schön, dachte Huck, die gehen zum Steinbruch und
verscharren dort ihren Schatz. Nein weiter, immer weiter ging's, vorbei
am Steinbruch, ohne Aufenthalt. Nun war die Höhe des Berges erreicht.
Jetzt drangen sie auf schmalem Pfad in das dichte Sumachgehölz ein und
waren auf einmal in der Dunkelheit verschwunden. Huck folgte rasch
nach und verkürzte seinen Abstand, denn hier war eine Entdeckung
ganz unmöglich. So trabte er eine Weile dahin, um dann doch wieder
langsamere Schritte zu machen, aus Furcht, zu rasch vorwärts zu kommen.
Noch ein paar Schritte, dann hielt er an, lauschte, -- kein Ton,
keiner, außer dem Klopfen seines eignen Herzens! Der Schrei einer Eule
klang aus dem Thal empor, -- unheilvoller Laut! Aber kein Fußtritt,
kein noch so leises Knistern der Zweige! Großer Gott, war denn alles
verloren? Eben wollte er sich in beschleunigtem Tempo vorwärts stürzen,
als sich jemand, keine vier Fuß von ihm entfernt, räusperte. Sein Herz
schien ihm in die Kehle zu fahren, doch entschlossen schluckte er's
wieder hinab. Da stand er, zitternd wie Espenlaub, als ob ihn ein
Dutzend kalter Fieber auf einmal gepackt hätte und schüttelte, bis ihm
Hören und Sehen verging und er dachte, zu Boden sinken zu müssen vor
Angst und Schwäche. Er wußte nun, wo er war. In der Entfernung von
wenigen Schritten mußte sich der Zaun befinden, der das Eigentum der
Witwe Douglas umzog. ›Um so besser,‹ überlegte er, ›wenn sie's hier
verscharren, wird's 'ne kleine Mühe sein, es wieder aufzufinden.‹

Jetzt hörte er eine leise Stimme, eine sehr leise Stimme, die er
trotzdem erkannte, es war die des Indianer-Joe.

»Hol' sie der Henker, hat sicher wieder Leute bei sich -- seh' noch
Lichter, so spät's auch ist!«

»Ich seh' gar nichts.«

Es war jenes Fremden Stimme, -- des Fremden aus dem Geisterhause.
Eiseskälte durchzuckte Hucks Herz. Das also war jener geplante
›Racheakt‹. Sein erster Gedanke war Flucht. Dann dachte er daran,
wie gütig die Witwe Douglas, die freundliche, schöne Dame, mehr als
einmal gegen ihn, den armen Strolch, gewesen, und daß diese Schurken
vielleicht im Sinn hätten, sie zu morden. Ach, wenn er nur den Mut
hätte, sie zu warnen; aber das getraute er sich doch nicht, -- konnten
die Kerle doch kommen und ihn abfangen. All dies und mehr noch schoß
ihm durch's Hirn in dem einen Moment, welcher zwischen der Bemerkung
des Fremden und der darauf folgenden Antwort des Indianer-Joe verfloß.

»Na, der Busch steht dir im Weg, da schau mal hier hinaus, -- so --
gelt, jetzt siehst du's?«

»Jawohl, werden wohl Leute dort sein -- geben's besser auf, denk' ich.«

»Aufgeben, eben, wo ich dem verdammten Land für immer den Rücken kehren
will, aufgeben, um vielleicht nie wieder Gelegenheit zur Rache zu
haben? Ich sag' dir's noch mal, wie ich's schon gesagt hab', keinen
Pfifferling frag' ich nach ihrem Geld -- das kannst du haben. Aber ihr
Mann war hart gegen mich, nicht einmal, nein, oft und oft, und vor
allem war er der Hund von einem Richter, der mich wegen Landstreicherei
immer wieder in's Loch steckte. Und das ist noch lang' nicht alles!
Millionenmal nicht alles! _Durchpeitschen_ hat er mich lassen,
durchpeitschen vor dem Gefängnis, wie einen Hund oder einen Nigger! Die
ganze Stadt konnt's sehen! Durchpeitschen -- begreifst du das! Er kam
meiner Rache zuvor und starb, -- sie aber soll's büßen!«

»Du wirst sie doch nicht umbringen wollen? Das wirst du doch nicht
thun, so'n hübsches, stattliches Frauenzimmer, und 'n gutes Herz hat
sie auch für die Armen!«

»Umbringen? Wer denkt daran? Ihn würd' ich abschlachten, wenn er da
wär' -- sie nicht! Ein Frauenzimmer bringt man nicht um, wenn man sich
rächen will -- Unsinn! Der geht's an die geliebte Fratze, man schlitzt
ihr die Nasenflügel und stutzt ihr die Ohren!«

»Herrgott, das ist --«

»Behalt' deine Meinung für dich, bis du gefragt wirst, rat' dir's im
Guten, 's wird wohl das beste für dich sein. Ich bind' sie auf ihr Bett
fest; wenn sie sich hinterher verblutet, ist's meine Schuld nicht. Ich
wein' ihr nicht nach! Du, Kamerad, wirst mir dabei helfen -- mir zulieb
-- deshalb hab' ich dich mitgenommen, denn allein brächt' ich's am Ende
nicht fertig. Probierst du auszukneifen, so hau' ich dich nieder, das
merk' dir! Und wenn ich dir den Rest geben muß, so kriegt sie auch
eins, daß sie das Aufstehen vergißt, und dann soll mir einer dahinter
kommen, wer das Geschäft besorgt hat.«

»Na, wenn's denn sein muß, so muß es eben sein, dann los und dran! Je
schneller, desto besser -- mir läuft's jetzt schon kalt über den Leib!«

»Jetzt dran? -- wo die Leute auf sind? Du, paß mal auf, sonst trau' ich
dir nicht mehr. Nichts da! -- gewartet wird, bis die Lichter aus sind,
's hat ohnehin keine Eile!«

Huck wußte, daß nun ein Schweigen folgen müsse, -- ein Schweigen,
schauerlicher und gefährlicher als die mörderischsten Reden. So hielt
er denn seinen Atem an und trat behutsam und verstohlen einen Schritt
zurück, den Fuß vorsichtig und fest niedersetzend, nachdem er zuvor auf
einem Bein balancierte, sodaß er beinahe das Gleichgewicht verloren
hätte. Noch einen Schritt rückwärts mit derselben Umständlichkeit,
denselben Gefahren, einen und noch einen! Jetzt krachte ein Aestchen
unter seinem Fuße. Der Atem blieb ihm beinahe aus, er lauschte. Kein
Laut -- tiefstes Schweigen! Grenzenlos war seine Dankbarkeit. Jetzt
drehte er sich lautlos und mit der äußersten Vorsicht um und verfolgte
seinen früheren Pfad zwischen den hohen Sumachbüschen zurück. Schnell
und behutsam glitt er dahin. Als er dann am Steinbruch aus dem Gehölz
hervortrat, fühlte er sich geborgen. Nun lieh er seinen Sohlen
Schwingen und flog den Berg hinunter, weiter, immer weiter bergab, bis
er das Haus des alten Wallisers erreichte. Er trommelte an die Thüre
und alsbald erschienen der Alte und seine beiden handfesten Söhne am
Fenster.

»Was zum Teufel ist denn los? Wer drischt dort an der Thüre? He, was
wollt ihr?«

»Schnell, macht auf -- ich sag' euch dann ja alles!«

»Wer ist der Ich?«

»Ei ich, der Huckleberry Finn. Schnell -- um Gottes willen macht auf!«

»Sieh' mal einer, der Huckleberry Finn! Ist 'n Name, dem sich
eigentlich nicht viele Thüren öffnen. Laßt ihn aber nur immer 'rein,
Jungens, wollen mal hören, was er zu sagen hat.«

»Sagt's um Gottes willen keinem Menschen, daß ich's euch gesagt hab',«
waren Hucks erste Worte, als er ins Haus trat, »bitte, bitte, verratet
mich nicht, sie würden mich ja umbringen, so gewiß ich hier steh', --
aber die Witwe da oben ist schon oft und oft gut gegen mich gewesen,
und ich will's sagen, wenn ihr versprecht, nicht zu verraten, daß ich's
gewesen bin!«

»Bei Gott, da muß was passiert sein, oder der Junge stellte sich nicht
so an,« rief der alte Mann, »heraus damit, mein Sohn, und niemand soll
je ein Sterbenswörtchen davon zu hören kriegen.«

       *       *       *       *       *

Drei Minuten später stiegen der Alte und seine Söhne wohlbewaffnet
den Berg hinan und drangen auf den Zehenspitzen vorsichtig in das
Gehölz ein, die Flinten in der Hand. Huck begleitete sie nicht weiter.
Er barg sich hinter einem großen Felsblock und lauschte. Zuerst ein
drückendes, angstvolles Schweigen, das dann urplötzlich durch mehrere
Schüsse und einen gellenden Aufschrei unterbrochen wurde. Näheres zu
erfahren drängte es Huck nicht. Auf sprang er und fort und flog den
Berg hinunter, so schnell ihn seine Füße zu tragen vermochten.

[Illustration]



Siebenundzwanzigstes Kapitel.


[Illustration]

Als am Morgen des folgenden Tages, eines Sonntags, die ersten leisen
Spuren der Dämmerung erschienen, tastete sich Huck durch das Halbdunkel
den Berg hinauf und klopfte mit schüchterner Hand leise an die Thür des
alten Wallisers. Die Hausbewohner schliefen noch, aber ihr Schlaf war
infolge der aufregenden nächtlichen Abenteuer ein äußerst leiser und so
ertönte alsbald eine Stimme vom Fenster:

»Wer ist da?«

Hucks ängstliche Stimme antwortete leise:

»Laßt mich, bitte, ein -- ich bin's nur, Huck Finn!«

»Ist 'n Name, dem sich diese Thür bei Nacht und bei Tag öffnet. Mein
Junge, sei willkommen!«

Das waren seltsam klingende Worte in den Ohren des kleinen Vagabunden,
die angenehmsten, die er je gehört. Er konnte sich nicht erinnern, daß
das Schlußwort des alten Mannes je zuvor in Bezug auf ihn angewandt
worden wäre.

Schnell wurde nun die Thüre geöffnet und er trat ein. Man bot Huck
einen Stuhl und der Alte mit seinen Riesensöhnen kleideten sich in Eile
an.

»Und jetzt, mein Junge, hoff' ich, daß du einen ordentlichen Hunger
mitgebracht hast, denn das Frühstück soll noch vor der Sonne auf dem
Tisch stehen, und zwar ein gehöriges, das laß meine Sorge sein. Haben
immer gedacht, ich und meine Jungens, du zeigtest dich gestern abend
nochmal, hättest die Nacht bei uns bleiben müssen.«

»Ich kriegte solche Angst,« sagte Huck, »daß ich den Berg hinunter
stürzte. Ich fing an zu rennen, als die Schüsse krachten und rannte
drei Meilen so weiter. Jetzt bin ich nur gekommen, weil ich gern was
drüber gehört hätte, und vor Tag komm' ich, weil ich nicht gern den
Teufeln in den Weg laufen möchte, -- selbst wenn sie tot wären.«

»Armer Kerl, man sieht dir's weiß Gott an, was das für 'ne Nacht für
dich war, aber wart' nur, du sollst 'n Bett haben, wenn du gefrühstückt
hast. Nee, tot sind die Halunken leider nicht, mein Junge, und leid
genug thut's uns. Deiner Beschreibung nach wußten wir den Ort ziemlich
genau, an dem sie zu finden waren, wir schleichen also auf den
Zehenspitzen 'ran, bis vielleicht auf fünfzehn Fuß Entfernung, und
dunkel wie 'n Loch war's in den Büschen drin, da, auf einmal merk' ich,
daß mich das Niesen ankommt. Ob das nicht Pech war! Will's natürlich
zurückhalten, aber nee, keine Möglichkeit, 's wollt' kommen und 's kam
auch mit Macht. So pust' ich denn los mit aller Gewalt. Ich war der
Vorderste von uns, mit meiner Pistole in der Hand, und als nun das
Niesen losging, entstand ein Rascheln vor uns im Gebüsch. Ich schrei:
›Feuer, Jungens‹, und wir drei feuern denn auch nach der Richtung hin.
Ja, prost die Mahlzeit! Die Kerle waren flinker als der Wind, wir aber
hinterher wie die wilde Jagd, in die Wälder hinein. Gekriegt aber haben
wir sie nicht. Ehe sie auskniffen, hat jeder von ihnen noch mal seine
blaue Bohne abgeknallt, aber die sausten an uns vorbei und thaten
keinen Schaden. Als sich das Geräusch ihrer Schritte verlor, gaben wir
die Jagd auf und gingen hinunter in's Städtchen, um die Konstabler
zu wecken. Die machten sich denn auch gleich auf und wollten am Ufer
rekognoszieren, und sobald es Tag ist, sollen die Wälder abgesucht
werden. Meine Jungens werden auch dabei sein. Wollt', einer könnt' uns
die Kerle beschreiben, 's wär dann viel leichter für uns. Du wirst wohl
nicht viel von den Schuften gesehen haben, dort oben in der Dunkelheit,
was?«

»Nee, aber unten in der Stadt hab' ich sie schon gesehen und bin ihnen
von dort nachgegangen.«

»Kapital! Na, dann los, mein Junge, wie sehen sie aus? Beschreib' sie
mal so'n bißchen genau!«

»Ei, einer davon ist der taubstumme Spanier, der seit 'n paar Tagen
hier herum streicht, und der andre ist 'n gemein aussehender,
zerlumpter --«

»Schon genug, Junge, kenn' die Kerle! Hab' sie neulich mal da oben
im Wald hinter der Witwe Douglas ihrem Haus gesehen, schoben ab, als
ich in Sicht kam. Nun aber schnell fort mit euch, Jungens, sagt's
fein dem Sheriff, was ihr da vom Huck gehört habt, könnt' morgen früh
frühstücken!«

Beide Söhne machten sich ohne Widerrede alsbald marschfertig. Als sie
eben das Zimmer verlassen wollten, sprang Huck auf und rief flehend:

»O, bitte, bitte, sagt's aber niemand, daß ich die Kerle angegeben,
bitte, bitte!«

»Gut, wenn du's nicht willst, Huck, aber eigentlich solltest du die
Ehre haben von dem, was du gethan hast.«

»O nein, nein. Bitte, verratet mich nicht!«

Als die jungen Leute weg waren, sagte der Alte:

»Sie verraten's nicht und ich thu's auch nicht. Aber sag' mal, warum
willst du denn nicht, daß man's weiß?«

Huck ließ sich auf keine weitere Erklärung ein, sondern sagte nur, er
wisse schon mehr als zuviel von dem einen der Kerle und wolle um keinen
Preis, daß der dahinter komme, sonst sei er, Huck, keinen Moment seines
Lebens sicher.

Noch einmal gelobte der alte Mann Verschwiegenheit und fragte dann:

»Wie kamst du drauf, den Kerlen nachzuschleichen, Junge? Sahen sie dir
verdächtig aus?«

Einen Moment war Huck still und überlegte sich die Antwort, dann sagte
er:

»Ja, seht ihr, ich bin so 'ne Art Landstreicher, wenigstens sagen die
Leute so, und da muß es wohl wahr sein. Na, da simulier' ich denn
manchmal drüber nach in der Nacht und das läßt mich nicht schlafen, und
ich denk' und denk', wie ich wohl anders werden könnt'. So war's wieder
mal gestern nacht. Schlafen konnt' ich nicht und so bummel' ich denn in
den Straßen herum, und als ich da in der Nähe von der Herberge an den
alten Schuppen komm', lehn' ich mich mit dem Rücken dran, um nochmal
besser nachzudenken. Na, da streichen dann plötzlich die zwei Kerls
an mir vorbei, tragen etwas unterm Arm. Halt, denk' ich, die haben
gestohlen. Einer rauchte und der andre wollte Feuer haben, so blieben
sie nicht weit von mir stehen, und die Cigarren warfen einen Strahl auf
die Gesichter und ich sah, daß der eine der taubstumme Spanier ist und
der andre ein ruppiger, zerlumpter --«

»Was, die Lumpen hast du auch gesehen beim Schein der Cigarren?«

Das machte Huck für einen Moment unsicher, dann aber sagte er:

»Nun ich weiß nicht -- aber es kommt mir vor, als ob ich sie gesehen
hätte.« --

»Dann liefen sie also weiter und du --«

»Ich hinterher, ja, so macht' ich's. Wollt' mal sehen, was los sei,
sie schlichen so verdächtig an den Häusern hin. Oben bei der Witwe
Garten standen sie dann still, ich auch, und da hört' ich denn, wie der
eine für die Frau bat und der andre, der Spanier, schwor, er wollte
ihr schon die Fratze verderben, grad' wie ich's euch und euren Söhnen
gestern abend --«

»Was, der Taubstumme hat das gesagt?«

Da! Nun saß Huck von neuem in der Patsche! Er hatte sein Bestes thun
wollen, um den alten Mann abzulenken von der Spur, wer eigentlich der
Taubstumme sei, und trotz aller Mühe und Vorsicht schien seine Zunge
entschlossen, ihn wieder und wieder in Verlegenheit zu bringen. Umsonst
versuchte er, sich aus der Klemme zu ziehen. Des Alten Auge ruhte so
durchdringend auf ihm, daß er Versehen über Versehen machte. Da nahm
der Alte das Wort:

»Mein Junge,« sagte er, »vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten,
mit meinem Willen soll dir keiner was zu leide thun; ich will dir schon
helfen, kannst dich darauf verlassen! Der Spanier ist nicht taubstumm,
soviel hast du nun schon verraten, ohne es zu wollen, das kannst du
nicht mehr zurücknehmen. Du weißt aber noch mehr über den Kerl, was du
nicht sagen willst. Komm mal her, Junge, vertrau mir, sag's, hab' keine
Angst, du kannst mir trauen, ich verrat' dich keinem.«

Huck starrte einen Moment in die ehrlichen Augen des alten Mannes, dann
beugte er sich über den Tisch und flüsterte ihm ins Ohr:

»'s ist ja gar kein Spanier, -- 's ist der Indianer-Joe!«

Der Walliser sprang fast von seinem Stuhl auf vor Erstaunen, dann sagte
er:

»Jetzt ist mir alles klar. Als du gestern abend von Nasenschlitzen und
Ohrenabschneiden sprachst, dacht' ich, 's sei 'ne Erfindung von dir,
ein Weißer rächt sich nicht auf solche Art. Ein Indianer aber! Das
ändert die ganze Sache!«

Während des Frühstücks wurde die Unterhaltung fortgesetzt und im
Verlauf derselben erzählte der alte Mann, er und seine Söhne hätten,
ehe sie zu Bett gingen, eine Laterne angezündet und die Stelle dort
oben am Zaun gründlich nach Blutspuren untersucht. Die hätten sie zwar
nicht gefunden, aber dafür ein dickes Bündel --

»_Ein Bündel?_«

Wenn diese Worte Blitze gewesen wären, sie hätten nicht mit größerer
Plötzlichkeit Hucks erblaßten Lippen entfahren können. Seine Augen
starrten weit geöffnet, sein Atem kam stoßweise, während er mit Zittern
der weiteren Rede des alten Mannes harrte. Dieser stockte, starrte
hinwiederum Huck an, drei, fünf, zehn Sekunden lang und sagte dann:

»Ja, ein Bündel Einbrecherwerkzeuge! Na, nu sag' aber mal, was mit dir
los ist, Junge!«

Huck war in seinen Stuhl zurückgesunken, erleichtert und dankbar
aufatmend. Der Walliser sah ihn lange aufmerksam an, dann bestätigte er
nochmals:

»Ja, Diebswerkzeuge. Dir scheint ein Stein dabei vom Herzen zu fallen.
Was hat dich aber denn so in Aufregung gebracht? Was hätten wir denn
sonst finden sollen?«

Wieder saß Huck in der Klemme! Das forschende Auge ruhte auf ihm, -- er
hätte irgend etwas um eine annehmbare Ausrede gegeben. Nichts wollte
ihm einfallen; der forschende Blick drang tiefer und tiefer, -- eine
sinnlose Antwort stieg in ihm auf und da keine Zeit zum Ueberlegen war,
so stieß er denn schwach hervor:

»Sonntagsschulbücher, -- vielleicht.«

Der arme Huck war zu befangen, um auch nur lächeln zu können, der alte
Mann aber lachte, lachte aus vollem Halse, laut und herzlich, so daß
alles an ihm vom Kopf bis zu den Füßen wackelte, und als er wieder
zu Atem kam, meinte er, solch' ein Lachen sei wie bares Geld in der
Tasche, denn es erspare einem lange Doktorsrechnungen. Dann fügte er
bei:

»Armer, kleiner Kerl, siehst ganz blaß und angegriffen aus, 's scheint
dir gar nicht wohl zu sein. Kein Wunder, daß du ein wenig faselig
geworden und aus dem Gleichgewicht geraten bist. Wird schon wieder
besser werden. Ruhe und Schlaf sollen dich schon auskurieren, denk'
ich.«

Huck ärgerte sich schwer bei dem Gedanken, solch verräterische
Erregung gezeigt zu haben, denn es waren ihm schon damals, als er die
Schurken bei dem Zaun der Witwe belauschte, Zweifel gekommen, ob das
mitgebrachte Paket der Schatz sei. Doch war dies immerhin nur Vermutung
gewesen, die jetzt erst zur Gewißheit wurde. Die Kiste war also noch
an ihrem alten Platz, und nun war's eine Kleinigkeit für Tom, wenn die
beiden Halunken unter tags eingefangen wurden, am Abend nach jener
bewußten Nummer zwei zu gehen und sich des Schatzes zu versichern.
Alles schien herrlich im Zuge!

Gerade als das Frühstück beendet war, klopfte es an die Thüre. Huck
versteckte sich geschwind, denn es lag ihm gar nichts daran, mit dem
letzten Ereignis in Zusammenhang gebracht zu werden. Der Walliser
öffnete und ließ mehrere Herren und Damen herein, unter denen sich auch
die Witwe Douglas befand. Dabei bemerkte er, daß noch andre Einwohner
des Ortes truppweise den Hügel erstiegen, um sich den Schauplatz der
nächtlichen Ereignisse zu besehen. Die Kunde von dem Vorgefallenen
hatte sich also schon verbreitet.

Nun mußte der Alte den Besuchern die Geschichte der Nacht bis in's
kleinste berichten. Die Dankbarkeit der Witwe Douglas für ihre Rettung
machte sich in warmen Worten Luft.

»Verlieren Sie kein Wort weiter, Madam,« wehrte der Alte ab, »'s giebt
einen, dem Sie zu viel größerem Danke verpflichtet sind, als mir und
meinen Jungens, der will aber seinen Namen nicht genannt haben. Ohne
den, sag' ich Ihnen, wären wir niemals dazu gekommen, die Halunken zu
verjagen.«

Dies erregte natürlich die allgemeine Neugierde in so hohem Grade, daß
man darüber beinahe die Hauptsache vergaß. Der Walliser aber ließ sich
durch die brennende Neugierde seiner Zuhörer, die sich durch deren
Vermittlung nach und nach dem ganzen Städtchen mitteilte, nicht irre
machen, sondern behielt sein Geheimnis wohlverwahrt bei sich. Als die
Leute alles übrige in Erfahrung gebracht hatten, sagte die Witwe:

»Gestern abend las ich noch im Bett und schlief ein, so fest, daß ich
von dem ganzen Spektakel gar nichts hörte. Warum haben Sie mich denn
nicht aufgeweckt?«

»Na, das hielten wir für unnötig. Die Kerls kamen schwerlich wieder,
das war so gut wie gewiß. Weshalb also Lärm schlagen und Sie
unnötigerweise zu Tod erschrecken? Außerdem hab' ich meine drei Nigger
für den Rest der Nacht als Wächter um Ihr Haus gestellt, Madam, die
sind eben zurückgekommen.«

Immermehr Leute kamen, und die Geschichte mußte nochmals erzählt und
wieder erzählt werden, und immer so weiter, einige Stunden lang.

Wie gewöhnlich an ereignisvollen Tagen war die Kirche -- es war gerade
Sonntag -- frühzeitig und stark besucht. Das aufregende Ereignis wurde
gehörig besprochen. Man erzählte sich, daß bis jetzt noch nicht die
geringste Spur der Schurken aufgefunden worden sei.

Nach dem Gottesdienst ging Frau Kreisrichter Thatcher auf Frau Harper
zu, als diese mit der Menge den Hauptgang der Kirche hinabschritt, und
fragte:

»Meine Becky will heute wohl den ganzen Tag durch schlafen? Habe mir's
doch gedacht, daß sie todmüde sein würde!«

»Ihre Becky?«

»Nun ja,« bestätigte die Frau Kreisrichter mit erschrockenem Blick.
»Die ist doch diese Nacht bei Ihnen geblieben?«

»Bewahre -- nein.«

[Illustration]

Frau Thatcher wurde blaß und sank in den nächststehenden Stuhl, gerade
als eben Tante Polly, mit einer Freundin sich lebhaft unterhaltend,
daher schritt.

»Guten Morgen Frau Kreisrichter, Morgen Sally Harper, hab' da wieder
mal 'nen Schlingel, der nicht heimgekommen ist. Denk' mir, er wird über
Nacht bei Ihnen geblieben sein, bei der einen oder der andern. Fürchtet
sich drum wohl in die Kirche zu kommen, hat ohnedies noch was bei mir
im Salz liegen -- ha, ha!«

Frau Thatcher, blässer als je, konnte nur leise verneinend den Kopf
bewegen.

»Bei uns ist er nicht,« sagte Frau Harper zögernd, sie fing auch an
ängstlich zu werden. Eine plötzliche Furcht malte sich in Tante Pollys
Antlitz.

»Joe Harper, hast du meinen Tom heute morgen schon gesehen?«

»Nein.«

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

Joe versuchte sich zu besinnen, konnte aber nicht ganz klar darüber
werden.

Man war allmählich auf die bestürzte Gruppe aufmerksam geworden. Die
Leute blieben stehen, ein Flüstern ging durch die Menge, Unruhe und
Sorge zeigte sich in jedem Gesichte. Kinder und junge Leute wurden
ängstlich ausgefragt. Alle stimmten darin überein, daß niemand acht
gegeben hätte, ob Tom und Becky bei der Heimfahrt dabei gewesen. Es sei
dunkel geworden und man habe nicht nachgesehen, ob irgend jemand fehle.
Ein junger Mann platzte endlich mit der Vermutung heraus, sie seien am
Ende noch in der Höhle.

Die Frau Kreisrichter wurde daraufhin ohnmächtig, Tante Polly weinte
und rang die Hände.

Die Schreckenskunde flog von Lippe zu Lippe, von Gruppe zu Gruppe, von
Straße zu Straße, und innerhalb fünf Minuten tönte wildes Glockenläuten
vom Turme und die ganze Stadt war in Bewegung. Die nächtlichen
Ereignisse verloren jegliches Interesse, Räuber und Mörder waren
vergessen, Pferde wurden gesattelt, Boote bemannt, die Fähre flott
gemacht, und ehe die Schreckensmäre eine halbe Stunde alt war, befanden
sich zweihundert Mann zu Wasser und zu Lande auf dem Wege nach der
Höhle.

Den ganzen langen Nachmittag hindurch schien das Städtchen wie
ausgestorben. Viele Frauen besuchten Frau Thatcher und Tante Polly, um
sie zu trösten oder mit ihnen zu weinen, was besser war als alle Worte.

Die ganze lange Nacht hindurch wartete man im Städtchen auf
Nachrichten, und als endlich der Morgen tagte, war nur zu hören:
Schickt mehr Kerzen und schickt Lebensmittel!

Frau Thatcher war fast von Sinnen, Tante Polly desgleichen. Der
Kreisrichter sandte von Zeit zu Zeit ein Wort der Hoffnung und
Ermutigung aus der Höhle, Trost aber brachte das nicht.

Der alte Walliser kam gegen Morgen heim, mit Kerzentalg bespritzt,
mit Lehm beschmiert, zu Tode erschöpft. Er fand Huck noch immer auf
dem Lager, das er ihm angewiesen; dessen Geist erging sich in wilden
Fieberphantasieen. Da die Aerzte mit in der Höhle waren, so wußte er
keinen besseren Rat, als die Witwe Douglas zu holen, die denn auch
sofort kam und sich des Patienten liebreich annahm.

Im Laufe des Vormittags begannen sich allmählich truppweise die
erschöpften Männer im Städtchen wieder einzufinden, während die
Stärkeren draußen blieben, um weiter zu suchen. Alles was man erfahren
konnte war, daß die entlegensten Strecken der Höhle, die bis jetzt
noch kein menschlicher Fuß betreten, abgesucht worden waren, daß jeder
Winkel, jeder Spalt durchforscht werde, daß man überall, wohin der
Fuß sich auch wende, im Gewirr der Gänge, Lichter hin und her huschen
sehe, und daß fortwährend Rufe und Pistolenschüsse in dumpfem Widerhall
gegen die düsteren Felsenwände anschlügen. An einer Stelle, weit von
dem gewöhnlich begangenen Teil der Höhle entfernt, hatte man die Namen
›Becky‹ und ›Tom‹ mit Kerzenrauch auf der Felswand eingeschwärzt
gefunden und dicht dabei ein mit Talg beschmutztes Stückchen Band.
Frau Thatcher erkannte das letztere als ihrem Kinde gehörig und weinte
heiße Thränen darauf. Sie sagte, es sei dies das letzte Zeichen, das
sie jemals von ihrem Kinde erhalten werde, daß kein Andenken ihr so
kostbar und teuer sein könne, als dies kleine Stückchen Band, denn dies
sei das letzte, was sich von dem geliebten, lebendigen Körper gelöst,
ehe der grausame Tod gekommen. Man erzählte, wie einzelne hie und da in
der Höhle ein fernes Lichtfünkchen entdeckten, um mit Jubel und Hallo
und voller Hoffnungsfreudigkeit drauf los zu stürzen, aber stets folgte
bittere Enttäuschung: es waren nicht die vermißten Kinder, sondern nur
das Licht irgend eines andren Mitsuchenden.

Drei schreckliche Tage und Nächte schleppten ihre endlosen Stunden
über das Städtchen hin, und dieses versank in hoffnungslose, starre
Betäubung. Niemand hatte Lust zu irgend etwas. Die eben erfolgte
zufällige Entdeckung, daß der Besitzer der Mäßigkeitsvereins-Herberge
Spirituosen hielt, machte kaum Eindruck, so furchtbar diese Thatsache
auch sein mochte. In einem lichten Moment suchte Huck die Rede auf
Gasthöfe im allgemeinen und diese Mäßigkeitsvereins-Herberge im
besonderen zu lenken, und fragte zuletzt zaghaft, das Schlimmste
befürchtend, ob irgend etwas dort entdeckt worden sei, während er krank
gewesen.

»Ja,« bestätigte die Witwe.

Mit wild starrenden Augen fuhr Huck im Bett in die Höhe:

»Was -- was denn?«

»Branntwein! -- man hat die Herberge geschlossen. Leg' dich doch, Kind,
-- wie hast du mich erschreckt!«

»Sagen Sie mir nur noch eines, -- nur noch eins, bitte, hat's Tom
Sawyer gefunden?«

Die Witwe brach in Thränen aus.

»Still, still, Kind, still. Ich habe dir's doch schon gesagt, du darfst
nicht reden. Du bist sehr, sehr krank.« --

Also nur Branntwein war gefunden worden; hätte man das Gold entdeckt,
wäre ein andres Hallo entstanden. Der Schatz war also verloren, --
verloren für immer. Warum aber weinte die Frau? Sonderbar, was hatte
sie zu weinen?

Dunkel bahnten sich solche Gedanken ihren Weg durch Hucks mattes Gehirn
und machten ihn so müde, daß er drüber in Schlaf sank. Die treue
Pflegerin beobachtete ihn und flüsterte leise:

»Da -- nun schläft er wieder, armer, kleiner Kerl. Ob Tom Sawyer den
Branntwein gefunden hat! Großer Gott, wenn doch nur einer den Tom
Sawyer selber finden wollte! Viele giebt's nicht mehr, die noch Kraft
genug oder auch Hoffnung genug haben, um weiter zu suchen.«

[Illustration]



Achtundzwanzigstes Kapitel.


Kehren wir jetzt zu Toms und Beckys Anteil am Picknick zurück.
Sie wanderten mit der übrigen Gesellschaft durch die düsteren
Gänge, um die bekannten Wunder der Höhle zu besuchen, -- Wunder
mit vielversprechenden, prunkenden Namen, wie der ›große Saal‹,
›die Kathedrale‹, ›Aladdins Palast‹, und so weiter. Dann kam das
Versteckspiel an die Reihe und Tom und Becky beteiligten sich mit
Eifer daran, bis das Vergnügen anfing, etwas ermüdend zu wirken. Dann
schlenderten sie durch die verzweigten Gänge, hielten die Kerzen hoch
und lasen das Gewirr von Namen, Daten, Adressen und Reimen, welche
mit Kerzenrauch gemalt, die Felswände gleich Fresken bedeckten.
Immer weiter schreitend und plaudernd merkten sie kaum, daß sie sich
nun in einem Teil der Höhle befanden, wo die Wände noch unbefleckt
waren. Sie schwärzten ihre eigenen Namen an einer geeigneten Stelle
ein und schritten dann weiter. Nun kamen sie an einen Ort, wo ein
kleines Wässerchen, das von einer Wand niederträufelte und einen
Bodensatz von Kalk mit sich führte, im Laufe endloser Zeiträume einen
ganzen Wasserfall aus Spitzen und Schnörkelwerk in schimmerndem,
unvergänglichem Gestein gebildet hatte. Tom zwängte seinen schmächtigen
Körper dahinter, um den spitzenartigen Ueberhang zu Beckys Vergnügen
zu beleuchten und entdeckte, daß derselbe eine steile, von der
Natur geschaffene Treppe verbarg, die zwischen engen Wänden abwärts
führte. Jetzt kam der Ehrgeiz des Entdeckers über ihn. Becky folgte
seinem Ruf, sie machten sich mit Rauch ein Zeichen an die Wand, um
sich später wieder zurecht zu finden und traten dann wohlgemut die
Entdeckungsreise an. Sie schlugen bald diesen, bald jenen Weg ein und
gelangten nach und nach in die geheimsten Tiefen der Höhle; sie machten
sich dann ein zweites Zeichen und zweigten ab, um nach neuen Wundern
zu suchen, von denen sie der staunenden Oberwelt mit Stolz berichten
könnten. Sie kamen zu einem hallenartigen Raume, von dessen Decke
Massen von riesigen, schimmernden Tropfsteingebilden niederhingen.
Staunend durchwanderten sie die Halle nach allen Seiten und verließen
dieselbe dann, immer kühner werdend, durch einen der zahlreichen, hier
einmündenden Seitengänge. Dieser brachte sie nach kurzer Frist zu
einer entzückenden, kleinen Quelle, deren Becken mit einer wunderbar
glitzernden Kruste phantastisch geformter Kristalle überzogen war.
Dieser Zauberborn befand sich inmitten eines neuen Gewölbes, dessen
Decke durch eine Menge schlank aufstrebender Pfeiler gestützt wurde,
welche durch das allmähliche Zusammenwachsen großer Tropfsteingebilde
im Laufe vieler Jahrhunderte entstanden waren. Unter der Wölbung
hatten sich riesige Klumpen von Fledermäusen zusammengeballt, Tausende
auf einem Knäuel. Das Licht störte die nächtlichen Wesen auf, so daß
sie zu Hunderten hernieder flatterten und mit tollem Gequieke gegen
die Lichter schossen. Mit dem Wesen dieser Tiere vertraut, erkannte
Tom sofort das Gebahren und die Gefahr, die für sie beide darin lag.
Er ergriff Beckys Hand und stürzte mit ihr in den ersten besten
Seitengang, der sich ihnen zeigte; keinen Augenblick zu frühe, denn
eben huschte eine Fledermaus mit ihrem Flügel so dicht an Beckys Kerze
vorüber, daß die kleine Flamme erlosch. Tom gelang es, die seine mit
Erfolg zu hüten, obgleich die aufgescheuchten Tiere die Kinder noch
weit durch die verschiedensten Gänge verfolgten, welche diese in
blinder Hast durcheilten, nur darauf bedacht, der Gefahr möglichst
rasch zu entgehen. Kurz darauf fand Tom einen unterirdischen See,
dessen nächtliche Fluten sich weit in die schwarzen Schatten hinein
verloren. Ihn gelüstete, das Ufer ringsum zu erforschen, doch zuvor
beschlossen die Kinder, sich ein Weilchen zu setzen, auszuruhen und
frische Kräfte zu sammeln. Jetzt, zum erstenmal, legte sich die
schauerlich tiefe Stille der Umgebung wie eine feuchtkalte Hand auf die
mutig und fröhlich pochenden Herzen der Kinder. Becky meinte:

»Ich hab' gar nicht acht gegeben, aber mir kommt's wie eine Ewigkeit
vor, seit wir die andern nicht mehr gehört haben.«

»Denk' doch 'mal 'n bißchen nach, Becky, wir sind ja tief unter ihnen
und weiß Gott wie viel weiter nördlich oder südlich oder östlich oder
was es ist. 's ist ja einfach unmöglich, 'was zu hören.«

Becky wurde ängstlich.

»Möcht' wissen, wie lang wir schon hier unten sind, Tom. Laß uns lieber
umkehren.«

»Ja, 's wird wohl besser sein, denk' ich, s' wird besser sein.«

»Weißt du den Weg, Tom? Mir ist's das reine Wirrsal.«

»Finden könnt' ich ihn am End', aber denk' doch mal, die Fledermäuse!
Wenn die uns beide Lichter ausmachen, kann's 'ne böse Geschichte für
uns werden. Müssen eben probieren, 'nen andern Weg zu finden, der nicht
dort durchführt.«

»Gut, aber hoffentlich verirren wir uns nicht. Das wäre zu gräßlich!«
Und das Kind schauderte bei dem Gedanken an die bloße Möglichkeit.

Sie wandten sich nun durch einen langen Gang zurück und durchschritten
denselben schweigend eine lange, lange Zeit, starrten dabei in jeden
Seitengang, um irgend ein bekanntes Zeichen zu entdecken, aber alles,
alles war neu und fremd. Jedesmal, wenn Tom prüfte und untersuchte,
beobachtete Becky ängstlich sein Gesicht, um eine Spur der Entmutigung
zu finden, und er sagte regelmäßig ganz heiter:

»Oho, ganz recht. Hier ist's noch nicht, wird wohl gleich kommen!«
Aber mit jedem Fehlschlagen fühlte er weniger und weniger Hoffnung im
Herzen und begann allmählich auf's Geratewohl die abzweigenden Gänge
zu durchwandern, sich in der Verzweiflung damit tröstend, er werde
am Ende durch Zufall den richtigen Weg finden. Wohl sagte er immer
noch: ›Schon recht!‹ aber allmählich hatte sich die Angst wie ein
Bleigewicht auf seine Seele gelegt, die Worte hatten den Klang der
Ueberzeugung verloren und lauteten, als ob sie bedeuten sollten: ›Alles
ist verloren‹. Becky drängte sich in lautlosem Entsetzen dicht an seine
Seite und preßte mit Gewalt die Thränen zurück. Endlich sagte sie:

»O, Tom, was liegt an den Fledermäusen, laß uns doch den alten Weg
gehen. Hier scheint's, als ob wir weiter und weiter abkämen.«

Tom blieb stehen.

»Horch!« sagte er.

Tiefes Schweigen, ein Schweigen so tief, daß die Kinder in der
Stille ihre eigenen Atemzüge hören konnten. Tom rief laut hinaus in
das Dunkel. Der Ruf tönte widerhallend die einsamen Gänge entlang
und erstarb in der Ferne in einem schwachen Laute, der fast wie
Hohngelächter klang.

»O, thu's nicht wieder, Tom, thu's nicht wieder. Es ist gräßlich,«
flehte Becky.

»Gräßlich ist's, aber 's ist doch besser, wenn ich's thue, Becky, sie
_könnten_ uns doch am Ende hören,« und er schrie noch einmal.

Dieses ›könnten‹ war beinahe noch gräßlicher, als jenes geisterhafte
Lachen, es lag eine solch' verzweifelte Hoffnungslosigkeit drin!
Wieder lauschten die Kinder mit aller Anstrengung, aber kein Ton
ließ sich hören. Tom wandte sich sofort zurück und beeilte seine
Schritte. Es dauerte nur eine kleine Weile, bis eine gewisse Unruhe und
Unschlüssigkeit in seinem Benehmen Becky die furchtbare Thatsache ahnen
ließ, daß er den Rückweg nicht zu finden vermochte!

»Tom, o Tom, du hast dir ja gar keine Zeichen mehr gemacht!«

»Ja, Becky, ich war ein Narr, ein elender, blinder, dummer Narr! Ich
hab' gar nicht dran gedacht, daß wir wieder zurück müssen! Nein, ich
kann den Weg nicht finden, 's läuft ja hier alles kreuz und quer.«

»Tom, Tom, wir sind verloren! Wir können nie, nie wieder aus dieser
gräßlichen Höhle heraus. O, warum sind wir von den andern fortgegangen!«

Sie sank zu Boden und brach in so krampfhaftes Weinen aus, daß Tom
angst und bange wurde, sie möchte sterben oder den Verstand verlieren.
Er beugte sich zu ihr und schlang seine Arme um sie, sie barg ihr
Gesichtchen an seiner Brust, schmiegte sich fest an ihn und strömte
ihr Entsetzen und ihre Reue in Wehklagen aus, das in dem fernen Echo
wie spöttisches Gelächter verklang. Vergebens flehte Tom sie an, Mut
zu fassen. Nun begann er sich selber Vorwürfe zu machen und sich
anzuklagen, daß er sie in so gräßliche Lage gebracht. Das hatte bessere
Wirkung. Sie wollte mit bestem Willen versuchen, wieder zu hoffen, und
erklärte sich bereit, ihm zu folgen, wohin er sie führe, nur dürfe er
nicht wieder so reden, denn er sei nicht mehr zu tadeln als sie selber.

So schritten sie also wieder dahin, ziellos, planlos, auf gutes Glück.
Das einzige, was sie thun konnten, war vorwärts zu gehen, sich in
Bewegung zu erhalten. Ein kleines Weilchen schien die Hoffnung wieder
aufleben zu wollen; nicht daß ein besonderer Grund dazu vorhanden
gewesen wäre; allein es ist eben einmal die Natur der Hoffnung, sich
leicht wieder zu beleben, wo ihr die Schwungkraft noch nicht durch
Alter und stetes Mißlingen geraubt worden ist.

Bald darauf nahm Tom Beckys Licht und blies es aus. Dieser Akt der
Sparsamkeit war vielsagend. Da bedurfte es keiner Worte. Becky verstand
seine Bedeutung, und die Hoffnung erstarb ihr wieder. Sie wußte, daß
Tom eine ganze Kerze und noch drei oder vier Stümpfchen dazu in seiner
Tasche trug, -- und doch sparte er!

Allmählich machte die Müdigkeit ihre Rechte geltend, allein die Kinder
wollten nicht darauf achten; sie konnten unmöglich an Niedersitzen
und Rast denken, wo die Zeit so kostbar war. Sich vorwärts bewegen
in irgend einer Richtung bedeutete doch einen Fortschritt und konnte
möglicherweise ein Gelingen zur Folge haben; sich niedersetzen hieß den
Tod herbeirufen und sein Kommen beschleunigen.

Zuletzt versagten Beckys zarte Glieder jeden weiteren Dienst, sie mußte
sich setzen. Tom ließ sich neben ihr nieder und sie sprachen von zu
Hause, von ihren Angehörigen, von ihren behaglichen Betten und vor
allem vom lieben, goldnen Tageslicht! Becky weinte leise vor sich hin
und Tom zerbrach sich den Kopf, wie er sie trösten könne; aber jedes
Trostwort war schon längst verbraucht und klang beinahe wie Hohn und
Spott. Bleierne Müdigkeit lastete auf Becky und drückte ihr zuletzt die
Augen zu. Wie froh war Tom. Er saß und starrte in ihr gramverzogenes
Gesichtchen, das nach und nach unter dem Einfluß heiterer Träume hell
und heller wurde, bis sich allmählich ein verklärendes Lächeln darüber
ergoß. Die friedvollen Züge warfen einen Strahl von Frieden und Ruhe in
seine eigene Seele und seine Gedanken wanderten zurück zu vergangenen
Tagen, träumerischer Erinnerung voll. Während er noch tief in
Nachsinnen versunken war, erwachte Becky mit einem kurzen, fröhlichen
Lachen, das ihr jedoch alsbald auf den Lippen erstarb und einem Stöhnen
Platz machte.

»O, wie konnte ich nur schlafen! Wär' ich doch nie, nie mehr
aufgewacht! Aber Tom, was hast du? -- Ich will's ja nie wieder sagen,
nur sieh' mich nicht so an!«

»Ich bin froh, daß du geschlafen hast, Becky, nun bist du wieder munter
und wir finden sicher den Weg hinaus.«

»Wir wollen's versuchen! Ach, ich hab' im Traum so 'n schönes,
herrliches Land gesehen, -- ich glaub', wir kommen dorthin!«

»Noch nicht, Becky, vielleicht noch nicht. Mutig vorwärts, laß uns
weiter suchen!«

Sie erhoben sich und wanderten weiter, Hand in Hand, hoffnungslos. Sie
versuchten zu schätzen, wie lange sie schon in der Höhle herumirrten,
es kam ihnen vor, als seien es Tage und Wochen, aber es konnte
unmöglich sein, denn noch waren ihre Kerzen nicht ausgegangen.

Lange Zeit hernach, wie lange wußten sie nicht, sagte Tom, sie müßten
nun leise gehen und lauschen, ob sie nicht das Rieseln von Wasser
hörten, -- sie müßten eine Quelle finden. Bald darauf fanden sie
wirklich eine, und Tom hielt es an der Zeit, wieder auszuruhen. Beide
waren furchtbar müde, aber Becky meinte trotzdem, sie könne noch ein
wenig weiter gehen. Zu ihrer Ueberraschung war Tom anderer Meinung; sie
konnte nicht verstehen warum. So setzten sie sich denn nieder und Tom
befestigte die Kerze mit etwas Lehm an der gegenüber liegenden Wand.
Gedanken kamen und gingen, gesprochen wurde lange Zeit nichts. Endlich
brach Becky das Schweigen:

»Tom, ich bin so hungrig.«

Tom zog etwas aus seiner Tasche.

»Kennst du das?«

Becky lächelte beinahe. Es war ein Stückchen Kuchen, das er ihr aus
Scherz während des Picknicks abgejagt hatte, worüber sie damals sehr
ungehalten schien. Nun war es zum letzten Hoffnungsanker in der Not
geworden.

»Wollt' es wär' hundertmal so groß,« brummte Tom, »könnten's jetzt
brauchen!«

»O, Tom, wo hätt' ich gedacht, daß dies unser letztes --«

Sie vollendete den Satz jedoch nicht. Tom brach das Stück entzwei und
Becky aß ihr Teil mit gutem Appetit, während er an dem seinen nur so
herum knapperte. Frisches, klares Wasser hatten sie im Ueberfluß, um
ihr Mahl zu vollenden. Nach einiger Zeit schlug Becky vor, weiter zu
gehen. Tom schwieg einen Moment, dann sagte er:

»Becky, kannst du's ertragen, wenn ich dir etwas sage?«

Becky erbleichte, bat ihn aber, tapfer zu reden.

»Nun denn, Becky, wir müssen hier bleiben, wo wir Wasser zum Trinken
haben. Dies kleine Stümpfchen ist unser letzter Rest von Kerze.«

Becky brach in Weinen und Jammern aus. Tom that was er konnte, um sie
zu trösten, aber mit wenig Erfolg. Zuletzt sagte sie:

»Tom!«

»Ja, Becky?«

»Man wird uns doch zu Hause vermissen und sie werden nach uns suchen!«

»Natürlich, natürlich thun sie das!«

»Vielleicht sucht man uns jetzt schon, Tom!«

»Na, vielleicht, -- hoffentlich.«

»Wann können sie uns wohl vermißt haben, Tom?«

»Vermutlich als sie im Boot waren.«

»Da war's vielleicht schon dunkel, -- 's wird wohl keiner bemerkt
haben, daß wir fehlen.«

»Na, aber dann wird dich doch deine Mutter jedenfalls vermissen, wenn
die anderen heimkommen.«

[Illustration]

Ein erschrockener Blick in Beckys Augen belehrte Tom über seinen
Irrtum. Becky hatte ja am Abend gar nicht nach Hause kommen sollen.
Die Kinder wurden still und nachdenklich. Einen Moment später sah Tom
aus einem erneuten Schmerzensausbruch Beckys, daß sie derselbe Gedanke
bewege wie ihn, -- nämlich, daß noch der halbe Sonntagmorgen vergehen
könne, bevor Beckys Mutter erfuhr, daß diese nicht bei Harpers über
Nacht gewesen. Die Kinder hefteten ihre Augen wortlos auf das kleine
Stückchen Kerze und beobachteten angsterfüllt, wie es langsam und
unerbittlich dahinschmolz, sahen den halben Zoll Docht zuletzt noch
allein dastehen, sahen das schwache Flämmchen steigen und fallen,
fallen und steigen, jetzt die dünne Rauchsäule erklettern, einen Moment
auf deren Spitze verweilen und dann -- herrschten die Schrecken
schwärzester Finsternis.

Wie lange danach Becky zu dem dämmernden Bewußtsein kam, daß sie
weinend in Toms Armen lag, hätte keines von beiden zu sagen vermocht.
Sie wußten nur soviel, daß sie nach einer endlosen Zeit aus einer
schlummerartigen Betäubung, zu dem erneuten, niederdrückenden Gefühl
ihres Elends erwachten. Tom meinte, es könne Sonntag, vielleicht schon
Montag sein. Er versuchte, Becky zum Reden zu bewegen, aber der Jammer
lastete zu gewaltig auf ihr, alle Hoffnung war dahin. Tom behauptete,
nun müsse man sie daheim längst vermißt haben und das Nachsuchen
sei jedenfalls schon in vollem Gange. Er wolle schreien, sagte er,
vielleicht höre man ihn doch und folge der Spur. Er versuchte es
denn auch, aber in der tiefen Finsternis klangen die fernen Echos so
schauerlich, daß er es bald entsetzt sein ließ.

Die Stunden schwanden dahin und der Hunger kam, um die armen kleinen
Verlorenen auf's neue zu quälen. Ein Teil von Toms Hälfte des Kuchens
war noch übrig, sie teilten den Rest und aßen. Danach schienen sie
hungriger als zuvor. Dies arme bißchen Nahrung erweckte nur den Wunsch
nach mehr.

Plötzlich rief Tom:

»Scht! Hörst du nicht was?«

Beide hielten den Atem an und lauschten. Ein Laut drang an ihr Ohr,
der wie ein schwacher Ruf aus weitester Ferne klang. Augenblicklich
antwortete Tom, und Becky an der Hand führend tastete er sich den Gang
entlang, der Richtung des Tones nach. Dann lauschte er wieder atemlos.
Wieder erklang der Ruf und diesmal zweifellos ein wenig näher.

»Sie sind's!« jubelte Tom, »sie kommen! Vorwärts, Becky -- nun ist
alles gut!«

Die Freude, das Entzücken der Kinder war beinahe überwältigend. Sie
kamen indes nur langsam voran, denn die Höhle war reich an Spalten
im Boden, und diese mußten sie nun in der Dunkelheit doppelt meiden.
Alsbald standen sie vor einer solchen und konnten nicht weiter. Die
Spalte mochte nur drei Fuß, konnte aber auch hundert tief sein, wer
konnte das wissen? -- jedenfalls war an kein Hinüberkommen zu denken.
Tom legte sich nieder und versuchte so weit als möglich hinunter zu
reichen, -- kein Grund zu fühlen. Sie mußten also bleiben und warten,
bis die Retter erschienen. Sie lauschten -- die fernen Rufe klangen
augenscheinlich ferner und ferner. Einen Moment oder zwei noch, und sie
erstarben gänzlich. O, diese herzbrechende Verzweiflung! Tom schrie,
tobte, brüllte, bis er vollständig heiser war, ohne jeden Erfolg.
Hoffnungsvoll redete er Becky zu, aber eine Ewigkeit ängstlichen
Harrens schwand dahin, kein Ton war zu vernehmen.

Die Kinder tasteten sich nach der Quelle zurück; lange, schwere Stunden
schleppten sich dahin; die Verirrten schliefen ein und erwachten halb
verhungert und voll Herzeleid. Tom meinte, nun müsse es wohl Dienstag
sein.

Jetzt kam ihm ein Gedanke. Ganz in der Nähe befanden sich ein paar
Seitengänge. Es war immerhin noch besser, diese zu untersuchen, als
das lastende Gewicht der Zeit müßig zu tragen. Er nahm eine Leine aus
der Tasche, an der er einstmals seinen Drachen hatte steigen lassen,
befestigte dieselbe an einem Felsvorsprung und schritt dann, indem
er die Leine abwickelte, vorwärts. Becky folgte ihm. Nach ungefähr
zwanzig Schritten fiel der Gang plötzlich steil ab. Tom ließ sich auf
die Kniee nieder, fühlte nach unten und dann so weit um die Ecke, als
er bequem mit den Händen reichen konnte. Eben war er im Begriff, mit
größter Anstrengung noch einmal weiter nach rechts zu tasten, als im
selben Augenblick, keine zwanzig Meter entfernt, hinter einem Felsen
hervor eine menschliche Hand erschien, die ein Licht hielt. Tom stieß
einen laut hallenden Jubelschrei aus und alsbald folgte der Hand auch
der Körper, zu dem sie gehörte, -- der Körper des Indianer-Joe. Tom
war wie gelähmt, er konnte kein Glied rühren. Wie erlöst von einem
Banne atmete er auf, als er sah, daß der ›Spanier‹ augenblicklich sich
umwandte und schleunigst Fersengeld gab. Er konnte es kaum begreifen,
daß Joe seine Stimme nicht erkannte und ihm für seine Aussage vor
Gericht nicht den Garaus machte. Das Echo mußte sicherlich die Stimme
unkenntlich gemacht haben, anders konnte er sich's nicht erklären. Die
Furcht lähmte jede Muskel in Toms Körper. Er nahm sich bestimmt vor,
zur Quelle zurückzukehren, wenn er noch Kraft genug dazu besitze, und
dort zu bleiben; nichts in der Welt könne ihn bewegen, sich noch einmal
der Gefahr auszusetzen, dem Indianer-Joe in die Hände zu laufen. So
kroch er denn zurück und hütete sich wohl, Becky etwas von dem merken
zu lassen, was er gesehen hatte. Den Schrei vorhin -- sagte er ihr --
habe er nur noch einmal auf's Geratewohl ausgestoßen.

Hunger und Elend aber trugen auf die Länge der Zeit den Sieg davon.
Eine erneute, schreckliche Zeit des Harrens und Bangens, ein
nochmaliger langer Schlaf änderten Toms Entschluß. Die Kinder erwachten
von rasendem Hunger gepeinigt. Tom meinte, es müsse nun schon Mittwoch
oder Donnerstag, vielleicht gar Freitag oder Samstag sein und die
Suche nach ihnen sei wohl schon längst aufgegeben. Er schlug vor,
einen andern Gang zu durchforschen. Er war nun entschlossen, es mit
dem Indianer-Joe und allen sonstigen Schrecken aufzunehmen. Becky aber
fühlte sich sehr schwach. Sie war in eine traurige Teilnahmlosigkeit
versunken, aus der nichts sie aufrütteln konnte. Sie für ihr Teil wolle
bleiben wo sie sei, hauchte sie matt, wolle hier sterben, es daure nun
doch nicht mehr lange. Tom solle nur gehen und mit der Drachenleine
weiter suchen: nur bat sie ihn flehentlich, doch ja von Zeit zu
Zeit zurückzukommen und mit ihr zu reden. Sie ließ ihn feierlich
versprechen, daß, wenn die letzte bange Stunde käme, er bei ihr bleiben
und ihre Hand halten wolle, bis alles vorüber sei. Tom küßte sie mit
einem erstickenden Gefühl in der Kehle und that, als sei er fest davon
überzeugt, entweder die Suchenden oder einen Ausweg aus der Höhle zu
finden. Dann nahm er seine Drachenleine zur Hand und kroch auf Händen
und Knieen einen der Gänge hinunter, von Hunger gequält, von den
trübsten Ahnungen des nahenden Schicksals gepeinigt.

[Illustration]



Neunundzwanzigstes Kapitel.


Der Dienstag-Nachmittag kam und schwand, die Dämmerung setzte ein. Das
Städtchen St. Petersburg trauerte noch tief. Die verlorenen Kinder
waren immer noch nicht aufgefunden. In der Kirche war öffentlich für
sie gebetet worden, und wieviele Gebete mochten im stillen Kämmerlein
zum Himmel aufgestiegen sein! aber noch immer kam keine bessere
Kunde aus der Höhle. Die Mehrzahl der Suchenden hatte die weitere
Nachforschung aufgegeben und war zu ihren täglichen Beschäftigungen
zurückgekehrt; sie meinten, die Kinder würden doch niemals wieder
gefunden werden. Frau Thatcher war ernstlich erkrankt und lag meist in
Fieberphantasieen. Die Leute sagten, es sei herzbrechend anzuhören, wie
sie nach ihrem Kinde riefe, den Kopf hebe, um wohl eine Minute lang
zu lauschen, und ihn dann ermattet und seufzend wieder niedersinken
zu lassen. Tante Polly war in tiefste Schwermut verfallen, ihr graues
Haar war beinahe schneeweiß geworden. Am Dienstag abend ging alles im
Städtchen traurig und hoffnungslos zur Ruhe.

Etwa gegen Mitternacht brachen die Glocken in ein wildes Geläute aus
und im nächsten Augenblick waren die Straßen voll von Gruppen halb
angekleideter Gestalten, welche wie wahnsinnig: ›heraus, heraus, sie
kommen, sie kommen!‹ in die Nacht hinein schrieen. Blechpfannen und
Hörner halfen das Getöse noch vermehren. Die Bevölkerung drängte sich
in Massen dem Flusse zu, den wiedergefundenen Kindern entgegen, welche
in einem offenen Wagen daher kamen, der von jubelnden, jauchzenden
Männern gezogen wurde. Im Nu war der Wagen dicht umringt und mit Jubel
und Hurrahruf bewegte sich der Triumphzug die Hauptstraße hinauf.

Alle Häuser waren festlich beleuchtet, niemand fiel es ein, nochmals
zu Bette zu gehen, es war der größte Moment, den das Städtchen je
erlebt hatte. Während der ersten halben Stunde bewegte sich die
Einwohnerschaft in langem Zug durch Richter Thatchers Haus. Die
geretteten Kinder wurden mit Fragen und Küssen überschüttet, der armen
Mutter Hand vor Mitgefühl fast ausgerenkt und dabei das ganze Haus mit
Thränen förmlich überschwemmt.

Tante Pollys Seligkeit war vollkommen, und bei Frau Thatcher fehlte
nicht viel dazu. Ihr Glück konnte jedoch erst vollständig sein, wenn
der Bote, den man alsbald mit der großen Neuigkeit nach der Höhle
gesandt, dem armen, trostlos weiter suchenden Vater die Freudenkunde
überbracht haben würde.

Tom lag auf dem Sofa. Einer atemlos lauschenden Zuhörerschaft, die
um ihn herum stand, erzählte er die Geschichte seiner wunderbaren
Abenteuer, wobei er nicht verfehlte, aus freier Erfindung manch
wirkungsvollen Zug zur weiteren Ausschmückung anzubringen. Zum Schlusse
gab er eine besonders anschauliche Beschreibung davon, wie er Becky
verlassen, um eine erneute Entdeckungsreise anzutreten, wie er mit der
Drachenleine in der Hand durch zwei Gänge gekrochen, wie er eben im
Begriff gewesen, dem dritten, den er der ganzen Länge der Schnur nach
durchmessen, hoffnungslos und verzweifelnd den Rücken zu kehren, als
er plötzlich in weitester Entfernung einen hellen Fleck gewahrte, der
wie Tageslicht aussah. Da habe er die Leine fahren lassen, sei auf den
Knieen dem verheißenden Fleck zugekrochen, habe Kopf und Schultern
durch ein enges Loch gezwängt, habe frische, freie Gottesluft geatmet
und den Mississippi seine breiten Wogen an sich vorüber wälzen sehen.
Wäre es zufällig Nacht gewesen, so daß kein heller Fleck zu sehen war,
dann würde er den Gang nicht weiter untersucht haben! Er erzählte, wie
er dann zu Becky zurückkroch, um ihr die Freudenkunde zu bringen, wie
sie ihn bat, sie mit solchem Unsinn zu verschonen, sie sei müde, wisse,
daß sie sterben müsse und wolle sterben. Er beschrieb, welche Mühe
es ihn gekostet, sie zu überzeugen und wie sie dann beinahe wirklich
gestorben sei vor Glück, als sie sich nun mühsam dahingeschleppt, wo
sie das Fleckchen wirkliches und wahrhaftiges Tageslicht sehen konnte.
Wie er zuerst durch das Loch gekrochen und ihr sodann herausgeholfen,
worauf sie beide sich niedergesetzt und vor Freude und Glück geweint
hätten. Dann, sagte er, seien ein paar Männer in einem Boot den Fluß
daher gekommen, er habe sie angerufen und von seiner und Beckys Lage
und von ihrem halb verhungerten Zustande erzählt. Wie ihm die Leute
zuerst nicht hatten glauben wollen, weil es ihnen wie ein tolles
Märchen geklungen, »denn«, sagten sie, »ihr seid ja fünf Meilen
unterhalb der Bucht, in der die Höhle ist,« sich aber dann doch eines
anderen besonnen und sie an Bord genommen hätten. Dann seien sie nach
einem Hause gerudert, hätten ihnen ein Abendessen gegeben, sie ein paar
Stunden lang ausruhen lassen und sie dann endlich nach Hause gebracht.

Vor Tagesgrauen wurden denn auch der Kreisrichter und die Handvoll
Leute, die ihm noch immer treulich suchen halfen, vermittels des
Leitfadens, den sie hinter sich herlaufen ließen, aufgesucht und ihnen
die freudige Botschaft überbracht. Alles war eitel Glück und Freude!

Drei Tage und drei Nächte der Trübsal und des Hungers lassen sich
jedoch nicht mit einem Male abschütteln, das sollten auch Tom und
Becky erfahren. Mittwoch und Donnerstag mußten sie das Bett hüten
und schienen nur immer elender und müder zu werden. Tom freilich
fing schon am Donnerstag an, ein wenig herum zu kriechen, zeigte sich
Freitag auf der Straße und war Sonnabend fast wieder er selber. Becky
aber konnte vor Sonntag das Zimmer nicht verlassen und dann sah sie
aus, als ob sie eine lange, zehrende Krankheit durchgemacht hätte.

Tom hörte von Hucks Kranksein und ging am Freitag ihn zu besuchen,
wurde aber nicht zu ihm gelassen, ebensowenig an den beiden folgenden
Tagen. Nachher durfte er ihn täglich sehen, mußte aber versprechen,
über sein Abenteuer in der Höhle zu schweigen und auch sonst nichts
Aufregendes zu berühren. Frau Douglas, die treue Pflegerin, war immer
zugegen und paßte auf. Zu Hause hörte Tom von dem nächtlichen Abenteuer
hinter dem Douglasschen Besitztum, auch, daß man den Körper des einen
Halunken im Fluß, nahe an dem Landungsplatze der Dampffähre gefunden
habe; er war sicherlich bei dem Fluchtversuch ertrunken.

Etwa vierzehn Tage nach Toms Befreiung aus der Höhle machte dieser
wieder einmal einen Besuch bei Huck, welcher mittlerweile genügend
zu Kräften gekommen war, um ein aufregendes Gespräch ertragen zu
können. An Stoff dazu fehlte es Tom nicht. Sein Weg führte ihn an des
Kreisrichters Haus vorüber und er trat ein, um nach Becky zu sehen.
Deren Vater und ein paar Freunde fingen ein Gespräch mit ihm an und man
fragte ihn scherzweise, ob es ihn gelüste, noch einmal in die Höhle zu
gehen. Tom meinte, warum nicht -- das würde ihm nichts ausmachen.

Da sagte der Kreisrichter:

»Tollköpfe wie du einer bist, giebt's noch mehr, Tom, daran zweifle ich
keinen Augenblick. Aber wir haben der Sache ein Ende gemacht. In der
Höhle soll von nun an keiner mehr verloren gehen.«

»Wieso?«

»Weil ich die große Eichenthüre mit Eisen habe beschlagen und dreifach
verschließen lassen, und weil ich die Schlüssel dazu selber verwahre.«

Tom wurde weiß wie ein Leintuch.

»Herrgott, was giebt's, Junge? Schnell, bring' mal einer ein Glas
Wasser!«

Das Wasser wurde gebracht und Tom damit bespritzt. »So, mein Junge, ist
dir nun besser? Sag' doch nur mal um Himmels willen, was mit dir los
ist, Tom?«

»Ach, Herr Kreisrichter, in -- _der Höhle war ja der -- der
Indianer-Joe_!«

[Illustration]



Dreißigstes Kapitel.


Innerhalb weniger Minuten hatte sich die Neuigkeit im Städtchen
verbreitet und bald war ein Dutzend Boote voll Menschen unterwegs nach
der Höhle, denen kurz nachher die vollgedrängte Dampffähre folgte. Tom
Sawyer befand sich mit dem Kreisrichter in einem Boote. Als man die
schwere Thüre der Höhle öffnete, bot sich in der düstern Dämmerung
des Ortes ein trauriger Anblick dar. Da lag der Indianer-Joe zur Erde
hingestreckt, tot, mit dem Antlitz dicht am Spalt der Thüre, als ob
seine Augen bis zum letzten Moment sehnsüchtig auf das Licht und die
Lust der schönen Gotteswelt da draußen geheftet gewesen wären. Tom war
tief ergriffen, wußte er doch aus eigener Erfahrung, was der Schurke
hatte leiden müssen. Aber obgleich sein Mitleid rege war, empfand
er doch zugleich ein überquellendes Gefühl der Begeisterung und
Erleichterung, welches ihm nun erst offenbarte, bis zu welchem Grade
Furcht und Angst auf ihm lasteten und ihn bedrückten, seit jenem Tage,
an welchem er vor Gericht seine Stimme gegen den blutgierigen Mörder
erhoben hatte.

[Illustration]

Das Dolchmesser des Indianer-Joe lag dicht bei ihm; die Klinge war
entzwei gebrochen. Der große Grundbalken der Thüre war mit unsäglicher
Mühe von dem Messer bearbeitet und schließlich durchschnitten worden;
aber es war vergebliche Arbeit, denn der Felsen bildete von außen
eine natürliche Schwelle, an der das schwache Messer zerschellen
mußte. Selbst ohne dies steinerne Hindernis würde die Arbeit umsonst
gewesen sein, denn er hätte seinen Körper doch nimmermehr unter der
Thüre durchzwängen können, und das wußte der Indianer-Joe wohl.
Trotzdem hatte er weiter geschnitzt und gebohrt, nur um etwas zu
thun, nur um die gräßlich langsam hinschleichende Zeit hinzubringen,
um seine gemarterten Lebensgeister zu irgend einer Thätigkeit zu
zwingen. Gewöhnlich konnte man eine Anzahl Lichtstümpfchen, welche von
den jeweiligen Besuchern zurückgelassen worden waren, in den Rissen
und Spalten dieser Vorhalle stecken sehen. Heute war nichts davon
zu erblicken. Der Eingesperrte hatte sie wohl alle zusammengesucht
und gegessen. Einiger Fledermäuse mußte er sich zu demselben Zwecke
bemächtigt haben, wie aus den herumliegenden Flügeln ersichtlich
war. Der Unglückliche war buchstäblich Hungers gestorben. Nicht
weit von ihm war im Lauf der Jahrhunderte ein Tropfsteingebilde vom
Boden aufgewachsen, genährt von dem fallenden Tropfen eines oben
niederhängenden Stalaktiten. Der Indianer-Joe hatte den Tropfstein
abgebrochen und auf den Stumpf einen Stein gelegt, in den er eine
kleine Vertiefung gehöhlt, um den kostbaren Tropfen aufzufangen, der
einmal in zwanzig Minuten mit der Regelmäßigkeit eines Uhrpendels
herabfiel -- im ganzen ein Theelöffel voll in vierundzwanzig Stunden.
Jener Tropfen fiel schon, da die Pyramiden neu waren, er fiel, als
Troja sank, als Rom gegründet wurde, als man Christum kreuzigte,
als Wilhelm der Eroberer das britische Reich schuf, als Columbus
segelte, als der Unabhängigkeitskrieg ausbrach. Jener Tropfen fällt
noch jetzt und er wird weiter fallen, wenn alle diese Dinge durch das
Tageslicht der Geschichte in die Dämmerung der Sage, in die tiefe
Nacht der Vergessenheit gesunken sein werden. Ob alles hienieden
seinen Zweck, seine Bestimmung hat? Mußte jener Tropfen so geduldig
fallen, fünftausend Jahre hindurch, um zur betreffenden Stunde für
das Bedürfnis jener vergänglichen, menschlichen Eintagsfliege bereit
zu sein? Wird er in zehntausend Jahren irgend eine andere Mission zu
erfüllen haben? Wer das wissen könnte! Doch, was liegt daran? -- Viele,
viele Jahre sind verflossen, seit jener Unglückliche den Stein höhlte,
um den kostbaren Tropfen aufzufangen, doch bis zum heutigen Tage
betrachtet jeder Besucher der Höhle am längsten diesen Stein und den
niederfallenden Tropfen. Der ›Becher des Indianer-Joe‹ nimmt unter den
Wundern der Höhle die erste Stelle ein; selbst ›Aladdins Palast‹ kann
nicht damit konkurrieren.

Dicht beim Ausgang der Höhle wurde der Indianer-Joe beerdigt. Zu dem
Begräbnis strömten die Leute aus allen Himmelsgegenden, auf sieben
Meilen in die Runde, zu Boot und zu Wagen herbei. Sie hatten ihre
Kinder und allerlei Lebensmittel mitgenommen, und gingen schließlich so
befriedigt von dannen, als ob Joe gehängt worden wäre.

Am darauffolgenden Morgen nahm Tom seinen Freund Huck an einen
heimlichen Ort, um etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen. Huck hatte
inzwischen Toms Abenteuer erfahren, dieser meinte aber, es sei noch
etwas dabei, was er sicher nicht gehört hätte und darüber eben wolle
er reden. Hucks Gesicht nahm eine betrübte Miene an; er sagte: »Weiß
schon, was du willst, Tom! Bist in Nummer Zwei gewesen und hast nur
Schnaps gefunden, gelt? Es hat mir's niemand gesagt, aber wie ich von
der Schnapsgeschichte hörte, wußte ich gleich, daß du es gewesen bist.
Geld hast du keins gefunden, das weiß ich, hättst's mich sonst wissen
lassen. Na, Tom, ich hatte immer so eine Ahnung, daß wir am Ende mit
leeren Händen ausgehen.«

»Aber, Huck, ich hab' kein Wort über den Gastwirt gesagt! In seiner
Schenke war ja noch alles in Ordnung, als ich am Samstag zum Picknick
ging. Weißt du's nicht mehr? Du hast ja die Nacht dort wachen sollen!«

»Weiß Gott, ja. Mir kommt's wie 'ne Ewigkeit vor. 's war in derselben
Nacht, als ich dem Indianer-Joe da hinauf hinter den Gartenzaun der
Frau Douglas nachgeschlichen bin.«

»Du bist ihm nachgeschlichen?«

»Ja, aber du hältst reinen Mund drüber, hörst du? Der Kerl könnte gute
Freunde hinterlassen haben, und die möcht' ich nicht auf mich hetzen.
Wenn ich nicht gewesen wär', wär' der Schuft jetzt in Texas oder Gott
weiß wo.«

Huck teilte nun Tom im Vertrauen sein ganzes Abenteuer mit, von dem
dieser nur ein Bruchstück durch den alten Walliser gehört hatte.

»Na,« schloß dann Huck, zur Hauptfrage zurückkommend, »und wer den
Schnaps in Nummer Zwei ausgehoben hat, der hat auch das Geld, soviel
ist sicher! Wir können uns den Mund wischen!«

»Huck, das Geld war gar nie in Nummer Zwei.«

»_Was?_« Huck starrte Tom in's Gesicht, »Tom, bist du am End' gar dem
Schatz nochmals auf der Spur?«

»Huck, -- er ist in der Höhle!«

Hucks Augen glänzten.

»Sag's noch einmal, Tom.«

»Das Geld ist in der Höhle!«

»Tom, -- Herrgott im Himmel noch einmal, -- ist's Scherz oder Ernst?«

»Ernst, Huck, so ernst, wie nur was sein kann im Leben. Willst du
mitkommen und 's heraus holen?«

»Na und ob! Das heißt -- wenn's wo liegt, wo wir's holen können und den
Weg wieder heraus finden.«

»Dafür steh' ich dir!«

»Woher glaubst du aber, daß das Geld --«

»Wart' nur bis du dort bist. Finden wir es nicht, dann schenk' ich dir
meine Trommel und alles, was ich sonst noch hab', so gewiß wie --«

»Ist 'n Wort. Wann also?«

»Gleich jetzt, wenn du willst. Bist du stark genug?«

»Ist's weit drin in der Höhle? Bin jetzt erst drei Tage wieder ein
wenig auf meinen Spazierhölzern; ich glaub', weiter als 'ne Meile thun
sie's noch nicht, Tom.«

»Auf dem gewöhnlichen Weg sind's freilich ungefähr fünf Meilen, aber
man kann gewaltig abschneiden, auf einem Weg, den ich allein weiß. Ich
bringe dich im Boot an die Stelle und du sollst keinen Finger dabei
rühren.«

»Na, dann gleich los, Tom.«

»Schon recht, wir brauchen aber erst Brot und Fleisch und unsre
Pfeifen, ein paar kleine Säcke und einen Knäuel Schnur, dann 'n paar
von den neumodischen Dingern, die sie Zündhölzer nennen. Ich sag' dir,
ich wäre gottfroh gewesen, wenn ich neulich einige gehabt hätte, als
ich so in der Klemme saß.«

Kurz nach Mittag ›liehen‹ sich die Jungen ein kleines Boot von einem
Manne, der gerade nicht daheim war, und machten sich alsbald auf den
Weg. Als sie ein paar Meilen unterhalb der ›Höhlen-Bucht‹ waren, sagte
Tom:

»Siehst du, Huck, die ganze steile Uferstrecke von der ›Höhlenbucht‹ an
bis hierher, ist überall gleich -- kein Haus, kein Wald, nur Gestrüppe;
aber sieh, dort oben der helle Fleck, wo ein Erdrutsch gewesen sein
muß, das ist mein Merkzeichen. Jetzt landen wir.«

Und sie landeten.

»Wo wir jetzt stehen, Huck, könntest du mit 'ner Angelrute das Loch
berühren, durch das wir herausgekrochen sind. Such' mal, ob du's finden
kannst.«

Huck suchte überall herum, fand aber nichts. Stolz schritt Tom auf ein
dichtes Gesträuch von Sumachbüschen zu und sagte:

»Hier ist's! Sieh' dir's an, Huck, 's ist das nettste Loch im ganzen
Lande. Daß du aber den Mund hältst drüber. Lang schon hab' ich mal 'n
Räuber sein wollen, hab' aber dazu so was gebraucht wie das Loch hier,
nur wollt' sich's eben nicht finden lassen. Jetzt hab' ich's und wir
sind fein still davon, sagen's nur dem Joe Harper und dem Ben Rogers,
denn wir müssen doch 'ne ganze Bande haben, sonst hat das Ding keinen
Schick. Tom Sawyers Bande, 's lautet famos, gelt Huck?«

»Das thut's, Tom, das thut's weiß Gott! Und wer wird beraubt?«

»Na, jeder. Wir lauern eben den Leuten auf, so macht man's.«

»Und töten sie?«

»Nee -- immer nicht! Sperren sie in die Höhle, bis sie sich
ranzionieren.«

»Ranzion -- was? Was heißt denn das?«

»Na, Geld geben! Ihre Freunde müssen alles zusammenkratzen, was sie
können, und wenn die Summe, die man verlangt, nach Jahresfrist nicht
beisammen ist, dann bringt man die Gefangenen um. So wird's gewöhnlich
gemacht. Nur die Weiber läßt man leben. Die sperrt man ein, aber
man tötet sie nicht. Die sind immer schön und reich und entsetzlich
furchtsam. Man nimmt ihnen die Uhren und ihre andern Sachen, zieht
aber immer den Hut vor ihnen und ist höflich. Niemand ist so höflich,
wie die Räuber, das kannst du in jedem Buch lesen. Na die Weiber, die
lieben einen dann, und wenn sie erst mal zwei, drei Wochen in der Höhle
gewesen sind, hören sie auf zu weinen und man kann sie schließlich
nicht wieder los werden. Wenn man sie hinaustreiben wollte, würden sie
flugs Kehrt machen und zurückkommen. So steht's in allen Büchern.«

»Na, das laß ich mir gefallen. 's ist noch besser als Seeräuber sein.«

»In einer Art ist's freilich besser, 's ist nicht so weit von Hause und
näher beim Zirkus und all den Sachen.«

Jetzt war alles bereit und die Jungen schlüpften in das Loch, Tom
voran. Sie krochen mühsam bis zum andern Ende des kleinen Stollens,
befestigten dann ihre Leine und drangen weiter vor. Wenige Schritte
brachten sie zu der Quelle, und Tom fühlte sich von einem kalten
Schauder überrieselt. Er zeigte Huck das übriggebliebene Dochtrestchen,
das mit einem Klümpchen Lehm an der Felswand befestigt war, und
beschrieb, wie er und Becky verzweifelnd dem letzten Aufflackern und
Erlöschen der Flamme zugesehen.

Die Jungen sprachen jetzt nur noch im Flüsterton, denn die Stille und
Trostlosigkeit des Orts bedrückte ihre Stimmung. Sie schritten weiter
und kamen an jenen andern Gang, der an dem vermeintlichen ›Abgrund‹
endete. Beim Kerzenschein stellte sich indessen heraus, daß hier kein
unergründlicher Abgrund, sondern nur eine steile Lehmwand von zwanzig
bis dreißig Fuß Tiefe war. Tom flüsterte:

»Jetzt will ich dir was zeigen, Huck.«

Er hob die Kerze hoch und sagte:

»Sieh' mal so weit um jene Ecke als du kannst. Siehst du was? Dort, an
dem großen Felsblock drüben, -- mit Kerzenrauch geschwärzt?«

»Tom, 's ist ein _Kreuz_!«

»Nun, und wo ist die Nummer Zwei? _Unter dem Kreuz_, he? Grad' dort
hab' ich den Indianer-Joe gesehen, wie er seine Kerze in die Höhe hob,
Huck!«

Huck starrte eine Weile auf das geheimnisvolle Zeichen und hauchte dann
mit zitternder Stimme:

»Tom, laß uns machen, daß wir fort kommen!«

»Was, und den Schatz im Stich lassen?«

»Ja, lieber. Dem Indianer-Joe sein Geist treibt sich gewiß hier herum.«

»Bewahre, Huck, hier nicht! Der spukt an der Stelle, wo der Kerl
gestorben ist, am Ausgang drüben -- fünf Meilen von hier!«

»Nee, Tom, das glaub' ich nicht. Der spukt bei seinem Geld herum. Ich
weiß, wie's Geister machen, und du weißt's auch!«

Tom begann zu überlegen, daß Huck am Ende recht haben könne. Böse
Ahnungen stiegen in ihm auf. Plötzlich kam ihm ein erlösender Gedanke.

»Denk' doch nach, Huck, wir sind alle beide Narren! Wie kann denn ein
Geist da herumspuken, wo ein Kreuz ist!«

Das war ins Schwarze getroffen.

»Tom, daran hab' ich gar nicht gedacht. Aber so ist's. Das Kreuz ist
'n Glück für uns. Wir wollen mal da hinab klettern und nach der Kiste
schauen.«

Tom ging voraus, indem er während des Hinabsteigens rohe Stufen in
die Lehmwand schnitt. Huck folgte. Vier Gänge führten aus der kleinen
Höhle, in welcher der Felsblock stand. Drei davon untersuchten die
Jungen ohne jeden Erfolg. Sie fanden einen kleinen Schlupfwinkel, in
dem ein Bündel wollener Decken lag, dazu ein alter Hosenträger, ein
Stück Schinkenschwarte und die rein abgenagten Knochen von zwei oder
drei Hühnern. Die Goldkiste aber war nirgends zu erblicken. Die Jungen
durchsuchten alles und durchsuchten 's noch einmal, umsonst! -- Tom
sagte:

»Es hieß _unter_ dem Kreuz. Hier stehen wir am nächsten darunter. 's
kann doch nicht unter dem Felsen selber sein, der sitzt fest auf dem
Grunde auf, was nun?«

Wieder suchten sie überall herum und setzten sich dann entmutigt
nieder. Huck wußte nichts weiter vorzuschlagen. Nach einer Weile sagte
Tom:

»Sieh' mal her, Huck, da sind Fußspuren und Talgtropfen im Lehm auf
dieser Seite des Felsens und zwar nur hier. Das hat was zu bedeuten, am
Ende liegt das Geld doch _unter_ dem Felsen. Ich grab' mal hier im Lehm
nach.«

»'s ist kein dummer Gedanke, Tom,« erwiderte Huck lebhaft.

Toms Messer war im Augenblick zur Hand und er hatte kaum vier Zoll tief
gegraben, als er auf Holz stieß.

»Na, Huck! Hörst du das?«

Huck begann jetzt ebenfalls zu wühlen und zu kratzen. Bald waren ein
paar Bretter bloßgelegt und weggenommen. Diese hatten eine natürliche
Spalte verborgen, die unter den Felsen führte. Tom kroch hinein und
hielt seine Kerze so weit hinunter, als er konnte, vermochte aber
das Ende des Spaltes nicht zu sehen. Er schlug daher vor, weiter zu
forschen, bückte sich und kroch vorwärts; der schmale Spalt führte
allmählich nach unten. Tom folgte dem sich windenden Lauf erst nach
rechts und dann nach links, Huck auf seinen Fersen. Als Tom wieder um
eine scharfe Wendung bog, rief er plötzlich:

»Herr, du meine Güte, Huck sieh hier!«

Es war die Goldkiste, die da stand, gewiß und wahrhaftig, in einer
schmucken, kleinen Höhle, zusamt einem leeren Pulverbeutel, ein paar
Gewehren in Lederhülsen und einem alten Gürtel, alles durchnäßt von
niedersickernden Wassertropfen.

»Gefunden, endlich gefunden!« jubelte Huck, indem er mit den Händen in
den funkelnden Münzen wühlte. »Jetzt sind wir aber reich, Tom!«

»Ich hab' sicher drauf gezählt, Huck, und doch ist's fast zu schön, um
wahr zu sein. Aber haben thun wir den Schatz, soviel ist sicher. Laß
uns weiter keine Zeit verlieren jetzt, sondern die Geschichte flink in
Sicherheit bringen. Zeig' mal her, ob ich die Kiste heben kann.«

Diese wog vielleicht fünfzig Pfund. Tom konnte sie nur mit Mühe heben,
an ein Fortschaffen war nicht zu denken.

»Dacht' mir's wohl,« sagte er, »damals im Gespensterhaus trugen die
Kerle ziemlich schwer dran, -- hab's gleich bemerkt. Gut, daß ich die
kleinen Säcke mitgenommen habe.«

Das Geld war bald in die Säckchen verteilt und die Jungen trugen es
hinauf nach dem Felsblock mit dem Kreuze.

»Jetzt wollen wir die Gewehre und das andre Zeug noch holen,« schlug
Huck vor.

[Illustration]

»Bewahre, die lassen wir schön dort. Das können wir alles wundervoll
brauchen, wenn wir erst Räuber sind. In der Höhle feiern wir dann unsre
Orgien, 's ist dort grad' wie gemacht für Orgien!«

»Was ist denn das -- Orgien?«

»Was weiß ich? Aber Räuber halten immer Orgien und das müssen wir
natürlich auch thun. Vorwärts, Huck, wir müssen schnell machen, sind
schon zu lange hier gewesen. 's wird wohl schon spät sein, hungrig bin
ich auch; aber wir wollen doch erst essen und rauchen, wenn wir im
Boot sind.«

Kurz danach traten sie aus den Sumachbüschen hervor, schauten
vorsichtig nach allen Seiten aus, sahen, daß die Luft rein war und
saßen bald kauend und rauchend im Boote. Als eben die Sonne im
Begriff stand unterzugehen, stießen sie ab. Tom ruderte in der stetig
zunehmenden Dämmerung längs des Ufers hin, und lustig plaudernd
landeten sie kurz nach Einbruch der Nacht.

»Jetzt, Huck,« rief Tom, »verstecken wir das Geld im Holzschuppen der
Witwe Douglas, und morgen früh komm' ich dann und wir zählen und teilen
den Kram und suchen dann im Wald nach einem Platz, wo wir ihn sicher
vergraben können. Du bleibst jetzt hier ruhig liegen und bewachst die
Herrlichkeit, ich hol' indessen geschwind Meister Taylors Handkarren.
Bin gleich wieder da!«

Er verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Karren zurück, in
welchen er die beiden Geldsäcke legte, ein paar alte Lumpen drauf warf
und sich dann mit seiner Last auf den Weg machte. Am Haus des alten
Wallisers blieben die Jungen stehen, um einmal auszuruhen. Als sie eben
weiter wollten, trat der Alte heraus und rief:

»Holla, wer ist da?«

»Huck und Tom Sawyer.«

»Schön, und nun schnell vorwärts, Jungens, alles wartet auf euch. Na,
los, flink, lauft zu, ich will den Karren schon ziehen, her damit.
Meiner Treu, der ist nicht so leicht, als er sein könnte. Backsteine
drauf oder altes Eisen?«

»Altes Metall,« sagte Tom lakonisch.

»Dacht' mir's doch, dacht' mir's doch. Die hiesigen Jungens machen
sich viel Arbeit und vertrödeln viel Zeit, um so altes Eisenzeug
aufzutreiben, für das sie doch nur ein paar Pfennige bekommen in
der Gießerei, viel mehr Zeit und Mühe, als sie brauchen würden, um
ebensoviel mit ehrlicher Arbeit zu verdienen. Na, liegt mal so in der
menschlichen Natur, läßt sich nicht ändern. Na nur flink, vorwärts,
vorwärts!«

Die Jungen wollten wissen, weshalb solche Eile nötig sei.

»Fragt jetzt nicht lang, -- nur zu, werdet's schon sehen, wenn wir zur
Witwe kommen.«

Huck fühlte böse Ahnungen in sich aufsteigen. Er war gewohnt, daß man
ihn fälschlicherweise dummer Streiche bezichtigte.

»Herr Jones, ganz gewiß, wir haben nichts gethan,« beteuerte er zaghaft.

Der Alte lachte herzlich.

»Wer weiß, Huck, mein Junge, wer weiß? Bist du denn nicht gut Freund
mit der Witwe?«

»O ja, jedenfalls ist sie freundlich mit mir gewesen!«

»Na -- also! Weshalb hast du dann Angst?«

Huck war sich über die Frage noch nicht ganz klar geworden, als er sich
schon mit Tom in den Salon der Frau Douglas hineingeschoben fühlte.
Jones ließ den Karren an der Thüre stehen und folgte ihnen.

Das Haus war strahlend hell erleuchtet, und jeder, der im Städtchen
irgend etwas zu bedeuten hatte, war zugegen. Thatchers waren da und
Harpers, Rogers, Tante Polly, Sid, Mary, der Pfarrer, der Redakteur und
noch viele andere, und alle in festlichem Gewande. Frau Douglas empfing
die Jungen so herzlich, wie man zwei _so_ aussehende Menschenkinder
empfangen konnte. Sie waren mit Lehm und Talgtropfen förmlich
überzogen. Tante Polly wurde feuerrot vor Verlegenheit, legte die Stirn
in drohende Falten und schüttelte vorwurfsvoll und mißbilligend ihr
graues Haupt gegen Tom. Niemand aber konnte verlegener, beschämter
sein, als die Jungen selber. Herr Jones sagte:

»Tom war noch nicht zu Hause; ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben,
ihn herbei zu bringen, aber just vor meiner Hausthüre stolpere ich dann
über die beiden, und da hab' ich sie eben mitgebracht, wie sie gingen
und standen.«

»Und das war sehr recht,« bekräftigte die Witwe. »Kommt mit mir,
Jungens!«

Sie nahm sie mit sich in ein Schlafzimmer und sagte:

»Jetzt wascht euch und zieht euch an. Hier sind zwei neue Anzüge,
Hemden, Socken, alles vollständig. Die gehören dir, Huck, -- nein,
keinen Dank weiter, -- Herr Jones hat den einen gekauft und ich den
andern. Leihst Tom den einen heut' abend, werden ja wohl beiden passen.
Flink also hinein. Wir warten so lange. Kommt schnell herunter, wenn
ihr euch genug gestriegelt habt.«

Und sie ging.

[Illustration]



Einunddreißigstes Kapitel.


Kaum war sie weg, so stürzte Huck zum Fenster, riß es auf und flüsterte
drängend:

»Tom, wir können zum Fenster hinaus, wenn wir einen Strick finden, es
geht nicht hoch hinunter.«

»Dummes Zeug! Weshalb sollten wir zum Fenster hinaus?«

»Ich -- ich kann so 'nen Haufen Menschen nicht vertragen, bin nicht
dran gewöhnt. Ich geh' nicht wieder hinunter, Tom.«

»Dummheit! Ist auch 'was Rechtes. Mir ist's ganz einerlei. Wart', ich
geb' acht auf dich und helf' dir!«

Sid erschien.

»Tom«, sagte er, »die Tante hat den ganzen Nachmittag auf dich
gewartet. Mary hat deine Sonntagskleider zurecht gelegt und jeder hat
sich deinethalben abgeängstigt. Sag' mal, ist das nicht Lehm und Talg
auf deinen Kleidern?«

»Na, junger Mann, ich rat' dir, kümmre dich nur um deine Sachen.
Weshalb ist denn der ganze Lärm?«

»Ei, 's ist 'ne Gesellschaft, wie sie die Witwe oft hat, und diesmal zu
Ehren vom alten Jones und seinen Söhnen, weil sie ihr neulich nachts so
aus der Patsche geholfen haben. Na und hör' mal, ich weiß noch 'was,
wenn du's wissen willst.«

»Na und was?«

»Ei, der alte Jones will die Gesellschaft noch mit etwas überraschen,
hab's gehört, wie er's heut' mittag der Tante erzählte, als 'n
Geheimnis natürlich, ist aber kein großes Geheimnis mehr. Jeder weiß
es, -- die Witwe auch, obgleich die sich stellt, als wisse sie nichts.
Herrgott, hat sich der alte Jones abgesorgt, ob auch der Huck gewiß da
sei, heut' abend, -- ohne den wär' ja sein großes Geheimnis keine Bohne
wert gewesen, weißt du!«

»Geheimnis -- wieso, Sid?«

»Ei einfach, daß Huck damals hinter den Kerlen hergeschlichen ist bis
zum Zaun hier, weiter gar nichts. Der Alte wollt' 'nen großen Hopphei
draus machen heut' abend, 's wird aber wohl 'en bißchen schwach
ausfallen.«

Und Sid lachte hämisch und selbstzufrieden in sich hinein.

»Sid, hast du's verraten?«

»Was liegt dran, wer's verraten hat? -- einer hat's gethan, soviel ist
sicher.«

»Sid, ich weiß nur einen solchen Kerl im Städtchen, der elend genug
ist, so was zu thun, und der bist du! Wenn du Huck gewesen wärst, du
hättst dich heim in's warme Nest geschlichen und die Räuber Räuber
sein lassen. Du kannst immer nur was Gemeines thun, und kannst's nicht
hören, wenn andre gelobt werden, weil sie was Schönes und was Gutes
gethan haben. So, da hast du was -- ›keinen Dank‹, wie Frau Douglas
unten sagt.«

Dabei schlug Tom Sid eins hinter die Ohren und beförderte ihn mit
einigen Fußtritten zur Thüre hinaus. »Lauf' doch hin und sag's der
Tante, wenn du's Herz dazu hast, will dir's dann morgen gedenken.«

Einige Minuten später waren die Gäste um den Eßtisch der Witwe
versammelt. Zur gegebenen Zeit hielt dann Herr Jones seine Rede, in
welcher er der gütigen Wirtin dankte für die Ehre, die sie ihm und
seinen Söhnen erwiesen, daß aber ein andrer, der auch anwesend sei,
weit mehr Dank --

Und so weiter und so fort. Nun brachte er das große Geheimnis über
Hucks Anteil an der Sache ans Licht und that's in der dramatischesten
Weise, die ihm zu Gebote stand. Die Ueberraschung aber, die das
Mitgeteilte hervorrief, war etwas künstlicher Natur und lange nicht
so lebhaft und herzlich, wie sie unter glücklicheren Umständen hätte
sein können. Die Witwe selber freilich verstand es sehr gut, das
größte Erstaunen zur Schau zu tragen, und überhäufte Huck mit einem
solchen Uebermaß von Dank und Lobsprüchen, daß dieser das _nahezu_
unerträgliche Mißbehagen, welches ihm die neuen Kleider bereiteten,
über dem _völlig_ unerträglichen Mißbehagen, die Zielscheibe von
jedermanns Blicken und jedermanns Beifallsbezeugungen zu sein, ganz
vergaß.

Witwe Douglas erbot sich, Huck ein Heim in ihrem Hause zu bieten, ihn
erziehen zu lassen und ihn später, soviel in ihren Kräften stehe, zu
unterstützen. Jetzt blühte Toms Weizen, und er löste seine Zunge:

»Huck braucht das gar nicht, Huck ist reich genug!«

Nur der Zwang, den die gute Lebensart der Gesellschaft auferlegte,
war im stande, einen Ausbruch des Gelächters über diesen vermeintlich
guten Witz zurückzuhalten; das herrschende Schweigen war aber etwas
unbehaglich. Tom brach es alsbald.

»Huck ist reich, sag' ich, er hat Geld. Ihr glaubt's vielleicht nicht,
aber er hat Haufen von Geld. Braucht gar nicht zu lachen, werd's euch
gleich beweisen. Wartet nur 'ne Minute!«

Er rannte zur Thür hinaus. Die Anwesenden blickten zuerst einander voll
ungläubigen Staunens an und dann fragend auf Huck, der wortlos dasaß.

»Sid, was hat wohl der Tom?« fragte Tante Polly ängstlich -- »er -- na
da werd' mal einer klug aus dem Bengel. Ich --«

Da trat Tom wieder ein, gebeugt unter der Last seiner Geldsäcke, und
Tante Polly mußte den Satz unbeendet lassen. Tom leerte den Haufen
blinkenden Goldes auf den Tisch und rief triumphierend:

»Da -- was hab' ich euch gesagt? Die Hälfte davon gehört Huck und die
andere Hälfte mir!«

[Illustration]

Der Anblick des Geldes benahm allen den Atem. Alles starrte auf die
glänzenden Goldstücke und niemand fand Worte im ersten Augenblick.
Dann erhob sich ein allgemeiner Ruf nach Aufklärung. Tom sagte, die
könne er geben, und er that's. Die Geschichte war lang, aber unsagbar
interessant, nur ab und zu kärglich eingestreute Bemerkungen der
atemlos lauschenden Zuhörer unterbrachen den fesselnden Reiz derselben.
Als Tom zu Ende war, meinte der alte Jones:

»Hab' _ich_ da vorhin der Gesellschaft 'ne kleine Ueberraschung
bereiten wollen, -- 's ist aber rein nichts gegen das da. Tom, der
Teufelskerl, hat mich schön übertrumpft, das muß ich sagen! Geb's aber
gern zu, weiß Gott, geb's gern zu!«

Das Geld wurde nun gezählt. Die Summe belief sich auf etwas über
zwölftausend Dollars. Es war mehr, als irgend einer der Anwesenden
jemals beisammen gesehen, obgleich sich einige darunter befanden, die
weit mehr als das an Grundbesitz ihr eigen nannten.

[Illustration]



Zweiunddreißigstes Kapitel.


Wie man sich denken kann, machte dieser Fund der beiden Knaben in dem
armen, kleinen Städtchen St. Petersburg das ungeheuerste Aufsehen.
Solch' eine Riesensumme in barer Münze erschien den guten Leuten
beinahe unglaublich. Man redete von nichts anderem, schielte gierig
nach dem Schatze, pries die Finder glücklich, und die Vernunft manchen
Bürgers drohte bei der ungesunden Erregung ins Wanken zu geraten. Jedes
Haus, in dem es nur irgend spuken sollte, im Städtchen wie in der
Umgegend, wurde sozusagen anatomisch zerlegt: Stein für Stein, Balken
für Balken, die Grundmauern unterwühlt und nach verborgenen Schätzen
durchforscht, und zwar nicht von Knaben, sondern von Männern, ernsten,
verständigen, im gewöhnlichen Leben blutwenig romantisch angelegten
Männern. Wo sich Tom und Huck nur blicken ließen, wurden sie gefeiert,
bewundert und begafft. Die Jungen konnten sich nicht erinnern, daß
ihre Worte je zuvor solches Gewicht besaßen, jetzt wurde der kleinste
Ausspruch ihrerseits wie ein Ausfluß höchster Weisheit bewahrt und
ehrfurchtsvoll wiederholt. Alles, was sie thaten, was sie redeten,
erschien bemerkens- und bewundernswert, sie hatten augenscheinlich
die Fähigkeit verloren, irgend etwas Alltägliches, Unbedeutendes zu
sagen oder zu thun. Außerdem wurde ihre Vergangenheit durchforscht und
man fand darin die unleugbaren Spuren hervorragendster Begabung. Die
Zeitung des Städtchens brachte biographische Notizen über die beiden.

Die Witwe Douglas legte das Geld zu sechs Prozent an und der Herr
Kreisrichter that auf Tante Pollys Bitte dasselbe mit Toms Anteil.
Jeder der Jungen hatte nun ein geradezu ungeheures Einkommen -- einen
Dollar für jeden Tag des Jahres! Das war ja gerade soviel, wie der
Pastor bekam, das heißt, wie er bekommen sollte, denn meistens kam
nicht so viel zusammen. Ein und ein viertel Dollar die Woche war
genügend für Kost, Wohnung und Schulgeld eines Jungen in jener alten,
einfachen, anspruchslosen Zeit, und man konnte ihn dafür noch kleiden
und waschen obendrein.

Der Herr Kreisrichter hatte eine sehr hohe Meinung von Tom gefaßt. Er
sagte, ein gewöhnlicher Junge würde nie imstande gewesen sein, seine
Tochter aus der Höhle zu befreien. Als Becky ihrem Vater einmal im
strengsten Vertrauen mitteilte, wie Tom ihre Prügel in der Schule
damals auf sich genommen, war dieser sichtlich gerührt. Und als sie die
Lüge zu entschuldigen suchte, vermittelst welcher es dem edlen Freunde
gelungen war, die Züchtigung auf seine Schultern zu wälzen, meinte
der Vater enthusiastisch, das sei eine edle, eine großmütige, eine
hochherzige Lüge gewesen, eine Lüge, die wert sei, in der Geschichte
dicht neben Washingtons vielgerühmter Wahrheitsliebe zu glänzen. Becky
kam es vor, als habe sie ihren Vater noch nie so hoch aufgerichtet und
so stolz gesehen, wie bei diesen Worten. Sie lief davon und berichtete
Tom haarklein was vorgefallen.

Herr Thatcher hoffte, Tom einmal als berühmten Rechtsgelehrten oder
auch als großen Kriegsmann zu sehen. Er wolle Sorge tragen, sagte er,
daß Tom Einlaß fände in die große National-Militär-Akademie und danach
in der besten Juristen-Schule des Landes ausgebildet werde, so daß er
vollständig befähigt sei für die eine oder die andere Laufbahn, oder
auch für beide.

Huck Finn sah sich durch diesen Reichtum und die Thatsache, daß er
unter dem Schutze der hochangesehenen Witwe Douglas stand, plötzlich
in die gute Gesellschaft eingeführt, nein -- hineingeschleppt oder
vielmehr geschleudert -- seine Leiden steigerten sich dadurch fast
ins Unerträgliche. Die Dienstboten der Witwe hielten ihn sauber und
rein, wuschen, kämmten, bürsteten ihn alltäglich und betteten ihn
allnächtlich mitleidslos zwischen reine Tücher, die nicht einen
einzigen, kleinen Flecken oder Makel hatten, den er hätte an sein Herz
drücken und als alten, teuren Bekannten begrüßen können. Er mußte mit
Messer und Gabel essen, mußte Serviette, Tasse und Teller benutzen,
mußte seine Aufgabe lernen, zur Kirche gehen, dabei so gewählt und
anständig reden, daß ihm die Sprache ordentlich saft- und kraftlos in
seinem Munde vorkam; kurz, wohin er sich wandte, engten ihn überall die
Schranken und Fesseln der Zivilisation von allen Seiten ein und banden
ihm Hände und Füße.

Drei Wochen hindurch trug er sein Elend wie ein tapfrer Held, dann
war er plötzlich verschwunden. Achtundvierzig Stunden lang ließ
die Witwe in Herzensangst überall nach ihm suchen. Jedermann nahm
innigsten Anteil; man suchte hier und dort, in Höhen und Tiefen,
man durchforschte den Strom nach seiner Leiche. Frühe am dritten
Morgen schlich sich Tom Sawyer in aller Stille zu einem Haufen alter,
leerer Fässer, die hinter dem jetzt unbenutzten, halb verfallenen
Schlachthause lagen. In einem derselben entdeckte er richtig den
Flüchtling. Huck hatte die Nacht dort zugebracht, hatte eben sein
Frühstück, aus allerlei zusammengekripsten Kleinigkeiten bestehend,
verzehrt und lag nun da und rauchte in glücklicher Behaglichkeit seine
Pfeife. Er war ungewaschen, ungekämmt und in dieselben alten, malerisch
an ihm hängenden Lumpen gehüllt, wie in jenen Tagen, da er noch frei
und glücklich war. Sobald Tom ihn aufgestöbert hatte, warf er ihm
vor, in welche Angst er alle Leute versetzt habe, und forderte ihn
auf, nach Hause zurückzukommen. Hucks Antlitz verlor urplötzlich den
Ausdruck wohligen Behagens und legte sich in melancholische Falten.
Aengstlich bat er:

»Sprich mir davon nicht, Tom, hab's ja probiert, aber 's thut kein
gut, Tom, 's thut kein gut. 's taugt nichts für mich, ich bin an so
was nicht gewöhnt. Die Witwe selber ist gut und freundlich, aber dies
Leben halt' der Kuckuck aus. Soll ich da jeden Morgen zur selben Zeit
'raus aus dem Nest, dann waschen und scheuern sie mich, daß die Fetzen
fliegen, und kämmen mich zu Schanden. Im Holzschuppen darf ich nicht
schlafen, muß die verflixten Kleider tragen, in denen ich immer nach
Luft schnappen muß, Tom, 's ist als ginge gar keine Luft durch, und
dabei sind sie so verteufelt fein und vornehm, daß ich da drin nicht
sitzen, nicht liegen, viel weniger mich wälzen kann. Weiß nicht, wie
lang' ich auf keiner Kellerthür mehr hinuntergerutscht bin, aber 's
kommt mir wie viele Jahre vor. Ich muß in die Kirche gehen und dort
steif und gerade sitzen, -- und erst die langweiligen Predigten! Nicht
einmal eine Fliege darf man drin fangen, und den ganzen Sonntag muß
man die Schuhe anhaben. -- Herrgott! Wenn die Witwe ißt, dann bimmelt
eine Glocke, geht sie schlafen, bimmelt's wieder, und ebenso, wenn sie
aufsteht -- 's geht alles so gräßlich nach der Schnur, das halt' der
Kuckuck aus!«

[Illustration]

»Huck, so macht's aber doch jeder anständige Mensch!«

»Ist mir ganz egal, Tom, ich bin kein anständiger Mensch und ich
halt's nicht aus. 's ist gräßlich, wenn man so festgenagelt ist. 's
Futter wächst einem auch nur so in den Mund, -- macht einem gar keine
Freude so. Soll fragen, wenn ich fischen gehen will, fragen, wenn
ich baden möcht' -- hol's der Henker, wenn man um jeden Dreck fragen
soll. Und sprechen hab' ich müssen wie 'n feiner Herr, bin beinah dran
erstickt. Ei, wenn ich nicht jeden Tag 'nauf auf den Boden wär' und
hätt' meinem Herzen dort Luft gemacht, so wie _ich's_ versteh', mit 'n
paar herzhaften Redensarten, nur um mal wieder den Geschmack davon in
den Mund zu kriegen, ich wär' gestorben, Tom, rein gestorben. Rauchen
wollten sie mich auch nicht lassen, nicht mal ordentlich brüllen,
nicht gähnen, nicht räkeln, nicht am Kopf kratzen, wenn jemand dabei
war. Und« -- fuhr er mit einem verdoppelten Ausbruch des Widerwillens
und der Gereiztheit fort -- »den ganzen Tag hat sie gebetet. So 'ne
Frau ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen! Ich _mußt'_ mich
drücken, Tom, es war nicht zum Aushalten. Dann wär' auch bald die
Schule angegangen und ich hätte hin gemußt, was mir das Leben vollends
entleidet hätte. Weißt was, Tom, 's Reichsein ist nicht halb so viel
wert, als man meint. Man hat eine Plage und Schinderei davon, daß
man lieber tot sein möchte. In diesen Kleidern hier und in dieser
Sonne aber ist's mir wohl und ich will mich begraben lassen, wenn ich
da je wieder 'rauskrieche. Tom, ich wär' nie in diese unselige Lage
hineingeraten, wenn das verflixte Geld nicht gewesen wär'! Weißt was?
Geh hin und nimm du auch meinen Teil und schenk' mir hie und da mal
zehn Cents, aber nicht oft, denn mir liegt blutwenig an dem Geld, so
schwer es auch zu kriegen war, und dann -- geh' hin und bitt' mich von
der Witwe los, Tom, thu's doch, hörst du!«

»O, Huck, das kann ich ja nicht, dein Geld nehmen, das wär' gar nicht
recht, und paß auf, wenn du's erst mal länger probierst bei der Witwe,
wird's dir schon behagen.«

»Behagen? Ja, so ungefähr wie einem ein heißer Ofen behagt, wenn man
drauf sitzen soll. Nee, Tom, ich will nicht reich sein und ich will
nicht in den verfluchten stickigen Häusern leben. Ich brauch' den Wald
und den Fluß und 'n leeres Faß und dabei will ich bleiben. Hol' der
Henker alles! Grad' wie wir Flinten und 'ne Höhle hatten und alles
schön fertig war, um Räuber zu werden, da -- da muß die verflixte,
dumme Schatzgeschichte kommen und alles verderben!«

Tom ersah seine Gelegenheit:

»Paß mal auf, Huck, das Reichsein hält uns noch lange nicht ab, Räuber
zu werden.«

»Herrgott! Ist das wirklich dein voller Ernst, Tom?«

»So gewiß als ich hier sitze. Aber Huck, du kannst nicht in die Bande
aufgenommen werden, wenn du kein anständiger Mensch bist, siehst du.«

Hucks aufwallende Freude bekam einen Dämpfer.

»Kann nicht aufgenommen werden, Tom? War ich denn nicht Seeräuber?«

»Ja, aber das ist ganz was andres. Ein Räuber ist für gewöhnlich viel
vornehmer als so'n Pirat. In manchen Ländern sind sie vom höchsten Adel
-- Herzöge oder so.«

»Tom, du bist doch immer gut mit mir gewesen! Wirst mich doch nicht
ausschließen, Tom? Wirst mir doch so was nicht anthun, oder?«

»Huck, ich thät's ja nicht und ich thu's auch nicht gern, aber was
würden die Leute sagen? Ei, die werden die Nase rümpfen und ›Pf!‹ --
würden sie sagen, -- Tom Sawyers Bande! Schöne Kerle da drin! Und damit
wärst du gemeint, Huck. Das wär' dir doch nicht recht und mir auch
nicht.«

Für eine Weile war Huck still, sichtlich kämpfte er innerlich einen
schweren Kampf. Schließlich sagte er:

»Na, für 'nen Monat oder so könnt' ich ja am Ende zur Witwe zurückgehen
und sehen, wie ich mich durchschlage und ob ich's aushalten kann. Ja,
das könnt' ich, -- wenn ich bei der Bande eintreten darf, Tom.«

»Gut also, Huck, das ist 'n Wort! Und nun vorwärts, alter Kerl, will
mal mit der Witwe reden, daß sie dich 'n bißchen mehr in Ruhe läßt.«

»Willst du, Tom, willst du? Das ist schön von dir. Wenn die 'n bißchen
weniger streng sein will, dann will ich dafür nur noch heimlich rauchen
und fluchen und mich wohl oder übel durchdrücken oder platzen. Aber bis
wann willst du denn die Bande aufthun und Räuber werden?«

»Ei gleich! Wollen nur erst die Jungens zusammen trommeln, dann kann
die Einschwörung gleich heut' nacht vor sich gehen.«

»Die -- was?«

»Die Einschwörung.«

»Was ist denn das?«

»Ei, da schwört man, daß man zusammen stehen und fallen wolle und
niemals die Geheimnisse der Bande verraten, und sollte man auch in
Stücke zerrissen werden: daß man jeden umbringen wolle samt seiner
ganzen Familie, der irgend einem der Bande was zu leide thut.«

»Das ist lustig, Tom, arg lustig, sag' ich dir.«

»Ja, das ist's. Und der ganze Schwur muß um Mitternacht geschehen, am
einsamsten, schauerlichsten Ort, den man finden kann, -- in einem Haus,
wo's spukt, wär's am besten, aber die sind jetzt alle abgebrochen.«

»Um Mitternacht ist gut, Tom, -- irgendwo.«

»Ja, das ist wahr. Und man muß über einem Sarge schwören und alles mit
Blut unterzeichnen.«

»Das klingt doch nach etwas! Weiß Gott, das ist millionenmal besser,
als Seeräuber sein. Ich will mich an die Witwe kleben, bis ich schwarz
werd', Tom, und wenn ich mal so 'n richtiger Hauptkerl von 'nem
vornehmen Räuber bin, Tom, und alle Welt von mir redet, dann wird sie
wohl, denk' ich, sich auch freuen und stolz sein, daß sie mich aus dem
Sumpf gezogen hat!«

       *       *       *       *       *

So endet denn diese Chronik. Da es nur die Geschichte eines Knaben
ist, so _muß_ sie hier enden; ließe sie sich doch nicht viel weiter
fortspinnen, ohne zur Geschichte eines Mannes zu werden. Wer einen
Roman über erwachsene Leute schreibt, weiß ganz genau, wo er aufzuhören
hat, nämlich -- bei der Heirat. Wer aber von Kindern und sehr
jugendlichen Helden erzählt, der muß eben aufhören, wo es sich am
besten fügt.[7]

    [7] Der Verfasser hat in seinem ›_Huckleberry Finn_‹ -- siehe
        den nächsten Band der ausgewählten Schriften -- eine
        prächtige Fortsetzung der Knabenstreiche Tom Sawyers
        geschrieben, wobei ›Huck‹ der Held ist.

[Illustration]



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.

    Korrekturen:

    S. 96: daß → was
      was denkst du, {was} draus werden wird

    S. 297: Ausdruck → Ausbruch
      war im stande, einen {Ausbruch} des Gelächters




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