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Title: Kurgast - Aufzeichnungen von einer Badener Kur
Author: Hesse, Hermann
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Kurgast - Aufzeichnungen von einer Badener Kur" ***

                             Hermann Hesse
                            Gesammelte Werke



                                Kurgast


                             Aufzeichnungen
                         von einer Badener Kur

                                  von
                             Hermann Hesse


                      S. Fischer / Verlag / Berlin


           11. bis 14. Auflage 1925 / Alle Rechte vorbehalten
              Druckleitung und Einbandentwurf: E. R. Weiß
           Copyright 1925 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin


                              Den Brüdern
                    Josef und Franz Xaver Markwalder
                                gewidmet



                                Vorrede


                                Motto:

                                Müßiggang ist aller Psychologie Anfang.

                                                             Nietzsche

Man sagt von den Schwaben, daß sie erst mit vierzig Jahren gescheit
werden, und die Schwaben selber, im Selbstvertrauen nicht stark, sehen
das zuweilen als eine Art von Schande an. Es ist aber das Gegenteil, es
ist eine große Ehre, denn die vom Sprichwort gemeinte Gescheitheit (sie
ist nichts anderes als das, was junge Leute auch „Altersweisheit“
nennen, das Wissen um die großen Antinomien, um das Geheimnis des
Kreislaufs und der Bipolarität) dürfte auch unter den Schwaben, so
begabt sie sind, sich recht selten schon bei Vierzigjährigen finden.
Wenn man dagegen über die Mitte der Vierzig hinweg ist, man sei begabt
oder nicht, dann stellt sich jene Weisheit oder Mentalität des Alterns
ganz von selber ein, namentlich wenn noch das anhebende leibliche Altern
mit allerlei Mahnungen und Beschwerden nachhilft. Zu den häufigsten
dieser Beschwerden nun gehören Gicht, Rheumatismen und Ischias, und eben
diese Leiden sind es, welche uns Badegäste hierher nach Baden führen.
Das Milieu ist also jener Art von Mentalität, in welche auch ich jetzt
eingetreten bin, überaus günstig, und man gerät, so scheint mir, hier
ganz von selber, vom _genius loci_ geleitet, in eine gewisse skeptische
Frömmigkeit, einfältige Weisheit, in eine sehr differenzierte
Vereinfachungskunst, einen sehr intelligenten Anti-Intellektualismus
hinein, der ebenso wie die Wärme der Bäder und der Geruch des
Schwefelwassers als ein Spezifikum mit zu Baden gehört. Oder, kürzer
gesagt: Wir Kurgäste und Gichtiker sind ganz besonders darauf
angewiesen, das eckige Leben so rund wie möglich zu nehmen, fünfe gerade
sein zu lassen, uns keine großen Illusionen zu machen, aber dafür
hundert kleine sanfte Illusionen zu schonen und zu pflegen. Wir Kurgäste
in Baden haben, wenn ich nicht irre, jenes Wissen um die Antinomien
besonders nötig, und je steifer unsre Gebeine werden, desto dringender
bedürfen wir einer elastischen, zweiseitigen, bipolaren Denkart. Unsre
Leiden sind Leiden, aber sie sind nicht von jener heroischen und
dekorativen Art von Leiden, welche der Leidende ohne Einbuße an unsrer
Achtung für weltwichtig nehmen darf.

Wenn ich so rede, wenn ich meine persönliche Alters- und
Ischiatiker-Denkart zu einem Typus, zu einer allgemeinen Norm erhebe,
wenn ich so tue, als spräche ich hier nicht einzig in meinem Namen,
sondern im Namen einer ganzen Menschenklasse und Altersstufe, so ist mir
dabei, wenigstens für Augenblicke, wohl bewußt, daß dies ein starker
Irrtum ist und daß kein einziger Psychologe (er sei denn seelisch mein
Bruder und Zwilling) mein geistiges Reagieren auf Umwelt und Schicksal
als normal, als typisch anerkennen würde. Vielmehr würde er mich nach
kurzem Beklopfen leicht als einen leidlich begabten, nicht
internierungsbedürftigen Einzelgänger aus der Familie der Schizophrenen
erkennen. Ich mache indessen ruhig vom Gewohnheitsrecht aller Menschen,
auch der Psychologen, Gebrauch und projiziere nicht nur in die Menschen,
sondern sogar in die Dinge und Einrichtungen meiner Umgebung, ja, in die
ganze Welt meine Denkart, mein Temperament, meine Freuden und Leiden
hinein. Meine Gedanken und Gefühle für „richtig“, für berechtigt zu
halten, diesen Genuß lasse ich mir nicht rauben, obwohl die Umwelt mich
stündlich vom Gegenteil zu überzeugen sucht, ja, ich mache mir nichts
daraus, die Majorität gegen mich zu haben, ich gebe eher ihr unrecht als
mir. Damit halte ich es wie mit meinem Urteil über die großen deutschen
Dichter, welche ich darum nicht minder verehre, liebe und brauche, weil
die große Mehrzahl der lebenden Deutschen das Gegenteil tut und die
Raketen den Sternen vorzieht. Raketen sind hübsch, Raketen sind
entzückend, sie sollen hochleben! Aber Sterne! aber ein Auge und Gedanke
voll ihrer stillen Lichter, voll ihrer weit schwingenden Weltmusik – o
Freunde, das ist doch noch anders!

Und indem ich später kleiner Dichter es unternehme, die Skizze eines
Badeaufenthaltes zu entwerfen, denke ich an viele Dutzende von
Badereisen und Baden-Fahrten, welche von guten und von schlechten
Autoren geschrieben worden sind, und denke entzückt und verehrend an den
Stern unter all den Raketen, an das Goldstück unter all dem Papiergeld,
an den Paradiesvogel unter all den Sperlingen, an die Badereise des
Doktors Katzenberger, lasse mich indessen durch diesen Gedanken nicht
hindern, dem Stern meine Rakete, dem Paradiesvogel meinen Spatzen
nachsteigen zu lassen. Fliege denn, mein Spatz! Steige, mein kleiner
Papierdrache!



                               „Kurgast“



                             Der erste Tag


Kaum war mein Zug in Baden angekommen, kaum war ich mit einiger
Beschwerde die Wagentreppe hinabgestiegen, da machte sich schon der
Zauber Badens bemerklich. Auf dem feuchten Zementboden des Perrons
stehend und nach dem Hotelportier spähend, sah ich aus demselben Zug,
mit dem ich angekommen war, drei oder vier Kollegen steigen,
Ischiatiker, als solche deutlich gekennzeichnet durch das ängstliche
Anziehen des Gesäßes, das unsichere Auftreten und das etwas hilflose und
weinerliche Mienenspiel, das ihre vorsichtigen Bewegungen begleitete.
Jeder von ihnen hatte zwar seine Spezialität, seine eigene Abart von
Leiden, daher auch seine eigene Art von Gang, von Zögern, von Stakeln,
von Hinken, und jeder auch sein eigenes, spezielles Mienenspiel, dennoch
überwog das Gemeinsame, ich erkannte sie alle auf den ersten Blick als
Ischiatiker, als Brüder, als Kollegen. Wer erst einmal die Spiele des
_nervus ischiaticus_ kennt, nicht aus dem Lehrbuch, sondern aus jener
Erfahrung, welche von den Ärzten als „subjektive Sensation“ bezeichnet
wird, sieht hierin scharf. Alsbald blieb ich stehen und betrachtete mir
diese Gezeichneten. Und siehe, alle drei oder vier schnitten bösere
Gesichter als ich, stützten sich stärker auf ihre Stöcke, zogen ihre
Schinken zuckender empor, setzten ihre Sohlen ängstlicher und unmutiger
auf den Boden als ich, alle waren sie leidender, ärmer, kränker,
beklagenswerter als ich, und dies tat mir äußerst wohl und blieb während
meiner Badener Kurzeit ein tausendmal wiederkehrender, unerschöpflicher
Trost: daß ringsum Leute hinkten, Leute krochen, Leute seufzten, Leute
in Krankenstühlen fuhren, welche viel kränker waren als ich, viel
weniger Grund zu guter Laune und zur Hoffnung hatten als ich! Da hatte
ich denn gleich in der ersten Minute eins der großen Geheimnisse und
Zaubermittel aller Kurorte gefunden und schlürfte meine Entdeckung mit
wahrer Lust: die Leidensgenossenschaft, das „_socios habere malorum_“.

Und als ich nun den Bahnsteig verließ und mich einer sanft gegen die
Bäder talwärts fließenden Straße wohlig überließ, da bestätigte und
steigerte jeder Schritt die wertvolle Erfahrung: überall schlichen die
Kurgäste, saßen müde und etwas krummgezogen auf grüngestrichenen
Ruhebänken, hinkten in Gruppen plaudernd vorüber. Eine Frau wurde im
Fahrstuhl daher geschoben, müde lächelnd, eine halbwelke Blume in der
kränklichen Hand, hinten strotzend und voll Energie die blühende
Pflegerin. Ein alter Herr trat aus einem der Läden, in denen die
Rheumatiker ihre Ansichtskarten, Aschenbecher und Briefbeschwerer kaufen
(sie brauchen deren viele, und ich konnte die Ursache nie ergründen) –
und dieser alte Herr, der aus dem Laden trat, brauchte zu jeder
Treppenstufe eine Minute und blickte auf die vor ihm liegende Straße,
wie ein ermüdeter und unsicher gewordner Mensch auf eine große ihm
gestellte Aufgabe blickt. Ein noch junger Mensch, mit einer graugrünen
Militärmütze auf dem borstigen Kopf, arbeitete sich an zwei Stöcken
kraftvoll, doch mühsam vorwärts. Ach, schon diese Stöcke, die man hier
überall antraf, diese verflucht ernsthaften Krankenstöcke, welche in
unten verbreiterte Gummizwingen ausliefen und sich wie Egel oder
Saugwarzen an den Asphalt ansogen! Auch ich zwar ging an einem Stocke,
einem zierlichen Malakka-Rohrstock, dessen Hilfe mir höchst willkommen
war, allein zur Not konnte ich auch ohne Stock gehen, und niemand hatte
mich jemals mit einem dieser traurigen Gummistöcke gesehen! Nein, es war
klar und mußte jedem in die Augen fallen, wie rasch und schlank ich
diese angenehme Straße hinabschlenderte, wie wenig und spielerisch ich
den Malakkastock, ein reines Schmuckstück, ein bloßes Ornament,
benützte, wie äußerst leicht und harmlos bei mir das Kennzeichen der
Ischiatiker, das ängstliche Anziehen der Oberschenkel, ausgebildet,
vielmehr nur angedeutet, nur flüchtig skizziert war, überhaupt wie
straff und proper ich diesen Weg daherkam, wie jung und gesund ich war,
verglichen mit all diesen älteren, ärmeren, kränkeren Brüdern und
Schwestern, deren Gebrechen sich so deutlich, so unverhüllbar, so
unerbittlich dem Blicke darboten! Ich sog Anerkennung, schlürfte
Bejahung aus jedem Schritt, ich fühlte mich schon beinahe gesund,
jedenfalls unendlich viel weniger krank als alle diese armen Menschen.
Ja, wenn diese Halblahmen und Hinker noch Heilung erhofften, diese Leute
mit den Gummistöcken, wenn Baden auch diesen noch helfen konnte, dann
mußte ja mein kleines anfängerhaftes Leiden hier schwinden wie Schnee im
Föhn, dann mußte der Arzt in mir ein Prachtexemplar, ein höchst
dankbares Phänomen, ein kleines Wunder an Heilbarkeit entdecken.

Freundlich sah ich den anregenden Gestalten zu, voll Mitgefühl und
Wohlwollen. Aus einer Konditorei kam jetzt eine alte Frau gequollen, die
hatte es offenbar längst aufgegeben, ihr Gebrechen verheimlichen zu
wollen, sie verkniff sich keine kleinste Reflexbewegung, sie nahm jede
denkbare Erleichterung, jedes sich anbietende Spiel einer
Hilfsmuskulatur voll in Anspruch, und so turnte, so balancierte und
schwamm sie, breit sich durchkämpfend, wie eine Seelöwin über die Gasse,
nur langsamer. Mein Herz hieß sie willkommen und jubelte ihr zu, ich
pries die Seelöwin, ich pries Baden und mein gutes Geschick. Ich sah
mich rings von Mitstrebenden, von Konkurrenten umgeben, welchen ich weit
überlegen war. Wie gut, daß ich so rechtzeitig hierher gekommen war,
noch im ersten Stadium einer leichten Ischias, noch mit den ersten
schwachen Symptomen einer beginnenden Gicht! Mich umwendend, auf meinen
Stock gestützt, sah ich lange der Seelöwin nach, mit jenem bekannten
Wohlgefühl, welches uns zeigt, daß die Sprache für seelische Vorgänge
noch keine Ausdrücke gefunden hat, denn sprachliche Gegensätze wie
Schadenfreude und Mitleiden sind hier aufs innigste verbunden. Mein
Gott, die arme Frau! So weit konnte es mit einem kommen.

Auch in diesem enthusiastischen Augenblick gesteigerten Lebensgefühls,
auch während dieser holden Euphorie der guten Stunde freilich schwieg
jene lästige Stimme in mir nicht ganz, die wir so ungern hören und doch
so nötig haben, jene Stimme der Vernunft, und sie machte mich, in ihrem
unangenehm kühlen Ton, leise und bedauernd darauf aufmerksam, daß die
Quelle meines Trostes lediglich ein Irrtum, eine falsche Methode sei,
daß ich nämlich mich selbst, den am Malakkastock nur leicht hinkenden
Literaten, dankerfüllt zwar mit jeder lahmen, jeder schwer hinkenden und
entstellten Gestalt verglich, daß ich es aber versäumte, jene endlos
fortlaufende Skala der Symptome in Betracht zu ziehen, welche sich
jenseits meiner Person ausdehnte, daß ich alle jene Gestalten, welche
jünger, aufrechter, rüstiger und gesunder waren als ich selber, gar
nicht wahrnahm. Vielmehr, ich nahm sie wahr, aber ich weigerte mich, sie
mit in die Vergleichung zu ziehen, ja, während des ersten und zweiten
Tages war ich sogar ganz primitiv davon überzeugt, alle jene Menschen,
welche ich ohne Stock und ohne merkbares Lahmen oder Hinken mit
vergnügten Gesichtern dahinwandeln sah, seien keineswegs Brüder und
Kollegen, seien keine Kurgäste und Konkurrenten, sondern normale,
gesunde Einwohner der Stadt. Daß es auch Ischiatiker geben könne, welche
ganz ohne Stock und ganz ohne krampfhafte Gebärden gehen konnten, daß es
viele Gichtiker gebe, denen auf der Straße kein Mensch, auch kein
Psychologe, ihr Leiden anzusehen vermöge, daß ich mit meinem leicht
deformierten Gang und meinem Malakkastocke keineswegs auf der ersten,
harmlosen, untersten Stufe der Stoffwechselleiden stehe, daß ich nicht
bloß den Neid der richtigen Lahmen und Hinker genieße, sondern auch das
spöttische Mitleid zahlreicher Kollegen, welchen ich als Trost und
Seelöwe diente, kurz, daß ich mit meiner scharfäugigen Beobachtung und
Vergleichung der Leidensgrade nicht objektive Forschung treibe, sondern
lediglich optimistische Selbstbezauberung, diese Erkenntnis erreichte
mich, auf dem üblichen langsamen Wege, erst nach mehreren Tagen.

Nun, ich genoß dies Glück des ersten Tages in vollen Zügen, ich beging
Orgien der naiven Selbstbejahung, und ich tat wohl daran. Von den
überall auftauchenden Figuren meiner Mitkurgäste, meiner kränkeren
Brüder angezogen, vom Anblick jedes Krüppels geschmeichelt, von jedem
mir begegnenden Rollstuhl zu frohem Mitleid, zu teilnahmsvoller
Selbstzufriedenheit aufgefordert, flanierte ich die Straße hinab, diese
so bequeme, so schmeichelhaft angelegte Straße, auf welcher die
ankommenden Gäste vom Bahnhof zu den Bädern hinabgerollt werden und die
in sanfter Schwingung, mit wohligem, gleichmäßigem Gefälle zu den alten
Bädern hinableitet und sich dort unten, gleich einer Flußversickerung,
in die Eingänge der zahlreichen Badehotels verliert. Guter Vorsätze und
froher Hoffnungen voll näherte ich mich dem „Heiligenhof“, wo ich
abzusteigen dachte. Drei, vier Wochen galt es nun hier auszuhalten,
täglich zu baden, möglichst viel spazieren zu gehen, sich Aufregungen
und Sorgen möglichst fern zu halten. Es würde vielleicht zuweilen etwas
eintönig sein, es würde nicht ohne Langeweile abgehen, weil hier das
Gegenteil von intensivem Leben Vorschrift war, und für mich, den alten
Solitär, dem alles Herden- und Hotelleben tief zuwider ist und äußerst
schwer fällt, würde es einige Hindernisse zu nehmen, einige
Überwindungen zu erkämpfen geben. Aber ohne Zweifel würde dies neue, mir
völlig ungewohnte Leben, trotz seinem vielleicht etwas bürgerlichen,
etwas faden Anstrich, auch heitere und interessante Erfahrungen bringen,
– hatte ich es nicht wirklich in hohem Maße nötig, nach Jahren eines
friedlich-verwilderten, ländlich-einsamen, in Studien versunkenen Lebens
eine Weile wieder unter Menschen zu kommen? Und, die Hauptsache:
jenseits der Hindernisse, jenseits dieser jetzt beginnenden Kurwochen
lag der Tag, an dem ich diese selbe Straße rüstig bergan steigen, diese
Hotels verlassen, an dem ich verjüngt und geheilt, mit elastisch
spielenden Knien und Hüften, von diesem Baden wieder Abschied nehmen und
die hübsche Straße zum Bahnhof hinantanzen würde.

Schade nur, daß es, eben im Augenblick da ich den Heiligenhof betrat,
leise zu regnen anfing.

„Sie bringen kein gutes Wetter mit,“ sagte lächelnd das überaus
freundliche Fräulein im Bureau bei der Begrüßung.

„Nein,“ sagte ich ratlos. Wie war nun das? Sollte wirklich ich es sein,
dachte ich, der diesen Regen gerufen, der ihn erschaffen und hierher
mitgebracht hat? Daß die platte, alltägliche Anschauungsweise dagegen
sprach, konnte mich, den Theologen und Mystiker, nicht entlasten. Ja,
ebenso wie Schicksal und Gemüt Namen eines Begriffes waren, ebenso wie
ich meinen Namen und Stand, mein Alter, mein Gesicht, meine Ischias in
gewissem Sinne mir selbst erwählt und geschaffen hatte und niemand außer
mich dafür verantwortlich machen durfte, ebenso stand es wohl auch mit
diesem Regen. Ich war bereit, ihn auf mich zu nehmen.

Nachdem ich dies dem Fräulein mitgeteilt und einen Anmeldezettel
ausgefüllt hatte, trat ich nun in jene Verhandlungen wegen meines
Zimmers ein, welche der normale Mensch nicht kennt, deren Grauen der
naive Glückliche nicht ahnt, deren ganze Trübe nur dem in eine
Fremdenherberge verschlagenen, an Einsamkeit und tiefe Stille gewöhnten,
an Schlaflosigkeit leidenden Eremiten und Schriftsteller bekannt ist.

Ein Hotelzimmer zu nehmen, ist für normale Menschen eine Kleinigkeit,
ein alltäglicher, in keiner Weise affektbetonter Akt, mit dem man in
zwei Minuten fertig ist. Für unsereinen aber, für uns Neurotiker,
Schlaflose und Psychopathen wird dieser banale Akt, mit Erinnerungen,
Affekten und Phobien phantastisch überladen, zum Martyrium. Der
freundliche Hotelier, die sympathische Empfangsdame, welche uns, auf
unsre zaghaft inständige Bitte, ihr „ruhiges Zimmer“ zeigen und
empfehlen, ahnen den Sturm von Assoziationen, von Befürchtungen, von
Ironien und Selbstironien nicht, den dies fatale Wort in uns erregt. O
wie gut, o wie schauerlich genau, wie grauenhaft profund kennen wir
diese ruhigen Zimmer, diese Stätten unsrer qualvollsten Leiden, unsrer
schmerzlichsten Niederlagen, unsrer heimlichsten Schmach! Wie falsch und
tückisch, wie dämonisch blicken uns diese freundlichen Möbel, diese
wohlgemeinten Teppiche und heiteren Tapeten an! Wie fatal, wie
vernichtend grinst jene verriegelte Verbindungstür zum Nachbarzimmer,
die sich unseligerweise in den meisten dieser Zimmer befindet, häufig
ihrer eigenen üblen Rolle bewußt und darum schamhaft hinter einem
Tuchbehang verborgen! Wie schmerzlich und ergeben blicken wir zur weiß
getünchten Zimmerdecke empor, welche stets im Augenblick der
Besichtigung in schweigender Leere grinst, um dann abends und morgens
von den Schritten der Obenwohnenden zu dröhnen – ach, und nicht nur von
Schritten, das sind bekannte und also nicht die schlimmsten Feinde!
Nein, über diesen harmlos weißen Plan rollen in der Stunde des
Verhängnisses, ebenso wie durch die dünne Tür und Wand, ungeahnte
Geräusche und Vibrationen, weggeworfene Stiefel, zu Boden fallende
Spazierstöcke, mächtige rhythmische Erschütterungen (auf hygienische
Turnübungen deutend), umgeworfene Stühle, ein vom Nachttisch stürzendes
Buch oder Glas, das Rücken von Koffern und Möbelstücken. Dazu die
Menschenstimmen, die Gespräche und Selbstgespräche, das Husten, das
Lachen, das Schnarchen! Und weiter, schlimmer als dies alles, die
unbekannten, unerklärlichen Geräusche, alle jene seltsamen,
geisterhaften Laute, die wir nicht deuten, deren Herkunft und
vermutliche Dauer wir nicht ahnen können, jene Klopf- und Wühlgeister,
all jenes Knacken, Ticken, Flüstern, Blasen, Saugen, Rauschen, Seufzen,
Knarren, Picken, Sieden – weiß Gott, welch reiches unsichtbares
Orchester sich in den paar Quadratmetern eines Hotelzimmers verbergen
kann!

Das Wählen eines Schlafzimmers ist also für unsereinen eine äußerst
heikle, wichtige und dabei ziemlich hoffnungslose Unternehmung, an
zwanzig Dinge, an hundert Möglichkeiten ist dabei zu denken. In einem
Raume ist der Wandschrank, im andern die Heizröhre, im dritten der
okarinablasende Nachbar die Quelle akustischer Überraschungen. Und da
erfahrungsgemäß bei keinem einzigen Zimmer der Welt jene so innig
ersehnte Ruhe und Schlafsicherheit feststellbar ist, da das anscheinend
ruhigste Zimmer Überraschungen birgt (wohnte ich nicht schon, um ja
keinen Störenfried über oder neben mir zu wissen, in einer einsamen
Dienstbotenkammer im fünften Stock und fand über mir, statt des
vermiedenen Zeitgenossen, den klappernden Dachboden von Ratten toll
belebt?!) – sollte man da nicht am Ende auf jede Wahl verzichten,
einfach kopfvoran ins Schicksal springen und den Zufall walten lassen?
Statt sich zu quälen und abzusorgen und nach wenigen Stunden dennoch
enttäuscht und traurig dem Unvermeidlichen gegenüberzustehen, ist es
nicht klüger, das blinde Geschick walten zu lassen und wahllos das erste
angebotene Zimmer zu nehmen? Gewiß, das ist klüger. Wir tun es aber
nicht oder tun es nur selten einmal, denn wenn Klugheit und Vermeiden
von Aufregungen allein unser Tun und Lassen leiten sollte, wie sähe da
das Leben aus? Wissen wir nicht alle, daß unser Schicksal uns eingeboren
und unentrinnbar ist, und hängen wir nicht dennoch alle innig und
glühend an der Illusion der Wahl, der Willensfreiheit? Könnte nicht
jeder von uns, wenn er den Arzt für seine Krankheit, wenn er Beruf und
Wohnort, wenn er eine Geliebte und Braut wählt, dies alles ebenso gut
und vielleicht mit besserm Erfolge dem reinen Zufall überlassen – und
wählt er nicht dennoch, wendet er nicht dennoch eine Menge von
Leidenschaft, von Mühe, von Sorge an all diese Dinge? Vielleicht tut er
es naiv, in kindlicher Leidenschaftlichkeit, an seine Macht glaubend,
von der Beeinflußbarkeit des Schicksals überzeugt; vielleicht auch tut
er es skeptisch, tief überzeugt von der Wertlosigkeit seiner Bemühungen,
aber ebensosehr davon überzeugt, daß Tun und Streben, Wählen und
Sichquälen schöner, lebendiger, bekömmlicher oder mindestens amüsanter
sei als Erstarren in resignierter Passivität. Nun also, ebenso handle
ich närrischer Zimmersucher, wenn ich, trotz tiefem Überzeugtsein von
der Vergeblichkeit und drolligen Sinnlosigkeit meines Tuns, eben dennoch
jedesmal wieder lange Verhandlungen über das zu wählende Zimmer führe,
mich nach Nachbarn, nach Türen und Doppeltüren, nach Drum und Dran
gewissenhaft erkundige. Es ist ein Spiel, das ich treibe, ein Sport,
wenn ich in dieser kleinen alltäglichen Frage immer wieder mich der
Illusion, der fiktiven Spielregel überlasse, als seien Dinge dieser Art
überhaupt einer vernunftgemäßen Behandlung zugänglich und würdig. Ich
handle dabei ebenso klug oder ebenso töricht wie ein Kind beim Einkaufen
von Naschwerk oder wie ein Spieler, der seinem Einsatz mathematische
Tabellen zugrundelegt. In allen solchen Lagen wissen wir genau, daß wir
dem reinen Zufall gegenüberstehen, und handeln, aus tiefem geistigem
Bedürfnis, dennoch so, als könne und dürfe es keinen Zufall geben, als
sei alles und jedes in der Welt unsrem vernünftigen Denken und Ordnen
untertan.

Also ich spreche mit dem bereitwilligen Fräulein die fünf oder sechs
leerstehenden Zimmer genau durch. Von dem einen erfahre ich, daß nebenan
eine Violinspielerin wohnt und täglich zwei Stunden übt – nun, das ist
immerhin etwas Positives, ich tendiere nun bei der engeren Wahl nach
möglichst großer Entfernung von jenem Zimmer und Stockwerk. Für
Verhältnisse und Möglichkeiten der Hotelakustik habe ich ohnehin eine
Sensibilität, ein Ahnungsvermögen, das manchem Architekten sehr zu
wünschen wäre. Kurz, ich tat das Notwendige, das Vernünftige, ich
handelte sorgfältig und gewissenhaft, wie ein Nervöser beim Suchen eines
Schlafzimmers handeln muß, mit dem üblichen Ergebnisse, das etwa so zu
formulieren wäre: „Es nützt zwar nichts, und natürlich werde ich in
diesem Zimmer dieselben Abenteuer und Enttäuschungen antreffen wie in
jedem anderen, aber immerhin habe ich nun meine Pflicht getan, ich habe
mir Mühe gegeben, den Rest lege ich in Gottes Hand.“ Und gleichzeitig
sprach, wie immer in solchen Fällen, eine andre, leisere Stimme zutiefst
in mir innen: „Wäre es nicht besser, das Ganze Gott zu überlassen und
auf dies Theaterspiel zu verzichten?“ Ich hörte die Stimme, wie gewohnt,
und hörte sie doch nicht, und weil ich zur Stunde so guter Laune war,
verlief die Prozedur angenehm, zufrieden sah ich meinen Reisekorb in
Nummer 65 verschwinden und ging weiter, denn es war die Stunde, zu der
ich beim Doktor angemeldet war.

Und siehe, auch hier ging es gut. Nachträglich kann ich ja gestehen, daß
mir vor diesem Besuch etwas bange war, nicht weil ich eine
niederschmetternde Diagnose befürchtet hätte, sondern weil die Ärzte für
mein Gefühl mit zur geistigen Hierarchie gehören, weil ich dem Arzt
einen hohen Rang zubillige und weil ich bei ihm eine Enttäuschung schwer
ertrage, die ich bei einem Eisenbahn- oder Bankbeamten, auch noch bei
einem Advokaten leicht hinnehme. Ich erwarte, ich weiß selbst nicht
genau warum, vom Arzt einen Rest jenes Humanismus, zu welchem die
Kenntnis des Latein und des Griechischen und eine gewisse philosophische
Vorschule gehören und der in den meisten Berufen des heutigen Lebens
nicht mehr benötigt wird. In dieser Hinsicht bin ich, sonst voll Freude
am Neuen und Revolutionären, überaus rückständig, ich verlange von den
höher gebildeten Ständen einen gewissen Idealismus, eine gewisse
Bereitschaft zu Verständnis und Auseinandersetzung, ganz unabhängig vom
materiellen Vorteil, kurz ein Stück Humanismus, obwohl ich weiß, daß
dieser Humanismus in Wirklichkeit nicht mehr existiert und daß auch
seine Gebärde bald nur noch in Wachsfigurenkabinetten anzutreffen sein
wird.

Nach kurzem Warten wurde ich hineingeführt, ein sehr schöner,
geschmackvoll eingerichteter Raum gewann sogleich mein Vertrauen. Der
Arzt, der erst noch in einem Nebenraume in der üblichen Weise mit Wasser
geplätschert hatte, trat herein, ein intelligentes Gesicht versprach
Verständnis, und wir begrüßten einander, wie es gesitteten Boxern ziemt,
vor dem Wettkampf mit herzlichem Händedruck. Vorsichtig begannen wir den
Kampf, tasteten einander ab, probierten zögernd die ersten Schläge. Noch
waren wir auf neutralem Gebiet, unser Disput ging um Stoffwechsel,
Ernährung, Alter, frühere Krankheiten und troff von Harmlosigkeit, nur
bei einzelnen Worten kreuzten sich unsere Blicke, klar zum Gefecht. Der
Arzt hatte einige Ausdrücke aus der medizinischen Geheimsprache auf
seiner Palette, die ich nur annähernd entziffern konnte, die aber seinen
Kundgebungen ornamental sehr zustatten kamen und seine Position mir
gegenüber spürbar stärkten. Immerhin war mir schon nach einigen Minuten
klar, daß bei diesem Arzte nicht jene grausame Enttäuschung zu fürchten
war, welche Menschen von meiner Art gerade bei Ärzten peinlich ist: daß
man hinter einer gewinnenden Fassade von Intelligenz und Schulung auf
eine starre Dogmatik stößt, deren erster Satz postuliert, daß
Anschauungsweise, Denkart und Terminologie des Patienten rein subjektive
Phänomene, die des Arztes hingegen streng objektive Werte seien. Nein,
hier hatte ich es mit einem Arzt zu tun, um dessen Verständnis zu
kämpfen einen Sinn hatte, der nicht nur der Vorschrift gemäß
intelligent, sondern bis zu einem zunächst noch nicht bestimmbaren Grade
wissend war, also im Besitz eines lebendigen Gefühls für die Relativität
aller geistigen Werte. Unter gebildeten und gescheiten Menschen passiert
es ja in jedem Augenblick, daß jeder die Mentalität und Sprache, die
Dogmatik und Mythologie des andern als eine subjektive, als bloßen
Versuch, bloßes flüchtiges Gleichnis erkennt. Daß aber jeder diese selbe
Erkenntnis auch an sich selber mache und auf sich selber anwende und
jeder sich selbst sowohl wie dem Gegner das Recht auf seine von innen
her bestimmte und notwendige Art, Denkweise und Sprache zugestehe, daß
also zwei Menschen miteinander Gedanken austauschen und sich dabei
beständig der Gebrechlichkeit ihrer Werkzeuge, der Vieldeutigkeit aller
Worte, der Unmöglichkeit eines wahrhaft exakten Ausdrucks, also auch der
Notwendigkeit eines intensiven Sichgebens, einer gegenseitigen
herzlichen Bereitwilligkeit und intellektuellen Ritterlichkeit bewußt
bleiben – diese hübsche, zwischen denkenden Wesen eigentlich
selbstverständliche Situation kommt ja praktisch so kläglich selten vor,
daß wir jede Annäherung an sie, jede auch nur teilweise
Verwirklichung innig begrüßen. Hier nun, diesem Spezialisten für
Stoffwechselerkrankungen gegenüber, blitzte etwas wie die Möglichkeit
solchen Verständnisses und Austausches auf.

Die Untersuchung, Blutprobe und Röntgen vorbehalten, brachte tröstliche
Ergebnisse. Herz normal, Atmung ausgezeichnet, Blutdruck sehr anständig,
dagegen fanden sich die unverkennbaren Merkmale einer Ischias, einzelne
gichtische Ansätze und ein etwas tadelnswerter Zustand der ganzen
Muskulatur. Eine kleine Pause trat in unsrer Unterhaltung ein, während
der Doktor sich wieder die Hände wusch.

Wie erwartet, trat in diesem Augenblick die Wende ein, das neutrale
Gebiet wurde verlassen, mein Partner ging zur Offensive über, mit der
vorsichtig akzentuierten, mit scheinbarer Nachlässigkeit hingelegten
Frage: „Glauben Sie nicht, daß Ihre Leiden zum Teil auch psychisch
mitbestimmt sein könnten?“ Also da standen wir nun, das Erwartete,
Vorausgewußte war eingetroffen. Der objektive Befund rechtfertigte nicht
ganz den von mir gemachten Aufwand an Leiden, es war ein verdächtiges
Plus an Sensibilität da, meine subjektive Reaktion auf die
Gichtschmerzen entsprach nicht dem vorgesehenen Normalmaße, ich war als
Neurotiker erkannt. Also wohlauf, in den Kampf!

Ebenfalls vorsichtig, ebenfalls wie beiläufig erklärte ich, daß ich
nicht an „psychisch mitbestimmte“ Leiden und Zustände glaube, daß in
meiner persönlichen Biologie und Mythologie das „Psychische“ nicht eine
Art von Nebenfaktor neben der Physis sei, sondern die primäre Macht, daß
ich also jeden Lebenszustand, jedes Gefühl von Lust und Leid, auch jede
Krankheit, jeden Unglücksfall und Tod als psychogen, als aus der Seele
geboren ansehe. Wenn ich an den Fingergelenken Gichtknoten ansetze, so
ist es meine Seele, ist es das ehrwürdige Lebensprinzip, das Es in mir,
das im plastischen Material sich zum Ausdruck bringt. Wenn die Seele
leidet, so kann sie das sehr verschieden ausdrücken, und was sich bei
dem einen als Harnsäure gestaltet und den Abbau seines Ich vorbereitet,
das kann bei einem andern als Trunksucht dieselben Dienste tun, bei
einem dritten sich zu einem Stück Blei verdichten, das plötzlich in
seine Hirnschale einbricht. Dabei gab ich zu, daß die Aufgabe und
Möglichkeit des helfenden Arztes sich wohl in den meisten Fällen damit
begnügen müsse, die materiellen, also sekundären Veränderungen
aufzusuchen und sie mit ebenfalls materiellen Mitteln zu bekämpfen.

Auch jetzt noch rechnete ich durchaus mit der Möglichkeit, vom Doktor
sitzen gelassen zu werden. Er würde zwar nicht geradezu sagen: „Sehr
Geehrter, was Sie da reden, ist Blödsinn“, aber er würde vielleicht mit
einem um einen Grad zu nachsichtigen Lächeln mir zustimmen, ein banales
Wort über den Einfluß der Stimmungen, zumal auf eine Künstlerseele,
sprechen und würde außer diesen Posthaltern vielleicht auch noch gar das
fatale Wort „Imponderabilien“ hervorholen. Dies Wort ist ein
Probierstein, eine zarte Wage für geistige Maße, welche der
Durchschnitts-Wissenschaftler schon „imponderabel“ nennt. Er braucht
nämlich dies bequeme Wort stets da, wo es sich um das Messen und
Beschreiben von Lebensäußerungen handelt, für welche nicht nur die
vorhandenen materiellen Meßapparate zu grob, sondern auch die
Gewilltheit und Fähigkeit des Sprechenden zu klein ist. Der
Nurwissenschaftler weiß ja meistens wenig, er weiß unter andrem nicht,
daß es gerade für die flüchtigen, beweglichen Werte, die er imponderabel
nennt, außerhalb der Naturwissenschaft alte, hochkultivierte Meß- und
Ausdrucksmethoden gibt, daß sowohl Thomas von Aquin wie Mozart, jeder in
seiner Sprache, gar nichts anderes getan haben, als sogenannte
Imponderabilien mit einer unerhörten Präzision zu wägen. Konnte ich von
einem Badearzt, sei er auch auf seinem Gebiete ein Phönix, dies zarte
Wissen erwarten? Ich tat es aber doch, und siehe, ich wurde nicht
enttäuscht. Ich wurde verstanden. Der Mann erkannte, daß ihm in mir
nicht eine fremde Dogmatik entgegentrete, sondern ein Spiel, eine Kunst,
eine Musik, bei welcher es kein Rechthaben und Streiten mehr gebe, nur
ein Mitschwingen oder Versagen. Und er versagte nicht, ich wurde
verstanden und anerkannt, anerkannt nicht als Rechthabender natürlich,
der ich ja nicht bin noch sein will, aber als Suchender, als Denkender,
als Antipode, als Kollege von einer anderen, weit entlegenen, aber
ebenfalls vollgültigen Fakultät.

Und jetzt stieg meine gute Laune, gehoben schon durch die für Blutdruck
und Atmung erhaltene Zensur, bis in die höheren Grade. Mochte es nun mit
dem Regenwetter, mit der Ischias, mit der Kur gehen wie es mochte, ich
war nicht den Barbaren ausgeliefert, ich stand einem Menschen, einem
Kollegen, einem Manne von elastischer und differenzierter Mentalität
gegenüber! Nicht, daß ich darauf gerechnet hätte, häufig und lang mit
ihm zu sprechen, Probleme mit ihm durchzusieben. Nein, dies war nicht
nötig, wenn auch als angenehme Möglichkeit zu werten; es genügte, daß
der Mann, dem ich für einige Zeit Gewalt über mich einräumte und
Vertrauen schenken mußte, in meinen Augen das menschliche Reifezeugnis
besaß. Mochte der Doktor mich heute noch für einen zwar geistig
regsamen, doch leider etwas neurotischen Patienten ansehen,
möglicherweise kam einmal die Stunde, wo er auch die oberen Stockwerke
meines Gebäudes öffnen würde, wo mein eigentlicher Glaube, meine
eigenste Philosophie mit der seinen in Spiel und Wettkampf treten würde.
Auch meine Theorie des Neurotikers, fußend auf Nietzsche und Hamsun,
würde dabei vielleicht einen Schritt weiter kommen. Aber einerlei, daran
war nicht viel gelegen. Der neurotische Charakter nicht als Krankheit,
sondern als ein zwar schmerzhafter, doch höchst positiver
Sublimierungsprozeß gesehen – das war ein hübscher Gedanke. Es war
jedoch einzig wichtig, ihn zu leben, nicht ihn zu formulieren.

Zufrieden und mit zahlreichen Kurvorschriften versehen, nahm ich vom
Arzte Abschied. Der Zettel, den ich in der Brieftasche trug und dessen
Befolgung morgen in aller Frühe beginnen sollte, verhieß mir mancherlei
heilsame und amüsante Dinge: Bäder, Trinkkur, Diathermie, Quarzlampe,
Heilgymnastik. Also mit der Langeweile kann es nicht allzu schlimm
werden.

Daß auch der Abend meines ersten Kurtages schön und freundlich verlief
und zu seiner Blüte kam, ist das Verdienst meines Wirtes. Das
Abendessen, das sich zu meinem Staunen als ein Festmahl edlen Stils
entfaltete, brachte solche gaumenschmeichelnde, mir seit Jahren nicht
mehr bekannte Platten, wie Gnocchi mit Geflügelleber, Irish Stew,
Erdbeereis. Und später saß ich, bei einer Flasche Rotwein, mit dem
Hausherrn in lebhaften Gesprächen in einer schönen altertümlichen Stube
an einem alten schweren Nußbaumtisch und hatte die Freude, in einem
fremden Menschen von andrer Herkunft, andrem Beruf, andrem Ehrgeiz und
andrem Lebensstil ein Echo zu finden, an seinen Sorgen und Freuden
teilnehmen zu können, viele meiner Anschauungen von ihm geteilt zu
sehen. Wir sangen einander keine hohen Gesänge vor, aber wir fanden
schnell Berührungsflächen und kamen einander mit der Offenheit entgegen,
die leicht zur Sympathie wird.

Auf einem kurzen Nachtgang vor dem Schlafengehen sah ich Sterne in den
Regenpfützen gespiegelt, sah im Nachtwind am Ufer des heftig rauschenden
Flusses ein paar außerordentlich schöne alte Bäume. Sie würden auch
morgen noch schön sein, aber in diesem Augenblick hatten sie die
magische, nicht wiederkehrende Schönheit, die aus unsrer eigenen Seele
kommt und die, nach den Griechen, nur dann in uns aufleuchtet, wenn Eros
uns angeblickt hat.



                               Tageslauf


Wenn ich es unternehme, den üblichen Verlauf eines Kurtages zu
beschreiben, so wähle ich dazu billigerweise einen durchschnittlichen
Tag, einen Tag ohne extremen Charakter, so einen halb bewölkten, halb
blauen Normaltag ohne besondere Ereignisse von außen und ohne besondere
Vorzeichen und Bezauberungen von innen. Denn natürlich gibt es hier, und
zwar nicht nur für nervöse Literaten, sondern für die ganze Schar der
Ischiatiker, je nach Stand und Verlauf der Kur, Tage voll Beschwerden
und Depression und leichte sanfte Tage des Wohlergehens und der
aufblühenden Hoffnung, Tage, an denen wir hüpfen, und solche, an denen
wir elend dahin schleichen oder hoffnungslos im Bett liegen bleiben.

Mag ich mir nun aber auch alle Mühe mit dem Konstruieren eines
wohltemperierten Durchschnittstages, eines normalen bürgerlichen
Plusminustages geben, ein für mich peinliches Geständnis bleibt mir
dennoch nicht erspart, denn jeder Tag, und gar ein Kurtag, fängt leider
mit einem Morgen an. Es hängt bei mir vermutlich mit meinem tiefsten
Mangel und Laster, dem schlechten Schlafen, zusammen und entspricht auch
sonst in jeder Hinsicht meinem Wesen, meiner Philosophie, meinem
Temperament und Charakter, daß ich mit dem von so viel wunderschönen
Gedichten gepriesenen Morgen gar nichts anzufangen weiß. Es ist eine
Schande, und es fällt mir schwer, es zu gestehen, aber welchen Sinn
hätte das Schreiben, wenn nicht der Wille zur Wahrheit dahinter stünde?
Der Morgen, die berühmte Zeit der Frische, des Neubeginns, des jungen
freudigen Antriebs, ist für mich fatal, ist mir verdrießlich und
peinlich, wir lieben einander nicht. Dabei fehlt es mir nicht am
Verständnis, am Einfühlungsvermögen für jene strahlende Morgenfreude,
wie sie in manchen Gedichten von Eichendorff und von Mörike so erweckend
und hell erklingt, ich empfinde in Gedichten, auf Gemälden und in der
Erinnerung den Morgen ebenso poetisch, und aus der Kindheit her ist mir
etwas wie halbverwischte Erinnerung an echte Morgenlust geblieben,
obwohl ich seit sehr vielen Jahren gewiß an keinem einzigen Morgen
wahrhaft froh gewesen bin. Und auch in das klingendste Bekenntnis zu
frischer Morgenlust, das ich kenne, in den von Wolf komponierten
Eichendorff-Vers „Der Morgen, der ist meine Freude“, höre ich einen
fernen Mißton klingen, denn so wunderbar es klingt, und so sehr
Eichendorffs Morgenstimmung mich überzeugt, ich kann an Hugo Wolfs
Morgenfreude doch nicht recht glauben und finde, er habe sich da eine
wehmütig poetische, sehnsüchtige, nicht erlebte Morgenverherrlichung
gestattet. Alles, was mein Leben schwer und heikel und zu einem
gefährlichen, ja häßlichen Problem macht, spricht am Morgen überlaut,
steht übergroß vor mir. Alles, was mein Leben süß und schön und
außerordentlich macht, alle Gnade, aller Zauber, alle Musik, ist am
Morgen fern und kaum sichtbar, klingt kaum noch wie Sage und Legende
herüber. Aus dem allzu seichten Grabe meines schlechten, kurzen, oft
unterbrochenen Schlafes erhebe ich mich am Morgen, nicht beflügelt mit
Auferstehungsgefühlen, sondern schwer, müde und zaghaft, ohne jeden
Schutz und Panzer gegen die einstürmende Umwelt, die meinen
empfindlichen Morgennerven all ihre Schwingungen wie durch einen
heftigen Vergrößerungsapparat mitteilt, mir ihre Töne durch ein Megaphon
zuheult. Erst von Mittag an wird das Leben wieder erträglich und gut,
und an glücklichen Tagen wird es am Spätnachmittag und Abend wunderbar,
strahlend, schwebend, innig durchglüht von zartem Gotteslicht, voll
Gesetz und Harmonie, voll Zauber und Musik, und entschädigt mich golden
für die tausend und tausend bösen Stunden.

An andrem Orte denke ich gelegentlich zu sagen, warum das Leiden an
Schlafmangel und an diesem Morgenweh mir nicht bloß als Krankheit,
sondern auch als Laster erscheint, warum ich mich seiner schäme und
dennoch empfinde, daß es so sein muß, daß ich diese Dinge weder
wegleugnen noch vergessen noch von außen her „heilen“ darf, sondern
ihrer als des Antriebes und immer erneuerten Stachels für mein
eigentliches Leben und seine Aufgabe bedarf.

Dies Eine nun hat der Badener Kurtag für mich vor den Tagen des
gewohnten Lebens voraus: während der Kur beginnt jeder Tag mit einer
wichtigen, zentralen Morgenpflicht und Aufgabe, und diese Aufgabe ist
leicht, ja angenehm zu erfüllen. Ich meine das Bad. Wenn ich morgens
erwache, einerlei um welche Stunde es sei, so steht als erste und
wichtigste Aufgabe vor mir nicht etwas Lästiges, nicht Ankleiden oder
Turnen oder Rasieren oder Postlesen, sondern das Bad, eine sanfte,
warme, reibungslose Angelegenheit. Mit einem leichten Schwindelgefühl
richte ich mich im Bett auf, setze durch einige vorsichtige Übungen die
eingerosteten Beine wieder in Betrieb, stehe auf, werfe den Schlafrock
über und schreite langsam durch den halbdunkeln, schweigenden Korridor
zum Lift, der mich durch alle Stockwerke bis in den Keller zu den
Badezellen führt. Hier unten ist es sehr schön. In den steinernen, sehr
alten, sanft hallenden Gewölben herrscht beständig eine wunderbare
weiche Wärme, denn überall rinnt das heiße Wasser der Quellen, ein
heimliches, wärmendes Höhlengefühl überkommt mich hier jedesmal, wie ich
es als kleiner Knabe hatte, wenn ich mir aus einem Tisch, zwei Stühlen
und einigen Bettvorlagen oder Teppichen eine Höhle errichtet hatte. In
meiner reservierten Badezelle erwartet mich das tiefe, in den Boden
versenkte, gemauerte Bassin voll heißen, eben aus den Quellen geronnenen
Wassers, ich steige langsam hinein, auf zwei kleinen Steinstufen, drehe
die Sanduhr um und tauche bis zum Kinn in das heiße strenge Wasser, das
ein wenig nach Schwefel riecht. Hoch über mir, am Tonnengewölbe meiner
massiv gemauerten Zelle, die mich sehr an eine Klosterzelle erinnert,
fließt Tageslicht dünn durch ein Fenster mit matten Scheiben; dort oben,
ein Stockwerk höher als ich, hinter dem Milchglas, liegt die Welt, fern,
milchig, kein Ton von ihr erreicht mich. Und um mich her spielt die
wunderbare Wärme des geheimnisvollen Wassers, das da seit tausend Jahren
aus unbekannten Küchen der Erde rinnt und beständig in schwachem Strahl
in mein Bad nachströmt. Nach der Vorschrift soll ich im Wasser meine
Glieder möglichst viel bewegen, Turn- und Schwimmbewegungen ausführen.
Pflichtgemäß tue ich dies auch, einige Minuten lang, dann aber bleibe
ich regungslos liegen, schließe die Augen, schlummere halb, sehe dem
stillen steten Rieseln der Sanduhr zu.

Ein welkes Blatt, durchs Fenster hereingeweht, ein kleines Blatt von
einem Baum, dessen Name mir nicht einfällt, liegt am Rande meines
Bassins, das sehe ich an, lese die Schrift seiner Rippen und Adern, atme
die so merkwürdige Mahnung der Vergänglichkeit, vor der wir schauern und
ohne welche doch nichts Schönes wäre. Wunderbar, wie Schönheit und Tod,
Lust und Vergänglichkeit einander fordern und bedingen! Deutlich fühle
ich, wie etwas Sinnliches, um mich her und in mir innen die Grenze
zwischen Natur und Geist. So wie Blumen vergänglich und schön sind, Gold
aber beständig und langweilig, so sind alle Bewegungen des natürlichen
Lebens vergänglich und schön, unvergänglich aber und langweilig ist der
Geist. Zu dieser Stunde lehne ich ihn ab, sehe den Geist keineswegs als
ewiges Leben, sondern als ewigen Tod, als das Erstarrte, Unfruchtbare,
Gestaltlose, das nur Gestalt und Leben werden kann unter Preisgabe
seiner Unsterblichkeit. Das Gold muß Blume, der Geist muß Leib und muß
Seele werden, um leben zu können. Nein, in dieser lauen Morgenstunde,
zwischen Sanduhr und welkem Blatt, will ich nichts vom Geiste wissen,
den ich zu andern Zeiten sehr verehren kann, ich will vergänglich, will
Kind und Blume sein.

Und daß ich vergänglich bin, daran erinnert mich, nach einer halben
Stunde Liegens in der warmen Flut, der Augenblick des Aufstehens. Ich
klingle dem Wärter, er erscheint und legt mir ein durchwärmtes Badetuch
bereit. Und jetzt erhebe ich mich im Wasser, und da fließt das Gefühl
der Vergänglichkeit mir schwächend durch alle Glieder, denn diese Bäder
ermüden sehr, und wenn ich mich nach einem Bad von dreißig oder vierzig
Minuten erheben will, so gehorchen Knie und Arme nur langsam und mühsam.
Aus dem Behältnis gekrochen, schlage ich das Tuch mir um die Schultern,
will mich tüchtig abreiben, will ein paar energische Bewegungen machen,
um mich zu ermuntern, kann es aber nicht, sondern sinke auf dem Stuhl
zusammen, fühle mich zweihundert Jahre alt und brauche lange, bis ich
mich dazu bringen kann, aufzustehen, Hemd und Schlafrock wieder
anzuziehen und zu gehen.

Ich gehe langsam, mit weichen Knien, durch die stillen Gewölbe, hinter
deren Zellentüren da und dort das Wasser rauscht, zur Schwefelquelle
hinüber, welche unter Glas zwischen gelblich beschlagenem Gestein
sprudelt und kocht. Eine rätselhafte Geschichte ist von dieser Quelle zu
berichten. Auf dem Rande ihrer steinernen Fassung stehen, zur Benutzung
für die Gäste, stets zwei Wassergläser, vielmehr, das ist eben die
Geschichte, sie stehen nicht da, sondern jeder Gast, wenn er dürstend
zur Quelle kommt, muß die Erfahrung machen, daß die beiden Gläser schon
wieder verschwunden sind. Man schüttelt alsdann den Kopf, soweit eben
ein Kurgast nach dem Bade eine solche Bewegung auszuführen vermag, man
ruft nach Bedienung, und es erscheint bald der Hausdiener, bald der
Kellner, bald ein Zimmermädchen oder eine Badewärterin, bald der
Liftboy, und sie alle schütteln ebenfalls den Kopf und begreifen nicht,
wohin nun schon wieder diese unheimlichen Gläser gekommen sind. Eiligst
wird jedesmal ein neues Glas gebracht, der Gast füllt es, trinkt es aus,
stellt es auf den Stein und geht – und wenn er in zwei Stunden wieder
kommt, um nochmals einen Schluck zu nehmen, ist wieder kein Glas da. Von
den Angestellten, welchen diese rätselhafte Glasgeschichte verdrießlich
ist und Mehrarbeit macht, stellt jeder seine eigene Erklärung für das
Schwinden der Gläser auf, welche jedoch alle nicht überzeugend wirken.
Der Boy zum Beispiel meinte naiv, die Gläser würden eben häufig von den
Gästen mit in ihre Zimmer genommen. Als ob sie da nicht täglich von den
Zimmermädchen wiedergefunden werden würden! Kurz, die Sache ist
unaufgeklärt, und nur mir allein ist es schon acht- oder zehnmal
passiert, daß man mir ein neues Glas holen mußte. Da unser Hotel etwa
achtzig Gäste hat und da diese Kurgäste, seriöse ältere Leute mit Gicht
und Rheumatismen, vermutlich keine Gläser stehlen, so nehme ich an, daß
es entweder ein pathologischer Sammler oder aber ein nicht menschliches
Wesen, ein Quelldämon oder Drache ist, welcher die Gläser wegnimmt,
vielleicht um die Menschen für die Ausbeutung der Quelle zu strafen, und
vielleicht findet einst ein im Kellergewölbe irrgelaufenes Sonntagskind
den Eingang zu einem verborgenen Schachte, wo ganze Gebirge von
Trinkgläsern angehäuft stehen, denn nach meinen vorsichtigen
Berechnungen müssen in einem einzigen Jahre mindestens zweitausend
Gläser sich dort ansammeln.

An dieser Quelle nun fülle ich mir ein Glas und trinke das warme
dickliche Wasser mit Vergnügen. Meist sitze ich dabei schon wieder und
kann dann nur schwer den Entschluß zum Wiederaufstehen finden. Ich
schleppe mich zum Lift, angenehme Vorstellungen von erfüllter Pflicht
und verdienter Rast im Hirn, denn mit dem Baden und Trinken habe ich
tatsächlich die wichtigsten Vorschriften des Tages erfüllt. Dagegen ist
es noch früh am Tage, höchstens sieben oder halb acht Uhr, manche
Stunden sind noch bis Mittag, und ich gäbe alles dafür, wenn ich einen
Zauber wüßte, Morgenstunden in Abendstunden zu verwandeln.

Für den Augenblick allerdings kommt mir wieder die Kurvorschrift zu
Hilfe, die mich nach dem Bade nochmals ins Bett befiehlt. Meiner dösigen
Bademüdigkeit entspricht dies sehr, aber um diese Tageszeit hat das
Leben im Hotel längst begonnen, die Dielen krachen unter den hastigen
Tritten der Zimmermädchen und Frühstückträgerinnen, und die Türen
fliegen. Da ist an Schlaf, außer für Minuten, nicht mehr zu denken, denn
jene Antiphone sind noch nicht erfunden, die das überwache, raffinierte
Ohr des Schlaflosen wirklich schützen.

Nichtsdestoweniger ist es angenehm, sich nochmals hinzulegen, die Augen
nochmals zuzutun, noch nicht an all die dummen Verrichtungen zu denken,
die der Morgen von uns verlangt: das dumme Anziehen, das dumme Rasieren,
das dumme Krawattenflechten, das Gutentagsagen, das Lesen der Post, das
Sichentschließen zu irgendeiner Tätigkeit, das Wiederaufnehmen der
ganzen Lebensmechanik.

Indessen liege ich im Bett, höre die Zimmernachbarn lachen, schimpfen,
gurgeln, höre die Korridorklingel rasseln und das Personal laufen und
sehe bald, daß es keinen Zweck hat, das Unvermeidliche länger
hinauszuschieben. Wohlan denn, friß, Vogel! Ich stehe auf, ich wasche
mich, ich rasiere mich, ich führe alle jene komplizierten Evolutionen
aus, welche erforderlich sind, um in die Kleider und Schuhe
hineinzukommen, ich würge mich in den Hemdkragen, stopfe die Uhr in die
Westentasche, schmücke mich mit der Brille, alles mit dem Gefühl des
Sträflings, der die Ordnung dieser vorgeschriebenen Verrichtungen seit
Jahrzehnten kennt und weiß, dies dauert lebenslänglich, es nimmt niemals
ein Ende.

Um neun Uhr erscheine ich, ein bleicher, lautloser Gast, im Speisesaal,
setze mich an meinen kleinen runden Tisch, begrüße stumm das hübsche,
fröhliche Mädchen, das mir Kaffee bringt, streiche eine Semmel mit
Butter, stecke eine andre in die Tasche, schneide die daliegenden
Briefumschläge auf, stopfe das Frühstück in meinen Schlund, die Briefe
in meine Rocktasche, sehe im Korridor einen gelangweilten Kurgast
herumstehen, der sich mit mir zu unterhalten wünscht und schon von
weitem einladend lächelt, auch schon zu reden beginnt, dazu noch
französisch, renne ihn kurz entschlossen über den Haufen, murmele
„Pardon“ und stürze auf die Straße hinaus.

Hier und im Kurgarten oder im Walde gelingt es mir nun, in der
wünschenswerten Isoliertheit den Morgen vollends herumzubringen.
Zuweilen glückt es mir, zu arbeiten, das heißt auf einer Bank im Park,
den Rücken gegen die Sonne und gegen die Menschen, einiges von den
Gedanken aufzuschreiben, die ich noch von den Nachtstunden her in mir
vorfinde. Meistens laufe ich spazieren und bin dann froh über die halbe
Semmel in meiner Tasche, denn es ist eine meiner besten Morgenfreuden
(der Ausdruck ist allerdings zu heftig), dies Brot zu verkrümeln und an
die vielen Finken und Meisen zu verfüttern. Ich denke dabei
grundsätzlich nicht daran, daß in Deutschland, ein paar Meilen von hier,
auch auf der reichen Leute Tisch kein solches Weißbrot liegt und
Tausende überhaupt kein Brot haben. Ich verwehre diesem Gedanken, der so
nahe steht, den Zutritt zu meinem Bewußtsein und finde dies Verwehren
oft recht anstrengend.

In Sonne oder Regen, arbeitend oder spazierend, irgendwie und irgendwo
habe ich schließlich den Vormittag abgewickelt, und es kommt die hohe
Stunde des Kurtages, das Mittagessen. Ich kann versichern, daß ich kein
Fresser bin, aber auch für mich, der die Freuden des Geistes und der
Askese kennt, ist diese Stunde feierlich und wichtig. Aber dieser Punkt
fordert eine eingehendere Betrachtung.

Es gehört, wie ich schon in der Vorrede angedeutet habe, zur Gemütsart
und Denkweise des nicht mehr jungen Rheumatikers und Gichtbrüchigen, daß
er die Unmöglichkeit eingesehen hat, die Welt geradlinig zu verstehen,
daß er Sinn und Achtung hat für die Antinomien, für die Notwendigkeit
der Gegensätze und Widersprüche. Manche von diesen Widersprüchen nun
bringt, ohne an ihre tiefe philosophische Grundlegung zu rühren, das
Badener Kurleben mit bewundernswerter Drastik zum Ausdruck. Viele
solcher Gleichnisse könnte man hier entdecken, ich erinnere nur, um
etwas recht Banales zu wählen, zum Beispiel an die vielen Ruhebänke,
welche überall in Baden aufgestellt sind: sie laden alle die rasch
ermüdenden, ihrer Beine nicht recht sicheren Kurgäste zum Absitzen und
Ausruhen ein, und allzu gerne folgt der Gast dem freundlichen Wink. Kaum
sitzt er aber eine Minute, so ringt er sich entsetzt wieder in die Höhe,
denn der menschenfreundliche Errichter all dieser vielen Sitzbänke, ein
tiefer Philosoph und Ironiker, hat ihre Sitzflächen aus Eisen
konstruiert, und der darauf niedersitzende Ischiatiker sieht sich an der
empfindlichsten Stelle seines kranken Leibes einem vernichtenden
Kältestrom ausgesetzt, welchen alsbald wieder zu fliehen der Instinkt
ihn treibt. So erinnert ihn die Bank daran, wie ruhebedürftig er ist,
und mahnt ihn eine Minute später ebenso deutlich daran, daß des Lebens
Kern und Quelle die Bewegung sei und daß einrostende Gelenke nicht so
sehr der Ruhe als des Trainings bedürfen.

Viele solcher Beispiele ließen sich finden. Monumentaler aber als in
allen andern kommt der Badener Geist, der sich stets in Antithesen
bewegt, zur Mittags- und Abendstunde im Speisesaal zum Ausdruck. Da
sitzen also Dutzende von kranken Menschen, von denen jeder seine Gicht
oder Ischias mitgebracht hat, von denen jeder einzig darum nach Baden
gekommen ist, um seine Beschwerden womöglich durch die Kur loszuwerden.
Jede einfache, geradlinige, jede jugendlich-puritanische Lebensweisheit
nun würde, auf klare und einfache Lehren der Chemie und Physiologie
gestützt, diesen Kranken neben den heißen Bädern vor allem eine
spartanisch einfache, fleischlose und alkoholfreie, reizlose Ernährung
dringendst anraten, womöglich sogar Fastenkuren. So jugendlich, so
einfach und einseitig aber denkt man in Baden nicht, sondern seit
Jahrhunderten ist Baden ebensosehr wie durch seine Bäder durch seine
üppige und köstliche Küche berühmt, und in der Tat gibt es wohl im Lande
wenige Orte und Gasthäuser, wo die Leute so gut und reichlich schmausen,
wie die Stoffwechselkranken in Baden es tun. Da werden die delikatesten
Schinken mit Dezaley, die saftigsten Schnitzel mit Bordeaux begossen,
zierlich schwimmt zwischen Suppe und Braten die blaue Forelle, und den
reichlichen Fleischgängen folgen wunderbare Kuchen, Puddings und Cremen.

Frühere Autoren haben diese uralte Badener Eigentümlichkeit verschieden
zu erklären versucht. Die hiesige hohe Küchenkultur zu verstehen und zu
billigen ist leicht; jeder der tausend Kurgäste tut es täglich zweimal;
sie zu erklären ist schwieriger, da die Ursachen sehr komplexer Natur
sind. Einige der wichtigsten nenne ich im folgenden, zuvor aber möchte
ich mit aller Entschiedenheit jene platt rationalistischen Begründungen
ablehnen, denen man so häufig begegnet. Oft zum Beispiel hört man
vulgäre Denker sagen, das gute Badener Essen, das im Widerspruch mit den
eigentlichen Interessen der Kurgäste steht, habe sich eben im Laufe der
Zeiten so ausgebildet und rühre von der Konkurrenz der verschiedenen
Badehotels her, denn Baden sei nun einmal seit alters für gutes Essen
bekannt und jeder Wirt habe das Interesse, hierin hinter den
Konkurrenten mindestens nicht zurückzustehen. Diese so wohlfeile und
oberflächliche Argumentation hält keiner Prüfung stand, schon weil sie
das Problem selbst umgeht und die Frage nach dem eigentlichen Entstehen
der guten Badener Küche durch den Hinweis auf Tradition und
Vergangenheit abtun will. Und am allerwenigsten kann uns der absurde
Gedanke genügen, die Gewinnsucht der Gastwirte sei schuld an dem guten
Essen! Als ob irgendein Wirt ein Interesse daran haben könnte, seine
Spesen für Metzger, Bäcker und Konditor möglichst zu vergrößern, und gar
hier in Baden, wo jeder Besitzer eines Badehotels seinen Gästemagneten,
seine große, nie erlahmende Attraktion seit Jahrhunderten unten im
Keller liegen hat in Gestalt der heißen Mineralquellen!

Nein, wir müssen wesentlich tiefer graben, um dem Phänomen eine Theorie
zu geben. Das Geheimnis liegt weder in Gewohnheiten und Traditionen der
Vergangenheit noch im Kalkül der Wirte, es liegt tief im Grunde des
Weltgefüges, als einer der ewigen, als gegeben hinzunehmenden Dualismen
und Antinomien. Wäre das Essen in Baden traditionell mager und spärlich,
so könnten die Wirte zwei Drittel ihrer Ausgaben sparen und hätten
dennoch die Häuser voll, denn ihre Gäste werden nicht vom Essen hierher
gezogen, sondern von den Zuckungen ihres _nervus ischiaticus_ hergejagt.
Aber nehmen wir nun einmal, probeweise, an, man lebe in Baden rationell,
man bekämpfe Harnsäure und Sklerose nicht bloß mit Bädern, sondern auch
mit Abstinenz und Fasten – was wäre die mutmaßliche Folge? Die Kurgäste
würden gesund werden, und in Bälde würde es im ganzen Lande keine
Ischias mehr geben, welche doch, gleich allen Formen der Natur, ihr
Recht auf Dasein und Dauer hat. Die Bäder würden entbehrlich, die Hotels
müßten verfallen. Und wenn man diesen letztern Schaden auch gering
achten wollte oder ersetzen könnte, so würde doch das Fehlen der Gicht
und Ischias im Weltplan, das Leerlaufen der köstlichen Quellen keine
Verbesserung der Welt ergeben, sondern das Gegenteil.

Nächst dieser mehr theologischen Begründung folge die psychologische.
Wer von uns Kurgästen wollte, neben den Bädern und Massagen, neben der
Sorge und Langeweile auch noch Fasten und Kasteien ertragen? Nein, wir
ziehen es vor, nur halb gesund zu werden und es dafür etwas
vergnüglicher und hübscher zu haben, wir sind nicht Jünglinge mit
unbedingten Forderungen an uns und andre, sondern ältere Leute, tief in
die Bedingtheiten des Lebens verstrickt, daran gewohnt, fünfe gerade
sein zu lassen. Und bedenken wir die Frage ernstlich: Wäre es richtig
und wünschenswert, daß jeder von uns durch eine ideale Kur vollkommen
und ganz geheilt würde und nie zu sterben brauchte? Wenn wir diese etwas
heikle Frage ganz gewissenhaft beantworten, so lautet unsere Antwort:
Nein. Nein, wir wollen nicht ganz geheilt sein, wir wollen nicht ewig
leben.

Allerdings möchte jeder von uns, für sich allein befragt, vielleicht
eher ja sagen. Wenn ich, der Kurgast und Schriftsteller Hesse, gefragt
würde, ob ich damit einverstanden sei, daß dem Schriftsteller Hesse
Krankheit und Tod erspart bleibe, ob ich sein ewiges Fortleben für gut,
wünschenswert und notwendig halte, so würde ich, eitel wie Literaten es
sind, die Frage vielleicht zunächst bejahen. Aber sobald man mir
dieselbe Frage in bezug auf andere stellte, auf den Kurgast Müller, den
Ischiatiker Legrand, auf den Holländer von Nr. 64, so würde ich mich
sehr rasch zum Nein entschließen. Nein, es ist in der Tat nicht
notwendig, daß wir älteren, nicht mehr allzu hübschen Leute, sei es auch
ohne Gicht, endlos weiter leben. Es wäre sogar sehr fatal, es wäre sehr
langweilig, sehr häßlich. Nein, wir wollen gerne sterben, später. Aber
für heute ziehen wir vor, nach den ermüdenden Bädern, nach dem mühsam
totgeschlagenen Vormittag, es ein wenig gut zu haben, einen Hühnerflügel
abzunagen, einen guten Fisch abzuhäuten, ein Glas Rotwein zu schlürfen.
So sind wir, feig und schwach und genußsüchtig, alte, egoistische Leute.
So ist unsre Psychologie, und da unsre Seele, die der Rheumatiker und
alternden Leute, auch die Seele Badens ist, sehen wir die Badener
Eßtradition auch von dieser Seite gerechtfertigt.

Ist es nun genug der Beweise, der Rechtfertigung für unser Wohlleben?
Bedarf es weiterer Gründe? Es gibt noch hundert. Ein einziger, sehr
einfacher, sei noch genannt: die Mineralbäder „zehren“ nämlich, das
heißt, sie machen hungrig. Und da ich nicht bloß Kurgast und Esser bin,
sondern zu andern Zeiten auch den Gegenpol aufsuche und die Freuden des
Fastens kenne, beschwert es mein Gewissen nicht, angesichts einer
darbenden Welt und zum Schaden für meinen Stoffwechsel drei Wochen lang
die Schlemmerei mitzumachen.

Ich bin lange abgeschweift. Kehren wir zum Tageslauf zurück! Ich sitze
also an der Mittagstafel, sehe den Fisch, den Braten, das Obst einander
ablösen, blicke in den Pausen lange und nachdenklich auf die Beine der
servierenden Saaltöchter, alle in schwarzen Strümpfen, blicke
nachdenklich, doch weniger lange auf die Beine des Oberkellners. Sie
(die Beine des Oberkellners) sind uns Patienten allen ein teurer
Anblick, ein großer Trost. Dieser Kellner nämlich, ohnehin ein sehr
angenehmer Herr, hat einst an äußerst schweren und schmerzhaften
Rheumatismen gelitten, so daß er nicht mehr zu gehen vermochte, und ist
durch eine Badener Kur vollständig geheilt worden. Jeder von uns weiß
es, manchen hat er es selbst erzählt. Darum sehen wir oft so
nachdenklich auf die Beine des Oberkellners. Die Beine der jungen
Saaltöchter aber, in schwarzen Strümpfen, sind ganz ohne Kur von selber
so schlank und beweglich, und dies dünkt uns noch tieferen Nachdenkens
wert.

Da ich für mich allein lebe, sind die Mahlzeiten auch die einzigen
Anlässe, bei denen ich meine Mitkurgäste etwas näher kennen lerne. Ihre
Namen zwar weiß ich nicht, und ich habe nur mit wenigen ein Wort
gewechselt, aber ich sehe sie sitzen, sehe sie essen und erfahre dabei
manches. Der Holländer, mein Zimmernachbar, dessen Stimme jeden Abend
und Morgen durch die Wand hindurch mich stundenlang des Schlafes
beraubt, hier bei Tische spricht er mit seiner Frau so gedämpft, daß ich
seine Stimme nicht kennen würde, wäre es nicht von Nummer 64 her. O du
sanfter Knabe!

Einige Figuren unsres mittäglichen Theaters erfreuen mich täglich durch
die Entschiedenheit ihres Umrisses, durch die Bestimmtheit ihrer Rolle.
Es ist eine Riesin aus Holland da, zwei Meter hoch oder mehr und
reichlich schwer, eine majestätische Erscheinung, würdig, unsre
Kurfürstin darzustellen. Ihre Haltung ist prachtvoll, ihr Gang aber läßt
zu wünschen übrig, und seltsam kokett und gefährlich, fast beklemmend
sieht es aus, wenn sie den Saal betritt, gestützt auf einen zierlich
dünnen, spielerischen Stock, den man in jedem Augenblick erwartet
brechen zu sehen. Aber vielleicht ist er von Eisen.

Dann ist ein furchtbar ernsthafter Herr da, ich wette, daß er mindestens
Nationalrat ist, durch und durch moralisch, männlich, patriotisch, das
untere Augenlid etwas rot und hängend wie bei jenen treuen Hunden am St.
Bernhard, der Nacken breit und steif, jedem Schlag standhaltend, die
Stirn voll Falten, die Brieftasche voll wohlerworbener und genau
gezählter Banknoten, die Brust voll einwandfreier, hoher, doch
intoleranter Ideale. Einmal in einer furchtbaren Nacht hat mir geträumt,
dieser Mann sei mein Vater und ich stehe vor ihm und müsse mich
verantworten: erstens wegen Mangel an Patriotismus, zweitens wegen eines
Spielverlustes von fünfzig Franken, drittens weil ich ein Mädchen
verführt hätte. Am Tag nach jenem tödlichen Traume sehnte ich mich sehr
nach dem leibhaften Wiedersehen jenes Herrn, vor dem ich im Traume so
sehr hatte zittern müssen. Sein Anblick würde mich heilen, denn stets
ist ja die Wirklichkeit so viel harmloser als das Bild unsres
Angsttraumes, der Mann würde vielleicht lächeln oder mir zunicken oder
einen Scherz mit der Saaltochter machen oder mindestens durch seine
körperliche Erscheinung das Zerrbild meines Traumes korrigieren. Aber
als es Mittag war und ich den strengen Herrn beim Essen wiedersah, da
nickte er nicht noch lächelte er, finster saß er vor seiner
Rotweinflasche, und jede Falte seiner Stirn und seines Nackens drückte
unerbittliche Moralität und Entschlossenheit aus, und ich hatte
furchtbar Angst vor ihm, und am Abend betete ich, ich möchte nicht
wieder von ihm träumen müssen.

Dagegen wie hold, wie lieblich und voll Anmut ist Herr Kesselring, ein
Mann in den besten Jahren, sein Beruf ist mir nicht bekannt, aber er muß
Hidalgo oder etwas Ähnliches sein. Hellblond wallt das Seidenhaar um
seine reine Stirn, zart lockt in seiner Wange das heitere Grübchen,
schwärmerisch und entzückt blickt das hellblaue Kinderauge, zärtlich
streicht die lyrische Hand über die elegante farbige Weste. Kein Falsch
kann in dieser Brust wohnen, keine unedle Regung den Adel dieser
poetischen Züge trüben. Rosig vom Scheitel bis zur Zehe wie ein Mädchen
von Renoir, mag Kesselring in jüngeren Jahren wohl den schelmischen
Gespielen Cupidos sich gesellt haben, der Holde. Wie aber dieser süße
Bursche mich erschreckte und enttäuschte, als er mir einst zur
Dämmerstunde im Rauchzimmer eine kleine Taschenkollektion von
unanständigen Bildchen zeigte, dafür fehlen mir die Worte.

Der interessanteste und hübscheste Gast, den ich in diesem Saale je
gesehen, ist aber heute nicht da, nur ein einziges Mal habe ich ihn hier
sitzen sehen, und da saß er mir gegenüber an meinem kleinen runden
Tisch, eine Abendstunde lang, mit den braunen frohen Augen, mit den
schlanken klugen Händen, zwischen all den Patienten eine einsame Blume
voll Jugend und Glanz. Geliebte, komm wieder, um mit mir von den guten
Speisen zu essen und den guten Wein zu kosten und den Saal mit unsern
Märchen und unsrem Gelächter zu erhellen!

Wir Gäste kontrollieren einander, wie das in Sommerfrischen üblich ist,
nur spielt dabei die Mode und Eleganz eine geringe Rolle. Desto genauer
verfolgen wir das Befinden unsrer Mitbrüder, denn in ihnen sehen wir uns
selbst gespiegelt, und wenn der greise Herr von Nummer 6 heute einen
guten Tag hat und von der Türe bis zum Tisch alleine gehen kann, so
freut das uns alle, und alle schütteln wir betrübte Köpfe, wenn wir
hören, daß Frau Flury heute das Bett nicht verlassen könne.

Nachdem wir dann eine Stunde lang gut gegessen und einander betrachtet
haben, brechen wir ungern dies Vergnügen ab und verlassen den Saal
unsres Wohlgefallens. Für mich fängt jetzt der leichtere Teil des Tages
an. Bei gutem Wetter suche ich den Hotelgarten auf, wo ich an
verstecktem Ort einen Liegestuhl stehen habe, mein Notizbuch und
Bleistift und einen Band Jean Paul dabei. Um drei oder vier Uhr habe ich
meistens „Behandlung“, das heißt, ich muß beim Arzt antreten und werde
von seinen Assistentinnen nach den neuesten Methoden behandelt. Ich
sitze unter der Quarzlampe, wobei ich das Verlangen habe, die
Sonnenkräfte dieser Zauberlaterne möglichst auszunützen und die
bedürftigsten Körperteile so nahe wie möglich ans Zündloch zu halten.
Einige Male habe ich mich dabei verbrannt. Ferner erwartet mich die
unermüdliche Mitarbeiterin des Doktors zur Diathermie. Sie bindet kleine
Kissen, elektrische Pole, um mein Handgelenk und läßt den Strom
hindurch, während sie zugleich mit zwei ebensolchen Kissen meinen Nacken
und Rücken bearbeitet, wobei ich nichts zu tun habe als zu schreien,
wenn es zu sehr brennt. Auch besteht – ein Reiz mehr – während dieser
Behandlungszeit stets die Möglichkeit, daß der Arzt eintritt und sich
ein Gespräch mit ihm ergibt, und wenn auch diese Hoffnung sich an
neunzehn von zwanzig Tagen nicht erfüllt, mitgerechnet muß sie doch
werden.

Ich entschließe mich zu einem kleinen Spaziergang, und wie ich am Tor
des Kurgartens vorbeikomme, merke ich am lebhaften Besuch, daß oben im
Kursaal wieder eines der vielen Konzerte sein muß, welche dort immerzu
stattfinden und von denen ich noch keines gehört habe. Ich trete also
ein und finde im Kursaal ein sehr zahlreiches Publikum versammelt, es
ist das erstemal, daß ich das hiesige Kur- und Krankenvolk so in
_corpore_ antreffe. Viele hundert Kollegen und Kolleginnen sitzen da auf
Stühlen, einige vor einem Tee oder Kaffee, andre mit Büchern oder
Strickstrümpfen versehen, und hören einer kleinen Gesellschaft von
Musikern zu, welche fern im Hintergrund des Saales heftig spielen. Lange
steh’ ich bei der Tür und schaue und höre zu, denn kein Stuhl ist frei.
Ich sehe die Musiker arbeiten, sie spielen komplizierte Stücke meist
unbekannter Meister, und es liegt nicht an der Qualität ihres Spiels,
wenn ich diesem ganzen Unternehmen keine Sympathie entgegenbringen kann.
Die Musiker machen ihre Sache sogar sehr gut – und eben darum wünsche
ich, sie möchten richtige Musik spielen statt all dieser Kunststücke,
Bearbeitungen und Arrangements. Und doch wünsche ich auch dieses
eigentlich nicht. Es wäre mir um nichts wohler, wenn statt diesem
unterhaltenden Auszug aus Carmen oder aus der Fledermaus etwa ein
Schubertquartett oder ein Duo von Händel gespielt würde. Um Gottes
willen, das wäre noch schlimmer. Ich habe das bei einem ähnlichen
Anlasse einmal erleben müssen. Bei schwach besuchtem Saal spielte damals
der erste Geiger einer Cafémusik die Chaconne von Bach, und während er
sie spielte, notierte mein Ohr folgende gleichzeitige Eindrücke: zwei
junge Herren bezahlten einer Kellnerin ihre Zeche und ließen sich kleine
Münze auf den Tisch zählen – eine energische Dame reklamierte in der
Garderobe heftig ihren Regenschirm – ein etwa vierjähriger, entzückender
kleiner Junge unterhielt eine Tischrunde durch sein hellstimmiges
Gezwitscher –, außerdem waren Flaschen und Gläser, Tassen und Löffel in
Tätigkeit, und eine alte Frau mit schwachem Augenlicht stieß, zu ihrem
eigenen heftigen Schrecken, einen Teller mit Gebäck über den Tischrand
hinab. Jeder dieser Vorgänge, für sich betrachtet, war ein vollgültiges,
meiner Sympathie und Aufmerksamkeit würdiges Geschehnis, dem
gleichzeitigen Andringen und Werben so vieler Eindrücke aber fühlte ich
mich seelisch nicht gewachsen. Und daran war einzig die Musik schuld,
die Bachsche Chaconne, sie war es allein, welche störte. – Nein, alle
Achtung vor den Musikern im Kursaal! Aber diesem Konzert fehlte für mich
die eine Hauptsache: der Sinn. Daß zweihundert Personen Langeweile haben
und nicht wissen, wie sie den Nachmittag herumbringen sollen, das ist in
meinen Augen keine zureichende Begründung dafür, daß einige gute Musiker
Bearbeitungen aus bekannten Opern spielen. Was diesem Konzert hier
fehlte, war bloß das Herz, das Innerste: die Notwendigkeit, das
lebendige Bedürfnis, die Spannung von Seelen, wartend auf Erlösung durch
die Kunst. Indessen kann ich mich hierin täuschen. Wenigstens sehe ich
bald, daß auch dieses eher schwunglose Publikum nicht eine homogene
Masse ist, sondern aus vielen einzelnen Seelen besteht, und eine dieser
Seelen reagiert auf die Musik mit größter Sensibilität. Zuvorderst im
Saal, ganz nahe dem Podium, sitzt ein leidenschaftlicher Musikfreund,
ein Herr mit schwarzem Bart und goldenem Kneifer, der wiegt, weit
zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen trunken seinen hübschen Kopf im
Takte der Musik, und wenn ein Stück zu Ende ist, so erschrickt er, reißt
die Augen auf und eröffnet als erster die Salve des Beifalls. Allein mit
dem Klatschen nicht zufrieden, erhebt er sich auch noch, tritt ans
Podium, weiß sich dem Kapellmeister von hinten bemerklich zu machen und
überschüttet ihn, unter andauerndem Beifall der Menge, mit Worten
begeisterten Lobes.

Des Stehens müde und von dieser Veranstaltung weniger hingerissen als
der bärtige Enthusiast, denke ich bei der zweiten Pause eben daran, mich
wieder zu entfernen, als aus einem Nebenraume her ein rätselhaftes
Geräusch mein Ohr erreicht. Ich frage einen benachbarten Ischiatiker und
erfahre, daß dort ein Spielsaal sei. Erfreut eile ich hinüber. Richtig,
da stehen Palmen in den Ecken und runde plüschene Sitzgelegenheiten, und
an einem großen grünen Tische wird, wie es scheint, Roulette gespielt.
Ich pirsche mich heran, der Tisch ist dicht von Neugierigen umstellt,
zwischen deren Schultern hindurch ich einen Teil der Vorgänge beobachten
kann. Mein Auge wird zuerst gefesselt von dem Herrn des Tisches, einem
rasierten Herrn im Frack, ohne Alter, mit braunen Haaren und einem
stillen philosophischen Angesicht, der eine staunenerregende Fertigkeit
darin besitzt, mit nur einer Hand und mit Hilfe einer aparten
elastischen Krücke oder Harke Geldstücke blitzschnell von jedem Felde
des Tisches auf beliebige andere Felder zu schnellen. Er handhabt die
biegsame Talerharke wie ein geschickter Forellenangler die englische
Stahlrute, und außerdem kann er Geldstücke im Bogen durch die Luft so
schleudern, daß sie auf dem gewünschten Tischfeld niederfallen. Und bei
all dieser Tätigkeit, deren Rhythmen durch die Rufe seines jüngeren
Gehilfen, welcher die Kugel bedient, beeinflußt werden, bleibt sein
stilles, blank rasiertes und rosiges Gesicht unter dem braunen, etwas
leblosen Haar immerdar gleich still und ruhig. Lange sehe ich ihm zu,
wie er unbeweglich sitzt, auf einem eigenen, besonders gebauten
Stühlchen mit schräggestellter Sitzfläche, wie er in dem stillen Gesicht
einzig die raschen Augen bewegt, wie er die Talerstücke mit spielender
Linken ausschleudert, sie mit spielender Rechten mittels der Harke
wieder einfängt und in die Ecken schnellt. Vor ihm stehen Säulen von
großen und kleinen Silberstücken, Stinnes kann nicht mehr haben. Immerzu
wirft sein Gehilfe den Ball, der in ein beziffertes Loch rollt, immerzu
ruft er die Zahl des Loches aus, ladet zum Spiele ein, teilt mit, daß
die Einsätze gemacht seien, warnt: „_rien ne va plus_“, und immerzu
spielt und arbeitet der ernste Herr am Tische. Oft hatte ich dies schon
gesehen, in früheren Jahren, in der fernen sagenhaften Zeit vor dem
Kriege, in den Jahren meiner Reisen und Wanderungen, in vielen Städten
der Welt hatte ich diese Palmen und Polster, diese selben grünen Tische
und Kugeln gesehen und dabei an die schönen schwülen Spielergeschichten
von Turgenjew und Dostojewski gedacht und mich dann wieder anderen
Dingen zugewendet. Nur eines fiel mir hier bei näherer Prüfung auf, daß
nämlich das ganze Spiel einzig zur eigenen Belustigung des Herrn im
Frack betrieben wurde. Er warf seine Taler aus, schob sie von Fünf auf
Sieben, von Grade auf Ungrade, zahlte die Gewinne aus, strich die
Verlierenden ein – aber alles war sein eigenes Geld. Kein Mensch aus dem
Publikum machte einen Einsatz, es waren lauter Kurgäste, meist von
ländlicher Herkunft, die mit Freude und tiefer Bewunderung, ebenso wie
ich, den Evolutionen des Philosophen folgten und den französischen,
kühlen, wie geeisten Rufen seines Gehilfen lauschten. Als ich nun, von
Mitleid ergriffen, zwei Franken auf die mir erreichbare Ecke des Tisches
legte, richteten fünfzig Augen sich gebannt und weit aufgerissen auf
mich, und das war mir so peinlich, daß ich kaum mehr den Augenblick
abwartete, wo meine Franken unter der Harke verschwanden, und mich eilig
entfernte.

Auch heute wieder bringe ich einige Minuten vor den Schaufenstern der
Badestraße zu. Da sind mehrere Ladengeschäfte, in welchen die Kurgäste
die ihnen unentbehrlich scheinenden Artikel kaufen können, namentlich
Ansichtskarten, bronzene Löwen und Eidechsen, Aschenbecher mit
Bildnissen berühmter Männer (so daß der Käufer sich zum Beispiel den
Spaß machen kann, täglich seine brennende Zigarre dem Richard Wagner ins
Auge zu stoßen) und viele andere Gegenstände, über welche ich mich nicht
zu äußern wage, da ich trotz langem Betrachten ihre Artung und
Bestimmung nicht zu ergründen vermochte; manche von ihnen scheinen den
kultlichen Bedürfnissen primitiver Volksstämme zu dienen, doch mag dies
Irrtum sein, und alle zusammen machen sie mich traurig, denn sie zeigen
mir allzu deutlich, daß ich trotz allem guten Willen zur Sozialität
dennoch außerhalb der bürgerlichen und wirklichen Welt lebe, nichts von
ihr weiß und sie ebensowenig je wirklich verstehen werde, wie ich, trotz
allen meinen langjährigen schriftlichen Bemühungen, mich jemals ihr
verständlich werde machen können. Wenn ich in diese Schaufenster blicke,
in welchen nicht Gegenstände des täglichen Bedarfs angeboten werden,
sondern sogenannte Geschenk-, Luxus- und Scherzartikel, dann entsetzt
mich die Fremdheit dieser Welt; unter hundert Gegenständen sind zwanzig,
dreißig, deren Bestimmung, Sinn und Gebrauchsart ich nur ganz vage zu
ahnen vermag, und ist kein einziger, dessen Besitz mir wünschenswert
schiene. Da sind Gegenstände, bei deren Anblick ich lange raten kann:
Steckt man das auf den Hut? oder in die Tasche? oder ins Bierglas? oder
gehört es zu einer Art Kartenspiel? Es gibt da Bilder und Inschriften,
Devisen und Zitate, welche aus mir völlig unbekannten, meiner Ahnung
unzugänglichen Vorstellungswelten stammen, und es gibt dann wieder
Verwendungsarten mir wohlbekannter und ehrwürdiger Symbole, die ich
weder verstehen noch billigen kann. Die geschnitzte Figur Buddhas oder
einer chinesischen Gottheit zum Beispiel auf dem Griff eines modischen
Damenschirmes ist und bleibt mir rätselhaft, fremd und peinlich, ja
unheimlich; ein gewolltes und bewußtes Sakrileg kann es kaum sein –
welche Vorstellungen, Bedürfnisse und Seelenzustände aber den
Unternehmer zur Herstellung, die Käufer zum Kauf dieser irrsinnigen
Gegenstände bewegen, dies ist es, was zu wissen ich so begierig wäre und
was ich auf keine Weise erfahren kann. Oder ein modisches Kaffeehaus, wo
um fünf Uhr die Leute sitzen! Ich kann es vollkommen verstehen, daß
wohlhabende Leute Spaß daran finden, Tee, Kaffee und Schokolade zu
trinken und dazu Schlagsahne und teure feine Patisserien zu genießen.
Warum aber freie und vollsinnige Menschen sich im Genuß dieser Dinge
durch eine aufdringlich einschmeichelnde, übersüßte Musik, durch ein
unsäglich enges und unherrschaftliches, banges Sitzen in überfüllten,
engen, mit ganz entbehrlichem Putz und Schmuck überladenen Räumen stören
lassen, vielmehr warum all diese Störungen, Unbequemlichkeiten und
Widersprüche von den Menschen gar nicht als solche empfunden, sondern
noch geliebt und aufgesucht werden, dies werde ich nie ergründen und
habe mir angewöhnt, es meiner, wie gesagt, leicht schizophrenen
Geistesanlage zuzuschreiben. Aber immer wieder macht es mir Sorgen. Und
die gleichen eleganten und wohlhabenden Leute, die in solchen Cafés
sitzen, von klebrig süßer Musik im Denken, im Plaudern, beinah im Atmen
gehemmt, umgeben von dickem, klotzigem Luxus, von Marmor, Silber,
Teppichen, Spiegeln, die gleichen Leute hören abends mit angeblichem
Entzücken einen Vortrag über die edle Einfachheit des japanischen Lebens
an und haben Mönchslegenden und die Reden Buddhas in schönen Drucken und
Einbänden zu Hause liegen. Ich will ja wahrlich kein Zelot und
Sittenprediger sein, ich bin sogar gerne für manche ziemlich tollen und
gefährlichen Laster zu haben und freue mich, wenn die Leute vergnügt
sind, denn mit vergnügten Menschen lebt es sich angenehmer – – aber
_sind_ sie denn vergnügt? lohnt sich wirklich all der Marmor, die
Schlagsahne, die Musik? Lesen diese selben Leute nicht, bedient vom
livrierten Diener und mit Tellern voll feiner süßer Fressereien vor
sich, in ihren Zeitungen lauter Berichte von Hungersnot, Aufstand,
Schießereien, Hinrichtungen? Steht nicht hinter den Riesenglasscheiben
dieser eleganten Kaffeehäuser eine Welt voll blutiger Armut und
Verzweiflung, voll Irrsinn und Selbstmord, voll Angst und Entsetzen? Nun
ja, ich weiß, alles das muß sein, alles ist irgendwie richtig, und Gott
will es so. Aber das weiß ich doch eben nur so, wie man das Einmaleins
weiß. Überzeugend ist dies Wissen nicht. In Wahrheit finde ich all dies
gar nicht richtig und gottgewollt, sondern verrückt und scheußlich.

Bekümmert wende ich mich jenen Läden zu, in welchen Ansichtspostkarten
ausgestellt sind. Hier kenne ich mich schon sehr gut aus, ich darf
sagen, daß ich die Ansichtskarten Badens ziemlich erschöpfend studiert
habe, alles in dem Bestreben, aus diesem Symptom seiner Bedürfnisse den
Durchschnittskurgast und seine Seele noch besser kennenzulernen. Es gibt
in ziemlicher Menge hübsche Nachbildungen alter Badener Veduten, auch
alter Gemälde und Stiche mit Badeszenen, aus welchen man sieht, daß in
Baden in früheren Jahrhunderten zwar weniger seriös und anständig,
vielleicht auch weniger hygienisch als heute, dafür aber entschieden
vergnüglicher gelebt und gebadet wurde. Diese alten Bildchen, ihre Türme
und Giebel, ihre Trachten und Kostüme, alles macht einem ein wenig
Heimweh, obwohl man natürlich keineswegs in jenen Zeiten gelebt haben
möchte. Alle diese Städtebilder, Straßenbilder, Badebilder, seien sie
nun aus dem sechzehnten oder dem achtzehnten Jahrhundert, strömen ganz
leise und sanft jene stille Traurigkeit aus, die von allen solchen
Bildern ausgeht, denn alles auf diesen Bildern ist hübsch, auf allen
scheint zwischen Natur und Mensch Friede zu herrschen, scheinen Häuser
und Bäume nicht im Krieg miteinander zu liegen. Schönheit und
Einheitlichkeit scheint alles zu umfassen, vom Erlengehölz bis zur
Tracht der Schäferin, vom zinnengekrönten Torturm bis zu Brücke und
Brunnen und noch bis zu dem schlanken Hündlein, das an die Empiresäule
pißt. Man findet Drolliges, Dummliches, Eitles auf manchen dieser alten
Bildchen, aber man sieht nichts Häßliches, nichts Schreiendes; die
Häuser stehen nebeneinander wie Feldsteine oder wie Vögel, die in einer
Reihe auf der Stange sitzen, während in jetzigen Städten fast jedes Haus
das andre anschreit, ihm Konkurrenz macht, es wegdrücken möchte.

Und es fällt mir ein, wie einmal meine Geliebte bei einem schönen Fest,
wo alles in Kostümen der Mozartzeit herumlief, plötzlich Tränen in den
Augen hatte und, als ich erschrocken fragte, sagte: „Warum muß heute
alles so häßlich sein?“ Ich tröstete sie damals damit, daß unser Leben
um nichts schlechter, daß es freier, reicher und größer ist als jene es
hatten, daß unter den hübschen Perücken Läuse waren und hinter der
Pracht der Spiegelsäle und Kerzenleuchter hungernde und unterdrückte
Völker und daß es überhaupt gut sei, daß wir von jenen frühern Zeiten
gerade nur das Allerhübscheste, die Erinnerung an ihre heitere
Sonntagsseite, übrigbehalten haben. Aber nicht an allen Tagen denkt man
so vernünftig.

Kehren wir zu den Ansichtskarten zurück! Es gibt da hierzulande eine
besondere Kategorie von Bilderkarten, die der Originalität nicht
entbehren. Die hiesige Gegend wird vom Volksmund das Rübliland genannt,
und nun gibt es verschiedene Serien von Bildern, auf welchen Volksszenen
jeder Art dargestellt sind, Szenen aus der Schule, vom Militär,
Familienausflüge, Prügeleien, und alle Menschen auf diesen Bildern sind
als Rüben dargestellt. Man sieht Rüben-Liebespaare, Rüben-Duelle,
Rüben-Kongresse. Diese Karten erfreuen sich großer Beliebtheit, gewiß
mit Recht, und doch machen auch sie mich nicht froh. Neben den
historischen Ansichten und den Rüblibildern ist als dritte umfangreiche
Kategorie diejenige der erotischen Darstellungen zu nennen. Auf diesem
Gebiete, sollte man denken, ließe sich etwas leisten und es könnte durch
Bilder dieser Art etwas Rasse, etwas Saft und Blüte in diese öde Welt
der Schaufenster kommen. Aber diese Hoffnung mußte ich schon in den
ersten Tagen aufgeben. Ich war erstaunt zu sehen, daß gerade das
Liebesleben in dieser Bilderwelt sehr zu kurz gekommen war. Alle die
Hunderte von Bildern dieser Kategorie zeichnen sich durch eine
beklagenswerte Unschuld und Schamhaftigkeit aus, und auch hier fand ich
meinen Geschmack dem der Allgemeinheit äußerst schlecht angepaßt, denn
wenn jemand mir den Auftrag gäbe, Darstellungen aus dem Liebesleben zu
sammeln, ich würde wahrlich ganz andere Bilder bringen als ich sie hier
dargeboten finde. Hier herrscht weder das Pathos der reinen Erotik noch
die Poesie des halbversteckten Spiels, sondern es herrscht überall eine
süß verschämte Verlobungsstimmung, alle die vielen Liebespaare waren
sorgfältig und schick gekleidet, die Bräutigame häufig im Gehrock und
mit hohem Hute, Blumensträuße in den Händen, manchmal schien der Mond
dazu, und unter dem Bilde suchte ein Vers die Situation zu erklären, zum
Beispiel:

   Du holdes Wesen, bei des Mondes Blinken
   Seh’ in deinem blauen Aug’ mein Glück ich winken.

Ich war von dieser Kategorie sehr enttäuscht, die Hersteller dieser
Postkarten hatten offenbar vom Liebesleben mehr nur den konventionellen
und uninteressanten Teil wahrgenommen. Immerhin notierte ich mir einige
jener Verse, als Beispiele populärer Dichtung aus unsrem Zeitalter, zum
Beispiel diesen:

   Mit dem geliebten Wesen Hand in Hand,
   Das ist mein Ideal, der Seelen heilig Band.

So wenig meisterlich der Vers uns auch erscheinen möge, er war klassisch
im Vergleich mit der Abbildung, die er begleitete. Ein junges Mädchen,
dessen Kopf offensichtlich vom Wachsmodell eines Friseurladens entlehnt
war, saß auf einer Bank unter Bäumen, und ein junger Herr in sehr gutem
Anzug stand vor ihr, damit beschäftigt, seine Glacéhandschuhe an- oder
auszuziehen.

Vor diesen Bildern stand ich denn auch heute wieder eine Weile, und da
ich dabei Öde und Langeweile empfand und ein heftig brennendes
Verlangen, diese ganze, an sich so schätzenswerte Welt der Konzerte, der
Spieler, der korrekten Brautpaare und der Rüblibilder hinter mich zu
bringen, schloß ich die Augen und flehte im Herzen Gott um Rettung an,
denn wie ich fühlte, war ich nicht weit von einem Anfall tiefer
Enttäuschtheit und faden Lebensekels entfernt, welche Anfälle mich zu
meinem Jammer immer dann überraschen, wenn ich eben gutgewillt und
ernsthaft den Versuch mache, mein Eremiten- und Sonderlingtum
abzustreifen und Glück und Leid der Majorität zu teilen.

Und Gott half mir. Kaum hatte ich die Augen zugetan und mein Herz von
der Kur- und Rübliwelt abgewandt, voll inniger Sehnsucht nach einem Gruß
und Klang aus anderen, mir vertrauteren, mir heiligeren Sphären, da kam
mir der erlösende Einfall. Es gab nämlich in unserem Hotel eine
entlegene, nicht allen Gästen bekannte Ecke, wo unser Wirt, der viele
solche liebenswerte Züge hat, zwei gefangene junge Marder in einem
Drahtgefängnis von humanem Umfange hält. Nach den Mardern zu sehen,
fühlte ich plötzlich ein Gelüste, gab blindlings nach, lief ins Hotel
zurück und suchte das Verlies der Tiere auf. Kaum war ich bei ihnen, so
war alles gut, ich hatte genau das gefunden, was ich in diesem
kritischen Augenblick brauchte. Die beiden edlen, schönen Tiere,
zutraulich und neugierig wie Kinder, ließen sich leicht aus ihrem
Schlafloche locken, rannten, von der eigenen Kraft und Gelenkigkeit
berauscht, in tollen Sprüngen durch den weiten Käfig, machten wieder am
Gitter bei mir halt, atmeten heftig mit rosigen Schnauzen und
schnoberten feuchtwarm an meiner Hand. Mehr hatte ich nicht gebraucht.
In diese klaren Tieraugen zu blicken, diese herrlichen bepelzten
Meisterwerke und Gottesgedanken zu sehen, ihren warmen lebendigen Atem
zu fühlen, ihren scharfen wilden Raubtiergeruch zu riechen, das genügte,
um mich vom unversehrten Vorhandensein aller Planeten und Fixsterne,
aller Palmenwälder und Urwaldflüsse beruhigend zu überzeugen. Die Marder
waren mir Gewähr für das, wofür ja der Anblick jeder Wolke, jedes grünen
Blattes Gewähr genug hätte sein sollen; aber ich hatte eben dieser
stärkeren Beweise bedurft.

Die Marder waren stärker als die Ansichtskarten, als das Konzert, als
der Spielsaal. Solang es noch Marder gab, noch Duft der Urwelt, noch
Instinkt und Natur, solange war für einen Dichter die Welt noch möglich,
noch schön und verheißungsvoll. Aufatmend fühlte ich den Alpdruck
schwinden, lachte mich selber aus, holte für die Marder ein Stück Zucker
und schlenderte befreit in den Abend hinaus. Die Sonne stand schon dicht
am Rand der Waldberge, von leichtem goldnem Gewölk durchwehtes Blau
strahlte hell und kindlich über das Tal meiner Irrungen, lächelnd fühlte
ich meine gute Stunde kommen, dachte an meine Geliebte, spielte mit
entstehenden Versen, spürte Musik, spürte Glück und Andacht durch die
Welt wehen, warf anbetend alle Last des Tages von mir und schwang mich,
Vogel, Falter, Fisch, Wolke, hinüber in die frohe, vergängliche,
kinderhafte Welt der Gestaltungen.

Von diesem Abend, an dem ich spät, müde und glücklich heimkehrte, will
ich hier nicht berichten. Meine ganze Ischiatiker-Philosophie möchte mir
dabei aus dem Leime gehen. Glücklich, müde und singend kam ich nachts
zurück, und siehe, auch der Schlaf floh mich heute nicht, auch er, der
so scheue Vogel, kam vertraulich und nahm mich auf blauem Flügel ins
Paradies.



                             Der Holländer


Lange habe ich mich darum gedrückt, dies Kapitel zu schreiben. Nun muß
es sein.

Als ich vor vierzehn Tagen mit Vorsicht und Sorgfalt mein Hotelzimmer
Nummer 65 aussuchte, hatte ich im ganzen keine schlechte Wahl getroffen.
Das Zimmer, hell und freundlich tapeziert, hat einen Alkoven, in dem das
Bett steht, und erfreute mich durch seinen nicht alltäglichen,
originellen Grundriß, es hat ein schönes Licht und etwas Aussicht auf
Fluß und Weinberge. Ferner liegt es zuhöchst im Hause, es wohnt also
niemand über mir, und von der Straße her sind kaum Störungen möglich.
Ich hatte gut gewählt. Ich hatte damals auch nach den Zimmernachbarn
gefragt und beruhigende Auskunft erhalten. Auf der einen Seite wohnte
eine alte Dame, von der ich in der Tat nie etwas hörte. Auf der andern
Seite, in Nummer 64, aber wohnte der Holländer! Im Lauf von zwölf Tagen,
im Lauf von zwölf bitteren Nächten ist mir dieser Herr überaus wichtig
geworden, ach allzu wichtig, er ist eine mythische Figur, ein Götze, ein
Dämon und Gespenst für mich geworden, das ich erst vor wenigen Tagen
besiegt habe.

Niemand, dem ich ihn zeigen würde, würde es mir glauben. Dieser Herr aus
Holland, der mich seit so vielen Tagen am Arbeiten, seit so vielen
Nächten am Schlafen gehindert hat, ist weder ein tollwütiger Berserker
noch ein enthusiastischer Musiker, weder kommt er zu unerwarteten Zeiten
betrunken nach Hause noch schlägt er seine Frau oder schimpft mit ihr,
er pfeift und singt nicht, ja er schnarcht nicht einmal, wenigstens
nicht so laut, daß es mich störte. Er ist ein solider, gesitteter, nicht
mehr junger Mann, lebt regelmäßig wie eine Uhr und hat keinerlei
auffallende Untugenden – wie ist es möglich, daß dieser ideale Bürger
mich so leiden machte?

Es ist möglich, es ist leider Tatsache. Die beiden Hauptpunkte, die
Grundpfeiler meines Unglücks, sind diese: zwischen den Zimmern Nummer 64
und 65 ist eine Tür, eine zwar verriegelte und mit einem Tisch
verstellte, aber keineswegs dichte Tür. Dies ist das eine Unglück, es
läßt sich nicht beheben. Das zweite, schlimmere: Der Holländer hat eine
Frau. Auch sie ist mit erlaubten Mitteln nicht aus der Welt oder doch
aus Nummer 64 zu bringen. Und dann habe ich noch das ungewöhnliche Pech,
daß meine Nachbarn, gerade wie ich selber, zu den verhältnismäßig
seltenen Hotelgästen gehören, die den größern Teil ihres Tages auf ihren
Zimmern zubringen.

Hätte ich nun ebenfalls eine Frau bei mir oder wäre ich Gesanglehrer
oder hätte ich ein Klavier, eine Geige, ein Waldhorn, eine Kanone oder
Pauke, so könnte ich den Kampf gegen meine holländischen Nachbarn mit
der Hoffnung auf Erfolg aufnehmen. So aber ist die Lage diese: Das
Holländerpaar bekommt von mir während der vierundzwanzig Stunden des
Tages keinen Ton zu hören, es wird von mir behandelt wie man Könige und
Schwerkranke behandelt, wird von mir unaufhörlich mit der
unausdenklichen Wohltat einer vollkommenen, absoluten Stille
überschüttet. Und wie erwidern sie diese Wohltat? Sie gewähren mir,
indem sie jede Nacht von zwölf bis sechs Uhr schlafen, eine tägliche
Schonzeit von sechs Stunden. Ich habe die Wahl, ob ich diese Stunden zur
Arbeit oder zum Schlaf, zu Gebet oder Meditation verwenden will. Über
die übrigen achtzehn Stunden des Tages habe ich keine Verfügung, sie
gehören nicht mir, diese täglichen achtzehn Stunden finden gewissermaßen
überhaupt nicht bei mir, sondern nur in Nummer 64 statt. Achtzehn
Stunden des Tages wird in Nummer 64 geplaudert, gelacht, Toilette
gemacht, Besuch empfangen. Es wird nicht mit Schießwaffen hantiert noch
wird Musik gemacht noch finden Schlägereien statt, dies muß ich
anerkennen. Es wird aber auch nicht nachgedacht, nicht gelesen, nicht
meditiert, nicht geschwiegen. Immerzu fließt der Fluß der Gespräche, oft
sind vier und sechs Personen dort drüben beisammen, und abends plaudert
das Ehepaar bis halb zwölf Uhr. Dann kommt das Klirren von Glas und
Porzellan, das Feilen der Zahnbürsten, das Rücken einiger Stühle und die
Melodien des Gurgelns. Dann krachen die Betten, und dann wird es still
und bleibt still (das sei nochmals anerkannt) bis in der Frühe etwa um
sechs Uhr, um welche Stunde einer der Ehegatten, ich weiß nicht ob er
oder sie, sich erhebt und den Fußboden erbeben macht, er geht zum Bade,
kehrt bald wieder; inzwischen ist auch für mich die Badestunde gekommen,
und von meiner Wiederkehr an reißt der Faden der Gespräche, der
Geräusche, des Lachens, des Stuhlrückens und so weiter nicht mehr ab bis
wieder kurz vor Mitternacht.

Wäre ich nun ein vernünftiger, normaler Mensch wie andere, so würde ich
mich leicht in die Lage schicken. Ich würde nachgeben, da nun einmal
zwei stärker sind als einer, und würde meinen Tag irgendwo anders als in
meinem Zimmer hinbringen, im Lese- oder Rauchzimmer, in den Korridoren,
im Kursaal, in Restaurants, wie die meisten Kurgäste es tun. Und nachts
würde ich eben schlafen. Statt dessen bin ich von der mühsamen,
törichten und aufreibenden Leidenschaft besessen, tagsüber viele Stunden
allein am Schreibtisch zu sitzen, angestrengt nachzudenken, angestrengt
zu schreiben, oftmals nur um das Geschriebene nachher wieder zu
vernichten; und des Nachts habe ich zwar eine große, eine glühende
Sehnsucht nach Schlaf, aber mein Einschlafen ist ein komplizierter
Dämmerungsvorgang, welcher Stunden dauert, und dann ist der Schlaf sehr
leise, sehr dünn und spröde, ein Hauch genügt, um ihn zu zerreißen. Und
wenn ich um zehn, um elf Uhr noch so todmüde und noch so nahe am
Einschlummern bin, es hilft nichts, es reicht nicht bis zum Schlafe,
solange nebenan die Holländer ihre Geselligkeit pflegen. Und während ich
erschöpft und sehnsüchtig warte, bis die Mitternacht kommt, bis der Mann
aus dem Haag mir die Erlaubnis gewährt, eventuell einzuschlafen, bis
dahin bin ich durch Warten, Zuhören und Denken an die morgige Arbeit
wieder so wach und erregt geworden, daß der größte Teil der mir
zugebilligten sechs Ruhestunden vorübergeht, ehe ich ein wenig Schlaf
finde.

Ist es nötig, es eigens auszusprechen, daß mir wohl bewußt ist, wie
unberechtigt meine Forderung an den Holländer ist, mich mehr schlafen zu
lassen? Ist es nötig zu sagen, daß ich sehr wohl weiß, daß nicht er an
meinem schlechten Schlafe und an meinen geistigen Liebhabereien schuld
ist, sondern ich allein? Ich schreibe jedoch diese Notizen aus Baden
nicht, um andere anzuklagen oder mich rein zu waschen, sondern um
Erlebnisse aufzuzeichnen, seien es auch die seltsam verzerrten
Erlebnisse des Psychopathen. Jene andere, verwickeltere Frage nach der
Berechtigung des Psychopathen, jene furchtbare und erschütternde Frage,
ob unter gewissen Zeit- und Kulturumständen es nicht würdiger, edler,
richtiger sei, Psychopath zu werden als sich diesen Zeitumständen unter
Opferung aller Ideale anzupassen – diese schlimme Frage, die Frage aller
differenzierten Geister seit Nietzsche, lasse ich auf diesen Blättern
unberührt; sie bildet ohnehin das Thema fast aller meiner Schriften.

Durch die oben erzählten Umstände also ist der Holländer für mich zum
Problem geworden. Nicht ganz erklären kann ich mir, warum ich, in
Gedanken und Worten, es immer nur mit dem Holländer, in der Einzahl, zu
tun habe. Es ist ja ein Paar, es sind ja zweie. Aber sei es, daß ich aus
instinktiver Galanterie der Frau mehr Duldung entgegenbringe als dem
Mann, sei es, daß die Stimme und der etwas schwere Schritt des Mannes es
sind, die mich tatsächlich besonders belästigen, jedenfalls sind es
nicht „die“, sondern es ist „der“ Holländer, an dem ich leide. Zum
Teil beruht dies instinktive Übergehen der Frau in meinen
Feindschaftsgefühlen und die Mythisierung des Mannes zum Feind und
Antipoden aber auf sehr tiefen, elementaren Trieben: der Holländer, der
Mann mit der kräftigen Gesundheit, dem gedeihlichen Aussehen, dem
würdigen Auftreten und vollen Portemonnaie, ist für mich, den Outsider,
schon im Typus feindlich.

Er ist ein Herr von etwa dreiundvierzig Jahren, mittelgroß, von
kräftiger, etwas untersetzter Gestalt, welche den Eindruck von
Gesundheit und Normalität macht. Gesicht und Figur sind beleibt und
rundlich, doch nicht so, daß es auffiele; der große kräftige Kopf mit
etwas schweren Augendeckeln wirkt dadurch massig und drückt auf die
ganze Figur, daß er auf einem schwach akzentuierten, ein wenig kurzen
Halse sitzt. Gesundheit und Körpergewicht machen, obwohl der Holländer
sich gemessen bewegt und vorzügliche Manieren hat, leider seine
Bewegungen und Schritte wuchtiger und hörbarer als für seinen Nachbarn
wünschenswert ist. Seine Stimme ist tief und gleichmäßig, weder in der
Tonhöhe noch in der Stärke viel wechselnd, die ganze Persönlichkeit,
neutral betrachtet, wirkt seriös, zuverlässig, beruhigend, nahezu
sympathisch. Etwas störend hingegen ist, daß er zu kleinen Erkältungen
neigt (was übrigens alle Badener Kurgäste tun), die ihn heftig husten
und niesen machen; in diesen Tönen kommt dann ebenfalls eine gewisse
Wucht und Kraftfülle zum Ausdruck.

Dieser Herr aus dem Haag also hat das Unglück, mein Nachbar zu sein,
tagsüber der Feind, Bedroher und oft Vernichter meiner geistigen Arbeit,
einen Teil der Nacht hindurch der Feind und Vernichter meines Schlafes.
Nicht an allen Tagen allerdings empfand ich seine Existenz als Strafe
und Belastung. Es gab mehrere warme und sonnige Tage, an welchen es mir
vergönnt war, meine Arbeit im Freien zu tun; im Hotelgarten in einem
verborgenen kleinen Gehölz, die Mappe auf den Knien, schrieb ich meine
Blätter voll, dachte meine Gedanken, ging meinen Träumen nach oder las
zufrieden in meinem Jean Paul. An allen kühlen und Regentagen jedoch,
und deren waren sehr viele, sah ich mich den ganzen Tag hindurch dem
Feinde Wand an Wand gegenüber; während ich lautlos und gespannt am
Schreibtisch über meinen Beschäftigungen hing, lief nebenan der
Holländer auf und ab, füllte die Waschschüssel, spuckte das Becken voll,
warf sich in den Sessel, unterhielt sich mit seiner Frau, lachte mit ihr
über Witze, empfing Besuche. Es waren für mich oft sehr mühsame Stunden.
Indessen hatte ich eine gewaltige Hilfe dabei, nämlich eben meine
Arbeit. Ich bin kein Arbeitsheld und verdiene keine Fleißpreise, aber
wenn ich schon einmal begonnen habe, mich von einer Vision oder von
einer Gedankenreihe erfüllen und bezaubern zu lassen, wenn ich schon
einmal, widerstrebend genug, mich auf den Versuch eingelassen habe,
diese Gedanken in eine Form zu bringen, dann bin ich in dies Unternehmen
verbissen und kenne nichts andres, was mir wichtig wäre. Es gab Stunden,
da konnte in Nummer 64 ganz Holland Kirmes feiern, es berührte mich
kaum, denn ich war bezaubert und hingenommen von dem einsamen,
phantastischen und gefährlichen Geduldsspiel, das mich einspann, ich
rannte hitzig mit krampfhafter Feder meinen Gedanken nach, baute Sätze,
wählte unter zuströmenden Assoziationen, angelte hartnäckig nach den
geeigneten Worten. Der Leser mag sehr darüber lachen, für uns
Schreibende aber ist das Schreiben immer wieder eine tolle, erregende
Sache, eine Fahrt in kleinstem Kahn auf hoher See, ein einsamer Flug
durchs All. Während man ein einzelnes Wort sucht, unter drei sich
anbietenden Worten wählt, zugleich den ganzen Satz, an dem man baut, im
Gefühl und Ohr zu behalten –: während man den Satz schmiedet, während
man die gewählte Konstruktion ausführt und die Schrauben des Gerüstes
anzieht, zugleich den Ton und die Proportionen des ganzen Kapitels, des
ganzen Buches irgendwie auf geheimnisvolle Weise stets im Gefühl
gegenwärtig zu haben: das ist eine aufregende Tätigkeit. Ich kenne eine
ähnliche Gespanntheit und Konzentration aus eigener Erfahrung nur noch
bei der Tätigkeit des Malens. Da ist es ganz ebenso: jede einzelne Farbe
zur Nachbarfarbe richtig und sorgfältig abzustimmen, ist hübsch und
leicht, man kann das lernen und alsdann beliebig oft praktizieren.
Darüber hinaus aber beständig die sämtlichen Teile des Bildes, auch die
noch gar nicht gemalten und sichtbaren, wirklich gegenwärtig zu haben
und mit zu berücksichtigen, das ganze vielmaschige Netz sich kreuzender
Schwingungen zu empfinden: das ist erstaunlich schwer und glückt nur
selten.

Es liegt also in der literarischen Arbeit eine so heftige Nötigung zur
Konzentration, daß man bei stark gespanntem Produktionstrieb recht wohl
äußere Behinderungen und Störungen überwinden kann. Der Autor, welchem
nur an einem bequemen Tisch, bei bestem Licht, mit seinem eigenen
gewohnten Schreibmaterial, auf besonderem Papier usw. seine Arbeit
möglich scheint, ist mir verdächtig. Wohl sucht man instinktiv alle
äußeren Erleichterungen und Bequemlichkeiten auf, wo sie aber nicht zu
haben sind, geht es auch ohne sie. Und so gelang es mir oft, zwischen
mich und Nummer 64 eine Distanz oder Isolierwand hinein zu schreiben,
die mich für eine produktive Stunde schützte. Sobald ich aber zu ermüden
begann, und dazu trug der angehäufte Schlafmangel mächtig bei, waren die
Störungen wieder da.

Viel schlimmer als mit der Arbeit stand es mit dem Schlafen. Ich will
hier meine rein psychologisch begründete Theorie der Schlaflosigkeit
nicht darlegen. Ich sage nur, daß jene vorübergehende Immunität gegen
Holland, mein Hinweg-Konzentriertsein von Nummer 64, wohl je und je bei
der Arbeit gelang, mit Hilfe beflügelnder Kräfte, daß meine
Schlafversuche aber dieses Glück nicht teilten.

Der Schlaflose nun, wenn er seinem Leiden eine längere Weile
preisgegeben ist, richtet, wie die meisten Menschen es in Zuständen
nervöser Übermüdung tun, Gefühle der Ablehnung, des Hasses, ja der
Vernichtungslust sowohl gegen sich selbst wie gegen die nächste
Umgebung. Da die nächste Umgebung für mich nun einzig aus Holland
bestand, häuften sich in mir während der schlaflosen Nächte langsam
gegen Holland Gefühle der Abneigung, der Erbitterung, des Hasses an, die
sich tagsüber nicht zerstreuen konnten, da die Spannung und Störung ja
beständig fortbestand. Lag ich im Bette, durch den Holländer am Schlaf
verhindert, fiebernd vor Übermüdung und ungestilltem Verlangen nach
Ruhe, und hörte ich nebenan den Nachbar seine satten, festen, soliden
Schritte tun, seine festen, strammen Bewegungen machen, seine markigen
Töne bilden, dann empfand ich gegen ihn einen ziemlich vehementen Haß.

Immerhin aber blieb mir während dieser Situation stets bis zu einem
gewissen Grade die Dummheit meines Hasses bewußt, ich konnte zwischenein
immer wieder für Augenblicke über meinen Haß lächeln und ihm dadurch die
Spitze abbrechen. Fatal aber wurde es mir, als dieser an sich
unpersönliche, nur gegen die Störungen meines Schlafes, gegen meine
eigene Nervosität, gegen die undichte Türe gerichtete Haß sich im Laufe
der Tage immer weniger neutralisieren und verteilen ließ, als er
allmählich immer törichter, immer einseitiger und persönlicher wurde. Es
half am Ende nichts mehr, daß ich mir die persönliche Unschuld des
Holländers vorhielt und bewies. Ich haßte ihn einfach, und zwar nicht
nur etwa in den Augenblicken, wo er mir tatsächlich lästig war, wo
mitten in tiefer Nacht sein lautes Schreiten, Reden und Lachen
vielleicht in der Tat rücksichtslos war. Nein, ich haßte ihn jetzt ganz
richtig, mit dem richtigen, naiven, dummen Haß, mit welchem ein
erfolgloser kleiner christlicher Kaufmann die Juden oder ein Kommunist
die Kapitalisten haßt, mit jener dummen, tierischen, vernunftlosen und
im Grunde feigen oder neidischen Art von Haß, die ich an anderen stets
so sehr bedaure, der die Politik, das Geschäft, die Öffentlichkeit
vergiftet und dessen ich mich nicht für fähig gehalten hätte. Ich haßte
nicht mehr bloß sein Husten, seine Stimme, sondern ihn selbst, seine
reale Person, und wenn er mir, vergnügt und ahnungslos, tagsüber
irgendwo begegnete, war es für mich die Begegnung mit einem ausgemachten
Feind und Schädling, und all meine Philosophie reichte nur so weit, daß
ich meinem Gefühl keine Äußerung gestattete. Sein glattes, frohes
Gesicht, seine dicken Augendeckel, seine dicken, frohen Lippen, sein
Bauch in der modischen Weste, sein Gehen und Benehmen, alles zusammen
war mir zuwider und verhaßt, und am meisten haßte ich alle die
unzähligen Anzeichen seiner Kraft, Gesundheit und Unverwüstlichkeit,
sein Lachen, seine gute Laune, die Energie seiner Bewegungen, die
überlegene Apathie seines Blickes, alle diese Anzeichen seiner
biologischen und sozialen Überlegenheit. Natürlich, auf diese Art war es
leicht, gesund und guter Laune zu sein und den befriedigten Herrn zu
spielen, wenn man Tag und Nacht vom Schlaf, von der Kraft anderer
zehrte, wenn man die Rücksicht, das stille Betragen, die Beherrschung
seiner Nachbarn immerzu genoß und schluckte, selber aber keine Hemmungen
kannte, nach Belieben bei Tag und Nacht Luft und Haus mit Tönen und
Vibrationen erschütterte. Möge der und jener ihn holen, diesen Herrn aus
Holland! Dunkel erinnerte ich mich auch des fliegenden Holländers – war
nicht auch der ein verfluchter Dämon und Quälgeist gewesen? Namentlich
aber erinnerte ich mich jener Holländer, welche einst der Dichter
Multatuli gezeichnet hat, jener fetten Genießer und Geldsammler, deren
Reichtum und satte Bonhomie die Aussaugung der Malaien zur Basis hatte.
Braver Multatuli!

Freunde von mir, welchen meine Denk- und Fühlweise, mein Glaube und
Vorstellungsleben genauer bekannt sind, vermögen sich vorzustellen, wie
sehr ich unter diesem unwürdigen Zustande litt, wie sehr dieser
zwanghafte, von meinem Herzen nicht gebilligte Haß gegen einen
Unschuldigen mich stören und quälen mußte – und zwar nicht wegen der
Unschuld meines „Feindes“ und wegen des Unrechts, das ich ihm in meinen
Gefühlen tat, sondern vor allem wegen der Unsinnigkeit meines Gehabens,
wegen des tiefen, prinzipiellen Widerspruches zwischen meinem
praktischen Verhalten und alle dem, worin mein Wissen, mein Glaube,
meine Religion bestand. Ich glaube nämlich an nichts in der Welt so
tief, keine andre Vorstellung ist mir so heilig wie die der Einheit, die
Vorstellung, daß das Ganze der Welt eine göttliche Einheit ist und daß
alles Leiden, alles Böse nur darin besteht, daß wir Einzelne uns nicht
mehr als unlösbare Teile des Ganzen empfinden, daß das Ich sich zu
wichtig nimmt. Viel Leid hatte ich in meinem Leben erlitten, viel
Unrecht getan, viel Dummes und Bitteres mir eingebrockt, aber immer
wieder war es mir gelungen, mich zu erlösen, mein Ich zu vergessen und
hinzugeben, die Einheit zu fühlen, den Zwiespalt zwischen Innen und
Außen, zwischen Ich und Welt als Illusion zu erkennen und mit
geschlossenen Augen willig in die Einheit einzugehen. Leicht war es mir
nie geworden, niemand konnte weniger Begabung zum Heiligen haben als
ich; aber dennoch war mir immer wieder jenes Wunder begegnet, dem die
christlichen Theologen den schönen Namen der „Gnade“ gegeben haben,
jenes göttliche Erlebnis der Versöhnung, des Nichtmehrwiderstrebens, des
willigen Einverstandenseins, das ja nichts anderes ist als die
christliche Hingabe des Ich oder die indische Erkenntnis der Einheit.
Ach, und nun stand ich wieder einmal so völlig außerhalb der Einheit,
war ein vereinzeltes, leidendes, hassendes, feindliches Ich. Auch andre
waren das, gewiß, ich stand damit nicht allein, es gab eine Menge von
Menschen, deren ganzes Leben ein Kampf, ein kriegerisches Sichbehaupten
des Ich gegen die Umwelt war, welchen der Gedanke der Einheit, der
Liebe, der Harmonie unbekannt war und fremd, töricht und schwächlich
erschienen wäre, ja, die ganze praktische Durchschnittsreligion des
modernen Menschen bestand in einem Verherrlichen des Ich und seines
Kampfes. Aber in diesem Ichgefühl und Kampf sich wohl zu fühlen, war nur
den Naiven möglich, den starken, ungebrochenen Naturwesen; den
Wissenden, den in Leiden sehend Gewordnen, den in Leiden differenziert
Gewordnen war es verboten, in diesem Kampfe ihr Glück zu finden, ihnen
war Glück nur denkbar im Hingeben des Ich, im Erleben der Einheit. Ach,
wohl jenen Einfältigen, welche sich selber lieben und ihre Feinde hassen
konnten, wohl jenen Patrioten, welche nie an sich zu zweifeln brauchten,
weil an allem Elend und Unheil ihres Landes niemals sie selbst im
geringsten eine Schuld hatten, sondern natürlich die Franzosen oder die
Russen oder die Juden, einerlei wer, nur eben immer ein anderer, ein
„Feind“! Vielleicht waren diese Menschen, neun Zehntel der Lebenden,
wirklich glücklich in ihrer barbarischen Urreligion, vielleicht lebten
sie beneidenswert froh und leicht in ihrem Panzer von Dummheit oder von
äußerst schlauer Denkfeindschaft – obwohl ja auch dies höchst
zweifelhaft war, denn wo war ein gemeinsamer Maßstab für das Glück jener
Menschen und das meine, für ihre Leiden und die meinen zu finden?

Es war in einer langen, quälend langen Nacht, daß ich diese Gedanken
dachte. Ich lag, das Opfer des Holländers, der nebenan hustete, spuckte
und auf und nieder lief, heiß und übermüdet im Bett, die Augen von
langem Lesen (was wollte ich andres tun?) überanstrengt, und fühlte, daß
jetzt diesem Zustand, dieser Qual und Schmach unbedingt ein Ende gemacht
werden mußte. Kaum war diese Klarheit, diese Überzeugung oder
Entschließung in mir aufgeblitzt, kalthell wie Morgenschein, kaum stand
es klar und fest vor meiner Seele: „Dies muß alsbald zu Ende gelitten
und zur Lösung gebracht werden“, da tauchten zuerst die üblichen
vulgären Phantasien in mir auf, wie sie in Augenblicken besonderer Pein
jedem Nervösen wohlbekannt sind. Nur zwei Wege, so schien es, konnten
aus dieser jämmerlichen Lage herausführen; einen davon mußte ich wählen:
entweder mich umbringen oder mich mit dem Holländer auseinandersetzen,
ihn an der Gurgel nehmen und besiegen. (Eben hustete er wieder mit
imponierender Energie.) Beide Vorstellungen waren schön und erlösend,
wenn auch etwas kindlich. Schön war der Gedanke, sich auf irgendeine der
üblichen, öfters erwogenen Arten beiseitezubringen, mit dem typischen
kindlichen Selbstmördergefühl: „Es geschieht euch recht, wenn ich mir
jetzt die Gurgel durchschneide.“ Schön war auch die andre Vorstellung,
statt meiner den Holländer zu packen, ihn zu erwürgen oder
totzuschießen, als Sieger über seine brutale, undifferenzierte Vitalität
übrigzubleiben.

Diese naiven Phantasien vom Auslöschen entweder meiner selbst oder des
Feindes waren indessen schon bald erschöpft. Man konnte sich ihnen eine
Weile hingeben, sich in Wunschbilder flüchten, welche aber schnell
welkten und ihren Zauber verloren, denn nach kurzem Schweifen durch
diesen Irrgarten war der Wunsch entkräftet und ich mußte mir gestehen,
daß diese Wünsche lediglich Exaltationen des Augenblicks waren, daß ich
ja weder meine noch des Holländers Vernichtung wirklich und ernstlich
wünsche. Seine Entfernung hätte vollkommen genügt. Ich suchte nun diese
Entfernung in Bilder zu kleiden, ich machte Licht, nahm das Kursbuch aus
der Nachttischschublade und unterzog mich der Mühe, einen lückenlosen
Reiseplan zusammenzustellen, nach welchem der Holländer morgen in aller
Frühe abreisen und so rasch wie möglich seine Heimat erreichen sollte.
Diese Beschäftigung machte mir ein wenig Vergnügen, ich sah den Mann in
unheimlicher, kühler Morgenfrühe aufstehen, sah und hörte ihn zum
letztenmal in Nummer 64 seine Toilette verrichten, die Stiefel anziehen,
die Tür zuknallen, sah ihn fröstelnd zum Bahnhof fahren und abreisen,
sah ihn morgens um acht Uhr in Basel mit französischen Zöllnern
schelten, und je weiter mein Wunschbild ihn fortspediert hatte, desto
leichter ward mir. Aber schon in Paris versagte meine Vorstellungskraft,
und das ganze Bild ging wieder in Trümmer, lang, ehe ich meinen Mann an
der holländischen Grenze hatte.

Das waren Spielereien. Auf so einfache, so wohlfeile Art war der Feind,
der Feind in mir selbst, nicht zu überwinden. Es galt ja nicht, an dem
Holländer irgendeine Rache zu nehmen, es galt lediglich eine wertvolle,
positive und meiner würdige Einstellung zu ihm zu gewinnen. Meine
Aufgabe war ganz klar: ich hatte meinen wertlosen Haß abzubauen, ich
hatte den Holländer zu lieben. Dann mochte er spucken und dröhnen, ich
war ihm überlegen, ich war gefeit. Wenn es mir gelang, ihn zu lieben,
dann half ihm alle Gesundheit, alle Vitalität nichts mehr, dann war er
mein, dann widerstrebte sein Bild nicht mehr dem Gedanken der Einheit.
Wohlan denn, das Ziel war würdig, es galt, meine schlaflose Nacht gut
anzuwenden!

So einfach die Aufgabe war, so schwer war sie, und ich habe wirklich
nahezu jene ganze Nacht dazu gebraucht, sie zu lösen. Ich mußte den
Holländer verwandeln, ihn umarbeiten, aus dem Objekt meines Hasses, aus
der Quelle meiner Leiden mußte er umgeschaffen, mußte zum Objekt meiner
Liebe, meines Interesses, meiner Teilnahme und Brüderlichkeit umgegossen
werden. Gelang mir dies nicht, brachte ich in mir die Wärmegrade für
diese Umschmelzung nicht auf, dann war ich verloren, dann blieb der
Holländer mir im Halse stecken, und ich mußte weitere Tage und Nächte an
ihm würgen. Was ich zu tun hatte, war lediglich die Erfüllung jenes
wunderbaren Wortes „Liebet eure Feinde“. Ich war längst gewohnt, alle
diese so merkwürdig zwingenden Worte des Neuen Testamentes nicht bloß
moralisch zu nehmen, nicht als Befehle, als „Du sollst“, sondern als
freundliche Andeutungen eines wahrhaft Weisen, der uns zuwinkt:
„Probiere es einmal, diesen Spruch buchstäblich zu erfüllen, du wirst
dich wundern, wie wohl das dir tun wird.“ Ich wußte, daß diese Sprüche
nicht bloß das Höchste an moralischer Forderung, sondern auch das
Höchste und Klügste an seelenhafter Glückslehre enthielten und daß die
ganze Liebestheorie des Neuen Testamentes, neben all ihren anderen
Bedeutungen, auch die Bedeutung einer seelischen Technik von größter
Durchdachtheit habe. In diesem Falle lag es ja auf der Hand, der jüngste
und naivste Psychoanalytiker hätte es nur bestätigen können, daß
zwischen mir und meiner Erlösung einzig die noch unerfüllte Forderung
stand, meinen Feind zu lieben.

Nun, es gelang, er blieb mir nicht im Halse stecken, er wurde
umgeschmolzen. Aber es ging nicht leicht, es kostete Schweiß und Arbeit,
es kostete zwei oder drei Nachtstunden heftigster Anspannung. Dann aber
war es getan.

Ich machte den Anfang damit, mir die Gestalt des Gefürchteten in
möglichst scharfer Deutlichkeit vor die Seele zu zwingen, bis keine Hand
und kein Finger an der Hand, bis kein Schuh, keine Augenbraue, keine
Wangenfalte mehr fehlte, bis ich ihn ganz und gar vor mir sah, ihn
innerlich völlig besaß, ihn gehen, sitzen, lachen und schlafen machen
konnte. Ich stellte ihn mir vor, wie er morgens sich die Zähne bürstete
und wie er nachts auf dem Kissen einschlief, ich sah das Müdewerden der
Augendeckel, sah den Hals sich entspannen und den Kopf weich
hinabwelken. Wohl eine Stunde dauerte es, bis ich ihn soweit hatte.
Damit war viel gewonnen. Etwas lieben, das bedeutet für den Dichter: es
in seine Phantasie aufnehmen, es dort wärmen und hegen, damit spielen,
es mit der eigenen Seele durchdringen, mit dem eigenen Atem beleben. So
tat ich mit meinem Feinde, bis er mir gehörte und in mich eingegangen
war. Ohne seinen etwas zu kurzen Hals wäre es wohl nicht geglückt, aber
der Hals kam mir zu Hilfe. Ich mochte den Holländer aus- oder anziehen,
ihn in Kniehosen oder Gehrock, in ein Ruderboot oder an einen
Mittagstisch setzen, ich mochte ihn zum Soldaten, zum König, zum
Bettler, zum Sklaven, zum Greis oder zum Kind machen, in jeder noch so
veränderten Gestalt hatte er einen kurzen Hals und ein klein wenig
vorstehende Augen. Dies Zeichen war sein schwacher Punkt, hier mußte ich
ihn angreifen. Lange brauchte ich, bis es mir gelang, den Holländer
jünger zu machen, bis ich ihn als jungen Ehemann, als Bräutigam, als
Studenten und Schüler vor mir sehen konnte. Als es mir endlich gelungen
war, ihn zum kleinen Knaben zurückzuverwandeln, da gewann der Hals zum
erstenmal meine Teilnahme. Auf dem sanften Wege des Mitleids eroberte er
mein Herz, als ich diesen kräftigen und energischen Knaben seinen Eltern
durch diese leisen Anzeichen einer asthmatischen Anlage Sorge machen
sah. Auf dem sanften Wege des Mitleids ging ich weiter, und es gehörte
wenig Kunst mehr dazu, auch die künftigen Jahre und Stufen zu
produzieren. Als ich soweit war, den ganzen Mann, um zehn Jahre
gealtert, seinen ersten Schlaganfall erleiden zu sehen, da sprach
plötzlich alles an ihm so rührend mit, die dicklichen Lippen, die
schweren Augendeckel, die wenig biegsame Stimme, alles gewann
Werbekraft, und noch ehe er in meiner intensiven Vorstellung den
imaginären Tod erlitten hatte, war sein Menschliches, seine Schwäche,
sein Sterbenmüssen mir schon so brüderlich nahe gekommen, daß ich ihn
längst liebte und keine Widerstände mehr gegen ihn hatte. Da war ich
froh, drückte ihm die Augen vollends zu und schloß meine eigenen, denn
es war schon Morgen und ich hing, von meiner langen nächtlichen Dichtung
völlig erschöpft, wie ein Gespenst in den Kissen.

Am folgenden Tage und in der folgenden Nacht hatte ich reichliche
Gelegenheit, festzustellen, daß ich Holland besiegt hatte. Der Mensch
mochte lachen oder husten, er mochte noch so gesund auftreten, noch so
dröhnend einherschreiten, er mochte Stühle rücken oder Witze machen, es
brachte mich nichts mehr aus dem Gleichgewicht. Am Tage konnte ich
leidlich arbeiten, in der Nacht leidlich ruhen.

Mein Triumph war groß, doch genoß ich ihn nicht lange. Am zweiten Morgen
nach der Siegesnacht reiste der Holländer plötzlich ab, womit wieder er
zum Sieger wurde, und ließ mich sonderbar enttäuscht zurück, da ich für
meine schwer errungene Liebe und Unanfechtbarkeit nun keine Verwendung
mehr hatte. Seine Abreise, die ich einst so innig herbeigesehnt hatte,
tat mir nun beinahe weh.

An seiner Stelle zog in Nummer 64 eine kleine graue Dame mit einem jener
gummibeschuhten Stöcke ein, die ich nur selten zu sehen oder zu hören
bekam. Sie war eine ideale Nachbarin, nie störte sie mich, nie erregte
sie Zorn und Feindschaft in mir. Doch kann ich das erst jetzt,
nachträglich, anerkennen. Mehrere Tage lang war die neue Nachbarschaft
mir eine ständige Enttäuschung, viel lieber hätte ich wieder meinen
Holländer da gehabt, ihn, den ich nun endlich hätte lieben können.



                                 Mißmut


Wenn ich heute an den Optimismus meines ersten Badener Tages
zurückdenke, an meine damalige kindliche Hoffnungsfreudigkeit, an mein
naives Vertrauen in diese Badekur und gar an die schon mehr frivole,
selbstgefällige Einbildung und knabenhafte Eitelkeit, mit der ich damals
mich als verhältnismäßig jung und rüstig, als einen hoffnungsvollen
Leichtkranken einschätzte; wenn ich mich der ganzen spielerisch
leichtsinnigen Stimmung jener ersten Tage erinnere, meines primitiven
Negerglaubens an Baden, an die Harmlosigkeit und Heilbarkeit meiner
Ischias, an die warmen Quellen, an den Badearzt, an die Diathermie und
die Quarzlampe: dann kann ich nur schwer dem Drang widerstehen, mich vor
den Spiegel zu stellen und mir selber die Zunge herauszustrecken. Mein
Gott, wie sind diese Einbildungen geschwunden, wie sind diese Hoffnungen
erloschen, was ist übrig geblieben von jenem aufrechten, elastischen,
wohlwollend lächelnden Ankömmling, der an seinem Malakkastock spielend
und von sich selbst entzückt die Badestraße hinabtanzte! Wie ein
richtiger Affe komme ich mir jetzt vor. Ja, und was ist übrig geblieben
von der so optimistischen, glattlackierten, anpassungsbereiten,
weltmännischen Philosophie, mit der ich damals spielte und mich zierte
wie mit meinem Malakkastock!

Zwar dieser Spazierstock ist noch unverändert. Noch gestern habe ich das
Anerbieten des Bademeisters, einen jener verfluchten Gummizapfen über
das Ende meines hübschen Stockes zu stülpen, mit Entrüstung
zurückgewiesen. Aber wer weiß, ob ich dies Anerbieten, wenn es morgen
wiederholt wird, nicht annehme?

Ich habe scheußliche Schmerzen, und nicht bloß beim Gehen, sondern auch
beim Sitzen, so daß ich seit vorgestern fast immer liege. Wenn ich
morgens aus meinem Bade steige, so machen die zwei kleinen Steinstufen
mir schwere Arbeit, keuchend und schwitzend ziehe ich mich am Geländer
empor, habe kaum mehr die Kraft, das Badetuch um mich zu schlagen, und
sinke dann für eine Weile im Stuhl zusammen. Das Anziehen der
Hausschuhe, des Schlafrockes ist eine verhaßte schwere Pflicht, der Weg
bis zum Schwefelbrunnen und später vom Brunnen zum Lift, vom Lift ins
Schlafzimmer ist eine scheußlich mühsame, endlose, schmerzhafte Reise.
Ich benütze bei dieser Morgenreise alle denkbaren Hilfsmittel, halte
mich am Badewärter, am Türpfosten, an jeder Brüstung fest, taste mich
den Wänden nach und bewege Beine und Rücken ohne jede ästhetische
Rücksicht in jener schwerfällig-traurigen, idiotenhaft-häßlichen, halb
schwimmenden Manier, die ich einstmals (o wie unsäglich lange ist das
her!) mit humorvollem Mitleid an jener alten Dame beobachtete, die ich
mit einer Seelöwin vergleichen zu müssen meinte. Wenn jemals ein
frivoles Witzwort strafend auf des Spötters Haupt zurückfiel, so ist es
hier geschehen.

Morgens, wenn ich auf dem Bettrand sitze und mich vor der qualvollen
Aufgabe scheue, mich zu meinen Schuhen niederzubücken, oder wenn ich
nach dem Bade, todmüde, halbschlummernd auf dem Stuhl in der Badezelle
hänge, dann sagt mir die Erinnerung, daß es noch vor kurzem, noch vor
wenigen Wochen Morgen gegeben hat, an denen ich, kaum dem Bett
entschlüpft, kraftvoll und genau meine Atemübungen vornahm, den
Brustkorb dehnte, den Bauch zum Riemen einzog, den gestauten Atem
beherrscht und rhythmisch wie aus einer Oboe entströmen ließ. Es muß
wahr sein, aber schon kann ich nicht mehr recht daran glauben, daß ich
einst mit straffgestreckten Beinen und durchgedrückten Knien auf
federnden Zehen zu stehen, daß ich tiefe langsame Kniebeugen und alle
jene andern hübschen Turnstücke auszuführen vermochte!

Allerdings hat man mir gleich beim Beginn der Kur gesagt, daß
möglicherweise solche Reaktionen eintreten könnten, daß die Bäder sehr
ermüden und daß bei manchen Patienten vorerst die Schmerzen sich in der
Kur noch steigern. Nun ja, ich hatte dazu genickt. Aber daß diese
Ermüdung so jämmerlich, die Zunahme der Schmerzen so heftig und
niederdrückend sein könnte, hatte ich nicht geahnt. Ich bin in acht
Tagen ein alter Mann geworden, der in Haus und Garten da und dort auf
den Bänken herumsitzt und jedesmal Mühe hat, wieder hochzukommen, der
keine Treppen mehr steigt und dem der Liftboy beim Ein- und Aussteigen
behilflich sein muß.

Auch von außen her kam allerlei Enttäuschendes. In Zürich, ein paar
Meter von hier, sitzen mehrere nahe Freunde von mir, und sie wissen, daß
ich krank und hier zur Kur bin, zwei von ihnen haben mir ihren Besuch
sogar geradezu versprochen, als ich sie auf der Durchreise besuchte.
Gekommen aber ist keiner, und natürlich wird auch keiner kommen; daß ich
mich darauf verließ und freute, war wieder eine meiner nicht
auszurottenden Infantilitäten. Nein, sie kommen natürlich nicht, ich
weiß ja doch, wie viel sie zu tun haben, alle diese armen und geplagten
Menschen, und wie spät sie oft ins Bett kommen, nach dem Theater, dem
Restaurant, der Einladung; es war dumm von mir, daran nicht zu denken
und ganz wie ein kleines Kind ohne weiteres zu erwarten, die Leute
würden sich ein Vergnügen daraus machen, mir, einem kranken und
langweiligen Menschen, Besuche zu machen. Aber immer setze ich das
Ungeheuerste voraus, erwarte das Überschwänglichste; kaum kenne ich
jemand und finde ihn sympathisch, so traue ich ihm schon auch das
Allerbeste zu, ja, fordere es von ihm und bin entzaubert und betrübt,
wenn es nicht stimmt. So ging es mir auch mit der ziemlich hübschen und
jungen Dame im Hotel, mit der ich mich einige Male unterhalten habe und
die mir recht gut gefiel. Nachdem sie mir als ihre Lieblingsbücher
einige schlechte Unterhaltungsromane genannt hatte, war ich zwar einen
Moment erschrocken, sagte mir aber alsbald, daß ich, der Fachmann und
Kenner in literarischen Dingen, kein Recht habe, auf diesem Gebiet auch
bei anderen Urteil und Verständnis vorauszusetzen. Ich schluckte jene
Büchertitel, strafte mich selbst und traute weiterhin der Dame das Beste
und Edelste zu. Und nun hat sie gestern abend im Salon drüben diesen
Mord begangen! Sie, eine angenehme, heitere und sogar hübsche Dame, eine
Frau, die in meiner Gegenwart sicher kein Kind prügeln und kein Tier
quälen würde, hat in meiner Gegenwart, mit heiterer Stirn und
unschuldigen Augen, am Klavier eine liebenswürdige Menuett aus dem
achtzehnten Jahrhundert mit ungeübten, aber kräftigen Händen
vergewaltigt und totgeschlagen! Ich war ganz entsetzt und traurig und
rot vor Scham, aber es fiel niemandem auf, daß da etwas Schlimmes
geschehen war, ich saß mit meinen törichten Gefühlen allein. O wie
sehnte ich mich nach meiner Einsamkeit, nach meiner Höhle, die ich nie
hätte verlassen sollen, wo es zwar Leiden und Nöte genug gibt, aber
keine Klaviere, keine literarischen Gespräche, keine gebildeten
Nebenmenschen!

Und die ganze Kur, das ganze Baden ist mir so scheußlich zuwider
geworden. Von den Gästen unsres Hotels sind, wie ich weiß, die
allermeisten nicht zum erstenmal in Baden, viele besuchen das Bad zum
sechsten-, zum zehntenmal, und nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird
es mir gehen wie ihnen, wie allen Stoffwechselkranken, daß nämlich das
Leiden von Jahr zu Jahr fataler wird und daß die Hoffnung auf Heilung
der bescheideneren Hoffnung weicht, durch solche Kuren wenigstens
alljährlich für eine Weile etwas Erleichterung zu finden. Der Arzt zwar
bleibt fest bei seinen Versicherungen, aber das ist ja sein Beruf, und
daß wir Patienten äußerlich gut aussehen und den Eindruck gedeihlichsten
Wohlergehens machen, dafür sorgt materiell das üppige Essen und
koloristisch die Quarzlampe, die uns auf das dekorativste bräunt, so daß
wir aussehen wie Leute, die soeben blühend vom Hochgebirge zurückkehren.

Dabei verkommt man auch moralisch in dieser faulen und erschlaffenden
Badeatmosphäre. Meine paar guten spartanischen Gewohnheiten, die ich mir
in Jahren anerzogen, das Atmen und Turnen, das Vorliebnehmen mit magerer
Kost, sind mir verloren gegangen, übrigens unter direkter Unterstützung
des Arztes; auch meine anfängliche Beobachtungs- und Arbeitslust ist
fast ganz verschwunden. Nicht daß es um diese _Psychologia Balnearia_
schade wäre – im Gegenteil, sie war von Anfang an ja nicht ein Opus,
kein zielbewußter Gestaltungsversuch, sondern eben eine Beschäftigung,
eine kleine tägliche Übung für Auge und Handgelenk. Aber auch darüber
wird die Trägheit Herr, ich brauche wenig Tinte mehr. Wäre der Sieg über
den Holländer nicht, der mir auch schon unverhältnismäßig schwer fiel,
so müßte ich geradezu eine Verluderung und Versumpfung feststellen. Und
in manchen Punkten muß ich dies wirklich. Vor allem hat sich meiner eine
Trägheit, eine mißgelaunte Faulheit bemächtigt, die mich von allem Guten
und Nützlichen abhält, namentlich von jeder noch so geringen
körperlichen Anstrengung. Kaum zum kleinsten Spaziergang kann ich mich
bringen, nach Tische liege ich, ebenso wie nach den Bädern und
Behandlungen, stundenlang auf dem Bett oder im Liegestuhl, und wie es
geistig mit mir steht, das werde ich später deutlich ablesen können,
wenn ich diese albernen Aufzeichnungen, mit denen ich mich aus einem
Rest von Pflichtgefühl noch je und je eine Stunde lang plage, einmal
wieder lesen werde. Ich bestehe ganz und gar nur noch aus Trägheit, aus
matter Langeweile, fauler Schlafsucht.

Ein noch beschämenderes Bekenntnis bleibt mir nicht erspart. Daß ich
nichts arbeiten, nicht denken, kaum lesen mag, daß ich seelisch und
leiblich jede Frische und Energie verloren habe, wäre schlimm genug,
aber es kommt noch immer ärger. Ich habe angefangen, mich gerade der
oberflächlichen und verdummenden, der öden und lasterhaften Seite dieses
trägen Kurgastlebens hinzugeben. Ich esse zum Beispiel mittags all die
guten fetten Bissen nicht mehr bloß so mit, spaßeshalber und mit innerer
Überlegenheit oder mindestens Ironie, wie ich es zu Anfang tat – nein,
ich esse, ich fresse, obwohl ich längst nicht mehr weiß, was Hunger ist,
diese feinen langen Menus täglich zweimal herunter mit der
unbeherrschten, dummen Völlerei des gelangweilten Menschen, des fetten,
lieblosen Bourgeois, ich trinke zum Abendessen meistens auch etwas Wein,
und vor dem Schlafengehen habe ich mir ein Fläschchen Bier angewöhnt,
etwas, was ich seit bald zwanzig Jahren nicht mehr getrunken hatte. Ich
nahm es anfangs als Schlafmittel, weil es mir empfohlen wurde, trinke es
nun aber seit Tagen rein aus Gewohnheit und Völlerei. Es ist nicht zu
glauben, wie schnell man das Schlechte und Dumme lernen kann, wie leicht
es ist, ein Hund von Faulenzer, ein Schwein von fettem Genießer zu
werden!

Aber mein Talent zum Laster hat sich keineswegs mit der Esserei und
Trinkerei, mit dem Nichtstun und Herumliegen begnügt. Mit der
körperlichen Verwöhnung und Trägheit geht die geistige Hand in Hand. Was
ich nie für möglich gehalten hätte, ist eingetreten: ich meide, nicht
bloß im Geistigen, alle anstrengenden, rauhen und gefährlichen Wege,
sondern suche, auch im Geistigen, träg und fresserhaft gerade jene
faden, perversen, idiotisch pompösen und inhaltlosen Vergnügungen auf,
die ich von jeher geflohen und verabscheut und wegen deren ich den
Bourgeois und Städter im besonderen, unsre Zeit und Zivilisation im
allgemeinen zuweilen angeklagt und verachtet habe. Ich habe mich jetzt
dem durchschnittlichen Niveau des Kurgastes soweit genähert, daß ich
einen Teil jener Vergnügungen nicht mehr verabscheue und fliehe, sondern
mitmache und aufsuche. Es wird nicht lange mehr dauern, so werde ich
auch noch die Kurliste lesen (von den Unterhaltungen der Patienten ist
diese mir die rätselhafteste), werde mich mit Frau Müller
nachmittagelang über ihre Rheumatismen unterhalten und über alle die
Arten von Tee, die es dagegen gibt, und werde meinen Freunden
Ansichtskarten mit Brautpaaren oder mit jenen kühnen Rübenmenschen
senden.

Die Kurkonzerte, die ich lange Zeit so sorgfältig gemieden habe, suche
ich jetzt häufig auf und sitze ebenso wie alle anderen auf einem Stuhle,
höre die Unterhaltungsmusik vorüberrinnen und habe das angenehme Gefühl,
es rinne damit hörbar und fühlbar ein Stück Zeit hinweg, ein Stück von
der Zeit, von der wir Kurgäste so viel übrig haben. Zuweilen gewinnt und
bezaubert mich auch die Musik selbst, der rein sinnliche Reiz der paar
gut gespielten Instrumente, wobei vom Charakter und Gehalt der
gespielten Stücke nichts in mein Bewußtsein tritt. Seichte Musikstücke,
deren bloße Machart und Handschrift mir sonst Ekel erregt hätte, höre
ich jetzt ohne Beschwerden bis zu Ende an. Ich sitze eine Viertelstunde,
zuweilen eine halbe Stunde lang, müde und in schlechter Haltung,
zwischen der Schar anderer gelangweilter Leute, höre wie sie die Zeit
hinfließen, mache wie sie ein gelangweiltes Gesicht, kratze mich wie sie
zuweilen gedankenlos am Hals oder Nacken, stütze das Kinn auf den
Stockgriff oder gähne, und nur in vereinzelten Augenblicken zuckt meine
Seele erschreckt und widerstrebend auf wie ein Steppentier, das
plötzlich gefangen im Stall erwacht, nickt aber bald wieder ein und
schläft und träumt weiter, unterirdisch, ohne mich, denn ich bin von ihr
getrennt, seit ich auf diesen Konzertstühlen sitze.

Und erst jetzt, wo ich selber ganz und gar ein Teil der Menge, ein
Durchschnittskurgast, ein gelangweilter müder Philister geworden bin,
erst jetzt fühle ich, wie lächerlich und frivol es war, wenn ich auf den
ersten Seiten dieser Schrift mich als einen normalen Vertreter dieser
Welt und Mentalität aufspielte. Ich tat es ironisch, und erst jetzt, wo
ich tatsächlich dieser normierten Alltagswelt angehöre, wo ich ohne
Seele in einem Saal sitze und Unterhaltungsmusik zu mir nehme, wie man
Tee oder Pilsner zu sich nimmt, erst jetzt fühle ich wieder ganz und
gar, wie sehr, wie bitter ich diese Welt hasse. Denn jetzt hasse und
verachte und verhöhne ich in dieser Welt mich selber, nichts andres
mehr. Nein, mit dieser Welt zu paktieren, ihr anzugehören, in ihr
Geltung zu haben und mich wohlzufühlen – ich spüre es in diesem
Augenblick mit jeder Faser meines Wesens –, das ist nichts für mich, das
ist mir verboten, das ist Sünde gegen alles Gute und Heilige, wovon ich
weiß und woran teilzuhaben mein Glück ist. Und nur darum, nur weil ich
zurzeit diese Sünde begehe, weil ich mit dieser Welt paktiert und sie
angenommen habe, ist mir jetzt so sterbensschlecht zumute! Und dennoch
verharre ich dabei, die Trägheit ist stärker als meine Einsicht, der
fette, faule Bauch stärker als die schüchtern klagende Seele.

Zuweilen lasse ich mich jetzt auch von meinen Mitkurgästen in die
Unterhaltung ziehen, wir stehen nach Tische ein wenig im Korridor herum
und äußern völlig übereinstimmende Meinungen über den Stand der Politik
und Währungen, über Wetter und Kur, auch über Lebensphilosophie und
Familiensorgen. Daß junge Menschen eben doch eine Autorität über sich
brauchen und daß es keinem schadet, wenn er zuzeiten hartes Holz bohren
und bittere Brocken schlucken muß, und andres dergleichen mehr, was ich
alles von vornherein bereitwillig bejahe, wozu ich, den Bauch voll guten
Essens, mein volles Einverständnis äußere. Hie und da zuckt die Seele
auf, das Wort im Munde wird mir zu Galle, und ich muß eilig und
rücksichtslos davonlaufen und die Einsamkeit suchen (o wie schwer ist
sie hier zu finden), aber so im großen und ganzen bin ich auch dieser
Sünde gegen den Geist, bin auch der Sünde des dummen, nutzlosen
Schwatzens, des faulen, gedankenlosen Jasagens schuldig geworden.

Eine andere Zerstreuung, an die ich mich hier zu gewöhnen beginne, ist
der Kinematograph. Mehrere Abende schon habe ich im Kino zugebracht, und
wenn ich es das erstemal nur tat, um irgendwo allein zu sein, keine
Gespräche anhören zu müssen und dem Bannkreis des Holländers zu
entkommen, so ging ich doch das zweitemal schon zum Vergnügen, aus
Zerstreuungssucht (auch an das Wort „Zerstreuung“, das früher in meinem
Sprachschatz fehlte, habe ich mich nun schon gewöhnt!). Ich ging mehrere
Male und habe mir, durch die Augenlust am Bilderspiel verführt und
abgestumpft, nicht nur das Haarsträubendste und Liebloseste an
Kunstersatz und Pseudodramatik, neben einer grauenhaften Musik,
widerspruchslos gefallen lassen, sondern habe auch die physisch wie
seelisch üble Atmosphäre in jenem Raume ertragen. Ich fange an, alles zu
ertragen, alles zu schlucken, auch das Dümmste, auch das Häßlichste. Ich
habe stundenlang einen Film abrollen sehen, in dem eine antike Kaiserin
samt Theater, Zirkus, Kirche, samt Gladiatoren und Löwen, Heiligen und
Eunuchen gezeigt wurde, und habe es ertragen, daß die höchsten Werte und
Zeichen, daß Thron und Zepter, Ornat und Heiligenschein, Kreuz und
Reichsapfel samt allen möglichen und unmöglichen Fähigkeiten und
Zuständen der Seele, daß Menschen und Tiere zu Hunderten zu lächerlichem
Zwecke aufgeboten und ins Schaufenster gestellt wurden, daß dieser an
sich prachtvolle Aufwand durch einen endlosen, völlig idiotischen Text
entwertet, durch eine falsche Dramatik vergiftet und durch ein herz- und
kopfloses Publikum (ich gehöre mit dazu) entwürdigt und zum Jahrmarkt
verdorben wurde. Es war in manchen Augenblicken scheußlich, ich war oft
nahe am Weglaufen, aber Ischiatiker laufen nicht so leicht weg, ich
blieb, ich sah den Schmarren bis zu Ende und werde vermutlich morgen
oder übermorgen wieder in jenen Saal gehen. Es wäre unrecht, wollte ich
leugnen, daß ich auch einige entzückende Sachen im Kino gesehen habe,
namentlich einen liebenswerten französischen Akrobaten und Humoristen,
der bessere Einfälle hatte als die meisten Dichter. Was ich anklage, was
meinen Ärger und Ekel erregt, das ist nicht der Kino, das bin einzig
ich, der Kinobesucher. Wer nötigt mich, dorthin zu gehen, die grausame
Musik zu erdulden, die idiotischen Texte zu lesen, das Wiehern der
Menge, meiner unschuldigeren Brüder, mit anzuhören? Ich habe in jenem
großen Film ein ganzes Dutzend prachtvoller Löwen, die wir zwei Minuten
vorher noch lebend gesehen hatten, als starre Leichen über den Sand
schleppen sehen und habe die Hälfte der Zuschauer diesen grausig
traurigen Anblick mit lautem Gelächter quittieren hören! Ist denn in den
hiesigen Thermalbädern etwas enthalten, ein Salz, eine Säure, ein Kalk,
etwas, das den Menschen nivelliert, das Hemmungen gegen alles Hohe,
Edle, Wertvolle erzeugt und Hemmungen gegen das Niedere und Vulgäre
aufhebt? Nun, ich beuge mich und schäme mich, und für später, für die
Zeit nach der Rückkehr in meine Steppe, habe ich einige Gelübde getan.

Bin ich nun zu Ende gekommen mit meiner Liste von schlechten
Gewohnheiten und neu gelernten Lastern? Nein, ich bin noch nicht am
Ende. Ich habe auch das Hasardspiel kennengelernt, ich habe öftere Male
mit Vergnügen und Spannung am grünen Tisch gespielt und auch an einer
Maschine, der man silberne Frankenstücke durch verschiedene kleine
Mündungen zu schlucken gibt. Ich kann leider nicht so ganz richtig
spielen, weil ich wenig Geld habe, aber das mir Mögliche habe ich doch
daran gerückt, und zweimal ist es mir geglückt, wohl eine Stunde lang zu
spielen, ohne daß ich am Ende mehr als einen oder zwei Franken verloren
hatte. Das eigentliche Spielererlebnis habe ich damit natürlich nicht
gehabt, aber ich habe also auch an dieser Blüte gerochen, und ich muß
gestehen, daß es mir ein großes Vergnügen gemacht hat. Ich muß auch
bekennen, daß ich kein schlechtes Gewissen dabei hatte, wie bei den
Konzerten, den Gesprächen mit den Kurgästen und den Kinolöwen, sondern
das ein bißchen Verpönte und Antibürgerliche dieses Lasters mundete mir
außerordentlich, und ich bedaure aufrichtig, daß ich nicht saftigere
Einsätze machen kann.

Die Sensationen des Spieles waren für mich etwa diese: Ich stand erst
eine kleine Weile am Rand des grünen Tisches, auf die Zahlenfelder
blickend, und lauschte auf die Stimme des Mannes an der Roulette. Die
Zahl, welche dieser Mann ausrief, die von dem rollenden Ball erwählte
Zahl, welche eine Sekunde vorher noch eine blinde, dumme Zahl unter
vielen ihresgleichen gewesen war, strahlte nun warm und hell auf, in der
Stimme des Mannes, in dem vom Ball besetzten Loch, in den Ohren und
Herzen der Hörer. _Quatre_, hieß es, oder _cinq_ oder _trois_, und nicht
nur in meinem Ohr und Bewußtsein, nicht nur auf der runden konischen
Gleitbahn des Balles strahlte die Zahl auf, sondern auch auf dem grünen
Tische. Wenn die Sieben herauskam, so nahm die steife schwarze Ziffer
Sieben in dem ihr zugehörigen grünen Felde für Sekunden einen festlichen
Schimmer an, sie drängte alle anderen Zahlen ins Wesenlose, denn alle
anderen waren ja bloß Möglichkeiten, sie allein war Erfüllung, hatte
Wirklichkeit. Das Wirklichwerden des Möglichen, das Daraufwarten und
Daranbeteiligtsein, das war die Seele des Spiels. Wenn ich nun einige
Minuten zugesehen und zugehört hatte und vom Spiele angesogen zu werden
begann, dann kam der erste schöne und hold erregende Moment: es wurde
die Sechs ausgerufen, und sie überraschte mich nicht, sie kam so
richtig, so selbstverständlich und wirklich heraus, als hätte ich sie
bestimmt erwartet, ja, als hätte ich selbst sie gerufen, sie gemacht und
erschaffen. Von dieser Sekunde an war meine Seele am Spiel beteiligt,
witterte das Schicksal, fühlte sich gut Freund mit dem Zufall, und das
ist, muß ich gestehen, ein überaus glücklich machendes Gefühl, es ist
der Kern und Magnet der ganzen Spielerei. Also ich hörte die Sieben,
dann die Eins, dann die Acht herauskommen, fühlte mich nicht überrascht
oder enttäuscht, glaubte gerade diese Zahlen erwartet zu haben, und nun
war der Kontakt da, ich war an den Strom angeschlossen und konnte mich
ihm überlassen. Ich blickte jetzt fest auf die grüne Ebene, las die
Zahlen und wurde von einer von ihnen angezogen, hörte sie leise rufen
(manchmal auch zwei zugleich), sah sie mir leise winken und setzte
meinen Franken auf diese Zahl. Kam sie nun nicht heraus, so war ich
nicht enttäuscht und entzaubert, sondern konnte warten, meine Sechs oder
Neun würde schon kommen. Und sie kam, beim zweiten- oder drittenmal, sie
kam richtig. Dieser Augenblick des Gewinnens ist wundervoll. Du hast das
Schicksal angerufen und dich ihm anheimgestellt, du glaubst in Kontakt
mit dem großen Geheimnis zu sein, hast das ahnende Gefühl, mit ihm im
Bunde und befreundet zu sein – und siehe, es ist wahr, es bestätigt
sich, deine stille, geheime Vorstellung, dein kleines verborgenes
Wunschbild strahlt auf, es vollzieht sich das Wunder, aus der Ahnung
wird Wirklichkeit, deine Zahl wird von der allmächtigen Glückskugel
auserwählt, der Mann am Rad ruft sie laut aus, und der Mann am Tisch
wirft dir im Bogen eine Handvoll aufblitzender Silberstücke zu. Das ist
außerordentlich hübsch, es ist ein reines Glück, und es hängt nicht vom
Gelde ab, denn ich, der ich dies schreibe, habe von allen meinen
gewonnenen Franken nicht einen behalten, das Spiel hat alle wieder
verschlungen, und dennoch leuchten jene schönen Augenblicke des
Gewinnens, jene wunderbar innigen, kindhaft vollen und satten
Erfüllungen ungetrübt und köstlich nach, jede war ein voll und prall
geschmückter Weihnachtsbaum, jede ein Wunder, jede ein Fest, und zwar
ein Fest der Seele, eine Bestätigung und Bejahung und Steigerung des
innersten, tiefsten Lebensinstinktes. Gewiß, man kann dieselbe Freude,
dasselbe wunderbare Glück auf höheren Ebenen, in edleren und
differenzierteren Formen erleben: das Aufleuchten einer tiefen
Lebenserkenntnis, der Moment eines inneren Sieges und am meisten der
schöpferische Augenblick, der Augenblick des Findens, des aufblitzenden
Einfalls, das triumphierende Ertasten des Treffers bei der Arbeit des
Künstlers, all das ist, in höhern Regionen, dem Erlebnis des
Spielgewinns ähnlich wie Bild und Spiegelbild. Aber wie selten erlebt
auch der Glückliche, auch der Begnadete jene hohen göttlichen
Augenblicke, wie selten leuchtet in uns ermüdeten späten Menschen eine
Befriedigung, ein sättigendes Glücksgefühl, das an Stärke und Pracht
sich mit den Glückserlebnissen der Kindheit vergleichen darf! Diese
Erlebnisse sind es, denen der Spieler nachjagt, auch wenn er scheinbar
das Geld meint. Diesen Paradiesvogel der Freude, in unsrem glatten faden
Leben so selten geworden, sucht er zu erjagen, ihm gilt die lodernde
Sehnsucht in seinem Blick.

Hin und her ging dann das Glück, für Momente war ich ganz eins mit ihm,
saß selber in der rollenden Kugel, gewann, und ein Gefühl köstlicher
Erregung durchrann mich schauernd. Dann war der Höhepunkt überschritten.
Ich hatte eine dicke Handvoll gewonnener Münzen in der Hosentasche und
setzte nun Mal für Mal weiter, und langsam ließ das Gefühl der
Sicherheit nach, es sprang eine Eins, eine Vier heraus, die mich ganz
und gar überraschten, mir feindlich waren und mich verhöhnten. Jetzt
wurde ich unruhig und ängstlich, setzte auf Zahlen, ohne ein Verhältnis
des ahnenden Gefühls zu ihnen zu haben, schwankte lange zwischen gerade
und ungerade, setzte aber zwanghaft weiter, bis mein Spielgeld wieder
alles verloren war. Und nicht erst nachher, sondern schon gleichzeitig,
noch während des Spiels, empfand ich die Tiefe des Gleichnisses, sah im
Spiel das Abbild des Lebens, wo es genau ebenso geht, wo
unerforschliche, vernunftlose Ahnung uns die stärksten Zauber in die
Hand gibt, die größten Kräfte löst, wo beim Erlahmen der guten Instinkte
Kritik und Verstand sich einmischen, eine Weile lavieren und Widerstand
leisten und schließlich geschieht, was geschehen muß, völlig ohne uns
und über unsre Köpfe hinweg. Der erlahmende Spieler, der seinen
Höhepunkt überschritten hat und doch nicht aufhören kann, der von keiner
Intuition, keinem tiefen Glaubenkönnen mehr geleitet wird, gleicht ganz
genau dem Menschen, der in wichtigen Lebensfragen nicht aus und ein
sieht und, statt zu warten und die Augen zu schließen, vor lauter Kalkül
und Bemühung und Verstandesüberanstrengung sicher das Falsche tut. Und
eine der allersichersten Spielregeln am grünen Tisch ist diese: Wenn du
einen Mitspieler siehst, der müde wird und Pech hat, der bald auf diese,
bald auf jene Nummer mehreremal hintereinander setzt und dann doch
wieder abspringt – dann setze jedesmal auf die Zahl, die er bisher
vergeblich belagerte und die er nun im Mißmut verlassen hat, sie wird
sicher herauskommen.

Seltsam anders als alle anderen Bürger- und Kurbelustigungen ist das
Spiel um Geld. Hier am grünen Tisch werden weder Bücher gelesen noch
fade Unterhaltungen geführt noch Strümpfe gestrickt wie in den Konzerten
und im Kurgarten, es wird weder gegähnt noch am Hals gekratzt, ja, die
Rheumatiker sitzen hier nicht einmal, sie stehen, stehen lang und
mühsam, heroisch auf ihren eigenen, sonst so geschonten Beinen. Es
werden hier im Spielsaal weder Witze gemacht, noch wird von Krankheiten
oder von Poincaré gesprochen, es wird auch fast niemals gelacht, sondern
ernst und flüsternd steht die zuschauende Menge um den Spieltisch,
gedämpft und feierlich klingt die Stimme des Ausrufers, gedämpft und
zart klirren auf dem grünen Tuch die Silberstücke aneinander, und schon
dies, schon diese Andacht und verhältnismäßige Diskretion und Würde gibt
dem Spiel in meinen Augen einen unermeßlichen Vorzug vor jenen anderen
Arten von Vergnügungen, bei welchen die Leute so laut, so salopp und
unbeherrscht sind. Hier, im Spielsaal, herrscht ernste Festlichkeit und
Feiertagsstimmung, leise und etwas befangen wie in einer Kirche treten
die Gäste ein, wagen nur zu flüstern, schauen andächtig auf den Herrn im
Frack. Und dieser benimmt sich musterhaft, nicht wie eine Person,
sondern wie der neutrale Träger eines Amtes, einer Würde.

Ich kann die psychologischen Ursachen dieser Feststimmung und schönen,
wohltuenden Feierlichkeit hier nicht untersuchen, denn ich habe ja
längst die Fiktion aufgegeben, daß meine _Psychologia Balnearia_ von
einer anderen Psyche handle als meiner eigenen. Vermutlich kommt die
heilige, flüsternd verehrungsvolle Stimmung voll Würde und Devotion im
Spielsaal einfach daher, daß es sich hier nicht um Musik, Dramatik oder
andere Kindereien handelt, sondern um das Ernsteste, Geliebteste und
Heiligste, was die Menschen kennen, um das Geld. Aber, wie gesagt, ich
will dies nicht untersuchen, es liegt außerhalb meines Problems. Ich
stelle nur fest, daß, im Gegensatz zu jeder anderen Volksbelustigung,
zum Konzert und Theater, zum Kino, zum Ball, hier im Spielsaal eine
Stimmung vorherrscht, welche der Ehrfurcht nicht entbehrt. Und während
zum Beispiel im Kino das Publikum sich in sprachlichen und auch
unartikulierten Äußerungen von Lust und Unlust wenig Zwang antut, fühlt
hier sogar der Akteur, der Spieler, selbst im Moment der heftigsten, der
bestbegründeten und erlaubtesten Emotionen, nämlich beim Gewinnen und
Verlieren von Geld, eine tiefe Verpflichtung, Haltung und Würde zu
zeigen. Ich sehe hier dieselben Personen, welche beim täglichen
Kartenspiel den Verlust von zwanzig Rappen mit Ausbrüchen der schlechten
Laune in Flüchen und Verwünschungen begleiten, das Hundertfache
verlieren, ohne – ich darf nicht sagen „mit einer Wimper zu zucken“,
denn die Wimpern zucken sehr –, aber ohne laut zu werden und die
Umgebung mit unanständigen Äußerungen ihrer Gefühle zu belästigen.

Da weise Regierungen sich um alles bekümmern, was die Volkserziehung zu
heben vermag, und alle dazu dienenden Institute fördern und stützen,
wage ich hier, obwohl auf diesem Gebiet ein vollkommener Laie, Fachleute
auf die Tatsache hinzuweisen, daß von allen Spielen, Unterhaltungen
und Belustigungen keine einzige die Teilnehmer so sehr zu
Selbstbeherrschung, Ruhe und Anstand erzieht wie das Hasardspiel im
öffentlichen Spielsaal.

So sympathisch, ja wohltätig mir also das Spiel erscheint, ich fand
immerhin Gelegenheit, auch über seine Schattenseiten nachzudenken,
vielmehr sie experimentell zu erleben. Die oft so leidenschaftlich mit
moralistischem Pathos vorgetragenen Einwände der Nationalökonomen gegen
das Spiel scheinen mir, von meinem Standpunkt aus, alle belanglos. Daß
der Spieler in Gefahr gerät, zu leicht Geld zu gewinnen und darum die
Heiligkeit der Arbeit verachten zu lernen, daß er andererseits in der
Gefahr schwebt, all sein Geld zu verlieren, daß er drittens nach
längerem Zuschauen beim Rollen der Spielbälle und Talerstücke sogar den
Grundbegriff ökonomisch-bürgerlicher Moral, die unbedingte Hochachtung
vor dem Gelde, verlieren kann, ist allerdings alles richtig, doch kann
ich alle diese Gefahren nicht sehr ernst nehmen. Mir, dem Psychologen,
schiene für sehr viele schwer seelenkranke Menschen der rasche Verlust
ihres Vermögens und die Erschütterung ihres Glaubens an die Heiligkeit
des Geldes durchaus kein Unglück, sondern die sicherste, ja einzig
mögliche Rettung zu bedeuten, und ebenso scheint mir inmitten unsres
heutigen Lebens, im Gegensatz zum alleinigen Kultus der Arbeit und des
Geldes, der Sinn für das Spiel des Augenblicks, das Offenstehen für den
Zufall, das Vertrauen in die Launen des Schicksals etwas durchaus
Wünschenswertes, woran wir alle sehr Mangel leiden.

Nein, was nach meiner Meinung der Fehler des Geldspiels ist und es trotz
seiner prächtigen Seiten schließlich doch zu einem Laster macht, das ist
etwas rein Seelisches. Nach meiner persönlichen, höchst angenehmen
Erfahrung gewährt es eine beglückende Anregung, sich täglich zwanzig
Minuten der Spannung des Roulettespiels und der so unwirklichen
Atmosphäre des Spielsaals auszusetzen. Für eine gelangweilte, leere,
müde Seele ist dies ein wahres Labsal, eins der besten, die ich je
probierte. Der Fehler ist nur (und diesen Fehler hat das Spiel mit dem
ebenfalls so angenehmen Alkohol gemeinsam) – der Fehler ist, daß beim
Spiel diese ganze hübsche Anregung von außen kommt und rein mechanisch
und materiell ist, so daß die große Gefahr besteht, im Vertrauen auf
diese immer wieder wirksame Anregungsmechanik die eigene Übung, die
seelische Aktivität zu vernachlässigen und zuletzt einzubüßen. Wenn man,
statt durch Denken, durch Träumen, durch Phantasieren oder Meditieren,
die Seele bloß mechanisch durch die Roulette in Schwung setzt, so ist
das ungefähr dasselbe, wie wenn man für seinen Körper zwar Bad und
Masseur in Anspruch nimmt, auf eigene Leistung, auf Sport und Training
aber verzichtet. Auch die Anregungsmechanik des Kinematographen, der die
eigene künstlerische Leistung des Auges, das Entdecken, Auswählen und
Festhalten des Schönen und Interessanten, durch eine rein materielle
Augenfütterung ersetzt, beruht auf dem gleichen Schwindel.

Nein, ebenso wie man neben dem Masseur das Turnen braucht, so braucht
die Seele, statt oder neben dem Spiel und allen diesen hübschen
Anregungen, notwendig die eigene Leistung. Darum ist hundertmal besser
als das Glücksspiel jede aktive Übung der Seele: straffe, scharfe Denk-
und Gedächtnisübung, Übung im Reproduzieren gesehener Dinge bei
geschlossenen Augen, abendliches Rekonstruieren des Tageslaufes, freies
Assoziieren und Phantasieren. Ich füge dies bei, ebenfalls für die
Freunde des Volkswohls und vielleicht zur Korrektur meines obigen
laienhaften Winkes – denn auf diesem Gebiet, dem der rein seelischen
Erfahrung und Erziehung, bin ich kein Laie, vielmehr ein alter, fast
schon allzu gewiegter Fachmann.

Nun habe ich mich wieder weit vom Thema verirrt, wie es denn überhaupt
das Schicksal dieser Aufzeichnungen zu sein scheint, daß sie, unfähig,
irgendein Einzelproblem bis zur Lösung auszuarbeiten, mehr assoziativ
und zufällig die andringenden Einfälle aneinanderreihen. Aber
vielleicht, so nehme ich an, gehört dies eben mit zur Psychologie des
Kurgastes.

Ich verließ mein Thema, mein so unerquickliches Thema, zugunsten einer
kleinen Lobrede auf das Hasardspiel, welche Lobrede ich geneigt wäre,
noch des weiteren auszuspinnen, denn die Rückkehr zum Thema fällt mir
schwer. Allein es muß sein. Kehren wir zum Kurgast Hesse zurück,
betrachten wir nochmals diesen bequem gewordenen älteren Herrn mit der
unlustigen und müden Haltung und dem hinkenden Gange! Er gefällt uns
nicht, der Mann, wir können ihn nicht lieben, wir können ihm nicht aus
aufrichtigem Herzen eine lange oder gar eine endlose Fortsetzung seines
weder vorbildlichen noch interessanten Lebens wünschen. Wir werden
nichts dagegen haben, wenn dieser Herr einst von der Bühne abtritt, auf
welcher er schon längst keine erfreuliche Figur mehr macht. Sollte er
zum Beispiel eines Morgens im Bade der Müdigkeit erliegen, unter Wasser
geraten und unten bleiben, so sähen wir darin keinen Anlaß zum Bedauern.

Wenn wir jedoch über besagten Kurgast uns so wenig interessiert
aussprechen, so bezieht sich das einzig auf seine derzeitige Funktion,
seinen momentanen Aggregatzustand. Nicht aus dem Auge verlieren dürfen
wir die niemals erlöschende Möglichkeit, daß sein Zustand sich ändere,
daß sein Wesen auf einen neuen Nenner hin umgerechnet werde. Dies
Wunder, oft schon erlebt, bleibt stündlich möglich. Wenn wir den Kurgast
Hesse mit Kopfschütteln betrachten und reif zum Untergang finden, so
bleibe unvergessen, daß wir an Untergang nicht im Sinne der Vernichtung,
nur im Sinne der Verwandlung glauben können, denn Fundament und
Nährboden all unsrer Meinungen, also auch unsrer Psychologie, ist der
Glaube an Gott, an die Einheit – und die Einheit kann, auf dem Weg der
Gnade sowohl wie der Erkenntnis, auch im verzweifeltsten Fall stets
wieder hergestellt werden. Es gibt keinen Kranken, der nicht mit einem
einzigen Schritt, sei es auch der Schritt durch den Tod, wieder gesund
werden und zum Leben eingehen könnte. Es gibt keinen Sünder, der nicht
mit einem einzigen Schritt, sei es auch vielleicht durch die Hinrichtung
hindurch, wieder unschuldig und göttlich werden könnte. Und es gibt
keinen vergrämten, entgleisten und scheinbar entwerteten Menschen, den
nicht ein Wink der Gnade im Augenblick erneuern und zum frohen Kinde
machen könnte. Dieser mein Glaube, dies mein Wissen möge beim Schreiben
sowie beim Lesen dieser Blätter niemals vergessen werden. Und der
Verfasser dieser Blätter wüßte in der Tat auch nicht, woher er den Mut,
die Berechtigung, die Verwegenheit zu seinen Kritiken und Launen, seinen
Pessimismen und Psychologien nehmen sollte, wenn ihnen nicht in seiner
Seele beständig das Wissen um die Einheit als ein unzerstörbares
Gleichgewicht gegenüberstände. Im Gegenteil: Je weiter ich mich auf der
einen Seite exponiere und hinauswage, je schonungsloser ich kritisiere,
je elastischer ich auf Launen eingehe, desto heller strahlt jenseits,
auf der Gegenseite, das Licht der Versöhnung. Wäre dieser unendliche,
ständig wogende Ausgleich nicht, woher nähme ich da den Mut, ein
einziges Wort zu sagen, ein Urteil zu fällen, Liebe oder Haß zu fühlen
und zu äußern und eine einzige Stunde zu leben?



                               Besserung


Bald wird meine Kur zu Ende sein. Und, Gott sei Dank, es geht besser, es
geht gut. Eine Woche lang war ich ganz verloren und untergesunken, bloß
noch krank, bloß noch müde, bloß noch gelangweilt und meiner selbst
überdrüssig. Wenig fehlte, so hätte ich mir einen Gummifuß an meinen
Stock machen lassen. Wenig fehlte, so hätte ich angefangen, die Kurliste
zu lesen. Wenig fehlte, so hätte ich der Unterhaltungsmusik nicht mehr
bloß eine Viertel- oder halbe Stunde zugehört, sondern die ganzen, ein-
oder zweistündigen Konzerte zu mir genommen, hätte abends statt einer
Flasche Bier zwei getrunken. Wenig fehlte, so hätte ich im Kursaal meine
ganze Barschaft verspielt. Auch hatte ich mich ein wenig von meinen
Tischnachbarn im Hotel einspinnen lassen, lieben, angenehmen Menschen,
vor denen ich Respekt habe und von denen ich viel hätte lernen können,
hätte ich nicht den alten Fehler gemacht, dies auf dem Wege des
Gesprächs zu versuchen. Und Gespräche mit Menschen, denen man nicht im
Innersten verbunden ist, sind nun einmal fast immer so öde und
enttäuschend. Dazu kommt, daß Fremde, wenn sie mich ansprechen, leider
immer den Fachmann in mir sehen und in ihren Gesprächen irgendwie
meinen, auf Literatur und Kunst zu sprechen kommen zu müssen, und
natürlich wird dann Blech geschwatzt, und die reizendsten Menschen lernt
man von einer Seite kennen, wo sie von den andern elf vom Dutzend nicht
zu unterscheiden sind.

Dazu die Schmerzen und schlechtes Wetter, bei dem ich mich täglich neu
erkältete (ich begriff jetzt die ewigen Erkältungen meines Holländers),
und die furchtbare Kurmüdigkeit – es war eine Reihe von Tagen, deren ich
mich nicht rühmen kann. Aber wie das so geht, eines Tages war diese
Reihe eben zu Ende. Es kam ein Tag, da war mir alles so entleidet, daß
ich vollkommen liegen blieb und nicht einmal mehr zum täglichen Bad zu
haben war. Ich streikte, ich blieb einfach liegen, nur einen Tag lang,
und vom nächsten Tag an ging es besser. Dieser Tag, an dem die Wende
eintrat, ist mir denkwürdig, weil die Wende und Umstellung ganz
plötzlich und überraschend kam. Der Mensch wird mit jeder, auch mit der
widerwärtigsten Situation fertig, wenn er nur erst will, und so habe
auch ich, selbst an den ödesten und deprimiertesten Tagen dieser Kur,
mitten in allem Mißmut nie daran gezweifelt, daß ich auch aus diesem
Sumpf wieder emporkriechen würde. Das Emporkriechen, das langsame,
mühsame Besiegen der Außenwelt, das langsame Suchen und Finden der
vernünftigsten Einstellung, das war, wie ich wußte, ein stets gangbarer
Weg, es war der sehr gangbare, sehr empfehlenswerte Weg der Vernunft.
Von früheren Erlebnissen her kannte ich aber auch den andern Weg, den
nicht zu suchenden, nur zu findenden, den des Glücks, der Gnade, des
Wunders. Daß das Wunder gerade jetzt mir nahe sei, daß ich aus dem
beschämenden Zustand dieser elenden Tage nicht mühsam und staubig auf
der Landstraße der Vernunft, des bewußten Trainings, sondern beflügelt
auf dem blumigen Weg der Gnade erlöst werden möchte, das hatte ich nicht
zu hoffen gewagt.

Am Tage, an dem ich mich wieder aus der Betäubung erhob und zur
Fortsetzung der Kur und des Lebens entschloß, war ich zwar etwas
ausgeruht, jedoch keineswegs guter Laune. Die Beine schmerzten, der
Rücken tat weh, der Nacken war steif, das Aufstehen fiel schwer, schwer
der Weg zum Lift und ins Bad, schwer der Weg zurück. Als es endlich
Mittag geworden war und ich verdrossen und ohne Appetit zum Speisesaal
schlich, nahm ich plötzlich mich selber wahr, war ich plötzlich nicht
mehr bloß der Kurgast, der mit schwerfälligem Gebein und freudlosem
Gesicht die Hoteltreppen hinunterstieg, sondern war zugleich Zuschauer
meiner selbst. Auf irgendeiner der vielen Treppenstufen war es plötzlich
da, war ich plötzlich in zwei gespalten, sah mir selber zu, sah diesen
appetitlosen Kurgast seine Treppen hinabschleichen, sah ihn die Hand
hilfsbedürftig auf die Treppenbrüstung legen, sah ihn am grüßenden
Oberkellner vorbei den Speisesaal betreten. Oft schon hatte ich diesen
Zustand erlebt, und ich begrüßte es alsbald als ein glückliches Zeichen,
daß er mitten in dieser unfruchtbaren und verdrießlichen Epoche
plötzlich wieder da war.

Ich setzte mich im hohen hellen Speisesaal an mein einsames rundes
Tischlein und sah mir zugleich zu, wie ich mich setzte, wie ich den
Stuhl unter mir zurechtrückte und dabei ein wenig auf die Lippen biß,
weil es weh tat, wie ich dann mechanisch die Blumenvase in die Finger
nahm und mir etwas näher stellte, wie ich langsam und unentschlossen die
Serviette aus dem Ringe zog. Da und dort kamen andere Gäste, setzten
sich an ihre Tischlein, wie die Zwerge im Schneewittchen, zupften die
Serviette aus dem Ring. Der Kurgast Hesse aber war hauptsächlich der
Gegenstand meines zuschauenden Ich. Der Kurgast Hesse, mit beherrschtem,
aber tief gelangweiltem Gesicht, schenkte ein wenig Wasser in sein Glas,
brach ein Stückchen Brot ab, alles nur zum Zeitvertreib, denn er
beabsichtigte weder das Wasser zu trinken noch das Brot zu essen, er
löffelte spielend seine Suppe, blickte mit stumpfsinnigem Blick zu den
anderen Tischen im großen Saal hinüber, blickte zu den mit Landschaften
bemalten Wänden empor, schaute dem Oberkellner zu, wie er rasch durch
den Saal lief, und den hübschen Saaltöchtern in schwarzen Kleidchen, mit
weißen Schürzen. Von den übrigen Kurgästen saßen einige in Gesellschaft
oder in Paaren an etwas größeren Tischen, die meisten aber saßen gleich
dem Obigen allein vor ihrem einsamen Teller, mit beherrschtem, aber tief
gelangweiltem Gesicht, schenkten langsam etwas Wasser oder Wein in ihre
Gläser, zupften am Brot, blickten mit stumpfsinnigem Blick zu den
Tischen der andern hinüber, blickten zu den mit Landschaften bemalten
Wänden empor, schauten dem eilenden Oberkellner nach und den hübschen
Saaltöchtern in schwarzen Kleidchen, in weißen Schürzen. An den Wänden
warteten freundlich, dumm und ein wenig verlegen die hübschen
Landschaften, und von der Saaldecke herab, Einfälle eines verschollenen
Dekorateurs, blickten freundlich und unverlegen vier bemalte
Elefantenköpfe, welche mir an früheren Tagen oft Freude gemacht haben,
denn ich bin ein Freund und Anbeter der indischen Götter und sah in
jedem dieser Köpfe den feinen, klugen, elefantenköpfigen Gott Ganesha,
den ich sehr verehre. Und oft, während ich von meinem Tischchen zu den
Elefanten hinaufgesehen, hatte ich mich darüber besonnen, woran nun das
liege, daß man mir in meiner Kindheit erzählt hatte, der Vorzug des
Christentums bestehe hauptsächlich darin, daß es keine Götter und
Götzenbilder kenne, und daß ich doch, je älter und klüger ich werde,
gerade darin den großen Nachteil dieser Religion sehe, daß sie, außer
der wunderbaren katholischen Maria, so gar keine Götter und Götterbilder
hat. Ich gäbe viel dafür, wenn zum Beispiel die Apostel, statt etwas
langweilige und zu fürchtende Prediger, Götter mit allerlei herrlichen
Kräften und Naturzeichen wären, und sehe nur einen schwachen, immerhin
willkommnen Ersatz dafür in den Tieren der Evangelisten.

Derjenige nun, welcher mir und den Gästen und dem allem zusah, dem
gelangweilt essenden Hesse, den gelangweilt essenden Mitgästen, war
nicht der Kurgast und Ischiatiker Hesse, sondern der alte, etwas
gesellschaftsfeindliche Eremit und Sonderling Hesse, der alte Wanderer
und Poet, der Freund der Schmetterlinge und Eidechsen, der alten Bücher
und Religionen, jener Hesse, der sich der Welt entschlossen und kräftig
gegenüberstellte und dem es ein tiefes Leid bereitete, wenn er sich von
seiner Behörde einen Heimatschein ausstellen lassen oder auch nur den
Zettel einer Volkszählung ausfüllen mußte. Dieser alte Hesse, dieses mir
in der letzten Zeit etwas fremd gewordene und verloren gegangene Ich,
war nun wieder da und schaute uns zu. Es sah, wie der appetitlose Gast
Hesse mit lustlos spielender Gabel den schönen Fisch zerstückte und ohne
Hunger dennoch Bissen um Bissen in seinen verdrießlichen Mund steckte,
es sah, wie er ohne jede Notwendigkeit, ohne jeden Sinn das Wasserglas,
das Salzfaß hin und her rückte, die Füße unterm Stuhl bald streckte,
bald anzog, wie die andern Gäste dasselbe taten, wie diese gelangweilten
Leute vom Oberkellner und von den hübschen jungen Mädchen mit äußerster
Sorgfalt bedient und gefüttert wurden, obgleich niemand Hunger hatte,
und wie draußen hinter den hohen feierlichen Bogenfenstern des Saales,
in einer andern Welt, die Wolken am Himmel hinzogen. Dies alles sah der
geheime Zuschauer, und plötzlich erschien diese ganze Veranstaltung ihm
ungeheuer seltsam, drollig und komisch oder auch unheimlich, dies bange,
starre Wachsfigurenkabinett von Menschen, die nicht recht lebten, dieser
langweilige, ohne Appetit essende Hesse, diese langweiligen anderen. Es
war unerträglich lächerlich, unerträglich idiotisch, dies Schauspiel
voll sinnloser Feierlichkeit, all diese aufgehäufte Menge von Essen, von
Porzellan und Glas, von Silber, Wein, Brot, Dienerschaft, alles für die
paar längst satten Gäste, deren Langeweile und Trübsinn weder das Essen
noch das Trinken noch der Blick zu den ziehenden Wolken zu heilen
vermochte.

Eben hob der Kurgast Hesse sein Wasserglas, nur aus Langeweile, führte
es zum Munde, ohne richtig zu trinken, reihte an alle die ratlosen und
automatischen Scheinhandlungen dieser Mahlzeit eine neue, da vollzog
sich die Vereinigung der beiden Ich, des essenden und des zuschauenden,
und plötzlich mußte ich das Glas schnell wegstellen, denn mich
erschütterte von innen her eine plötzlich aufgesprungene, ungeheure
Lachlust, eine ganz kindische Fröhlichkeit, eine plötzliche Einsicht in
die unendliche Lächerlichkeit dieser ganzen Situation. Für einen
Augenblick schien mir im Bilde des Saales voll kranker, unlustiger,
verwöhnter und träger Leute (wobei ich annahm, es sehe in den Seelen der
andern ähnlich aus wie in meiner) unser ganzes zivilisiertes Leben
gespiegelt, ein Leben ohne starken Antrieb, zwangsläufig in festgelegten
Gleisen rollend, unlustig, ohne Verbindung mit Gott und mit den Wolken
am Himmel. Ich dachte einen Augenblick lang an die tausend Speisesäle,
in welchen es ebenso aussah, dachte an die hunderttausend Kaffeehäuser
mit befleckten Marmortischen und süßer, überwürzter, geil melkender
Musik, an die Hotels und Bureaus, an all die Architektur, die Musik, die
Gewohnheiten, innerhalb deren unsre Menschheit lebt, und alles schien
mir an Bedeutung und Wert ähnlich wie das gelangweilte Spiel meiner
müßigen Hand mit der Fischgabel, wie das unbefriedigte öde Hin und Her
meiner lieblosen Blicke durch den Saal. Alles zusammen aber, Speisesaal
und Welt, Kurgäste und Menschheit, schien mir, einen Augenblick lang,
keineswegs entsetzlich und tragisch, sondern bloß ungeheuer lächerlich.
Man brauchte ja nur zu lachen, so war der Bann durchstoßen, die Mechanik
durchbrochen, so zogen Gott und die Vögel und Wolken durch unsern öden
Saal, und wir waren nicht mehr trübe Gäste an der Kurtafel, sondern
vergnügte Gäste Gottes an der bunten Tafel der Welt.

Schleunigst setzte ich, wie gesagt, in dieser Sekunde mein Wasserglas
weg, von innen her geschüttelt und überflutet von einem großen
Gelächter. Es bereitete mir eine große Mühe, dies Gelächter zu bändigen,
es nicht explodieren zu lassen. Ach, als Kinder haben wir das so oft
erlebt, daß man an irgendeiner Tafel, in irgendeiner Schule oder Kirche
sitzt und bis in die Nase und Augen hinauf geladen ist mit mächtiger,
wohlbegründeter Lachlust und doch nicht lachen darf und irgendwie damit
fertigwerden muß, des Lehrers wegen, der Eltern wegen, der Ordnung und
des Gesetzes wegen. Ungern glaubten und gehorchten wir diesen Lehrern,
diesen Eltern und waren sehr erstaunt und sind es noch heute, wenn
hinter ihren Ordnungen, Religionslehren und Sittenlehren als Autorität
jener Jesus stehen sollte, der doch gerade die Kinder seliggesprochen
hat. Sollte er wirklich bloß die Musterkinder gemeint haben?

Aber auch diesmal glückt es mir, mich zu beherrschen. Ich bleibe still
und fühle nur das Drängen im Hals und den Kitzel in der Nase und suche
sehnlich nach irgendeinem kleinen Ventil und Ausweg, einem erlaubten und
möglichen Ausweg für das, was mich sonst erstickt. Ob es wohl anginge,
den Oberkellner, wenn er wieder vorbeikam, ein wenig ins Bein zu zwicken
oder die Saaltöchter mit etwas Wasser aus meinem Glase zu spritzen?
Nein, es ging nicht, alles war verboten, es war die alte Geschichte wie
vor dreißig Jahren.

Während ich dieses dachte und das Lachen mir zu oberst in der Kehle saß,
starrte ich gerade zum Nachbartisch hinüber und ins Gesicht einer mir
unbekannten Frau, einer krank aussehenden Dame mit grauem Haar, die
einen Krankenstock neben sich an der Wand lehnen hatte und damit
beschäftigt war, mit ihrem Serviettenring zu spielen, denn es war gerade
eine der Eßpausen und wir alle wandten die gewohnten Mittel an, diese
Zeit auszufüllen. Einer las heftig in einer alten Zeitung; man sah
deutlich, daß er sie längst auswendig wußte, dennoch schluckte er, aus
Langeweile, wieder und wieder die Nachricht vom Unwohlsein des Herrn
Präsidenten und den Bericht über die Tätigkeit einer Studienkommission
in Kanada hinunter. Eine alte Jungfer mischte zwei Pülverchen in ihrem
Glas, Medizinen, um sie dann nach dem Essen einzunehmen. Sie sah ein
wenig aus wie eine von den gefürchteten älteren Damen in den Märchen,
welche Zaubermittel zum Schaden andrer und hübscherer Leute mischen. Ein
elegant und müde aussehender Herr, wie aus einem Roman von Turgenjew
oder Thomas Mann, blickte distinguiert und wehmutvoll auf eine der an
die Wand gemalten Landschaften. Am besten gefiel mir noch unsre Riesin,
sie saß in untadeliger Haltung und in guter Laune, wie fast immer, vor
ihrem leeren Teller und sah weder böse noch langweilig aus. Dagegen
jener strenge moralische Herr mit den Falten und dem starken Nacken
lastete wie ein ganzes Schwurgericht auf seinem Stuhle und machte ein
Gesicht, als habe er soeben seinen eigenen Sohn zum Tode verurteilt,
während er doch bloß einen Teller voll Spargeln gegessen hatte. Herr
Kesselring, der rosige Page, sah auch heute noch hold und rosig, doch
ein wenig gealtert und bestaubt aus, er schien keinen guten Tag zu
haben, und das Grübchen auf seiner Kinderwange schien heute ebenso
unwahrscheinlich und überflüssig wie das Päckchen pikanter Bilderchen in
seiner Brusttasche. Wie seltsam und drollig war das alles! Warum saßen
wir alle so da und warteten und grinsten? Warum aßen wir und warteten
auf weitere Speisen, da wir doch alle längst nicht mehr hungrig waren?
Warum strich Kesselring sein poetisches Haar mit einem winzigen
Taschenbürstchen, warum trug er jene dummen Bilder in seiner Tasche,
warum war diese Tasche mit Seide gefüttert? Alles war so unbegründet und
unwahrscheinlich. Alles reizte so heftig zum Lachen.

Und ich starrte also in das Gesicht der alten Dame. Da ließ sie auf
einmal ihren Serviettenring los und blickte mich an, und während wir
einander einen Augenblick anstarrten, stieg mir das Lachen ins Gesicht,
und ich konnte nicht anders, ich grinste die Frau mit all dem in mir
aufgestauten Gelächter auf das freundlichste an, es zog mir den Mund
auseinander und lief zu den Augen heraus. Was sie nun über mich dachte,
weiß ich nicht, aber sie reagierte prachtvoll. Zuerst senkte sie schnell
ihren Blick und nahm eilig ihr Spielzeug wieder in die Hand, aber ihr
Gesicht war unruhig geworden, und während ich mit der größten Neugierde
zuschaute, verzog es sich mehr und mehr und ließ sich auf die
sonderbarsten Grimassen ein. Sie lachte! Sie kämpfte grimassierend und
schluckend gegen den Lachtrieb, mit dem ich sie angesteckt hatte! Und so
saßen denn wir beide, den Hotelgenossen als gesetzte ältere Leute
bekannt, wie die Schulkinder an unseren Plätzen, blickten vor uns hin,
schielten eins zum andern, und unsre Gesichter arbeiteten zuckend, um
des Lachens Meister zu bleiben. Zwei, drei andere im Saal bemerkten es
und fingen an, vergnügt und etwas spöttisch zu lächeln, und, als wäre
eine Fensterscheibe zerbrochen und der blauweiße Himmel hereingeflossen,
lief für Minuten eine frohe und kitzelnde Stimmung, ein Schmunzeln durch
den ganzen Saal, als habe jedermann es nun ebenfalls bemerkt, wie
unsäglich blöde und lächerlich wir in unsrer Kurwürde und langweiligen
Traurigkeit dagesessen hatten.

Seit jenem Augenblick geht es mir wieder gut, ich bin nicht mehr bloß
Kurgast, auf das Kranksein und Kurieren spezialisiert, sondern die
Krankheit und Kur ist wieder zur Nebensache geworden. Weh tut es ja
immer noch, das ist nicht zu leugnen. Aber so soll es denn in Gottes
Namen wehtun; ich überlasse die Krankheit sich selber, ich bin nicht
dazu da, ihr den ganzen Tag den Hof zu machen.

Nach Tische sprach mich ein Hotelgast an, ein mir recht unsympathischer
Herr mit vielen Meinungen, der mir schon häufig Zeitungen angeboten und
Unterhaltungen aufgenötigt hatte; erst kürzlich hatte ich in einem
längeren äußerst langweiligen Gespräch über Schulwesen und Erziehung
allen seinen bewährten Grundsätzen und Meinungen rückhaltlos und
ergebenst zugestimmt. Nun kam er wieder daher, der Typ, aus seinem
gewöhnlichen Hinterhalt im Korridor, und stellte sich vor mir auf.

„Guten Tag,“ sagte er, „Sie sehen ja heute sehr vergnügt aus!“

„Gewiß, ich bin sehr vergnügt. Ich habe während des Mittagessens einige
Wolken am Himmel ziehen sehen, und da ich bisher der Meinung gewesen
war, diese Wolken seien bloß aus Papier und gehörten zur Saaldekoration,
war ich nun sehr froh über die Entdeckung, daß es richtige und wirkliche
Luft und Wolken waren. Sie sind vor meinen Augen davongeflogen, sie
waren nicht numeriert und an keiner hing ein Zettel mit dem
Verkaufspreis. Sie können sich denken, wie froh ich darüber bin. Die
Wirklichkeit existiert noch, mitten in Baden! Es ist wunderbar!“

O wie wenig schön war das Gesicht, das der Herr zu meinen Worten machte!

„So, so,“ sagte er so gedehnt, daß er eine Minute dazu brauchte. „Also
Sie haben geglaubt, es gebe keine Wirklichkeit mehr! Ja, wenn ich fragen
darf, was verstehen Sie denn unter Wirklichkeit?“

„Oh,“ sagte ich, „das ist philosophisch eine komplizierte Frage. Aber
praktisch kann ich sie ganz leicht beantworten. Unter Wirklichkeit, mein
Herr, verstehe ich ziemlich genau dasselbe, was man sonst auch ‚Natur‘
nennt. Jedenfalls verstehe ich unter Wirklichkeit nicht das, was uns
hier in Baden beständig umgibt; nicht Kur- und Krankengeschichten, nicht
diese Rheumatismusromane und Gichtdramen, nicht Promenade und
Kurkonzert, Menus und Programme, nicht Bademeister und Kurgäste.“

„Wie, also auch die Kurgäste sind für Sie keine Wirklichkeit? Also zum
Beispiel ich, der Mann, der mit Ihnen redet, soll keine Wirklichkeit
sein?!“

„Es tut mir leid, ich möchte Sie gewiß nicht verletzen, aber in der Tat
sind Sie für mich ohne Wirklichkeit. Sie sind, so wie Sie sich mir
darstellen, ohne jene überzeugenden Züge, die uns das Wahrgenommene zum
Erlebten, das Geschehen zur Wirklichkeit machen. Sie existieren, mein
Herr, dies kann ich nicht bestreiten. Sie existieren aber auf einer
Ebene, welche einer zeitlich-räumlichen Wirklichkeit in meinen Augen
ermangelt. Sie existieren, möchte ich sagen, auf einer Ebene des
Papieres, des Geldes und Kredits, der Moral, der Gesetze, des Geistes,
der Achtbarkeit, Sie sind ein Raum- und Zeitgenosse der Tugend, des
kategorischen Imperativs und der Vernunft und vielleicht sind Sie sogar
mit dem Ding an sich oder mit dem Kapitalismus verwandt. Aber Sie haben
nicht die Wirklichkeit, die mich bei jedem Stein oder Baum, bei jeder
Kröte, bei jedem Vogel unmittelbar überzeugt. Ich kann Sie, mein Herr,
bis ins Unermessene billigen, achten, ich kann Sie anzweifeln oder
gelten lassen, aber es ist mir unmöglich, Sie zu erleben, es ist mir
völlig unmöglich, Sie zu lieben. Sie teilen dies Schicksal mit Ihren
Verwandten und werten Angehörigen, mit der Tugend, der Vernunft, dem
kategorischen Imperativ und mit allen Idealen der Menschheit. Ihr seid
großartig. Wir sind stolz auf euch. Aber wirklich seid ihr nicht.“

Der Herr riß seine Augen sehr auf.

„Wenn Sie nun aber zufällig meine Handfläche auf Ihrem Gesicht spüren
sollten, wären Sie dann von meiner Wirklichkeit überzeugt?“

„Sollten Sie dies Experiment ausführen, so wäre es erstens Ihr Schade,
denn ich bin kräftiger als Sie und bin im Augenblick wunderbar frei von
allen moralischen Hemmungen; aber außerdem würden Sie auch durch den so
freundlich angebotnen Beweis Ihr Ziel nicht erreichen. Ich würde auf Ihr
Experiment zwar mit jenem ganzen, so wundervoll spielenden Apparat der
Selbsterhaltung reagieren, aber Ihr Angriff würde mich nicht von Ihrer
Wirklichkeit, von der Existenz einer Person und Seele bei Ihnen
überzeugen. Wenn ich den Zwischenraum zwischen zwei elektrischen Polen
mit meinem Arm oder Bein ausfülle, so setze ich mich ebenfalls einer
Entladung aus, ohne daß ich deshalb den elektrischen Strom für eine
Persönlichkeit, für ein Wesen von meiner Art halten würde.“

„Sie sind eine Künstlernatur, nun ja, der mag manches erlaubt sein. Es
scheint, daß Sie den Geist, das begriffliche Denken, hassen und
befehden. Meinetwegen, mögen Sie das tun. Aber wie stimmt das, Sie
Dichter, mit so vielen Ihrer eigenen Äußerungen? Ich kenne Sätze,
Artikel, Bücher von Ihnen, in denen Sie durchaus das Gegenteil predigen
und sich zu Vernunft und Geist bekennen, statt zur vernunftlosen und
zufälligen Natur, wo Sie für Ideen eintreten und das Geistige als
oberstes Prinzip anerkennen. Wie steht es nun damit, he?“

„So, tu ich das? Ja, das mag schon sein. Ich habe das Unglück, sehen
Sie, daß ich mir selber stets widerspreche. Die Wirklichkeit tut das
immer, bloß der Geist tut es nicht und die Tugend nicht und Sie nicht,
sehr wenig geehrter Herr. Zum Beispiel nach einem scharfen Marsch im
Sommer kann ich vom Verlangen nach einem Becher voll Wasser völlig
besessen sein und Wasser für das wunderbarste Ding in der Welt erklären.
Eine Viertelstunde später, wenn ich getrunken habe, ist nichts auf Erden
mir so uninteressant wie Wasser und Trinken. Ebenso halte ich es mit dem
Essen, mit dem Schlafen, mit dem Denken. Mein Verhältnis zum sogenannten
‚Geist‘ zum Beispiel ist genau dasselbe wie das zum Essen oder Trinken.
Manchmal gibt es nichts in der Welt, was mich so heftig anzieht und mir
so unentbehrlich scheint wie der Geist, wie die Möglichkeit der
Abstraktion, der Logik, der Idee. Dann wieder, wenn ich davon satt bin
und das Gegenteil brauche und begehre, ekelt aller Geist mich an wie
verdorbenes Essen. Ich weiß aus Erfahrung, daß dies Verhalten für
willkürlich und charakterlos, ja, für unerlaubt gilt, doch habe ich nie
verstehen können, warum? Denn ebenso wie ich zwischen Essen und Fasten,
Schlafen und Wachen beständig abwechseln muß, muß ich auch zwischen
Natürlichkeit und Geistigkeit, zwischen Erfahrung und Platonismus,
zwischen Ordnung und Revolution, zwischen Katholizismus und
Reformationsgeist beständig hin und her pendeln. Daß ein Mensch sein
Leben lang immer und immer den Geist verehren und die Natur verachten
kann, immer Revolutionär und niemals Konservativer sein kann oder
umgekehrt, das scheint mir zwar sehr tugendhaft, charaktervoll und
standhaft, aber es scheint mir auch ebenso fatal, widerlich und
verrückt, als wenn einer immerdar essen oder immerdar nur schlafen
wollte. Und doch beruhen alle Parteien, politische und geistige,
religiöse und wissenschaftliche, auf der Voraussetzung, ein so
verrücktes Verhalten sei möglich, sei natürlich! Auch Sie, Herr, finden
es nicht richtig, daß ich zu einer Stunde heftig in den Geist verliebt
bin und ihm das Unmögliche zutraue, zu einer andern Stunde aber den
Geist hasse und ausspeie und statt seiner Unschuld und Fülle der Natur
aufsuche! Warum denn? Warum finden Sie das Natürliche charakterlos, das
Gesunde und Selbstverständliche unerlaubt? Wenn Sie mir das erklären
können, dann will ich mich gerne mündlich und schriftlich in allen
Punkten als geschlagen bekennen. Ich werde Ihnen dann so viel Realität
zugestehen, als mir nur irgend möglich ist, einen ganzen Heiligenschein
von Wirklichkeit werde ich Ihnen verleihen. – Aber sehen Sie, Sie können
es eben nicht erklären! Sie stehen da, und unter Ihrer Weste ist wohl
ein gegessenes Menu, aber kein Herz, und in Ihrer täuschend nachgeahmten
Hirnschale ist wohl Geist, aber keine Natur. Ich habe nie etwas so
lächerlich Unwirkliches gesehen wie Sie, Sie Rheumatiker, Sie Kurgast!
Das Papier schimmert Ihnen ja durch die Knopflöcher, der Geist rinnt
Ihnen ja aus den Nähten, Mensch, innen ist ja nichts als Zeitung und
Steuerzettel, Kant und Marx, Plato und Zinstabelle. Wenn ich blase, sind
Sie weg! Wenn ich an meine Geliebte denke oder auch nur an eine kleine
gelbe Schlüsselblume, so genügt das, um Sie völlig aus der Realität
hinwegzudrücken! Sie sind kein Gegenstand, Sie sind kein Mensch, Sie
sind eine Idee, eine öde Abstraktion.“

Und in der Tat, als ich, etwas heftig geworden, aber bei bester Laune,
den Arm mit der geballten Faust ausstreckte, um der Figur ihre
Irrealität zu beweisen, da fuhr die Faust durch ihn hindurch, und weg
war er. Erst jetzt bemerkte ich, stehenbleibend, daß ich ohne Hut das
Haus verlassen und das einsame Flußufer aufgesucht hatte; allein stand
ich unter den schönen Bäumen, und das Wasser zog und rauschte. Und
wieder einmal war ich leidenschaftlich dem Gegenpol des Geistes zugetan,
war innig und trunken verliebt in die dumme gesetzlose Welt des Zufalls,
in das Spiel der Sonnen- und Schattenflecke am hellrosigen Boden, in die
vielen Melodien des strömenden Wassers. Ach, diese Melodien kannte ich!
Ich erinnerte mich eines Flusses, an dessen Ufer ich einst in Indien
gesessen war, als Kamerad eines alten Fährmanns, sein Name fiel mir
nicht mehr ein, vor tausend Jahren, berauscht vom Gedanken der Einheit,
nicht minder berauscht vom Spiel der Mannigfaltigkeit und des Zufalls.
Ich dachte an meine Geliebte, an das Stück ihrer Ohrmuschel, das
zwischen ihren Haaren hervorschaut, und war von Herzen bereit, alle
Altäre, welche ich jemals der Vernunft und der Idee errichtete, zu
verleugnen und einzureißen und einen neuen Altar zu bauen, jener halb
sichtbaren, geheimnisvollen Ohrmuschel zu Ehren. Daß die Welt eine
Einheit und dennoch voller Vielfalt ist, daß Schönheit nur im
Vergänglichen möglich, daß Gnade nur dem Sünder erlebbar ist, für diese
und hundert andere tiefe und ewige Wahrheiten konnte ebensogut jene
holde Ohrmuschel Symbol und heiliges Zeichen sein wie irgendeine Isis,
ein Vishnu oder eine Lotosblume.

Wie rauschte unter mir im steinigen Bette der Fluß, wie sang das
Mittagslicht an den gefleckten Platanenstämmen auf und nieder! Wie schön
war es zu leben! Vergessen und verweht war jene tolle Lachlust vom
Speisesaal, Tränen standen mir in den Augen, tiefe Mahnung rief mir aus
dem Rauschen des heiligen Flusses, mein Herz war voll Friede und
Dankbarkeit. Jetzt erst wurde, indem ich unter den Bäumen lange hin und
wider ging, der Abgrund von Verdrossenheit, Verirrung, Leid und Torheit
mir sichtbar, in dem ich diese letzte Zeit gelebt hatte! Mein Gott, wie
kläglich sah es mit mir aus, wie wenig brauchte es, um mich zu einem
ekelhaften feigen Kerl zu machen! Ein wenig Krankheit und Schmerzen, ein
paar Wochen Kurleben, eine Periode von Schlaflosigkeit, und schon
versank ich bis zum Hals in schlechte Laune und Verzweiflung. Ich, der
die Stimme indischer Götter gehört hatte! Wie gut, daß diese böse
Bezauberung endlich durchbrochen war, daß wieder Luft, Sonnenlicht und
Wirklichkeit mich umgab, daß ich wieder göttliche Stimmen vernahm,
wieder Andacht und Liebe im Herzen fühlte!

Aufmerksam durchlief ich im Gedächtnis diese schmählichen Tage, betrübt
und verwundert, traurig und auch lachend über alle die Torheiten, die
mich eingesponnen hatten. Nein, nun brauchte ich den Kursaal nicht mehr
zu besuchen, auch den so würdevollen Spielsaal nicht, jetzt war ich
nicht mehr in Verlegenheit, wie ich meine Zeit herumbringen solle. Der
Zauber war gelöst.

Und wenn ich heute, wenige Tage vor dem Ende meiner Kur, darüber
nachdenke, wie das so kommen konnte, wenn ich die Ursache meines
Niedergangs und all dieser beschämenden Erlebnisse suche, dann brauche
ich nur irgendeine Seite dieser Notizen zu lesen, um die Ursache
deutlich zu sehen. Nicht meine Phantastik und Träumerei, nicht mein
Mangel an Moralität und Bürgerlichkeit war daran schuld, sondern genau
das Gegenteil. Ich war gerade allzu moralisch, allzu vernünftig, allzu
bürgerlich gewesen! Ein alter, ewiger Fehler, den ich hundertmal
begangen und bitter bereut habe, ist mir auch diesmal wieder passiert.
Ich wollte mich einer Norm anpassen, ich wollte Forderungen erfüllen,
die gar niemand an mich stellte, ich wollte etwas sein oder spielen, was
ich gar nicht war. Und so war es mir wieder einmal geschehen, daß ich
mich selbst und das ganze Leben vergewaltigt hatte.

Ich hatte etwas sein wollen, was ich nicht war. Wie denn? Ich hatte aus
meiner Ischias eine Spezialität gemacht, hatte die Rolle des
Ischiatikers, des Kurgastes, des der bürgerlichen Umgebung sich
anpassenden Hotelgastes gespielt, statt einfach zu bleiben der ich war.
Ich hatte Baden, hatte die Kur, hatte meine Umgebung, hatte meine
Gliederschmerzen viel zu wichtig genommen, ich hatte mir in den Kopf
gesetzt, durch Abbüßung dieser Kur gesundwerden zu müssen. Auf dem Wege
der Buße, der Strafe, der Werkheiligkeit, durch Bad und Waschung, Arzt
und Brahmanenzauber hatte ich erreichen wollen, was nur auf dem Weg der
Gnade erreicht werden kann.

Immer ist es mir so ergangen. Auch diese famose Badepsychologie, die ich
mir da im warmen Wasser ausgebrütet habe, ist so ein Streich, ist ein
Versuch, das Leben gedanklich zu vergewaltigen, und mußte mißlingen und
sich rächen. Weder bin ich, wie ich mir eine Weile einbildete, der
Vertreter einer besonderen Ischiatiker-Philosophie, noch gibt es
überhaupt eine solche Philosophie. Es gibt auch die Weisheit der
Fünfzigjährigen nicht, von der ich in der Vorrede phantasiert habe. Es
mag ja sein, daß mein heutiges Denken ein wenig anders ist als vor
zwanzig Jahren, aber mein Fühlen und Sein, mein Wünschen und Hoffen ist
nicht anders, ist weder klüger noch dümmer geworden. Heut wie damals
kann ich bald ein Kind, bald ein alter Mann sein, bald zwei Jahre alt,
bald tausend. Und meine Versuche, mich der normierten Welt anzupassen,
den Fünfzigjährigen und Ischiatiker zu spielen, bleiben ebenso
ergebnislos wie mein Versuch, mich mit Ischias und Baden durch das
Mittel meiner Psychologie zu versöhnen.

Es gibt zwei Wege zur Erlösung: den Weg der Gerechtigkeit, für die
Gerechten, und den Weg der Gnade, für die Sünder. Ich, der ich ein
Sünder bin, habe wieder den Fehler begangen, es mit der Gerechtigkeit zu
versuchen. Nie wird sie mir gelingen. Und sie, süße Milch für den
Gerechten, ist für uns Sünder Gift, sie macht uns böse. Es ist mein
Schicksal, daß ich diese Versuche, diese Fehlgänge wieder und wieder
machen muß, wie es auch im Geistigen mein Schicksal ist, daß ich, der
ich ein Dichter bin, stets von neuem den Versuch unternehmen muß, die
Welt, statt mit der Kunst, mit dem Denken zu bewältigen. Immer wieder
tue ich diese weiten und mühsamen, einsamen Gänge, versuche es inständig
mit der Vernunft, und immer endet es mit einem Zustand von Leid und
Verirrtsein. Aber immer wieder folgt diesem Tod auch die Neugeburt,
immer wieder rührt Gnade mich an, und das Leid und Verirrtsein ist nicht
mehr schlimm, die Fehlgänge sind gut gewesen, die Niederlagen sind
köstlich gewesen, denn sie haben mich zurück ans Herz der Mutter
geworfen, haben mir von neuem das Erlebnis der Gnade ermöglicht.

Und so will ich aufhören, auf mich selbst los zu moralisieren, ich will
die Vernunft- und Psychologieversuche, will die Kurversuche, will die
Niederlagen und Verzweiflungen nicht schelten, nicht bereuen, will mich
nicht mehr anklagen. Es ist ja alles gut geworden. Ich höre ja die
Stimme Gottes wieder, es ist ja alles gut.

Wenn ich mich heut in meinem Zimmer Nummer 65 umsehe, dann geht es mir
komisch, nämlich ich empfinde im Gedanken an den baldigen Abschied für
dies Zimmer ein Heimatgefühl, der Abschied tut mir schon im voraus ein
wenig weh. Wie oft habe ich hier am kleinen Tisch meine Blätter
vollgeschrieben, manchmal voll Freude und im Gefühl, ich tue da etwas
Wertvolles, manchmal voll Mißmut und Unglauben und doch der Arbeit
hingegeben, dem Versuch des Verstehens und Erklärens oder wenigstens des
aufrichtigen Bekennens! Wie oft habe ich in diesem Lehnstuhl meinen Jean
Paul gelesen! Wieviel halbe und ganze Nächte lag ich schlaflos in diesem
Alkovenbett, in mich selbst versenkt, mit mir hadernd, mich
rechtfertigend, mich selbst und meine Leiden als ein Gleichnis, als ein
Rätselbild empfindend, dessen Deutung und Lösung einmal glücken müsse!
Wieviel Briefe habe ich hier empfangen und geschrieben, Briefe von
Unbekannten und an Unbekannte, denen mein in Büchern gespiegeltes Wesen
verwandt erscheint, die in Frage und Bekenntnis, in Anklage und Beichte
bei dem ihnen verwandt Scheinenden dasselbe suchen, was auch ich in
meinen Geständnissen und Dichtungen suche: Klarheit, Trost,
Rechtfertigung und neue Freude, neue Unschuld, neue Liebe zum Leben!
Wieviel Gedanken, wieviel Launen, wieviel Träume haben mich hier in
diesem kleinen Raum besucht! Hier habe ich am trüben müden Morgen mich
zum Bade aufgerafft und in den schmerzenden und steifen Gliedern den Tod
vorausgefühlt, die bange Schrift der Vergänglichkeit gelesen; hier habe
ich an manchem guten Abend meine Phantasien gesponnen oder mit dem
Holländer gekämpft. Hier habe ich, an jenem glücklichen Tage, damals
meiner Geliebten die Vorrede der Psychologie vorgelesen und sah ihre
Freude über die kleine Ehrung für Jean Paul, den auch sie so sehr liebt.
Und schließlich ist doch diese ganze Badener Zeit, diese Kur, diese
Krisis, dieses Verlieren und Wiederfinden des Gleichgewichts für mich
eine wichtige Epoche gewesen.

Und wie schade ist es, daß ich das Liebes- und Heimatgefühl für dies
kleine Hotelzimmer nicht schon vor drei oder vier Wochen gelernt habe!
Aber lassen wir es nun sein, wie es eben ist. Genug, daß ich dies Zimmer
und Hotel, den Holländer, die Kur wenigstens heute annehmen, lieben und
mir zu eigen machen kann. Ich sehe jetzt, wo meine Badener Tage zu Ende
gehen, daß es hier in Baden sehr hübsch ist. Ich glaube, ich könnte
monatelang hier leben. Ich müßte es eigentlich tun, schon um vieles
wieder gutzumachen, was ich hier gesündigt habe, an mir selbst, an der
Vernunft, am Kurbetrieb, an meinen Zimmer- und Tischnachbarn. Habe ich
nicht, an einigen ganz pessimistischen Tagen, sogar am Doktor
gezweifelt, an der Aufrichtigkeit seiner Versicherungen, am Wert der
Hoffnungen, die er mir machte? Nein, vieles wäre da gutzumachen. Und was
zum Beispiel berechtigte mich, Anstoß an der geheimen Bildergalerie des
Herrn Kesselring zu nehmen? War ich denn ein Sittenrichter? Hatte ich
denn nicht selber meine Liebhabereien, die auch nicht jeder billigen
würde? Und warum sah ich in jenem moralischen Herrn mit den Falten bloß
den Bürger, den Egoisten und anmaßenden Richter über andere? Ich hätte
ebensogut einen Römer, einen monumental stilisierten tragischen Helden
aus ihm machen können, untergehend an der eigenen Härte, leidend an der
eigenen Gerechtigkeit. Und so weiter; tausend Versäumnisse wären wieder
gutzumachen, tausend Sünden und Lieblosigkeiten zu büßen – wenn ich
nicht eben erst den Bußweg verlassen und mich der Gnade anheimgegeben
hätte. Lassen wir also die Sünden Sünden sein und seien wir froh, wenn
es uns glückt, eine Weile keine neuen anzuhäufen!

Indem ich mich nochmals über den Abgrund der vergangenen bösen Tage
beuge, sehe ich in der Tiefe, fern und klein, ein gespenstisches Bild
gespiegelt: den Kurgast Hesse, bleich und öde mit degoutiertem Gesicht
vor seinen Mahlzeiten sitzend, ein armer Kerl ohne Witz und Phantasie,
grau vor Unausgeschlafenheit, ein liebloser kranker Mensch, der seine
Ischias nicht besitzt, sondern von ihr besessen wird. Schaudernd wende
ich mich hinweg, froh, daß dieser arme Kerl nun gestorben ist und mir
nicht mehr begegnen kann. Er ruhe in Frieden!

Wenn man die Sprüche des Neuen Testaments nicht als Gebote nimmt,
sondern als Äußerungen eines ungewöhnlich tiefen Wissens um die
Geheimnisse unsrer Seele, dann ist das weiseste Wort, das je gesprochen
wurde, der kurze Inbegriff aller Lebenskunst und Glückslehre, jenes Wort
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, das übrigens erstaunlicherweise
auch schon im Alten Testamente steht. Man kann den Nächsten weniger
lieben als sich selbst – dann ist man der Egoist, der Raffer, der
Kapitalist, der Bourgeois, und man kann zwar Geld und Macht sammeln,
aber kein recht frohes Herz haben, und die feinsten und schmackhaftesten
Freuden der Seele sind einem verschlossen. Oder man kann den Nächsten
mehr lieben als sich selbst – dann ist man ein armer Teufel, voll von
Minderwertigkeitsgefühlen, voll Verlangen, alles zu lieben, und doch
voll Ranküne und Plagerei gegen sich selber, und lebt in einer Hölle,
die man sich täglich selber heizt. Dagegen das Gleichgewicht der Liebe,
das Liebenkönnen, ohne hier oder dort schuldig zu bleiben, diese Liebe
zu sich selbst, die doch niemandem gestohlen ist, diese Liebe zum
andern, die das eigne Ich doch nicht verkürzt und vergewaltigt! Das
Geheimnis alles Glücks, aller Seligkeit ist in diesem Wort enthalten.
Und wenn man will, so kann man es auch nach der indischen Seite hin
drehen und ihm die Bedeutung geben: Liebe den Nächsten, denn er ist du
selbst!, eine christliche Übersetzung des „_tat twam asi_“. Ach, alle
Weisheit ist so einfach, ist schon so lange, schon so genau und
unzweifelhaft ausgesprochen und formuliert worden! Warum gehört sie uns
nur zuzeiten, nur an den guten Tagen, warum nicht immer?



                               Rückblick


Dieses letzte Blatt schreibe ich nicht mehr in Baden. Ich bin nicht mehr
dort, ich bin – den Kopf schon voll neuer Versuche und Pläne – wieder in
meiner Steppe draußen, wieder in meiner Einsamkeit und Klause. Der
Kurgast Hesse ist Gott sei Dank gestorben und geht uns nichts mehr an.
Statt seiner ist nun wieder ein ganz anderer Hesse da, zwar ebenfalls
ein Mann mit Ischias, aber er hat sie, nicht sie ihn.

Als ich Baden verließ, fiel mir in der Tat der Abschied etwas schwer.
Ich hatte zu allerlei Dingen und Menschen eine Liebe gefaßt, die ich
jetzt losreißen mußte, zu meinem Zimmer, zu meinem Wirt, zu den Bäumen
am Flußufer, zum Arzt, der sich in der Abschiedsaudienz nochmals auf das
schönste bewährte, zu den Mardern, zu den freundlichen hübschen
Saaltöchtern Rösli, Trudi und den andern, zum Spielsaal, zu den
Gesichtern und Figuren mancher Leidensbrüder. Leb’ wohl, freundliche,
stets gutgelaunte, stets bereitwillige Helferin am Diathermie-Apparat!
Lebe wohl, Riesin aus Holland, und auch du, blondlockiger Held
Kesselring!

Sehr hübsch war der Abschied vom Wirt des Heiligenhofes. Lächelnd hörte
er meinen Dank, meine Lobsprüche auf sein Haus an, dann fragte er, wie
der Doktor mit mir und meiner Kur zufrieden sei, und als ich ihm
erzählte, der Arzt habe mich sehr gelobt und ich habe Aussicht auf
vollkommene Heilung, so daß ich also Baden jetzt ruhig verlassen könne,
da steigerte sich das Lächeln meines Gastfreundes zu behaglicher
Schelmerei, freundlich legte er mir eine Hand auf die Schulter und
sagte: „Ja, reisen Sie recht vergnügt! Ich gratuliere. Aber schauen Sie,
ich weiß etwas, was Sie vielleicht nicht wissen: Sie werden
wiederkommen!“

„Ich werde wiederkommen? Nach Baden?“ fragte ich.

Er lachte hell.

„Jawohl. Alle kommen sie wieder, geheilt oder ungeheilt, noch jeder ist
wiedergekommen. Das nächstemal sind Sie dann schon Stammgast.“

Ich habe dies Abschiedswort nicht vergessen. Vermutlich hat er recht.
Vermutlich werde ich wiederkommen, einmal, vielleicht viele Male. Aber
ich werde nie derselbe sein, der ich diesmal war. Ich werde wieder
baden, werde wieder elektrisiert, wieder gut gefüttert werden,
vielleicht auch wieder Depressionen haben und mißmutig werden und
trinken oder spielen, aber doch wird alles ganz anders sein, ebenso wie
meine Heimkehr in die Wildnis diesmal wieder eine andre war als jede
frühere. Im einzelnen wird alles das gleiche sein, alles sehr ähnlich,
im ganzen aber wird es neu und anders sein, andre Sterne werden drüber
stehen. Denn das Leben ist keine Rechnung und keine mathematische Figur,
sondern ein Wunder. So war es mein ganzes Leben lang: alles kam wieder,
die gleichen Nöte, die gleichen Gelüste und Freuden, die gleichen
Verlockungen, immer wieder stieß ich mir den Kopf an dieselben Kanten,
kämpfte mit den gleichen Drachen, jagte den gleichen Faltern nach,
wiederholte stets dieselben Konstellationen und Zustände, und doch war
es ein ewig neues Spiel, immer wieder schön, immer wieder gefährlich,
immer wieder erregend. Tausendmal bin ich übermütig gewesen, tausendmal
todmüde, tausendmal kindisch, tausendmal alt und kühl, und nichts hat
lange gedauert, alles kehrte stets wieder und war doch nie das gleiche.
Die Einheit, die ich hinter der Vielheit verehre, ist keine langweilige,
keine graue, gedankliche, theoretische Einheit. Sie ist ja das Leben
selbst, voll Spiel, voll Schmerz, voll Gelächter. Sie ist dargestellt
worden im Tanz des Gottes Shiwa, der die Welt in Scherben tanzt, und in
vielen anderen Bildern, sie weigert sich keiner Darstellung, keinem
Gleichnis. Du kannst jederzeit in sie eintreten, sie gehört dir in jedem
Augenblick, wo du keine Zeit, keinen Raum, kein Wissen, kein Nichtwissen
kennst, wo du aus der Konvention austrittst, wo du in Liebe und Hingabe
allen Göttern, allen Menschen, allen Welten, allen Zeitaltern angehörst.
In diesen Augenblicken erlebst du Einheit und Vielfalt zugleich, siehst
Buddha und Jesus an dir vorübergehen, sprichst mit Moses, spürst
Ceylon-Sonne auf deiner Haut und siehst die Pole im Eis starren. Zehnmal
bin ich dort drüben gewesen, in dieser kurzen Zeit seit meiner Rückkehr
von Baden.

Ich bin also nicht „gesund“ geworden. Es geht mir besser, der Arzt ist
zufrieden, aber geheilt bin ich nicht, es kann jederzeit wiederkommen.
Außer der tatsächlichen Besserung habe ich auch das aus Baden
mitgebracht, daß ich jetzt aufgehört habe, meine Ischias allzu grimmig
zu verfolgen. Ich sehe ein, daß sie zu mir gehört, daß sie wohlerworben
ist wie das beginnende Grau in meinem Haar und daß es unklug ist, sie
einfach ausradieren oder wegzaubern zu wollen. Seien wir verträglich mit
ihr, gewinnen wir sie durch Versöhnlichkeit!

Und wenn ich wieder einmal nach Baden komme, werde ich anders in das
warme Wasser steigen, andres mit meinen Nachbarn erleben, andre Sorgen
und Spiele haben, andres auf meine Papiere schreiben. Ich werde auf neue
Arten mich versündigen, auf neuen Wegen wieder zu Gott finden. Und immer
werde ich glauben, der Handelnde, der Denkende, der Lebende zu sein, und
weiß doch, daß Er es ist.

Wenn ich jetzt auf die paar Kurwochen zurückblicke, so entsteht in mir,
wie bei jeder Rückschau, jene angenehme Illusion der Überlegenheit, des
Verstehens und Durchschauens, die man in der Jugend bei jeder neuen
Lebensstufe so innig genießt. Ich sehe die Leiden meines
jüngstvergangenen Ich, die leiblichen Schmerzen und die seelischen Nöte
hinter mir liegen, die fatale Situation ist überstanden, und jener
Hesse, der vor kurzem in Baden sich so komisch benahm, scheint mir weit
unter dem klugen heutigen Hesse zu stehen, der auf ihn zurücksieht. Ich
sehe, wie übertrieben dieser Kurgast Hesse auf lächerliche Kleinigkeiten
reagiert, erkenne das drollige Spiel seiner Gebundenheiten und Komplexe
und vergesse, daß jene Kleinigkeiten mir klein und lächerlich nur darum
erscheinen, weil sie nicht mehr aktuell sind.

Aber was ist groß oder klein, wichtig oder unwichtig? Die Psychiater
erklären einen Menschen für gemütskrank, der auf kleine Störungen,
kleine Reizungen, kleine Beleidigungen seines Selbstgefühls empfindlich
und heftig reagiert, während derselbe Mensch vielleicht Leiden und
Erschütterungen gefaßt erträgt, welche der Majorität sehr schlimm
erscheinen. Und ein Mensch gilt für gesund und normal, dem man lange auf
die Zehen treten kann, ohne daß er es merkt, der die elendeste Musik,
die kläglichste Architektur, die verdorbenste Luft klaglos und
beschwerdelos erträgt, der aber auf den Tisch haut und den Teufel
anruft, sobald er beim Kartenspiel ein bißchen verliert. Ich habe in
Wirtshäusern schon sehr häufig Menschen von gutem Ruf, die für durchaus
normal und ehrenwert gelten, wegen eines verlornen Spiels, namentlich
wenn sie einem Mitspieler meinten die Schuld am Verlust aufbürden zu
müssen, so fanatisch, so grob, so säuisch fluchen und toben sehen und
hören, daß ich sehr das Bedürfnis fühlte, beim nächsten Arzt die
Internierung dieser Unglücklichen zu beantragen. Es gibt eben vielerlei
Maßstäbe, die man alle gelten lassen kann; aber irgendeinen von ihnen,
sei es auch der der Wissenschaft oder der der augenblicklichen
öffentlichen Moral, für heilig zu halten will mir nicht gelingen.

Und der gleiche Mensch, der über die Selbstschilderung des Kurgastes
Hesse lachen kann und diesen Kerl ziemlich komisch findet (worin er
recht hat), würde sehr erstaunen, wenn er einen einzigen seiner eigenen
Gedankengänge, wenn er irgendeine seiner alltäglichen Reaktionen auf die
Umwelt genau und im Detail beschrieben und analysiert fände. Ebenso wie
unterm Mikroskop etwas sonst Unsichtbares oder Häßliches, ein Flöckchen
Dreck, zum wunderbaren Sternhimmel werden kann, ebenso würde unterm
Mikroskop einer wahrhaften Psychologie (welche noch nicht existiert)
jede kleinste Regung einer Seele, sei sie sonst noch so schlecht oder
dumm oder verrückt, zum heiligen, andächtigen Schauspiel werden, weil
man nichts in ihr sähe als ein Beispiel, ein gleichnishaftes Abbild des
Heiligsten, das wir kennen, des Lebens.

Es wäre anmaßend, wenn ich sagen wollte, alle meine literarischen
Versuche seit manchen Jahren seien nichts als ein Versuch, ein tastender
Versuch nach jenem fernen Ziele hin, eine dünne schwache Vorahnung jener
wahren Psychologie mit dem Weltauge, unter deren Blick nichts mehr klein
oder dumm oder häßlich oder böse ist, sondern alles heilig und
ehrwürdig. Und doch ist es irgendwie so.

Und wenn ich jetzt, Abschied nehmend von diesen Blättern, das Ganze
meiner Badener Epoche mit einem letzten Blick übersehe, so bleibt eine
Unzufriedenheit, ein Stachel, eine Trauer zurück. Diese Trauer gilt
nicht meinen Dummheiten, meinem Mangel an Geduld, meiner Nervosität,
meinen raschen harten Urteilen, kurz all meinen menschlichen
Unzulänglichkeiten und Fehlern, von welchen ich weiß, daß sie tief
bedingt und notwendig sind. Nein, meine Trauer, mein Leeregefühl und
Schmerz gilt diesen Aufzeichnungen, diesen Versuchen, ein winziges Stück
Leben möglichst wahr und aufrichtig aufzuzeigen. Ich bin betrübt und
beschämt, so muß ich gestehen, nicht über meine Sünden und Laster,
sondern lediglich über das Versagen meines sprachlichen Experimentes,
über den sehr geringen Ertrag meiner literarischen Anstrengung.

Und zwar ist es ein ganz bestimmter Punkt, in dem meine Enttäuschung
wurzelt. Vielleicht glückt es mir, dies durch ein Gleichnis klar zu
machen:

Wäre ich Musiker, so könnte ich ohne Schwierigkeit eine zweistimmige
Melodie schreiben, eine Melodie, welche aus zwei Linien besteht, aus
zwei Ton- und Notenreihen, die einander entsprechen, einander ergänzen,
einander bekämpfen, einander bedingen, jedenfalls aber in jedem
Augenblick, auf jedem Punkt der Reihe in der innigsten, lebendigsten
Wechselwirkung und gegenseitigen Beziehung stehen. Und jeder, der Noten
zu lesen versteht, könnte meine Doppelmelodie ablesen, sähe und hörte zu
jedem Ton stets den Gegenton, den Bruder, den Feind, den Antipoden. Nun,
und eben dies, diese Zweistimmigkeit und ewig schreitende Antithese,
diese Doppellinie möchte ich mit meinem Material, mit Worten, zum
Ausdruck bringen und arbeite mich wund daran, und es geht nicht. Ich
versuche es stets von neuem, und wenn irgend etwas meinem Arbeiten
Spannung und Druck verleiht, so ist es einzig dies intensive Bemühen um
etwas Unmögliches, dieses wilde Kämpfen um etwas nicht Erreichbares. Ich
möchte einen Ausdruck finden für die Zweiheit, ich möchte Kapitel und
Sätze schreiben, wo beständig Melodie und Gegenmelodie gleichzeitig
sichtbar wären, wo jeder Buntheit die Einheit, jedem Scherz der Ernst
beständig zur Seite steht. Denn einzig darin besteht für mich das Leben,
im Fluktuieren zwischen zwei Polen, im Hin und Her zwischen den beiden
Grundpfeilern der Welt. Beständig möchte ich mit Entzücken auf die
selige Buntheit der Welt hinweisen und ebenso beständig daran erinnern,
daß dieser Buntheit eine Einheit zugrunde liegt; beständig möchte ich
zeigen, daß Schön und Häßlich, Hell und Dunkel, Sünde und Heiligkeit
immer nur für einen Moment Gegensätze sind, daß sie immerzu ineinander
übergehen. Für mich sind die höchsten Worte der Menschheit jene paar, in
denen diese Doppeltheit in magischen Zeichen ausgesprochen ward, jene
wenigen geheimnisvollen Sprüche und Gleichnisse, in welchen die großen
Weltgegensätze zugleich als Notwendigkeit und als Illusion erkannt
werden. Der Chinese Lao Tse hat mehrere solche Sprüche geformt, in denen
beide Pole des Lebens für den Blitz eines Augenblicks einander zu
berühren scheinen. Noch edler und einfacher, noch herzlicher ist
dasselbe Wunder getan in vielen Worten Jesu. Ich weiß nichts so
Erschütterndes in der Welt wie dies, daß eine Religion, eine Lehre, eine
Seelenschule durch Jahrtausende die die Lehre von Gut und Böse, von
Recht und Unrecht immer feiner und straffer ausbildet, immer höhere
Ansprüche an Gerechtigkeit und Gehorsam stellt, um schließlich auf ihrem
Gipfel mit der magischen Erkenntnis zu enden, daß neunundneunzig
Gerechte vor Gott weniger sind als ein Sünder im Augenblick der Umkehr!

Aber vielleicht ist es ein großer Irrtum, ja, eine Sünde von mir, wenn
ich der Verkündigung dieser höchsten Ahnungen glaube dienen zu müssen.
Vielleicht besteht das Unglück unsrer jetzigen Welt gerade darin, daß
diese höchste Weisheit auf allen Gassen feilgeboten wird, daß in jeder
Staatskirche, neben dem Glauben an Obrigkeit, Geldsack und
Nationaleitelkeit, der Glaube an das Wunder Jesu gepredigt wird, daß das
Neue Testament, ein Behälter der kostbarsten und der gefährlichsten
Weisheiten, in jedem Laden käuflich ist und von Missionaren gar umsonst
verteilt wird. Vielleicht sollten solche unerhörte, kühne, ja
erschreckende Einsichten und Ahnungen, wie sie in manchen Reden Jesu
stehen, sorgfältig verborgen gehalten und mit Schutzwällen umbaut
werden. Vielleicht wäre es gut und zu wünschen, daß ein Mensch, um eines
jener mächtigen Worte zu erfahren, Jahre opfern und sein Leben wagen
müßte, so wie er es für andere hohe Werte im Leben auch tun muß. Wenn
dem so ist (und ich glaube an manchen Tagen, daß es so ist), dann tut
der letzte Unterhaltungsschriftsteller Besseres und Richtigeres als der,
der sich um den Ausdruck für das Ewige bemüht.

Dies ist mein Dilemma und Problem. Es läßt sich viel darüber sagen,
lösen aber läßt es sich nicht. Die beiden Pole des Lebens zueinander zu
biegen, die Zweistimmigkeit der Lebensmelodie niederzuschreiben, wird
mir nie gelingen. Dennoch werde ich dem dunklen Befehl in meinem Innern
folgen und werde wieder und wieder den Versuch unternehmen müssen. Dies
ist die Feder, die mein Ührlein treibt.


                                  Ende


                               Druck vom
                       Bibliographischen Institut
                               in Leipzig



                     Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Ausgaben, sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 28]:
   ... gegenüberstehen, und handeln, aus tiefem geistigen ...
   ... gegenüberstehen, und handeln, aus tiefem geistigem ...

   [S. 47]:
   ... an all die dummen Vorrichtungen zu denken, die der ...
   ... an all die dummen Verrichtungen zu denken, die der ...

   [S. 74]:
   ... Rand der Waldberge, von leichtem goldnen Gewölk ...
   ... Rand der Waldberge, von leichtem goldnem Gewölk ...

   [S. 134]:
   ... Hand, aber ihr Gesicht wahr unruhig geworden, und ...
   ... Hand, aber ihr Gesicht war unruhig geworden, und ...

   [S. 138]:
   ... den so freundlich angebotnen Beweis ihr Ziel nicht erreichen. ...
   ... den so freundlich angebotnen Beweis Ihr Ziel nicht erreichen. ...




*** End of this LibraryBlog Digital Book "Kurgast - Aufzeichnungen von einer Badener Kur" ***

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