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Title: Roßhalde
Author: Hesse, Hermann
Language: German
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                             Hermann Hesse



                                Roßhalde


                          S. Fischer / Verlag
                                 BERLIN
                                  1914


                       Erste bis zehnte Auflage.
        Alle Rechte vorbehalten, besonders die der Übersetzung;
       für Rußland auf Grund der deutsch-russischen Übereinkunft.
               Copyright 1914 S. Fischer, Verlag, Berlin.



                                Roßhalde



                             Erstes Kapitel


Als vor zehn Jahren Johann Veraguth Roßhalde gekauft und bezogen hatte,
war sie ein verwahrloster alter Herrensitz mit zugewachsenen
Gartenwegen, vermoosten Bänken, brüchigen Treppenstufen und
undurchdringlich verwildertem Park gewesen, und es standen damals auf
dem wohl acht Morgen großen Grundstück keine anderen Gebäude als das
schöne, etwas verkommene Herrenhaus mit dem Stall und ein kleines
tempelartiges Lusthäuschen im Park, dessen Portal schief in verbogenen
Angeln hing und an dessen einst mit blauer Seide tapezierten Wänden Moos
und Schimmel wuchs.

Sofort nach dem Kauf des Gutes hatte der neue Besitzer das baufällige
Tempelchen niedergerissen und nur die zehn alten Steinstufen stehen
lassen, die von der Schwelle dieses Liebeswinkels an den Rand des
Weihers hinabführten. An Stelle des Parkhäuschens wurde damals Veraguths
Atelier erbaut, und sieben Jahre lang hatte er hier gemalt und den
größeren Teil seiner Tage zugebracht, seine Wohnung aber drüben im
Herrenhaus gehabt, bis die zunehmenden Zerwürfnisse in seiner Familie
ihn dazu gebracht hatten, seinen älteren Sohn zu entfernen und auf
auswärtige Schulen zu schicken, das Herrenhaus der Frau und Dienerschaft
zu überlassen und für seinen eigenen Bedarf zwei Zimmer an das Atelier
anzubauen, wo er nun seither wie ein Junggeselle wohnte. Es war schade
um das schöne herrschaftliche Haus; Frau Veraguth brauchte mit dem
siebenjährigen Pierre nur das obere Geschoß, sie empfing wohl Besuche
und Gäste, aber niemals größere Gesellschaft, und so stand eine Reihe
von Räumen jahraus jahrein leer.

Der kleine Pierre war nicht nur der Liebling beider Eltern und das
einzige Band zwischen Vater und Mutter, das eine Art von Verkehr
zwischen Herrenhaus und Atelierhaus aufrechterhielt; er war eigentlich
auch der einzige Herr und Besitzer der Roßhalde. Herr Veraguth bewohnte
ausschließlich sein Atelier und die Gegend um den Waldsee sowie den
ehemaligen Wildpark, seine Frau herrschte drüben im Haus, ihr gehörte
der Rasenplan, der Lindengarten und der Kastaniengarten, und jedes
sprach im Gebiete des anderen nur selten und gastweise vor, von den
Mahlzeiten abgesehen, die der Maler meistens im Herrenhause einnahm. Der
kleine Pierre war der einzige, der diese Trennung des Lebens und Teilung
der Gebiete nicht anerkannte und kaum von ihr wußte. Er lief im alten
wie im neuen Hause gleich sorglos aus und ein, er war im Atelier und in
des Vaters Bibliothek ebenso heimisch wie im Korridor und Bildersaal
drüben oder in den Zimmern der Mutter, ihm gehörten die Erdbeeren im
Kastaniengarten, die Blumen im Lindengarten, die Fische im Waldsee, die
Badehütte, die Gondel. Er fühlte sich als Herr und als Schützling bei
den Mädchen der Mutter wie bei Papas Diener Robert, er war der Sohn der
Hausfrau für die Besuche und Gäste der Mutter, und war der Sohn des
Malers für die Herren, die zuweilen in Papas Atelier kamen und
französisch sprachen, und Bildnisse des Knaben, Gemälde und
Photographien, hingen im Schlafzimmer des Vaters wie im alten Hause in
den hellfarbig tapezierten Stuben der Mutter. Pierre hatte es sehr gut,
es ging ihm sogar besser als solchen Kindern, deren Eltern in gutem
Einvernehmen leben; es herrschte kein Programm über seine Erziehung, und
wenn ihm je einmal auf mütterlichem Gebiete der Boden heiß wurde, so bot
die Gegend um den Waldsee ihm eine sichere Zuflucht.

Er war längst zu Bette und seit elf Uhr war im Herrenhaus das letzte
helle Fenster erloschen. Da kam, spät nach Mitternacht, Johann Veraguth
allein zu Fuße aus der Stadt zurück, wo er mit Bekannten den Abend im
Wirtshaus zugebracht hatte. Beim Gang durch die laue, wolkige
Frühsommernacht war die Atmosphäre von Wein und Rauch, von erhitztem
Gelächter und verwegenen Witzen von ihm abgefallen, er atmete bewußt die
leicht gespannte, feuchtwarme Nachtluft und schritt aufmerksam auf der
Straße zwischen schon hochstehenden, dunkeln Getreidefeldern der
Roßhalde entgegen, deren hohe Wipfelmassen groß und still im bleichen
nächtlichen Himmel standen.

Er ging am Eingang des Gutes vorbei, ohne einzutreten, sah einen
Augenblick nach dem Herrenhaus hinüber, dessen lichte Fassade edel und
lockend vor der schwarzen Baumfinsternis schimmerte, und betrachtete das
schöne Bild minutenlang mit dem Genuß und mit der Fremdheit eines
vorüberkommenden Wanderers; dann ging er noch ein paar hundert Schritte
die hohe Hecke entlang bis zu der Stelle, wo er sich einen Durchschlupf
und heimlichen Waldweg zum Atelier bereitet hatte. Mit wachen Sinnen
schritt der kräftige, kleine Mann durch den finsteren, waldig
verwilderten Park seiner Wohnstätte zu, die plötzlich vor ihm lag, da,
wo die Wipfelfinsternis über dem See auseinandergezogen erschien und im
weiten Rund der matte graue Himmel sichtbar wurde.

Der kleine See stand fast schwarz in vollkommener Stille, nur wie eine
unendlich dünne Haut oder ein feiner Staub lag das schwache Licht über
dem Wasser. Veraguth sah auf die Uhr, es war bald eins. Er schloß eine
Seitentür des kleinen Gebäudes auf, die in seinen Wohnraum führte. Hier
zündete er eine Kerze an und legte rasch die Kleider ab, trat nackt ins
Freie hinaus und stieg langsam die breiten flachen Steinstufen hinab in
das Wasser, das vor seinen Knien in kleinen, weichen Ringen flüchtig
aufblinkte. Er tauchte unter, schwamm eine kleine Strecke weit in den
See, fühlte plötzlich die Müdigkeit nach einem ungewohnt verbrachten
Abend, kehrte um und trat triefend ins Haus. Er warf einen zottigen
Bademantel um, strich das Wasser aus seinen kurz geschorenen Haaren und
ging barfuß über einige Stufen zum Atelier hinauf, einem ungeheuren fast
leeren Raum, wo er alsbald mit einigen ungeduldigen Bewegungen alle
elektrischen Lichter andrehte.

Hastig lief er zu einer Staffelei, wo eine kleine Leinwand stand, seine
Arbeit der letzten Tage. Mit auf die Knie gestützten Händen stellte er
sich gebückt vor dem Bilde auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen
auf die Fläche, deren frische Farben das grelle Licht spiegelten. So
verharrte er zwei, drei Minuten, schweigend und starrend, daß die Arbeit
bis zum letzten Pinselstrich ihm wieder lebendig in den Augen stand; es
war seit Jahren seine Gewohnheit, vor Arbeitstagen keine andere
Vorstellung mit ins Bett und in den Schlaf zu nehmen, als die des
Bildes, an dem er malte. Er löschte die Lichter, griff nach der Kerze
und ging zum Schlafzimmer, an dessen Türe eine kleine Schreibtafel und
Kreide angehängt war. „Sieben Uhr wecken, Kaffee neun Uhr“ schrieb er
mit starken römischen Buchstaben darauf; schloß die Türe hinter sich und
legte sich ins Bett. Mit offenen Augen lag er noch eine kurze Weile
bewegungslos und zwang mit Anstrengung das Bild seiner Arbeit vor seine
Sinne. Damit gesättigt schloß er die klaren grauen Augen, seufzte leise
auf und fiel rasch in den Schlaf.

Am Morgen weckte ihn Robert zur bestimmten Zeit, er erhob sich sofort,
wusch sich in einem kleinen Nebenraum im fließenden kalten Wasser,
schlüpfte in einen groben, stark verwaschenen Anzug von grauem Leinen
und ging ins Atelier hinüber, dessen mächtige Rolladen der Diener schon
aufgezogen hatte. Auf einem kleinen Tischchen stand ein Teller voll
Obst, eine Wasserkaraffe und ein Stück Roggenbrot, das er nachdenklich
in die Hand nahm und anbiß, während er sich vor die Staffelei stellte
und sein Bild betrachtete. Er aß im Auf- und Abschreiten ein paar Bissen
Brot, fischte ein paar Kirschen aus dem Glasteller, sah einige Briefe
und Zeitungen daliegen, die er nicht beachtete, und saß gleich darauf
gebannt im Feldstuhl vor der Arbeit.

Das kleine Bild in Breitformat stellte eine Morgenfrühe dar, wie sie der
Maler vor einigen Wochen auf einer Reise gesehen und in mehreren Skizzen
notiert hatte. Er war in einem kleinen Landwirtshause am Oberrhein
abgestiegen, hatte den Kollegen, den er am Ort besuchen wollte, nicht
angetroffen, einen unerfreulichen Regenabend in der qualmigen Wirtsstube
und eine schlechte Nacht in einem kalkig-modrig riechenden feuchten
Gastzimmerchen verbracht. Noch vor Sonnenaufgang aus seichtem Schlummer
heiß und übellaunig erwacht, hatte er die Haustüre noch verschlossen
gefunden, war durch ein Fenster der Wirtsstube ins Freie gestiegen,
hatte nebenan am Rheinufer einen Kahn losgemacht und war in den schwach
strömenden, noch dämmerigen Fluß hinausgerudert. Eben als er umkehren
wollte, sah er vom jenseitigen Ufer her einen Ruderer sich
entgegenkommen, das schwach zuckende kalte Licht des milchig
regnerischen Tagesanbruchs umfloß den dunkeln Umriß und ließ das
Fischerboot übermäßig groß erscheinen. Von dem Anblick und dem
eigentümlichen Licht plötzlich getroffen und innerlichst gefesselt,
hatte er halt gemacht und den Mann näherkommen lassen, der bei einem
schwimmenden Netzzeichen anhielt und eine Reuse aus dem kühlen Wasser
emporzog. Zwei breite mattsilbrige Fische kamen zum Vorschein,
naßglänzend schimmerten sie einen Augenblick über dem grauen Strome und
fielen mit einem schnalzenden Klang in des Fischers Boot. Veraguth hatte
alsbald den Mann warten heißen, das notdürftigste Malzeug geholt und
eine Skizze in Wasserfarben gemacht, war einen Tag am Ort geblieben,
zeichnend und lesend, und hatte andern Tages in der Frühe nochmals
draußen gemalt, war weiter gereist und hatte sich seither immer wieder
in Gedanken von dem Bilde beschäftigt und gequält gesehen, bis es Form
gewann, und nun saß er seit Tagen daran und war nahezu fertig geworden.

Ihm, der am liebsten bei voller Sonne oder auch im warmen, gebrochenen
Wald- und Parklicht malte, hatte die flutende Silberkühle des Bildes
viel zu schaffen gemacht, aber sie hatte ihm einen neuen Klang gegeben,
gestern war die Lösung vollends geglückt und nun fühlte er, daß er vor
einer guten, ungewöhnlichen Arbeit saß, bei der es nicht im Festhalten
und löblichen Abschildern sein Bewenden hatte, sondern wo ein Augenblick
aus dem gleichgültigen rätselhaften Sein und Geschehen der Natur die
gläserne Oberfläche durchbrach und den wilden großen Atem der
Wirklichkeit spüren ließ.

Mit aufmerksamen Augen hing der Maler an dem Bilde und wog die Töne auf
der Palette, die seiner gewohnten kaum mehr glich und fast alle roten
und gelben Farben verloren hatte. Das Wasser und die Luft war fertig, es
rann ein fröstelnd kaltes, unwilliges Licht über die Fläche,
schattenhaft schwammen Gebüsche und Pfähle des Ufers in der feuchten,
fahlen Dämmerung, unwirklich und aufgelöst stand der grobe Kahn im
Wasser, auch das Gesicht des Fischers war ohne Wesen und Sprache, nur
seine ruhig nach den Fischen greifende Hand war voll unerbittlicher
Wirklichkeit. Das eine von den Tieren sprang glitzernd über den Rand des
Bootes, das andere lag flach und still, und sein geöffnetes rundes Maul
und erschrocken starres Auge war voll vom Weh der Kreatur. Das Ganze war
kalt und beinahe bis zur Grausamkeit traurig, aber still und
unangreifbar und ohne eine andere Symbolik als jene einfache, ohne die
kein Kunstwerk sein kann und die uns die bedrückende Unbegreiflichkeit
der ganzen Natur nicht nur fühlen, sondern mit einem gewissen süßen
Erstaunen lieben läßt.

Als der Maler wohl zwei Stunden an der Arbeit gesessen hatte, klopfte
der Diener und trat auf den zerstreuten Anruf seines Herrn mit dem
Frühstück herein. Er trug leise die Kannen, Tasse und Teller auf, rückte
einen Stuhl zurecht, wartete eine Weile schweigend und mahnte dann
vorsichtig: „Es ist eingeschenkt, Herr Veraguth.“

„Ich komme,“ rief der Maler und rieb einen Pinselstrich, den er soeben
am Schwanz des springenden Fisches gemacht hatte, mit dem Daumen wieder
weg. „Ist warmes Wasser da?“

Er wusch seine Hände und setzte sich zum Kaffee.

„Sie könnten mir eine Pfeife stopfen, Robert,“ sagte er munter. „Die
kleine ohne Deckel, sie muß im Schlafzimmer liegen.“

Der Diener lief. Veraguth trank mit Inbrunst den starken Kaffee und
fühlte die leise Ahnung von Schwindel und Zusammenbruch, die ihn
neuerdings nach angestrengter Arbeit zuweilen anflog, zergehen wie
Morgennebel.

Er nahm dem Diener die Pfeife ab, ließ sich Feuer geben und sog mit Gier
den aromatischen Rauch ein, der die Wirkung des Kaffees verstärkte und
verfeinerte. Er deutete auf sein Bild und sagte: „Sie haben als Junge
geangelt, Robert, nicht wahr?“

„Wohl, Herr Veraguth.“

„Sehen Sie sich einmal den Fisch dort an, nicht den in der Luft, den
andern unten mit dem offenen Maul. Ist das Maul richtig?“

„Es ist schon richtig,“ sagte Robert mißtrauisch. „Aber das wissen Sie
besser als ich,“ fügte er mit einem Ton von Vorwurf hinzu, als fühle er
einen Spott in der Frage.

„Nein, Verehrter, das stimmt nicht. Der Mensch erlebt das, was ihm
zukommt, nur in der ersten Jugend in der ganzen Schärfe und Frische, so
bis zum dreizehnten, vierzehnten Jahr, und von dem zehrt er sein Leben
lang. Ich habe als Junge nie mit Fischen zu tun gehabt, darum frage ich.
Also, ist die Schnauze recht so?“

„Sie ist gut, da fehlt nichts,“ urteilte Robert geschmeichelt.

Veraguth war schon wieder aufgestanden und prüfte seine Palette. Robert
sah ihn an. Er kannte diese beginnende Konzentriertheit des Blickes, die
ihn beinahe glasig erscheinen ließ, und wußte, daß jetzt er und der
Kaffee, die kleine Unterhaltung von vorhin und alles das in dem Manne
untersinke, und wenn er in einigen Minuten ihn anriefe, würde er wie aus
einem tiefen Schlaf erwachen. Aber das war gefährlich. Robert räumte ab,
da sah er die Post unberührt liegen.

„Herr Veraguth!“ rief er halblaut.

Der Maler war noch erreichbar. Feindselig fragend blickte er über die
Schulter zurück, genau wie ein Ermüdeter, der dem Einschlummern nahe war
und nochmals angerufen wird.

„Es sind Briefe da.“

Damit ging Robert hinaus. Veraguth drückte nervös ein Häufchen
Kobaltblau auf die Palette, warf die Tube auf den kleinen
blechbeschlagenen Maltisch, begann zu mischen, fühlte sich aber durch
die Mahnung des Dieners gestört, so daß er ärgerlich die Palette
weglegte und die Briefe an sich nahm.

Es waren die üblichen Geschäftssachen, die Aufforderung, sich an einer
Ausstellung zu beteiligen, die Bitte einer Zeitungsredaktion um
Mitteilung von Daten aus seinem Leben, eine Rechnung – aber da fuhr der
Anblick einer wohlbekannten Handschrift ihm wie ein süßer Schauder in
die Seele, er nahm den Brief an sich und las mit Genuß seinen eigenen
Namen und jedes Wort der Adresse, wohlig in die Beobachtung der freien,
eigenwillig charaktervollen Schriftzüge vertieft. Dann bemühte er sich,
den Poststempel zu lesen. Die Briefmarke war italienisch, es konnte nur
Neapel oder Genua sein, und dann war also der Freund schon in Europa,
schon ganz nahe, und konnte in wenigen Tagen hier sein.

Mit Rührung öffnete er den Brief und sah mit Befriedigung die kleinen
schnurgeraden Zeilen in ihrer strengen Ordnung stehen. Wenn er sich
recht besann, so waren seit fünf, sechs Jahren diese seltenen Briefe des
ausländischen Freundes die einzigen reinen Freuden gewesen, die er
gehabt hatte, die einzigen außer der Arbeit und außer den Stunden des
Umgangs mit dem kleinen Pierre. Und wie jedesmal, so befiel ihn auch
jetzt mitten in der frohen Erwartung ein unklares, peinliches Gefühl von
Beschämung, indem die Verarmung und Lieblosigkeit seines Lebens ihm ins
Bewußtsein trat. Langsam las er:

                                               Neapel, 2. Juni nachts.

Lieber Johann!

Wie gewöhnlich sind ein Mundvoll Chianti mit fetten Makkaroni und das
Gebrüll einiger Hausierer vor der Schenke die ersten Zeichen der
europäischen Kultur, der ich mich wieder nähere. Hier in Neapel ist seit
fünf Jahren nichts verändert, weit weniger als in Singapore oder
Schanghai, und ich nehme es als ein gutes Zeichen dafür, daß ich auch
daheim alles in Ordnung finden soll. Übermorgen kommen wir nach Genua,
da holt mein Neffe mich ab und ich fahre mit ihm zu den Verwandten, wo
mich diesmal keine überwallenden Sympathien erwarten, denn ich habe in
den letzten vier Jahren, ehrlich gerechnet, keine zehn Taler verdient.
Ich rechne für die ersten Ansprüche der Familie vier, fünf Tage, dann
Geschäftliches in Holland, sagen wir wieder fünf, sechs Tage, so daß ich
etwa am 16. oder so zu Dir kommen könnte. Das wirst Du telegraphisch
erfahren. Ich möchte mindestens zehn oder vierzehn Tage bei Dir bleiben,
weißt Du, und Dich in der Arbeit stören. Du bist schauderhaft berühmt
geworden und wenn das, was Du vor etwa zwanzig Jahren über Erfolg und
Berühmtheiten zu sagen pflegtest, nur halbwegs richtig war, mußt Du
inzwischen bedeutend verkalkt und vertrottelt sein. Ich will Dir auch
Bilder abkaufen, und meine obige Klage über die schlechten Geschäfte ist
ein Versuch, auf Deine Preise zu drücken.

Man wird älter, Johann. Es war meine zwölfte Fahrt durchs Rote Meer, und
zum erstenmal habe ich unter der Hitze gelitten. Wir hatten 46 Grad.

Herrgott, Alter, noch vierzehn Tage! Es wird Dich einige Dutzend
Flaschen Mosel kosten. Es sind mehr als vier Jahre seit dem letztenmal.

Brieflich bin ich zwischen dem 9. und 14. in Antwerpen, Hotel de
l’Europe, zu erreichen. Falls Du irgendwo, wo ich durchreise, Bilder
ausgestellt hast, laß mich’s wissen!

                                                            Dein Otto.

Vergnügt überlas er den kurzen Brief mit den gesunden, strammen
Buchstaben und temperamentvollen Satzzeichen noch einmal, suchte aus der
Lade des kleinen Schreibtisches in der Ecke einen Kalender heraus und
nickte, darin lesend, mit Befriedigung vor sich hin. Es würden noch bis
zur Mitte des Monats über zwanzig Bilder von ihm in Brüssel ausgestellt
sein, das traf sich glücklich. So würde der Freund, dessen scharfen
Blick er ein wenig fürchtete und dem die Zerrüttung seines Lebens in den
letzten Jahren nicht verborgen bleiben konnte, wenigstens einen ersten
Eindruck von ihm haben, auf den er stolz sein konnte. Das erleichterte
alles. Er stellte sich Otto vor, wie er in seiner ein wenig massiven
Überseeereleganz durch den Brüsseler Saal ging und seine Bilder
betrachtete, seine besten Bilder, und für einen Augenblick freute er
sich herzlich, daß er sie zu jener Ausstellung hergegeben hatte, obwohl
nur wenige davon noch verkäuflich waren. Und er schrieb sofort ein
Billett nach Antwerpen.

„Er weiß noch alles,“ dachte er dankbar, „es stimmt, wir haben das
letztemal fast nur Mosel getrunken, und einen Abend haben wir sogar
richtig gezecht.“

Er dachte nach und fand, es sei gewiß kein Moselwein mehr im Keller, den
er selbst sehr selten besuchte, und er beschloß, noch heute eine Sendung
zu bestellen.

Nun setzte er sich aufs neue vor die Arbeit, fand sich aber zerstreut
und innerlich unruhig und kam nicht wieder zur reinen Konzentration, bei
welcher die guten Einfälle ungerufen dastehen. So stellte er die Pinsel
in einen Becher, steckte den Brief seines Freundes zu sich und
schlenderte mit unentschlossenen Schritten ins Freie hinaus. Der See
blitzte ihm mit heftiger Spiegelung entgegen, es war ein wolkenloser
Sommertag aufgegangen und der durchsonnte Park hallte von vielen
Vogelstimmen wider.

Er sah auf die Uhr. Pierres Morgenlektionen mußten vorüber sein. Und er
strich ziellos durch den Park, blickte zerstreut die braunen, mit
Sonnenflecken bedeckten Wege entlang, horchte nach dem Hause hinüber,
ging an Pierres Spielplatz mit der Schaukel und dem Sandhaufen vorbei.
Schließlich kam er in die Nähe des Küchengartens und schaute mit
flüchtigem Interesse in die hohen Kronen der Roßkastanien hinauf, auf
deren schattentiefen Blättermassen die letzten freudig hellen
Blütenkerzen standen. Bienen schwärmten mit wellig leisem Geläute um die
vielen halboffenen Rosenknospen der Gartenhecke, durch das dunkle Laub
der Bäume her tat die frohe kleine Turmuhr des Herrschaftshauses ein
paar Schläge. Sie schlug falsch, und Veraguth dachte wieder an Pierre,
dessen höchster Wunsch und Ehrgeiz es war, später einmal, wenn er größer
wäre, das alte Schlagwerk wieder in Ordnung zu bringen.

Da hörte er jenseits der Hecke Stimmen und Schritte, die in der sonnigen
Gartenluft mit Bienensummen und Vogelrufen, mit dem träge hinziehenden
Duft der Buschnelkenrabatte und der Bohnenblüten gedämpft und zart
zusammenklangen. Es war seine Frau mit Pierre, und er blieb stehen und
lauschte aufmerksam hinüber.

„Sie sind noch nicht reif, du mußt noch ein paar Tage warten,“ hörte er
die Mutter sagen.

Ein lachendes Gezwitscher der Knabenstimme gab Antwort, und die
friedevolle grüne Gartenwelt und das sanft tönende verwehte
Kindergespräch in der erwartungsvollen Sommerstille klang dem Manne
einen flüchtig zarten Augenblick lang wie aus dem fernen Garten der
eigenen Kindheit herüber. Er trat an die Hecke und spähte zwischen den
Ranken hindurch in den Garten, wo seine Frau im Morgenkleid auf dem
sonnigen Wege stand, eine Blumenschere in der Hand und einen braunen
leichten Korb am Arm. Sie war kaum zwanzig Schritte von der Hecke
entfernt.

Der Maler betrachtete sie einen Augenblick. Die große Gestalt mit dem
ernsthaften und enttäuschten Frauengesicht bückte sich über die Blumen,
der große schlaffe Strohhut beschattete das ganze Gesicht.

„Wie heißen die Blumen da?“ fragte Pierre. In seinen braunen Haaren
spielte das Licht, die nackten Beine standen mager und sonnenbraun in
der Helle, und wenn er sich bückte, sah man im weiten Ausschnitt seiner
Bluse unter dem braungebrannten Nacken die weiße Haut des Rückens
hervorschimmern.

„Buschnelken,“ sagte die Mutter.

„Ja, das weiß ich,“ fuhr Pierre fort, „aber ich muß wissen, wie die
Bienen zu ihnen sagen. In der Bienensprache müssen sie doch auch einen
Namen haben.“

„Gewiß, aber den kann man nicht wissen, den wissen nur die Bienen
selber. Vielleicht heißen sie sie Honigblumen.“

Pierre dachte nach.

„Das ist nichts,“ entschied er dann. „Im Klee finden sie gerade soviel
Honig, und in den Kapuzinern auch, und sie können doch nicht für alle
Blumen den gleichen Namen haben.“

Aufmerksam sah der Knabe einer Biene zu, die einen Nelkenkelch umflog,
mit surrenden Flügeln davor in der Luft stillhielt und dann begierig in
die rosige Höhlung eindrang.

„Honigblumen!“ dachte er geringschätzig und schwieg. Er hatte es längst
erfahren, daß man gerade die hübschesten und interessantesten Dinge
nicht wissen und erklären kann.

Veraguth stand hinter der Hecke und hörte zu, er betrachtete das ruhige,
ernsthafte Gesicht seiner Frau und das schöne, frühreif zarte seines
Lieblings, und sein Herz versteinerte sich bei dem Gedanken an die
Sommer, in denen sein erster Sohn noch solch ein Kind gewesen war. Den
hatte er verloren, und die Mutter auch. Aber diesen Kleinen wollte er
nicht verlieren, ihn nicht. Er wollte ihn als Dieb hinterm Zaun
belauschen, er wollte ihn locken und an sich ziehen, und wenn auch
dieser Knabe sich von ihm abwenden würde, dann wollte er nicht mehr
leben.

Leise zog er sich über den grasigen Weg zurück und ging unter den Bäumen
davon.

„Das Bummeln ist nichts für mich,“ dachte er ärgerlich und machte sich
hart. Er ging an seine Arbeit zurück und fand denn auch, die Unlust
überwindend und einer jahrelang gepflegten Übung gehorchend, die
gespannte Arbeitsstimmung wieder, die sich keine Nebenwege erlaubt und
alle Kräfte nur auf das augenblicklich Gewollte richtet.

Er war drüben zu Tische erwartet und kleidete sich gegen Mittag
sorgfältig um. Rasiert, gebürstet und im blauen Sommeranzug sah er zwar
nicht jünger, doch frischer und elastischer aus als im verwahrlosten
Atelierkleid. Er griff nach dem Strohhut und wollte eben die Türe
öffnen, als sie ihm entgegen sich auftat und Pierre hereinkam.

Veraguth bückte sich zu dem Knabenkopf hinab und küßte ihn auf die
Stirn.

„Wie geht’s, Pierre? War der Lehrer brav?“

„O ja, er ist nur so langweilig. Wenn er eine Geschichte erzählt, ist es
gar nicht zum Lustigsein, sondern auch bloß eine Lektion, und am Schluß
kommt immer, daß gute Kinder sich soundso benehmen müssen. – Hast du
gemalt, Papa?“

„Ja, an den Fischen, weißt du. Das ist bald fertig, und morgen darfst du
es sehen.“

Er nahm des Knaben Hand und ging mit ihm hinaus. Nichts in der Welt tat
ihm so wohl und rührte alle versunkene Güte und hilflose Zartheit so in
ihm auf wie das Gefühl, neben dem Jungen zu gehen, den Schritt seinen
kleinen Schritten anzupassen und die leichte, zutrauliche Kinderhand in
seiner zu fühlen.

Als sie den Park verließen und unter den dünnen Hängebirken hin über die
Wiese gingen, blickte der Kleine sich um und fragte: „Papa, haben denn
die Schmetterlinge vor dir Angst?“

„Warum? Ich glaube nicht. Neulich ist einer ganz lange auf meinem Finger
gesessen.“

„Ja, aber jetzt sind keine da. Wenn ich manchmal ganz allein zu dir
hinübergehe und ich komme dann hier vorbei, dann sind immer viele, viele
Schmetterlinge auf dem Weg, und sie heißen Bläulinge, das weiß ich, und
sie kennen mich und haben mich lieb, sie fliegen immer ganz nah um mich
herum. Kann man denn Schmetterlinge nicht füttern?“

„Doch, das kann man, wir wollen es nächstens einmal versuchen. Man tut
einen Tropfen Honig auf die Hand und streckt sie ganz ruhig aus, bis die
Falter kommen und davon trinken.“

„Fein, Papa, das probieren wir. Nicht wahr, du sagst es der Mama, daß
sie mir ein bißchen Honig geben muß? Dann weiß sie, daß ich ihn wirklich
brauche und daß es keine Dummheit ist.“

Pierre lief voran durch das offene Haustor und den breiten Korridor, in
dessen kühler Dämmerung der von draußen geblendete Vater noch den
Hutständer suchte und nach der Speisezimmertüre tastete, als der Knabe
längst drinnen war und die Mutter mit seinem Anliegen bestürmte.

Der Maler kam herein und gab seiner Frau die Hand. Sie war etwas größer
als er, eine kräftige Gestalt, gesund, aber ohne Jugend, und sie hatte
zwar aufgehört, ihren Mann zu lieben, sah aber noch heute den Verlust
seiner Zärtlichkeit als ein traurig unbegreifliches, unverschuldetes
Unglück an.

„Wir können gleich essen,“ sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme, „Pierre,
geh und wasch dir die Hände!“

„Hier ist eine Neuigkeit,“ fing der Maler an und gab ihr den Brief
seines Freundes. „Otto kommt schon bald und ich hoffe, er bleibt eine
gute Weile da. Es ist dir doch recht?“

„Herr Burkhardt kann die beiden Zimmer unten haben, da ist er ungestört
und kann nach Belieben ein und aus gehen.“

„Ja, das ist gut.“

Zögernd sagte sie: „Ich hatte gedacht, er käme viel später.“

„Er ist früher gereist, auch ich wußte bis heute nichts davon. Na, desto
besser.“

„Nun trifft er eben mit Albert zusammen.“

Veraguths Gesicht verlor den leisen Schimmer von Vergnügtheit und seine
Stimme wurde kalt, als er den Namen seines Sohnes hörte.

„Was ist mit Albert?“ rief er nervös. „Er sollte doch mit seinem Freund
ins Tirol gehen.“

„Ich wollte es dir nicht früher als nötig sagen. Der Freund ist von
Verwandten eingeladen worden und hat auf die Fußreise verzichtet. Albert
kommt mit Beginn seiner Ferien.“

„Und bleibt die ganze Zeit hier?“

„Ich denke, ja. Ich könnte auch ein paar Wochen mit ihm verreisen, aber
das würde unbequem für dich werden.“

„Warum? Ich nähme Pierre zu mir herüber.“

Frau Veraguth zuckte die Achseln.

„Bitte, fange doch damit nicht wieder an! Du weißt, ich kann Pierre
nicht allein hier lassen.“

Der Maler wurde zornig.

„Allein!“ rief er scharf. „Er ist nicht allein, wenn er bei mir ist.“

„Ich kann ihn nicht hier lassen, und ich will es nicht. Es ist unnütz,
nochmals darüber zu streiten.“

„Natürlich, du willst nicht!“

Er schwieg, da Pierre zurückkam, und man ging zu Tische. Zwischen den
beiden entfremdeten Menschen saß der Knabe und wurde von beiden bedient
und unterhalten, wie er es gewohnt war, und sein Vater suchte die
Mahlzeit recht lange hinzuhalten, denn nachher blieb der Kleine bei Mama
und es war zweifelhaft, ob er heute nochmals ins Atelier kommen würde.



                            Zweites Kapitel


Robert war in dem kleinen Nebenraum beim Atelier damit beschäftigt, eine
Palette und ein Bündel Pinsel auszuwaschen. Da erschien in der offenen
Türe der kleine Pierre. Er blieb stehen und sah zu.

„Das ist eine dreckige Arbeit,“ urteilte er nach einer kleinen Weile.
„Überhaupt, malen ist ja ganz schön, aber ich möchte doch nie ein Maler
werden.“

„Na, überleg dir das noch einmal,“ meinte Robert. „Wo doch dein Vater so
ein berühmter Maler ist.“

„Nein,“ entschied der Knabe, „es wäre nichts für mich. Man ist immerzu
schmierig, und die Farben riechen auch so furchtbar stark. Ein bißchen
davon rieche ich sehr gern, zum Beispiel an einem frischen Bild, wenn es
in einem Zimmer hängt und nur so ganz fein nach Farbe riecht; aber im
Atelier, das wäre mir zuviel, da bekäme ich Kopfweh.“

Der Diener sah ihn prüfend an. Eigentlich hätte er dem verwöhnten Kinde
schon längst einmal seine Meinung sagen mögen, er hatte viel an ihm zu
tadeln. Aber wenn Pierre da war und man ihm ins Gesicht sah, dann ging
es doch nicht an. Der Kleine war so frisch und hübsch und ernsthaft, als
wäre an ihm und in ihm absolut alles in Ordnung, und gerade der kleine
Zug von herrischer Blasiertheit oder Altklugheit stand ihm merkwürdig
gut an.

„Was möchtest du denn eigentlich werden, Junge?“ fragte Robert ein wenig
streng.

Pierre blickte zu Boden und besann sich.

„Ach, ich möchte eigentlich gar nichts Besonderes werden, weißt du. Ich
möchte nur, daß ich mit der Schule fertig wäre. Im Sommer möchte ich
bloß ganz weiße Kleider tragen, auch weiße Schuhe, und es dürfte gar nie
der kleinste Fleck daran sein.“

„So, so,“ tadelte Robert. „So sagst du jetzt. Aber neulich, als wir dich
mit hatten, war auf einmal dein weißes Zeug voller Kirschenflecken und
Grasflecken, und den Hut hattest du überhaupt verloren. Weißt du noch?“

Pierre wurde kühl. Er schloß die Augen bis auf einen kleinen Schlitz und
starrte durch seine langhaarigen Wimpern.

„Für das hat mich meine Mama damals so gescholten,“ sagte er langsam,
„und ich glaube nicht, daß sie dir Auftrag gegeben hat, es mir wieder
vorzuhalten und mich damit zu quälen.“

Robert lenkte schon ein.

„Also du möchtest immer weiße Kleider anhaben und sie gar nie schmutzig
machen?“

„Doch, manchmal schon. Du verstehst mich gar nicht! Natürlich möchte ich
manchmal im Gras herumliegen, oder im Heu, oder über die Pfützen
wegspringen oder auf einen Ast klettern. Das ist doch klar. Aber wenn
ich einmal wild gewesen bin und ein bißchen getobt habe, dann möchte ich
nicht gescholten werden. Ich möchte dann bloß ganz still in mein Zimmer
gehen und reine, frische Kleider anlegen, und dann wäre es wieder gut. –
Weißt du, Robert, ich glaube wirklich, das Schelten hat gar keinen
Wert.“

„Das könnte dir passen, gelt? Warum denn?“

„Ja, sieh: wenn man etwas getan hat, was nicht recht ist, dann weiß man
es gleich nachher doch selber und schämt sich. Wenn ich gescholten
werde, schäme ich mich viel weniger. Und manchmal wird man doch auch
gescholten, wenn man gar nichts Schlimmes getan hat, bloß weil man nicht
gleich da war, wenn jemand rief, oder weil Mama gerade ärgerlich ist.“

„Du mußt es ineinander rechnen, mein Junge,“ lachte Robert, „dafür tust
du gewiß nicht wenig Schlimmes, was niemand sieht und wofür niemand dich
schilt.“

Pierre gab keine Antwort. Es war immer dasselbe. Wenn man sich einmal
hinreißen ließ, mit einem Erwachsenen über etwas zu reden, was einem
wirklich wichtig war, dann endete es immer mit einer Enttäuschung oder
gar mit einer Demütigung.

„Ich möchte das Bild noch einmal sehen,“ sagte er in einem Ton, der ihn
plötzlich von dem Diener weit entfernte und den Robert ebensowohl für
herrisch wie für bittend halten konnte. „Gelt, laß mich noch einen
Augenblick hinein.“

Robert gehorchte. Er schloß die Ateliertüre auf, ließ Pierre eintreten
und kam selber mit, denn es war ihm streng verboten, irgend jemand
allein hier drinnen zu lassen.

Auf der Staffelei in der Mitte des großen Raumes stand ins Licht gerückt
und in einen provisorischen Goldrahmen gepaßt das neue Bild Veraguths.
Pierre stellte sich davor auf. Robert blieb hinter ihm stehen.

„Gefällt es dir, Robert?“

„Natürlich gefällt’s mir. Da müßte ich ja ein Narr sein!“

Pierre blinzelte das Bild an.

„Ich glaube,“ sagte er nachdenklich, „man könnte mir viele Bilder zeigen
und ich würde es gleich herauskennen, wenn eins vom Papa dabei wäre.
Darum habe ich die Bilder gern, ich spüre, daß Papa sie gemacht hat.
Aber eigentlich gefallen sie mir nur halb.“

„Red keine dummen Sachen!“ mahnte Robert ganz erschrocken und sah den
Knaben vorwurfsvoll an, der jedoch unbewegt mit zwinkernden Augen vor
dem Bilde stehen blieb.

„Schau,“ sagte er, „im Hause drüben sind ein paar alte Bilder, die
gefallen mir viel besser. Solche Bilder will ich später einmal haben.
Zum Beispiel Berge, wenn die Sonne untergeht, und alles ist ganz rot und
goldig, und hübsche Kinder und Frauen und Blumen. Das ist doch
eigentlich viel netter als so ein alter Fischer, der nicht einmal ein
rechtes Gesicht hat, und so ein schwarzes, langweiliges Boot, nicht?“

Robert war in seinem Innern durchaus derselben Meinung und wunderte sich
über den Freimut des Knaben, der ihn eigentlich freute. Er gab das aber
nicht zu.

„Das verstehst du noch nicht recht,“ sagte er kurz. „Komm jetzt, ich muß
wieder abschließen.“

In diesem Augenblick drang ein plötzliches pustendes und knirschendes
Geräusch vom Hause herüber.

„O, ein Automobil!“ rief Pierre freudig und lief hinaus, unter den
Kastanien durch in lauter verbotenen Abkürzungen quer über die
Rasenplätze und mit Sprüngen über die Blumenrabatten hinweg. Atemlos kam
er auf dem Kiesplatz vor dem Hause an und eben noch recht, um aus dem
Wagen seinen Vater und einen fremden Herrn steigen zu sehen.

„Hallo, Pierre,“ rief Papa und fing ihn in den Armen auf. „Da ist ein
Onkel angekommen, den du nimmer kennst. Gib ihm die Hand und frag ihn,
wo er herkommt.“

Der Knabe faßte den Fremden fest ins Auge. Er gab dem Manne die Hand und
sah in ein rotbraunes Gesicht und in helle, vergnügte, graue Augen.

„Wo kommst du her, Onkel?“ fragte er gehorsam.

Der Fremde nahm ihn auf die Arme.

„Junge, du bist mir zu schwer geworden,“ rief er munter seufzend und
ließ ihn wieder los. „Wo ich herkomme? Von Genua, und vorher von Suez,
und vorher von Aden, und vorher von – – –“

„O, von Indien, ich weiß, ich weiß! Und du bist der Onkel Otto
Burkhardt. Hast du mir einen Tiger mitgebracht, oder Kokosnüsse?“

„Der Tiger ist mir wieder davongelaufen, aber Kokosnüsse kannst du
haben, und auch Muscheln und chinesische Bilderbogen.“

Sie gingen durch die Haustüre und Veraguth führte seinen Freund die
Treppe hinauf. Er legte ihm, der ein gutes Stück größer war als er,
zärtlich eine Hand auf die Schulter. Oben im Korridor kam ihnen die
Hausfrau entgegen. Auch sie begrüßte den Gast, dessen frohes, gesundes
Gesicht sie an unwiederbringliche freudige Zeiten in vergangenen Jahren
erinnerte, mit einer gemessenen, doch aufrichtigen Herzlichkeit. Er
behielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen und sah ihr ins
Gesicht.

„Sie sind nicht älter geworden, Frau Veraguth,“ rief er lobend, „Sie
haben sich besser gehalten als Johann.“

„Und Sie sind ganz unverändert,“ sagte sie freundlich.

Er lachte.

„O ja, die Fassade ist immer noch blühend, aber das Tanzen habe ich so
allmählich doch aufgegeben. Es hat ohnehin zu nichts geführt, ich bin
immer noch Junggeselle.“

„Ich hoffe, Sie sind diesmal zur Brautschau herübergekommen.“

„Nein, gnädige Frau, das ist nun einmal verpaßt. Ich mag mir das hübsche
Europa auch nicht verderben. Sie wissen, ich habe Verwandte und
entwickle mich allmählich zum Erbonkel. Mit einer Frau dürfte ich mich
in der Heimat gar nimmer sehen lassen.“

In Frau Veraguths Zimmer war der Kaffee serviert. Man trank Kaffee und
Likör und plauderte eine Stunde, von der Seereise, von Gummipflanzungen,
über chinesisches Porzellan. Der Maler war anfangs still und etwas
bedrückt, er hatte dies Zimmer seit Monaten nicht mehr betreten. Aber es
ging alles gut und mit Ottos Gegenwart schien eine leichte, frohere,
kindlichere Atmosphäre in das Haus gekommen zu sein.

„Ich glaube, jetzt möchte meine Frau gerne ein bißchen ruhen,“ sagte der
Maler schließlich. „Ich will dir deine Zimmer zeigen, Otto.“

Sie verabschiedeten sich und gingen nach den Gastzimmern. Veraguth hatte
zwei Stuben für seinen Freund hergerichtet und ihre ganze Einrichtung
selber besorgt, die Möbel gestellt und an alles gedacht, von den Bildern
an der Wand bis zur Auswahl der Bücher im Schaft. Überm Bett hing eine
alte, bleichgewordene Photographie, ein drollig rührendes Institutsbild
aus den siebziger Jahren. Das fiel dem Gast ins Auge und er trat näher,
um es zu betrachten.

„Herrgott,“ rief er überrascht, „das sind ja wir, alle sechzehn von
damals! Junge, du bist rührend. Ich habe das Ding seit zwanzig Jahren
nimmer gesehen.“

Veraguth lächelte.

„Ja, ich dachte, es würde dir Spaß machen. Hoffentlich findest du alles,
was du brauchst. Willst du gleich auspacken?“

Burkhardt setzte sich breit auf einen mächtigen, mit Kupferecken
beschlagenen Schiffskoffer und blickte zufrieden um sich.

„Fein ist’s hier. Und wo bist du zu Haus? Nebenan? Oder oben?“

Der Maler spielte mit dem Griff einer Ledertasche.

„Nein,“ sagte er leichthin. „Ich wohne jetzt drüben, beim Atelier. Ich
habe angebaut.“

„Das mußt du mir nachher zeigen. Aber – – schläfst du auch drüben?“

Veraguth ließ die Tasche stehen und drehte sich um.

„Ja, ich schlafe auch drüben.“

Sein Freund schwieg und besann sich. Dann griff er in die Tasche und zog
einen dicken Schlüsselbund hervor, mit dem er zu rasseln anfing.

„Du, wir wollen mal ein bißchen auspacken, nicht? Du könntest gehen und
den Jungen holen, es wird ihm Spaß machen.“

Veraguth lief alsbald hinaus und kam bald mit Pierre wieder.

„Du hast schöne Koffer, Onkel Otto, ich habe sie schon angesehen. Und
soviel Zettel drauf. Ich habe ein paar davon gelesen. Auf einem steht
Penang. Was heißt das: Penang?“

„Das ist eine Stadt in Hinterindien, wo ich manchmal hinkomme. Paß mal
auf, jetzt darfst du hier aufmachen.“

Er gab dem Kinde einen flachen, vielzackigen Schlüssel und ließ ihn die
Schlösser eines Koffers öffnen. Dann ward der Deckel aufgeklappt, und
gleich das erste, was obenauf lag und in die Augen stach, war ein
umgekehrter, flacher Korb von bunter, malaiischer Flechtarbeit, der
wurde umgedreht und von Papieren befreit, und innen lagen zwischen
Papieren und Lappen die schönsten phantastischen Muscheln, wie man sie
in exotischen Hafenstädten zu kaufen bekommt.

Pierre bekam die Muscheln geschenkt und wurde ganz still vor Glück, und
den Muscheln folgte ein großer ebenhölzerner Elefant und ein
chinesisches Spielzeug mit beweglichen grotesken Holzfiguren, und
schließlich eine Rolle greller, leuchtender chinesischer Bilderbogen,
voll von Göttern, Teufeln, Königen, Kriegern und Drachen.

Während der Maler dem Knaben diese Dinge bestaunen half, packte
Burkhardt die Ledertasche aus und verteilte Nachtschuhe, Wäsche, Bürsten
und dergleichen Dinge im Schlafzimmer. Dann kehrte er zu den beiden
zurück.

„So,“ sagte er ermunternd, „genug gearbeitet für heute. Nun das
Vergnügen. Können wir jetzt einmal ins Atelier gehen?“

Pierre blickte empor und wieder, wie bei der Ankunft des Wagens,
betrachtete er mit Verwunderung das bewegte und freudig verjüngte
Gesicht seines Vaters.

„Du bist so lustig, Papa,“ sagte er anerkennend.

„Jawohl,“ nickte Veraguth.

Aber sein Freund fragte: „Ist er denn sonst nicht so lustig?“

Pierre blickte verlegen von einem zum anderen.

„Ich weiß nicht,“ meinte er zögernd. Dann aber lachte er wieder und
sagte bestimmt: „Nein, so vergnügt bist du noch gar nie gewesen.“

Er lief mit dem Muschelkorb davon. Otto Burkhardt nahm seines Freundes
Arm und ging mit ihm ins Freie. Er ließ sich durch den Park und
schließlich zum Atelierhaus führen.

„Ja, da ist angebaut worden,“ stellte er alsbald fest, „sieht übrigens
recht hübsch aus. Wann hast du das machen lassen?“

„Vor drei Jahren etwa, glaube ich. Das Atelier selbst ist auch größer
geworden.“

Burkhardt sah sich um.

„Der See ist unbezahlbar! Da wollen wir am Abend ein wenig schwimmen. Du
hast es schön hier, Johann. Aber jetzt muß ich das Atelier sehen. Hast
du neue Bilder da?“

„Nicht viele. Aber eines, ich bin vorgestern erst damit fertig geworden,
das mußt du ansehen. Ich glaube, das ist gut.“

Veraguth schloß die Türen auf. Der hohe Arbeitsraum war festlich sauber,
der Boden frisch gescheuert und alles aufgeräumt. In der Mitte stand
einsam das neue Bild. Sie blieben schweigend davor stehen. Die
feuchtkalte, zähe Atmosphäre der trüben, regnerischen Morgenfrühe stand
im Widerspruch mit dem klaren Licht und der heißen durchsonnten Luft,
die durch die Türen hereinfloß.

Lange betrachteten sie das Werk.

„Das ist das letzte, was du gemacht hast?“

„Ja. Es muß ein anderer Rahmen darum, sonst ist nichts mehr dran zu tun.
Gefällt es dir?“

Die Freunde sahen einander prüfend in die Augen. Der größere und
stärkere Burkhardt mit dem gesunden Gesicht und den warmen, lebensfrohen
Augen stand wie ein großes Kind vor dem Maler, dessen Blick und Gesicht
scharf und streng aus den vorzeitig ergrauenden Haaren sah.

„Das ist vielleicht dein bestes Bild,“ sagte der Gast langsam. „Ich habe
auch die in Brüssel gesehen und die zwei in Paris. Ich hätte es nicht
gedacht, aber du bist in den paar Jahren noch vorwärts gekommen.“

„Das freut mich. Ich glaube es auch. Ich bin ziemlich fleißig gewesen,
und manchmal meine ich, ich sei früher eigentlich nur ein Dilettant
gewesen. Ich habe erst spät richtig arbeiten gelernt, aber jetzt bin ich
drüber Herr geworden. Weiter geht es nun wohl auch nicht, Besseres als
das hier kann ich nicht machen.“

„Ich verstehe. Na, du bist ja auch reichlich berühmt geworden, sogar auf
unseren alten Ostasiendampfern habe ich gelegentlich von dir sprechen
hören und bin ganz stolz geworden. Wie schmeckt es denn nun, das
Berühmtsein? Freut es dich?“

„Freuen, das will ich nicht sagen. Ich finde es in Ordnung. Es leben
zwei, drei, vier Maler, die vielleicht mehr sind und mehr geben können
als ich. Zu den ganz Großen habe ich mich nie gerechnet, und was die
Literaten darüber sagen, ist natürlich Blech. Ich kann verlangen, daß
man mich ernst nimmt, und da man das tut, bin ich zufrieden. Alles
andere ist Zeitungsruhm oder Geldfrage.“

„Na ja. Aber wie meinst du das mit den ganz Großen?“

„Ja, damit meine ich die Könige und Fürsten. Unsereiner bringt es zum
General oder Minister, dann ist er an der Grenze. Siehst du, wir können
nichts tun als fleißig sein und die Natur so ernst nehmen, als irgend
möglich ist. Die Könige aber, die sind Brüder und Kameraden der Natur,
sie spielen mit ihr und können selber erschaffen, wo wir nur nachbilden.
Aber freilich, die Könige sind rar, es kommt nicht alle hundert Jahre
einer.“

Sie gingen im Atelier auf und ab. Der Maler, nach den Worten suchend,
blickte angestrengt zu Boden, der Freund ging nebenher und suchte in dem
bräunlich mageren, starkknochigen Gesicht Johanns zu lesen.

Bei der Tür zum Nebenraum blieb Otto stehen.

„Mach doch hier einmal auf,“ bat er, „und laß mich die Zimmer sehen. Und
gib mir eine Zigarre, gelt?“

Veraguth öffnete die Tür. Sie gingen durch das Zimmer und blickten in
die Nebenräume. Burkhardt zündete sich eine Zigarre an. Er trat in das
kleine Schlafzimmer des Freundes, er sah sein Bett und betrachtete
aufmerksam die paar bescheidenen Räume, in welchen überall Malergeräte
und Rauchzeug umherlag. Das Ganze war fast dürftig anzusehen und sprach
von Arbeit und Askese wie etwa die kleine Wohnung eines armen, fleißigen
Junggesellen.

„Also da hast du dich eingerichtet!“ sagte er trocken. Aber er sah und
fühlte alles, was hier in Jahren vor sich gegangen war. Er bemerkte mit
Genugtuung die Gegenstände, die auf Sport, Turnen, Reiten hinwiesen, und
er vermißte bekümmert alle Zeichen von Behagen, kleinem Komfort und
genießerischer Mußezeit.

Dann kehrten sie zu dem Bilde zurück. Also so entstanden diese Bilder,
die überall an den Ehrenplätzen der Ausstellungen und Galerien hingen
und die man mit schwerem Gold bezahlte; hier entstanden sie in Räumen,
die nur Arbeit und Entsagung kannten, wo nichts Festliches, nichts
Unnützes, kein lieber Tand und Kleinkram, kein Duft von Wein und Blumen,
keine Erinnerung an Frauen zu finden war.

Über dem schmalen Bett hingen ungerahmt zwei Photographien angenagelt,
ein Bild des kleinen Pierre und eines von Otto Burkhardt. Er hatte es
wohl bemerkt, es war eine schlechte Liebhaberaufnahme, sie zeigte ihn im
Tropenhelm mit der Veranda seines indischen Hauses hinter sich, und
unterhalb der Brust floß das Bild ganz in mystische weiße Streifen
auseinander, weil Licht auf die Platte gekommen war.

„Das Atelier ist schön geworden. Überhaupt, wie du fleißig geworden
bist! Gib deine Hand her, Junge, es ist fein, dich wiederzusehen! Aber
jetzt bin ich müd und verschwinde für eine Stunde. Willst du mich später
abholen, zum Baden oder Spazierengehen? Gut, danke. Nein, ich brauche
gar nichts, in einer Stunde bin ich wieder _all right_. Auf
Wiedersehen!“

Er schlenderte bequem unter den Bäumen hinweg und Veraguth sah ihm nach,
wie seine Gestalt und sein Gang und jede Falte seiner Kleidung
Sicherheit und ruhige Lebensfreude verkündete.

Indessen ging Burkhardt zwar ins Haus hinüber, schritt aber an seinen
Zimmern vorbei zur Treppe, stieg hinauf und klopfte bei Frau Veraguth
an.

„Störe ich, oder darf ich ein bißchen Gesellschaft leisten?“

Sie ließ ihn ein und lächelte, und er fand das kurze, ungeübte Lächeln
auf dem kräftigen, schweren Gesicht sonderbar hilflos.

„Es ist herrlich hier auf Roßhalde. Ich war schon im Park und am See
drüben. Und wie Pierre gediehen ist! Der hübsche Kerl könnte mir beinah
mein Junggesellentum verleiden.“

„Nicht wahr, er sieht gut aus? Finden Sie, er gleiche meinem Mann?“

„Ein wenig, ja. Oder eigentlich mehr als nur ein wenig. Ich habe Johann
in diesem Alter noch nicht gekannt, aber ich weiß noch ziemlich gut, wie
er mit elf, zwölf Jahren ausgesehen hat. – Er scheint übrigens ein wenig
überanstrengt. Wie? Nein, ich spreche von Johann. Hat er in der letzten
Zeit sehr viel gearbeitet?“

Frau Adele sah ihm ins Gesicht; sie fühlte, daß er sie ausforschen
wolle.

„Ich glaube wohl,“ sagte sie ruhig. „Er spricht sehr selten von seiner
Arbeit.“

„Was malt er denn jetzt? Landschaften?“

„Er arbeitet oft im Park, meistens mit Modellen. Haben Sie Bilder von
ihm gesehen?“

„Ja, die in Brüssel.“

„Hat er in Brüssel ausgestellt?“

„Gewiß, eine ganze Menge Bilder. Ich habe den Katalog mitgebracht. Ich
möchte nämlich eines davon kaufen und hätte gerne von Ihnen gehört, was
Sie davon halten.“

Er bot ihr ein Heft hin und deutete auf die kleine Reproduktion eines
Bildes. Sie betrachtete das Bildchen, blätterte in dem Büchlein und gab
es ihm zurück.

„Sie müssen sich selber helfen, Herr Burkhardt, ich kenne das Bild
nicht. Ich glaube, er hat es im vergangenen Herbst in den Pyrenäen
gemalt und gar nie hier gehabt.“

Sie machte eine Pause und fuhr ablenkend fort: „Sie haben Pierre
beschenkt, das war lieb. Ich danke Ihnen.“

„O, es sind Kleinigkeiten. Aber Sie müssen mir erlauben, auch Ihnen
etwas Asiatisches als Andenken zu geben. Wollen Sie das? Ich habe ein
paar Stoffe mitgebracht, die ich Ihnen zeigen möchte, und Sie müssen
sich davon aussuchen, was Ihnen gefällt.“

Es gelang ihm, aus ihrem höflichen Sperren einen kleinen scherzhaft
galanten Wortkrieg zu entfachen und die verschlossene Frau in gute
Stimmung zu bringen. Er brachte einen Arm voll indischer Gewebe aus
seiner Schatzkammer herauf, er breitete malaiische Battickstoffe und
handgewobene Stücke aus, legte Spitzen und Seide über die Stuhllehnen,
plauderte und erzählte, wo er dies und jenes gesehen und erfeilscht
habe, fast für nichts, und entfaltete einen lustigen, bunten kleinen
Basar. Er bat um ihr Urteil, hing ihr Spitzen über die Hände, erklärte
ihre Machart und nötigte sie, die schönsten Stücke auszubreiten, zu
betrachten, zu betasten, zu loben und schließlich zu behalten.

„Nein,“ rief sie am Ende lachend, „ich mache Sie ja zum Bettler. Das
kann ich unmöglich alles behalten.“

„Keine Sorge,“ lachte er dagegen. „Ich habe vor kurzem wieder
sechstausend Gummibäume gepflanzt und bin im Begriff, ein rechter Nabob
zu werden.“

Als Veraguth ihn abzuholen kam, fand er beide plaudernd in voller
Fröhlichkeit. Verwundert sah er, wie seine Frau gesprächig geworden war,
suchte vergebens mit ins Geplauder zu kommen und ging etwas schwerfällig
daran, nun auch die Geschenke zu bewundern.

„Laß nur, das sind Damensachen,“ rief der Freund ihm zu, „wir wollen
jetzt baden gehen!“

Er zog ihn hinaus und ins Freie.

„Deine Frau ist wirklich kaum älter geworden, seit ich sie zum
letztenmal sah,“ fing Otto unterwegs an. „Eben war sie mächtig vergnügt.
Soweit ist ja also bei euch alles in Ordnung. Fehlt noch der große Sohn.
Was macht denn der?“

Der Maler zuckte die Achseln und zog die Brauen zusammen.

„Du wirst ihn sehen, er kommt dieser Tage. Ich schrieb dir ja einmal
darüber.“

Und plötzlich blieb er stehen, beugte sich gegen den Freund vor, sah ihm
scharf in die Augen und sagte leise:

„Du wirst alles sehen, Otto. Ich habe nicht das Bedürfnis, darüber zu
reden. Du wirst sehen. – Wir wollen vergnügt sein, solang du da bist,
Alter! Und jetzt gehen wir an den Weiher; ich will wieder einmal mit dir
wettschwimmen wie in der Knabenzeit.“

„Das wollen wir,“ nickte Burkhardt, der Johanns Nervosität nicht zu
bemerken schien. „Und du wirst gewinnen, mein Lieber, was dir früher
nicht immer gelang. Es ist ein Jammer, aber ich habe tatsächlich einen
Bauch angesetzt.“

Es war Abend geworden. Der See lag ganz im Schatten, oben in den
Baumkronen spielte ein schwacher Wind und über die schmale blaue
Himmelsinsel, die der Park überm Wasser frei ließ, flogen leichte
lilafarbene Wolken, alle von derselben Art und Form, in
geschwisterlicher Reihe, dünn und langgestreckt wie Weidenblätter. Die
beiden Männer standen vor der im Gebüsch verborgenen Badehütte, deren
Schloß nicht aufgehen wollte.

„Lassen wir’s!“ rief Veraguth. „Das Zeug ist verrostet, wir brauchen die
Hütte nie.“

Er begann sich zu entkleiden, Burkhardt folgte dem Beispiel. Als sie
schwimmbereit am Ufer standen und die Zehen prüfend in das stille,
schattige Wasser steckten, kam im selben Augenblick über beide Männer
ein verwehter süßer Glückshauch aus den fernen Knabenzeiten her, sie
blieben minutenlang im Vorgefühl des leichten, holden Badeschauders
stehen und in ihren Seelen tat sich sachte das grüne helle Tal der
Jugendsommerzeiten auf, daß sie schwiegen und, der sanften Regung
ungewohnt, mit halber Verlegenheit die Füße ins Wasser tauchten und der
rasch aufblinkenden Flucht von Halbkreisen auf dem braungrünen Spiegel
zusahen.

Nun tat Burkhardt einen raschen Schritt ins Wasser.

„Ah, das ist gut,“ seufzte er wohlig auf. „Übrigens können wir beide uns
immer noch sehen lassen, und wenn ich meinen Bauch abrechne, sind wir
noch zwei recht stramme Bursche.“

Er ruderte mit flachen Händen, schüttelte sich und tauchte unter.

„Du weißt nicht, wie gut du es hast!“ rief er neidisch. „Durch meine
Pflanzung draußen läuft der schönste Fluß, und streckst du das Bein
hinein, so siehst du es nicht wieder. Er ist voll von den verfluchten
Krokodilen. Vorwärts jetzt, um den großen Becher von Roßhalde! Wir
schwimmen bis zur Treppe da unten und wieder zurück. Bist du soweit?
Also: eins – zwei – drei!“

Rauschend stießen sie ab, beide mit lachenden Gesichtern und in mäßigem
Tempo, aber der Hauch vom Jugendgarten war noch über ihnen, sie begannen
alsbald ernstlich zu wetteifern, die Gesichter spannten sich, die Augen
blitzten und die geschwungenen Arme glänzten mit weiten Wurfbewegungen
aus dem Wasser. Sie waren gleichzeitig bei der Treppe, stießen
gleichzeitig wieder ab und strebten denselben Weg zurück, und nun warf
sich der Maler in heftigen Schwüngen vorwärts, gewann Vorsprung und war
eine kleine Weile vor dem anderen am Ziel.

Stark atmend hielten sie stehend im Wasser, rieben sich die Augen aus
und lachten einer den anderen in schweigendem Vergnügen an, und es
schien beiden, erst jetzt seien sie wieder die alten Kameraden und erst
jetzt beginne die kleine, fatale Kluft von Ungewohntheit und Fremdheit
zwischen ihnen zu verschwinden.

Wieder angekleidet saßen sie mit frischen Gesichtern und erleichtertem
Gefühl nebeneinander auf den flachen Steinstufen der Seetreppe. Sie
blickten über den dunkeln Wasserspiegel, der sich jenseits in der
buschüberhangenen ovalen Bucht schon in schwärzlich braune Dämmerung
verlor, sie naschten feiste hellrote Kirschen, die sie dem Diener noch
in der braunen Papierhülle abgenommen hatten, und sie sahen mit
befreiten Herzen dem herankommenden Abend zu, bis die tiefstehende Sonne
wagrecht zwischen den Stämmen hindurch hereinschien und auf den
gläsernen Flügeln der Libellen goldene Feuer entzündete. Und sie
plauderten ohne Pause und ohne Besinnen eine gute Stunde lang von der
Institutszeit, von den Lehrern und den damaligen Mitschülern und was aus
dem und jenem geworden sei.

„Mein Gott,“ sagte Otto Burkhardt mit seiner friedlich frischen Stimme,
„es ist lange her. Weiß man denn nicht, was aus der Meta Heilemann
geworden ist?“

„Ja, die Meta Heilemann!“ fiel Veraguth begierig ein. „Sie war wirklich
ein schönes Mädel. Alle meine Schreibunterlagen waren voll von ihren
Porträts, die ich während der Schulstunden heimlich auf die Fließblätter
zeichnete. Das Haar ist mir nie recht geglückt. Weißt du noch, sie trug
es in zwei dicken Schnecken über den Ohren.“

„Weißt du nichts von ihr?“

„Nichts. Als ich das erstemal von Paris zurückkam, war sie mit einem
Rechtsanwalt verlobt. Ich traf sie mit ihrem Bruder auf der Straße, und
ich weiß noch, wie ich über mich selber wütend war, weil ich sofort rot
wurde und mir trotz dem Schnurrbart und der Pariser Abgebrühtheit wieder
wie ein dummer kleiner Schulbub vorkam. – Nur daß sie Meta hieß! Ich
konnte den Namen nicht ausstehen!“

Burkhardt wiegte träumerisch den runden Kopf.

„Du warst nicht verliebt genug, Johann. Für mich war Meta herrlich,
meinetwegen hätte sie Eulalia heißen können, ich wäre doch für einen
Blick von ihr durchs Feuer gegangen.“

„O, auch ich war verliebt genug. Einmal, als ich von unserem
Fünfuhrausgang heimkam – ich hatte mich absichtlich verspätet, ich war
allein und dachte an nichts in der Welt als an Meta, und es war mir
vollkommen gleichgültig, daß ich beim Zurückkommen bestraft werden würde
– da kam sie mir entgegen, dort bei der runden Mauer. Sie hatte eine
Freundin am Arm, und da ich so plötzlich mir vorstellen mußte, wie es
wäre, wenn statt dem blöden Ding ich ihren Arm in meinem und sie so nahe
an mir hätte, da wurde ich so schwindlig und verwirrt, daß ich eine
Weile stehen blieb und mich an die Mauer lehnte, und als ich schließlich
heimkam, war richtig das Tor schon geschlossen, ich mußte läuten und
bekam eine Stunde Arrest.“

Burkhardt lächelte und dachte daran, wie sie beide schon mehrmals bei
ihren seltenen Zusammenkünften sich jener Meta erinnert hatten. Damals
in der Jünglingszeit hatte einer dem andern seine Liebe mit List und
Sorgfalt verschwiegen, und erst nach Jahren, als Männer, hatten sie
gelegentlich den Schleier gelüftet und ihre kleinen Erlebnisse
ausgetauscht. Und doch gab es heute noch in dieser Sache Geheimnisse.
Otto Burkhardt mußte eben jetzt daran denken, daß er damals monatelang
einen Handschuh von Meta besessen und verehrt, den er gefunden oder
eigentlich gestohlen hatte und von dem sein Freund bis heute nichts
wußte. Er überlegte, ob er nun auch diese Geschichte preisgeben solle,
und schließlich lächelte er listig und schwieg und fand es hübsch, diese
kleine letzte Erinnerung auch weiterhin in sich verschlossen zu halten.



                            Drittes Kapitel


Burkhardt saß in einem gelben Korbsessel bequem zurückgelehnt, den
großen Panamahut auf dem Hinterkopf, eine Zeitschrift in den Händen,
rauchend und lesend in der hell von der Sonne durchschienenen Laube an
der Westseite des Atelierhauses, und nahe dabei hockte Veraguth auf
einem niedrigen Klappstühlchen und hatte die Staffelei vor sich. Die
Figur des Lesenden war aufgezeichnet, die großen Farbflecken standen
fest, nun malte er am Gesicht und das ganze Bild frohlockte in hellen,
leichten, durchsonnten, doch maßvollen Tönen. Es roch würzig nach
Ölfarbe und Havannarauch, Vögel taten verborgen im Laub ihre dünnen,
mittäglich gedämpften Schreie und sangen schläfrig-träumerische
Plaudertöne. Am Boden kauerte Pierre mit einer großen Landkarte, auf der
sein dünner Zeigefinger nachdenkliche Reisen betrieb.

„Nicht einschlafen!“ schrie der Maler mahnend.

Burkhardt blinzelte ihn lächelnd an und schüttelte den Kopf.

„Wo bist du jetzt, Pierre?“ fragte er den Knaben.

„Warte, ich muß erst lesen,“ gab Pierre eifrig Antwort, und
buchstabierte auf seiner Karte einen Namen heraus. „In Lu – in Luz – Luz
– in Luzern. Da ist ein See oder ein Meer. Ist der größer als unser See,
Onkel?“

„Viel größer! zwanzigmal größer! Du mußt einmal hingehen.“

„O ja. Wenn ich ein Automobil habe, dann fahre ich nach Wien und nach
Luzern und an die Nordsee und nach Indien, da wo dein Haus ist. Bist du
dann auch zu Hause?“

„Gewiß, Pierre. Ich bin immer zu Hause, wenn Gäste zu mir kommen. Dann
gehen wir zu meinem Affen, der heißt Pendek und hat keinen Schwanz, aber
einen schneeweißen Backenbart, und dann nehmen wir Flinten und fahren im
Boot auf dem Fluß und schießen ein Krokodil.“

Pierre wiegte voll Vergnügen seinen schlanken Oberkörper hin und her.
Der Onkel aber erzählte weiter von seiner Rodung im malaiischen Urwald,
und er sprach so hübsch und so lange, daß der Kleine schließlich müde
wurde und nimmer folgen konnte. Er studierte zerstreut an seiner Karte
weiter, sein Vater aber hörte desto aufmerksamer auf den eifrig
plaudernden Freund, der in lässigem Behagen von Arbeit und Jagd, von
Ausflügen auf Pferden und in Booten, von hübschen leichten Kulidörfern
aus Bambusrohr und von Affen, Reihern, Adlern, Schmetterlingen
berichtete und sein stilles, weltfremdes, tropisches Waldleben so
verführerisch und heimlich auftat, daß es dem Maler schien, er sähe
durch einen Spalt in ein reiches, farbenschönes, seliges Paradiesland
hinein. Er hörte von stillen, großen Strömen im Urwald, von baumhohen
Farnwildnissen und weiten wehenden Ebenen voll von mannshohem
Lalanggras, er hörte von farbigen Abenden am Meeresufer, den
Koralleninseln und blauen Vulkanen gegenüber, von wilden, rasenden
Regenstürzen und flammenden Gewittern, von träumerisch beschaulichem
Hindämmern heißer Tage auf den breiten, schattigen Veranden der weißen
Pflanzerhäuser, vom Gewühl chinesischer Stadtstraßen und von abendlichen
Ruhestunden der Malaien am flachen, steinernen Teich vor der Moschee.

Wieder, wie früher schon manchesmal, erging sich Veraguths Phantasie in
der fernen Heimat seines Freundes, und er wußte nicht, wie sehr die
Verlockung und stille Lüsternheit seiner Seele den verborgenen Absichten
Burkhardts entgegenkam. Es war nicht allein der Schimmer tropischer
Meere und Inselküsten, der Reichtum der Wälder und Ströme, die
Farbigkeit halbnackter Naturvölker, die ihm Sehnsucht schuf und ihn mit
Bildern berückte. Es war noch mehr die Ferne und Stille einer Welt, in
der seine Leiden, Sorgen, Kämpfe und Entbehrungen fremd und fern und
blaß werden mußten, wo hundert kleine tägliche Lasten von der Seele
fallen und eine neue, noch reine, schuldlose, leidlose Atmosphäre ihn
aufnehmen würde.

Der Nachmittag verging, die Schatten wanderten. Pierre war längst
weggelaufen, Burkhardt allmählich still geworden und endlich eingenickt,
das Bild aber war nahezu fertig und der Maler schloß eine Weile die
ermüdeten Augen, ließ die Hände sinken und atmete minutenlang mit
beinahe schmerzlicher Inbrunst die tiefe sonnige Stille der Stunde, die
Nähe des Freundes, die beruhigte Ermüdung nach einer geglückten Arbeit
und die Hingenommenheit der erschlafften Nerven. Das war, neben dem
Rausch des Zugreifens und schonungslosen Arbeitens, seit langem wohl
sein tiefster und tröstlichster Genuß, diese milden Augenblicke müder
Entspannung, ähnlich den ruhevoll vegetativen Dämmerzuständen zwischen
Schlaf und Erwachen.

Er stand leise auf, um Burkhardt nicht zu wecken, und trug die Leinwand
vorsichtig in das Atelier. Dort legte er den leinenen Malrock ab, wusch
die Hände und badete die leicht überanstrengten Augen in kaltem Wasser.
Eine Viertelstunde später stand er wieder draußen, blickte dem
schlummernden Gast einen Moment prüfend ins Gesicht und weckte ihn dann
durch den alten Pfiff, den sie schon vor fünfundzwanzig Jahren
untereinander als Geheimsignal und Erkennungszeichen eingeführt hatten.

„Falls du ausgeschlafen hast, Junge,“ bat er ermunternd, „könntest du
mir jetzt noch ein bißchen von drüben erzählen, ich konnte während der
Arbeit nur halb zuhören. Du sagtest auch etwas von Photographien; hast
du die bei dir und können wir sie ansehen?“

„Gewiß können wir das, komm nur mit!“

Auf diese Stunde hatte Otto Burkhardt seit mehreren Tagen gewartet. Es
war seit vielen Jahren sein Wunsch, Veraguth einmal mit sich nach
Ostasien zu locken und ihn eine Weile drüben bei sich zu haben. Diesmal,
da es ihm die letzte Gelegenheit zu sein schien, hatte er sich mit der
durchdachtesten Planmäßigkeit darauf vorbereitet. Als die beiden Männer
in Burkhardts Zimmer beisammen saßen und im abendlichen Licht über
Indien plauderten, zog er immer neue Albume und Mappen mit Photographien
aus seinem Koffer. Der Maler war über die Fülle entzückt und erstaunt,
Burkhardt blieb ruhig und schien allen den Blättern keinen besonderen
Wert beizulegen, und doch wartete er heimlich auf ihre Wirkung mit der
heftigsten Spannung.

„Was für schöne Aufnahmen das sind!“ rief Veraguth in hellem Vergnügen.
„Hast du die alle selber gemacht?“

„Zum Teil, ja,“ sagte Burkhardt trocken, „manche sind auch von meinen
Bekannten draußen. Ich wollte dir nur einmal eine Ahnung davon geben,
wie es bei uns etwa aussieht.“

Er sagte es obenhin und legte die Blätter gleichmütig zu Stößen, und
Veraguth konnte nicht ahnen, wie sorglich und mühsam er diese Sammlung
zustande gebracht hatte. Er hatte viele Wochen lang einen jungen
englischen Photographen aus Singapore und später einen Japaner aus
Bangkok bei sich gehabt, und sie hatten vom Meer bis in die tiefsten
Wälder hinein auf vielen Ausflügen und kleinen Reisen alles aufgesucht
und photographiert, was irgend schön und bemerkenswert schien,
schließlich waren die Bilder mit der äußersten Sorgfalt entwickelt und
kopiert worden. Sie waren Burkhardts Köder, und er sah mit tiefer
Erregung zu, wie sein Freund anbiß und sich festsog. Er zeigte Bilder
von Häusern, Straßen, Dörfern, Tempeln, Bilder von fabelhaften
Batuhöhlen bei Kuala-Lumpur und der wildschönen, brüchigen Kalk- und
Marmorberge in der Gegend von Ipoh, und als Veraguth zwischenein fragte,
ob nicht auch Aufnahmen von Eingeborenen dabei seien, kramte er Bilder
von Malaien, Chinesen, Tamilen, Arabern, Javanern hervor, nackte
athletische Hafenkuli, dürre alte Fischer, Jäger, Bauern, Weber,
Händler, schöne goldgeschmückte Weiber, dunkle nackte Kindergruppen,
Fischer mit Netzen, Sakeys mit Ohrringen, welche die Nasenflöte
spielten, und javanische Tänzerinnen in starrendem Silberschmuck. Er
hatte Aufnahmen von allen Palmenarten, von großblättrigen saftigen
Pisangbäumen, von Urwaldwinkeln mit tausendfältigem Schlinggewächse, von
heiligen Tempelhainen und Schildkrötenteichen, von Wasserbüffeln in
nassen Reisfeldern, von zahmen Elefanten bei der Arbeit und von wilden,
die im Wasser spielten und trompetende Rüssel gen Himmel streckten.

Der Maler nahm Bild für Bild in die Hand. Viele schob er nach einem
kurzen Blick beiseite, manche legte er vergleichend nebeneinander,
einzelne Figuren und Köpfe betrachtete er scharf durch die hohle Hand.
Er fragte bei vielen Aufnahmen, um welche Tageszeit sie gemacht seien,
er maß Schatten aus und versank immer tiefer in ein grüblerisches
Anschauen.

„Man könnte das alles malen,“ murmelte er einmal abwesend vor sich hin.

„Genug!“ rief er schließlich aufatmend. „Du mußt mir noch eine Menge
erzählen. Es ist herrlich, dich hier zu haben! Ich sehe alles wieder
ganz anders. Komm, wir gehen noch eine Stunde spazieren, ich will dir
etwas Hübsches zeigen.“

Angeregt und von aller Müdigkeit befreit zog er Burkhardt mit sich und
spazierte mit ihm eine Strecke auf der Landstraße feldeinwärts,
heimkehrenden Heuwagen entgegen. Er atmete den warmen satten Heugeruch
mit Wonne ein, dabei flog eine Erinnerung ihn an.

„Erinnerst du dich,“ fragte er lachend, „an den Sommer nach meinem
ersten Akademiesemester, wie wir miteinander auf dem Lande waren? Da
malte ich Heu, nichts als lauter Heu, weißt du noch? Ich hatte mich zwei
Wochen lang abgemüht, ein paar Heuhaufen auf einer Bergwiese zu malen,
und es ging und ging nicht, ich brachte die Farbe nicht heraus, das
stumpfe matte Heugrau! Und als ich es schließlich doch hatte – es war
noch nicht übermäßig delikat, aber ich wußte nun, daß es aus Rot und
Grün gemischt sein mußte – da war ich so froh, daß ich nichts mehr sah
als lauter Heu. Ach, das ist schön, so ein erstes Probieren und Suchen
und Finden!“

„Ich denke, man lernt nie aus,“ meinte Otto.

„Natürlich nicht. Aber die Sachen, die mich jetzt plagen, die haben
nichts mit der Technik zu tun. Weißt du, seit ein paar Jahren passiert
es mir immer häufiger, daß ich bei irgendeinem Anblick plötzlich an
meine Knabenzeit denken muß. Damals sah alles anders aus, und etwas
davon möchte ich einmal malen können. Für ein paar Minuten habe ich es
manchmal wiedergefunden, daß plötzlich alles den sonderbaren Schimmer
wieder hat – aber das reicht noch nicht. Wir haben so viele gute Maler,
feine, delikate Leute, die die Welt so malen, wie ein kluger, feiner,
bescheidener alter Herr sie sieht. Aber wir haben keinen, der sie malt,
wie ein frischer, herrschsüchtiger, rassiger Bub sie sieht, oder die,
die es so versuchen, sind meistens schlechte Handwerker.“

Er riß in Gedanken verloren eine rötlich blaue Skabiose am Feldrande ab
und starrte sie an.

„Langweilt es dich?“ fragte er plötzlich wie erwachend und blickte
mißtrauisch herüber.

Otto lächelte ihm schweigend zu.

„Sieh,“ fuhr der Maler fort, „eins von den Bildern, die ich noch malen
möchte, ist ein Strauß von Wiesenblumen. Du mußt wissen, meine Mutter
konnte solche Sträuße machen, wie ich keine mehr sah, sie war ein Genie
darin. Sie war wie ein Kind und sang fast immer, sie ging ganz leicht
und hatte einen großen bräunlichen Strohhut auf, ich sehe sie im Traum
nie anders als so. Einen solchen Feldblumenstrauß möchte ich einmal
malen, wie sie sie gern hatte: Skabiosen und Schafgarbe und kleine rosa
Winden, dazwischen ein paar feine Gräser und eine grüne Haferähre
gesteckt. Ich habe hundert solche Sträuße heimgebracht, aber es ist noch
nicht der rechte, es muß der ganze Duft drin sein und er muß sein, wie
wenn sie ihn selber gemacht hätte. Die weißen Schafgarben gefielen ihr
zum Beispiel nicht, sie nahm nur die feinen, seltenen, mit einem Anflug
von lila, und sie wählte einen halben Nachmittag zwischen tausend
Gräsern, ehe sie sich für eins entschied – – Ach, ich kann es nicht
sagen, du verstehst das ja nicht.“

„Ich verstehe schon,“ nickte Burkhardt.

„Ja, an diesen Feldblumenstrauß denke ich manchmal halbe Tage lang. Ich
weiß genau, wie das Bild werden müßte. Nicht dieses wohlbekannte
Stückchen Natur, gesehen von einem guten Beobachter und vereinfacht von
einem guten, schneidigen Maler, aber auch nicht sentimental und
holdselig wie von einem sogenannten Heimatkünstler. Es muß ganz naiv
sein, so wie begabte Kinder sehen, unstilisiert und voller Einfachheit.
Das Nebelbild mit den Fischen, das im Atelier steht, ist gerade das
Gegenteil davon – aber man muß beides können ... Ach, ich will noch viel
malen, noch viel!“

Er bog in einen schmalen Wiesenweg ein, der leicht bergan auf einen
runden, sanften Hügel führte.

„Jetzt paß auf!“ mahnte er eifrig und spähte wie ein Jäger vor sich in
die Luft. „Sobald wir oben sind! Das werde ich in diesem Herbst malen.“

Sie erreichten die Anhöhe. Jenseits hielt ein laubiges Gehölz, abendlich
schräg durchlichtet, den Blick auf, der, von der klaren Wiesenfreiheit
verwöhnt, nur langsam sich durch die Bäume fand. Ein Weg mündete unter
hohen Buchen, eine steinerne, bemooste Bank darunter, und dem Wege
folgend, fand das Auge einen Durchblick offen, über die Bank hinweg
durch eine dunkle Bahn von Baumkronen tat sich frisch und leuchtend eine
tiefe Ferne auf, ein Tal voll von Gebüsch und Weidenwuchs, der gekrümmte
Fluß blaugrün funkelnd, und ganz ferne verlorene Hügelzüge weit bis in
die Unendlichkeit.

Veraguth deutete hinab.

„Das werde ich malen, sobald die Buchen anfangen farbig zu werden. Und
auf die Bank setze ich Pierre in den Schatten, so daß man an seinem Kopf
vorbei in das Tal dort hinunter sieht.“

Burkhardt schwieg und hörte seinem Freunde zu, im Herzen voll Mitleid.
Wie er mich anlügen will! dachte er mit heimlichem Lächeln. Wie er von
Plänen und Arbeiten spricht! Früher tat er das nie. Es sah aus, als
wolle er sorgfältig alles herzählen, woran er etwa noch Freude hatte und
was ihn noch mit dem Leben versöhnte. Der Freund kannte ihn und kam ihm
nicht entgegen. Er wußte, es konnte nicht lange mehr dauern, bis Johann
das in Jahren Gehäufte von sich werfen und sich von einem unerträglich
gewordenen Schweigen erlösen würde. So ging er abwartend mit scheinbarer
Gelassenheit nebenher, immerhin traurig verwundert, daß auch ein so
überlegener Mensch im Unglück kindlich werde und mit verbundenen Augen
und Händen durch die Dornen wandle.

Als sie nach Roßhalde zurückkamen und nach Pierre fragten, hörten sie,
er sei mit Frau Veraguth nach der Stadt gefahren, um Herrn Albert
abzuholen.



                            Viertes Kapitel


Albert Veraguth ging heftig im Klavierzimmer seiner Mutter auf und ab.
Er schien auf den ersten Blick dem Vater ähnlich, weil er dessen Augen
hatte, glich aber weit mehr der Mutter, die an den Flügel gelehnt stand
und ihm mit zärtlich aufmerksamen Augen folgte. Als er wieder an ihr
vorüberkam, hielt sie ihn an den Schultern fest und wandte sein Gesicht
zu sich her. Über seine breite, bleiche Stirn hing ein Büschel blonden
Haares herein, die Augen glühten in knabenhafter Erregung und der
hübsche volle Mund war zornig verzogen.

„Nein, Mama,“ rief er heftig und machte sich aus ihren Händen los, „du
weißt, ich kann nicht zu ihm hinüber gehen. Das wäre eine ganz sinnlose
Komödie. Er weiß, daß ich ihn hasse, und er selber haßt mich auch, du
magst sagen, was du willst.“

„Hassen!“ rief sie mit leiser Strenge. „Laß doch solche Worte, die alles
verzerren! Er ist dein Vater, und es gab eine Zeit, wo er dich sehr lieb
gehabt hat. Ich muß es dir verbieten, so zu reden.“

Albert blieb stehen und sah sie funkelnd an.

„Du kannst mir die Worte verbieten, gewiß, aber was wird dadurch anders?
Soll ich ihm denn etwa dankbar sein? Er hat dir dein Leben verdorben und
mir meine Heimat, er hat aus unserer schönen, frohen, prächtigen
Roßhalde einen Ort voll Unbehagen und Widerwärtigkeit gemacht. Ich bin
hier aufgewachsen, Mutter, und es gibt Zeiten, da träume ich jede Nacht
von den alten Stuben und Gängen hier, vom Garten und Stall und
Taubenschlag. Ich habe keine andere Heimat, die ich lieben und von der
ich träumen und nach der ich Heimweh haben kann. Und nun muß ich an
fremden Orten leben und kann nicht einmal in den Ferien einen Freund
hierher mitbringen, damit er nicht sieht, was für ein Leben wir hier
führen! Und jeder, der mich kennen lernt und meinen Namen hört, stimmt
sogleich ein Loblied auf meinen berühmten Vater an. Ach Mutter, ich
wollte wir hätten lieber gar keinen Vater, und keine Roßhalde, und wären
arme Leute, und du müßtest nähen oder Stunden geben und ich dir Geld
verdienen helfen.“

Die Mutter ging ihm nach und nötigte ihn in einen Sessel, setzte sich
auf seine Knie und strich ihm die verschobenen Haare zurecht.

„So,“ sagte sie mit ihrer ruhigen tiefen Stimme, deren Ton ihm Heimat
und Hort bedeutete, „so, nun hast du mir ja alles gesagt. Es ist
manchmal ganz gut, sich auszusprechen. Man muß die Dinge kennen, die man
zu ertragen hat. Aber man muß das, was weh tut, nicht aufwühlen, Kind.
Du bist jetzt schon so groß wie ich und bist bald ein Mann, und darauf
freue ich mich. Du bist mein Kind und sollst es bleiben, aber sieh, ich
bin viel allein und habe allerlei Sorgen, da brauche ich auch einen
richtigen, männlichen Freund, und der sollst du sein. Du sollst mit mir
vierhändig spielen und mit mir im Garten gehen und nach Pierre sehen,
wir wollen schöne Ferien miteinander haben. Aber du sollst nicht Lärm
machen und es mir noch schwerer machen, sonst muß ich denken, du seiest
eben doch noch ein halber Knabe und es werde noch lange dauern, bis ich
endlich einen klugen Freund bekomme, den ich doch so gerne hätte.“

„Ja, Mutter, ja. Aber muß man denn immerzu über alles schweigen, was
einen unglücklich macht?“

„Es ist das beste, Albert. Es ist nicht leicht, und von Kindern darf man
es nicht verlangen. Aber es ist das beste. – Wollen wir jetzt etwas
spielen?“

„Ja, gerne. Beethoven, die zweite Symphonie – magst du?“

Sie hatten kaum zu spielen begonnen, so ging sachte die Türe auf und
Pierre glitt herein, setzte sich auf einen Schemel und hörte zu.
Nachdenklich sah er dabei seinen Bruder an, seinen Nacken mit dem
seidenen Sportskragen, seinen im Rhythmus der Musik bewegten Haarschopf
und seine Hände. Jetzt, da er seine Augen nicht sah, fiel ihm Alberts
große Ähnlichkeit mit der Mutter auf.

„Gefällt es dir?“ fragte Albert während einer Pause. Pierre nickte nur,
ging aber gleich darauf wieder still aus dem Zimmer. In Alberts Frage
hatte er etwas von dem Ton gespürt, in welchem nach seiner Erfahrung die
meisten Erwachsenen zu Kindern redeten und dessen verlogene
Freundlichkeit und unbeholfene Überheblichkeit er nicht leiden mochte.
Der große Bruder war ihm willkommen, er hatte ihn sogar mit Spannung
erwartet und ihn drunten am Bahnhof mit großer Freude begrüßt. Auf
diesen Ton aber gedachte er nicht einzugehen.

Mittlerweile warteten Veraguth und Burkhardt im Atelier auf Albert,
Burkhardt mit unverhehlter Neugierde, der Maler in nervöser
Verlegenheit. Die flüchtige Fröhlichkeit und Plauderlust war plötzlich
von ihm abgefallen, als er Alberts Ankunft erfuhr.

„Kommt er denn unerwartet?“ fragte Otto.

„Nein, ich glaube nicht. Ich wußte, daß er dieser Tage kommen sollte.“

Veraguth kramte aus einer Plunderschachtel ältere Photographien heraus.
Er suchte ein Knabenbildnis hervor und hielt es vergleichend neben eine
Photographie von Pierre.

„Das war Albert, genau im gleichen Alter wie jetzt der Kleine ist.
Erinnerst du dich an ihn?“

„O, ganz gut. Das Bild ist sehr ähnlich. Er hat viel von deiner Frau.“

„Mehr als Pierre?“

„Ja, viel mehr. Pierre hat weder deinen Typ noch den seiner Mutter. Da
kommt er übrigens. Oder sollte das Albert sein? Nein, unmöglich.“

Man hörte leichte kleine Tritte vor der Türe über die Fliesen und über
das Scharreisen gehen, die Türklinke ward berührt und nach einem kleinen
Zögern niedergedrückt, und Pierre trat herein, mit seinem fragend
freundlichen Blick schnell spähend, ob er willkommen sei.

„Wo ist denn Albert?“ fragte der Vater.

„Bei der Mama. Sie spielen miteinander Klavier.“

„Ach so, er spielt Klavier.“

„Bist du ärgerlich, Papa?“

„Nein, Pierre, es ist hübsch, daß du gekommen bist. Erzähl’ uns etwas!“

Der Knabe sah die Photographien daliegen und griff danach.

„O, das bin ich! Und das da? Soll das Albert sein?“

„Ja, das ist Albert. So hat er ausgesehen, als er gerade so alt war wie
du jetzt bist.“

„Da war ich noch nicht auf der Welt. Und jetzt ist er groß geworden und
Robert sagt schon Herr Albert zu ihm.“

„Willst du auch einmal groß werden?“

„Ja, ich will schon. Wenn man groß ist, darf man Pferde haben und Reisen
machen, das möchte ich auch. Und dann darf mich niemand mehr ‚kleiner
Junge‘ heißen und in die Backen kneifen. Aber eigentlich will ich doch
nicht groß werden. Die alten Leute sind oft so unangenehm. Albert ist
auch schon ganz anders geworden. Und wenn die alten Leute immer älter
werden, dann sterben sie zuletzt. Ich möchte lieber so bleiben wie ich
bin, und manchmal möchte ich fliegen können und mit den Vögeln hoch
droben um die Bäume herfliegen und zwischen die Wolken hinein. Da würde
ich alle Leute auslachen.“

„Mich auch, Pierre?“

„Manchmal, Papa. Die alten Leute sind alle manchmal so komisch. Mama
nicht so sehr. Mama liegt hier und da in einem langen Stuhl im Garten
und tut gar nichts als in das Gras hineinsehen, und dann hängen ihre
Hände herunter und sie ist ganz ruhig und ein wenig traurig. Es ist
hübsch, wenn man nicht immerzu etwas tun muß.“

„Möchtest du denn gar nichts werden? Baumeister, oder Gärtner, oder
vielleicht Maler?“

„Nein, ich mag nicht. Ein Gärtner ist schon da, und ein Haus habe ich ja
auch schon. Ich möchte ganz andere Sachen tun können. Ich möchte das
verstehen, was die Rotkehlchen zueinander sagen. Und ich möchte auch
einmal sehen, wie es die Bäume machen, daß sie mit ihren Wurzeln Wasser
trinken und so groß werden können. Ich glaube, das weiß gar niemand
richtig. Der Lehrer weiß eine Menge, aber lauter langweilige Sachen.“

Er hatte sich auf Otto Burkhardts Knie gesetzt und spielte mit seiner
Gürtelschnalle.

„Viele Dinge kann man nicht wissen,“ sagte Burkhardt freundlich. „Vieles
kann man nur sehen und muß damit zufrieden sein, daß es so hübsch ist.
Wenn du einmal zu mir nach Indien kommst, da fährst du viele Tage lang
immer auf einem großen Schiff, und vor dem Schiffe her tauchen lauter
kleine Fische auf, die haben kleine gläserne Flügel und können fliegen.
Und manchmal kommen auch Vögel, die sind furchtbar weit von fremden
Inseln hergeflogen und sind ganz müde und setzen sich auf das Schiff und
sind verwundert, daß da so viele fremde Leute auf dem Meer herumfahren.
Die möchten uns auch gerne verstehen und uns fragen, wo wir herkommen
und wie wir heißen, aber es geht nicht, und da sieht man sich eben in
die Augen und nickt mit dem Kopf, und wenn der Vogel ausgeruht hat, dann
schüttelt er sich und fliegt wieder weg übers Meer.“

„Weiß man denn gar nicht, wie diese Vögel heißen?“

„O doch, das weiß man schon. Aber es sind Namen, die ihnen die Menschen
gegeben haben, und wie sie selber zueinander sagen, das kann man nicht
wissen.“

„Onkel Burkhardt kann fein erzählen, Papa. Ich möchte auch einen Freund
haben. Albert ist schon zu groß. Die meisten Menschen verstehen ja gar
nicht recht, was man sagt und will, aber Onkel Burkhardt versteht mich
gleich.“

Ein Hausmädchen kam, den Kleinen abzuholen. Bald darauf war es
Abendessenszeit und die Herren gingen ins Haus. Veraguth war schweigsam
und verstimmt. Im Speisezimmer trat ihm sein Sohn entgegen und gab ihm
die Hand.

„Guten Tag, Papa.“

„Guten Tag, Albert. Bist du gut gereist?“

„Danke, ja. Guten Abend, Herr Burkhardt.“

Der junge Mann war sehr kühl und korrekt. Er führte seine Mutter zu
Tisch. Man aß, und das Gespräch ging fast nur zwischen Burkhardt und der
Hausfrau. Es kam die Rede auf Musik.

„Darf ich fragen,“ wandte sich Burkhardt an Albert, „welche Art von
Musik Sie besonders lieben? Allerdings bin ich da längst nicht mehr auf
der Höhe und kenne die modernen Musiker wohl kaum dem Namen nach.“

Der Jüngling blickte höflich auf und gab Auskunft.

„Das Allermodernste kenne ich auch nur vom Hörensagen. Ich gehöre keiner
Richtung an und liebe alle Musik, wenn sie gut ist. Am meisten Bach,
Gluck und Beethoven.“

„O, die Klassiker. Von denen haben wir zu unserer Zeit eigentlich nur
Beethoven näher gekannt. Von Gluck wußten wir überhaupt nichts. Wir
hielten alle stramm zu Wagner, müssen Sie wissen. Weißt du noch, Johann,
wie wir zum erstenmal den Tristan hörten? Das war ein Rausch!“

Veraguth lächelte unfroh.

„Alte Schule!“ rief er etwas hart. „Wagner ist abgetan. Oder nicht,
Albert?“

„O, im Gegenteil, er wird ja auf allen Theatern gespielt. Aber ich habe
darüber kein Urteil.“

„Mögen Sie Wagner nicht?“

„Ich kenne ihn zu wenig, Herr Burkhardt. Ich komme sehr selten ins
Theater. Mich interessiert nur die reine Musik, nicht die Oper.“

„Na, aber das Meistersingervorspiel! Das kennen Sie gewiß. Taugt das
auch nichts?“

Albert biß sich auf die Lippen und besann sich einen Augenblick, ehe er
antwortete.

„Ich kann wirklich darüber nicht urteilen. Es ist – wie soll ich sagen?
– romantische Musik, und für die fehlt es mir an Interesse.“

Veraguth schnitt eine Grimasse.

„Nimmst du Landwein?“ fragte er ablenkend.

„Danke, ja.“

„Und du, Albert? Ein Glas Roten?“

„Danke, Papa, lieber nicht.“

„Bist du Abstinent geworden?“

„Nein, durchaus nicht. Aber Wein bekommt mir nicht, ich möchte lieber
darauf verzichten.“

„Na, gut. Aber wir wollen anstoßen, Otto, Prosit!“

Er trank das Glas mit einem raschen Schluck halb aus.

Albert spielte die Rolle des wohlerzogenen Jungen weiter, der zwar ganz
bestimmte Ansichten hat, sie aber bescheiden für sich behält, und der
älteren Leuten das Wort läßt, nicht um zu lernen, sondern um seine Ruhe
zu haben. Die Rolle paßte schlecht zu ihm, so daß auch er sich bald
äußerst unbehaglich fühlte. Er wollte seinem Vater, den er nach
Möglichkeit zu ignorieren gewohnt war, durchaus keinen Anlaß zu
Auseinandersetzungen geben.

Burkhardt schwieg beobachtend, und so war niemand übrig, der das frostig
versiegte Tischgespräch mit gutem Willen wieder aufgenommen hätte. Man
beeilte sich mit dem Essen, bediente einander mit höflicher
Umständlichkeit, spielte befangen mit den Dessertlöffeln und wartete in
kläglicher Nüchternheit auf den Augenblick des Aufstehens und
Auseinandergehens. Erst in dieser Stunde fühlte Otto Burkhardt bis ins
Innerste die Vereinsamung und hoffnungslose Kälte, in der seines
Freundes Ehe und Leben erstarrt und verkümmert war. Er blickte flüchtig
zu ihm hinüber, sah ihn verdrossen mit schlaffem Gesicht auf die kaum
berührten Speisen starren und erkannte in seinem Blick, dem er eine
Sekunde begegnete, eine flehende Scham über die Enthüllung seines
Zustandes.

Es war ein betrübter Anblick, und plötzlich schien das lieblose
Schweigen, die verlegene Kälte und humorlose Gezwungenheit dieser
Tafelstunde laut Veraguths Schande zu verkündigen. In diesem Augenblick
fühlte Otto, daß jeder weitere Tag seines Hierbleibens nur eine
widerwärtige Verlängerung dieser beschämenden Zuschauerschaft und zur
Qual für den Freund werden würde, der nur noch mit Ekel den Schein
aufrechterhielt und nicht die Kraft und Laune mehr aufbrachte, sein
Elend vor dem Zuschauer zu beschönigen. Hier galt es, ein Ende zu
machen.

Kaum hatte sich Frau Veraguth erhoben, so schob ihr Mann seinen Sessel
zurück.

„Ich bin so müde, daß ich mich zu entschuldigen bitte. Laßt euch nicht
stören!“

Er ging hinaus und vergaß die Türe hinter sich zuzuziehen, und Otto
hörte ihn langsam mit schweren Schritten durch den Gang und die
knarrende Treppe hinab davongehen.

Burkhardt schloß die Tür und begleitete die Hausfrau in den Salon, wo
der Flügel noch offen stand und der abendliche Wind in den aufgelegten
Noten blätterte.

„Ich hatte Sie bitten wollen, etwas zu spielen,“ sagte er befangen.
„Aber mir scheint, Ihr Mann ist nicht recht wohl, er hat den ganzen
Mittag in der Sonne gearbeitet. Wenn Sie erlauben, leiste ich ihm noch
ein Stündchen Gesellschaft.“

Frau Veraguth nickte ernsthaft und suchte ihn nicht zu halten. Er
empfahl sich und ging, von Albert bis zur Treppe begleitet.



                            Fünftes Kapitel


Die Dämmerung hatte begonnen, als Otto Burkhardt aus dem schon vom
großen Leuchter erhellten Hausflur trat und sich von Albert
verabschiedete. Unter den Kastanien blieb er stehen, sog durstig die
zart gekühlte, laubduftende Abendluft ein und wischte sich große
Schweißtropfen von der Stirne. Wenn er seinem Freunde ein wenig helfen
konnte, mußte es in dieser Stunde geschehen.

Im Atelierhaus war kein Licht und er fand den Maler weder in der
Werkstatt noch in den Nebenräumen. Er öffnete die Türe gegen den Weiher
und ging suchend mit leisen Schritten rund um das Haus. Da sah er ihn
sitzen, in dem Rohrstuhl, in dem er ihn heute gemalt hatte, die Ellbogen
aufgestützt und das Gesicht in den Händen, so ruhig, als schliefe er.

„Johann!“ rief er leise, trat zu ihm und legte ihm die Hand auf den
gebeugten Kopf.

Es kam keine Antwort. Er blieb stehen, schwieg und wartete und
streichelte dem in Müdigkeit und Leid Versunkenen das kurze grobe Haar.
In den Bäumen ging der Wind, sonst war es still und abendfriedlich.
Minuten vergingen. Da kam plötzlich vom Herrenhause her durch die
Dämmerung eine breite Klangwoge geschwollen, ein voller lang
ausgehaltener Akkord, und wieder einer. Es war der erste Takt einer
Klaviersonate.

Da hob der Maler den Kopf, schüttelte die Hand seines Freundes sanft von
sich und stand auf. Er sah Burkhardt still aus müden, trockenen Augen
an, versuchte ein Lächeln aufzubringen und ließ davon wieder ab, indem
seine starren Züge erschlafften.

„Wir wollen hineingehen,“ sagte er mit einer Gebärde, als suche er die
von drüben heranflutende Musik von sich abzuwehren.

Er ging voran. Bei der Türe zum Atelier blieb er stehen.

„Ich denke, wir werden dich wohl nimmer lange hier haben?“

Wie er alles fühlt! dachte Burkhardt. Mit beherrschter Stimme sagte er:
„Es kommt ja auf einen Tag nicht an. Ich denke, ich reise übermorgen.“

Veraguth tastete nach den Drückern. Mit einem feinen Metallton strahlten
alle Lichter der Werkstatt blendend auf.

„Dann wollen wir noch eine schöne Flasche Wein miteinander trinken.“

Er schellte nach Robert und gab ihm Aufträge. Mitten im Atelier stand
Burkhardts neues Porträt, nahezu fertig. Sie standen davor und sahen es
an, während Robert Tisch und Stühle rückte, Wein und Eis herbeitrug,
Zigarren und Aschenschalen aufsetzte.

„Es ist gut, Robert, Sie können ausgehen. Morgen nicht wecken! Lassen
Sie uns jetzt allein!“

Sie setzten sich und stießen miteinander an. Unruhig rückte der Maler im
Sessel, stand wieder auf und drehte die Hälfte der Lichter wieder aus.
Dann ließ er sich schwer in den Stuhl fallen.

„Das Bild ist nicht ganz fertig geworden,“ fing er an. „Nimm dir eine
Zigarre! Es wäre nicht schlecht geworden, aber schließlich liegt nicht
soviel daran. Und man sieht sich ja wieder.“

Er suchte sich eine Zigarre aus, schnitt sie bedächtig an, drehte sie
zwischen nervösen Fingern und legte sie wieder weg.

„Du hast es diesmal hier nicht gerade glänzend getroffen, Otto. Es tut
mir leid.“

Seine Stimme brach plötzlich, er sank vornüber, griff nach Burkhardts
Händen und nahm sie fest in seine.

„Du weißt ja jetzt alles,“ stöhnte er müde, und ein paar Tränen fielen
auf Ottos Hand. Allein er wollte sich nicht gehen lassen. Er richtete
sich wieder auf, zwang seine Stimme zur Ruhe und sagte verlegen:
„Entschuldige! Wir wollen einen Schluck trinken! Rauchst du nicht?“

Burkhardt nahm eine Zigarre.

„Armer Kerl!“

Sie tranken und rauchten in friedlichem Schweigen, sie sahen das Licht
in den geschliffenen Glaskelchen blitzen und in dem goldenen Weine
wärmer leuchten, sahen den blauen Rauch unentschlossen durch den weiten
Raum schwanken und sich in launische Fäden verschnörkeln, und sahen
zuweilen einander an, mit gelösten offenen Blicken, die kaum der Sprache
mehr bedurften. Es war, als sei schon alles gesagt.

Ein Nachtfalter strich surrend durch die Werkstatt und stieß drei-,
viermal heftig mit einem dumpfen Schlag wider die Wände. Dann saß er
still und betäubt, ein sammetgraues Dreieck, am Plafond.

„Kommst du im Herbst mit mir nach Indien?“ fragte Burkhardt endlich
zögernd.

Wieder war es lange still. Der Schmetterling begann langsam zu wandern.
Grau und klein kroch er vorwärts, als habe er das Fliegen vergessen.

„Vielleicht,“ sagte Veraguth. „Vielleicht. Wir müssen ja noch
miteinander reden.“

„Ja, Johann. Ich will dich nicht quälen. Aber ein wenig mußt du mir noch
erzählen. Ich hatte nie erwartet, daß es zwischen dir und deiner Frau
wieder gut werden würde, aber –“

„Es war ja von Anfang an nicht gut!“

„Nein. Aber es hat mich doch erschreckt, daß es so weit gekommen ist. So
kann es ja nicht bleiben. Du gehst zugrunde.“

Veraguth lachte rauh.

„Ich gehe nicht zugrunde, mein Junge. Im September stelle ich in
Frankfurt etwa zwölf neue Bilder aus.“

„Das ist schon gut. Aber wie lang soll das so gehen? Es ist ja sinnlos
... Sag, Johann, warum hast du dich nicht von deiner Frau getrennt?“

„Das ist nicht so einfach ... Ich will dir erzählen. Es ist besser, wenn
du das Ganze einmal in der rechten Ordnung erfährst.“

Er nahm einen Schluck Wein und blieb vorgebeugt im Stuhle sitzen,
während Otto sich weiter vom Tische zurückzog.

„Daß ich mit meiner Frau von Anfang an Schwierigkeiten hatte, weißt du
ja. Es ging ein paar Jahre lang, nicht gut und nicht schlecht, und
vielleicht wäre damals noch allerlei zu retten gewesen. Aber ich konnte
meine Enttäuschung zu wenig verbergen, und ich verlangte von Adele immer
wieder gerade das, was sie nicht zu geben hatte. Schwung hat sie nie
gehabt; sie war ernsthaft und schwerlebig, ich hätte das vorher wissen
können. Sie konnte niemals fünf gerade sein lassen und sich mit Humor
oder Leichtsinn über etwas Schweres weghelfen. Sie hatte meinen
Ansprüchen und Launen, meiner ungestümen Sehnsucht und meiner
schließlichen Enttäuschung nichts entgegenzusetzen als Schweigen und
Geduld, eine rührende, stille, heldenhafte Geduld, die mich oft bewegte
und mit der mir und ihr doch nicht geholfen war. War ich ärgerlich und
unzufrieden, so schwieg sie und litt, und kam ich bald darauf mit dem
Willen zu einem besseren Verständnis, bat ich sie um Verzeihung oder
suchte ich sie in einer Stunde froher Laune mitzureißen, so ging es
nicht, sie schwieg auch da und beharrte immer verschlossener in ihrem
treuen, schwerfälligen Wesen. War ich bei ihr, so schwieg sie nachgiebig
und ängstlich, sie nahm Zornausbrüche und lustige Stimmungen mit
gleicher Gelassenheit hin, und war ich fort, so spielte sie für sich
allein Klavier und dachte an ihre Mädchenzeit. So kam ich immer tiefer
ins Unrecht und hatte schließlich eben auch nichts mehr zu geben und
mitzuteilen. Ich fing an fleißig zu werden und habe so allmählich
gelernt, mich in die Arbeit wie in eine Burg zu verschanzen.“

Offenbar gab er sich Mühe, ruhig zu bleiben. Er wollte erzählen, nicht
anklagen, aber hinter den Worten stand fühlbar eben doch die Anklage,
mindestens die Klage über die Zerstörung seines Lebens, über die
Enttäuschung seiner Jugenderwartung und über die lebenslange
Verurteilung zu einem halben, freudlosen, dem Innersten seiner Natur
beständig widersprechenden Dasein.

„Schon damals dachte ich zuweilen daran, die Ehe wieder aufzulösen. Aber
das war nicht so einfach. Ich war an Stillsitzen und Arbeit gewohnt und
schreckte immer wieder vor dem Gedanken an Gerichte und Anwälte, vor dem
Abreißen aller kleinen täglichen Lebensgewohnheiten zurück. Wenn mir
damals eine neue Liebe in den Weg gekommen wäre, hätte ich den Entschluß
leicht gefunden. Aber es zeigte sich, daß auch meine eigene Natur
schwerfälliger war als ich dachte. Ich verliebte mich mit einem gewissen
wehmütigen Neid in hübsche junge Mädchen, aber es ging nie tief genug
und ich sah mehr und mehr, daß ich an keine Liebe mehr mich so weggeben
könne, wie an meine Malerei. Alles Verlangen nach Austoben und
Selbstvergessen, jeder Wunsch und jedes Bedürfnis richtete sich dahin,
und wirklich habe ich in diesen vielen Jahren keinen einzigen neuen
Menschen in mein Leben aufgenommen, keine Frau und keinen Freund. Du
begreifst, ich hätte ja jede Freundschaft mit dem Bekenntnis meiner
Schande beginnen müssen.“

„Schande?!“ sagte Burkhardt leise mit einem Ton des Tadels.

„Gewiß, Schande! So empfand ich es damals schon und das ist seither
nicht anders geworden. Es ist eine Schande, unglücklich zu sein. Es ist
eine Schande, sein Leben niemandem zeigen zu dürfen, etwas verbergen und
bemänteln zu müssen. Genug davon! Ich will dir erzählen.“

Er starrte finster in sein Weinglas, warf die erloschene Zigarre weg und
fuhr fort.

„Inzwischen war Albert ein paar Jahre alt geworden. Wir hatten ihn beide
sehr lieb, die Gespräche über ihn und die Sorgen um ihn hielten uns
beisammen. Erst als er sieben oder acht Jahre alt war, begann ich
eifersüchtig zu werden und um ihn zu kämpfen – genau so, wie ich jetzt
mit ihr um Pierre kämpfe! Ich sah plötzlich, daß der kleine Junge mir
unentbehrlich lieb geworden war, und ich habe mehrere Jahre lang mit
beständiger Angst zugesehen, wie er ganz langsam kühler gegen mich wurde
und mehr und mehr zur Mutter hielt.

Da wurde er bedenklich krank, und in jener Zeit der Sorge um das Kind
sank alles andere für eine Weile unter und wir lebten eine Zeitlang so
einmütig wie nie zuvor. Aus dieser Zeit stammt Pierre.

Seit der kleine Pierre auf der Welt ist, hat er alles besessen, was ich
an Liebe irgend geben konnte. Ich ließ mir Adele wieder entgleiten, ich
ließ es geschehen, daß Albert nach seiner Genesung sich immer enger an
meine Frau schloß, daß er ihr Vertrauter gegen mich und allmählich mein
Feind wurde, bis ich ihn aus dem Hause entfernen mußte. Ich hatte auf
alles verzichtet, ich war ganz arm und anspruchslos geworden, ich hatte
mir auch das Schelten und Herrschen im Hause abgewöhnt und hatte nichts
dagegen, im eigenen Haus nur ein geduldeter Gast zu sein. Ich wollte
nichts für mich retten als meinen kleinen Pierre, und als das
Zusammenleben mit Albert und der ganze Zustand im Hause unerträglich
geworden war, da habe ich Adele die Scheidung angeboten.

Ich wollte Pierre bei mir behalten. Alles andere konnte sie haben: sie
konnte mit Albert zusammen bleiben, sie konnte die Roßhalde behalten und
die Hälfte von meinen Einnahmen, meinetwegen auch mehr. Aber sie wollte
nicht. Sie wollte gerne in die Scheidung willigen und nur das
Notwendigste von mir annehmen, sich aber nicht von Pierre trennen. Das
war unser letzter Streit. Noch einmal versuchte ich alles, um mir meinen
Rest von Glück zu retten; ich bat und versprach, ich habe mich gebückt
und gedemütigt, ich habe gedroht und geweint und schließlich getobt,
aber alles vergebens. Sie willigte sogar darein, daß Albert weggegeben
werde. Es zeigte sich plötzlich, daß diese stille, geduldige Frau keinen
Finger breit nachzugeben gesonnen war; sie fühlte ihre Macht sehr
deutlich und war mir überlegen. Damals haßte ich sie geradezu, und etwas
davon ist immer hängen geblieben.

Da ließ ich den Maurer kommen und habe mir die kleine Wohnung hier
angebaut, und hier wohne ich seither und alles ist so, wie du es gesehen
hast.“

Burkhardt hatte nachdenklich zugehört und ihn nie unterbrochen, auch
nicht in Augenblicken, wo Veraguth es zu erwarten, ja zu wünschen
schien.

„Ich freue mich,“ sagte er vorsichtig, „daß du selber alles so klar
siehst. Es ist alles ungefähr so, wie ich mir’s gedacht hatte. Laß uns
noch ein Wort darüber reden, es geht jetzt in einem hin! Seit ich hier
bin, habe ich ja ebenso auf diese Stunde gewartet wie du. Nimm an, du
hättest ein unangenehmes Geschwür, das dich quält und dessen du dich ein
wenig schämst. Ich kenne es jetzt und dir ist schon wohler, daß du es
nimmer zu verheimlichen brauchst. Aber wir müssen damit nicht zufrieden
sein, wir müssen zusehen, ob wir das Ding nicht aufschneiden und heilen
können.“

Der Maler sah ihn an, schüttelte schwerfällig den Kopf und lächelte:
„Heilen? So etwas heilt nimmer. Aber schneide ruhig zu!“

Burkhardt nickte. Er wollte zuschneiden, gewiß, er wollte diese Stunde
nicht leer vorüber lassen.

„In deiner Erzählung ist eines mir unklar geblieben,“ sagte er
nachdenklich. „Du sagst, du habest dich Pierres wegen nicht von deiner
Frau scheiden lassen. Es ist die Frage, ob du sie nicht dazu hättest
zwingen können, dir Pierre zu lassen. Wärt ihr vom Gericht geschieden
worden, so hätte man dir doch wohl eines der Kinder zusprechen müssen.
Hast du denn daran nie gedacht?“

„Nein, Otto, daran habe ich nie gedacht. Ich habe nie daran gedacht, daß
ein Richter mit seiner Weisheit das wieder gutmachen könne, was ich
verfehlt und versäumt habe. Es ist mir damit nicht gedient. Da meine
persönliche Macht nicht ausreichte, meine Frau zum Verzicht auf den
Jungen zu bewegen, blieb mir nichts übrig als zu warten, für wen Pierre
selbst sich später einmal entscheiden werde.“

„Es handelt sich ja einzig um Pierre. Wenn der nicht da wäre, wärest du
ohne Zweifel längst von deiner Frau geschieden und hättest doch noch ein
Glück in der Welt gefunden oder wenigstens ein klares, vernünftiges,
freies Leben. Statt dessen bist du in einem Wirrwarr von Kompromissen,
Opfern und kleinen Notbehelfen eingeklemmt, in denen ein Mensch wie du
ersticken muß.“

Veraguth blickte unruhig und stürzte hastig ein Glas Wein hinunter.

„Du redest immer von Ersticken und Zugrundegehen! Du siehst doch, ich
lebe und arbeite, und der Teufel soll mich holen, wenn ich mich
unterkriegen lasse.“

Otto achtete nicht auf seine Gereiztheit. Mit leiser Eindringlichkeit
fuhr er fort: „Verzeih, das stimmt nicht ganz. Du bist ein Mensch mit
ungewöhnlichen Kräften, sonst hättest du diese Zustände überhaupt nicht
solange ausgehalten. Wieviel sie dir geschadet und dich gealtert haben,
spürst du selber, und es ist eine unnütze Eitelkeit, wenn du das vor mir
nicht wahrhaben willst. Ich glaube meinen eigenen Augen mehr als dir,
und ich sehe, daß es dir miserabel geht. Deine Arbeit hält dich
aufrecht, aber sie ist dir mehr Betäubung als Freude. Die Hälfte von
deiner schönen Kraft verbrauchst du in Entbehrung und in kleinen
täglichen Widerständen. Was bestenfalls dabei herauskommt, ist nicht
Glück, sondern höchstens Resignation. Und dazu, mein Junge, bist du mir
zu gut.“

„Resignation? Das mag sein. Es geht auch andern so. Wer ist glücklich?“

„Glücklich ist, wer hofft!“ rief Burkhardt nachdrücklich. „Was hast du
zu hoffen? Nicht einmal äußere Erfolge, Ehren und Geld; von dem allen
hast du mehr als genug. Mensch, du weißt ja gar nimmer, was Leben und
Freude ist! Du bist zufrieden, weil du nimmer hoffst! Ich begreife das,
meinetwegen, aber es ist ein scheußlicher Zustand, Johann, es ist ein
übles Geschwür, und wer so eines hat und es nicht aufschneiden mag, der
ist ein Feigling.“

Er war warm geworden und ging in heftiger Bewegung auf und ab, und
während er mit gespannten Kräften seinen Plan verfolgte, sah ihn aus der
Tiefe der Erinnerung Veraguths Knabengesicht an und es schwebte ihm das
Bild einer Szene vor, da er einst ähnlich wie heut mit ihm gestritten
hatte. Aufblickend sah er des Freundes Gesicht, er saß zusammengesunken
und blickte vor sich nieder. Nichts von den Zügen des Knabenkopfes war
mehr vorhanden. Da saß er, den er mit Absicht einen Feigling geheißen,
an dessen einst so peinliche Empfindlichkeit er gerührt hatte, und
wehrte sich nicht.

Er rief nur in bitterer Schwäche: „Nur zu! Du brauchst mich nicht zu
schonen. Du hast gesehen, in was für einem Käfig ich lebe, nun kannst du
ja ohne Sorge mit dem Stock hereindeuten und mir meine Schande
vorhalten. Bitte, fahr fort! Ich wehre mich nicht, ich werde nicht
einmal böse.“

Otto blieb vor ihm stehen. Er tat ihm so leid, aber er bezwang sich und
sagte scharf: „Du sollst aber böse werden! Du sollst mich hinauswerfen
und mir die Freundschaft aufsagen, oder du sollst zugeben, daß ich recht
habe.“

Auch der Maler stand nun auf, aber schlaff und ohne Frische.

„Also du hast recht, wenn dir daran liegt,“ sagte er müde. „Du hast mich
überschätzt, ich bin nimmer so jung und nimmer so leicht zu beleidigen.
Ich habe auch nicht so viel Freunde, daß ich damit Verschwendung treiben
könnte. Ich habe nur dich. Setz dich her und trinke noch ein Glas Wein,
er ist gut. Du kriegst in Indien keinen solchen, und vielleicht findest
du dort auch nicht viele Freunde, die sich so viel Dickköpfigkeit von
dir gefallen lassen.“

Burkhardt schlug ihm leicht auf die Schulter und sagte beinahe
ärgerlich: „Junge, wir wollen doch jetzt nicht sentimental sein – gerade
jetzt nicht! Sag mir, was du an mir zu tadeln hast, und dann wollen wir
fortfahren.“

„O, ich habe nichts an dir zu tadeln! Du bist ein tadelloser Kerl, Otto,
ohne Zweifel. Du siehst mir seit bald zwanzig Jahren zu, wie ich
untersinke, du siehst mit Freundschaft und vielleicht mit Bedauern zu,
wie ich allmählich im Sumpf verschwinde, und du hast nie etwas gesagt
und mich nie dadurch gedemütigt, daß du mir etwa Hilfe anbotest. Du hast
zugesehen, wie ich jahrelang jeden Tag Zyankali mit mir herumtrug, und
du hast mit edler Befriedigung bemerkt, daß ich es nie geschluckt und es
schließlich weggeworfen habe. Und jetzt, wo ich so tief im Dreck sitze,
daß ich nimmer heraus kann, jetzt stehst du da und hast zu tadeln und zu
mahnen ...“

Er starrte mit geröteten heißen Augen trostlos vor sich hin, und Otto,
da er sich ein neues Glas Wein einschenken wollte und nichts mehr in der
Flasche fand, bemerkte erst jetzt, daß Veraguth die Flasche in der
kurzen Zeit allein geleert hatte.

Der Maler folgte seinem Blick und lachte grell.

„O entschuldige!“ rief er heftig. „Ja, ich bin ein wenig betrunken, du
darfst nicht vergessen, mir auch das anzurechnen. Es passiert mir alle
paar Monate einmal, daß ich aus Versehen einen kleinen Rausch trinke – –
zur Anregung, weißt du ...“

Er legte dem Freunde beide Hände schwer auf die Schultern und sagte mit
plötzlich erschlaffter, hoher Stimme klagend: „Sieh, mein Junge, das
Zyankali und der Wein und das alles wäre entbehrlich gewesen, wenn
jemand mir ein bißchen hätte helfen wollen! Du, warum hast du mich
soweit kommen lassen, daß ich jetzt um ein bißchen Nachsicht und Liebe
bitten muß wie ein Bettler? Adele hat mich nicht ertragen, Albert ist
von mir abgefallen, Pierre wird mich auch einmal verlassen – und du bist
daneben gestanden und hast zugesehen. Hast du denn nichts tun können?
Hast du mir gar nicht helfen können?“

Des Malers Stimme brach und er sank in den Stuhl zurück. Burkhardt war
todesblaß geworden. Es stand ja viel schlimmer, als er gedacht hatte!
Daß dieser stolze, harte Mensch durch ein paar Gläser Wein zum wehrlosen
Geständnis seines heimlichen Makels und Elends verführt werden konnte!

Er stand neben Veraguth und sprach ihm leise ins Ohr wie einem Kinde,
das man trösten muß.

„Ich helfe dir, Johann, du kannst mir glauben, ich helfe dir. Ich war ja
ein Esel, ich war ja so blind und dumm! Sieh, es wird noch alles gut,
verlaß dich drauf!“

Er erinnerte sich seltener Anlässe aus der Jugendzeit, bei welchen sein
Freund in Zuständen großer Nervosität die Herrschaft über sich verloren
hatte. Mit wunderlicher Deutlichkeit stand ein solches Erlebnis, das
tief in seinem Gedächtnis geschlummert hatte, jetzt wieder vor ihm auf.
Johann verkehrte damals mit einer hübschen Malschülerin, Otto hatte sich
wegwerfend über sie ausgesprochen, und Veraguth hatte ihm in der
heftigsten Weise die Freundschaft aufgesagt. Auch damals hatte der Maler
sich an einer geringen Menge Weines unverhältnismäßig erhitzt, auch
damals hatte er die roten Augen bekommen und die Gewalt über seine
Stimme verloren. Es ergriff den Freund sonderbar, vergessene Züge einer
scheinbar wolkenlosen Vergangenheit so seltsam wiederkehren zu sehen,
und wieder wie damals erschreckte ihn der plötzlich enthüllte Abgrund
von innerer Vereinsamung und seelischer Selbstpeinigung in Veraguths
Leben. Das war ohne Zweifel jenes Geheimnis, von dem Johann je und je in
Andeutungen gesprochen und das er in jedes großen Künstlers Seele
verborgen vermutet hatte. Daher also kam diesem Manne der unheimlich
unersättliche Drang, zu schaffen und die Welt zu jeder Stunde neu mit
seinen Sinnen zu erfassen und zu überwältigen. Daher kam schließlich
auch die sonderbare Traurigkeit, mit welcher häufig große Kunstwerke den
stillen Beschauer erfüllen konnten.

Es war, als habe Otto seinen Freund bis zur Stunde nie ganz verstanden.
Nun sah er tief in den dunkeln Brunnen, aus dem Johanns Seele sich mit
Kräften und mit Leiden sättigte. Und zugleich empfand er einen tiefen,
freudigen Trost darüber, daß er es war, der alte Freund, dem sich der
Leidende eröffnet, den er angeklagt, den er um Hilfe gebeten hatte.

Veraguth schien nicht mehr zu wissen, was er gesagt hatte. Er ruhte
besänftigt wie ein Kind, das sich ausgetobt hat, und schließlich sagte
er mit klarer Stimme: „Du hast diesmal kein Glück mit mir. Es kommt
alles nur davon her, daß ich in der letzten Zeit nicht meine tägliche
Arbeit gehabt habe. Es ist eine Nervenverstimmung. Ich vertrage die
guten Tage nicht.“

Und als Burkhardt ihn daran hindern wollte, die zweite Flasche zu
öffnen, meinte er: „Ich könnte jetzt doch nicht schlafen. Weiß Gott,
woher ich so nervös bin! Na, laß uns noch ein bißchen zechen, du warst
doch früher darin nicht so spröde. – Ah, du meinst, wegen meiner Nerven!
Ich werde sie schon wieder in Ordnung bringen, darin habe ich Erfahrung.
Ich werde in der nächsten Zeit jeden Morgen um sechs an die Arbeit gehen
und jeden Abend eine Stunde reiten.“

So blieben die Freunde bis gegen Mitternacht beieinander. Johann wühlte
plaudernd in Erinnerungen der alten Zeit, Otto hörte zu und sah mit
beinahe widerwilligem Vergnügen eine blanke, fröhlich spiegelnde
Oberfläche sich beruhigt schließen, wo er eben noch in aufgerissene
dunkle Gründe geblickt hatte.



                            Sechstes Kapitel


Andern Tages begegnete Burkhardt dem Maler mit Befangenheit. Er war
darauf gefaßt, den Freund verwandelt und statt der gestrigen Erregtheit
spöttische Kühle und abwehrende Scham zu finden. Statt dessen kam ihm
Johann mit stillem Ernst entgegen.

„Also morgen reisest du,“ sagte er freundlich. „Es ist gut, und ich
danke dir für alles. Übrigens habe ich das von gestern Abend nicht
vergessen; wir haben noch miteinander zu reden.“

Zweifelnd ging Otto darauf ein.

„Meinetwegen; aber ich will dich nicht wieder unnütz erregen. Wir haben
vielleicht gestern allzu vieles umgerührt. Warum mußten wir auch bis zur
letzten Stunde warten!“

Sie frühstückten im Atelier.

„Nein, es ist ganz gut so,“ sagte Johann bestimmt. „Es ist sehr gut so.
Ich habe eine schlaflose Nacht gehabt und alles noch einmal
wiedergekäut, mußt du wissen. Du hast vieles umgerührt, und beinah mehr
als ich ertragen konnte. Du mußt bedenken, ich habe in Jahren niemand
gehabt, mit dem ich reden konnte. Aber es soll jetzt aufgeräumt und
ausgefressen werden, sonst bin ich wirklich der Feigling, den du mich
gestern geheißen hast.“

„O, hat dir das wehgetan? Laß gut sein!“

„Nein, du hattest beinahe recht, glaube ich. Ich möchte heut noch einen
schönen frohen Tag mit dir haben, wir fahren den Nachmittag zusammen aus
und ich zeige dir ein schönes Stück Land. Aber vorher muß da noch ein
wenig aufgeräumt werden. Gestern fiel das alles so plötzlich über mich
her, daß ich die Besinnung verlor. Aber jetzt habe ich alles bedacht.
Ich glaube, ich verstehe jetzt, was du mir gestern sagen wolltest.“

Er sprach so ruhig und freundlich, daß Burkhardt seine Bedenken fallen
ließ.

„Wenn du mich verstanden hast, ist ja alles gut und wir brauchen nicht
wieder von vorn anzufangen. Du hast mir erzählt, wie alles zustande kam
und wie es jetzt steht. Du hältst also deine Ehe und deinen Haushalt und
deinen ganzen bisherigen Zustand nur darum aufrecht, weil du dich nicht
von Pierre trennen willst. So ist es doch?“

„Ja, genau so ist es.“

„Nun, und wie denkst du dir das weitere? Mir scheint, du habest gestern
angedeutet, daß du mit der Zeit auch Pierre zu verlieren fürchtest. Oder
nicht?“

Veraguth seufzte schmerzlich und legte die Stirn in die Hand; aber er
fuhr im gleichen Tone fort:

„Vielleicht ist es so. Das ist der böse Punkt. Deine Meinung ist, ich
solle auf den Knaben verzichten?“

„Ja, aber ja! Er kostet dich Jahre und Jahre des Kampfes mit deiner
Frau, die ihn dir schwerlich lassen wird.“

„Das ist möglich. Aber sieh, Otto, er ist das letzte, was ich habe! Ich
sitze zwischen lauter Trümmern, und wenn ich heute stürbe, so würden
sich, außer dir, höchstens ein paar Zeitungsschreiber darüber aufregen.
Ich bin ein armer Mann, aber ich habe dieses Kind, ich habe doch immer
noch diesen kleinen lieben Kerl, für den ich leben und den ich liebhaben
darf, für den ich leide und bei dem ich in guten Stunden mich vergesse.
Du mußt dir das richtig vorstellen! Und das soll ich weggeben!“

„Es ist nicht leicht, Johann. Es ist eine verfluchte Sache! Aber ich
weiß keinen anderen Weg. Schau, du weißt gar nicht mehr, wie es draußen
in der Welt aussieht, du sitzest verbohrt und vergraben in deine Arbeit
und in deine verunglückte Ehe. Tu den Schritt und wirf einmal alles weg,
so wirst du plötzlich die Welt wieder mit hundert schönen Dingen auf
dich warten sehen. Du hausest seit langem mit Toten zusammen und hast
den Anschluß ans Leben verloren. Du hängst an Pierre, und er ist ja ein
reizender Kerl, gewiß; aber das ist doch nicht entscheidend. Sei einmal
ein wenig grausam und besinne dich, ob der Junge dich wirklich braucht!“

„Ob er mich braucht ...?“

„Ja. Was du ihm geben kannst, ist Liebe, Zärtlichkeit, Gefühl – das sind
Dinge, von denen ein Kind meist weniger braucht, als wir Alten meinen.
Und dafür wächst der Kleine in einem Hause auf, wo Vater und Mutter
einander kaum mehr kennen, wo sie sogar seinetwegen eifersüchtig sind!
Er wird nicht durch das gute Beispiel eines glücklichen, gesunden Hauses
erzogen, er ist frühreif und wird ein Sonderling werden. – Und
schließlich, verzeih, wird er eines Tages ja doch zwischen dir und der
Mutter wählen müssen. Kannst du das nicht einsehen.“

„Vielleicht hast du recht. Du hast sogar bestimmt recht. Aber hier hört
bei mir das Denken auf. Ich hänge an dem Kind und ich klammere mich an
diese Liebe, weil ich seit langem keine andere Wärme und kein anderes
Licht mehr kenne. Vielleicht wird er mich in ein paar Jahren im Stich
lassen, vielleicht mich enttäuschen, vielleicht mich einmal hassen – wie
Albert mich haßt, der als Vierzehnjähriger einmal mit einem Tischmesser
nach mir geworfen hat. Aber es bleibt mir doch das, daß ich noch diese
paar Jahre bei ihm sein und ihn lieben darf, daß ich seine kleinen Hände
in meine nehmen und seine kleine helle Vogelstimme hören kann. Sage: muß
ich das weggeben? Muß ich?“

Burkhardt zuckte schmerzlich die Achseln und runzelte die Stirn.

„Du mußt, Johann,“ sagte er dann sehr leise. „Ich glaube, du mußt. Es
muß nicht heute sein, aber bald. Du mußt alles, was du hast, wegwerfen,
und mußt dich von allem Vergangenen reinbaden, sonst wirst du nie mehr
ganz hell und frei in die Welt blicken können. Tu, was du magst, und
wenn du den Schritt nicht tun kannst, so bleib hier und lebe dies Leben
weiter – ich gehöre zu dir, auch dann, und bin für dich da, das weißt
du. Aber es täte mir leid.“

„Rate mir! Ich sehe lauter Dunkel vor mir.“

„Ich will dir raten. Es ist jetzt Juli; im Herbst fahre ich nach Indien
zurück. Vorher komme ich noch einmal zu dir, und ich hoffe, du wirst
dann schon die Koffer bereit haben und mit mir reisen. Hast du dann
deinen Entschluß gefaßt und ja gesagt, dann desto besser! Findest du
aber den Entschluß nicht, so komm für ein Jahr, oder meinetwegen für ein
halbes Jahr, mit mir, aus dieser Luft heraus. Du kannst bei mir malen
und reiten, du kannst auch Tiger schießen oder dich in Malaiinnen
verlieben – es gibt hübsche – auf alle Fälle bist du eine Weile weit von
hier weg und kannst versuchen, ob es sich nicht so besser leben läßt.
Was meinst du?“

Mit geschlossenen Augen wiegte der Maler seinen großen, struppigen Kopf
mit dem bleichen Gesicht und dem eingezogenen Munde hin und her.

„Danke!“ rief er halb lächelnd. „Danke, es ist lieb von dir. Im Herbst
werde ich dir sagen, ob ich mitkomme. Bitte, laß mir die Photographien
da.“

„Die kannst du haben ... Aber – – kannst du nicht heut oder morgen schon
dich wegen der Reise entschließen? Es wäre besser für dich.“

Veraguth erhob sich und ging zur Türe.

„Nein, du, das kann ich nicht. Wer weiß, was inzwischen geschieht! Ich
bin seit Jahren niemals länger als für drei, vier Wochen ohne Pierre
gewesen. Ich glaube, ich werde mit dir reisen, aber ich will jetzt
nichts sagen, was mich reuen könnte.“

„Nun, lassen wir es gut sein! Ich werde dir immer mitteilen, wo ich zu
finden bin. Und wenn du eines Tages drei Worte telegraphierst, daß du
mitkommst, so brauchst du der Reise wegen keinen Finger zu rühren. Das
ist dann meine Sache. Von hier nimmst du nur Wäsche und Malzeug mit,
aber reichlich, alles andere besorge ich nach Genua.“

Veraguth umarmte ihn schweigend.

„Du hast mir geholfen, Otto, ich vergesse das nimmer. – Jetzt lasse ich
den Wagen kommen, wir werden heute zu den Mahlzeiten nicht drüben
erwartet. Und nun wollen wir gar nichts mehr tun, als einen schönen Tag
miteinander feiern, wie vor Zeiten in den Sommerferien! Wir werden über
Land fahren, ein paar schöne Dörfer ansehen und im Wald liegen, wir
werden Forellen essen und guten Landwein aus dicken Gläsern trinken. Was
für ein Glanzwetter wir heut haben!“

„Es ist seit zehn Tagen nicht anders,“ lachte Burkhardt. Und auch
Veraguth lachte.

„Ach, mir ist, die Sonne hätte schon lang nimmer so geschienen!“



                           Siebentes Kapitel


Nach Burkhardts Abreise überfiel den Maler ein wunderliches Gefühl des
Alleinseins. Dieselbe Einsamkeit, in welcher er Jahre und Jahre gelebt
und gegen die er sich in so langer Gewöhnung hart und beinahe
unempfindlich gemacht hatte, überfiel ihn nun wie ein unbekannter, ganz
neuer Feind und sank von allen Seiten erstickend über ihm zusammen.
Zugleich fühlte er sich von seiner Familie, sogar von Pierre, mehr als
jemals abgeschnitten. Er wußte es nicht, aber es kam davon her, daß er
zum erstenmal über diese Verhältnisse sich ausgesprochen hatte.

In manchen Stunden lernte er sogar das unselige, demütigende Gefühl der
Langeweile kennen. Bisher hatte Veraguth das unnatürliche, aber
konsequente Leben eines freiwillig Eingemauerten geführt, den das Leben
nicht mehr interessiert und dessen Dasein mehr ein Ertragen als ein
Erleben war. Der Freundesbesuch hatte Löcher in diese Klause geschlagen,
durch hundert Ritzen blitzte und klang, duftete und tastete das Leben zu
dem Vereinsamten herein, ein alter Zauber war gebrochen und der
Erwachende empfand jeden Ruf von draußen überstark mit halbem Schmerz.

Wütend stürzte er sich in die Arbeit, er fing fast gleichzeitig zwei
große Kompositionen an, er begann den Tag früh bei Sonnenaufgang mit
einem kalten Bade, arbeitete ohne Pause bis zum Mittag, hielt sich dann
nach kurzer Rast mit Kaffee und Zigarre munter und erwachte zuweilen in
der Nacht an Herzklopfen oder Kopfschmerz. Aber wie sehr er sich zwang
und gewaltsam einspann, es blieb in seinem Bewußtsein unter dünnem
Schleier immerzu die Kunde lebendig und gegenwärtig, daß eine Türe offen
stehe und daß zu jeder Zeit ein rascher Schritt ihn in die Freiheit
bringen könne.

Er dachte nicht darüber nach, er betäubte alle Gedanken in fortwährender
Anstrengung. Das Gefühl, in dem er lebte, war das: Du kannst zu jeder
Stunde gehen, die Tür steht offen, die Fesseln sind zu brechen – aber es
kostet einen harten Entschluß und ein schweres, schweres Opfer – darum
nicht daran denken, nur nicht daran denken! Jener Entschluß, den
Burkhardt von ihm erwartete und zu dem vielleicht seine eigene Natur
sich heimlich schon bekannt hatte, saß in seiner Seele wie die Kugel im
Fleisch eines Verwundeten; es war nur die Frage, würde sie sich eiternd
herausarbeiten oder würde sie eingekapselt drinnen festwachsen. Es
schwärte und tat weh, aber noch nicht weh genug; noch war der Schmerz zu
groß, den er von dem geforderten Opfer befürchtete. So tat er nichts,
ließ die heimliche Wunde brennen und fühlte im stillen eine verzweifelte
Neugierde, wie das alles ausgehen werde.

Mitten in dieser Bedrängnis malte er ein großes Figurenbild, mit dessen
Plan er lang gegangen war und das ihn jetzt plötzlich heftig reizte. Der
Gedanke dazu war manche Jahre alt, er hatte einst Freude an ihm gehabt,
bis er ihm immer leerer und allegorischer erschienen und ganz zuwider
geworden war. Nun aber war das Bild ihm ganz und gar sichtbar geworden
und er begann die Arbeit rein aus der Frische der Vision, ohne die
Allegorie mehr zu empfinden.

Es waren drei lebensgroße Figuren: ein Mann und ein Weib, jeder für sich
versunken und dem andern fremd, und zwischen ihnen spielend ein Kind,
stillfroh und ohne Ahnung der über ihm lastenden Wolke. Die persönliche
Bedeutung war klar, doch glich weder die Männerfigur dem Maler, noch das
Weib seiner Frau, nur das Kind war Pierre, doch um einige Jahre jünger
dargestellt. Dieses Kind malte er mit allem Reiz und aller Noblesse
seiner besten Bildnisse, die Figuren zu beiden Seiten saßen in starrer
Symmetrie, strenge, leidvolle Bilder der Einsamkeit, der Mann mit in die
Hand gestütztem Haupt einem schweren Grübeln hingegeben, die Frau in
Leid und leere Dumpfheit verloren.

Der Diener Robert hatte keine angenehmen Tage. Herr Veraguth war
sonderbar nervös geworden. Er konnte es nicht vertragen, daß im
Nebenzimmer das kleinste Geräusch war, wenn er arbeitete.

Die heimliche Hoffnung, die seit Burkhardts Besuch in Veraguth lebendig
geworden war, saß wie ein Feuer in seiner Brust, brannte aller
Unterdrückung zum Trotz weiter und färbte nachts seine Träume mit
lockendem und erregendem Licht. Er wollte nicht auf sie hören, er wollte
nichts von ihr wissen, er wollte nichts als arbeiten und Ruhe im Herzen
haben. Und er fand die Ruhe nicht, er fühlte das Eis seines freudlosen
Daseins schmelzen und alle Grundfesten seiner Existenz ins Wanken
geraten, er sah in Träumen sein Atelier verschlossen und ausgeräumt, er
sah seine Frau von ihm fort reisen, aber sie hatte Pierre mit sich
genommen und der Knabe streckte die dünnen Arme nach ihm aus. Am Abend
saß er manchmal in seinem unbehaglichen Wohnzimmerchen Stunde um Stunde
allein, in den Anblick der indischen Photographien vertieft, bis er sie
von sich schob und die ermüdeten Augen schloß.

Zwei Mächte kämpften in ihm einen harten Kampf, aber die Hoffnung war
stärker. Immer wieder mußte er sich seine Gespräche mit Otto
wiederholen, immer wärmer stiegen alle unterdrückten Wünsche und
Bedürfnisse seiner kräftigen Natur aus der Tiefe hervor, wo sie so lange
gefangen und erfroren gelegen waren, und diesem Empordrängen und
frühlinghaften Erwarmen hielt der alte Wahn nicht stand, der kranke
Wahn, er sei ein alter Mann und habe nichts mehr zu tun als das Leben zu
ertragen. Die tiefe, mächtige Hypnose der Resignation war unterbrochen
worden, und durch die Lücke drangen die unbewußten triebhaften Kräfte
eines lang gebändigten und betrogenen Lebens schwärmend ein.

Je klarer diese Stimmen erklangen, desto ängstlicher zuckte des Malers
Bewußtsein in der schmerzlichen Furcht vor dem letzten Erwachen. Immer
wieder tat er krampfhaft die geblendeten Augen zu und sträubte sich, in
allen Fasern fiebernd, gegen das notwendige Opfer.

Johann Veraguth zeigte sich selten im Hause drüben, er ließ sich fast
alle Mahlzeiten ins Atelier bringen und brachte die Abende häufig in der
Stadt zu. Traf er aber mit seiner Frau oder mit Albert zusammen, so war
er still und milde und schien alle Feindlichkeit vergessen zu haben.

Um Pierre schien er sich wenig zu kümmern. Sonst hatte er den Kleinen
mindestens einmal am Tage zu sich gelockt und bei sich gehabt oder war
mit ihm im Garten gewesen. Jetzt konnten Tage vergehen, ohne daß er das
Kind sah oder nach ihm verlangte. Lief ihm der Knabe in den Weg, so
küßte er ihn nachdenklich auf die Stirn, sah ihm mit trauriger
Zerstreutheit in die Augen und ging seines Weges.

Einmal kam Veraguth am Nachmittag in den Kastaniengarten herüber, es war
lau und windig und ein warmer Regen sprühte in winzigen Tropfen schräg
herab. Vom Hause klang aus offenen Fenstern Musik. Der Maler blieb
stehen und hörte zu. Er kannte das Stück nicht. Es klang rein und
ernsthaft in einer sehr strengen, wohlgebauten und abgewogenen
Schönheit, und Veraguth lauschte mit nachdenklicher Freude. Sonderbar,
eigentlich war das eine Musik für alte Leute, sie klang so schonend und
männlich und hatte so gar nichts von dem bacchischen Taumel jener Musik,
die er selber einst in Jugendzeiten über alles geliebt hatte.

Still trat er ins Haus, stieg die Treppe empor und erschien ungemeldet
lautlos im Musikzimmer, wo nur Frau Adele sein Kommen bemerkte. Albert
spielte und seine Mutter stand zuhörend beim Flügel. Veraguth setzte
sich auf den nächsten Sessel, senkte den Kopf und verharrte lauschend.
Zwischenein blickte er auf und ließ den Blick auf seiner Frau ruhen. Sie
war hier zu Hause, sie hatte in diesen Zimmern stille, enttäuschte Jahre
gelebt wie er in der Werkstatt drüben am See, aber sie hatte Albert
gehabt, sie war mit ihm gegangen und gewachsen, und nun war der Sohn ihr
Gast und Freund und bei ihr zu Hause. Frau Adele war etwas gealtert, sie
hatte gelernt still zu sein und sich zu begnügen, ihr Blick war fest und
ihr Mund etwas trocken geworden; aber sie war nicht entwurzelt, sie
stand sicher in ihrer eigenen Atmosphäre, und ihre Luft war es, in der
die Söhne aufwuchsen. Sie hatte wenig Überschwang und nicht allzuviel
impulsive Zärtlichkeit zu geben, es fehlte ihr fast alles, was ihr Mann
einst an ihr gesucht und von ihr erhofft hatte, aber es war Heimat um
sie her, es war Art und Charakter in ihrem Gesicht, in ihrem Wesen, in
ihren Räumen, es war hier ein Boden, in welchem Kinder aufwachsen und
dankbar gedeihen konnten.

Veraguth nickte wie befriedigt. Hier war niemand, der etwas verlieren
konnte, wenn er für immer verschwand. Er war in diesem Hause
entbehrlich. Er würde immer wieder und überall in der Welt ein Atelier
bauen können und sich mit Tätigkeit und Arbeitsglut umgeben, nur würde
es nie eine Heimat werden. Er hatte das eigentlich lange gewußt, und es
war gut so.

Nun hörte Albert auf zu spielen. Er fühlte, oder er sah es am Blick der
Mutter, daß jemand ins Zimmer gekommen sei. Er wandte sich um und sah
den Vater erstaunt und mißtrauisch an.

„Guten Tag,“ sagte Veraguth.

„Guten Tag,“ antwortete der Sohn verlegen und begann sich am
Notenschrank zu beschäftigen.

„Ihr habt musiziert?“ fragte der Vater freundlich.

Albert zuckte die Achseln, als wolle er fragen: „Hast du es denn nicht
gehört?“ Er wurde rot im Gesicht und verbarg es in die tiefen Fächer des
Schranks.

„Es war schön,“ fuhr der Vater fort, und lächelte. Er fühlte tief, wie
sehr sein Besuch hier störe, und er sagte nicht ohne einen leisen
Anklang von Schadenfreude: „Bitte, spiel noch etwas! Was du willst! Du
hast gute Fortschritte gemacht.“

„Ach, ich mag nimmer,“ wehrte sich Albert ärgerlich.

„Es wird schon gehen. Ich bitte darum.“

Frau Veraguth sah ihren Mann prüfend an.

„Also, Albert, setz dich her!“ sagte sie, und legte ein Notenheft auf.
Sie streifte dabei mit dem Ärmel einen kleinen silbernen Blumenkorb voll
Rosen, der auf dem Flügel stand, und es fiel eine Reihe blasser
Blütenblätter auf das spiegelnde schwarze Holz.

Der Jüngling setzte sich auf den Klavierstuhl und begann zu spielen. Er
war verwirrt und voll Ärger und spielte die Musik herunter wie ein
lästiges Pensum, rasch und lieblos. Der Vater hörte eine Weile
aufmerksam zu, dann versank er in Nachsinnen, stand endlich plötzlich
auf und ging geräuschlos aus dem Zimmer, noch ehe Albert fertig war. Im
Weggehen hörte er den Jungen wütend auf die Tasten loshämmern und sein
Spiel abbrechen.

„Ihnen wird nichts fehlen, wenn ich weg bin,“ dachte der Maler, indem er
die Treppe hinabstieg. „Herrgott, wie weit sind wir auseinander, und
sind doch einmal eine Art von Familie gewesen!“

Im Korridor lief ihm Pierre entgegen, strahlend und in großer Aufregung.

„O Papi,“ rief er atemlos, „gut, daß du da bist! Denk dir, ich habe eine
Maus, eine kleine lebendige Maus! Schau, da in meiner Hand – siehst du
die Augen? Die gelbe Katze hat sie gefangen, und sie hat mit ihr
gespielt und hat sie so sehr gequält und sie immer wieder ein Stückchen
laufen lassen und wieder gefangen. Da habe ich ganz, ganz schnell
zugegriffen und habe ihr die Maus vor der Nase weggefangen! Was tun wir
jetzt mit ihr?“

Er blickte heiß vor Freude empor, und schauderte doch, als die Maus in
seiner kleinen, festgeschlossenen Hand wühlte und kurze bange Pfiffe
ausstieß.

„Wir lassen sie im Garten draußen laufen,“ sagte der Vater, „komm mit!“

Er ließ sich einen Regenschirm geben und nahm den Knaben mit sich. Es
tröpfelte schwach aus dem heller gewordenen Himmel, die nassen, glatten
Stämme der Buchen glänzten schwarz wie Gußeisen.

Zwischen dem üppigen, zäh ineinander verknoteten Wurzelwerk einiger
Bäume machten sie halt. Pierre kauerte hockend nieder und machte ganz
langsam seine Hand auf. Sein Gesicht war gerötet und die hellen, grauen
Augen strahlten vor heftiger Spannung. Und plötzlich, als werde die
Erwartung ihm unerträglich, öffnete er das Händchen weit. Die Maus, ein
winzig kleines, junges Tierchen, schoß blindlings aus der Haft hervor,
hielt eine Elle weiter vor einem starken Wurzelstrange an und blieb
still da sitzen. Man sah ihre Flanken von heftigen Atemzügen bewegt und
ihre kleinen schwarzglänzenden Äuglein angstvoll umschauen.

Pierre jauchzte laut auf und klatschte in die Hände. Die Maus erschrak
und verschwand wie verzaubert im Boden. Sachte strich der Vater dem
Knaben das dichte Haar zurück.

„Kommst du mit mir, Pierre?“

Der Kleine legte seine rechte Hand in des Vaters Linke und ging mit ihm.

„Jetzt ist die kleine Maus schon daheim bei ihrer Mama und bei ihrem
Papi, und erzählt ihnen alles.“

Er plauderte sprudelnd weiter, und der Maler umschloß seine kleine warme
Hand mit festen Fingern, und mit jedem Wort und Jauchzen des Kindes
zuckte sein Herz auf und sank in Abhängigkeit und schweren Liebesbann
zurück.

Ach, nie mehr im Leben würde er eine solche Liebe fühlen können wie zu
diesem Knaben. Nie mehr würde er Augenblicke so voll warmer, strahlender
Zärtlichkeit, so voll spielenden Selbstvergessens, so voll starker,
wehmütiger Süßigkeit erleben können wie mit Pierre, mit diesem letzten,
schönen Bilde seiner eigenen Jugend. Seine Anmut, sein Lachen, die
Frische seines kleinen, selbstbewußten Wesens waren der letzte frohe,
reine Klang in Veraguths Leben, so schien es ihm; sie waren für ihn, was
der letzte vollblühende Rosenbaum in einem spätherbstlichen Garten ist.
An ihm hängt Wärme und Sonne, Sommer und Gartenfröhlichkeit, und wenn
ihn der Sturm oder Reif entblättert, ist es mit allem Reiz und mit jeder
Ahnung von Glanz und Freude vorüber.

„Warum magst du eigentlich den Albert nicht leiden?“ fragte Pierre
plötzlich.

Veraguth drückte die Kinderhand fester.

„Ich mag ihn schon leiden. Er hat eben die Mutter lieber als mich. Dafür
kann man nichts.“

„Ich glaube, er kann dich gar nicht leiden, Papa. Und weißt du, er hat
auch mich nimmer so gern wie früher. Er spielt nur immerfort Klavier
oder sitzt allein in seinem Zimmer. Am ersten Tag, als er kam, habe ich
ihm von meinem eigenen Garten erzählt, den ich selber gepflanzt habe,
und da hat er gleich so ein großartiges Gesicht gemacht, und dann sagte
er: ‚Morgen wollen wir dann deinen Garten ansehen.‘ Aber nun hat er die
ganze Zeit nicht mehr darnach gefragt. Er ist kein guter Kamerad, und er
kriegt auch schon einen kleinen Schnurrbart. Und immer ist er bei der
Mutter, ich kann sie fast nie allein haben.“

„Er ist auch nur für ein paar Wochen da, mein Junge, du mußt das nicht
vergessen. Und wenn du die Mama nicht allein findest, kannst du ja immer
zu mir kommen. Magst du nicht?“

„Das ist nicht das gleiche, Papi. Manchmal mag ich gern zu dir kommen,
und manchmal lieber zur Mama. Und du mußt ja auch immer so furchtbar
viel arbeiten.“

„Daran brauchst du dich gar nicht zu kehren, Pierre. Wenn du gern zu mir
kommen magst, so darfst du immer kommen – hörst du, immer, auch wenn ich
im Atelier bin und arbeite.“

Der Knabe gab keine Antwort. Er sah den Vater an, seufzte ein wenig und
sah unbefriedigt aus.

„Ist dir das nicht recht?“ fragte Veraguth, beklommen vor dem Ausdruck
in dem Kindergesicht, das vor Augenblicken noch von lärmender Knabenlust
geleuchtet hatte und nun abgewandt und viel zu alt aussah.

Er wiederholte seine Frage.

„Sag mir’s nur, Pierre! Bist du nicht mit mir zufrieden?“

„Doch, Papa. Aber ich mag nicht so gern zu dir kommen, wenn du malst.
Früher bin ich manchmal gekommen – – –“

„Nun, und was hat dir da nicht gefallen?“

„Weißt du, Papa, wenn ich dich im Atelier besuche, dann streichelst du
mir immer übers Haar und sagst nichts und hast ganz andere Augen, und
manchmal hast du böse Augen gemacht, ja. Und wenn man dir dann etwas
sagt, dann sieht man an deinen Augen, daß du gar nicht zuhörst, du sagst
nur Jaja und passest gar nicht auf. Und wenn ich zu dir komme und dir
etwas sagen will, dann will ich doch, daß du zuhörst!“

„Du mußt trotzdem wieder kommen, Liebling. Denk einmal: wenn ich mit
meinen Gedanken ganz, ganz fest bei dem bin, was ich gerade arbeite, und
wenn ich recht stark nachdenken muß, wie ich es am besten machen kann,
dann kann ich manchmal nicht gleich davon wegkommen und auf dich hören.
Aber ich will es versuchen, wenn du wiederkommst.“

„Ja, ich verstehe schon. Ich muß auch oft an irgend etwas denken, und
dann ruft mir jemand und ich soll ihm folgen – das ist widerwärtig.
Manchmal mag ich den ganzen Tag still sein und nachdenken, und gerade
dann soll ich immer spielen oder lernen oder irgend etwas tun, und dann
werde ich ganz böse.“

Pierre blickte vor sich hin, angestrengt in dem Bemühen, das
auszudrücken, was er meinte. Es war schwierig, und man wurde doch
meistens nicht ganz verstanden.

Sie waren in Veraguths Wohnzimmer eingetreten. Er setzte sich und nahm
den Kleinen zwischen seine Knie.

„Ich weiß, was du meinst, Pierre,“ sagte er begütigend. „Willst du jetzt
Bilder ansehen, oder magst du zeichnen? Ich meine, du könntest
vielleicht die Mausgeschichte zeichnen?“

„O ja, das will ich tun. Dazu muß ich aber ein schönes großes Papier
haben.“

Aus einer Tischlade suchte der Vater ein Stück Zeichenpapier hervor,
spitzte einen Bleistift und schob dem Knaben einen Stuhl heran. Pierre
fing alsbald, auf dem Sessel kniend, die Maus und die Katze zu zeichnen
an. Veraguth, um ihn nicht zu stören, setzte sich hinter ihn und
betrachtete den dünnen gebräunten Hals, den geschmeidigen Rücken und den
noblen, eigenwilligen Kopf des Kindes, das ganz in sein Tun versunken
war und mit ungeduldigem Lippenspiel seiner Arbeit folgte. Jeder Strich,
jeder kleine Fortschritt und jedes Mißglücken war in dem beweglichen
Munde, in der Bewegung der Brauen und Stirnfalten deutlich gespiegelt.

„Ach, es ist nichts!“ rief Pierre nach einer Weile, richtete sich, auf
die flachen Hände gestützt, empor und schaute seine Zeichnung kritisch
mit eingekniffenen Augen an.

„Es wird nichts!“ klagte er zürnend. „Papa, wie macht man denn eine
Katze? Meine sieht wie ein Hund aus.“

Der Vater nahm das Papier in die Hände und ging ernsthaft darauf ein.

„Wir müssen ein wenig radieren,“ sagte er gelassen. „Der Kopf ist zu
groß und nicht rund genug, und die Beine sind zu lang. Warte nur, wir
kriegen das schon heraus.“

Vorsichtig fuhr er mit dem Gummi über Pierres Blatt, holte ein neues
Papier und zeichnete darauf eine Katze.

„Schau, so muß sie werden. Sieh dir’s ein wenig an und zeichne dann eine
neue Katze.“

Allein Pierres Geduld war erschöpft, er gab den Bleistift zurück und nun
mußte der Papa weiterzeichnen, zur Katze noch eine kleine junge Katze,
und dann eine Maus, und dann wie Pierre kommt und sie befreit, und
schließlich verlangte er noch einen Wagen mit Pferden und einem Kutscher
darauf.

Und plötzlich war auch das langweilig. Singend lief der Knabe ein
paarmal durch die Stube, schaute durchs Fenster, ob es noch regne, und
tanzte zur Türe und hinaus. Unter den Fenstern hin klang sein feiner,
hoher, kindlicher Gesang, dann ward es still und Veraguth saß allein,
das Blatt mit den Katzen in der Hand.



                             Achtes Kapitel


Veraguth stand vor seinem großen Bilde mit den drei Figuren und malte am
Gewand der Frau, einem dünnen, blaugrünen Kleide, an dessen
Halsausschnitt ein kleiner Goldschmuck verloren und traurig glänzte und
allein das liebe Licht auffing, das auf dem beschatteten Gesicht keine
Stätte fand und an dem kühlen, blauen Gewande fremd und freudlos
niederglitt ... dasselbe Licht, das nebenan im hellen, offenen Haar des
schönen Kindes froh und innig spielte.

Es klopfte an der Türe und der Maler trat unwillig und gereizt zurück.
Als es nach einer kleinen Wartezeit nochmals pochte, ging er mit
heftigen Schritten zur Tür und öffnete einen schmalen Spalt.

Da stand Albert, der in der ganzen Ferienzeit das Atelierhaus nie
betreten hatte. Er hielt den Strohhut in der Hand und blickte etwas
unsicher in das nervöse Gesicht des Vaters.

Dieser ließ ihn eintreten.

„Guten Tag, Albert. Du kommst wohl, um dir meine Bilder anzusehen? Es
ist wenig da.“

„O, ich will gar nicht stören. Ich wollte nur schnell fragen ...“

Aber Veraguth hatte die Türe geschlossen und war an der Staffelei
vorüber zu einem graugestrichenen Lattengerüste gegangen, wo auf
schmalen, mit Rollen versehenen Böden seine Bilder standen. Er zog das
Bild mit den Fischen hervor.

Albert trat verlegen neben seinen Vater und beide blickten auf die
silbrig schimmernde Leinwand.

„Machst du dir eigentlich etwas aus der Malerei?“ fragte Veraguth
leichthin. „Oder freut dich nur die Musik?“

„O, ich habe Bilder sehr gern, und das hier ist wunderschön.“

„Gefällt es dir? Das freut mich. Ich lasse dir eine Photographie davon
machen. Und wie fühlst du dich denn wieder auf Roßhalde?“

„Danke, Papa, sehr gut. Aber ich wollte dich wirklich nicht stören, ich
kam nur wegen einer Kleinigkeit – –“

Der Maler hörte nicht. Er sah seinem Sohn zerstreut ins Gesicht, mit dem
langsam zugreifenden, etwas überanstrengten Blick, den er stets bei der
Arbeit hatte.

„Wie denkt ihr jungen Leute heutzutage eigentlich über die Kunst? Ich
meine, gilt da Nietzsche, oder liest man noch Taine – er war gescheit
aber langweilig, dieser Taine – oder habt ihr neue Ideen?“

„Taine kenne ich noch nicht. Über das hast du ja gewiß viel mehr
nachgedacht als ich.“

„Früher, ja, da war die Kunst und die Kultur und das Apollinische und
Dionysische und all das Zeug mir furchtbar wichtig. Aber heut bin ich
froh, wenn ich ein gutes Bild zusammenbringe, es sind keine Probleme
mehr dabei, jedenfalls keine philosophischen. Und wenn ich sagen müßte,
warum ich eigentlich ein Künstler bin und alle die Leinwand vollmale, so
würde ich sagen: ich male, weil ich keinen Schweif zum Wedeln habe.“

Erstaunt sah Albert seinen Vater an, der seit langem kein solches
Gespräch mehr mit ihm geführt hatte.

„Keinen Schweif? Wie meinst du das?“

„Sehr einfach. Hunde und Katzen und andere begabte Tiere haben einen
Schwanz, und nicht nur für das, was sie denken und fühlen und leiden,
sondern für jede Laune und Schwingung ihres Wesens und für jede feine
Wallung ihres Lebensgefühls hat ihr Schwanz mit tausend Schnörkeln eine
wunderbar vollkommene Arabeskensprache. Die haben wir nicht, und da die
Lebhafteren unter uns doch eben auch so etwas brauchen, so machen sie
sich eben Pinsel und Klaviere und Geigen ...“

Er brach ab, als interessiere ihn die Unterhaltung plötzlich nimmer,
oder als nehme er erst jetzt wahr, daß er allein rede und bei Albert
kein rechtes Echo finde.

„Also ich danke für den Besuch,“ sagte er unvermittelt.

Er war wieder vor seine Arbeit getreten, hatte die Palette an sich
genommen und starrte suchend auf den Fleck, wo der letzte Pinselstrich
saß.

„Verzeih, Papa, ich möchte dich etwas fragen –“

Veraguth wandte sich um, mit schon entfremdeten Blicken und außer
Zusammenhang mit den Dingen, die außerhalb seiner Arbeit lagen.

„Ja?“

„Ich möchte Pierre auf einen Ausflug im Wagen mitnehmen. Mama hat es
erlaubt, aber sie sagte, ich solle auch bei dir noch fragen.“

„Wohin wollt ihr denn fahren?“

„Ein paar Stunden weit über Land, vielleicht nach Pegolzheim.“

„So ... Wer kutschiert denn?“

„Ich natürlich, Papa.“

„Meinetwegen, nimm Pierre mit! Aber im Einspänner, mit dem Braunen. Und
daß er nicht zuviel Haber kriegt!“

„Ach, ich wäre viel lieber zweispännig gefahren!“

„Tut mir leid. Allein magst du fahren, wie du willst; aber wenn der
Kleine dabei ist, nur mit dem Braunen.“

Etwas enttäuscht zog Albert sich zurück. Zu andern Zeiten hätte er
getrotzt oder weiter gebeten, aber er sah, der Maler war schon wieder
ganz bei seiner Arbeit, und hier im Atelier und in der Atmosphäre seiner
Bilder imponierte ihm trotz aller inneren Gegenwehr der Vater doch
jedesmal so sehr, daß er ihm gegenüber, dessen Autorität er sonst nicht
anerkannte, sich erbärmlich knabenhaft und schwach fühlte.

Der Maler war alsbald wieder mitten in seiner Arbeit, die Unterbrechung
war vergessen und die Außenwelt verweht. Mit streng konzentriertem Blick
verglich er die Fläche der Leinwand mit dem lebendigen Bilde in seinem
Innern. Er fühlte die Musik des Lichtes, wie sein tönender Strom sich
verteilte und wiederfand, wie es an Widerständen ermüdete, wie es
aufgetrunken ward und unbesiegbar auf jeder empfänglichen Fläche neu
triumphierte, wie es in den Farben mit wählerischer, doch unfehlbarer
Laune in peinlichster Empfindlichkeit spielte, in tausend Brechungen
unzerstört und in tausend spielerischen Irrgängen untrüglich seinem
eingeborenen Gesetze treu. Und er kostete in tiefen Zügen die herbe Luft
der Kunst, die strenge Freude des Schöpfers, der sich selber bis zur
Grenze der Vernichtung hergeben muß, der das heilige Glück der Freiheit
nur im eisernen Bändigen jeder Willkür finden und die Augenblicke der
Erfüllung nur im asketischen Gehorsam gegen das Wahrhaftigkeitsgefühl
erleben kann.

Es war seltsam und betrübend, doch nicht seltsamer und trauriger als
alles Menschengeschick: dieser beherrschte Künstler, dem nur aus
tiefster Wahrhaftigkeit und aus unerbittlich klarer Konzentration zu
arbeiten möglich schien, dieser selbe Mann, in dessen Werkstatt keine
Laune und keine Unsicherheit Raum gewann, er war in seinem Leben ein
Dilettant und gescheiterter Glücksucher gewesen, und er, der keine
mißglückte Tafel oder Leinwand aus den Händen gab, litt tief unter der
dunkeln Last ungezählter mißglückter Tage und Jahre, mißglückter Liebes-
und Lebensversuche.

Ihm kam es nicht zum Bewußtsein. Er hatte seit langem das Bedürfnis
verloren, sein Leben klar vor sich auszubreiten. Er hatte gelitten und
sich gegen das Leid gewehrt, in Empörung und in Resignation, und er
hatte damit geendet, die Dinge ihren Weg gehen zu lassen und sich nur
seine Arbeit zu erhalten. Und es war seiner zähen Natur gelungen, seine
Künstlerschaft beinahe um das reicher und tiefer und glühender zu
machen, was sein Leben an Reichtum, Tiefe und Wärme verlor. Einsam und
geharnischt saß er nun wie ein Verzauberter, eingesponnen in seinen
Künstlerwillen und rücksichtslosen Fleiß, und sein Wesen war gesund und
eigenwillig genug, die Armut dieses Daseins nicht zu sehen und nicht
anerkennen zu wollen.

So war es bis vor kurzem gewesen, bis der Freundesbesuch ihn
aufgerüttelt hatte. Seither umgab den Einsamen eine beängstigende Ahnung
von Gefahr und Schicksalsnähe, er fühlte Kämpfe und Prüfungen auf sich
warten, in denen nicht seine Kunst und nicht sein Fleiß ihn retten
konnten. Sein beschädigtes Menschentum witterte Sturm und fand keine
Wurzeln und Kräfte in sich, ihn auszuhalten. Und nur langsam wollte
seine vereinsamte Seele sich an den Gedanken gewöhnen, es müsse nun
nächstens der Kelch verschuldeten Leides bis zur Hefe ausgetrunken
werden.

Im Kampf wider diese drohenden Ahnungen und in der Scheu vor klaren
Gedanken oder gar Entschlüssen zog sich des Malers ganze Natur, als sei
es vielleicht zum letzten Male, nochmals in einer ungeheuren Anstrengung
zusammen wie ein verfolgtes Tier zum rettenden Sprunge, und so schuf
Johann Veraguth in diesen Tagen der inneren Beängstigung mit einem
verzweifelten Zusammenraffen eines seiner größten und schönsten Werke,
das spielende Kind zwischen den gebeugten leidvollen Gestalten der
Eltern. Vom selben Boden getragen, von derselben Luft umflossen und vom
selben Licht beschienen hauchten die Figuren des Mannes und Weibes Tod
und bitterste Kühle aus, indessen goldig und frohlockend in ihrer Mitte
das Kind selig wie im eigenen Lichte leuchtete. Und wenn später, seinem
eigenen bescheidenen Urteil entgegen, einige Bewunderer den Maler
dennoch zu den wirklich Großen rechneten, so taten sie es vor allem
dieses Bildes wegen, das so schmerzlich voll von Seele war, obwohl es
nichts zu sein begehrte als ein vollkommenes Stück Handwerk.

In diesen Stunden wußte Veraguth nichts von Schwäche und Angst, nichts
von Leid und Schuld und verfehltem Leben. Er war nicht froh noch
traurig, von seinem Werk gebannt und aufgesogen atmete er die kalte Luft
schöpferischer Einsamkeit und begehrte nichts von der Welt, die ihm
versunken und vergessen war. Rasch und sicher, mit vor Anstrengung
vorquellenden Augen, setzte er in kleinen, schneidigen Drückern die
Farbe hin, trieb einen Schatten tiefer zurück, löste ein schwebendes
Blatt, eine spielende Locke freier und weicher im Lichte auf. Dabei
dachte er nicht im mindesten an das, was sein Bild ausdrückte. Das war
erledigt, das war eine Idee, ein Einfall gewesen; jetzt ging es nicht um
Bedeutungen, Gefühle und Gedanken, sondern um reine Wirklichkeit. Er
hatte sogar den Ausdruck der Gesichter wieder abgeschwächt und nahezu
ausgelöscht, es lag ihm nichts am Dichten und Erzählen, und die um ein
Knie gebauschte Mantelfalte war ihm so wichtig und heilig wie die
gesenkte Stirn und der geschlossene Mund. Auf dem Bilde sollte nichts zu
sehen sein als drei Menschen in vollkommenster Gegenständlichkeit, jeder
durch Raum und Luft den andern verbunden, jeder dennoch umflossen von
der Einzigkeit, die jedes tiefgeschaute Gebilde aus der nebensächlichen
Welt der Beziehungen losreißt und den Beschauer mit schauerndem
Erstaunen über die schicksalhafte Notwendigkeit jeder Erscheinung
erfüllt. So blicken uns aus Bildern toter Meister fremde
Menschengestalten, deren Namen wir nicht wissen und nicht zu wissen
begehren, überlebendig und rätselhaft wie Sinnbilder alles Seins
entgegen.

Das Bild war weit gefördert und nahezu fertig. Das Vollenden der süßen
Kindergestalt hatte er sich zum Schlusse aufbehalten, daran dachte er
morgen oder übermorgen zu gehen.

Die Mittagszeit war überschritten, als der Maler Hunger verspürte und
auf die Uhr sah. Er wusch sich eilig, kleidete sich um und ging ins
Herrschaftshaus hinüber, wo er seine Frau ganz allein am Tische wartend
fand.

„Wo sind die Buben?“ fragte er verwundert.

„Sie sind ausgefahren. War Albert denn nicht bei dir?“

Nun erst fiel ihm Alberts Besuch wieder ein. Zerstreut und etwas
befangen begann er zu essen. Frau Adele beobachtete ihn, wie er
unachtsam und müde die Speisen zerschnitt. Sie hatte ihn eigentlich
nicht mehr zu Tische erwartet und es überraschte sie seinem
überanstrengten Gesichte gegenüber eine Art von Mitleid. Sie schwieg und
legte ihm vor, schenkte ihm Wein ins Glas, und er, eine unbestimmte
Freundlichkeit erfühlend, nahm sich zusammen, ihr etwas Angenehmes zu
sagen.

„Will Albert eigentlich Musiker werden?“ fragte er. „Ich glaube, er hat
viel Talent.“

„Ja, er ist begabt. Aber ich weiß nicht, ob er zum Künstler passen
würde. Zu wünschen scheint er es nicht. Er hat bis jetzt noch zu keinem
Beruf besondere Lust und sein Ideal wäre eine Art von Gentleman, der
gleichzeitig Sport und Studien, Geselligkeit und Kunst betriebe. Leben
wird er davon schwerlich können, das werde ich ihm mit der Zeit
klarmachen müssen. Einstweilen ist er ja fleißig und hat gute Manieren,
da mag ich ihn nicht unnütz stören und unruhig machen. Wenn er seine
Maturität gemacht hat, will er ohnehin zuerst Soldat werden. Später
sieht man weiter.“

Der Maler schwieg. Er schälte eine Banane und roch befriedigt an der
reifen, nahrhaft und mehlig duftenden Frucht.

„Wenn es dich nicht stört, möchte ich noch den Kaffee hier nehmen,“
sagte er schließlich.

Sein Ton war von schonender Freundlichkeit und etwas müde, als behage es
ihm, hier auszuruhen und es ein wenig gut zu haben.

„Ich lasse ihn sofort bringen. – Du hast viel gearbeitet?“

Das war ihr entschlüpft, beinahe ohne daß sie es wußte. Sie wollte
eigentlich nichts damit sagen; sie wollte nur, da es eben eine seltne
gute Stunde war, ein wenig Aufmerksamkeit zeigen, und das fiel nicht
leicht, da die Gewohnheit fehlte.

„Ja, ich habe ein paar Stunden gemalt,“ sagte ihr Mann trocken.

Es störte ihn, daß sie das fragte. Es war zwischen ihnen Sitte geworden,
daß von seiner Arbeit nie geredet werde, und viele von seinen neueren
Bildern hatte sie überhaupt nie gesehen.

Sie fühlte, daß der helle Augenblick verrinne, und sie tat nichts, ihn
zu halten. Und er, der schon die Hand nach seinem Etui ausgestreckt
hatte, um sich die Erlaubnis zu einer Zigarette zu erbitten, ließ die
Hand wieder sinken und hatte die Lust dazu verloren.

Doch trank er ohne Eile seinen Kaffee, tat noch eine Frage nach Pierre,
dankte mit Höflichkeit und blieb noch einige Minuten im Zimmer, ein
kleines Bild betrachtend, das er seiner Frau vor manchen Jahren
geschenkt hatte.

„Es hält sich gut,“ sagte er, halb zu sich selbst, „und sieht noch ganz
hübsch aus. Nur die gelben Blumen sind eigentlich entbehrlich, sie
ziehen zuviel Helligkeit da herüber.“

Frau Veraguth sagte nichts; es waren zufällig gerade die äußerst duftig
und fein gemalten gelben Blumen, die sie an dem Bilde vor allem gern
hatte.

Er wandte sich um und lächelte leicht.

„Auf Wiedersehen! Und langweile dich nicht zu sehr, bis die Jungen
zurückkommen.“

Damit ging er hinaus und die Treppe hinab. Unten sprang der Hund an ihm
in die Höhe. Er nahm seine Tatzen in die linke Hand zusammen,
streichelte ihn mit der rechten und sah ihm in die eifrigen Augen. Dann
rief er durchs Küchenfenster nach einem Stück Zucker, gab es dem Hunde,
warf einen Blick auf den sonnigen Rasenplatz und ging langsam ins
Atelier hinüber. Es war heute hübsch hier draußen, und eine herrliche
Luft; aber er hatte keine Zeit, er mußte arbeiten.

Im stillen, aufgelösten Licht der hohen Werkstatt stand sein Bild. Auf
einer grünen Fläche mit wenigen kleinen Wiesenblumen saßen die drei
Figuren: der Mann gebückt und in ein hoffnungsloses Grübeln vergraben,
die Frau ergeben wartend in enttäuschter Freudlosigkeit, das Kind hell
und arglos in den Blumen spielend, und über ihnen allen ein intensives,
wogendes Licht, das triumphierend im Raume flutete und in jedem
Blumenkelch mit derselben unbekümmerten Innigkeit aufstrahlte wie im
lichten Haar des Knaben und in dem kleinen Goldschmuck am Halse der
betrübten Frau.



                            Neuntes Kapitel


Der Maler hatte bis gegen den Abend weitergearbeitet. Nun saß er, die
Hände im Schoß und stumpf vor Ermüdung, eine Weile zusammengesunken im
Armstuhl, vollkommen leer und ausgepreßt, mit erschlafften Wangen und
etwas entzündeten Augenlidern, alt und fast leblos wie ein Bauer oder
Holzhauer nach der schwersten körperlichen Arbeit.

Am liebsten wäre er so sitzengeblieben und hätte sich ganz der Müdigkeit
und der Schlafsehnsucht überlassen. Seine herrische Zucht und Gewohnheit
verlangte es aber anders, und er raffte sich nach einer Viertelstunde
mit einem Ruck zusammen. Er stand auf, ohne mehr einen Blick nach dem
großen Bilde hin zu tun, ging zur Badestelle am Weiher, zog sich aus und
schwamm langsam um den See.

Es war ein milchig bleicher Abend, vom nächsten Feldwege her kam, durch
den Park gedämpft, das Geräusch knarrender Heuwagen und das
schwerfällige Rufen und Lachen müdgearbeiteter Knechte und Mägde
herübergeklungen. Fröstelnd stieg Veraguth ans Land, rieb sich
sorgfältig warm und trocken, ging in sein kleines Wohnzimmer und zündete
eine Zigarre an.

Er hatte diesen Abend Briefe schreiben wollen, nun rückte er unschlüssig
an der Tischlade, schob sie aber ärgerlich wieder zu und schellte nach
Robert.

Der Diener kam gelaufen.

„Sagen Sie, wann sind die jungen Leute mit dem Wagen zurückgekommen?“

„Noch nicht, Herr Veraguth.“

„Was, sie sind noch gar nicht zurück?“

„Nein, Herr Veraguth. Wenn Herr Albert nur den Braunen nicht zu sehr
strapaziert hat, er fährt gern ein wenig streng.“

Sein Herr gab keine Antwort. Er hatte sich gewünscht, noch ein halbes
Stündlein Pierre bei sich zu haben, den er längst heimgekehrt glaubte.
Nun war er über die Nachricht ärgerlich und etwas erschrocken.

Er lief ins Herrenhaus hinüber und klopfte am Zimmer seiner Frau. Sie
begrüßte ihn erstaunt, es war seit langem nicht geschehen, daß er sie
hier und um diese Zeit aufsuchte.

„Entschuldige,“ sagte er in unterdrückter Erregtheit, „aber wo ist
Pierre?“

Frau Adele sah ihren Mann verwundert an.

„Die Jungen sind mit dem Wagen fort, du weißt ja.“

Da sie seine Gereiztheit fühlte, fügte sie bei: „Du wirst doch nicht
ängstlich sein?“

Er zuckte ärgerlich die Achseln.

„Ach nein. Aber ich finde es rücksichtslos von Albert. Er sprach von ein
paar Stunden. Wenigstens hätte er uns telephonieren können.“

„Es ist ja noch früh. Sie werden gewiß zum Abendessen da sein.“

„Immer ist der Kleine weg, wenn ich ihn einmal ein bißchen haben
möchte!“

„Es hat keinen Sinn, daß du dich so ärgerst. Es ist doch der reine
Zufall. Pierre ist oft genug bei dir drüben.“

Er biß sich auf die Lippen und ging schweigend hinaus. Sie hatte recht,
es hatte keinen Sinn, sich aufzuregen, es hatte keinen Sinn, lebhaft zu
sein und etwas vom Augenblick zu verlangen! Es war besser, in geduldiger
Gelassenheit zu sitzen, wie sie es tat!

Zornig ging er zum Hof hinaus und auf die Landstraße. Nein, er wollte
das nicht lernen, er wollte seine Freude und wollte seinen Zorn haben!
Wie hatte diese Frau ihn schon gedämpft und still gemacht, wie war er
schon beherrscht und alt geworden, er, der früher gewohnt gewesen war,
frohe Tage lärmend in die tiefe Nacht hineinzuziehen und im Ärger die
Stühle zu zerschmettern! Aller Groll und alle Bitterkeit kam wieder in
ihm auf, und zugleich ein sehnliches Verlangen nach seinem Knaben,
dessen Blick und Stimme allein ihn froh machen konnten.

Mit großen Schritten lief er auf der abendlichen Straße dahin.
Wagenrollen wurde hörbar und er eilte gespannt entgegen. Es war nichts.
Ein Bauerngaul mit einem Karren voll Gemüse. Veraguth rief ihn an.

„Haben Sie nicht einen Einspänner überholt, mit zwei jungen Leuten auf
dem Bock?“

Der Bauer schüttelte den Kopf, ohne anzuhalten, und sein schweres Roß
trabte gleichmütig weiter in den sanften Abend hinein.

Im Weitergehen fühlte der Maler seinen Zorn erkalten und hinschwinden.
Seine Schritte wurden ruhiger, die Müdigkeit kam wohlig über ihn, und
während er bequem ausschritt, ruhten seine Augen dankbar in der stillen,
reichen Landschaft aus, die bleich und fein im dunstigen Spätlichte lag.

Er dachte kaum mehr an seine Söhne, als nach einer halben Stunde Gehens
ihm ihr Wagen entgegenkam. Er achtete erst darauf, als er schon nahe
war. Bei einem großen Birnbaum blieb Veraguth stehen, und als er Alberts
Gesicht erkennen konnte, trat er noch mehr zurück, um nicht gesehen und
abgerufen zu werden.

Albert war allein auf dem Bock. Pierre saß halb liegend in einer
Wagenecke, hatte den unbedeckten Kopf gesenkt und schien eingeschlafen.
Der Wagen rollte vorüber und der Maler sah ihm nach, er blieb am Rande
der staubigen Straße stehen, solange der Wagen noch zu sehen war. Dann
kehrte er um und ging den Weg zurück. Er hätte Pierre gerne noch
gesehen, doch war es für den Knaben bald Schlafenszeit, auch hatte
Veraguth keine Lust, sich heute nochmals bei seiner Frau zu zeigen.

So ging er am Park, am Hause und Hoftor vorbei und in die Stadt
hinunter, wo er in einem volkstümlichen Weinkeller sein Abendessen nahm
und in den Zeitungen blätterte.

Indessen waren seine Söhne längst zu Hause. Albert saß bei der Mutter
und erzählte. Pierre war sehr müde gewesen, hatte gar nichts mehr essen
mögen und lag nun schlafend in seinem hübschen kleinen Schlafzimmer. Und
als der Vater in der Nacht zurückkam und am Hause vorüberging, war
nirgends mehr ein Licht zu sehen. Die laue, sternlose Nacht umfing Park,
Haus und See mit schwarzer Stille und aus der regungslosen Luft fielen
feine, leise Regentropfen.

Veraguth machte in seiner Wohnstube Licht und setzte sich an den
Schreibtisch. Sein Verlangen nach Schlaf hatte sich wieder ganz
verloren. Er nahm ein Briefblatt und schrieb an Otto Burkhardt. Durch
die offenen Fenster kamen kleine Nachtfalter und Motten geflogen. Er
schrieb:

Mein Lieber!

Vermutlich erwartest Du jetzt gar keinen Brief von mir. Aber wenn ich
schon schreibe, erwartest Du wieder mehr, als ich geben kann. Du
erwartest, es sei jetzt Klarheit in mich gekommen und ich sähe die
schadhafte Maschinerie meines Lebens so sauber im Querschnitt, wie Du
sie zu sehen meinst. Damit ist es leider nichts. Ein Wetterleuchten ist
ja wohl in mir aufgegangen, seit wir darüber gesprochen haben, und es
starren mir in manchen Augenblicken recht peinliche Enthüllungen
entgegen; aber Tag ist es doch noch nicht geworden.

Was ich also später tun oder lassen werde, kann ich nicht sagen. Aber
wir reisen! Ich fahre mit Dir nach Indien, bitte, besorge mir einen
Schiffsplatz, sobald Du den Termin weißt. Vor dem Ende des Sommers geht
es nicht, aber im Herbst je eher je lieber.

Das Bild mit den Fischen, das Du hier sahest, möchte ich Dir schenken,
aber es wäre mir lieb, wenn es in Europa bliebe. Wohin soll ich es
schicken?

Hier ist alles wie immer. Albert spielt den Weltmann und wir behandeln
einander mit ungeheurer Achtung wie zwei Gesandte feindlicher Mächte.

Ehe wir reisen, erwarte ich Dich noch einmal auf Roßhalde. Ich muß Dir
ein Bild zeigen, das dieser Tage fertig wird. Das Ding ist gut und wäre
ein hübscher Schlußpunkt, falls mich draußen Eure Krokodile fräßen, was
mir übrigens unerwünscht wäre, trotz allem.

Ich muß zu Bett, obwohl ich keinen Schlaf habe. Ich war heute neun
Stunden vor der Staffelei.

                                                          Dein Johann.

Der Brief wurde adressiert und in den Vorraum gelegt, damit ihn Robert
morgens zur Post bringe.

Als der Maler vor dem Schlafengehen den Kopf aus dem Fenster steckte,
nahm er erst das Rauschen des Regens wahr, auf das er am Schreibtisch
nicht geachtet hatte. Es sank in weichen Strähnen aus der Finsternis
herab und er hörte noch lang vom Bett aus zu, wie es fiel und strömte
und von dem beschwerten Laub in kleinen klingenden Güssen zur dürstenden
Erde lief.



                            Zehntes Kapitel


„Pierre ist so langweilig,“ sagte Albert zu seiner Mutter, als sie
miteinander in den vom Regen erfrischten Garten gingen, um Rosen zu
schneiden. „Er hat sich ja die ganze Zeit nicht eben viel aus mir
gemacht, aber gestern war rein gar nichts mit ihm anzufangen! Neulich,
als ich davon sprach, wir wollten einmal eine Wagenfahrt zusammen
machen, da war er ganz begeistert. Und gestern mochte er kaum mitgehen,
ich mußte ihn fast darum bitten. Es war ja kein sehr großes Vergnügen
für mich, da ich nicht beide Pferde nehmen durfte, ich ging eigentlich
überhaupt nur seinetwegen.“

„War er denn unterwegs nicht artig?“ fragte Frau Veraguth.

„Ach, artig war er schon, nur so langweilig! Er hat manchmal direkt
etwas Blasiertes, der Junge. Was ich auch vorschlug und was ich ihm
zeigte oder anbot, war ihm kaum ein Jaja oder ein Lächeln wert, er
wollte nicht auf dem Bock sitzen, er wollte nicht kutschieren lernen,
nicht einmal Aprikosen essen wollte er. Richtig wie ein verwöhnter
Prinz. Es war ärgerlich und ich sage es dir, weil ich ihn wirklich ein
andermal nicht wieder mitnehmen möchte.“

Die Mutter blieb stehen und sah ihn prüfend an; sie mußte über seine
Erregung lächeln und sah mit Befriedigung in seine funkelnden Augen.

„Großer Junge,“ sagte sie begütigend, „du mußt Geduld mit ihm haben.
Vielleicht war er nicht ganz wohl, er hat auch heut früh fast nichts
gegessen. Das kommt bei allen Kindern zuweilen vor, bei dir war’s auch
einmal so. Ein bißchen Magenkatarrh oder eine Nacht mit schlechten
Träumen ist meistens schuld daran, und Pierre ist freilich etwas zart
und empfindlich. Und dann, versteh, ist er vielleicht auch ein wenig
eifersüchtig. Du mußt bedenken, er hat mich sonst immer ganz für sich,
und jetzt bist du da und er muß mit dir teilen.“

„Wenn ich doch Ferien habe! Das muß er doch wahrhaftig begreifen, er ist
ja nicht dumm!“

„Er ist ein kleines Kind, Albert, und du mußt schon der Gescheitere
sein.“

Es tropfte noch von den frisch metallen glitzernden Blättern. Sie gingen
den gelben Rosen nach, die Albert besonders liebte. Er bog die Kronen
der Bäumchen auseinander und die Mutter schnitt mit der Gartenschere die
Blumen ab, die noch etwas nüchtern und verregnet herabhingen.

„War ich eigentlich Pierre ähnlich, als ich in seinem Alter war?“ fragte
Albert nachdenklich.

Frau Adele besann sich. Sie ließ die Hand mit der Schere sinken, sah dem
Sohn in die Augen und schloß dann die ihren, um sein Knabenbildnis in
sich wachzurufen.

„Du warst ihm äußerlich ziemlich ähnlich, bis auf die Augen, und du
warst weniger dünn und schlank, das Wachsen kam bei dir etwas später.“

„Und sonst? Ich meine innerlich?“

„Nun, Launen hast du auch gehabt, mein Junge. Aber ich glaube, du warst
doch beständiger, du hast deine Spiele und Arbeiten nicht so rasch
gewechselt wie Pierre. Er ist auch überschwenglicher, als du warst, er
ist weniger im Gleichgewicht.“

Albert nahm der Mutter die Schere aus der Hand und beugte sich suchend
über einen Rosenstrauch.

„Pierre hat mehr von Papa,“ sagte er leise. „Du, Mutter, das ist so
merkwürdig, wie in den Kindern sich die Eigenschaften ihrer Eltern und
Vorfahren wiederholen und vermischen! Meine Freunde sagen, jeder Mensch
habe schon als kleines Kind alles in sich, was sein ganzes Leben
bestimmt, und man könne gar nichts dagegen tun, einfach gar nichts. Wenn
zum Beispiel einer die Anlage zum Dieb oder Mörder in sich hat, so hilft
alles nichts, er muß und muß ein Verbrecher werden. Es ist eigentlich
furchtbar. Du glaubst doch auch daran? Es ist vollkommen
wissenschaftlich.“

„Das ist mir einerlei,“ lächelte Frau Adele. „Wenn jemand ein Verbrecher
geworden ist und Menschen umgebracht hat, so kann die Wissenschaft
vielleicht nachweisen, daß das schon immer in ihm gesteckt hat. Aber ich
zweifle gar nicht daran, daß es sehr viele rechtschaffene Leute gibt,
die von Eltern und Voreltern her Böses genug geerbt haben und doch gut
bleiben, und das kann die Wissenschaft nicht gut untersuchen. Eine gute
Erziehung und ein guter Wille ist mir sicherer als alle Vererbungen. Was
recht und anständig ist, das wissen wir und können es lernen, und daran
muß man sich halten. Was man aber etwa von vorväterlichen Geheimnissen
in sich hat, das weiß niemand genau und es ist besser, damit nicht viel
zu rechnen.“

Albert wußte, daß seine Mama sich auf dialektische Dispute niemals
einlasse, und sein Wesen gab ihrer einfachen Denkart eigentlich
instinktmäßig recht. Doch spürte er wohl, daß damit das gefährliche
Thema keineswegs erledigt sei, und er hätte nun gerne etwas Gründliches
über jene Lehre von der Kausalität gesagt, die ihm aus den Reden einiger
Freunde immer so sehr eingeleuchtet hatte. Doch besann er sich vergebens
auf feste, klare, stichhaltige Sätze, auch fühlte er – im Gegensatz zu
jenen Freunden, die er doch bewunderte – sich eigentlich viel mehr für
eine moralische oder auch ästhetische Betrachtung der Dinge begabt als
für die wissenschaftlich vorurteilslose, zu der er sich unter seinen
Studiengenossen bekannte. So ließ er denn diese Dinge auf sich beruhen
und ging den Rosen nach.

Unterdessen war Pierre, der sich wirklich nicht wohl fühlte und am
Morgen weit später als sonst und ohne Lebensfreude erwacht war, so lange
im Kinderzimmer bei seinen Spielsachen geblieben, bis es ihm langweilig
wurde. Es war ihm ziemlich elend zumute und ihm schien, es müsse heute
schon etwas Besonderes geschehen und sich einfinden, damit dieser
geschmacklose Tag erträglich und ein bißchen hübsch werde.

Unruhig zwischen Erwartung und Mißtrauen ging er aus dem Hause und in
den Lindengarten, auf der Suche nach irgend etwas Neuem, nach
irgendeinem Fund oder Abenteuer. Sein Magen war öde, das kannte er aus
früheren Erfahrungen, und sein Kopf war müde und schwer, wie er ihn noch
nie gefühlt hatte, und am liebsten hätte er sich an der Mutter Knie
geflüchtet und geheult. Allein das ging nicht, solange der stolze, große
Bruder da war, der ihn ohnehin immer fühlen ließ, daß er noch ein
kleiner Bub sei.

Wenn es nur der Mutter eingefallen wäre, von sich aus etwas zu tun, ihm
zu rufen und ihm ein Spiel vorzuschlagen und nett mit ihm zu sein. Aber
die war jetzt natürlich wieder mit Albert gegangen. Pierre fühlte, es
war heute ein Unglückstag und wenig zu hoffen.

Er schlenderte unentschlossen und mißmutig die Kieswege entlang, den
welken Stiel einer Lindenblüte zwischen den Zähnen und die Hände in den
Taschen. Es war frisch und feucht im morgendlichen Garten, und der Stiel
schmeckte bitter. Er spie ihn aus und blieb verdrießlich stehen. Nichts
wollte ihm einfallen, er mochte heute nicht Prinz noch Räuber, nicht
Fuhrmann noch Baumeister sein.

Mit gerunzelter Stirne schaute er am Boden umher, stocherte mit den
Schuhspitzen im Kies und schleuderte eine graue schleimige Wegschnecke
mit dem Fuß weit fort ins nasse Gras. Es wollte nichts zu ihm sprechen,
kein Vogel noch Schmetterling, nichts wollte ihn anlachen und ihn zur
Fröhlichkeit verführen. Alles schwieg, alles sah alltäglich,
hoffnungslos und schäbig aus. Er versuchte am nächsten Strauch eine
kleine hellrote Johannisbeertraube; sie schmeckte kalt und sauer. Man
sollte sich hinlegen und schlafen, dachte er, so lange schlafen, bis
alles wieder neu und schön und lustig aussähe. Es hatte ja keinen Sinn,
da herumzugehen und sich zu plagen und auf Dinge zu warten, die doch
nicht kommen wollten. Wie schön könnte es sein, wenn zum Beispiel etwa
ein Krieg ausgebrochen wäre und eine Menge Soldaten zu Pferde auf der
Straße herankämen, oder wenn irgendwo ein Haus in Flammen stände oder
eine große Überschwemmung wäre. Ach, diese Sachen standen alle nur in
den Bilderbüchern, in Wirklichkeit bekam man sie nie vor Augen und
vielleicht gab es sie gar nicht.

Seufzend schlenderte der Knabe weiter, das hübsche, zarte Gesicht
erloschen und voll Kummer. Als er jenseits der hohen Spalierwand die
Stimme Alberts und der Mutter hörte, überfiel ihn Eifersucht und
Widerwillen so stark, daß er Tränen in die Augen bekam. Er kehrte um und
ging ganz leise, um nicht gehört und angerufen zu werden. Er wollte
jetzt niemand Rede stehen, er wollte von niemand zum Reden und Aufmerken
und Artigsein genötigt werden. Es ging ihm schlecht, jämmerlich
schlecht, und niemand kümmerte sich um ihn, so wollte er wenigstens die
Vereinsamung und Trauer auskosten und sich richtig elend fühlen.

Er dachte auch an den lieben Gott, den er zu Zeiten sehr schätzte, und
einen Augenblick brachte der Gedanke einen fernen Schimmer von Trost und
Wärme, aber das sank schnell wieder unter. Wahrscheinlich war es mit dem
lieben Gott auch nichts. Und doch hätte er gerade jetzt so sehr jemand
gebraucht, auf den ein Verlaß war und von dem man sich etwas Hübsches
und Tröstliches versprechen durfte.

Da fiel ihm der Vater ein. Es war ein ahnungsvolles Gefühl, daß der ihn
vielleicht verstehen könnte, da er selber meistens still und gespannt
und unfroh aussah. Der Vater stand ohne Zweifel, so wie immer, in seinem
großen, stillen Atelier drüben und malte an seinen Bildern. Da war es
eigentlich nicht gut, ihn zu stören. Aber er hatte ja erst ganz kürzlich
gesagt, Pierre solle nur immer zu ihm kommen, wenn es ihn gelüste.
Vielleicht hatte er es wieder vergessen, alle Erwachsenen vergaßen ja
ihre Versprechungen immer so bald wieder. Aber versuchen konnte man es
einmal. Lieber Gott, wenn man doch durchaus keinen anderen Trost wußte
und es so nötig hatte!

Langsam erst, dann in aufglimmender Hoffnung rascher und straffer ging
er den schattigen Weg zum Atelier. Da nahm er die Türklinke in die Hand
und blieb stehen, um zu lauschen. Ja, der Papa war drinnen, er hörte ihn
schnauben und räuspern, und er hörte das hölzerne Geräusch der fein
klappernden Pinselstiele, die er in der Linken hielt.

Vorsichtig drückte er die Klinke herab, öffnete die Türe geräuschlos und
steckte den Kopf hinein. Der heftige Geruch von Terpentin und Lack war
ihm zuwider, aber des Vaters breite, starke Gestalt erweckte Hoffnung.
Pierre trat ein und schloß die Türe hinter sich.

Beim Einschnappen der Klinke zuckte der Maler, von Pierre aufmerksam
beobachtet, mit den breiten Schultern und wendete den Kopf zurück. Die
scharfen Augen blickten beleidigt und fragend herüber und der Mund stand
unangenehm offen.

Pierre rührte sich nicht. Er sah dem Vater in die Augen und wartete.
Alsbald wurden dessen Augen freundlicher und sein böses Gesicht kam in
Ordnung.

„Sieh da, Pierre! Wir haben uns einen ganzen Tag nicht gesehen. Hat Mama
dich hergeschickt?“

Der Kleine schüttelte den Kopf und ließ sich küssen.

„Willst du ein wenig bei mir sein und zusehen?“ fragte der Vater
freundlich. Zugleich wandte er sich wieder seinem Bilde zu und zielte
scharf mit einem spitzen Pinselchen auf einen Fleck. Pierre sah zu. Er
sah den Maler auf seine Leinwand blicken, sah seine Augen gespannt und
wie zornig starren und seine starke, nervöse Hand mit dem dünnen Pinsel
zielen, er sah ihn die Stirnfalten spannen und die Unterlippe mit den
Zähnen fassen. Dazu roch er die scharfe Werkstattluft, die er nie gern
gehabt hatte und die ihm heut besonders widerlich war.

Seine Augen erloschen und er blieb wie gelähmt bei der Türe stehen. Er
kannte das alles, diesen Geruch und diese Augen und diese Grimassen der
Aufmerksamkeit, und er wußte, es war töricht gewesen zu erwarten, daß es
heute anders sei als immer. Der Vater arbeitete, er wühlte in seinen
starkriechenden Farben und dachte an nichts in der Welt als an seine
dummen Bilder. Es war töricht gewesen, hier hereinzukommen.

Die Enttäuschung ließ des Knaben Gesicht erschlaffen. Er hatte es ja
gewußt! Es gab heute keine Zuflucht für ihn, bei der Mutter nicht und
hier erst recht nicht.

Eine Minute lang stand er gedankenlos und traurig und blickte, ohne
etwas zu sehen, auf das große Bild mit den spiegelnd nassen Farben.
Dafür hatte Papa Zeit, für ihn nicht. Er nahm die Klinke wieder in die
Hand und drückte sie nieder, um still davonzugehen.

Veraguth hörte aber das schüchterne Geräusch. Er blickte sich um,
brummte und kam heran.

„Was ist, Pierrot? Nicht davonlaufen! Willst du nicht ein wenig beim
Papa bleiben?“

Pierre zog seine Hand zurück und nickte schwach.

„Hast du mir etwas sagen wollen?“ fragte der Maler freundlich. „Komm,
wir setzen uns zusammen, dann erzählst du mir. Wie war denn die Ausfahrt
gestern?“

„O, es war nett,“ sagte der Kleine artig.

Veraguth fuhr ihm mit der Hand übers Haar.

„Hat es dir nicht gut getan? Du siehst ein bißchen verschlafen aus, mein
Junge! Du hast doch nicht etwa Wein bekommen, gestern? Nein? Also, was
tun wir jetzt? Wollen wir zeichnen?“

Pierre schüttelte den Kopf.

„Ich mag nicht, Papa. Es ist heut so langweilig.“

„So? Du hast gewiß schlecht geschlafen? Wollen wir ein wenig miteinander
turnen?“

„Ich mag nicht. Ich mag nur gerne bei dir sein, weißt du. Aber es riecht
hier so schlecht.“

Veraguth streichelte ihn und lachte.

„Ja, das ist ein Unglück, wenn du keine Farben riechen magst und ein
Malerskind bist. Da wirst du wohl nie ein Maler werden?“

„Nein, ich will auch nicht.“

„Was willst du denn werden?“

„Gar nichts. Am liebsten wär’ ich ein Vogel oder so etwas.“

„Das wäre nicht schlecht. Aber sag mir jetzt, Schatzi, was du gern von
mir haben möchtest. Schau, ich muß an dem großen Bild weiter arbeiten.
Wenn du willst, kannst du dableiben und etwas spielen. Oder soll ich dir
ein Bilderbuch zum Anschauen geben?“

Nein, das war nicht, was er wollte. Er sagte, nur um wieder loszukommen,
er werde jetzt die Tauben füttern gehen, und er merkte genau, daß der
Vater aufatmete und froh war, ihn gehen zu sehen. Er wurde mit einem Kuß
entlassen und ging hinaus. Der Vater zog die Türe zu, und Pierre stand
wieder allein, noch leerer als zuvor. Er irrte quer über den Rasen, wo
er eigentlich nicht gehen sollte, er riß zerstreut und bekümmert ein
paar Blumen ab und sah gleichgültig zu, wie seine hellen, gelben Schuhe
im nassen Grase Flecken bekamen und dunkel wurden. Schließlich warf er
sich, von Verzweiflung überwältigt, mitten in den Rasen, wühlte
schluchzend den Kopf ins Gras und fühlte die Ärmel seiner hellblauen
Bluse naß werden und an den Armen kleben.

Erst als er zu frieren begann, stand er ernüchtert wieder auf und
schlich sich scheu ins Haus.

Bald würde man ihn rufen, und dann würde man sehen, daß er geweint
hatte, und dann würde man die nasse, schmutzige Bluse und die feuchten
Schuhe bemerken und ihn dafür schelten. Feindselig ging er an der
Küchentüre vorüber, er mochte jetzt mit niemand zusammentreffen. Er wäre
am liebsten irgendwo weit fortgewesen, wo gar niemand von ihm wußte und
nach ihm fragte.

Da sah er an einem der selten bewohnten Gastzimmer den Schlüssel
stecken. Er ging hinein, zog die Türe zu, schloß auch die offenstehenden
Fenster und verkroch sich wild und müde und ohne die Schuhe auszuziehen
auf ein großes unüberzogenes Bett. Da blieb er zwischen Weinen und
Schlummern in seinem Jammer liegen. Und als er, nach einer langen Zeit,
seine Mutter im Hof und auf der Treppe nach ihm rufen hörte, gab er
keine Antwort und grub sich trotzig tiefer in die Decke. Die Stimme der
Mutter kam und ging und verklang endlich, ohne daß er sich überwinden
konnte, ihr zu folgen. Zuletzt schlief er mit nassen Wangen ein.

Mittags, als Veraguth zu Tische kam, fragte ihn seine Frau sogleich:
„Hast du denn Pierre nicht mitgebracht?“

Ihr etwas erregter Ton fiel ihm auf.

„Pierre? Ich weiß nichts von ihm. War er denn nicht bei euch?“

Frau Adele erschrak und redete lauter.

„Nein, ich habe ihn seit dem Frühstück nimmer gesehen! Als ich ihn
suchte, sagten mir die Mädchen, sie hätten ihn ins Atelier gehen sehen.
War er denn nicht dort?“

„Ja, er war da, aber nur einen Augenblick, er lief gleich wieder weg.“

Und ärgerlich fügte er hinzu: „Sieht denn kein Mensch im Haus nach dem
Jungen?“

„Wir glaubten, er sei bei dir,“ sagte Frau Adele kurz und gekränkt. „Ich
gehe ihn suchen.“

„Schicke jemand nach ihm! Wir wollen nun doch essen.“

„Ihr könnt ja inzwischen beginnen. Ich gehe selbst suchen.“

Sie ging hastig aus dem Zimmer. Albert stand auf und wollte ihr folgen.

„Bleib hier, Albert,“ rief Veraguth. „Wir sind bei Tische!“

Der Jüngling sah ihn zornig an.

„Ich werde mit Mama essen,“ sagte er trotzig.

Ironisch lächelte ihm der Vater ins erregte Gesicht.

„Meinetwegen, du bist ja Herr im Hause, nicht wahr? Falls du übrigens
Lust hast, wieder einmal mit Messern nach mir zu werfen, so laß dich
bitte nicht durch irgendwelche Vorurteile davon abhalten!“

Der Sohn wurde bleich und stieß seinen Stuhl zurück. Es war das
erstemal, daß der Vater ihn an jene zornige Tat seiner Knabenzeit
erinnerte.

„So darfst du nicht mit mir reden!“ rief er ausbrechend. „Ich dulde es
nicht!“

Veraguth nahm sich ein Stück Brot und aß einen Bissen davon, ohne zu
antworten. Er schenkte sich Wasser ins Glas, trank es langsam aus und
beschloß ruhig zu bleiben. Er tat, als sei er allein, und Albert trat
unschlüssig gegen das Fenster.

„Ich dulde es nicht!“ rief er endlich nochmals, unfähig, seinen Zorn bei
sich zu behalten.

Der Vater streute Salz auf sein Brot. Er sah sich in Gedanken ein Schiff
besteigen und auf endlosen fremden Meeren fahren, weit weg von diesen
unheilbaren Verwirrungen.

„Es ist gut,“ sagte er beinahe friedlich. „Ich sehe, daß es dir
unsympathisch ist, wenn ich mit dir rede. Lassen wir’s doch!“

In diesem Augenblick hörte man draußen einen erstaunten Ausruf und eine
Flut erregter Worte. Frau Adele hatte den Knaben in seinem Schlupfwinkel
entdeckt. Der Maler horchte auf und ging rasch hinaus. Heute schien
alles durcheinander zu gehen.

Er fand Pierre mit schmutzigen Stiefeln in dem zerwühlten Gastbett
liegen, das Gesicht verschlafen und verweint, die Haare wirr, und davor
seine Frau in hilflosem Erstaunen.

„Aber Kind,“ rief sie endlich zwischen Sorge und Ärger, „was machst du
denn? Warum gibst du keine Antwort? Und warum liegst du hier?“

Veraguth richtete den Kleinen auf und sah ihm erschrocken in die
ausdruckslosen Augen.

„Bist du krank, Pierre?“ fragte er zärtlich.

Der Knabe schüttelte verwirrt den Kopf.

„Hast du denn hier geschlafen? Bist du schon lange hier?“

Mit einer dünnen, mutlosen Stimme sagte Pierre: „Ich kann nichts dafür
... Ich habe nichts getan ... Ich habe nur Kopfweh gehabt.“

Veraguth trug ihn auf seinen Armen ins Speisezimmer hinüber.

„Gib ihm einen Teller Suppe,“ sagte er zu seiner Frau. „Du mußt ein
wenig Warmes essen, Kind, das tut gut, du wirst sehen. Du bist gewiß
krank, armer Kerl.“

Er setzte ihn in seinen Sessel, schob ihm ein Kissen in den Rücken und
gab ihm selber mit dem Löffel seine Suppe ein.

Albert saß schweigend und verschlossen.

„Er scheint wirklich krank zu sein,“ sagte Frau Veraguth beinahe
beruhigt, mit dem Gefühl der Mutter, die zu Hilfe und Pflege freudiger
bereit ist als zur Untersuchung und Behandlung ungewöhnlicher Unarten.

„Wir bringen dich nachher zu Bett, iß jetzt nur, mein Herz,“ tröstete
sie zutraulich.

Pierre saß, grau im Gesicht, mit halbwachen Augen und schluckte
widerstandslos, was ihm eingelöffelt wurde. Während der Vater ihn mit
Suppe fütterte, fühlte ihm die Mutter den Puls und war froh, kein Fieber
zu finden.

„Soll ich den Doktor holen?“ fragte Albert, um doch auch etwas zu tun,
mit unfester Stimme.

„Nein, laß nur,“ sagte die Mutter. „Pierre kommt ins Bett und wird fein
warm gewickelt, dann schläft er tüchtig aus und wird morgen wieder
gesund. Nicht wahr, Schatzi?“

Der Kleine hörte nicht zu, und er schüttelte abwehrend den Kopf, als ihm
der Vater noch mehr zu essen geben wollte.

„Nein, zwingen soll er sich nicht dazu,“ sagte die Mutter. „Komm nur
mit, Pierre, wir gehen zu Bett, da wird alles wieder gut.“

Sie nahm seine Hand und er stand schwerfällig auf. Schläfrig folgte er
der Mutter, die ihn mit sich zog. Aber in der Türe blieb er stehen,
verzog das Gesicht und krümmte sich zusammen, und in einem Anfall von
Übelkeit gab er alles wieder von sich, was er eben gegessen hatte.

Veraguth trug ihn ins Schlafzimmer und überließ ihn der Mutter.
Glockenzüge klangen und Dienstboten liefen treppauf und ab. Der Maler aß
einige Bissen, zwischenein lief er zweimal wieder zu Pierre hinüber, der
nun ausgekleidet und gewaschen in seiner messingenen Bettstatt lag. Dann
kam Frau Adele zurück und berichtete, das Kind sei ruhig und ohne
Schmerzen und scheine einschlafen zu wollen.

Der Vater wandte sich an Albert: „Was hat Pierre gestern zu essen
bekommen?“

Albert besann sich, wandte aber seine Antwort an die Mutter.

„Es war nichts Besonderes. In Brückenschwand ließ ich Pierre Brot und
Milch geben, und zum Mittagessen in Pegolzheim bekamen wir Makkaroni und
Koteletten.“

Der Vater fragte inquisitorisch weiter: „Und später?“

„Er wollte nichts mehr nehmen. Am Nachmittag kaufte ich bei einem
Gärtner Aprikosen. Von denen hat er nur eine oder zwei gegessen.“

„Waren sie reif?“

„Ja, natürlich. Du scheinst zu glauben, ich habe ihm absichtlich den
Magen verdorben.“

Die Mutter bemerkte seine Gereiztheit und fragte: „Was habt ihr denn?“

„Nichts,“ sagte Albert.

Veraguth fuhr fort: „Ich glaube gar nichts, ich frage nur. Ist gestern
gar nichts passiert? Hat er nie erbrochen? Oder ist er gefallen? Hat er
nie über Schmerzen geklagt?“

Albert gab mit Ja und Nein knappe Auskunft und wünschte sehnlich, diese
Mahlzeit möchte vorüber sein.

Als der Vater nochmals auf Zehenspitzen in Pierres Schlafzimmer ging,
fand er ihn eingeschlafen. Das blasse Kindergesicht war voll von tiefer
Ernsthaftigkeit und sehnlich inbrünstiger Hingabe an den tröstenden
Schlaf.



                             Elftes Kapitel


An diesem unruhigen Tage malte Johann Veraguth sein großes Bild fertig.
Erschreckt und im Herzen beunruhigt war er von dem kranken Pierre
gekommen und es war ihm schwerer als je geworden, die in ihm arbeitenden
Gedanken zu bändigen und jene vollkommene Ruhe zu finden, die das
Geheimnis seiner Kraft war und die er so teuer bezahlen mußte. Aber sein
Wille war stark, es gelang ihm, und das Bild bekam in den Stunden des
Nachmittags, bei einem schönen, weichen Lichte, die letzten kleinen
Korrekturen und Zusammenziehungen.

Als er die Palette weglegte und sich vor die Leinwand setzte, war ihm
sonderbar öde zumut. Er wußte wohl, daß dies Bild etwas Besonderes sei
und daß er damit viel gegeben habe. Sich selbst aber fühlte er leer und
ausgebrannt. Und er hatte keinen Menschen, dem er sein Werk hätte zeigen
können. Der Freund war weit weg, und Pierre war krank, und sonst hatte
er niemanden. Wirkung und Widerhall seiner Arbeit würde er nur aus
gleichgültiger Ferne zu spüren bekommen, aus Zeitungen und Briefen. Ach,
das war nichts, das war weniger als nichts, der Blick eines Freundes
oder der Kuß einer Geliebten hätte allein ihn jetzt freuen, belohnen und
stärken können.

Eine Viertelstunde stand er still vor seinem Bilde, das die Kraft und
die guten Stunden einiger Wochen in sich getrunken hatte und ihm
leuchtend in die Augen sah, indessen er selbst erschöpft und fremd vor
seinem Werke stand.

„Ach was, ich werde es verkaufen und meine indische Reise davon
bezahlen,“ sagte er in wehrlosem Zynismus. Er schloß die Türen der
Werkstatt zu und ging ins Haus, um nach Pierre zu sehen, den er
schlafend fand. Der Knabe sah besser aus als am Mittag, der Schlaf hatte
sein Gesicht gerötet, der Mund stand halb offen, der Ausdruck von Qual
und Trostlosigkeit war verschwunden.

„Wie rasch das bei Kindern geht!“ sagte er in der Türe flüsternd zu
seiner Frau. Sie lächelte schwach und er sah, daß auch sie aufatme und
daß auch ihre Sorge größer gewesen sei, als sie gezeigt hatte.

Allein mit seiner Frau und Albert zu speisen, schien ihm nicht
verlockend.

„Ich gehe zur Stadt,“ sagte er, „und bin den Abend nicht hier.“

Der kranke Pierre lag schlummernd in seinem Kinderbett, die Mutter
verdunkelte das Zimmer und ließ ihn allein.

Ihm träumte, er gehe langsam durch den Blumengarten. Es war alles ein
wenig verändert und viel größer und weiter als sonst, er ging und ging
und kam an kein Ende. Die Beete waren schöner, als er sie je gesehen
hatte, aber die Blumen sahen alle sonderbar gläsern, groß und fremdartig
aus und das Ganze glänzte in einer traurig toten Schönheit.

Etwas beklommen umging er ein Rondell mit großblumigen Sträuchern, ein
blauer Schmetterling hing ruhig saugend an einer weißen Blüte. Es war
unnatürlich still, und auf den Wegen lag kein Kies, sondern etwas
Weiches, worauf man wie auf Teppichen ging.

Jenseits kam ihm seine Mama entgegen. Aber sie sah ihn nicht und nickte
ihm nicht zu, sie schaute streng und traurig in die Luft und ging
lautlos vorüber wie ein Geist.

Und bald darauf, auf einem anderen Wege, sah er ebenso den Vater gehen,
und später Albert, und jeder ging still und streng geradeaus und keiner
wollte ihn sehen. Verzaubert liefen sie einsam und steif umher, und es
schien, als müsse es allezeit so bleiben, als werde nie ein Blick in
ihre starren Augen und nie ein Lachen in ihre Gesichter kommen, als
werde niemals ein Ton in diese undurchdringliche Stille wehen und nie
der leiseste Wind die regungslosen Zweige und Blätter rühren.

Das Schlimmste war, daß er selber nicht zu rufen vermochte. Er war durch
nichts daran gehindert, es tat ihm nichts weh, aber er hatte keinen Mut
und keinen rechten Willen dazu; er sah ein, daß alles so sein müsse und
daß es nur noch schrecklicher würde, wenn man sich dagegen auflehnte.

Pierre spazierte langsam weiter durch die seelenlose Gartenpracht,
glänzend standen tausend herrliche Blumen in der hellen, toten Luft, als
wären sie nicht wirklich und lebendig, und von Zeit zu Zeit traf er
Albert oder die Mutter oder den Vater wieder an und sie wandelten an ihm
und aneinander stets in derselben starren Fremdheit vorüber.

Ihm schien, als sei es so schon lange Zeit, vielleicht Jahre, und jene
anderen Zeiten, da die Welt und der Garten lebendig und die Menschen
froh und gesprächig gewesen waren und er selber voll Lust und Wildheit,
jene Zeiten lägen undenkbar weit in einer tiefen, blinden Vergangenheit.
Vielleicht war es immer so gewesen wie jetzt, und das Frühere war nur
ein hübscher, närrischer Traum.

Schließlich kam er an ein kleines steinernes Wasserbecken, wo der
Gärtner früher die Gießkannen gefüllt und worin er selber einmal ein
paar winzige Kaulquappen gehalten hatte. Das Wasser stand regungslos in
grüner Helle, es spiegelte den Steinrand und die überhängenden Blätter
einer Staude mit gelben Sternblumen und sah hübsch, verlassen und
irgendwie unglücklich aus, wie alles andere.

„Wenn man da hineinfällt, dann ertrinkt man und ist tot,“ hatte der
Gärtner früher einmal gesagt. Es war aber gar nicht tief.

Pierre trat an den Rand des ovalen Beckens und beugte sich vor.

Da sah er sein eigenes Gesicht im Wasser gespiegelt. Es sah aus wie die
Gesichter der anderen: alt und bleich und tief in gleichgültiger Strenge
erstarrt.

Er sah es erschreckt und verwundert, und plötzlich stieg die heimliche
Furchtbarkeit und sinnlose Traurigkeit seines Zustandes übermächtig in
ihm auf. Er versuchte zu schreien, aber es gab keinen Ton. Er wollte
laut aufweinen, aber er konnte nur das Gesicht verziehen und hilflos
grinsen.

Da kam sein Vater wieder gegangen, und Pierre wendete sich zu ihm in
einer ungeheuren Anstrengung aller gebannten Seelenkräfte. Alle
Todesangst und alles unerträgliche Leid seines verzweifelten Herzens
flüchtete sich in stummem Schluchzen hilfebegehrend zum Vater, der in
seiner gespenstischen Ruhe herankam und ihn wieder nicht zu sehen
schien.

„Vater!“ wollte der Knabe rufen, und obwohl kein Ton zu hören war, drang
doch die Gewalt seiner furchtbaren Not zu dem stillen Einsamen hinüber.
Der Vater wendete das Gesicht und sah ihn an.

Er sah ihm aufmerksam mit seinem suchenden Malerblick in die flehenden
Augen, er lächelte schwach und er nickte ihm leise zu, gütig und
bedauernd, aber ohne Trost, als sei hier durchaus nicht zu helfen. Einen
kleinen Augenblick lief ein Schatten von Liebe und von verwandtem Leid
über sein strenges Gesicht, und in diesem kleinen Augenblick war er
nicht der mächtige Vater mehr, sondern eher ein armer, hilfloser Bruder.

Dann richtete er den Blick wieder geradeaus und ging langsam in
demselben gleichmäßigen Schritt davon, den er nicht unterbrochen hatte.

Pierre sah ihn gehen und verschwinden, der kleine Weiher und der Weg und
der Blumengarten wurden dunkel vor seinen entsetzten Augen und sanken
dahin wie Nebelgewölk. Er erwachte mit schmerzenden Schläfen und
brennend trockener Kehle, sah sich allein im dämmerigen Stübchen zu
Bette liegen, versuchte verwundert zurück zu denken, fand aber keine
Erinnerungen und legte sich erschöpft und mutlos auf die andere Seite.

Nur langsam kam ihm das volle Bewußtsein wieder und ließ ihn aufatmen.
Es war häßlich, krank zu sein und Kopfschmerzen zu haben, aber es war zu
ertragen, und es war leicht und süß im Vergleich mit dem tödlichen
Gefühl des Angsttraumes.

„Wozu soll all die Quälerei gut sein?“ dachte Pierre und kroch unter der
Decke eng zusammen. Wozu wurde man krank? Wenn es eine Strafe war – für
was sollte er denn gestraft werden? Er hatte nicht einmal etwas
Verbotenes gegessen, wie früher einmal, wo er sich an halbreifen
Pflaumen verdorben hatte. Die waren ihm verboten gewesen, und da er sie
trotzdem gegessen hatte, geschah es ihm recht und er mußte die Folgen
tragen. Das war klar. Aber jetzt? Warum lag er jetzt im Bett, warum
hatte er erbrechen müssen und warum stach es so jammervoll in seinem
Kopf?

Er war lange wach gelegen, als seine Mutter wieder ins Zimmer kam. Sie
zog den Vorhang am Fenster zurück, weiches Abendlicht floß voll und mild
herein.

„Wie geht’s, Liebling? Hast du schön geschlafen?“

Er gab keine Antwort. Auf der Seite liegend, wendete er die Augen empor
und blickte sie an. Verwundert hielt sie dem Blick stand, er war
merkwürdig prüfend und ernsthaft.

„Kein Fieber,“ dachte sie getröstet.

„Willst du jetzt etwas zu essen haben?“

Pierre schüttelte schwach den Kopf.

„Kann ich dir nichts bringen?“

„Wasser,“ sagte er leise.

Sie gab ihm zu trinken, doch nahm er nur einen Vogelschluck, dann schloß
er die Augen wieder.

Plötzlich klang von Mutters Zimmer her rauschend das Klavier. In breiter
Woge schwollen die Töne heran.

„Hörst du?“ fragte Frau Adele.

Pierre hatte die Augen weit geöffnet und sein Gesicht verzog sich wie in
Qualen.

„Nicht!“ rief er, „nicht! Laßt mich doch!“

Und er hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und wühlte den Kopf ins
Kissen ein.

Seufzend ging Frau Veraguth hinüber und bat Albert, er möge nicht
weiterspielen. Sie kam zurück und blieb an Pierres Bettchen sitzen, bis
er wieder eingeschlummert war.

Diesen Abend war es ganz still im Hause. Veraguth war fort, Albert war
verstimmt und litt darunter, daß er nicht Klavier spielen durfte. Man
ging früh zu Bett und die Mutter ließ ihre Türe offen stehen, um Pierre
zu hören, falls er in der Nacht etwas brauche.



                            Zwölftes Kapitel


Der Maler hatte am Abend bei seiner Rückkehr aus der Stadt sein Haus
aufmerksam umschlichen und mit Sorge gespäht und gelauscht, ob nicht ein
erleuchtetes Fenster, ein Türengehen, eine Stimme ihm verkünde, daß sein
Liebling noch krank sei und leide. Als er alles still, beruhigt und
schlafend fand, fiel die Angst von ihm ab wie ein schweres, nasses
Kleid, und dankbar lag er noch lange wach. Und noch kurz vor dem späten
Einschlummern mußte er lächeln und sich wundern, wie wenig dazu gehöre,
um ein verzagtes Herz froh zu machen. Alles, was ihn plagte und
beschwerte, die ganze dumpfe, trübe Last seines Lebens ward zu nichts,
ward leicht und unbedeutend neben der Liebessorge um sein Kind, und kaum
sah er diesen schlimmen Schatten weichen, da schien ihm alles heller und
alles erträglich zu sein.

In guter Stimmung kam er am Morgen zu ungewohnt früher Stunde ins Haus,
fand voll Dankbarkeit den Kleinen noch prächtig schlafend und nahm das
Frühstück mit seiner Frau allein, denn auch Albert war noch nicht
aufgestanden. Es war seit Jahren das erstemal, daß Veraguth zu dieser
Stunde hier im Hause und an Frau Adeles Tische war, und sie beobachtete
ihn mit fast mißtrauischem Erstaunen, wie er freundlich und wohlgelaunt,
als sei es die alltäglichste Sache, um eine Tasse Kaffee bat und wie in
alten Zeiten ihr Frühstück teilte.

Schließlich fiel ihm selber ihre abwartende Spannung und das Ungewohnte
der Stunde auf.

„Ich bin so froh,“ sagte er mit einer Stimme, die seine Frau an schönere
Jahre erinnerte. „Ich bin so froh, daß unser Kleiner wieder in Ordnung
zu kommen scheint. Ich merke erst jetzt, daß ich ernstlich um ihn in
Sorge war.“

„Ja, er gefiel mir gestern gar nicht,“ stimmte sie bei.

Er spielte mit dem silbernen Kaffeelöffel und sah ihr beinahe schelmisch
in die Augen, mit einem schwachen Abglanz der plötzlich ausbrechenden
und nie lange währenden, knabenhaften Heiterkeit, die sie ehemals an ihm
besonders geliebt und deren zartes Strahlen nur Pierre von ihm geerbt
hatte.

„Ja,“ begann er munter, „es ist wirklich ein Glück. Und jetzt komme ich
auch endlich dazu, über meine neuesten Pläne mit dir zu sprechen. Ich
meine, du solltest im Winter mit den beiden Jungen nach Sankt Moritz
gehen und recht lange dort bleiben.“

Unsicher blickte sie nieder.

„Und du?“ fragte sie. „Willst du dort oben malen?“

„Nein, ich werde nicht mitkommen. Ich werde euch alle eine Weile euch
selber überlassen und verreisen. Ich will im Herbst wegfahren und das
Atelier abschließen. Robert bekommt Urlaub. Es steht dann ganz bei dir,
ob du den Winter hier auf Roßhalde bleiben willst. Ich würde nicht dazu
raten, geh lieber nach Genf oder Paris, und vergiß Sankt Moritz nicht,
das wird Pierre gut tun!“

Ratlos schlug sie die Augen zu ihm auf.

„Du machst Spaß,“ sagte sie ungläubig.

„Ach nein,“ lächelte er halb wehmütig, „das habe ich ganz verlernt. Es
ist mein Ernst und du mußt es schon glauben. Ich will eine Seereise
machen und längere Zeit wegbleiben.“

„Eine Seereise?“

Sie besann sich mit Anstrengung. Seine Vorschläge, seine Andeutungen,
sein fröhlicher Ton, alles war ihr ungewohnt und machte sie mißtrauisch.
Aber plötzlich tat das Wort „Seereise“ eine Vorstellung in ihr auf: sie
sah ihn ein Schiff besteigen, Träger mit Koffern hinterher, sie
erinnerte sich an die Bilder auf Plakaten der Schiffsgesellschaften und
an ihre eigenen Reisen im Mittelmeer, und in einem Augenblick ward ihr
alles durchsichtig.

„Du gehst mit Burkhardt!“ rief sie lebhaft.

Er nickte. „Ja, ich reise mit Otto.“

Beide schwiegen eine Weile. Frau Adele war betroffen und fühlte
ahnungsvoll die Bedeutung der Nachricht. Vielleicht wollte er sie
verlassen und freigeben? Jedenfalls war es ein erster ernsthafter
Versuch nach dieser Seite, und sie erschrak im Herzen darüber, wie wenig
Aufruhr, Sorge und Hoffnung sie dabei empfinde, und wie gar keine
Freude. Mochte für ihn noch ein neues Leben möglich sein, für sie war es
nicht so. Sie würde es mit Albert leichter haben, und sie würde Pierre
gewinnen, ja, aber sie würde eine verlassene Frau sein und bleiben.
Hundertmal hatte sie sich das vorgestellt und es hatte wie Freiheit und
Erlösung ausgesehen; und heute, da es schien, als könne Wirklichkeit
daraus werden, war so viel Bangigkeit und Scham und Schuldgefühl dabei,
daß sie verzagte und keines Wunsches mehr fähig war. Das hätte früher
kommen müssen, fühlte sie, in den Zeiten der Nöte und Stürme, noch ehe
sie Resignation gelernt hatte. Nun kam es zu spät und unnütz, nun war es
nichts mehr als ein Strich unter erledigte Dinge, es war nur noch
Abschluß und bittere Bestätigung alles Verborgenen, Halbeingestandenen,
und es glommen keine Funken neuer Lebenslockung mehr darin.

Veraguth las aufmerksam im beherrschten Gesicht seiner Frau, und sie tat
ihm leid.

„Es soll ein Versuch sein,“ sagte er schonend. „Ihr sollt einmal
ungestört miteinander leben, du und Albert – und auch Pierre, sagen wir
etwa für ein Jahr. Ich dachte mir, es würde dir bequem sein, und für die
Kinder wäre es gewiß ganz gut. Sie leiden doch beide etwas darunter, daß
– – daß wir nicht so recht mit dem Leben fertig geworden sind. Auch uns
selber wird bei einer längeren Trennung alles klarer werden, meinst du
nicht?“

„Es mag sein,“ sagte sie leise. „Dein Entschluß scheint ja
festzustehen.“

„Ich habe Otto schon geschrieben. Es wird mir ja nicht leicht, von euch
allen so lange fortzugehen.“

„Von Pierre, meinst du.“

„Besonders von Pierre, ja. Ich weiß, du wirst gut für ihn sorgen. Ich
kann nicht erwarten, daß du ihm viel von mir sprechen wirst; aber laß es
mit ihm nicht gehen wie mit Albert!“

Sie schüttelte abwehrend den Kopf.

„Das war nicht meine Schuld, du weißt es.“

Vorsichtig legte er ihr die Hand auf die Schulter, mit unbeholfener,
lange nicht geübter Zartheit.

„Ach, Adele, laß uns nicht von Schuld reden. Es soll alle Schuld bei mir
sein. Ich will ja gutzumachen versuchen, nichts anderes. Ich bitte nur,
laß mich Pierre nicht verlieren, wenn es sein kann! Durch ihn sind wir
noch verbunden. Sieh zu, daß seine Liebe zu mir ihm nicht schwer gemacht
wird.“

Sie schloß die Augen, als wolle sie sich gegen eine Verführung schützen.

„Wenn du so lange fort bist – –“ sagte sie zögernd. „Er ist ein Kind –“

„Gewiß. Laß ihn ein Kind bleiben! Laß ihn mich vergessen, wenn es nicht
anders geht! Aber denke, er ist ein Pfand, das ich dir lasse, und denke,
ich muß viel Vertrauen haben, um es dir lassen zu können.“

„Ich höre Albert kommen,“ flüsterte sie rasch, „er wird gleich da sein.
Wir reden noch darüber. Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Du gibst
mir Freiheit, mehr als ich je gehabt und je gewünscht, und du legst mir
zugleich eine Verantwortung auf, die mir alle Unbefangenheit nimmt! Laß
mich noch darüber denken. Auch du hast wohl deinen Entschluß nicht in
einer Stunde gefaßt, so laß auch mich ein wenig Zeit haben.“

Man hörte Schritte vor der Türe und Albert kam herein.

Verwundert sah er den Vater dasitzen. Er grüßte unfrei, gab Frau Adele
einen Kuß und setzte sich an den Frühstückstisch.

„Ich habe eine Überraschung für dich,“ fing Veraguth behaglich an. „Die
Herbstferien kannst du mit Mama und Pierre verbringen, wo ihr wollt, und
auch die Weihnachtszeit. Ich werde mehrere Monate auf Reisen sein.“

Der Jüngling konnte seine Freude nicht verbergen, doch gab er sich Mühe
und sagte eifrig: „Wohin willst du denn reisen?“

„Ich weiß noch nicht genau. Zunächst fahre ich mit Burkhardt nach
Indien.“

„O, so weit fort! Ein Schulfreund von mir ist dort geboren, ich glaube
in Singapore. Da gibt es noch Tigerjagden.“

„Ich hoffe, ja. Wenn ich einen schieße, bringe ich das Fell natürlich
mit. Aber hauptsächlich will ich dort malen.“

„Das kann ich mir denken. Ich las von einem französischen Maler, der
irgendwo in den Tropen war, auf so einer Insel in der Südsee, glaube ich
– es muß herrlich sein.“

„Nicht wahr? Und ihr werdet inzwischen vergnügt sein und viel musizieren
und Ski laufen. Aber nun will ich sehen, was der Kleine macht. Laßt euch
nicht stören!“

Er war hinaus, noch ehe jemand geantwortet hatte.

„Manchmal ist Papa doch großartig,“ sagte Albert in seiner Freude.
„Diese Reise nach Indien, das gefällt mir, das hat Stil.“

Seine Mutter lächelte mühsam. Ihr Gleichgewicht war gestört und sie
hatte das Gefühl, auf einem Ast zu sitzen, der eben angesägt wird. Aber
sie schwieg und brachte eine freundliche Miene zusammen, darin hatte sie
Übung.

Der Maler war bei Pierre eingetreten und hatte sich an sein Bett
gesetzt. Leise holte er ein schmales Skizzenbuch hervor und begann den
Kopf und Arm des kleinen Schläfers zu zeichnen. Er wollte, ohne Pierre
mit Sitzungen zu quälen, ihn in dieser Zeit noch so oft und so gut als
immer möglich festhalten und sich einprägen. Mit zärtlicher
Aufmerksamkeit bemühte er sich um die lieben Formen, um den Fall und
Strich des zarten Haares, um die hübschen, nervösen Nasenflügel, um die
dünne, willenlos ruhende Hand und um die eigenwillig rassige Linie des
festgeschlossenen Mundes.

Er sah den Knaben selten im Bett und es war das erstemal, daß er ihn
nicht mit kindlich geöffneten Lippen schlafen sah, und indem er den
frühreifen, ausdrucksvollen Mund beobachtete, fiel ihm die Ähnlichkeit
mit dem Munde seines Vaters, Pierres Großvaters, auf, der ein kühner und
phantasievoller, aber leidenschaftlich rastloser Mensch gewesen war, und
während er schaute und arbeitete, beschäftigte ihn dies sinnvolle Spiel
der Natur mit den Zügen und Schicksalen der Väter, Söhne und Enkel, und
es streifte ihm, der kein Denker war, das sorgenvoll köstliche Rätsel
der Folge und Notwendigkeit die Seele.

Und plötzlich schlug der Schlafende die Augen auf und blickte in die des
Vaters, und wieder fiel es dem Vater auf, wie unkindlich ernsthaft
dieser Blick und dies Erwachen sei. Er hatte den Bleistift sofort
weggelegt und das Büchlein zugeklappt, nun beugte er sich über den
Erwachten, küßte ihm die Stirn und sagte fröhlich: „Guten Morgen,
Pierre. Geht es besser?“

Der Kleine lächelte beglückt und begann sich zu strecken. O ja, es ging
besser, es ging viel besser. Er besann sich langsam. Ja, gestern war er
krank gewesen, er fühlte noch den Schatten des häßlichen Tages
herüberdrohen. Aber nun war es viel besser, er wollte nur noch ein klein
wenig liegen bleiben und die Wärme und ruhige Dankbarkeit dieses
Zustandes kosten, dann würde er aufstehen und frühstücken und mit Mama
in den Garten gehen.

Der Vater ging, um Mama zu holen. Blinzelnd sah Pierre nach dem Fenster,
wo der helle, frohe Tag durch die gelblichen Vorhänge schien. Das war
nun ein Tag, der etwas versprach, der nach allen möglichen Freuden
duftete. Wie war das gestern schal und kalt und dumpf gewesen! Er schloß
die Augen, um das zu vergessen, und fühlte in den schlafträgen Gliedern
das liebe Leben sich dehnen.

Und jetzt kam die Mutter, sie brachte ihm ein Ei und eine Tasse Milch
ans Bett, und Papa versprach ihm neue Farbstifte, und alle waren lieb
und zärtlich und hatten eine Freude daran, ihn wieder gesund zu sehen.
Es war beinahe wie ein Geburtstag, und daß der Kuchen fehlte, schadete
gar nichts, denn richtigen Hunger hatte er noch immer nicht.

Gleich nachdem er angekleidet war, in einen frischen, blauen
Sommeranzug, ging er zu Papa in das Atelier. Er hatte den häßlichen
Traum von gestern vergessen, aber in seinem Herzen zitterte noch ein
Widerhall von Schrecken und Leid, und er mußte nun sehen und genießen,
daß wirklich Sonne und Liebe um ihn war.

Der Vater maß den Rahmen für sein neues Bild aus und empfing ihn voller
Freude. Pierre wollte jedoch nicht lange dableiben, er wollte nur Guten
Tag sagen und sich ein wenig liebhaben lassen. Dann mußte er weiter, zum
Hunde und zu den Tauben, zu Robert und in die Küche, und mußte alles
wieder begrüßen und in Besitz nehmen. Darauf ging er mit Mama und Albert
in den Garten, und es schien ihm ein Jahr vergangen, seit er hier im
Gras gelegen und geweint hatte. Schaukeln mochte er nicht, aber er legte
seine Hand auf das Schaukelbrett, er ging zu den Sträuchern und
Blumenbeeten, und eine dunkle Erinnerung wie aus einem vorigen Leben
wehte ihn an, als sei er einmal hier zwischen den Beeten allein,
verlassen und trostlos irrgelaufen. Nun war alles wieder licht und
lebendig, die Bienen sangen und die Luft war leicht und froh zu atmen.

Er durfte Mutters Blumenkorb tragen, sie taten Nelken und große
Dahlienblumen hinein, daneben aber machte er noch einen besonderen
Strauß, den wollte er später dem Vater bringen.

Als man ins Haus zurückkam, war er müde geworden. Albert erbot sich, mit
ihm zu spielen, aber erst wollte Pierre ein wenig ausruhen. Er setzte
sich tief in Mutters großen Korbstuhl auf der Veranda, den Strauß für
Papa hatte er noch in der Hand.

Er fühlte sich angenehm ermattet, er schloß die Augen, wandte sich gegen
die Sonne und freute sich, wie das Licht ihm rot und warm durch die
Lider schien. Dann blickte er befriedigt an seinem hübschen, reinen
Anzug hinab und streckte seine blanken gelben Schuhe ins Sonnenlicht,
abwechselnd den rechten und den linken. Er fand es schön, so still und
etwas matt in Behaglichkeit und Reinlichkeit zu sitzen, nur die Nelken
dufteten allzu stark. Er legte sie weg und schob sie auf dem Tisch von
sich fort, so weit sein Arm reichte. Er mußte sie bald ins Wasser tun,
damit sie nicht welk würden, ehe der Vater sie sähe.

Mit ungewohnter Zärtlichkeit dachte er an ihn. Wie war das doch gestern
gewesen? Er hatte ihn im Atelier aufgesucht, und Papa hatte gearbeitet
und keine Zeit gehabt, und er war so allein und fleißig und etwas
traurig vor seinem Bilde gestanden. Soweit erinnerte er sich genau an
alles. Aber später? War ihm später nicht der Vater im Garten begegnet?
Er versuchte mit Anstrengung sich zu erinnern. Ja, Vater war im Garten
hin und her gegangen, allein und mit einem fremden, schmerzlichen
Gesicht, und er hatte ihn rufen wollen ... Wie war das gewesen? Es war
irgend etwas Schreckliches oder Grausiges, was gestern geschehen war
oder wovon er gestern gehört hatte, und er konnte es nicht wiederfinden.

Im tiefen Sessel zurückgelehnt ging er seinen Gedanken nach. Die Sonne
schien gelb und warm auf seine Knie, aber die Fröhlichkeit wich ganz
allmählich von ihm. Er fühlte, daß seine Gedanken sich jenem Grausigen
mehr und mehr näherten, und er fühlte: sobald er es gefunden habe, werde
es wieder Macht über ihn haben; es stand hinter ihm und wartete. So oft
seine Erinnerung nahe an jene Grenze kam, stieg ein beklemmendes Gefühl
wie Übelkeit und Schwindel in ihm auf, und sein Kopf begann leise zu
schmerzen.

Die Nelken störten ihn mit ihrem überstarken Geruch. Sie lagen auf dem
sonnigen Korbtisch und wurden welk, und wenn er sie dem Vater noch geben
wollte, so war es jetzt Zeit. Aber er mochte nicht mehr, vielmehr er
mochte schon, aber er war so müde, und das Licht tat ihm in den Augen
weh. Und vor allem mußte er nachdenken, was da gestern geschehen war. Er
spürte, er sei ganz nahe daran und brauche nur mit den Gedanken danach
zu greifen, aber immer schwand es wieder dahin und war weg.

Der Kopfschmerz nahm zu. Ach, warum mußte das sein? Er war doch heut so
vergnügt gewesen!

Frau Adele rief vor der Türe seinen Namen und kam gleich darauf herein.
Sie sah die Blumen an der Sonne liegen und wollte Pierre nach Wasser
schicken, da sah sie ihn an und sah ihn schlaff und eingesunken im
Sessel hängen, und große Tränen auf seinen Wangen.

„Pierre, Kind, was ist? Bist du nicht wohl?“

Er sah sie an, ohne sich zu bewegen, und schloß die Augen wieder.

„Rede doch, Herz, was fehlt dir? Willst du ins Bett? Wollen wir ein
Spiel machen? Hast du Schmerzen?“

Er schüttelte den Kopf und machte ein abwehrendes Gesicht, als belästige
sie ihn.

„Laß mich,“ sagte er flüsternd.

Und da sie ihn aufrichtete und an sich nahm, schrie er, einen Augenblick
wie in Wut aufflackernd, mit entstellter hoher Stimme: „So laß mich
doch!“

Gleich darauf ließ sein Sträuben nach, er sank in ihren Armen zusammen,
und da sie ihn aufhob, stöhnte er schwach, senkte gequält das erbleichte
Gesicht vornüber und schüttelte sich in einem Anfall von Erbrechen.



                          Dreizehntes Kapitel


Seit Veraguth allein in seinem kleinen Neubau wohnte, war seine Frau
kaum jemals bei ihm drüben gewesen. Als sie nun, ohne anzuklopfen,
schnell und erregt in seine Werkstatt trat, war er alsbald auf eine
schlimme Nachricht gefaßt, und so sicher warnte ihn der Instinkt, daß
er, noch ehe sie ein Wort hatte sagen können, herausfuhr: „Ist etwas mit
Pierre?“

Sie nickte hastig.

„Er muß ernstlich krank sein. Er war vorher ganz sonderbar, und eben hat
er wieder erbrochen. Du mußt den Doktor holen.“

Während sie sprach, flog ihr Blick durch den leeren, großen Raum und
blieb an dem neuen Bilde hängen. Sie sah die Figuren nicht, sie erkannte
nicht einmal die Gestalt des kleinen Pierre, sie starrte nur auf die
Leinwand und atmete die Luft des Raumes, in dem ihr Mann seit Jahren
lebte, und mit dumpfer Ahnung fühlte sie hier eine ähnliche Atmosphäre
von Einsamkeit und trotzigem Selbstgenügen wie die, in welcher sie
selber schon so lange lebte. Es war nur ein Augenblick, dann wandte sie
den Blick von dem Bilde ab und suchte dem Maler Antwort zu geben, der
heftig durcheinander fragte.

„Bitte telephoniere sofort nach einem Automobil,“ sagte er schließlich,
„das geht rascher als mit dem Wagen. Ich fahre selber in die Stadt, ich
muß mir nur eben die Hände waschen. Ich komme sofort hinüber. Du hast
ihn doch zu Bett gebracht?“

Eine Viertelstunde später saß er im Automobil und suchte den einzigen
Arzt, den er kannte und der früher manchmal ins Haus gekommen war. In
der alten Wohnung fand er ihn nicht mehr, er war umgezogen. Auf der
Suche nach der neuen Wohnung begegnete er seinem Wagen, der Sanitätsrat
grüßte ihn, er dankte und war schon vorüber, als ihm klar wurde, daß er
es sei, den er suche. Er kehrte um und fand den Arztwagen vor dem Hause
eines Patienten halten, wo er eine peinliche Weile warten mußte. Dann
fing er den Sanitätsrat in der Haustüre ab und nötigte ihn in sein
Automobil. Der Arzt sträubte und wehrte sich, er mußte beinahe Gewalt
brauchen, um ihn mitzubekommen.

Im Wagen, der sofort mit der größten Eile gegen Roßhalde hinausfuhr,
legte der Arzt ihm die Hand aufs Knie und sagte: „Gut denn, ich bin Ihr
Gefangener. Ich muß andere warten lassen, die mich brauchen, das wissen
Sie. Also, wo fehlt es? Ist Ihre Frau krank? – Nicht? – Also der Kleine.
Wie heißt er doch? Pierre, richtig. Ich habe ihn lang nimmer gesehen.
Was ist es denn? Ist er verunglückt?“

„Er ist krank, seit gestern. Heut früh schien er wieder in Ordnung zu
sein, er war auf und hat auch ein wenig gegessen. Jetzt erbricht er
plötzlich wieder und scheint Schmerzen zu haben.“

Der Arzt fuhr sich mit der mageren Hand über das klughäßliche Gesicht.

„Also wohl der Magen. Wir werden ja sehen. Sonst ist alles wohl bei
Ihnen? Letzten Winter habe ich Ihre Ausstellung in München gesehen. Wir
sind stolz auf Sie, Verehrter.“

Er sah auf die Uhr. Sie schwiegen beide, als der Wagen die Übersetzung
wechselte und mit lauterem Keuchen bergan fuhr. Bald waren sie draußen
und mußten am Hoftor absteigen, das nicht geöffnet war.

„Warten Sie auf mich,“ rief der Sanitätsrat dem Chauffeur zu. Dann
schritten sie rasch über den Hof und ins Haus. Die Mutter saß bei
Pierres Bett.

Nun hatte der Arzt plötzlich Zeit. Ohne Eile ging er an die
Untersuchung, versuchte den Knaben zum Plaudern zu bringen, hatte gütig
beruhigende Worte für die Mutter und schuf in aller Gelassenheit eine
Atmosphäre von Vertrauen und Sachlichkeit, die auch Veraguth wohltat.

Pierre zeigte kein Entgegenkommen, er verhielt sich still, unwillig und
mißtrauisch. Als man ihm den Bauch abtastete und drückte, verzog er
höhnisch den Mund, als finde er diese Bemühungen töricht und unnütz.

„Eine Vergiftung scheint ausgeschlossen,“ sagte der Sanitätsrat
behutsam, „und am Blinddarm ist gar nichts zu finden. Es ist wohl
einfach ein verdorbener Magen, und für den ist Abwarten und Fasten das
beste. Geben Sie dem Jungen heute nichts als ein wenig schwarzen Tee,
falls er Durst hat, abends kann er auch einen kleinen Schluck Bordeaux
haben. Falls alles gut bleibt, bekommt er morgen zum Frühstück Tee und
Zwieback. Sollte er Schmerzen bekommen, so können Sie mir ja
telephonieren.“

Erst an der Türe draußen fing Frau Veraguth zu fragen an. Sie bekam aber
keine weitere Auskunft.

„Der Magen scheint tüchtig verstimmt, und das Kind ist offenbar sensibel
und nervös. Von Fieber keine Spur. Sie können ihn ja abends messen. Der
Puls ist etwas matt. Sollte es nicht besser werden, so komme ich morgen
wieder her. Mir scheint, es ist nichts Ernstliches.“

Er empfahl sich rasch und war nun wieder sehr eilig. Veraguth begleitete
ihn bis zum Wagen.

„Kann das lange dauern?“ fragte er im letzten Augenblick.

Der Arzt lachte hart.

„Ich hätte Sie nicht für so ängstlich gehalten, Herr Professor. Der
Junge ist etwas zart, und verdorbene Mägen haben wir als Kinder alle oft
genug gehabt. Guten Morgen!“

Veraguth wußte sich im Hause entbehrlich und schlenderte nachdenklich
feldeinwärts. Die knappe, straffe Art des Sanitätsrates hatte ihn
beruhigt, und er wunderte sich jetzt selbst, daß er so erregt und
überängstlich gewesen war.

Mit erleichtertem Gefühl schritt er aus und sog die heiße Luft des
tiefblauen Spätvormittags ein. Ihm schien, er mache heute schon seinen
Abschiedsgang durch diese Wiesen und Obstbaumreihen, und es war ihm
leidlich wohl und frei zumute. Als er sich besann, woher dies neue
Gefühl einer Entscheidung und Lösung ihm kommen möge, wurde ihm klar,
daß das alles eine Folge des Morgengespräches mit Frau Adele sei. Daß er
ihr seine Reisepläne mitgeteilt hatte, daß sie ihn zunächst so ruhig
angehört und keine Versuche zu irgendeiner Gegenwehr gemacht hatte, daß
zwischen seinem Entschluß und der Ausführung nun alle Seitenwege und
Ausflüchte abgeschnitten waren und die nächste Zukunft so klar und
eindeutig vor ihm lag, das tat ihm wohl, daher kam ihm Beruhigung und
neues Selbstgefühl.

Ohne zu wissen, wo er gehe, hatte er jenen Weg eingeschlagen, den er vor
einigen Wochen mit seinem Freunde Burkhardt gegangen war. Erst als der
Feldweg zu steigen begann, sah er, wo er sei, und erinnerte sich jenes
Spazierganges mit Otto. Das Wäldchen da oben, mit der Bank und mit dem
geheimnisvoll helldunkeln Durchblick in die klare, bildhaft ferngerückte
Landschaft des bläulichen Flußtales, hatte er im Herbst malen wollen,
und es war seine Absicht gewesen, Pierre auf die Bank zu setzen und den
hellen Knabenkopf weich in das braune, dunkle Waldlicht zu stellen.

Aufmerksam stieg er empor, die Hitze des nahenden Mittags nicht mehr
fühlend, und während er spähend den Augenblick erwartete, wo ihm über
den Hügelkamm der Waldrand entgegenträte, fiel jener Tag mit Burkhardt
ihm wieder ein, er erinnerte sich an ihre Gespräche, ja an einzelne
Worte und Fragen des Freundes, an den noch frühsommerlichen Ton der
Landschaft, deren Grün seither längst viel tiefer und milder geworden
war. Und dabei überraschte ihn ein Gefühl, das er seit langem nicht mehr
kannte und dessen unerwartete Wiederkehr ihn heftig an die Jugendzeit
erinnerte. Es schien ihm nämlich, seit jenem Waldgange mit Otto sei eine
lange, lange Zeit vergangen, und er selbst sei seither gewachsen, anders
geworden und vorwärts gekommen, so daß er auf sein damaliges Ich mit
einem gewissen ironischen Mitleid zurückblickte.

Überrascht von dieser so ganz jugendlichen Empfindung, die ihm in der
Zeit vor zwanzig Jahren alltäglich gewesen war und ihn jetzt wie ein
seltener Zauber berührte, übersah er die kurze Zeit dieses Sommers und
fand, was er soeben und gestern noch nicht gewußt hatte. Er fand sich,
da er sich der Zeit vor zwei, drei Monaten erinnerte, verwandelt und
weitergekommen, er fand heute Helligkeit und sichere Ahnung des Weges,
wo noch vor kurzem nur Dunkelheit und ratlose Unsicherheit gewesen war.
Es war, als sei sein Leben nun wieder ein klarer, entschieden nach der
ihm bestimmten Richtung hindrängender Fluß oder Strom, während es vorher
so lange Zeit in einem sumpfig stillen See gezögert und unschlüssig sich
um sich selber gedreht hatte. Und es wurde ihm klar, daß seine Reise
unmöglich hierher zurückführen könne, daß er hier nichts mehr zu tun
habe als Abschied zu nehmen, einerlei, ob sein Herz dabei brenne und
blute. Sein Leben war wieder in Fluß geraten, und sein Strom ging mit
Entschiedenheit nach der Freiheit und Zukunft hin. Er hatte von der
Stadt und Gegend, er hatte von Roßhalde und von seiner Frau, ohne
darüber klar zu sein, im Innersten sich schon getrennt und losgesagt.

Er blieb tief aufatmend stehen, von der Woge hellsichtiger Ahnung
gehoben und durchströmt. Er dachte an Pierre, und ein schneidend heller,
wilder Schmerz ging feindlich durch sein ganzes Wesen, als ihm gewiß
wurde, daß er diesen Weg zu Ende gehen und sich auch von Pierre trennen
müsse.

So stand er lange mit zuckendem Gesicht, und wenn es glühender Schmerz
war, was er in sich fühlte, so war es doch Leben und Licht, war es doch
Klarheit und Zukunft. Das war es, was Otto Burkhardt von ihm gewollt
hatte. Das war die Stunde, auf die der Freund gewartet hatte. Das war
der Schnitt in alte, lang geschonte Geschwüre, von dem er gesprochen
hatte. Der Schnitt tat weh, er tat bitter weh, aber mit den
preisgegebenen Lieblingswünschen starb auch Unrast und Uneinigkeit,
Zwiespalt und Lähmung der Seele dahin. Es war Tag um ihn geworden,
grausam heller, schöner, lichter Tag.

Ergriffen tat er die letzten Schritte zur Hügelhöhe hinan und setzte
sich auf die beschattete Steinbank. Ein tiefes Lebensgefühl durchquoll
ihn wie Wiederkehr der Jugend, und in erlöster Dankbarkeit wandte er
seine Gedanken zu dem fernen Freunde, ohne den er niemals diesen Weg
gefunden hätte, ohne den er für immer in dumpfer kranker Gefangenschaft
geblieben und verkommen wäre.

Indessen war es seiner Natur nicht gemäß, lange nachzudenken oder lange
in extremen Stimmungen zu verharren. Zugleich mit dem Gefühl der
Genesung und des wiedergewonnenen Willens rann ihm ein neues Bewußtsein
tätiger Kraft und herrschsüchtiger persönlicher Macht durch alle Sinne.

Er erhob sich, schlug die Augen auf und griff mit belebten Blicken
herrisch nach seinem neuen Bilde. Er schaute lang durch den Waldschatten
in das ferne lichte Flußtal hinab. Dies wollte er malen, und er wollte
nicht mehr den Herbst dazu abwarten. Es war eine heikle Aufgabe, es war
eine kapitale Schwierigkeit, es war ein köstliches Rätsel hier zu lösen:
dieser wundersame Durchblick mußte mit Liebe gemalt werden, er mußte mit
so viel Liebe und Studium gemalt werden, wie ihn ein zarter alter
Meister gemacht hätte, ein Altdorfer oder Dürer. Hier konnte die
Beherrschung des Lichtes und dessen mystischer Rhythmus nicht das
einzige sein, hier mußte jede kleinste Form ihr volles Recht bekommen
und so fein überlegt und abgewogen werden wie die Gräser in jenen
wunderbaren Feldsträußen seiner Mutter. Die kühlhelle Ferne des Tales
mußte, durch die warme Lichtflut des Vorgrundes und den Waldschatten
doppelt zurückgetrieben, wie ein Edelstein aus dem Grunde des Bildes
hervorleuchten, so kühl wie süß, so fremd wie lockend.

Er sah auf die Uhr, es war Zeit, nach Hause zu gehen. Er wollte seine
Frau heute nicht warten lassen. Aber vorher zog er doch noch das kleine
Skizzenbuch hervor und notierte, in der Mittagssonne am Rand des Hügels
stehend, mit kräftigen Strichen das Skelett seines Bildes: die Maße der
Perspektive, den Ausschnitt des Ganzen und das vielversprechende Oval
der kleinen köstlichen Fernsicht.

Darüber verspätete er sich nun doch ein wenig und lief, der Hitze nicht
achtend, in Eile den steilen sonnigen Weg bergab zurück. Er überlegte,
was er zum Malen brauchen werde, er beschloß, morgen sehr früh
aufzustehen, um die Landschaft auch im ersten Morgenlichte zu sehen, und
im Herzen wurde ihm wohl und heiter, da er wieder eine schöne, lockende
Aufgabe auf sich warten wußte.

„Was macht Pierre?“ war seine erste Frage, als er eilig eintrat.

Der Kleine sei ruhig und müde, gab Frau Adele Bericht, er scheine keine
Schmerzen zu haben und liege geduldig still. Es sei am besten, ihn nicht
zu stören, er sei merkwürdig empfindlich und fahre auf, sobald die Türe
gehe oder sonst ein plötzliches Geräusch zu hören sei.

„Nun ja,“ nickte er dankend, „ich werde ihn später besuchen, vielleicht
gegen Abend. Entschuldige, daß ich etwas verspätet kam, ich war draußen
und werde die nächsten Tage im Freien arbeiten.“

Man aß in Frieden und Stille, durch die herabgelassenen Jalousien floß
ein grünes Licht durch das kühle Zimmer, die Fenster standen alle offen,
und man hörte in der Mittagsstille vom Hofe her den kleinen Brunnen
plätschern.

„Du wirst für Indien eine besondere Ausrüstung brauchen,“ fragte Albert,
„nimmst du auch Jagdzeug mit?“

„Ich denke nicht, Burkhardt ist mit allem versehen. Er wird mir schon
Rat geben. Ich glaube, man muß das Malzeug in verlöteten Blechkisten
mitnehmen.“

„Wirst du auch einen Tropenhelm tragen?“

„Jedenfalls. Den kann man ja unterwegs kaufen.“

Als Albert nach Tische weggegangen war, bat Frau Veraguth ihren Mann
noch zu bleiben. Sie setzte sich in ihren Korbstuhl am Fenster und er
trug seinen Sessel zu ihr hinüber.

„Wann wirst du denn reisen?“ fragte sie einleitend.

„O, das kommt ganz auf Otto an, ich richte mich natürlich nach ihm. Ich
denke, etwa Ende September.“

„So bald schon? Ich habe noch wenig darüber nachdenken können. Pierre
nimmt mich jetzt eben in Anspruch. Aber ich glaube, du solltest
seinetwegen nicht zuviel von mir verlangen.“

„Das will ich auch nicht, ich habe mir das heute nochmals überlegt. Du
sollst in allem volle Freiheit haben. Ich sehe ein, es geht nicht an,
daß ich in der Welt herumreise und dabei verlange, zugleich hier in
deinen Angelegenheiten mitzusprechen. Du mußt in allem tun, was dir gut
scheint. Du sollst nicht weniger Freiheit haben, als ich für mich
beanspruche.“

„Aber was soll mit dem Hause hier geschehen? Allein hierbleiben möchte
ich nicht, es ist zu abgelegen und zu weitläufig, und es sind hier auch
zu viele Erinnerungen, die mich stören.“

„Ich sagte dir schon, ziehe wohin du willst. Roßhalde gehört dir, das
weißt du, und ich werde das vor meiner Abreise noch sicherstellen, für
alle Fälle.“

Frau Adele war blaß geworden. Sie beobachtete ihres Mannes Gesicht mit
fast feindseliger Aufmerksamkeit.

„Du sprichst beinahe so,“ warf sie mit bedrängter Stimme hin, „als ob du
nicht mehr zurückzukommen dächtest.“

Er blinzelte nachdenklich und sah zu Boden.

„Man kann nicht wissen. Ich habe noch keine Ahnung, wie lange ich
wegbleiben werde, und daß Indien für Leute meines Alters sehr gesund
ist, glaube ich kaum.“

Sie schüttelte streng den Kopf.

„Ich meine nicht das. Sterben können wir alle. Ich meine, ob du
überhaupt die Absicht hast, wiederzukommen.“

Er schwieg und blinzelte, schließlich lächelte er schwach und erhob
sich.

„Ich denke, darüber reden wir ein andermal. Es war unser letzter Streit,
weißt du, als wir vor einigen Jahren diese Frage besprachen. Ich möchte
nun hier auf Roßhalde keinen Streit mehr haben, mit dir am wenigsten.
Ich nehme an, du denkst darüber noch gleich wie damals. Oder würdest du
mir heute den Kleinen überlassen?“

Frau Veraguth schüttelte schweigend den Kopf.

„Ich dachte es mir,“ sagte ihr Mann mit Ruhe, „wir wollen diese Dinge
nun ruhen lassen. Du kannst, wie gesagt, über das Haus verfügen. Es
liegt mir nichts daran, Roßhalde zu behalten, und wenn du eine
Gelegenheit findest, das Ganze gut zu verkaufen, so gib es weg!“

„Das ist nun das Ende von Roßhalde,“ sagte sie mit einem Ton tiefer
Bitterkeit, und sie dachte dabei an die Zeit ihrer Anfänge, an Alberts
Babyjahre, an alle ihre damaligen Hoffnungen und Erwartungen. Das war
also das Ende davon.

Veraguth, der sich schon zur Türe gewandt hatte, kehrte noch einmal um
und rief sanft: „Nimm es nicht so schwer, Kind! Wenn du magst, kannst du
ja alles behalten.“

Er ging hinaus, nahm dem Hunde die Kette ab und schritt zum Atelierhaus,
von dem jauchzenden Tier umbellt und umsprungen. Was lag ihm an
Roßhalde! Das gehörte zu den Dingen, mit denen er nichts mehr zu tun
hatte. Er fühlte sich jetzt zum erstenmal seiner Frau überlegen. Er
hatte abgeschlossen. Er hatte im Herzen das Opfer gebracht, er hatte auf
Pierre verzichtet. Seit sich das von ihm gelöst hatte, war sein ganzes
Wesen nur noch nach vorwärts gerichtet. Für ihn war Roßhalde erledigt,
erledigt wie die vielen anderen fehlgeschlagenen Hoffnungen von ehemals,
erledigt wie die Jugendzeit. Unnütz darum zu klagen!

Er schellte und Robert kam gelaufen.

„Ich werde einige Tage im Freien malen. Sie müssen nach dem kleineren
Malkasten sehen, auch nach dem Schirm, bis morgen muß alles in Ordnung
sein. Um halb sechs Uhr wecken Sie mich.“

„Sehr wohl, Herr Veraguth.“

„Sonst nichts. Das Wetter wird doch halten? Was meinen Sie?“

„Ich glaube, es wird wohl halten ... Entschuldigen Sie aber, Herr
Veraguth, ich möchte Sie noch etwas fragen.“

„Ja?“

„Ich bitte um Verzeihung, aber ich habe gehört, der Herr wollten nach
Indien reisen.“

Veraguth lachte verwundert auf.

„Das ist verflucht rasch gegangen. Da hat also Albert geplaudert. Nun
ja, ich werde nach Indien reisen, und da können Sie nicht gut mitkommen,
Robert, es ist schade. Man hat da draußen keine europäischen Diener.
Aber wenn Sie später wieder zu mir kommen mögen, so kommen Sie! Ich
besorge Ihnen gerne inzwischen eine andre gute Anstellung, Ihren Lohn
kriegen Sie ja ohnehin bis Neujahr bezahlt.“

„Danke, Herr Veraguth, danke vielmal. Vielleicht darf ich dann um Ihre
Adresse bitten. Ich werde Ihnen einmal schreiben. Es ist nämlich – – es
ist nicht so einfach – – ich habe nämlich eine Braut, Herr Veraguth.“

„So, Sie haben eine Braut?“

„Ja, Herr Veraguth, und wenn Sie mich entlassen, so muß geheiratet
werden. Nämlich ich habe ihr versprochen, daß ich keinen neuen Dienst
annehme, wenn ich einmal hier weggehen sollte.“

„Na, da werden Sie sich ja freuen, daß Sie jetzt loskommen. Es tut mir
aber leid, Robert. Was wollen Sie denn anfangen, wenn Sie verheiratet
sind?“

„Ja, sie will mit mir ein Zigarrengeschäft auftun.“

„Einen Zigarrenladen? Robert, das ist nichts für Sie.“

„Entschuldigen, Herr Veraguth, man muß es einmal probieren. Aber wenn
Sie erlauben – – ginge es nicht am Ende, daß ich doch in Ihrem Dienst
bliebe? Ich möchte höflichst anfragen, Herr Veraguth.“

Der Maler gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

„Mensch, was soll das heißen? Sie wollen heiraten, Sie wollen so einen
stumpfsinnigen Laden aufmachen, und Sie wollen aber auch bei mir
bleiben? Mir scheint, da ist etwas nicht in Ordnung ... Es liegt Ihnen
wohl nicht so sehr viel an dieser Heirat, Robert?“

„Mit Verlaub, Herr Veraguth, nein. Sie wäre schon tüchtig, meine Braut,
da will ich nichts sagen. Aber ich würde schon lieber hierbleiben. Sie
hat einen scharfen Charakter, und – –“

„Ja, Kerl, warum wollen Sie sie denn dann heiraten? Sie haben ja Angst
vor ihr! Ihr habt doch kein Kind? Oder?“

„Nein, dieses nicht. Aber sie läßt mir keine Ruhe mehr ...“

„Dann schenken Sie ihr eine hübsche Brosche, Robert, ich gebe Ihnen
einen Taler dafür. Die geben Sie Ihrer Braut und sagen ihr, sie möchte
sich nun einen andern suchen für ihren Zigarrenladen. Sagen Sie ihr, ich
hätte das gesagt. Und schämen Sie sich ein bißchen! Ich lasse Ihnen acht
Tage Zeit. Dann möchte ich wissen, ob Sie ein Mann sind, der sich von
einem Mädel Angst machen läßt, oder nicht.“

„Es ist gut, es ist gut. Ich werde ihr schon sagen ...“

Veraguth hörte auf zu lächeln. Er blitzte den Betroffenen aus zornigen
Augen an und rief scharf: „Sie werden das Mädel fortschicken, Robert,
sonst sind wir miteinander fertig. Pfui Teufel – sich heiraten lassen!
Gehen Sie, und bringen Sie das bald in Ordnung!“

Er stopfte sich eine Pfeife, nahm ein größeres Skizzenbuch und eine
Hülse voll Zeichenkohle an sich und ging nach dem Waldhügel hinaus.



                          Vierzehntes Kapitel


Das Fasten schien nicht viel zu helfen. Pierre Veraguth lag
zusammengekrümmt in seinem Bette, die Teetasse stand unberührt daneben.
Man ließ ihn möglichst in Ruhe, da er auf keine Anrede Antwort gab und
jedesmal unwillig zusammenfuhr, wenn jemand in sein Zimmer trat. Die
Mutter saß manche Stunde an seinem Bett, sie murmelte halbgesungene
Zärtlichkeiten und Beruhigungsworte. Es war ihr sorgenvoll und
unheimlich zumute; es schien, als sei der kleine Kranke hartnäckig in
einen geheimen Schmerz verbohrt. Er gab auf keine Frage, auf keine
Bitte, auf kein Anerbieten irgendeine Antwort, mit bösen Augen starrte
er vor sich hin und wollte nicht schlafen, nicht spielen, nicht trinken,
nicht vorgelesen haben. Der Arzt war zwei Tage nacheinander gekommen; er
hatte wenig gesagt und laue Leibwickel befohlen. Pierre lag viel in
einem leichten Halbschlummer, wie Fiebernde ihn haben, er murmelte dann
unverständliche Worte und träumte halbbewußt in einem leisen dumpfen
Delirium vor sich hin.

Veraguth war seit mehreren Tagen draußen am Malen. Als er mit der
Dämmerung nach Hause kam, fragte er sogleich nach dem Knaben. Seine Frau
bat ihn, nicht mehr ins Krankenzimmer zu gehen, da Pierre so sehr
empfindlich gegen alle Störungen sei und jetzt eingeschlummert scheine.
Da Frau Adele wenig Worte machte und seit dem neulichen Morgengespräch
sich ihm gegenüber mißgestimmt und befangen fühlte, fragte er nicht
weiter, sondern ging unbekümmert ins Bad und brachte den Abend in der
angenehmen Unruhe und warmen Erregtheit hin, die er stets beim
Vorbereiten einer neuen Arbeit empfand. Nun hatte er mehrere Studien
draußen gemalt und wollte morgen das Bild selber in Angriff nehmen. Er
wählte mit Befriedigung Kartons und Leinwände aus, flickte an locker
gewordenen Keilrahmen herum, suchte Pinsel und Malzeug aller Art
zusammen und rüstete sich wie für eine kleine Reise, er legte sogar den
gefüllten Tabaksbeutel, Pfeife und Feuerzeug bereit wie ein Tourist, der
in der Frühe zu einer Bergbesteigung aufbrechen will und sich für die
erwartungsvollen Stunden vor dem Schlafengehen nichts Besseres weiß als
liebevoll an morgen zu denken und jede Kleinigkeit dafür bereitzulegen.

Behaglich sah er dann bei einem Glase Wein die Abendpost an. Da war ein
freudiger, liebevoller Brief von Burkhardt, und beigefügt war eine mit
hausfraulicher Sorgsamkeit zusammengestellte Liste alles dessen, was
Veraguth für die Reise mitzunehmen habe. Belustigt las dieser die ganze
Liste durch, auf welcher weder wollene Leibbinden noch Strandschuhe,
weder Nachtkleidung noch Gamaschen vergessen waren. Unten auf dem Zettel
stand mit Bleistift geschrieben: „Alles andere besorge ich für uns
beide, auch die Kabinen. Laß dir weder Chemikalien gegen Seekrankheit
noch indische Reiseliteratur aufschwatzen, alles das ist meine Sache.“

Lächelnd wandte er sich einer großen Rolle zu, in der ihm ein junger
Düsseldorfer Maler eine Anzahl Radierungen mit ehrfurchtsvoller Widmung
übersandte. Auch dafür fand er heute Zeit und Laune, er sah die Blätter
aufmerksam durch und wählte das beste davon für seine Mappen aus, die
anderen mochte Albert haben. Dem Maler schrieb er ein freundliches
Billett.

Zuletzt schlug er das Skizzenbuch auf und betrachtete lange die vielen
Zeichnungen, die er draußen gemacht hatte. Sie befriedigten ihn alle
nicht recht, er wollte es morgen mit einem anderen, weiteren Ausschnitt
versuchen, und wenn das Bild auch dann noch nicht säße, wollte er eben
solange Studien malen, bis er es heraus hätte. Auf alle Fälle würde er
morgen tüchtig fleißig sein, das Weitere würde sich schon ergeben. Und
diese Arbeit würde dann sein Abschied von Roßhalde sein; es war ohne
Zweifel das eindringlichste und lockendste Stück Landschaft in der
ganzen Gegend, und es sollte nicht vergebens gewesen sein, hoffte er,
daß er sich das bis jetzt immer wieder aufgespart hatte. Das durfte
nicht mit einer schneidigen Studie abgetan werden, es mußte ein gutes,
delikates, abgewogenes Bild werden. Das rasche, kämpfende Malen in der
Natur, mit Schwierigkeiten, Niederlagen und Siegen, das würde er dann
draußen in den Tropen wieder auskosten können.

Er legte sich zeitig nieder und schlief vortrefflich, bis Robert ihn
weckte. Da stand er, in der straffen Morgenkühle fröstelnd, in
fröhlicher Eile auf, trank stehend eine Schale Kaffee und trieb den
Diener an, der ihm Leinwand, Feldstuhl und Farbenkasten nachtragen
sollte. Bald darauf verließ er das Haus und verschwand, Robert
hinterdrein, in den noch morgenblassen Wiesen. Vorher hatte er noch in
der Küche nachfragen wollen, ob Pierre eine ruhige Nacht gehabt habe.
Aber er hatte das Haus noch verschlossen und niemand wach gefunden.

Frau Adele war bis in die Nacht bei dem Kleinen gesessen, da er ein
wenig zu fiebern schien. Sie hatte seinem lallenden Gemurmel zugehört,
seinen Puls gefühlt und sein Bett in Ordnung gebracht. Als sie ihm
Gutenacht sagte und ihn küßte, schlug er die Augen auf und sah ihr ins
Gesicht, ohne aber zu antworten. Die Nacht blieb ruhig.

Pierre war wach, als sie am Morgen zu ihm kam. Er wollte kein Frühstück
haben, verlangte aber nach einem Bilderbuch. Die Mutter ging selbst, um
eines zu holen. Sie stopfte ihm ein zweites Kissen unter den Kopf, zog
den Fenstervorhang auseinander und gab Pierre das Buch in die Hände; es
war ein Bild mit einer großen, strahlend goldgelben Frau Sonne
aufgeschlagen, das er besonders gern hatte.

Er hob das Buch gegen sein Gesicht, das helle frohe Morgenlicht fiel auf
das Blatt. Aber sogleich flog ein dunkler Schatten von Schmerz,
Enttäuschung und Unbehagen über sein zartes Gesicht.

„Pfui, das tut ja weh!“ rief er gequält und ließ das Bilderbuch sinken.

Sie fing es auf und hielt es ihm nochmals vor die Augen.

„Es ist ja deine liebe Frau Sonne,“ sagte sie zuredend.

Er hielt sich die Hände vor die Augen.

„Nein, tu es weg. Das ist so scheußlich gelb!“

Seufzend nahm sie das Buch wieder an sich. Weiß Gott, was das mit dem
Kinde war! Sie kannte mancherlei Empfindlichkeiten und Launen an ihm,
aber so war er noch nie gewesen.

„Paß auf,“ sagte sie sanft beschwörend, „jetzt bring ich dir einen
feinen, warmen Tee, und du darfst dir Zucker hineintun und ein schönes
Zwieback dazu haben.“

„Ich will nicht!“

„Probier’s einmal! Es tut dir gut, du wirst sehen.“

Gepeinigt und wütend sah er sie an.

„Wenn ich aber nicht will!“

Sie ging hinaus und blieb eine lange Weile fort. Er blinzelte ins Licht,
es schien ihm übermäßig grell und tat ihm weh. Er wandte sich ab. Gab es
denn keinen Trost, kein bißchen Vergnügen, keine kleine Freude mehr für
ihn? Trotzig und weinerlich drückte er das Gesicht ins Kissen und biß
unwillig in das weiche, fad schmeckende Linnen. Das war ein
auftauchender Widerschein aus seiner allerfrühesten Kindheit. Als ganz
kleiner Junge hatte er, wenn er zu Bett gebracht war und nicht gleich
einschlafen konnte, die Gewohnheit gehabt, in sein Kissen zu beißen und
mit einer gewissen Taktmäßigkeit darauf zu kauen, bis er müde wurde und
einschlief. Das tat er nun wieder und arbeitete sich langsam in eine
stille Betäubung hinein, die ihm wohl tat und in welcher er ruhig liegen
blieb.

Die Mutter kam nach einer Stunde wieder herein. Sie beugte sich über ihn
und sagte: „So, will Pierre jetzt wieder artig sein? Du warst vorher
sehr unartig, und Mama ist traurig gewesen.“

Das war zu anderen Zeiten ein starkes Mittel, dem er selten widerstand,
und als sie nun die Worte sagte, war sie nicht ohne Besorgnis, er möchte
es sich zu sehr zu Herzen nehmen und weinen. Er schien aber gar nicht
auf ihre Worte zu achten, und als sie nun etwas strenge fragte: „Du
weißt doch, daß du vorher ungezogen warst?“, verzog er den Mund beinahe
spöttisch und blickte vollkommen gleichgültig.

Gleich darauf kam der Sanitätsrat.

„Hat er wieder erbrochen? Nicht? Schön. Und die Nacht war gut? Was hat
er denn gefrühstückt?“

Als er den Knaben aufrichtete und sein Gesicht gegen das Fenster drehte,
zuckte Pierre wieder wie in Schmerzen zusammen und drückte die Augen zu.
Aufmerksam betrachtete der Arzt den seltsam starken Ausdruck von Abwehr
und Pein in dem Kindergesicht.

„Ist er auch gegen Geräusche so empfindlich?“ fragte er Frau Adele
flüsternd.

„Ja,“ sagte sie leise, „wir dürfen gar nimmer Klavier spielen, sonst tut
er ganz verzweifelt.“

Der Sanitätsrat nickte und zog den Vorhang halb zu. Dann hob er den
Kleinen aus dem Bett, horchte an seinem Herzen und schlug ihm mit einem
kleinen Hämmerlein probierend auf die Sehnen unterhalb der Kniescheiben.

„Schon gut,“ sagte er freundlich, „nun lassen wir dich in Ruhe, mein
Junge.“

Er legte ihn behutsam ins Bett zurück, nahm seine Hand und nickte ihm
lächelnd zu.

„Darf ich noch einen Augenblick bei Ihnen eintreten?“ sagte er im
Kavalierston zu Frau Veraguth und ließ sich in ihr Zimmer führen.

„Nun erzählen Sie mir noch mehr von Ihrem Kleinen,“ sagte er ermunternd.
„Mir scheint, er ist doch sehr nervös und wir müssen ihn nun eine Weile
gut pflegen, Sie und ich. Die Magengeschichte ist nicht der Rede wert.
Er muß unbedingt wieder essen. Feine, stärkende Sachen: Eier, Bouillon,
frische Sahne. Versuchen Sie es einmal mit Eigelb. Wenn er es lieber süß
nimmt, schlagen Sie es mit Zucker in eine Tasse. Und nun, ist Ihnen
sonst etwas an ihm aufgefallen?“

Besorgt und doch von seinem freundlich sicheren Ton beruhigt, fing sie
zu berichten an. Am meisten habe sie Pierres Teilnahmlosigkeit
erschreckt, es sei, als habe er sie gar nimmer lieb. Es sei ihm
einerlei, ob man ihn bitte oder schelte, er sei gegen alles
gleichgültig. Sie erzählte von dem Bilderbuch, und er nickte.

„Lassen Sie ihn gewähren!“ sagte er im Aufstehen. „Er ist krank und kann
augenblicklich nichts für seine Unarten. Lassen Sie ihn möglichst in
Ruhe! Wenn er Kopfschmerzen hat, kann er Eisumschläge bekommen. Und
abends stecken Sie ihn möglichst lang in ein laues Bad, das macht
Schlaf.“

Er verabschiedete sich und duldete nicht, daß sie ihn die Treppe hinab
begleite.

„Sehen Sie zu, daß er heute etwas ißt!“ sagte er noch im Weggehen.

Unten trat er in die offenstehende Küchentür und fragte nach Veraguths
Diener.

„Rufen Sie Robert her!“ befahl die Köchin der Magd. „Er muß im Atelier
sein.“

„Es ist nicht nötig,“ rief der Sanitätsrat. „Ich gehe selber hinüber.
Nein, lassen Sie nur, ich weiß den Weg.“

Er verließ die Küche mit einem Scherzwort und schritt, plötzlich voll
Ernst und Nachdenklichkeit, langsam unter den Kastanien hinweg.

Frau Veraguth überdachte nochmals jedes Wort, das der Arzt gesagt hatte,
und kam nicht ins reine damit. Offenbar nahm er Pierres Unwohlsein
ernster als bisher, doch hatte er eigentlich nichts Schlimmes gesagt und
war so sachlich und ruhig gewesen, daß doch wohl keine ernstliche Gefahr
bestand. Es schien ein Zustand von Schwäche und Nervosität zu sein, den
man mit Geduld und guter Pflege abwarten mußte.

Sie ging ins Musikzimmer und schloß den Flügel ab, damit Albert sich
nicht doch etwa einmal vergesse und unvermutet zu spielen beginne. Und
sie besann sich, in welchen Raum man etwa das Instrument schaffen lassen
könne, falls das länger dauern sollte.

Hin und wieder ging sie, nach Pierre zu sehen, öffnete vorsichtig seine
Türe und horchte, ob er schlafe oder stöhne. Er lag jedesmal wach und
blickte apathisch geradeaus, und traurig ging sie wieder fort. Sie hätte
ihn lieber in Gefahr und Schmerzen gepflegt, statt ihn so verschlossen,
verdrossen und gleichgültig liegen zu sehen; es schien ihr, eine
seltsame, traumhafte Kluft trenne ihn von ihr, ein widerwärtig zäher
Bann, den ihre Liebe und Sorge nicht zu brechen vermöge. Es war da ein
gemeiner, hassenswerter Feind im Hinterhalt, dessen Art und dessen böse
Absichten man nicht kannte und gegen den man keine Waffen besaß.
Vielleicht bereitete sich da irgendein Fieber, ein Scharlach oder sonst
eine Kinderkrankheit vor.

Bekümmert rastete sie eine Weile in ihrem Zimmer. Ein Strauß Spiräen
fiel ihr ins Auge, sie bog sich über den runden Mahagonitisch, dessen
rotbraunes Holz unter der weißen durchbrochenen Decke tief und warm
leuchtete, und senkte das Gesicht mit geschlossenen Augen in die
vielästigen, weichen, sommerlichen Blüten, deren starksüßer Duft, wie
sie ihn voll einsog, auf seinem Grunde geheimnisvoll bitter schmeckte.

Indem sie sich, leicht betäubt, wieder aufrichtete und mit
unbeschäftigten Augen auf die Blumen, auf den Tisch und durch das Zimmer
blickte, stieg eine Woge von bitterer Traurigkeit in ihr auf. Sie
schaute in einer plötzlichen Wachheit der Seele durch den Raum und an
den Wänden hin, sie sah Teppich und Blumentisch, Uhr und Bilder auf
einmal fremd und ohne Beziehungen, sie sah den Teppich aufgerollt, die
Bilder verpackt und alles auf einen Wagen geladen, welcher alle diese
Dinge, die nun keine Heimat und keine Seele mehr hatten, fort an einen
neuen, unbekannten, gleichgültigen Ort bringen sollte. Sie sah Roßhalde
leer mit geschlossenen Türen und Fenstern stehen und fühlte
Verlassenheit und Abschiedsweh aus allen Beeten des Gartens starren.

Es waren nur Augenblicke. Es kam und ging wie ein leiser, doch
dringender Ruf aus dem Dunkeln, wie ein flüchtig hereinfallendes,
fragmentarisches Spiegelbild aus der Zukunft. Und deutlich stieg es ihr
aus dem blinden Leben der Gefühle ins Bewußtsein: sie würde bald mit
ihrem Albert und dem kranken Pierre ohne Heimat sein, ihr Mann würde sie
verlassen, und ihr bliebe für alle Zeit die verlorene Dumpfheit und
Kälte so vieler liebloser Jahre in der Seele liegen. Sie würde für die
Kinder leben, aber sie würde nie das eigene, schöne Leben mehr finden,
das sie einst von Veraguth erhofft und auf das sie einen heimlichen
Anspruch noch bis gestern und heute in sich bewahrt und gehegt hatte.
Dazu war es zu spät. Und sie fror vor Erkenntnis und Nüchternheit.

Aber alsbald setzte ihr gesundes Wesen sich zur Wehr. Es stand ihr eine
unruhige und ungewisse Zeit bevor, Pierre war krank, und Alberts Ferien
waren bald zu Ende. Es ging nicht, es ging schlechterdings nicht an, daß
jetzt auch sie schlaff wurde und unterirdischen Stimmen folgte. Erst
mußte Pierre wieder gesund und Albert abgereist und Veraguth in Indien
sein, dann würde man weiter sehen, dann war es immer noch Zeit, das
Schicksal anzuklagen und sich die Augen auszuweinen. Jetzt hatte das
keinen Sinn, sie durfte nicht, es kam gar nicht in Betracht.

Sie stellte die Vase mit den Spiräen vors Fenster hinaus. Sie ging in
ihr Schlafzimmer, goß Kölnisches Wasser auf ihr Taschentuch und wusch
sich die Stirne damit, prüfte im Spiegel ihre strenge, straffe Frisur
und ging mit ruhigen Schritten nach der Küche, um selbst einen Imbiß für
Pierre zu rüsten.

Damit erschien sie später an des Kleinen Bett, setzte ihn aufrecht,
schenkte seinen abwehrenden Gebärden keine Beachtung und löffelte ihm
streng und aufmerksam das Eigelb ein. Sie wischte ihm den Mund ab und
küßte ihn auf die Stirn, schüttelte sein Bett zurecht und redete ihm zu,
lieb zu sein und zu schlafen.

Als nun Albert von einem Spaziergange heimkam, zog sie ihn mit sich auf
die Veranda, wo der leichte Sommerwind in den straff gespannten, braun
und weiß gestreiften Markisen knatterte.

„Der Arzt ist wieder dagewesen,“ erzählte sie. „Pierre sei mit den
Nerven nicht in Ordnung, und nun muß er möglichst Ruhe haben. Es tut mir
leid für dich, aber es darf zunächst im Hause gar nimmer Klavier
gespielt werden. Ich weiß, es ist ein Opfer für dich, mein Junge.
Vielleicht wäre es ganz klug, wenn du bei dem schönen Wetter für ein
paar Tage verreisen würdest, in die Berge oder nach München? Papa hätte
gewiß nichts dagegen.“

„Danke, Mama, das ist lieb von dir. Ich gehe vielleicht einmal einen Tag
weg, aber nicht länger. Sonst hast du ja gar niemand, der bei dir ist,
solang Pierre liegen muß. Und dann sollte ich ja jetzt auch mit der
Schularbeit beginnen, ich habe die ganze Zeit bis jetzt gebummelt. –
Wenn nur Pierre bald gesund wird!“

„Gut, Albert, das ist brav. Es ist jetzt wirklich keine leichte Zeit für
mich, ich bin froh, dich da zu haben. Mit Papa kommst du ja nun auch
wieder besser aus, nicht?“

„Ach ja, seit er sich zu der Reise entschlossen hat. Übrigens sehe ich
ihn so wenig, er malt den ganzen Tag. Weißt du, manchmal tut es mir
leid, daß ich oft häßlich gegen ihn war – er hat mich ja auch gequält,
aber er hat etwas, was mir doch allemal wieder imponiert. Er ist ja
furchtbar einseitig, und von Musik versteht er nicht viel, aber er ist
doch ein großer Künstler und hat eine Lebensaufgabe. Das ist es, was mir
so imponiert. Er hat ja nichts von seiner Berühmtheit, und von seinem
Geld eigentlich auch recht wenig; es ist nicht das, wofür er arbeitet.“

Er zog die Stirn in Falten, nach Worten suchend. Aber er konnte sich
nicht so, wie er wollte, ausdrücken, obwohl es ein genau bestimmtes
Gefühl war. Die Mutter lächelte und strich ihm das Haar zurück.

„Wollen wir abends wieder miteinander Französisch lesen?“ fragte sie
schmeichelnd.

Er nickte und lächelte nun auch, und im Augenblick schien es ihr töricht
und unbegreiflich, daß sie noch vor kurzem nach einem anderen Schicksal
hatte verlangen können, als danach, für ihre Söhne zu leben.



                          Fünfzehntes Kapitel


Kurz vor Mittag erschien Robert draußen am Waldrande bei seinem Herrn,
um ihm das Malzeug heimtragen zu helfen. Veraguth hatte eine neue Studie
fertig, die er selbst tragen wollte. Er wußte jetzt genau, wie das Bild
werden mußte, und dachte es nun in wenigen Tagen zu zwingen.

„Morgen früh ziehen wir wieder aus,“ rief er vergnügt und zwinkerte mit
ermüdeten Augen in die blendende Mittagswelt.

Robert knöpfte umständlich seinen Rock auf und zog ein Papier aus der
Brusttasche. Es war ein etwas zerknittertes Kuwert ohne Aufschrift.

„Das soll ich abgeben.“

„Von wem?“

„Vom Herrn Sanitätsrat. Er hat um zehn Uhr nach Ihnen gefragt; aber er
sagte, ich dürfe Sie nicht von der Arbeit wegholen.“

„Es ist gut. Vorwärts!“

Der Diener lief mit Rucksack, Feldstuhl und Staffelei voraus, Veraguth
blieb stehen und öffnete mit einer Ahnung unangenehmer Nachrichten das
Briefchen. Es lag nur des Sanitätsrats Karte darin mit der flüchtig und
undeutlich gekritzelten Bleistiftnotiz: „Bitte kommen Sie nachmittags zu
mir, ich möchte wegen Pierre mit Ihnen sprechen. Sein Unwohlsein ist
weniger unbedenklich, als ich Ihrer Frau sagen wollte. Schrecken Sie sie
nicht mit unnützen Besorgnissen, ehe wir uns gesprochen haben.“

Er zwang gewaltsam den Schrecken nieder, der ihm den Atem nehmen wollte,
er blieb in gezwungener Ruhe stehen und las den Zettel noch zweimal mit
Aufmerksamkeit durch. „Weniger unbedenklich, als ich Ihrer Frau sagen
wollte!“ Da saß der Feind. Seine Frau war keineswegs so gebrechlich oder
so nervös, daß man einer Kleinigkeit wegen solche Rücksicht auf sie
nehmen mußte. Es war also schlimm, es war gefährlich, Pierre konnte
sterben! Aber da stand wieder „Unwohlsein“, das klang so harmlos. Und
dann „unnütze Besorgnisse“! Nein, ganz schlimm war es jedenfalls nicht.
Vielleicht etwas Ansteckendes, eine Kinderkrankheit. Vielleicht wünschte
der Arzt, ihn zu isolieren, ihn in eine Klinik zu tun?

Er sann und wurde ruhiger. Langsam ging er den Hügel hinab und den
heißen Feldweg heimwärts. Jedenfalls wollte er tun, was der Arzt
verlangte, und seine Frau nichts merken lassen.

Zu Hause übernahm ihn dann doch die Ungeduld. Noch ehe er sein Bild
verwahrt und sich gewaschen hatte, lief er ins Haus – das nasse Bild
lehnte er im Treppenhaus an die Wand – und trat leise in Pierres
Stübchen. Seine Frau war drinnen.

Er bückte sich zu dem Knaben hinab und küßte ihn aufs Haar.

„Guten Tag, Pierre. Wie geht’s?“

Pierre lächelte schwach. Gleich darauf begann er mit zitternden Nüstern
zu schnüffeln und rief: „Nein, nein, geh weg! Du riechst so schlecht!“

Veraguth trat gehorsam beiseite.

„Es ist nur Terpentin, mein Junge. Papa hat sich noch gar nicht
gewaschen, weil er gleich nach dir sehen wollte. Nun geh ich gleich und
kleide mich um, dann komme ich wieder zu dir. Ist’s so recht?“

Er ging und nahm unterwegs das Bild mit sich, und die klagende Stimme
des Kleinen klang in ihm nach.

Bei Tische ließ er sich berichten, was der Arzt gesagt habe, und hörte
mit Freude, daß Pierre gegessen und nicht wieder erbrochen habe. Doch
blieb er erregt und unsicher und quälte sich ab, um ein Gespräch mit
Albert in Gang zu halten.

Danach saß er eine halbe Stunde an Pierres Bett, der ruhig lag und nur
zuweilen wie in Schmerzen nach der Stirne griff. Er betrachtete mit
angstvoller Liebe den schmalen Mund, der krank und schlaff aussah, und
die hübsche helle Stirn, die jetzt zwischen den Augen eine kleine
senkrechte Falte trug, eine krankhafte, aber kindlich weiche und
bewegliche Falte, die wieder ganz verschwinden würde, wenn Pierre wieder
gesund wäre. Und gesund sollte er wieder werden – auch wenn es dann
doppelt weh tun würde, fortzugehen und ihn zu verlassen. Er sollte in
seiner Feinheit und hellen Knabenschönheit weiter wachsen und wie eine
Blume in der Sonne atmen, auch wenn er ihn nimmer sähe und ihm Lebewohl
gesagt hätte. Er sollte gesund und ein schöner, sonniger Mensch werden,
in dem von seines Vaters Wesen das Zarteste und Reinste weiterlebte.

Während er am Bett des Kindes saß, begann er zu ahnen, wieviel Bitteres
ihm noch auszukosten bleibe, bis dies alles hinter ihm läge. Seine
Lippen zuckten und sein Herz wehrte sich gegen den Stachel, aber er
fühlte tief unter allem Leid und aller Furcht seinen Entschluß hart und
unzerstörbar stehen. Das war in Ordnung, daran rührte kein Schmerz und
keine Liebe mehr. Aber es lag ihm noch ob, diese letzte Zeit zu erleben
und sich keinem Leide zu entziehen, und er war bereit, den Becher ganz
auszutrinken, denn er fühlte seit diesen paar Tagen untrüglich, daß nur
durch dieses dunkle Tor für ihn ein Weg zum Leben führte. Wenn er jetzt
feig war, wenn er jetzt entfloh und sich Weh ersparte, so nahm er
Schlamm und Gift mit sich hinüber und kam nie in die reine, heilige
Freiheit, nach der ihn verlangte und für die er jede Qual zu leiden
willig war.

Nun, vor allem mußte er mit dem Doktor reden. Er stand auf, nickte
Pierre zärtlich zu und ging hinaus. Es kam ihm der Einfall, sich von
Albert fahren zu lassen, und er suchte dessen Zimmer auf, zum erstenmal
in diesem Sommer. Kräftig pochte er an die Türe.

„Herein!“

Albert saß lesend beim Fenster. Er stand eilig auf und kam dem Vater
überrascht entgegen.

„Ich habe eine kleine Bitte an dich, Albert. Könntest du mich rasch mit
dem Wagen in die Stadt bringen? – Ja? Das ist hübsch. Also sei so gut
und hilf gleich einspannen, ich bin ein wenig eilig. Nimmst du eine
Zigarette?“

„Ja, danke. Nun will ich gleich nach den Pferden sehen.“

Bald saßen sie im Wagen, Albert kutschierend auf dem Bock, und als
Veraguth an einer Straßenecke in der Stadt ihn halten ließ und sich
verabschiedete, sagte er noch ein anerkennendes Wort zu ihm.

„Danke schön. Du hast Fortschritte gemacht und hast die Gäule jetzt sehr
gut in der Hand. Nun adieu, ich gehe später zu Fuß zurück.“

Er ging rasch auf der heißen Stadtstraße hinweg. Der Sanitätsrat wohnte
in einer stillen, vornehmen Gegend, es war um diese Tageszeit kaum ein
Mensch dort unterwegs. Ein Sprengwagen fuhr schläfrig dahin und zwei
kleine Knaben liefen hinterher, hielten die Hände in den dünnen
Tropfenregen und spritzten einander lachend in die erhitzten Gesichter.
Aus einem offenen Parterrefenster klang das gelangweilte Klavierspiel
eines übenden Schülers. Veraguth hatte stets eine tiefe Abneigung gegen
unbelebte Stadtstraßen gehabt, zumal im Sommer, sie erinnerten ihn an
junge Jahre, wo er in solchen Straßen in wohlfeilen langweiligen Zimmern
gewohnt hatte, mit Kaffee- und Küchengeruch auf den Treppen und mit dem
Blick auf Dachfenster, Teppichklopfständer und reizlose, lächerlich
kleine Gärten.

Es empfing ihn im Korridor zwischen großen goldgerahmten Bildern und
großen Teppichen ein diskreter Arztgeruch, und ein junges Mädchen in der
langen schneeweißen Krankenpflegerinnenschürze nahm ihm seine Karte ab.
Sie führte ihn erst ins Wartezimmer, wo mehrere Frauen und ein junger
Mann still und gedrückt auf Plüschsesseln saßen und in Zeitschriften
starrten, dann brachte sie ihn auf seine Bitte in einen anderen Raum, wo
in großen verschnürten Bündeln viele Jahrgänge eines medizinischen
Fachblattes gestapelt standen und wo er sich kaum ein wenig umgesehen
hatte, als das Mädchen schon wieder eintrat und ihn zum Sanitätsrat
führte.

Da saß er nun in einem großen Lederstuhl inmitten blitzender Sauberkeit
und Zweckmäßigkeit, und gegenüber am Schreibtisch saß klein und stramm
der Arzt; es war still in dem hohen Zimmer, nur eine kleine blanke
Stehuhr aus Glas und Messing schritt hellklingend ihren taktfesten
spitzen Gang.

„Ja, Ihr Junge gefällt mir nicht recht, lieber Meister. Haben Sie nicht
schon längere Zeit Störungen an ihm bemerkt, ich meine zum Beispiel
Kopfweh, Müdigkeit, Unlust zum Spielen und dergleichen? – Erst in der
allerletzten Zeit? Und war er schon länger so empfindlich? Gegen Lärm
und helles Licht? Gegen Gerüche? – So? Er mochte den Farbengeruch im
Atelier nicht leiden! Ja, das stimmt zum andern.“

Er fragte viel, und Veraguth gab in einer leichten Betäubung Antwort,
mit einem Gefühl ängstlicher Aufmerksamkeit und heimlicher Bewunderung
für diese schonend höfliche, tadellos präzise Sprechweise.

Dann kamen die Fragen nur noch langsam und vereinzelt, und schließlich
gab es eine lange Pause, die Stille hing wie eine Wolke im Zimmer, nur
vom gellend spitzen Gang der kleinen koketten Uhr unterbrochen.

Veraguth wischte sich den Schweiß von der Stirne. Er fühlte, daß es nun
Zeit war, die Wahrheit zu erfahren, und da der Arzt wie steinern dasaß
und schwieg, überfiel ihn mit schmerzhafter Lähmung der Schrecken. Er
rollte den Kopf, als ersticke er im Hemdkragen, und schließlich stieß er
heraus: „Ist es denn so schlimm?“

Der Sanitätsrat blickte auf. Er sah aus dem gelben, verarbeiteten
Gesicht mit einem bleichen Blick zu ihm herüber und nickte mit dem Kopf.

„Ja, leider. Es ist schlimm, Herr Veraguth.“

Er ließ den Blick nicht mehr von ihm. Wartend und aufmerksam sah er zu,
wie der Maler erbleichte und die Hände sinken ließ. Er sah das feste,
knochige Gesicht schwach und hilflos werden, sah den Mund seine scharfe
Spannung verlieren und die Augen blicklos irren. Er sah den Mund sich
krümmen und leise zittern, und sah die Lider über die Augen sinken wie
bei einem Ohnmächtigen. Er beobachtete und wartete. Und dann sah er den
Mund des Malers sich zusammenraffen, die Augen von neuem Willen belebt,
nur die tiefe Blässe war geblieben. Er sah, der Maler war bereit, ihn zu
hören.

„Was ist es, Doktor? Sie brauchen mich nicht zu schonen, reden Sie nur.
– Sie glauben doch nicht, daß Pierre sterben muß?“

Nun rückte der Sanitätsrat mit seinem Stuhl etwas näher. Er sprach ganz
leise, aber scharf und deutlich.

„Das kann niemand sagen. Aber wenn ich mich nicht ganz täusche, ist der
Kleine sehr gefährlich krank.“

Veraguth sah ihm in die Augen.

„Muß er sterben? Ich möchte wissen, ob Sie glauben, daß er sterben muß.
Verstehen Sie – ich möchte es wissen.“

Der Maler war, ohne es zu wissen, aufgestanden und wie drohend
vorgetreten. Der Arzt legte ihm die Hand auf den Arm, er zuckte zusammen
und sank alsbald wie beschämt wieder in den Sessel zurück.

„Es hat keinen Sinn, so zu reden,“ fing der Sanitätsrat wieder an. „Über
Tod und Leben entscheiden wir nicht, da werden wir Ärzte selber täglich
überrascht. Für uns muß jeder Kranke, solange er überhaupt noch atmet,
eine Hoffnung sein, wissen Sie. Wo kämen wir sonst hin!“

Geduldig nickte Veraguth und fragte nur: „Also, was ist es?“

Der Arzt hustete kurz.

„Wenn ich mich nicht täusche, ist es Gehirnhautentzündung.“

Veraguth saß still und sprach das Wort leise nach. Dann erhob er sich
und streckte dem Arzt die Hand hin.

„Also Gehirnhautentzündung,“ sagte er, und sprach ganz langsam und
vorsichtig, weil ihm der Mund wie bei großer Kälte zitterte. „Ist das
denn überhaupt heilbar?“

„Es ist alles heilbar, Herr Veraguth. Mancher legt sich mit
Zahnschmerzen hin und ist nach ein paar Tagen tot, ein anderer hat alle
Symptome der schwersten Krankheit und kommt davon.“

„Ja, ja. Und kommt davon! Ich will nun gehen, Herr Doktor. Sie haben
sich viel Mühe mit mir gegeben. Aber Gehirnhautentzündung ist also nicht
heilbar?“

„Lieber Herr ...“

„Verzeihen Sie. Sie haben vielleicht schon andere Kinder mit dieser Ge––
mit dieser Krankheit behandelt? Ja? Sehen Sie! – Leben diese Kinder
noch?“

Der Sanitätsrat schwieg.

„Leben vielleicht zwei davon noch, oder eins?“

Es kam keine Antwort.

Der Arzt hatte sich, wie unwillig, zum Schreibtisch gewendet und ein
Fach geöffnet.

„Werfen Sie die Flinte nicht so ins Korn!“ sagte er mit verändertem Ton.
„Ob Ihr Kind davonkommt, wissen wir nicht. Es ist in Gefahr, und wir
müssen ihm helfen, soviel wir können. Wir alle müssen ihm helfen,
verstehen Sie, und Sie auch. Ich brauche Sie. – – Ich komme abends noch
einmal hinaus. Für alle Fälle gebe ich Ihnen hier ein Schlafpulver mit,
vielleicht können Sie selbst es brauchen. Und nun hören Sie: der Kleine
muß volle Ruhe haben und soll möglichst kräftige Nahrung bekommen. Das
ist die Hauptsache. Wollen Sie daran denken.“

„Gewiß. Ich werde nichts vergessen.“

„Wenn er Schmerzen hat oder sehr unruhig wird, helfen laue Bäder oder
Wickel. Haben Sie einen Eisbeutel? Ich werde einen mitbringen. Sie haben
doch Eis draußen? Also gut. – Wir wollen hoffen, Herr Veraguth! Es geht
jetzt nicht an, daß einer von uns den Mut verliert, wir müssen alle auf
dem Posten sein. Nicht wahr?“

Er schöpfte aus Veraguths Gebärde Vertrauen und begleitete ihn hinaus.

„Wollen Sie meinen Wagen haben? Ich brauche ihn erst um fünf Uhr
wieder.“

„Danke, ich gehe zu Fuß.“

Er ging die Straße hinab, die leer war wie vorher. Aus jenem offenen
Fenster klang immer noch die unfrohe Schülermusik. Er sah auf die Uhr,
es war nur eine halbe Stunde vergangen. Langsam ging er weiter, Straße
um Straße, rundum durch die halbe Stadt. Er scheute sich, sie zu
verlassen. Hier drinnen, in diesem blöden armen Häuserhaufen, da war
Medizingeruch und Krankheit, da war Not und Angst und Tod zu Hause, da
trugen hundert freudelos schmachtende Gassen alles Schwere mit und man
war nicht allein. Aber draußen, schien ihm, unter Bäumen und klarem
Himmel, zwischen Sensengeläute und Grillenzirpen mußte der Gedanke an
das alles viel schrecklicher, viel sinnloser, viel verzweifelter sein.

Es war Abend, als er staubig und todmüde nach Hause kam. Der Arzt war
schon dagewesen, aber Frau Adele war ruhig und schien noch nichts zu
wissen.

Während der Abendmahlzeit unterhielt sich Veraguth mit Albert über die
Pferde. Er fand immer wieder etwas zu sagen, und Albert ging darauf ein.
Sie sahen, daß Papa sehr müde sei, sonst nichts. Er aber dachte mit fast
höhnischem Ingrimm immer wieder: „Ich könnte den Tod in den Augen haben
und sie würden nichts merken! Das ist meine Frau, und das ist mein Sohn!
Und Pierre stirbt!“ So dachte er in traurigem Kreislauf, während er mit
hölzerner Zunge Worte formte, die niemanden interessierten. Und dann kam
noch ein Gedanke dazu: „So ist es recht! So will ich allein mein Leid
austrinken, bis der letzte bittere Tropfen erschöpft ist. So will ich
sitzen und heucheln und meinen armen Kleinen sterben sehen. Und wenn ich
dann noch lebe, dann ist nichts mehr, das mich bindet, und nichts, das
mir weh tun kann, dann will ich gehen und will nie in meinem Leben mehr
lügen, nie mehr einer Liebe glauben, nie mehr abwarten und feig sein ...
Dann will ich nur noch Leben und Tat und Vorwärtsgehen kennen, keinen
Frieden mehr, keine Trägheit mehr.“

In dunkler Wollust fühlte er das Weh in seinem Herzen brennen, wild und
unerträglich, aber rein und groß, wie er noch nichts und noch nie
gefühlt hatte, und vor der göttlichen Flamme sah er sein kleines,
unfrohes, unaufrichtiges und mißgestaltetes Leben wertlos dahinsinken,
keines Gedankens und nicht einmal eines Tadels mehr wert.

So saß er noch eine Abendstunde lang im halbdunkeln Krankenzimmer bei
dem Knaben, und so lag er eine brennend schlaflose Nacht, mit Inbrunst
seinem fressenden Leid hingegeben, nichts hoffend und nichts begehrend,
als von diesem Feuer verzehrt und reingebrannt zu werden bis in die
letzte zuckende Faser. Er verstand, daß es so sein müsse, daß er gerade
das Liebste und Beste und Reinste, was er besessen, weggeben und sterben
sehen müsse.



                          Sechzehntes Kapitel


Es ging Pierre schlecht, und sein Vater saß beinahe den ganzen Tag bei
ihm. Der Knabe hatte immerzu Kopfschmerzen, er atmete rasch und jeder
Atemzug war ein kleines, banges Stöhnen. Zuweilen wurde sein kleiner,
magerer Körper von kurzen Zuckungen geschüttelt oder bäumte sich in
steilem Bogen auf. Dann lag er wieder lange vollkommen regungslos, und
schließlich überfiel ihn ein krampfhaftes Gähnen. Dann schlief er eine
Stunde und begann nach dem Erwachen wieder dieses regelmäßige, klagende
Seufzen, mit jedem Atemzug.

Er hörte nicht, was man zu ihm sagte, und wenn man ihn, fast mit Gewalt,
emporrichtete und ihm zu essen eingab, nahm er es in mechanischer
Gleichgültigkeit. Beim schwachen Licht, denn die Vorhänge waren dicht
geschlossen, saß Veraguth lange Zeit mit tiefer Aufmerksamkeit über den
kleinen Knaben gebückt und schaute mit frierendem Herzen zu, wie aus dem
hübschen vertrauten Knabengesicht ein lieber zarter Zug um den andern
abhanden kam und dahinschwand. Was übrigblieb, war ein bleiches
frühaltes Gesicht, eine unheimliche Maske des Leidens, mit vereinfachten
Zügen, in welchen nichts als Schmerz und Ekel und tiefes Grauen zu lesen
war.

Zuweilen sah der Vater dieses entstellte Gesicht in Augenblicken des
Schlummers weich werden und einen Schimmer vom verlorenen Liebreiz
seiner gesunden Tage wiedergewinnen, dann schaute er unverwandt mit
dürstender Liebesgier, sich die hinsterbende Lieblichkeit noch einmal
und noch einmal einzuprägen. Dann schien ihm, in seinem ganzen Leben
habe er nie gewußt, was Liebe sei, nie bis zu diesen Augenblicken des
Wachens und Schauens.

Frau Adele war tagelang ahnungslos geblieben, erst allmählich hatte sie
Veraguths gespanntes und sonderbar entrücktes Wesen bemerkt und
schließlich beargwöhnt, und wieder erst nach Tagen begann sie den
Zusammenhang zu ahnen. Da nahm sie ihn an einem Abend, als er Pierres
Zimmer verließ, beiseite und sagte kurz mit einem Ton von Kränkung und
Bitterkeit: „Was ist nun mit Pierre? Was ist es? Ich sehe, daß du etwas
weißt.“

Er sah sie wie aus tiefer Zerstreutheit an und sagte mit trockenen
Lippen: „Ich weiß nicht, Kind. Er ist sehr krank. Siehst du das nicht?“

„Ich sehe es. Ich will nun wissen, was es ist! Ihr behandelt ihn ja fast
wie einen Todkranken, du und der Doktor. Was hat er dir gesagt?“

„Er hat mir gesagt, es stehe schlimm und wir müßten sehr für ihn Sorge
tragen. Es ist eine Art Entzündung in seinem armen Kopf. Wir wollen
morgen den Doktor bitten, daß er uns mehr sagt.“

Sie lehnte sich an einen Bücherschrank und griff mit der Hand über sich
in die Falten des grünen Vorhanges. Da sie schwieg, blieb er geduldig
stehen, sein Gesicht war grau und seine Augen sahen entzündet aus. Er
zitterte schwach mit den Händen, doch stand er beherrscht und hatte eine
Art von Lächeln, einen seltsamen Schimmer von Ergebung, Geduld und
Höflichkeit im Gesicht.

Langsam kam sie zu ihm herüber. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und
schien in den Knien schwach zu werden. Ganz leise flüsterte sie: „Du
glaubst, daß er sterben muß?“

Veraguth hatte noch immer das schwache, törichte Lächeln um den Mund,
aber es liefen ihm kleine, hastige Tränen übers Gesicht. Er nickte nur
schwach mit dem Kopf, und da sie an ihm niederglitt und den Halt verlor,
hob er sie auf und half ihr auf einen Stuhl.

„Man kann es ja nicht sicher wissen,“ sagte er langsam und schwerfällig,
als wiederhole er mit Ekel eine alte Lektion, die ihm längst überdrüssig
geworden wäre. „Man darf den Mut nicht verlieren.“

„Man darf den Mut nicht verlieren,“ wiederholte er nach einer Weile
mechanisch, da sie wieder Kraft gewann und sich aufrecht setzte.

„Ja,“ sagte sie, „ja, du hast recht.“ Und wieder nach einer Pause: „Es
kann nicht sein. Es kann nicht sein.“

Und plötzlich stand sie wieder aufrecht, hatte Leben in den Augen und
alle Züge voll Verständnis und Trauer.

„Nicht wahr,“ sagte sie laut, „du wirst nicht zurückkommen? Ich weiß es.
Du willst uns verlassen?“

Er sah wohl, daß es ein Augenblick war, der keine Unaufrichtigkeit
erlaube. Darum sagte er kurz und ohne Ton: Ja.

Sie wiegte den Kopf hin und her, als müsse sie stark nachsinnen und
könne nicht damit fertig werden. Was sie aber nun sagte, kam aus keinem
Nachdenken und Überlegen, sondern floß ganz unbewußt aus der trüben,
trostlosen Bedrängtheit der Stunde, aus einer mutlosen Müdigkeit und vor
allem aus einem dunkeln Bedürfnis, irgend etwas gutzumachen und irgend
jemandem, der dafür noch erreichbar wäre, Gutes zu erweisen.

„Ja,“ sagte sie, „ich habe es mir so gedacht. Aber höre, Johann, Pierre
darf nicht sterben! Es darf nicht alles und alles jetzt auf einmal
zusammenbrechen! Und weißt du – ich möchte dir das noch sagen: Wenn er
wieder gesund wird, sollst du ihn haben. Hörst du? Er soll bei dir
bleiben.“

Veraguth verstand nicht sofort. Nur langsam wurde ihm klar, was sie
gesagt habe, und daß nun das, worum er mit ihr gestritten und um
dessentwillen er Jahre und Jahre gezögert und gelitten hatte – daß das
ihm nun, wo es zu spät war, zugesprochen werde.

Es kam ihm unsäglich sinnlos vor, nicht nur daß er jetzt plötzlich haben
sollte, was sie ihm so lange versagt hatte, sondern noch mehr, daß
Pierre just in dem Augenblicke ihm gehören solle, wo er dem Tod
verfallen war. Nun würde er ihm also doppelt sterben! Es war verrückt,
es war um zu lachen! Es war so grotesk und widersinnig, daß er wirklich
nahe daran war, in ein bitteres Gelächter auszubrechen.

Aber sie meinte es ohne Zweifel ernst. Sie glaubte offenbar noch nicht
ganz daran, daß Pierre sterben müsse. Es war gütig, es war ein
ungeheures Opfer von ihr, das sie in der schmerzvollen Verwirrung des
Augenblicks aus irgendeiner dunkeln guten Regung bringen wollte. Er sah,
wie sie litt, wie sie bleich war und sich mit Mühe aufrecht hielt. Er
durfte nicht zeigen, daß er ihr Opfer, ihre seltsame verspätete Großmut
wie eine tödliche Verhöhnung empfand.

Sie begann schon mit Befremdung auf ein Wort von ihm zu warten. Warum
sagte er nichts? Glaubte er ihr nicht? Oder war er ihr so fremd
geworden, daß er nichts von ihr annehmen wollte, auch nicht dieses
größte Opfer, das sie ihm bringen konnte?

Schon begann ihr Gesicht vor Enttäuschung zu zucken, da fand er die
Herrschaft über sich wieder. Er nahm ihre Hand, bückte sich und berührte
sie leicht mit kühlen Lippen, und sagte: „Ich danke dir.“

Da kam ihm ein Gedanke, und mit wärmerem Ton fügte er hinzu: „Nun will
ich aber auch für Pierre sorgen dürfen. Laß mich die Nacht bei ihm
wachen!“

„Wir werden abwechseln,“ sagte sie mit Entschiedenheit.

Pierre war an diesem Abend sehr ruhig. Es brannte ein kleines Nachtlicht
auf dem Tische, dessen schwacher Schein den kleinen Raum nicht füllte
und sich gegen die Türe hin in braune Dämmerung verlor. Veraguth hörte
noch lange dem Atmen des Knaben zu, dann legte er sich auf den schmalen
Diwan, den er sich hatte hereinbringen lassen.

In der Nacht, gegen zwei Uhr, erwachte Frau Adele, machte Licht und
stand auf. Die Kerze in der Hand, kam sie in einen Schlafrock gehüllt
herüber. Sie fand alles still. Pierre zitterte leicht mit den Wimpern,
als das Licht sein Gesicht berührte, wachte aber nicht auf. Und auf dem
Diwan lag, in den Kleidern und leicht zusammengekrümmt, ihr Mann im
Schlafe.

Sie leuchtete auch ihm ins Gesicht und blieb eine kleine Weile bei ihm
stehen. Und sie sah sein Gesicht aufrichtig und unverstellt, mit allen
Falten und ergrauten Haaren, die Wangen erschlafft und die Augen
unterhöhlt.

„Auch er ist alt geworden,“ dachte sie mit einer Empfindung, die halb
Mitleid und halb Genugtuung war, und fühlte sich versucht, ihm das
struppige Haar zu streicheln. Doch tat sie es nicht. Sie ging unhörbar
wieder hinaus, und als sie nach Stunden morgens wiederkam, saß er längst
wach und aufmerksam an Pierres Bett und sein Mund und der Blick, mit dem
er grüßte, war wieder straff von der geheimnisvollen Kraft und
Entschlossenheit, in die er seit Tagen wie in einen Panzer gehüllt ging.

Für Pierre kam heute ein schlechter Tag. Er schlief lange und lag dann
mit offenen Augen und erstarrtem Blick, bis eine neue Welle von
Schmerzen ihn erweckte. Er warf sich tobend im Bett umher, ballte die
kleinen Fäuste und drückte sie auf die Augen, sein Gesicht war bald
totenhaft weiß, bald glühend rot. Und dann begann er zu schreien, in
ohnmächtiger Empörung gegen unerträgliche Qualen, und schrie so lange
und so jammervoll, daß sein Vater schließlich blaß und vernichtet
hinweggehen mußte, weil er es nimmer mit anhören konnte.

Er ließ den Arzt kommen, der an diesem Tage noch zweimal wiederkehrte
und am Abend eine Pflegerin mitbrachte. Gegen Abend verlor Pierre das
Bewußtsein, man schickte die Pflegerin zu Bett und Vater und Mutter
blieben die ganze Nacht wach im Gefühl, das Ende könne nimmer fern sein.
Der Kleine rührte sich nicht und sein Atem ging unregelmäßig, aber
kräftig.

Veraguth und seine Frau aber dachten beide an die Zeit, da Albert einst
sehr krank gewesen war und sie ihn gemeinsam gepflegt hatten. Und sie
empfanden beide, daß wichtige Erlebnisse sich nicht wiederholen können.
Mild und etwas müde sprachen sie mit flüsternden Stimmen über das
Krankenbett hinweg miteinander, aber kein Wort von der Vergangenheit,
kein Wort von damals. Gespenstisch berührte sie die Ähnlichkeit der
Situation und des Geschehens, sie selbst waren andere geworden, sie
waren nicht mehr dieselben Menschen, die damals genau so wie jetzt über
ein todkrankes Kind gebeugt miteinander gewacht und gelitten hatten.

Albert hatte indessen, von der stillen Unruhe und schleichenden Sorge im
Hause bedrückt, nicht einschlafen können. Mitten in der Nacht erschien
er auf Zehenspitzen halbangekleidet in der Türe, kam mit erregtem
Flüstern herein und fragte, ob er nichts tun, nicht etwas helfen könne.

„Danke,“ sagte Veraguth, „aber es ist nichts zu tun. Geh du schlafen und
bleibe gesund!“

Aber als jener gegangen war, bat er seine Frau: „Geh du ein wenig zu ihm
hinüber und tröste ihn.“

Das tat sie gerne, und sie empfand es als eine Freundlichkeit von ihm,
daß er daran gedacht hatte.

Erst gegen Morgen folgte sie dem Zureden ihres Mannes und ging zu Bett.
Bei Tagesanbruch erschien die Pflegerin und löste ihn ab. Bei Pierre
hatte sich nichts verändert.

Unschlüssig ging Veraguth durch den Park, er hatte keine Lust, noch zu
schlafen. Doch mahnten ihn die brennenden Augen und ein ersticktes,
schlaffes Gefühl der Haut. Er badete im See und hieß Robert Kaffee
bringen. Dann betrachtete er im Atelier seine Waldstudie. Sie war frisch
und flott gemalt, aber es war doch nicht eigentlich das, was er gesucht
hatte, und nun war es mit dem geplanten Bilde und mit dem Malen auf
Roßhalde vorbei.



                          Siebzehntes Kapitel


Seit einigen Tagen war es Pierre immer gleich gegangen. Ein- oder
zweimal am Tage bekam er Krämpfe und Schmerzanfälle, sonst lag er mit
dämmernden Sinnen halbschlummernd. Das warme Wetter hatte sich
inzwischen in einer ganzen Reihe von Gewittern erschöpft, es war kühl
geworden, und im schwach strömenden Regen verlor der Garten und die Welt
den satten Sommerglanz.

Veraguth hatte die Nacht endlich einmal wieder im eigenen Bett
zugebracht und viele Stunden tief geschlafen. Jetzt, da er sich bei
offenen Fenstern entkleidete, nahm er erst die trübe Kühle wahr; in den
letzten Tagen war er wie in Fiebermüdigkeit einhergegangen. Er beugte
sich aus dem Fenster und atmete, vor Kühle leise schauernd, die
Regenluft des lichtlosen Morgens ein. Es roch nach nasser Erde und nach
Herbstnähe, und er, der die Merkmale der Jahreszeiten mit überfeinen
Sinnen zu erfühlen gewohnt war, bemerkte mit Verwunderung, wie ihm
dieser Sommer fast ohne Spur wie ungefühlt entschwunden war. Ihm schien
es, als habe er in Pierres Krankenzimmer nicht Tage und Nächte, sondern
Monate hingebracht.

Er warf den Gummimantel über und ging ins Haus. Er erfuhr, der Kleine
sei früh erwacht, schlafe aber seit einer Stunde wieder, und so leistete
er Albert beim Frühstück Gesellschaft. Der große Junge nahm sich Pierres
Krankheit sehr zu Herzen und litt, ohne es merken lassen zu wollen,
unter der gedämpften Krankenatmosphäre und sorgenschweren Bedrücktheit
des Hauses.

Als Albert weggegangen war, um sich in seinem Zimmer an die
Schularbeiten zu machen, ging Veraguth zu Pierre, der noch schlief, und
nahm seinen Platz am Bette ein. Er hatte in diesen Tagen manchmal
gewünscht, es möge doch lieber rasch zu Ende gehen, schon um des Kindes
willen, das längst kein Wort mehr sprach und so erschöpft und gealtert
aussah, als wisse es selber, daß ihm nicht mehr zu helfen sei. Dennoch
wollte er keine Stunde versäumen und hielt seinen Posten am Krankenbett
mit einer eifersüchtigen Leidenschaft inne. Ach, wie oft war der kleine
Pierre einst zu ihm gekommen und hatte ihn müde oder gleichgültig
gefunden, in die Arbeit vertieft oder an Sorgen verloren, wie oft hatte
er zerstreut und ohne Teilnahme diese kleine magere Hand in der seinen
gehalten und kaum auf die Worte des Kindes gehört, deren jedes nun eine
unschätzbare Kostbarkeit geworden war! Davon war nichts gutzumachen.
Aber jetzt, da der arme Kerl in Qualen lag und allein mit seinem
unbewehrten, verwöhnten Kinderherzen dem Tod gegenüberstand, jetzt, da
er in wenigen Tagen alle Lähmung, allen Schmerz und alle angstvolle
Verzweiflung durchkosten mußte, mit denen Krankheit, Schwäche, Altern
und Todesnähe ein Menschenherz schrecken und erdrücken, jetzt wollte er
immer und immer bei ihm sein. Er wollte es, um sich selbst zu strafen
und weh zu tun, und er wollte es, um ja nicht zu fehlen und vermißt zu
werden, wenn je ein Augenblick käme, wo der Kleine nach ihm begehren
würde und wo er ihm einen kleinen Dienst, ein wenig Liebe erweisen
könnte.

Und siehe, an diesem Morgen wurde er belohnt. An diesem Morgen schlug
Pierre die Augen auf, lächelte ihn an und sagte mit einer schwachen,
zärtlichen Stimme: „Papa!“

Dem Maler schlug das Herz stürmisch, als er endlich die lang vermißte
Stimme wieder hörte, die ihn rief und sich zu ihm bekannte und die so
dünn und schwach geworden war. So lange hatte er diese Stimme nur noch
stöhnen und in dumpfen Leiden elend lallen hören, daß er vor Freude tief
erschrak.

„Pierre, mein Lieber!“

Er bückte sich zärtlich herab und küßte den lächelnden Mund. Pierre sah
frischer und glücklicher aus, als er ihn je wieder zu sehen gehofft
hatte, die Augen waren klar und bewußt, die tiefe Falte zwischen den
Brauen war beinahe verschwunden.

„Mein Herz, geht dir’s besser?“

Der Knabe lächelte und sah ihn wie verwundert an. Der Vater bot ihm die
Hand und er legte sein Händchen hinein, das niemals sehr stark gewesen
und nun so klein und weiß und müde war.

„Nun sollst du gleich Frühstück bekommen, und nachher erzähle ich dir
Geschichten.“

„O ja, vom Herrn Rittersporn und von den Sommervögeln,“ sagte Pierre,
und wieder war es seinem Vater wie ein Wunder, daß er sprach und
lächelte und wieder ihm gehörte.

Er brachte ihm sein Frühstück, Pierre aß willig und ließ sich noch zu
einem zweiten Ei überreden. Dann verlangte er nach seinem
Lieblingsbilderbuch. Der Vater schob vorsichtig einen der Vorhänge
beiseite, das bleiche Licht des Regentages kam herein und Pierre
versuchte aufzusitzen und Bilder anzusehen. Es schien ihm keine
Schmerzen zu machen, aufmerksam betrachtete er mehrere Blätter und
begrüßte die lieben Bilder mit kleinen Ausrufen der Freude. Dann
ermüdete ihn das Sitzen und die Augen begannen wieder ein wenig zu
schmerzen. Er ließ sich zurücklegen und bat den Papa, ihm ein paar von
den Versen vorzulesen, vor allem von dem kriechenden Günsel, der zum
Apotheker Gundermann kommt:

   O Apotheker Gundermann,
   O helft mir doch mit Salben!
   Ihr seht, wie schlecht ich gehen kann,
   Es reißt mich allenthalben!

Veraguth gab sich Mühe, er las so frisch und schelmisch, als er irgend
konnte, und Pierre lächelte dankbar. Doch schienen die Verse nicht mehr
ihre alte Kraft zu haben, als sei Pierre, seit er sie nimmer gehört, um
Jahre älter geworden. Mit den Bildern und Versen kam wohl die Erinnerung
an viele helle, lachend frohe Tage wieder, die alte Freude und
übermütige Lust aber konnte nicht wiederkommen, und ohne es zu
begreifen, blickte der Kleine in die eigene Kindheit, die vor Tagen, vor
Wochen noch Wirklichkeit gewesen war, schon mit der Sehnsucht und Trauer
eines Erwachsenen hinüber. Er war kein Kind mehr. Er war ein Kranker,
dem die Welt der Wirklichkeit schon entglitten war und dessen
hellsichtig gewordene Seele schon überall und ringsum mit ängstlicher
Witterung den wartenden Tod erfühlte.

Dennoch war dieser Morgen voll Licht und Glück, nach all den furchtbaren
Tagen. Pierre war still und dankbar und Veraguth fand sich wider seinen
Willen immer wieder von ahnender Hoffnung berührt. Es war am Ende doch
möglich, daß der Knabe ihm erhalten blieb! Und dann gehörte er ihm; ihm
allein!

Der Sanitätsrat kam und blieb lange an Pierres Bett, ohne ihn mit Fragen
und Untersuchungen zu quälen. Erst jetzt kam auch Frau Adele dazu, die
sich mit der Pflegerin in die letzte Nachtwache geteilt hatte. Sie war
von der merkwürdigen Besserung wie benommen, sie hielt Pierres Hände so
fest, daß es ihm weh tat, und gab sich keine Mühe, die erlösenden Tränen
zu verbergen, die ihr aus den Augen liefen. Auch Albert durfte eine
kleine Weile hereinkommen.

„Es ist wie ein Wunder,“ sagte Veraguth zum Doktor. „Sind Sie nicht auch
überrascht?“

Der Sanitätsrat nickte und lächelte freundlich. Er widersprach nicht,
aber er zeigte offenbar keine übermäßige Freude. Sogleich wurde der
Maler wieder von Mißtrauen überfallen. Er beobachtete jede Gebärde des
Arztes und er sah in dessen Augen, während sein Gesicht lächelte, die
kalte Aufmerksamkeit und beherrschte Sorge ungelöst. Nachher belauschte
er lauernd durch den Türspalt das Gespräch des Doktors mit der
Pflegerin, und obwohl er kaum ein Wort davon verstehen konnte, meinte er
doch aus dem strengen, gemessen ernsten Flüsterton nichts als Gefahr
herauszuhören.

Schließlich begleitete er ihn zum Wagen und fragte in der letzten
Minute: „Sie halten nicht viel von dieser Besserung?“

Das häßliche, beherrschte Gesicht wandte sich zu ihm zurück. „Seien Sie
froh, daß er ein paar gute Stunden hat, der arme Bursche! Wir wollen
hoffen, daß es recht lange anhält.“

Es stand nichts von Hoffnung in seinen klugen Augen zu lesen.

Eilig, um keinen Augenblick zu verlieren, kehrte er ins Krankenzimmer
zurück. Die Mutter erzählte gerade die Geschichte vom Dornröschen, er
setzte sich daneben und sah zu, wie Pierres Züge dem Märchen folgten.

„Soll ich noch etwas erzählen?“ fragte Frau Adele.

Der Knabe blickte aus großen, ruhigen Augen auf.

„Nein,“ sagte er etwas müde. „Später.“

Sie ging, nach der Küche zu sehen, und der Vater nahm Pierres Hand. Sie
schwiegen beide, aber von Zeit zu Zeit sah Pierre mit einem schwachen
Lächeln auf, als freue er sich, daß Papa bei ihm sei.

„Nun geht es dir viel besser,“ sagte Veraguth schmeichelnd.

Pierre errötete leicht, seine Finger bewegten sich spielend in des
Vaters Hand.

„Nicht wahr, du hast mich lieb, Papa?“

„Gewiß, Schatz. Du bist mein lieber Junge, und wenn du wieder gesund
bist, wollen wir immer beieinander bleiben.“

„Ja, Papa ... Ich bin einmal im Garten gewesen, und da war ich ganz
allein und ihr habt mich alle nimmer liebgehabt. Ihr müßt mich aber
liebhaben, und ihr müßt mir helfen, wenn es wieder weh tut. O, es hat
mir so weh getan!“

Er hatte die Augen halb geschlossen und sprach so leise, daß Veraguth
sich dicht zu seinem Munde hinabbeugen mußte, um ihn zu verstehen.

„Ihr müßt mir helfen. Ich will artig sein, immer, ihr dürft mich nicht
schelten! Nicht wahr, ihr scheltet mich nie? Du mußt es auch Albert
sagen.“

Seine Lider zitterten und öffneten sich wieder, aber der Blick war
dunkel und die Pupillen übergroß.

„Schlafe, Kind, schlaf nur! Du bist müde. Schlafe, schlafe, schlafe.“

Veraguth schloß ihm vorsichtig die Lider und summte ihn ein, wie er es
früher in Pierres Babyzeiten manchmal getan hatte. Und der Kleine schien
einzuschlafen.

Nach einer Stunde kam die Pflegerin, um Veraguth zu Tische zu bitten und
inzwischen bei Pierre zu bleiben. Er ging ins Speisezimmer, nahm still
und zerstreut einen Teller Suppe und hörte kaum, was neben ihm
gesprochen wurde. Das angstvoll zärtliche Liebesgeflüster des Kindes
klang süß und traurig in ihm fort. Ach wie viel hundertmal hätte er so
mit Pierre reden und das naive Vertrauen seiner sorglosen Liebe spüren
können, und hatte es nicht getan!

Mechanisch griff er nach der Flasche, um sich Wasser einzuschenken. Da
klang von Pierres Zimmer schneidend ein lauter, gellender Schrei
herüber, der riß Veraguths wehmütigen Traum mitten durch. Alle sprangen
mit erbleichten Gesichtern empor, die Flasche fiel um, rollte über den
Tisch und klirrte zu Boden.

Mit einem Sprung war Veraguth aus der Türe und drüben.

„Den Eisbeutel!“ rief die Pflegerin.

Er hörte nichts. Nichts als den furchtbaren, verzweifelnden Schrei, der
ihm im Bewußtsein stak wie ein Messer in der Wunde. Er stürzte ans Bett.

Da lag Pierre schneeweiß mit gräßlich verzogenem Munde, seine
abgemagerten Glieder krümmten sich in wütenden Krämpfen, die Augen
stierten in vernunftlosem Entsetzen. Und plötzlich tat er nochmals einen
Schrei, noch wilder und heulender, und bäumte sich hoch im Bogen auf,
daß die Bettstatt zitterte, ließ sich fallen und bog sich wieder empor,
vom Schmerz gespannt und zusammengebogen wie eine Gerte von zornigen
Knabenhänden.

Alle standen entsetzt und hilflos, bis die Befehle der Pflegerin Ordnung
schafften. Veraguth lag auf den Knien vor dem Bett und suchte zu
verhindern, daß Pierre in seinen Zuckungen sich verletze. Trotzdem hieb
sich der Kleine die rechte Hand an dem metallenen Bettrande blutig. Dann
sank er zusammen, drehte sich um, daß er auf den Bauch zu liegen kam,
verbiß sich schweigend ins Kissen und fing an, mit dem linken Bein
taktmäßig auszuschlagen. Er hob das Bein, ließ es mit einer stampfenden
Bewegung wieder fallen, ruhte einen Augenblick und begann dann dieselbe
Bewegung von neuem, zehnmal, zwanzigmal, und immer weiter.

Die Frauen waren an der Arbeit, Umschläge vorzubereiten, Albert hatte
man weggeschickt. Veraguth kniete noch immer und sah zu, wie mit
unheimlicher Regelmäßigkeit unter der Decke das Bein sich hob, sich
streckte und niederfiel. Da lag sein Kind, dessen Lächeln noch vor
Stunden wie ein Sonnenschein gewesen war und dessen flehendes
Liebesgestammel noch eben sein Herz bis in die letzte Tiefe gerührt und
bezaubert hatte. Da lag es und war nichts als ein mechanisch zuckender
Körper, ein armes hilfloses Bündel von Schmerz und Jammer.

„Wir sind bei dir,“ rief er verzweifelt. „Pierre, Kind, wir sind da und
wollen dir helfen!“

Aber es gab keinen Weg mehr von seinen Lippen zur Seele des Knaben, und
alles beschwörende Trösten und sinnlose Zärtlichkeitsgeflüster drang
nicht mehr an die furchtbare Einsamkeit des Sterbenden. Der war weit weg
in einer anderen Welt, er wanderte dürstend durch ein Höllental voll
Pein und Todesnot, und vielleicht schrie er dort jetzt eben nach dem,
der neben ihm auf seinen Knien lag und der gerne jede Qual gelitten
hätte, um seinem Kinde zu helfen.

Jedermann wußte, daß dies das Ende war. Seit jenem ersten Schrei, der
sie aufgeschreckt hatte und der so bitter voll von tiefem, tierischem
Leid gewesen war, stand auf jeder Schwelle und in jedem Fenster des
Hauses der Tod. Niemand sprach von ihm, aber alle hatten ihn erkannt,
auch Albert und auch die Mägde unten, und selbst der Hund, der auf dem
Kiesplatz unruhig im Regen hin und wider lief und zuweilen ängstlich
winselte. Und ob man sich auch Mühe gab und Wasser kochte, Eis auflegte
und emsig zu tun hatte, es war kein Kämpfen mehr, es war keine Hoffnung
mehr dabei.

Pierre war nicht mehr bei Bewußtsein. Er zitterte am ganzen Leibe, als
fröre er, zuweilen schrie er schwach und irr, und immer wieder, nach
jeder erschöpften Pause, begann aufs neue das Bein zu schlagen und zu
stampfen, taktmäßig wie von einem Uhrwerk getrieben.

So ging der Nachmittag hin, und der Abend, und schließlich die Nacht,
und als in der ersten Frühe der kleine Kämpfer seine Kraft verbraucht
hatte und sich dem Feind ergab, da blickten über sein Bett hinweg die
Eltern sich aus übernächtigen Gesichtern wortlos an. Johann Veraguth
legte seine Hand auf Pierres Herz und konnte keinen Schlag mehr fühlen,
und er ließ die Hand auf der hageren Brust des Kindes liegen, bis sie
kühl und bis sie kalt wurde.

Dann strich er sachte mit der Hand über Frau Adeles gefaltete Hände und
sagte flüsternd: „Es ist zu Ende.“ Und während er seine Frau aus dem
Zimmer führte und sie stützte und ihrem heiseren Schluchzen zuhörte,
während er sie der Pflegerin überließ und an Alberts Tür horchte, ob er
wach sei, während er zu Pierre zurückkehrte und den Toten besser bettete
und zurechtlegte, fühlte er die Hälfte seines Lebens in sich abgestorben
und zur Ruhe gekommen.

Gefaßt tat er das Notwendige, und schließlich überließ er den Toten der
Pflegerin und legte sich zu einem kurzen, tiefen Schlafe nieder. Als das
volle Tageslicht durch die Fenster seiner Kammer schien, wurde er wach,
erhob sich sofort und ging an die letzte Arbeit, die er auf Roßhalde
noch zu tun gesonnen war. Er ging in Pierres Schlafzimmer, zog alle
Vorhänge weg und ließ den kühlen, herbstlichen Tag auf das kleine weiße
Gesicht und die starren Händchen seines Lieblings scheinen. Dann setzte
er sich zur Bettstatt, breitete einen Karton aus und zeichnete zum
letztenmal die Züge, die er so oft studiert, die er seit ihrer zarten
Werdezeit gekannt und geliebt hatte und die jetzt vom Tode gereift und
vereinfacht, aber noch immer voll von unbegriffenem Leide waren.



                          Achtzehntes Kapitel


Die Sonne schien feurig durch die Ränder der schlaffen, müdgeregneten
Wolken, als die kleine Familie von Pierres Begräbnis nach Hause fuhr.
Frau Adele saß aufrecht im Wagen, ihr ausgeweintes Gesicht sah seltsam
hell und starr aus dem schwarzen Hut und dem hochgeschlossenen schwarzen
Trauerkleide. Albert hatte geschwollene Lidränder und hielt beständig
seiner Mutter Hand in der seinen.

„Also ihr reiset beide morgen,“ sagte Veraguth ermunternd. „Macht euch
keine Sorgen, ich werde alles tun, was hier noch notwendig ist. Mut,
mein Junge, es kommen wieder bessere Zeiten!“

Sie stiegen vor Roßhalde aus. Die tropfenden Zweige der Kastanien
funkelten brennend im Licht. Geblendet traten sie in das stille Haus, wo
die Mädchen flüsternd in Trauerkleidern warteten. Pierres Zimmer hatte
der Vater abgeschlossen.

Es war Kaffee bereit, und die drei setzten sich um den Tisch.

„Ich habe in Montreux Zimmer für euch bestellt,“ fing Veraguth wieder
an. „Seht zu, daß ihr euch gut erholt! Auch ich will reisen, sobald ich
hier fertig bin. Robert wird hierbleiben und das Haus in Ordnung halten.
Er wird meine Adresse haben.“

Niemand hörte auf ihn, eine tiefe, beschämende Nüchternheit drückte wie
ein Frost auf alle. Frau Adele sah starr vor sich nieder und las
Brosamen vom Tischtuch. Sie schloß sich in ihre Trauer ein und wollte
sich durch nichts daraus wecken lassen, und Albert ahmte ihr nach. Seit
der kleine Pierre tot lag, war der Anschein von Zusammengehörigkeit in
der Familie wieder dahingeschwunden, wie die Höflichkeit aus dem Gesicht
eines mühsam Beherrschten, wenn ein gefürchteter mächtiger Gast wieder
abgereist ist. Es war einzig Veraguth, der über alle Tatsachen hinweg
bis zum letzten Augenblick seine Rolle weiterspielte und die Maske
festhielt. Er fürchtete, irgendeine weibliche Szene möchte ihm den
Abschied von Roßhalde noch verderben, und im Herzen wartete er
sehnlichst auf die Stunde, wo die beiden abgereist sein würden.

So allein war er nie gewesen wie am Abend dieses Tages, als er in seinem
Stübchen saß. Drüben packte seine Frau ihre Koffer. Er hatte Briefe
geschrieben und Geschäfte besorgt, er hatte sich bei Burkhardt
angemeldet, der noch nichts von Pierres Tod wußte, hatte dem Anwalt und
der Bank die letzten Anweisungen und Vollmachten gegeben. Nun war der
Schreibtisch abgeräumt und er hatte das Bild des toten Pierre vor sich
aufgestellt. Der lag nun im Boden, und es war die Frage, ob Veraguth
jemals wieder so sein Herz an einen Menschen weggeben, eines andern
Leiden so würde mitleiden können. Er war jetzt allein.

Lange betrachtete er seine Zeichnung, die erschlafften Wangen, die über
eingesunkenen Augen geschlossenen Lider, den schmalen gepreßten Mund,
die grausam gemagerten Kinderhände. Dann verschloß er das Bild im
Atelier, nahm den Mantel um und ging ins Freie. Der Park war schon
nächtlich und alles still. Drüben im Hause leuchteten ein paar erhellte
Fenster, die gingen ihn nichts an. Aber unter den schwarzen
Kastanienbäumen, in der kleinen verregneten Laube, auf dem Kiesplatz und
im Blumengarten wehte noch etwas wie Leben und Erinnerung. Hier hatte
Pierre ihm einst – war es nicht Jahre her? – eine kleine gefangene Maus
gezeigt, und dort beim Phlox hatte er mit den Schwärmen der blauen
Falter gesprochen, und für die Blumen hatte er phantastisch-zärtliche
Namen erfunden. Hier überall, im Hof beim Geflügel und Hundehaus, auf
dem Rasenplatz und in der Lindenallee hatte er sein kleines Leben
geführt, seine Spiele gespielt, hier war sein leichtes, freies
Knabenlachen und der ganze Liebreiz seiner eigenwillig selbständigen
Person heimisch gewesen. Hier hatte er hundertmal, von niemand beachtet,
seine Kinderfreuden genossen und seine Märchen erlebt, hier hatte er
vielleicht zuweilen gezürnt oder geweint, wenn er sich vernachlässigt
oder unverstanden gefühlt hatte.

In der Dunkelheit irrte Veraguth umher und besuchte jeden Ort, der ihm
eine Erinnerung an seinen Knaben bewahrte. Zuletzt kniete er bei Pierres
Sandberg nieder und kühlte seine Hände im feuchten Sande, und als er
dabei ein hölzernes Ding zu fassen bekam und aufhob und Pierres kleine
Sandschaufel erkannte, sank er willenlos nieder und konnte endlich, zum
erstenmal in diesen drei furchtbaren Tagen, frei und fessellos weinen.

Am Morgen hatte er noch eine Unterredung mit Frau Adele.

„Tröste dich,“ sagte er zu ihr, „und vergiß nicht, daß Pierre ja mir
gehört hat. Du hattest ihn mir abgetreten – ich danke dir nochmals
dafür. Ich wußte schon damals, daß er sterben müsse – aber es war lieb
von dir. Und nun lebe ganz, wie es dir gefällt, und übereile nichts!
Behalte Roßhalde einstweilen, es könnte dich reuen, wenn du es zu bald
weggäbest. Darüber wird dich der Notar noch belehren, er meint, der
Bodenwert müsse hier bald steigen. Viel Glück dazu! Mir gehört hier
nichts mehr als die Sachen im Atelier, ich werde sie später abholen
lassen.“

„Danke ... Und du? Du willst nie mehr hierher kommen?“

„Nie mehr. Es hätte keinen Zweck. Und ich wollte dir noch sagen: es ist
bei mir gar keine Bitterkeit mehr vorhanden. Ich weiß, ich bin an allem
selbst schuldig gewesen.“

„Sage das nicht! Du meinst es gut, aber es quält mich nur. Da bleibst du
nun ganz allein zurück! Ja, wenn du Pierre hättest behalten können. Aber
so – nein, so hätte es nicht kommen dürfen! Ich habe auch schuld gehabt,
ich weiß ...“

„Das haben wir abgebüßt, Kind, in diesen Tagen. Du mußt ruhig sein, es
ist alles gut, es ist wirklich nichts mehr zu klagen. Sieh, jetzt hast
du Albert ganz für dich. Und ich, ich habe meine Arbeit. Damit läßt sich
alles ertragen. Auch du wirst glücklicher sein, als du es seit Jahren
warst.“

Er war so ruhig, daß auch sie sich überwand. Ach, es gab Vieles,
unendlich Vieles, was sie noch gerne gesagt hätte, wofür sie ihm noch
hätte danken, worum sie ihn hätte anklagen mögen. Aber sie sah, er hatte
recht. Für ihn war dies alles offenbar schon wesenlose Vergangenheit
geworden, was sie noch als Leben und bittere Gegenwart empfand. Es hieß
nun stille sein und das Alte vergangen sein lassen. Und so hörte sie mit
geduldiger Aufmerksamkeit an, was er anzuordnen hatte, und wunderte
sich, wie wohl er alles überlegt und an alles gedacht hatte.

Über die Scheidung wurde kein Wort gesprochen. Das konnte irgendeinmal
später geschehen, wenn er von Indien zurück war.

Nach Mittag fuhren sie zur Bahn. Da stand Robert mit den vielen Koffern,
und im Lärm und Ruß der großen Glashalle brachte Veraguth die beiden in
ihren Wagen, kaufte Zeitschriften für Albert und übergab ihm den
Gepäckschein, wartete vor dem Fenster bis zur Abfahrt, zog grüßend den
Hut und sah dem Zuge nach, bis Albert vom Fenster verschwand.

Auf dem Heimwege ließ er sich von Robert die Auflösung seines übereilten
Verlöbnisses erzählen. Zu Hause fand er schon den Tischler warten, der
die Kisten zu seinen letzten Bildern zimmern sollte. Wenn diese verpackt
und weggeschickt waren, wollte auch er gehen. Ihn verlangte sehnlich
nach der Abreise.

Und nun war auch der Tischler abgefertigt. Robert arbeitete im
Herrschaftshause mit der einen Magd, die noch da war, sie deckten die
Möbel zu und schlossen Fenster und Läden.

Veraguth ging mit langsamen Schritten durch seine Werkstatt, durch den
Wohn- und Schlafraum, dann ins Freie, um den Weiher und durch den Park.
So war er hundertmal hier umhergegangen, aber heute schien ihm alles,
Haus und Garten, See und Park vor Einsamkeit widerzuhallen. Der Wind
blies kalt im schon vergilbenden Laube und führte in niedrig hängenden
Zügen neue wollige Regenwolken heran. Der Maler schauerte fröstelnd
zusammen. Nun war niemand mehr da, für den er zu sorgen, auf den er
Rücksicht zu nehmen, vor dem er Haltung zu bewahren hatte, und nun erst
fühlte er in frierender Einsamkeit die Sorgen und Nachtwachen, das
zitternde Fieber und die ganze zerrüttende Ermüdung dieser letzten Zeit.
Er fühlte sie nicht nur in Kopf und Gliedern, er empfand sie noch tiefer
im Gemüt. Da waren die letzten spielenden Lichter von Jugend und
Erwartung ausgelöscht; aber er fühlte die kühle Isoliertheit und
grausame Nüchternheit nicht wie ein Schrecknis.

Unbeirrt suchte er, durch die nassen Wege weiterschlendernd, die Fäden
seines Lebens zurückzuverfolgen, deren einfaches Gewebe er nie so klar
und befriedigt überschaut hatte. Und er stellte ohne Erbitterung fest,
daß er alle diese Wege in Blindheit gegangen sei. Er war, das sah er
genau, trotz allen Versuchen und trotz aller nie ganz erloschenen
Sehnsucht am Garten des Lebens vorübergegangen. Er hatte niemals in
seinem Leben eine Liebe bis zum letzten Grunde erlebt und gekostet, nie
bis in diese letzten Tage. Da hatte er am Bett seines sterbenden Knaben,
allzu spät, seine einzige wahre Liebe erlebt, da hatte er zum erstenmal
sich selbst vergessen, sich selbst überwunden. Das würde nun für immer
sein Erlebnis und sein armer kleiner Schatz bleiben.

Was ihm blieb, das war seine Kunst, der er sich nie so sicher gefühlt
hatte wie eben jetzt. Ihm blieb der Trost der Draußenstehenden, denen es
nicht gegeben ist, das Leben selber an sich zu reißen und auszutrinken;
ihm blieb die seltsame, kühle, dennoch unbändige Leidenschaft des
Sehens, des Beobachtens und heimlich-stolzen Mitschaffens. Das war der
Rest und der Wert seines mißglückten Lebens, diese unbeirrbare
Einsamkeit und kalte Lust des Darstellens, und diesem Stern ohne Abwege
zu folgen, war nun sein Schicksal.

Er atmete tief die feuchte, bitter duftende Parkluft, und bei jedem
Schritt meinte er die Vergangenheit von sich zu stoßen wie einen unnütz
gewordenen Kahn vom erreichten Ufer. In seiner Prüfung und Erkenntnis
war nichts von Resignation; voll Trotz und unternehmender Leidenschaft
sah er dem neuen Leben entgegen, das kein Tasten und dämmerndes Irren
mehr sein durfte, sondern ein steiler, kühner Weg bergan. Später und
bitterer vielleicht, als Männer sonst es tun, hatte er von der süßen
Dämmerung der Jugend Abschied genommen. Jetzt stand er arm und verspätet
im hellen Tag, und von dem gedachte er keine köstliche Stunde mehr zu
verlieren.


                                  Ende



                                 Werke
                                  von
                             Hermann Hesse


                            Peter Camenzind

         Roman. Fünfundsechzigste Auflage. Geheftet 3 Mark, in
                             Leinen 4 Mark.


                               Unterm Rad

        Roman. Neunzehnte Auflage. Geheftet 3.50 Mark, in Leinen
                               4.50 Mark.


                               Diesseits

        Erzählungen. Achtzehnte Auflage. Geheftet 3.50 Mark, in
                           Leinen 4.50 Mark.


                                Nachbarn

      Erzählungen. Zwölfte Auflage. Geheftet 3.50 Mark, in Leinen
                               4.50 Mark.


                                 Umwege

       Erzählungen. Zehnte Auflage. Geheftet 3.50 Mark, in Leinen
                               4.50 Mark.


                               Aus Indien

       Aufzeichnungen von einer indischen Reise. Sechste Auflage.
                   Geheftet 3 Mark, in Leinen 4 Mark.


                            Peter Camenzind

   Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der
   Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn
   du einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch
   blühende Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack
   die Geschichte des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und
   wandre, bis du zu einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger
   hoher Bergschroffen liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir
   Peter Camenzind von den Bergen und vom Walde, von den Strömen und
   von der Liebe zu erzählen hat. Und glaub mir: Du wirst größer,
   reiner, freier wieder heimkehren in die Stadtwirrnis.

                                                        (Die Woche)


                               Unterm Rad

   Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und
   mit der Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und
   unters Rad kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und
   heimlicher leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und
   gewichtig in seiner Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie
   das Resultat einer unnachahmlichen sprachlichen Meisterschaft und
   stilistischen Adels ist.

                                                (Münchener Zeitung)


                               Diesseits

   Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem
   stillen, schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder
   Alltäglichkeit weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der
   leise schaffenden Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung
   sollte man Hermann Hesses neuen Novellenband „Diesseits“ lesen.
   Denn duftig und zart wie Gedichte sind diese Erzählungen ...
   Diese Wechselwirkung zwischen dem psychischen Erlebnis und der
   von einem echten Poetenauge in einer erstaunlichen Fülle feiner
   Züge beobachteten Natur könnte kaum inniger und vollkommener
   sein.

                                             (Neue Zürcher Zeitung)


                                Nachbarn

   Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den fünf
   Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch
   zusammengeschweißt erscheinen sie ... Ruhig, über allen Dingen
   schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns
   diese Geschichten erzählt. Aber in einer Sprache, die
   ihresgleichen sucht, und die den Stolz in uns aufleben läßt:
   sehet, das ist Deutsch. Gott sei Dank, daß es eine deutsche
   Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln.

                              (Württembergische Zeitung, Stuttgart)


                                 Umwege

   Hermann Hesse bringt immer Freude, bringt immer Gewinn. Diese
   höchste Kunst in der stillsten Schlichtheit seines Wortgefüges,
   diese innig beteiligte Herzlichkeit seiner Menschenschilderung,
   diese ruhig abwartende Ironie der Darstellung menschlicher
   Schwächen und Schwänke sind unvergleichlich. Wie Gottfried Keller
   in seinen „Seldwylern“, so hat Hesse in seinen Gerbersauern seine
   sicherste Meisterschaft erreicht, seine ganz persönliche Domäne
   gefunden. Nur ungern verläßt man den Kreis derer, die sein Blick
   aus dem Alltage gehoben, gewählt hat zu Kunstwerklein, deren
   filigranfein gestichelte Prägung dem Kenner und beschaulichen
   Genießer nachhaltige Freuden gewährt.

                                               (Berliner Tageblatt)


                               Aus Indien

   Hesse hat Indien ganz auf seine Art erlebt, mit jener selben
   großen, verinnerlichten Gelassenheit, mit der er in seinen
   Romanen und Novellen Menschen und Landschaften seiner
   süddeutschen Heimat erlebt. Wohin er uns auch führt, es ist ein
   berückender Genuß, ihm zu folgen. Alles Fremde, Exotische führt
   den Dichter schließlich zu sich selbst zurück. So wirkt es denn
   ganz selbstverständlich, daß seine Aufzeichnungen sich in einer
   Reihe schön-schlichter Gedichte fortsetzen, in denen eine durch
   alle östlichen Wunder nicht gestillte Wandersehnsucht Ausdruck
   findet, und dann in einer Erzählung endigen, in der der Dichter
   die neu eroberte Umwelt als Hintergrund für ein mit Meisterschaft
   erzähltes Menschenschicksal benutzt. Damit pflückt er noch einmal
   eine nach Farbe und Duft exotische Blüte, und doch ist der Baum,
   an dem sie gewachsen, ein völlig heimischer; eine in die feinsten
   seelischen Gründe tauchende Erzählkunst, wie sie Hesse mit unsern
   besten deutschen Meistern verbindet.

                                  (Königsberger Allgemeine Zeitung)


             Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig



                     Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.



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