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Title: Mein Weg zu Martin Luther
Author: Ohorn, Anton
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
    ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Warum evangelisch?

    Herausgegeben von

    Professor Dr. =Friedrich Ulmer= in Erlangen

    Heft 2

    Hofrat ~Dr.~ Anton Ohorn

    Mein Weg zu Martin Luther

    1924

    Berlin ~W~ 35      Verlag des Evangelischen Bundes



Vorwort.


Die Fülle und Kraft evangelischen Bekennertums ist in der Christenheit
in Vergessenheit geraten. Das war Undank gegen Tote und Unrecht gegen
Lebende. Wie keine andere Kirche der Welt zählt die evangelische
Glaubenszeugen. Ihre Kraft des Leidens und Sterbens muß wieder wirksam
werden. Gerade in der äußeren und inneren Not der Gegenwart. Wer den
letzten Satz des Lutherliedes singt, der muß wieder inne werden, daß
unter ihm Ströme evangelischen Blutes geflossen sind, und wieder
lernen, daß das Evangelium, wie es die Kirche Luthers und der anderen
Reformatoren in den Mittelpunkt des Glaubenslebens stellt, heute noch
wert ist solchen Singens und Darnachhandelns. Singe niemand diesen
schweren Satz, der ihn nicht wahr machen wollte in seinem Leben!

Unser Volk und unsere Kirche brauchen Männer und Frauen starken,
gottgebundenen Gewissens. Möge sich nach Gottes freundlichem Willen
Kraft und Treue tiefen Glaubens entzünden und stärken an solchen, deren
Gewissen nirgends Ruhe gefunden als am Quell allen Lebens und allen
Heils, wie ihn unsere evangelische Kirche als heiligstes Kleinod weiß.

        Der Verlag des
        Evangelischen Bundes.

                Der Herausgeber:
                Professor =Dr. Friedrich Ulmer=.



Im Jahre 1865 trat ich in das Prämonstratenser-Chorherrnstift Tepl
bei Marienbad in Böhmen als Novize ein, nicht mit freudigem Herzen
einem inneren Drange folgend, sondern unter dem Druck der Verhältnisse
und der Wünsche meiner Eltern. Diese waren unbemittelte Leute, die
sich außerstande sahen, die Kosten für ein freies Hochschulstudium
aufzubringen und zudem in ihrem fromm-katholischen Sinn fest daran
glaubten, daß der geistliche Beruf nicht nur der schönste sei, sondern
ihrem Sohn und ihnen selbst den Weg zum Himmel zu ebnen vermöge. Im
Hause wurde vor und nach jeder Mahlzeit laut gebetet, der tägliche
Frühgottesdienst wurde ebenso wie die monatliche Beichte und Kommunion
nie versäumt, und ich selbst versah seit meinen Knabentagen bei der
Messe den Ministrantendienst und übte denselben ganz ungewöhnlicher
Weise bis zu meinem Abgang vom Gymnasium.

Dies war in der Hand von geistlichen Professoren, Mönchen des von
Wallenstein gegründeten Klosters, denen aber nachgerühmt werden muß,
daß sie frei von jedem Fanatismus waren und ihres Amtes in bester
und vorurteilsfreier Weise walteten, und da sie auch wohlgenährt und
heiter in die Welt sahen, so lag es nahe, auch in bezug auf leibliches
Wohlbefinden und Behagen den Klosterberuf als den besten zu betrachten.
Von einer evangelischen Konfession wußte man in der Heimatstadt so gut
wie nichts, nur galten ganz allgemein die Protestanten als Ketzer, und
ich entsinne mich, daß, als ich, noch Knabe, mit meinem Vater einst
durch ein in der Diaspora gelegenes evangelisches Dorf wanderte, ich
mich vor den friedlichen Leuten fürchtete im Glauben, daß sie uns
überfallen würden.

Ich war im Grunde gedankenlos ins Kloster eingetreten und sollte hier
immer wieder manches sehen und erleben, was zum Nachdenken anregte und
die idealen Vorstellungen vom Ordensleben immer mehr trübte. Das war
wohl zunächst der Fall bei dem Chorgebet. Die Novizen mußten sechsmal
des Tages in die Kirche bzw. in das Oratorium gehen und viermal wurden
dabei die Horen (Tagzeiten) abgebetet, die in der Hauptsache aus den
von sich gegenübersitzenden Ordensleuten alternierend und mit monotoner
Schnelligkeit gesprochenen Psalmen bestehen. Der Neuling ist davon
wenig angenehm überrascht; es ist kein Beten, dies mechanische Hersagen
der lateinischen Worte, bei denen sich wohl keiner etwas denkt, zumal
der ganze Vorgang gewohnheitsmäßig wird und beinahe an die Gebetsmühlen
des Orients gemahnt. Jede Tageszeit beginnt mit den Worten: »~Domine,
ad adjuvandum me festina~« (Herr, eile mir zu helfen), aber richtiger
wäre es, wie auch ein junger Kleriker mir auf mein Befremden
scherzweise sagt, zu sprechen: »~Domine, ad festinandum me adjuva!~«
(Herr, hilf mir beim Eilen.) Eine weitere Enttäuschung ergab sich, je
mehr man die einzelnen »Brüder« kennen lernte. Das war beinahe eine
Sammlung menschlicher Spezialitäten in engem Raume. Da war neben dem
behaglichen Genußmenschen, dem sein Bauch zum Gott geworden, der in
seinem Lebenskampf ernst gewordene Mann, der schweigend und einsam
einherging und sein Empfinden in tiefster Brust begrub; da schritt,
verbissen und verbittert über sich und andere, mit gelber, galliger
Miene einer hin, der seinen Geifer über alles ausgoß, und ein anderer,
kindlich und kindisch zugleich, übte Torheiten und Lächerlichkeiten. An
der Kanzel im Refektorium standen in lateinischer Sprache die Worte:
»Wie schön ist's, wenn Brüder in Eintracht wohnen«, und sie konnten
manchmal wie eine bittere Ironie erscheinen, denn die »Brüder« lebten
nicht immer in Eintracht. Abgesehen von kleinlichem Neid, unverhehlter
Mißgunst und Strebertum, was die Eintracht nicht zu fördern vermochte,
fand sich sogar offene Feindschaft und finsterer Haß. Hier gab es
Brüder, die jahrelang kein Wort wechselten, Rücken gegen Rücken bei
Tisch saßen, wenn die Reihenfolge sie verurteilte, Nachbarn zu sein,
ja selbst Tätlichkeiten sollen nicht ausgeschlossen gewesen sein.
Das enge Beisammenwohnen, der tägliche Verkehr, der Zwang der Regel
schleift die Charaktere nicht ab, sondern verschärft ihre Gegensätze.
Geringfügige Streitursache, die in der Welt leicht verwunden wird
wie ein unbedeutender und verheilender Hautritz, wird eigensinnig
weitergesponnen und zu unheilbarem Geschwür.

Für den jungen Novizen sind solche Bilder wenig geeignet, das
Ordensleben in freundlichem Lichte erscheinen zu lassen, zumal wenn
er sieht, wie Priester mit unbrüderlichem Herzen, ja voll Haß vor den
Altar treten und in der Messe den Leib des Herrn genießen, und manches
wird fast unbewußt in ihm erschüttert, was er im Kloster erhofft und
ersehnt und an das er auf dem Boden der Kirche geglaubt hatte.

Auch manches, was der Glaube fordert, wie beispielsweise die
Heiligenverehrung, sah man mit anderen Augen an. So befanden sich
in der Kirche auf einem Seitenaltar Reliquien zweier Heiligen, und
mitunter knieten wohl auch meist Altmütterchen davor und beteten.
Da hatte ich eines Tages, wie es mitunter vorkam, die Aufgabe,
fremde Besucher aus Marienbad, die sich während des Sommers häufig
einfanden, in Bibliothek, Museum und Kirche herumzuführen und sie auf
besondere Sehenswürdigkeiten aufmerksam zu machen. Vor den Reliquien
blieben sie stehen, und ein würdiger älterer Herr, wohl aus guten
Gesellschaftskreisen, fragte mich durchaus ernst: »Glauben Sie
denn wirklich an Wunder, die die Heiligen üben und an ihre Fürbitte
beim lieben Gott?« Ich geriet bei der Frage unwillkürlich etwas in
Verlegenheit und konnte nur sagen: »Ich trage das Ordenskleid des
heiligen Norbert« -- aber die Frage kam mir nicht aus dem Sinn. Waren
die Heiligen wirklich gleich Gott selbst allgegenwärtig und allwissend,
um alle die Gebete, die an den verschiedensten Orten der Welt, und an
ihren Gedächtnistagen von Tausenden zugleich, an sie gerichtet wurden,
kennenzulernen, geschweige erfüllen bzw. bei Gott Fürbitte leisten
zu können? Und waren die Wunder, die in der zweiten Nokturne des
Matutinums von dem jeweiligen Tagesheiligen erzählt wurden, wirkliche
Geschehnisse oder oft recht fantastische Märchen?

So folgte eine Beunruhigung der anderen, zumal auch manches Persönliche
sich unangenehm aufdrängte. Da lernte ich einen alten Pfarrer
kennen, der im Kloster im Ruhestand lebte, den seine vormalige
Köchin hier aufsuchte, um, wie ich ~sub rosa~ von dem Pförtner
erfuhr, eine Unterstützung für den gemeinsamen Sohn zu erbitten,
und ein geistesschwacher, ja geradezu hirnschelliger Priester, der
wohl nicht in diesem Zustande ins Kloster gekommen war, flüsterte
mir wiederholt zu, ich möge rechtzeitig das Kloster verlassen. Auch
einen tiefunglücklichen Mitnovizen hatte ich, der gleich mir ohne
eigentlichen Beruf in den Orden eingetreten war und in Trübsinn und
Schwermut dahinlebte, während ich bereits damals in literarischer
Beschäftigung Ablenkung und Trost suchte.

Erregend, aber nicht erhebend und seelisch läuternd wirkte auch
eine Jesuitenmission. Drei Priester des Ordens S. J. waren für
drei Tage in das Stift gekommen. Der Superior war eine mittelgroße
Persönlichkeit mit scharfgeschnittenen Zügen, durchdringenden Augen und
kurzgeschorenem ergrauten Haar, der zweite, ein Graf Klinckowström, der
vordem Offizier gewesen sein soll, eine stattliche, breitschultrige
Erscheinung mit einem beinahe jovialen Gesichtsausdruck, und der Dritte
war hager und sehnig und hatte im ganzen Wesen etwas Asketisches. Essen
und Trinken ließen sich alle drei wohlschmecken. Jeder predigte täglich
einmal, so daß wir, zumal die üblichen Gebetszeiten nicht ausfielen,
aus dem Gotteshause nicht herauskamen, aber das Zuviel verfehlte auch
hier seinen Zweck und machte müde und verstimmt. Der Superior sprach
geistvoll und klar, mit bestimmter Tendenz; der Asket predigte heiß
mit einem Anhauch von fanatischer Schärfe, die die Seele in ihrer
Tiefe aufwühlte, und doch waren es Steine, die er statt Brotes gab.
~P.~ Klinckowström zu hören war ein Genuß. Er bot ein geistvolles
Feuilleton, frei von jedem gehässigen Einschlag und mit seinem
allgemein religiösen Grundton eventuell auch geeignet und anregend
für die Bekenner einer anderen Konfession. Zu den Exerzitien waren
zahlreiche Brüder von auswärts gekommen; wer immer in der Seelsorge
entbehrt werden konnte, war erschienen. Das Refektorium war gefüllt,
die Mahlzeiten aber wurden in jenem tiefen Schweigen eingenommen, das
überhaupt für die Dauer der Mission Vorschrift war, doch das Schweigen
wirkte nicht erhebend, sondern geradezu drückend, und wir Novizen
dispensierten uns auch abends davon.

Da es Schwierigkeiten gemacht hatte, alle Brüder unterzubringen,
mußten wir Jüngsten unsere Zimmer räumen und wurden gemeinsam in
einem größeren Gemache untergebracht. Da es an Bettstellen mangelte,
hatte man uns Strohlager bereitet, was uns nicht störte. Bequem war
der Aufenthalt nicht; ein Tisch und einige Stühle waren die ganze
Einrichtung. Hier saßen wir abends beisammen, und da gab es ein
halblautes Schwätzchen, bei dem der heitere Anklang um so weniger
fehlte, als die Situation geradezu dazu lockte, denn das Beisammensein
mahnte an eine Schneiderwerkstatt, wenn wir flüchtig werdende Knöpfe
dingfest machten oder sonstige kleine Reparaturen an Hose und Weste
vornahmen; Schlimmes war gewiß nicht dabei, aber der Ernst des Tages
wurde abgemildert.

Auch zur Beichte gingen wir bei den Jesuiten. Eine peinliche
Gewissensforschung war vorausgegangen, aber auch diese genügte nicht,
und der Beichtiger stellte selbst seine Fragen. Er griff in die
heimlichsten Winkel der Seele, und manches trieb mir die Schamröte
in die Wangen, manches habe ich wohl gar nicht verstanden. Die Buße
bestand in Gebetsübungen, die ich mit Eifer erledigte, ohne mich dabei
seelisch ruhig zu fühlen. Noch am späten Abend entsann ich mich einer
Kleinigkeit, die wohl gar keine Sünde war, mir aber in meiner Stimmung
als solche erschien und die ich in der Beichte nicht erwähnt hatte.
Da das Gewissen geradezu beängstigt war, ging ich noch abends auf das
Zimmer des Superiors und erklärte, daß ich etwas zu beichten vergessen
habe. Mit ernstem Gesicht zog er einen Schemel zu seinem Stuhle,
hieß mich darauf niederknien, machte das Kreuzzeichen und nahm mein
Bekenntnis entgegen, worauf er mir nach Auferlegung der Buße eines
Vaterunsers die Absolution erteilte.

In jenen Tagen aber erwachte zuerst mein Bedenken gegen die Beichte
überhaupt, zumal mir ein in Paderborn erschienener und wohl zunächst
für Kinder bestimmter »Beichtspiegel« zur Hand kam, der mich bei
klarer und ruhiger Erwägung geradezu zur Erkenntnis brachte, daß
wer dies zusammengestellt, sich an der Jugend schwer versündige.
Dieser Fragezettel war ganz dazu angetan, des Kindes Herz und Geist
zu verwirren und geradezu unreine Gedanken in ihm zu erwecken. An
der Hand der zehn Gebote und der Kirchengebote wird Frage auf Frage
gehäuft. So heißt es betr. des sechsten und neunten Gebotes: »Ich
habe über Unreines freiwillig nachgedacht. Wievielmal? Ich habe
Unreines freiwillig angesehen. Wievielmal? Ich habe schmutzige Reden
gern angehört. Wievielmal? Ich habe Unreines getan (allein oder mit
anderen). Wievielmal? Ich habe Unreines an mir zugelassen. Wievielmal?
Ich habe das Verlangen gehabt, Unschamhaftes zu tun. Wievielmal?«
Gegen das siebente Gebot: »Ich habe genascht. Ich habe gestohlen.
(Obst? Eßwaren? Schulsachen? Kleidungsstücke?) Wievielmal? Ich habe
Geld weggenommen. (Wieviel? Den Eltern, Geschwistern oder anderen?)
Ich habe gefunden. (Was?) Ich habe den Willen gehabt, anderen Schaden
zuzufügen (an Büchern? An Kleidern? An Bäumen?) Wievielmal? usw.«
Daß eine solche Behandlung der Beichte nicht im Sinne und Geiste des
Heilands sein könne, wurde mir damals schon klar; ebensowenig aber
konnten es Schilderungen des Fegefeuers und der Hölle sein, die etwas
später mir zur Hand kamen. So las ich betr. des Fegefeuers in einem
Hefte, das in Oberbayern mit bischöflicher Genehmigung veröffentlicht
worden war: »Die Glut des Fegefeuers ist so groß und die armen Seelen
werden so arg gepeinigt, daß die arme Seele dort in einer Minute
mehr leidet, als in vielen, vielen Jahren auf Erden. Seelen der
Abgestorbenen, welche den noch auf Erden Lebenden erschienen sind (!),
haben erklärt, daß eine Stunde ihnen wie hundert Jahre erscheine. --
Von der Dauer abgesehen, gibt es keinen Unterschied zwischen den Qualen
der Hölle und des Fegefeuers, wie der heilige Thomas von Aquin bezeugt,
(der übrigens auch aussagt, daß das Feuer kein unstoffliches, sondern
ein wirkliches und materielles sei). Je mehr Brennstoff, d. i. Sünden
jemand hinüberbringt, desto länger und mehr wird er gebrannt, wie der
heilige Bonaventura versichert. Die Schmerzen des Fegefeuers richten
sich nach den begangenen Sünden, weshalb z. B. jener, der durch Fraß
und Völlerei gesündigt hat, fasten und Hunger und Durst leiden muß.«

Auch über die Ablässe wurde in dem Hefte gesprochen: »Der Sohn Gottes
hat all sein Blut in so reicher Fülle vergossen, daß von der Fußsohle
bis zum Scheitel nichts Gesundes an ihm gefunden worden. Durch diese
Blutvergießung hat er den unendlichen Schatz der Ablässe gestiftet, die
die Päpste nach Gutdünken austeilen. Christus entläßt keinen aus dem
Fegefeuer, wenn er nicht seine Schulden bis zum letzten Pfennig bezahlt
hat. Ach, würde der liebe Ablaß nicht so reichlich verliehen, so würden
wir wahrscheinlich nicht vor dem jüngsten Tage aus dem Fegefeuer
erlöst.«

Von selbst drängte sich mir die Frage auf: Wie reimen sich diese
Qualen mit dem Glauben an einen allgütigen Gott zusammen? Das wären
raffinierte Qualen, wie nur eine perverse menschliche Phantasie sie
aussinnen kann und Gottes unwürdig. Woher kennen übrigens Thomas
von Aquin und der heilige Bonaventura das Fegefeuer so genau, von
dem doch in der Heiligen Schrift nicht die Rede ist, und das sich
kirchengeschichtlich wohl erst Jahrhunderte nach Christo findet? Und
weiter: Was brennt denn eigentlich in diesem _wirklichen_ Feuer? --
Der sündige Leib? -- Dieser ist doch begraben worden und zerfallen,
die Seele aber ist nichts Materielles und kann doch von wirklichem
Feuer nicht berührt werden. Mit einem anderen Leibe, dessen Substanz
wir nicht kennen, ist jedoch nicht gesündigt worden, warum soll er
für den sündhaften leiden? Substantiell aber müßte er doch sein, da
von den »Händen« der armen Seelen gesprochen wird, sowie davon, daß
sie mit Hunger und Durst bzw. mit Fasten gestraft werden. Das waren
Widersprüche, über die ich mich nicht zu beruhigen vermochte, und diese
innere Unruhe steigerte sich noch, als mir nachmals ganz zufällig
das im Jahre 1838 in Augsburg erschienene Buch des Kapuzinermönchs
~P.~ Cochem über »Die vier letzten Dinge« in die Hände fiel, von dem
man nicht glaubt, daß es ein Priester der Gottes- und Menschenliebe
geschrieben habe. Das gilt besonders von der Schilderung der Hölle,
die ~P.~ Cochem so genau kennt wie sein Klösterchen, und in der ihm
kein Winkel fremd ist. Wie er zu dieser Kenntnis gekommen, verschweigt
er, und man könnte meinen, daß der Teufel selbst ihn gelegentlich
eingeladen habe, sich in seinem Bereiche umzusehen. Es ist ein Buch,
das für keinen ehrlichen Diener Gottes vorhanden sein dürfte, höchstens
als abschreckendes Beispiel, wie man nicht für die Religion der Liebe
und für die wahre Kirche Christi wirkt.

~P.~ Cochem weiß genau, daß die Hölle 50 Kubikmeilen groß ist, also
Hunderttausende aufzunehmen vermag, zumal nicht jeder Verdammte sich
beliebig frei bewegen kann, sondern alle zusammengedrängt sind, wie
es enger unmöglich. In Feuersglut leiden alle; einige werden in
Bratpfannen gebraten, andere an Bratspießen umgewendet, wieder andere
in zerschmolzenem Blei, Eisen und Erz gesotten. In diesem glutflüssigen
Erz sitzen einige bis an den Nabel, einige bis an die Brust, einige
bis an den Hals und einige bis über den Kopf. (!) Ihre Eingeweide
und Gedärme, Lunge und Leber, Beine und Rippen, Herz und Herzkammer
sind mit Feuer angefüllt, gleichwie ein Schwamm, der im Meer liegt
und durch und durch mit gesalzenem Wasser angefüllt ist. Wenn nun der
arme Verdammte im feurigen Schwefel so lange gesotten, bis er durch
und durch glühend geworden ist, so nehmen ihn die Teufel mit eisernen
Haken heraus und werfen ihn wie einen Mühlstein mit großem Geschrei in
einen gefrorenen Teich so tief hinein, daß ihm das Wasser hoch über dem
Haupte zusammenschlägt. Der feurige Schwefelteich und der gefrorene
Teich sind nahe beieinander, und weil die teuflischen Wüteriche die
Verdammten aus einem Teiche in den anderen werfen, so ist ein solches
rasendes Geschrei und Geheul daselbst, daß es auf hundert Meilen gehört
werden könnte. Das höllische Wasser des gefrorenen Teiches selbst ist
ganz faul, vergiftet und stinkend; es sind darin soviele giftige,
abscheuliche Kröten, Schlangen und höllisches Ungeziefer, daß einem
grauset, daran zu denken. Diese teuflischen Würmer aber tun nichts,
als den Leuten das Blut aussaugen und ihnen das Fleisch vom Leibe
abfressen. (!) Die Verdammten erhalten als Speisen (!) ganze Schüsseln
voll geschmolzenen Pechs, Bleis, Schwefels, voll Kröten und giftigen
Ungeziefers, und die Teufel schieben ihnen die scheußliche Nahrung in
den Mund und gießen ihnen große Becher geschmolzenen Erzes und Gifts in
den Hals.

So lehrt der katholische Pater Cochem im 19. Jahrhundert, und seine
Ausführungen wimmeln, abgesehen von allem anderen, von oft geradezu
naiven Widersprüchen und unsinnigen Angaben. Das alles erschütterte
aber immer mehr meinen Glauben an die Wahrheit bezw. Reinheit der
Lehre der »allein seligmachenden« Kirche, in der solches offen und
mit bischöflicher Genehmigung gelehrt werden durfte, empfindlich und
schaffte mir manche schwere Stunde, in der ich mich einsam quälte.

Nach dem Noviziat wurden wir Kleriker, und nun begann das Studium
der Theologie, und es gab neue Enttäuschungen, denn es bot nicht das
geringste für Geist und Herz. Die Professoren an der theologischen
Hausanstalt, durchaus ehrenwerte Priester, versahen ihr Amt
schablonenhaft, diktierten ihre (mehrfach lateinischen) Vorträge, die
wörtlich auswendig gelernt werden mußten und die Sehnsucht weckten nach
der Prager Hochschule, an die wir mit besten Erwartungen gingen, um
dort die letzten vier Semester zu absolvieren. Aber auch sie bot uns
nichts, was wenigstens ich erhofft hatte und wonach ich suchte.

Die theologische Fakultät hat nur einen ganz losen Zusammenhang mit
der altehrwürdigen Karl Ferdinand-Universität in Prag, der ältesten
deutschen Hochschule überhaupt; sie ist vielmehr eine erzbischöfliche
Anstalt, an der es weder Lehr- noch Lernfreiheit gibt. Ich hatte mich
in den wenig erquicklichen _Tepler_ Studienjahren auf die Tage gefreut,
da ich, zu den Füßen tüchtiger, geistvoller Lehrer, eine Fülle von
Anregung und Wissen zu erhalten hoffte, aber schon die erste Zeit
bekundete, daß nur die Personen sich geändert hatten. Das Schwören
auf des Lehrers Worte und das Goethe'sche: »Was man schwarz auf weiß
besitzt, kann man getrost nach Hause tragen«, waren auch hier völlig
am Platze. Der Lehrstoff wurde vielfach vorgelesen bzw. diktiert, und
die erste Tätigkeit des Studierenden bestand im Nachschreiben, die
andere im Einlernen des Aufgeschriebenen, denn jede Stunde wurde wie
in Mittelschulen examiniert, und es mußte wörtlich hergesagt werden,
was das Gedächtnis aufgenommen hatte. Das hatte seinen Grund wohl auch
darin, daß der alte Zopf verlangte, daß die meisten theologischen
Disziplinen in lateinischer Sprache vorgetragen wurden. Vom Gymnasium
brachte keiner ein derartiges Wissen mit, daß er sich mit Gewandtheit
und Sicherheit in der fremden Sprache ausdrücken könnte, und so blieb
bei der strengen Forderung nichts übrig, als wortgetreu auswendig
zu lernen. Wenn man das durch vier Jahre lang trieb, konnte man die
fremde, tote Sprache endlich radebrechen, aber oft in einer Weise,
daß sich einem richtigen Philologen die Haare gesträubt hätten:
Kirchenlatein! Und dabei wurde soviel Unnötiges, Unpraktisches und
Unklares aus alter Gewohnheit und als leerer Ballast für das Leben
geboten, daß der Hörer gar nicht über das rein Aeußerliche hinauskam
und bei dem beständigen Memorieren ermüdet und verstimmt wurde;
Herz und Verstand kamen dabei zu kurz, und die Freude an dem Beruf
konnte so unmöglich gefördert werden. Das lag auch wohl zum Teil an
den Lehrkräften, durchaus achtenswerten Männern, die aber mitunter
selbst wenig Eigenes zu bieten hatten, die lateinische Sprache nur
mangelhaft beherrschten und schon darum genötigt schienen, sich ihre
Hefte zusammenzuschreiben, zu diktieren und wörtlich abzuprüfen.
(Als besonders tüchtig galt unter den Lehrern der Professor der
orientalischen Sprachen, der nachmals das Ordensgewand -- er war
Kreuzherr -- ablegte und der Professor der Moraltheologie, ein
Zisterziensermönch des Klosters Ossegg, Sales Meyer, der zu den
besonderen Beratern des Kardinal-Erzbischofs gehörte und nachmals Abt
seines Stifts wurde.)

Auch das erzbischöfliche Seminar zeigte kein erhebendes Bild. Gleich
Schulknaben wurden die Alumnen paarweise ausgeführt und hatten auch
gemeinsame Speise-, Schlaf- und Studiersäle. In den letzteren sitzen
die Schüler, jeder an seinem Pulte und studieren -- nein, _lernen_
-- auf Kommando. Nicht, wenn es den Einzelnen drängt, sich geistiger
Arbeit hinzugeben, nein, zu festgesetzter Stunde, ob auch Neigung und
Stimmung eben fehlen, muß er darangehen, den Lehrstoff dem Gedächtnis
einzuprägen. Dann herrscht Stille in dem weiten Raum, und das spähende
Auge des Vorstehers forscht überall und sucht eventuell Kontrebande.
Hier wird leider Strebertum und Heuchelei großgezogen, denn nicht
jedem ist es gegeben, auf Befehl geistig zu arbeiten, und während
manche in aufdringlicher Weise ihre Pflicht zu erfüllen scheinen, um
die Gunst der Vorgesetzten zu gewinnen, lassen andere, die Augen auf
ihr Buch gerichtet, die Gedanken in die Weite schweifen, oder wissen
auch geschickt dem theologischen Buch ein anderes unterzuschieben.
Die Art überhaupt, wie die zukünftigen Seelsorger ausgebildet wurden,
gefiel mir nicht, denn so wenig die theologischen Vorträge dem Geiste
gaben, so wenig gab die Seminarerziehung für Herz, Gemüt und gesunde
Moral. Wieviele Berufslosigkeit lebt in diesen Räumen, und wieviele
Berufsfreudigkeit wird darin wohl geradezu vernichtet! Diese Erziehung
nach der althergebrachten einseitigen Schablone bildet wohl nur selten
tüchtige und würdige Priester -- sie müssen eben die Anlagen dazu
mitbringen --, wohl aber oft Zeloten und Pharisäer. Jede Freiheit
zu geistiger Betätigung, jede Entwicklung zur Selbständigkeit des
Charakters wird unterbunden oder mindestens erschwert, ohne Welt- und
Menschenkenntnis, ohne Umgangsformen, völlig einseitig gebildet, ohne
Verständnis für die Forderungen einer geistig immer weiter schreitenden
Zeit und für manches andere wird der junge Priester hinausgeschickt in
das Leben, in dem er sich oft nicht zurecht zu finden weiß, und das
mit seinen Versuchungen ihm um so verlockender erscheint, weil es ihm
völlig neu ist.

Bei all diesen Eindrücken fühlte ich immer mehr das seit früher
Jugend in mich Aufgenommene wankend werden, und die Erkenntnis rang
sich immer mehr durch, daß im Laufe der Zeit die wahre Kirche Christi
durch Menschenwerk verunstaltet worden sei, und ein stilles Sehnen
nach ihrer Reinheit wollte mich erfassen. Oefter als vordem griff ich
nach dem Neuen Testament, um mir daraus Trost zu gewinnen, aber mein
Kämpfen und Ringen nahm eher zu. Doch wo sollte ich Hilfe finden in
meinen stets neu aufsteigenden Gewissensnöten? Die Beichte konnte mir
den Seelendruck nicht mindern, denn in den Beichtstühlen herrschte
ein leerer Formalismus oder (wie bei Jesuiten) ein beunruhigender
Fanatismus; mit Ordensbrüdern konnte ich mich nicht aussprechen, ohne
mich nach einer oder anderen Hinsicht Mißverständnissen auszusetzen,
und den Eltern gegenüber mußte ich erst recht schweigen, um die
schlichten kirchengläubigen Menschen nicht im tiefsten Herzen zu
beunruhigen.

So kam der bedeutsame, schwere Tag der feierlichen Profeß, an dem
es galt, die bindenden Gelübde der Armut, der Keuschheit und des
Gehorsams für das ganze Leben abzulegen. Wohl trat mir die Schwere
dieses Schrittes ins Bewußtsein, aber über seine volle Bedeutung
suchte ich nach bitterem Ringen mich selbst hinwegzutäuschen mit dem
Gedanken an das Elternhaus, dem ich nun nicht mehr Freude und Hoffen,
das auf mich gesetzt war, zerstören durfte, sowie mit der aus den
Prager Verhältnissen geschöpften schwachen Beruhigung, daß mir der
Trost der Musen und ein gewisses Maß geistiger Freiheit nicht fehlen
werde, was vielleicht geeignet sein würde, schwere und bange Stunden zu
erleichtern.

Der schwere Tag verlief, aber er sollte mir noch ungleich schwerere
bringen. Keiner ist wohl an diesem sich völlig klar, was er auf sich
genommen: Lebensunerfahrene, unreife Menschenkinder sind es, die wohl
nur in seltensten Fällen von einem inneren höheren und reinen Drang
geleitet werden, sondern meist getrieben sind von Gehorsam gegen die
Wünsche der Eltern, von gedankenloser Erwartung einer guten Versorgung,
ja wohl auch von dem leichtfertigen Vorsatz, das Leben nach Möglichkeit
auch in diesen Verhältnissen zu genießen. Aber die fortschreitenden
Jahre lassen innerlich reifen und manchen erkennen, in wieviel leeren
Aeußerlichkeiten sich das Klosterleben bewegt, wie gar manchmal der
blasse Schein an die Stelle des Wesentlichen tritt, wie Geist und
Herz anfangen zu hungern, wie die berechtigte Sehnsucht erwacht nach
freier Betätigung der Kräfte im Dienste der Menschheit und wohl auch
nach friedlich schönem Familienglück. Die Ordensgelübde sollten nur
von gereiften Männern, die über all das sich innerlich klar geworden
und damit ins Reine gekommen sind, abgelegt werden, aber nicht von
Unerfahrenen, die nicht als völlig moralisch gereift und frei gelten
können für einen Schritt, der geeignet ist, Zufriedenheit und Glück
eines Menschenlebens für immer zu vernichten, denn gar mancher --
ich habe Belege dafür in Briefen, die mir später von unglücklichen
Ordenspriestern zugingen -- möchte wohl mit heißen Tränen seine
Unterschrift auf dem entscheidenden Blatte auslöschen, aber der Orden
kümmert sich nicht um die Beweggründe seines Eintritts, sondern hält
sich an die Tatsache und vernichtet nicht, was er einmal besitzt. Dann
lebt wohl mancher sich ein in Gleichgültigkeit, geht auf in materiellem
Genuß, nimmt es mit den Ordensgelübden nicht peinlich genau und kommt
allmählich zu einem weiten Gewissen, das ihm über vieles hinweghilft.
Wer aber ein solches nicht besitzt noch es sich wünscht, und lieber die
Fesseln zerreißt, die er in seiner Unerfahrenheit sich selbst angelegt,
um ein ganzer Mensch anstatt eines halben, d. i. bloß äußerlichen
Mönchs zu sein -- ist er darum schlecht und verworfen geworden? Hat
er sich darum der Achtung unwert gemacht? Haben die mit dem weiten
Gewissen, und darunter sind wohl die ärgsten Schreier, ein Recht, mit
Steinen nach ihm zu werfen? -- Die Kirche aber, die die Religion der
Liebe lehrt, stößt ihn aus ihrer Gemeinschaft und legt ihren Fluch auf
sein Haupt. Wenn jene, die ihn aussprechen, im Namen Gottes redeten, es
wäre entsetzlich, doch der Verfehmte hat den schönen Trost, daß er es
nur mit seinem Gewissen und mit dem ewigen Richter zu tun hat, der voll
Vaterliebe alle Menschen umfaßt und den Fluch nicht kennt, mit dem man
seinen Namen entehrt.

Solche Erwägungen stellten sich erst später bei mir ein, und resigniert
ließ ich nach Jahresfrist die Priesterweihe über mich ergehn, die
mir im Grunde neben der Profeß bedeutungslos erschien. Ich bemühte
mich eben, mich mit meinem Schicksal abzufinden, und suchte vor
allem Vergessen in der Beschäftigung mit Wissenschaften, da ich,
vom Abt zum Gymnasiallehrer bestimmt, neben der theologischen auch
die philosophische Fakultät der Hochschule besuchte und hier die
erwünschten wertvollen Anregungen durch treffliche Lehrer erhielt; auch
widmete ich mich bereits schriftstellerischer Tätigkeit, und hatte die
Freude, für meine erste als Buch erschienene Novelle »Der Dorfengel«
von dem Schweizer Piusverein mit einem Preise ausgezeichnet zu werden.

Da trat ein Ereignis ein, das mich wiederum mächtig erregte und alles
wieder in mir weckte, was ich niedergekämpft zu haben meinte, so daß
es gewaltiger als je in mir aufloderte. Das Jahr 1870 brachte in
kirchliche Kreise eine bedeutende und nicht unberechtigte Erregung
durch die Erklärung von der _Unfehlbarkeit des Papstes_. Seit 300
Jahren hatte die Welt nicht mehr das Schauspiel eines ökumenischen
Konzils gehabt, und nun waren die Bischöfe der ganzen Welt zu
einem solchen nach Rom eingeladen worden. Um was es sich dabei in
der Hauptsache handelte, konnte nicht lange verborgen bleiben und
schuf schwere Unruhe. Man bemühte sich, von zuständiger Seite sie
zu beschwichtigen mit dem Hinweis, daß in kirchlichen Kreisen die
Ueberzeugung herrsche, daß ein Glaubenssatz nur Geltung erlangen könne,
wenn er von einer Kirchenversammlung einstimmig oder mindestens nahezu
einstimmig beschlossen werde. In anderem Falle bleibe der beantragte
Satz nur eine Lehrmeinung und könne kein Dogma werden, da das, was
man bei Verlust der ewigen Seligkeit zu glauben habe, nicht einer
bloßen und zufälligen Majorität seine Entstehung verdanken könne. Auch
die in Fulda versammelten deutschen Kirchenfürsten veröffentlichten
eine Kundgebung, deren Sinn war: Man solle ruhig sein und Gott
vertrauen -- es werde in dem bevorstehenden Konzil keine neue Lehre
aufgestellt werden. In gleicher Weise hatte sich der Prager Erzbischof
geäußert, und auch der angesehene Lehrer des kanonischen Rechts an der
juristischen Fakultät der Prager Hochschule, Professor Dr. Schulte,
ein gutgläubiger Mann, hatte ein solches Dogma als unmöglich und
unannehmbar erklärt. Ebenso hatte Professor Sales Meyer sich dahin
geäußert, daß ein solcher Glaubenssatz aus historischen, dogmatischen
und moralischen Gründen ganz undenkbar sei.

Und doch geschah, was unmöglich geschienen hatte. Wohl protestierten
in der St. Peterskirche in stürmisch erregter Sitzung zahlreiche
Kirchenfürsten gegen die aufgezwungene neue Geschäftsordnung, nach
welcher eine einfache Majorität über die wichtigsten kirchlichen Fragen
entscheiden sollte, vergebens wies der kroatische Bischof Stroßmair,
der gewaltigste Redner des Konzils, ein geistvoller und gelehrter,
ehrlicher und kluger Mann, der das Latein wie seine Muttersprache
beherrschte, darauf hin, daß, wo es sich um das Seelenheil von
Millionen handle, unmöglich der Zufall eventuell einer einzigen Stimme
den Ausschlag geben dürfe, da man doch nicht annehmen könne, daß bei
etwa 700 Bischöfen und Prälaten der Heilige Geist gerade 351 erleuchten
und 349 die Erleuchtung versagen sollte; eine solche Annahme wäre
Gotteslästerung. -- Der 13. Juli brachte die Entscheidung: Von etwa 600
Kirchenvätern hatten 70 gefehlt, 88 hatten mit »nein«, 62 mit »ja unter
Vorbehalt« gestimmt, die anderen 386 aber hatten den neuen Glaubenssatz
angenommen, und das genügte, ihn als Dogma zu verkünden. Fünfzig
Redner waren noch eingeschrieben gewesen, als die Debatte einfach für
beendet erklärt wurde; die Majorität der italienischen Bischöfe gab
den Ausschlag, aber man durfte wohl fragen: Mit welchem Recht? --
Der ganze Kirchenstaat zählte nicht so viele Seelen, wie allein die
Diözese des Prager Erzbischofs, war aber beim Konzil durch 143 Bischöfe
vertreten; dazu kamen 100 Bischöfe ~in partibus infidelium~ und etwa
200 Titularbischöfe, die nicht einmal dem Namen nach eine Diözese
besaßen. Ganz Deutschland aber hatte nur 14 Kirchenfürsten nach Rom
schicken können, und obwohl dieselben viele Millionen von Gläubigen
vertraten, galt ihre Stimme nicht mehr als die eines Titularbischofs,
und selbst diese 14 hatten nicht den Mut und die Festigkeit, für das,
was sie als recht erkannten, einzutreten und blieben lieber der zweiten
und entscheidenden Abstimmung vom 18. Juli fern.

Nun drängte sich von selbst die Frage auf: Würden sie sich ganz ruhig
fügen und annehmen, was ihnen zuvor als unannehmbar galt? Wie würden
sich Männer wie Sales Meyer verhalten, die vordem geradezu erklärt
hatten, daß historische, dogmatische und moralische Gründe gegen das
neue Dogma sprächen? -- -- -- Für sie alle galt zuletzt das Wort:
Rom hat gesprochen, und sie unterwarfen sich bedingungslos, tausend
Gemütern aber erwuchs innerer Zwiespalt und Qual, um so mehr, als es
höchst ehrenwerte Männer gab, die ihre Ueberzeugung nicht preiszugeben
vermochten und nicht mit einmal recht und billig finden konnten, was --
ohne daß sich an der Begründung etwas geändert hätte -- vordem unrecht
und unbillig für einsichtsvolle und gut kirchliche Männer gewesen war:
Professor Schulte, Propst Döllinger u. a. beugten sich nicht und wurden
nachmals Führer der altkatholischen Bewegung. All das zerwühlte mir in
jenen Tagen die junge Seele und drängte mich in einen schweren inneren
Kampf. Eines war mir völlig klar: Daß der neue Glaubenssatz für mich
niemals gelten könne nach den vorausgegangenen Erklärungen maßgebender
Männer. Mir war, als sei mir etwas Wertvolles zerbrochen worden; wie
in einem bösen Traum ging ich einher mit heißer Stirn und müdem Leib.
Mein ganzes Empfinden lehnte sich auf gegen den von Rom geübten Zwang,
und mir war, als müßte ich bei einer gläubig stummen Hingabe selbst
mitverantwortlich werden für die Folgen der Neuerung, nach welcher
die katholische Kirche und der Papst geradezu identisch wurden,
so daß dessen alleinige Aussprüche Geltung haben sollten in allen
Glaubenssachen, auch wenn sie dem Empfinden der Besten widersprechen
und der Kirche nicht zum Segen sind. Ich mußte an den im Jahre 1864
veröffentlichten »Syllabus« denken; auch dort hat der Papst als Lehrer
gesprochen, auch damals müßte er unfehlbar gewesen sein, und wieviel
berechtigten Widerspruch hat er hervorgerufen! Es wäre mitunter mehr
als bedenklich, wenn die Sätze des Syllabus wirklich göttliche Geltung
hätten; sie müßten geradezu den Seelenfrieden Tausender vernichten und
den Haß an Stelle der Liebe setzen.

In meiner Herzensangst griff ich nach der Kirchengeschichte. Ich wußte
wohl, daß es sich nicht darum handelt, ob der Papst eine sittlich
tadellose Persönlichkeit sei oder nicht; was er in Glaubenssachen
bestimmt, soll damit nichts zu tun haben; aber muß nicht doch ein
Bedenken kommen, daß ein sittenloses und geistig unbedeutendes
Oberhaupt der Kirche seine Meinung diktatorisch über die der Besten,
Frömmsten und Einsichtsvollsten setzen könne? Und die Geschichte
kennt auch lasterhafte Päpste -- hier hilft kein Leugnen und
Verheimlichen --, und auch sie müssen unfehlbar gewesen sein, wenn
es überhaupt der jeweilige Inhaber des päpstlichen Stuhles ist. Wie
erklären sich aber in solchen Fällen geschichtliche Widersprüche?
Die Kirchenversammlung in Nicäa verurteilte die Lehre der Arianer
als Ketzerei, und Papst Liberius bestätigte dies. Als man ihm einen
Gegenpapst aufstellen wollte, den der Kaiser begünstigte, gab er eine
Erklärung ab, die sich eigentlich mit der Arianischen »Ketzerei«
deckte, nur um seinen Sitz nicht zu verlieren. Welcher Liberius war
unfehlbar? -- Papst Vigilius, der Gegenpapst des heil. Silverius, tat
vor einem Konzil Widerruf früher gemachter Aussprüche und bezeichnete
sich selbst als Werkzeug des Satans. Mag sein, daß man behauptet,
er habe die dreifache Krone nicht mit Recht getragen -- doch läßt
sich das nicht von Papst Honorius sagen, der in Christus nicht zwei
Willen, einen göttlichen und menschlichen, sondern nur einen göttlichen
gelten ließ. Er wurde als Ketzer von einigen Konzilien und von seinem
eigenen päpstlichen Nachfolger verflucht. War dieser unfehlbar, oder
war es Honorius? Auf beiden sich widersprechenden Seiten kann die
Unfehlbarkeit nicht stehen. Und wie häufig finden sich gleichzeitig
zwei Päpste, die sich auf das ärgste befehden, und die Christenheit
weiß nicht, wer recht hat, und die Gemüter der Gläubigen kommen in
bitteren Zwiespalt, zumal wenn der von Staatsgewalten anerkannte und in
Rom residierende der sittlich minder würdige ist. Wer darf sich dann
von den Gegnern und Streitern um den heiligen Stuhl unfehlbar nennen?
Und zuletzt: War es notwendig, dies Dogma aufzustellen, nachdem die
Kirche mehr als 1800 Jahre ohne dasselbe bestanden hat, und eine tiefe
Beunruhigung in gläubige Gemüter hineinzutragen -- und es sind wohl
nicht die Schlechtesten, die beunruhigt werden.

Was ich in jenen Tagen durchstritten und durchlitten habe, vermag nur
der zu verstehen, der es an sich selbst erfahren, und daß es noch
manchen solchen im Priesterkleide gab, ist wohl außer Zweifel. Immer
lastender aber lag die Erkenntnis auf mir, daß ich mit dieser geistigen
Unfreiheit und dem schweren Zwiespalt in der Seele für das ganze Leben
unglücklich werden müsse. Wollte ich vor mir selbst als ehrlicher
Mensch bestehen, so mußte ich die Fesseln lösen, ehe ihr Druck mich
erwürgte oder mich in jene Gleichgültigkeit zwang, die mich bei anderen
abstieß. Damals habe ich in manch schlafloser Nacht mich gequält mit
Zukunftsbildern und nach einem Rettungswege ausgeschaut aus banger
Seelennot, habe wohl auch vor dem Kreuz auf dem Betschemel gekniet und
den Himmel selbst um ein Zeichen angefleht, das wie ein Stern in meine
Nacht hineinleuchten sollte.

Damals aber stieg auch immer lebhafter in mir der Gedanke auf von
der Notwendigkeit einer Erneuerung der Kirche Christi im Sinn des
einzig wahren Evangeliums, einer Erneuerung, die mit allem aufräumte,
was im Lauf der Zeit geradezu Unchristliches hineingetragen ward,
was der Heiland niemals gelehrt hatte und nie gewollt haben konnte.
Und da ging mir durch den Sinn, daß schon vor Jahrhunderten eine
solche Erneuerung erfolgt war -- die Reformation des Augustinermönchs
_Martin Luther_. Wenig genug war mir davon bekannt, und auch das nur
in der einseitigen Beleuchtung katholischer Lehrer, für die Luther
ein verwerflicher Ketzer war, dessen Namen man nur mit Verachtung, ja
Gehässigkeit nannte. Zum ersten Male erschien mir dieser Mann wie in
anderem Lichte, und mich erfaßte das lebhafte Verlangen, näheres von
ihm und seiner Lehre kennenzulernen. Ich las mit Eifer, was immer ich
über ihn und sein Werk in Prager Bibliotheken finden konnte, und sein
Bild begann sich für mich immer mehr zu klären und seine Lehre mich
wie mit gesundem Hauche anzuwehen. Aber noch sah ich keinen Weg, um zu
ihm zu gelangen, nur das Eine wurde mir immer mehr klar, daß ich im
Ordensleben für immer unglücklich werden müßte, da ich meine Pflichten
nicht ohne Sünde zu üben vermöchte, und daß der Glaube, in dem ich
aufgewachsen, für immer auf das Tiefste erschüttert war.

Da starb meine Mutter, deren Wunsch und Drängen zumeist mich in
das Kloster geführt, und mir war es, als würde ich damit von
einer widerwillig übernommenen Verpflichtung befreit. In meiner
verzweiflungsvollen Verlassenheit schaute ich immer sehnender nach
einer Erlösung aus meiner Seelennot aus. Angesehene Persönlichkeiten
hatten sich der neuen kirchlichen Bewegung des Altkatholizismus
angeschlossen, und auch ich erwog den Gedanken, dem altkatholischen
Bekenntnis beizutreten, aber nähere Erwägung ließ mich erkennen, daß
dies im Grunde nur eine Halbheit wäre, die mich nicht zu befriedigen
vermöchte. Vor allem aber galt es die Bande zu lösen, die mich an
Ordensleben und Ordenssatzungen fesselten, doch wie sollte das
geschehen? Ich hatte nicht die mindesten Beziehungen, die mir hätten
helfen können, war völlig unerfahren der Welt gegenüber und auch ohne
alle materiellen Mittel, um mich selbst nur für kurze Zeit über Wasser
halten zu können.

Da erfuhr ich, als ich eben meine Ferien in Stift Tepl verlebte, daß
sich in Marienbad Herzog Ernst II. von Coburg-Gotha aufhalte. Ich weiß
nicht, weshalb mir bei diesem Namen das Herz aufging. Ich hatte mich
wenig um Politik gekümmert, kannte auch nur wenig von den Verdiensten
des volkstümlichen deutschen Fürsten um die Förderung und Erneuerung
deutschen Wesens und Strebens, aber bekannt war doch sogar mir der
gesunde Idealismus seiner Persönlichkeit, sein lebhaftes Interesse
an Kunst und Wissenschaft und das Wohlwollen, mit dem er bedrängten
Geistern ein Asyl in seinem Lande gab, und da faßte ich den Vorsatz,
mich an ihn zu wenden, ihm offen und ehrlich mein Kämpfen und Ringen,
mein Leben und Streben vorzutragen und mein Geschick in seine Hand
zu legen. Und der Vorsatz wurde zur Tat. Unbekannt mit den höfischen
Bräuchen und der Ausdrucksweise hoher Kreise schrieb ich, wie es
mir um's Herz war, schlicht und voll Naivität und bat, mir, wenn
möglich, in seinem Lande und seinem Dienste eine meinen Fähigkeiten
entsprechende bescheidene Stellung zu geben, die mich Mensch unter
Menschen sein und meine Kräfte mit Freudigkeit für eine zusagende
Tätigkeit einsetzen ließe.

Die Antwort kam; sie war gütig und verständnisvoll, aber sie kam meinem
Hoffen und Wünschen nicht entgegen und bereitete mir mit dem Hinweis,
daß keine geeignete Stelle offen sei, eine herbe Enttäuschung. Doch
die Spannkraft der Jugend, die drängende Stunde halfen darüber hinweg,
und das Schreiben selbst brachte mir einen neuen Hoffnungsschimmer.
Es kam aus dem Geheimkabinett des Herzogs und war unterzeichnet von
dem Kabinettsrat Dr. Tempeltey. Eduard Tempeltey! Bei diesem Namen
trat mir die poetisch schöne Tragödie »Klytemnestra« vor den Geist,
die Gestalten seines packenden Werks: »Hie Welf -- hie Waiblingen!«
schienen vor mir lebendig zu werden -- hatte ich doch vor nicht langer
Zeit gerade diese Schöpfungen eines echten Dichters gelesen --, und
der Dichtername erschien mir wie eine Verheißung. Wenn ich Eduard
Tempeltey persönlich nahetreten, wenn ich mich ihm vertrauensvoll
offenbaren dürfte, sollte der Dichter nicht Verständnis haben für das
Ringen eines jungen vertrauenden Herzens, sollte nicht durch sein
wohlwollendes Entgegenkommen dennoch der Weg zu seinem erlauchten
edlen Herrn gefunden werden können? -- Es gab für mich kein langes
Zaudern und Erwägen mehr; mein Erstlingswerk »Der Dorfengel«, um dessen
Annahme ich, wenn möglich, Herzog Ernst persönlich ersuchen wollte,
sowie mein bereits erworbener philosophischer Doktortitel hoben mir
Selbstvertrauen und Mut, und so trat ich meine Ferienreise an nach
Deutschland, von der ich nicht mehr in das Kloster zurückkehren sollte.

Gottes Sonne lachte über dem freundlichen Coburg, als ich hier ankam,
und ich nahm es als gute Vorbedeutung. Mein Hoffen auf Dr. Tempeltey
wurde nicht enttäuscht; er vermittelte in liebenswürdiger Weise eine
Audienz bei dem Herzog, die mir unvergeßlich bleibt, wie auch der hohe
Herr noch nach Jahren nach seiner Versicherung mit Vergnügen daran
dachte, da eine solche Begegnung auch ihm wohl selten vorgekommen war.
Unbekannt mit den Bräuchen des Hofes, ja selbst an meinem Aeußeren
nicht hofmäßig, trat ich vor ihn, und ohne seine Anrede abzuwarten,
ließ ich mein Herz auf die Lippen treten, und als ob ich ihn schon
längst gekannt, berichtete ich eifrig und lebhaft, warum ich käme,
welche Seelenkämpfe ich in meinen jungen Jahren durchstritten, wie
verlassen ich sei und nichts weiter suche, als eine Scholle, auf
der ich als Mensch menschlich leben, fühlen, schaffen und frei von
geistigem Zwange sein dürfe. Warm und herzlich entgegnete er, und
ich vergaß beinahe, daß ich mit einem regierenden Fürsten rede und
vermeinte, es sei ein älterer Freund voll schöner Teilnahme. Als er
mich nach längerer Zwiesprache huldvoll entließ, geschah es mit dem
Hinweis, mich nach Gotha zu begeben und mich bei dem Ministerium
vorzustellen, das von meinem Kommen unterrichtet werden würde. Hatte
ich auch nichts Bestimmtes erreicht, so blieb doch gleichsam ein
leuchtender Schimmer in meiner Seele, denn in der Tat war ich in jener
Stunde eigentlich am Wendepunkt meines Lebens angelangt, und was ich
erreicht habe und geworden bin, führe ich auf sie zurück mit dem Gefühl
heißen Dankes für den gütigen Fürsten, der mir sein Wohlwollen bis an
seinen Tod bewahrte.

Am nächsten Morgen fuhr ich nach Gotha. Da sah ich zum ersten Male
die Wartburg niederschauen in das schöne Land, und geschichtliche
Erinnerungen mancher Art erwachten. Da trat auch die Gestalt Martin
Luthers lebhafter vor meinen Geist, und plötzlich entstand in mir der
heftige Drang, meine Fahrt zu unterbrechen und das Burgjuwel Thüringens
kennenzulernen. Bald sah ich aus der freundlichen Restaurationshalle
hinab in das weite, waldgrüne Gelände, durchschritt Säle und Hallen,
und stand endlich seltsam ergriffen in dem kleinen, schlichten Raume,
in dem einst der glaubensstarke deutsche Mann als auf seinem Patmos
gewohnt und die Bibel übersetzt hatte. An diesem Tische, auf dem
meine Hand ruhte, hatte er gesessen, an dem Fenster, aus dem ich
hinausblickte in das liebliche Land, hatte er gestanden -- -- es
umwehte mich wie ein Hauch seines Geistes mächtig und ergreifend;
hatte er doch unter ungleich schwierigeren Verhältnissen einen
ähnlichen Kampf durchstritten, wie ich ihn kämpfte, war trotz Acht
und Bann siegreich geblieben und hatte sogar eine Erneuerung gebracht
im Glauben, die in Millionen Herzen weiterlebte. Ich habe nachmals
aus verschiedenen interessanten Anlässen die Wartburg besucht,
aber niemals jene Erhebung mitgenommen, wie damals aus der kleinen
Lutherstube. Mit gehobener Seele, freudigen und zuversichtlichen Sinnes
schritt ich talabwärts; mir war, als habe ich einen Helfer gewonnen
in meinem Kampfe, der mich jetzt schon zu erlösen schien aus meinen
Seelenängsten, und ich gab mich der schönen Erwartung hin, auch weiter
den Weg zu ihm zu finden.

Wohl fand sich auch in Gotha zunächst keine Stellung für mich, und
die Losung lautete: Abwarten -- aber eines vermochte ich nicht
aufzuschieben: Mochte es kommen, wie es wolle -- es gab kein Zurück
mehr für mich, und so schrieb ich an den Abt von Tepl und teilte ihm
meinen Austritt aus der klösterlichen Kongregation mit. Ich tat es mit
schwerem Herzen um des edlen, guten Mannes willen, den ich aufrichtig
verehrte und dem wehe zu tun mir hart ankam; ich öffnete ihm meine
ganze Seele und ließ ihn hineinschauen in die bangen schweren Kämpfe,
die ich durchstritten, und die mich endlich zu dem Entschluß führten,
lieber ein guter, ehrlicher Mensch, als ein schlechter, unehrlicher
Mönch zu sein.

So war das Band mit der Vergangenheit zerrissen, und mit Mut und
Vertrauen sah ich in die dunkle Zukunft, nur einigermaßen besorgt
wegen der sehr bescheidenen Mittel, die mir zu Gebote standen. Ich
hatte weder Meßstipendien unterschlagen noch mir einen Vorschuß zahlen
lassen, wie das führende klerikale Blatt Oesterreichs, die Wiener
»Reichspost« in einem verleumderischen Schmähartikel erzählte, sondern
nur geringe Ersparnisse, so daß ich mein Mittagsmahl in der »Herberge
zur Heimat« unter fahrenden Handwerksburschen zum Preise von 25
Pfennigen einnahm; aber ein gütiger Himmel half auch hier. Ich hatte
mich u. a. dem Generalsuperintendenten Dr. Petersen vorgestellt, der
mich mit zuvorkommender Höflichkeit empfing und selbst in das Haus des
Hofpredigers Dr. _Gustav Schweitzer_ als einen »Protegé Seiner Hoheit«
einführte. Dies Haus ist mir nachmals eine zweite Heimat geworden. Zum
ersten Male lernte ich ein evangelisches geistliches Haus kennen, und
es wehte mich wohlig daraus an. Dr. Schweitzer hatte vordem mit hundert
anderen deutschen Jünglingen (wie Fritz Reuter) den Traum von deutscher
Freiheit geträumt und dafür auch sein Martyrium gehabt. Er hatte sich
jahrelang als unstäter Wanderer durch die Welt geschlagen, hatte in
Deutschland keine Stätte gefunden, um seinen Herd zu bauen, hatte sogar
die Gastfreundschaft Dänemarks suchen müssen, bis der edle Herrscher
von Coburg-Gotha ihm ein Asyl gab. Und hier wirkte er in seiner
menschenfreundlichen Art, von der sich manches berichten ließe. Er
war ein Priester nach dem Herzen Gottes, der Gottes- und Menschenliebe
vereinte und in seiner Gattin dabei die treue und gütige Gefährtin
und Helferin fand. Lebhafter als je erkannte ich den Irrtum des
katholischen Priesterzölibats, das, abgesehen von den gar oft geradezu
unsittlichen Folgen, den Geistlichen in seiner Gemeinde vereinsamt,
ihn für manches in derselben ganz ohne Verständnis läßt, ihn seinem
Volke und Staate entfremdet und in tausend Fällen unglücklich macht.
Hier war Glück und Frieden im Hause, hier herrschte edle Gastlichkeit,
und manches junge Menschenkind hat dies gleich mir erfahren, der
nachmals wie ein lieber Verwandter aufgenommen und gehalten wurde, und
der in einem freundlichen kleinen Gemache des Hauses sein erstes Werk
auf deutschem Boden, den Roman eines Wissenden »Der Klosterzögling«
schrieb. (Jena, Costenoble.)

Es lag nahe, ja es war mir ein Bedürfnis, daß ich in Gotha den
evangelischen Gottesdienst besuchte, und er machte gleich beim ersten
Male einen tiefen Eindruck auf mich. Die schlichte Einfachheit
wirkte gegenüber dem äußeren Prunk des katholischen Gottesdienstes
stimmungsvoll; die auch für den schlichten Mann verständliche Liturgie
in deutscher Sprache war anheimelnd gegenüber den kalten lateinischen
Lippengebeten, und der allgemeine Gesang der andächtigen Gemeinde
hatte etwas Ergreifendes und Erhebendes. Immer mehr zog es mich zu
dem evangelischen Bekenntnis, zumal ich ja aus der katholischen
Kirche ausgeschlossen und infolge meines Austritts aus dem Kloster
exkommuniziert, aber andererseits nicht geneigt war, als konfessionslos
zu gelten. Ich unterhielt mich über die Angelegenheit mit Dr.
Schweitzer, der, weit entfernt von Proselytenmacherei, wohl erkannte,
daß ich ein Wahrheitsucher sei, den es fast unbewußt zu der Erkenntnis
drängte, daß Luthers Werk dem christlichen Glauben wie dem deutschen
Wesen entspreche. Auf Spaziergängen mit meinem wahrhaft väterlichen
Freunde wurden in ruhiger Weise und frei von dem kleinsten gehässigen
Hauche religiöse Fragen und konfessionelle Unterschiede erörtert, und
endlich kam der Tag -- es war der 28. August 1872 --, an dem ich in der
Schloßkirche den Uebertritt zum evangelischen Bekenntnis vollzog und
das heilige Abendmahl empfing. Es war eine schlichte, stille Feier, der
außer dem Ehepaar Schweitzer nur noch zwei Zeugen beiwohnten, aber das
Herz schlug mir ruhig und glücklich, so ganz anders, als da ich in Tepl
die bindenden Gelübde sprach.

Die klerikale Presse wußte in ihrer gehässig verläumderischen Art ihren
Lesern später, bei Gelegenheit ihres ganz unwürdigen Kampfes gegen mein
Schauspiel »Die Brüder von St. Bernhard«, dessen Tendenz auch nicht im
mindesten »Los von Rom!« ist, zu berichten, daß ich meinen Austritt aus
dem Kloster bereue und ganz unglücklich sei. Ich kann demgegenüber nur
immer wiederholen, daß ich auch nicht eine Minute meinen Schritt bereut
habe bzw. bereue, und daß ich an der Seite eines lieben, guten und
treuen Weibes, das verständnislos im Beichtstuhl ausgeübter Fanatismus
eines jungen Kaplans ebenfalls zur Lehre Luthers geführt hatte, ein
wahres, schönes und ungetrübtes Glück genoß, bis sie der Himmel mir
nahm, zwei Jahre vor unserem goldenen Ehejubiläum. Die Zuschriften
aber von katholischen Priestern, die mich um Rat und Hilfe baten in
ähnlichen Nöten, wie ich sie durchgekämpft, ließen mich stets aufs neue
dem Himmel danken, daß er mich den Weg finden ließ zu Martin Luther.



Vom Verfasser dieser Schrift sind unter andern (die vergriffenen sind
nicht aufgeführt) erschienen:

    »=Der Klosterzögling.=« Roman 6. Aufl. (Jena, Costenoble.)

    »=Marschall Vorwärts.=« Erzählung. 4. Aufl. (Stuttgart,
        Süddeutsches Verlags-Institut.)

    »=Im Cölibat.=« Novellen. 2. Aufl. (Wien und Leipzig. Wiener
        Liter.-Anstalt.)

    »=Der Ordensmeister.=« Epische Dichtung. (Berlin, G. Grote,
        Sammlung von Werken zeitgenössischer Schriftsteller. Band
        41.)

    »=Lützow's wilde Jagd.=« Erzählung. 5. Aufl. (Leipzig, Abel &
        Müller.)

    »=Deutsche Treue.=« Erzählung. (Ebenda.)

    »=Los von Rom.=« Erzählung. 6. Aufl. (Stuttgart, Carl Müller &
        Cie.)

    »=Die Brüder von St. Bernhard.=« Schauspiel. 10. Aufl.
        (Verlagshaus »Vita« in Charlottenburg.)

    »=Der Abt von St. Bernhard.=« Schauspiel. 2. Aufl. (Verlagshaus
        »Vita« in Charlottenburg.)

    »=Unlösbar.=« Schauspiel. (Verlagshaus »Vita« in
        Charlottenburg.)

    »=Das Tagebuch des Mönchs.=« (Leipzig, C. F. Tiefenbach.)

    »=Wenn die Schwalbe zieht.=« Novellen. (Leipzig. C. F.
        Tiefenbach.)

    »=Die Siebenbürger.=« Schauspiel. (Leipzig, C. F. Tiefenbach.)

    »=Die Einödpfarre.=« Schauspiel. (Leipzig, C. F. Tiefenbach.)

    »=In gerechter Fehde.=« Gedichte. (Leipzig, C. F. Tiefenbach.)

    »=Aus Tagen deutscher Not.=« Erzählung. 3. Aufl. (München,
        Georg W. Dietrich.)

    »=Kaiser Rotbart.=« Erzählung. 2. Aufl. (München, Georg W.
        Dietrich.)

    »=Mit der großen Armee.=« Erzählung. (München, Georg W.
        Dietrich.)

    »=Unser Schiller.=« (München, Georg W. Dietrich.)

    »=Komm den Frauen zart entgegen!=« Lustspiel. (Leipzig, Reclams
        Universalbibliothek.)

    »=Vorwärts mit Gott!=« Dramatisches Zeitbild. (Leipzig, Reclams
        Universalbibliothek.)

    »=Der fliegende Holländer.=« Epische Dichtung. 3. Aufl. (Wien,
        Allgem. Nationalbibliothek, Verlag Th. Daberkow.)

    »=Ein Märchen.=« Lustspiel. (Wien, Allgem. Nationalbibliothek,
        Verlag Th. Daberkow.)

    »=Der Kommandant vom Königstein.=« Lustspiel. (Wien, Allgemeine
        Nationalbibliothek, Verlag Th. Daberkow.)

    »=Kotzebue's Rache.=« Schauspiel. (Wien, Allgem.
        Nationalbibliothek, Verlag Th. Daberkow.)

    »=Ruhland.=« Gedichte. (Leipzig, Theodor Leibing.)

    »=Aus Kloster und Welt.=« (Dresden-Heidenau, Mitteld.
        Verl.-Anst.)

    »=Christian Günther.=« Roman. (Dresden-Heidenau, Mitteld.
        Verl.-Anstalt.)

    »=Der Geist des Hus'.=« Roman. (Dresden-Heidenau, Mitteld.
        Verl.-Anst.)

    »=Das Blutmal.=« Novelle. 2. Aufl. (Annaberg i. S.,
        Pöhlberg-Verlag.)

    »=Im Bann der Berge.=« Roman. (Annaberg i. S., Pöhlberg-Verlag.)

    »=Das goldene Buch von deutscher Treue.=« (Phönix-Verlag,
        Kattowitz.)



Im Verlag des =Evangelischen Bundes, Berlin W 35=,

Postscheckkonto Berlin Nr. 18124,

erscheinen:

Herausgegeben von Professor Dr. _Friedrich Ulmer_ in Erlangen:


~A.~ Warum evangelisch?

(Konvertitenbilder.)

    1. Pfarrer ~D.~ _Leonhard Fendt_ in Magdeburg: »=Erfüllung.=«
        Ein Büchlein von wohlgemutem Luthertum. 24 Seiten. 1923. 30
        Pf.

    2. Hofrat Dr. _Anton Ohorn_ in Chemnitz: »=Mein Weg zu Martin
        Luther.=« 20 Seiten. 25 Pf.

In Vorbereitung:

    3. Geheimrat Univ.-Prof. ~D.~ Dr. _Friedrich Wiegand_ in
        Greifswald: »=Fürstbischof Graf Leopold von Sedlnitzki.=«

    4. Hofrat Univ.-Prof. ~D. D.~ Dr. _Loesche_ in Königssee
        (Oberbayern): »=Elisabeth von Dänemark. Die erste
        evangelische Habsburgerin.=«

    5. Pfarrer ~D.~ _Leonhard Fendt_ in Magdeburg: »=Johannes
        Mathesius.=«

    6. Oberkirchenrat _Adolf Hermann_ in Ansbach: »=Johannes
        Goßner.=«


~B.~ Treu dem Evangelium.

(Märtyrerbilder aus der evangelischen Kirche.)

    1. Pastor ~D.~ _Oskar Schabert_ in Riga: »=Probst ~Dr.~
        Schlau.=« 16 Seiten. 20 Pf.

    2. Hofrat Univ.-Prof. ~D. D.~ Dr. _Loesche_ in Königssee
        (Oberbayern): »=Kaspar Tauber. Der erste Märtyrer der
        Reformation in Oesterreich im Rahmen der Märtyrergeschichte
        seines Heimatlandes.=« 20 S. 25 Pf.

    3. Pfarrer _Wilhelm Sebastian Schmerl_ in Gollhofen:
        »=Leonhard Kaiser, ein Blutzeuge für Gottes Wort und
        Luthers Lehre.=« 18 Seiten. 25 Pf.

    4. Dekan _Otto Erhard_ in Kempten: »=Heinrich von Zütphen.=«

In Vorbereitung:

    5. Dekan _Otto Erhard_ in Kempten: »=Matthias Weibel.=«

    6. Stadtpfarrer _Christoph Fikenscher_ in Nürnberg: »=Auf den
        Galeeren.=«


Montanus-Druckerei GmbH., Berlin W 35, Kurfürstenstraße 146/47.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.

    Korrekturen:

    S. 5: Klinkowström → Klinckowström
      der zweite, ein Graf {Klinckowström}

    S. 5: Klingkowström → Klinckowström
      ~P.~ {Klinckowström} zu hören war ein Genuß

    S. 8: durch → und durch
      im Meer liegt {und durch} und durch



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