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Title: Der Mord am Polizeiagenten Blau: Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart. Band 3
Author: Trautner, Eduard
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Der Mord am Polizeiagenten Blau: Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart. Band 3" ***

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BLAU ***



                     AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT
                    – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –



                              AUSSENSEITER
                            DER GESELLSCHAFT
                    – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –


                           HERAUSGEGEBEN VON
                            RUDOLF LEONHARD

                                 BAND 3


                          VERLAG DIE SCHMIEDE
                                 BERLIN



                                DER MORD
                         AM POLIZEIAGENTEN BLAU


                                  VON
                            EDUARD TRAUTNER


                          VERLAG DIE SCHMIEDE
                                 BERLIN


                             EINBANDENTWURF
                              GEORG SALTER
                                 BERLIN


              Copyright 1924 by Verlag Die Schmiede Berlin



                              EINLEITUNG.


Der Fall des ermordeten Polizeispitzels Karl Blau interessiert nicht so
sehr wegen der beteiligten Personen; selbst nicht wegen der des
Ermordeten. Dieser scheint nach den in der Verhandlung vorgebrachten
Bekundungen ein geistig unbedeutender und sittlich minderwertiger Mensch
gewesen zu sein, den höchstens der Fanatismus seiner Beschränktheit
gefährlich machte; jene treten als Persönlichkeiten überhaupt nicht
hervor: man zweifelt, ob man Akteure vor sich hat, ob Statisten; denn
man erkennt weniger Individuen, als Funktionäre unsichtbarer Strömungen
und Bewegungen. Befangen und fast entselbstet sind sie schemenhaft
undurchdringbar in Zusammenhängen und Herkunft: so wie die Tat – die
zufällig sichtbar wurde aus einem verborgenen Mechanismus, in dessen
sonst geräuschlosem Ablauf sie eine vielleicht unwichtige Masche ist;
nur eine Masche, die dem Staatsanwalt Einschreiten gebot.

Ein politischer Prozeß, – wie ein ähnlicher, gleichartig farblos in den
Persönlichkeiten und gleichartig undurchdringlich, morgen wie heute
bekannt werden mag: – und dies berechtigt den Versuch, den Fall zu
erörtern. Denn der Boden, dem er entspringt, ist zwar verborgen und
übersehen, doch heute wie damals vorhanden; er arbeitet und gärt, und
tritt morgen vielleicht schon in Erscheinung; es ist die unterirdische
Bewegung, die politisch unruhige Zeiten trägt; das vulkanische Rollen,
das Revolutionen und Restaurationen vorausgeht, nachfolgt und sie
begleitet.

– Je ferner und entrückter ein Ding ist, desto einfacher wird es, es
klar zu betrachten, falls Betrachtung überhaupt statt hat; denn: der
Tätige jeden Berufes lebt einen Alltag, dessen Oberflächen ihm keine
Tiefen verbergen. Wo ihm Verwicklungen klaffen, hilft ihm ein knapp
formuliertes Urteil – das Schlagwort – jene Sicherheit zu bewahren, die
seiner Wirksamkeit Voraussetzung ist. Wenn aber Liebe und Haß,
Verzweiflung und Angst die Gemüter erregen, trübt sich der Blick, und:
wo jeder im tiefsten beteiligt, bereit und gezwungen ist sich und das
Letzte einzusetzen, dort ist man blind!, auch ohne zu rasen ... muß es
sein, um den Schritt ins Morgen zu wagen!

Nun war des letzten Dezenniums Ablauf so rasch und hat so brutal mit uns
gehandelt, daß niemals das Heute Zeit ließ, an das Vorher zu denken.
Natürlich wissen wir alle Viel und Zu-Vieles aus diesen Jahren; so viel,
daß dessen Last uns ängstigte und nicht mehr tragbar war. Da setzten wir
an Stelle der Wahrheit leicht benutzbare Urteile, nach ihrem
Propagandawert ausgewählt! Und machten die Gegenwart uns dadurch
erträglich ... Wir haben eine tote Vergangenheit; nicht etwa, daß sie
leer wäre; nur: sie ward nie lebendig. Wir deckten unsere Erinnerungen
mit unseren Formulierungen zu ... und eiferten uns in die Berechtigung
unserer Ziele.

Doch, – die Schufte sind selten; häufiger sind schon die Hanswurste, und
die weitaus überwiegende Mehrzahl der Menschen erhebt berechtigten
Anspruch darauf, für gute Bürger und gute Patrioten zu gelten. Und: man
wird auf der ganzen Erde zusammen nicht so viel Mut finden, um nur ein
Drittel eines Volkes zu den Verbrechern zu machen, die sie gegenseitig
sich schimpfen. Wer also nicht bereit sein will, in politischen Dingen
des Gegners nur Gemeinheit zu sehen und Niedertracht, muß das Bild all
der Jahre wecken: ohne Betrachtung der politischen Lage der breiten
Massen und ihrer Gestaltung unter dem Einfluß des Nachkrieges ist es
unmöglich, dem Fall Blau gerecht zu werden – soweit überhaupt
Möglichkeit ist, durch dieses Dunkel zu dringen, denn:

In der Aufklärung, wie der Prozeß sie gibt, sind die letzten Enden und
Fäden verborgener Bestrebungen eben erkennbar; man sieht in der
aufgerissenen Wunde zerfetzte Sehnen und weiß, daß im Lebenden, irgendwo
hinter dem Sichtbaren, Wille sitzt und Gehirn. Aber es ist unmöglich,
diesen Spuren zu folgen; eine Spanne weit sind sie zu ahnen, dann kommt
das Uferlose. Die Ganzheit entzieht sich stumm und unfaßbar jeder
Betrachtung.



                               DER BODEN.


                            Die Außenseiter.

Jede bisherige Art der menschlichen Gesellschaft fand im Urteile der
Betrachter das eine Wort: daß sie schlecht sei und berechtigten
Anforderungen nicht genüge. Der nächste Satz war, daß sie notdürftig
funktioniere. Darüber hinaus zeigten sich die Verschiedenheiten,
trennten sich die Wege: die einen betonten das Wort „funktionieren“,
während die anderen das „notdürftig“ rot unterstrichen.

Ein Lebendiges sollte man nicht an Hand mechanischer Vorstellungen
erörtern, – aber unsere Sprachen sind nach diesen und Mathematik geformt
und für deren Bedürfnisse durchgebildet: So vergleicht man die
Gesellschaft mit einer riesigen und sehr komplizierten Maschine.

Aber man muß sich erinnern, daß die Gesellschaft aus einer Unzahl
Einzelmenschen mit persönlichem Schicksal besteht; und, daß sie nicht
alle Menschen umfaßt: außerhalb stehen andere, die in anderen
Gesellschaften organisiert sind, und solche, die kaum irgendwo
zugehören. Es gibt mehrere solcher Maschinen, die sich berühren und in
manchem durchdringen: es braucht schon Gewalt, um eine allein zu
betrachten. Doch auch an der einzelnen ist nichts, was fest ist. Nicht
nur, daß die Menschen altern, sich ändern, wechseln; auch die Gruppen
von Menschen, die Teile der Maschine, wandeln sich in ihrer Struktur,
ihrer Leistung und sogar ihrer Notwendigkeit für das Ganze. So ist auch
dieses einer dauernden Umbildung unterworfen, die oftmals das
Schwergewicht zwischen den einzelnen Sphären (z. B. Landwirtschaft,
Wehrmacht, Geldwesen, Beamtentum usw.) verlagert und für immer
verschiebt.

Die Mittelpunkte der Konsolidierung und Kristallisation sind selbständig
und suchen vielfach unabhängig voneinander den Bau zu durchdringen; ein
Ringen um die Hegemonie findet statt, und neben den Tendenzen, die auf
Befestigung zielen, laufen Prozesse der Auflösung und der Rückbildung
einher: Dies erfordert eine angemessene Beweglichkeit der einzelnen
Elemente und bedingt besonders an den Berührungszonen der einzelnen
Gebiete eine beträchtliche Lockerheit des Gefüges. Nur so kann der
Organismus die starke Reibung dort und hier die lose Verknüpfung
ertragen.

Wo immer man eine Bevölkerungsgruppe abtastet, wird man an ihren Grenzen
finden, daß sie zerfasert und allmählich oder verzackt in andere Gruppen
überfließt. Dort, an den Grenzschichten, findet man diese elastischen
und beweglichen Elemente. Im Inneren der Gesellschaft füllen sie als
Zwischenhändler, Kommissionäre usw. vorhandene Lücken aus und
überbrücken sie; an den freien Außenflächen aber vermögen sie sich zu
entfalten und blühen aus als Künstler, Gelehrte, Propheten, oder
entwickeln sich zu Feinden und Verbrechern – je nachdem die Verhältnisse
gelagert sind und je nach dem, was die bestehende Form mit diesen
Gliedern anzufangen weiß, –: bis fortschreitende Entwicklung vielleicht
gerade von diesen Zonen aus neue und umwälzende Mittelpunkte zur Geltung
bringt.

Darum ist auch eine andere Betrachtung der Gesellschaft möglich: im
Gegensatz zu den starren und durchkonstruierten Teilen der Maschine
stellt jenes schmiegsame Milieu das Bewegliche, Gärende und so das
Lebendige dar, das zeugt und stirbt. Man kann also das Geordnete als
gegeben und nicht weiter anregend statistisch aufnehmen: in den
Zwischenschichten aber das fruchtbare und fortbildende Element
untersuchen: den Ausgangspunkt der Entwicklung – und vielleicht besteht
der wesentliche Teil praktischer Innenpolitik im Versuch der Erkenntnis
und richtigen Voraussicht, im Auffangen der so bedingten Verschiebungen.
–

Der Sprachgebrauch wird diese abseits des stabilen Kreislaufs wirksamen
Existenzen als Außenseiter bezeichnen. Der Außenseiter ist demnach kein
aus der Bahn geschleudertes Individuum, sondern ein der Gesellschaft und
jeder noch nicht verknöcherten Gesellschaft notwendiges Milieu.
Zwangsläufig wird der einzelne in diese Schicht getrieben; zum Teil,
weil er den benachbarten Stabilisierungstendenzen weniger geneigt und
von ihnen abgedrängt wird, zum anderen Teil, weil die vorhandene Lücke
von irgendwoher ihn ansaugt. Selbstverständlich wird eine gewisse
Auslese der Charaktere stattfinden, aber ebenso sehr erwartet das Milieu
den Menschen! Die Idee der Gesellschaft allein setzt schon als gegeben
den Außenseiter; die Art ihres Aufbaues bedingt die Rolle, die er zu
spielen hat, und so, wie sie der vorhandenen Lage entspricht, wird jener
fördernd oder auflösend oder erneuernd wirken.

Aber, was stetig sich ändert, verschiebt und anpaßt, wird nie der Idee
entsprechen; bestenfalls ist es ein Angleichen, das Reibungen, Härten
und Stöße nicht ausschließt: sondern aushalten muß. Diese
Erschütterungen möglichst bald abzufedern – im Interesse des Ganzen –
ist nötig und die Wirklichkeit ist nicht wählerisch in den Mitteln.

Der Außenseiter erfüllt eben eine Lücke, die besteht und Erfüllung
fordert; erst sekundär erweist sich die Wirksamkeit des neuen Gebildes
für die weitere Gestaltung des Ganzen.

                   *       *       *       *       *

Eine der kompliziertesten Arten des Außenseitertums ist die politische:
von den überragenden Köpfen, die zwischen und über den Parteien und
Völkern stehen, zu den vaterländischen Märtyrern und den Verbrechern,
die mit Raub und Erpressung arbeiten, von da wieder zu den Fälschern,
Schwindlern und politischen Hochstaplern sind schwebende Übergänge
vorhanden. Diese Verhältnisse zu erörtern, wäre eine langwierige Arbeit
für sich, die hier nicht in Betracht kommt.

Der vorliegende Fall spielt im Jahre 1919, und um diese Zeit (kurz nach
dem Zusammenbruch und vor der Organisation und Politik der Geheimbünde)
herrschten in Deutschland Zustände, die mit denen vor dem Krieg und
entsprechenden Parallelen wenig Verwandtschaft haben. Selbst heute hat
sich schon so viel geändert, daß es am geratensten ist, das damalige
Chaos und seine Entstehung zu schildern – auf die Gefahr hin, Bekanntes
zu wiederholen.


                               Der Krieg.

Das kurzsichtige Zusammenspiel etwa eines Dutzends sich hintereinander
versteckender Männer hatte im Jahre 1914 die Länder Europas an einen
Abgrund gebracht, vor dem sie nicht mehr zu retten waren. Im August
setzten die Kriegserklärungen ein: da ergriff alle Kreise der
Bevölkerung ein Zustand unpersönlicher Erregung, ein Gefühl der
Befreiung und ein Drang, sich zu opfern.

Nur wenige vermochten, sich diesem Zwang zu entziehen: solche, deren
persönliche Welt vom Ganzen des Volkes gelöst und in kosmopolitischer
Seinsart verankert war: sie schwiegen damals, wie sie heute und immer
tun; und, wenn sie gesprochen hätten, hätte es niemand vernommen.
Solche, die aus überzeugter Gegnerschaft zum bestehenden System und
seiner Politik protestierten: und diese wurden eingesperrt. Die anderen
alle waren im Strom.

Alle! Und es ist unrecht, den heutigen Sozialisten, Internationalisten
und Pazifisten vorzuwerfen, daß sie es waren; viel eher wäre berechtigt,
denen, die, ängstlich an Halme und Balken sich klammernd, in der Heimat
verblieben, ihren Mangel an Gemeinsinn nachzutragen. Das ganze Volk war
einig, die Atmosphäre war zu drückend gewesen, als daß sie nicht jeden
ergriffen hätte!

Dies Bild änderte sich erst mit der Zeit: Im Herbst bereits konnten
Verständige sehen, daß der Krieg lange dauern würde und durch Siege
allein nicht zu gewinnen war. Doch die Verständigen schwiegen und
dienten: Man war Soldat (– und der Krieg wurde daran verloren, daß man
zuviel Soldat war!).

Die großen Siege von 1915 und 16 rissen das Geschehen ins Grandiose; und
verwischten den Blick. Das Ausmaß der Ereignisse war so übermenschlich,
daß die Möglichkeit einer Niederlage zu grauenvoll war, um ihren
Gedanken zu wagen. Es mußte das Letzte geopfert werden zu irgendeinem,
zum möglichen Ziel: die Männer, die 1914 gebangt hatten vor der Schwere
der übernommenen Bürde, sahen, daß nur das Äußerste, das Unmögliche sie
rechtfertigen konnte: Siegfrieden; es mußte gesiegt sein, sonst war
alles verloren! Schon das Zurück überlegen war ein Verbrechen und dessen
Folgen mußten furchtbar sein! –

[Anmerkung zur Transkription: Facsimile eines Flugblattes.]

                                  Wir
                             müssen siegen!

                  Am kommenden Sonnabend, abends 8 Uhr
                     große öffentliche Versammlung
                            im Harmoniesaale

             Wir fordern:
             Krieg bis zur siegreichen Entscheidung!

             Wir wollen:
             den Frieden der Sicherheit,
             den Frieden, der unserer Toten wert ist!

             Wir verlangen:
             Rückerstattung der Kriegskosten,
             militärische und industrielle Sicherungen, besonders der
                Westfront,
             koloniale Berichtigungen!

                 Wir fordern unsern Platz auf der Welt!

                              Durchhalten!
                               Aushalten!
                              Maul halten!

                           Wir müssen siegen!

                                  Deutsche Vaterlandspartei.
                                           Der Ortsvorstand.

Die Mehrheit der Bevölkerung, besonders die Truppe, trug den Krieg wie
einen Beruf: sie wälzte Verantwortung auf die Höheren ab, erfüllte stumm
ihre Pflicht und schonte sich nicht. Selbst in den Kreisen hinter der
Front, die man nicht immer lobend erwähnte, blieb bei aller lokalen
Verlottertheit kein Appell ohne Wirkung; man war nicht mehr begeistert,
wie in jenem August; und mußte nicht unbedingt an der Spitze sein: doch
war man jederzeit bereit, wenn nötig, das Letzte zu geben.

Es gab keine Außenseiter, es gab keine Beweglichkeit! Sicher, die
Kriegswirtschaft arbeitete mit ungeheuren Verlusten und Spesen, aber sie
funktionierte und – wenn man tausendmal manches hätte ändern und bessern
können: ohne die Versteifung und Verstählung um einen einzigen Kern ging
es nicht! Wenn nicht dieser ganze Staat eisern und ehern _eine_ Maschine
war, ohne Reibung und ohne Leerlauf nur Härte: dann war heiler Ausgang
unmöglich.

Wenn er überhaupt möglich war! – Es ist für die Einheitlichkeit der
nationalen Bewegung beweisend, daß Widerspruch gegen den Krieg erst dann
weitere Kreise zog, als Männer an exponierten und orientierten Plätzen
die Möglichkeit des Sieges verneinten und jedes weitere Opfern als
unnütz und die Lage verschlimmernd zu erkennen glaubten; und hier fand
der entscheidende Bruch in der Psyche während des Krieges statt: die
einen sagten: „Wir können nicht zurück!“ und bissen die Zähne
ineinander; die anderen fühlten: „Wir müssen zurück!“ und schwiegen; und
warteten auf den besseren Augenblick. _Beide fühlten sich schuldig._


                                 1918.

Die Begeisterung jenes heißen Augusts war mit den Jahren ernster
Gefaßtheit gewichen; 1918 wandelte sie sich in beengenden Druck. Man
wußte, daß man nicht siegen konnte; man wußte, daß die leichten
Möglichkeiten zum Frieden vorüber waren; man wußte, daß zuviel
unwiederbringlich vorüber war und fühlte sich angstvoll und unfrei.
Jedenfalls, die Verantwortlichen taten nichts, einen Ausweg zu finden:
wie gelähmt folgten sie der Entwicklung, und selbst die erkannte
Wahrheit vermochte keinen Entschluß zu reifen.

Und unverantwortlich waren nur die niedrigsten Gruppen: die einfachen
Soldaten und die in der Kriegsindustrie zusammengepferchten Arbeiter,
das hungernde Volk! Gerade die Masse dieser Unverantwortlichen – die
gehorchte und litt im Vertrauen auf den Erfolg – gerade dieses Vertrauen
forderte entscheidende Tat ... Aber man war schon zu weit! So hofften
die einen auf allgemeine Zermürbung, die anderen bangten vor der
erkannten Gefahr; beide hielten sich dadurch aufrecht, daß sie ihre
individuelle Pflicht erfüllten.

Dabei war das System nur für den Sieg gebaut! Jede andere Lösung war
unerträglich; das Letzte war auf die einzige Karte gesetzt! Die ganze
Maschine des Staates war derart überkonstruiert und versteift, daß sie
die geringste Abweichung weder ertragen, noch überstehen konnte; sie
mußte springen. –

Man spricht von Unterwühlung der Front und nennt die paar Streiks, die
paar Meutereien, nennt die wenigen Namen, die während des ganzen Krieges
ungehört widersprochen hatten: man suche nicht Sündenböcke! Zuerst
wollte, dann mußte man siegen; für den Fall, daß der Sieg ausbleiben
würde, war nicht gesorgt ... und hätte man dafür gesorgt, dann war keine
_Aussicht_, zu siegen. Es war eine Zwickmühle. Der Krieg war eben
verloren und war dadurch verloren, daß er zu lange Möglichkeit zeigte,
gewonnen zu werden.

Dies ist eine Tragik, kein persönliches Verschulden; und vor der Größe
dieser Tragik wird alles belanglos, was man an Fehlern nach links und
rechts aufdecken kann. Man erhebt als plausibelsten Vorwurf den: im
Jahre 1918 selbst sei die Beilegung des Krieges so lange verzögert
worden, bis man den Waffenstillstand in wenigen Stunden haben _mußte_.

Aber, während periphere (koloniale) Kriege im Verlustfalle gleichgültig
sind, im Gewinnfalle höchstens mit der Krönung des siegreichen Feldherrn
enden, enden zentrale (Erschöpfungs-) Kriege im Verlustfall mit dem
Sturz des Systems. Um die bestehende Ordnung zu erhalten, mußten die
verantwortlichen Leiter, als die Stützen und Träger des herrschenden
Systems, alles versuchen, um den Krieg nicht offensichtlich zu
verlieren. – Doch er war schon verloren!


                             Der November.

Im August waren die letzten Offensiven gescheitert; im September-Oktober
erlahmte der Widerstand; Bulgarien, Österreich schieden aus, und in
diesem höchsten Moment zeigt sich nochmals der ganze Zwiespalt: viele
Demokraten forderten die nationale Verteidigung, viele Nationalisten das
sofortige Ende! Die Patrioten waren geteilt und, ehe sie sich einigen
konnten, erfolgte um sie herum der Zusammenbruch, ... in dem der Sturz
der Monarchien kaum mehr vernommen wurde. Die überbeanspruchte Maschine
zersprang an ihrem Mangel an Elastizität.

Heute nennt man es Revolution und rechnet es sich als Verdienst oder
Schande; doch:

Revolutionen entbrennen in einem müden und untergrabenen System
plötzlich, blutig und breiten erobernd sich über das Land aus. In diesem
Falle krachte der ganze Mechanismus des Bestehenden in einem Augenblick
völlig und überall zusammen. Über den Trümmern wehte keine Fahne, die
vorwärts ruft, keine Idee stand vor den Massen; es war nichts
Schöpferisches und Freudiges da, nur Panik. Es war eben keine
Revolution, es war einfach Zusammenbruch, Entsetzen und Chaos, débâcle.

So leicht es ist, sich eine solche Erscheinung mechanisch vorzustellen,
so schwer ist es, sie psychologisch zu durchschauen. Daß innerhalb
weniger Stunden und Tage durch das ganze Gebiet des Landes bis in den
kleinsten Betrieb hinein die bestellten Leiter verschwanden und flohen
und jegliches Ruder ohne Führung war! Aber, man muß sich erinnern, wie
die Entwicklung des Krieges sowohl den Unentwegten wie den Defaitisten
ein gewisses Schuldbewußtsein brachte, ein schlechtes Gewissen, das sie
nicht froh werden ließ, eine Angst vor dem Morgen – ganz wenige nur
besaßen den Patriotismus oder die Schamlosigkeit, sich weiterhin zur
Verfügung zu stellen und zur Rettung des Ganzen zu drängen. Die anderen
verstummten und überließen das Feld der unendlichen Flut: den Arbeitern
und Soldaten.

Diese, die bisher Unverantwortlichen, sahen plötzlich die Gesamtheit des
Vorhandenen in ihrem Bereich; doch anstatt darüber herzufallen,
erkannten sie eine Verpflichtung und versuchten, ihr Folge zu leisten.


                             Die Patrioten.

Man darf in unruhigen Zeiten nicht nach dem urteilen, was geschrien und
geschrieben wird; man muß nach den Tatsachen fragen: es wurden Arbeiter-
und Bauern-, Bürger- und Soldaten-, sogar geistige Räte gebildet, die –
zu erhalten suchten!

Wenn ein ausgehungertes und entnervtes Volk zusammenbricht, erwartet man
Plünderung und Zerstörung. Selbstverständlich wurde geplündert; aber
zerstört wurde fast nichts; vor die Maschinen stellten sich schützend
die Arbeiter, vor die Museen und Wertbesitzer die Räte: man wollte
erhalten. Leicht ist es heute, über den Wust unnützer Debatten und
wirkungsloser Beschlüsse zu lachen: die Leute, die damals sich Mühe
gaben, waren sehr gute Bürger, die ihr Vaterland liebten und versuchten,
möglichst vieles zu retten. Daran ändern Zitate nichts und nichts
Geringschätzung, denn sie haben’s geschafft. Als alle bis dahin
bestehende Ordnung zerbrach, vermochten sie es, den Bestand zu erhalten.
Aber weiter vermochten sie nichts.

Verblüffend ist die Sorgfalt, mit der die Räte einschneidende Maßnahmen
zu umgehen suchten, Wahlen ausschrieben für eine verfassunggebende
Versammlung, und solcherart selbst ihre Wirksamkeit als vorübergehende
und rein abwickelnde bezeichneten – dabei waren sie in diesen Wochen die
einzige vollziehende und verwaltende Macht! Es ist einfach erstaunlich,
mit welcher Sorgfalt dies zu Boden geschmetterte Volk sich zu bewahren
suchte, – es muß wirklich kein Funken Revolutionsdrang in diesem Volke
vorhanden gewesen sein – der kleinste Anstoß müßte genügt haben, das
ganze Feld zu entflammen! –

Man kann bestreiten, ob dieses Erhalten klug war; viele werden
behaupten, daß eine schmerzliche Operation besser ist als eine lange
Krankheit – und, wenn man bedenkt, daß heute (1924) die Herstellung des
Friedens noch nicht gelungen ist, mag man noch mehr mit dem Urteil
zögern. Trotzdem bleibt die Art, wie diese Männer die Liquidation
_dieses_ Krieges und die Erhaltung des toten Bestandes fertiggebracht
haben, ein Phänomen der Geschichte.

Ihr Verdienst wird nicht dadurch geschmälert, daß ihnen die Errichtung
einer neuen Staatsmaschine mißlang; denn die Auflösung des alten Systems
war derart völlig und katastrophal, daß weder in Handel noch in
Produktion, weder in Verwaltung noch in den Gebieten der öffentlichen
Sicherheit irgendwelche leistungsfähige Organisation verschont war. Es
mußte alles neu aufgebaut werden.


                              Die Gegner.

In den Novembertagen gab es eigentlich nur mehr Einzelne und zufällige
Anhäufungen von Einzelnen: auf den größten dieser zufälligen Anhäufungen
(dem Heer und den Arbeitermassen in den Betrieben) baute sich die erste
Struktur auf. Es entstanden Richtlinien und damit die Schwierigkeit des
Richtens: jeder Fortschritt mußte gegen den Widerstand des
desorganisierten Einzelnen überwunden werden.

Doch darüber hinaus gaben die neuen Richtlinien zu Widerspruch Anlaß:
die einen versuchten, wenn nicht die alte Regierungsform zu erhalten, so
doch die Macht den Machtträgern des alten Regimes zuzuschieben. Die
anderen wollten, wenn man schon aufbaut, einen von Grund aus neuen und
verbesserten Bau – selbst, wenn es nötig war, vorher noch mehr zu
zerstören. Beide warfen dem sich bildenden Staate die Charakterlosigkeit
des feilschenden Maklers vor, die Angst um den billigsten Mittelweg.

Nun soll ja Politik die Kunst des Möglichen sein: aber in einem
Trümmerfeld darf man nicht Politik verlangen, selbst wenn ein paar der
Stücke Kristallisationskraft besitzen. Man muß auch bedenken, daß die
rivalisierenden Kräfte sich gegeneinander organisierten und Tag um Tag
die Möglichkeit sahen, sich durch Gewalt in den Besitz der wenigen
Herrschaft zu setzen, die da war. Was die Arbeit und das Erbe der Räte
bedeutsam macht, ist, daß es sich bis heute erhielt und durchsetzte;
nicht: daß damals schon vorhanden war, was es ausgezeichnet hätte.

Drei feindliche Richtungen bekriegten sich auf einem Meere von
Unordnung. Aber man darf die Zahl der zuverlässigen Anhänger nicht
überschätzen; die Richtungen selbst haben sich erst allmählich gefestigt
und durchgesetzt.

Der damalige Zustand ist etwa auf die Formel zu bringen: Jeder sein
eigener Patriot; nach seinen Kräften. Wer einen Mund hatte, brüllte; wer
eine Faust hatte, schlug. Der Besitz eines Maschinengewehrs war mehr
wert als der einer Überzeugung; und, da die Verständigen ohnmächtig und
ratlos verstummten, hatten’s die Dummköpfe leicht, laut zu sein. Sie
fühlten sich sogar dazu berufen und angestellt.

In solchem Zustand wiegen die Köpfe nicht, da gilt ein Temperament
alles, und die Temperamente kamen:

Die Unruhigen: Abenteurer, Wichtigtuer, Projektemacher, Querulanten; Die
Phantasten: Fanatiker, Propheten, Halbirre, Ekstatiker; Die Schmarotzer:
Intriganten, Hanswurste, Schmeichler, Faulenzer: eine wogende Masse, die
brodelnd aufgerührt wurde und haltlos hin- und herschlug. Dazu kam die
Unzahl derer, die aus Trägheit oder Gelegenheit leichtem Unterhalt
nachging und dem nächsten sich anschloß; und endlich der
unzuverlässigste unter allen Machtfaktoren innerpolitischer
Auseinandersetzung: die, deren Stellungnahme in einer Stunde wechselt
und unvorhergesehen entscheiden kann; die Legion derer, die ihrer Art
nach Soldaten sind und gehorchen und siegen wollen, das Heer!

Drei hauptsächliche Richtungen, eine Anzahl Querköpfe auf eigene Faust,
eine Unzahl von Mitläufern und ein desorganisiertes Heer: das waren die
Figuren des damaligen politischen Spieles – abgesehen von ein paar
Führern und ihrem organisierten Anhang unverantwortliche Außenseiter,
wucherndes Fleisch, dessen Aufsaugung der Republik bis heute nicht
gelang.


                            Der Bürgerkrieg.

Seit 1919 lebt Deutschland im Bürgerkrieg. Daß immer mehrere sich
zusammentaten, um den anderen zu schlagen, und, daß die Republik immer
bei den mehreren war und so anscheinend erstarkte, ändert nichts an der
Sache. Ebensowenig die Feststellung, daß nicht an jedem Tage an jedem
Orte geschossen wurde. Denn: wer alle Schießereien, Morde, Prozesse
aneinanderreiht, erhält trotzdem einen ununterbrochenen Kriegsbericht,
der es mit irgendeinem historischen Krieg aufnehmen kann.

[Anmerkung zur Transkription: Facsimile eines Flugblattes.]

                             Offiziere der
                         7. Kavalleriedivision!

          center.u Für Recht! Für Gesetz! Für Ordnung!

              Setzt euch in Beziehung mit euren Kameraden

                           fürs Vaterland!!!

Der Bürgerkrieg wird von mehreren, äußerlich kaum unterscheidbaren
Teilen eines Volkes geführt; von Leuten, die Mut haben und von ihrem
Recht überzeugt sind. Sie halten die Anderen für Schufte, Verräter und
Verbrecher: weil nur dieses Urteil den Totschlag von Volksgenossen
verantworten kann. Der Rest der Bevölkerung versucht ängstlich seinen
Besitz zu wahren, und sei es auf Kosten der Nachbarn oder des Ganzen –
um morgen vielleicht doch arm zu sein. Politische und wirtschaftliche
Zerrüttung: die Ereignisse der letzten Jahre bestätigen das.

Die Tatsache, daß der Feind äußerlich nicht erkennbar und räumlich nicht
getrennt ist, schafft eine Atmosphäre des Mißtrauens und der
Unsicherheit, die zugleich mit der Verachtung des Gegners die Schärfe
des Kampfes und seine Brutalität erklärt. Dazu kommt, daß die Lage in
Deutschland die Folge eines Zusammenbruchs ist. Die ganze vorher
geschilderte brodelnde Masse schiebt sich hinter und zwischen die
Parteien und derselbe Zusammenbruch, der jenes unorganisierte Milieu
schuf, zwingt die Parteien, sich seiner zu bedienen; und es wird Träger
der Politik und ihrer Bestrebungen. Das Verantwortungslose ruft sich aus
zum System.


                              Der Spitzel.

Für den Naiven besteht die Historie aus Schlachten und Morden: Dingen,
die mit Krawall in die Welt gesetzt werden und durch ihren Krach
überzeugen. Die Erinnerung des großen Krieges zeigt, daß Leisetreten
auch wirksam ist: daß Aufklärung und Propaganda, Kredite, Fehler des
Gegners, nicht zuletzt Ideen und Lügen das Schicksal der Völker
entscheidend zu beeinflussen vermögen; das Hinter- und Unter-der-Front
ergibt erst die Strategie.

– Jeder Staat und jede Partei verfügt über Nachrichten- und
Propagandadienst, hat Interesse für Verrat und Provokation. In normalen
Zeiten verwendet man dazu möglichst ausgesuchte Leute, die mit aktiver
Spionage arbeiten oder mit bezahltem Verrat; eventuell über
Mittelmänner. Die Zwischenschicht des Spitzels ist, wie bei jeder
stabilisierten Gesellschaft die Zwischenschichten, dünn und einflußlos.
Von dem seltenen Spion aus Vaterlandsliebe und Opferwillen abgesehen
gibt es eine kleine Clique von Internationalen, unter denen echte und
falsche Nachrichten für mehr oder weniger Geld käuflich sind.

Diese kommt für den Bürgerkrieg kaum in Betracht: der Boden ist heiß und
die Chancen sind gering. Außerdem sind die Erfordernisse ganz andere. In
der ruhigen Politik handelt es sich meist darum, Geheimnisse und
Geheimgehaltenes zu erfahren oder zu verbergen: Arbeiten, die auf lange
Sicht unternommen werden. Hier aber schafft jeder Tag neue Situationen.
Zuerst sind schon die Parteien nicht fest orientiert; Gruppen und
Grüppchen bilden sich, lösen sich auf; viele handeln auf eigene Faust:
und es ist schwer, orientiert zu sein, was von Belang ist. Zudem stehen
hinter den Leuten Waffen, die nicht in Jahren, sondern morgen schon
losgehen können. Das schafft eine Erregung, in der jeder geordnete
Nachrichtendienst versagt; da erwacht das Gerücht in seiner gefährlichen
Unkontrollierbarkeit.

[Anmerkung zur Transkription: Facsimile eines Flugblattes.]

                          Genossen! Vorsicht!
                                Spitzel!

             1,67 groß, untersetzt, beweglich; aschblondes
              Haar, dto. Schnurrbart, Rundschädel, starke
                Backenknochen, eher Stupsnase, unruhige
                 graubraune Augen, schlechtes Gebiß, im
                    Oberkiefer einige Zähne fehlend.

                Gefälschte Ausweise des Spartakusbundes;
                            Namen wechselnd.

                                Spitzel!
                          Genossen! Vorsicht!

Jedes Ohr neigt jedem Mund sich zum Horchen. Jeder, der mit Leuten
verschiedener Parteien verkehrt, kann in die Lage des Zwischenträgers
und seine Not kommen. Es ist eine ununterbrochene Skala von den
Plauderern zu den Bezahlten, von den Gutgläubigen bis zu den
beauftragten Provokateuren.

Wo Spitzel sind, da herrscht Spitzelangst; da alle Wasser trüb sind,
fischt man mit groben Netzen: Aushorchen, Erpressung, Verhaftungen und
Mißhandlungen, Haussuchung, Raub und Mord sind die Mittel, und ein Heer
von Zwischenträgern und Achtgroschenjungs lebt davon; der Feind macht’s
ebenso, und nun werden Verräter entlarvt, wird über Verbrechen und
Provokation gestritten, Urheberschaft sich in die Schuhe geschoben und
sich beschimpft: bis kein Mensch mehr weiß, wer was wirklich veranlaßt
hat. Berufsmäßiges Verbrechen mischt sich ein; Desordre – und jeder
schwört auf seine Meinung wie zuvor.

Nach der Psychologie dieses Spitzels zu fragen ist müßig. Sie ist zu
verschieden; selbst die Bezahlten sind in keiner Weise ein Typ. Sie
kommen durch Zufall zu diesem Erwerb, und einmal im Zuge, gleiten sie
weiter; sie nehmen das Geld, oft von beiden Seiten, und haben meist gar
nicht vor, dafür Arbeit zu leisten; es wird gelogen, gedichtet und
provoziert: wahllos und ohne Hemmungen – wie es eben geglaubt, gewünscht
und bestellt wird. Alles an diesen Leuten ist falsch; sie kennen nicht
Freund noch Feind; nur Betrogene – und wahrscheinlich ohne darüber klar
zu sein: ein zerstörender Zustand der Demoralisation. Bei dem vielleicht
viele nicht wissen, wie sehr sie daran Anteil haben.

Denn es ist unrichtig, einzig dem Zusammenbruch und der dadurch
bedingten Verwirrung die Schuld zu geben. Die Verantwortung liegt viel
mehr bei denen, die – anstatt mit allen Mitteln gegen das verwahrloste
Außenseitertum einzuschreiten – sich nicht scheuten gerade die
minderwertigsten Elemente für ihren Zweck zu engagieren; sie liegt bei
denen, die den Lockspitzel anstellten und ihn bezahlten.

Der vorliegende Fall wird genügend Einblick in diese Zustände geben!



                              DIE ANKLAGE.


                             Vorgeschichte.

Am 7. August 1919, vormittags 9 Uhr, wurde vor dem Hause
Königin-Augusta-Straße 31 zu Berlin eine männliche Leiche aus dem
Landwehrkanal geborgen; der Körper war bis auf Schuhe und Hut völlig
bekleidet; die Beine waren in eine um die Knie verknotete graue Decke
gewickelt; eine hanfene Waschleine verband beide Knie und hielt sie an
den Hals gezogen, wo sie in einer Schlinge endete; die Arme waren frei.
– Der Gerichtsarzt nahm Selbstmord an.

In der Tasche des Toten wurde ein Gepäckschein, auf den Anhalter Bahnhof
lautend, gefunden; die Koffer wurden abgeholt: deren Durchsicht ergab
Papiere, die auf den landwirtschaftlichen Inspektor Karl Blau
ausgestellt waren.

Dieser Mann war der Polizei als politischer Spitzel persönlich bekannt;
die Leiche wurde identifiziert. Aber gerade die Beschäftigung des Toten
mußte die Möglichkeit eines Verbrechens nahelegen. Nachuntersuchung
wurde angeordnet.

Gerichtschemiker Dr. Brüning führte sie aus; ihm erschien die
Halsschlaufe zu weit, das Fehlen der Schuhe nicht selbstverständlich;
ohne sich zu entscheiden, wollte er gewaltsamen Tod nicht ausschließen.

– Es dauerte mehrere Wochen, bis ein Resultat weiterer Nachforschungen
bekannt wurde. Die Nachtzeitung (Nr. 200 der Deutschen Abendzeitung, 6.
Jahrg.) brachte am 27. August 1919 folgende Meldung:

                 Der Mörder des Inspektors Blau verhaftet.

   Wie uns aus _Königsberg_ gemeldet wird, wurde dort der _Landarbeiter
   Max Leuschner_ aus Berlin, der als einer der Hauptbeteiligten an dem
   politischen Morde des Inspektors Blau in Betracht kommt, von der
   Königsberger Kriminalpolizei in der Wohnung des _Kommunisten Lang_,
   wo er sich unter falschem Namen verborgen hielt, _verhaftet_.

Andere Nachrichten folgten:

B. Z. am Mittag, Nr. 195, am Freitag, 29. August 1919:

                           Die Mordaffäre Blau.

   Der als Haupttäter an der Ermordung des Landwirtschaftsinspektors
   Blau verdächtige, in Königsberg festgenommene Lederarbeiter
   Leuschner ist von den Berliner Kriminalbeamten, die die Verhaftung
   bewirkten, _nach Berlin gebracht_ worden. Im Polizeipräsidium wurde
   heute mit dem _Verhör_ Leuschners begonnen. Die beiden
   Kriminalkommissare Trettin und Dr. Riemann sind mit der Ermittelung
   dieses Falles betraut worden. Leuschner gibt zu, daß er unter
   falschem Namen in Königsberg gewohnt hat. Er sei von Berlin aus nach
   Königsberg gegangen, habe dort bei einem Gesinnungsgenossen
   Unterschlupf gefunden und auf die Gelegenheit gewartet, nach
   Russland durchzukommen. Er gibt auch zu, die Versammlung, die am 1.
   August in der Mittenwalder Straße in Berlin stattgefunden hat,
   geleitet zu haben. Dabei habe er den Blau nach seinen Papieren
   gefragt und diese geprüft. Die Vernehmung ist zur Stunde noch nicht
   abgeschlossen.

Freiheit, Nr. 432, am Montag, 8. September 1919:

                       Der Tod des Inspektors Blau.

   Darüber berichtet eine Lokalkorrespondenz: Der Lederarbeiter _Max
   Leuschner_ wurde gestern dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Er
   wird der Anstiftung zur Ermordung Blaus beschuldigt. Leuschner
   erklärte, daß er von der Tat nichts wisse und auch über die Täter
   nichts sagen könne, doch hat die Untersuchung ergeben, _daß er als
   Versammlungsleiter den Befehl erteilt hat, Blau umzubringen_. Er
   gibt an, daß ihm an dem Abend in der Versammlung aufgefallen sei,
   daß Blau zwei Finger der rechten Hand fehlten. Als er nun in der
   Zeitung gelesen habe, daß im Landwehrkanal die zusammengeschnürte
   Leiche eines zunächst unbekannten Mannes gelandet worden sei, dem
   die beiden Finger fehlten, habe er sich gleich gesagt, daß es sich
   um Blau handeln müsse. Nun packte ihn die Angst. Wie er selbst sagt,
   sah er sich schon in Untersuchungshaft und traf sofort
   Vorbereitungen zur Flucht. Er fuhr nach Königsberg, um dort auf
   Papiere zu warten, die ihm die kommunistische Zentrale zusenden und
   die ihm ermöglichen sollten, über die Grenze nach Rußland zu
   fliehen. Die hiesige Kriminalpolizei hatte jedoch seine Spur
   verfolgt, seinen Aufenthalt in Königsberg ermittelt und die dortige
   Kriminalpolizei aufmerksam gemacht, die ihn dann festnahm, bevor er
   noch seinen Plan verwirklicht hatte. Der Plan, berichtet weiter die
   Korrespondenz, Blau umzubringen, ist, wie die Feststellungen der
   Kriminalpolizei ergeben haben, in München gefaßt worden. Zuerst
   wollten die Spartakisten den ihnen lästigen Spitzel nach Wien locken
   und ihn dort beiseite schaffen. Schließlich entschied man sich aber
   für Berlin. Der 27 Jahre alte, aus Hötensleben gebürtige
   Möbelzeichner Franz Herm lockte Blau von München nach Berlin und
   führte ihn in die Versammlung, in der sein Tod beschlossen wurde. In
   dem dringenden Verdacht, das Todesurteil vollstreckt zu haben, steht
   der 22 Jahre alte, aus Arnswalde gebürtige Schlächtergeselle Hermann
   Dahms, der zuletzt in Berlin wohnhaft war und ebenso wie Herm
   flüchtig ist. Auf beide wird jetzt eifrig gefahndet, doch gelang es
   bisher noch nicht, ihren Aufenthalt zu ermitteln.

Es verlautbarte noch, daß Leuschner in Ostpreußen sich durch
unvorsichtige Äußerungen auffällig gemacht und dadurch die Verhaftung
ermöglicht hatte.

Das Ergebnis vierwöchiger Ermittlung war demnach folgendes:

1. die Identifizierung der Leiche und die Erkennung des Todesfalls als
Verbrechen,

2. die Verhaftung eines Mannes, der mit Blau in Beziehung stand und
Anlaß zu haben schien, diese Tatsache zu verheimlichen.

                   *       *       *       *       *

Die Umgebung, in der die Ereignisse dieses Prozesses spielen, bringt es
mit sich, daß jede Aussage zweifelhaft wird. Schon ist es fast
unmöglich, Beteiligte und Zuschauer scharf zu trennen, noch schwerer
scheint es, den Wahrheitsgehalt einer Mitteilung klar zu bekommen;
unvermeidlich wird man in Voreingenommenheit und Konstruktion verfallen.

Es ist nun leichter, einen Standpunkt als Standpunkt zu wechseln, als in
der Dauer schwieriger Diskussionen alle Parteilichkeit zu vermeiden: es
ergreife also der Staatsanwalt das Wort.

Der Ablauf eines Schwurgerichtsverfahrens bis zur Verhandlung ist etwa
folgender:

Zuerst erfolgen Nachforschungen der Kriminalpolizei und Feststellung
verdächtiger Personen. Die Schwere der Beschuldigung wie der belastenden
Anzeichen und die Wahrscheinlichkeit der Flucht oder Verdunklung
bedingen den vorläufigen Haftbefehl.

Die körperliche Folter ist der modernen Gerichtsbarkeit nicht gestattet;
falls man nicht die endlos sich dehnende Untersuchungshaft mit ihrer oft
völligen Absperrung, die Tage und Nächte währenden Befragungen mit ihren
Bluffs und Tricks für solche halten mag. Denn das Prinzip der
Untersuchung ist sich natürlich gleichgeblieben: hat man erst einen, der
sicher wenigstens etwas weiß, so läßt man ihn erst, wenn er sichtlich
alles gestand. Bald oder später, einmal wird jeder mürbe.

So addieren sich zu neuen Tatsachen Geständnisse, deren Auswertung
wieder Tatsachen fördert; bis ein zweiter Beteiligter festgestellt ist,
ein dritter, und schließlich das Bild der Geschehnisse sich entschleiern
läßt.

Das Resultat dieser Ermittlungen wird in der Anklageschrift
zusammengefaßt und dem Beschuldigten zugestellt, dessen Anwalt in einer
Schutzschrift dazu Stellung nimmt.

Nach Maßgabe der in beiden Ausführungen niedergelegten Beweiskraft
entscheidet das Gericht (die Strafkammer des Landgerichts) in
nichtöffentlicher Verhandlung über die Eröffnung des Hauptverfahrens.
Der Beschluß wird abermals allen Beteiligten zugestellt. Sobald die
Untersuchung zu einem vorläufigen oder endgültigen Abschluß gelangt ist,
wird die Verhandlung über die festgestellten Reate anberaumt. Erst in
der Verhandlung treten die Geschworenen auf; bis dahin läuft der
Gerichtsweg zwischen Staatsanwalt, Beschuldigtem, Verteidiger und den
von Amt bestimmten Richtern.

      Bei allen Eingaben ist die
      nachstehende Geschäftsnummer
      anzugeben.

      Geschäftsnummer:
      2 c J. 2691. 19 155.

                             In der Strafsache

   gegen Fichtmann und Gen.

   wegen Mordes

   wird Ihnen die Anklageschrift in der Anlage mitgeteilt. Für den
   Fall, daß Sie die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor der
   Hauptverhandlung beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung
   des Hauptverfahrens vorbringen wollen, werden Sie aufgefordert, Ihre
   Anträge oder Einwendungen innerhalb einer Frist von 5 Tagen entweder
   schriftlich einzureichen oder zum Protokolle des Gerichtsschreibers
   zu erklären.

   Die Rechtsanwälte Liebknecht, N 4, Chausseestr. 121 und Dr.
   Weinberg, C 2, Klosterstr. 65, sind von Ihnen zu Verteidigern
   gewählt worden.

      Berlin, den 27. Mai 1920.
      NW 52, Turmstr. 93.

                                     Das Landgericht II Strafkammer 5.
                                                       Der Vorsitzende
                                                      gez. Scheringer.

                                                            Beglaubigt
                                                Nogolin, Rechnungsrat,
                                                als Gerichtsschreiber.

      Der Erste Staatsanwalt
      beim Landgericht II.
      2 c. J. 2691/19
      151

      Berlin, den 25. Mai 1920.
      NW 52, Rathenower Str. 70.

                      Haft- und Schwurgerichtssache!
                                 Anklage.

   1. Der Lederarbeiter (Schankwirt) Max _Fichtmann_ aus Berlin,           Bd. VI
   Parochialstraße 35, zur Zeit in der Strafanstalt Brandenburg a. d.       Bl. 95
   H. in Sachen 67 J. 2899/19 Staatsanwaltschaft I Berlin in Strafhaft,
   geboren am 22. November 1899 Berlin, mosaisch, unverheiratet,
   vorbestraft (Strafregisterauszug folgt),

   2. der Kaufmann (Verkäufer von Broschüren) Erwin _Hoppe_ aus Berlin,    Bd. V
   seit 13. November 1919 hier in Untersuchungshaft, geboren 1. April       Bl. 89, 111
   1899 Berlin, religionslos, unverheiratet, bestraft (neuer
   Strafregisterauszug folgt),

   3. der Schneidergeselle Willi _Winkler_ aus Berlin, seit 13.            Bd. V
   November 1919 hier in Untersuchungshaft, geboren 16. September 1899      Bl. 98, 109
   Berlin, evangelisch, unverheiratet, angeblich unbestraft (neuer
   Strafregisterauszug folgt),

   werden angeklagt, zu Berlin zu Anfang August 1919

   a) _Fichtmann_ und _Hoppe_ gemeinschaftlich mit anderen den
   Inspektor Karl Blau vorsätzlich getötet und diese Tötung mit
   Überlegung ausgeführt zu haben,

   b) _Winkler_ den Angeschuldigten Fichtmann und Hoppe und den anderen
   Mittätern bei Begehung des Verbrechens des Mordes zu a) durch Rat
   oder Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben, – Verbrechen gegen §§
   211, 47, 49 Strafgesetzbuch.


      An
      das Landgericht II,
      Schwurgericht, hier

                           Ermittelungsergebnis.

   Am Dienstag, dem 7. August 1919, vormittags 9 Uhr wurde vor dem         Bd. II
   Hause Königin-Augusta-Straße 31 die Leiche des landwirtschaftlichen      Bl. 3, 6
   Inspektors Karl Blau, geboren am 13. November 1891 Erfurt, zuletzt
   in Charlottenburg, Bayreuther Straße 10, aus dem Landwehrkanal
   gezogen. Der untere Körperteil war mit einer grauen wollenen
   Schlafdecke umhüllt, die unter den Knien zusammengeschlungen war.
   Die Leiche war mit einem Hanfstrick (in Waschleinenstärke) derart
   zusammengebunden, daß der Hals in einer Schlinge lag und die Knie
   bis zur Brust heraufgezogen waren. Der Tote war bekleidet; es
   fehlten nur Schuhe und Kopfbedeckung. Die Leichenöffnung ergab keine
   bestimmte Todesursache. Die Ärzte sprachen sich dahin aus, daß der      Bd. I
   Verstorbene seinen Tod wahrscheinlich durch Zuschnüren des Halses        Bl. 7
   gefunden hat. Der Sachverständige Dr. Brüning, der die bei dem Toten    Bd. II
   gefundenen Sachen (Strick, Kragen, Krawatte, Jackett, Weste, Hose,       Bl. 6, 87
   Hosenträger, Hemd, Unterhose, Vorhemd, Taschentuch, Decke)              Bd. II
   untersucht hat, konnte ebenfalls nicht feststellen, ob Mord oder         Bl. 86, 138
   Selbstmord vorlag, erklärte aber, daß gegen letzteren eine Anzahl
   von Momenten spreche, so insbesondere die Art der Verknotung, die
   Schlaufen und die Weite der Halsschlaufe. Die fortgesetzten
   Ermittelungen erbrachten die Gewißheit, daß Blau ermordet und daß
   diese Tat von kommunistisch-terroristischer Seite planmäßig
   ausgeführt worden war.

   Blau hatte in München in Kommunistenkreisen als Spitzel verkehrt,
   insbesondere auch mit dem Möbelzeichner Franz Herm aus Hötensleben.
   Als die Kommunisten die Spitzeltätigkeit des Blau entdeckt hatten,
   war von ihnen seine gewaltsame Beseitigung beschlossen worden. Herm
   war offenbar dazu bestimmt worden, dieserhalb das Weitere zu
   veranlassen, insbesondere Blau nach Berlin zu bringen und ihn dann
   ermorden zu lassen. Herm hatte sich dem Zeugen Schreiber und der        Bd. I
   Frau Baumeister gegenüber schon vor Antritt der Reise in diesem          Bl. 29 v, 35
   Sinne geäußert. Am Abend des 29. Juli 1919 fuhren Herm, Blau,           Bd. I
   Schreiber und ein angeblicher Schuster von München ab. Die Reise         Bl. 29 v
   ging zunächst nur bis Magdeburg, wo Herm wahrscheinlich die dortigen
   Kommunistenkreise in den Mordplan einweihte. In Magdeburg trennten
   sich die vier. Schreiber fuhr am 31. Juli 1919 mittags über             Bd. I
   Schöningen nach Hötensleben zu den Eltern des Herm, wo er dessen         Bl. 31
   Rückkehr aus Berlin abwarten sollte. Blau, der unterwegs von
   Schreiber gehört hatte, daß man ihn als Spitzel entlarvt und geplant
   hätte, ihn von Berlin nach Wien zu bringen und dort zu ermorden,
   dieser Nachricht aber keine allzu große Bedeutung beigemessen zu
   haben scheint, fuhr am Vormittage des 31. Juli 1919 von Magdeburg
   mit dem Zug nach Halle ab. In Halle wollten sich Herm, der
   nachkommen wollte, und Blau noch am selben Tage im Wartesaal II.
   Klasse treffen und von dort aus dann gemeinschaftlich nach Berlin       Bd. V
   fahren. Blau scheint, bevor er nach Halle kam, noch vorher in            Bl. 38 v f.
   Sangerhausen gewesen zu sein. Wie der Zeuge Mahlig bekundet, hat
   Blau Ende Juli oder am 1. August 1919 bei ihm in Sangerhausen
   vorgesprochen. Er hat ihm von seinen politischen Reisen und Taten
   erzählt und auch erwähnt, daß man ihm von der gegnerischen Seite
   nach dem Leben trachte, und daß es bei ihm auf Leben und Tod gehe,
   daß er wieder eine große Sache vorhätte und er ein gemachter Mann
   wäre, wenn diese ihm glückte. Blau und Herm scheinen sich dann auch
   in Halle getroffen zu haben und von dort nach Berlin gefahren zu
   sein. Daß Herm in Berlin war, geht aus der Aussage des Zeugen
   Schreiber und seinem Briefe an die Kaltenhauser vom 3. August 1919      Bd. I
   hervor. Wie Schreiber bekundet, ist Herm am 2. August 1919 abends        Bl. 31 v
   sehr aufgeregt und bleich in Hötensleben erschienen. Er sagte, daß      Bd. III
   er direkt aus Berlin käme und entgegnete auf die Frage des               Bl. 19 e
   Schreiber, wo Blau sei, daß für Blau bereits gesorgt sei, er            Abschriften
   (Schreiber) werde über Blau das Nähere noch früh genug erfahren.         Bd. I
   Weiteren Fragen über Blau wich Herm jedesmal aus, erwähnte aber doch     Bl. 50
   einmal, daß er von München aus die Berliner Genossen verständigt        Bd. III
   hatte, daß er mit Blau nach Berlin kommen würde.                         Bl. 7
                                                                           Bd. I
                                                                            Bl. 33

   In dem Briefe vom 3. August 1919 schrieb er von Hötensleben an die
   Kaltenhauser in München folgendes:

   „Werte Genossin Kaltenhauser! Hoffentlich treffen Sie diese Zeilen      Bd. III
   bei gutem Befinden an. Ich bin gestern gut angekommen. Den Spitzel       Bl. 19 e
   Blau habe ich, da ich nicht anders konnte, von München mit
   fortgenommen und _unterwegs besorgt. Er wird so bald nicht wieder in
   München auftauchen._ Ich hatte noch einen Ausweis bei ihm gesehen,
   nach welchem er für die Fahndungsabteilung in München arbeitet.
   Dieser Ausweis war am 23. Juli ausgestellt und mit einem
   Polizeistempel versehen. Der Fall B. hat mir zirka 200 Mark
   gekostet. Hier in Magdeburg bei der K. P. D. war ein Meyer, welcher
   von der K. P. D. beauftragt sein will, nach _Schuhmann_ zu suchen.
   Der Mensch ist nach der Beschreibung der von mir kaltgestellte Dr.
   Frey (Franz?) aus Zürich, ich nehme an, daß er ein Spitzel ist.
   Freundlichen Gruß an Genossen Blumenfeld, ich habe die beiden gut
   untergebracht. Papiere treffen in den nächsten Tagen ein. Grüßen Sie
   den Genossen Weber bei Corl, ich habe seinen Bruder getroffen, es
   geht ihm gut, er wird mich besuchen. Wenn Blumenfeld noch einige
   dort hat, kann er sie in 14 Tagen zu mir senden. Herr Kämpfer soll
   seine Revolutionen machen, die sich mit dem Gesetz vereinbaren
   lassen (komisch?). Also seien Sie und Ihre Tochter und Schwester
   recht herzlich von mir gegrüßt, Ihr Franz Herm. Freundlichen Gruß an
   die Bekannten.“ Diesen Brief gab Herm dem Schreiber mit der Bitte,      Bd. I
   daß er ihn sofort als Eilbrief und eingeschrieben zur Post nach          Bl. 31 v
   Hötensleben bringen sollte. Als Quittung über die Abgabe des Briefes
   auf der Post sollte Schreiber ihm den Postschein bringen. Da
   Schreiber ahnte, daß in dem Briefe etwas Wichtiges stünde, nahm er
   ein anderes Kuvert und schrieb die Adresse der Kaltenhauser darauf.
   In das Kuvert legte er einen leeren Briefbogen und gab es dann zur
   Post. Den Postschein gab er dem Herm. Den Brief des Herm an die
   Kaltenhauser gab er nicht auf. Als Herm später in der Zeitung von
   der Auffindung der Leiche des Blau las, freute er sich darüber, daß     Bd. I
   man bei Blau einen Selbstmord vermutete. Da in der Zeitung auch          Bl. 38
   stand, daß für die Aufklärung im Falle einer Ermordung des Blau 5000
   Mark ausgesetzt seien, sagte Herm noch zu Schreiber, daß er ihn
   hoffentlich wegen der 5000 Mark nicht verraten würde. Um Herm
   vollständig sicher zu machen, klopfte Schreiber ihm auf die Schulter
   und sagte, er sei auch zufrieden, daß so ein Lump von der Bildfläche
   verschwinde. Unmittelbar im Anschluß an das Lesen der Zeitungsnotiz
   gab Herm dem Schreiber den Auftrag, sofort nach Braunschweig zum
   Büro der K. P. D. zu fahren und dort darauf zu dringen, daß die
   schriftlichen Aufzeichnungen des Herm vor seinen, Schreibers, Augen
   vernichtet würden. Schreiber fuhr auch nach Braunschweig, hörte dort
   aber, daß die schriftlichen Angaben des Herm über Blau dort bereits
   vernichtet wären, nachdem man die Ermordung des Blau in der Zeitung
   gelesen hatte. Als Schreiber nach Hötensleben zurückkehrte, erfuhr
   er von dem Bruder des Herm, daß letzterer nach München gefahren sei,
   um seinen an die Kaltenhauser gerichteten Brief vom 3. August 1919
   in die Hände zu bekommen und zu vernichten. Am nächsten Tage (12.
   August 1919) fuhr Schreiber nach Magdeburg zum Büro der K. P. D.,
   trug den ihm schon vorher erteilten Auftrag des Herm, seine
   Aufzeichnungen über Blau zu vernichten, vor und sah auch, daß
   demgemäß die Aufzeichnungen zerrissen und verbrannt wurden. Vom Büro
   der K. P. D. ging Schreiber in das Büro der U. S. P. D. zu Peters.
   Von diesem hörte er, daß er die Aufzeichnung über Blau bereits beim
   Lesen der Zeitungsnachrichten über den Fall Blau vernichtet hätte.      Bd. I
   Als Schreiber von Magdeburg nach Hötensleben zurückgekehrt war,          Bl. 32 v
   konnte er sich dort nicht mehr länger aufhalten, da er seines Lebens     33
   dort nicht mehr sicher war und von Genossen, die wahrscheinlich von
   Herm nach Entdeckung der Briefunterschlagung gedungen waren, um ihn
   als wichtigen Belastungszeugen zu beseitigen, dieserhalb gesucht
   wurde. Es gelang dem Schreiber aber, den ihn verfolgenden und auf
   ihn schießenden Genossen zu entkommen.

   Blau wollte am Nachmittage des 1. August 1919 seine in                  Bd. II
   Charlottenburg, Bayreuther Straße 19, wohnende Ehefrau besuchen,         Bl. 25
   erfuhr aber von der Portierfrau Nowak, daß diese nicht zu Hause war.
   Am Abend desselben Tages suchte Blau die kommunistische Versammlung,
   die in der Aula des Friedrichs-Realgymnasiums in Berlin,
   Mittenwalder Straße 34, stattfand und von Leuschner, dem Vorsteher
   des 3. Bezirks der K. P. D., geleitet wurde, auf. Ob er allein oder
   mit anderen, insbesondere mit Herm dorthin gegangen ist, konnte
   bisher nicht festgestellt werden. Nach Lage der Sache ist aber
   anzunehmen, daß er mit Herm oder jedenfalls auf dessen Veranlassung
   in die Versammlung gegangen ist. Schon in der Versammlung wurde Blau
   von einem Teil der anwesenden Genossen zur Rede gestellt. Dies
   setzte sich nach Schluß der Versammlung auf der Straße fort. Blau
   suchte sich zu verteidigen, fand aber keinen Glauben bei den
   Genossen. Diese beschlossen vielmehr, um Blau vollends zu
   überführen, noch den Zeugen Stolz (Strolz) heranzuführen. Zu diesem
   Zwecke wurden Hoppe und noch ein Genosse fortgesandt. Die anderen,
   unter denen sich Leuschner, Pohl sen. und jun., Geisler, Schröder,
   Klust, Gentz, Schmitz, Hoffmann und Acosta (Mendelsohn) befanden,
   gingen mit Blau durch die Mittenwalder-, Bergmann- und
   Kreuzbergstraße nach dem Viktoriapark (Ecke Großbeerenstraße). Schon
   unterwegs war davon die Rede, daß Blau umgebracht werden sollte. Man
   sprach insbesondere davon, daß er auf dem Tempelhofer Felde
   erschossen werden sollte. Von diesem Vorhaben wurde aber zunächst
   mit Rücksicht auf die große Anzahl der Anwesenden Abstand genommen.
   Am Viktoriapark kamen nach einiger Zeit die beiden nach Stolz
   entsandten Genossen in einem Auto zurück. Sie brachten die
   Nachricht, daß sie Stolz nicht getroffen hätten. Pohl jun. erklärte     Bd. V
   sich bereit, Blau in seiner Wohnung, Gneisenaustraße 7a,                 Bl. 52 v
   aufzunehmen. Hoppe und Geisler kamen mit, angeblich nur, um             Bd. V
   aufzupassen, daß Blau nicht entwische. Hoppe hatte aber offenbar die     Bl. 112 v
   Absicht, Blau in der Wohnung des Pohl zu ermorden. Hoppe äußerte        Bd. VI
   sich jedenfalls am nächsten Tage zu Pohl in diesem Sinne und             Bl. 47 v
   bemerkte dabei, daß er einen Korb besorgen und die Leiche
   fortschaffen würde. Pohl und seine Frau gingen aber darauf nicht
   ein. Im Laufe des 3. August 1919 entfernte sich Geisler. Am Morgen      Bd. VI
   war bereits der Genosse, der mit Hoppe am Abend vorher den Stolz         Bl. 47 v
   holen sollte, in der Pohlschen Wohnung erschienen und hatte mit
   Hoppe auf dem Korridor verhandelt. Pohl hörte, daß er zu Hoppe
   sagte, er hätte niemand gefunden. Der Betreffende kam vormittags
   nochmals, und zwar mit zwei Männern, die feldgraue Uniform trugen.
   Der eine Wachmann, welcher einen Revolver trug, blieb in der
   Wohnung. Weitere vier Mann bewachten das Haus. Ein Mann in braunem
   Anzug, der gegen Mittag herauf kam, erklärte, er sei von der
   „T-Terroristengruppe“, die unten das Haus bewache, er gab dem Hoppe     Bd. V
   auch eine Flasche, die Morphium enthielt. Ihr Vorhaben, Blau schon       Bl. 113
   in der Pohlschen Wohnung umzubringen, scheiterte an dem Widerstande     Bd. V
   der Eheleute Pohl, die offenbar aus Angst nicht dulden wollten, daß      Bl. 113,
   die Tat bei ihnen ausgeführt wurde. Es blieb dem Hoppe daher nichts      45 v
   anderes übrig, als sich nach einer anderen Wohnung umzusehen. Er
   ging daher zu seinem Jugendfreunde Winkler, der bei seinen Eltern in
   der Großbeerenstraße 20 wohnte. Dieser stellte ihm die Wohnung zur
   Verfügung. Die Eltern des Winkler hielten sich während dieser Zeit
   außerhalb auf ihrem Laubengrundstück am Teltowkanal auf. Die
   Schlüssel zur Wohnung will Winkler dem Hoppe gleich mitgegeben          Bd. VII
   haben. Hoppe behauptet aber, daß Winkler sie zufolge einer zwischen      Bl. 79 v
   ihnen beiden vorher getroffenen Verabredung Ecke Hagelsbergerstraße     Bd. V
   dem zweiten „T“-Mann (Wachmann der Terroristen-Gruppe) ausgehändigt      Bl. 113 v
   habe. Dieser ging als erster in das Haus Großbeerenstraße 20. Hoppe
   und Blau folgten. Einige Zeit später gingen weitere zwei Mann,          Bd. VI
   darunter Fichtmann, hinein. Pohl, der mit bis zum Hause gegangen         Bl. 51 v
   war, blieb zunächst in unmittelbarer Nähe des Hauses auf der anderen
   Straßenseite stehen. Er bemerkte Acosta und Winkler, die auf der
   Hausseite auf und ab gingen. Nach einiger Zeit kamen beide zu ihm       Bd. VI
   herüber und unterhielten sich mit ihm. Beide wußten, daß mit Blau        Bl. 52
   etwas vor sich gehen sollte und fragten Pohl, was in seiner Wohnung     Bd. VII
   passiert sei. Pohl erzählte ihnen, daß man von Blau verschiedenes        Bl. 90 v
   herausbekommen und daß man bei ihm gegessen hätte. Im Laufe der
   Unterhaltung, die sich nur um Blau drehte, erwähnte Winkler auch,
   daß er den Auftrag gehabt hätte, einen Korb zu besorgen; er habe
   dies aber nicht getan, da es schon dunkel sei und er auch               Bd. VII
   Zahnschmerzen hätte, zudem sei ja sein Vater Schneidermeister und        Bl. 91
   habe genug Decken, in die man nachher Blau einwickeln könne. Die        Bd. VII
   Hauptsache sei, daß er nachher die Decke wiederbekäme. Winkler und       Bl. 91
   Acosta gingen dann zu Schröder, wo sie über Nacht blieben. Auf die      Bd. VI
   Mitteilungen des erregten Acosta, daß der Spitzel Blau in der            Bl. 55
   Großbeerenstraße sei, daß man verschiedenes schon von ihm
   herausbekommen habe, insbesondere, daß er den Abgeordneten Eichhorn
   für 50000 Mark ermorden sollte, Pohl stehe auf der Brücke und wisse
   Näheres, ging Schröder zur Großbeerenstraße, wo er Pohl an der
   Brücke traf. Nachdem sie sich längere Zeit unterhalten hatten und
   währenddessen auch auf und ab gegangen waren, kam ein Mann auf sie
   zu und forderte sie auf, bei dem Transport der inzwischen aus dem
   Hause Großbeerenstraße 20 geschafften, in eine Decke eingewickelten
   Leiche des Blau zu helfen. Schröder ging auf diese Aufforderung
   sofort hin, hob die Leiche auf, trug sie zum Kanal und warf sie ins
   Wasser. Hoppe, Schröder, Pohl und der eine Wachmann blieben dann
   noch zusammen und gingen zum Lokal von Maaß in der Bergmannstraße,
   während die anderen vier Männer der Terrorgruppe, unter ihnen
   Fichtmann, sich zerstreuten. Auf dem Wege zum Maaßschen Lokale
   erzählten Hoppe und der Wachmann die näheren Umstände der Ermordung:
   „Sie hätten Blau zunächst Wein mit Morphium zu trinken gegeben. Blau    Bd. VI
   wäre eingeschlafen: Hoppe und der Wachmann hätten ihm die Schlinge       Bl. 51
   um den Hals gelegt. Beim ersten Male sei Blau jedoch aufgewacht, und
   es sei ihnen gerade noch gelungen, die Schlinge von seinem Halse zu
   nehmen. Blau hätte sich gewundert, daß der Tisch abgerückt war, die
   Tür zu und drei fremde Leute im Zimmer waren. Sie hätten ihn
   beruhigt, er sei dann wieder eingeschlafen. Nunmehr hätten Hoppe und
   der Wachmann ihm die Schlinge um den Hals gelegt und zugezogen,
   während die beiden anderen Anwesenden sich auf die Knie des Blau
   geworfen hätten. Die beiden letzteren (darunter Fichtmann) hätten
   sich schlapp benommen; der eine Mann (Fichtmann) habe gezittert.“

   Hoppe, Fichtmann und Winkler bestreiten, sich strafbar gemacht zu
   haben.

   Hoppe hat zunächst überhaupt zu Abrede gestellt, in der Versammlung     Bd. V
   in der Schule, in der Wohnung des Pohl und Winkler und mit Blau          Bl. 93 v
   zusammengewesen zu sein. Erst nach hartnäckigem Leugnen hat er dies     Bd. V
   schließlich zugegeben. Er sucht die Sache jetzt so darzustellen, daß     Bl. 111 v,
   er die Wohnung des Winkler verlassen habe, als er merkte, daß man        ff. 151
   Blau umbringen wollte. Seine Angaben verdienen indes keinen Glauben     Bd. VI
   und werden im übrigen durch die Bekundungen des Zeugen Pohl              Bl. 18 ff.
   widerlegt. Diesen und den Mitangeschuldigten Winkler hat er auch zu     Bd. V
   falschen Angaben verleiten wollen. Als er und Pohl kurz nach ihrer       Bl. 9 v
   Festnahme im Isoliergewahrsam zusammentrafen, stieß Hoppe den Pohl
   im Vorbeigehen an und sagte: „Wir kennen uns nicht.“ Später steckte
   er dem Winkler im Gefängnis einen Kassiber zu. Winkler aber kam         Bd. VI
   nicht zum Lesen desselben, da er ihm vorher von dem Gefängnisbeamten     Bl. 17
   Bruhnke abgenommen wurde. Auf die Frage des Bruhnke, was er dem         Bd. VIII
   Winkler zugesteckt habe, erwiderte Hoppe: „Streichhölzer.“ Der           Bl. 90
   Kassiber hatte folgenden Wortlaut:

   „Lieber Willy! Aus dem Dir zugegangenen Haftbefehl gegen uns            Bd. VI
   ersiehst Du ohne weiteres die Situation. Den Ernst derselben, soweit     Bl. 17
   es sich um mich handelt, zu unterschätzen, wäre nicht möglich. Ich
   bitte Dich daher dringend, um das Schlimmste zu verhindern, mich,
   soweit es möglich ist, zu entlasten, wie ich es bei Dir auch dauernd
   bestrebt bin. Ich bitte Dich daher um folgendes: Bei der Verhandlung
   gestehe ein, daß Du die Wohnungsschlüssel auf sein Geheiß einem
   Menschen in braunem Anzug (Dir unbekannt) auf ein bestimmtes
   Parolewort (was Du aber vergessen hast) an der Hagelsbergerstraße
   Ecke Großbeerenstraße ausgehändigt hast. (Zeitpunkt etwa ½ Stunde
   nach meinem Besuch in Deiner Wohnung. Grund: Da ich noch etwas zu
   erledigen hatte und Du aber noch nicht angezogen warst, um mit
   herunterzugehen, mir also die Schlüssel nicht gleich mitgeben
   konntest.) Alles vorher Geschehene bleibt wie abgemacht (Sitzung
   abhalten usw.). Das wäre die 1. Bitte, die zu erfüllen wohl für Dich
   keine großen Schwierigkeiten machen kann. Jetzt jedoch zu einer
   anderen, etwas heikleren Frage, die für Dich aber auch noch kein
   allzugroßes Opfer bedeutet im Verhältnis zur Wichtigkeit derselben
   im Interesse meiner Person. Denn Du könntest mich damit retten und
   für Dich wäre die Sache dadurch immer noch zu ertragen. Und dann, l.
   W., kommt es doch hier nur darauf an, das Leben zu retten, alles
   andere wäre doch nur von kurzer Dauer, denn die Zeit arbeitet doch
   für uns. Mit dieser Hoffnung will ich Dir gleich meine 2. Bitte
   vortragen. _Ich habe alles eingestanden._ Bin auch zu Deiner Wohnung
   mit raufgegangen, aber nach einer ½ Stunde _wieder runtergekommen_,
   da ich oben merkte, was die T.-Leute für Absichten hatten und ich
   aber damit nicht einverstanden war, sondern dafür war, Blau nur
   festzuhalten und dem Strolz u. a. gegenüberzustellen. Ich äußerte
   also meine Bedenken, worauf man mich als Feigling runterschickte.
   Ich bin also _nach ½ Stunde runtergekommen_ und nach Hause gegangen
   und in den Straßen umhergeirrt, und bin dann, erst halb aus
   Neugierde, halb aus Angst, ½ Stunde _bevor die T.-Leute mit Blau
   herunterkamen, wieder vor Deinem Hause angelangt und habe dort
   gestanden, bis man von oben runterkam_. Im Protokoll habe ich nur
   angegeben, daß ich Acosta unten getroffen habe. Pohl dagegen hat
   auch Dich und Schröder angegeben. Ich brauche jetzt also entweder
   Dich oder Schröder als Alibi-Zeugen, der mich gesehen hat unten auf
   der Straße, während die anderen oben waren. Ich rechne da stark auf
   Dich, l. W. Nur _weiß ich nicht, wann Du überhaupt unten standest_,
   also ob bei meinem _Runterkommen_ oder _später_, etwa ½ Stunde bevor
   die anderen runterkamen mit d. L. Äußere Dich, bitte, ausführlich
   über meine Bitte und Ausführung. Wenn Du gewillt bist, dann
   überlasse alles mir bis zur Verhandlung. Was oben in der Wohnung
   vorgeht, hast Du erst von Acosta erfahren. Mit kom. Gruß Erwin C. II
   48. Wenn Du also willst, dann rufe ich Dich in der Verhandlung als
   Alibi-Zeugen an.“

   Fichtmann stellt sogar in Abrede, mit in der Winklerschen Wohnung       Bd. VI
   gewesen zu sein. Der Zeuge Pohl hat ihn aber als eine der beiden         Bl. 9
   Personen erkannt, die hinter Hoppe und Blau in das Mordhaus
   hineingegangen sind und die später Wein aus der Teltower Straße
   geholt haben. Fichtmann ist nach den Angaben des Pohl auch beim
   Transport der Leiche nach dem Wasser vorangegangen und fortgelaufen,
   nachdem sie ins Wasser geworfen war. Er ist auch von Hoppe als
   derjenige bezeichnet werden, der bei der Ausführung der Mordtat sich    Bd. VI
   schlapp benommen und auf den Knien des Blau gelegen hatte. Sein          Bl. 164
   Alibibeweis ist mißglückt. Nach der Vorstrafe ist ihm die Mordtat       Bd. VII
   auch zuzutrauen.                                                         Bl. 44

   Winkler erklärte anfangs, daß er von der ganzen Sache überhaupt         Bd. V
   nichts wüßte und zur fraglichen Zeit überhaupt nicht in Berlin,          Bl. 93 ff.,
   sondern mit seinen Eltern auf der Laube am Teltowkanal gewesen sei.      11 ff.
   Diese Angabe wurde von ihm später widerrufen. Er erklärte nunmehr,      Bd. VI
   daß er dem Hoppe seine Wohnung zu einer „Sitzung“ zur Verfügung          Bl. 51 ff., 89
   gestellt habe. Seine Angaben, die er dem Pohl gegenüber über das        Bd. VIII
   Besorgen des Korbes und über die Decken gemacht hat, sein ganzes         Bl. 79 f.
   auffälliges Verhalten während der Zeit, wo der Mord in seiner
   Wohnung ausgeführt wurde, und die Angaben des Hoppe in dem an ihn
   gerichteten Kassiber lassen erkennen, daß er in den Mordplan
   eingeweiht gewesen ist.

   Beweismittel:

   a) Angaben der 3 Angeschuldigten,

   b) Skizze Blatt Bd. II Bl. 31, Bild des Blau Bd. I. 31. 52,
   Lichtbilder Bd. V Bl. 155, Brief des Herm Bd. III Bl. 51. 19.
   (Abschriften: Bd. I. Bl. 50, Bd. III Bl. 7) Kassiber des Hoppe Bd.
   VI Bl. 13, Kasseauszug Bd. V Bl. 51 ff. Briefe des Leuschner Bd. V
   Bl. 73 f., Bd. VI Bl. 162 c,

   c) Vorstrafakten des Fichtmann: 67 J. 2099/19 Staatsanwaltschaft I
   Berlin.

   d) Sachverständige:

   1. Gerichtsarzt Professor Dr. Strauch in Berlin,                        Bd. I
                                                                            Bl. 4 ff.

   2. Gerichtsarzt Geh. Medizinalrat Dr. Hoffmann in Berlin,               Bd. I
                                                                            Bl. 4 ff.

   3. Dr. Brüning von der Staatlichen                                      Bd. II
   Nahrungsmitteluntersuchungsanstalt in Berlin, Alexanderstraße 3/6,       Bl. 85, 132

   e) Zeugen:

   1. Schiffseigner Friedrich Kullmann in Züllichau, Oberweinberge,        Bd. III
                                                                            Bl. 3, 37

   2. Kriminalkommissar Dr. Biermann in Berlin,

   3. Kriminalkommissar Trettin in Berlin,

   4. Kriminalkommissar Maslak in Berlin,

   5. Mechaniker Walter Schreiber – Adresse wird noch angegeben –,         Bd. I
                                                                            Bl. 36 ff.,
                                                                            60, 68 v f.

   6. Frau Mathilde Baumeister geb. Seidl in München, Badstraße,           Bd. I
                                                                            Bl. 34 ff.,
                                                                            60 v f.

   7. Frau Gertrud Kaltenhauser in München – nähere Adresse wird noch      Bd. I
   angegeben –,                                                             Bl. 54, 56,
                                                                            75 ff.

   8. Student Hans Blumenfeld in München – nähere Adresse wird noch        Bd. I
   angegeben –,                                                             Bl. 53, 65,
                                                                            68 ff.

   9. Landgerichtsrat Dr. Wiesehahn vom Landgericht I Berlin,              Bd. I
                                                                            Bl. 59 ff.

   10. Landrichter Marquard, Untersuchungsrichter beim Landgericht II
   Berlin,

   11. Lagerist Georg Pohl in Berlin, Gneisenaustraße 7a,                  Bd. V
                                                                            Bl. 31 ff.,
                                                                            144,
                                                                            151 v,
                                                                            175 a f.
                                                                           Bd. VI
                                                                            Bl. 47 ff.,
                                                                            50 ff.,
                                                                            61, 97
                                                                           Bd. VII
                                                                            Bl. 93 v f.

   12. Frau Martha Pohl geb. Schubert in Berlin, Gneisenaustraße 7a,       Bd. V
                                                                            Bl. 13 ff.,
                                                                            130
                                                                           Bd. VI
                                                                            Bl. 118

   13. Frau Maria Sprung geb. Stumpf in Berlin, Schleiermacherstraße       Bd. II
   23,                                                                      Bl. 29

   14. Krim.-Wachtmeister Hencke in Berlin-Pankow, Talstraße 11,           Bd. II
                                                                            Bl. 23 v

   15. Privatiere Gertrud Wollweber in Charlottenburg, Kantstraße 45,      Bd. II Bl. 44
   bei Janke,                                                              Bd. V
                                                                            Bl. 144

   16. Lederarbeiter Max Leuschner in Berlin, Dresdener Straße 125,        Bd. II
                                                                            Bl. 112
                                                                           Bd. I
                                                                            Bl. 113 f.
                                                                           Bd. VI
                                                                            Bl. 150
                                                                           Bd. VII
                                                                            Bl. 6

   17. Frau Martha Leuschner geb. Kallios in Berlin, Dresdener Straße      Bd. II
   125,                                                                     Bl. 46

   18. Edmund David de Samson – Adresse wird noch angegeben –,             Bd. II
                                                                            Bl. 98 f., 121

   19. Student Franz Stolz in Berlin, Weidenweg 38,                        Bd. II
                                                                            Bl. 120

   20. Techniker Fritz Klust in Berlin, Katzbachstraße 23,                 Bd. I
                                                                            Bl. 132 f.
                                                                           Bd. V
                                                                            Bl. 41 v ff.

   21. Arbeiter Johann Pohl in Berlin, Nostitzstraße 49,                   Bd. V
                                                                            Bl. 4 ff.

   22. Schlosser Jakob Schmitz in Berlin, Gneisenaustraße 28,              Bd. V
                                                                            Bl. 49 ff.,
                                                                            138 v

   23. Hilfsarbeiter Karl Hoffmann in Berlin, Nostitzstraße 45,            Bd. V
                                                                            Bl. 51 ff., 135

   24. Eisendreher Alfred Geisler in Berlin, Großbeerenstraße 13 a,        Bd. V
                                                                            Bl. 65 ff., 75
                                                                           Bd. VI
                                                                            Bl. 103

   25. Kutscher Paul Schröder in Berlin, Großbeerenstraße 30,              Bd. V
                                                                            Bl. 35, 113
                                                                           Bd. VI
                                                                            Bl. 54, 41 v f.

   26. Kaufmann Otto Mahlig in Sangerhausen,                               Bd. V
                                                                            Bl. 63 v

   27. Parteisekretär Wilhelm Peters in Magdeburg, Schillerstraße 47,      Bd. IV
                                                                            Bl. 1 ff.

   28. Schneider Max Eulenberger, z. Zt. im Gefängnis Leipzig in Haft,     Bd. VII
                                                                            Bl. 56 f.,
                                                                            100 f., 102 f.

   29. Marta Kuschel in Berlin, Dunkerstraße 87,                           Bd. VI
                                                                            Bl. 154

   30. Paul Born in Berlin, Parochialstraße 1/2,                           Bd. VII
                                                                            Bl. 44

   31. Gefangenenaufseher Emil Bruhnke in Berlin,                          Bd. VII
   Untersuchungsgefängnis.                                                  Bl. 90

   Es wird beantragt,

   das Hauptverfahren zu eröffnen und die Verhandlung und Entscheidung
   der Sache vor dem Schwurgericht des Landgerichts II in Berlin
   stattfinden zu lassen, sowie die Fortdauer der Untersuchungshaft
   gegen die Angeschuldigten Hoppe und Winkler aus den bisherigen
   Gründen anzuordnen.

                                                        gez. Hagemann.


                     Erörterung zur Anklageschrift.
                               Dokumente.

Dem Staatsanwalt liegen nur zwei Dokumente vor: der Brief des Herm, der
besagt, daß er den Blau „besorgt“ habe. Dies „besorgt“ kann sehr viel
bedeuten; kann aber auch nur enthalten, daß er eine Absicht ausgeführt
habe; gleichgültig welche; etwa die, den Mann im Norden Deutschlands zu
verankern; „der kommt so bald nicht wieder nach München.“ Außerdem war
Herm während der fraglichen Zeit nicht in Berlin; wenigstens ist
Verbindung zwischen ihm und den Berlinern nicht nachgewiesen; im
Gegenteil scheint festzustehen, daß Blau sich allein nach Berlin begab
und sich freiwillig in der Versammlung im Friedrichsrealgymnasium
einfand. Hätte man ihn gefangen gehalten, dann hätte man ihn nicht vor
vielen Leuten herumgezogen – und ihm nicht gestattet, den Mahlig und
seine Frau aufzusuchen. Der Brief des Herm scheint Blaus Münchener
Tätigkeit zu liquidieren, ohne in direkter Beziehung zu den Berliner
Ereignissen zu stehen. Er erhärtet bestenfalls, daß man in Bayern Blaus
Spitzelrolle erkannt hatte und Sorge trug, ihn abzuschieben.

Das zweite Schriftstück ist der Kassiber des Hoppe. In diesem steht, daß
der Schreiber alles gestanden habe; er fragt nun den Winkler, ob er ihn
auf der Straße vor dem Mordhause gesehen habe, und bittet ihn, falls das
der Fall sei, dies zu bezeugen. Die Tatsache des Kassibers kann man
nicht als Schuldbeweis zählen: die monatelange Einzelhaft wirkt
zermürbend und läßt jedes Mittel ergreifen. Über die Vorgänge in der
Winklerschen Wohnung ist nichts gesagt; als Quelle ihrer Kenntnis wird
Acosta angegeben, jener Acosta, von dem öfter gesprochen wird, doch den
zu verhaften nicht gelungen ist. Das Dokument ergibt nur, daß mehrere
Leute, unter ihnen Winkler, Acosta, Hoppe, sich damals auf der Straße
herumtrieben – was andere Aussagen bestätigen. Daß der verdächtigte
Hoppe versucht, einen der Mitanwesenden dazu zu veranlassen, seine und
damit auch Hoppes Anwesenheit zu gestehen, ist verständlich – ohne die
Tat zu erhellen.

Alles andere sind Aussagen, bei denen der Untersuchende kaum zu
entscheiden vermag, ob die Sprechenden immer subjektiv bei der Wahrheit
bleiben. Man wird infolgedessen versuchen, das herauszuklauben, was an
objektiv Historischem berichtet wird. Die Gespräche und gar durch Dritte
berichtete Worte sind schon vorsichtiger zu verwerten, am
zweifelhaftesten sind aber Aussagen, die Zusammenhänge betreffen: da
schiebt sich oft die eigene Kombination vor die Dinge und, wenn einer
lügen will, wird er zuerst eine andere Ansicht haben, dann Gespräche
verändern; erst zuletzt und im Notfall wird er Tatsachen leugnen oder
erfinden: weil ihm das am leichtesten nachgewiesen werden kann.


                            Das Historische.

Im Juli 1919 war in München eine aufgeregte Zeit. Am 1. Mai war die
Räterepublik gefallen. Die Kämpfe und Verhaftungen hatten durch Wochen
gedauert, noch jetzt war das große Aufräumen in Gang: täglich
Verhaftungen, Verhandlungen, täglich Gefahr.

In dieser Zeit verkehrte in Münchener Kommunistenkreisen ein gewisser      p. 45
Blau. Kommunistenkreise waren damals illegal und bedroht; Blau lief in
dieser Illegalität und Bedrohung herum und führte vermutlich das Leben
der Geflüchteten: Übernachten da und dort bei Genossen, Treffpunkte in
entlegenen Wirtshäusern da und dort, alles geheim und verborgen.

Am 29. Juli fuhr Blau mit drei Begleitern nach Magdeburg. Deren Namen      p. 46
sind Schreiber, Herm und ein gewisser Schuster. Vermutlich war die
Partei die Mittlerin ihrer Bekanntschaft; ob sie persönlich voneinander
gewußt haben, ist unbestimmt. Jedenfalls steht der Name Schuster in
Fragezeichen.

In Magdeburg scheinen sich die vier getrennt zu haben: von Schuster ist    p. 46
keine Erwähnung mehr, Schreiber fuhr nach Hötensleben zu den Eltern des
Herm und blieb dort bis nach Auffindung der Leiche (7. August).

Wo Herm geblieben war, ist nicht nachgewiesen; doch kam er noch vor der    p. 47
Ermordung des Blau am 2. August abends bei seinen Eltern in Hötensleben
an; nach Angabe des Schreiber aus Berlin.

Blau war am 31. Juli vormittags allein bei einem gewissen Mahlig in        p. 46
Sangerhausen, am 1. August nachmittags, wieder ohne Begleitung, in         p. 49
Berlin, Bayreuther Straße 10, beim Portier Nowak des Hauses, in dem
seine Frau wohnte.

Vom 1. August abends an ist Blaus Aufenthalt lückenlos festgestellt. Er    p. 49
taucht auf in einer Kommunistenversammlung in der Mittenwalder Straße zu
Berlin. Die Versammlung wurde von dem Lederarbeiter Leuschner geleitet.    p. 50
Noch während der Versammlung geriet Blau mit Anwesenden in lebhafte
Besprechung; nachher bewegte er sich mit einem Trupp in der Richtung zum
Viktoriapark.

Als seine Begleiter wurden festgestellt: Acosta, Geißler, Gentz, Kluft,
Leuschner, Pohl jun. und sen., Schmidt, Schröder. Später kamen dazu noch
Hoppe und noch ein Mann, der als erster Unbekannter mit (1) bezeichnet
sei.

In der Nähe des Viktoriaparkes trennte sich der Trupp und Blau ging mit    p. 50
Hoppe und Geißler in die Wohnung der beiden Pohl, wo anscheinend
geschlafen wurde.

Am Morgen des 2. August ging Geißler weg. Später kam der Mann (1), rief
Hoppe und sprach mit ihm auf dem Flur; ging und kam mit zwei Feldgrauen
(2), (3) zurück; weitere vier Mann (4), (5), (6), (7) waren auf der
Straße und bewachten das Haus.

Weiter kam ein Mann in braunem Anzug (8), der eine Flasche hatte, in der
nach seinen Angaben Morphium war; dieser sprach mit Hoppe und ging dann.

Im Laufe des 2. August fand der Umzug in die zur Zeit leere Wohnung der    p. 51
Eheleute Winkler statt. Der junge Winkler verließ die Wohnung, ehe Blau
und seine Begleiter ankamen und händigte auf der Straße den Schlüssel
entweder dem Hoppe oder einem der Wachleute (1)-(7) aus.

In die Wohnung ging zuerst dieser Wachmann, später erst kamen Blau und
Hoppe; einige andere, vermutlich welche der Wachleute (1-7), werden
nachgefolgt sein, der Rest soll als Posten auf der Straße gestanden
haben. Auch Fichtmann soll das Haus betreten haben.

Auf der Straße trafen sich Neugierige; Pohl, Winkler, Acosta sind          p. 52
genannt; sie standen dort bis in die Nacht. Dann gingen Winkler und
Acosta zu Schröder, um dort zu schlafen; sie trafen Schröder zu Hause
und sprachen mit ihm.

Schröder ging daraufhin fort und begegnete Pohl in der Nähe der
Winklerschen Wohnung; zu beiden trat einer der Wachleute und forderte
sie auf, die Leiche mittragen zu helfen.

Schröder folgte dem Mann; der Körper, in eine Decke gewickelt, war schon
auf der Straße. Schröder nahm ihn auf und warf ihn in den Kanal – aus
dem er am 7. gezogen wurde.

Anwesend waren noch Pohl, Schröder, Hoppe und ein Wachmann (die in das
Lokal von Maß gingen). Vier weitere Leute, darunter nach Aussage des
Pohl auch Fichtmann, zerstreuten sich.

                   *       *       *       *       *

Die Nachzählung der Personen ergibt, daß im Laufe des Tages etwa acht
Unbekannte auftauchten, von denen nach der Tat fünf noch anwesend waren.


                     Die Gespräche der Beteiligten.

Die bezeugten Aussagen und Gespräche lassen einen Zusammenhang zwischen
den Münchener und Berliner Kommunistenkreisen zweifelhaft erscheinen:

In München hielt man Blau für entlarvt; man hatte ihn erkannt; Herm        p. 45
äußerte sich in diesem Sinne, und Schreiber sowie Frau Baumeister geben
als Ziel der Reise an, Blau nach dem Norden vor die Berliner Genossen zu   p. 47
bringen. Blau hatte einen Ausweis der Fahndungsabteilung München, den
Herm ihm abnahm; an der Spitzeltätigkeit des Blau war kein Zweifel.

(Daß Herm nach Auffindung der Leiche sofort an Mord dachte und bemüht      p. 48
war, seine Berührung mit Blau zu verwischen und Aufzeichnung und Briefe
zu vernichten, ist leicht verständlich, wenn man das Risiko
langmonatiger Untersuchungshaft berücksichtigt – wie sie in diesem
Prozeß der unbeteiligte Leuschner erlitt –.)

In Berlin lagen die Dinge anders: als man den Mann in der Versammlung      p. 49
erkannt hatte, ließ man sich in eine Diskussion mit ihm ein und sandte
Hoppe mit einem Begleiter ab, um einen Genossen Stolz oder Strolz zu
holen, der den Verdächtigten bestätigen sollte. Hoppe gibt an, bis         p. 55
zuletzt die Gegenüberstellung der beiden gefordert zu haben:
unzweifelhafte Klarheit scheint nicht bestanden zu haben.

Auch Blau selbst hat die gegen ihn erhobenen Anklagen nicht sehr ernst
genommen. Die Warnungen des Schreiber wies er ab.                          p. 46

Er wußte aber, daß ihm nach dem Leben getrachtet wurde und daß es um       p. 46
Leben und Tod ging. Dem Mahlig erzählte er, daß er große Dinge vorhabe:
ob es der Mordplan gegen den Kommunistenführer Eichhorn war, die 50000
M., von denen Acosta dem Schröder erzählte? Schwer sind die Reden dieses
Mannes mit seinen Handlungen zu vereinen: warum geht er mit seinen
Feinden, bleibt dort über Nacht, geht in eine zweite Wohnung? Er mußte
die Gefahr nicht so nahe geahnt haben – oder er sah seine eigentlichen
Feinde gar nicht in den Kommunisten? Denn während dieser vierundzwanzig
langen Stunden hätte er sicher entfliehen, unbedingt aber Lärm schlagen
können; doch er blieb.

Auch ein anderes ist auffällig: wenn man einen Spitzel entlarvt hat,
schlägt man ihn gleich tot oder man stellt seine Persönlichkeit fest,
photographiert ihn usw. und läßt ihn dann laufen. Aber man zieht ihn
nicht von Wohnung zu Wohnung, um ihn dann zu ermorden. (Daß man den Mann
von München abschob oder weglockte, ist begreiflich: unter den damaligen
Zuständen in München war der Mann zu gefährlich.)

In Berlin soll der Plan zur Ermordung schon bei den Teilnehmern der        p. 50
Versammlung aufgetaucht sein. Greifbare Formen hat dieser Plan erst
gefunden, als man die Ausführung bespricht. Der junge Pohl gibt an, daß
ein Korb für die Leiche besorgt werden sollte; seine Eltern weigern
sich, in ihrer Wohnung die Tat ausführen zu lassen. Vor dem Winklerschen   p. 51
Hause, auf der Straße stehen Leute; Wachleute? Neugierige? Es wird
geraunt, daß oben mit Blau etwas vor sich gehe. Man beobachtet,            p. 52
erörtert, berichtet sich. Man spricht wieder von einem Korb für die
Leiche, sieht Wein holen usw.: sie reden alle von dem, was vermutlich
oben geschieht.

Über die Vorfälle in der Wohnung selbst liegen widersprechende Aussagen
vor. Die ausführlichsten stammen vom Zeugen Pohl, der aber weder im        p. 55
Haus, noch in der Wohnung, sondern auf der relativ dunklen Straße sich
aufhielt. Dieser gibt an, daß Fichtmann für die Leute Wein geholt habe
(in dem Blau das Morphium verabreicht worden sei) und daß Fichtmann beim
Leichentransport vorausging; ferner, daß nach der Tat Hoppe und der eine   p. 53
Wachmann erzählt haben, sie beide hätten den Blau erdrosselt, die
anderen beiden Anwesenden, darunter Fichtmann, ihn festgehalten. Hoppe     p. 53
selbst gibt an, die Wohnung verlassen zu haben, als er sah, daß die
anderen vom Mord nicht zurückzuhalten waren. Auch in seinem Kassiber       p. 54
vertritt er diesen Standpunkt und gibt als Nachrichtenquelle für die       p. 55
Details der Ermordung Acosta an. Fichtmann leugnet überhaupt seine         p. 55
Anwesenheit, die Anwesenheit des Winkler ist unwahrscheinlich; auch        p. 56
Schröder, der nachher dazukam, vermag Näheres nicht anzugeben. –

                   *       *       *       *       *

Zieht man die Bilanz, so findet man das Vorauszusehende: der äußere Gang
der Ereignisse steht ziemlich fest. Man kennt den Schauplatz und weiß
ungefähr, was passierte; außer den Festgestellten waren noch unbekannte
Leute beteiligt, Leute, die vermutlich auch den Zeugen und Angeklagten
namentlich nicht bekannt waren. Wie die Rollen verteilt waren, ist nicht
klar; klar ist nur, was geschah: der Mord.

Fragt man weiter nach dem Zusammenhang des Geschehens: der Abtransport
aus München erscheint motiviert und logisch; die Entlarvung in der
Versammlung und Diskussion über das „Was nun?“ ist erwiesen. Dann kommt
eine Lücke, in der man die Initiative nicht mehr erkennen kann. Diese
Dunkelheit wird durch das Verhalten des Blau noch mehr getrübt: was
geschah in der Wohnung des Pohl und des Winkler und wer waren die
treibenden Kräfte? Die Angeklagten, oder die Unbekannten? Man kann nur
raten, man weiß es nicht. Man weiß nur, daß außerhalb der betreffenden
Häuser, auf der Straße Zufällige, die von den Dingen wußten,
herumstanden und kombinierten – und daß dann die Leiche kam.

Dies ungefähr sind die Bruchstücke, die der Kritik standhalten; man kann
damit nicht mehr tun, als die Leute taten, die auf der Straße standen:
kombinieren, – was nicht allzu schwer erscheint. Aber der Verlauf der
Verhandlung wird zeigen, wie all diese Kombinationen zusammenfallen,
weil ein ganz neues Element hinzukommt: das Spitzeltum.

                   *       *       *       *       *

Die Gegenschrift des Verteidigers Dr. Weinberg beschränkte sich, wie
meist bei Schwurgerichtssachen, auf die Betonung und Beantragung einiger
für die Beschuldigten vorteilhaften Punkte, so daß sie der Eröffnung des
Hauptverfahrens nicht im Wege stand.

   2 c J 2691, 10

                                 Beschluß.

   Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wird gegen

   1. den Lederarbeiter (Schankwirt) Max Fichtmann aus Berlin,
   Parochialstr. 35, zur Zeit in der Strafanstalt Brandenburg a. H. in
   Sachen 67 J 2699, 10 Staatsanwaltschaft I Berlin in Strafhaft, geb.
   am 22. November 1898 Berlin, mosaisch,

   2. den Kaufmann (Verkäufer von Broschüren) Erwin Hoppe aus Berlin,
   seit 13. November 1919 hier in Untersuchungshaft, geb. 1. April 1899
   Berlin, religionslos, unverheiratet,

   3. den Schneidergesellen Willi Winkler aus Berlin, seit 13. November
   1919 hier in Untersuchungshaft, geb. 16. September 1899 Berlin,
   evangelisch, unverheiratet,

   welche hinreichend verdächtig erscheinen, in Berlin zu Anfang August
   1919

   a) Fichtmann und Hoppe gemeinschaftlich mit anderen den Inspektor
   Blau (Karl) vorsätzlich getötet und diese Tötung mit Überlegung
   ausgeführt zu haben,

   b) Winkler den Angeschuldigten Fichtmann und Hoppe und den
   Mitgliedern bei Begehung des Verbrechens zu a durch Rat oder Tat
   wissentlich Hilfe geleistet zu haben,

   Verbrechen gegen §§ 211, 47, 49, StGB.

   das Hauptverfahren vor dem Schwurgericht des Landgerichts II in
   Berlin eröffnet.

   Die Untersuchungshaft gegen die Angeklagten Hoppe und Winkler dauert
   aus den bisherigen Gründen fort.

   Die Ausführungen des Verteidigers Rechtsanwalt Dr. Weinberg in der
   Schutzschrift vom 1. Juni 1920 stehen der Eröffnung des
   Hauptverfahrens nicht entgegen.

   Berlin, den 7. Juni 1920.

                                         Landgericht II, Strafkammer 5
                                        gez. Scheringer David Gerhard.



                            DIE VERHANDLUNG.


                               Eröffnung.

Die Verhandlung begann am Donnerstag, dem 24. Juni 1920, vor dem
Schwurgericht des Landgerichts II zu Berlin und dauerte bis Montag, den
5. Juli. Das Aufsehen, das der Prozeß in der Öffentlichkeit erregte, war
außerordentlich; besonders die republikanischen Organe und die Presse
der Linken nahm Anlaß zu heftigen Ausführungen. „Der Spitzelsumpf“ –
„Die Spitzelorganisation der Garde-Kavallerie-Schützendivision“ – „Die
Mordzentrale“ – „Der Lockspitzel als Zeuge“ waren etwa die
Überschriften, die den Berichten vorstanden, und es ist sehr
verständlich, daß weder Richter noch Staatsanwalt von den Enthüllungen
der Beweisaufnahme erbaut waren: ein Schmutz trat zutage, der in die
Berechtigung dieses speziellen Verfahrens ernsthafte Zweifel setzen läßt
und nach allgemeiner Remedur ruft.

Den Vorsitz der Verhandlung führte Landgerichtsdirektor Dr. Joel, die
Anklage vertrat Staatsanwaltschaftsrat Dr. Ortmann, die Verteidigung der
Angeklagten lag in den Händen der Rechtsanwälte Theodor Liebknecht, Dr.
Kurt Rosenfeld und Dr. Siegfried Weinberg. Unter den Geschworenen
befanden sich Vertreter folgender Berufe: Bibliothekar, Dreher,
Bäckermeister, Bankbeamter, Bürobeamter, Brauereidirektor,
Generaldirektor, Rieselmeister, Maler, Landwirt, Architekt,
Molkereibesitzer, Kassenbeamter, Vorarbeiter, Chemiker, Obergärtner,
Buchdruckereibesitzer, Ingenieur, Rittergutsbesitzer, Fabrikbesitzer,
Kaufmann. Bei der Auslosung machte die Verteidigung von ihrem
Ablehnungsrecht Gebrauch. Als beisitzende Richter waren Landgerichtsrat,
Geh. Justizrat Bienutta und Gerichtsassessor Siemens tätig, als
Gerichtsschreiber Landgerichtsratsassistent Schröder.

                   *       *       *       *       *

Die Sitzungen des Gerichts füllten neun volle Tage aus. Bei kurzen
Prozessen gestattet die Anwesenheit aller Beteiligten eine klare
Disposition des Vorsitzenden: er vermag die Verhandlung so übersichtlich
zu leiten, daß ein genaues Protokoll imstande ist, ein klares Bild zu
geben. Hier, wo während der Tagung dauernd das Bild sich verschob,
nachträglich neue Zeugen erschienen, deren Aussagen an in Tagen vorher
Niedergelegtes sich anschließt; hier, wo zeitweise das Thema der
Verhandlung sich gar nicht um die Angeklagten zu drehen schien: ist es
unmöglich, eine getreu den Ereignissen folgende Schilderung ohne
intensives Studium zu überblicken. Es muß versucht werden,
Zusammengehöriges im Zusammenhang darzustellen, so gut es geht. Die
Gesichtspunkte, unter denen dies unternommen wurde, sind geteilt; es
ergaben sich Abschnitte, die den Gang des Prozesses betreffen; und
solche, in denen bestimmte zur Sprache gebrachte Personen oder Gebiete
für sich allein interessieren. Wenn hier nochmal gesagt ist, daß diese
Ausführungen keinerlei Stellungnahme beabsichtigen: weder zum Urteil,
noch zur Verhandlungsführung wird die gewählte Darstellung, die sich
übrigens streng an die Berichte hält, sicher zu Mißverständnissen keinen
Anlaß geben.


                     Allgemeines und Einleitendes.

Bereits erwähnt wurde, daß bei der Auslosung der Schöffen die Anwälte
von ihrem Ablehnungsrecht Gebrauch machten. Wesentliches spielte sich
dabei nicht ab.

Rechtsanwalt Liebknecht stellt dann einen


                        Antrag der Verteidigung

„es möchte die Vertagung der Verhandlung beschlossen werden, da es trotz
der zehn Monate langen Voruntersuchung der Verteidigung nicht möglich
war, die Gerichtsakten rechtzeitig einzusehen.“

Antrag abgelehnt.

Rechtsanwalt Dr. Siegfried Weinberg:

„Ich stelle fest, daß vier der geladenen Zeugen zur Verhandlung nicht
erschienen sind; es handelt sich um die Zeugen Samson, Schreiber, Strolz
und Toifl.“

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Ortmann:

„Der Aufenthalt dieser Zeugen war nicht zu ermitteln.“

Rechtsanwalt Weinberg:

„Diese vier Zeugen standen der Voruntersuchung zur Verfügung und haben
die Angeklagten schwer belastende Aussagen gemacht; diese vier Zeugen
sind als Lockspitzel der Polizei tätig gewesen und sollen jetzt nicht zu
erreichen sein?!“

Staatsanwalt:

„Der Auftrag, diese Zeugen zu laden, erging ordnungsgemäß; es wurde
alles versucht, ihrer habhaft zu werden.“

Rechtsanwalt S. Weinberg:

„Der Herr Staatsanwalt hat sich gewiß nicht an die richtigen Herren vom
Polizeipräsidium gewandt.“

Staatsanwalt:

„Ich bitte Sie uns dabei behilflich zu sein!“

Rechtsanwalt S. Weinberg:

„Einen Augenblick! – Ich erkläre: die nicht erschienenen Zeugen Samson
und Strolz sind in die vorliegende Tat als Lockspitzel verwickelt
gewesen; der Zeuge Toifl steht im Verdacht, an der Tat beteiligt gewesen
zu sein und gegen den wichtigsten dieser Belastungszeugen, den
Polizeispitzel Schreiber, besteht begründeter Argwohn, daß er selbst der
Täter sei! Ich verlange, daß alles geschieht, um diese Leute persönlich
vorzuführen! Der Eindruck ihrer Aussagen kann nicht ersetzt werden durch
Verlesung der Protokolle!“

Staatsanwalt:

„Ich wiederhole nochmals, daß alles geschah, um die Zeugen
beizuschaffen. Der Zeuge Schreiber ist Schweizer Staatsangehöriger und
nach Mitteilung der Münchener Polizei von München nach der Schweiz
abgeschoben worden.“

Rechtsanwalt S. Weinberg:

„Die Öffentlichkeit hat ein Interesse daran, daß dieser Mord aufgeklärt
werde. Es muß endlich Schluß werden mit der Tätigkeit privater und
militärischer Spitzelzentralen; es muß Schluß werden mit dem
Agentenwesen der Polizei! Dieser Schreiber hat zur Tat aufgereizt, sie
veranlaßt, vielleicht sie ausgeführt; er hat ausgesagt in der
Voruntersuchung – und jetzt ist er nicht zu ermitteln? Ich behaupte: die
Polizei kann diesen Spitzel nicht finden, weil sie ihn jetzt nicht
finden will! ... Genau, wie im Ledebourprozeß, wo die Zeugen Roland und
Leutnant Bachmann bei den behördlichen Spitzelzentralen ein- und
ausgingen, und dem Gericht nicht erreichbar waren! Wie oft, meine
Herren, wird dieses Spiel sich noch wiederholen? Der Zeuge Schreiber ist
von der Polizei nach der Schweiz gebracht worden, – gut: Im Namen der
Verteidigung stelle ich folgenden


                     Beweisantrag der Verteidigung.

_Walter Schreiber_ wird als Zeuge bestätigen:

1. daß er als Lockspitzel militärischer und polizeilicher Stellen tätig
war;

2. daß er als solcher und im Einverständnis mit seinen Auftraggebern die
Beseitigung des unbequem gewordenen Blau übernommen hatte;

3. daß er als solcher und im Einverständnis mit seinen Auftraggebern die
Beförderung des Blau nach Magdeburg und Berlin bewerkstelligt hat;

4. daß er als solcher und im Einverständnis mit seinen Auftraggebern die
Ermordung des Blau betrieben hat, und, daß er selber, nicht aber die
Angeklagten die zur Anklage stehende Tat begangen hat.

Die genaue Adresse des Schreiber ist bekannt: der schweizerischen
Behörde, sowie dem deutschen Konsulat in Zürich; ferner dem Vorsteher
der politischen und Fahndungsabteilung des Polizeipräsidiums zu München
und der politischen Abteilung des Polizeipräsidiums Berlin: die dies als
Zeugen bestätigen werden.“

                   *       *       *       *       *

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Ortmann:

„Der Untersuchungsrichter hat keinen Anlaß gesehen, gegen die Zeugen
einzuschreiten oder ihre Glaubwürdigkeit zu bezweifeln – und ich stelle
dem Urteile des Gerichts anheim, ob nicht viel eher die Drohungen der
Kommunisten und die Angst vor Terrorakten Ursache sind, daß die Zeugen
ihren Aufenthalt verheimlichen. Aber die Staatsanwaltschaft will alles
tun, diesen Mord aufzuklären: ich werde die von der Verteidigung
genannten Wege beschreiten und nochmals alles versuchen, des Zeugen
Schreiber habhaft zu werden.“

Die Entscheidung über den Beweisantrag wird infolgedessen vertagt, –
doch ist es geraten, den weiteren Verlauf gleich hier zu berichten:

Am zweiten Verhandlungstag teilt der Staatsanwalt mit, daß seine
Recherchen nach Schreiber erfolglos waren; er habe sich sofort an die
Polizeidirektion München gewandt und nochmals die Antwort erhalten: der
Zeuge sei seiner Zeit nach Lindau abgeschoben worden, sein Aufenthalt in
der Schweiz oder sonstwo sei unbekannt. Ebenso sei die telegraphische
Anfrage bei der Polizeidirektion Zürich und dem deutschen
Generalkonsulat Zürich bisher vergeblich gewesen. R.-A. Dr. S. Weinberg
rät, Herrn von Saldersberg von der antibolschewistischen Liga in Berlin
um Auskunft anzugehen.

Zu Beginn des vierten Verhandlungstages, Montag, 28. Juni, verliest der
Staatsanwalt ein neues Telegramm des deutschen Generalkonsuls in Zürich,
an den er sich gewandt hatte. Das Konsulat teilt mit, daß Walter
Schreiber gefunden sei und sich bereit erklärt habe, unter bestimmten
Voraussetzungen vor Gericht zu erscheinen; er verlange 4000 M., ferner
für jeden Tag Aufenthalt 20 schw. Franken Entschädigung, sowie freie
Fahrt und freie Verpflegung; ferner polizeilichen Schutz während der
Fahrt und vor Gericht, und außerdem Erlaubnis zum Waffentragen.
Schreiber behauptete, die Münchner Polizei sei ihm die 4000 M. noch
schuldig und erst, wenn diese Schuld beglichen sei, sei er zu weiteren
Diensten bereit.

Rechtsanwalt Th. Liebknecht:

„Ich muß sagen, daß mir eine derartige Schamlosigkeit noch nicht
begegnet ist; ich finde das Vorgehen dieses Spitzels unerhört; doch
stelle ich es dem Ermessen des Gerichts anheim, ob es auf eine derartige
Erpressung sich einlassen will. Ich betone nur noch, daß dies die Leute
sind, die nach Ansicht des Herrn Staatsanwalts nicht erscheinen aus
Angst vor Terrorakten!“

Staatsanwalt:

„Leider besteht keine gesetzliche Handhabe, den Zeugen hierher zu
schaffen; ich sehe also keinen anderen Weg als auf diese Bedingungen
einzugehen.“

Rechtsanwalt S. Weinberg:

„Ich muß gegen die Zahlung von 4000 M. protestieren; eine derartige
Zahlung wird nie den Verdacht abschütteln können, Bestechungsgeld zu
sein; ich bitte das Gericht dieses Moment nicht zu unterschätzen.“

Staatsanwalt:

„Wenn das Gericht die Zahlung ablehnt, die Staatsanwaltschaft wird
nichts unterlassen, diesen wichtigen Zeugen zur Vernehmung zu bringen!
Dann wird die Staatsanwaltschaft diese Summe von sich aus, aus einem ihr
zur Verfügung stehenden Dispositionsfonds erlegen.“

– Das Gericht beschließt nach kurzer Beratung, den Staatsanwalt zu
ermächtigen, den Zeugen zu den geforderten Bedingungen beizubringen; das
Gericht lehnt aber die Zahlung der 4000 M. ab.

Staatsanwalt:

„Dann werde ich diese Summe bereitstellen!“

Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld:

„Ich möchte den Herrn Staatsanwalt bitten uns zu verraten, woher er die
4000 M. für den Schreiber nimmt. Nach meiner Kenntnis stehen der
Justizbehörde keine Spitzelfonds zur Verfügung.“

Staatsanwalt:

„Ich verwahre mich gegen den Ausdruck Spitzelfonds. Ich habe keine
Spitzelfonds unter mir; ich schaffe nicht den Spitzel, sondern den
Zeugen Schreiber bei.“

Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld:

„Ich wiederhole meine Frage, aus welchem Fonds die 4000 M. stammen?“

Vorsitzender Dr. Joel:

„Ich bitte die Unterhaltung über diesen Punkt zu schließen!“

Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld:

„Ich behalte mir vor, die Frage nochmal anzuschneiden.“

– Drei Tage später, am Donnerstag, dem 1. Juli, liegt ein Telegramm des
deutschen Generalkonsuls Zürich vor: Schreiber werde der Vorladung als
Zeuge nur Folge leisten, wenn er die 4000 M. vor Antritt der Fahrt
ausgehändigt erhalte.

Rechtsanwalt S. Weinberg:

„Es dürfte sich empfehlen, dem Schreiber die 4000 M. gleich zu schenken
und auf sein Erscheinen zu verzichten.“

Staatsanwalt:

„Der Staatsanwaltschaft ist nach den vorhergegangenen Ausdrücken an dem
Erscheinen des Zeugen sehr viel gelegen. Ich möchte versuchen, mich
nochmal an das deutsche Konsulat Zürich zu wenden.“

Die Antwort lautete: Schreiber sei nur bereit nach Empfang der 4000 M.
auf dem Konsulat in Zürich auszusagen; er käme nicht nach Deutschland.
Weitere Bemühungen waren erfolglos und der Beweisantrag der Verteidigung
wurde, wie am Schluß berichtet wird, schließlich abgelehnt.

Noch eine Episode ereignete sich, die zur übrigen Verhandlung nicht in
Beziehung steht: am fünften Verhandlungstag, Dienstag, 29. Juni, wurde
der Vertreter der Roten Fahne am Saaleingang angehalten und nach Waffen
durchsucht. Rechtsanwalt Dr. Rosenfeld bemerkt zur Beschwerde des
betreffenden Herrn, daß nur dieser durchsucht worden sei. Der
Vorsitzende erklärt dazu, daß seine auf Überwachung und Kontrolle des
Zuschauerraumes zielenden Anordnungen dahin zu ändern seien, daß die
Pressevertreter künftighin unbehelligt blieben; die Kontrolle selbst sei
er der Sicherheit der einzelnen Zeugen schuldig.


                     Die Vernehmung des Fichtmann.
                         – Der Fall Orlowsky. –

Die Nachmittagssitzung des ersten Verhandlungstages eröffnet die
Vernehmung des Angeklagten Max Fichtmann. Dieser verbüßte damals im
Zuchthause Brandenburg eine langjährige Zuchthausstrafe, die im Oktober
1919 vom außerordentlichen Kriegsgericht wegen versuchter räuberischer
Erpressung und versuchten Mordes an dem Edelsteinhändler Orlowsky
verhängt worden war.

Rechtsanwalt Dr. S. Weinberg teilt zu dieser Sache mit, daß in dem
Prozesse das Wiederaufnahmeverfahren schwebe (da Berufung gegen das
Urteil des außerordentlichen Kriegsgerichts nicht möglich ist).

Der Angeklagte erklärt:

„Ich bin von Beruf Lederarbeiter und betrieb im vergangenen Jahre eine
Schankwirtschaft in der Jüdenstraße. Ich bin Anhänger und Mitglied der
KPD. (Kommunistische Partei Deutschlands); in meinem Lokale verkehrten
viele Genossen, unter ihnen auch der jetzt als Spitzel entlarvte Toifl.
Dieser gebärdete sich stets sehr extrem und propagierte die direkte
Aktion; er hatte an mehreren Unternehmungen Anteil. So führte er einen
Trupp, der in der Nacht vom 31. Juli zum 1. August 1919 am Molkenmarkt
den Diamantenhändler Orlowsky verhaftete; Orlowsky wurde in einen Vorort
verschleppt und um etwa 2000 M. beraubt; auch ein Schuß soll dabei
gefallen sein. Nachher behauptete Toifl, ich hätte den Überfall geleitet
und den Schuß abgegeben; auf sein Zeugnis hin wurde ich vom
Kriegsgericht verurteilt – aber ich fühle mich völlig schuldlos. Vor dem
Kriegsgericht sagte der Oberleutnant Graf Westarp aus, daß er dem Toifl
Auftrag gegeben habe, mich zu überwachen und unschädlich zu machen:
indem er mich in die Sache hineinzog, entledigte Toifl sich dieses
Auftrags.

„Zum Fall Blau habe ich zu sagen: ich war am Abend des 2. August 1919 im
Lokal von Obst in der Höchster Straße; von da bin ich zwischen 1 und 2
Uhr direkt nach Hause gegangen und habe mich schlafen gelegt. Von dem
ganzen Hergang in der Großbeerenstraße weiß ich nichts; wenn ich damit
in Verbindung gebracht werde, dürfte eine Personenverwechslung
vorliegen. Ich bin unbeteiligt und bereit mein Alibi zu beweisen.“ –

Längere Diskussionen entspannen sich, ob das Urteil des
außerordentlichen Kriegsgerichts verlesen werden solle. Der Staatsanwalt
wünschte die Verlesung, da der Inhalt zur Charakterisierung des
Angeklagten beitrage. Die Verteidiger Th. Liebknecht und Dr. S. Weinberg
protestieren mit aller Energie: Das Urteil eines außerordentlichen
Gerichts könne niemals zur Charakterisierung des Betroffenen vor einem
ordentlichen Gerichte dienen; weiterhin sei das Wiederaufnahmeverfahren
eingeleitet: wenn also das Gericht das Urteil zur Verlesung gebracht
haben wolle, müsse mit Billigkeit auch der Antrag auf Wiederaufnahme
diskutiert und das ganze Verfahren neu aufgerollt werden; die
Geschworenen möchten sich doch ihre Ansicht nach dem Verlauf dieses
Prozesses und den Ergebnissen der Beweisaufnahme bilden.

Daraufhin wurde die Frage zurückgestellt; am darauffolgenden (dritten)
Verhandlungstage wurde das Urteil unter erneutem Protest der
Verteidigung dennoch verlesen. Rechtsanwalt Dr. S. Weinberg gibt den
Geschworenen eine Erläuterung ab, daß das ganze Verfahren sich auf die
Aussage des einen Zeugen Toifl stützte, der nachgewiesenermaßen
Lockspitzel sei, und daß Orlowsky selbst den Fichtmann vor Gericht nicht
habe wiedererkennen und als Täter bezeichnen können. – Die Verteidigung
behält sich vor im Laufe der Verhandlung nochmals auf die Sache Orlowsky
zurückzukommen.

                   *       *       *       *       *

Des Zusammenhangs wegen seien gleich einige Zeugen in Sache des
Fichtmann erwähnt:

Die Mutter des Fichtmann (7. Verhandlungstag): in der fraglichen Zeit
habe ihr Sohn regelmäßig zu Hause geschlafen und sei niemals
ausgeblieben; sie könne daher bezeugen, daß er sowohl in der Nacht des
1. als auch des 2. August zu Hause war.

Die Zeugen Gastwirtseheleute Obst, Hans Löpert und Marie Schröder sowie
die Schwester des Fichtmann (6. Verhandlungstag) bekunden
übereinstimmend, daß Max Fichtmann am Mordtage des 2. August bis um
Mitternacht im Lokale von Obst war. Der Bruder des Fichtmann fügt noch
hinzu, daß er anschließend mit seinem Bruder und Freunden nach Hause
gegangen und später sich schlafen gelegt habe; eine nachträgliche
Entfernung käme nicht in Betracht, da sie in einem Bette geschlafen
hätten.

Die Zeugin Fräulein Kuschel (6. Verh.-Tag) war mit Fichtmann näher
befreundet und bezeugt, sowohl am Freitag, dem 1., wie am Sonnabend, dem
2. August 1919, bis spät nacht mit ihm zusammen gewesen zu sein.
Fichtmann könne weder im Fall Orlowsky, noch im Fall Blau als
Beteiligter in Betracht kommen.

Der Zeuge Worm (6. Verhandlungstag): auch er könne bestätigen, daß Max
Fichtmann am Raubzug gegen Orlowsky nicht beteiligt war; „wir
betrachteten damals den Toifl noch als Genossen und waren häufig mit ihm
zusammen; am fraglichen Tage hat Toifl mich aufgefordert, ich solle bei
dem Unternehmen gegen Orlowsky mitmachen. Aus prinzipiellen Gründen
lehnte ich mit Entschiedenheit ab; und ich kann mit Bestimmtheit
versichern, daß Fichtmann ebenfalls nicht dabei war: er war den ganzen
Abend in seinem Lokal! Der Toifl aber, der Uniformen der Reichswehr und
Stahlhelme besorgt hatte, ist mit einigen anderen losgezogen! ... Vor
dem außerordentlichen Kriegsgericht, das später Fichtmann verurteilte,
bin ich nicht vernommen worden.“

Der Vater des Fichtmann bestätigt noch (7. Verhandlungstag), daß Toifl
fortgesetzt agitierte und versuchte, die jungen Leute zu terroristischen
Gewaltakten aufzureizen.

                   *       *       *       *       *

Rechtsanwalt Dr. Siegfried Weinberg:

„Aus verschiedenen Fragen des Herrn Staatsanwalts an diese Zeugen
entnehme ich, daß der Herr Staatsanwalt sich auf Angaben des Toifl
stützt. Da dieser selbst als Zeuge nicht erschienen ist, beantrage ich
die Ladung des Friseurs Julius Meyer, Grüneberger Straße, als Zeugen
über die Glaubwürdigkeit des Toifl.“


                       Die Vernehmung des Hoppe.

Auch der Angeklagte Erwin Hoppe macht seine Angaben in freier Rede:

„Ich bin Handlungsgehilfe; seit meinem 14. Lebensjahr bin ich Mitglied
der Arbeiterjugend: dort habe ich die Lehren des Sozialismus kennen
gelernt. Ich lehne als Mitglied der K. P. D. jede individuelle Gewalt
ab. So war ich auch Gegner des Kriegs und versuchte mich dem
Militärdienste zu entziehen; ich wurde deshalb seiner Zeit auch in
Flensburg verurteilt.

„Nach meiner Entlassung schloß ich mich der freien sozialistischen
Jugend an, der ich bis heute treu blieb und deren Ziele ich vertrete
...“

Vorsitzender:

„Ist Ihnen bekannt, daß innerhalb der kommunistischen Partei sogenannte
Terroristengruppen bestehen, die ihre politischen Ziele auf gewaltsamem
Wege erreichen wollen?“

Hoppe:

„Mir ist nichts darüber bekannt; ich selbst lehne, wie schon gesagt,
jeden individuellen Terror ab und halte mich von den Propagatoren
desselben fern.

„An jenem Abend des 1. August war ich in einer Jugendversammlung in der
Weinmeisterstraße; nach deren Schluß ging ich in die Versammlung in der
Mittenwalderstraße, weil ich dort noch Freunde zu treffen hoffte. Als
ich dahin kam, war die Versammlung bereits beendet; ich betrat den Saal,
in dem noch etwa 30 Mann zusammenstanden. Ich trat näher und hörte, daß
die Leute sich lebhaft mit einem der Anwesenden stritten, den sie der
Spitzelei bezichtigten. Es war Blau, von dem ich vorher noch nie gehört
hatte und den ich damals zum ersten Male sah.

„Die Genossen schienen Beweise in den Händen zu haben und hielten sie
dem Blau vor; dieser bestritt erregt deren Stichhaltigkeit und brachte
Erklärungen vor, die ich im Lärm der Redenden nicht völlig verstehen
konnte. Immer wieder kehrte nur die Behauptung, daß ein Genosse Strolz
ihn legitimieren würde und, daß er verlange, daß dieser Strolz sofort
geholt würde.“

Rechtsanwalt Th. Liebknecht:

„Dieser Strolz wurde später als Spitzel erkannt; er steht auf der
Zeugenliste, ist aber heute nicht auffindbar!“

Hoppe:

„Ein mir unbekannter Genosse erbot sich den Strolz zu holen; da er einen
Begleiter wünschte und sonst niemand Lust zu haben schien, schloß ich
mich ihm an.“

Rechtsanwalt Th. Liebknecht:

„Auch dieser Genosse wurde später als Spitzel entlarvt!“

Hoppe:

„Da der Saal geschlossen wurde, verließen alle das Haus. Die anderen
Genossen mit Blau bewegten sich in der Richtung zum Kreuzberg; ich und
der dazu bestimmte Genosse, wir nahmen ein Auto und fuhren ab. Am
Kreuzberg wollten wir uns wieder treffen.

„Wir beide fuhren nach der Pariser Straße in Wilmersdorf; dort hielt der
Wagen und der Genosse stieg aus, während ich im Auto warten sollte.“

Rechtsanwalt Dr. S. Weinberg:

„Wie lange blieb Ihr Begleiter aus?“

Hoppe:

„Vielleicht zehn Minuten.“

Rechtsanwalt Dr. Weinberg:

„Ich bemerke, daß von der Pariser Straße aus das berüchtigte Spitzelbüro
in der Lietzenburger Straße, das damalige Hauptquartier des Freikorps
Lüttwitz, der Garde-Kavallerie-Schützendivision usw., mit wenigen
Schritten zu erreichen ist. Ich vermute infolgedessen, daß der
Unbekannte dort vorsprach, Meldung machte, oder sich Weisungen holte ...
Herr Hoppe, wurde Ihnen eine Adresse des Strolz gesagt?“

Hoppe:

„Nein. Der Genosse kam zurück und sagte, daß er den Strolz nicht
getroffen hätte. Wir fuhren dann zum Kreuzberg zurück, wo ein Teil der
anderen mit Blau wartete.

„Für die Mehrheit der Genossen stand fest, daß Blau ein Spitzel war;
andere zweifelten. Blau selbst verlangte Gelegenheit, sich zu
rechtfertigen. Einer machte den Vorschlag, den Blau sofort auf dem
Tempelhofer Feld zu erschießen, was aber von den übrigen abgelehnt
wurde. Da es jedoch zu Gegenüberstellungen usw. zu spät war, beschloß
man zum anderen Tag zu warten; Blau war einverstanden, in der Wohnung
des anwesenden Genossen Pohl in der Gneisenaustraße zu übernachten.“

Vorsitzender:

„Wurde dabei Gewalt angewandt?“

Hoppe:

„Im Gegenteil; Blau war sehr damit einverstanden, da er sowieso kein
Quartier hatte. – In der Wohnung blieben die Eheleute Pohl, Geißler und
Blau.“

Staatsanwalt:

„Sie kamen doch nur zufällig in die Mittenwalder Straße; wie kamen Sie
dazu, den Blau zu bewachen?“

Hoppe:

„Es war schon spät und ich dachte mir, daß durch einen Anwesenden mehr
eine unüberlegte Tat vermieden werden könne.“

Vorsitzender:

„Und wo war der Mann, mit dem Sie im Auto fuhren?“

Hoppe:

„Darüber weiß ich nichts. – Am anderen Tag kam ein Mann, der sich als
Genosse vorstellte; dieser sagte, daß man den Strolz noch nicht erreicht
hätte und deshalb noch warten solle. Als ich mit ihm allein auf dem Flur
stand, sagte er zu mir, indem er mir ein gefülltes Fläschchen in die
Hand drückte: Blau sei doch ein Spitzel und es habe keinen Sinn, mit ihm
soviel Federlesens zu machen; in dem Fläschchen sei _Morphium_ und er
rate mir, möglichst gleich Schluß zu machen. Ich verweigerte die Annahme
des Giftes und lehnte den Gedanken an Mord entschieden ab.

„Wir warteten den ganzen Tag auf Strolz und die Eheleute Pohl fingen an
ungeduldig zu werden. Ich ging infolgedessen zu meinem Freunde Winkler,
um ihn für die nächste Nacht um die Wohnung seiner Eltern zu ersuchen.
Denn ich wußte, daß die Eltern auf ihrem Laubengrundstück weilten. Ich
sagte dem Winkler, daß ich die Wohnung zu einer Sitzung brauche; er
willigte ein.

„Geißler war im Laufe des Tages fortgegangen. Gegen Abend gingen Pohl,
Blau und ich nach der Großbeerenstraße, wo uns, wie es zwischen Winkler
und mir verabredet war, ein mir nur mit dem Vornamen Franz bekannter
Mann mit den Schlüsseln zur Wohnung erwartete. Pohl verabschiedete sich,
wir andern drei gingen hinauf.“

Vorsitzender:

„Warum eigentlich hielten Sie den Blau zurück? Nur um ihn dem Strolz
gegenüberzustellen?“

Hoppe:

„Jawohl. Und: falls er ein Spitzel war, um ihn dann zu photographieren.“

Rechtsanwalt Dr. S. Weinberg:

„Es ist bei allen politischen Parteien üblich, sich in den Besitz
solcher Photographien zu setzen; bei der sozialdemokratischen Partei z.
B. war der gewesene Polizeipräsident Eugen _Ernst_ früher einmal
Spezialist für Spitzelphotographien.“

Vorsitzender (zu Hoppe):

„Sie sagten doch, die Mehrzahl der Genossen war schon in der Versammlung
von Blaus Spitzeltum überzeugt?“

Hoppe:

„Jawohl, aber Blau versuchte dauernd alles zu erklären. Er gestand
offen, daß er von der antibolschewistischen Liga den Auftrag hatte, in
München die Kommunisten zu bespitzeln; aber er erzählte, er habe die
Liga betrogen und nur im Interesse der Kommunisten gearbeitet; auch
weiterhin wolle er nur für die Kommunisten arbeiten, von deren Sache er
überzeugt sei; Strolz könne das bestätigen. Ich konnte ihm diese
Erzählungen auch nicht nachprüfen, da ich ja nichts von ihm wußte.“

Vorsitzender:

„Hielten Sie persönlich den Blau für einen Spitzel?“

Hoppe:

„Ich hielt ihn jedenfalls für solcher Tätigkeit fähig; Beweise hatte ich
nicht. Auch sah ich es nicht für meine Aufgabe an, den Blau zu
vernehmen. – Wir drei gingen also in die Winkler’sche Wohnung, wo nach
etwa einer Stunde drei Männer erschienen, die keinen guten Eindruck auf
mich machten.“

Staatsanwalt:

„Wo kamen die Männer her?“

Hoppe:

„Das weiß ich nicht, ich kannte sie auch nicht. Die ganze Angelegenheit
des Blau war nicht so verborgen, daß nicht mancher darum wissen konnte.
– Die drei Leute benahmen sich ziemlich grob und besonders der größte
von ihnen machte mir beinahe Vorwürfe, daß wir den Blau noch nicht
erledigt hätten. Er bot mir einen _Strick_ und dasselbe Fläschchen
_Morphium_ an, das mir der andere Unbekannte schon am Vormittag geben
wollte. Ich nehme also an, daß diese Leute miteinander in Beziehung
standen. Ich lehnte abermals auf das Entschiedenste ab und verlangte die
Gegenüberstellung mit Strolz; aber die Leute machten sich in der Wohnung
breit und schienen mit der Absicht gekommen, die Tat auszuführen. Da ich
keine Möglichkeit sah, mich ihnen zu widersetzen und andererseits mit
ihnen nichts zu tun haben wollte, zog ich es vor, die Wohnung zu
verlassen.“

Staatsanwalt:

„Warum gingen Sie nicht zur Polizei?“

Hoppe:

„In unseren Kreisen denkt man nicht an die Polizei als Hilfe. – Ich ging
also nach Hause um mich schlafen zu legen. Aber die Sache beunruhigte
mich; auch ängstigte es mich, in der mir anvertrauten Winkler’schen
Wohnung Fremde allein gelassen zu haben: nach einer Stunde zog ich mich
wieder an und ging in die Großbeerenstraße zurück. Ich stand einige Zeit
vor dem Hause und überlegte mir, was ich tun solle, als ich den Großen
und einen Begleiter aus dem Tor treten sah. Ich ging auf sie zu und
hörte ‚sie seien oben fertig; gleich kämen die anderen mit der Leiche
herunter‘. Ich erschrak. Aber gleich kamen Franz und der dritte mit dem
in eine Decke gehüllten Körper Blaus, der zuerst in einem Hausflur
niedergelegt wurde. Nun traten noch andere hinzu, die da waren, und von
der Anwesenheit des Blau wußten; unter ihnen Acosta, Pohl und Schröder.
Dem letzteren, der sehr kräftig ist, wurde die Leiche aufgebürdet. Von
der naheliegenden Brücke wurde sie in den Kanal geworfen.

„Nachher zerstreuten sich alle. Pohl, Franz und ich gingen zusammen und
Franz erzählte den Vorgang: sie hatten Wein geholt und mit Blau Wein
getrunken, ihm aber das Gift hineingetan. Als er davon betäubt war,
hatten sie ihm die Schlinge um den Hals gelegt und ihn erdrosselt.“

Vorsitzender:

„Wurde erzählt, wer den Wein holte, wer die Schlinge zuzog?“

Hoppe:

„Nein.“

Vorsitzender:

„Sie waren demnach nicht bei der Tat zugegen und hatten nichts damit zu
tun?“

Hoppe:

„Ich hatte nichts damit zu tun.“

                   *       *       *       *       *

Der in der Anklageschrift enthaltene Kassiber des Hoppe an Winkler kommt
zur Verlesung. Dazu gibt Hoppe auf Befragen des Vorsitzenden an, er habe
den Kassiber geschrieben, um dem Winkler die Ereignisse ins Gedächtnis
zu rufen; außerdem habe ihn die nervöse Spannung der Haft zu diesem
Mittel getrieben. Jedenfalls habe ihm eine Beeinflussung des Winkler
ferngelegen; eher habe er versucht, den Winkler vor Schaden zu bewahren,
denn: indem er ihm mitteilte, daß er selbst alles gestanden habe, enthob
er den Freund der Rücksicht auf ihn und damit der Gefahr, durch
nutzloses Schweigen sich selbst zu schädigen.

Der Vorsitzende befragt Hoppe, ob er sich mit Hypnose und ähnlichen
Fragen beschäftigt habe. Hoppe bejaht: er sei mehrere Male von einem
seiner Bekannten in Hypnose versetzt worden und habe sich zu diesen
Versuchen sehr geeignet erwiesen. Einmal habe er in diesem Zustande eine
Rede als Ministerpräsident Scheidemann gehalten, ein anderes Mal eine
Debatte als Reichswehrminister Noske geführt.

Die Sachverständigen Dr. Kronfeld, Gefängnisarzt Dr. Hirsch und
Sanitätsrat Dr. Lehnsen stellen an den Angeklagten eine Reihe von Fragen
über sein Verhalten und seine Handlungen im hypnotischen Zustand und
erklären dazu (am 7. Verhandlungstag):

Dr. Kronfeld: er habe den Angeklagten Hoppe mehrfach und eingehend
untersucht und eine gesteigerte Suggestibilität zweifelsfrei
festgestellt. Eine zur Verblödung neigende Geisteskrankheit oder
sonstige die Verantwortlichkeit des Individuum aufhebende Störungen habe
er nicht gefunden; also könne er die Anwendung des § 51 des Str.G.B.
nicht befürworten. Dagegen berechtige ihn seine weitgehende Erfahrung
mit hypnotischen Fragen und deren Grenzgebieten zu dem Ergebnis, daß bei
sehr suggestiblen Personen Situationen eintreten können, in denen Kritik
und Überlegung weitgehend ausgeschaltet sind. Besonders leicht träte
dieser Fall dann ein, wenn die Suggestion in einer Richtung stattfinde,
die dem Interessengebiet des Individuums parallel läuft oder sich mit
ihm deckt. In diesem Fall also in der Richtung der Ziele der
Arbeiterbewegung. Er müsse demnach dem Angeklagten eine verminderte
Zurechnungsfähigkeit zuerkennen und diese darin erblicken, daß dem
Angeklagten infolge seiner Suggestibilität und unter dem Einfluß seiner
Umgebung freie Besinnung sowohl als freie Bestimmung über seine
Handlungen in sehr erheblichem Maße gefehlt habe. – Bezüglich des
Angeklagten Fichtmann kam Dr. Kronfeld zum Ergebnis, daß dieser infolge
nachweisbarer erblicher Belastung in physischer und psychischer Hinsicht
als degeneriert, aber nicht als unzurechnungsfähig anzusehen sei.

Gefängnisarzt Dr. Hirsch sowie der Gerichtsarzt Dr. Strauch
widersprachen (am 8. Verhandlungstag) diesem Gutachten: die
Suggestibilität des Hoppe sowie die erbliche Belastung des Fichtmann
könnten zwar zugegeben werden; aber sie seien nicht so bedeutend, daß
man eine Störung der Persönlichkeit anzunehmen brauche. Nach dem
Ergebnisse ihrer Untersuchung hielten sie beide Angeklagte für
zurechnungsfähig im Sinne des Gesetzes und könnten bei Bejahung der
Schuldfragen eine zu berücksichtigende Beschränkung der Willensfreiheit
nicht zuerkennen.

Auch Dr. Lehnsen kann dem Fichtmann den § 51 Str.G.B. nicht zubilligen.
Über Hoppe sagt er aus, nachdem er einen von diesem geschriebenen
Lebenslauf verlesen hat: Hoppes Denkablauf und Darstellungsmöglichkeiten
seien völlig klar und absolut logisch. Er könne aus seiner alten
praktischen Erfahrung aus dieser und seinen sonstigen Beobachtungen auf
einen klaren, überlegten und eher energischen Menschen schließen: und es
sei gar nicht erwiesen, daß ein hypnotisch leicht zu beeinflussender
Mensch auch im täglichen Leben leicht zu beeinflussen sei. Das seien
zweierlei Dinge, und, nachdem im Fall Blau weder eine Affekthandlung
noch eine Massenpsychose vorliege, müsse er nach seinem Augenschein
urteilen: „Ich kann nicht zugeben, daß hier eine Willensbeschränkung
vorliegt!“

                   *       *       *       *       *

Die Eltern des Hoppe sagen übereinstimmend aus (6. Verhandlungstag), ihr
Sohn sei immer gutartig, leicht lenkbar und weichherzig gewesen. In
seiner Kindheit habe er öfter an Ohnmachtsanfällen gelitten und es sei
wohl möglich, daß seine Gesundheit im Grunde weniger kräftig und weniger
widerstandsfähig sei, als es den Anschein erwecke. Irgendwelche Neigung
zu Gewalttätigkeit oder zu Härte hätten sie niemals feststellen können,
eher sei Gutmütigkeit und Freundlichkeit der Grundzug seines Wesens.

Ähnlich äußern sich die Zeugen Heilmann, Hopfe und Holland, die den
Angeklagten seit langem kennen und seine Freunde sind. Sie halten es für
ausgeschlossen, daß Hoppe irgend jemandem etwas zuleide täte; sie waren
Zeugen der mit ihm vorgenommenen hypnotischen Experimente und bestätigen
seine Aussagen darüber. Sie glauben aber, daß ihr Freund vielleicht
infolge dieser Veranlagung ein unschwer zu beeinflussender Mensch ist.

Lazarettdirektor Richter hatte den Hoppe mehrere Monate als Kranken in
seinem Lazarett. Da er hörte, daß der junge Mann Kommunist sei, habe er
sich selbst an Hoppe gewandt, ihn beobachtet und sich eingehend mit ihm
unterhalten. Er habe aber sofort feststellen können, daß er einen guten,
weichherzigen Menschen vor sich habe – und auch späterhin dieses Urteil
nur bestätigt gefunden: Hoppe übte auf seine Kameraden den günstigsten
Einfluß und auch die Wärter waren mit ihm sehr zufrieden, äußerten sich
sogar sehr anerkennend. Er persönlich traue dem Hoppe nicht zu, daß er
sich an einer Gewalttat beteiligt habe. Er betone übrigens, daß er
selbst Angehöriger der deutschen Volkspartei sei (7. Verhandlungstag).

Der Zeuge Ernst Fothenhauer ist der Mann, der den Hoppe hypnotisiert
hat. Er erzählt (4. Verhandlungstag) die schon bekannten Umstände und
kommt zu dem Schluß, daß Hoppe sehr wohl unter dem Einfluß Anderer Dinge
verrichten könne, für die er nicht verantwortlich ist.


                      Die Vernehmung des Winkler.

Als letzter Angeklagter wird der Schneider Willi Winkler vernommen. Er
sagt am 2. Verhandlungstage aus:

„Ich habe mich mit vierzehn Jahren der Arbeiterjugend angeschlossen und
dort meinen Freund Hoppe kennen gelernt.

„Ich bin Gegner der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, weil ich sie
für ungerecht halte; ich bin überzeugt, daß die Zeit des Kapitalismus
abgelöst wird durch ein den Bedürfnissen besser angemessenes System: in
diesem Sinne bin ich Anhänger der kommunistischen Weltanschauung, ohne
indes einer bestimmten Partei anzugehören. Auch bin ich kein Anhänger
der Propaganda der Tat.

„Zur Sache selbst erkläre ich: ich habe die Wohnung meiner Eltern meinem
Freund Hoppe zu einer Sitzung zur Verfügung gestellt. Ich nahm an, daß
es eine Besprechung sei, an der Führer teilnähmen, die illegal lebten
und gezwungen seien, sich zu verbergen. Infolgedessen drang ich nicht in
meinen Freund um Details, sondern übergab die Schlüssel und ging für die
Nacht zu einem Bekannten; am anderen Morgen fuhr ich nach Treptow zu
meinen Eltern, die dort ein Laubengrundstück besitzen.

„Erst später hat mir Hoppe erzählt, was sich in der Wohnung zugetragen
hat.“

                   *       *       *       *       *

Damit ist die Vernehmung der Angeklagten beendigt. Es folgen noch eine
Reihe von Fragen, durch die einzelne Kleinigkeiten des bisher
Geschilderten klargestellt werden – ohne wesentlich Interessierendes zu
bringen.


                                 Blau.

In den bisherigen Seiten kamen die Angeklagten zu Wort und ihre
Leumunds- und Entlastungszeugen. Nicht alles ist klargestellt und in
vielem hat es den Eindruck, daß die Angeklagten entweder selbst nichts
wissen oder verschweigen. Aber der Verlauf der Verhandlung, statt zu
erhellen, wird immer dunkler: um einigermaßen Übersicht zu erhalten, ist
es nötig, Einiges über die unklare Persönlichkeit des Blau
vorauszuschicken.

Kriminalkommissar Dr. Riemann (3. Verhandlungstag): Blau war Agent der
antibolschewistischen Liga und war besonders innerhalb der
kommunistischen Partei tätig. In seinem nachgelassenen Gepäck wurden
noch Berichte an die Liga gefunden.

Zeuge Blumenfeld, seinerzeit Leiter der Rechtsschutzstelle der
Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei in München (4.
Verhandlungstag): daß Blau sich als politischer Flüchtling an ihn
gewandt und um Unterstützung gebeten habe; auch mehrfach solche erhalten
habe.

Kriminalkommissar Trettin (3. Verhandlungstag): bei der Münchener
Polizei war bekannt, daß Blau ein Doppelspiel treibt und auch den
Kommunisten Material liefert; er wurde deshalb am 2. Juli 1919 aus
München ausgewiesen und begab sich um Hilfe zur Rechtsschutzstelle der
U. S. P. D. Dort nahm sich Herm seiner an und brachte ihn in ein
Krankenhaus, bezahlte auch seine Rechnung.

Rechtsanwalt Dr. Siegfried Weinberg stellte aus den Gerichtsakten
folgendes fest (5. Verhandlungstag):

Blau war während der Januarkämpfe 1919 Kommandant der revolutionären
Besetzung der Büxenstein’schen Druckerei in Berlin und forderte die
Arbeiter, auf „bis zum letzten Blutstropfen gegen die Regierungstruppen
zu kämpfen“. Während der Erstürmung des Gebäudes verschwand Blau unter
Mitnahme von 4000 M. Löhnungsgeldern. – In den Gerichtsakten ist Blau
als Rädelsführer bezeichnet; er war „nicht auffindbar“; Anklage wurde
nicht erhoben;

Blau beschlagnahmte im Januar 1919 ein Auto des Berliner Magistrats;

Blau versuchte von einer militärischen Nachrichtenstelle 500 M. zu
erpressen, indem er mit dem Gericht drohte;

Blau bezog für seine Spitzeltätigkeit von der „Eisernen Schar“ ein
Monatsgehalt von 530 M.

Der Vorsitzende erklärt, daß dies den Tatsachen entspricht.

Und endlich Kriminalkommissar Dr. Trettin (5. Verhandlungstag): „_Blau
war ein Lump; das steht wohl fest._“

                   *       *       *       *       *

Die Nachprüfung dieser und die Erbringung weiterer Beiträge zur
Charakteristik und Vergangenheit des Blau wurde vom Gericht abgelehnt,
da sie für die Beurteilung der Schuldfragen nicht in Betracht kämen. In
den Plädoyers findet sich noch einiges hierüber.


                                Die Tat.
                     – Zeugen und Kriminalbeamte. –
                         Der Spitzel Schreiber.

Die ersten Spuren, welche die Polizei im Falle Blau auffand, wiesen nach
München; zu ihrer Aufhellung wurde Kriminalkommissar Trettin dorthin
gesandt. Dessen Aussage lautete (3. Verhandlungstag):

„Ich suchte in München nach dem Agenten Schreiber, der mir von Berlin
als Gewährsmann genannt war. Ich fand ihn in der Polizeidirektion in
Schutzhaft.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Darf ich fragen in welcher Angelegenheit?“

Kr.-K. Trettin:

„Es handelte sich um einen _Mord_ in einem Walde bei München –“

Der Zeuge erzählt, was ihm von dieser Sache in Erinnerung ist.

R.-A. Th. Liebknecht:

„Ich bitte zu beachten, daß die Technik dieses Mordes genau der des
Überfalls des Spitzels Toifl auf Orlowsky entspricht!“

Kr.-K. Trettin:

„Dem Schreiber war der Spitzel Blau bekannt; ebenso der Polizeidirektion
München, die auch wußte, daß Blau ein Doppelspiel trieb – indem er
beiden Seiten Material verkaufte. Aus diesem Grunde wurde Blau auch in
Schutzhaft genommen.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Geschah dies nicht eher, um politische Gefangene zu bespitzeln?“

Kr.-K. Trettin:

„Blau war ja als unzuverlässig bekannt! Er wurde am 2. Juli 1919 mit
Ausweisungsbefehl aus der Haft entlassen. – In meinen weiteren Angaben
folge ich den Aufklärungen, die mir Schreiber gab, und betone, daß
Schreiber mir einen glaubwürdigen Eindruck machte.

„Blau begab sich zur Rechtsschutzstelle der U. S. P. D. in München, die
damals von dem Studenten Blumenfeld geleitet wurde. Dieser war selbst
Terrorist und Schreiber erzählte mir den Hergang einer Vereidigung in
der Wohnung des Blumenfeld, an der er selbst teilnahm.

„Dabei waren acht Genossen in einem dunklen Raume versammelt; auf dem
Tisch stand eine Schale mit rötlicher Flüssigkeit, die, angezündet, das
Zimmer mit magischem Licht schwach erhellte. Nach einleitenden Fragen
und Erklärungen wurde auf diese Formel vereidigt: „Ich schwöre der
kommunistischen Partei Treue und schwöre, in Not und Gefahr nicht vom
Platze zu weichen.“

Zeuge Blumenfeld (4. Verhandlungstag):

„Ohne auf eine Kritik der geschilderten Formalitäten einzugehen, möchte
ich betonen, daß ich Mitglied der Unabhängigen sozialdemokratischen
Partei bin und nicht wüßte, wieso ich jemanden auf die kommunistische
Lehre und Praxis vereidigen sollte!“

R.-A. S. Weinberg (zu Trettin):

„Ist das die Glaubwürdigkeit Ihres Gewährsmannes?“

Kr.-K. Trettin:

„Soweit ich Schreibers Angaben nachprüfen konnte, erwiesen sie sich als
richtig. – In der Rechtsschutzstelle der U. S. P. D. wurde Blau
unterstützt. Von Herm, den er dort kennen lernte, wurde er sogar in
einem Krankenhaus untergebracht; seine dortige Rechnung bezahlte Herm.“

Vorsitzender:

„Das scheint nicht dafür zu sprechen, daß Blau als Spitzel erkannt war?“

Kr.-K. Trettin:

„Anfänglich war er es auch nicht. – Am 29. Juli reisten Blau, Herm,
Schreiber und ein gewisser Schuster nach Leipzig: im Laufe der Fahrt
teilte Herm dem Schreiber mit, daß Blau ermordet werden solle.“

Zeuge Blumenfeld (4. Verhandlungstag):

„Ich kann dazu Näheres sagen: Beide, sowohl Blau wie Schreiber, wandten
sich an die Rechtsschutzstelle um Unterstützung und erhielten auch
Geld.“

       [Illustration: Der den Geschworenen vorgelegte Lageplan.]

Vorsitzender:

„Im Kassenausweis der Rechtsschutzstelle sind mehrere Beträge (30, 40
und 250 M.) als ‚in Sachen Blau‘ aufgeführt; sind das die
Unterstützungsgelder?“

Zeuge Blumenfeld:

„Ja. – Schreiber ersuchte uns, ihm Arbeit zu verschaffen und Herm wollte
das in seiner Heimat Hötensleben versuchen: das war der Anlaß der Reise!
Blau bot sich dem Herm als Spitzel an; ich habe dann selbst mit Blau
gesprochen, doch ohne Erfolg. Ich konnte nichts von ihm erfahren. Später
klammerte sich Blau an Herm und wollte von ihm nach Berlin mitgenommen
werden; Herm klagte mir, daß er ihn nicht los werden könne. In der Nacht
vor seiner Abreise schlief Blau bei mir: von einem Mordplan gegen ihn
ist mir nichts bekannt.“

Staatsanwalt:

„Warum sollte Blau nach Berlin gewollt haben?“

Zeuge Blumenfeld:

„Ich weiß es nicht. – Heute bin ich geneigt anzunehmen: weil er in
München unmöglich war! Er bekam von seinen Auftraggebern keine
Unterstützungen mehr, ihm fehlten die Mittel, allein zu reisen.“

– Der Staatsanwalt beantragt, den Zeugen Blumenfeld wegen Verdacht der
Teilnahme am Mord nicht zu vereidigen. Das Gericht beschließt, die
Vereidigung vorläufig bis zur Gegenüberstellung mit Schreiber
auszusetzen (4. Verhandlungstag). –

Kr.-K. Trettin:

„Blau, Herm, Schreiber und Schuster kamen am 30. Juli in Leipzig an.“

Vorsitzender:

„Am 30. Juli wurde in Leipzig ein _Brief an das „Berliner Tageblatt“_
aufgegeben, in dem die Ermordung des Blau angekündigt wurde. Von wem
stammt dieser Brief?“

Kr.-K. Trettin:

„Das ließ sich nicht mit Bestimmtheit sagen; wahrscheinlich von
Schuster.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Nicht von Schreiber?“

Kr.-K. Trettin:

„Schreiber wußte nichts von dem Briefe und leugnete, ihn geschrieben zu
haben. Von Leipzig wurde nach Magdeburg gefahren, wobei Schreiber den
Blau warnte. Diese Warnung scheint Blau nicht ernst genommen zu haben.
In Magdeburg trennten sich die vier: Herm und Schuster fuhren ab und
ließen Blau und Schreiber allein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Das spricht nicht sehr für einen Mordplan, daß man das Opfer allein
läßt! Außerdem: da Schreiber nach seinen eigenen Angaben von einem
Mordplan wissen wollte: jetzt, wo er allein mit Blau war, hätte er ihn
doch verhindern können?“

Vorsitzender:

„Auch ich finde die Aussage des Schreiber in diesem Punkte psychologisch
recht unwahrscheinlich!“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Bestand etwa eine persönliche Feindschaft zwischen Schreiber und Blau.“

Kr.-K. Trettin:

„Mir ist nichts darüber bekannt.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„In den Akten befindet sich ein Brief des Blau an die
antibolschewistische Liga, worin _Blau den Schreiber als Spartakisten
denunziert_. Hat vielleicht Schreiber von dieser Absicht des Blau
gewußt?“

Kr.-K. Trettin:

„Mir ist nichts darüber bekannt.“

R.-A. Dr. S. Weinberg (zu Kr.-K. Trettin):

„Und was sagen Sie zu diesem Brief des Blau?“

Kr.-K. Trettin:

„Es kommt vor, daß die Spitzel gegenseitig versuchen, sich der
Konkurrenz zu entledigen. Man muß immer vorsichtig mit ihren Angaben
sein. – Ich fahre fort mit der Erzählung des Schreiber:

„Herm und Blau hatten verabredet, sich am 31. Juli am Bahnhof Halle zu
treffen. Schreiber selbst trennte sich von Blau und kam am 31. nach
Hötensleben, wo er sich zu den Eltern des Herm begab. Herm traf am 2.
August allein in Hötensleben ein und erzählte, er käme aus Berlin und
für Blau sei gesorgt.

„Am 3. August schrieb Herm einen Brief an die Frau Kaltenhauser in
München und gab ihn dem Schreiber zur Beförderung. Indem er ein leeres
Kouvert aufgab und die Einschreibequittung als Beleg vorzeigte,
unterschlug Schreiber den Brief und sandte ihn an die Fahndungsabteilung
München ein.“

– Der Wortlaut dieses Briefes ist in der Anklageschrift enthalten; er
wird zur Verlesung gebracht. Rechtsanwalt Dr. S. Weinberg weist darauf
hin, daß der Name der Kaltenhauser, die Herms Quartierwirtin war, falsch
geschrieben sei – was wohl erwägen lasse, ob nicht der ganze Brief eine
Fälschung des Schreiber sei.

Die beiden Zeugen Vater und Bruder des Herm erklären übereinstimmend,
daß der Verlauf in Hötensleben gerade umgekehrt gewesen sei:

„Herm traf am 1. August in Hötensleben ein, – was leicht festzustellen
ist, da er sich sofort persönlich beim Gemeindeamt meldete. Aber
Schreiber kam erst drei bis vier Tage später!“

Trotzdem beide Zeugen (wegen ihrer Verwandtschaft mit dem beschuldigten
Herm) nicht vereidigt zu werden brauchen, verlangen sie, ihre Aussage
eidlich zu erhärten.

Kr.-K. Trettin (hierüber befragt):

„Ich kann hier nur die Aussagen des Schreiber wiederholen und angeben,
daß diese der Polizei die Aufklärung des Mordes ermöglicht haben. – Als
der Tod des Blau in den Zeitungen stand, wurde Herm sehr erregt und
sprach sofort von Mord. Er bat den Schreiber, ihn doch nicht zu verraten
und fuhr mit ihm nach Magdeburg zu dem Parteisekretär der U. S. P. D.
Peters; dort verlangte Herm, daß die Aufzeichnungen über Blau vor seinen
Augen vernichtet würden, was auch geschah.“

Der Zeuge Peters erklärt (am 4. Verhandlungstag) diesen Bericht des
Schreiber für erlogen: er habe niemals Aufzeichnungen über Blau oder
einen Mordplan gegen ihn besessen, sie also auch nicht vernichten
können. Herm sei mit Schreiber bei ihm gewesen und habe ihm den
Schreiber als Flüchtling vorgestellt; dieser habe auch 10 M. aus der
Unterstützungskasse erhalten. Andere Beziehung habe er zu der ganzen
Angelegenheit nie gehabt. – Trotz Widerspruchs des Staatsanwalts
beschließt das Gericht nach kurzer Beratung, diesen Zeugen zu
vereidigen.

Kr.-K. Trettin:

„Herm war wegen der Blau-Affäre dauernd beunruhigt und reiste nach
einigen Tagen nach München ab. Schreiber blieb noch – und machte mir
über seine eigene Abreise aus Hötensleben Angaben, die allerdings sehr
unglaubwürdig sind. Er erzählte, daß er befürchtete, Herm würde in
München die Briefunterschlagung erfahren; infolgedessen fühlte er sich
nicht mehr sicher; ehe er sich aber entfernen konnte, wurde er von
Freunden des Herm aufgespürt; diese Freunde waren anscheinend von
München (Herm) aus auf ihn gehetzt und nur durch eine überstürzte und
wilde Flucht gelang es ihm, sich vor den ihn verfolgenden und aus
Revolvern auf ihn schießenden Gegnern zu retten.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Phantasie hat dieser Spitzel!“

Die Zeugin Frau Baumeister aus München erklärt (4. Verhandlungstag):
Herm habe ihr den Blau als Spitzel bezeichnet; er habe ihr nach seiner
Rückkehr nach München auch von der Ermordung Blaus erzählt; sie habe
aber nicht den Eindruck gehabt, daß Herm der Mörder sei. In der weiteren
Diskussion über von ihr gehörte Redewendungen anderer Münchner Genossen
verwickelt sie sich zu ihren Angaben in der Voruntersuchung in
Widersprüche, die sie mit ihrer Erregung erklärt.

Der nächste Zeuge ist Kriminalkommissar Maslack (3. und 4.
Verhandlungstag).

Staatsanwalt:

„Sie stehen im Dienst der politischen Abteilung der Polizei?“

Kr.-K. Maslack:

„Ja.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Nach den bisherigen offiziellen Angaben soll doch eine sogenannte
politische Abteilung nicht mehr bestehen?“

Kr.-K. Maslack:

„Die frühere politische Abteilung ist aufgelöst.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Aber Ihre Abteilung bearbeitet doch den politischen Teil?“

Kr.-K. Maslack:

„Es handelt sich hier um die Abteilung I A, die frühere Abteilung VII;
diese Abteilung hat den inoffiziellen Namen ‚politische Abteilung‘.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„So, so –“

Vorsitzender (zu Kr.-K. Maslack):

„Können Sie auf Grund Ihrer Kenntnis der Dinge die Garantie übernehmen,
daß der Spitzel Schreiber, falls er vor Gericht erscheint, nicht von
kommunistischer Seite gefährdet wird?“

Kr.-K. Maslack:

„Die Kriminalpolizei kann nur das Menschenmögliche tun.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Diese Garantie – was kommunistische Angriffe betrifft – übernehme ich.“

Kr.-K. Maslack berichtet dann über die Nachforschungen, die er gemeinsam
mit Schreiber in Magdeburg, Hötensleben und anderen Orten anstellte.

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Das war nach den Aufklärungen, die Schreiber dem Kriminalkommissar
Trettin gegeben hatte?“

Kr.-K. Maslack:

„Ja.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Schreiber war also inzwischen aus der ‚Schutzhaft‘ wegen der vorhin
erwähnten Mordsache entlassen?“

Kr.-K. Maslack:

„Ja.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„So, so –“

Der Zeuge Maslack berichtet dann, daß die von ihm erzielten Ergebnisse
im wesentlichen die Angaben des Schreiber bestätigt haben, so wie sie
schon Kr.-K. Trettin schilderte. Wegen einiger Punkte, wie der Ankunft
des Herm und Schreiber in Hötensleben, kommt es zu erneuten
Kontroversen. Wesentlich Neues bringt der Zeuge nicht.

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Wieviel Geld hat Ihre Behörde dem Schreiber für seine Bemühungen
gezahlt?“

Kr.-K. Maslack:

„Die Auslagen für Reise und Aufenthalt.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Darüber hinaus hat er keine Beträge erhalten?“

Kr.-K. Maslack:

„Nein ...“

Vorsitzender:

„Zeuge Maslack, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie unter Eid
aussagen!“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Sie können also bestimmt unter Ihrem Eid aussagen, daß der Spitzel
Schreiber von Ihrer Behörde keine weiteren Gelder empfangen hat?“

Kr.-K. Maslack:

„_Wenn die Frage in so bestimmter Form gestellt wird, so verweigere ich
die Aussage._“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Mit welcher Berechtigung?“

Kr.-K. Maslack:

„Ich habe von meiner Behörde nicht so weitgehende Befugnis erhalten.“

Der Vorsitzende verliest die Mitteilung des Polizeipräsidiums, nach
welcher der Kriminalkommissar Maslack aussagen darf, soweit nicht die
Interessen des Deutschen Reiches gefährdet werden.

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Hat also der Schreiber noch Geld erhalten?“

Kr.-K. Maslack:

„Ja: er nutzte wohl auch die Konjunktur aus, um Zeugenspesen zu
erhalten.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Wie hoch war die Summe, die Schreiber erhalten hat?“

Kr.-K. Maslack:

„Darüber verweigere ich die Aussage.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Ich frage den Zeugen, ob er der Ansicht ist, daß die Interessen des
Deutschen Reiches durch die Nennung der an Schreiber gezahlten Summen
gefährdet sind?“

Kr.-K. Maslack:

„Die Entscheidung darüber steht mir nicht zu.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Dann müssen die Beträge recht erheblich gewesen sein.“

Staatsanwalt:

„Ich beantrage, diese ganze Frage als unerheblich zu beanstanden.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Die Frage ist insofern erheblich, als von der Höhe der Summe abhängt,
in wieweit man diesem Zeugen Schreiber Glauben schenken darf. Es ist
derselbe Schreiber, der vom Gericht 4000 M. fordert!“

Während das Gericht über den Antrag des Staatsanwalts berät, erklärt
Kr.-K. Maslack sich bereit, die Frage zu beantworten. Das Gericht
beschließt trotzdem, die Frage als unerheblich zurückzuweisen: weil ja
allgemein bekannt sei, daß Agenten von der Polizei auch bezahlt würden.

R.-A. Th. Liebknecht:

„Ist dem Zeugen ein Leutnant Siebel bekannt, der Abteilungsleiter der
antibolschewistischen Liga ist?“

Kr.-K. Maslack:

„Nein.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Sie können das unter Eid aussagen?“

Kr.-K. Maslack:

„Es ist möglich, daß ich ihn unter anderem Namen kenne.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Ist dem Zeugen der Leiter der Agentenabteilung der
antibolschewistischen Liga bekannt?“

Staatsanwalt:

„Ich beantrage, auch diese Frage als unerheblich zu beanstanden.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Die Frage ist deshalb erheblich, weil Leutnant Siebel mit den hier
genannten Spitzeln zu tun hatte!“

Der Gerichtsbeschluß lehnt die Frage mit der Begründung ab: sie sei
nicht gestellt, um zur Aufklärung der Mordtat beizutragen, sondern habe
nur politische Bedeutung.

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Ist dem Zeugen bekannt, daß Blau während der Januarkämpfe 1919 im
_Auftrag der Polizeibehörde_ als Lockspitzel die Büxensteindruckerei
besetzte und ein Magistratsauto beschlagnahmte?“

Kr.-K. Maslack:

„Nein.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Ist dem Zeugen der Spitzel Strolz bekannt?“

Kr.-K. Maslack:

„Nein.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Gar nicht bekannt?“

Kr.-K. Maslack:

„Jedenfalls nicht unter seinem Namen.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Sind denn die Spitzel im allgemeinen auch der Polizei nur unter ihrer
Nummer bekannt?“

Der Vorsitzende beanstandet diese Frage und das Gericht lehnt die
Zulassung ab: weil die Frage nur gestellt sei, um aus politischen
Gründen die Hilfsmittel der Polizei kennen zu lernen.

                   *       *       *       *       *

Am fünften Verhandlungstage gibt der Vorsitzende zu dieser Sache
bekannt, daß das Gericht seine am Vortage gefaßten Beschlüsse betreffs
Beanstandung der drei Fragen nunmehr aufhebe und deren Beantwortung
nachträglich zulasse.

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Ich bitte um Auskunft, auf Grund welcher Anregung das Gericht zu dieser
Änderung seiner Beschlüsse gekommen ist.“

Vorsitzender:

„Auf Grund keiner Anregung, sondern aus eigenem Antrieb.“

Kr.-K. Maslack:

„Der Spitzel Schreiber hat außer Fahrt- und Verpflegungsgeld von meiner
Behörde in der Zeit vom 13. bis 25. August 1919 eine Extravergütung von
700 M. erhalten. Ob er noch von anderen Dienststellen bezogen hat, weiß
ich nicht.“

Kr.-K. Trettin:

„Ich erkläre, daß ich dem Schreiber kein Geld gezahlt habe.“

Kr.-K. Maslack:

„Die leitenden Herren der antibolschewistischen Liga, Leutnant Siebel
und Bachmann, kenne ich nicht. (7. Verhandlungstag.) Die Beantwortung
der dritten Frage, ob die Spitzel uns nur mit Nummern bekannt sind, wird
mir von meiner vorgesetzten Behörde verboten, da es dem Wohle des
Staates widersprechen würde, wenn die Einrichtungen der Polizei
öffentlich bekannt gegeben würden.“


                        Die Aufklärung der Tat.
                          Der Spitzel Strolz.

Der erste Zeuge zur Tat war der Sachverständige Professor Dr. Strauch,
der gemeinsam mit Medizinalrat Dr. Hoffmann die Leiche des Blau
obduziert hatte. Er sagt am 2. Verhandlungstage aus, daß der Körper des
Blau am Halse eine Strangulationsmarke aufwies; weitere Merkmale konnten
bei sorgfältigster Untersuchung nicht gefunden werden. Infolgedessen
hätten sie am Anfang zur Annahme von Selbstmord geneigt, später ihr
Urteil dahin verallgemeinert, daß die Todesursache nicht festzustellen
sei. Nach der näheren Kenntnis der Zusammenhänge sei er zur Überzeugung
gelangt, daß der Tod durch Erdrosseln eingetreten sei.

Ein Geschworener fragt den Sachverständigen, ob der Befund unzweifelhaft
sei: es sei doch möglich, daß Blau noch lebend ins Wasser geworfen
worden sei und durch seine Bewegungen erst die Schlinge so zugezogen
habe, daß der Tod durch Ersticken eintrat. In diesem Falle sei aber der
als Mörder anzusehen, der den Körper ins Wasser gestoßen habe.

Ein zweiter Geschworener fragt, ob es ausgeschlossen sei, daß Blau durch
das Morphium nur betäubt war und dann im Wasser ertrunken oder erstickt
ist.

Der Sachverständige betont nochmals, daß er jetzt mit Bestimmtheit
Erdrosseln als Todesursache annehmen könne.

                   *       *       *       *       *

Über die ersten Untersuchungsergebnisse in Berlin sagt Kriminalkommissar
Dr. Riemann aus (3. Verhandlungstag):

„Ich habe als Mitglied der Mordkommission die ersten Untersuchungen
geleitet. In einer Tasche des Ertrunkenen steckte ein Gepäckschein auf
den Anhalter Bahnhof; im Koffer Blaus, der daraufhin abgehoben wurde,
fanden wir eine Reihe Notizen politischen Inhalts und ebensolche Briefe;
diese waren mit Blau oder mit seinem Pseudonym Dr. Michael unterzeichnet
und an die antibolschewistische Liga sowie ähnliche Stellen gerichtet.
Ich stellte dort Nachforschungen an und traf dabei auf den Agenten
Strolz; dieser erklärte sofort, daß Blau von den Kommunisten als Spitzel
erkannt und ermordet worden sei; er schilderte mir die Vorgänge in der
Versammlung in der Mittenwalder Straße, und nannte mir Leuschner als
Versammlungsleiter. Auf diese Angaben hin begannen die Recherchen nach
Leuschner, der später in Ostpreußen verhaftet wurde.

„Mitte August kam an uns ein Brief eines Münchner Vertrauensmannes, der
die Abreise Blaus mit Schreiber, Schuster und Herm mitteilte. Daraufhin
fuhr Kriminalkommissar Trettin nach München.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Wie heißt dieser Münchner Vertrauensmann?“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„Es war Schreiber.“

Der Zeuge Kriminalwachtmeister Helmka war als Kriminalbeamter zur
Garde-Kavallerie-Schützendivision abkommandiert gewesen. (3.
Verhandlungstag): Er lernte dort den Spitzel Toifl kennen, der ihm
mitteilte, daß er den Fichtmann sehr gut kenne und wisse, daß dieser in
die Angelegenheit Blau verwickelt sei. Durch diese Angaben wurde der
Verdacht auf Fichtmann gelenkt. Toifl hat dann dem Kriminalkommissar Dr.
Riemann gegenüber noch weitere Mitteilungen gemacht, die Fichtmann
schwer belasten.

Angeklagter Fichtmann:

„Der Spitzel Toifl belastete mich – aber können Sie sich erinnern, daß
er bei einer Gegenüberstellung mit mir sagte, er könne mich nicht mit
Sicherheit als Täter bezeichnen? Ich sei nicht der Täter.“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„Jawohl. Doch, als Sie abgetreten waren, nahm er diese Aussage wieder
zurück und erklärte, dies nur wegen Ihrer Anwesenheit gesagt zu haben.“

Angeklagter Fichtmann:

„Wissen Sie, daß während meiner Haft der Spitzel Strolz in meine Zelle
gelegt wurde?“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„Es ist ein zur Aufklärung von Kapitalverbrechen übliches Verfahren, den
Verdächtigen durch Zellengenossen aushorchen zu lassen.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Ist dem Zeugen bekannt, daß die berüchtigte _Spitzelin Schröder-Mahnke
in Männerkleidern_ in die Zellen der Angeklagten gesteckt wurde, um von
ihnen Geständnisse zu erreichen?“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„Mir ist nichts davon bekannt.“

Staatsanwalt:

„Ich erkläre: falls derartiges geschehen ist, so geschah es nicht auf
meine Veranlassung!“

Rechtsanwalt Dr. S. Weinberg wiederholt diese Frage gegenüber dem Leiter
der Voruntersuchung, Landgerichtsrat Marquardt (5. Verhandlungstag).

L.-G.-R. Marquardt:

„Davon, daß die Schröder-Mahnke als Polizeispitzelin in den Zellen der
Angeklagten gewesen sein soll, habe ich keine Kenntnis.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Aber Sie müssen sich doch erinnern, wem Sie Sprecherlaubnis gegeben
haben.“

L.-G.-R. Marquardt:

„Es war einmal ein Feldgrauer mit Brille bei mir, dem ich
Sprecherlaubnis erteilt habe. Später erzählte mir Kriminalkommissar
Maslack, daß es sich um eine Frau in Männerkleidung handelte.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„War Ihnen nicht bekannt, daß es die Lockspitzelin Schröder-Mahnke war?“

L.-G.-R. Marquardt:

„Nein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Im allgemeinen macht es die größten Schwierigkeiten, selbst für die
nächsten Angehörigen der Verhafteten Sprecherlaubnis zu erwirken. Unter
welcher Voraussetzung oder Veranlassung haben Sie dieser Person
Sprecherlaubnis erteilt?“

L.-G.-R. Marquardt:

„Soviel ich mich erinnere, habe ich die Erlaubnis auf Anregung des
Kriminalkommissars Maslack erteilt.“

Kr.-K. Maslack:

„Die Polizei hat zu diesem Mittel gegriffen, um den Fall aufzuklären.“

R.-A. Dr. Weinberg:

„... Eine verkleidete Frau im Männergefängnis – auf Anregung der
Polizei! Übrigens hat diese Frau auch Einsicht in die Akten bekommen!!“

L.-G.-R. Marquardt:

„Mit meinem Wissen nicht!“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Und Sie, Herr Kriminalkommissar?“

Kr.-K. Maslack:

„Ich kann nicht auf meinen Eid nehmen, ob ich der Schröder-Mahnke
Einsicht gab oder nicht.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Außerdem war die Schröder-Mahnke während der Vernehmung der Angeklagten
im Nebenzimmer untergebracht und hörte die Aussagen an.“

L.-G.-R. Marquardt:

„Mir ist nichts davon bekannt. Aber ich gebe die Möglichkeit zu, daß sie
dort war; jedenfalls, um anschließend auch vernommen zu werden.“

Angeklagter Hoppe:

„Die Schröder-Mahnke war in der Maske eines Genossen in meiner Zelle und
forderte mich zur Flucht auf. Sie sagte, draußen sei alles vorbereitet,
ich brauchte nur den Tag und die näheren Umstände anzugeben, für alles
weitere habe die Partei schon gesorgt. Ich habe aber abgelehnt. Die
Schröder-Mahnke verhehlte mir keinen Augenblick, daß sie eine
verkleidete Frau sei; im Gegenteil, als ich mich unzugänglich zeigte,
_betonte sie es besonders_.“

Vorsitzender:

„In den Akten finde ich verschiedentlich den Vermerk, daß der Angeklagte
Hoppe fliehen wolle. Von wem stammt diese Angabe?“

Kr.-K. Maslack:

„Von der Schröder-Mahnke. Ich gebe zu, daß die Frau in diesem Falle _ein
sehr verwerfliches Spiel trieb_.“ –

Staatsanwalt (3. Verhandlungstag):

„Im Interesse der Sache wäre es von höchster Wichtigkeit, diese ganzen
Leute, Strolz, Toifl, die Schröder-Mahnke, als Zeugen vor Gericht zu
sehen. Stehen denn der Kriminalpolizei keine Mittel zur Verfügung, der
Leute habhaft zu werden?“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„Es ist sehr schwer; doch werde ich alles tun, um die Leute zu eruieren.
Ich nehme aber an, daß die Angst vor den Kommunisten die Leute abhält.
Sie wagen nicht, hier zu erscheinen.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Seit wann sind denn Strolz und Toifl im Dienst der Polizei?“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„Ich kann darauf keine ausreichende Antwort geben. Die meisten dieser
Leute arbeiten nicht ständig mit uns; so ist uns auch ihr Aufenthalt oft
nicht bekannt und es ist sehr schwer festzustellen, ob und wie einer
gerade tätig ist.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Vielleicht kann ich Ihre Bemühungen unterstützen, wenn ich Ihnen
mitteile: der Spitzel Toifl hat die Spitzelnummer 1460 und war zuletzt
bei Renz in der Badener Str. 5 gemeldet.“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„Ich wiederhole, daß ich nichts unterlassen werde, die Leute
beizubringen.“

Angeklagter Hoppe:

„In diesem Zusammenhang möchte ich berichten: gelegentlich einer
Vorführung vor den Rittmeister Heimburg beim Gruppenkommando I sah ich
dort in Reichswehruniform den Mendelsohn-Acosta.“

Staatsanwalt:

„Dieser Acosta ist der Teilnahme an der Mordtat dringend verdächtig; ich
fordere die Kriminalpolizei auf, nach ihm zu suchen und ihn sofort zu
_verhaften_.“

Zur Verlesung gebracht wird ein anonymes Schreiben, das durch
Vermittlung des Kriminalwachtmeisters Helmka der Polizei zuging. Die
Verteidiger hatten vergeblich gegen die Verlesung protestiert. In dem
Schreiben wird Fichtmann schwer belastet.

Kriminalwachtmeister Helmka macht Mitteilung von einer Reihe
Aufklärungen, die von anderer Seite herstammen.

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Kann der Zeuge über seine Quellen nähere Angaben machen?“

Kr.-W. Helmka:

„Es waren Agenten der Garde-Kavallerie-Schützendivision.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Wissen Sie die Namen derselben?“

Kr.-W. Helmka:

„Nein; nur die Nummern.“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Wieviel Spitzel hatte denn die Garde-Kavallerie-Schützendivision?“

Der Vorsitzende will diese Frage beanstanden, aber Kriminalwachtmeister
Helmka antwortet:

„_Einhundertundzehn._“

R.-A. Dr. Rosenfeld:

„Das genügt mir.“

Einen weiteren Brief an den Untersuchungsrichter hat der Schneider Max
Eulenburger aus dem Gefängnis geschrieben. In diesem Brief werden der
Angeklagte Hoppe und der Zeuge Kronwetter als Täter bezeichnet; als
Quelle wird der Hilfsarbeiter Peter Schmidt aus München genannt.

Dieser Schmidt bestreitet ganz entschieden, dem Eulenburger irgendwelche
Angaben gemacht zu haben und erklärt auf Befragen, den Hoppe gar nicht
zu kennen (4. Verhandlungstag).

Der Zeuge Kronwetter war auf die Angaben des Eulenburger hin verhaftet,
aber bald wieder entlassen worden; auch er erklärt die Mitteilungen des
Briefes für erlogen.

Der als Zeuge vorgeladene Max Eulenburger erklärt (5. Verhandlungstag),
daß all seine Aussagen völlig erfunden seien; er habe nur den Wunsch
gehabt, frei zu werden und gehofft, durch seine Aussagen die Freiheit zu
erlangen. Der Untersuchungsrichter habe ihm gedroht, ihn selbst in die
Blauangelegenheit mit hereinzunehmen und da habe er eben Aussagen
erdichtet.

Landgerichtsrat Marquardt (7. Verhandlungstag):

„Eulenburger hat sich seinerzeit selbst gemeldet, er sei bereit und
fähig, die Angelegenheit Blau in einigen Tagen zu klären; ebenso
versprach er, die Aufhebung der Reichszentrale der Kommunistischen
Partei Deutschlands zu ermöglichen. Ich habe seine Erklärungen
entgegengenommen und auch verfolgt. Aber ich hatte schon damals den
Eindruck, daß Eulenburger nicht bei der Wahrheit bleiben kann.“

Staatsanwalt zu Eulenburger:

„Haben Sie vielleicht Angst, linksradikalen Verfolgungen ausgesetzt zu
sein, wenn Sie bei Ihren in der Voruntersuchung gemachten Angaben
bleiben?“

Zeuge Eulenburger:

„Nein – meine damaligen Aussagen sind Erfindungen, die mir die
Nervosität der Gefangenschaft eingegeben hat.“

Vorsitzender:

„Aber Sie haben damals Ihre Aussagen beschworen; wenn Sie heute
erklären, daß alles erlogen war, geben Sie ja zu, einen Meineid
geleistet zu haben.“

Zeuge Eulenburger:

„_Ja, ich habe einen Meineid geleistet._“

Nach längerer Beratung beschließt das Gericht, die Zeugen Schmidt,
Kronwetter und Eulenburger zu vereidigen. Eulenburger weigert sich, den
Eid zu leisten, weil er glaubt, sich damit ein Verfahren wegen Meineids
zuzuziehen. Er bleibt aber dabei, jetzt vor Gericht die Wahrheit gesagt
zu haben. Auf Antrag des Staatsanwalts wird er wegen Eidesverweigerung
in die gesetzlich zulässige Höchststrafe genommen.

Der Vorsitzende läßt den Prozeßbeteiligten die Photographien der Spitzel
Schreiber und Toifl vorlegen (3. Verhandlungstag).

Der Angeklagte Hoppe glaubt in Toifl mit Sicherheit den Mann zu
erkennen, der ihm in der Winklerschen Wohnung die Flasche mit Morphium
und den Strick anbot; das Gesicht des Schreiber ähnle dem des einen
Feldgrauen, der bis zuletzt in der Winklerschen Wohnung war.

Der Angeklagte Fichtmann gibt folgende Erklärung ab:

„Am 3. oder 4. August 1919, also einige Tage nach dem Mord und vor
Auffindung der Leiche, kam ich auf die Redaktion des „Hammer der
Gleichheit“; dessen Herausgeber war der Genosse Heinrich. Dort lernte
ich einen Mann kennen, der sich Schweizer nannte. Heinrich wollte eben
einen Artikel gegen den Terror schreiben und wir sprachen darüber; der
Schweizer widersprach dieser Tendenz und erzählte dabei, erst vor
einigen Tagen habe er einen Spitzel namens Blau entlarvt. Auf die Frage,
was er denn mit Blau gemacht habe, erklärte er wörtlich: Blau ist
erledigt. – Ich erkenne in der Photographie des Schreiber diesen Mann.“

Der Staatsanwalt beantragt hierauf, den Heinrich als Zeugen zu laden. Am
nächsten Tage wird festgestellt, daß Heinrich sich zur Zeit in Moskau
aufhält.

Zu Beginn des 6. Verhandlungstages teilt R.-A. Dr. S. Weinberg mit, daß
die Angeklagten Hoppe und Fichtmann plötzlich in andere Zellen verlegt
wurden und fragt, was es damit für Bewandtnis habe. Der Vorsitzende
erklärt, daß vom Gericht aus keine Veranlassung oder Anordnung in dieser
Richtung erteilt worden sei.

In den Verhandlungen über den Hergang der Tat selbst steht in erster
Linie die Vernehmung des Lederarbeiters Max Leuschner (5.
Verhandlungstag):

„Ende Mai 1919 erschien in einer von mir geleiteten Versammlung Blau und
erklärte, daß ein gewisser Bomin Regierungsspitzel sei. Tatsächlich
wurde Bomin nachher entlarvt. Blau hetzte in außerordentlicher Weise
gegen Bomin, so daß ich all meinen Einfluß aufbieten mußte, um
Unbedachtsamkeiten zu verhüten; denn die Arbeiterschaft war gerade in
diesen Wochen sehr erregt.

„Nachträglich erschien mir das Benehmen des Blau verdächtig und ich
beschloß, Erkundigungen über ihn einzuziehen. Da kam zu mir der
ebenfalls später als Spitzel entlarvte Strolz; dieser gehörte einer
Untergruppe meines Bezirks an und war von dieser sogar zum
_Gruppenführer_ gewählt worden; ich hatte ihn aber nicht bestätigt, weil
ich ihn kaum kannte. Dieser erzählte mir, daß nicht nur Bomin ein
Spitzel sei, sondern der Blau selbst sei ein noch viel gefährlicherer
Spitzel.“

Vorsitzender:

„Also hätte ein Spitzel den anderen verraten?“

Zeuge Leuschner:

„Das ist bei diesen Leuten gang und gäbe; sie bekämpfen sich in der
rücksichtslosesten Weise.“

Auch die Kriminalbeamten bestätigen diese Tatsache (3., 4.
Verhandlungstag).

R.-A. Dr. S. Weinberg zu Dr. Riemann:

„Wenn in so erregten Zeiten ein Spitzel den anderen an die Kommunisten
verrät, ist das nicht geradezu eine _Aufforderung zum Mord_?“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„_Darauf kann ich keine Antwort geben._ –“

Zeuge Leuschner:

„Ich fragte den Strolz, woher er das wisse. Darauf erzählte er mir, er
habe als Student der Chemie Beziehungen zu militärischen Kreisen und
höre so durch Kollegen und Bekannte auch mancherlei. Diese Erklärung
schien mir nicht zufriedenstellend und ich beschloß, mir auch den Strolz
näher anzusehen. Als mir auffiel, daß er sich bei mehreren Anlässen nach
der Zentrale der Kommunistischen Partei erkundigte, stellte ich ihm eine
Falle; ich erzählte ihm einmal nebenbei, daß ich am anderen Morgen in
die Zentrale müsse, und wirklich war ich an diesem Tag von meiner
Wohnung ab durch drei Spitzel verfolgt. Da wußte ich, daß auch Strolz
ein Spitzel ist.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Unternahmen Sie etwas gegen Strolz?“

Zeuge Leuschner:

„Nein. Ich warnte einige zuverlässige Leute und ließ ihn ruhig neben uns
herlaufen. Er kam auch immer wieder zu mir und erzählte dabei oft von
Blau. So sagte er besonders, daß Blau im Ruhrgebiet furchtbar unter
unseren Leuten gewütet hatte.

„Eines Tages wurden für mich von unbekannter Seite _zwei Briefe_
abgegeben, die Material gegen Blau enthielten: Schriftstücke an
rechtsradikale Stellen. Ich zeigte die Sachen dem Strolz, der sehr
überrascht war.“

Vorsitzender:

„Hatten Sie den Eindruck, daß Strolz Ihnen die Blätter zustellen ließ?“

Zeuge Leuschner:

„Nein. Ich hatte eher den Eindruck, daß Strolz ehrlich überrascht war.
Wir sprachen natürlich über die Herkunft der Dokumente, an deren
Echtheit nicht zu zweifeln war. Sie mußten von einer militärischen
Nachrichtenstelle kommen. Der Ansicht war auch Strolz. Ich selbst muß
mich heute fragen: wie kamen die Leute gerade auf meine Adresse – wenn
sie nicht wußten, daß ich so schon über Blau orientiert war. Ich nehme
also an, daß die betreffende Stelle die Absicht hatte, den Blau, der ihr
selbst lästig war, zu verraten und durch die Kommunisten das Weitere
besorgen zu lassen. Ich nehme das auch deswegen an, weil ich glaube, daß
Strolz auf speziellen Auftrag hin mir den Blau denunziert hat. Denn so,
wie ich ihn kenne, traue ich ihm doch nicht zu, aus eigenem Antrieb eine
solche Intrige zu inszenieren.

„Ich tat in dieser Angelegenheit nichts. Aber, als in der Versammlung in
der Mittenwalder Straße am 31. Juli, die eine geschlossene Versammlung
war, gegen 9 Uhr Blau auftauchte, konnte ich mich nicht halten und sagte
ihm auf den Kopf zu, daß er ein Spitzel sei. Blau bestritt das energisch
und verlangte, dem Strolz gegenübergestellt zu werden, der ihn
bestätigen könne. Er verlangte das immerzu, aber – da doch gerade Strolz
ihn verraten hatte, lag mir an dieser Gegenüberstellung nicht viel und
ich betrieb sie nur, um durch Verzögerung die allgemeine Erregung zu
mildern. Übrigens besaß Blau eine Einlaßmarke in die geschlossene
Versammlung; wo er die herhatte, habe ich nie erfahren, ... vermutlich
von Strolz, den er ja kannte und der zu meiner Sektion gehörte.“

Vorsitzender:

„Wußten Sie, warum Blau den Strolz verlangte?“

Zeuge Leuschner:

„Damals war mir das unklar. Aber später hörte ich, daß Strolz in der
Zwischenzeit bei Blau in München gewesen war, dort gesagt hatte, er käme
von mir, und in meinem Namen Material über die Rechtsleute von Blau
gekauft hatte. Das Geld dazu hatte er übrigens nicht von der
kommunistischen Partei. – Blau, der nicht wußte, daß Strolz selbst ein
Spitzel war und sein Doppelspiel entlarvt hatte, wollte den Strolz zur
Bestätigung, daß er unter der Maske eines Spitzels für die Kommunisten
arbeite.

„Unten auf der Straße trat ein unbekannter Mann zu mir und sagte, wir
sollten den Blau festhalten, bis er einen Münchner Genossen gebracht
habe, der bestätigen könne: Blau habe den Auftrag, in der Schweiz den
Genossen _Platten für 80000 M. zu ermorden_.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Tatsächlich finden sich in den Briefen des Blau Entwürfe und Kopien
einer Korrespondenz mit schweizerischen Offizieren.“

Zeuge Leuschner:

„Um die Leute nicht noch mehr zu erregen, sagte ich dem Mann, er solle
nur ruhig sein. Der Mann fuhr dann mit Hoppe fort, angeblich, um den
Strolz zu holen. In der Zwischenzeit gelang es mir, die Leute zu
besänftigen und die meisten gingen nach Hause. Als Hoppe dann erfolglos
zurückkam, hielt ich die Angelegenheit eben für erledigt und ging auch
schlafen – denn solche Entlarvungen passierten damals nicht allzu
selten, und, wenn im ersten Moment Unbedachtes vermieden wurde, war die
Gefahr vorüber.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Das Zwischenspiel mit dem Münchner ist mir neu.“

Zeuge Leuschner:

„Ja; ich habe der Versammlung nichts darüber gesagt, sondern die Meinung
aufrechterhalten, daß es sich um Strolz handele. Als dann der Münchner
nicht kam, hatte ich erst recht keinen Anlaß, zu reden.

„Ich habe dann von Blau erst wieder gehört, als die Nachricht seines
Todes in der Zeitung stand. An diesem Tage, während ich aus war, _kam
Strolz_ zu meiner Frau und sagte ihr, _wir müßten verschwinden_. Er gab
meiner Frau einen Fahrtausweis für sechs Personen. Ich konnte mir dieses
Vorgehen nicht recht erklären; kam dann zu dem Resultat, daß nicht
Strolz auf eigene Faust, sondern irgendwelche Behörden die Hand im
Spiele hatten – und glaubte, daß es auf mich abgesehen war. Da zog ich
es vor, zu fliehen.“

Vorsitzender:

„Von einem Todesurteil der Versammlung gegen Blau ist Ihnen nichts
bekannt?“

Zeuge Leuschner:

„Nein. Derartige Geschichten sind Erfindung.“

Vorsitzender:

„Kennen Sie einen gewissen Samson?“

Zeuge Leuschner:

„In der ersten Nacht, in der ich in Haft war, wurde ich plötzlich in
eine andere Zelle gebracht. In dieser befand sich Samson. Ich hatte
sofort heraus, daß er ein Spitzel war, und ließ mich nicht mit ihm ein.
Auch sein Angebot, mir Nachrichten nach außerhalb zu befördern, lehnte
ich ab. Die Aussagen, die Samson am nächsten Tage dem Kriminalkommissar
machte, sind erlogen.“

Der nächste Zeuge Thiessen war Referent in der Mittenwalder Straße. Er
hat von Leuschner einige dem Blau abgenommene Papiere erhalten und
später vernichtet. Auch dieser Zeuge wurde durch den Spitzel Samson der
Mittäterschaft bezichtigt und schwer belastet. Der Zeuge kennt den
Samson daher, daß er ihm als bedürftiger Kommunist vorgestellt wurde; er
hat ihn auch mit Geld unterstützt und verpflegt. Seine Aussagen ergeben
nichts Neues. Samson selbst war nicht erschienen.

Der Zeuge Dahms wurde ebenfalls von Samson der Mittäterschaft
bezichtigt. Er wurde daraufhin aus Dänemark, wo er sich damals aufhielt,
herbeigeschafft. Er erklärte, von der ganzen Sache gar nichts zu wissen
und völlig unschuldig und unberechtigt hineingezogen zu sein. Seine
Angelegenheit gibt Anlaß zu Auseinandersetzungen zwischen Verteidigung
und Staatsanwaltschaft derart, daß der Vorwurf erhoben wurde, die
Untersuchungsbehörde könne wohl unschuldige Kommunisten aus Dänemark
herbeischaffen, aber es gelänge ihr nicht, die der Mittäterschaft
dringend verdächtigen Polizeispitzel Toifl, Strolz und Schreiber aus
Deutschland resp. der Schweiz vor Gericht zu bringen (3. und 6.
Verhandlungstag).

Die Vereidigung des Leuschner wird wegen Verdachtes der Mittäterschaft
vom Gericht abgelehnt.

Bei dem Zeugen Georg Pohl haben Hoppe und Blau die Nacht vor dem Mord
verbracht. Der Zeuge hat in der Voruntersuchung sehr belastende Aussagen
über Hoppe und Winkler gemacht. Bei seiner Vernehmung (4.
Verhandlungstag) berichtet er nochmals die Vorgänge in der Versammlung
und auf der Straße. Blau habe erklärt, er werde sich rechtfertigen – und
er werde nicht eher von den Genossen weggehen, bis er sich
gerechtfertigt habe. Da Blau kein Quartier hatte, habe er seine Wohnung
zur Verfügung gestellt.

Vorsitzender:

„Blau wurde also nicht gefangen gehalten?“

Zeuge Gg. Pohl:

„Nein. Er wollte uns nicht verlassen, ehe alles klargestellt sei.“

Der Zeuge erzählt weiter die bekannten Vorgänge: wie er am nächsten Tage
Blau und Hoppe bis zur Winklerschen Wohnung in der Großbeerenstraße
begleitet habe; dann nach Hause gegangen sei; dann am späteren Abend
wieder zurückgekommen sei, um zu erfahren, was aus der Sache geworden
sei. Auf der Straße habe er Schröder getroffen, bei dem er plaudernd
stehengeblieben sei; nach einer Weile sei ein Mann gekommen, der sie
aufforderte, zu helfen. Da sei Schröder weggegangen und er habe gesehen,
wie eine Gruppe von Leuten an die Brücke kam und ein Paket ins Wasser
warf. Erst später habe er die Erklärung dieser Vorgänge erfahren.

Vorsitzender:

„In der Voruntersuchung haben Sie Fichtmann als einen der Männer
bezeichnet, die aus dem Hause traten.“

Zeuge Pohl, nach Gegenüberstellung mit Fichtmann:

„Ich kann diese Aussage nicht aufrechterhalten, denn es war dunkel und
ich stand auf der anderen Seite der Straße.“

Es folgt ein mehrstündiges Kreuzverhör, in dem die Protokolle der
Voruntersuchung einzeln durchgegangen werden. Der Zeuge Pohl kann sich
an manches nicht mehr erinnern, andere Angaben zieht er zurück, andere
bezeichnet er als unwahr.

Staatsanwalt:

„Sind Sie von kommunistischer Seite beeinflußt oder bedroht worden?“

Zeuge Pohl:

„Nein.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Fühlten Sie sich in der Voruntersuchung zu Ihren Aussagen gepreßt oder
gedrängt?“

Zeuge Pohl:

„Vielleicht durch die Aussicht freizukommen ... Aber die Hauptsache ist,
ich war völlig zusammengebrochen und wußte nicht mehr, was ich sagte.
Ich dachte nur daran freizukommen und sagte zu allem ‚Ja, ja‘!“

Kriminalkommissar Maslack bestätigt (5. Verhandlungstag), daß Pohl in
völlig zusammengebrochenem Zustand ein Geständnis ablegte, in dem Hoppe
und Fichtmann als Täter bezeichnet wurden. Er habe den Eindruck, daß
Pohl damals die Wahrheit gesagt habe.

Landgerichtsrat Marquardt, der die Voruntersuchung leitete, berichtet
nach dem Gedächtnis die damalige Aussage des Pohl über den Hergang der
Tat und betont, daß auch er den Eindruck der Wahrheit hatte.

Zeuge Pohl:

„Ich kann diese Aussagen nicht aufrechterhalten, ich war damals völlig
von Sinnen und nicht mehr Herr meiner Worte. Ich habe ausgesagt und
ausgesagt und nur das eine gedacht: Freikommen!“

Der Zeuge betont dann, daß er bereits am 10. Dezember 1919 einen Brief
an Kriminalkommissar Maslack schrieb und darin seine Aussagen widerrief.

Es erheben sich über diesen Zeugen noch erregte Debatten. Das Gericht
beschließt, die Vereidigung des Pohl noch aufzuschieben.

Auf die Vernehmung des Zeugen Geißler, der mit Blau und Hoppe bei Pohl
übernachtet hat, sich aber auf nichts mehr besinnen kann, wird allseitig
verzichtet (6. Verhandlungstag).

                   *       *       *       *       *

Von neuem wendet sich das Interesse dem Spitzel Toifl zu; und damit der
Orlowsky-Affäre, wegen der Fichtmann verurteilt ist.

R.-A. Dr. S. Weinberg zu Dr. Riemann (3. Verhandlungstag):

„Ist Ihnen bekannt, daß Oberleutnant Graf Westarp aus der Bendlerstraße
dem Spitzel Toifl den Auftrag gab, Fichtmann zu vernichten?“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„Nein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Ist Ihnen bekannt, daß der Spitzel Toifl das dem Diamantenhändler
Orlowsky geraubte Geld mit Genehmigung seiner Dienststelle für sich
behalten hat?“

Kr.-K. Dr. Riemann:

„Nein.“

Am 6. Verhandlungstag erscheint der auf Antrag der Verteidigung geladene
Friseur Meyer, um über Toifl auszusagen: Meyer war mit Toifl sehr
befreundet und Toifl hatte ihm auch von dem Plan gegen Orlowsky erzählt;
er hatte ihn dringend aufgefordert, selbst mitzumachen. Er, Meyer, habe
aber abgelehnt und auch versucht, den Toifl von solchen Plänen
abzubringen, die doch der Partei gar nichts nützen könnten.

Vorsitzender:

„Wurde nicht davon gesprochen, daß die _Terrorkasse zu Propagandazwecken
aufgefüllt_ werden müsse.“

Zeuge Meyer:

„Mag sein, aber ich lehne auch den Terror ab und stritt darüber mit
Toifl, dem ich damals als Freund vertraute.“

Der Bruder des Angeklagten Fichtmann:

„Toifl hat den Überfall auf Orlowsky dann selbst gemacht.“

Vorsitzender:

„Woher wissen Sie das so genau?“

Zeuge Fichtmann:

„Weil gar nicht mein Bruder an dem Überfall teilgenommen hat, _sondern
ich selbst_!“ –

Allgemeines Erstaunen, Debatten.

Zeuge Meyer:

„Toifl sprach dann noch von einer anderen großen Sache, die er vorhatte:
wenn die glücke, dann sei ein großer Spitzel erledigt. Das machte mich
zuerst mißtrauisch gegen ihn, denn so spricht kein Kommunist.“

Vorsitzender:

„Wieso?“

Zeuge Meyer:

„Von ‚große Sache‘ und ‚wenn es glückt‘: das sind die Redensarten der
Lockspitzel; man kennt das.“

Vorsitzender:

„Hat Toifl öfter zu Gewalttaten aufgefordert?“

Zeuge Meyer:

„Stets.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Hat Toifl auch gesagt, daß die K. P. D. zu schlapp sei?“

Zeuge Meyer:

„Ja, er drängte auf terroristische Akte.“

–: Da teilt der Staatsanwalt mit, daß an ihn ein Schreiben des Toifl
gekommen sei: dieser wolle sich als Zeuge zur Verfügung stellen, falls
ihm genügender polizeilicher Schutz zugebilligt werde.


                       Der Lockspitzel als Zeuge.

(Um Längen zu vermeiden, ist der größte Teil des schon Erwähnten nicht
nochmals gebracht. Ferner wurde wegen der Eigenart des Inhalts der
größte Teil des Dialogs im Wortlaut der Zeitungsberichte, besonders der
unabhängig-sozialdemokratischen Freiheit übernommen, Nr. 256 und 258;
2., 3. Juli 1920.)

Am sechsten Verhandlungstage erscheint unter starker polizeilicher
Bewachung der Spitzel Toifl. Der Vorsitzende macht darauf aufmerksam,
daß er bei der ersten Belästigung des Zeugen sowie bei Mißfallens- oder
Beifallsäußerungen sofort den Zuhörerraum räumen lassen würde.

Toifl gibt seine Personalien an.

Vorsitzender:

„Sind Sie Polizeiagent?“

Toifl:

„Nein.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Welchen Beruf üben Sie jetzt aus?“

Toifl:

„Ich bin Bureauangestellter.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Wo wohnen Sie?“

Toifl:

„Darüber verweigere ich die Auskunft.“

Vorsitzender:

„Kennen Sie die Angeklagten?“

Toifl:

„Nur Fichtmann.“

Der Zeuge schildert dann seinen Werdegang: nach dem Kriege habe er mit
kommunistischen Kreisen Fühlung bekommen und dadurch auch die Familie
Fichtmann kennen gelernt. Später sei er dann beim Gruppenkommando I
(Lüttwitz) in die Reichswehr eingetreten. Aber er habe es auch mit den
Fichtmanns ehrlich gemeint.

Vorsitzender:

„Warum sind Sie in die Reichswehr eingetreten?“

Toifl:

„Um die Verhältnisse in der Reichswehr für die kommunistische Partei
auszukundschaften.“

Vorsitzender:

„Waren Sie überzeugter Kommunist?“

Toifl:

„Nein.“

Vorsitzender:

„Warum wollten Sie dann für die Kommunisten kundschaften?“

Toifl:

„Vater Fichtmann hatte mir angeraten, zur Reichswehr zu gehen; und ich
hatte ja mein Auskommen dort.“

Der Zeuge schildert dann weiter, wie er bei der Reichswehr zum
Unteroffizier befördert wurde, gleichzeitig auch seinen
freundschaftlichen Verkehr mit Fichtmanns fortsetzte. Mit diesen habe er
oft über die Kommunisten gesprochen und dabei auch von der Gründung
einer Kampfgruppe und einer T-(Terroristen)gruppe gehört.

Vorsitzender:

„In der Nacht zum 31. Juli 1919 wurde der Überfall auf Orlowsky
ausgeführt. Auf Ihr Zeugnis hin wurde deswegen der Angeklagte Max
Fichtmann zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Nun behauptet der Bruder
des Angeklagten, Hugo Fichtmann, daß gar nicht Max, sondern er selbst an
dem Überfall teilgenommen hat?“

Toifl:

„Das ist gelogen!“

Zeuge Hugo Fichtmann:

„Ich wiederhole, daß Toifl der Anführer bei dem Raubüberfall auf
Orlowsky war. Nicht mein Bruder, sondern ich war bei dem Unternehmen
zugegen. Toifl war es, der den Orlowsky verhaftete, Toifl schlug ihm in
der Nähe von Friedrichshagen den Gewehrkolben über den Kopf und Toifl
feuerte den Schuß hinter ihm her.“

Toifl:

„Das ist alles gelogen. Die Sache verhielt sich so, wie ich sie als
Zeuge vor dem Kriegsgericht darstellte.“

Zeuge Friseur Meyer:

„Ottomar Toifl, Du bringst hier nur Lügen vor. Du kannst nicht
ableugnen, daß Du zu mir und meiner Frau von dem Überfall auf Orlowsky
als Deinem Plan gesprochen hast. Du hast auch mich aufgefordert, daran
teilzunehmen. Du hast dann auch von dem geplanten Mord an einem großen
Spitzel gesprochen!“

Toifl:

„_Das ist alles nicht wahr!_“

Der Vater des Fichtmann bekundet, daß Toifl dauernd zu terroristischen
Akten hetzte.

Vorsitzender:

„Wir wollen zum Fall Blau kommen.“

Toifl:

„Am Sonnabend, dem 2. August, kam ich in das Lokal von Fichtmann. Max
Fichtmann war abwesend und ich erfuhr auf meine Frage, daß er von einem
Kurier der T-Gruppe abgeholt worden sei.“

Der Vorsitzende lehnt einige Unterbrechungsversuche ab und bittet, sich
zu gedulden und den Zeugen referieren zu lassen.

Vorsitzender:

„Wo tagte die T-Gruppe?“

Toifl:

„Das weiß ich nicht. – Ich blieb am 2. August bis gegen 2 Uhr nachts im
Lokal von Fichtmann, ohne daß Max Fichtmann zurückkam. Am Sonntag hatte
ich anderweitig zu tun, erst am Montag kam ich wieder zu Fichtmann.
Abends sah ich Max Fichtmann und es fiel mir auf, daß er blaß und sehr
unruhig war. Nun hatte mir bereits nachmittags ein gewisser Herms die B.
Z. gezeigt, worin der Bericht über den Mord an Blau ...“

Vorsitzender und Staatsanwalt gleichzeitig:

„Sollte es am 4. August ...“

R.-A. Th. Liebknecht, unterbrechend:

„Ich bitte doch dringend, den Zeugen sprechen zu lassen!“

Toifl wird jetzt stutzig (die Leiche wurde erst am 7. August gefunden!),
überlegt einige Sekunden und sagt dann:

„Ich irre mich wohl in diesem Punkte, denn die Nachricht stand, glaube
ich, erst am Donnerstag in der B. Z. ..., aber ich habe noch am
Montagabend im Lokal von Obst durch einen gewissen Fascheck nähere
Mitteilung über den Mord erhalten. Ich habe darüber einen Bericht
geschrieben und an die Kriminalpolizei gelangen lassen.“

Vorsitzender:

„An wen haben Sie die Anzeige gemacht?“

Toifl:

„Darüber _verweigere ich die Aussage_.“

Vorsitzender:

„Sie sind verpflichtet, diese Aussage zu machen.“

Toifl:

„Ich habe den Bericht durch einen Mittelsmann an Kriminalwachtmeister
Helmka überbringen lassen.“

Vorsitzender:

„Bei der Garde-Kavallerie-Schützendivision?“

Toifl:

„Ich glaube. Durch Helmka kam das Schreiben an Kriminalkommissar Dr.
Riemann, der mich später auch vernommen hat.“

Vorsitzender:

„Haben Sie sonst noch Angaben über den Fall Blau?“

Toifl:

„Nein.“

Vorsitzender:

„Sie haben hier einiges erzählt, was Sie in der Voruntersuchung
verschwiegen haben; warum taten Sie das?“

Toifl:

„Ich hatte von meiner vorgesetzten Stelle nur den Auftrag, auf den Mord
hinzuweisen, nicht aber den, ihn aufzuklären. Infolgedessen habe ich
damals auch nur einen Hinweis gegeben.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Wer war Ihre vorgesetzte Stelle?“

Toifl:

„Darauf _verweigere ich die Antwort_.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Wir werden davon noch sprechen. Warum wollte Ihre vorgesetzte Stelle
nur Hinweise?“

Toifl:

„Das weiß ich nicht.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Sie hatten also bestimmten Auftrag, nur mitzuteilen, daß Blau von
Kommunisten ermordet wurde?“

Toifl:

„Ja.“

Kriminalkommissar Dr. Riemann gibt Auskunft über die Vernehmung des
Toifl und vermutet, daß dieser aus Angst seine genauere Kenntnis
verschwiegen habe.

Toifl:

„Das stimmt. Wenn ich mehr ausgesagt hätte, hätte ich befürchten müssen,
mein Leben zu gefährden.“

R.-A. Th. Liebknecht:

„Diese Befürchtung ist doch hinfällig, da Sie Ihre Angaben anonym
gemacht haben.“

Toifl:

„Man hätte trotzdem die Quelle erraten können.“

Vorsitzender:

„Angeklagter Fichtmann, was sagen Sie zu den Bekundungen des Toifl?“

Angeklagter Max Fichtmann:

„Ich erkläre, daß alles, was er gesagt hat, blanker Schwindel ist.
Ferner, daß Toifl am Sonnabend, dem 2. August, überhaupt nicht in meinem
Lokal gewesen ist.“

R.-A. Dr. S. Weinberg zu Toifl:

„Haben Sie vom Oberleutnant Grafen Westarp den Auftrag erhalten,
bestimmte unbequeme Leute zu beseitigen?“

Toifl:

„Nein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie diesen oder einen inhaltähnlichen Auftrag des Grafen Westarp
vielleicht durch Vermittlung des Kaufmanns Grabant bekommen?“

Toifl:

„Darüber _verweigere ich die Aussage_.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie irgendwelche Aufträge von einem Hauptmann von Ledebur
bekommen?“

Toifl:

„Nein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Sie können das beeiden?“

Toifl _schweigt_.

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Ich werde Zeugen für die in Frage gestellten Tatsachen erbringen. –
Haben Sie ferner Formeln zu kommunistisch-terroristischen Eiden mit der
Schreibmaschine geschrieben und in 15-20 Exemplaren an Kommunisten
verteilt?“

Toifl:

„Nein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie hierbei auch in keiner Weise mitgewirkt?“

Toifl:

„Wenn ich es habe, dann auf Befehl von Fascheck.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Dieser Ihr Auftraggeber Fascheck ist wohl derselbe, der Ihnen
Mitteilungen über den Fall Blau machte?“

Toifl:

„Ja.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Und der ist heute wohl nicht aufzufinden?“

Toifl:

„Das weiß ich nicht.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Sie haben doch selbst auf solche Eidesformeln schwören lassen?“

Toifl:

„Nein.“

Vorsitzender:

„Diese Frage hat aber doch mit der Ermordung des Blau so gut wie nichts
zu tun!“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Ich stelle diese Fragen, um zu beweisen, daß die auch in der
Anklageschrift genannten T-Gruppen und Mörderzentralen nichts weiter
sind als Ausgeburten einer Spitzelphantasie. – Also, Zeuge, besinnen Sie
sich noch einmal!“

Toifl:

„Ich gebe zu, daß ich gelegentlich die Ablegung eines solchen Eides
gefordert habe.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie versucht, den aufgelösten roten Soldatenbund neu zu gründen?“

Toifl:

„Nein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Aber vielleicht haben Sie dabei mitgewirkt?“

Toifl:

„Das ist möglich.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Es ist seltsam, daß der Zeuge sich immer erst besinnen muß, ehe er sich
erinnert; dazu braucht es eine zweite Frage. Ich glaube, wenn sich der
Zeuge länger besinnen könnte, er möchte uns noch viel mehr erzählen! –
Haben Sie jemals zu Gewaltakten, Mordtaten, Plünderungen aufgefordert?“

Toifl:

„Nein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie dazu aufgefordert, die Polizeiagentin Schröder-Mahnke zu
ermorden?“

Staatsanwalt:

„Ich mache darauf aufmerksam, daß der Zeuge auf diese Frage die Antwort
verweigern kann.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Statt daß der Herr Staatsanwalt beiträgt, derartige Kapitalverbrechen
aufzuklären, verhindert er die Beantwortung darauf hingehender Fragen.“

Staatsanwalt:

„Es ist meine Pflicht, den Zeugen in Schutz zu nehmen, wenn er von der
Verteidigung terrorisiert wird.“

Der Vorsitzende greift ein und bittet, die Leitung der Verhandlung ihm
zu überlassen; er habe allerdings nicht feststellen können, daß der
Zeuge terrorisiert werde. R.-A. Dr. S. Weinberg wiederholt seine Frage.

Toifl _verweigert die Aussage_.

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie innerhalb der kommunistischen Partei versucht oder
aufgefordert, eine sogenannte militär-polizeiliche Abteilung zu
gründen?“

Toifl gibt dies nach einigen Umschweifen zu.

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie dazu aufgefordert: Druckereien zu überfallen und mit
vorgehaltenen Waffen den Druck von Flugblättern zu erzwingen, deren Text
Sie mitbrachten?“

Toifl:

„Ich habe einen solchen Befehl nicht erteilt; aber es ist möglich, daß
ich ihn weitergegeben habe.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie einen solchen Auftrag von Ihren Vorgesetzten, etwa von
Hauptmann von Ledebur oder dem Oberleutnant Graf Westarp erhalten?“

Toifl _verweigert die Aussage_.

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie eine Liste aufgestellt mit Namen von Spitzeln, die ermordet
werden sollten?“

Toifl:

„Nein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie mit anderen Raubzüge unternommen und dazu Uniformen,
Stahlhelme und Waffen der Reichswehr geliefert?“

Toifl:

„Darüber _verweigere ich die Aussage_.“

Vorsitzender, gleichzeitig:

„Fragen, die sich auf den Fall Orlowsky beziehen, bitte ich zu
unterlassen, da dieser Fall hier nicht zur Verhandlung steht und
erledigt ist.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Jawohl, der Fall ist erledigt! Fichtmann ist verurteilt, aber der
Anführer Toifl steht hier und ist frei!“

Vorsitzender:

„Zeuge, beantworten Sie also die Frage; Sie haben ein Recht zur
Verweigerung nur, wenn Sie sich durch Ihre Antwort einer strafbaren
Handlung beschuldigten.“

Toifl:

„_Ich verweigere die Antwort_ auf diese und alle weiteren Fragen, die
sich auf den Fall Orlowsky beziehen.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Haben Sie für die Ausführung oder Übermittlung der Ihnen durch Westarp
und von Ledebur erteilten Aufträge Geld erhalten?“

Toifl _verweigert die Aussage_.

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Hat Ihnen Ihre vorgesetzte Behörde gestattet, in Ausführung der
Aufträge geraubtes Geld zu behalten?“

Toifl _verweigert die Aussage_.

Vorsitzender:

„Fürchten Sie, durch Beantwortung sich einer strafbaren Handlung zu
bezichtigen?“

Toifl:

„Jawohl.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Das genügt mir. – Haben Sie im August vergangenen Jahres unter dem
Vorwand, bolschewistisches Propagandamaterial zu beschlagnahmen, 4000 M.
geraubt und dafür eine Quittung ausgestellt?“

Toifl:

„Nein.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Sie können das beeiden?“

Toifl:

„Wenn ich es getan hätte, hätte ich meine vorgesetzte Behörde davon in
Kenntnis gesetzt.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Ich könnte den Beweis dafür antreten; aber, um die Verhandlung nicht in
die Länge zu ziehen, würde ich mich begnügen, wenn Sie die Aussage
verweigern, weil Sie befürchten, sich einer strafbaren Handlung zu
bezichtigen.“

Toifl:

„_Ich verweigere die Aussage._“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Das genügt mir.“

R.-A. Th. Liebknecht zu Toifl:

„In welchem Bureau sind Sie tätig?“

Toifl _verweigert die Aussage_.

R.-A. Th. Liebknecht führt aus, die Verteidigung müsse auf der Frage
bestehen, da diese Stelle wahrscheinlich auch mit dem Mord an Blau in
Verbindung zu bringen sei. Toifl erwidert, er könne aus Sorge um seine
Sicherheit und Angst vor den Kommunisten seine Arbeitsstätte nicht
nennen; ein Gerichtsbeschluß gibt ihm recht.

R.-A. Th. Liebknecht:

„Haben Sie für irgendeine Stelle oder Person eine provokatorische
Tätigkeit in der kommunistischen Partei ausgeübt?“

Toifl fragt an, ob er verpflichtet sei, diese Frage zu beantworten. Nach
Belehrung durch den Vorsitzenden _verweigert er die Aussage_.

R.-A. Th. Liebknecht:

„Würden Sie sich im Falle der Antwort einer strafbaren Handlung
bezichtigen?“

Toifl:

„Ich glaube.“

                   *       *       *       *       *

Es folgen noch einige Zeugen zum Verhör des Toifl.

Die Frau des Toifl gibt an, Mutter Fichtmann habe anläßlich der
Verhaftung ihres Sohnes geäußert: sie würde sich aufhängen, wenn ihr
Sohn wegen Blau verhaftet sei. Frau Fichtmann bestreitet diese Aussage.

R.-A. Dr. S. Weinberg fragt Frau Toifl, was sie über den Fall Orlowsky
wisse. Frau Toifl _verweigert die Aussage_.

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„War Ihr Mann bei der antibolschewistischen Liga beschäftigt?“

Vorsitzender:

„Diese Frage ist unerheblich.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Nein, denn Blau war bei der antibolschewistischen Liga, der Spitzel
Strolz hat ihn verraten: es ist möglich, daß der ganze Mordplan von der
antibolschewistischen Liga ausging.“

Frau Toifl:

„Ich habe mich nicht um die Beschäftigung meines Mannes gekümmert.“

R.-A. Dr. S. Weinberg:

„Bekamen Sie öfter den Besuch eines Kaufmanns Grabant?“

Frau Toifl:

„Darüber _verweigere ich die Aussage_.“

Zeugin Frau Simanowski erzählt, daß Toifl in ihrem Bezirk Bezirksleiter
der Kommunistischen Partei war. Er habe sich immer an die jungen Leute
herangemacht und sie zu Gewalttaten aufgefordert. So habe sie ihn selbst
sagen gehört: das Aas, die Schröder-Mahnke, sei Spitzelin und müsse
umgebracht werden. Ein andermal habe er geäußert, Meyer und Faust müßten
beseitigt werden.

Vorsitzender:

„Sie haben also gehört, daß Toifl zum Mord aufforderte?“

Zeugin Simanowski:

„Es ist, wie ich gesagt habe.“

Zeugin Frau Meyer erinnert sich genau, daß Toifl Ende Juli oder Anfang
August 1919 in Gegenwart ihres Mannes erzählt habe, er und noch einige
andere, die er mit Uniformen und Waffen der Reichswehr ausgerüstet habe,
hätten auf Grund seines Noske-Ausweises am Molkenmarkt einen Mann
verhaftet, nach Friedenshagen verschleppt und dort ausgeraubt. Dabei
habe Toifl auch die große Sache mit dem Spitzel erwähnt, den er
erledigen wollte.

         [Illustration: Spitzelausweis einer Schwarzen Schar.]

Toifl erklärt, die Aussagen der Zeugen seien lauter Lügen.

Zeuge Erwin Thun schildert, wie Toifl in seiner Wohnung die
militärpolizeiliche Abteilung gründete. Gleichzeitig wurden auch Leute
auf die „Schwarze Schar“ vereidigt. Ferner habe Toifl auch ihn
aufgefordert, den Faust zu ermorden.

Zeuge Schmid bekundet Aufforderungen des Toifl zum Diebstahl. „Die
Genossen sollten sich keine moralischen Bedenken machen, sondern nehmen,
wo zu nehmen sei.“ Auch habe Toifl eines Tages eine Liste gebracht, auf
der die Namen von zwanzig Spitzeln standen, „die alle nacheinander um
die Ecke zu bringen seien“.

Toifl bestreitet all das.

Zeuge Schmid erinnert sich genau einer Aufforderung Toifls zum Diebstahl
von Linoleum für ein Parteiorgan. Toifl erklärt, die Aufforderung habe
wohl bestanden, sie sei aber nicht von ihm, sondern von Schmid selbst
ausgegangen.

Zeuge Paul Worm ist derjenige, den Toifl in späteren Aussagen der
Voruntersuchung als den „Franz“ der Anklageschrift bezeichnete und der
Mittäterschaft bezichtigte. Der Zeuge bestreitet ganz entschieden, an
der Ermordung des Blau teilgenommen zu haben. Ebenso bekundet Hugo
Fichtmann, daß die ihm von Toifl unterschobenen Äußerungen über Worm
völlig erlogen seien. Worm wird daraufhin dem Hoppe gegenübergestellt,
der bestätigt, das sei nicht jener Franz, den er am Mordtage kennen
gelernt habe. Ebenso Pohl. Worm bietet Zeugen an, daß er niemals sich
Franz genannt habe, – wie Toifl das ausgesagt habe.

Toifl bleibt bei seinen alten Angaben.

Der Zeuge Bischof war Vormund des Toifl und stellt ihm ein gutes Zeugnis
aus; besonders habe er nie gelogen.

R.-A. Th. Liebknecht teilt mit, daß sich bei ihm eine Menge Leute
gemeldet hätten, vor denen Toifl Aufforderungen zu Gewalttaten äußerte;
aber sowohl Staatsanwalt als Richter, als auch Geschworene erklären, in
dieser Hinsicht genügend aufgeklärt zu sein – so wird von der Vernehmung
dieser Zeugen Abstand genommen.


                       Schluß der Beweisaufnahme.
                               Plädoyers.

Die Verhandlung neigt sich ihrem Ende zu. Die Verteidiger betonen, daß
die Spitzel Samson, Strolz und Schreiber noch immer auf der Zeugen- oder
Anklagebank fehlen.

Bezüglich Samson wird erklärt, daß dessen Aussagen gegen die Angeklagten
nicht so ins Gewicht fallen, daß sie eine Änderung des Urteils bewirken
könnten.

Zum Fall Strolz berichtet R.-A. Dr. S. Weinberg, er habe inzwischen
erfahren, daß dieser von der antibolschewistischen Liga für seine
Tätigkeit in Sachen Blau 5000 M. erhielt. Aber er glaube, daß die
Beweisaufnahme ein hinlänglich klares Bild dieses Mannes ergeben habe:
man könne wohl erwägen, auf ihn zu verzichten. Diesen Verzicht sprach
R.-A. Th. Liebknecht klar aus: nachdem der Kriminalkommissar Dr. Riemann
selbst ausgesagt habe, Strolz habe den Blau an die Kommunisten verraten,
habe die Verteidigung nicht mehr nötig, diesen Belastungszeugen zu
sehen.

Dagegen verlangten die Verteidiger den Schreiber. Auf Anregung des
Vorsitzenden ändern sie ihren Beweisantrag dahin, daß Schreiber den Mord
an Blau nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit anderen begangen habe.
Der Staatsanwalt erklärt sich nochmals außerstande, den Beschuldigten
beizubringen. Daraufhin lehnt das Gericht den Beweisantrag ab, da durch
die Aussage sowohl wie durch die eventuelle Mitschuld des Schreiber an
der Beurteilung der Beteiligung der Angeklagten nichts geändert wird (d.
h. die eventuelle Untersuchung gegen Schreiber wird von dem Verfahren
gegen Fichtmann und Gen. abgetrennt – es kann aber auch heißen:
Schreiber ist so sehr der Schuld oder Mitschuld verdächtig, daß seine
Aussagen nicht gegen die Mitverdächtigen gewertet werden können).

Bezüglich Toifl teilt Dr. Weinberg noch mit, daß dieser am 23. Juni 1919
wegen Erpressung verhaftet wurde und in Polizeigewahrsam in der
Dirksenstraße gekommen war. Am anderen Tage kam Oberleutnant Graf
Westarp mit einer Bescheinigung vom Reichswehrgruppenkommando 20 und
befreite ihn. Der Verteidiger bietet Beweis an, verzichtet aber für die
Verteidigung darauf. Auch das Gericht legt keinen Wert auf
Herbeischaffung der Akten und Vernehmung der Beteiligten.

So wurde am achten Verhandlungstage die Beweisaufnahme geschlossen und
der Wortlaut der Schuldfragen festgelegt.

Den neunten Verhandlungstag eröffnete Staatsanwaltschaftsrat Dr. Ortmann
mit seinem Plädoyer. Er stellte das Für und Wider der Beweisaufnahme
gegeneinander und kam in dreistündigen Ausführungen zu folgendem Schluß:

„Ich will bei der Beurteilung dieses Falles keinerlei politische
Gesichtspunkte anlegen. Sicher, die Tat fand statt in einem Milieu von
Politik, und dort, wo sie nicht gerade am schönsten ist, aber:
Irgendwelche Beweise dafür, daß die politische Partei der Angeklagten,
die kommunistische Partei, hinter der Mordtat steht, hat die Verhandlung
nicht erbracht. Es liegt mir fern, irgendwelche Vorwürfe gegen die
kommunistische Partei oder gegen die Gesamtheit ihrer Mitglieder zu
erheben. Doch, diese Einschränkung hebt nicht auf: die Tatsache eines
begangenen Mordes, den das Gericht zu ahnden hat. Noch ist es nicht
gelungen, die Tat in ihrer Ganzheit aufzudecken, die Untersuchung in
dieser Richtung wird weitergehen – fest steht indes, daß der Tod des
Blau beabsichtigt war; es war Mord. Und es ist erwiesen, daß die
Angeklagten an diesem Morde teilnahmen.“

Der Staatsanwalt begründete diesen Satz ausführlich – Argumente, die
hier nicht nochmals erörtert zu werden brauchen, weil sie aus der
Anklageschrift bekannt sind. Am Schluß bat der Anklagevertreter, bei
Hoppe und Fichtmann die Schuldfragen wegen Mord, bei Winkler die wegen
Beihilfe zu bejahen.

Von den Verteidigern nahm zuerst R.-A. Dr. Siegfried Weinberg das Wort.
Zunächst geißelte er in allgemeinen Überblicken das System der
politischen Rechtspflege in Deutschland und die verschiedenartige
Behandlung der zahlreichen politischen Mörder von rechts und der wenigen
von links. Er gab alsdann in großen Zügen ein Bild des Milieus, das der
Prozeß aufgezeigt habe. An Stelle der ursprünglich auf die Anklagebank
gesetzten Personen sei etwas anderes auf die Anklagebank gekommen: ein
Lockspitzelsystem, wie es scheußlicher noch nie dagewesen sei. Der Kampf
gegen dieses sei nicht Sache einer einzelnen Partei, sondern aller
anständigen Menschen.

„Der Herr Staatsanwalt hat den Alibibeweis des Angeklagten Fichtmann
unberücksichtigt gelassen; er hat die Aussagen des Hoppe und Winkler
ignoriert und über ihr Verhalten Behauptungen aufgestellt, für die kein
einwandfreies Zeugnis vorhanden ist. Es ist doch so: über die
Beteiligung des Hoppe und Winkler wissen wir effektiv nur, was die
beiden selbst angeben: daß Hoppe den Blau verließ, als er die
Mordabsicht der anderen ihm Unbekannten sah und nicht hindern konnte;
daß Winkler seine Wohnung auslieh und fortging. Alles andere ist Rede
und Widerrede, hier bezeugt und dort widerrufen.

„Der Herr Staatsanwalt hat sich bei seinen Darlegungen gestützt auf die
Angaben der Spitzel und der Kriminalbeamten, – die ihrerseits wieder
durch Spitzel geleitet und orientiert wurden. Wir wissen, daß zur
Aufklärung von Kapitalverbrechen der Verrat das wichtigste Hilfsmittel
ist. Aber man sehe diese Art Zeugen an, ein Volk, über das
Kriminalkommissar Dr. Riemann vor Gericht hier geurteilt hat. Und wenn
dieser Mann hier sein Entsetzen ausdrückte über das politische
Lockspitzeltum, dieser Mann, der durch den Beruf an manches gewohnt und
sicherlich abgehärtet ist, was sollen dann wir tun?!

„Meine Herrn – wenn wir Verteidiger uns damit begnügten, den Charakter
dieser Belastungszeugen aufzudecken und den Argumenten der Anklage, die
sich auf diese Zeugen stützt, die Argumente entgegenhielten, die sich
aus den Aussagen der anderen Zeugen ergeben: dann wäre unsere Aufgabe
leicht – aber sie führte nur zu dem Ziel, einer Darstellung eine strikt
widersprechende gegenüberzustellen. Und Sie, meine Herren Geschworenen,
müßten sich sagen, daß über dem Undurchdringlich des Ja und Nein eine
Tat steht, die trotz allem ein Mord ist – eine Tat, die bestraft werden
muß; und Sie würden sich sagen: Ihre Pflicht verlange von Ihnen, daß ein
Abermals dieser Tat verhütet wird.

„Wir wollen nicht zulassen, daß Schuld oder Unschuld entschieden wird
gleich einem Würfelspiel: – je nach dem, was einer gerade glaubt. Und
nachdem die Beweisaufnahme selbst restlose Aufklärung nicht gebracht
hat, wollen wir eine Frage aufwerfen, die das alte römische Recht an den
Anfang allen Strafgerichts stellte: cui bono? Wem versprach sich ein
Vorteil?

„Wer hatte den Spitzel Blau zu fürchten? – Wir wollen uns diesen Mann
genauer ansehen. Seine Rolle als Lockspitzel in den Januarkämpfen 1919
zu Berlin ist vom Gericht zugegeben; dann erscheint er in München, wo er
von der „Eisernen Hand“ ein Monatsgehalt von 530 M. bezieht. Von dieser
Stelle forderte er erpresserisch eine Extragratifikation von 500 M. und
drohte mit Anzeige. Man stelle sich vor, wie unangenehm ein solcher
Prozeß geworden wäre, und man stelle sich weiter vor, wie die Herren der
„Eisernen Hand“ nun Blau gegenüberstanden. Die Antwort ist da: von
Berlin aus, von unbekanntem Auftraggeber, wird der Spitzel Strolz nach
München geschickt, um den Blau zu versuchen. Dem Strolz gelingt es, dem
Blau Material über die Rechtsradikalen abzukaufen: Blau war entlarvt!
Zwei unmittelbare Folgen sind sichtbar: erstens: Blau wird in Berlin
durch Strolz an die Kommunisten verraten; zweitens: Blau ist der
Münchner Polizei als unzuverlässig bekannt, wird in Haft genommen und
ausgewiesen.

„Ob Blau von München fortgelockt wurde oder ob er dem Herm als Begleiter
sich aufdrängte, ist nicht so wichtig – vielleicht trifft beides zu.
Tatsache bleibt, daß Blau nach seiner Entlassung aus der Münchner Haft
ohne Mittel war und die Unterstützung der dortigen Arbeiter in Anspruch
nahm. Tatsache ist weiter, daß auch die Münchner Arbeiter ihn bald
durchschauten: so konnte er sich in München nicht halten, und: was
sollte der Agent der antibolschewistischen Liga jetzt tun? ... Er mußte
nach Berlin! ... nur nach Aussprache mit seinen Auftraggebern konnte er
hoffen, sich zu rangieren. Und er hoffte auf eine große Sache.

„Es scheint auch, daß Blau freiwillig nach Berlin fuhr; jedenfalls
unterstand er keinem Zwange, als er die Wohnung seiner Frau besuchte. Er
wird auch andere Leute getroffen haben: abends, als er in der
Mittenwalder Straße auftauchte, war er im Besitz einer gültigen
Einlaßkarte. Von wem er sie erhalten hat? Von den Kommunisten nicht –
aber vielleicht von dem Mann, auf den er sich berief, dessen Anwesenheit
in Berlin er wußte, dem er selbst Dokumente verkauft hatte: dem Spitzel
Strolz, der zu Leuschners Bezirk gehörte! Es ist mehr als
wahrscheinlich, daß dieser Strolz, der den Blau an Leuschner schon
verraten hatte, ihn nun gerade zu diesem Leuschner schickte. Warum? Herr
Kriminalkommissar Riemann mochte die Frage nicht entscheiden, ob der
Verrat des Blau nicht schon Aufforderung zum Mord war.

„Wer immer noch überlegte, ob Blau von München aus transportiert wurde,
der erinnere sich, daß der Zeuge Thiessen in der Versammlung dem Blau
kompromittierende Papiere abnahm. Hätte der Spitzel sich gefährdet
gefühlt: er hätte die Beweise zu Hause gelassen – doch er fühlte sich
sicher und ging ja auf neue Taten aus. Dagegen läßt sich das
Kesseltreiben gegen das Opfer sehr schön verfolgen: zuerst verrät man
ihn an Leuschner; als daraufhin nichts erfolgt, spielt man dem Leuschner
Beweise in die Hand: nun könnte doch die kommunistische Zentrale sich
rühren. Aber sie rührt sich nicht! Da kommt Blau nach Berlin und man
schickt ihn in die Versammlung zu Leuschner. Doch er wird nicht
totgeschlagen: da kommt ein Mann, auch ein Spitzel, erzählt, Blau habe
den Auftrag, den Schweizer Platten für 80000 M. zu ermorden; ein
Münchner Genosse habe die Nachricht gebracht ... Genügt das nicht?

„Nun fragen wir: wie kommt ein Münchner Genosse dazu, von einem solchen
Mordauftrag zu wissen? Sollte Blau ihn vorgezeigt haben? Oder davon
erzählt haben – und ausgerechnet zur Mittenwalder Straße in Berlin kommt
zufällig einer gelaufen, der darüber Bescheid weiß? – Wenn dieser
Mordplan des Blau überhaupt bestand, konnten nur die davon wissen,
welche die Tat bezahlen wollten; aber: die ganze Geschichte sieht aus
nach Öl, das man ins Feuer gießt: der Münchner Genosse hütete sich auch
sehr, zu erscheinen.

„Doch Blau lebte immer noch! Am anderen Tag kommt ein Mann in die
Pohlsche Wohnung, spricht mit Hoppe auf dem Gang; entrüstet sich, daß
Blau noch nicht tot ist, hat Morphium: es soll Schreiber gewesen sein;
wieder ein Spitzel, der sich allerdings hüten mußte, in die Stube zu
gehen, da Blau ihn kannte. Hoppe lehnt ab: und am Abend erscheinen
Fremde, die Besitz von der Wohnung ergreifen und ihre Sache selbst tun.

„Meine Herren! Die Tatsache eines Mordplanes gegen Blau ist klar: es
wurde von mehreren Seiten gegen den unsicheren Spitzel vorgegangen – und
wenn wir nach den Urhebern fragen, müssen wir die Strolz und Schreiber,
die Acosta und Schröder-Mahnke betrachten und ihre Auftraggeber
erkennen. Toifl, der einzige Spitzel, den das Gericht genoß, scheint der
am wenigsten Beteiligte zu sein; sonst wäre er kaum erschienen.“

Der Verteidiger entrollte bei dieser Gelegenheit das Charakterbild der
einzelnen in dieser Affäre tätig gewesenen Spitzel, wie es sich aus der
Beweisaufnahme zeigt.

„Man inszenierte ein Kesseltreiben; man schob den Kommunisten den
lästigen Blau hin, als Beute; man wollte ihnen die Ausführung eines
Urteils überlassen, das man selbst gefällt hat. Dann hatte man zwei auf
einen Schlag: man war den Blau los und hatte neue kommunistische Greuel!
Die Angeklagten hier sind schuldlos: es sind die Leute, denen man den
Mord zumuten wollte, die Leute, die sich weigerten, ihn auszuführen und
deren Besonnenheit es zu verdanken ist, daß nicht schon in der
Versammlung, nicht schon am Kreuzberg die Tat geschah.“ –

Dr. Weinberg stützte diese Auffassung ausführlichst durch die Ergebnisse
der Beweisaufnahme und durch Parallelen zu anderen Vorfällen der Zeit.
Er legte das Milieu dieser Spitzel bloß: wie Blau den Bomin entlarvte,
Strolz den Blau und Toifl die Schröder-Mahnke; wie in diesen Handlungen
die persönliche Minderwertigkeit und der Konkurrenzneid der Lockspitzel
sich zeige, der ihre Aussagen und Zeugnisse entwerte; und, wie im Falle
Blau, deutlich das Gemeinsame eines Vorgehens, das Auftragmäßige der
verschiedenen parallelen Schritte erkennbar sei. Blau war der ungetreue
Spitzel, der dem Tode verfallene.

Im Gegensatz dazu hatte die Kommunistische Partei keine Veranlassung und
keinen Nutzen vom Tode des Blau:

„Überlegen Sie doch: wenn man den einen Spitzel wegschafft, tritt ein
anderer an seine Stelle; automatisch: ist es da nicht bequemer, den
Entlarvten zu dulden, in Sicherheit zu wiegen und in Schranken zu
halten? Der erkannte Spitzel kann vielleicht noch vorteilhaft sein, in
jedem Fall ist er ungefährlich und häufig sogar ergötzlich. Natürlich:
Deutschland ist groß: man muß den Mann photographieren, die Ortsgruppen
warnen: dann mag er ruhig wo anders auftauchen. Es ist unklug, Spitzel
zu töten.“

Hierauf ging Dr. Weinberg nochmals auf das Verhalten der Angeklagten
ein: wie die Ergebnisse der Voruntersuchung es darstellten und die der
Beweisaufnahme es verändert aufzeigten. Dann bat Dr. S. Weinberg darum,
seine Klienten freizusprechen, gegebenenfalls bei Hoppe die Frage wegen
Unterlassung der Anzeige einer strafbaren Handlung zu bejahen und sprach
die Hoffnung aus, der Prozeß möge wenigstens die Folge haben, die
politische Atmosphäre zu säubern und das maßlose Spitzeltum einzudämmen.

R.-A. Th. Liebknecht nahm hierauf in einstündiger Rede das Wort,
unterstrich die Ausführungen des Vorredners und schloß sich denselben in
jeder Beziehung an. Er wandte sich alsdann der Beteiligung Winklers an
der Tat zu und legte dar, daß diesem Angeklagten irgendeine strafbare
Beteiligung an der Ermordung Blaus durch die Beweisaufnahme nicht
nachgewiesen sei und forderte die Freisprechung desselben. (R.-A. Dr.
Rosenfeld war am Erscheinen verhindert.)

Nach einer kurzen Replik des Staatsanwalts und einigen Worten der
Verteidiger bittet der Angeklagte Hoppe ums Wort und erklärt, daß ihm
selbst nach zehntägiger Verhandlung das Eigentliche der Tat noch
vollkommen dunkel sei; er habe den dringenden Verdacht, diejenigen, die
am meisten hetzten, seien bezahlte Subjekte gewesen und er komme immer
mehr zu der Überzeugung, daß Kommunisten an der ganzen Geschichte gar
nicht beteiligt gewesen seien. Was ihn anbelange, so betone er nochmals,
daß er all sein Wissen gestanden habe und er betone ferner seine
ablehnende Stellung zum individuellen Terror und zur Propaganda der Tat.
Er bäte, die entsprechenden Stellen des Programms der freien
sozialistischen Jugend anzuhören, – und verliest dieselben.

Hierauf folgte die Rechtsbelehrung der Geschworenen durch den
Vorsitzenden. Die Schuldfragen lauteten:

                        Fragen an die Geschworenen
                             in der Strafsache
                                   gegen

   1. den Lederarbeiter (Schankwirt) Max _Fichtmann_

   2. den Kaufmann (Broschürenverkäufer) Erwin _Hoppe_

   3. den Schneidergesellen Willi _Winkler_, sämtlich hier im
   Untersuchungsgefängnis.

   _Fragen._

                       _Antworten._

                       Dabei sind die §§ 307, 308
                       der Strafprozeßordnung zu
                       beachten:

                       § 307. Der Spruch ist von dem
                       Obmanne neben den Fragen
                       niederzuschreiben und von ihm
                       zu unterzeichnen.

                       Bei jeder dem Angeklagten
                       nachteiligen Entscheidung ist
                       anzugeben, daß dieselbe mit
                       mehr als sieben Stimmen, bei
                       Verneinung der mildernden
                       Umstände, daß dieselben mit
                       mehr als sechs Stimmen gefaßt
                       worden sind. Im übrigen darf
                       das Stimmenverhältnis nicht
                       angegeben werden.

                       § 308. Der Spruch ist im
                       Sitzungszimmer von dem Obmann
                       kundzugeben. Der Obmann
                       spricht die Worte:

                       „Auf Ehre und Gewissen
                       bezeuge ich als den Spruch
                       der Geschworenen“

                       und verliest die gestellten
                       Fragen mit den darauf
                       abgegebenen Antworten.

   1. Ist der Angeklagte

   Max _Fichtmann_

   schuldig, zu Berlin in der Nacht vom 2. zum 3.
   August 1919 in gemeinschaftlicher Ausführung mit
   mehreren Anderen, vorsätzlich einen Menschen, den
   Inspektor Karl Blau, getötet zu haben, indem er
   die Tötung mit Überlegung ausführte?

                       nein.

   2. _Im Falle der Verneinung der Frage zu 1_:

   Ist der Angeklagte Max Fichtmann schuldig, zu
   Berlin in der Nacht vom 2. zum 3. August 1919 in
   gemeinschaftlicher Ausführung mit mehreren
   Anderen vorsätzlich einen Menschen, den Inspektor
   Karl Blau, getötet zu haben, indem er die Tötung
   _nicht_ mit Überlegung ausführte?

                       nein.

   3. _Im Falle der Verneinung der Frage zu 1 und
   Bejahung der Frage zu 2_:

   Sind mildernde Umstände hinsichtlich der Tat zu 2
   vorhanden?

   4. _Im Falle der Verneinung der Fragen zu 1 und
   2_:

   Ist der Angeklagte Max Fichtmann schuldig, zu
   Berlin Anfang August 1919 mehreren Anderen durch
   Rat oder Tat wissentlich Hilfe dazu geleistet zu
   haben, daß sie zu Berlin in der Nacht vom 2. zum
   3. August 1919 einen Menschen, den Inspektor Karl
   Blau, vorsätzlich töteten, indem sie die Tötung
   mit Überlegung ausführten?

                       nein.

   5. _Im Falle der Verneinung der Fragen zu 1, 2
   und 4_:

   Ist der Angeklagte Max Fichtmann schuldig, zu
   Berlin Anfang August 1919 mehreren Anderen durch
   Rat und Tat wissentlich Hilfe dazu geleistet zu
   haben, daß sie zu Berlin in der Nacht vom 2. zum
   3. August 1919 einen Menschen, den Inspektor Karl
   Blau, vorsätzlich töteten, indem sie die Tötung
   _nicht_ mit Überlegung ausführten?

                       nein.

   6. _Im Falle der Verneinung der Fragen zu 1, 2
   und 4 und Bejahung der Frage zu 5_:

   Sind mildernde Umstände hinsichtlich der zu 5
   bezeichneten Tat vorhanden?

   7. Ist der Angeklagte Erwin Hoppe schuldig, zu
   Berlin in der Nacht vom 2. zum 3. August 1919 in
   gemeinschaftlicher Ausführung mit mehreren
   Anderen vorsätzlich einen Menschen, den Inspektor
   Karl Blau, getötet zu haben, indem er die Tötung
   mit Überlegung ausführte?

                       nein.

   8. _Im Falle der Verneinung der Frage zu 7_:

   Ist der Angeklagte Erwin Hoppe schuldig, zu
   Berlin in der Nacht vom 2. zum 3. August 1919 in
   gemeinschaftlicher Ausführung mit mehreren
   Anderen vorsätzlich einen Menschen, den Inspektor
   Karl Blau, getötet zu haben, indem er die Tötung
   _nicht_ mit Überlegung ausführte?

                       nein.

   9. _Im Falle der Verneinung der Frage zu 7 und
   Bejahung der Frage zu 8_:

   Sind mildernde Umstände hinsichtlich der Tat zu 8
   vorhanden?

   10. _Im Falle der Verneinung der Fragen zu 7 und
   8_:

   Ist der Angeklagte Erwin Hoppe schuldig, zu
   Berlin Anfang August 1919 mehreren Anderen durch
   Rat oder Tat wissentlich Hilfe dazu geleistet zu
   haben, daß sie zu Berlin in der Nacht vom 2. zum
   3. August 1919 einen Menschen, den Inspektor Karl
   Blau, vorsätzlich töteten, indem sie die Tötung
   mit Überlegung ausführten?

                       nein.

   11. _Im Falle der Verneinung der Fragen zu 7, 8
   und 10_:

   Ist der Angeklagte Erwin Hoppe schuldig, zu
   Berlin Anfang August 1919 mehreren Anderen durch
   Rat oder Tat wissentlich Hilfe dazu geleistet zu
   haben, daß sie zu Berlin in der Nacht vom 2. zum
   3. August 1919 einen Menschen, den Inspektor Karl
   Blau, vorsätzlich töteten, indem sie die Tötung
   _nicht_ mit Überlegung ausführten?

                       ja mit mehr als sieben
                       Stimmen.

   12. _Im Falle der Verneinung der Fragen zu 7, 8
   und 10 und Bejahung der Frage zu 11_:

   Sind mildernde Umstände hinsichtlich der Tat zu
   11 vorhanden?

                       nein mit mehr als 6 Stimmen.

   13. _Im Falle der Verneinung der Fragen zu 7, 8,
   10 und 11_:

   Ist der Angeklagte Erwin Hoppe schuldig, zu
   Berlin Anfang August 1919 von dem Vorhaben eines
   Anderen oder Anderer,

   den Inspektor Karl Blau vorsätzlich zu töten und
   die Tötung mit Überlegung auszuführen,

   zu einer Zeit, in welcher die Verhütung des
   Verbrechens möglich war, glaubhafte Kenntnis
   erhalten und es unterlassen zu haben, hiervon der
   Behörde oder der durch das Verbrechen bedrohten
   Person zur rechten Zeit Anzeige zu machen, und
   ist das Verbrechen begangen worden, oder ist der
   Entschluß, es zu verüben, durch Handlungen
   betätigt worden, welche einen Anfang oder
   Ausführung des beabsichtigten, aber nicht zur
   Vollendung gekommenen Verbrechens enthalten?

   14. Ist der Angeklagte Willi _Winkler_ schuldig,
   zu Berlin Anfang August 1919 mehreren Anderen
   durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe dazu
   geleistet zu haben, daß sie zu Berlin in der
   Nacht vom 2. zum 3. August 1919 einen Menschen,
   den Inspektor Karl Blau, vorsätzlich töteten,
   indem sie die Tötung mit Überlegung ausführten?

                       nein.

   15. _Im Falle der Verneinung der Frage zu 14_:

   Ist der Angeklagte Willi Winkler schuldig, zu
   Berlin Anfang August 1919 mehreren Anderen durch
   Rat oder Tat wissentlich Hilfe dazu geleistet zu
   haben, daß sie zu Berlin in der Nacht vom 2. zum
   3. August 1919 einen Menschen, den Inspektor Karl
   Blau, vorsätzlich töteten, indem sie die Tötung
   _nicht_ mit Überlegung ausführten?

                       ja mit mehr als sieben
                       Stimmen.

   16. _Im Falle der Verneinung der Frage zu 14 und
   Bejahung der Frage zu 15_:

   Sind mildernde Umstände hinsichtlich der zu 15
   bezeichneten Tat vorhanden?

                       ja.

   17. _Im Falle der Verneinung der Fragen zu 14 und
   15_:

   Ist der Angeklagte Willi Winkler schuldig, zu
   Berlin Anfang August 1919 von dem Vorhaben eines
   Anderen oder Anderer, den Inspektor Karl Blau
   vorsätzlich zu töten und die Tötung mit
   Überlegung auszuführen, zu einer Zeit, in welcher
   die Verhütung des Verbrechens möglich war,
   glaubhafte Kenntnis erhalten und es unterlassen
   zu haben, hiervon der Behörde oder der durch das
   Verbrechen bedrohten Person zur rechten Zeit
   Anzeige zu machen, und ist das Verbrechen
   begangen worden, oder ist der Entschluß, es zu
   verüben, durch Handlungen betätigt worden, welche
   einen Anfang der Ausführung des beabsichtigten,
   aber nicht zur Vollendung gekommenen Verbrechens
   enthalten?

   Berlin, den 5. Juli 1920.

                                                            gez. Joel.

                                                         gez. Aschner.
                                                               Obmann.

                                                        gez. Schröder.
                                                als Gerichtsschreiber.

                                           gez. Joel als Vorsitzender.

                   *       *       *       *       *

Nach zweieinhalbstündiger Beratung hatten die Geschworenen gesprochen.

Der Staatsanwalt beantragte:

   für Fichtmann die Freisprechung,
   für Hoppe zehn Jahre Zuchthaus,
   für Winkler drei Jahre Gefängnis.

Das Urteil wurde nach einstündiger Beratung gefällt; dasselbe erging wie
folgt:

   2 c. J. 2691. 19

                             In der Strafsache
                                   gegen

   1. den Lederarbeiter (Schankwirt) Max _Fichtmann_ aus Berlin, zur
   Zeit in der Strafanstalt Brandenburg a. d. H. in Strafhaft, geboren
   am 22. November 1898 in Berlin, mosaisch,

   2. den Kaufmann Erwin _Hoppe_, zur Zeit hier in Untersuchungshaft,
   geboren am 1. April 1899 in Berlin, religionslos,

   3. den Schneidergesellen Willi _Winkler_, zur Zeit hier in
   Untersuchungshaft, geboren am 16. September 1899 in Berlin,
   evangelisch,

   wegen Mordes

   hat das Schwurgericht beim Landgericht II in Berlin in der Sitzung
   vom 24. Juni bis 5. Juli 1920, an welcher teilgenommen haben:

      Landgerichtsrat Dr. _Joel_
      als Vorsitzender,

      Landgerichtsrat Geh. Justizrat _Bienutta_,

      Gerichtsassessor _Siemens_
      als beisitzende Richter,

      Staatsanwaltschaftsrat Dr. _Ortmann_
      als Beamter der Staatsanwaltschaft,

      Landgerichtsassistent _Schröder_
      als Gerichtsschreiber,

   für Recht erkannt:

   Der Angeklagte Kaufmann Erwin _Hoppe_ wird wegen Beihilfe zum
   Totschlag zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen 8 Monate
   durch die erlittene Untersuchungshaft verbüßt sind, der Angeklagte
   Schneidergeselle Willi _Winkler_ wird wegen Beihilfe zum Totschlag
   zu drei Jahren Gefängnis, von denen gleichfalls acht Monate durch
   die erlittene Untersuchungshaft verbüßt sind, verurteilt.

   Der Angeklagte Lederarbeiter Max _Fichtmann_ wird freigesprochen.

   Die durch das Verfahren gegen den Angeklagten Fichtmann entstandenen
   Kosten werden der Staatskasse auferlegt. Die übrigen Kosten des
   Verfahrens haben die Angeklagten Hoppe und Winkler zu tragen.


                                  Gründe.

   Nach dem Spruch der Geschworenen sind die Angeklagten Hoppe und
   Winkler schuldig, zu Berlin Anfang August 1919 mehreren anderen
   Tätern durch Rat oder Tat wissentliche Hilfe dazu geleistet zu
   haben, daß sie zu Berlin in der Nacht vom 2. zum 3. August 1919
   einen Menschen, den Inspektor Blau, vorsätzlich töteten, indem sie
   die Tötung _nicht_ mit Überlegung ausführten. Dem Angeklagten Hoppe
   sind mildernde Umstände versagt, dem Angeklagten Winkler solche
   zugebilligt worden. Die beiden Angeklagten waren daher Hoppe, gemäß
   §§ 212, 49, Winkler gemäß §§ 212 und 213, 49 St.G.B. zu bestrafen.

   Bei der Strafzumessung hat das Gericht berücksichtigt, daß die aus
   politischen Motiven begangene Tötung des Inspektors Blau eine
   ungemein brutale Tat und im höchsten Grade gemeingefährlich ist. Es
   war daher strenge Ahndung erforderlich, zumal die Angeklagten keine
   Reue zeigen. Andererseits war zu erwägen, daß die jugendlichen und
   unerfahrenen Angeklagten durch politischen Fanatismus irregeführt
   und hierdurch zu ihrer Tat mißleitet worden sind.

   Beim Angeklagten _Hoppe_ kommt jedoch strafschärfend hinzu die große
   verbrecherische Energie, die er bei der Durchführung der Tat
   bewiesen hat. Beim Angeklagten _Winkler_ ist strafmildernd zu
   berücksichtigen, daß er offenbar ganz erheblich unter dem Einfluß
   des ihm geistig bedeutend überlegenen Angeklagten Hoppe gestanden
   hat. Auch ist er noch völlig unbescholten. Ebenso war dem
   Angeklagten Hoppe zugute zu rechnen, daß er bisher verhältnismäßig
   unbedeutend vorbestraft ist.

   Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände hielt das Gericht die
   erkannten Strafen für eine ausreichende und angemessene Sühne.

   Der Angeklagte Fichtmann ist nach dem Spruch der Geschworenen nicht
   schuldig und war daher freizusprechen.

   Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 497, 499 St.P.O., die über die
   Anrechnung der Untersuchungshaft auf § 60 St.G.B.

                                                    gez. Joel Siemens.

   Der beisitzende Richter L.G.R. Geh. J.R. Bienutta ist beurlaubt und
   daher verhindert seine Unterschrift beizufügen.

   Dies wird gemäß § 275 St.P.O. bescheinigt.

                                                             gez. Joel
                                                                L.G.R.

   Siegel

      _Ausgefertigt_
      Berlin, den 30. Juli 1920.

                                Gerichtsschreiber des Landgerichts II.



                                ANHANG.


                                   I.
                           Der Spitzel Toifl.

Der Hauptzeuge der letzten Prozeßtage, Spitzel, Aufrührer,
Mädchenverführer (nach Aussage einer Zeugin) heißt nicht etwa Beelzebub,
aber Toifl. Ein unorthographischer Teufel. Ein Opfer des Spitzelsystems
heißt Faust und der Vormund Toifls: Bischof. O unergründliche Ironie des
Zufalls!

Zeuge Toifl ist Spitzel, agent provocateur gewesen. Im Dienst der M. P.
A. Das heißt nicht etwa: Macht praktische Arbeit, sondern
Militärpolitische Abteilung.

Toifl ist Österreicher, immer noch. Obwohl er M. P. A. war. Ein bißchen
glatt und leichtfertig. Seine Moral dreht sich in fettig geölten Angeln.
Patent „Teufel“. Er fühlt sich unglücklich in seiner namenlosen
Alltäglichkeit. Es gilt Bildungs- und gesellschaftliche Hindernisse
wegzuradieren. Die Revolution ist ein günstiger Zufall. Sie bricht
gerade aus, da Toifl anfängt, sich nach einer Karriere umzusehen.
Spionage, denkt er, ist ein Sprungbrett. Er spielt gesellschaftlich die
Rolle eines ehemaligen österreichischen Fähnrichs. Sein Gesicht ist von
jener blassen, blonden Leere, der man unter Umständen die
Fähnrichscharge glauben darf ... Wie er so auftritt, nett, blond, in
dunkelblauem Anzug, und elastische Schritte posiert, macht er einen
braven Eindruck. Typus aufgeweckter Junge.

Bei näherem Zusehen aber knetet er in zappeligen Händen ein
schweißdurchtränktes Taschentuch, kämpft er sich mühsam ein bißchen
Haltung ab. Bemüht, gelassene Eleganz vorzutäuschen, zieht er
kleinbürgerlich sorgfältig die gebügelte Hose hinauf, so oft er sich
setzt. Und man sieht: er ist gar nicht elastisch. Seine Seele schreitet
nur sozusagen auf Gummiabsätzen.

                                                          Joseph Roth.
                                        (Neue Berliner Nr. 145, 1920.)


                                  II.
                            Zum Blau-Prozeß.

Dieser Prozeß wird einst unter den Dokumenten der bürgerlichen Kultur
mit an erster Stelle stehen, – obgleich für das Gericht gerade da das
Interesse aufhörte, wo das Interesse der Allgemeinheit anfing.

Da war der Zeuge Schreiber. Er war, solange er von fürsorglichen
Behörden beschützt und behütet war, ein Zeuge, wie man sich nur einen
Zeugen wünscht. Aber als er gezwungen werden sollte, Aug’ in Aug’ seine
Aussagen zu wiederholen: da war der Zeuge Schreiber in seine heimischen
eidgenössischen Felder entrückt. Auf dringendste Einladung begnügt er
sich nicht, wie sein unerfahrenerer Kollege Toifl mit „Schutz vor den
Kommunisten“: er stellt Bedingungen. Neben einer ganz ansehnlichen
Entschädigung in Schweizer Valuta fordert er die Auszahlung von 4000 M.,
welche ihm nach seiner Angabe die Münchner Polizei schuldet. Und fordert
Vorausbezahlung!

Da war ein Weibsbild, von Lemurenhäßlichkeit und zudem in
Reichswehruniform maskiert. In jedem anderen Falle hätte man sie sofort
eingesponnen; aber hier war der Polizeikommissar Maslack, der es
befürwortete, – und der Untersuchungsrichter Dr. Marquardt erteilte der
Polizeispitzelin Schröder-Mahnke Sprecherlaubnis ohne Aufsicht durch
Gefängnisbeamte! In einem Falle, da zur Isolierung der Angeklagten
besondere Vorsichtsmaßregeln getroffen wurden: da darf man Spitzeln
Akten zeigen, Spitzel in die Gefängnisse schicken, von Spitzeln die Welt
heimsuchen lassen wie von Heuschrecken das Land Ägypten; da ist jedes
Mittel recht.

Und dann sind da die „Mittel“: die lange Kette Blau, Toifl, Strolz,
Acosta, Samson – von den unbekannteren ganz zu schweigen ... und hier
ist die große Lücke, die der Prozeß gelassen hat. Wir alle sehen nur die
Spitzel; wo aber ist die Hand, die sie lenkte? Wo ist der große
Unbekannte, dessen Werkzeuge über die kommunistische Partei herfielen?
Wo ist der Mann, der sie bezahlte: Den Schreiber für die Beseitigung von
Blau, den Toifl für den Raubüberfall auf Orlowsky, den Strolz und Acosta
für das stramme Zufassen?

Hier und gerade hier war das kriminalistische, moralische und politische
Zentrum des ganzen Prozesses, und nur, wenn dieses Dunkel erhellt wurde,
konnte psychologisch die Tat aufgeklärt werden. Und nur dann konnte
festgestellt werden, wer Mörder war und wer den Mord brauchte. Und dann
konnte gezeigt werden, ob der Opfer des großen Unbekannten noch mehr
seien als Hoppe, Winkler und Fichtmann; es galt zu untersuchen, ob nicht
vom Morde an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, über Leo Jogisches, die
30 Matrosen, Dorenbach und all die Hunderte namenlos Gemordete eine
einzige Linie führt.

Das war aufzuklären!

                                                         J. Steinborn.
                          (Aus der Roten Fahne, Nr. 123 u. 125, 1920.)


                                  III.
                 Denkschrift des Reichsjustizministers
                      über die politischen Morde.
                            Nr. IV 62598 Gr.

      Reichstag 4. 12. 23.
      verkündet in der 394. Sitzung.

                        16. Der Polizeiagent Blau.

   In der Strafsache gegen Fichtmann und Genossen wegen Ermordung des
   Inspektors Blau sind in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht
   beim Landgericht I in Berlin vom 24. Juni bis 5. Juli 1920 die
   Zeugen Schreiber und Toifl, von denen der erstere sich in der
   Schweiz aufhält und zur Verhandlung nicht erschien, letzterer
   eidlich vernommen wurde, der Teilnahme an der Ermordung verdächtigt
   worden. Die Verdächtigungen entbehren aber jeder Grundlage.

   Wegen des Raubüberfalles auf den Diamantenhändler Orlowsky hat vor
   dem außerordentlichen Kriegsgericht beim Landgericht II in Berlin
   ein Strafverfahren geschwebt, in dem nur Fichtmann und Manske
   verurteilt wurden. Toifl wurde in der Hauptverhandlung als Zeuge
   vernommen. Wie die Urteilsgründe ergeben, hat Toifl allerdings an
   dem Unternehmen als „Regierungsagent“ teilgenommen. Das Gericht
   betonte aber ausdrücklich, daß Toifl _notgedrungen_ die Rolle des
   Führers übernehmen mußte, um nicht Verdacht zu erregen und als
   Regierungsagent entlarvt zu werden. Und, daß es seinen, wenn auch
   uneidlichen Angaben, vollen Glauben geschenkt habe.

   Bei dieser Sachlage ist mangels begründeten Verdachtes einer
   strafbaren Teilnahme von der Strafverfolgung des Toifl und Schreiber
   Abstand genommen worden.

                [Illustration: Unterschriften des Blau.]

          [Illustration: Bericht des Blau an Leutnant Siebel.]

            [Illustration: Brief des Blau mit Mordangebot.]



                              In der Sammlung
                       AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT
                     – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART. –
               erscheinen in kürzester Zeit folgende Bände:


   *Band 1:

   ALFRED DÖBLIN DIE BEIDEN FREUNDINNEN UND IHR GIFTMORD

   *Band 2:

   EGON ERWIN KISCH DER FALL DES GENERALSTABSCHEFS REDL

   *Band 3:

   EDUARD TRAUTNER DER MORD AM POLIZEIAGENTEN BLAU

   *Band 4:

   ERNST WEISS DER FALL VUKOBRANKOVICS

   Band 5:

   PAUL MAYER DER FECHENBACHPROZESS

   Band 6:

   FRIEDRICH STERNTHAL DER FALL DER RATHENAUMÖRDER

   Band 7:

   RENÉ SCHICKELE DIE CAILLAUXPROZESSE

   Band 8:

   IWAN GOLL DER FALL DER GERMAINE BERTON

   Band 9:

   HENRI BARBUSSE DIE MATROSEN DES SCHWARZEN MEERES

   Band 10:

   HERMANN UNGAR DER FALL GRUPEN

   Band 11:

   ARNOLT BRONNEN DIE ERMORDUNG DES BÖRSENMAKLERS F.

   Band 12:

   KARL OTTEN DER FALL DES HAUPTMANN VON KÖPENICK

   Band 13:

   OTTO KAUS DER FALL GROSSMANN

   Band 14:

   EUGEN ORTNER DER FALL DES MASSENMÖRDERS SCHUMANN

   Band 15:

   KARL FEDERN DER FALL MURRI-BONMARTINI

   Band 16:

   KURT KERSTEN DER PROZESS GEGEN DIE MOSKAUER SOZIALREVOLUTIONÄRE

   Band 17:

   MARTIN BERADT DER FALL HASSELBACH

   Band 18:

   F. A. ANGERMAYER DER FALL DER PARISER AUTOMOBILBANDITEN

   Band 19:

   WILLY HAAS DER FALL GROSS

   Band 20:

   ARTHUR HOLITSCHER DER FALL RAVACHOL

   Band 21:

   JOSEPH ROTH DER FALL HOFRICHTER

            Die mit * versehenen Bände sind bereits erschienen.

                             Ferner Bände von:

   MAX BROD, OTTO FLAKE, OSKAR MAURUS FONTANA, WALTER
   HASENCLEVER, GEORG KAISER, THOMAS MANN, LEO MATTHIAS, RENÉ
   SCHICKELE, JAKOB WASSERMANN, ALFRED WOLFENSTEIN und vielen
                                 Anderen.


                  OHLENROTH’SCHE BUCHDRUCKEREI ERFURT.


                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.



*** End of this LibraryBlog Digital Book "Der Mord am Polizeiagenten Blau: Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart. Band 3" ***

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