Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs: Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart. Band 6
Author: Lessing, Theodor
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs: Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart. Band 6" ***

This book is indexed by ISYS Web Indexing system to allow the reader find any word or number within the document.

EINES WERWOLFS ***



                     AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT
                    – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –



                              AUSSENSEITER
                            DER GESELLSCHAFT
                    – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –


                           HERAUSGEGEBEN VON
                            RUDOLF LEONHARD

                                 BAND 6


                          VERLAG DIE SCHMIEDE
                                 BERLIN



                               HAARMANN.
                     DIE GESCHICHTE EINES WERWOLFS


                                  VON
                            THEODOR LESSING


                          VERLAG DIE SCHMIEDE
                                 BERLIN


                             EINBANDENTWURF
                              GEORG SALTER
                                 BERLIN


              Copyright 1925 by Verlag Die Schmiede Berlin



                                Vorwort.


Kein Baum und kein Wald rauscht durch diese Geschichte. Keine Blume und
kein Stern blicken tröstend darein. Es handelt sich um das hoffnungslos
dunkle Gemälde einer von allen Naturgöttern ausgestoßenen
Höhlenmenschheit, welcher auch das Beglückendste und Heiligste, das im
Kosmos waltet: die schöpferische Liebesmacht der Natur zu Verbrechen und
Krankheit, Laster und Unnatur mißraten ist. Nur mit Widerwillen, ja oft
mit Ekel bin ich, ganz andersartige Lebensarbeit unterbrechend, der
Chronist dieses Stückes „Kulturgeschichte“ geworden. Aber erstens wurde
ich da hineingedrängt durch ein Gericht, das die Wahrheit zu
verschleiern drohte und mithin das ewig _gültige_ Recht zu Gunsten des
bloß zeitlich geltenden Rechtes zu beugen unternahm. Weil aber die
Wahrheit bedroht war, so wurde es fast zur Pflicht, folgerichtig
durchzugreifen und den gesamten Rechtsfall klar und sachlich vor die
Nachwelt zu bringen. Dazu aber kam ein Zweites: In Stadt und Schauplatz
gewurzelt, war ich der Einzige, der Ort, Zeit, Personen und
Zusammenhänge völlig übersehen konnte. Und so wurde es auch von dieser
Seite her zur Pflicht gegen die künftigen Geschlechter, den
merkwürdigsten Rechtsfall unserer Tage aufzubewahren. Es geschah so, daß
dem einfachen Leser alle Vorgänge bildhaft lebendig werden, daß
andererseits aber auch für die Wissenschaft: Psychologie, Psychiatrie,
Strafrecht und Rechtsethik, das Studium dieses Kriminalfalles wertvoll
bleibt. Darüber hinaus aber sehe man in dieser Schrift ein Stück
Zeitkritik und Charakterkunde; denn in dieser Hinsicht kann dies Buch
gelten als ein sinnfälliges Beispiel zu den Lehren, die ich in
„Untergang der Erde am Geist“ und „Geschichte als Sinngebung des
Sinnlosen“ über Philosophie der _Kultur_ und in der „Symbolik der
menschlichen Gestalt“ zur _Psychologie_ niedergelegt habe.

Hannover, im Januar 1925.

                                                    _Theodor Lessing_,
                             Dr. med. und phil. Prof. der Psychologie.



                              Erster Teil.


Hannover, die Hauptstadt der gleichnamigen deutschen Provinz und der
Mittelpunkt der niedersächsischen Lande, liegt an den letzten Ausläufern
des deutschen Mittelgebirges, von welchem aus sich die norddeutsche
Ebene mit ihren sandigen Kiefern- und Heidebezirken bis fern zur
Nordseeküste hinabzieht. Das Flüßchen Leine, vom Eichsfelde kommend und
die zwischen Harz und Weserbergen eingesenkte hügelige Mulde Göttingens
durchfließend, erreicht unterhalb Elze, zwischen dem Hildesheimer Walde
und dem Osterwalde hervorbrechend, die kahle norddeutsche Ebene; von
Hannover ab macht der Fluß einen Bogen nach Westen und mündet hinter
Hudemühlen im Großen Moor. Das „_Hohe Ufer_“, dort wo der Fluß die
Deisterbäche Ihme und Föße aufnahm und in schnellem Laufe die Altstadt
durcheilt, hat wohl dem um 1050 zuerst erwähnten Orte den Namen gegeben:
„_Honovere_“. – Eine Stadt im Grünen! Denn ein Waldgürtel, die
Eilenriede genannt, 2500 Morgen weit, umzieht die Stadt in weitem
Halbkreis und läßt nur nach Süden die Ebene offen, in welche sich die
sogenannte Masch (oder Marsch) hineinschiebt, ein wasserreiches,
sumpfiges Flachland, an dessen Rande wiederum Waldhügel, genannt Deister
(von Dixter-Dichtwald), die Stadt umgrenzen. Wenige europäische Städte
haben zwischen 1850 und 1900 so völlig ihr Antlitz verändert. Bis 1866
war Hannover die weltfern-vornehme Residenz der alten englischen
Welfenkönige. In dem grünumbuschten Idyll der durch sechshundert Jahre
träumenden Niedersachsenstadt schlugen die ersten Lerchen der deutschen
Lyrik: Hölty und Bürger, sodann die Frühnachtigallen der Romantik: die
Brüder Schlegel; hier grübelten Lichtenberg und Leisewitz, Detmold und
Feder, und vor allem der wissensreichste deutsche Denker: Leibniz.
Moritz und Iffland sind hier geboren, sowie Hartleben und Frank
Wedekind. Als Hannover 1866 durch Bismarck für Preußen annektiert wurde,
hatte die Stadt kaum 70000 Einwohner. Aber in der Zeit nach dem
siegreichen Kriege mit Frankreich zwischen 1870 und 1873, in der
sogenannten Gründerzeit, hielt die Industrie machtvoll Einzug, so daß
die kleinen lieblichen Dörfer der Umgebung, Hainholz, Döhren, Limmer,
List bald zu rußigen Fabrikvororten sich wandelten. Eine Technische
Hochschule wurde gebaut; die Deisterkohle geschürft, und vollends
änderte sich das Stadtbild, als der schiffbare Rhein-Weser-Leine-Kanal
angelegt und in den großen „Mittellandkanal“ überführt wurde,
gleichzeitig aber die riesigen Kalischätze des Bodens rund um Hannover
abgebaut zu werden begannen. Eine einzige Fabrikanlage, die sogen.
„Continental“, welche sich mit dem Herstellen künstlichen Kautschuks
beschäftigte, machte binnen weniger Jahre aus dem kleinen Vorort
Vahrenwald ein fünfzehntausendköpfiges Proletarierviertel. Brauereien,
Spinnereien, Wollwäschereien, die Maschinenfabriken von Gebr. Körting
und Georg Egestorff und die sogen. Hanomag, eine Wagen- und Waggonfabrik
wandelten das jenseit der Ihme gelegene Dorf Linden in eine
Fabrikvorstadt von über hunderttausend Beamten- und Proletarierfamilien.
Immerhin war diese Entwicklung zu Geldherrschaft und Werkertum, darunter
die alte Adels- und Bauernkultur Niedersachsens erstickte, keineswegs
ungewöhnlich. Sie war das allgemeine Wesensgepräge des wilhelminischen
Deutschlands. Wahres Höllenchaos aber setzte ein, als dies preußische
Machtreich zerbrach, und eine an Töten und „Requirieren“ gewöhnte, im
fünfjährigen Weltkriege verwilderte Jugend, alle Zucht und Form
abschüttelnd, in die völlig armgewordene, ausgesogene Heimat
zurückkehrte. 14 Millionen Tote! Im Osten Hungersnöte, welche ganze
Länderstriche dahinrafften und schließlich dahin führten, daß Eltern
ihre Kinder, Kinder ihre Eltern fraßen. Entartung, Verarmung, Verwirrung
ohnegleichen. Das deutsche Geld auf dem Weltmarkt so entwertet, daß nur
durch das immer neue Drucken und Hinausschleudern immer neuer wertloser
Papierfetzen ein trostloses Scheinleben von Tag zu Tag gefristet wurde.
In dieser sogenannten „Inflationszeit“, anhebend mit dem Zusammenbruch
der deutschen Heere im Weltkrieg und den Stürmen der deutschen
Revolution, begann die Bedeutung der Stadt Hannover als eines
internationalen Durchgangs- und Schiebermarktes plötzlich zu wachsen.
Die Stadt beherbergte um 1918 etwa 450000 Menschen. Knapp vier
Eisenbahnstunden von Berlin, Deutschlands großem Wasserkopfe entfernt,
knapp acht Stunden entfernt von Köln (wo damals Engländer-, Franzosen-
und Belgierherrschaft begann), war Hannover der günstigste Mittelpunkt
für das Tausch-, Schieber- und Transaktions-Geschäft, welches Tausende
ernährte. Alle Welt lebte von Spekulation. Da Geld nichts mehr galt, und
nur Sachwerte das Leben fristen konnten, so wurde aufgekauft, getauscht
und gestohlen wie nie zuvor. Und zwischen Berlin, in welches der
slavische, wendische, polnische, jüdische Osten einströmte; Amsterdam,
wo viel Reichtum abfloß nach Holland und England und endlich Köln,
welches nach Belgien und Frankreich die Brücke schlug, lag Hannover aufs
günstigste in der Mitte, so daß sich hier aufzutun vermochten hundert
neue Gründungen, hundert neue Vergnügungs- und Lasterstätten, die ein
schlimmes Händler-, Schieber-, Parasiten- und Schmarotzervolk ins Land
brachten, langsam zerfressend die alte bürgerliche Tüchtigkeit und
ehrenfeste Solidität der (wie ein großer Dichter sie nannte) „_fahlsten_
unserer Städte“.

An drei Stellen der Stadt erhob sich ein Gauner-, Hehler- und
Prostitutionsmarkt ohnegleichen, dessen die Behörden nicht mehr Herr
wurden. Zunächst im Bahnhof und auf den ihn umgebenden Plätzen. Hier
wurde in der schweren Brotmarkenzeit, wo man Brot, Fleisch und Milch nur
in kleinsten Rationen gegen teures Geld und nach stundenlangem
„Schlangenstehn“ erhalten konnte, unter der Hand ein schwunghafter
Handel mit gestohlenem und heimlich geschlachtetem Nutzvieh, auch mit
Kaninchen, Ziegen, Hunden und Katzen, mit Kartoffeln, Mehl und mit
allerhand gepaschter und verschobener Ware getrieben; vor allem aber mit
Kleidern, Wäsche und Schuhen. Hier versammelten sich allnächtlich in den
Wartesälen viele Obdachlose, Arbeitslose, Hungrige und Entgleiste.

Geht man vom Bahnhof aus die breite Baumallee der Bahnhofsstraße
entlang, so gelangt man nach wenigen Minuten in die Georgstraße, die
Herzader der Stadt. Ein weiter Boulevard, lindenüberblüht, voller Beete,
Gartenanlagen, Pavillons und Denkmäler. Und dort zwischen dem alten
berühmten Hoftheater und den schönen Gartenanlagen des sogenannten Café
Kröpcke befand sich um 1918 ein _zweites_ Zentrum der Sittenlosigkeit:
der „Markt der männlichen Prostituierten“, deren 500 damals in den
Polizeilisten eingeschrieben standen, indes der Kriminaloberinspektor
die Gesamtzahl der sogenannten Homosexuellen in Hannover auf nahezu
40000 veranschlagte. Sie bildeten eine eigene kleine Welt. In einem der
schönsten Lokale der Kalenberger Vorstadt, dem sogen. Neustädter
Gesellschaftshaus veranstalteten sie Gesellschaftsabende und Bälle, bei
denen Knaben und Jünglinge in weiblicher Ballkleidung den Damenflor
vertraten. Ein zweiter minder vornehmer Treffpunkt war der alte Ballhof,
ein Barocksaal aus der Königs- und Kurfürstenzeit. Und für die
allerunterste Schicht gab es in einer der ältesten und verrufensten
Straßen der Altstadt, welche „Neue Straße“ heißt, ein kleines Tanzlokal,
genannt „Zur schwulen Guste“, wo nur auf ein bestimmtes Zeichen hin
zugelassen, lesbische Mädchen und gleichgeschlechtlich gerichtete Männer
nachts zusammenkamen. Aber das dritte Hauptzentrum alles Luder- und
Lasterlebens war die malerische Altstadt, dort wo der Fluß an dem
sogenannten Hohen-Ufer entlang eine von vielen Brücken überquerte, als
„Klein-Venedig“ bekannte, uralte Inselstadt bildet: Verfallene Winkel,
Jahrhunderte altes Gemäuer, ein trotziger altsächsischer Beguinenturm
und ein Gewirre von Giebeln, Fachwerk und baufälligen, noch ans
Mittelalter mahnenden Gassen, aus deren Mitte jene Kirche ragt, in
welcher Leibniz begraben liegt, sowie der auf dem „Berge“, einer
plangemachten Rampe, erbaute maurische Judentempel. Dieser Stadtteil,
unmittelbar benachbart dem vom Strome bespülten mächtigen Schlosse der
Welfen, war einst der _vornehmste_ Stadtteil, ist aber im Laufe der
Zeiten, ähnlich der Umgebung des Berliner Schlosses, zum ärmsten
Kaschemmen- und Verbrecherviertel herabgesunken. Gleich dem alten
Hildesheim, Braunschweig und Goslar, das Entzücken für jedes
schönheitsuchende Auge, wurde dieses älteste Hannover die Brutstätte
lichtloser, armutgelber, in Verfall und Moder atmender, zum Unglück
verfluchter Geschlechter. –

Die „Neue Straße“ mit dem einstigen Wohnhaus des Herzogs Friedrich
Wilhelm von Braunschweig, dem späteren Armenhaus, zieht sich entlang der
steilen Uferhöhe des Flusses. Die Hinterwände ihrer dreihundertjährigen
Häuser, ihre Erker und Balkone stürzen jäh hinab in den Fluß, über
dessen Ufern die grünumbuschten armen Höfe und rührend bescheidenen
Gärtchen schweben. Nicht weit davon, dem Judentempel gegenüber, liegt
die sogenannte „Rote Reihe“; eine Gruppe müder, einander kaum noch
stützender morscher Häuser, in deren einem (dem Mordhaus benachbart)
einst der Elektrotechniker Rühmkorff die Induktionselektrizität
entdeckte. In diesem schmutzigen Häusergewirre, auf den seit
Jahrhunderten ausgetretenen elenden Holzstiegen, in Verschlägen, mehr
Käfigen gleich, nur durch dünne Tapetenwände oder Bretterverschläge
voneinander abgetrennt, hausten in Deutschlands Elendszeit die Ärmsten
der Armen. Die aus dem großen Kriege übriggebliebene Jugend hatte die
Lehre begriffen, daß man um eines Rockes, um eines Paar Stiefeln willen
den Feind töten darf. Und „Feind“ ist jeder _andere_. Auf der „Insel“
war Diebesbörse und Hehlermarkt. Hier wurde (in der Sprache dieser
Hinterwelt geredet) allabendlich geküngelt und gekütchebütcht. Hier
wurde Schores geschoben (d. h. Diebesware verhandelt), wurde Rebbes
gemacht, wurde manche „heiße Sache gedreht“. Abends, wenn der Mond hing
über den morschen Dächern und grauen Schloten und den gespenstigen
schwarzen Fluß versilberte, kam die schwere, dürre, zermürbte,
zerarbeitete Leidensmenschheit aus ihren alten Kästen hervor und hing
und hockte über der stinkenden Lagune, auf der alten Brücke: arme,
sorgenschwere, kinderreiche Mütter, müdegewordene, früh verstumpfte
Männer. Und dazwischen wimmelte lebensgierig das junge Volk; die Unzahl
der Gassendirnen und ihrer Zuhälter, „Nepper“, „Strezer“,
„Schoresmacher“, die in der „Kreuzklappe“, im „Kleeblatt“, im „deutschen
Hermann“ manche Missetat baldowerten, während die rätselhaften Sterne
glitzerten im dunklen Wasser des in sich selbst versumpfenden Stromes.


                        Die ersten Leichenfunde.

Am 17. Mai 1924 fanden Kinder, die an der Wasserkunst nahe dem Schlosse
Herrenhausen spielten, einen Menschenschädel. Am 29. Mai wurde mitten in
der Stadt an der Brückmühle hinterm Leineschloß im Mühlengraben ein
feiner Jünglingsschädel angespült. Am 13. Juni klagten die augenlosen
Höhlen zweier neuer Schädel zum Licht. Wiederum: der eine im Osten der
Stadt bei der Wasserkunst; der andere im Westen neben der Brückmühle.
Die gerichtsärztliche Untersuchung ergab, daß es sich handelte um Köpfe
junger Menschen im Alter von 18 bis 20 Jahren. Bei dem am 13. Juni bei
der Brückmühle gefundenen um den eines 11 bis 13 Jahre alten Knaben. Bei
allen Schädeln war festzustellen, daß sie mit einem scharfen Instrument
vom Rumpfe getrennt worden waren. Fleischteile fehlten fast völlig oder
waren verwest, da die Knochen anscheinend schon lange Zeit im Wasser
gelegen hatten. An dem am 13. Juni bei der „Wasserkunst“ gefundenen
Kopfe ließ sich feststellen, daß die Kopfhaut durch einen skalpartigen
Schnitt vom Knochen abgelöst worden war. Man riet zunächst darauf, daß
die Schädel aus der Göttinger Anatomie stammten, oder daß sie in Alfeld,
wo zu jener Zeit eine Typhusepidemie herrschte, in die Leine geworfen
waren, oder endlich, daß sie ins Wasser geschleudert wurden,
gelegentlich von Gräberschändungen, die im Engesohder Friedhof entdeckt
wurden. Keine von diesen Vermutungen bestätigte sich. Dagegen fanden
Knaben, die auf einer Wiese in der Döhrener Masch spielten, einen Sack
mit menschlichen Knochen, und am 24. Juli wurde in der Feldmark Garbsen
abermals ein offenbar vom Körper getrennter skalpierter Schädel
aufgefunden, welcher wiederum von einem ganz jungen Menschen stammte.
Die vielen Knochenfunde konnten nicht verborgen bleiben. Es bemächtigte
sich weiter Volkskreise eine schon lange vorbereitete Schrecksucht.
Schon seit Jahr und Tag nämlich war im Volke ein abergläubisches Gerücht
im Schwange: „Es gibt in der Altstadt Menschenfallen. Junge Kinder
verschwinden in Kellern. Knaben werden in den Fluß versenkt.“ Man
erzählte, daß in der schweren Notzeit Menschenfleisch auf dem Markt
verkauft worden sei. In den Dörfern um Hannover weigerten sich junge
Mägde, in die Stadt einkaufen zu gehen. Und die ungewisse Angst vor
einem die Gegend unsicher machenden „Werwolf“ wuchs von Tag zu Tag. In
den Jahren 1918 bis 1924 waren außergewöhnlich viele Menschen vermißt
oder verschwunden. Im Jahre 1923 wuchs die Zahl der als vermißt
Gemeldeten auf fast 600, und wenn auch die größere Anzahl der Vermißten
sich wieder einfand, so blieb doch im Vergleich mit anderen gleichgroßen
Städten die Anzahl der Verschwundenen in Hannover ziemlich groß. Die
Nachforschung zeigte, daß es sich recht häufig handelte um Knaben und
Jünglinge zwischen 14 und 18 Jahren.

Am Pfingstsonntag des Jahres 1924 zogen Hunderte aus Hannover und
Umgebung an die „Hohen Ufer“, besetzten die kleinen Stege und
Leinebrücken der Altstadt und begannen ein fieberhaftes Suchen nach
Leichenteilen und Knochen. Am fünften Juli in der Morgenfrühe wurde,
nachdem man noch eine ganze Anzahl menschlicher Knochen gefunden hatte,
das ganze Flußbett von der Brückmühle an bis zur großen Leinebrücke am
Clevertor abgedämmt und durch Polizeibeamte und städtische Arbeiter
gründlich nach Leichenteilen durchsucht. Diese Stelle der Leine liegt
mitten in der Stadt. Sie kann von Selbstmördern wegen des dort
stattfindenden starken Verkehrs nicht aufgesucht werden. Das Ergebnis
war furchtbar. Es wurden über 500 Leichenteile gefunden, deren
Untersuchung durch den Gerichtsarzt ergab, daß es sich um die Reste von
mindestens 22 Personen handelte, von denen ungefähr ein Drittel im Alter
zwischen 15 und 20 gestanden haben mochte. Etwa die Hälfte hatte schon
längere Zeit im Wasser gelegen. – An den noch frischen Knochen aber
wiesen die Gelenke glatte Schnittflächen auf.

Inzwischen war teils durch das forsch zugreifende Vorgehen des
Kriminalkommissars Retz, eines freundlichen jungen Riesen, teils durch
eine Reihe merkwürdiger Zufälle die Aufklärung gelungen. Am 23. Juni
wurde der vermutliche Täter ins Gerichtsgefängnis eingeliefert. Es war
der am 25. Oktober 1879 zu Hannover geborene Friedrich, genannt Fritz,
Haarmann; fünfzehnmal vorbestraft; seit 1918 Spitzel im Dienste der
Kriminalpolizei; im übrigen Handel treibend mit Kleidern und Fleisch;
seit vielen Jahren auf der Sicherheits- und Kriminalpolizei bekannt als
Homosexueller. – Seine Erscheinung warf alle gewohnten Vorstellungen von
Mord und Mördern über den Haufen.


                            Das Signalement.

Vor uns steht eine keineswegs unsympathische Erscheinung. Äußerlich
betrachtet: ein schlichter Mann aus dem Volke. Freundlich blickend und
gefällig, zuvorkommend; auffallend gepflegt, sauber und „tipp-topp“. Er
ist gut mittelgroß, breit und wohlgebaut und hat ein zwar derbes, grobes
aber gleichsam wie blankgescheuertes, klares und offenes
Vollmondsgesicht mit frischen Farben und kleinen neugierigen und
fröhlichen Tieräuglein. Sein Schädel ist rund, zeigt breite fliehende
Stirn, schmales Mittelhaupt und eine steile Linie des Hinterhauptes. Die
Ohren sind nicht groß, liegen ein wenig unterhalb der Augenhöhe und
stehen vom Kopfe ab. Auch die Nase ist nicht groß und so wenig
auffallend wie das ganze Antlitz. Im Profil nicht unedel, sieht sie doch
von vorn betrachtet etwas knollig aus, ist an der Wurzel breit und hat
starke witternde Flügel. Der Mund ist klein, frech und dicklippig. Die
Zunge, in der Erregung vorschnellend und die Lippen netzend, ist
auffallend fleischig; die Zähne sind weiß, stark, scharf und gesund; das
Kinn tritt energisch vor. Die Oberlippe schmückt ein kleines englisches
Bärtchen, die vollen Wangen sind sauber rasiert. Sein bräunliches
Haupthaar, glatt anliegend und links gescheitelt, ist nicht eben voll.
Das zwischen braun und grau schillernde Auge ist kalt und seelenlos;
aber gerissen und verschlagen und meistens in Bewegung. Der Blick ist
suchend nach außen gekehrt; aber vergletschert zu unnahbarer
Verschlossenheit, sobald die hysterisch auf- und abflutende Stimmung auf
Peinliches festgelegt wird. Merkwürdig aber ist folgender Gegensatz:
Diese Physiognomie ist auffallend gebunden, ungelöst, und „wie
eingespunden im Fasse ihres Ich“. Zugleich aber gibt sich der Mann
unerträglich geschwätzig, mitteilungsbedürftig und überbeweglich. Er
redet fortwährend auf sein Gegenüber ein; dabei fuchtelt er mit seinen
weißen weichlichen Händen und den langen Fingern, an denen er in der
Nervosität unaufhörlich zerrt und zupft. An der linken Hand fehlt ihm
ein Fingerglied. Er gibt an, daß es bei einer Schlägerei ihm abgebissen
worden sei. Auch sein Rumpf ist gut entwickelt; der Nacken ist stark und
gemein; Brust und Rücken zeigen wie das Gesäß rundliche weibische
Fettpolster. Der Leib ist zwar derb; aber hat etwas vom Weibe. Das
Geschlechtsglied ist stark; die Schambehaarung verläuft nicht im spitzen
Winkel zum Nabel; sondern im flachen Bogen oberhalb des Schambeines. Die
plumpen Füße haben flache Sohlen. Die Stimme, breiig, schleimig und nah
am Diskant, erinnert an das Organ alter Frauen. Der ganze Habitus ist
„androgyn“. Man möchte sagen: nicht männlich, nicht weiblich, nicht
kindlich. Aber männisch, weibisch und kindisch _zugleich_. Am
auffallendsten an dem Mann (leider von den Sachverständigen nicht
studiert und nicht einmal beachtet) sind die vielen Automatismen
und Stereotypien. (Als „Automatismen“ bezeichne ich solche
Ausdrucksbewegungen, die unwillkürlich wiederkehren; als „Stereotypien“
solche, die allmählich zu Gewohnheit geworden sind.) Automatisch sind z.
B. gewisse Bewegungen: eine Art Taperigkeit oder Tatteligkeit des
Ganges, sodann (besonders wenn man ihn lobt oder in Verlegenheit bringt)
eine fast kokette Schwänzelei mit Gesäß und Unterkörper. Ferner: Sobald
er müde wird, beginnt er automatisch mit der linken Hand an eine
bestimmte Stelle des rechten Mittelhauptes zu greifen, als wenn sich
dort ein kranker Fleck befände. Wenn er den Faden verliert (denn er muß
wie Sternes Korporal Trim „alle Sachen ganz von vorn erzählen“) macht er
eine typische Leckbewegung mit der fleischigen Zunge. _Stereotyp_ ist an
ihm jenes ewige Zerren an den Fingern, das Benetzen der Lippen, das
Einkneifen der Augenlider, sobald er eine Verteidigungshaltung annimmt.
Auch sind alle seine Reden übervoll von stereotypen Redensarten. (Nüch?
nüch wahr? Och! Och ne! „Und so weiter, und so weiter!“ Ach Unsinn! ...
Er spricht übrigens auffallend hannoveranisch.) Bestimmte
Lieblingsvorstellungen kehren immer wieder. (Z. B., daß alle Jungens in
ihn verliebt seien; daß nicht er hinter Knaben, sondern daß die Knaben
alle hinter ihm her seien; daß auch die Frauen (die er im übrigen tief
verachtet und gleichsam als Nebenbuhlerinnen empfindet) gern mit ihm
„poussieren“ möchten.) Obwohl er nicht den mindesten Sinn hat für fremde
Rechte und überhaupt keine sozialen (sympathetischen, altruistischen;
aus Mitleid fließenden) Gefühle hegt, ist er doch durchaus gesellig. Die
beiden tiefsten Gefühle seiner Natur sind das Bedürfnis nach Wollust und
das Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Und sie sind so aneinandergefesselt,
wie im Mahabharata der Menschenfresser Hidimba, der Dämon der Blutgier,
gebunden ist an seine Schwester Hidimba, die Göttin der zärtlichen
Schönheit. Er möchte geliebt, ja er möchte gerne bewundert sein und
steckt voll von Beachtungs- und Beeinträchtigungsideen, wobei er mault
und schmollt wie ein dummes, störrisches Kind, das sich immer
benachteiligt wähnt. – Er liebt weibliche Arbeiten, backt, kocht und
stopft Strümpfe, raucht aber dabei schwere Zigarren. Immerhin gehört er
zum Typus des „Weibmannes“ (der sogenannten Tante). Seine
Lieblingsgenüsse sind Bohnenkaffee, starke Zigarren und Harzkäse. Im
allgemeinen erscheint er wie ein gar nicht bösartiges, ganz im
Augenblick lebendes, völlig eigenbezügliches und durchaus triebhaftes
Tier; renommistisch, aber leicht lenkbar. Jede Vorstellung, die man ihm
eingibt, hat die Strebung für sein Bewußtsein sofort „Wirklichkeit“ zu
werden; eben darum ist er vollkommen außerstande, _abstrakte_, d. h.
unbildliche Vorstellungen festzuhalten. Man könnte in dieser Hinsicht
sagen, daß sein Verstand weit schlechter entwickelt ist, als seine
Vernunft. Dieser „Kurzschluß“ zwischen Vorstellung und Wirklichkeit ist
so unmittelbar, daß, wenn er z. B. vom Köpfen („Geköppt werden“)
spricht, er bildhaft den Gang zum Schafott und das Fallen des
Fallmessers dem Besucher vorahmt; wenn er erzählt, wie er die Leichen
zerstückelte, so ahmt er mit den Händen die Schnitte nach; steigert er
sich in Sentimentales hinein („Ich will auf dem Klagesmarkt hingerichtet
werden. Auf meinem Grabe steht der Spruch: ‚Hier ruht der Massenmörder
Haarmann.‘ An meinem Geburtstage kommt Hans und legt einen Kranz
nieder“), dann kommen ihm sogleich Tränen ins Auge; berichtet er von
Geschlechtlichem, dann greift er (selbst im Gerichtssaal) automatisch in
die Geschlechtsgegend. Er ist ein Stück Natur; ohne Logik und ohne
Moral. Aber auch ohne logische und moralische Heuchelei.


                         Elternhaus und Jugend.

Am 25. Dezember 1921 verstarb, 76 Jahre alt, in Hannover der „olle
Haarmann“. Manche Hannoveraner erinnern sich noch an das vermickerte,
gnitterische, zänkische, immer übellaunige und übelnehmerische Männlein,
als an das Urbild eines Krakehlers und mißwollenden Pfennigfuchsers. – –
Hinter allen „Schürzen“ war er her. Abendlich aber randalierte oder
prahlte er in den alten Pinten, Kabakken und Kabuffs der Altstadt. Schon
_sein_ Vater war Querulant und Trinker gewesen. Und in der Familie gab
es ebensoviel Erbbelastete wie in Zolas Familie Rougon-Macquart. Der
„Olle Haarmann“ war in seiner Jugend Lokomotivheizer; hatte aber den
Dienst, darin er für unzuverlässig galt, 1886 verlassen, wegen eines
angeblich im Betriebe erlittenen Unfalls, wobei sein Lokomotivführer zu
Tode kam. Er prozessierte, ein typischer Rentenhysteriker, mit der
Eisenbahndirektion, obwohl er eigentlich in ganz behaglichen
Verhältnissen leben konnte. Denn durch eine Nutzheirat mit einer sieben
Jahre älteren Frau, seiner am 5. April 1901 verstorbenen Ehefrau
Johanne, geb. Claudius, waren ihm ein paar Häuser und ein kleines
Vermögen in die Hände gekommen, so daß er in der „Gründerzeit“ zum
wohlhabenden Bürger geworden, fortan auskömmlich zu leben vermochte. –
Er war ein wüster, zänkischer, kleinlicher, verschlagener Mensch, und
sein unzufriedenes Wesen wurde unleidlicher noch, als er, in reifen
Jahren syphilitisch geworden, seinen alten Frauenzimmergeschichten –
(bald nach seiner Heirat schon nahm er mehrfach Maitressen ins Haus) –
nicht mehr nachgehen konnte ... Die Mutter des Mörders war eine
einfältige, etwas blöde Person, früh verbraucht, überaltert und seit der
Geburt des sechsten Kindes (eben des Triebverbrechers) immer bettlägerig
dahinkränkelnd. Von den sechs Kindern wurde der älteste Sohn Adolf ein
braver kleinbürgerlicher Werkmeister auf der „Continental“, ordentlicher
Philister und Familienvater. Der zweite Sohn, Wilhelm, wurde in jungen
Jahren wegen eines Sittlichkeitsdelikts bestraft, begangen an dem
12jährigen Töchterchen eines benachbarten Gastwirts, und auch die drei
Töchter, alle drei von ihren Männern früh geschieden, erwiesen sich als
leicht aufgeregte, triebbelastete Naturen. Eine der Schwestern, Frau
Rüdiger, verstarb in den Kriegsjahren. Mit der zweiten, Frau Erfurdt,
konnte der Mörder sich nie recht vertragen, und nur die Schwester Emma,
eine Frau Burschel, blieb stets mit ihm verbunden, was aber doch nicht
ausschloß, daß auch diese beiden Geschwister zwischendurch miteinander
prozessierten, ja, daß der Bruder gelegentlich in dem Zigarrenladen der
Schwester Diebstähle und sogar Einbrüche veranstaltete, die er nachher
unter Tränen ableugnete oder anderen in die Schuhe schob. – Friedrich
(genannt Fritz), Heinrich, Karl Haarmann wurde am 25. Oktober 1879 als
jüngstes Kind geboren; die Mutter war damals 41 Jahre alt. Aus der
frühesten Jugend wissen wir nur (aus Erzählungen der Geschwister), daß
dieses Kind von der immer kränklichen Mutter sehr verhätschelt wurde. –
Für den Seelenforscher ist es von Wichtigkeit, daß schon der kleine
Knabe in dem Vater eine Art Nebenbuhler sah, welchen er haßte und tot
wünschte. Durch das ganze Leben zieht sich diese Feindschaft mit dem
Vater. Die beiden beschuldigen und bedrohen einander. Der Vater droht,
den Sohn ins Irrenhaus zu bringen, der Sohn will den Vater (wegen eines
angeblichen Mordes an seinem Lokomotivführer) ins Zuchthaus setzen. Es
kommt immer wieder zu Mißhandlungen und Schlägereien. Jeder behauptet,
daß der andere ihm nach dem Leben trachte, ihn vergiften wolle, ihn
beeinträchtige. Zwischendurch verbinden sie sich aber auch mal wieder zu
gemeinsamen Betrügereien oder entlasten einander vor Gericht. Das
Verhältnis Haarmanns zur Mutter dagegen ist von immer gleicher
Schwärmerei. Sie ist die Einzige, von der er Gütiges zu erzählen weiß
und stets mit sentimentalen Gefühlen spricht. Im übrigen ist die Familie
heillos zerrüttet. Die Geschwister prozessieren unaufhörlich. Erst um
das Erbteil der am 5. April 1901 verstorbenen Mutter; späterhin auch um
das väterliche Erbe. Aus den Anekdoten, die wir aus den Kinderjahren
Haarmanns erfahren konnten, entnehmen wir zwei Züge: Erstens seine
weiblichen („transvestiten“) Neigungen. Er spielte gern mit Puppen,
machte auch weibliche Handarbeiten und wurde in Gesellschaft von Knaben
rot und verlegen. Zweitens: seine Neigung, Angst und Entsetzen in seiner
Umgebung zu erregen, indem er die Schwestern festband, ausgestopfte
Kleiderpuppen auf die Treppe legte, heimlich nachts an die Fenster
klopfte und Gespensterfurcht erweckte. Ostern 1886 kam er auf die
Bürgerschule 4 am Engelbostelerdamm. Die Lehrer schildern das hübsche
Kind als verwöhnt, verzärtelt, still, leicht lenksam, allgemein beliebt
und verträumt. Sein Betragen war „musterhaft“; aber alle Leistungen weit
unter Durchschnitt. Nachdem er zweimal (1888 und 1890) in der
siebenstufigen Schule „sitzen geblieben“ war, wurde er 1894 als Schüler
der 3. Klasse in der Christuskirche von Pastor Hardelandt konfirmiert.
Noch nach einem Menschenalter beklagte er sich bitter darüber, daß er
bei dieser Gelegenheit ein altes Gesangbuch getragen habe, während seine
Geschwister ein neues bekommen hätten. Er sollte nun Schlosserlehrling
werden, erwies sich aber als unbrauchbar, und so gab man ihn mit einem
Schub anderer Kapitulanten auf die Unteroffizier-Vorschule Neu-Breisach.
Am 4. April 1895 kam er in Neu-Breisach im Breisgau an: ein körperlich
gut entwickelter, kräftiger, etwas zu Korpulenz neigender, 16jähriger,
gesunder Junge mit hübschem, regelmäßigem aber ausdruckslosem Gesicht.
Er war ein guter Turner, ein folgsamer Soldat; aber am 3. September wird
er in das Garnison-Lazarett überführt, weil sich plötzlich „Anzeichen
von geistiger Störung“ bei ihm bemerkbar machten. Es handelte sich um
zeitweise Bewußtseinstrübungen (Absenzen) oder um eine Angstneurose. Man
führte sie auf eine Gehirnerschütterung beim Reckturnen zurück oder auf
einen während der Manöverübungen erlittenen Sonnenstich. Nach 14 Tagen
wurde er als gesund entlassen, weil nur vorübergehende Halluzinationen
hatten festgestellt werden können. Aber schon am 11. Oktober mußte er
wiederum dem Lazarett zugeführt werden, weil sich bei ihm erneut eine
Störung zeigte, die im Krankenjournal bezeichnet wurde als
„Epileptisches Aequivalent“. So wurde er denn am 3. November 1895 als
ungeheilt in die Heimat entlassen, nachdem er selbst um seine Entlassung
gebeten hatte, „weil es ihm auf der Unteroffizierschule nicht mehr
gefalle“. Sein Vater, der 1888 eine kleine Zigarrenfabrik begründet
hatte, wollte ihn in dieser beschäftigen, aber, da der Junge nicht
arbeiten mochte, so kam es nun täglich zu neuen Zänkereien zwischen
Vater und Sohn. Inzwischen hatte auch das Geschlechtsleben des
Frühentwickelten mächtig eingesetzt. Nachdem (offenbar schon im
siebenten Lebensjahre) Geschlechtsvergehen auf der Schulbank den Jungen
früh verdorben hatten und ihn zum Verderber für andere Knaben werden
ließen, scheint seine erste „Liebeserfahrung“ die gewesen zu sein, daß
eine in der Nachbarschaft wohnende 35jährige mannweibliche Frauensperson
den 16jährigen dazu verführte, nachts über ein Dach hinweg durchs
Fenster bei ihr einzusteigen; von da ab setzten dann ein: jene
fortwährenden Sittlichkeitsdelikte an kleinen und größeren Kindern, die
durch das ganze Leben Haarmanns, man könnte fast sagen Tag um Tag,
hindurch gehen (und es bedauerlich machen, daß man diesen
Triebirrsinnigen nicht nach dem neunten oder zehnten Triebvergehen ruhig
_kastriert_ hat, wodurch alle seine späteren Mordtaten wären verhindert
worden). Mitte Juli 1896 wurde ein erstes Strafverfahren gegen den
17jährigen eingeleitet, weil er in mehreren Fällen kleine Kinder in
Hauseingänge oder in Keller gelockt und mit ihnen unzüchtige Handlungen
vorgenommen hatte. Auf Entschluß der Strafkammer wurde am 6. Februar
1897 der Bursche zur Beobachtung seines Geisteszustandes in die
Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim überführt. Hier wurde bei
ihm „Geisteskrankheit“ (angeborener Schwachsinn) festgestellt. Er wurde
am 25. März 1897 in Hildesheim entlassen und nunmehr von der Polizei als
„gemeingefährlicher Geisteskranker“ dem städtischen Krankenhaus auf der
Bult in Hannover zugeführt. Das Strafverfahren wurde auf Grund des § 51
St.G.B. eingestellt. Im Bultkrankenhause verblieb der Schwerbelastete
bis zum 28. Mai 1897. An diesem Tage wurde er auf Antrag des Magistrats
Hannover wieder in die Hildesheimer Irrenanstalt gebracht, nachdem durch
das Gutachten des Stadtarztes Dr. Schmalfuß (den ich als besonnenen und
gewissenhaften Arzt kannte), _unheilbarer Schwachsinn_ festgestellt war.
In der Irrenanstalt Hildesheim nun muß der junge Mensch ein „psychisches
Trauma“, d. h. eine Seelenverängstigung erlitten haben, die für sein
ganzes weiteres Leben entscheidend blieb. Obwohl ich Haarmann als einen
Erzschauspieler gekannt habe und nie geneigt war, ihm eine Angabe mehr
als _halb_ zu glauben, so glaube ich ihm doch ohne weiteres jene immer
wiederkehrende Angst vor dem Irrenhause, die ihn immer neu ausrufen
ließ: „Köpft mich; aber bringt mich nicht wieder ins Irrenhaus.“ – Der
Kreis von Lebensschmarotzern, der in späteren Jahren den monomanen
Triebirrsinn des Unseligen ausnutzte und gleichsam auf den Spuren dieses
Werwolfs sein Leben fristete wie Hyänen auf Spuren des Panthers, hatte
unbedingt Gewalt über Haarmann, so bald man ihn nur mit der Drohung
einschüchterte: „Wir bringen dich ins _Irrenhaus_.“ Schon am 13. Oktober
gelang es ihm, gelegentlich einer Gartenarbeit aus dem Irrenhause zu
entweichen. Aber fünf Tage später wurde er in seiner elterlichen Wohnung
ergriffen und nach Hildesheim zurückgebracht. Aber von nun ab lauerte er
nur auf Gelegenheit, wieder auszubrechen. Sie bot sich, als man ihn
Weihnachten nach der Idiotenanstalt in Langenhagen versetzte; zwei Tage
später, am 25. Dezember 1897 – während der Lichterbaum brannte – war er
entwichen. Er flüchtete – anscheinend mit Hilfe der Eltern – in die
Schweiz, wo ein Verwandter der Mutter in der Nähe von Zürich als
Kunstmaler lebte. Unerklärlich freilich ist es, wie es ihm gelang, von
der Polizei ein Unbescholtenheitszeugnis zu erhalten.

Von Mai 98 bis März 99 arbeitete er erst als Handlanger auf einer
Schiffswerft, dann beim Apotheker Dürenberger in Zürich. Im April 99
kehrte er nach Hannover zurück, wo inzwischen sein Entweichen in
Vergessenheit geraten war. Er war jetzt 20 Jahre alt ...

Wieder begann das alte Lungerleben. Der Vater versuchte, ihn in seiner
Zigarrenfabrik zu beschäftigen. Der Sohn zeigte sich arbeitsscheu. Vater
und Sohn schlugen sich; die schwache, vom Manne unterdrückte Mutter trat
ohne rechten Rückhalt für den Jungen ein. In einem dem alten Haarmann
gehörigen Hause in der Burgstraße wohnte ein Arbeiter namens Loewert.
Seine Tochter Erna, ein derbes, blondes Mädchen, grob und hübsch, wurde
Haarmanns „Braut“; Weihnachten 1899 verlobten sie sich förmlich, mit
Einstimmung der beiden Familien, die von dieser festen Bindung eine
Heilung für das Herumstreichertum des jungen Mannes erhofften. Dieses
Liebesverhältnis dauerte drei Jahre. Die Erna Loewert wurde die nächste
Freundin der Schwestern Haarmann. Sie wurde im Jahre 1901 von dem
23jährigen Burschen schwanger; aber das Kind wurde durch eine Hebamme
abgetrieben. Im Oktober 1900 erhielt Haarmann einen Gestellungsbefehl.
Er unterbrach sein arbeitsscheues Herumtreiberleben, um abermals Soldat
zu werden. Am 12. Oktober 1900 wurde er als Ersatzrekrut beim
Jägerbataillon 10 in Bitsch bei Colmar eingestellt. Von dieser Zeit
sprach er stets als von der schönsten seines Lebens. Seine Vorgesetzten
waren mit ihm zufrieden. Hauptmann v. Gottberg nahm ihn zum Burschen.
Leutnant Fischer lobte ihn als „den besten Schützen in der Kompagnie“.
In diese Militärdienstzeit fiel der Tod seiner Mutter, zu deren
Beerdigung er Ostern 1901 nach Hannover in Urlaub fuhr. Der Vater wollte
jetzt den Verkehr mit der Erna Loewert nicht mehr leiden und schrieb, um
das Verhältnis zu hintertreiben, an den Bataillonskommandeur nach
Bitsch; aber man hatte keinen Anlaß, den dienstwilligen Soldaten zu
tadeln, bis im Oktober die Manöver kamen und bei einem anstrengenden
Marsch Haarmann zusammenbrach, wonach Schwindelanfälle und
Schwächezustände eintraten, infolge deren er am 4. Dezember wegen
„Neurasthenie“ ans Garnisonlazarett in Bitsch überwiesen wurde. Hier
soll ein junger Stabsarzt sich für den hübschen Jungen ungebührlich
interessiert haben. Er blieb länger als vier Monate im Lazarett. Da man
aus seinem Leiden nicht klug werden konnte, so wurde er am 14. Mai 1902
nach Straßburg ins Garnisonlazarett I auf die Station für Nervenkranke
überführt. Und dort wurde Folgendes festgestellt: „Es liegt ein schon
lange bestehender Intelligenzdefekt vor, der aber nur bei systematischer
Prüfung zu Tage tritt, da im übrigen Haarmann durchaus keinen
schwachsinnigen Eindruck macht. Mit höchster Wahrscheinlichkeit ist
anzunehmen, daß er im Jahre 1895 an Hebephrenie (Jugendirrsinn)
erkrankte, daß sich hieran ein erheblicher Schwachsinn anschloß, der
eine angeborene Idiotie vortäuschte, worauf allmählich wieder eine
gewisse Besserung eintrat. Haarmann ist wegen überstandener
Geisteskrankheit, die einen gewissen Schwachsinn hinterlassen hat, für
dienstunbrauchbar und teilweise erwerbsunfähig zu betrachten.“ – Beim
Generalkommando des 15. Armeekorps in Straßburg wurde angenommen, daß
das früher bei Haarmann bestehende Leiden durch den Militärdienst,
insbesondere durch die Anstrengungen bei den Herbstübungen 1901
erheblich verschlimmert worden sei. Durch Verfügung vom 23. Juli 1902
wurde er demgemäß „auf Grund innerer Dienstbeschädigung als dauernd
ganzinvalide, zeitig _teilweise_ erwerbsunfähig und dauernd untauglich
zur Verwendung im Zivildienst anerkannt.“ Er wurde sodann am 28. Juli
vom Jägerbataillon in Bitsch entlassen. In der Überweisungsnationale ist
seine Führung als „recht gut“ bezeichnet. – Er bezog von nun an eine
militärische Rente, die monatlich 21 Mark betrug. Er zog nunmehr zu
seiner in Hannover wohnenden Schwester, Frau Burschel. Und wieder begann
der alte Kriegszustand mit dem Vater. Er verklagte diesen (1902) auf
Gewährung von Unterhalt, da er wegen seines Nerven- und Herzleidens
außerstande sei, regelmäßig zu arbeiten und von seiner militärischen
Rente nicht leben könne. Der Vater wendete ein, daß der Sohn seine
Krankheit nur vorgetäuscht habe, um vom Militär frei kommen und sein
Verhältnis mit der Erna Loewert fortsetzen zu können. Er sei ganz gesund
und nur zu träge, um regelmäßig zu arbeiten. Haarmann wurde denn auch
mit seiner Klage auf Unterhalt abgewiesen. Aber nunmehr wurde das
Verhältnis zum Vater vollends unerträglich. Im Februar 1903 erstattete
der Vater bei der Staatsanwaltschaft Anzeige, daß Haarmann ihn und seine
Geschwister mit Totschlag bedroht, ihn der Ermordung des
Lokomotivführers Schröder bezichtigt und von seinem Bruder Adolf habe
Geld erpressen wollen. Gleichzeitig beantragte er (eigentlich im
Widerspruch zu der früheren Angabe, daß der Sohn seine Krankheit nur
_vortäusche_) den Haarmann als gemeingefährlichen Geisteskranken in eine
Irrenanstalt unterzubringen. Das Verfahren wurde eingestellt, weil die
Angehörigen bei ihrer polizeilichen Vernehmung die Behauptungen des
Vaters nicht bestätigten. Der Sohn drehte nun den Spieß um und verklagte
den Vater wegen wissentlich falscher Anschuldigung, worauf nunmehr
wieder die Geschwister bei ihrer gerichtlichen Vernehmung die Angaben
des _Vaters_ bestätigten, so daß auch dies Verfahren ergebnislos
eingestellt werden mußte. Auf Grund der in der Anzeige des Vaters
enthaltenen Angaben über die _Gemeingefährlichkeit_ des Sohnes,
veranlaßte aber nunmehr das Polizeipräsidium in Hannover eine
Untersuchung durch den Kreisarzt Dr. Andrae. Dieser erstattete am 14.
Mai 1903 sein Gutachten. Es kam darauf hinaus, daß „Haarmann zwar
moralisch minderwertig, wenig intelligent, träge, roh, leicht reizbar,
rachsüchtig und gänzlich egoistisch, nicht aber im eigentlichen Sinn
‚geisteskrank‘ sei, so daß kein Anlaß bestehe, ihn von Amtswegen in eine
Irrenanstalt unterzubringen“. Demgemäß wurde davon Abstand genommen. So
war denn der Wolf (24 Jahre alt) auf die menschliche Gesellschaft
losgelassen.


                      Auf der Verbrecherlaufbahn.

Zunächst versteckte sich der junge Faulpelz hinter seine „Braut“. Der
Vater leiht 1500 Mark. Damit begründet der Sohn auf den Namen seiner
Braut ein Fischgeschäft. (An der Lutherkirche 9.) Davon soll sie ihn
ernähren. Er selbst versucht sich als Versicherungsagent; arbeitet aber
gar nicht mehr, als durch Verfügung des Generalkommandos des X.
Armeekorps in Hannover vom 15. Juli 1904 er als dauernd ganzinvalide und
_größtenteils_ erwerbsunfähig anerkannt und seine Monatsrente auf 24
Mark erhöht wird. Schon zu Anfang 1904 war das vom Vater erhaltene Geld
völlig aufgezehrt, und mit dem Fischgeschäft ging es abwärts. Um diese
Zeit ging auch die Verlobung mit Erna in die Brüche. Haarmann erzählt
uns das so: „Erna war in anderen Umständen von mir; sie war lieb zu mir
und wollte weiter poussieren; aber ich konnte nicht mehr. Sie verkehrte
mit Student Heinemann. Ich sagte es zu Emma. Da wurde Erna giftig und
hat mich aus dem Geschäft ’rausgeschmissen und da es auf ihren Namen
eingetragen war, konnte ich nichts machen.“ – Die Wahrheit ist, daß
Haarmann bei seinem Luderleben um diese Zeit gonorrhoisch erkrankte und
seither, den Frauen gegenüber immer gleichgültiger werdend, sich
ausschließlich einem gleichgeschlechtlichen Triebleben dahingab. Aber
erst aus dem Frühjahr 1905 kann ein längeres Verhältnis mit einem Manne
nachgewiesen werden, in welchem Haarmann zweifellos der passive Teil
gewesen ist. Der betreffende (um 1916 verstorben) war ein gräflicher
Kammerdiener, namens Adolf Meil, damals schon ein Mann Ende vierzig (der
von seiner ehemaligen Herrin eine Rente bezog, angeblich, weil er „etwas
nachgeholfen hatte“, als der alte Graf im Bade einem Schlaganfall erlag
und die junge Gräfin zur Witwe machte). Haarmann erzählte die Anfänge
dieser Bekanntschaft uns folgendermaßen: „Ich komme vom Jahrmarkt und
denke reine gar nichts. Plötzlich redet Einer mich an. Er hat ’ne Brille
auf. Er sagt: ‚Kommen Sie auch vom Marcht?‘ Ich denke, das ist ein
Schullehrer. Er nahm mich mit zur Nelkenstraße. Bei der Kranzbinderei
von Goslar bleibt er stehen und sagt: ‚Hier wohne ich nun.‘ Ich ging mit
’rauf. Er kochte Bohnenkaffee. Er küßt mich. Ich bin schüchtern.
Mittlerweile wirds zwölf. Er sagt: ‚Es ist doch schon so spät, schlafe
bei mir.‘ Ich tat es. Er machte alles, was ich noch nicht kannte. Ich
kriegt es mit der Angst. Ich habe ihm das ganze Bett vollgemacht. Danach
lernte ich aber hundert solchene kennen.“ – Bis 1904 war Haarmann immer
der Justiz entgangen. Aber von seinem 26. Lebensjahre an rollt sich ab
eine solche Strafliste, daß in den folgenden zwanzig Jahren nahezu ein
Drittel aller Tage in Untersuchungszellen, Gefängnissen oder
Zuchthäusern verbracht wurde. Seine erste Straftat hat einen
Beigeschmack von Komik. Er liest in der Zeitung, daß in der
Ultramarinfabrik „Laux & Vaubel“ ein „Fakturist“ gesucht werde. Er weiß
nicht, was das Wort Fakturist bedeutet, aber er entsendet ein glänzend
geschriebenes Bewerbungsschreiben. Der Chef läßt ihn kommen, und er
verspricht mit der ganzen Treuherzigkeit, die er vorzutäuschen verstand,
jede nur erforderliche Leistung. Man ließ ihn nun Rechnungen ausziehen;
aber entdeckt nach einigen Tagen zahllose Unpünktlichkeiten. Er
entschuldigt sich mit Krankheit und gelobt Besserung. Auf seinem Büro
arbeitet ein kleiner Lehrling, den er durch Zigaretten und Liebkosungen
besticht, statt seiner die schwierigeren Arbeiten zu machen. Er selbst
kontrolliert lediglich die Nummern der abfahrenden Wagen. Er freundet
sich an mit der in der Fabrik reinmachenden Scheuerfrau Guhlisch. Eine
energische, vorurteilsfreie Person mit einem ebenso „vorurteilsfreien“
zehnjährigen Schlingel von Sohn. Die drei begründeten eine Art
Diebskompagnie. Nach Schluß der Büros werden große Mengen Marineblau und
andere Farbstoffe auf die Seite geschafft. Haarmann arbeitet dabei als
Angestellter der Frau Guhlisch. Zwischendurch macht man auch bei einem
Hausgenossen der Guhlisch kleinere Einbruchsdiebstähle und an freien
Abenden unternehmen Haarmann und der kleine Guhlisch methodische
Streifzüge auf die Kirchhöfe, wo sie Ketten, Metalle, Teile von
Grabdenkmälern stehlen. – Die Diebstähle in der Fabrik kamen erst
heraus, als Haarmann schon lange wegen Unbrauchbarkeit entlassen war,
und zwar wurden sie erst entdeckt, als die Kunden sich darüber
beschwerten, daß Waren, welche sie von Haarmann stets zu halben Preisen
bezogen hätten, nunmehr wieder doppelt so teuer bezahlt werden mußten.
Vom 4. Juli bis 19. Oktober 1904 wurde Haarmann nicht weniger als
viermal vom Schöffengericht und von der Strafkammer wegen schweren
Diebstahls und Unterschlagung verurteilt. Die folgenden Jahre brachten
dann eine fortlaufende Kette neuer Diebstähle, Einbrüche, Betrügereien
und Sittlichkeitsverbrechen, und es ist wohl auch für die Praxis des
Strafvollzuges im 20. Jahrhundert kennzeichnend, daß jedes Mal, wenn der
Übeltäter aus dem „Kittchen“ zurückkehrte, seine Verschlagenheit wie
sein Verbrechen größer wurde. Die Planmäßigkeit seiner Taten war
erstaunlich. Er kaufte sich z. B. einen kleinen Desinfektionsapparat und
mietete ein Hofzimmer, angeblich, um eine Desinfektionsanstalt zu
betreiben. Dann verfolgte er die Todesanzeigen in den Zeitungen und ging
in die Trauerhäuser, wo er sich als „Beamter der städtischen
Desinfektion“ vorstellte und den Leuten riet, daß sie das Totenzimmer
oder die Sachen des Verstorbenen desinfizieren lassen sollten; diese
Desinfektion nahm er dann dem Scheine nach vor und benutzte die
Gelegenheit zu Diebstählen; wenn man ihm gelegentlich eine Erquickung
anbot, so lehnte er treuherzig ab mit der Begründung: „Ich darf als
Beamter in den Häusern nichts annehmen.“ Ein andermal wurde er nahe der
Herrenhäuser Allee beim Abschrauben eines Türdrückers ertappt; er wies
nach, daß an seiner Haustüre der Drücker fehle und daß er das fehlende
eben habe ergänzen wollen. Seine Frechheit war so groß, daß er einmal
unmittelbar, ehe er in Untersuchungshaft abgeführt wurde, noch schnell
seinem Logiswirt einen Topf mit sechzig eingelegten Eiern stahl. Während
des Jahres 1905 wurde Haarmann insgesamt zu 13 Monaten Gefängnis
verurteilt; aber in den späteren Jahren scheint er seine Taten
vorsichtiger ausgeführt oder besser verborgen gehalten zu haben. Die
Feindschaft mit dem Vater, welcher ihn für kerngesund aber arbeitsscheu
hielt und als großen Simulanten bezeichnete, führte dahin, daß Haarmann
am 1. November 1906 wegen Körperverletzung des Vaters zu einem Monat
Gefängnis verurteilt wurde. Die Streitigkeiten zwischen beiden hatten
hauptsächlich zum Gegenstande, daß der Sohn die Herausgabe seines
mütterlichen Erbteils verlangte und der Vater es nicht auszahlen zu
können erklärte. In den folgenden Jahren unternahm er immer wieder mit
dem jungen Guhlisch Raubausflüge auf die Kirchhöfe (wobei vielleicht der
Grund gelegt wurde zu seiner späteren Gleichgültigkeit gegen das
Hantieren mit Leichenteilen). Zwischendurch fand er durch Vermittlung
seines Bruders Adolf Stellung auf der „Continental“, wo er gut
verdiente. – Man darf es als Glücksfall betrachten, daß Haarmann ein
Jahr vor Ausbruch des Weltkrieges eine Zuchthausstrafe von 5 Jahren
erlitt, so daß er während der Kriegsjahre in den Strafanstalten Celle,
Lüneburg, Rendsburg und Rawitsch interniert war; es wäre nicht
auszudenken, was ein solcher Mensch in einer Zeit, wo jeder
Gewaltinstinkt dem „Feinde“ gegenüber freigegeben wurde, an
Verbrechertaten hätte begehen können. Übrigens kann auch der folgende
Umstand zu denken geben: Als in den letzten Kriegsjahren Mangel an
Arbeitskräften herrschte, weil alle verfügbare Mannheit an der Front
war, da wurden die Zuchthaussträflinge als Landarbeiter auf Gütern
verwendet; auch Haarmann arbeitete in dieser Zeit auf den Ländereien
eines Rittergutsbesitzers v. Hugo bei Rendsburg; und zwar so zu
allgemeiner Zufriedenheit, daß man ihn lieb gewann und nicht wieder
ziehen lassen wollte. Die fünfjährige Zuchthausstrafe 1913 wurde unter
sehr erschwerenden Umständen verhängt. Ende 1913 fanden in dem vornehmen
Viertel „die List“ zahlreiche Kellerdiebstähle statt. Schließlich wurde
Haarmann bei dem Versuch, einen Kellereinbruch zu verüben, ertappt und
festgenommen. Man fand bei der Durchsuchung seiner Wohnung ein riesiges
Lager gestohlener Konserven, Weinflaschen, Eier und Fleischwaren. Seiner
Wohnungswirtin und seinem 17jährigen Freunde Fritz Algermissen hatte er
lange Zeit hindurch Eßwaren geschenkt oder billig verkauft, unter dem
Vorgeben, er sei Chemiker auf der Continental-Fabrik und habe eine
Agentur für Lebensmittel. Trotz einwandfreier Beweise für schwere
Diebstähle in zehn Fällen, schwur Haarmann: „Bei Gott und dem Grabe
meiner Mutter. Machen Sie mich nicht unglücklich. Ich bin unschuldig,“
verzichtete aber, als er zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, auf
Einlegung eines Rechtsmittels. Von Ende 1905 bis Ende 1912 befand er
sich nur wenige Monate in Freiheit. Merkwürdig ist es, daß, obwohl nach
Haarmanns eigenen Angaben die sittlichen Verfehlungen an Knaben und
Jünglingen, sobald er in Freiheit war, nahezu zur täglichen Gewohnheit
wurden, die Verurteilung wegen solcher Vergehen verhältnismäßig selten
erfolgte; meistens darum, weil die Betroffenen zu schamhaft waren ihn
anzuzeigen. Erst 1911 wurde eine Anzeige wegen Vergehens gegen § 175
StGB. erstattet, indem vier Väter wegen „Beleidigung“ ihrer Kinder
gemeinsam klagten, doch wurde das Verfahren eingestellt, da die Aussagen
der Knaben gar zu unbestimmt blieben. Am abscheulichsten war wohl jener
Fall, der im November 1912 ihm eine Zusatzstrafe von zwei Monaten
Zuchthaus eintrug: er hatte einen ihm gänzlich unbekannten 13jährigen
Schulknaben auf der Straße angesprochen und gegen Geldversprechen, mit
der Mahnung, er dürfe seinen Eltern nichts davon sagen, in seine Wohnung
zu verschleppen und zu homosexuellem Verkehr zu verlocken gesucht. –

Diese Vorgeschichte lag vor, als Haarmann im April 1918 aus dem
Zuchthause entlassen, nach kurzem Gastspiele in Berlin, wieder in
Hannover auftauchte. Und nun erfolgten die ersten Mordtaten. Die ersten
wenigstens, welche man (allerdings erst sechs Jahre später) ihm
_nachzuweisen_ vermochte.


                    Die Zeit der Revolution 1918/19.

Die Zeit der Heimkehr aus dem Zuchthause Rawitsch schilderte uns
Haarmann folgendermaßen: „Als ich aus dem Kittchen entlassen wurde, fuhr
ich nach Berlin. Aber da war nicht viel los. Da ging ich wieder nach
Hannover. Ich ging gleich zu Emma. Bertchen, Emmas Jüngste, sagte: ‚Iß
nicht so viel Brot, Onkel. Wir stehn Schlange; sind alle krank.‘ Da
sagte ich: ‚Will mal sehen, mein Kind, was sich machen läßt.‘ Ich ging
gleich zum Bahnhof. Emma gab Geld. Da sind ja die Schiebers, die
Hamsterers! Da klauten wir. Da hatten wir alles. Da wurden wir alle
wieder schöne dick. Emma verkaufte weiter. Da ging aber der olle
Haarmann zum Hauswirt. Da hat er mich verklatscht. Da sagte Emma:
‚Fritz, geh’ man wieder weg‘.“ – Haarmann war in eine Zeit
hineingeraten, in der alle seine bösen Urtriebe wild ins Kraut schießen
konnten. Sein Hauptquartier wurde die große Vorhalle des Hauptbahnhofs
in Hannover, wo ein schwunghafter Handel mit gestohlenem oder
schwarzgeschlachtetem Fleisch und mit allen, in jenen Tagen nicht mehr
aufzutreibenden, in Deutschland schwer entbehrten Gebrauchsgütern
getrieben wurde. April 1918 mietete Haarmann von der Ww. Schildt in dem
Hause Cellerstraße 27 einen Laden mit Hinterzimmer, angeblich zu
Bürozwecken. Der Laden wurde mit einigen Möbelstücken notdürftig
ausgestattet. Er wohnte zunächst noch bei seiner Schwester Burschel; zog
aber Ende August in das Hinterzimmer des Ladens. Es begann dort ein
Betrieb, der den Hausbewohnern immer rätselhafter und unheimlicher
wurde. Aus und ein flogen junge Leute. Sie brachten Rucksäcke mit
Fleisch. Nachts hörten die Nachbarn ein Hacken und Klopfen in dem
Hinterzimmer; sie nahmen an, daß Haarmann das zu seinem Schleichhandel
„gehamsterte“ Fleisch zerlege. Neben dem Haarmannschen Laden war der
Gemüseladen von Frau Seemann, einer verängstigten Frau, die in jenen
schweren Tagen mit ihrem Nachbarn wohl ein bißchen Kippe machte und
gelegentlich ebenfalls von den bei Haarmann ein- und ausgehenden jungen
Leuten einige Schleichware billig erstand. Diese bängliche Frau war wohl
die erste, der eine Ahnung davon aufstieg, daß in dem Nebenraum dunkle
Mordtaten vorgehen könnten. Einmal, als Haarmann im Nebenraum Knochen
hackte, klopfte sie an die Wand und rief hinüber: „Krieg’ ich auch was
ab?“ Haarmann rief zurück: „Ne, das nächste Mal.“ Anderen Tages brachte
er ihr einen Sack Knochen. „Ich machte Sülze daraus, aber ich dachte: I
gitte, die sehn so weiß aus; mir wird fies davor.“ Erst sechs Jahre
später klärte sich auf, daß in diesem Hinterzimmer in der Cellerstraße
mindestens zwei Personen getötet wurden: der 14jährige Sohn Hermann des
Fahrradhändlers G. Koch und der 15jährige Friedel des Gastwirts Rothe;
und wenn auch ungewiß blieb, ob Haarmann das Fleisch der getöteten
Knaben bei seinem Fleischhandel mit verwendete (vielleicht hat ein
letztes Restchen menschlicher Scham ihn abgehalten, das Gräßlichste
einzugestehen), so ist doch so viel gewiß, daß nicht erst 1923 der
Tötungszwangstrieb einsetzte, sondern daß schon in den Jahren 1918-1923
manche Mordtat geschehen sein muß. Diese Taten sind nicht ans Tageslicht
gekommen. Haarmann, der sonst ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen
hat, konnte sich an die Zahl seiner Opfer so wenig erinnern, wie an ihre
Gesichter (wie er denn überhaupt alles Quälende aus seinem Bewußtsein zu
verdrängen versucht). Nach der Zahl seiner Morde befragt, pflegte er,
unsicher und wortkarg werdend, sofort zu erwidern: „Es können dreißig,
es können vierzig sein; ich weiß das nicht“; im einzelnen aber gab er
immer nur solche Fälle zu, die ihm nachgewiesen werden konnten, und mit
einem fast gemütlichen Hohn hielt er oft dem Staatsanwalt vor: „Es sind
auch Opfer da, die Sie _nicht_ wissen. Die aber, die _Sie_ meinen, sind
es nicht.“


                         Stellung zur Polizei.

Das Schauergemälde der Jahre 1918-1924 wird sich uns im Laufe des
Prozesses enthüllen. Um aber das Ungeheuerliche der _äußeren_
Möglichkeit nach zu begreifen, müssen wir uns vorweg erinnern an jene
Rechts- und Polizeizustände, die gegen Ende des fünfjährigen
Völkermordens fast in ganz Europa herrschten; in jenen Tagen, wo mehr
als eine Million Menschen unter den Augen der „Kulturmenschheit“
glattweg verhungerte. Deutschland hatte kein Heer. Die proletarische
Jugend, aufgeregt, verwildert, und jahrelang aufs unverantwortlichste
irregeleitet und mißbraucht, entbehrte plötzlich der Hemmung und
Führung. Das geschlagene Volk schlug zurück. Der politische Mord wurde
zur Gewohnheit. Die durch den Vertrag von Versailles beschränkte
Polizeimacht (Schutz-, Sicherheits- und Kriminalpolizei) konnte mit den
aus langem Kriegsleben Zurückkehrenden, der bürgerlichen Seßhaftigkeit
entwöhnten verbrecherischen Elementen nicht fertig werden. Die untere
Polizeimannschaft, nach der 4. bis 7. Gehaltsklasse besoldet, Männer,
die mehrmals in der Woche die Nächte bis früh 4 Uhr auf der Straße
zubringen und dann doch schon wieder gegen 9 Uhr auf dem Büro sein
müssen, war so jämmerlich bezahlt, daß sie für jede kleinste Hilfe und
für jedes Geschenk, sogar aus Verbrecherhänden, immer empfänglicher
wurde. Man verlangte von diesen mit Recht verbitterten, nur wenig
gebildeten Subalternbeamten Übermenschliches. Das gesamte
Unzuchtsdezernat der Kriminalpolizei in Hannover bestand zu Haarmanns
Zeiten aus 12 Kriminalbeamten und einem Kommissar, welche ungefähr 4000
von Prostitution lebende Frauen (wovon nur 400 eingeschriebene Dirnen
sind) und mindestens 300 männliche Prostituenten zu überwachen hatten.
Für die Nachforschung und das Wiederermitteln von „Vermißten“ war (und
ist) vom Staat eine so lächerlich geringe Geldsumme zur Verfügung
gestellt, daß schon um der Kosten willen eine wirklich gründliche Suche
nach verschwundenen Personen nicht einsetzen konnte. Dort, wo von
Haarmanns Opfern die Spuren gefunden wurden, geschah das fast immer
durch _Privat_-Detektive oder durch die nachforschenden Angehörigen
selbst. Die Schuld lag also zweifellos am System, nicht an den einzelnen
Beamten. Es ist aber klar, daß gerade in solchen verwilderten Tagen die
Sicherheits-, Schutz- und Kriminalbehörden auf die Mithilfe des
„Publikums“ angewiesen sind und daß sie, wenn keiner ihnen hilft und
jeder nur mit sich und dem eigenen Elend beschäftigt ist, sich aus der
Verbrecherwelt selber ihre Helfer heranziehen müssen. Man bezeichnet
solche Helfer als Spitzel, Zuträger, Achtgroschenjungen, Provokateure
und Vigilanten. Sie spielen die Rolle der Spione im Kriege. Man benutzt
sie und verachtet sie. Haarmann nun wurde von der Polizei in den Jahren
1918 bis 1924 beständig zu Spitzeldiensten herangezogen und erwies sich
in vielen schwierigen Fällen – (bei der Aushebung einer Verbrecherbande,
die falsches Geld herstellte; bei der Aufdeckung eines Diebstahles von
Treibriemen; ja sogar beim Aufspüren von vermißten Personen) – als sehr
verwendbar und nützlich. Wir werden sehen, wie dieser Mann in _beiden_
Welten daheim war, bald einmal der Polizei einen seiner Buhljungen oder
Kumpane in die Hände spielte, bald einmal wieder seine Beziehungen zu
den Polizeiorganen zugunsten der Verbrecherwelt und vor allem zugunsten
seiner _eigenen_, in tiefster Heimlichkeit wuchernden Mordwollust
benutzte. Nahezu alle seine Verbrechen wurden dadurch möglich, daß er
für das naive Volk (das in Deutschland den Polizeibeamten für eine Art
_richterliche_ Person hält) und zumal für die unerfahrene Jugend
zwischen 14 und 18, die er zu verführen pflegte, eine amtliche
Vertrauensperson war. Er durchforschte fast Nacht um Nacht die Wartesäle
des Bahnhofs; die er (ganz gleich, ob nun dank eines nicht-offiziellen
oder [wie eine große Reihe von Zeugen aussagen] dank eines _offiziellen_
Polizeiausweises) jederzeit betreten konnte, obwohl sie sonst nur von
Reisenden, die eine Fahrkarte vorwiesen, zur Nachtzeit besucht werden
durften. Er konnte auch ungehindert jederzeit durch die Bahnsperren
gehen, da die Beamten ihn kannten und ihm Ehrbezeugungen erwiesen. Er
machte sich an durchreisende oder auf dem Bahnhof sich umhertreibende
junge Menschen heran, durchmusterte ihre Personalausweise, befragte sie
nach dem Ziele der Reise, machte gelegentlich die auf dem Bahnhof
eingestellte Behörde (Bahn-, Sicherheits- und Kriminalwachen) auf
Verdächtiges oder Verdächtige aufmerksam; ja, es ist vorgekommen, daß er
selber auf der Bahnhofswache Telephongespräche führte und Verhöre
aufnahm. Solchen Jungen, die ihm wohlgefielen (Obdachlosen, entlaufenen
Fürsorgezöglingen, Arbeitslosen) bot er gerne Essen, Arbeit und Wohnung
an, behielt sie eine oder auch mehrere Nächte bei sich, verführte sie zu
Geschlechtsvergehen und tötete die schönsten im nachtumgrauten
Sinnenrausch. Da er alle Bereitschaften kannte, das Fahndungsblatt las,
die Razzien vorauswußte und überhaupt wie ein Zugehöriger zur
Kriminalpolizei obwaltete, so hatte er es leicht, solche Lieblinge, die
selber irgend etwas ausgefressen hatten, in seinen Schutz zu nehmen und
vor der Polizei zu decken, während umgekehrt dort, wo er gereizt,
gehänselt oder nicht ernst genommen wurde, er die Jünglinge dem Weibel
in die Finger spielte und „verschütt gehen“ ließ. Dieser Tatbestand, daß
Haarmann die Polizei nutzte, so wie er selber zu oft recht billigen
Lorbeeren von den kleineren Beamten genutzt wurde, ist bei dem ganzen
Kriminalfall mit stillschweigender Übereinkunft _aller_ Behörden
verschleiert worden; ähnlich wie man das ungeheure Spionage-
und Lügensystem der Kriegsjahre allgemein verschleiert. Es
geschieht gar nicht selten, daß eine zum Häscherdienst benutzte
Verbrecherpersönlichkeit jedem einzelnen Mitgliede der Behörde recht gut
bekannt ist, daß aber, wenn der Mann seine Beziehungen _mißbraucht_, die
Institution von ihm abrückt und in der Öffentlichkeit erklärt: „Die
Stellung des Mannes war nicht amtsförmlich; er bezog keinen Sold; er
führte keine amtlichen Ausweise, kurz, die Behörde _kennt_ ihn gar
nicht.“ Spitzel, Aufpasser, Zuträger, Vigilanten sind eben niemals
„offiziell“. Und es gibt zahllose kleine Gefälligkeiten zwischen
Behörden und Verbrecherwelt, die viel gewagter und gefährlicher sind,
als ein ehrlicher Sold. Das Wort „Behörde“ ist eben nur ein
Gedankenwort; dahinter stehen Menschen und ihre Menschlichkeiten. – Die
Wahrheit ist, daß das Treiben Haarmanns zwischen 1918 und 1924 gerade
nur darum _möglich_ war, _weil_ er unter beständiger Polizeiaufsicht
stand und weil von einem so allvertrauten, allgemein beliebten und
täglich mit allen Polizeipersonen freundschaftlich verkehrenden Manne
man zwar alle erdenklichen sittlichen Laster, ganz sicher aber nie einen
tief verborgenen Mordwahnsinn vermutete. Wollte auch ich diesen Punkt
hier verschleiern, so wäre es mir unmöglich, den Kriminalfall
_aufzuklären_. Wir müssen gerade diesen Umstand: die Polizeifunktion des
Haarmann, scharf herausstellen.


                       Die Geschlechtsverbrechen.

Obwohl somit bis zum Jahre 1924 die vielen Mordtaten des Haarmann trotz
mehrerer Anzeigen aus seinem Bekannten- und Nachbarkreise und trotz
mehrfacher Verdachtsgründe unentdeckt und im Dunkel blieben, so wurde
doch bei den immer wiederkehrenden Haussuchungen und Überwachungen etwas
anderes vollkommen klargestellt: Der Gewohnheitsverbrecher, der
beständig von Schwärmen blutjunger Menschen umgeben lebte, welche er
nutzte, oder welche ihn nutzten, fröhnte jeder nur erdenklichen
Widernatürlichkeit des Geschlechtslebens. Als man wegen des
verschwundenen Rothe bei ihm forschte (Oktober 1918), fand man zwar
nicht den vermißten Knaben, wohl aber einen anderen nackten Knaben bei
ihm im Bette. Er hatte die Knaben angesprochen, bewirtet und dann mit in
die Wohnung genommen, wo sie gegen Geld Unsagbares machen mußten. Da er
auch andere Fälle dieser Art zugab, so wurde Oktober 1918 ein
Strafverfahren wegen tätlicher Beleidigung eingeleitet, welches im April
1919 mit seiner Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis endete.
Inzwischen war ihm die Wohnung in der Cellerstraße zu „heiß“ geworden,
und er verzog Anfang Dezember 1918 nach Seydlitzstraße 15 zu einer Frau
Hederich, bei welcher er eine Wohnung mietete, angeblich als „Lagerraum
für Zigarren, Chemikalien und anderes“. Es gehörte zu Haarmanns
Gepflogenheiten, sich immer einen jungen Menschen als „Meschores“
(Faktotum) zu halten. Dieser hatte die Wohnung reinzuhalten und alle
Verrichtungen zu erfüllen, die man sonst einem Mädchen zumutet. Ein
junger Arbeiter, namens Friedrich Oswald, welchen Haarmann mittellos am
Bahnhof aufgriff, wurde in die neue Wohnung eingesetzt, bekam sein
eigenes Zimmer und hatte im Auftrage Haarmanns nebenher auch tätig zu
sein für eine der Schwester befreundete Zigarrenhändlerin, mit welcher
Haarmann lichtscheue Beziehungen unterhielt. Auch in _dieser_ Wohnung
fanden bald wieder polizeiliche Durchsuchungen statt, als Haarmann in
Verdacht geraten war, den seit September 1918 vermißten Schüler Koch
getötet zu haben, und auch in diesem Falle mußte der Mordverdacht zwar
fallen gelassen werden, dagegen wurde erwiesen, daß Haarmann neuerdings
mit ganz jungen Burschen widernatürliche Unzucht getrieben hatte,
woraufhin Haarmann vom 2. Juni bis 19. Juli in Haft behalten wurde,
sodann aber das Verfahren aus § 175 eingestellt werden mußte, weil die
beteiligten Burschen ihre ursprünglichen Angaben nicht aufrecht
erhielten. Vor der Hauptverhandlung in dieser Sache war auf Veranlassung
der Staatsanwaltschaft eine gerichtsärztliche Untersuchung des
Angeschuldigten auf seinen Geisteszustand vorgenommen worden, weil
dieser in dem vorerwähnten Verfahren, in welchem er zu neun Monaten
Gefängnis verurteilt war, behauptet hatte, daß er „nicht
zurechnungsfähig“ sei und an Fallsucht leide. Der Gerichtsmedizinalrat
Dr. Brandt gab am 12. Juni 1919 das Gutachten ab, daß Haarmann nicht
geisteskrank und für alle Delikte, insbesondere für sexuelle, voll
verantwortlich sei. Das Gutachten war im wesentlichen auf Grund der
eigenen Angaben Haarmanns erstattet, wobei dieser verschwiegen hatte,
daß er in früheren Jahren im Irrenhaus gewesen sei. – Da ihm nun auch
_diese_ Wohnung „heiß“ geworden war, so verzog Haarmann im September
1919 zu einer Frau Kroell, Nikolaistraße 13. Auch hier setzte er den
Verkehr mit jungen Leuten fort. Die Logiswirtin beobachtete, daß er mit
diesen Unsägliches trieb und bestand darauf, daß er sogleich ausziehe.
Er verzog darauf in eine _andere_ Wohnung der Nikolaistraße. Um diese
Zeit, Anfang Oktober 1919 trat aber in Haarmanns Leben jener Freund, mit
dem er fortan auf Tod und Leben zusammengeschmiedet blieb. –


                            Zur Seelenkunde.

Wir haben gehört, daß im Juni 1919 der hannoversche Gerichtsarzt den
Haarmann für „zurechnungsfähig“ und „verantwortlich“ erklärte. Dieses
Gutachten steht in merkwürdigem Widerspruch zu einem andern, welches der
Nervenarzt Dr. Bartsch am 18. Dezember 1922 über Haarmann an das
Versorgungsamt der Stadt Hannover erstattete. Haarmann war damals
bezüglich Fortbezugs oder Erhöhung seiner Invalidenrente vom
Versorgungsamte dem genannten Arzte zur Untersuchung zugesandt worden
und dieser stellte fest, (allerdings nach einer nur kurzen Unterredung
und Intelligenzprüfung), einen „hochgradigen Schwachsinn“; ja, regte an,
den Bruder Haarmanns zu veranlassen, den Schwachsinnigen zu entmündigen.
Die Gerichtssachverständigen im späteren Prozeß (die zwei hannoverschen
Gerichtsärzte und der Ordinarius für Psychiatrie in Göttingen) haben es
wahrscheinlich zu machen versucht, daß die Gutachten der Irrenärzte in
Hildesheim und Langenhagen von 1899, jene der Militärärzte von 1898 und
1902 und endlich auch das Gutachten des Dr. Bartsch von 1922 auf Grund
„hysterischer Simulationen“ zustande gekommen seien, indem Haarmann das
_eine_ Mal das Bestreben hatte, vom Militärdienst loszukommen, das
_andere_ Mal das Bestreben, eine möglichst hohe Rente herauszupressen. –
– Alles Gefrage nach „Zurechnungsfähigkeit“, „Verantwortlichkeit“,
„Irrsinn“ bleibe nun hier zunächst ganz dahingestellt! Der Leser sei
gewarnt, verwickelte Dinge so einfach, einfache sich so verwickelt zu
denken, wie das die auf Eingliederung und „klinische Bilder“ versessene
mit sehr schwer bestimmbaren und oft schnell wieder veraltenden
griechisch-lateinischen Orakelworten (schizophren, zyklothym,
hysterisch, hebephrenisch usw.) arbeitende medizinische Psychologie
unvermeidlich tun _muß_. Die Tatsache, daß alle Regungen des logischen
Oberbaues tadellos in Ordnung sind, schließt nicht aus, daß die gesamte
seelische Unterwelt ohne jede Zusammenhangsmöglichkeit mit Vernunft oder
Einsicht ihr eigenes vollkommen _krankes_ Leben führt. Erkrankungen sind
nicht immer von _positiver_ Natur. Sie können oft nur als
„Ausfallserscheinungen“ oder als „Vereinzelungen“ (Dissoziation) erspürt
werden. Auch die Tatsache, daß ein Mensch Irrsinn oder Schwachsinn
_simuliert_, oder sich in Krankheiten hineinflüchtet, schließt nicht
aus, daß er nicht zugleich doch _wirklich_ irrsinnig oder schwachsinnig
ist, und zwar kann ebensowohl, (wie bei Hamlet), ein gespielter Irrsinn
einen wirklichen _überdecken_, wie auch just das Spielen der Krankheit
gerade die _wirkliche_ Krankheit sein kann. Ja, die Verfilzung und
Überschneidung wirklicher und bloß gespielter Erlebnisreihen pflegt
selbst im einfältigsten Triebwesen weit verwickelter zu liegen, als wir
das ahnen. Um daher das Folgende wirklich zu _verstehen_ und so zu
verstehen, daß es auch nach hundert Jahren (wo unsere gesamte heutige
Psychiatrie und wissenschaftliche Psychologie veraltet sein wird), noch
einige Gültigkeit behält, müssen wir uns vereinbaren, bloß Seele zu
Seele, uns einzufühlen und „mitzuahmen“, aber alle vorzeitigen
Formulierungen und wissenschaftlichen Erklärungen streng zu vermeiden.
Dazu aber ist auch _dies_ erforderlich, daß wir keine „Analogien“ und
„Parallelen“ zu dem merkwürdigsten Kriminalfall unserer Tage aufsuchen.
Vor allem meide man das unerträgliche „sexualpathologische“ Geschwätz,
über „Sadismus“, „Masochismus“ und dergl. Mit dem Kriminalfall des
Marquis de Sade (welcher eine widernatürliche Lust am _Quälen_ zeigte;
von dem Blute grausam gemarterter Kinder sich heiße Bäder bereiten ließ
u. a. m.) hat der hochnotpeinliche Fall des Haarmann nicht die mindeste
Verwandtschaft, da bei Haarmann nicht die Machtwut des Andere_quälens_,
sondern schlechthin nur das Töten im Geschlechtsrausch und schließlich
die dunkle Heimlichkeit des Zerreißens und Verschlingens _überhaupt_ zur
überwertigen Triebballung geworden ist. Anderes stärkeres Leben
vernichten oder sich von anderem stärkeren Leben vernichten lassen; sich
selber hinzugeben an den Tod oder tötend das Andere sich einzuverleiben;
Fressen und Gefressenwerden, das sind die beiden polaren Achsen des
_gesamten_ kosmischen Lebensspieles, und es ist nicht viel damit
erklärt, wenn man im Schwengelspiel erotischer Willensgewalten bald den
einen, bald den andern Pol in einseitiger Übersteigerung entartet
findet. Will man aber durchaus für das auf den folgenden Blättern
Niedergelegte eine _vorläufige Formel_, so erinnere man sich an die
uralten germanischen Mythen von dem in Wolfsgestalt Menschgewordenen
„Urbösen“; an die Sagen vom Werwolf (dem roman. loupgaron, den
angelsächs. werewolfes), dem „kugelfesten“, nur gegen _heilige_ Hände
wehrlosen Unhold, der verflucht ist, Kindern die Kehle durchbeißen und
sie zerfleischen zu müssen. An vergessene Mären der Urzeit denke man,
von Elsen, Alpen, Luren, von Drachen, Sauriern, Leopardenmenschen, von
Wendehäutern, Succubi und Incubi. Man denke an den geilen Blutschink,
der noch heute haust im Paznaunertal, allnächtlich dem See entsteigend
und nach Opfern suchend, denen er das Blut aussaugt. Man denke an den
Nachtmahr unserer Wälder; die blutdürstige Ludak der Finnen und Lappen.
Lykanthropen nannte die antike Welt solche Mordwesen. Mit einem solchen
Fall von _Lykanthropie_ haben wir im folgenden uns zu befassen. Es ist
sehr merkwürdig, daß in denselben Tagen, wo der Kriminalfall Haarmann
verhandelt wurde, noch ein zweiter Fall von Anthropophagie
(Triebkannibalismus) ans Tageslicht kam. In einem von mehreren Parteien
bewohnten Wohnhause nahe der Stadt Münsterberg, an der Strecke
Breslau-Glatz in Schlesien, lebte durch lange Jahre der Landwirt Karl
Denke, ein als frömmster Kirchengänger des Sprengels bekannter und
geehrter Einsiedler, 54 Jahre alt. Am 20. Dezember 1924 sprach ein
vorübergehender Handwerksbursche, namens Vincenz Oliver, den Mann um
eine Gabe an und wurde eingeladen, ins Haus zu kommen. Als er am Tische
Platz genommen hatte, wurde er plötzlich von Denke mit einer Spitzhacke
überfallen, doch gelang es ihm, zu entkommen. Nunmehr wurde Denke in
Schutzhaft genommen, erhängte sich aber im Untersuchungsgefängnis.
Darauf nahm die Polizei eine Haussuchung im Gehöft des Denke vor. Man
fand zahlreiche Papiere von verschwundenen Handwerksburschen, sowie in
der Scheuer Töpfe mit gepökeltem Fleisch, das von den Gerichtsärzten
einwandfrei als Menschenfleisch festgestellt wurde. – Man konnte
feststellen, daß der Mann seit mindestens 20 Jahren sehr viele Menschen,
Mädchen und Jünglinge, tötete, aß, verschlang oder ihr Fleisch auf
Märkten verkaufte.


                              Der Freund.

Man denke sich in den Tiefen der Untersee einen zähen, klugen
Taschenkrebs, welcher nistet auf dem Höhlenhaus eines im Dunkel sich
vollsaugenden, schleimigen Quallentieres, etwa eines pflanzenhaften
Riesenpolypen, so hat man ein ungefähres _Bild_ für die merkwürdige
„Symbiose“ von Triebverbrechen und Intelligenzdrohnentum, von
Lebensirrsinn und Geistschmarotzerei, welche vom Oktober 1919 ab den
blonden zarten mädchenhaften Hans Grans (den dennoch zäheren und
wehrfähigeren) mit dem um 24 Jahre älteren weibisch rohen, schwammigen
und wüsten Haarmann untrennbar verband. Grans ist ein hübscher,
lebensgieriger, eigenbezüglicher Junge aus einem kinderreichen
Elternhaus, wo Frau Sorge wohl oft saß an Stelle der Seele. Die Eltern
haben in der dunkelsten Altstadt einen kleinen Papier- und
Buchbinderladen mit einer Leihbücherei alter Schmöker, aus denen der
ehrgeizige, liebenswürdige Schlingel sich Fernweh anlas nach großem
Leben und vornehmer Welt. Er besucht bis Quinta die Oberrealschule, wird
dann auf die Bürgerschule gesteckt, und als er sie durchlaufen hat, 1915
konfirmiert. Als Handlungslehrling in einer Metallwarenfabrik (Söhlmann)
unterschlägt er Portokassenbeträge und geht mit gefälschten Quittungen
zu Kunden der Firma, um Beträge einzukassieren, die er vernascht und
verraucht. Dann arbeitet das hoffnungsvolle Früchtchen in der Industrie
rund um Hannover, zuletzt in der Bergmann-Elektrizitäts-Gesellschaft in
Berlin. 1918 wird er Aushelfer bei der Post, scheidet aber bald wieder
aus, um beim Minenwerfer-Sturm-Detachement Heuschkel einzutreten. Am 1.
Oktober 1919 wird er auch hier wegen Unpünktlichkeit im Dienst
entlassen. Er fällt nun wieder dem Vater zur Last; dem er vorspiegelt,
daß er bei der Reichswehr eintreten wolle. In Wahrheit treibt er sich
mit Weibern herum und als der Vater nachprüft, ob der Junge sich denn
überhaupt bei der Reichswehr gemeldet habe, läuft er eines Tages von
Hause fort, nächtigt in den Spelunken der Altstadt und erwirbt seinen
Unterhalt durch Handel mit alten Kleidungsstücken auf dem Bahnhof. Damit
war er in das Bereich des Haarmann getreten. Einer der anderen jungen
Spitzbuben auf dem Bahnhof macht ihn auf „das schwule Paket“ aufmerksam.
„Du, Hans, der hat neulich einem hübschen Jungen 20 Mark gegeben“ und
der junge Grans, durchaus nur in der Absicht, Geld zu verdienen, macht
sich auf der Straße an den weit älteren Mann heran. Der nimmt ihn mit in
seine Wohnung Nikolaistraße 46 bei Kisserow. „Ich hatte zuerst einen Tik
auf Hans. Aber als ich ihn nackt sah, mochte ich ihn nicht. Er ist so
behaart wie ein Affe. Wirklich, Sie können mir es glauben; wie ein Affe
sah Hans aus. Aber später hat er sich alles abrasiert.“ Der Junge bleibt
nun bei Haarmann wohnen, und es entwickelt sich das merkwürdigste
Verhältnis. „Er war wie mein Kind. Ich habe ihn gehalten wie meinen
Sohn. Ich habe ihn aus dem Sumpfe geholt und wollte nicht, daß er wieder
unter die Räder komme.“ Vier Jahre lang blieben die beiden befreundet.
Offenbar bestritt Haarmann den Lebensunterhalt des hübschen Jungen.
Zeitweise gab er dem Grans englische Zigaretten zu verkaufen; wenn der
dafür mehr erhielt als ihm von Haarmann in Rechnung gestellt wurde, so
durfte er den Mehrerlös für sich behalten. Das Verhältnis war wohl
geschlechtlich; aber nicht _nur_ geschlechtlich. Denn alles, was an
idealen Regungen in Haarmanns völlig roher Tierseele überhaupt aufkommen
konnte, das sammelte sich um den jungen Grans, und wenn man behauptet
hat, daß es lediglich das Bewußtsein der Mitwisserschaft an schlimmen
Taten und die Angst vor Verrat war, was Haarmann in späteren Jahren
völlig unter die Hörigkeit seines kindlich rücksichtslosen Quälers und
geliebten Tyrannen brachte, so muß man doch andererseits auch bedenken,
daß Haarmann jederzeit den jungen Schnösel hätte beseitigen können, wie
er andere Mitwisser seiner Morde möglicherweise beseitigt _hat_; (wie
denn in der Tat die beiden oft einander gegenseitig mit Polizei drohten
ja, mit gezückten Messern „Mörder“ schreiend, sich gegenüberstanden;
aber zuletzt doch immer wieder zusammenkrochen.) – Gericht und
Geschworene haben sich das Verhältnis recht einfach zurechtgelegt:
„Grans wußte um den ersten Mord an Friedel Rothe. Um einen Mitwisser
stumm zu machen, _darum_ nahm Haarmann den Grans bei sich auf und wurde
sein Pflegevater.“ Wir werden sehen, daß ein ungemein verwickeltes
Gefühlsverhältnis diese zwei Entgleisten am Außenrande der menschlichen
Gesellschaft so aneinander band, daß sie weder ganz mit einander, noch
auch ohne einander zu leben vermochten. Zu der Zeit, wo Haarmann den
jungen Freund bei sich aufnahm, sollte er gerade die am 23. April 1919
erkannte Gefängnisstrafe von neun Monaten antreten. Um ihr nun zu
entgehen, wechselte er schnell die Wohnung, ohne sich polizeilich
abzumelden. Er wohnte Dezember und Januar bei einer Witwe Birnstiel in
der Füsilierstraße; Grans zog in die nah benachbarte Bronsartstraße. Es
kam aber auch mit der Birnstiel zu Zänkereien, und als Haarmann sie
mißhandelte, zeigte die alte Frau ihn an, worauf er festgenommen und
gleich zur Vollstreckung der neun Monate Gefängnis zurückgehalten wurde.
Bis 3. Dezember 1920 blieb er nun im Gefängnis. Während dieser Zeit (vom
März bis Dezember 1920) war der junge Grans wieder sich selbst
überlassen. Er trieb sich herum, wurde mehrfach wegen Diebstahls, auch
einmal wegen widernatürlicher Unzucht angezeigt; aber die Verfahren
mußten wegen nicht ausreichenden Beweises eingestellt werden. Am 27.
November wurde er endlich festgenommen, weil er ein unterschlagenes
Fahrrad auf dem Hehlermarkt am Hohen Ufer zu verkaufen suchte. Schon am
1. Dezember wurde er, da kein Fluchtverdacht bestand, wieder entlassen,
und zwei Tage später kam Haarmann aus ‚Numero Sicher‘ zurück und sie
feierten ein frohes Wiedersehen in ihrer Stammkneipe beim „dicken
Fritz“. Allerdings wurde Grans schließlich doch am 5. März 1921 wegen
Hehlerei zu drei Wochen Gefängnis verurteilt, erhielt aber bedingte
Strafaussetzung auf drei Jahre.

So folgte nun wieder eine Zeit unausgesetzten Zusammenlebens, von
Dezember 1920 bis Ende August 1921. Sie traten auf als zwei
gutgekleidete äußerlich anständige Herren. Zunächst nahmen sie Wohnung
im „Christlichen Hospiz“ und späterhin mieteten sie sich ein in einem
kleinen bürgerlichen Gasthof „Fürst zur Lippe“; in der Osterstraße,
lebten dort recht gut und scheinbar solide und führten angeblich ein
Wäschegeschäft. Es wirkte fast ergreifend, als der Besitzer dieses
Gasthofes, ein Herr Wiedemann und seine Tochter, eine Frau Koch, vor
Gericht erschienen und bekundeten, daß sie zwei so noblen und
liebenswürdigen Herren unmöglich etwas Schlechtes zutrauen konnten.
Abends, wenn die beiden von ihren Geschäftsgängen in den Gasthof
zurückkehrten, brachten sie dem dreijährigen Töchterchen der Frau Koch
ein Spielzeug oder Süßigkeiten mit, und selbst, als beim Wegzug der
beiden, alle Wäsche des Gasthauses _mit_ verschwand, kam keiner auf den
Gedanken, daß just Herr Haarmann und sein „junger Angestellter“ die
Täter sein könnten. In Wirklichkeit aber bestand ihr Geschäft damals
darin, daß Haarmann in den vornehmen Stadtteilen Wäschestücke
erbettelte, indem er den Leuten vorspielte, er sei vertriebener
Oberschlesier, sei ein notleidender Kriegsinvalide, sammele für die
„Herberge zur Heimat“, müsse für seinen 76jährigen Vater sorgen und
ähnliches mehr. Er fragte bescheiden, ob er nicht alte Wäschestücke oder
Kleider billig _kaufen_ könne; meistens erhielt er dann Allerlei zum
Geschenk, was Grans ihm abnahm und bei den Trödlern in der Burgstraße
verkaufte. Sie erzielten durch den Verschleiß der so erbettelten Sachen
einen Tagesverdienst von 30 bis 60 Mark. Zwischendurch gaben sie mal
eine Gastrolle in Hamburg oder in Berlin. Grans verbrachte das Geld mit
Weibern und im Kartenspiel. Bei solcher Streiferei wurden sie
schließlich am 10. Januar 1921 festgenommen, doch gelang es Grans, sich
freizulügen, während Haarmann zu drei Wochen Haft wegen Bettelns
verurteilt wurde. Da in den Zeitungen vor den beiden Schwindlern gewarnt
wurde, so begannen sie nunmehr ihren Wäschehandel anders aufzuziehen;
Haarmann mußte auf die Höfe gehen und die zum Trocknen aufgehängte
Wäsche stehlen; Grans entfernte die eingestickten Namenszeichen und
verkaufte sodann die Wäsche. Bei der Ausführung eines solchen
Diebstahles wurden sie am 31. August 1921 abermals abgefaßt und wieder
gelang es dem jungen Fuchs, sich herauszuwinden, während der alte Wolf
verurteilt wurde zu sechs Monaten Gefängnis, die er vom November 1921
bis März 1922 in der Gefangenenarbeitsstelle Jägerheide im Müggenburger
Moor bei Celle absaß. – Zuvor aber hatten sie die Wohnung gewechselt.
Sie zogen in das Mordhaus Neue Straße 4. Mitten ins Gespensterviertel.


                      Psychologische Bemerkungen.

Man erzählt von einer Stütze der kapitalistischen Gesellschaft, daß, als
an seinem siebenzigsten Geburtstag der Bürgermeister und die Vertreter
der Behörde ihm Ehrenanschriften überreicht und ihre Ansprachen gehalten
hatten, der Gefeierte seine Danksagung folgendermaßen begann: „Ich danke
Ihnen, meine Herren, für alle Ehren, die Sie mir erwiesen haben. Sie
haben Recht; ich lebe nun vierzig Jahre unter Ihnen und man kann mir
nichts beweisen.“ Solches Urbild einer Kulturgesellschaft, welche
durchweg mit Leben wuchert, dabei aber „Vogel Strauß“ spielt und nach
außen hin durchaus schuldlos und ehrenfest bleibt und dasteht, ein
solcher, nur dem Selbst und der Selbsterhaltung dienender Intellekt ohne
Seele ist der junge Grans, der im Grunde gar nichts anderes trieb, als
was eine untergangsreife Bildungsmenschheit _überhaupt_ treibt: mit nur
halbbewußter Heuchelei vom Mark der _Erde_ zehren, ohne genau
hinzusehen. Ganze Pflanzen- und Tierwelten, Millionen Menschen werden
geopfert, Kinder verkümmern an Webstühlen, in Bergwerken, an Maschinen,
überall zehrt die „Kultur“ vom fremden Leben; wir aber spielen Vogel
Strauß und tun, als ginge es uns nichts an. Grans hatte die kranken oder
wüsten Triebe Haarmanns irgendwie durchschaut und auch dies durchschaut,
daß diese Triebe ihm die Macht und Herrschaft über den weit älteren
Gefährten sicherten. Er hatte freilich seinen „dummen August“ recht
gern. Er fühlte auch etwas Dankbarkeit; denn er besaß an Haarmann so
etwas wie Bleibe und Heimat. Vor allem: einen ausgekochten, auf dem Weg
zu Abenteuer und Hochstapelei erfahrenen Lehrmeister. Ja, er verspürte
zuweilen etwas wie Mitleid mit dem alternden Manne, der sich in die Hand
dieser skrupellosen jungen Lebensgier begab, weil er im Frost der
Hölleneinsamkeit wenigstens _Einen_ haben wollte, den er liebhaben
könnte. „Ich mußte einen Menschen haben, dem ich alles galt. Hans lachte
mich oft aus. Dann wurde ich wütend und wies ihm die Tür. Aber ich ging
ihm doch immer gleich wieder nach und holte ihn mir wieder. Ich hatte
nun mal an ihm den Narren gefressen.“ Haarmann liebte den Grans und das
wußte dieser zu nutzen. Wenn der Alte tobte, so pflegte der Junge ihn um
die Hüfte zu nehmen und seine Zunge ihm in den Mund zu stecken; dies
erregte den Haarmann so, daß er wachsweich und dem hübschen Jungen zu
willen wurde. Hans ließ sich wohl auch von Haarmann küssen, wobei er ihm
aber vorsichtig die Arme festhielt, weil der andere die Eigenheit hatte,
in wachsender Erregung ihm an den Hals zu springen, sich daran
festzusaugen und ihn zu würgen. Grans war der weitaus Klügere; zäh und
zart zugleich, mädchenhaft aber von eherner Schweigsamkeit. Daher
bedurfte er auch, um sich zu gewagten Fahrten aufzupeitschen, des
Alkohols und betrank sich oft sinnlos; während Haarmann den Alkohol, der
ihn müde machte und für den er überempfindlich war, ängstlich mied. –
Zur Charakteristik des Grans seien zwei kleine Züge herausgegriffen. Als
typische Zuhälternatur hatte er immer eine Anzahl Mädchen an der Hand,
die in ihn verliebt waren und für ihn Geld schaffen mußten. So
veranlaßte er eine hübsche junge Person gelegentlich eines Stelldicheins
einem Ingenieur die Brieftasche fortzunehmen und sie ihm, dem Hans
Grans, zuzustecken. Als der Diebstahl herauskam, konnte nur das Mädchen
bestraft werden, da er schwor, die Tasche von ihr zum Geschenk erhalten
zu haben. – In der Inflationszeit, als auf der Insel am hohen Ufer der
Stehler- und Hehlermarkt blühte, wurden dort an der Verbrecherbörse
viele gestohlene Gold- und Silberwaren verkauft; diese Gelegenheit
nutzte Grans, um von zwei großen Firmen unechte Gold- und Silbersachen,
sogenannte Neppware, zu beziehen, mit der er sich dann unter die Diebe
mischte; kam es nun zu Verhaftungen, so konnten alle bestraft werden,
nur Grans nicht, da er ja nachzuweisen vermochte, daß seine Waren
ehrlich erworben seien. Daß man ihm dafür mehr zahlte, als sie wert
waren, das fügte die Dummheit der Welt; die anderen verkauften echtes
Gold; aber es war gestohlen; er bot unechtes feil, aber es war „ehrlich
erworben“.


                                 Hugo.

Gelegentlich der dunklen Handelsgeschäfte auf dem Bahnhof trat in das
Leben des jungen Grans noch ein zweiter Freund: Ein gleichaltriger,
auffallend begabter Bursche, welcher sich ebenfalls auf den
Straßenhandel verlegt hatte: Hugo Wittkowski, ein graziöser,
schwarzhaariger Junge, schlank, beweglich, mit lebendigen und doch etwas
verträumten Augen, sinnlichem Mund und kluger Stirn. Besseres
Naturmaterial als so mancher, der „niemals aß von des Schierlings
betäubenden Körnern“. Dieser Wittkowski, viel gewandter und
nachdenklicher als Haarmann, wurde Haarmanns _großer Haß_. Aus vielerlei
Gründen! Zunächst aus Eifersucht, da Wittkowski den Grans dem Haarmann
„entfremdete“. Sodann, weil Wittkowski mit Grans gemeinsam den Haarmann
mehrfach ausnutzte, ihm Geld entlieh und nachher gar nicht oder nur
tropfenweise zurückzahlte. Vor allem aber darum, weil mit Wittkowski,
der keine Neigung zur gleichgeschlechtlichen Liebe zeigte, eine tolle
Weiberwirtschaft in Haarmanns Behausung einzog. Als der Alte und die
zwei Jungen zwei Jahre später vor Gericht standen und in Haarmann ein
(vom Gericht viel zu spät durchschauter) teuflischer Plan gereift war,
die _beiden_ Jungen (den geliebtesten seiner Buhljungen, wie den
verhaßtesten) _mit_ sich in den Tod zu reißen, da zischte Haarmann den
Wittkowski an: „Du bist ja immer hinter mir her gewesen! Du hast dich
mir hundertmal zur Liebe _angeboten_! Aber ich wollte dich nicht. Du
warst zu schlecht für mich.“ Und der andere erwidert ruhig höhnend: „Ich
liebe nur Frauen.“ –


                       Mordidyll: Neue Straße 8.

Von einem Bekannten dieses Wittkowski mit Namen Alwin Köhler, hörte
Haarmann eines Tages, daß Köhler ein alleinliegendes Zimmer, welches ihm
als Lagerraum diente, gern anderweitig abgeben wolle. Die Wirtin des
Hauses, ein älteres Fräulein namens Rehbock, welches bald darauf einen
Herrn Daniels heiratete, hatte keine Bedenken, das Zimmer zum 1. Juli
1921 an Haarmann zu überlassen, welcher angab, daß er ebenfalls ein
Warenlager dort deponieren wolle, zu dessen Bewachung aber „sein junger
Mann“ (eben Grans) in dem Zimmer schlafen müsse. – Das uralte Haus am
Flusse hat eine breite Durchfahrt, welche zu dem dahinterliegenden
gemeinsamen Hofe und den Hintergebäuden der Nachbargrundstücke führt.
Das von Haarmann gemietete Zimmer liegt gleich rechts vom Hauseingang an
dieser Durchfahrt. Neben dem Zimmer führt eine Treppe zu den oberen
Stockwerken. Der Raum hat zwei hohe durch einen schmalen Pfeiler
getrennte Fenster nach der Straße zu. An der den Fenstern
gegenüberliegenden Seite in der Wand, die das Zimmer vom Treppenhause
trennt, befindet sich ein in den Hohlraum unter der Treppe
hineingebauter Wandschrank. Eine sogenannte Butzenklappe, 1,90 m breit,
1,25 m hoch und 1 m tief; durch zwei Klappen vom Zimmer aus
verschließbar. Dies war der Ort, wo die Leichen aufbewahrt wurden. Auf
einem, diesem Wandschrank entnommenen Brette sind bei der späteren
chemischen Untersuchung reichliche Spuren von Menschenblut festgestellt.
Oberhalb des Wandschranks befindet sich dicht unter der Decke des 3 m
hohen Zimmers ein 30 cm hohes und 60 cm breites Fenster, durch das man
vom Treppenabsatz in den Raum hineinsehen kann. An der Wand zum Hausflur
neben der Tür steht ein Gasofen. Dahinter in der Ecke am Fenster die
Gasuhr. Auf der anderen Seite der Durchfahrt wohnt eine Arbeiterfamilie
namens Bertram. Das Haus ist dichtbevölkert; in der rechten Ecke des
Hofes liegen die Klosetts, vor denen an der Rückwand des Hauses eine
Pumpe steht. Der Leinestrom fließt an der Hinterseite des Hauses, war
also von Haarmanns Zimmer aus nicht erreichbar. Bei seinem Einzuge am 1.
Juli 1923 brachte Haarmann nur ein armseliges Bett und einen
Waschständer mit; im übrigen blieben in dem Zimmer nur einige
Möbelstücke, die der Wirtin Fräulein Rehbock gehörten. Haarmann und
Grans benutzten das Zimmer zusammen als Wohnraum, was sogleich die
Unzufriedenheit der wenig entgegenkommenden Hauswirtin erregte; aber am
31. August verschwand Haarmann und ließ den jungen Grans allein zurück;
dieser erzählte der Wirtin zunächst, sein „Chef“ sei auf einer
Geschäftsreise und sodann: „Der Chef weilt zu seiner Erholung im
Luftkurort Jägerheide.“ In Wahrheit hatte Haarmann die wegen der
Wäschediebstähle über ihn verhängte halbjährige Gefängnisstrafe in
Jägerheide angetreten. In diesem halben Jahr begann nun Grans (dessen
Elternhaus wenige Schritte von Haarmanns Wohnung entfernt liegt), in dem
verrufenen Raum ein tolles Leben. Der Raum wurde zum Absteigequartier
für die das Kaschemmenviertel abstreifenden jungen Dirnen: Dörchen, Elli
und Anni, welche dem Grans dafür gerne „Zimmergeld“ abgaben.
Heruntergekommene Burschen und dunkles „Gesoks“ verkehrte in dem Raum.
Es gab Trinkgelage und Messerstechereien, so daß es zu scharfen
Streitigkeiten mit der Wirtin kam, welche an Haarmann ins „Sanatorium
Jägerheide“ schrieb, worauf dann hochmoralisch und entrüstet, Haarmann
zurückschrieb, die Wirtin möge nur auf seinen „jungen Mann“ bis zu
seiner Rückkehr gut aufpassen und streng auf Ordnung halten; wenn er
zurückkomme, dann werde er den jungen Mann für seine „Schweinereien“
fortjagen. Gleichzeitig aber unterhielt Haarmann mit Grans einen
zärtlichen Briefwechsel. Der Wirtin Rehbock wurde das Treiben
schließlich doch zu toll, so daß sie eines Tages Ende Februar 1922 das
Zimmer sperrte und den Grans hinauswies. Am 1. März 1922 kam Haarmann
zurück. Er brach das Sperrschloß auf und fand sein Zimmer – leer. Grans
und Wittkowski hatten alle Sachen verkauft, ja, hatten sogar Haarmanns
Militärrente abgehoben und verjubelt. Die Wirtin Rehbock aber hatte die
ihr gehörenden Möbelstücke herausgeholt und in Sicherheit gebracht.
Haarmann tobte und fluchte über das leere Zimmer. Die Rehbock forderte,
daß Haarmann das Zimmer sogleich räume und wendete sich, da der andere
sich weigerte, an das Mieteinigungsamt. Aber dieses stellte sich, als
der Obdachlose mit großer Gewandtheit und Sachkunde mehrere Eingaben
gemacht hatte, auf Haarmanns Seite, so daß es dem Hallunken gelang, bis
zum Juni 1923 gegen den Willen der Vermieterin dennoch das Zimmer zu
behalten. Er mußte sich nun zunächst wieder Möbel beschaffen. Sein
Bruder Adolf zahlte ihm eine kleine Summe als seinen Anteil am
mütterlichen Erbe und davon richtete Haarmann sich neuerdings ein,
wonach auch Grans alsbald wieder erschien und trotz der früheren
Ausräuberung der Wohnung liebend aufgenommen wurde. Bis zum 9. April
blieb er bei Haarmann wohnen. Vom 9. April bis zum 30. Juli kam Grans
ins Gefängnis ...

Man darf sich das Leben in dem Mordhause keineswegs düster vorstellen.
Es war ein heiter bewegtes Idyll. Fortwährend kamen und gingen Knaben
und Jünglinge. Schüler, Obdachlose, Arbeitslose, entlaufene
Fürsorgezöglinge, Gäste aus der Herberge zur Heimat. Es wurde getauscht,
gehandelt, getrunken, gesungen, geschmaust. Haarmann galt ihnen allen
als guter Beschützer und Herbergsvater. In der großen Butzenklappe unter
der Treppe, wo er die Toten verbarg, standen neben der Leiche Töpfe mit
Fleisch, lagen Näschereien, Käse, Wurst, Schokolade für die hübschen
Jungen. Man schlief oft zu dreien und vieren; wechselweise
Geschlechtliches treibend. Auch Elli, Dörchen und Anni kamen oft zu
Gast. Dörchen, eine energische resolute Person, trotz Lues und
Luderleben immer noch schön und wohlansehnlich, besorgte Haarmanns
kleinen Haushalt; nahm das Zimmer auf, kochte für die ganze Gesellschaft
Schokolade oder Kaffee und saß wohl auch an langen Nachmittagen bei
Haarmann auf dem Bett. „Herr Haarmann konnte alles. Wir stopften
zusammen Strümpfe, besserten die Kleider aus. Auch Sülze machen und
Wurst bereiten konnte Herr Haarmann. Wenn wir nähten oder flickten, dann
rauchten wir Zigarren; dann nahm mich Herr Haarmann fest um die Taille
und sagte: ‚Dörchen, du bist die Beste. Ich heirate dich doch noch.‘
Aber Herr Haarmann machte doch nur Spaß. Denn er wollte mich ja nicht;
er war ja man immer bloß für Jungens.“ – Freilich gab es dann auch immer
wieder ganze Tage und Nächte, wo Haarmann niemanden in sein Zimmer
einließ und die Besucher wegschickte. Dann waren die zwei Fenster nach
der Straße und das Fenster am Treppenabsatz sorglich verhängt, und das
Schlüsselloch der Türe war verstopft. Er zerlegte dann eine Leiche. Es
ist freilich rätselhaft genug, daß in dem dichtbevölkerten Hause in der
engen Gasse niemand davon merkte, ja daß sogar die drei Dirnen und die
ab- und zulaufenden Jungen zunächst keinen Verdacht faßten. Aber der
Leser bedenke auch dies: Man dachte an vielerlei _Anderes_. Man brauchte
nicht gleich an Mord zu denken. Die unzüchtigen Gewohnheiten und
Diebereien des Herrn Kriminal waren ja auf der „Insel“ so allgemein
bekannt, daß die Gassenbuben, die hannoverschen „Buttjers“ und „Binken“,
ihm unanständige Worte nachriefen, ihn „Pittenwieser“ hänselten oder
sich für Geld ihm anboten: „Fritze, wollen wir mal! Fritze, nimm auch
_mich_ mal. Fritze, was gibste mir dafür?“ – Vom 1. März 1922 bis Juni
1924 blieb Haarmann in Freiheit; (vielleicht nur dank seiner Tätigkeit
im Dienst der Polizei). Seine Einnahmen wurden in diesen zwei Jahren
sehr gut. Zunächst erhöhte das Fürsorgeamt auf das Attest des Dr.
Bartsch hin (welches ihn für _ganz_ invalide und arbeitsunfähig
erklärte), die Militärrente. Mit seiner Invalidenkarte ging er nun in
die Häuser und stellte sich, bescheiden und freundlich, vor, als
„Aufkäufer alter Kleider“. Er bekam viel geschenkt, an einer Stelle
einmal fünf Paar Stiefel. Das Erbettelte wurde durch die „Puppenjungens“
(Pupen = Buhljungen), besonders aber durch Hans Grans an die „Juden“
(Althändler) verkauft. Sodann blühte in den Jahren 1922 bis 1924 (wo ihm
auch das mütterliche Erbteil ausgezahlt wurde) seine emsige Tätigkeit
als „Kriminal“. Einer der tüchtigsten Beamten der hannoverschen
Kriminalpolizei, der Kommissar Müller, wurde Haarmanns besonderer Gönner
und Auftraggeber. Müller hat nachmals ausgesagt, daß er Haarmann für
eine taktvolle und feinere Natur gehalten habe und daß er den
Zuchthausentlassenen wieder auf bessere Wege habe bringen wollen, ja oft
väterlich auf ihn eingewirkt habe, wobei der Haarmann (die Heuchelei
unserer Gesellschaft noch überheuchelnd) das reuige Lamm und gebesserte
Schäfchen spielte. Die Zutreiberdienste für Müller nahm Haarmann in
folgender Weise vor: Wenn ein Diebstahl im Verbrecherviertel dank seiner
zahllosen Verbindungen mit allen zweifelhaften Elementen ihm bekannt
geworden war, dann ließ er die Diebe auffordern, nachts in seine Höhle
an der Neuen Straße zu kommen, wo er die Diebsware verstecken oder
aufkaufen wolle; zugleich aber gab er heimlich dem Polizeikommissar
einen Wink, welcher zur selben Stunde, wo die Diebe in der Wohnung
waren, ein paar Wachen losschickte, die das ganze Nest aushoben und
gefesselt aufs Polizeipräsidium brachten; Haarmann wurde zum Schein
mitgefesselt und mitverhaftet, so daß seine Verrätereien an die Polizei
sogar in der Verbrecherwelt streng verborgen blieben. Umgekehrt pflegte
er natürlich auch seine Polizeikenntnisse zu Gunsten seiner nachts auf
dem Bahnhof oder in den Herbergen aufgegriffenen „Lieblinge“ zu
verwerten. Denen sagte er oft: „Wenn Ihr mal was ausgefressen habt, dann
haltet Euch an _mich_.“ Er pflegte auch der Hehler- und Diebeswelt in
der Altstadt manche nützliche Winke zu geben, ja war eine Art
Ordnungsstifter und Auskunftsbüro in allen Kriminalsachen. Er
unterschied sich von den kleineren Kriminalbeamten wohl nur dadurch, daß
er – intelligenter war ...

Nicht weit von Haarmanns Wohnung befand sich der Friseurladen von
Fridolin Wegehenkel, wo das ganze Viertel sich rasieren und verschönern
ließ, zugleich aber auch allerlei kleine Schiebergeschäfte gern im
Vorübergehen verabredete. Fridolin Wegehenkel, ein blonder, langer,
schmächtiger Mann, besorgt und ernst blickend, und seine Gattin Josefine
geborene Gerke, 48 Jahre alt, sowie deren verheiratete Tochter, Frau
Stille, bildeten den Mittelpunkt von Haarmanns „Familienverkehr“. Bei
Wegehenkels feierte man Weihnachten und Neujahr. Bei Wegehenkels sangen
Haarmann, Hans und Hugo „Stille Nacht, heilige Nacht“ und zündeten den
Lichterbaum an. Bei Wegehenkels im Laden gab man sich gerne
Stelldicheins und machte mittags ein frohes Schwätzchen. Madame
Wegehenkel, immer etwas süßlich, leidend, und kränklich, wurde
allmählich Haarmanns Vertraute. Sie diente als Kommissionärin für einen
schwunghaften Handel mit älteren und neueren Knaben- und
Jünglingskleidern. So wurden die Kleider der Toten sofort aus dem Hause
geschafft. Haarmann verschenkte wohl auch die Kleider des ersten sofort
an einen nächsten und verwischte damit die Spur. Das ganze Viertel hielt
ihn für einen Wohltäter der Obdachlosen, wußte auch allgemein von seinen
homosexuellen Neigungen, fragte also gar nicht nach der _Herkunft_ der
Mäntel, Jackettes, Hosen und Wäschestücke, die er täglich brachte. Denn
daß sie aus immer neuen Morden herrührten, konnte man in der Tat nicht
gut annehmen. Wir wollen also immerhin glauben, daß keiner in dieser
notigen kellerfarbenen Hinterwelt merkte, was Haarmann in seiner
Mordhöhle trieb. Sicher aber ist jedenfalls auch, daß man das gar nicht
wissen _wollte_, und daß Jedermann ein Interesse daran hatte, _nicht
allzu genau hinzusehen_. So half die ganze Umgebung eben doch auch an
den Mordtaten mit. Aber zu ihren Gunsten möge man stets bedenken, daß
sie alle in Haarmann einen „besseren Herrn“ sahen, der in schwerer
Notzeit ihnen Geld zu verdienen gab, mit ihnen bei zahllosen kleinen
Gaunereien und Mistfinkeleien durchsteckte (und jeder hat ja schließlich
irgendetwas zu verbergen) und der, wie alle wußten, auf dem
„Polizeipräsidium“ aus- und einging, ja, zuweilen sogar Besuch erhielt
von einflußreichen und bedeutenden Herren, wie den Kriminalkommissaren
Müller und Olfermann. Einmal bot ein Bursche in Wegehenkels Laden einen
Schinken aus, der offenbar nicht ehrlich erworben war. Die blonde,
schmachtende Madame Wegehenkel schickte sofort heimlich zu „Kriminal
Haarmann“ hinüber, der denn auch erschien, den jungen Dieb verhörte und
den Schinken beschlagnahmte, welchen Wegehenkels vergnügt anschnitten
„zu Pfingsten, als der Kuckuck schrie“. Haarmann schimpfte sehr, als er
nichts davon abbekam. Ein andermal wurden Hunderte von Säckchen mit
Blumensamen zum Verkauf angeboten und wieder erschien „Kriminal
Haarmann“ im richtigen Augenblick und beschlagnahmte die Säcke, worauf
die jungen Diebe schleunigst die Flucht ergriffen. War es also zu
verwundern, daß das Ehepaar Wegehenkel, welches gelegentlich übrigens
auch mal den Herrn Kriminal „übers Ohr balbierte“, seinerseits gern die
Augen zudrückte, falls in Haarmanns Staate wirklich etwas faul war? Aber
die wahre Blütezeit für den Kriminal setzte doch erst ein, als er
_selber_ Chef eines Detektivinstituts und somit eine Art selbständige
Polizeimacht geworden war.

Das kam so: In der großen Geschäftsbücherfabrik von Edler & Krische
wurde in der Inflationszeit im Auftrage der deutschen Reichsbank
Papiergeld gedruckt. Dabei kam Druckpapier abhanden, aus welchem falsche
50-Mark-Scheine hergestellt wurden, die im Betriebe der Firma plötzlich
auftauchten. Die Firma wendete sich zur Aufklärung des Falles an die
„Detektivzentrale ehemaliger Polizeikommissare“, welche von einem
Grenzpolizeikommissarius Olfermann geleitet wurde. Dieser erhielt
Auftrag, die Fälscher zu ermitteln und ihm wurde empfohlen, sich mit
Haarmann in Verbindung zu setzen, der in früheren Fällen so gute
Spitzeldienste geleistet habe. Olfermann erhielt nun in der Tat von
Haarmann einige günstige Fingerzeige, so daß er die Verbindung mit
Haarmann fortan auch fernerhin aufrecht erhielt. –

Kaum eine zweite Gestalt in dem großen Kriminalprozesse ätzt sich so
ehern in die Erinnerung ein, wie dieser „Kriminalkommissarius a. D.
Olfermann“, Beamter eines Herrn v. Willms, welcher vorsteht dem vom
„Niedersächsischen Adelsbund“ begründeten Detektivinstitut „Heimschutz“.
Ein stocksteifer, langer, dürrer, von moralischer Entrüstung
geschwellter Würdeherr, in schwarzem Gehrock mit dunklen
Glacéhandschuhen; die Augen hinter einer goldenen Brille verborgen; in
jeder Bewegung der untadelige, honorige, gestrenge Beamte, mit sonorem
Pathos unter Eid jede nähere Bekanntschaft mit Haarmann entrüstet
ableugnend und weit von dem Verbrecher abrückend, bis ihm Schritt um
Schritt nachgewiesen wird, daß er mehrfach von Haarmann Geld und
Geschenke angenommen hat, daß er mit Haarmann in vielen Fällen zusammen
arbeitete und schließlich, als er am 1. April 1923 aus seiner
Detektivzentrale ausschied, dem Haarmann gemütlich den Vorschlag machte,
gemeinsam ein _eigenes_ Detektivgeschäft zu gründen, denn Haarmann hatte
es verstanden, ganz in das Vertrauen des wohlhabenden aber immer auf
neue Verdienstmöglichkeiten erpichten, nicht allzu wählerischen aber
doch hochbürgerlich korrekten Herrn sich einzuschleichen. Er erzählte
bei gemeinsamen Beratungen im Café, im Restaurant, in seiner oder in
Olfermanns Wohnung von seinen guten Beziehungen zu Verbrechern und
Polizei, von neuen „Methoden“ in der Entdeckung von Verbrechen, nach
denen er „arbeitete“ und hatte den Olfermann schließlich so weit, daß
sie gemeinsam begründeten das „Amerikanische Detektivinstitut Lasso“.
(In der Tat _das_ Lasso, welches Haarmann fortan zum Einfangen seiner
Mordopfer auszuwerfen pflegte.) – Haarmann ließ einen Stempel
verfertigen, Olfermann stempelte in Haarmanns Wohnung verschiedene
Ausweise, welche mit einem Lichtbild versehen wurden und folgendermaßen
lauteten: „Inhaber dieser Karte ist Detektiv der „Lasso“ und arbeitet
für das Hannoversche Polizeipräsidium. Er bittet alle in Ausführung
seines Berufes um Beistand. Lasso Detektive.“ – Von diesem Ausweis
machte fortan Haarmann bei seinen Streifzügen im Bahnhof den
ausgiebigsten Gebrauch, auch noch, nachdem im Juni 1923 die Freundschaft
mit Olfermann in die Brüche ging. Nachmals, während des Prozesses
spielte diese Ausweiskarte eine willkommene Rolle zur Entlastung der
Polizeibehörde, weil mittels ihrer leicht zu erweisen war, daß Haarmann
als „Privatdetektiv“ und nicht mit _offizieller_ Unterstützung auf dem
Bahnhof seine Mordzüge unternommen hat.

Zu allen diesen dunklen Erwerbs- und Einnahmequellen des Haarmann in den
Jahren 1922 bis 1924 kommt nun noch eine dunkelste, denn wenn es uns
auch gelingen sollte, den ganzen wunderlichen Komplex nach allen Seiten
hin zu durchleuchten, so bleiben doch zwei Punkte tief im Dunkel:
Erstens: der unmittelbare Mordakt, von welchem Haarmann, der sonst mit
breiter Geschwätzigkeit alles aufklärt, immer nur störrisch und
widerwillig Beschreibungen gibt, und zweitens: der mystische
Fleischhandel, den er stets abschob auf einen Unbekannten namens
„Schlachterkarl“, von welchem er bald aus Ricklingen, bald aus
Ronnenberg, bald aus der Markthalle das Fleisch bezogen haben will,
welches er zur Hälfte des _sonst_ für Pferdefleisch üblichen Preises in
kleinen knochenlosen Stücken oder als Hackfleisch auszubieten pflegte.
Er belieferte damit die Familie des Friseurs Wegehenkel und deren
Bekannte und bezahlte auch die Waschfrau Johanne Alsdorf, bei der er
seine Wäsche reinigen ließ, und durch die er gelegentlich auch
Wäschestücke verkaufte (eine arme verkümmerte, fast leichenhaft
aussehende Frau), statt mit Geld immer nur mit frischem Fleisch. –
Vollends als er zu der Familie Engel in die „Rote Reihe“ zog, wurde das
von Haarmann gelieferte Fleisch in der Speisewirtschaft des Vater Engel
verwendet.

War denn nun aber in dem ganzen Neuen-Straßen-Viertel niemand, der an
diesem offensichtlich lichtscheuen Treiben Anstoß nahm, niemand der sich
gelegentlich Gedanken darüber machte? Doch! Es wurden in der Tat
verschiedene Male Anzeigen erstattet und Haussuchungen abgehalten; aber
es war, wie wenn alle Dämonen der Finsternis mit Haarmann im Bunde
stünden.

Schräg gegenüber der Haarmannschen Wohnung liegt ein Zigarrenladen, in
dem er sich täglich Zigarren und Zigaretten kaufte. Der Zigarrenhändler
Christian Klobes, ein zweifellos cholerischer und eitler, aber
scharfsichtiger Mann, fand das Getriebe in der Nachbarschaft stets
verdächtig und sagte seinem Nachbar, dem Klempner Lammers, wenn sie
abends vor der Tür ihr Schwätzchen hielten: „Karl, dat geiht nich tau
mit rechten Dingen! Dat vele Jungensvolk. Ik glöbe, hei let se rinn,
aber sei komet nüch wedder rute“; und Lammers antwortete: „Wat ik glöve,
hei verköft Jungens nach Afrika, an de Fremdenlegion.“ Daraufhin
beruhigte man sich zunächst. Aber Klobes beschloß, den merkwürdigen
Nachbarn gelegentlich mal „hoch zu nehmen“. Als Haarmann eines Mittags
wieder Zigarren kaufte, begann der dicke Klobes: „Sagen Se mal Herr
Nachbar, bei Sie kommen die vielen jungen Leute; Sie haben gewiß ’ne
Stellenvermittlung?“ Haarmann blickte mißtrauisch auf, dann rief er,
plötzlich auf eine am Laden vorübergehende Frau zeigend: „Dunnerslag,
_die_ muß ich sprechen; das is ’ne Bekannte“; und fort war er. Aber der
Zigarrenhändler beobachtete, daß er die Frau nicht anredete, sondern um
die nächste Ecke bog. Seither ließ Haarmann sich in dem Zigarrenladen
nicht mehr sehen. Denn von solchen kleinen Schlauheiten saß der Mann
voll. Als ihm die Hauswirtin Rehbock nach einem Zank das Zimmer sperren
wollte, stieg er von außen durchs Fenster. Aber um die Glasscheibe nicht
bezahlen zu müssen, lief er zum Schein auf der Straße hinter einem
Jungen her, stieß _selber_ im Vorbeilaufen das Fenster ein und brüllte
dabei über die Gasse: „Haltet den Jungen. Er hat das Fenster
eingeschmissen.“ Dann erst kletterte er durch die zertrümmerte Scheibe.
– Der Zigarrenhändler, der Klempner und noch eine Nachbarsfrau
verabredeten, sie wollten aufpassen, was mit „dem Kriminal los is“. –
Kam man nachts durch die alte Gasse, so sah man hinter den Fensterläden
Schatten auf- und abwogen und mehrmals bemerkten die Beobachter, daß in
dem Zimmer Personen sich bewegten, die völlig nackt schienen. In anderen
Nächten brannte ein gedämpftes Gaslicht. Alles war dicht verhängt, und
man hörte bis zum frühen Morgen dumpfes Hämmern, Klopfen und Sägen, als
wenn in dem Raume, in dem übrigens auch ein sogen. „Fleischwolf“ stand,
Knochen gehackt oder Fleisch bereitet würde. Da die dort einströmenden
Jungen manchmal Geflügel oder Kaninchen brachten, einige Male auch
eingefangene Hunde in dem Raume geschlachtet wurden (wobei Haarmann sich
benahm, als ob er das Schlachten nicht mitansehen könne), so hatte man
auch aus diesen Geräuschen lange keinen Arg. Immerhin verabredeten die
Nachbarn, als in den Zeitungen so viele Anzeigen von vermißten Knaben zu
lesen waren, sie wollten sich die Gesichter der jungen Leute merken, die
in Haarmanns Gesellschaft auf der „Insel“ gesehen wurden. Als nun wieder
einmal ein junger Mensch, Sohn eines höheren Beamten aus Darmstadt, der
auf der Durchreise sich in Hannover aufhielt, verschwunden war, da ging
der brave Zigarrenhändler aufs Polizeipräsidium und ließ sich die
Photographie des Vermißten zeigen, und richtig! es war einer von den
jungen Leuten, die er in Haarmanns Gesellschaft gesehen hatte. Es wurde
denn auch sofort eine Haussuchung bei Haarmann angeordnet, aber es war,
als ob auch in diesem Falle die Dämonen der Unterwelt schützend vor dem
Verbrechen ständen; man fand zwar Kleider von dem Jungen, Haarmann gab
auch sogleich zu, daß er mit dem jungen Manne widernatürlichen Verkehr
gehabt habe, bestritt aber, den Verbleib des jungen Mannes zu kennen,
und wirklich stellte sich einige Tage später der Verschwundene bei
seinen Eltern in Darmstadt wieder ein, und als nun abermals der biedere
Klobes auf dem Polizeipräsidium erschien, um Verdächtiges anzuzeigen,
wurde er als ein lästiger Quengler grob angelassen und verlor nun die
Lust, noch weiterhin als privater Späher tätig zu sein. Und doch
beobachteten er und seine Frau gerade um diese Zeit einen Vorgang, der
leicht zu einer Entdeckung hätte führen können. Sie hatten bemerkt, daß
Haarmann oft gegen Abend mit Paketen oder mit Säcken seine Wohnung
verließ und schlichen ihm an einem Maiabend in der Dämmerung nach, als
er mit einem schweren Sack die Leine entlang in die „Masch“ ging; hinter
einem Busch versteckt sahen sie, daß er den Sack in den Fluß warf. Bei
solchen Beobachtungen wäre wohl im Laufe der Zeit der Mordbetrieb ans
Licht gekommen, wenn nicht Haarmann am 9. Juni aus der Neuen Straße
fort- und nach Rote Reihe 4 verzogen wäre, wo er eine im 3. Stockwerk
belegene unmöblierte kleine Bodenkammer von einer Frau Engel gemietet
hatte. – Grans machte den Umzug nicht mit. Er saß vom April bis Juli im
Gefängnis, weil er eine aus einer Kaserne gestohlene wertvolle Stoppuhr
unterschlagen hatte. Als er wieder herauskam, trieb er sich zunächst
herum, nächtigte auch gelegentlich wieder bei „Onkel Haarmann“, zog dann
aber schließlich mit seinem Freunde Hugo Wittkowski zusammen nach
Burgstraße 14, wo sie von einer Arbeiterfamilie namens Krohne ein Zimmer
mieteten. Sie lösten sich einen Gewerbeschein und begannen auf
Jahrmärkten und in Wirtschaften mit unechten Ketten, Ringen und Uhren zu
handeln; führten im übrigen ein rechtes Luderleben und bekamen auch Geld
von ihren „Bräuten“. Das Verhältnis zu Haarmann aber wurde fremder und
feindlicher.


                         In der „Roten Reihe“.

Das Haus, an 250 Jahre alt, ist ein altes Fachwerkhaus mit zwei Fronten,
und zwar mit der einen nach der „Roten Reihe“, dem Judentempel
gegenüber, und mit der anderen nach der Bäckerstraße zu belegen. Im
Parterre befand sich ehemals eine von der Familie Engel geführte kleine
Schankwirtschaft. Durch einen sehr engen Hausflur über eine schmale,
winkelige, steile Treppe gelangt man in das Dachgeschoß, das nach der
Bäckerstraße zu das _dritte_, nach der Roten Reihe zu das _vierte_
Stockwerk bildet. Oben führt eine schräge Rampe auf den engen Gang, in
dem rechts hinten die Eingangstür zu dem Mordraum liegt. Es ist eine nur
etwa 7 qm große Kammer. Der Fußboden wie die Wand zeigten sich bei der
späteren Untersuchung mit Menschenblut durchtränkt. In der Kammer
befindet sich linker Hand von der Eingangstür ein kleiner, aus dem Dache
hervorgebauter Erker mit einem Fenster nach der Roten Reihe zu. Daneben
fällt das schräge Dach zurück. In dem dadurch gebildeten Winkel an der
der Tür gegenüberliegenden Wand stand ein Bört; neben diesem das
blutdurchtränkte, seegrasgepolsterte Feldbett. An den Wänden rechts und
links von der Tür standen kleine Tische. Ein Waschständer und zwei
Stühle vervollständigten die Einrichtung. In der Tapete steckten
Postkartenbilder unzüchtigen oder sentimentalen Geschmacks. An der
Zimmerdecke, zwischen dem Tische rechts und dem Bette hatte Haarmann an
Ketten einen Kochtopf aufgehängt, so daß er von unten erhitzt werden
konnte. Ein Ofen ist nicht vorhanden. Unter dem Fenster im Erker
befindet sich ein kleiner Verschlag. In demselben Geschoß liegen die
Wohnräume der Eheleute Lindner, deren Küche unmittelbar an Haarmanns
Zimmer stößt (von ihm nur durch eine dünne Wand getrennt), sowie mehrere
zu den anderen Wohnungen des Hauses gehörige Bodenkammern. Auf dem Flur
ist eine Wasserleitung. Die Klosetts liegen auf dem engen Hofe, auf den
zahlreiche Fenster münden ...

Vergegenwärtigen wir uns die Hausbewohner: Vor uns steht ein kleiner,
mit allen Hunden gehetzter, in allen Wassern gewaschener Zwergteufel,
ein Weib von der Physiognomie jener Gesche Margarete Gottfried, die man
in Kriminalwerken oft abgebildet findet. Das ist Elisabeth Engel,
geborene Bräutigam, eine Frauensperson von 50 Jahren, klein, dürr,
überintelligent, war dreimal verheiratet, hatte acht Kinder, von denen
nur eins am Leben blieb: (nämlich, der Arbeiter auf der „Continental“
Theodor Hartmann, ein 18jähriges, sehr verschlagenes, etwas geckenhaftes
Bürschchen). Gegenwärtig ist Mutter Elisabeth verheiratet mit dem
Arbeiter Wilhelm Engel, Ordner in der sozialdemokratischen Partei
(verschwiemelt und roh, aber gutmütig-phlegmatisch, wenn er nicht
getrunken hat). – Wie hatten Haarmann und seine Getreueste sich kennen
gelernt? Im Frühling 1923 wollte die Engel beim Roßschlächter auf der
Insel Fleisch einholen, aber es war ausverkauft, da traf sie nahe dem
Laden den Kriminalbeamten Haarmann, den sie von Ansehn kannte (denn sie
ist Scheuerfrau auf der Kriminalpolizei), und Haarmann bot ihr ein Pfund
Pferdefleisch, welches damals 60 Pfennig kostete, schon für 35 Pfennig
an. Daraus entwickelte sich eine Fleisch-Freundschaft. Sie kamen bald
auf Du und Du; gingen miteinander ins Kino, „küngelten“,
„kütchebütchten“, „tusterten“, „trampelten“, „hamsterten“ und „drehten
manche schwule Sache“! Haarmann schenkte der Frau manch abgetragenes
Kleidungsstück (er war ja Kleiderhändler und hatte Gewerbeschein); dafür
übernahm sie es, die anderen Kleidungsstücke für ihn zu verkaufen (sie
stammten ausnahmslos von Knaben und jungen Leuten). Im Radfahr- und
Turnverein „All Heil“, in welchem Vater Engel und sein Stiefsohn, der
junge Theodor Hartmann große Nummern waren, fand sich mancher, der bald
einen Selbstbinder, bald einen Hut, bald eine Breecheshose gern billig
erwarb. „Eine Hand wäscht die andere.“ Haarmann überließ der Familie für
ihren Ausschank billiges Fleisch, und als er sich im April mit seiner
Hauswirtin Rehbock herumschlug, fragte er die Engel: „Können Sie mir
nicht ein anderes Zimmer schaffen?“ Die Engel erwiderte: „In unserem
Hause ist eine leere Dachkammer; die können Sie haben.“ So kam er denn
am 9. Juni in die alte Baracke am Judentempel, wo wenigstens 20 Morde
mitten in einer menschenvollen, aller Wohlfahrt spottenden
Mansardenhöhle ausgeübt wurden. (Man stelle sich einmal vor, Haarmann
wäre ein Jude gewesen, welche Ritualmordmären und Pogrome hätten dann im
Volke entstehen müssen.) – Nur durch eine dünne Tapetenwand von
Haarmanns Dachzimmer getrennt, liegt die Küche der Frau Lindner. Frau
Lindner ist eine junge, schlanke, blonde Frau, sehr fürs Feine. Als
Haarmann in das Haus einzog, erzählte er sogleich allen Mitbewohnern,
daß er für Sauberkeit sorge und sehr „apart sei“; daher das Klosett, das
man zu fünf Parteien gemeinsam benutzte, nicht besuchen, sondern seinen
Eimer dorthin tragen werde, und sein Stoffwechsel mußte außerordentlich
sein, denn man sah ihn nun alle Viertelstunde mit einem verdeckten Eimer
zu dem ewig verstopften Klosett und dann zu der im Flur liegenden
Wasserleitung gehen, wie er denn unaufhörlich in seinem Zimmer, das die
Engel (angeblich!) nie betrat, wischte und schrubbte. Der Mann von Frau
Lindner ist Glasarbeiter; ein kleiner, gutartiger, schwarzer Stiesel.
Außerdem wohnte bei ihnen ein besseres Fräulein, das zuweilen
Herrenbesuch empfängt. Und dann war da auch ein kleiner Hund namens
Fuchsie. Dem brachte Haarmann zuweilen Knochen. Aber Frau Lindner konnte
Haarmann nicht leiden und ärgerte sich über die vielen Besuche von
Jungen, die auf der engen Stiege trampelten. Es gab in dem Hause vielen
Zank. Das Ehepaar Lindner schlug sich. Er sagte: „Du Hure.“ Sie
vermöbelte ihn mit dem Besen. Auch das Ehepaar Engel zankte sich im
Parterre; wenn er „knülle“ war. Grans hatte vor Frau Lindner auf der
Straße ausgespuckt; darauf hatten sich Haarmann und die Lindner auf der
Treppe angeschrien; dann hat „Herr Haarmann“ um Entschuldigung gebeten
und hat gesagt: „Darf ich die Herrschaften miteinander bekannt machen?
Meine Nachbarin Frau Lindner – mein langjähriger treuer Mitarbeiter Herr
Grans.“ Seit der Zeit haben sie sich wieder gegrüßt. – Aber wenn die
vielen Jungens zu Herrn Haarmann kamen, dann haben Frau Lindner, das
Fräulein, das bei Lindners wohnte und ein unbekannter aber feiner Herr,
der gerade zum Besuch war, durch die Türritze zugesehen. So sind sie
bald dahinter gekommen, daß bei Haarmanns Verkehr mit den jungen Leuten
dunkle Dinge im Spiele waren. Sonst aber war das Leben lustig! Große
Platten Fleisch wurden in Engels Küche gebraten. Auf Haarmanns Zimmer
wurde gesungen und getrunken. Die Eheleute Lindner haben wiederholt
„Schupo“ und „Sipo“ herbeigeholt. Einmal hat sogar die junge Frau
zusammen mit einem Kriminalassistenten eine ganze Nacht drüben am
Judentempel gestanden und Haarmanns Licht belauert. Aber der Zufall
fügte es, daß gerade immer dann, wenn die Polizei eingriff, nichts
besonderes zu entdecken war. Auch war Haarmann von großer Frechheit.
Einmal kam nach wiederholtem Ansuchen der Nachbarn die Polizei in der
Nacht, um bei Haarmann Haussuchung zu halten. Haarmann schloß die Türe
nicht auf. Er machte die Beamten ruhig darauf aufmerksam, daß, wenn kein
Befehl zur Verhaftung vorliegt, nach § 106 keine Haussuchung zwischen 10
Uhr abends und 6 Uhr morgens stattfinden darf. „Kommen Sie also um 6 Uhr
wieder.“ Als die Polizei dann wiederkam, war nichts Verdächtiges zu
finden. Die Nachbarn aber sagten: „Es hat doch keinen Zweck, das Treiben
anzuzeigen. Haarmann behält immer Recht. Er ist mit allen Beamten auf Du
und Du.“ – Im zweiten Stock wohnt Frau Fobbe, eine große, kräftige,
energische und brave Frau, Spiritistin, Gesundbeterin und Todfeindin der
Engel im Parterre. Im dritten Stock wohnt Frau Mühlhan. Sie sieht aus
wie eine gute, alte Eule und legt den Mädchen die Karten. Diese beiden
braven Seelen waren überzeugt: „Herr Haarmann ist bei der
Mitternachtsmission. Er tut Gutes an die Obdachlosen. Er führt sie zum
Arbeitsnachweis und gibt die armen Jungens zu essen.“ – In der Küche der
Mutter Engel im Parterre wurde Sülze bereitet. Haarmann brachte in einer
Schüssel, die er mit einem Tuche verdeckt hatte, in kleine Würfel
geschnittenes Fleisch und schüttete es in kochendes Wasser. Von dem
gekochten Fleisch, das blaß aussah und nach seinen Angaben
Schweinefleisch sein sollte, füllte er das Fett ab, glühte dieses Fett
dann noch einmal aus und füllte es in Flaschen. Das Fleisch wurde durch
eine Fleischmaschine gedreht und dann in die Schale gefüllt. Vor
Weihnachten 1923 machte Haarmann in der Engelschen Küche auch einmal
Wurst in Därmen, die angeblich Hammeldärme sein sollten. Haarmann, der
regelmäßig bei Engels aß, verzehrte diese Wurst gemeinschaftlich mit
seinen Wirtsleuten; sie war gut gewürzt und schmeckte wie Brägenwurst.
Auch von der Sülze und dem ausgeglühten Fett bekam die Familie Engel
jedesmal ihren Teil. Aber seit Mitte April 1924 bezogen sie kein Fleisch
mehr von Haarmann, weil ihnen danach übel wurde und sie es nicht mehr
mochten. Über die Herkunft dieses Fleisches ließ sich gar nichts
feststellen. Die Hausgenossen geben an, es sei ihnen aufgefallen, daß
Haarmann oft mit Fleischpaketen das Haus verließ, aber nur selten mit
Paketen ankam. – Haarmann führte im übrigen ein gutes Leben und ließ
viel Geld springen. Er verkehrte mit seinem Liebling Grans in guten
Wirtschaften und machte dort manchmal Zechen von 50 bis 60 Mark an einem
Tage. Gelegentlich wurden auch Dörchen und Elli mitgenommen. Dann trank
man Kognak und Sekt.


                            Die Entdeckung.

In den Monaten Mai und Juni 1924 hatten sich die Schädel- und
Leichenfunde so gemehrt, daß eine Volkspanik auszubrechen drohte. Es
wurden Ausschreiben in der Presse mit einer Beschreibung der
aufgefundenen Schädel veröffentlicht, um Anhaltspunkte aus der
Bevölkerung zu gewinnen. Zugleich erinnerte man sich nun endlich der
vielen Anzeigen, die im Laufe der Jahre gegen Haarmann eingelaufen waren
und des Verschwindens der beiden Schüler im Jahre 1908, wobei schon
einmal Haarmann in Mordverdacht geraten war. Man beschloß nun
folgendermaßen vorzugehen. Da Haarmann alle Polizeipersonen der Stadt
kannte, so ließ man zwei junge Kriminalbeamte aus Berlin kommen, die
sich als scheinbar Obdachlose am Bahnhof herumtreiben und an Haarmann
heranmachen sollten, um sein Treiben ständig zu beobachten und ihn
womöglich auf frischer Tat zu ertappen. Aber wieder machte der Zufall
einen Strich durch diese Rechnung. Der letzte Junge, den Haarmann
aufgegriffen, in seine Wohnung verschleppt und dort mißbraucht hatte,
war ein 15jähriger Fürsorgezögling namens Kurt Fromm, ein dumpfer,
schwerfälliger und begriffsstutziger Mensch, den er am 18. Juni am
Bahnhof angesprochen und dann mehrere Tage bei sich in der Wohnung
behalten hatte. In der Nacht des 22. Juni traf Haarmann mit dem jungen
Fromm abermals in der Nähe des Bahnhofs zusammen, wobei die beiden in
Streit gerieten und Fromm den Haarmann frech und überlegen zu behandeln
begann. Um den Jungen zu ducken, um seinem Ärger Luft zu machen, oder
aus einem gleich zu erwähnenden _anderen_ Beweggrund hatte Haarmann die
ungeheure Keckheit, auf die Bahnhofswache zu gehen und zu fordern, daß
man den jungen Fromm verhaften möge; Fromm, so gab er an, habe ihm
anvertraut, daß er auf falsche Papiere reise. In der Tat erfolgte nun
sofort die Verhaftung des Jungen. Es war zwei Uhr nachts. Auf der Wache
aber bezichtigte der Junge nun auch den Haarmann, daß dieser ihn mehrere
Tage und Nächte bei sich behalten, ins Zimmer eingeschlossen und zu
widernatürlicher Unzucht verleitet habe. Morgens beim Erwachen habe
Haarmann ihm ein scharfes Brotmesser an die Kehle gesetzt und gefragt,
ob er sich wohl vor dem Tode fürchte. Als er sehr erschrocken gewesen
sei, da habe Haarmann gelacht und gesagt, das sei nur Spaß; wenn ihm
jemand etwas tun wolle, so möge er nur kräftig schreien. – Da zufällig
ein Beamter des Unzuchtsdezernats auf der Wache war, welcher wußte, daß
man ohnehin den Haarmann zu verhaften wünschte, so beschloß dieser, den
gefährlichen Vigilanten nun doch gleich mitzunehmen, bevor er
möglicherweise Verdacht schöpfen und sich in Sicherheit bringen könne.
So wurde Haarmann am 23. Juni morgens ins Gefängnis eingeliefert. Er
selber hat in späterer Zeit erklärt, daß er die Verhaftung des jungen
Fromm nur darum veranlaßt habe, weil er gewußt habe, daß er auch diesen
Jungen töten werde und von einer dunklen Angst erfaßt worden sei, daß er
diesem Mordwollusttriebe nicht lange mehr widerstehen werde. Könnte man
dem Haarmann das glauben (und wer sein Wesen beobachtete, dürfte geneigt
sein, dies zu glauben), so wäre die erste Gelegenheit, bei welcher eine
Art „moralischer“ Hemmung ihn ergriff, auch sein Untergang geworden. –
Dies war am 22. Juni. Erst am 29. Juni erlangte man ein dämmerndes
Geständnis.


                            Das Geständnis.

Nachdem man die Wirtinnen und Hausbewohner des Haarmann vernommen, eine
Fülle von Zeugen verhört, vor allem aber unter den in Haarmanns Wohnung
aufgefundenen, oder in seinem Bekanntenkreis beschlagnahmten, oder auch
von diesem freiwillig herbeigebrachten Kleidern und Wäschestücken
mehrere hundert Asservate zusammengebracht hatte, die im
Kriminalpräsidium ausgestellt und von den Angehörigen vermißter Personen
besichtigt, als Eigentum verschwundener Knaben und Jünglinge erkannt
worden waren, da waren die Belastungsmale so gehäuft, daß man sicher
war, in Haarmann den gesuchten Massenmörder eingefangen zu haben, aber
dennoch vermochte man in keinem einzigen Falle ihm eine Tat einwandfrei
zu _beweisen_. Daß die Kleider und Eigentumsstücke so vieler vermißter
Personen in seiner Umgebung gefunden wurden, oder durch seine Hände
gegangen waren, erklärte er mit seinem Tausch- und Ramschhandel, gab
auch zu, die meisten Verschwundenen gekannt und mit ihnen geschlechtlich
verkehrt zu haben, behauptete aber, von ihrem Verbleib nichts zu wissen
und gab für die Blutspuren in Wäsche, Betten und Kleidern harmlose
Erklärungen, ja, verstand es, mit eherner Geschicklichkeit sich durch
alle Torturen des Inquisitionsverfahrens hindurch zu winden. Wieder
mußte ein Zufall die volle Überführung ermöglichen. Unter den von
Haarmann Getöteten befand sich ein junger Mann namens Robert Witzel,
dessen Eltern seit nahezu einem Jahr siebenzehnmal das Polizeipräsidium
nach dem verschwundenen Sohn bestürmt hatten. (Zwischen der ersten
Anzeige, die diese Familie gegen Haarmann erstattete, bis zu dessen
_Verhaftung_, geschahen noch fünf Morde.) Als die ersten Schädel im
Lustgarten des Königsschlosses angespült wurden, ließ ein Ingenieur der
„Excelsior“, in welcher der Vater des Witzel als Werkmeister arbeitet,
diesen Vater kommen, um ihn nach der Lebensweise des Verschwundenen zu
befragen. Und dieser Ingenieur Heinrich Meldau, der sich aus Liebhaberei
gern mit sexualpathologischen Fragen beschäftigte, veranlaßte auch den
Vater, die Schädelfunde zu besichtigen, um etwa den Schädel des Sohnes,
der ein sog. Sägegebiß hatte, daraus zu ermitteln. Man wußte von dem
Vermißten nur, daß er am letzten Abend vor seinem Verschwinden einen
Zirkus besuchte. (Daher die Polizei angenommen hatte, daß der Junge
abenteuerlustig mit dem Zirkus auf- und davongegangen sei.) Es bestand
aber bei den Eltern dauernd der Verdacht, daß der nächste Freund ihres
verschwundenen Sohnes, ein 14jähriger überaus frühentwickelter Jüngling
namens Fritz Kahlmeyer, sehr kräftig, mit auffallend hübschem
Mädchengesicht, ein verstockter und verschlagener Bursche, von dem
Zirkusbesuch etwas wissen müsse, was er aus Angst oder Scham
vorenthielt. Nachdem alles Einreden aus dem jungen Kahlmeyer nichts
herausgebracht hatte, machte der Vater noch einen letzten Versuch, als
der trotzige Junge von dem älteren Bruder des Entschwundenen ein Fahrrad
entleihen wollte, um zu dringlichem Geschäft über Land zu fahren. Es
wurde ihm direkt gesagt: „Du bekommst das Rad nur dann, wenn du sagst,
mit wem Robert am 26. April im Zirkus gewesen ist.“ Nun endlich kam die
Antwort: „Es war ein Kriminalbeamter vom Bahnhof.“ Der Junge hatte ehern
geschwiegen, weil auch er selber von Haarmann angesprochen,
geschlechtlich mißbraucht und später sogar an homosexuelle „Herren der
Gesellschaft“ verkuppelt worden war. So war denn nun zu dem Schädelfund
das _zweite_ Indizium hinzugekommen und das _dritte_ war da, als auch
Kleidungsstücke des Vermißten unter Haarmanns Sachen gefunden wurden.
Dennoch wollte Haarmann sich zu keinem Geständnis bequemen. Da aber
geschah folgendes. Die Eltern Witzel sitzen wartend, zusammen mit dem
jungen Kahlmeyer, vor einer Türe im Polizeivorsteheramt, um noch einmal
ihre Vermutungen dem Polizeikommissar Retz vorzutragen, plötzlich geht
an ihnen eine kleine spitzmausige Frauensperson mit einem jungen etwa
18jährigen Mann vorüber und die Mutter, erschrocken nach dem Arm des
Vaters greifend, ruft: „Der junge Mann trägt den Rock unseres Robert.“
Die Frauensperson und der Jüngling verschwinden, als sie merken, daß man
auf sie aufmerksam ist. Aber die Eltern eilen mit einem Kriminalbeamten
hinterher, holen sie ein und fragen nach der Herkunft der Kleider. Statt
einer Antwort fragt der junge Mann zurück: „Heißen Sie etwa Witzel?“
Eine Ausweiskarte auf diesen Namen hat in der zu seinem Rock zugehörigen
Hose gesteckt, der Anzug kam von Haarmann. Die Frauensperson ist die
Engel, die Wirtin Haarmanns, die sich zufällig gerade auf dem Präsidium
nach Haarmanns Militärrente erkundigen wollte. Die sämtlichen Indizien
wurden nun sofort dem Haarmann vor Augen gestellt: Die Eltern, der
Schädel, die Kleidungsstücke, der junge Kahlmeyer, die wiedererkannten
Kleider, in denen der an Haarmann zurückgegebene und von ihm vernichtete
Personalausweis gesteckt hat. Und da nun ein Tatbestand von so viel
Seiten belichtet ist, gibt er zum erstenmal, auf Zureden seiner
Schwester, die _Möglichkeit_ zu, in Geschlechtstollwut junge Leute
gewürgt, gebissen und erdrosselt zu haben. Von nun an setzte jene
Befragungsmarter ein, die der modernen Strafrechtspflege so wenig ferne
steht wie der mittelalterlichen, indem man durch unaufhörliche Verhöre,
Entziehen des Schlafes, Schwächung des Organismus durch Abführmittel,
oder durch eine „strenge Therapie“ auch den Zähesten und Verstocktesten
so mürbe machen kann, daß er schließlich zusammenbricht, wonach man dann
ihm Erleichterung, Stärkung, Zuspruch, Ermutigung zuteil werden läßt, im
selben Maße, als er „sein Gewissen entlastet“. Nach sieben Tagen brach
Haarmann, nachdem er abwechselnd in Tobsucht oder in Weinkrampf
verfallen war, endlich verstumpft zusammen und bat, daß man den Pastor
Hardelandt, der ihn eingesegnet hatte, herbeiholen möge, damit er diesem
eine Beichte mache. Der Geistliche aber konnte in Hinsicht auf seine
Amtsschweigepflicht solche Beichte nicht annehmen und so bequemte sich
Haarmann schließlich dazu, dem Kriminalkommissar und dem
Untersuchungsrichter Schritt für Schritt immer weitere Taten
einzugestehen, doch blieb er dabei, daß die im Flusse gefundenen Schädel
nicht die seiner Opfer sein könnten, weil er stets seine Schädel ganz
klein geschlagen habe; dagegen führte er die Beamten und den
Gerichtsarzt zu Stellen des Georgengartens bei Herrenhausen, wo er
Leichenteile ins Gebüsch geworfen und Knochen in einen Teich versenkt
hatte, zeigte dort auch das Skelett eines jungen Mannes von 16 Jahren,
dessen Gelenkflächen noch fettig und schlüpfrig waren, so daß es als
Überrest des _letzten_ Opfers, des am 15. Juni getöteten Erich de Vries
anerkannt werden konnte. Von nun an meldeten sich immer neue Personen,
welche Kleidungsstücke oder Fleisch von Haarmann, Grans, der Engel oder
der Wegehenkel bezogen hatten, und so konnten immer weitere Mordtaten,
die noch uneingestanden waren, dem Mörder sehr _wahrscheinlich_ gemacht
werden, bis er gar nicht mehr versuchte zu leugnen, sondern seine
gewöhnliche Redensart gebrauchte: „Schreiben Sie man dazu.“

Von nun an veränderte sich auch sein Wesen. Der zu Anfang bei all seiner
Geschwätzigkeit voller „Verhaltungen“ (Retentionen) sitzende dumpfe
Mensch, schloß gleichsam Klappe nach Klappe seines Gemütes auf, begann
zutunlich, kindlich, ganz aufgetan zu werden, und nur, wenn die Eltern
der Gemordeten vor ihm standen, oder sonst etwas Bedrohliches vor ihm
aufstieg, oder die Rede kam auf das unmittelbare Durchbeißen der Kehle,
oder den dunklen Fleischverkauf, so vereisten sofort wieder die kleinen
giftigen Lichter und dummtrotzig, wie maulend oder schmollend, zog er
sich wieder in sich zurück. Im allgemeinen aber hatte jedermann das
Gefühl, daß dieser Mensch sich wie erlöst fühlte, weil er über die
Dunkelheiten und die große Angst seines wirren Trieblebens nun endlich
sprechen durfte; ja, es kam etwas wie kindliches Sichaufspielen in seine
Berichte, wenn er erzählte, wie er durch so lange Jahre die „Menschheit“
(über die er stets böse sprach) zu täuschen verstanden habe. Bis zum 16.
August 1924 hielt man ihn im Gerichtsgefängnis. Dann kam er zur
Untersuchung seines Geisteszustandes in die Provinzial-Heil- und
Pflegeanstalt nach Göttingen. Die Untersuchung durch den Geheimrat Prof.
Schultze wurde abgeschlossen am 25. September 1924. Er kam dann ins
Gerichtsgefängnis zurück, um auch dort noch längere Zeit beobachtet zu
werden. Am 4. Dezember begann die Verhandlung vor dem Schwurgericht in
Hannover. Die Akten umfaßten 60 Bände. Auf die aus Haarmann
herausgenötigten Angaben hin war inzwischen auch Hans Grans am 8. Juli
verhaftet worden. Die beiden hatten einige Male Gelegenheit, sich vor
der Verhandlung zu sehen, wobei Haarmann beunruhigt, Grans dagegen ruhig
ablehnend und sehr kalt erschien. Grans wurde beschuldigt, nicht nur um
die Morde des anderen gewußt zu haben, sondern in mindestens zwei Fällen
ihm die Opfer zugeführt oder zu ihrer Tötung suggestiv angetrieben zu
haben, weil er die Kleider der Gemordeten für sich selber begehrte.



                             Zweiter Teil.

                              Der Prozeß.


                              Das Gericht.

Das Gerichtsgebäude in Hannover, um 1880 im schlechten Geschmack einer
falschen Renaissance gebaut, hat einen altmodischen, etwa hundertfünfzig
Personen fassenden Saal. Er ist überdeckt mit einem Glasdach, das die
Gesichter in mattes Geisterlicht taucht. Am Nordende sitzt das Publikum,
an jedem Tage achtzig Personen, zumeist Angehörige der Gerichtsherren
oder Neugierige, die ihre Zutrittskarten mühsam nach stundenlangem
Stehen erbeten oder sich teuer gekauft haben. Vor der Schranke, die das
Publikum abscheidet, stehen einige Bänke für die Zeugen und bevorzugte
Sitze für Vertreter der Behörden; den Oberpräsidenten Noske, den
Regierungspräsidenten v. Velsen, den Polizeipräsidenten v. Beckerath,
den Vertreter des Justizministeriums Dr. Weiß, einige Vertreter der
Jugendfürsorge, der Ärzteschaft, der Polizei. Am Südende des Saales auf
erhöhter Empore thront das Gericht. In der Mitte des langen Tisches der
Präsident, Landgerichtsdirektor Dr. Bökelmann, am rechten Ende des
langen Tisches der Oberstaatsanwalt Dr. Wilde. Daneben der zweite
Staatsanwalt Robert Wagenschieffer. Dann zwei beisitzende Richter,
Landgerichtsräte Harten und Kleineberg. Am linken Ende sitzt der
Ersatzstaatsanwalt Jasching und der Protokollführer Hoßfeld. Eingerahmt
von diesen Justizpersonen sitzen hinter dem grünen Tische sechs
Geschworene und zwei Ergänzungsgeschworene. Die Geschworenen sind:
Landwirt Wesche aus Hüpede, Zimmermann Harse aus Bodenwerder, Schneider
Untorf aus Pyrmont, Schmied Heise aus Engelbostel, Postassistent Ahrens
aus Holzhausen, Korbmacher Ackmann aus Kreiensen. Links an der
Fensterseite des Saales ist die Anklagebank. Neben und zwischen den
beiden Angeklagten sitzen zwei Sicherheitspolizisten und ein
Kriminalassistent. Vor der Anklagebank haben ihren Platz die zwei
Offizial-Verteidiger: Justizrat Benfey für Haarmann, Rechtsanwalt Lotze
für Grans. Neben ihnen fünf Sachverständige: zwei Gerichtschemiker
namens Lochte und Feise aus Göttingen, sowie als psychologische
Gutachter: Geheimrat Schultze aus Göttingen, Gerichtsmedizinalrat und
Polizeiarzt Schackwitz und der Gefängnisarzt: Gerichtsmedizinalrat
Brandt. Gegenüber an der Türseite des Saales sitzen 21 „Herren von der
Presse“, neun als Vertreter der in Hannover erscheinenden Lokalblätter,
fünf als Vertreter von Telegraphenbüros, ferner drei Berichterstatter
von außerhannoverschen Zeitungen, ein amerikanischer und ein
französischer Berichterstatter, dazu vier Zeichner.

Es ist ein Provinzgericht, darin weder hervorragende Strafrechtler, noch
tiefblickende Seelenforscher, noch auch bedeutende Schriftsteller
vertreten sind. Der Gerichtshof hat die Aufgabe, einen für ganz Europa
beunruhigenden Kriminalfall „_ohne öffentliches Ärgernis gemäß § 263 der
Reichsstrafprozeßordnung unter Vermeidung der Bloßstellung von Ämtern
und Behörden innerhalb 12-14 Verhandlungstagen rasch zu erledigen_.“ Für
diese Aufgabe erscheint der Vorsitzende als der rechte Mann:
kurzangebunden, gradlinig, grobdrähtig, eng und bestimmt. Man könnte ihn
mit Fritz Reuter etwa so charakterisieren: „Hei was so en lütten smuken
korten aewer bostigen Staemling, wat _bölken_ daut as en Feldweiwel un
forsch die Justiz exerziert; aewer von dat lise Sinieren und dat
Sick-inwenig-bekieken, dadervon deiht hei nichts verstahn so’n priken
Kirl.“ – Besinnlicher, durchgeistigter, auch „besser im Bilde“ erschien
der Oberstaatsanwalt, ein müder Aristokratentyp; vielleicht von
menschlicher Feinheit, aber so frei von der schönen Fähigkeit des
fanatischen Rechtsethos, daß man aufstöhnen mochte mit Zarathustra: „O,
ich wollte doch, Ihr hättet einen _Wahnsinn_, womit Ihr geimpft wäret.
Und ich wollte _Euer_ Wahnsinn hieße: die Wahrheit oder die
Gerechtigkeit!“ – Minder bedeutsam: der zweite Staatsanwalt, ein
kulörbrüderlicher sympathischer, ehrenfester Mann, der schlechtes
Juristendeutsch redet. Die Beisitzenden würdig-ernst; aber ohne die
Möglichkeit, während der ganzen Verhandlungen auch nur ein
Sterbenswörtchen zu entäußern. Vollends nur Tapetenfiguren: die
Geschworenen. Unglücklich in ihren Stühlen dahindämmernd und vollkommen
unfähig, auch nur einen einzigen Fall klar zu durchdringen oder bewußt
vor der Fantasie aufzubauen. Immerhin war dieser Gerichtshof bedeutend
zu nennen im Vergleich zu der völlig unfähigen Verteidigung, mit welcher
die beiden Angeklagten eigentlich vorweg _bestraft_ wurden. Da sie
nämlich kein Geld hatten, um sich ernsthafte Verteidiger kommen zu
lassen, so mußte von Amts wegen jedem ein Offizialverteidiger bestellt
werden. Zwar hatte ein bedeutender Berliner Kriminalist sich zur
kostenlosen Verteidigung des Werwolfs erboten, aber es war dem Haarmann,
der eine beständige Angst vor „Kommunisten“ hat, eingeredet, sein
Berliner Anwalt stünde mit den „Kommunisten“ in Verbindung. (Die
Reichstagsabgeordneten Katz und Gohr behaupteten, daß Haarmann auch als
_politischer Spitzel_ gegen ihre Partei in den Revolutionstagen
verwendet worden sei. Sollte das wahr sein, so wäre seine ewige Angst
vor „Kommunisten“ psychologisch erklärlicher.) Er hatte im letzten
Augenblick darum gebeten, man möge ihm statt des „Berliner Kommunisten“
doch einen beliebigen Offizial-Verteidiger stellen. Nachdem zwei jüngere
Anwälte die schwere, heikle Aufgabe abgelehnt hatten, war die Wahl auf
einen Rechtsanwalt und Notar gefallen, der in zahllosen kleinen,
provinziellen Mikkerprozessen alt und grau geworden, nicht die mindeste
Möglichkeit besaß, eine der schwierigsten Aufgaben des Strafrechts (das
dankbare Sprungbrett für ein starkes kriminalistisches Talent) auch nur
zu sehen, geschweige denn sachlich auszuwerten. Eine „Verteidigung“
Haarmanns war eben nur möglich, wenn sein Anwalt entweder mit
durchdringender Menschenkenntnis die Notwendigkeit und Unentrinnbarkeit
eines zwangssüchtigen Triebirrsinns klar machte, oder wenn er die
„Schuld“ auf Umwelt, Zeit, Verrottung der Zustände abwälzend, zum
flammenden _Ankläger_ von Polizei und Sittlichkeit der Stadt Hannover,
ja, zum Richter einer ganzen Kultur wurde. Beides war bei diesem Anwalt
unmöglich: Ethos wie Psychologie! Da der zu Anfang vorgesehene Berliner
Strafrechtler als Gegengewicht gegen die Gerichtsexpertise, auch für die
Verteidigung einen Psychologen hinzuziehen wollte und mich selber zum
Begutachter gewünscht hatte, so regte ich auch bei Haarmanns
Offizialverteidiger die Möglichkeit an, psychoanalytische,
charakterologische, phänomenologische Aufklärungen zu versuchen und um
nicht selber bemüht zu scheinen, schlug ich, während ich es vorzog, als
Vertreter einiger führender Zeitungen der Verhandlung beizuwohnen, die
folgenden Männer vor: Ludwig Klages (als bedeutendsten Sohn der Stadt),
Alfred Döblin, Sigmund Freud, Alfred Adler, Hans v. Hattingberg; worauf
die allessagende schriftliche Antwort kam: „Ich wüßte nicht, was man
Psychologisches fragen sollte.“ – War somit für seelenkundliche
Durchdringung des Falles keinerlei Hoffnung gegeben, so hätte vielleicht
doch ein starkes sachliches Ethos manches klären können. Aber Haarmanns
Anwalt (alter Verbindungsstudent, Vertrauensmann der Nationalliberalen
und Anwärter auf einen Bürgervorstehersitz) nutzte kleinstädtisch die
Gelegenheit, um gleichsam als der dritte Staatsanwalt seinen Klienten
_anzuklagen_, vor den lokalen Behörden sich nützlich zu erweisen, ja in
kirchturmpolitischen Tiraden das „wilhelminische und bismarckische
Zeitalter“ auszuspielen gegen „die Republik, die solche Unholde wie den
Haarmann gebar“. Vor solcher geschmacklosen Kleinstadt-Optik schützte
den Verteidiger des Grans, einen Enkel des Philosophen Lotze, eine
gewisse juristische Nüchternheit; doch fehlte auch ihm jede forensische
Begabung, jedes psychologische Interesse und jede logische Schärfe; ein
lieber Mensch am Stammtisch, war er in diesem mächtigsten Kriminalfall
unserer Tage hilflos und zugleich doch anmaßlich.

Trostloser noch als dieser Mangel an Größe und Weitsichtigkeit auf
Seiten der Juristen war das fast vollständige Fehlen selbständiger und
starker Köpfe unter den Hörern und Berichterstattern. Man war mit der
Zulassung von „Schriftstellern“ sehr vorsichtig gewesen, denn man
wünschte vieles zu _verhüllen_; vor allem wurde von der ersten Stunde an
aufs kräftigste betont, daß das Hereinziehen von Verfehlungen der
Polizei und der Behörde gemäß § 263 verboten sei; daher wurde jedem
Zeugen und auch den Eltern der Getöteten sofort das Wort entzogen,
sobald sie auf _dieses_ Thema zu sprechen kamen; man fürchtete eben den
„öffentlichen Skandal“, und wünschte keine Störung durch die
Menschenmassen, die durch ein Polizeiaufgebot vom Gerichtsgebäude
abgehalten, ohnehin durch die mit dem Prozeß zusammenfallenden
Reichstagswahlkämpfe aufgeregt, draußen in den Straßen lungerten. So
hatte man denn eigentlich nur die unverfänglichen Zeilenschreiber der
kleinen Lokalpresse oder die Telephonreporter der großen Agenturen im
Saal. Von unabhängigen Schriftstellern war nur zweien der Zutritt
gelungen, weil man einem Wunsche des Justizministeriums sich fügen
_mußte_: dem Sexualforscher Magnus Hirschfeld und dem Kriminalforscher
Hans Hyan. – Unter den Gutachtern ragte der Göttinger Professor der
Psychiatrie, Schultze, hervor, ein väterlich wohlwollendes, unendlich
gütiges Gesicht; ein Mann, der mit Bienenfleiß jedes Wort des Haarmann
in einem riesigen Aktenberge aufbewahrt hatte, welcher Aktenberg dann
schließlich folgendes Mäuslein gebar: 1. der Angeklagte ist abnorm und
minderwertig, 2. der § 51 (welcher Unzurechnungsfähigkeit bei Begehung
der Tat voraussetzt) trifft nicht zu. – Hier zeigte sich einmal klar die
ganze Hilflosigkeit unserer auf „Bewußtseinstatsachen“ ausgehenden
Medizinerpsychologie angesichts des vorbewußt flutenden Elements
atavistischer Triebuntergründe, denn „abnorm“ nennt diese Art
Psychologie den Goethe so gut wie den Haarmann, den Strindberg so gut
wie den Frauenmörder Großmann; „minderwertig“ aber ist der Mensch vom
Standpunkt des Affen ebensowohl, wie der Affe vom Standpunkt des
Menschen. Bezüglich des § 51 aber (welcher vorsintflutliche Begriffe
über Willensfreiheit, Verantwortlichkeit, Zurechnungsfähigkeit
voraussetzt), hätte im Falle Haarmann jeder ehrliche Psychologe eben
erklären müssen: Uns zu fragen, ob § 51 anwendbar sei oder nicht, hat
genau so viel Sinn, als wenn man uns fragt: „Soll Wasser nach Metern
oder nach Quadratruten gemessen werden?“ Hier ist uns eine _Norm_
vorgeschrieben, _die auf diesen Fall nicht anwendbar ist_. – Eine Ahnung
davon mochte den zweiten Sachverständigen Alex Schackwitz anwandeln,
einen jungenhaft frischen, anstelligen, aufnahmefähigen, offenen und
prächtigen Menschen; „smart matter of fact man“; „Forscher
Wirklichkeitsmann“, aber eben darum ohne jede Ehrfurcht, nein, ohne jede
_Ahnung_ für jenes Stückchen Träumer- oder Dichtertum, ohne welches man
die Wahrheit hinter aller Wirklichkeit doch niemals zu erfühlen vermag.
(Denn Wirklichkeitstatsachen als solche sind _gar nichts_! Der
Psychologe muß den Menschen besser kennen als dieser sich selber zu
kennen vermöchte.) – Vollends der _dritte_ Sachverständige war nichts,
als Seelenergründer nach dem Herzen von: „Hofmann: Wie ermittelt der
Kriminalpsychologe Blutflecken?“ – War nun aber weder die _Psychologie_
noch auch das _Ethos_ der eigentliche _Sinn_ dieses Kriminalverfahrens,
so konnte man fragen: „Wozu überhaupt der ganze weitläufige Aufwand?“ –
Er kostete dem Staate mehrere hunderttausend Mark. Der Ausgang:
Todesstrafe war ohnehin sicher. Ob ein Mörder zwanzigmal oder zehnmal
zum Tode verurteilt wird, kann gleichgültig sein. Man mußte sich von
vornherein eingestehen, daß eine gleichsam das Weltgewissen
befriedigende Auflösung des ungeheuren Falles nicht möglich war. Nur
Zweierlei konnte versöhnen: das Sittlichste oder das Natürlichste:
_Selbstmord_ (als Selbstrichtertum eines Sühnewilligen, der an
menschlicher Gemeinschaft Ungeheuerliches frevelte), oder – schnelle
Lynchjustiz von seiten des beleidigten Lebens.

... „Hoffnungslos! Auch der Weiseste _muß_ ein Fehlurteil fällen
im Gerichtssaal, das heißt eingesperrt in einen Ring aus
Gefriersitzfleisch. Draußen im Leben kann man sich richtig oder falsch
entscheiden, einmal so, einmal so, aber das ganze Jus besteht doch eben
darin, die ganze Frage so zu formulieren, daß es gar keine richtige
Entscheidung geben _kann_.

Wie ich handeln würde?

Den dreißig Müttern der zerfleischten Knaben die Möglichkeit geben,
durch die Schranken zu brechen und den Haarmann zu zerfleischen. Das
wäre lebendige Gerechtigkeit. Von Flammen verzehrt, in den Flammen
vergehen, die man nicht zu beherrschen vermocht. Denn das Leben schlägt
zurück, wenn man hineinschlägt, ganz gleich ob man dabei
zurechnungsfähig war, oder etwa sich selber gebessert hat. Und das ist
schön. Und das ist wahr. Und darum nichts für Wehleidige. Aber der
ekelhafte Mumpitz des Todes_urteils_ in der feigen Anonymität der
beleidigten Gesellschaft ist ein trostloser Unfug“ ...

Mit diesen Worten ermutigte mich in den schweren Tagen des Prozesses
einer der besten Seelenerforscher unserer Tage.


                              Die Anklage.

Der Eröffnungsbeschluß ward verlesen. Dem Händler Fritz Haarmann wird
zur Last gelegt, die folgenden Personen vorsätzlich und mit Überlegung
getötet zu haben:

        1.  Etwa September 1918 den Schüler Fritz Rothe.        
        2.  Etwa Februar 1923 den Lehrling Fritz Franke.        
        3.  Etwa März 1923 den Lehrling Wilhelm Schulze.        
        4.  Etwa Mai 1923 den Schüler Roland Huch.              
        5.  Etwa Mai 1923 den Arbeiter Hans Sonnenfeld.         
        6.  Etwa Juni 1923 den Schüler Ernst Ehrenberg.         
        7.  Etwa August 1923 den Bürogehilfen Heinrich Struß.   
        8.  Etwa September 1923 den Lehrling Paul Bronischewski.
        9.  Etwa Oktober 1923 den Arbeiter Richard Gräf.        
       10.  Etwa Oktober 1923 den Lehrling Wilhelm Erdner.      
       11.  Etwa Oktober 1923 den Arbeiter Hermann Wolf.        
       12.  Etwa Oktober 1923 den Schüler Heinz Brinkmann.      
       13.  Etwa November 1923 den Zimmermann Adolf Hannappel.  
       14.  Etwa Dezember 1923 den Arbeiter Adolf Hennies.      
       15.  Etwa Januar 1924 den Schlosser Ernst Spicker.       
       16.  Etwa Januar 1924 den Arbeiter Heinrich Koch.        
       17.  Etwa Februar 1924 den Arbeiter Willi Senger.        
       18.  Etwa Februar 1924 den Lehrling Hermann Speichert.   
       19.  Etwa April 1924 den Lehrling Alfred Hogrefe.        
       20.  Etwa April 1924 den Arbeiter Hermann Bock.          
       21.  April 1924 den Lehrling Wilhelm Apel.               
       22.  Ende April 1924 den Lehrling Robert Witzel.         
       23.  Mai 1924 den Lehrling Heinz Martin.                 
       24.  Etwa Mai 1924 den Reisenden Fritz Wittig.           
       25.  Etwa Mai 1924 den. Schüler Friedrich Abeling.       
       26.  Etwa Juni 1924 den Lehrling Friedrich Koch.         
       27.  Juni 1924 den Bäckergesellen Erich de Vries.        

Es sind 147 Anzeigen eingelaufen. In 38 Fällen ist nachgewiesen, daß die
Vermißten noch leben. In 114, daß Haarmann nicht als Täter in Betracht
kommt. Es bleiben also: 30 Fälle. Davon können 27 Morde _bewiesen_ und
drei weitere (nicht mit zur Anklage gestellte) Fälle überführt werden.

Gegen Hans Grans, geboren am 7. Juli 1901 in Hannover, wird die Anklage
erhoben, wegen Anstiftung zum Morde in zwei Fällen und eine zweite
(später fallengelassene) Anklage wegen gewerbsmäßiger Hehlerei.


                        Die beiden Angeklagten.

„Ein schwanzloser Raubaffe, welcher auf Hinterfüßen geht, in Rudeln
lebt, alles frißt, ein ruheloses Herz hat, aber durch seinen Geist
verlogen ist. Diebisch, geil und händelsüchtig, dabei fähig zu vielen
Fertigkeiten. Der Feind aller übrigen Erdgeschöpfe und doch der
schlimmste Feind seiner selbst.“ („Simia homo sine cauda, pedibus
posticis ambulans, gregarius, omnivorus, inquietus cordis, mendax
mentis. Furax, salex, pugnax at artium variarum capax. Animalium
reliquorum terrae hostis, sui ipsius inimicus teterrimus.“) – Dies ist
die älteste Beschreibung des Urmenschen. – Eigenbezüglich und hörig,
feige und wildverwegen, brutal und sentimentalisch, vor allem eitel und
geil – so stellte sich Haarmann uns dar: Ein _fließendes_ Element, darin
gespielte und wirkliche Kindischkeit, gespielter und wirklicher
Schwachsinn wunderlich einander überdeckten. Ganz auf Hunger und Wollust
gestellt, „ausgeschämt“ in jedem Sinn, ist er doch ein Stück
unmittelbare auch noch in seiner Schauspielerei völlig naive Urnatur, an
keinerlei _Rechenschaft_ über sich selber gewöhnt. Wenn das
Paragraphen-Deutsch der Juristen, die verwickelte Heuchelei der Ämter
und die hinter Wissenschaft, Moral oder Amtspflicht versteckte Eitelkeit
der „bürgerlichen Gesellschaft“, wenn alle diese vielen Lebenslügen all
der „Bildungs- und Kulturmenschen“ sich selbstgerecht-ahnungslos
ausgesprochen hatten, dann wirkte es fast erquickend und befreiend,
diesen Haarmann naiv flunkern und Dichtung und Wirklichkeit untermischen
zu hören. Und man empfand: die Wahrheitsmenschen _lügen_. Dieser
Erzschauspieler ist wahr! Er hat keinerlei Grauen vor dem, wovor jedem
dieser Kulturmenschen graut, vor Tod, Leichen, Moder. Aber bei einem
Gewitter verkriecht er sich doch wie das Tier, zittert und beginnt ohne
Glauben Gott anzubetteln. Zuweilen brachen kindliche Züge von Sympathie
hervor. Als mitten im Tage die Lichter im Saale angezündet werden, sagt
er ganz wie ein Kind leise zu sich selber: „Grad wie der Tannenbaum“;
als der alte Geheimrat Schultze, der ihn unausgesetzt beobachtet, müde
gähnt, sagt er, (grade wie wenn er auf den Professor, und nicht dieser
auf ihn acht zu geben hätte): „Na, können Sie auch noch Herr Professor?“
und zum Gerichtshof gewandt, fügt er entschuldigend hinzu: „Er is
nämlich grad krank gewesen.“ Zu den Journalisten sagt er mahnend: „Ihr
müßt aber nicht lügen, Ihr lügt ja _doch_ alles,“ und zu den
Geschworenen: „Machts kurz, Weihnachten will ich im Himmel sein bei
Muttern.“ – Als meine Berichte, die die Schuld der Polizei und die
Mängel der Expertise aufklären, dem Gerichtshof unbequem zu werden
beginnen und der immer nervöser werdende Vorsitzende (wie man denn
überhaupt den Haarmann stets zur Entlastung der Polizeibehörde aussagen
ließ) ihm meine Behauptungen vorhält und fragt, ob sie _richtig_ seien,
da ruft er laut: „Das lügt der Kerl alles,“ fügt aber leise zu mir
gewandt hinzu: „Nächstens wirst du noch sagen, die Leute auf der Polizei
seien meine besten Freunde“; dabei zwinkert er schlau mit den Äuglein,
als ob er sich über alles lustig mache. – Ganz entgegengesetzt zeigt
sich der junge Hans Grans, so zäh wie zart, so unzerbrechlich wie
mädchenhaft; immer gleichmäßig überlegen und überlegend, zuvorkommend,
liebenswürdig, in der Lage eines Fuchses, der in äußerster Todesnot alle
Aufmerksamkeit überwach sammelt und jede Lücke erspäht, durch die er der
teuflischen Falle entschlüpfen kann. Mit einem langen Bleistift oder mit
dem dozierenden Zeigefinger der Rechten zeichnet er Konturen von
Beweisen in die Luft, beantragt scharf advokatorisch sehr zarte
Fragestellungen, deren Zweck im Sinne seines fest aufgebauten
Verteidigungssystems er nur selber kennt. Er friert weit mehr als
Haarmann in einer ungeheuren Einsamkeit. Er ist schuldlos und dennoch
gefährlicher. Denn er ist, obwohl viel sensitiver, nicht wie Haarmann
eine Angst- und Defensivnatur. Auf Haarmanns Natur spielen in jedem
Augenblick unbezwingliche dämonische Mächte: Das Minderwertigkeitsgefühl
eines lang Unterdrückten, Besudelten, Entgleisten, oft Gehänselten hält
sich schadlos an dunklen Triebräuschen. Und er treibt gern auch sein
diabolisches Spiel mit den Zeugen (seinen Hehlern und Hehlerinnen) von
denen er etwas weiß und die von ihm etwas wissen. Er zeigt allen die
Pranken: „Ich lasse euch vor dem Tode hopps gehen. Der Zeuge ist frech.
Er muß noch eins auf den Detz kriegen.“ – Dagegen Grans ist zu
egoistisch selbst für Liebe und Rache. Er kennt keinen Affekt. Nur:
kluge Selbsterhaltung. „Was ich getan habe, ist gleich, was Ihr
_beweisen_ könnt, steht hier in Frage.“ Ich hätte nicht geglaubt, daß
grauses Fehlurteil ihn zum Tode verurteilen könne. Als ich den Eltern
sagte: „Lassen Sie Ihr Kind im Zuchthaus nicht im Stich,“ da erwiderte
der Vater: „Wüßt ich, daß er Das getan hat, was man ihm schuld gibt, so
ginge ich selber hin und zeigte ihn an“ und die Mutter: „Kommt er ins
Gefängnis, so nehmen wir ihn wieder auf, kommt er ins Zuchthaus, so
müssen wir uns lossagen, denn dann fällt Schmach auf die Familie.“ – Wie
ist das Gefühlsverhältnis der beiden? Sie sind zwei, Rücken an Rücken
geschmiedete Galeerensträflinge, wobei der Junge nicht einmal Haß und
Ekel aufbringt, sondern nur dieses Zusammengeschmiedetsein überwinden
möchte, indem er gegen jede Berührung des anderen Leibes
empfindungsstarr vereist. Darum war es ihm auch gar nicht möglich, sein
Verteidigungssystem auf „Gefühl“ aufzubauen, was ihm _sicher das Leben
gerettet hätte_. Denn der andere lauert auf jedes freundliche Wort und
wirbt auch noch mit seiner Rachsucht. Ja, er würde alles, womit er den
ehemals Geliebten schlau belastet im Nu widerrufen, falls dieser es nur
_vermöchte_, Worte des Mitleids oder auch nur der Dankbarkeit für ihn zu
finden. Grade aber weil in dem Jungen nur der _eine_ Trieb lebt,
loszukommen vom Festgeschmiedetsein an dieser schon halb erkalteten
Leiche, ist in Haarmann nur noch der _eine_ Wunsch: den gehaßtesten,
weil liebsten _mit_ hinabzureißen ins dunkle Land. Das legt er aber so
verschlagen an, daß außer Grans keiner das fühlt. Er spricht immer mit
Zuneigung. Er redet Tage lang nur von „Hans“ (während dieser immer sagt
„Herr Haarmann“ oder „der Angeklagte Haarmann“), droht dabei aber
unterirdisch, bettelt wieder um Gemeinschaft und bricht schließlich aus
in folgende scheinbar erst durch die kalte Verachtung des anderen
heraufbeschworene, in Wahrheit lang vorbereitete _Beschuldigung_: „Grans
hat mir nicht nur die Knaben zugetrieben, damit ich sie töte. Grans hat
nicht nur durch alle möglichen Künste mich geil gemacht und die Knaben
angelernt, wie sie mich wild machen konnten. Grans hat nicht nur
berechnend meine Raserei ausgebeutet und mich tagelang bearbeitet,
Knaben zu töten, deren _Hose_ er gern haben wollte. Grans hat _selber_
gemordet! Schlimmer als ich. Grans und sein Freund Wittkowski haben den
17jährigen Adolf Hennies, mit dem sie Zank wegen Weibergeschichten
hatten, in mein Zimmer gelockt und ihn dort ermeuchelt. Dann haben sie
die Kleider genommen und hohnlachend, als ich nach Hause kam, mir die
Leiche gewiesen: Das ist einer von den _deinen_. – Ich habe geweint und
gebettelt: Nehmt die Leiche fort. Sie hat am Halse keine Saugflecken,
das _kann_ nicht einer von den _meinen_ sein. Aber sie haben mir den
Toten unterschoben, sind auf und davon und ich mußte den Körper zerlegen
und fortschaffen.“ – Auf diese ungeheuerliche Anschuldigung (das Gericht
_glaubte_ sie) hatte Haarmanns Teufelsrachsucht Tage lang hingearbeitet.
Mit treuherzigster Überzeugtheit, mit naiver Eindringlichkeit. Als sie
heraus war und das Ziel, nicht einsam in den Tod zu müssen, erreicht
war, da wurden die Aussagen gegen Grans schon bedenklich flauer, und er
zockte wieder zurück, sobald es dem anderen gelang, auch nur _ein_
freundlicher klingendes Wort sich abzunötigen. (Der mitbeschuldigte
Wittkowski stellte, sowie er von dieser Beschuldigung hörte, sich sofort
freiwillig dem Gericht.) So flutete tagelang die kaum noch empfindbare,
ganz dumpf vorbewußte Gefühlsunterströmung, von Haarmanns verdrängter
Sexualrache ausgehend, an den starren Eispanzer des qualvoll
wachbewußten Grans. Und doch wurde auch dies klar: Die arme Undine war
nicht _nur_ Lebensschmarotzer, nicht _nur_ Gefühlsparasit auf fremdem
Irrsinn ... Gesetzt, ich weiß von dem einzigen Menschen, der mir so
etwas wie Väterlichkeit, Zuflucht, Liebe bot, oder wie man dies _Dumpfe_
nennen will, etwas Schreckliches, ahne das _Aller_schrecklichste und ich
schweige ehern und liefere ihn nicht dem Staate ans Messer, muß das
_nur_ eine Niedertracht sein? Hier steckte etwas von Ethik und
Charakter, ja, hier lag „Größe“. Wenn die Gemeinschaft und ihre Behörden
blind sind, wenn sie Armut, Laster, Selbstfeilbietung, Verbrechen nicht
bewältigen können, oft vielleicht selber fördern helfen, soll dann ich,
der Zwanzigjährige, Ausgestoßene und Abgedrängte, der einzige sein,
welcher alles sieht und alles _sagt_, was er sieht? Grans ging im
Bahnhof unter den Augen von drei Polizeibehörden dem Handel nach mit den
Kleidern Ermordeter. Er trug dabei auf seinem eigenen Leibe: den Mantel
des gemordeten Hennies, den Rock des gemordeten Wittig, die Breecheshose
des gemordeten Hannappel, das Hemd des gemordeten Spiecker. – Hat die
Polizei nichts davon gesehen, so muß man auch diesem Indentaglebenden
glauben, daß er sich „nichts dabei gedacht“ hat. Sein Gefühl zu Haarmann
war keineswegs so einfach, daß er _nur_ Fuchs war, der auf Beutespuren
des Wolfes lebt. Ja, es ist möglich, daß selbst der Schlechteste seine
Scham zeigt gerade darin, daß er sich noch schlechter stellt, als er
_ist_. Wenn die Dirnen kamen, die der junge Grans für sich „arbeiten“
ließ und denen er zu imponieren wünschte, so kehrte er stets hervor, wie
Haarmann unter seiner „Geschlechtshörigkeit“ stünde, schlang etwa die
Arme um den Rabiaten, der dann sofort gefügig wurde und tuschelte dabei
heimlich dem schönen Dörchen ins Ohr: „Den Haarmann treck ik blot ute.“
Und doch war ganz gewiß nicht nur der 45jährige der Geschobene, sondern
auch der 20jährige nahm die Verderbtheit des anderen auf in _seinen_
Willen, und wenn den Haarmann an Grans band die Liebe des alten Wolfes
zum jungen Fuchs, so band den Grans an Haarmann nicht nur die
Dankbarkeit des Schmarotzertieres zu seinem Wirt, sondern auch
mitleidiges Gewährenlassen: „Er liebt mich ja. Was wäre er _ohne_ mich?“


                              Die Zeugen.

Ungefähr 200 Zeugen traten in diesem Prozesse auf. Versuchen wir, sie
grob zu klassifizieren. Da erscheint zunächst das wimmelnde Jungvolk von
Buhljungen, Hehlern, Zuhältern und Dirnen; aus der Fürsorge entlaufen,
aus liebeleeren oder allzu elenden Elternhäusern gestoßen, bald
_duldend_ verkommen, bald _aktiv_ verkommen. Unter ihnen ist am
stärksten vertreten: die Gruppe der _Phantasiezeugen_. Junge Leute, die
Zeitungen gelesen haben und deren Nik-Carter-Phantasie erfüllt ist von
Mordbeilen, Leichenteilen und verzehrtem Menschenfleisch. Zweie kommen
und sagen aus von komplizierten Fesselungen, sadistischen Geißelungen
und Martern, die Haarmann an ihnen vorgenommen hat. Ein Arbeiter ist von
Grans zum Wein eingeladen und behauptet, er sei fast davon gestorben,
weil Grans ihm heimlich ein Pulver in den Wein geschüttet habe. Ein
vierter hat fabelhafte Gespräche über afrikanisches Pfeilgift (curare)
belauscht, ein fünfter irrsinnige Akte der Wollust mit angesehen ...
Dieser schlimmen Gruppe verwandt sind die _Eitelkeitszeugen_. Eigentlich
ist das, was sie wissen, ein Nichts. Aber sie wollen „auch dabei gewesen
sein,“ sich herausstellen, ihren Scharfblick, ihre Erfahrenheit, ihre
Menschenkunde und Gerissenheit leuchten lassen und so bauschen sie auf
und verwirren statt zu klären. Kommen zu dritt: die _schwierigen
Zeugen_: Dummlich-begriffstutzige Jungen, verstockte, stockige Seelen,
meistens Lumpen im kleinsten Stil, neben denen Haarmann wie ein Riese
dasteht. Sie lassen alle Aussagen tropfenweis aus sich herausziehen,
gänzlich einer Richtung ermangelnd und nicht erfassend, was sie sind,
wissen und sollen. Daneben dann wieder: _die Ängstlichen_:
kleinbürgerliches, notiges Volk, benommen, verprügelt, benaut, weil
jeder aus dem wimmelnden Lumpengesindel irgendeine Schmutzerei kleinsten
Formates zu verbergen trachtet und sich zu belasten fürchtet (denn dies
Pack begaunert sich gegenseitig und steckt dann doch der _Macht_
gegenüber miteinander durch). Sie sind noch jetzt voller Demut vor
„Herrn Haarmann“, der für sie ein „besserer Herr“ und ein „Beamter“ ist.
Auch viele Gestalten aus vornehmer guter Gesellschaft haften in der
Erinnerung. Herren im Gehrock, korrekt und sachlich, gewandt,
geschmeidig, einer mit dem anderen vertauschbar. Sie rücken (Mitglieder
der „guten Gesellschaft“) weit ab von dem wimmelnden Sumpf, denn wenn
sie selber etwa mitbelastet scheinen, so rückt Justiz und Gesellschaft
sofort von _ihnen_ ab. Oberpräsident, Regierungspräsident,
Polizeipräsident, die Kommissare – – das sitzt alles da in ledernen
Stühlen und sieht dem Schauspiel zuckender Todesnot zu; weit davon
entfernt, im Herzen zu sprechen: _mea_ culpa! ...

Kommt ein feines allerliebstes Herrchen in Stiefelettchen und
Chemisettchen, macht eine anmutige Verbeugung vor der Bank der Presse
und beginnt: „Ich bitte die Herren, meinen Namen nicht ausgeschrieben in
die Zeitungen zu bringen, da ich in meiner gegenwärtigen Stellung sonst
Schaden haben würde.“ (Er handelt mit Neppwaren.) Kommt ein anderes
Jüngelchen, zerschmettert, zerdrückt, in Sträflingskleidung, denn er
sitzt wegen irgendeines Einbruchdiebstahls und beginnt: „Herr Präsident,
ich muß mich weigern, einen Eid zu leisten. Ich bin Anhänger von Darwin
und glaube nicht an Gott. Darum kann ich bei _diesem Herrn_ nicht
schwören.“ Eine rührende Episode schafft die Vernehmung der „Verlobten“
des Grans, Elfriede Zwingmann, eines armen Küchenmädchens in der
„Erlanger Bierstube“. Sie entlastet unter ihrem Eide, so gut sie es kann
ihren blonden Tunichtgut; jedes Wort weint um Gnade und sie ist so
einfältig, daß man wirklich fühlt: diese Apachenbraut hat nie etwas
_Böses_ gedacht. Haarmann war für sie ein „Kriminalbeamter“. Wenn ein
solcher Geld nötig hat, dann geht er auf den Bahnhof, wo die Reisenden
ankommen und fragt: „Was haben Sie in Ihrem Koffer?“ Kann der Reisende
darauf keine gescheite Antwort geben, dann konfisziert der Herr Beamte
den Koffer. Die Wäsche und Kleider verkauft er. Davon lebt er. Daher
hatte Haarmann immer Geld. Und wenn er dem Hans nichts abgeben wollte,
dann hat _sie_ ihre armen sieben Mark Wochenlohn dem Hans gegeben; er
war ja wohl untreu, aber immer lieb und gut, und als klar nachgewiesen
wird, daß er sie prügelte, da sagt sie bescheiden: „Nur _ein Mal_; aber
das tat nicht weh.“ Das Gegenstück dazu ist eine _andere_ Geliebte des
Grans: Dora Mrutzek. Es ist eigentlich nicht zu begreifen, warum sie
ihren alten Geliebten geflissentlich belastet – vielleicht dem
eifersüchtigen Ehemann zuliebe? –; freilich ist sie die einzige aus der
von Haarmann eifersüchtig gehaßten Weiberwirtschaft, die mit dem Mörder
sich gut verstand. „Herr Haarmann küßte sich mit die Jungens und lebte
als Kriminal von seinen Zinsen. Wenn es schwere Arbeit gab, dann ging
ich damit zu Herrn Haarmann, und mein Mann (Dörchen hatte außer vielen
Liebhabern auch einen Mann) wurde eifersüchtig und wollte mich schlagen.
Dann lachte Herr Haarmann und sagte: ‚Dörchen ich heirate dich‘; aber er
küßte sich ja doch nur mit die Jungens.“ Haarmann erwidert das Lob, das
sie ihm spendet, indem er erzählt: „Und Sie glauben nicht, was Dörchen
_vertragen_ kann. Eine Flasche Kognak soff sie in der Teediele ganz
allein. Und ward nich dune.“


                          Die Art der Tötung.

Der Mörder sagt aus: „Ich habe nicht die Absicht gehabt, die jungen
Leute umzubringen. Es ist vorgekommen, daß Knaben immer wiederkamen. Ich
habe sie dann vor mir schützen wollen. Ich wußte: Wenn ich wieder meine
Tour habe, dann passiert was. Ich habe geweint: „Macht mich nur nicht
immer wild.“ Wenn ich wild wurde, dann biß ich und sog mich fest. Es
gibt auch unter den Jungens am Café Kröpcke einige, die gern „dämpfen“
und „Luft abstellen“. Wir balgten uns manche Stunde lang. Ich bin nur
schwer erregbar. In der letzten Zeit wurden es immer mehr. Und ich
dachte oft: „Gott o Gott, wo soll das hin?“ Ich habe mich mit ganzem
Leibe auf die jungen Leute geworfen. Sie waren durch das Herumtreiben
und die Ausschweifungen ermattet. Ich habe ihren Adamsapfel durchbissen,
zugleich wohl auch mit den Händen gewürgt und gedrosselt. An der Leiche
brach ich zusammen. Ich machte mir dann schwarzen Kaffee. Den Toten
legte ich auf den Boden und tat ein Tuch übers Gesicht. Dann sieht er
einen nicht so an. Ich öffnete die Bauchhöhle mit zwei Schnitten und tat
die Eingeweide in einen Eimer. Ich tunkte ein Tuch in das Blut, das sich
in der Bauchhöhle gesammelt hatte und tat dies solange, bis alles Blut
aufgetunkt war. Dann erst schnitt ich mit drei Schnitten die Rippen auf
nach der Schulter zu, faßte unter die losgetrennten Rippen und drückte
solange hoch, bis sie in der Schultergegend knackten. An _der_ Stelle
schnitt ich dann durch und tat sie weg. Nun konnte ich Herz, Lunge,
Nieren fassen, zerschneiden und in den Eimer tun. Zum Schluß wurden die
Beine abgetrennt; dann die Arme. Ich löste das Fleisch von den Knochen
und tat es in meine Wachstuchtasche. Das übrige Fleisch kam unters Bett
oder in den Verschlag. Um nun alles hinauszubringen, und es ins Klosett
oder in die Leine zu werfen, gebrauchte ich fünf oder sechs Gänge. Das
Glied schnitt ich ab, nachdem ich Brust und Bauchhöhle gereinigt hatte.
Ich zerschnitt es in viele kleine Teile. Ich bin immer mit Grauen an
diese Arbeit gegangen und doch war meine Leidenschaft stärker als das
Grauen vor der Zerstückelung. Die Köpfe nahm ich zuletzt vor. Mit dem
kleinen Küchenmesser schnitt ich die behaarte Kopfhaut ringsherum vom
Schädel und zerlegte sie in ganz kleine Streifen und Würfel. Den Schädel
legte ich mit der Wangenfläche auf eine Bastmatte und deckte Lumpen
darüber, um die Klopftöne abzuschwächen. Ich schlug mit der scharfen
Seite eines Beiles, den Schädel immer herumdrehend, die Nähte
auseinander. Das Gehirn kam in den Eimer; die kleingeschlagenen Knochen
warf ich in die Leine; gegenüber dem Schloß. Oder ich ging in die
Eilenriede, dort wo es sumpfig ist, warf die Stücke heimlich vor mich
hin und trat sie in den Sumpf. Nur wenn ich eine Leiche sehr eilig
beseitigen mußte, kann möglicherweise einmal ein Schädel unzerklopft in
das Wasser geraten sein. Die Kleider hab ich verschenkt; das meiste an
Grans. Aus Liebe. Anderes verkaufte ich an Frau Engel oder an Frau
Wegehenkel. Oder ließ es verkaufen.“ – –

Die Anatomen sagen: Es ist möglich, daß Haarmann an jugendlichen
Personen durch Druck gegen den Kehlkopf oder durch Biß die über den
Kehlkopf und über das obere Ende der Luftröhre verlaufenden Zweige des
Vagus und Glossopharyngeus gepreßt und dadurch eine Atem- und
Herzlähmung und somit auch Wehrlosigkeit herbeigeführt hat. Daß durch
Zusammenpressen der Nervenstämme oberhalb des Kehlkopfs der Mensch
leicht wehrlos zu machen ist, gilt als eine Hauptregel des japanischen
Jiu-Jitsu. Man hat ihn leider nicht das Experiment an einem Tiere
vormachen lassen. Es besteht auch die entfernte Möglichkeit, daß er
gelegentlich die Halsschlagader (Carotis) ansog und das warme Blut
eintrank, wodurch das Fehlen von Blutflecken erklärt wäre. Es gehörte
übrigens auch zu seinen perversen Leidenschaften, das Geschlechtsglied
in den Mund zu nehmen und daran zu beißen. Im allgemeinen dürfte er die
ermattet Schlafenden erdrosselt haben. Es ist möglich, daß er das
Fleisch des einen einem anderen vorgesetzt hat. Obwohl feststeht, daß
er, einmal ans Töten gewöhnt, nicht immer nur im Liebesrausch, sondern
auch aus _anderen_ Motiven als aus geschlechtlichen getötet hat, so ist
doch im allgemeinen richtig, daß er _nicht_ nach Zweck und Nutzen
fragte, sondern von Schönheit und Sinnlichkeit getrieben wurde. Als ihm
(seinen zweifellos unwahren Angaben nach) Grans um der Kleider willen
den jungen Wittig zuführte, den er seinerseits nicht sinnlich begehrte,
soll Grans geäußert haben: „Das kann man doch leichter bei Einem, den
man _nicht_ liebt“; – Haarmann sagt belehrend: „Das ist nicht richtig.
Man macht das leichter, wenn man _liebt_.“ Haarmann lügt wo er Grans
belastet. Aber er war vielleicht nicht _nur_ Schauspieler, als er vor
Gericht seine Angstqual herausschrie: „Ich habe Tage, wo jeder Vagabund
mich zu jeder Schlechtigkeit leicht bringen kann. Ich sagte nach dem
Töten oft: Steckten sie mich doch nur in ein Militärasyl. Aber nur nicht
unter Irre. Nur das nicht. Hätte Grans mich geliebt, so hätte er mich
auch retten können. Ach, glauben Sie, ich bin gesund. Ich habe nur
zuweilen meine Tour. Es ist kein Vergnügen, einen Menschen zu töten. Ich
will geköpft werden. Das ist ein Augenblick, dann hab ich Ruh.“


                             27 Mordfälle.


                          1. _Friedel Rothe_,

         geboren 17. Juli 1901, verschwand 25. September 1918.

Es war 1918 in der Elendszeit, wo wir Deutschen nichts zu essen hatten.
Der Gastwirt und Hausbesitzer Oswald Rothe stand im Felde. Seine allzu
gute Frau konnte mit dem wilden Friedel allein schlecht fertig werden.
Friedel sollte das Einjährigen-Examen machen, aber bummelte, rauchte,
naschte. Er verkaufte, um Geld zu haben, heimlich Vaters Zivilkleider.
Als der Junge „am Sonnabend vor Markt Wichse besah“, lief er fort, wurde
zwar am gleichen Tage noch gesehen, wie er Bucheckern suchte in der
Eilenriede. Aber erst nach zwei Tagen erhielt die geängstigte Mutter
eine Postkarte folgenden Inhalts: „Liebe Mutter, bin nun schon zwei Tage
fort, komme aber erst dann nach Haus, wenn Du wieder gut bist.
Herzlichen Gruß. Dein Sohn Fritz.“ Am selben Tage kam der Vater aus dem
Felde. Beide Eltern stellten sofort die eingehendsten Ermittelungen an.
Aber der Sohn, ihr einziges Kind, blieb verschwunden. Nun war aber aus
den Freunden des Siebzehnjährigen allmählich allerlei herauszuholen. Da
war der vierzehnjährige Paul Montag, ein auffallend hübscher, jüdischer
Junge mit stahlblauen Augen; da waren ferner die älteren Freunde Hellmut
Göde und Hans Bohne. Diese Freunde des Verschwundenen gestanden, daß sie
im Café einen „feinen Herrn“ kennen gelernt hatten, einen
Kriminalbeamten, der sie beschenkt, in den Wald geführt und – verführt
hatte. Friedel war diesem „feinen Herrn“ besonders nahe gekommen. Er
hatte seinen Freunden anvertraut: „Ich bin schon in seiner Wohnung
gewesen; da amüsieren wir uns und rauchen.“ Ein andermal: „Gestern wollt
ich in seine Wohnung, da lag er mit einer Frau im Bett. Er rief heraus:
Kann Dir nicht aufmachen; habe Damenbesuch.“ – Als die Polizei nun
nichts herausbekam, beschließen Göde und Bohne, auf eigene Faust
nachzuspüren, und es gelang ihnen denn auch, die Wohnung des Unbekannten
(Cellerstraße 27) aufzustöbern. Die Eltern machten Anzeige und der
Kriminal Brauns bekam den Auftrag, bei dem „feinen Herrn“ nach dem
Verschwundenen zu forschen. Der Kriminal Brauns überraschte Haarmann
nachts und fand ihn in der Tat mit einem schlanken großen Jungen (auch
einem Schulfreund des Friedel) nackend im Bette. Der Junge mußte sich
anziehen und wurde gefesselt abgeführt. Auch Haarmann wurde abgeführt.
Er bekam 9 Monate Gefängnis wegen Verführung der Knaben. Ein Mord war
nicht nachzuweisen. Eine genaue Haussuchung wurde freilich nicht
vorgenommen. Kriminal Brauns (typischer „Beamter“, energiedampfend, in
strengem Obrigkeitston) gibt dafür folgende Begründung: „Ich hatte
_dazu_ keinen Auftrag.“ Fünf Jahre später, als die große Mordepidemie
einsetzte, kam die Polizei auf den Fall zurück. Und nun gestand
Haarmann: „Damals, als der Kriminalbeamte uns verhaftete, steckte der
Kopf des ermordeten Knaben unter Zeitungspapier hinterm Ofen. Ich habe
ihn später im Stöckener Friedhof verscharrt.“


                    2. _Fritz Franke, der Berliner_,

         geboren 31. Oktober 1906, verschwand 12. Februar 1923.

Fünf Jahre vergingen. Während ihrer soll (angeblich) keiner getötet
sein. (Den Mord an dem jungen Schüler Koch I [er hat _drei_ Kochs
getötet] hat man nicht mit auf die Anklageliste gesetzt.) Bei der
Kriminalpolizei am Waterlooplatz erscheinen zwei Dirnen aus der
Altstadt. Es sind Haarmanns Freundinnen: Elli Schulz, ein dickes,
rosiges Schweinchen und Dörchen Mrutzek, eine dünne, lange Stange (die
Geliebten des Grans). Sie erzählen eine konfuse Geschichte und bringen
zwei Stücke Fleisch mit der Anfrage, ob das wohl Menschenfleisch sein
könne. Dörchen berichtet etwa dies: „Vor zwei Tagen haben Elli und ich
einen hübschen jungen Mann bei Herrn Haarmann in der Neuen Straße kennen
gelernt. Er kam aus Berlin und konnte schön Klavier spielen. Wir waren
alle bei Haarmann. Auch ein Herr Hans Grans war dabei. Da sagt Haarmann:
‚Geht man wieder weg. Ich kriege Besuch. Herr Kriminalkommissar
Olfermann kommt. Wir haben wichtige Konferenz.‘ Da gingen Grans, Elli
und ich hinüber ins „Schützenheim“. Da machte der junge Mann aus Berlin
Musik. Elli und ich tanzten danach mit Herrn Grans. Als wir dann wieder
nach Hause wollen und den jungen Mann bis zu Haarmanns Wohnung
begleiten, sagt Herr Grans Elli ins Ohr: „(in Beziehung auf den fremden
jungen Mann) Du, der wird heute _getrampelt_!“ Daran haben wir uns
später wieder erinnert. Dann am anderen Morgen geh ich wie gewöhnlich zu
Haarmanns Wohnung, Neue Straße 8, das Zimmer reinigen. Haarmann öffnet.
Der hübsche, dunkelblonde junge Mann liegt im Bett mit halbentblößtem
Oberkörper. Ganz weiß. Ich, zu Tode erschrocken, trete herzu und frage:
‚Was isser mit?‘ Haarmann, den jungen Mann zudeckend, flüstert: ‚Pst, er
will schlafen. Geh ’raus. Komm nachmittags, das Zimmer aufnehmen.‘ Ich
gehe also wieder und sage noch zu Elli: ‚Da is was nich richtig.‘
Nachmittags geh ich denn wieder zu Haarmann. Da hat er sich
eingeschlossen und ruft durch die Ritze: „Jetzt bin ich beschäftigt,
komm abends, gegen sieben.“ Als ich am Abend komme, stehn alle Fenster
weit offen. Das Zimmer hat er schon aufgescheuert und reingemacht.
Haarmann, in Hemdsärmeln, ist sehr aufgeregt. Er schwitzt und fragt
mich: „Dörchen, riecht es hier woll schlecht?“ Ich sehe: Auf dem Bette
liegen die Kleider von dem Berliner. Ich schreie laut los: „Was is mit
dem Berliner?“ Haarmann sagt ruhig: „Der hat nach Hamburg weitergemacht.
Er wollte _andere_ Montur haben. Hat woll was ausgefressen. Ich hab sie
ihm umgetauscht und noch was zuzahlen müssen.“ Dann kamen auch Herr
Grans und Elli. Elli und ich waren sehr mißtrauisch und fragten immer
wieder: „Was is mit dem _Berliner_?“ Haarmann lachte uns aus, und Grans
beruhigte uns. Zwei Tage später machten Elli und ich Haarmanns Zimmer
rein. Haarmann ward gerade von Wegehenkel abberufen. Da benutzten wir
die Gelegenheit und durchwühlten alle Schubladen. In der Schublade des
Tisches lagen die Zigarrenspitze und die Brieftasche des Berliners. Wir
erbrachen auch die Butzenklappe unter der Treppe. Da fanden wir eine
blutige Schürze und einen ganz großen Topf voller Fleischstücke. (Er
gehört Frau Wegehenkel. Er faßt 25 Liter.) Wir versteckten zwei Stücke,
ganz voller Haare. Hier sind sie.“ Dörchen und Elli gerieten nun aber
zufällig an denselben Kriminalkommissar Müller, welcher den Haarmann als
Spitzel _beschäftigte_. Der hörte sie ungläubig an und führte sie dann
zum Gerichtsarzt Alex Schackwitz. Dieser unterließ es (leider), das
Fleisch zu mikroskopieren. Fröhlich lachend hielt er es an die Nase und
sagte: „Riechen kann ich es heute nicht, denn ich habe den Schnupfen.
Aber das sieht ja ein Blinder: Es sind Schweineschwarten.“ Man ließ nun
bei Haarmann eine Haussuchung halten; fand aber nichts Verdächtiges. – –
Wie aber war die Wirklichkeit gewesen? Der 18jährige Sohn des Gastwirts
Franke in der Markgrafenstraße in Berlin, eines braven, stillen Mannes,
war ein blitzsauberes Flitchenjuchhe und hatte mit seinem Freunde Paul
Schmidt, einem störrischen Burschen von 16 Jahren, „Sachen von zu Hause“
im Bahnhof Friedrichstraße verkauft. Mit dem Erlös waren die beiden
Tunichtgute nach Hannover gefahren. Dort hatte Haarmann beim Revidieren
der Wartesäle morgens gegen sechs sie „sistiert“, hatte den minder
hübschen mit etwas Geld in die „Herberge zur Heimat“ geschickt und den
anderen mit sich nach Hause genommen. Als der junge Schmidt den
vermeintlichen Kriminalbeamten endlich nach drei Tagen wieder nachts auf
dem Bahnhof traf, versicherte dieser, der andere sei weitergefahren nach
Hamburg. Das hinterlassene Zeug hat Grans geschenkt erhalten. Die beiden
Dirnen aber hatten recht gesehen. – Haarmann gibt an, daß Grans
unversehens dazu gekommen sei, als die Leiche im Zimmer lag. Er habe
Haarmann ganz erschrocken und bleich angestarrt, habe aber kein Wort
_gesagt_, sondern sich umgekehrt und gefragt: „Um welche Zeit soll ich
wiederkommen?“ –


                  3. _Wilhelm Schulze aus Coolshorn_,

            geb. 31. August 1906, verschwand 20. März 1923.

Wilhelm Schulze, Schreiberlehrling, ein frühfertiger abenteuerlustiger
Junge, 16½ Jahre alt, Sohn des inzwischen verstorbenen
Eisenbahntischlers Otto Schulze und seiner nun in Lehrte wohnenden
kreuzbraven, schlichten Ehefrau, fuhr in die Stadt zur Arbeit und kam
eines Tages nicht wieder. Leichenreste sind nicht ermittelt. Die Kleider
fanden sich bei der Engel. Haarmann hatte den Jungen auf dem Bahnhof
abgefangen und mit sich genommen.


                           4. _Roland Huch_,

             geb. 7. August 1907, verschwand 23. Mai 1923.

Der Schüler des Bismarckgymnasiums Roland Huch, einziger Sohn der
Eheleute Apotheker Huch, Arnswaldtstraße 32, 15½ Jahre alt, dunkelblond,
groß, kräftig, trotz eben durchgemachter schwerer Rippenfellentzündung
froh und frisch, hatte einen großen Schwarm für Marine und wollte
durchaus zur See. Eines Abends, als die Eltern im Konzert in der
Stadthalle waren, packte der Junge seine besten Sachen in einen
Fibrekoffer, nahm sich Geld, verabschiedete sich von Alwin Richter,
seinem liebsten Freunde: „Du Alwin, grüße die Eltern. Ich verreise.“ Die
entsetzten Eltern eilen, als sie hören, daß der Sohn fort ist, sofort
zur Bahnhofswache. Der Vorstand der Kriminalwache, Kommissar von Lonski,
schnauzt sie an: „Ich kann doch nicht wegen eines fortgelaufenen Jungen
den ganzen Apparat in Bewegung setzen.“ Dieses Mal handelt es sich um
eine gute Familie. Das Gericht gestattet, was sonst (gemäß § 263) streng
gemieden wird, die Polizei zur Vernehmung herein zu ziehen. Es kam
heraus, daß nicht nur der Polizeiapparat versagt hatte, nein, der
unglückliche Vater hatte auch nicht an die Bahnpolizei in Bremen und
Hamburg telephonieren können. Er hatte um einen Beamten gebeten, um mit
dessen Hilfe in den Slums der Altstadt nachzuforschen. Da war er aber
beschieden worden: „Das ist nicht unser Ressort.“ Ja, die
Vermißtenmeldung ist nicht einmal weitergegeben worden. – Dieses Mal
verkaufte Haarmann das Zeug des Knaben durch die Wegehenkel an eine
dunkle Mutter Bormann, die es weiter verkaufte an Alex, den Bademeister
in Schraders Schwimmanstalt. Der brachte die Sachen ein Jahr später
wieder zum Vorschein (sogar die Knöpfe trugen noch die Firma von
Schneider Brüggemann) – die einzige Hinterlassenschaft des jungen
Roland, der sich in den großen Wald der Welt hinaussehnte und einem Wolf
in den Rachen lief.


                         5. _Hans Sonnenfeld_,

              geb. 1. Juni 1904, verschwand Ende Mai 1923.

Hans, der 20 Jahre alte Sohn des Kaufmanns Johann Sonnenfeld in Hannover
wurde seit Ende Mai 1923 vermißt. Er hatte zuletzt in der Fabrik Sichel
in Limmer gearbeitet, war dann auf dem Bahnhof in schlechte Gesellschaft
geraten, hatte sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen und bummelte
nun. Nach einem Krach zu Hause wurde ihm der Hausschlüssel genommen. In
Wut darüber ging er davon. Er kam nicht wieder. Nur der vierzehnjährigen
Schwester Grete hatte er anvertraut: „Ich habe einen Freund, dessen
Braut ich bin.“ Alle Nachforschungen waren erfolglos. Erst ein Jahr
später, als die anderen Haarmannschen Morde aufgedeckt wurden, kam ein
Bekannter des Verschwundenen namens Grote (auch einer aus der jungen
Bahnhofsräuberbande, die im Bahnhofsvestibül, beim Schützenfest, auf der
Insel usw. herumstrolchten), zu den Eltern und erzählte ihnen: „Zuletzt
hab ich Hans mit Heinz Mohr gesehen. Sie hatten einen Teppich nach
Berlin verschoben.“ Wer aber ist Heinz Mohr? Unter einem ganzen Humpel
von jugendlichen Strolchen, Pennbrüdern, Fürsorgezöglingen,
Puppenjungen, welche alle den Verschwundenen gut kannten, erscheint nun:
Heinz Mohr, eine der psychologisch merkwürdigsten Figuren dieses
Kriminaldramas. Ein baumlanger, spirriger, hektischer, ganz schlaffer,
kompliziert brüchiger, aber zweifellos sehr verfeinerter Mensch steht
mit schambrennendem Antlitz vor Gericht und gesteht, daß er die
hinterlassene „Geliebte“ des Verschwundenen gewesen ist, daß sie
zusammen manche Gaunerfahrt gemacht haben, daß aber zuletzt nach der
Rückkehr von einer Gaunerreise Hans plötzlich verschwunden sei; jedoch
einige Wochen später, da habe er den _Mantel_ des Verschwundenen, einen
Schlüpfer (Ulster), _wieder_gesehen: an Haarmanns Leibe. Eine ganze
Reihe anderer junger Leute, dazu auch Grans, ebenso die beiden Dirnchen,
das schöne Dörchen und die nette Elli, ebenso Haarmanns Hehlerinnen
Engel und Wegehenkel und sogar der Freund und Kompagnon Sr. Ehrwürden
Herr Olfermann, alles beschwört übereinstimmend: „Ja, Haarmann, der
_vor_ Sonnenfelds Verschwinden einen schwarzen Mantel trug, trug einige
Wochen _nach_ Sonnenfelds Verschwinden einen gelben Schlüpfer mit
Fischgräten-Muster und stark paspeliertem Futter.“ – Aber es ist
merkwürdig: Haarmann, der sonst jeden Mord zugibt, wehrt sich gerade in
_diesem_ Falle verzweifelt und verwickelt sich dabei in schwere
Widersprüche. Zuerst gab er an, den Schlüpfer von Sonnenfeld (der im
ganzen Insel-Viertel allen bekannt war) _gekauft_ zu haben. Später
leugnet er überhaupt ab, einen solchen Schlüpfer _besessen_ zu haben.
Merkwürdig ist auch dieses: Auch der vom Sportverein gespendete Schlips
des Sonnenfeld, auch das von der Mutter selber gestickte Taschentuch und
auch der Wollschal des Verschwundenen fanden sich an bei Grans, bei der
Wegehenkel, und bei der Engel und so tauchte (da Haarmann gerade
_diesen_ Fall abstreitet) sogar der Verdacht auf, daß der ganze
Menschenknäuel um Haarmann herum von dem Verschwinden des ihnen allen
bekannten Sonnenfeld _wissen_ könne. Besonders dreht sich nun alles um
den ominösen „Schlüpfer“, aus welchem diese Leute alle ihren
_Entschlüpfer_ zu machen bemüht sind. Die größte Verwickelung aber
schafft dieses: Hans Grans tritt mit der Behauptung hervor: „_Den_
Schlüpfer, welchen _Haarmann_ trug, hab ich selbst für ihn verkauft. Für
20 Mark an ‚Gravörwilli‘.“ – Gravörwilli, ein dunkler Ehrenmann, wird
geholt und bestätigt Grans’ Aussagen, aber gibt an, daß der Schlüpfer
vernichtet sei, indem er ihn seiner Frau, der Sophie geschenkt habe, die
ihn zu Scheuertüchern verschnitt. Statt sofortige Haussuchung bei Sophie
anzuordnen, läßt das Gericht Gravörwillis Sophie holen, die unter Eid
versichert, daß Haarmanns, durch Grans verkaufter Schlüpfer nicht mehr
da sei. Aber nun hat man ja in der Tat einen _eben_solchen Schlüpfer
unter den von der Kleiderhexe Engel verschleppten Sachen _gefunden_. Er
liegt auf dem Gerichtstisch! _Ist_ er es oder ist er es _nicht_? Die
Fäden werden immer verwirrter, bis das in Rechts- und Unrechtsgeschäften
bestbewanderte Mitglied des Gerichtshofes der Angeklagte Grans
bescheiden vorschlägt: „Man kann ja doch den Schneider holen, der nach
Angabe der _Eltern_ den _Sonnenfeld_schen Schlüpfer gemacht hat.“ Nach
fünf Minuten ist denn auch der ganz in der Nähe wohnende Schneider
geholt und stellt fest, daß der auf dem Gerichtstisch liegende Schlüpfer
in der Tat der Sonnenfeldsche _ist_. – Aber was war nun _das_ für ein
Schlüpfer, den Grans für Haarmann an Gravörwilli verkaufte und Sophie zu
Wischtüchern zerschnitt? Wenn die Nachwelt das nicht erfährt, so liegt
es wohl hauptsächlich daran, daß das Schwurgericht Hannover die
Anfangsgründe der Kriminalpsychologie vernachlässigte. – Ein Zeuge hat
einen Kleiderstoff wiedererkannt und benennt einen zweiten Zeugen,
welcher ihn ebenfalls wiedererkennen _werde_. Man schickt sofort im Auto
den ersten Zeugen fort, um den zweiten zu holen, womit natürlich das
Zeugnis des zweiten a priori wertlos geworden ist. Man legt, wenn es
gilt einen Stoff wiederzuerkennen, nicht etwa drei oder fünf
Kleiderstoffe dem Zeugen vor und fragt: „Welcher ist es?“ sondern man
hält ihm das Objekt unter die Augen und fragt: „Ist es _dieser_?“ Dank
solcher Fehler wurde gerade _dieser_ Fall so verwirrt, daß der Mord an
Sonnenfeld (vielleicht der letzte im Hause Neue Straße 8; vielleicht gar
ein nicht von Haarmann allein verübter Mord) völlig unaufgeklärt blieb.


                         6. _Ernst Ehrenberg_,

         geboren 30. September 1909, verschwand 25. Juni 1923.

Der kleine Ernst Ehrenberg, 13 Jahre alt, war ein ganz armes Kind, Sohn
eines braven Schusters, der Haarmanns Nachbar war. An einem Junimorgen
wurde der Knabe zu einem Kunden geschickt mit ausgebesserten Schuhen,
lieferte sie ab, aber kam nicht zurück. Vier Tage später begannen die
Schulferien. Es sollte an diesem Tage die Jugendabteilung des
„Christlichen Vereins junger Männer“ eine Ferienfahrt machen. Auch Ernst
und seine zwei Brüder Hans und Walter durften mitwandern. Als Hans und
Walter und der vierte Bruder Kurt (der statt des fortgebliebenen Ernst
nun mitdurfte) in das Christliche Vereinshaus kommen, sitzt dort der
Bruder Ernst im Vorflur auf der Fensterbank, trägt einen leeren Rucksack
und erzählt: „Ich bin in Meinersen bei Tante Wiesinger gewesen. Habe für
Mutter eine Kiepe Holz gesammelt.“ Als die drei Brüder sagen: „Mutter
sucht dich. Sie wird gleich hierher kommen,“ da erwidert Ernst
ängstlich: „Ne, ich mache lieber fort.“ Der jüngste Bruder begleitet ihn
noch ein Stückchen zum Bahnhof und kehrt dann zur Mutter zurück. Die
Mutter, in Unruhe versetzt, eilt zum Bahnhof. Das Kind ist verschwunden.
Erst ein ganzes Jahr später kommt Licht in die Sache. Und zwar dank der
grünen Schulmütze des Kindes! Kleine Knaben spielen in der Nähe von
Haarmanns Haus. Einem der Kleinen schenkt der „feine Herr“ im
Vorübergehen eine grüne Schülermütze. „Will einer die Kappe? Ich habe
sie einem frechen Buben beim Fußballspiel fortgenommen.“ Der arme kleine
Willi Liebetreu, ein Kuhjunge, bekommt die Mütze. Alle im Viertel kennen
den „Herrn Kriminal“. Als seine vielen Mordtaten aufgedeckt sind, bringt
der elfjährige Knirps die grüne Mütze zur Polizei und nun findet man bei
Haarmann auch die von Vater Ehrenberg selbst genähten Hosenträger. Wie
war es gewesen? Der junge Ehrenberg hatte das Geld für die
fortgebrachten Stiefel damals verloren oder vernascht. Er wagte aus
Angst vor Strafe sich nicht nach Hause, sondern ging zur Tante nach
Meinersen. Schlich dann aber sehnsüchtig, als der Ferienausflug kam, zu
seinen drei Brüdern ins „Christliche Vereinshaus“. Aber lief wieder
angstvoll zum Bahnhof, als er hörte, daß die erzürnte Mutter ihn suche.
Er lief dort dem Nachbar Haarmann in die Arme. Der nahm ihn mit nach
Haus und tötete ihn.


                   7. _Heinrich Struß aus Egestorf_,

            geb. 23. Juli 1905, verschwand 24. August 1923.

Heinrich Struß, 18 Jahre alt, Sohn eines Zimmermanns in Egestorf, war in
der Stadt in Stellung und wohnte bei seiner Tante Schaper in Leinhausen,
von wo er jeden Morgen mit der Eisenbahn zur Arbeitsstelle fuhr. Er kam
regelmäßig um 6 Uhr aus Hannover zurück und war noch nie eine Nacht
fortgeblieben. Eines Donnerstags aber im August kam er nicht von der
Arbeit heim. Der Vater in Egestorf, von der Tante sofort benachrichtigt,
fährt folgenden Morgens in die Stadt, um bei der Versicherungsfirma, bei
der der Sohn als Bürogehilfe arbeitet, sich zu erkundigen. Die Antwort
lautet: „Der ist schon mehrere Tage nicht zur Arbeit gekommen.“ Man
vermutet: „Er muß in schlechte Gesellschaft geraten sein.“ Oder: „Er hat
sich anwerben lassen ins Ausland.“ Die Polizei findet keine Spur.
Zuletzt war der Knabe gesehen worden mit einer jungen Freundin im Kino.
Erst ein Jahr später, als die bei Haarmann und in Haarmanns Kreis
beschlagnahmten Sachen auf dem Polizeipräsidium ausgestellt werden,
finden die Eltern darunter die grünen Stutzen mit brauner Kante, von der
Mutter gestrickt, den Selbstbinder und sogar den Schlüsselbund des
Vermißten, womit zu Hause aufgeschlossen werden: sein Koffer, sein
Schrank und sein verwaister Geigenkasten.


                  8. _Paul Bronischewski aus Bochum_,

        geboren 14. August 1906, verschwand 24. September 1923.

Frau Ottilie Richter aus Bochum, eine abgehärmte, bleiche, gebrochene
Frau kommt, um anzuklagen. Ihr Sohn aus erster Ehe, ein vollkommen
solider Junge, noch völlig unschuldig, ein armer Dreherlehrling, fuhr an
seinem 17. Geburtstage nach Garz an der Havel, Bezirk Magdeburg, zu
seinem Onkel, dem Steuermann Schwarz. Er war dort willig, gefällig,
arbeitsam. Erschien aber gedrückt und ließ erkennen, daß er nicht gern
nach Bochum (das damals von den Franzosen besetzt war), zurückfahre,
weil er keinen ordnungsgemäßen Paß habe. Am 24. September ging er von
Garz nach der 11 km entfernten Kleinbahnstation Wulkau, um von dort nach
der Reichsbahnstation Schönhausen a. E. und dann nach Bochum
zurückzufahren. Er hatte aber wohl nicht genug Geld bei sich. Er ist
nicht angekommen. Alle Nachforschungen waren vergebens. Als ein Jahr
später die Morde Haarmanns aufkamen, und die bei ihm gefundenen Sachen
ausgestellt wurden, fuhren Pauls Mutter und Onkel nach Hannover und da
fanden sie einwandfrei seinen Tornister, seine Wanderhose, seine
Sportjacke aus grauem Cord, seine Stutzen, von der Mutter gestrickt;
sogar noch in Haarmanns Zimmer ein Handtuch, das die Mutter genäht
hatte. – Paul war in Hannover ausgestiegen, auf dem Bahnhof unter dem
üblichen Versprechen von Nachtlogis und Beschaffung von Arbeit,
mitgenommen und getötet worden.


                           9. _Richard Gräf_,

         geb. 13. Februar 1906, verschwand Ende September 1923.

In die gräßliche Folge von Schreckensbildern kommt nun etwas Holdes und
Liebliches. Fünf arme Kinder, drei Brüder, zwei Schwestern bleiben
elternlos zurück. Die Mutter geht mit einem Geliebten auf und davon nach
Amerika. Der Vater, Gelegenheitsarbeiter, kränklich und arbeitslos, kann
die Kinder nicht ernähren. Er findet Arbeit in Eisenach, bleibt aber so
arm, daß er nicht einmal imstande ist, nach Hannover zu fahren, um unter
den Leichenteilen die seines verschwundenen Sohnes vielleicht zu
agnoszieren. Die ganze Last der Ernährung der vier jüngeren Geschwister
liegt auf dem ältesten Bruder Otto und der ist doch erst 20 Jahre alt.
Aber Gott sei Dank: er hat ein junges Mädchen gefunden, das ihm hilft.
Und dieses junge Mädchen und ihre wackeren Eltern, sowie eine Nachbarin
Frau Hoffmann, geb. Brause vertreten Elternstelle an den verwahrlosten
Kindern. Vor das Gericht tritt, schlicht und würdig, eine liebe, blonde,
gute hannoversche junge Frau. Sie trägt ein Kind unterm Herzen. Sie ist
zwanzig Jahre alt und hat täglich elf Arbeitsstunden. Sie heißt Anna
Wiedehaus. Und dies junge, zarte Ding ward die Mutter für fünf arme
Kinder, deren leibliche Eltern auf und davon gingen. Der zweite Bruder,
Richard, 17 Jahre alt, hatte eine große Sehnsucht: „Ich will nach
Amerika. Zu Mama.“ Eines Septembertages ging er auf und davon, in die
Welt hinaus. Nach zwei Wochen kommt er zurück. Er konnte ohne Paß und
Geldmittel nicht aus Deutschland herauskommen. Seine Sachen sind ihm
gestohlen. Er ist ausgehungert und übermüdet. Anna gibt ihm Essen. Er
erzählt flackernd: „Ich habe auf dem Bahnhof einen feinen Herrn
kennengelernt. Er weiß für mich eine gute Stelle auf dem Lande. Ich muß
gleich wieder hin; er will mit mir sprechen; verdiene ich genug Geld,
dann komme ich doch noch zu Mama.“ Er begrüßt noch schnell die Tante
Hoffmann und seinen Gönner, Kaufmann Dickhaut, stürzt dann zum Bahnhof
und kommt nie wieder. Die Nachforschung wird lässig betrieben, denn man
sagte sich: „Er ist vielleicht doch nach Amerika.“ Fast ein Jahr später
tauchen die Kleider des Gemordeten auf. Richards Anzug trug der Sohn des
Friseurpaars Wegehenkel. Der Bruder Otto sagt: „Ja, das ist Richards
brauner Anzug. Ich habe ihn oft aufgebügelt.“ – Den Ulster des Knaben
hatte die Engel vorsichtig in die Pfandleihe verschleppt.


                   10. _Wilhelm Erdner aus Gehrden_,

           geb. 4. Februar 1907, verschwand 12. Oktober 1923.

Der Sohn des Schlossers Wilhelm Erdner in Gehrden, 16 Jahre alt, fuhr
jeden Morgen um sechs auf Vaters Rade zur Arbeit in die Maschinenfabrik.
Eines Samstags kam er nicht wieder. Der Vater geht schon am nächsten
Morgen zu Wilhelms Arbeitskollegen. „Habt Ihr Will gesehen?“ „Nein.“
Aber am Montag erzählt der 20 Jahre alte Lunghis, ein höchst
merkwürdiger Mensch, der sich in Gehrden herumtreibt (Psychopath: kalt,
frech, blond – es fehlen ihm beide Arme): „Herr Erdner, ich weiß wo Ihr
Wilhelm is. Kriminalbeamter Fritz Honnerbrock hat ihn mitgenommen.
Honnerbrock verkehrt in der Eisbeinecke an der Goethebrücke. Da sind wir
mit ihm gut bekannt geworden. Honnerbrock läuft immer mit Wilhelm rum.
Gestern hab’ ich Herrn Honnerbrock getroffen und nach Wilhelm gefragt.
Da sagte er: „Ach so, _der_! Den hab’ ich in der Schillerstraße
verhaftet und an das Polizeipräsidium abgeliefert. Wilhelm hat wohl was
ausgefressen?“ Die Eltern forschten nun auf dem Polizeipräsidium nach
dem Sohn und nach einem Kriminalbeamten namens „Honnerbrock.“
Vergeblich! Doch nach einiger Zeit trifft der Lunghis wieder den
vermeintlichen Kriminal Honnerbrock auf der Straße, geht auf ihn zu und
erkundigt sich. Der antwortet: „Auf den Fall kann ich mich gar nicht
entsinnen. Ich bin jetzt im Dienst. Kommen Sie man heute Abend um 7 in
die ‚Eisbeinecke‘. Dann können wir ’mal darüber sprechen.“ Aber abends
kam er nicht in die „Eisbeinecke“. Der junge Erdner blieb verschollen.
Erst im Sommer des nächsten Jahres stieß man auf dunkle Spur. Ein
Fahrradhändler namens Raupers, für dessen Geschäft Olfermann und
Haarmann mal als Detektive gearbeitet hatten, hatte durch Haarmanns
Vermittlung Mitte Oktober ein Rad gekauft. Das ging so zu: Haarmann
erschien am 20. Oktober 1923 im Laden des Raupers. „Raupers, tun Sie mir
einen Gefallen. Draußen steht ein junger Mann, arbeitslos, in Not
geraten. Kaufen Sie ihm sein Rad ab. Seien Sie nett.“ Der Händler ließ
sich überreden. Es war ein altes Modell, dunkelblauer Anstrich, ohne
Freilauf mit Keiltretlager. Der vermeintlich in Not geratene junge Mann
war – Grans. – Der Fahrradhändler arbeitete das Rad um, behielt dabei
aber zufällig den Bremshebel aus Aluminiumbronze zurück. Daran erinnerte
er sich, als die Mordgeschichten Haarmanns ans Licht kamen und lieferte
diesen alten Bremshebel auf der Polizei ab. Er stammte vom Rade, mit dem
damals der junge Erdner zur Arbeit fuhr. Und nun fand sich auch noch
dessen feldgraue Hose. Haarmann hatte sie an Frau Stille, die Tochter
der Wegehenkel, fortgeschenkt.


                          11. _Hermann Wolf_,

      geboren 9. Juni 1908, verschwand 24. oder 25. Oktober 1923.

Der Sohn des Schlossers Christoph Wolf, Kleine Wallstraße, etwas
vernachlässigt, arbeitslos, schlecht gehalten, geht mit dem älteren
Bruder zum „Arbeitsnachweis“; hinterher treiben sie sich auf dem Bahnhof
herum. Der Jüngere sagt: „Karl, warte; ich will mal austreten, ich komme
wieder.“ Der Ältere wartet, aber Hermann kommt nicht zurück. Erst sechs
Tage nach dem Verschwinden wird die Vermißtenanzeige erstattet. Der
Vater gibt an, daß der Junge geäußert habe: „Ich habe mit einem Kriminal
am Bahnhof gesprochen. Ich hab’ ’en verdächtiges Gespräch gehört. Er hat
gesagt: „Ich soll auf die Polizei kommen; dort kriegt’ ich Belohnung.“
Acht Monate später, als die Morde herausgekommen sind, erkennt die
Mutter auf der Polizei unter 400 Asservaten die Stoffreste von ihrem
Sohn und kann an einer vom Vater genähten Westenschnalle beweisen, daß
das Zeug von ihrem Sohne stammt; die Stoffreste aber waren von der
Wegehenkel eingeliefert, die sie mit einer inzwischen verkauften Hose
von Haarmann als „Flickreste“ geschenkt erhalten hatte. Die Eltern rasen
gegen Polizei und Mörder. Der Vater ist manisch, rabiat, bedrohlich.
Wahrscheinlich ist _das_ der Grund, weswegen Haarmann feige und
verängstigt, grade diesen Fall zäh abstreitet, indem er besonders
anführt, daß er an seinem Geburtstage (24. Oktober) keinen umgebracht
haben könne, weil er an diesem Tage sich in den Gastwirtschaften der
Altstadt betrunken habe. Seine Taten aber seien immer in nüchternem
Zustand begangen. Alkohol lähme den Geschlechtstrieb. Zu den Eltern
redet er so: „Ich hatte meinen Geschmack. Einen so häßlichen Jungen wie
nach dem Bilde Eurer einer ist, hätte ich _nie_ genommen. Ihr sagt, daß
Euer Junge nicht mal ein Hemd anhatte. Und die Hosen waren mit Bindfäden
an sein Bein gebunden. Pfui Deibel! Schämt Euch, daß Ihr den Jungen so
lodderig laufen laßt. Stoffreste wie Eure da, gibt es viele. Bildet Euch
man nichts ein. Euer Junge war mir lange nicht gut genug.“ – Dieser Fall
mußte mit Freisprechung enden.


                  12. _Heinz Brinkmann aus Clausthal_,

       geboren 20. Oktober 1910, verschwand am 27. Oktober 1923.

Der 13jährige Heinz, Sohn der Witwe Frieda Brinkmann in Clausthal am
Harz, soll an einem Ferientage Richard besuchen, seinen Bruder, der als
Füsilier in der Reichswehr dient; in der Bultkaserne in Hannover. Von da
will er noch ein paar Tage zu Tante Emma in Uelzen. Die sorgliche Mutter
begleitet den Jungen ein Stück bis zum Bahnhof. 1 Uhr 59 geht der Zug ab
vom Bahnhof Frankenscharrerhütte. Nachmittags 6½ ist er in Hannover. Der
Junge kommt aber nicht an. Die arme Mutter begnügt sich nicht mit der
Vermißtenanzeige („Wenn Sie was hören, dann geben Sie uns Bescheid“),
sondern wendet sich sofort an ein Detektivbüro. Man kann feststellen,
daß der Knabe den Zug 1.59 nicht mehr erreichte, sondern vom Bahnhof
Lautenthal abgefahren ist mit dem Zuge um 5, der gegen 11 in Hannover
eintrifft. Wo er dann aber übernachtet hat, läßt sich nicht feststellen.
Monate nachher kommt folgende Spur: Ein Herr aus Bremerhaven, Hermann
Otto, der in der „Jugendfürsorge“ tätig ist, hat eines Abends im Oktober
1923 zwischen 11 und 12 Uhr nachts auf dem Hauptbahnhof in Hannover eine
Beobachtung gemacht, die ihm im Gedächtnis blieb. In der Vorhalle stand
ein 14jähriger schlanker Knabe mit starkknochigem mageren Gesicht,
bekleidet mit einem braunen Manchesteranzug, leerem Rucksack unterm Arm,
den Hut in der Hand; noch ein älterer Mensch stand dabei und ein
kräftiger, gut gekleideter Herr sprach lebhaft auf die beiden ein.
Diesen Herrn aber hatte Otto, der auf der Durchreise nachts häufig in
Hannover auf dem Bahnhof Aufenthalt hatte, schon früher im Wartesaal
bemerkt. Er hatte sich nämlich verwundert, daß keiner ohne Fahrkarte
nachts die Wartesäle betreten durfte, daß aber dieser Herr beständig
ein- und ausging und alle jungen Leute zwischen 16 und 20 ansprach. Auf
die Anfrage bei einem Bahnbeamten, ob der Herr wohl auch von der
Jugendfürsorge sei, bekam er die Antwort: „Nein, das ist ein
Kriminalbeamter.“ – Es war Haarmann. Als acht Monate nach Verschwinden
des kleinen Heinz die Morde ruchbar wurden, und alle gefundenen Kleider
ausgestellt wurden, fuhren Mutter und Tante nach Hannover und finden auf
der Kriminalpolizei den Manchesteranzug, Rucksack und die Unterkleidung
des Kindes. – „Ich erkannte gleich die Hose. Richard hat sie zuerst
getragen und einen kleinen Tintenklecks hineingemacht. Die alte Frau
Dieckmann, die auch bei uns auf der Zipfel wohnt, hat das grüne Futter
eingesetzt und ich gab mein altes Inlett dazu.“ – Wieder stammt die Hose
aus dem reichen Kleiderbefund der Madam Wegehenkel. Ihr eigener kleiner
Rudi trug die Hose, aber als die Sache anfing brenzlich zu werden, hat
sie den Anzug an einen Lithographen verschenkt, der ihn zur Polizei
brachte. Der Knabe war zu spät in Hannover angekommen, um seinen Bruder
noch den selben Abend aufsuchen zu können. Er blieb auf dem Bahnhof.
Haarmann revidierte; versprach Unterkunft für die Nacht und hat ihn
getötet.


                 13. _Adolf Hannappel aus Düsseldorf_,

         geboren 28. April 1908, verschwand am Martinstag 1923.

Dem Zimmermann Jakob Hannappel und seiner Frau Marie, guter anständiger
Menschenschlag, schickte ihr 17jähriger Junge zum Martinstag ein Paket
mit Kuchen, Blumen und Würsten. Er war ein treuer, anhänglicher Mensch,
dem die Lehrer und sein Lehrherr das beste Zeugnis ausstellten. Anfang
1923 erkrankte der junge Düsseldorfer Zimmergesell an einer
Bauchfelltuberkulose. Aus dem Krankenhause schickte man ihn zur Erholung
nach der Heilstätte Watersloh im Lippischen. Als er im September endlich
als geheilt entlassen wurde, riet man ihm: „Zimmergesell ist zu schwer.
Bleib auf dem Lande. Ergreif einen leichteren Beruf.“ Und so trat Adolf
im Oktober 1923 in die Lehre bei dem Oberschweizer Rudolf Dehne, einem
derben, etwas stumpfen Mann, in Linsborn bei Lippstadt. Das Gut und die
Milchwirtschaft gehörten der Witwe Sürmann. Witwe Sürmann sagte:
„Hannappel is e lieve Jong. Aver er het e Pischtole. So wat hevve de
Kommeniste.“ Und der Oberschweizer sagte: „Fru, hei fret to vele. Der
Jung is noch in Wassen. Hei fret mek bale arm.“ – So kam man denn
überein, sich friedlich-schiedlich zu trennen. Hannappel sollte nach
Hannover und sollte dort im „Schweizerbüro“ von Wenger in der
Ballhofstraße eine gute Stellung erfragen. Bekam er keine, so konnte er
weiter zu seinem Onkel, der in Hamburg wohnt. Am 10. November, am
Martinstage, verkaufte Hannappel seine Pistole und mit dem erlösten
Gelde fuhr er ab vom Bahnhof Bennighausen nach Hannover. Aber von nun ab
hörte keiner mehr was von ihm. Das Wurstpaket an die Eltern „zum
Martinstage“ blieb sein letzter Gruß. Und doch meldeten sich, als man
nach dem Verschwundenen zu forschen begann, eine ganze Reihe Personen,
die ihn in der Nacht des 10. November in Hannover auf dem Bahnhof im
Wartesaal dritter Klasse gesehen hatten. Denn solch ein kernfester,
kreuzbraver junger deutscher Handwerksbursche vergißt sich nicht so
leicht. Er saß da bescheiden in einer Ecke auf seiner selbstgezimmerten
großen Reisetruhe und trug eine schöne neue Breecheshose; auffiel es
auch, daß er eine kleine Wasserwage neben sich stehen hatte. Einige
haben gesehen, daß Haarmann an Hannappel herantrat und auf ihn
einsprach; einige, daß Grans und der junge Hannappel die schwere
selbstgezimmerte Reisekiste zusammen zur Gepäckabgabe trugen. Auch dies
wurde gesehen, daß Hannappel mit Grans und Haarmann _gemeinsam_ in die
Stadt ging; in der Richtung aufs Café Kröpcke. Aber von da ab war nichts
weiter festzustellen. Erst im Juli des nächsten Jahres tauchten die
Kleider des Vermißten, seine Schnürstiefel aus Boxkalf, seine
Hosenträger, sein Sweater und auch seine alte Wasserwage wieder auf in
der Freundschaft und Verwandtschaft von Familie Engel. Ein
Kriminalbeamter auf dem Bahnhof (o Ironie!) trug den olivgrünen Hut mit
dem dunkelgrünen Band (ein Geschenk von seinem Kollegen Haarmann), und
Hans Grans trug die neue schöne Breecheshose. Alle hatten in der Küche
der Engel etwas von Haarmann billig gekauft oder zum Geschenke erhalten.
Der Fall lag einfach, um so mehr, als Haarmann die Tötung eingestand.
Aber er wurde zum verwickeltesten unter allen Fällen dadurch, daß Zeugen
auftraten, die gesehen haben wollten, wie Grans den Haarmann auf
Hannappel _aufmerksam_ machte und zwischen Hannappel und Haarmann eine
Bekanntschaft _vermittelte_. Diesen Umstand griff Haarmann auf, um
seinen ehemaligen Geliebten anzuklagen: Grans habe ihm _befohlen_, den
Hannappel zu töten, weil Grans selber die Breecheshose und den Inhalt
der Reisekiste besitzen wollte. Ihm habe der junge Mann keine
Leidenschaften eingeflößt. Denn er hätte nie auf Kleider gesehen. Aber
Grans habe mit Vorwürfen, Drängen und Bitten nicht nachgelassen bis die
Tat dann schließlich geschehen sei. Nun erwies sich freilich der
Hauptbelastungszeuge für Grans, der Friseur im Zuchthaus zu Hannover,
als eine Heuchlertype, die selbst unter der Halunkengalerie dieses
Prozesses wohl jedem unvergeßlich bleiben muß. Ein glatter, aaliger,
hehliger, eleganter Mensch, Kriegsverletzter mit einer Prothese, kommt
auf seinen Stock gestützt und erzählt (moralgeschwollen, trotz endloser
Strafliste) von seinen heiklen Beobachtungen im Bahnhof. Er hat
Zeitungen gelesen, und so weiß er genau, daß Haarmann unter
Grans’ „erotischer Hörigkeit“ stand. Alles andere hat er sich
zusammengeklittert und will gern eine Rolle spielen. Er weiß wie
Wittkowski oben auf dem Perron, wie Grans im Vestibül, wie Haarmann in
den Wartesälen ein ganzes Mordsystem mit Signalen und Zinken organisiert
haben. Er weiß, wie die Knaben von Hans und Hugo ausgesucht und dann dem
Haarmann zum Erdrosseln übergeben wurden.

Dazwischen macht er „Schmonzes“: von Reichtum, den er selber besessen,
von großen Geschäften, die er einst unternommen hat und versichert: „Ein
deutscher Mann, der die Heldenzeit mit erlebt und im großen Kriege sein
Blut fürs Vaterland geopfert hat, _lügt nicht_.“ Es wird allmählich
klar: Mitgetötet oder Opfer „zugeführt“ hat Grans wohl _nicht_. Aber es
bleiben doch unaufgeklärt die großen Widersprüche in der Darstellung,
welche Haarmann gibt und in der, die Grans gibt. Es konnte immerhin
festgestellt werden, daß nicht Haarmann, sondern Grans die Holztruhe des
Getöteten (gleich nach der Tötung) vom Bahnhof abgeholt hat und daß
Grans viele Sachen sich aneignete. – Die braven Eltern erbitten sich,
ehe sie aus dem Gerichtssaal scheiden, einige Kleiderreste zum Andenken,
und tief bitter sagt die Mutter im Hinausgehen: „Die Hose kann sich
_Grans_ nehmen; sie ist ja so elegant.“ Grans wurde (wehe den Richtern!)
zum Tode verurteilt.


                          14. _Adolf Hennies_,

       geboren 10. November 1904, verschwand am 6. Dezember 1923.

Es ist nichts von ihm übrig geblieben als sein alter Mantel. Der hatte
ursprünglich flache, gelbe Hornknöpfe. Sie sind abgetrennt und von
ungeübter Hand sind Lederknöpfe an ihre Stelle gesetzt. Diesen Mantel
beschlagnahmte man Burgstraße in der Wohnung, die Hans Grans und Hugo
Wittkowski teilten und stellte ihn aus auf dem Polizeipräsidium. Eine
Reihe von Zeugen haben dort unabhängig von einander den Mantel als den
des vor sechs Monaten verschwundenen 19jährigen Handlungsgehilfen Adolf
Hennies wiedererkannt. Zunächst seine Mutter, die Witwe Auguste Hennies,
geb. Habekost, Perlstraße 3: schwer und dumpf. Sie erkannte Schnitt,
Farbe und Ärmelfutter. Sodann der Untermieter bei Frau Hennies, Willi
Eisenschmiedt, ein glaubwürdiger, stiller, alter Mann, mit dem Adolf
dasselbe Zimmer teilte und in dessen Kleiderschrank lange Adolfs Mantel
hing. Auch sein Bruder, ein junger Arbeiter und sein naher Freund Willi
Rackebrand erkennen den Mantel. Und endlich auch die Kleiderfirma, bei
welcher dieser Mantel auf Abzahlung von Hennies gekauft wurde. Die
Einerleiheit ist also gesichert. Wie aber kommt der Mantel in den Besitz
von Grans? Grans behauptet, er habe ihn von Haarmann auf Abzahlung
gekauft und schulde dem Haarmann noch heute einen Teil des Kaufpreises.
Haarmann gibt an: „Eines Nachmittags, es war Schneetreiben und Frost,
kamen Wittkowski und Grans zu mir und baten: ‚Laß’ uns zu heut Abend
dein Zimmer. Wir haben eine Besprechung.‘ Ich sagte: ‚Meinetwegen‘, und
ging abends, wie ich immer tat, zum ‚schwulen Kessel‘ (der
Zusammenkunftsort der Gleichgeschlechtsliebenden unter den Linden am
Hoftheater), blieb dort einige Stunden und ging dann auf den Bahnhof.
Erst gegen Morgen komme ich nach Haus. Liegt da im Zimmer ein Toter.
Ganz entkleidet. Hugo und Hans schnüren grade Kleider zusammen. Ich
frage: ‚Was ist das?‘ Sie sagen: ‚Einer von den Deinen.‘ Ich denke: ‚Er
hat am Halse keine Wunde. Die meinen haben Lutschflecke.‘ Sie blieben
bei ihrer Behauptung und liefen fort. Nur der Mantel blieb zurück; den
hat Grans folgenden Tages auch geholt und mir acht Mark dafür hingelegt.
Ich hatte die Mühe, die Leiche zu zerlegen und fortzuschaffen. Ich weiß
nicht, _wer_ es war. Aber es war der, dem _dieser Mantel dort_ gehört
hat.“ – Die Beschuldigung gegen Grans machte Haarmann in größter
Steigerung mit tränenerstickter Stimme; am zweiten Verhandlungstage. Vor
dem Untersuchungsrichter hatte er angegeben, er habe den Mantel gekauft
und später an Grans überlassen; mit der Mahnung: „Ich glaube, der Mantel
ist heiß,“ weswegen Grans sich gleich andere Knöpfe annähte. – Die
Mutter berichtet: „Mein Sohn war streng ehrbar; er ist nie nachts
fortgeblieben. Es war das erste Mal, daß er abends nicht nach Hause kam.
Er besuchte nur hie und da mit seinem Freund Wedemeyer Tanzlokale, aber
das wußten wir stets. Wedemeyern hat er anvertraut, daß er für eine
junge Frau schwärme, die er als Laufbursche beim Großschlächter Ahrberg
einst bedient hatte; er möchte sie so gern mal ins Kino einladen, wage
das aber nicht.“ – Hennies war gerade stellenlos und suchte neue Arbeit.
An dem Tage seines Verschwindens bewarb er sich um eine Stelle als
Seifenreisender bei einem Kaufmann G. in der Alten Cellerstraße (da
dieser der homosexuellen Sphäre nahe stand, so knüpften sich an seine
Seifenfabrik ganze Romane). Es ist kein rechter Anhalt dafür da, daß
Hennies den Haarmann näher kannte, doch hat er sowohl seinem Bruder wie
seinem Freunde erzählt: „Ich habe einen Kriminalbeamten kennen gelernt,
der mir Arbeit nachweisen will und Kleider versprochen hat.“ – Es ist
anzunehmen, daß Haarmann durch solche Versprechungen den Hennies in
seine Wohnung gelockt hat. Aber klar ward das nicht. Daß Haarmann gerade
_diesen_ Mordfall auf Hugo und Hans abzuschieben versuchte, erkläre ich
mir aus einfachsten Gründen: Der hinterbliebene Mantel war in der Tat
ein _Streitobjekt_ der drei. Sie haben sich darum geprügelt und bedroht.
Grans und Wittkowski wollten Haarmann das Geld dafür nicht geben; darum
knüpfte sich gerade an _diesen_ (dazu gelegenen) Fall die
„kompensatorische“ Fantasie des Eifersuchtshasses gegen Wittkowski und
des Hasses aus verschmähter oder verdrängter Sexualität gegenüber Grans.
Der gewaltigste aller Kriminalfälle, der des französischen Marschalls
Gilles de Rais zeigt viele ähnliche „Kompensationen“. – Immerhin kann
man Haarmann nur der Tat überführen; nicht sie ihm beweisen. Er wurde
freigesprochen.


                             Zwischenspiel.

                            Der Fall Keimes.

Ich reihe hier denjenigen Mordfall ein, der unter den _nicht_ mit zur
Verhandlung gelangten Mordfällen mit der merkwürdigste und von allen
Mordtaten des Haarmann der für den Seelenforscher rätselhafteste zu sein
scheint. –

Ich leite ihn ein mit einigen Sätzen aus einem längeren Schreiben des
Herrn Georg Koch, Kaufmann in Hannover (dessen 14jähriger Sohn Hermann
möglicherweise gleichfalls ein Opfer des Haarmann geworden ist): „Als
Vater des 1918 verschwundenen 14jährigen Hermann Koch möchte ich zu der
Bemerkung der Polizei, als habe man sie ungenügend über den Verbrecher
_orientiert_, den Gegenbeweis liefern. Daß Haarmann mit meinem Sohn
Verkehr unterhalten hat, wurde von ihm zugegeben; geht auch hervor aus
einem Entschuldigungszettel, den Haarmann der Schule zugehen ließ, als
mein Sohn auf seine Veranlassung aus der Schule wegblieb. Als die
Polizei nichts über Verbleib meines Sohnes zu ermitteln vermochte und
den Haarmann aus der Untersuchungshaft entließ, übertrug ich den Fall
dem Detektivbüro Sebastian, welches nach umfangreichen Recherchen dem
Haarmann den Mord glatt auf den Kopf zusagte. Dennoch wurde das
Wiederaufnahmeverfahren abgelehnt. Dies war im November 1921. –
Inzwischen aber hat dasselbe Detektivbüro in einer zweiten Mordsache
(Keimes) _ebenfalls_ Haarmann als Täter eruiert und unter dem 11. Mai
1922 ein Verfahren gegen ihn beantragt. Auch _dieser Antrag blieb
unbeantwortet_, obwohl in den Jahren 1922 bis 1924 viele Personen
(Rehbock, Klobes, Lammers, Lindner) immer wieder Anzeigen machten.“

Um was nun handelt es sich beim Fall Keimes? Am 17. Mai 1923 verschwand
in der Südstadt der 17 Jahre alte Sohn der Eheleute Keimes, ein
außergewöhnlich schöner Jüngling. Die Eltern wandten sich an die
Polizeibehörde, die aber trotz inständiger Bitten keine Vermißtenanzeige
in den Zeitungen erließ, so daß drei Tage später die Familie selber
Inserate in die Lokalzeitungen einrücken ließ, worin eine hohe Belohnung
demjenigen versprochen wurde, der über den Verbleib des Jünglings
Auskunft zu geben vermöchte. Daraufhin erschien einige Tage später bei
der Familie ein Mann (der später als Haarmann erkannt wurde), gab an,
daß er Kriminalist sei und sich für den Fall interessiere und bat, ein
Bild des Sohnes sehen zu dürfen; indem er äußerte: „Wenn Ihr Sohn noch
in Hannover ist, so kläre ich binnen drei Tagen den Fall auf.“ Während
die Mutter fortging, um ein Bild des Sohnes zu holen, blieb der Mann mit
der Schwester des Verschwundenen allein im Zimmer; das Kind gab nach dem
Fortgehen des Mannes an, er habe sie „teuflisch angelacht“. Die Leiche
des Jünglings wurde am 6. Mai 1922 (also erst nach sieben Wochen)
aufgefunden im Kanal, eine Stunde vor Hannover. Sie war nackt, der Hals
stranguliert und ein Strick darum geschlungen und im Munde steckte ein
Taschentuch mit dem Monogramm G. – Man nahm an (so unbegreiflich das
ist), daß ein echter Raubmord vorläge und der Jüngling an Ort und Stelle
erschlagen sei. Merkwürdig ist nun, daß Haarmann nach dem Besuch bei der
Familie Keimes ins Polizeipräsidium ging und Hans Grans jenes Raubmordes
verdächtigte (eine Bezichtigung, die aber zusammenbrach, da man annahm,
daß zur Zeit, wo die Tat geschah, Hans Grans sich in Haft befand). Das
Taschentuch im Munde der Leiche war aber scheinbar wirklich ein
Taschentuch des Grans. – Es gibt hier jedenfalls der Umstand zu denken,
daß Haarmann (wie später im Fall Hennies) schon einmal seinen Geliebten
mit einer (vielleicht von ihm selber begangenen oder mitbegangenen) Tat
zu belasten versucht hat; möglicherweise sogar bewußt die Verschleppung,
Strangulierung und Knebelung mit einem Tuche so veranstaltete, daß Grans
hereinfallen _sollte_. Es geschah das unmittelbar nach dem großen Krach
zwischen Haarmann und Grans, als Haarmann aus Jägerheide zurückkehrend,
sein Zimmer durch Wittkowski und Grans ausgeräubert fand und voller
Rachsucht gegen beide sein mußte. Die Klärung des Fall Keimes ist nicht
gelungen. Überhaupt sind von den 400 Asservaten, die sich bei Haarmann
fanden, nur 100 anerkannt worden.


                         15. _Ernst Spiecker_,

             geb. 15. Juni 1906, verschwand 5. Januar 1924.

Sie brachte aus ihrer Jugendliebe ein Kind mit in die Ehe und muß es
sehr geliebt haben, denn sie vermag vor Weinen nichts auszusagen. Eines
Morgens, Januar 1924, mußte der 17jährige in einem Prozeß als Zeuge
auftreten. Er zog sein Festgewand an. Es stammte aus dem
Herrenschneidergeschäft des Stiefvaters, eines feinen sympathischen
Mannes. Vom Gericht aus ging er noch mit seinem Freunde Siegfried Kurth
spazieren, nahm dann Abschied in der Nähe des Theaters und kam nicht
wieder. Dieser Fall zeigt in fast schauerlicher Weise, von welchen
Zufällen Mordentdeckungen abhängen und wie leicht Rechtsirrtümer
zustande kommen. Der junge Kurth, Sohn eines Fabrikanten, stand nämlich
an dem Tage, wo sein Freund verschwand, vor der Auswanderung nach
Argentinien. War es also ein Wunder, daß manche Leute, daß vielleicht
die Nahestehenden mit Entsetzen den Gedanken aufgriffen, der
Ausgewanderte könne um das Verschwinden wissen? Lebenslänglich wäre ein
falscher Verdacht haften geblieben, wenn nicht im Juni nahezu das
gesamte Zeug des Verschwundenen aus den bekannten Hehlerwinkeln zum
Kriminalpräsidium gebracht worden wäre. Die Stutzen, die Sportmütze, die
Stahluhr mit den Hirschgrandeln hatte Grans weiter verkauft, das
Oberhemd trug er bei seiner Verhaftung am Leibe; er trug gleichzeitig am
Leibe Kleidungsstücke von vier Getöteten und handelte mit Kleidern
_anderer_ Getöteter; so daß nur ungeheuerliche Frechheit oder volle
Arglosigkeit bezüglich der Herkunft dieser von Haarmann empfangenen
Sachen solches Zurschautragen von Mordtaten begreiflich macht. Auch die
Bekanntschaft des verschwundenen jungen Spiecker mit Haarmann konnte
bewiesen werden; der Sohn des Spieckerschen Hauswirts bekannte, daß er
und sein verschwundener Freund den Haarmann im „schwulen Kessel“ kennen
gelernt und von ihm Zigaretten erhalten hatten. Haarmann behauptet (wie
in sämtlichen Mordfällen), daß er nach dem Lichtbild den jungen Spiecker
nicht erkennen könne, sich auch an ihn nicht entsinne (obwohl der Junge
ein Glasauge hatte); aber er müsse wohl annehmen, daß er eines seiner
Opfer geworden sei, da ja alle Sachen bei ihm gefunden wurden.
Vielleicht sei es jener schöne Jüngling gewesen, der, als er um
Mitternacht erwacht sei, tot in seinen Armen gelegen habe. Er sei bei
dem Anblick ohnmächtig geworden oder vor Mattigkeit wieder
eingeschlafen. – „Als ich erwachte frühmorgens, lag der Tote neben mir.
Steif und kalt und blau. Ich habe ihn mit den Händen aus dem Bett
gezogen, auf den Fußboden gelegt und zerstückelt. Ich habe diesen Fall
im Gedächtnis behalten, der Tote lag da so furchtbar krank.“


                          16. _Heinrich Koch_,

        geboren 22. September 1905, verschwand 15. Januar 1924.

Der Junge war etwas leicht. Der Vater, ein stiller, sanfter,
schwermütiger Mann, hatte nicht rechte Gewalt über ihn. Am 13. Januar
blieb er die Nacht fort und log den Eltern vor: „Ich war auf dem
Maskenball.“ Am 15. ging er früh gegen 8 vom Hause fort, und wird
seitdem vermißt. – Er trieb sich viel herum in gleichgeschlechtlichen
Kreisen; den Winter über half er, da er keine andere Arbeit fand,
zusammen mit seinem Freunde, dem Klempner Tolle, beim Pantoffelmacher
Otto Moshage, einem auffallend klug und edel aussehenden Menschen. Dem
erzählte er bei der Arbeit: „Ich möchte gern von Haus fort. Die Eltern
liegen mir immer in den Ohren. Sie machen immer Vorwürfe. Aber ich habe
einen Bekannten. Er ist Kellner im Reichshof; wohnt in der Altstadt; hat
mir fünfzig Zigaretten geschenkt; da hab ich schon mal geschlafen.“ –
Moshage, der das Treiben beim Bahnhof und Theater genau kannte, und den
Koch schon in Gesellschaft des Haarmann gesehen hatte, fragte nach dem
Namen des Kellners. Der Junge wurde verlegen. Der Pantoffelmacher sagte:
„Sag doch die Wahrheit. Es ist Fritz Haarmann.“ Der Junge sagte: „Es
stimmt.“ – Haarmann behauptet zwar, nach dem Bilde den Jungen nicht zu
erkennen; aber alle seine Sachen haben sich wiedergefunden; Theodor
Hartmann, der Sprößling der Engel aus einer ihrer früheren Ehen, hatte
sie für Haarmann an allerlei dunkles Volk verkauft, und so sagt denn
Haarmann, wie bei allen Morden, wenn sie _bewiesen_ sind: „Es wird wohl
stimmen.“


                          17. _Willi Senger_,

             geb. 6. Juli 1904, verschwand 2. Februar 1924.

Ein liebloses Zuhause. Der Vater, ein Arbeiter in Linden, kümmert sich
nicht um die Kinder. Ebensowenig die Mutter, eine stumpfe, wasserblonde,
lymphatische Frau. Der ältere Bruder ist schwerfällig und
ausdrucksschwer; wenig mitteilsam. Eine freudearme Familie. In diesem
Daheim wurde wenig gesprochen. Der 17jährige Willi trieb sich schon seit
Jahren auf dem Bahnhof und bei den Homosexuellen herum. Ein
schöngebauter Junge; aber roh und Gewaltmensch. Eines Februarabends sagt
er zu Mutter und Schwester: „Ich will verreisen,“ zieht sein gutes Zeug
an und geht. Als er nicht wiederkommt, wird in dieser stumpfen Welt von
seinem Fortbleiben wenig Aufhebens gemacht. „Ein Esser weniger.“ Erst
als im Juni die vielen Morde aufkommen, denken die Angehörigen: „Können
uns ja mal die Sachen ansehen,“ und finden nun darunter den
Selbstbinder, den der Bruder Heinrich dem Vermißten geschenkt und genäht
hat, und seinen braunen Mantel. Haarmann behauptet, die Sachen am
Bahnhof von irgendwem gekauft oder getauscht zu haben; den Senger hat er
freilich seit Jahren gekannt und ebenso dessen unzertrennlichen Freund,
den 19jährigen Fritz Barkhof. „Das waren die beiden größten Rowdys von
allen auf dem Bahnhof. Ich hatte vor den beiden immer Angst. Senger war
groß, roh und stark. Ich hätte ihn nicht bezwungen. Schon darum kann ich
ihn nicht getötet haben.“ – Es fällt auf, daß Haarmann nie die Tötung
eines Menschen zugibt, den er lange Zeit hindurch _kannte_. Er räumt nur
dann die Tötung ein, wenn er mit einiger Glaubwürdigkeit angesichts der
Photographie sagen kann: „Ich erkenne ihn _doch_ nicht wieder. Möglich;
möglich auch nicht“ (wie ihm denn überhaupt das Betrachten der
Lichtbilder _sichtbar quälend_ ist). – Für die Beziehung des Senger zu
Haarmann ist nur ein Zeuge da, jener Fritz Barkhof; aber der wirkt wenig
vertrauenswürdig: zugleich roh und feminin, zugleich eitel und
verschlagen. Verfehlterweise vernahm man diesen verdächtigen Burschen
über das Vorleben Sengers in Gegenwart von dessen Angehörigen, wobei
ganz zweifellos aus Angst oder Schonung oder Geniertheit manches
ungesagt blieb. Denn es ist sicher: Diese beiden Burschen gehörten zur
engeren Gruppe der berufsmäßig Sich-Selbstfeilbietenden. Senger hat dem
Barkhof erzählt, daß er mehrfach bei Haarmann genächtigt habe und als
nach Verschwinden Sengers der Barkhof den Haarmann fragte, ob er nichts
von Senger wisse, da erklärte dieser derb: „Den kenn ich gar nicht.“
Brach auch später solche Fragen immer kurz ab. Über den Zeitpunkt, zu
dem Haarmann den Mantel des Senger erworben haben will, verwickelt er
sich in Widersprüche. Es konnte ihm aber klar bewiesen werden, daß er
erst unmittelbar nach dem Verschwinden des Senger den Mantel im Besitz
hatte.


                        18. _Hermann Speichert_,

            geb. 21. April 1908, verschwand 8. Februar 1924.

Ein kluger, geweckter Junge, fast 16, Elektrotechnikerlehrling bei Mühe
& Co., Hildesheimer Straße. Januar 1924 fällt den Eltern auf, daß er
immer in _sauberem_ Zustand von der Arbeit kommt. Der Vater geht zu Mühe
& Co. und bekommt zu hören: „Seit vier Wochen kommt schon Ihr Junge
nicht mehr.“ Der junge Bummler wird nun streng vorgenommen. Er erwidert:
„Ich habe keine Lust mehr zur Technik. Ich habe einen Freund, der will
mich ins Ausland mitnehmen.“ Der Vater besteht darauf, er muß folgenden
Tags wieder zu Mühe & Co. Da die Eltern in Linden wohnen, so muß der
Junge in der Mittagpause 12-2 bei seiner Schwester essen; Frau Albrecht
in der Lavesstraße. Das geschieht wie immer, so auch am 8. Februar. Die
Schwester, eine brave, anständige Natur, führt mit dem Jungen harmlose
Gespräche. Um 2 geht er fort wie gewöhnlich und ist seitdem
verschwunden. Am 10. machte der Vater der Polizei Meldung. Man fand
keine Spuren. Erst im Juni wurden Kleidungsstücke des Kindes, von Mutter
und Schwester genäht, und mit Monogrammen gezeichnet in Haarmanns
Wohnung, Rote Reihe 2, gefunden, andere hatte der Stiefsohn der Engel in
Haarmanns Auftrag verkauft; den Schulzirkelkasten des Knaben hatte Grans
bekommen. Ein älterer Bekannter des Knaben hat diesen einmal in
Gesellschaft von Haarmann auf der Georgstraße gesehen. Die Mutter bricht
angesichts der Kleider ganz zusammen. Haarmann schlägt (zum ersten Male)
die Augen nieder.


                    19. _Alfred Hogrefe aus Lehrte_,

            geb. 6. Oktober 1907, verschwand 6. April 1924.

Alfred, der 17jährige Sohn des Lokomotivführers Gustav Hogrefe in
Lehrte, war in Hannover Mechanikerlehrling in der Schlägerstraße. Er
fuhr regelmäßig morgens 6 von Lehrte mit der Bahn nach Hannover zu
seiner Lehrstelle und kam abends gegen 7½ zurück. Montags besuchte er
die Gewerbeschule. An diesem Tage kam er immer erst gegen 10, angeblich
weil er im Anschluß an den Gewerbeschulunterricht von 7½-8½ noch Turnen
hatte. Am 1. April 1924 erhielten seine Eltern von dem Leiter der
Gewerbeschule die Nachricht, daß der Junge den Unterricht versäume. Der
Junge wurde von den sehr unpädagogischen Eltern vorgenommen. Er war tief
verlegen. Der Vater schrie ihn an: „Gut! Mutter und ich fahren morgen
zur Gewerbeschule nach Hannover. Dann werden wir weiter sehen.“ – Am
anderen mittag um 2 fuhren beide Eltern zum Lehrer des Jungen. Es kam
eine ganze Lügenblase zum Platzen. Der Junge hatte drei Montage die
Schule geschwänzt und sich selber Entschuldigungszettel geschrieben. Die
Eltern erfuhren auch, daß das Turnen nicht am Abend von 7½ bis 9½ Uhr
stattfinde, sondern am Tage während des übrigen Unterrichts. Inzwischen
war der Junge (natürlich in Todesangst, daß nun „alles herauskommen“
müsse) wie immer in seine Mechanikerwerkstatt gefahren und ging mittags
2 Uhr von der Lehrstätte fort mit der Begründung, er wolle seine Eltern
von der Bahn abholen. Tatsächlich aber fuhr er, während die Eltern von
Lehrte nach Hannover fuhren, seinerseits von Hannover nach Lehrte
zurück, packte dort in seiner Herzensangst seine Sachen zusammen und
entfernte sich mit diesen aus dem Elternhause. Erst nach und nach
sickerte in den folgenden Monaten einige Kunde durch über den Verbleib
des Jungen. Nachdem er aus dem Elternhause entlaufen war, traf er auf
dem Bahnhof in Lehrte einen Bekannten, den Lehrling Wiese. Hogrefe
erzählte dem Wiese, er werde zu Hause von den Eltern „schlecht
behandelt“ und wolle deshalb fort. Er bot dem Wiese sein Fahrrad zum
Kauf an. Wiese, ein heller Junge, nutzte die Gelegenheit und kaufte sich
billig das Rad. Natürlich schwieg er dann über die ganze Begegnung. Am
Abend des folgenden Tages traf der junge Wiese den Hogrefe wieder;
diesmal auf dem Hauptbahnhof in Hannover. Hogrefe hatte jetzt einen
lederimitierten Handkoffer bei sich, kam lebhaft auf Wiese zu und
erzählte: „Mensch, den Koffer da hab ich mir von deinem Gelde fürs
Fahrrad gekauft.“ Der andere fragte: „Wo hast du denn _geschlafen_?“
Hogrefe gestand, daß er auf dem Bahnhof geschlafen habe und fragte Wiese
kleinlaut, ob er wohl die nächste Nacht bei ihm in Lehrte auf dem
Heuboden schlafen könne. Er hatte offenbar schon wieder Sehnsucht nach
Hause, wagte sich aber doch nicht, nachdem sein ganzes Lügengewebe
herausgekommen war, zurück zu den strengen Eltern. Dies war am 3. April.
Am 4. April gegen 8 Uhr abends traf abermals ein Bekannter aus Lehrte,
der Schneidergeselle Farin den Hogrefe in Hannover vor dem Bahnhof.
Aufgeregt erzählte der Junge, er sei vor einigen Tagen seinen Eltern
entlaufen, er habe sein Fahrrad verkauft und sich dafür einen Koffer
angeschafft, der liege in der Handgepäckaufbewahrungsstelle. Die Nacht
schlafe er bei einem Herrn, den er kennen gelernt habe, der in der Neuen
Straße wohne und Kriminalbeamter sei. – Farin hat danach den Hogrefe
nicht wieder gesehen. Aber noch einmal sah ihn ein _dritter_ Bekannter
aus Lehrte, der Lehrling Wilhelm Köhler, welcher täglich zur
Arbeitsstelle nach Hannover fährt. Auch diesem erzählte Hogrefe ganz die
gleiche Geschichte. „Mein Vater hat mich rausgeschmissen. Ich habe einen
Koffer in der Gepäckausgabestelle.“ (Und jungenhaft-stolz zeigte er dem
Köhler den Gepäckschein.) Am nächsten Abend (also etwa 6. April) sah
Köhler den Hogrefe mit Haarmann (von dem er wußte, daß er „Fritz“ hieß
und „Kriminal“ sei) an einem Tische im Wartesaal I. und II. Klasse
sitzen und sich unterhalten. Und nach abermals zwei Tagen (etwa 8.
April) traf Köhler den Hogrefe abermals im Bahnhofe und ging mit ihm ein
Stück bis zur Herschelstraße, wo Hogrefe sich verabschiedete. Hogrefe
erzählte, er treffe sich jetzt oft mit „Kriminal Fritz“. Von da an sah
ihn niemand mehr. Den Haarmann kannten die aus Lehrte zur Arbeitsstelle
fahrenden Jungen alle vom Bahnhof her. Sie hielten ihn für einen
Beamten. Auch der Lehrling Walter Schnabel, der mit Hogrefe jeden Morgen
zur gemeinsamen Lehrstelle fuhr, hat später bezeugt, daß Haarmann (den
sie aber nicht mit Namen kannten) oft schon um 6 Uhr in der
Bahnhofshalle war und sie dann immer scharf ansah. Ein älterer
Werkmeister hat auch Hogrefe mit Grans und Haarmann im Gespräch gesehen.
Das war aber schon im März. Alle Kleider des Verschwundenen,
Marengojacke, Krimmermantel, Barchenthemd, Schal usw. sind später bei
Haarmann oder bei der Engel und den Unterverkäufern zum Vorschein
gekommen. Hierbei wurde die Engel zum ersten Male auf Widersprüchen
ertappt. Sie will den Mantel des Getöteten unter Lumpen gefunden und
ihrer Tante, die Pantoffeln macht, weitergegeben haben. Aber sie hat der
Tante über die Herkunft des Mantels andere Angaben gemacht. Haarmann
erklärt: „Ich nehme bestimmt an, daß ich Hogrefe getötet habe, an sein
Gesicht erinnern kann ich mich nicht.“ (Ließe man Haarmann vor seinem
Tode seine Erinnerungen an die Getöteten niederschreiben, so würde sich
herausstellen, daß er lediglich peinliche Erinnerungen _verdrängt_.) –
Es liegt hier der Tatbestand vor: Ein verängstigter Knabe, der geprügelt
werden soll, drückt sich acht Tage lang sehnsüchtig und hungrig auf dem
Bahnhof herum. Der Vater selber ist Eisenbahner. Alle Jungens aus
Lehrte, die zur Stadt fahren und viele Eisenbahnbeamten kennen den
Knaben. Sie sehen ihn fortdauernd auf dem Bahnhof in Gesellschaft des
Haarmann. Sie kennen aber auch alle den Haarmann. Nichts geschieht, um
den Entlaufenen aufzugreifen. Und als er verschwunden ist, geschieht
nichts, um – – den Haarmann zu befragen.


                          20. _Hermann Bock_,

          geb. 2. Dezember 1901, verschwand Mitte April 1924.

Der Fall Bock dürfte von allen Fällen der dunkelste sein; wenn Haarmann
wirklich diese Tat beging, so dürfte es wahrscheinlicher sein, daß hier
ein lang geplanter Mord verübt wurde, als nur eine Tötung im
Geschlechtsrausch.

Der „Arbeiter“ Bock aus Ülzen, 22 Jahre alt, war einer von denen, die
sich beschäftigungslos in Hannover umhertrieben, bald auf dem Bahnhof,
bald in der Altstadt. Er war blond, groß, kräftig und kühn. Haarmann
kannte ihn seit 1921 „vom Bahnhof her“. Er machte mit ihm gelegentlich
kleine Schiebergeschäfte oder nutzte ihn als Kommissionär beim Verkauf
von dunkel erworbenen Kleidern. Als Bock Mitte April verschwand, weinte
ihm keiner eine Träne nach. Nur der Dreher Fritz Kahmann aus der
Neuenstraße, mit dem Bock das Zimmer geteilt hatte (er ist dummlich,
ängstlich, dumpf und unsicher und hat kleine ängstliche Augen) fragte
einige Wochen nach dem Verschwinden des Bock seinen Nachbar Haarmann:
„Du, Fritz, wo is eigentlich _Bock_ geblieben?“ Haarmann antwortete:
„Soll _ich_ das wissen? Wird woll ein Ding gedreht haben, hat vielleicht
von Kollegen eins auf die Platte ’kriegt.“ Darauf der dummliche Kahmann:
„Fritz, du _mußt_ es doch wissen. Er is zuletzt gesehen, wie er mit
einem Koffer nach deiner Wohnung ging.“ Haarmann wurde nachdenklich.
Dann sagte er: „Das is mir doch alles ein Rätsel. Hermann is ein
hübscher Bengel und nich auf ’en Kopf gefallen.“ Kahmann darauf
ängstlich: „Ich meine man, wir sollten zur Polizei gehen und ihn
‚vermißt‘ melden.“ „Dunnerslag,“ erwiderte Haarmann, „da haste recht,
Kahmann. Weißte was? Ich bin doch auf ’er Polizei gut bekannt. Ich
besorge die Meldung. Und außerdem: Bei die Krankenhäuser und im
Gerichtsgefängnis muß angeklingelt werden. Das mach ich alles noch
_heute_.“ Am nächsten Tage trafen sich die beiden wieder auf der
„Insel“. Haarmann begann sofort: „Alle Mühe ist umsonst. Ich habe
überall nachgefragt. Keiner weiß von Hermann.“ (Später kam heraus, daß
Haarmann nirgendwo wegen des Bock nachgefragt noch telephoniert hatte.)
... Bock hatte noch mehrere nahe Freunde: Paul Sieger, genannt Alex,
roh, blond, brutal, Franz Kirchhoff, Schlosser, 20 Jahre alt, ein
defekter Junge mit kleinem Kopf, kleinen Augen, kleiner Nase, dicker
Unterlippe und belegter Stimme, sowie endlich Hans Ulawski, ein langer
dünner Kellner im „Simplizissimus“, welchen Haarmann so charakterisiert:
„Das is der größte Gauner vom Bahnhof. Is Zauberkünstler. Zieht rum auf
die Jahrmärkte.“ Alle diese jungen Leute kannten Haarmann seit vielen
Jahren. Sie hielten ihn stets für einen Kriminalbeamten. (Er hat ihnen
oft weiß gemacht: „Ich muß heute zur Konferenz aufs Präsidium.“) Sie
wußten auch, daß Bock mit Haarmann zusammensteckte. Er aß mit Haarmann
in der Wirtschaft bei der Engel. Er schlief auch oft bei Haarmann. Aber
seine Komplizen bezeugen: „Mit Männern machte er nichts. Er war nur für
die Mädchens. Er war normal.“ In der Tschechoslowakei hatte Ulawski eine
Braut! Zu dieser sind Bock und Ulawski zweimal zusammen hingefahren. Die
Mutter des Bock, 51 Jahre alt, aus Ülzen, simpel, stumpf, glupschäugig,
schwerhörig und kränklich, hat sich gar nicht um den Verschwundenen
bekümmert. „Der Junge kam woll zu Weihnachten. Als am 8. April Herr
Kahmann mich ’ne Karte schrieb, da dachte ich: Na, hei schall schon
wedder komen.“ Höchst merkwürdig ist es nun, wie die Sachen des Bock bei
Haarmann „festgestellt“ wurden. Als nach Festnahme des Haarmann auch
Ulawski in Haarmanns Gegenwart unter den ausgestellten Sachen nachsah,
fand sich gar nichts. Aber im Fortgehen fällt der Blick des Ulawski auf
das Zeug, das Haarmann selber am Leibe trägt. Er stutzt, besieht sichs
genau und ruft dann bestimmt: „Haarmann trägt ja Hermanns Anzug auf dem
_Leibe_.“ Haarmann lachte ihn aus und erklärt: „Die Sache ist viel zu
ernst, als daß man mich da herein bringt.“ Ulawski blieb bei seiner
Behauptung, und da er wußte, bei welchem Schneider sein Freund arbeiten
ließ, so geht er zu diesem, und der Schneider kann denn auch unter Eid
bestätigen, nicht nur, daß er den Anzug, welchen Haarmann trägt, einst
für Bock angefertigt hat, sondern auch, daß Haarmann _selber_ ihn später
mit der Bemerkung, er habe den Anzug für 30 Mark von Bock erworben, für
seine Statur hat umändern lassen. Jetzt erinnert sich denn auch
Haarmann, er habe den Anzug „vielleicht“ von Bock gekauft. Aber
inzwischen fand sich auch die Aktentasche des Bock. Der eingeschriebene
Name: Hermann Bock, Hannover, ist ausgescheuert, aber noch klar
leserlich. Die Tasche wurde von der Kleiderhexe Engel als Markttasche
benutzt. Haarmann hatte sie ihr geschenkt. Alle anderen Sachen des Bock
sind ebenso wie die Leichenteile aus der Welt verschwunden. Daß Lustmord
vorliegt, ist nicht wahrscheinlich; der Verschwundene war ja
langjähriger Bekannter, der oft bei Haarmann schlief, war nicht
homosexuell und nicht mehr in dem Alter, welches Haarmann bevorzugte.
Wurde hier etwa einer beseitigt, der manches gemerkt hatte und plaudern
konnte? Oder lockten Koffer und Kleider? Oder war ein Zank
vorausgegangen? Oder spielte alles ineinander? Es erfolgte
Freisprechung.


                   21. _Wilhelm Apel aus Leinhausen_,

             geb. 4. Juni 1908, verschwand 17. April 1924.

Der Junge war immer träumerisch und verschlossen, konnte aber, wie
Lehrer und Pastor ihn schildern, leicht eingeschüchtert und beeinflußt
werden. Nachdem er 1923 die 1. Klasse der Bürgerschule durchlaufen hatte
und eingesegnet war, brachte ihn der Vater, der Dreher Wilhelm Apel in
Leinhausen, als Lehrling unter in der großen Speditionsfirma von M.
Neldel in der Nikolaistraße. Er fuhr fortan jeden Morgen um 6 Uhr mit
der Eisenbahn in die Stadt zur Arbeit und kam abends gegen 8 Uhr nach
Leinhausen zurück. Er scheint aber in der Stadt auf Abwege geraten zu
sein. Seit Beginn des Jahres 1924 beobachtet die Mutter an dem Jungen
ein gedrücktes Wesen. Er saß oft grübelnd über seinen Büchern und konnte
die Mutter nicht frei ansehen. Der Vater, sehr streng, lauerte in der
Stadt dem Jungen auf, ertappte ihn beim Zigarettenrauchen und bestrafte
ihn schwer: „Zur Strafe gehst du Ostern nicht aus der Tür, und wenn die
Sonne scheint.“ Den Tag darauf, am 17. April, begab sich der Junge wie
gewöhnlich nach Hannover, ist aber auf seiner Lehrstelle nicht
angekommen und wird seitdem vermißt. Unter den bei Haarmann
beschlagnahmten oder von der Engel für Haarmann verkauften Sachen fanden
sich die zumeist von der Mutter selber genähten Kleider des Jungen. Da
dieser, wenn er abends nach Leinhausen fuhr, in dem von Haarmann
„revidierten“ Wartesaal sich aufhalten mußte, so dürfte er dort wohl die
verhängnisvolle Bekanntschaft gemacht haben.


                          22. _Robert Witzel_,

             geb. 18. März 1906, verschwand 26. April 1924.

Der zweite Sohn des Werkmeisters Georg Witzel in Hannover-Linden trat
nach Beendigung seiner Schulzeit im Juli 1921 als Arbeiter ein bei den
Mittelland-Gummiwerken und ging im Mai 1924 über zu den
„Excelsior-Gummiwerken“. Sein nächster Freund wurde der Arbeiter
Friedrich Kahlmeyer, ein erst 14 Jahre alter, aber sehr frühentwickelter
schweigsamer, hintersonnener, hübscher Bursche mit Mädchengesicht. Diese
beiden jungen Arbeiter und gelegentlich auch der ältere Bruder Willi
Witzel trieben sich viel an den Treffpunkten der Gleichliebenden um,
verkehrten in dem homosexuellen „Gesellschaftshaus“ an der Calenberger
Straße und suchten fast jeden Abend am Bahnhof oder hinter dem Café
Kröpcke („Schwuler Kessel“, „Café Wellblech“) nach „Bekanntschaften“;
gingen auch mit in die Wohnungen, wo sie Geld erhielten und gelegentlich
auch bewirtet wurden. Daher war ihnen auch Haarmann, der sich oft halbe
Nächte lang an diesen Treffpunkten aufhielt, genau bekannt. – Sie hatten
auch mit ihm gelegentlich Verkehr. Bezüglich des hübschen jungen
Kahlmeyer äußerte Haarmann nach seiner Festnahme: „Ich bereue, daß ich
Kahlmeyer nicht genommen habe. Der hätte noch weg müssen.“ Am 26. April
1924 erbat Robert Witzel von seiner Mutter 50 Pfennig, da er in den
Zirkus gehen wolle, zog seinen guten Rock an, entfernte sich gegen 4 Uhr
nachmittags und wird seitdem vermißt. Als Kahlmeyer einige Zeit nach dem
Verschwinden des jungen Witzel den Haarmann traf und diesen fragte, ob
er nicht wisse, wo Witzel geblieben sei, tat Haarmann ungemein
erschrocken und schien noch gar nicht gehört zu haben, daß Witzel
_vermißt_ werde. Dies bestärkte den Kahlmeyer in dem Glauben, Haarmann
wisse nichts von der Sache und entschuldigt ein wenig, daß dieser in
gleichgeschlechtlichen Kreisen sehr beliebte Bursche aus Scham, aus
Furcht vor Strafe, vielleicht auch aus Angst vor Haarmann (welcher
beständig drohte: „Wenn Ihr zu Hause etwas sagt, laß ich Euch
verschütt gehen“ [d. h. bring ich Euch ins Gefängnis oder in die
Fürsorgeerziehung]), auch den Eltern des Verschwundenen gegenüber die
homosexuellen Beziehungen völlig verschwieg. Die Eltern und der Bruder
wollen in dem am 20. Mai 1924 im Lustgarten angetriebenen Schädel
bestimmt den des Verschwundenen erkennen und zwar an der eigenartigen
Zahnbildung (die vorderen Zähne waren abgedacht und geriffelt und ein
Backenzahn war einige Zeit vorher ausgebohrt, aber noch nicht mit einer
Plombe gefüllt worden). Der Dentist, der den Witzel behandelte, erkennt
aber den Schädel nicht wieder, und Haarmann glaubt gerade in _diesem_
Fall genau zu wissen, daß er den Schädel des Witzel zertrümmert habe.
Vollkommen gesichert dagegen ist die Dieselbigkeit der bei Haarmann und
seinen Hehlerinnen gefundenen Kleider, Stiefel, Wäsche, Schlüssel usw.
Auch fand sich in einer von Theodor Hartmann, dem Sohn der Engel,
getragenen Hose eine Ausweiskarte auf den Namen Robert Witzel, welche
der Hartmann dem Haarmann zurückgab. Haarmann glaubt, daß er den Witzel
gleich in der ersten Nacht, wo er ihn bei sich hatte, getötet und die
Leichenteile in die Leine geworfen habe.


                    23. _Heinz Martin aus Chemnitz_,

           geboren 30. Dezember 1909, verschwand 9. Mai 1924.

Der Vater Bauklempnermeister Georg Martin in Chemnitz war 1918 in
Frankreich gefallen. Der zehnjährige Heinz war zurückgeblieben mit
Mutter und Schwester. Er war ein guter, ordentlicher Junge, bis Ostern
1924 Schüler des Realreformgymnasiums, dessen junges Leben zwei große
Ereignisse hatte, der Besuch mit einer Schar anderer Sekundaner in
Bremerhaven 1921 und nochmals 1922. Seither träumte er davon,
Schiffsingenieur zu werden, baute Schiffe und las Reisegeschichten.
Ostern 1924 wurde er konfirmiert und sollte nun zunächst in der
Strickmaschinenfabrik als Schlosserlehrling lernen; aber seine
Jungensträume steuerten in die weite Welt. Die Mutter war ernst und
streng. Seinem Freunde und Mitlehrling Horst Clemens gegenüber erschloß
er sein Herz: „Ich möchte wieder nach Bremerhaven auf das große Schiff.
Was hab ich hier? Muß die Küche aufräumen. Das Bett machen. Ist das
etwas für Jungen? Wundert euch nicht, wenn ich mal davon gehe.“ Zur
Einsegnung hatten die Verwandten dem Jungen ein Geldgeschenk gemacht;
insgesamt 32 Mark; er kam sich damit reich vor. Er trug den Besitz immer
bei sich. „Du mußt sparen,“ sagte die Mutter, „gib mir das Geld; ich
brings auf die Sparkasse.“ Der Junge, errötend, sagt: „Och, das liegt in
der Fabrik in meinem Werkzeugkasten.“ Die Mutter, fühlend, daß da etwas
nicht stimmt, meint: „Nun, ich will morgen Nachmittag doch in die
Fabrik; ich sehe dann mal nach.“ Das war am 8. Mai. Am 9., wie immer
geht der 14jährige in die Fabrik, kommt dort nachmittags 2 Uhr zu seinem
Werkmeister und bittet: „Morgen muß ich nach Leipzig zur Beerdigung
meiner Großmutter. Kann ich wohl einen Tag Urlaub haben und einen
Passierschein?“ „Gewiß, mein Junge,“ sagt, keine Lüge ahnend, der
Werkmeister. Der Junge packt seine Sachen zusammen, geht und bleibt
seitdem verschwunden.

Vor dem Schwurgericht in Hannover stehen zwei Frauen, wie aus dem Grabe
entstiegen, im Feuer äußersten Leidens geläutert. Acht Wochen lang
suchte man nach dem Kinde, aber fand keine Spur. Man dachte wohl an
Bremerhaven und an seinen Wunsch, Schiffsbauingenieur zu werden. Aber
merkwürdigerweise hatte er von seinem Konfirmationsgelde 20 Mark im
Werkzeugkasten zurückgelassen. Er konnte also höchstens 12 Mark bei sich
haben. Sollte er nun aber gar _darum_ entlaufen sein, weil er fürchtete,
daß die Mutter am Nachmittag kommen und das Geld nachzählen werde, so
hatte er jedenfalls den Rest oder einen Teil des Restes schon _früher_
verbraucht und war also in diesem Falle ganz ohne Geld oder mit sehr
wenig Geld fortgelaufen. Nur bekleidet mit seiner blauen
Marinesportmütze, mit seiner blauleinenen Schlosserjacke, einem
weiß-rot-gekästelten Hemd und einer braunen Unterjacke. Es war wohl kaum
zu vermuten, daß er in diesem Zustand aus Chemnitz herauskam. Aber als
im Juni die großen Leichenfunde in Hannover aufkamen, fuhren doch die
beiden Frauen nach Hannover, um die aus Haarmanns Umgebung
zusammengebrachten Sachen immerhin mal anzusehen. Und da finden sie
unter den 400 Fundstücken die Kleider ihres Heinz. Auf eine sehr
merkwürdige Weise wird das in das Schweißleder der Marinemütze
eingepreßte Monogramm H. M. völlig sichergestellt als das des Kindes.
Man schickte die Mütze an die kleine Hutfabrik, von der die Mütze des
Knaben bezogen war, und diese wies nach, daß in dem gestanzten M sich
ein Merkmal (eine defekte Stelle) befindet, das nur in einer von ihr
bezogenen Mütze sich befinden _kann_. Aber wie ist der Knabe nun nach
Hannover gelangt? Es läßt sich nur _vermuten_, daß er entweder
vielleicht von einem Helfer des Haarmann verschleppt wurde oder auf dem
Wege nach Bremerhaven in Hannover aussteigen und sich Arbeit suchen
wollte, daß er dann auf dem Bahnhof gleich allen anderen Knaben dem
Haarmann in die Arme lief. Haarmann hat nach anfänglichem Leugnen die
Tat zugegeben.


                     24. _Fritz Wittig aus Cassel_,

          geboren 23. November 1906, verschwand 26. Mai 1924.

Der Fall Wittig und der Fall Hannappel waren die beiden Fälle, in denen
Haarmann behauptete, auf Befehl und unter dem Einflusse des Hans Grans
getötet zu haben. Er bezeichnet beide Fälle immer mit dem Kennwort
„Düsseldorfer“. Den Hannappels, weil er über diesen nur wußte, daß er
„aus Düsseldorf“ sei; den Wittigs, weil (wie er behauptet) Wittig einen
rheinländischen Dialekt sprach. Aber während im Fall Hannappel das
Gericht den Hans Grans wegen _Anstiftung_ zum Morde (nach § 49 St.G.B.)
zum Tode verurteilte, wurde Grans im Falle Wittig nur der _Beihilfe_ zum
Morde schuldig befunden und zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Als
Beweggrund zur Anstiftung wie zur Beihilfe nahm das Gericht an, daß
Grans die _Kleider_ der Getöteten für sich begehrte. Für den
Psychologen, der die gedrungene Vielheit aller Antriebe auch im
scheinbar einfachsten Falle kennt und der weiß, daß man Taten immer nur
vom nachhinein _vereinfachend_ auf _ein_ Motiv zurückführt (worin sich
jene beruhigende Ökonomie des menschlichen Denkens kundtut, die ich
„logificatio post festum“ nannte), kann der Fall _nicht so klipp und
klar_ liegen, wie für die Rechtsprechung, welche die Urteile zu _ihrer_
Beruhigung findet; („non quia peccatum sed ne peccetur“). Wir müssen
also uns bemühen, die Untiefen dieses wunderlichen Falles zu erschürfen.
– Fritz Wittig war ein gutgebauter, reichveranlagter Junge von 17
Jahren, 1,73 m groß mit langem, nach hinten gekämmtem blondem Haar, das
an den Schläfen in Wellen abstand. Sein Vater, ein Kesselschmied in
Kassel und sein junger Schwager, der Kaufmann Hermann Schaad waren über
den hübschen begabten Jungen, der in einer Spirituosenfabrik als
Lehrling arbeitete, sehr ungehalten, weil er schon frühe mit jungen
Mädchen sich abgab; sie ahnten aber noch nicht, daß er auch homosexuelle
Bekanntschaften gemacht hatte. Nach einem Zerwürfnis mit dem Vater, der
dem Sohn seinen Leichtsinn vorhielt, entfernte der Junge sich am 27.
April aus Kassel, nahm dabei einen seinem Chef gehörigen schwarzen
Lederkoffer mit, in den er seine Kleider und Wäsche einpackte und
versuchte, auswärts Arbeit zu erhalten. Am 30. April stellte er sich bei
der Inhaberin der Süßwarengroßhandlung Carl Zwanzig in Hannover auf der
Goethestraße vor und bat um Beschäftigung als Reisender. Da er einen
guten Eindruck machte, und sein Lehrzeugnis deponierte, so wurde er zum
Besuch der Stadtkundschaft eingestellt. Er trat am 1. Mai die Stelle an,
erhielt Muster, die er in einem schwarzen Koffer (offenbar der in Kassel
unterschlagene) verpackte, kam aber am Abend zurück und sagte, daß es
ihm nicht gelungen sei, etwas zu verkaufen. Auch am 2. Mai abends kam er
wieder und berichtete, daß er nichts habe verkaufen können; gab die
Muster wieder ab mit der Begründung, daß seine Mutter in Kassel schwer
erkrankt sei und daß er deshalb nach Hause fahren wolle und ließ sich
auch sein Lehrzeugnis zurückgeben. Am Abend des 3. Mai erschien er aber
schon wieder bei Zwanzig und erklärte, daß er am Montag noch einmal den
Versuch machen möchte, Ware zu verkaufen. Den schwarzen Koffer und sein
Lehrzeugnis hatte er aber nicht mehr bei sich, sondern angeblich in
Kassel zurückgelassen. Am Montag, den 5. Mai, stellte Herr Zwanzig eine
umfangreiche Musterauswahl zusammen und übergab ihm hierzu seinen
eigenen Koffer, sowie ferner einen zweiten flachen schwarzen Koffer mit
einer Anzahl Mustergläsern. Fritz Wittig entfernte sich mit den beiden
Koffern und kehrte nicht zu Zwanzig zurück. Wie sich nachher
herausstellte, war seine Erklärung über die Erkrankung seiner Mutter und
den Verbleib seines Koffers nicht wahr gewesen. Eine Verwechselung der
Person ist darum unmöglich, weil Wittig durch einen verkümmerten rechten
Arm und zur Arbeit unbrauchbare rechte Hand leicht erkennbar war. Die
Angehörigen Wittigs erhielten von diesem am 4. Mai einen in Hannover
abgestempelten Brief, in welchem er als seine Anschrift „Gasthaus
Dißmer, Heiligerstraße“ angab, woselbst er in der Tat eine Nacht
geschlafen und dann mehrmals gegessen hat. Später erhielten die
Angehörigen noch eine Karte mit Bahnpoststempel Hannover-Bebra, 14. Mai.
Von da ab bekamen sie keine Nachricht weiter; konnten auch durch die
Polizei nichts mehr erfahren und fanden erst wieder Spuren des
Verschwundenen, als nach Ausstellung der bei Haarmann gefundenen
Gegenstände sie nach Hannover fuhren und unter den Gegenständen den bei
Grans beschlagnahmten Anzug sowie das bei Haarmann beschlagnahmte
Notizbuch mit der Handschrift des Vermißten fanden. In dem Notizbuch
befand sich ein Kalender auf der letzten Seite. Auf ihm waren die Tage
bis zum 23. Mai einschließlich, durchstrichen. Außerdem lag darin ein
Zettel folgenden Inhalts: „Gebe hiermit Herrn Hans Grans einen grauen
Anzug in Kommission; selbiger muß bis Montag Abend, den 26. Mai, wieder
in meinen Händen sein, widrigenfalls 40 Goldmark bis zum 26. Mai 1924 zu
zahlen sind. Hannover, den 26. Mai.“ Die Zahl 40 war durchstrichen und
statt ihrer Zwanzig in _Buchstaben_ darüber geschrieben. Dieser konfuse
Zettel, der die Unruhe eines unklaren Augenblicks zu atmen scheint, ist
geschrieben in Haarmanns großer, korrekter, nach rechts überwiegender,
stark gebundener, an Zeichen für Vorsicht, Zurückhaltung und Hinterhalt
überreichen Schrift und ist unterschrieben von Haarmann _und von Grans_.
Es handelt sich offenbar um eine zwischen Haarmann und Grans getroffene
Abmachung bezüglich des von dem Getöteten getragenen Anzugs. – Es trat
nun nach der Zeugenvernehmung als wahrscheinlich hervor, daß Wittig in
der Nacht des 26. Mai von Haarmann getötet wurde und daß Grans am 27.
Mai den Anzug von Rote Reihe 2 _abgeholt_ hat. – Hat Grans von dem Morde
gewußt? Hat er ihn selber angestiftet? Zwei Zeugen wurden aufgefunden,
welche auszusagen vermögen, was der Verschwundene getrieben hat zwischen
dem 5. Mai, wo er mit den Koffern der Schokoladenfirma Zwanzig davonging
und dem 26. Mai, an welchem er (wahrscheinlich) getötet wurde. Es ist
zunächst wahrscheinlich, daß Wittig am 4. Mai, einem Sonntag, aus
unbekanntem Grunde nach Bielefeld fuhr. Ein Reisender namens Fritz
Brinkmann hat ihn auf der Fahrt von Bielefeld nach Hannover kennen
gelernt. Wittig erzählte diesem Mitreisenden, daß er bisher bei der
Schokoladenfirma Zwanzig tätig gewesen sei und sich nun auf der Suche
nach Arbeit befinde. Auf dem Bahnsteig in Hannover wurde Wittig von
einem Bekannten angesprochen, den er dem Brinkmann als Kriminalbeamten
Haarmann vorstellte, dieser Bekannte hat dann Wittig zu einem Glase Bier
eingeladen. In den folgenden Tagen will Brinkmann den Wittig noch
wiederholt in Gesellschaft des Haarmann getroffen haben. Er behauptet,
auch Grans mit Wittig gesehen zu haben, wie sie eingehakt am
Ernst-August-Platz zusammen spazieren gingen. Bei einer dieser
Begegnungen soll Wittig dem Brinkmann erzählt haben, er habe Aussicht,
auf der deutschen Werft in Hamburg Arbeit zu erhalten und habe keine
Lust mehr, in Hannover zu bleiben. Bei einer späteren Begegnung aber
erzählte er, sein Freund Haarmann habe ihm nun doch geraten, lieber in
Hannover zu bleiben. Durch den zweiten Zeugen, den Schneider Richard
Huth, wurde festgestellt, daß der junge Wittig in seinen arbeitslosen
Stunden an mann-männliche Kreise herangetreten war und an dem
Sammelpunkt hinter Kröpcke offenbar Bekanntschaften gesucht hat. Huth,
ein alter Bekannter von Haarmann und Grans, bekundet, daß er Anfang Mai
hinter Kröpcke mit Haarmann (den auch er stets für einen Kriminalbeamten
hielt) im Gespräche stand, als ein hübscher junger Mann auf ihn
zugetreten sei und um Feuer gebeten habe. Haarmann sei diskret
fortgegangen. – Als der junge Mann ihm sagte, er sei arbeitslos und hier
fremd und wäre froh, wenn er erst einmal für diese Nacht Unterkunft
hätte, bot Huth ihm an, die Nacht bei _ihm_ zu verbringen. Inzwischen
trat aber Haarmann in Gesellschaft von Grans wieder an ihn und den
Fremden heran und forderte sie beide auf, zu einem Glase Bier
mitzukommen. Sie gingen alle vier in die Gastwirtschaft „Alte
Reichshand“ in der Gr. Packhofstraße, wo Grans immer von neuem zum
Trinken animierte (obwohl er die Zeche zahlte), während Haarmann zur
Mäßigung mahnte. Nach Eintritt der Polizeistunde entfernten sie sich aus
der Wirtschaft und Huth kam von den anderen ab, da ihm vorm Corso-Café
ein Mädchen im Übermut den Hut vom Kopfe nahm. Er holte sie dann am
Bahnhof wieder ein, traf aber nur noch Haarmann, der auf die Frage nach
dem Verbleib der anderen erwiderte, der Unbekannte sei mit Grans
gegangen. Als Huth hierauf bemerkte, er denke, Grans sei doch gar nicht
„so veranlagt“, sagte Haarmann: „Er hat jedenfalls einen Bock auf ihn.“
Darauf haben sich dann auch Haarmann und Huth voneinander verabschiedet.
– Dies wären also die Zeugnisse für die Vorgänge, durch welche Wittig
von Grans und Haarmann eingefangen und gleichsam dem Huth abgejagt
wurde. Nun machen aber Haarmann und Grans über den Zusammenhang
verschiedene Angaben. Haarmann (der _diesen_ Mord von Anfang an zugeben
mußte, weil des verstümmelten Armes wegen sein ewiges: „Ich erinnere
mich an meine Opfer nicht“, _unglaubwürdig_ gewesen wäre) behauptete
sogleich, Grans habe am Café Kröpcke ihn auf den mit Schneider Huth
sprechenden jungen Mann aufmerksam gemacht mit den Worten: „Du, den
Anzug muß ich unbedingt haben. Meiner geht schon an den Ärmeln entzwei.“
Er, Haarmann, sei dann auf Grans’ Drängen an den Fremden herangetreten
und Grans habe alles Folgende eingefädelt und den Wittig dazu überredet,
statt mit Huth lieber doch mit Haarmann zu gehen, welcher „sehr gut“ sei
und ihm auch zu essen geben werde. Haarmann hat dann den Unbekannten
nach der Roten Reihe verschleppt; aber beim Geschlechtsverkehr Anstoß
genommen daran, daß die rechte Hand unbrauchbar war. Er hat daher am
folgenden Tage Wittig wieder weggeschickt. Von da an aber sei Wittig auf
Grans’ Veranlassung dennoch immer wieder gekommen. Als Haarmann, der den
Fremden nicht leiden mochte, ihn wieder wegschickte, habe dieser abends
vor der Wohnung aufgepaßt und als er Licht im Zimmer bemerkte, so lange
gerufen und gepfiffen, bis Haarmann den Hausschlüssel herunterwarf.
(Welche Vorgänge denn auch von Hausbewohnern bestätigt werden.) Am
dritten Tage ließ sich Haarmann (wie die Engel bestätigt) vor Wittig
verleugnen, der aber kurz darauf zusammen mit Grans wiederkam. Grans sei
in diesen Tagen wiederholt zu ihm gekommen und habe gefragt, wann er
denn nun den Anzug bekäme. Haarmann habe gesagt: „Ich kann den Menschen
nicht lieben.“ Worauf Grans äußerte: „Man macht das doch leichter bei
einem, den man _nicht_ liebt.“ Am vierten Tage gegen Mittag sei Wittig
freudestrahlend wiedergekommen und habe erzählt, daß es ihm gelungen
sei, in Hamburg Arbeit zu erhalten. Er wolle am Nachmittag zwischen 5
und 6 Uhr mit einem Transport abreisen. Aber am Abend um 11 Uhr traf
dann Haarmann den Wittig auf dem Bahnhof in Gesellschaft von Grans, der
ihn von der Reise abgehalten habe. (Was denn freilich den Angaben des
Brinkmann widerspricht, wonach Wittig erzählte, daß _Haarmann selber_
ihn abhielt.) Grans habe ihn beiseite genommen und leise gesagt: „Fritz,
du Idiot, der Anzug paßt mir doch. Nimm den Jungen doch mit. Ich möchte
den Anzug doch so gern haben.“ – Um endlich vor Grans Ruhe zu haben,
habe er an diesem Abend Wittig wieder mitgenommen und getötet, und, als
er am Morgen mit Zerstückeln der Leiche beschäftigt gewesen sei, sei
Grans des Anzugs wegen schon erschienen. Er, Haarmann, habe (da Grans
dergleichen nicht sehen konnte) die Leiche schnell unters Bett geschoben
und sich die blutigen Hände gewaschen. Grans aber habe hastig gefragt:
„Was riecht hier so schlecht?“ und „Wo ist das Zeug?“ Als Haarmann
sagte: „_Der_ (womit er Wittig meinte) ist nicht mehr da,“ habe Grans
sofort zu suchen angefangen; er aber, Haarmann, habe sich vor das Bett
hingestellt und dem Grans den Schlüssel zu der von Hannappel
hinterlassenen Truhe gegeben; daraus habe sich Grans den Anzug des
Wittig hervorgezogen; dann sei er ihm um den Hals gefallen, habe ihn
geküßt und gesagt: „Fritz, du bist doch der Beste. Auf dich kann ich
mich immer verlassen.“ Haarmann habe sodann gejammert, er habe an Wittig
über 40 Mark Kosten gehabt, die müsse Grans mittragen. Grans habe dann
auch gleich 8 Mark angezahlt und über den Rest hätten sie das in Wittigs
Notizbuch vorgefundene Schriftstück sogleich aufgesetzt, weil er,
Haarmann, gefürchtet hat, daß Grans ihn bemogeln wolle. – Grans erklärt
alle diese Angaben für nur halbwahr. Er erzählt die Sache so: „Nicht
_ich_ habe mich an den mit Huth am Café Kröpcke stehenden jungen Mann
herangemacht, sondern Haarmann hat mir gesagt: „Du, auf den hab ich
einen Bock.“ Nicht _ich_ habe Haarmann gesagt, daß ich von einem anderen
das Zeug haben möchte, sondern Haarmann hat zu mir (im Fall Hannappel
wie im Fall Wittig) gesagt: „Schau mal den Anzug da; möchtest du den
wohl haben?“ „Ich habe gelacht, weil ich nicht glaubte, daß er durch
irgend eine Gaunerei mir den Anzug verschaffen könne. Als er ihn mir
dennoch verschaffte, habe ich wahrhaftig nicht denken können, daß er das
durch einen Mord getan hatte.“ Ich habe nicht das mindeste dazu getan,
den Wittig gefügig zu machen, daß er mit Haarmann mitgehe. Ich habe aber
in der Tat am 26. Mai den Anzug des Wittig von Haarmann _bekommen_ und
habe ihm dafür eine Anzahlung gemacht. Haarmann forderte zuerst 40 Mark,
ließ den Anzug aber auf mein Bitten mir dann für 20 Mark.“ – Aus der
Besichtigung des mit Zwischenbügel versehenen Haarmannschen Bettes
ergibt sich zweifelsfrei, daß es _unmöglich_ wäre, eine Leiche darunter
zu schieben. Nun bestätigt freilich die Engel, daß Haarmann wiederholt
sich vor Wittig verleugnen ließ und sich sogar in ihrer Küche
versteckte. Der Fremde, den sie in Wittigs Bilde wiedererkennt, hat auch
ihr voller Freude erzählt, er habe Arbeit in Hamburg gefunden und wolle
am Nachmittag weiterreisen, ist dann aber am Abend desselben Tages doch
in Begleitung von Grans und Haarmann wieder mitgekommen. – So drängt
sich schließlich der ganze Fall zusammen in die folgende Frage der
Seelenkunde: Ist der sicher bewiesene Umstand, daß Haarmann den jungen
Wittig wiederholt _abwies_, ein Erweis dafür, daß der Mord durch Grans
_aufgedrängt_ sein muß? Zunächst möge man bedenken, daß Haarmann nicht
immer _nur_ aus sexueller Begierde tötete. Es wäre möglich, daß er
_selber_ das Zeug des Wittig sich oder dem Grans verschaffen wollte (sei
es als Geschenk, sei es gegen Bezahlung, sei es um zu imponieren, oder
um zu werben, oder aus irgend einem anderen Beweggrund). Es wäre aber
auch dies möglich, daß eine dunkle Triebangst ihn vor dem jungen Wittig
sich verstecken ließ, indem er ihn töten wollte und auch wieder _nicht_
wollte und daß gerade erst der Umstand, daß da ein anderer sich immer
wieder anbot und aufdrängte (möglicherweise nur, um mit Unzucht Geld zu
verdienen), schließlich die sexuelle Wolfswut aufgestachelt hat. So bin
ich zuguterletzt geneigt geworden, zwar (wie auch in mehreren anderen
Fällen) eine dunkle _Mitwisserschaft_ des Grans, keinesfalls aber
_Anstiftung_ und auch nicht _Beihilfe_ zum Morde anzunehmen.


                        25. _Friedrich Abeling_,

           geboren 14. März 1913, verschwand am 26. Mai 1924.

Ein zehnjähriges Kind, 1,10 m groß, volles niedliches Gesicht, Haare
nach Pony-Art geschnitten, Ebenbild seiner dreizehnjährigen Schwester
Alix, Sohn des Schlossers Wilhelm Mayhöfer und seiner Frau Therese,
verwitwete Abeling, in der Rautenstraße, ein ruhiger und ordentlicher
Junge, hatte am 25. Mai 1924 die Schule versäumt und war dafür bestraft
worden. Am 26. Mai bat er die Mutter um 20 Pfennig. Der Lehrer wolle mit
der Klasse einen Ausflug machen. Die Angabe erwies sich als unwahr. Er
hatte bei seinem Fortgehen nichts an, als einen grauen Sweater mit
grüner Borde. Er blieb vermißt. Am 17. Juni spielten Kinder in der
Rautenstraße. Da trat an die 12jährige Anni Stümpel ein Mann heran mit
der Frage: „Kennst du Alice Abeling?“ „Es ist _die_ dort,“ sagte das
gefragte Kind, worauf der Mann an die kleine Alice herantrat mit den
Worten: „Guten Tag, Alice, ich komme von deiner Mutter und habe eine
Karte dagelassen. Deine Mutter wird dir das schon erklären. Ich bin ein
Freund von deinem Vater. Ich wollte dich nur mal sehen.“ Er gab ihr die
Hand und entfernte sich. – Eine Karte ist in der Wohnung der Eheleute
Mayhöfer nicht abgegeben worden. Die beiden Mädchen haben als denjenigen
Mann, der sie angesprochen hat, mit voller Bestimmtheit Haarmann
wiedererkannt. Sie geben nur an, daß Haarmann einen schwarzen
Schnurrbart trug, während er in Wirklichkeit einen blonden hat. Es
konnte aber festgestellt werden, daß Haarmann in der Tat einen kleinen
schwarzen Schnurrbart besaß, den er sich anklebte, wenn er sexuelle
Streifzüge unternahm. Am 25. Juni wurde am Lustgarten des Leineschlosses
ein Kinderschädel angespült, doch konnte nicht mit Sicherheit der des
verschwundenen Abeling darin erkannt werden. Dagegen fand man seinen
grauen Sweater mit grüner Borde. Er lag seit Ende Mai auf der
Nähmaschine der Engel, wurde dann von Grans mitgenommen, der ihn an
seine Mutter für seinen kleinen Stiefbruder Alfred verschenkt hat. Die
Stubennachbarin des Haarmann, Frau Lindner, erinnert sich, daß gegen
Ende Mai ein kleiner Knabe, den sie dem Bilde nach als den kleinen
Abeling wiedererkennt, nach Rote Reihe 2 gekommen ist und nach Haarmann
gefragt hat. Sie habe dem Kinde, das ihr leid tat, gesagt: „Kind, geh
man nach Haus, der Onkel will nichts Gescheites von dir.“ Der Knabe
bekam einen roten Kopf und ging fort. Es ist anzunehmen, daß Haarmann
den aus Furcht vor Strafe sich umhertreibenden Knaben angesprochen und
durch Versprechungen von Geschenken in seine Wohnung gelockt hat. Die
Alice Abeling kannte er wohl von den Schilderungen ihres Bruders und hat
sie aus Neugierde aufgesucht. Es ist das ein psychologisch merkwürdiger
Umstand, aber ein Beweis dafür, daß die beständige Beteuerung, daß er
sich an die Gesichter seiner Opfer nicht entsinnen könne, durchaus
unwahr ist.


                 26. _Friedrich Koch aus Herrenhausen_,

               geb. 4. Mai 1908, verschwand 5. Juni 1924.

Friedrich Koch, Schlosserlehrling, 16 Jahre alt, Sohn des Malers Fr.
Koch in Herrenhausen, verschwand am 5. Juni. Er fuhr morgens um 7 Uhr
regelmäßig mit der Bahn zur Arbeit; in Gesellschaft des
Schlosserlehrlings Paul Warnecke. Auf dem Bahnhof hatten beide den
Haarmann kennen gelernt. – Am 5. Juni nachmittags gingen die jungen
Schlosserlehrlinge Koch, Rubi und Böcker durch die Altstadt zur
Fortbildungsschule. Koch trug eine Wachstuchtasche, in der sich das
Lehrbuch von Duden befand. An der Ecke vom „Tiefental“ schlug ein Mann,
den Rubi und Böcker nicht kannten, aber bei der Gegenüberstellung aufs
bestimmteste als Haarmann wiedererkannt haben, den Koch mit dem
Spazierstock an die Stiefel und fragte: „Na Junge, kennst du mich nicht
mehr?“ Koch blieb stehen, winkte den Freunden Abschied und wurde seither
nicht mehr gesehen. Es fanden sich weder Kleider noch Leichenteile. Nur
die Aktentasche des Kindes, sowie der Duden, in welchen der Knabe seinen
Namen eingeschrieben hatte.


                         27. _Erich de Vries_,

              geb. 7. März 1907, verschwand 14. Juni 1924.

Der 17jährige Sohn Erich des Kaufmanns Max de Vries in Hannover, welcher
bei seinem Onkel, dem Bäckermeister Schulze in Celle in der Lehre war,
fuhr Pfingsten 1924 auf Besuch zu den Eltern. Er war ein gesunder,
schöner, wenig welterfahrener, leichtgläubiger Junge. Da die Eltern
gerade einen Pfingstausflug machten, fand der Knabe die Wohnung
verschlossen und ging zu seiner in der Herschelstraße wohnenden Tante,
wo die Eltern auch einen Hausschlüssel für Erich abgegeben hatten. Er
blieb dort bis abends ½11 Uhr, nahm dann Abschied und sagte, er wolle
nun nach Hause zur Hildesheimerstraße. Als die Familie gegen 12 Uhr vom
Ausfluge nach Hause kam, war der Junge nicht in der Wohnung, so daß man
annahm, daß er entweder bei der Tante oder gar nicht aus Celle
herübergekommen sei; man legte wie immer die Sperrkette vor die Flurtür.
Am nächsten Morgen gegen 10 Uhr erschien der Knabe und erzählte seiner
Stiefmutter, er habe in der Nacht zweimal gegen 3 und gegen 6 Uhr an der
Flurtür geklingelt, da er der Sperrkette wegen nicht öffnen konnte; der
Hund habe sehr laut gebellt, da aber niemand geöffnet habe, sei er
fortgegangen und sei die ganze Nacht mit zwei Männern, einem jungen und
einem älteren durch die Altstadt spazieren gegangen. Die Erzählung
erschien durchaus unglaubhaft. Am 12. Juni bat Erich um Erlaubnis, mit
einem Freunde, einem schon ausgelernten Bäckerjungen ausgehen zu dürfen.
Am 14. Juni morgens 10 Uhr ging er, wie fast regelmäßig, nach der Ohe
zum Baden. Der Vater mahnte ihn, er möge zeitig wiederkommen, denn er
wolle mit ihm heute zum Bäcker-Obermeister, damit er eine Stelle in
Hannover bekomme; der Junge brachte seine Freude zum Ausdruck, daß er in
Hannover bleiben dürfe. Er ist an diesem Morgen nicht zurückgekehrt.
Seine Schwester, die 11jährige Hildegard, bekundet, daß am 10. Juni, als
ihr Bruder in der Ohe badete, und sie derweil auf seine Sachen aufpaßte,
ein Herr am Ufer gestanden habe, den sie jetzt bestimmt als Haarmann
wiedererkennt, die Badenden aufmerksam beobachtete und dann ihren
Bruder, als dieser aus dem Wasser stieg, eine Zeitlang genau betrachtet
habe. Haarmann sei dann auf sie beide zugetreten, habe nach der
Tageszeit gefragt und habe sich entfernt. Man fand den Anzug, kenntlich
besonders an einem von einer Zigarette eingebrannten kleinen Loch im
linken Hosenbein, die Seidenflorstrümpfe, das Batikziertüchlein, die
Brille und den von der Schwester geschenkten Taschenkamm in
Haarmanns Wohnung, der sich denn auch zuletzt bequemte, die
Untersuchungskommission zum Teich am Eingang des Schloßgartens zu
führen, wohin er (in der Aktentasche des getöteten Koch) die
Leichenteile in vier Gängen getragen hatte. – Er meint, daß er die
Bekanntschaft des Erich de Vries auf dem Bahnhof gemacht habe. Er hat
ihn wahrscheinlich, wie er es beständig tat, mit Beschenken von
Zigaretten an sich gelockt.


                           Rechtstechnisches.

Je weiter die Verhandlungen fortschritten, um so klarer drängte sich die
Überzeugung auf, daß man eine Schlange nicht richten kann, ohne zugleich
den Sumpf _mit_ vor Gericht zu stellen, daraus allein die Schlange ihre
Nahrung zog. Dies war nun vor dem Schwurgericht in Hannover nicht
möglich. Und zwar aus den folgenden Gründen: 1. Haarmann machte alle
seine Aussagen unter dem Druck und in Abhängigkeit von der
_hannoverschen Polizei_; insbesondere in Abhängigkeit von dem
Polizeiarzt Dr. Schackwitz, der ihn völlig zu _lenken_ vermochte. Man
setze einmal den Fall, dieser Kriminalprozeß wäre in einer anderen
Stadt, z. B. in Leipzig oder in Berlin verhandelt und ein anders
eingestellter, aber gleich eindrucksvoller Arzt wäre jeden Morgen in
Haarmanns Zelle getreten etwa mit den Worten: „Fritz, was bist du für
ein großartiger Kerl, daß du zehn Jahre lang die dumme Behörde in
Hannover an der Nase herumgeführt hast,“ so würde der ganze Kriminalfall
ein _völlig anderes Gesicht_ bekommen haben. Es hätte sich dann
erwiesen, daß ein schadhaftes Rechtssystem und eine schadhafte
Psychiatrie die dreißig Morde mit verschuldet haben. Da aber Haarmann in
Hannover verblieb und seine letzten Tage völlig abhängig waren von der
Gunst der Behörde, so hütete er sich sorglich, das auszusagen, was auch
_diese_ mitbelastet hätte. Ja, man benutzte Haarmann geflissentlich zur
Entlastung der in Hannover herrschenden _Zustände_ und ging in derselben
Weise schonend mit ihm um, wie er seinerseits _günstig_ für das Polizei-
und Gerichts-Personal aussagte. 2. Man hatte als Sachverständige nur die
dem Gericht nächstgelegenen Ärzte zugelassen, welche von Berufs- und
Amtswegen bereits in der Vorgeschichte des Falles mitwirkten und darum
ebensowenig wie der Schwurgerichtshof „die idealen Bedingungen zu
vollkommen unbefangener Rechtsfindung“ erfüllen _konnten_. a) Gutachter
I, Gerichtsmedizinalrat Brandt, war derselbe Gutachter, welcher schon
1908 (im Gegensatz zu drei anderen nichtbeamteten Ärzten) den Haarmann
gelegentlich seiner Sexualperversionen für geistig gesund erklärt und
damit vom Irrenhaus freigemacht hatte. Brandt hätte, wenn er jetzt
dieses sein erstes Gutachten umgestoßen hätte, seine „Mitschuld“ an
allen seit 1908 eingetretenen Irrsinnstaten eingestehen müssen. b)
Gutachter II, Gerichtsmedizinalrat Schackwitz, war derselbe Gutachter,
der als Polizeiarzt das im Februar 1924 ihm zugetragene Fleisch
vielleicht nicht falsch, aber jedenfalls nach _nicht genügend exakter_
Untersuchung für „Schweinefleisch“ erklärte und der jedenfalls als
nebenamtlicher Polizeiarzt kein unbedingtes _Interesse_ daran hatte,
eine etwaige Mitschuld der Behörden oder gar seiner selbst scharf und
klar ans Tageslicht zu bringen. c) Gutachter III, Geh. Medizinalrat
Schultze aus Göttingen, war zwar sicher unvoreingenommen; aber _kannte_
die früheren Gutachten, als er das seine abgab (was z. B. nach
englischem Recht nicht zulässig ist). – Ich will absehen von einer
ganzen Reihe von rechtstechnischen Fehlern, die im Laufe des Prozesses
gemacht wurden. Notwendig schien es mir, um der Wahrheit willen diese
grundsätzlichen Bedenken nicht zu verschweigen.


                       Der Ausschluß der Kritik.

Man nahm keinen Anstand, auch bei den Teilen der Verhandlung, während
deren die Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde, die 21 Vertreter der
Presse im Saale zu lassen. Da diese alle nur „Berichterstatter“ waren,
so wurde in der Öffentlichkeit kein Versuch unternommen, das Grauenhafte
geistig auszuwerten; dagegen wurde die ganze Bevölkerung Deutschlands
wochenlang mit dem widerwärtigsten Schmutz und Blöff genährt. Um so
erstaunlicher war der Zwischenfall, der am elften Tage der Verhandlungen
zu einer wüsten, unsinnigen Entladung führte. – Schon in den ersten
Tagen des Prozesses wurden die Verhandlungen wiederholt jäh unterbrochen
durch Ansprachen und Einschüchterungen an die „Presse“, von der man
sachliche – (das hieß aber in Wahrheit: die Mitschuld der Behörden und
Zustände _verschweigende_) Berichterstattung erwartete. Da nach § 176
des Gerichtsverfassungsgesetzes dem Präsidenten die Verteilung der
Plätze im Saale zustand, so konnte dieser androhen, solche Schreiber,
die „unsachlich und unwahr“ berichten würden, von der Verhandlung
auszuschließen. Da jeder im Saal durch Amt, Beruf, Erwerbspflicht
gebunden war, so war es unmöglich, daß die im Solde des Zeitungssystems
arbeitenden Berichterstatter (abgesehen von berufsmäßigen Protesten der
Kommunisten, die in Hannover aber nur eine einzige, wenig einflußreiche
Zeitung besaßen), das öffentliche Gewissen aufpeitschen und dies „Panama
der Kultur“ enthüllen würden. So erhub sich denn während des Prozesses
eine der bänglichsten aller Fragen: Wie weit darf ein Berichterstatter
an der „öffentlichen Rechtsfindung“ (natürlich _nicht_ an der
„Jurisdiktion“) _kritisch mitarbeiten_ und mithin in ein noch
schwebendes Verfahren geistig eingreifen? Ich glaube, daß nur in _einem_
Fall die Gerichtskritik beschränkt werden muß: Wenn sie dazu mißbraucht
wird, um zum Nachteil eines Angeklagten öffentlich Stimmung zu machen;
wie es in Deutschland hundertfach geschieht; handle es sich nun um Max
Hölz oder Maximilian Harden, Ernst Toller oder Adolf Hitler. – Ein
solcher Mißbrauch politischer Zu- und Abneigungen war aber im Falle
Haarmann ausgeschlossen. Daß der Wolfsmensch unschädlich zu machen sei,
stand für jeden von vornherein fest. Sein Kriminalfall hatte
mehr sittliche, kulturkritische und seelenkundliche als
rechtswissenschaftliche Bedeutung. Im übrigen besitzt jeder Gerichtshof
ein einfaches Mittel, um sich vor jeder Beeinflussung durch die
öffentliche Meinung zu schützen. Er braucht sich nur ganz der _Sache_
hinzugeben; nicht rechts und nicht links blickend. Es ist ein tiefes
Unrecht, während einer strengen, sachlichen Arbeit in Zeitungen
nachzulesen, „welche Presse man hat“ d. h. ob der Eitelkeit
geschmeichelt oder ob sie gekränkt wird. Stößt man aber wirklich auf
Geister, mit denen man glaubt sich auseinandersetzen zu müssen, so suche
man _gemeinsame_ Arbeit zu tun. Der anständige Mensch wird lieber
positiv mitarbeiten, als sich kritisch einstellen. Es bedarf also nur
des menschlichen und sachlichen Fühlungnehmens. Gegen diese Grundsätze
sündigte das hannoversche Gericht in fast unbegreiflicher Weise. Man
rechtsprechelte fürs Auge. Man versuchte gleichzeitig mit der
Entscheidung der Rechtsfälle auch die Prüflese der „öffentlichen
Meinung“ einzuleiten. Fortwährend brachten Gerichtsdiener die neuesten
Zeitungsblätter. In dem überhitzten Saal, zehn Tage lang von früh bis
spät, unausgeschlafen, überrege und überarbeitet, Stuhl an Stuhl
sitzend, vermochte keiner etwas anderes zu erfühlen als nur sich selber.
Aus Karriereehrgeiz, Wissenschaftsdünkel, Selbstgerechtigkeit und
Gottähnlichkeitsgefühlen ballte sich über den wenigen noch besonnenen
Häuptern allmählich eine dicke Wolke von Mißwollen, Unbehagen,
Feindseligkeit und Angst zusammen, so daß der schließliche Donnerkrach
vorauszusehen war. Ich darf hier einige persönliche Bemerkungen nicht
zurückhalten. Ich hatte, indem ich aus Vorliebe für Seelenkunde dem
Verfahren beiwohnte, nicht im mindesten die Absicht, diesen Rechtsfall
zu schulmeistern. Das Gebiet war so abstoßend ekelhaft, daß ich
freiwillig niemals mich dareingemengt hätte. Aber da ich nun einmal für
deutsche Zeitungen das Schreiben von Berichten übernommen hatte, so
wurde ich durch, bis zu Beleidigung und persönliche Bedrohung mälig
fortschreitende _Einschüchterungsversuche_ durch das hannoversche
Gericht selber, in immer gespanntere Haltung _hineingedrängt_. Man hatte
mich zugelassen, erstens, weil man kaum mehr als den Namen von mir
kannte, zweitens, weil man von einem beamteten Hochschullehrer nicht
eben eine Kritik der Behörden seiner Heimatstadt erwartete; drittens,
weil man von der keineswegs „radikalen“ Presse, die zu vertreten ich
übernommen hatte, am wenigsten die nachmals doch als notwendig sich
ergebende scharfe Beleuchtung der verrotteten Zustände befürchtete. Man
wäre jeder möglichen Rücksicht von meiner Seite gewiß gewesen, wenn man
sachlichen Willen zur Wahrheit bewiesen und mir nicht vor Augen gestellt
hätte das traurige Kleinstadtschauspiel gekränkten Juristenehrgeizes,
medizinischer Selbstgerechtigkeit und amtlichen Machtmißbrauchs; das
Schauspiel eines aufgescheuchten Ameisenhaufens, der den störenden
Fremdkörper stechend und säurespritzend zu entfernen trachtet. Nicht
einmal die unter durchbildeten Menschen selbstverständlichen Formen
wurden leidlich gewahrt, sondern sobald die ersten verfänglichen
Berichte im Gerichtssaal nachgelesen wurden, begann eine ungeheuerliche
In-Acht- und Bann-Erklärung Aller gegen Einen. Nach mehreren ähnlichen
Zwischenfällen, bei denen mir die Entfernung aus dem Saale angedroht
wurde, wenn ich meine Überzeugung weiterhin zum Ausdruck brächte, zückte
endlich am elften Tage der vernichtende Blitz, indem die
Sachverständigen sich weigerten, ihre (mir übrigens schon bekannten)
Gutachten in meiner Gegenwart abzugeben; die Staatsanwaltschaft sich
durch meine Berichterstattung beeinträchtigt, die Verteidiger sich für
beleidigt erklärten; der Vorsitzende aber mich anherrschte: „Sie sind
hier als Reporter zugelassen, nicht als Schriftsteller. Wir können im
Gerichtssaal keinen Herren dulden, der Psychologie treibt.“ – Ich wurde,
da ich mir ruhig und sachlich diese Beeinflussung verbat, aus dem Saale
hinausgewiesen. An den Vorgang knüpften sich lange Zeitungskriege, indem
von der einen Seite meine Person herabgewürdigt, die Öffentlichkeit, die
Hochschule, die Studentenschaft, sogar das Kultusministerium aufgehetzt;
von der anderen Seite dagegen mein Handeln mit Zolas oder Voltaires
Kriminalkritik verglichen wurde, _beides_ wohl nur Beweis dafür, daß
eine naturlos-unmenschlich gewordene Rechtsmaschinerie zwar jede
„Tendenz“ der Hexe Politik, jede Selbstüberhebung des blinden Riesen
Wissenschaft verzeiht, daß sie jede Sprache der Absichten oder der
Zwecke begreift; eines aber niemals: Das natürliche Gefühl des
menschlichen Herzens.


                            Das Todesurteil.

Nachdem die Sachverständigen ihre Gutachten dahin abgegeben hatten, daß
Haarmann zwar eine „pathologische Persönlichkeit“, nicht aber des
„freien Willens“ und der „Verantwortungsfähigkeit“ bei Begehung seiner
Taten beraubt gewesen sei (sintemalen weder „Absenzen“ vorlagen, noch
auch „Epileptische Äquivalente“, noch auch ein „Manisch-depressives
Irresein“, endlich auch weder „Schwachsinn“, noch „Hebephrenie“), so
begannen denn die Plaidoyers. Das des Oberstaatsanwalts: klar
und maßvoll; alles Wesentliche zusammenfassend; das des
Haarmannverteidigers: unsachlich, wichtigtuerisch und kenntnislos; das
des Gransverteidigers: sachlicher, aber recht ungeschickt und
unbedeutend. Das Verhalten der beiden Angeklagten blieb das Gleiche: das
eines alten eingekesselten Wolfes und das eines jungen in tückische
Falle geratenen Fuchses. Der Wolf, blutige Tränen vergießend,
Bibelsprüche zitierend, alle seine Bluttaten aus der „Ungunst der
Verhältnisse“ erklärend, suchte zu beweisen, daß er unter günstigeren
Umständen auch einen vortrefflichen Polizeihund hätte abgeben können und
daß in seiner Unmoral eigentlich auch Moral verborgen läge; der Fuchs
dagegen sammelte alle Kraft auf den Versuch, mit Hinterlassung einer
Pfote oder des eingeklemmten Schwanzes wenigstens mit dem Leben
davonzukommen. Auch ihr gegenseitiges Verhältnis blieb bis zum Schlusse
das gleiche: Der Wolf, den jüngeren bedrohend und doch um Gemeinschaft
werbend; der Fuchs eiskalt, bleich, lauernd, sich dieser
Todesbruderschaft erwehrend. Am 19. Dezember, morgens 10 Uhr, wurde das
Urteil verkündet: Haarmann wurde in 24 Fällen 24 Mal zum Tode
verurteilt. Grans wurde wegen Anstiftung zum Morde (im Fall Hannappel)
zum Tode und wegen Beihilfe zum Morde (im Fall Wittig) zu 12 Jahren
Zuchthaus verurteilt. Haarmann nahm das Urteil an. Grans meldete seine
Rechtsrüge.


                               Ergebnis.

Mären von Wolfsmenschentum und Vampirismus reichen zurück in die fernste
Vorzeit der heute lebenden Völker. Sie sind überall mit Sexualmythen
verknüpft gewesen. Um das Wiederauftauchen der „Lykandrie“ inmitten der
abendländischen Zivilisationsmenschheit zu klären, muß man wohl ausgehen
von solchen Naturspielen, in denen noch Liebesleben und Todessehnsucht,
Wille zur Vernichtung des anderen und Wille zum Selbstvernichtetwerden,
ja Mördertum und Zärtlichkeit wunderbar ineinander spielt, wie bei den
schönsten Geschöpfen der Natur: Schmetterlingen und Insekten. – Wie es
zu vermuten steht, daß in Haarmann auch ein beständig mit dem Leben
spielender Wille zur Selbstauflösung lebendig ist – (hatte ich doch
zuweilen den Eindruck, als ob er sich vom „Hingerichtet werden“ einen
letzten Orgasmus verspreche) –, so darf man durchaus glauben, daß dieser
gefühlstote Mensch im „Liebesrausch“ eine ihn selbst auslöschende und
ihn weit über seinen Alltag hinausreißende Überspannung erlitt,
wehrloser und schicksalhafter, als der orgiastische Zustand eines mit
„Hemmungen“ versehenen Kulturmenschen, für welchen ja auch Liebe und
selbst Verbrechen eine Art leichtes Sinnenspiel und behagliches
Genußmittel geworden ist. Gerade daß die ursprünglich überstarke
Geschlechtlichkeit dieses Androgynen und Androlyken völlig erschöpft und
verausgabt wurde, macht es begreiflich, daß er gleichsam nur aus dem
untersten Bodensatz hervorzuholen vermochte die Urerbschaften einer
versunkenen Gattung, für welche ursprünglich der Trieb des
Sicheinbeißens und Verschlingens (auch des Sicheinverleibens „fremder“
Natur in Form des Essens und Trinkens) ein das Einzelwesen
auslöschender, auf ursprünglichste Mitahmung zurückführender
dionysisch-(„zagrystisch“) erotischer Akt war. Wir wissen nicht einmal,
ob nicht selbst das Sichzerreißen der Tiere irgend ein natürliches
Wollusterlebnis in sich schließt, so daß, wenn der Wolf das Lamm würgen
muß, man ebensogut sagen könnte: Er liebt, wie: er haßt die Lämmer. Ich
erinnere mich eines Hundes, der getötet werden mußte, weil er triebmäßig
bestimmte andere Hunde (und zwar immer Hunde von gleicher, schon sehr
degenerierter Art wie er selber) anfiel und würgte, bis sie tot waren.
Dabei zeigte sich an dem Tiere zweifellos geschlechtliche Erregung. Bei
solchen Erscheinungen müßte eine biologische Erklärung einsetzen, die
seelenkundliche müßte das Traumleben, die Jugendumgebungen, das
Spielzeug und die Wunschvorstellungen der Kinder- und Jünglingsjahre
viel genauer erforschen, als die Schulpsychologie und -medizin von heute
das vermag. –

   „Und jedermann mordet sein liebstes Ding,
   Damit ihr es alle nur hört,
   Der eine tuts mit bösem Blick,
   Der andre mit Schmeichelwort,
   Der Feigling tuts in einem Kuß,
   Der Held mit seinem Schwert.“ ...

So verklingt der Aufschrei des in Zuchthäusern verunzüchteten Lebens in
Oscar Wildes Ballade. Daß aber Tod und Liebe, Eros und Eris,
ursprünglich verschlungen sind, ist Gerechtigkeit der Natur, welche
fordert, daß höchste Bestätigung auch Vollendung sei. Auf den Gipfeln
erhabener Erotik brauchen freilich Schicksalsergriffene nicht wie in der
vormenschlichen Natur noch den Lustmord aneinander zu begehen, denn hier
ist die Naturmacht zu solcher Seelengewalt geworden, daß sie das
Schicksal zwingt, zu töten, wie Überragendes den Blitz auf sich zieht.
Daß aber die sogenannt höheren Geschöpfe und zumal der Mensch ihre
Liebesakte zeitlich überdauern und überstehen, gleichsam eigenste
Selbsterfüllung überlebend, wird zweifellos erkauft mit der Minderung an
Sättigungskraft erotischen Lebens, ja, diese Entsinnlichung dürfte
innerhalb des „Kulturprozesses“ schon eingetreten _sein_, damit eben
Hemmungen überhaupt wirksam werden _können_. Wir normalen und
beherrschten Menschen haben uns den vormenschlichen Triebdämonen wohl
weniger durch „Sublimierung“, als durch die geistbedingte (d. h. Logos-
und Ethosbedingte) wachsende Abkältung der Erdkraft entzogen. Nun kommt
noch einmal durch eine Art Regiefehler ein Naturspiel wie dieser
Triebmonomane in eine Schicht von Lebewesen, wo nur mittlere
Temperaturen des Eros die Bürger-Rechte haben. Nicht schon schicksalhaft
und todverbunden mit religiösen, mythischen, enthusiastischen Mächten
und andererseits nicht mehr tief genug stehend, daß Tod und Wollust von
Natur aus noch zusammenfallen, scheint er unter riesigem Triebdruck doch
gezwungen, dem großen Liebestodgesetze scheußliche Treue zu wahren;
„scheußlich“ nur deshalb, weil in einer selber verfratzten und
depravierten „Kulturmenschheit“ auch das Naturantlitz nur in Form der
Fratze und Entartung durchbrechen kann. – Denn wie der Hund, das typisch
moralisch-altruistische Geschöpf nur geschwächte und ausgeprügelte
Wolfsnatur darlebt, so scheint auch die _Moral_ der Kulturmenschheit nur
eine Art versetzte und „veredelte“ Wollust zu bergen, so daß nach dem
Gesetz des Pendels das höchste Ausmaß auf der einen Seite sogleich nach
der anderen Seite hin umschlägt, wie denn moralische Fanatiker gleich
Torquemada, Dante, Robespierre etwas Wölfisches haben und der wüste
Amokläufer etwas vom christlichen Heiligen. Dieses Wolfstum bei Radio
und Elektrizität, der Kannibalismus in feiner Wäsche und eleganter
Kleidung, dürfte somit ein Merkmal sein für die Seele der
abendländischen Wolfsmenschheit überhaupt; im Kleinen noch einmal das
Selbe wiederholend, was im Großen darlebten fünf Heldenkriegsjahre, in
denen jegliches Werktum des Mordens und jeder Wohlstand seelischen Todes
im Dienste des Wolfsherzens und der Wolfsmoral stand und die älteste
Erkenntnis wieder die jüngste ward: „Homo homini lupus e natura“, der
Mensch ist dem Menschen von Natur der Wolf. Ich habe 1914 in einem
Lazarett einen Menschen behandelt, dessen Ruhm und Glück es war,
wiederholt an Wachtposten der Feinde herangeschlichen zu sein und sie
mit den Händen erwürgt zu haben; _dessen_ Brust aber – schmückte das
Eiserne Kreuz. – Die Frage, ob es sich in einem solchen Falle um
„Irrsinn“ handle, oder ob der Mensch vor den Gesetzen verantwortlich
sei, scheint mir müßig und sinnlos. Der Irrsinn liegt oft im Tun selbst.
Dabei bleibt natürlich der wachbewußte Oberbau, abgeschnürt vom
Triebvampirismus, völlig unversehrt. Es fehlen in solchen Fällen alle
stabilisierenden Hemmungen (das was man bei „Zurechnungsfähigkeit“ eben
voraussetzen muß). An ihre Stelle traten wieder wie beim Tier die
automatischen Triebreaktionen, alle jene „Stereotypien“, für welche die
Sachverständigen kein Auge hatten. Man kann mir nun freilich einen
naheliegenden Einwand machen: Haarmann mordete ja nicht _zwecklos_. Er
war nicht _reiner_ „Triebverbrecher“ (so wenig wie Grans reiner
„Intelligenzverbrecher“ ist). Er hat in mehreren Fällen möglicherweise
auch ohne Geschlechtsrausch aus Besitzgier, Rache, Angst vor
Mitwisserschaft gemordet. Dazu aber muß Folgendes bemerkt sein: Eine auf
der Grundlage teilweisen Schwachsinns jahrzehntelang eingeschliffene und
gewohnheitsmäßig gewordene Triebneurose wird selbstverständlich zuletzt
nicht eben wählerisch vorgehen. Haarmann tötete schließlich so leicht,
wie er sich die Stiefel putzte. Ja, das Töten in Heimlichkeit (wir
werden sogleich sehen, daß diese _Heimlichkeit_ wesenhaft zur
Triebwollust mit gehörte) vielleicht sogar schon das Hantieren mit
Leichenteilen (man kennt ja bei Infantilen solche Fälle von
„Nekrophilie“) wurde für Haarmann allmählich von schauerlichem _Reiz_.
Ich kann mich nicht enthalten, einige tiefschürfende Worte Nietzsches
hierher zu setzen: „So spricht der rote Richter: ‚Was _mordete_ doch
dieser Verbrecher? Er wollte rauben.‘ Aber ich sage Euch: seine Seele
wollte _Blut_, nicht Raub: er dürstete nach dem Glück des Messers. Seine
arme Vernunft aber begriff diesen Wahnsinn nicht und überredete ihn.
‚Was liegt an Blut!‘ sprach sie; ‚willst du nicht zum mindesten einen
Raub dabei machen? Eine Rache nehmen?‘ Und er horchte auf seine arme
Vernunft, wie Blei lag ihre Rede auf ihm. – Da raubte er, als er
mordete. Er wollte sich nicht seines Wahnsinns schämen.“ (Es hat
sicherlich Stunden gegeben, wo sich der Wolf vor dem jungen Fuchs
_schämte_, daß er mordete, _ohne_ dabei auf „die Kleider zu achten“.) –
Dem hannoverschen Gericht und seinen Sachverständigen schreibe ich aber
auch die folgenden Worte Nietzsches ins Stammbuch:

„Was ist dieser Mensch? Ein Knäuel von Krankheiten, welche durch den
Geist in die Welt hinausgreifen; da wollen sie Beute machen. Aber dies
will nicht in Eure Ohren; Euren Guten schade es, sagt Ihr mir, aber was
liegt mir an Euren Guten! Vieles an Euren Guten macht mir Ekel und
wahrlich nicht ihr Böses. Wollte ich doch, sie hätten einen Wahnsinn, an
dem sie zu Grunde gingen, gleich diesem bleichen Verbrecher. Wahrlich,
ich wollte ihr Wahnsinn hieße Wahrheit oder Treue oder Gerechtigkeit.
Aber sie haben ihre Tugend, um lange zu leben und in einem erbärmlichen
Behagen.

Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann. Eure
Krücke aber bin ich nicht.“ – –

                   *       *       *       *       *

Ich will nunmehr auf einen wesentlichen Punkt hinweisen, der von den
Seelenerratern des hannoverschen Gerichts gleichfalls recht mißkannt
wurde: Die scheinbare Motivlosigkeit vieler Mordtaten. Ich habe bereits
bemerkt, daß das Suchen nach Beweggründen außerhalb der Geschehnisreihen
durchaus hinauskommt auf den logisch-ökonomischen Zwang, das geballte
und unausmeßliche Schicksal künstlich zu _verengern_, um es faßbar zu
machen für begreifende Orientierung. Es dürfte in Wirklichkeit niemals
eine Tat aus _einem_ Motiv geschehen. Es würde aber auch keineswegs
gegen die Möglichkeit von Taten sprechen, wenn überhaupt keine Gründe
für sie auffindbar wären, wie denn der Wolf das eine Mal das Lamm ohne
Not zerreißt, das andere Mal, obwohl das Zerreißen zu erwarten wäre,
grundlos an ihm vorüberblickt. – Die eigentümlichste Ungewißheit aber
obwaltet in solchen Fällen, wo gerade die Dunkelheit und der Reiz, den
das Heimliche und Bodenlose ausübt, _selber_ zum Urgrund von Taten
geworden ist. Unverkennbar ist diese Motivationslosigkeit bei manchen
Formen des Giftmordes. Ich möchte dafür folgendes im zweiten Kriegsjahr
1915 selbst erlebte Beispiel anführen. Ich befand mich im ärztlichen
Dienst in einem mit fünfhundert Schwerverletzten belegten Lazarett. Es
waren besonders viele russische Gefangene dort. Als Dolmetscher in der
russischen Abteilung arbeitete ein junger Balte (20jährig, freundlich,
gefällig, hilfsbereit, scheinbar der ideale Krankenpfleger und Helfer,
daher allgemein beliebt und von Kranken, Schwestern, Ärzten als
allgemeines „Faktotum“ geschätzt). Es fiel auf, daß unter den Russen
viele Todesfälle vorkamen, die aus dem Wesen der Krankheit nicht zu
erklären waren. Als diese dunkle, todbringende Epidemie nicht nachließ,
kam man schließlich auf den Verdacht, es müsse sich um Vergiftungen
handeln. Die Toten wurden ausgegraben; im Magen wurde Arsen
nachgewiesen. Gleichzeitig wurde festgestellt, daß aus dem Giftschrank
des im Lazarett befindlichen Laboratoriums Giftstoffe entfernt waren.
Die Oberschwester führte zu den Schränken des Arbeitsraumes die
Schlüssel. Sie konnten nur an die Ärzte nach Genehmigung des Oberarztes
ausgehändigt werden. Es war nun aber einige Male geschehen, daß, wenn
ein Medikament nötig war, wir unseren Vertrauensmann, Oskar, eben den
jungen Balten, zu der Oberschwester mit der Bitte um einen Schlüssel
geschickt hatten; bei dieser Gelegenheit konnte der junge Mann wohl an
den Giftschrank herangekommen sein. Als die Untersuchung eingeleitet
wurde, war der Balte verschwunden; als das ganze Haus nach ihm abgesucht
wurde, kam eine Ordonnanz kreidebleich und meldete, auf dem Boden in den
Sparren des Dachwerks hänge Oskar. Er war bereits tot; die Untersuchung
blieb ergebnislos, doch zweifelte niemand, daß dieser bei allen beliebte
junge Mensch in etwa zwanzig Fällen seine eigenen Landsleute, zu denen
er übrigens nicht die mindeste Feindseligkeit zeigte, ohne jeden Zweck
und Sinn durch Beimischung von Gift in ihre Speisen langsam getötet
hatte. Damals im Kriege machte man sich angesichts solcher Rätsel nicht
allzu viele Kopfschmerzen. Die meisten beruhigten sich mit dem
Schlagwort: „Sadismus.“ Sie erklärten sich den Fall so, wie man etwa bei
schlecht gearteten Kindern oft die Neigung zu grausamen Tierquälereien
bemerkt: die Kinder beobachten halb mit Schauer, halb mit widerwilligem
Entzücken die Zuckungen des gequälten Geschöpfs. Sie werden bei solchem
Herumproben von Neugier und Entsetzen weiter und weiter getrieben. Auch
mochte jene medizinische und wissenschaftliche Wichtigmacherei, die sich
in einem Spielen mit Menschen und Menschenschicksal selbstbehagt, an dem
lichtscheuen Treiben des jungen Balten einigen Anteil haben. Aber indem
ich mir den Menschen wieder vergegenwärtige, seine bescheidene
Eitelkeit, wenn man ihn lobte („Der hats hinter den Ohren“; „In dem
steckt mehr als man ihm ansieht“), so scheint es mir sehr möglich, daß
ausschließlich die Spielerei mit dem Dunkel und ein Reiz des
Geheimnisses diesen Burschen aus verschlagenem Ehrgeiz zum Massenmörder
gemacht hat. – Im Falle Haarmann aber stieg der Reiz des Heimlichen auch
noch aus anderen Triebwurzeln; nämlich aus jener Sinnlichkeit, die man
wohl ein _entpersönlichtes_ Liebesleben nennen könnte. Musterfall
dieser Entpersönlichung ist die Onanie, an welcher sowohl die
Persönlichkeitslosigkeit des Gefühls wie der Reiz der Verborgenheit zu
haften pflegt. Die größte Qual, die man Haarmann antun konnte, war die,
daß man ihm die Bilder der Opfer vorlegte, ihm von seinen Knaben
erzählte und sie ihm persönlich nahe brachte. Sie waren für ihn immer
nur „schöne Jungens“, von deren Persönlichem er so wenig wie möglich
_wissen_ wollte, denn bei genauer Bekanntschaft (wie bei Grans) verlor
sich der generelle Trieb, welcher darauf ausging, die jungen Körper ganz
Unbekannter in Verborgenheit zu packen, zu zerreißen, zu verzehren. –
Ich habe in der „Symbolik der Gestalt“ (Verlag Niels Kampmann Berlin,
1925) ausführlich aufgezeigt, daß Merkmale von Sinnlichkeit nichts zu
tun haben mit Erotik im Sinn des persönlichen Lebens. Im Gegenteil: die
eigentlich _sinnlichen_ Naturen sind niemals starke Erotiker und auf
immer unfähig, an einer lebenausfüllenden Leidenschaft haften zu
bleiben. Es besteht aber die beachtenswerte Tatsache, daß die generelle
„libido“ gebunden ist an die Werkzeuge der ursprünglicheren _Nah_sinne
(wie z. B. an Schmecken, Riechen, Ergreifen, Küssen, Saugen usw.);
während Auge und Ohr als Bild- und Fernsinne eine stärkere Beziehung zum
einmalig persönlichen und eine minder nahe Beziehung zum geschlechtlich
generellen Seelenleben haben; womit manche physiognomische Anhaltspunkte
gegeben sind. (Die unsägliche Ahnungslosigkeit gegenüber
charakterologischer Forschung kam darin zum Ausdruck, daß man keinerlei
physiognomische Untersuchung des Haarmann vornahm. Es ließ sich aber das
schwächere Ausmaß des Mittelhirns im Vergleich zu Vorder- und
Hinterhaupt, sowie das Überwiegen der Nahsinne über die Fernsinne schon
vom bloßen Sehen ziemlich sicher vermuten.) Man könnte eine Art
„Kompensation“ suchen, in dem merkwürdigen Umstand, daß dort, wo eine
kahle, traumlose Geschlechtslust herrschend geworden ist, sehr leicht
Berührungsangst und Nähescheu sich zu entwickeln pflegen. Bei Haarmann
wurde mir auffallend, daß er jedem Wissen um die Personen seiner Opfer
ängstlich aus dem Wege ging; (darum ist für den Seelenforscher besonders
rätselhaft jener einzige Fall, wo er nach Ermordung des 12jährigen
Abeling in Verkleidung die Schwester des Getöteten aufsucht, um sich die
Gesichtszüge des Kindes zurückzurufen). Die gräßliche Traumlosigkeit
seines nackten Trieblebens ging so weit, daß Haarmann außer dem
gemeinsten Allgemeinsten (außer Gefräßigkeit und Geschlechtstrieb)
überhaupt keine _persönlichen_ Sehnsüchte je besaß. Seine Zuneigung zu
Grans war die einzig persönliche, ideale Seite seines Lebens. Nur in
dieser _einen_ Beziehung wuchs er über das Animalische hinaus. Von den
Bergen der Schweiz, die er in empfänglichster Jugend sah, hat er so gut
wie gar keinen Eindruck behalten. Er hatte nicht das mindeste
„Naturgefühl“. Ein Busch oder Baum war ihm nichts anderes, als das
günstige Versteck für Sittlichkeitsdelikte. So wie in der Tiefe der See
ein gefräßiger Kracke alles andere holde Leben ringsum langsam auffrißt,
so hatte die unpersönliche „Sinnlichkeit“ allmählich alle persönlicheren
Inhalte verschlungen. Er besuchte wohl gelegentlich ein Theater, einen
Zirkus oder ein Kino; aber ausschließlich zu dem Zwecke, um „hübsche
Jungen“ zu sehen und wenn möglich, mit ihnen in Berührung zu kommen. Er
hat nie ein Buch angerührt, nie Musik gehört. Politik und öffentliches
Leben waren ihm vollkommen gleichgültig. Er besuchte Sportplätze oder
Bäder nur darum, weil man dort nackte junge Leiber zu Gesicht bekommt. –
–

Die tiefste Schicht im Wesen des Triebverbrechers entdecken wir aber
erst, wenn wir die Natur des dolosen Zweckverbrechens _daneben_ halten.
Wenn man Wahrheit hätte suchen wollen, statt Wahrheit aus dem
Gerichtssaal auszuweisen, dann hätte man gerade aus diesem seltsamen
_Nebeneinander_ viel lernen können. – Eine kurze philosophische
Betrachtung bahne uns den Weg.

Gleichwie das Licht und die Flamme, so lange sie umschlossen bleiben vom
Kreislauf des Lebens das allbelebende und erwärmende Urwesen, ja,
vielleicht das Wesen des Lebens selber sind, dagegen sobald sie
abgetrennt und losgelöst der Natur gegenüberstehen, zum schrecklichen
Dämon werden, zum einzigen Element, darin keinerlei organisches Leben
mehr gedeihen kann und welches _alles_ Leben zu verzehren trachtet und
wohl am Ende aller Enden auch verzehren _wird_; genau so ist das, was
wir Menschen den „Geist“ nennen, so lange es umschlossen bleibt vom
Kreislauf des Lebens das allbelebende und erwärmende Urwesen, ja,
vielleicht das zeugende Wesen des Lebens selbst; aber sobald der Geist
sich losreißt vom Naturschoß und als wachbewußte Zweckwelt heraustritt
aus dem träumenden Element des Vorbewußten, so wandelt er sich zum
schrecklichen Dämon, zum kalten Witz, darin keinerlei Seelisches mehr
gedeihen kann und der alles Dumpfe und Schlafende aufzuzehren bemüht ist
und wohl am Ende aller Enden auch aufzehren _wird_. Dies ist nun
das ganze schreckliche Rätsel unseres Zeitalters, unseres
Menschenschicksals, unserer Kultur: Die Loslösung und Unverbundenheit
beider ist da! Der Mensch als ein Stück Naturseele und der Mensch als
zweckesetzender Geist _sind_ auseinander getreten! Das Schauspiel
unserer Erdhälfte ist die Tragödie einer Seele, die nicht mehr Schritt
halten kann mit den Werken und Werten, die sie aus sich selber
herausgestellt hat. Die Werke sind größer und edler geworden als der
Mensch _selbst_. Oder wie ich vorhin sagte: „Der Wolfsmensch mit Radio
und Elektrizität“; das ist die Signatur unseres Lebensalters. Solche
Unverbundenheit des Naturelements mit dem Geistigen zeugt aber nach zwei
Seiten hin eine unvermeidliche Entartung: Entgeistigte, sinnlose,
irrsinnige Natur auf der einen Seite! – Naturlose, seelenlose
Geistigkeit auf der anderen! Dort wo im „modernen Menschen“ noch
Naturtriebe durchbrechen, entbehren sie der eingeborenen Vernunft und
sinnvollen Schönheit, welche überall dort das Leben durchgeistigen, wo
die Wesen noch einverschlungen blieben im kosmischen Ring. Dort aber, wo
der „moderne Mensch“ aus dem Naturelement heraus und in maßloser
Selbstüberhebung der Erde übermächtigend gegenübertrat, da ist er zum
Teufel an ihr geworden. – Wir haben an Haarmann und Grans die
klassischen Schulfälle dieser hoffnungslosen Entzweiung: Hier das caput
mortuum des _entfesselten Bestientums_, dort den nackten, vom letzten
Tröpflein Seele verlassenen, teuflisch leerlaufenden _Intellekt_.

Und es ist nur allzuverständlich, daß diese beiden Pole zur Symbiose
sich aufeinanderpfropften und in künstlicher Vernietung wieder zur
perversen Einheit banden, was von Natur aus heillos auseinanderbrach.
Diese Doppelform der Entartung zeigt sich wie an vielen anderen
Merkmalen vor allem auch an der Stellung der beiden zu Rausch und
Alkohol. Grans ist ein so leerer, ausgehöhlter, vernüchterter Mensch,
daß außerhalb von Nutzzwecken und Absichten seiner Selbstsucht, die
Träume oder Räusche des Blutes für ihn nicht vorhanden sind. Eben darum
ist der künstliche Rausch sein Bedürfnis. Er gibt ihm die einzige
Möglichkeit, von sich loszukommen. Haarmann dagegen ist ein so
triebtierischer, blindwütiger, vergeilter Mensch, daß ihn Alkohol
bleiern traurig macht, wenn er andere auflockert. So etwa wie ein
Blinder das schielende Auge des Taubstummen, der Taubstumme die
krächzende Stimme des Blinden beneidet, so bewunderte hier jeder den
Ausfall im andern: der gerissene Fuchs den Wolfsblutdurst, welcher
zwecklos ins Bodenlose springt; der irrsinnige Wolf aber jene
Fuchsbesonnenheit, die nie etwas ohne Vorteil tut. – – Irrsinn und
Teufelei! das sind die Pole dieser „Besten aller möglichen Welten“ ...


                          Unser aller Schuld.

Wenn in die Gewohnheitsabläufe menschlichen Seelenlebens eine bange
Frage fällt, wie ein Stein in das ausgewaschene Bett eines Stromes, dann
haben wir wunderbar bequeme Streckformen zur Hand, um das Rätsel zu
entwirken, und den Stein des Anstoßes kleinzukriegen. Wir reden von
„Schuld“ und schieben den Bruch unserer Natur, (der eigentlich
hinauskommt auf unseren Bruch mit der Natur), auf unabänderliche
Gesetze, Umstände oder Schicksale. – Ich habe in meiner
Rechtsphilosophie („Wertaxiomatische Studien“, Leipzig 1914, Verlag
Felix Meiner) ausführlich dargelegt, daß der Satz vom zureichenden
Grunde hinauskommt auf eben dieses _Schuldsuchen_ (d. h. daß auch das
Logische vom moralischen _Wollen_ unterströmt ist), wobei (§ 13 „Epochen
der Schuld“) der Mensch zwar langsam, aber unausbleiblich dahin geführt
wird, alle „Schuld“ einzig zu suchen in sich selber: „Jeder ist schuldig
an Jedem, und ich bin der Schuldigste unter allen.“ – –

Wie wir von fremder Seele niemals mehr und niemals anderes wissen können
als was wir eben aus uns _selber_ wissen, so ist an Abändern, Verbessern
und Aufrichten nur gerade so weit zu denken, als wir in unserem eigenen
Leben die _Mitschuld_ am Verhalten des anderen aufzufinden vermögen. So
lange dieses „Selbstrichtertum der menschlichen Gemeinschaft“ nicht die
Grundstimmung der Rechtsfindung geworden ist, bleibt eben alles Urteilen
ein bloßes Quälen und Rachenehmen solcher, die das Glück gehabt haben,
den Zuchthäusern zu entgehen, an solchen, die das Unglück haben, in die
Zuchthäuser hinein zu kommen. Denn was wir alle in jedem Augenblick des
Lebens tun (man braucht nicht mal zu denken an das Millionenmorden,
Rauben, Plündern, Lügen, Ausspionieren, Vergiften in den sogenannten
„_großen_ Zeiten der Weltgeschichte“), ist den Inhalten wie den
Beweggründen nach genau _dasselbe_, was auch Tier, Kind und Verbrecher
tut. Sobald wir aber die „Schuld“ an den Übeln unserer Gemeinschaft
abschieben können auf die _anderen_, so sind wir enthoben allen
beunruhigenden Mitverschuldungs- und Miterleidungs-Erlebnissen. Daher
besteht schon im alltäglichen Leben die Strebung, dort, wo einer Person
unserer Umgebung ein Unfall zustößt, so lange zu forschen, bis wir die
„Schuld“ in ein unrichtiges Verhalten auf _ihrer_ Seite hineinverlegen
können. (Daher in der deutschen Sprache der tiefe Doppelsinn der Worte
„Geschick“ und „Ungeschick“.) So aber fällen wir auch juridische
Urteile. Wir fällen sie zu unserer _eigenen Beruhigung_.

Von allen Ökonomien der Denkfaulheit ist nun das „anathema sit“ die
bequemste Methode. Verbrennen, verketzern, Kopf abschlagen, moralisch
entrüstet sein, das war von jeher die _einfachste_ Auflösung jener
peinlichen Bewußtseinsstauung, daß wir selber einem Irrationalen _nicht
gewachsen sind_.

Auf den theoretischen Gebieten schafft man sich Unbequemes am besten
dadurch vom Halse, daß man die Augen davor schließt, es nicht an sich
herankommen läßt, daß man es zur Not mit irgendeiner Formel abwehrt oder
– aus dem Gerichtssaale herausweist. Auf dem praktischen Gebiet werden
die unangenehmen Selbsterkenntnisse am besten dadurch vermieden, daß man
Problematischem den Kopf abschlägt.

Der Prozeß Haarmann zeigt uns die alte Wahrheit! Es werden Jahrhunderte
kommen, die (aus dem Geiste feinerer Rechtsethik) das Todesurteil für
ebenso unsinnig halten, wie es beispiellos abgeschmackt war, daß ein
moderner Gerichtshof, den ich (wär ich minder verantwortungsbewußt) mit
ein paar Strichen auf immer verlächerlichen könnte, mich aus dem
Gerichtssaal hinauswies mit der Begründung, daß ich „geistig unfähig
sei, seinen Verhandlungen folgen und sie sachlich wiedergeben zu
können“. Die ganze Barbarei unserer Seelenkunde wie unserer Sittenlehre
trat in diesem Straffall scharf an den Tag. Immer wird die unwillkommene
Pflanze ausgerodet (die unter- wie die übernormale), wo doch unsere
Arbeit sein soll: Die Erde besser zu lieben; den Acker edler zu
bestellen. – Die Schlechtgeborenheit und Schlechtgeborgenheit, die
falsche Zeugung und falsche Erziehung, die verkehrte Auslese, der Mangel
an Gesundheitspflege und an Gemeinschaftsseele, die unsinnige
Geistesverwirrung großer Menschenmassen durch Zeitungen, Halbbildung,
Partei- und Staatspolitik (die selbst nichts anderes ist, als das
_organisierte Verbrechen_ und von Staatswegen Das züchtet, was sie von
Privatwegen – wenn es herauskommt – _bestraft_ –), die Armut, der
Schmutz, der Klassenkampf, alles das erzeugt hüben: Wolfsmenschen, und
drüben: die intelligenten Schmarotzer. Das Zuchthaus verunzüchtet sie
zur Homosexualität. Ein sinnloser Strafvollzug mordet in ihnen, was
vielleicht an zarteren Keimen noch da wäre und läßt zuletzt nichts übrig
als die moralische Gehässigkeit und Selbstüberheblichkeit einer jeden
Gruppe gegen jede andere, bestenfalls noch ein mattdumpfes
Solidaritätsgefühl des Einzelnen mit anderen „Außenseitern der
Gesellschaft“.

Nicht aber die Natur schuf die bösartigen Ungeheuer. Der Käfig schuf
sie. Der Mensch ist so anfällig und triebunsicher geworden, daß man auch
den stärksten, kühnsten und klügsten mit leichter Mühe durch ein paar
Tage Käfig zu allem Bösen wie allem Irrsinnigen _bringen_ kann. Wir
haben es also erreicht. Unsere Irrenhäuser liefern Irrsinn. Unsere
Zuchthäuser züchten Verbrecher ...

                   *       *       *       *       *

Am Morgen des 19. Dezember wurde das Todesurteil gefällt. Am Abend
dieses Tages wurde noch einmal Gericht gehalten. Gericht über das
Gericht! Da kamen in einem kahlen Hinterzimmer, bevor sie wieder an ihre
Heimstätten zurückfuhren, die Eltern der gemordeten Kinder zusammen:
bescheidene, gebeugte, tiefgedemütigte Menschen, Klage führend und
Anklage. Es war kein einziger darunter, den die abgeschlossene
Verhandlung Genugtuung oder Gerechtigkeit hatte fühlen lassen. Es war
kein einziger darunter, dem die Fragen: „Wie konnte uns das geschehen?
Wodurch? Warum? Wozu?“ irgendwie klarer geworden wären. Nichts als ein
Haufe gallebitterer, verworrener, dunkel grollender und im tiefsten
gekränkter Menschlichkeiten war aus diesem Prozeß hervorgegangen. Sie
hatten mich zu ihrer Versammlung gebeten, weil sie, meine Maßregelung im
Gerichtssaal kennend, eine große Anklage gegen Gericht, Behörden,
Polizei, Regierungs- und Oberpräsidium erwarteten. Ich wußte, wie
nutzlos und hilflos das alles wäre. All die Aufrufe und Anklagen der
unglücklichen Eltern sind denn auch nachmals nur in die Papierkörbe
gewandert und unbeantwortet geblieben. – Ich vermochte nichts, als zum
Gedächtnis für dreißig Kinder, die beim ersten sehnsüchtigen Ausflug in
den lockenden Lebenswald dem Werwolf in den Rachen liefen, so sachlich
als möglich, diese Blätter hier niederzuschreiben ... Zur Zeit, wo das
Buch im Druck erscheint, wird vielleicht das sinnlose Ende des sinnlosen
Dramas vollzogen sein. Menschlich das mildeste (denn hinter aller
Zwangsgier der Wollust brennt stets auch Wille zur Selbstvernichtung);
juristisch, ethisch, sozialpolitisch das dümmste aller Urteile und dem
Wesen der Strafe (die nicht Instinkte ausroden, sondern nutzen und
läutern muß), ganz widersprechend ...

Hinter dem Bahnhof der Stadt Hannover, im totesten seelenlosesten
Steinwüstenbezirk an der Cellerstraße, dort wo die ersten der
geschilderten Morde begangen sind, liegt das Zuchthaus; ein riesiges
Gelände, umzirkt von einer trostlosen Riesenmauer aus roten Backsteinen.
Auf einem Winkel dieser Mauer blüht ein holdes Wunder, das jeder
Hannoveraner kennt: eine kleine Birke, der zarteste und zäheste Baum, so
blond und so bescheiden, so herb und so lieblich, von so verletzlicher
und zarter Rinde und von so zäher und gesunder Wurzel, wie die Kinder
unserer niedersächsischen Landschaft. Sie hat durch ein Wunder mitten in
der baumlosen Steinwüste just auf der roten Zuchthausmauer Wurzel
geschlagen, ein Gruß des guten Lebens, das durch all unser menschliches
Zucht- und Unzuchtelend _doch_ wieder hindurchbricht. Hier nun wird das
Fallbeil stehen und der rote Richter sein sinnloses Amt erfüllen.

Dieser Tag (so habe ich den Behörden meiner Heimatstadt vorgeschlagen)
soll dem Andenken jener dreißig Kinder gehören. In alten Zeiten, als
noch das Erlebnis der Gemeinschuld im Menschen fruchtbar war (etwas
vollkommen anderes als unser jetziger juristischer Begriff von
Kollektivhaftbarkeit), da pflegte, wenn Blutschuld über einer Stadt lag,
ein Werk des Gemeinsinns: Kapelle, Kloster, Denkmal, Baumpflanzung den
Ruf der Bürgerschaft wieder zu entsühnen. Das älteste Bauwerk Hannovers,
die schöne Nikolaikapelle am Klagesmarkt, soll aus solcher Gemeinsühne
entstanden sein. Der Tag, an dem der letzte Wolf unserer Wälder getötet
wird, soll als Buß- und Bettag für die Stadt Hannover gelten. Man hat
(nicht am wenigsten durch die Sensationsreportage des Zeitungsunwesens)
so tief an Scham und Seele der Volkheit gesündigt, daß nun diejenigen,
die für die Gesundheit unseres Volkes sich verantwortlich wissen:
Geistliche, Ärzte, Lehrer, versuchen mögen, auch dieses Grauenvolle
wieder in Würde und Schönheit zurückzulenken. Man soll in den Schulen zu
den Kindern, in den Kirchen zu den Erwachsenen sprechen. Alle
Glocken der Stadt sollen mahnen. Und zur selben Stunde, wo der
schuldig-unschuldige Unhold stirbt, wollen wir die traurigen Überreste
der dreißig jungen Menschen in einen gemeinsamen Sarg betten, mit Blumen
schmücken und auf Kosten unserer Stadt in unsere Erde legen; nicht
verborgen auf einem Kirchhofe, nein! auf einem unserer großen
öffentlichen Plätze. Und wir alle, eine ganze Stadt, werden hinterher
gehen: Senatoren und Magistrat, Bürgermeister, Ämter, Behörden,
Lehrerschaft, Geistlichkeit, Oberpräsident, Regierungspräsident,
Polizeipräsident – nicht um „letzte Ehre zu erweisen“ (das können wir
gar nicht), sondern um gemeinsame _Schuld_ auf uns zu nehmen.

Es hat Könige gegeben, die an dem Tage wo ihr Volk unterlag, sich selber
das Ende bereiteten. Kant hat den Grundsatz ausgesprochen: „An dem Tage,
wo Krieg ausbricht, hat die Regierung sofort freiwillig die Macht
niederzulegen, denn sie hat bewiesen, daß sie Das nicht zu verhindern
imstande ist, was hintan zu halten der ganze _Sinn_ ihres Amtes war.“ –
Es gibt zum Glück auch bei uns noch Beamte, die freiwillig aus dem Amte
scheiden, wenn das Schicksal sich stärker zeigte, als sie selber zu sein
vermochten. Die verantwortlichen Männer Hannovers erwiesen sich nicht
als adelige Männer. – – Man hat die bitterböse Stimmung, die der
Haarmannprozeß hinterlassen hat, damit zu beschwichtigen versucht, daß
man verheißen hat, ihm eine Kette „Disziplinarverfahren“ folgen zu
lassen, durch welche die Mitschuld der einzelnen Subalternbeamten
gesühnt werden solle; man unterlasse diese Komödie, durch die einem viel
zu langmütigen, viel zu schwerfälligen Volke immer wieder Sand in die
Augen gestreut wird; denn wer hat Vorteile daran, daß in einem vom
übelsten Spitzelunwesen und Sykophantentum zersetzten Rechtsstaat zwei
oder drei ungeschickte oder erfolglose kleine Unterbeamte einen Rüffel
davontragen oder auf einen anderen Posten verschoben werden? Nein!
Steigen wir in uns selbst hinab und nehmen die Schuld ruhig auf uns!
Danach aber soll keiner mehr das Recht haben zu fragen: „Wer trägt die
Schuld?“ soll keiner mehr die _andere_ Seite belasten dürfen. Wir gehen
alle in gemeinsamer Elternschaft hinter dem Sarge der durch unsere
Schuld unerfüllt gebliebenen Jugend. Neben dem Mordhaus, wo die Kinder
geopfert sind, liegt ein weiter baumüberblühter Platz. Im Hintergrunde
steht eine Kirche; darin schläft der klügste Mann, den Hannover besessen
hat: Leibniz. Auf diesem Platz wollen wir sie in unseren Boden legen.
Aus unseren Harzbergen holen wir dann Granit, oder besser noch holen aus
unserer Haide einen der großen Findlinge ferner Urzeit. Der diene zum
Denkstein und die Nachwelt lese darauf nur drei Worte:

                        „_Unser aller Schuld!_“



                               Nachwort.


Mein Buch ist abgeschlossen und liegt vor mir, fertig gesetzt. Die
Revision, die der junge Hans Grans einlegte, wurde vom Reichsgericht
verworfen. _Das Todesurteil ist rechtskräftig geworden._

Da ereignet sich soeben ein Umstand, den wohl jedermann, wenn er ihn in
einem Kriminalroman lesen würde, als tolle Phantasie bezeichnet hätte.
Der Bote Lüters, Hannover, Große Wallstraße 3, findet auf der Straße
einen mit der Bezeichnung „Wertbrief“ versehenen und mit einer in Meran
abgestempelten Marke beklebten Briefumschlag, adressiert an Buchhändler
Albert Grans, den Vater des zum Tode Verurteilten. Er befördert das
Schreiben an den Adressaten, der es mir vorlegt. Es ist der folgende
vier Seiten lange Brief des Massenmörders Haarmann.

                                             Hannover, den 5. Februar.


                   Geständnis des Mörders Fritz Haarmann

   Ich habe die gelegenheit, da ich Persönlich peer Auto durch die
   Straße gefahren werde um zur Polizei Präsidium zu fahren, diesen
   Brief der Öffentlichkeit zu geben.

   Ich mögte nicht, das diese Zeilen dem Gericht oder aber der Polizei
   in den Händen gelangen, da ich annähmen muß, dieses der
   Oeffentlichkeit meinen Geständniß vorenthalten wird & dadurch ein
   Unschuldiger Hans Grans durch das Beil des Henkers zu Tode gebracht
   würde. Möge der Ehrliche Finder Gottes Segen bis in Ewigkeit der
   Familie & Kinder bringen. Dieses wünscht Ihnen der zum Tode
   geweihten Fritz Haarmann. Mein volles Geständniß aber werde ich
   Herrn Pastor Hauptmann Gerichtsgefängnis geben. Um das auch dieses
   Schriftstück durch die Oeffentlichkeit geprüft wird und nicht
   verschwindet; _daher dieser Brief_. Also Herr Rechtsanwalt Dr. Lotze
   muß das Schriftstück von Herrn Pastor Hauptmann fordern. Ich Fritz
   Haarmann habe diesen Brief eigenhändig geschrieben, um die Wahrheit
   zu Beweisen, das dieses meine Schrift ist, kennt mein Bruder Adolf
   Haarmann-Fortmüller hier Asternstr. No. 16 meine Handschrift ganz
   genau. _Mein Geständniß._ So war mir Gott helfe, ich sage hir die
   reine Wahrheit u mögte doch so gern mein Gewissen nicht vor Gott
   noch mehr Belasten ich der zum Tode verurteilte.

   Hans Grans, hat mich furchtbar die langen Jahre Betrogen &
   Bestohlen, aber trotzdem konnte ich nicht von Ihm lassen, da ich
   keinen Menschen auf der Welt hatte. Grans sollte mir im Alter eine
   Stütze sein, da ich doch immer für Grans sorgte & ich hätte ein
   gutes Vermögen zusammen gebracht, wenn mir Grans nicht alles
   Fortgenommen hätte. Grans war nicht schlecht, aber sehr
   Leichtsinnig. Grans seine Leichtsinnigkeit ging so weit mit den
   Weibern & Saufereien, so das ich für Grans nur die Melkende Kuh war.
   Aus den Treiben, welches ich mit den Jungen Leuten machte, war Grans
   zu arglos durch seinen liederlichen Lebenswandel. Grans hatte
   überhaupt keine Ahnung das ich Mordete hat nie etwas gesehen. Grans
   wußte nur das ich Pervers war und mit Jungen Leuten harmonirte. Wie
   nun meine Sachen entdeckt wurde betrefs Mord, so wurde ich durch die
   hiesige Polizei genötigt mit Gewalt durch Mißhandlungen Unwarheiten
   zu sagen, aus Angst um das ich keine Mißhandlungen mehr haben
   wollte, sagte ich nachher zu allen ja & habe dann Grans, durch
   Unwahrheit belastet. Meine Schwester Emma & Bruder Adolf welche ich
   um Hilfe rief da die kommen habe ich in Herrn Kommisar Rätz
   gegenwart zu Ihnen gesagt, Emma, Adolf, ich werde hir mit Gewalt &
   Schlägen gezwungen Unwahrheiten zu sagen. Ich habe Frau Witzel
   damals gebeten zu beantragen das ich meine Aussagen vor der
   Staatsanwaltschaft machen wollte, aber leider, ich wurde nicht
   gehört. Dann habe ich Gelogen & habe Grans Belastet um das ich Ruh
   hatte vor der Polizei. Da nun noch die Polizei sagte Grans
   Belastette mich auch noch sehr, dann habe ich, mir gesagt, das
   durfte Grans nicht da Grans zu viel gutes von mir gehabt hatte, je
   mehr ich Schwindelte über Grans je anständiger wurde ich behandelt.
   Betrefs Wiederrufen meine Aussagen vor Gericht mochte ich auch
   nicht, ich dachte nur an Rache an Grans & das ist mir auch mit Hülfe
   der Polizei gelungen. Ich mögte hir Erwähnen Hans Grans der wußte
   von meinen Vorleben nichts. Grans wußte nicht das ich je in einer
   Irrenanstalt war, hat mich betrefs auch nie bedroht, Grans wußte von
   keinen Mord, hat nie etwas gesehen hatte keine Ahnung. Alle die
   Aussagen die Grans machte wurden Grans nicht geglaubt, oder aber so
   gedreht, das Sie Grans Belasteten. Daher Grans seine Worte vor
   Gericht, Haarmann sagt Wahrheit & Dichtung so, sodas mann das nicht
   Unterscheiden kann. Ich, Fr. Haarmann rufe den Himmel zum Zeugen an,
   Grans ist Unschuldig verurteilt. Grans hat sich noch nicht mal der
   Helerei bei mir schuld gemacht. Grans hat mir niemals einen Menschen
   gebracht, welcher mir zum Opfer fiel & hätte Grans gewust das ich
   Mordete dann hätte Grans es bestimmt verhütet. Ich kann diese Schuld
   nicht mit ins Grab nehmen und Rufe meine Mutter zum Zeugen welche
   mir heilig ist & bei Gott ist. Hans Grans ist Unschuldig verurteilt
   durch die Schuld der Polizei & damals aus Rache von mir, weil Grans
   der nur Gutes von mir hatte noch schwer belastete. Nehmt mein
   bischen Leben ich fürchte mich nicht vor den Tod durch das Beil des
   Henkers es ist für mich eine Erlösung, aber stellen Sie sich in der
   Lage von Hans Grans, der muß an Gott & Gerechtigkeit verzweifeln
   durch meine Schuld. Ich wurde mit meinen Lügen geglaubt Grans mit
   seine Wahrheit verworfen. Möge Hans Grans mir verzeihen für meine
   Rache, die Menschheit aber mir meine Morde welche ich in Krankhaften
   Zustande beging. Mein Tod und Blut gebe ich gern zur Sühne in Gottes
   Arme und Gerechtigkeit.

                                                (gez.) Fritz Haarmann.

Meine erste Vermutung, daß dieses Schreiben eine Verulkung sei – (denn
ich hatte einen solchen _Beweis_ für fast alle, sogar für meine
zartesten Seelendeutungen nicht mehr erwartet) hat sich nicht bestätigt.

Gepeinigt von Gewissensqualen in der einzigen Beziehung, die ihm edlere
Gefühle wachrief; gequält von Angst vor der Polizei, die durchaus etwas
herausbringen wollte, wo doch nichts herauszubringen war als nur die
Selbsterkenntnis der eigenen Mitschuld; gemartert endlich von der Pein,
daß es zur Umkehr zu spät sei, daß man einen Widerruf keinesfalls in die
Öffentlichkeit würde gelangen lassen, um nicht die große Schlappe
unserer Rechtspflege einzugestehen, ja daß man vielleicht erklären
würde: „Jetzt ist das Verfahren abgeschlossen und das Urteil
rechtskräftig“; von allen diesen Ängsten gequält, hat der unselige
Mensch diesen Weg gewählt, _um vielleicht durch den Druck der
öffentlichen Meinung die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den jungen
Grans doch noch zu erzwingen_.

Es entstehen nun die Fragen: Kann man ihm glauben? und: Wird man ihm
glauben? Denn natürlich ist auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß ein
an „pseudologia fantastica“ leidender Seelenkranker im Entlastenwollen
gerade so übertreibt wie er zuvor im Belastenwollen übertrieben _hat_.
Und auch damit ist zu rechnen, daß dieser Mann immer neue Tricks
ersinnt, nur um seine Hinrichtung hinauszuschieben. Folgendes aber
scheint mir nunmehr _bewiesen_:

1. Das Urteil des Schwurgerichts Hannover kann nicht befriedigen. Die
Behörden haben vermieden, die eigene _Mitschuld_ klar hervortreten zu
lassen.

2. Es ist bewiesen, daß Haarmann unter dem Druck bestimmter Behörden und
Personen anders ausgesagt hat, als er in einer anderen Stadt, vor einem
anderen Gericht und vor einer anderen Polizei ausgesagt hätte.

3. Das hannoversche Gericht hat ein Fehlurteil gesprochen! Es hat einen
unter den Einflüssen der Zeit verwahrlosten Jüngling zum Tode
verurteilt, einzig auf Aussagen eines Mannes hin, welchen fünf
Irrenärzte für geisteskrank befunden haben. Die den Grans belastenden
Indizien sind sämtlich auch durch In-den-Tag-hineinleben und
Nichtswissen- und Nichtssehenwollen _vollkommen erklärlich_.

Der Prozeß hatte zwei glückliche Zufälle. Erstens: Daß in meiner Person
ein Unbefangener, gegen Schuljuristerei, Schulmedizin und
Schulpsychologie Gleichgültiger zufällig zugegen war. Zweitens: Daß man
diesen nicht dulden konnte und entfernte.

Dadurch machte man mich zunächst mißtrauisch und brachte zweitens auch
in weiter Öffentlichkeit die Befangenheit oder Unangemessenheit des
Gerichtshofes _zu Bewußtsein_.

Für den Gerichtshof und zumal für den Vorsitzenden ist der Ausgang wohl
eine schwere Schlappe: aber dennoch sollen alle für sie dankbar sein.
Denn sie bewahrte unsere deutsche Rechtspflege vor einem durch einen
seelenunkundigen Richterstand und durch eine unerhört unfähige
Verteidigung verschuldeten nun völlig offenkundigen _Justizmord_.

Wenn ich bedachte: Was soll daraus werden?, dann schwebte mir vor eine
grauenhafte Möglichkeit. Haarmann und Grans werden hingerichtet. Nach
ihrem Tode findet man einen Brief. Darin steht Folgendes:

   „Ich habe Rache am Leben genommen. Rache an dem Einzigen, den ich
   mit Wohltat überhäufte und der doch von mir abrückte, als mein
   schlimmes Geheimnis ans Licht kam. Da habe ich noch ein Mal um ihn
   geworben. Ich brachte ihn unter meine Klauen und wartete ab. Weil er
   mich nicht lieben konnte, darum habe ich auch ihn getötet. Zugleich
   war das meine Rache an der Polizei. Sie hat mich mißbraucht, benützt
   und verdorben und dabei heuchlerisch getan, als wolle man mich
   ‚bessern‘. Aber als die Mitschuld klar zu Tage trat, haben alle mich
   fallen gelassen und wollten doch so gern noch ein Mal mit meiner
   Hülfe sich billige Lorbeeren verschaffen für ihre ‚Karriere‘. Sie
   haben mir das Gesäß zerschlagen. Sie haben mir die Hoden gequetscht.
   (Da sieht man Mißhandlung nicht.) Sie haben mich mit dem
   Gummischlauch geprügelt. (Der hinterläßt keine Striemen.) Sie gaben
   mir nicht Ruh, bis ich Das gestand, was sie alle gerne hörten. Da
   hab ich ihnen denn den Triumph verschafft: ‚Wir haben doch was raus
   gekriegt.‘ und habe mit Hülfe der Polizei auch meine letzte
   Schufterei vollendet, das Liebste verdorben, was ich hatte. So habe
   ich alle an der Nase herumgeführt, gerade als sie wähnten, mich
   überwunden zu haben. Meine letzten Lebenswochen habe ich mir
   angenehm gemacht, indem ich mich für Euch angenehm machte. Und habe
   Euch doch nur zum Werkzeug meiner Rache am Leben benützt. Und
   dadurch eben Rache genommen an – _Euch_!! Rache auch am Gericht! Das
   mordet ja nicht wie ich aus Naturzwang. (Denn ist nicht auch
   Todesstrafe ein Morden am Menschen?), nein! das mordet aus Vernunft
   und positivem Recht. Dank der Moral! O Eure Moral! An’s
   Karrieremachen habt Ihr gedacht, meine Lieben. An Euer Urteil im
   Maule der Literaten. An Euch selber habt Ihr gedacht mehr als an die
   _Sache_. Und also war Euch jede meiner Lügen willkommen, wofern sie
   nur versprach, daß der Herr Oberstaatsanwalt
   Reichsgerichtspräsident, daß der Herr Landgerichtsdirektor ein Herr
   _Ober_landesgerichtsdirektor werden möge. Ich nahm meine Rache auch
   an seelenlosen Verteidigern, diesen Opfern ihrer Talare. Brannten
   sie denn vom Willen zur Gerechtigkeit; sie bebten in Angst vor den
   Meinungen der Zeit und der großen Menge. Selbst der Blödeste, sogar
   ein Geschworener oder Schöffe müßte die Wahrheit fühlen, wären nicht
   alle so verblendet durch die Komödie der Ämter und der Amtsröcke.
   Ach und Eure Wissenschaft. Wie vermöchten Eure ‚Sachverständigen‘
   wohl zuzugeben, daß Einer viel klüger sein kann als sie selber und
   dennoch ein Triebverfluchter und dennoch unverantwortlich im Sinn
   ungeschriebener Gesetze. Rache zuletzt am ganzen Volke! Begeistert
   hätte man mich gesteinigt ohne Gefühl dafür, daß ich genau das Selbe
   tat als _Einer_, was Ihr eben nur noch zu tun wagt als _Viele_. So
   bereue ich denn nicht und pfeife auf Eure Pfaffen samt Christentum.
   Ich kenne Euch alle zu gut und weiß wohl, wie es steht mit Eurer
   ‚Seele‘. Ihr bringt mich nicht um; ich kehre wieder, ja ich bin ewig
   mitten unter Euch. Und Ihr selber habt nun gemordet. Mögt Ihr es
   denn wissen: Hans Grans war unschuldig! Nun? Wie stehts um Euer
   Gewissen?“

Dies war meine Furcht. Denn so war Haarmanns stärkster Gedanke in seiner
bösesten Stunde. Aber dieser arme Triebwüstling war ja wahrlich kein
Teufel und mithin auch kein Charakter. Er war nichts als ein im Käfig
verunzüchtetes und von der Gesellschaft mißbrauchtes primitives Tier,
das vor dem Kreuz zusammenbrach und in der Hand eines starken
Seelsorgers leicht hinzubringen wäre zu dem selbstaufhebenden
Sühnewillen, den Schopenhauer nannte ‚unsern _zweiten_ Weg ins Nirwana‘.

Wie wird das Drama nun zu Ende gehen? Im normalen Rechtsstaat müßte nach
Erscheinen dieses hier vorliegenden Buches _das Justizministerium das
Urteil des Schwurgerichts Hannover kassieren_ und den Fall zu erneuter
Behandlung an ein anderes Schwurgericht verweisen. Dieses wird zwar
voraussichtlich das Todesurteil gegen Haarmann bestätigen; sicher aber
das Todesurteil gegen Grans aufheben, falls dieser, was zu hoffen steht,
den Schwindel eines „Gnadengesuches“ (durch das das hannoversche Gericht
seine Verfehlungen zu _verschleiern_ suchen wird) kräftig abweist und
darauf besteht, daß er _nicht Gnade, sondern Recht haben will_. Möglich
aber auch, daß man mit anderen Richtern, anderen Anwälten und
Sachverständigen noch dahinter kommt, daß Haarmann (wofern er nicht dazu
zu bestimmen ist, die _Sühne_, die er sich doch _wünscht_, klar an sich
selber zu vollziehen) in eine Irrenanstalt gehört! Grans dagegen dürfte
für sein Lebensschmarotzertum mit ein, zwei Jahren Gefängnis wegen
Hehlerei hart genug bestraft sein. Er gehe ins Ausland, arbeite und
werde ein _Mann_. Dann wird er sicherlich noch eine angesehene Stütze
dieser Zeit und dieser Gesellschaft.

Hannover, den 8. Februar 1925.

                                                      Theodor Lessing.



                              Anmerkungen.


                                           „Die Brut des Fenrir
                                           Rötet mit Blut
                                           Den Ratsaal der Götter.
                                           Wißt Ihr’s zu deuten?“

                                                             Völu-Spâ.

   Gleichwie man aus wenigen aufgefundenen Knochenresten die ganze
   heute ausgestorbene Tierwelt Amerikas und Australiens wieder
   vorzustellen vermocht hat, so vermag die Psychologie (aus den
   dunklen Resten von Tiermenschentum, die sich erhalten haben inmitten
   der durch Gesetz, Recht, Polizei, Gesellschaft, Sitte und Schule
   ebenso erhöhten als verbogenen Natur) nachträglich zu erschließen
   die Seelenkunde unserer frühesten Vorgeschlechter. – Es ist nun
   gewiß sehr billig, angesichts der hemmungslosen Brutalität von
   Hunger, Wollust und Machtwille sich schaudernd abzuwenden; aber daß
   gerade die Liebesleidenschaften und das Zärtlichkeitsbedürfnis
   wurzelhaft verbunden sind mit dem Drange zum Töten und Fressen
   (nicht etwa zum _Quälen_, nein zum Verschlingen eines begehrten
   Leibes), das läßt uns einen tiefen Blick tun in das Geheimnis der
   Natur, welches man mit dem Worte Grausamkeit ebenso verfehlt wie mit
   dem Worte Liebe (amor) oder Barmherzigkeit (caritas) ... In den
   wenigen Sekunden berauschenden Schauers sinken bei _allen_
   Geschöpfen all die lügenhaften Gewohnheiten der Kultur und alle
   Entstellungen wie Edeltümer der menschlichen Ethik und Logik als
   völlig wesenlos dahin und in der Ekstase wie im Tode werden alle
   gleich und wird alles Eins. Tod wie Wollust sind das Wiederauflösen
   in jene göttliche Sanftmut, daraus wir entstanden sind. Wir haben
   somit an Wesen wie diesem Haarmann Gelegenheit, uns selber in
   primitivster Rohnatur zu studieren; man mag dafür den Begriff
   „Atavismus“ gebrauchen, wenn man nur festhält, daß nicht etwa nur
   das Verbrechen, sondern auch das Genie, ja jegliche Art von
   Begeisterung und Traum auf genau den gleichen Atavismus hinweisen.
   Die Brunst mancher Tiere, die man wohl als ihren periodischen
   Wahnsinn bezeichnen kann, dürfte daher nur ein letztes Überbleibsel
   sein jenes Triebrausches, an welchem das domestizierte und mithin
   zivilisierte Menschentum keinen Anteil mehr hat, weil es, alles
   Elementarische zerlegend oder auf die Ebene: Zeit zerdehnend, die
   todumlohte Bluttrunkenheit vormenschlicher Traumekstase längst
   _ersetzte_ durch zahllose künstliche Nervenanregungen und tägliche
   Lebensaufkitzelungen _vom Bewußtsein aus_.

   Schon Kant hat in der „Naturgeschichte des Himmels“ den merkwürdigen
   Gedanken geäußert, daß die Liebeskämpfe und -Brünste der
   vormenschlichen Erdzeiten unvergleichlich todumdrohter und
   elementarer gewesen sein müßten, „denn mit dem Erkalten des
   zentralen Erdfeuers reifen auch Leidenschaften ihrer langsamen
   Auskühlung entgegen“.

   Noch tiefer hat Nietzsche diesem Gesetz der _fortschreitenden
   Vernüchterung_ nachgespürt; für ihn wurde zur Überzeugung: „Auch die
   Künste und selbst die Religionen sind heute _Narkotika_ des
   überwachen Bewußtseins, durch welche wir genau wie durch Nikotin,
   Alkohol, Geschlechtsrausch uns einen Traumzustand künstlich schaffen
   oder erhalten, welchen das Blut _allein_ nicht mehr hergibt.“

   Im „Untergang der Erde am Geist“ habe ich endgültig und für immer
   klargelegt, daß die sogenannte Kultur selber mit allen ihren Werken,
   Worten und Werten, daß Artefakte, Kunstwerke, Bücher nichts als ein
   einziges _Rausch-Surrogat_ sind; am besten zu vergleichen den großen
   Kohlenfeldern, ohne die wir erfrieren würden, die nichts sind als
   Niederschlag gewesener Sonnenleben und abgeblühter Lenze, uns im
   _wachen Bewußtsein_ Lebenden nunmehr aber künstliche Wärmequellen
   und künstliche Blutwärme zuführen, ohne welche das bis zu abstrakter
   Objektivität, bis zu logomathischer Maschinerie erkaltete
   Bewußtseinstier in sich selber erstarren müßte.

   So frevelhaft und paradox es klingt: ein Geschöpf wie dieser
   Haarmann inmitten eines Gerichts wie dem hannoverschen, wirkte
   zuweilen wie ein Stück Saurierzeitalter inmitten eines Saales voll
   Berufsautomaten und Zivilisationspuppen, welche ja oft
   unmenschlicher sind als jeder „Unmensch“.

   Von der Art, wie in der Tagesliteratur gegen die hier vorliegende
   Darstellung des Haarmannprozesses und den Verfasser Stimmung gemacht
   wurde und sogar schließlich anhängig gemacht wurde ein freilich
   ergebnislos verlaufenes Disziplinarverfahren von seiten der
   Technischen Hochschule in Hannover (an welcher ich seit zwanzig
   Jahren, ohne je Beförderung oder Besoldung erhalten zu haben, als
   Privatdozent diene); davon kann vielleicht das folgende Zitat aus
   der „Deutschen Zeitung“ (vom 24. Dezember 1924) einen Begriff
   bewahren:

   „Aus akademischen Kreisen wird uns geschrieben: Unangenehmes
   Aufsehen erregte in dem Haarmannprozeß in Hannover der Ausschluß des
   Prof. Dr. Lessing von der Technischen Hochschule Hannover aus dem
   Gerichtssaal und die Entziehung der ihm zur Verfügung gestellten
   Berichterstatterkarte durch das Gericht, weil er sich nach den
   Feststellungen der Verteidigung, des Staatsanwalts und des
   Vorsitzenden des Gerichtshofs schwerer Verstöße gegen das
   Grundgesetz jeder Berichterstattung, nämlich der Wahrheitsliebe
   hatte zuschulden kommen lassen. Die Art und Weise, wie Herr Lessing
   seine Pflichten des Berichterstatters auffaßte und der allerdings
   mißlungene Versuch, sich dem Gericht als Psychologe unterzuschieben,
   ist eines akademischen Lehrers in jeder Hinsicht unwürdig. Sie gibt
   Herrn Boelitz, derzeit preußischer Kultusminister, die Veranlassung,
   sich bei seiner ‚Säuberungsaktion‘ der preußischen Hochschulen auch
   dieses akademischen ‚Lehrers‘ etwas anzunehmen und entsprechende
   Schritte gegen seine weitere Wirksamkeit als solcher baldigst
   einzuleiten. Das vorgeschrittene Semester und die Besonnenheit der
   akademischen Jugend Hannovers bewahrte Herrn Lessing vor etwaigen
   ‚Beifallskundgebungen‘. Dafür wird aber erwartet, daß diese
   Angelegenheit baldigst bereinigt wird.“

   Es ist gewiß lehrreich, neben dieses Zitat aus der „vornehmsten
   vaterländischen Zeitung“ einige Sätze aus dem Bericht zu stellen,
   den eine französische Zeitung von dem betreffenden Vorfall gegeben
   hat.

   Le Temps (vom 12. Januar 1925): „Le professeur Théodore Lessing de
   Hanovre, docteur en philosophie et en médecine, un des esprits les
   plus libres, une des plumes les plus alertes du Reich républicain,
   s’était plongé corps et âme dans l’étude de ce cas unique; il avait
   approfondi ses problèmes juridiques, psychologiques, dépouillé
   l’immense dossier au point de le mieux connaître que les avocats de
   la défense. Combatif et irrespectueux il a lumineusement démontré la
   part de responsabilité des autorités hanovriennes, de la police,
   même des experts médicaux et publié les résultats de son enquête
   dans divers organes de gauche. Lessing fut demandé comme expert par
   le premier avocat de Haarmann. Mais le successeur refusa les
   services du spécialiste réputé: ‚Que diable saurions-nous faire
   d’éclaircissements psychologiques? ...‘ M Lessing assista donc aux
   audiences en qualité de journaliste. Le 11 décembre nous eûmes la
   surprise de voir Lessing exclu de la salle, conformément au
   paragraphe 176 de la procédure pénale. On chercha d’abord à lui
   faire entendre raison. ‚Nous ne vous avons pas admis ici comme
   publiciste, mais comme correspondant (Berichterstatter). Vous ne
   désirons pas avoir ici des gens qui se piquent de psychologie ...
   Vous allez donc nous promettre de ne reproduire que ce que nous
   disons!‘ ... Sur son refus, surpris, le brave Landgerichtsdirektor
   Boekelmann, un de ces juristes habitant le ‚ciel des abstractions‘,
   dont se moquait si agréablement Ihering, lui demande navré; ‚Comment
   vous êtes professeur? Est-ce possible? Un professeur, écrivant des
   feuilletons?‘ ... Et le procureur général: ‚... Nous avons des
   sentiments humains (!). Nous ne désirons pas vous priver de votre
   gagne-pain ...‘ On fait venir les experts (le bon billet) pour avoir
   leur avis sur l’état mental de Lessing. Il fut, cela va sans dire,
   moins favorable que celui sur Haarmann, qu’ils trouvèrent malgré
   tout responsable ... Et voilà comment on comprend dans la République
   allemande la liberté de pensée et de parole, le rôle du publiciste,
   les devoirs de la critique, le contrôle de la conscience publique.
   L’autorité des ‚classes dirigeantes‘ doit être sauvegardée au prix
   de toutes les hypocrisies et de toutes les injustices. ‚Perinde ac
   cadaver.‘ Juger une magistrature incapable, accuser une police
   notoirement au-dessous de sa tâche, dénoncer les gaffes de la
   science officielle, voilà le seul crime méritant une sanction rapide
   et efficace. Il fallait assister au procès de Hanovre observer le
   ‚traitement à la corporal‘ des cas juridiques les plus délicats,
   pour saisir le mécanisme mental de centaines de ces jugements
   révoltants prononcés au cours des dernières années de Fechenbach
   jusqu’à Ebert (Magdebourg) par une justice irrémédiablement inféodée
   à Potsdam contre tout ce qui osa représenter Weimar. Pour les deux
   magistratures du Reich, la révolution de 1918 n’a point eu lieu.“

                        [Illustration: Haarmann]

                         [Illustration: Grans]

              [Illustration: Eine Schriftprobe Haarmanns]

                [Illustration: Eine Schriftprobe Grans]



                              In der Sammlung
                       AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT
                     – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART. –
               erscheinen in kürzester Zeit folgende Bände:


   *Band 1:

                               ALFRED DÖBLIN
                        DIE BEIDEN FREUNDINNEN UND
                               IHR GIFTMORD

   *Band 2:

                             EGON ERWIN KISCH
                      DER FALL DES GENERALSTABSCHEFS
                                   REDL

   *Band 3:

                              EDUARD TRAUTNER
                                DER MORD AM
                            POLIZEIAGENTEN BLAU

   *Band 4:

                                ERNST WEISS
                          DER FALL VUKOBRANKOVICS

   *Band 5:

                                 IWAN GOLL
                             DIE ROTE IUNGFRAU
                              GERMAINE BERTON

   *Band 6:

                              THEODOR LESSING
                         HAARMANN, DIE GESCHICHTE
                              EINES WERWOLFS

   *Band 7:

                                KARL OTTEN
                             DER FALL STRAUSS

   *Band 8:

                             ARTHUR HOLITSCHER
                             DER FALL RAVACHOL

   *Band 9/10:

                          P. DREYFUS – PAUL MAYER
                         RECHT UND POLITIK IM FALL
                                FECHENBACH

   Band 11[1]:

                            L. LANIA – HERRMANN
                            DER HITLER-PROZESS

   Band 12:

                              THOMAS SCHRAMEK
                           DER FALL EGLOFFSTEIN

   Band 13:

                              HENRI BARBUSSE
                        DIE MATROSEN DES SCHWARZEN
                                  MEERES

   Band 14:

                                 OTTO KAUS
                            DER FALL GROSSMANN

   Band 15:

                               EUGEN ORTNER
                             DER FALL BERNOTAT

   Band 16:

                               WALTER PETRY
                              DER FALL NÄGLER

   Band 17:

                            FRIEDRICH STERNTHAL
                        DER FALL DER RATHENAUMÖRDER

   Band 18:

                              RENÉ SCHICKELE
                           DIE CAILLAUXPROZESSE

   Band 19:

                                KARL FEDERN
                         DER FALL MURRI-BONMARTINI

   Band 20:

                               KURT KERSTEN
                      DER PROZESS GEGEN DIE MOSKAUER
                            SOZIALREVOLUTIONÄRE

   Band 21:

                               MARTIN BERADT
                            DER FALL HASSELBACH

   Band 22:

                             F. A. ANGERMAYER
                           DER FALL DER PARISER
                             AUTOMOBILBANDITEN

   Band 23:

                                WILLY HAAS
                              DER FALL GROSS

   Band 24:

                           WALTER VON HOLLANDER
                              DER FALL GRUPEN

   Band 25:

                                MAX FREYHAN
                          DER JUWELENRAUB IN DER
                             KÖPENICKERSTRASSE

   Band 26:

                                HANS REISER
                             DER FALL STRASSER

   Band 27:

                           FRANZ THEODOR CSOKOR
                              DER FALL EISLER

   Band 28:

                               E. I. GUMBEL
                           EIN POLITISCHER MORD

   Band 29:

                              EDUARD TRAUTNER
                               DER FALL DES
                         SCHUPOWACHTMEISTERS GERTH

   Band 30:

                              ARNOLT BRONNEN
                             DER FALL VAQUIER

   Band 31:

                               HERMANN UNGAR
                            DER FALL ANGERSTEIN

   Band 32:

                                JOSEPH ROTH
                            DER FALL HOFRICHTER

            Die mit * versehenen Bände sind bereits erschienen.

   [1] Bei den folgenden noch nicht erschienenen Bänden behält sich der
   Verlag Änderungen sowohl der Titel als auch der Reihenfolge usw.
   ausdrücklich vor.

                             Ferner Bände von:

   MAX BROD, OTTO FLAKE, WALTER HASENCLEVER, GEORG KAISER, THOMAS
   MANN, LEO MATTHIAS, JAKOB WASSERMANN, ALFRED WOLFENSTEIN
                            und vielen Anderen.


                  OHLENROTH’SCHE BUCHDRUCKEREI ERFURT


                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen, sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 13]:
   ... ins Land brachte, langsam zerfressend ...
   ... ins Land brachten, langsam zerfressend ...

   [S. 47]:
   ... einem ihm gänzlich unbekannten 13jährigen ...
   ... einen ihm gänzlich unbekannten 13jährigen ...

   [S. 50]:
   ... abgehalten, des Gräßlichste einzugestehen), ...
   ... abgehalten, das Gräßlichste einzugestehen), ...

   [S. 55]:
   ... kurz, die Behörde kennt ihn gar nicht. ...
   ... kurz, die Behörde kennt ihn gar nicht.“ ...

   [S. 63]:
   ... Menschgewordenem „Urbösen“; an die Sagen ...
   ... Menschgewordenen „Urbösen“; an die Sagen ...

   [S. 100]:
   ... darauf hatte sich Haarmann und die Lindner ...
   ... darauf hatten sich Haarmann und die Lindner ...

   [S. 102]:
   ... auch einmal Wurst in Därme, die angeblich ...
   ... auch einmal Wurst in Därmen, die angeblich ...

   [S. 120]:
   ... ausgehende Medizinerpsychologie angesichts ...
   ... ausgehenden Medizinerpsychologie angesichts ...

   [S. 133]: (mehrfache Fälle)
   ... Hemd des gemordeten Spieker. – Hat die ...
   ... Hemd des gemordeten Spiecker. – Hat die ...

   [S. 147]:
   ... des Tisches lag die Zigarrenspitze und die ...
   ... des Tisches lagen die Zigarrenspitze und die ...

   [S. 155]:
   ... „Welcher ist es? sondern man hält ihm das ...
   ... „Welcher ist es?“ sondern man hält ihm das ...

   [S. 204]:
   ... „non quia peccatum sed ne peccetur“). ...
   ... („non quia peccatum sed ne peccetur“). ...

   [S. 204]:
   ... mit langem, nach hinten gekämmten blonden ...
   ... mit langem, nach hinten gekämmtem blondem ...

   [S. 217]:
   ... an die Gesichte seiner Opfer nicht entsinnen ...
   ... an die Gesichter seiner Opfer nicht entsinnen ...

   [S. 250]:
   ... ein daß moderner Gerichtshof, den ich (wär ich ...
   ... daß ein moderner Gerichtshof, den ich (wär ich ...




*** End of this LibraryBlog Digital Book "Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs: Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart. Band 6" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home