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Title: Der Volksbeglücker
Author: Haas, Rudolf
Language: German
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                             Rudolf Haas

                          Der Volksbeglücker



                          Der Volksbeglücker

                                 Von

                             Rudolf Haas



                     Drittes bis zehntes Tausend

                    L. Staackmann, Verlag, Leipzig
                                 1920



Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten

Copyright 1910 by Axel Juncker in Berlin-Charlottenburg



Druck von C. Grumbach in Leipzig



                          Dem Prager Dichter

                           Friedrich Adler,

                     meinem langjährigen Freunde,
                          dankbar zu eigen.



Erstes Buch


1.

Das niedrige Bergland, das Westböhmen von Bayern scheidet, ist eine
liebe, warme Erikagegend, die im Sommer schamhaft errötet, wenn sie
sich hüllenlos in ihrer unberührten jungfräulichen Schönheit dem
glücklichen Entdecker nach langem Sträuben endlich preisgeben muß.

Und er entdeckte und liebte diese frische, keusche Art, der hager
aufgeschossene Junge, der jeden Nachmittag, wenn die Mittelschüler,
vom Unterricht erlöst, den sechstausend Insassen von Neuberg die Ohren
voll lärmten, durch die winkeligen Kleinstadtgassen in den lachenden
Sommer hinauslief, immer denselben Weg, den Hügel hinauf und am Kamm
fort auf schmalen Feldrainen, wo der wilde Quendel blühte und die
blauen Glockenblumen, bis er endlich mitten darin war in der roten
Erika. Stundenlang konnte er dann dort oben liegen, versunken in dem
leuchtenden, bienendurchsummten Teppich, und in die helle, silbern
flimmernde Luft blicken. Soweit er schaute, war nichts als der klare
endlose Luftraum, und nur ganz nahe, dicht vor ihm, standen die
verästelten Blütenbüschel rosenrot vor dem blauen Hintergrund.

Die sonnenweite Unendlichkeit des Sommers war um ihn, und er fühlte
sich wie losgelöst von allem, was mit ihm und neben ihm lebte. Und in
seiner Seele erwachten die uralten Fragen nach dem Woher und Warum,
sein achtzehnjähriges Jünglingsgemüt fragte nach dem Zweck dessen, was
nie einen Zweck hatte, suchte Regel und Plan in dem, was planlos und
regellos entstanden war, wollte einheitliche schöpferische Ordnung in
dem Wirrwarr finden, der sich unbewußt gebildet hatte, wie er sich
bilden mußte nach den starren, toten Gesetzen von Urbeginn. Und gegen
den Kindersinn, der blindlings glaubt und mit ganzer Seele etwas
glaubend fassen will, drang der reifende Verstand des Jünglings an, der
Tatsachen und Beweise für den Glauben forderte. Es ist das ein schwerer
Kampf, der meist in stillen Nächten und verschwiegener Einsamkeit
durchgefochten, langsam heilende Wunden und dauernde Narben zurückläßt.
Glücklich, wer in diesen Tagen einen verständnisvollen Vater zur Seite
hat, der ihn unmerklich und dennoch sicher aus dem Wirrsal leitet.

Fritz Hellwig hatte solches Glück nicht. Sein Vater, ein
Volksschullehrer, war schon vor vielen Jahren gestorben, und unter
der ziellosen Leitung einer überzärtlichen Mutter, die den einzigen
Sohn beständig mit dem lauen Badewasser einer weichlichen Liebe
umplätscherte, wuchs er zum verschlossenen Träumer heran. Während
seine Altersgenossen Trapper und Indianer spielten, den Tomahawk
schwangen und an ihren Lagerfeuern gestohlene Erdäpfel brieten, lag er
im Heidekraut oder saß er in einer dämmrigen Zimmerecke und füllte die
Stube mit Traumgestalten, mit Feen, Zwergen und blonden Königstöchtern.
Deswegen litt er auch mehr als sonst einer darunter, als von der
flimmernden Märchenpracht Stück für Stück der trügerische Flitter
abfiel und der nüchternen, trostlos grauen Wirklichkeit Platz machen
mußte. Und als er mit den zunehmenden Jahren nicht mehr im unklaren
über seine Entstehung bleiben konnte und als er aus den unreif-rohen
Zoten der Mitschüler den Sachverhalt zu ahnen begann, kam ihm das wie
eine Entweihung seiner Mutter vor. Er schloß sich noch ängstlicher ab
und haderte mit der Welt und grollte seiner Mutter, weil sie ihm Lügen
vorgesagt, deren Verlust jetzt so weh tat. Aber mit niemandem sprach
er darüber, hatte keinen Vertrauten und war zu stolz und zu scheu, um
einen Menschen in seine Seele blicken zu lassen. Deswegen hielten ihn
viele für eigensinnig oder hochmütig. Die weinerliche Lehrerswitwe
aber, für die es seit dem frühen Tode ihres Mannes im Leben keine
ungetrübte Freude mehr gab, konnte nur zanken oder seufzend den Kopf
in die ausgearbeitete Küchenhand stützen, und ließ im übrigen ihren
dickschädeligen Jungen unbedingt gewähren.

Auch damals, als er ihr kurz eröffnete, daß er an den Sonntagen nicht
mehr in den Gottesdienst gehen werde. Erst schlug sie zwar die Hände
zusammen und wollte den Grund wissen und was Pater Romanus dazu sagen
werde. Denn sie war sehr fromm und fand den sanftesten Trost in der
frohen Aussicht auf eine Wiedervereinigung mit ihrem seligen Gatten,
indes die leiblichen Reste des unaufhörlich Betrauerten schon längst
in alle Winde verweht waren mit den kühlen weißen Blumenblättern
des Rosenstämmleins, das aus seinem Grabe Nahrung sog zu einem
gedeihlichen Wachstum und fröhlichen Blütentreiben. Daran dachte die
einfache Frau jedoch nicht. Sie glaubte nur den Worten der Sachwalter
Gottes auf Erden und hegte eine grenzenlose Verehrung eben für
jenen Jesuitenpriester Romanus, dem die jungen Seelen der Neuberger
Lateinschüler in Obsorge gegeben waren. Der war von knochiger Länge und
bleicher, fast krankhafter Gesichtsfarbe, aber seine wandlungsfähige
Stimme hatte einen tiefen Orgelklang, wie man ihn von solcher Stärke
in dem kaum gewölbten Brustkasten niemals vermutet hätte, und da er
überdies stets den richtigen Ton zu treffen wußte, ebenso sanft und
süß wie grimmig, hart und leidenschaftlich sein konnte, war es kein
Wunder, daß er als Kanzelredner starken Zulauf hatte. Auch war er zu
christlichem Beistand jederzeit gern erbötig, selbst wenn er nicht
darum angegangen wurde, war dann je nach Bedarf milde, salbungsvoll,
gütig, entrüstet oder ein zorniger Eiferer und hielt für schmerzhafte
Verletzungen und verwickelte Zustände der Seele erbauliche Worte
und heilsame Bibelsprüche bereit wie ein Apotheker seine Salben und
Pflaster, nur daß er seinen Kunden kein Geld, sondern lediglich
die Beichte abverlangte. Doch nahm er diese ins Ohr geflüsterten
Verfehlungen als vollgültiges Zahlungsmittel, und wenn es ihm gelungen
war, einen besonders feisten Sündenbraten aufzugabeln, dann saß er mit
niedergeschlagenen Augen und geneigtem Ohr ohne Regung im Beichtstuhl.
Nur seine Hände bewegten sich, als zählte er Sünde zu Sünde wie ein
Hausherr am Zinstag seine Taler.

Wie so manche Mutter oder Kostfrau der hoffnungsvollen Gymnasiasten
von Neuberg war auch Frau Hellwig eine eifrige Besucherin dieser
Offizin, weshalb sie ihren großen Jungen, der mir nichts, dir nichts
auf die Segnungen der Messe verzichten wollte, auch sofort an den
Religionsprofessor erinnerte. Fritz hatte jedoch auf diese Erinnerung
und auf alle ihre Fragen und Vorstellungen diesmal nur die trotzige
Antwort, er gehe nicht. Denn er scheute sich, die gottesfürchtige Frau
in ihren teuersten Empfindungen zu verletzen mit dem Bekenntnis, daß
er den Glauben verloren habe. Für eine Mutter ihres Schlages konnte es
ja kein größeres Unglück geben als ein gott- und glaubenloses Kind.
Sie ahnte freilich den eigentlichen Beweggrund. Aber viel zu wehleidig,
sich ihn einzugestehen, fand sie sich mit dem spiegelfechterischen
Gedanken ab, daß ihr Trotzkopf von Sohn nur irgendwie gegen den
Religionslehrer aufmucken wollte. So trieb sie’s wie der Vogel Strauß
und war leidlich beruhigt dabei.

Aus dem eigenmächtigen Fernbleiben von den religiösen Übungen
erwuchsen Hellwig übrigens fürs erste keinerlei Verdrießlichkeiten.
Denn Pater Romanus übte in den oberen Klassen keine Überwachung
durch Namenaufruf, sondern fragte lediglich ein paarmal im Jahre
seine Schüler, ob sie auch stets der Sonntagsmesse beiwohnten. Wer
gefehlt habe, solle sich melden. Durch dieses Vorgehen wollte er
dartun, daß keine Spur von Mißtrauen gegen die Wahrheitsliebe seiner
Zöglinge in ihm sei. Doch hatte er eine eigene Überwachung auch gar
nicht nötig, da seine zahlreichen Verehrerinnen eine solche aufs
trefflichste besorgten, indem sie bald klagend bald Hilfe heischend
ihren Beichtiger hinsichtlich des Verhaltens seiner Schüler fortwährend
auf dem laufenden hielten. Das wußten die schlauen Jungen ganz gut und
hüteten sich, ohne triftigen Entschuldigungsgrund eine vorgeschriebene
Andachtsübung zu versäumen. Auf Hellwig, dessen Mutter mindestens
einmal im Monat beichten ging, hatte Pater Romanus schon längst ein
scharfes Auge, weil hier wieder einmal ein Schäflein vom rechten Weg
abirren wollte. Aber er hielt die Zeit seines Einschreitens noch nicht
für gekommen.

Die übrigen Professoren, außer einem, hatten den stillen Jüngling gern,
der stets aufmerksam und in sich gekehrt dasaß, keinen Sittenpunkt
in ihren Katalogen aufwies und mit zähem Fleiß seinen Platz unter
den mittelmäßigen Schülern behauptete. Sie schätzten seine gründliche
Arbeit, und sogar dem Klassenersten Otto Pichler wurde er manchmal als
Muster hingestellt.

Der war das gerade Gegenteil von Hellwig, lachte sich, ein kecker
Draufgänger, in alle Herzen hinein, stieg unverfroren den Backfischen
nach und rauchte heimlich seine Pfeife. Er lernte leicht und mühelos,
war ein ebenso guter Turner wie Rechner, Schlittschuhläufer wie
Lateiner und hielt sich, über alle Tiefen wegtänzelnd, mit prächtigem
Leichtsinn immer an der Oberfläche des Lebens. Seine Mitschüler
räumten ihm wie selbstverständlich eine führende Stellung ein, für
die kleineren Studenten war er ein bewunderter Halbgott und in dem
unschuldigen Tagebuch mancher Fünfzehnjährigen prangte sein Name
als der des endlich gefundenen Ideals. Seine frischroten Wangen
und der anziehende Gegensatz, in dem die lustigen Blauaugen zu den
dunkelbraunen Locken standen, konnten hier unmöglich ihre Wirkung
verfehlen.

Nur Fritz kümmerte sich nicht um ihn, wie er sich überhaupt um
niemanden scherte. Aber gerade dieses verschlossene Wesen reizte den
sieggewohnten Pichler, auf dessen Freundschaft viele stolz waren, und
in mannigfacher Weise suchte er, sich ihm zu nähern.

Da sah er eines Tages -- eine sehr langweilige Unterrichtsstunde war
eben zu Ende --, wie Hellwig das Lesebuch, das er in seiner Freude
über die Erlösung ungestüm zugeklappt hatte, hastig wieder öffnete
und trübselig einen schmierigen Fleck auf den bedruckten Blättern
betrachtete. Neugierig blickte Otto ebenfalls hin und erkannte deutlich
die Überreste einer Fliege, die sich auf irgendeine Weise in das
Buch verirrt und durch das Zuschlagen den Tod gefunden hatte. Fritz
aber zog mit dem Bleistift einen Kreis um die schmutzige Stelle und
schrieb darunter: ‚Zur Erinnerung! Hier habe ich ohne Absicht ein Leben
vernichtet.‘

Pichler war mit seinem Spott sonst gleich bei der Hand. Aber während er
diesem Treiben zusah, kam ihm zugleich mit einer an Rührung streifenden
Gemütsbewegung heftiger als je der Wunsch, Fritz zum Freund zu gewinnen.

An diesem Nachmittage folgte er ihm daher heimlich und fand ihn in der
Erikaeinsamkeit. Mit einer sonderbaren Frage weckte er den Träumer aus
seiner Versunkenheit.

„Hellwig, tut dir nicht auch die schöne Erika leid?“ fragte er.

Der Angeredete schrak zusammen, sprang auf und blickte den als Spötter
bekannten Pichler unsicher an.

„Ist es denn nicht auch Unrecht, Pflanzen zu zerquetschen?“ fuhr dieser
fort.

Eine jähe Röte färbte Hellwigs Wangen. Ganz verlegen stand er da und
fürchtete das Ausgelachtwerden. Als Pichler jedoch ernst blieb und ihm
mit einem herzlichen Blick die Hand entgegenstreckte, schlug er zögernd
ein.

Auf solche Weise erreichte der braunlockige Schwerenöter seine
Absicht und kam in ein engeres Verhältnis zu Fritz. Es hatte
sogar den Anschein, als könnte sich dieses zu einer regelrechten
Jugendfreundschaft entwickeln. So gut schienen die Auffassungen
der beiden zusammenzustimmen. Im letzten Grunde hatte indes
Otto selbständige Ansichten überhaupt nicht. Um sich zu solchen
durchzuringen, war er viel zu bequem und viel zu seicht. Sein
ungemein geschmeidiger Geist ermöglichte es ihm jedoch, sich überall
zurechtzufinden und fremde Meinungen skrupellos zu den seinen zu
machen, insofern dieselben für ihn neu oder überraschend und geeignet
waren, ihren Verfechter in ein auffallendes Licht zu rücken.

Für Hellwigs Entschluß, den Religionsübungen fern zu bleiben, war
er sogleich Feuer und Flamme. Als dieser ihm zu bedenken gab, daß
er selbstverständlich auch alle Folgen tragen und sich insbesondere
bei der nächsten Umfrage des Paters Romanus freiwillig melden müßte,
stutzte er zwar einen Augenblick, fand aber dann diesen Gedanken
großartig und schwor, daß er durch dick und dünn mithalten werde.
Aber Freunde müßten sie werden, denn Arm in Arm mit Hellwig fordere
er sein Jahrhundert in die Schranken. Bei diesen Worten warf er sich
leidenschaftlich an die Brust des Kameraden, und sie gelobten einander
mit Handschlag, nie zu lügen.

Seither unternahmen sie gemeinsame Spaziergänge oder kamen bei
schlechtem Wetter in Hellwigs Zimmer zusammen. Dieses war zugleich
die gute Stube der Lehrerswitwe, die darin ihre besten Möbelstücke
aufgestellt hatte: einen Glaskasten, angefüllt mit goldbemalten
Porzellantassen, Tellern, Zinnkrügen und einem Kruzifix unter gläserner
Glocke, eine vielfächerige Kommode, einen eirunden Salontisch sowie
sechs Polsterstühle, die unter ihren weißen Leinenschutzhüllen aussahen
wie kopflose Damen in Frisiermänteln. In diesem Durcheinander, das
jedoch von den reinlichen Fenstervorhängen, den geflickten Tischläufern
und den gehäkelten Deckchen bis hinab zum Fußboden peinlich sauber
gehalten war, konnten die beiden Jünglinge ungestört ihre Meinungen
austauschen. Denn Frau Hellwig hielt sich gewöhnlich in der Küche
auf, wo sie auch schlief, und erschien nur im Zimmer, um eine Kanne
Kaffee nebst einem Scheiterhaufen von Butterbroten oder Kuchenstücken
hereinzubringen. Dann blieb sie ein Weilchen, lächelte gutmütig zu
Ottos Witzen und lobte ihn, daß er ihrem Traumhans von Jungen den
Hang zum Alleinsein ausgetrieben habe. Dafür erwies sie sich auch
dankbar, und seit sie erfahren hatte, daß Otto der Sohn eines mit acht
Kindern gesegneten Dorfküsters und arm wie eine Maus in dessen Kirche
sei, konnte sie’s nicht unterlassen, ihm beim Weggehen jedesmal etwas
zuzustecken, Kuchen, Äpfel oder ein Stück vom Sonntagsbraten, obwohl
sie’s wirklich nicht zum Hinauswerfen hatte. Sie mußte im Gegenteil
trotz einem Kalkulator rechnen und einteilen, um ihrem Sohne nebst
einer anständigen Lebensführung das Studieren zu ermöglichen. Aber sie
war glücklich, wenn sie jemanden bemuttern konnte, und sagte Pichlern
auch, er solle ihr nur seine schmutzige Wäsche bringen, sie werde sie
ihm rein machen, bügeln und flicken, das gehe mit der ihres Jungen in
einem hin.

„Deine Alte ist wirklich ideal!“ versicherte Otto des öftern,
während sie vor den dampfenden Tassen saßen und die Abtragung des
Scheiterhaufens in Angriff nahmen. Dann kamen sie wieder ins Reden
und ereiferten sich mit glühenden Köpfen und vollen Backen über
Philosophie, Religion und Volkserziehung, während sie die Hände
unablässig nach den gefüllten Tellern streckten, bis der letzte Bissen
vertilgt war. --

Da geschah es, daß Pater Romanus in der obersten Klasse wieder einmal
die bereits seit längerer Zeit erwartete Frage stellte: Ob jemand in
den letzten Monaten die Messe versäumt habe?

Wie der Krampus aus der Schachtel schnellte Fritz von seinem Sitze
auf, stand kerzengerade und schaute dem Professor freimütig ins Auge.
Zögernd erhob sich auch Pichler. Aber er ließ schuldbewußt den Kopf
hängen.

„So, so, der Beste und der Fleißigste aus der Klasse!“ lächelte der
Pater und forschte leutselig nach dem Grund.

„Ich bin freiwillig weggeblieben!“ sagte Hellwig mit fester Stimme.
Seine Augen glänzten wie Stahl, die Nasenflügel bebten.

„Und wie oft, mein liebes Kind?“ fragte der Priester sehr sanft.

„Seit zwei Monaten jeden Sonntag. Ich hab’ es nicht gezählt!“

„Aber Hellwig, was soll das heißen? Wie können Sie das rechtfertigen?“

„Ich habe keine Entschuldigung, Herr Professor. Ich bin nur so nicht
hingegangen!“

„Kind!“ Beschwörend streckte Romanus die Arme aus, als wollte er die
Worte nicht an sich heran kommen lassen.

Mäuschenstill war es in der Klasse. Die Oktavaner in den Bänken hielten
den Atem an und starrten mit ängstlicher Bewunderung auf den stillen,
sonst so wenig beachteten Kameraden und wunderten sich, wie der
Duckmäuser gegen den gefürchteten Lehrer aufzutreten wagte.

Pater Romanus hatte das auch nicht erwartet. Er wußte nicht recht, wie
er sich dazu verhalten sollte. Um Zeit zur Überlegung zu gewinnen,
richtete er seine Augen langsam auf Otto, betrachtete ernst und prüfend
dessen gesenktes Haupt und fragte schärfer:

„Und was ist mit Ihnen, Pichler?“

„Ich ...,“ stammelte der und stockte gleich.

„Wie oft haben _Sie_ gefehlt?“

Otto warf einen scheuen Blick auf die gefurchte Stirn des Lehrers und
sah schnell wieder zu Boden. Sein ganzer Mut hatte ihn verlassen.

„Einmal ...,“ stotterte er zerknirscht.

„Otto!“ raunte ihm Hellwig verwundert zu.

Aber die eindringliche Stimme des Priesters forschte weiter: „Und
warum, liebes Kind?“

Und Otto antwortete tonlos: „Ich war unwohl.“

„Herr Professor, das ist ...“ brauste Fritz auf und schwieg sofort
wieder, als er die klägliche Figur des andern gewahrte.

„Wollten Sie etwas sagen, Hellwig?“ wandte sich Pater Romanus nun
wieder an ihn. Da schüttelte er stumm den Kopf. Wozu den Angeber machen?

Und plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß sich alle Blicke der Klasse
in seiner Person wie in einem Brennpunkt vereinigten. Unerträglich,
wie ein unkeusches Betasten des Körpers, war ihm das. Und mit
einemmal konnte er es nicht über sich bringen, den Beweggrund seines
Fernbleibens anzugeben. Er hatte das Gefühl, als würde er durch ein
solches Geständnis seine Seele nackt zur Schau stellen.

„Nun, Hellwig, haben Sie sich eines Bessern besonnen? Wollen Sie mir
Ihr sonderbares Benehmen aufklären?“

Die sanfte Stimme des Jesuiten rann wie ein süßes Honigbächlein durch
die Stille.

Fritz schwieg, sah ihn an und zuckte nicht mit der Wimper.

„Kind, nehmen Sie doch Vernunft an! Woher nur auf einmal? ... Denken
Sie doch auch an Ihre liebe Mutter!“

Keine Antwort.

„Wollen Sie also den Grund Ihres Benehmens wirklich nicht angeben?“

„Nein!“

Kurz, hart, messerscharf, daß Pater Romanus zurückprallte. Aber er
faßte sich rasch.

„Sie scheinen mir vom rechten Weg abgekommen zu sein,“ sagte er und
strich mit der schmalen Hand über die Augen. „Besuchen Sie mich doch
einmal in meiner Wohnung. Dort können Sie mir alles ungestört sagen.
Das von heute bleibt unterdessen, als wenn es nicht vorgekommen wäre.“

Mit einem leichten Kopfnicken gab er den beiden Schülern die Erlaubnis
zum Niedersitzen und begann mit dem Unterricht.

Kaum war dieser zu Ende, drängten sich die Mitschüler an Hellwig heran,
sagten, daß er ganz recht gehabt habe, wenn’s auch vielleicht einen
Karzer absetzen könne, und wollten wissen, ob er zu Pater Romanus
hingehen werde. Er gab ihnen keine Auskunft, hastete, hochnasig wie
immer, davon.

In seinem Herzen schien etwas in Unordnung geraten zu sein, zuckte,
stach und schmerzte.

Pichler! Ach ja so, das! -- Wie fremd ihm auf einmal der Name vorkam.
Als hätte er ihn viele Jahre nicht gehört.

Plötzlich schritt Otto neben ihm her. Er hatte brennend rote Backen und
war ganz kleinlaut.

„Fritz, -- bist du bös?“ fragte er mit einem verlegenen Lächeln.

Brüsk wandte sich jener ab: „Ach geh, du! Du bist feig!“

„Nein, Fritz, da tust du mir unrecht!“

„Wortbrüchiger!“

„Fritz, ich mußte!“

„Du mußtest? Das ist ja eben die Feigheit!“

„Hör’ doch damit auf, Fritz! Schau’, wenn ich wirklich feig wär’,
hätt’ ich dich jetzt gewiß nicht angesprochen, hätt’ mich viel eher
seitwärts in die Büsche geschlagen. Und -- ist es Feigheit, wenn ich
die Verachtung meines Freundes zu tragen gewillt bin -- meines Vaters
wegen?“

Er machte eine Pause. Hellwig, von der unerwarteten Wendung überrascht,
fand keine Antwort.

„Ja!“ fuhr Otto mutiger fort. „Wegen meines alten Vaters! Ich hab’ doch
nicht wissen können, wie die Geschichte ausgehen wird. Und wenn ich
auch nur Karzer oder eine schlechte Sittennote bekommen hätt’ ... was
dann? Die Nachhilfestunden, die Freitische, die Schulgeldbefreiung --
alles wär’ beim Teufel! Und dann hätt’ ich das Studieren eben einfach
an den Nagel hängen können! Und mein Vater ist so stolz, daß wenigstens
einer von uns achten studieren kann! Die Gründe mußt du mir gelten
lassen, Fritz!“

„Warum hast du mir dein Wort gegeben? Ich hab’s nicht verlangt!“

„Ich war wie im Rausch damals! Du hast mich fortgerissen ... da hab’
ich mir nicht alles so überlegt --“.

„Gut, gut! Aber laß mich jetzt in Ruh’!“

„Und du verzeihst mir, gelt?“

Zweifelnd blickte Hellwig den Kameraden an.

„Otto, -- du kannst mir ja nicht einmal in die Augen schaun!“

Da hob der andere das gesenkte Antlitz. Zwei helle Tropfen rollten ihm
über die Wangen, zeichneten silbrige Streifen darauf.

„Das Mißtrauen verdien’ ich nicht, Fritz!“

Die schmerzliche Spannung in den Zügen des jungen Kato ließ nach. Seine
Miene hellte sich etwas auf.

„Machen wir einen Strich darunter, Otto, wir sind beide Schwächlinge!“

Eilig rannte er fort.

Pichler ging nach Hause. Er schämte sich noch ein wenig und war
doch froh, daß die Geschichte wieder in Ordnung war. Das war ja
ausgezeichnet gegangen. Eine heiße Zuneigung zu Fritz stieg plötzlich
in ihm auf und das Verlangen, ihm etwas Liebes zu tun. Er wußte nur
nicht, was. Und wie öfters schon, faßte er wieder einmal den Entschluß,
ein guter, ganz makelloser Mensch zu werden; sich zu Wissen, Ansehn,
Bedeutung hinaufzuarbeiten. Im Geiste sah er sich schon Stufe um
Stufe erklimmen, angestaunt, beneidet, von vielen umworben. Auf
einen machtvollen Posten gestellt, erwarb er Millionen und verfügte
unumschränkt darüber, beschenkte fürstlich seine Bekannten, half dem
Freunde zu Glück und Ehren.

Immer kühner schwang sich seine Phantasie empor. Als er vor dem
ärmlichen Hause stand, wo ihm ein biederer Spengler Kost und Wohnung
gewährte gegen die Verpflichtung, seine zwei dickköpfigen Buben durch
das Untergymnasium zu lotsen, da wurde es ihm schwer, sich in der
Wirklichkeit zurecht zu finden. Die gehobene Stimmung verließ ihn
aber den ganzen Abend nicht mehr. Seine Ungeduld drängte ihn, mit der
Erwerbung eines umfangreichen Wissens sogleich zu beginnen. Er kramte
in seiner Bibliothek, die sich zumeist aus Bändchen der Reclamschen
Sammlung zusammensetzte, nahm bald dies, bald das in Angriff und fand
keine rechte Ruhe.

Da fiel ihm Kants Kritik der reinen Vernunft in die Hände. Er
hatte das Werk stets unverdaulich und langweilig gefunden, war
trotz wiederholter Anläufe nicht über die ersten hundert Seiten
hinausgekommen. Heute aber beschloß er, sich durch den ganzen
umfangreichen Band durchzufressen. Die Beine unterm Tisch lang
ausgestreckt, das Gesicht zwischen beiden Fäusten, saß er in der
Bodenkammer, die bei besserem Geschäftsgang gewöhnlich einem zweiten
Gesellen des Spenglers zugewiesen wurde, blies gewaltige Rauchwolken
aus einer langen Pfeife und begann zu lesen.

‚Wenn mich Fritz so sähe,‘ dachte er selbstzufrieden und legte sich ins
Zeug, als beabsichtigte er durch eine solche Überwindung dem gekränkten
Freunde ein Sühnopfer darzubringen.

Aber je länger er saß, je schwächer wurde seine Aufmerksamkeit. Auf
dem Fundamente einer Welt der ‚Dinge an sich‘ bauten seine Gedanken
bald wieder prunkvolle Luftschlösser in den Himmel hinein, und die
rosige Zukunftsphantasterei eines ehrgeizigen Jünglings schnitt dem
kategorischen Imperativ der Vernunft eine spöttische Grimasse.

Unterdessen verging Frau Hellwig vor Sorgen um ihren Jungen, der heute
noch seltsamer als sonst war, kein Wort redete und das Abendessen
unberührt ließ. Hätte sie in sein Inneres schauen können, die Sorgen
wären freilich einem großen Mitleid mit dem armen Grübler gewichen.
Schwerblütig, wie er war, legte er dem Vorfall eine übergroße Bedeutung
bei. Er litt nicht so sehr unter dem Verrat Ottos, sondern weil er
sich selbst untreu geworden war und kein Recht mehr hatte, Pichlern
zu zürnen. Denn er war selber feig gewesen. Oder war es etwa nicht
Feigheit, zu schweigen, nur weil ein paar Dutzend Augen auf ihn
geschaut hatten. Wie sollte er der Wahrheit zum Sieg helfen, wenn er
sich fürchtete, sie laut auszusprechen? Beispielgeber hatte er sein
wollen -- und war vor sich selbst fahnenflüchtig geworden. Wessen er
Otto geziehen, er selbst hatte es begangen -- und besaß nicht einmal
eine Entschuldigung dafür.

So peinigte er sich und konnte die ganze Nacht keinen Schlaf finden.
Er faßte keine guten Vorsätze, denn er hatte alles Zutrauen zu sich
verloren. Und es dünkte ihm wertlos, etwas, das er nie hätte tun
dürfen, durch den Entschluß gutzumachen, es in Zukunft nicht wieder zu
tun. In dieselbe Lage konnte er sich nicht zurückversetzen, die war
unwiderruflich vorbei und der Makel nicht mehr wegzuwischen.

An allen Gliedern wie zerschlagen, die trüben Augen dunkel
unterrändert, erschien er den nächsten Tag in der Schule. Otto war
ebenso überrascht wie dankbar, daß Fritz mit keinem Wort auf das
Vorgefallene zurückkam und weiter mit ihm verkehrte, als hätte es nie
ein Gestern gegeben. Von dem harten Ringen, das zwischen Abend und
Morgen lautlos vor sich gegangen, hatte er freilich keine Ahnung,
hätte es auch nicht begriffen. Für ihn war jetzt alles wieder im
Gleis, zumal auch Pater Romanus nicht dergleichen tat und es schien,
als beabsichtigte er die Geschichte im Sand verlaufen zu lassen. Eine
vorläufige Folge sollte sie aber doch haben.


2.

Eines Tages, es war bereits spät im Oktober, kam die schöne
achtunddreißigjährige Frau des reichen Kaufmannes Wart zu Hellwig und
bat ihn, mit ihr zu gehen, ihr Sohn verlange nach ihm.

Fritz war über dieses Ansinnen sehr verwundert, da er den jungen
Wart, der die siebente Klasse des Gymnasiums besuchte, nur aus
einem gemeinsamen französischen Lehrkurs ganz flüchtig kannte. Er
sagte deshalb der unerwarteten Besucherin, die in ihrem schwarzen
Seidenkleide fein und fremd zwischen den vermummten Lehnstühlen
stand, hier müsse ein Irrtum vorliegen. Sie aber entgegnete,
sie irre sich nicht, ihr Junge habe schon oft von Fritz Hellwig
gesprochen, namentlich in der letzten Zeit, als die Geschichte mit dem
Religionsprofessor vorgefallen sei.

Fritz aber, der sich nur sehr schwer an Menschen anschloß und vor
neuen Bekanntschaften förmlich Angst hatte, antwortete kurz, daß er
den Heinrich Wart viel zu wenig kenne und keinen Anlaß habe, ihn zu
besuchen. Wenn jener etwas von ihm wünsche, solle er’s in der Schule
sagen.

Auf eine so schroffe Abweisung war die Frau nicht gefaßt gewesen.
Sie brach in Tränen aus und rief ganz aufgeregt, das sei unschön
und lieblos gehandelt. Er könne sich denken, daß ihr ungewöhnliches
Begehren auch einen ungewöhnlichen Grund haben müsse. Kurz und gut,
ihr Sohn sei schwer krank, man wisse überhaupt nicht, ob er wieder
aufkommen werde. Heute, nachdem er mehrere Tage im Fieber gelegen und
nur fortwährend phantasiert habe, heute habe er auf einmal den Wunsch
geäußert, mit Hellwig zu sprechen. Er solle nicht hart sein, vielleicht
handle es sich um den Wunsch eines Sterbenden.

Da nahm er wortlos den Hut vom Nagel und ging mit.

In den Gassen war es schon dämmrig, ein steter feiner Regen fiel und
schien das Leben in der Stadt langsam auszulöschen. Kein Fuhrwerk
rasselte, es bellte kein Hund und nur ab und zu hastete jemand mit
aufgespanntem Schirm eilfertig vorbei, den Rockkragen emporgestülpt
und die Hosen unten aufgekrempelt, ohne das seltsame Paar zu beachten.
Die Frau schritt unbekümmert um den Regen, der ihr ins Gesicht
schlug und Perlen in ihr Blondhaar streute, rasch vorwärts. Ihr
Kleid knisterte und rauschte über das nasse Pflaster, sie raffte
es nicht, hätte auch keine Hand hiezu frei gehabt, denn mit der
Rechten hielt sie das Taschentuch vor die Augen, während sie die
behandschuhte Linke leicht auf Fritzens Arm legte, als fürchtete sie,
er könne ihr noch im letzten Augenblick davonlaufen. Die Sorge war
unnötig. Nun er sich einmal entschieden hatte, war zugleich auch jene
ruhige Entschlossenheit über ihn gekommen, mit der er stets an die
Verwirklichung seiner Vorsätze zu schreiten pflegte. Und wenn sich auch
bisweilen mitten in der Ausführung seine noch nicht gefestigte Jugend
aus der Bahn drängen ließ, früher oder später vollendete er doch immer,
was er sich vorgenommen hatte.

Die schlanke Frau an seiner Seite begann zu sprechen. Erst leise und
zögernd, als schämte sie sich. Bald aber vergaß sie die Zurückhaltung,
ging aus sich heraus und redete sich das Leid vom Herzen herunter, wie
wenn sie sich einem langjährigen älteren Bekannten anvertraute und
nicht dem blutjungen Schüler, der trotz seiner Größe im Schultermaß
nur wenig höher als sie auf langen Beinen nebenher lief, den Blick
geradeaus gerichtet und die Hand zur Faust geschlossen.

Was sie sagte, war nichts anderes als die alte Klage der Mütter
heranwachsender Söhne. Aber sie gab nicht dem Sohne schuld, daß er
ihr Sorgen mache, sondern sich selbst und quälte sich mit harten
Zweifeln, daß sie ihn vielleicht in seiner Entwicklung durch eine
fehlerhafte Erziehung verpfuscht oder nicht die Fähigkeit gehabt habe,
den sonderbaren Knaben zu verstehen und sicher über die Schwelle der
Kindheit hinüberzuleiten.

Seine Begabung, sagte sie, sei ungewöhnlich, reich und vielversprechend
seine Anlagen. Aber ihr Mann halte von solchen Sachen nichts und
sie, die Mutter, habe vieles, das ihr notwendig schien, unterlassen
müssen, um das väterliche Ansehen nicht zu untergraben. Bei dieser
zwiespältigen Führung sei der Junge ratlos geworden, sei noch immer
unselbständig und unfrei und beuge sich zu sehr vor einem fremden
Willen. Am meisten aber betrübe sie seine Art, mit den kleinen Leuten
umzugehen, mit Dienstboten, Bettlern und Landstreichern. Überzart
und vorsichtig wie mit rohen Eiern, verlegen und schüchtern wie ein
Bittender, wo er befehlen sollte -- immer in der Sorge, ja niemandem
weh zu tun. Denn er achte das Menschentum auch in seiner erbärmlichsten
Fratze, aber -- und das sei ihr Kummer -- darüber vergesse er sein
eigenes, lasse sich ausbeuten und habe schon mehr als einmal freiwillig
die Strafe auf sich genommen, die ein säumiger Laufbursche oder ein
naschhaftes Stubenmädchen verdienten.

Die Sprecherin holte tief Atem und fuhr leidenschaftlich fort:
„Mein armer Heinz hat den Mut zum Leiden und Schweigen, aber keinen
Willen zur Tat! Drum reißt’s ihn so zu Ihnen! Weil Sie haben, was
ihm mangelt! Er schwärmt für Sie, ist einfach in Sie vernarrt! Das
hat er mir zwar nicht gesagt, aber ich weiß es doch! Ich kenn’ ihn
ja durch und durch -- aber nur so, wie Schätze in einem Glaskasten.
Ich hab’ keinen Schlüssel, kann nicht zu ihm, ohne eine Scheibe zu
zerbrechen. Sie aber könnten es ... Wenn Heinz am Leben bleibt -- er
wird -- er muß! -- dann ... nicht wahr, -- Sie werden sein Freund! Er
braucht einen starken Menschen, an den er sich klammern, aufrichten,
emporranken kann! Der ihn lehrt, auf den eigenen Füßen zu stehen und
eine eigne Meinung nicht bloß zu haben, sondern auch durchzusetzen!
Dann versprech’ ich mir viel von ihm! Nicht wahr, Sie werden ...?“

In banger Erwartung streckte sie ihm die Hand hin. Doch er schlug nicht
ein. Wohl war er mit wachsender Teilnahme ihrem Reden gefolgt, das
ganz neue Gebiete vor ihm aufschloß. Hatte die hohe Auffassung einer
gewissenhaften Mutter von ihren Pflichten gegenüber dem Kinde mit immer
heißerer Ergriffenheit wahrgenommen und über Worte gestaunt, die er
niemals einer Frau zugetraut hätte. Aber er war seines Vorsatzes, nie
zu lügen, eingedenk und antwortete mit jener ungelenken Rauheit, die
bei ihm stets herhalten mußte, wenn er weich zu werden drohte: „Wart
ist mir fremd. Ich kann gar nichts versprechen.“

Die Frau ließ mutlos den Kopf hängen. Fritz kam sich wie ein Verbrecher
vor, als er den leidvollen Ausdruck ihres Gesichtes wahrnahm. Wie aus
einer anderen, lichteren Welt erschien sie ihm, die Verkörperung alles
Lieben, Zarten, Gütigen. Eine warme Welle flutete in ihm empor. Am
liebsten hätte er ihre Hände gefaßt und um Verzeihung gebeten, daß er
ihr weh tat. Aber er biß nur die Zähne zusammen und verdoppelte den
Schritt, so daß sie ihm kaum nachkommen konnte.

„Seien Sie wenigstens freundlich zu ihm!“ bat sie.

Und er darauf: „Ich bin kein Lausbub!“

Nun standen sie vor dem alten Bürgerhause auf dem Marktplatz, das mit
Erkern und Simsen und Vorsprüngen, mit Luken, Giebeln und steilen
Dachflächen düster und massig in die Luft hineinwuchs. Kisten und
Fässer und Ballen und Tonnen türmten sich allenthalben im wölbigen
Flur, lagen im breiten Stiegenhaus und verengten die kühlen Korridore,
überhuscht von den spärlichen Reflexen schwelender Kerzen hinter
verstaubten Gläsern.

Polternd klangen die Schritte der beiden im Hinansteigen über die
bequeme Holztreppe. Nun hielten sie vor der hohen dunklen Wohnungstür,
ein Dienstmädchen öffnete, und sie traten ein. Flüsternd erkundigte
sich die Frau nach dem Befinden ihres Kindes und erhielt befriedigende
Auskunft. Da öffnete sie eine zweite Tür, winkte Fritz, daß er ihr
folgte und schritt durch ein unbeleuchtetes Zimmer mit weitem Raum.
Undeutlich hoben sich die Gegenstände aus dem schwachen Lichtschein,
den die Straßenlaternen zu den Fenstern hinaufsandten, in florigen
Teppichen versank der Fuß, und leis klirrten ein paar Gläser im
altdeutschen Schrein. Hellwig tastete sich durch mit vorgestreckten
Händen, stieß an einen Stuhl. Da drehte sich wieder eine Tür
geräuschlos in den Angeln und ein grün gedämpftes Lampenlicht quoll
durch den Spalt.

Sie waren im Krankenzimmer. Mit der Schmalseite an die Wand gerückt,
von den drei anderen Seiten frei zugänglich, schob sich ein breites
Eichenbett bis in die Mitte des Gelasses. Darinnen war, fast so weiß
wie die Kissen und Linnen, ein mageres Antlitz sichtbar, von einem
dichten Kranz tiefschwarzer Haare eingefaßt und von zwei mächtigen
dunklen Augen überleuchtet, die es ganz beherrschten und noch
abgezehrter erscheinen ließen.

Frau Wart war sofort bei ihrem Sohne.

„Wie geht’s dir, mein Junge? Hast du auch brav geschlafen?“ fragte
sie und war prächtig anzusehen in der wohltuenden und beruhigenden
Heiterkeit, hinter der sie alle ihre angstvolle Sorge barg. Der Kranke
gab keine Antwort, sondern schaute mit seinen glänzenden Fieberaugen an
ihr vorbei auf Fritz, der stumm unter dem schweren Türvorhang stand.
Sie bemerkte den Blick, nickte ihm zu und lächelte: „Ist’s dir recht?
Du hast ihn ja haben wollen.“

Da stieg ein sachtes Wellchen Blutes in das eingefallene Gesicht,
leuchtete durch die Haut und warf einen zartroten Schein darüber.

„Guten Abend, Hellwig,“ sagte er leise und ließ die Augen nicht von ihm.

Nun kam Fritz näher, hielt am Fußende des Bettes und sagte: „Servus,
Wart! Was treibst du denn für Geschichten? Krank sein -- das gibt’s
doch nicht! Sieh lieber, daß du bald wieder ins Französisch kommst.“

Die Mutter tat einen tiefen, freien Atemzug. Sie hatte heimlich vor
diesem Zusammentreffen gebangt, hatte gefürchtet, daß Hellwigs kantige
Art den Kranken verletzen und aufregen könnte. Nun sah sie den warmen
Blick, hörte den herzlichen Klang der vor kurzem noch so trotzig rauhen
Stimme und schämte sich im stillen ihrer argen Meinung.

„Bleib nur liegen, du!“ flüsterte sie beglückt und drückte ihren
Jungen, der sich aufrichten wollte, in die Kissen zurück. „Herr Hellwig
setzt sich zu dir, da könnt ihr reden ... aber nicht zu lang, nicht
wahr?“

Bittend schaute sie den Besucher an und wies auf einen Stuhl neben dem
Lager.

„Ich könnt’ ebenso gut stehen!“ entgegnete Fritz wieder kalt abweisend.
Als er jedoch die ängstlich-erwartungsvolle Miene des andern sah,
verstummte er und setzte sich.

Geräuschlos glitt die Frau aus dem Gemach. Im dunklen Nebenzimmer
verließ sie die mühsam behauptete Fassung. Sie hatte Hellwig auf ihre
eigene Verantwortung herbeigeholt, versprach sich davon eine raschere
Wendung zum Gesunden. Wenn nur, ach, wenn nur endlich alle Gefahr
vorüber wäre! Und die Sorge um das Leben des Kindes senkte sich wieder
schwer und lautlos auf das blonde Haupt, die schlanken Schultern und
drückte sie nieder. Wie unter eine wuchtende Last geduckt, stand sie
ohne Regung und versuchte mit beiden Händen das übermächtig schlagende
Herz zu halten. --

„Was willst du von mir?“ fragte Hellwig den Kranken. Der schaute
hilflos gegen die Zimmerdecke und dann suchend im Raum umher. Da fiel
sein Blick auf einige Bücher, die in grünen Einbänden neben der Lampe
und zwischen Arzneiflaschen auf dem Tisch lagen. Wie Erlösung überkam
es ihn.

„Mutter hat mir Darwin geschenkt!“ sagte er lebhaft. „Die große
Ausgabe. Den mußt du lesen, ich leih’ dir ihn!“

Eine Sekunde nur blickte Fritz in die Augen, die ihm groß und leuchtend
entgegenstanden: dann hatte er begriffen. Hatte begriffen, daß hier
vor ihm einer seines Wesens lag, gleich scheu und zurückhaltend und
zu stolz, um sich aufzudrängen. Und er wußte mit einemmal, daß dieser
schmächtige schwarzhaarige Mensch, den er im großen Troß der andern mit
übersehen hatte, schon seit langem, heimlich und ohne sich zu verraten,
sein Freund war. Und auch er fühlte sich jetzt, da er den Spuren der
scharf geprägten Züge in dem geistreichen Antlitz nachforschte, mächtig
zu ihm hingezogen. Aber er ehrte das Schamgefühl des andern. Deswegen
antwortete er scheinbar ganz gleichgültig auf dessen Anerbieten.

„Du würdest mir damit eine große Freude machen!“ sagte er und nahm
eines der grünen Bücher vom Tisch. „Ist’s das hier?“

„Ja. Nimm dir nur gleich ein paar Bände mit.“

„Einer genügt vorläufig!“ entgegnete Hellwig kurz und erhob sich.

„Du gehst schon?“

„Ja!“

„Du kommst aber wieder?“

„Ich werd’ mir doch das Buch nicht behalten!“ knurrte Fritz.

Der Kranke hob die Hand von der Bettdecke und reichte sie ihm wortlos.
Fritz nahm sie in seine breite Rechte und hielt sie einen Augenblick
fest.

„Gute Nacht, Wart!“

„Gute Nacht, Hellwig!“

Im Nebenraum trat ihm Frau Wart entgegen: „Nun?“

„Ich hab’ mir einen Band Darwin ausgeborgt!“ sagte er unwirsch, hastete
an ihr vorbei, durchs Vorzimmer und über die Treppe hinab ins Freie.


3.

Der November war noch nicht zu Ende, da hatte Hellwig sämtliche
Schriften Darwins bewältigt. Die Mutter wurde auf sein Treiben
aufmerksam und drang nachts in sein Zimmer, wo er vor der Lampe über
den Büchern saß. Da schalt sie wegen seines langen Wachens, bat ihn,
seiner Gesundheit nicht zuviel zuzumuten und wich erst, bis sie ihn
ganz sicher hinter dem Wandschirm in den Federn wußte.

Um ihr Mißtrauen zu zerstreuen, ging er die nächsten Tage früher zu
Bett. Dann aber verschaffte er sich ein Zigarrenkistchen, befestigte
darin auf dem unteren schmalen Brett eine Kerze, an dem oberen aber, um
dessen Anbrennen zu verhindern, einen ausgedienten Topfdeckel und hatte
so eine Art Diebslaterne, nach drei Seiten für das Licht abgeblendet.
Wenn nun seine gewöhnliche Schlafstunde heranrückte, stellte er dieses
Gerät knapp hinter das Buch in der Weise, daß kein Lichtstrahl durch
die klaffenden Fugen der Tür in die Küche dringen und der Mutter
sein Wachbleiben verraten konnte. Dann löschte er die Lampe, hielt
sich still und las beim flackernden Schein der Kerze mit geschnürtem
Atem weiter, bis draußen auf der Gasse die ersten Bauernfuhrwerke
über das holprige Pflaster rumpelten und der erwachte Lärm dem nahen
Morgen vorauslief. Dann suchte er endlich sein Lager und tat hinter
bleischweren Lidern einen traumlosen Schlaf, aus dem ihn jedoch meist
schon nach zwei, drei Stunden die nichtsahnende Mutter weckte mit der
Meldung, daß das Frühstück fertig und es Zeit zur Schule sei.

Unterdessen hatte Warts Genesung rasche Fortschritte gemacht. Er durfte
bereits kurze Spaziergänge unternehmen und tat dies mit Hellwig, dessen
Seele ihm, nun das Eis einmal gebrochen, offensichtlich zuströmte.
Ganz aber fanden sie sich erst an einem frostklaren Dezembertage, als
sie nach einem schon längeren Marsch bei Milch und Butterbrot in einem
Dorfwirtshaus saßen und von den alten Juden auf die Erlöser und auf den
Gottesbegriff zu sprechen kamen.

Sie waren die einzigen Gäste in der niedrigen Stube. Hinter dem
Kachelofen hockte zusammengeduckt eine weißhaarige Frau und summte
ihrem Enkelkind ein eintönig uralt Wiegenlied zum Schlaf. Die große
Stehuhr pochte wie das Herz der Stille, und Heinz Wart sprach:
„Darwin ist ein Erlöser und ist auch keiner. Viele alte Götzen hat er
zerschlagen, der Verstand mag damit zufrieden sein, aber nicht das
Herz. Und mit der Lösung der Frage nach _unserer_ Herkunft ist jene
nach der Herkunft unseres Gottglaubens nicht aus der Welt geschafft.
Für mich aber bedeutet Gott nichts anderes als das Ideal, nach dem sich
jeweils die Menschen gesehnt haben. Den entrechteten Hindukasten von
den Sudras bis zu den Tschandalas ist sicherlich die endliche selige
Ruhe nach einem Leben der Knechtschaft als das Herrlichste erschienen
-- und Buddha hat ihnen das Nirwana gegeben. Bei den alten Deutschen
hast du Freude am Kampf und Zechgelag und hast du kriegsgewaltige
Schlachtengötter und reisige Jungfrauen, die die Helden nach Walhall
zur Metbank bringen. Dem Schwärmer von Nazareth aber ist der Mensch
selbst zum Ideal geworden. Darum ist sein Gott ein Menschengott,
der alle unsere Tugenden und Fehler, Milde und Härte, Erbarmen und
Grausamkeit, opferfreudigste Hingabe und starrste Ichsucht, zum
höchsten Maß gesteigert, in sich vereinigt. Und weil dadurch Gott den
Menschen so nahe gerückt wurde, haben sie sich ihm so bereitwillig
zugewendet. Denn in ihm beten sie ihr Menschentum an, und sie lieben
sich selber in ihrem Gott. Und die Reformationen sind nichts als
Versuche gewesen, den lieben alten Menschengott umzumodeln, damit
er zu den neuen Menschen mit ihren neuen Anschauungen wieder passe.
Und wenn wir jetzt gegen den Druck verjährter Dogmen knirschen, so
beweist das für mich nichts anderes, als daß unsere Zeit abermals reif
geworden ist für eine neue Sehnsucht. Aber wir wissen noch nicht, wo
sie wohnt und kennen den richtigen Weg nicht zu ihr, lassen uns leicht
irreführen durch die Lockungen falscher Propheten. Nietzsche ist für
mich ein solcher. Ich bewundere die rauhe Kühnheit und empöre mich
über die wahnwitzige Überhebung, mit der er das Ich zum Gott machen
will. Freilich, _die_ Ausgestaltung wäre logisch. Vom Weiteren zum
Engeren, vom Kreis zum Punkt. Nach dem Menschen als Gattung der Mensch
als einzelner. Jeder einzelne sich selbst Gesetzgeber und Richter und
Rächer des eigenen Gesetzes. Jeder sich selbst Gott. Oder Schöpfer
seines Gottes: des Übermenschen. Aber ...“

Er atmete tief auf und schwieg. Von der untergehenden Sonne kam ein
seltsam rötlicher Schein in die Stube, alle Gegenstände ertranken in
einem ungewissen Zwielicht, und nur vor den winzigen Fenstern stand
noch hell und durchsichtig die Luft wie ein unbewegtes, zartpurpurnes
Meer.

Mühselig erhob sich die gebeugte Greisin von der Ofenbank und wollte
die Lampe anzünden. Aber Fritz winkte ab: „Lassen Sie nur, wir bleiben
ganz gern im Dunkeln.“

Dann war wieder Schweigen. Das Kind schlief in der Wiege. Eine graue
Katze strich mit gehobenem Schweif und gekrümmtem Rücken unhörbar um
ein Stuhlbein, immer rundum, rundum. Und das verhuzelte Weibchen beim
Ofen ließ den Kopf tief und tiefer sinken und schlief allmählich ein.

Mit hämmerndem Herzen saß Fritz und starrte aufgeregt nach dem
unscheinbaren Menschen neben sich, dessen Antlitz weiß aus dem Dämmer
herausleuchtete. Was er da gehört hatte, war mehr als zusammengelesene
Weisheit, waren selbständige Ideen, die seine Seele mitschwingen
machten. Und er kam sich klein vor, fühlte seine Unfertigkeit und wie
wenig er wußte. Und plötzlich kam ihm die blonde Frau wieder in den
Sinn, die an jenem Regenabend mit rauschenden Gewändern neben ihm
gegangen. Das drohte die Weihe der Stunde zu stören. Er legte die Hand
auf den Schenkel des Freundes.

„Weiter, Heinz! Was ist’s mit dem Aber?“

Wart zuckte auf und schaute ihn mit leeren Augen an, als hätte er alle
seine Gedanken auf weite Wanderung geschickt und müßte erst warten,
bis sie sich wieder zurückfanden. Dann sagte er, den Kopf in die
Hand gestützt und den Blick immerfort auf die Tischplatte vor sich
gerichtet, sagte ganz leise, wie aus einem Traum heraus:

„Auf dem rechten Weg zur neuen Sehnsucht scheinen mir trotz allem doch
die Jakobiner gewesen zu sein, und Maximilian Robespierre, der Tauben
züchtete und Menschen mordete, hat es oft genug ausgesprochen: ‚Wir
wollen die Wünsche der Natur erfüllen und die Bestimmung der Menschheit
erreichen: den friedlichen Genuß der Freiheit und Gleichheit, ein
Reich der ewigen Gerechtigkeit. Wo der Bürger der Obrigkeit und die
Obrigkeit dem Volke dient und das Volk der Gerechtigkeit. Wo die Künste
der Schmuck der Freiheit sind, der Handel die Quelle des öffentlichen
Reichtums und nicht der ungeheuerlichen Wohlhabenheit einzelner
Häuser. Schrecker der Unterdrücker wollen wir sein und Tröster der
Unterdrückten und statt der Kleinlichkeit der Großen wollen wir die
Menschengröße.‘ -- Das geht zwar schnurstracks gegen den Kampf ums
Dasein des Individuums, aber trotzdem glaube ich, daß darin unser Heil
für die Zukunft liegt. An Stelle des Menschengottes möchte ich das
Menschentum setzen und gegen die Forderung: ‚Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst!‘ die Formel: ‚Hilf deinem Nächsten wie dir selbst!‘
... Die Menschheit zur Freiheit führen, den Elenden und Gequälten
ein freies, heiteres Dasein schaffen, ihnen ihr Recht auf Glück
zurückerobern, das jeder schon hier auf Erden für sich fordern darf
kraft seines Menschentums -- es ist ein Ziel, wohl wert, sein Leben
dafür aufzuwenden ...“

Er hatte sich in Begeisterung hineingesprochen, sprang auf und stand
mit geröteten Wangen aufrecht da, ein heiliges Feuer in den Augen.
Da war auch schon Fritz neben ihm, riß ihn an sich und sagte mit
erstickter Stimme: „Heinz -- Freund -- Bruder ... unser Leben ... wir
wenden’s dran ...“

Nun ward es ihnen zu eng in der Stube. Sie brachen auf und schritten
Schulter an Schulter unter einem klaren Sternenhimmel heimwärts. Und
während sie so gingen, mußte Fritz abermals an Frau Wart denken und
empfand einen dumpfen Groll, daß sie ihren Wunsch erfüllt und ihn als
Freund ihres Sohnes sehen sollte. Und gleichzeitig stemmte er sich
gegen dessen frühe Reife und den Einfluß, den sie auf ihn zu gewinnen
drohte. Seine Stimme klang beinah feindlich, als er jetzt sagte: „Woher
nimmst du eigentlich das alles?“

Da seufzte der andere leise und erwiderte: „Mein Gott, man sitzt nicht
umsonst mit einundzwanzig Jahren erst in der Septima!“

„Du bist schon so alt?“ fragte Fritz erstaunt. Denn Wart sah mit
seinem bartlosen blassen Gesicht und der schmächtigen Gestalt
kaum siebzehnjährig aus. Nun nickte er: „Jawohl -- sogar bald
zweiundzwanzig. Im Frühjahr muß ich schon das drittemal zur
Stellung. Hoffentlich ist meine Brust noch immer für den Rock des
Kaisers zu schmal. Sonst wär’s gefehlt, weil ich ja noch nicht das
Einjährigenrecht hab’.“

„Ja, aber ...?“

„Wieso das kommt? Ganz einfach! Ich war kaum mit dem Untergymnasium
fertig, da hat mich mein Alter ins Geschäft gesteckt. Aber ich hab’
mich dort nicht zurechtfinden können. Nach drei Jahren hat er das
auch selbst eingesehen und mich wieder ins Gymnasium zurückgeschickt.
Das verdank’ ich der Mutter, ich weiß das, aber bis jetzt hab’ ich
ihr keine Ehre gemacht. Die Quinta und die Sexta hab’ ich wiederholen
müssen, für Mathematik hab’ ich nun einmal kein Verständnis, ich bring’
das trockene Zeug nicht in den Schädel! Und dann die Bücher: Rousseau,
Proudhon, Engels, Lasalle, Marx, Adam Smith -- du kennst ja meine
Sammlung.“

Er schwieg und Hellwig ebenfalls. Arm in Arm schritten sie auf der
schneebedeckten Landstraße rüstig vorwärts, überließen sich ihren
nachgenießenden Gedanken und gingen auf dem Marktplatz mit einem kurzen
Händedruck stumm voneinander.


4.

Seit diesem Tage waren sie Freunde.

Sie blieben aber nicht lang zu zweit, denn Pichler wollte sich nicht
kaltstellen lassen. Hellwig mußte ihn mit Wart bekannt machen, und auch
dieser wurde dem kecken Leichtfuß bald geneigt.

Ihre Zusammenkünfte hielten sie jetzt bei Heinz ab, der nach der
Genesung wieder sein Zimmer bezogen hatte.

Das lag ganz oben, unterm Dach des altertümlich und weitläufig
gebauten Hauses, worin das Bürgergeschlecht Wart seit Jahrhunderten
einen schwunghaften Kaufhandel betrieb. Der jetzige Inhaber war ein
derber, knorriger Fünfziger von praktischem Verstand und tüchtigem
Arbeitssinn. Von der Pike auf im Geschäft, war er jeder geistigen
Tätigkeit abhold, sofern sie nicht auf einen realen und reellen Gewinn
unmittelbar hinzielte. Den ganzen Tag dröhnte seine Stimme durch die
hallenden Korridore, war seine untersetzte Gestalt überall zu sehen.
Bald half er mit schweißtriefender Stirn im Hof beim Aufladen der
Warenballen, bald teilte er im Kanzleiraum Befehle aus, durchlief die
weiten Speicher oder fertigte die Ladenkunden ab, in unermüdlicher
Regsamkeit für die ordentliche und glatte Abwicklung des verzweigten
Betriebs.

Trotzdem fand er noch Zeit zur Verwaltung der verschiedenlichsten
bürgerlichen Ehrenämter, war Stadtverordneter, Waisenvater und
Ortsschulrat, Feuerwehrhauptmann und Schützenleutnant und stand bei
allen Mitbürgern wegen seines gediegenen Charakters in Ansehen.
Vornehmlich bei der Opposition, deren Leitung selbstverständlich in
seiner Hand lag. Denn die Wart hatten alle von jeher ihren eigenen Kopf.

Darüber waren vom Wart Nikl -- unter diesem Namen war er, der Nikolaus
hieß, in der ganzen Gegend bekannt -- allerhand Geschichten im Schwang.

Als die klerikale Vereinigung, die in Neuberg dank der werbenden
Kraft des Paters Romanus gegründet worden war, ihren ersten
Unterhaltungsabend veranstaltete, da war Nikolaus Wart an der Spitze
von zwanzig handfesten Gesinnungsgenossen lärmend in den Saal
gedrungen, wo eben eine Festvorstellung im Gange war und das Konterfei
eines bekannten schwarzen Häuptlings mit Lorbeer und Lilien bekränzt
hinter Glas und Rahmen an der Wand hing. Einen Tisch erkletternd, nahm
der Nikl seelenruhig das Bildnis vom Nagel und lehnte es in eine Ecke.
Aber als alle Gäste, darob entrüstet, auf ihn eindrangen, da hob er es
wieder, schwang es mit beiden Fäusten, und breitspurig mit gespreizten
Beinen auf dem Tisch aufgepflanzt, schrie er mit voller Lungenkraft:
„Ruh’ geben! Zurück! Sonst hau’ ich auf eure Schafsköpf’ den größten
drauf!“

Dann schleuderte er das Bild zu Boden, daß die Scherben splitternd
umherflogen, sprang hinterdrein und tat mit seinen Kumpanen so
gründliche Arbeit, daß die Vereinigung katholischer Männer kläglich
abziehen mußte. Worauf Wart Nikl schmunzelnd den rötlichen Vollbart
strich und eine Sitzung der Freisinnigen eröffnete, die bis zum
grauenden Morgen dauerte. --

Und früher -- in Zeiten schwerer nationaler Bedrängnis -- als die Stadt
Neuberg eine Kundgebung gegen die slawischen Vorstöße veranstaltete und
als von einer kurzsichtigen Regierung zur Verhütung von Ausschreitungen
ein slawisches Reiterregiment in die Stadt beordert wurde, das
denn auch alsbald mit flachen Säbelhieben in die leidenschaftlich
aufgewühlte Volksmenge einbrach, da hatte sich Wart Nikl den hitzigen
Blauröcken entgegengestellt, hatte Rock, Weste, Hemd vorn auseinander
gezerrt, und den Soldaten die nackte Brust darbietend, hatte er
gebrüllt: „Da! da! Stecht her, wenn ihr dürft! Totschlagen könnt ihr
uns, unterkriegen niemals nicht!“

Daraufhin hatte man sich die Sache noch einmal überlegt und gegen
die ehrenwörtliche Versicherung des Bürgermeisters, daß die Leute
freiwillig und friedlich auseinandergehen würden, die Truppen abrücken
lassen. Und als hernach die Verwundeten vorüber getragen wurden, da
waren dem Wart Nikl die Tränen aus den Augen gesprungen und mit einem
schmerzvollen Blick zum Standbild Kaiser Josefs II. hatte er gerufen:
„Schau’ her, trauter Kaiser Seff, schau’ nur her, wie’s deinen
Deutschen heutigentags geht!“ --

Dieser Begebenheit verdankte er übrigens das beste Glück seines
Lebens. Denn wie jedes Ausharren in einer gemeinsamen Not wildfremde
Menschen urplötzlich vertraut macht, hatte sich neben den stiernackigen
Kaufmann, der dem Übermut der slawischen Reiter mit seiner mächtigen
Stimme Einhalt tat, ein schlankes Mädchen mit wehendem Blondhaar
mutvoll aufgepflanzt und laut gerufen: „Recht so! Recht!“, wobei es den
Soldaten herausfordernd die funkelnden Augen entgegenhielt.

An diesen Blick mußte der Junggesell fortwährend denken und kam nach
einigen Tagen rätselhafter Unrast endlich zu dem Entschluß: „Die wird’s
oder keine!“

Sie hieß Hedwig und war die Tochter des Stadtarztes Doktor Kreuzinger,
der aus übergroßer Liebe zur Heimat die gewählte Hochschullaufbahn und
damit auch die sichere Anwartschaft auf eine Universitätsprofessur
aufgegeben hatte, um in seiner Vaterstadt ständig leben zu können. Er
war ein ebenso ausgezeichneter praktischer Arzt wie scharfsichtiger
Forscher, und seine Abhandlungen in den Fachblättern fanden wegen
ihrer gehaltvollen Sachlichkeit Anklang und Beachtung. Wie denn
auch bei den Kongressen, zu denen er sich regelmäßig einzufinden
pflegte, manche ‚Berühmtheit‘ mit Worten schmeichelhaften Lobes des
unscheinbaren Kollegen aus der Provinz Erwähnung tat, worüber der
dann stets errötete und in eine hilflose Befangenheit hineingeriet,
bis ein neuer Redner seine Aufmerksamkeit fesselte. Dann begannen die
schlanken Finger in dem grauen Vollbart zu wühlen, die gescheiten Augen
wurden wieder lebendig, und eine Falte auf der Stirn verriet die starke
Gedankenarbeit, womit der bescheidene Landarzt dem Vortrag folgte.

Auf die Werbung des Kaufmanns erwiderte er einfach: „Wenn sie will,
ich rede ihr da nichts hinein.“ Und der urwüchsige Gesell verlor
vielleicht zum erstenmal im Leben seine Sicherheit, wurde verlegen
wie ein Schuljunge und mühte sich mit seiner ungelenken Zunge schöne
Satzgebilde zu formen, als er dem schlank aufgewachsenen Mädchen
gegenüberstand, das ihn stirnbreit überragte, trotzdem es erst siebzehn
Jahre alt war. Aber sie sagte ja. Die aufrichtige Geradheit des Mannes,
seine ehrliche Lebensführung, die wie ein offenes Buch im vollen Licht
vor aller Augen dalag, hatten’s ihr angetan. Und sie hatte nie Ursache,
ihre Wahl zu bedauern. Auch dann nicht, als Wart Nikl erkannte, daß sie
in jener bewegten Stunde nicht Begeisterung an seine Seite getrieben
hatte, sondern lediglich die heilige Entrüstung, die jeden Guten packt,
wenn irgendwo Gewalt vor Recht gehen soll.

Jeder ehrte die wackere Art des andern und forderte nichts Unmögliches
von ihr. Weder Hedwig, daß Nikl ihr zuliebe plötzlich ein Schöngeist
werde, noch er, daß seine schöne Frau Rosinen abwiege, kiloweise Mehl
verkaufe oder die Buchführung lerne. Er überließ ihr auch die Erziehung
der Kinder, da er wußte, daß sie ihm hierin überlegen war. Und seit
sein Versuch, auf die Berufswahl des Sohnes kraft seiner väterlichen
Gewalt bestimmend einzuwirken, kläglich gescheitert war, übersah er,
der Bücherfeind, es sogar stillschweigend, wenn Frau Hedwig ihrem
Jungen Geld zur Beschaffung von Zeitschriften oder Büchern einhändigte.

Die erworbenen Schätze stapelte Heinz mit unverdrossenem Sammeleifer
in seiner Dachstube auf, die dadurch ein recht gelehrtes und von den
übrigen Räumen des Hauses grundverschiedenes Gepräge bekam. Allerhand
Druckwerke stauten sich hier auf Schrank und Tisch und füllten längs
der Wände hohe Regale, wogegen in den anderen Zimmern nur Preislisten,
Warenproben und Geschäftsbriefe herumlagen. Denn Vater Wart las außer
einer Tageszeitung und der deutschen ‚Grenzwacht für Neuberg und
Umgebung‘ überhaupt nur, was mit der Führung seines Geschäftes und
seiner bürgerlichen Ehrenämter unmittelbar zusammenhing.

Um so heißhungriger fiel Hellwig über die Bücherei des Freundes her.
Der Kaufmann war ihm deswegen nicht besonders grün und äußerte zu
seiner Frau, der lange Blonde mit den Storchbeinen sei gerade so ein
Mucker wie sein Herr Sohn. Dagegen nannte er Pichler bald einen netten
und vernünftigen jungen Mann, weil dieser rasch die schwachen Seiten
des einflußreichen Bürgers aufgespürt hatte, mit ihm über das Geschäft
sprach, für Warenmuster Interesse zeigte und sich in den Marktpreisen
auskannte, kurz zu haben schien, was Nikl an seinem Heinz so ungern
vermißte: das Zeug zu einem guten Kaufmann.

Frau Hedwig erwiderte auf diese Lobsprüche nichts. Ihr gefiel Pichler
nicht. Doch sie war zufrieden, Heinz und Fritz beisammen zu wissen
und störte ihren Verkehr nicht, trachtete im Gegenteil, daß Hellwig
sie nicht zu Gesicht bekam, weil sie das Gefühl nicht los wurde, daß
ihm ein Zusammentreffen mit ihr Unbehagen schaffe. Dem war in der Tat
so. Sie hatte auf den jungen Menschen gleich bei der ersten Begegnung
tiefen Eindruck gemacht, und so sehr er sich dagegen wehrte, er mußte
die schöne Frau lieben. Mußte sie lieben, weil sie im Vollsinn des
Wortes eine Mutter war -- und haßte sie auch vom selben Augenblick an.
Mußte sie hassen in seiner jugendlichen Parteilichkeit, weil sie nicht
seine Mutter war. Weil sie ihn zwang, Vergleiche zwischen ihr und
der eigenen Mutter anzustellen und weil diese Vergleiche immer gegen
letztere ausfielen. Sein kindliches Gemüt kämpfte dagegen an, wollte
sich das reine Bild derjenigen nicht trüben lassen, die ihn in ihrem
Schoße getragen. Aber der kalte Verstand trieb ihn stets aufs neue das
Für und Wider abzuwägen -- und immer neigte sich das Zünglein zugunsten
der blonden Frau.

Das ging so weit, daß ihm sogar die Schamröte ins Gesicht stieg,
als er eines Tages Heinz und Otto in seine Behausung führte und die
Mutter nach einer kleinen Weile mit ihrer unvermeidlichen Kaffeekanne
anrückte. Ein schwächliches, verblühtes Frauchen, sanft, gutherzig
und rührselig, kam sie hereingetrippelt, bat um Entschuldigung, daß
sie nichts Besseres vorzusetzen habe, und auf Pichlers Frage, ob die
Hühner des Nachbarn ihr noch immer auf dem Bleichplatz im Gärtchen
die Wäsche beschmutzten, erhob sie sofort ein großes Jammern über
diese Rücksichtslosigkeit, mit reichlichem Wortschwall und Mitleid
heischender Miene.

Fritz saß da und schämte sich vor Heinz. ‚Dort Bücher und verstehendes
Fernbleiben -- hier Kaffee und Geschwätz!‘ dachte er bitter. Denn er
war noch nicht reif genug für die Erkenntnis, daß hier wie dort ein
gleich schönes menschliches Empfinden nur seinen verschiedenen Ausdruck
fand.

„Hör’ doch schon auf mit dem Quatsch, Mutter!“ sagte er unwillig.

Da verstummte sie erschrocken und stahl sich mit einem unterdrückten
Seufzer aus der Stube.

Kaum gesprochen, war ihm das Wort schon leid. Aber als jetzt Heinz
seine ernsten Augen auf ihn richtete: „Du hast sie gekränkt!“, da fuhr
er auf: „Ach was, wenn sie auch fort so herumgreint!“ Und dann heftig
zu Otto: „Warum fragst du auch immer so? Meine Mutter ist mir zu gut
für deine blöden Witze!“

Der Angefahrene widersprach gekränkt und beteuerte seine guten
Absichten. Aber Fritz ließ ihm nichts gelten. Schimpfend rannte er
im Zimmer herum, und es waren nicht gerade Schmeichelworte, die er
Pichlern an den Kopf warf. Je länger er so wetterte, desto mehr fühlte
er, wie grundlos eigentlich seine Vorwürfe waren. Er hörte aber
trotzdem nicht auf. Er mußte sich Luft machen, empfand eine wohltuende
Befreiung dabei.

Unterdessen war Heinz behutsam in die Küche geschlichen, wo Frau
Hellwig, die Hände im Schoß gefaltet, beim Fenster saß und aus
tränenvollen Augen bekümmert in den Hof blickte. Als sie ihn gewahrte,
erhob sie sich schnell: „Sie wünschen wohl Trinkwasser? Gleich sollen
Sie’s haben!“

Bei diesen Worten hatte sie sich schon gebückt und machte sich mit der
Wasserkanne zu schaffen, damit er ihr verweintes Gesicht nicht bemerken
sollte.

„Lassen Sie’s nur, Frau Hellwig!“ sagte Heinz darauf. „Ich hab’ keinen
Durst. Es ist nur -- Fritz hat das nicht bös gemeint ...“

Nun richtete sie sich lebhaft in die Höhe: „Hat er Sie geschickt?“

„Das nicht, -- aber ... ich weiß das eben ...“

„Nicht wahr, er ist ein garstiger Junge!“ seufzte sie. „Horchen Sie
nur, wie er schreit! Was er nur wieder haben mag?“

„Es reut ihn, daß er so schroff gewesen. Der arme Otto muß jetzt dafür
büßen. Aber der verträgt’s!“ erwiderte Heinz leichthin.

Zweifelnd blickte sie ihn an: „Zeit wär’s schon, Herr Heinz, wenn er
einmal zu Vernunft kommen wollte. Immer ist er gleich obenhinaus. Wenn
man doch nur sein Bestes will ...“ -- ihre Tränen begannen wieder zu
fließen -- „und wenn man dann nichts als Undank davon hat, das tut weh.
Nicht ein bissel hat er mich lieb!“

„Er zeigt’s Ihnen bloß nicht!“ versuchte Wart den Freund zu
verteidigen. Die Witwe aber klagte unbeirrt fort: „Das kommt alles
nur daher, weil er in keine Kirche mehr geht. Wohin soll das führen?
Noch keinem ist’s gut gegangen ohne den lieben Gott, das können Sie
mir alten Frau schon glauben ... Es ist ein Kreuz, ein rechtes Kreuz
mit dem Jungen! -- Aber da steh’ ich und red’ und vergess’ ganz, ich
-- hab’ ja noch ein paar Lederäpfel. Die müssen Sie kosten! Der Fritz
fliegt nur so darauf!“

Da sah Heinz, daß hier ein Trost nicht nötig war, und während Frau
Hellwig geschäftig die runden Früchte auf einem Teller ordnete, ging er
wieder ins Zimmer zurück.

Fritz vermied es jedoch seit jenem Tage, die Freunde in seine Wohnung
mitzunehmen.


5.

Weihnachten war vor der Tür, und damit war auch die Zeit gekommen,
da Pater Romanus seine Schäflein zur ersten von drei schuljährlichen
Beichten zu verhalten pflegte. Sämtliche verfügbaren Seelenhirten von
Neuberg, insbesondere die frommen Mönche aus dem Franziskanerkloster,
leisteten werktätige Beihilfe. Klassenweise wurden ihnen die Schüler
zugewiesen, wobei jedoch Romanus besondere Wünsche seiner Studenten
nach Möglichkeit berücksichtigte. Allen konnte er’s freilich nicht
recht machen, weil nach einzelnen Beichtvätern wegen ihrer Milde
eine allzu rege Nachfrage herrschte, die Milde nach der Kürze der
Ermahnungen und der Bußgebete eingeschätzt.

Hellwig aber trachtete diesmal bei dem allgemein gefürchteten Pater
Guardian anzukommen, der nicht im Beichtstuhl, sondern in seiner Zelle
die Verfehlungen der Gläubigen anzuhören und endlose geharnischte Reden
gegen die armen Sünderlein loszulassen pflegte.

Jede Rede verschlug es ihm jedoch, als Fritz, kaum auf dem Schemel
niedergekniet, rauh hervorstieß: „Meine Beichte ist kurz, ich glaube an
gar nichts!“

Ein langes Schweigen folgte den Worten. Die kleine, vertrocknete
Priestergestalt saß ganz unbeweglich, und der kahle Schädel leuchtete
wie eine große Billardkugel unter Hellwigs niederschauenden Augen.

„Ich glaube an gar nichts!“ sagte er endlich nochmals.

Nun regte sich unbehaglich der Leib in der dunklen Kutte, zwei wässrige
Augen mit roten Rändern schauten hilfeheischend zur Decke und eine
zögernde Stimme fragte: „Ja ... lieber Bruder ... lieber Bruder ... wie
sind Sie denn dazu gekommen?“

„Durch Nachdenken und Vergleichen, auch durch Lesen,“ erwiderte Fritz
und blickte dem Frater fest ins Gesicht. Der rutschte unruhig auf
seinem Stuhl hin und her und suchte nach einer schicklichen Einleitung.

„Lieber Bruder,“ fing er endlich an, und Hellwig wunderte sich über
die freundliche Stimme, den warmen Blick des als unleidlich streng
Verrufenen. „Lieber Bruder, Sie sind noch jung und daher leicht zur
Übertreibung geneigt. Sie glauben an gar nichts, sagen Sie, aber Sie
sagen das nur, weil Ihnen noch nicht klar geworden ist, daß wir alle,
die wir Menschen sind, sehr wenig wissen und sehr viel glauben. Sie
glauben jetzt vielleicht den Worten eines alten Priesters ebensowenig
wie den Worten der Heiligen Schrift. Aber einen Schöpfer lassen Sie
doch gelten, nicht wahr?“

„Nur die Natur!“

„Dann haben Sie lediglich einen anderen Namen für denselben Gegenstand
und glauben nur an einen Teil unseres allumfassenden Gottes. Denn:
meinst du, daß ich ein Gott nur in der Nähe bin und nicht auch ein Gott
in der Ferne? Erfülle ich nicht Himmel und Erde, spricht der Herr. --
Wollen Sie mir jetzt ein paar Fragen ehrlich beantworten?“

Der Jüngling nickte stumm.

„Sagen Sie mir also vor allem, wie Sie es mit den zehn Geboten halten,
vom vierten angefangen. Bemühen Sie sich, die darin vorgeschriebenen
Pflichten gegen die Eltern und Nächsten sowie gegen sich selbst zu
erfüllen?“

„Ich will nie etwas tun, das ich nicht vor mir selbst verantworten kann
und bemühe mich, meine Kräfte für die Allgemeinheit auszubilden, so gut
ich kann,“ entgegnete Fritz nach einigem Besinnen.

„Schön, lieber Bruder, recht schön. Das ist ganz christlich gedacht
und gehandelt. Und nun noch eins: Haben Sie sich leichtfertig oder aus
Übermut zu einer solchen Beichte entschlossen? Haben Sie skrupellos und
ohne Kampf den Glauben Ihrer Kindheit über Bord geworfen?“

„Es ist mir nicht leicht geworden,“ gestand Hellwig, wenn auch mit
Widerstreben.

„Das genügt mir schon, lieber Bruder, denn: an ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen, spricht der Herr. Und deswegen ...“

Der greise Priester schwieg und schien mit einem schweren Entschluß zu
ringen. Dann aber sagte er, und es zeigte sich, daß in dem verwitterten
Körper jene Liebe, die ihn einst seinem Berufe entgegengeführt hatte,
noch lebendig, daß sie nicht zermürbt oder ertötet worden war, durch
den beständigen Kampf wider den Zweck und die Bestimmung seines
Menschentums. Jenen entnervenden Kampf, den er als Jüngling in der
Begeisterung seiner Jahre freiwillig aufgenommen hatte und darin der
gereifte Mann unter allen Qualen des Entsagens und Kasteiens gegen die
Natur sündigen mußte, um nicht gegen seinen Gott zu sündigen.

„Mein lieber Bruder,“ sagte er, „Ihre Sünde ist nicht so groß, wie Sie
anzunehmen scheinen. Und der Schmerz, die Unruhe, die Sie empfinden,
seit Sie an unserm barmherzigen Schöpfer zu zweifeln angefangen haben,
ist auch eine Buße, die gewogen und wahrlich nicht zu leicht befunden
werden wird. Darum glaube ich es vor Gott und vor meinem Gewissen
rechtfertigen zu können, wenn ich Sie Ihrer Sünden ledig spreche.
Leider habe ich nicht die Zeit, Ihnen die Gründe eingehend darzulegen,
denn draußen warten andere Beichtkinder. Auch bin ich alt und müd und
geistig nicht mehr regsam genug, um die großen Gärungen der neuen Zeit
zu verfolgen und Ihnen im Sinne unseres Glaubens auszudeuten. Wenden
Sie sich daher an Ihren Religionsprofessor und vertrauen Sie sich ihm
getrost an. Es wird Ihr Schade nicht sein.“

Segnend hob er die Hand, begann er die lateinische Formel zu
sprechen. Er ließ sich hierbei auch von dem Gedanken leiten, daß
durch ein Verweigern der Lossprechung, das bei den strengen
Gymnasialvorschriften leichtlich zur Ausweisung führen konnte, der
junge Zweifler nicht nur nicht gebessert, sondern erst recht zum
Verharren in der eingeschlagenen Bahn bewogen worden wäre. Hellwig
aber verstand diese Güte nicht. Rücksichtslos und hart gegen sich
und andere, forderte er dieselbe Härte und Rücksichtslosigkeit im
Verfechten der Grundsätze auch von den anderen für sich selbst wie ein
gutes Recht. Deswegen wartete er das Ende der Lossprechung nicht ab,
sondern erhob sich mit einer jähen Bewegung von den Knien und schritt
trotzig aus der Zelle.

Er ging zu Pater Romanus.

Der bewohnte im ersten Stockwerk eines armseligen Hauses zwei enge
Gelasse, die mit Kruzifixen, Heiligenbildern, Büchern und kaum dem
notwendigsten und dürftigsten Hausrat versehen waren. In dem einen Raum
befand sich neben einem Schrank, einem Betpult und einem Waschtisch
überhaupt nur noch ein schmales, mit Roßhaarkissen und einer groben
Kotze ausgestattetes Bettlein. Es ging jedoch die Rede im Ort, daß an
diese zwei Räumlichkeiten noch ein drittes Zimmer stoße mit behaglichen
Polstermöbeln und mit weichen Daunenpfühlen in einer breiten, fast
doppelspännigen Bettstatt, darinnen eine wunderschöne Nichte des
Paters die jungen Glieder strecken und nebenbei auch dem Oheim die
Wirtschaft führen sollte. Doch konnte das ebensogut böswillige
Verleumdung sein, denn wenn auch manche ein derartiges Frauenzimmer
bisweilen an den Fenstern oder im abendlichen Dunkel auf Spaziergängen
begriffen gesehen haben wollten, so war für alle Fälle und jedermann
sichtbar eine ungemein häßliche Weibsperson vorhanden, die in einer
winzigen Küche ein ungebärdiges Wesen entfaltete, wie ein Zerberus
den Wohnungseingang bewachte und jeden Unbekannten rücksichtslos vor
der hölzernen Lattentür im Vorflur warten ließ, bis sie ihn bei ihrem
geistlichen Herrn angemeldet hatte.

Auch Fritz erhielt auf seine Frage, ob er den Herrn Professor sprechen
könnte, die mürrische Antwort: „Werd’ nachsehn!“ und konnte dann in
aller Muße Zug für Zug die Buchstaben des messingnen Namensschildes an
der Vorhaustür betrachten, ehe ihm diese geöffnet wurde.

Pater Romanus empfing ihn beim Schreibtisch sitzend, und sein Kopf war
vollständig unsichtbar zwischen den dickleibigen Schmökern, die sich
rechts und links der Wangen zu Bergen türmten. Als die Tür aufging,
stieg der schwarze Haarschopf langsam aus diesem Bücherverließ, die
Augen spähten wie über eine Burgzinne nach dem Eintretenden, -- dann
sprang die schwarze Gestalt rasch vom Sessel empor und kam mit einem
freudigen „Ah!“ der Überraschung auf den Jüngling zu.

Der aber ließ sich nicht beirren, sondern begann ohne Umschweife einen
trockenen Bericht über den Vorfall in der Beichtkammer.

Pater Romanus hatte sich an dem Tisch in der Mitte des Zimmers
niedergelassen und hörte mit einem rätselvollen Gesichtsausdruck
aufmerksam zu. Als Hellwig fertig war, sagte er mit mühsam
behaupteter Ruhe: „Wenn das so ist, Kind Gottes, dann gehen Sie
morgen selbstverständlich nicht zur heiligen Kommunion. Auch vom
Kirchenbesuch enthebe ich Sie vorläufig unter der Bedingung, daß Sie
dafür wöchentlich einmal zu mir kommen. Wollen Sie mir das versprechen?“

„Ich glaube nicht, daß das einen Zweck hätte, Herr Professor,“
entgegnete Fritz zögernd.

Nun erhob sich der hagere Priester wieder, stand in der dunklen
Soutane, die sich glatt und faltenlos über den flachen Brustkasten
spannte, Stirn gegen Stirn dem hoch aufgeschossenen Schüler gegenüber,
und seine Stimme hatte den schwingenden Predigerton, als er jetzt rief:
„Geben Sie den Einflüsterungen des Bösen kein Gehör, der übermächtig
in Ihrem Herzen aufsteht, weil die alleinseligmachende Kirche ihre
Anstalten trifft, ihm ein vermeintlich schon sicheres Opfer zu
entreißen. Er schlägt Sie mit Blindheit, daß Sie vor lauter Finsternis
den Zweck nicht sehen können und das sonnenklare Ziel! Ihre Seele ist
in Gefahr, Fritz Hellwig! Sehen Sie in mir das Sprachrohr unseres
allgütigen Gottes, der Sie in letzter Stunde zur Umkehr mahnt!“

Da reckte sich der Jüngling empor: „Ich habe es nicht nötig,
umzukehren, Hochwürden. Ich will nicht zurück, sondern vorwärts!“

„Ihre Verstocktheit ist groß, Kind, aber mit Gottes Hilfe ist mir die
Bekehrung weit ärgerer Sünder schon gelungen, auch bei Ihnen wird sie
kein vergebliches Bemühen sein. Ich kenne Sie durch und durch, Hellwig,
und kenne auch die Ursache Ihres jetzigen Zustandes. Sie lesen zu
viele weltliche Bücher. Machen Sie sich davon frei! Die weltlichen
Bücher sind die Saatfelder des Teufels, in denen die Giftpflanze der
Seelenfäulnis üppig in die Halme schießt! Sie machen den Gläubigen
wankelmütig und bestärken den Ungläubigen in seinem gottlosen Wandel.
Satan wollte die Menschheit von Gott abwendig machen, da erfand er die
Lettern und gab ihr die weltlichen Bücher. Aller Schmutz fließt in
ihnen zusammen wie in einer Kloake und jegliches Übel kommt von ihnen.
Verbrennen sollte man sie und in Acht und Bann tun alle diejenigen,
die sie erzeugen und verbreiten! Kind Gottes, warum lasen Sie solche
Schriften, in denen die Verleumdung der Religion ihren eklen Geifer
verspritzt? Warum lasen Sie weiter, statt sie ins Feuer zu werfen, als
Sie die Verlockung zum Unglauben merkten?“

„Solche Bücher kenne ich nicht, Hochwürden. Nur ernste
wissenschaftliche Werke. Darwin zum Beispiel.“

„Darwin!“ ächzte Romanus. „Darwin! -- Auch ich habe ihn gelesen, aber
als reifer, glaubensfester Mann und nicht als haltloser Jüngling!
Wissen Sie denn nicht, daß geschrieben steht: Hütet euch vor jenen,
die im Schafspelze zu euch kommen, im Innern aber reißende Wölfe sind?
O Kind Gottes, und Darwin ist der Oberste dieser Wölfe! Ein Irrlehrer
ist er, ein schamloser Verführer und wahnwitziger Lügensprecher! Oder
ist es nicht Wahnsinn, daß wir, die Ebenbilder Gottes, für die sein
eingeborener Sohn am Kreuze blutete, entstanden sein sollen nicht
durch eines allmächtigen Schöpfers Hand, sondern durch blinden Zufall
aus einem Urschleim? Der Kot des Lebens Anfang und der Menschheit
Vater! O mein Gott! Mein Gott! Daß sich überhaupt Leute finden, die so
hirnverbrannt sind, das zu glauben!“ -- Der Eiferer schlug sich mit der
flachen Hand vor die Stirn und Fritz entgegnete bescheiden:

„Auch in der Bibel steht, daß Gott den Menschen aus Staub erschaffen
hat.“

„Aus Staub, jawohl! Aber nicht aus Dreck! Aus Staub, den seine
göttliche Hand von aller Unreinheit geläutert und geadelt, sein
göttlicher Atem gewandelt hat zum köstlichen Gefäß der unsterblichen
Seele!“

Da sagte Hellwig und ein warmes Leuchten kam aus seinen Augen: „Auch
dieses habe ich in Darwins Lehre gefunden. Der Atem Gottes kam in den
Staub -- da war das Leben. Das Leben selbst ist dieser Atem, des Lebens
Regung in uns, das ist die Seele, unsterblich wie das einmal gewordene
Leben selbst. Und Gott ist nichts anderes als die Natur, die aus sich
selbst das Leben gebiert, dreifach und doch nur eins: der leblose Stoff
als Träger der ewigen, ehernen, großen Gesetze; der Leben gewordne
Stoff, der den unbelebten zur Selbsttätigkeit erlöst und endlich der
Selbstbewußtsein gewordene Stoff, der Geist. So hab’ ich’s mir zurecht
gelegt.“

„Lästern Sie nicht, Verblendeter!“ Der Pater hob abweisend die Hand.
Ruhiger fuhr er fort: „Ihre Seele, Kind, ist überwuchert von Unkraut
und Dornen! Viel Schweiß wird es kosten, diesen Boden zu jäten und für
die Aufnahme der heiligen Samenkörner zu bereiten, die da sind die
Worte der Evangelien. Wir müssen ganz von vorn anfangen und das so bald
als möglich. Morgen abend um sechs Uhr erwarte ich Sie. Jetzt aber
lassen Sie mich allein. Sie haben mich tief betrübt, ich will im Gebete
Trost und Zuflucht suchen. Und auch für Sie will ich beten, daß Ihnen
Gott die schwere Sünde nicht zu hoch anrechnet, die Sie im Angesicht
des Gekreuzigten begangen haben!“

Er warf sich vor dem Hausaltar, der in einer Zimmerecke errichtet
war, in die Knie, legte die Stirn auf das Holz der Betbank, hielt
die gefalteten Hände über dem Haupt empor. Wie gelöst schienen seine
Glieder, unter dem seidig glänzenden Priesterrock bebte der Leib in
Fieberschauern.

Eine tiefe Furche zwischen den Brauen, mit stürmischem Atem und
zuckenden Nüstern schaute Fritz empört zu. Dann sagte er laut und hart:
„Herr Professor, lügen Sie doch nicht Ihrem Herrgott ins Gesicht!“

Jäh fuhr Romanus in die Höhe. In den Halsadern pochten ihm alle
Pulse sichtbar. „Bube!“ schrie er. Aber sogleich wieder hatte er die
aufgestörten Leidenschaften fest im Zügel. Stoßweise, mit gewaltsam
gebändigter Erregung, sprach er: „Danken Sie’s Ihrer Mutter, daß nur
der Priester und nicht Ihr Professor die frechen Worte gehört haben
will. Sie haben die Achtung vor jeder Autorität verloren. Hellwig,
Hellwig, das wird ein böses Ende nehmen! Ich wollte Ihnen ein Freund
und Berater sein, doch Sie haben meine väterlich gebotene Hand
zurückgestoßen. Gut! Ganz wie Sie wünschen! Ich werde trachten, auch
das zu vergessen. Das ist mehr Nachsicht, als Sie verdienen. Damit ist
meine Aufgabe vorläufig beendet. Wenn Sie aufrichtig bereuen, steht
Ihnen meine Wohnung wieder offen. Bis dahin -- gehen Sie!“

Sein ausgestreckter Finger zeigte nach der Tür. Fritz verneigte sich
stumm und ging langsam. Aber über die ausgetretene Schneckenstiege
rannte er schon in heftigen Sätzen.

Draußen atmete er auf. Die leichte Winterluft streichelte ihm
die Stirn, schien mit frischen, kühlen Händen alle Unreinheit
fortzuwischen, die er aus dem Haus des Geistlichen an Leib und Kleidern
mitzutragen glaubte.

Trotzdem gelang es ihm nicht gleich, den Ekel zu überwinden, den das
Gebaren des Jesuiten in ihm ausgelöst hatte und den er ganz körperlich,
wie den Nachgeschmack einer verdorbenen Speise, zu empfinden vermeinte,
so oft er sich das Bild wieder vergegenwärtigte: Die große Gebärde, mit
der sich Romanus vor dem Altar in die Knie geworfen, das heuchlerische
Spiel mit Gebet und christlicher Liebe, die schamlose Schaustellung
von Gefühlen, die, wenn wirklich empfunden, unter allen Umständen der
Einsamkeit gehören mußten. Und er empfand lebhafte Genugtuung, daß er
mit seiner Meinung nicht hinterm Berge gehalten. Vor den Folgen war ihm
nicht bang. Er wußte, daß er recht gehandelt und glaubte noch an den
Sieg des Rechts, weil er an die Menschen glaubte und, selbst vornehm,
auch anderen keine Niedrigkeit zutraute.

Als er nach stundenlangem planlosen Herumwandern das Gleichgewicht
endlich wieder erlangte, war der Abend bereits so weit vorgerückt, daß
er Heinz nicht mehr aufsuchen wollte. Der wußte ebensowenig wie Otto
um die ganze Angelegenheit. Denn Hellwig hatte diesmal niemandem seine
Absicht mitgeteilt, weil er die Erinnerung an das Auskneifen Pichlers
noch zu lebendig mit sich herumtrug und nicht abermals einen Freund
in Versuchung bringen wollte. Das Verheimlichen war ihm schwer genug
angekommen, wie einen Vertrauensbruch empfand er es. Der Aufschub,
zu dem er sich jetzt abermals gezwungen sah, war ihm daher höchst
unlieb, und er konnte kaum den nächsten Vormittag erwarten. Dieser war
schulfrei zum Behufe eines würdigen Nachgenusses der Kommunion, die den
Studenten bei der ersten Frühmesse gespendet wurde und von der sich
Hellwig selbstverständlich fern hielt.


6.

Die Uhr am Rathaus hatte noch nicht neun geschlagen, als Fritz auch
schon mit langen Beinen über die breiten Holztreppen zu Heinzens
Behausung hinaufeilte.

Die Morgensonne hielt vor den bemalten Bogenfenstern, ließ die satten
Farben der Glasbilder aufleuchten und füllte das geräumige Stiegenhaus
mit warmem Licht. Vom Hof her drang das Lärmen der Auflader, das
Klirren der Wagenketten und das Gewieher der Pferde. Das alte Haus,
das sonst, wenn die Sonne vorübergegangen war, düster, fast mürrisch
dreinblickte, war heute gar nicht wieder zu erkennen. Jeder Winkel
schien hell und munterer Tätigkeit voll zu sein, wie ein Tempel
fröhlicher Arbeit stand es, tönte und glänzte im jungen Morgenlicht.

Und jetzt mischte sich in den summenden Lärm der Ladestellen von oben
her Türenschlag und Schuhgetrapp. Auf schnellen Füßen kam etwas die
Stufen herabgepoltert, bog um die Ecke des Treppenabsatzes. Gewänder
rauschten, ein heller Rocksaum flatterte um schwarzbestrumpfte Knöchel,
ein dicker Blondzopf schwang den Takt dazu. Ranke, geschmeidige,
biegsame Glieder, blaue Funkelaugen, gerötete Wangen -- das war ein
Hasten, war ein Eilen, hatte nicht mehr Zeit, die wirbelnden Füße zu
hemmen und -- stieß mit Hellwig Stirn gegen Stirn zusammen.

Wehleidig-erschrocken ein „Au!“ aus weißer, weiblicher Kehle. Der
Hut des Jünglings flog zu Boden. Lebenswarm knospende, drängende
Jugendfülle fiel zugleich mit einem strauchelnden Mädchenleib für einen
Augenblick in die Arme des Verlegenen, zehn kleine Finger klammerten
sich Halt suchend an seinem Rockkragen fest. Dann sprang ein Lachen
lustig in den Morgenglanz hinein: „Verzeihen Sie, bitte!“ und weiter
ging’s in trappelnden Schuhen und wehenden Kleidern die Stiege hinunter
durchs flimmernde Spiel der Sonnenlichter, während Fritz noch auf dem
Treppenabsatz stand und mit der Hand die Beule an der Stirn befühlte.

„Das war die Ev!“ sagte Heinz lachend, als ihm der Freund die Begegnung
erzählte.

„Was denn für Ev?“ knurrte Hellwig verdrossen. Er ärgerte sich über
die Heiterkeit des andern und hatte das unbehagliche Gefühl, daß
er irgendwie eine lächerliche Rolle gespielt haben könnte. Und als
nun Heinz lustig rief: „Da hört sich doch alles auf! Jetzt weißt du
Brummbär am Ende gar nicht, daß ich eine Schwester hab’?“, da wurde
Fritz wieder einmal ungemütlich.

„Woher sollt’ ich’s wissen? Gesagt hast du mir nichts, und
herumschnüffeln tu’ ich nicht!“ polterte er los. „Überhaupt -- schöne
Freundschaft das! Wenn sie mir nicht grad’ eine Beule gestoßen hätte,
wüßt’ ich bis heute nicht, daß mein Freund eine Schwester hat!“

Nun mußte er jedoch selber lachen, und so unterblieb diesmal der
Auftritt.

Heinz war in trefflicher Laune und scherzte weiter: „Dann hast du
wenigstens gleich einen Vorgeschmack bekommen! Tröst’ dich, du wirst
mit dem tollen Ding noch mehrfach zusammenrennen!“

Da hob Fritz die Hände wie zur Abwehr: „Das fehlte grad’ noch!“

„Wird dir nichts übrig bleiben!“ erwiderte Heinz. „Sie ist schon
furchtbar neugierig auf dich. Gestern ist sie auf Weihnachtsferien
gekommen -- weißt, sie ist heuer in Deutschland draußen in einem
Töchterheim -- und die Mutter muß ihr was von dir geschrieben haben.
Sie hat wenigstens gleich gestern gefragt, wann du herkommst.“

„Dann komm’ ich überhaupt nicht mehr, bis sie wieder fort ist! Ich
wüßt’ ja gar nicht, was man mit so einem Wesen reden soll!“ platzte
Fritz heraus und Wart setzte die Neckerei fort: „Nur Mut, Fritze! Wenn
man erst über den Anfang hinaus ist, findet sich alles von selber. Sie
wird dich nicht gleich fressen!“

„Aber ich kann doch um Himmels willen nicht von Buddha und Haeckel mit
ihr sprechen!“ unterbrach ihn Hellwig verzweifelt. „Und was anderes
interessiert mich nicht! Und was mich nicht interessiert, davon red’
ich nicht! Und wovon ich gern reden möcht’, das kann doch wieder so ein
Pensionsmädel nicht interessieren, so ein Gansl! Nein, da ...“

‚Tu’ ich nicht mit‘ wollte er sagen. Aber der Satz blieb ihm in der
Kehle stecken. Mitten in seine Worte hinein hatte eine klingende Stimme
gerufen: „Dank’ schön für die gute Meinung, Herr Hellwig!“

Und da stand sie, gegen die er soeben geeifert, leibhaftig unter der
geöffneten Tür, durch die vom Gangfenster in der hinteren Giebelwand
ein breiter schräger Streifen Sonnenlicht fiel. Wie goldene Fädchen
glänzten die krausen Locken über den kleinen Ohrmuscheln, hinter den
lachenden Lippen blitzten die Zähne, und die Sonnenstäubchen tanzten
um die feinen Schultern, tanzten um die werdenden Hüften unterm roten
Gürtelband, tanzten um den ganzen schlanken Leib im hellen Tuchkleid,
der sich auf tanzbereiten Füßen wiegte und seiner jungen Schönheit
sorglos freute.

Fritz war nicht so sorglos. Linkisch stand er, mit rotem Gesicht,
und wußte tatsächlich nicht, was er reden sollte. Heinz schaute von
seinem Schreibtisch behaglich nach den beiden, schlang die Hände um das
emporgezogene Knie und war gemütsroh genug, dem ruppigen Freunde den
fatalen Zustand vom Herzen zu gönnen.

„Jetzt wehr’ dich!“ rief er ihm fröhlich zu. „Gib acht, daß sie dir
nicht die Augen auskratzt.“

„Von mir aus ...“ brummte Hellwig achselzuckend, während er sich
trotzig gegen die Wand lehnte, die er im beständigen Rückwärtsschreiten
endlich erreicht hatte. Dabei duckte er den Kopf nach vorn, denn
der aufstrebende Haarschopf fegte bereits die schiefe Decke des
Dachzimmers. Und da er noch obendrein die Hände zu Fäusten geballt
hielt, war er ganz bedrohlich anzusehen, gleich einem sprungbereiten
Tiger oder lauernden Schnapphahn, wie Heinz belustigt meinte.

Mittlerweile hatte sich die junge Schöne mitten in der Stube
aufgepflanzt und tauschte mit dem Bruder einen verständnisinnigen Blick.

„Also ein Gansl bin ich?“ sagte sie unter mehrfachem leichten
Kopfnicken. „Wissen Sie, daß das eine Beleidigung ist?“

Fritz gab keine Antwort. Er stand unbeweglich, wurde noch röter und
aufgeregter, aber scheinbar ruhig, wie das seine Gewohnheit war, sah er
dem unerwünschten Widerpart scharf und gerade in die Augen.

‚Sie schaut der Mutter ähnlich,‘ dachte er und fühlte dabei, wie
der Zorn in ihm zu kochen begann, weil sie’s wagte, ihn zur Rede zu
stellen. Da sie ein bitterböses Gesicht aufgesetzt hatte und das
verräterische Zucken der lachlustigen Mundwinkel, so gut es ging,
unterdrückte, nahm er ihre strenge Frage für blutigen Ernst, glaubte
in eine demütigende Lage hineingeraten zu sein und ärgerte sich über
seinen Mangel an Schlagfertigkeit, der ihm keine schneidige Entgegnung
finden ließ.

„Eine ungerechtfertigte Beleidigung!“ bekräftigte Heinz.

„Und für die müssen Sie Abbitte leisten!“ forderte der entsetzliche
Backfisch resolut und hielt dem geraden, feindseligen Blick des
Gequälten tapfer die blauen Augen entgegen.

Hellwig schwieg. Von den hohen Büchergestellen funkelten in
Goldschrift die erlauchten Namen der Geistesriesen, schienen des
ratlosen Menschleins an der Wand zu spotten. Immer stärker brodelte
es in ihm, und Wart, der ihn unausgesetzt beobachtete, hielt es für
ratsam, einzulenken. Er blinzelte seiner Schwester zu, die aber gab
nichts darauf, ließ sich von ihrem jungen Ungestüm fortreißen und
rief befehlend, mit schräg abwärts gestrecktem Arm und Zeigefinger:
„Abbitten! Nun?“

Da fuhr auch schon Hellwigs Wort wie ein Keulenschlag nieder: „Gesagt
ist gesagt und Gansl bleibt Gansl! Man hört’s am Schnattern!“

Das klang grob, herausfordernd und wirklich verletzend. Nun war’s, als
hätte eine ungeschlachte Hand mit einemmal alle kindliche Heiterkeit
aus dem hübschen Gesicht fortgewischt. In die blanken Augen kam ein
feuchter Schimmer. „Pfui, Sie sind roh!“ sagte Eva Wart, kehrte dem
klotzigen Gesellen energisch den Rücken, und ehe noch der Bruder
vermittelnd eingreifen konnte, hatte sie schon das Zimmer verlassen.

Fritz sah ihr nach und wunderte sich, wie hoch so ein dicker Zopf
fliegen und wie goldähnlich seine Spitze leuchten konnte. Ihm war
keineswegs wohl ums Herz. Er verwünschte seine ungefügen Manieren, aber
auch das naseweise Ding, das ihm mit solcher Anmaßung entgegengetreten
war. Keinen Augenblick dachte er daran, daß er eigentlich ein
Spaßverderber war. Denn er hatte kein Verständnis für tändelnde
Scheingefechte, und seiner gärenden Jugend fehlte noch vollständig
der Humor, zumal sie zu wenig sonnig gewesen und die gefühlsduselige
Empfindlichkeit der fortwährend unglücklichen Mutter gerade aus den
nichtigsten Ereignissen einen Grund zum Jammern herauszuholen pflegte.

Vergebens suchte ihm Heinz die Sache von der harmlosen Seite
darzustellen, mit beruhigenden Worten und vorsichtigem Tadel über
seine Rauhbeinigkeit. Fritz wollte nichts hören, haderte mit ihm, daß
er ihn in diese Lage gebracht, und lief endlich grollend davon.

Inzwischen hatte Eva mit sprühenden Augen und lebhafter
Entrüstung ihrer Mutter den Vorfall erzählt. Frau Hedwig nahm ihr
temperamentvolles Kind in die Arme und klopfte ihm begütigend die
erhitzte Wange.

„Nimm’s nicht tragisch, Mädl!“ sagte sie. „Jungens sind einmal nicht
anders.“

„Ich lass’ mir das aber nicht gefallen!“ rief die Kleine stürmisch. „Er
muß sich entschuldigen!“

„Das muß er nicht!“ erwiderte die Mutter mit freundlichem Ernst. „Denn
auch du bist nicht ganz schuldlos, Eva. Was hast du bei Heinz oben zu
suchen gehabt?“

„Ich war halt so neugierig,“ gestand die noch nicht Fünfzehnjährige
verschämt.

„Und warst keck und vorwitzig. Siehst du, da hast du eben gleich deine
Strafe wegbekommen.“

„Du nimmst ihn noch in Schutz ...“ murmelte das Mädchen vorwurfsvoll
und konnte die locker sitzenden Tränen nicht länger zurückhalten.

„Das tu’ ich nicht, Kind. Ich will nur sagen, daß ihr beide im Unrecht
wart. Aber auch wenn er allein schuld hätte, dürftest du keine Abbitte
von ihm verlangen. Es ist unedel, seinen Beleidiger zu demütigen. Da
weiß ich eine vornehmere Rache.“

„Was denn? Sag’s doch!“ drängte Eva ungeduldig, als Frau Wart eine
Pause machte und ihr die wirren Haare aus der Stirn strich.

Ihre Gesichter waren jetzt dicht nebeneinander. Die Frau saß in der
Erkernische beim Nähtisch, das Mädchen lehnte neben ihr, den Arm hinter
der Stuhllehne um die Mutter gelegt, und schaute sie erwartungsvoll
an. Die Ähnlichkeit zwischen beiden war nicht zu verkennen. Dieselbe
glatte, ein wenig niedrige, aber fein geformte Stirn, dieselben klaren
blauen Augen neben einer geraden, an der Spitze leicht abgeflachten
Nase, dieselben sacht geschwungenen Lippen über einem rundlichen Kinn.
Aber während bei Eva die Züge noch weich, nur erst angedeutet oder
noch verhüllt waren von dem Pfirsichflaum einer zarten Kindlichkeit,
traten sie in Frau Hedwigs Antlitz bestimmter hervor, waren durch
das Widerspiegeln eines sorgfältig geschulten Geistes in eine schöne
Harmonie gebracht und von lauterster Menschenliebe überglänzt,
vereinigten sie sich zu einem Gesamtausdruck jener Güte, von der da ein
Sagen geht, daß sie alles verzeiht, weil sie alles begreift.

Frau Wart ließ ihr neugieriges Kind erst ein bißchen zappeln, ehe sie
mit ihrem Plan herausrückte, der dahin zielte, den widerborstigen
Jungen mit einem Weihnachtsgeschenk zu überraschen. Darauf wollte die
Kleine anfangs durchaus nicht eingehen. Als jedoch die Mutter anregte:
„Weißt, wir kaufen ihm ein paar Bücher, stecken einen Zettel hinein
und schreiben darauf: ‚Vom Gansl und seiner Mutter‘, dann wird er sich
schämen und doch freuen,“ da war das quecksilberne Ding auch schon
Feuer und Flamme und brachte sofort eine Menge von Werken in Vorschlag:

„Schiller! Oder Geibel! Oder Scheffel! Nein? Also Baumbach! Freytag!
Heyse!“ und so weiter alle Lieblinge der Pensionsliteratur. Da indessen
die lächelnde Zuhörerin immer den Kopf schüttelte, hieß es gleich
wieder unwillig: „So sag’ endlich auch du was!“ und der Schmollmund war
fertig.

Aber schließlich fing sie doch wieder an, und endlich kam die Mutter
auf das ‚Liebesleben in der Natur‘ von Boelsche. Das sei heiter und
leicht und bringe manches Anregende, ohne eigentlich wissenschaftlich
zu sein. Aber Fritz brauche nicht immer nur die ganz gedankenschweren
Sachen zu lesen. Damit war die Kleine auch zufrieden, obwohl sie das
Buch nicht kannte.

Und kaum waren sie im reinen, als sich die Zimmertür auftat.
Geräuschvoll prustend und die frostroten Hände reibend, kam das
Familienoberhaupt hereingestapft, schritt vorerst zum Ofen, wo es die
Handflächen an den grünen Kacheln wärmte und machte dann beim Erker
halt. Seine massige Gestalt mit den breiten Schultern füllte den
schmalen Zugang beinah ganz.

„Nun, ihr Glucken!“ dröhnte seine tiefe Stimme und in allen Falten,
Fältchen und Pölsterchen des bartüberwucherten vollen Gesichts saßen
und lachten die fidelen Geister einer kreuzbraven Vergnügtheit. „Nun,
ihr Glucken, was für ein Ei wird denn da wieder ausgebrütet?“

„Wer weit fragt, wird weit gewiesen, Nikl,“ kam die Gattin dem flinken
Plauderzünglein der Tochter zuvor. Denn sie fürchtete, daß der
bücherfeindliche Mann dem Kinde durch ein abfälliges Urteil die Freude
verderben könnte.

Der gemütliche Bürger dachte an die nahe Weihnachtszeit und gab sich
mit dem deutungsvollen Bescheid zufrieden. „Freilich, freilich,“ lachte
er behaglich, „erwarten ist besser als erlaufen. Denn: mit Geduld hat
die Katz’ den Schwartenmagen überwunden. Ich bin schon stad!“ Und dann
unvermittelt abspringend: „Aber eine Kälte hat’s heut’, Leutln, daß die
Schindelnägel krachen! Ich hab’ ein paar hundert Flaschen Krondorfer
unterwegs, da wird mir die Hälfte zersprungen herkommen! ’s ist halt
alleweil ein G’frett! -- Hast nichts zum Essen, Mutter? Ich muß gleich
wieder hinunter.“

Trotzdem Herr Wart auf seine Frage nach dem Gabelfrühstück täglich
dieselbe Antwort erhielt: „Es steht schon auf deinem Schreibtisch!“,
wäre es ihm niemals eingefallen, vom Laden unmittelbar in sein
Arbeitszimmer zu gehen. Denn diese kurze Pause, diese flüchtige,
meist auf wenig belanglose Worte beschränkte Unterhaltung mit seiner
Frau war ihm Ausruhn, Erholung und geistige Stärkung für die weitere
Vormittagsarbeit.

Heute aber wurde er noch nicht fortgelassen. Eva stellte sich in ihrer
ganzen Größe vor ihm auf und sprach sehr ernsthaft: „Du, Vater, sag’,
bin ich ein Gansl?“

Wart Nikl schaute die sonderbare Fragerin erst verdutzt an, dann
bewegte er kräftig nickend das Haupt und rief aus einem unbändigen
Gelächter heraus: „Und was für eins, Mädl! Und was für eins! So ein
ganz ausgewachsenes! Das wär’ ein Bratl zu Martini gewesen!“ Und er
kniff sein Herzblatt in die glatt gerundete Wange.

Die Kleine aber wandte mit einem unwilligen Ruck ihr Gesicht weg,
fauchte wie ein Kätzchen, und auf der Suche nach einer schlagenden
Widerlegung sagte sie zornig: „Ich -- ich werd’ im August schon
fünfzehn und -- und die Fräuleins sagen alle, daß ich sehr gut lerne.
Ja!“

Nun mußte auch Frau Hedwig lachen, und zum Unglück hob noch obendrein
das kleinste Glöcklein im Turm des Franziskanerklosters zu läuten an.

„Hörst es?“ neckte da gleich der Vater, zum Fenster zeigend. „Hörst
es, was die Glocke sagt? ‚Tu d’ Gäns’ ein! Tu d’ Gäns’ ein!‘ sagt sie.
Komm, komm, ich muß dich in den Stall tun!“

Da hielt sich Eva die Ohren zu und wollte an ihrem Erzeuger vorüber
aus dem Zimmer. Der aber fing sie in den ausgebreiteten Arm, drückte
sie an sich und brachte mit Hilfe des untergelegten Zeigefingers
ihr gesenktes Kinn in die Wagrechte. Und da sah er, daß die großen
Kinderaugen voll Tränen waren. Sofort hörte der gutmütige Mann mit dem
Gelächter auf und sagte ganz unruhig: „Aber geh, Ev, wirst doch nicht
heulen? Fesch sein, Mädl! Spaß verstehn! -- Wart’, ich werd’ dir jetzt
auch erzählen, was die Glocken beim Begräbnis sagen. Alsdann: wenn so
ein recht reicher Frommer zur ewigen Ruh’ gebracht wird, dann brummen
die dicken großen Glocken immerzu: ‚Fünferbanknoten! Fünferbanknoten!‘
-- Aber wenn sie einen armen Hascher hinausschaffen, dann belfert nur
so ein kleines grantiges Glöckerl hinterher: ‚Klingl, glenkl, armer
Schlenkl!‘“

Das trug der Nikl sehr wirkungsvoll vor. Die ‚Fünferbanknoten‘ sprach
er dumpf und feierlich, legte die fleischige Hand auf den Magen und
schaute scheinheilig zur Decke, wogegen bei dem raschen ‚Klingl,
glenkl‘ seine Stimme in die krähendste Fistel überschnappte. Darüber
mußte Eva lachen. Und als er sie noch auf die Schulter klopfte: „Laß
gut sein, du bist schon recht!“, war sie wieder ganz versöhnt. Und
weil sie wußte, daß er’s gern von ihr leiden mochte, zupfte sie ihn am
rötlichen Bart. Nun schnappte er mit grimmigem Gesicht nach ihr, sie
zog wie erschrocken die Hand zurück und lachte laut, die Mutter lachte
mit und Wart Nikl ebenfalls, und die Fensterscheiben zitterten vor
seines Basses Grundgewalt.


7.

Während es dem Mädchen mit Lachen und freundlicher Teilnahme leicht
gemacht wurde, über den kleinen Vorfall wegzukommen, mußte Fritz wie
immer allein damit fertig werden und fraß sich hiebei nur desto tiefer
hinein in seinen Groll gegen die Frauen im allgemeinen und gegen die
weiblichen Mitglieder des Hauses Wart im besonderen. Und seine Stimmung
wurde keineswegs gebessert bei der Erinnerung, daß er wegen der dummen
Geschichte nicht einmal dazu gekommen war, Heinz von der Beichte und
dem Auftritt mit Pater Romanus Bericht zu erstatten.

Als er dies beim nächsten Zusammentreffen in den Gängen des
Schulgebäudes nachholte, meinte Wart, daß er einen Unsinn begangen
habe. „Unsinn oder Sinn!“ sagte Fritz darauf, „ich mußte einfach. Wir
werden ja sehn, ob man heutzutage wirklich ohne Lüge nicht durchkommen
kann!“

Da verkündete die Glocke hallend den Beginn des Nachmittagsunterrichts,
die Studenten strömten in die Klassenzimmer, und die beiden Freunde
mußten das Gespräch vorläufig abbrechen.

In der Oktava verlas der Klassenvorstand unter lautloser Stille das
Ergebnis der am Vortage stattgehabten Monatskonferenz, verteilte
die Strafzettel mit den Tadelsworten, den Rügen und Ermahnungen und
fügte seine eigenen Bemerkungen hinzu. Die wiesen zwar in einigen
besonders schweren Fällen drohend auf schärfere Maßnahmen und auf das
Schreckgespenst eines Durchfallens bei der Reifeprüfung hin, klangen
im übrigen jedoch recht sanft und tröstlich. Denn dem alten Herrn mit
dem weißen Backenbart und den schon leise zittrigen Händen waren seine
Jungen ans Herz gewachsen.

Name um Name wurde aufgerufen. Die Zettel wanderten in die Hände der
Schüler, und wer einen bekam, sah trübselig drein, während mancher
Schuldbewußte erleichtert aufatmete und sich freute, daß diesmal
ein schon für unabwendbar gehaltenes Verhängnis doch noch gnädig
vorübergegangen war. Schließlich blieb nur noch ein einziges Blatt
übrig. Da stellte sich der Professor in Positur, machte ein bekümmertes
Gesicht, so gut ihm das in Anbetracht seiner roten Wängelein und
fröhlich zwinkernden Augen möglich war, und begann: „Leider, und ich
bedaure das sehr, leider bin ich in die unangenehme Lage versetzt, auch
einem meiner fleißigsten Schüler, von dem ich’s nicht erwartet hätte,
mitteilen zu müssen, daß sein sittliches Verhalten nicht vollkommen
einwandfrei ist. Fritz Hellwig ...!“

Der Aufgerufene erhob sich und trat aus der Bank vor.

„Fritz Hellwig, ich habe die betrübliche Pflicht, leider, Ihnen wegen
Ihres sittlichen Betragens den Tadel der Konferenz aussprechen zu
müssen, leider.“

Fritz nahm das weiße Blatt aus den Händen des Lehrers, verbeugte sich
und ging auf seinen Platz zurück. Er dachte an Pater Romanus, fand die
Strafe sehr mild und wunderte sich nur, warum der Pater erst davon
gesprochen hatte, daß er den ganzen Vorfall vergessen wolle.

Mit diesem Gedanken beschäftigt, hörte er nur mit halbem Ohr hin,
wie der Professor jetzt fortfuhr: „Nehmen wir uns also zusammen und
folgen wir mit größerer Teilnahme dem Unterricht.“ Und erst als er
etwas schärfer einsetzte: „Hellwig, ich spreche mit Ihnen!“, erhob
dieser sich wieder und blickte ziemlich verständnislos. Nun kam der
behäbige Mann vom Podium herab, stellte sich neben die Bank und sagte
freundlich: „Wir sollen nicht so gleichgültig sein, namentlich im
Griechischen. Herr Kollege Hermann hat sich beklagt, leider, daß wir
seinem Vortrag gar nicht zuhören, sondern währenddessen leider immer
zerstreut in allen Himmelsrichtungen herumschauen. Auch bei seinen
Fragen melden wir uns niemals und bekunden mangelnde Teilnahme an
besagtem Gegenstand, indem wir immer wie ein Haubenstock dasitzen,
leider.“ Und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „Es hat nicht viel
auf sich. Nur munterer sein, munterer!“ Dann trippelte er wieder zum
Lehrpult zurück.

Fritz stand da, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen, war kalkweiß
und rührte sich nicht. Erst als der Professor fragte, ob ihm etwas
fehle, bewegte er verneinend den Kopf und setzte sich. Sein Herz
klopfte unregelmäßig, trieb das Blut bald in heftigen Stößen, bald
matt und mühsam durch die Adern. Mit leeren Augen stierte er vor
sich hin, war jetzt wirklich teilnahmslos und dachte nur immer das
eine: daß ihm ein Unrecht geschehen sei. Gerade das Griechische war
schon wegen Plato und Demosthenes sein Lieblingsgegenstand trotz des
widerwärtigen, schwindsüchtig aussehenden Lehrers, der infolge einer
Kehlkopfkrankheit fortwährend hustete und heiser sprach, als stäke ihm
ein Schleimpfropfen in der Luftröhre. Auch hatte er die Eigenschaft,
daß er beim Reden niemandem ins Gesicht, sondern mit hastenden Augen
stets an der betreffenden Person unstet vorbeisah. Deshalb konnte er
von anderen ebenfalls keinen offenen Blick vertragen, wurde unruhig und
nervös, wenn er einen solchen auf sich gerichtet fühlte. Daher mochte
er Hellwig nicht leiden, fand aber, weil dieser im Griechischen dank
einer umfangreichen Privatlektüre sehr viel wußte, keine Handhabe, ihm
irgendwie seine Abneigung fühlen zu lassen. Da hatte ihn Pater Romanus,
der tödlich Gekränkte, mit ein paar achtlos hingeworfenen Worten auf
das dehnbare Gebiet des sittlichen Betragens gewiesen und der Erfolg
zeigte, wie gut der Jesuit seine Werkzeuge zu wählen verstand.

Davon ahnte Hellwig freilich nichts. Er hatte nur das Bewußtsein, daß
der Tadel unverdient war. Denn wenn er auch nicht, wie die meisten
anderen und namentlich Pichler, bei jeder Frage, auf die er Bescheid
zu geben wußte, gleich mit der Hand in die Höhe fuhr, so konnte er
sich doch mit ruhigem Gewissen sagen, daß er den Unterricht noch immer
mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte, stets bei der Sache gewesen und nur
selten eine Antwort schuldig geblieben war.

Das Unglück wollte es, daß als nächste Lehrstunde das Griechische an
die Reihe kam und Professor Hermann, durch Aufstehen von den Sitzen
begrüßt, ins Schulzimmer trat. Auch Fritz erhob sich gewohnheitsmäßig
mit. Als er jedoch das eingetrocknete gelbe Gesicht erblickte, da
wallte zugleich mit einer siedenden Wut das kindische Verlangen in ihm
auf, dem eklen Patron einen Tort anzutun und seiner Mißachtung sogleich
irgendwie Ausdruck zu geben. Er verschränkte die Arme vor der Brust,
warf den Kopf in den Nacken und sah den Professor herausfordernd an. In
dieser Stellung verharrte er noch, als seine Mitschüler bereits wieder
auf den Bänken saßen.

Da sprang der ausgelaugte, stangendürre Mensch mit einem gewaltigen
Satz vom Podium herunter auf ihn zu: „Eh, eh, -- wie stehn S’ da? Wie
stehn S’ da?“

Fritz rührte sich nicht.

Das Gesicht des Lehrers war fahlgrün geworden. Pfeifend kam der Atem
aus der kranken Kehle.

„Hinaus! Sie Frechling! Lausbub! Klassenbuch! Sittenrüge! Karzer!
Hinaus! Hinaus!“ schrie, spuckte und hustete er und hieb mit der
geballten Rechten immerfort auf die Bank unter allen Zeichen einer
schweren Nervenüberreizung. Selbst als Hellwig das Zimmer verlassen
hatte, konnte er sich nicht beruhigen. In seinem dicksohligen
knarrenden Schuhwerk schritt er vor der Schultafel hin und her,
fortwährend Worte wie „Frechheit!“, „Bube!“ zwischen den gelblichen
Zähnen zerreibend, nahm dann das Klassenbuch aus der Pultlade und
schrieb beinah eine Seite voll. Mit einem hämischen „So!“ klappte er
endlich den grünen Deckel zu und begann ein wütendes Prüfen unter der
verschüchterten Schülerschar, wobei er raunzend, räuspernd, hüstelnd
eine ungenügende Note nach der andern in seinen Handkatalog eintrug.
Und niemand fand heute vor dem Verärgerten Gnade.

Fritz mußte inzwischen im Korridor das Ende der Stunde abwarten.
Er lehnte sich in eine der tiefen Fensternischen und blickte durch
die eisernen Gitterstäbe in den Hof, der von zweistöckigen Gebäuden
eingeschlossen, unter der Aufsicht vieler schnurgerade ausgerichteter
Fensteraugen trübselig im Schatten lag, als schämte er sich seiner
Dürftigkeit. Wehmütig streckte ein verkrüppelter Roßkastanienbaum
die beschneiten Äste nach dem Stücklein Himmel über den geflickten
Ziegeldächern, eine hungrige Dohle saß in seiner Krone, ließ den
starken Schnabel hängen und fror.

Die Glieder schlaff, den Kopf gesenkt, drückte Hellwig die Achsel
gegen das kalte Gemäuer. Aller Lebensmut war ihm zerbrochen, und in
sein steinstarres Antlitz meißelte tiefe und immer tiefere Furchen ein
ungeheurer Schmerz. Er hatte zum erstenmal im Leben die Ungerechtigkeit
kennengelernt. Und da war ihm, als sei der feste Boden unter seinen
Füßen weggezogen worden, als wankten alle Grundpfeiler der Ordnung,
stürzten hin und lägen begraben unter dem hereinbrechenden Chaos.

Es war ihm so klar gewesen bisher als die erste und einfachste
sittliche Forderung: Das Recht des Nebenmenschen wahren wie sein
eigenes, als geheiligtes, unantastbares Gut. Und jetzt? Da stand er,
und ein Unrecht war ihm geschehen, und er hatte kein Mittel, gegen den
Übeltäter aufzutreten, es sei denn die rohe Kraft der Muskeln. Und
statt, daß er und alle andern mit ihm wie ein Mann sich erhoben, den
Beflecker des Rechts zu züchtigen, blieben sie untätig, als dieser
dem ersten Verbrechen das zweite hinzufügte. Und wenn auch einige
die Unbill verurteilten, so schien sie ihnen doch zu geringfügig,
um viel Aufhebens davon zu machen. Aber gab es denn hier überhaupt
eine Geringfügigkeit? Jede Beleidigung Gottes, und wäre sie noch so
klein, sollte schwerste Missetat sein und die gröbliche Verletzung
eines ersten Sittengesetzes Bagatelle? Und jetzt empfand er auch
Scham über sein unwürdiges Benehmen. Wie zu einem heiligen Krieg
hätte er ausziehen, hätte glühend für das gelästerte Menschengut in
die Schranken treten müssen, ohne der eigenen Kränkung zu gedenken.
Statt dessen hatte er in einer großen Sache klein und jämmerlich, so
recht wie ein geprügelter Knabe gehandelt. Das machte ihn verzagt und
schwunglos, drückte nieder und beraubte ihn der Kraft zum entschiedenen
Eintreten für seine Schuldlosigkeit. Und als die Stunde vorüber war und
als er an Professor Hermann vorbei in das Schulzimmer ging, da senkte
er, wiederum zum erstenmal im Leben, schuldbewußt den Kopf.


8.

Den nächsten Tag begannen bereits die Weihnachtsferien, die solcherart
für Hellwig und für seine Mutter keineswegs freundlich eingeleitet
wurden. Er hatte ihr gleich nach seiner Heimkunft den Tadelszettel auf
den Küchentisch gelegt: „Da, unterschreib den Wisch!“ Sie las ihn
bedächtig vom Anfang bis zum Ende und fing sofort ein Weinen an und
ein Zanken, ohne den Sohn nach der Ursache der Maßregelung zu fragen.
Denn daß er sie verdiente und schuldig war, dafür war ihr das mit
dem Schulsiegel und der Unterschrift des Direktors versehene Blatt
todsicherer Beweis.

Fritz versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Es wäre auch ein
vergebliches Bemühen gewesen, ihren Glauben an die Behörden und an
geschriebene Amtsurkunden erschüttern zu wollen.

Als sie endlich mit dünnen unbehilflichen Volksschülerbuchstaben
ihren Namen auf den Zettel gemalt hatte, packte er ihn mitsamt den
Schulbüchern zusammen und ging in seine Stube. Dort fand er auf seinem
Tisch ein Postpaket vor. Überrascht öffnete er es; drei schön gebundene
Bücher fielen ihm in die Hände. Zwischen den Blättern des einen stak
ein Briefumschlag. Darin war eine Karte. ‚Fröhliche Weihnachten‘ stand
auf der einen Seite und auf der anderen ‚wünschen das Gansl und seine
Mutter‘.

Mit einem Fluch ließ Hellwig die Faust auf den Tisch fallen. Unter
zusammengezogenen Brauen funkelte der Zorn. Als Fopperei erschien ihm
die Sendung, als Zudringlichkeit und neue Beleidigung. Er hatte Frau
Wart niemals Grund zu einer solchen Vertraulichkeit gegeben, hatte
jeden Versuch schroff abgelehnt. Und nun kam sie ihm so. Denn, daß der
Plan von ihr ausgegangen, darauf hätte er Stein und Bein geschworen.
Schon schickte er sich an, die Bücher wieder einzupacken, schon schien
es, als ob Frau Hedwigs gute Saat nutzlos ausgestreut wäre. Da glänzte
ihm aus dem aufgeschlagenen Band der Name Darwin entgegen. Angeregt las
er den Satz, stutzte, las weiter.

Und als der Nachtwächter morgens im winterlichen Dunkel der Gassen den
Ruf anstimmte:

    „Hausmagd, steh auf, heiz’ ein, kehr’ aus,
    Trag ’n Bedarf Wasser ins Haus!“,

da war Fritz Hellwig richtig mit den leichten Plaudereien so ziemlich
fertig geworden.

Dadurch hatte er sich das Geschenk unfreiwillig angeeignet und die
Rückgabe unmöglich gemacht. Es hatte ihm nicht sonderlich gefallen. Zu
spielerisch, zu tändelnd und oberflächlich war es ihm. Und doch saß er
und träumte mit leuchtenden Augen in das Dunkel hinaus. Träumte vom
Frühling und Blütentreiben mit seltsam bewegtem Herzen, das wehmütig
und sonnig war, erwartungsfreudig und voll von tausend unsichtbaren,
heimlich pochenden Kräften wie ein Vogelnest zur Brutzeit. Erschauernd
wurde er seiner werdenden Mannheit inne, mit einer leisen, scheuen
Sehnsucht nach dem Weibe. Rein und ohne noch zum Verlangen sich zu
verdichten, war diese Sehnsucht einer jungen Blüte gleich, die kaum
entfaltet zum erstenmal dem Lichte entgegenblickt. Und der Atem der
Liebe machte ihn sanft und gütig und erfüllte ihn mit einer innig
warmen Verehrung für das Weib als einen heiligen Brunnen, in dessen
klarer Tiefe Anfang und Ende aller Menschwerdung in sich beschlossen
ruht. Und neidlos und ohne Vergleiche empfand er jetzt eine aufrichtige
Dankbarkeit für die mütterliche Frau, die ihm einen Freund geschenkt
und jetzt diese Weihnacht des Herzens bereitet hatte.

So wurde eine Wandlung seiner Seele wohl angebahnt, aber im kalten
Licht des Tages regte sich wieder der alte Trotz.

Damit er nicht zu Heinz gehen mußte oder Gefahr lief, von ihm abgeholt
zu werden, machte er sich gleich nach dem Frühstück auf den Weg, um
Pichler in seinem Heimatsdorf aufzusuchen, das drei Stunden von Neuberg
entfernt, schon an der bayrischen Grenze lag.

Dort hatte der Küster und Kirchendiener Pichler ein gemauertes
Hüttlein inne, das wie ein Schwalbennest an einer schlanktürmigen
Kirche klebte und außer für zwei Wohngelasse nur noch für eine
Vorratskammer und den Kuhstall Raum bot. Hellwig fand den Kameraden
in der großen Stube, wo hinter dem überlebensgroßen Kachelofen zwei
Turteltauben gurrten und links davon unter dem Geschirrschrank die
Hühner in ihrer rot angestrichenen Steige hockten. Auf der Holzbank
aber, die sich längs aller Wände um die Stube zog, saßen verteilt sechs
junge Menschenkinder. Die älteren Buben banden Birkenreiser, die, am
Barbaratag geschnitten und ins Wasser gesteckt, nunmehr grüne Triebe
hatten, mit roten und blauen Bändern zu Ruten, mit denen sie am zweiten
Feiertag die Dirnen peitschen wollten. Und um sich zu vergewissern, ob
sie das Sprüchlein noch wüßten, sprachen sie manchmal halblaut vor sich
hin: „Frische, frische Krone, ich peitsch’ dich nicht um Lohne, ich
peitsch’ dich nur aus Höflichkeit, dir und mir zur Gesundheit!“

Beim Ofen wirtschaftete mit nackten Armen eine siebente, wenig jüngere
als Otto, in Töpfen und Schüsseln herum, und unter all der regsamen
Jugend saß dieser selbst, der einzige Dunkelhaarige, schnitt mit der
Schere Engel, Hirten und Lämmer aus einem Bilderbogen und steckte sie
neben die heilige Familie und die drei Könige aus dem Morgenlande in
den Moosboden der aus Pappendeckel gefertigten Krippe.

Als Hellwig die strohgefütterte Tür öffnete, schwieg das Summen und
Tönen, die geschäftigen Hände ruhten und vierzehn helle Augen starrten
neugierig auf den Ankömmling, der mit Reif und Schnee zugleich eine
frische Winterluft in die dumpfig warme Stube brachte. Anfangs waren
sie schüchtern und sahen zu, wie der älteste Bruder in seiner lauten
Weise den Freund begrüßte. Bald aber schoben sich die kleineren,
die schmutzigen Mittelfinger im Mund oder Nasenloch, näher heran,
glucksten und umschlichen im Kreis den Fremdling. Da hob Fritz eine
kaum Vierjährige mit beiden Armen hoch über seinen Kopf, daß sie fast
an den braunen Deckenbalken stieß. Und nun wollten auch die andern
Fibelschützen nicht um diesen Genuß kommen, drängten und stießen sich,
kicherten, und als Otto mit den geflochtenen Weihnachtsstriezeln und
einer Flasche Kümmelschnaps aus der Vorratskammer zurückkehrte, lehnten
sie bereits, links zwei Männlein, rechts zwei Weiblein, alle unter zehn
Jahren, an den Knien des Gastes, der beim Eßtisch saß, und guckten
scheu-zutraulich wie junge Hunde von der Seite nach seinem Gesicht
hinauf. Die zwei älteren Burschen flochten leise pfeifend an ihren
Ruten weiter, und die Siebzehnjährige beim Ofen, die nach dem Tode der
Küsterin das Haus versehen mußte, hantierte mit ihren Kochgeräten und
bemühte sich jetzt, möglichst wenig Lärm zu machen.

Hellwig aber war Kind mit den Kindern, und Otto gewahrte mit wachsendem
Staunen, wie viel harmlose Heiterkeit und genügsamer Frohsinn diesem
spröden, widerspenstigen Charakter eingemischt war. Er lachte und trieb
Tollheiten, sprach Schnellsagesätze vor -- „hinter Hansens Hundshütten
hängen hundert Hundshäut’“ -- und erzählte den Auflauschenden von der
versunkenen Stadt im Tillenberg, von der Sturmmutter Melusine und dem
Hehmann im Franzensbader Moor.

Dann kam der Küster nach Hause, ein schneiderdürres Männchen mit
spitziger Nase, spitzigem Kinn und einem spitzigen grauen Ziegenbart
darunter, und brachte in einem Netz zwei schöne Spiegelkarpfen, ein
Geschenk aus dem Fischteich seines Pfarrherrn. Im Nu war er von der
Schar seiner Sprößlinge umringt, und in dem Gewoge blonder Köpfe und
greifend emporgestreckter Hände schwankte sein kümmerliches Gestaltchen
wie der Mast eines steuerlosen Kutters in sonnenüberfunkelten Wellen.

Endlich gelang es der ältesten, das Fischnetz zu fassen und mit
hochgehaltenen Armen aus dem Bereich der neugierigen Finger zu bringen.
Aber immer wieder bettelten die Kleinen: „Zeig’ doch einmal her!
Ich möcht’ mir die Viecher ja nur anschaun!“, hingen sich an ihren
Rock und suchten den Arm der Schwester im Sprung zu erhaschen und
niederzuziehen. Scheltend wehrte sie dem Ansturm, machte sich mit
einem kräftigen Ruck frei, und nun flog die ganze leuchtende Wolke
von Gesundheit und Jugendkraft zur Anrichtbank beim Ofen, während
das Küsterlein den Schnee von den Röhrenstiefeln stampfte und den
Gast bewillkommte. Doch hielt es sich nicht lang dabei auf, sondern
verlangte gleich nach dem Mittagessen.

Bald saßen um eine einzige gewaltige Schüssel dampfender Milchsuppe
mit Schwarzbroteinlage alle außer der ältesten Tochter, die sich
Abbruch tat und den Magen bis zum Aufleuchten der ersten Sterne leer
behalten wollte, um dann sicher das goldene Meerschweinchen über die
Zimmerdecke laufen zu sehen. Das Fasten wurde ihr gar nicht leicht, und
man merkte ihr an, daß sie gern mitgehalten hätte, als nun alle ihre
Löffel in die dickliche Flüssigkeit versenkten, auch Fritz, der die
Gastehre eines eigenen Tellers rundweg ausgeschlagen hatte. Die Kinder
aßen noch ungeschickt, mit schmatzenden Lippen und hastigen Gebärden,
indes die zwei halbwüchsigen Rutenbinder langsam, ernst und mit einer
Gründlichkeit dem Nahrungsgeschäft oblagen, daß ihnen der Schweiß auf
die Stirnen trat.

Ganz gegen seine sonstige Gepflogenheit sprach Otto nicht viel.
Verdrießlich zupfte er an seinem sprossenden Schnurrbärtlein und
war unzufrieden mit Hellwigs Besuch, trotzdem er ihn dringend darum
gebeten. Er hatte sich’s eben ganz anders vorgestellt, ein ungestörtes
Beisammensein mit dem Freunde, wobei ihm Gelegenheit geboten war, seine
Geistesblitze flammen zu lassen. Vor den Geschwistern aber oder gar
vor dem Vater getraute er sich nicht mit hohen Themen anzufangen, da
er selten von der Leber weg sprach, sondern mit Vorbedacht je nach der
Zuhörerschaft Gegenstände auswählte, mit denen er zu blenden hoffte.
Das war jedoch beim Küster so gut wie ausgeschlossen. Der ließ sich
von niemandem ein X für ein U vormachen und hatte für die oft gewagten
Behauptungen seines ältesten noch immer einen tüchtigen Trumpf bei der
Hand gehabt. Alle Versuche aber, Fritz von den Angehörigen abzusondern
und in die kleine Stube zu lotsen, scheiterten an dem rückhaltlosen
Behagen, mit dem sich dieser den Kindern überließ, und an seiner
hellen Freude über die ihm bisher unbekannte Traulichkeit eines
quellwasserfrischen Familienlebens.

So kam es, daß der Küster fast allein die Unterhaltung besorgte. Das
bewegliche Greislein hatte sich trotz Armut und Kindersorgen den
Humor nicht abhanden kommen lassen und trug sein Los mit heiterer
Zufriedenheit.

„Sie müssen halt fürlieb nehmen,“ sagte er zu Fritz. „Was Extra’s
ist’s nicht. Wir machen eben unsere Schrittlein und essen unsere
Schnittlein, so gut wir können. Langen Sie zu, wenn’s Ihnen schmeckt,
oder hören Sie auf, wenn Sie genug haben. Immer tüchtig! Tüchtig!
Wie man sich zum Essen hat, so hat man sich auch zur Arbeit. Schaun
Sie unsern Christoph an,“ -- er deutete mit dem Kinn zu einem der
Rutenbinder hinüber -- „wie schön faul der einführt. Der war auch in
der Stadt im Gymnasium, er hat studiert bis zum Hals, in den Kopf ist
nichts hineingegangen.“

Der Christoph ließ ein unwilliges Grunzen hören, aß aber unentwegt
gemächlich weiter.

„Da schaut den an!“ fuhr der Vater fort. „Der ist gar ein Philosoph.
Recht hast, Toffl, schweig und näh’ dich an und denk: Wenn man auf
alle Hund’ werfen wollt’, die einen anbellen, müßt’ man viel Steine
aufheben. Ob du ein Studierter bist oder nicht, ist egal. Unser
Herrgott verläßt keinen Deutschen, wenn er nur ein wenig Böhmisch
kann!“ Und er lachte über den Witz, daß er mit dem Essen innehalten
mußte.

Viel zu rasch nahte für Hellwig die Stunde des Heimwegs, wollte er
die Mutter nicht mit dem Anzünden des Christbaums warten lassen.
Er gab allen der Reihe nach die Hand und mußte versprechen, bald
wiederzukommen. Otto begleitete ihn ein Stück und brachte jetzt das
Gespräch natürlich zuerst auf die Vorkommnisse in der griechischen
Stunde. Fritz war indes nicht in der Stimmung, darüber zu reden. Nur
als Pichler sagte: „Du hast’s dem hustenden Schleicher gut gegeben, das
war großartig!“, wehrte er kurz ab, mit gefurchter Stirn: „Laß mich in
Ruh’!“ Aber er blieb ganz kalt dabei. Wie in eine weite Ferne gerückt
kam ihm das Ereignis vor. Denn dazwischen war die Auferstehung der
Liebe und der erkennende Blick in unschuldige Kinderaugen.

Otto suchte nunmehr seine neuesten Schlager an den Mann zu bringen, die
Ausbeute einer flüchtigen Beschäftigung mit Stirners Hauptwerk. Doch
auch damit weckte er heute keinen Widerhall. Fritz hörte nur mit halbem
Ohr hin, und Pichler sah seine geistreichsten Paradoxa wirkungslos
verpuffen. Da verlor er die Lust zur Fortsetzung des Feuerwerks und
kehrte um.

Fritz aber bog jetzt von der Straße ab und schritt weglos in das
stille, klare Winterland hinein. Weiß, weich und schimmernd breitete
sich der Schnee, ein stolzer Fürstenmantel für die Berge, eine warme
Schlafdecke für die müden Fluren, machte den Schritt lautlos, das Auge
hell und freundlich den Tod, der auf kahlen Ästen mit vergessenen
welken Blättern spielte und in verlassenen Vogelnestern kauerte. Und
vor der weiten, toten Einsamkeit war der Himmel erschauernd hoch
hinauf zurückgewichen. Vergeblich strebte die Sonne den kalten Leib
der Erde in ihre Arme zu nehmen wie damals im Frühling. Kaum, daß sie
den fühllosen noch streicheln und mit ein paar funkelnden Edelsteinen
schmücken konnte.

Fühllos und tot?

Wie viele mochten jetzt, im gleichen Augenblick, gerade so wie der
hagere Junge, mit wachen Sinnen und heißem Herzen über öde Flächen
wandern und durch Frost und Eis und Winterstarrheit unbewußt dem
Endzweck ihres kurzen Daseins entgegengetrieben werden, der da ist:
Träger, Übertrager des Lebens zu sein. Liebe nennen sie’s und sind
glücklich dabei. Glücklich wie irrfahrende Schiffer, die endlich
Land gefunden. Land: das heißt fester Boden, Herd, Weib, Kind und
-- ein Fleckchen zum Grab. Was sonst noch drum und dran hängt:
Religion, Gemeinwohl, Kunst, Kultur, ist gute Zier und erfreuendes
Spiel, nicht mehr. Und über die Grube des bewunderten Künstlers und
des geistesgewaltigen Denkers, des Länder einenden Staatsmannes wie
des schwärmerischen Religionsstifters schreitet mit schweren Schuhen
rücksichtslos und lachend in derber, rotbackiger Daseinslust mit seinem
Schatz der junge Bauernbursch, ein Kaiser gegen die großen Toten, nur
weil er lebt.

Und der jetzt weiter und weiter in die Einsamkeit lief, Fritz Hellwig,
der ernste Grübler und Sucher, hatte das gleiche Empfinden. Wohl konnte
er sich nicht erklären, was das war und woher es kam. Aber es war da,
hielt ihn fest und stieß ihn vorwärts wie Sprungfedern. Er sah den
blauen Himmel und nickte ihm zu, er sah den saubern Schnee der Erde und
warf sich längelang hinein, wälzte sich darin in toller, zweckloser
Freude, sprang wieder auf und rannte mit wilden Jubelschreien weiter,
dachte an nichts und wollte an nichts denken. Er fühlte nur, daß er
lebte und daß das Leben schön war, schön und reich und verheißend --
wie die Geschenke gütiger Frauen oder die Augen junger Mädchen. Weder
an Frau Wart noch an Eva dachte er dabei, nur ganz umrißlos schwebte
ihm die Erscheinung eines wunderherrlichen Weibes vor mit blonden
Haaren, freiem Blick und beglückender Anmut im Wesen und Bewegen.

Da drang ein sanftes Blöken an sein Ohr und wie er aus seinem Taumel
erwachte, und wie er näher hinschaute, bemerkte er mitten im Walde,
durch unregelmäßige Zwischenräume getrennt, mit Reisig zugedeckt und
mit zartem Heu und Nadelholzknospen als Köder darüber, drei tiefe
Gruben, die ein schlauer Wilderer den Jagdtieren gegraben hatte. Und
noch eine vierte war da, bei der war das leichte Deckwerk eingebrochen.
Mit weitem Schlunde gähnte sie dunkel aus dem weißen Schnee herauf und
darinnen stand ein rötlichgraues Rehkalb, schrie und schlug mit den
Vorderbeinen immer wieder nach dem Rand der Grube. Aber es erreichte
ihn nicht, zitterte und fürchtete sich sehr.

Fritz legte sich platt auf die Erde, griff das Viehlein behutsam mit
flachen Händen beiderseits der Brust und hob das zappelnde heraus.
Jetzt war es auf ebenem Grund und sollte davonlaufen. Aber es tat nur
kurze Sprünge, humpelte unbehilflich und zog den einen Fuß hoch. Nun
sah er, daß es dort einen offenen Schaden hatte vom Sturz in die Falle,
vielleicht auch einen Sehnenriß oder Bruch. Da nahm er das ganz junge,
magere Geschöpf vom Boden und trug’s auf seinen Armen zum Forsthaus
an der Straße. Und wie er so dahinschritt unter den stillen runden
Kiefernkronen, wußte er auch, was er damit tun wollte.

Er sprach mit dem Förster, forderte und erhielt das Tierchen um
ein billiges Geld. Denn es war nicht mehr waldtüchtig und für den
Markt noch zu dürftig an Fleisch und Fell. Nach geschlossenem Handel
strich der Weidmann eine Salbe auf die wunde Stelle und legte einen
Leinenstreifen darüber, die Försterin aber tat noch ein übriges, nahm
das rote Bändlein aus den Locken ihrer Siebenjährigen und knüpfte es
dem Tier um den Hals.

Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Aber der Schnee leuchtete,
und alle Gegenstände waren nahe gerückt und standen in einer ruhevollen
Halbhelle wie Wächter vor einem schönen Geheimnis. Über den Saum des
Horizonts kam ein großer Stern herauf, strahlte und winkte der Erde:
‚Komm zu mir, ich bin deiner Rätsel Lösung‘. Doch die Erde, stolz,
leuchtend in reiner Klarheit, winkte zurück: ‚Komm du und erkenn’ in
meinem Spiegel deines Wesens Art‘.

Mit seiner atmenden Last ging Fritz rasch vorwärts. Niemand begegnete
ihm. Von den Dörfern, die rechts und links der Straße bis zu den Bergen
hinüber allenthalben in den Fluren verstreut lagen, blinkte gelber
Lichtschein aus jedem Fenster. Alle Menschen waren schon daheim und
rüsteten sich für die Ankunft des Herrn.

Fast ohne Biegung lief die Straße nunmehr, von hohen Pappeln begleitet,
eine sachte Lehne hinauf, und da sie sich oben gleich wieder abwärts
senkte, schien es dem Hinanschreitenden, als endigte sie gerade vor
dem riesigen Himmelstor, dessen dunkelblauer Stahl, mit silbernen
Sternennägeln beschlagen, den Raum von der Unendlichkeit schied.

Breit, schwer, gewaltig ragte es senkrecht auf, für immerwährende
Zeiten geschmiedet und geeignet, dem brüllenden Ansturm der Ewigkeiten
von drüben wie dem Zuflattern der bang fragenden Seelen von hüben
unverrückbar und gelassen standzuhalten. Und da schien es Hellwig, als
sei das heiße, pochende Leben irgendwo weit zurückgeblieben, und vor
der Majestät des Schweigens, das machtvoll aufgerichtet ihm entgegen
stand, fühlte er zum erstenmal das Grauen vor der Einsamkeit, die ihn
zu würgen begann, während sie ihm sonst Freundin und Trösterin gewesen.
Mit schleppenden Schritten ging er weiter. Eine schnürende Beklemmung
engte ihm die Brust, und ihm war, als hätte er allen Zusammenhang mit
der Erde verloren.

Endlich war er oben. Und der Himmel war mit einem Male hoch und fern,
und vor ihm breitete sich das weite weiße Tal im Mondglanz wie in einem
leise wallenden, ganz durchsichtigen See, und die Lichter von Neuberg
grüßten freundlich. Ganz deutlich sah er den Kirchturm, die feurige
Scheibe der Rathausuhr, das alte hochgiebelige Haus am Marktplatz.
Ein Fenster schien dort besonders hell. Und im Rahmen zwischen den
geöffneten Flügeln stand eine schlanke junge Gestalt in knappem Kleid
mit rotem Gürtelband, winkte -- und winkte ihn ins Leben zurück.

Trugbild der Mondnacht.

Aber jetzt gab’s kein Halten mehr. In langen Sätzen sprang er den
Abhang hinab. Das warme Geschöpf auf seinen Armen regte sich unruhig,
hob den Kopf und schrie kläglich. Er kümmerte sich nicht darum,
blickte nur nach dem leuchtenden Fenster hinüber und glaubte in alle
Herrlichkeiten der Erde zu schauen. Dann erlosch das Schimmern, Gassen
schoben sich dazwischen, er hastete hindurch und fand sich -- er wußte
nicht, wie er hingeraten -- mit seinem Rehkalb plötzlich im dämmrigen
Flur des Kaufmannshauses.

Das laute Dröhnen seiner Stiefel auf der Treppe ernüchterte ihn.
Er fuhr zusammen, blieb stehen, besann sich. Das Tierchen blökte
immerfort. Seine rauhe Stimme füllte hallend die gewölbten Gänge.
Erschrocken legte er ihm die Hand auf die Schnauze und wollte zurück.
Das ging jedoch nicht mehr. Denn das Weib des Hausdieners stand, durch
das Geschrei herausgelockt, bereits unten auf der Stiege.

„Gehen Sie nur hinauf, Herr Hellwig,“ sagte sie, als sie ihn erkannte.
„Die Herrschaften sind alle zu Haus.“ Da mußte er vorwärts.

Das Rehlein spektakelte unaufhörlich. Als er bereits im ersten Stock
war, fiel ihm ein, daß er ja sein lungentüchtiges Angebinde beim
Auflader abgeben könnte. Das war wie eine Erlösung. Aber es mußte beim
Vorsatz bleiben. Die Wohnungstür tat sich auf, neugierig steckte die
kleine Eva Wart den blonden Kopf heraus. Nun durchfuhr es ihn wie den
Soldaten der Befehl. Auf gestrafften Beinen stand er kerzengerade und
hielt den Nacken steif. Unter den gefalteten Brauen blickten die Augen
wieder feindselig auf das Mädchen, von dem er sich noch vor kurzem im
Geiste die Pforten des Lebens hatte öffnen lassen.

Das Rehkalb blökte noch immer.

Eva war nicht weniger rot als Hellwig. Kleinlaut schob sie sich durch
den Türspalt, hatte die Wimpern gesenkt und spielte mit dem Ende ihres
dicken Zopfs, der sich über ihre Schultern nach vorn verirrt hatte.
Keine Spur mehr von Übermut und Reschheit, wie sie sie vor ein paar
Tagen im Dachzimmer gezeigt. Die Ermahnungen der Mutter machten sie
schuldbewußt und befangen.

Fritz raffte sich endlich auf, verbeugte sich und sagte: „Guten Abend.“

„Guten Abend,“ kam ebenso kurz ein Gelispel zurück. Aber hinter den
niedergeschlagenen Augendeckeln begannen die losen Geisterchen schon
wieder zu rumoren. Und vom rechten glitt sogar eines zum Mundwinkel
hinab, huschte über die geschürzten Lippen und war im Nu hinter der
linken Augenklappe verschwunden. Dort lachte es fröhlich weiter. Und
das Rehkalb sorgte, daß keine Stille eintrat.

Nach einer Weile fing Fritz von neuem an: „Ich -- danke -- für die
Bücher.“

Da hob sie die Stirn. Und aus ihren Augen sprang ihm der ganze Schwarm
der lustigen Kobolde entgegen, daß er ordentlich geblendet zurückfuhr.

„Hat’s Ihnen Freude gemacht?“ forschte sie.

Er überhörte die Frage, sprach schnell und unsicher weiter: „Da bring’
ich Ihnen was ... wenn Sie’s halt mögen. Sonst schaff’ ich’s wieder
fort.“

Ihr Gesicht strahlte. „Mein?“ fragte sie zweifelnd, kam näher und
strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über das weiche Fell. „Wie lieb
und hübsch.“

Er schaute auf ihre goldfarbenen Locken, die sich dicht vor seinen
Augen kräuselten und tat in fluchtartiger Eile einen Schritt zurück.

„Passen Sie auf!“ warnte er dabei. „Es hat ein wehes Haxl!“ Doch als er
ihre bestürzte Miene gewahrte, beruhigte er gleich: „Es hat nicht viel
auf sich. In ein paar Tagen ist’s gut. Wollen Sie’s?“

Sie bejahte wortlos mit wiederholten heftigen Kopfbewegungen.

„Dann lass’ ich’s also hier!“ sagte er, froh über die Erledigung der
schwierigen Angelegenheit und setzte das Tierlein behutsam auf den
Fußboden. Zitternd stand es da und tat sehr scheu.

„Geben Sie ihm bald zu saufen und zu fressen!“ riet er noch. Und Eva
ganz ängstlich darauf: „Mein Gott, was denn? Ich hab’ ja nichts!“

„Im Stall unten ist Heu genug für hundert solche Vieher!“ belehrte
er sie und drängte das Reh in den Vorraum der Wohnung. Dann wandte
er sich zum Gehen. Aber die Kleine hatte noch etwas auf dem Herzen.
Unschlüssig stand sie, hielt die Klinke in der Hand und fühlte sich gar
nicht behaglich, zumal das Rehkalb immer von hinten gegen ihre Beine
stieß und hinauswollte. Doch sie nahm allen ihren Mut zusammen. „Herr
Hellwig!“ rief sie schüchtern. Und als er sich umdrehte, murmelte sie
mit fliegendem Atem: „Nicht wahr, Sie ärgern sich nicht mehr auf mich?“

„Weshalb sollt’ ich denn?“ kam ein Knurren zurück.

Bittend schaute sie ihn an. „Gehn Sie, Sie wissen’s ganz gut ... von
neulich halt ...“

„Nein, Fräulein ... Eva!“ Gewaltsam mußte er sich ihren Namen aus der
Kehle zwingen. „Gute Nacht!“

Und er beeilte sich, über die Treppe hinunterzukommen, während sie,
wieder ganz fröhlich, hinterher rief: „Sie haben schon recht gehabt mit
dem Gansl!“

Dann fiel die Tür krachend ins Schloß und legte sich plump und klotzig
vor ein helles Mädchenlachen.

Unten streckte Fritz beide Arme mit kräftigen Stößen ein paarmal
seitwärts und vorwärts, denn sie schmerzten ihn jetzt doch, weil er
ja die, wenn auch leichte Bürde fast zwei Stunden ohne Unterbrechung
geschleppt hatte. Dann schlenderte er langsam seiner Behausung zu in
einer sonderbar weichen, träumerischen Stimmung. Aber er freute sich
darüber und freute sich auf die Stunden, die kommen würden und begehrte
die Zeit vorwärts zu schieben, als hätte er etwas recht Fröhliches
in ganz naher Frist zu erwarten. Und einen nach allen Windrichtungen
zerflatternden Drang fühlte er, zu irgendeiner besonderen Tat, die
stark oder gut sein sollte und jedenfalls so, daß sie vor den blauen
Augen bestehen könnte, deren strahlenden Schein er heimlich im Herzen
wie in einer Schatzkammer trug.

Aus einzelnen Fenstern schimmerten schon die Christbaumkerzen, als
er mit heiterer Miene noch einmal in das entlegenste Gewinkel der
Vorstadt hinausging, wo als vorgeschobener Posten ein Völkchen von
Straßenkehrern, Bettlern und herabgekommenen Handwerksleuten mit
vielen Kindern und wenig Brot in einer Reihe armseliger Hütten
herbergte. Dort öffnete er auf gut Glück eine der Türen, die
geradeswegs in die Stube führte, warf seine Börse hinein und lief
rasch weg, indes hinter ihm das wüste Gekeif einer harten Weiberstimme
unvermittelt in den schrillen Ruf grenzenloser Überraschung
umschlug. In jener Börse aber hatte er schon seit Jahren von seinem
Taschengeldchen Kreuzer zu Kreuzer gespart, um nach der Reifeprüfung
eine Reise in die Alpen unternehmen zu können. Doch tat ihm das
Aufgeben einer lang genährten Hoffnung heute gar nicht leid. Froh
war er darüber, und da das Opfer uneingestandenermaßen der kleinen
Eva Wart gegolten, fühlte er sich jetzt wie durch ein Band geheimen
Einverständnisses mit ihr verbunden, obwohl sie gar nichts davon wußte.

Seine Mutter aber hatte ihn noch nie so sanft, zugänglich und
herzlich gesehen wie an diesem Abend, so daß auch für sie ein
leidlich vergnügtes Weihnachtsfest abfiel. Sie bedachte ihren
Jungen mit allerlei Dingen des täglichen Bedarfs, mit Hemden,
Taschentüchern, Socken und Kragen, erging sich eine Stunde lang in der
beschaulich-rührseligen Betrachtung einstiger, gemeinsam mit dem Gatten
verlebter Weihnachtsabende und suchte dann ihre Schlafstelle.

Fritz dagegen begab sich, als die Glocken zur Mette läuteten, noch
einmal auf die Straße, wo von allen Seiten die Frommen heranzogen,
um beim Gottesdienst der Geburt des Erlösers dankbar zu gedenken.
Trotz der mondhellen Nacht trugen viele nach alter Gewohnheit ihre
brennenden Laternen mit sich, und auch von den Hügellehnen herab zu
den Dorfkirchen bewegten sich rötlichgelbe, schwankende Lichter, eines
hinter dem andern, wie die Glieder großer Feuerwürmer.

Unstet strich Hellwig durch die Gassen und spähte den Wallern ins
Gesicht. Zwischen ernsten Greisen, würdigen Matronen und verschlafenen
Hausfrauen schritten blutjunge Mädchen mit lebenslustigen Augen, die
unter großen Umschlagtüchern, Kapuzen oder leichten Seidenschals
verstohlen nach den Jünglingen blickten. Insgeheim hoffte Fritz auch
Eva in der Menge zu sehen. Aber sie kam nicht. Und als er sich scheu
wie ein Dieb in die Nähe des Marktplatzes wagte, da lag das Haus der
Kaufmannsfamilie schwarz und finster ganz im Schatten, und hinter den
Vorhängen waren alle Lichter verlöscht. Nun wurde er kühner, setzte
sich auf den Rand des Brunnens, der von einer uralten steinernen
Rolandfigur bewacht, in der Mitte des Platzes aufgestellt war, und
während das Wasser hinter seinem Rücken klingend in das Becken fiel,
starrte er zu den dunklen Fenstern empor, und in seiner verwunderten
Seele begann das Keimen und Wachsen einer zaghaften Sehnsucht, eines
innigen Glücksgefühles, gleich dem Drängen und Treiben in blattlosen
Bäumen zur Vorfrühlingszeit. Noch wissen sie nicht, was da sich
regt und ihre Rinde dehnt, -- ahnungsvoll stehen sie und warten und
ängstigen sich wohl auch, bis in einer gesegneten Stunde aus allen
Knospen grüne Blätter, weiße Blüten lachend der Sonne in die Arme
springen. So träumte Fritz Hellwig unter einem hohen, frostklaren
Sternenhimmel seiner ersten, keuschen, seligtörichten Jünglingsliebe
entgegen. --

Als er am nächsten Morgen erwachte, schämte er sich zwar ein wenig
seines Treibens, aber die schwärmerische Empfindung war geblieben.
Doch ging er während der ganzen Ferienwoche nicht ein einziges Mal zu
Heinz, sondern trieb sich wie verloren ganz allein herum, lief alle
seine Lieblingsplätze ab und freute sich über alles mögliche: auf den
Sommer und die Erikablüte, das Baden im Fluß und das Schwämmesuchen in
den Wäldern, auf das Ende der Gymnasialstudien und auf das Leben in der
Hauptstadt, wo er im Herbst die Hochschule beziehen würde.


9.

Nach den Feiertagen wurde Fritz in die Kanzlei des Direktors gerufen,
und der hielt ihm in scharfer Weise vor und sagte ihm auf den Kopf zu,
er, Friedrich Hellwig, sei an dem und dem Tage, zu der und der Stunde
in dem und dem Gasthaus beim Billardspielen gesehen worden. Das war
eine schwere Anklage, denn der Wirtschaftsbesuch war den Studenten
streng untersagt.

„Das ist eine Lüge!“ rief Fritz ungestüm.

Der Direktor aber entgegnete, er solle sich mit seinen Worten in acht
nehmen. Ausflüchte werden da nichts helfen, denn er sei mit vollster
Bestimmtheit erkannt worden. Übrigens müsse er sich auch schon deswegen
an den Vorfall erinnern, weil er sich beim Erscheinen des Gewährsmannes
-- es sei einer der Herren Professoren gewesen -- unterm Billard
versteckt habe. „Fügen Sie also,“ schloß der Schulmann, „zu dieser
Feigheit nicht noch eine, sondern legen Sie ein mannhaftes Geständnis
ab!“

„Herr Direktor,“ antwortete Fritz mühsam, „ich bin kein Feigling.
Hätt’ ich’s getan, so würde ich’s auch sagen. Aber es ist nicht wahr!
Die Anzeige ist Wort für Wort erlogen! Stellen Sie mich dem Klatscher
gegenüber! Er soll’s mir ins Gesicht sagen, wenn er sich traut!“

Darauf erwiderte der Direktor mit seiner schrillen, metallenen Stimme,
und bei jedem nachdrücklichen Wort zuckte der breite Vollbart, stachen
die kalten Augen gegen den Verwegenen. „Vor allem,“ sagte er, „muß ich
Ihre Ausdrucksweise auf das schärfste rügen. Die Strafe hierfür wird
nicht ausbleiben, verlassen Sie sich darauf! Im übrigen werden wir mit
Ihrem unverschämten Leugnen sofort fertig sein! -- Ich bitte, Herr
Kollega!“

Er öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer, und heraus trat hüstelnd und
spuckend Professor Hermann.

„Sie wissen, um was es sich handelt, Herr Kollega? Der Schüler hat ja
laut genug gesprochen.“

„Verehrtester Herr Direktor,“ entgegnete Hermann, „verehrtester Herr
Direktor, ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen bereits mitgeteilt
habe. Der Oktavaner Hellwig hat mir gegenüber in der gröblichsten
Weise die Achtung verletzt, jene Achtung, die er seinen Lehrern
und Vorgesetzten schuldet. Dies hat mich veranlaßt, seinem Treiben
außerhalb der Schule ein wenig nachzugehen. Denn wenn ein eifriger und
fleißiger Schüler in den höheren Klassen plötzlich versagt und sein
Benehmen auffällig ändert, ist in neunundneunzig von hundert Fällen das
Wirtshaus schuld. Diese Ansicht des hochwürdigen Paters Romanus hat
sich noch immer als richtig erwiesen. Nun besteht da in der Vorstadt
ein kleines Gasthaus, wo dem Vernehmen nach fast täglich Studenten
zusammenkommen sollen, weil es entlegen, billig und mit weiblicher
Bedienung versehen ist. Mit weiblicher Bedienung! In dieser Kneipe
habe ich den Schüler Hellwig gesehen, der sich bei meinem Eintritt
hinter das Billard geduckt hat. Leider habe ich ihn nicht zur Rede
stellen können, weil meine Augengläser in der Wärme angelaufen sind,
und als ich sie geputzt hatte, war er offenbar durch einen rückwärtigen
Ausgang verschwunden.“

So redete der Professor, und wenn ihm jemand erwidert hätte, daß
Spitzeltum und Angeberei von anständigen Leuten zu den verächtlichsten
Charaktereigenschaften gerechnet werden, hätte er gewiß eifrig
zugestimmt und nur ganz verwundert gefragt, was diese Bemerkung denn
hier zu tun habe. Denn er fühlte sich in der schleimigen Niedrigkeit
seines Wesens über jeden Tadel erhaben und hatte noch niemals
gezweifelt, daß eine seiner Handlungen etwas anderes als vollkommen
sein könnte.

Fritz war einfach fassungslos.

„Es muß ein Irrtum sein!“ Der leise Ton seiner Stimme machte keinen
guten Eindruck.

„Geben Sie das Leugnen auf!“ riet der Direktor. „Sie machen damit Ihre
Sache nur schlimmer!“

Nun wurde der ehrliche Junge wild. „Ich war aber nicht dort!“ rief er
ungeduldig. „Kenne die Spelunke gar nicht! Herr Professor verwechseln
mich vielleicht mit jemandem andern!“

Freimütig und Bestätigung heischend, oder wie die beiden Pädagogen
feststellten, frech und verstockt, blickte er von einem zum andern.
Da fuhr Professor Hermann auf ihn los: „Sie kecker Bursch! Also ich
bin ein Lügner? Was? Natürlich! Verwechselt hab’ ich Sie! Einen
Doppelgänger haben Sie! -- Zu blöd! -- Verehrtester Herr Direktor, wie
ich schon sagte, der Schüler ist ein Schandfleck für die Anstalt! Ein
Schandfleck!“

Gewaltsam suchte sich Fritz zu beherrschen. Aber es ging nicht. „Sie
haben mir schon einmal unrecht getan!“ keuchte er in zuckendem Zorn.
„Ohne jeden Anlaß, nur weil Sie mir aufsässig sind! Das ist gemein! Das
ist schuftig!“

Er spie dem Professor vor die Füße, blieb mit gespannten Muskeln noch
eine Minute hoch aufgerichtet stehen und wartete. Da jedoch die zwei
Schulmeister vor der ungeheuerlichen Tat stumm wie Steinbilder standen,
schritt er traurig durch die Tür über die Stiege hinab ins Freie und
ließ, je weiter er ging, das eben noch stolz getragene Haupt immer
tiefer sinken.

Infolge dieser Begebenheit sah Romanus früher noch, als er gedacht,
seinen Plan verwirklicht, war die Entfernung Hellwigs, des räudigen
Schafes, das eine beständige Gefahr für die anderen bedeutete, vom
Gymnasium unvermeidlich geworden. Der Pater empfand eine starke
Befriedigung darüber. Nur daß sein Name in der leidigen Affäre nicht
ganz verschwiegen geblieben, trübte ihm die Freude. Denn er wollte ganz
rein dastehen. Nicht der leiseste Schatten eines Verdachtes durfte
auf ihn fallen, daß er auch nur mittelbar beigetragen hätte, wenn der
einzige Sohn einer bedürftigen Witwe kurz vor der Reifeprüfung so hart
gemaßregelt wurde.

Und wie nun in einer eigens einberufenen Sitzung Hellwigs Ausschließung
von allen Mittelschulen des Reiches beim Landesschulrat beantragt
werden sollte und als alle Lehrer einig waren, daß für den unerhörten
Frevel diese strengste Strafe eigentlich noch nicht streng genug sei,
da erhob sich plötzlich der Religionsprofessor und trat aufs wärmste
für den Sohn der Witwe ein. Er konnte das beruhigt tun. Am Neuberger
Gymnasium wenigstens konnte dieser auf keinen Fall geduldet, konnte
er nicht noch weiterhin von einem Lehrer unterrichtet werden, dem er
Gemeinheit und Schufterei vorgeworfen.

Professor Hermann aber war tatsächlich im guten Glauben gewesen. Wie
jemand, der einen Bekannten zu treffen hofft, im Menschengewühl bald
diesen, bald jenen Fremden für den Gesuchten hält, ihm nacheilt und
erst in nächster Nähe den Irrtum erkennt, -- so hatte auch er sich
vorgetäuscht, daß er Hellwig wirklich gefunden habe, weil er ihn finden
wollte. Das wußte Romanus und schonungsvoll stach er dem Professor den
Star, legte dar und stellte unter Beweis, daß der Beschuldigte an dem
bewußten Tage tatsächlich nicht in jener Kneipe gewesen, kurz, trieb
den verlegen hüstelnden Angeber so in die Enge, daß er schließlich
notgedrungen die Möglichkeit eines Irrtums zugeben mußte, worauf ihn
der Pater eines solchen in unwiderleglicher Weise überführte.

Die Stimmung unter den Professoren schlug nun zwar zugunsten des
Jünglings um, aber die gröblich beleidigte Autorität forderte Sühne.
Der Antrag an die Oberbehörde wurde auf ‚lokale Ausschließung‘
eingeschränkt.

Noch im Jänner traf die Genehmigung ein, und Hellwig erhielt ein
Abgangszeugnis, in welchem das sittliche Verhalten als ‚nicht
entsprechend‘ bezeichnet und auf der Rückseite der Vermerk eingetragen
war, daß gegen den Schüler wegen ‚Beschimpfung und Bedrohung
eines Lehrers, fortgesetzt frechen Benehmens, Ungehorsams und
Widersetzlichkeit‘ die lokale Ausschließung vom k. k. Staatsgymnasium
in Neuberg verfügt worden sei.


10.

Wenn man sieben Jahre ununterbrochen in derselben Schule von denselben
Lehrern unterrichtet wurde, ist es gewiß schwer, sich in den
Unterrichtsplan einer anderen Anstalt hineinzufinden, mit der Art und
den Eigenheiten anderer Professoren sich vertraut zu machen. Fritz
tat mehr. Seine Mutter hatte im Laufe der Jahre unter vielfachen
Entbehrungen ein paar Gulden zusammengebracht, um ihn für den Anfang
der Hochschulzeit über Wasser halten zu können. Die wollte sie jetzt
dranwenden, wollte ihn in der nächsten Gymnasialstadt weiterstudieren
lassen. Aber er ließ sich dort nur als Privatschüler einschreiben,
blieb in Neuberg und lernte ohne Lehrer drauflos. Es galt jetzt nicht
nur den umfangreichen Stoff für die Reifeprüfung, sondern auch den
des letzten Halbjahres ohne Leitung zu bewältigen. Da blieb alles
andere links liegen: Darwin, Nietzsche, Marx, die Spaziergänge und
Zusammenkünfte mit den Freunden.

Erst fertig werden! Und er hockte über den Schulbüchern wie ein
Geizhals bei seinen Schätzen.

Da fiel, es war im April, seine Mutter in eine Krankheit. Erst
Influenza. Dann Lungenentzündung. Und dann erklärte Doktor Kreuzinger
in seiner behutsamen Art dem verzweifelten Jungen, er müsse sich auf
das Schlimmste gefaßt machen.

Das durfte nicht sein. Sie mußte leben. Noch viele Jahre leben.
Durfte nicht von ihm gehen, bevor er nicht wenigstens ein Tausendstel
abgetragen hatte von seiner drückend großen Schuld. Was war denn ihr
Leben gewesen? Unter Darben und Kümmernissen ein stetes Plagen und
Sorgen für ihn. Und die Zeit, wann er das ändern, die ganze Last des
Lebens auf seine Schultern nehmen konnte, war noch so weit.

„Herr Doktor, es _kann_ nicht sein!“

Aber es war doch. Eines Nachmittags. Sie hatte die Sterbesakramente
empfangen. Segnend war der Priester gegangen. Der alte Arzt mit
dem weich fließenden Silberbart saß neben ihrem Bett. Sie lag mit
geschlossenen Lidern bleich und teilnahmslos da. Glockenklänge kamen
von draußen. Sie läuteten zu irgendeinem Begräbnis. Wie fast jeden
Nachmittag. Da regte sich die Kranke, öffnete die Augen, rief ihren
Sohn zu sich. Auf unhörbaren Sohlen zog sich der Arzt in eine Ecke
zurück. Fritz trat an ihr Bett. Sie streckte die Hände aus, zog ihn zu
sich nieder, nahe, ganz nahe. Und sah ihm aufmerksam wie prüfend ins
Gesicht. Und die Sorge um das Seelenheil ihres Kindes stieg noch einmal
in ihr auf.

„Versprich mir,“ -- flüsterte sie -- „versprich mir, Fritzl, daß du
immer an unsern Herrgott glauben wirst.“

Er aber schwieg. In gedankenloser Dumpfheit schaute er in das Gesicht,
das ihm so vertraut war, und wunderte sich, daß er noch niemals früher
bemerkt hatte, wie kennzeichnend und bestimmt ausgeprägt eigentlich die
Falte war, die sich von dem papierdünnen Nasenflügel um den Mundwinkel
bis zum Kinn hinab fortsetzte.

Und abermals, nur kaum wie ein leichter Hauch: „Versprich mir’s.“

Die Worte wehten an ihm vorbei, erreichten ihn nicht.

Er blickte auf die scharfe Linie um den Mund, sah, wie sie zuckte, bald
länger, bald kürzer wurde, und mühte sich, ihr letztes Ende in der
glanzlosen Haut des Kinns zu entdecken.

Und noch einmal, fast unhörbar, wie das Schweben einer Flocke in
unbewegter Luft:

„Versprich ...“

Wie tief die Furche wurde, wenn sich die Lippen bewegten. Und wie fremd
das aussah ...

Da hoben sich die schmalen wachsbleichen Hände. War’s zur Umarmung oder
Abwehr? Er wußte es später nicht mehr, wußte nur, daß sie sogleich
wieder schwer mit einem seltsam erschütternden, dumpfen Aufschlagen
auf die Bettdecke gefallen waren.

Und dann war alles vorbei. Nur die Augen starrten noch groß und weit
geöffnet. Aber es war keine Angst mehr darin und kein Flehen. Nichts.
Und die Furche war jetzt ganz starr, ganz tief, wie mit dem Messer in
gelbes Holz geschnitten.

Der Arzt war rasch hinzugetreten. Tiefernst, mit ruhigen, leisen
Bewegungen tat er, was für ihn zu tun übrig blieb. Er forschte nach
dem Leben und fand keine Spuren mehr, zog die Lider über die leeren
Totenaugen und wandte sich dann zu Fritz. Der stand mit schlaff
hängenden Armen und vorgeschobenem Kopf reglos. Da war etwas unter ihm
fortgeglitten. Etwas, das noch ganz kurz vorher geatmet hatte -- und
sich geregt hatte -- und Worte gesprochen hatte -- irgendwelche leise
Worte, deren Nachhall noch im Zimmer zitterte -- so still war es ...

Sacht legte ihm Doktor Kreuzinger den Arm um die Schulter. „Sie ist
hinüber.“

Verständnislos stierte ihn Hellwig an. Kein Muskel zuckte, hart lagen
die Züge auf dem unbewegten Antlitz. Langsam wand er sich aus dem Arm
des Greises, und ohne die Haltung zu ändern, steif, schwerfällig, schob
er sich aus dem Gemach.

Ein warmer Regen war niedergegangen und verrauscht. Ein harscher Wind
schob dunkle Wolkenklumpen vor sich her. Hinter ihm wurde blauer
Himmel. Rund und blank und frisch wie eine riesige, taubesprühte Knospe
lag die Erde im Arm des Frühlings. Lag und lachte, schrie, jauchzte,
jubelte dem starken Leben ein heiliges Ja entgegen. Und die Blumen
lachten es mit und die Bäche rauschten es mit und vom Himmel die Höhen
herunter brüllte es mit das täppische Hünenkind, der Lenzsturm, sprang
wipfelauf, wipfelab und über die sprossenden Fluren hin, tanzend,
keuchend, stöhnend in unbändiger Kraft.

Und: „Ja -- leben -- ja!“ brüllte er dem schwachen Menschlein zu, dem
hageren Jungen im dünnen Hausrock, mit zerwirrten Haaren, der sich,
mühsam wie der aufgescheuchte Abendfalter im unerträglich grellen Licht
des Tages, zurechtzufinden suchte und mit seiner ersten großen Trauer
zur Erde hatte flüchten wollen. Aber die Erde gab heute dem Leben ein
Fest. Und die seinen Schmerz hatte lindern sollen, peitschte ihn bis
zur Verzweiflung empor durch die wilde, machtvolle Freude, mit der
neues und immer neues Werden die starre Winterhaft zerbrach und alle
Grenzen überflutete. Leben rang sich siegreich aus Leben, stürzte
glühend in die werbende Umarmung des Lebens, und des Lebens warmer Atem
quoll aus braunen Ackerschollen, dampfte aus feuchten Moosen, stieg aus
jungen Saaten und geöffneten Blumenkelchen über Getier und grüne Wipfel
himmelan wie schwerer berauschender Opferduft.

Wozu?

Die seinem Herzen am nächsten gewesen, hatte ihren Platz verlassen, und
keine Lücke war geblieben. So -- wie nach dem Zerstäuben eines Tropfens
die ungeheure Meerflut gleichmäßig weiterrollt. Niemand fragte nach der
Gestorbenen, vermißte oder brauchte sie.

Und rings jauchzte die kraftvolle Frühlingswelt. Aber er konnte ihr
nicht nahekommen. Ein Fremdes, Hassenswertes drängte sich dazwischen,
gegen das er vergebens ankämpfte. Das machte ihn trostlos und
verzweifelt. Ganz leer war es in ihm. Und in den Kronen des Waldes sang
der Lenzsturm das Lied des Lebens. --

Stunden verrannen. In seiner leichten Jacke begann ihn zu frieren.
Da wollte er umkehren, tat ein paar Schritte, blieb wieder stehen
und besann sich. Wohin nur? Und da fiel ihm ein: Er mußte ja seine
Mutter begraben. Nun wich die steinstarre Ruhe aus seinem Gesicht. Die
Mundwinkel zuckten. Aber er konnte noch nicht weinen. --

Als er nach Hause kam, war Frau Hedwig dort. Sie hatte alles schon
besorgt. Die Leichenfrau war dagewesen, hatte die Tote gewaschen und in
ihr Kleid getan. Mit einem weißen Linnen zugedeckt, lag sie jetzt in
der Stube auf dem Leichenbrett, zu Häupten zwei brennende Wachskerzen
und das schwarze Kruzifix aus dem Glasschrank, zu Füßen ein Gebetbuch
und eine Schere. Ein Becken mit Weihwasser stand daneben und ein Wedel
aus Kornähren lag darüber. Ganz dem Herkommen gemäß war sie aufgebahrt,
und nichts war verabsäumt.

Als Fritz Frau Hedwig in der Stube erblickte, wachte die alte
Abneigung wieder auf. Nur zögernd überschritt er die Schwelle. Dann
aber bemerkte er unwillkürlich die kleinen Zeichen ihrer wohltuenden
Obsorge: das geöffnete Fenster, die abgestellte Uhr, das weiße Tuch
vorm Spiegel. Und im Bewußtsein seiner Verlassenheit konnte er sich
ihrer warmen Mütterlichkeit nicht mehr entwinden. Er griff nach den
wortlos gereichten Händen, hielt sie fest und -- drückte sie rauh
aufschluchzend gegen die Augen. Nun streichelte sie ihm die Wangen, die
Stirn, das Haar. Und dann lag sein Kopf auf ihrer Schulter, während er
sich umsonst mühte, der Tränen Meister zu werden, die ihm jäh und heiß
über die Lider sprangen.

Lautlos weinte er so, kaum eine Minute lang und doch lang genug, daß
der versteinerte Schmerz in eine sanftere Trauer sich löste.

„Mutter!“ rief er leise. „Mutter!“ So ruft nachts ein banges Kind nach
ihrem Schutz.

Und eine tiefe, weiche Frauenstimme sagte: „Still, Fritz, still! Lassen
Sie sie friedlich heimgehn.“

Er schüttelte heftig den Kopf, ohne die Stirn von ihrer Schulter zu
heben, wo es sich so gut ruhte.

„Hier war sie zu Haus ... und übermorgen ... tragen sie mir sie fort!“

„Nein, Fritz, sie tragen sie heim. In den Frieden. In die Ruhe. In das
sicherste Geborgensein. Eine Mutter zur Mutter.“

„Sie war die meine ... mir hat sie gehört!“

„Ja, Fritz, Ihnen -- aber auch der Erde. Schaun Sie, Fritz, nur der
Leib, die Form wird sich nur ändern, aber ihr Zweck wird immer bleiben.
Hier bei uns hat sie ihre Bestimmung erfüllt, drum muß sie zu anderen,
muß für diese Keim und Nahrung, Wurzel und Mutterbrust sein. Alles muß
allen nützen. Das ist das Schöne, Trostreiche auf Erden.“

Da schaute er ihr lang wie suchend in die Augen und sagte nichts mehr.

Ihre Aufforderung, bei Heinz zu übernachten, schlug er aus. Nun ging
sie und ließ ihn mit der Verstorbenen allein.

Es war bereits dunkel geworden. Die Wachslichter leuchteten matt und
füllten das Zimmer mit unstet flackerndem Schein und zuckenden Schatten.

Er trat zu der Toten und schlug das Laken zurück. Da lag sie still und
weiß in ihrem einstigen Brautkleid, und der Körper, aus dem er selbst
einst Wärme und Blut und Leben gesogen hatte, war kalt und steif und
wertlos geworden. Er schauerte zusammen. Bis in die Knochen fror ihn.
Und ihm war, als erstürbe auch sein Leib, würde bleischwer und seiner
Seele fremd, die sich plötzlich nicht mehr darin zu Haus fühlte und
erschrocken umherschaute, wie ein zur Nachtzeit angekommener Reisender
im ungewohnten Gastzimmer.

Langsam breitete er das Tuch wieder über den Leichnam und setzte sich
an das offene Fenster, durch das die starke, kühle Frühjahrsluft
strich. Der Sturm hatte sich gelegt. Es wurde Nacht. Lampe um Lampe
erlosch in den Häusern, ganz finster wurde es unter einem sternlosen
Himmel. Und zu Häupten der Toten zwischen den schwelenden Lichtern hing
unbeweglich der Kruzifixus.

Da fiel ihm die letzte Bitte der Mutter wieder ein. In raschem
Aufwallen erhob er sich, nahm das Kreuz und legte es vor sich auf das
Fensterbrett. Der Kerzenschein huschte über die Porzellanfigur, die
weiß und schlank auf dem dunklen Holz lag, die Arme weit gebreitet und
das Haupt mit der Dornenkrone zur Seite geneigt.

Immerfort starrte er auf das Bildwerk.

Und draußen lag die Erde wie ertrunken in der dickflüssigen Dunkelheit,
und die Atemzüge der schlafenden Kreaturen kamen und gingen wie
schwere, unhörbare, noch dunklere Wellen, und rundum flutete die
uferlose Stille der Nacht.

Und jäh durchzuckte es ihn: Wenn ... wenn doch ... wenn es doch dort
drüben was gäbe? Wer weiß es denn? Wer kann behaupten oder leugnen --
wenn sogar die eigene Seele dem Körper fremd werden kann?

In dumpfer Qual stöhnte er auf. Seine Finger legten sich um das
Kreuzholz, als wollten sie es zerbrechen, schüttelten es, ungeduldig,
leidenschaftlich, drohend: „Gib Antwort, du!“

Aber rings war Dunkel und Schweigen.


11.

Nach zwei Tagen war die Tote begraben, und die Notwendigkeit der
Beendigung seiner Gymnasialstudien war für Hellwig eiserner als je.
Über Zureden seines Freundes hatte er endlich eingewilligt, war zu ihm
übergesiedelt und wohnte nun Wand an Wand neben Heinz in einer noch
kleineren Dachkammer.

Niemand störte ihn hier. Sogar das Essen wurde ihm hinaufgebracht. Und
er wühlte sich ganz in diese Abgeschiedenheit hinein, ging kaum ins
Freie und lernte nur, lernte, lernte.

In den letzten Tagen des Mai unterzog er sich an dem Gymnasium der
benachbarten Stadt der Prüfung über den Lehrstoff des zweiten Halbjahrs
und bestand sie. Kurz darauf legte er die schriftliche und endlich auch
die mündliche Reifeprüfung ab. Und da der Landesschulrat, der dieses
Schulexamen leitete, nicht an allen Mittelschulen zu gleicher Zeit
prüfen konnte, traf es sich, daß Hellwig um volle drei Wochen früher
für reif erklärt wurde als seine Kollegen in Neuberg.

Nun wollte er gleich nach Prag und sich auf eigene Faust durchschlagen.
Aber sie ließen ihn nicht fort. Auch Vater Wart nicht, der zielbewußte
Arbeit in jeder Form achtete und seine Meinung über den großen Blonden
mit den Storchbeinen sehr zu dessen Gunsten geändert hatte.

„Machen Sie keine Geschichten!“ sagte er ihm. „Jetzt heißt’s erst
tüchtig faulenzen! Den Schädel ausrauchen lassen von der ewigen
Lernerei!“

„Ich darf Ihre Gastfreundschaft nicht mißbrauchen,“ erwiderte Fritz.
„Ich darf mich nicht länger von Ihnen aushalten lassen!“

Da polterte der Kaufmann los: „Jetzt das ist aber schon mehr als blöd!
Aushalten lassen! So was sagt man überhaupt nicht!“ Dann überlegte er
und fuhr fort: „Übrigens, wenn Sie sich’s justament verdienen wollen
-- der Bub’ von meiner Schwester ist bei mir in der Lehr’. Wenn Sie
ihm bis zum Oktober ein bissel Stenographie und Französisch beibringen
wollen, kann’s ihm nichts schaden und mich soll’s freuen! Gilt’s?“

Er streckte ihm die biedere Tatze hin, und Fritz schlug ein.

Hier bewog ihn nicht zum letzten der Gedanke an Doktor Kreuzinger. Dem
greisen Gelehrten war jener Kampf zwischen kindlicher Zärtlichkeit und
Wahrheitsliebe nicht entgangen und die geweckte Teilnahme hatte ihn
veranlaßt, den Jüngling zu einem Besuche aufzufordern. Gern war Hellwig
jetzt dieser Einladung gefolgt. Hatte ihm doch Heinz schon viel von
der Bücherei und den Sammlungen des Großvaters berichtet. Seine hoch
gespannten Erwartungen wurden auch nicht getäuscht, wurden von dem,
was er dort vorfand und erlebte, noch übertroffen. Versteinerungen,
Abdrücke und Knochen vorsintflutlicher Geschöpfe waren hier
aufgespeichert, Mollusken, Krebse, Spongien und Leptokardier jeglicher
Form und Gattung in Gläsern, Kasten und Wandschränken füllten zwei
große Zimmer. Das Wertvollste aber war die klare Art, mit welcher der
Doktor aus dem Äußerlichen den Kern herausschälte, die Zusammenhänge
bloßlegte und die vielfachen faserfeinen Verästelungen auf ihre
gemeinsame Wurzel zurückführte. Mit prunklosen Worten, scheinbar stets
bei der Sache und doch über ihr, entwarf er dem begierig Lauschenden
eine Übersicht über die Entwicklungsgeschichte der Erde und des
Lebens und leitete ihn die Quellen der Erkenntnis hinauf, soweit
Menschensinne dorthin vordringen können.

Dem ersten Besuch folgten andere, und bald war Hellwig täglich um sechs
Uhr früh in der stillen Gelehrtenwohnung. Meist kam er allein, denn
Heinz hatte sich ganz auf die Sozialpolitik geworfen und war für nichts
anderes mehr zu haben. Für Fritz aber waren diese Morgenstunden, da
er an der Seite des verehrten Mannes zuhörend und lernend durch den
sommergrünen Garten schritt, während der Sonnenschein silbern in den
Baumkronen spielte, das Schönste, das ihm das Leben bisher gebracht
hatte, gehörten überhaupt zu dem Kostbarsten, das es ihm je zu bieten
vermochte.

Und eines Tages lernte er dort den Doktor Albert Kolben kennen.

Der war auch von den Pfahlbürgern Neubergs als ein verlorenes Schaf
erklärt worden, und sie hatten ihm, oder eigentlich in seiner
Abwesenheit, bei Bier, Kaffee und geselligen Zusammenkünften hatten sie
sein Verkommen so lang vorausgesagt, bis er vor ein paar Monaten den
Doktorgrad erwarb. Und Reserveoffizier war er ebenfalls. Da waren sie
baff. Dann aber entrüsteten sie sich desto mehr und fanden, der Kolben
Albert hätte das nur getan, um sie zu ärgern. Denn die genasführten
Propheten empfanden das Ausbleiben ihrer Vorhersagungen als persönliche
Beleidigung. Es war gewiß unverschämt vom Kolben Albert. Aber er ließ
sich eben überhaupt nichts vorschreiben, sondern tat, was ihm beliebte
und ließ bleiben, was ihm nicht paßte. Das konnte er um so leichter,
als er nach seinen Eltern ein beträchtliches Vermögen nebst einem
Landgut besaß und von niemandem abhängig war. Übrigens hatte er von
je auf die Nachrede der Leute keinen Deut gegeben, hatte im Gegenteil
alles getan, um sie herauszufordern. Als sechzehnjähriger Lateinschüler
hielt er sich ein Reitpferd und zwei große Hunde, als Achtzehnjähriger
soff er einmal sogar den Wart Nikl unter den Tisch, als Zwanzigjähriger
schnürte er sein Bündel und zog nach Wien. Was er dort trieb, wußte
man nicht. Es liefen jedoch die abenteuerlichsten Gerüchte um. Daß er
in der Schriftleitung einer sozialdemokratischen oder anarchistischen
Zeitung tätig sei, in Volksversammlungen Brandreden halte und
fortwährend betrunken in den Schnapsschenken herumliege. Da wurde er
als Sechsundzwanzigjähriger Doktor der Weltweisheit und tauchte wieder
in Neuberg auf. Daß es sich lediglich um einen kurzen Erholungsurlaub
handelte, wußten nur seine vertrautesten Freunde.

Über eine so unklare Lebensführung mußten sich die wackeren Spießer
entrüsten. Sie entrüsteten sich, weil sie aus ihm nicht klug werden
konnten. Und sie wurden nicht klug aus ihm, weil er sich nicht in den
Kochtopf gucken ließ, Zudringliche mit höflicher Überlegenheit abwehrte
und lüsterner Neugierde begegnete, indem er mit trockener Sachlichkeit
und größtem Ernst die ungeheuerlichsten Behauptungen aufstellte,
verfocht und begründete. So bekannte er sich einmal gegenüber einem
waschechten deutschen Volksgenossen, der sein politisches Gewissen
erforschen wollte, zur demokratisch-alldeutsch-antisemitischen Anarchie
und spickte den unvorsichtigen Frager derart mit großen Worten und
fetten Phrasen, daß dieser ganz mürb wurde und schließlich -- etwas
angeheitert war er auch schon -- das neue Programm als einzige Rettung
des Bürgertums vor der roten Gefahr begeistert zu preisen anhob.
Nachträglich wurde er von einsichtigeren Leuten aufgeklärt, daß er
seiner leichtgläubigen Beschränktheit einen tüchtigen Bären habe
aufbinden lassen, und der Chor der Entrüsteten war wieder um eine
ausgiebige Stimme verstärkt.

Kolben ertrug die üble Nachrede, wie man das Konzert der Frösche
im Frühjahr erträgt und verriet mit keiner Miene, wie sehr ihn das
zwecklose Lärmen belustigte. Sein rundliches, ganz glatt rasiertes
Gesicht blieb immer gleichmäßig ernst, und nur die besten Freunde
errieten aus einem fast unmerklichen Zwinkern im rechten Augenwinkel
seine heimliche Fröhlichkeit.

Als Hellwig mit ihm zusammentraf, saß er, phlegmatisch und scheinbar
gelangweilt wie immer, auf der Gartenbank unter dem breit schattenden
Buchenbaum und grub mit dem Spazierstock Strich neben Strich in
den Kies, während Doktor Kreuzinger von den Erfolgen des letzten
Ärztekongresses lebhaften Bericht erstattete, den er bei Fritzens
Ankunft unterbrach, um die Vorstellung zu besorgen.

Ohne seine nachlässige Haltung zu ändern, hob Kolben nur ein wenig die
Stirn, faßte den Jüngling mit einem raschen Blick und zeichnete nach
einem kurzen Kopfnicken schweigend weiter.

Hellwig empfand das als Unhöflichkeit und Beleidigung. Hitziger, als
eben nötig war, sagte er:

„Herr Doktor, es wird besser sein, wenn ich wieder gehe. Der Herr
scheint die Störung nicht zu wünschen!“

Begütigend winkte der alte Gelehrte mit beiden Händen. Bevor er jedoch
etwas sagen konnte, war Kolben schon gemächlich zur Seite gerückt und
antwortete, fortwährend eifrig weiterstrichelnd: „Was Ihnen nicht
einfällt! Setzen Sie sich nur her.“ Damit goß er aber Öl in die Flamme.

„Eine solche Behandlung brauche ich mir nicht gefallen zu lassen!“
brauste Fritz auf. „Sparen Sie sich das für Ihren Pferdeknecht!“

Nun hob der andere den Kopf. Das glatte Kinn auf den Stockknauf gelegt,
schaute er dem Zornigen mit einem erstaunten Blick in die Augen. „Was
für ein Unterschied,“ fragte er unerschüttert ruhig, „was für ein
Unterschied ist denn zwischen Ihnen und meinem Pferdeknecht?“

Da sah ihn Hellwig noch ein paar Sekunden streitgewärtig an. Dann
senkte er beschämt die Augen. Und jetzt stand Kolben auf, langsam,
gemessen, mit der ihm eigenen steifen Würde, trat neben ihn und sagte,
immer mit der gleichen kalten Nachlässigkeit: „Seien Sie nicht so
empfindlich. Guter Ton, feine Manieren -- mit solchen Albernheiten
werden wir uns doch _hier_ nicht abgeben. Kommen Sie. Und seien Sie
versichert: Wer in den Frühstunden bei unserm verehrten Doktor Gast
sein darf, den achte ich schon um dessentwillen. Allerdings, verbeugen
werde ich mich trotzdem nicht vor Ihnen.“

Bei diesen Worten glitt etwas wie ein Lächeln über seine Züge. Und da
war nichts mehr von Phlegma oder Langeweile darin. Geistvoll, klar
und klug, erhielt dieses gescheite Gesicht, das sonst hinter der
angewöhnten Ruhe wie eingefroren lag, durch die reife Verständigkeit
seines Lächelns etwas ungemein Gewinnendes und Anziehendes.

Mit einem geschickt aufgegriffenen Thema verstand Doktor Kreuzinger
auch die letzten Reste der Mißstimmung zu beseitigen und geriet über
Kolbens Einwürfe gegen die Gasträatheorie bald in ein schönes Feuer,
wurde beredt und ausführlich. In die faltigen Wangen hinter dem
silbrigen Bartgewelle stieg eine sachte Röte, und es dauerte nicht
lang, so sprach nur mehr er allein, indes die zwei jüngeren aufmerksam
zuhörten und sich in der warmen Glut, die von dem prächtigen Greise
ausströmte, seltsam einander näher gerückt fühlten.

Aber nicht immer war diese klare Ruhe bei Hellwig. Noch war ein
Großes, Lastendes da, mit dem er fertig werden mußte. Seit jener bei
der toten Mutter durchwachten Nacht hatten ihn die Zweifel nicht mehr
losgelassen. Und jetzt, da ihn die Prüfungssorgen nicht mehr ablenkten,
standen sie wieder übermächtig auf. Und mit ihnen der Vorwurf, daß er
seiner Mutter das Sterben schwer gemacht habe.

Oft sprach er darüber mit Heinz.

„Ich mußte ja, gelt, du? Es ging doch nicht anders? Aber wenn, --
Heinz, ich such’ und such’ -- aber wenn ich einmal draufkomm ... Nicht
wahr, du, es ist nichts?“

Und er trug zusammen, was er an Schriften über Religionssysteme und
Weltanschauungen auftreiben konnte. An jedes Werk ging er mit Zittern
und Zagen, daß er darin vielleicht auf einen Beweis für das Dasein
Gottes stoßen könnte und auf die Bestätigung seines Unrechts gegen die
Tote. Aber er fand nichts. Der Kult der Azteken, die ihrem Kriegsgott
Huizilopochtli ‚Menschen opferten, um glückliche Kriege zu führen
und Kriege führten, um solche Menschenopfer herzuschaffen‘, erschien
ihm ebenso sinnlos oder berechtigt, wie das papierne Gohei in den
Sintotempeln der Japaner, die Apisverehrung der Ägypter oder die
Heiligkeit des Hundes bei den Iraniern. Und weder Avesta und Zend, noch
Koran, Bibel, Luther und die ganze Reihe der Denker von Spinoza bis
Spencer vermochten ihn der Wahrheit irgendwie näher zu bringen.


12.

Die Ferien vergingen im Flug. Hellwigs Abreise stand in wenigen
Tagen bevor. Als eine Art Abschiedsfeier wurde ein Ausflug in die
weitere Umgebung unternommen. Auch Pichler wurde eingeladen, der die
Reifeprüfung mit Auszeichnung bestanden hatte.

In tauiger Morgenfrühe schritt die Gesellschaft durch das noch
erhaltene alte Stadttor ins Freie. Voran Wart Nikl mit seiner schönen
Frau, hinter ihnen Eva zwischen Kolben und Pichler. Doktor Kreuzinger
mit Heinz und Fritz machten den Beschluß.

Durch die Herbstluft segelten die kleinen Spinnen in ihren leichten
Silberschiffchen, der Rauch der Erdäpfelfeuer zog über die fahlen
Fluren, und in den Stoppelfeldern folgten die Reihen der Jagdliebhaber
ihren lohfarbenen Vorstehhunden.

Manchmal blitzte ein Flintenlauf, rundete sich ein Rauchwölkchen,
knallte ein Schuß. Ein Hase überschlug sich und schrie, ein Hund heulte
auf, ein scharfes Befehlswort verklang. Und wieder war es still, und
lautlos glitten die Silberschiffchen, schneller, immer schneller, als
wollten sie den Menschen entrinnen und ihrer Tücke gegen die ehrlichen
Kreaturen.

An Evas Seite fühlte sich Pichler in seinem Fahrwasser. Hier war
er der Schwerenöter, wollte Eindruck machen, zog alle Register
seiner wortgewandten Liebenswürdigkeit. Er war witzig, geistreich
und gefühlvoll, warf Artigkeiten und Schmeicheleien wie ein Gaukler
schimmernde Glaskugeln in die Luft und schwafelte und salbaderte in
einem fort.

Eva ließ sich’s gefallen. Sie lachte über seine Mätzchen, schaute ihn
belustigt an und fand, daß es sich mit ihm ganz gut plaudern ließ.
Manchmal blieb sie auch stehen, wartete auf den Großvater und fragte
ihn nach dem Namen eines verspäteten Schmetterlings oder eines klar in
blauer Ferne aufsteigenden Berges, tauschte neckende Worte mit Heinz
oder ermahnte Hellwig, der hellen Gotteswelt kein so sauertöpfisches
Gesicht zu schneiden. Ganz heiß und eifrig war sie, hatte rote Backen
und glänzende Augen und überließ die jungen Glieder dem milden
Sonnenschein mit einem läßlichen Behagen, das wohlig war und ein wenig
sinnlich, wie in einem laulichen Bade.

„Wenn ich Sie ansehe, gnädiges Fräulein, muß ich an Gottfried Keller
denken,“ sagte Pichler. Und das Mädchen darauf: „Jemine, wieso denn?“

„Ja, ganz bestimmt. Sie erinnern mich an eine seiner Frauengestalten.
Nämlich an die Figura Leu im ‚Landvogt von Greifensee‘. Die hat
mir immer ausnehmend gefallen. Warten Sie, wie sagt das nur gleich
Keller? Ja: sie war ein elementares Wesen. Ein elementares Wesen,
dessen goldblondes Kraushaar sich nur mit äußerster Anstrengung den
Modefrisuren anbequemen ließ und dem Perruquier des Hauses täglich den
Krieg machte. Sie lebte fast nur vom Tanzen und Springen. So beiläufig
heißt es. Und dasselbe gilt auch von Ihnen. Sie sind von demselben
entzückenden Übermut. Und diese widerspenstigen Löckchen hier ...“

Er faßte nach dem feinen Gekräusel an ihrer Schläfe. Durch eine hastige
Wendung des ganzen Körpers wich sie der Berührung aus. „Sie sind ein
Schmeichler!“ sagte sie halb verlegen, halb erfreut.

Da machte Doktor Kolben, der bisher leise pfeifend ein paar Schritte
seitwärts von ihr gegangen war, seine erste Bemerkung:

„Herr Pichler hat etwas vergessen, mein kleines Fräulein,“ begann er.
Sofort unterbrach sie ihn im hellen Zorn: „Ich bin nicht Ihr kleines
Fräulein!“ Ihr Auge sprühte, der Fuß stampfte die Erde. Doch der
unausstehliche Mensch fuhr gleichmütig fort: „Das meine nicht, aber
doch das kleine. Vorderhand wenigstens. Wir können ja noch wachsen.
Das müssen wir eben abwarten. Heute wollte ich nur erwähnen, daß jene
Figura Leu, die Herr Pichler an den Haaren herbeigezogen hat, von ihrem
Verehrer gemeinhin nur der Hanswurstel genannt wurde. Ob der Vergleich
in dieser Hinsicht ebenfalls stimmt, soll dahingestellt bleiben.“

Kolben sagte das, weil er über die junge Schöne ungehalten war, die so
mir nichts, dir nichts auf Ottos Plattheiten hineinfiel. Sie würdigte
ihn keiner Antwort, klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und
zerrte an ihren Fingern, bis die Gelenke knackten.

Pichler versicherte unter vielen Entschuldigungen, seine Worte seien
natürlich nicht so aufzufassen, nur die reizende Grazie habe er
kennzeichnen wollen, den Glanz der Löckchen ...

„Hören Sie schon auf mit dem dummen Zeug!“ unterbrach da Wart Nikls
Tochter den Honigfluß seiner Rede. Nun schwieg er und tat beleidigt.

Kolben hatte ihre letzten Worte nicht mehr vernommen. Angewidert von
Pichlers Geschwätz, hatte er sich auf dem Absatz herumgedreht und zu
Doktor Kreuzinger begeben.

Dort machte Fritz noch immer sein sauertöpfisches Gesicht. Er blickte
nach der frischen Mädchengestalt, an der alles Verheißung war und leise
schwellendes Werden, sah ihre anmutigen Bewegungen, den Rhythmus der
Glieder beim leichten Schreiten, hörte das klingende Lachen und empfand
eine unbestimmte Sehnsucht, wie arme Schelme im Kellergeschoß nach den
hohen, luftigen Räumen der Vermöglichen.

Heinz stritt mit dem Großvater über den Zukunftsstaat.

Die tiefe Baßstimme Wart Nikls dröhnte hallend weithin durch den
ruhevollen Herbstmorgen. Bald rief er einem bekannten Jäger ein
Weidmannsheil zu oder erwiderte lärmend den Gruß eines Vorübergehenden,
bald hatte er ein Scherzwort für seine Tochter oder zeigte er seiner
Frau die Grenzlinien der einzelnen Besitzungen und lobte oder schimpfte
nicht gerade leise über deren Bewirtschaftung.

Langsam schlenderte Hellwig hinter der Gesellschaft her. Da schob sich
plötzlich ein fremder Arm unter seinen. „Kommen Sie!“ sagte Doktor
Kolben. „Wir gehn Schwämme suchen.“

Fritz sah ihn verwundert an. Eine so vertrauliche Annäherung war bei
dem in sich verhaltenen Menschen etwas Ungewöhnliches.

„Ich weiß hier herum ein paar famose Plätze!“ sprach dieser weiter und
tat, als merkte er das Staunen des andern nicht. „Hier links in den
Wald einige hundert Schritte aufwärts. Dort pflegen Herrenpilze zu
wachsen.“

Noch einmal schaute Hellwig nach dem Mädchen. Das lachte eben Pichlern
zu, der sein Schmollen aufgegeben hatte. Da fühlte er ein leises Zucken
im Herzen. Er preßte die Lippen fest aufeinander. Eine tiefe Falte
stand ihm wieder einmal über dem scharf einspringenden Nasensattel
senkrecht auf der steilen Stirn. Das hagere Gesicht bekam sein kühnes,
wie versteintes Aussehen. Ohne Widerstand ließ er sich von Kolben in
den Wald führen.

Zwischen den geraden Kieferstämmen, die mit dürftigen Kronen wie
erschöpfte Krieger in Reih und Glied standen, gingen sie auf dem
rostroten Nadelboden, über gewundenes Wurzelwerk und dann wieder durch
rauschendes Heidelbeergestrüpp eine gute Weile stumm vorwärts.

„Hier ist einer!“ sagte der Doktor, bückte sich und durchschnitt mit
dem Taschenmesser den Strunk eines Pilzes. Fritz sah gleichgültig
zu. Kolben steckte den Fund in die Tasche. Von Moos und Farnkräutern
umwuchert, lag ein niedriger Felsblock quer über dem Jagdsteig. Kolben
setzte sich. Fritz stand daneben und schaute düster in das bewegliche
Gitter aus Sonnenstrahlen und Wipfelschatten auf dem Boden.

Der Doktor brach endlich das Schweigen. „Was ist eigentlich mit Ihnen
los, Hellwig? Was drückt Sie?“

Seine Stimme klang warm und herzlich. Aus seinem Antlitz war alle kalte
Verschlossenheit weggewischt. Aber Fritz erwiderte schroff abweisend:
„Was veranlaßt Sie zu dieser Frage?“

„Lassen wir den Stolz beiseite!“ antwortete Kolben. „Aussprache tut
immer gut. Sie gehn ja herum, als ob Sie jeden Halt verloren hätten.“

„Herr Doktor!“

„Ich heiße Kolben. Albert Kolben. Das ‚Herr‘ ist überflüssig. Ja,
und ... vertrauen Sie mir!“ Ein freundlich aufmunternder Blick der
gescheiten Augen begleitete die Bitte.

Fritz erwiderte nichts.

„Vertrauen Sie mir! Es ist nicht zudringliche Neugier oder
Unverschämtheit von mir. Nur -- ich hab’ mal einen gekannt. Der ist
genau so herumgelaufen. Und war schon nahe dran, den Sprung ins große
Dunkel zu machen. Sein oder Nichtsein. Ob’s edler im Gemüt ... Hat
ihn arg gehabt damals. Zweifel an der Welt, an Gott, an den Menschen,
an allem, was man so heilig, ehrwürdig, groß, erhaben, sittlich oder
moralisch nennt. Und kein Ausblick. Als wär’ ein Brett vor der Erde
gewesen. Soweit hat er gehalten. Und kein Ausblick. Triebleben,
Hinvegetieren, zwecklos, stumpfsinnig. Nicht wahr? -- Kultur? -- Auch
die Ameise schafft sich angenehme Lebensbedingungen. -- Moral? -- Der
Pöbel und Moral! Ein Tiger, der Gras frißt! Eher will ich aus Cäsar
einen Lakaien machen als dem Pöbel die Gemeinheit abgewöhnen. Also, da
hat er gehalten. Na ja denn, ich selber bin’s gewesen. Und da ist einer
gekommen, der hat’s gewußt und sich ausgekannt. Hat eine feine Hand
gehabt der -- Doktor Kreuzinger heißt er --, eine leichte. Und hat mir
den Star gestochen. Und hat mich ins Leben hinein gestoßen. So recht
mitten hinein ins Leben. Da steh! Laß die Woge kommen und halt stand!
Und fürcht’ dich nicht. Und -- wirf dich hinein! Brauch’ deine Arme!
Schwimm! Es geht schon, es trägt dich schon! -- -- Und wahrhaftig, es
ist gegangen. Es hat mich wirklich getragen. Hätt’s niemals gedacht. --
Also, darauf kommt’s an. Klarer Kopf. Helles Auge. Ruhige Hand. Nicht
grübeln, Grashalme zählen, Grillen fangen. Arbeiten! Fest arbeiten!
Mitten in den Wellen gegen die Wellen. Ein Ziel vor sich und drauflos!
Ein Ziel, ja! Aber nicht oben bei den Wolken. Hier, wo du feststehst,
auf der Erde unter den Menschen ... Da geh’ drauf und dran! Schulter
an Schulter mit den andern. Oder, wenn sie das nicht wollen, lauf
allein voraus! Sie folgen schon. Und wenn sie auch das nicht wollen --
wenigstens hast du Ruhe!“

Selten ließ der wortkarge, zugeknöpfte Mann jemanden so in sein Inneres
schauen. Fritz fühlte das. Und nun konnte er nicht mehr an sich halten.
Erst stockend, dann zusammenhängender, leidenschaftlicher redete er
sich alles von der Seele herunter, was ihn in letzter Zeit überstürmt
und aus der Bahn geworfen hatte.

Kolben unterbrach ihn nicht. Seine dunklen Augen lagen wieder wie
verschleiert hinter den goldgeränderten Brillengläsern. Die Spitze des
Spazierstocks zeichnete Strich neben Strich in den glatten Waldboden.
Endlich war Fritz mit seiner langen Beichte fertig.

„So steh’ ich da!“ knirschte er zwischen den Zähnen. „Und weiß nicht
ein und aus. Das Vergangene liegt mir wie ein Stein vor der Zukunft.
Ich kann ihn nicht wegwälzen! Er rührt und rührt sich einfach nicht!
Die ganze Kraft geht drauf! Ich verbrauch’ mich, werde hin! Von meiner
toten Mutter kann mich keiner erlösen!“

Er schwieg mit keuchenden Lungen. Aus den Wipfeln kam das leichte Wehen
des Windes wie der Atem der Stille. Kolben erhob sich, trat ganz dicht
zu ihm heran.

„Mut, Fritz! Und Geduld! Du -- wir werden uns wohl von heut’ an du
sagen müssen -- du wirst bald drüber weg sein. Jetzt aber -- fürs erste
-- schaun wir, daß wir zu den anderen ins Forsthaus kommen. Abends
hältst du dich dann bei mir auf. Vielleicht hab’ ich was für dich.“

In der Nacht, die diesem Tage folgte, schloß Fritz kein Auge. Er suchte
nicht einmal den Schlaf, hatte kein Verlangen darnach. Rastlos wanderte
er in seiner Kammer auf und ab, mit leuchtenden Augen, breitete die
Arme oft weit aus und fühlte sich endlich ganz leicht und frei.
Abgefallen war, was ihn bedrückt hatte, fortgetilgt die Unrast, das
Suchen nach einem Überirdischen. Glatt und offen lag der Weg in die
Zukunft vor ihm.

Er hatte einsehen gelernt, daß er seine Kräfte an etwas zu verschwenden
im Begriff gewesen, das keiner ergründen konnte. Daß der Gedanke an den
Zustand nach dem Tode ein Feind des Lebens sei. Und daß die Grübler und
Dogmatiker die Menschheit um keinen Zoll vorwärts gebracht hatten,
sondern nur die Handelnden, die Blutzeugen, die Männer der Tat.

‚Ich schreib’ getrost: Im Anfang war die Tat!‘ -- Jetzt fiel’s ihm
wieder ein, und jetzt konnte er auf einmal nicht verstehen, wie ihn
nicht schon damals, als er den Faust las, diese einfachste und klarste
aller Weisheiten auf die richtige Spur gebracht hatte. Daß er erst noch
viele Monate im Dunkeln getappt und sich gemartert hatte, bis ihn jetzt
der viel verlästerte Kolben zum Ausgangspunkte zurückführte und die
Bahn frei machte durch ein paar treffsichere Worte und mit Hilfe einer
Übersetzung der Hymne ‚An einen unbekannten Gott‘ aus dem Rigveda. Da
lag sie vor ihm im gelben Lampenlicht, Druckerschwärze auf vergilbtem
Papier, und sprach mit tausendjähriger Zunge zu ihm, tröstete,
beruhigte, richtete ihn auf durch die Erkenntnis, daß ein Rätsel, das
seit unzählbaren Jahren die Menschen zu ergründen sich mühten und nicht
ergründen konnten, kein Rätsel sei, sondern vererbter Wahn mit einem
Inhalt ohne Wert für das Leben und für die Entwicklung, eine taube Nuß.

Wieder und wieder las er das mächtige Gedicht in der meisterhaften
Übertragung, jetzt im Zusammenhang, jetzt einzelne Strophen, und als er
sie alle auswendig wußte, sprach er die letzten noch und abermals laut
vor sich hin:

    „Wer weiß es denn, wer hat es je ergründet,
    Woher sie kam, woher die weite Schöpfung?
    Die Götter kamen später denn die Schöpfung --
    Wer weiß es wohl, von wannen sie gekommen?
    Nur er, aus dem sie kam, die weite Schöpfung,
    Sei’s, daß er selbst sie schuf, sei’s, daß er’s nicht tat --
    Er, der vom hohen Himmel her herabschaut,
    Er weiß es wahrlich! Oder -- weiß auch er’s nicht?“



Zweites Buch


1.

Im Oktober kamen Hellwig und Pichler nach Prag und nahmen Quartier bei
der Frau Wondra, die in zwei Zimmern fünf Hochschülern Wohnung und
Verpflegung gegen ein sehr mäßiges Entgelt gewährte. Sie war die Witwe
eines Unteroffiziers, der ein starker Pfeifenraucher gewesen war und
ihr außer einer kleinen Pension nichts hinterlassen hatte als dreißig
Pfeifen von der billigsten Sorte, mit langen und kurzen Rohren, mit
Gips-, Holz- und bemalten Porzellanköpfen, alle wohleingeraucht und
arg mitgenommen. Als sich für die duftende Sammlung kein Käufer finden
wollte, tat es der sparsamen Hausfrau leid, sie unbenützt verstauben
zu lassen, weshalb sie sich auf ihre alten Tage selbst das Rauchen
angewöhnt und es hierin noch jedem ihrer jungen Mieter zuvorgetan
hatte. Da sie kahl war, trug sie sommers und winters dieselbe große
Haube aus braunem Taft, die den Schädel und die Ohren zudeckte und für
das gelbe Gesicht einen kreisrunden Rahmen abgab. Was auf dem Kopf an
Haaren zu wenig, wuchs dafür in gedoppelter Fülle als Schnauzbart unter
der Nase, die zum Himmel strebte, als wollte sie sich in beleidigtem
Stolz vor so unfraulicher Zierde zurückziehen, worüber sich hinwiederum
zwei kleine graue Schlitzäuglein anscheinend sehr belustigten, weil
sie fortwährend zwinkerten und blinzelten. Doch je ungeschlachter ihr
Aussehen, je derber ihre Rede war, desto milder und lockerer gerieten
ihr die Mehlspeisen, die Buchteln, Dalken, Nudeln und Kolatschen, mit
denen sie für das leibliche Wohl ihrer Studenten sorgte. Aber auch
das Seelenheil der jungen Leute war ihr nicht gleichgültig, und um die
schwankende Jugend vor Abwegen zu bewahren, suchte sie ihre Kostkinder
abends an das Haus zu fesseln, indem sie mit ihnen Schafkopf spielte
oder ein Quodlibet um ein beschränktes Bierquantum.

In dem größeren der beiden Zimmer wohnten bereits seit einigen
Semestern der Astronom König, der Philosoph Fundulus und der Mediziner
Karg, alle drei schon bemoostere Häupter, die sich bei der Wondra
zufällig gefunden und trotz ihrer verschiedenen Neigungen Freundschaft
geschlossen hatten.

Diese Freundschaft pflegte regelmäßig auch auf die rascher wechselnden
Mieter der anderen Stube ausgedehnt zu werden, und schon am Abend nach
ihrem Einzug erhielten Fritz und Otto unter Führung der Wondra den
Besuch der Zimmernachbarn. Die Quartiersfrau trug sechs Tabakpfeifen,
der Mediziner den großen Bierkrug, der Philosoph den Tabaktopf und
der Astronom die abgegriffenen Spielkarten. Würdevoll überreichte die
Wondra den neuen Pfleglingen zwei Rauchwerkzeuge zur ausschließlichen
Benützung für die Dauer des Mietverhältnisses und gegen die
Verpflichtung, nach einer bestimmten Reihenfolge abwechselnd mit den
übrigen für die Füllung des Tabakbehälters zu sorgen.

Nach dieser feierlichen Handlung wurde ihnen eröffnet, daß man gesonnen
sei, sie in die Hausgemeinschaft Wondra aufzunehmen und solche Ehre
festlich zu begehen mit Hilfe eines Viertelhektoliters Bier, den die
Aufgenommenen nach Brauch und Fug zum besten geben mußten.

Mit großem Hallo wurde das Faß aus der Schenke geholt, worauf ein
mächtiges Gelage anhob, in dessen Verlauf der Mediziner mit der
bärtigen Witwe einen Hopser tanzte, daß die Dielen dröhnten und
die Haube in greuliche Unordnung kam. Des Philosophen dagegen, der
eine sehr verliebte und schwärmerische Wesenheit war und nicht viel
vertragen konnte, hatte sich bald eine weinerliche Stimmung bemächtigt,
in der er Pichlern von seiner Liebsten daheim erzählte und ihre Treue
in Zweifel zog, um sich sogleich wieder wegen des schimpflichen
Verdachtes die bittersten Vorwürfe zu machen.

Fritz saß mit König, einem unentwegten stillen Zecher, beim Fenster und
hielt durch einsilbige Bemerkungen ein notdürftiges Gespräch mühsam im
Gange. Doch wurde das dem Sterngucker bald langweilig. Er stand auf
und gesellte sich dem Philosophen zu, den er durch eine Bemerkung über
die Minderwertigkeit des Weibes rasch in Harnisch brachte und in der
anschließenden erregten Auseinandersetzung mit Brocken aus Schopenhauer
kräftig bombardierte.

Unvermutet fand sich Fritz allein in der Fensternische. Niemand fragte
oder kümmerte sich um ihn, und es war ihm ganz recht so.

Die Fenster des hoch gelegenen Zimmers gaben Ausblick in einen engen
Hof und jenseit desselben über ein Gewirr von Dächern und Türmen und
Giebeln, die in dem silberblauen Glanz der Mondnacht schimmernd ruhten.
Und dunkel aus dem sanften Glanz herausgehoben, wuchtete darüber der
Hradschin und trug den mächtigen Dom wie eine schwere, stolze Krone.
Oben wanderten und neigten sich die Sterne, unten lag die Stadt von
den beweglichen Wellen des Mondlichts umspielt, -- und inmitten stand
der alte Königsitz, aller Nähe und Ferne entrückt, in immer gleicher,
steinerner Ruhe stumm, dunkel und geheimnisvoll.

Sonderbar ergriffen schaute Fritz auf dieses Märchen, das Glanz und
Nacht und Stille um einsam thronende Größe woben. In der Stube lärmten
und lachten die Zecher. Er achtete nicht darauf. Sehnsucht nach Arbeit
überkam ihn, nach einer schöpferischen Tat, an der er seine Kräfte
erproben, ermüden, ausgeben könnte. Und noch als die übersättigten
Trinkkumpane schon längst in dumpfen Schlaf versunken waren, lag
er wach und sehnte sich nach einer Aufgabe, riesenhaft gleich der
gewaltigen Königsburg, die von Menschenhänden über eine ganze große
Stadt gestellt, sie machtvoll und unnahbar beherrschte.

Aber er fand nicht, was eigentlich diese Aufgabe sein sollte, und mit
schmerzendem Schädel schlief er endlich ein.

In der Klarheit des nächsten Morgens, der über einen tiefblauen
Herbsthimmel eine silberweiße Sonne heraufleitete, erwachte er freier,
als er sich niedergelegt hatte, kleidete sich rasch an und eilte auf
die Gasse. Es trieb ihn zu den Stätten, die aus der Ferne solchen
Eindruck auf ihn gemacht. Er wollte sie durchforschen, erobern, ganz in
sich aufnehmen wollte er sie und zugleich sehen, ob auch im nüchternen
Schein des Tages der drückende Zauber bestehen blieb.

Mit niedrigen Türen und kleinen Fenstern unter zerbröckelten Gesimsen
standen unten in der engen Gasse schmalbrüstige Häuser, mit verrußten
Mauern und vorspringenden Dächern drängten sie sich aneinander, alt,
müde, eins das andere stützend und alle vom leisen Abglanz toter
Jahrhunderte traurig umwittert. Unverändert standen sie so, ließen
die Jahre vorübergehn, und wenn aus einem der dicken Gemäuer eine
neue Öffnung herausgebrochen, eins der vielen Trödlergewölbe, wo von
altersher die armen Juden ihren Handel trieben, in ein dürftiges
Lädchen mit einem Auslagfenster umgestaltet wurde, ging es die Gasse
entlang wie raunende Verwunderung ob solch unerhörten Eindringens einer
andern Zeit.

Als Fritz hinabkam, hatte trotz der frühen Stunde das geschäftige Leben
bereits begonnen. Mit schlau-vertraulichen Verneigungen grüßten ihn
die jüdischen Händler, riefen ihm verständnisvoll lächelnd ein paar
leise Worte zu, auf ihren angehäuften Plunder deutend, in der Hoffnung,
daß er ihnen etwas abkaufen oder in Pfand geben werde. Langsam ging
er in der Richtung, wo er den Hradschin vermutete, vorwärts. Seine
Schritte hallten laut in der engen Häuserschlucht, darüber ein schmales
Streifchen Himmel war und ein wenig vom erstarkten Sonnenschein, der
die Giebel vergoldete, ohne daß seine Quelle dem Auge sichtbar wurde.
Und Gasse folgte auf Gasse, kreuz und quer. Stille Winkel waren da,
unregelmäßige Plätzchen und dunkle Sackgassen, in denen die Häuser
geduckt und wie furchtsam verkrochen standen, als hörten sie noch den
Lärm der Verfolgungen, schauderten vor dem warmen Blut, das in Zeiten
unduldsamen Glaubenseifers auf ihren Dielen verdampfte, an ihre Wände
spritzte, in roten Bächen über die finstern Treppen rann.

In dem Durcheinander des gleichförmig engen und schmutzigen Winkelwerks
hatte Fritz bald jede Orientierung verloren und mußte sich endlich
entschließen, einen Vorübergehenden nach dem Weg zu fragen. Der aber
maß den deutschen Studenten mit einem feindseligen Blick, brummte ein
paar tschechische Worte und gab keine Auskunft. Einigermaßen betreten
ging Hellwig weiter, und das beklemmende Gefühl, als sei er in ein
verschollenes Jahrhundert zurückversetzt, wurde stärker. Da kam ein
weißbärtiger Hebräer, der in seinem Gewölbe den Vorfall mit angesehen
hatte, auf ihn zu, dienerte und erkundigte sich in einem sonderbar
harten Deutsch nach seinen Wünschen. Fritz sah auf das freundliche
Männlein, das mit hohem Hut, fuchsigen Schaftstiefeln und schmierigem
Leibrock vor ihm in der Häuserschlucht stand und vermißte -- er wußte
nicht, wie ihm das in den Sinn kam -- die steife blaue Halskrause, die
die böhmischen Juden noch im siebzehnten Jahrhundert auf der Straße
tragen mußten. Doch zwang er sich in einem energischen Aufraffen des
spukhaften Traumzustandes Herr und der Gegenwart wieder gerecht zu
werden, brachte sein Anliegen vor und erhielt umständlichen Bescheid.

Er bedankte sich, durchschritt noch einige Gassen und gelangte endlich
zur Karlsbrücke. Vor ihm rollte, um Inseln, Mühlen und Brückenpfeiler
brodelnd, mit braun dunklem Wasser der breite Strom, drüben baute sich
Giebel über Giebel mit Kuppeln und Türmen und Zinnen die Kleinseite
auf, und darüber ruhte, durch einen herbstlich goldigen Gartenwall
geschieden, breit und wuchtig der Hradschin, in der Klarheit des Tages
gleich hoheitsvoll und unnahbar wie im trüglichen Dämmer der Mondnacht.
Nur die Linien waren schärfer und bestimmter die gewaltige Majestät,
die der Veitsdom krönte, der im Panzer seines Gerüstwerks stumm und
dunkel vor dem blauen Himmel stand.

Keinen Blick hatte Fritz für die altertümliche Schönheit des Platzes,
auf dem er sich befand, für den Auslug durch zwei Torbogen zum
langgestreckten Moldaukai hinab, für die Türme und steinernen Bildwerke
der berühmten Brücke. Unverwandt schaute er zur Burg hinüber, deren
lautlose Größe ihn quälte und erdrückte.

Dann war er am andern Ufer, ging wie schlafwandelnd an alten Palästen
vorüber, hinter deren geöffneten Torflügeln die Trauer sterbender
Gärten wehmütig versunken lag; durch eine steil ansteigende Gasse
schritt er, und auch hier webte die Erinnerung, war die Stille einer
längst verwehten Zeit. Doch war hier ein anderer Stil in den Häusern,
die Fassaden waren reicher und schmuckvoller, durch schön geschmiedete
Gitter oder kunstvolle Tore vorteilhaft gehoben. Allerlei Schildereien
zierten die Fronten, hier glänzte ein silberner Schlüssel im blauen
Felde über der Haustür, dort ein Wagenrad oder Winkelmaß, da wieder
sprang ein Hirschlein mit vergoldeten Hufen, blühte eine vielblättrige
Blume, als Zeichen einer Innung oder Wappen eines längst verstorbenen
Besitzers und seines stolzen Bürgertums.

Noch die Schloßstiege hinan, dann war er oben, trat ohne sich umzusehen
durch die kühlen Torbogen in die weiten stillen Burghöfe. Eine pochende
Unrast stieß ihn vorwärts, beklommen spähte er überall umher, aber kalt
und abweisend ragten die mächtigen Quadermauern, schauten gleichgültig
über ihn weg und ließen sich nicht nahe kommen. Und als er vor dem
Veitsdom stand, da wuchs auch dieser hart vor ihm trotz der leicht
aufstrebenden Schlankheit der Rippen, der wunderlich verzerrten Fratzen
der Wasserspeier ruhig und sicher in die Luft hinauf, wie ein Gebirge
aus Stein und Stille.

Verzweifelt lief Hellwig von einer Örtlichkeit zur andern, ein
ohnmächtiger Zorn war in ihm, daß ihn ein Menschenwerk so klein
machen durfte, er wehrte sich dagegen und spürte doch, wie er dieser
unfaßbaren Größe mehr und mehr unterlag.

Da fand er sich unversehens an einem seltsamen Orte. Bunte Häuschen
waren da, so klein, daß er mit der Hand den Dachsims fassen konnte,
eines neben dem andern, mit Türchen und Fensterchen, wie von Zwergen
für Zwerge geschaffen. Er war in das Alchimistengäßchen geraten. Und
wie er näher zusah und wie ihm einfiel, daß der zweite Kaiser Rudolf
mit seinen Magiern, Goldmachern und Sterndeutern hier hausete, da --
atmete er leicht auf.

Hier war etwas menschlich Warmes, eine Schwäche, ein mildes Licht, das
auf die riesenhaften Prachtbauten hinüber leuchtete und ihnen allen
Schrecken nahm. Tief unten lag die Stadt, zu beiden Ufern des Stroms
hingebettet, ihre hundert Türme und Kuppeln und Türmchen leuchteten,
blitzten und funkelten in der Sonne -- und wer von hier hinabschaute
mit dem Bewußtsein des Herrschers, dem konnte wohl zumute sein, als
stände er berghoch über all den geduckten Siedelungen, über all den
ameisenklein wimmelnden Menschen im flachen Lande und könnte sie
zertreten mit stampfendem Fuß nach Lust und Laune. Darum schuf er
sich und seinem schrankenlosen Machtgefühl den unnahbar stolzen,
riesenhaften Bau auf steiler Höhe, fern von allem Menschentreiben und
der Sonne näher. Doch siehe -- dicht daneben, versteckt und heimlich,
stellte er die kleinen, schwachen Hütten auf und trug aus der stolzen
Burg sein schwaches, kleines Menschentum dorthin, wenn es ihn zu quälen
anfing. Bei abergläubischem Spuk und geraunten Zaubersprüchen suchte er
daran zu vergessen, aus glühenden Gemengen in absonderlich geformten
Retorten sollte der hilflosen Ohnmacht ein Mittel zur Allmacht
erstehen, im gelassenen Lauf der Gestirne nach der Zukunft forschend,
wollte der Blinde sehend und wissend werden.

So standen diese Häuschen als rührende Zeugen menschlicher Ohnmacht,
die vergebens über ihre Grenzen tastet, und so wirkten sie befreiend
und versöhnend auf Hellwig. Plötzlich war ihm Burg und Dom vertraut
geworden. Der Gewalt des ersten Eindrucks entronnen, bemerkte er
jetzt überall heimliche Schönheiten und anheimelnde Winkel, vom
Zauber der Romantik überhaucht. Ganz glücklich wurde er darüber.
Und jedesmal, wenn später wieder ein scheinbar unbegreiflich großes
Menschenwerk lähmend auf ihn wirken wollte, mußte er an die kleinen
Alchimistenhäuschen denken und lächelte leise fröhlich dabei.


2.

Pichler hatte sich für die Juristerei entschieden, während Hellwig
nicht so ohne weiters schlüssig werden konnte. Zwar segelte er
vorläufig ebenfalls unter der Flagge der Rechtsgelehrsamkeit, besuchte
indes auch zahlreiche philosophische und naturwissenschaftliche
Vorlesungen und wollte sich erst nach dem ersten Semester endgültig
entscheiden.

Bald sah er ein, daß er sich mit dem römischen Recht nie werde
befreunden können. Die nüchterne Sachlichkeit desselben lief seinem
nachdenklichen Wesen schnurstracks zuwider. Er begann das Kolleg
zu schwänzen, saß während der so gewonnenen Zeit lieber in der
Universitätsbibliothek. Gedrängt durch die Fülle der Erinnerungen,
die sich ernst und eindringlich allerorten in der Stadt aufzeigten,
begann er hier ein eifriges Geschichtsstudium und bemühte sich außerdem
einen Überblick zu gewinnen über die Entwicklung der Kulturen und über
die Verfassungen der Völker. Auch an den Nachmittagen verweilte er
gern in dem hohen, wölbigen Saal, wo es so flüsternd leise herging,
die Diener mit schweren Bücherpäcken nur auf den Zehen hinter den
Stuhlreihen umherschlichen und über vergilbte Schmöker gebeugt, junge
und alte Leute emsig lasen oder Auszüge machten. Das Rascheln der
starken Pergamentblätter, das Knistern des Papiers und das Gekritzel
der Bleistifte gab eine gute, zu geistiger Sammlung ladende Melodie. Im
Flug vergingen ihm die Stunden, und nach seiner Meinung gewöhnlich viel
zu früh stand der Diener hinter ihm mit der höflich-leisen Einladung,
Schluß zu machen, weil gleich gesperrt würde. Wohl entlieh er sich
auch Bücher und trug sie in seine Wohnung. Aber dort war abends an ein
ernstes Arbeiten nicht zu denken.

Nebenan in der großen Stube fand sich täglich die geräuschvolle
Quodlibetpartie zusammen. Pichler war jetzt einer der fleißigsten
dabei, denn er hatte dem Spiel Geschmack abgewonnen und pflegte es
mit dem gleichen geschäftsmäßigen Eifer, den er tagsüber auf sein
Studium verwendete. Aber auch der einsame Bücherwurm im Nebenzimmer
blieb nicht unbehelligt. Jede halbe Stunde steckte die Wondra den Kopf
zur Tür herein und forderte ihn auf, mit ihnen lustig zu sein. Oder
es erschien der Philosoph und erlaubte sich eine spezielle Blume. Und
wenn Karg zu Hause war, kam er ebenfalls und wich nicht, bis Hellwig
endlich aufstand und sich den fröhlichen Zechern zugesellte. Dann
bemühte sich Karg so gewinnend als möglich zu sein. Denn die zwei
strammen Neuberger gefielen und schienen ihm der Fuchsenehre würdig bei
der Landsmannschaft Herminonia, der er selbst angehörte. Grün-weiß-rot
waren die Farben, unentwegt und immerdar judenrein, arisch-deutsch
die Mitglieder, gewaltig ihre Leistungen im Vertilgen des bräunlichen
Gerstensaftes, und mit neidvoller Bewunderung erzählte man sich in
den anderen Verbindungen von den ungezählten Halben, die auf den
Herminonenkneipen die schwitzenden Kellner herbeischaffen mußten.

Dieserhalb, nicht minder aber wegen ihrer geradlinigen Ehrlichkeit war
das Ansehen der Herminonen unter der farbentragenden Studentenschaft
groß. Sie wußten es sich aber auch zu erhalten durch die immer bereite
Kühnheit, mit der sie auf dem Paukboden standen, wo sie dann die
scharfen Klingen ebenso geschickt und flink handhabten, wie sie bei den
Hochschülerkränzchen plump und ungelenk das Tanzbein schwangen, mit der
gleichen Seelenruhe dort furchtbare Rückschneidquarten in die Gesichter
der Gegner, hier nicht minder gefürchtete Tritte auf die Zehen der
Tänzerinnen austeilend.

Den unablässigen Werbungen des Mediziners glückte es endlich, seine
beiden Stubennachbarn zur Teilnahme an der Eröffnungskneipe zu bewegen.
Pichler tat es gern mit der frohen Aussicht auf eine vergnügliche
Unterhaltung, während Hellwig mitging, um sich die Geschichte einmal
anzusehen und aus eigener Anschauung eine Sache kennenzulernen, deren
Lob ihm seit der Gymnasialzeit in die Ohren tönte.

Wie alte Bekannte wurden sie aufgenommen, trafen hier auch einige,
mit denen sie gemeinsam die Schulbank in Neuberg gedrückt hatten,
schon in junger Fuchsenherrlichkeit mit Kappe und Band und im
Vollgefühl ihrer neuen Würde. Einer war darunter, der hatte noch
kaum vor Jahresfrist in der Geschichtsstunde behauptet, daß sein
Vaterland eine absolutistische Verfassung habe. Jetzt aber redete er
von der Notwendigkeit der Sonderstellung Galiziens, von der deutschen
Staatssprache und von der Einsicht, die Bismarck mit der Gründung des
Norddeutschen Bundes unter Ausschluß Österreichs an den Tag gelegt,
redete noch von vielen anderen Dingen, als hätte er selbst sie gemacht
und alle hohe Staatswissenschaft in der Westentasche. Und ein anderer
war da, Karl Deimling, schon ein alter Knabe, der redete beinah
überhaupt nichts, sondern trank nur immerzu, und wenn er sonst noch
die Lippen voneinander tat, war es zum Singen eines rauhen Trinkliedes
oder zu einer knappen Bemerkung, die mit harter Grobheit wie eine
Panzergranate einschlug. Doch war er ein zuverlässiger Kamerad, treu
wie ein Bulldogg, und kannte kein anderes Ideal, als die Farben der
Herminonen untadelig blank zu halten vor Feind und Freund. Schon
manchen Fuchs hatte er gedrillt. Ja fast alle, die jetzt als Burschen
an der oberen Tafel saßen, waren einst mit sprossenden Bärten und den
ungelenken Bewegungen junger großer Tiere unter seine Fuchtel gekommen.
Prachtkerle waren darunter aufgestanden, sehnige Gestalten mit
blutroten Narben in den energischen Gesichtern, mit Augen, die in einem
selbstverständlichen Mut kühl und beinah schwermütig darein blickten,
und mit einer geflissentlich zur Schau getragenen Kaltblütigkeit,
die sie älter und reifer erscheinen ließ. Doch wenn sie ganz unter
sich waren, dann warfen sie diese Würde wie einen lästigen Mantel ab,
schäumten auf und brausten in zweckloser Lebensfreudigkeit, wurden
übermütig wie Füllen, ausgelassen wie Kinder nach dem Gottesdienst.
Hellwig aber begriff weder die Notwendigkeit jenes gemessenen Gehabens,
noch hatte er Verständnis für die harmlose Freude an Unsinn, Kinderei
und Ulk. Er konnte nicht mit dem Leben spielen, hatte sich auf jede
Sache noch immer mit der ganzen Wucht seiner schweren Gründlichkeit
geworfen und kannte die Freude des Schwimmers nicht, der im Ringen mit
hoch gehenden Wogen seine überschüssige Muskelkraft um ihrer selbst
willen vergeudet.

Feierlich wurde die Kneipe eröffnet, weihevoller Sang ertönte zum
Preise der Freiheit und des Deutschtums. Sehr anständig und förmlich
ging es zu, bis unten an der Fuchsentafel ein lustiges Trinklied
aufklang: „Sa, sa, geschmauset, laßt uns nicht rappelköpfisch sein!“

Da war das Eis gebrochen. Ein scharfes Zechen hob an, Blumen wurden
zugetrunken, Bierjungen gebrummt, Übermütige zum Einsteigen verdonnert.
Karg als Fuchsmajor hielt scharfes Regiment. Er ließ seine Füchse
strafweise trinken, daß sie anschwollen wie Schwämme im Wasser. Das
kleinere der Trinkhörner begann zu kreisen. Staunend sah Hellwig, wie
mit Ausnahme der allerjüngsten jeder das erzbeschlagene Gefäß in einem
Zuge leerte, ohne Atem zu holen, ohne zu verschütten oder zu ‚bluten‘.
Die Pfeifen qualmten, eine dicke Wolke Tabakdampf umschleierte die
Gasflammen, drückend heiß wurde es. Der Schläger des Erstchargierten
fiel immer öfter dröhnend auf die Tischplatte: „Silentium!“ --
„Silentium!“ donnerte gleichzeitig Karg seinen Füchsen zu.

Wieder stieg ein ernster ~Cantus~. Aber der klang nur so, wie in der
Kirche das Meßlied: pflichtgemäß, korrekt, ohne Wärme.

„~Cantus ex! Colloquium!~“

„Heil dem ~Cantus~!“

„Verflucht, sind die Füchse ledern!“ rief da der schweigsame Deimling.
„Liefert endlich einen Ulk! Oder ich lass’ euch spinnen, daß ihr
Schusterbuben kotzt!“

Nun sammelte Karg seine Knappen, beriet sich flüsternd mit ihnen, und
die ganze Fuchsentafel zog ins Nebenzimmer. Auch Pichler ging mit,
der sich rasch hineingefunden hatte und, leicht beschwipst, alles im
rosigsten Licht sah. Nach einer Weile kamen sie mit brennenden Kerzen
zurück. Der Fuchsmajor rückte einen runden Tisch von der Wand, stellte
einen Stuhl darauf und ließ sich dort oben nieder. Die Füchse aber
umkreisten ihn und sangen:

    „Jessas, a Ringelg’spiel
    Is a Hetz und kost’ net viel.
    Alles draht sich um und um,
    Tschindarassa bumbumbum!“

Immer schneller sangen sie und immer rascher bewegten sie sich in der
Runde, erst auf dem Fußboden, dann von Stuhl zu Stuhl, endlich auf
dem Tisch, so viel ihrer Platz hatten. Das Singen wurde Gebrüll, das
Getrappel Staub aufwirbelndes Stampfen, der Boden schwankte, die Gläser
klirrten, bis endlich mit einem Huronengeheul die Darsteller insgesamt
in die Knie sanken, teils auf den Dielen, teils auf den Sesseln und auf
dem Tisch, sich mit hoch gehaltenen Lichtern zu einer Art Schlußgruppe
um den Fuchsmajor vereinigend, der die Arme an den Leib gedrückt, die
Hände auf den Schenkeln wie ein ägyptischer König auf seinem Sitz
hockte.

Da sauste plötzlich ein faustgroßer Stein durch eine splitternde
Fensterscheibe, klatschte gegen die Wand und fiel polternd nieder,
indes der Mörtel langsam nachrieselte. Ungestüm sprangen die Füchse
auf, aber schon rief Karg, vom Tisch herabspringend, sein donnerndes:
„Silentium!“ Da mußten sie bleiben. Die Burschen bewahrten eisige
Gelassenheit.

„Der Esel von Kellner hat wieder einmal nicht zugemacht!“ sagte
Deimling, stand auf und trat an das zerbrochene Fenster, um die Läden
zu schließen. Gejohl schallte von der Gasse, ein zweiter Stein
flog knapp an seinem Kopf vorbei. „Nur keine Aufregung!“ brummte
das alte Semester, unerschüttert ruhig mit dem widerspenstigen
Rolladen beschäftigt. Der Erstchargierte, ~stud. med.~ Braun, ein
breitschultriger Hüne aus dem Egerland, hatte inzwischen das andere
Fenster verwahrt. „Sehen Sie,“ wandte er sich zu den Gästen, „die edlen
Söhne der Libuscha heißen uns auf ihre Art willkommen. Geschieht öfters
so, man gewöhnt sich daran! -- Aufgepaßt, Füchse!“ fuhr er mit scharfer
Kommandostimme fort. „Bei solchen Sachen ist die erste Pflicht: ruhig
bleiben! Nicht mit der Wimper zucken! Sonst ist der Krawall fertig!
Schreibt euch das hinter die Ohren! Und nun steigt: ‚Die Wacht am
Rhein‘. ~Cantor, incipias!~“

„Es braust ein Ruf wie Donnerhall!“ stimmte der Sangwart an, alle
fielen ein, und diesmal wehte wirklich etwas vom Sturmatem der
Begeisterung in den frischen Stimmen.

Fritz aber war wärmer geworden. Das sichere Auftreten der jungen Leute,
ihre kalte Geistesgegenwart und die musterhafte Zucht, mit der sie
hinter sorgenlosem Leichtsinn und behaglicher Fröhlichkeit versteckt,
einen zähen Kampf um ihre Muttersprache führten, das alles zwang ihm,
der nicht ihre Ansichten teilte, Achtung ab, weil hier ein ehrliches
Wollen zu spüren war. Er wurde gesprächiger, taute auf und weil sich,
hierdurch angeregt, auch jene freier gaben, geschah es, daß er in ein
ganz leidliches Verhältnis zu ihnen kam. Er blieb bis zum Schluß in der
Kneipe und als beschlossen wurde, noch ein Kaffeehaus aufzusuchen, ging
er ebenfalls mit.

Je drei oder vier in einer Reihe, zogen sie geräuschvoll durch die
spärlich erhellte Gasse zum Wenzelsplatz. Die Nacht war bereits
ziemlich vorgerückt, in den Straßen bewegten sich nur vereinzelte
Schwärmer. Unerwartet aber brach mit großem Getöse aus einem
Nebengäßchen ein Trupp meist jüngerer Leute. Sie hatten schwarze
Samtbaretts schief auf den mähnigen Köpfen, schwangen drohend dicke
Stöcke und gebärdeten sich ohne ersichtlichen Grund sehr aufgeregt und
wild. Es waren die Mützen der deutschen Studenten, die das tschechische
Jungvolk derart in Zorn brachten. Denn in ihm war die Unduldsamkeit
eines kleinen Stammes, der rings von einem großen umklammert,
eifersüchtig seinen Besitzstand wahrt, in jedem Farbenbändlein des
Feindes eine Gefahr für sich erblickend. Worte wie Provokation und
Frechheit fielen, und schon auch zerbrach ein Spazierstock an dem
harten Schädel Deimlings. Der schüttelte sich nur wie ein Auerochs,
den ein Kieselsteinchen traf, nahm Hellwig, der ihm zunächst schritt,
unterm Arm und ging weiter mit finsterer Miene, ohne ein Wort zu
sprechen. Auch die andern Herminonen hatten sich zusammengeschlossen,
marschierten Schulter an Schulter dicht gedrängt, mit unbewegten
Gesichtern, und redeten nicht. Jeder Widerstand, das wußten sie, trieb
Wasser auf die Mühlen der Gegner, und schon mehr denn einmal hatte die
unbedeutende Verletzung eines Tschechen in einem solchen Raufhandel den
Vorwand abgegeben zur Zerstörung deutschen Eigentums, zu Plünderung und
Raub. Darum dämmten sie gewaltsam ihren Zorn zurück und zogen Schritt
für Schritt gelassen weiter. Voran ging der riesenhafte Braun, mit
Schultern und Ellbogen sich den Weg durch die Erregten bahnend, die
mit heftigen Gebärden immer wieder herzu drängten und zurückwichen,
unschlüssig, ob sie einen ernstlichen Angriff wagen sollten. Ihre
lauten Stimmen erfüllten die Gasse, lockten die Gäste aus den Schenken
vor die Türen, und mancher schloß sich dem Zuge an. Und jedesmal,
wenn einer sich hinzugesellte, wurde ihm, der vordem ganz ruhig sein
Schöpplein getrunken, das Gesicht fahl vor Aufregung und in den
glitzernden Augen erwachte der Haß. Wie eine elektrische Wolke umhüllte
er das lautlose Häuflein der Studenten, und endlich mußte die Entladung
erfolgen.

Als der Trupp an einem Neubau vorüberkam, raffte einer blind vor Wut
einen Ziegelbrocken, warf und traf einen Herminonen an die Schläfe.
Der ächzte, stolperte nach vorn und wäre hingefallen, wenn ihn nicht
seine Bundesbrüder schnell gestützt hätten. Aus einer Fleischwunde
floß ihm das Blut über Gesicht und Kleider. Hellwig aber, in dem es
schon lang brodelte, war, ehe ihn Deimling zurückhalten konnte, mitten
in den dichtesten Knäuel gesprungen, bekam den Werfer zu fassen und
schmetterte ihn in aufflackerndem Jähzorn zu Boden. Im Nu war der
Wildling zwischen den Tobenden eingekeilt, die mit Fäusten und Stöcken
nach ihm hieben, Kragen und Binde von seinem Hals rissen und ihn durch
ihre Überzahl arg bedrängten. Er wehrte sich, so gut oder schlecht es
ging. Der Hut war ihm vom Haupt geschlagen worden, sein feines Haar
flatterte im Luftzug und gab lichten Schein über der gefurchten Stirn,
die weiß aus dem Halbdunkel leuchtete, während der übrige Teil des
Gesichts darin versank. Von vorn gestoßen, gezerrt von rückwärts, von
allen Seiten geknufft, geschoben und gequetscht, mußte er sich darauf
beschränken, die Hiebe mit emporgehobenen Armen von seinem Kopfe
abzuwehren, und es wäre ihm übel ergangen, wenn nicht Deimling und
Braun zu Hilfe gekommen wären. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen
und die vorgehaltenen Fäuste wie Rammböcke brauchend, brachen sie sich,
ostfränkische Bauernsöhne, unwiderstehlich Bahn und stellten sich
kampfgewärtig um den Bedrängten.

Nun aber eilten Wachleute herbei und trennten die Streitenden.
Die Tschechen wurden in die Gasse zurückgedrängt, die Hochschüler
unter polizeilichem Schutz zum Kaffeehaus geleitet und dem Portier
überantwortet, der sofort die Tore hinter ihnen schließen mußte.


3.

Der junge Mensch, den Fritz aufs Pflaster geschleudert, hatte
zwar nicht gefährliche, aber immerhin ernstlichere Verletzungen
davongetragen. Wie Hühner auf gestreuten Weizen, stürzten sich
Zeitungsleute auf den Vorfall und schon die tschechischen
Mittagsblätter brachten spaltenlange Berichte. Scheinbar ruhig und
sachlich gehalten, wirkten sie durch Unterdrückung oder einseitige
Beleuchtung einer Tatsache besser als die schärfsten Brandartikel und
verfehlten in ihrer geschickten Fassung die beabsichtigte Wirkung nicht.

Leidenschaftlich erregte Volksmassen sammelten sich und zogen singend
durch die Straßen. Auf dem Graben, der sonst nach stillschweigendem
Übereinkommen den Deutschen zum Abendbummel überlassen blieb, zog in
geschlossenen Reihen die slawische Jungmannschaft auf, Jünglinge und
Mädchen mit rot-weiß-blauen Bändern und Schleifen streiften umher und
umringten die deutschen Burschenschaftler mit wüstem Geschrei. Langsam
anschwellend rollte es die Straße entlang, brandete an den Häusern
empor, ebbte ab und schwoll zurückkehrend wieder an, murrte, tobte,
donnerte ohne Aufhören hinab und hinauf, von einem Menschenschwarm dem
andern zugeworfen, bald dumpf am Boden hinrollend, bald schrill in
die schwere, nebelfeuchte Abendluft flatternd, die es sogleich wieder
niederdrückte und am Boden festhielt.

Mit gelben Höfen leuchteten die Straßenlampen nur verschwommen in der
Dämmerung. Gleich schwarzen Käfern hasteten die Menschen durcheinander,
und wo eine Studentenkappe sichtbar wurde, entstand ein heftigerer
Wirbel in den wimmelnden Massen, stürzten alle ungestüm herzu,
fluchend, gestikulierend und aufs heftigste erbittert.

Hellwig ging mit Braun und Deimling im Zuge der Herminonen. Pichler
war verschwunden. Als der tolle Lärm losbrach, hatte er sich sacht
davongestohlen. So stumm und kleinlaut, wie er vordem auf dem Weg
von der Kneipe zum Bummel keck und prahlerisch einem entschiedenen
Widerstand das Wort gesprochen, war er über die Straße und durch die
nächste Seitengasse heimgegangen.

Das Gewühl wurde immer stärker und schon lieferte man sich da und dort
kleine Scharmützel. Aber sie waren nur rasch und kurz, als sollten
vorerst die Kräfte geprüft und ausgekundschaftet werden, wie weit der
Gegner zu gehen entschlossen sei. Da fiel es plötzlich einem verwegenen
Häuflein von sieben rotbemützten Teutonen ein, die Wacht am Rhein
anzustimmen. Gewaltig sangen sie mit ihren schweren Bässen das deutsche
Wehr- und Trutzlied in das einförmige Gejohl.

„Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!“ Weiter kamen sie nicht.
Wie losgelassene wilde Tiere stürzten sich die Tschechen auf die
unbedachten Heißsporne. „~Mažte ji!~ Haut sie!“ brüllten die Jünglinge
mit der slawischen Trikolore, und manches zarte Mädchen bearbeitete
mit dem Regenschirmchen die Köpfe der Sänger, bis das luftige Dach in
Fetzen am geknickten Stäbchen flatterte.

Aber auch die andern Hochschüler mußten die Unbesonnenheit der sieben
Kampfhähne entgelten. Eine Sturzwelle, warf sich die entfesselte Wut
gegen die Deutschen und brachte sie nun wirklich in ernste Gefahr.
Berittene Schutzleute sprengten in die Menge. Sie vermochten nichts
gegen die wache Leidenschaft. Die arg bedrohten Deutschen flüchteten in
die Fluren der Häuser. Aber mancher Hausbesorger weigerte ihnen auch
diese Zuflucht und trieb sie wieder auf die Gasse, wo die ergrimmten
Slawen neuerdings über sie herfielen. Die Geschäftsleute hatten ihre
Läden schon früher geschlossen. Nun beeilten sich auch die Wirte und
Kaffeesieder, ihre Spiegelscheiben zu verwahren, denn bereits waren
viele eingedrückt und zertrümmert.

Vor dem deutschen Vereinshaus war das Gedränge am ärgsten. Den
meisten Studenten war es nach hartem Strauß gelungen, sich dorthin
zurückzuziehen. Die Menge aber schickte sich allen Ernstes an, das
Gebäude zu stürmen. Schon splitterte das Holz an den Fensterläden,
wurden die Torflügel bedrohlich locker, als eine Schar Dragoner
heransprengte, die im Verein mit einigen Abteilungen Fußvolk die
Volksmassen ziemlich rasch in die Seitenstraßen abdrängten.

Aber während am Graben das militärische Lagerleben sich entfaltete,
während die angepflockten Pferde mit gesenkten Köpfen schlafend neben
Sattelzeug und Pyramiden von Gewehren standen, während die Posten auf
und nieder schritten, umsummt von den leisen Gesprächen der ruhenden
Mannschaft, -- ein Säbel klirrte, ein Pferd schüttelte sich und
wieherte leise, still und dunkel standen die Häuser, -- währenddessen
rotteten sich in den Vororten die Vertriebenen wieder zusammen, und von
den immer bereiten Scharen arbeitsscheuer Halunken unterstützt, nahmen
sie Rache dafür, daß man sie in der Wahrung ihrer vermeintlichen
Rechte mit Waffengewalt gehindert hatte.

Deutsche Firmenschilder wurden von den Häusern gerissen, die Geschäfte
aufgebrochen, die Vorräte auf die Gasse geschleppt, vernichtet,
geraubt. Und die Steine flogen in die Säle deutscher Bildungsstätten
und wissenschaftlicher Anstalten, flogen in die Spitäler bis zu den
Betten der wehrlosen Kranken, verbreiteten Schrecken und Angst in den
Räumen, die das tiefste Menschenelend umschlossen, vermehrten die
Leiden der Schwerkranken und warfen halb Genesene in neues Siechtum.

Die ganze Nacht dauerten die Überfälle. Sie waren so ausgezeichnet ins
Werk gesetzt, daß der Pöbel, dem ein Heer von Spähern zur Verfügung
stand, seine Arbeit regelmäßig gründlich abgetan und sich aus dem
Staub gemacht hatte, wenn endlich die Hüter der öffentlichen Ordnung
auftauchten. Auch der nächste Morgen brachte keine Ernüchterung.
Posten lauerten bei verdächtigen Häusern, stürzten sich auf jeden, der
heraustrat und mißhandelten ihn, wenn er als Deutscher erkannt wurde.
Und wo noch ein unbewachtes deutsches Kauflädchen zu finden war, wurde
es aufgesprengt und ausgeplündert. Die Behörden waren unentschlossen,
zauderten und fürchteten sich vor den möglichen Folgen energischer
Maßregeln.

So verging auch dieser Tag und noch eine Nacht unter fortwährendem
Tumult. Während der ganzen Zeit durften die Studenten das deutsche
Vereinshaus nicht verlassen. Ein starker Militärkordon bewachte sie,
aber heraus ließ man niemanden, der nicht einen unauffälligen Hut
vorweisen konnte. Denn man wollte vermeiden, daß durch den Anblick der
bunten Mützen die Menge von neuem gereizt und zu einem Angriff gegen
die Truppen verleitet werde.

In diesen Tagen höchster Bedrängnis wurde wieder einmal eine deutsche
Eintracht geboren. Mit pomphaften Worten und tausend Vorbehalten
erklärten sich die radikalen Fraktionen bereit, ihre gegen Judentum
und Liberalismus geschliffenen Streitäxte bis zur Wiederkehr besserer
Zeiten zu vergraben. Mit weitschweifigen Debatten und großen Reden ging
ein kleines Geschlecht daran, das neugeborene Zufallskind eines großen
Augenblicks auf die Taufe zu heben.

Nun war da unter den Freisinnigen ein Hochschulprofessor, der in
seiner stillen Gelehrtenstube ein fleißiges Arbeitsleben führte, in
bescheidener Zurückgezogenheit seiner Wissenschaft lebte und von vielen
übersehen oder wenig beachtet wurde, weil er jedem Hervortreten fast
ängstlich auswich. Um so größeren Eindruck machte es, als er sich jetzt
unter dem Zwang einer ehrlichen Entrüstung zur ganzen Höhe seiner
hageren Gestalt erhob und die Erregung hinter einer trockenen Knappheit
bergend, mit dürren Worten darlegte, was nach seiner Ansicht zur Abwehr
weiterer Drangsal und zur Sühne der erlittenen Unbilden fürs erste zu
geschehen habe. Über seine Anregung wurde an den Ministerpräsidenten
ein Telegramm abgesendet, worin der kalte Stolz gekränkten Rechts
sofortige Abhilfe forderte, wenn es nicht zur Selbsthilfe kommen
sollte. Dann begab sich eine Abordnung zum Statthalter und verlangte
Schutz und entschiedenes Eingreifen.

Jetzt endlich wurde der Belagerungszustand über die aufgestörte Stadt
verhängt und binnen kurzer Frist eine halbwegs erträgliche Ordnung
hergestellt.

Durch diese Ereignisse wurde Fritz gegen Wunsch und Absicht in den
Wirbel der nationalen Bewegung mit hineingerissen. Seine zupackende
Handgreiflichkeit gegen den Ziegelwerfer hatte ihn bekannt gemacht.
Er wurde als Vertreter der Finkenschaft in die Abordnung gewählt,
und da es den Kampf gegen eine Ungerechtigkeit galt, sagte er nicht
nein. Die vollwertige Persönlichkeit jenes Universitätsprofessors
aber nahm ihn rasch gefangen, war mit ihrer ehrlichen Begeisterung
und Besonnenheit ganz darnach angetan, den unberatenen Jüngling in
der Ansicht zu bestärken, daß hier um ein Menschengut gekämpft werde,
das auch tüchtigen und reifen Männern kostbar sei. Darum legte er
sich unbesinnlich mit voller Kraft ins Zeug und gab sein Bestes her,
um den überkommenen Auftrag ehrenvoll zu bestehen und dem Volke,
dem er angehörte, nützlich zu sein, soweit er das als halbfertiger
und unerfahrener Schüler vermochte. Doch fand er trotz allem in
dieser Tätigkeit keine volle Befriedigung, spürte vielmehr ein vages
Unbehagen, ohne die Quelle zu kennen, aus der es floß.


4.

Während der zwei Sturmtage hatte auch Pichler die Wohnung nicht
verlassen. Doch hielt er sich nicht in seiner eigenen Stube auf, in
die leichtlich von der Gasse ein Stein hätte fliegen können, sondern
vertrieb sich im Hofzimmer die Zeit, so gut es ging, indem er mit der
Wondra Mühle spielte, meistens aber rauchend mit gekreuzten Beinen
im Lehnstuhl des Astronomen saß und nicht zum Hradschin, sondern den
Leuten des gegenüberliegenden Hauses in die Fenster schaute. Das
behagte ihm je länger, je besser, da es zumeist dienstbare weibliche
Wesen waren, die er zu Gesicht bekam und die in hofseitigen Küchen
und Kammern tagsüber mit den Hausfrauen um die Wette geschäftig sich
regten, in einsamer Frühe mit Hemd und Unterrock bekleidet sich die
Haare ordneten und abends auch noch die Röcke auszogen, um sich rasch
zu reinigen, bevor sie die Lämpchen verlöschten.

Die Wondra störte ihn nicht in diesem beschaulichen Treiben. Wohl
hockte sie rauchend, schwatzend und strickend im selben Zimmer, aber
sie schaute meist auf den Wollschlauch, der unter den klappernden
Nadeln zusehends wuchs und hatte durchaus nicht acht, wohin unterdessen
ihr Mietsmann die Blicke wandern ließ.

Von den Vorfällen der letzten Tage wußte sie die übertriebensten und
blutrünstigsten Geschichten zu erzählen, mit einer Anschaulichkeit, als
wäre sie überall mit dabeigewesen. Dazu lebte sie in der beständigen
Angst, daß auch ihr die Stuben geplündert werden könnten, weil sie
Deutsche beherbergte; deswegen begab sie sich sehr zeitig zu Bett,
als ob, wenn _sie_ schlief, auch alle anderen das gleiche tun und sie
in Ruhe lassen müßten. Vorher jedoch verwahrte sie ihre Wohnung auf
das sorgsamste, und Pichler mußte ihr jeden Abend beistehen, wenn sie
den Eingang mit dem Küchenkasten verrammelte und zur Sicherheit noch
ein paar Sessel darauftürmte. Erst dann kroch sie beruhigt in die
Federn, während Otto, nunmehr mit einem Fernrohr des Sternguckers,
wieder im Lehnstuhl Platz nahm, zuvor aber die Lampe zurückschraubte,
um zu verhüten, daß die ahnungslosen Mägde ihn erblickten und durch
Herablassen der Rollvorhänge dem angenehmen Schauspiel ein Ende machten.

Von Fenster zu Fenster ließ er sein Perspektiv wandern, und da bemerkte
er in einem hellen Kämmerlein auch ein junges Frauenwesen, das dort
an der Nähmaschine saß und unablässig weiße Leinwandflächen unter die
Nadel schob. Ganz deutlich sah er das reine Profil und den nackten,
schlanken Hals, der sich in einer anmutigen Linie hinter der Hausjacke
verlor, alles vom Lichte der seitlich stehenden Lampe voll beleuchtet.
Das gefiel ihm aus der Maßen wohl.

Am nächsten Morgen erwachte er erst spät. Sein erster Blick galt
wieder jenem Fenster; da stand die fleißige Näherin im geöffneten
Rahmen fertig angezogen und beutelte aus einem Flanelltüchlein eine
Wolke Staubes in die Luft hinaus. Wie ein freundliches Winken war
das, und Otto winkte zurück, indem er lächelnd die Hand gegen das
Fräulein bewegte. Darüber erschrak dieses ein wenig, betrachtete aber
den hübschen Jungen mehr erstaunt als entrüstet. Nun wagte er es und
warf eine Kußhand hinüber. Sie lachte ein ganz kurzes Lachen in hohen
Kehltönen, nickte, drehte sich auf dem Absatz herum, und ihr Rocksaum
wehte, während sie im Dunkel des Zimmers verschwand. Aber nach einer
Weile kam sie wieder und blieb jetzt schon länger beim Fenster.

Schimmernde Fädchen spannen sich, von einem Fenster zum andern zogen
sie sich wie helle Seide oder leichte Sonnenstrahlen, auf denen die
verliebten Jugendgeisterchen ein lustiges Seiltanzen begannen mit
halsbrecherischen Sprüngen und Nicken und Neigen. Zag oder mutig,
ängstlich oder keck trippelten, tollten sie hinüber, herüber, bis
hinter der lichten Mädchengestalt eine rundliche Frau mit gestrenger
Miene auftauchte, worauf die männliche Geisterschar kopfüber in den
Hof purzelte, die weibliche aber in den tiefblauen Winterhimmel hinein
lachend davonschwebte.

Es war, wie Otto gleich vermutet hatte und von der Wondra bestätigt
erhielt, die Mama gewesen. Die Wondra wußte auch, daß sie einen
kleinen Postbeamten zum Mann und zwei Töchter besaß. Die ältere sollte
in einigen Wochen Hochzeit machen und ließ sich, während sie mit
Eltern und Bräutigam bei Freikonzerten und in Vergnügungslokalen ihre
abendliche Unterhaltung suchte, von der jüngeren Schwester, der braven
Helenka, die Aussteuer fertig nähen.

Pichler wich den ganzen Tag nicht von seinem Lauscherposten und nahm
sich kaum zum Essen Zeit. Indes zeigte sich die Helenka erst abends
wieder in jenem Gemach, und mit verliebten Augen betrachtete er
die runde Anmut ihrer Bewegungen, wie sie flink und leicht in dem
Leinwandhaufen herumwirtschaftete. Er nahm die Lampe und stellte sie
beim Fenster so auf, daß ihr Schein auf ihn fallen mußte. Dann warf er
wieder eine Kußhand hinüber. Da ließ sie die Hände in den Schoß fallen,
lehnte sich in dem Stuhl zurück und lachte ausgelassen. Er lachte auch,
winkte und verneigte sich. Sie winkte wieder, war blutrot und lachte
fort, bis sie plötzlich ihre Arbeit zusammenpackend, nun ihrerseits die
Hand an die Lippen legte und mit den geküßten Fingerspitzen durch die
Luft fuhr, worauf das Licht blitzschnell erlosch.

Mit glänzenden Augen schaute Otto auf das dunkle Fenster, rieb sich
die Hände, schnippte mit den Fingern und freute sich unbändig. Doch
hinderte ihn das nicht, nachher andächtig dem Treiben der schläfrigen
Mägde zuzusehen und hierauf selbst einen gesunden Schlaf zu tun, den
vergnügliche Träume begleiteten.

Durch ein lautes Krachen wurde er mitten in der Nacht unsanft
geweckt. Gleich darauf kam die Wondra im Barchentunterrock mit einem
Angstgezeter in sein Zimmer gestürzt. Denn sie vermutete nichts
anderes, als daß ihre Landsleute bei ihr einbrechen und für den
Volksverrat Rache nehmen wollten. Auch Otto mochte Ähnliches erwarten
und machte ein bängliches Gesicht. Da erhob sich draußen mächtiger
Gesang: „Raus da! Aus dem Haus da! Rrraus! Rrraus! Rrrraus!“

Karg, König, Fundulus und Hellwig waren heimgekehrt und hatten sich,
da die Tür nicht nachgeben wollte, mit vereinten Kräften dagegen
gestemmt, so daß die Stühle polternd von dem Küchenkasten fielen und
dieser selbst ins Wanken kam. Nun verwandelte sich das Angstgezeter
der Witwe in einen Freudenlärm. Trotz der ungewöhnlichen Stunde wollte
sie zur Feier der glücklichen Wiedervereinigung ein kleines Gelage
veranstalten bei schwarzem Kaffee mit Rum und bei Flaschenbier, das sie
in der kühlen Jahreszeit stets in genügender Menge vorrätig hielt. Die
Studenten jedoch wollten erst wieder einmal ordentlich ausschlafen,
bedankten sich und vertrösteten die unternehmende Kostfrau auf eine
gelegenere Zeit. Ungern gab sie nach, wünschte zuvor wenigstens noch
die Erlebnisse ihrer Mieter sogleich zu erfahren und ermüdete nicht
im Fragen, bis Karg die wohlbeleibte Dame nicht gerade sanft in ihre
Kammer zurückbeförderte und die zugeschlagene Tür den rauschenden
Redeschwall vorläufig staute.

Weniger als die Hauswirtin war Pichler über die Ankunft der
Stubengenossen erfreut, weil dadurch das begonnene Schäferspiel
unliebsam gestört wurde. Indes, die Sache war bereits eingefädelt und
spann sich ohne Schwierigkeiten weiter. Am nächsten Vormittag erwartete
er die Helenka bei ihrem Haustor und hatte die Genugtuung, daß sie
ihn erkannte und im leichten Schreiten mehrmals zurückblickte, ob er
ihr nachfolgte. Dies tat er denn auch in angemessener Entfernung. Nun
er sie im Straßenkleid sah, erschien sie ganz anders und gefiel ihm
fast noch besser. Sie war ziemlich groß, von reichen, vollen Formen,
die durch ein straff gezogenes Mieder unter einem kurzen Jäckchen und
einem knappen Rock ohne Falten aufs günstigste zur Geltung gebracht
oder vielmehr diskret unterstrichen wurden. Eine weiße Matrosenmütze,
von einem silbernen Pfeil gehalten, saß keck auf einer Fülle dunklen
Gelocks, an den leise schaukelnden Hüften wiegte sich ein gewaltiger
Henkelkorb im Takte mit. So schritt sie rasch und resch mit schnellen
Schritten vor ihm her, stramm aufgerichtet und sehr selbstbewußt im
Gefunkel ihrer jungen Schönheit.

Als sie ihre Einkäufe besorgt hatte und mit gehäuftem Korbe heimging,
fragte Pichler mutig, ob er sie begleiten dürfe. Sie bejahte verlegen.
Aber als er sich vorgestellt hatte, begann sie sogleich ein lebhaftes
Schwatzen über ihre Näherei, ihre Familie und die bevorstehende
Hochzeit, über die winterliche Kälte und über viele andere Dinge in dem
kleinbürgerlichen Bestreben, das Gespräch nicht ins Stocken geraten zu
lassen. Fast ganz allein bestritt sie es, in einem etwas holprigen und
mühsamen Deutsch. Aber Pichler fand auch die Fehler reizend, die ohne
alle Ziererei neckisch wie Flocken von den schmalen Lippen fielen.

Von nun an traf er sie täglich, einmal am Vormittag, einmal gegen
Abend, je nachdem sie Zeit hatte. Die Stunde gab sie ihm bekannt, indem
sie dicke Ziffern mit Tinte auf Papierblätter malte und gegen die
Fensterscheiben hielt.

Die Stadt hatte wieder ihr gewöhnliches Aussehen, die Erregung schien
verbraust, friedlich bewegte sich jede der feindlichen Nationen auf
ihrem Bummel, die Deutschen auf dem Graben, die Tschechen auf dem
Roßmarkt und in der Ferdinandsstraße. Otto zeigte sich mit Helenka bald
da, bald dort, und je nachdem, wo sie gingen, sprach er deutsch oder
böhmisch mit ihr. Denn er hatte sie gebeten, ihm in der Erlernung
der zweiten Landessprache behilflich zu sein, und so war dieser
Liebeshandel nicht nur reizvoll, sondern auch praktisch.

Sie war eine Vollblut-Tschechin und machte kein Hehl aus ihrer
Gesinnung, was sie aber nicht hinderte, auch an hübschen deutschen
Männern Gefallen zu finden. Doch war ihre Gunst nicht leicht zu
erringen, denn sie war sich ihrer Schönheit voll bewußt und konnte
wählerisch sein, weil sie von vielen umworben wurde. Am wenigsten
verfingen Schmeicheleien bei ihr, da sie solche schon bis zum
Überdruß zu hören bekommen. Das hatte Pichler bald weg und änderte
im selben Augenblick von Grund aus seine Kriegskunst. Er wurde kurz
angebunden, derb, sogar grob. Alles, worauf sie Wert legte oder
sich was einbildete, setzte er herab, mäkelte daran und tadelte es,
wählte aber seine Ausdrücke derart bedachtsam, daß er immer nur eine
allgemeine Ansicht zu äußern schien. Erzählte sie, stolz auf ihre
prächtige Büste, daß sie auf dem letzten Ball ein ausgeschnittenes
Kleid nur mit Armspangen getragen und was für Aufsehen sie erregt habe,
tat er höchst gleichgültig und bemerkte nur beiläufig, er habe einmal
aus einem ähnlichen Anlaß mit einem Mädchen sich überworfen, das er
gleicherweise, wie es ihn, sehr gut leiden mochte. Er habe damals mit
der Schönen nicht ein einziges Mal getanzt, und als sie Aufklärung
verlangte, habe er ihr nur kurz geraten, sie möge auf den Markt
gehen und sich dort ausstellen; er werde sie begleiten und wie ein
Pferdehändler die gediegene Wölbung der Brust anpreisen, die tadellosen
Arme, Schenkel und so weiter. Er habe sich nicht anders helfen können
damals, denn diese Schaustellung der Reize sei ihm widerlich gewesen,
und gewohnt, mit seiner Meinung nicht hinterm Berg zu halten, habe er
eben klipp und klar herausgesagt, was er sich dachte.

Danach hatte die Helenka auf dem ganzen Heimweg kein Wort mehr geredet,
aber er war dennoch mit seiner Erfindung und ihrer Wirkung sehr
zufrieden. In der Tat blieb diese Art des Umgangs nicht ohne Eindruck
bei einem Mädchen, das zwar schön und im Plaudern gewandt, sonst aber
just kein Kirchenlicht war. Bald war ihnen der Bummel zu belebt, sie
mieden ihn und suchten einsamere Gassen, wo es die Helenka schweigend
litt, daß er ihren Arm packte und mit hastiger Zärtlichkeit an sich
drückte. Und einmal, als sie von einem ernsten Bewerber erzählte, der
auf der Bildfläche erschienen war, riß er sie heftig an sich. „Helenka,
so lasse ich dich keinem andern!“ Mitten auf der Gasse küßte er sie und
kümmerte sich nicht um ihr Sträuben und nicht um die Leute.

Von nun an trugen sie das heimliche Sehnen ihrer klopfenden Herzen
in noch größere Abgeschiedenheit. Eng aneinander gedrängt gingen sie
längs des Moldauufers spazieren, über einen weiten ebenen Plan, wo das
geflößte Brenn- und Bauholz aus dem Böhmerwald aufgestapelt war. Gute
Verstecke gab es hier, die zu Raummetern geschlichteten Scheite waren
wie Mauern und die glatten Stämme der toten Waldriesen wie Bänke. Ganz
dunkel war es und nichts war hörbar, als das Glucksen und Plätschern,
wenn eine stärkere Welle gegen das sandige Ufer schlug. In der Ferne
blitzten die Lichter der Stadt und lagen in gelben Streifen über den
schwarzen Fluten, ein schrilles Läuten der Straßenbahn kam herüber,
eine Turmuhr schlug mit langsam verhallendem Klang -- dann war wieder
nichts als das dumpfe Rauschen im Fluß. Als wären sie beide allein auf
der Erde, so war das und so gab sich die Helenka dem Werbenden. Sie
tat es ohne Lüsternheit oder Neugierde, als schenkte sie ihm nur, was
ihm gebührte, weil es für ihn allein in dieser dunkeln Einsamkeit aus
ihrem jungen Herzen emporgewachsen war.

Dann aber starrte sie ihn, die Hände auf seinen Schultern, mit
entsetzten Augen an und stieß ihn wild von sich.

„Mein armer Vater!“

Ganz klanglos sagte sie das und wiederholte es mehrmals und wimmerte
leise.

Otto stand ratlos und wußte nicht, wie er sie beruhigen sollte. Sie tat
ihm nicht so sehr leid, er war mehr ungehalten, daß sie ihm jetzt diese
Szene machte und die Freude verdarb. Plötzlich aber erhob sie sich mit
einem entschlossenen Ruck und drückte sich unter der runden Mütze das
Haar an den Schläfen zurecht. „Komm!“ sagte sie nur und schritt ohne
Aufenthalt schnell gegen die Stadt. Sie weinte nicht mehr, aber sie
sprach auch nicht. Stumm ging sie neben ihm her. Manchmal atmete sie
in ihr Taschentuch und preßte es an die geröteten Lider, um die Spuren
der Tränen auszutilgen. Aber durch die Stadt schritt sie wieder ganz
aufrecht, mit frei erhobenem Kopf und wagerechtem Kinn. Otto wollte
etwas sagen. Mit einer heftigen Handbewegung winkte sie ihm Schweigen.
Sie wollte nicht gestört sein in dem Belauschen ihrer aufgeschreckten
Seele und dem staunenden Hineinhorchen in den Aufruhr des Blutes. Beim
Haustor neigte sie flüchtig den Kopf und schritt rasch und fest hinein,
ohne ein Wort oder Lächeln zum Abschied.

Er atmete auf. Seiner jubelnden Siegerfröhlichkeit war der stumme
Heimweg zur Qual geworden. Alles in ihm drängte nach lauter, lärmender
Freude. Und statt dieser Luft machen zu dürfen, hatte er mit einer
Leichenbittermiene neben ihr hergehen und seufzen müssen, wo er
jauchzen wollte. Er lief mehr als er ging in die Herminonenkneipe,
trank dort, sang und schwärmte übermütig mit den Füchsen bis zum
Morgengrauen.

Am nächsten Vormittag stand die Helenka wieder beim Fenster und kündete
mit ihren Tintenziffern die Stunde des Stelldicheins. Und von nun an
war alles gut, und sie war lustig und fügsam und sehr verliebt.


5.

Das Wintersemester war vorüber. Fritz war wenig vorwärts gekommen.
Durch den Verkehr mit den Studenten war er einem gelinden Trinken
anheim gefallen und der Gewohnheit, abends lang im Wirtshaus zu sitzen.
Anfangs hatte er sich Vorwürfe gemacht und zu bremsen versucht. Aber da
kamen ihm die Bekannten auf die Bude gerückt, und notgedrungen mußte
er als ihr Vertrauensmann mithalten. Später schwächte der reichlichere
Genuß des Alkohols seine Widerstandskraft, das Trinken wurde ihm sogar
Bedürfnis, um die Lustlosigkeit zu bannen, in der er jetzt wie in einer
halbhellen Dämmerung lebte. Er ging spät zu Bett und stand mit wüstem
Kopf spät auf, fühlte sich müde, leer, unzufrieden und konnte sich doch
zu keiner ernsten Arbeit zusammenraffen, ließ vielmehr den Herrgott
einen guten Mann und fünf gerade sein.

Seine Barschaft schmolz bei diesem Leben rasch. Während Otto schon
drei Mittelschülern Nachhilfeunterricht erteilte, war es ihm bisher
nicht geglückt, Ähnliches aufzutreiben. Überall wurde er abgewiesen.
Der Vermerk auf seinem Zeugnis, daß er vom Neuberger Gymnasium
ausgeschlossen worden war, machte fürsorgliche Eltern stutzig; sie
wagten nicht, ihm ihre Kinder anzuvertrauen. Und er war zu hölzern
und zu stolz, um sein Licht auf den Scheffel zu stellen oder als
Vertrauensmann seine Beziehungen zu den Parteigrößen auszunützen. Da
las er in einer Zeitung, daß ein Rechtsanwalt einen Schreiber für
die Nachmittage suchte. Er bewarb sich um den Posten und erhielt
ihn. Das brachte ihn noch mehr aus der Bahn. Trüb und trostlos
eintönig schlichen die Tage neben ihm her, zwischen stumpfsinnigem
Wirtshaushocken am Abend und gleichgültiger Mattigkeit am Morgen war
einer wie der andere ausgefüllt mit dem Schreiben von Mahnbriefen,
Klagen, Pfändungsgesuchen, und alle waren sie verloren.

Hätte er ein gemütliches Daheim oder wenigstens eine ruhige Kammer
gehabt, er wäre vielleicht eher aus diesem grauen Netz herausgekommen,
in dem er hing wie die Fliege im Spinngewebe und sich wehrlos den
Lebensmut austrinken ließ. So aber fühlte er einen Ekel vor dem Treiben
der Wondra. Er floh davor und floh vom Teufel zum Beelzebub -- in die
Kneipen und Kaffeehäuser. Manchmal kam ihm in diesen jammervollen
Monaten der Gedanke an Eva. Aber wenn dieser jemals treibende Kraft
für ihn gehabt, so hatte er sie jetzt verloren. Wie wenn einer, der im
zähen Moorgrund langsam versinkt, zu einem schönen Stern hinaufblickt
und sich denkt: ‚Den siehst du auch bald nicht mehr!‘ -- so war es und
machte ihn traurig und jeden Halt nahm es ihm.

Bei den Studenten war er gut gelitten. Er galt als treu und verläßlich,
und die trockene Sprödigkeit, die er im Umgang an den Tag legte, wurde
von den jungen Leuten als Zeichen männlicher Reife und Wahrhaftigkeit
genommen und hochgehalten. Aber je mehr man sich um ihn riß, je scheuer
und zugeknöpfter wurde er. Er litt unter diesem Leben ohne Inhalt, das
um so leerer wurde, je weiter die hellen Kampftage in die Vergangenheit
zurücksanken. Rasch wie die Fehde entbrannt, war sie auch vergessen
und die Gegenwart wieder angefüllt mit Kneipen, Nachtschwärmen und
Raufereien unter den einzelnen Verbindungen. Und er zechte und
schwärmte mit und wenn er noch in keinen Ehrenhandel verwickelt worden
war, so hatte er das nur seiner Wortkargheit zu danken.

Schal war das alles, belanglos und nichtswürdig. Aber loskommen konnte
er doch nicht.

In die Hörsäle kam er nicht mehr. Er schämte sich, mit schwerem Kopf
und stumpfen Sinnen hinzugehen. Statt dessen saß er jetzt auch an den
Vormittagen in der Kanzlei. Denn die ungeordnete Lebensweise kostete
viel Geld, und schon gab er täglich mehr aus, als er, das Erworbene
eingerechnet, verbrauchen durfte. Vom Bureau ging er ins Kaffeehaus, wo
er die Tagesblätter und sämtliche ernstere Zeitschriften las, deren er
habhaft werden konnte. Gewöhnlich blieb er dort bis spät abends, begab
sich dann in eines der Studentenwirtshäuser. Er brachte es nicht über
sich, bei der Wondra das Nachtmahl zu nehmen. Sie rechnete auch bei
der Zubereitung nicht mehr mit ihm, aber den Kostpreis setzte sie ihm
deswegen doch nicht herab.

Dann kamen wieder Abende, an denen es ihm einfach unmöglich war, ein
menschliches Gesicht zu sehen. An denen er die Kneipen mied und trotz
Frühlingswind und Regenwetter im Freien sich herumtrieb. Den Radmantel
um die Schultern, lief er pfadlos am Strand der Moldau herum. Das
aufgeweichte Erdreich klebte in Klumpen an seinen Sohlen und machte
sie schwer, unter seinen Tritten spritzte ihm das Schmutzwasser der
Regenpfützen oft bis ins Gesicht, und nach jedem solchen Ausflug
schalt die Wondra, daß seine Kleider nicht sauber zu kriegen seien.
Aber immer wieder rannte er in diese tiefdunkle Einsamkeit, als könnte
er sich dort vor seinem eigenen Ich verstecken. Aber er entkam sich
nicht. Alle Vorwürfe und aller Ekel über sein unwürdiges Treiben gingen
unablässig mit ihm durch die Finsternis, und er fühlte nur, daß er
sich Stunde um Stunde an sich selbst versündige, indem er in schlaffem
Müßiggang seine blanken Kräfte rosten ließ. Manchmal auch packte ihn
ein sinnloser Zorn, der ihm Tränen in die Augen trieb. Er schlug mit
geballten Fäusten seinen Leib, und je mehr es ihn schmerzte, mit
desto wilderer Freude schlug er weiter, auf Arme, Wangen, Schläfen,
und höhnte und beschimpfte sich mit häßlichen Worten, die in einem
Schluchzen erstickten. Jedes Ziel war ihm entglitten, er ging mit
verbundenen Augen um sein Leben herum wie der Gaul im leeren Göpel.

Die nächtlichen Wanderungen führten ihn weit über die Holzplätze
hinaus in eine Gegend, wo der neue Hafen erstehen sollte. Die Arbeiten
hatten noch nicht begonnen, aber schon waren in der großen Kotwüste
Baggermaschinen aufgestellt und neben angehäuften Baustoffen Holzhütten
und Verschläge für die Karren und Werkzeuge errichtet worden. Nur
selten kam in den Abendstunden ein Mensch hieher. Ihn aber trieb
es immer wieder in diese Öde, die so gut zu seiner Stimmung paßte.
Stundenlang konnte er dort hocken und vor sich hinbrüten, während
der Regen kühl und traurig ohne Pausen auf ihn niederfiel. Und je
unfreundlicher das Wetter war, je länger blieb er, als wollte er mit
diesem freiwilligen Ausharren in einer Beschwerde nur irgendwie eine
sühnende Tat setzen, wenn er schon nichts anderes zuwege brachte.

Da vernahm er einst -- es war ein naßkalter Aprilabend -- ein Husten
und Stöhnen wie von einem unruhigen Schläfer, schaute um sich und
gewahrte einen spärlichen Lichtschein, der aus einer der hölzernen
Hütten flimmerte. Leise ging er darauf zu. Und wie er vorsichtig durch
die Fugen der Bretterwand spähte, sah er im Innern des matt erhellten
Raumes zwei Gestalten auf dem bloßen Erdboden hingestreckt, während
drei andere neben einem Feuer kauerten und einem geschlachteten Pudel
das Fell abzogen. Das Feuer brannte in einem Viereck aus Ziegelsteinen,
und auf diesem Herd stand ein verbogener Blechtopf, darin das Wasser
schon zu dampfen anfing.

Die fünf Kumpane mochten wohl schon öfters hier übernachtet haben und
schienen sich in ihrem Schlupfwinkel ganz sicher zu fühlen, weil sie
sich so sorglos gehen ließen. Gern hätte sich Fritz zu ihnen gesellt.
Aber sein Erscheinen hätte sie höchstens beunruhigt oder mißtrauisch
gemacht, und helfen konnte er ihnen doch nicht. So ließ er es bleiben.

Das Hundefleisch war gar geworden. Nun wurden auch die Schläfer munter
und setzten sich zum Feuer. Alle schwiegen, streckten die Hände nach
den rauchenden Fleischstücken, rissen mit den Zähnen große Fetzen los,
die sie mit der Hast des Hungers verschlangen. Dazu tranken sie von
der gelblich-grauen Fettbrühe mit schmatzenden Lippen, und in ihren
knochigen Gesichtern war ein Ausdruck der Zufriedenheit, als säßen
sie bei dem alten Schlemmer Lukull zu Tisch. Satt gegessen, kramten
sie aus den Taschen die gesammelten Zigarrenstummel, setzten sie in
Brand und streckten sich längelang auf den nackten Erdboden aus, die
verschränkten Hände als Kissen unterm Kopf. Einer hatte auch eine
gefüllte Schnapsflasche mit, die im Kreis herumging und schnell
leer war. Solang das Feuer brannte, unterhielten sie sich halblaut
miteinander. Sie redeten deutsch, aber aus ihrer Aussprache hörte der
Lauscher, daß nur zwei von ihnen wirklich Deutsche waren, der ‚Schwabe‘
und der ‚Bayer‘, wie sie genannt wurden, während die drei anderen, der
‚Tschasbauer‘, der ‚Wasserkopf‘ und der ‚Krowot‘ der slawischen Rasse
angehörten.

Sie erzählten von ihren vergeblichen Gängen um Arbeit und verwünschten
das milde Wetter, weil es schneller den Schnee weggeräumt hatte als sie
mit ihren Schaufeln. Dann wurden sie einsilbiger und schliefen endlich
ein, indes der Regen ohne Pause rieselte und der Wind empfindlich kalt
durch die Bretterwände pfiff.

Fritz schlich sacht davon. Seine Kleider waren schwer von Nässe, in
den Vertiefungen seines Filzhutes bildete das Wasser kleine Teiche.
Aber heim ging er noch nicht. Eine dumpfe Trauer war in ihm, und mit
doppelter Gewalt griff die Reue über so viele nutzlos verzettelte Tage
an sein Herz. Denn es war ihm gewesen, als hätte im unsteten Flackern
des dürftigen Feuerchens hinter Qualm und rauchiger Glut wie in weiter
trüber Ferne das verlorene Ziel flüchtig herüber geleuchtet.

... Den Elenden und Gequälten ein freies, heiteres Dasein schaffen,
ihnen das Recht auf Glück zurückerobern -- ein Ziel, wohl wert, sein
Leben dafür aufzuwenden ...

Hatte wirklich einmal einer so zu ihm gesprochen, und er hatte sich
ihm zugeschworen mit Handschlag und Gelöbnis? Und statt dessen
schritt er satt und behäbig in den Reihen der Behäbigen und Satten,
trank sein Bier in Ruhe und ereiferte sich höchstens im Streit der
Glieder untereinander, indes der ganze Körper in schwerer Not rang.
Die Menschheit war dieser Körper, und ihre Not war der Hunger. Und
wo dieser war in seinem bittersten Ernst, da war auch kein Kampf
von Volk zu Volk, von Bruder zu Bruder. Da saß der Bayer mit dem
Polen, der Deutsche mit dem Slawen beim Feuer, und sie teilten sich
einträchtiglich im Fleisch eines gestohlenen Hundes.

Und während er in Regen und Sturm durch die Frühlingsnacht irrte,
wurde ihm immer klarer und erkannte er immer deutlicher, daß die
Unzufriedenheit, die Unlust und Leere der letzten Monate nicht
seinem Müßiggang entsprang, nicht dem Wirtshaushocken und Zechen und
Saufen. Das waren nur die Folgen, die Ursache aber war, daß er sich
an eine Sache mit halbem Herzen und gegen seine innerste Überzeugung
hingegeben. Das Unrecht, die Vergewaltigung, die der Schwächere
erdulden mußte, hatten ihn geblendet, so daß er nicht sah, daß der
ganze Kampf ein Unrecht war und ein Frevel an der Allgemeinheit.

Als er endlich -- der Morgen brach an -- nach Haus kam, begegnete
er dem Mediziner Karg, der ohne Gruß an ihm vorüber und die Treppe
hinabeilte. Unter der Wohnungstür stieß er mit dem Astronomen zusammen.
Auch der war bleich und ernst und grüßte kaum. Fritz war zu müde,
als daß ihm das aufgefallen wäre. Er entledigte sich seiner Kleider,
aus denen in trüben Bächlein das Regenwasser rann und fiel in einen
bleischweren Schlaf.

Nach kaum zwei Stunden wurde er von Pichler wach gerüttelt. Der hübsche
Mensch hatte blasse, zitternde Lippen und war ganz verstört.

„Fritz, steh’ auf! Karg hat den König erschossen!“

Es war so. Betrunken hatten sie in einem Nachtkaffee Streit angefangen,
der mit Faustschlägen und Ohrfeigen endete. Nüchtern geworden, hatten
sie sich am nächsten Tag wieder versöhnt und das frühere Einvernehmen
hergestellt. Aber Deimling war Zeuge des Auftritts gewesen und duldete
eine so gemütliche Beilegung nicht. Ein Mitglied der Herminonia
war tätlich beleidigt worden, und dafür gab es nach seinen starren
Ehrbegriffen nur eine Sühne mit den Waffen, sollte kein Makel an den
Farben der Landsmannschaft haften bleiben. Das sagte er dem Karg,
und als der entgegnete, die Sache sei bereits durch gegenseitige
Entschuldigung aus der Welt geschafft, erklärte Deimling finster, er
hätte gedacht, der Fuchsmajor würde besser wissen, was die Ehre der
grün-weiß-roten Farben gebieterisch fordere. Für seine Person könne er
ja die Hiebe ungestraft auf sich sitzen lassen. Aber dann werde der
Fall in der nächsten Kneipsitzung zur Sprache kommen, und da werde es
sich ja zeigen, ob ein Geohrfeigter, der sich für eine solche Schmach
nicht Genugtuung mit den Waffen verschaffe, ferner noch würdig sei, das
grün-weiß-rote Band zu tragen.

Nun war Karg mit Leib und Seele bei seiner Burschenherrlichkeit
und war viel zu oft schon auf Mensur gestanden, als daß es ihm auf
einen Ehrenhandel mehr oder weniger, selbst mit einem guten Freunde,
sonderlich angekommen wäre. Wenn Deimling wollte, ging er eben los,
da war weiter nichts dabei. Aber die Osterferien standen vor der
Tür. Und König war ein guter Fechter. Und Karg wollte seiner Mutter
nicht mit frischen Schmissen nach Haus kommen. Und der Handel mußte
binnen zweimal vierundzwanzig Stunden -- so stand’s im Kodex --
ausgetragen sein. Also einigte man sich auf Pistolen. Deimling war ganz
Korrektheit und steife Würde. Er ordnete alles und verbot insbesondere
dem Fuchsmajor, mit dem Gegner in derselben Stube zu wohnen, so daß
ihm die Wondra für diese eine Nacht in ihrer eigenen Kammer das Lager
zurechtmachte, während sie selbst in der Küche schlief.

Dann war es so gekommen, daß König, der den ersten Schuß hatte, ein
Loch in die Luft schoß, während Karg, vor Aufregung zitternd und
unsicher, die Waffe nicht in der Gewalt hatte. Seine Kugel fuhr dem
Astronomen ins linke Auge. Ein paar Atemzüge lang stand er noch
aufrecht, mit unverändertem, nur wie verwundertem Gesicht. Und schon
wollten alle des guten Ausgangs sich freuen, da wankte er, fiel hin
und hatte den letzten Atemzug getan, ehe noch jemand die Verletzung
wahrgenommen.

Seinen Leichenwagen begleiteten die Herminonen in voller Wichs und
Abordnungen von vielen anderen Verbindungen. Es war ein sehr schönes
Begräbnis. Karg stellte sich den Gerichten. Er wurde zu drei Jahren
Kerker verurteilt und da er Reserveoffizier war, vom Kaiser begnadigt.
So verlief alles in schönster Regelmäßigkeit, und auf dem frischen
Grabhügel wurden die Frühlingsgräser besonders üppig grün, als
hätten sich aus dem zerstörten Jünglingskörper alle Hoffnungskeime
lichthungrig in ihre zarten Spitzen geflüchtet.

Die Wondra weinte sehr um den Verlust ihres besten, weil beständigen
Mieters. Acht Tage rührte sie kein Kartenblatt an, und noch weitere
vierzehn Tage traten ihr jedesmal, wenn sie sich zum Spieltisch setzte,
die Tränen in die Augen, und sie weihte dem Toten einen stillen
Gedächtnisschluck.


6.

Karg wurde seit diesem Zweikampf mit ausgesuchter Hochachtung
behandelt, so daß ihm das zu Kopf stieg und er einer dünkelhaften
Einbildung anheimfiel, die sich in kurzen, herrischen Gebärden und
in einem blasierten Gesichtsausdruck offenbarte. Er wurde stolz und
war beinahe froh, daß er einen ernstesten Fall gehabt und daß von ihm
erzählt werden konnte, er habe schon einen im Duell erschossen.

Derart hatten sich alle Beteiligten in ihrer Weise rasch wieder
zurechtgefunden.

Hellwig brauchte länger. Alles in ihm bäumte sich gegen die
Leichtfertigkeit, mit der hier über ein Menschenleben zur Tagesordnung
übergegangen wurde. Und als eines Tages nach Ostern Karg auf ihn
zutrat: „Kommen Sie heut’ mit in die Kneipe?“, wandte er sich wortlos
ab. Das war eine Beleidigung, und der Herminone, jetzt erst recht nicht
gewillt, sich dergleichen gefallen zu lassen, verlangte Aufklärung.
Fritz aber gab keine Antwort, stand mit dem Gesicht gegen das Fenster
gekehrt und rührte sich nicht. Da schickte ihm Karg seine Zeugen. Es
waren Deimling und der Erstchargierte Braun. Gemessen und förmlich
überbrachten sie die Forderung.

„Sie haben sich umsonst bemüht!“ sagte Hellwig. „Ich schlage mich
nicht.“

Nun hätten sie füglich gehen können. Aber Braun tat noch ein übriges,
indem er den allseits Beliebten auf die Folgen einer solchen Weigerung
aufmerksam machte. Fritz bat ihn jedoch sehr ruhig, er möge sich das
sparen. Seinen Entschluß werde es nicht ändern.

„Diese Methode ist sehr eigentümlich!“ nahm nun Deimling das Wort.
„Erst der Ehre eines Menschen grundlos nahe treten und dann ...“

„Mein bester Herr Deimling,“ fiel ihm da Hellwig in die Rede, „das
Leben eines Menschen ist wertvoller als seine Ehre!“

„Das ist jedenfalls ein bequemer -- und sicherer Standpunkt!“
entgegnete der alte Herminone, setzte mit einer spöttischen
Verbeugung hinzu: „Hüten Sie also Ihr wertvolles Leben!“ und wollte
sich entfernen. Fritz vertrat ihm den Weg: „Sie haben mich falsch
verstanden. Ich habe nicht von mir gesprochen, sondern von dem armen
König.“

„Er ist gefallen wie ein Soldat auf dem Felde der Ehre!“ antwortete
Braun. Fritz erwiderte:

„Ich weiß nicht, welche Ehre Sie meinen. Es gibt ihrer ja so viel
als Stände und Rassen. Ich weiß nur, daß ein Menschenleben etwas
Kostbares und Heiliges ist. Und wer eins davon vernichtet, bestiehlt
die Menschheit um tausend Möglichkeiten, versündigt sich an ihr und
besudelt jene einzige Ehre, die ich allein gelten lasse: die Ehre,
Mensch zu sein.“

„So behalten Sie diese Ehre!“ sagte Deimling spöttisch. „Womit ich die
Ehre habe!“

Braun aber machte noch einen Versuch.

„Sie sind dann in der Gesellschaft unmöglich,“ gab er ihm zu bedenken.
Und Fritz leidenschaftlich darauf:

„Ich will auch nichts mehr gemein haben mit jenen! Sie reden von ihrer
Liebe und brüsten sich mit ihrer Treue zum Volke. Aber das sind nichts
als Worte! Worte! Wer wegen eines Schmarrens sein Leben in die Schanze
schlägt, leichtsinnig und unbedenklich hinwirft, wer skrupellos ein
Leben vernichten kann, und alle, die dies loben und in Ordnung finden,
alle, die für die Macht ihres Volkes begeistert schwärmen, gleichzeitig
aber dulden, daß auch nur das kleinste lebendige Teilchen dieses Volkes
zwecklos zerstört wird -- alle die sind Phrasensager und Lügner und
haben keine Ehrfurcht, weder vor ihrem Volke noch vor der Menschheit.
Das ist es. Und darum schlage ich mich nicht und darum kann ich auch
_Ihre_ Verachtung ertragen!“

Während er redete, war er ganz ruhig geworden. In den letzten Worten
hatte sogar eine leise Überlegenheit durchgeklungen. Jetzt setzte er
sich und spielte mit dem Federkiel auf dem Tisch. Die beiden Studenten
entfernten sich wortlos.

Fritz atmete leicht und froh. Die Brücken waren abgebrochen und
hinter ihm verbrannt. Mochte kommen, was da wollte -- er hatte wieder
pflugreife Erde unter sich.

Seine Energie und Spannkraft waren wieder da, drängten nun, je länger
sie in müßiger Ruhe gelegen, je ungestümer vorwärts, forderten eine
unzweideutige und ganze Tat.

Jener flüchtige Blick in das Treiben der Obdachlosen hatte ihm die
Richtung neu gewiesen. Und nach der Erschütterung über den gewaltsamen
Tod des Astronomen war wie nach einem schweren Sommergewitter reine,
klare Luft geworden. Nicht darauf konnte es ankommen, ob ein Volk
stärker, mächtiger, fortgeschrittener, besser sei, als das andere,
sondern daß alle ohne Unterschied leben konnten, wie es ihrer
Menschenehre gebührte.

In alle Fernen und Weiten schweifte seine junge Begeisterungsfähigkeit
und entzündete sich an dieser Vorstellung zu einer hellen und starken,
ganz warmen Glut. Und in der glückhaften Erregung, die sich seiner
nach dem Weggehen der beiden Herminonen bemächtigte, begann er, zum
erstenmal, seine Gedanken niederzuschreiben und schrieb in einem Zuge
bis in die Nacht hinein an einer Abhandlung, in der er die uralte Lehre
von der Menschenverbrüderung mit seinem Feuer neu vergoldete.

Mit der frohen Raschheit, die ein glückliches Gelingen auslöst, packte
er das Manuskript, kaum daß die Tinte trocken geworden, zusammen,
siegelte und adressierte es an die ‚Freien Blätter‘, das führende Organ
der Sozialisten in der Reichshauptstadt. -- --

Die silbergraue Dämmerung vor den Fenstern wich bereits dem hellen
Licht der nahen Sonne, als Pichler nach einer durchschwärmten Nacht
heimkam. Fritz erzählte ihm ohne Umschweife den Vorfall mit den
Herminonen. Auf dem Bettrand sitzend, hörte Otto nur mit halbem Ohr
hin, während er sich der Stiefel und Kleider entledigte und unter
langgezogenen Seufzern gähnend den Mund aufriß. Die Sache war ihm nicht
mehr neu. Er hatte sie bereits bei der Kneipe und in den Kaffeehäusern
genugsam zu hören bekommen. Erst als er in den Federn lag und die Decke
bis zum Hals hinaufgezogen hatte, fragte er unter fortwährendem Gegähn:
„Und was wirst du jetzt machen?“

„Schlaf dich erst aus!“ erwiderte Hellwig. „Wir sprechen weiter, bis
dein Schädel wieder klar ist.“

„Ist er ohnehin!“ knurrte der andere, drehte sich gegen die Wand und
schlief auch schon. -- --

Fritz wusch sich die Augen hell und goß einen großen Krug Wasser über
Kopf und Nacken. Als die Wondra bald darauf mit dem Frühstück erschien,
teilte er ihr mit, daß er die Wohnung zu verlassen gedenke. Mit
würdevollem Kopfnicken nahm sie die Kündigung zur Kenntnis, stellte
den Kaffee auf den Tisch und entfernte sich, ohne ein Wort zu sprechen.
Denn auch sie war bereits durch Karg über den Vorfall unterrichtet und
wußte als langjährige Studentenmutter, wie man sich einem Auskneifer
gegenüber zu benehmen hatte.

Hellwig lächelte ein wenig, während er sich das feuchte Haar aus der
Stirn kämmte und den Kragen anknöpfte. Dazwischen nahm er, wie es seine
Gewohnheit war, stehend kleine Schlucke vom Frühstückskaffee, und da er
wieder tief in seine Gedanken hineingeriet, behielt er schließlich den
Topf in der Hand und schritt damit, von einer unklaren und ungeduldigen
Erwartung getrieben, rastlos um den Tisch herum.

Auch als er ins Freie trat, wo die alten Häuser wehmütig zu der stillen
Pracht des Frühlingsmorgens hinaufschauten, wurde es nicht ruhiger in
ihm, wollte das Gefühl nicht weichen, daß ihm etwas Fröhliches ganz
nahe bevorstand. Pünktlich ging er in die Kanzlei und schrieb einen
Mahnbrief nach dem andern. Dann erschien der Anwalt und beauftragte
ihn, gegen einen nachlässigen Ratenzahler auf Grund des rechtskräftigen
Urteils das Pfändungsgesuch bei Gericht einzureichen. Während Hellwig
die Eingabe vorbereitete, kam der Schuldner und wollte die verfallene
Rate erlegen. Er habe das Geld nicht früher zusammenbringen können.
Der Advokat aber, dem es um seinen Verdienst zu tun war, erklärte, das
helfe jetzt nichts mehr. Die Frist sei versäumt, die ganze gestundete
Forderung nunmehr fällig und die Exekution bereits eingeleitet.

Die Mitteilung traf den Schuldner, der ein anständiger kleiner
Geschäftsmann zu sein schien, ersichtlich hart, da er durch eine
Pfändung sehr zu Schaden und um jeden Kredit kommen mußte. Inständig
flehte er um Aufschub. Der wurde ihm endlich unter der Bedingung
zugestanden, daß er mit der Rate zugleich fünf Kronen für die Kosten
des Pfändungsgesuches bezahle. Das war nicht viel, aber der arme Teufel
kramte in allen Taschen und brachte endlich in Nickelmünzen vier Kronen
und dreißig Heller zur Strecke, die der Anwalt gleichmütig einstrich,
mit der Ermahnung, nunmehr pünktlich zu sein und auch die fehlenden
siebzig Heller nicht zu vergessen. Einer großen Sorge ledig, versprach
der Mann alles unter vielen Dankesworten. Da sagte Hellwig: „Das Gesuch
ist noch nicht fertig, Herr Doktor!“

„Wie? Ja so, ganz recht -- die Klage gegen die Seifenfabrik ...“ meinte
der Advokat diplomatisch und winkte Schweigen.

„Nein,“ antwortete Hellwig unbeirrt, „das Pfändungsgesuch habe ich noch
nicht fertig!“

Der Anwalt wurde verlegen.

„Also adieu! adieu!“ rief er lärmend. „Und vergessen Sie nicht auf die
nächste Rate! Pünktlich sein, nur pünktlich!“

Damit schob er den Mann zur Tür hinaus. Dann drehte er sich zornrot
zu seinem Schreiber: „Was fällt Ihnen ein, Herr Hellwig? Derartige
Äußerungen sind ganz ungehörig!“

„Mir fällt gar nichts ein!“ erwiderte Fritz trotzig. „Ich meine nur,
was man nicht geleistet hat, dafür läßt man sich auch nicht bezahlen.“

Mit großen, runden Augen blickte der Chef auf seinen sonst so stillen
Gehilfen. Denn Hellwig hatte unter dem Druck der letzten Monate
vollständig gleichgültig und ohne Nachdenken, wie eine Maschine,
gearbeitet und stumm alles getan, was ihm aufgetragen worden war.

„Ich verbitte mir jede Kritik!“ rief der Chef. „Das wäre noch schöner!
Was glauben Sie denn eigentlich?“

„Ich glaube, daß dieses Vorgehen und anständig zwei -- Worte sind.“

Nun warf sich der Anwalt in die Brust: „Sie sind entlassen und können
auf der Stelle gehn! Ich zahle Ihnen das Gehalt für die vollen vierzehn
Tage, obwohl ich nicht dazu verpflichtet bin.“

„Ich danke!“ entgegnete Fritz, „es könnte sonst wieder ein armer
Schlucker dafür büßen müssen!“, stand auf und ging.

Nun war er mit allem und gründlich fertig. Ein Jahr war vertrödelt,
mit den Studien war er nicht viel weiter gekommen und für das Leben
geleistet hatte er gar nichts. Die Bilanz quälte ihn jetzt doch, und
trotzdem, oder gerade weil der Maienhimmel so wundervoll blau, die Luft
so weich und kosend war, fiel ihn ein arger Jammer mit bösen Krallen an.

Bedrückt ging er durch die belebten Geschäftsstraßen, schritt
teilnahmslos über die breite neue Moldaubrücke und auf weißen
Kieswegen neben blühendem Gesträuch in einen stillen Park hinein,
der einem Fürsten eignend und dem Publikum zugänglich, an einer
sachten Hügellehne hinter den Häusern emporstieg. Alte Bäume waren
da, weite Rasenpläne und in runden Beeten standen farbige Blumen im
Glanz ihrer kürzlich erblühten Schönheit, von Sonnenschein und lauer
Luft umflossen. Auf den braunen Gartenbänken saßen junge Mädchen
in hellen Kleidern und lasen in dieser begnadeten Frühe zärtliche
Liebesgeschichten oder Verse aus zierlichen Goldschnittbänden. Und
wo eine Sitzgelegenheit tiefer in die lauschigen Hecken hineingerückt
war, hatte sich auch wohl ein oder das andere Pärchen niedergelassen,
kecke Studenten zumeist und schmiegsame Backfische mit Musikmappen
oder Malgeräten, die ihre bezüglichen Unterrichtsstunden schwänzend,
kreuzvergnügt beim gütigen Lehrer Lenz in die Schule gingen. Leichte,
kühle Blütenblätter fielen von den Bäumen, und die grüne Wipfelwelt,
die reglos zwischen Himmel und Erde schwamm, erfüllte ohne Pausen laut
tönender Finkenschlag. So stellte dieser sanft ansteigende große Garten
eine ideale Frühlingslandschaft dar, aber die heitere Lebensfreude, die
blankäugig überall sich regte, war nicht danach angetan, der tristen
Gemütsverfassung Hellwigs den Garaus zu machen. Sauertöpfisch und
verdrossen bewegte er sich auf den gewundenen Fußsteigen zum Gipfel
und setzte sich oben auf eine einsame Steinbank, die abseits von den
Hauptwegen im Halbrund eines Jasmingebüschs aufgestellt war.

Beinah die ganze Stadt konnte von dort überblickt werden, wie sie da
unten hingebreitet lag, in Leibesmitte von dem sonnenüberspiegelten
Stromband wie mit wehrhaftem Stahl gegürtet, und vergoldete Kuppeln
funkelten im Licht gleich den Zieraten auf dem Brustharnisch einer
reisigen Brunhilde. Ernst und hart war dieses Stadtbild, von einer
herben Schönheit, deren strenge Linien auch die Helligkeit des
Frühlings nicht weicher und anmutiger machen konnte.

Aber Fritz sah nicht darauf hin, schaute darüber hinweg in eine leere
Ferne und grübelte in sich hinein.

Der Auftritt mit dem Rechtsanwalt war ihm selbst überraschend gekommen.
Doch war ihm das jetzt ganz recht und er wünschte es nicht ungeschehen.

Im Buschwerk, um ihn, über ihm, war es ungemein lebendig. Lichtbächlein
rannen von den Zweigen, und unsichtbare Vögel lockten und suchten
einander. Verwirrend dufteten, kaum den geplatzten Knospen entquollen,
die weißen Blüten, und das gesamte lose Lenzgesindel war geschäftig,
mit Schmeicheln und Streicheln und Fächeln und Lächeln die Sinne leise
zu umgarnen und irgendeine namenlose Sehnsucht wach zu bringen.

Plötzlich mußte er an die kleine Eva Wart denken, und so oft er diese
Erinnerung unwillig zurückstieß, so hartnäckig stellte sie sich immer
wieder ein. Ohne daß er es wußte, wurden ihm die Lider feucht.

Und nun sah er auch ihr ganzes Heim vor sich, das tätige Haus, den
biederen Kaufmann, den Freund -- und neben der hochgesinnten Mutter
stand das feine Jungfräulein und schaute ihn leidvoll aus ernsten Augen
an. Wenn er jetzt diesen Menschen gegenüber treten sollte, konnte er es
denn, ohne die Stirn zu senken? Die Schamröte stieg ihm in die Wangen.
Und dann -- dann legte er mit einem dumpfen Ächzen beide Hände vors
Gesicht, und zwischen den gespreiteten Fingern quollen große, warme
Tränen.

Minutenlang saß er so, zusammengekauert, die Ellbogen auf die Schenkel
gestützt. Als er sich endlich erhob, mit einer Bewegung, als risse
er eine Handfessel jäh entzwei, da blickten unter den gewölbten
Stirnknochen die Augen hart und finster, und in dem hageren Antlitz war
Zug um Zug ein Ausdruck von gesammelter Entschlossenheit.


7.

Als er heimkam, war Otto eben aufgestanden. Fritz teilte ihm nunmehr
mit, daß er die Wohnung aufgekündigt habe. Da schüttelte ihm Pichler
warm die Hand und sagte: „Das war gescheit von dir. Sonst hätt’ ich
nämlich selbst ausziehen müssen. Denn bei aller Freundschaft wirst du
zugeben müssen, daß wir nicht beisammenbleiben dürfen.“

„Warum denn?“ fragte Hellwig erstaunt. Und Otto erwiderte: „Das ist
doch ganz klar -- weil ich sonst gerade so unmöglich bin wie du. Man
kann doch mit einem, der keine Satisfaktion gibt, nicht in derselben
Stube wohnen, ohne daß ...“

„Ach so!“ sagte Hellwig und fügte hinzu: „Du bist wenigstens
aufrichtig, das ist doch etwas.“

„Immer!“ versicherte Otto. Dann fuhr er fort, und sein gönnerhafter
Ton bekundete, daß er sich neben dem Geächteten sehr brav und
bieder vorkam. „Deswegen,“ -- fuhr er fort -- „deswegen aber keine
Feindschaft! Wir bleiben die alten, das ist selbstverständlich. Wir
treffen uns auch regelmäßig und zwar in einem sicheren Wirtshaus, das
noch gesucht werden muß. Öffentlich, muß ich dich leider bitten, so zu
tun, als ob wir jeden Verkehr abgebrochen hätten. Ich werde es gerade
so halten, aber sonst -- unter vier Augen -- alles wie früher! Gilt’s?“

Er streckte ihm die Hand hin. Fritz sah über sie hinweg. „Du bist
sehr großmütig!“ meinte er mit kaltem Spott. „Aber ich hab’ solche
Heimlichtuerei nicht gern. Ein ehrliches Entweder -- Oder ist mir schon
lieber.“

„Wie du willst -- ich bleibe trotzdem dein Freund.“

„Ein Freund, der nicht den Mut hat -- -- ach, weißt du, reden wir nicht
weiter davon, es ist so müßig.“

Er setzte sich zum Schreibtisch, nahm irgendein Buch vor. Aus alter
Gewohnheit suchte er dabei nach seiner Pfeife, die stets handgerecht
am Tischbein lehnte. Sie war nicht mehr dort, war überhaupt aus dem
Zimmer verschwunden. Die Wondra hatte sie wieder an sich genommen,
weil so ein ehrwürdiges Erbstück von den Lippen eines Verfemten nicht
entweiht werden durfte.

Wieder lächelte er. Ein leises, bitteres Lächeln. So kleinlich war das
alles, so überflüssig und bedeutungslos.

Noch öfter hatte er im Verlauf dieser Tage Gelegenheit zu einem solchen
Lächeln. Wie ein Aussätziger wurde er gemieden. Sogar der sanfte
Fundulus drückte sich scheu an ihm vorbei, mit gesenkten Lidern und
allen Zeichen mitleidender Verlegenheit. Niemand erschien am Abend, um
ihm eine Blume zuzutrinken oder ihn zum Spiel aufzufordern. Auch kein
Bier holte ihm die Wondra.

Er hatte die Absicht gehabt, die Wohnung zu verlassen, sobald er ein
anderes Zimmer gefunden. Jetzt aber entschloß er sich, die ganzen
vierzehn Tage auszuharren. Niemand sollte ihm nachsagen, daß er vor
Verachtung geflohen sei. Und gerade zum Trotz, nur um sich zu zeigen,
ging er jetzt in alle Studentenwirtshäuser, saß allein an einem Tisch,
und während ein geringschätziges Lächeln um seinen Mundwinkeln lag,
dachte er an die Zukunft und wie er sich einrichten würde.

Steif aufgereckt schritt er dann durch die Haufen seiner früheren
Bekannten, schaute ihnen mit freien, hellen Augen ins Gesicht. Mancher
wurde dadurch verwirrt, griff zum Gruß nach seiner Kappe. Aber er
erhielt den Gruß nicht zurück.

So vergingen acht Tage, ohne daß Hellwig mit einem Menschen sprach.
Pichler hatte gleich nach jener Unterredung Tisch und Bett des armen
König mit Beschlag belegt und vermied ängstlich ein Zusammentreffen.
Doch hatte er ein Briefchen hinterlassen, worin er sein Benehmen mit
den alten Gründen nochmals entschuldigte. Fritz riß es in Fetzen.

Wenn er aber gedacht hatte, daß er durch seine völlige Absonderung Zeit
und Lust zum Arbeiten zurückerzwingen werde, so war das ein Irrtum
gewesen. Das Lesen der gelehrten Werke mit dem trostlos gleichförmigen
lateinischen Druck machte ihm keine Freude, zum Studieren fand er nicht
die Sammlung, den Vorträgen der Professoren hörte er nur mit halbem
Ohr zu, und es war keiner unter ihnen, der ihn zu fesseln vermocht
hätte. Zu beschaulich ging es ihm auf einmal in den Stätten der hohen
Wissenschaft her. Alle seine Kräfte waren in brodelndem Aufruhr.
Unrast war in ihm und drängende Sehnsucht, mitten im Leben, wo es am
gewaltigsten brauste, mitzutun, im offenen Widerstreit Aug’ in Aug’ und
Stirn gegen Stirn einem starken Gegner zu trotzen und im Kampfe für die
Erhöhung der heute Erniedrigten die Waffen nur siegend oder sterbend
aus der Hand zu legen.

Alle Länder widerhallten vom Lärm dieses Kampfes und in den
Industriestädten waren die wohlgerüsteten Heerlager. Auch Prag war
mit beteiligt, aber der Streiter waren daselbst nur wenige. Die
Unzufriedenheit der Massen entlud sich hier im unfruchtbaren, aber
bequemeren Nationalitätenhader. Und wo das anders war, da waren
Tschechen die Rufer im sozialen Kampf, und Hellwig verstand ihre
Sprache nicht. Wohl traten in ihren Zusammenkünften bisweilen auch
deutsche Redner auf, aber das geschah nur selten und brachte in die
Beratungen stets etwas Fremdes und Feierliches. So fehlte die Brücke
des lebendigen Wortes, und er vermochte keine Fühlung mit ihnen zu
gewinnen, trotzdem er jetzt häufig ihre Versammlungen besuchte.

Niedergedrückt kam er eines Abends von einer solchen heim. Seine Koffer
waren schon gepackt, in zwei Tagen wollte er in die neue Wohnung
übersiedeln. Da fand er auf seinem Tisch ein Geldaviso aus Wien und
eine Verständigung des Inhalts, daß die Schriftleitung der Freien
Blätter seine Abhandlung mit Vergnügen angenommen habe und um weitere
Beiträge ersuche.

Aber auch von Kolben war ein Brief eingelaufen. Der Doktor schrieb:
„Lieber Fritz! Du scheinst Luft unter die Flügel bekommen zu haben. Es
war aber auch höchste Zeit. Jetzt sieh nur zu, daß du nicht wieder den
Kurs verlierst, überleg’ nicht lang und komm her nach Wien. Es gibt
hier massenhaft für dich zu tun!“

Da ließ Fritz sein Gepäck statt in die neue Wohnung auf den Bahnhof
schaffen und fuhr in die Reichshauptstadt.



Drittes Buch


1.

Doktor Kolben saß in seinem Arbeitszimmer. Das war ein mäßig großer
Raum mit roten Tapeten und dunklen Nußholzmöbeln. Der Schreibtisch
stand schwer und massig vor einem großen Fenster, und durch die
Fensterscheiben sah man in einen gepflegten Garten mit Hecken,
Büschen, grünen Wipfeln und blühenden Rosen. Darinnen ruhte das
kleine helle Haus, das dem Doktor gehörte, wie ein weißer Vogel in
einem grünen Nest. Still war es hier draußen am Rande der Großstadt,
ihr Lärm verbrauste, ehe er bis zu dem anmutigen Tal gelangte,
das waldbestandene Hügel umsäumten und schützten. Eine Eisenbahn
vermittelte in regem Verkehr die Verbindung mit der Stadt, in kaum
zwanzig Minuten war man drinnen, und so hatte man hier alle guten Dinge
des Landlebens samt allen Bequemlichkeiten der Großstadt beisammen und
konnte sich’s wohl sein lassen.

Der Doktor schrieb fleißig und bedeckte Bogen um Bogen eines starken
gelblichen Papiers mit regelmäßigen Buchstaben in gedrängten Zeilen.
Da klopfte es, die Tür ging auf und Fritz stand so, wie er eben vom
Bahnhof gekommen, in ihrem Rahmen.

„Schnell kommst du!“ sagte Kolben. „Und das ist sehr vernünftig. Sieh
dir unterdessen die Bilder an, ich bin gleich fertig.“

Er deutete auf ein kleines, mit Mappen und Zeitschriften überladenes
Tischchen in der Ecke. Dann ließ er die Feder wieder über die
gelblichen Bogen wandern, und erst nach einer Viertelstunde legte er
sie weg.

„So! Jetzt laß dich einmal anschaun!“

Er stand auf und Hellwig, der unterdessen die Zeitschriften
durchstöbert hatte, ebenfalls. Der Doktor legte ihm beide Hände auf
die Schultern und blickte ihm in die Augen. Fritz hielt eine kleine
Weile diesem forschenden Blick stand, dann senkte er halb trotzig, halb
verlegen die Lider.

„Laß gut sein!“ sprach Kolben. „Es hat nichts auf sich. Besser ein
Jahr, als sich selbst verloren. So was macht jeder durch, wenn er
nicht gerade ein bleichsüchtiger Musterknabe ist oder eine große
Null. Also hör’ zu: Der Kampf ums allgemeine Wahlrecht soll langsam
vorbereitet werden. Ein paar große Streike werden sich nicht mehr lang
hinausschieben lassen. Die Schriftleitung der Freien Blätter hat junge
unverbrauchte Kräfte dringend nötig. Ich schätze, es könnte dir nicht
schaden, wenn du da ein bissel mittust. Willst du?“

„Geht denn das so einfach?“ fragte Hellwig und horchte hoch auf.

„Wird sich machen lassen. Ich hab’ das Kunstreferat, bin auch sonst mit
den Leuten bekannt. -- Es ist keine Protektion!“ beschwichtigte er, als
Fritz eine heftig abweisende Bewegung machte. „Glaubst du, ich würde
dich empfehlen, wenn ich dich nicht bis in die Nieren kennte? Noch
einmal: Willst du?“

„Ich hab’ keine Ahnung von der ganzen Sache, weiß nicht, ob ich
überhaupt dazu tauge ...“

„Du taugst schon. Und die Handwerksgriffe lernen sich leicht. Ein paar
Wochen Einschulung, und das Werkel geht von selber. Zum dritten und
letztenmal: Willst du? Ja oder nein?“

Noch einige Minuten zögerte Fritz mit der Antwort. Kolben ließ ihm Zeit
zum Überlegen, trat ans Fenster und sah einem Rotschwänzchen zu, das im
Lindenwipfel flink sich regte.

„Nun?“ fragte er endlich.

„Ja!“ antwortete Fritz.

Nach einigen Tagen saß er in der Redaktion der Freien Blätter, hatte
Monatsgehalt und Zeilenhonorar vertragsmäßig zugesichert und kam rasch
ins Fahrwasser.

Um ihn tönte der Lärm, schrien die Parteien des Tages, forderten von
der Gegenwart ungestüm ihre vermeintlichen Rechte. Und er stand mitten
drin, mitten in dem heißen, tosenden Leben, das jeden Tag seine Gestalt
änderte, Verbrauchtes abstieß und neue Schlagworte ausgab. Was heute
oben war, hatte morgen seine Macht verloren, lang Niedergehaltenes
stieg plötzlich empor, ein immerwährender Wechsel war da, ohne
Stetigkeit und Ruhe, scheinbar ein Wirrwarr und doch eins durch das
andere bedingt.

Von besonderem Reiz für ihn war es da, den Zusammenhängen nachzuspüren,
die das wertlos gewordene Gestern mit dem schillernden Heute
verknüpften, die vielen durcheinander wirbelnden Strömungen und
Gegenströmungen bis zu ihrer gemeinsamen Quelle zu verfolgen und aus
dem beständigen Auf und Ab der fließenden Erscheinungen das Bleibende
herauszufinden.

Und er erschrak über die drückende Machtfülle, die gewaltig
aufgespeicherte Vermögen den verdienstlosen Besitzern über ganze große
Menschengruppen verliehen, sah diese vergeblich dagegen ankämpfen,
matt und mutlos werden, und fühlte mehr, als er klar erkannte, daß
eine Ordnung, in welcher derartiges möglich war, irgendwie krank sein
müsse, ohne daß er hätte finden können, wo eigentlich die Krankheit saß
und wie sie zu heilen wäre. Denn alle die Wohlfahrtseinrichtungen, die
Krankenkassen, Unfallversicherungen, Altersversorgungen, schienen ihm
bestenfalls Verlegenheitsmittel, durch die nur die Folgeerscheinung
der Krankheit erträglicher gemacht, nicht aber die Krankheit selbst
behoben werden konnte, so etwa, wie man einem schwer Verwundeten
Morphium einspritzt, um die unerträglichen Schmerzen für Augenblicke zu
übertäuben.

Da war nun seiner grüblerischen Natur wieder ein reicher Stoff geboten.
Aber er blieb in beständiger Fühlung mit dem Leben und arbeitete
freudig drauflos, so daß es gewöhnlich sehr spät wurde, ehe er zum
Nachtmahl und in seine Wohnung kam. Aber auch dann gönnte er sich noch
nicht Ruhe, las vielmehr, schrieb und studierte, als wollte er in
Wochen nachholen, was er während der leeren Monate in Prag versäumt
hatte.

So verging der Sommer im Flug, es wurde Herbst und eines Tages traf
Heinz Wart in Wien ein. Er hatte die Reifeprüfung abgelegt, und
zielsicherer als Hellwig schwankte er keinen Augenblick, sondern kam
mit der festen Absicht, sich ganz dem Zeitungswesen zu überantworten
und dort mitzuarbeiten, wo er am ehesten die Verwirklichung seiner
Jugendideale erhoffte.

Er war noch blasser und stiller geworden, die Augen brannten ihm groß
und wie im Fieber unter der weißen Stirn. Von den dunklen Haaren bis in
die Fingerspitzen schien die ganze überschlanke Gestalt mit verhaltener
Leidenschaft durchtränkt, von Temperament förmlich gesättigt zu sein.
Er war einer von jenen, die mit dem Herzen entscheiden, sich an der
eigenen Glut verzehren und unbesinnlich zur Selbstopferung bereit sind,
wenn sie glauben, der Idee, für die sie brennen, dadurch dienen zu
können.

Hellwig aber freute sich sehr, den besten Freund seiner Jugend wieder
zu haben. Sie bezogen zwei einfenstrige Stuben im selben Haus, und
da sie auch im gleichen Redaktionszimmer saßen, waren sie fast
ununterbrochen beisammen. Nur abends, wenn Fritz zu Hause arbeitete
oder an Versammlungen teilnahm, tat Heinz nicht mit. Das war nichts für
ihn, das Studieren oder Debattieren bis in die späten Nachtstunden.
Er wollte das Elend nicht bloß vom Hörensagen, sondern aus eigener
Anschauung kennenlernen. Und er ging in die Massenquartiere und
Schnapsbuden, kroch in alle Schlupfwinkel der Obdachlosen. Bisweilen
blieb er dann tagelang verschwunden. Und wenn er wieder in der Wohnung
auftauchte, hatte er statt der getragenen guten Kleider ein paar Fetzen
an, geflickt und schmutzstarrend, und Fritz mußte ihm bis zum Ersten
des nächsten Monats mit Geld aushelfen.

Wo er sich herumtrieb, verriet er nicht. Aber er war dann noch stiller
und bleicher als sonst, und seine Augen schienen gleichsam nach innen
zu schauen, und in ihrem dunklen Grunde lag unbeweglich etwas seltsam
Starres, vereister Schreck oder versteintes Grauen, wie bei Leuten, die
hart am Tod vorübergegangen oder an einer furchtbaren Gefahr.

Allen Fragen wich er aus. „Laß mich nur, Fritz, ich komm’ schon allein
drüber weg. Dann wirst du’s erfahren.“

Da drang Hellwig nicht weiter in ihn.


2.

Pichler hatte sein Verhältnis mit der Helenka gelöst. Nach einem
heftigen Streit waren sie auseinander gegangen, und keins fragte
mehr dem andern nach. Jetzt diente er sein Freiwilligenjahr ab, beim
Fuhrwesen, wegen der schönen Uniform. Und die Uniform stand ihm
ausgezeichnet. Das wußte er, und konnte es kaum erwarten, bis er einen
dreitägigen Feiertagsurlaub bewilligt erhielt, den er in der Heimat
zubrachte, um sich dort den Leuten in all seinem Glanz zu zeigen. Die
Geschwister bestaunten den stolzen Krieger wie ein farbenprächtiges
Fabelwesen, und auch der lustige Küster unterließ das Witzeln und hatte
helle Freude an dem stattlichen Sohn. Den aber trieb es nach Neuberg.
Er wollte die Eva Wart sehen und Eindruck machen.

Das alte Haus war, wenn möglich, noch schwärzer und verwitterter
geworden, aber die muntere Arbeit erfüllte es jetzt wie einst, und wie
vor Jahrhunderten schon leuchteten die bunten Glasmalereien noch immer
frisch und kräftig im Sonnenschein. Der Rehbock Hansl tummelte sich im
Garten, und unter den Bäumen am Grasplatz stand seine Herrin, zierlich
und fein, ein gefaltetes Tuch um den Leib, und befestigte Leinenwäsche
mit hölzernen Klammern an den kreuz und quer zwischen die Bäume
gespannten Schnüren. Sie trug eine blaue Hausjacke mit weiten Ärmeln,
und so oft sie ein Wäschestück hob, fielen sie bis zu den Ellenbogen
über die runden Arme zurück. Das freute die fröhlichen Sonnenlichter
und liebkosend streichelten sie die glatte Haut, durch deren Weiß
in einem ganz zarten und duftigen Schein, nur kaum wie die Farbe
junger Apfelblüten, das Blut schimmerte. Eine warme Anmut war in den
Bewegungen der fleißigen Arbeiterin, und wenn sie sich auf die Zehen
stellte, mit zurückgebeugtem Oberkörper eine höher hinlaufende Leine zu
sich niederzog, formten die kleinen Brüstlein zwei feine schattenhafte
Hügel in den leichten Stoff des losen Kleides.

Im knapp sitzenden Waffenrock mit funkelnden Knöpfen, glänzend
gewichste Röhrenstiefel an den Füßen, kam Otto über den Hof, und
die Scheide des schweren Säbels stieß mit lautem Klingen gegen das
Pflaster. Verwundert schaute das Fräulein nach der geräuschvollen
Erscheinung und vergaß vor Überraschung die blühweiß gewaschenen
Unterhosen Wart Nikls aufzuhängen, die es gerade aus dem Korb genommen.
Unschlüssig hielt es diese in der Hand und wartete der Dinge, die da
kommen würden.

Der fremde Krieger aber ging schnurstracks auf den Garten zu, blieb,
die Hacken zusammenschlagend, vor dem Gitter stehen stehen und
salutierte stramm:

„Servus, Fräulein Eva!“

Nun erkannte sie ihn an der Stimme. „Jemine, der Herr Pichler!“ rief
sie und lief, das Gartentürl zu öffnen. Sie tat es mit einem kleinen
Knicks und sagte unüberlegt dazu: „Tretet ein, hoher Krieger!“

„Der sein Herz Euch ergab!“ ergänzte Otto schnell und verneigte sich
tief, wobei er die weißbehandschuhte Rechte gegen seine Brust drückte.

Das Fräulein errötete. „Bei Ihnen muß man mit dem Zitieren vorsichtig
sein!“ lachte es. „Sie sind gut beschlagen!“ Dann wollte es ihm die
Hand zum Willkomm reichen und bemerkte, daß es noch immer des Vaters
Unterhose hielt. Unmutig weggeschleudert flog diese im Bogen neben den
Korb. Pichler gewahrte den Zorn.

„Lassen Sie sich nicht stören!“ sagte er und zog die Handschuhe aus.
„Wenn es Ihnen recht ist, werde ich helfen.“

„Ja?“ antwortete sie vergnügt. „Kommen Sie, das ist lustig!“

Dann hängten sie mitsammen die Wäsche auf. Im Rasen blühten die
Gänseblümchen und der gelbe Löwenzahn, die jungen Blätter der Obstbäume
glänzten frisch, und mit geschmeidigen Gliedern sprang das Reh über
die grünen Wiesenflächen. Eva regte sich flink, Otto reichte ihr die
feuchten Leinenstücke und stellte sich ungeschickt, um einen Vorwand
zu haben, seine Finger mit ihrer warmen Hand oder dem kühlen festen
Fleisch der Arme in Berührung zu bringen. Sie achtete nicht darauf.
Ganz Eifer war sie, und die blonden Stirnhaare bewegten sich in krauser
Unordnung wie ein leichtes goldenes Gitterwerk vor der klaren Stirn.
Dabei plauderten sie von allem möglichen, und nur von einem sprachen
sie nicht, obwohl Eva mit still klopfendem Herzen darauf wartete: von
Fritz Hellwig.

Aber auch Pichler dachte an ihn und wiegte sich in der frohen
Zuversicht, daß es ihm gelingen werde, den Gegner auszustechen. Denn
er wußte, daß Hellwig sein Mitbewerber war. So ängstlich dieser auch
das Geheimnis behütete, den Spüraugen Ottos war es nicht verborgen
geblieben.

Alle Register seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit zog er, und
das Bewußtsein, daß er fesch und vorteilhaft aussah, verlieh ihm
große Sicherheit. Er übertraf sich selbst an Witz, Geist und
drolligen Einfällen, so daß Eva fortwährend lachen mußte und in ihrer
Vertrauensseligkeit, die ohne Arg war, dem lustigen Gesellschafter mit
warmen Blicken entgegenkam. Und sie merkte auch die Absichtlichkeit
nicht, als er ihr mit zögernden Händen die Haare aus der Stirn ordnete,
mit ihrem Armband sich zu schaffen machte oder wie zufällig über ihr
Kleid hinstrich. Wie mit einem guten Kameraden unterhielt sie sich und
begegnete seinen Vertraulichkeiten auch wohl mit anderen, indem sie ihn
auf die Finger schlug oder belustigt ihren schmalen Fuß zum Vergleich
auf seinen großen Stiefel stellte.

Otto aber deutete alles zu seinen Gunsten. Er brannte lichterloh und
glaubte, daß die Kleine nicht weniger in ihn verliebt sei als er in
sie. Seine übermütige Siegessicherheit ließ ihn immer mehr wagen.
Als er aber mit einer halben Wendung seinen Arm einen Augenblick um
ihre Hüfte legte, klatschte sie ihm ein nasses Tuch ins Gesicht. „Das
fordert Strafe!“ rief er und wollte sie jetzt erst recht an sich
ziehen. Das Mädchen aber stand plötzlich mit einer so erstaunten und
kalt abweisenden Miene vor ihm, daß er betreten seine Absicht aufgab.
Er sah ein, daß er fürs erste Mal zu weit gegangen. Um den ungünstigen
Eindruck zu verwischen, war er jetzt doppelt aufmerksam und bescheiden.
Eva hantierte indes gleich wieder fröhlich weiter und tat, als sei
nichts vorgefallen. Erst dieser vornehme und sichere Anstand brachte
ihn aus dem Text. Er wurde verlegen, verlor den Faden und einen
Augenblick stockte das lebhaft geführte Gespräch.

Der Rehbock kam, rieb den Kopf an seiner Herrin und schaute sie mit
klugen Augen an. Da benützte sie endlich die Gelegenheit und sagte:
„Wie doch die Zeit vergeht! Jetzt hab’ ich ihn schon das dritte Jahr!
Was mag denn eigentlich der edle Spender machen?“ Ganz leichthin sagte
sie das, aber ihr Herz schlug laut dabei.

„Wer?“ fragte Otto und wollte nicht verstehen.

„Sie wissen wohl gar nicht, von wem er ist?“ erwiderte sie. Es war ihr
nicht möglich, den Namen über die Lippen zu bringen.

„Ja so!“ antwortete Pichler gedehnt und gleichgültig. „Sie reden von
Fritz Hellwig? Da kann ich nicht dienen. Seit der wegen jener gewissen
Geschichte von Prag hat fortmüssen, hab’ ich nichts mehr von ihm
gehört.“

„Was für gewisse Geschichte?“ fragte sie und schaute ihn bang an. Da
hoffte er sein Eisen zu schmieden, begann zu erzählen und stellte die
Sache so dar, als ob Fritz aus Mangel an Mut den Zweikampf abgelehnt
hätte.

„Man darf das nicht!“ schloß er. „Erst beleidigen und dann auskneifen.
Es ist mir schwergefallen, aber ich hab’ schließlich nicht anders
handeln können.“

„Wieso?“ Eine kleine Falte stand ihr zwischen den Brauen.

„Mit einem Auskneifer verkehrt man nicht. Der ist gesellschaftlich tot.
Ich hab’ dennoch versucht, mir den Freund zu erhalten, hab’ heimlich
mit ihm zusammentreffen wollen, trotz der Gefahr, daß es herauskommt
und mich ebenfalls unmöglich macht.“

Er mußte innehalten. Eva hatte mit dem Fuß aufgestampft und ungestüm
dazwischengerufen: „Fritz ist kein Auskneifer!“

Mit einem nachsichtigen Lächeln blickte er sie groß an.

„Sprechen wir nicht mehr davon. Mir geht die Geschichte nah, und helfen
tut das Reden doch nichts mehr!“

„Ihnen nicht, das seh’ ich jetzt schon selber!“ sprach sie ihm mit
funkelnden Augen entgegen. Gekränkt versetzte er: „Warum sind Sie so
bös? Sie tun ja gerade, als ob ich an allem schuld bin!“

„Beileibe!“ entgegnete sie und in ihrer Stimme war Spott und Zorn.
„Fein haben Sie sich benommen! Ein unschuldiger Engel sind Sie!“ Dann
aber ging ihr doch das mühsam gezügelte Temperament durch. „Wollen Sie
wissen,“ fuhr sie heftig fort, „wollen Sie wissen, wer der Feigling
ist? Nehmen Sie einen Spiegel und schaun Sie sich an! Dann sehen Sie
ihn!“

„Fräulein Eva!“

Das klang gereizt und grollend. Sie hörte nicht darauf. Rücksichtslos
warf sie ihm ihre Empörung ins Gesicht.

„Vielleicht nicht? Sie haben nicht den Mut gehabt, offen zu Ihrem
Freund zu halten. Wie alle sich losgesagt haben, haben auch Sie ihn
aufgegeben! Das ist feig! Das ist schlecht! Pfui!“

Sie drehte sich auf dem Absatz herum, schritt tiefer in den Garten
hinein mit heißen Wangen und wild schlagendem Herzen. Aber ihre
blitzenden Augen waren jetzt voll Tränen.

Pichler war sehr blaß geworden und zerknüllte seine Handschuhe. Das
Reh, das ihm gerade in die Quere kam, erhielt einen unsanften Stoß.
Doch kein Wort erwiderte er. Eine Weile stand er noch unschlüssig, dann
kehrte er sich langsam ab und schritt durch das Gartentürl in den Hof
zurück. Aber sein Säbel klang jetzt nicht mehr hell auf den Steinen. Er
hielt ihn am Korb fest und bestrebte sich eines möglichst geräuschlosen
Abgangs.

Eva schrieb an diesem Tage noch einen langen Brief an Heinz. Aber
obwohl sie dabei fortwährend an Fritz dachte und obwohl jedes Wort
eigentlich für ihn bestimmt war, kam auf den vier eng beschriebenen
Seiten schließlich nicht einmal sein Name vor. Und nur ganz zum Schluß,
als Nachschrift, schrieb sie: „Deinen Stubennachbar lasse ich grüßen.“
Sie schrieb es hastig und überstürzt und wagte dabei nicht auf das
Papier zu schauen, so daß diese Zeile schief und mit unordentlichen
Buchstaben dastand und von der sauberen Nettigkeit der übrigen
erheblich abstach.


3.

Fritz blieb es erspart, dem Kaiser zu dienen. Eine Unregelmäßigkeit
in der Krümmung der Hornhaut beeinträchtigte das Sehvermögen seines
rechten Auges und machte ihn zum Waffendienst untauglich. Er war froh
darüber, und als er auch die letzte Musterung glücklich hinter sich
hatte, verleitete er seinen Freund Heinz zu einem kleinen Gütlichtun in
einem Weinkeller. Von dort gingen sie noch in ein Nachtkaffeehaus. Ein
Streichorchester spielte hier, und der große, schäbig elegante Raum war
gesteckt voll. Studenten, ledige junge Beamte und alte Witwer waren in
der Überzahl, saßen angeheitert, lustig oder schläfrig bei den runden
Marmortischchen und musterten die geschminkten und geputzten Weiber,
die von der Straße kamen und Liebe feilboten. Allenthalben saßen oder
standen sie bei den Herren, von den großen Hüten nickten die gefärbten
Federn, und falsche Edelsteine funkelten an billigen Spitzenblusen.

Eine aber saß allein und abseits in einer Ecke, hatte ein schlecht
sitzendes dunkles Kleid an, und ihr Gesicht war ohne Schminke. Mit
ängstlichen Augen schaute sie in das lärmvolle Durcheinander, und wenn
ein Mann sie ansprach, begann sie zu zittern, errötete und gab keine
Antwort. Eine Anfängerin. Der Zahlkellner beobachtete sie mißtrauisch.
Er sorgte sich um sein Geld für die Zeche. Aber auch Heinz Wart ließ
sie kaum aus den Augen.

Die Musik spielte den neuesten Gassenhauer, die Gäste sangen mit,
stampften, klatschten und pfiffen.

Leichthin sagte Heinz: „Ich werde mich an ihren Tisch setzen. Gehst du
mit?“

„Was dir nicht einfällt!“ erwiderte Fritz und schaute den Epikuräer
entrüstet an. Der bemühte sich, ein unbefangenes Gesicht zu machen,
wurde aber doch rot, als er jetzt meinte: „Dann wäre ich dir dankbar,
wenn du mich allein ließest.“

„Wie du willst. Zugetraut hätte ich’s dir nicht!“

„Man täuscht sich eben. Gute Nacht.“

Hellwig hatte schon den Hut auf und stürmte davon. Er war nicht prüde
und kein Sittenrichter. Aber die käufliche Liebe ekelte ihn an.

Die junge Frau zuckte erschreckt auf, als sich Heinz mit einem
ungelenken: „Erlauben Sie?“ zu ihr setzte. Aber bald verlor sie alle
Scheu. Weder Unverschämtheit noch freches Begehren war in seinem Blick,
nur ernste Teilnahme, die Vertrauen heischte und Vertrauen wachrief.

Sie hieß Marie und war aus dem Waldviertel. Nach einem verstorbenen
Onkel hatte sie gemeinsam mit ihrer Schwester einen Milchhandel in der
Stadt übernommen. Aber da sie beide nichts vom Geschäft verstanden,
wollte es nicht gehen und wurde ihnen schließlich versteigert. Die
ältere Schwester hatte mit einem Lohnkutscher ein Verhältnis, das ihr
allwöchentlich Prügel und alljährlich ein Kind einbrachte. Die Marie
aber ging einem Heiratsschwindler ins Netz, der sie um die letzten
Kreuzer betrog und dann sitzen ließ. Weil sie zart und schwächlich
aussah, glückte es ihr nicht gleich, als Dienstmagd unterzukommen, die
Quartiersfrau wollte ihr ohne Zahlung nicht länger Unterstand geben,
bei der Schwester war Not und Elend und kein Platz für noch einen
müßigen Kostgänger. Deswegen saß die Marie jetzt hier und wollte das
Letzte, das ihr noch geblieben, feilgeben, um wieder einmal ordentlich
essen und die Miete zahlen zu können.

Das alles erzählte sie dem Wart, und die Aussprache tat ihr wohl. Er
unterbrach sie mit keinem Wort, hörte still zu und lebte ihr einfaches
Schicksal mit, das ihn ans Herz griff, trotzdem er vorausgewußt hatte,
daß ihr Bericht so oder ähnlich lauten würde.

Dann redeten sie noch über viele Dinge. Die Marie fühlte sich geborgen,
wurde lebhafter und wenn sie lächelte, glitt über ihr mageres
Gesicht ein wehmütig freundliches Licht. Wie wenn im Vorfrühling der
Sonnenschein über ein erstes blasses Schneeglöckchen hinhuscht, sah es
aus, und in ihren goldbraunen Augen war ein sanfter Glanz von einer
Munterkeit, die ungewiß, ob sie sich vorwagen sollte, ihre leuchtenden
Flüglein hob und senkte.

Es war sehr spät geworden. Heinz schlug vor, zu gehen. In ihr Schicksal
ergeben, folgte sie ihm. Aber auf der Straße nahm sie doch seinen Arm
und schmiegte ihre Wange daran, zum Dank, daß er sie rücksichtsvoll und
wie ein anständiges Mädchen behandelte. Vor einem Logierhaus machte er
halt. Bevor er klingelte, bot er ihr mit behutsamen Worten ein Darlehen
an. Sie gab keine Antwort, wurde verwirrt und schluchzte kurz auf.
Aber das Geldstück nahm sie doch, mit kaum verhehlter Gier, aus seinen
Händen und barg es bebend in ihrem Täschchen. Dann wartete sie mit
fliegendem Atem, daß er anläuten und das Zimmer bestellen würde. Doch
er hielt ihr nur die Hand hin.

„Gute Nacht!“ sagte er einfach.

Freudig erschrocken schaute sie ihn an.

„Sie gehn nicht mit?“ rief sie in der Ratlosigkeit ihrer Überraschung.
Und das war wie ein Aufjubeln, und die hellen Tränen stürzten ihr über
die Wangen.

„Schlafen Sie sich aus. Wenn es Ihnen recht ist, hol’ ich Sie morgen
früh ab. Dann sehen wir weiter.“

Sie war ganz fassungslos und wußte nicht, wie sie ihm dankbar sein
könnte. In überströmendem Empfinden neigte sie sich über seine Hand.
Unwillig machte er sich frei, zog die Nachtglocke und wollte rasch
davon. Sie ließ es nicht zu.

„Sie ... du ...“ stammelte sie, legte ihre Arme um seinen Hals und
küßte ihn.

Die Sommernacht war lau und ausgesternt, rein und rund hing der Mond
im dunklen Blau, lautlos war es und niemand in der Gasse zu sehen. Und
nichts war zu hören als der Herzschlag der vielen schlafenden Menschen,
der durch die Mauern der großen Zinshäuser drang und leis und warm
durch die Stille pochte.

„Bleib’ bei mir, du!“ flüsterte die Marie. „Geh’ nicht fort, laß mich
nicht wieder allein. Ich bin so froh, daß ich dich gefunden hab’!“

Der Schlüssel rasselte im Schloß. Schläfrig öffnete der Pförtner das
Tor. Nur einen flüchtigen Blick warf er auf das Pärchen, dann sagte er
mit einem verständnisinnigen Blinzeln zu Heinz: „Ein Zimmer mit zwei
Betten ist nicht mehr frei. Wenn die Herrschaften fürlieb nehmen wollen
mit Nummer einundvierzig?“

Heinz stand wie betäubt.

„Geh’ nicht fort!“ bat die Marie.

Da nahm er wortlos den Zimmerschlüssel aus der Hand des Türstehers.
Und noch ehe er im zweiten Stockwerk angelangt war, hatte er schon den
schlanken, bebenden Frauenleib ganz dicht an sich gezogen.

Körper an Körper und Wange an Wange stiegen sie die Treppe hinan, mit
fieberndem Blut und hämmernden Herzen, und wie eine glühende Wolke
umhüllte sie die ungestüme Sehnsucht ihrer jungen lebenshungrigen Sinne.

So kam die große Leidenschaft der Liebe über Heinz Wart. Er bezog mit
Marie eine aus Küche und Zimmer bestehende Wohnung im fünften Stock
eines Miethauses. Dort war es hell und freundlich, und die schlichten
Möbel glänzten im Morgensonnenschein mit den Zähnen, den Augen der
Marie um die Wette. Heiter ging sie an ihr Tagewerk und beschloß es
heiter, ganz geborgen fühlte sie sich, wußte sich geliebt und liebte
wieder mit aller Zärtlichkeit ihres unverbrauchten kindlichen Herzens.
Ein sachtes Rot kam in ihre schmalen Wangen, leicht und federnd schritt
sie einher. Aber ihre Arme blieben mager, und der trockene Husten
wollte nicht weichen.

Beglückt und froh ließ sich Heinz von ihrer warmen Liebe wiegen. Seine
Starrheit löste sich, er wurde weicher, menschlicher sozusagen. Im
schnurgeraden Wandern nach dem Ziel hatte er eine heimliche Stätte
gefunden, wo er traumverloren ruhen und endlich auch einmal der Melodie
seines eigenen Lebens lauschen konnte.

Fritz bat den Freund -- wortlos, nur mit einem festeren Händedruck --
um Verzeihung wegen der schlechten Meinung, die er von ihm gehabt, und
mit der Marie schloß er bald gute Kameradschaft. Viele schöne Abende
verlebte er in ihrem Heim, aber auch jeden freien Tag verbrachte er mit
ihnen.

Dann fuhren sie alle drei in den Wiener Wald oder in die Voralpen
hinaus, nach denen die Marie solche Sehnsucht hatte, daß sie sich immer
wie zu einem Fest schmückte, wenn sie die laubwaldumwachsenen Höhen
wiedersehen sollte, die weich hinfließenden Kämme und die weiten
Täler. Denn sie liebte die freie Gotteswelt, den blauen Himmel, unter
dem sie groß geworden, die blumigen Fluren, die ihr das Wiegenlied
geflüstert, die saalweiten Buchenwälder, durch die mit goldenen Mänteln
die Rehe sprangen wie verwunschene Märchenprinzen.

Abseits von dem großen Heer der Ausflügler streiften sie, meist weglos,
den ganzen Tag umher, an kühlen Bergquellen hielten sie Rast, von
duftschweren Maiglöckchen umblüht oder umloht von der berauschenden
Glut blutroter Alpenrosen. Und je einsamer es war, desto glücklicher
waren sie, großen Kindern gleich, die hinter die Schule gelaufen.


4.

Diese Ausflüge waren für Hellwig immer wie ein Jungbrunnen, aus dem
er sich Erquickung und neue Frische holte für sein aufreibendes
Tagwerk. Dieses war, je mehr er sich eingearbeitet hatte, je mühevoller
geworden. Die Partei hatte bald die Tüchtigkeit, die Werbekraft und
den Einfluß erkannt, den der junge Schriftleiter mit seiner warmen
Begeisterung und stillen Leidenschaftlichkeit auf breite Massen üben
konnte. Die Scheu vor dem öffentlichen Hervortreten hatte er rasch
überwunden, zauderte jetzt niemals mehr, in den Versammlungen als
Redner aufzustehen, und wenn er etwas zu sagen hatte, sagte er es frei
heraus und wunderte sich selbst manchmal, wie leicht und mühelos ihm
die Worte von den Lippen kamen. Mit frohen Kräften tat er sich überall
um, und je mehr man auf seine Schultern lud, desto wohler fühlte er
sich. Und seine Kräfte wuchsen, je mehr er sie brauchte.

Immer zu eng waren ihm die Grenzen abgesteckt, sein Ungestüm
schrie nach einer ganz großen Aufgabe, an der er sich ungehemmt und
uneingeschränkt erproben und wirklich abmessen konnte, was er zu
leisten imstande sei. Und die Aufgabe wurde ihm.

In dem ausgedehnten nordböhmischen Kohlenbecken waren die
Lohnverhältnisse schon lang unhaltbar und der Streik nicht länger
hinauszuschieben. Stürmisch verlangten ihn die Bergleute, und die
Parteileitung mußte nachgeben. Es wurde notwendig, einen verläßlichen
Mann in das unruhige Gebiet zu entsenden, der die Bewegung vorbereiten,
in geordnete Bahnen lenken und überwachen sollte. Die Wahl fiel auf
Fritz Hellwig. Eine große, verantwortungsvolle Sendung wurde ihm, der
wenig über vierundzwanzig Jahre alt war, damit auferlegt. Aber vor die
Entscheidung gestellt, schwankte er keinen Augenblick und sagte ja.

An einem trüben Herbsttag betrat er den Ort seines zukünftigen Wirkens.
Die große lärmvolle Provinzstadt machte keinen günstigen Eindruck.
Ein trockener Geschäftsgeist, der das Zweckmäßige auch schön findet,
sprach aus ihrer ganzen Anlage. Man sah es gleich: Diese Stadt hatte
keine Vergangenheit. Ihre Insassen wohnten nur erst wie zur Miete,
waren nicht auf diesem Boden erbgesessen und mit ihm verwachsen durch
vieljährige Überlieferung. Deswegen legten sie keinen Wert auf ein
behagliches Heim, hätten auch keine Zeit gefunden, es zu schmücken, in
ihrer rastlosen Jagd nach dem Erwerb.

Mit ihren vielen Fabriksschloten lag die Stadt, beständig von einer
Wolke schwärzlichen Qualms überschattet, mit Geratter, Gerassel und
Getöse angefüllt, in einer ungemein reizvollen Landschaft wie ein
häßliches Mal auf einem schönen Körper. Zahlreiche Berge schlossen
sie von zwei Seiten ein, ein stattlicher Strom hatte sich eine
breite Rinne durch das Gebirge gegraben und trug Frachtschiffe auf
seinem Rücken, beladen mit Obst und Korn und Kohlen, die rings in
dem großen Becken gefördert wurden. Und an seinen Ufern führten die
Schienenstränge, keuchten die Lokomotiven, knarrten die Dampfkrahne,
schwere Warenballen aus den Eisenbahnwagen hebend und in den
Schiffsrumpf senkend.

Es war eine reiche Gegend, und die Leute verwendeten den unerschöpflich
zuströmenden Reichtum mit klugem Bedacht. Sie legten ihn in der Erde
an, vergruben ihr Pfund und wucherten doch damit, teuften Schacht
um Schacht ab, stellten immer stärkere Fördermaschinen auf, und die
schwarzen Diamanten brachten hundertfältigen Nutzen.

Aber die Landschaft litt darunter, und schon jetzt sah man weite
Flächen mit rauchenden Löschhalden eingesunken und verrollt, wo
einst auch fruchtschwere Obstbäume standen und gelbes Korn der Ernte
entgegenreifte. Und wenn der letzte Kohlenblock dem Bauch der Erde wird
entrissen sein, dann wird eine Wüste ringsum zurückbleiben und ein
großes Elend.

Daran dachten sie jedoch vorläufig nicht. Sie waren stolz auf ihre
Bergwerke, stolz auf ihre Fabriken, stolz auf ihren Reichtum und
hielten sich für ungemein geschäftstüchtig, weil sie sich alles
dienstbar zu machen und aus allem Vorteil zu ziehen wußten.

Am stolzesten aber war die Stadt auf ihre chemische Fabrik. Die bildete
ein eigenes Viertel, und wohl fünfzig Schlote ragten hoch in die Luft,
gewaltige Säulen für den Thron der Königin Industrie. In dicken Wolken
hing der schwarze Rauch darüber als Baldachin und unten sausten und
grollten die Räder, knatterten die Treibriemen, ächzten die Winden,
schrillten die Dampfpfeifen: die große Sinfonie zu Ehren der Königin.

Weit über fünftausend Arbeiter beschäftigte diese Fabrik, und weit
über fünfzehntausend Bergleute fanden in den Kohlengruben ihr Brot.
Die sollte Fritz Hellwig nun führen, organisieren und vorbereiten zum
Kampfe gegen die mächtigen Handelsherren.

Er hatte sich außerhalb der Stadt in einem kleinen Hause am Ufer
des Stromes bei einem Faßbinder eingemietet. Hier war es still und
friedsam, die Hafenbahn führte nicht bis her und der Lärm drang nur
kaum noch wie ein leises Murmeln von fern. Um die Fenster schlang ein
edler Weinstock seine Ranken, bewaldete Berge stiegen am jenseitigen
Ufer mit anmutigen Gipfeln empor, und durch das grüne Tal glitt leise
rauschend mit eiligen Wellen der schöne Fluß. Früh morgens ging die
Sonne an den Fenstern vorbei, lag wie gleißendes Silber auf der breiten
Wasserfläche, Lastschiffe und Zillen wanderten bei günstigem Wind mit
aufgesteckten Segeln vorüber, Schleppdampfer bewegten sich an rollender
Kette stromaufwärts.

Bisweilen auch tönte unten auf dem gepflasterten Vorplatz lustiger
Schlegelklang. Aber der Bindermeister war rücksichtsvoll und fragte
jedesmal, wenn er die Reifen antreiben wollte, seinen Mieter, ob ihm
das Gehämmer nicht lästig sei. Er war außerordentlich mager, groß,
etwas vornüber gebeugt durch die Last seiner siebzig Jahre, und um
das ganze Gesicht starrte ihm ein wahrer Urwald von grauen Haaren,
so daß nur die kleinen Vogelaugen sichtbar waren und eine Hakennase
von abenteuerlicher Form. Wie ein Meergreis schaute er aus, grün, mit
grünlich verschossenen Kleidern und grünlich-schwarzer Hautfarbe.
Denn er wusch sich nur Sonntags. Dagegen hielt er viel auf leichtes
Schankbier und Schnupftabak, wovon er unglaubliche Mengen verbrauchte.
Seine Frau war ihm darin ähnlich. Auch sie verschmähte weder eine Prise
noch einen guten Trunk. Doch ging sie immer sauber gewaschen, und Fritz
hatte keinen Anlaß zu einer Klage. Seine Stube war kühl und hell, die
Aussicht prachtvoll, der Kaffee vortrefflich.

Wenn er zu Hause war, sah er am liebsten zum Fenster hinaus auf das
bunte Treiben im Strom, schaute den Scharen der Möven zu, die wie
Silberstreifen über die glitzernde Wasserfläche schossen und ließ sich
nachts von dem eintönigen Geplätscher der wandernden Wellen in Schlaf
singen.

Aber er hatte nicht viel Zeit zu beschaulicher Muße. Die Agitatoren,
die vor ihm dagewesen waren, hatten schlecht gewirtschaftet. Sie hatten
verhetzt, statt aufzuklären; sie hatten aufgereizt, wo sie hätten
belehren sollen. Sie hatten den Leuten die glückliche Unwissenheit
genommen und nichts dafür gegeben.

„Werdet Sozialdemokraten, und es wird euch gut gehen.“

Und sie wurden Sozialdemokraten. Aber es ging ihnen nicht gut. Es ging
ihnen schlechter. Denn zur gleichen Lebenslage war die Unzufriedenheit
gekommen.

So war es Hellwig nicht leicht gemacht, Vertrauen zu erwerben. Aber
es gelang ihm doch. Er war fortwährend unter ihnen, bereiste das
ausgedehnte Gebiet, warb um sie und ließ nicht locker. Und langsam
begann ihr Mißtrauen zu schwinden. Sie ließen ihn näher an sich heran,
öffneten ihm ihre Stuben, ihre Herzen. Sie spürten heraus, daß er es
ehrlich mit ihnen meinte und fingen an ihn zu lieben.

Bald kannten ihn alle Arbeiter. Es war auch nicht schwer, ihn unter
Hunderten herauszufinden. Schulterbreit, von einem kraftvollen Ebenmaß
der Glieder, überragte er die meisten um Haupteslänge. Wenn sie seinen
runden Schlapphut, den grauen Radmantel auftauchen sahen, kamen sie
näher, vertrauten ihm ihre Nöte. Und bald auch kamen sie zu ihm in die
Redaktion des Wochenblattes, dessen Leitung er mit übernommen hatte.
In den Frühstunden oder am Abend nach der Arbeit kamen sie, mit ihren
rußigen Gesichtern und schwieligen Fäusten, holten sich Rat in ihren
kleinen Kümmernissen und großen Mühsalen.

Es gab prächtige Menschen unter ihnen. Da war Anton Stanzig, der
Glasbläser, der in seinen freien Stunden in den Bergen herumlief,
um sich eine neue Lunge zu holen, weil er sich die alte beim heißen
Schmelzofen schon zur Hälfte herausgeblasen hatte. Er spuckte Blut und
sammelte Schmetterlinge, las darüber dicke Bücher und wußte alle Arten
mit ihren lateinischen Namen zu benennen. Oder da war Ferdinand Opitz,
der nach beendeter Häuerschicht die dunkle Kohlengrube verließ, um sich
mit Spektralanalysen zu beschäftigen und dessen ständige Klage war, daß
er so selten dazu käme, das Sonnenspektrum zu beobachten. Oder da war
Franz Bogner, der alte Kesselwärter, der in den Mußestunden mit seinen
knotigen Fingern zarte Blumengewinde und Figuren modellierte. Und was
sollte man von Karl Pfannschmidt halten, dem fünfunddreißigjährigen
Bergmann, der zur Rastzeit im Schacht mit dem Speck zugleich auch
ein Buch aus dem Brotsack zog und auf einem Haufen Kohle bäuchlings
hingestreckt, beim trüben Schein der Grubenlampe Rousseaus ~contrat
social~ im Urtext zu lesen anfing.

Er hatte eine zweiklassige Dorfschule besucht und mußte mit zwölf
Jahren ins Bergwerk. Schon längst war seine Gesichtsfarbe fahlgrün und
seine Luftröhre voll von Kohlenteilchen, die er obertags fortwährend
aushustete. Die heiße Schachtluft hatte den Körper angegriffen, aber
der Sehnsucht konnte sie nichts anhaben. Die war geblieben, und mit ihr
ein unstillbarer Hunger nach Wissen. Seine Stuben waren vollgepfropft
mit allen Lehrbüchern der Mittelschulen. Denn er hatte einst den
Ehrgeiz gehabt, es bis zum Doktor der Weltweisheit zu bringen. Da hatte
er heiraten müssen, kurz nach der Hochzeit war das erste Kind gekommen,
und die Sorge um das tägliche Brot zwang ihn, im Schachte auszuharren.

Hellwig war bald der wahren Natur des bescheidenen Bergmanns auf die
Spur gekommen, bot ihm seine Bücherei zur Benützung an, lud ihn zu sich
ein. Und Pfannschmidt zog eines Abends nach langem Zögern seine guten
Kleider an und ging hin. Frisch rasiert war er, trug blank gewichste
Stiefeletten und an den ausgearbeiteten Händen braunlederne Handschuhe.
Linkisch stand er unter der Tür und zog und zerrte an dem Knoten seiner
Halsbinde, die himmelblau auf einer brettsteifen Hemdbrust glänzte. Die
Hemdbrust hatte sich unter der Weste verschoben und wölbte sich nun wie
ein mächtiger Frauenbusen.

„Stör’ ich?“ fragte er schüchtern.

„Beileibe!“ erwiderte Fritz. „Schön, daß Sie kommen.“

Er nahm dem Besucher den Hut aus der Hand, legte ihn aufs Bett, öffnete
den Kasten und nahm eine Flasche Wein heraus.

„Machen wir’s uns gemütlich.“

Der Bergmann saß steif nur kaum auf dem Rand des angebotenen Stuhls
und hatte die Hände vor sich auf die geschlossenen Knie gelegt. Seine
Blicke wanderten in der Stube herum, blieben an den Büchergestellen
haften.

Fritz schraubte die Lampe höher. „Ich denke, wir lesen etwas!“ schlug
er vor. Denn auch ihm fehlte die Gabe, durch leichtes Geplauder Brücken
zu schlagen, über die ihre einander noch fremden Seelen sich hätten
näher kommen können. Er holte ein paar Bände, setzte sich seinem Gast
gegenüber, der ihn stumm und erwartungsvoll ansah.

„Vielleicht das hier!“ meinte Hellwig nach einigem Herumblättern. Und
nun las er mit verhaltener Leidenschaft Friedrich Adlers Gedicht ‚Nach
dem Strike‘.

    „... Im tiefen Schacht, von Luft, vom Lichte,
    Von jedem frohen Blick entfernt,
    Gefahr, wohin der Fuß sich richte --
    Wir haben tragen es gelernt.
    Wir wissen uns dem Los zu neigen.
    Wir gehen fürs Leben in den Tod.
    Wir schweigen schon und werden schweigen,
    Allein wir hungern, schafft uns Brot!“

Und weiter:

    „... Und laßt es nicht zum höchsten steigen,
    Bedenket, Eisen bricht die Not --
    Wir schweigen schon und werden schweigen,
    Allein wir hungern, schafft uns Brot!“

Pfannschmidt war aufgestanden. Gleich nach den ersten Versen war er
aufgestanden, ganz außer sich, mit geballten Händen und weit geöffneten
Augen.

„Herr! ... Herr ...!“

„Ein schönes Gedicht, nicht wahr?“ sagte Fritz leichthin, um die
eigene Ergriffenheit zu verbergen.

„Schön? -- Packen tut’s einem, daß man gleich mit Fäusten dreinschlagen
möcht’! Sakra! Wir schweigen schon und werden schweigen, allein wir
hungern! ... Das sind Worte, gerade solche Worte, wie sie unsereins
auch spricht ... aber was da alles drinliegt! Und was alles dazwischen
liegt, bis einer zu dem Ton kommt ... Herr, ich hab’ auch mein Lebtag
gehungert und geschwiegen und gewartet: es muß doch anders werden. Und
ein Tag nach dem andern ist vorbeigegangen, ein Jahr hinterm andern, --
bis mir meine Frau das erste graue Haar aus dem Bart zieht. Und da hab’
ich’s auf einmal gewußt: Du steckst drin und kannst nicht heraus ...!
-- Ich hab’ angefangen, auf die Tage aufzupassen, wie sie so langsam
vorüberschleichen. Und da ist mir geworden: Ich lieg’ sechs Schuh tief
in einem offenen Grabe ... und jeder Tag ist wie eine Schaufel Erde,
die sie auf mich werfen. Bei den Beinen fängt’s an, dann kommt’s auf
die Brust, die Arme ... immer schwerer ... immer mehr Erde ... Und
endlich fällt sie auch aufs Gesicht. Dann ist das Licht fort, jeder
Strahl, jeder Schimmer -- alles. Und das ist das Ende ... Lebendig muß
man sich begraben lassen und kann sich nicht wehren. Verfluchte Armut!“

„Pfannschmidt!“ rief Fritz erschüttert. „Um Himmelswillen, nicht so
mutlos! Denken Sie nicht ans Untergehn, sonst _sind_ Sie ja schon
unten! Verfluchte Armut, jawohl! Aber -- Hand aufs Herz, ihr, die ihr
da arm seid -- seid ihr ganz ohne Schuld? -- Ihr habt geschwiegen und
schweigt! Laßt alles auf euch niedergehn -- und schweigt! Zum Teufel!
So wehrt euch doch! Ihr habt Fäuste -- braucht sie! Habt Rechte --
fordert sie! Und weigert man sie euch -- erzwingt sie!“

Da lächelte der Arbeiter traurig und sagte: „Herr, Sie wissen eben
nicht, was jahrelang schuften und hungern heißt. Das macht einen schon
kaputt. Wenn man so Stücker zwanzig Jahre in der Tretmühle drin ist,
dann hört sich endlich alles andere auf. Man lebt nur noch so hin ...“

Fritz vermochte nicht zu antworten. Was er auch geredet hätte, es wären
doch nur Worte gewesen, leere Worte, die an diesen heißen Schmerz nicht
herankonnten, -- wie Wassertropfen in der Luft verdampfen, lang ehe sie
das Erz im Hochofen erreichen können.

So war Schweigen, während vor den Fenstern der dunkle Strom vorüberzog,
schnell, lautlos gleitend, Welle um Welle ohne Anfang und Ende.


5.

Tage aufreibender Tätigkeit folgten. Es galt die Forderungen
zusammenzustellen und den Grubenbesitzern bekanntzugeben. Hoch waren
die Forderungen nicht, denn die Leute waren wirklich hundejämmerlich
daran. Sechs, im besten Fall zwölf Gulden in der Woche verdienten die
Männer, die Weiber brachten es höchstens auf sieben, und zu alledem
waren die Lebensmittel schandhaft teuer. Es gedieh zwar alles in
Hülle und Fülle in der fruchtbaren Gegend und die Bauernhöfe hatten
große Viehbestände. Aber die klugen Geschäftsleute wußten auch aus
diesem Segen Gewinn zu ziehen, trieben mit Obst, Korn, Milch einen
schwunghaften Handel nach dem Ausland und den nahen Kurorten. Nur die
Ausschußware beließen sie dem heimischen Markt, forderten aber die
gleichen Preise wie für die gute. Und die Löhne waren seit Jahrzehnten
unverändert.

Das glatte Zuströmen des Reichtums hatte die Unternehmer übermütig
gemacht. Sie vertrauten ihrem mühelosen Glück und glaubten, daß ihnen
alles gelingen müßte und nichts geschehen könnte.

Rundweg lehnten sie die Forderungen ihrer Arbeiter ab. Alle ohne
Ausnahme, in Bausch und Bogen, brüsk, ohne Beschönigung. „Wir
bewilligen gar nichts! Wem’s nicht recht ist, der kann gehen!“

Da berief Hellwig die Bergleute zu einer Versammlung unter freiem
Himmel, am frühen Morgen, draußen vor der Stadt auf einem Hügel mit
weiter Fernsicht über das große Becken. Und sie, über die schroffe
Abweisung erbittert, legten trotzig die Arbeit nieder und strömten von
allen Seiten auf die frührotbeglänzte Höhe. Wohl achttausend kamen sie,
Männer mit struppigen Bärten, Weiber, die Kinder unterm Herzen trugen,
muskelbepackte Jünglinge und Mädchen mit wachsgelben Wangen. In ihren
besten Kleidern, wie zu einem Gottesdienst, kamen sie.

Blutrot stieg im Osten die Sonne empor. Unter ihr lag die herbstreife
Erde und hob die quellenden Brüste dem Licht entgegen. Rein war der
Himmel, rein die Luft, rein die Stadt vom Fabriksqualm. Rauchlos ragten
die Schlote, mahnende, warnende Finger, aus dem Häusergewirr.

Hellwig schwang sich auf eine Felsplatte, die in der weiten Fläche des
Gipfels wie eine natürliche Rednerbühne aufgebaut war und blickte über
die Versammelten. Eine schwankende dunkle Masse, brandete es da unten,
Kopf bei Kopf, und die Gesichter leuchteten seltsam weiß und fremd
daraus hervor. Und das Regen der Leiber, das Summen der gedämpften
Stimmen vereinigte sich zu einem dumpfen Brausen, wie der Schwall
mächtiger Wogen, die ohne Rand und Ufer im offenen Meer hinrollen.

Einen Augenblick stand er wie erschrocken vor dem ungeheuern Andrang
des Lebens, das ihm entgegenatmete. Und es dünkte ihn Vermessenheit,
als ein Einzelner, Jugendlicher, gleichsam darüberzustehen und ihm die
Bahn zu weisen. Und er sah Hoffnung in ihren glänzenden Augen, hörte
das Brausen leiser und leiser werden -- und lautlose Stille wurde unter
der blauen Himmelsdecke, wie in einem endlos gedehnten leeren Saal.

Alle schwiegen und hielten ihm die Gesichter zugewendet und erwarteten
etwas von ihm und waren begierig auf seine Botschaft. Da durchsengte es
ihn mit einer wilden, ganz heißen Glut. Noch einen freien, leuchtenden
Blick warf er über die Menschenmassen, dann sprach er mit weithin
tönender, schwingender Stimme.

Er sagte:

„Da unten liegt die schöne reiche Erde, die unser aller Mutter ist. Da
unten schläft auf Garbenbündeln die Fruchtbarkeit, biegen sich die Äste
fruchtschwer und segenbeladen.

Unsere Mutter ist so schön und so reich. Aber ihr, die ihr Kinder
dieser Mutter seid ... schaut dort hinab, wo die Essen ragen und die
Aschenhaufen rauchen! ... ihr, die ihr dort unten in den finsteren
Schächten, fern dem Licht, in der heißen, staubigen Luft, in den engen,
stickigen Gängen schweißtriefend die Karren schiebt und halbnackt die
Hauen schwingt beim bleichen Flackern der Grubenlampen -- eure Lungen
keuchen, eure Lippen sind zerrissen und wund, eure Augen haben rote
Ränder -- ihr armen Kinder dieser reichen Erde wißt nichts von der
Schönheit eurer Mutter!

Wenn noch die Nacht auf den Bergen träumt, müßt ihr Abschied nehmen
von Weib und Kind, jeden Tag Abschied fürs Leben, denn dort unten
lauert die Gefahr, kauert der Tod -- und eure Lieben wissen nicht, ob
sie euch lebend wiedersehen.

    ‚Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?
    Ein Grubenlicht, ein Lebenslicht,
    Ein Tropfen löscht es gar behende --
    Ein Grubenlicht -- ein Totenlicht!‘

sagt euer alter Bergmannsspruch. Und Tag für Tag müßt ihr hinab in die
heiße, dunkle Tiefe. Und erst wenn der Tag zum Sterben kommt, wenn die
Nacht wieder auf den Bergen träumt, dann kommt ihr -- vielleicht! --
hervor aus der dunklen, heißen Tiefe und eure Augen sehen die Sonne
nicht mehr. Tag für Tag. Und keinen Tag seht ihr den Quell alles
Lebens, die Sonne.

Was habt ihr getan, um so gestraft zu werden?

Wolltet ihr Umsturz und Revolte? Den Untergang des Reiches? Den Tod des
Herrschers?

O, nichts von alledem, meine Brüder! Ihr seid nur -- arm!

Das ist es ja, was unsere Gesellschaftsordnung so furchtbar macht und
so ungeheuerlich! Daß die Armut zum Fluch, daß die Armut zur Strafe
wurde, zu einer harten, grausamen, entsetzlichen Strafe.

Und wenn ihr -- nicht ein Ende, beileibe! -- wenn ihr eine Milderung
wollt, wenn euere Forderungen noch so maßvoll sind, wenn ihr nichts
verlangt als nur ein wenig mehr Luft und Licht und ein wenig Würze zum
trockenen Brot -- auch dieses Wenige geben sie euch nicht!

Wenn ihr euch auch plagt und rackert und Arbeiten auf euch nehmt, die
oft einem Schwein zu schmutzig wären, geduldig und ohne Murren auf
euch nehmt -- denn eure Kinder wollen essen -- es hilft euch alles
nichts, plagt, rackert, schindet euch, so viel ihr wollt, ihr müßt --
ganz arm bleiben.

Nichts gibt man euch dazu, nicht einmal ein wenig mehr Luft und Licht
und ein bißchen Würze zum trockenen Brot!

Ballt sich euch die Faust? Will euch der wilde Zornschrei die Brust
zerreißen?

Gemach, ihr meine Brüder!

Nicht in Haß und Zorn dürft ihr handeln! Wägen müßt ihr, müßt alles
überlegen, und ruhig und besonnen, aber um so fester und sicherer,
strenger und unbeugsamer pocht dann auf euer Recht!

Und das erste Recht der Erdenkinder ist ein Anrecht auf die Früchte der
Mutter. Wie euern Kindern die Brüste eurer Frauen, so gehören euch die
Früchte der Erdenmutter. Und euer bestes Recht ist, daß ihr satt zu
essen habt für euch und eure Kinder.

Aber nicht mit der kurzen Gewalt der Fäuste dürft ihr euch dieses Recht
holen. Denn ...

Ich sehe viele unter euch, die Väter und Mütter sind. So frage ich
euch: Wollt ihr, daß euern Kindern dasselbe Los falle, das euch
beschieden ist? Wollt ihr, daß ihnen wie euch das Geleite geben durch
das ganze lange Leben der Hunger und die Not? Wollt ihr, daß eure
Kinder einst, wie ihr, vor einer Wiege stehn und emporschreien zum
harten kalten Tod: ‚Komm doch! Komm und nimm den Wurm zu dir, eh’ er
bei uns verhungert!‘

Wollt ihr das? O, nein doch, nein!

Nun denn, so unterdrückt den Zorn, laßt den Drang nach Aufruhr und
Empörung nicht mächtig werden -- um eurer Kinder willen. Denn wenn ihr
jetzt hingeht, die Maschinen zerstört und vernichtet und plündert,
werdet ihr in Ketten gelegt und in Kerker geworfen. Und eure Kinder
stehen schutzlos da, preisgegeben dem hohnlachenden Daseinskampf -- und
verderben.

Ihr seid Söhne der Erde: so seid ihr Söhne der Arbeit.

Ihr seid Söhne der Arbeit: so seid ihr stark und starr.

Und so rufe ich euch zum Kampf! Zum zähen, lautlosen Kampf der
härtesten Unnachgiebigkeit! Rührt keinen Finger zur Arbeit, bevor nicht
eure Forderungen erfüllt sind: Neun Stunden Arbeitszeit und vierzig
Prozent Lohnerhöhung.

Mehr könnt ihr vorerst nicht fordern. Mit einem Schlag fällt auch der
stärkste Mann keinen hundertjährigen Baum, aber durch viele Axtschläge
bringt ihn selbst ein Kind zu Fall.

Söhne der Erde, Söhne der Arbeit, seid stark und starr und achtet die
Gesetze um eurer Kinder willen!“

Als er geendet hatte, zerriß ein lautes Jubelschreien die atemlose
Stille. Ein entfesselter Strom, drängten sie gegen ihn, streckten die
Arme aus, schwenkten Hüte und Tücher. Die Vordersten erkletterten den
Felsen, haschten nach seinen Händen, drückten und schüttelten sie, und
einige wollten ihn auf den Schultern forttragen. Er aber wehrte ihnen
und schritt ergriffen durch die entflammte Menge, mit feuchten Augen
und hämmerndem Herzen.

Da stellte sich ihm ein Mann in den Weg, den er vorher noch niemals
gesehen hatte. Und doch mußte die kurze, gedrungene Gestalt mit
dem mächtigen Schädel, dem verwilderten Bart und den brennenden,
tiefhöhligen Augen sofort auffallen. Er war schlecht gekleidet, trug
einen abgeschabten Flausrock, Zwilchhosen, die an den Knien mit großen
Flicken ausgebessert waren, trangeschmierte hohe Stiefel, und das
blaue Leinenhemd ließ trotz der kühlen Herbstluft die haarige Brust
frei.

Etwas erstaunt schaute ihn Fritz an, und der Fremdling sagte mit
unverhohlenem Spott: „Sie wundern sich über mein Aussehen, guter
Freund? Das bin ich gewohnt. Übrigens heiße ich Karus, komme von Odessa
und wollte mir mal anschaun, wie ihr da draußen in Freiheitskämpfen
macht. Ich habe Ihre Rede gehört, es war eine schöne Rede, eine
gehaltvolle Rede, gewiß, aber eben doch nur eine Rede. Und das, nehmen
Sie mir’s nicht übel, junger Freund, aber das alles hat verflucht wenig
Wert. Ihr redet und redet, glaubt, weiß der Himmel was ihr für die
‚Freiheit‘ und für die ‚Menschheit‘ tut. Doch seien wir ehrlich, im
Grund genommen denkt ihr verteufelt wenig an die ‚Freiheit‘ und an die
‚Menschheit‘. Ihr denkt schließlich auch nur an eure Magen, wollt, daß
ihr genug für den Wanst habt -- -- daß aber draußen irgendwo zur selben
Zeit soundsoviele Hunderttausende im Straßengraben verrecken, daran
denkt ihr nicht, ihr -- altruistischen Egoisten!“

Er hatte mit halblauter Stimme gesprochen und keine Falte seines
verwitterten Gesichtes verzogen. Nur die Augen blitzten lebendig in
ihren tiefen Höhlen, und durch seine Worte zitterte es wie verhaltene
Glut.

„Stören Sie mir die Stunde nicht!“ antwortete Hellwig unwillig. „Was
geht es Sie an, wie wir für unser Recht eintreten? Ihnen zu Trost sei’s
gesagt: wir werden es auch bekommen! Weil wir uns rühren! Warum rühren
sich die soundsoviel hunderttausend anderen nicht auch? Oder, wie Sie
sagen, warum verrecken Sie lieber im Straßengraben, statt sich ihr
Recht zu holen?“

Da schüttelte sich die vierschrötige Gestalt des Unbekannten in
lautlosem Gelächter. Er schaute Fritz lang an, mit einem sonderbaren,
tief bohrenden Blick, dann sagte er langsam, jedes Wort betonend:

„Weil sie frei sein wollen!“, drehte sich auf dem Absatz herum und
ging weg. Rücksichtslos brach er sich mit den groben Fäusten und dem
Stiernacken Bahn durch das Gedränge, war im Nu darin untergetaucht.

Das ganze Auftreten des Mannes, sein hartes Wesen und dann die
rätselhaften Schlußworte, das alles hatte einen starken Eindruck auf
Hellwig gemacht. Und noch in seinem Zimmer grübelte er, suchte einen
Sinn in dem mystischen Satz:

... Sie verrecken lieber im Straßengraben, weil sie frei sein wollen ...

Aber er fand keine Deutung.


6.

Im Kohlenbecken ruhte die Arbeit.

Von allen Seiten liefen Spenden ein. Sogar Wart Nikl leistete einen
Beitrag. Kolben schickte tausend Gulden und schrieb dazu: „Noch einmal
die gleiche Summe steht dir in vier Wochen zur Verfügung, wenn du sie
brauchst. Es geschieht aus Freundschaft für dich, denn ich triefe nicht
von Menschenliebe. Nenn meinen Namen nicht. Ich verzichte auf den
blökenden Dank der Herde, verdiene ihn auch nicht. Halt dich tapfer!“

Das Geld wurde nicht verteilt, sondern zur Anschaffung von
Lebensmitteln in großen Mengen verwendet. Mehrere Küchen mit riesigen
Herden wurden aufgestellt, in denen das Essen für Hunderte auf einmal
bereitet werden konnte. So waren sie in der Lage, länger auszuhalten.

Sparsamkeit war aber auch notwendig, denn Woche um Woche verging, in
geschlossenen Schlachtreihen standen sich Arbeiter und Unternehmer
gegenüber, niemand dachte ans Nachgeben. Alle Schächte lagen wie
ausgestorben. Fünfzehntausend Bergleute feierten. Aber die Ruhe wurde
nirgends gestört.

Im Dezember fiel starker Frost ein. Die Lagerbestände der Gruben waren
vollständig geräumt. Der Kohlenmangel wurde immer empfindlicher, drohte
zu einer Katastrophe für Industrie und Bevölkerung zu werden.

Und dann war die Kohlennot wirklich da. Die Preise für Brennmaterial
wurden unerschwinglich. In den Gassen der Städte wurden die
Kohlenfuhrwerke immer seltener. Und auch die wenigen mußten von
Polizisten begleitet werden. Denn allenthalben strichen Leute mit
Körben und Säcken durch die Straßen, klaubten die Kohlenbröcklein --
wenn sie welche fanden -- gleich goldenen Münzen auf, und wiederholt
schon waren die Pferde ausgespannt, die Fuhren geplündert worden. Und
die Eisenbahnzüge, die den kostbaren Brennstoff aus dem Rheinland
und von England heranführten, rollten von der Grenze an unter
Gendarmeriebedeckung. Trotzdem aber warteten längs der Schienenstränge
Leute mit Stangen, Rechen und Harken, sprangen in die Bremshütten und
warfen von den fahrenden Zügen die Kohle ihren Genossen zentnerweise
hinab.

Noch bedrohlicher wurde die Lage, als eine große Maschinenfabrik
nicht mehr alle Kessel heizen konnte, den Betrieb einschränkte und
achthundert Gießer entließ. Andere Unternehmer folgten diesem Beispiel,
und die Erregung wuchs ungeheuer unter den brotlos gewordenen Massen.
Fast schien es, als stände das Land am Vorabend einer Revolution.

Beschwerden, Bittschriften, Drohbriefe liefen bei den Ministerien
ein. Unternehmer, Kaufleute, Handwerker, die gesamte Bevölkerung
forderte stürmisch von der Regierung Hilfe. Hohe Beamte gingen in das
Streikgebiet ab, um zu vermitteln, zu schlichten und ein Ende der Not
herbeizuführen.

Das Nachgeben fiel den stolzen Gewerken in ihrem Hochmut nicht leicht.
Aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung blieb ihnen keine andere
Wahl. Widerwillig ließen sie sich zu Zugeständnissen herbei. Nicht alle
Forderungen wollten sie bewilligen, doch was sie anboten, war immer
noch so viel, daß es, gleich gewährt, genügt hätte, den Ausstand zu
vermeiden.

So erging denn vom Regierungsvertreter an die Vertrauensmänner der
Streikenden die Einladung zu einer gemeinsamen Besprechung. An Fritz
Hellwig war sie gerichtet als den Leiter und Führer der Bewegung.

Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit geworden. Man staunte über die
straffe Organisation, die er förmlich aus dem Boden gestampft hatte,
ließ ihm die geschickte Leitung gelten, lobte seinen lauteren Charakter
und seine vornehme Kampfesweise.

Und manche, die früher den Provinzredakteur über die Achsel angesehen,
suchten jetzt seine Bekanntschaft. Aber er blieb zugeknöpft und
verschlossen und ließ sie sich nicht nahe kommen.

Ungleich gemütlicher verkehrte er mit seinen Quartiersleuten. Der
Faßbinder war auf seine alten Tage auch Sozialdemokrat geworden.
Wenigstens behauptete er es. Die waschechte Gesinnung übte indes weder
auf seinen waschechten Hautüberzug, noch auf sein sonstiges Gehaben
einen bemerkenswerten Einfluß. Nach wie vor schnupfte er, trank
Schankbier und wusch sich nicht. Aber statt des nationalen Banners
schwang er jetzt die rote Fahne. Freilich nur seinen Reden nach. Dafür
aber gewaltig, mit dem Brustton der Überzeugung.

Er war stolz auf seinen Mieter und sonnte sich in dem Abglanz, der von
dessen Beliebtheit auf sein Haus fiel. Jeden Besucher hielt er auf und
fing ein Gespräch mit ihm an.

„Guten Tag, Genosse!“

„»Guten Tag!“«

„Was Neues?“

„»Bin keine Zeitung!“«

„Nun, nun, nur nicht so schnell! Lassen Sie doch unsern Herrn Genossen
Hellwig ein bissel ausschnaufen!“

„»Geht nicht, Herr Meister! Die Sache ist dringend.“«

„Schon wieder dringend? Ja, wir Roten! Wir marschieren nicht, wir
laufen Sturm!“

„»Könnt da schlecht mit, was? Wenn die Beine schon wacklig werden!“«

„Wacklig? Oho! Oho! Da schaun S’ her! La--uf--schritt!“

Und er lief ein Stück die festgefrorene sonnige Uferstraße entlang,
warf die langen Beine wie ein Droschkengaul, stand still und schaute
sich schnaufend und Beifall gewärtig um. Der Besucher hatte indes
die Gelegenheit benützt und war ins Haus geschlüpft. Da nahm der
Bindermeister eine Prise, spuckte in die Hände und schlug wütend auf
seine Fässer.

Und wenn Hellwig aus dem Haus trat, frühzeitig, kaum, daß die Sonne
hinter den weißen Bergen herauf wollte, machte sich der Binder, wenn
ihn nicht noch der Kater im Bett festhielt, jedesmal an ihn heran.

„Schon auf, Herr Genosse?“ fragte er zutunlich. „Sind Sie denn
nicht noch schläfrig? Arg spät war’s wieder. Ich hab’ schon einmal
ausgeschlafen gehabt, wie Sie die Fenster aufgemacht haben. Passen
Sie nur auf, daß Sie nicht verkühlen! Ich lieg’ immer bei zugemachten
Fenstern und doch friert mich in der Nacht wie einen Italiener. Und
jetzt gar Sie! Alle Fenster reißen Sie sperrangelweit auf. Das kann
doch nicht bekömmlich sein!“

„Ich bin das so gewohnt, Herr Meister. Und dann, es liegt sich so
schön, wenn’s dunkel ist und man hört draußen das Wasser am Eis
vorübergehn. Es wiegt einen ordentlich!“

„Jawohl, schön haben wir’s schon dahier! Und eine Luft! Eine starke
Luft! Die hält gesund und macht Appetit ... Teufelszeug noch einmal!
Hat Ihnen meine Alte den Kaffee gebracht? Man muß jetzt schon fort
hinter ihr her sein, wissen Sie, weil sie so arg viel vergeßlich wird.
Sie trinkt zu viel. Das tut den Frauenzimmern nicht gut.“

Nun mußte Fritz hellauf lachen, weil hier einmal der Blinde über den
Einäugigen König sein wollte.

„Nein, Herr Meister,“ sagte er, „auf den Kaffee hab’ ich noch nie
zu warten brauchen. Und was das andere betrifft,“ -- er klopfte dem
Meergreis auf die knochige Schulter -- „da sollten Sie sich doch erst
selber bei der Nase nehmen. Groß genug ist sie ja!“

„Haha! -- Haha!“ fing da der Alte ein stoßweises Gelächter an, und sein
Bartwald kam in stürmische Bewegung. „Meine Nase -- haha! -- das ist
ein gar wichtiges Glied der bürgerlichen Gesellschaft. Sie zahlt ihre
Tabaksteuer und erspart meiner Alten die Nachtlampe! Also darf sie sich
auch groß machen!“

Dabei rieb er sich die Hände und trat stampfend von einem Fuß auf den
andern. Denn es war kalt, und vom Fluß herüber pfiff ein eisiger Wind.
Die Sonne war kaum überm Horizont herauf und stand als tiefrote Scheibe
hinter einem rauchigen Frostnebel, der zwischen Himmel und Erde düster
brodelte. Fritz drückte den Schlapphut fest aufs Haar und ging in der
grauen Dämmerung eilig die Uferstraße entlang nach der Stadt, indes der
Bindermeister in seiner Werkstatt beim glühenden Ofen schnitzelte und
manchmal glucksend in sich hinein lachte. Denn er empfand den Scherz
des sonst so ernsten Mieters als beglückende Auszeichnung.

Vor der Redaktionsstube warteten bereits die Vertrauensmänner,
Pfannschmidt und fünf andere Bergleute, auf ihren Führer. Die Hände in
den Taschen der Winterröcke vergraben, dicke Wolltücher um den Hals und
den Rockkragen darüber, standen sie einsilbig beisammen. Als Hellwig
zu ihnen trat, rückten sie die Pelzmützen, reichten ihm die Hand und
harrten schweigend, bis er die Kanzlei aufgesperrt hatte. Dort war es
noch ungemütlich, es roch nach staubigem Papier und Druckerschwärze,
im eisernen Ofen brannte kein Feuer, und die Schreibtische, Pulte und
Schreine standen langweilig in einem unfreundlichen Halbdunkel. Der
Diener hatte sich verspätet, kam nun ganz abgehetzt keuchend gelaufen,
heizte ein und wollte abstauben. Fritz schickte ihn fort. Die Zeit
drängte, um elf Uhr sollte die Besprechung stattfinden und da gab es
noch manches zu beraten.

„Also was?“ fing, als der Bursche gegangen, einer der Männer an. „Also
was? Wird heut’ endlich Schluß werden?“

„Kaum!“ versetzte Fritz achselzuckend. „So mürb sind sie noch nicht.“

„Mürb! Mürb!“ knurrte der andere unwirsch. „So nehmen wir doch an, was
sie uns bieten! Ich hab’s satt! Gebratene Tauben kriegen wir nicht,
drum halten wir den Spatzen fest! Ist besser wie gar nichts!“

„Seid ihr auch der Ansicht?“ fragte Hellwig finster die übrigen. Die
starrten stumm vor sich auf den Tisch. Nur Pfannschmidt sagte: „Der
Martin raunzt immer so herum. Wenn’s nach seinen Reden gegangen wär’,
hätten wir gar nicht anfangen dürfen!“

„Ich sag’, was ich sag’!“ beharrte der andere. „Wenn’s noch ein paar
Wochen so fortgeht, und wir verdienen nichts, haben wir so viel
verloren, daß wir dann beim höhern Lohn gut zwei Jahre fretten müssen,
bis wir den Verlust herein und die Schulden bezahlt haben. Ist’s nicht
wahr?“

Von seinen Gefährten nickte einer zustimmend. Die drei anderen schienen
unentschlossen. Pfannschmidt wollte etwas erwidern. Da brach auch schon
Fritz los:

„Was der Martin sagt, ist zwar eine arge Übertreibung, aber nehmen
wir an, es ist so. Gut. Und was weiter? Wenn’s wirklich so ist, wie
er sagt? Und wenn’s noch ärger wäre, wenn ihr vier und sechs und
zehn Jahre braucht, um den Lohnausfall hereinzubringen. Was weiter?
Dürft ihr euch deswegen mit Halbheiten begnügen? Mit einem Erfolg,
der keiner ist, nicht Fisch, nicht Fleisch? Da hätten wir gar nicht
anfangen dürfen! Jetzt gibt’s einfach kein Biegen mehr! Jetzt muß es
brechen -- und wenn wir alle dabei zugrunde gehn! Jawohl! Schaut nicht
so entsetzt drein! Ihr könnt einfach nicht nachgeben! Könnt nicht,
versteht ihr? Denn die einmal aufgestellten und nicht befriedigten
Forderungen, die würden fort und fort in euch weiternagen, und ihr
hättet keine Ruhe, bis ihr sie früher oder später doch durchsetzt. Und
der Kampf, den ihr dann um den Rest führen müßtet, wäre größer und
schwerer als der heutige ums Ganze! Das ist es! Und sind die Opfer, die
ihr jetzt bringt, wirklich zu groß? Wenn dann euch und mindestens noch
euern Kindern, von den Enkeln will ich nicht reden, wenn auch dann ein
ruhiges Fortarbeiten bei halbwegs hinreichendem Verdienst sicher ist?
Seid mir drum nicht so verzagte Angstmeier! Kleinmütige Kreuzerbettler!
Vertraut und seid starr! Unser Sieg ist nur noch eine Frage von Tagen.
Er kann einfach nicht ausbleiben! Nur, ihr müßt auch dran glauben!“

Nun hatte er sie wieder fest. Der alte Nörgler wiegte zwar noch
unschlüssig den Kopf. Aber auch er sprach nicht mehr dagegen.

Ziemlich zur selben Zeit saßen im großen Sitzungssaale des Palastes,
den sich die Grubenbesitzer erbaut hatten, ungefähr fünfzehn Herren
um einen grünen Tisch. Hagere Gestalten zumeist, mit schmalen Händen
und nervösen Bewegungen, in Gehrock oder Jackett, tadellos nach
der letzten Mode gekleidet. Nur einer war dabei, der wollte in die
elegante Versammlung gar nicht recht hineinpassen, Max Koppenstein,
ein fettes Herrchen mit einer goldenen Kette über dem Spitzbauch.
Er hatte eine ganz enge, niedrige Stirn, und daran hing, breit
ausgebaucht, mit roten Backen und mächtigem Doppelkinn, das feiste
Schlemmergesicht wie ein runder Luftballon. Aus zwinkernden Äuglein
hinter weißlichen Wimpern schaute er sehr harmlos in die Welt und war
doch der Gefährlichste unter diesen kalten Geldmenschen, unübertroffen
in der sanften, zärtlichen Grausamkeit, mit der er seine Angestellten
auspumpte und seinen Schuldnern die letzte Habe pfändete. Und wenn er
sich manchmal im Bureau in Gegenwart eines Geschäftsfreundes ein Glas
ältesten Kognaks einschenkte, dann sagte er wohl zungenschnalzend:
„Das ist ein Schnäpschen! Wie das duftet! Hm?“ und hielt dem Zuschauer
lobgewärtig das leere Becherchen unter die Nase. Aber einschenken tat
er ihm nichts. Doch schadete das seinem Ansehn keineswegs, denn er war
steinreich, besaß die meisten und die ergiebigsten Flöze und hatte
deswegen auch in der heutigen Versammlung den Ehrenplatz inne, zur
Rechten des uniformierten Vertreters der Regierung.

Steif und förmlich, mit herablassenden Mienen und gemachtem Gleichmut,
rückten sich die Herren auf den schweren Lederstühlen zurecht, als
Hellwig mit seinem Häuflein in den Saal trat. Der Beamte wies ihnen
die Plätze an und hielt eine Rede, die dem Geist der Versöhnung, dem
friedlichen Zusammenwirken in Eintracht und Brüderlichkeit einen
Preishymnus sang. Man solle, sagte er, bedenken, daß noch kein Friede
ohne beiderseitiges Entgegenkommen geschlossen worden sei. Man solle
dem großherzigen Beispiel der Unternehmer folgen und der Allgemeinheit
zuliebe Opfer bringen, die nur scheinbar Opfer seien, denn sie werden
sich reichlich bezahlt machen durch das Blühen und Gedeihen des Staates
und der Volkswirtschaft, aus welcher Quelle dann hinwiederum allen
Bürgern Vorteil fließe.

Und kühl und ruhig, mit ganz leichtem Spott, erwiderte Hellwig darauf:

„Die fünfzehntausend Menschen, die zu vertreten wir die Ehre haben,
wollen nicht Großherzigkeit oder Gnade, sondern ihr Recht. Von schönen
Worten werden sie nicht satt und ebensowenig von dem großmütigen
Angebot. Das Sattwerden aber ist zum Blühen und Gedeihen zumindesten
des einzelnen eine so notwendige Sache, daß sie jedes Opferbringen
ausschließt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Und wer
zu essen hat, braucht nicht zu arbeiten, nicht wahr, meine Herren?
Jedenfalls haben Sie zu essen. Nun, und die hinter mir stehn, wollen
das auch. Sie wollen beileibe nicht so gut, sie wollen nur genug essen.
Das ist ein so klares, einfaches und selbstverständliches Verlangen,
und ist doch so ernst und fromm, daß sich nichts davon herunterhandeln
läßt. Der Versuch zu schachern und zu feilschen ist Ihrer ebenso
unwürdig, wie es für uns unwürdig wäre, darauf einzugehen. Wir können
kein Jota nachlassen. Sie haben lang genug getrotzt, -- geben Sie es
auf! Es war ein Irrtum, -- gestehen Sie ihn ein! Denn früher oder
später müssen Sie doch nachgeben! Tun Sie es heute -- und schon morgen
wird in allen Gruben wieder gearbeitet!“

Auf ein so stolzes, selbstbewußtes Auftreten waren die Herren nicht
gefaßt, hatten vielmehr erwartet, daß ihr Angebot ohne Besinnen
werde angenommen werden. Wie Könige waren sie sich vorgekommen, die
unverdiente Gnaden austeilen. Jetzt schwiegen sie mit gefalteten
Stirnen und undurchdringlichen Mienen. Nur Max Koppenstein zog die
Schultern hoch, breitete die Arme aus und sagte: „Ich denke, meine
Herrn, darauf kann es nur _eine_ Antwort geben.“ Und zu dem Beamten
gewendet, fuhr er fort: „Nun haben Sie sich, verehrtester Herr
Ministerialrat, wohl selbst überzeugt, wo die Schuld liegt. Es tut
uns ja aufrichtig leid, aber“ -- wieder zog er die Schultern hoch und
wieder breitete er die Arme aus -- „schließlich kann doch kein Mensch
verlangen, daß wir uns verbluten sollen.“

So schien der Einigungsversuch gescheitert und der Gegensatz zwischen
den beiden Parteien verschärft. Aber es war doch anders. Denn die
Regierung bot nach wie vor alles auf, um die Unternehmer zur Annahme
der sämtlichen, in keiner Weise übertriebenen Forderungen zu bewegen.
Es gelang ihr auch, einen nach dem andern nachgiebig zu stimmen. Aber
jeder machte seine Einwilligung von der Bedingung abhängig, daß Max
Koppenstein, dem ein reichliches Achtel der gesamten Kohlengruben
gehörte, sich ebenfalls anschließe. Der indes war wie ein Aal und ließ
sich nicht greifen. Er war sehr höflich, ungemein konziliant, von einer
bestrickenden Liebenswürdigkeit. Aber nein sagte er trotzdem. Unter
tausend Entschuldigungen, überzuckert und verblümt, aber dennoch: nein.

Nach einigen Tagen wurde ihm vorsichtig und vertraulich die Möglichkeit
einer Ordensauszeichnung angedeutet. Da legte er zehn Prozent zu. Und
es hätte wohl nicht mehr viel gebraucht, um ihn ganz zu gewinnen. Denn
es gab noch höhere Orden und es gab Adelsbriefe.

Da kam ein unerwartetes Ereignis den Arbeitern und der Regierung zu
Hilfe.


7.

Die gewaltige Braunkohlenablagerung umfaßte ein Gebiet, das gut
fünfzehn Kilometer breit und fast viermal so lang war. Von Urgebirgen
eingeschlossen und nur manchmal durch schmale Bänder eruptiven Gesteins
unterbrochen, lagen hier die Flöze neben- und übereinander, bald knapp
unter der Erdoberfläche, bald Hunderte von Metern tief.

Offene Tagbaue gab es, in deren schwarze Vierecke die Sonne schien und
die bloßgelegte Kohle bald da, bald dort an den senkrechten Wänden in
Brand setzte, so daß beständig Rauchsäulen emporwirbelten. Und nicht
weit davon bohrten sich unterirdische Schachtanlagen dreihundert Meter
ins Erdinnere. Und überall qualmte die Lösche, zu Bergen getürmt, auf
den Halden, füllte ein brenzlicher, staubgesättigter Dunst die Luft,
hing der Rauch wie ein feiner Nebel über den verwüsteten Landstrichen,
die nach dem Abbau eines Schachtes zurückgeblieben waren, über den
noch üppigen Weizenfeldern daneben und über den -- wie lange noch? --
lachenden Fluren.

Und mitten in dem Becken lag, zwischen Porphyrhügel eingebettet, weit
berühmt durch ihre heilkräftigen Quellen, eine Badestadt. Rund um sie
rauchten die Schächte, wurde der Boden von den Bergleuten durchwühlt,
die Stollen und Querschächte trieben gleich Gängen riesiger Feldmäuse.
Und dicht daneben bahnten sich durch die Spalten des zerklüfteten
Porphyrs die warmen Quellen den Weg zur Stadt.

Die Schächte aber waren seit vielen Wochen unbeaufsichtigt. Und niemand
wußte, daß in den Gruben Koppensteins seit einigen Tagen, meist zur
Nachtzeit, aus der Ferne angeworbene, schlecht geschulte Kreaturen
wieder arbeiteten. Der schlaue Fuchs traf seine Vorbereitungen, um nach
Beendigung des Streiks -- das Ende hing ja nur mehr von ihm ab, und
er konnte es herbeiführen, wann es ihm paßte, -- um nach Beendigung
des Streiks die Lieferungen unverzüglich mit aller Kraft aufnehmen zu
können. Die Kohlen blieben vorläufig noch unten in den Schächten --
denn die Förderschalen mußten still stehn. Aber schon waren alle Hunde
voll beladen. Wo nur ein freies Plätzchen in den Stollen war, türmten
sich die Kohlenstücke und konnten nach der Aufnahme des regelmäßigen
Betriebes sofort hinaufgeschafft, sortiert und in die Eisenbahnwagen
verladen werden. Auf solche Weise hoffte Koppenstein der Konkurrenz
einen Vorsprung von einigen Tagen abzugewinnen.

Da geschah es, daß bei diesem Abbau ohne planmäßige Leitung eine
Schwimmsandschicht angefahren wurde. Ungeheure Sandmassen gerieten in
Bewegung, durchbrachen, einmal in Fluß, die trennenden Schachtwände
und stürzten gleich riesigen Lawinen in die Gruben. Und die Erdrinde,
unter der sie seit Jahrhunderten ruhig gelegen, wurde mitgerissen von
der furchtbaren Gewalt des wandernden Sandes, kam ins Rutschen, Gleiten
und brach nieder.

Es war eine laue, regendrohende Febernacht, als die Bewohner der
Badestadt durch ein ohrenbetäubendes Gedröhn und Geprassel aus dem
Schlaf geschreckt wurden. Der Boden schwankte, Mauern barsten,
Häuser wankten, sanken krachend in sich zusammen. Eine ganze breite
Straßenzeile, die mit schönen Gebäuden gerade über dem Schwimmsandlager
errichtet war, hatte sich gesenkt, zwanzig Häuser waren eingestürzt,
viele standen windschief mit gespaltenen Grundpfeilern, geknickten
Eisenträgern, verschobenen Dachstühlen und zitterten wie große Tiere.

Tote und Verwundete lagen unter Ziegelschutt, Sparrenwerk und
zertrümmertem Hausrat. Aus den Betten gescheuchte Menschen rannten
halb nackt durch die dunklen Gassen, fragten, stießen sich, weinten,
schrien, heulten und rangen die Hände, ratlos, planlos irrend, von
einer entsetzlichen Angst geschüttelt. Und dazwischen tönte das
Stöhnen und Brüllen der Verschütteten, das Prasseln der Balken, das
Aufschlagen fallender Dächer. Und jedesmal, wenn eine Wand sich neigte,
ein Schuttregen niederging, hetzte die Furcht aufs neue in wirbelndem
Knäuel die aufgestörten Menschen durcheinander. Gellend schrien sie
auf, duckten sich, hielten sich die Ohren zu, prallten aneinander und
waren wie von Sinnen. Der Türmer läutete Sturm mit allen Glocken. Auf
den Bahnhöfen pfiffen die Lokomotiven in winselnden, langgezogenen,
Hilfe heischenden Klagelauten. Und die Finsternis stand unbeweglich und
schlang alle Tonwellen mit dunkel gähnendem nimmersatten Rachen.

Endlich kam Hilfe. Ärzte, Rettungsmannschaften, Feuerwehren. Besonnene
Männer nahmen die Leitung in die Hand. Aus den Nachbarstädten trafen
in mehreren Eisenbahnzügen Verstärkungen ein. Die nervenzersetzende
Angst wich, der panische Schrecken machte einer verzweifelten
Entschlossenheit Platz. Hunderte und Hunderte regten sich im Schein der
flackernden Windlichter, handhabten Schaufel und Spaten, trugen die
Verwundeten zum Verbandsplatz, schleppten Möbel aus bedrohten Gebäuden.

Vor den Schächten aber hatten sich die Bergleute gesammelt. Freiwillig
waren sie gekommen, im Arbeitskittel, mit Lederschurz und Grubenlampe.
Ohne Besinnen, als ein ganz Selbstverständliches, boten sie ihre Hilfe,
ihr Leben an, machten sich zur Einfahrt fertig. Die eingerosteten
Ketten der Förderschalen ächzten schrill, langsam begannen sich die
Räder zu drehen, schnurrten die Seile.

„Glückauf!“

„»Glückauf!“«

Und unter der Führung einiger Ingenieure ging es in die feindliche
Tiefe, der Gefahr zu Leibe, um nachzuforschen, einzudämmen, abzulenken,
Tote zu bergen, und die Schächte vor dem Ersaufen zu bewahren.

Aber noch ein anderes war geschehen.

Durch die ungeheure Erschütterung im Innern der Erde war auch eine der
dünnen Wände gesprengt worden, die die weit vorgetriebenen Stollen von
den Quellspalten trennten. Die Thermalwasser waren in die Grubenbaue
eingedrungen, breiteten sich darin aus, und im gleichen Maße, wie sie
in den Schächten stiegen, fielen sie in ihrem früheren Staubecken,
bis sie nach dem Gesetz kommunizierender Gefäße hier wie dort mit
gleich hohem Spiegel standen, in ersoffenen Schächten einerseits und
anderseits so tief unter den Badehäusern, daß die Leitungsröhren nicht
mehr bis zum Wasserspiegel reichten. Die heilkräftigen Quellen, der
Ruhm und Stolz der Stadt, drohten zu versiegen.

Jetzt freilich wurde eine strenge Untersuchung eingeleitet. Sie
enthüllte Ungeheuerliches. Unter dem Eindruck desselben nahmen die
Gewerken alle Forderungen ihrer Arbeiter in Bausch und Bogen an, um
wenigstens _einen_ Feind vom Hals zu haben und nicht zwischen zwei
Feuer zu geraten. Sie hofften auch, daß die Regierung, dadurch zur
Milde gestimmt, Gnade für Recht üben und ein Vertuschen der Verbrechen
ermöglichen würde. Auch an Hellwig traten sie heran, baten ihn
und boten als Anzeigengelder große Bestechungssummen, wenn er die
Angelegenheit in seiner Zeitung totschweige. Er wies ihren Vertretern
die Tür. Und brachte Artikel nach Artikel, sachlich, trocken, auf Grund
amtlicher Feststellungen.

Die Bergwerksinspektoren hatten bisher die Aufsicht nur lax oder gar
nicht ausgeübt. So war es möglich geworden, daß sich die Unternehmer
seit Jahrzehnten über alle Sicherheitsvorschriften wegsetzen konnten.
Am ärgsten schaute es in den Koppensteinschen Gruben aus. Die lagen
in der Nähe der Heilquellen und zu beiden Seiten der Eisenbahn. Dort
durfte die Kohle nicht abgegraben werden, sollten Stützen, Wände und
Pfeiler stehen bleiben zum Schutz der Quellen und der Bahn. So stand es
in der Vorschrift. Aber in Wirklichkeit war die Kohle doch abgegraben,
und die Pfeiler, Wände und Stützen waren kaum halb so dick, wie es das
Gesetz verlangte. Und unter dem Bahnkörper liefen Stollen weg und
Gänge. Und darüber, auf der dünnen Rinde, keuchten Tag und Nacht ohne
Pause die schweren Lastzüge, donnerten die Eilzüge mit den Kurgästen.

Als durch Hellwigs Zeitung diese Dinge bekannt wurden, ging der übliche
Entrüstungssturm durch die Presse. Noch nie hatte ein Provinzblatt
solchen Aufruhr erregt. Auch die Blätter des Auslandes rauschten
mit. Sie brachten Abbildungen und ergingen sich in schauerlichen
Schilderungen der Unfälle, die möglich gewesen wären. Erzählten von
kranken Menschen, die voll Hoffnung den Bädern entgegeneilten und nicht
wußten, daß der Weg dahin über bereitete Gräber führte. Auch der Reiter
über den Bodensee wurde vielfach zitiert. Und man war darüber einig,
daß die Inspektoren ihre Pflicht in unverantwortlicher Weise verabsäumt
hatten.

Nun wurden Beamte in Massen versetzt, gemaßregelt, entlassen.
Koppenstein aber war zugrunde gerichtet. Auf seine Kosten sollten
die Hohlräume unter den Schienen ausgefüllt, die schwachen
Pfeiler und Schutzwände durch Mauerwerk gesichert, sollte, um die
Heilquellen in ihre früheren Wege zurückzudrängen, die Verbindung
zwischen den Quellspalten und Gruben durch Dämme und Betonfüllungen
gestopft werden. Und die Bahn forderte Ersatz für die unter ihrem
Grundeigentum gewonnenen Kohlen, und die Stadtgemeinde, die Besitzer
der eingestürzten Häuser, die Hinterbliebenen der Getöteten und die
Verletzten stellten ebenfalls Ersatzansprüche. Und überdies drohte ein
Strafprozeß wegen fahrlässiger Gefährdung von Menschen, Beschädigung
fremden Eigentums, wegen Diebstahls und einer Menge anderer Verbrechen.
Das ertrug Koppenstein nicht. Aus dem Gefängnis hätte er sich
vielleicht nicht viel gemacht, aber daß die rastlos angehäuften
Reichtümer mit einem Schlag in alle Winde zerstieben sollten, das warf
ihn nieder. In der Marmorwanne seines Badezimmers öffnete er sich die
Pulsadern und verblutete.

Seine Verwandten richteten ihm ein Begräbnis erster Klasse mit
jeglichem Pomp. Viele folgten dem sechsspännigen Leichenwagen. In den
Augen seiner Standesgenossen war er entsühnt.

Glimpflicher kamen die andern Grubenbesitzer weg. Aber fast keiner war
ganz frei von Raubbau und Unterlassungssünden. Da wurden die stolzen
Herren gar klein. Auf einmal konnten sie geschmeidig den Rücken beugen,
sich entschuldigen, um Gnade betteln. Die Arbeiterfrage war vollständig
in den Hintergrund gedrängt. Willig zahlte man die höheren Löhne,
suchte alles zu vermeiden, was die Öffentlichkeit noch mehr aufbringen
konnte. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis die Anordnungen der
Behörden durchgeführt waren und der Skandal halbwegs in Vergessenheit
kam.

Jetzt endlich konnte Hellwig aufatmen. Die Kämpfe gegen die
Lotterwirtschaft hatten mit ihren schlaflosen Nächten und furchtbaren
Aufregungen seinen widerstandsfähigen Körper doch stark mitgenommen.
Es war sein Verdienst, daß der Augiasstall gründlich gesäubert wurde.
Er war der Herold gewesen, der Rufer im Streit, hatte die anderen
wachgerüttelt und rücksichtslos alles aufgedeckt, was sonst vielleicht
nur entstellt oder gar nicht in die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Als
hierauf das große Rauschen der Blätter anhob, schwieg er. Zu stolz, um
zu jubeln oder den Besiegten zu höhnen, schwieg er und überließ anderen
die Ausnützung des erfochtenen Sieges.

Jetzt war er wieder viel zu Hause, saß beim Fenster und blickte über
den Strom hinüber zu den waldigen Bergen, wo schon die Blütenkätzchen
aus den Zweigen brachen und die ersten Spitzen des jungen Grüns. Eine
leise Schwermut war in ihm, eine gärende Sehnsucht, die nicht Wunsch
werden wollte. Wieder war ihm, als müßte er etwas suchen, und wußte
doch nicht was. Fühlte er den Drang zum Schaffen, das Verlangen nach
irgendeiner befreienden Tat, fand aber weder Umriß noch Plan.

Es war bald recht still um ihn geworden. Selten besuchte ihn jemand.
Sie waren ihm dankbar, sprachen mit anerkennenden Worten von seiner
energischen Führung. Aber da sie ihn nicht mehr brauchten, hatten
sie keinen Anlaß, zu ihm zu gehen. Nur Pfannschmidt kam regelmäßig.
Der arbeitete nicht mehr im Schacht. Hellwig hatte sich an die
Parteileitung wegen Beigabe einer Hilfskraft gewendet und den
Bergmann in Vorschlag gebracht. Das war genehmigt worden, und so saß
Pfannschmidt nunmehr in der Schriftleitung, besorgte die laufenden
Geschäfte und fühlte sich endlich auf einem richtigen Platz.


8.

Es war bereits Frühling geworden, als Fritz eines Tages die Nachricht
erhielt, daß Doktor Kreuzinger gestorben sei. Da fuhr er mit dem
nächsten Zuge nach Neuberg. Seit sechs Jahren war er nicht mehr dort
gewesen. Und was lag alles dazwischen. Erst als ein Vorkämpfer des
Deutschtums von den Studenten gepriesen, dann als Verräter und Feigling
in Acht und Bann getan, von allen Leuten als Verkommener und Verlorener
abgeurteilt, kehrte er jetzt wie ein Sieger zurück. Der Streik hatte
seinen Namen überall bekannt gemacht. Auch die klerikalsten Neuberger
waren stolz, daß ein Kind ihrer Stadt so was hatte leisten können. Und
kaum daß er vom Bahnhof ins Städtchen kam, sprach ihn jeder, der ihn
noch erkannte, mit grüßenden Worten an, wollte ihm die Hand drücken,
fragte, ob er sich noch seiner erinnern könne. Sein Name war aber
auch monatelang täglich in allen Wirtshäusern genannt worden. Sogar
Professor Hermann hatte voll Genugtuung erklärt, daß Fritz Hellwig sein
Schüler und wie begabt er gewesen sei. Und nur Pater Romanus hatte dann
immer säuerlich-süß den Mund verzogen und ein paar Worte fallen lassen
vom Hochmut, der vor dem Fall kommt. --

Doktor Kreuzinger hatte einen wunderschönen Tod gehabt. An einem warmen
Frühlingsmorgen war er auf seiner Gartenbank eingeschlafen, das neueste
Werk eines berühmten Forschers mit dessen eigenhändiger Widmung auf den
Knien. Die Vögel sangen über ihm im Buchenbaum, die Sonne streichelte
sein weißbärtiges Antlitz. Und als sie ihn so fanden, glaubten sie,
er lächle aus einem schönen Traum heraus. Nun lag er zwischen seinen
Sammlungen aufgebahrt und sollte nach Gotha zur Feuerbestattung
gebracht werden. Heinz und Kolben, Fritz und Wart Nikl trugen die
Bahre zum Bahnhof. Priester war keiner zugegen. Und nur wenige Freunde
folgten dem Sarge des als gottlos Bekannten. Denn die Stadt war ganz
in den Klauen des Klerikalismus und es gehörte Mut dazu, sich diesem
unduldsamen Riesen entgegenzustellen.

Und über den Toten weg ging das starke Leben unbekümmert weiter.

Eva, der kleine Backfisch von einst, war groß und reif und frauenhaft
geworden. Die Trauer um den Großvater lag über ihrem Frohsinn wie der
weiche Flaum auf der Schale einer schönen Frucht. Aber die schlanken
Glieder regten sich wie unter unerwünschten Fesselbändern, und hinter
den ernsten Mienen drängte verhalten die Daseinsfreude zum Durchbruch.
So stand sie im Garten vor Fritz, am Tag nach dem Begräbnis, und
mühte sich ruhig zu erscheinen, während ihm ihre ganze Jugend
entgegenzitterte. Gleichgültige Dinge redete sie, und hätte ihm doch am
liebsten zugerufen: „Steh nicht so hölzern da! Nimm mich in deine Arme!
Dort gehör’ ich hin, ich bin ja dein ...“

„Haben Sie wirklich nicht an mich gedacht? Die ganze Zeit her nicht?
Nicht einen einzigen Gruß hatte mir Heinz zu melden!“

Er blickte ihr in die schimmernden Augen.

„Aber von Ihnen hat er mir einmal einen Gruß ausgerichtet,“ sagte er
langsam. Sie wurde rot. Er fuhr fort: „Ich dank’ Ihnen heute dafür. Und
wenn ich es nicht durch Heinz hab’ besorgen lassen ...“ Er stockte und
wollte hinzufügen: „Sie sind mir zu gut dafür.“ Aber das brachte er
nicht über die Lippen, sondern meinte nur: „Was hätten Sie auch davon
gehabt?“

„Mich hätt’s gefreut!“ antwortete sie leise.

„Kann man sich über leere Worte freuen?“

„Ah -- wenn es nur leere Worte gewesen wären -- dann gewiß nicht!“ Das
klang zornig. Und als er zögernd fragte: „Wofür hätten Sie’s denn sonst
gehalten?“, zuckte sie die Achsel: „Wenn Sie das nicht selbst wissen
... übrigens, ich hab’ auch ohne das gelebt!“

Mit einer schnellen Wendung kehrte sie sich von ihm weg.

Fritz konnte sich die plötzliche Ungnade nicht erklären. Und weit
entfernt, den wahren Grund auch nur zu ahnen, ritt er sich mit seiner
bärentatzigen Ehrlichkeit noch tiefer hinein: „Ich hab’ nichts
Schlimmes dabei gedacht, Fräulein Eva. Ich hab’ nur gemeint, so durch
einen Vermittler ... Wenn ich’s aber weiß ...“

Da unterbrach sie ihn bös: „Sie bilden sich doch nicht am Ende ein, daß
ich um Ihren Gruß stehe? Den können Sie schon behalten. Mir liegt gar
nichts daran!“, gab sich einen Ruck, warf den Kopf in den Nacken und
rauschte stolz davon.

Fritz sah ihr nach, wie sie über den Hof ins Haus schritt und fühlte
den zornigen Wunsch, ihr nachzustürzen, sie an den Armen zu packen
und zu schütteln: „So versteh mich doch!“ Da drehte sich das Tor in
quietschenden Angeln, fiel hinter dem blonden Fräulein ins Schloß.
Und mit einem Male war der weite Hof mit den regsamen Arbeitern, den
zahlreichen Fuhrwerken und den stampfenden Pferden öd und leer. Wie von
fernher kommend rauschte der Lärm der Auflader an seinem Ohr vorüber.
Und während Minute um Minute verrann, fühlte er erst noch dumpf, dann
bewußter, deutlicher und erkannte endlich mit ganz scharfer Klarheit,
wie es um sein Herz eigentlich stand.

Im selben Augenblick legte ihm der Kaufmann die Hand auf die Schulter.

„Nanu?“ sagte er. „Sie stehen ja da wie der steinerne Roland beim
Röhrkasten!“

Fritz fuhr zusammen, schaute den gemütlichen Mann mit fremden Augen an.

„Wissen Sie,“ sprach dieser weiter, „wissen Sie, das gefällt mir gar
nicht von Ihnen! Himmel, Schimmel, wenn man jung ist, soll man wie ein
Eichkatzl sein und die Welt zusammenreißen vor lauter Lebendigkeit!
Nicht so leutscheu und winkelheimlich! Wenn Sie sich jetzt sehn
könnten! Das Gesicht! Die Milch gerinnt, wenn Sie hineinschaun! Was ist
denn eigentlich mit Ihnen los?“

Und als Fritz auch darauf keine Antwort gab, schüttelte er bedenklich
den Kopf: „Sonderbar, die Leute von heute! Der meinige ist gerade so!
Wenn man Sie ansieht, meint jeder, Sie könnten nicht bis drei zählen.
Und wenn’s nicht wahr wär’, möcht’ ich niemals glauben, daß so ein
Mannl die Raubritter da oben zusammenhaut und die Kohlen so teuer
macht, daß man sie bald nicht mehr wird bezahlen können!“

„Es hat so kommen müssen,“ antwortete Hellwig gedankenlos, „mein
Verdienst ist’s nicht.“

„Kruzitürken und Chineser, bescheiden sind Sie auch? Das hat noch
gefehlt! Sagen Sie mir nur, was hat man denn von der Bescheidenheit?
Höchstens, daß man tüchtig übers Ohr gehauen wird. Auftreten muß man
heutzutage: ‚So bin ich und wenn ich euch nicht pass’, steigt mir alle
auf den Buckel!‘ -- Das gibt einem erst Gewicht! -- Mein Schwiegervater
war auch so einer. Nur ja nicht merken lassen, daß er mehr versteht wie
die andern. Und er hätt’ sie doch alle in die Tasche stecken können.
Aber der dümmste Kerl hat sich vor ihm in der Sonne den Bauch wärmen
dürfen, und er ist zufrieden im Schatten sitzen geblieben. So ein Wesen
begreif’ ich einfach nicht.“ --

„Er hat ...,“ entgegnete Fritz versonnen, „er hat -- die fremde Wärme
nicht gebraucht. Er hat von uns überhaupt nichts gebraucht, hat alles
in sich selber gehabt. -- Wie Bettler sind wir vor ihm gestanden.
Haben uns beschenken lassen und -- konnten nicht einmal dafür danken.
Weil er auch für unsern Dank zu reich gewesen ist. Wir -- verlieren
uns hundertmal -- an die Erde -- an die Menschen -- verzetteln und
verpulvern uns -- damit wir nur nicht an uns zu denken brauchen und
an unsere Armut. Glück suchen nennt man das. Er -- ist mit sich allein
geblieben -- ist groß genug gewesen zum Alleinsein -- und hat das
Glück _gehabt_. Von den Ranken, die sein Herz getrieben hat, ist keine
verdorrt. Sie sind um die Welt gewachsen, ja -- ganz rund herum sind
sie gewachsen und doch alle wieder in seinem Herzen zusammengekommen.
So war er.“

Während er sprach, schaute er unablässig auf einen blauen Ölkäfer, der
seinen dicken Leib träg über den Kiesweg ins Gras schleppte. Jetzt
schwang sich ein Spatz vom blühenden Apfelbaum, nahm das Kerbtier in
seinen Schnabel und flatterte durch den Sonnenschein davon. Ein paar
weiße Blütenblätter fielen lautlos wie Flocken vom schwingenden Ast auf
den grünen Rasen.

Wart Nikl räusperte sich und nahm Hellwigs Hand zwischen seine beiden.

„Ich versteh’ nicht, was Sie da gesagt haben. Aber fühlen kann ich’s
schon, wie Sie’s meinen. Ein Alter, über den die Jungen so reden, der
muß wohl viel wert gewesen sein.“ Und als ob er den düster Starrenden
trösten wollte, fügte er hinzu: „Er hat Sie sehr gern gehabt.“

Fritz lächelte bitter. Über den Hof herüber rief die krähende Stimme
eines Lehrbuben nach dem Kaufmann.

„Kopf hoch, Fritz!“ sagte er noch. Und mit verlegener Herzlichkeit:
„Wissen Sie, ganz so ohne sind Sie auch nicht. Ich hab’ ordentlich
einen Respekt vor Ihnen, Kreuzdonnerwetter! Den krieg’ ich vor solchen
Grünschnäbeln nicht so bald!“

Und fort war er.

Hellwig atmete auf. Fluchtartig, damit ihn nicht abermals jemand
aufhalte, hastete er durch die rückwärtige Gartentür auf die Gasse
und lief seinen alten Weg über die Brücke, die Hügellehne hinan zu
den stillen Lichtungen, wo im Sommer die Erika glühte. Jetzt standen
späte Himmelschlüssel in den Fluren und in heimlichen Waldwinkeln unter
Strauchwerk versteckt blühten die Maiglöckchen auf.

Er suchte die Einsamkeit. Aber er fand sie nicht. Überall regte sich’s,
trieb Blätter, surrte um Blumen, flatterte, zwitscherte, lockte und
holte sich die Genossin. Da warf er sich mit dem Gesicht nach abwärts
auf den Boden und deckte die Hände vor die Augen. Er schämte sich
seiner Liebe. Weil sie ihn von einem andern Wesen abhängig machte, ihm
die Selbständigkeit raubte, als ein Fremdes von seinem Herzen Besitz
ergriff, seine Ziele verdunkelte und Zwiespalt in sein Wollen brachte,
ohne daß er sich davon befreien konnte. Er bäumte sich dagegen, wollte
das Gefühl ersticken und den Zwang abschütteln. Aber immer wieder
drängte sich das Bild des schlanken Mädchens unter seine wirbelnden
Gedanken, zwang ihn, an schimmernde Augen zu denken, an trotzig
geschürzte Lippen und blondes Haar, das über einem feinen Gesicht wie
ein Goldhelm leuchtete.

Und endlich erlahmte ihm die Kraft zum Widerstand. Auf dem Rücken
liegend, schaute er traumverloren in das durchsonnte grüne Netz
der Äste, ließ sich von seiner Sehnsucht leise wiegen. Ein Kuckuck
schrie aus der Ferne immerzu. Und jetzt sang auch von irgendwo eine
schmetternde Männerstimme in den fröhlichen Wald hinein:

    „Es fallen drei Sterne vom Himmel,
    Die geben hellen Schein.
    Wer wird uns früh aufwecken
    Beim braunen Mädelein?

    Ei, wer uns früh aufwecken wird?
    Das tun die Waldvögelein.
    Die wecken uns all die Morgen
    Beim braunen Mädelein!“

Ein übermütiges Jauchzen klang dem Liede nach.

Da riß sich Fritz ungestüm aus der weichen Stimmung. Was war ihm denn
so Großes widerfahren, daß er müßig sein und schlaff werden durfte?
Hatte sich eine Ranke, die _sein_ Herz getrieben, um ein blondes Mädel
geschlungen und war nach diesem Umweg wieder zu ihm zurückgewachsen?
Fast höhnisch lächelte er. Nun, und wenn? Sollten deswegen die anderen
verdorren? Er bewegte die Unterarme mit den geballten Fäusten vor sich,
wie wenn er einen Stab zerbrechen wollte. Und den trotzigen Blick
geradeaus gerichtet, als sähe er an den Stämmen vorbei nach einem nahen
Ziel, schritt er durch den Wald. Niemand sollte ihn mehr abdrängen!
Niemand!

Andern Tags reiste er ab. Beim Abschied vermied er, Eva die Hand zu
reichen.


9.

Otto Pichler hatte das letzte Rigorosum abgelegt. Glühend vor Freude
eilte er nach Haus, umarmte die Wondra, und dann, in seiner Stube,
begann er unverweilt seine neue Unterschrift einzuüben. ~Dr.~ Otto
Pichler. In markigen Buchstaben, mit einem schwungvollen Schnörkel.
Aber das genügte ihm nicht. Er kniete auf den Fußboden nieder und wohl
fünfzigmal schrieb er mit Kreide auf die braunen Bretter: ~Dr.~ Otto
Pichler. Und immer markiger wurden die Buchstaben, immer besser gelang
der Schnörkel.

Seine Beziehungen zu Hellwig hatte er schon längst wieder lose
angeknüpft. Der Umstand, daß Heinz Wart, Kolben und Fritz bei den
Freien Blättern wirkten, hatte auch ihn zu einer Schwenkung ins
sozialistische Lager veranlaßt. Denn es schien ihm nicht unmöglich,
daß er, von den einstigen Freunden unterstützt, auf dem guten
Sprungbrett der Journalistik sich später in eine angesehene Stellung
hinüberschnellen könnte, in ein Reichsratsmandat oder ähnliches. Klug
und mit kühlem Bedacht arbeitete er auf dieses Ziel los. Er verstand
gewandt, geistreich und witzig zu schreiben, sein Stil war wie seine
Rede, flott, frisch und lebendig, und was seiner Überzeugung an Tiefe
fehlte, ersetzte er durch schöne Worte und verblüffende Wendungen.
Mit Warts Hilfe gelang es ihm, seine Aufsätze bei den Freien Blättern
unterzubringen, und bald hatte er als Feuilletonist einen kleinen
Ruf. Seine Schreibweise gefiel, das Publikum las die schaumleichten
Sächelchen gern, die sich noch obendrein wissenschaftlich gaben und
viele interessante Dinge ‚populär‘ darstellten. Aber auch mit den
Herminonen kam er deswegen nicht über Kreuz. Er wußte alle heiklen
Klippen geschickt zu umsegeln, so daß er nach wie vor ungestört in der
Gesellschaft der Studenten verkehren konnte.

Hellwig aber hegte gegen ihn keinen Groll mehr. Er war reif genug
geworden, um das Verhalten des einstigen Freundes damals bei der
Satisfaktionsverweigerung als jugendliche Torheit zu belächeln. Nach
wie vor glaubte er an die ehrliche Tüchtigkeit, hielt er viel von den
Fähigkeiten des Schulkameraden, und von der fröhlichen Leichtigkeit,
mit der Otto das Zutrauen der Leute und ihre Sympathien eroberte, ließ
auch er sich immer wieder gefangen nehmen.

Als ihn daher, nach dem Ende des Streiks und der Aufregungen, die Ruhe
und Tatenlosigkeit zu quälen anfing, während in Wien große Dinge sich
vorbereiteten, der Kampf um das allgemeine Wahlrecht mit aller Wucht
aufgenommen werden sollte und auch sonst dort, im Aneinanderprallen
des kühnsten Fortschritts und der verbissensten Reaktion, die Kräfte
immer frisch und stahlblank blieben, -- als ihn das nun in der tiefen,
schlaffen Stille der Provinz zu quälen und zu locken anfing, da schrieb
er an Pichler, ob er sein Nachfolger werden wolle. Wenn ja, möge er
sich bei der Parteileitung darum bewerben, er, Hellwig, gedenke wieder
zu den Freien Blättern zurückzugehen.

Und Pichler, der neugebackene Doktor, überlegte sich das nicht zweimal.
Hier bot sich ihm ein Anfang, ein festes Einkommen, eine selbständige
Stellung und die Möglichkeit, von dort aufzusteigen, alles schöner,
als er zu hoffen gewagt. Deswegen säumte er nicht lang, fuhr nach
Wien, stellte sich vor, setzte alle Hebel in Bewegung. Und von Wart
und Hellwig warm empfohlen, von Doktor Kolben nicht im Stich gelassen,
glückte es ihm auch, den Posten zu erhalten.

Die Begegnung der einstigen Freunde war nicht gerade herzlich, aber
auch nicht farblos. Eine Entfremdung war vorhanden, aber dafür auch
jene ruhige Kameradschaft, wie sie zwischen Männern ist, die an
demselben Werk mitarbeiten. Eine Woche verwendete Fritz daran, den
Nachfolger einzuführen und sattelfest zu machen. Dann packte er seine
Sachen und nahm Abschied von allen. Nicht leichten Herzens ging er
fort. Und ungern ließen ihn die Arbeiter ziehen. Einzeln und in
Abordnungen waren sie gekommen, hatten ihn umstimmen, zum Bleiben
bewegen wollen. Und gar der alte Faßbinder hatte sich schon lang nicht
hineinfinden können. Immer wieder war er auf die Schönheit der Gegend
zu sprechen gekommen, auf die starke Luft, die Ruhe, auf alle Vorzüge
der Gegend und seines idyllisch gelegenen Hauses. Und erst als das
alles ohne Erfolg geblieben war, hatte er sich leidvoll in seine Kammer
hinter einen Wall von Bierflaschen zurückgezogen und hatte dort mit
Tränen in den Augen ohne Aufhören getrunken und getrunken, bis ihm der
Kopf schwer auf die bier- und tränenfeuchte Tischplatte gefallen und
das jammervolle Schluchzen in ein gewaltiges Schnarchen übergegangen
war. Das war eine würdige Abschiedsfeier gewesen, denn betrinken tat
sich der hoch geeichte Meergreis nur in ganz seltenen Ausnahmefällen.
Und von jener Stunde an trug er das Unvermeidliche mit männlicher
Fassung.

Pichler fand sich rasch zurecht. Viel brauchte es ja nicht dazu. Alle
Wege waren ihm geebnet worden, alle Räder griffen pünktlich ineinander,
Pfannschmidt arbeitete wie ein Zughund, und Otto hatte eigentlich
nichts zu tun, als sich in das bereitete Nest zu setzen und zuzusehen.
Sein schmiegsames Wesen, seine lächelnde Liebenswürdigkeit machten
es ihm leicht, mit den Arbeitern schnell in ein gutes Verhältnis zu
kommen. Und sie fanden bald, daß der Neue, der ihnen so freundlich
um den Bart ging und der sie niemals durch eine kantige Schroffheit
verletzte, daß der Neue nicht so übel wäre. Auch gefiel ihnen, daß er
stets tadellos gekleidet ging, zu repräsentieren verstand und nicht in
der Vorstadt wohnte, sondern nahe der Schriftleitung in einem schönen
Zinshaus zwei Zimmer innehatte. So streute er diesen einfachen Leuten
Sand in die Augen und blendete sie durch einen glanzvollen Schein.
Er machte sich aber auch mit der ‚guten Gesellschaft‘ der Stadt
bekannt und hielt es für nur selbstverständlich, Richard Deming, den
einflußreichen Direktor der chemischen Fabrik, höflich zu grüßen, seit
er ihm einmal in einer Versammlung vorgestellt worden war. Die Anna
Bogner aber, die achtzehnjährige Tochter des Kesselwärters, erkor er
sich -- ohne Frauen konnte er nicht mehr sein -- die Anna erkor er sich
zu seiner heimlichen Geliebten.

Er sah das braunhaarige Mädchen, das in der Zeitungsdruckerei
beschäftigt war, fast täglich und es gefiel ihm. Klein, rund und
frisch, trug es sich immer nett und sauber, schaute aus klaren Augen
vergnügt ins Leben und ließ beim Lachen alle Zähne blitzen. Es lachte
gern und viel, war stets gutes Mutes, freute sich bei der Maschine auf
den Feierabend, wenn es regnete, auf den Sonnenschein und wenn die
Sonne schien, über den lustigen Glanz in der Welt und im jungen Herzen.

So war die Anna, bis sich ihr Schicksal erfüllte. Ganz gewöhnlich fing
es an. Blicke herüber und hinüber, erst vorsichtig sondierend, bald
aber kühner werbend und eindringlicher. Dann griff Otto nach dem Hut
und grüßte. Da erschrak sie, sah darein, als faßte sie es nicht, war
erstaunt, verlegen, geschmeichelt, hastete purpurrot weiter. Aber sie
schaute doch noch einmal über die Schulter zurück, ob sie sich denn
wirklich nicht getäuscht habe, und da stand der fesche Doktor mit dem
dunklen Schnurrbart noch an der Ecke und winkte mit der beringten Hand.

Andern Tags klopfte ihr das Herz bis zum Hals hinauf, als sie ihn
kommen sah. Beklommen trippelte sie vorwärts in Harren und Bangen,
fürchtete schon, er sei gleichgültig vorüber gegangen. Aber da zog
er gerade wieder höflich den Hut. Nun neigte sie, wie sie sich fest
vorgenommen, mutig den kraushaarigen Kopf zum Dank, steif genug,
verschämt und beglückt.

Dann dauerte es keine Woche mehr, bis er ihr ein Briefchen zusteckte
und um ein Stelldichein für den Sonntag bat. Jenseit des Stromes wollte
er sie treffen, draußen im Freien, wo schon die Wälder anfingen und
nicht so leicht ein Bekannter hinkam.

Und das junge Ding zog sein bestes Kleid an, schmückte sich wie zum
Fest und wartete eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit bereits am
Waldrand.

Drei rote Rosen zwischen den Fingern, kam Otto gegangen und schon
von weitem schwenkte er grüßend den weißen Panamahut. Mit einer
Verbeugung überreichte er ihr die Blumen. Schüchtern griff sie darnach,
steckte sie mit hastenden Fingern vor die atmende Brust, kam nicht
gleich damit zurecht, schämte sich und stand mit gesenkten Wimpern
in einer argen Verwirrung. Aber er half ihr rasch darüber weg, sagte
ihr ein paar Artigkeiten im leichtesten Plauderton und benahm sich
ungezwungen, als treffe er sie nicht das erstemal, sondern kenne sie
schon lang und gut. Da verlor sie die Scheu, taute auf und fing nun
ebenfalls zu erzählen an, von ihrer Arbeit, von den Tongebilden ihres
Vaters, den Liebhabern ihrer Freundinnen. Gönnerhaft hörte er zu, fand
das Schwatzen abgeschmackt, aber das Mädel hübsch und schritt, das
Stöckchen schwingend, in fröhlicher Zuversicht an ihrer Seite.

Der Wald war still und erwartungsvoll, durch die grünen Büsche
schimmerte es wie goldene Gewänder, blitzte wie sonnige Augen, mit
blauen Kelchen standen die schlanken Glockenblumen, und die Anna
pflückte sie zum Strauß. Weiße Waldorchideen ordnete sie mit hinein und
die nickenden Blütenturbane des Türkenbunds, durch dessen Berührung
Juno einst den Mars empfing. Geschmeidig bog sie den Körper, sprang
wie ein Hirschlein zwischen den Bäumen und funkelte ordentlich vor
Lebenslust. Immer besser gefiel sie dem jungen Manne. Unternehmend
strich er den weichen Schnurrbart empor, faßte die Warme mit der
Rechten von rückwärts um den Leib, bog mit der Linken ihr glühendes
Gesicht zu sich herüber und küßte sie auf den Mund.

„Nein, so was ... aber Herr Doktor!“ wehrte sie ihm schämig und
versuchte loszukommen. Es war ihr jedoch nicht ernstlich darum zu tun,
sie sträubte sich zwar ein wenig, weil sie es für schicklich hielt,
schmiegte sich dabei aber nur fester in seinen Arm. Da küßte er sie
nochmals und gab sie dann frei. „Du gefällst mir, Annl!“ sagte er und
strich mit der Hand über ihre Wange.

„Spotten Sie nur nicht!“ antwortete sie und warf ihm von unten herauf
einen schnellen verliebten Blick zu.

„Spotten? Nein, du bist wirklich hübsch! Aber das Sie-sagen mußt du dir
abgewöhnen.“

Nun kicherte sie: „Was der Herr Doktor für Einfälle hat! Wir kennen uns
ja kaum!“

„Wer bin ich?“

„Der Herr Doktor!“

„Wer?“

„... Sie!“

„Du sollst du sagen! Trau’ dich nur, Mädl! Na?“

Sie schüttelte den gesenkten Kopf, daß alle Spitzen ihrer krausen Haare
zitterten. Da legte er den Arm um ihren miederlosen Leib. „Komm!“ sagte
er. „Schäm’ dich nicht, wir sind ja allein.“

Sie lehnte sich leicht an ihn.

„Du!“ sagte sie erschauernd und ließ sich widerstandslos fortführen,
tiefer und tiefer in den erwartungsvollen Wald.


10.

Hellwig war wieder im alten Fahrwasser, arbeitete viel, sprach in
Versammlungen und ruhte sich bei Heinz von der Hetzjagd aus.

So oft er zu ihm kam, müd und abgerackert, oft erst spät abends, fand
er den Tisch für sich mitgedeckt, Marie, die zarte, blasse Frau, kam
ihm mit sonnigen Augen entgegen, und die Lampe leuchtete hell über
weißem Tischzeug, sauberen Dielen und blankem Hausrat. Eng war das
Gemach, war Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer, alles in einem, aber die
freundlichen Geister des Behagens lugten aus allen Winkeln, schaukelten
sich in den Falten der baumwollenen Fenstervorhänge, tollten, ein loser
Schwarm, durch die offene Tür in die Küche, wo sie der Marie in den
Rostbraten bliesen, daß das Fett prasselnd aus der Pfanne spritzte.
Aber nicht immer gab es Rostbraten in der Pfanne. Manchmal, und
namentlich wenn der Monatsletzte nicht mehr fern war, lief Heinz zum
Greisler hinunter um Käse, Brot und Wurst, und auch ein paar Flaschen
Bier brachte er mit herauf. Aber wenn dann die Marie fragte: „Wo hast
du die Butter?“ oder „Wo ist denn der Emmentaler?“, da hatte er das
gewöhnlich unten auf dem Ladenpult liegen lassen und mußte die vielen
Stufen noch einmal hinab und hinauf.

Und wenn sie dann alle drei unter dem weißen Schirm der Hängelampe um
den Tisch saßen, war es Hellwig, als sei alle Leidenschaftlichkeit der
Fehde verbraust und aller Streit da draußen eingeschlafen, tief ruhig
wurde er, und leise schlug ihm das stürmische Herz, ganz leise, auf daß
es die heimliche Innigkeit dieser Stätte nicht störe, die voll Liebe
und Frieden war. Und kein Schatten wäre in dieser reinen Helligkeit
gewesen, wenn Marie nicht manchmal gekränkelt und immer anhaltender
gehustet hätte.

Und bisweilen kam jetzt über Heinz wieder der alte Hang zum
Herumstreifen in den Elendquartieren. Dann litt es ihn nicht in dem
Frieden seines Heims, und mochte die Marie auch noch so freundlich
bitten, er ließ sich nicht zurückhalten. Wie an Seilen zog es ihn fort.
Da mußte auch Fritz aufbrechen, und manchmal begleitete er dann den
Freund.

Und da trafen sie einmal mit Robert Karus zusammen. In einem Bierbeisel
trafen sie ihn, wo er Lumpensammlern, Kanalstrottern und zittrigen
Bettelleuten die Idee des Anarchismus erläuterte und für die Propaganda
der Tat mit ungefügen Worten eintrat.

Hellwig erkannte ihn gleich wieder. Aber auch Karus hatte kein
schlechteres Gedächtnis. Mit einem lauten „Hei!“ ließ er die Faust
auf den Tisch fallen und rief: „Da schaut her, der Bergprediger! Wie
geht’s, Herr Bergprediger, wie steht’s? Ist die friedliche Rebellion
vorüber? Fressen die Hündlein wieder hübsch brav aus der Hand?“

Aber ehe Fritz noch antworten konnte, hatten sich die andern Gäste
bereits um Heinz geschart. „Das ist ja der Herr Wart!“ -- „Guten Abend,
Herr Wart!“ -- „Wir dachten schon, Sie hätten uns ganz vergessen,
Herr Wart!“ hieß es. Sie schüttelten ihm die Hände, waren von dem
Wiedersehen sichtlich erfreut.

„Also das ist der Ausbund, der so haarsträubend edle Werke tut!“ sagte
Karus und musterte den schmächtigen Mann mit einem raschen Blick von
oben bis unten. „Hand her, Heinz Wart!“ rief er dann. Er hielt ihm die
haarige Tatze hin. Wart legte seine kühle, schmale Rechte hinein.
„Endlich treffe ich Sie!“ sagte Karus mit gedämpfter Stimme. „Ist
höchste Zeit gewesen, sonst wär’ ich Ihnen nächster Tage auf die Bude
gerückt. Wir zwei gehören nämlich zusammen wie Faust und Arm!“

Heinz war es gewöhnt, auf seinen Streifzügen mit den absonderlichsten
Kostgängern des lieben Herrgotts in Berührung zu kommen. Deswegen
wunderte er sich nicht weiter über das Gehaben des struppigen Kumpans,
setzte sich schweigend zu ihm an den Tisch und Hellwig ebenfalls.
Diesem war die Begegnung sehr erwünscht, denn er hoffte jetzt den
seltsamen Menschen näher kennenzulernen, der mit ein paar hingeworfenen
Worten seine Gedanken wochenlang zu beschäftigen vermocht hatte. Er
konnte sich nicht klar werden über das Gefühl, das er für oder gegen
ihn hegte, spürte etwas seinem eigenen Wesen Verwandtes in ihm und doch
auch wieder etwas, was ihn schroff abstieß und zum Widerspruch reizte.

Dem Karus mochte es ebenso gehen. Die Art, wie er den ‚Bergprediger‘
behandelte, war halb kameradschaftlich, halb gehässig, und immer lief
daneben überlegener Spott mit. Jetzt saßen sie also beisammen in der
schweren, verdorbenen Luft, tranken schales Bier und die verluderten
und zermürbten Gesellen an den anderen Tischen rückten möglichst nahe
zu, spitzten die Ohren, und jedesmal, wenn Heinz eine Bemerkung machte,
lächelten und nickten sie einander zu, stießen sich an und taten, als
wäre ihnen ein Heil verkündet worden, wenn sie auch kaum die Hälfte
aller Worte vernehmen konnten. Karus aber rüstete sich zu einem Strauß
mit Hellwig.

„Also was?“ sagte er. „Sind Sie in der Provinz glücklich fertig? Wo
predigen Sie denn jetzt? Und worüber, wenn’s zu fragen erlaubt ist?“

Fritz wurde nicht zornig und wurde nicht grob. Ganz gelassen blieb
er und antwortete so naiv und unbefangen, als es ihm möglich war:
„Gegenwärtig geht’s um das allgemeine Wahlrecht.“

„Schöne Sache!“ entgegnete Karus, mit dem mächtigen Schädel nickend,
tiefernst. „Schöne Sache! Würdig der edelsten Begeisterung! Nun denken
Sie sich aber mal eine große Menagerie. Da sitzen die Tiere alle in
engen Käfigen. Der Löwe, der Tiger, die Gemse, der Falk, der Adler,
alle sitzen sie in ganz engen Käfigen. Und den Menageriebesitzer
wandelt eines Tages ein Mitleid an oder eine gnädige Laune, er stellt
einen etwas größeren Zwinger auf und erteilt den Bestien die Erlaubnis,
je eine aus ihrer Mitte, welche sie halt wollen, in den größeren
Käfig zu entsenden. Und dann springen die abgesandten Löwen, Tiger,
Gemsen, Falken, Adler dort drin herum, stoßen mit den Köpfen an das
gesetzmäßige Gitter, verletzen sich die Pranken, zerbrechen sich die
Flügel, beißen sich die Zähne aus. Und die anderen Vieher sehen das und
schreien, quieken, krächzen, brüllen: ‚Hoch unsere Freiheit! Hoch unser
allgemeines Wahlrecht!‘ Aber die Eisenstäbe zerbrechen, den Wärter in
Fetzen reißen? Das fällt keinem ein! Dazu sind sie zu faul und zu träg!
Sie fauchen wohl gegen ihn, aber kommt er ihnen mit der spitzigen Gabel
an den Leib, dann ducken sie sich und heulen! Denn schließlich gibt er
ihnen doch zu fressen.“

„Sie sind ein sonderbarer Schwärmer, Karus,“ erwiderte Fritz. „Ich
meinerseits glaube aber trotz Ihrer schönen Vergleiche, daß das
allgemeine Wahlrecht ein guter Sturmbock ist, mit dem wir die Gitter
schon brechen wollen. Nur haben müssen wir’s erst!“

Karus lächelte mitleidig.

„So sagen Sie mir doch einmal, was wir nach Ihrer Ansicht eigentlich
tun sollen, um frei zu werden?“ rief Hellwig ungeduldiger.

Da ging ein heftiger Ruck durch die gedrungene Gestalt des wilden
Gesellen, aus seinen Augen brach ein unbändiges Feuer. Aber seine
Stimme klang beinah gemütlich, als er jetzt sagte: „Dreinschlagen!“

„Wozu?“ meinte Hellwig achselzuckend. „Wir erreichen auf friedlichem
Weg mindestens genau so viel.“

Da klopfte ihm Karus auf den Rücken und sprach: „Lieber junger Freund,
wie stellen Sie sich denn das vor: Auf friedlichem Weg? Die wilden
Tiere im Käfig wollen heraus, nicht wahr? Und wenn nun so eine graziöse
Löwendame oder ein feuriger Tigerjüngling kommt und den Wärter bittet,
er solle doch so freundlich sein und das unangenehme Gitter entfernen,
so wird der Wärter natürlich nichts Eiligeres zu tun haben, als
diesem gewiß berechtigten Wunsche zu willfahren. Alle Bestien wird er
herauslassen, damit sie dann über ihn herfallen und ihn vor lauter
Dankbarkeit auffressen. Nicht wahr, so würde es kommen? Und das ist
das, was Sie meinen mit dem ‚Auf friedlichem Weg‘?“

„Nicht so ganz, Herr Karus. Sie sagten ja vorhin selbst, daß der Käfig,
wie Sie sich auszudrücken beliebten, immer weiter wird. Nun, und einmal
wird er eben so groß sein, daß wir das Gitter nicht mehr sehn und
spüren. Das ist doch gewiß auf friedlichem Weg zu erreichen.“

Karus lachte hell auf.

„Und das soll die Freiheit sein? So stellen Sie sich die Freiheit vor?
Wirklich so? Ich bedanke mich für so eine Freiheit! Ich will fliegen --
und stoß’ mir den Schädel an der Decke ein. Ich will ein bissel weiter
spazieren gehn, krach, renn’ ich -- ob früher, oder später, einmal
doch -- ans Gitter und kann nicht weiter. Muß ich da nicht die Stäbe
zerbrechen, wenn ich hinaus will? Und wenn ich allein zu schwach bin --
zum Teufel, hundert Fäuste knicken das Zeug schon entzwei! Aber feig
sind die Kerle! Feig und faul! Ihr eigenes Fleisch haben sie zu lieb,
und ihre einzige Sorge ist der Magen! Nein, nein, Bergprediger, damit
ist’s nichts! Wenn der Zwinger auch noch so groß ist, es bleibt eben
immer ein Zwinger. Und die Freiheit verträgt kein Gitter!“

Heinz saß da, die Linke vor den Augen und die Stirn in die Spanne
zwischen Daumen und Zeigefinger gestützt, hielt ein abgebranntes
Zündholz in der andern Hand und versah die runden Umrisse der
Bierlachen mit strahlenförmigen Ausläufern. Mit Fleiß und Sorgfalt
tat er das und bemühte sich, alle gleich lang und schön regelmäßig zu
machen. Aber als Karus schwieg, begann er unvermittelt zu sprechen.

„Nein,“ sagte er, „kein Gitter und kein Eisen. Weil wir ja keine wilden
Tiere sind, sondern Menschen. -- Es sollte keine Fesseln unter uns
geben, keine Käfige und keine Kerker. Und es sollte auch niemand unter
uns Macht haben, andere darin festzuhalten. Weder ein einzelner noch
ein Volk oder ein Staat. Niemand. Weil -- wer nicht für mich ist, der
ist wider mich ... das ist auch eine falsche Formel. Jeder für sich
-- und keiner wider den andern: so müßte es sein. Und bis das so sein
wird, dann sind wir alle edel genug, die Freiheit zu ertragen. Weißt
du, Fritz ...“

So redete er, und da er seine Haltung nicht änderte, war es, als ob er
in die Tischplatte hinein spräche. Aber das Zündholz war in seiner
Hand zerknickt, und seine Wangen waren ganz tiefrot geworden.

„Gehn wir!“ sagte er nach einer langen Pause und atmete schwer auf.

Sie traten ins Freie. Karus faßte ihn unterm Arm. „Faust und Arm!“
sagte er noch einmal. „Oder Muskel und Nerv! Komm, Heinz Wart!“

Fritz ging schweigend nebenher und sah in den Himmel hinauf, der ganz
hell ausgesternt war. Und wieder fühlte er, wie schon öfter: wenn der
stille Heinz seine leidenschaftliche Stunde hatte, dann sagte er Dinge,
die seltsam überzeugend klangen. Und er sagte sie in so sonderbar
eindringlichem Ton, daß keine Entgegnung sich regen konnte. Und doch
mußte es eine Entgegnung geben, das spürte er ganz deutlich und wußte
nur nicht, wo die Lücke war, wo er den Fuß einsetzen mußte, um über die
glatte Mauer hinüberzukommen.

Karus fing an, aus seinem Leben zu erzählen.

Er war Hilfslehrer gewesen, aber seine vertrotzte Natur konnte sich
in kein Joch beugen. Statt die Buben zu pflichtbewußten Staatsbürgern
zu erziehen, redete er zu ihnen von der sozialen Bewegung und vom
Anarchismus, füllte ihre jungen Seelen mit dem wilden Freiheitsdrang,
der in ihm selbst brauste. Keine Verwarnung fruchtete. Schließlich
wurde er auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Da wußte er, woher der Wind
blies und kam um seine Entlassung ein. Und dann durchwanderte der
Doktor der Weltweisheit Robert Karus fast die ganze Erde, machte
den Aufstand der Insel Kreta mit, war auf den Philippinen einer der
Insurgentenführer, wurde in Rußland wegen nihilistischer Umtriebe nach
Sibirien geschickt, floh von dort durch Persien über den Ganges nach
Indien und war jetzt endlich wieder in seine Heimat zurückgekehrt, als
Fünfzigjähriger dieselbe Glut und Freiheitssehnsucht im Herzen, die ihn
als Jüngling in die Welt hinausgetrieben hatte. Vorläufig wollte er
ausruhen, wie er es nannte, und verdiente sich sein karges Brot, indem
er armen Handelsbeflissenen, die in Anbetracht der geringen Vergütung
gern sein verwahrlostes Äußere mit in den Kauf nahmen, Unterricht in
Französisch, Englisch, Spanisch, Russisch erteilte.

Heinz Wart schloß sich seit diesem Tage ganz an den alten Revolutionär
an, war fortwährend mit ihm beisammen und wurde noch blasser und
stiller als vorher. Und noch größer und rätselvoller als vorher standen
ihm die heißen dunklen Augen im schmalen Gesicht.


11.

Pichlern ging es ungemein wohl. Sein Schifflein schwamm auf glatter
Flut, kein böser Windstoß rührte gefährliche Wogen auf, nirgends zeigte
sich eine Wetterwolke. Die Arbeit lief wie am Schnürchen, die Leute
hatten ihn gern, er war überall beliebt. Und wenn ihm etwas seine Laune
trübte, so war’s jetzt sein Verhältnis zur Anna Bogner.

Sie hatte ihm alles gegeben, was so ein schlichtes armes Ding einem
Mann wie Pichler überhaupt zu schenken vermochte, stand nun ratlos,
fremd, wie verloren in der Welt und hatte niemanden, an den sie
sich klammern konnte, als eben ihn. Gerade das aber wurde ihm bald
lästig, der Reiz der Neuheit war vorbei, der Schmetterlingsstaub von
den Flügeln gestreift, die einfache reine Seele des guten Kindes
konnte ihn nicht fesseln. Es kam die Überlegung, die Furcht vor einer
möglichen Entdeckung, der Überdruß. Seltener bat er sie um eine
Zusammenkunft, entschuldigte sich mit dringenden Geschäften. Und sie
ließ sich alles gefallen, sah ihr Glück -- es hatte kaum sechs Wochen
gewährt -- verblassen und war geduldig und gläubig und treu wie ein
Hund. Aber ihre Munterkeit war weg, kaum lachte sie noch oder freute
sie sich über den Sonnenschein.

Und endlich blieb Otto ganz fort. Acht, vierzehn Tage wartete sie, aber
er gab kein Lebenszeichen, war für sie wie vom Erdboden verschwunden.

Er birschte in anderen Gefilden. Dort war Grete Deming, die Tochter
des kaiserlichen Rates Richard Deming, der bei der großen chemischen
Fabrik den Direktorposten innehatte. Das war ein scharfsichtiger und
besonnener Selfmademan, dem das kühle Blut auch in den schwierigsten
Lagen nicht in raschere Wallung kam. Er war von festgefügtem
Knochenbau, ziemlich groß, stark, doch nicht fett, hatte breite Hände
und trug den grauen Backenbart zu beiden Seiten des ausrasierten Kinnes
kurz geschoren. Nie war das Unternehmen besser geleitet, der Gewinn
größer gewesen, als seit Deming an der Spitze stand. Geschäftsmann
durch und durch, von modernem Geist erfüllt, kühn und wagemutig, wußte
er günstige Marktlagen rasch zu packen, tatkräftig auszunützen und
hatte noch immer gegen die Vorsichtigen und Ängstlichen recht behalten.
Er war seit Jahren Witwer und hatte eine Tochter, das Fräulein Grete
Deming, eine dunkeläugige Schöne, die gertenschlank auf dem Kutschbock
saß und mit festen kleinen Händen ihren Traber lenkte. Umschwärmt und
begehrt, ging sie gleichgültig an dem Schwarm ihrer Bewunderer vorbei,
nicht warm, nicht kalt, ein wenig hochmütig, ein wenig herablassend
und sehr selbstbewußt. Sie war schön, war jung, das einzige Kind
ihres reichen Vaters und deshalb nahm man ihr nichts übel, fand
auch ihre Unarten reizend, und viele Mädchen der Stadt gingen mit
leicht vorgebeugtem Oberkörper und leise schaukelnden Hüften, trugen
Reitgerten und rauchten Zigaretten, ganz wie Grete Deming. Es gab eine
Grete-Deming-Frisur, ein Barett, einen fußfreien Rock, eine Tüllkrause
~à la~ Grete Deming. Aber keiner einzigen saß die runde Nerzmütze mit
dem Reiherstoß so fesch auf welligem Haar, fiel der glatte Rock auf
einen so tadellos fein geknöchelten Fuß, hob sich pfirsichfrisch und
rassig aus den weißen Tüllwogen ein so pikantes Gesicht -- wie eben dem
Fräulein Grete.

Pichler sah sie vorüberfahren, blickte ihr nach und stand wie gebannt.
Ein eigenes Gefühl drängte sich in sein Herz, weh und schmerzhaft,
als sei ihm ein Glück bestimmt gewesen, und er habe es leichtsinnig
selbst verscherzt. Unwürdig kam er sich vor und doch wieder wertvoll
genug, nach den höchsten Kränzen zu langen. Verheißende Möglichkeiten
blitzten in der Ferne, Ahnungen von Genüssen, um die er sich gebracht,
Sehnsucht nach einer geistreichen und glanzvollen Gesellschaft, von
der er sich freiwillig ausgeschlossen hatte. Fast reute ihn, daß er so
offen eine politische Gesinnung zur Schau gestellt hatte, statt in ein
Staatsämtchen zu schlüpfen oder einen anderen standesgemäßen Beruf zu
ergreifen. Und stärker und bestimmter kam ihm der Vorsatz, daß seine
jetzige Beschäftigung nur einen Übergang darstellen durfte, da weder
seiner Stellung als gebildeter Mensch, noch seinen Fähigkeiten der
ständige Verkehr mit den untersten Volksschichten angemessen sei. Und
so begann er denn seine Läuterung dort, wo ihm der Verkehr mit den
untersten Volksschichten dermalen am unangenehmsten geworden, bei Anna
Bogner. Er war sich selber für ein solches Verhältnis zu gut geworden.

Die Anna wartete geduldig noch eine Woche lang, dann aber faßte sie
sich ein Herz und ging zu ihm. Sie wollte Gewißheit haben, das Harren
und Bangen quälte gar zu sehr.

Zaghaft klopfte sie an, trat zaghaft ein. Da war gerade Karl
Pfannschmidt anwesend und beriet die Zusammenstellung der nächsten
Zeitungsnummer mit dem verantwortlichen Schriftleiter.

Verlegen sprang Pichler auf.

„Was bringen Sie mir denn Schönes, Fräulein?“ fragte er und bemühte
sich, seiner unsicheren Stimme einen geschäftsmäßigen Tonfall zu geben.

„Ich bring’ nichts,“ antwortete sie leise, „ich will mir was holen.“

„Ach ja richtig, das hatte ich ganz vergessen!“ erwiderte Otto und
schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Jetzt fällt’s mir
wieder ein! Bitte, wollen Sie hier eintreten!“ Er führte sie ins
Nebenzimmer. „Sie entschuldigen schon einen Augenblick!“ sagte er noch
zu Pfannschmidt.

Drinnen herrschte er das arme Ding mit scharfer Flüsterstimme an: „Was
soll das heißen, Anna? Was fällt dir ein, hieher zu kommen! Denk’ doch
an deinen Ruf!“

„Ich will mir was holen!“ murmelte das Mädchen.

Nun versuchte er es in einer anderen Tonart. „Ich konnte wirklich
nicht abkommen, Annl!“ sagte er mit biederer Herzlichkeit. „War mit
Geschäften überhäuft. Das geht manchmal nicht anders. Aber sobald ich
wieder Luft hab’ ...“

Sie schüttelte langsam den Kopf.

„Ich bin nicht deswegen da ...“

„Nicht deswegen?“

„Ich will mir nur was holen,“ sagte sie eintönig.

„Ja, aber was denn nur? So sag’s doch endlich!“

„Meine Ehre ...“

Ganz gleichgültig sprach sie das vor sich hin, mit rauher, brüchiger
Stimme und schaute mit toten Augen an ihm vorbei ins Leere.

Er wußte nichts zu erwidern, hob bedauernd die Hände und ließ sie auf
die Schenkel fallen.

„Aber Annl -- du hast mich doch lieb gehabt ...“

„Ja, ich hab’ dich lieb gehabt.“

„Und -- und ... es konnte doch nicht immer so fortgehn. Das hättest du
im voraus bedenken sollen.“

„Ja -- das hätte ich im voraus bedenken sollen ...“

Wie ein Automat sprach sie ihm die Worte nach.

„Annl, sei doch nicht so, ich bitte dich! Wir -- können deswegen ja gut
bleiben. Nur -- das wirst du einsehn, ich ... Herrgott, wenn nur der
Kerl nicht draußen wär’! Der paßt auf jedes Wort! -- Wir treffen uns
morgen, Annl! Um sechs Uhr! Da reden wir dann weiter. Wirst du kommen?“

„Ich werde schon nicht kommen. Was gibt’s auch noch zu reden? Das ist
nun einmal so, da nützt nichts mehr.“

„Annl!“

Noch immer schaute sie an ihm vorbei, mit derselben steinernen Ruhe.

„Nenn’ mich nicht mehr so. Ich nenn’ dich auch nicht mehr so. Ich denk’
mir nur -- so, wie du jetzt bist, das sollte doch anders sein. Es ist
nicht recht so. Nur, es wird wohl auch wieder besser werden -- oder --
die Welt hätt’ sonst kein Gewissen ...“

Mit schleppenden Schritten ging sie zur Tür, öffnete und schob sich
müde durch das vordere Zimmer an Pfannschmidt vorüber zum Ausgang. Dort
schlug Pichler noch einmal den Geschäftston an. „Also die Sache ist in
Ordnung, nicht wahr?“

„In Ordnung,“ sagte sie tonlos und bewegte die trockenen Lippen kaum.
Nun trat sie über die Schwelle, den Kopf steif oben, und in dem starren
Gesicht regten sich nicht einmal die Lider, um die weit offenen Augen
zu kühlen.

Als sie fort war, sagte Pichler mit gemachter Leichtigkeit: „Es war
mir so peinlich ... sie hat mir nämlich eine Novelette angeboten
für unser Blatt und sich jetzt Bescheid geholt. Ich mußte ablehnen.
Schriftlich wär’ das einfacher gegangen. Zu dumm! Jedes Frauenzimmer
will heutzutag’ schon schreiben!“

Pfannschmidt blätterte in den Manuskripten, die er vor sich
ausgebreitet hatte. Dann sagte er: „Also mit dem Leitartikel sind Herr
Doktor einverstanden? Was bringen wir denn unterm Strich?“

Otto biß sich auf die Lippe. Er fühlte, daß ihm hier die Ausrede nicht
geglaubt worden war. Aber er faßte sich schnell.

„Unterm Strich? Haben wir nicht irgendeine verliebte Geschichte lagern?
So was zieht immer!“


12.

Fritz, Heinz und Karus schlenderten mitsammen durch die Großstadt. Es
war ein schöner Vorfrühlingstag. Die Sonne glänzte am blauen Himmel,
hing durchsichtige Silberschleier vor die Fronten der Mietkasernen,
machte die Fiakerrosse fröhlich, und sogar den geplagten Pinzgauer
Hengsten vor den schweren Fuhrwerken verlieh sie ein gemütliches
Aussehen. Zwischen lautlos gleitenden Elektromobilen, Automobilen,
Karossen und Straßenbahnwagen bewegten sich rasselnde Streifwagen,
Handkarren, Radfahrer. Eisen klirrte, Pferde wieherten, Kutscher
schrien „Ooooohb!“, das klingelte, ratterte, stampfte, dröhnte, surrte,
tutete ohrenbetäubend durcheinander. Und auf den Gehsteigen wimmelten
die Menschen, Hut neben Hut und Ellbogen bei Ellbogen, vereinigten
sie sich rechts und links der Straßenzeile zu je einem ununterbrochen
flutenden schwärzlichen Strom, der langsam wogte, still stand und
wieder vorwärtsdrängte. Es sah aus, als würde hier das Blut der Stadt
durch die Stöße eines unsichtbaren Herzens im Kreislauf erhalten. Nur
vor den Kirchen schien es zu stocken. Die Kirchentüren waren offen,
fremd leuchteten die gelben Kerzenflammen aus den dämmrigen Schiffen
in die lärmende Nüchternheit des Tages. Viele der Vorübergehenden
zogen die Hüte, bekreuzigten sich oder beugten wohl auch die Knie. Mit
einem Pack Federbetten kam ein molliges Frauchen vorbei. Während des
langen Faschings war im Haushalt das Geld knapp geworden. Aber heute
abends war ein Bürgerball. Und die Kirchenpforten waren der Schönen
nicht umsonst aufgetan. Rasch trat sie ein, legte ihr Bündel auf die
Steinfließen, kniete darauf und sprach andächtig ein Vaterunser. Dann
setzte sie gestärkt ihren Weg zum Versatzamt fort.

Mit schlurfenden Schritten schob sich ein Bettler die Häuser entlang.
In der Hand hielt er einen irdenen Topf mit schmutziggrauem Reisbrei,
wie man ihn den Jagdhunden zum Fressen gibt. Den mochte ihm eine
gutherzige Köchin geschenkt haben, und der Alte schaute mit verzückten
Augen und wässerndem Mund auf seinen Schatz. Da war Karus blitzschnell,
mit einem Satz, bei ihm und schlug den Scherben aus der zittrigen Hand:
„Betteln, Schlappschwanz? Da! Jetzt friß!“

Der Mann winselte und bückte sich jammernd nach den Scherben. Fritz
packte Karus am Arm: „Was heißt das?“ Und der gleichmütig darauf: „Sie
sehen’s ja!“

Leute sammelten sich. Fritz zog die Börse. „Geben Sie ihm nichts!“
knurrte Karus. Hellwig schob ihn beiseite, drückte eine Münze in die
verlangend aufgehobene Hand, schritt schnell davon.

„Wie konnten Sie das tun?“ sagte er. „Das war grausam!“

„Ach was, grausam!“ rief Karus zornig. „Verdient so einer was Besseres?
He? -- Verflucht, daß doch die Kerle mit Bettelsuppen und Küchenabfall
zufrieden sind! Daß sie nicht fordern, was ihnen vorenthalten wird! Daß
sie nicht wenigstens rauben und stehlen! Aber da stehen sie blödsinnig
neben brechenden Tischen, verrecken vor Hunger und wagen nicht
dreinzuhauen. Mit einem rechtschaffenen Knüttel oder meinethalben mit
Pulver und Bomben! Pfui Schande und Feigheit!“

Heinz aber sah unterdessen nach einem hageren Menschen, der vor
ihnen hertaumelte, manchmal stehn blieb, sich an die Stirn griff,
umherschaute, weitertorkelte und endlich hinfiel. Im Nu war eine
johlende Menge um ihn. Heinz aber sagte ganz aufgeregt zu den Freunden:
„Schaut euch die Augen an! So blickt kein Betrunkener!“, lief hin und
beugte sich über den Gefallenen. Die Umstehenden lachten und spotteten:
„Seht den Lumpen! Schon am hellen Vormittag hat er einen Rausch!“

„Nein!“ sagte Heinz laut und hart. „Der hat keinen Rausch, der hat
Hunger! Und da lacht ihr und spottet noch!“

Und er faßte den Liegenden: „Komm, mein lieber Bruder!“ und half ihm
auf die Füße. Sie nahmen ihn in die Mitte, stützten ihn sorgsam und
führten ihn aus dem Gedränge. Vor einem gut bürgerlichen Gasthaus
machte Wart halt.

„Heinz, das ist ein Unsinn!“ sagte Hellwig und suchte ihn
zurückzuhalten. Doch der wehrte sanft ab: „Laß mich nur, Fritz, ich bin
dem Menschentum Genugtuung schuldig in diesem hier!“ Und er öffnete die
Tür.

An den runden Tischen saß ein zahlreiches Publikum beim Frühschoppen.
Alle Augen richteten sich auf die Ankömmlinge. Es war aber auch ein
ungewöhnlicher Aufzug. Heinz im englischen Überzieher, den rassigen
Kopf mit den langen schwarzen Haaren hoch aufgereckt, Karus, wie immer,
mit zerknittertem Hemd und tranigen Stiefeln, zwischen beiden der
dürre Mensch, von oben bis unten mit Straßenkot besudelt, endlich der
breitschultrige Hellwig mit Radmantel und Schlapphut. Der Oberkellner
kam gelaufen und fragte, ob sich die Herrschaften nicht geirrt hätten.
Die Schenkstube sei rückwärts im Hof. Da sagte Heinz: „Nein, wir haben
uns nicht geirrt, aber Sie scheinen sich in uns zu irren. Dieser
schmutzige Mensch hier ist mein Bruder. Die Speisekarte, bitte!“

„Bitte sehr, bitte gleich!“ antwortete der Befrackte und wußte nicht
recht, wie er sich verhalten sollte. Wart und Hellwig kannte er. Aber
die zwei andern schienen doch nicht so ganz in das feine Lokal zu
passen. Da jedoch die andern Gäste nicht beleidigt taten, glaubte er es
wagen zu können und winkte dem Speisenträger. Heinz bestellte Fasan mit
Trüffeln und Moselwein. Das imponierte. Die Gäste aber hielten ihn und
Fritz für zwei reiche Müßiggänger, Hetzbrüder oder Hausherrnsöhnchen,
die nach einer durchzechten Nacht einen Ulk ausführten. Deshalb
lächelten sie gönnerhaft oder blinzelten nachsichtig und wohlwollend zu
ihnen hinüber.

„Seht sie euch an!“ sagte Karus halblaut. „Seht doch, wie sie dasitzen,
die Herren Hofräte und Hausbesitzer und Großkaufleute! Und wie sie
nicht zu begreifen vermögen, daß jemandem so eine Tat Bedürfnis sein
kann. Oh, wie gut sie unsern Heinz zu verstehen glauben. Wie gut
sie wissen, daß er, auch nicht anders als sie in ihrer Jugend, aus
Langweile und Übermut mit der Armut seinen Spaß treibt! Wie sie das
verstehen, entschuldigen, verzeihen! Wüßten sie, daß es ihm ernst damit
ist, sie ließen uns alle vier hinauswerfen!“

Unterdessen brachte man auf einer silbernen Platte den Fasan, goldbraun
gebraten und würzig duftend. Und der hungrige Mensch griff gierig
nach einem Schenkel, aß und sprach, nachdem er alles gegessen: „Mich
hungert, gebt mir Wurst!“ Den Wein aber schob er weit von sich: „Ich
trink’ nur Bier!“

Die Gäste sahen das, lächelten und dachten sich: „So ein Esel!“

Heinz aber stand auf: „Komm, mein lieber Bruder!“

Und sie gingen in die Schenkstube. Dort aß der ausgehungerte Mensch
fünf Knackwürste, trank einen Liter Bier dazu, wurde fröhlich und
bedankte sich. Die umhersitzenden Kutscher aber, die Dienstmänner und
Laufburschen zeigten auf ihn und meinten: „Seht den Glückspilz an, er
hat heut’ Ostern, Pfingsten und Weihnachten!“

Heinz drängte jetzt zum Aufbruch. Sie überließen den Gesättigten seinem
Schicksal und machten sich auf den Heimweg. Keiner sprach. Karus ging
Arm in Arm mit Wart. Fritz schlenderte nebenher und dachte allerlei.
Wohinaus wollten die zwei? Er sah noch immer nicht klar, erkannte nur,
daß sie in ganz anderen Gleisen gingen als er selbst und daß er ihnen
dorthin nicht zu folgen vermochte.

Jetzt waren sie bei Karus’ Wohnung angelangt. Oben warfen sie ihre
Überkleider auf das Bett, setzten sich, rauchten und schwiegen eine
geraume Weile. Endlich sagte Fritz aus seinem Sinnen heraus: „Heinz, du
gehst in die Irre! Man füttert solche Leute nicht mit Fasanen!“

„Wissen wir auch!“ sagte Karus.

„So? Und trotzdem ...“

„Jawohl, trotzdem und gerade deswegen! Unzufrieden muß man sie machen!
Ihnen die guten Dinge vorrücken, die es auf der Welt gibt und von denen
sie keine Ahnung haben. Dann werden sie lüstern. Und das stachelt sie
auf wie die Bremse den Stier!“

„Nun und?“

„Nun und dann sind sie eben reif für unsere Gilde.“

„Euere Gilde? Gehören dazu jene, die lieber im Straßengraben verrecken,
weil sie frei sein wollen?“

„Und ob die dazu gehören! Unsere braven Jungen, die lieber verhungern,
eh’ sie sich was schenken lassen. Lieber stehlen, eh’ sie betteln. Weil
...“ -- ein spöttisches Lächeln verkroch sich in Karus’ verwildertem
Bart -- „weil ihr bestes Recht ist, daß sie satt zu essen haben. Und
weil sie sich zu keinem Ausgleich hergeben. Ihr Recht wollen sie,
Bergprediger! Und gibt man’s ihnen nicht, so nehmen sie sich’s --
wenn’s not tut mit Gewalt!“

Hellwig achtete nicht auf den Spott und sagte kalt: „Mit dem Argument
der Fäuste wird nichts zu holen sein! Klärt lieber die Menschen auf!
Und fangt nicht unten damit an, sondern oben, bei denen, die jetzt die
Macht haben!“

Da stieß Karus einen Laut aus, halb Lachen, halb Grunzen.
„Bergprediger!“ rief er. „Bergprediger, das ist ein weiter Weg! So
weit, daß die Erde nicht mehr warm ist, bis er zu Ende gegangen ist.
Nein, da lob’ ich mir schon die Kürze des Eisens. Die soziale Frage --
lösen? Hm, sie ist wie der gordische Knoten. Man löst ihn nicht, mit
dem Schwert muß man ihn zerhauen!“

Während er so sprach, ging er zum Schrank, nahm ein kurzes Handbeil
heraus und warf es auf den Tisch: „Da liegt der beste Helfer! Schau’n
Sie sich das Ding gut an. Es hat Tyrannenblut geleckt! Deshalb blinkt
und lacht’s auch so fröhlich. Hei, das war ein Fest! Freilich ihr --
ihr habt Fischblut in den Adern und könnt euch nicht vorstellen, was
das heißt: ein Aufstand in Havanna. Damals war’s, daß der Gouverneur
-- der Hund ließ unter die Rebellen schießen! -- mit dieser Hacke ein
Verhältnis einging. So ein richtiges treues Verhältnis, das nur der Tod
trennen kann. Hat er auch getan, schnell und sicher! -- Und seither
nehm’ ich das Hämmerchen überall mit hin. Vielleicht könnt’ ich’s noch
einmal brauchen. Gelt, du?“

Liebkosend strich er über die blanke Schneide.

Hellwig hatte sich erhoben, tiefen Ernst im Antlitz.

„Dessen rühmen Sie sich noch? Vielleicht wollen Sie gar prahlen mit dem
nutzlosen Blutvergießen? Das ist abscheulich roh!“

Nun kam Leben in Heinz. „Nutzlos, Fritz? Nutzlos? O ganz und gar nicht!
Sie sind ja reif für das große Sterben! Weil sie den Keim der Fäulnis
in sich tragen! Wir brauchen heile, gesunde Menschen, kampffrohe,
sieghafte! Und weil wir sie brauchen, müssen wir ihnen den Boden
bereiten und Platz schaffen durch den Untergang der Kranken!

Wenn wir allen nur erst den Glauben eingeimpft hätten, den Glauben
an die selbsttätige Befreiung, an die Befreiung durch die Tat! Aber
solang sie sich nur immer gütlich tun an der Sonne der Erkenntnis, so
lang werden sie nicht an den lachenden Sturm glauben lernen, der die
Sonne überwindet. Die milde weiße Sonne ist gut für kleine Mädchen
und für Greise, wir aber wollen das Brausen des Sturms, den Kampf der
Wogen, das Entstehen neuer Länder und Meere aus dem Zusammenbruch der
alten. Ewiges Sonnenlicht trocknet das Gebein und dörrt das Blut in
den Adern, das Mark in den Knochen. Ewiges Müßiggehen mit Lobgesängen
des Friedens auf den Lippen und mit dem beginnenden Verfall im Herzen
macht ungeeignet zum Kämpfen. Wir aber sollen immer bereit sein zum
großen Kampf und die Kraft nicht zersplittern in kleinen Plänkeleien,
nutzlosen Scharmützeln um Tugend, Moral und um die toten und sterbenden
Götter!

Viel zu lang haben wir Sonne gehabt, so sind wir faul und lässig
geworden. Fechten nur noch mit den spitzigen Dolchen der Worte und
den dünnen Stoßdegen des Geistes. Aber unsere Arme können das breite
Schlachtschwert nicht mehr heben. Und durch den steten Frieden sind wir
geworden wie ein stehendes Wasser ohne Zufluß und ohne Abfluß. Auf dem
unbewegten Spiegel blühn die weißen Wasserrosen, aber im schlammigen
Grund schlafen die Keime der Fäulnis. Und so die Keime aufwuchern,
werden wir sein wie ein großer Sumpf, ein Herd aller Krankheiten und
bösen Dünste.

Darum wollen wir, die wir dies erkennen, wie gute Ärzte an der
Menschheit handeln: zum Heile der Gesunden wollen wir die Morschen und
Siechen, die Bresthaften und Verderbten ausrotten!“

„Und was dann?“ rief Hellwig außer sich. „Heinz, was dann? Wenn der
Aufruhr durch die Länder jagt, über Verwundete und Tote weg, wenn der
alte Gesellschaftsbau zerschmettert liegt -- was dann? Wie willst du es
besser machen? Was willst du an die Stelle des Zertrümmerten setzen?
Etwas Großes und Herrliches müßte es sein -- und könnte die Opfer doch
nicht aufwiegen!“

Und kalt und ruhig erwiderte Heinz: „Du fragst verfrüht, und darauf
kann ich dir nur antworten: Ich weiß es nicht!“

„O du! du! So weit bist du schon? -- Du weißt es nicht? Und willst
doch das Oberste zu unterst kehren, Thron und Reiche stürzen, willst,
daß das Chaos hereinbricht -- und dann -- dann stehst du da, ratlos,
tatlos, tappst umher, versuchst, experimentierst -- bis du endlich dem
betörten Volk gestehen mußt: Ich kann euch nichts Besseres geben! Frei
hab’ ich euch gemacht, nun helft euch, wie ihr könnt! Schöne Freiheit
das! Mit dem Blute Hunderttausender erkauft -- und weiß dann nichts mit
sich anzufangen! Arzt sein nennst du das? Ich nenne es morden!“

Mit einem Fluch sprang Karus da auf. In jähem Zorn wollte er auf
den Beleidiger los. Aber Heinz trat dazwischen und sagte mit
tiefklingender, bewegter Stimme, die Fritz in allen Fibern erschauern
machte:

„Einen Golddom wollen wir der Freiheit aufführen, denn Nietzsche hat
recht: das Herz der Menschheit ist von Gold! Aber viel Schlacke hat
die Zeit daran abgesetzt. Die müssen wir erst lösen. Im Feuer der
Empörung, in der Glut des Aufruhrs wollen wir die Menschheit läutern,
alle Unreinheit muß verschwinden, nichts als das blanke Edelmetall
darf übrigbleiben. -- Und bist du einmal so weit, dann greif hinein
mit beiden Händen, knete, forme, bilde, baue -- mach’ es dann, wie du
willst: immer wird ein lauteres Goldwerk sein, was unter deinen Händen
ersteht! Darum ist es besser, alles, was krank ist, falle mit einem
Mal, als daß es sich fortschleppe von den Kindern zu den Kindeskindern
und zur ewigen Pein und Pestbeule werde für die Gesunden!“

Fritz stand da und hielt die geballten Fäuste vor, als wollte er diese
furchtbare Auffassung von sich stoßen.

„Heinz!“ sagte er mühsam, unter starken Atemzügen. „Heinz, du willst
die Krankheit deiner Brüder heilen -- und bist selbst einer von den
Kränksten. Widersprich mir nur nicht, es ist so! Das ist ja doch auch
ein Zeichen der Krankheit, daß sie sich selbst nicht erkennt: so glaubt
der Schwindsüchtige bis zum letzten Hauch an seine Gesundheit. Wer denn
gibt dir ein Recht über die andern? Du kannst das Leben nicht schaffen
-- so darfst du es auch nicht vernichten ...“

Karus unterbrach ihn mit gemachter Roheit: „Predigen Sie nicht,
Bergprediger, uns stimmen Sie nicht um! Und Sie werden selbst auch
anders reden, wenn Sie nur erst einmal Blut gesehen haben. An nichts
gewöhnt man sich schneller als ans Aderlassen. An das aktive, mein’ ich
nämlich! Versuchen Sie’s nur einmal!“

Da stürzte Hellwig auf Wart zu, der reglos beim Fenster saß, die Hände
vor dem Gesicht. „Heinz!“ rief er in heißer Wallung, und packte ihn an
den Schultern und rüttelte ihn. „Heinz, ich bitte dich -- um unserer
Freundschaft willen bitte ich dich, mach’ dich von dem da frei!“

Heinz rührte sich nicht. Eine ganze Weile stand Fritz noch bei ihm und
wartete. Dann wandte er sich traurig, schritt langsam aus der Stube,
mit feuchten Augen.

„Der Friedensengel verläßt uns! Jetzt _muß_ Krieg werden!“ rief ihm
Karus lachend nach.


13.

Im lachenden Sommer starb die Marie. Ein heftiger Blutsturz, ein kurzes
Krankenlager, ein allmähliches Auslöschen -- langsam, unerbittlich und
unabwendbar. Ganz klar war es ihr, daß sie sterben mußte. Lächelnd
sprach sie davon und tröstete lächelnd den Geliebten. Aber dann, als
die Stunde kam, da klammerte sie sich an ihn und krallte die Nägel in
seinen Rock, und in ihren Augen war Angst und Grauen und Verzweiflung.

„So hilf mir doch, du!“

Aber er konnte ihr nicht helfen, er konnte sie nur halten und hielt sie
doch nicht fest, fühlte, während er ihren zitternden Körper mit beiden
Armen enger und enger umschloß, wie sie ihm entglitt und wie ihr Leben
wegfloß gleich einer Welle unter greifenden Kinderhänden. Und sein
Herz mochte noch so wild an ihre Brust pochen, das ihre fand den Takt
nicht mehr, und endlich stand es ganz still. Und stand gerade in dem
Augenblick still, als der Wille und Drang zum Leben in ihm am stärksten
wurde. Als er die Tote ganz dicht an sich preßte in dem ungestümen
Wunsch, daß seine ungebrochene Lebenskraft in den erkaltenden Leib
hinüberströme und für sie beide Arbeit tue. Aber Marie war tot.

Nach zwei Tagen begrub er sie. Und als der Leichenwagen zum Friedhof
kam, -- im schnellen Trab, denn der Weg war weit, -- da erwarteten
ihn dort die Ausgestoßenen, die Enterbten, die Parias, viele, viele
hunderte zerlumpte und verkommene Gestalten. Und als der Sarg im
offenen Grabe stand, da schritten sie, die Ausgestoßenen, die
Enterbten, die Parias, einer hinter dem andern an der kühlen Grube
vorbei. Und jeder hatte eine Handvoll roter Alpenrosen mitgebracht
und warf sie in die kühle Grube. Der Sarg verschwand unter den
glühend freudigen Blüten, die Grube füllte sich -- und als der letzte
vorübergezogen, da lag die tote Marie unter einem leuchtenden Hügel
von roten flammenden Alpenrosen, die letzte Gabe der Berge, die die
Tote so sehr geliebt. Das war der Dank der Obdachlosen, der Bettler,
Lumpensammler und Kanalstrotter für das bißchen Liebe, die ihnen Heinz
Wart gezeigt. Und er wußte nicht, daß Karus ihnen die Idee eingegeben
hatte. --

Wenige Tage nach dem Begräbnis erhielt Fritz von dem Freund einen Brief:

‚Ich gehe nach Rußland. Forsche nicht nach mir. Es muß so sein.‘

Nichts weiter stand auf dem Blatt. Aber Hellwig war für Wochen aus
allen Gleisen.

Von Osten herüber glühten blutrot die Brände des Aufruhrs. Eine
Verfassung forderte das Volk, Freiheit und Glück -- oder das Grab.
Die Antwort war Pulver und Blei, waren Pferdehufe, Gewehrkolben und
Nagaiken.

Und Heinz eilte mit Karus dorthin, Heinz, der unpraktische Schwärmer,
der stille Büchermensch, der weder schlaue Seitenwege gebrauchen
konnte noch geschickte Rückendeckung, und Fritz wußte, er ging in den
Tod. Nicht suchen wollte er den Tod. Denn mit der Marie war ihm ja
nicht alles gestorben. Die Liebe zu den Entrechteten und Zertretenen
war ihm geblieben und war jetzt nur desto heißer geworden. Nicht ans
Sterben dachte er. Mithelfen wollte er, mithelfen und mitstreiten,
allen Gefahren trotzend, in frommer Begeisterung dort mithelfen und
mitstreiten, wo ihm sein Ziel am hellsten und am nächsten leuchtete.

Und Hellwig machte sich Vorwürfe, daß er den Freund nicht besser
behütet hatte. Wieder wollte eine böse Krisis über ihn kommen. Aber die
Ereignisse, die jetzt, lang vorbereitet, Schlag auf Schlag einander
folgten, rissen ihn mit in ihren wirbelnden Strudel und ließen ihm
vorerst keine Zeit zur Grübelei.

Als jenseit der Nordostgrenzen des Reiches die Rebellion in vollem
Wüten war, da hielten die Sozialisten die Gelegenheit für günstig und
holten im Kampf für das allgemeine Wahlrecht zu wuchtigen Schlägen aus.

Und da geschah es auch, daß die Teilnehmer einer Versammlung, in
der August Mark, ein stimmgewaltiger Agitator, die Masseninstinkte
aufgewühlt hatte, vor das Palais des Ministerpräsidenten ziehen und
demonstrieren wollten. Sicherheitswache zu Fuß und zu Pferd versperrte
ihnen den Weg. Hellwig, von dem Vorhaben der Menge telephonisch
benachrichtigt, eilte aus der nahen Schriftleitung rasch herbei. Es war
höchste Zeit. Schon waren die Säbel aus der Scheide geflogen, fielen
die flachen Klingen auf Köpfe, Schultern und Arme. Schreiend wichen die
vorderen Reihen, die rückwärtigen, weniger gefährdeten, drängten nach
vorn, ein dampfender Knäuel, stießen sie sich, johlten und brüllten.
Und schon auch hoben sich geballte Fäuste, schlugen Stöcke, prasselten
Steine gegen die Polizei. Da drehten sich die Klingen, aus den flachen
Hieben wurden scharfe, Schmerzensschreie gellten, Blutende wankten
gegen die Häuser, fielen aufs Pflaster hin.

„Einhalten!“ rief Hellwig mit voller Lungenkraft und schob sich durch
das Getümmel. „Einhalten!“

Er packte den Arm eines berittenen Schutzmanns. Das Pferd wurde unruhig
und bäumte sich. Doch er hielt fest. „Nicht morden!“ preßte er zwischen
den Zähnen hervor. Seine Linke griff nach dem Bein des Reiters, im
Handumdrehen lag dieser zappelnd auf dem Boden.

Da fielen aber auch schon drei -- sechs -- zehn Wachleute über Hellwig
her, griffen nach seinen Armen, zerrten ihn am Rock, stießen ihn von
allen Seiten. Und einer packte ihn im Genick und schrie: „Im Namen des
Gesetzes! Sie sind verhaftet!“

Als das die Leute hörten und als sie sahen, wie hart einem ihrer besten
Führer mitgespielt wurde, flammte die durch den kurzen Raufhandel
angefachte Leidenschaft turmhoch empor. Ein Wald von starren, im Sturm
zitternden Ruten, hoben sich Hunderte von Stöcken über die dunkle Masse
der Hüte und Schultern, ein kurzer wilder Aufschrei krachte gegen die
nachtdunkle Himmelskuppel. Dann war der Kordon durchbrochen, Brust an
Brust, Faust gegen Faust rangen sie mit den Hütern der Ordnung um ihr
vermeintliches Recht.

Los und ledig stand Hellwig mitten im heißesten Gewühl. Und schämte
sich. Schämte sich, daß er sich hatte hinreißen lassen, daß er, der
gekommen war, die Menge zu beruhigen, ohne Überlegung selbst als der
tollste Stürmer losgebrochen war. Und eine Weile stand er ganz untätig,
mit schlaff hängenden Armen. Aber als ihm ein Verwegener frohlockend
entgegenrief: „Drauf! Drauf! Heut’ zwingen wir sie!“, da richtete er
sich straff auf.

„Halt!“ schrie er, und seine Stimme war wie klingender Stahl. „Halt!“

Und als sie stutzten und einander zur Ruhe verwiesen in der Erwartung
einer Rede, da schob sich die Wache, durch Hilfstruppen verstärkt,
rasch in das Gewimmel. Die aufgeregte Menge wollte es nicht leiden --
drängte abermals vor -- doch Hellwig rief mit beschwörend erhobenen
Händen: „Leute, ich bitt’ euch, bleibt besonnen! Zeigt, daß ihr ernste
Männer, daß ihr reif für das Wahlrecht seid! Geht ruhig nach Haus!“

Noch zögerten sie. Da stimmte er das Lied der Arbeit an. Und mit
einemmal wichen sie zurück und ihre Gesichter wurden ernst und
feierlich -- und einer nach dem andern stimmte ein, bis es aus tausend
Kehlen dröhnend klang: „Die Arbeit hoch!“ Und alle ihre erhitzte
Leidenschaft strömte aus in dem Lied -- und willig folgten sie, immer
singend, den Anordnungen der Wachleute, die langsam, Schritt für
Schritt vorrückend, die Straße absperrten. --

Ein paar Tage darauf wurde Hellwig vor den Untersuchungsrichter
geladen. Er war der Aufreizung und öffentlichen Gewalttätigkeit
angeklagt. Das Urteil lautete auf zehn Monate Kerker.


14.

In St. Petersburg. Langsam fährt die Prunkkalesche des
Ministerpräsidenten durch die Straßen. Kosaken begleiten sie, bis an
die Zähne bewaffnet. In einer düsteren Seitengasse harren zwei Männer.
Der eine ist blaß und schlank, seidiges Schwarzhaar fällt ihm bis auf
die Schultern. Dem andern steht das blaue Hemd vor der Brust offen.

Langsam rollt die Kutsche heran.

Da hebt der im blauen Hemd den Arm. Ein länglicher Körper schwirrt
durch die Luft, schlägt auf dem Pflaster hart auf. Ein dumpfes Gekrach.
Rauchwolken. Schmerzensschreie. Tumult. Die Pferde bäumen sich, rasen
die leer gewordene Straße hinab. Sie ziehen keinen Wagen mehr. Die
Trümmer des Wagens sind in alle Winde verstreut.

Ein Bombenattentat. Der Ministerpräsident ist tot. Viele seiner
Gehilfen liegen im Blut. Von den Tätern fehlt jede Spur.

              *               *
                      *

In Moskau. Der Chef der Polizei lustwandelt in seinem großen Garten.
Es ist ein schöner Tag. Die Bäume sind grün, die Vögel singen. Der
Polizeichef lächelt. Die Stadt ist ruhig, der Aufstand vorüber. Ein
paar Dutzend sind aufgeknüpft, ein paar Salven haben das Volk zur guten
Gesinnung zurückgebracht. Die Gefängnisse sind überfüllt. Aber die
Stadt ist ruhig. Der Polizeichef hat alle Ursache, zufrieden zu sein.

Ein schlanker Mann in der Uniform eines Polizeileutnants kommt rasch
den Kiesweg herauf. Er ist blaß und hat langes schwarzes Haar. In
strammer Haltung steht er vor dem Gewaltigen, die Hand am Mützenschirm.

„Was gibt’s?“ fragt dieser.

„Das hier!“

Schnell fährt die Rechte zwischen die Knöpfe des Waffenrocks. Ein Schuß
verhallt im Park. Ein paar Vögel flattern erschreckt auf. Die andern
singen weiter.

Der blasse Mensch verläßt ruhig den Garten. Niemand hält ihn auf. Er
kommt vom Rapport.

              *               *
                      *

In Odessa. Auf dem Dachboden eines Hauses kauert ein Mann in gespannter
Erwartung. Er ist von untersetzter Gestalt, hat einen verwilderten
Bart und tranige Stiefel. In der Rechten hält er ein doppelläufiges
Gewehr. Starr äugt er durch die Dachluke hinab in den Gefängnishof
jenseit der Straße, der von niedrigeren alten Gebäuden umschlossen ist.
Der Gefängnishof ist nicht leer. Ein Galgen ragt dort in die stille
Morgenluft. Der Henker macht die Schlinge zurecht. Es schlägt sechs
Uhr. Trommelwirbel grollt auf. Die Tür in den Hof öffnet sich. Der
Verurteilte wird herausgeführt. Er ist schlank und blaß, das Haar ist
abgeschoren, der Hals entblößt.

Einen Augenblick arbeitet es heftig im Gesicht des Wartenden. Ein
kurzes Schluchzen erschüttert ihn. Aber er beißt die Zähne in die
Unterlippe, hebt die Flinte. Sein Arm zittert. Nur einige Sekunden.
Dann ist er ganz ruhig.

Die erste Kugel bewahrt den Freund vor einem schimpflichen Tod. Die
zweite gilt dem Leiter der Hinrichtung. Auch sie geht nicht fehl.

Unten entsteht eine Panik. „Man hat geschossen! Die Juden haben
geschossen!“ schreit einer. Und das ist das Signal zum Gemetzel.

Wie losgelassene Bestien stürmen die Kosaken in die Häuser, erschlagen
die Männer, hauen die Kinder in Stücke, vergewaltigen die jungen
Judenweiber. Ein Pogrom.

Der Mann auf dem Dachboden hat sich durch die Luke gezwängt, flieht
über mehrere Dächer, entkommt unbehelligt.

Vor der Stadt, in einem Dickicht, sitzt er, hat das Gesicht in die
Hände vergraben, weint, stöhnt und winselt. Es ist Nacht geworden. Da
erhebt er sich und trottet mit tief hängendem Kopf durch die weiten,
öden Steppenflächen gegen Norden. Unter dem Lodenrock klirrt manchmal
ganz leise ein Beil gegen die Gürtelschnalle.


15.

Im Gefängnis erfuhr Fritz den Tod seines Freundes Heinz Wart. Die
näheren Umstände blieben ihm unbekannt. Die wußten nur jene, die dabei
gewesen. Und die verrieten nichts.

Trotzdem er das tragische Geschick des Freundes vorausgesehen, brachte
es ihn jetzt, da es sich erfüllt hatte, doch um allen Lebensmut.

Zwischen den grauen Wänden der Kerkerzelle saß er reglos auf der
Pritsche, die Ellbogen auf die Schenkel gelegt, und starrte in den
schmutzigen Bretterboden. Schaben krochen ihm über die Füße, eine
Maus steckte den spitzigen Kopf aus ihrem Loch und piepte. Er achtete
nicht darauf, rührte sich nicht und hob auch nicht die Stirn, wenn
der Aufseher den Schieber vom vergitterten Guckloch zurückschob und
den schweigsamen Häftling mit kritischen Blicken beobachtete. Und in
den Nächten lag er schlaflos, stierte mit brennenden Augen in die
Finsternis, fühlte, wie die Einsamkeit ihn würgte. So trieb er es
wochenlang, ließ die Tage vorübergehen und zählte sie nicht, wußte
nicht die Stunden, die da neben ihm wegtropften, wußte nicht, ob die
Sonne schien, ob Regen fiel oder Schnee über der Erde lag und die
Zeit war wie eine große grenzenlose Wüste. Kolben kam und wollte
mit ihm sprechen. Er weigerte die Unterredung, antwortete auch dem
Kerkermeister nicht, aß kaum das Notwendigste, dachte an nichts und
empfand weder Schmerz noch Sehnsucht -- nur Leere, entsetzliche Leere.
So lebte er hin, und es war eigentlich nicht Leben, war nur ein
triebhaftes Hinvegetieren in einer halben Betäubung.

Allmählich aber, im Wandern der Monate, unter dem Einwirken der Stille,
der klingenden Ruhe um ihn her, löste sich doch endlich die starre
Spannung. Die Stumpfheit wich. Unablässig bohrend, heftig und heftiger
setzte das quälende Gedenken wieder ein, daß der Freund gestorben und
daß dieses Sterben zwecklos gewesen sei.

Wie konnte das möglich werden? Wo lag die Ursache dieser stets
wiederkehrenden Erscheinung, daß Tausende und Tausende immer aufs
neue ihr Leben in die Schanze schlagen mußten im unstillbaren Drang,
den Millionen zu helfen, die von wenigen Machthabern kaltblütig und
grausam niedergehalten wurden? Drüben in Rußland bluteten die Massen,
wurden von Soldatenhorden niedergeritten, gefoltert, zusammengehauen,
reihenweise erschossen. Hüben jubelten sie dem errungenen Wahlrecht
zu, priesen sich glücklich, jauchzten im Siegestaumel. Hier wie dort
hing die Erfüllung ihres Wunsches an einem Federzug des Herrschers.
Und der eine verweigerte ebenso kalt und starr, was der andere gütig
gewährte. Wo war das Recht? Nach welcher Formel konnte die Willkür des
einen gerechtfertigt und die Gnade des andern auf eine gesetzmäßige
Grundlage gebracht werden? Durfte es überhaupt Willkür und Gnade geben?
Wo war Sinn und Logik in diesem Widerstreit? Und wer trug die Schuld,
daß Männer wie Karus nicht nur möglich waren, sondern im Recht? Zum
mindesten so weit im Recht, daß sie so gut wie er und andere als
Bekämpfer einer Krankheit auftreten und _ihre_ Mittel als die einzig
sicheren rühmen konnten? Wo lag überhaupt der Herd dieser Krankheit?
Woher das Elend, die Armut, die ewige Unzufriedenheit? Und mußte denn
das immer und ewig so bleiben?

Die Lehren Proudhons kamen ihm in den Sinn, die Versuche Robert Owens,
und trotz ihres Mißlingens glaubte er hier eine Spur zu finden.

Wenn man den Kommunismus mit der bestehenden Ordnung verknüpfen könnte
... Etwa so, daß je ein Unternehmen allen dabei Beschäftigten gemeinsam
gehörte, die Gewinnanteile aber verschieden wären je nach dem Maß der
Arbeitsleistung ...

Immer tiefer wühlte er sich in diese Gedanken hinein. Und je mehr er
grübelte, desto möglicher und erreichbarer schien ihm eine solche
Lösung. Heller wurde die Fernsicht, näher rückte das Ziel. Und endlich
stand es vor ihm, zum Greifen nah, in scharfer Klarheit. So mußte es
gehen. Und da überkam es ihn mit schöner Zuversicht: Sprich es aus,
sag’ es getrost aller Welt! Sie müssen dich hören.

Ein wunderbares Kraftgefühl durchströmte ihn. Lebendig pochten alle
Pulse, alle Gedanken drängten sich und schossen zusammen wie Kristalle
in einer übersättigten Lösung. Und während Woche um Woche verrann,
Monat an Monat sich reihte, arbeitete in der kahlen Kerkerzelle rastlos
sein Geist, trug Block zu Block und Stein zu Stein. Lückenlos fügte
sich alles, wurde groß und wuchs empor zu einem gewaltigen Bau, der ein
Totenmal werden sollte für den Freund und eine Vorhalle zum künftigen
Tempel der neuen Werte.



Viertes Buch


1.

Während Hellwig im Gefängnis saß, war das allgemeine Wahlrecht Gesetz
geworden. Otto Pichler erntete wiederum, wo Fritz die Aussaat besorgt
hatte. Er wurde im Wahlbezirk der Bergleute zum Abgeordneten gewählt.
Mühelos wie alles war ihm auch das geglückt. Trotzdem er bisher
weder in einer ernsten Lage sich bewährt, noch auf besondere Erfolge
hinzuweisen hatte, vertrauten sie ihm, da sie sich daran gewöhnt
hatten, dem Nachfolger als Verdienst anzurechnen, was der Vorgänger
erkämpfte: den ruhigen Verlauf der Zeit in Zufriedenheit und Ordnung
bei reichlicherem Erwerb und kürzerer Arbeitsdauer.

So kam Otto in die Hauptstadt, hielt eine Jungfernrede voll
geistreicher Wendungen und glänzender Nichtigkeiten, sprach dann noch
ein paarmal bei wichtigen Anlässen und befragte die Minister, so oft
es seine Wähler verlangten. Damit glaubte er fürs erste genug getan
zu haben und machte sich nun daran, das Leben auch einmal mit einem
Geldbeutel zu genießen, den die Bezüge angenehm schwellten.

Bei den Kabaretten und Wintergärten fing er an, gewann hier Fühlung
mit Kunstbeflissenen, die dekadent und kraftlos ihre Ohnmacht hinter
Stimmungen zu verbergen und ihre Unfruchtbarkeit durch Anregungen
zu heilen suchten. Diese Leute benutzte er, um sich Zutritt zu den
Firnistagen der Ausstellungen zu verschaffen, schloß hier neue
Bekanntschaften, knüpfte die mannigfaltigsten Beziehungen an und war
bald in die Gesellschaft eingeführt. Zwar hütete er sich noch, mit
Großkapitalisten und Geldmännern öffentlich zu verkehren. Aber als er
Deming im Theater traf, verbeugte er sich doch vor ihm und hatte die
Genugtuung, daß der kaiserliche Rat, der mit seiner Tochter den Winter
in der Hauptstadt zubrachte, ihn wie einen Bekannten begrüßte und sich
leutselig nach seiner dermaligen Tätigkeit erkundigte.

Ein paar Tage später erhielt er die Einladung zum Empfangsabend des
Direktors. Er schwankte lang, ob er hingehen sollte. Endlich tat er es
doch. Gretes junge Schönheit lockte zu stark.

Der gewichtige Mann kam ihm freundlich entgegen, klopfte ihn
wohlwollend auf die Achsel und sagte, daß es ihn sehr freue, den Doktor
Pichler, dessen glänzend und geistvoll geschriebene Abhandlungen er
stets mit Vergnügen lese, bei sich begrüßen zu können. Der Doktor gelte
zwar für einen Freigeist und Feind der bürgerlichen Gesellschaft, aber
das tue gar nichts. Denn in seinem Hause komme es nur auf den Menschen
an, nicht auf die Gesinnung.

Otto verneigte sich geschmeichelt und wurde den Gästen vorgestellt:
Exzellenzen, Baronen, reichen Kaufherren. Er, Doktor Otto Pichler, kam
sich ordentlich klein vor neben so viel Geld und Titel und Würden.

Und Grete, die in ihrem weißen Seidenkleid wie ein schöner Sommertag
leuchtete, war voller Huld und Gnade. Er durfte sie zu Tisch führen,
eine Auszeichnung, um die ihn viele beneideten und die sogar er, Doktor
Otto Pichler, Feuilletonist, Schriftleiter und Abgeordneter, sogar er
sich nicht recht erklären konnte. Woher auch hätte er wissen sollen,
daß es im Kampfe gegen die Demokraten der geheime Feldzugsplan Demings
war, ihnen die besten und fähigsten Führer zu ködern und abspenstig zu
machen?

Grete verstand zu plaudern. Sie hatte alles gelesen, alles gesehen,
was gerade Mode war, sprach mit der größten Sicherheit darüber,
und ihr Tischnachbar war der letzte, der ihr die oberflächliche
Dreistigkeit übelnahm, mit der sie über die verwickeltsten Probleme,
die schwierigsten Fragen und über die besten Männer der Zeit ihr
Urteil abgab. Er tat’s ja auch nicht anders. An jenem Abend aber kam
er gar nicht dazu, das volle Feuerwerk seines beweglichen Geistes
sprühen zu lassen. Die vornehm gedämpfte Üppigkeit der Umgebung, das
ausgesucht feine Essen, die erlesenen Weine und echten Importzigarren,
das Schimmern entblößter Schultern und milchweißer Nacken im hellsten
Lichterglanz: das alles war ihm ungewohnt, in ein schönes Zauberland
glaubte er hineinzuschauen, nur wie aus weiter Ferne drang das
Schwirren der Unterhaltung an sein Ohr. Und es wurde ihm, als glitten
unsichtbare weiche weiße Frauenhände über die zartesten Saiten seiner
Seele und ließen sie erklingen in sinnverwirrender, unsäglich süßer
Musik.

Und als er spät nachts seiner Wohnung zuschritt, da war etwas wie
Neid in ihm. Neid gegen jene, die der Sorgen um des Lebens Notdurft
überhoben, nach Lust und Laune ihrer Neigungen leben und die Erde zum
Paradies sich wandeln konnten.

Seither verkehrte er oft bei Deming. Aber er erzählte seinen
Parteigenossen nichts davon.


2.

Es war in den letzten Tagen des Mai, als Hellwig aus der Strafanstalt
in die Hauptstadt zurückkehrte. Dort hielt er sich jedoch nur gerade
so lang auf, als er benötigte, um den Rucksack zu packen und sich einen
einjährigen Urlaub zu erwirken. Innerhalb dieser Zeit hoffte er mit
seinem Werke fertig zu werden. Über Plan, Aufbau und Einteilung war
er sich klar, brauchte nun für die Ausführung ganz freie Bahn. Seine
Ersparnisse ermöglichten ihm die Unterbrechung.

Als er dann noch die Wohnung gekündigt und seine Habseligkeiten
nach Neuberg vorausgesendet hatte, machte er sich ungesäumt auf die
Wanderung. Er wollte den Weg in die Heimat zu Fuß zurücklegen. Denn
wie ein Rausch hatte es ihn angepackt, als er nach der langen Haft
wieder Felder erblickte, grüne Fluren, Wälder, Berge, die runde hohe
Himmelsglocke über der blumigen Erde.

Auf einsamen Steigen und Fußwegen ging er, ging über die Kämme und
durch die engen Gebirgstäler Oberösterreichs zum Böhmerwald hinüber und
durch die düsteren, waldreichen Gebirgsmassen nordwärts, ließ sich die
Sonne ins Gesicht scheinen, den Wind um die Ohren blasen, vom Regen die
Stirn kühlen und ging nur immerzu, atmete, schaute und drängte sich
an die Brust der Erde wie ein hungriges Kind. Selten nur machte er in
einem Wirtshaus Rast, übernachtete oft im Freien. Bei schlechtem Wetter
bat er in Dörfern oder Einschichten um Unterkunft, mit den Bauern
teilte er Roggenbrot und Milch.

Zehn Tage wanderte er so durch den werdenden Sommer. Seine Wangen
wurden rot, sein Gesicht vom Wetter gebräunt. Der Stickluft des Kerkers
entronnen, dehnten sich die Lungen, badete sich der Körper in dem
herben Ozon, wurde leicht und frisch und aller Mühsal ledig, wie ein
junger Krieger, der sich zu frohem Kampfe rüstet.

Und am elften Tag, da schritt er mit dem erwachenden Morgen seiner
Vaterstadt zu. Die Sonnenpfeile hatten Wunden geöffnet im Leib der
Nacht, und sie verblutete langsam. Langsam stieg die Sonne herauf,
und über den Hügeln war ein Leuchten wie rotes Gold. Der Morgenwind
hatte schon ausgeschlafen, weckte die Waldsänger und läutete mit allen
Blütenglocken. Tautropfen hingen an den Blättern, die Lerchen flogen
jubelnd der Sonne entgegen, und eine große Frische war überall. Und die
Sonne stieg höher und höher.

Mit einem wilden Schrei breitete er beide Arme aus, weit, weit --

Vor ihm, tief unten im Tal, lag seine Vaterstadt. Der schlanke
Kirchturm mit dem eisernen Kreuz, die roten Ziegeldächer, in grüne
Gärten eingebettet, von runden Obstbäumen bewacht, umdrängt von gelben
Ährenfeldern, die dem Herbst entgegenreiften an der treuen Mutterbrust.
Zwischen Weiden und Erlen schlang der Fluß sein stahlglänzendes Band
durch die Wiesen und unter Mühlenrädern fort. Und die Mühlenräder
drehten sich und rollten, und von ihren Schaufeln fiel ein funkelnder
Regen von Edelsteinen.

Unter dem breit schattenden Blätterdach der hohen Linde, die, ein
Wahrzeichen seit Jahrhunderten, auf dem Hügel stand, ruhte der
Heimgekehrte und blickte in das leuchtende Tal hinab, wo tausend
Erinnerungen mit frohen Augen ihm entgegen schauten, mit weißen
Kinderhänden winkten, die Arme verlangend nach ihm streckten. Und seine
Jugend kam leise zu ihm her, legte das blonde Haupt in seinen Schoß und
lächelte ihm zu. Und ruhiger schlug ihm das aufgeregte Herz, sachter
wurde die Freude. Eine sanfte Wehmut klang hinein, unbestimmt, fernher,
wie ein weicher Mollakkord. Und ein wunschlos träumendes Gefühl des
Geborgenseins umfaßte ganz warm seine Seele, und sie ruhte darin und
bebte wie ein aus dem Nest gefallener Vogel zwischen zwei helfenden
Menschenhänden.

Lang saß er so mit gelösten Gliedern und schaute und konnte sich
nicht satt sehen an der ruhevollen Schönheit seiner Heimat. Über dem
blühenden Wipfel hing der Himmel hell und unbewegt wie ein seidenes
Fahnentuch und leise summten die Bienen ihr süßes Lied.

Und nach den starken Fußmärschen der letzten Tage, dem kurzen Schlaf
auf unbequemen Lagern, den Aufregungen der Stunde forderte der Körper
sein Recht. Wohliges Ermatten wiegte ihn ein, die Lider wurden ihm
schwer. Er streckte sich lang aus im leicht bewegten Gras, sah durch
das helle Wipfelgrün in den blauen Himmel hinein und ließ sich
willenlos hinübertragen in das uferlose Meer der Träume.

Ihm träumte:

Er ging mit Heinz durch einen großen Wald. Der war ausgetrocknet
vom Sonnenbrand, und die Zittergräser auf seinem Grunde waren fahl
und dürr. Aber die Vögel sangen in seinen Kronen, und unter den
Zittergräsern blühten die Blumen. Eine große Schönheit war in diesem
Walde, die sonnenheiße Schönheit des reifen Sommers.

Und Heinz sprach: „Wie groß muß erst deine Schönheit sein, du warmer
Wald, wenn alle Flammen, die in deinen Stämmen und Gräsern schlummern,
mit eins erwachen und emporschlagen in lohender Glut. Wohlan, du warmer
Wald! Ich will deine Flammen wecken! Ich will dein Herold sein, dein
Befreier und Erlöser!“

Und sie trugen Äste zusammen und dürre Reiser.

Die zündeten sie an.

Bläulich fahl leuchteten Flämmchen auf mit leisem Knistern,
verschwanden wieder, tauchten abermals auf, größer, lauter knatternd.

Und weiter und weiter liefen die Flammen.

Und jetzt, wie ein goldrotes Eichhörnchen, sprang ein Flämmlein hinan
am honigfarbenen Kiefernstamm.

Und da, und dort -- lauter goldrote Eichhörnchen.

Die wuchsen und wuchsen, wurden zu gelben, fauchenden Katzen, samtroten
grollenden Leoparden -- und jetzt waren es riesige, goldhelle Löwen.

Und die riesigen Löwen begannen ein Ringen und Balgen, zerfleischten,
verschlangen einander in rasender Wut. Und die Sieger wurden größer und
größer.

Und ein Sausen kam von fern, dumpf und hohl, wie nahender Sturm.

Und ein Sturm brach herein und peitschte die Flammen mit heulender
Wucht. Vor, hinter, neben ihnen lohten sie, stiegen sie, schlugen mit
gierigen Pranken zum Himmel, verrankten und verwoben sich zu glühenden
Wänden, wehten wie leuchtende Flaggentücher, vereinigten sich, himmelan
steigend, hoch, hoch oben zu einer einzigen Kuppel von blendendem
Glanz. Und eine kochende Hitze war überall.

Sie aber, die beiden schwachen Menschenkinder, standen in diesem weiten
Feuerdom, standen darin und fürchteten sich. Fürchteten sich vor der
entfesselten Schönheit des Waldes, die sie selbst geweckt hatten.
Wollten fliehen und fanden keinen Ausweg.

Enger drängten die Flammenwände herzu, tiefer sank die gewaltige Kuppel.

Und jetzt schlug’s zusammen mit Heulen und Sausen.

Ein Prasseln, Krachen, Brüllen und Funkenstieben.

Und eine Stimme scholl durch das Getöse wie hohnlachender Donner:

„Lernt eure Leidenschaften zügeln und euer Wollen! Euer Wollen war groß
-- seht zu, ob ihr auch tragen könnt, was ihr gewollt habt!“

Und die Flammen brachen nieder und begruben sie unter ihrem heißen
goldenen Mantel. -- -- --

Fritz erwachte verstört und erschreckt.

Die Sonne stand im Mittag, vor ihm lagen die roten Giebeldächer, und
leise summten im blühenden Lindenwipfel die Bienen immerzu ihr süßes
Lied.

Aber aus der Landschaft war aller Glanz genommen. Die Freude war tot,
die Erinnerungen winkten und die Jugend lächelte nicht mehr.

Traurig und schwer wurde ihm ums Herz. Und doch war eigentlich nicht
der Traum daran schuld, sondern der wieder aufgeweckte Gedanke, daß er
nun bald der Mutter des toten Freundes werde gegenübertreten müssen.
Er dachte an jenen Abend, da sie mit rauschenden Gewändern im Regen
neben ihm hergegangen war und dem kranken Kinde einen starken Freund zu
werben geglaubt hatte. Alles hatte sie von dieser Freundschaft erhofft
-- und war nun um alles gekommen.

Und das Haus dort unten stand unverändert da und deckte mit seinen
steinernen Mauern gleichmütig das Leid wie einst die Fröhlichkeit zu.

Noch kein Gang war ihm so schwer geworden. Aber er mußte gegangen
werden. Langsam stand er auf, schritt langsam über die Lehne ins Tal.

Jetzt stand er vor dem alten Haus, trat ein und wunderte sich, daß der
Flur so geräumig und still, der Hof so öde war. Kein Pferdegewieher,
kein Aufladerlärm. Nur ein paar Kisten lagen einsam, wie vergessen da.

Mit geschnürtem Atem stieg er die Treppe empor, fand die Tür zum
Vorzimmer offen, ging hinein. Er nahm den Rucksack vom Rücken, hing
Hut und Wanderstecken an den Kleiderständer, klopfte an die Tür der
Wohnstube.

„Herein!“ sagte eine weiche Stimme. Eva stand vor ihm, schlank und
blaß, in schwarzen Gewändern.

„Fritz!“ sprach sie leise, kam auf ihn zu und legte ihm die Arme um den
Hals. „Wie gut, daß du kommst!“

Wie etwas Selbstverständliches tat sie das, -- so, als setzte sie nur
ein begonnenes Träumen fort.

Unsicher schaute er auf den blonden Scheitel und wagte kaum zu atmen.

„Ist das wahr?“ fragte er endlich schwer.

Da schrak sie auf, ward sich ihres Tuns erst bewußt. Heftig nahm sie
die Arme von seinem Nacken.

Doch er hielt sie fest.

„Nein, Eva, du gehörst schon hierher!“ sagte er mit tiefem Ernst. Und
das war wie ein Gelöbnis.

Sie wehrte ihm nicht.

„Ich hab’ dich ja schon lange so lieb!“ stammelte sie wie zur
Entschuldigung und schmiegte sich erschauernd fest an ihn.

Da nahm er ihren Kopf zwischen seine beiden Hände, schaute ihr in die
feuchten Augen.

„Dank! Dank! Nun wird sich’s leichter tragen.“

Dann war lange Schweigen.

Endlich richtete er sich mit einem Ruck straff auf. Sein Blick
verdüsterte sich.

„Komm zur Mutter!“ sagte er.

Sie blickte ihn ängstlich an und fürchtete sich beinah vor seiner
finsteren Stirn.

„Komm!“ Sie führte ihn die Treppe hinauf zum Dachzimmer.

„Willst du mich nicht anmelden?“

„Wozu? Mutter weiß, daß du kommen wirst, erwartet dich schon seit
Tagen.“

Da legte er die Hand auf die Klinke und stieß die Tür auf.

Frau Hedwig saß beim Schreibtisch ihres toten Sohnes, mit dem Sichten
von Briefen und Papieren beschäftigt. Auf ihren Haaren lag ein Schimmer
wie von grauer Asche, und in das gütige Antlitz war ein müder Zug
gekommen.

Eva schob sich an Fritz vorüber rasch ins Zimmer.

„Er ist da!“ sagte sie und schaute die Mutter mit bittenden Augen an.
Die hatte sich schon erhoben, ging auf ihn zu: „Willkommen.“

Sie hielt ihm die Hand hin. Er aber nahm sie nicht.

„Ich komm’ allein!“ murmelte er mit aufeinanderliegenden Zähnen.

Da legte sie ihm mit einem warmen Blick die verschmähte Rechte auf den
Arm: „Machen Sie es sich und uns doch nicht gar so schwer!“

„Nicht so gut sein ...“ Das klang rauh, wie ersticktes Schluchzen.

„Fritz!“ sprach nun die Frau herzlich und war ganz nahe bei ihm. „Das
dürfen Sie nicht glauben, Fritz. Nein, das nicht ... Unser Heinz, der
-- hat wohl so sterben müssen. Hat sich für seinen Glauben geopfert
und über den Tod mehr gefreut als je im Leben. Drum -- es wird wohl
das beste Gedenken für ihn sein, wenn wir ihn so verstehen und auf
niemanden einen Stein werfen. Auch auf uns selbst nicht, Fritz! Keiner
hat schuld an seinem Tod -- nicht einmal er selbst. Er hat nur --
das allerbeste Glück kennenlernen wollen -- und gern ein Leben dafür
weggeworfen, das sich anders nicht mehr hat erfüllen können ...“

Ihre Stimme zitterte, aber um den Mund lag etwas wie der Abglanz eines
mutigen Lächelns. Und wieder hatte sie den rechten Weg zum Herzen des
schwerblütigen Menschen gefunden.

„Es wird schon so sein, Frau Wart,“ sprach er klanglos vor sich hin
und stand noch wie geistesabwesend da. Dann aber, im Überquellen
einer starken Empfindung, haschte er nach ihren Händen. „Meine zweite
Mutter!“ sagte er ganz leise, ganz innig.

Sie verstand ihn gleich.

„Ja, Fritz, Ihre zweite Mutter. Und Sie -- mein anderer Heinz. So
wird’s wohl recht sein.“

Und sie zog sein Gesicht zu sich nieder und küßte ihn auf die Wange.
Dann wandte sie sich an ihre Tochter: „Nun, Ev? Was sagst du zu deinem
neuen Bruder? Bist du’s zufrieden?“

Die aber schüttelte den Kopf.

„Nicht?“ fragte die Mutter. „Und doch glänzen dir die Augen so stark?“

Verwirrt kehrte sich die Schlanke ab, drehte angelegentlich den
Fensterriegel hin und her. Sie merkte nicht, daß Fritz hinter sie trat.
Erst da er den Arm um sie legte, zuckte sie zusammen, ließ ihn jedoch
stumm gewähren.

Als sie sich umwandten, sahen sie, daß sie allein waren. Frau Wart
hatte leise das Zimmer verlassen.

„Wo ist die Mutter?“ fragte Eva fast erschrocken.

Fritz sagte nichts darauf. Seine Augen leuchteten und in seinem
Gesicht war etwas von der frommen Andacht gläubiger Beter.

Als ein Bettler hatte er das Haus betreten und war überreich geworden.
Und die Erinnerung an den Freund hatte allen Schrecken verloren.

In heißer Ergriffenheit zog er seine schöne Braut an sich und küßte sie
zum erstenmal auf den Mund.


3.

Fritz mußte lang suchen, bis er in Neuberg eine Wohnung auftrieb.
Niemand wollte ihm ein Zimmer vermieten. Seit er im Kerker gesessen,
war er wieder ein räudiger Wolf geworden. Professor Hermann stellte
nicht mehr voll Genugtuung fest, daß Fritz Hellwig sein Schüler
gewesen sei. Er behauptete jetzt im Gegenteil, daß solch ein Ende mit
Schrecken ja vorauszusehen war, denn dieser Hellwig habe schon als
Junge keine Achtung vor der Autorität gehabt. „Und keinen Glauben!“
fügte Pater Romanus hinzu und nickte schwermütig mit dem Kopf. Und das
war der zweite Grund, weshalb sie ihn mieden. Weil er kein Klerikaler
war. Denn die Klerikalen waren in Neuberg zahlreich geworden wie
die Grundeln im Teich. Zwar nannten sie sich christlich-sozial oder
katholisch-national, aber das war nur ein anderer Name für dieselbe
Sache. Das war so gekommen, weil die freisinnige Bürgerschaft in
viele kleine Gruppen, von denen jede die deutscheste sein wollte,
zersplittert war und im Streite um des Kaisers Bart begriffen, dem
straff organisierten schwarzen Gegner eine wichtige Stellung um die
andere fast kampflos überließ. Noch gab es ja einige wackere Männer,
denen alles, was nur von weitem nach Papismus und Pfaffentum roch, in
der Seele zuwider war, aber die mußten bei der allgemeinen Zwietracht
für sich stehen und waren, wenn auch nicht auf den Hund, so doch auf
den Galgenhumor gekommen, derart, daß sie den verhaßten Schwarzen
jeden Schabernack antaten und mit Schnurrpfeifereien, Schelmenstücken
und Schalksnarrenstreichen kämpften, wenn es schon nicht anders ging.
Zu diesen Männern gehörte auch der Flickschuster Peter Kofend. Der
hatte schon viel auf dem Gewissen. Bereits dreimal war er bei der
Firmung gewesen und hatte jedesmal, noch nicht trocken vom Salböl,
das Firmgeschenk versoffen. Und bei der letzten Firmung, da hatte
er gar zuvor noch die Böller vernagelt, so daß der hochwürdige Herr
Weihbischof ohne Freudenschüsse in Neuberg seinen Einzug hatte halten
müssen. Und was das Lächerlichste war, er hatte einmal im Wirtshaus mit
dem frommen, gebrechlichen alten Sattlermeister Adam Jahn gewettet:
er, der Kofendschuster, werde trotz seiner zappeligen Munterkeit
früher ins Gras beißen als der Jahnsattler mit seinem Asthma. Und als
Einsatz stellte er das Leichenbier: Wer den andern überlebte, sollte
nach dem Begräbnis den üblichen Trunk für die Trauergäste zahlen. Und
der fromme, gebrechliche alte Jahnsattler, der vom vielen Beten eine
Hornhaut auf den Knien hatte, kam durch diesen Vorschlag in eine arge
Not. Denn er war nicht nur fromm, er war auch sparsam. Und er dachte
sich: Ich bin zehn Jahre älter als der Peter, ich bin kränklich,
ich bin fromm, der liebe Herrgott wird mir verzeihen, wenn ich das
Leichenbier sparen und der Kirche mehr vermachen kann. Vielleicht hilft
er mir sogar, der liebe Herrgott, daß ich dem Peter zum Trotz gewinne.
Und er nahm die Wette an und sie wetteten um das Leichenbier, jeder,
daß er früher sterben werde als der andere. Und während der Jahnsattler
seither noch gebrechlicher wurde, eine noch dickere Hornhaut auf den
Knien bekam und sichtlich einging, war der Peter verrucht genug, die
Geschichte in der ganzen Stadt zu erzählen. Und die ganze Stadt, mit
wenigen Ausnahmen, bedauerte den frommen, gebrechlichen alten Adam und
entrüstete sich über den gottlosen Peter. Und die ganze Stadt, mit noch
weniger Ausnahmen, entrüstete sich auch über Hellwig, daß er bei dem
gottlosen Peter wohnen wollte. Und die ganze Stadt, mit den wenigsten
Ausnahmen, entrüstete sich noch mehr über den Kofendpeter, daß er
einem abgestraften Sozialistenführer Unterstand gab. Der Kaufmann Wart
gehörte zu den Ausnahmen. Darüber wunderte sich niemand. Von dem Vater
eines Hingerichteten konnte man nichts anderes erwarten.

Der Kaufmann war nicht mehr der behaglich polternde, vergnügte Mensch
von ehedem. Etwas Scheues und Gedrücktes war in sein Wesen gekommen,
machte sich auch äußerlich geltend durch einen schleppenden Gang mit
vorgebeugten Schultern und gesenkter Stirn. Schwere Jahre waren über
ihn weggerollt, das merkte man. Gleich nach dem Begräbnis Doktor
Kreuzingers hatte es angefangen. Da hatte die Wühlerei eingesetzt:
Pflicht jedes Christen sei es, den Kaufladen eines Menschen zu meiden,
der nicht einmal für seine Toten den Priester begehrte. Und viele
Kunden waren ausgeblieben. Dann kam, durch Vermittelung des Konsulats
in Odessa, die Nachricht, daß Heinz Wart am Galgen geendet. Des
Zwischenfalls bei der Hinrichtung wurde keine Erwähnung getan. Das
blieb kein Geheimnis, sprach sich rasch in der ganzen Gegend herum,
brachte die Familie in Acht und Bann. Wer in Neuberg und Umgegend
nur halbwegs etwas auf sich hielt, mied jegliche Berührung mit den
Angehörigen eines Gehängten. Der Kaufhandel ging immer schwächer.
Ungeduldig stampften die müßigen Rosse in den Ställen, bis sie verkauft
wurden. Die Auflader mußten bis auf einen entlassen werden. Im Kontor
ruhten alle Federn. Das alte Geschäft stand vor dem Verfall.

Der emsige, an fortwährende Arbeit gewöhnte Wart empfand den Müßiggang
fast wie körperlichen Schmerz. Er alterte sichtlich dabei. Es waren
nicht Geldsorgen, die ihn drückten. Auch ohne den Kaufhandel waren
seine Einkünfte weit größer als die Ausgaben für den Haushalt. Und doch
schützte er immer den schlechten Geschäftsgang vor, wenn Frau Hedwig,
um ihn zur Aussprache zu bringen, vorsichtig nach dem Grund seines
veränderten Gehabens forschte. Er wußte, daß sie ihm die Ausrede nicht
glaubte. Aber er vermochte nicht von seinem Sohn zu sprechen. Seit er
die furchtbare Botschaft erhalten, war dessen Name nicht über seine
Lippen gekommen. Damals hatte er auch seine sämtlichen Ehrenämter
niedergelegt und sich von allen Bekannten zurückgezogen.

Auf Hellwigs Werbung hatte er nur die bittere Antwort: „Recht so!
Nehmt mir nur auch das letzte noch weg!“ und ging schwerfällig in sein
Schreibzimmer, wo er sich einschloß.

Später kam er mit keinem Wort darauf zurück, sagte auch nichts, als er
die Vorbereitungen zur Aussteuer gewahrte. Und nur einmal, als sich
Heinzens Todestag zum zweitenmal jährte, meinte er, bevor er sich
schlafen legte, traurig zu seiner Frau: „Schön sind wir dran, Mutter,
auf unsere alten Tage. Der eine ...“ -- er verschluckte das häßliche
Wort -- „die andere -- heiratet einen, der auch schon eingesperrt war.
Wer weiß, was noch kommt. Er ist ja von der gleichen Sorte!“

Und als Frau Hedwig mit gefalteten Händen vor ihn hintrat: „Sei doch
nicht so verzweifelt, Nikl!“, wehrte er ab: „Laß gut sein, Mutter, red’
nichts. Es wird nicht anders durchs Reden!“ Dann zog er sich die Decke
über das Gesicht hinauf und tat, als ob er schliefe. Aber die Gattin,
die auch schlaflos lag, hörte sein unterdrücktes Stöhnen, das in Pausen
immer wiederkehrte, bis zum grauenden Morgen.


4.

Hellwig arbeitete an seinem Buche und die ganze Fron des Schaffenden
lernte er kennen. Spürte am eigenen Leib, wie schwer so ein Werk auf
seinem Schöpfer lastet, wie es ihn nie zu Atem kommen läßt, vorwärts
peitscht und auch in den Stunden notwendigster Rast gefangen hält und
quält und nicht frei gibt, bis es irgendeinem Ende zugeführt ist.
Selbst die kargen Augenblicke, die er sich für seine Braut abrang,
kamen ihm wie ein Raub vor, und er konnte ihrer nie ganz froh werden.
Immer war ihm, als versäumte er etwas, das notwendig getan werden
mußte, das auf ihn wartete, nach ihm schrie und ihn mit tausend Ketten
zog. Zerstreut und fahrig war er und früher, als er gewollt, brach er
dann gewöhnlich auf. Manchmal bäumte er sich gegen diese Fron, wollte
sie abschütteln und trug sie doch auch wieder gern.

Es war ein merkwürdiger Brautstand. Doch Eva war damit zufrieden. Sie
verlangte keine Zärtlichkeiten. Was ihm recht war, war auch ihr recht,
und nur ihn ganz verstehen wollte sie lernen und sein Leben ganz von
tief auf mitleben wollte sie.

So störte sie ihn nicht. Aber mit dem Werk ging es doch nicht richtig
vorwärts. Das müde Wesen des Kaufmanns wirkte auf Fritz wie ein
beständiger Vorwurf. Er fühlte, daß das nicht so bleiben durfte. Gerade
hier mußte volle Klarheit herrschen. Doch die wollte nicht kommen. Der
Kaufmann ging jedem Alleinsein mit seinem zukünftigen Schwiegersohne
hartnäckig aus dem Weg. Aber endlich mußte er ihm doch Rede stehen.

Draußen vor der Stadt in den Feldern war es. Hellwig hatte während
einer langen Wanderung den weiteren Aufbau seines Buches überdacht und
ging arbeitslustiger, als er es seit Tagen gewesen, heim. Da sah er vor
sich die untersetzte Gestalt Wart Nikls auftauchen, der einsam seinen
Abendspaziergang abtat. Fritz schritt rascher aus, holte ihn ein und
erhielt auf seinen kurzen Gruß noch kürzeren Dank. Da sagte er ohne
weitere Einleitung: „Warum weichen Sie mir aus, Herr Wart?“

„Lassen Sie das!“ antwortete der Kaufmann schroff.

„Nein, so kann es nicht bleiben, Herr Wart, einmal muß es gesagt
werden: Geben Sie mir mit schuld, daß Heinz gestorben ist?“

„Lassen Sie das!“ Das klang zornig und klang drohend. Aber Fritz gab
nicht nach.

„Seien Sie offen!“ bat er. „Was nützt das Versteckspielen? Nur daß alle
darunter leiden.“

Ganz ruhig war es rundum. Manchmal nur raschelte es in den Zweigen der
Bäume, fiel ein überreifer Apfel zu Boden. Dann war es wieder still,
und lautlos webte die Dämmerung am dunklen Mantel der Nacht.

Der Kaufmann atmete ein paarmal tief auf. Dann sagte er: „Im Anfang,
Fritz, im Anfang, da ist’s schon so gewesen. Man sucht halt immer nach
einem Verführer, wenn einem ein Liebes Schande macht. Später aber, nach
dem Ärgsten ... da hab’ ich mir gedacht, man kann eine Kugel nicht
aufhalten, wenn sie aus dem Rohr ist. Es wird wohl auch so gewesen
sein. Wie blind ist er hineingerannt ... Ich tät Ihnen mein Mädel nicht
geben, wenn ich anderer Meinung wäre. Ich hab’ nur die eine ... Das
wird wohl genügen?“ fügte er noch hinzu, in einem Ton, der deutlich
erkennen ließ, daß er die Fortsetzung des Gesprächs nicht wünschte.

Fritz schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Wart, es genügt noch nicht, so
sehr ich Ihnen dafür dankbar bin. Aber Schande? Schande hat Ihnen Heinz
nie gemacht!“

„Der Galgen ist wohl eine Ehre?“ rief da der unglückliche Vater und
barg sein Leid hinter einem höhnischen Auflachen.

Hellwig schaute ihm fest ins Auge. „Mitunter ganz gewiß!“ sagte
er. „Auch Savonarola haben sie aufgehängt, den Erlöser haben sie
gekreuzigt, den Huß verbrannt ...“

„Die haben auch nicht gemordet,“ unterbrach ihn Wart tonlos und
schauderte zusammen.

„Heißt es Mord, einen Menschen wegräumen, von dem man weiß, daß er in
der nächsten Stunde tausend Unschuldige umbringen wird? Das ist kein
Töten, das ist Selbsthilfe der Menschheit.“

„So nennen Sie’s! Andere nennen’s Mord.“

„Heute vielleicht noch. Unsere Enkel werden wieder anders sprechen.
Von Kindsbeinen wird uns gelehrt: Du sollst nicht töten! Und niemand
lehrt uns auch jenes zweite, Größere: Du sollst nicht töten lassen!
-- Aber die Zeit wird kommen, und die Menschen reif werden auch für
dieses Gebot. Dann wird wieder einmal Tugend werden, was heute noch
Verbrechen ist. Und Heinz und die vielen, die wie er gestorben sind,
werden Märtyrer und Blutzeugen heißen. Und darum glaub’ ich auch jetzt
nicht mehr, daß sein Sterben nutzlos gewesen ist. Sein Gedanke lebt
weiter, und seine Rächer sind nicht fern. Vielleicht werden es schon
jene sein, die Brot von dem Korn gegessen haben, das aus seinem Grab
gewachsen ist. Und die werden vollenden, was er angestrebt hat: Ein
heiles gesundes Volk wird aufstehn, das vor niemandem den Nacken beugt,
das sich selbst bestimmt durch seinen eigenen Geist, herrscherlos und
herrenlos, ein Volk von lauter Königen und Herrschern! Dafür hat er
gelebt -- das goldene Herz der Menschheit hat er finden wollen -- und
dafür ist er in den Tod gegangen. Das ist kein schimpfliches Sterben.“

Der Kaufmann erwiderte nicht. Die Abendglocken läuteten. Wie ein
schlafsuchendes Kind schmiegte sich die Erde in den Arm der Nacht.

Als Wart vor seinem Hause stand, reichte er Hellwig die Hand. „Fritz!“
sagte er weich. „Wir wollen’s beschlafen, Fritz!“


5.

Peter Kofend gewann seine Wette. Trotzdem er um zehn Jahre jünger und
der Jahnsattler so gebrechlich war. Eines Tages kam er mit trüben
Augen und hochroten Wangen von einem Geschäftsgang nach Haus. „Aus
is! Gar is! Ich leg’ mich hin und steh’ nimmer auf!“ sagte er zu
seiner Frau. Und während die Erschrockene in die Küche lief, um einen
Tausendguldenkrauttee zu kochen, der ihr immer gut tat, legte sich
der Peter ins Bett und -- stand wirklich nicht mehr auf. Er klagte
nicht, redete nichts, fühlte sich nur müd. Der Arzt sprach von einer
allgemeinen Schwäche, von Schonung und Ruhe und ähnlichen Dingen,
die er immer sagte, wenn er aus einem Fall nicht klug wurde. Die
Frau Kofend aber wußte am zweiten Tag ebenfalls, daß ihr Mann recht
behalten werde. Da hatte ihre schwarze Henne zu krähen versucht. Und
trotzdem der Unheilsansagerin sofort der Kragen umgedreht wurde -- eine
Henne, eine schwarze Henne, die krähte -- das bedeutete einen sicheren
Todesfall.

Vier Tage später erhielt der Jahnsattler wirklich die schwarz
umränderte Todesanzeige und vergoß darüber Tränen eines aufrichtigen
Kummers. Er weinte aber nicht über den Gestorbenen, er weinte um das
schöne Geld fürs Leichenbier. Er bezahlte es auch. Aber dann ging er
zu Fritz Hellwig und fragte ihn, wie er es anfangen müsse, um ein
Sozialist zu werden. Denn er fühlte sich gekränkt und verletzt, weil
ihm alle seine Frömmigkeit nichts genützt hatte im Wettkampf mit dem
ruchlosen Peter. Deswegen wollte auch er jetzt vom Beten nichts mehr
wissen. Fritz aber konnte seinen Nöten weder mit Rat noch Beistand
dienen. Doch der Alte wich nicht. Starrköpfig beharrte er bei seinem
Verlangen, und Hellwig, der den höllischen Humor der Sache erfaßte,
schlug ihm endlich vor, wenn er schon unbedingt nicht anders wolle,
so möge er ihm, dem abgestraften Sozialistenführer, dem allbekannt
Glaubenlosen, ein Zimmer in seinem Hause vermieten. Denn er brauchte
wieder eins, da die Frau Kofend in ihr Heimatsdorf übersiedelte. Das
gefiel dem Jahnsattler alsogleich, weil er damit vor aller Welt seine
neue Gesinnung beweisen und, wie er meinte, den Sachwaltern Gottes
auf Erden, ja seinem lieben Herrgott selbst einen Tort antun würde.
Und die ganze Stadt bedauerte abermals den armen, gebrechlichen alten
Jahnsattler, weil er in der Hilflosigkeit des Alters dem Versucher ins
Garn gegangen war. Und die ganze Stadt entrüstete sich abermals über
Hellwig, weil er die kindische Torheit des Greises so mißbrauchte.
Weitere Folgen hatte die Geschichte aber nicht. Der Jahnsattler sorgte,
nachdem der erste Schmerz über das verspielte Geld vorüber war, nach
wie vor dafür, daß die Hornhaut auf seinen Knien nicht verschwand, und
Hellwig kam in der Wohnung des frommen Mannes mit seiner Arbeit rüstig
vorwärts. Er hatte jetzt endlich ganz freie Bahn vor sich.

Wart Nikl war fast vom Abend zum Morgen wieder ins Gleis gekommen,
hatte seine Tatkraft und gute Laune wiedergefunden. Nicht so sehr durch
Hellwigs Argumente, sondern weil die Aussprache überhaupt beschleunigt
hatte, was früher oder später doch hätte eintreten müssen. Was lang
verstaut gewesen, hatte Luft bekommen, strömte in gedoppelter Fülle
vor, war so überreich, daß er nicht wußte, wo er zuerst mit der Arbeit
anfangen sollte. Den Neubergern zum Trotz wollte er sein Geschäft nicht
nur auf die frühere, sondern auf eine noch ansehnlichere Höhe bringen.
Wozu brauchte er den Kleinverschleiß? Kurz entschlossen ging er her und
legte den Schwerpunkt des Unternehmens in den Großhandel mit Farbwaren
und Lacken. Er nahm Vertreter und einen Reisenden auf, reiste auch
selbst, und rascher, als er gehofft, war die Sache im Gang.

So arbeiteten der künftige Schwiegervater und Schwiegersohn, jeder auf
einem anderen Gebiete, aber beide mit dem Einsatz ihrer ganzen Kraft.
Und das Jahr war noch nicht vorüber, da hatte Fritz sein Buch vollendet.

Als er den Schlußpunkt machte, war sein Inneres wie ein ausgeschöpfter
Brunnen. Restlos hatte er alles hergegeben, was er hergeben konnte.
Fast leid war ihm, daß er das Drängen und Gären in sich nicht mehr
spürte. Und mit leisem Bedauern, als nehme er von einem lieben Freunde
Abschied, packte er das Manuskript zusammen, um es einem Verleger
zuzusenden.

In den folgenden Tagen machte sich eine tiefe Abspannung, die bis zur
schweren körperlichen Müdigkeit anstieg, bei ihm geltend. Doch gab er
diesem Zustand nicht lässig nach, sondern versuchte durch reichlichere
Bewegung in freier Luft ihm entgegenzuwirken. Er unternahm starke
Märsche in die Umgebung, und einmal gelangte er auch in den Geburtsort
Pichlers.

Der Küster war seit Jahren tot, die Kinder in den Dörfern im Dienst
oder verheiratet. Nur Christoph, der ältere von den einstmaligen
Rutenbindern, befand sich noch im Ort, war hier Gemeindediener,
Polizist, Nachtwächter, Bettelvogt, Flurhüter, Fleischbeschauer und
Barbier in einer Person. Er hatte sich einen struppigen Schnauzbart,
eine rote Nase und die für seine vielen Ämter unentbehrliche Würde
zugelegt, welch letztere ihn auch dann nicht verließ, wenn seine
Ordnungsversuche bei einer Wirtshausrauferei mit seinem eigenen
Hinauswurf endeten. Er erzählte Hellwig, daß Otto für die Geschwister
so gut wie verschollen sei und sich auch nach dem Tod des Vaters
nicht um sie gekümmert habe. Doch sei es, trotzdem dann für die noch
unversorgten jüngeren Kinder schwere Zeiten gekommen, auch ohne ihn
gegangen. Sie hätten eben fest zusammengehalten und den ältesten Bruder
nicht dazu gebraucht. Jetzt seien sie so ziemlich aus dem Wasser, viel
zum Beißen habe zwar keiner, aber sie seien zufrieden, wie’s der Vater
ebenfalls gewesen, und hätten sich schon an den Gedanken gewöhnt, daß
sie für den vornehmen Herrn Bruder nicht mehr auf der Welt seien und er
nicht für sie.

Hier unterbrach er plötzlich den Redefluß und eilte mit langen
Schritten schimpfend einigen Dorfbuben nach, die mit verdächtig dicken
Taschen aus dem Hühnerhof des Pfarrers schlichen.

Fritz machte sich auf den Heimweg. Was er eben von Otto gehört, kam ihm
so selbstverständlich vor! Das Leichte und Spielerische im Wesen des
Freundes war ihm, je älter und reifer er wurde, desto weniger verborgen
geblieben. Aber trotz der Enttäuschungen, die ihm der einstige Freund
bereitet hatte, hielt er ihn nicht für schlecht und fand es nur
verwunderlich, wie der leichtlebige und sorglose Mensch so lang an
seiner Seite hatte aushalten können.

Langsam schritt er weiter. Die ersten Sterne blitzten auf. Und da fiel
ihm ein, daß er fast denselben Weg ging, den er einmal vor Jahren in
Winterschnee und Kälte gegangen, um ein Geschenk für seine Braut in
einer Fanggrube zu finden. Und er sann seinem Leben nach und staunte,
wie doch alles so zufällig an ihn herangekommen war und ihn mitgerissen
hatte, fast ohne sein Dazutun. Und während er alles überdachte --
einsam war es um ihn, ein paar Fledermäuse fuhren hastig durch die
unbewegte Luft, irgendwo schrie jämmerlich ein Vogel unter den Zähnen
eines Raubtiers -- da stieg wie eine Vision ein Bild vor ihm auf, von
dem er zeit seines Lebens nicht mehr ganz loskommen konnte. Es war
ihm, als sei alles, was Leben in sich hat, vor ungezählte Millionen
überlasteter Karren gespannt und müsse sie, gleich den Pferden vor
schweren Fuhren, mit bebenden Flanken und keuchenden Lungen über eine
steile Bergstraße hinaufziehen, die schnurgerade ansteigt, höher und
höher, in die weite Unendlichkeit hinein, wie ein Band ohne Ende. Und
über allen den zitternden, mühselig hinkriechenden Geschöpfen thront
riesengroß aufragend, gelassen vor sich blickend, mit unbewegten Zügen
ein gewaltiges Weib und hält in der Rechten eine schwere Peitsche. Und
jedesmal, wenn irgendwo ein Karren stecken bleiben will, knallt diese
Peitsche, saust ihre geflochtene Schnur hoch über gekrümmte Nacken hin,
und die geplagten Geschöpfe zucken zusammen, ducken sich furchtsam und
ziehen weiter, ziehen mit zum Platzen gestrafften Muskeln, fliegendem
Atem, verlöschender Kraft, ziehen -- ziehen. -- Und wenn eins leblos
hinsinkt, schreiten die andern, rollen die Karren gleichgültig über
den Leichnam fort. Und immerzu rollen die Karren, Millionen hinter
Millionen, die unabsehbare, schnurgerade Straße hinauf, und unablässig
knallt über ihnen die Peitsche.


6.

Fast ein Jahr war es her, seit Pichler im Abgeordnetenhause seine
letzte Rede gehalten hatte. Da forderten seine Wähler Rechenschaft und
Rechtfertigung von ihm, und so kam er endlich wieder einmal in seinen
Wahlkreis.

Gemurr empfing ihn, als er den Saal betrat, und finster sahen die
Versammelten auf ihn. Er aber stieg auf die Rednerbühne, wie gewöhnlich
mit einem liebenswürdigen Lächeln um die Lippen. Doch da reckten sich
ihm Fäuste entgegen, und ein gewaltiger Lärm erhob sich.

„Nicht reden! Demingkreatur! Mandat niederlegen! Ausbeuterknecht!“
rief und schrie und johlte es durcheinander. Er verfärbte sich und
fühlte etwas wie Furcht. Aber noch immer lächelte er, und dieses
Lächeln schien in seinem schönen Gesicht förmlich eingefroren zu sein.
Als jedoch der Spektakel gar nicht aufhören wollte, wurde er wütend.
Was? Diese Kerle, die tief unter ihm standen, wagten zu drohen? Statt
dankbar zu sein, daß er sich überhaupt mit ihnen abgab? Heiser schrie
er in den Saal hinab: „Wollt ihr endlich schweigen? Ich will reden!
Hört ihr? Ich will!“

Die Antwort war Lachen und Getöse. Man trommelte auf Tische, pfiff,
stampfte mit Füßen, schüttelte Fäuste und Biergläser. Da packte ihn
ein jäher Zorn. Er griff nach der Glocke, die ihm zur Hand stand und
schleuderte sie in die Menge. Sie traf niemanden. Aber jetzt stürmten
sie und drängten auf das Podium, faßten ihren Abgeordneten bei den
Schultern, schrien ungestüm auf ihn ein, rüttelten und zerrten, schoben
und stießen und beförderten ihn ins Freie. Dort umringten sie ihn,
und gewalttätiger Haß sprach aus ihren Gebärden, ihren Mienen und
Worten. Die Einberufer mahnten zur Besonnenheit. Pfannschmidt nahm den
übel Zugerichteten beim Arm und führte ihn aus dem Gedränge. Murrend
und ungern wichen die Leute. Das Gesicht des Bergmannes war hart
und finster. Man sah, daß er den einstigen Schriftleiter nicht aus
Freundschaft beschützte. Pichler machte jetzt keine vorteilhafte Figur.
Der Jähzorn war verraucht. Nun kam die Angst. Er schlotterte an allen
Gliedern, die Knie knickten ihm ein, er stolperte nur so vorwärts und
wäre gefallen, wenn ihn Pfannschmidt nicht gestützt hätte. Kragen und
Halsbinde waren ihm herabgefetzt, der feine Anzug hatte Löcher.

Vor dem Gasthof ließ ihn Pfannschmidt stehen, wandte sich kurz ab und
ging ohne Gruß. In fluchtartiger Eile reiste Otto nach Wien zurück.

Trotzig legte er sein Mandat nieder. Wenn er jedoch gehofft hatte, daß
es ihm bei seinen ausgebreiteten Beziehungen gelingen werde, sofort
eine andere Stellung zu bekommen, sah er sich arg enttäuscht. Alle
Bekannten hatten nur ein bedauerndes Achselzucken: es sei dermalen
nichts frei. Er war eben kompromittiert. Deming hätte vielleicht Rat
gewußt. Aber an ihn wollte er sich nicht wenden. Er schämte sich vor
Grete.

Um sich über Wasser zu halten, mußte er Stück für Stück seiner
Habseligkeiten zum Trödler oder ins Leihhaus tragen. Dann borgte er
sich Geld. Aber es dauerte nicht lang, waren ihm alle Quellen versiegt.
Hungrig irrte er in der Großstadt herum. Seine Stiefel waren zerrissen,
der Rock, den er am Leib trug, wurde schäbig, und er hatte keinen
besseren mehr. In seiner Not schrieb er an Hellwig. Der wies ihn kalt
ab. Es sei Pichlern, schrieb er zurück, von je zu gut gegangen und
zu leicht gemacht worden. Er habe den Lebenskampf noch nie in seiner
ganzen Rauheit empfunden. Jetzt aber könne er zeigen, was in ihm
stecke. Durch eigene Kraft müsse er sich herausarbeiten. Unter dem
Hammer der Not werde er Stahl werden, wenn er wirklich Eisen sei.

Drei Tage hielt Pichler dem Hunger stand. Dann war er am Ende seiner
Widerstandskraft. Vor der Wohnung Demings wartete er und wußte es so
einzurichten, daß er richtig von dem kaiserlichen Rat bemerkt wurde.
Und der Millionär erkannte ihn sofort und trat auf ihn zu und sprach
leutselig mit ihm. Er fragte, ob es dem Doktor denn gar so schlecht
gehe und warum er sich nicht an ihn gewendet habe. Und zum Schluß
drückte er dem Überraschten eine größere Banknote in die Hand, als
Darlehen, wie er sagte, und verabschiedete sich huldreich.

Pichler stand da und schaute ihm nach und wußte nicht, ob er wachte
oder träumte. Aber der blaue Schein zwischen seinen Fingern war
greifbare Wirklichkeit. Da ging er und kaufte sich neue Wäsche und neue
Schuhe, kleidete sich vom Kopf bis zu den Füßen neu. Und als er dann
ein Bad genommen und Haar und Bart hatte zustutzen lassen, überkam
ihn ein ungestümes Verlangen nach Wohlleben und Genießen. In einem
Tingeltangel ließ er sich vorsetzen, was gut und teuer war, und am
nächsten Vormittag erwachte er mit wüstem Kopf in der Wohnung einer
Dirne.

Zwei Tage später, als das Geld alle war, folgte er der Aufforderung
des kaiserlichen Rates, ging zu ihm und setzte ihm rundweg seine Lage
auseinander. Deming hörte ihn wohlwollend an, mit schlecht verhehlter
Freude. Und nach einer Einleitung, in welcher er beiläufig sagte,
daß man begabten Menschen helfen müsse, daß es ihm selbst auch nicht
immer gut gegangen und er auch einmal in ganz ähnlichen Verhältnissen
stellenlos herumgelaufen sei, machte er dem Doktor den Vorschlag, als
Beamter in die Fabrik einzutreten. Aber eines verlange er unbedingt:
Pichler müsse sich von seinen Parteigenossen vollständig lossagen und
die Politik links liegen lassen.

Das versprach Otto gern.


7.

In aller Stille hatten Fritz und Eva Hochzeit gehalten. Wieder
entrüsteten sich die Gutgesinnten Neubergs, weil kein Priester dabei
war, aber ihre Ungnade schadete den Betroffenen nichts. Wart Nikl blieb
fröhlich und aufrecht, obwohl es jetzt recht einsam um ihn wurde und
nur Frau Hedwig, still und tapfer den Trennungsschmerz verbergend,
in den weiten Wohngemächern waltete, die kurz vorher noch Eva mit
hellem Lachen erfüllt hatte. Jetzt war sie in der Hauptstadt, wo ihr
Mann als Anerkennung und als Entschädigung für das Kerkerjahr die
verantwortliche Leitung der Freien Blätter erhalten hatte, und nichts
war von ihr zurückgeblieben, als ein paar eingerahmte Bilder an den
Wänden und ein paar vergessene Bänder und Maschen in den Schrankfächern.

Kolben hatte den jungen Eheleuten den ersten Stock seines
Familienhauses vermietet. Alle Zimmer ließ er neu tapezieren, die
Parketten ausbessern, die Küche malen, und ins Badezimmer kam ein
Gasofen. So war alles neu und schön und hell, ein funkelblankes Nest
der Häuslichkeit und des jungen Eheglücks.

Und sie waren glücklich. Ein wackerer Kamerad, ging Eva vom ersten
Tage an neben ihrem Manne, heiter, blühend, mit sonnigen Augen
und verstehendem Herzen. Nicht eine Sekunde empfand er, daß mit
ihr etwas Fremdes und bisher Ungewohntes in sein Leben gekommen.
Selbstverständlich wie ihre Verlobung, war auch ihr Zusammenleben,
schlicht, einfach und natürlich, ein Ehefrühling, wie er zur Zeit der
Schneeschmelze und der ersten Weidenkätzchen ernst und keusch und
mit frommer Weihe die Erde überkommt, wenn jeder Baum mit tausend
Knospen betet und die unschuldigen Saaten sich im hellsten Sonnenglanz
dem Mutterschoß der Scholle entringen. Nie war ein falscher Ton,
ein gemachtes Empfinden zwischen ihnen. Sie gaben sich und nahmen
einander, wie sie waren, ehrlich und herzlich schritten sie Seite an
Seite, wußten, was sie aneinander hatten und brauchten es sich nicht
erst zu sagen. Ein warmer Blick, ein Kuß war alles, was ihre vornehm
zurückhaltenden Naturen an Zärtlichkeit zu verschwenden hatten. Und es
genügte ihnen. Eva war fröhlichen, kindlichen Sinns und hatte nichts
von dem tief bohrenden, grüblerischen Wesen ihres Mannes. Aber sie
fühlte mit dem Herzen, wo ihr Geist nicht fassen konnte und hatte jene
Einfalt des Gemütes, die das Echte herausspürt und das Erkünstelte
zurückstößt, ohne für die Zuneigung hier und den Widerwillen dort einen
Grund angeben zu können. So ergänzte sie ihren Gatten aufs beste und
nahm in gleicher Weise von seinem Ernst wie er von ihrem Frohsinn an.

Nach den ersten Wochen besuchte Kolben das junge Paar fast täglich.
Als Backfisch hatte Eva den unerschütterlich gelassenen Menschen
nicht ausstehen können. Jetzt wurde er ihr bald sympathisch. Er war
ihr überall behilflich, wußte vorteilhafte Einkaufsquellen anzugeben,
wurde ihr Berater in allen den kleinen Sorgen des Haushalts, für die
Fritz durchaus kein Verständnis aufbringen konnte. Ihm war es als
Junggesellen ganz gleichgültig gewesen, ob ein Anzug hundert oder
zweihundert Kronen kostete, wenn er nur halbwegs paßte. Und wenn er
faltig wurde, gab er ihn einem Schneider zum Aufbügeln, und mochte
dessen Forderung noch so unverschämt sein, er bezahlte sie und war
deshalb ein geschätzter Kunde. Das wurde jetzt anders. Denn Eva war
sparsam und verstand zu rechnen. Sie wollte niemanden übervorteilen,
aber auch selbst nicht übervorteilt werden, ließ jedem genau das
zukommen, was ihm gebührte, keinen Heller mehr noch weniger, und
buchte Einnahmen und Ausgaben. Und wenn dann der Schuster für ein paar
Stiefelsohlen drei Kronen fünfzig verlangte, sagte sie und zeigte es
ihm schwarz auf weiß: „Vor vier Monaten hat das nur drei Kronen zehn
gemacht, wenn Sie teurer werden wollen, kann ich bei Ihnen nicht mehr
arbeiten lassen!“, worauf der Handwerker zwar von unerschwinglichen
Lederpreisen und Teuerung zu reden anfing, gewöhnlich aber doch seine
Forderung auf das frühere Maß einschränkte. So hatte sie ihre liebe Not
und freute sich, daß Kolben da war, mit dem sie darüber reden und sich
beraten konnte.

Fritz aber steckte wieder bis überm Hals in der Arbeit. Während
der zweijährigen Unterbrechung war ihm manches fremd geworden, die
Zusammenhänge mußten wieder gefunden, das Versäumte mußte nachgeholt
werden. Dazu kam das Lesen der Bürstenabzüge seines zweibändigen
Werkes, das demnächst erscheinen sollte. Und als es erschien, aus
der Zeit heraus entstanden, sachlich und frei von einseitiger
Parteilichkeit, als es von der Kritik mit lautem Beifall begrüßt wurde
und fast alle Blätter ohne Unterschied günstige Besprechungen brachten,
einige wohl auch im Überschwang den Anbruch einer neuen Epoche der
Volkswirtschaftslehre verkündeten, als das alles eintrat, da kam
Hellwig erst recht nicht zur Ruhe.

Sein Buch wurde rasch von der Mode den ‚allgemeinen
Bildungsnotwendigkeiten‘ beigezählt. Wer in Zeitfragen mitreden
wollte, mußte es gelesen haben. Man sprach überall davon, lud den
Verfasser zu Teeabenden und Gesellschaften, die verschiedenen Vereine,
Zirkel und Klube zur Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse, Kultur,
Wissenschaft oder Bildung forderten ihn zu Vorträgen auf, Zeitungen und
Zeitschriften baten ihn um Beiträge.

Anfangs war ihm das lästig, später gewöhnte er sich daran. Von den
Einladungen machte er keinen Gebrauch, Vorträge hielt er selten,
Abhandlungen schrieb er nach wie vor über Dinge, die ihm ans Herz
griffen, und niemals auf Bestellung.

Als sie merkten, daß er nicht mit ihnen heulen wollte, wurden sie
kühler, setzten sein Buch von der Liste der Bildungsnotwendigkeiten
wieder ab und ließen ihn in Ruhe.

In der Partei aber machte sich allmählich eine Strömung gegen ihn
immer bemerkbarer. Erregt und in Bewegung gehalten wurde sie von
dem ehrgeizigen Leibinger, der auf den Posten des verantwortlichen
Schriftleiters gehofft hatte und sich nun von einem jüngeren verdrängt
sah. Er war Mitglied der Parteileitung und hatte sich unentbehrlich
zu machen verstanden durch eine Art widerlicher Zuvorkommenheit und
händereibender Salbung, mit der er sich zu den unangenehmsten Aufgaben
drängte. Niemand mochte den schmalbrüstigen Menschen so recht leiden,
der mit eingeknickten Knien immer leise ging, aber man duldete und
ertrug sein unsympathisches Wesen, weil er brauchbar war, erfinderisch
und gleich gut geübt im jähen Überrumpeln, wie im langsamen Erdrosseln
der Gegner.

Jetzt benützte er den Anlaß, fand heraus und sagte es heimlich allen,
daß viele Ansichten und Grundsätze in dem gepriesenen Werke Hellwigs
eigentlich dem Parteiprogramm zuwider liefen, ja manchmal geradezu der
heutigen Gesellschaftsordnung ein Loblied sangen. Und er hatte mit
diesen Behauptungen um so eher Erfolg, als der Parteiobmann Anheim
und alle, die mit ihm der Leitung angehörten, überzeugte Anhänger der
Marxschen Lehre und geschworene Feinde aller Revisionisten waren.

Offen wagte man sich vorerst freilich nicht an den verdienstvollen
Mann heran. Aber zu fühlen bekam er es doch, daß man mit seinem Wirken
nicht mehr ganz einverstanden war. Man schob ihn beiseite, wo es nur
halbwegs anging, faßte Beschlüsse, ohne ihn um seine Ansicht zu fragen,
und verschwieg ihm manches, was der verantwortliche Schriftleiter
als erster hätte wissen müssen. Anfangs achtete er nicht darauf.
Aber als es sich öfter wiederholte, als er sogar in seinem eigenen
Blatt bloßgestellt wurde, fiel es ihm auf. Er wurde stutzig, führte
Beschwerde, forschte nach dem Grund. Man gab ausweichende Antworten,
entschuldigte sich wohl auch mit einem Versehen. Aber beim nächsten
Anlaß machte man es ihm wieder so. Kolben wollte ihm die Augen öffnen.
Fritz hörte nicht auf ihn. Er schrieb das geänderte Verhalten der
Genossen einer flüchtigen Verstimmung zu und ließ sich die schöne
Zuversicht nicht rauben, daß alles bald wieder seinen rechten Gang
gehen werde.


8.

Da wurde der Reichsrat aufgelöst, weil er der Regierung nicht zu Willen
war. Neuwahlen wurden angeordnet. Die nordböhmischen Bergarbeiter
wandten sich an Hellwig, daß er in ihrem Wahlkreis kandidiere.
Pflichtgemäß fragte er die Parteileitung um ihre Meinung. Die sagte
weder ja noch nein, vertröstete ihn auf später.

Und nun begann der aufreibende Wahlkampf mit seiner rastlosen Agitation
und den ungezählten Versammlungen in allen Bezirken. Und während
Hellwig von Versammlung zu Versammlung fuhr, an einem Tage oft in drei,
vier Sälen sprach, dabei die Freien Blätter leitete und, ein immer
wacher Kämpfer, die Machenschaften der Gegner aufdeckte, durchquerte
und vereitelte, waren in seiner eigenen Partei Leute an der Arbeit,
die seine Stellung zu untergraben und seinen Einfluß zu brechen sich
redlich bemühten. Er war ihnen zu bekannt, zu berühmt, zu volkstümlich
geworden. Sie fürchteten, daß er ihnen über den Kopf wachsen, daß er
sie verdrängen und die Führerschaft ganz an sich reißen könnte. Er
dachte nicht daran. Ihm ging es um die Sache, die er für gut hielt
und mit dem Einsatz aller Kräfte fördern wollte. Sie aber erwogen
alle Möglichkeiten, bangten für ihre Ämtlein und fürchteten und
beneideten und haßten ihn heimlich sehr. Die Massen jubelten ihm zu,
ihre erkorenen Führer aber saßen in geheimen Konventikeln beisammen
und rieten hin und meinten her, wie sie dem beliebten Mann Schlingen
legen und ihn unauffällig zu Fall bringen könnten. Und wenige gab es
unter diesen Ratern und Meinern, die frei und unparteiisch urteilten.
Er hatte aber auch fast jeden schon einmal vor den Kopf gestoßen, weil
er nie mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, sondern sie immer klipp
und klar und rücksichtslos heraussagte. Das trugen sie ihm nach und
schmollten und grollten und nannten ihn grob, unduldsam, hochfahrend.
Und sahen doch ruhig zu, wie er den Hauptteil der Wahlarbeit für sie
tat. Mochte er sich plagen und abrackern, das kam der Partei zugute und
im richtigen Augenblick wollten sie schon auf dem Posten sein.

Aber auch Kolben wachte und war sehr beschäftigt. Bedachtsam, ohne
Übereilung, wie ein schlauer Kundschafter, sondierte er und horchte
herum, und als er genug erfahren hatte, machte er sich auf und fuhr
in das nordböhmische Kohlengebiet. Denn von dort kamen beunruhigende
Nachrichten. Gerüchte von einem neuerlichen Streik waren in den
letzten Jahren mehrmals laut geworden. Jetzt aber erhielten sie sich
hartnäckig, nahmen bestimmtere Formen an und wollten nicht wieder
verstummen.

Das Ziel seiner Reise verriet der Doktor nicht, er brauchte auch von
niemandem Abschied oder Urlaub zu nehmen. Er war ganz unabhängig und
hatte sich in der Leitung der Kunstnachrichten, die er den Freien
Blättern ohne Entgelt besorgte, vollständige Freiheit ausbedungen. Nur
Eva mußte es wissen, weil sie gewohnt war, ihn täglich zu sehen, mit
ihm Einkäufe besorgte oder spazierenging. Er war ihr einziger Bekannter
in der großen Stadt, und wenn sie ihn nicht gehabt hätte, wäre sie
den größten Teil des Tages ganz einsam gewesen. Denn ihren Mann bekam
sie jetzt fast gar nicht zu Gesicht, er kam spät nachts heim, müde
und abgehetzt, aber mit der ersten Sonne war er schon wieder auf den
Beinen, sah hastig die Morgenblätter durch und konnte das Frühstück
kaum erwarten. Und wenn sie es brachte, aß er hastig und verabschiedete
sich zerstreut und fahrig, lief manchmal auch, die bevorstehenden
Arbeiten überdenkend, überhaupt ohne Gruß davon.

Sie fand sich auch damit ab, hoffte geduldig auf die Wiederkehr
ruhigerer Zeiten und blieb heiter und zufrieden. Wenn sie mit den
häuslichen Arbeiten fertig war, -- viel zu tun gab es nicht, weil
Fritz, um keine Zeit zu verlieren, jetzt auch das Mittagessen in
der Stadt nahm --, spielte oder sang sie sich ein Lied, ging in den
Garten, pflegte ihre fünf Rosenstämmlein, nähte oder lag lesend
oder träumend in der Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln
und freute sich auf das Erscheinen Kolbens und auf das Ende ihrer
Einsamkeit. Sogar übermütig konnte sie dann werden. Der Übermut lag
ihr nun einmal im Blut und ließ sich auch von ihrer jungen Frauenwürde
nicht unterkriegen. Um den Doktor zu necken, versteckte sie sich vor
ihm ganz tief in die Fliederhecken oder in die dichten Jasminbüsche,
daß auch nicht ein Zipfelchen ihres Kleides, kein Schimmerchen ihres
Blondhaars sichtbar war. Zusammengekauert hockte sie in ihren grünen
Schlupfwinkeln und rief „Herr Doktor!“ und wenn er sie nicht gleich
fand, war sie froh wie ein Schulkind und lachte ausgelassen.

Als er ihr seine Abreise melden wollte, lag sie in der Hängematte. Sie
erblickte ihn von weitem, wie er langsam, in seiner gemessenen Art, den
gelben Kiesweg heranschritt, machte die Augen fest zu und stellte sich
schlafend. Aber manchmal blinzelte sie doch blitzrasch zwischen kaum
geöffneten Lidern nach ihm hin und sah, wie er näher kam und zauderte
und stillstand, unschlüssig, ob er sie wecken sollte. Sie hielt sich
ruhig, veränderte keine Miene und atmete gleichmäßig fort. Da wagte er
es, tat vorsichtig einen Schritt vorwärts und noch einen. Jetzt fühlte
sie, daß er ganz nahe sein mußte, hörte das Knistern seiner Kleider --
und wie sie, zu fröhlichem Lachen bereit, die Lider voll aufschlug, da
war sein ernstes Gesicht dicht über dem ihren -- sie bemerkte ein paar
winzige Puderstäubchen im bläulichen Anflug der eben erst rasierten
Wangen -- und von seinen Augen waren alle Schleier gefallen. Ein warmer
Glanz war in ihnen und das innige Leuchten einer großen Liebe. Nur eine
Sekunde war das so. Dann erlosch alles wieder, der Doktor stand in
lässiger Haltung, wie immer, vor ihr und gleichmütig wie immer fragte
er, ob er störe.

Sie aber war ganz aufgeregt, sprang aus dem Netzgeflecht und in
der ersten Ratlosigkeit einer ihr neuen Erkenntnis sagte sie mit
überquellendem Empfinden: „Sie armer Doktor!“

„Warum?“ antwortete er ihr in seinem gemütlichsten,
freundschaftlichsten Ton. Doch sie dachte nur an das Geschaute,
hatte erkannt, daß er ihretwegen litt, vielleicht seit Jahren leiden
mußte, und um ihm nur irgend etwas Liebes zu tun, legte sie mit einem
hindrängenden Schritt beide Hände auf seine Schulter. „Armer Doktor!“
sagte sie nochmals. Da wußte er, daß sie alles gesehen hatte, wurde
ein klein wenig blässer und richtete sich straff auf. „Ich brauche Ihr
Mitleid nicht, gnädige Frau!“ sagte er schroff.

Nun war sie ihrer Unüberlegtheit erst inne, errötete noch mehr, und die
Tränen sprangen ihr hell von den Wimpern. „O Gott!“ rief sie bestürzt.
„Hab’ ich Sie gekränkt? Das wollte ich nicht! Ich schätze Sie ja so!
Ich kenne keinen Menschen nach Fritz, den ich lieber hätte! Sie dürfen
mir nicht bös sein! Sie sind mir nicht böse, nicht wahr, nein?“

Kolben war schon wieder der Alte. „Sie sind ein rechtes Kind, Frau
Eva!“ erwiderte er mit seinem spöttischen Lächeln. „Wie kann man nur
am hellichten Tag so närrisch träumen! Lassen Sie’s gut sein, mir
geht’s so kannibalisch wohl, daß ich jedem ein derart ausgezeichnetes
Wohlbefinden wünschen kann. Ich bin Herr meiner Zeit, kann mir’s
einrichten, wie ich will und Vergnügungsreisen machen, wann ich will.
Was ich beispielsweise noch heute zu tun gedenke.“

„Sie wollen fort?“

„Jawohl, in drei Stunden geht mein Zug. Um Ihnen das mitzuteilen,
bin ich eigentlich herunter gekommen. Mindestens vier Tage werde ich
fortbleiben. Es ist mir erschrecklich leid, daß ich den Stoff zu
Ihrem Herbstkleid nicht mit aussuchen kann. Denn wie ich die edle
Weiblichkeit kenne, duldet so was keinen Aufschub.“

„Doktor!“ rief Eva zornig. „Sie sind heute abscheulich!“

Er verneigte sich leicht. „Das freut mich, Frau Eva, das freut mich
sehr! Weil ich nunmehr ganz beruhigt abreisen kann, mit dem erhebenden
Bewußtsein, daß meine verehrte Gönnerin froh sein wird, von meiner
abscheulichen Gegenwart wenigstens auf kurze Zeit verschont zu bleiben.“

So sprach er und sprach noch manches in derselben Tonart, so daß Eva
schließlich an sich selbst ganz irr wurde und nicht mehr wußte, ob sie
in der schaukelnden Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln nicht
doch vielleicht geträumt und einen Traum für Wirklichkeit genommen
hatte.


9.

Als Kolben sich zu seiner Reise entschlossen hatte, war Leibinger aus
den Kohlendistrikten gerade wieder in die Hauptstadt zurückgekehrt.
Tags darauf erschien eine Abordnung der Bergleute bei der
Parteileitung. Sie erklärte, daß man zur sofortigen Arbeitseinstellung
fest entschlossen sei und fragte an, ob man mit Unterstützungen aus
der Streikkasse werde rechnen können. Fritz sprach sich entschieden
gegen alles aus. Anheim, Leibinger und die übrigen aber brauchten
Ausflüchte, wollten in Hellwigs Gegenwart nicht Farbe bekennen, und
schließlich gab Leibinger den Leuten einen Wink, sie möchten später
noch einmal vorsprechen. Und sie verstanden das und entfernten sich.
Als sie fort waren, sprach Hellwig noch eine halbe Stunde lang sehr
eindringlich über alle Hindernisse, die dem Streik gerade jetzt, knapp
vor den Wahlen, im Wege standen. Man hörte ihn schweigend an, nickte
manchmal oder schüttelte die Köpfe, wie er so seine Gründe an allen
zehn Fingern herzählte, aber kein Wort fiel dafür oder dawider. Man
müsse sich das noch reiflich überlegen, war schließlich alles, was
Anheim mit Räuspern und Hüsteln vorbrachte. Dann mußte Hellwig in eine
Wählerversammlung der Gegner und hinterher noch in zwei der eigenen
Partei, und jetzt erst, als sie sich vor ihm sicher wußten, tauten
Leibinger und Mark auf, wurden lebhaft und hatten mit den wieder
erschienenen Bergleuten eine lange Besprechung.

Den übernächsten Tag kam Kolben am frühen Morgen zu Fritz, der noch
in Hemdärmeln mit Kamm und Bürste hantierte. Der Doktor war die ganze
Nacht gefahren und sah verstaubt und abgespannt aus.

„Was bringst du so zeitig, Albert?“ fragte Fritz ein wenig erstaunt.

„Nur meine Neugier!“ antwortete Kolben und ging ohne Umschweife auf
sein Ziel los. „Ich hab’ nämlich gehört, daß der Streik beschlossene
Sache sein soll.“

„Da hast du dich gründlich verhört!“ lachte Hellwig. „Im Gegenteil, es
ist so gut wie sicher, daß jetzt nicht gestreikt wird.“

„So, so ... Weißt du, ich komm’ gerade von den Schächten ... Es ist
eine Abordnung dagewesen, das weißt du ja ... nun, und die ist gestern
heimgekommen mit der Meldung, daß es am Montag, also in vier Tagen,
losgehen kann ...“

Dröhnend schmetterte Hellwigs Faust auf den Tisch. „Das ist nicht
möglich!“ schrie er.

Kolben zuckte die Achseln. „Ist aber trotzdem so. Ich sag’ dir,
gejubelt haben sie über die Nachricht. Mich haben sie ausgelacht. Zwei
Agitatoren sind gleich mitgekommen. Leibinger will morgen hin ...“

„Das ist nicht möglich!“ sagte Fritz nochmals und war ganz blaß.

„Wenn du mir nicht glaubst, -- im Verbandsheim wirst du’s ja erfahren.“

„Ja -- ich werde es erfahren ...“ murmelte Fritz mit aufeinander
liegenden Zähnen. Dann reckte er sich hoch. „Ich geh’ gleich hin!
Kommst du mit?“

Sie gingen. Im Beratungszimmer fanden sie Leibinger, Mark und den
Obmann Anheim. Das war ein hagerer Greis mit einem mächtigen kahlen
Schädeldach und buschigen Brauen über zwei herrischen Augen. Mit fester
Hand hielt er die Zügel, war unbestechlich, ehrlich und treu, aber
kannte auch kein Nachgeben. Was er sagte, stand wie ein Block, an dem
nicht gerüttelt werden durfte, und alle fügten sich ihm. Auch Mark, der
seichte Schwätzer, der gewaltig war im Schimpfen und im Aufpulvern der
Massen. Wie ein Kutscher sah er aus mit seinen ganz kleinen Augen, der
engen Stirn und dem pechschwarzen Haar, das reichlichste Pomade nicht
geschmeidig machen konnte.

„Also, da seid ihr ja beisammen!“ begann Hellwig mit fliegendem Atem
und sprang ohne Umschweife mitten in die Sache hinein. „Ihr habt hinter
meinem Rücken den Streik beschlossen? Das gibt’s nicht! Das dulde ich
einfach nicht!“

„Oho!“ sagte Anheim.

„Jetzt ist’s zu spät!“ ließ sich Mark vernehmen. Und Leibinger lachte
spöttisch: „Ich denke, du hast hier weder was zu dulden, noch zu
befehlen!“

Kolben rückte sich ein wenig auf seinem Stuhl zurecht. „So kommen wir
nicht vom Fleck!“ meinte er. „Fangen wir schön von vorn an. Warum soll
denn eigentlich gestreikt werden?“

„Sehr richtig, das möchte ich auch wissen!“ platzte Mark heraus.
Leibinger aber fiel ihm sofort ins Wort: „Der Grund ist doch schon
längst bekannt. Die vereinbarte Arbeitszeit soll vom Zeitpunkt des
Einsteigens in die Förderschale bis zum Zeitpunkt des Aussteigens
gerechnet werden. Nicht, wie die Kohlenbarone rechnen, von der Ankunft
bei der Arbeitsstelle im Schacht bis zum Niederlegen des Werkzeugs
dortselbst. Denn um zur Arbeitsstelle zu gelangen, müssen die Leute oft
stundenlang im Stollen gehn, so daß sie elf und noch mehr Stunden unter
der Erde sind, statt der vereinbarten neun.“

„Ja, aber da haben die Leute doch ganz recht, wenn sie sich das nicht
gefallen lassen!“ bekräftigte jetzt Mark und tat sehr entrüstet.

Hellwig sagte darauf: „Die Forderung ist berechtigt, gewiß! Das habe
ich schon hundertmal gesagt! Aber ebenso oft hab’ ich euch vorgehalten,
daß es jetzt einfach unmöglich ist, sie mit Gewalt durchzusetzen.
Die Leute haben sich kaum vom letzten Ausstand erholt. Sommer ist
auch. Die Lieferungen sind nicht dringend, die Grubenbesitzer können
zuwarten, haben Zeit, haben die öffentliche Meinung für sich, da die
Ursache des Streiks zu geringfügig, zu mutwillig erscheint. Und wir
haben jetzt auch die Mittel nicht, sie wirksam zu unterstützen. Auf den
Schiffswerften streiken achttausend. Wo sollen wir’s denn hernehmen?
Fragt Kolben! -- Wie viel hast du in der Streikkasse!“

„Warte!“ erwiderte dieser und rechnete leise vor sich hin.
„Zwanzigtausendsechshundertzwei Kronen vierzehn-- zuletzt sind siebzehn
Kronen acht dazu gekommen: --Zwanzigtausendsechshundertneunzehn Kronen
zweiundzwanzig Heller!“

„Da habt ihr’s! Das reicht kaum vier Tage!“

Leibinger unterbrach ihn schnell: „Es ist weitaus genug, wenn man die
Spenden hinzurechnet. Und gar so lang kann’s nicht dauern!“

„Leibinger, nimm doch Vernunft an!“ rief Hellwig.

„Das möcht’ ich _dir_ raten! Wir _müssen_ Erfolg haben!“

„Auch ich wäre für den Versuch!“ bemerkte Anheim. „Im Notfall kann die
Arbeit jeden Tag wieder aufgenommen werden.“

„Und soundsoviel Lohntage sind beim Teufel!“ sagte Fritz grimmig. Da
glaubte Mark ein kräftiges Beweismittel gefunden zu haben.

„Die Wahlen stehen vor der Tür!“ rief er laut. „Hat der Streik Erfolg,
sind wir unüberwindlich!“

Kolben griff das unüberlegte Geständnis sogleich auf. „Ich danke Ihnen
für das erlösende Wort, Herr Mark! Ja, Fritz! Die Wahlen stehen vor der
Tür, und Leibinger will Abgeordneter werden.“

„Wer sagt das?“

„Ich, Herr Leibinger! Glauben Sie, ich weiß nicht, daß Fritz Hellwig
Ihrem Ehrgeiz im Wege ist? Daß Sie gern an seiner Stelle Schriftleiter
sein möchten? Und ihm das Abgeordnetenmandat neiden, obwohl er’s noch
nicht hat?“

„Nicht weiter, Albert!“ unterbrach ihn Hellwig unwillig. „Das gehört
nicht her!“

Und Leibinger, kühn gemacht, schrie: „Verleumdung!“

Kolben aber sprach unbeirrt fort, mit seinem leicht ironischen Lächeln,
mit seiner großen Ruhe und sehr sarkastisch:

„O gewiß gehört das her! Es war kein Zufall, daß ich ins Kohlengebiet
gereist bin, gleich nachdem Herr Leibinger von dort zurück war. Ganz
und gar kein Zufall war das. Und da hab’ ich so manches gehört, mein
lieber Fritz. Das, was ich eben von ihm behauptet habe, hat Herr
Leibinger den Leuten nämlich über dich gesagt, wenn auch vielleicht
nicht mit so feinen Worten. Du, Fritz, seist der Streber, der
Mandatsjäger, der unverläßliche Mitläufer, der alles zu seinem Vorteil
nützt und so weiter. Und als Beweis soll dienen: Du werdest gegen den
Streik sein, denn du spielst mit den Grubenbesitzern unter einer Decke.
Jemand hat mir sogar anvertraut, im Rausch natürlich, du seist von
ihnen bestochen.“

Fritz stand da, hatte die Fäuste geballt und starrte mit weiten Augen
den Sprecher an.

„Ist -- das -- wahr?“

„Ich hörte es so!“

„Ich verwahre mich gegen eine solche Infamie!“ rief Leibinger. Der
Doktor beachtete ihn nicht.

„Wenn ich nach dem Ursprung dieser Gerüchte fragte,“ fuhr er trocken
fort, „hat’s immer geheißen, die Gegenpartei behauptet es. Aber einer,
der mir sehr zugetan ist und für dessen Verläßlichkeit ich jede
Bürgschaft übernehme, hat es im Interesse der Partei bitter beklagt,
daß -- Herr Leibinger solche Sachen in Umlauf setze.“

„Nennen Sie den Namen!“ rief Leibinger. Und Mark unterstützte ihn
mächtig: „Namen nennen! Namen nennen!“

„Sparen Sie sich den Atem, meine Herrn!“ erwiderte Kolben und spielte
mit seiner Uhrkette. „Den Namen geb’ ich Ihnen nicht preis!“

„Aha!“ frohlockte Leibinger. „Dergleichen kennt man! Alles ist
erstunken und erlogen!“

Kolben lehnte sich faul zurück: „Ich pflege zwar sonst nicht zu lügen,
aber wenn Herr Leibinger es sagt ...“

Fritz aber trat mit schweren Schritten hart vor diesen hin, der
aufgesprungen war und sich vergebens mühte, den unschuldig Gekränkten
zu spielen. Mit seinem hellen Blick schaute ihm Hellwig ins Gesicht
und sprach leise, mit erzwungener Ruhe: „Also -- deswegen! Damit du --
deine eigenen Ziele -- erreichst, sollen Zehntausende -- sollen sie
tage- -- vielleicht wochen- und monatelang -- hungern. Höre, Leibinger,
ich bin“ -- er tat einen tiefen Atemzug und seine Stimme war spröd wie
splitterndes Glas -- „ich bin nicht gewohnt, -- mit Lumpen dieselbe
Luft zu atmen!“

Leibinger lachte schrill auf und schrie: „Ich bin hier genau so
viel wie du! Übrigens -- mit Beleidigungen wirst du dich nicht
rechtfertigen! Eher bestärkst du unsere Gegner in dem Verdacht, daß
doch was Wahres an der Geschichte ist!“

Anheim hielt sich für verpflichtet, einzuschreiten.

„Hellwig, das geht zu weit!“ mahnte er. Und Mark sekundierte: „Wir sind
keine Lausbuben!“

Der Obmann fuhr fort: „Auf eine Anschuldigung, die sehr
unwahrscheinlich klingt, -- ich sage nichts gegen Herrn Doktor Kolben,
er kann falsch berichtet worden sein, -- auf eine vage Anschuldigung
hin willst du den Stab über einen verdienten Genossen brechen?
~Audiatur et altera pars!~ Sei gerecht!“

Und Mark sekundierte: „Wo sind die Beweise?“

Da schäumte Fritz auf.

„Der das gesagt hat,“ rief er leidenschaftlich, „der wiegt mir hundert
Zeugen auf!“

Nun erhob sich der Obmann, räusperte sich und sprach, als redete
er in einer Volksversammlung. „Ich muß,“ sprach er, „mich im Namen
der gesamten Partei, die zu führen ich die Ehre habe, auf das
nachdrücklichste gegen ein solches Vorgehen verwahren. Wer bist du
denn, Hellwig, daß du glaubst, mit uns wie mit Schuljungen umspringen
zu können? Jedenfalls steht hier, wie ich schon betont habe, Behauptung
gegen Behauptung und erst die einzuleitende strenge Untersuchung wird
ergeben, auf wessen Seite das Recht ist!“

„Beweise! Wo sind die Beweise!“ rief Mark.

„Herr Mark!“ sagte Kolben. „Wir sind nicht taub. Wozu beweisen, was
schon längst nicht nur mir allein bekannt ist. Ihr wißt es ja alle
recht gut und freut euch darüber, daß Leibinger für euch die Arbeit
tut. Ihr wollt den Hellwig los sein. Er ist euch zu groß geworden, drum
soll er ganz klein werden! So oder so!“

Fritz stand ganz dicht vor den drei Männern.

„Leute!“ bat er mit gefalteten Händen. „Seid aufrichtig! Wenn ihr schon
etwas gegen mich habt, so hetzt nicht heimlich in so gemeiner Weise
gegen mich, daß die, denen ihr Führer und Berater sein sollt, das Bad
aussaufen müssen, sondern habt den Mut, mir’s offen und ehrlich ins
Gesicht hinein zu sagen!“

Da sprach Anheim mit erhobener Stimme: „Hellwig, es ist durch nichts
bewiesen, daß sich Leibinger in irgendeiner Weise unkorrekt benommen
hat. Daran müssen wir festhalten. Daß du nunmehr auch uns in Bausch
und Bogen verdächtigst, zeigt, wie falsch dein Standpunkt in dieser
Angelegenheit ist. Deine Mitarbeiterschaft war uns stets wertvoll ...“

„Das heißt, sie ist es gewesen!“ erläuterte Mark.

„Aber,“ fuhr Anheim fort, „aber in letzter Zeit sind Dinge vorgefallen,
die geeignet sind, dich und deine Stellung zu unserer Sache in einem
schiefen Licht erscheinen zu lassen. Namentlich als dein Buch
herausgekommen ist, das du auf den Markt geworfen hast, ohne uns zu
fragen --“

Da sagte Kolben mit unverhohlenem Spott: „Ich denke, die Herren sind
entschiedene Gegner der Zensur!“

Steif wehrte der Obmann den Ausfall ab: „Hier liegt der Fall doch
anders! Ein Parteimitglied schreibt gegen die eigene Partei! So was ist
noch nicht dagewesen! Ja, Hellwig, dein Werk kommt vielen von uns vor
wie die Schriften der Jesuiten. Man kann das, was du sagst, so oder so
deuten.“

„Wasch’ mir den Pelz und mach’ mich nicht naß!“ nickte Mark eifrig.

Jetzt tat der Doktor, was selten bei ihm vorkam, er lachte hell auf:
„Klarer als Hellwig hat doch nicht so bald einer seine Ansichten
niedergeschrieben!“

„Das dachten wir im Anfang auch. Als jedoch fast alle Gegner das
Buch eines ihrer gefürchtetsten Widersacher zu loben anfingen -- von
_dem_ Lob fällt ein ganz eigentümlicher Widerschein auf die etwas
krausen Wege des Verfassers. Das wäre der erste Punkt. Zweitens hast
du, Hellwig, oft und oft scharfe Artikel erprobter Anhänger entweder
gar nicht oder nur in sehr verwässerter Form in das Parteiblatt
aufgenommen. Und sonderbarerweise waren das immer Artikel, die gewissen
geld- oder einflußreichen Leuten auf die Finger klopfen sollten.“

Fritz war einfach sprachlos. Er hatte die schöne Gepflogenheit, jeden
Aufsatz, der die mangelnde Sachlichkeit durch Schmähungen zu verdecken
suchte, dem Verfasser zurückzuschicken. Das war alles.

Anheim setzte seine Anklage fort:

„Drittens endlich widerrätst du auch den Streik, von dessen
Notwendigkeit wir alle überzeugt sind. Kurz und gut: Ich halte es
entschieden für einen Fehler, der scharfe Mißbilligung verdient, wenn
sich Leibinger des von Herrn Doktor Kolben behaupteten, aber durch
nichts bewiesenen Vorgehens gegen dich schuldig gemacht hat. Indes,
nach dem Vorgesagten, hätte er -- nach meiner Ansicht und nach der
Ansicht vieler Parteimitglieder -- gegen den Freund Otto Pichlers zwar
in der Form, kaum aber in der Sache unrecht gehabt. Bedingungslos
vertrauen können wir dir nicht mehr. Wir haben das übrigens in
einer vertraulichen Sitzung schon früher festgestellt, und ich bin
beauftragt, alle diese Dinge beim nächsten Reichsparteitag zur Sprache
zu bringen. Wenn ich sie dir vorher mitteile, um dir die Rechtfertigung
zu erleichtern, so erblicke darin einen Beweis, daß wir dich nur ungern
verlieren würden.“

Fritz war ganz farblos. Aber seine Augen funkelten wie Stahl in der
Sonne.

„Bist du -- zu -- Ende?“ keuchte er und preßte die Faust gegen die
Brust, um dem übermächtigen Pochen des Herzens Einhalt zu tun. Anheim
bejahte mit einem stummen Neigen des kahlen Hauptes. Da warf er den
Kopf zurück und gewaltsam die Erregung zerdrückend, sprach er erst
stoßweise und unsicher, dann immer kälter und verächtlicher:

„Der langen Rede kurzer Sinn ist: Ich -- bin von den Geldmännern der
bürgerlichen Parteien -- bestochen -- käuflich wie eine Marktware.
Daß ich -- euch nicht zu Gesicht stehe -- wundert mich nicht. Aber
-- daß ihr so jämmerlich seid, daß ihr so erbärmlich niedrig denken
könnt -- macht das mit euch selber aus. Eins nur noch: Ich bin der
festen Überzeugung, daß nur der Zufall drei solche Prachtexemplare in
derselben Parteileitung zusammengeführt hat. Die Partei achte ich nach
wie vor -- aber betrachtet um euretwillen meinen Austritt mit dieser
Sekunde als vollzogen ...“

Anheim hatte sich wieder erhoben.

„Wir werden Ihren Entschluß der Partei zur Kenntnis bringen,“ sagte er
förmlich.

Und als Hellwig bereits die Klinke in der Hand hatte, rief ihm Mark
noch schadenfroh nach: „Der Streik beginnt natürlich Montag!“

Da wandte er sich und seine Augen lohten.

„Der Streik beginnt _nicht_!“

Mark lachte höhnisch, und Leibinger tat jetzt wieder den Mund auf:
„Setz’ dich nur aufs hohe Roß, du dunkler Ehrenmann!“ rief er. „Wir
bringen dich schon herunter!“ Aber Hellwig hatte bereits die Tür hinter
sich zugemacht.

Im Lesezimmer stand er wie betäubt. Kolben legte ihm die Hand auf den
Arm: „Nun, Fritz?“

„Laß nur, Albert ... laß!“

Den gläsernen Briefbeschwerer nahm er vom Tisch, hielt ihn gegen das
Licht, sah hindurch und legte ihn aufs Fensterbrett. Er ließ das
Gewebe der Stoffvorhänge durch seine Finger gleiten, als wollte er die
Festigkeit der Fäden prüfen. Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus
und schloß es dann gleich wieder.

Immer heftiger arbeitete es in ihm. Und endlich sank er, der in seiner
Vertrauensseligkeit Getäuschte, in seiner kinderklaren Arglosigkeit
Betrogene, sank Fritz Hellwig schwer auf einen Stuhl und legte beide
Hände vors Gesicht.

„Das arme Volk!“ stöhnte er zu tiefst aus der Brust heraus. „Das arme,
arme Volk!“


10.

Aber er blieb nicht untätig dem Schmerz hingegeben. Am selben
Nachmittag noch reiste er in den Kohlenbezirk. Pfannschmidt,
telegraphisch verständigt, erwartete ihn. Noch in der Nacht wurde
ein Flugblatt fertig. Den nächsten Abend sollte eine Versammlung, am
Sonntag aber ein Meeting unter freiem Himmel abgehalten werden. Der
anbrechende Morgen fand Hellwig mitten unter den Bergleuten. Er fuhr
von Schacht zu Schacht, verständigte die Knappschaften, verteilte die
Flugblätter.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von seiner
Anwesenheit. In hellen Haufen kamen sie abends in den Versammlungssaal.
Dort hatten sich auch Anheim und Leibinger eingefunden.

Von stürmischem Jubel begrüßt, trat Hellwig hinter den Rednertisch.
Es dauerte Minuten, bevor er sich verständlich machen konnte. Dann
aber wurde es lautlos still. Seine geschulte Rednerstimme war bis in
den entferntesten Winkel des großen Raumes vernehmbar. Leibingers
Anhang versuchte wohl anfangs durch Räuspern und Scharren den Redner
zu stören. Aber Anheim winkte ab. Er hatte sich für das Zuwarten
entschieden.

Was Hellwig sagte, klang auch gar nicht aufreizend. Nüchtern und
sachlich gab er seine Gründe gegen den Streik bekannt. Als sie merkten,
wohinaus er wollte, begannen viele zu murren und dazwischen zu rufen.
Denn sie hatten sich bereits mit dem Gedanken an den Ausstand vertraut
gemacht.

Da flammte er auf. Jedes Wort schlug ein. Und es währte nicht zehn
Minuten, da waren sie wieder in seinem Bann. Aus den geröteten
Gesichtern, die in gespannter Aufmerksamkeit ihm zugewendet waren, aus
den glänzenden Augen, die jeden Satz von seinen Lippen vorwegzunehmen
verlangten, las er die Wirkung, spürte er heraus, daß er wieder Fühlung
mit ihnen hatte. Und als er sie jetzt zur Entscheidung aufforderte, da
stimmten unter tosendem Beifall fast alle gegen den Streik.

Im ersten Anlauf hatte er den Kampf bereits so gut wie gewonnen. Nach
ihm hätte Leibinger zu Wort kommen sollen. Statt seiner stand Anheim
auf. Ein starres Festhalten am Streik konnte der Partei nur schaden.
Das sah der Obmann ein und gab seiner Meinung dahin Ausdruck, daß es
wohl am besten sei, die Entscheidung den Arbeitern zu überlassen. Er
konnte sich an den Fingern ausrechnen, wie die Entscheidung ausfallen
mußte. Doch war der Rückzug geschickt in Szene gesetzt, das Ansehen
der Partei brauchte nicht darunter zu leiden. Von Hellwigs Austritt
erwähnte der Obmann nichts. Er hoffte, da auch Fritz geschwiegen,
daß sich die leidige Geschichte vielleicht doch bis nach den Wahlen
vertuschen oder irgendwie werde beilegen lassen.

Dem Meeting am Sonntag aber schenkte Hellwig ganz reinen Wein ein.
Schonungslos brachte er alles zur Sprache, was zum Bruch geführt hatte
und forderte Leibinger auf, sich zu rechtfertigen. Der jedoch wagte es
nicht. Denn unter den Versammelten waren viele, die seine Ausstreuungen
mit eigenen Ohren gehört hatten und jetzt durch laute Zurufe
bestätigten. Er überließ es Anheim, die verlorene Sache zu führen.
Aber die Leute wollten auch den nicht hören. Sie tobten und schrien,
schleuderten dem Obmann, der auf der Felsplatte stand, ihre Empörung
ins Gesicht. Wer seine Stimme für Leibinger erheben wollte, wurde
niedergebrüllt, mundtot gemacht, mit Püffen und Stößen herumgeschoben,
bis er still war oder sich entfernte.

Es hätte nur eines Winkes von Hellwig bedurft und die Mehrzahl wäre
von der Partei abgefallen. Doch das wollte er nicht. Die Kräfte
durften nicht zersplittert werden, unter dem Gegensatz zwischen
einzelnen durfte die Gesamtheit nicht leiden. Deswegen beruhigte er
die Aufgeregten. Man dürfe, sagte er, das Kind nicht mit dem Bad
ausschütten, weil einer oder der andere sich unwürdig erwiesen habe,
nicht die Partei verdammen. Es sei ihm nicht leicht geworden, den
Kampf aufzunehmen. Aber rechtfertigen habe er sich gerade vor ihnen
wollen und müssen. Und er habe es für seine Pflicht gehalten, sie nach
Pichler vor Leibinger zu bewahren. Nicht gegen die Partei richte sich
sein Angriff, denn die Partei sei rein, habe schon Großes erreicht und
durch feste, lautere Eintracht werde sie alles erreichen. Schließlich
riet er ihnen, einen bewährten Mann aus ihrer Mitte in den Reichsrat
zu entsenden und schlug Karl Pfannschmidt vor. Sie aber verlangten
ungestüm, daß er selbst sich bewerbe. Er weigerte sich. Denn dadurch
wäre der Zwist erst recht entfacht worden. Solang die jetzige Leitung
blieb, konnte er nicht mit der Partei gehen. Und gegen sie wollte er
nicht gehen. Von der Uneinigkeit hätten nur die Gegner Nutzen gezogen.
Und er sagte ihnen, daß er noch einmal zu ihnen kommen werde, wenn sie
es forderten. Er wollte ihnen zu besonnener Überlegung Zeit lassen und
den Ernst ihrer Gesinnung prüfen. Sie jubelten ihm zu, umdrängten und
begleiteten ihn wie einen Triumphator in die Stadt. Dann reiste er ab.

Und sie -- riefen ihn nicht zurück.

Kaum war er fort, setzte heimlich, aber um so gehässiger die Wühlarbeit
gegen ihn ein. Seine Feinde waren durch den schnellen, mit gewaltigem
Ungestüm geführten Angriff überrumpelt worden. Doch da er den Sieg
nicht ausnützte, fanden sie Zeit, sich zu sammeln. Leibinger zeigte
sich nicht mehr. Aber seine Kreaturen waren unermüdlich am Werke.

Fortwährend und überall wurde jetzt von Hellwig gesprochen. Aber es
war nur selten Gutes, was man sich von ihm zu erzählen hatte. Und
nach manchem Für und Wider, nach halben Andeutungen und vielsagendem
Schweigen kam man gewöhnlich überein, es sei eigentlich unerfindlich,
worin sein Verdienst bestehen sollte. Er habe einfach Glück gehabt.
Der große Erfolg von damals sei nicht auf seine Rechnung zu setzen;
dazu habe die Katastrophe, die zur rechten Zeit hereinbrach, das meiste
beigetragen. Die eigentlichen Kämpfer und Sieger seien jedoch die
Arbeiter gewesen. Die allein haben darunter gelitten, dafür gehungert,
die volle Schwere des Feldzuges am eigenen Leib verspürt. Hellwig
habe eigentlich nur zugesehen und geredet. Jetzt aber nehme er die
Lorbeeren ganz für sich in Anspruch, maße sich das Recht an, andere
zu hofmeistern, zu beleidigen, als Spielball zu gebrauchen, seine
Meinungen ihnen aufzuzwingen. Die Freiheit führe er zwar fortwährend
im Munde, aber gleichzeitig übe er unerhörteste Zwangsherrschaft gegen
alle, die ihm nicht unbedingte Gefolgschaft leisten, er habe ganz das
Zeug zum Diktator. Dem müsse vorgebeugt werden. Das Volk müsse selbst
über sich herrschen, dürfe nach niemandes, auch nicht nach Hellwigs
Pfeife tanzen.

So wurde geredet, und die bewegliche Menge, seinem persönlichen
Einfluß entrückt, schenkte diesen Reden gern und willig Gehör. Und da
Leibinger vorderhand doch nicht gut selbst als Wahlwerber auftreten
konnte, war das Schlußergebnis, daß Pfannschmidt wieder als Bergmann
arbeitete, August Mark zum Abgeordneten gewählt wurde und der Streik,
der förmlich Hellwig zum Trotz doch noch versucht worden war, mit einem
Mißerfolg endete.

Der Bruch mit der Parteileitung war Hellwig nicht so nah gegangen
als die Haltung der Bergarbeiter, kurz nachdem sie ihm zugejubelt
und ihn wie einen Halbgott gefeiert hatten. Doch fand er auch hier
Entschuldigungsgründe für ihren Wankelmut. Er war auf halbem Wege stehn
geblieben, hatte den begonnenen Kampf nicht bis zu Ende geführt. Eine
Hanswurstiade war das gewesen, die Leute hatte er verwirrt, ohne ihnen
einen Weg aus dem Irrsal zu zeigen, und es war kein Wunder, wenn sie,
von ihm im Stich gelassen, wieder jenen folgten, an deren Führerschaft
sie nun einmal schon gewöhnt waren. Nachträglich hatte sein Ausscheiden
aus der Partei zwar noch einigen Staub aufgewirbelt, wäre es fast zu
einer Spaltung im geeinigten Lager gekommen. Da er aber nichts von sich
hören ließ, sich ganz vergrub und verschollen blieb, legte sich die
Aufregung, es wurde stiller, und man vergaß ihn allmählich.

Und er wühlte sich immer tiefer in seine Arbeiten hinein, studierte,
las und schrieb die Tage und die halben Nächte durch. Denn er war
jetzt ausschließlich auf die unsicheren Einkünfte angewiesen, die er
von den Zeitschriften für Beiträge gezahlt erhielt. Und da sparte er
und knauserte und versagte sich sogar die gewohnten Zigarren, immer in
Sorge, daß er einmal nicht genug verdienen und gezwungen sein könnte,
die Mitgift seiner Frau anzugreifen.

Und Eva sollte Mutter werden.


11.

Da ließ sich eines Tages Leo Reinholt bei ihm anmelden. Der besaß außer
einem großen Vermögen im Ostwinkel des Reiches eine Tuchfabrik mit
Spinnereien, Webereien, Färbereien und allem, was dazu gehörte. Die
Wohnungen, die er dort seinen Bediensteten aufgebaut, waren musterhaft,
und die Wohlfahrtseinrichtungen, die er sonst noch geschaffen, hatten
seinerzeit viel von sich reden gemacht. Der also ließ sich eines Tages
bei Hellwig anmelden.

Fritz empfing ihn sehr zurückhaltend. „Was verschafft mir die Ehre?“
fragte er steif und wies auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch.
„Wollen Sie Platz nehmen?“

Ungezwungen kam der Fabrikant der Einladung nach. Er war beinahe ebenso
groß, aber schmächtiger als Hellwig, hatte auffallend kleine Hände und
blickte aus hellen braunen Augen treuherzig in die Welt. Im dunklen
Haarschopf leuchtete das Weiß einer werdenden Glatze.

„Haben Sie eine Viertelstunde Zeit für mich?“ fragte er, indem er sich
setzte.

„Da müßte ich wohl zuvor wissen, um was es sich handelt.“

„Das läßt sich nicht so einfach sagen ... Sie sind gegenwärtig ohne
feste Stellung?“

„Über meine Privatverhältnisse glaube ich Ihnen keine Rechenschaft
schuldig zu sein.“

Der andere lächelte leicht: „Gewiß nicht!“ Und immer nur wie ganz
beiläufig und nebenbei fuhr er fort: „Ja, also, wie soll ich Ihnen das
auseinandersetzen? -- Ich habe mich eingehend mit Ihrem Buch befaßt,
sehr eingehend, ja. Und, also, die Vorschläge, die Sie machen, die
scheinen mir durchführbar und, was die Hauptsache ist, rentabel. Ja,
also -- kurz und gut, ich beabsichtige meine Fabrik danach einzurichten
und, ja -- wenn Sie wollen -- Sie könnten mir dabei helfen.“

Fritz sprang auf. Mit einem jähen, ungestümen Satz.

„Ist das Ihr Ernst?“

„Wäre ich sonst hier?“ Der Fabrikant zündete sich eine Zigarre an. „Sie
erlauben doch? -- Darf ich vielleicht aufwarten?“ Er hielt Hellwig die
Ledertasche hin. Der beachtete es gar nicht. Mit langen Schritten lief
er durchs Zimmer. Dann machte er wieder vor dem Besucher halt, schaute
ihn zweifelnd an: „Ja -- aber -- wieso ...? Ich weiß nicht, was Sie
veranlassen könnte ... Scherzen Sie denn wirklich nicht?“

Reinholt blies den grauen Rauch in die Luft. „Warum wundert Sie das
eigentlich? Ich sage ja, ich halte die Geschichte für rentabel.
Für mich ist das ein Geschäft wie jedes andere, eine Spekulation
meinetwegen, die glücken oder fehlschlagen kann. Das weiß ich vorläufig
noch nicht. Glückt sie, ist’s gut. Wenn nicht, hab’ ich mich eben
verrechnet und muß die Folgen tragen.“

Er sagte das alles im trockensten Geschäftston. Und doch war im Grunde
seiner braven Augen etwas, das zu dieser kaufmännischen Sachlichkeit
nicht stimmte. Etwas Warmes, nur gedämpft wie hinter Schleiern
Leuchtendes, -- Güte, die nicht erkannt sein wollte.

Fritz hatte seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufgenommen. Die
Arme auf dem Rücken verschränkt, schritt er ruhlos auf und ab und
schaute zur Decke, als ob er von dort etwas herablesen wollte. Dann
wieder blieb er stehen, schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen wie
im Selbstgespräch. Reinholt beobachtete ihn eine gute Weile. Endlich
rief er ihn an: „Herr Hellwig ...“

Da schrak er aus seiner Versunkenheit auf: „Ja?“ und schaute den
Fabrikanten fremd an.

„Wir wollen die Sache nicht überstürzen, Herr Hellwig. Es hat ja Zeit.
Ich mute Ihnen keine sofortige Entscheidung zu. Nur einige Aufklärungen
möchte ich Ihnen noch geben, dann überlegen Sie sich’s und lassen mich,
sagen wir in vier Wochen, Ihren Entschluß wissen. So lang bleibe ich
Ihnen im Wort.“

Das klang wieder sehr nüchtern und vernünftig. Und diese kühle Art
ließ auch Fritz ruhiger werden; aufmerksam hörte er zu, wie jetzt der
Fabrikant in großen Umrissen seinen Plan entwickelte.

Als er gegangen war, blieb Hellwig noch lang unbeweglich vor dem
Schreibtisch sitzen. Da hatte ihm einer die Möglichkeit gezeigt, wie
er sein Lebenswerk erfüllen konnte. Und es war ihm, als ob er in eine
ungeheure Helligkeit schaute, die ihn blendete und alle Gegenstände
überstrahlte, so daß nichts anderes zu sehen war als Licht und Licht.
So -- wie man die Möven nicht sieht, die Barken nicht und nicht die
Schiffe, wenn die Sonne auf den See scheint und seine Fläche zum
Spiegel macht. Und man weiß doch ganz sicher, daß dort klares Wasser
ist und freut sich und kann es nicht erwarten, bis man die Kleider vom
Leib ziehen und in dem kühlen Silber untertauchen kann.

Da tat sich die Tür auf und Eva kam herein, sacht, schüchtern, mit dem
aufrechten Königinnengang des tragenden Weibes. Nun sprang er empor,
hob die Arme seitwärts und aufwärts, mit einer so ungestümen, frohen
und leidenschaftlichen Bewegung, als wollte er eine Welt umspannen.

„Eva ...“ stammelte er. „Eva ...“

Eine Sekunde nur schaute sie ihn befremdet an und wunderte sich
über den Glanz in seinen Augen. Dann wußte sie, daß eine Wendung
eingetreten, daß ein großes Glück für ihn im Anzug sei. Mit
ausgestreckten Händen trat sie auf ihn zu: „Fritz ... Ist’s jetzt
wieder gut, Fritz?“

„Ja!“

Und nun erzählte er es ihr. Aber während er redete, verlor sich
mehr und mehr die beschwingte Zuversicht der ersten Freude. Er
begann von den Hindernissen zu sprechen, die zu beseitigen, von den
Schwierigkeiten, die zu überwinden waren. Die Skrupel kamen, aus Licht
wurde Schatten und keins der Bedenken, die ihm aufstiegen, verhehlte
er ihr. Nach Reinholts Schilderung lag die Industrie in jenem Lande
zwar sehr im argen, aber gerade in der Gegend, wo auch sein Unternehmen
stand, waren noch einige kleinere Spinnereien und Webfabriken, die
insgesamt kaum zweitausend Leute beschäftigten. Doch diese gehörten
fast ausnahmslos zu jener Partei, die gegen Hellwig als Abtrünnigen den
Bannfluch geschleudert hatte.

Für den Anfang, zu diesem Schluß kam er endlich, für den Anfang werde
sich wohl eine Trennung nicht vermeiden lassen. Erst wenn der ärgste
Wirrwarr vorüber, die neue Ordnung einigermaßen befestigt sei und sich
eingelebt habe, werde ihm Eva folgen können.

Sie hörte es und wurde blaß. „Und das Kind?“ fragte sie tonlos.

Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort. Er fühlte ein Würgen in
der Kehle. Aber sie sollte, sie durfte nicht merken, wie nah es ihm
ging. „Ich werde euch unterdessen nach Neuberg bringen,“ sagte er. Da
ließ sie traurig den Kopf sinken und sprach kein Wort mehr.


12.

Hellwig nahm das Anerbieten Reinholts an. Der Entschluß war ihm nicht
leicht geworden. Erst als er ganz mit sich im reinen war, sagte er ja.
Aber nun er sich einmal entschieden hatte, glaubte er um so sicherer
an den Erfolg. Verläßliche Leute wurden angeworben, die eine Art
Kerntruppe für das neue Unternehmen abgeben sollten. Pfannschmidt war
darunter, der alte Kesselwärter Bogner, auch einer von den Brüdern Otto
Pichlers. Die reisten mit Reinholt gleich ab. Hellwig wollte noch die
Entbindung Evas abwarten.

Und Evas schwere Stunde kam. Die Geburt währte lang, ein Arzt mußte
gerufen werden. Fritz war im Zimmer daneben. Die Tür war angelehnt,
aber hinein ging er nicht. Auf daß sie später einmal sich nicht
doch vielleicht irgendwie vor ihm schäme, weil seine Augen ihre
allerhilfloseste Menschlichkeit gesehen. Er hörte das kalte Klirren der
Instrumente, die gedämpften Anordnungen des Arztes, das leise Stöhnen
seines Weibes. Und er wußte nicht, wie es stand. Die Ungewißheit
marterte ihn, die Angst und das Bewußtsein seiner Ohnmacht. Daß
er so dastehen mußte und ein Liebes leiden lassen mußte und nicht
helfen konnte. Und mit einemmal überkam es ihn und zwang ihn, in
seinem Herzen zu wühlen, die verborgensten Falten zu durchwühlen, ob
nicht doch vielleicht irgendwo ein Fetzen vom verlorenen Gottglauben
zurückgeblieben, an den er sich klammern, den er umkrallen könnte
wie der jämmerlichste Betbruder den Rosenkranz. Aber er fand nichts.
Wie ein gefangenes Tier im Käfig rannte er ohne Pausen um den Tisch,
den Kopf nach vorn geduckt, die Augen starr, mit steif gestrafften
Armen und geballten Fäusten. Und empfand seine Ohnmacht und spürte
den Widersinn, daß Leben unter entsetzlichen Qualen vom Leben sich
losreißen muß, und hörte die Ketten klirren und die Peitsche sausen.

Und dann war drinnen ein weherer Ton. Und dann -- der erste Schrei
seines Kindes. Da wurde er totenblaß -- und seine Arme hoben sich
langsam und breiteten sich aus und ein zitterndes Schluchzen kam ganz
von tief aus seiner Brust. Und er ging in die Küche, wo weinend die
Magd saß. „Marie ... es ... es schreit schon,“ sagte er fremd, mit
weicher, bebender Stimme -- und schritt wieder wie im Traum in das
Zimmer zurück und stand und horchte.

Mittag war nahe. Um die halbentlaubten Bäume im herbstlichen Garten
floß der Sonnenschein, blau funkelte der Himmel durch die offenen
Fenster, und warme weiche Luft drang herein. Und im nahen Kirchturm
begannen alle Glocken auf einmal zu läuten. Und die Glocken läuteten
und läuteten, und das Kind schrie und schrie und überschrie das
Geläute, heller, freudiger, lebenswilliger -- er war noch nie vorher so
fromm gewesen wie in dieser Stunde. --

Noch ein anderer hatte mit Fritz gebangt und gelitten. Doktor Kolben,
der jetzt den Arzt hatte weggehen sehen und heraufkam, nur bis in
das Vorzimmer, und sich erkundigte. Und als er hörte, daß ein Junge
angekommen sei, da lachte er über das ganze Gesicht und lief wieder
fort. Und schon nach einer kleinen Weile kam er noch einmal und brachte
einen großen Strauß blühender Rosen für die junge Mutter. So viele
ihrer der Gärtner gehabt hatte, so viele hatte er hergeben müssen.

Den nächsten Tag kam Frau Wart von Neuberg hergereist und im geruhigen
Lauf der Stunden fügte sich mählich alles in die neue, von dem
jungen Menschlein beherrschte Ordnung. Aber Fritz schwankte wieder
und zauderte und verschob seine Abreise Woche um Woche. Es war ihm,
als hätte er Eva zum andernmal gewonnen. Und während sie sich langsam
wieder aufrichtete, entfaltete sich neben ihr noch ein zweites, ein
neues Menschenleben, das ihr und ihm gehörte und doch wieder nicht
gehörte, das hilflos in ihre reifen Hände gegeben war, daß sie es
formten und sicher einfügten in das rollende Räderwerk der Gegenwart.
Und es würde forttreiben und ein Teilchen ihres Wesens mit hinüber
tragen in eine Zukunft, die nicht mehr die ihre war. Er konnte lang und
immer wieder vor dem weißen Schlafkörbchen seines Buben stehen und den
Rätseln des Lebens nachsinnen, indes der Säugling ruhig atmend schlief,
mit kaum beflaumtem Kopf und einem blassen Gesicht, das ohne Bewegung
war, leidenschaftslos und ohne Arg wie die glatte Meeresfläche -- und
doch birgt sie ungezählte wunderbare Möglichkeiten, schöne und wilde,
furchtbare und sanfte, unter ihrem harmlosen Frieden.

Und die Trennung wurde ihm schwer. Schon erwog er den Gedanken, Weib
und Kind gleich mit sich zu nehmen. Er schrieb auch an Reinholt
deswegen. Doch der riet ihm ab. Die Lage sei so einfach nicht, die
Gegend außerdem öd, die Lebensmittel, und namentlich eine keimfreie
Milch, nur sehr schwierig zu beschaffen. Denn die nächste größere
Stadt sei viele Meilen weit entfernt und eine sanitätspolizeiliche
Überwachung gebe es so gut wie gar nicht. Es sei schon besser, wenn
sich Fritz die Sache vorerst ansehe und sich einlebe.

Er las das Schreiben und spürte heraus, daß ihm nicht alles gesagt
wurde. Und der Zwiespalt in ihm wurde immer größer. Es drängte und
zog und trieb ihn nach dem Ort, wo seine Gedanken Tat werden sollten
-- und hielt ihn doch mit tausend Fäden fest in seinem Heim. Kolben
merkte gut, wie es um ihn stand. Doch er redete da nichts hinein, riet
nicht ab und stimmte nicht zu. In Eva aber war die Mutterzärtlichkeit
aufgeweckt und die Liebe zum Kinde ließ sie alles andere als unwichtig
hintansetzen. Und wenn sie ihn vordem eher aufgemuntert und sich
gefreut hatte, weil sie ihn fröhlich sah, so bat sie ihn jetzt, daß er
bei ihr bleibe oder sich gedulde, wenigstens ein Jahr noch, bis das
Kleine stärker und widerstandsfähiger geworden und eine Übersiedelung
leichter zu bewerkstelligen wäre. Und fast hätte sie ihn umgestimmt,
und schon wollte er Reinholt bitten, ihn seines Versprechens zu
entbinden, obwohl der Fabrikant bereits alle Vorbereitungen traf,
Zubauten aufführte, Leute aufnahm, Ungeeignete fortschickte und nur
die Ankunft Hellwigs abwartete, um mit der Einrichtung des neuartigen
Betriebes ungesäumt zu beginnen. Eine Absage im letzten Augenblick
mußte ihm einen empfindlichen Schaden bringen, das wußte Fritz. Und
seine Nächte wurden schlaflos und unstet wieder seine Tage, er kämpfte
schwer und konnte und konnte sich nicht entscheiden.

Und da war es wieder jene Frau, der er schon so vieles zu danken
hatte, die ihm mit behutsamen Händen die Hindernisse wegräumte und das
sichere Vertrauen wiedergab, Frau Hedwig, seine zweite Mutter, wie
er sie einst genannt hatte. Sie wollte verhüten, daß er sich gegen
Reinholt entscheide. Denn das hätte niemandem gefrommt. Ihm nicht,
weil ihn später ganz gewiß der Gedanke gepackt und gequält und nicht
mehr losgelassen hätte, daß er die Gelegenheit, sein vermeintliches
Lebenswerk zu vollenden, nutzlos habe vorübergehen lassen. Und den
Seinen nicht, weil sie sich später selbst den Vorwurf nicht erspart
hätten, daß sie ihn elend gemacht und schuld an seinem Leiden hätten.
Deswegen suchte sie mit behutsamem Takt, ohne daß er es merkte, seinen
Entschluß zugunsten Reinholts zu beeinflussen. Und sie tat es um so
beruhigter, da für Eva mit ihrem Buben bei den Großeltern in Neuberg
eine sonnige Zuflucht bereit stand.

„Wann wirst du denn abreisen?“ fragte sie ihn einmal und sie fragte,
als ob alles glatt und seine Abreise eine selbstverständliche und von
allen erwartete Sache sei.

„Das hat noch gute Wege!“ erwiderte er unwirsch.

Sie tat erstaunt: „Gute Wege? Ich hab’ gedacht, sie brauchen dich schon
sehr notwendig.“ Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und
gab keine Antwort. Da trat sie ganz nah zu ihm und sagte ganz leise,
mit großer Überwindung: „Fritz -- es ist vielleicht doch besser, weißt
du ... damit ... unser Heinz -- er hat Ähnliches gewollt, Fritz ...“

Mit einem Satz stand er auf den Füßen, hatte die Hand im Ausschnitt
der Weste verkrampft und atmete heftig. Aber kein Wort kam über seine
Lippen. Ihre Bewegung niederkämpfend, fuhr sie tapfer fort: „Du hast
ihm ja auch dein Buch zugeeignet -- und was da jetzt ins Leben treten
soll -- es wäre die Vollendung dazu ...“

Noch immer gab er keine Antwort. Und noch, als sie sich langsam wandte
und aus dem Zimmer ging, stand er wie ein steinernes Bild und hielt sie
nicht zurück. Aber ihre Worte wirkten nach. Ein ehrendes Totenmal hatte
er dem Freund errichten wollen, dem flammend in den Tod gegangenen
Freund ... Und da, nach Tagen und Nächten schweren Ringens fiel es mit
einemmal auf ihn: Wenn -- alles so bleibt und das Suchen nicht aufhört
-- und dein Junge später einmal -- er ist ja eines Blutes mit dem
Toten und mit dir -- es könnte mit ihm gerade so werden später einmal.
Darum -- tu’s! pack’ zu! versuch’, ob du’s zwingen kannst! -- Wirb um
die heutigen Herren und erobere sie durch eine unwiderlegliche große
Tat! -- Damit dein Bub nachher ruhig weiter bauen kann -- und vorwärts
kommen kann zu den Quellen des Menschentums, ohne im vorgelagerten
Sumpf stecken zu bleiben -- und darin zu ersticken, wie Heinz -- und
beinahe du selbst ...

Und er entschied sich für Reinholt. Und je länger er bisher gezaudert
hatte, je hastiger betrieb er jetzt die Reise. Eva sollte unterdessen
nach Neuberg, bis er sie in einiger Zeit werde zu sich holen können.
Aber sie wollte nicht nach Neuberg. Sie fürchtete sich vor den Leuten.
„Er hat sie sitzen lassen, na ja, das hat ein Blinder voraussehen
können!“ So würden sie reden und sich anstoßen und ihr nachschauen und
sich teilnehmend und mitleidig und hämisch nach dem Vater des Kindes
erkundigen. Und auch ihr Vater würde nicht anders denken. „Es hat so
kommen müssen, Mutter. Er und Heinz, die zwei haben ja nie ein Herz für
ihre Familie gehabt!“ Deutlich glaubte sie zu hören, wie er das sagte.
Und ganz im letzten Winkel ihres Herzens regte sich etwas wie eine
vage, dumpfe Ahnung, daß Fritz einst wiederkehren würde -- und nicht
als Sieger. Und daß er dann sein Heim so wieder finden müßte, wie er
es verlassen. Weit schob sie den Gedanken von sich, aber er ließ sich
nicht bannen und so sehr sie sich mühte, an Hellwigs Erfolg zu glauben,
ganz leise und ganz heimlich zweifelte sie doch daran. Deswegen war sie
taub für das Zureden der Mutter und hörte nicht auf Fritz. Sie wolle
vorläufig alles unverändert beim alten lassen, bis er einen Überblick
haben und ihr wenigstens annähernd werde sagen können, wie lang die
Trennung notwendig sei. Dann wolle sie sich’s erst zurechtlegen. Dabei
blieb es. Und als Fritz abgereist war und bald darauf auch Frau Hedwig
nach Neuberg zurück mußte, da hatte Eva in der großen Stadt keinen
Einzigen, an den sie sich wenden konnte, als den Doktor Albert Kolben.



Fünftes Buch


1.

In einer weiten Ebene, zwischen Buchenbeständen und buschigem
Wiesenland, lag das große Unternehmen Leo Reinholts. Die Eisenbahn
führte vorüber, ein paar Dörfer waren in der Nähe, die sich mit
verstreut in großen Zwischenräumen stehenden Häusern stundenweit
hinzogen. Und dazwischen waren längs der Bahn noch ein paar kleinere
Fabriken, Gründungen findiger Konkurrenten, die aber nicht recht
emporkommen wollten und zum Gedeihen zu schwach, zum Eingehen zu
jung, in kümmerlicher Unzulänglichkeit sich fortfretteten. Die
Einheimischen aber, zumeist Ruthenen und schlaue Polen, haßten die
Schornsteine und die roten Ziegeldächer der Fabriken. Denn die hatten
ihnen die beschauliche Ruhe gestört, die mit schlechtestem Branntwein
zufriedene Bedürfnislosigkeit abgewöhnt und die Löhne verteuert durch
einen Schwarm fremdsprachiger Arbeiter, die noch obendrein wegen
ihrer Wissenschaft des Lesens und Schreibens und wegen ihrer größeren
Weltkenntnis auf das Bauernvolk herabschauten, sich besser dünkten
und die Herren spielen wollten. So waren die Klassenunterschiede
schärfer als sonstwo ausgeprägt und drängten die Arbeiter der einzelnen
Betriebe stärker als sonstwo zum Zusammenschluß. Ein ganz leidliches
Einvernehmen hatte bisher unter ihnen geherrscht, und fast ohne
Ausnahme waren sie Sozialdemokraten. Da kam nun plötzlich Reinholt und
forderte von seinen Leuten, daß sie es nicht mehr seien. Und wer sich
nicht darein schicken wollte, bekam seinen Abschied. Er hielt strenge
Musterung, mußte sie auch halten, denn für sein Experiment -- nichts
anderes war es -- brauchte er ganz zuverlässige Leute.

So entstand eine Spaltung. Da kam Hellwig und richtete das neue
Unternehmen ein. Wie der Haushalt einer einzigen Familie wurde das.
Eine große Küche war da, mit Dampfheizung und papinischen Kesseln,
dort wurde für alle auf einmal gekocht. Reine und luftige Speisehallen
gab es, eine Bücherei mit weiten Leseräumen, einige Spielzimmer, auch
ein Theater und einen Tanzsaal. Ein Krankenhaus, eine Schule und ein
Altersheim wurden gebaut, im Park waren Tummelplätze für die Kinder
und Erholungsstätten für die Erwachsenen, Bäder und Turnsäle fehlten
nicht. Die Frauen sollten beim Kochen helfen, die Wäsche besorgen, im
Gemüse- und Obstgarten arbeiten oder die Kinder beaufsichtigen, wie sie
es lieber wollten, und wenn es ihnen gefiel, konnten sie jede Woche in
diesen Beschäftigungen wechseln. Die Lohnzahlung wurde abgeschafft.
Jeder war am Gewinn beteiligt. Nach einem einfachen Schlüssel unter
Berücksichtigung der Arbeitsleistung und der Kopfzahl einer Familie
wurden die Anteile ermittelt, die jeder zu dem gemeinschaftlichen
Haushalt beizutragen hatte. Der Überschuß wurde bar herausbezahlt oder
gutgeschrieben, wie es jeder lieber mochte. Für alle Bedürfnisse war
gesorgt. In der Schneiderei konnten sich alle die Kleider anfertigen
und flicken lassen, eine Schusterwerkstatt war da und ein gemeinsames
Bestellbureau für alle Dinge des täglichen Bedarfs. So waren sie ganz
unabhängig, waren ein Gemeinwesen für sich und brauchten keine fremde
Vermittlung.

Fritz aber war für sie bald das treibende Rad des Ganzen. Zu ihm kamen
sie mit ihren Anliegen und Wünschen, und wenn sie untereinander Streit
hatten, fügten sie sich seinem Schiedsspruch. Und da er mit ganzem
Herzen bei der Sache war, gewann er auch ihre Herzen. Das wußte er
nicht, aber es war so. Manche bewunderten, die meisten liebten und nur
ganz wenige fürchteten ihn. Alle aber standen unter dem zwingenden
Bann seiner prachtvollen Aufrichtigkeit, fühlten heraus, daß er
bedingungslos auf ihrer Seite stand. Niemanden ließ er gleichgültig.
Zu seiner vollwertigen Persönlichkeit mußte jeder Stellung nehmen, und
die Mehrzahl gab sich vollständig in seine Leitung. Ihn nannten sie
‚Meister‘, wie er selbst es ihnen vorgeschlagen hatte, während Reinholt
nach wie vor der ‚Herr‘ blieb. Doch waren sie auch ihm zugetan und
rühmten ihm strenge, aber unparteiische Gerechtigkeit nach.

Bevor das alles auch nur halbwegs ins Gleis kam, waren viele Monate
vergangen. Welche Unsumme von Plage und Mühsal und Sorge für Hellwig
damit verknüpft gewesen, wußte außer Eva vielleicht niemand so recht.
Anfangs kannte er freilich weder Müdigkeit noch Abspannung, war ihm
die Arbeit nur wie ein Fest. Aber Monat um Monat verrann, und die
Schwierigkeiten wollten nicht aufhören. Immer wieder fand sich etwas,
das geordnet, unschädlich gemacht, ausgetilgt werden mußte. Bald waren
es geheime Machenschaften, bald offene Widersetzlichkeit, Zwist und
Streit. Kaum ein Tag verging, an dem Hellwig nicht einen Schiedsspruch
zu fällen, als Friedensstifter zu walten hatte. Sooft er dachte,
jetzt und jetzt werde er Eva holen können, immer kam etwas verquer.
Anfangs waren es die Zustände im jungen Unternehmen selbst, die seine
Wachsamkeit forderten. Dann aber setzten die Feindseligkeiten der
Gegner ein. Der Verlust von nahezu tausend Genossen traf die Partei
hart. Und daß es gerade Fritz Hellwig war, der ihnen diesen Verlust
zugefügt, war nur ein Grund mehr zur erbittertsten Fehde. Da wurde
geschürt, gehetzt, auf jede Weise versucht, die Leute unzufrieden zu
machen und aufzureizen. Ohne Erfolg. Wer sich nicht fügen wollte,
konnte anderswo sein Brot suchen. Eisern hielt Fritz die Ordnung
aufrecht. So gütig und umgänglich er sonst war: wenn eine Satzung
übertreten wurde, kannte er keine Nachsicht. Das hatten sie bald heraus
und liebten auch diese Strenge. Er gab ihnen viel und hätte auch viel
fordern können. Um so begreiflicher fanden sie es, daß er das wenige,
das er wirklich forderte, auch durchsetzte.

Da traten die Gegner aus ihrer Zurückhaltung, riefen offen zum
Kampf gegen den Augenauswischer, den Volksbetrüger, Verräter und
Zwietrachtsäer, der sich in Menschlichkeit wie ein Frosch blähe
und lediglich den eigenen Bauch mit dem blutigen Schweiß der Armen
fülle. So stand es in ihren Zeitungen, und das waren noch die besten
Vergleiche. Ein besonders Eifriger aber behauptete, daß Hellwig wie
eine Trichine im gesunden Fleisch der Partei sitze und es infiziere,
während er sich fett mäste. Leibinger leitete den Feldzug. In ihm
war die erlittene Kränkung noch lebendig und heiß wie am ersten Tag,
und sein Ehrgeiz knüpfte an einen Sieg über den mächtigen Feind
die schönsten Erwartungen. Unter Hochdruck arbeitete er. In allen
Zeitungen, in ungezählten Versammlungen predigte er den Kampf gegen den
einstigen Genossen und seinen Anhang. Renegaten und Schufte ohne jeden
Gemeinsinn wurden sie genannt, niedrige Bedientenseelen, die vor dem
Geldsack auf dem Bauch lägen und sich an Bettelsuppen gütlich täten,
armselige Heloten, die jedes Gefühl für Freiheit und Manneswürde
verloren hätten.

Und die Arbeiter der benachbarten Betriebe, scheelsüchtig gemacht,
neideten Reinholts Leuten das bessere Los. Sie spuckten aus, wenn sie
einen trafen und riefen ihm wohl auch „Kommuner Hellwigianer!“ zu,
was ein Witz sein sollte und eine verächtliche Anspielung auf die
kommunistischen Einrichtungen.

Die kommunen Hellwigianer aber ließen sich darob die Haare nicht grau
werden. Mancher Heißsporn verbat sich vielleicht die Beleidigungen und
kam mit blutigem Schädel heim, die meisten aber lachten oder zuckten
die Achseln, wenn sie beschimpft wurden, und das trieb die Gegner in
eine immer heftigere Erbitterung. Aber auch die Fabriksbesitzer nahmen
mit der Zeit gegen das aufblühende neuartige Unternehmen Stellung,
weil sie sich dem scharfen Wettbewerb nicht gewachsen fühlten. Denn da
alle Arbeiter am Gewinn beteiligt waren, bemühten sie sich zu eigenem
Vorteil, nur gute Ware herzustellen, so daß die Reinholtsche Marke
bald gesucht war und die Nachfrage stärker als das Angebot. Und da
auch das Bauernvolk in seiner alten Abneigung verharrte, stand Hellwig
mit den Seinen ganz vereinsamt und auf sich selbst angewiesen mitten
unter Widersachern, Neidern und Feinden. Da setzte er erst recht seinen
Neuberger Schädel auf: Durch müssen wir! Und wenn sich alle auf den
Kopf stellen!

Der Glaube an sein Werk verzehnfachte seine Kräfte. Und seine warme
Begeisterung griff auf alle über. Gemeinsame Not schweißte sie ganz
fest zusammen. Die Zwistigkeiten im eigenen Lager hörten auf, immer
seltener wurde er als Schiedsrichter angerufen. Der Trotz und das
Gefühl, daß ihnen unrecht getan werde, spornte alle zu erhöhter
Leistung. Draußen schrien sie, hetzten und wühlten. Reinholts Fabrik
aber stand da, geschäftigen Lebens voll, die Räder surrten, die
Webstühle klapperten, die Schiffchen flogen fröhlich. Zu einträchtigem
Tun regten sich die emsigen Hände, und auf allen Gesichtern sonnte sich
das Behagen am Gedeihen des Unternehmens, das allen ans Herz wuchs,
weil es allen gehörte.


2.

Und im Fabrikspark, auf den Spielplätzen, unter der Hut der alten
Bäume, drängte sich tagsüber das junge Volk der Kinder, saßen nach
getaner Arbeit zufriedene Menschen, schwatzten, sangen oder hörten dem
Meister Hellwig zu, der an schönen Abenden im Garten von einem Podium
herab über alle möglichen interessanten und wissenswerten Dinge zu
sprechen oder aus guten Büchern vorzulesen pflegte. Ganz zwanglos, wie
eine gelegentliche Zusammenkunft gleichgesinnter Freunde war das, und
viel guten Samen streute er in empfängliche Seelen.

Anfänglich war die Zahl der Teilnehmer nur gering, weil viele, an das
neue Leben noch nicht gewöhnt, lieber in den Billardsälen oder beim
Kartenspiel ihre Erholung suchten. Mit der Zeit aber stellten sich
immer mehr ein, hörten zu und beteiligten sich mit Fragen und Einwänden
an den Debatten, fanden Gefallen daran und zogen dieses Turnier bald
jeder andern Unterhaltung vor.

Einer, der niemals fehlte, war der alte Kesselwärter Bogner, der seinem
Meister Hellwig treu ergeben war und immer wieder versicherte, daß er
ein so schönes Leben auf seine alten Tage nicht einmal im Traum erhofft
hätte. Er überwachte seine Kessel und formte feine Blütenzweige, die
er schön bemalt in seiner Stube aufstapelte oder Personen, denen er
wohlwollte, als Angebinde verehrte. Für Hellwig aber tat er etwas ganz
Besonderes: Er modellierte und goß aus Bronze die Büste des Meisters.
Zwar geriet die Nase ein bißchen schief, und die Wangen hatten
Blatternarben, aber am Sockel stand in großen Buchstaben ‚Friedrich
Hellwig‘, und so wußte jeder, wen das Werk darstellte. Und die Mängel,
die waren nach den Versicherungen des Schöpfers nur durch den elenden
Gips und durch das schlechte Gußmetall verschuldet. Jetzt stand das
Bildwerk im Lesesaal, und bei der Aufstellung hatte es einen grünen
Reisigkranz getragen, mit einer roten Schleife, und Reinholt hatte eine
Rede gehalten, die war sehr erbaulich und dem Kesselwärter wurde ganz
rührselig. Aber er lachte doch und strahlte im faltigen Gesicht, denn
Adam Pichler, ein jüngerer Bruder Ottos, stand neben ihm und sagte ihm
ins Ohr, daß so eine Büste eigentlich in eine Ausstellung gehörte und
sicher einen Preis bekommen würde.

Adam verkehrte überhaupt viel mit dem alten Bogner und ging auch
regelmäßig zu den Abendvorlesungen. Er tat das aus Neigung. Aber es war
nicht so sehr die Neigung zur Wissenschaft, als vielmehr die Neigung
zur Anna Bogner. Die Anna war ernster geworden, der Frohsinn, das
Lachen und aller Übermut ihrer Jugend klang in der Erinnerung an die
erste Enttäuschung nur mehr wie auf einer abgedämpften Geigenseite.

Adam aber begehrte sie zum Weib. Da hatte sie ihm ganz aufrichtig
gesagt, wie es um sie stand und daß sie einst mit seinem Bruder Otto
ein Verhältnis gehabt. Der blonde Mensch mit den stillen Augen und den
groben Händen hatte schweigend zugehört und darnach ein paar Tage nicht
mit ihr geredet, bis er alles in sich verarbeitet hatte. Dann aber war
er zu ihr gegangen, die in heimlicher Pein verstohlen aus der Ferne
nach ihm sah. Denn sie hatte ihn lieb gewonnen.

„Anna,“ hatte er gesagt, „es ist schon in Ordnung mit uns.“

Da war sie zusammengefahren, hatte ihm ungläubig ins Gesicht gestarrt
und nur gefragt: „Trotzdem?“

„Trotzdem, Anna, weil -- es muß doch ausgeglichen werden ...“

Er hatte den Arm um sie legen wollen. Doch sie war hastig einen Schritt
zurückgetreten.

„Wenn’s nur deswegen sein soll ... bleibt’s schon besser so, wie’s ist,
Adam. Ich müßt’ mich ja schämen.“

„Nein, Anna, das mußt du schon nicht. Tät ich’s denn, wenn ich dich --
nicht auch gern hätt’, Anna?“

Er war wieder ganz nahe bei ihr und streichelte mit den harten Fingern
unbeholfen ihren Ärmel. Und dann hatte er sie im Arm. Und sie sträubte
sich nicht mehr.

Und seither sah man sie fast immer miteinander gehen, den alten
Kesselwärter, dem die paar Haare nur noch wie ein silbriges
Schimmerchen auf dem kahlen Schädel glänzten, ein wenig gebeugt und ein
wenig zittrig, zwischen den beiden jungen aufrechten Menschen, die fest
und ruhig einherschritten mit der stillen Zuversicht, die ein sicheres
Glück verleiht.

Oft auch gesellte sich Pfannschmidt zu ihnen, der in dem neuen
Gemeinwesen eine Art Hausverwalter war und außerdem die Bücherei
betreute. Keine Spur von Gedrücktheit oder Trauer war mehr in ihm, wohl
sprach er wenig und lachte nicht oft, aber seine ernsten Augen schauten
warm und froh, und der Widerstreit zwischen Neigung und Beruf war
nicht mehr in ihrem Blick. Die Bücherei war seine Welt, dort war er
am sichersten anzutreffen. Entweder las er oder ordnete er die Bücher,
versah sie mit Schildern und Nummern, verteilte sie übersichtlich und
legte mehrere Verzeichnisse an. Abends aber kämmte er mit Salböl den
spröden Scheitel noch einmal glatt und ging, dem Meister zuzuhören. Er
war einer der aufmerksamsten Zuhörer, aber auch der eifrigste Frager,
und wenn er sich einmal in etwas hineinverbissen hatte, ließ er sich
nicht so leicht davon abbringen. Jedes Für und Wider erwog er, Beweise
und Gegenbeweise ließ er bedächtig aufmarschieren, und Fritz hatte
mit diesem zähen Gegner oft seine liebe Not. Regelrechte Debatten und
Diskussionen hatten sie miteinander und das war für sie wie ein Bad im
kühlen Fluß.

So schien sich mit der Zeit eine gedeihliche Ordnung einstellen zu
wollen und Hellwig dachte abermals daran, Weib und Kind zu sich zu
holen. Aber als er an einem schönen stillen Sommerabend wieder einmal
auf dem Podium saß und gerade über Oliver Cromwell sprach, da wurden
von dem Fahrweg, der außerhalb des Parks den Zaun entlang führte, ein
paar Steine unter die Versammelten geworfen. Der eine streifte Hellwigs
Kopf, der zweite traf ihn an der Schulter, die übrigen verfehlten ihr
Ziel. Schnell war Pfannschmidt beim Gittertor, riß es auf, stürmte
hinaus. Andere folgten. Aber draußen war niemand zu sehen. Still
lagen die Wiesen und Felder da, die Ähren nickten und rauschten leis
auf schwanken Halmen, die Blätter der Büsche regten sich sacht im
Abendwind, und sacht breitete die Dämmerung ihre seidenfeinen Flöre
darüber aus. Mannshoch standen die Feldfrüchte, dicht belaubt wucherte
überall in den Wiesen das Staudenzeug, und was sich dort irgendwo
versteckt hielt, war gut geborgen und in der Dämmerung nicht leicht
aufzuspüren.

Hellwig hatte eine Beule am Schläfenbein und eine Prellwunde am
Oberarm, leichte Verletzungen, die nichts zu bedeuten hatten. Aber eine
Warnung waren sie und ein Zeichen, wie tief die Hetzereien Wurzeln
gefaßt.

Und wenn es hiefür noch eines Beweises bedurfte, so brachte ihn die
folgende Nacht. Da brannte ein Magazin nieder, und die Fabriksfeuerwehr
mußte harte Arbeit tun, um den Brand einzudämmen. Er war gelegt worden,
von wem, war offenes Geheimnis, aber Beweise fehlten. Die Folge
war, daß Reinholt die Nachtwache verschärfte und zwei Dampfspritzen
anschaffte. Und Fritz sah seine Vereinigung mit Eva abermals um Monate
hinausgerückt.


3.

Danach aber hatte sich ganz plötzlich der Sturm gelegt. Die
Unbesonnenheit der Steinwerfer und Brandstifter hatte die Gegner zur
Vorsicht gemahnt. Was nützte es auch, die Außenstehenden aufzuwiegeln,
wenn die Hellwigianer geschlossen gingen und der Aufschwung der Fabrik
alle Hetzer Lügen strafte.

Wochen vergingen, alles blieb ruhig.

„Wir sind durch!“ sagte Fritz, der vertrauensselige, arglose Mensch,
und glaubte felsenfest daran, weil er an sein Werk glaubte und an die
Lauterkeit der Menschen. Und er freute sich des Erfolges und freute
sich auf die Seinen. Jetzt wollte er sie wirklich holen. Mehr denn
zwei Jahre -- waren es denn wirklich schon zwei Jahre? -- hatte er sie
nicht gesehen. Da war ihm die Zeit fortgeronnen, wie Sand zwischen
den Fingern durchgeglitten, Tag um Tag; Monat um Monat. Er hatte
nicht darauf geachtet und sie nicht gezählt. In all dem rastlosen
Bemühen, dem Tumult von Sorgen und Anstrengungen, dem raschen Wechsel
zwischen Erfolg und Mißlingen, zwischen heller Zuversicht und herber
Enttäuschung.

Waren es denn wirklich schon zwei Jahre? Aber da lagen die Briefe Evas
vor ihm, alle, wie er sie erhalten, gelesen, beantwortet und dann in
das Schubfach getan hatte, wo sie, nicht mehr beachtet, verstaubten.
Regelmäßig alle vierzehn Tage schrieb sie ihm. Und jetzt lagen sie da,
kunterbunt durcheinander, gut fünfzig Briefe. Und in jedem erzählte sie
von dem Buben, alle Einzelheiten und Kleinigkeiten berichtete sie. Im
Drang und Schwall der Arbeit hatte er ihren Mitteilungen nicht weiter
nachgesonnen. Und sie machten doch die ganze Entwicklung des jungen
Menschleins aus, das dort fern von ihm und vaterlos heranwuchs. ‚Hansl
lacht mich schon an -- Hansl sitzt schon -- Hansl bekommt Zähne --
Hansl hat sich ganz allein am Tischbein aufgemannelt -- Hansl hat das
erste Wort gesprochen -- Hansl läuft, Hansl redet schon. Er ist blond
wie du -- er hat deine Augen -- aber das Kinn hat er von mir.‘

Er erschrak fast und entsetzte sich, daß er so achtlos darüber zur
Tagesordnung hatte übergehen können. Fünfzig Briefe. Und in allen war
zwischen den eng geschriebenen Zeilen die unausgesprochene Bitte: ‚Komm
bald und bleib bei uns!‘ Und in keinem stand: ‚Hol’ uns zu dir!‘ Denn
die Mutter bangte um ihr Kind, und Fritz hatte ihr die Lage immer eher
in düsteren Farben geschildert, alle Ereignisse trocken verzeichnet und
nichts beschönigt. Und nur einmal schrieb sie: ‚Wenn ich doch bei dir
sein könnte!‘ Das war damals, als ihm die Steine den Leib verwundet
hatten.

Einen Brief nach dem andern las er nun wieder durch. Um ihn war die
Ruhe der Nacht, einer warmen, glanzhellen Nacht. Das Fenster stand
offen, die hereinflutende Luft war gesättigt vom schweren Duft der
Erde, und unten im Fabrikshof machte der Wächter die Runde. Klingend
schlug die Eisenspitze seines Stocks auf die Steine, und wenn die
zwei starken Doggen, die ihn begleiteten, sich schüttelten, klirrten
die Glieder ihrer Kettenhalsbänder leise aneinander, Eisen gegen
Eisen und Stahl gegen Stein, und nichts anderes war zu hören als
dieser kriegerische Klang. Und es war wie der Pulsschlag des harten,
streitbaren Lebens, das da draußen in der weichen, weißen Glanznacht
tief aufatmend, doch nicht schlafend ruhte, Gewehr im Arm und immer
kampfbereit gleich einem einsamen Vorposten in Feindesland.

Stunde um Stunde flutete vorüber. Und Fritz saß und las die Briefe.
Mit gesammelten Sinnen las er sie jetzt alle wieder, sah seinen
Buben heranwachsen und begleitete Schrittlein nach Schrittlein seine
Entwicklung. Und er fühlte eine tiefe Trauer, daß er sich so gar nicht
vorstellen konnte, wie der Junge jetzt aussah, lachte und sprach,
und der Wunsch, ihn und die Mutter bei sich zu haben, schwoll ihm
übermächtig empor.

Aber es blieb auch diesmal nur beim Wunsch.

Die Ruhe, die so unvermittelt eingefallen, war nicht die Ruhe des
Friedens oder der Erschöpfung. Leibinger hatte die Nutzlosigkeit der
bisherigen Kampfesart erkannt. Und da kam es ihm gerade recht, daß
Robert Karus, aus Rußland zurückgekehrt, wieder in der Hauptstadt
aufgetaucht war. An ihn wandte er sich um Rat und Hilfe und der sagte
zu, unter der Bedingung, daß ihm vollständig freie Hand gelassen werde.
Ungern fügte sich Leibinger, aber er fügte sich doch.

Und Karus ging an die Arbeit. Ein paar erprobte Leute wählte er sich
und schickte sie zu Reinholt auf Arbeitssuche. Sie erhielten strengen
Befehl, als unbedingte Anhänger Hellwigs aufzutreten und vorsichtig
die Unzufriedenheit der Zufriedenen zu wecken. Das Wie blieb ihnen
überlassen. Und sie waren ihrer Aufgabe gewachsen. Rasch hatten sie
jene aufgespürt, die schwankten oder sich zurückgesetzt fühlten,
machten sich an sie heran und bearbeiteten sie.

Aber auch Karus blieb nicht müßig, und Mark und Leibinger waren seine
Werkzeuge. Ein paar Schlagworte warf er den Arbeitern der benachbarten
Unternehmungen hin und wiegelte sie auf. Und geschulte Agitatoren waren
mitten unter ihnen und schürten und schürten ohne Unterlaß. Immer
lauter, immer ungestümer erhoben sie die Forderung nach höherem Lohn,
nach kürzerer Arbeitszeit, nach Gleichstellung mit den Hellwigianern.
Die Fabrikanten aber, selbst in ihrer Existenz bedroht, konnten und
wollten keine Zugeständnisse machen. Da begann der Streik.

Unfriede im eigenen Haus, heller Aufstand ringsum: so war jetzt die
Lage und so war sie Karus recht. Hellwig aber, der Vertrauensselige,
der kindlich Arglose, wußte nicht, daß viele gegen ihn murrten. Und
als der Streik jetzt so unvermittelt losbrach und als alle Betriebe
feierten und nur die von ihm geleitete, nach seinen Ideen eingerichtete
Fabrik rüstig weiter ging, -- und seine Leute verrichteten gelassen
ihr Tagwerk und schienen sich um das Branden außerhalb ihrer Herdfeuer
gar nicht zu kümmern, -- da frohlockte er und abermals sagte er
siegessicher zu Reinholt: „Leo, wir sind durch!“ Und nur das eine
trübte ihm die Freude: daß er wieder Geduld haben und erst das Ende des
Ausstands abwarten sollte, ehe er die Seinen zu sich kommen ließ. Dann
aber wollte er es ganz bestimmt tun und freute sich darauf und glaubte,
daß ein Ausgleich bald erzielt und die Lohnbewegung bald zu Ende sein
werde. Er tat sogar ein übriges, er ging zu den einzelnen Fabriksherren
und setzte sich für jene ein, die seine erbittertsten Feinde waren.
Und er tat es nicht nur um ihretwillen, auch seinetwegen tat er es,
er wollte vielleicht doch einen oder den anderen für seine Ansichten
gewinnen. Aber überall begegnete er mit seinen Vermittlungsversuchen
einem starren „Nein!“ oder einem geschmeidigeren „Leider nicht
möglich!“ und einer gab geradezu ihm die Schuld an dem Streik und an
dem Niedergang der kleineren Betriebe. Doch auch die Arbeiter, als sie
es erfuhren, verbaten sich seine Einmischung. Da ließ er es bleiben.
Aber nicht eine Sekunde wankte ihm der Glaube an seine Schöpfung und
die Zuversicht, daß sein Weg der richtige wäre.

Reinholt war nicht so vertrauensselig. Manches an den Leuten wollte
ihm nicht mehr gefallen. Daß sie häufig mitsammen flüsterten, im
Bibliothekssaal heftige Debatten führten, die sofort abgebrochen
wurden, wenn er oder Hellwig oder Pfannschmidt oder sonst ein Treuer
dazu kam. Und namentlich der Sanders, ein dunkelhaariger Gesell mit
Blatternarben im eischmalen Gesicht, gefiel ihm gar nicht. Er war erst
seit kurzer Zeit in der Fabrik und doch spielte er, vornehmlich unter
den jüngeren, eine große Rolle. Sie hörten auf ihn, suchten und riefen
ihn, und wenn er zu ihnen trat, wurden ihre Worte leiser, steckten
sie die Köpfe zusammen und bekamen aufgeregte Gesichter. Auch dem
Pfannschmidt war das bereits aufgefallen, und nur Hellwig wollte es
nicht gelten lassen. Wenn ihn Reinholt aufmerksam machte oder warnte,
schüttelte er mit ungläubigem Lächeln den Kopf, suchte und fand
Entschuldigungen.

„Das Kameradschaftsgefühl ist in ihnen noch nicht erloschen, soll
es auch nicht sein! Und da wurmt sie’s eben, daß sie Streikbrecher
geschimpft werden. Aber das geht vorüber. Als der Streik angefangen
hat, was hat man da nicht alles befürchtet. Sogar Militär hat
hermüssen, weil unsere Nachbarn um ihre Maschinen Angst gekriegt haben.
Und schau’ her, jetzt dauert die Geschichte schon fast zwei Wochen --
und alles bleibt ruhig. Glaub’ mir nur, Leo, jetzt sind wir schon überm
Berg. Die Arbeitsfreude bei uns, während ringsherum alles gärt und tobt
und siedet, beweist mir am schlagendsten die Ohnmacht der Gegner. Wir
haben unsere Leute zufrieden gemacht, _den_ Erfolg jagt uns keiner mehr
ab!“

„Nicht alle sind zufrieden, Fritz!“ beharrte Reinholt bei seinem
Bedenken. „Sie planen was gegen uns! So mach’ doch die Augen auf,
Fritz, ich werd’ ja ganz irr an dir! Du hast Mitleid mit denen da
draußen, vielleicht trübt dir das den Blick -- aber ich denke, sie
haben uns wahrhaftig genug Prügel unter die Beine geschmissen und
verdienen keine Rücksicht!“

„Nein, nein, Leo, sprich nur nicht anders als du denkst!“ entgegnete
Fritz traurig. „Die Leute sind nicht besser und nicht schlechter als
wir alle. Sie wollen auch nur -- wieder Menschen werden. Teilhaben
an den reizvollen Nebensachen und bunten Nichtigkeiten, die zwischen
Arbeit und Schlaf, zwischen Hunger und Liebe liegen und uns erst vom
Vieh unterscheiden. Und sind wir nicht mit schuld, daß sie es so
heftig heischen? Die unseren _haben_ das alles, es ist kein Wunder,
wenn die anderen gegen uns toben. Leo, es ist Zeit, höchste Zeit,
daß wir hier mit dem Aufbau fertig, daß uns die Kräfte frei werden,
einen oder den anderen Reichen noch für unsere Ansichten zu werben, zu
gewinnen. Vielleicht -- gehen wir doch den rechten Weg, können wir dem
kommenden Gründer der neuen Gesellschaft -- Vorläufer sein ...“


4.

Einer hatte diesem Gespräch zugehört. Robert Karus, der schon seit
Tagen in der Gegend weilte. In ihm war der Haß des Zerstörers gegen den
Bauenden. Und auch er wollte seinem Freunde Heinz Wart ein Totenmal
errichten. Sorgsam bereitete er den Grund, und seine Saat schoß schwer
und wuchernd in die Halme.

Aber weder die Freunde Hellwigs noch dieser selbst wußten von seiner
Anwesenheit. Und niemand hatte ihnen noch verraten, daß Karus bereits
einige Male, das Gitter überkletternd, in den Fabrikpark eingedrungen
war, um hinter Buschwerk versteckt zu lauschen. Und seine Flugblättchen
gingen unter den Eingeweihten von Hand zu Hand, ängstlich behütet
vor den Augen Unberufener, und in geheimen Versammlungen wurden sie
besprochen und schürten die Erregung und peitschten die Lust zur
Empörung immer höher auf. Mehr als hundert hatten sich schon unbedingt
an Karus angeschlossen, viele gab es, die durch die abfälligen Kritiken
und klug berechneten Reden der gemieteten Hetzer aufgestachelt, schon
unentschieden schwankten und jeden Tag zu Überläufern werden konnten.
Und die Streikenden, durch die Unnachgiebigkeit ihrer Brotherren zum
äußersten bereit, standen wie _ein_ Mann gegen Hellwig und was Karus
und Mark und Leibinger ihnen vorsagten, das sprachen sie nach und
glaubten, daß einzig Hellwig an ihrer Lage schuld wäre.

So war eine gewaltige Menge Zündstoff aufgehäuft. Der geringfügigste
Anstoß mußte die Explosion herbeiführen. Und Karus sorgte dafür, daß
dies bald geschah.

Nun, da der Boden gehörig unterminiert, ein verläßlicher Kern von
Anhängern gebildet, die Erbitterung der Leute bedrohlich angewachsen
war, nun mußte Sanders, der gedungene Proselytenmacher, aus seiner
Reserve heraus. Bei jeder Gelegenheit redete er jetzt ganz offen vor
allen Leuten über die mangelhaften Einrichtungen des Unternehmens,
schimpfte darüber, mäkelte und nörgelte, und nichts fand mehr Gnade
vor seinen Augen. Zu wenig Abwechslung im Essen, zu kleine Portionen,
zu wenig Geld, aber viel zu viel Bevormundung, Kasernenzwang und
Drill: das war so der eiserne Bestand seiner Argumente. Dieses Tadeln
und Mäkeln führte bald zu Zank und Streitereien. Die treu zu Hellwig
hielten, wollten es nicht dulden, die andern gaben dem Nörgler recht,
Unfriede entstand, Zwist und Spaltung.

Am heftigsten erboste sich über die Reden Sanders’ der alte Bogner.
Jedes gehässige Wort gegen den Meister brachte ihn in Harnisch, er
schalt und wetterte über die Anmaßung der jungen Leute und wäre am
liebsten mit den Fäusten dreingefahren. Aber er erntete mit seinem
ehrlichen Grimm nur Gelächter und Spott.

Pfannschmidt wollte anfangs vermitteln und beschwichtigen. Bald jedoch
erkannte er den Ernst der Bewegung, erschrak, wie fest sie sich schon
eingenistet hatte, und schwere Befürchtungen kamen ihm. Da ging er
zu Hellwig und deckte ihm alles auf. Der aber legte, wie vordem den
Warnungen Reinholts, jetzt auch diesen Berichten keine Bedeutung bei.
Er _wollte_ einfach nicht sehen, wo jeder sehen, nicht hören, was jeder
vernehmen konnte. _Wollte_ blind und taub bleiben und allen ungünstigen
Zeichen zum Trotz die siegessichere Zuversicht sich aufrechterhalten.
Er zwang sich zur Sorglosigkeit, um die Zweifel, die sich schon leise
regten, zu übertäuben. Er drückte jeden Argwohn, der ihm jetzt doch
manchmal leise aufstieg, gewaltsam nieder, und gewaltsam zwang er sich,
an den Erfolg ganz fest zu glauben, weil er den Erfolg brauchte. Weil
er das Gelingen nicht nur heiß herbeisehnte, sondern notwendig haben
mußte, sagte er: „Es ist schon gelungen!“ und sagte es sich und den
anderen immer wieder vor, als könnte durch dieses fortwährende starre
Bejahen jede Möglichkeit des Mißlingens gebannt werden. Und es durfte
kein Mißlingen geben, sollte nicht, so meinte er, sein ganzes Leben mit
in Stücke brechen.

Deswegen stellte er den besorgten Warnern seine lächelnde Sicherheit
entgegen, und was nur erst beinahe fertig und was noch fast nur kaum
mehr als ein Wunsch war, sollte als fertig und vollendet angesehen
werden. Doch weder Reinholt noch Pfannschmidt konnte er überzeugen.

Sanders aber wurde immer dreister. Er begann nun auch über zu viel
Arbeit sich aufzuhalten, hatte an jedem neuen Auftrag etwas auszusetzen
und wenn er ihn überhaupt ausführte, tat er es nur widerwillig zögernd
mit sichtlicher Verdrossenheit. Und als er nach dem festgesetzten
Reihengang eine Woche lang die Kontrolle der Nachtwächter besorgen
sollte, weigerte er sich mit der Begründung, er sei als Weber
aufgenommen und nicht als Hausmeister. Da könne man schließlich auch
von ihm verlangen, daß er die Ställe ausmiste oder die Senkgrube
putze, das käme auf dasselbe heraus. Er weigerte sich also, schrieb
aber auch noch am gleichen Tag an Leibinger, er möge sich bereit
halten, die Sache werde bald entschieden werden.

Und als am folgenden Morgen das Kontrollbuch keinen Vermerk aufzeigte
und als er deswegen verwarnt wurde, zuckte er bloß die Achseln und
lächelte dazu. Und als am zweiten Morgen aus der Verwarnung eine
Rüge wurde, unter Androhung der Entlassung, da lächelte er noch
geringschätziger und zuckte wieder die Achseln. Am dritten Morgen war
er entlassen. Er erhielt sein Sparkassenbuch und seine Abfertigung und
konnte gleich gehen. Obwohl Reinholt dagegen gesprochen, hatte es Fritz
so angeordnet. Eine Satzung war übertreten, die darauf gesetzte Strafe
war verwirkt worden, da gab es für Hellwig kein Überlegen und galt
keine Rücksicht.

Sanders aber hatte nichts anderes gewollt. Seiner Anhänger gab es
viele, und die, das wußte er, würden ihn nicht so mir nichts, dir
nichts ziehen lassen. Und er traf keine Anstalten zum Fortgehen.
Das Geld nahm er zwar, aber seine Sachen packte er nicht. Nur sein
Sonntagsgewand zog er an und ein gestärktes Hemd und ging ins Wirtshaus.

Dort saß bereits Karus mit Leibinger und Mark. Sie hatten einen großen
Krug Wein vor sich und tranken fleißig. Mit einem selbstbewußten
Schmunzeln setzte sich der blatternarbige Weber zu ihnen.

„Wie steht’s?“ fragte Karus kurz.

Sanders schenkte sich gemächlich ein Glas voll und tat einen
bedächtigen Zug. Da sein Bericht mit Spannung erwartet wurde, kam
er sich sehr wichtig vor und wollte dieses Gefühl seiner Bedeutung
möglichst lang auskosten.

Leibinger rieb die Hände rund umeinander und machte sein
verbindlichstes Gesicht.

„Es scheint alles glatt gegangen zu sein?“ fragte er ausholend. Sanders
nahm noch einen Schluck. Dann zog er sein Taschentuch und wischte sich
umständlich den Mund ab.

„Verfluchtes Getu’!“ schimpfte Karus. „Laß die Faxen und red’ endlich!“

Da tat Sanders gekränkt und war beleidigt:

„Befehlen lass’ ich mir nichts!“

„Aber wir bitten Sie doch!“ lenkte Leibinger ein und Mark nickte und
bestätigte eifrig: „Gewiß, gewiß, wir bitten Sie!“

Da war der blasse Weber wieder versöhnt und erzählte von seiner
Entlassung und fügte hinzu, daß er nicht fortgehen, sondern heute beim
Abendvortrag im Garten Einspruch zu erheben gedenke und vom Mittag bis
Feierabend werde er noch ein bißchen Stimmung machen.

Leibinger meinte dazu: „Gut! Sehr gut!“ und Mark: „Schön! Sehr schön!
Ausgezeichnet!“ Karus aber sagte: „Da erzählst du uns nichts Neues!
Denke, daß ich dir das so eingetrichtert hab’. Daß sie dich davongejagt
haben, hast du brav gemacht. Mach’s weiter so, dann geht heut’ abend
der ganze Krempel in Fransen!“

Dröhnend lachte er, und seine Faust schmetterte hart auf den Tisch.
Dann trank er sein Glas leer, füllte es rasch und leerte es wieder
und noch einmal und abermals. Nun die Entscheidung so nahe war, wurde
er doch aufgeregt. Die anderen bemerkten das, schauten ihn an und
schwiegen. Ihm aber löste der Wein die Zunge.

„Bekehren will er die Aussauger!“ rief er unvermittelt aus dem Wirbel
seiner Gedanken heraus. „Bekehren! So lang man die nicht totschlägt,
gibt’s keine Bekehrung!“

„Sprechen Sie von Hellwig?“ fragte Mark und riß die Augen weit auf.

„Nein, vom Mond, Sie Kalb!“ entgegnete Karus grob. Leibinger lächelte
liebenswürdig. Da faßte auch Mark die Beleidigung als Witz auf. Er
lachte laut und gezwungen. Doch schien es ihm ersprießlicher, ein
anderes Thema anzuschlagen.

„Herr Karus,“ sagte er, „die Partei kann es Ihnen nicht hoch genug
anrechnen, daß Sie sich so selbstlos ...“

Karus unterbrach ihn: „Dankt dem Himmel, daß ich euch früher nicht
so genau gekannt hab’. Ich hätt’s mir sonst, weiß der Teufel, noch
gründlich überlegt!“

Er hielt inne, fuhr mit den gespreiteten Fingern durch den borstigen
Haarschopf.

„Eh was, jetzt bin ich einmal da!“ sagte er dann. Und mehr im lauten
Selbstgespräch: „Als junger Grasaff’ bin ich auch nicht anders gewesen
wie der Volksbeglücker. Heinz auch nicht. Gewiß nicht! Nein! ... Was
stiert ihr mich denn so blöd an? Ich bin nicht besoffen! Nur ... ich
hab’ auch einmal einen Freund gehabt! Ja -- der Robert Karus hat auch
einmal einen Freund gehabt ...“

„Sie haben doch viele Freunde!“ beeilte sich Leibinger zu versichern,
und Mark beteuerte das auch, rückte aber seinen Stuhl aus der Nähe des
Mannes, dessen flackernde Augen und dessen zerfahrenes Wesen ihm Angst
machten.

„Redet mir das nicht vor!“ antwortete Karus geringschätzig. „Ihr
braucht mich, deswegen tut ihr mir schön! Aber Freunde? Bah! Furcht
habt ihr vor mir! Alle haben Furcht! -- -- Heinz nicht ... Und doch --
hab’ ich ihn später ...“ Er sprang von der Bank und schüttelte die
Fäuste vor sich, als rüttle er an Ketten. „Sie hätten ihn sonst ... es
ist einfach nicht anders gegangen!“

Wie ein erstickter Aufschrei war das. Und wieder trank er und ging mit
mühsamen Schritten über den Lehmboden der Stube.

„Also seither: Rache für Heinz! _Das_ ist der Grund! Nicht ihr! Nur --
er! Die Gesellschaft von heute hat ihn umgebracht, drum _muß_ sie weg!
Sie oder ich! Eher wird da nicht Ruh’!“

Die anderen wurden aus den wirren Reden des verstörten Menschen, der
im Ringen mit einem schweren Entschluß aus allen Fugen gehoben schien,
nicht klug, schauten einander bedeutungsvoll an und unterbrachen ihn
mit keiner Silbe.

„Nun kann’s ja losgehen!“ sagte Karus nach einer Weile wieder ganz
kalt. „Ich geh’ jetzt und horch’ ein bissel herum! Auf Wiedersehn heut’
abend!“


5.

Es war Abend geworden.

Langsam schritt Karus den Fußweg entlang zur Fabrik.

Hoch über den weiten Wiesen zogen weiße Wolken wie Schaumflocken durch
den blauen Himmel und flimmerten im Widerschein der müd geneigten
Sonne. Eine Spottdrossel sang unsichtbar in einer Hecke. Ihr tiefes,
klingendes Lied erfüllte den ganzen Busch, und es war, als sänge
dieser selbst mit allen seinen Ästen und unbewegten Blättern durch
einen Zauber zum Tönen gebracht. Sonst war Schweigen. Unter goldenen
Schleiern lag die Erde still und glanzmüde, und das Leben hielt den
Atem an. Und nichts war mehr zu hören als das tiefe, quellende Lied,
das aus dem verzauberten Busch in die Märchen gewordene Welt verklang.

Aber nicht überall war diese Landschaft so des Friedens voll.

In der Fabrik Reinholts, in dem großen Garten, auf dem schattigen
Platz unter den hohen Kastanien, wo der Tisch für den Vorleser stand
und die Bänke für die Zuhörer, ballte sich und lärmte eine dunkle
Menschenmasse verworren durcheinander, und Fritz Hellwig war rings von
ihr umschlossen. Er hatte eben noch aus dem ‚Egmont‘ vorgelesen und
war warm geworden bei der Stelle: ‚Ich fühle mir Hoffnung, Mut und
Kraft. Noch hab’ ich meines Wachstums Gipfel nicht erreicht und steh’
ich droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehen.‘ Aber die
Worte: ‚Soll ich fallen, so mag ein Donnerschlag, ein Sturmwind, ja
selbst ein verfehlter Schritt mich abwärts in die Tiefe stürzen, da
lieg’ ich mit vielen Tausenden‘, die Worte konnte er schon nicht mehr
lesen.

Da waren sie vom Lesesaal herübergekommen, erregt und schreiend, und
Sanders ging in der ersten Reihe, ein wenig unsicher und ein wenig
schwankend, mit zerwirrtem Haar und mit offener Weste. Er hatte sich
Begeisterung und Mut getrunken, und das machte ihm jetzt die Füße
schwer. Aber seine Zunge war gelenkig geblieben. Im Lesesaal hatte er
zu seinen Freunden geredet. Während die anderen ahnungslos ihre Arbeit
taten, hatte er seine Leute aufgepulvert. Und jetzt standen sie mit ihm
vor Hellwig, um die Auflassung der Strafe zu fordern und -- es ging
unter einem hin -- die Einstellung der Arbeit aus Solidarität mit den
hungernden Genossen.

Mit leidenschaftlichen Worten forderten sie das, und ihre Gebärden
waren drohend und trotzig. Reinholt und Pfannschmidt hatten sich beim
Nahen des Haufens wie zum Schutz neben Hellwig gestellt, und auch die
anderen Getreuen drängten näher herzu. Fritz aber stand ruhig und
aufrecht da, und seine Augen blickten wie verwundert in das Getümmel.
Und je länger sie schauten, desto kälter glänzend wurden sie. Aber kein
Muskel zuckte an ihm, nur die Nasenflügel zitterten leicht, und je
fester sich die Lippen aufeinander legten, desto bestimmter wurde in
dem unbewegten Gesicht der Ausdruck einer harten Entschlossenheit. Sein
heller Blick richtete sich fest auf Sanders, und seine Stimme klang
herrisch und streng.

„Was suchen Sie noch hier?“ fragte er.

„Fritz!“ flüsterte ihm Reinholt beschwörend zu. „Tu’ jetzt nichts, was
sie noch mehr erbittern könnte! Nur jetzt nicht!“

„Ich muß!“

„Was ich hier suche?“ rief Sanders zu ihm hinauf. „Arbeit such’ ich!
Brot such’ ich! Gerechtigkeit such’ ich!“

„Gerechtigkeit haben Sie bereits gefunden. Brot und Arbeit suchen Sie
anderswo, die Kündigung bleibt aufrecht!“

„Sie ist willkürlich!“

„Sie bleibt aufrecht.“

Im selben Augenblick trat Karus hinter den Bäumen vor.

„Servus, Volksbeglücker! Schön schaut’s hier aus!“

Hellwig blickte ihn an und erstaunte nicht einmal, ihn jetzt und hier
zu sehen.

Was wollten nur die da unten von ihm? Und warum war Reinholt so
farblos? Und warum bebte Pfannschmidt so und hielt die Hände geballt?
Und warum war er selbst so seltsam ruhig, so leer, so, als ob er ganz
hohl wäre und sein Blut, seine Lebendigkeit, sein ganzer Inhalt
ausgeronnen?

„Er darf nicht fort! Wir dulden’s nicht!“ riefen sie drohend zu ihm
herauf.

„Fritz, mach’ die Kündigung rückgängig!“ beschwor ihn Reinholt.

Da reckte er sich hoch auf: „Nein!“

Und ganz hart, wie wenn Eisen gegen Glasscherben klirrt, rief er hinab
in den Lärm: „Hier hab’ ich allein zu befehlen! Ob ihr’s duldet oder
nicht -- einerlei! Der Mann ist entlassen!“

Karus lachte höhnisch auf.

„Er duldet nicht, daß ihr einen Willen habt!“ rief er. „Kuscht, Hunde,
kuscht! Er duldet nichts, als daß ihr kuscht!“

Nun brausten sie wilder empor: „Wir kuschen nicht! Wir lassen uns das
Maul nicht verbieten! Wir lassen Sanders nicht weg! Er darf nicht fort!“

Die Treuen Hellwigs riefen dagegen und scharten sich dichter um das
Podium und suchten die Schreier abzudrängen. Doch ihre Zahl war nur
klein. Denn viele hielten sich zurück und standen unentschlossen da und
wußten nicht, wem sie recht geben sollten. Der alte Bogner aber wollte
immer wieder auf Sanders los und rang mit seinem Schwiegersohn, der ihn
zurückhielt, und zitterte am ganzen Leibe und weinte vor Wut laut auf.

„Mach’ die Kündigung rückgängig!“ flehte Reinholt abermals. Hellwig
schüttelte nur mit einem kurzen Ruck den Kopf. Jetzt mußte er fest
bleiben, durfte sich die Leitung nicht aus den Händen winden lassen,
sonst war alles verloren.

„Niemand darf hier drohen!“ sprach er in den Lärm hinein, laut und
hell. „Niemand! Ich nicht und ihr nicht und niemand! Sanders ist
entlassen! Und bleibt es! Und bliebe es auch, wenn ihr anständig und
bescheiden euer Anliegen vorgebracht hättet! Er hat unsere Ordnung
verletzt. Gilt euch diese Ordnung nichts und nichts euer verpfändetes
Wort? Wenn ihr frei und unabhängig sein wollt, müßt ihr die Gesetze
achten, die ihr beschworen habt und dürft nicht jene schützen, die sie
böswillig brechen. Erst durch die Ungerechtigkeit werden wir unfrei!“

„Ich hab’ nicht Nachtwächter sein wollen, weil ich ein gelernter Weber
bin! Ist das ein Verbrechen?“ rief Sanders spöttisch.

„Ich fordere Sie nochmals auf, die Ordnung zu achten und die Fabrik
sofort zu verlassen!“

„Und wenn ich’s nicht tu’?“

„Dann jagt ihn der Volksbeglücker hinaus!“ höhnte Karus. „Schöne
Volksbeglückung das! Wie ein ausgedienter Gaul wird er vor die Tür
gesetzt!“

Einer von den Arbeitern aber, die um Sanders waren, trat jetzt
verlegen vor und sagte: „Meister, ich ... wenn ich gewußt hätt’, was
die eigentlich wollen, hätt’ ich mich nicht so tief eingelassen. Sie
haben’s ja so abgemacht, untereinander, der Karus, der Leibinger und
der Sanders. Jetzt begreif’ ich erst, wo das hinaus soll.“

„Schuft!“ schrie Sanders und spie ihm ins Gesicht. Karus trat
gebieterisch dazwischen.

Hellwig ächzte dumpf auf und taumelte. Wieder einmal sah er sich einem
Schurkenstück gegenüber, der Ekel kam und lähmte seine Tatkraft. Er
haßte die Falschheit. Und alles, was nur eine Spur von Gemeinheit in
sich hatte, machte ihn fassungslos und wehrlos, da konnte er nicht
zornig dreinfahren, fühlte er nur Enttäuschung und Schmerz und eine
tiefe Mutlosigkeit.

„Ihr habt es gehört!“ sagte er und das Sprechen wurde ihm schwer. „Ist
es wirklich schon so weit, daß eine abgekartete Komödie uns auseinander
bringen kann?“

Als sie den Meister so ganz tief traurig und wie um alle Hoffnungen
betrogen sahen, regte sich das Gewissen in so manchem.

„Nein, Meister! -- Wir halten zu Ihnen, Meister!“

Und der alte Bogner rang immer noch mit seinem Schwiegersohn und bat
und drohte und schluchzte immerzu: „Laß mich los, Adam! Ich muß dem
Kerl das Maul zustopfen!“ Doch der Adam ließ nicht los.

Karus aber wurde kaum des Umschwungs gewahr, da holte er aus zum
entscheidenden Schlag. Und mit dem ganzen Elan seiner wilden,
ungezügelten Leidenschaft lief er den letzten Sturm.

„Jawohl!“ schrie er, sprühendes Feuer in den Augen. „Jawohl! Es ist
eine abgekartete Komödie! Aber sie ist gut genug, denen da oben die
Larven herunterzureißen! Damit ihr endlich erfahrt, wie sie euch aus
lauter Liebe die letzte Unze Blut aussaugen!“

„Nieder mit den Blutsaugern!“ rief Mark im Hintertreffen. Und: „Nieder
mit den Blutsaugern!“ riefen ihm viele nach. Und immer lauter tönte und
schmetterte die Stimme des alten Revolutionärs:

„Millionen raffen die zwei da oben zusammen! Jeder Tropfen Schweiß, den
ihr vergießt, wird für sie zum Goldstück! Dann werfen sie euch ein paar
Knochen hin: Da hast, Hund, friß dich satt!“

Und wie grollende Meeresbrandung tönte die Antwort zurück:

„Wir _sind_ keine Hunde!“

„Nein, ihr seid keine Hunde! Es ist euer Recht, zu fordern, was sie
euch als Almosen vor die Füße schmeißen! _Ihr_ müßt die Herren sein,
denn _euere_ Muskeln stoßen die Welt vorwärts!“ rief Karus.

Sein heißer Atem wehte über sie weg, schlug ihnen wie Glutwind ins
Gesicht, ergriff und riß sie mit wie der Sturm die Bäume.

„Nieder mit den Unterdrückern! Nieder! Nieder!“

Das grollte und gellte auf, hob sich wie eine gewaltige Woge hoch
empor, wieder, wieder und immer wieder und wollte nicht schweigen.

Schlag auf Schlag kam das alles und ließ niemandem Zeit zur Überlegung.
Hellwig stand mit totenblassem Gesicht und stützte sich schwer auf
Reinholt. Als ob ihn das gar nichts anginge, blickte er in das Toben
und fühlte nur einen harten Druck, der stärker und stärker sein Herz
zusammenpreßte. Reinholt aber wollte ein letztes Mittel versuchen.

„Leute!“ rief er. „Kommt zur Besinnung, Leute! Fünf Kompagnien Soldaten
sind im Dorf!“

Karus griff das Wort auf:

„Seht ihr’s! Seht ihr’s! Jetzt werfen sie schon die Larven ab! Jetzt
zeigen sie ihr wahres Gesicht! Zusammenschießen lassen sie euch, wenn
ihr euer Recht fordert!“

Und aus hundert Kehlen brauste es stürmisch zurück: „Wir lassen uns
nicht zusammenschießen!“

Mittlerweile hatte Leibinger auch die Streikenden vor dem Gittertor
gesammelt. Rauh aufjohlten die. Und dann: „Genossen, nicht nachgeben!
Wir helfen euch! Hoch die Internationale! Hoch die Freiheit!“

„Hoch die Freiheit! Hoch! Hoch die Freiheit!“

Und Karus’ Stimme klang wie Trompetenschall durch den Aufruhr: „In
Sklavenketten halten sie euch! Um euere besten Menschenrechte betrügen
sie euch!“

„Wir lassen uns nicht betrügen! Wir sind keine Sklaven!“

Mühsam raffte sich endlich Hellwig zusammen: „Laßt euch nicht
aufhetzen, Leute!“

„Er darf nicht reden! Herunter mit dem Tyrannen!“ donnerte es zurück.

Da schrie er schluchzend auf: „Das sind meine Braven? Für _die_ hab’
ich gearbeitet?“ und sprang mit einem Satz mitten unter sie. „Hier bin
ich! Nun? Was zaudert ihr? Macht den Tyrannen nieder! Ihr seid ja frei!“

Eine kurze Stille der Verblüffung.

„Du Schuft!“ rief der alte Kesselwärter und drang mit geschwungener
Faust auf Karus ein. Der fing den Schlag auf und sagte kalt: „Ruhig,
Alter! Gleich ist’s vorüber!“

„Wessen klagt ihr mich an?“ fragte Hellwig.

„Er darf nicht reden! Nieder mit dem Tyrannen!“ schrie Mark im
Hintertreffen. Aber nun Hellwig wieder mitten unter ihnen war, nun sie
die vertrauten Züge wieder dicht vor sich sahen, die Lippen, die so oft
gütige Worte zu ihnen gesprochen, die Augen, die so oft heiter und frei
und immer ohne Falsch auf sie gesehen, da trauten sie sich nicht recht
vor, und nur dumpfes Murren folgte dem gellenden Auftakt Marks.

„Wessen klagt ihr mich an?“

„Wir lassen uns die Freiheit nicht rauben! Wir sind keine Sklaven!“
grollten sie und schauten mit scheuen Blicken an seinen leuchtenden
Augen vorbei und schüttelten die Fäuste nur verstohlen.

Fritz aber stand da, wie ein Träumender stand er da und schaute in eine
leere Ferne hinaus, einem zerfließenden Trugbild nach. Und während es
sich langsam auflöste und zerrann, stieg langsam und immer klarer und
schärfer eine neue Erkenntnis vor ihm auf. Sein Blick war starr und
visionär, mit fremder, müder Stimme fing er an zu sprechen und es war,
als holte er die Worte aus einem tiefen Brunnen herauf:

„Ich euch die Freiheit rauben? Brüder, wie kann ich euch etwas rauben,
was niemals ein Menschengut gewesen ist? In schweren Ketten keuchen
wir, das Schicksal hat sie uns auferlegt und wir zerbrechen sie
nimmermehr. Aber das Tragen wollte ich euch leichter machen. Daß wir
Schulter an Schulter die Ketten schleppen und sie uns nicht zu tief ins
Fleisch schneiden. Ihr aber ... erhebt euch wider mich mit geballten
Fäusten, Unmögliches verlangend, nie Erreichbares heischend. Ihr könnt
ja nicht anders, seit heute, seit jetzt weiß ich es. Denn daß wir die
Ketten stets aufs neue fühlen müssen, sobald sie uns nur ein bißchen
leichter wurden, immer wieder schwer und drückend fühlen müssen, ist
Menschenlos -- ist ewiger Menschenfluch ...“

Die Stimme brach ihm. Unschlüssig standen die Leute. Karus aber,
enttäuscht und zornig über diese Resignation, riß sein Beil aus dem
Gürtel.

„Gelatsch! Gelatsch! Und geht’s nicht anders, zerreißt die Ketten,
zerbrecht die Fesseln, zerschlagt den Kerker! Dann habt ihr die
Freiheit! Die Freiheit ist da!“

Und: „Freiheit! Freiheit! Zerschlagt den Kerker! Wir wollen keine
Ketten! Wir sind keine Knechte!“ schrien sie toll, jauchzend, außer
Rand und Ufer.

„Führ’ uns, Karus!“ tönte ein Ruf. Und da schwoll es an zu
Donnergebrüll: „Führ’ uns, Karus! Karus, führ’ uns!“

Und die Streikenden draußen riefen: „Wir kommen! Wir helfen euch!“ und
warfen sich, Hunderte _eine_ geballte Masse, gegen das Tor, und das
Schloß sprang krachend entzwei, und tobend wälzte sich die Rotte in den
Garten.

„Fritz Hellwig!“ frohlockte Leibinger. „Der Zahltag ist da!“

Karus vertrat ihm den Weg: „Diesem da wird kein Haar gekrümmt!
Vorwärts, Männer! Vorwärts! Zu den Maschinen! Feuer in die Speicher!
Den roten Hahn auf alle Dächer! Im Namen der Freiheit! Im Namen Heinz
Warts! Rache für Heinz Wart!“

„Rache! Rache!“ gab der entfesselte Haufe gedankenlos das Wort weiter.
Und Fritz lachte. Rasend lachte er auf und hieb sich mit der Faust die
Schläfen: „Im Namen Heinz Warts? Recht so! Recht! Sengt! Brennt! Raubt!
-- Heinz! -- Heinz Wart! ... Heinz ...!“ Wie verzweifelt gebärdete er
sich.

„Wenn die Soldaten kommen ...“ warnte Mark.

„Dann reißen wir das Pflaster auf und bauen Barrikaden! Drauf, Männer,
drauf! Unser ist die Welt!“

Und das blinkende Beil in hocherhobener Faust stürmte Karus fort. Fast
alle folgten.

„Heinz Wart!“ riefen die einen, „Freiheit!“ riefen die andern. Blind,
taub, sinnlos, jeder Überlegung beraubt stürzten sie ihrem neuen Führer
nach.

Ganz wenige blieben zurück. Pfannschmidt, der sich den Empörern
entgegengeworfen, lehnte, aus einer klaffenden Stirnwunde blutend, an
einem Baum, und Bogner betreute ihn. Adam Pichler aber war schon früher
in das Lager der Soldaten gerannt. Und Reinholt hatte alles andere
seinen Gang gehen lassen in der Sorge um den Freund.

Im Laufschritt kam das Militär angerückt. Der diensthabende Hauptmann,
die gelbe Feldbinde um den schlanken Leib, führte es mit gezogenem
Säbel.

Da erwachte Fritz aus seiner Starrheit.

„Nicht das!“ stammelte er und atmete wie ein gehetztes Tier. „Nicht
das!“

Unausgesetzt tönten krachende Axtschläge vom Fabrikhof, Gesplitter von
Holz und Glas und Eisen, Brüllen und Gejohl.

Blutroter Feuerschein lohte auf. Die Magazine standen in Flammen.

Und jetzt ein wildes Geheul. Die Aufrührer hatten das Militär erblickt.

Hornsignale gellten durch den Tumult. Scharfe Kommandoworte. Prasseln
von fallenden Steinen. Das dumpfe Aufschlagen der Gewehrkolben gegen
hundert Schultern.

„Nicht das! Nicht ...“ Hellwig tat ein paar Schritte, wollte hin -- und
kam nicht weit. Ein furchtbarer Aufschrei: „Aus! Alles -- aus!“

Reinholt sprang rasch herzu. Zu spät. Wie ein gefällter Stier brach der
Volksbeglücker ohnmächtig zusammen.

Im selben Augenblick krachte die Salve.


6.

Als Hellwig das Bewußtsein wieder erlangte, war bereits die Nacht
hereingebrochen. Er lag ausgestreckt auf einer der Bänke. Reinholt
kniete neben ihm und legte nasse Tücher auf seine Stirn. Ein Häuflein
verstörter und weinender Menschen stand im Kreis herum. Unstet
leuchtete von der Fabrik herüber noch der Feuerschein. Vor dem
zerbrochenen Gittertor aber hielten ein paar kastenartige Wagen, gelb
angestrichen, das rote Kreuz im weißen Felde. Soldaten kamen und
gingen mit brennenden Fackeln und mit Tragbahren, auf denen dunkle
Menschenleiber lagen und stöhnten und zuckten. Ein Regimentsarzt eilte
vorbei. Der Leinenkittel über der Uniform starrte von eingetrocknetem
Blute, und auf der Höhe seiner fetten roten Wangen standen große
Schweißtropfen. Er beugte sich über Hellwig und fragte, wie er sich
fühle, und untersuchte ihn.

Der richtete sich jählings auf. „Wie viele sind verwundet? Wie viele
tot?“ fragte er hastig, und im Grunde seiner Augen stand das Grauen.
Der Arzt zog gleichmütig die Schultern hoch. „Weiß die Zahl noch
nicht!“ sagte er. „War ein heißer Tag, hat viel Arbeit gegeben. Das
waren, Gott sei Dank, die letzten.“ Mit einer Kopfbewegung deutete
er auf die Bahre, die eben in den Krankenwagen gehoben wurde. „Ruhe
brauchen Sie! Schlafen Sie sich ordentlich aus, Ihre Nerven haben’s
verdammt nötig! Sonst fehlt Ihnen nichts!“ Nachlässig salutierte er und
eilte zu den Fahrzeugen. Die Pferde zogen an, im Galopp ging es fort.

Dann kam der Hauptmann und bat den Besitzer der Fabrik um eine
Unterredung. Und während Reinholt mit ihm sprach, trat Hellwig auf
den Fahrweg hinaus, ging wie ein Schlafwandelnder weiter und weiter,
zwischen rauschenden Feldern ging er und durch blühende Wiesen, und
als Reinholt laut seinen Namen durch die Stille rief, da schritt er
nur desto rascher vorwärts, mehrfach abbiegend, kreuz und quer, auf
schmalen Rasenbändern, weiter und weiter, und er wußte nicht, wohin er
ging und was ihn vorwärts stieß.

Hoch oben in der Luft trieben noch immer schnell und lautlos die
silbrigen Wolken vor dem Mond, der halbrund am Himmel hing und es war,
als ständen die Wolken still und jagte die weiße Luna in hastiger
Flucht zwischen den ruhenden Silberflocken durch den glanzerfüllten
Raum. Von den brennenden Speichern und Dächern der Fabrik kam ein
roter Schein und wehte unruhig über die Fluren, und der Himmel war
dort purpurn glühend und die dunklen Büsche standen davor mit allen
ihren schlanken Zweigen und gerundeten Blättern scharf aus dem lohenden
Glanz herausgehoben, schwarze Schattenbilder auf goldig flammendem
Grund. Schön und seltsam und geheimnisvoll war die Landschaft mit
ihren sanften und grellen, ruhigen und beweglich huschenden Lichtern
und Farben und Schatten, und unermeßlich dehnte sie sich in einem
milden Leuchten blau verdämmernd, weit, weit, bis sie mit dem Rand der
hohen Himmelsglocke zusammenschmolz. Lautloses Ineinanderspielen der
Farben unten, lautloses Wolkenziehen hoch darüber, glanzgesättigte
Stille dazwischen: das war wie ein Prunksaal der Einsamkeit, die
hier demütigstolz die Königskrone aus den Händen der Unendlichkeit
entgegennahm.

Trostbringende Königin Einsamkeit.

Für den, der hier ihren Krönungssaal durchwanderte, weiter und immer
weiter wanderte, mit gesenkter Stirn und schlaffen Armen, für ihn hatte
sie keinen Trost, und er suchte ihn auch nicht. Er wollte nur ... Was
wollte er denn eigentlich noch?

Da war ihm alles niedergebrochen. Ihm, dem Sieger, -- „Wir sind durch!“
hatte er oft und oft den Freunden gesagt, -- war alles niedergebrochen.
So gründlich, daß kein Stein auf dem andern geblieben. Und die ihm
vertraut hatten, saßen jetzt zwischen ausgebrannten Mauern, viele
brave, arbeitsame Leute, -- und konnten betteln gehen. Sein Lebenswerk.
-- Und Blut war vergossen worden. Durch seine Schuld war Blut vergossen
worden, rotes, warmes Menschenblut. Sein Lebenswerk. Und alles war ihm
niedergebrochen. Was wollte er also noch?

Diese Gedanken, und immer nur dieselben Gedanken waren es, die ihn
begleiteten, während er so durch die endlose Ebene hinschritt,
stundenlang weiter und weiter schritt, bis ihn die Müdigkeit
überwältigte. Seine Beine begannen zu zittern, er taumelte und mußte
sich niedersetzen.

Ganz schüchtern leuchtete das Frührot auf. In klaren Kugeln hing der
Tau an den Gewächsen, und faul versuchte ein Frosch seine knarrende
Stimme. Ein Vogel fing zu zirpen an, zaghaft und leis, als fürchtete
er sich noch vor der Dämmerung und der Stille -- dann lauter, kecker
-- ein zweiter gab Antwort -- und als der junge Tag goldhell in das
freudig aufschauernde Land hineinsprang, da jubilierten im vollen Chor,
dem Zwang der Nacht entronnen und grüßten ihn viel hundert gefiederte
Sänger.

Mit dem Gesicht nach abwärts hatte sich Fritz ins tauige Gras geworfen.
Vielgestaltig regte sich das Leben unter ihm. Winzige weiße Würmchen
krochen umher, schwerfällig schüttelten die Fliegen den Tau von den
surrenden Flügeln, ein hungriger Käfer lief hastig durch das Labyrinth
der grünen Stengelchen, eine Spinne kletterte über das feine Wurzelwerk
und über die kleinen Steinchen, mühselig, als stieg sie über hohe
Berge. Und unter der beweglichen Mannigfaltigkeit ruhte das braune
schwere Erdreich gelassen und still wie die Brüste einer Mutter unter
den ratlos tastenden Fingerlein des trinkenden Kindes.

Aber diese Ruhe strömte nicht auf ihn über, und sein Herz ging nicht
in stillerem Gang. Schnell und schwer pochte es gegen den Boden im
harten Rhythmus der Verzweiflung. Und während er so in die Erde starrte
und den herben Duft ihrer Fruchtbarkeit trank, erwachten und zogen
vorüber wie Bilder einer Zauberlaterne alle die hingeschwundenen
achtunddreißig Jahre seines Lebens mit ihren Hoffnungen und Irrtümern,
ihren Kämpfen, Niederlagen und bittersten Enttäuschungen. Was immer
er bisher versucht hatte, alles war ihm mißlungen. Viele Wege war er
gegangen, mit beschwingtem Fuß, in ernster und froher Begeisterung
vermeinend, daß er dem Ziele näher komme. Aber jeder war ein Irrweg
gewesen, hatte zum Ausgangspunkt zurückgeführt. Und da hielt er nun, wo
er angefangen -- vor dem Nichts. Und alle Kraft war verzettelt, alle
Arbeit vergeudet, verpulvert, vertan. Und jedesmal hatte er geglüht
und geflammt, gleich heiß und hell geflammt für ein Leben ohne Götter
und ohne Lüge, für die Herrschaft des deutschen Volkes und für die
brüderliche Gleichheit aller Völker, für den Sieg der Sozialisten und
für ihre Niederlage durch seine Ideen. Und alles war Lüge gewesen und
Götzendienst. Sich selbst hatte er belogen und ein utopisches Ziel
war sein Gott und Götze und selig machender Glaube. Wie die Spinne
vor seinen Augen mühsam über die Grashalme, war er auf ebenem Boden
keuchend gekrochen und hatte vermeint, er stürmte steile Berge empor
zum Ziel. Nutzlos verschwendete Mühe -- Irrsal -- Verzweiflung --
das war alles, was ihm geblieben. Und eine Ehe, die keine Ehe war,
ein Weib, für das der Gatte, ein Kind, für das der Vater wie ein
Gestorbener war.

Aber leise, in den quälenden, schweren Rhythmus der Verzweiflung
hinein, nur kaum wie ein schwaches Vogelzwitschern im Gewittersturm
verhallend, schwebte fernher, ganz leise, eine Melodie des Trostes und
ein schüchterner Hoffnungsklang. Und eine scheue Sehnsucht stand auf
und pochte zag an und pochte lauter und mahnte: „Kehr’ heim!“

Und pochte lauter und mahnte inniger: „Kehr’ heim! Zu Eva und Hansl,
dorthin gehörst du -- sie warten auf dich. -- Nicht um deinetwillen --
ihretwegen mußt du hin, daß sie aufrecht bleiben und sich weiter freuen
-- wenn auch du -- zerbrochen bist ...“

Und ohne noch einmal in die Fabrik zurückzukehren, wie er ging und
stand, im Hausanzug und mit der Gartenmütze, reiste er von der nächsten
Bahnstation ab.


7.

Otto Pichler las in seinem Stammcafé in den Zeitungen, daß das
Unternehmen des einstigen Freundes gescheitert war. Es bewegte ihn nur
wenig. _Sein_ Schifflein war geborgen.

Schon längst hatte er Grete Deming geheiratet, schon längst war er
Prokurist und Stellvertreter des Direktors der chemischen Fabrik. Sein
Schwiegervater hatte sich vor einigen Jahren zur Ruhe gesetzt. Ein
verdienstvoller alter Herr, den man nicht hatte übergehen können, war
dermalen mit der Leitung betraut. Aber sein Rücktritt konnte nicht mehr
lang auf sich warten lassen, und dann war Otto der kommende Mann. Bei
den Beamten war er beliebt. ‚Das Glückskind‘ nannten sie ihn und hatten
recht damit. Nur wenige gab es, die so spielend mit dem Leben fertig
wurden und mühelos die reifen Früchte auflesen konnten, die ihnen ohne
vieles Dazutun wie von selbst in den Schoß fielen.

Seine Ehe war wie tausend andere auch weder heiß noch kalt; eine
gleichmäßig laue Atmosphäre hüllte sie ein, ließ keine Stürme heran,
machte den Körper feist und war dem Wohlbefinden ungemein bekömmlich.

Er ging seine Wege, Grete ging ihre Wege, mit der Treue nahmen sie es
beide nicht zu genau.

Als der zukünftige Direktor den Bericht gelesen hatte, fragte er den
Kellner, ob die Herren seiner täglichen Tarockpartie schon anwesend
seien. Der Befrackte bejahte. Da zog Otto ein goldenes Etui aus der
Brusttasche, zündete sich eine Zigarette an, und während er den Rauch
erst einatmete und dann langsam in die Luft hinausschwimmen ließ,
dachte er: Ist es nicht Wahnsinn und Aberwitz, Gesundheit und Kraft und
Blut für wildfremde Menschen einzusetzen? Wir leben schließlich doch
nur das eine Leben, und warum sollten wir uns das nicht so angenehm wie
möglich machen und trachten, daß es uns sacht und unmerklich verrinne
in Fröhlichkeit und heiterem Behagen?

Dann ging er ins Spielzimmer und mischte die Karten.



Sechstes Buch


1.

Mitternacht war vorüber, als Hellwig bei Kolben Einlaß heischte.
Der Doktor war noch wach. Als Fritz draußen schellte, ging er ihm
ins Vorzimmer entgegen. „Komm nur herein,“ sagte er, „ich hab’ dich
erwartet.“

Und Fritz trat wortlos ein und hatte blasse Wangen und scheue Augen,
die ohne Unterlaß den persischen Teppich am Fußboden betrachteten. Aber
Kolben tat, als bemerkte er das nicht, sondern sprach zu ihm über seine
Rosenkulturen im Garten, die heuer besonders reichlich blühen würden,
über die vielen sonnigen Frühjahrstage, die immer wieder zu Wanderungen
ins Gebirge lockten, über die letzte Premiere im Burgtheater. Über das
alles und noch über viele andere Dinge sprach der Doktor unbefangen und
zwanglos, als wäre Hellwig nicht an die drei Jahre, sondern kaum ebenso
viele Tage fortgewesen. Und nur mitten zwischen diesen Dingen sagte
er einmal ganz von ungefähr: „Deine Frau wirst du wohl jetzt nicht
aufwecken wollen? Sie weiß auch noch nichts, es ist besser, du bleibst
die Nacht bei mir.“

Fritz atmete schwer auf und bewegte die Lippen, aber er sprach nichts
und schaute nur stumpf vor sich hin, elend und voll Schuldbewußtsein.
Doch als ihm der Doktor jetzt sein Schlafzimmer überlassen wollte, --
er müsse sich ausruhen, man sehe ihm ja an, daß er total erschöpft sei,
-- da lehnte er auch das stumm ab und blieb auf dem Diwan sitzen, mit
halb geschlossenen Augen und ganz teilnahmslos. Kolben aber dachte bei
sich, daß es besser wäre, den stolzen und harten Mann mit allen den
herben Verlusten und Enttäuschungen und Vorwürfen allein sich abfinden
und fertig werden zu lassen. Und er brachte Kissen und Decken, wünschte
ihm gute Nacht und zog sich zurück. Und Hellwig war ihm dafür dankbar.

Er drehte die Glühlampe ab und blieb im Dunkeln sitzen und erinnerte
sich, daß er unter einem Dach mit Eva sei, daß ober ihm sein Junge
schlief, und das war Weh und Beruhigung, Qual und Trost zugleich. Doch
schließlich wurde die Übermüdung stärker als alles andere, und auf
die zerrüttelnden Aufregungen der letzten Tage reagierte der Körper
endlich mit einem tiefen traumlosen Schlaf, der bis in die späten
Vormittagstunden nicht von den bleischweren Lidern wich.

Über alles mögliche hatte Kolben geredet. Aber was er für den Freund
getan und wie er Eva über die langen einsamen Tage und Monate und
Jahre hinweggeholfen, davon hatte er geschwiegen. Mit opferwilliger
Treue, ein verläßlicher Berater und Sorgenbanner, war er ihr zur
Seite gestanden, und während sie anfangs nicht darauf achtete, hatte
er ihr alle unangenehmen und schwierigen Geschäfte abgenommen. Auch
ihr Vermögen verwaltete er, und wenn Eva sich niemals ganz verlassen
fühlte und wenn ihr gar nicht recht zu Bewußtsein kam, was eigentlich
Fritz ihr angetan hatte, als er sie mit dem Kinde unbesinnlich in der
großen fremden Stadt mutterseelenallein gelassen, wenn sie davon nichts
merkte und sich leidlich zufrieden und geborgen glaubte, so war dies
ausschließlich das Verdienst des Doktors.

              *               *
                      *

Als Fritz endlich wach geworden, ging er mit Kolben in den ersten Stock
hinauf. Kaum ein Wort hatte er bisher geredet. Und als er im Vorzimmer
seiner eigenen Wohnung stand, spürte er den ungestümen Schlag seines
Herzens bis in der Kehle. Kolben aber ließ ihn draußen warten und ging
allein hinein, um Eva vorzubereiten. Ruhig und launig wie alle Tage
begrüßte er sie und tat, als wäre gar nichts Ungewöhnliches vorgefallen
oder im Anzug. Der vierjährige Hansl war mit dem Dienstmädchen
spazierengegangen.

Wo war die Frohsinn blitzende Eva von früher? Ganz zu tiefst, in
den verstecktesten Winkel des Herzens, mußte sich die Fröhlichkeit
verkrochen haben. Keine Spur davon war mehr in den schwermütigen Augen,
dem ernsten Antlitz, das deutlich die Zeichen gelittener Schmerzen
eingefaltet trug. Nur in den blonden Haarspitzen leuchtete etwas, ein
flink Bewegliches, Übermütiges, und war schon wieder weg. Kaum wie ein
schnell vorbeihuschendes Erinnern an funkelnde Jugend und sonnige Tage
war das gewesen.

Unten schritt ein Briefträger über die Straße.

„Haben Sie keine Nachricht von Fritz?“ fragte da Eva unvermittelt.

„Dasselbe wollte ich _Sie_ fragen ...“

Ein trauriges Lächeln ging um ihre Lippen.

„Mich? Seit Wochen hat er nichts hören lassen. Ich weiß schon nicht
mehr, was ich mir denken soll!“

„Schreibfaul war Fritz von je.“

„Aber so lang hab’ ich noch nie warten müssen!“

„Er wird Sorgen haben. Der Streik dauert jetzt schon einen Monat ...“

„Wissen Sie denn wenigstens darüber etwas Neues? Denken Sie sich, heut’
hab’ ich schon wieder keine Zeitung bekommen. Gestern doch auch nicht.
Was nur dem Austräger eingefallen ist?“

Kolben erhob sich. „Ich -- habe ihn das so geheißen, Frau Eva,“ sagte
er sehr ernst.

Da stand sie auch schon dicht vor ihm und schaute angstvoll in sein
ruhiges Gesicht. „Kolben! Was hat’s gegeben?“

„Nichts, was Sie bedauern müßten, Frau Eva.“

Sie rieb die Knöchel ihrer Finger gegeneinander. „So sprechen Sie doch!
Rasch! Rasch!“

Zögernd gab er Antwort: „Die Führer des Streiks haben ihren Zweck
erreicht. Reinholts Arbeiter haben sich dem Ausstand angeschlossen ...
es hat Ausschreitungen gegeben ...“

Da schrie sie laut auf: „Fritz! Fritz! -- Doktor, was ist mit Fritz?“

„Ruhe, Frau Eva, Ruhe -- _ihm_ ist nichts geschehen. Jetzt endlich wird
er heimkommen.“

Sanft legte er den Arm um die Wankende. Aber sie stieß ihn ungestüm
zurück. „Jetzt, Kolben? Jetzt? Nein! Nein! Das erträgt er nicht! Doktor
... er verzweifelt ja! Wir müssen hin! Doktor ... wir kommen ja schon
zu spät ...“

Kolben hielt ihr die zitternden Hände fest. „Seien Sie vernünftig, Frau
Eva, ich hab’ Ihnen schon gesagt: Jetzt endlich wird er heimkommen.
Vielleicht ist er schon auf dem Weg ...“

Da schaute sie ihn mit einem wilden Blick an und rief: „Vielleicht!
Vielleicht auch nicht! Bringt Sie denn nichts aus Ihrem Gleichmut? Und
Sie wollen sein Freund sein? Schämen Sie sich! Wissen Sie denn ... ob
er -- überhaupt noch lebt?“

Und ganz ruhig, ganz bescheiden antwortete der Doktor darauf: „Gewiß,
Frau Eva ... Er ist ja schon heimgekommen.“

Er öffnete die Tür. Hellwig stand unter der Schwelle. Und während
Kolben mit zuckendem Gesicht, -- nun er allein war, brauchte er nichts
mehr zu verbergen, -- während Kolben über die Treppe hinabeilte, warf
sich Eva stürmisch an die Brust ihres Mannes.

„Fritz!“ flüsterte sie in heißer Freude. „Fritz!“

„Eva!“ Das klang rauh und war wie ein Schrei.

Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn. „Nun bist du wiedergekommen!
Nun bist du endlich wiedergekommen!“ sagte sie und wiederholte es
immerfort, langte nach seinen Wangen und streichelte sie und schaute
ihn mit strahlenden Augen an und hatte alles Leid vergessen. „Blaß und
schmal bist du geworden! Wo sind deine roten Backen hin? Bist du müde?
Komm, setz’ dich, mach’ dir’s bequem, ruh’ dich aus ...“

Und er hielt sie fest an sich gepreßt und legte ihren Kopf an seine
Brust und schaute auf ihren blonden Scheitel und biß die Zähne
zusammen, um nicht aufzuschluchzen. Alles Unrecht, das er ihr angetan,
stand mit einem Male, nun er die Sanfte, Geduldige, Frohe wiedersah,
riesengroß vor ihm auf, und er fühlte sich elend und schlecht und aller
Liebe unwert.

Aus dem Vorzimmer klang das Getrappel von Kinderfüßen und Geplapper.
Der kleine Hansl kam vom Spaziergang heim. Und dann ging die Tür auf,
sprang der Bub über die Schwelle, auf die Mutter zu. Da sah er den
großen fremden Mann, wurde kleinlaut und wagte sich nicht weiter. Eva
ergriff seine Hand. „Hansl!“ sagte sie mühsam heiter. „Hansl, komm zu
Vaterl!“

Halb scheu, halb zutraulich trippelte der Bub heran.

„Vaterle ...?“ fragte er furchtsam.

„So trau’ dich doch, Hansl! Na?“ Und um ihm die oft vorgesprochenen
Worte ins Gedächtnis zu rufen, begann sie: „Grüß’ -- Gott --“ Da
stellte sich das Kerlchen stramm vor den großen Vater hin und sagte
hell und herzhaft: „Grüß’ Gott, Vaterle, und hab’ mich lieb. Hab’ auch
Mutterl lieb und bleib’ bei uns!“

Wortlos, in tiefster Bewegung, hob Fritz seinen Sohn zu sich hinauf und
küßte ihn.

„So!“ rief Eva. „Jetzt komm, Hansl, wir wollen Vaterl was zu essen
holen!“

Und rasch führte sie den Buben aus der Stube. Er durfte seinen Vater
nicht länger in solcher Erregung sehen.


2.

Ein Tag nach dem andern ging vorüber und Hellwigs düstere Miene wollte
sich nicht aufhellen. Sein Inneres war wie ausgebrannt, wüst, nackt und
leer. Alle Quellen waren versiegt, alle Hoffnungen verdorrt. Was er für
sein Lebenswerk gehalten, lag in Trümmern. Da schämte er sich vor sich
selbst, vor seinem Weibe, vor den Menschen.

Führer hatte er ihnen sein wollen, Pfadfinder, Heilbringer -- und
war nichts gewesen als was so viele andere auch: ein Irrlehrer und
dünkelhafter Maulheld, der da glaubte, den Menschen die Wahrheit
schenken zu können. Jeder andere durfte mit gleichem Recht das gleiche
behaupten. Die Wahrheit hatte ja doch keiner, konnte keiner haben,
weil es im ständigen Fluß der Entwicklung einfach keine Wahrheit gab.
Keine Wahrheit wenigstens, die zu allen Zeiten Wahrheit bleiben muß.
Wer am Ufer steht oder im Strome treibt, weiß vielleicht, daß die
Strombahn in diesem Augenblick von Westen nach Osten zieht. Aber ob
sie sich tausend Meter weiter unten nicht nach Süden wendet oder nach
Norden oder im Bogen zurück nach Westen, das weiß er erst, bis er’s
mit eigenen Augen sieht. Doch so wahr der Strom ein paar Meter weit
nach Osten fließt, so wahr fließt er auch ein paar Meter weiter unten
nach Süden. Wer aber wäre vermessen genug, zu behaupten: Tausend Meter
abwärts _muß_ dieser unbekannte Strom im unbekannten Lande so fließen
und nicht anders! -- In tausend Jahren _muß_ die Menschheit diesen und
diesen Weg gehen und keinen andern!

Wer wäre so vermessen?

Er, Fritz Hellwig, er hatte die Vermessenheit gehabt und schämte sich
jetzt, da er sie erkannte. Und noch etwas anderes erkannte er jetzt:
den Frevel, so nannte er es, der kein Freund der Beschönigung war, den
Frevel, den er an Eva und seinem Kinde begangen -- und an sich. Das
frohe Lachen und Plaudern des Buben war ihm wie beständiger Vorwurf.
Aus den guten Augen seiner Frau las er ihn und immer haltloser wurde er.

Auch Kolben vermochte da nichts zu richten. „Dir hätt’ ich auch eine
Schuld abzuzahlen, Albert!“ hatte Fritz bitter gesagt und als der
Doktor dagegen lachend protestierte, hatte er tonlos weiter gesprochen:
„Ich muß nur nehmen und immer nehmen! Immer nur in euerer Nachsicht
leben! Das ist nicht gut, Albert, nein, das ist nicht gut ...“ Und
er war wieder in das tatenlose Hindämmern gefallen, jedem Zuspruch
unzugänglich und taub für jeden Trost.

Seit seiner Rückkunft hatte er die Wohnung nicht verlassen. In sich
vergraben und ganz in seine Verzweiflung eingewühlt lebte er, zeigte
für nichts Interesse, rührte die Zeitungen nicht an. Briefe von
Reinholt liefen ein. Sie blieben ungelesen. Wenn die Flurglocke klang,
schrak er zusammen. Er fürchtete sich vor den Menschen, weil er sich
vor ihnen schuldig glaubte.

„Doktor, was sollen wir nur machen?“ fragte Eva oft ganz mutlos.

„Gehn lassen!“ antwortete dieser. „Es wird auch wieder anders werden.“

Und sie ließen ihn gewähren. Mit keinem Wort rührte Eva an der
Vergangenheit, tat, als wäre er nie fort gewesen. Sie drängte sich
ihm nicht auf, aber stets war sie in seiner Nähe, hielt jede Störung
fern, barg ihren Kummer hinter hellen Mienen und lächelnder Heiterkeit,
hüllte ihn ganz in ihre Liebe ein und umhegte ihn mit jener stillen
Hausmütterlichkeit, deren Walten unmerklich ist und die doch alles
durchleuchtet und durchwärmt.

Und wenn sie sich gar keinen Rat mehr wußte, schickte sie Hansl zu
ihm. Den konnte er dann stundenlang auf seinen Knien haben, wie ein
Kind konnte er mit ihm plaudern und alle Märchen, die er noch wußte,
erzählte er ihm. Aber sobald der Junge fort war, sank er wieder
zusammen wie ein Feuer, das allen Brennstoff aufgezehrt hat.

Unangemeldet kam eines Tages Kaufmann Wart hergereist, um nach dem
Rechten zu schauen und nebenbei auch seinem Schwiegersohn gründlich den
Kopf zu waschen. Aber als er ihn so elend sah, unterließ er es. „Das
Flamändern wird dir jetzt wohl vergangen sein!“ knurrte er nur.

Einige Tage später nahm er ihn beiseite: „Fritz, was wirst du jetzt
eigentlich anfangen?“

„Ich -- weiß es nicht ...“

„Aber ich wüßt’ was!“ lächelte verschmitzt der rundliche Mann, der
jetzt wieder frisch und blühend aussah und unter seinem weißen Barthaar
feiste rote Wängelein hatte. „Ich wüßt’ was! Komm zu uns nach Neuberg!“

„Das geht nicht!“

„Muß gehn, Fritz. Schau, es ist ein wahrer Jammer. Alles klerikal,
alles schwarz, bis über die Ohren schwarz! Das wär’ was für dich.
Misch’ auf! Jag’ sie davon! Schließlich, es ist ja doch deine
Vaterstadt. Wär’ ein Verdienst, Fritz, -- und besser, als so ins Weite,
Nebulose hinein. Dort hast du wenigstens festen Boden und weißt, daß
du darauf gehörst und für wen du’s machst. Dein Bub, -- hm -- ich
denk’ halt, jeder Baum braucht seine Erde. Und so eine Großstadt, das
ist doch keine richtige Heimat. Irgendwo aber soll jeder Mensch seine
Wurzeln haben. Pflanz’ halt den Hansl dort ein, wo er hingehört, nicht?
Und dann -- uns zwei Alten tät’s auch wohl. Die Mutter, -- sie hat zu
viel durchmachen müssen, -- die Mutter kann nicht mehr recht fort. Es
zwickt und reißt sie überall. Gefahr ist keine, aber beschwerlich ist
so was, drum ist sie auch nicht mitgekommen. Die Mutter, siehst, und
ich -- jetzt sind wir schon ganz allein. Und dann hätten wir wenigstens
wieder jemanden. Und schreiben -- du wirst ja doch nichts andres tun
als Bücher schreiben und für die Zeitungen -- schreiben kannst bei uns
draußen auch. Was meinst?“

Fritz antwortete nicht gleich. Kolben kam herein.

„Stör’ ich?“ fragte er.

„Nur herein, Herr Doktor! Ich sag’ grad’ nur, der Fritz soll mit nach
Neuberg!“

Kolbens Augen hinter der goldenen Brille leuchteten auf. Das konnte
eine Lösung sein. Aber diplomatisch meinte er nur: „Hm, Neuberg? Was
dort?“

Fritz sagte nicht ja, nicht nein. Doch die Worte klangen in ihm nach.
Und die beruhigende Aussicht in eine Zuflucht ließ ihn gefaßter werden,
wenn er sich das auch nicht eingestehen wollte, und richtete ihn auf
und war wie das Bändchen Bast, das ein ins Krumme wachsendes Bäumchen
am stützenden Pfahl festhält.


3.

Und die Tage glitten weiter, sacht und gleichmäßig, wie weiße Schwäne
auf einer unergründlich tiefen und dunklen Flut. Glatt war die
Oberfläche und verriet nicht, was darunter brausend durcheinander
brodelte, alle Leidenschaften deckte sie zu, alle Angst und Qual und
Aufregung, und darüber segelten die weißen Schwäne, einer hinter
dem anderen, ruhig und lautlos. Kaum merklich war die Bahn, die sie
zogen, aber sie war doch da und in den sanft bewegten Wellen spiegelte
sich mit kleinen Lichterchen die verbannte Freude, versuchten die
Silberfischchen der Hoffnung zaghaft ihren Tanz. Und zwischen das
stürmische Einst und das Jetzt schob sich mit mildem Glanz, die
scharfen Konturen abtönend und verschleiernd, wie eine durchsichtige
Wolke der Friede.

Ohne Geräusch und ohne viele Worte, mit einer gleichmäßig stillen
Freundlichkeit und innigen Hingabe, versah Eva den Haushalt und
pflegte den kleinen Hansl und den großen Fritz und jede Bequemlichkeit
bereitete sie ihm. Und täglich kam sie mit den Zeitungen und fing von
Dingen zu reden an, die ihr ganz fern lagen. Von Doktor Kolben oder
aus den gelehrten Büchern holte sie sich Aufklärung, in die schwer
gangbaren Gebiete der Finanzwissenschaft und der hohen Politik drang
sie mutig ein, schlug sich tapfer mit den schwierigsten Lehren und mit
den verwickeltsten Ereignissen herum, um nur mit ihrem Manne über etwas
sprechen zu können, was vielleicht seine Teilnahme wecken und ihn aus
der schweren Dumpfheit reißen könnte. Oder sie legte ihm Zeitschriften
und Bücher auf den Tisch: hier sei ein bemerkenswerter Aufsatz, den
müsse er lesen. Und dieses neue Werk vom Wesen des Geldes werde ihn
möglicherweise auch ansprechen. Doch wenn sie ihm von Reinholt Briefe
brachte, dann sagte sie nichts dazu und schaute ihn nur freundlich
bittend an: Er solle doch einmal einen aufmachen und lesen. -- Aber
mit keinem Wort rührte sie an der Vergangenheit, erwähnte auch nichts
davon, daß viele Blätter für ihn eintraten und das Vorgehen seiner
Feinde in der schärfsten Weise verurteilten. Das hatte Zeit, das konnte
ihm später als Genugtuung dienen. Jetzt sollte er nur erst aus der
schlaffen Teilnahmslosigkeit heraus. Aber es wollte und wollte nicht
anders mit ihm werden. Meist saß er vor seinem Schreibtisch, hatte
die weißen Papierbogen vor sich liegen und die Feder daneben, aber er
rührte sie nicht an und nicht eine Zeile schrieb er, sondern grübelte
nur und brütete vor sich hin, viele, viele Stunden lang. Aber die
Melodie der Häuslichkeit tönte immerzu leis um ihn und ruhiger und
ruhig schlug allmählich sein Herz.

Und da geschah es eines Tages -- ein Gewitter war verrauscht und durch
zerrissenes Gewölk drang die sinkende Sonne mit schrägen Strahlen,
die von den Fensterscheiben gegenüber in gelber Lohe zurückflammten.
Dämmrig wurde es und düster, und Eva zündete die Lampe an. Das Gas
brodelte leise im messingnen Auslauf, und vor den Fenstern draußen im
Garten schlief sanft und sacht die Erde ein und eine Amsel sang vom
eisernen Windpfeil eines Landhauses herab der müden das Schlummerlied.
Da geschah es. In dieser seltsam leuchtenden und heimlich klingenden
Stille außen und innen, in diesem feierabendlichen Frieden, der alle
Dinge weich und warm in seine Arme nahm, geschah es.

Halb vom Vorhang zugedeckt, saß Fritz beim Fenster. Er hatte, nach
langer Zeit wieder einmal, in seinem Werk geblättert, das er einst in
einem Rausch der Schaffensfreude niedergeschrieben, hatte auch einzelne
Stellen gelesen, wieder und wieder gelesen, aber keinen Widerhall in
seiner Seele gehört. Worte waren das, leere, taube Worte, die an ihm
abglitten und hohl tönten, wie Gefäße ohne Inhalt. Und alle Glut war in
sich zusammengesunken, und unter der Asche glomm kein Funke mehr.

Er klappte das Buch zu und lächelte bitter, als er den gepreßten
Lederrücken sah. Für Jahrhunderte schien dieser Einband berechnet
und was er umschloß, war schon widerlegt, war schon verbrannt und
ausgekühlt und wertlos.

Lang saß er dann und schaute in den Garten hinaus. Noch tobte das
Gewitter und die Wolken hingen ganz niedrig und die Bäume bogen sich
und zitterten im Sturm und wenn ein Blitz grell aufflammte, der Donner
nachkrachte, duckten sie sich noch tiefer und bebten sie noch stärker.
Und die weißen Landhäuschen fürchteten sich mit ihnen und kauerten wie
verirrte junge Tiere in dem zitternden Grün. Und in dicken Strängen
fiel der Regen nieder. Und dann wurde es stiller und lichter und freier
und der letzte Donner war noch nicht vergrollt, da war auch schon
wieder Amselsingen und war leuchtender abendlicher Friede.

Dann flammte die Lampe auf, und Eva kam und legte ihm die Abendblätter
aufs Fensterbrett. Und wie jedesmal schob er sie beiseite, ohne einen
Blick hineinzutun. Denn er wollte nicht erinnert werden, wollte nicht
wissen, was draußen in der Welt vorging, das sollte tot für ihn sein,
wie er für die Welt tot sein wollte.

Lebhaft und ungestüm sprang jetzt sein Bub, des stillen Spielens mit
den Bauklötzchen in der Ecke müd, zu ihm her, legte die Arme um seinen
Leib und den Kopf auf seine Knie: „Vaterle, erzähl’ was!“

Da schrak er aus seinem Grübeln und schaute das Kind mit ausdruckslosen
Augen an.

„Was erzählen!“ bettelte der Bub.

Nun bezwang er sich mühsam, hob den Knaben auf seinen Schoß, fing nach
einer geraumen Weile zu reden an: „Also -- es war einmal ein Mann, der
war verwunschen, immerzu irre zu gehen. Wenn er wohin gewollt hat, in
die Kirche oder auf den Jahrmarkt in die Stadt, hat er niemals den
rechten Weg finden können. Er selber freilich, er hat schon geglaubt,
daß er richtig geht. Immer der Nase nach geradeaus, dann links um die
Ecke und noch einmal rechts um die Ecke, dann muß die Kirche ja da
sein. So hat er geglaubt. Aber die Kirche ist nicht da gewesen, sondern
die Ziegelscheuer oder die Herberge oder sonst ein Haus, nur nicht die
Kirche. Und er hätte doch darauf geschworen, daß er recht gegangen ist.
Und wenn er zum Jahrmarkt nach Aberg gewollt hat, ist er sicher zum
Viehmarkt nach Beheim gekommen, was doch in einer ganz anderen Richtung
liegt. Weil er aber nicht leer nach Haus hat kommen wollen, hat er
sich halt dort eine Kuh gekauft oder einen Ziegenbock und den hat er
dann sicherlich dem Meister Schneider oder Fleischhauer in den Stall
getrieben, die doch am andern Ende vom Dorf gewohnt haben. Und kurz und
gut, er hat halt nie dorthin kommen können, wohin er gewollt oder wo er
zu tun gehabt hat. Immer hat er sich verirrt oder ist immerzu im Kreis
herumgegangen, immerzu rundherum im Kreis.“

Er schwieg und holte tief Atem.

„Der dumme Mann!“ rief der kleine Hansl.

„Jawohl, der dumme, dumme Mann!“

„Fix, Hansl, dein Abendbrot ist da!“ rief die Mutter dazwischen. Der
Bub wollte nicht fort: „Erzähl’ mehr, Vaterl!“ bat er. Aber Frau Eva
machte keine Umstände. Sie packte den Zappelnden unter den Armen und
hob ihn in seinen Sessel. „Avanti! Jetzt wird gegessen, daß du mir
rechtzeitig in die Federn kommst!“ Sie band ihm ein Mundtuch vor, gab
ihm den Löffel in die Hand. Nun aß er gehorsam seine Eierspeise und
schmatzte mit den Lippen und ließ sich von der Mutter die Semmelbrocken
in den Mund stecken.

Durch das Gegitter des Spitzenvorhangs schaute Fritz zu. Da waren
sie beisammen, die beiden lieben Menschen, die schöne reife Frau und
der helläugige Knabe, im goldenen Kreis der Lampe. Und beide hatten
vergnügte Gesichter und waren guter Dinge und nicht ein leisester
Schatten trübte jetzt ihre heiteren Mienen. Im engsten Raum, vom
goldenen Lichtkreis eingeschlossen, Mutter und Kind, Erfüllung und
Verheißung, lachend und blühend wie die Erde im Juni. Und er -- hatte
sich selbst aus dem goldenen Kreis verbannt, -- um all das Licht hatte
er sich betrogen, mußte schuldbeladen abseits stehen.

Der dumme, dumme Mann!

Hart vor seinen Füßen hörte mit einer scharfen Linie das warme
Lichtrund auf und um ihn war Dunkel und Einsamkeit und Kälte.

Du dummer, dummer Mann!

So tritt doch heraus aus dem Dunkel. Wag’ den Schritt -- ins Licht, in
die Wärme, in die Liebe -- zurück in den leuchtenden Kreis des Lebens.
Diesmal kannst du nicht in die Irre gehen. Zu nah ist das Ziel. Ein
Schritt nur -- ein Öffnen der Arme -- und du hast es und hältst es fest
-- und nimmer, nimmermehr kann es dir dann entfliehen.

Aber es war ihm, als könnte er niemals über diese scharfe, klare
Grenzlinie hinüber.

„Weiter erzählen!“ rief Hansl und schlug mit seinem Löffel gegen den
blechernen Teller. „Weiter erzählen, Vaterle!“

Doch Eva hielt ihm die Hand fest und sagte: „Was gibt’s da noch viel
zu erzählen? Der Mann ist immer falsch gegangen, weil er ja doch
verzaubert war. Und einmal, da ist er schon weit fortgewesen und hat
sich gar nicht nach Haus finden können. Aber da ist ihm eingefallen,
daß seine Frau mit dem Essen auf ihn wartet und daß sein Bub auf
ihn wartet und eine Geschichte erzählt haben will. Und wie ihm das
einfällt, da hat er sich umgedreht, und keinen einzigen falschen
Schritt hat er mehr gemacht und ist nur immerzu geradeaus gelaufen und
gelaufen, bis er richtig zu Haus war. Und so schnell ist er gelaufen,
daß das Essen wirklich noch warm war und daß er auch noch eine
Geschichte hat erzählen können. Und seit der Zeit ...“

Mehr konnte sie nicht sagen. Denn Fritz war aus seiner dunklen Nische
in das helle Licht getreten, mit weit gebreiteten Armen -- und seine
Augen waren groß und leuchteten in ihren Tiefen, und die lieben zwei
lehnten ihre Köpfe an seine atmende Brust, und so stand er in stummer
Ergriffenheit und hatte sein Ziel erreicht und hatte sein Glück
gefunden im goldenen Kreis des Lebens.


4.

In der Nacht, die diesem Erlebnis folgte, da lag er wach bis zum
Morgen. Und während Eva neben ihm still atmete, fühlte er, wie Ring
um Ring von seinem Herzen sprang, Stück um Stück der Eiswall brach,
hinter dem es eingefroren nur müd gepocht hatte. Die Nacht flutete
dunkel und gleichmütig vorüber. Ihm aber leuchteten die Augen groß
und eines ernsten Glückes voll. Erlösung. Auferstehung. Weitab vom
tosenden Jubel, vom wütenden Haß des Tages, im engsten Raum, zwischen
seinen vier Pfählen, mit einer beglückenden Selbstverständlichkeit war
diese Stunde gekommen und hatte ihn zum Hafen getragen, mühelos, wie
eine Welle die Muschel auf den Strand spült. Und er konnte alle Segel
einziehen und Anker werfen.

Und langsam und allmählich lernte Fritz Hellwig wieder lachen und
wieder frei aufschauen. Und wenn er den Glauben an sich selbst verloren
hatte, so fand er ihn allmählich und langsam wieder in dem Glauben
an das Leben und in der Liebe der Seinen und zu den Seinen. Und alle
Zärtlichkeit Evas und aller Jubel des Buben strömte in seine Seele,
die ihre Tore weit offen hielt und machte ihn dankbar und fromm und
glücklich wie ein unartiges Kind über unverdiente Weihnachtsgaben.
Und jetzt bemerkte er auch die behutsame Zartheit, mit der Eva
seine Stimmungen belauschte und wie sie sich mühte, ihn abzulenken,
aufzuheitern und aus seiner Teilnahmslosigkeit zu wecken. Wie sie
immer und immer wieder leis an sein Herz pochte und Einlaß heischte
und die Geduld niemals verlor, wenn sie vergeblich warb, wenn er sie
rauh zurückstieß und keinen Teil mehr haben wollte an aller Freude und
Liebe. Und er zieh sich der Selbstsucht, weil er sich nur dem eigenen
Schmerz überantwortet hatte und zu allem angerichteten Unheil, zu allen
seinen Irrfahrten, die so viele bitter getäuscht und arm gemacht, noch
und abermals ein Unrecht gehäuft und jener weh getan hatte, die ihm
zunächst stand und ihn am liebsten hatte.

Schwere Schuld war zu sühnen und manches konnte überhaupt nicht
ausgetilgt werden. Aber irgendwie gutmachen und aufwiegen ließ es sich,
nur mußte er die Zeit nützen und seine Kräfte, statt sie in nutzloser
Selbstbemitleidung zu vergeuden, frei machen für die Sühne.

Und langsam wurden sie frei.

Hatte er früher alles an sich vorbeigehen und gleichgültig zu Boden
fallen lassen, so konnte er jetzt nicht genug tun und nicht genug
finden, was Eva freuen und fröhlich machen sollte. Auf alle ihre
Anregungen ging er ein, sprach mit ihr über die Tagesereignisse, und
wenn sie auf ein besonders verwickeltes Thema gerieten und wenn Eva
sich immer tiefer hinein verfitzte und hilflos hing wie ein Fisch im
Netz, dann lachte er wohl und sagte, sie solle sich doch keine solche
Mühe und seine Schuld nicht noch größer machen.

Sie erwiderte nicht auf solche Reden, blickte ihn nur strahlend aus
innigen Augen an und auf ihrem Gesicht lag ein ganz heller Schein der
Freude.

Bald hatte er nachgeholt, was er in den letzten Wochen versäumt, hatte
er die Zusammenhänge wiedergewonnen und die Zeitungen blieben nicht
mehr ungelesen neben dem Schreibtisch liegen. Und er las die maßlosen
Ausfälle in den Blättern der Gegner, las die Verteidigungen und die
Lobsprüche der Anständigen und ihm wurde dabei, als ob das alles
irgendwo weit in der Ferne sich abgewickelt und er gar keinen Teil
daran habe. Auch die Briefe Reinholts las er jetzt. Und da erfuhr er
denn das Schicksal der Empörer.

Karus, Leibinger, Sanders und fünf andere waren tot, Mark im Gefängnis,
die übrigen in alle Winde verstreut. Der Streik war zu Ende.

Fritz las das und wurde wieder sehr traurig. Aber es war nicht mehr
die dumpfe Verzweiflung, der tatenlose Trübsinn von früher. Eine tiefe
sanfte Wehmut war es, die ihn ganz läuterte und immer fester und
unlösbarer mit seinen Lieben verknotete.

Den ganzen Tag war er jetzt mit dem Buben im Garten, lehrte ihn die
Vögel nach dem Ruf, die Pflanzen und die Steine unterscheiden und wurde
nicht müd, die zahllosen Fragen des aufgeweckten Kindes zu beantworten.
Aber noch keinen Schritt hatte er seit seiner Rückkehr vor das Haus
getan. Er schämte sich noch.

Und auch jetzt, als ihn Eva zu einem Spaziergang aufforderte, wollte er
nichts davon wissen. Sie aber ließ nicht mehr locker, bat und drang in
ihn und endlich gab er nach.

Zwischen den gartenumhegten Villen gingen sie, in stillen Gassen, die
wie breite Alleen waren, von Bäumen flankiert und mit gelbem Kies
bestreut. Und nur wenig Menschen waren zu sehen. Eva hängte sich fest
an seinen Arm, war heiter, froh und herzlich und lachte und freute
sich. Da vergaß er alles andere und fühlte nur ihre sonnige Nähe,
blickte in ihre klaren Augen, die unter langen Wimpern hell und blank
in die blanke und helle Welt hineinlachten und er wurde sicherer,
ging aufrechter dahin und wenn ein Spaziergänger sie schärfer ansah,
stehenblieb und ihnen nachschaute, empfand er nicht Unbehagen oder
Befangenheit, sondern war stolz und freute sich über seine blühend
junge schöne Frau.

Eine sachte Lehne hinauf gingen sie, bis die Häuser den Weinpflanzungen
Platz machten und weiter oben eine freie Schau ins Land hinein sich
auftat.

Unten lag die große, turm- und giebelreiche Stadt, ein dunkler Wall
von schönen laubwaldumwachsenen Bergen mit weißen Schlössern und
bewimpelten Warten und Aussichtstürmen schloß den Horizont ein und hoch
und still weitete sich der Herbsthimmel darüber. Im Westen ging die
Sonne schlafen, von Gipfel zu Gipfel den Gebirgskamm entlang lief ein
zackiges Feuerband, und rings um das Himmelsrund, je weiter von der
goldenen Lohe im Westen, je tiefer und satter, wogten und wehten und
schwebten zarte, durchsichtige Schleier, purpurn und blau und violett,
sanken von den Höhen ins Tal, breiteten sich aus und hüllten gleitend,
wogend, weich und duftig die Türme, die Giebel und Dächer alle ein.

Eine lange Weile standen Fritz und Eva Schulter an Schulter und
schauten stumm zu, wie die Sonne in Licht und farbenfroher Schönheit
ertrank. Der runde Rücken des Hügels war fast baumlos. Lediglich vor
einem zierlichen Kapellchen waren ein paar junge Linden im Halbkreis
eingepflanzt und daneben war ein Friedhof mit blumigen Gräbern,
schlichten schwarzen und weißen Steinen, Kreuzen und dürftigen dunklen
Zypreßchen.

Sie öffneten die Lattentür, traten ein und gingen zwischen den
Gräberreihen hin. Einsam war es hier und still und gar nicht traurig.
Die Höhenluft spielte mit den welken Kränzen, wehte um die grünen
Gräser, um die nickenden Blütenköpfchen und um die prunklosen Male auf
den reinlichen Totenstätten. Und wo ein Kindergrab war, dort kniete
ein gipserner Engel in einem sauber angestrichenen Gitterchen und
betete. Und die blauen Berge winkten und grüßten noch von fern und die
Lichter der Stadt leuchteten durch die duftigen Abendschleier gedämpft
herauf, einzeln oder, wo ein Straßenzug ging, in feurigen Ketten.
Traulich war das alles und anheimelnd, und Eva sagte versonnen:

„Hier möcht’ ich auch einmal liegen, du. Es ist so lieb hier.“

„Sprich nicht vom Sterben!“ bat Fritz.

„Warum?“ fragte sie und schaute ihn aus lebensfrohen Augen an. „Leben
wir denn länger, wenn wir davon schweigen? Oder sind wir glücklicher?
Ich glaube doch nicht, Fritz. Mir wenigstens, mir ist immer, als müßt’
ich mich schnell noch doppelt freuen über die Gegenwart, wenn ich
denke, daß alles einmal vorübergeht. Und viel tiefer und stärker freue
ich mich dann über das bißchen Glück, das wir haben. Und das haben wir,
gelt, du?“

Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn, legte die Wange auf seinen Arm.

„O -- du!“ antwortete er und seine Stimme war rauh und brüchig. „Ob
wir das haben! Unsere Stuben sind ja berstvoll davon -- und alles
durch dich! Alles, was darin schön und warm und hell ist, hast du
hineingetragen und bereitet mit deinen Händen. Und was darin häßlich
und kalt und dunkel ist -- durch meine Schuld ist es dazugekommen. Drum
sprich nicht vom Sterben! Ich mag nicht dran denken, du! Ich mag nicht
denken, wie wenig Zeit mir noch bleibt, um -- dir’s zu danken und dir’s
zu lohnen -- und abzuzahlen -- und zu vergelten, so gut ich’s kann. --
Ev, du Liebe, Gute, Gütige!“

Ein Schluchzen erstickte seine Worte. Noch nie hatte er so
leidenschaftlich zu ihr gesprochen, ihr so ganz unverhüllt und
rückhaltlos sein Innerstes offenbart. Ein seltenes, schweres
Glücksempfinden flutete wie eine heiße Welle über die Frau und ließ sie
zu tiefst erschauern.

Sie schwiegen. Lange, lange. Die Grabmale ragten ruhig in die halbhelle
Dämmerung, schwarze Schatten stiegen über die Hügel. Ein Stern flammte
auf und noch einer und wieder einer und lautlos schwebte die Nacht zu
Tal. Und der Himmel wölbte sich hoch über ihren Häuptern und baute sich
seltsam durchsichtig in einem ganz satten, ganz dunklen Blau über alle
die funkelnden Sterne hinaus höher und höher in die weite, leuchtende
Unendlichkeit empor.


5.

Jetzt ließ sich auch Doktor Kolben wieder öfter blicken, der sich in
der letzten Zeit ganz zurückgezogen hatte, um das Heilung bringende
Walten Evas nicht zu stören. Die Septembertage waren mild und klar und
sonnig, in den Nächten stand der Vollmond am Himmel, so daß es auf der
Erde gar nicht mehr finster wurde und Licht mit Licht, Goldglanz mit
Silberschimmer lautlos wechselte. Da nahmen Hellwig und Kolben ihre
Mondscheinpartien wieder auf. Vor Jahren, damals, als Fritz noch als
blutjunger Mitarbeiter bei den Freien Blättern saß, hatten sie solche
Wanderungen öfter unternommen, und regelmäßig war auch Heinz mit dabei
gewesen.

Diesmal fuhren sie in die Eisenerzer Alpen. Spät nachts kamen sie in
Kallwang an und machten sich ungesäumt auf den Marsch. In Nagelschuhen
und Lodenflaus, die Rucksäcke auf den Rücken, schritten sie wacker aus.
Erst war es noch dunkel und nur die Sterne leuchteten über ihrem Weg.
Aber dann ging rund und voll der Mond auf und schüttete sein Silber
auf die Erde. Die tief eingefalteten Täler füllte er und den endlosen
Luftraum, und vor dem hellen Himmel standen dunkel und riesengroß und
silberüberrieselt die gewaltigen Mauern des Hochgebirges. Jeder Gipfel
war scharf umrissen, und doch waren alle Linien weich und seltsam
fließend. Jeder Kamm war rein geprägt und war doch schattenhaft und
unbestimmt verschwimmend. Jeder Gebirgsstock ragte klar und fest mit
dem Boden verwachsen aus dem silbernen Tal in den silbernen Himmel,
und doch schien das alles, in diesem Licht, das so ruhig leuchtete
und dennoch immerwährend flimmerte und flutete und mit winzigen
Wellchen ineinanderspielte, schien das alles, die wurzelfesten Berge,
die mächtigen Kuppen und starr aufragenden Zinken, flaumenleicht und
schwebend, nur kaum wie mit ganz feinem Pinsel auf den zart silbernen
Himmel hingestrichen. Und das war das Seltsamste: daß die Wucht und
kolossale Größe des Gebirges nah und greifbar dastand und doch nicht
fühlbar und nicht drückend wurde.

Schweigend schritten sie dahin. Über ebene Wiesenflächen schritten
sie, und die Gräser rauschten unter ihrem Tritt und schimmerten
und flimmerten, eins im bläulichen Schatten des anderen. Und durch
mächtige Tannenwälder schritten sie, die still und undurchdringlich
finster waren gleich lichtlosen Kirchenhallen, und nur hoch oben,
über dem schwarzen Gitter der Nadelkronen, lag der Mondglanz wie ein
durchbrochenes Spitzengewebe.

Schweigend schritten sie vorwärts. Etwas tief Beruhigendes war in
dieser Wanderung durch Glanz und Stille, etwas, was alle Leidenschaften
einwiegte, alle Wünsche schweigen, alle Erdenmühe vergessen ließ,
und auf lautlosen Schwingen hob sich die frei und leicht gewordene
Seele und gleitend flog sie, flog schwebend in den unendlichen Frieden
hinein, der alle Berge und Täler, alle Höhen und Tiefen durchtränkte.

Schweigend schritten sie aufwärts. Und als sie den Wald hinter sich
hatten, ins Krummholz kamen und auf weiche Alpenmatten, da hatte der
sanfte Mondglanz schon dem härteren Licht des Morgens weichen müssen.
Und als sie den Kamm erstiegen, da brodelten tief unten schon und
brandeten die grauen Morgennebel, alle Täler füllend, wie ungebärdige
Ströme gegen die ruhige Kraft der Berge an. Und dann sprang die Sonne
rein und rund, ein junger Held in goldig flammender Rüstung, auf den
Burgwall und schleuderte die Feuerspeere ungestüm fernhin gegen die
weißen Hünen im Gesäuse, die gelassen ihre ungeheueren Schilde entgegen
hielten, gegen die funkelnden Panzer das Dachsteins, des Glockners,
der trotzig unbewegten Riesen -- und es war wie der heiße Ansturm des
vergänglichen Lebens, das seine überschäumende Kraft auszutoben begehrt
an dem unverrückbaren, sicheren, ewigen Sein.

Noch immer schwiegen die beiden Wanderer, schritten den felsigen Kamm
entlang zum Gipfel. Neuschnee lag hier oben, weich und unberührt, eine
duftige Decke, mit den tiefroten Sternen der Nelken, mit gelben und
blauen Alpenblumen leuchtend durchweht. Und zwischen dem Felsgetrümmer
blühte das Edelweiß.

Nun waren sie auf dem Gipfel, breiteten die Mäntel aus und hielten
Rast. Die Rucksäcke wurden ausgepackt, der sturmsichere Weingeistkocher
angezündet, der Tee bereitet. Ein harscher Höhenwind strich über
den Kamm, machte die Wangen rot, und die Lungen atmeten tief auf
in dieser reinen Frische. Ganz still war es. Die Morgennebel waren
verflogen, der Übermut der jungen Sonne war verbraust. Klar und ruhig
schien sie von einem blauen Himmel herab auf die gewaltige Bergwelt
mit ihren schroffen Zacken und jähen Abstürzen, ihren breiten Gipfeln
und schmalen Tälern, und tief unten zwischen dunklem Tannengrün
und hellen Wiesen duckten sich winzige Häuschen und Kirchlein und
Menschensiedelungen, duckten sich und ruhten an der Brust der Berge
sicher und gut wie Vögel im Nest.

Noch immer schwiegen die zwei oben auf der freien Höhe und ließen
die Gedanken ausklingen, die während des Aufstiegs, während der
mannigfaltigen Übergänge von der dunkelsten Nacht bis zum strahlenden
Tag in ihnen wach geworden. Es war wohl bei beiden dasselbe gewesen. An
die Not des Lebens hatten sie gedacht und an die herben Enttäuschungen,
die keinem von ihnen erspart geblieben. Durch Leid und Verzweiflung
waren sie beide gegangen, der eine, als er der geliebten Frau entsagen
mußte um des Freundes willen, der andere, als ihm ein Ideal um das
andere, ein schöner Traum nach dem anderen zerstob und entschwand. Und
doch war jetzt Ruhe in ihnen, eine sanfte, innige Ruhe wie Mondlicht
über Trümmern.

Kolben brach endlich das Schweigen.

„Hier ist Friede!“ sagte er und schaute immerzu in das lachende Tal zu
seinen Füßen.

Fritz lachte. Traurig und bitter lachte er.

„Ja -- hier oben -- ein paar tausend Meter weit von allen Menschen --
da ist Friede! Und Ruhe -- und Sicherheit. -- Aber schon dort unten,
in den elenden Hütten -- so friedlich schauen sie aus, so idyllisch
und poetisch -- schon dort unten ... weißt du, wie viele Kinder dort
schon mißhandelt, -- wie viele Tiere nutzlos gequält wurden und täglich
werden? Wie viel Elend und Schande und Leid diese Strohdächer zudecken,
diese -- Menschenstätten? _Hier_ ist Friede! Aber wo Menschen sind, da
ist Blut und Schmach und Kampf und Unzufriedenheit.“

Und nun brach auf einmal alles aus ihm vor, was wochenlang auf seiner
Seele gewuchtet hatte.

„Aber woher nur? Woher diese ewige Unzufriedenheit? Die Frage läßt mich
nicht los! Und ich finde keine Antwort! Das Tier ist zufrieden, die
Herde folgt noch heute willig dem Leitstier, die Wölfe rennen im Rudel
wie vor tausend Jahren. Nur wir Menschen ändern immer wieder unsere
Ordnung. Damit die Republik an die Stelle der Monarchie treten kann,
müssen Tausende verbluten. Und kaum haben die Überlebenden gelernt
‚Hoch die Republik!‘ zu schreien, müssen abermals Tausende sterben, die
nicht so schnell wie die anderen ihre Kehlen umstimmen können auf den
neuen Ruf: ‚Es lebe der Kaiser!‘ -- Und wieder zurück, wieder vorwärts,
ein steter Wechsel, eine Sehnsucht, so brennend heiß, daß sie manchmal
mit Blut gelöscht werden muß! Warum nur? Warum?“

Kolben brach eine purpurne Nelke aus dem weißen Schnee und betrachtete
sie aufmerksam: die Blütenblätter, die wie frierend zusammengerollt
waren und das Stengelchen, an dem ein ganz dünnes Eisfähnchen
glitzerte. Denn in der Sonne war der Schnee geschmolzen, aber der kalte
Höhenwind hatte das Wasser sogleich wieder gefrieren lassen. Von allen
Seiten betrachtete das der Doktor ganz genau und sagte dabei:

„Warum, Fritz? Weil wir -- das Denken gelernt haben. Das Leben -- das
hat die Natur in den ungeheueren Kreislauf hineingeworfen, gedankenlos
und zwecklos hat sie es geschaffen. Wie es sich weiter entwickelt,
darnach fragt sie nicht. Aber das Leben _hat_ sich weiter entwickelt
und wir -- haben uns im Daseinskampf als stärkste Waffe das Denken
geschmiedet. Die Natur denkt nicht, wir, ihre Kinder, denken, forschen
nach Ursache, Plan und Ziel, werfen unsere bangen Fragen an die Tore
der Ewigkeit. Und nichts tönt zurück, nichts kann zurücktönen -- als
Schweigen. Unseres Daseins uns bewußt, sind wir vom Unbewußten wie
von Mauern eingeschlossen und können nicht heraus. Seit wir zu denken
angefangen haben, sind wir über unsere Mutter hinausgewachsen. Wie
können wir da jemals zufrieden sein?“

Hellwig stöhnte dumpf auf. „Dieses Sich-bescheiden, diese Resignation
-- ich kann mich nicht damit abfinden ...“

„Du wirst schon müssen, Fritz. Vielleicht -- schau’, nimm’s einmal
so: Die Entwicklung steht nicht still. Darum wird die Menge immer
Rohstoff bleiben und niemals reif werden. Im Bilde: Sie ist ein
ungeheuerer Klumpen Ton. Und die einzelnen wenigen, die Erlöser,
Dichter, Denker, die in der Entwicklung Vorausgelaufenen, die ‚mit den
neuen Wahrheiten‘, die Herrenmenschen, was weiß ich, die alle kneten an
dem ungeheueren Klumpen herum. Der eine da, der andere dort, aber ihn
ganz bewältigen und zu _einem_ Bildwerk zusammenfassen, das ist keiner
imstand. Weil der Ton zu weich ist. Und eh’ er erstarrt, ist schon ein
neuer Bildner da und ändert die Nase, die Ohren, die Beine. Manchmal
patzt er auch, das tut nichts, ein anderer macht’s schon wieder besser.

Rohstoff ist die Menge, Fritz, und bleibt Rohstoff. Bildungsfähig ist
sie und wird doch niemals Bildung haben. Entwicklungsfähig ist sie
und wird doch niemals entwickelt sein. Oder: sie braucht immer ihren
Beglücker und wird doch nie beglückt sein. Oder zufrieden, was dasselbe
ist. Drum laß das gehn!“ -- Und jetzt wurde Kolben sehr herzlich. --
„Sieh lieber zu, daß dein Junge nicht in der breiigen Masse versinkt.
Wenn du’s zuwege bringst, daß er ein Bildner wird, ein vollwertiger
ganzer Kerl, ein Kneter, kein Gekneteter -- kurz und gut, wenn du der
Menschheit einen einzigen tüchtigen Mann heranziehst, dann hast du für
sie mehr getan, als wenn du zehntausend -- halb glücklich machst. Denn
zehntausend Halbheiten sind noch immer kein Ganzes!“

So sprach Doktor Kolben, der stille, versonnene Mensch, während er
unablässig die purpurne Blüte mit dem glitzernden Eisfähnchen zwischen
den Fingern drehte. Der täppische Bergwind riß ihm die Worte von den
Lippen, aber sie erreichten doch ihr Ziel, ein geneigtes Menschenohr,
ein empfängliches Menschenherz, wo sie Wurzel fassen und zum Blühen
kommen durften.

Und die Sonne lag funkelnd auf dem blendend weißen Schnee und die Täler
waren grün und leuchteten grüßend herauf und die Bergriesen standen
sicher und trotzig im Kreis und bewachten den Frieden, der mit weit
gedehnten Schwingen über allen Dingen schwebte.


6.

Als sie heimkehrten, Edelweiß auf den Hüten, die Kleider schwer vom
Duft der Alpenmatten, da waren Reinholt und Pfannschmidt und der alte
Bogner mit seinem Schwiegersohn zu Hellwig gekommen.

„Endlich!“ rief Reinholt und ging auf ihn zu und umarmte ihn. „Endlich
seh’ ich dich wieder! Wie konntest du ohne Abschied davonlaufen und
nichts mehr von dir hören lassen?“

„Leo!“ sagte Fritz dumpf. „Nein -- du mußt mir noch Zeit lassen, Leo!“

„Was hast du? Ich versteh’ dich nicht?“

Da schrie er gequält auf: „Habt Geduld mit mir! Ich _kann_ euch noch
nicht Rede stehen!“

„Fritz, -- laß doch Vergangenes vergangen sein!“

„Ich -- hab’ euch ärmer gemacht, als ihr gewesen seid, bevor ihr mich
gekannt habt! Ich hab’ euch viel versprochen und nichts hab’ ich
gehalten! Und kann euch nicht einmal Ersatz bieten -- ich bin ja selber
bettelarm dabei geworden!“

„Also _das_ quält dich?“ entgegnete Reinholt. „Na weißt du, so
überflüssig ist nicht bald was! Wen hast du ärmer gemacht? Die zu uns
gehalten, denen geht’s heut’ noch gut -- die anderen liegen, wie sie
sich selbst gebettet haben. Die Spekulation ist mißglückt, ein paar
Gulden sind beim Teufel -- das ist alles und das ist schon längst
verschmerzt. Geh, Fritz, brau’ dir nur um Himmelswillen nicht so
närrisches Zeug zusammen!“

„So zürnst du mir denn nicht?“

Reinholt lachte so laut und herzhaft, daß Hellwig, ob er wollte oder
nicht, von der Grundlosigkeit seiner selbstquälerischen Vorwürfe
überzeugt sein mußte.

„Meister! Mein guter Meister!“ rief jetzt der alte Kesselwärter und kam
schüchtern näher.

Nun flog doch wieder etwas wie ein Lächeln über Hellwigs Gesicht: „Was
macht mein lieber Bogner?“

Die harte Greisenhand strich zärtlich über seinen Rock.

„Jetzt geht’s schon wieder, Meister. Weil ich Sie nur gesund
wiederseh’. Im Anfang freilich ...“ -- und nun ballte er die Faust --
„Die verdammten Kerle! Gott hab’ sie selig, aber wenn sie nicht schon
der Teufel geholt hätte, ich selber müßt’ ihnen was antun ...“

„Ihr seid ja ein ganz blutgieriger Kumpan!“ meinte Kolben lächelnd.
Und der Alte darauf: „Ja, Herr, Sie sind eben nicht dabei gewesen. Wie
das so gekommen ist, so auf einmal mitten in den tiefen Frieden hinein
wie ein Hagelwetter, -- man kann kaum ein Vaterunser beten, ist schon
alles hin ... Der alte Schädel kann’s wirklich nicht aufnehmen ...“ Und
wieder in flackerndem Zorn, mit geballter Faust: „Der Hund, der Karus!“

„Wie ist’s mit ihm gewesen?“ wandte sich da Fritz rasch an Pfannschmidt.

„Ich hab’s nicht gesehen,“ erwiderte dieser, „weil mir der Hieb zu
schaffen gemacht hat. Aber wie sie erzählen, -- er muß rein den Tod
gesucht haben.“

„Ja, Meister!“ fiel ihm nun Adam Pichler ins Wort. „So was glaubt
niemand, der’s nicht mit angeschaut hat. Wie die Schießerei losgehen
soll, steht da nicht der Mensch oben auf dem Steinhaufen mit der Hacke
in der Hand? Und wie sie sich schußfertig machen, springt er, Meister,
er springt, so wahr ich leb’, mitten unter die Soldaten. Stücker drei,
vier schlägt er, daß sie wie Bullen umfallen, dann haben sie ihn fest.
Er aber reißt einem das Bajonett heraus -- ‚Lebendig nicht!‘ schreit er
und ‚Mordbuben!‘ und so was wie ‚Heinz!‘ und hat sich auch schon ins
Herz gestochen.“

„Er wollte nicht mehr leben ohne Heinz ...“ murmelte Fritz verstört.

Ganz still war es nach diesen Worten. Die Abendsonne fiel schräg
durchs Fenster und wob um alle einen warmen goldenen Schein. Wie eine
Botschaft des Friedens war das, und alle Herzen pochten ruhiger.

„Fritz, wir kommen eigentlich mit einer Bitte ...“ sagte Reinholt nach
einer Weile.

„Was könntet ihr von mir noch wollen!“

„Hör’ zu!“ antwortete der Fabrikant und mühte sich wieder einmal
möglichst leichthin und geschäftsmäßig zu sprechen: „Hör’ zu: Die
Spekulation ist also nicht geglückt, und ich bin es müde, hier
was Neues anzufangen. Wir wandern aus. In die deutschen Kolonien,
irgendwohin, wo’s noch unbebautes, ganz jungfräuliches Land gibt. Dort
nehmen wir den Pflug in die Hand und werden Bauern. Nicht um Gewinn,
wieder nur für uns wollen wir arbeiten. Komm mit!“

Und auch die andern baten: „Meister, kommen Sie mit!“

Kolben war rasch zu Eva getreten. Fritz bemerkte es. „Hab’ keine Angst,
Albert!“ sagte er. „Ich geh’ nach Neuberg!“ Und zu Reinholt gewendet:
„Nein, Leo, ich bleib’ im Land. Wenn unsere Ideen in der Entwicklung
begründet sind, so setzen sie sich durch -- auch ohne uns. Wenn nicht,
so rollt die Zeit darüber weg, und wenn wir uns noch so dagegenstemmen.
Das ist mir so klar geworden seither, daß ich das Frühere nicht mehr
verstehe. Und dann, Leo -- ich hab’ einen Buben. -- Und was ich meiner
Frau angetan hab’, das muß doch auch gutgemacht werden.“

Da trat Doktor Kolben schnell auf Reinholt zu: „Ich halte mit, wenn’s
Ihnen recht ist!“

„Albert!“ rief Fritz erschrocken. Und Eva haschte die Hand des
Freundes: „Doktor, Sie dürfen nicht von uns!“

Der treue Mensch schüttelte langsam den Kopf. Jetzt, da Eva ganz
sicher geborgen war und ihm für sie nichts mehr zu sorgen blieb, wollte
das alte Leiden wieder aufwachen, und bei Hellwigs letzten Worten hatte
er erschrocken etwas sich regen gefühlt, das fast wie Neid war, Neid
gegen den Freund und sein Glück.

Aber gelassen wie immer sagte er: „Was ist denn da weiter dabei? Nach
Neuberg ging’ ich so nicht mit, und ob dann hundert oder tausend Meilen
zwischen uns sind, das kommt schon auf eins heraus. Drum laßt mich nur
getrost fort. Aus der Welt geh’ ich ja nicht und dann -- vielleicht
können mich diese da jetzt -- besser brauchen.“


                               _Ende._



Im gleichen Verlage erschienen die folgenden Werke von

Rudolf Haas:


Michel Blank und seine Liesel.

Roman. 25. Tausend.

Einbandzeichnung von Oswald Weise.


Matthias Triebl.

Die Geschichte eines verbummelten Studenten.

36. Tausend.


Triebl der Wanderer.

Roman. 30. Tausend.


Verirrte Liebe.

Erzählungen. 14. Tausend.

Einbandzeichnung von Friedrich Felger.


Der Schelm von Neuberg.

Lustspiel in 4 Akten.


Die wilden Goldschweine.

Roman. 1.-15. Tausend.

Einbandzeichnung von Max Both.

(Erscheint im Herbst 1920.)

Dieser Roman bildet die Vorgeschichte zu „Michel Blank und seine
Liesel“.

„_Vornehm_ im besten Sinne ist der Erzähler Rudolf Haas, der _tief_ in
die _lichte Menschenseele_ blicken läßt und der Gedichte ausrauschen
läßt von _hinreißendem Schwung_, aber _stolz_ ausweicht, wo eine grelle
Effektszene anzubringen wäre, oder breite Sentimentalität .. _Ein
Lobpreiser des Lebens!_“

                    (Friedrich Adler i. d. „Bohémia“, Prag.)



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