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Title: Der Todesprediger
Author: Landauer, Gustav
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
    ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.




    Der Todesprediger

    Roman

    von

    Gustav Landauer.

    ❦

    [Illustration]

    =Dresden= und =Leipzig=.

    Verlag von Heinrich Minden.




Alle Rechte vorbehalten. Unbefugter Nachdruck wird gerichtlich
verfolgt.




Einleitung.


Die Geschichte, die ich erzählen will, ereignete sich in jener im
Großen und Ganzen glücklichen Zeit, da sich die Planeten um die Sonne
drehten ohne zu fragen warum, und die Sonne ganz gedankenlos, ohne sich
nach einem Spiegel zu sehnen, ihre leuchtenden Strahlenbündel von sich
schleuderte. Die Epoche, wo das Weltall begann, über sich selbst und
seine Bestimmung zu philosophieren, war noch nicht angebrochen, der
Weltschmerz in des Wortes eigentlicher Bedeutung, das wehvolle Stöhnen
des großen Kosmos, das seiner Auflösung ins absolute Nichts vorherging,
war noch nicht eingetreten. Jedoch war das Allgemeinbefinden der
einzelnen Weltkörper schon wesentlich differenziert, und auf einem
derselben, auf der Erde, zeigten sich für den feinen Beobachter
bedrohliche Symptome. Das ganze Erdenrund war allmählich von einem
grünlichen Schimmel überzogen worden, der sich bemühte, zugleich ein
Spiegel und eine schlechte Kopie des Weltungeheuers zu sein. Jeder
auch der kleinste Teil dieses gewaltigen Riesen ging gedankenlos
seine eigenen Wege und kümmerte sich nicht im mindesten um andere. In
dieser überlegungslosen Selbständigkeit bestand das Weltglück. Auf
dieser schimmligen Erdrinde aber entstanden kümmerliche Wesen, die für
sich nichts waren und sich darum an einander anlehnen und einander
befehden mußten und es erwuchsen allmählich Arten statt Individuen,
Gesellschaften statt Personen. Ein krankhafter Keim steckte in jedem
kleinsten Teilchen dieser Erdoberfläche, es war das Bewußtsein oder
doch die Anlage dazu. Welche Art am meisten von diesem Gift in sich
trug, die errang die Herrschaft über die übrigen, die war aber auch
zugleich am nächsten dem Zustand der Selbstvernichtung, der aus dem
Selbstbewußtsein hervorging auf dem Wege über die Selbstverachtung
und den Selbstschmerz. Diese Rolle war schon seit geraumer Zeit dem
Geschlechte der Menschen zugefallen. Es ist die Aufgabe der Geschichte
dieser merkwürdigen Tiergattung, zu zeigen, wie gerade sie besonders
dazu befähigt war und auf welchem Wege sie sich dem angegebenen Ziele
näherte. Ich darf das wohl als bekannt voraussehen und bitte sich
rasch an diese ganze Entwickelungsgeschichte des Menschengeschlechtes
rückzuerinnern bis zu dem Punkte, wo das Bewußtsein schon den
Grad erreicht und überschritten hatte, wo der Selbstekel und der
Selbstschmerz, den der Mensch in Überhebung vielleicht, vielleicht
aber auch in zukunftsbanger Ahnung eine Zeit lang Weltschmerz nannte,
begann. Die langsame Entwicklung und das stetig sich verändernde
Fortschreiten und Umsichgreifen dieses Eigenwehs dauerte, oft
unterbrochen und scheinbar verschwunden, schon mehrere Jahrhunderte an,
das Christentum und dann die Reformation und dann der Rationalismus
und die Revolution waren gewaltige Heilversuche, die aber notwendig
fehlschlugen. Dann kam eine kurze Periode dumpfer Resignation und
verzweiflungsvollen Schmerzes, die Zeit des Romantismus, ironische und
zerrissene, aber durchweg halbe Männer waren die führenden Geister,
und in zweiter und dritter Reihe tauchten auf die feinsinnigen,
frauenhaften Gestalten, mit der melancholischen Ruhe und den zarten
aristokratischen durchgeistigten Händen, schmiegsame Leute ohne
Rückgrat, deren Wille gebrochen war.

Dann aber kam herauf der ewig denkwürdige Versuch der Vernunft, sich
kalten Blutes auf sich selbst zu besinnen, die entsetzte Rückschau auf
die Entwicklung der Vergangenheit und das gegenwärtige Treiben, die
Auflösung und Abschüttelung alles überlieferten Herkommens, der Strich
unter die ganze Rechnung der menschlichen Geschichte, und das Wagnis,
nach all den Erfahrungen den Staub der Vorzeit von den Händen zu
waschen und das Leben der Menschheit von vorn auf vorsichtig geprüftem
Grund zu beginnen.

In diese Jahre, in denen Abgelebtes und Vorzeitiges, Unreifes und
Faules, Abgespanntes und Vorwärtsstürmendes neben einander wohnte, fiel
das Leben des Menschen, von dem ich im folgenden erzählen will.

        ❦




Erster Abschnitt.


Er war der zweite Sohn des Schuhmachers Adam Starkblom und dessen
Ehefrau Elisabeth und hatte die Namen Max Emanuel Karl Wilhelm
erhalten; man nannte ihn Karl. Geschwister hatte er sieben: zwei
Schwestern, Elise und Kathrine, und fünf Brüder: Adam, Justus,
Leberecht, Friedrich und Johannes. Sein Vater hatte anfangs viel zu
thun gehabt und die Familie gut erhalten können, war aber später
durch sein phlegmatisches und beschauliches Temperament allmählich
heruntergekommen und hatte sich, obwohl er früher äußerst nüchtern und
zurückhaltend gewesen, nachdem er schon die Grenze des Mannesalters
überschritten, dem Trunke ergeben. Er starb am Herzschlag, 64 Jahre
alt. Dieser Lebensführung des Vaters entsprechend war die Erziehung
der Kinder ausgefallen: Adam hatte seiner Neigung gemäß in ein großes
Handelshaus in Hamburg in die Lehre treten dürfen und brachte es dazu,
ein vermögender Plantagenbesitzer in Haïti zu werden, Karl durfte
studieren, Elise besuchte die höhere Mädchenschule und heiratete,
neunzehn Jahre alt, einen vermögenden Schlossermeister, Justus war beim
Vater in die Lehre gegangen und besaß nunmehr eine kleine Schuhfabrik
in Pirmasens, Leberecht war Branntweinbrenner, Friedrich Unteroffizier,
Johannes war gänzlich verbummelt und schließlich vom ältesten Bruder
mit nach Haïti genommen worden, von wo er aber bald auf einem
englischen Kauffahrteischiff durchbrannte, seine Spur war verschwunden
und er blieb verschollen; Kathrine endlich, die jüngste, war auf ein
Operettentheater gegangen, wurde dann die Geliebte eines reichen
Offiziers und endlich Straßendirne. Die Mutter war diesem letzten
Wochenbett erlegen; kein Wunder, daß das hinterlassene Kind im Hause
des blöden, trunksüchtigen Vaters nicht die beste Erziehung erhielt.

Karl hatte schon im Elternhause eine besondere Stellung eingenommen;
er beteiligte sich nur ungern an den lärmenden Spielen der Brüder
und Kameraden und ging am liebsten allein seiner Wege. Er war ein
verschlossenes, träumerisches Kind, das nicht verstand, aus sich
herauszugehen. In seinem neunten Jahre etwa fing er an viel zu lesen,
alles was er im Vaterhause fand, aber wenn ihm etwas gefiel, las er es
immer und immer wieder, sodaß er große Stellen der Romane, die ihm in
die Hände kamen, auswendig wußte. Von seinem fünfzehnten Jahre an hörte
er mit einem Male fast gänzlich auf mit dieser Art Lektüre und las nur
noch wenig und planmäßig: die Klassiker, Bücher litterarhistorischen,
religiösen und philosophischen Inhalts. Was er nicht verstand, legte
er ruhig beiseite, was ihn ergriff, lernte er durch häufiges Lesen
auswendig. Er schloß sich gern an die Schwester Elise und deren
Freundinnen an und war bald unter seinen Brüdern und Mitschülern, die
den blassen Sonderling nicht leiden mochten, als »Mädlesschmecker«
verspottet. Bei Tisch und wenn er sonst mit Eltern und Geschwistern
zusammen war, war er still und in sich gekehrt, beteiligte sich
aber gern, wenn ihn ein Thema interessierte, am Gespräch der Alten
und konnte da schon früh hitzig und vorlaut werden; er war darum
verschrieen als altkluges, frühreifes Kind. In der Schule war er immer
unter den Ersten, da er sehr schnell auffaßte und ein gutes Gedächtnis
hatte, doch arbeitete er wenig. Seine Lehrer konnten ihn nicht leiden,
einigen war er verhaßt. Er meldete sich selten, wenn etwas gefragt
wurde, wußte aber fast stets Bescheid und antwortete kurz und klar.
Nur manchmal hatte er vor sich hingeträumt und stand dann ruhig und
blaß da, ohne den Mund zu öffnen. In seltenen Fällen ward er lebhaft,
meldete sich, trug warm, ja manchmal feurig vor, was er wußte, oder
meinte; ja einige Male hatte er es gewagt, dem Lehrer zu widersprechen.

Noch bevor er sechzehn Jahre alt war, stand es ihm völlig fest, daß
er Philosophie studieren und das Rätsel der Welt ergründen wolle. Am
Ende des vorletzten Schuljahres jedoch schon kam er allmählich davon
ab. Sein kluges Auge sah, wie rasch der Vater herunterkam, und es
leuchtete ihm ein, daß er einen praktischen Beruf ergreifen müsse. So
antwortete er von da ab ruhig auf alle Fragen, was er studieren wolle:
Jurisprudenz, und dabei blieb er. Sowie er sich dazu entschlossen
hatte, sah er kein philosophisches Buch mehr an, beschäftigte sich
eifriger als früher mit den Schulaufgaben und suchte auch jetzt schon
für Fragen des täglichen Lebens Verständnis und Interesse zu gewinnen.
Er machte ein gutes Abgangsexamen und bezog, etwas über achtzehn Jahre
alt, die Universität.

Freundschaft hatte er erst in seinen letzten Schuljahren, als seine
Neigung zur Philosophie hervortrat, kennen gelernt. Vorher hatte er
kein Bedürfnis nach Umgang gehabt. Jetzt drängte es ihn, Meinungen,
die ihn originell und sogar tief dünkten, teilnehmenden Freunden
vorzutragen und im Gespräch auszuspinnen. Es fand sich so eine Anzahl
hochstrebender junger Menschen zusammen, von denen indeß, wie es häufig
zu gehen pflegt, die meisten in der Schule nicht recht mitkamen.
Anfangs bildete sich eine förmliche philosophische Gesellschaft, in
der aber auch dem Bedürfnis der Jugend zu dichten und das Geschaffene
mitzuteilen und loben zu lassen Genüge geschah; sie organisierten sich
als Verein und gaben sich eigene Statuten. Später indessen zog sich
Karl, der schon von früh an mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit
eine alte Haut, die ihm nicht mehr anstand, abwarf, ganz davon zurück
und verkehrte nur noch mit dreien der Genossen, intim nur mit einem,
und selbst diesem vertraute er seine geheimsten und kühnsten Gedanken
und Pläne nicht an. Anfangs schrieb er seine Ideen tagebuchartig
nieder, einiges wenige arbeitete er in größerem Umfang aus; auch
das gab er auf, sowie er einsah, daß seine Meinungen sich zu rasch
änderten, daß er noch keinen festen Standpunkt gewinnen könne; von da
an verfolgte er kaltblütig und mit einer gewissen eigenen Neugierde die
Vorgänge in seinem Hirn und hielt meist auf seine neuen Gedanken nicht
besonders viel, weil er wußte, wie schnell die alten sich bisher immer
verflüchtigt hatten.

Nachdem er sich entschlossen hatte, Jurist zu werden, zog er sich von
den wenigen Freunden, denen er geblieben war, mehr und mehr zurück;
einmal wollte er nicht in Versuchung geraten, sich allzu tief mit der
Weltweisheit einzulassen, dann auch wollte er es nicht mitansehen,
wie sich auch in ihnen die Wendung zur praktischen Thätigkeit und
zum bürgerlichen Beruf vollzog. Wenn zwei dasselbe thun, ist’s nicht
dasselbe, dachte er; was er, soweit es ihn betraf, heroisch nannte, kam
ihm bei allen andern verächtlich vor.

Er wurde ein fleißiger Student, der fast nur mit Fachgenossen, die
er im Kolleg kennen gelernt, verkehrte und sich von den geselligen
Vergnügungen geflissentlich zurückhielt. Erst hier, in den praktischen
Übungen an der Universität und in den Gesprächen mit den Bekannten am
Biertisch und auf der Bude, ward es ihm zur unumstößlichen Gewißheit,
daß er mehr sei als der Durchschnitt seiner Umgebung. Er dachte klarer,
beurteilte alles von höherer Warte, faßte Zusammengehöriges aus
entfernten Gebieten zusammen und konnte seiner Ansicht geläufig und
elegant Ausdruck geben. Jedoch beschäftigte er sich auch jetzt fast
ausschließlich mit seinem Fach, besonders allerdings mit theoretischen
Problemen, interessierte sich aber mehr als gewöhnlich üblich schon
jetzt für Detailfragen. Bei dieser intensiven Bethätigung in der
trockenen Wissenschaft aber fuhr es ihm mehr als einmal durch den Kopf:
»Wartet nur! ich bin noch der Alte! Noch ist nicht aller Tage Abend!
Wohl treibt mein Bewußtsein jetzt keine Weltweisheit und kümmert sich
um nichts als Jurisprudenz; unter der Schwelle aber arbeitet es weiter,
mir selber nicht bewußt; und finge ich jetzt an zu philosophieren,
meine alten phantastischen Unerfahrenheiten wären verschwunden und neue
Gedanken kämen mir angeschwommen, ohne daß ich wüßte, woher. Wartet
nur! Er ist noch nicht tot, der Prediger in der Wüste! Und wenn er auch
spät wieder erwacht, er kommt zu seiner Zeit!« Dann vertrieb er diese
Ahnungen wieder, beugte sich über seine dicken Bücher und ochste bis
tief in die Nacht.

Im letzten Jahre jedoch seiner Studienzeit, wo andere Studenten gerade
anfingen, ernstlich zu arbeiten, klappte er seine Bücher zu und machte
eine Pause. Er hatte das Gefühl, nun sei ein Abschnitt erreicht und
für’s Examen wisse er jetzt schon völlig genug. Für kurze Zeit erwachte
in ihm ein neuer Mensch: er ward gesellig, heiter, harmlos, lebensfroh
und lernte auf einmal das Plaudern. Er nahm jetzt Tanzunterricht,
verliebte sich dabei in ein hübsches Mädchen und verlobte sich heimlich
mit ihr.

Indessen hörte diese Weltläufigkeit bald wieder auf; er wurde wieder
der alte stille geruhsame Mensch, der sich in Gesellschaft nicht wohl
fühlte, nur ernstes zu reden verstand, alles von seiner tiefen Seite
nahm und den Plauderton wieder gänzlich verlernte. Dann kam das Examen,
das er glänzend bestand.

Nunmehr diente er sein Jahr ab, beim Infanterieregiment seiner
Vaterstadt. Jetzt untersagte er sich jede geistige Thätigkeit; er war
nur Soldat; im Innern mürrisch und kalt, äußerlich streng diszipliniert.

Dann ward er wieder mit allen Kräften Jurist, es kam die
Praktikantenzeit und dann das zweite Examen und das allmähliche
Emporklimmen an der Leiter der Beförderungen. Schon als Student war er
entschlossen gewesen im Staatsdienst zu bleiben und Richter zu werden.

Als er 36 Jahre alt war, konnte er es nach sechzehnjähriger treuer
Brautschaft wagen, sein Lorchen zu heiraten und einen Hausstand zu
gründen. Es ging immer noch knapp genug her beim Herrn Amtsrichter,
und es hätte auch jetzt noch nicht reichen können, hätte er es nicht
endlich über sich gebracht, eine nicht ganz unbedeutende Summe von dem
Bruder Adam, dem es damals in Haïti schon recht gut ging, nach öfterem
Anbieten von Seiten des treuen Menschen, leihweise anzunehmen.

Die Ehe schien eine äußerst glückliche werden zu sollen; war Karl ruhig
und ernst, so war Lorchen ruhig und heiter; sie hatte einen ungemeinen
Respekt vor dem Geiste ihres Mannes und war doch fähig und willig, ihn
zu verstehen und mit ihm zu reden über das, womit er sich beschäftigte.
Das war freilich auch jetzt fast nur die Rechtspflege, und nunmehr
meist Fälle aus der Praxis, deren Konsequenzen er zu ziehen pflegte.
Mit anderen Dingen gab er sich nicht viel ab; ein wenig interessierte
er sich für Kunst und Theater, selbst mit Politik sich ernsthaft zu
beschäftigen, hatte er noch nicht die Zeit gefunden. »Wartet nur! jetzt
bin ich ein alter Mann! aber ich werde noch einmal jung!« So pflegte er
auch jetzt wieder zu sagen.

Bald aber begann das Unglück und ließ mit zäher Beharrlichkeit nicht
nach, bis es das Äußerste erreicht hatte: das erste Kind, ein Mädchen,
starb, nachdem es zwei Tage kümmerlich gelebt hatte; das zweite, wieder
ein Mädchen, starb nach drei Monaten an der Lungenentzündung; und das
dritte Wochenbett bettete Mutter und Kind, diesmal wäre es ein Knabe
gewesen, in den Tod.

Nach fünfjähriger Ehe stand Karl Starkblom wieder allein auf der Welt.
Äußerlich blieb er ruhig wie er war. Aber bei Tag und Nacht ließ ihm
die Frage keine Ruhe mehr: »wozu nun noch arbeiten? wofür jetzt
noch leben? warum jetzt noch dein eigentliches wahres Geisterleben
unterdrücken? jetzt wäre es Zeit, höchste Zeit!«

Als wollte das Geschick durchaus keinen Zweifel aufkommen lassen,
wohinaus es wolle, fügte es nach Verlauf von dreiviertel Jahren einen
weiteren Todesfall hinzu: der Bruder Adam in Haïti starb plötzlich
am Fieber; sein gesamtes bedeutendes Vermögen hatte er dem geliebten
Bruder Karl testamentarisch vermacht.

Als Starkblom in den Besitz dieses Vermögens kam, war er
gerade zweiundvierzig Jahre alt. Seit knapp drei Jahren war er
Landgerichtsrat. Nunmehr sagte ihm sein kleines Seelenteufelchen: »Halt
Mann! Umspannen!« Er kam um Urlaub ein und zog sich in ein freundliches
Städtchen am Fuße des Schwarzwalds zurück. Kurze Zeit darauf nahm er
nach reiflichem Überlegen seinen Abschied.

Seine Kollegen machten hinter seinem Rücken bitter höhnische
Bemerkungen über den unerhört frühen Rückzug Starkbloms; jetzt war er
erkannt. Bisher freilich hatten ihn alle, die er überflügelt hatte
oder zu überholen drohte, für einen ehrsüchtigen Streber erklärt;
das hinderte aber durchaus nicht, nun zu behaupten, das sehe ihm
völlig ähnlich, das sei von ihm zu vermuten gewesen: er sei eben ein
ganz pflichtvergessener Mensch, dem es nur um möglichst schnellen
Gelderwerb zu thun gewesen, und vermutlich sei er im geheimen ein roher
Genußmensch; die große Erbschaft sei ihm recht zupaß gekommen. Jetzt
konnte er seinen Vergnügungen nachgehen, ohne mehr arbeiten zu müssen.
Nun zeigte der hochnäsige Herr seinen wahren Charakter; aristokratisch
hatte er immer gethan, aber seine gemeine Herkunft konnte er nicht
verleugnen.

Was hätten diese Herren für dumme Gesichter gemacht, wenn er ihnen
seine wahren Gründe anvertraut hätte: daß er einen anderen Beruf in
sich fühle, als zeitlebens Richter zu sein, daß er seinen Geist und
die Bestrebungen seiner frühen Jugend jetzt voll und ganz auszuleben
gedenke.

Sich selber ausleben -- das war sein Ehrgeiz, an seine Jugend wollte er
wieder anknüpfen. Was aber war er denn selbst? was steckte eigentlich
in ihm? was war noch übrig von den Idealen seiner Jugend? Was konnte er
der Menschheit bringen?

Er schaute tief in seine eigene Seele und fand, daß trotz aller äußern
Ruhe der Kern seines Wesens Trauer und Weh geworden war. Und er merkte
mit einem Mal, daß Jammer und Schmerz die ganze Menschheit und die
ganze Welt durchzog.

Als er aus der Unschuld des Kindes langsam zum Manne erwachte, war er
rascher als wohl sonst die Regel, über die verzweiflungsvolle Zeit des
Aufblühens der Sinnenwelt hinweggekommen; äußere Umstände waren schuld
daran. Jetzt, da er ein reifer Mann war und alle Schmerzen und Wonnen,
die der Mensch durchmachen kann, erprobt und gekostet hatte, stürmte
eigenes Weh, philosophische Verzweiflung und soziales Elend mit voller
Wucht und gleichzeitig auf ihn ein.

Es schien ihm, als habe er mehr als zwanzig Jahre geschlafen und
dummes unverständiges Zeug geträumt, als er jetzt wieder ernstlich
begann, über Menschengeist und Weltzweck nachzudenken und in der Welt
umherzublicken.

Es fuhren ihm jetzt Gedanken durch den Kopf, er lebte jetzt in ganz
eigentümlichen Stimmungen, wie er sie nie gehabt seit langer Zeit,
und doch war es ihm, als habe er das alles genau so, selbst unter
denselben kleinen äußerlichen Umständen, schon einmal gedacht und
empfunden, vor langer, unendlicher Zeit, vor mehr als tausend Jahren
wohl.

Dann kam es ihm, er solle wohl seine alten Tagebücher und
Aufzeichnungen aus der Knabenzeit wieder vorsuchen, und er las eifrig
darin. Gar manches verstand er nicht mehr, vieles mißverstand er
und legte ihm einen ganz andern Sinn unter, als er damals gewollt;
einiges aber fand er schon fast genau in derselben Art gedacht und
ausgesprochen, wie es ihm jetzt als neue Wahrheit aufgegangen.

Ihm grauste vor sich selber; der Student und der Richter, wie hatte der
denn nur je sein können? wie hatte er daran sein Genügen finden können?
Und eine stille Freude überkam ihn, daß er wieder jung geworden war.

»Der Menschheit will ich meine Dienste weihen; ein neues Wort will
ich sprechen, das noch keiner gesprochen hat.« So hatte er als
Sechzehnjähriger geschrieben und so wollte er jetzt wieder. Die Kraft
fühlte er in sich. Er war mehr als die andern, er wußte es sicher; noch
keinen hatte er getroffen, der ihm gleichkam.

Er beabsichtigte, vorerst in dem kleinen sonnigen Städtchen, wo er
gegenwärtig weilte, zu bleiben. Die Einsamkeit sollte ihm wohlthun. In
sich selbst wollte er sich versenken, auf sich selbst sich besinnen.
In die Natur wollte er sich wieder einleben und sich verjüngen im
frischen Waldesgrün, seine poetische Phantasiethätigkeit, die er zu so
langer Ruhe verurtheilt hatte, erwachte jetzt wieder aus ihrem dumpfen
Schlafe. Dem Vogelsang wollte er lauschen und das Sonnenlicht einsaugen.

Eines Morgens ging er bei heiterkühlem Frühlingswetter den Fluß entlang
zur Stadt hinaus, thalaufwärts. Er liebte diesen Weg besonders. Zur
Seite hatte er Anhöhen und vor sich Berge von immer neuer Gestalt und
Färbung, da die Straße in langsamer Krümmung das Gebirge vermied.
Rechts war der Fluß, jenseits saftige Wiesen und weiter entfernt wieder
Berge, die mit dunklen Tannenwaldungen bestanden waren. Blickte er sich
um, so sah er die Stadt mit ihren hohen Schlöten hinter sich liegen;
die abgebrochenen Schläge des Kupferhammers vor der Stadt, an dem er
vorhin vorbeigegangen, drangen leiser und leiser zu ihm. Sein Sinn war
fröhlich und unternehmend; seine Gedanken abgerissen und hüpfend,
er träumte mehr als er dachte. Am frühen Morgen war ein starkes
Gewitter niedergegangen, das erste des Sommers. Noch immer schoben die
abziehenden Wolken an der Sonne vorbei und verdunkelten kurze Zeit das
Thal. Doch bald wieder schwanden die Schatten und er schritt fröhlich
vorwärts.

Nachdem er eine schwache Stunde gegangen war, sah er etwa in der
Mitte des Berges, der hinter der Krümmung des Flusses gerade vor ihm
emporstieg, auf einem Vorsprung ein weiß schimmerndes schloßartiges
kleines Haus liegen. Es grüßte ihm freundlich entgegen mit seinem
weißen Verputz, seinen hell blinkenden Fenstern, seinem roten
Ziegeldach und dem kleinen mit Schiefer gedeckten Türmchen an der
linken Seite.

»Da wäre gut wohnen,« dachte er.

Er ging noch etwa eine Stunde, dann kehrte er auf einem andern Wege,
der über die Anhöhen führte, zurück.

Mittags beim Essen erzählte er seinem Nachbar, dem Stadtbaumeister,
von seinem Ausflug und von dem Schlößchen, das ihm so sehr gefallen
hatte. Der sagte ihm, das weiße Haus, so nannte man es, stünde schon
seit einem halben Jahre leer, da der Besitzer nach Wien gezogen sei.
Liebhaber sei keiner da, da es für die Fabrikanten der Stadt und die
paar andern, die noch etwa in Betracht kommen könnten, zu entlegen war.
Und Fremde besuchten ja bekanntlich trotz der reizenden Umgebung die
Stadt kaum, die als Fabriknest verschrieen war.

Starkblom war rasch entschlossen. Noch am selben Mittag besuchte er
den Rechtsanwalt, der die Angelegenheit für den Weggezogenen in Händen
hatte und nach Verlauf von wenigen Tagen war das Geschäft abgeschlossen.

Starkblom war im Besitz des weißen Hauses und die nächsten Wochen schon
verwandte er darauf, seine Möbel kommen zu lassen und einige neue zu
kaufen. Einen Teil der Zimmer richtete er nicht ein, weil er Raum für
eine Bibliothek lassen wollte. Eine Sammlung erlesener Bilder schwebte
ihm für die spätere Zukunft vor.

Eine ältere Frau, die er gedungen, sollte ihm kochen und Wirtschaft
führen.

Am 1. Juli bezog der neue Schloßherr das weiße Haus und er erschrak
gleich nach den ersten Tagen, sowie er sich angewöhnt hatte, über
die erbärmliche Beschäftigung mit nichtigem Tand, der er sich in den
letzten Wochen hingegeben hatte. Das wurde von jetzt ab anders. Nur
Großes und Tiefes sollte ihm zuschwimmen mit den klaren Wellen des
Flusses, der am Fuße »seines Berges« langsam und ruhig dahinfloß.

Er bestellte in der Hauptstadt eine große Zahl Bücher, in die er sich
in den nächsten Wochen vertiefte. Er merkte bald, als er sich mit Liebe
seinem Studium und seinem Sinnen hingab, daß es besser sei Bücher zu
haben als eine Bibliothek und noch besser Gedanken als Bücher und noch
besser Erleben als Denken. An Gedanken mangelte es ihm nicht, und was
das Erleben anging, nun -- er hatte ein ganzes reiches Leben hinter
sich und gern vertiefte er sich in seinen Erinnerungen darein als in
etwas völlig abgeschlossenes.

Er gedachte seines Vaters, dessen Lebensende sich so jammervoll
gestaltet hatte; gar wohl aber erinnerte er sich noch an seine frühere
bessere Zeit, wie er als gedankenvoll auf seinem Schusterstühlchen
saß und mit seinem beschränkten Geiste über tiefe Probleme seine
Weisheit zum besten gab, eine mürrische, unzufriedene Weisheit, die
die Farbe der grauschwarzen Wichse an sich hatte, mit der er seine
Stiefel schmierte ... Dann die Mutter ... an die war nicht viel zu
erinnern. Das war eine arbeitsame Frau, die ihr Bündel Not und Kummer
mit Ergebung trug nachts und tags über mit Raunzen und Brummen und
Schelten. Sie hatte nie viel Zeit für ihre Kinder übrig gehabt und für
den früh einsamen Karl erst recht nicht. Die rechte Liebe zur Mutter
hatte er nie kennen gelernt und bemühte sich auch jetzt nicht sie zu
erwecken. Die große zärtliche Liebe zum Vater war ihm geblieben und
seiner gedachte er stets mit Wehmut. Glaubte er doch jetzt, wo er
über alles grübelte und sein eigenes Wesen nach allen Richtungen zu
zerfasern und aufzudecken suchte, viel von seinem nachdenklichen Geiste
und seinem ruhigen Äußern geerbt zu haben, abgesehen von den kleinen
Zügen in Gang und Haltung.

Die Brüder, die noch in Deutschland wohnten, zum Teil ganz in der
Nähe seines neuen Wohnortes, waren ihm aus dem Gesicht entschwunden
und er nahm kein Interesse an ihrem Leben. Oft gedachte er mehr mit
freudiger Dankbarkeit als mit Schmerz des verstorbenen Adam, dessen
Testament der letzte Anstoß gewesen war zur neuen Blüte seines innern
Menschen. Er war ein urtüchtiger Mensch gewesen von mächtigem Körper,
umfassendem Blick für sein Geschäft und großer Energie; dabei soweit es
anging voll Interesse für geistige Dinge. Aber eigentümlich -- so oft
seine Gedanken sich Haïti zuwandten, immer war es der schwach umrissene
Schatten eines Menschen, den er sich bemühte vor sich zu sehen und der
ihm doch immer wieder nebelhaft zerrann. Sein jüngster Bruder, der
verschollene Johannes wollte seine Wiedergeburt feiern in seiner Liebe.
Ihre Wege in der Kindheit waren weit auseinandergegangen, der Sinn des
Spätgeborenen war vielfach nur äußerlichen Dingen zugewandt gewesen;
aber Starkblom ging es jetzt auf, was ihm die ganze lange Zeit nie
eingefallen war: es war ein glänzender, strahlender Geist in diesem
schmiegsamen Leibe, der da auf Irrwege geraten und vielleicht für immer
für sich und die Menschen verloren war. Starkblom entsann sich jetzt
der philosophischen Stunden der Primaner, wo der braunlockige Knabe
manchmal ins Zimmer gehuscht war und mit mancherlei Ulk und kindischem
Gethue die furchtbar ernsten Abgrundsgedanken der grübelnden und Pläne
türmenden Jünglinge gestört hatte, bis er mit einem Mal eine Bemerkung
dazwischen warf, von der man immer noch nicht recht wußte, war sie
kindliche Einfalt oder geniale Improvisation. Der wilde Hans -- was
mochte aus ihm geworden sein? Ob er wohl noch lebte? Starkblom schien
es, er müsse ein kühner Mann und ein eisklarer Geist geworden sein,
wenn er nicht gänzlich zu Grunde gegangen; ein Mensch, nach dem er sich
sehnen konnte in düsteren einsamkeitsschweren Stunden, ob auch schon
seine Gestalt nur unklar und verschwommen vor ihm schwebte.

Die Erinnerung an sein treues Lorchen rief er selten ins Bewußtsein
herauf. Desto öfter gedachte er seiner drei Kinder, die so kurz gelebt
hatten. Eigentliche Liebe für die seltsamen Wesen hatte er seiner Zeit
kaum empfunden; ja des Knaben dachte er auch jetzt nur mit bitterer
Empfindung. Aber doch war jetzt ein eigentümliches, der Liebe sehr
nah verwandtes Gefühl in ihm: er hatte Kinder gehabt! Er könnte jetzt
ein kluges fünfjähriges Töchterchen haben. Eine leise Sehnsucht nach
Vaterfreude und Kinderspielen und Erziehungslust regte sich oft in
ihm. Doch unterdrückte er das immer rasch. Er würde die Erde nie mehr
bevölkern helfen, das wußte er; so mußte er denn der Menschheit in
anderer Weise dienen. Er konnte sich Menschen denken, die von vorn
herein auf Ehe und Kind verzichten und von Jugend auf ihren physischen
Zeugungstrieb mit mächtiger Energie in einen rein geistigen verwandeln.
Auch solche erfüllen ihre Pflicht gegen ihr Volk und die Menschheit,
besser als die gewöhnlichen Väter. Und plötzlich überkam ihn auch da
ein Grauen vor sich selber. Wie hatte er sich nur je wie ein ganz
gewöhnlicher Mensch verlieben können und alle die Thorheiten mitmachen?
Und heiraten? Und -- und? Zeugen? rohesten Sinnengenuß suchen?
jahrelang? Hatte ich denn das nötig? Durfte ich das? Entsprach das
meiner wahren Natur? Nein, nein.

O warum hatte er sich denn nur je dem Joch des Eigennutzes und des
Herkommens gebeugt? Wäre er doch ruhig und ohne nach rechts und links
zu sehen, seine Bahn vorwärts gegangen, gleichgiltig ob er sein
Ziel erreichte oder scheiterte! Hätte er sich doch ausgelebt; wäre
er doch jung geblieben! O diese häßliche gewöhnliche eingeengte
niederdrückende Zwischenzeit. Konnte er denn noch einholen, was er
versäumt? Er _mußte_ es einholen; er mußte denken, leben, wirken.
Vorbild wollte er sein, Prophet ... Erlöser -- War er denn noch jung
genug? Ja er glaubte an sich, er mußte ja an sich glauben; er wollte
doch nicht verzweifeln? Er betrachtete sich im Spiegel und lächelte
sich Mut zu; ja er war noch jung und frisch. Der Glanz seiner braunen
Augen hatte noch nicht nachgelassen, noch hatte er den sprechenden,
eindringlichen Zug um den Mund. Wohl waren die Haare an seiner
hohen energisch vorspringenden etwas plebejischen Stirn ein wenig
zurückgetreten; aber noch kein graues Haar war zu finden in seinem
dichten, schwarzen Vollbarte.

Gewiß, gewiß, er war noch nicht zu alt; ihm war noch Frist genug übrig,
um sein Werk zu vollenden. Und nun suchte er sich zu überzeugen,
wie vorteilhaft im Grunde das lange Verstummen seiner Weisheit für
ihn war, für ihn und die Welt, der er das Geschenk seiner Gedanken
entgegentrug. Wäre damals, noch als er Schüler war, nicht die
plötzliche Wendung gekommen, die ihn ins Philistertum getrieben
hatte, was wäre vermutlich aus ihm geworden? Ein frühreifer,
hitziger, unaufgeklärter Mensch, der seine jünglingshaften Ideen für
unantastbare Wahrheit genommen hätte, ein intoleranter, fanatischer
Sklave seiner Erstgeborenen, der seine eigene Zukunft noch vor dem
Entstehen abgetrieben hätte aus feiger Rücksicht aufs Vergangene,
aus erbärmlicher Liebe zu irgend einem gehätschelten Erfolg in der
Gegenwart. Früh, vor der Zeit, hätte er sich verausgabt, und wäre dann
wenn er sein erstes verheißungsvolles Wort gesprochen, mit leeren
Händen und Taschen vor der erwartenden Welt dagestanden, die jetzt
erst das beste hören wollte, was aber hätte er noch geben können? Ein
besonderes, kaum denkbares Glück wäre es gewesen, wenn er nach langer
Pause, die jetzt doch hätte kommen müssen, sich wieder gesammelt hätte
zu neuer Weisheit; aber ob man ihn dann noch hören wollte -- wer hätte
es wissen können? Nein, nein -- besser in der Jugend gelernt und
geschwiegen, und geredet als Mann.

Ihn dünkte, er brauche sich jetzt nur sorgsam zu besinnen auf alles,
was er ohne besonders aufzumerken in seinem Leben gesehen, er brauche
nur in Zusammenhang zu bringen die Gedanken und Stimmungen, die ihm
die Jahre her über die Seele gehuscht, und die Weltanschauung, die er
in seinem Herzen ahnte, stände klar und abgerundet vor seinem Geiste,
sein Wille sei entschieden und seine Rede für die Menschen dazu. Er
meinte, dann habe er ausgelernt, es bleibe ihm nur noch übrig, die
Konsequenzen aus seinem Leben zu ziehen. Erst leben, dann lehren,
das schien ihm das Motto zu sein für seine Aufgabe, das war die
Grabschrift, die er sich im voraus verfaßte, und der erste Teil schien
ihm vollendet. War es die lange Beschäftigung mit der Jurisprudenz,
die ihm damals noch alles Komplizierte einfach, alles Verwirrte schön
gesondert, alles Verflochtene auseinandergesträhnt erscheinen ließ, die
ihn verleitete, den gährenden Most des ungeschiedenen Lebensdranges auf
die durchsichtigen Flaschen kahler Abstraktionen zu ziehen, vorzeitig
einzupressen und zuzupfropfen, weil die wilde Lust überzuschäumen, sich
für einen Augenblick im Verborgenen hielt? Täuschte ihm der äußere
Anstrich der Geistesruhe einen Gemütsfrieden, eine Herzenskälte vor,
die er am Ende doch nicht besaß? Wähnte er, sein Wille allein sei
jung geblieben, sein Geist aber besitze nicht mehr die Triebkraft und
Verwandlungsfähigkeit der Jugend? Sein Herz sei gefeit gegen neues
unerhörtes Erleben?

Solche Erwägungen konnten ihm damals nicht ankommen. Kalt und energisch
sammelte er seine zerstreuten Erfahrungen und Ideen, um dann unter die
Menschen zu treten und zu zeigen, was er war und wußte und wollte.
Vorderhand führte er wirklich nur ein reines Leben im Geiste, das ganz
unabhängig war von seinem völlig gleichmäßig verlaufenden einsamen
Leben nach außen.

Immer auf sein bisheriges Leben zurückschauend, ließ er seine
Weltanschauung sich weiter entwickeln, und lebte nur, um eben nicht zu
sterben.

Manchmal aber hatte er Augenblicke, und sie kamen häufiger von Woche zu
Woche, wo es ihm ganz grotesk und ungeheuerlich vorkam, daß er etwas
besonderes sein wolle, daß er jetzt, wo er sich dem Alter näherte, sich
über seine bescheidene Stellung erheben wollte, erheben über alle die
anderen Mitmenschen. War er denn wirklich mehr als andere? Und wenn
auch -- wozu denn das alles? Was wollte er denn? Hatte er denn etwas zu
sagen? Wäre es nicht besser, die Menschen zu lassen wie sie sind? Was
ging ihn schließlich das alles an? In Ruhe und Zurückgezogenheit wollte
er seinen Gedanken leben, und sich langsam dem Tode entgegengrübeln.
Er war doch kein Weltverbesserer, war nicht geschaffen für das
Auftreten in der Öffentlichkeit.

Denn schließlich -- was war denn diese Welt? War denn da noch etwas
zu bessern, oder auch nur zu ändern? Er lebte sich tiefer und tiefer
ein in das metaphysische Gespinnst, seine Gedanken schienen ihm bald
das einzig Wahre, die Welt war das Produkt seiner Sinne und seines
Bewußtseins überhaupt. Lohnte es sich denn, an solchem trügerischen
Schein ändern zu wollen, in eiteln Traum Vernunft zu bringen, die
Gestalt einer Seifenblase zu verbessern? Die Formen mochten wechseln,
der innerste Kern der Welt blieb doch derselbe und war unabänderlich.

Dann aber kam wieder neuer Zweifel über ihn: war es denn nicht
verwegenste Überhebung, alles für Trug erklären zu wollen, nur damit
seine Gedankenwelt wahr bleibe? Wäre es nicht bescheidener, die Welt
vorerst zu lassen wie sie ist und an der Richtigkeit seines eigenen
Denkens zu zweifeln?

So bohrte er sich gewaltsam tiefer und tiefer in Unzufriedenheit
hinein und raubte sich vollends den Rest von Naivität und unfragsamer
Lebensfreude, den er noch bis dahin besessen hatte. Schließlich
hatte er oft Momente, wo ihm diese ganze Grübelei als dilettantische
oberflächliche unersprießliche Kindereien erschien, hauptsächlich
dem Bedürfnis entsprungen, einen Vorwand für seine Weltfremdheit und
Beobachtungsfaulheit zu haben.

Ja, was wollte er denn auch noch in der Welt? So fragte er bald
entschlossen. Mochten die anderen dahinleben, ohne zu fragen, mochten
sie die Arbeit für ihren vom Weltenschöpfer gesetzten Lebenszweck
halten und handwerksmäßig in engem Stall dahinvegetieren, bis sie
starben -- was lag ihm daran? Er empfand mehr und mehr einen tiefen
Ekel vor bürgerlichem Beruf, vor unbewußtem dämmerhaftem Leben, vor
Leuten, die nicht die Zeit hatten zu fragen, wozu?

Bald hatte er jetzt ganze Tage, an denen ihm alles lächerlich, fast
verrückt vorkam. Wenn er gemächlich spazieren ging, halb nachdenkend,
halb seine Sinne der Welt öffnend, mußte er sich immer wieder fragen:
wozu denn aber in Drei-Teufels Namen das alles? Da rennen sie und
hasten sie und alle arbeiten sie drauf los und einer verdrängt
eifersüchtig den andern; zu welchem Zweck denn? was haben sie denn
Großes vor Augen? haben sie sich denn überhaupt ein Ziel gesteckt?
Hat auch nur jeder ein besonderes Ideal, das er heiß begehrt zu
erreichen, oder arbeitet gar alles in schön verteilten Rollen auf
einen Punkt hin? Von alledem schien ihm keine Rede zu sein. »Machen
sie sich gar was vor?« murmelte er einmal vor sich hin, als er an
einem Steinbruch vorbeikam, wo alles eifrig bei der Arbeit war. »Mir
scheint wahrhaftig, das ist eine bunte Komödie, das alles! Wen wollen
sie wohl täuschen?« Und so grübelte er weiter. Natürlich, jeder wollte
dem andern vormachen, er habe ein Ziel, er wisse, wofür er arbeite, und
jeder that, als glaube er dem andern. Dann kam er am Friedhof vorbei
und da fiel ihm noch ein neues ein. Sich selber täuschten sie auch,
und das war wohl die Hauptsache. Der Tod, der war es, der bestimmte
ihr ganzes Leben, das was sie Leben nannten. Jeder machte möglichst
viel Lärm, um sich nicht ans Sterben zu erinnern, und alle hegten wohl
insgeheim die Hoffnung, an ihn komme die Reihe nicht, er brauche nicht
ins Gras beißen. Und weil sie sich das doch nicht recht glaubten,
betäubten sie sich durch lächerliche, ganz überflüssige Beschäftigung,
und das nannten sie dann »leben«. War das nicht zum wahnsinnig werden?
Wenn sie einsähen, daß alle ihre Arbeit ganz und gar überflüssig wäre,
wenn sie sich zugeständen, es sei nicht der mindeste Zweifel erlaubt,
daß sie alle mit einander, einer nach dem andern, sterben müßten,
dann würden sie wohl ihr Maschinengerassel zur Ruhe bringen und ihr
Handwerkszeug, die Requisiten der großartigen Komödie, unberührt an die
Wand lehnen und -- ja, wie denn? War es denn nicht überhaupt ungeheuer
gleichgiltig, ob man jetzt stirbt, oder in zehn, zwanzig, fünfzig,
siebzig Jahren? War denn die Zeit überhaupt etwas, das ernstlich in
Betracht kam? Nein, nein. Nicht im mindesten. So viel er sich auch den
Kopf zerbrach, er fand keinen andern Lebenszweck, als den Tod; auf den
lief alles hinaus. Eine lächerliche Einrichtung in dieser verrückten
Welt allerdings, daß man geboren wurde, um zu sterben, nur um zu
sterben. Aber es war nun doch einmal so, und das beste mußte wohl sein,
sich damit abzufinden und diese Erkenntnis zu verbreiten, damit jeder,
der das eingesehen, möglichst rasch sein Ziel erreiche und stürbe.

Oder war es doch nicht so? War es ein ungeheurer Irrtum, eine
großartige Stumpfheit seines Geistes, daß er, so lange er auch
sein Hirn zermarterte, keinen andern Lebenszweck ausfindig machen
konnte? Darüber mußte er sich eigentlich vergewissern. Er war doch
nicht der einzig Vernünftige unter den Lebenden, aber er hatte doch
noch keinen gefunden, dem diese schauerliche Einsicht so klar, so
selbstverständlich und unabänderlich gewesen wäre. Er mußte sich doch
erkundigen, was die andern eigentlich vom Leben hielten. »Was dünket
euch vom Leben?« Er meinte, mit dieser Frage jeden Menschen überfallen
zu sollen, den er antraf. Er blickte, wenn er in der Stadt war, den
Leuten, die ihm begegneten, prüfend ins Gesicht, ob da wohl ihre
Gedanken über ihr eigenes Dasein zu lesen wären, aber er fand nichts
dergleichen. Ihre Mienen deuteten immer nur auf lächerliche täuschende
Kleinigkeiten, Essen, Schlafen, Trinken, Spazierenfahren, Kirchengehen,
Theaterbesuchen, Holz hauen, Kohlen fahren, Kessel heizen, Schuhe
flicken, Hemden nähen, Strümpfe stricken, Kinder unterrichten, Gemüse
kaufen, Waaren verkaufen, Wechsel einlösen, Häuser bauen, Steuern
einziehen, Soldaten drillen, Gesetze machen, Reden halten -- immer
und immer nur die Maske, der Schein, die Comödie; nirgends, auf
keinem Gesicht zu lesen das Ziel, die Sehnsucht nach dem Ziel, die
Verzweiflung. Waren sie alle Narren und er der einzig Vernünftige; oder
waren sie alle klug und er ein wahnsinniger Thor? Das hätte er gerne
herausgebracht.

Diese Richtung hatten seine Gedanken genommen während der ersten Monate
seines Aufenthaltes in dem weißen Hause. Die beschauliche Kälte seines
Geistes war rasch von ihm gewichen, nachdem er sich erst wieder tiefer
mit der Frau Welt und ihrer Weisheit eingelassen; eine unruhige,
oft leidenschaftlicher Verzweiflung nahe Gemütsverfassung war Herr
über ihn geworden. Das war besonders begünstigt worden durch seine
gänzliche freiwillige Vereinsamung. Er hatte niemanden aufgesucht und
Gelegenheiten vermieden, wo er hätte flüchtige Bekannte treffen oder
neue Menschen finden können.

Jetzt, wo ihn eine Ahnung überkam, es könne ihm nicht schaden, wieder
unter Menschen zu kommen, nun wo alles in ihm ins Wanken geraten war
und er Genossen brauchte, die ihn stärkten und fortführten in anderes
freundliches Gebiet des Denkens, brachte ihn der Zufall mit einem
Freunde aus seinen ersten Jugendjahren zusammen, den er längst völlig
aus den Augen verloren hatte.

Es war in den ersten Tagen des August, an einem schönen Nachmittag. Er
hatte sich in die düstern Canzonen des Leopardi versenkt. Da brachte
ihm die Haushälterin eine Visitenkarte. Der Herr warte außen, ob
Herr Doctor zu sprechen sei. »Robert Wangaus, Fabrikant,« stand auf
der Karte. Wangaus -- Robert Wangaus -- er mußte sich wirklich einen
Augenblick besinnen. Dann schämte er sich, daß es ihm nicht gleich
eingefallen war, wer den Namen trug, und daß er seit Jahrzehnten
nicht mehr an ihn gedacht hatte. Ich lasse bitten, ich lasse bitten,
antwortete er der Frau. Er war wirklich froh, einen Bekannten nach
so langer Zeit wieder zu sehen, einen Freund aus seiner frühesten
Jugend. So so, der war Fabrikant geworden. Also auch ein Berufsmensch,
wie er selbst noch bis vor Kurzem. Ja ja, das war vorauszusehen.
Er war begierig, wie er nun war. Es war einer von seinen intimen
philosophischen Freunden gewesen, der Wangaus, ein kühner,
phantasievoller Knabe.

Ein dicker Herr mit glatt rasirter Miene trat ins Zimmer, legte seinen
Seidenhut auf einen Stuhl an der Thür und die rothbraunen Handschuhe
darauf. Dann ging er auf Starkblom zu, der aufgestanden und ihm
entgegengetreten war.

»Ich habe mich also nicht geirrt, Herr Landgerichtsrat, ich erkenne in
Ihnen --«

»Aber Wangaus,« unterbrach ihn Starkblom, »natürlich bin ich der Karl
Starkblom, wie Du der Robert Wangaus. Das freut mich recht. Bitte setz
dich doch. Wir wollen doch das alte Du beibehalten, meinst du nicht?
Wie ging dir’s denn immer? Du bist Fabrikant? Wohnst du hier? Bist du
verheiratet? Bitte setz dich doch.«

In der nun folgenden Unterredung ergab sich, daß Wangaus Besitzer einer
Goldwaarenfabrik am Orte war und mit seiner Familie -- er war seit
Jahren verheiratet -- in der Stadt lebte. Er hatte schon vor mehreren
Wochen von der Anwesenheit Starkbloms gehört, habe eigentlich gleich
gewußt, daß er ein alter Bekannter vom Gymnasium her sei, habe auch
schon früher kommen wollen, aber wie das nun so gehe, es habe sich eben
verzögert, er komme zu nichts mehr, die Geschäfte, die Geschäfte, die
Geschäfte --

»Ja ja, die Geschäfte,« wiederholte er noch einmal, indem er bedächtig
ein paar Haare am Rande seiner Glatze zurecht legte. »Sie, Herr --
entschuldige, ich muß mich erst wieder daran gewöhnen -- du hast’s nun
freilich gut. Das heißt, offen gesagt, ich wüßte nicht, was ich den
ganzen lieben langen Tag treiben soll, wenn ich meine Arbeit nicht
hätte.«

»Seit wann hast du denn das zu deinem Lebensberuf gemacht?«

»Wie?«

»Ich meine, seit wann du die Welt mit deinen Schmuckwaaren beglückst?«

»Erlaube, das ist nun eigentlich nicht ganz richtig ausgedrückt. Ich
fabricire nicht eigentlich Schmuckgegenstände; -- ich weiß nicht, hast
du eigentlich die Entwicklung unserer Industrie genauer verfolgt? Sie
hat einen riesigen Aufschwung genommen. Wenn du die Sache nicht studirt
hast, kann ich dir’s nicht in Kürze erklären. Die Sache ist die, daß
wir nur eine bestimmte Art Gold herstellen, wie es die Schmuckfabriken
zu weiterer Verarbeitung gebrauchen. Es ist da eine kolossale
Arbeitsteilung eingetreten; der ganze Verarbeitungsproceß hat sich
mechanisirt; überhaupt, wenn ich einmal Zeit finde, mich theoretischer
Betrachtung hinzugeben, die Entwicklung der modernen Industrie zu
betrachten, werde ich nicht müde. Das ist etwas herrliches; einfach
großartig! Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern --«

Starkblom unterbrach ihn durch ein feines, spöttisches Lächeln.

»O, du solltest nicht lächeln, daß ich Poesie citire. Ich bin freilich
ein Geschäftsmann, habe wenig Zeit, aber man steht doch sozusagen immer
noch unter dem Bann seiner Jugendduselei, und wenn ich Zeit hätte, ich
würde wahrhaftig heute noch manchmal etwas von Goethe und Schiller
lesen.«

»Ins Theater gehst du aber doch öfter?«

»Ins Theater? Ja freilich, ja freilich. Das heißt -- meine Frau ist
abonnirt, und wenn sie gerade keine Zeit hat oder auch keine Lust -- du
verstehst --«

»Jawohl, jawohl. Nun, da wird wohl Goethe und Schiller öfters an dich
kommen?«

»Du meinst, meine Frau? -- Ja allerdings. Aber doch nicht. Da gehen die
Kinder herein. Klassische Stücke sind für die Kinder. Meinst du nicht
auch?«

»Hm, ja -- weißt du, wir wollen lieber erst gar nicht anfangen, darüber
zu streiten. Ich fürchte, ich stehe da auf einem so ganz, ganz anderen
Standpunkt, wie du.«

»So, wie du willst; das ist leicht möglich. Sag einmal, hast du
eigentlich Kinder?«

»Nein.«

»Auch nie welche gehabt?«

»Gehabt? nein. Nur zu haben versucht. Drei. Das zweite überlegte sich’s
drei Monate lang, ob es leben wollte, entschied sich dann aber auch
für’s Gegenteil.«

»Das ist hart.«

»Nein. Es ist nicht hart. Oder meinst du wirklich? Wieso eigentlich
hart?«

»Na, das ist aber doch nicht dein Ernst. Das ist doch
selbstverständlich.«

»Daß der Mensch stirbt, früher oder später? Ja, _das_ ist allerdings
selbstverständlich.«

»Ja, aber es ist doch wahrhaftig ein Unterschied, ob ein kleines Kind
stirbt oder ein Mann, der seine Lebensarbeit hinter sich hat. Das ist
doch klar.«

»Merkwürdig -- euch ist alles selbstverständlich und klar, was mir
heute zweifelhafter als je ist. Lebensarbeit, Lebensarbeit. Was ist
denn das? Ehrlich gesagt, was ist denn nun deine Lebensarbeit?«

»Gott stellt jeden auf den Platz, den er einnehmen muß. Es ist keine
Arbeit vergebens. Wenn ich auch nur verschwindend wenig der Menschheit
nütze, ein bischen ist’s immerhin und ich erhalte Weib und Kinder. Das
ist _meine_ Philosophie.«

»Meine ist’s nicht,« sagte Starkblom sehr ernst, indem er aufstand und
hin und herging. »Ganz abgesehen von Gott, der, scheint’s, heutzutage
nur noch zwei Zwecken dient.«

»Und die wären?«

»Erstens zur Ausrede und zweitens, vernünftige Menschen nervös zu
machen. Gott stellt jeden auf seine Stelle! Haha! -- Übrigens hast du
in deiner Jugend auch anders gesprochen.«

»Nun, du hast doch diese Jugendtorheiten auch längst hinter dir. Man
wird gesetzter. Übrigens ist’s dir wohl nicht ganz Ernst mit alledem.
Ich erfülle als Fabrikant meine Pflicht so gut wie du als Richter --
und erfülle sie heute noch.«

»Pflicht, Pflicht. Gegen wen denn Pflicht?«

»Das weiß doch jeder. Wozu solche Dinge fragen?«

»Warum nicht fragen? Nochmals -- Pflicht gegen wen?«

»Nun, gegen die Mitmenschen.«

»Wirklich? Wann kam dir denn der Ruf?«

»Wie?«

»Wieso empfandest du denn das unwiderstehliche Bedürfnis, die
Menschheit mit Schmuckwaaren, nicht doch, mit Gold einer bestimmten Art
zu versorgen?«

»Ach, das läßt sich doch nicht so einfach sagen. Das sind sehr
verwickelte Verhältnisse. Du als Jurist mußt das doch wissen, besser
als ich. Nationalökonomie hast du ja doch jedenfalls studirt.«

»Ich studire sie sogar noch. Aber trotzdem --«

»Na, siehst du. Und übrigens -- in die Wiege gelegt wurde dir wohl auch
kaum die Bestimmung, Richter zu werden.«

»Da hast du _sehr_ recht. Das darfst du mir vorwerfen. Du weißt aber
auch, daß ich’s jetzt nicht mehr bin.«

»Ja allerdings. Du hast’s eben nicht mehr nötig. Glücklicher.«

»Du irrst. Das war nicht mein Grund. Mein _Grund_ nicht.«

Jetzt war das Lächeln an Wangaus.

»Na, na. Täusche dich nicht selbst. Hätte ich so eine Erbschaft gemacht
-- überhaupt, wer hätte nicht so gehandelt an deiner Stelle?«

»Ja wo bleibt denn da der Beruf und die göttliche Bestimmung? So
sagtest du doch?«

»Nun, nun -- das schließt nicht aus, daß man sich im Alter zur Ruhe
setzt. Wenn man’s kann, natürlich.«

»So alt bin ich noch nicht. Im Gegenteil -- meine Arbeit fängt jetzt
erst an.«

»So?«

»Ja allerdings. -- Das Philosophieren hast du also gänzlich
aufgesteckt?«

»Das kannst du dir doch wohl denken. Wozu auch, selbst wenn ich Zeit
hätte? Das führt ja doch zu nichts.«

»So? Na, ich weiß nicht. -- Ich will jedenfalls jetzt auch
versuchen --«

Er hielt inne.

»Nun?«

»Ich meine, ich werde jetzt erst beginnen zu arbeiten, wie gesagt. Ich
will auch Gold fabriciren.«

»Was? Das ist doch kaum dein Ernst. Die Branche liegt jetzt sehr
darnieder. Leider.«

»Ich mein’s natürlich nur bildlich. Dir werde ich keine Concurrenz
machen.«

»Nun, die Firma Wangaus u. Co. hätte das kaum zu fürchten. Bildlich?
Das verstehe ich nicht.«

»Ja, anders kann ich’s kaum ausdrücken. Mein Beruf ist denken und
aufklären.«

Wangaus schaute sich im Zimmer um und gewahrte die vielen zerstreut da
liegenden Bücher.

»Ach so, du willst schriftstellern? Bücher besprechen, alte Meinungen
umstoßen, neue aufstellen? Dazu wünsche ich dir von Herzen Glück. Dazu
hast du jedenfalls Talent. Da kannst du dir bald einen Namen machen.
Oder willst du pseudonym schreiben?«

»Nein. Das jedenfalls nicht. Überhaupt, ob’s auf’s Schriftstellern
hinaus läuft, das weiß ich auch noch nicht. Ich bin kein sonderlicher
Freund von Papier. Das ist alles noch ganz unbestimmt, übrigens auch
ziemlich gleichgiltig. Auf’s Wirken kommt mir’s an, in welcher Weise,
das wird sich schon finden.«

»Jawohl, freilich, es giebt ja auch noch andere Wege. Die
kaufmännischen Vereine veranstalteten ja jetzt überall populäre
Vorträge. Wenn du das willst, ich bin im Vorstand des hiesigen, da
könnte ich dir behilflich sein im nächsten Winter.«

»Danke, danke, ich glaube kaum, daß mir das passen wird.«

»Oder bist du ein großer Politiker geworden? Willst dich um ein
Reichstagsmandat bewerben? Dir stehen ja jetzt alle Wege offen.«

»Auch dazu werde ich wohl kaum je den Trieb in mir fühlen. Wie gesagt,
das wird sich finden. Ich bin noch nicht so weit, das entscheiden zu
können, aber bald, hoff’ ich.«

Wangaus stand auf.

»Soso. Na, jedenfalls freut’s mich, dich so wohl getroffen zu haben.
Kann leider nicht länger bleiben. Das Geschäft ruft, das Geschäft. ’s
ist verdammt weit zu dir heraus. Bitte, besuch mich bald. Du wirst ja
wohl den Weg zu mir finden.«

Damit nahm er seine Handschuhe und den Cylinderhut und ging nach den
üblichen Abschiedsredensarten. Als er die Treppe hinunterstieg, dachte
er:

»Wahrhaftig, er ist noch der alte unklare Strudelkopf. Nicht im
mindesten hat er sich verändert. Kaum glaublich, daß der’s zum
Landgerichtsrat gebracht hat.«

Starkblom aber ließ zunächst alles persönliche beiseite, ihm war
gegen Ende des Gesprächs eine psychologische Wahrnehmung aufgestoßen,
die er schnell ein wenig weiter verfolgen mußte. Merkwürdig, ganz
merkwürdig, wie zwei Menschen, die im Grunde gar nichts mehr mit
einander zu thun haben, zusammen reden können, obwohl ihre Naturen so
gänzlich verschieden sind, daß der eine immer den andern mißverstehen
muß. Und das nennt man dann Unterhaltung! Er sprach von Aufklärung
und Wirksamkeit, Wangaus antwortete mit einer Bemerkung über
Schriftstellern und die kaufmännischen Vereine, er deutete seine
Sehnsucht an, seine Natur auszuleben, Wangaus dachte an Ehrgeiz und
Ruhmbegierde. Und schließlich ging dieser gute Philister noch weiter
als er selbst, er fragte leidenschaftlich: wozu? und jener antwortete
mit behäbiger Ruhe: wozu wozu? Und hatte er am Ende recht? Wozu sich
quälen? Doch nicht nur, um sich eben zu quälen? Doch nicht blos,
weil er nichts anderes zu thun hatte? Wangaus hielt seine Arbeit für
ernsten Lebensberuf, die Grübelei verachtete er als unnützen werthlosen
Luxus; er selbst aber verachtete die geistlose Arbeit, die aus bloßer
Gewöhnung hervorging und keinem vernünftigen Zweck diente, keinem
festgesteckten Ziele zustrebte, er hielt das Einbohren in das Denken
für’s höchste. Wer war der Narr? Leicht beide?

Er hatte gute Lust, nach diesem seltsamen Zusammentreffen mit einem
seiner liebsten Freunde aus der Knabenzeit sich noch mehr abzusondern
von den Menschen und sich in seiner Einsamkeit zu begraben. Er wurde
nicht begriffen von diesen Menschen und ihm fehlte auch das Verständnis
für ein Leben, wie sie es führten. Hinaus aus dieser Erbärmlichkeit
sehnte er sich, und weg wollte er auch, weit weg von seinem eigenen
selbstmörderischen Grübeln. Er brauchte einen andern Umgang, ihn
ekelten diese Menschen, und ihn ekelten seine eigenen Gedanken. --
Er dachte im Ernst daran, sich einen großen edeln verständigen Hund
anzuschaffen. Dann aber versuchte er es doch noch einmal mit etwas
menschlichem. Er flüchtete nach Arkadien, ins Reich der reinen Formen,
ins Land der Kunst. Die nächsten Tage versenkte er sich in die edelsten
Dichtungen, die in deutscher Sprache geschaffen sind: er las Goethes
Iphigenie, Partien aus dem 2. Teil Faust, Pandora. Als er nach diesem
erlesenen Genuß zu Schillers Braut von Messina kam, klappte er das Buch
nach wenigen Minuten schon angewidert zu: selbst diese Kost war ihm zu
grob geworden, zu menschlich ordinär. Auch Schopenhauer konnte er nicht
mehr lesen, der war ihm jetzt wie ein wildes gieriges Tier in enger
stinkender Menageriezelle, das nicht durfte, wie es wollte. Selbst
Leopardi war ihm zu unfein.

So hütete er sich denn von da an, mit Menschen und Büchern und
Einfällen zusammen zu stoßen, die ihn hätten aus seiner Gemütsruhe
reißen können, in die er sich mit Gewalt hineinzwang. Nur nichts
unangenehmes, nichts gewaltsames, nichts aufregendes. Vielleicht
später ... später ... jetzt wollte er Ruhe. Er ging früh zu Bett
und stand spät auf. Dann ein langsames Frühstück, während dem die
Morgenträume sich weiterspannen und langsam verwehten. Darauf ein
kleiner Spaziergang durch den Tannenwald, bei dem er nichts dachte.
Dann las er: Goethe, Spinoza, Platon, Ranke. Altes, Weisheitsvolles,
Greisenhaftes war ihm das liebste. Daneben auch mystische Romantik
und Heiterkindliches: Brentano’s Rosenkranz, Arnim, Eichendorff, Jean
Paul, Gottfried Keller. So trieb er es wochenlang, monatelang. Dieses
oberflächliche Wohlleben mit der scheinbaren Vergnüglichkeit, während
innen kaum bewußt etwas in ihm fraß und zur Oberfläche sich langsam
empornagte, hatte etwas bänglich -- entsetzliches an sich. Und weiter
ist demnach vorerst nichts über ihn zu vermelden.

        ❦




Zweiter Abschnitt.


Solche Menschen, die ähnlich Karl Starkblom, freilich selten so heftig
von einem Trieb in den andern geschleudert, von einer Verzweiflung der
andern geraubt, früher oder später mit unabwendbarer Bestimmtheit sich
aus der menschlichen Gesellschaft in die Einsamkeit hineinstahlen, gab
es damals in Europa eine kleine Schaar, die nichts von einander wußte
und nichts von einander wollte, die keinen Verein bildete und keine
Partei, deren Ekel zu groß und deren Glaube zu schwächlich war, um in
der Gegenwart etwas zu lieben und von der Zukunft viel zu erhoffen. Ab
und zu tötete sich einer von ihnen, und den andern fuhr es durch die
Glieder und sie ehrten den unbekannten Toten, indem sie sich fragten,
worauf sie selbst eigentlich warteten mit dem Sterben.

Doch das waren nur ganz vereinzelte Erscheinungen, halb oder ganz
verrückte Sonderlinge ohne Gefahr, die die Welt nicht weiter
beachtete; ihretwegen hätte sie ruhig und unbesorgt ihren mäßigen
Pflichten und bescheidenen Genüssen nachkommen können. Aber von
ganz entgegengesetzter Seite her war inzwischen eine neue Lehre so
gewaltig in die Massen der Völker hineingedrungen oder aus ihnen heraus
entsprungen, man wußte es nicht recht, daß vorschauende Politiker eine
große Revolution ahnten, manche philosophische Historiker aber die
Zeichen einer mächtigen religiösen Volksbewegung erblicken wollten. Die
_internationale Socialdemokratie_ war eine Weltmacht geworden, mit der
der größte Staatsmann und der kleinste Dorfpfarrer rechnen mußte.

Am mächtigsten gefördert worden war das riesenhafte Wachstum des
Sozialismus durch die Kläglichkeit des europäischen Bürgertums, wie
es sich nach der französischen Revolution entwickelt hatte. Das harte
gute Gewissen des Mächtigen und Reichen war nunmehr für immer dahin,
nunmehr wurden so viele Freiheiten und Rechte von der Gesammtheit als
ewige unantastbare Menschenrechte anerkannt, daß jene erbärmliche
Gesellschaft aus dem Widerstreit der überlieferten Verhältnisse,
deren Früchte sie genoß, und der ihr vererbten Freiheits- und
Gleichheitsideen nicht mehr herauskam. Fortwährend wurden sie gepeinigt
von dem bösen Gewissen, sich mit dem Blut der Armen zu nähren und auf
den Leibern des Proletariats Paläste zu bauen, mit zitternden Händen
und schielenden Blicken scharrten sie Genüsse zusammen, sie steckten
den Kopf in den Sand und warfen mit Phrasen um sich, zur Brutalität
hatten sie keinen Mut und zur Entsagung keinen Gedanken.

Der Liberalismus war damals aufgekommen und die Verpönung aller
Gewaltsamkeit, und eine dilettantische Moral machte sich breiter als
je zuvor. In keiner Zeit war die Lehre und das Leben in einem so
kläglichen Gegensatz gestanden, aber sie glaubten an ihre Lehre und an
ihr Leben und ließen sich’s wohl sein, so gut es gehen wollte; denn
niemals kam ihnen ein Zweifel an dem, was beides so merkwürdig verband,
an ihrer Moral.

Diese chaotische anarchische Zeit war so recht das fruchtbare Mistbeet,
dem wunderbare, unerhörte Erscheinungen entsprießen konnten. Das
war die Zeit, wo alle Richtungen, die je nach langer, bedächtiger
Vorbereitung auf Erden erwachsen waren, von frischem erstanden und
angepriesen wurden als neue erlösende Wahrheiten, wo ein neuer Glaube
schneller wieder weggelegt wurde als ein unmodernes Gewand, das war die
späte Zeit, in der alles Frühe und Ungegorene gierig geschlürft wurde.

Damals berührten sich in der That die Extreme, und die Stärksten und
die Schwächsten fanden sich zusammen im Ekel und in der Resignation.
Damals pries in Rußland ein Graf und Philosoph die segnende Macht der
körperlichen Arbeit und entsagte seiner gesellschaftlichen Stellung
und ward Bauer und Schuhmacher; und zu gleicher Zeit war der deutsche
Schuhmacherssohn, der Schloßherr vom weißen Hause, nahe daran, die
Arbeit zu verhöhnen. Und doch gehörten diese beiden einsamen Prediger,
denen der Ekel gemeinsam war, zusammen.

Diese Vereinzelten waren übersatt und schlichen sich weg vom Tische
des Bürgertums; in der Socialdemokratie aber erstand eine organisierte
Masse von Hungrigen. Stürmisch begehrten die Arbeiter Einlaß in die
Paläste des Geistes. Diese Schaaren von zielbewußten Kämpfern boten
ein Bild, wie es niemals dagewesen war. Es war in diesen Köpfen eine
merkwürdige Mischung von Phantasie und Nüchternheit, von Leidenschaft
und Zurückhaltung, von Glauben und Skepsis, von Aufschwung und Bedacht.
Sie hatten die Gefahr der schönen Worte erkannt und hüteten sich meist
ängstlich vor ihnen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit -- was war
geworden aus diesem berauschenden Kampfruf der Revolution? Freiheit?
Nie war ein schönes Wort schnöder mißbraucht worden. Ja freilich, die
Wahl stand ihnen völlig frei, nach den Bedingungen des Kapitalismus
zu arbeiten, oder zu verhungern und zu vertieren. Kein Zwang wurde
ausgeübt, niemand beeinträchtigte ihre persönliche Freiheit. Und
Gleichheit -- nun allerdings, sie waren eine im wesentlichen gleiche
proletarische Masse geworden. Aber die Brüderlichkeit, die mußten
sie selbst dazuthun, an die hatte man nicht mehr gedacht, und sie
wollte nun empor in der Socialdemokratie. Arbeiter aller Länder
vereinigt euch! Dieser Ruf zog durch die ganze Welt und rüttelte die
Unterdrückten auf und verband sie zu gleichem Zwecke; zur Befreiung
der Menschheit von der anarchischen Waarenproduction und Circulation,
zur communistischen Herstellung und Distribution der Bedürfnisse, zur
Vernichtung des blinden Egoismus; zur Zertrümmerung der nationalen
Gegensätze; zur Herstellung einer wirklichen Menschheit und
Menschlichkeit.

       *       *       *       *       *

Karl Starkblom hatte, als er damals in neu aufflammender jugendlicher
Begeisterung ein Ziel vor sich hatte erstehen sehen, als er sich
dann vorbereitete zu seinem Wirken unter den Menschen, auch manche
sozialistische Schriften, vor allem das Hauptwerk des Karl Marx,
ziemlich gründlich studirt. Dann aber war der neue Mensch in ihm
emporgekommen, der so lange geschlummert, der ungestüme Frager und
Peiniger, der Befriedigung wollte für sich selbst und seine unbestimmte
Sehnsucht, der an alles herantrat mit der Frage: wozu? warum so?
warum nicht anders? was soll werden? So konnte ihm, der sich selber
auszuleben gedachte, und doch sich selber nicht ergründen konnte,
ihm, der nicht wußte, was der Mensch sei, der Sozialismus, der die
armseligen Proletarier zu Menschen machen wollte, damals keine
abschließende Weltanschauung bieten. So hatte er sich schließlich
vor allem Grübeln und Verzweifeln, vor dem hastigen Suchen einer
neuen Welt, in den Bereich einer alten fertigen toten Kunst und
Weltanschauung zurückgezogen, um vorerst Ruhe zu haben, Ruhe um
jeden Preis. Manch anderer wäre endlich nach so vielfacher innerer
Gährung dabei geblieben, und wie der junge Schwärmer Karl sich in
die Beamtenlaufbahn einfriedete, war der Mann nahe daran, sich unter
der schützenden Decke einer vereinsamten und versteinerten Cultur
zu begraben. Aber es lebte etwas Unsagbares in dem Manne, das immer
wieder sich aufbäumte gegen den ruhsüchtigen Quietismus und die
Selbstbetäubung des Schuhmacherssohnes; etwas robust in die Höhe
Strebendes und Mitteilsames; dasselbe was den verstorbenen Adam nach
Haïti, Johannes in die weite Welt gezogen hatte. Sein Geist arbeitete
zu rasch, als daß sein Wille immer gleich mitkommen konnte; daher sein
Abspannen und scheues Reifenlassen, sein willkürliches Abbrechen und
Vereinsamen des Denkens. Er war ein sehniger Mann von langem Leben und
hatte Zeit; das schlummerte unbewußt hinter all seinem Thun und Lassen.

So war es denn allmählich so weit gekommen, daß ihn diese beschauliche
Ängstlichkeit seines Lebens, diese Zurückgezogenheit und dieses
Traumgedämmer anfing zu langweilen. Seine Seele rankte sich langsam
wieder ins Leben hinaus und horchte, was draußen vorging und tastete
vorsichtig nach Stützpunkten, um in frischer Öffentlichkeit und mitten
unter den Menschen sich festzulegen und doch ihre Ruhe zu bewahren. Er
ahnte, es könne auch in ihm noch eine Heiterkeit leben und vielleicht
auch ein Glaube. Er hatte die Gescheitheit und Gebundenheit seines
Lebens satt und rüstete sich zu fröhlicher Dummheit und Hingerissenheit.

Es war an einem wunderschönen, durchsichtigen Wintertage, als sich mehr
wie je wieder etwas wie Frische und Mut und zartkeimende Lebenslust bei
ihm einstellte, und wer weiß, woher ihm der Gedanke angeflogen war,
er suchte unter allerlei Gerümpel ein Paar altmodische Schlittschuhe
vor, die er seit langen Jahren nicht mehr an den Füßen gehabt, und
machte sich auf den Weg nach dem seit mehreren Wochen fest zugefrorenen
Teich, auf dem sich die Einwohner des Städtchens zu tummeln pflegten.
Es schien ihm selbst wunderbar, als er mit großen Schritten auf
dem knisternden Schnee wandelte, daß er sich endlich wieder unter
Menschen wagte, unter ganz gewöhnliche sinnfreudige Menschenkinder.
Besonders wohl fühlte er sich anfangs nicht, er war den Lärm und
das Schwätzen und vor allem das Lachen nicht mehr gewohnt, und er
erinnerte sich, daß er sich früher schon manchmal staunend überlegt,
bei welcher Gelegenheit wohl die Menschen zum ersten Male das Lachen
gelernt. Es mußte wohl etwas gewaltig Verzerrtes, unbegreiflich
Dämonisches urplötzlich auf sie heruntergefallen sein, denn dies
kindliche, heitere Lachen der harmlosen Jetztlebenden war gewiß nur das
armselige mißratene und umgedeutete Überbleibsel einer tiefgewaltigen
Erschütterung von Urmenschen, bei der übergroßer Schmerz und Lust nicht
zu trennen gewesen.

Bald aber kam doch ein ungewohnt Friedliches und Sanftes in ihn hinein,
wobei indessen Wehmut und Ungewißheit nicht von ihm weichen wollten.
Wie kam der Einsame jetzt mit eins in diese ausgelassene jugendliche
Schaar? Er sah sich forschend um und fand, daß er wohl fast der
Älteste auf dem Eise war. Vielleicht auch der Ungeschickteste; doch
das störte ihn wenig. Als er einmal in einen Riß eingefahren und zu
Boden gefallen war, kam ihm der bizarre Einfall, daß er sich einen
Christus auf Schlittschuhen nicht gut vorstellen könne. Er lachte
bitter vor sich hin und warf den Gedanken weg. Mußte man sich denn
in eine Wüste zurückziehen, um den Menschen Großes zu holen? O man
konnte auch einsam sein unter Menschen. In großen Bogen strich er über
das klirrende Eis, bald an wenig befahrenen Orten, bald mitten durch
die Menschenknäuel sich hindurchwerfend, und vertiefte sich in sein
Grübeln. Wenn jetzt das Eis mit schrillem Krach bräche und die Menschen
in sich hineinschlänge und sich dann wieder schlösse, was wäre viel
dran? Und wenn die ganze Menschheit versänke und die Erde in die Sonne
stürzte und die Sonne -- und die Welt -- und alles hin -- und nichts
-- was wäre dran? was wäre hin? Was für ein unendlicher Zweck wäre für
immer geschwunden? und wen betrübte es? Einen Zuschauer und erhabenen
Betrachter des Ganzen? Oder das Ganze selbst? War Ursprung und Fortgang
und Ende und Mittel und Zweck und Handeln und Genuß ein und dasselbe
und eins mit dem Frager? Und wenn alles und alles --

Und wenn der Himmel einfällt, sind alle Spatzen tot! Damit unterbrach
er schroff halb unmutig, halb doch belustigt sein Forschen. Es muß
jetzt ein Ende werden mit dem Denken, ich muß handeln! Ich gehe nach
Hause und überlege, aber praktisch, was zu thun, wie mich wenden an
die Menschen, wie ihnen mitteilen, was ich gedacht und will -- ja was
will ich denn, du Narr? Ach was, das Beste, was man hat, weiß man nicht
mit klaren Worten. Das kommt schon. Oder vielmehr, es ist schon da.
Es liegt schon in mir. Ich muß den Schatz nur heben. Ich muß anfangen
zu reden. O mir ist auf einmal die Zunge gelöst. Ich habe lange genug
geschwiegen. Ich muß nur anfangen mit dem Reden. Dann wird es mir wie
ein Feuerstrom von den Lippen fließen. Anfangen, nur anfangen. Jetzt
ist es Zeit.

Und als ob er es nicht abwarten könnte mit dem Beginnen, rannte er
mit gewaltig großen ungeschickten Zügen zur Belustigung der hinter
ihm dreinfahrenden Jugend nach einer Bank, schnallte rasch die
Schlittschuhe ab und eilte nach Hause, diesmal den näheren Weg durch
die Stadt wählend.

Unterwegs bemerkte er an verschiedenen Straßenecken große blaue,
weiße und rote Plakate, vor denen sich Bürger und Schulkinder trotz
der grimmigen Kälte eifrig lesend hinstellten. Gedankenlose Neugier,
vielleicht auch etwas frischerwachtes Interesse an dem Treiben der
Leute ließen Starkblom auch anhalten. Da las er auf dem großen
hellblauen Plakat: Aufruf. Mitbürger! Die Reichstagswahlen stehen vor
der Thür. Bei keiner der vergangenen Wahlen stand Größeres auf dem
Spiel.

So ging es ziemlich lange weiter. Zum Schlusse ward aufgefordert, Mann
für Mann einzutreten für den bewährten Kämpfer der freiheitlichen
Sache, Herrn Commerzienrat ~N. N.~, und eine Versammlung für den
folgenden Tag, Dienstag, den 23. Januar, einberufen. Starkblom nahm
sich vor, einmal da hin zu gehen, um zu sehen, ob es denn einen Sinn
habe, sich um diese Dinge anzunehmen, und die Art kennen zu lernen, wie
die Leute die Sachen betrieben.

Starkblom war früher, als der Landgerichtsrat und seine Frau noch
lebten, auf eine Zeitung abonnirt gewesen, und sein ordentliches
Lorchen hatte die seltene Gewohnheit gehabt, die Nummern zu sammeln,
vielleicht weil sie glaubte, diese Dinge könnten in späteren Jahren
noch einmal interessant werden, vielleicht aber auch nur, um die
Papierballen später im Großen als Maculatur zu verkaufen. Doch war sie
vorher gestorben, und Starkblom hatte die große Kiste bewahrt und auch
mit ins weiße Haus gebracht. Jetzt ließ er sich von der Haushälterin
vom Speicher herunterholen, soviel sie unter beide Arme bekommen
konnte, und las darin am Montag Abend und im Laufe des Dienstags. Er
wollte sich etwas vorbereiten auf die Wählerversammlung und glaubte,
Zeitungslesen sei dazu das beste. Und er wollte einmal sehen, ob die
Politiker noch dasselbe redeten, wie sie vor einigen Jahren schrieben
oder wie. Es war eine üble Arbeit, dieses Lesen in den morsch und
gelb und stinkend gewordenen Neuigkeiten und Streitigkeiten von anno
dazumal, aber er biß sich durch. Freilich hatte er schon lange nicht
mehr so oft bedenklich den Kopf geschüttelt wie jetzt.

Die Versammlung schien sich anfangs ganz so anzulassen, als ob sich
in der politischen Welt inzwischen nichts verändert hätte. Da saßen
ungefähr 800 mehr oder minder wohlgenährte Bürger und hörten mit
Bedacht und ohne sich irgendwie activ einzumischen, ihre Redner an,
die von Kornzoll sprachen und der Brodverteuerung, von Freihandel und
freier Concurrenz, vom Militarismus und allzugroßer Belastung der
Volksschultern, von Zuckerexportprämien und unerhörter Begünstigung
der Agrarier, und was des Erbaulichen mehr war. Den Leuten erschien
Leben und Brodessen und einigermaßen gerechte Verteilung der Lasten
und Politisieren und maßvolle Unzufriedenheit und bedächtiger Ehrgeiz
als selbstverständliches Menschenrecht. Man müßte sie aufrütteln!
dachte Starkblom. Man müßte ihnen mit Vernunft beizukommen suchen und
mit tiefsinniger Betrachtung. Verzweiflung wäre ihnen einzuimpfen und
Lust zum Tod. Aber warum? wandte er sich ein. Den Leuten ist ja so
ganz außerordentlich wohl bei ihrem überlegungslosen Vegetieren. --
Warum? Und warum nicht? Und wenn es aus Bosheit geschähe, ich will es
thun! Was brauchen sie dumpfe Tiere sein, wenn ich es nicht bin? Was
muß ich ihnen ihr Glück gönnen, wenn mir davor ekelt? Warum sollte ich
sie lassen, wie sie sind, wenn Menschenwort sie umgestalten kann und
in Aufruhr bringen, wie mir es beliebt? Fürwahr, _wenn_ ich Macht über
sie habe, will ich sie üben! Warum? wozu? Frage nicht länger. Weil ich
will; zu meiner Freude!

Da wurde er in seiner Willenserwägung gestört durch eine knarrende
Stimme, die von neuen Dingen sprach. Die Versammelten hörten
aufmerksamer als bisher zu und beistimmend nickte ab und zu einer mit
dem Kopfe. Auf einmal schien der Freisinn die Maske abzuwerfen, der
Kampf gegen die Regierung schien nur ein vorläufiges Späßchen gewesen
zu sein. Sie waren die Vertreter des zahlungsfähigen, aufblühenden,
honnetten Bürgertums, sie hatten die Macht in den Händen und sie vor
allem wollten sich wehren gegen begehrliche Arme, die von unten sich
emporhoben und Unmögliches verlangten. Mit längst abgethanen Utopien
köderten die Sozialdemokraten die ungebildete Masse der Arbeiter, die
ihnen Glauben schenkte wie neuen Propheten. Diese Revolutionsprediger
waren eine Gefahr geworden für das Vaterland und die Gebildeten aller
Länder; sie vor allem waren zu bekämpfen. Der Freisinn allein bietet
die wahre Freiheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Einzelnen;
in ihm einzig blüht auch das Heil der Zukunft. Sagt euch los, ihr irre
geführten Arbeiter, von den Lügen der Sozialdemokratie. Stürmischer
Beifall lohnte den Redner, aber das Händeklatschen wurde übertönt
von höhnischem Gelächter, das von einer kleinen Gruppe ausging, die
festgeschlossen in einer Ecke des Saals stand.

Ein anderer Redner, eine hagere, knochige Gestalt, lüftete die Maske
noch mehr. Oder hatte er eine neue aufgesetzt? Der Freisinn war
wieder fromm geworden. Erst redete er nur von der Natur und vom Kampf
Aller gegen Alle und von Darwin. Auf einmal fiel auch das Wort Gott.
Starkblom lauschte erstaunt und ekelahnend. Gott habe die Welt so
geschaffen, daß alle gleiche Rechte haben, aber nicht gleiche Gaben und
gleichen Charakter und gleiches Glück. Reiche und Arme, Fleißige und
Faule, Kluge und Dumme, das sei ein Gegensatz, der nicht auszurotten.
Und wieder hörte er erbittertes Lachen. Und das Erben? fragte eine
schreiende Stimme. Erben nur Kluge? Ja, das sei gut und nötig für das
Wohl des Staates, daß die Kinder von des Vaters Gaben zehrten. Die
Familie sei die Grundlage des Staates und aller Gesittung.

Während dieser Rede hatte sich ein Arbeiter aus jener Ecke langsam
einen Weg durch die Reihen gebahnt und war auf die Tribüne gegangen und
hatte dem Vorsitzenden etwas zugeflüstert. Der sah ihn zweifelhaft
an und zuckte mit den Achseln. Der andere machte eine leichte
selbstverständliche Handbewegung. Der Vorsitzende breitete fragend die
Arme aus. Da schlug der Arbeiter ärgerlich leicht mit der Faust auf
den Tisch, daß die Glocke, die darauf stand, leise zitternden Ton gab,
und der Vorsitzende ergab sich zögernd darein. Nachdem nun der laute
Beifall verklungen war, verkündete er, daß sich ein Gegner zum Worte
gemeldet habe, und da freie Diskussion ihr Prinzip sei, müsse der das
Wort erhalten. Er werde die Geduld der Versammlung hoffentlich nicht
lange in Anspruch nehmen.

Nun trat der Arbeiter, ein Mann in den mittleren Jahren mit ernstem
wenig sagendem Gesichtsausdruck vor. In der linken Hand hielt er seinen
breiten Filzhut zusammengedrückt und mit dieser machte er während er
sprach seine lebhaften aber gleichmäßigen Bewegungen. Er will scheint’s
Holz hauen, flüsterte jemand in Starkbloms Nähe und lachte unbändig
über seinen Witz. Der Mann sprach nicht gut und nicht schlecht und
wunderlich mischte sich in seinen Worten nüchterne Trockenheit mit
trivialen aufgefangenen Redeblumen. Er hoffe nicht, so begann er, die
Herren zu überzeugen, das sei nicht möglich, aber er wolle ihnen seine
Meinung sagen, damit sie sähen, wie der Arbeiter denke.

Das Licht der Vernunft sei aufgegangen im Proletarierhirn und das sei
das Verdienst der Sozialdemokratie. Diese allein habe ein Herz fürs
Volk, sie allein habe ein festes Ziel und suche die ganze Menschheit
zu beglücken. Was nützt uns Ihr Gott, wenn er uns in unserem Elend
läßt? Wir haben uns abgewandt von ihm; behalten Sie ihn allein für
sich. Solange der Kapitalismus dauert, hört die Lohnsklaverei nicht
auf; darum muß die kapitalistische Gesellschaft mit Stumpf und
Stil vernichtet werden. Die Menschen haben im wesentlichen gleiche
materielle Bedürfnisse; oder können Sie mehr als einmal zu Mittag
essen? Nein? Dann ist es auch lächerlich, daß einer gegen den andern
streitet, wer das meiste Geld verwischt, dann muß die Produktion der
Lebensmittel gemeinsam werden und das ist möglich. Der Kampf Aller
gegen Alle muß aufhören, und das ist Ihre vielgerühmte Freiheit. Der
Satte kann Freiheit brauchen, aber für die Freiheit zu hungern und
geknechtet zu werden, danken wir. Erst wollen wir satt werden und das
Paradies der Menschheit erobern für alle, meine Herren, für alle und
jeden; dann wird die schöne Freiheit von selber da sein. Sie haben
einmal gekämpft für die Sache des Volkes, als Sie selbst unterdrückt
waren, aber jetzt, wo Sie selber wohlgenährt sind und obenauf, jetzt
haben Sie die Sache des Volkes verraten! Wir brauchen Sie aber auch
gar nicht mehr. Wir sind zielbewußte Proletarier, wir stehen auf dem
Boden des Klassenkampfes und den werden wir nicht verlassen, bis die
Sonne des Ostens emporsteigt und die Klassengegensätze aus den Angeln
hebt. Und wie zum Hohn rief er zum Schluß, indem er fest auf die
Versammlung blickte und auf seine paar Kameraden im Winkel: Es lebe die
internationale revolutionäre Sozialdemokratie, und jubelnd stimmten
seine Genossen ein: hoch, hoch, hoch! und der Einklang schwebte über
dem gemischten Toben der Versammlung.

Starkblom fühlte sich wie erhoben von etwas Nieerhörtem. Er stand
auf und sah den Arbeitern nach, die den Hut auf dem Kopf, fest
auftretend, wie zum Protest den Saal verließen. Er hörte wieder die
Stimme des Vorsitzenden, der von unerhörtem provocierendem Benehmen
sprach, aber er hatte genug und wollte nicht länger bleiben. Er ging
zu einer Seitenthüre hinaus. Herr Fabrikant Wangaus hat das Wort,
hörte er gerade noch beim Schließen der Thüre. Also der wollte den
Mann widerlegen. Er lächelte. Dessen Rede kannte er schon, der Hagere
und der Fette, die beiden sprachen in gleicher Weise. Gott stellt
jeden auf seinen Platz! Seid doch zufrieden und rüttelt nicht an der
überlieferten Ordnung der Gesellschaft. Unsere ganze große Cultur ruht
ja nur auf ihr. Er wollte doch rütteln, und die Arbeiter rüttelten
auch. Freilich, diese Arbeiter, die standen nicht zusammen mit ihm.
Die wollten noch leben, die wollten erst beginnen und das rechte
freudige Leben schaffen. Das freudige Leben? Sie täuschten sich wohl.
Das Leben war keine Freude. Diese Naiven, wenn sie alles das hätten,
was er sich errungen und was ihm vom Glücke zugefallen, Reichtum,
Unabhängigkeit, Bildung, Wissen -- sie wären elender als jetzt. Oder
sie wären stumpfsinnige Tiere wie diese Bürgersleute da drinnen. Oder
gab es ein drittes? Gab es ein drittes? Gab es ein ...? Er konnte
es nicht glauben. Ja wenn er glauben könnte! An die Zukunft glauben.
An eine Bestimmung des Menschen, an einen Zweck, an einen Sinn ...
aber so, alles dumm und zwecklos und so, freudlos und lächerlich.
Werdet wie die Kinder. Dann werdet ihr glauben und das Leben genießen,
solange ihr lebt, und das Paradies der Menschheit erobern. Hatte er
nicht so gesagt? Und _warum_ genießen, nochmals und immer wieder? Ich
kann nicht genießen, denn ich frage; und wenn ich nicht mehr frage
und mich aufbäume und forsche und grüble und schließlich verzweifle:
bin ich dann nicht ein Tier? -- Und warum willst du kein Tier sein?
Ein heiteres, herrliches Wesen, strotzend von Fülle und Kraft und
Übermut und Verwegenheit, immer in neue Tiefen sich hinabstürzend
und sich wieder emporschwingend zu himmlisch-reinen Ätherfernen und
Glockentönen? Fragend genießen, genießend fragen; in der Erde wurzeln
und hinaufragen mit dem Götterleib zur reinen Höhe, das wäre doch
schön, schön? Ja das wäre schön! Also doch -- arbeiten? Arbeiten für
ein Ziel, hinaufstreben, aufklären, predigen, veredeln? Kämpfen?
Mitstreiter suchen? Und finden? Genossen? Wo? Sozial ... demokraten?
Ja? Ob das nicht am Ende die rechten Menschen für ihn waren? Sie
schienen ein Ziel zu haben, ein festes, unverrückbares, sie wollten
etwas; und war es nicht schön und groß, was sie wollten? Und war es
nicht möglich? O, aber es mußte ja möglich sein, wenn das Leben einen
Sinn haben sollte. Und es mußte doch einen Sinn haben, da er leben
wollte und sich freuen wollte und hoffen wollte? Und wenn der Mensch
etwas denken konnte und wollen konnte, dann war es doch auch erfüllbar?
Freilich leugneten das die Philosophen; aber sollte es nicht eben
darum --? Alles Vernünftige ist möglich; sonst ist das Vernünftige
wahrhaftig sehr unvernünftig. Also -- versuchen wir es zum mindesten.
Her mit dir, du meine Vernunft, und du, mein Leben! Wir wollen euch
noch einmal erproben. Hierhin stell dich, Vernunft, und hier gegenüber,
du Leben. Wenn ihr nicht zusammenkommt, solange ich euch beobachte,
dann werf’ ich euch beide ins Wasser; da könnt ihr zusammen ersaufen
und krepieren. Und das Beobachterlein geht dann schon von selber
mit ein ins Reich des Todes. Also: ich beginne. Ich will versuchen.
Die Sozialdemokraten, die muß ich kennen lernen. Am Ende werde ich
selber einer. Sie werden mich brauchen können. So wäre dann der Kreis
glücklich vollendet. Die Höhe hat die Tiefe wieder getroffen und
verbindet sich mit ihr. Man wendet sich solange vom Leben ab, bis man
ein neues beginnt. Vom Leben mit Ekel! War es denn nicht nur _dieses_
Leben, unter diesen Umständen, in diesen Verhältnissen? Und all mein
Denken, und all mein Ekel und meine Verzweiflung -- nur eine Frucht
meiner Umgebung und meiner Zeit? Neue Verhältnisse schaffen? Fort mit
der allgemeinen, unklaren, dem Einzelnen feindlichen Philosophie? Lebe
die Nationalökonomie und die Geschichte und die Naturwissenschaft?
Sozialdemokrat werden? Einrichtungen bekämpfen und nicht mehr den
Menschen an sich? Verhältnisse aufheben und nicht mehr sich selber?
Wissen und nicht mehr ahnen? Glauben und nicht mehr verzweifeln?
Freude und nicht mehr dumpfer Schmerz? Leben und nicht mehr Tod?
Sozialdemokrat werden? Sozialdemokrat sein?

Hierher kehrte sein Denken immer wieder zurück und hier blieb sein
Denken stehen. Damit legte er sich ins Bett, damit schlief er ein und
damit wachte er wieder auf.

Als er ein paar Tage später sich aufmachte, um einer Versammlung
beizuwohnen, die der sozialdemokratische Leseklub »Menschheit«
einberufen hatte, war sein ganzes Wesen nichts als Willfährigkeit und
fruchtbarer Boden. Er hatte keinen neuen Entschluß gefaßt, er hatte
über die Sache noch nicht tiefer nachgedacht, er hatte nichts studiert
über soziale Zustände und materialistische Geschichtsauffassung,
aber er war in ahnungsvoller Bereitschaft, sich in etwas Neues
hineinzustürzen mit dem ganzen leidenschaftlichen Feuer, das sich
in ihm die Zeit über angesammelt. Menschen zu finden, denen er sich
anschließen, die er leiten konnte, Genossen haben im Streit und im Ziel!

Als er kurz nach 8 Uhr in das Lokal trat, war der große Saal noch
ziemlich leer. Erst nach einer halben Stunde etwa kamen Gruppen
von Arbeitern und setzten sich an die Tische. Als kurz nach 9 Uhr
die Versammlung eröffnet wurde, war der Saal überfüllt, überall an
den Wänden und zwischen den Tischen standen noch Menschen. Frauen
waren ganz vereinzelt zu sehen. Starkblom saß an einem Tisch etwa
in der Mitte des Saales, wohl der einzige Fremde unter mehr als
tausend Arbeitern. Nur kurz vor Eröffnung der Versammlung waren zwei
feingekleidete junge Herren gekommen, offenbar Kaufleute mit ausgeprägt
jüdischem Typus und waren prüfend und unsicher im Saale hin und her
gegangen. Dann sagte der eine zum andern: Komm, Nathan, wir wollen
gehen, es ist ja kein rechter Mensch da. Ein Arbeiter, der in der Nähe
stand, drehte sich ruhig um, packte den einen links und den andern
rechts hinten am Kragen, schob sie zur Thüre und warf sie mit einem
tüchtigen Stoß hinaus. Starkblom, der die Szene beobachtet hatte,
lachte herzlich und nickte dem jungen Mann, als er wieder vorbeikam,
freundlich zu. Der setzte sich zu ihm an den Tisch, und unterhielt
sich mit ihm über politische und naturwissenschaftliche Dinge. Es war
seit langer, langer Zeit das erste Gespräch, das Starkblom mit innerem
Anteil und mit Genuß führte.

Nun erhielt der Referent das Wort; er sollte über das Thema: »Wie
stellen wir uns zu den Wahlen?« sprechen. Er war noch ein junger
Mensch, wohl höchstens 26 Jahre alt, der vor Kurzem in Berlin zuerst
in der Öffentlichkeit aufgetreten war und von Stadt zu Stadt zog,
um für seine Ansichten zu agitieren und die Arbeitermassen zu neuer
Begeisterung, neuem Zielbewußtsein und neuer Energie aufzurütteln.

Genossen, die Reichstagswahlen stehen vor der Thür, so begann auch er
gleich den unzähligen Aufrufen und Reden, die in diesen Tagen überall
in Deutschland in die Massen geworfen wurden. Aber nur zum Spotte. Denn
er fuhr gleich fort: Was gehen uns diese Wahlen an? Sollen wir den
Volksverführern, die auf unsere Dummheit und auf die Aufregung dieser
Zeit spekulieren, glauben, daß von dem Stimmzettel, den wir in die Urne
werfen, von dem Abgeordneten, den wir nach Berlin schicken, unser Wohl
und Wehe abhängt? Sollen wir glauben, daß wir Arbeiter einen Vertreter
brauchen, um zu erreichen, was wir wollen? Nein, sage ich, falsch ist
diese Ansicht, wir wollen uns selber helfen.

Falsch ist die Meinung, das allgemeine gleiche direkte Wahlrecht, das
man uns vor einigen Jahrzehnten gegeben hat, sei ein Zugeständnis der
Regierung an die sogenannte Souveränität des Volkes. Im Gegenteil,
es war ein überaus schlaues Mittel, um durch alle Künste der Lüge und
der Verführung, mit Hilfe der unverständigen Masse, die revolutionäre
Bewegung der freien Geister zu lähmen und durch scheinbare Beteiligung
an der politischen Macht ehrgeizige Demagogen, die sich als Vertreter
des Volkes aufspielen, zu ködern und zu glatten parlamentarischen
Regierungsspießgesellen zu machen.

Ist es nicht überaus bezeichnend, daß es üblich geworden ist, unter
parlamentarischem Ton eine gewisse aalglatte, höfliche, heuchlerische,
durch und durch verlogene Manier zu reden und aufzutreten zu verstehen?
Ist es nicht bedenklich, daß in allen Parlamenten die feinen,
schwächlichen, sogenannt aristokratischen Leute, die nichts ihr eigen
nennen als ihre geläufige alle Unebenheiten und Derbheiten vermeidende
Zunge, daß diese überall die Hauptrolle spielen? Ja, _wenn_ es so wäre,
wie man uns vorzuspiegeln sucht auch von Seiten solcher, die es ehrlich
mit uns meinen, wenn das Parlament die Heimstätte des freien Wortes
wäre, wenn hier, wo man ungestraft sagen darf, was man für gut hält,
in allen Fragen, in denen der Religion, der Nationalität, der Rasse,
des sozialen Lebens, der Moral, in allen Fragen wie gesagt, wenn da
Männer aufträten mit dem Mute ihrer Überzeugung, und das mit ihrer
feurigen Beredsamkeit verträten, was wir denken oder wenigstens unklar
fühlen, was wir aber nicht sagen dürfen, weil das sogenannte »Gesetz«
es verbietet -- dann hätten wir nichts gegen das Parlament, obwohl es
auch dann noch lange nicht _die_ Bedeutung hätte, die viele ihm jetzt
schon zuschreiben. Aber wo in aller Welt ist es denn so? Fürchten
sich denn nicht im Gegenteil unsere Vertreter vor dem Ordnungsruf
des Präsidenten oder vor dem Spotte der andern Abgeordneten, ihrer
geschätzten Kollegen, mehr als vor dem Strafrichter? Sprechen nicht
auch diese Herren, wenn sie mitten unter uns stehen, wenn sie das
Echo vernehmen, das aus unserer Masse zu ihnen emporschwillt, freier,
mutiger, wahrhafter als dort? Oder -- lügen sie da mit ihrem freien Ton
ebenso sehr wie dort mit ihrem feinen? Dann wehe diesen Vertretern und
Führern! Dann sind wir verraten und verkauft!

Der sogenannte konstitutionelle Staat bedeutet eine Einigung,
ein Kompromiß der feudalen, mittelalterlichen Regierung, des
Junkertums, des Königtums von Gottes Gnaden auf der einen Seite mit
der bürgerlichen Gesellschaft auf der andern. Wohl ist es wahr,
solange dieser Kampf zwischen der bürgerlichen und der feudalen Welt
ausgefochten wurde, war unser Platz auf der Seite der Bourgeoisie;
damals waren wir noch zu schwach, um gegen beide zugleich anzukämpfen
oder als lachende Dritte zuzusehen, wie sie mit einander stritten.
Heute aber ist dieser Kampf überhaupt nur noch ein Scheinkampf, heute
kämpft nicht mehr eine Lebensauffassung gegen eine andere, sondern nur
ein Interesse gegen ein anderes. Nur wir, die wir stark sind in unserer
Gemeinschaft, wir haben eine neue Lebensauffassung, wir müssen mehr und
mehr unsere Gegner gegen uns vereinen, indem wir sie beide bekämpfen.
Wir lassen ihnen ihren Staat und ihre kapitalistischen Einrichtungen
und ihre Kirche und ihr Parlament -- wir stehen außen, und wo wir
noch nicht außen stehen, wo uns die Not zwingt, ihnen Frondienst zu
leisten, bei der Arbeit um des Lohnes willen, da werden wir auch einmal
aufhören, aufhören mit einem Mal, dann, wann es uns beliebt, wann der
rechte Zeitpunkt gekommen ist.

Hier wurde der Redner, der sich in ein lebhaftes Feuer hineingeredet
hatte und seine Worte mit starken Bewegungen seiner Arme und seines
Kopfes begleitete, durch lebhaften Beifall unterbrochen. Starkblom
horchte hoch auf. Da war er am richtigen Fleck. Aufhören mit der
Arbeit, wann es beliebt. Das war seine Sache. Freilich -- es war alles
in anderm Zusammenhang. Nichts im Gegensatz zum Leben, alles vielmehr
um des Lebens willen, für das vernünftige Leben. Das war es, was diesen
Männern allen so felsenfest sicher stand: es gab eine Vernunft im
Leben, es gab eine Zukunft, es gab Freude und Lebenszweck, man hatte
ein Interesse an der Welt, auch an den Nachkommen, man handelte und
brachte Opfer für eine Sache, an die man glaubte, für ein Ziel, auch
wenn man es nicht erlebte. Das war es, das war es, wonach er sich
gesehnt, so heiß gesehnt mit all seinem Sinnen -- diese Männer hatten
es, sie wußten wofür sie lebten, ja wofür sie starben. Und Starkblom
bemühte sich, die Zweifel, die sich ungeordnet von allen Seiten her in
ihm aufbäumen wollten, zu vernichten. Er wollte nicht mehr unglücklich
sein, er wollte mitmachen und er konnte es. Er ließ sich hinreißen --
gleichviel wohin.

Der Redner hatte indessen einen Schluck Bier getrunken und fing nun
wieder an.

Die Frage, was uns die Wahlen angehen, erweitert sich zu der Frage:
Was geht uns die Politik an? Sind wir, wie es vorgegeben wird, eine
politische Partei oder sind wir etwas anderes, etwas größeres? Was
ist denn Politik? Staatskunst nennt man sie zu deutsch, und das ist
richtig. Ohne Staat giebt es keine Diplomatie und kein Parlament und
keine Politik. Was aber in Dreiteufelsnamen geht uns der Staat an, der
Gehilfe der heutigen Gesellschaftsordnung? Falsch ist die Meinung, wir
könnten uns durch ein Hinterthürchen einschleichen in den heutigen
Staat und könnten auf diese Weise unser Ziel erreichen. Falsch ist die
Ansicht, dieses Hinterthürchen, der Parlamentarismus, sei aus Versehen
offen geblieben, oder aus Not; im Gegenteil, sperrangelweit haben es
die heutigen Machthaber geöffnet, um uns zu ködern und uns zu sanften
Regierungsschafen und Staatseseln zu erziehen, und groß ist die Gefahr,
sie könnten ihr Ziel erreichen.

Genossen, wir sind _keine_ politische Partei; wir wollen keine Gesetze
machen, um die Ordnung herzustellen im Interessenkampf und um die
Schwachen zu unterdrücken und die Reichen zu sichern; wir wollen
_nicht_ flicken an der heutigen Welt, um sie erträglicher zu machen,
nein, ich sage es offen, wir _wollen_ sie unerträglich machen, um
sie rascher ihrem Tod entgegenzutreiben. Wir kennen keinen Gegensatz
zwischen den einzelnen Nationen, wir sind heute alle eins als
Proletarier im Kampf gegen das Kapital, und wollen, daß alle Menschen
eins werden als Menschen, als Individuen im Kampf gegen feindliche
Naturkräfte, im Streit für den Fortschritt und die Kultur! Nochmals und
immer wieder: wir _wollen_ uns nicht beteiligen, wir _wollen_ abseits
stehen, wir wollen die heutige Gesellschaft allein lassen, und wenn es
an der Zeit ist, im Stiche lassen.

Um das zu erreichen, wenden wir uns vor allem aufklärend an den
einzelnen Menschen. Wir sagen ihm: siehe, mein Bruder, es giebt für
dich keine Pflicht gegen den Staat oder die sogenannte Gesamtheit, es
giebt auch keine Pflicht gegen Gott, das alles hat man dir vorgelogen
und anerzogen. Wie du zu handeln und was du zu glauben hast, darüber
hast du dich einzig mit deiner Vernunft auseinanderzusetzen. Und
dafür ist gesorgt durch die gemeinsame Abstammung aller Menschen, daß
sie trotz aller Ungleichheiten und Differenzen nur _eine_ Vernunft
haben, und daß ein normaler Geist das Größte zu _erfassen_ wenigstens
im Stande ist, was der Fortgeschrittenste, der Höchststehende,
der Genialste, gefunden und entdeckt hat. Freilich, einen Wust
von Aberglauben und Unsinn und Lüge müssen wir vorher wegräumen,
das kapitalistische Denken ist auch dem Arbeiter nur allzu sehr
aufgepfropft worden, aber glücklicher Weise verträgt es sich auf die
Dauer nicht mit seinen Interessen und daher kommt es, daß die Masse der
Arbeiter sehr wohl Verständnis hat für jede neue große Idee. Das gilt
nicht für den Bourgeois -- ihm kann man Vernunft predigen so lange man
will, der Durchschnittsbourgeois _kann_ uns nicht recht geben, selbst
wenn er ehrlich ist. Soll ein Bourgeois sich überzeugen lassen von
einer Idee, die einer neuen Weltanschauung angehört, dann muß er ein
freier Mensch sein, der sich zu erheben versteht über die Interessen
seiner eigenen Klasse. Und derer sind wenige.

Wer aber unter uns Arbeitern versteht es nicht, wenn ich ihm sage:
du zahlst Steuern, du bist Soldat, du arbeitest in der Fabrik, nicht
weil es dein Wille ist, sondern weil du mußt, weil du geknechtet bist,
weil vorerst die dich knechten, noch die Stärkeren sind. Du kannst,
auch du Einzelner kannst es, du kannst aufhören zu arbeiten, wenn du
nur willst, aber du wirst verhungern, du kannst dich aufbäumen gegen
Staatsgesetze und Moralgesetze, die dich nichts angehen, aber du
wirst dann deiner Freiheit beraubt, wenn nicht getötet, und das von
Rechtswegen -- denn Recht ist Macht. Du kannst alles, was du thust,
lassen, wenn es nicht dein Wille ist; aber unter der Knechtschaft,
unter der du stehst, kannst du nicht thun, was du willst. Du kannst
deinen heißen Bildungstrieb nicht befriedigen, du kannst dir kein
menschenwürdiges Dasein schaffen, du kannst nicht aus der Welt
schaffen, wovor dir ekelt, nicht die Schwindelgeschäfte, nicht die
Börse, nicht die Prostitution, nicht lügnerisches Pfaffentum und
Beamtentum, nicht verkehrte, geistverstümmelnde Jugenderziehung.
Kurz, du kannst nicht leben wie du willst, du mußt leben, wie es
die Verhältnisse wollen, die aufrecht erhalten und verteidigt und
idealisiert werden von der heutigen bürgerlichen Gesellschaft.

Unter diesen Umständen giebt es nur _ein_ Mittel. Wir alle, die
wir unter diesen Verhältnissen leiden, thun uns zusammen zu einer
kämpfenden Gemeinschaft. Wir wollen nicht aufhören Vernunft zu
lehren und die Massen aufzuklären, bis wir es erreicht haben, daß
die Proletarier aller Länder sich vereinigt haben, um zu stürzen die
kapitalistische Weltanschauung und einzurichten die sozialistische.
Organisieren wir uns in den Gewerkschaften, werbet überall, in den
Fabriksälen, auf den Straßen und öffentlichen Plätzen, in der Familie,
in großen Versammlungen. Ist diese freie Organisation stark genug, dann
kann jede einzelne Gruppe im Kampf um die vorläufige Besserung der
Lebensbedingungen, um Verkürzung der Arbeitszeit, um Erhöhung des Lohns
auf die Unterstützung aller andern rechnen und dem Kapital die Spitze
bieten. Dann kann jede einzelne Gruppe schon vorläufig der bürgerlichen
Gesellschaft kündigen, sei es auch nur um zu zeigen was kommen wird.
Und diese unsre Kampforganisation muß schon ein Abbild sein der
zukünftigen Gesellschaft. Da tritt jeder ein mit Gut und Blut für den
andern, für die gemeinsame Sache; einer für alle; alle für einen.

Darum rufe ich euch zu: Genossen, wählt nicht zum Reichstag! Wählt
keinen Vertreter, der für euch kämpfen soll durch Parlamentsreden.
Das Wort ist nicht da zum Kampf, sondern zur Belehrung, und für den
Kampf giebt es keine Vertretung. Kämpft selbst, Proletarier, nicht mit
der Zunge, kämpft mit eurer ganzen Person, kämpft da, wo der Kampf
ausgefochten werden muß, auf dem Boden der _Arbeit_, und da könnt ihr
nicht _allein_ kämpfen, sondern nur alle zusammen festgeschlossen und
einig. Vereinigt euch, Proletarier klärt auf, Genossen, werbet für
unsere Idee, der Sieg wird unser sein!

Wieder ertönten starkes Händeklatschen und lebhafte Rufe der
Zustimmung, durch die nur ein ganz vereinzeltes: »ganz unrichtig«;
kaum dringen konnte. Die Diskussion wurde nun eröffnet und ein
Arbeiter nach dem andern trat vor, um mehr oder weniger geläufig seine
Zustimmung zu dem Gehörten auszusprechen und nunmehr Ergänzendes
beizubringen, indem hauptsächlich gegen die einzelnen Volksvertreter
schwere Vorwürfe erhoben wurden. Nachdem nun noch der Gegner, der sich
vorhin bemerkbar gemacht, zu Wort gekommen war, um außerordentlich
fließend in ununterbrochener Rede zu sagen, wie ungerecht die Vorwürfe
seien, wie großes Verdienst sich die Führer um die Sache erworben, wie
vortrefflich die Parlamentswahlen und das Parlament selbst sich zur
Agitation eigneten, wie auch manches auf diesem Wege für die Arbeiter
herauszuschlagen sei, -- erhielt der Referent noch einmal das Wort, um
das Ergebnis der Diskussion zusammenzufassen.

Gesinnungsgenossen, so begann der Redner, für ganz unrichtig muß ich
es halten, wenn der Herr Vorredner gemeint hat, die Bourgeoisie, d. h.
ihre Vertretung, das Parlament, habe uns Konzessionen gemacht, weil
wir eine in Betracht kommende Anzahl Abgeordnete ins Parlament gesandt
hätten. Keineswegs, sage ich. Diese Konzessionen sind gemacht worden
(übrigens kann man ja bisher kaum schon von solchen reden, aber ich
gebe zu, es werden noch solche gemacht werden) weil die Bewegung in den
Massen zu groß geworden ist und zu gefährlich, weil etwas gethan werden
mußte, um den Anschein zu erregen, die herrschende Klasse sei sich der
Ungerechtigkeit unserer Zustände bewußt und wolle abhelfen. Wieviel
stärker und energischer aber wäre heute schon die sozialistische
Bewegung, wenn unsere Agitation nicht nur Wahlagitation gewesen wäre,
wenn wir von vornherein uns im Gegensatz zum Parlament gestellt hätten.
Ich behaupte, die Herren im Reichstag und am grünen Tisch hätten
ein ganz anderes Gruseln verspürt und hätten viel entschiedenere
Konzessionen gemacht, wenn niemals ein Sozialist ihren Sitzungssaal
betreten hätte, wenn sie ganz allein unter sich geblieben wären und
nur die drohenden Stimmen gehört hätten, die lauter und lauter von
außen eingedrungen wären, von dem arbeitenden Volk, das nichts mit
ihnen gemein haben will. Was aber kümmern sich die Herren jetzt darum,
wenn ihnen ein glatter Redner zwei Stunden lang möglichst maßvoll dies
oder jenes auseinandersetzt und immer Rücksicht darauf nimmt, daß er
nicht zuviel von den Herren verlangt? Und wie ganz anders aufreizend
hätten die Reichstagsverhandlungen gewirkt, wenn die Herren Bourgeois
unter sich geblieben wären, wenn sie die Zeit vertrödelt hätten mit
ihrem einsichtslosen und thörichten Geschwätz, mit ihrem unsinnigen
tagelangen Streit über Formalien und Lappalien, während draußen die
Arbeiter sich fester und fester zusammenschließen zum Kampf ums Brod
(was etwas anderes heißt als die Bekämpfung des Kornzolls), aber auch
um ein hohes Ideal, für die Neugestaltung der Menschheit! Und wenn
dann einmal eine festgeschlossene Kolonne Arbeiter auf der Galerie
erschienen wäre, um dem Geflunker zuzuhören, wenn die Aufregung dann
bis zum Siedepunkt gestiegen wäre, und das Volk anfinge, mitzureden
und den Herren zu sagen, was von ihnen zu halten ist, dann könnte
man sehen, wie die Herren Bourgeois sich vor Angst in alle Winkel
verkröchen. Hat man etwas dem Ähnliches schon einmal erlebt, wenn einer
unserer Abgeordneten gesprochen hat? O nein, man hat ihn höchstens
aufmerksam angehört und hat dann die oratorische Leistung bewundert.
Das muß anders werden. Auf diesem Wege verflacht unsre große Bewegung
mehr und mehr. Hüten wir uns, daß nicht abgespannt wird; hüten wir
uns, daß die Massen nicht anfangen zu ermatten und an unsere Sache
nicht mehr zu glauben. Die Unzufriedenheit, die leidenschaftliche
Begier, unsere Lage zu bessern und von Grundaus zu ändern, darf nicht
schwinden, muß gesteigert werden. Und Aufklärung und Belehrung muß
sich damit fort und fort vereinen. Nehmen wir uns in Acht! Stehen wir
zusammen Mann für Mann! Und vor allem: nicht wählen wollen wir, sondern
protestieren gegen das Wählen!

Mitten unter dem Beifallssturm, der sich wieder erhob, während einige
sich schon zum Weggehen _bereiteten_, indeß die große Masse ruhig
sitzen blieb in der Erwartung, daß zum dritten Punkt der Tagesordnung
»Verschiedenes« nach etwas von Interesse zur Sprache käme, stand
Starkblom auf. Während der letzten halben Stunde hatte ihm der Gedanke:
Du mußt reden, und immer wiederholt das eine Wort: reden, reden, reden
keine Ruhe mehr gelassen. Es fröstelte ihn und dann stand ihm wieder
der Schweiß auf der Stirn und es drückte ihn etwas ohne Unterlaß an
der Kehle, und nun war er aufgestanden, er wußte selbst nicht, um das
Fieber und die Beklemmung von sich zu schütteln oder zu reden.

Nun fragte der Vorsitzende seiner Gewohnheit nach: »Wünscht noch jemand
das Wort? -- Es scheint, daß --« Da streckte Starkblom, wie er es
vorher bei den andern, die sich gemeldet, gesehen hatte, gedankenlos
den Arm in die Höhe und währenddem fuhr es ihm durch den Kopf: Nun
mußt du reden, nun mußt du reden, was wirst du denn sagen, ich weiß ja
gar nichts zu sagen, die Gedanken gehen mir ja aus, jetzt ist es Zeit,
Zeit, Zeit, groß -- bedeutend -- mannhaft -- alles, alles.

»Sie haben das Wort. Bitte rasch; Namen und Wohnung, kommen Sie vor,«
sagte der Vorsitzende sofort.

Starkblom ging vor; er hatte sich gefaßt, aber er konnte nicht
überlegen; meine Herren, meine Herren, ich, meine Herren, ich will,
meine Herren, so wiederholte er in seinem Denken immerfort und fast
mit den Lippen. Aber als er vorn stand, sagte er ganz ruhig zum
Polizeilieutenant, der die Versammlung überwachte, gewendet: Karl
Starkblom, Villa Weißes Haus, Privatmann.

»Sie haben das Wort,« wiederholte der Vorsitzende, während man in
der Versammlung teils aufmerkte, teils durcheinander sprach; man war
begierig, was der feine Herr zu sagen wußte.

Und nun begann Starkblom, und gleich von Anfang an fließend und ruhig
sprechend, nur zwischen den einzelnen Sätzen kurze Pausen machend,
während deren er tief Athem holte, denn eine gewaltige Aufregung in ihm
preßte sich gegen seine Brust.

Meine Herren, es ist richtig, was der erste Redner sagte. Damit sich
einer aus den Reihen der Gebildeten erhebt über den Standpunkt seiner
Umgebung, über das Denken und gewohnheitsmäßige Leben, das ihm von früh
an eingelernt ist, dazu gehört ein freier und ungewöhnlicher Mensch.
Und selbst dann, wenn einer frei ist und von bedeutender Geistesanlage,
selbst dann wird sein Leben sich ganz anders gestalten, wird er zu
ganz andern Resultaten kommen, als Sie wohl annehmen, wenn ihm irgend
welche Zufälligkeiten den Streich spielen, ihn nie zusammenkommen zu
lassen mit den Menschen, deren Denken von Anfang an eine ganz andere
Richtung einschlagen muß als die seine. Ich bin nicht mehr jung, aber
zum ersten Male in meinem Leben stehe ich heute unter Arbeitern. Ich
bin kein Bourgeois in dem Sinne, wie Sie das Wort gebrauchen, wohl aber
bin ich mir selbst nicht bewußt ausgegangen in all meinem Leben und in
all meinem Denken und Empfinden von der heutigen Gesellschaftsordnung,
von der heutigen Sitte und Moral. Über alles, was man mir je angelernt
hat, habe ich mich in langem Ringen und schwerem Kämpfen vollständig
erhoben, nur das eine habe ich bis zu dieser Stunde nie gewußt: daß
es Menschen giebt, die ganz anders empfinden und denken, wie wir da
oben, und daß die Zukunft in den Händen dieser Menschen liegen kann.
Ich habe die ganze Bildung meiner Zeit bewältigt; ich habe all das
Leben und Treiben dieser Erde beobachtet; ich habe geschaut, wie die
Menschen dies und das treiben und sich doch stoßen lassen von jeglichem
Zufall, daß sie kein Ziel haben und keine Reflexion, und ich habe mich
mit Ekel abgewandt von dem Menschengeschlechte, das nicht weiß, wofür
es lebt und -- noch schlimmer -- es gar nicht wissen will. Und ich
war nahe daran, selbst wegzugehen vom Menschendasein, weil ich trotz
allem Grübeln und verzweiflungsvollen Forschen nicht finden konnte,
wofür ich lebe. Ich habe den Mut gehabt, in meinem Denken wenigstens
die Konsequenz zu ziehen aus meinem Leben, und das ist die Konsequenz
eines jeden aus meinem Gesellschaftskreise. Diese Konsequenz heißt:
Selbstmord.

Heute aber kann ich sagen: ja, jawohl, die bürgerliche Welt ist dem
Tode verfallen, aber aus ihren Trümmern, das hoffe ich mit Ihnen und
daran will ich mich anklammern, wird auferstehen die sozialistische
Gesellschaft, eine neue Welt.

Hier löste sich die Spannung, mit der die große Versammlung bisher
in vollkommener Ruhe zugehört hatte, in ein vielstimmiges und
gleichzeitiges Bravo auf. Starkblom fuhr sich leicht über die Stirn
und holte tief Athem; dann sprach er weiter, nunmehr lebhafter und
freudiger, wie getragen von der Sympathie der Versammlung.

Ja, meine Herren, heute ist es mir endgiltig klar geworden, und darauf
baue ich: nicht der Mensch als solcher oder gar die Welt an sich ist
es, vor der mir ekelt in tiefster Seele, es sind nur die Menschen,
unter denen ich aufgewachsen bin, mit denen ich mein ganzes Leben
verbracht habe; es sind nur die Zustände, die heute herrschen und die
sich von Geschlecht zu Geschlecht überliefern, weil jedes Kind von
neuem gedankenlos hereingezogen wird in den alten Kreis verrotteter
Gewohnheit. Ein Kind aber kenne ich, das noch nicht zugrunde gerichtet
worden ist von diesen Einrichtungen, ein Feld, das noch nicht gejätet
worden ist mit dem Pfluge einer alten Moral und das bereit liegt
zu neuem Samen; eine Wolke, die sich noch nicht ausgeschüttet hat,
sondern voll ist von neuem fruchtbarem Regen; ein Rad, dessen Felgen
noch nicht zerbrochen sind, sondern das erst beginnen will zu rollen,
wer weiß wohin? ... Ich meine die Arbeiterklasse. Die Bildung, mit
denen man unser Hirn vollgepfropft hat, haben Sie nicht genossen, und
dadurch haben Sie Platz gehabt für eine neue Idee, dadurch sind Sie
berufen, der alten morschen Gesellschaft den Todesstoß zu geben und
sie abzulösen, und mit Vernunft da zu beginnen, wo die Unvernunft das
Ende ihrer Entwickelung erreicht hat. Unsere thörichte bürgerliche
Gesellschaft glaubte dem Volk einen gewissen Grad von Wissen und
Aufklärung zukommen lassen zu dürfen, und die Geister, die sie so
beschworen, die werden sie nicht mehr los. Die heutige Gesellschaft
hätte aufrecht erhalten werden können, wenn die Arbeiter systematisch
zu Haustieren, noch schlimmer, zu Fabriktieren gemacht worden wären;
aber da man in sentimentaler Duselei mit einer Reminiszenz an die
Menschenrechte der französischen Revolution davor zurückschreckte
und ihnen mit Halbheiten den Geist stopfen wollte, siehe da wurde der
Mensch in ihnen wach, und schneller, als jene es geahnt, erwächst die
neue große Revolution, die viel, viel gewaltiger werden wird als die
sogenannte große Revolution der Bourgeois. Einen neuen Glauben haben
die Arbeiter, einen Glauben an sich und an die Zukunft der Menschheit.
Die bürgerliche Gesellschaft aber hat keinen Glauben, keinen neuen und
keinen alten; sie verzweifelt an sich selbst, wo sie nicht gedankenlos
dahinvegetirt und selbst zum Tier geworden ist. Die soziale Revolution
wird siegen!

Da brach gewaltiger Beifall los. Starkblom fühlte, dies sei für die
Empfindung seiner Zuhörer das Ende seiner Rede, und obwohl er noch
lange weiter hätte sprechen können, fügte er nur noch hinzu, laut durch
das Getöse rufend:

Zu Ihnen flüchtet sich von den Gebildeten, wer an der Zukunft der
bürgerlichen Gesellschaft verzweifelt und doch eine starke Ahnung hat,
damit sei die Menschheit noch nicht an ihrem Ziele. Nehmen Sie mich auf
in Ihren Reihen. Unser Wille ist derselbe: die vernünftige Gestaltung
des menschlichen Lebens!

Starkblom wollte rasch von der Tribüne heruntergehen, um so schnell
als möglich nach Hause zu kommen, fort aus diesem Saale in die freie
Luft. Wie hätte er jetzt noch ein einziges Wort sprechen können. Aber
der Vorsitzende, neben dem er stand, tippte ihn leicht auf die Schulter
und sagte: »Herzlichen Dank, Herr Starkblom. Es würde mich sehr freuen,
wenn Sie etwas warten wollten; die Versammlung ist ja jetzt doch wohl
zu Ende. Hätten Sie die Güte?«

Starkblom drückte ihm die Hand. »Gewiß, sehr gern.«

Während dieses kurzen Gesprächs hatte sich unten im Saale schon alles
erhoben und lief durcheinander dem Ausgang zu. Nur der Form zuliebe
fragte der Vorsitzende: Wünscht noch jemand das Wort? und fügte dann
gleich hinzu: Dann schließe ich die Versammlung. Sofort begannen einige
Stimmen mit dem kräftigen Gesang der Arbeitermarseillaise: »Wohlauf,
wer Recht und Wahrheit achtet,« und immer zahlreicher fielen die
Anwesenden ein in den Chor, während alles langsam zum Ausgang drängte.
Nur einige wenige strebten gegen die Masse nach vorn, und schließlich
standen, während der Saal schon fast leer war, sieben Männer um
Starkblom, ihm abwechselnd die Hand reichend und durcheinander auf ihn
einredend. Er nickte nur nach allen Seiten und sagte: Jaja -- jawohl
-- ganz richtig -- aber bitte sehr. -- Er hörte nicht, was die andern
sagten und wußte nicht, was er selbst sprach. So hätte er wohl noch
Stunden lang dastehen können und seine erregte Freude auf- und abwogen
lassen. Aber der Mann, der den Vorsitz geführt hatte, rüttelte ihn
auf, indem er den Vorschlag machte, sich an einen Tisch zu setzen und
noch ein Glas Bier zu trinken. Es geschah so, und bald war Starkblom
in ein Gespräch verwickelt mit seinen Nachbarn, erst über ziemlich
gleichgiltige Gegenstände, über die Arbeitsverhältnisse hier am Ort
und über das bisherige Leben Starkbloms nach außen. Bald aber wurden
sie hereingezogen in das Gespräch, das indessen auf der andern Seite
des Tisches geführt wurde. Man sprach über die Zustände und Spaltungen
in der deutschen sozialdemokratischen Partei. Starkblom erfuhr da, daß
durchaus nicht überall die prinzipienfeste, revolutionäre Richtung
einen so großen Anhang habe wie hier; an andern Orten begnügten sich
die Massen vielfach mit großen Schlagworten und überließen im übrigen
alles ihren vergötterten Führern.

»Ja aber diese Führer«, fragte Starkblom erstaunt, »können denn
diese wirklich glauben, es scheinen doch überaus vernünftige und
begeisterte Leute zu sein, daß durch althergebrachtes Politisieren und
Parlamentieren das große Ziel erreicht werden könne? Das ist doch ganz
undenkbar.«

»Das will ich Ihnen erklären«, antwortete ihm Mathias Buvolski, der
vorhin das Referat über die Wahlen gehalten hatte. »Die Herren sind
überschlau, das ist ihr Verderben, hoffentlich nicht das unsere.
Sie glauben gar nicht recht an die Kraft der Bewegung und vor allem
nicht an die Macht der Aufklärung. Sie halten große Reden von der
wirtschaftlichen Entwicklung, und daß die sozialistische Gesellschaft
sich ganz von selber mache; man brauche gar nicht eingreifen und sich
nicht in Gefahr bringen. Aber sie wollen die Macht nicht aus den Händen
geben, sie erwarten irgend etwas ganz besonderes, irgend einen großen
Zufall, am liebsten eine Revolution von oben, einen Verfassungsbruch
der Regierung und da wollen sie zuwarten. Und damit die Bewegung
inzwischen nicht stillsteht oder gar ins Nichts zerrinnt, wenden sie
künstliche Mittel an, um das Interesse wach zu erhalten. Da wird also
ein großer Entrüstungssturm in ganz Deutschland gegen die Kornzölle
erregt, nur damit überall Massenversammlungen stattfinden. --«

»Was?« unterbrach ihn Starkblom. »Genau dasselbe hörte ich ja vor ein
paar Tagen bei den Freisinnigen?«

»Allerdings, aber das thut nichts; bei uns zieht’s mehr. Und aus
demselben Grunde muß gewählt werden und müssen die Abgeordneten Reden
über Reden halten und Anträge über Anträge stellen. Alle paar Wochen
taucht dann wieder ein neues Projekt auf, irgend ein Detailvorschlag,
der der Masse imponiert, Verstaatlichung der Apotheken, der Ärzte, des
Getreidehandels ... Die Bewegung darf nicht einschlafen, das ist alles.
Aber gethan wird nichts, es giebt keine ernstliche Aufklärung, nicht
im Wort und nicht in der Schrift, die Provinzzeitungen sind miserabel,
die Brochüren zu teuer, die Führer sitzen im Reichstag und haben keine
Zeit zur Belehrung des Volks ... Sie machen von sich reden und halten
sich obenauf, um, wenn die rechte Zeit von ungefähr kommt, die Macht
in der Hand zu haben. Drum sind sie auch keineswegs unter sich einig,
immerfort Zänkereien und Eifersucht.«

»Was reden wir da?« sagte Starkblom. »Das sind ja ganz gewöhnliche
Menschen, nicht unbegabt, aber gewöhnlich. Aber was gehn uns Personen
an? Im Sozialismus steckt Tieferes, als seine heutigen Verkünder wohl
ahnen. Was gehen uns diese Kleinlichkeiten an, wo es sich um die
Zukunft der Menschheit handelt?«

Die andern hörten aufmerksam zu, Buvolski aber sagte: »Sie haben heute
Abend schön und herzlich und feierlich gesprochen. Ich habe noch
niemanden getroffen, glaube ich, der so sein Alles daran setzt, um das
was er denkt, auch zur Wirklichkeit zu machen. Nicht wahr, Sie glauben
felsenfest an die Macht der Vernunft?«

Starkblom fühlte wie er blaß wurde. Es lief ihm kalt über den Rücken.
Wenn, wenn, wenn ... Nein. Er schüttelte sich. Nichts mehr von den
alten Dingen. Er wollte nicht mehr. Es war entschieden. Ja, er glaubte.

Erst nach einer Pause, während der alle gespannt nach ihm blickten,
antwortete er langsam:

»Viel gefragt. Ich glaube, daß ich nicht einzig bin.«

»Offen gestanden, ich verstehe nicht recht. Wie meinen Sie das?«

»Ich bin ein Teil der Welt, ein winziger Teil; ein einsamer,
versprengter Teil, es ist wahr. Daß _ich_ vernünftig bin, das weiß ich
sicher; und was ich glaube, das ist das, daß ich mich nicht soweit
über die andere Welt erhoben habe, daß sie mir nicht mehr nachfolgen
kann. Man kann viel, wenn man will; und der Wille kann erweckt werden.
Der Geist des Menschen ist so eingerichtet, daß, wenn einer allen
Schmerz und alle Verzweiflung eines ganzen Lebens dazu gebraucht hat,
um _eines_ zu erreichen und daran festzuhalten, daß er allen anderen
diese Not ersparen kann, indem er ihnen das fertige Ergebnis seines
Lebens begreiflich macht. In diesem Sinne ist jeder bedeutende Mensch
ein Heiland, der die Schmerzen der ganzen Welt auf sich nimmt und sich
kreuzigen läßt, um die Welt zu erlösen. -- Wo wohnen Sie? Bitte wollen
Sie mir Ihre Adresse angeben?«

Alle schauten ihn verwundert an. Er aber stand auf.

»Ich kann nicht länger bleiben. Aber wir sind nicht das letzte Mal
zusammen.«

Buvolski sagte ihm, wo er wohne, Starkblom bat die Männer, ihn doch
bald zu besuchen, wenn sie Zeit hätten, und nach herzlichem Abschied
ging er.

Er eilte nach Hause. So lange er in den Straßen der Stadt war, ging er
nur sehr rasch und blies die Luft von sich und lächelte vor sich hin
und schwang seinen Stock und schlug ab und zu auf die Steinplatten,
daß die Funken heraussprangen. Sowie er aber auf der Landstraße war,
auf der fester, aber noch weißer Schnee lag, und seine Blicke über
die Felder schweiften, deren unermeßliche Schneedecke im Mondschein
strahlte und glitzerte, fing er an zu rennen, als wollte er mit seinem
Schatten um die Wette laufen. Dabei schrie er laut: Juhu, juhu! Eine
unbeschreibliche, freudige Aufregung hatte sich seiner bemächtigt.
Jetzt dachte er nicht, jetzt grübelte er nicht der Zukunft entgegen,
er hatte etwas in der Gegenwart, worüber er sich freuen konnte, und
gedankenlos wie ein Kind überließ er sich dem Genusse.

Er war schon in der Nähe seiner Villa, als ihm ein hochgewachsenes
Mädchen begegnete. Schon von weitem rief sie ihm zu:

»Na, Ihr seid wohl eben entsprungen?«

Starkblom, der sie sofort verstand, lachte und ging weiter, bis er vor
ihr stand und hielt dann an. Sie dachte an das große Irrenhaus drinn in
der Stadt, in dem Unheilbare aus dem ganzen Lande eingesperrt waren.

»Nun, das gerade nicht«, antwortete er lustig. »Vielleicht bringe ich’s
aber noch so weit. War’s schön heute Abend?«

Er schaute vergnügt dem Mädchen, das sehr hübsch war, ins Gesicht.

»Wie meinen Sie das?« fragte sie etwas verlegen und rückte das Tuch,
das sie auf dem Kopfe trug, zurecht.

»Na, ich denke, ein Mädel ist doch nur aus einem Grund so spät noch
hier außen. Ist er lieb? Meint er’s ehrlich?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie und errötete ein wenig. »Ich hab’ ihn eben
gern.«

»Hast recht, Kind. Das ist genug und erklärt alles. Was ist er denn?«

»Fabrikarbeiter.«

»So? -- Ist er auch Sozialdemokrat?«

»Ich sag Ihnen doch, daß er Fabrikarbeiter ist.«

»Jaso, hast recht.«

»Seit wann sind wir denn per Du?«

»Seit heute, liebes Mädel und nur für heute. Nichts für ungut, aber ich
bin so froh und erhoben, wie nie zuvor.«

»Ich merk’s und es freut mich. Ich hab die lustigen Leute gar gern.«

»Ich war’s schon lange nicht mehr.«

»So?«

»Jaja, schon lange nicht mehr.«

»Jaja, Sie sehen auch recht ernst und traurig aus. Bleibt nur lustig,
’s ist besser.«

»Ich will’s, wenn’s geht. Komm, gieb mir ’nen Kuß.«

»Nein. Oder -- ja, weil’s Sie sind.«

Sie legte die Hände auf seine Schultern und er küßte sie rasch. Dann
gab sie ihm noch einige freiwillig drein, schüttelte seine Hand und
wandte sich zum Gehen.

»Adieu, fröhlicher Herr. Denken Sie nichts schlimmes von mir.«

»Lebwohl, mein schönes Kind, und grüße mir deinen Schatz.«

Dann ging auch er und schnalzte noch ein paar Mal vor Vergnügen mit der
Zunge. Dann schritt er den Berg hinauf, jetzt langsamer, er blieb ein
paar Mal stehen und schaute sich um und ließ seinen Blick schweifen
über Feld und Wald und Fluß, das alles weiß vor ihm lag, und über die
Stadt hin. Er streckte den Arm aus und bewegte die Hand auf und ab, wie
zum Segen oder zum Dank. Auch auf die Landstraße blickte er lächelnd
und gewahrte schon ziemlich weit entfernt einen dunklen Punkt. Noch
einmal brach die Spannung in seiner Brust durch und laut rief er wieder
sein Juh! hinunter. Und leise vernahm er die Antwort des Mädchens:
Hoijohehuhu! Er nickte und lächelte vor sich hin, dann schloß er die
Thür auf und ging hinauf in sein Schlafzimmer und machte Licht. Da
wurde er gleich ernster, er ging noch eine Zeit lang hin und her und
brummte vor sich hin: Jaja, hm, hm, jaja. Dann kleidete er sich aus,
löschte das Licht und legte sich ins Bett. Nach ein paar Minuten war
er eingeschlafen.

       *       *       *       *       *

Von diesem Tage an war Karl Starkblom ein leidenschaftlicher Anhänger
und Verkünder des Sozialismus. Er gewann bald Einfluß auf die Massen,
er schrieb zündende Brochüren, reiste im Lande herum und hielt überall,
in großen öffentlichen Versammlungen, in kleinen Gesellschaften und in
Fachvereinen Vorträge. Er gehörte zu den leidenschaftlichsten Kämpfern
gegen die bürgerliche Gesellschaft -- wenn er auch nicht darauf
verzichten wollte, die vorgeschrittensten Elemente derselben durch die
Mittel vernünftiger Ueberzeugung für seine Sache zu gewinnen. So schien
er ganz aufgegangen in dieser Thätigkeit; er schien zu wissen, wofür er
lebte oder vielmehr gar keine Zeit mehr zum Grübeln zu haben.

Eines Abends aber -- er stand schon seit Monaten mitten in der Bewegung
-- ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges. Freilich, wenn er später
daran dachte, mußte er sich sagen, es kam nicht so ganz plötzlich, es
hatte sich zu verschiedenen Malen angezeigt, immer war es ein jäher
Einfall, der plötzliche Dolchstich eines Zweifels gewann, aber es war
stets sofort wieder gegangen, und er hatte weiter keine Acht darauf.
Schon am ersten Abend, in jener Versammlung war eine Bangigkeit an
ihm heruntergelaufen gleich einem körperlichen Übelsein, und dann
Abends vor dem Einschlafen, und dann später wieder und nochmals
und ein anderes Mal ... aber ohne Zusammenhang ... ein plötzliches
Zurückschaudern ... ein dummer Gedanke, der sich wieder vergaß ...

Diesmal aber überwältigte er ihn. Er hielt vor einer außerordentlich
stark besuchten Versammlung in einer großen Stadt des westlichen
Deutschland einen Vortrag über das Thema: Warum muß der Sozialismus
siegen?

Im Saal war eine fürchterliche Hitze und eine entsetzlich schlechte
Luft; draußen tobte und brüllte der Sturm. Er hatte im ersten Teil
seiner Rede den gegenwärtigen Zustand der menschlichen Gesellschaft
in scharfen Zügen vorgeführt. Seit kurzer Zeit unterließ er es, sich
genau auf seine Reden vorzubereiten; er wollte sich tragen lassen vom
Strom der Gedanken und auch der Worte. So kam es, daß er diesmal in
einen Gedankengang hineinkam, der ihm selbst neu war. Das störte ihn
nicht, er redete geläufig weiter, aber er paßte selbst auf und mußte
allerlei Nebengedanken unterdrücken. Er sprach davon, daß ein großer
Unterschied sei, zwischen dem Kampf für die sozialistische Gesellschaft
als Ideal und diesem Gesellschaftszustand, wenn er erst einmal erreicht
und zur Gewohnheit geworden sei. Das sollte den Uebergang bilden zum
zweiten Teil, der Schilderung der sozialistischen Gesellschaft in
großen Zügen. Aber er kam über den Gedanken nicht weg. Von früherer
Gelegenheit her wußte er, was da am besten zu thun sei. Er sprach
den Satz, an dem er gerade hielt, zu Ende und dann machte er eine
Pause. Dann mußte ihm der neue Gedankengang von selbst kommen. Aber
diesmal geschah es anders. Sowie er ein paar Sekunden gewartet hatte,
kam ihm ein innerliches Lachen und Aufbäumen und ein fürchterlicher
Nebengedanke, den er nicht abschütteln konnte. »Mann gieb’s auf! Es
ist alles falsch! Hat alles keinen Sinn!« Das drehte sich ihm immer
wirbelnd im Kopfe. »Hat alles keinen Sinn! Ist ja ganz falsch! Gieb’s
auf, Mann gieb’s auf!« Er stemmte sich gegen den Tisch. Es mußte ihm
gelingen. »Meine Herren«, fing er gewaltsam an. »Indem ich zum zweiten
Teil meiner Auseinandersetzung schreite.« -- Er verstummte. »Hör’ doch
auf -- du lügst ja -- denke doch erst über das andre nach -- es hat
ja keinen Sinn -- die ganze Geschichte -- was gehen dich denn andre
Menschen an?« Er fuhr mit der Hand durch die Luft. Dann that er einen
unterdrückten Schrei, fuhr mit der Hand nach dem Kopf und sank um.
Die Versammlung ging in großer Aufregung auseinander. Starkblom aber
erwachte bald wieder aus seiner Ohnmacht, fühlte sich zum Verzweifeln
elend und fuhr am nächsten Morgen nach seinem Weißen Hause zurück. Dort
blieb er ganz einsam und ließ lange Zeit nichts mehr von sich hören.
Ein paar Monate darauf aber erschien eine kleine Flugschrift, die in
litterarischen und politischen Kreisen ziemliches Aufsehen machte.
Sie hieß: »Sendschreiben Karl Starkbloms an das Menschengeschlecht.
Zugleich ein Absagebrief an den Sozialismus.«

        ❦




Dritter Abschnitt.

Sendschreiben Karl Starkbloms an das Menschengeschlecht. Zugleich ein
Absagebrief an den Sozialismus.


Jüngst las ich zufällig in einem sozialdemokratischen Provinzblatt
die Notiz, »der bekannte Agitator ~Dr.~ Starkblom scheine von seiner
bedauerlichen Krankheit immer noch nicht hergestellt und könne seine
Thätigkeit vorderhand noch nicht aufnehmen«.

Es ist wahr, die Krankheit, die mich urplötzlich überfallen hat, ich
sollte sagen, _wieder_ überfallen hat, will nicht von mir weichen.
Diese Krankheit hat jetzt sogar epidemischen Charakter angenommen, d.
h. ich fühle die rasende Begier, meine friedlichen Mitmenschen, soweit
sie mir Zutritt zu ihren Gedanken schenken, anzustecken, nur um frei zu
werden von dem quälenden Bewußtsein, andere Leute seien kerngesund und
nur ich sei ausgestoßen aus der schönen Gemeinschaft.

Aber ist es nicht vielleicht gerade umgekehrt? Doch, ich weiß es mit
Bestimmtheit, das Gegenteil ist der Fall. Ihr seid wahnwitzig und ich
-- nun, ich bin vielleicht wahnsinniger als ihr, das ist möglich, aber
ich will euch verführen zu meinem Wahnsinn, damit ich gesund scheine.
Denn Krankheit ist nur ein Gegensatz und ein Ausgestoßensein des
Einzelnen aus der Gemeinschaft.

Und nun zu dem, wovon ich reden will. Ich will sagen, daß der
Sozialismus eine Sache mittelmäßiger und gewöhnlicher Naturen ist, und
ich will solche, die mich verstehen können, von der Genossenschaft der
Genossen abziehen und mir und meiner Lehre verschwistern.

Ich nenne den Sozialismus um deswillen gemein, weil er Voraussetzungen
macht, ohne es sich und andern einzugestehen, obwohl er zur Einsicht
klug und alt genug wäre, und weil er im Banne alter Worte steht und
weil er nicht ein einziges neues Wort gesprochen hat noch je zu
sprechen im Stande ist. Der Sozialismus, gleichwohl er sich eine
neue Weltanschauung zu nennen für gut findet, setzt voraus, es gebe
eine Pflicht des Menschen sich um seinen Nachbarn zu kümmern, es gebe
eine Gemeinschaft der Menschen und der Einzelne habe ein Interesse
an der Zukunft der Menschheit und der Welt. Er begründet diese
wichtigste aller Voraussetzungen niemals mit einem Worte, weil er
gänzlich unter dem Banne einer alten Moral, des jüdisch-christlichen
Sittengesetzes und seiner Variationen, steht und weil er unfähig ist,
die Möglichkeit einer neuen Welt- und Seelenanschauung auch nur zu
ahnen. Der Sozialismus ist nicht Original, sondern er ist nur eine
Folge historischer Reminiscenzen. Wenn er Revolution sagt, meint er
eben das, was man bislang unter Revolution verstanden hat, und er
kennt keine andern Mittel und Wege, als die bisher scheinbar wirksam
gewesen sind. Der Sozialismus ist schamlos, denn er glaubt an sich.
Der Sozialismus ist kindisch, denn er denkt nicht an den Tod. Der
Sozialismus ist erbärmlich, denn er läßt sich von einer abstrakten Idee
beherrschen. Der Sozialismus ist ein armseliges Wesen, denn er kennt
kein reiches Leben. Der Sozialismus ist ein eingebildeter Kranker,
der fortwährend sein Testament macht, anstatt zu tanzen und Lieder zu
singen oder sich tot zu schießen. Und der Sozialismus ist eine Lüge,
denn er redet von der Zukunft, und er ist Aberglaube, denn er nennt
sich eine Wissenschaft.

Man verlangt Beweise von mir. Man verlange sie nicht. Ich will nicht
beweisen. Ich bin keine Anklagebehörde und kein Untersuchungsrichter.
Ich gebe nur meine Eindrücke und mein Erleben wieder. Ich hasse den
schreienden Ton der Unbedingtheit. Aber die Selbstverständlichkeit
liebe ich. Wem viele Dinge selbstverständlich sind, der folge mir nach.
Wer sich die Aufregung und das Für oder Wider mich noch nicht abgewöhnt
hat, der bleibe dahinten. Leute wie mich, sucht man am besten, indem
man sie meidet und seinen Gang weiter geht. Man wird so reif. Und nur
zu Reifen will ich sprechen. Ob auch zu Müden? Die Worte sind mir
gleichgiltig geworden. Auch die Welt? Auch die Welt. Nur eines ist
mir noch wichtig und des Denkens wert und gewärtig und ich freue mich
wie ein Dieb dieser Inkonsequenz. Dies eine aber ist -- lachet, meine
Freunde, ich lache mit -- dies eine ist der Tod. Er liegt mir am
Herzen und von ihm muß ich noch viel erzählen. Seid ihr bereit? Ich
will euch etwas erzählen -- vom Leben.

Halt -- sollte ich nicht, bevor ich auf das Leben zu sprechen komme
und auf meine Gedanken und die Vergangenheit und Geschichte meiner
innersten Vorgänge und Stimmungen -- sollte ich nicht vorher von
den ökonomischen Verhältnissen reden, und sollte ich nicht die
unumstößliche Wahrheit von vorneherein annageln, daß die materiellen
Erscheinungen die Ideen hervorbringen, und daß alle meine Gedanken
und Willensmeinungen die Früchte unseres Zeitalters des Kapitalismus
sind? Sollte ich nicht von Gottes und Rechts wegen anders organisirt
sein als ich es bin, sollte ich nicht, bevor ich von mir rede und sage
was ich will, beobachten und feststellen, welchen Gang die Ereignisse
nehmen müssen, wohinaus die Geschichte nach den immanenten ökonomischen
Gesetzen des Karl Marx gelangen muß? Kurz -- sollte ich nicht ein Thor
sein? Ein Narr, dem seine besonnenen Beobachtungen mehr wert sind, als
seine gehäuften unbewußten zufälligen tausendfachen Erfahrungen? Sollte
ich mich nicht fortwährend als Ring in der Kette einer festgelegten
Entwicklung fühlen? Sollte ich mich nicht in zwei Teile teilen und
den einen vom andern beherrschen lassen? Sollte ich mich nicht den
Wissenden anschließen, anstatt wie jetzt einer zu sein, der nichts
wissen will?

Ja, das ist es, warum ich mir selber merkwürdig und absonderlich
und vielleicht auch wichtig vorkomme: ich gehöre zu denen -- denn
ich bin doch nicht der Einzige? -- die vergessen wollen, vergessen
alles, was dagewesen sein soll, die einen Grund und eine Abstammung
haben, aber nichts davon wissen wollen, die zu keusch sind, um ihr
Leben zu leben nach Kenntnissen und Mitteilungen und Beobachtungen,
anstatt wie ein göttliches Tier auf einen ungekannten Grund hin, einem
unbekannten Ziele zu. O ihr Klaren und Unabänderlichen, ihr historisch
Begründeten und Zielbewußten, ihr Einsichtsreichen und Vollundganzen,
ihr Vergangenheitsleber und Zukunftsleber und Gegenwartsnichtse, ihr
Aufderhöhederzeitseienden und Bewußtheitsaffen, ihr Vielseitigen und
Vielzeitigen, ihr Tiertöter und Gottschänder und Menschenverstümmler,
ihr Papiermenschen und Drahtpuppen, ihr seid mir widerlich, höchst
widerlich! Jener Sokrates, der zugab, es wisse nichts, war wenigstens
nicht so gar übelriechend; aber wo findet man einen, der nichts wissen
_will_? Der nur leben will, nur leben -- oder sterben?

Vom Leben also will ich meine Rede beginnen, vom Leben des Menschen,
des höchsten Menschen. Aber nicht will ich sprechen von den Nöten des
Lebens, von den niedrigsten Menschen, den Ärmsten der Armen. Und nun
sollte ich, so gehörte es sich, affectieren, ich sei ein harter Mensch,
ein Fürst der Erde, hocherhoben über alles, was unter ihm steht, weit
entrückt vor allem der schwächlichen Regung des _Mitleids_. Ich liebe
es aber nicht, mich zu verstellen, und ich mag nicht die erzwungene
Konsequenz. O ja, ich fühle Mitleid mit euch, ihr Proletarier, heißes
Mitleid, so gut wie einer, aber das ist mir ein unangenehmes Gefühl.
Es ist ein Gefühl, das da ist, aber es ist nur trotz alledem da und
ich verbitte mir, daß es sich zum Zentralpunkt machen will, von dem
alle meine Wünsche und Ansichten und Absichten ausgehen müssen. Ihr
lieben Kinder, die ihr das Leben nur von weitem in strahlendem Glanze
erblickt, die ihr die Not kennet und den Schein des Lebens, das Leben
aber, nein, das Leben kennt ihr nicht. Drum habt ihr auch das gute
Recht, alle eure Kraft einzusetzen, um das Leben und was ihr den Genuß
des Lebens nennt, zu erkämpfen. Euch verstehe ich, ihr jagt einem
schönen Bilde nach, jaget weiter, bis ihr bitter enttäuscht werdet.
Früher kann ich nicht zu euch sprechen. Suchet das Leben, damit ihr es
fliehen lernt.

Aber jene andern, jene sozialdemokratischen Lehrer und Führer, unter
denen, meine ich, sollten welche sein, die etwas vom Leben wissen
könnten. Und wenn sie dennoch jenem weichen Wachse die Sehnsucht
nach dem Leben eindrücken, dann thun sie es teils aus Dummheit,
indem sie sich einreden, das Elend einer lebenden Seele beruhe auf
demselben Grunde wie die Nöte der arbeitenden Kinder -- nämlich
auf den Wirtschaftsverhältnissen des Zeitalters; oder sie sind
gewöhnliche Menschen, die ihr Leben nur dadurch ertragen, daß sie
andere beherrschen, die aber keinen Zustand ihres eigenen Menschen zu
begreifen und auszudenken verstehen, die die äußere Welt mit scharfer
Brille betrachten und wissenschaftlich fassen, die aber nie ein Gelüste
verspürt haben, die Gründe ihres eigenen Handelns, ihres eigenen Lebens
zu prüfen -- und zu verachten. Also kleinliche mittelmäßige Seelchen,
die sich selber das Leben erträglich machen durch ihr Gerede -- und
das nennen sie neue Weltanschauung! -- und die nichts weniger als
großartig sind in ihrer Herrschsucht und Verführungskunst. Sie wissen
nicht einmal, warum sie die Zukunft predigen, sie sind Thoren genug,
zu glauben, es sei wirklich um der Zukunft willen, sie sind Egoisten
und wissen es nicht -- o über diese Kindsköpfe! Man erstrebt etwas,
weil man das Streben liebt, das ein Teil der eigenen Seele ist, sie
aber reden sich ein, ihre ganze Seele werde angezogen von dem etwas
außerhalb. Sie wissen nicht, daß das etwas nur ein gleichgiltiges und
zufälliges Symbol ihres innern Menschen ist. Daß es in die Zukunft
projektiert ist, um glanzvoller zu wirken und zu beherrschen! Daß man
es zu andern Zeiten in den Himmel projektiert hätte. Und zu andern
auf die Insel Utopia. Und ein drittes Mal auf den Olymp. Oder auch in
das goldene Zeitalter oder in den Garten des Paradieses. Sie glauben,
Zukunft, das sei etwas in der Wirklichkeit, das sei etwas, was den
Menschen mehr angehe, als Himmel und Hölle. O über diese Kindsköpfe!

Nochmals -- diese Führer muß ich ganz und gar in meiner Betrachtung
trennen von den Geführten und Verführten. Mit diesen habe ich zwar
Mitleid, ich gestehe es zu, aber ferne ist von dieser Art Mitleid
jegliche Verachtung. Im Gegenteil, ich sehe mit großem Schmerz, wie
lang und umständlich der Weg ist, den diese vielfach trefflichen
Menschen noch gehen müssen, bis sie da sind, wo ich stehe, bis
sie sehen, daß ihre Nöte, die sie vom Leben trennen, daß diese
zu überwinden sind, daß aber im innersten Kern des Lebens, des
menschlichen Lebens ein unüberwindlicher und viel tieferer Jammer
steckt als in jener häßlichen Beschalung. Freilich, es will mir so
scheinen, als ob auf eine sonderbare Art der Sozialismus geeignet
sei, diesen Weg in seltenen Fällen zu verkürzen, während er ihn bei
der großen Masse gänzlich verschüttet und unbetretbar und ungesehen
macht. Ich kenne einige ganz wenige Menschen, ganz einfache Arbeiter,
die ich, wie wenige in mein Herz geschlossen habe. Lange Jahre waren
sie glühende Sozialdemokraten, Nichtsalssozialdemokraten, dann aber
durchschauten sie schaudernd die Motive einiger Führer, sie sahen
Dinge an diesen Leuten, die diesen selber in ihres Herzens allzu
großer Einfalt gar nicht bekannt waren. Es ist nicht zu glauben, mit
welcher unheimlichen entsetzlichen Geschwindigkeit sie -- aber nur ganz
wenige sind das -- nunmehr ihren Weg gingen oder flogen oder gerissen,
geschmettert wurden. Sie nannten sich noch Sozialisten, wo sie es schon
nicht mehr waren, sie suchten immer neue, immer weniger betretene
Pfade, um ihr »großes Ziel«, das sie immer noch einzig suchten, zu
erreichen; sie streiften die Lehre von der ökonomischen Grundlage von
sich ab und nannten sich wieder Idealisten und Anarchisten. Dann wurden
sie Individualisten, aber Individualisten ganz eigener, nie erhörter
Art, denn sie suchten den Individualismus immer noch in der Zukunft
als Ideal, sie wollten einen Individualismus schaffen durch gemeinsame
Arbeit, durch Kommunismus. Aber daneben verlangten sie schon, auch die
Mittel und Wege müßten individualistisch sein. Und nun streiften sie
das Istentum ab, sie wollten nichts mehr, sie waren etwas, nicht mehr
Individualisten, sondern Individuen. Und damit waren sie auch schon
gänzlich auf sich gestellt und dem Pessimismus verfallen, und ihren
Glauben hatten sie völlig verloren und ihre Sehnsucht nach dem Leben
dazu. Merkwürdig, ihnen, diesen auserwählten Menschen, ihnen ekelt
vor dem Leben, obwohl sie es doch kaum gelebt, kaum gesehen, nur eine
ganz dünne Ahnung vom Leben ist über ihre Seele gehuscht, und schon
wenden sie sich scheu von ihm ab. Und ich glaube, während ich von
ihnen erzähle, stehen sie traurig lächelnd daneben. Ja, diese Menschen
gehören zu meinen Zuhörern, und sie stehen in der vordersten Reihe,
und ihre Herzen liegen mir offen da, und sie harren des Wortes, das
ich sprechen soll. Und wenn ich das Wort ausspreche, das Wort »Tod«,
dann klingt ihnen das schon reif und vertraut, sie sind mürbe geworden
und verstehen mich und folgen mir nach. Ich segne euch, meine Brüder,
unsere Wege kommen aus verschiedenen Geburten, aber nun haben sie sich
gefunden und bleiben beisammen.

O über diese Sozialdemokraten, die so vieles beobachtet und vor
allem so vieles behalten haben, die alles wissen, nur nichts von den
unbewußten Regungen ihres Willens und nichts vom wahren Wesen ihrer
Persönchen! O über diese gelehrten Menschlein, die von Wörtern leben,
die glauben, ein Wort sei ein Wort und ein Ding sei ein Ding, die alles
Zusammengesetzte sehen, als ob es einfach wäre, die Gegensätze für
Einheiten halten. Weil sie beglückt sind in ihrem Streben nach der
Zukunft, wähnen sie, das Glück zukünftiger Menschen sei gesichert, wenn
der Wille der Gegenwart erfüllt werde. Sie ahnen nicht, daß Absicht und
Zweck zwei Dinge sind, die nie zusammen kommen, sie glauben, es sei
dasselbe. Wie ungeheuer werden sie beschämt von einem andern einfachen
Arbeiter, der mir allerdings auch noch ferne steht, von einem Manne,
bei dem alles unbewußt ist, der so gut wie gar keine gewollte und
kontrolierte Erkenntnis hat, und der doch diese Grundwahrheit klar
erkannt hat und der mit einer unerhört schönen Gewalt in die Worte
ausbricht:

»Freiheit du wunderbares Wort, du Signal des Lebens, du Ruf aus einer
andern Welt, wie durchdringst du sogleich meinen ganzen Körper; wie
einen Adler läßt du mich hinaufschwingen, hinauf in das strahlende
Licht, in die reinen Lüfte, allen Staub und alles Menschenelend
zurücklassend, aber ach, wie der Adler wieder zurückkehren muß zu
seinem Horst, so muß auch ich wieder zurückkehren zur Menschenheimat
und muß es bei deinem Klang mitfühlen mit den Tausenden, die ihr Leben
in ungerechten Fesseln des Körpers dahinbringen müssen, muß bei deinem
Klang so oft Empörung in mir wahrnehmen, als ich Luft und Licht in
Fesseln geschlagen sehe.

Ȇberall, wo ungerechten Fesseln halber der Ruf Freiheit erschallt,
ist das der Ruf des Guten, ist es der Ruf der Vernunft, hier bedeutet
Freiheit das Gute; die Freiheit als Kraft ist aber nicht das Gute,
vielmehr bei denen, welche ungerechte Fesseln anlegen, herrscht die
Freiheit, das ist das Schlechte und fehlt das Gute, das ist die
Vernunft.

»Freiheit und Vernunft sind die beiden sich bethätigenden und
bekämpfenden Kräfte im einzelnen Menschen wie im ganzen Geschlecht,
und je mehr die Vernunft als wirklich solche bei Rufern wie Hörern zur
Herrschaft gelangt, um so mehr wird der Ruf Freiheit und mit ihm der
Ruf Gleichheit verschwinden.«

Ein Arbeiter schreibt das, meine Herren, und einer, der vom Sozialismus
weniger berührt wurde als andere. Schämt ihr euch nicht? Ahnt ihr
nicht, was ihr vernichtet und verwässert habt, welche Tiefe euch
abgeht und welche ihr ewig zerstört habt? Seht ihr nicht, daß dieser
stammelnde und ahnende Arbeiter beinahe schon jetzt über euch lacht?
Was hättet ihr erreichen können, wenn ihr nicht hättet so ernsthaft
sein wollen! Welche Bewegung wollte entstehen, wenn ihr große frivole
Kerle gewesen wäret! Wenn ihr zum Einzelnen gesprochen hättet und ihm
das Lachen und Sterben gelehrt hättet! Aber was wißt ihr vom Lachen und
Sterben? O ihr ernsthaften langweiligen lebenslänglichen Hanswurste
und Kindsköpfe! O ihr Sittlichen und Guten, ihr Naturgesetzlichen und
Ökonomischen! O wie ist euer Sozialismus so verkehrt, weil er geradeaus
gehen wollte, immer geradeaus in Marschkolonne! Weil ihr nur eines
vor euch seht, ihr Geblendeten! Ihr Hypnotisierten, ihr Medien, ihr
Mittelmäßigen!

Und wie lange glaubt ihr denn eigentlich, daß ihr noch warten könnt?
Ist denn solch eine rasende Verblendung schon einmal dagewesen? Ihr
habt vor dreißig und noch mehr Jahren ein paar armselige Schlüsse
gezogen aus ein paar winzigen Beobachtungen und nun habt ihr einen
Glauben darauf gepfropft -- o nein, entschuldigt, eine ewige
Wissenschaft, nicht wahr, eine ewige? und eine Partei habt ihr
gebildet und da die Dinge sich ganz langsam so gestalten wie ihr es
prophezeiht habt, und da die bürgerliche Welt ganz langsam zerbröckeln
will, und da eure Partei allmählich zunimmt, predigt ihr immer
dasselbe und predigt es unermüdlich und predigt und predigt, damit
wenn die Zeit da sein könnte, ihr auch noch da seid, im Gedächtnis der
Mitwelt. Glaubt ihr denn wirklich ganz an eure Unfehlbarkeit, daß ihr
so fürchterlich langsam seid? Glaubt ihr denn, nichts, aber auch gar
nichts könne euch über den Kopf wachsen? Hattet ihr denn eine Ahnung,
vor 30, 40 Jahren, daß auch einmal Stimmen klingen könnten, aus der
bürgerlichen Gesellschaft heraus, die nichts mit Ausbeutung zu thun
haben? Stimmen wie die meine, wenn sie Gehör finden und Echo, gehn sie
euch denn gar nichts an? Ist denn die Welt nicht eine ganz andere, als
ihr träumt, wenn ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft lachend über
seinen eigenen Schatten springt und über seine eigene Klinge? Wenn wir
uns selbst aufheben, könnt ihr uns dann noch expropriieren?

Und ich höre mir eine Stimme antworten, gesättigt von Marxismus und
hungrig nach Kapital:

»Du und deinesgleichen, ihr seid nur eine Erscheinung des Verfalls
und der Korruption. Ihr seid vereinzelte Bourgeois, die übersättigt
sind und blasirt und keinen Genuß mehr finden. Ihr spielt keine Rolle,
im übrigen bleibt alles wie es war. Der Kapitalismus beutet aus,
das Proletariat hungert oder lebt mindestens in menschenunwürdigen
Zuständen -- bis die Stunde der Befreiung schlägt. So ist es, so wird
es sein!«

Das ist die Sprache des Sozialismus, und mancher wird vielleicht
finden, der Mann habe recht.

Der Mann hat aber nicht recht, weil er den wahren Schmerz nicht kennt
und nicht den Ekel, und in einem zu sagen, weil er das Leben nicht
kennt. Um euch nun aber endlich meine Meinung vom Leben zu sagen, will
ich in einem Gleichnis zu euch sprechen:

Meine Freunde, kennt ihr die Geschichte des Kindes? Aber eben
fällt mir ein, daß ihr Geschichte überhaupt nicht kennt; ihr kennt
nur Weltgeschichte und Kulturgeschichte und dergleichen unnütze
Erlogenheiten aber Geschichten von einzelnen Dingen und ihren
Veränderungen und Betrachtungsweisen gehen euch ab. Nun also --
richtet eure Gedanken auf das Kind, das kleine Kind. Wißt ihr, mit
welchem Gefühle frühere Menschen solch ein kleines Wesen betrachtet
haben? Mit innigem Mitleid ob seiner Hilflosigkeit, man bedauerte das
Menschlein, daß es das Leben noch nicht kannte und den Lebensgenuß
noch nicht verstand; man sprach immer nur von dem »armen Kinde«.
Wie aber ist es heute? Nennt man nicht heute das Kind glücklich und
überglücklich, weil es noch nichts weiß vom Leben, beneidet man das
Kind nicht, und denkt nicht jeder an seine Kindheit zurück als die
Zeit, wo er ganz und gar glücklich gewesen sei? Und wie ist es mit dem
Schlafe? Ihr kennt auch die Geschichte des Schlafes nicht. Erschrak
man nicht früher vor dem Einschlafen? War es nicht ein Entsetzliches,
das Bewußtsein zu verlieren und die Freude am Dasein? Fürchtete man
sich nicht vor der kindischen Hilflosigkeit des Schlafes? Aber jetzt?
Man freut sich auf’s Schlafen, man lächelt dem Einschlummern entgegen,
das Bewußtsein zu verlieren ist eine Wonne, man will nicht aufwachen
und zwingt sich des Morgens zu einem zweiten Schläflein, in dem man
mit voller Absicht seine Träume weiterspinnt, und wacht dann auf,
verstört und voll Entsetzen über das Licht des Tages und die Sonne des
Lebens. Und was giebt es für die Jetztlebenden Entsetzlicheres als eine
schlaflose Nacht? Alle Mittel werden angewandt, nur um zu schlafen, zu
schlafen.

Und wollt ihr immer noch behaupten, der Kapitalismus sei es, der
das bewirke, dieses Entsetzen vor dem Leben und diese Sehnsucht
nach todesähnlichen Zuständen? O nein, geht mir weg mit eurer Lüge
vom bösen Gewissen oder was ihr ersinnen wollt. Wir haben ein recht
gutes Gewissen und die Ausbeutung stört uns wenig. Hunderte und
Tausende giebt es und hat es schon immer gegeben, und es sind, ihr
könnt sagen was ihr wollt, die edelsten und höchsten unter den
Menschen, die dahin leben, als wäre die Menschheit schon viel weiter
als euer Sozialismus sie bringen will, die sich nichts, aber auch
gar nichts um die Produktion bekümmern, und in deren Familie ist es
schon so seit Generationen, als ob eine unsichtbare und auch ganz
gleichgiltige großartigste Maschinerie ihnen alle Bedürfnisse und
allen Luxus des Lebens lieferte, sie haben ein gutes Gewissen, denn
sie wissen gar nichts und wollen nichts wissen von eurer Entdeckung,
daß die Maschinerie, die sie bedient, aus Menschen besteht, aus
armen, schwitzenden geknechteten Menschenkindern; folglich kann diese
kapitalistische Einrichtung sie gar nicht berühren und berührt sie auch
nicht. Zu diesen Menschen, die wie Götter schreiten auf der Höhe hinweg
über die Rücken arbeitender Lohnsklaven, gehören unsere erlesensten
Denker und Dichter -- und doch, was halten diese schließlich vom Leben?
Meinte nicht Goethe am Ende seines Lebens, wenn er alles zusammennehme,
wahrhaft glücklich sei er nur ein paar Stunden gewesen in seinem
ganzen langen Leben? Wer wollte diesem erschütternden Bekenntnis nicht
glauben? Ein paar wenige Stunden! Und dieser Mann gehörte zu den
glücklichsten Menschen, die je gelebt haben! Und wessen Fanatismus der
Dummheit ist so grenzenlos, daß er behaupten will, daran seien die
ökonomischen Verhältnisse schuld? Nein, nein und abermals nein! Der
Grund liegt tiefer, liegt in der ganzen unseligen Natur des Menschen
und des Lebens! Der Grund ist, daß der Mensch ein denkendes Tier ist,
daß er den Begriff des Zweckes kennt, und doch niemals, nie und in
Ewigkeit nie einen Zweck seines Daseins, an den er glauben kann, finden
wird. Und wenn einer geglaubt wird, immer wieder hat der Mensch dann
gefunden, das sei kein Zweck, dahinter stecke kein Sinn, dafür zu
leben verlohne sich nicht. Und das wird so bleiben, ihr mögt an den
ökonomischen Grundlagen ändern, soviel ihr wollt. Und wenn gar keine
Arbeit mehr notwendig sein wird, wenn der Mensch in freier Willkür thun
kann, was seinem Körper und seinem Geist frommt, und wenn er so bis
auf einen einzigen Punkt ein Gott genannt werden dürfte, der Teil wird
immer in ihm sein, der fragt: wozu das ganze und nochmals wozu? und der
keine Antwort mehr findet, keine, ewig keine.

Bis auf eines, habe ich gesagt. Wenn das eine nicht wäre, dann
wäre er ein Gott, ein vollkommener Gott, nämlich ein Wesen, dessen
entsetzliches Elend vollkommen wäre. Müßte der Mensch _ewig_ leben
und _ewig_ fragen, wozu -- o der Gedanke ist nicht auszudenken, laßt
mich schweigen und mich freuen, daß es nicht so ist. Ja, eines giebt
es, dessen freue sich der Mensch und dem jauchze er zu, dem singe und
juble und tanze er entgegen, in diese lachende Höhe werfe er sich
tief, tief hinein, und er wage es jetzt gleich sich zu stürzen in
diesen herrlichen, strahlenden Abgrund des Glückes: _das ist der Tod_,
jauchzet und empfangt ihn mit offenen Armen, meine seligen Freunde,
_das ist der Tod_!

Ihr steht verblüfft, meine Freunde? Ihr habt alle schon ähnliches
erwogen, aber nun ich es ausspreche ohne jeden Umschweif, nun sucht ihr
Ausflüchte, nun wollt ihr auf einmal noch etwas finden, das das Leben
lebenswert machen könnte? Suchet nur, ich sage euch, ihr werdet nichts
finden.

Die Sozialisten sind Thoren. Sie leben ganz im Kampf für ihr Ziel und
bedenken nicht, daß eine Zeit kommen könnte, wo ihr Ziel ganz und gar
erreicht ist. Was dann? Nun, dann ist alles herrlich und in Freuden.
Dann haben sie den Himmel auf Erden, wie sie uns oftmals versichert
haben. Mir aber sagt das Wort Himmel sehr wenig, ich will euch eine
andere Schilderung geben.

Denkt euch also, die sozialistische Gesellschaft ist da. Denkt euch,
sie ist schon sehr lange Zeit da und schon gänzlich konsolidirt.
Die Technik hat noch riesenhafte Fortschritte gemacht. Unangenehme
Beschäftigungen giebt es ganz und gar nicht mehr. Die Kinder
werden körperlich und geistig aufs höchste ausgebildet, gegen einen
fünfzehnjährigen Knaben aus jener Zeit, ist unser größtes Genie ein
armes Waisenkind. 1½ Stunden täglich etwa geht jeder Erwachsene
zur Arbeit, das ist für den Einzelnen eine Erholung und für die
Gesamtheit genügt diese Zeit doch zur Produktion und Distribution aller
Bedürfnisse, so hoch diese sich auch gesteigert haben. Die Technik
hat sich eben in noch viel großartigerem Maße gesteigert. Die übrige
Zeit vertreibt jeder mit dem, wozu er Neigung hat. Nun, meine Freunde,
glaubt ihr nicht mit mir, daß wenn dieser anscheinend so herrliche
Zustand sich immer mehr vervollkommnet und immer mehr zur Gewohnheit
wird, daß dann die ganze Nation, was sage ich, die ganze Menschheit
mehr und mehr in ihrer Masse sich _einem_ hingeben wird, nämlich der
_Philosophie_, daß sie, nun sie keine Nöte mehr zu bestehen hat und der
Kampf mit dem Materiellen zum Spiel geworden ist, Zeit hat, den ganzen
Tag zu denken, an sich zu denken, und zu fragen: wozu sind wir denn
eigentlich da? Wozu dieser ganze ungeheure, wundervolle, komplizierte
Apparat? Sind wir Selbstwerk? Nein, unmöglich, sonst würden wir nicht
danach fragen. Sind wir ein Glied im großen Ganzen der Welt? Ja, was
geht uns denn die Welt an? Wir wissen ja gar nichts von der Freude,
die sie an unserem Dasein hat, wir nehmen ja keinen Teil daran, wir
sind ja ausgeschlossen. Und dann, das würden diese göttlichen Menschen
immer und immer wieder fragen müssen: besteht denn eine Einheit und
ein Zusammenhang der Menschheit? Giebt es denn in der wirklichen
Erscheinungswelt eine Gesammtheit? O nein, würden sie antworten müssen,
über solche zusammenfassende Abstraktionen sind wir ja längst hinaus,
der einzelne Mensch ist freilich kein Konglomerat blos von einzelnen
Zellen, _er_ ist eine Einheit, _er_ hat ein Bewußtsein, aber was ginge
den einzelnen Menschen der andere im geringsten an, wenn er nicht auf
ihn angewiesen wäre? Und vor allem, was gehen uns die an, die nach uns
kommen? Und wenn also der ganze Witz aus ist mit meinem Tod, was war
denn dann dran? War das denn alles? Und darum, darum die unendliche
Mühe unserer Altvordern, der Sozialdemokraten von anno dazumal?
Wegen der paar Jahre Leben? Die Mühe hätten sie sich sparen können!
Der ganze Spaß, das ganze Spiel, alle diese Spaziergänge, dieses
Musikhören, Dichten, Instheatergehen, Reiten, Fahren, Schwimmen, dieses
Träumen und Emporsehnen, dieses Kindermachen, Güterspiel (so etwa
werden sie das Arbeiten nennen), dieses Erfinden und diese Reisen, das
Fliegen nicht zu vergessen -- das hat doch alles keinen Sinn? Es ist ja
doch kein Bewußtsein da und keine Freude, die bleibt. Es schwindet ja
doch alles. Wir sind ja ganz einfach Tiere, die aus der Art geschlagen
sind, weil wir nicht blos leben, sondern auch das Leben beobachten und
etwas vom Leben wissen, weil wir nicht blos sterben, sondern den Tod
im voraus kennen und sterben können, wann wir wollen. Der Selbsttod
(denn das Wort Mord würde längst vergessen worden sein), der freie Tod,
der ist eigentlich, was uns wesentlich trennt von allen andern Tieren.
Beendigen wir doch also so rasch als möglich diese lächerliche Komödie,
die zu gar nichts führt, aber auch zu gar nichts. Töten wir uns doch;
töten wir uns, aber rasch, so bald als möglich, gleich jetzt; der ewig
wiederholte Unsinn ist ja so fürchterlich langweilig! Was sagt ihr
dazu, meine Freunde? Müßte es nicht so kommen? -- Was? Was höre ich?
Dieser Einwand von euch? Ihr sagt mir, so könnte es nie kommen, ihr
verleugnet den Sozialismus, ihr glaubt, es ginge anders, ihr wähnt,
es gäbe irgend etwas anderes? O, das ist feige, sehr feige. Ich aber
sage euch: der Sozialismus ist möglich, ohne Frage, und weiter sage ich
euch: das ist eine hohe, sehr hohe Stufe des Menschen. Oder wollt ihr
sagen, so wie der Mensch heute ist, sei er weniger veranlaßt, an den
Tod zu denken, an den freiwilligen Tod? Ja, das ist möglich, das ist
wahr. Aber ist dieser Zustand nicht noch viel ekelhafter? Und wenn er
sich einmal tötet, nicht aus Philosophie oder Langeweile, was dasselbe
besagt, sondern aus Notdurft, aus gemeiner Verzweiflung, ist das nicht
ein niederträchtiger, unwürdiger Tod? Wenn aber der Sozialismus zu
nichts führen kann, und wahrlich so ist es, als zum philosophischen
Massentod der Menschheit, was haben wir anderes, größeres zu thun, als
diesen Tod schon jetzt zu predigen mit tausend flammenden Zungen? --

Halt, meine Freunde, wohin? Und so wolltet ihr denn, wie ihr da seid,
in die Welt stürzen, um den Tod zu predigen, als meine Jünger? Und
ihr merkt ihn nicht, den Widerspruch, der mich kitzelt, so daß ich
fast lachen müßte? Ihr seid mir noch viel zu flink, meine jungen und
alten Gefährten. Aber ihr seid nicht die ersten, die sich von der
Logik verführen lassen zu allerhand ernsthaftem Unsinn. Wahrlich,
ich bedaure, daß ich euch mit der Logik in den Schlingen meiner
Inkonsequenz gefangen habe. Aber ich will euch jetzt verraten, was
mich lachen macht. Wie kann man denn den Tod -- predigen? Ist es nicht
dasselbe, als wollte ich den Tod -- leben? Ist es nicht wahr, daß
man den Tod nur sterben kann, wortlos, mit geschlossenen Augen, ohne
Rücktritt? Gehn euch doch andre Menschen nichts an, warum wollt ihr sie
verführen, statt sie in Ruhe zu lassen? Sterbet doch, meine Freunde,
aber sterbe jeder für sich. Seid doch stille und macht mir keinen Lärm!
Habe ich nicht recht?

Seht, was ihr doch für alberne Kopfnicker seid! Ihr gebt mir schon
wieder Recht. Fast sollte ich jetzt über euch weinen. Warum bleibt ihr
denn neben mir stehen, wenn ihr das nicht erlebt habt, was ich? Wenn
euer Wahnsinn ein ganz anderer, einfacherer ist als der meine? Sehet
doch, ich bin zum Tod noch gar nicht bereit, noch lange nicht. Ich
habe noch meine Freude, nämlich eben meine Freude am Tod. Und darum
rede ich meine Rede zum ganzen Menschengeschlecht, wer immer mich
hören will oder mich zufällig hört, und zu spät sich anschickt, seine
Ohren sich zuzuhalten. Ich habe meinen Spaß an den Menschen, die den
Tod und die Todessehnsucht noch nicht kennen, es macht mir Freude,
übermenschliche Freude, die Menschenmasse auszulachen und zu verhöhnen
und dennoch zu ködern. Ich lebe noch, weil es mir Genuß bereitet, mit
meinem Schmerze zu spielen und meinen Ekel in die Länge zu ziehen
gleich einem zähen Teige. Ich liebe den Tod und darum lebe ich. Und
außerdem bin ich ein abergläubischer Mensch, warum nicht? Es fröstelt
mich, wenn ich daran denke, allein zu sterben. Es ekelt mir vor dem
Gedanken, was die Menschen für dummes Zeug vermuten könnten, wenn ich
einmal allein sterbe, wenn sie mich einen Selbstmörder nennten, die
Unsinnigen. Ich liebe den großen Tod, ich will Gefährten und darum
predige ich den Tod, weil das meinem Leben noch Reiz verleiht bis zum
Ende. Aber ich werde sterben, meine Freunde, verlaßt euch darauf,
ich werde sterben. Und das ist die einzige Zukunft, die ich noch
anerkenne, und diese Zukunft, ja die soll zusammenfallen mit meinem
Willen. Ich werde sterben, das heißt, ich will sterben, und nicht mehr:
ich soll sterben. Verhaßt und gemein ist mir der Tod auf dem Strohsack,
der schleichende Tod wider Willen. Diesem Tod habe ich abgesagt, ihn
lache ich aus mit all meinem Gelächter, niemals werde ich diesen Tod
des Ungeziefers sterben. Stimmet ein mit mir, stimmet hell ein, meine
Freunde, in den Ruf: Es lebe der Tod!

Erschreckt nicht über meine entsetzliche Ehrlichkeit. Oder erschrecket
ja. Denn ich bin nicht ehrlich um der Ehrlichkeit willen, und Wahrheit
ist mir lange nicht mehr ein großes führendes Wort; ich bin es nur,
weil es mir Vergnügen macht, in tausend Farben zu spielen und mich
euch von allen meinen Seiten zu zeigen. Ich durchschaue mich selber
und lache mich aus, wenn ich meine hintere Seite sehe und ich freue
mich, daß ihr mein Vorderteil ernsthaft nehmt, obwohl ihr die Kehrseite
meines Herzens geschaut habt.

Und überdies: ich kann Bocksprünge machen, so viel ich nur mag, wer
mich versteht, der weiß, was ich meine mit dieser Schrift. Ich sage
mich los vom Sozialismus, weil ich schwere vierschrötige Menschen
nicht mag und weil ich das Leben nicht mehr ernsthaft nehmen kann. Und
diejenigen, die mich fassen und mich gern haben, denen predige ich den
Tod, und ich bitte sie bei all ihrer Liebe, mit mir zu sterben und also
noch ein wenig zu warten, bis wir alle beisammen sind.

Die aber noch ächzen unter den Nöten des Lebens, den Sklaven der
Arbeit, denen rate ich, sofern sie mich hören wollen: Verzaget nicht,
aber hoffet auch nicht, sondern machet euch frei! Schmeißt den Bettel
weg, nicht aus Verzweiflung, sondern aus Einsicht, daß das Leben ein
sinnloses Ding ist. Und dann schließet euch mir an und meiner Schar des
Todes.

Wer aber ungeduldig ist und nicht mehr warten will, der stirbt zwar
nicht den schönen Tod, wie ich Narr ihn vorbereite, aber ich wünsche
ihm doch: Gute Reise -- und unbewußte Verwesung!

Euch andern aber sage ich: Auf Wiedersehen -- beim großen Sterben. Ich
harre nun eures Echos und dann will ich wieder reden.

Dem Sozialismus aber wünsche ich -- ein langes Leben, ein schönes
Greisenalter und den Tod auf der Matratze.

            =Karl Starkblom.=

        ❦




Vierter Abschnitt.

Die Vision des Todespredigers.

=Zweites Sendschreiben an das Menschengeschlecht=

von

=Karl Starkblom=.


Einleitung.

Ich habe versprochen, nach einiger Zeit wieder von mir hören zu
lassen und zu erwidern auf die Antworten, die mein erstes Schreiben
hervorgerufen. Freilich hatte ich es mir anders gedacht und wenn ich
könnte, müßte ich jetzt bitter werden. Eine Antwort, nämlich einen
starken Widerhall, haben meine Worte überhaupt nicht gefunden. Ich
dachte, es gebe Leute genug, die mir laut zujubeln müßten, daß ich das
erlösende Wort gesprochen, aber nichts von alledem. Ich meinte, meine
Wohnung müsse täglich voll sein von Menschen, die sich zu mir drängten,
um mit mir zu reden und sich bereit zu erklären. Aber Niemand kam,
außer einem einzigen Menschen. Der drückte mir die Hand und dann ging
er wieder. Es war ein Arbeiter. Und ja doch -- ein paar Briefe erhielt
ich, abgesehen von denen, in denen ich zum besten gehalten und angeulkt
wurde. Ein paar Weiber und ein paar Jünglinge und ein einziger Mann,
die erklärten sich bereit zum Sterben, »wenn es mir wirklich ernst
sei«. Etwas der Art fügten sie alle hinzu.

Meine Freunde, die ihr nicht da seid, meine Einleitung kann also kurz
sein. Ich lebe nicht zu meiner Zeit. Ich habe geglaubt, ich könne
verstanden werden, und man hat meine Schrift als ein litterarisches
Ereignis aufgefaßt. Lächerlichkeit über Lächerlichkeit! Seid ihr so
wenig an die Druckerschwärze gewöhnt? Meint ihr, wenn ein neuer Heiland
käme, er würde sich heute wieder auf einen Berg stellen und eine
Predigt halten? Nicht wahr, damit unten an der Böschung die Eisenbahn
vorbeidröhnte und ihn auspfiffe? O ihr Nachahmer von allem, was früher
gewesen, ihr freilich konntet meine Stimme nicht verstehen! Mir fehlte
die Würde und die Borniertheit des Bußpredigers. Einen lachenden Künder
neuer Worte, den könnt ihr noch nicht ertragen. Ich bin traurig, sehr
traurig, daß ich einsam bin, im Tode wie immer im Leben.

Erwartet nicht, daß ich auf die sogenannte Kritik eingehe. Einige
wenige freilich -- nein, ich will nicht von ihnen reden. Sie stehen mir
nahe, sie verstehen den Athem meiner Rede -- und doch, doch! Sie haben
mich gelobt, als ob ich ein Chamäleon wäre, oder ein Schriftsteller,
der alles kann. Hätten sie geschwiegen und wären sie zu mir getreten
um mir die Hand zu drücken, wie jener Arbeiter, dann -- ja dann! Die
Ehrfurcht fehlt ihnen, vor mir und vor sich selber.

Meine Freunde, die ihr nicht da seid! Setzet euch im Kreise und höret
mir zu! Wenn ich ruhte im Walde, wenn ich über nasse Wiesen ritt, des
Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte und auch nicht wollte -- da habe
ich das geträumt und immer fort geträumt, was im folgenden erzählt
ist. Dann habe ich es niedergeschrieben und nun lasse ich es auch noch
drucken. Warum das? Woher diese Thorheit?

O merkt ihr es denn nicht, seht ihr das Leid denn nicht, das an mir
zehrt? _Ich suche Menschen!_ Menschen suchte ich immer und immer, erst
blickte ich um nach Tausenden und wiederum Tausenden, um zu ihnen zu
sprechen und sie zu erkennen als Meinesgleichen und sie zu verführen
zu meinem Tode. Und jetzt suche ich einen einzigen Menschen, _einen_
Menschen nur, der mich liebt und mit mir sterben will. Und darum trete
ich nun zum zweiten Mal hin auf den Markt und prostituiere mich vor
allem Volk und zeige mich bald nackt, bald angethan mit all meinem
Putze.

Und nun vernehmet _die Vision des Todespredigers_.

       *       *       *       *       *

Ich will euch von einem Manne erzählen, der keinen Grund hatte, sich
selber auszulachen, der konsequent sein konnte und geradeaus gehen
durfte, der an sich glaubte und Gläubige fand. Wer ist der Glückliche?
Und wie ist es ihm möglich? Wie ahmen wir ihm nach? Ganz einfach ist es
ihm möglich, aber wir andern können’s nicht, auch wenn wir wollen.

Der Mann, von dem ich erzählen will, war epileptisch. Was, ruft ihr
voll Entsetzen, und du nennst ihn glücklich? Jawohl, selig nenne
ich diesen Mann, daß die Krankheit seines Geistes in solcher Weise
ausbrechen konnte. Wir alle sind ja epileptisch, in uns allen lebt
etwas, das sich sträubt gegen das Leben, aber wehe über uns, deren
Krankheit Geist heißt und deren Arznei wiederum Geist! Weit besser
haben es die, deren Körper den Geist heilt und in die Bahnen der Ruhe
lenkt. Sie haben nur die eine Hälfte ihres Hirns, denn die zuckende und
krampfende Hälfte, die wie ein Gelächter schneidet in den Ernst und wie
Wehschrei in die Freude ächzt -- die ist nur Körper bei ihnen -- und
wenn ihr Körper sich windet und dreht, dann weiß die Seele nichts von
den Zuckungen des Menschen und bleibt ganz und heil.

Wohl denen, die das Bewußtsein verlieren dann, wenn sie irre würden
an sich! Heil den Epileptischen! Sie sind Propheten und Heilige und
Heilande.

       *       *       *       *       *

Da, da, seht hin, da ist er, da kommt er! Schreitet er nicht wie ein
Gott? Da ist er, da steht er in Mitten der tausendköpfigen Versammlung,
hoch ragt er empor über alles Volk, Starkblom der Todesprediger!
Seht ihr ihn, seht ihr? O jetzt schweiget. Es bedarf ja nicht der
Ermahnung; alles lauscht atemlos, alles wird süß bestrickt vom Zauber
seiner Rede. O wie er Macht hat über die Herzen der Menschen! Wie er
sie bezwinget und in den Staub, auf die Kniee schmettert. Ehret den
Tod! Seid in Treue gewärtig des Todes! Harret aus! Bald sollt ihr mit
mir sterben den holden Tod in Größe und Freiheit. Dann hört ihr auf
zu sein und das Häßliche, was Mensch hieß bisher, ist geschwunden
aus dem schönen Bezirk der Göttin Natur. Ihr werdet heimkehren zur
Unbewußtheit. Ihr werdet nicht mehr fragen, wozu. Die Thorheit des
Zweckwahns ist gestorben mit euch. Eins ist wieder die Natur, alles ist
schön, und nichts wird empfunden als eigene, _eine_ Schönheit. Die Zeit
ist gestorben mit euch, und Ursache und Wirkung lebt dann nicht mehr.
Und auferstehen wird jubelnde Veränderung und zweckloser, sinnloser,
farbenfroher, tönender Zufall! Sterbet, ihr Einzelnen, sterbet, damit
der Wahn der Gesamtheit tot sei. Stirb, mein Bruder, damit alles
aus ist, und lache im Tode derer, die an die unbedingte Entwicklung
glauben und an den Fortschritt und wie die heiligen Wörter alle heißen.
Sterbet, sterbet, werbet zum Sterben! Und weiter wälzt sich der
Menschenstrom, und größer und größer wird die Masse der Todesfrohen. --
Ha, wo ist er? Alles schwand meinen Augen? Ich erblicke nichts mehr.
Ich höre nichts mehr. Ich liege auf dem Boden und stöhne und betaste
meinen Leib. Wo ist dieser Starkblom? Starkblom, wo bist du?

       *       *       *       *       *

Sie haben überall, in allen Städten, die Statuen ihrer Fürsten und
Heerführer auf den Marktplätzen von den Sockeln geworfen und mit
den Stein- und Erztrümmern die Fenster der Schlösser und Paläste
der Lebenden eingeschlagen. Und auf die Sockel haben sie kolossale
Gerippe gestellt, vergötterte Todesgestalten, und sie haben ihre
Kleider von sich geworfen und tanzen um das Bildnis des Todes,
und jubeln und lachen und singen, und schmetternde Musik spielt
rauschende Marschweisen. ~Allons enfants, allons nous-en!~ Und die
Sonne scheint so golden herab wie noch nie, als wolle sie den Menschen
die Lebenslust warm in alle Poren träufeln und ihnen zeigen, man
könne auch nackt leben. Sie aber wollen sterben, und Starkblom, der
fürchterlich-herrliche, tanzt den Todesreigen vor. Und abends, wenn
es kühler und dunkler wird, da erwachen die Farben in feuriger Glut.
Grün und rot und gelbe Tücher schlagen sie um sich in phantastischem
Wurf, und unsagbar wonnig und feierlich flüstert und kost Musik von den
Thürmen, und Kinder kommen aus allen Gäßchen und Winkeln gesprungen
und schlagen Purzelbäume und springen über die Alten. Die aber setzen
sich im Kreise und hören zu Märchen erzählen, Märchen vom Leben. Und
leise schwirren die Winde fernher durch die Straßen und tragen süße
Düfte mit sich aus weiten Gärten und Haiden draußen vor der Stadt. Und
nun steht Starkblom in der Mitte des Kreises und erhebt seinen Gesang
von der Wunderherrlichkeit der Zukunft dieser Menschenwelt, wie alles
kommen könnte und kommen müßte, wenn sie nur wollten. Und am Schlusse
kehren dann immer wieder die Worte voll brausenden Glückes: »Welch’
Herrlichkeit erdichten wir -- welch’ schöne Welt vernichten wir -- wir
könnten sie erwerben -- haha, haha, haha -- wir aber sterben, sterben!
Juh!« Und jubelnd fällt die Masse ein, und der Wind klappert im Gebein
des Todenmannes, und die Posaunen gellen hoch oben aus den Lüften und
das Gelächter der Menschenmenge schwillt empor wie ein bäumendes Meer
und will nicht enden. Und ein stolzes hohes Weib tritt zu Starkblom
in die Mitte und -- oh, oh! Die elektrischen Lampen erlöschen, die
Fanfaren brechen schrill ab mitten im Tone, ein schwarzes unendliches
Tuch breitet sich über alles -- Nacht, Nacht -- nichts, nichts -- wo
ist das Weib? Wo sind die Menschen? Wo bleibt der Tod? Starkblom sitzt
auf dem Sopha und stützt den Kopf in die Hände -- es ist alles anders,
alles so anders, o pfui, pfui, alles matt und gewöhnlich und niedrig
und mittelmäßig. Wo bist du Größe, Größe der Gedanken, Größe der
Erscheinung? Ich will schlafen, ich will nicht mehr träumen -- o wenn
ich weinen könnte, oder lachen, lachen -- Aber nur nicht mehr dieses
trockene Schluchzen, dieses Mittelding zwischen Weinen und Lachen.
Alles zuckt an mir, doch ich kann nicht tanzen; ich ächze, o könnte ich
singen! O ich kann’s ja nicht mehr aushalten -- ich werde sterben, bald
sterben. O pfui, pfui!

       *       *       *       *       *

Was ist ein Leben, wo die Ueberraschung fehlt und der Zufall und das
Plötzliche und die Blindheit? Wo es eine Ueberlieferung giebt und eine
Vermittlung und ein Rechnen? Ein Rechnen mit Gewesenem, ein Berechnen
des Kommenden? O Natur, wie neide ich dir dein Glück! Seht diesen
Wassersturz hoch vom Berge hinab in die Tiefe! Wie wandelt die Welle
hier noch so friedlich, wie freut sie sich ihrer grünen Ufer und ihrer
Blumen und Steine und plötzlich da -- das Ereignis, das sie niemals
geahnt! Sie stürzt hinab, tief, tief! O dieses Brausen und Schäumen,
dieser Jubel des Nieerhörten und Niewiederkehrenden! Diese Seligkeit
des Vergessens und des Entdeckens und des wieder Vergessens. Wie viele
Wasser sind schon da hinabgestürzt und keine Woge hat es der andern
gesagt, kein Papier verbindet die einzelnen Tropfen und trennt sie
von ihrer eigenen Herrlichkeit. Aber bei uns -- ewig Gewesenes! Wollen
wir denn nicht endlich und endlich das Alte töten? Sind wir noch nicht
altersschwach? Ich bin es, ich bin es -- ich breche zusammen unter der
Last des Vergangenen. O könnte ich alle Ueberlieferung töten, dann, ja
dann wollte ich leben. Ich kann sie töten, wenn ich mich töte. Dann bin
ich ein Teil der Natur -- nein, nein, dann ist ich nicht mehr, dann
ist sie, sie, die Natur! Ich hasse euch, weil ihr noch leben wollt,
ihr Narren! Ich _will_ noch nicht sterben, ich muß warten, ob ihr euch
nicht doch noch entschließet, mit mir zu gehen, damit Mensch aufhöre
zu sein. O ich würde nicht zu euch reden, wenn ich wüßte, wie ich
euch morden kann! Euch alle zusammen! Ich will nicht, daß noch einer
kommen muß nach meinem Tode, der dasselbe erleben muß. Ich will nicht.
Ich will, daß mein Tod einen Sinn hat. Mir ekelt vor meinem letzten
Gedanken. Mir ekelt vor dem Alleinsein.

       *       *       *       *       *

Das große Ereignis, das Starkblom immer verkündet hat, ist eingetreten.
Die »Secte von Altersschwachen und übergeschnappten Lebemänner«, wie
sich noch ganz kurz vorher radikale Parteiführer ausgedrückt hatten,
hat die ganze civilisierte Welt erobert. Ein religiöser Taumel riß alle
hin, die mit der Bewegung in Berührung kamen. Die große Arbeitermasse,
die bisher dem Sozialismus gefolgt war, ist mit eins müde geworden der
Hoffnung auf das Leben und hat eingesehen, daß ihre revolutionäre alles
verneinende und umstürzende Leidenschaft wohl einen Grund hat und darum
ihre Berechtigung, aber keinen Zweck. Sie haben eingesehen, daß nicht
der Zweck d. h. der Wahn, das Recht schafft, sondern der Grund, und
das ist in diesem Fall die Unterdrückung und die Hoffnungslosigkeit.
Sie wollen sterben, warum nicht, sie wären ja doch gestorben, aber
vorher wollen sie noch einreißen! Ist es Rachsucht, was sie treibt, ist
es Wahnsinn, ist es Verführung? Wer weiß es und was liegt daran. Man
denkt nicht mehr in dieser Zeit der taumelnden Auflösung, man genießt
seine Leidenschaft und man handelt. Sie hören auf zu arbeiten, sie
zertrümmern die Maschinen, die Armeen werden angesteckt und laufen
auseinander, Männer und Frauen hören auf sich zu bekleiden und gehen
nackt durch die Straßen, denn sie haben keinen Schnupfen mehr zu
fürchten, es wäre doch ihr letzter. Die Staatsgewalt ist ohnmächtig
und hört auf zu sein. Man raubt seine Bedürfnisse, der Vorrat ist groß
genug für die kurze Zeit; fürchterliche Wildheit fletscht ihre Zähne
und bricht überall aus und doch durchflutet die meisten eine Ahnung
von der seligen Schönheit ihres bewußtlosen Thuns; Männer und Frauen
umarmen sich auf öffentlichen Plätzen; wer dem andern ins Gehege kommt,
wird ermordet, zahllose Einzelne und Paare sterben schon jetzt, die
neugeborenen Kinder werden fast alle getötet.

       *       *       *       *       *

Als die Dinge soweit waren, bekam Starkblom eines Tages einen heftigen
Weinkrampf und am Tage darauf einen furchtbaren epileptischen Anfall,
aus dem er kaum mehr erwachen wollte. Als er aber nach ein paar Tagen
sich wieder erholt hatte, stellte er sich von neuem an die Spitze
der Bewegung, soweit sie sich noch beherrschen ließ. Er wollte sich
nicht täuschen lassen durch den anscheinend vollständigen Sieg seiner
Sache; es war noch vieles zu thun. Er saß jetzt meist einsam oder
umgeben von seinen Vertrautesten im stillen Zimmer und schmiedete
Pläne oder hielt Kriegsrat. Es konnten sich in später Zukunft aus den
wilden Völkerschaften, die noch nicht ergriffen waren, auch wieder
civilisierte Menschen entwickeln. Das durfte nicht sein. Er schlug
vor, einen gewaltigen Kriegszug auszurüsten, zunächst ins Innere
Afrikas. Einer seiner Jünger aber meinte, das halte zu lange auf.
Man solle Prediger hinschicken. Die Idee des Todes sei so einfach
und überzeugend, daß auch diese rohen Menschen sie verstehen müßten.
Einstweilen müsse man in Europa mit dem großen Tode beginnen. Sonst
verflache die Bewegung wieder. Es müsse jetzt gehandelt werden.

Aber wie es mit den hochentwickelten Tieren sei, wandte ein anderer
ein. Sie haben das Selbstbewußtsein, täuscht euch darüber nicht. Wäre
es nicht ekelhaft, wenn wir sterben würden und müßten diese am Leben
lassen. Hunde, Pferde, Ameisen, Bienen, diese vor allem müßten mit
Stumpf und Stiel ausgerottet werden.

O all unser Thun ist nur Stückwerk, seufzte da ein ganz junger Mann,
der bisher fast am leidenschaftlichsten in der Bewegung gewirkt hatte.
Ich fürchte, auf dem Mars leben auch denkende Wesen. Die können wir
auch nicht erreichen. Wir wollen jetzt sterben, aber alles was wir
möchten, können wir doch nicht ausführen. Nicht bloß die Menschen,
nicht nur die Tiere, nicht nur diese Erde, nein, die ganze Natur, die
Welt müßten wir zerstören können. Und können wir das?

Verfluchter Verräter! Treuloser! schrieen die andern. Du beschimpfst
unsre gute Sache. Und sie drangen mit erhobenen Fäusten und blanken
Schwertern auf ihn ein.

Da lachte der Jüngling wild auf. Haha, haha! Ihr wollt mich töten, ihr
Todesfrohen? Laßt mich doch leben, das wäre die rechte Strafe! Aber ihr
mahnt mich recht, ihr Narren. Wenn ich tot bin, dann ist auch die Welt
tot -- für mich. Was liegt mir an euch?

Und er ging ins Nebenzimmer, wo ein wunderschönes fünfzehnjähriges
Mädchen schlief, totmüde von dem wilden Toben dieser Tage. Er weckte
sie rasch, riß die Schlaftrunkene an sich und umarmte sie stürmisch.
Dann riß er das Fenster auf, umschloß sie eisern mit seinen Armen und
beugte sich weit vor. Ein heftiger Schlag, und die Leute unten fanden
zwei unförmliche Leichen.

Starkblom schwamm es vor den Augen. Das war das bekannte Zeichen. Der
Anfall drohte wieder. Doch ging es diesmal wieder vorbei: Kurz lachte
er auf. Der Mann hat recht. Es ist bald Zeit für uns. Die andern mögen
für sich selbst sorgen.

       *       *       *       *       *

Graut euch vor mir und meinem Doppelgänger? Ihr wendet euch mit
Entsetzen ab vor den Ergüssen meines verrückten Hirns? Ich aber
sage euch: ich preise diesen Starkblom, er hat das wahre Glück, er
hat es schon vor dem Tode. Er glaubt an sich, wie der Kirschbaum
an sich und seinen Blütenschnee glaubt, bevor der Frost kommt und
seine Blüte verdirbt, wie die Lawine an sich glaubt, die krachend
ins Thal hinabschmettert. Wußtet ihr nicht, daß die Natur grausam
ist für schwächliche Zuschauer? Warum seid ihr auch Draußenbleiber,
ihr winzigen Narren, mit eurem Denken und eurem Jämmerlein und eurer
Moral und euren Hosen? -- Starkblom der Erste ist heute wieder einmal
fröhlich und guter Dinge, er ahnt den Zweiten in sich und ahnt den Tod
und die Unbesonnenheit und Selbstverständlichkeit und den freien Wurf
und die Kälte -- die ihr Narren Unverfrorenheit zu nennen beliebt. Ich
pfeife auf euch, meinetwegen könnt ihr immerhin leben, ihr belustigt
mich! Laßt euch nicht einfallen zu verzweifeln und zu winseln und den
Tod zu begehren und zu wähnen, ihr wäret mir gleich! Wer weiß -- ob ich
dann nicht leben will -- um mein Gelächter noch eine Weile zu genießen?

       *       *       *       *       *

Und immer mächtiger und mächtiger schwollen die Heere der Sterbenden
an. Und auf einmal war das Vorpostengefecht aus, es knatterten nicht
mehr an allen Ecken Europas vereinzelte Schüsse, ganze Städte sprengten
sich in die Luft, und von allen Seiten wie auf ein Commando strömten
die Landbewohner herbei und stürzten sich in die Flammen der brennenden
Straßen und Wälder. Eisenbahnzüge über Eisenbahnzüge fuhren nach
allen Richtungen hinaus -- den Meeren entgegen, und bald waren nicht
nur Tausende und Hunderttausende, nein Millionen und Abermillionen
von Menschen versenkt in den Tiefen der Oceane. Die Haustiere wurden
vielfach mitgenommen, sonst kümmerte man sich um nichts mehr. Starkblom
blieb mit einem getreuen Stab von einigen Tausenden zurück in der Mitte
Deutschlands und lenkte und berechnete die Bewegung. Er sandte seine
Leute aus nach allen Seiten und bald konnten sie zurückkehren wie die
Taube mit dem Ölzweig: nirgends mehr ein Mensch zu sehen. Da verließ
er seine Umgebung mit einem Mal und reiste weg. Er war verschollen.
Fieberhafte Aufregung befiel seine Getreuen. Schon murmelte man hie
und da vom Verräter. Er wolle sie alle noch in den Tod treiben und
dann am Leben bleiben ganz allein. Sie hatten unrecht -- zunächst. Er
wollte sich nur noch einmal satt sehen an der Erde. Und er sah sich
satt. -- Niemals in seinem ganzen Leben hatte er sich so selig, so
erhoben gefühlt wie jetzt, da er ganz allein durch Thäler und Gebirge
schweifte, die Ruinen der Städte und Dörfer sah und in die Lüfte
emporjauchzte: Allein! allein mit der Natur! Dann aber schien ihn der
wahnsinnige Gedanke wirklich anzufallen. Er näherte sich wieder dem
Platze, wo er seine Gefolgschaft vermutete und eines Nachts schlich er
sich in ihr Lager. Es schien ihm zu glücken was er wollte. Niemand sah
ihn. Und er trat in das Zelt zu dem Weibe, das er suchte, und weckte
sie. Dann flüsterte er erregt auf sie ein und hielt sie umfangen, an
allen Gliedern zitternd. Und er schien zu siegen. -- Sie folgte ihm.
Sie flüchteten hinaus in die Einsamkeit, in ein wundersames Thal.
Niemand hatte ihre Spur gefunden. Adam und Eva! jauchzte er, als sie
allein waren und gerettet, wie es schien. Wir beide allein im Paradies
-- Sie mögen sterben, sie sollen sterben! Wir bleiben zurück und
gründen ein neues Geschlecht. Wir wollen leben, wir schaffen ein neues,
herrliches Leben, eins mit Natur und Vernunft. -- Indessen wurden er
und sie -- denn man hatte ihre Flucht entdeckt und ahnte schlimmes --
eifrig gesucht. Nach einigen Wochen aber stellte er sich freiwillig ein
bei der Schaar seiner Freunde und zwar -- allein. »Verzeiht mir, meine
Freunde,« sagte er kurz und freundlich, »ich habe einen letzten Versuch
gemacht. Doch auch der ist unmöglich. Das noch am wenigsten. Ich habe
das Weib mit diesen meinen Händen erdrosselt. Nun wohlan, wir wollen
sterben, ich bin bereit. Jetzt bin ich reif.«

       *       *       *       *       *

Und sie zogen an die sonnigen Ufer des Rheins. Es war zur Zeit der
Rebenblüte. Dort führten sie noch mancherlei wundersame Comödie auf,
als trennten sie sich nur ungern von dem Gedanken an den Tod. Denn sie
ahnten, wenn sie erst tot waren, hatten sie nur wenig Vergnügen davon.
Starkblom war wieder aufgethaut und äußerst gesprächig geworden. »Was
die Erde wohl ohne uns anfangen mag?« sagte er einmal. »Wir waren doch
sicher ihre größte Unterhaltung. Ich hoffe, sie langweilt sich ohne uns
zu Tode und stürzt in die Sonne. Vielleicht bringt das dann so große
Unordnung in die Welt, daß alles durcheinander kommt und alles wieder
zu eins wird und nichts mehr gesondert ist. Denn wisset, das will ich
euch noch sagen: eins und nichts -- das ist dasselbe. Die Besonderung
und die Verschiedenheit erst hat Welt und Leben und Bewußtsein erzeugt.
Ist die Welt erst eins, dann ist nichts mehr, dann ist das Nichts da,
das absolute Nichts.«

Und dann stürzten sie sich hinein in die Fluten -- allesamt. Und nach
kurzer Frist war das Gelächter und der Gesang und das Angstgeschrei
verstummt -- denn einige schrieen auch -- und menschlos war die
Erde weit und breit. Der Rhein aber floß ruhig weiter, und bald
kamen die Tiere des Waldes und spitzten die Ohren und tranken aus
kühlen Gewässern, und grün umwucherte die Pflanzenwelt die ganze
Erde und umspann die Trümmer der Menschenbehausungen, und ein Singen
und Jubilieren der Vögel erhob sich wie nie zuvor, und die Blumen
leuchteten und dufteten in süßer, nieerhörter Pracht, und die Bäume
rauschten und erzählten es den Winden, und die Stürme heulten es
weiter, und die Erde brauste klingend ihre Bahn dahin: er war tot, er
war tot! der große Peiniger!

       *       *       *       *       *

Und jetzt greife ich mir an den Kopf und der geneigte Leser thue
desgleichen. Beruhige er sich, er lebt noch, und ich werde ihn
auch nicht ermorden. Ich aber bin Starkblom, nicht Starkblom der
Todesprediger und nicht Starkblom der Epileptische -- bloß Starkblom
der Erste, Starkblom der Leidende und Starkblom der Sterbende. Ja, ich
werde sterben, ihr werdet nichts mehr von mir hören. Und so wünsche ich
euch denn zum letzten Male ein herzliches Sterbewohl.

            =Karl Starkblom.=

        ❦




Fünfter Abschnitt.


Ein paar Wochen, nachdem diese Schrift Starkbloms erschienen war, stand
in einer hellen Mansardenwohnung in Paris ein junges Weib von schier
übermenschlicher Größe über einen Tisch gebeugt, damit beschäftigt,
das Notwendigste in eine kleine Reisetasche zu packen. Ein Mann
mit kurzgeschorenem, meliertem Vollbart, der aber noch viel jünger
zu sein schien, als seine grauen Haare und sein gefurchtes Gesicht
hätten vermuten lassen, lag, eine Cigarette rauchend, auf dem Sopha
und schaute lächelnd wie ein Spitzbube, dem ein feiner Plan gelingen
will, zu, wohl auch voll Vergnügen über die wundervolle Gestalt des
Weibes. Sie hatte sehr ebenmäßige Formen, sie war nichts weniger als
schlank, was sich auch zu ihrer Größe nicht hätte schicken wollen,
ihr Gesicht war breit und zeigte ein ungemeines Wohlwollen, auch ihre
Augen blickten groß und gütig und verständnisvoll in die Welt; ihre
Stirne war frei, aber weder hoch noch gewölbt, die Haare trug sie kurz
geschnitten und glatt gescheitelt.

Sie war jetzt fertig und schloß die Tasche.

»Sag’ einmal, Hänschen«, damit nahm sie das Gespräch wieder auf,
»willst du wirklich nicht gleich mitkommen? Ich gehe natürlich auch so,
sehr gern sogar, aber es ist doch die eigentümlichste Situation meines
ganzen Lebens.«

»Das doch schon seltsame genug aufzuweisen hat«, fiel er lachend ein.
»Nein, meine liebe Marguérite, ich komme nicht mit. Das würde gar nicht
in meinen Plan passen. Du hast doch alles verstanden, wie ich es meine?
Nicht wahr? Mich erwähnst du natürlich gar nicht. Du mußt ganz thun,
als ob ich nicht existierte. Und dann, wenn du meinst, es sei an der
Zeit, dann telegraphierst du. Ich komme dann sofort. Ich freue mich
heidenmäßig und ich glaube, die Sache gelingt.«

»Das weiß ich noch lange nicht. Mir ist gar nicht so wohl dabei. Wenn
er mir zum Beispiel, kaum daß ich sein Zimmer betreten habe, die Thüre
weist?«

»Das thut er ganz sicher nicht. Der Mann fühlt sich ja kläglich
vereinsamt, das spricht ja aus jeder Zeile. Ich vermute ganz etwas
anderes.«

Dabei lächelte er und pfiff vor sich hin.

»Nun?«

»Hm, hm.«

»Ich weiß nicht, ich halte es für sehr leicht möglich, daß er sich
schon getötet hat, ehe ich ankomme.«

»Hm, freilich, das ist nicht ausgeschlossen. So etwas ist nie
ausgeschlossen. Das Sterben ist meist eine Sache des Augenblicks.
Aber bei ihm glaube ich’s doch nicht. Weißt du, darin fühle ich mich
ihm doch verwandt. Wir sind Männer des Abwartens. Der überlegt sich’s
hundertmal, aber auf einen Impuls hin, plötzlich, thut er’s kaum. Aber
weißt du, was ich meine?«

»Ja?«

Er schaute ihr voll in’s Gesicht.

»Er wird sich in dich verlieben, Marguérite, toll, leidenschaftlich
verlieben.«

Sie errötete langsam, doch schlug sie die Augen nicht nieder.

»Und ich?«

»Das kann ich dir wirklich nicht sagen. Ihn kenne ich ja nicht. Für
ausgeschlossen halte ich’s aber gar nicht, daß auch du -- Nun, das wird
sich finden. Daß du in solchem Falle keine Rücksicht auf mich zu nehmen
brauchst, weißt du.«

»Gewiß, das weiß ich. Ich könnte auch keine nehmen, mein liebes
Hänschen.«

»Nun, wir blieben darum doch die Alten«, sagte er mit leuchtenden
Augen, ergriff ihre herabhängende Hand und drückte sie an die Lippen.

Dann sprang er auf und ging im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er
wieder vor Marguérite stehen.

»Die Sache freut mich, weißt du, die Sache freut mich königlich. Immer,
wenn ich anfange mich zu langweilen, sendet mir doch ein gütiges
Geschick etwas neues, noch größeres. Weißt du, diese Bombengeschichte
wird nun schon recht, recht langweilig.«

»Aber es sind doch tüchtige, ungewöhnliche Menschen.«

»Gewiß sind sie das, gewiß. Aber weißt du, in der Vorbereitungszeit,
anfangs, da gefielen sie mir doch besser. Jetzt, wo sich die Folgen
einstellen, wo ein paar verhaftet sind und andere vor der Ausweisung
stehen, jetzt legen sie sich ein bischen Pathos an und einige
deklamieren schon märtyrermäßig. Und weißt du, _das_, nein, das steht
ihnen nicht gut.«

»Aber Jean, du übertreibst ja. Was du Pathos nennst, ist doch auch
meist nur Hohn. Ich glaube, sie sind freie Menschen geblieben, die sich
für nichts besondres halten, aber die Welt für noch viel weniger.«

»Nun, ich lasse ihnen ihr Vergnügen gern. Aber auf die Dauer ist’s doch
nichts für mich. Ein Sporn zur Ernsthaftigkeit liegt doch auch noch
darin, und du weißt, das mag ich nicht. Drum ist’s gut, daß mir die
Geschichte dazwischen kam.«

»Ein klein wenig ernst ist’s dir damit aber erst recht. Ich meine
sogar, sehr viel Ernst.«

»Meinst du? Das leugne ich gar nicht. Aber doch nur, weil mir’s Spaß
macht.«

»Nun, das ist eine Erklärungsart, wie andere auch.«

»Meine weise Pythia, ich weiß schon, du bist anders als ich, ein wenig,
nicht so gar. Drum schicke ich dich jetzt auch zu einem fürchterlich
ernsthaften Kerl.«

»Ich fürchte ihn nicht. Auch glaube ich, ist er unserm Standpunkt schon
sehr nahe gekommen. Es braucht nur noch einen Ruck, dann haben wir ihn.
Weißt du, was ihm hauptsächlich fehlt?«

»Nun? Übrigens ist es bald Zeit für dich.«

»Natur fehlt ihm. Verstand hat er genug.«

»Natur ... Natur? Ja die fehlt mir auch. Die hast nur du, meine
Marguérite. Aber weißt du, ich habe mir einen Ersatz zurecht gemacht im
Lauf des Lebens. Es ist doch etwas großes, daß der Mensch jetzt auch
seine behagliche Existenz sich schaffen kann, weit weg, weit von der
Natur. Im Gegensatz zu ihr.«

»Nun, schiffbrüchig seid ihr doch alle. Ihr denkt nur nicht mehr daran.
Jetzt will ich aber gehn.«

Sie setzte den Hut auf.

»Also, mein großes Kleinod, leb’ recht -- Das heißt, ich werde dich zur
Bahn begleiten. Also du begreifst alles? Du wirst’s gut machen?«

»Verstanden hab’ ich alles, auch thu’ ich’s nicht dir zu Liebe, sondern
weil’s mir selbst Bedürfnis ist, den Mann zu sehen und ihm zu helfen.
Ich thue, was ich kann.«

»Dann ist’s gut, sehr gut. Komm, ich will dich noch küssen, bevor wir
gehen.«

Marguérite beugte sich tief zu ihrem Hänschen herunter und küßte ihn
auf den Mund. Dann ging das ungleiche Paar die Treppe hinab.

       *       *       *       *       *

Zwei Tage später, morgens gegen 3 Uhr, stand Marguérite vor dem Weißen
Hause. Sie betrachtete die freundliche Villa ein Weilchen und holte
Athem, dann öffnete sie die Hausthür und stieg die Treppe hinauf. Im
Flur sah sie niemanden. Sie klopfte an eine Thüre, keine Antwort.
Nun öffnete sie. Es war ein Schlafzimmer, das wohl erst vor kurzem
verlassen worden. Das Bett war noch nicht in Ordnung, die Luft nicht
die beste. Sie blieb eine kurze Zeit zwischen Thür und Angel stehen,
dann trat sie rasch entschlossen ein. Eine Thüre, die geschlossen war,
führte wohl in die andern Zimmer. Sie hörte auf- und abgehende Schritte
und verworrenes Brummen. Das mußte er sein. Sie stellte die Reisetasche
auf den Tisch und legte den Hut ab. Dann goß sie aus dem Kruge etwas
Wasser über ihre Hände und benetzte ihre Augen und ihr Haar. Nachdem
sie sich abgetrocknet hatte, blieb sie noch eine Zeitlang stehen, die
Hände auf die Brust gelegt und schwer atmend. Dann ging sie leise zur
Verbindungsthür und krümmte den Zeigefinger um anzuklopfen. Rechtzeitig
aber noch ließ sie die Hand sinken und schüttelte den Kopf. »Das wäre
nichts,« flüsterte sie leise. Dann öffnete sie beherzt die Thüre. Sie
blieb stehen und hielt den Athem an. Am Fenster gegenüber, das geöffnet
war, stand ein Mann, ihr den Rücken zukehrend, in Hemdärmeln. Seine
Augen blickten wohl ins Thal hinunter, währenddem aber waren seine
Hände angestrengt bemüht, einen Kragen, der ihm vermutlich viel zu
eng war, anzulegen. Sie hörte wieder das brummende Ächzen. Um ihre
Mundwinkel zuckte es leicht. Auf einmal aber ließ seine Hand den
Kragen los, er stampfte heftig mit dem Fuß auf und schlug sich mit der
Faust an die Stirn. Dabei rief er laut:

»Herrgott Donnerwetter, der Kerl macht mich noch verrückt!«

Da konnte Marguérite nicht mehr. Sie lachte laut auf.

Starkblom zuckte heftig zusammen und drehte sich rasch um.

»Wie -- was -- wer sind Sie denn? was wollen Sie? wie kommen Sie denn
hierher?«

»Davon nachher. Vielleicht erlauben Sie, daß ich Ihnen zuerst helfe den
Kragen schließen?«

Starkblom blickte sie mißtrauisch an.

»Aber entschuldigen Sie, wie kommen Sie denn hierher? Wo haben Sie denn
Ihren Hut?«

»Den habe ich im Nebenzimmer abgelegt. Ich sah niemanden und trat
deswegen gerade herein. Ich komme von weit her, um mit Ihnen ein
vernünftiges Wort zu sprechen. Erlauben Sie jetzt --?«

Starkbloms Miene heiterte sich auf. Er lächelte.

»Ach so, Sie haben gelesen --? Die Brochüre? Nicht wahr? Und kommen zu
mir? Sehr schön. Und da wollen Sie mir -- den Kragen zumachen? Nun --
immerhin, meinetwegen.«

Sie trat näher und machte sich ans Werk.

»Sind Sie aber groß!«

»Bitte stillhalten, ~Monsieur~, sonst geht’s nicht.«

»Aber Vorsicht, bitte, Sie erwürgen mich ja!«

Sie ließ die Hände wieder sinken und schaute ihm lachend ins Gesicht.

»Wäre das denn so schrecklich?«

»Jaja, jaja, lachen Sie mich nur aus. Sind Sie deswegen gekommen?«

»Ein wenig, ja.«

»Soso. Nun, dann möchte ich Sie bitten, mir den Kragen vollends in
Ordnung zu bringen, und dann -- ja dann werden Sie wohl wieder gehen
können. Oder wollten Sie noch etwas anderes als Ihr Amusement?«

»Gewiß, gewiß, auch noch etwas anderes. Aber jetzt Ruhe. So, jetzt
wären wir fertig. Drückt er Sie nicht?«

Starkblom warf ihr einen grimmigen Blick zu. »Nein,« sagte er dann
kurz. Er ging noch etwas im Zimmer hin und her, dann nahm er seinen
Rock von dem Haken an der Wand und zog ihn an.

»So. Wollen Sie vielleicht Platz nehmen, mein -- Fräulein? Oder --?«

»Das ist gleichgiltig. Aber nennen Sie mich lieber Frau.«

Sie setzte sich an den Tisch. Starkblom blieb vor ihr stehen und
betrachtete sie. Dann kratzte er sich an der Stirn. Er fand die
Situation recht unbehaglich.

»Woher kommen Sie denn?«

»Von Paris.«

»So? Schöne Stadt?«

»O ja.«

»War nie da. -- Soso. Merkwürdig.«

Es trat eine Pause ein. Dann fing Starkblom wieder an:

»Nun also -- wenn Sie das Ding gelesen haben und verstanden, dann
kennen Sie mich ja ein wenig. Ich habe keine Lust, mich zu unterhalten.
Ich kann’s auch nicht. Mir preßt’s die Kehle zusammen --«

Marguérite lächelte gutmütig.

»Zum Teufel noch einmal, kommt Ihnen schon wieder der verfluchte Kragen
in den Sinn? Weiber, Weiber!«

»Kennen Sie denn die Weiber?«

Starkblom schaute sie groß an.

»Wirklich, nicht sonderlich. Ich hab’ zwar früher einmal eine Frau
gehabt, wissen Sie, damals, als ich noch -- aber was, das interessiert
Sie ja doch nicht. Was wollen Sie denn?«

»Es interessiert mich, Starkblom. Damals als Sie noch -- glücklich
waren?«

»Ach was, glücklich! Ein Philister war ich! Sie war ein Weib wie
andere mehr. Ein Glück für sie, daß sie tot ist. Sie würde mich
nicht verstehen, wie ich heute bin. Versteht mich überhaupt niemand.
Verfluchte Welt.«

»Ich glaube, ich verstehe Sie, und darum komme ich. Wollen Sie mich
anhören? Ich habe Ihre beiden Schriften gelesen, beide; ich habe tief
hineingeblickt in den Abgrund Ihrer Gedanken und Ihrer Verdüsterung,
Sie suchen einen Menschen, und ich kam zu Ihnen. Sie suchen einen
Menschen, der mit Ihnen --«

Starkblom hörte schon lange nicht zu. Er war mit kleinen Schritten
ungeduldig hin und her gegangen, hatte dann auch einmal die Thüre
geöffnet und hinausgehorcht und trat nun vor Marguérite hin.

»Wollen Sie vielleicht mit mir frühstücken? Ich habe Hunger.«

»Ich glaube, jetzt verhöhnen Sie mich,« erwiderte Marguérite errötend.

»Was? Fehlt Ihnen etwas? Meinen Sie denn, ich könne von der Luft leben?
-- Oder -- ach so -- ja wissen Sie, zugehört habe ich Ihnen nicht. Sie
können ja dann Ihre schöne Rede hernach wiederholen. -- Na endlich, wo
stecken Sie denn so lange?«

Das Letzte sagte er zu der Haushälterin, die mit Thee, kaltem Braten
und Wein hereinkam und die Augen weit aufriß, als sie so ungewohnten
Besuch sah.

»Wundern Sie sich später und bringen Sie noch eine Tasse und einen
Teller und was weiß ich! Aber rasch!«

Dann wandte er sich wieder zu der fremden Dame.

»Sie werden auch Appetit haben. Greifen Sie nur ungeniert zu.« Dabei
schob er seinen Teller und seine Tasse zu Marguérite hinüber. »Ich kann
warten.«

»Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Starkblom. Frühstücken wir also
zusammen. Trinken Sie so früh schon Wein?«

»Ja, ich habe mir’s in letzter Zeit angewöhnt So, jetzt kann’s ja
losgehn.«

Die Haushälterin hatte das Nötige gebracht, und Marguérite schenkte
erst Thee ein, dann auch Wein für sich und ihn.

Während des Essens blickte Starkblom ein paar Mal zu ihr hinüber.
Schließlich sagte er kauend:

»Was Sie für ein gesundes Gebiß haben. Und dieser Hunger! Und überhaupt
die ganze Gestalt -- wo wächst denn diese Rasse? Sie scheinen mir
überhaupt keine Deutsche, ihrem Accent nach?«

Marguérite lachte.

»Nun, wie man’s nimmt. Geboren bin ich im Elsaß, kam aber ziemlich früh
nach Frankreich.«

Starkblom schaute sie immer noch an.

»Prachtvoll, prachtvoll«, brummte er dann, und Marguérite ward rot.

Er erhob sein Glas.

»Na, prost, Frau -- und Ihr Name? Darf ich den wissen?«

»Ich heiße Marguérite. Das andere ist nebensächlich, nicht?«

Sie stieß mit ihm an.

»Und was lassen wir leben?« fragte sie mit anspielendem Lächeln.

»Leben ... leben? Ach so, denken Sie daran? Und -- Sie wollten?«

Er blickte ihr tief ins Auge. »Tod --? mit --?«

Sie schlug die Augen nieder und kratzte mit dem Messer auf dem Teller
herum.

»Vielleicht«, sagte sie leise.

»Na, prost«, brach er kurz ab und trank sein Glas mit einem Zuge aus.

Kurz nachher stand er auf und trat ans Fenster.

»Haben Sie schon genug?«

»Ja. Ich fühle mich nicht ganz wohl.«

Marguérite legte leise Messer und Gabel weg. Sie starrte vor sich
hin. Auf einmal überwältigte sie das Bewußtsein dessen, was sie
gethan hatte und was noch bevorstand und der ganzen Situation, und sie
schlug die Hände vors Gesicht. So verblieb sie lange. Plötzlich sagte
Starkblom vom Fenster aus, ohne sich umzusehen, in sehr traurigem Tone:

»Nun, Frau Marguérite, wollen Sie jetzt Ihre Rede halten? Wozu sind Sie
bereit? Was halten Sie von mir?«

Marguérite ließ die Hände sinken; sie war glühend rot geworden. Dann
erhob sie sich, blieb aber am Tische stehen und sagte zaghaft:

»Lassen Sie mich wieder gehen. Ich weiß nicht -- es ist falsch -- es
geht nicht --.«

Starkblom drehte sich um und sah sie erstaunt an. Dann ahnte er,
vielleicht zu begreifen, was in ihr vorgehe. Er schwieg lange und
blickte sie an. Dann fing er an:

»Vielleicht war Ihr Gefühl das richtige, als Sie kamen. Schrecken Sie
nicht zurück. Ich bitte Sie zu bleiben.«

Und er ergriff ihre Hand.

»Wenn Sie auch jetzt nicht reden können. Bleiben Sie nur. Wir haben
Zeit. Oder haben Sie einen speziellen Grund, irgend einen Vorgang in
der letzten Zeit Ihres Lebens, mich aufzusuchen?«

»Nein, das nicht. Aber Sie verkennen mich nicht? Sie mißachten mich
nicht?«

Starkblom wurde sehr verlegen. Er wußte nicht, was sagen. Endlich
stotterte er:

»Aber ich bitte Sie ... aber Frau Marguérite ... aber mißachten ...
was fällt Ihnen ein? Sie scheinen ja eine ... vorzügliche Frau. Ich
begreife Sie, wenn ich auch nicht weiß, wie Sie dazu kommen. Wollen Sie
mir nicht etwas erzählen -- von Ihrem Leben?«

Marguérite setzte sich wieder aufs Sopha und strich langsam mit beiden
Händen über ihr dunkles Kleid. Er blieb vor ihr stehen, indem er sich
mit gekreuzten Beinen an den Tisch lehnte und sie anschaute.

»Ach, da ist nicht viel zu erzählen. Ich bin das Kind reicher Bauern.
Dann kam ich früh zur Erziehung in ein Kloster nach Frankreich. Dort
riß ich aus -- mit -- nun, es ist gleichgiltig. Die Sache ist längst
vorbei. Aber ich kam durch ihn damals schon in eine Gesellschaft freier
Menschen, Männer und Frauen, hauptsächlich Russen und Polen. Seitdem
habe ich sehr viel gelesen, auch einiges mitgemacht. Ich -- nun ich bin
eben frei geworden durch all’ das.«

»Soso. Schön, sehr schön. Was verstehen Sie denn darunter: frei
geworden?«

»Nun, ich meine, Sie müßten das doch auch kennen. Ich habe wenig
Vorurteile, verstehe viele, auch verschieden geartete Menschen, kann
mich in vieles hineinfinden und folge im übrigen meiner Natur, wie
sie nun einmal ist, geworden ist durch diese und jene Umstände der
Vergangenheit und Umgebung. Das nenne ich vor allem frei, daß man sich
nicht schämt, täglich tausend Dinge zu thun, die der Verstand nicht
erklären noch billigen kann. Zum Beispiel auch, zu leben und glücklich
zu sein. Ohne einen Vernunftgrund dafür angeben zu können.«

In Kürze etwa: »Sie sind ein Philister ohne Vorurteile?«

»Jawohl, jawohl,« antwortete sie lebhaft. »Das acceptire ich. Man muß
ein Philister sein, aber ein idealer. Man kann nicht leben ohne das. --
Und man _will_ leben«, fügte sie noch mit Bestimmtheit hinzu.

»Und ich sage: man will nicht«, rief Starkblom mit Entschiedenheit und
schlug auf den Tisch.

»Nun gut: sterben Sie.«

»Ich meine; man sollte nicht wollen.«

»Nun ja, das ist es ja eben. Das ist eine Theorie. Das kann ich
fassen; ich verstehe es vollkommen. Nach dem heutigen Stand unseres
Geistes können wir nicht begreifen, wozu wir leben. Ganz recht, ganz
gut. Das gebe ich zu. Wir haben nichts Positives, das wir anerkennen,
vollständig nichts. Und wir werden auch nie zu den alten Positionen
zurückkehren. Wir würden uns schämen. Wir sind keine Romantiker, keine
Philister im alten Sinn. Aber wir warten ab, und das ist Grund genug
für uns, zu leben. Wir sind neugierig.«

»Wir warten ab? Was denn?«

»Nun, das weiß ich nicht. Irgend ein Falsches vielleicht,
wahrscheinlich sogar. Aber das ist nötig. Irgend ein Neues, das
überwältigt, ein neuer, dauerhafter Aberglaube, eine neue Religion,
wenn es sich auch nicht mehr in diese Worte kleidet. Einfach etwas
_Positives_, das allen einleuchtet, das für alle einen Sinn hat. Das
alle überwältigt. Wir haben doch alle eine Ahnung, daß etwas in der
Luft liegt. Etwas Großes, Nieerhörtes. Sie wollten es ja auch schaffen.
Aber Sie konnten nur töten. Nicht zeugen. Also warten wir und leben
wir indessen, leben wir freudig. Genießen wir, auch unsern Schmerz.
Der gehört dazu, für uns sicher. Das ist Ihnen aber doch alles nicht
neu. Sie wollten es nur nicht Wort haben. Vielleicht schämten sie
sich. Aber dessen brauchen wir uns wahrhaftig nicht schämen. Wir sind
Übergangsmenschen, jawohl, und wir fühlen uns als solche. Und wer so
viel durchgemacht hat wie Sie, für den ist das keine Phrase. Nie war
eine solche Zeit da wie die unsere. Und die kommende -- die muß ja noch
viel unerhörter, gewaltiger werden. Ist es vielleicht so -- ist es
nicht so -- habe ich Recht?«

Starkblom hatte ihr voll Bewunderung zugehört. Er hätte nicht gedacht,
daß ein solches Weib lebte. Und nun saß sie hier auf dem Sopha und
blickte ihn freundlich mit schimmernden Augen an. Es schien ihm ein
Märchen. Was er antwortete, war drum auch nur ein mechanisches
Vorsuchen eines altgewohnten Gedankens.

»Ich weiß nicht, ich glaube nicht, daß Sie Recht haben. Ich fände das
doch ekelhaft, zu ekelhaft, ein solches Leben. Und die kommende Zeit --
was liegt an ihr? Es handelt sich um uns, um mich.«

»Jawohl, natürlich, nur darum. Aber unsere Gedanken und Träume von der
Zukunft, und vor allem unsre Neugier, wieviel wir davon noch selbst
erleben, und wie oft sich die Perspektive verändert, das ist ja nur
ein Teil von uns. Sie sagen: wir haben an nichts mehr Interesse. Und
ich sage: o doch, wir interessieren uns noch für sehr vieles. Aber
nein: Sie sagen, wir sollten uns für nichts interessieren. Das ist das
Falsche. Sie tyrannisieren sich durch Ihr ewiges Grübeln. Der Mensch
ist nicht blos Verstand. Wenn Sie sagen: ich will nicht leben, dann
spricht blos ein Teil von Ihnen, der andre aber will leben, o ja, o
ja, er _will_ leben, und er sollte es sich nicht gefallen lassen,
unterjocht zu werden. Er ist mächtiger als alles andre. Er _sollte_
mächtiger sein. Ihr Verstand zehrt an Ihnen. Aber das andere lebt noch
in Ihnen, das spüre ich, das fühlt man aus Ihren Schriften. Und das
ist gut; sonst stünde die Sache verzweifelt. Sie können sich retten,
aber nur Sie selbst sich selbst. Dazu bin ich gekommen, um Ihnen das zu
sagen. Kehren Sie zurück zum Leben! -- Das Leben ist schön!«

Lange blickte Starkblom vor sich nieder. Dann sagte er leise:

»Das alles kenne ich, was Sie da sagen. Sie vermuten recht, das ist mir
nicht neu. Es hat oft in mir empor wollen, und in letzter Zeit mehr
wie je, aber ich habe es bekämpft. Der Geist ist das höchste, was der
Mensch hat. Es ist feige, feige, ihn zu unterdrücken. Wozu Sie raten,
das ist die Herrschaft der andern Triebe über den geistigen. Das könnte
ich nicht aushalten, jetzt nicht mehr; früher vielleicht. Das wäre mir
jetzt zu gemein -- auf die Dauer.«

»O nein, das ist es gar nicht. Ich rate zum Genuß, jawohl, aber auch
zum geistigen Genuß, zu dem erst recht. Aber geistiger Genuß ist nur
möglich in Verbindung mit den andern -- nun sagen wir: Trieben; sonst
artet er aus und treibt zur Vernichtung. Sie wollen das leugnen,
aber Sie können es nicht. Empfinden Sie nicht Genuß bei solchem
Gespräch? Und müßten Sie sich nicht zwingen, aus Gewohnheit und
Konsequenzduselei, auch jetzt etwa zu fragen: was hat das für einen
Zweck? was steckt dahinter?«

Starkblom wurde unruhig; er konnte ihr Auge, das sie voll und ruhig auf
ihn richtete, nicht ertragen. Er kehrte sich ab und sah zum Fenster
hinaus. Sie aber wollte nicht nachlassen. Sie fühlte, sie hatte Einfluß
auf ihn, und sie freute sich, daß ihr Geist sich im Gespräch mit dem
seinen messen konnte.

»Sagen Sie einmal, Starkblom,« fing sie also nochmals an, »was ist das
mit dem Weib in Ihrer letzten Brochüre? An zwei Stellen? Das kommt
so plötzlich und unvermittelt hinein. Was wollten Sie damit? Wenn
es symbolisch sein sollte, gestehe ich, ich habe es nicht verstehen
können.«

Starkblom drehte sich rasch um.

»Es sollte nicht symbolisch sein.«

Dann fügte er zögernd hinzu:

»Es war wohl ein Trieb. Halb Sehnsucht, halb Ahnung. -- Unsinn war es,
Unsinn.«

»Jetzt verstehe ich vielleicht,« sagte sie leise. »Auch das gehört
dazu. Sie sind zu retten, dann erst recht.«

Jetzt sah er ihr fest in die Augen.

»Marguérite, Marguérite,« rief er dann. »Sie treiben ein gefährliches
Spiel. Noch lebe ich, verstehen Sie, noch bin ich Mensch! Hüten Sie
sich!«

Und er streckte die Hand wie suchend nach ihr aus.

»Ich freue mich, daß Sie leben,« sagte sie ängstlich lächelnd und sich
etwas zurückbiegend, »aber Sie sind ein Kind!«

Er fuhr sich verwirrt mit der Hand über die Stirn.

»Wie ... was? Sie meinen ... aber nein, das nicht, das nicht. Nein,
nein. Ich will nicht. Sterben Sie mit mir, Marguérite, ich bitte Sie,
sterben Sie mit mir. Ich will nicht mehr leben, ich kann nicht.«

Marguérite stand auf, heftig atmend und sehr blaß.

»Starkblom,« sagte sie, »Sie sollten nicht eigensinnig sein. Sie thun
sich Gewalt an. Ich würde es vielleicht thun, wenn --«

Sie hielt inne. Starkblom ergriff sie bei der Hand und sah sie mit
fieberndem Blicke an.

»Was würden Sie thun? Was? Marguérite?!«

Marguérite konnte nur noch flüstern.

»Sterben, natürlich sterben. Was sonst?«

Starkblom ergriff auch noch ihre andere Hand.

»Du würdest es thun, Marguérite? Du willst? Ja?«

Marguérite konnte nicht mehr. Sie sank in den Sessel, lehnte sich
zurück und ließ den Kopf zur Seite hängen.

»Ja, ja, ja. Wenn du willst, ja. Aber nicht jetzt, nicht jetzt. Wir
wollen warten. Bedenken. O es _kann_ ja nicht sein.«

Starkblom trat zurück, wie plötzlich ernüchtert.

»Ja, wir wollen warten. Vielleicht -- ach Unsinn.«

Dann griff er sich an den Kopf, wie müde vor Erregung.

»Ach, was ist das heute für ein Tag! Wer hätte das gedacht? Wer hätte
das gedacht?«

Auf einmal zuckte es ihm um die Mundwinkel und in seinem Auge leuchtete
es irr auf. Dann lächelte er fein, fast boshaft.

»Ich glaube, wir belügen uns, Marguérite. Nicht?«

Und flüsternd, aufgeregt stieß er heraus:

»Wir meinen -- es -- anders -- nicht --?«

Marguérite winkte matt mit beiden Händen, er möge aufhören.

»Laß -- -- laß, Starkblom. Ich will mit dir sterben -- oder leben, wie
du willst. Aber schweig jetzt, ich bitte dich. Ich kann -- nicht mehr.«

Und sie lehnte sich müde zurück und schloß die Augen. Starkblom trat
ans Fenster und sah starr hinaus. Dann drehte er sich um und schaute
sie lange an. Ein Zittern überkam ihn. Er wandte sich wieder ab und
zwang sich, auf die Bäume gegenüber zu blicken und hinauf zu den
Wolken. So verblieb er lange.

Endlich fuhr sich Marguérite leicht mit der Hand über die Stirn, als
wolle sie einen Traum verscheuchen. Dann ballte sie eine Faust und fuhr
energisch mit dem Arm auf und ab. Sie konnte sich wieder beherrschen.
Sie ließ ihre Blicke im Zimmer schweifen. Auf einem kleinen Tischchen
lagen Bücher und Zeitschriften ungeordnet durcheinander. Dicker Staub
lag darauf. Sie trat näher und malte gedankenlos Zeichen und Buchstaben
auf die Bände. Dann nahm sie eines der Bücher in die Hand und schaute
nach dem Titel.

»Ah!« sagte sie freudig.

»Was haben Sie Schönes?«

»›Also sprach Zarathustra‹ von Friedrich Nietzsche. Ich habe es nie in
die Hand bekommen, aber viel davon gehört. Ich möchte es kennen lernen.«

»Sie kennen es nicht? Alle Achtung vor Ihnen. Lernen werden Sie nicht
mehr viel von ihm können. Aber die Sprache! die Sprache. Es ist ein
wundersames Buch. Geben Sie her. Ich will Ihnen einiges davon zeigen.«

Er nahm ihr das Buch aus der Hand, setzte sich, schlug aufs Gerathewohl
auf und fing an vorzulesen. Nun las er einen Abschnitt nach dem
andern, immer noch einen. So beruhigten sich ihre aufgeregten Sinne
allmählich. Sie sprachen dann noch lange, Tiefes, auch Gleichgiltiges.
Später gingen sie spazieren und setzten sich ins Grüne. Marguérite
erzählte viel von ihrer Jugend, von den mancherlei Menschen, mit denen
sie zusammengetroffen. Sie hatte viel zu erzählen und berichtete ohne
Scheu. Von ihren letzten Lebensjahren schwieg sie indessen.

Abends sagten sie sich ziemlich früh und ziemlich zurückhaltend,
fast ceremoniell Gute Nacht, und Marguérite begab sich in das
Fremdenzimmer, das seit Starkblom da wohnte, noch nie benutzt worden
war. Sie schaute noch ein wenig zum Fenster hinaus und ließ sich von
der Nachtluft abkühlen, dann legte sie sich ins Bett und kreuzte die
Hände unter dem Kopf, wie sie zu thun pflegte, wenn sie noch nachdenken
wollte. Den ganzen Tag über war es ihr immer von Zeit zu Zeit so
gewesen, sie müsse an etwas denken, sie dürfe es nicht vergessen,
und jetzt wollte sie sich besinnen. Aber ehe sie noch so weit war,
zerflatterten ihre Gedanken in wirres Träumen, und sie schlief ein.

Starkblom aber saß lange noch auf seinem Bett und brütete vor sich
hin. Sollte er vergnügt sein und ausgelassen wie ein tolles Kind
oder sollten sich ihm die Gedärme vor Ekel über sich selber im Leibe
herumdrehen? Er wußte es wahrhaftig nicht. Er hatte die Kniee in die
Höhe gezogen und stützte seinen Ellbogen darauf und hielt seinen Kopf.
Er blickte starr, mit zusammengekniffenen Augen und gepreßten Lippen.
Es fiel ihm nicht ein, sich zu wundern, sein Schicksal erfüllte sich,
das war die natürlichste Geschichte von der Welt. Und dann auf einmal
hielt es ihn nicht mehr, es drückte etwas von innen gegen die starre
Wand seines Mundes und er platzte laut heraus und lachte hell auf und
schlug mit der flachen Hand klatschend auf seinen Schenkel. Freilich
lachte er sich aus, aber eine jugendliche Freude war auch dabei, und
weil er das herausfühlte, mußte er nur immer mehr und immer wieder
lachen und losplatzen. So ein Narr! So ein Narr!

Und dann kleidete er sich rasch aus und legte sich ins Bett und
löschte das Licht. Er warf sich ein paar Mal hin und her, dann schloß
er die Augen fest und blieb ruhig liegen. So, jetzt wird geschlafen,
verstanden? Aber Starkblom wollte nicht verstehen. Er kicherte wieder
ein wenig. Dann öffnete er die Augen weit und sah lange zur Decke
empor. Und als ziehe ihn etwas in die Höhe, richtete er den Oberkörper
auf, winkte mit der Hand in die Luft, und sagte mit vernehmlicher
Stimme: »Gute Nacht, Marguérite! -- Gute Nacht, liebe Marguérite!«
Dann legte er sich wieder ruhig hin und lächelte müde. Und nun kamen
ungeordnet aufgeregte Träume und lösten sich in wirrer Reihenfolge
ab, bald mit offenen, bald mit geschlossenen Augen. So verbrachte er
den größten Teil der Nacht, hin- und hergeworfen von der Unruhe und
ohne Müdigkeit. Es war, als habe er die dunstige Nebelhülle, in der er
sonst sich so wohlig geborgen und so gut und tief geschlafen hatte,
mit eins verloren. Es war so unheimlich klar in seinem Kopfe bei allen
fürchterlichen und thörichten Träumen, die rastlos hin- und hergingen,
und die Augen waren so kühl und wollten nicht geschlossen bleiben, es
war ganz selbstverständlich, daß er nicht schlafen konnte, er hatte gar
keinen Grund zum schlafen. Erst spät am Morgen duselte er ein wenig ein.

Auch die nächsten paar Tage lebten sie ruhig und idyllisch neben
einander hin. Sie lasen, plauderten, gingen spazieren und lagen im
Grünen. Im übrigen hielten sie sich scheu zurück und wollten an das
andre nicht mehr denken. Marguérite war es eingefallen, was sie nicht
vergessen dürfe, aber sie wollte nicht daran denken. Es wird sich schon
finden, es wird sich schon finden. Sie wollte sich gehen lassen.

Starkblom aber ließ sich treiben, wie vom Sturmesbrausen. Er konnte
nicht mehr zurück. Er konnte sich nicht mehr halten. Es war über ihn
gekommen. Er mußte es vollenden. Hinein in die Flut, nur hinein -- Wer
weiß? -- Ja, wer weiß!

Eines Abends, als sie auseinandergehen wollten, um zu schlafen, legte
Starkblom seine zitternde Hand auf ihre Schulter. Seine Kniee bebten.
Und mit verzerrtem blutleerem Gesicht und brennenden Augen bemühte er
sich in ruhigem Ton zu sagen:

»Marguérite, wir müssen die Konsequenz ziehen: warum nicht?«

Sie sah ihn mit entsetzten Augen an: »Du willst sterben? Jetzt?«

Da schrie er laut auf und brüllte:

»Lüge nicht, Marguérite, lüge nicht! Sterben?! Wer denkt ans Sterben?
Leben will ich! Dich! Dich!«

Seine Stimme hatte sich überschlagen und knickte ab. Dann fügte er
ruhiger, fast feierlich hinzu:

»Marguérite, ich bin der Mann!«

Da kreuzte sie die Arme über die Brust, sah ihn ernst und schmerzlich
an und sprach:

»Ich bin das Weib -- ja!«

Und bei dem letzten Wort nickte sie bekräftigend und dann senkte sie
den Kopf und blickte nicht mehr auf.

Er biß die Zähne fest in die Unterlippe, atmete schwer und blickte
bohrend in die Luft. Er trat zurück und blickte an ihr hinauf. Dann
packte er sie plötzlich an beiden Schultern und riß sie an sich. Sie
ließ es willenlos geschehen. Dann flüsterte er zitternd:

»Ich danke dir. Komm!«

Als Starkblom besänftigt und wohlig neben Marguérite lag und ihren
wundervollen Leib umfangen hielt, da schwand rasch die Scham und der
Ekel, die ihn erst hatten überwältigen wollen, und wenn auch sein
Körper matt und unbewegt dalag, die bleierne Mattigkeit seiner Seele
wollte sich von ihm lösen, und Kraft und Freude und selige Unbewußtheit
hielten ihren sieghaften Einzug. Er wurde nicht müde in das ruhige
süßes Behagen ausströmende Auge Marguérites zu blicken und ruhig und
ohne Aufregung lange Küsse auf ihren Mund und ihre Lider zu heften. Und
immer wieder hob sich seine Seele und sein Leib zu der wundervollen
stillen Frau, die ihm manchmal sanft über das Haar strich und ihm den
Schweiß von der Stirne wischte. Sie sprachen auch manchmal zusammen
während der langen schönen Nacht, aber nur kurze hingeworfene Laute,
die im Dunkel verwehten, wie wenn den Vögeln nachts ein goldener Traum
lind über das Gefieder streichelt und sie befangen weiche Töne den
surrenden Lüften vermählen und dann wieder verstummen.

Als das Morgengrauen anfing mit seinen Nebelfingern das Dunkel von den
Scheiben zu wischen, senkte sich die Müdigkeit trennend zwischen die
beiden und sie verfielen in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Spät am Morgen schreckte Starkblom plötzlich empor und blickte verwirrt
umher. Dann fiel ihm alles ein, er fühlte und sah seine schlafende
Gefährtin neben sich und er legte sich lächelnd und behaglich wieder
auf die Kissen zurück. Aber er konnte nicht mehr schlafen, er war
vollständig frisch und munter. Er betrachtete Marguérite, deren breite,
volle Brust sich gleichmäßig hob und senkte, ihre Wangen waren rosig
überhaucht wie nie zuvor. So verblieb er lange, er konnte sich nicht
satt sehen. Dann wäre er gerne wieder müde gewesen, er legte seinen
Kopf, so leicht es ihm möglich war, auf ihre Brust, drehte aber dabei
seinen Körper so, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte. Bald zuckte
es um Marguérites Mund, drückende Träume mochten sie ängstigen, sie
stöhnte leise, dann wachte sie auf und sah in Starkbloms Augen. Eine
unsagbare Heiterkeit verklärte da ihre Züge, beide sprachen kein Wort;
sie blickten sich nur immer an. Auf einmal aber beugte sich Marguérite
herunter, legte ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund.

»Guten Morgen, mein Lieber«, sagte sie dann frei und heiter.

»Guten Morgen, Marguérite«, antwortete Starkblom fröhlich und dankbar.
Dann, während sie sich beide still neben einander legten, fing er an:

»Das kommt mir jetzt erst. Daran hab’ ich noch gar nicht gedacht.«

»Was denn?«

»Das war der erste Kuß, den du mir gegeben hast.«

»So?« meinte sie errötend. »Ja und?«

»Weißt du, ich gebrauche die alten Wörter nicht gern, sie sind so
abgescheuert und gemein geworden und waren von Anfang an nicht tief und
innig genug. Aber -- du verstehst mich ja, wie ich es meine ... also
... nun eben --.«

»Ist es denn so schrecklich, Karl? Was meinst du?«

»Ich meine, jetzt hast du mich geküßt, und vorher -- ich meine, liebst
du mich denn, Marguérite?«

Da drückte Marguérite die Hände fest auf die Augen, runzelte ihre Stirn
und nickte langsam und feierlich mehrmals mit dem Kopfe, wie kleine
Kinder thun, wenn sie etwas besonders ernsthaft bestätigen wollen. Dann
lachte sie kurz in sich hinein und flüsterte ihm ins Ohr: »Ja.«

Starkblom suchte ihre Hand und drückte sie fest und ließ sie nicht mehr
los. Dabei legte er sich auf den Rücken und träumte in die Höhe. Dann
lächelte er und lächelte immerfort, bis ihm das Wasser in die Augen
trat.

»Was hast du denn?« fragte Marguérite, die ihn beobachtete.

»Ach, es ist mir nur eben etwas eingefallen«, meinte er, immerzu
lächelnd.

»Was denn, sag’ mir’s doch.«

Er schwieg ein bischen, dann sagte er:

»Mein armes, kleines Lorchen.«

»Deine Frau?« fragte sie leise, und er nickte.

Da schämte sie sich und sie wußte doch nicht warum. Es mußte wohl etwas
Großes sein und ein freier Ernst, der jetzt durchs Zimmer schwebte. Und
voll von dem dunklen Gefühl beugte sie sich zu ihm hinüber und küßte
ihn auf die Stirn.

Nach einer Weile fragte er:

»Hattest du nie ein Kind, Marguérite?«

»Nein,« sagte sie leise errötend.

Da stand er auf, kniete vor ihr Bett und sagte, indem er die Hand auf
ihren Kopf legte:

»Du wirst eins bekommen.«

Sie schlug die Hände vors Gesicht, dann lag sie ernsthaft da und nickte
sinnend.

Nun erhob auch sie sich und beide fuhren rasch in die Kleider.
Plötzlich lachte Starkblom laut auf.

»Weißt du, wie mir meine letzte Brochüre jetzt vorkommt?«

»Nein, wie?«

»Nun höre. Ein Mann in den Vierzigern, Wittwer, sucht auf diesem sehr
ungewöhnlichen Wege eine Lebensgefährtin. Dieselbe muß groß und kräftig
gebaut, sehr gebildet und vorurteilsfrei sein. Offerten bittet man
einzusenden unter der Chiffre: Es lebe der Tod! Nicht? War es nicht
so? Und daß ich sie gefunden habe, das ist das allerseltsamste und das
allerschönste! Wie kamst du denn dazu, Marguérite? Wie bekamst du denn
in Paris meine Brochüren?«

Marguérite hatte erst lachen müssen, aber jetzt wurde sie ernsthaft und
sogar ein wenig blaß.

»Das war nicht so einfach, mein Lieber. Das hängt mit etwas zusammen,
mit etwas -- anderm. Aber jetzt kann ich dir das unmöglich sagen. Du
mußt warten. Bald -- nicht wahr?«

»Wie du willst, Marguérite. Ich habe dich, wir haben uns. Das ist eins
und alles. Das andere ist gleichgiltig.«

In so seliger alles vergessender Stimmung verbrachten sie diesen Tag
und auch die folgenden. Was hätte ihr Glück stören können? Manchmal
freilich überlief es Starkblom, und die Vergangenheit wollte ihn wieder
packen mit ihren mörderischen Tatzen, und dann sagte er wohl:

»Mein Glück ist zu groß. Ich werde bald sterben.«

Aber Marguérite und er selbst brauchten sich nicht allzusehr
anzustrengen, um dies Gespenst wieder zu verscheuchen.

Eines Mittags saßen sie heiter auf dem Balkon und plauderten und sahen
ins grüne Thal hinab. Da brachte die Haushälterin mit hochgezogenen
Brauen und grenzenlos erstauntem Gesicht ein Telegramm und überreichte
es zweifelnd Starkblom.

Der nahm es rasch und las die Adresse und auch er machte ein sehr
verwundertes, fragendes Gesicht. Doch winkte er der Frau, sie solle
gehn.

»Ist das für dich, Marguérite?« fragte er dann und reichte ihr die
Depesche hinüber.

Sie las die Adresse und errötete über und über. Da stand: »Frau
Marguérite Starkblom. Villa Weißes Haus.«

»Ja«, flüsterte sie dann und ließ das Papier unentschlossen in ihrem
Schooß liegen.

»Das ist seltsam«, meinte Starkblom, sie starr ansehend. »Verstehst du
es? Kannst du mich nicht aufklären? Wer weiß davon etwas? Und wer kann
sich unterstehen --?«

»Es ist anders, lieber Karl. Hab nur Geduld. Laß mich erst lesen. Dann
vielleicht --.«

Sie erbrach den Verschluß und las die wenigen Worte.

»Warum höre ich nichts von dir? Bin aus Frankreich ausgewiesen und
schon auf der Reise zu Euch. Komme noch heute an. Hoffentlich steht
alles gut. Jean.«

Sie reichte ihm mechanisch das Blatt hinüber, und er las und blickte
sie dann fragend und traurig an.

»Marguérite, was heißt das? Wer ist der Mann? Woher weiß er --?
Schriebst du ihm von hier aus?«

»Nein.«

»Aber woher weiß er denn dann? Was ist das? Marguérite!«

Und sie flüsterte:

»Ich lebte mit ihm zusammen. Es geschah mit seinem Einverständnis, daß
ich hierher kam. Er ist --«

Sie verstummte.

»Mit seinem Willen? Das verstehe ich nicht. Marguérite! Was ist das?
Wie kann er dich Starkblom nennen?«

»Er heißt selbst so, Karl, und ich nannte mich nach ihm. Ach, es ist ja
so gleichgiltig.«

»Gleichgiltig? Und er heißt Starkblom? Und das wäre nur ein unerhörter
Zufall? Ist das ein Traum?«

»Kein Zufall -- oder -- wie du’s nimmst. Er heißt Johannes Starkblom.
Er hält sich für deinen Bruder.«

Starkblom durchfuhr es. Er stand rasch auf.

»Was? Johannes? Der lebt? Und, -- und -- du -- mit ihm ... ach
Marguérite, was ist das für eine Geschichte!«

Er setzte sich müde und abgespannt wieder auf den Stuhl. Die Sache
griff ihn an.

»Alle meine Geschwister sind mir sonst ganz gleichgiltig. Ich kümmere
mich gar nicht um sie. Aber der -- das ist etwas andres. Und du --!«

Marguérite schmiegte sich eng an ihn und legte den Arm um seinen Hals.

»Geht es dir so nahe, mein liebster Schatz? Sieh, dafür kann ich ja
nichts. Und er auch nicht. -- Er hat es aber vorausgesagt.«

»Was hat er gesagt?«

»Daß -- nun wie es gekommen ist. Daß wir nicht mehr von einander
können. Zwar nein, so wird er es doch nicht gemeint haben. Er ist ein
so guter Mensch. Ich habe ihn sehr gern.«

»So, Marguérite? Und ich?«

»Aber, mein lieber guter Karl, das ist ja ganz etwas -- aber das läßt
sich ja gar nicht -- weißt du -- nein -- dich _liebe_ ich! Karl!
Verstehst du?«

»Meine liebe Marguérite, ich glaube dir ja. Ich bin ja kein Philister!
Nur daß es mein Bruder --!«

»Aber wenn es das nicht wäre, wäre ich ja nie zu dir gekommen. Nicht?
Willst du nun hören?«

»Das ist auch wahr. Ja, erzähle, ich bin nun schon ruhiger. Das ist ein
Mensch! Der Johannes! Lebt sich der Mensch noch!«

»Freilich lebt er! Er ist seit Jahren in Paris. Vor zwei Jahren
lernte ich ihn kennen und seit einem ungefähr leben wir zusammen. Er
hat fürchterlich viel mitgemacht im Leben. Weißt du, nicht innerlich
wie du, das viel weniger. Aber er ist herumgekommen, überall. Und
geschüttelt ist er worden. Nun, dadurch ist er eben ganz und gar frei
geworden. Mehr als wir alle. Er ist es praktisch. Um die Theorie hat er
sich nie viel gekümmert. Er macht alles mit, was die Nerven aufregt,
was neu ist, was ihn amusiert. Und dabei ist er ein so herzensguter
Mensch. Aber das darf man ihm nicht sagen. Er möchte es nicht sein.«

»Da steht er nun völlig vor mir. Der Taugenichts! Ich hätte nicht
gedacht, daß das aus ihm wird. Er trieb immer das Gegenteil von dem,
was ich; und jetzt stehn wir fast auf demselben Fleck. Ja, ja, die Welt
ist rund! Und jetzt wird er ausgewiesen? Warum?«

»Ach, das ist wegen dieser anarchistischen Geschichten. Wir haben da
ein wenig teilgenommen.«

Starkblom stand auf und ging erregt hin und her. Dann fing er an:

»O der Glückliche! Ihr Glücklichen! Was habe ich gebraucht, um dahin
zu kommen, wo ich jetzt stehe! Alles im Denken, im Grübeln, es zerriß
mich schier! Alles innen, es wollte heraus und drückte in mir zum
wahnsinnig werden. Und ihr -- und er! Er handelt, er nimmt teil! Er ist
unbekümmert!«

»Und doch nicht epileptisch«, sagte Marguérite lächelnd.

»Aber er hat etwas nicht, was ich habe. Ich bin so schwerfällig, ich
habe so viel altes, ich brauche so unsägliche Mühe, um es los zu
werden! Und jetzt, jetzt -- jetzt bin ich zu alt! Wenn ich dich nicht
hätte, wozu wäre ich noch gut? Und jetzt, jetzt, wird er dich mir nicht
entreißen? Marguérite! Verlaß mich nicht! Ich ... du ... ich brauche
dich ... über alles ... mein Einziges!«

Marguérite drückte ihn fester an sich.

»Mein geliebter Karl, er kann uns nicht trennen. Er wird es auch nicht
wollen. Wir bleiben immer beisammen, immer. Und schließlich --«

Sie stockte. Dann setzte sie hinzu:

»Nun, das wird sich finden. Wir wollen warten, bis er kommt. Freust du
dich nicht ein wenig?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht -- Mir ist bange. -- Wie kam er denn zu
meinen Schriften?«

»O er liest viele deutsche Sachen, und neues Modernes aus aller Herren
Länder verschafft er sich immer. Er hat da einen kleinen deutschen
Buchhändler aufgetrieben in einem engen Gäßchen, der auf Kuriositäten
aus ist und besonders die Brochürenlitteratur pflegt. Der sagte ihm
nun einmal, als er bei ihm herumkramte: »Von Ihnen hab’ ich auch etwas
bekommen, Herr Starkblom. Das kann nur von Ihnen sein. Es ist zu toll.«
Nun, das war deine »Vision«. Nachdem ließen wir uns natürlich das erste
Sendschreiben auch kommen und durch den Verleger erfuhren wir die
Adresse und bekamen damit auch Sicherheit, daß du sein Bruder bist. Es
ist eigentlich sehr einfach und doch ist’s wieder wunderbar.«

Die nächsten Stunden verbrachten sie unter unruhigem Hin und Her und
gleichgiltigen Gesprächen. Starkblom war ziemlich aufgeregt.

Endlich gegen Abend klopfte es mit drei leicht hingeworfenen Schlägen
an die Thür und Hans trat ein. Marguérite trat ihm rasch errötend
entgegen und reichte ihm beide Hände. Der kleine Mann blinzelte ein
wenig an ihr hinauf, dann aber begnügte er sich damit ihre Hände
zu schütteln und dann an die Lippen zu ziehen. Er wollte sie im
Flüsterton etwas fragen, aber sie trat zur Seite und winkte mit dem
Kopf Starkblom zu.

Der trat nun näher.

»Sie sind Johannes Starkblom, der Sohn Adam Starkbloms, des
Schuhmachers?«

»Ich kann’s nicht leugnen.«

»Dann sind wir Brüder.«

»Ja, das sind wir ganz sicher.«

Es trat eine Pause ein. Dann begann der Ältere:

»Wir haben uns sehr lange nicht gesehen. Wir kennen uns nicht mehr.«

»Ja nun also,« fiel Hans lebhaft ein, »lassen wir den ganzen
lächerlichen Bruderschwindel zu Hause. Die Sache wird sonst furchtbar
ungemütlich. Sie wissen -- Marguérite hat Ihnen jedenfalls gesagt, wie
sehr Sie uns sympatisch sind -- und -- nun einfach -- wir machten das
Experiment, Sie vom Tod zu retten, ich kam zuerst auf den Gedanken,
weil ich das Leben nämlich so furchtbar, so ganz unsagbar liebe! Und
nun -- wie steht die Sache? -- Ich setze mich.«

Als Starkblom schwieg, sagte Marguérite leise zu Hans:

»Du hattest Recht.«

Da rief er vergnügt:

»Nicht wahr? Bravo, bravissimo! Also gerettet! Lebensfreudig! Von
unsrer Art? Nun dann -- Bruder, schlag ein! Nun sind wir Brüder!«

Karl legte seine Hand in die seine, sagte aber verlegen lächelnd:

»Ich glaube, Marguérite meinte es ein wenig anders mit dem Recht haben,
und vielleicht hat dann auch die Brüderschaft noch einen andern Sinn.
Sie -- du sollst in Paris etwas vorausgesagt haben -- nun, es traf ein,
vollständig, nach jeder Richtung.« Er stand auf. »Und da ist nichts zu
ändern. Nicht wahr, Marguérite? Wir zwei haben uns gefunden in freier
Liebe, und nichts kann uns trennen -- nichts!«

Hans sah lange auf die beiden, dann antwortete er:

»Also doch! Nun -- darauf war ich gefaßt, und während der Reise ist
mir’s schon zur Gewißheit geworden. -- Marguérite! es wäre mir sehr
unbequem, ohne dich zu leben. Ich habe mich so an dich gewöhnt, kurz --
hol’s der Teufel, ich hab’ dich wahnsinnig lieb! Und du -- Marguérite?
Alles aus? Weggeblasen? Na -- wenn schon -- denn schon!«

»Gar nicht, Hans, gar nicht: ich habe dich so lieb wie je, ganz und
gar. Nur das -- diese Liebe, das ist neu. Karl und ich -- nun eben --
du hast es immer leugnen wollen, aber es giebt doch etwas wie eine Ehe.«

Karl war still zur Seite getreten und hörte ruhig zu. Er wußte, sein
Glück war gesichert, und nun nahm er Interesse an dem Geschick des
armen Hans -- so nannte er ihn in Gedanken.

»Eine Ehe soll’s geben?« erwiderte Hans in ruhigem Ton. »Ja, es kommt
darauf an, wie du das meinst. Also das, wie wir lebten, das nennst du
nicht Ehe?«

»Nun, es kommt ja auf’s Wort nicht an. Daß das viel besser und schöner
war, als was man sonst gewöhnliche Ehe nennt, das ist natürlich ganz
selbstverständlich. Aber, siehst du, es mag seltsam klingen, aber es
ist so: wir hatten doch eigentlich nur geistige Gemeinschaft.«

»Na, na, das ist aber eine sehr kühne Behauptung, Marguérite. Das
dürfen Sie beileibe nicht glauben, Herr Bruder im Geist, na, Sie
wissen ja, was für ein Geist.«

»Jean, du wirst gereizt, ich hör’s am Ton, und das ist nichts für
dich. Ich bleibe ganz und gar bei dem, was ich sagte. Es giebt
Menschenpaare, die Erfahrung habe ich wenigstens gemacht, seit ich Karl
kenne, bei denen geistige und körperliche Gemeinschaft, ich möchte
sagen, organisch zusammenhängen. Gewöhnlich ist’s bloßes zufälliges
Zusammentreffen. Angenommen, und so war’s bei dir und mir: Ihre Seelen
stehen sich nahe und aus Bequemlichkeit machen die Körper die Sache so
mit. Aber das ist nicht unbedingte Notwendigkeit. Daß wir, gerade wir
beide, zusammen gehörten und zusammen taugten, ganz und gar, und uns
gar nichts anderes denken konnten, so war es nicht, nein, so war es
nie!«

»Jetzt ahne ich, was du meinst. Verzeih, aber das ist eine ganz
überspannte Geschichte. So was giebt’s gar nicht. -- Der langen Rede
kurzer Sinn aber ist wohl der: Für mich giebt’s keinen Platz! Da sind
nur zwei Stühle und die sind besetzt. Nicht?«

Die beiden schwiegen.

»Ich muß jetzt doch wie ein Kapitalsesel vor euch stehen« fing Hans
wieder an. »Der ganze Plan stammt ja von mir. Sowie ich die Brochüre
gelesen hatte, noch ehe ich ganz sicher war, daß Sie mein Bruder sind,
ich dachte es mir zwar gleich, da fuhr es mir durch den Kopf: Den rette
ich durch Marguérite! Es giebt nur _eine_ Marguérite, dachte ich, die
kann’s, nur die. Verteufeltes Vergnügen hat mir die Geschichte gemacht;
und daß Sie sich in sie verlieben, habe ich sofort in die Berechnung
gezogen, ich dachte schon, eine kleine Tragödie giebt’s, es wird ihm
ein bischen zusetzen, aber am Leben bleibt er, dann erst recht. So
ungefähr. Und nun? Herrgott, Marguérite, wie kann’s nur sein, daß du
mich nicht mehr liebst, und ich hab’ dich lieber als je! Wie habe ich
mich nach dir gesehnt die letzten Tage! Ist gar nichts zu machen?
Entschließt du dich nicht anders, nun ich da bin?«

»Nein Hans,« sagte sie, »ich habe dich recht gern, ich denke gern an
alles zurück, und ich verdanke dir ja so vieles --«

»Nichts verdankst du mir, nichts. O du! Du!«

»Aber jetzt ist es anders. Wir gehörten zusammen, Karl und ich, und
mußten uns finden. Es ist schade, daß ich nicht an die Vorsehung
glaube.«

»Hm,« machte er und lächelte trotz seiner Erregung. »Na, Herr Bruder,
man ist natürlich der Dritte, der jubelt? Das Wort paßt nicht ganz,
thut aber nichts. Na wie wär’s? Wollen wir jetzt mit einander ein wenig
sterben spielen? Wenn Sie alle Künste Ihrer mächtigen Beredsamkeit
anwenden, bringen Sie mich vielleicht so weit.«

»Nein, Hans,« erwiderte Karl Starkblom, »ich denke vorerst nicht mehr
an den Tod. Und ich hoffe, Sie werden den Schmerz auch überwinden --«

»Ich bitte Sie, jetzt keine Phrasen. Schmerz ist anders. Schmerz --
Schmerz -- das wäre also Schmerz? Das Wort ist eigentlich gar nicht
so übel -- Schmerz. Jedenfalls ein verfluchter Zustand. Furcht vor
Langeweile hätte ich ihn genannt. Jetzt muß man wieder suchen; ich weiß
nicht einmal, wo wohnen; ich hatte doch gehofft, wir könnten hier eine
Zeitlang beisammen bleiben --?«

Er hielt inne und blinzelte die beiden an. Sie schwiegen.

»Also nicht? Egoisten!«

»Ach Marguérite!« schrie er plötzlich, und die Leidenschaft überwand
seine künstliche Haltung. Das kleine Männchen zitterte am ganzen Leib.
»Marguérite, du warst mir eine Gefährtin; du hast mit mir gelacht,
wenn ich lachte, du hast meine Launen geduldig ertragen, und warst so
sanftmütig und so innig und so verständnisvoll -- -- o pfui, wie ist
mir’s jetzt so öde! Äh!«

Er setzte sich, stützte den Kopf auf und kratzte mit der andern Hand im
Barte.

Da sah er plötzlich auf.

»Ich kenne eure deutschen Verhältnisse nicht mehr so recht,« hub er
an. »Wer von euren Spießbürgern, ich meine die Professorenseelen und
Staatsmänner und so weiter, wer ist denn da besonders populär wegen
seines makellosen Rufes, humaner Gesinnung, kurz ein recht braver guter
Ehrengreis?«

»Ich wüßte im Moment nicht -- warum fragst du?«

»Den müßte man umbringen,« sagte er lächelnd.

Sie sahen ihn erstaunt an.

»Nu ja -- das hätte doch einen ganz eigenen Reiz. Nicht? Die Welt denkt
an dies und das, aber auf so was ist kein Mensch gefaßt. Das bringt
Bewegung in den Ameisenhaufen, und wenn der Thäter ruhig zusehen könnte
-- es müßte ein kurioses Vergnügen sein.«

»Weiteren Zweck würdest du keinen damit verfolgen?«

»Zweck? Mensch, wie weit sind Sie eigentlich in der Kultur
zurückgeblieben? Hinter Ihren eigenen Brochüren sind Sie ja
zurückgeblieben? Oder ich habe sie nicht recht verstanden. Ich meine,
die Hauptsache ist, daß man gar nicht nach Zwecken fragt, sondern
blos nach sich selber? Ich habe nun einmal so einen Geist, dem so was
Vergnügen macht. Warum sollt’ ich’s nicht thun? Vielleicht thue ich’s
auch nicht, vielleicht werde ich hundert Jahre alt und habe das nicht
gethan, was mir am meisten entsprochen hätte, aber eine Schande wär’s
dann. Jedenfalls!«

»Das alles liegt mir sehr nahe,« sagte Starkblom düster. »Einen Moment
war ich vielleicht auch da, aber ich kann nicht, ich kann nicht. Und
jetzt schon gar nicht mehr. Ich kann nicht mehr blos verneinen. Ich
muß etwas haben, wofür ich mich erwärme. -- Ist das die Stimmung der
Anarchisten? Denken Sie eben so?«

»O nein,« fiel Marguérite rasch ein. »Durchaus nicht. Sie wollen
etwas. Ihr Treiben hat einen Sinn. Sie sind durchaus nicht ohne Wärme.
Durchaus nicht ohne Natur.«

»Also immer noch?« fragte Hans bitter. »Deine alte Liebe? Nun, sie sind
nicht ganz ohne, und so sind sie, wie du sie schilderst. Hitzige und
unklare Menschen. Ich habe die Verteidigungsrede des einen bei mir, den
sie jetzt »hingerichtet« haben. Ihr kennt sie jedenfalls noch nicht.
Ich muß sagen -- nun eben, ein Fisch bin ich auch nicht, und die Worte
des Mannes haben mich ins Mark hinein erschüttert. Soll ich sie euch
vorlesen?«

»Ich bitte darum,« rief Karl lebhaft und gleichzeitig rief Marguérite:
»Ja, ja! Ich kenne den Mann nur aus Schilderungen, aber er war ein
Mensch!«

»Ja, das war er,« sprach Hans feierlicher, als er selbst es an sich
gewohnt war. Dann suchte er in seiner Brusttasche unter allerlei
Papieren, bis er ein halb zerfetztes, auf schlechtem Papier gedrucktes
Zeitungsblatt hervorholte. Dann las er.

»Wenn ich das Wort ergreife, so geschieht dies nicht, um mich zu
verteidigen gegen die Thaten, welcher man mich beschuldigt; denn nur
die Gesellschaft allein, welche durch ihre fehlerhafte Organisation
die Menschen zum fortwährenden Kampfe des Einen gegen den Anderen
zwingt, ist verantwortlich dafür. Sieht man heute nicht in allen
Klassen Menschen, welche ihren Mitmenschen, ich sage nicht den Tod, das
klingt zu schlecht, aber ein Unglück wünschen, wenn solches ihnen einen
persönlichen Vorteil bringen kann? Zum Beispiel: Hegt der Geschäftsmann
nicht den Wunsch, sein Konkurrent möchte verschwinden?

Wünscht der Arbeitslose, um Arbeit zu erhalten, nicht, daß der
beschäftigte Arbeiter aus irgend einem Grunde entlassen wird? Nun gut;
in einer Gesellschaft, wo solche Dinge vorkommen, hat man sich nicht zu
verwundern über Thaten wie die, deren man mich beschuldigt.

Da es nun so bestellt ist, so habe ich, wenn der Hunger an mich
herantritt, nicht zu zögern, diejenigen Mittel anzuwenden, welche
zu meiner Verfügung stehen, selbst auf die Gefahr hin, Opfer zu
hinterlassen. Bekümmern sich etwa die Arbeitgeber darum, wenn sie
Arbeiter entlassen, ob dieselben vor Hunger sterben? Alle Diejenigen,
welche im Überfluß schwelgen, bekümmern sich diese um die Menschen,
welchen die notwendigsten Nahrungsmittel fehlen?

Es giebt ja einige Leute, welche Unterstützungen verabfolgen, aber sie
sind ohnmächtig, um den Millionen, die im bittersten Elend leben und
nicht selten ihrem Leben freiwillig ein Ende machen, zu helfen.

Ja, die Opfer dieser Gesellschaft sind zahllos. So hat die Familie
Hayem und die Frau Sonheim gehandelt, welche ihre Kinder ermordete,
da sie es nicht länger mit ansehen konnte, wie sie vor Hunger litten
und so handeln _alle_ Frauen, welche, in der Furcht, daß sie ihr Kind
nicht ernähren könnten, lieber ihre Gesundheit und ihr Leben in Gefahr
bringen, indem sie die Frucht der Liebe frühzeitig töten.

Und alles dieses passiert inmitten des Überflusses! In Frankreich,
wo alles in Hülle und Fülle vorhanden ist, wo die Metzgerläden
mit Fleisch, die Bäckerläden mit Brot überfüllt sind, wo die
Kleidungsstücke, Schuhe u.s.w. in unendlichen Massen in den Magazinen
aufgethürmt liegen!

Aber da kommen wieder Andere und sagen: »Das Alles ist wahr, aber
unabänderlich. Sehe Jeder, wie er durchkomme.«

_Das habe ich gethan._ Ich wollte nicht Hungers sterben und wollte mich
nicht mit dem Gedanken beruhigen, daß man mir nach meinem Tode ein
paar mitleidsvolle Worte auf’s Grab wirft. Ich überließ das Anderen.
Ich habe es vorgezogen, Schmuggler zu werden, dann Falschmünzer, Dieb,
Mörder. Ich hätte betteln können; das ist herabwürdigend und feige,
und das Betteln wird ja außerdem von Euren Gesetzen bestraft, welche
aus dem Elend ein Verbrechen machen! Wenn alle Bedürftigen, anstatt
abzuwarten, da nehmen würden, wo etwas ist, und zwar ganz gleich durch
welches Mittel, dann würden die Gesättigten vielleicht viel schneller
verstehen, daß es Gefahr in sich birgt, die heute bestehenden sozialen
Verhältnisse zu verteidigen, in welchen die Ungewißheit permanent und
das Leben jeden Moment bedroht ist.

Man würde wahrscheinlich viel eher einsehen, daß die Anarchisten Recht
haben, wenn sie sagen, daß, um die moralische und physische Ruhe zu
erhalten, es notwendig ist, die _Ursachen_ zu zerstören, welche die
Verbrechen und die Verbrecher erziehen.

Deshalb habe ich die Thaten vollbracht, deren man mich beschuldigt,
und die nur die logische Konsequenz des barbarischen Zustandes Eurer
Gesellschaft sind. Man sagt, daß man grausam sein muß, um seinen
Nebenmenschen zu töten; aber diejenigen, die so reden, sehen nicht, daß
man sich nur dazu versteht, um nicht selbst den Tod zu erleiden.

Sie, meine Herren Geschworenen, welche aller Wahrscheinlichkeit nach
mich zum Tode verurteilen werden, handeln gerade so wie ich; Sie
verurteilen mich, weil Sie glauben, daß es eine Notwendigkeit ist.
Sie schaudern, wenn Sie von einem Mord hören; aber Sie zögern keinen
Augenblick, zu morden, wenn Sie bedenken, daß der Mord zu Ihrer
Sicherheit erforderlich ist. Der einzige Unterschied, der zwischen uns
besteht, ist der, daß Sie ohne persönliche Gefahr morden, während ich
meine Freiheit und mein Leben dabei auf’s Spiel setzte.

Meine Herren! Sie sollten nicht sowohl die Verbrecher verurteilen, als
die Ursachen der Verbrecher vertilgen.

Es wird immer Verbrecher geben; heute vertilgen Sie einen, morgen
werden zehn neue geboren. Was ist da zu machen? Das Elend abzuschaffen,
diesen Keim des Verbrechens. Und wie leicht ist das zu realisieren! Es
genügt, die Gesellschaft auf einer neuen Basis aufzubauen, wo Alles
Gemeingut ist, und worin Jeder, indem er nach seinen Anlagen und
Kräften produziert, nach seinen Bedürfnissen konsumiert.

Dann würde man weder Leute antreffen, wie der Einsiedler von
»Notre-Dame-de-Grace«, noch solche, welche betteln gehen um eine Münze,
dessen Sklave und Opfer sie gleichzeitig werden! Man würde keine
Frauen mehr finden, welche ihre Körper verkaufen und keine Männer mehr
wie Pranzini, Prado, Berland, Anastay und Andere, welche um dieser
Münze willen Mörder geworden sind! Das beweist sonnenklar, daß die
Ursache aller Verbrechen immer die nämliche ist und daß man wirklich
wahnsinnig sein muß, dieses nicht einzusehen.

Ich bin nur ein einfacher Arbeiter ohne Bildung; aber weil ich
das Leben und die Existenz des Elends miterlebt, fühle ich die
Ungerechtigkeit Eurer repressiven Gesetze weit besser, als ein reicher
Bourgeois.

Woher nehmen Sie sich das Recht, einen Mann zu töten oder einzusperren,
welcher, auf die Welt gesetzt mit dem Bedürfnis, zu leben, sich in
die Notwendigkeit versetzt sah, zu nehmen, was ihm fehlte, um sich zu
ernähren?

Ich habe gearbeitet, um zu leben und um den Meinigen zum Leben zu
geben, und so lange, wie ich und die Meinigen nicht über das Maß
gelitten haben, bin ich geblieben, was Sie »ehrlich« nennen. Dann ging
die Arbeit aus und mit der Arbeitslosigkeit kam der Hunger. Da erst hat
sich das Naturgesetz geltend gemacht, diese imperative Stimme, welche
keine Replik duldet; der Instinkt der Selbsterhaltung trieb mich dazu,
etliche von den Verbrechen zu begehen, deren Sie mich anklagen und
deren ich mich schuldig bekenne.

Richten Sie mich, meine Herren Geschworenen; wenn Sie mich aber
verstanden haben, indem Sie mich verurteilen, richten Sie alle
Unglücklichen, welche das Elend, alliirt mit dem natürlichen Stolze, zu
Verbrechern machte und welche mit einem glücklichen Auskommen ehrliche
Leute geblieben wären! Ich wünsche, daß Sie, die Sie mich zum Tode
verurteilen werden, daß Andenken an diesen Spruch so leicht tragen
möchten, wie ich meinen Kopf unter das Messer der Guillotine legen
werde!«

Eine Weile waren alle drei stumm. Hans nagte an seiner Unterlippe, Karl
blickte mit weiten Augen ins Leere. Marguérite weinte, und sie war die
erste, die wieder sprach. Sie trat auf Hans zu und streckte ihm die
Hand hin. Dazu sagte sie voll warmen Gefühls nur das eine Wort:

»Hans!«

Er berührte flüchtig ihre Hand und ließ sie gleich wieder los.

»Na ja. Was hilft mir das?« Er deutete auf Karl. »Da sieh deinen« --

»Hans!«

»Was denn? Jetzt wollte ich wahrhaftig ganz brav sein. Sieh nur deinen
Mann! Wohin schaust du denn, Karl?«

»Ich kann nicht anders,« rief Karl Starkblom mit einem Mal laut. »Ich
liebe diese Menschen. Ich komme nicht los davon.«

»Wovon denn?«

»Vom Sozialismus. Ich glaube daran.«

»Hm. Nicht übel. Ich vielleicht auch. Ich weiß es wirklich selbst
nicht. Ist auch egal. Wir erleben’s nicht.«

Karl schaute wieder. Marguérite und Hans ließen ihn gewähren und
schwiegen.

»Marguérite, rasch,« rief Karl plötzlich ängstlich. »Papier, Tinte!
Rasch. Ich könnte es vergessen.«

Und er lief im Zimmer hin und her. Marguérite holte das Nötige und Karl
schrieb stehend rasch ein paar Zeilen.

»Ich habe noch etwas zu sagen,« sprach er dann, »ich habe noch etwas
auf dem Herzen. Ich will wieder reden zu den Menschen!«

»Was hast du vor?« fragte Marguérite. »Wieder ein Heft?«

»Ja. Lies den Zettel nur. Du ahnst vielleicht, was mir vorschwebt.«

»Bitte, Marguérite, lies vor. Ich darf doch?« fragte Hans.

»Gewiß, gewiß.«

Nun entzifferte Marguérite langsam das hastig Geschriebene.

»_Utopien_, das wäre vielleicht eine Aufgabe, der ich gewachsen wäre,
Utopien zu schreiben. Ausbau von allem, wozu jetzt die Ansätze da sind.
Psychologie, Technik, Kunst, Stadt und Land, Verkehr, Geselligkeit,
Familie, Natur. Kurz: alles sagen.«

»Das gefällt mir,« meinte Marguérite. »Das kannst du.«

»Ihr seid glücklich, meine Herrschaften,« sagte Hans plötzlich
aufstehend. »Und ich werde mich später vielleicht über euer Glück
freuen, und wenn der Onkel Hans an eurem Feuer sitzt und euer Kind auf
seinem Schenkel reiten läßt, dann sagt er wohl schmunzelnd: »Kinder,
das verdankt ihr alles mir. Ich habe euch zusammengekuppelt.« Vorerst
sind wir aber noch nicht so weit und ich gehe jetzt. Adieu, Bruder --
viel Glück -- nein, ich mein’s wirklich ernsthaft, ich kann mir nicht
helfen. Aber gehen muß ich jetzt schleunigst. Wegen des Hotels, es wird
sonst zu spät. Also --«

»Adieu, lieber Hans, ich hoffe bestimmt, wir sehen uns später wieder.
Und wenn du einmal --«

»Ganz richtig, wenn ich Geld brauche, schreibe ich.«

»Hoffentlich. Ich bitte dich, aber auch ohne das zu schreiben.«

»Auch das halte ich für sehr wahrscheinlich. Manchmal eine Zeile,
manchmal ein halbes Buch. Wie’s kommt. Nun denn --«

»Lieber Hans, leb wohl,« sagte Marguérite leise und schickte sich an
sich zu ihm zu beugen. Hans aber trat einen Schritt zurück und blitzte
sie mit seinen kleinen Äuglein scharf an. Dann sprach er mit leicht
bebender Stimme:

»Nein, Marguérite, was du zum Empfang verfehlt, machst du zum Abschied
nicht wieder gut. Jetzt will ich keinen. Mitleidsküsse schmecken nicht.
Ich erinnere mich noch zu gut -- weißt du. Also, na denn, adieu!«

Er schüttelte ihr die Hand, nickte Karl nochmals leicht zu, dann nahm
er seinen Hut und ging rasch zur Thüre hinaus. Man hörte noch, wie
er im Gang und auf der Treppe die Marseillaise zu trällern anfing
und plötzlich mit einem Fluch abbrach. Dann reichten sich Karl und
Marguérite die Hände und schauten sich verlegen lächelnd an.

Endlich sagte Marguérite leise:

»Hätten wir nicht doch lieber -- Nein, es geht nicht. -- Liebst du die
Einsamkeit?«

»Ob ich die Einsamkeit liebe?« brach Karl mit starker Stimme aus. »Ich
_hasse_ sie. Aber ich brauche sie. Hier sitzen und Bücher lesen und
schreiben und schreiben und schreiben und dann sich mit dem Drucker
herumzanken, Korrekturen lesen -- glaubst du wirklich, das sei das
Leben, das mir innen in meiner Seele vorschwebte, als ich wieder anfing
ein Mensch zu sein und mir zu gehören? Nein, nein, das Bild werd’ ich
nicht los, das ich als Knabe vor dem Einschlafen schon immer sah: Ein
mächtig zusammengedrängter Volkskörper, der nach vorwärts schießt, und
ich mitten drin und doch über ihm als Redner und Sänger und Prophet und
Führer. Ach, was ist das für eine jämmerliche Krämerzeit, in die wir
hineingefallen sind, wir wissen wahrhaftig nicht, warum. Auch jetzt,
wenn ich schreibe, wo ich reden und singen und jubilieren möchte --
aber auch jetzt -- ich wende mich immer an Menschen, die ich nicht
sehe, ich ahne, zerstreut in der Welt, hier und da, müßten sie sein,
die mich hören -- aber ich kenne sie nicht, ich habe sie nie gesehen.
Was ich sehe von den Menschen und ihren Einrichtungen und ihrem
Gebahren -- das glaubt kein Mensch, wie mich das anekelt. Weißt du,
ich habe oft das Gefühl, ich müsse mich krümmen und winden können vor
Widerwillen, daß mir das Innerste nach außen gekehrt würde. Aber ich
_will_ nur -- die Kraft habe ich nicht.«

Er schwieg ein wenig, dann fuhr er mit leiserer Stimme fort, indem er
ihre Hand faßte.

»Jetzt ahnst du vielleicht, Marguérite, _was_ du mir bist. Seit ich
lebe, der erste Mensch, vor dem mir nie geekelt hat; was du auch
begannst und was wir auch zusammen thaten, es war mir immer natürlich
und immer schön und ich glaube, so wird es bleiben. Aber weißt du,
was das heißt und was du mir bist? Das einzige Wesen, mit dem ich
leben kann, das ich mir gleich fühle. Ach, ich bin nicht mehr jung
genug für die Einsamkeit. Ich möchte einen Kreis von Menschen um
mich haben -- ach, ich bin ja so bescheiden geworden -- an Millionen
und Abermillionen leuchtender Menschengesichter will ich ja nicht
mehr denken, ich verzichte auf die Tausende, daß ich hundert finde,
ich kann’s nicht glauben, aber zwanzig Menschen vielleicht, die mir
anstehn, die möchte ich manchmal um mich haben, zwanzig Menschen, mit
denen ich oft zusammen bin, die ich gern haben kann, die aus aller
Herren Länder sich um mich finden zu persönlichem Verkehr -- zwanzig
Menschen, in deren Umgebung sich meine Lippen nicht bös im Ekel
verzerren müssen -- ist das zu viel verlangt, Marguérite?«

Sie drückte seine Hände stärker.

»Vielleicht finden wir sie, Karl. Einen so nach dem andern. Hans?«

»Du nimmst mir das Wort aus dem Munde. Ich dachte eben an ihn. Ich
glaube, ich habe ihn recht verstanden, und ich meine, ihn müßte ich
immer gern haben können. Vielleicht kommt er später wieder. Vielleicht.
Daß er jetzt ging, ist doch gut. Nicht, Marguérite? Fürs erste brauchen
wir ihn wirklich noch nicht.«

Dabei lächelte er.

»Es war ein langer Tag heute, Karl. Willst du noch nicht zur Ruhe
gehen?«

»Geh nur voran einstweilen, Marguérite. Aber öffne vorher die Fenster,
beide. Dann will ich noch ein wenig hier allein bleiben und vielleicht
fange ich schon an mit der Arbeit. Und wenn der Fluß unten rauscht und
die Nachtluft auf breiten Wogen hereinströmt und der Wald der tausend
Bäume harmonisch ertönt, will ich davon träumen, ich spräche zu meinem
Menschenvolk und es antworte mir feierlich in brausendem Zuruf, und die
Natur habe ihre Sinne geöffnet und sei eins mit uns Menschen. Ich danke
dir, Marguérite. Einstweilen gute Nacht.«

Marguérite ging leise aus dem Zimmer, und Karl Starkblom stellte sich
ans offene Fenster und schaute lange ins Dunkle und auf die winzigen
in der Ferne zuckenden Lichter und hielt in Träume verloren seine Hand
hinaus ins Freie.

        ❦




Sechster Abschnitt.

=Utopien=

von

Karl Starkblom.

Meiner lieben Frau und dem kommenden Kinde gewidmet.


Ich erkläre es feierlich und wie ich hoffe vor Zeugen:

Ich habe mich nicht erschossen noch sonst irgendwie ums Leben gebracht.
Und ich werde mich nicht erschießen oder sonst mir den Tod bereiten,
solange ich noch Lebenskraft in mir fühle, Lust zu wirken und zu
genießen.

Eine Frau ist zu mir getreten früh morgens im Sonnenschein. Sie hat
im weiten Kreis den Arm bewegt und hat mir die tauglitzernde Welt
erschlossen. Sie hat mir gesagt, es sei etwas herrlich schönes ums
Leben und im Nu habe ich dasselbe empfunden. Ich liebe das Leben und
ich liebe dich, Marguérite. Und sie wird mir ein Kind gebären und wir
werden beisammen bleiben. Wir werden gewiß noch lange nicht sterben.

Meint ihr, ich sei auf eure Weide heimgekehrt, ihr grasenden
Bürgerseelen? Frohlockt ihr über das verirrte Schaf, das spät in der
Nacht doch noch den Weg zum Stalle gefunden und nun mit freudigem
Meckern zu seiner Krippe springt?

Fürwahr, ich will eure Schafställe und Heuschober euch anzünden, daß
die Funken sprühen und ein loderndes Feuerwerk gen Himmel prasselt.
Ihr Erbärmlichen, was wagt ihr zu leben neben uns wenigen, die das
Leben in Schmerzen begriffen haben? Euer Dahinkriechen, wäre das der
vielberufene aufrechte Gang? Eure kleinen Freudlein, wäre das der
Jubelbraus des Daseins? Glaubt ihr, eure Zahnschmerzen (denn das sind
doch die heftigsten eurer Kümmernisse), die machten euch das Leben
verständlich? Ihr saftlosen Lauwarmen, ihr wißt ja nichts von der Kälte
der Todesnähe und von der siedenden Glut des neu schießenden Lebens.
Geht mir weg! Geht weit weg. Bleibt hinten, denn ich will vorwärts
blicken und heiter jauchzen und lachen.

Ich würde mich dennoch erschießen und qualvoll verzerrten Gesichtes
dies schöne, ja dies schöne Leben lassen. Es würde mich nicht dulden
auf Erden. Nicht eine Stunde mehr. Ja auch jetzt ersticke ich schier
und werde zerrissen von dieser entsetzlichen Qual und Schmach. Ich
würde mich töten, wenn ich meinen Glauben nicht hätte.

Euch also will ich fragen und mit meinen Blicken bohrend anstieren,
ihr Skeptiker und ihr Unmoralischen, die ihr mit mir geht auf einsamer
Höhe so manchen Weg und so manche Verneinung: Wie könnt ihr leben? Wie
ertragt ihr es, trotz eurer Fähigkeit schön zu genießen, nicht längst
von eigener Hand gestorben zu sein? Und ich frage euch, so ungern
und zögernd ich euren Namen in den Mund nehme: ich frage euch, ihr
_Christen_, wie ertragt ihr es, da zu sein in Freude und Wohlleben? Ihr
einen habt gar keinen Glauben, und ihr andern habt keinen irdischen
Glauben -- ich frage euch und ich beschwöre euch: antwortet mir und sei
es nur stammelnd: ihr wißt, worauf euer Leben und eure Behaglichkeit
ruht, euch ist bekannt, daß Millionen armselig vegetierender Sklaven
für euch arbeiten und euch ermöglichen, so da zu sein wie ihr da seid
-- wie könnt ihr das Leben ertragen? Ihr Skeptiker, ihr seid keine
Löwen, lüget nicht, ihr seid nicht Unmensch noch Übermensch, ihr
glaubt nicht, daß das zu ändern sei, ihr meint ehrlich zu wissen, daß
das Elend und die Erbärmlichkeit unausrottbar ist und ihr schämt euch
nicht, daß ihr lebt? Ihr schämt euch nicht eurer Freuden und des hohen
Genusses eurer Geistesschmerzen? Ihr ertragt es zu leben? Das frage
ich wieder und immer. Und ihr -- ihr -- nun, sei es denn nochmals
gesagt, ihr _Christen_, ihr tragt blendend weiße glänzende Wäsche an
eurem Leib, die ihr nicht verfertigt und ihr nicht gewaschen, ihr
klimpert in der Tasche mit güldnen Dukaten, ich sage nicht, die ihr
nicht verdient, ich sage nur, die andern mangeln, ihr seht Not und
Elend in millionenfacher Masse aufgetürmt, ihr seht Schmutz und Unrat,
durch den ihr nicht waten müßt, ihr seht Schweiß auf Stirnen, den ihr
nicht schwitzet und ihr nicht einmal abwischen könnt, und euch duldet
es so zu leben wie ihr lebet? Wahrlich wäre ich Christ und glaubte an
das Himmelreich und glaubte, daß Not und Kummer unabwendbar von Gott
gefügt sei in diesem Jammerthal -- ich wollte mein redlich gewogenes
Teil Not und über und über gehäuften Kummer, ich wollte Sklave sein und
mich abrackern und stöhnen und hungern und wäre ich unter den Ärmsten,
so wollte ich immer noch tiefer, tiefer hinab zu den Elendesten und
Jammervollsten. Ihr aber seid Herren und ihr könnt es? Ihr eßt Braten
und Kuchen und ihr erstickt nicht? Ihr seid sauber und andrer Schmutz
frißt sich nicht tief in euer Fleisch? Ihr habt einen Pfennig mehr als
der letzte Knecht und er brennt euch die Seele nicht ab? Ihr lebt? ihr
genießt? und andre sterben vor Not? Ihr atmet leicht und tief in eurer
Sommerfrische und andre quält die lungenfressende Sucht in dumpfem
Kellergelaß? Das vermögt ihr? Ihr ertragt es zu leben? Jetzt, Sprache,
das Wort! Das rechte Wort. Ich finde es nicht. Ich ringe und suche --
o ihr Schufte! Ihr Jammerseelen! Ihr -- ihr, ihr Lumpe! Ihr -- ihr
Gesindel!

Und damit speie ich euch weit von mir, ihr Namenlosen; seit urlanger
Zeit zum ersten Mal habe ich nicht über euch weggesehen; jetzt aber
seid ihr mir wieder tot. Tot? Nein. Ich atme das Wort schnell wieder
in mich zurück. Der Tod ist zu gut, um euch verdauen zu können. Das
Auge sieht euch nicht und kein Ohr vermag euch zu hören; Menschenzunge
und Gaumen weigert sich euch zu schmecken. Unfaßbar seid ihr und nicht
zu begreifen; aber ein Gestank herrscht überall; nicht auf der Erde,
nicht im Wasser noch in der Luft; im Feuer lebt ihr so wenig wie Feuer
in euch. Ein namenloser, wesenloser Gestank -- das seid ihr mir.

In recht schlechte Gesellschaft habe ich euch gebracht, meine geliebten
Skeptiker und Unmoralischen. Aber solltet ihr es nicht etwas um sie
verdienen? Gewiß, auch ihr seid mir ein wenig anrüchig. Denn ihr lebet
und thätet besser zu sterben. Und das sage ich euch in Liebe und
aus Erbarmen. Nervöse Schwächlinge seid ihr und wollt doch auf eure
Schultern laden, was Tyrannen und Riesen aus eherner Vorzeit und wilder
Renaissance nicht vermocht hätten. Ihr seid nicht blind, aber ihr könnt
es nicht sehen. Ihr seid nicht taub, aber ihr könnt nicht davon hören.
Von der unteren Schichte nämlich. Ihr glaubt sie ewig und unabweisbar
-- aber man soll euch in Ruhe lassen. Wie reimt sich das? Sie pocht
an eure Thore und läßt sich nicht abweisen. Und wenn die untere Welt,
wie ihr sagt, nicht gehoben werden könnte, dann würde doch die obere
zerstört werden müssen. Ihr würdet wahnsinnig werden, nicht Einzelne,
nein, ihr Alle würdet dem Irrsinn verfallen, bis ihr doch endlich euch
zum Sterben entschlösset, verrückt machen würde euch das ewige immer
verstärkte Klopfen und Scharren und Schreien und Tosen. Meint ihr, das
könnte je wieder enden? Der Glaube wäre kindisch. Wer nicht mehr an
den Vater im Himmel und ans ewige Leben und die gerechte Vergeltung
glaubt _und doch elend ist wie er nicht sein möchte_, der hört nicht
auf mehr zu rebellieren und müßte die Erde darüber in Trümmer fahren.
Wer nicht an das Jenseits glaubt und nicht im Fette sitzt -- und die
werden bald alle nicht mehr daran glauben -- der glaubt an die Erde und
an die lebendige Freude und an die werdende Schönheit. Das bleibt und
kommt immer wieder und klopft und zertrümmert -- bis die Stätte zurecht
gehauen ist, wo alle im Geiste zu leben vermögen -- weil nämlich der
Körper und sein Leben und seine Pflege selbstverständlich geworden ist.

Und jetzt, meine skeptischen Freunde, jetzt habe ich euch, wo ich euch
wollte. Schon lange sehe ich auf euren Lippen das sichere Lächeln eines
trefflichen Einwandes. Erhebet eure Stimmen, nur zu! Was wollt ihr mir
entgegenschleudern?

Aha -- allerdings, das, gerade das habe ich erwartet. Ihr sagt mir, ich
sei wieder zurückgegangen, ein roter Krebs sei ich wieder geworden und
die _Utopie_, die ich eben gezeichnet, die habe ich früher schon in
prächtigen Farben gemalt und doch wieder weggewischt mit dem Schwamm
des Todes. Dies Reich der Freiheit, der graziösen Leichtigkeit der
Bewegung, dies Reich der Schönheit und des trunkenen Fluges -- das
sei das Reich der Philosophie; in jener Welt, die freilich möglich
sei, müsse die grinsende Frage herrschen: _wozu das Ganze und nochmals
wozu?_ und keine Antwort gebe es, ewig keine. Und der Massentod der
Menschheit sei es, der nun kommen müsse, kommen mit Naturnotwendigkeit.

Jawohl, das habe ich gekündet; ihr habt es gut behalten. Und nun,
da ihr da seid, wo ich euch wollte, nochmals frage ich euch: warum
lebet ihr? warum sterbt ihr nicht? Ihr glaubt nicht an das Reich der
Schönheit und der Freiheit aller Geborenen, ihr fühlt euch nicht eins
mit dem Streben der Knechte diesem Ziele entgegen, wie wagt ihr zu
leben? Was? Ihr habt auch eure Marguérite und auch noch euren Genuß?
Ihr Sklavenhalter, dann sollen sie euch auspeitschen, die auch genießen
möchten und es nicht können. Oder glaubt ihr nicht, es sei dem Sklaven
auch ein Genuß, seinen Herrn und Vorenthalter zu prügeln?

Ich will euch sagen, was mir das Recht giebt, so zu euch zu reden und
so von der Höhe auf euch herabzusehen. Ich bin eine glitzernde Welle
im Strom und tummle mich froh dem Meere entgegen; ihr aber seid nur
ein unwillig mitgerissenes Stück faulenden Holzes, das sich nach dem
sandigen Ufer sehnt, um da in der Sonne zu trocknen und zu verdorren.
Ich liebe nicht nur mich selbst und mein Spielzeug -- »Weib« heißt die
glänzendste eurer Vergnügungen -- ich rausche mit im grünenden Wald,
und meine Genossin ist kein zart mich umrankender Epheu, der langsam
aber sicher mit seiner Umkosung die stärkste Eiche ins Mark hinein
verdirbt, ich und sie, Baum neben Baum, recken uns stolz in die Höhe
und unsere Wipfel neigen sich bald zart, bald feierlich zu einander
und flüstern und küssen und reden und träumen. Ich habe gelernt Mensch
zu sein und die Menschheit wieder zu lieben; ich stehe mitten drin und
mache mit -- vorwärts geht es und immer vorwärts. Ich glaube ans Ziel,
ich glaube an den Ernst und an die Schönheit, ich fühle mich eins mit
den Knechten und fühle mich eins mit dem All! Ich lebe! Ich habe das
Recht zu leben.

Das könne jeder sagen, schmunzelt ihr mir zu mit widerlicher
Vertraulichkeit. Das sei eine Ausrede. Mir gehe es wie jenen
Namenlosen, die auch den Armen an Leib und Geist das Himmelreich
versprächen und selber mit dem Diesseits und dem irdischen Genuß sich
vergnügten. Himmelreich oder Zukunft, das sei ein und dasselbe. Auch
das habe ein gewisser Starkblom früher mit allen Glocken verkündet. Dem
Genuß und der Freude entsagen gleich dem Elendesten müsse ich, wenn ich
ehrlich sei, alles der Gesamtheit zu opfern sei meine Pflicht. Alles
oder nichts -- so heiße es hier.

Jawohl -- viel _Wahrheit_ steckt in eurem Hohne. Das ist es auch und
das allein, was unser Lächeln verbittert und uns einhüllt in das graue
beklemmende Gewand der Melancholie. Unser Leben _ist_ widerspruchsvoll,
jawohl, ein untrennbares Gemisch aus Festklammern an süßer Gegenwart
und Hinaussehnen nach herrlicher Zukunft. Seit das Leben nichts anderes
mehr ist als Erdenwandel und Welt der Sinne, giebt es keine ruhige
Konsequenz mehr in unserm Dasein. Das ist und bleibt das erste und
das vorderste und das tiefste: ich bin ich und ich lebe und will mein
Glück! Hineingeflochten in das wirre Gewebe und Gestrebe unruhiger,
qualvoller, drängender, stoßender Zeit hauen wir um uns, um unsern
Platz zu erringen, wir können nicht anders. Ich bin ich! Jetzt lebe ich
und niemals in Ewigkeit wieder. Ich habe meine Stätte und ich will sie
behalten.

Ich aber kann so nur leben, wenn ich mich leidenschaftlich schäme, daß
ich so leben muß. Ich stehe nur auf diesem Boden, wenn ich gleichzeitig
rastlos daran arbeite, ihn zu erschüttern und abzugraben. Ich kann nur
genießen, indem ich glaube, daß die Traube bald allen winkt. Ich kann
nur andre für mich arbeiten lassen, indem ich mitarbeite aus all meiner
Kraft für die kommende Zeit, wo es keine Herren und Knechte mehr giebt.

O wenn ihr diese Widersprüche und ihre Notwendigkeit nicht versteht,
dann gehet weg von mir und weg aus dieser Zeit und weg aus diesem
Leben. Leicht ist es, die tausendfarbige, vieltönende Welt der
Erscheinung mit flüchtigem rohem Drucke in eine Formel zu pressen.
Leicht ist es, die Welt, wie sie heute ist, für ewig auszuschreien.
Und leicht war es, ich gestehe es ein, diese Welt der Vernichtung
preiszugeben und den Tod zu predigen allem was lebt. Jetzt aber predige
ich Leben, Leben für heut und alle Ewigkeit. Solange ich lebe, fühle
ich mich eins mit allem was lebt. Solange ich da bin, sehe und denke
ich als Mensch für die Menschen.

Klar will ich nicht sein, meine Freunde. Aber ich ahne vieles und ich
sehe Ahnende sich um mich versammeln und mit mir ziehen auf meinem
Wege. Ich bin nicht zurückgewandelt zu den Moralischen und werde es
nie. Vieles hasse ich und verneine ich mit euch wie früher und immer;
eingeschworen bin ich auf keine Formel und keine Partei; aber Mensch
bin ich unter Menschen, solange ich lebe; wirken will ich in Raum
und Zeit für das Wachsen der Menschen und das Blühen der Erde; vieles
verneine ich, aber ich bejahe mit frohem Jauchzen das Leben. Denn
abgesagt habe ich dem ewigen Denken und damit dem Tod; ich träume und
tummle mich, ich genieße meinen Leib und meine Seele, ich genieße meine
Nächsten und genieße mein Ahnen des Entferntesten. Ich fühle meine
Kraft und spüre das leidenschaftliche Hinausschleudern meiner Triebe
und all meines Innern.

Alles Einzelne hat mir gedroht in grauer Nichtigkeit zu versinken: die
Natur und das Treiben der Menschen, die Technik und die Produktion der
Bedürfnisse, die Wissenschaft und die Kunst. Und jetzt ist mir alles
wieder interessant. Meine Augen sind nicht mehr beschattet von dumpfer
Betrübnis, ich öffne sie weit und beschaue mir ernsthaft die Welt.
Mein Denken ergießt sich wieder über die Erde, ich träume hinein in
unmeßbare und unaussprechliche Fernen, alles will ich wieder bewältigen
und alles mit meiner Sprache beherrschen. Frei und unbekümmert nehme
ich Stellung zu allem, was sich mir naht und ich lege mein Bekenntnis
ab über alles, was mir bekannt wird.

Und das ist es, was ich von euch verlange, ihr Führer der Völker: _Ihr
sollt bekennen!_

Und ein zweites ist es, was ich von euch verlange, und seltsam nimmt
sie sich vielleicht aus in _meinem_ Munde, diese Forderung: _Ihr sollt
nüchtern sein!_

Damit meine ich euch vor allem, ihr Träumer und Dichter und Künstler
und ihr Männer der Wissenschaften.

Fasset in euer Auge mit einem weiten Blick das Panorama der Kultur,
das sich eröffnet mit den Namen: Voltaire, Kant, Goethe, Byron,
Schopenhauer.

Und dann blickt mir auf das zweite Bild: Dampfmaschinen, Dampfschiffe
und Eisenbahnen, Elektrizität und rationelle Landwirtschaft.

Welcher Umschwung in der _geistigen Kultur_ entspricht dieser
riesenhaften Veränderung im Verkehr und in der Herstellung der
Bedürfnisse des Lebens und des Genusses? Und welcher sollte ihr
entsprechen? Und welcher wird ihr entsprechen?

Sehet das zweite Bild, wie ich es euch male:

Geistesrohheit des emporgekommenen Philistertums, geistlose, ekelhafte
Genußsucht, barbarische Kampfbereitschaft der Völker gegen einander,
ungeheure neue Heere geistig und leiblich aufs entsetzlichste
vernachlässigter moderner Sklaven, gewaltiger Aufschwung der Feigheit
und Heuchelei und des Aberglaubens, dem Wahnsinn nahe Vereinsamung
fortgeschrittener Künstler und Denker. Ächtung der freien Moral, des
freien Gedankens, des freien Wortes -- des freien Lebens. Ekelhaftes,
sinnezerstörendes Gesamtbild aus der Vogelperspektive!

Ihr sollt bekennen, ihr Dichter und Führenden, die Hand sollt ihr in
die Lüfte recken zum Fluch über dies gemeine Geschlecht, die Geißel
sollt ihr schwingen über die Rücken dieser Böotier!

Und nüchtern sollt ihr sein, ihr Träumer und Denker, nicht fürder auf
romantischem Roß zu blauen Wolken emporsprengen, die Welt sollt ihr
schauen so wie sie ist, gewahren sollt ihr die Wirklichkeit und in ihr
erblicken, was möglich ist und was werden muß.

Und euren Willen sollt ihr mir wecken und satteln, anspornen sollt
ihr ihn und kühn hineinreiten in das Land der Zukunft. Begraben sei
immerhin der Pegasus mit seinen angeschnallten Gänseflügeln, wenn nur
das Dampfroß für euch lebendig wird und der Dampfpflug Europas Boden
schüttert für fruchtbaren Samen. Glück sollt ihr säen für kommende
Menschen, und schaffende Hoffnung auf endlich und endlich reifende
goldene Saat ist die Freude des Säemanns.

Ich glaube nicht an ewige Wahrheiten und ich sehe vorerst noch nichts
davon, daß die Menschenvernunft mächtiger ist als die im Zufall
rollenden Welten. Sonne, Mond und Sterne gehn heute wie immer und
morgen wie heute ihren lachenden Gang, ohne nach uns zu fragen, und
winzige Tierchen und Pflänzchen bauen ihre Geschlechter auf unzählige
Menschenleichen. Und stets noch beginnt die Welt mit jedem Kinde von
neuem, und über dem Wechsel der Generationen wie dem Lauf der Gestirne
waltet der Zufall. Noch lange wird alles Bedenken über den Haufen
gerannt von ungezügelter treibender Leidenschaft, und die unsinnige
Summe vieler kleiner Selbständigkeiten nennt sich Geschichte. Noch
unendliche Zeit wird der schwerste Kampf aller Kämpfe währen: der
Streit zwischen Geistesfreude und Geistesweh, und oft noch möchten wir
vernünftig sein und können es nicht, möchten wir gedankenlos fließen
und müssen bedächtig schreiten.

Aber wer will leugnen, daß sie noch nicht tot ist, die Göttin der
Vernunft, sondern erst beginnt sich zu dehnen und auf sich selbst
zu besinnen? Daß des achtzehnten Jahrhunderts Ausgang immer wieder
erwacht und alle Jahrhunderte zwingt in seinen Bahnen zu wandeln?
Daß der Zufall auf allen Gebieten, wo er sich nur betreten läßt, zäh
bekämpft wird auf Schritt und Tritt? Daß vor allem die Organisation
der Arbeit schon an der Schwelle der Erfüllung steht, die nur von
freien Lebendigen überschritten werden kann? Daß eine Organisation der
Geselligkeit auf eisernen Schienen uns näher und näher gleitet, die
gewaltige Menschenkomplexe zu einer Familie macht? Daß Wissenschaft
und Kunst mit einer Erziehung schwanger gehn, die Untergang schwemmt
über jahrtausendalten Aberglauben? Es giebt Revolutionen, die man zu
machen aus Versehen vergessen hat; wer glaubt nicht, daß die nahende
Revolution eine gründliche sein kann, daß ihr Strom jahrtausendalten
Unrat mit sich fortspült? O ihr, die ihr an die allmähliche Entwicklung
glaubt, vieles und Gewaltiges hat sich schon lange langsam angebahnt,
und die Stufen, die ihr wähnt, erst noch betreten zu müssen, sind
längst schon hinter uns, ohne daß ihr es gemerkt. Was thut es, daß ihr
dann auf einmal in der Versenkung verschwunden seid; wenn wir nur oben
stehn!

Wem viele Dinge selbstverständlich sind, der folge mir nach. Das Wort,
das ich einst gesprochen, ich wiederhole es heute. Den Sozialismus
aber habe ich immer für möglich gehalten und seine Erfüllung für
selbstverständlich. Aber ich habe ihn unsagbar gefürchtet, weil mir
das Leben ein Greuel war und weil ich sah, daß mit seiner Ankunft das
Innerste des Lebens nackt vor uns daliegen müsse. Und ich habe auch
jetzt nichts gegen den Tod; auch jetzt noch zu Zeiten naht mir die
Stimmung, wo meine Seele helle Lieder jauchzt ihm zum Lob und Preis.
Tröstlich und ein erquickendes Labsal ist die Erinnerung, daß ich frei
sterben kann, wann immer es mir so gefällt. Verdorren möge mir Hirn und
Zunge, wenn den Tod ich jemals verläumde!

Aber verheimlichen wir es uns doch nicht länger; unsre lächelnden
Augen verraten es ja doch: wir haben _alle_ das Leben unsagbar gern!
Und wir machen uns _alle_ ein Bild von der Welt nach unserm Willen,
und wir wollen alle wirken, um die Erde umzugestalten nach unserm
Herzen. Wenn wir denn alle eine heimliche Geliebte haben, laßt uns
doch kämpfen, um sie zu erringen! Wenn wir doch alle den Todesgedanken
in all seiner Hoheit erfaßt haben, lassen wir sie doch fallen, die
kleinliche faltenreiche Gewandung ewiger Rücksichten und unsterblichen
Philistertums. Das Wort ist so alt und will doch immer wieder
gesprochen sein: Da wir doch alle nur _einmal_ leben und nach unserm
Tod für menschliche Welt und menschlichen Geist nicht mehr vorhanden
sind, sei doch ein jeder unter uns so groß und so frei, so wohlgemut
und so leichtsinnig, so ernst und so kühn, als ihm in seiner Seele
zuinnerst beschieden ist!

Kennt ihr die Geschichte von der heimlichen Geliebten des Jünglings?
Er war zaghaft und wagte nicht sich ihr zu nähern. Und er machte lange
Jahre Reisen in fremden Ländern, um sie zu vergessen. Das aber war
ihm nicht beschieden, und im stillen war seine Sehnsucht übermächtig
gewachsen und mit eins erhob sich wieder in ihm ihr Bild und wich nicht
mehr von ihm und drückte in seinem Herzen, daß es laut aufschrie. Da
kehrte er zurück nach seiner Heimat. Wie er sie aber wieder vor sich
sah in ihrer leuchtenden Schönheit, mit der hohen Anmut ihrer Gestalt
und ihrer Bewegungen, die viel wunderbarer war in ihrer farbigen
Wirklichkeit, als ihm die blasse Erinnerung gezeichnet hatte, da preßte
er voll scheuer Angst vor der spröden Schönen seine Seele zusammen und
machte sein Herz klein. Aber als die Sehnsucht seines Blutes nicht mehr
zu bezwingen war, da schlich er sich in einer mondlosen dunkelblauen
Nacht in ihr Schlafgemach. Lange betrachtete er da die feinen Züge
der Schlafenden und blickte halb betäubt auf das wogende Schwellen
der Brüste. Da konnte der keusche Jüngling sich nicht mehr bezwingen,
und leise, leise, ganz langsam, daß das Betttuch nicht knisterte und
sie nicht erwachte, legte er sich neben das schlafende Mädchen und
er preßte die gekreuzten Hände wider seine Brust und das Blut schlug
ihm donnernd an seine Pulse und Blitze sprühten vor seinen Augen. Und
sein Atem ward immer kürzer und stoßender, und seine Haut brannte wie
Feuer und wollte es nicht leiden, daß ein Raum war zwischen ihm und dem
kühlen rosigen Leib des Mädchens. Da konnte er nicht mehr, er preßte
seine Lippen fest zusammen und hielt seinen Atem an. Und nachdem er
einige Zeit nicht mehr geatmet hatte, öffneten sich seine Lippen
langsam und die Hände fielen ihm schlaff von der Brust und sein Blut
hämmerte nicht mehr und sein Fleisch war nicht mehr heiß. Und als die
heimliche Freiheit morgens erwachte, da lag der zage Jüngling, der sie
hätte erringen können, tot und kalt neben ihr auf ihrem Lager.

Auf denn, meine Gefährten, es ist nicht wahr, was man euch in fremden
Ländern versichert hat, die Freiheit sei tot und sei nur noch ein
verblichenes Wort, es ist nicht wahr, sie lebt immer wieder und
verkörpert sich jedem in einer besondern Schönheit. Laßt uns denn
endlich heimkehren in ihre Lande und um sie werben und todesmutig, daß
heißt lebensfreudig für sie kämpfen!

Seht nun das dritte Bild, daß ich euch male!

Ein Festtag. Verlassen steht heute die riesige Produktionscentrale mit
ihren ungeheuren Anlagen, in der die Knaben und Mädchen, die Männer
und Frauen der weiten Gegend sonst ihre Vormittage verbringen. Früh
morgens schon verließen die Menschen heute ihre Villenkolonieen, um
in kleinen Gruppen auf ihren Dampfwagen und elektrischen Kutschen
unter Gesang und Musik nach den weiten Versammlungsstätten zu fahren.
Dort zerstreuen sie sich in den Kunsthäusern und Wissenschaftshallen,
den Spiel- und Tanzplätzen und wieder andere erquicken sich an
Wein und Speisen. Später, gegen Mittag, füllt sich dann der große
Versammlungsplatz, und hier werden öffentliche Dinge besprochen und
erledigt, neue Erfindungen und wissenschaftliche Aufstellungen werden
mitgeteilt und oft bekämpfen sich die Vertreter gegensätzlicher
Meinungen scharf und entschieden. Inzwischen haben die Knaben und
Mädchen sich bei den Spielen getummelt und herüber hinüber in keckem
Rufen und Haschen neue Bekanntschaften geschlossen. Nachmittags mag man
sich wohl wieder in kleinere Gruppen trennen, man fährt und geht und
schaut spazieren, man rudert auf dem Flusse oder man fliegt im Ballon
oder sonstwie in die blauen Lüfte hinauf. Wenn die Sonne sich zum
Untergang neigt, haben sich neue und alte Liebespaare längst gefunden
und hie und da in Korn und Hecken liegen sie wohl in traulichem
Gespräch oder in heißer Umarmung. Abends wenn es kühl wird, bedecken
die Menschen wohl ihre Nacktheit mit den Tüchern. Die Dunkelheit
führt sie wieder enger zusammen auf dem breiten Rasen, dem hie und
da manchmal Leuchtkugeln und Raketen entfliegen. Im übrigen denkt man
heute und meistens nicht daran, den Tag künstlich zu verlängern, man
ist froh, daß das Dunkel seine blauen Fittige um die Erde schwingt.
Feierlicher und erhobener werden nun die Gespräche und die Gesänge, und
nun erheben sich auch nicht mehr gesehen die Dichter in der Menge und
tragen ihre neuen Werke, die ihnen in den Mußestunden gediehen, zum
ersten Mal vor und alte vielbegehrte wiederholen sie manchmal mit neuen
reizvollen Wendungen geziert. Tief in die Nacht hinein bleibt man so
beieinander, bis man, wenn es warm genug ist, einschläft so wie man da
ist, oder auch aufbricht, um die Behausungen zu erreichen.

So aber wird es ganz gewiß nicht kommen, sonst hätte es keinen Sinn
danach zu streben!

Es kommt immer anders, und vielleicht sind auch die Gedanken, die mir
innen in meinem Kopfe wohnen und wachsen, ganz andere als die sich mir
hier im freien gestaltet haben. Ihr glaubt mir doch, daß ich noch die
Kraft habe, manchmal unglücklich zu sein? Weh mir, wenn ich das nicht
mehr könnte!

Ein sonderbarer Unheiliger hat mich jüngst besucht, meine Freunde,
und als ich ihn deutlich besah, war es ein Teil meiner Selbst, das
sich da vor mir aufgepflanzt hatte. Nur ein Stück eines Menschen war
er und doch ein ganzer Kerl. Er sagte mir, der moralische Sinn in ihm
sei längst und völlig erstorben, er habe nur noch ein Prinzip: wenn er
von einer menschlichen Einrichtung nicht wisse, warum sie sei, bemühe
er sich das Gegenteil zu thun, ganz zwecklos, nur aus Prinzip, zu
seiner seltsamen Freude. Er wisse nicht, warum der Mensch nicht lügen
und töten solle; Rücksicht auf Menschen kenne er nicht und Gott sei
ihm nicht vorgestellt; also wolle er lügen und töten. Wenn man das
Wort überhaupt anwenden wolle, das sei dann seine Moral: die äußerste
Konsequenz seines Denkens zu ziehen. Es sei freilich schwer, vielleicht
vollbringe er es auch nicht, aber dann wandelte ihn eine Art Scham an,
obwohl auch das altmodisch sei.

Meine Freunde, ich habe euch in dieses harte Eisland geführt, um euch
eine Grenze zu zeigen. Hier ist die Grenze des Begriffs und des Worts
und der Logik. Wer bis dahin gekommen ist mit seinem Denken, der muß
sich hier entscheiden: will er ein Kalter sein oder ein Warmer? Da ist
das Land der eiskalten Sprache und Logik, und keine Widerlegung giebt
es auf diesem Boden. Wer ihn betritt, der muß in den Spuren dieses
Mannes wandeln, kein Ausweg zeigt sich ihm mehr. Wer aber nicht in
diesen Wahnsinn frieren will, der kehre um und wende seinem Denken den
Rücken, solange es Zeit ist.

Ich bin kein Moralischer, aber ich bitte euch doch: Seid nicht boshaft!
Ihr seid auf einem falschen Wege zu weit vorgegangen; wollt ihr den
rechten Punkt finden, so müßt ihr wieder ein wenig zurück. Ihr seid
zu früh daran mit eurer nackten Vernunft. Es ist noch nicht Zeit,
die Seele erfrieren zu lassen. Thut nichts, dessen Ende ihr nicht
wenigstens ahnen könnt. Hütet euch vor der geistigen Bosheit! Seid
lieber manchmal noch ein Tier!

Das ist es was ich von euch verlange, ihr Träumer und Denker: _ihr
sollt warm sein_!

Und das heißt mir soviel als: Ihr sollt keine einzigen sein, ihr sollt
euch gesellen, ihr sollt lebendig leben und den Tod dem Tod überlassen.

Ich will euch etwas sagen, meine Freunde, denn ich halte es nicht
länger aus. Das Kichern und Lachen und Murren rauscht mir schon lange
in den Ohren. Hinter meinem Rücken stehen zwei Arbeiter, und die lachen
mich aus. Und eben sagte der eine zum andern:

»Der dumme Kerl! Was schwatzt er nur für verdrehtes Zeug? Das eine
wissen wir längst, beinahe schon vor unserer Geburt, und das andere
ist uns ganz und gar unverständlich, und wenn er es uns tausend Mal
vorkaut. Wir haben keinen Magen für so gewürzte Speisen.«

Der Mann hat Recht, ganz und gar. Aber, ihr Arbeiter unter meinen
Genossen, zu euch rede ich heute nicht. Freilich setze ich auf euch vor
allen andern meine Hoffnung; wäret ihr nicht da, es wäre kein Übergang
möglich zu dem was wir wollen. Aber davon spreche ich heute nicht, ich
habe noch viel auf dem Herzen und hoffe es alles mit der Zeit sagen zu
können. Und »Übergang«, so mag die nächste Schrift heißen, die ich euch
sende, und darin rede ich dann von euch, vom Proletariat!

Heute aber wende ich mich an ganz andere Menschen; heute rede ich zu
der zweifelhaftesten und bedenklichsten Menschensorte, zu den Träumern
und Denkern aus der bürgerlichen Welt. Es ist nicht der Vortrab des
Bürgertums, es sind nur Vereinzelte, die sich seitwärts schlugen, dahin
und dorthin, und die alle Gemeinsames haben. Ich kenne sie gleich, wenn
ich sie treffe, an dem bittern Zug um die Lippen und dem heimlichen
Lächeln ganz hinten in ihren Augen. Diese Jugend also rufe ich auf;
sie nennen sich Abfall und Jahrhunderts-Ende, ich aber sehe noch viel
Rettenswertes an ihnen, ich möchte sie sammeln im Felde der Zukunft;
im Lager des Proletariats; die höchste, fast schon überdrüssige Kultur
möchte ich vermählen der jungen raschen Kraft des vorwärts stürmenden
Aufschwungs.

Ich bin ein alter Mann, aber -- das sage ich heute mit frohem Stolz --
ich habe erreicht, wonach ich mich so heiß gesehnt, _ich bin wieder
jung geworden_, und ich empfinde mit der Jugend, nein, ich bin sogar
ihr Vorschmack und Vorempfinder. Zugleich bin ich bei den jungen
Zigeunern des Bürgertums, die ich aufmuntere, meine Wege zu betreten,
und zugleich bin ich beim jungen Proletariat, dem ich die Freiheit
bringen will, jetzt nicht die ökonomische Freiheit, die es sich selbst
erringen wird, nein, die Freiheit des Einzelnen, der kühn und unbesorgt
allem entgegenblickt. Ich schwanke nicht von einem zum andern, in mir
sind die Gegensätze vereint, und widerspruchsvoll ist nur das Wort,
nicht das Leben. Mein Leben ist jung und reich, folge mir nach, wer
kann!

[Illustration]




Druck von Gebr. Adolph & Co., Dresden-Löbtau.




    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
    Ansonsten wurde die teilweise inkonsistente Originalschreibweise
    beibehalten. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.
    Der Schmutztitel wurde entfernt.



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