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Title: Landesverein Sächsischer Heimatschutz — Mitteilungen Band XI, Heft 4-6: Monatsschrift für Heimatschutz und Denkmalpflege
Author: Landesverein Sächsischer Heimatschutz, - To be updated
Language: German
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HEIMATSCHUTZ -- MITTEILUNGEN BAND XI, HEFT 4-6 ***



    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter oder
    unterstrichener Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua
    gesetzter Text ist ~so markiert~. Im Original fetter Text ist
    =so dargestellt=.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Landesverein Sächsischer
    Heimatschutz

    Dresden

    Mitteilungen
    Heft
    4 bis 6

    Monatsschrift für Heimatschutz und Denkmalpflege

    Band XI

    _Inhalt_: Die kursächsischen Postmeilensäulen beim 200jährigen
    Bestehen – Heimatschutzgedanken in Gottfried Kellers Dichtungen –
    Die Kirche zu den »Vierzehn Nothelfern« auf der »Kahlenhöhe« bei
    Reichstädt – Um Juchhöh und Windberg – Wanderbilder aus den
    Grenzgebieten der Oberlausitz und Nordböhmens – Volkslieder der
    sächsischen Oberlausitz – Nochmals »Pflanzt Nußbäume« – Über das
    Vorkommen der Weidenmeise in unserm Vaterlande – Die Berankung
    von Gebäudeschauseiten – Zur Geschichte des Heimatschutzes –
    Zur Einschmelzungsfrage alter Kirchenglocken

    Einzelpreis dieses Heftes M. 30.–, Bezugspreis für einen Band
    (aus 12 Nummern bestehend) M. 60.–, für Behörden und Büchereien
    M. 50.–. Mitglieder erhalten die Mitteilungen kostenlos,
    _Mindest_jahresbeitrag M. 50.–, freiwillige Einschätzung
    erbeten

    Geschäftsstelle: Dresden-A., Schießgasse 24

    Postscheckkonto: Leipzig 13987, Dresden 15835
    Stadtgirokasse Dresden 610

    Dresden 1922



Was kosten heute die Heimatschutzmitteilungen? Jährlicher Gesamtaufwand
900000 M.


Täglich liest man, daß Zeitungen und Zeitschriften infolge der hohen
Herstellungskosten eingehen, die sich weder durch Bezugsgebühren noch
durch Ankündigungen decken lassen. Wenn der Landesverein Sächsischer
Heimatschutz bisher seine »Mitteilungen« im Friedensumfange mit
Friedensausstattung herausgeben konnte, so verdankt er dies der
Opferwilligkeit seiner Mitglieder, die ihm dies durch hohe Beiträge
ermöglichten.

In den letzten Wochen sind die Herstellungskosten für unsere
»Mitteilungen« um 150 bis 200 v. H. gestiegen, so daß wir in banger
Sorge sind, ob es möglich ist, sie weiter erscheinen zu lassen.

Es dürfte unseren Mitgliedern und Freunden interessant sein, zu
erfahren, was heute =ein Heft= der »Mitteilungen« in 22000 Auflage
kostet:

    Textpapier       75000 M.
    Umschlagpapier    5000 "
    Druckstöcke      40000 "
    Druckkosten      50000 "
    Briefumschläge   15000 "
    Postgelder       40000 "
                    ––––-
                    225000 M.

In diesen Zahlen sind noch nicht inbegriffen die Honorare und unser
Geschäftsaufwand.

Wir geben jährlich vier Hefte heraus,

        =so daß uns diese vier Hefte jährlich 900000 M. kosten.=

Das ist der heutige Preis, in acht Tagen ist er wieder gestiegen, in
vierzehn Tagen weiter und schwindelnde Zahlen werden wir am Ende des
Jahres sehen.

Nicht verschweigen möchten wir, daß eine sächsische Firma, die nicht
genannt sein will, uns zu diesen Kosten unserer Veröffentlichungen
jährlich 100000 M. in dankenswerter Weise stiftet, so daß sich der
jährliche Gesamtaufwand auf 800000 M. erniedrigt.

Aus diesen Zahlen bitten wir unsere geehrten Mitglieder und Freunde
zu ersehen, welche schweren Kämpfe ums Dasein unsere Bewegung führt.
Wenn wir bis heute durchkamen, so war es der zähe, unbeugsame Wille:
»Durchhalten« und das tiefsinnige stolze Wort »Dennoch«.

Wie lange es noch gehen wird, wissen wir nicht. Müssen wir die
Herausgabe unserer Veröffentlichungen einstellen, dann ist unser
Verein eine Kirche ohne Glocke. Wir werden weiter arbeiten und weiter
kämpfen, aber wir können von den Schönheiten unserer Heimat nichts mehr
berichten, können sie nicht mehr in Bildern zeigen, weil uns das Organ
fehlt.

In schwerer Zeit, in düsteren Stunden richten wir an unsere Mitglieder
die aufrichtige und herzliche Bitte,

        =uns einen in ihr Ermessen gestellten Sonderbeitrag
        zur Erhaltung der Heimatschutzmitteilungen
        freundlichst zu gewähren=,

der unabhängig von den Mitgliedsbeiträgen gezahlt und verbucht werden
soll. Wir hoffen, daß diese Bitte nicht ungehört verhallen wird. Gebe
jeder nach seiner wirtschaftlichen Lage. Wenn uns von seiten der
Großindustrie reiche Unterstützungen zuteil würden, ähnlich dem hier
angeführten Fall, dann wird es uns vielleicht gelingen, die sächsischen
Heimatschutzmitteilungen, die seit 1908 erscheinen und viele tausende
unserer Mitglieder und Freunde erfreuten, weiter zu erhalten zum Besten
unseres Heimatlandes!

        _Dresden_, im Juni 1922

        Landesverein Sächsischer Heimatschutz

            ~Dr. ing. e. h.~ Karl Schmidt, Geheimer Baurat
            O. Seyffert, Hofrat, Professor



    Band XI, Heft 4/6          1922

[Illustration: Landesverein Sächsischer Heimatschutz

Dresden]

Die Mitteilungen des Vereins werden in Bänden zu 12 Nummern
herausgegeben

Abgeschlossen am 1. März 1922



Die kursächsischen Postmeilensäulen beim 200jährigen Bestehen

Von ~Dr.~ _Kuhfahl_, Dresden


I. Verkehrszustände um 1700

Der plötzliche Aufschwung, den die mechanischen Hilfsmittel für
Personenverkehr und Warenbeförderung sowie für den Gedankenaustausch
während der letzten fünfzig Jahre durch allerlei technische
Entdeckungen erfahren haben, läßt uns heutzutage schon fast vergessen,
daß vordem gerade im Verkehrswesen die denkbar primitivsten
Verhältnisse herrschten. Abgesehen von der Seeschiffahrt war vor dem
Ausbau des Eisenbahnnetzes von einer wirklichen Verkehrsorganisation,
die dem zeitweilig recht hohen Kulturstand auf anderen Gebieten
entsprochen hätte, nirgends die Rede, obwohl eine zeitgemäße Einführung
von Straßenbau und Pferdepost natürlich längst in weitestem Umfang
möglich gewesen wäre.

In Deutschland fehlten infolge der kleinstaatlichen Zersplitterung die
künstlichen Wasserwege und großen Straßenzüge fast vollständig, und
noch über Goethes Zeiten hinaus wurden die Freuden des Reisens zumeist
durch Unbequemlichkeiten und Entbehrungen, Ärger und Überteuerung mehr
als aufgehoben. Den wenigsten Zeitgenossen kam freilich zum Bewußtsein,
daß dies eigentlich auch anders sein könnte. Gegenüber der allgemeinen
Teilnahmlosigkeit vermochte also nur eine besonders weitreichende
allmächtige Faust, wie sie Napoleon besaß, den Ausbau größerer
Chausseen zu erzwingen.

Wer heute durch einen kurzen Ruf des Haustelephons seinen Kraftwagen
binnen wenigen Minuten vorfahren läßt und dann Hunderte von Kilometern
auf glatten Straßen im bequemen Polstersitz rasch und sicher durcheilt,
oder wer – in bescheidenerer Weise – die Massenbeförderungsmittel von
Eisenbahnen und Flußdampfern benutzt, vermag sich wohl kaum noch eine
wirkliche Vorstellung davon zu machen, welch ein Entschluß oder welche
Vorbereitung und Ausrüstung noch in Großvaters Zeiten zu einer einzigen
solchen Fernfahrt gehört hätte. In weit höherem Maße gilt das natürlich
für die früheren Jahrhunderte, in denen wirkliche Kunststraßen ein
unbekannter Begriff waren.

Alle älteren Reisebeschreibungen gehen entweder mit stillschweigendem
Fatalismus über das Unvermeidliche ganz hinweg oder nehmen gerade
damit einen breiteren Raum ein, als dem Zweck einer Vergnügungsfahrt
eigentlich entsprechen sollte. Körperliche Beschwerden durch harten
Sitz und schlechtgefederte Karossen, durch holprige Wege und endlose
Fahrdauer, durch Kälte und Wind, Staub und Hitze verknüpften sich mit
dem tausendfachen Ärger über unpünktliche, ungeschickte, betrunkene
und grobe Fuhrknechte, über Erpressungs- und Prellversuche, über
Paßkontrolle und Wegegelder. Vielfach kam auch noch die Angst vor der
Unsicherheit des platten Landes und das geringe Verständnis hinzu,
dem der Fremde gegenüber der Wichtigtuerei der Ortsbehörden zumeist
begegnete.

Der Reiseverkehr hielt sich deshalb selbst bei den wohlhabenden
Kreisen in allerbescheidensten Grenzen. An solchen Stellen jedoch, wo
der Verkehr über Land eine wirtschaftliche Lebensnotwendigkeit war,
mußten die Besserungsmaßregeln mit der Entwicklung des Verkehrs trotz
alledem Schritt zu halten suchen. Es nimmt infolgedessen nicht wunder,
daß der Leipziger Rat zur Förderung des Meß- und Handelsverkehrs
weit über seine Kompetenz als Stadtverwaltungsbehörde hinaus zu
allererst und in weitschauendster Weise den Gedanken eines geregelten
Postfuhrwesens in die Tat umsetzte. Unterstützt von der Großhandelswelt
ganz Deutschlands gelang es schon am Ende des vierzehnten Jahrhunderts
für Briefbeförderung ziemlich geregelte Reit- und Läuferposten bis
nach Hamburg, Augsburg, Nürnberg, Wien, Cölln (Berlin) und anderen
Handelsplätzen einzuführen. Sehr bald wurde der Dienst auch über die
Reichsgrenzen, besonders nach Italien und den Niederlanden ausgebaut,
so daß vor dem Beginn der dreißigjährigen Kriegswirren bereits ein
mustergültiger Botendienst in Leipzig zusammenlief, von dem viele Teile
des deutschen Reiches gleichfalls Vorteile bezogen.

Die Beziehungen, die zwischen den unzähligen großen und kleinen
Fürstenhöfen bestanden, lenkten die Aufmerksamkeit intelligenterer
Machthaber sehr bald auf die neue Einrichtung. Im Kurfürstentum
Sachsen verdichtete sich dieses Interesse sogar so weit, daß seit 1500
Versuche zum Betrieb einer eigenen Hofpost gemacht und statt dieses
verunglückten Unternehmens im Jahre 1613 die mustergültige Leipziger
Ratspost mit einem kurfürstlichen Postmeister besetzt, d. h. nach
heutigem Sprachgebrauch kurzerhand verstaatlicht wurde.

Die andauernde Geldverlegenheit der Fürstenhöfe brachte es dann
natürlich auch sehr bald mit sich, daß das Postregal, genau wie jeder
andere Staatsbesitz, allerwärts verpfändet oder verpachtet wurde. Die
italienische Familie der Taxis aus Bergamo machte sich dies seit dem
sechzehnten Jahrhundert zunutze und brachte nach und nach den größten
Teil des europäischen Brief- und Fahrpostverkehrs so sicher in ihre
Hand, daß ihre allerletzten Privilegien wohl erst durch die Revolution
von 1919 beseitigt worden sein dürften. Das Haus Thurn und Taxis
verdankt seinen Vorfahren neben reichen Besitztümern in allen Ländern
die Erhebung in Adels-, Grafen- und Fürstenstand, es hat sich aber
auch den Dank Europas verdient, denn ohne seine zielbewußte private
Geschäftsgewandheit wären Verkehrsbeziehungen zwischen den machtlosen,
widerstrebenden Staatsgebilden von damals kaum möglich gewesen.
Freilich mußten auch diese Bemühungen in einer gewissen Halbheit
stecken bleiben, solange der Ausbau großer Verbindungswege noch nicht
zu den Aufgaben des Kulturstaates gerechnet, sondern der Einzelsorge
anliegender Gemeinden überlassen wurde.


II. Pläne Augusts des Starken

Im Kurfürstentum Sachsen fanden die Anläufe zum Hof- und
Staatspostbetrieb, die auf 1500 zurückgehen, eine außergewöhnliche
Förderung durch August den Starken (1694–1733).

Trotz des geschichtlichen Zerrbildes, das der Film neuerdings von ihm
für den Sensationsbedarf des Kinos zusammengestückelt hat, ist diesem
glanzvollen und ideenreichen Fürsten eine ganze Anzahl großzügiger
Pläne zu danken, die er zumeist ganz persönlich mit sicherem Blick
aufgriff und mit zielbewußter Energie verfolgte.

Sein schönheitsliebender Sinn umkleidete dabei in eigenartiger
und höchstpersönlicher Weise die Erscheinungen des alltäglichen
Lebens mit künstlerischen Formen. Weit über die heutigen grünweißen
Grenzpfähle hinaus finden wir deshalb noch jetzt neben den monumentalen
Schauplätzen seiner prunkvollen Hofhaltung, neben den beredten
Zeugnissen seiner Liebe und seines unvertilglichen Hasses, auch eine
ganze Anzahl Schöpfungen, die fast aus dem Geiste neuzeitlicher
gemeinnütziger Ideen geboren erscheinen.

Das Postwesen, dessen Nutzen und Bedeutung er bei seinen verschiedenen
Besuchen auf der Leipziger Messe selbst kennen gelernt hatte und für
den regen Verkehr mit befreundeten Höfen selber andauernd in Anspruch
nahm, gab ihm Anlaß zu einer Reihe von Staatserlassen, denen seine
Landeskinder zwar samt und sonders mit sorgenvollem Kopfschütteln
und ehrerbietigstem Protest begegneten, die ihre Probe aber doch
vor dem Urteil der Geschichte glänzend bestanden haben. Trotz des
Heerestrosses und der goldenen Prunkkarossen, die seinen Reisezug
bildeten, durchschaute er mit scharfem Blick die ganze Jämmerlichkeit
des Verkehres von Stadt zu Stadt. In einer Zeit, die weder Straßen noch
Wegweiser noch Landkarten kannte, wird auch die mündliche Auskunft
durch das Landvolk im allgemeinen nicht weit über die eigene Flur
hinausgereicht haben. Neben Förderung des Straßenbaues, Beaufsichtigung
des Vorspanndienstes und Festlegung der Posttaxen schuf er deshalb den
Plan, nach dem Vorbild römischer Cäsaren, in sämtlichen Städten seiner
Kurlande und vor all ihren Toren _wappengeschmückte Säulen_ zu erbauen,
auf denen die Wegrichtung und Entfernung der Hauptorte in Meilen oder
Wegstunden einzuzeichnen wären. An den Poststraßen selbst sollten
sodann von Viertel- zu Viertelmeile kleinere Merkzeichen aufgestellt
werden, die über das nächste Ziel Auskunft gaben und die Entfernungen
kenntlich machten.

Die künstlerischen Entwürfe zu diesen Distanzsäulen und Meilenzeichen
stammten von der Hand des schönheitsliebenden Fürsten selber. Die
Vorliebe für den schlanken, nadelartigen Obelisken, den wir bei seinen
Jagdzeichen und Marksteinen in kleinem Ausmaß z. B. noch heute als
Bezeichnung von Flußübergängen oder in Riesengröße als Richtpunkte
seiner Zeithainer Truppenschau in der Landschaft antreffen, zeigt sich
in mehrfacher Wiederholung auch bei der Handzeichnung der Poststeine.

[Illustration: Abb. 1 =Handzeichnung aus Schramm=]

Die Distanzsäulen trugen auf quadratischer Grundlage einen mehrfach
profilierten Sockel und darüber einen abgestumpften Obelisken,
dessen Oberteil mit dem plastisch ausgehauenen kursächsischen und
königlich-polnischen Wappen versehen war. Neben den schwarzgetönten
Inschriften half farbiger Anstrich der Wappenschilder und Vergoldung
der darüber schwebenden Krone das künstlerische Bild vervollständigen.

Zur Bezeichnung der ganzen Meile sollte jeweilig ein schlanker Obelisk
auf einfacherem Unterbau, für die halbe Meile eine hermenartige
Säule von eigenartiger Gestalt und für die Viertelmeile eine breite
profilierte Steinplatte gesetzt werden.


III. Die Aufstellung der Postmeilenzeichen

Da das Kurfürstentum Sachsen vor zweihundert Jahren von der Saale bis
in die Odergegend und vom Erzgebirge bis vor die Tore Berlins reichte,
so mußte die _praktische Durchführung_ des Planes von vornherein
mit erheblichen Schwierigkeiten rechnen. Insbesondere war das
weitverzweigte Gebiet nicht von einem Steinbruch und nicht von einer
Steinmetzwerkstatt aus mit gleichartigen Stücken zu versorgen, denn für
solche Lieferungen fehlte ja gerade die Verkehrsmöglichkeit, der die
neue Postschöpfung dienen sollte.

[Illustration: Abb. 2 =Handschriftproben von Zürner aus den Akten
Freyberg=]

Zur Wahrung der nötigen Einheitlichkeit und zur Durchführung im
einzelnen ließ der Kurfürst seine bildlichen Entwürfe in Kupferstich
vervielfältigen (vgl. Abb. 1) und die nötigen Anweisungen für den
Aufbau in Gestalt einer »Mäurerinstruktion« und anderer Befehle
ergehen. Gleichwohl war er sich von vornherein bewußt, daß mit solchem
Schreibwerk allein nichts auszurichten sein würde. Er suchte deshalb
sofort einen organisatorisch begabten Kopf, der ringsum im Lande die
erforderlichen Maßnahmen persönlich treffen sollte, und er fand ihn in
der Person des Pfarrers Friedrich Adam Zürner von Skassa bei Großenhain.

Dieser unermüdliche, praktische und fleißige Mann hat nicht nur
jahrzehntelang alle Landesteile für Vermessungszwecke, Besichtigungen
oder Verhandlungen selbst bereist und nahezu jeden Bauplatz der
Postsäulen selbst ausgewählt, sondern obendrein die hunderte von
Befehlen, Berichten und Erlassen eigenhändig niedergeschrieben. Sogar
die Entwürfe für die Entfernungstabellen der Distanzsäulen stammen aus
seiner eigenen Feder (vgl. Abb. 2).

Die Aktenbündel, die er über jede einzelne Stadt anlegen ließ, geben
uns noch heute ein getreues Bild dieses opferfreudigen Schaffens. Wir
finden dreißig Faszikel im Dresdner Hauptstaatsarchiv[1], während
diejenigen Bände, die aus abgetretenen Gebietsteilen der Provinzen
Sachsen, Schlesien und Mark Brandenburg stammen, nach 1806 an die
Archive von Berlin und Magdeburg abgegeben worden sind.

Die ganze Riesenhaftigkeit der Aufgabe, der dieser einzelne Mann unter
werktätiger Beihilfe seines Fürsten mehr als zwanzig Jahre des Lebens
gewidmet hat, wird erst dann in vollem Umfang ersichtlich, wenn man
jene Zeitverhältnisse in ihrem Urzustande bedenkt.

Vom Fernverkehr für Handel oder höfische Zwecke gab es nur spärliche
Anfänge. An eine Einteilung der Postfahrten und an geordnetes
Vorspannwesen war nicht zu denken. Der Straßenbau von Ort zu Ort
beruhte zumeist auf der kümmerlichen Gelegenheitsarbeit erpreßter
bäuerlicher Frohnden. Landkarten, Stadtpläne, Vermessungsergebnisse,
Entfernungstabellen oder ähnliche schriftliche Vorarbeiten, die
wenigstens bei der allgemeinen Verteilung und Beschriftung der
Postsäulen als Unterlage hätten dienen können, fehlten vollständig.
Das ganze Werk mußte also überall von Zürner selbst mit den
allereinfachsten Feststellungen, Vermessungen und Besichtigungsarbeiten
begonnen werden.

Weiterhin war die Beschaffung von vielen Hunderten kunstvoll
ausgeführter Steinsäulen durchaus keine einfache und vor allen Dingen
keine billige Sache. Die wenigsten Postsäulen durften aus den am Orte
gefundenen Gestein von einem beliebigen Handwerker gehauen werden. Der
kurfürstliche Landes- und Grenzkommissarius Zürner, der unausgesetzt
im Lande umherreiste, hatte vielmehr Auftrag, sich allerwärts über die
Beschaffenheit des Gesteins zu erkundigen, zuverlässigen Steinmetzen
nach Möglichkeit eine ganze Anzahl der Säulen in Auftrag zu geben
und alle Maßnahmen für größtmöglichste Haltbarkeit, modellgerechte
Ausführung und richtige Aufstellung zu treffen. Trotzdem hat das
heranwachsende Werk natürlich mancherlei Unterschiede in der
Bildhauerarbeit sowie grobe Mängel bei der Gründung oder Auswahl der
Steine gezeigt, so daß Zürner viele Revisionsreisen unternehmen und
umgefallene Stücke wieder aufsetzen lassen mußte, während nach seinem
Tode der Verfall ziemlich schnell um sich griff. An Abweichungen
von der Bauvorschrift treffen wir beispielsweise in Delitzsch einen
Distanzobelisken, der in seiner Überschlankheit um mindestens zwei
Ellen höher sein dürfte, als die Werkzeichnung verlangt (vgl.
Abb. 3); auch der Rochlitzer Obelisk zeigt nicht das vorgeschriebene
sächsisch-polnische Doppelwappen, sondern nur ein gekröntes Schild mit
der sächsischen Raute.

Der geldliche Aufwand, den eine so prunkvolle, arbeitsreiche Idee
zu ihrer Durchführung erfordert, erscheint selbst in damaliger Zeit
nichts weniger als gering. Für einen Souverän, wie August der Starke,
lagen die Dinge in finanzieller Beziehung aber trotzdem sehr einfach.
Seine Kassen waren leer. Die Kosten für die »allergnädigst verliehenen
Distanzsäulen« mußte also jede Stadt aus ihrem Säckel bestreiten und
für die Meilensäulen am Wege mußten die anliegenden Gemeinden und
Grundherren Sorge tragen.

Die Stürme des Dreißigjährigen Krieges hatten nun gerade den
sächsischen Landen, die ursprünglich zu den wohlhabendsten gehörten,
auch die schwersten Wunden geschlagen. Durch Heeresfolge, Einlager,
Hunger, Brand und Seuche war Stadt und Land entvölkert. Der Reichtum
erzgebirgischen Silbersegens und mannigfachen Hausfleißes war dahin.
Neue Einnahmen blieben aus.

Umgekehrt waren die durch die Postzeichen auferlegten Lasten
ursprünglich recht hoch bemessen, denn ohne Rücksicht auf die Größe der
Städte oder den Umfang ihres Verkehrs hatte Zürner anfangs durchaus
nach der Idee des Kurfürsten verfahren und für jeden Stadtausgang
eine große Säule bestimmt. Dadurch wurden kleine und große Orte ganz
ungleich belastet, denn z. B. hatte die Residenz Dresden und der
reiche Handelssitz Leipzig nur vier Tore und die Städtchen Grimma
und Marienberg ihrer fünf. Die Preise der Distanzsäulen schwanken
nach den aktenmäßigen Rechnungen zwischen 12 und 80 Talern für das
Stück, wobei neben der Steinmetzarbeit auch die Höhe der notwendigen
Beförderungskosten ins Gewicht fiel. Wetterfeste Hausteine in diesen
stattlichen Größen waren oft sehr weit herzuholen und oftmals weigerten
sich die Bauern überhaupt, ihre Pferde für solche Riesenlasten
herzugeben. Bei der Beschwerlichkeit der Landfuhren wählte der Rat
von Hayn (Großenhain) für seine drei Säulen deshalb den billigeren
Wasserweg von Pirna bis Merschwitz.

Da der Stadtsäckel in damaliger Zeit auf solche außergewöhnliche
Ausgaben nirgends eingerichtet war, blieb nichts übrig, wie die Beträge
als Kopfsteuer auf die Bewohner umzulegen. Erklärlicherweise mag dann
allerdings die Begeisterung der gehorsamen Untertanen für kostspielige
fürstliche Launen nicht gerade groß gewesen sein und so stoßen wir in
den Akten nicht nur allerwärts auf allgemeinen Widerstand, sondern
vielfach auf Mahnerlasse, wonach »Unkosten halber eine Repartition
unter der Bürgerschaft gemacht, auch die Widerspenstigen zu Erlegung
des ihnen zugeteilten Quanti behörig und da nötig durch gebührende
Zwangsmittel angehalten werden mögen.«

Angesichts dieser Finanznöte beginnen all die vielen »Acta die
allergnädigst anbefohlene Anschaffung und Aufrichtung derer steinern
Postsäulen« mit einer beweglichen Klage über die Armut der Bürger
und die Erschöpfung des gemeinen Fiskus. Die Stadt bäte deshalb,
statt mehrerer Distanzsäulen vor ihren verschiedenen Toren nur eine
einzige auf dem Markte setzen zu dürfen. Näher hätte ja wohl der
Ausweg gelegen, daß der Kurfürst den Bau auf Staatskosten bewilligen
möge, aber diesen Vorschlag hat nur die Stadt Freiberg für ihre
fünf Torsäulen gewagt. Tatsächlich wurde ihrerseits im Juni 1723
auch durchgesetzt, daß »die Unkosten so auf diese Säulen erfordert
werden, ungeachtet der gemeine Fiskus sehr erschöpft ist, dennoch
vorigo noch daraus entnommen und die Bürger und Einwohner mit keiner
Anlage beschwert werden.« Die dutzendweise wiederkehrenden Bitten um
Beschränkung des Aufwands und um Bewilligung einer Marktsäule lassen
die Vermutung aufkommen, daß Zürner hier vielleicht selber den guten
Geist der Städte gespielt und ihnen den Vermittelungsvorschlag, den
der Kurfürst in jedem Einzelfall selbst entscheiden wollte, etwa nahe
gelegt hat. Nur wenige der allerkleinsten Stadtgemeinden, wie z. B.
Rabenau, das damals weder Post- noch Straßenverbindung hatte, dürften
ganz um die neue landesherrliche Verfügung herumgekommen sein.

[Illustration: Abb. 3 =Überschlanke Distanzsäule in Delitzsch=]

Bereits die Jahreszahlen an den erhaltenen Postzeichen, die von
1722–1735 schwanken, deuten daraufhin, daß die Aufstellung der
Postzeichen vielfach recht lange verschleppt worden ist. Der
ungeduldige Kurfürst, der seine Lieblingsideen gern umgehend ausgeführt
sah, erließ geharnischte Befehle im allgemeinen und Einzelverfügungen
in Menge, aber allzuviel fruchteten solche papiernen Ergüsse damals
nicht und ohne die Unermüdlichkeit des Kommissarius Zürner und dessen
persönliche Revisionsfahrten wären wahrscheinlich noch weit mehr Säulen
unausgeführt geblieben.

[Illustration: Abb. 4 =Ganze Meilensäule am ursprünglichen Ort bei
Köttewitz und Dohna=]

Die jahrelangen Verzögerungen, die dann trotzdem eingetreten
sind, lassen sich vielfach an der Hand der Akten durch wortreiche
Entschuldigungsschreiben der Bürgermeister oder durch Streik von
Fuhrleuten und »Meurern« erklären, die für die vom Kurfürsten
festgesetzten Löhne nicht arbeiten wollten. Mit der Ablenkung, die der
Kurfürst durch seine außenpolitischen Aufgaben erlebte, mag nach und
nach wohl der ganze Plan bei ihm etwas in Vergessenheit geraten und
auch von dem alternden Landeskommissarius Zürner nicht mehr mit der
gewohnten Energie betrieben worden sein. Die Akten enden vielfach ohne
bestimmten Abschluß, und die großen Lücken, die draußen an den Straßen
tatsächlich verblieben sind, deuten darauf hin, daß die Ausführung des
großangelegten Werkes gar nicht vollständig zu Ende gebracht, sondern
nach und nach ins Stocken geraten ist.


IV. Der heutige Bestand an Distanzsäulen und Meilenzeichen

Von den weitreichenden Plänen des prunkliebenden Fürsten und dem
mühevollen Lebenswerk seines getreuen Landesgeographen sind nur höchst
kümmerliche Reste auf unsere Zeiten gekommen. Allerdings deuten die
wiederholten kurfürstlichen Mahnerlasse und die endlosen persönlichen
Bemühungen Friedrich Zürners daraufhin, daß manche der anbefohlenen
Säulen sowohl in den Städten wie an den Straßen unausgeführt geblieben
ist. Genau feststellen läßt sich dies allerdings nicht, denn die
vorhandenen Akten, deren Zahl auch gar nicht vollständig ist, geben
über die wirkliche Aufstellung nur ganz vereinzelt durch eingeheftete
Kostenrechnungen einen Anhalt; andere zeitgenössische Beweisstücke,
wie Karten, Pläne und Bilder, auf denen die vorhandenen Säulen
eingezeichnet sein könnten, bleiben erst recht eine Seltenheit. In
jedem Falle müssen wir aber als sicher annehmen, daß das System nicht
einmal zu Lebzeiten August des Starken in geplanter Weise ausgebaut
gewesen ist, daß es schon kurz nach der Errichtung vielfachen
Zerstörungen ausgesetzt war und dann dem baldigen Vergessen anheimfiel.
In der Aktensammlung zu Dresden finden sich zwei Hefte »Gegen
Vergreifung und Bosheit so darwider geübt werden« und »Für Strafe, so
sich dran vergreifen oder selbige deformirt«. Auch Zürner hat vielfach
über Einzelfälle von Beschädigung zu berichten und besondere Mühe mit
der Ausbesserung gehabt.

Zum natürlichen Verfall der kleinen Steinmäler durch
Witterungseinflüsse oder mangelhafte Bauart gesellte sich die bewußte
Zerstörung durch menschliche Bosheit oder Unverstand der Behörden. Über
beträchtliche Lücken lesen wir schon in einer gedruckten Festschrift,
die nach hundert Jahren erschien. Ein begeisterter Verehrer der alten
Denkzeichen, ~Dr.~ F. L. Becher in Chemnitz, widmet ihnen 1821 zur
hundertjährigen Jubelfeier einen schwulstigen, phrasenreichen Nachruf
und beklagt bereits damals, daß viele von ihnen umgefallen oder
zerbrochen, eingesunken oder verwachsen seien.

Der Oberreitsche Landesatlas, der um die Wende des achtzehnten
und neunzehnten Jahrhunderts als Ergebnis der ersten wirklichen
Landesvermessung vom Obersten Oberreit und seinen Gehilfen bearbeitet
wurde, verzeichnet die Meilenzeichen nur an einigen Straßen und erwähnt
die Distanzsäulen der Städte überhaupt nicht. Infolgedessen trägt auch
diese nachträgliche Beurkundung nur wenig zur Klärung des anfänglichen
Zustandes bei.

Dagegen lassen die dreißig Aktenhefte des Dresdner Staatsarchivs ohne
weiteres erkennen, daß der Kurfürst selbst bereits seine ursprünglichen
Absichten stark zurückschrauben mußte. Die Besetzung aller Straßentore
mit den großen Distanzsäulen war nämlich nur in wenigen wohlhabenden
Städten wie Leipzig, Chemnitz, Freiberg und Dresden zu erzielen,
während alle kleineren Orte sich günstigstenfalls zur Aufstellung einer
Marktsäule bereit finden ließen. Selbst darüber zogen sich aber die
Verhandlungen in die Länge, und jahrzehntelange Verzögerungen waren die
Folge.

Von kleineren Städten dürften bloß sehr wenige mehr als eine
Distanzsäule angeschafft haben. Beispielsweise finden wir in der Stadt
Geithain noch heute zwei Straßenzüge durch Distanzsäulen geschmückt.
Ebenso sind die Parkeinfahrten der Schlösser Lichtenwalde bei Chemnitz
und Moritzburg bei Dresden von solchen Obeliskenpaaren flankiert.
Da die Akten über diese Stücke ebenso über Penig und andere Städte
keinen Aufschluß geben, so bietet auch die Zählung der Stadtsäulen
nach diesen urkundlichen Unterlagen keine sichere Gewähr. Nur
durch eine oberflächliche Schätzung könnte man annehmen, daß neben
den achtunddreißig Distanzsäulen, die heute laut des beigefügten
Verzeichnisses ~A~ noch auf sächsischem Staatsgebiet stehen, dereinst
noch mindestens fünfzig bis sechzig andere vorhanden gewesen sein
dürften. In den abgetretenen Teilen der preußischen Provinzen Sachsen,
Schlesien und Mark Brandenburg, wo die Wege nach Warschau den
sächsischen Polenkönig naturgemäß am meisten interessierten, wird das
Zahlenverhältnis ähnlich sein, wiewohl die Siedlungen dort räumlich
weiter auseinanderliegen und große Städte, die mehrere Distanzsäulen
gehabt haben könnten, fast ganz fehlen. Man begegnet ihnen daselbst in
großen und kleinen Provinzorten mit sechzehn gut erhaltenen Stücken.
Wieweit dazu die in preußischen Besitz genommenen Akten einen Schluß
auf verlorengegangene Steine zulassen, vermag ich nicht zu beurteilen,
da mir ein persönlicher Besuch der Archive von Berlin und Magdeburg aus
erklärlichen Gründen leider nicht mehr möglich ist.

Nebenbei wäre vielleicht noch an die Möglichkeit zu denken, daß auch
Warschauer Archive aus der Zeit des sächsischen Königtums einige
Unterlagen über die Straßenbezeichnung enthielten oder daß sogar auf
polnischem Boden Postzeichen noch in ähnlicher Weise vorhanden wären,
wie innerhalb unserer Reichsgrenzen. Ich habe deshalb während des
Krieges von der Westfront her bei unseren polnischen Besatzungsbehörden
angefragt, aber vom Generalgouvernement Warschau durch die mit
Kunstschutz und archivalischen Studien beauftragte Stelle nach längerer
Zeit den Bescheid erhalten, daß bei Durchsuchung der Staatsarchive und
bei Umschau in den Städten nichts über die Postmeilensäulen aufgefunden
worden sei. –

Alles in allen kann man annehmen, daß auf Grund der augusteischen
Befehle vor zwei Jahrhunderten etwa hundert solcher Distanzsäulen in
sächsischen Landen aufgestellt worden sind und den ersten bescheidenen
Schritt dazu gebildet haben, die mittelalterlichen Verkehrsverhältnisse
in Deutschland etwas zu bessern. Bei allem Widerstand, den die
verarmten Gemeinden der Sache lediglich aus finanziellen Gründen
entgegensetzten, darf man den großen und bleibenden Nutzen für die
Allgemeinheit nicht verkennen. Heutigentags bedeutet die sorgsame
Erhaltung der Obelisken und ihrer Inschriften zwar lediglich einen Akt
kulturhistorischer Pietät, bis zum völligen Ausbau des Eisenbahnnetzes
nach 1870 besaßen jedoch ihre dutzendfältigen Entfernungsangaben in
Wegstunden oder Meilen allerwärts auch noch praktische Bedeutung. Der
Verfasser der Jubiläumsschrift für 1821 bringt diesen Gedanken in
folgender Weise zum Ausdruck:

    »Wer oft genug Reisende aus dem Auslande an diesen wohltätigen
    Straßensäulen weilen, die Ortsentfernungen lesen und fröhlich
    in ihre Schreibtafeln eintragen sah, der freute sich gewiß
    recht patriotisch dieser ehezeitlichen Veranstaltungen und
    ihres Nutzens für die gesamte Klasse von Pilgrimen, die
    ihrer Heimat entfremdet, jeder freundlichen, auch stummen
    Zurechtweisung bedürftig sind.«

[Illustration: Abb. 5 =Viertelmeilenstein am ursprünglichen Ort an der
Straße Breitenau-Harthwald=]

Während dieser verbliebene Teil der Distanzsäulen uns mit seinen
fünfzig bis sechzig Stücken immerhin noch ein anschauliches Bild der
Vergangenheit vermittelt, ist die Zerstörung der _Meilenzeichen an den
Landstraßen_ bis auf einige klägliche Trümmer vorgeschritten. Von den
vielen, vielen Hunderten kleiner Kunstwerke, die früher den Wanderer
in regelmäßigem Wechsel schon fernher sein Fortschreiten ankündigten,
steht nicht einmal mehr ein volles Dutzend am alten Fleck und selbst
diese wenigen Reste sind teilweise zertrümmert oder grob beschädigt.

[Illustration: Abb. 6

=Halbmeilensäule ohne Fußteil, früher bei Gohrisch auf dem Schießplatz,
seit 1919 im alten Truppenlager von Zeithain=]

Sieht man sich nach den Urhebern dieses Zerstörungswerkes um oder
forscht man nach den Beweggründen, so fehlt es zwar an sicheren
Angaben und Beweisen, ein Blick auf die Karte sagt aber mehr, wie
jede wörtliche Anklage. Überall da, wo der neuere Staatsstraßenbau
den alten Postwegen genau folgte, ist jede Spur der Zürnerschen
Meileneinteilung restlos verschwunden und nur die nüchterne, moderne
Wegmarke nach Meilen- oder Kilometersystem vorhanden. Anderseits
begegnen wir den wenigen verbliebenen Meilensäulen aus augusteischer
Zeit gerade an denjenigen alten Postlinien, mit denen sich der
ingenieurmäßige Straßenbau bisher nie zu befassen hatte, weil der
Verkehr frühzeitig nach geeigneteren Wegen abgeschwenkt war.

Leider ist dieser zweite Fall aber bei weitem der seltenere, denn in
den ebenen Teilen der alten Kurlande hat sich die Verbindung von Ort zu
Ort natürlich ebenso sehr an die altgewohnten gradlinigen Straßenzüge
gehalten, wie im Gebirge, wo die Geländegestalt für die Nahverbindungen
auch nicht viel Auswahl bietet. Infolgedessen sind eigentlich nur
wirkliche Fernverbindungen, wie die Leipzig-Dresdner oder die
Dresden-Prager Handelsstraßen mehrfach über andere Postorte geleitet
und dadurch verschoben worden.

So hat der alte Postgang zwischen Leipzig und der Elbe bei
Schieritz-Meißen zwischen der nördlichen Linie über Wurzen-Oschatz
und einer südlichen über Grimma zeitweilig auch zwischenliegende
Verbindungsstrecken benutzt. Infolgedessen findet sich die allereinzige
Halbmeilensäule, die überhaupt unbeschädigt auf unsere Tage gekommen
ist und wohl augenscheinlich am ursprünglichen Platze steht, mitten im
Wermsdorfer Forstrevier an einem alten längst verwachsenen Waldwege.

Der Prager Handelsweg dagegen folgte südlich von Dohna den dörflichen
Verbindungswegen über die Höhen, während die neuere Kunststraße auf der
Sohle des Müglitztales mit all dessen Windungen, aber ohne verlorene
Steigung, zur Paßhöhe am Mückentürmchen hinaufführt.

Die wenigen Meilenobelisken und Viertelmeilsteine sind ganz vereinzelt
im Lande zu suchen. Einige, wie z. B. die Platten von Klaffenbach,
Dohna und Dippoldiswalde dürften an ihren jetzigen Platz verschleppt
worden sein, denn durch den oberen Ortsteil von Klaffenbach bei
Chemnitz ist überhaupt keine Poststraße gelaufen und bei den beiden
erzgebirgischen Städtchen zeigt der Oberreitsche Landesatlas die
Meßpunkte der Meilenviertel an ganz anderen Stellen.

Auch sonst steht nur ein einziger Stein von allen an einer ausgebauten
Kunststraße, und diese Viertelmeilplatte von Steinbach bei
Johanngeorgenstadt habe ich selber im Frühjahr 1914 vom Schotterhaufen
gerettet.

Auf eine Kette von nicht weniger als fünf guterhaltenen Stücken
stoßen wir schließlich an der einstigen Prager Poststraße, die über
die erzgebirgischen Höhenrücken von Dohna nach Börnersdorf verlief
und gegenwärtig nur noch der Verbindung von Dorf zu Dorf dient. Dem
ausgebesserten Viertelsteine in Dohna folgt ein Meilenobelisk bei
Köttwitz (vgl. Abb. 4.) Dann treffen wir in richtigen Abständen
auf zwei weitere Viertelmarken in Börnersdorf und am Haarthewald
(vgl. Abb. 5), sowie nochmals auf die ganze Meile bei Breitenau. Zu
diesem Straßensystem hat noch ein Halbmeilenstein nordöstlich der
Fürstenwalder Kirche gezählt. Einige Sandsteinstücke, die ich dort im
Jahre 1912 am westlichen Straßenrand vorfand, mögen davon herstammen.
Im Abstand einer weiteren Viertelmeile beim Haferfeldwald zeigt der
Oberreitsche Atlas (Blatt Altenberg) kurz vor der Landesgrenze
nochmals einen Viertelmeilenstein; es ist mir bisher aber nicht
gelungen, seinen Verbleib zu ermitteln.

Auch ohne dieses siebente Stück gestattet das Beispiel dieser
alten Bergstraße, zusammen mit dem sonstigen Befund inner- und
außerhalb Sachsens jedoch zwei ziemlich sichere Schlußfolgerungen:
die Meilensteine aller drei Größen haben inner- und außerhalb der
Ortschaften von der Bevölkerung sicherlich nichts zu leiden gehabt,
sondern sind hie und da, wie Einzäunungen, Blumenschmuck und
Ausbesserungen z. B. in Ballendorf, Crandorf und Börnersdorf zeigen,
sogar auch ohne staatliche Mitwirkung und ohne Belehrung durch den
Heimatschutz gepflegt worden. Die vorhandenen Lücken dürften also wohl
zumeist dem natürlichen Verfall und der ungenügenden Gründung der
hochragenden Formen zuzuschreiben sein. Ihre vollständige Vernichtung
im Bereich späterer Kunststraßen ist dagegen wohl ausschließlich auf
die Bauleiter aller Grade zurückzuführen. Wenn diese irgendwo und
irgendwann einmal soviel geschichtlichen Sinn oder künstlerische
Erkenntnis aufgebracht hätten, um den Wert der alten Postzeichen zu
ermessen, dann müßten die kleinen Merksteine ja gerade an den von
Staats wegen ausgebauten Kunststraßen besonders sorgsam behandelt
worden sein. Unter all den Hunderten zeugt aber nicht ein einziges
Beispiel für solche Überlegung. Unser sächsisches Landschaftsbild, das
beim Fehlen katholischer Andachtszeichen ohnehin manchen poetischen
Anklang entbehrt, ist also im Laufe des vorigen Jahrhunderts durch
diesen beispiellosen Unverstand der Staatsbeamten noch der einzigen
Werke von Straßenkunst beraubt worden.

Über die einstige Zahl und die Verbreitung der Meilenzeichen vermögen
wir uns heutzutage fast noch schwerer ein Bild zu machen als bei den
großen Stadtsäulen.

August der Starke hatte von vornherein den Wunsch, alle Poststraßen
damit auszustatten. Die Akten enthalten jedoch kein Verzeichnis der
zu behandelnden Straßen und schweigen sich merkwürdigerweise auch
darüber aus, welche Verbindungswege um 1822 überhaupt als Poststraßen
angesehen wurden. So finden wir denn manche Landstraße im Aktenheft
der Nachbarstadt aufgenommen, z. B. bei Grünhayn, oder es wurde ein
besonderes Schriftstück für den Bezirk angelegt, z. B. Dippoldiswalde
Stadt und Amt. Ein vollständiges Verzeichnis der ganzen, halben und
Viertelmeilenzeichen geben die Akten mit genauer Ortsbezeichnung für
die Straße von Lützen bis zum Leipziger Peterstor. Bei Pätzold finden
wir weitere acht Hauptstraßen mit ihrer genauen Besetzung aufgezählt.

Aus dem Schriftwechsel mit Zürner, aus den von ihm aufgestellten
Tabellen oder aus Besichtigungsergebnissen, über die manche
Akten berichten, ersehen wir dann, daß die Straßensäulen bei den
Vorbereitungsarbeiten numeriert wurden. Nach welchen Grundsätzen
dabei verfahren wurde, ist nicht ersichtlich, denn an der Straße von
Chemnitz über Annaberg nach Karlsbad wird in dem Grünhayner Faszikel
ein Meilenzeichen Nr. 52, sowie an der Straße Schneeberg-Annaberg ein
solches mit Nr. 57 erwähnt, obwohl keine dieser kurzen Entfernungen mit
solchen Mengen zu rechnen braucht.

[Illustration: Abb. 7

=Normale Distanzsäule in Krakau bei Königsbrück=]

Auf die Vollständigkeit dieser handschriftlichen Unterlagen ist also
kein Verlaß. Leichter dürfte aus den neunhundert Karten und Plänen,
die Zürner während seiner Straßenvermessung gezeichnet hat, ein
Überblick zu gewinnen sein. Aber auch diese sprechen höchstens
für die Absicht und beweisen nicht allzuviel für die wirkliche
Aufstellung. Seltsamerweise gibt die große Zürnersche Postcharte
von 1730 an den besonders kenntlich gemachten Postrouten nicht eine
einzige Distanz- oder Meilensäule wieder, wohl aber finden wir sie kurz
vorher bei Schramm als Titelkupfer auf einem Dresdner Festungsplan.
Spätere Kartenwerke bieten trotz ihrer Lückenhaftigkeit eher einen
Anhalt. Auf den fünfzehn Hauptblättern des Oberreitschen Atlasses
z. B. ist der Bestand nach hundert Jahren teilweise eingetragen.
Grundsätzlich fehlen auch hier sämtliche Distanzsäulen im Bereich der
Städte. Ferner erscheinen ganze Straßenzüge, an denen sich noch heute
Meilenzeichen finden, ohne diese, und bei denjenigen Landstraßen, an
denen die Vermessung durch die Bezeichnung ¼ M., ½ M., 1/1 M. oder
¼ St., ½ St., 1/1 St. an sich mit auf der Karte vermerkt wurde, ist
ihre Reihe doch höchst lückenhaft. Wenn dieser Mangel sich einerseits
durch eingetretene Verluste erklärt, bleibt anderseits die zwiefache
kartographische Behandlung der ganzen Sache ziemlich unverständlich.
So sind manche Provinzstraßen, z. B. Löbau-Neugersdorf, mit sechs
entsprechenden Meilenabschnitten genau bedacht, während der wichtigste
Handels- und Reiseweg Leipzig-Dresden auf dem Blatt Oschatz kein
einziges Postzeichen erwähnt. Erklärlich wird der Unterschied aber
dann, wenn man die Entstehungsjahre der einzelnen Oberreitschen
Kartenblätter beachtet. Bis 1840 sind die Meilenzeichen durchgängig
aufgenommen; sie fehlen dagegen vollständig auf den späteren Ausgaben.
So weist das Blatt Dresden von 1830 noch über sechzig Stück nach,
während Leipzig von 1839 bereits nicht ein einziges enthält. Auch
hierdurch wird die frühere Behauptung erwiesen, daß der Kunststraßenbau
mit der Zerstörung zusammenhängt, denn dort war eben schon die alte
Poststraße durch den staatlichen Chausseebau ersetzt und die Herren
Straßenbauer hatten in der Natur draußen mit den alten Steinen
gründlich aufgeräumt. Auf Blatt Zwickau von 1850 sucht man gleichfalls
fast vergeblich, wogegen das benachbarte Blatt Chemnitz von 1830 an den
Straßen bei Marienberg, Schlettau, Annaberg, Wolkenstein, Lengefeld,
Reifland und Freyberg die Vermessungszeichen noch sehr reichlich und
vollständig aufweist.

[Illustration: Abb. 8

=Beschädigte Distanzsäule, früher am Marktplatz zu Wilsdruff, seit 1860
auf den Rittergutsfeldern von Nieder-Reinsberg bei Nossen=]

Der gegenwärtige Bestand legt uns trotz seiner Dürftigkeit noch
ungelöste Fragen vor. So z. B. kann man sich selbst unter Zuhilfenahme
alter Verkehrskarten und Kursbücher nicht erklären, wie das Dörfchen
Ballendorf zwischen Grimma und Lausigk zu einer Meilensäule gekommen
ist, die dort heute in einem Obstgarten am Nebenwege südlich der Kirche
steht. Sie macht äußerlich durch ihre unbeschädigten Formen durchaus
den Eindruck, als habe sie stets hier gestanden.

Nach alledem bleibt man also auch für die Meilensteine an den Straßen
nur darauf angewiesen, aus dem unvollständigen und unsicheren
Bild, das die Akten, die älteren Kartenwerke und die verbliebenen
Reste gemeinschaftlich zu bieten vermögen, sich selbst durch freie
Schätzung einen Begriff von der einstigen Gesamtzahl zu machen. Dabei
erscheint es wohl nicht zu hochgegriffen, wenn man innerhalb Sachsens
zu der angenommenen Zahl von neunzig Distanzsäulen das zehnfache an
Meilenzeichen rechnet. Ob dieses Verhältnis auch außerhalb das richtige
ist, erscheint mir trotz der größeren Entfernungen zweifelhaft. Einmal
war das Straßennetz dort nicht so dicht als im Stammlande, und
zweitens dürfte die Bezeichnung infolge Steinmangels wohl gar nicht
viel ausgebaut worden sein. Im ganzen weiten Norden ist nämlich meines
Wissens neben den Distanzsäulen nicht eine Meilen- und nicht eine
Halbmeilensäule, sondern nur ein schwerbeschädigter Viertelstein in
Rüdingsdorf, Kreis Luckau, erhalten; er trägt nur den Namenszug August
des Starken und keine Jahreszahl. –

Der allgemeine Zweck dieser kursächsischen Postzeichen hätte es wohl
nahegelegt, in Verbindung mit dieser Schilderung auf einer eignen Karte
die alten Postkurse sowie den einstigen und den heutigen Bestand der
Steinmäler darzustellen. Abgesehen vom Kostenaufwand verspricht jedoch
eine solche Übersicht keinerlei Vollständigkeit und noch viel weniger
ein wirkliches Verkehrsbild. Zur Ergänzung der textlichen Darstellung
mögen infolgedessen die beigegebenen tabellarischen Verzeichnisse
dienen. Da sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, so wird
jede Nachricht über den Verbleib eines Postzeichens, das hier noch
nicht aufgeführt ist, dankbar entgegengenommen.

Über eine ganze Reihe von Postzeichen, die nachweislich einst vorhanden
gewesen, aber im Laufe der beiden Jahrhunderte verschwunden sind,
finden sich in den Zürnerschen Akten, in alten Stadtrechnungen oder auf
Kupferstichen und Gemälden verschiedene Anhaltepunkte. Zur Ergänzung
der Bestandslisten ~A~, ~a~, ~b~, ~c~ sei deshalb eine Reihe von ihnen
hier mit angeführt.

In _Dresden_ haben nach der Titelkarte bei Schramm von 1726 vier
Distanzsäulen vor dem Festungsring an der Leipziger, Bautzner,
Pirnaer und Wilsdruffer Landstraße gestanden. Sie sind ebenso wie die
anschließenden Meilensäulen seit langem spurlos verschwunden.

Zur Nachsuche wegen einer Meilensäule hat der Dresdner Rat im Sommer
1919 Gelegenheit gegeben. Ein Rohrmeister des städtischen Gaswerks
glaubte sich zu erinnern, bei Ausschachtungsarbeiten im Straßenkörper
der Bodenbacher Straße zwischen Landgraben und Liebstädter Straße
etwa ein Meter tief eine gut erhaltene Meilensäule mit Posthorn und
Entfernungsangaben gesehen zu haben. Nachgrabungen, die an mehreren von
ihm bezeichneten Stellen vorgenommen wurden, haben jedoch keinen Erfolg
gehabt[2].

Das Peterstor, Hallesche und Ranstädter Tor in _Leipzig_ ist seit
1724 mit je einer, und das Grimmaische Tor mit zwei Distanzsäulen
ausgestattet gewesen. Als Verfertiger werden die Steinmetzen Johann
Adam Hamm, Gottlieb Kretschmar und Peter Hennicke genannt[3]. Der
Stadtplan von 1749 zeigt die entsprechenden Plätze. Die Säule vor dem
Peterstor finden wir auf einem Bilde der Esplanade, jetzt Königsplatz,
in dem Werk Saxonia, Museum für Sächsische Vaterlandskunde von Dr.
Sommer, Dresden 1835, Band IV, Seite 61.

Vier große Säulen hat seit 1724 ferner die Stadt _Zwickau_ besessen und
noch im Jahre 1845 wird die eine vor dem Tränktor an der Paradiesbrücke
und eine zweite vorm Frauentor an der heutigen Bahnhofstraße
bezeugt[4]. Heute fehlt dagegen auch von ihnen jede Spur.

Gleichfalls im Jahre 1724 hat die Stadt _Oschatz_ vor dem Brüder-,
Altoschatzer und Hospitaltore Distanzsäulen gesetzt und die Kosten
durch Anlagen aufgebracht[5]. Auch hier ist keiner der drei Obelisken
erhalten. Dagegen zeigt das Denkmal vor der Hauptwache am Markt
meiner Erinnerung nach genau die gleichen Formen und Abmessungen der
Distanzsäulen, so daß man wohl auf die Vermutung kommen kann, hier sei
eines der alten Stücke in aufgearbeiteter Gestalt später einem andern
Zwecke dienstbar gemacht worden.

Über einen heftigen Streit zwischen Zürner und dem Stadtrat wegen der
Distanzsäule, lesen wir im Aktenstück und im Stadtarchiv von _Wurzen_.
Die Distanzsäule auf dem Rondell ist tatsächlich bis 1892 vorhanden
gewesen[6].

Neben den vielen Städten und Städtchen hatte August der Starke auch
den beiden Klöstern _Marienstern_ bei Kamenz und _Mariental_ bei
Ostritz aufgegeben, eine Distanzsäule vor ihre Einfahrt zu setzen,
damit sie sich durch dies künstlerische Schmuckstück von den ärmlichen
Dörfern unterscheiden möchten. Auf meine Anfrage hat man kürzlich
liebenswürdigerweise in den Klosterarchiven nachgesucht, aber an
keiner der beiden Stellen einen Anhalt dafür gefunden, ob eine
solche Distanzsäule wirklich gesetzt worden oder wie die Sache sonst
ausgegangen ist.

Etwas rätselhaft mutet dem Forscher die Tatsache an, daß das
kleine Dörfchen _Krakau_ bei Königsbrück sich einer wohlerhaltenen
Distanzsäule (vgl. Abb. 7) erfreut. Dort geht selbst heute noch keine
größere Straße vorüber und nur die Erinnerung an die polnischen Reisen,
die den Kurfürsten über die Gräflich Brühlschen Besitzungen nordwärts
von Dresden führten, lassen vielleicht sein besonderes Interesse an
diesem Zwischengelände erklärlich erscheinen.

Einem sonderbaren Schicksal war schließlich die Distanzsäule von
_Wilsdruff_ verfallen (vgl. Abb. 8). Der Straßenbaufiskus hat sie
1860 an ihrem Platz auf dem Markte weggenommen und für 60 Taler an
den Rittergutsbesitzer auf Nieder-Reinsberg bei Nossen, Herrn von
Schönberg, verkauft. Sie ist seitdem auf einem Hügel mitten in dem
Rittergutsflur aufgestellt und hat augenscheinlich durch die Witterung
viel gelitten. Im Jahre 1919 erinnerte sich die Stadt ihres alten
Besitzstückes; die heutige Rittergutsherrschaft der Schönberg war auch
entgegenkommenderweise zu kostenloser Rückgabe bereit, dagegen konnte
dem Stadtsäckel in unsern schweren Zeiten der verhältnismäßig hohe
Aufwand für Beförderung und Neuaufstellung nicht zugemutet werden.
Die alte verwitterte Säule, die in ihrem Gefüge vielleicht durch den
Abbruch noch mehr gelitten haben würde, verbleibt also an ihrem Platz
auf einsamem Felde.

Einer irrtümlichen Anschauung von den Postzeichen dürfte die Erwähnung
einer Meilensäule im Dresdner Vorort _Kaditz_ entspringen, die bis
1903 an der Ecke der Radebeuler und Dresdner Straße gestanden haben
soll[7]. Wahrscheinlich hat es sich hier nur um einen der meterhohen
Wegweisersteine gehandelt, die auch anderwärts an Kunststraßen
vorkommen, denn die augusteische Poststraße hat das Dorf seiner Zeit
gar nicht berührt und nach der Titelkarte in Schramms Schilderung von
1724 ist die Entfernung östlich von Kaditz richtigerweise mit einer
Halbmeilensäule bezeichnet.

Fälschlicherweise werden zur Straßenbezeichnung Augusts des Starken in
der Literatur mehrfach auch die Säulen von Altdöbern und Lübben in der
Mark gerechnet. Die erstere zeigt eine durchaus abweichende Gestalt
ohne das sächsisch-polnische Wappen und die andere ist laut Inschrift
bereits 1720 auf Veranlassung des Herzogs Moritz Wilhelm von Merseburg
errichtet worden.

Aufklärung war mir bisher nicht möglich für zwei Meilenzeichen, von
denen das eine an der Straße von Neustadt (Sa.) nach Rumburg (Böhmen)
etwa zwanzig Minuten von Langburkersdorf entfernt stehen und das andere
an der Straße von Hartmannsgrün i. V. nach Waldkirchen vorhanden
gewesen sein soll.

Ein schlanker Obelisk wurde mir ferner an der Kunststraße
Freiberg-Großhartmannsdorf in der Nähe des Freiwaldes westlich der
Straße beim Wasser gemeldet, ohne daß ich bisher Näheres feststellen
konnte.

Unaufgeklärt mußte ich schließlich auch die Frage einer Meilensäule an
der Chemnitz-Zschopauer Kunststraße beim Dorfe Gornau lassen. In der
Zeitschrift Das Automobilwesen, 1905, Seite 834, fand ich auf einem
photographischen Bildnis des Rennfahrers Oskar Günther, das ihn im
Kraftwagen bei Gornau zeigt, eine Meilensäule zufällig am Straßenrand
mit aufgenommen. Durch briefliche Mitteilung zweier Herren, die durch
meine früheren Veröffentlichungen auf die Postzeichen aufmerksam
geworden waren, erhielt ich die Säule noch doppelt bestätigt. Sie soll
auf »Altenhainer Flur« »am Straßenkreuz nach Weißbach und Dittersdorf«,
nach anderer Meldung »im Walde zwischen Gornau und Chemnitz« stehen.
Demgegenüber hat mir im Sommer 1919 der Ortspfleger des Heimatschutzes,
den ich um Bestätigung und nähere Angaben ersuchte, geschrieben, daß
dort keine Säule zu finden sei. Auch von der Amtshauptmannschaft ist
auf eine allgemeine Rundfrage vom Jahre 1917 nichts davon erwähnt
worden. Der Oberreitsche Atlas, Blatt Chemnitz, zeigt 1835 eine Säule
in der Gegend, so daß sie entweder erst nach der photographischen
Aufnahme des Automobils zerstört worden ist oder vielleicht doch noch
unbeachtet am Platze steht.


V. Der Schutz der Postzeichen

Um die Erhaltung der Postsäulen bemühen sich heutzutage in erster
Linie die staatlichen Stellen für Denkmalpflege und der Landesverein
Sächsischer Heimatschutz; das große Inventarisationswerk von Steche und
Gurlitt, dessen zahlreiche Bände um die Jahrhundertwende erschienen,
führt bereits eine Anzahl der Postzeichen mit auf, und die Mitteilungen
des Landesvereins und der Sächsischen Volkskunde haben mehrfach
ergänzende Bemerkungen gebracht.

Neben dieser allgemeinen Fürsorge hat aber erfreulicherweise an vielen
Orten auch das Interesse der Bewohnerschaft sich dem Einzelstück
zugewendet. In und außerhalb Sachsens sind seit altersher besonders
die wappengezierten Distanzobelisken als besonderer Kunstbesitz
gepflegt und nach Art eines Denkmals mit Promenadenanlagen oder
architektonischer Umgebung in Verbindung gebracht worden. Gerade kleine
Städtchen, wie zum Beispiel Bärenstein bei Glashütte oder Wittichenau
im Preußischen, die über keine anderen Kunstwerke an der Straße
verfügen, haben sich des eigenartigen Erbstücks aus Sachsens Vorzeit
mit doppelter Fürsorge angenommen.

Manche Säule hat dabei infolge von Straßenregulierungen einen andern
Platz erhalten und ist sorgsam wieder aufgestellt worden. So ist der
Radeburger Distanzobelisk vom Markt an die Friedhofstraße versetzt
worden und diejenigen von Frohburg, Mügeln und Pirna stehen sogar schon
am dritten Platz. Eine weitere Distanzsäule, die wir in Pirna am Elbtor
auf dem großen Gemälde Canalettos (Nr. 627 der Dresdner Staatsgalerie)
abgebildet finden, ist dagegen spurlos verschwunden.

Abgesehen von kleinen Ausbesserungen beobachten wir auch Ergänzungen
zerbrochener Steine, zum Beispiel in _Neustadt_ an der Distanzsäule
oder am Viertelmeilenstein von _Dohna_. An anderer Stelle, wie
in _Dippoldiswalde_ und _Klaffenbach_, ist die Platte eines
Viertelmeilensteines und im Zeithainer Truppenlager kürzlich das
Hauptstück einer Halbmeilensäule ohne neuere Zutat aufgestellt
worden (Abb. 6). Zufällig erfuhr ich, daß ein Denkstein mit Posthorn
und Namenszug ~A. R.~, auf den im übrigen die Beschreibung der
Halbmeilensäule paßte, weit draußen an der früheren Kröbelner Straße
auf dem Truppenübungsplatz liege; noch vor den Revolutionswirren gelang
es durch Briefwechsel mit der Kommandantur das seltene Stück ausfindig
zu machen und im Lager zu bergen. Es wurde später an der Planitzstraße
im Kiefernwald von neuem aufgestellt und bildet mit dem besser
erhaltenen Wermsdorfer Stück den einzigen Rest dieser hermenartigen
Halbmeilensteine.

Eine Erneuerung des farbigen Anstrichs oder eine Bemalung und
Vergoldung der gekrönten Wappenschilder haben viele Distanzsäulen
erhalten; besonders eigenartig nimmt sich das bunte Wappenstück dann an
den roten Porphyrsteinen der Rochlitzer Gegend aus.

Nicht alle solche späteren Eingriffe zeugen von wirklicher Sachkunde.
So wurden beispielsweise die beiden Freiberger und die Altenberger
Distanzsäulen zweifellos durch nachträgliche Einmeißelungen
verunstaltet, während die langen Listen der alten Ortsentfernungen,
die anderwärts noch völlig lesbar dastehen, hier wohl teilweise
geglättet wurden. Das staatliche Denkmalpflegamt sucht deshalb heute
solche willkürliche Veränderungen zu verhindern und bei geplanten
Erneuerungsarbeiten durch sachverständigen Rat mitzuwirken.

Auch diese literarische Zusammenstellung, die sich neben archivalischen
Studien auf jahrelange Wanderfahrten und persönliche Besichtigungen
stützt und zur Anlegung einer photographischen Bildersammlung führte,
möge dazu beitragen, das Interesse an dem zweihundertjährigen
Kunstbesitz unsrer engeren Heimat zu verbreiten und diesen eigenartigen
Denksteinen einer glanzvollen Fürstenzeit noch einen recht langen
Bestand zu sichern.


_Anlage ~A~ und ~B~._


~A.~ Verzeichnis der vorhandenen Postmeilensäulen


~a~) Distanzsäulen in Sachsen

    1. _Altenberg_ [1722], an der Hauptstraße, gegenüber dem alten
        Amtshof. _Sächsische Volkskunde_ 1902, S. 256. _Schmidt_,
        Kursächsische Streifzüge, Band IV, S. 301.

    2. _Bärenstein_ [1734], bei Glashütte am Markt. Literatur wie
        bei Nr. 1.

    3. _Berggießhübel_ [1727], am Straßenkreuz. Sächsische
        Volkskunde 1902, S. 312.

    4. _Dohna_ [1731], an der Lesche- und Antonstraße. Sächsische
        Volkskunde 1902, S. 312. Über Berg und Tal, Band VII, 1902
        bis 1905, S. 125 und S. 131 (vollständige Inschrift).

    5. _Elstra._ Gurlitt, S. 40. Bruchstück mit wohlerhaltenem
        Wappen, vorläufig im Rathaus aufbewahrt.

    6. _Elterlein_ [1729], an der Gabelung der Zwönitzer und
        Grünhainer Straße, westlich des Marktes.

    7. _Freiberg I_ [1723]. Einmündung der Annaberger und
        Chemnitzer Straße. Literatur wie bei Nr. 1 und 3.

    8. _Freiberg II_ [1723], an der Hauptpost.

    9. _Frohburg_ [1722]. Ursprünglich auf dem Markt, dann auf dem
        Bismarckplatz, jetzt am Stadteingang vom Bahnhof her.

    10. _Geithain I_ [1727], an der Hauptstraße im Ostteil der
        Stadt. Rochlitzer Porphyr.

    11. _Geithain II_ [1727], am Westausgang an der Straßengabel
        Borna-Frohburg. Rochlitzer Porphyr.

    12. _Geringswalde_ [1727], am Westrand des Teiches. Rochlitzer
        Porphyr.

    13. _Geyer_ [1730], am Markt.

    14. _Glashütte_, am Straßenkreuz beim Bahnhof. Literatur wie
        bei Nr. 3.

    15. _Gottleuba_ [1731], auf dem Markt. Literatur wie bei Nr. 3.

    16. _Hilbersdorf_-Chemnitz, an der Frankenberger Straße.

    17. _Johanngeorgenstadt_, auf dem Markt.

    17 ~a~. _Jöhstadt_, auf dem Markt. Abbildung in Mitteilungen
        des Sächsischer Heimatschutz, 1922, Heft 1–3, S. 54.

    18. _Kamenz_ [1725], über dem Eisenbahntunnel. Literatur wie
        bei Nr. 1. Abbildung in Sachsenkalender 1922, am 9. Februar.

    19. _Königstein_, an der Dresdner Straße. 1921 neu bemalt. Über
        Berg und Tal, Band VII, S. 174.

    20. _Krakau_ [1732] bei Königsbrück, auf Zürners Karten Cracau.
        Mitten im Dorf am Gasthaus zum grünen Baum.

    21. _Leisnig_ [1723], auf dem Lindenplatz. Rochlitzer Porphyr.
        Gurlitt, Heft 25, S. 152. Sächsische Volkskunde 1903, Heft
        2, S. 63.

    22. _Lichtenwalde_ bei Chemnitz I.

    23. _Lichtenwalde II_, beiderseits der Schloßeinfahrt.

    24. _Marienberg_, vor dem Zschopauer Tore. Sächsische
        Volkskunde 1902, S. 288; Müller im Archiv für Post und
        Telegraphie 1909.

    25. _Moritzburg I_ [1730]. Abbildung in Mitteilungen
        Sächsischer Heimatschutz, 1922, Heft 1–3, S. 33.

    26. _Moritzburg II_ [1730], beiderseits der Schloßeinfahrt am
        Teiche.

    27. _Mügeln._ Früher im Ratskellergarten hinter dem Deutschen
        Haus. Seit 1895 an der Leisniger Straße und Schützenwiese.

    28. _Neustadt_ [1729], auf dem Promenadenplatz am Bahnhof.
        Spitze ist ergänzt. Sächsische Volkskunde 1902, S. 312.

    29. _Nieder-Reinsberg_ bei Nossen. Nördlich auf der Steinrücke,
        mitten im Felde. Früher auf dem Markt von Wilsdruff.
        Am 25. 1. 1864 von der Kgl. Straßenkommission an
        Rittergutsbesitzer von Schönberg verkauft. 1920 scheiterten
        Verhandlungen beim Stadtrat zu Wilsdruff wegen der
        Wiederaufstellung an der Kostenfrage, obwohl der Besitzer
        die Säule kostenlos zurückgeben wollte.

    30. _Oberwiesenthal_ [1730], auf dem Markt. Sächsische
        Volkskunde 1902, S. 288.

    31. _Olbernhau_, Literatur wie bei Nr. 29.

    32. _Penig_, an der Chemnitzer Straße. Rochlitzer Porphyr.

    33. _Pirna_ [1722], früher Breite Straße, jetzt Reitbahnstraße.
        Sächsische Volkskunde 1902, S. 256 und 312.

    34. _Pulsnitz_ [1725], am Wettinplatz. Literatur wie bei
        Nr. 28; Störzner: Was die Heimat erzählt. Leipzig 1905.
        (Vollständige Inschrift).

    35. _Radeburg_ [1728], früher am Markt. Jetzt am Straßenkreuz
        östlich des Friedhofs. Literatur wie bei Nr. 28.

    36. _Reinsberg_ bei Nossen, an der Straße nach Krummhennersdorf.

    37. _Rochlitz_, an der Schloßstraße. Rochlitzer Porphyr. Mit
        großem sächsischen Rautenwappen.

    38. _Strehla_, beim Nordausgang der Stadt, an der Paußnitzer
        Straße.

    39. _Zwönitz_ [1727], am Markt. Aus Greifensteiner Granit und
        Chemnitzer Sandstein. 1787 und 1884 erneuert. Unsere Heimat
        1903 bis 1904, S. 157; Glück auf 1884, Heft 12, S. 180.


~b~) Distanzsäulen außerhalb Sachsens

    40. _Amtitz_ [1732] bei Guben. Ledât im Archiv für Post und
        Telegraphie, Band 40, S. 399.

    41. _Belgern_ [1730] an der Elbe, am Markt gegenüber der
        Rolandfigur. Sandstein. Literatur wie bei Nr. 40.

    42. _Belzig_ [1725] (Mark). Literatur wie bei Nr. 40.

    43. _Brück_ [1730] (Mark). Literatur wie bei Nr. 40.

    44. _Delitzsch_ [1730], am Roßplatz. Ungewöhnlich hoher
        schlanker Obelisk. Literatur wie bei Nr. 40.

    45. _Elsterwerda_ [1738], an der Kirche. Literatur wie bei
        Nr. 40; Schmidt: Kursächsische Streifzüge Band IV, S. 301.

    46. _Golßen_ bei Lübben. Rochlitzer Porphyr. Sächsische
        Volkskunde 1903, S. 96.

    47. _Görlitz_ [1725], auf dem Töpferberg. Schlesische
        Heimatblätter, S. 403.

    48. _Guben._

    49. _Hoyerswerda_ [1730], früher auf dem Markt, jetzt in
        der Promenade an der Bahnhofstraße als Bismarcksäule
        bezeichnet. Literatur wie bei Nr. 47.

    50. _Kirchhain_ [1736], an der Hauptstraße beim Südeingang.
        Literatur wie bei Nr. 40.

    51. _Lauban_ [1725], am Amtsgericht. 1872 ausgebessert.
        Sandstein. Literatur wie bei Nr. 40 und 47.

    52. _Liebenau_ bei Frankfurt an der Oder.

    53. _Lieberose_ [1735], vor dem Mühlentor. Literatur wie bei
        Nr. 40.

    54. _Lübbenau_ [1740], an der Vorstadt Hauptstraße. Sandstein.
        Ortsnamen ohne Entfernungsangaben. Literatur wie bei
        Nr. 40. Schmidt: Kursächsische Streifzüge, Band II, S. 92.

    55. _Mühlberg_ [1730] an der Elbe, an der Straße nach Burxdorf.
        Literatur wie bei Nr. 40.

    56. _Niemegk_ [1736] bei Potsdam. Literatur wie bei Nr. 40.

    57. _Ullersdorf_ am Queis. Literatur wie bei Nr. 40.

    58. _Wittichenau_ [1732], auf dem Marktplatz. Literatur wie bei
        Nr. 40. Schlesische Heimatblätter, S. 404. Vollständige
        Inschriften.


~c~) Meilenzeichen innerhalb und außerhalb Sachsens

    59. _Ballendorf_ [1722] bei Bad Lausigk, Meilenobelisk, an der
        Nebenstraße südlich der Kirche im Obstgarten. Sandstein.

    60. _Bischofswerda_, Mittelstück mit Ortsangaben einer
        Distanzsäule von 1724. Im Hermannstift aufbewahrt.

    61. _Börnersdorf_ [1732], Viertelmeilenstein. An der
        Dorfstraße. Sächsische Volkskunde 1902, S. 312.

    62. _Breitenau_ [1732], Meilenobelisk. 400 Meter südlich des
        Ortes an der Straße nach Fürstenwalde. Literatur wie bei
        Nr. 61.

    63. _Breitenau_ [1732], Viertelmeilenstein. Am Nordeingang des
        Haarthewalds an der Straße nach Fürstenwalde.

    64. _Crandorf_ [1725] bei Schwarzenberg. Meilenobelisk. An
        der Straße nach Erla. Nördlich der Kirche. Inschrift:
        Schwarzenberg-Grünhain 2 St. Stollberg 5 St. ¾. 1725.
        Posthorn.

    65. _Dippoldiswalde_, Viertelmeilenstein an der Altenberger
        Straße. Wahrscheinlich verschleppt, da der Oberreitsche
        Atlas östlich bei der Stadt eine Halbstundensäule zeigt.
        Literatur wie bei Nr. 61.

    66. _Dohna_, Viertelmeilenstein. An der Weesensteiner Straße,
        nach 1910 neu aufgestellt und ergänzt.

    67. _Klaffenbach_ [1723], Viertelmeilenstein, Bruchstück. Die
        Platte ist neben dem als Bonifaziuskreuz bezeichneten
        Sühnekreuz niedergelegt. Sie ist sicherlich verschleppt.

    68. _Köttewitz_ [1730], Meilenobelisk an der Straße
        Köttewitz–Eulmühle. Inschrift: Nach Töplitz 8½ St. 1730
        Posthorn Dresden 4 St. Literatur: Sächsische Volkskunde
        1902, S. 312 bis 315; Ruge in Über Berg und Tal, Band VII,
        1902 bis 1905, S. 131.

    69. _Oberwiesenthal_, Meilenobelisk, Oberteil zweieinhalb Meter
        lang ohne Sockel. An der alten Straße zum neuen Haus,
        hundert Meter unterhalb der neuen Kunststraße.

    70. _Reichenbach i. V._ [1725], Meilenobelisk. An der alten
        Poststraße von Schneeberg und Kirchberg, jetzt Feldweg.
        Akten I des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz über
        alte Steinkreuze. Abbildung in Mitteilungen des Sächsischen
        Heimatschutz, 1922, Heft 1–3, S. 34.

    71. _Reifland_ [1723], Meilenobelisk an der Straße zum
        Eisenbahn-Haltepunkt Rauenstein-Lengefeld, beim ersten Gut.
        Inschrift: 3 St. 3/8 n. Wolkenstein 5 St. 3/8 n. Freyberg
        6 St. n. Annaberg.

    72. _Reitzenhain_, Viertelmeilenstein. Sächsische Volkskunde
        1902, S. 288.

    73. _Röhrsdorf_ bei Chemnitz. Viertelmeilenstein an der
        Wasserschänke.

    74. _Rüdingsdorf_, Provinz Sachsen, Kreis Luckau.
        Viertelmeilenstein, Bruchstück an der Kunststraße.
        Photographie des Landratsamts Nr. 878 von 1919.

    75. _Schwoosdorf_, Viertelmeilenstein. Bruchstück an der
        alten Poststraße Kamenz-Königsbrück am Berghang kurz vor
        Schwoosdorf. Gurlitt, S. 329.

    76. _Steinbach_ [1725], Viertelmeilenstein.
        Bruchstück. Sandstein. An der Kunststraße
        Eibenstock-Johanngeorgenstadt, am Wegkreuz bei Kilometer
        29,4. Beim Straßenbau 1914 neu aufgestellt.

    77. _Wermsdorfer Staats-Forstrevier_, Halbmeilensäule (einziges
        unbeschädigtes Stück, das obendrein noch am alten Platz der
        früheren Poststraße steht). Auf Forstabt. 10.

    78. _Wermsdorfer Staats-Forstrevier_, Viertelmeilenstein.
        Akten des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, betreffs
        Kulturdenkmäler. Auf Forstabt. 25.

    79. _Zeithainer Truppenübungsplatz_ [1722], Halbmeilensäule.
        Bruchstück aus Sandstein. Früher auf dem
        Artillerieschießplatz beim zerstörten Dorfe Gohrisch,
        fünfzig Meter nördlich des Wegkreuzes der Kröbelner
        Straße. 1919 durch den Kommandant, Major Kruse, an der
        Planitzstraße vor dem alten Kommandanturgebäude im Waldpark
        des einstigen Offizierkasinos aufgestellt und mit Ölfarbe
        graugrün gestrichen. Inschrift: Hayn 4 St. 3/8 Posthorn
        1722. Rückseite: Loßdorf 3 St. Posthorn 1722.


~B.~ Literaturverzeichnis der Postsäulen


~a~) Die Originalakten vom Jahre 1721 ff.

=Acta betr. die allergnädigst anbefohlene Anschaffung und Aufrichtung
derer steinern Postsäulen=

Unter Rep. XXXI liegen im _Hauptstaatsarchiv Dresden_ zusammen 83
Faszikel. Dazu zählen außer den im Distanzsäulenverzeichnis ~A~ 1 bis
38 einzeln angegebenen Nummern noch folgende 55 Orte, an denen heute
keine Säule vorhanden ist: Dippoldiswalde, Döbeln, Dresden, Elsterberg,
Frauenstein, Frankenberg, Gräfenhainichen, Grimma, Grünhain,
Grillenburg, Herzogswalde, Hohnstein, Hein, Hainichen, Hartha,
Königsbrück, Leipzig, Lommatzsch, Lausnitz, Lauterbach, Lengefeld,
Löbau, Mutzschen, Kloster Marienstern, Kloster Marienthal, Mittweida,
Meißen, Nossen, Öderan, Ölsnitz, Oschatz, Roßwein, Reichenbach,
Radeberg, Schwarzenberg, Schmiedeberg, Sachsenburg, Schneeberg,
Stollberg, Stolpen, Schöneck, Sayda, Wurzen, Wilsdruff, Wolkenstein,
Waldheim, Zschopau, Zöblitz, Zittau, Zwickau.

Ferner sind 1815 nach der Teilung der Kurlande noch weitere 55 Faszikel
an die _preußischen Provinzial Archive Magdeburg_ und _Berlin_
ausgeliefert worden. Dazu zählen die Städte im Distanzsäulenverzeichnis
~A~ 40 bis 57, sowie noch folgende 35 Orte oder Ämter, die heute
keine Säule mehr aufweisen: Dobrilugk, Düben, Dommitzsch, Herzberg,
Jessen, Kemberg, Liebenwerda, Luckau, Lausnitz, Lauterstein, Merseburg,
Neustadt a. O., Neukirchen, Naumburg a. Qu., Ortrand, Pforta, Ruhland,
Schlieben, Schilda, Sonnewalde, Suhl, Senftenberg, Schweinitz,
Tannstädt, Torgau, Tautenburg, Voigtsberg, Witten, Weyda, Weißenfels,
Zahna, Ziegenrück, Zabeltitz, Zeitz.


~b~) Schriftstellerische, bildliche und kartenmäßige Bearbeitungen

    _Codex Augusteus_ von 1724, I, 1947, 1951, 2541 (steinerne an
        Stelle der hölzernen Armensäulen zu setzen), 1955, 1956,
        2541, 2543 (Beschleunigung unter Strafandrohung verlangt),
        2542 (gegen Vergreifung und Bosheit, so darwider geübt
        werden), 1958, 2544 (Strafe so sich daran vergreifen und
        solche deformiert).

    _Schramm_: Von denen Wege-Weisern, Armen-, und Meilensäulen.
        Wittenberg 1726 (400 Seiten und Abbildungen).

    Dr. _F. L. Becher_: Die Hundertjährige Jubelfeier der
        Sächsischen Distanz- und Postsäulen, im Jahre 1822, sammt
        einer Geschichte derselben. Chemnitz 1821 (54 S.).

    Dr. _P. G. Müller_ im Archiv für Post und Telegraphie 1909,
        S. 365. Die Kursächsischen Post- und Meilensäulen.

    _Ledât_ ebenda 1912, S. 393. Alte Meilen- und Postsäulen im
        Reichspostgebiete.

    _Christian Lehmann_: Historischer Schauplatz deren natürlichen
        Merkwürdigkeiten in dem Meißnischen Obererzgebirge. Leipzig
        1699, S. 151.

    _Schäfer_: Geschichte des sächsischen Postwesens. Dresden 1879,
        S. 186.

    _S. Ruge_: Die alten Meilensäulen. In: Über Berg und Tal, Band
        VII (1902 bis 1905), S. 174.

    Dr. _Bschorner_ in den Mitteilungen für Sächsische Volkskunde
        1902, S. 312 bis 315.

    _Aug. Schumanns_ vollständiges Staats-, Post- und
        Zeitungs-Lexikon von Sachsen. Zwickau im Verlag der
        Gebrüder Schumann 1824, Band XI, S. 173. (Notiz über
        Zürner.)

    _L. Schmidt_: Kurfürst August der Starke als Geograph. 1898.

    Dr. _Kuhfahl_: Die kursächsischen Postmeilensäulen. Dresdner
        Anzeiger vom 16. März 1919.

    _Veredarius_: Das Buch von der Reichspost, S. 110. Allgemeine
        Deutsche Biographie, Band 45, S. 511. (Über Zürner.)

    _Aug. Böhland_: Schicksale der Oberlausitz und ihrer Hauptstadt
        Budissin. 1831, S. 203. (Kurze Erwähnung der Postsäulenidee
        Augusts des Starken.)

    Dr. _E. Herzog_: Chronik der Kreisstadt Zwickau 1845, II.
        Teil, Jahresgeschichte, S. 592 ff. (Bericht über vier
        Distanzsäulen und die Meilensäulen des Weichbildes.)

    _Carl Sam. Hoffmann_: Historische Beschreibung der Stadt, des
        Amtes und der Diöcese Oschatz 1813, S. 171. (Erwähnung der
        drei Distanzsäulen von 1724).

    _Max Engelmann_: Die Wegmesser des Kurfürsten August von
        Sachsen. In den Mitteilungen aus den Sächsischen
        Kunstsammlungen, Jahrgang VI, S. 11.

    _Fickert_: Das Landstraßenwesen im Kr. Sachsen bis um das Jahr
        1800. Im Archiv für Post und Telegraphie 1913 (Nr. 13 und
        14) S. 37. (Kurze Erwähnung der Postsäulen.)

    _F. G. Leonhardi_: Handbuch für Reisende durch die Sächsischen
        Lande, 1796.

    _K. Wertheim_: Reise durch Kursachsen 1793 bis 1794.

    _Johann Eschert_: Post Secretarius in Leipzig. Chur. Sächs.
        Post Cours, in welchem enthalten, wie alle reutend und
        fahrende Ordinar Posten in der berühmten Handelsstadt
        Leipzig 1703.

    _D. E. Schmidt_: Auf der alten Leipziger Poststraße. In
        Kursächsische Streifzüge 1912, Band IV, S. 287, 288 ff.

    Dr. _A. Pätzold_, Halle 1916: Die Entwicklung des Sächsischen
        Straßenwesens von 1763–1831.

    _Saxonia_: Museum für Sächsische Vaterlandsfreunde von Dr.
        Sommer. Dresden 1835, Band IV, S. 61. Abbildung der
        Esplanade in Leipzig (jetzt Königsplatz) mit Distanzsäule.

    _Gemälde von Canaletto_ in der Dresdner Staatsgalerie:

            Nr. 611: Die ehemaligen Festungswerke zu Dresden.
                     (Distanzsäule von 1722 am heutigen Postplatz.)
            Nr. 622: Die Breitegasse zu Pirna.
                     (Distanzsäule, die heute an der Promenade steht.)
            Nr. 627: Pirna vom rechten Elbufer.
                     (Distanzsäule am Elbtor.)

    _Kupferstich_ ~Vue de Nossen près de Meissen~ von Carl Aug.
        Richter (Kupferstichkabinett Dresden) zeigt gegenüber dem
        Nossener Schloß am rechten Muldenufer eine Halbmeilensäule.

    _Neue Chur-Sächsische Post Charte_ von Magister _Ad. Fr.
        Zürner_. Erste Auflage gegen 1700, zwei spätere Auflagen
        bis 1730. Postwege und Postorte aber nirgends Postsäulen.

    _Atlas Saxonicus_ von Schlenk, 1775 (keine Postsäulen).

    _Geographische Delineation_ der Gegend zwischen Dresden und
        Meißen nebst den dabey befindlichen Postsäulen. Titelblatt
        in Schramms Buch von denen Wege-Weisern, Armen- und
        Meilensäulen 1726.

    _Müllers Postkarte_ von 1824. (Keine Postsäule.)

    _Oberreitscher Landesatlas_ 1821 bis 1850. Postmeilensäulen an
        den Straßen sind in den älteren Blättern Freyberg, Stolpen,
        Altenberg, Chemnitz, Zittau, Schwarzenberg, Großenhain,
        Dresden lückenhaft aufgenommen, in den übrigen aber nicht
        verzeichnet.

    _Joh. Hernleben_: Pässe des Erzgebirges, Berlin 1911.

    _Abbildungen_ 1–8 nach Photographien von Dr. Kuhfahl.


Fußnoten:

    [1] Siehe das angefügte Literaturverzeichnis ~B~, ~a~.

    [2] Akten des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz Nr. 941.

    [3] Gurlitt, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und
        Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, Band Leipzig,
        S. 393.

    [4] ~Dr.~ Emil Herzog, Chronik der Kreisstadt Zwickau, II.
        Teil, Jahresgeschichte, Seite 592.

    [5] Historische Beschreibung der Stadt Oschatz von Carl Samuel
        Hoffmann, 1843, Seite 171.

    [6] Schmidt, Kursächsische Streifzüge ~B~ 4, Seite 298 ff.

    [7] Über Berg und Tal, VII. Bd. 1902–1905, Seite 174.



Heimatschutzgedanken in Gottfried Kellers Dichtungen

_Th. Leuschner_, Dresden-Loschwitz


Lange vor uns hat Gottfried Keller die Gedanken des Heimatschutzes
empfunden. Ob und wie er als erster Staatsschreiber des Kantons Zürich
in dieser Richtung hin gewirkt hat, wissen wir nicht, das soll auch
hier nicht untersucht werden. Aber in einigen seiner Dichtungen weist
er darauf hin, die Schönheit und die Eigenart der Heimat nicht zu
zerstören. Und _wie_ das Keller sagt, das ist für uns das Reizvolle.

Was er in seinen Erzählungen darüber eingeflochten hat, ist nicht
ein bloßer Einfall von ungefähr. Es ist ihm damit ernst, und diese
Gedanken haben ihn immer bewegt. Wir dürfen dieser Liebe nach einem
Selbstzeugnis über sein künstlerisches Arbeiten versichert sein. In
einem Briefe vom 28. Februar 1877 an W. Hemsen, der von ihm einen
Beitrag zu seinem bei Spemann erscheinenden Jahrbuch »Kunst und Leben.
Ein neuer Almanach für das deutsche Haus« gewünscht hatte, bekennt er:
»So geringfügig meine Erfindungen sind, so sind es eben solche, d. h.
sie beruhen jedesmal auf einem spontan entstandenen inneren Gesicht
(wenn diese banale Phrase erlaubt ist) und sind daher nicht von äußeren
Wünschen abhängig. Es sind immer Sachen, die mir von langer Hand oder
in Verbindung mit einer ganzen Gruppe vorschweben; am seltensten stößt
mir ein Motiv auf, welches für sich allein ausgeführt werden kann.«

Wir lesen uns zuerst in den Roman »_Martin Salander_« ein. Martin
Salander ist heute heimgekommen. Über sieben Jahre lang war er von den
Seinigen weg gewesen, um das an seinen betrügerischen Freund Wohlwend
verlorene Geld drüben in der neuen Welt rascher als im heimatlichen
Münsterberg wieder zu erwerben. Während dieser Zeit hat seine Frau
Marie in der kleinen Sommerwirtschaft und Fremdenpension zur Kreuzhalde
den Unterhalt für sich und die drei Kinder kümmerlich bestritten. Es
ist hier nicht der Platz, den Gang der Erzählung zu verfolgen. Sie
gehen schlafen, sie betreten das Zimmer, wo Frau Marie das Lager ihres
Mannes schon seit Monaten bereit gehalten hat.

    »... Aber ich wollte schon ein paarmal fragen,« fuhr er
    fort, aus dem offenen Fenster auf das mondhelle Umgelände
    hinausdeutend. »Wo sind denn nur die vielen schönen Bäume
    hingeraten, die sonst vor und neben dem Hause standen? Hat sie
    der Eigentümer abschlagen lassen und verkauft, der Tor? Das war
    ja ein Kapital für die Wirtschaft!«

    »Man hat ihm das Land weggenommen oder eigentlich ihn
    gezwungen, Bauplätze daraus zu machen, da einige andere
    Landbesitzer den Bau einer unnötigen Straße durchgesetzt haben.
    Nun ist sie da, jedes schattige Grün verschwunden und der Boden
    in eine Sand- und Kiesfläche verwandelt; aber kein Mensch
    kommt, die Baustellen zu verkaufen. Und seit die guten Bäume
    dahin sind, ist auch mein Erwerb dahin!«

    »Das sind ja wahre Lumpen, die sich selbst das Klima
    verhunzen ...«

Eine Reihe von Jahren später! Salanders Töchter Netti und Setti haben
sich mit den Zwillingsbrüdern Isidor und Julian Weidelich, den Söhnen
der Gärtnersleute aus dem Zeisig, verheiratet. Diese sind Landschreiber
und Mitglieder des Großrates. Keller hat sie mit einer Fülle kleinster
Einzelheiten als eitle, schlaue Streber und Narren gezeichnet, die
habsüchtig ihre Amtsgewalten mißbrauchen und zuletzt auf viele Jahre
hinaus ins Zuchthaus kommen. »Es ist nichts mit ihnen. Sie haben keine
Seelen,« klagt Setti ihren Eltern, als diese sich auf ihrem Landhause
zum Lautenspiel nach ihr umschauen. Mit gutem Bedacht hat Keller unter
die häßlichen Wesensfarben der beiden Brüder auch die Lieblosigkeit
und Gleichgültigkeit gegen die heimatliche Umgebung gemischt. Isidor
begleitet seine Schwiegereltern und seine Frau, als diese zum Besuch
auf dem Lindenberg, wo Netti und Julian wohnen, vom Lautenspiel
fortgehen.

    Auf dem Hofe bewunderte Salander wieder das Buchenwäldchen und
    die dahinter emporragenden Wipfelmassen des größeren Forstes,
    eine Umgebung die nicht mit Geld zu bezahlen sei.

    »O ja, es macht sich nett!« sagte der Schwiegersohn. »Nur wird
    es nicht mehr so lange stehen bleiben, als es schon steht. Der
    Wald gehört der Gemeinde Unterlaub und soll in ein paar Jahren
    geschlagen werden; die Holzhändler sind schon dahinter her. Da
    werd’ ich unsere Buchen auch daran geben, es geht in einem zu
    und sie tragen ein schönes Geld ein!«

    »Sind Sie bei Trost?« rief Salander. »Ihre Buchen schützen ja
    allein Haus und Garten samt der Wiese vor den Schlamm- und
    Schuttmassen, die der abgeholzte Berg herunterwälzen wird!«

    »Das ist mir Wurst!« erwiderte der jugendliche Notar in
    nachlässigem Tone. »Dann zieht man weg und verkauft den ganzen
    Schwindel! Es ist ja langweilig, immer am gleichen Ort zu
    hocken.«

    Salander dachte sein Teil und gab keine Antwort. Frau Setti
    ließ während Isidors Mitteilung ein paar Worte des Erstaunens
    hören und verriet so, daß sie von dem bevorstehenden
    Holzschlage noch gar nichts wußte, was ein neues Anzeichen von
    des Mannes Lebensart war. Sie schwieg daher auch und sagte nur
    noch: »Adieu, du schönes Lautenspiel!«

    »Woher heißt es eigentlich hier im Lautenspiel?« fragte
    die hinzutretende Mutter. »Das mag der Henker wissen, ich
    könnt’ es nicht sagen! In den Grundbüchern heißt es nur: Haus
    und Hofstatt genannt im Lautenspiel, und ebenso in meinem
    Kaufschuldbrief,« erklärte Isidor.

    »Hast du denn nicht gehört, was sie in der Gegend davon
    erzählen?« fragte Frau Setti. »Nein, ich habe gar nie danach
    gefragt! Woher soll es denn kommen? Woher heißt es denn bei uns
    im Zeisig und im roten Mann? Von irgend einer Dummheit!«

Und nun erzählt Frau Setti zur Erklärung des Flurnamens die alte
Geschichte vom geizigen Junker und seinen sechs schönen Töchtern.

Was erleben die Salandrischen dann auf dem Lindenberg? Julian kommt aus
dem Wald zurück.

    Er schüttelte die Weidtasche auf den Tisch aus und über dreißig
    arme Vögel mit verdrehten Hälschen und erloschenen Guckaugen,
    Drosseln, Buchfinken, Lerchen, Krammetsvögel und wie sie alle
    hießen, lagen als stille Leute da und streckten die starren
    Beine und gekrümmten Krällchen von sich.

    »Sie werden sehen, Mama, die Dinger schmecken Ihnen wie
    Marzipan, wenn sie mürb und gut geraten sind! Ich will aber
    selbst zusehen! Hat’s etwas Speck in der Küche, Frau?«

    »Bitte, Herr Sohn, beeilen Sie sich nicht!« sagte Frau
    Salander, »wir essen jedenfalls nicht mit, mein Mann und ich,
    wir sind vollkommen satt und wollen noch mit dem letzten Zuge
    fort!«

    »Aber, Meister Julian,« schaltete Martin dazwischen, »wissen
    Sie denn nicht, daß die Jagd auf Singvögel verboten ist? Sie,
    als Mitglied des Großen Rates?«

    »Herr Vater, ich habe nicht gejagt, sondern das Garn gespannt,
    und da sind allerdings ein paar Finklein dazwischen gekommen,
    die nicht geladen waren. Übrigens wird sich wohl kein Wächter
    des Waldes an mich machen!« ...

In der Novelle »_Das verlorene Lachen_« ist Jukundus der Träger von
Kellers Naturschutzbestrebungen.

    Mit der Verheiratung hatte er verabredetermaßen die
    militärische Laufbahn als Berufssache wieder aufgegeben, wegen
    der fortwährenden Abwesenheit, die sie mit sich brachte. Um
    sich aber dafür einen ehrbaren Erwerb und eine geordnete
    Tätigkeit zu sichern, hatte er ein Handelsgeschäft errichtet,
    welches sich auf den Holzreichtum der Stadtgemeinde und der
    umgebenden Landschaft gründete. Zu den großen Allmenden, die
    von der allemannischen Bodenteilung herrührten, waren später
    noch die Waldungen von Burg und Stift gekommen, an deren Mauern
    die Stadt sich angebaut hatte.

    Diese hatte bisher die Quellen ihrer Behaglichkeit geschont
    und auch aus bürgerlichem Stolz erhalten, wie sie ihre reichen
    Trinkgeschirre und den alten Wein im Stadtkeller sorgfältig
    erhielt. Allein durch irgendeine Spalte war die Verlockung
    und die Gewinnsucht endlich hereingeschlüpft und es wandelte
    ungesehen schon der Tod durch die weiten Waldeshallen, schlich
    längs den Waldsäumen hin und klopfte mit seinen Knochenfingern
    an die glatten Stämme. Als daher eben um diese Zeit Jukundus
    auftrat, um das Bau- und Brennholz anzukaufen und auszuführen,
    kam sein Geschäft alsobald in Schwung; denn die Seldwyler zogen
    die Vermittlung des ihnen wohlbekannten ehrlichen Mitbürgers
    dem Andringen der fremden Händler, durch die das Unheil
    eingeschlichen war, vor.

    Jetzt begannen die hundertjährigen Hochwaldbestände zu fallen
    und auch sofort dem Strich der Hagelwetter den Durchlaß auf die
    Weinberge und Fluren zu öffnen. Allein sie waren auch einmal
    jung und niedrig gewesen oder schon mehrmals vielleicht, und
    sie konnten wieder alt und hoch werden. Doch als die Axt auch
    an die jüngeren Wälder geriet, für das zuströmende Geld immer
    schönere Zwecke erfunden und die Berghänge dafür immer kahler
    wurden, fing es den Jukundus innerlich an zu frieren, da er
    von Jugend auf ein großer Freund und Liebhaber des Waldes
    gewesen war. Während er an dem Handel einen ordentlichen Gewinn
    machte, begann er sich desselben mehr und mehr zu schämen; er
    erschien sich als ein Feind und Verwüster aller grünen Zier
    und Freude, wurde unlustig und oft traurig und vertraute sich
    seiner Frau an, da sie sein frohes Lächeln, das zu dem ihrigen
    wie ein Zwillingsgeschwister war, fast seltener werden sah und
    ihn ängstlich befragte. Sie dachte aber, die Dinge würden mit
    oder ohne den Mann ihren Lauf gehen und wahrscheinlich nur noch
    schlimmer, und sie war nur darauf bedacht, ihn bald aus eigenen
    Kräften wohlhabend und unabhängig zu wissen, um auch von dieser
    Seite her stolz auf ihn sein zu können. Sie bestärkte daher den
    Mann nicht in seiner Unlust, sondern ermunterte ihn vielmehr
    zum Ausharren und er fuhr dann so fort.

    Da wurde an einer schief und spitz sich hinziehenden Berglehne,
    welche der Wolfhartsgeeren hieß, ein schönes Stück Mittelwald
    geschlagen. Aus demselben hatte von jeher eine gewaltige
    Laubkuppel geragt, welche eine wohl tausendjährige Eiche
    war, die Wolfhartsgeeren-Eiche genannt. In älteren Urkunden
    aber besaß sie als Merk- und Wahrzeichen noch andre Namen,
    die darauf hinwiesen, daß einst ihr junger Wipfel noch in
    germanischen Morgenlüften gebadet hatte. Wie nun der Wald um
    sie niedergelegt war, weil man den mächtigen Baum für den
    besonderen Verkauf aufsparte, stellte die Eiche ein Monument
    dar, wie kein Fürst der Erde und kein Volk es mit allen
    Schätzen hätte errichten oder auch nur versetzen können.
    Wohl zehn Fuß im Durchmesser betrug der untere Stamm und die
    wagrecht liegenden Verästungen, welche in weiter Ferne wie
    zartes Reisig auf den Äther gezeichnet schienen, waren in der
    Nähe selbst gleich mächtigen Bäumen. Meilenweit erblickte man
    das schöne Baumdenkmal und viele kamen herbei, es in der Nähe
    zu sehen.

    Als man nun gewärtigte, welcher Käufer den höchsten Preis
    dafür bieten würde, erbarmte sich Jukundus des Baumes
    und suchte ihn zu retten. Er stellte vor, wie gut es dem
    Gemeinwesen anstehen würde, solche Zeugen der Vergangenheit
    als Landesschmuck bestehen zu lassen und ihnen auf allgemeine
    Kosten Luft und Tau und die Spanne Erdreich ferner zu gönnen;
    wie die verhältnismäßig kleine Summe des Erlöses nicht in
    Betracht kommen könne gegenüber dem unersetzlichen inneren
    Wert einer solchen Zierde. Allein er fand kein Gehör; gerade
    die Gesundheit des alten Riesen sollte ihm sein Leben kosten,
    weil es hieß, jetzt sei die rechte Zeit, den höchsten Betrag zu
    erzielen; wenn der Stamm einmal erkrankt sei, sinke der Wert
    sofort um vieles. Jukundus wandte sich an die Regierung, indem
    er die Erhaltung einzelner schöner Bäume, wo solche sich finden
    mögen, als einen allgemeinen Grundsatz belieben wollte. Es
    wurde erwidert, der Staat besitze wohl für Millionen Waldungen
    und könne diese nach Gutdünken vermehren, allein er besitze
    nicht einen Taler und nicht die kleinste Befugnis, einen
    schlagfähigen Baum auf Gemeindeboden anzukaufen und stehen zu
    lassen.

    Er sah wohl, daß man überall nicht zugänglich war für seinen
    Gedanken und daß er sich nur als Geschäftsmann bloßstellte und
    heimlich belächelt wurde. Da kaufte er selbst die Eiche und
    das Stück Boden, auf welchem sie stund, säuberte den Boden und
    stellte eine Bank unter den Baum, unter dem es eine schöne
    Fernsicht gab, und jedermann lobte ihn nun für seine Tat und
    ließ sich den Anblick gefallen. Aber von diesem Augenblick an
    suchte auch jedermann, ihn zu benutzen und zu übervorteilen,
    wie einen großen Herrn, der keine Schonung bedürfe.

Seine Frau Justine tut das Gegenteil im Verein mit dem Pfarrer des
Ortes, der als ein »beifallsdurstiger Wohlredner und Schwätzer«, wie er
sich später selbst nennt, vorübergehend einen schlechten Einfluß auf
seine Gemeinde ausgeübt hat.

    Die Kirche zu Schwanau war noch ein paar Jahrhunderte vor
    der Reformation erbaut worden und jetzt in dem schmucklosen
    Zustande, wie der Bildersturm und die streng geistige Gesinnung
    sie gelassen. Seit Jahrhunderten war das altertümliche graue
    Bauwerk außen mit Efeu und wilden Reben übersponnen, innen aber
    hell geweißt, und durch die hellen Fenster, die immer klar
    gehalten wurden, flutete das Licht des Himmels ungehindert
    über die Gemeinde hin. Kein Bildwerk war mehr zu sehen, als
    etwa die eingemauerten Grabsteine früherer Geschlechter, und
    das Wort des Predigers allein waltete ohne alle sinnliche
    Beihilfe in dem hellen, einfachen und doch ehrwürdigen Raume.
    Die Gemeinde hatte sich seit drei Jahrhunderten für stark genug
    gehalten, allen äußeren Sinnenschmuck zu verschmähen, um das
    innere geistige Bildwerk der Erlösungsgeschichte um so eifriger
    anbeten zu können. Jetzt, da auch dieses gefallen vor dem
    rauhen Wehen der Zeit, mußte der äußere Schmuck wieder herbei,
    um den Tabernakel des Unbestimmten zieren zu helfen ...

    Das sonnige, vom Sommergrün und den hereinnickenden Blumen
    eingefaßte Weiß der Wände hatte zuerst einem bunten Anstrich
    gotischer Verzierung von dazu unkundiger Hand weichen müssen.
    Die Gewölbefelder der Decke wurden blau bemalt und mit goldenen
    Sternen besät. Dann wurde für bemalte Fenster gesammelt, und
    bald waren die lichten Bogen mit schwächlichen Evangelisten-
    und Apostelgestalten ausgefüllt, welche mit ihren großen,
    schwachgefärbten, modernen Flächen keine tiefe Glut, sondern
    nur einen kränklichen Dunstschein hervorzubringen vermochten.

    Dann mußte wieder ein gedeckter Altartisch und ein Altarbild
    her, damit der unmerkliche Kreislauf des Bilderdienstes wieder
    beginnen könne mit dem »ästhetischen Reizmittel«, um unfehlbar
    dereinst bei dem wundertätigen, blut- oder tränenschwitzenden
    Figurenwerk, ja bei dem Götzenbild schlechtweg zu endigen, um
    künftige Reformen nicht ohne Gegenstand zu lassen.

    Endlich wurden die Abendmahlkelche von weißem Ahornholze, die
    weißen, reinlichen Brotteller und die zinnernen Weinkannen
    verbannt und silberne Kelche, Platten und Schenkkrüge vergabt
    bei jedem Familienereignis in reichen Häusern ...

    Schon waren alle Künste, selbst die Bildhauerei mit einigen
    übermalten Gipsfiguren, vertreten, ausgenommen die Musik,
    welche daher eiligst herbeigeholt wurde. Weil zu einem
    Orgelwerk die Mittel noch nicht beisammen waren, stiftete
    einer einen trompetenähnlichen Quiekkasten; ein gemischter
    Chor studierte kurzerhand alte katholische Meßstücke ein, die
    man der erhöhten Feierlichkeit wegen und weil niemand den Text
    verstehen konnte, lateinisch sang. –

Was für ein fröhlicher, liebenswerter Geselle ist der abgesetzte
Schulmeister Wilhelm in der Novelle »_Die mißbrauchten Liebesbriefe_«,
der da oben in dem Rebhäuschen des Tuchscherers haust und als
erbauliches Gegengewicht für die Erdenschwere seiner Hände Arbeit in
Wald und Flur herumstreift, um dann mit allerhand schönen, seltsamen
Dingen die Wände und die Decke seines Stübchens zu schmücken.

    Nur nichts Lebendiges heimste er ein; je schöner und seltener
    ein Schmetterling war, den er flattern sah, und es gab auf
    diesen Höhen deren mehrere Arten, desto andächtiger ließ er ihn
    fliegen. Denn, sagte er sich, weiß ich, ob der arme Kerl sich
    schon vermählt hat? Und wenn das nicht wäre, wie abscheulich,
    die Stammtafel eines so schönen, unschuldigen Tieres, welches
    eine Zierde des Landes ist und eine Freude den Augen, mit einem
    Zug auszulöschen! Abzutun, ab und tot, das Geschlecht einer
    zarten, fliegenden Blume, die sich durch so viele Jahrtausende
    hindurch von Anbeginn erhalten hat und welche vielleicht die
    letzte ihres Geschlechtes in der ganzen Gegend sein könnte!
    Denn wer zählt die Feinde und Gefahren, die ihr auflauern?

Das Gegenstück hierzu ist die Erzieherin in der Novellenreihe »_Das
Sinngedicht_«. Daß Keller selbst in dem reichen und so bunten Strauße
dieser Liebesgeschichten dem – wenigstens hier so entfernten – Gedanken
des Naturschutzes eine Gestalt gibt, spricht wohl dafür, wie sehr ihm
Vergewaltigung der Natur verhaßt war. Ganz am Schluß erzählt Lucie ihr
Jugendleben und -lieben und kommt dabei auf die Umgebung zu sprechen,
die ihr der oft auf langen Reisen befindliche Vater gegeben hat.

    Die Erzieherin dagegen verwendete alle ihre Tage mit dem
    Vermehren und Ordnen einer Käfersammlung. Sie stand mit
    Gelehrten und Naturalienhändlern in Verbindung und sandte
    fortwährend Schachteln fort. Denn sie verstand auf zahlreichen
    Ausflügen den letzten Käfer aus seinem Hinterhalt zu ziehen,
    und hatte eine seltene Art, die gerade in einem Gehölz
    unsrer Gegend zu finden war, nahezu ausverkauft. Ich kann
    mich des Namens dieses ausgerotteten Käferstammes nicht mehr
    entsinnen. Am betrübtesten darüber war ein insektenkundiger
    Herr Oberlehrer, welcher der handelslustigen Dame den Ort
    nachgewiesen hatte und sich daher der Mitschuld an dem
    naturwissenschaftlichen Raubverfahren, wie er es nannte,
    anklagte. –

In dem großen, vierteiligen Roman »_Der grüne Heinrich_« findet
sich kein Heimatschutzgedanke. Seltsam? Nein. Der Roman ist Kellers
Erstlingsdichtung. Sie ist durchtränkt und gesättigt von persönlichen
Erlebnissen und Erfahrungen, von Stimmungen und Träumen. Er erzählt so
oft und so viel von der Heimat: von Berg und Tal, von Haus und Hof,
von Wald und Feld, von Verwandten und Fremden. Er schildert in der
Erinnerung, wie sie war, als er mit ihr lebte. Und er hat die Heimat
gesehen in aller Freude am goldnen Überfluß, eben in aller Freude der
Jugend. Das Alter nur sieht prüfend hinein in die sichtbare Welt und
möchte sie schön und treu erhalten und auch so weiter fortgebildet
wissen.



Die Kirche zu den »Vierzehn Nothelfern« auf der »Kahlen Höhe« bei
Reichstädt

Von _A. Klengel_


Abseits vom Fremdenverkehr steht auf der sogenannten »Kahlen Höhe«
zwischen Reichstädt und Sadisdorf bei Dippoldiswalde die Gruftkapelle
der Majoratsherrschaft von Schönberg auf Reichstädt. Das inmitten
eines kleinen Hains gelegene schmucke Bauwerk ist neueren Ursprungs;
wie die Inschriften besagen, haben dort erst zwei Glieder des uralten
Adelsgeschlechts die ewige Ruhe gefunden, der 1902 verstorbene
Majoratserbe Rudolf Utz von Schönberg und seine ihm im Jahre 1915 in
den Tod gefolgte Mutter Cypriane von Schönberg.

Das kleine Mausoleum steht auf durch Jahrhunderte geweihtem Boden,
denn die Inschrift eines in der Nähe errichteten Denksteins berichtet
folgendes:

    _Kahlehöhenkirche._

    Zum Gedächtnis an das Jahrhunderte lang hier gestandene
    und im Jahre 1872 abgebrochene Kahlehöhen-Kirchlein zu den
    14 Nothhelfern errichtete dieses Denkmal im Jahre 1874 die
    Kirchengemeinde Reichstädt.

        Hier wo Jahrhunderte das Gotteswort erklungen,
        Hier wo manch’ Halleluja Gotte ward gesungen,
        Hier wo der Friede Gottes Tausende umwehte,
        Wo manches Herz zu Gott im Himmel flehte:
        Hier sprich auch Du: Wie heilig ist doch diese Stätte
        Und, daß der Friede Gottes Dir auch werde: Bete!

Wohl selten gibt es wieder eine Stätte in unserm Vaterlande, an
der stimmungsvolle, schlichte landschaftliche Schönheit, stiller
Gottesfriede und uralte Sage uns so wunderbar umwehen, wie hier
auf der sonnigen Höhe, wo einst das Kirchlein »Zu den Vierzehn
Nothelfern« gestanden hat. Die Bezeichnung Kapelle, die man mehrfach
im Schrifttum findet, ist nicht zutreffend, wir haben es mit einer
regelrechten Pfarrkirche zu tun, von der sogar noch Kirchenbücher
vorhanden sind. Der von ihr in katholischer Zeit geführte Name: »Zu
den Vierzehn Nothelfern« verschwand nach der Reformation; sie wurde
»Kahlehöhenkirche« – im Volksmunde kurzweg »Kallikirche« – genannt.
Ihre Gründungszeit liegt im Dunkel des Mittelalters verborgen; bereits
im Jahre 1320 wird sie als eine »Den Vierzehn Nothelfern« geweihte
Wallfahrtskirche erwähnt. Als die vierzehn Nothelfer gelten Jesus, die
zwölf Apostel und der Schutzheilige des Bergbaues, St. Nikolaus; nach
letzterem waren auch die alte Kirche im nahen Dippoldiswalde und die
Kapelle in der Dippoldiswaldaer Heide benannt. In diesem Jahre war
Nikolaus von Henkendorf Geistlicher an der Kahlehöhenkirche. Es sind
noch Urkunden vorhanden, welche berichten, daß er einst auf Befehl
des Papstes dem Abte von Ossegg Hilfe leisten mußte, als dieser von
einigen vornehmen Schuldnern belagert und hart bedrängt wurde. Daraus
ergibt sich vielleicht, daß der jeweilige Priester der Kirche zugleich
weltlicher Gutsherr war, der über Land und Leute zu gebieten hatte.

[Illustration]

Die in der Kirche aufgestellten Bilder der vierzehn Nothelfer sollen
aus Silber gefertigt gewesen sein. Nach der Sage wurden sie im
Siebenjährigen Kriege geraubt. Eine andere Überlieferung berichtet, sie
seien aus Holz geschnitzt und versilbert gewesen. Man habe sie nach der
Reformation auf dem Kirchenboden aufbewahrt, von wo sie von böhmischen
Leuten entwendet und nach der Klosterkirche zu Ossegg gebracht worden
seien. Nach eingezogenen Erkundigungen befinden sie sich jedoch dort
nicht.

Die Kirche soll durch die von den Wallfahrern gespendeten Geschenke
sehr reich geworden sein; als nach der Reformation aber die Wallfahrer
ausblieben und im niederen Teile des Dorfes Reichstädt eine bequemer
erreichbare evangelische Kirche erbaut wurde, vereinsamte das auf der
Höhe, abseits vom Dorfe gelegene Kirchlein. Eines Tages verschwand
der letzte Meßpriester unter Mitnahme des aufgehäuften Vermögens, der
Heiligenbilder und der heiligen Geräte. Im Dreißigjährigen Kriege
wurde die verödete Kirche völlig ausgeraubt, namentlich fiel alles
Holzwerk der Plünderung zum Opfer. Im Jahre 1640 soll ein Mädchen aus
Reichstädt, als es vor schwedischen Soldaten in die verlassene Kirche
flüchtete und in einem Loch an der Stelle des einstigen Altars nach
einem Versteck suchte, achthundertzwanzig Dukaten gefunden haben.

Später wurde die Kirche wieder für gottesdienstliche Zwecke
ausgestattet; bis zu ihrem Abbruch fand alljährlich noch mehrmals
Gottesdienst darin statt. Wegen eingetretener Baufälligkeit und da die
Ausbesserung hohe Kosten verursacht hätte, beschloß man den Abbruch
des uralten Wahrzeichens, der denn auch im Jahre 1872 vor sich ging.
Um diese Zeit waren noch Reste des die Kirche umgebenden Friedhofs
vorhanden.

Aus den Steinen der Kirche wurde der Tanzsaal des Gasthofes zu
Sadisdorf erbaut. Die Bevölkerung sah die Verwendung des geweihten
Mauerwerks für solche profane Zwecke als großen Frevel an. Bei der
Einweihung des Saales fiel eine Tänzerin und brach dabei ein Bein.
Später schlug der Blitz ein- oder mehrmals in den Tanzsaal ein, wobei
schließlich der ganze Gasthof eingeäschert wurde. Das Volk glaubte an
die Strafe des Himmels für die begangene Entweihung des Heiligtums. Ob
man beim später erfolgten Wiederaufbau des Gasthofes die Steine von
der alten Kahlehöhenkirche abermals mit verwendete, ist unbekannt; der
Volksglaube behauptet, man habe es unterlassen, da dem Gasthof und
seinen Gästen in der Folgezeit kein Unglück mehr zugestoßen sei.

Es sind nur wenige, zum Teil recht mangelhafte Bilder des uralten
Kirchleins vorhanden. Die alte Sächsische Kirchengalerie versagt. Am
besten dürfte die Kirche in beistehender Zeichnung wiedergegeben sein,
die nach einer Abbildung in der als Fundgrube für die Heimatgeschichte
wohlbekannten, handschriftlich hergestellten Zeitschrift »Bergblumen
1885« angefertigt wurde. Es wird vermutet, daß die ursprüngliche
Zeichnung vom Herausgeber noch nach der Natur aufgenommen ist. Erwähnt
mag noch sein, daß Auszüge aus den Kirchenbüchern der Kahlehöhenkirche
im Magazin für Sächsische Geschichte vom Jahre 1787 abgedruckt sind. –

Ein sonniger Herbsttag ging zur Neige, als ich im kleinen Hain auf dem
Fleckchen geweihter Erde stand, das durch Jahrhunderte das Kirchlein
»Zu den vierzehn Nothelfern« getragen hat. Die letzten Sonnenstrahlen
vergolden die Zinnen der Gruftkapelle, nur ein einzelnes Vogelstimmchen
und das leise Rauschen der Blätter im Abendwinde unterbrechen
das Schweigen, das wie ein Glorienschein auf dieser Stätte der
Vergessenheit ruht. Ich weiß nicht, ob der Dichter hier gestanden hat,
als er die Worte aussprach:

    Auch hier, wo einst in frommer Weise
    Der Andacht Lied zum Himmel drang,
    Wohnt jetzt die Wehmut, herb und leise
    Tönt bang ihr Lied wie Grabgesang. –

Schwerlich aber gibt es eine andere Stelle in unserer Heimat, die
trefflicher dazu geeignet wäre, diesen Gedanken in uns aufkommen zu
lassen, wie der geweihte Boden, auf dem ich jetzt im Abendsonnenglanze
stehe.



Um Juchhöh und Windberg

Von _Karl Berger_, Leipzig

Aufnahmen von _Georg Marschner_, Dresden


I.

Die schönste Freude ist doch die Vorfreude; die reinste zumindest. Und
das schönste, zarteste vom Frühling ist der Vorfrühling, scheint mir.
Und die Vorfreude am Vorfrühling, das ist jene seltsame, bestrickende
Wanderlust, jenes Heimweh nach Feld und Wald draußen vor der Großstadt,
nach der heimatlichen _Natur_, die unser _Mutterland_ ist und bleibt, –
mögen wir es auch in den hastenden, unfrohen großen Städten mit ihrer
lauten Lustigkeit verraten – so wie der Staat unser _Vaterland_ ist
und bleibt. Und _das_ sind wohl die unglücklichsten Waisen, die ihr
Mutterland oder ihr Vaterland oder gar beides verloren haben. Deshalb
wollen wir heute einen Weg weisen, den wir 1921 an einem Sonntage, an
dem vier Wochen nach Wintersonnenwende die Sonne schon so boticellihaft
lichtes Hellblau und Himmelsgold allum streute, so daß hier und
da schon eine Kornelkirsche vorwitzig ihre safranfarbenen kleinen
Blütendolden öffnete, aus der Stadt hinausgewandert sind, und zwar
gerade dort, wo weite Fabrikvorstädte ihren Bewohnern den Verlust des
Mutterlandes vorzulügen suchen und damit ihnen manchmal so leicht auch
das Vaterland verleiden.

Hinter Löbtau steigt der Weg westwärts über Wölfnitz rasch an nach
der Hochfläche zu, auf der 1745 die Kesselsdorfer Schlacht vom alten
Dessauer gegen die Sachsen gewonnen wurde, die dort die letzte
Stellung vor ihrer Landeshauptstadt zu halten versuchten. In einer
guten Viertelstunde liegt die Stadt schon tief unter uns. Mit den
Tönen der großen Glocken der Kirchen der Altstadt elbwärts drunten im
Grunde klingen die der helleren munteren Geläute von Niedergorbitz und
Oberpesterwitz zusammen, indes wir an stattlichen Wirtschaftsgebäuden
vorbei dem _Herrenhaus von Roßthal_ zuschreiten.

»Glückauf« grüßt die Inschrift von dem vielleicht etwas zu monumentalen
Sandsteinumbau des kunstvoll zierlichen schmiedeeisernen Rokokotores
herab, das ebenso wie mehrere andere ähnliche Gittertore mit dem
feinen Stilgefühl seiner Entstehungszeit so glücklich in die Achse
der Zufahrtsstraßen gelegt ist. »Glückauf«, ein froher Gruß auch für
den Wanderer am Morgen und eine Anspielung auf den Besitzer, den
Freiherrn von Burgk, den Eigentümer der bekannten Steinkohlenschächte.
Sein Wappen prangt an dem Giebel über dem einen der beiden Erker,
die mit ihren kunstvollen deutschen Renaissanceformen die Front des
Hauses geschickt gliedern. Die reichen Schmuckformen der Balustraden,
Zinnen und zumal der säulenreichen Unterbauten erinnern ein wenig
an die fröhlichen und strotzenden Formen des Heidelberger Schlosses
und zeigen, wie feinfühlig der Oberlandbaumeister C. M. Haenel schon
1858/59 die Renaissanceformen wieder tatsächlich neu zu _beleben_
wußte, die dann Jahrzehnte lang leider bald so blutleer oder so voll
hohlem Pathos an Mietskasernen und Geschäftsbauten kopiert wurden.

[Illustration: Abb. 1 =Döhlener Kohlenbecken mit Windberg=]

Am Haupteingange befindet sich auf einer Rokokokartusche ein Wappen mit
den Initialen ~v. N.~ Es ist das Wappen des Geheimrats von Nimptsch,
der 1763 Direktor der Porzellanmanufaktur geworden war, hier auf dem
Gute seiner Gemahlin, einer geborenen von Haustrin, seinen Lebensabend
zubrachte und 1772 eine »Poetische Beschreibung der Zufriedenheit
und angenehmen Ruhe auf einem Landgut« veröffentlichte. Sie erzählt
mancherlei von den bescheidenen Freuden eines derartigen Herrensitzes
auf dem Lande: von Vexierspiegeln und Grotten, von dem »guten Prospekt«
und von Wasserkünsten. Viel davon wurde, nachdem Roßthal schon nach
der Schlacht von 1745 völlig ausgeplündert worden war, in der Schlacht
bei Dresden 1813 zerstört, als Murat die Stellung der Verbündeten
zwischen Döltzschen und Gorbitz, das heißt ihren linken, mit der Front
nach Osten gerichteten Flügel durch eine Umgehung vom Zschonergrunde
her unhaltbar machte und Roßthal so zwischen die feindlichen Feuer
geriet. Jetzt erinnert natürlich nichts an den stattlichen, vorzüglich
gehaltenen Baulichkeiten des Rittergutes mehr an jene Zeiten der
Zerstörung. Ein Bild tiefen ländlichen Friedens ruht es, umsäumt von
breitästigen Obstbäumen, so nahe dem lärmenden Plauenschen Grunde, der
schon seit Menschenaltern die gleiche sanfte Lieblichkeit eingebüßt
hat, die uns nur noch die alten Stiche der Pulvermühle, der Villa Kosel
und mancher »pittoresken« Felspartie am Ufer der Weißeritz überliefern.

[Illustration: Abb. 2 =»Juchhöh-Schlößchen«=]

Hier oben aber, abseits der Heerstraße der Industriemächte, da ist
alles noch fast wie vor fünfzig oder hundert Jahren. Wie ein Motiv
aus Ludwig Richters Skizzenbuche mutet die mit so bewundernswerter
anspruchsloser Sicherheit der Maße und Farben am Kreuzweg errichtete
Obstbude aus Fachwerk an. Und wie vornehm und trotzdem lieblich liegt
drüben das gotisierende Schloß der Grafen Luckner auf Altfranken auf
dem sanften Höhenzuge mit seinen vielen Pappeln und Schonungen.

[Illustration: Abb. 3 =Denkmal des Freiherrn Dathe von Burgk in Burgk=

»Ihren unvergeßlichen am 28. 6. 1897 † Wohltäter die dankbaren
Bergknappen«]

Unterdes sind wir langsam noch höher gestiegen. Weit liegt das Land nun
um uns: nordwärts bis nach der Lößnitz reichbebauten milden Hängen,
westwärts ins hügelige Bauernland um Braunsdorf und Kesselsdorf und
südwärts hinab in den Grund und hinüber zu der _langgestreckten
Pyramide des Windberges_ (vgl. Abb. 1). Neu-Nimptsch heißt die
Siedelung, an der unser Weg entlang führt. Kleine Häuschen sind es,
so wie wir sie jetzt vor der Stadt wieder zu errichten bestrebt sind.
Diese hier hat wohl jener Geheimrat von Nimptsch Ende des achtzehnten
Jahrhunderts errichtet. Und auch sich selbst baute er an der höchsten
Stelle ein Lusthaus, _das »Schlössel des Barons«_ nennen es die
Leute, eines jener feinen, kleinen Herrenhäuser ähnlich »Antons«
gegenüber dem Waldschlößchen (Abb. 2). Der ganze Berg heißt »Jochhöhe«,
aber weil er so lustig ins Land schaut, nennt das Volk ihn mit
schalkhaftem, sicherem Humor einfach »_die Juchhöh_«. Daß es übrigens
auch ernsthaftes Raten und Taten auf diesen Dörfern gibt, beweist der
Anschlag des Gemeindevorstandes, wonach Rauchen und Zuspätkommen in den
Gemeinderatssitzungen (Neu-Nimptsch gehört zu Roßthal) verboten ist.
Wir denken bei dieser Proklamation wehmütig daran, wie unendlich weit
etwa Groß-Berlin in seiner politischen Reife mit seinen Stinkbomben und
Tätlichkeiten in parlamentarischen Sitzungen derartigen Hinterwäldlern
voraus ist.

Und ähnliche Gedanken über Stadt und Land beschleichen uns, nun
wir rasch vorwärts schreitend den Grund in Freital kreuzen mit den
protzigen Kitschöldrucken und den vielen Näschereien in jedem zweiten
Laden, und anderseits den unschönen Plakaten an allen Ecken.

Freilich auch jeder einzelne Landwirt sollte gerade in _seinem_
Interesse in Sachsen _ganz besonders_ bereit sein, die Not so weiter
anderer Kreise verständnisvoll und freiwillig zu lindern, nicht durch
Almosen, aber durch werktätige Hilfe, vermittelnden Takt und auch durch
wirksame Warnung einzelner skrupelloser Berufsgenossen. Die Früchte
werden auch dabei nicht ausbleiben. Und der Landmann weiß, daß die
Früchte nicht die schlechtesten sind, die am langsamsten reifen.


II.

Nun haben wir Freital durchquert und steigen langsam auf der Südseite
des Tales bergan. Am Huthause von Groß-Burgk vorbei kommen wir bald
an _das Schloß_. Schon im Mittelalter saßen hier Herren von Burgk
(Borgk, Borc; Boragh heißt Tannen- oder Fichtenhain). Im sechzehnten
Jahrhundert folgte die Familie von Zentsch, im achtzehnten die Familie
Seiler-Dathe; 1822 wurde deren Haupt Friedrich August als Freiherr
Dathe von Burgk in den Adelsstand erhoben. Die Familie, der außerdem
unter anderem noch wie erwähnt Roßthal und ferner das Schloß Schönfeld
bei Großenhain gehört, ist durch den Kohlenbergbau so reich begütert.
Im Orte nimmt man davon übrigens wenig wahr, da die Schächte jenseits
von Höhenzügen südwestlich liegen. (Vgl. aber das Denkmal Abb. 3.)

Das Schloß selbst ist gleichfalls ein echter ländlicher Herrensitz,
dem man anmerkt, daß er organisch und bodenständig entstanden ist.
Verspielte und kapriziöse Putten und Rokokoherrschaften, wohl aus
Knöffels Zeit (um 1780), blicken von den Pfeilern der Parkmauer. Urnen,
Bosketts, alte efeuumsponnene Bäume, deren tiefhängende Zweige einen
stillen Weiher streifen, vereinen sich mit dem seltsam vielgiebligen
Schlosse mit seinen charakteristisch stilisierten Kaminköpfen und einem
raffiniert geschickt in all diese alte, leise, ein wenig holländische
Beschaulichkeit hineinkomponierten Papagei zu einem Bilde, wie es so
echt selbst – ein Monumentalfilm nicht wiederzugeben vermag.

Am Mausoleum Friedrich Augusts von Burgk auf stiller Vorhöhe und
an Bergknappenhäusern, zuletzt an einem Waldwärterhause mit dem
Holzbrunnen auf der Wiese unterm Berge vorbei, führt durch Buchen
(Abb. 4) ein steiler Zickzackweg die etwa zweihundert Meter Steigung
zum _Windberg_ hinauf. Der Blick von seiner Höhe, insbesondere
von dem so wuchtig und richtig in die Landschaft gestellten
_König-Albert-Denkmal_ aus, ist unerwartet mannigfach und eigenartig,
besonders durch den unvermittelten Gegensatz von rein industriellen
Gegenden und weitem, stillem Land, etwa über Tharandt oder nach
Kipsdorf und Frauenstein zu. Den Abstieg nach Deuben nehme man aber
auch am Tage nicht abseits der Wege, denn der Steilabhang nach Westen
zu ist zum Teil von alten Bergwerksgängen durchzogen, die dichtes Laub
manchmal völlig überdeckt. Bei Dunkelheit oder Schnee zumal würde es
dem Wanderer leicht schlechter ergehen können, als Görge dem Fiedler,
der im Windberge den Zwergen einst zum Tanz aufspielen mußte und
dafür die ersten Kohlen erhielt, die sich ihm – wir können es so gut
verstehen – in Gold verwandelten.

[Illustration: Abb. 4 =Im Buchenwald des Windberges=]

Die Mittagstunde ist unterdes herangekommen. Danach wandern wir noch
von Deuben über Hainsberg-Coßmannsdorf auf Pfaden, die jeder selbst
sich suchen mag, auf jene friedvolle Hochfläche hinauf, auf der, wie
auf einer Insel von einigen Kilometern Durchmesser, fast allenthalben
von tiefeingeschnittenen Tälern umgeben, ein stilles Bauerndorf so
zeitlos um sein feinbehelmtes Gotteshaus sich lagert, wie nur irgendwo
in Franken oder Schwaben. Wir treten still in die Kirche mit ihrer seit
zwei Jahrhunderten fast unversehrten, ganz einheitlichen Ausstattung.
Nur siebzehn Pastoren hat sie in fast vierhundert Jahren gehabt.
Und der kluge Totengräber, der mit viel richtigem Gefühl die alten
Heiligenfiguren aus katholischer Zeit seiner Kirche aus dem lehrreichen
Museum im Großen Garten zurückwünscht, hat wohl auf dem Friedhofe
allein mit der eindrucksvollen dichten einen Reihe Lebensbäumen ringsum
nicht allzuviel zu tun, die Toten so tief unter die Erde zu betten, wie
sie sich im Leben _über_ sie erhoben haben. Ja früher, als noch nicht
Coßmannsdorf eigene Parochie war, da gab es für den Totenbettmeister
mehr zu schaffen, zumal als 1869 die vierhundert Bergknappen in den
Windberg zur letzten Schicht gefahren waren und so mancher von den
Verunglückten im Lederwams auch hier oben in _Somsdorf_ seine Ruhe fand.

Aber allmählich weht der Abendwind kühler von Westen, wo schon die
zackige Linie des Tharandter Forstes schwarz gegen den im letzten
Abendschein grell gelben Himmel steht. Noch eine kurze Rast im
behäbigen Erblehngericht von 1695 und eine halbe Stunde sanftes
Abwärtsschreiten über die Hochfläche erst, dann am Berghange, in dessen
hohen Fichten schon die Käuzchen sich ernst und leidenschaftlich
suchen, dann nimmt uns mit einbrechender Mondnacht das anheimelnde
Gewirr der alten stillen Straßen des leise einschlummernden Tharandt
auf.



Wanderbilder aus den Grenzgebieten der Oberlausitz und Nordböhmens

Vom Architekten Professor _Richard Michel_, Görlitz


5. Von Zittau zur Bertsdorfer Kirche[8]

Das mächtig aufsteigende Werk des genialen Friedrich Schinkel,
die Westfront der Johanniskirche, im Rücken lassend, entlang der
engen Weberstraße, vorüber an einigen der besten alten bürgerlichen
Prachtbauten des »Zittauer Barocks« und an der mittelalterlichen,
ehedem unter freundlich rotem Ziegeldach dreinschauenden »Weberkirche«,
durch die »Webervorstadt« und »Alte Burggasse« wandernd, gelangt man
bald hinter der einstmaligen Burgmühle auf »Altzittaus Gründungsstätte«
mit dem Burgberg und dem Burgteich.

Schutzdämme mit kraftvoll aufragenden knorrigen deutschen Eichen
umsäumen Matten und Gehege in der zwischen Mandau und Burgmühlgraben
gelegenen Umgebung dieses historischen Winkels, der im Laufe der
letzten Jahrzehnte zu einer anziehenden Hainanlage ausgebildet worden
ist.

        »Hier entstand Zittau«

so lautet die Inschrift des Denksteins auf dem Burghügel zur
Kennzeichnung der Stelle, auf welcher im dreizehnten Jahrhundert
wahrscheinlich die erste Schutz- und Wehrstätte burgartig angelegt
wurde.

Vom vorderen Burgdamm, nächst der Mandau, zeigt sich dem Auge ein
schönes Landschaftsbild, das die geschlossene Kette des Iser-,
Jeschken- und Lausitzer Gebirges mit feiner Linie segmentförmig als
Hintergrund säumt. Tafelfichte, Jeschken, Hochwald und Lausche treten
klar in den ihnen eigenen Formen hervor.

Im Mittelgrund, hinter dem Mandauufergelände mit den aufsteigenden
Wiesenhängen erhebt sich links die Olbersdorfer, rechts die Hörnitzer
Kirche, dazwischen, hinter entfernter liegenden Geländewellen der
weißleuchtende Turm der Bertsdorfer Kirche, als ein seit altersher dem
Wanderer entgegenwinkendes, weithin sichtbares Wahrzeichen.

Vom westlichen Dammende, welches eine mächtige alte Eiche schützt und
schirmt – eine Reckin ihrer Edelart, – um deren Fuß ihres etwa 1,75
Meter im Durchmesser starken Stammes eine holzgezimmerte Bank den
Wanderer zur Rast einladet, führt der Weg weiter am Mühlgraben-Stauwehr
vorüber über die steinerne Mandaubrücke nach Hörnitz. Hier, das durch
ein Turmpaar flankierte, giebelreiche, massig gedrungene Althörnitzer
Schloß. Ein vom kunstsinnigen Zittauer Bürgermeister Hartig
1651–1654 errichtetes Baudenkmal hervorragender Art der deutschen
Spätrenaissance, das sich auszeichnet durch Verhältniskunst und
wuchtende Massenwirkung, wie solche hier besonders die Südseite zeigt.

Beim Anschauen des gesamten Schloßbereiches mit dem Park und Gutshofe
versenken sich die Gedanken in die alte Bauweise, in das Großzügige
des Baugeistes vergangener Geschlechter, unter welchen die Gestaltung
solcher einheitlicher Baugruppen in der Landschaft, mit den Elementen
dieser, so durchgeführt werden konnte.

Großartig eindrucksvoll wirkt beispielsweise das durch wunderlich
verzweigtes Geäst und feines graugrün schillerndes Laub der mächtigen
Kronen zweier Silberpappeln gezierte Einfahrtstor des Schloßguthofes.

Dem Baugeist einer hundert Jahre späteren Zeit verdankt das unweit
entfernte ehemalige Neuhörnitzer Schloß, das der Zittauer Kaufmann
Gottfried Hering 1751 errichten ließ, seine gute Gestaltung.

Der zwischen beiden schloßherrlichen Anlagen liegende, Alt- und
Neuhörnitz trennende wohl älteste Ortsteil »Wall« genannt, gleicht
der Anlage einer Wasserburg kleinsten Maßstabes. Ein noch teilweise
vorhandener, durch Quellwasser gespeister Wassergraben umgibt eine auf
kleiner Insel liegende Wohnstätte. Die in unmittelbarer Nähe rundherum
errichteten alten kleinen Fachwerkhäuschen ergänzen die eigenartige
Anlage, deren Entstehung mutmaßlich mit der der Zittauer Burgbergwarte
erfolgt sein mag in grauer Vorzeit.

Von der von Hörnitz nach Bertsdorf ansteigenden, über einen
Geländesattel führenden Landstraße sieht man, nah und fern, rundum
in eine liebliche, wechselreich geformte Landschaft – ein Mosaik von
zahlreichen Ortschaften des östlichsten Sachsenlandes mit dem schönen
Stadtbild Zittaus.

Über dem Sattel, an der Straßensenkung, beginnt einladend der Anfang
der hier versteckt in der Dorfbachmulde eingebetteten Ortschaft
Bertsdorf, die sich in der Richtung zur Lausche, welche zwischen den
Höhen des Jonsberges und Breitenberges den Hintergrund füllt, hinzieht,
und allmählich im Gelände hervortretend, hinaufführt bis an den Fuß des
Pocheberges.

Zu beiden Seiten des klar dahinrieselnden Dorfbaches und der Straße,
sowie an und auf Wiesenhängen bauen sich mannigfach in alter Bauart
die Wohnstätten des Häuslers, Webers, Handwerkers, Kleinbauern und
die Gebäudemassen ansehnlicher Gutshöfe auf, mit verschiedenartigen,
alterhaltenen Gefach-, Ständer-, Riegel-, Bretterwerk und Umgebinden,
mit großflächigen, nur durch Dachluken und die Esse belebten Stroh- und
Ziegeldächern, an deren Traufen vielerseits die Holzrinne sich zeigt.
Steinerne Haustürstöcke mit manchem eigenen Schmuck und sonstigem
Überbleibsel guter, sinniger Kleinkunst ausgestattet, sowie die im
Pfarrhause gut erhalten gebliebene alte Bemalung einer Holzdecke, legen
Zeugnis ab vom Können der vormals volkskünstlerisch tätig gewesenen
Kräfte.

Über den Bach sich wölbende alte Quadersteinbrücken verleihen
ihrer Umgebung idyllisch-malerische Reize. Die schiefwinklige
Straßenbrückenanlage am Kirchgeländefuße mit zinnenartiger
Brustwehrkrone, die einzelnen oberlausitzer Brücken solcher Art
eigentümlich ist, möge als ein nachahmenswertes Beispiel besonders
erwähnt sein. An dieser Steinbrücke ist eingemeißelt die Jahreszahl
1812.

[Illustration]

Abseits vom Großindustrieleben atmet man hier gut bäuerliche Luft. Noch
ist der Ort verschont geblieben von groben baulichen Verunstaltungen
hochbaulicher Art. Bäuerlich-landbürgerlicher Sinn waltet und schafft
hier vom Sonnenauf- bis Sonnenuntergang nicht Arbeitszeitgesetzen,
sondern dem Zeitweiser der Natur gehorchend.

Mitten im Ort – frei und hoch über dem Bett des Baches – steht die
Kirche auf uralter, zur Verehrung göttlicher Allmacht geweihter Stätte,
umgeben von ihrem umwehrten Kirchhofe, dessen grünberankte Mauern alte
Denkmalskunst bergen.

Sie ist nicht als Werk einer »Ichkunst«, als ein Fremdkörper in
die Umgebung »hineingesetzt«, sondern wächst in ihrer schlichten,
maßvollen Bauart aus ihr heraus[9], als ein weiß verputzter, unter
rotem Ziegeldach geschützter Bau mit markigem Turm, dessen ebenso
bedachte Kuppelhaube bekrönt wird durch die grün und weiß gestrichene,
formenreichere, offene Laterne, Haubenspitze und Wetterfahne mit der
die Bauzeit kündenden Jahreszahl 1674.

So bildet auch hier die Kirche mit dem benachbarten alten Pfarrhause,
den Bauernhäusern, Gartengehegen, dem Dorfbach, Strauch- und
Baumbestand und der Straße eines jener uns lieben Dorfbilder, wie
solche sich allerwärts in unseren sauberen oberlausitzer Ortschaften
der erfreulichen Anschauung darbieten.

Die Bauanlage der, an Stelle eines durch Blitzschlag eingeäscherten
Gotteshauses, um 1675 erbauten Kirche, übte vorbildlichen Einfluß aus
auf die Gestaltung der später erbauten Kirchen in den benachbarten
Ortschaften Hainewalde, Spitzkunnersdorf, Niederoderwitz und Eibau.

Das meisterliche Werk ist der verkörperte Ausdruck des Widerwillens
gegen eine kleinliche Zerklüftung der Baumasse – ist ein Werk
großzügiger Geschlossenheit, ein Beispiel, sprechend für die schlichte
Eigenart des kernigen oberlausitzer Landbürgers, der nichtssagenden
Äußerlichkeiten abgeneigt, solche Einfachheit schätzt, hegt und liebt.

Im Gegensatz zu dem fast nüchternen Äußeren, verbirgt sich hinter
diesem das mit sicherem Können und edlem Geschmack gestaltete, mit
Altar, Kanzel, Orgel und Lichtkronen kunstvoll ausgestattete Innere,
dessen feierlich ruhige Gesamtwirkung durch eine erneuerte, sehr
feinsinnige Farbengebung in weiß, grün und gold wohltuend gesteigert
wird. Ein würde- und eindrucksvolles Ganzes ist es – ein anziehendes
Herz der Kirchgemeinde.


Wanderers Wunschgedanken

Das Innere solcher schönen Landkirchen sollte man, wie es bei
katholischen Kirchen meist üblich ist, durch Offenhalten einer Pforte
in eine _gesteigerte, lebensvolle Verbindung_ bringen, nicht nur für
Glieder der Gemeinde, sondern auch für von fremdher kommende Freunde
der Natur und Kunst, zum Erleben frei erwählter Ruhe- oder Weihestunden.

Deshalb möchten dem Wunsche derer, die vom Alltagsleben abgesondert, in
frischfreier Natur auf friedvoller Stätte ein Kircheninneres betreten
wollen – zum weilen und ruhen – keine Schranken entgegenstehen.

Sollte nicht so manches Glied der Gemeinde – wenn der rechte Zeitpunkt
hierzu gekommen – das Verlangen haben, auch im Alltagsgewand den
Raum der Kirche zu betreten, zum Verbringen einer stillen Stunde,
zum Nachsinnen – zur eigenen Erbauung des inneren Menschen? – zur
Wachrufung sich vernebelnder Erinnerungen? – – –

Es ändern die Zeiten die Wohnstätten, das Dorf und seine Bewohner, –
Häuser alter Urahnen und Ahnen lassen sie verschwinden. –

Hier und da birgt das altehrwürdige Gotteshaus _die hohen Werte
urväterlicher Schaffenslust und kunstfröhlicher Gestaltungskraft_.
Diese Werte und ihre Entstehungszeiten sprechen zu uns in einer so
treuherzigen, wahren Art, daß wir vermeinen mit Urahnen und Ahnen
wieder verbunden zu sein. Ihre stumme Sprache bedingt eine feierliche
Ruhe, um all die lieben Erinnerungen ernster und freudiger Art auslösen
zu können für so manchen, dessen Werdegang von der Taufe bis ins hohe
Alter mit dieser Stätte, diesem Raum, in enger Verbindung gestanden
hat. – – –

Je nach Herzens- und Gemütsstimmung dürfte jenen und anderen die
_unverschlossene Gotteshalle_ Anlaß bieten, eine besondere Feierstunde
in ihr zu erleben.

Und wenn zur rechten Abendstunde aus dem offenen Kirchenherzen der
Orgel entströmende volkstümliche Weisen dringen könnten, hinab in den
Ort, weit in das Land – – – – – so manches Menschenkind würde – bewußt
oder unbewußt – dann solcher Töne lauschen oder angeregt durch deren
Macht, mitsingen, – sein Sinnen aufwärts lenken, himmelan.

       *       *       *       *       *

_Nachsatz._ Die einfache, schöne Bertsdorfer Gotteshausanlage,
deren spitzbogige Maßwerkfenster als Nachklänge des Mittelalters in
romantische Harmonie treten mit dem barocken Einschlag der Altar-
und Kanzelformung, und deren Urheberschaft wahrscheinlich zu danken
ist dem genialen, vielseitig tätig gewesenen Dresdner kurfürstlichen
Hofarchitekten Wolf Caspar von Klengel, erhebt dieses Werk zu einem
Bindeglied der Reihe hochbedeutender Bauschöpfungen jener Zeit, die
unter Klengels Leitung zur Ausführung kamen, beziehentlich begonnen
wurden.

Diese Bauepoche, während welcher unter anderen die erste Anlage des
Großen Gartens und der Bau des darin gelegenen prächtigen Lustschlosses
erfolgte, zeitigt im letzten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts den
Anfang zu den baukünstlerischen Großtaten in Dresden und diejenige
Baukultur in der Oberlausitz, der wir die bedeutenden Werke des
»Zittauer Barocks« in der Hausbau- und Denkmalkunst verdanken und die
fortlebte bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts.

Mit dem Beginn einer einsetzenden schulmäßigen Ausbildung Bauberufener
in fernliegenden Großstädten, verlor die örtliche altmeisterliche
Kunstübung ihre Kraft und Eigenheit, bis sie schließlich unterging
in den Wellen neuer Zeit- und Kunstströmungen, welche zu neuem Leben
erweckten die »klassischen Künste«, in deren strengem Geiste nach
Friedrich Schinkels Plänen als Umbau errichtet und vollendet wurde die
1837 geweihte

        St. Johanniskirche in Zittau.


6. Von der Bertsdorfer Kirche nach Oybin[10]

Von der Bertsdorfer Kirche führen strahlenförmig Straßen-, Feld- und
Waldwege in die Ortschaften, Waldungen und auf die Höhen des nahen
Zittauer Gebirges. Ein aussichtsreicher, prächtige Blicke in das
sich um Zittau weitende Landschaftsbild gewährender Weg, führt am
idyllisch gelegenen Hungerbrunnen vorüber, zur Leipaer Straße und durch
die Katzenkerbe nach Oybin. Auf der Höhe, hinter der Katzenkerbe,
entfaltet sich ein überraschend schönes Gegenbild. Es zeigt das
den Oybiner Kessel rahmende Gebirge mit dem Hochwald und den im
Mittelgrunde aufgetürmten Sandstein-Quaderberg Oybin.

[Illustration: =Oybiner Klosterruine=

Nach Originalzeichnung von Prof. R. Michel, Görlitz]

Vielbesungene, sagenumwobene Ruinen krönen das Kleinod des Gebirges. In
ganz eigener Schönheit, von Waldesgründen umgeben, liegt es, friedvoll
eingebettet, vor des Wanderers Augen.

Doch am eindruckvollsten sind die Durchblicke, die aus Waldestiefen
die hochthronenden, waldumsäumten Ruinen im Morgen- oder Abendglanz
erscheinen lassen.

    Im Anblick des verfallenen Klosters,
    hoch oben, über Felsenhängen, –
    im stillen Frieden der Natur, in der
    sich Gott- und Menschenwerk so
    wunderbar zusammen eint, –
    im Anblick dieser Gottesburgruinen
    andächtig weilend, schweigend sinnend,
    bis Dämmerung sie umgibt und
    letzte Sonnenblicke ihre Zinnen scheidend grüßen, –
    welch deutsches Herz – vom Zauber
    solcher Herrlichkeit umfangen, –
    ergreift hier nicht das Sehnen und
    Verlangen nach einem neuen
    Morgengrauen – dem Aufgang
    neuer deutscher Herrlichkeit in
    volkseigener Kunst – in deutscher
    Gotteswelt und deutscher Freiheit? –

    Anmerkung: Baugeschichtliche Daten nach: Gurlitt, Beschreibende
    Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler Sachsens. 29.
    Heft. Amtshauptmannschaft Zittau.


Fußnoten:

    [8] Nr. 1 siehe Heft 11/12, Band V, 1916, Seite 347. Nr. 2 und
        3 siehe Heft 4/6, Band VIII, 1919, Seite 75. Nr. 4 siehe
        Heft 1/3, Band IX, Seite 13.

    [9] Vergleiche Band IX, Heft 1–3, Seite 13, Wanderbild 4. –
        Die Wieser Kirche unweit Seidenberg O.-L. – Hierbei sei
        bemerkt, daß der böhmische Grenzort nicht Wiesa, sondern
        Wiese heißt.

    [10] Der _Klosterbau_ erfolgte im Zeitraume 1366–1384,
        dient seiner Zweckbestimmung bis 1559, in welchem Jahre
        der letzte Mönch das Kloster verläßt, wird 1577 durch
        Blitzschlag und Brand zur Ruine.



Volkslieder der Sächsischen Oberlausitz

Von _Friedrich Sieber_, Krostau bei Schirgiswalde


Vor einigen Jahren habe ich versucht, in einer Anzahl Ortschaften der
Sächsischen Oberlausitz den noch vorhandenen Schatz an Volksliedern
festzustellen. Ich bin nicht als Wandervogel durchs Land gezogen,
der mit glücklicher Hand da ein Liedlein fing, dort ein anderes. Als
geborener »Edelroller« war ich in den Ortschaften meist beruflich
tätig. Mit Alter und Jugend sang ich. Mancherlei Beobachtungen habe ich
dabei anstellen können.

Es ist deutlich wahrnehmbar, daß der Schatz der von Ohr zu Ohr
überlieferten Lieder rasch im Abnehmen begriffen ist. Die Jugend kennt
etwa nur noch die knappe Hälfte der Lieder, die in gleichen Ortschaften
dem Alter vertraut sind. Dieses ungefähre Zahlenverhältnis gilt vor
allem für bäuerliche Siedelungen. In rein industriell tätigen Gebieten
ist die Liedüberlieferung viel mangelhafter. Nicht so ungünstig ist
sie meiner Beobachtung nach in Ortschaften, die zwar überwiegend mit
Industriearbeitern bevölkert sind, die aber auswärts zur Fabrik gehen.
Seßhaftigkeit in vererbten Häuschen und gemeinsamer Fabrikweg können
die Tatsache erklären.

Wer singt in den Dörfern die Volkslieder? Stellen sie ein Erbgut
dar, allen Bewohnern einer Landschaft gleicherweise vertraut? Nein,
die Zeiten der Gebundenheit aller an überlieferte Volkswerte sind
auch in der Oberlausitz im Entschwinden. Das Volkslied hat sich
aus breiter Öffentlichkeit zurückgezogen. Die größte Anzahl der
Männer beachtet es kaum. Frauen sind seine Hüterinnen geworden. In
überwiegender Weise ist es ein ganz bestimmter Typus der Frau des
Volkes, die das überlieferte Volkslied hegt. Sie ist intellektuell
gut veranlagt, sie hat Charaktereigenschaften, die sie zur Hausfrau
und Mutter vorzüglich befähigen, sie ist stimmbegabt und meist mit
sicherem musikalischen Gehör ausgestattet. Die Stuben, in denen von
den Ahnen überlieferte Lieder gesungen werden, sind meistens blank und
glänzend. In polnischen Wirtschaften habe ich fast nie alte Lieder
singen hören. Bei gemeinsamer Winterarbeit (Federnschleißen) oder
an weichen Sommerabenden auf der Bank vor dem Hause, da tritt das
Volkslied aus seiner Verborgenheit. Die oben geschilderten Frauen sind
die Vorsängerinnen, sie können Text und Melodie. Unter ihrer sichern
Führung tauchen Bruchstücke in anderen auf, zagend fallen sie ein, und
die getragenen Weisen lassen vergangene Welten wiedererstehen.

Doch ehe wir die Lieder einer Betrachtung unterziehen, die hier als
Volkslieder bezeichnet werden, wollen wir uns über den Umfang des
Begriffs verständigen. Ich habe in meine Sammelarbeit nicht mit
einbezogen:

    1. Lieder, die durch Schulpflege lebendig bleiben oder
        geblieben sind;

    2. Lieder, die zum Sangesschatz der Gesangvereine gehören;

    3. Lieder, die durch Wandervögel und ähnliche Bewegungen
        wieder in Umlauf gekommen sind;

    4. Selbstverständlich alle modernen Schlager, mit denen
        gegenwärtig der allergrößte Teil der Sangeslust bestritten
        wird.

Die Lieder, die abgesehen von den in eins bis vier aufgezählten Arten
noch im Volke lebendig sind, die allein wollen wir einer näheren
Prüfung unterziehen. Ich habe ein reichliches halbes Hundert derartiger
Lieder aufgezeichnet. Ich will einige von denen mitteilen, die meines
Wissens nach noch nicht in Sammlungen veröffentlicht sind.

Am zahlreichsten ist das Liebeslied vertreten. Unter ihnen ist die
Ich-Form häufig. Da singt ein Mädchen:

    Der Vetter Michel liebet mich
    Mit deutscher Redlichkeit,
    Und wie er liebt, liebt sicherlich
    Kein Bauer weit und breit.

    Geht er ins Holz, ich bin schon da,
    Er gibt mir Käs’ und Brot.
    Er fällt das Reis’g, ich bind’s zusamm’,
    Wir küssen uns halbtot.

    Wenn nun der liebe Sonntag kommt
    Da gehen wir zum Tanz,
    Da springen wir, wer weiß wie sehr,
    Und trinken frisches Bier.

    Wenn nun der Tanz ist ausgetanzt
    Da gehen wir zu Haus.
    Da führt der liebe Michel mich
    In Lust und Freud nach Haus.

            (Wittgendorf bei Zittau.)

Das folgende Lied bricht an der spannendsten Stelle ab. Eine andre, mit
der ersten gar nicht zusammenhängende Erzählung beginnt. Dadurch wird
eine geradezu ausgezeichnete Wirkung erzielt:

    Wenn ich gleich kein’ Schatz mehr hab’, ’s wird sich einer finden.
    Ging das Gäßlein auf und ab, kam bis zu der Linden,
    Als ich zu der Linden kam, stand mein Schatz daneben.
        Grüß dich Gott, herztausiger Schatz, bist denn du gewesen?
        Bin gewesen im fremden Land, hab’ viel Neues erfahren.
        Was du Neues erfahren hast, kannst du mir wohl sagen.
        Hab’ erfahren dies und das, wünsch’ bei dir zu schlafen.
        Schlafen kannst du wohl bei mir, aber nur in Ehren.
        Ob es wird in Ehren sein, müssen wir erst sehen.
    Zwischen Berg und tiefem Tal saßen einst zwei Hasen.
    Fraßen ab das grüne Gras, ja, bis auf den Rasen.
    Da sie sich satt gefressen hatten, setzten sie sich nieder.
    Warten bis der Jäger kommt, der schießt sie darnieder.

            (Friedersdorf bei Zittau.)

Auch das Motiv, das in dem bekannten schwäbischen Lied: Jetzt gang
i ans Brünnele, behandelt wird, fehlt unsern heimischen Liedern
nicht. Meinem Empfinden nach ist es in mindestens ebenbürtiger Form
dargestellt.

    Ich ging wohl durch einen gar so lustigen Wald,
    Und da kam ich zu ’nem Börnlein und das war so kalt.

    Ich setzte mich nieder um eine kleine Ruh’,
    Ich hörte den schönen Singvögelein zu.

    Ich hörte so lange, bis daß es mich verdroß,
    Und da fielen zwei Röslein auf meinen Schoß.

    Und die Röslein, die waren von Golde so rut,
    Junge Mädchen, die haben einen stolzen Mut.

    Ich ging wohl in ein Wirtshaus, ich tanzt aber nicht.
    Ich suchte mein schön’ Schätzchen, ich fand’s aber nicht.

    Ich suchte in der Stube, ich suchte in dem Haus;
    Ei, da stand mein schön’ Schätzchen und lachte mich aus.

    Ei lache, immer lache, es wird dich schon gereu’n,
    Wenn ich werd’ bei ’nem andern schönern Schätzchen sein.

            (Dittelsdorf, Friedersdorf bei Zittau.)

Ein Totenlied, rührend in seiner tiefempfundenen Schlichtheit, lautet
folgendermaßen:

    Bei mir ist Spiel und Tanz vorbei, das Lachen ist vorüber,
    Ich hasse Lieder und Schalmei, und Klagen sind mir lieber.

    Ach Gott, wer hätte das gedacht, als ich sie dankbar küßte,
    Daß ich so bald die grüne Tracht in Schwarz verwandeln müßte.

    Geduldig war sie wie ein Lamm, tat niemand was zu Leide,
    Sie war so fromm, so tugendsam, zu aller Menschen Freude.

    Und wenn sie kam, da konnte man die Blicke nicht vertragen,
    Und wenn sie lachte, mußte man die Augen niederschlagen.

            (Wittgendorf.)

Eine Totenklage ist auch das Lied, das in dem bekannten
Volksliederbande der Blauen Bücher (Karl Robert, Langenwiesche: Von
Rosen ein Krentzelein) unter der Überschrift: »Der Trauernde« (21.–30.
Tausend, S. 96) abgedruckt ist. Die von mir aufgezeichnete Lesart ist
ausführlicher, verrät aber in einigen dialektischen Wendungen noch den
süddeutschen Ursprung.

Die alte Weisheit des Nibelungenliedes: ~als ie diu liebe leide z’aller
jungeste gît~, wird lebendig in dem Abschiedsgespräch zwischen einem
Burschen, der wandern will, und seinem Mädchen:

    Des Sonntags, des Montags in aller Still
    Kam eine traurige Botschaft zu mir:
    Dieweil ich von mein’m Schätzchen hat Abschied genomm’n,
    Da sollt ich nur noch einmal zu ihr komm’n.

    Als ich die Gasse herunterkam,
    Sah ich mein Feinsliebchen an der Haustür stahn.
    Sie winkt mir mit dem Äugelein, sie scharrte mit dem Fuß,
    Sie aber wußt es nicht, daß ich wandern muß.

    Als ich zu ihr gekommen war,
    Sagt sie zu mir in aller, aller Still:
    Ich sollt’ sie nicht verlassen in aller ihrer Not,
    Ich sollt’ sie treulich lieben bis in den Tod.

    Sie an mein schneeweißes Angesicht.
    Wie mich die große Liebe hat zugericht.
    Kein Feuer auf der Erde brennt nimmermehr so heiß,
    Als die verborg’ne Liebe, die niemand nicht weiß.

    In Trauern muß ich schlafen geh’n,
    In Trauern muß ich wiederum aufersteh’n;
    In lauter Traurigkeit verbring ich meine Zeit,
    Dieweil ich nicht darf lieben, was mir mein Herz erfreut.

    Geht dir’s wohl, so gedenk’ an mich,
    Geht dir’s aber traurig, so kränket es mich.
    Vom Herzen bin ich froh, wenn’s mir und dir wohl geht,
    Obgleich mein junges Leben in Trauern steht.

            (Wittgendorf.)

Häufig wird in den Liebesliedern die Ich-Form aufgegeben. Der
Liebesstoff wird balladenartig behandelt. Als ein Übergang zu dieser
Form kann folgendes Lied angesehen werden:

    Warum bist du denn immer so traurig? Weil alles über mich geht.
    Drum laß ich den lieben Gott walten, der alles am besten versteht.

    So schön wie eine Rose, die fein am Stengel dort steht,
    So schön ist auch ein jung’ Mädel, wenn es im Grünkränzel geht.

    So falsch wie eine Schlange, die auf der Erde rumkriecht,
    So falsch ist ein Junggeselle, wenn er sein Mädel verführt.

    Und wenn er sie verführet hat, auf off’ner Straß’ läßt er sie
        steh’n,
    Da denkt sie in ihrem Herzen, wo soll ich nun weiter hingehn?

    Der Apfel ist schön rosenrot, schwarze Körner sind darin.
    Und wenn der Bursch geboren wird, trägt er einen falschen Sinn.

    Ein falscher Sinn, ein froher Mut, das ist der Burschen Gebrauch,
    Drum gibt es so viele in Friedersdorf, die lieben die Falschheit
        auch.

            (Friedersdorf.)

In vielen Liedern treten dramatische und epische Bestandteile neben den
lyrischen stärker hervor. Mehr oder weniger reine Balladen entstehen.
Dazu gehört das schon von Herder im Elsaß aufgezeichnete Lied vom
Grafen: »Ich stand auf hohem Berge«, das mit geringen Abweichungen in
der ganzen Lausitz verbreitet ist, ferner das Lied: »Es war einst eine
Jüdin«, das in etwas umgestalteter Weise den Stoff der Königskinder
behandelt und nach der Weise des Grafenliedes gesungen wird. Eine andre
Ballade, die mit dem so sehr beliebten Anfang anhebt: »Es stand ein’
Lind’ im tiefen Tal, ist oben breit und unten schmal«, an den sich
aber wenigstens drei verschiedene Lieder anschließen, die inhaltlich
kaum etwas Gemeinsames haben, enthält einen schönen Liebesgruß, der
schon seit dem Ruodlieb (1030) eine beliebte Gedichtform darstellt. Das
Mädchen schickt mit dem Boten an ihren Liebsten, der sie vermeintlich
verlassen hat, folgende Wünsche:

    Ich wünsch’ ihm so viel Wohlergehn, als so viel Stern am Himmel
        steh’n.
    Ich wünsch’ ihm so viel Hochzeitsgäst, als in dem Wald sind grüne
        Äst.
    Ich wünsch’ ihm so viel Herzeleid, als so viel Sand am Meere leit.

Eine stark abweichende Lesart der Ballade ist bei Uhland enthalten
(Nr. 116). Das alte Balladenmotiv des verwundeten Burschen, der in
den Armen der Geliebten stirbt, wird behandelt in dem auch anderwärts
aufgezeichneten Liede: »Es wollt’ ein Mädchen früh aufsteh’n«, dessen
dunkle Melodie in hervorragender Weise dem schwermütigen Stoff angepaßt
ist. Knapp, rasch fortschreitend ist die Ballade vom Soldaten, der aus
dem Kriege zurückkehrt:

    Was kann mich denn schöner erfreuen, ju, ja erfreuen,
    Als wenn der Sommer angeht.
    Es blühen die Rosen im Garten, ju, ja im Garten,
    Soldaten marschieren ins Feld.

        Und als ich in das fremde Land Österreich kam,
        Da gedacht ich gleich wieder nach Haus.
        Als ich dann wieder nach Hause kam,
        Feinsliebchen stand an der Tür.
        »Gott grüß’ dich, du Hübsche, du Feine,
        Vom Herzen gefällst du ja mir.«
        »Ich brauch’ dir ja nicht zu gefallen,
        Ich hab’ schon längst einen Mann.
        Einen hübschen, einen feinen, einen reichen,
        Der mich ernähren kann.«
        Was zog er aus seiner Tasche?
        Ein Messer, ’s war scharf und gespitzt.
        Er stach’s dem Feinsliebchen ins Herze,
        Das rote Blut gegen ihn spritzt.
        Und als nun das Mädchen gestorben war,
        Da grub man ihr ein Grab
        In ihres Großvaters Lustgarten,
        Wo Rosen und Rosmarin steh’n.
        Ihr Mädchen und Junggesellen,
        Nehmt euch ein Beispiel daran.

            (Schönbach bei Löbau.)

Es ist ganz zweifellos, daß dem erwähnten Heereszuge nach Österreich
ein bestimmtes historisches Ereignis zugrunde liegt. In manchen
Liedern tritt das Historische stark hervor. Die Ballade wird zum
historischen oder politischen Lied. Ich habe in der Lausitz noch
lebendig gefunden das Lied über den Feldzug Napoleons I. nach Rußland:
»Napoleon, du Schustergeselle«, weiterhin ein Lied, das den Krieg
von 1870 zum Hintergrund hat: »Im Städtchen zu Baden da steht ein
Haus«, das aber dem bekannten Sedanliede: »Bei Sedan auf den Höhen«,
an Wert nachsteht. Das Interessanteste dieser Gattung ist das über
einen großen Teil Europas verbreitete Marlboroughlied, durch dessen
Wortprägung und Wortbindung gedämpft der vornehme Glanz hochadligen
Hintergrundes leuchtet. Dieses Marlboroughlied hat in der Oberlausitz
ein eigenartiges Schicksal gehabt. Der Eingang: »Marlborough zog zum
Kriege«, hat sich eine kühne volksethymologische Umdeutung gefallen
lassen müssen. Was war dem biedern Lausitzer, der sangeslustigen
Dorfdirne, der stolze Britenherzog Marlborough? Und so begann der
Lausitzer das Lied: »Mein Bruder zog zum Kriege«. Nun konnte nicht
mehr Madame in die Höhe steigen, um nach den Vermißten Ausschau zu
halten, der zu Ostern kommen wollte, sondern die Schwester tut es. Nun
kommt nicht mehr der Page, der die Trauerbotschaft bringt, der höfisch
und fein spricht:

    »Das Neue, das ich bringe, macht schöne Augen naß.
    Leg’ ab die ros’gen Kleider und deinen Blumenschmuck.
    Dein Marlbruck ist gestorben, tot und begraben schon.«

Drei Burschen kommen gezogen, von Blute rot, Mitkämpfer sind sie
gewesen. Anspruchslos und schlicht sprechen sie:

    »Das Neuste, das wir bringen, macht dir die Äuglein naß.
    Dein Bruder ist erschossen, ist tot und lebt nicht mehr.«

Durch alle diese folgerichtigen Änderungen ist die Handlung der Ballade
aus der großen Welt in den engen Kreis des Volkes verpflanzt worden,
ohne etwas von ihrer Tragik zu verlieren.

Aber nicht nur harte politische Tatsachen haben im Volkslied ihren
Niederschlag gefunden. Viele von ihnen sind vom kulturhistorischen
Gesichtspunkt aus aufs höchste belehrend. Vor allem fesselt den
Literarhistoriker manch seltsames Lied, das unter dem Namen Volkslied
durchschlüpfen will, weil es vom Volke gesungen wird. Das echte
Volkslied, das wurzelhaft dem Volke entwachsen ist, zeigt eigentümliche
Merkmale, die ihm einen wundersamen, unnachahmlichen Zauber verleihen.
Das Volk, das solche Lieder hervorbringt, ist gleichsam eine ungeheure,
sich selbst unbewußte Individualität, von einer mächtigen Lebensform
beherrscht, die in seinen Gestaltungen nach Ausdruck ringt. Je näher
wir der neueren Zeit rücken, desto fühlbarer zerbricht der Kosmos Volk.
Gruppen und Einzelwesen entreißen sich seinem magischen Banne. Neben
die Dichtung des Gesamtvolkes tritt die Dichtung der schöpferischen
Persönlichkeit. Aber in allen gesunden Zeiten besteht eine starke,
untergründige Verbindung zwischen Volk und Persönlichkeit. Beide hängen
zusammen wie Mutter und ungestümes Kind. Eins steigert das Wesen des
andern. Wieder eine solche reine Verschränkung zwischen Volk und
Einzelwesen entstehen zu sehen, ist unser aller Sehnsucht; denn seit
Beginn der neuesten Zeit ist die Lebensform Volk in Millionen Atome
zersplittert. Jedes Glied der einstigen Gemeinschaft hat das Recht
betontester Einzelexistenz an sich gerissen. Die Folge dieses Vorgangs
ist auf künstlerischem Gebiet die Zerstäubung jedes Stilgefühls. In
Zeiten tiefer Bindungen wird der Mensch in einen Stil hineingeboren,
dessen Träger das Gesamtvolk ist. Nach Zertrümmerung des tragenden
Mutterschoßes wird Stil zu einer Aufgabe, die jeder im individuellen
Leben in zuchtvoller Arbeit lösen muß. Da dies aber nur wenig
Begnadeten möglich ist, bleibt die Masse der Glieder eines Volkes in
lebengestaltender Hinsicht im Chaos. Der Instinkt für angemessene Form
ist verloren gegangen. Wahllos ist die Masse jedem Einfluß hingegeben.
Daß dies nicht erst ein Entwicklungsergebnis der unmittelbaren
Gegenwart ist, beweisen eine Anzahl Lieder, die deutliche Spuren
flüchtiger Literaturmoden an sich tragen, die der bewertende Beurteiler
mit gutem Gewissen als minderwertig bezeichnen kann. Drei Einflüsse
dieser Art sind in einer Anzahl der von mir gesammelten Lieder deutlich
wahrnehmbar. Zum ersten sind es die Schauerromane, die an der Wende des
neunzehnten Jahrhunderts sich außerordentlicher Beliebtheit erfreuten.
Besonders häufig sind die Schauer des Kirchhofs verwendet worden. Dort
finden wir während der »süßen« Geisterstunde den Liebhaber, dessen
Mädchen starb. An der Kirchhofsmauer rauscht es. Eine weiße Gestalt
naht, still und sanft, voller Trauer. Wilhelmine ist es. Flehend
bittet der Liebhaber, ihn mitzunehmen in ihre Totenkammer. Aber allein
entschwindet sie ihm. Nicht nur Stoff und Behandlungsart verraten die
Entstehungszeit dieses Liedes. Wer sich einmal die lehrreiche Mühe
machte, die Vornamen unsrer Vorfahren zusammenzustellen, wird finden,
daß Wilhelmine eine ganze Zeit hindurch im ersten Teil des neunzehnten
Jahrhunderts ein ausgesprochener Modename war. Noch ein andres
Schauerlied möge Erwähnung finden. Es erzählt, wie ein Schlossergesell’
nach jahrelanger Wanderschaft zu seinen Eltern, die ein Gasthaus
haben, zurückkehrt. Der Bursche gibt sich nur seiner Schwester zu
erkennen. Um Mitternacht ermordet der Vater, von Neugier und Habsucht
getrieben, den unbekannten Fremdling. Dies Lied ordnet sich wichtigen
literarhistorischen Zusammenhängen ein. Es behandelt einen ganz
ähnlichen Stoff, wie die Tragödie ~Fatal curiosity~ des Engländers
George Lillo, die zum Ausgangspunkt der Schicksalstragödie wurde, die
mit Hilfe des entfesselten Geisterchors, durch entsetzliche Bluttaten
und Verbrechen, Schauer und Entsetzen erregen wollte.

Um dieselbe Zeit, als in Deutschland die Schicksalstragödien blühten,
waren die tugend- und rührsamen Familiengeschichten des Feldpredigers
August Heinrich Julius Lafontaine in Mode. War er doch sogar ein
Lieblingsschriftsteller der Königin Luise. Auch dieser Einfluß ist in
einigen Liedern deutlich nachzuweisen (z. B.: Steh ich hier am eisern
Gitter).

Mit diesen beiden Einflüssen hat auch die dritte der damals
herrschenden Moden ihren Niederschlag in Liedern gefunden. Es ist
die nach dem Erscheinen des Götz von Berlichingen wildwuchernde
Ritterromantik. Deutschland wurde von Ritterdramen und Ritterromanen
überschwemmt. Welche köstlichen unfreiwilligen Parodien entstanden, mag
eine Probe zeigen:

    Eine Heldin, wohl erzogen, mit Namen Isabell,
    Die schoß mit Pfeil und Bogen, so gut wie Wilhelm Tell.
    Ein Ritter, jung an Jahren, mit Namen Eduard,
    Der sich beim Ringelspiele in sie verliebet hat
    Er gab ihr zum Geschenke, den schönsten Blumenstrauß,
    Doch nichts konnt’ sie erfreuen, sie schlug ihm alles aus.
    Er gab ihr zum Andenken, den schönsten Trudihahn,
    Doch nichts war ihr zur Freude, von ihm nahm sie nichts an.
    Fahr’ hin, du Stolze, du Spröde, dein Stolz wird dich gereu’n,
    Du wirst noch Tränen weinen, wenn ich werd’ nicht mehr sein.
    Einst ritt sie eine Strecke, als Jägerin in das Holz,
    Da saß in einer Ecke ein Bär, in Ängsten stolz.
    Gleich stieg sie von dem Pferde, das stolze, kühne Weib,
    Und schoß mit ihrem Pfeile, das Untier durch den Leib.
    Das Roß mußt ihrer warten, sie eilt von ihm zum Wild –
    Wen erblickt sie? Eduarden, in Bärenhaut gehüllt.
    Und kaum verging’n sechs Wochen, verzehrt von Gram und Schmerz,
    Begrub man ihre Knochen, zu Füßen Eduards.

            (Krostau.)

Doch nicht mit diesen Tönen wollen wir eine Abhandlung über Volkslieder
der Sächsischen Oberlausitz schließen. Das soll eine kurze Betrachtung
mundartlicher Dichtungen tun. Mundartliche Lieder, die über den
Interessenkreis eines bestimmten Dorfes (Beziehungen auf bestimmte
Personen und Vorkommnisse) hinausgehen, sind nicht zu zahlreich.
Ihr gemeinsames Merkmal besteht darin, daß sie fast ausnahmslos
Scherzlieder sind. Da werden die üblichen Berufe einer scherzhaften
Prüfung unterzogen. – Die besorgte Mutter schlägt der Tochter aus jedem
Berufe »Einen« vor. Aber das Töchterchen ist wählerisch. An jedem hat
sie auszusetzen:

    Nee, Mutter, nee, ’n Leinwabr, dan mag ’ch ne,
    D’r Leinwabr stroamplt mit Händ’n und Füss’n,
    Ar könnt’ mich mit ’n Schütz’n erschissen,
    Nee, Mutter, nee, ’n Leinwabr, dan mag ’ch ne.

Doch endlich hat sie den rechten gefunden:

    Ja, Mutter, ja, ’n Spieler, dan will ’ch hon.
    D’r Spieler hot verschied’ne Puppen,
    Ar läßt mich monchmol o mit hupp’n,
    Ja, Mutter, ja, ’n Spieler, dan will ’ch hon.

            (Naundorf bei Gaußig.)

Anspruchsloser ist eine andre Dorfschöne:

        Hans’l soaß an Uf’nloch
        Und flickte seine Schuh,
        Da koam Nubbersch Gret’l
        Und guckt d’r Arbeit zu.

    Hons, wenn de heiroatst, do heiroatst de mich,
    Ich hoa ja no’ drei Pfenn’ge, die lang’n fer mich und dich.
    Und wenn mer wer’n verheiroat sein, do hoa mer no kee Haus,
    Nu, do keef m’r uns an Henkltop und do guck m’r ub’n ’naus.

            (Goldbach.)

Aber was sich hinter der holden Hülle der Schönen verbirgt, das kommt
erst nach der Ehe zum Vorschein. Das kann uns der unglückliche kleine
Mann erzählen:

    Es woar amol a klenner Moan, vi – vallera,
    Dar wullt a grußes Weibl hoan, hm, hm, hm.

    Doas Weibl wullt ze Boalle giehn,
    Dar kleene Moan wullt o mit giehn,

    Moan, du mußt drheeme bleib’n,
    Du mußt ’n Kinnern Samm’l reib’n.

    Und oals de Fro vum Boalle koam,
    Da stand ar durt und leckte droan.

    Do noahm de Fro ’n Bas’nstiel,
    Und hieb ’n Moan, doaß ar fiel.

    D’r Moan, dar huppt a’s Butterfoaß:
    »Nu kumm ock har, und tu’ m’r woas.«

    D’r Moan, dar huppt zum Fanster ’naus,
    Und lief gor schnell a Nachboars Haus.

    »Herr Nubber, ich will se emol woas soin:
    Mich hut su sehr de Fro geschloin.«

    D’r Nubber soite nischt drzu,
    Ar duchte: Mir gieht’s salber su.

            (Naundorf.)

Ein andres Lied erzählt in neckischer Weise die Geschichte von der
Bauersfrau, die dem Pfäfflein einen Hirsebrei mit einem halben Schock
Eiern kocht, während der Bauer im Holze ist.

Ich muß gestehen, daß es mir nicht ganz unbedenklich erscheint, daß
der Lausitzer mundartlich nur Scherzlieder kennt. Empfindet er seine
Mundart selbst als komisch? Der Spaßmacher spricht Mundart. Oder
ist sein innerstes Wesen überwiegend aufs Komische gerichtet, für
Tragisches schwer zugänglich? Das glaube ich nicht. Vielleicht ist er
zu verschlossen und zu unbeholfen, um seine tiefsten Empfindungen dem
Worte anzuvertrauen.

Wenn wir im Vorangegangenen die Texte der Volkslieder einer Prüfung
unterzogen haben, so müssen wir uns dabei bewußt bleiben, den
unwesentlichen Liedteil betrachtet zu haben. Der Träger des Volksliedes
ist die Melodie. Das wird dem Sammler oft in eindringlicher Weise
deutlich. Die meisten seiner Gewährsleute können ihm das Lied nicht
aufsagen, sondern nur vorsingen. Mit der Melodie stellt sich der Text
ein. Ganz dürftige Texte sind um ihrer Melodie willen beliebt, während
wertvolle Texte, wenn sie unsanglich sind, vernachlässigt werden. Im
allgemeinen kann jedoch behauptet werden, daß Text und Melodie zu einer
stilvollen Einheit verschmolzen sind. Text und Melodie offenbaren
eine einfache, natürliche, undifferenzierte Empfindungsweise. Vor
allem die Melodie bringt meist in hervorragender Weise typische
Empfindungszustände, wie Ausgelassenheit, Freude, Lust, behagliche
Zufriedenheit, Trauer, Schmerz zum Ausdruck. Gerade in dieser
typisierenden Darstellung von Seelenzuständen liegt ein wesentlicher
Grund der allgemeinen Beliebtheit des Volksliedes.



Nochmals: »Pflanzt Nußbäume«[11]

Von _B. Voigtländer_


Den Ausführungen Klengels in Heft 10 bis 12 des vorigen Jahrganges
unsrer Mitteilungen wird jeder Natur- und Heimatfreund zustimmen;
der Nußbaum ist tatsächlich nicht nur ein wertvoller Nutzbaum,
sondern er befriedigt auch unser Schönheitsgefühl durch seinen hohen
Schmuckwert. Da wir jetzt gezwungen sind, das Größtmöglichste aus
unserem Boden herauszuwirtschaften, möchte ich noch auf einen anderen,
weniger bekannten Nußbaum hinweisen, der wegen seiner hervorragenden
Eigenschaften die gleiche Beachtung verdient, wie der bei uns zumeist
angepflanzte gewöhnliche oder Walnußbaum, ~Juglans regia~.

Es ist der amerikanische oder schwarze Nußbaum, ~Juglans nigra~; er
übertrifft in Schnellwüchsigkeit und Schmuckwert den Walnußbaum, ist
für unser Klima genügend hart und stellt keine höheren Ansprüche an die
Bodenbeschaffenheit. Seine Schnellwüchsigkeit ist in dendrologischen
Werken und Fachzeitschriften wiederholt dargelegt worden, außerdem bin
ich in der Lage, ein treffliches Beispiel dafür aus eigener Anschauung
anzugeben. Der Tharandter Forstgarten besitzt je einen, vor etwa
dreißig Jahren gepflanzten Baum beider Arten. Während nun ~Juglans
nigra~ in Brusthöhe bereits einen Umfang von ungefähr einen Meter
hat, mißt ~Juglans regia~ erst gegen siebzig Zentimeter. Hierzu kommt
noch, daß ersterer gegen fünfzig Meter hoch wird, während der letztere
selten eine Höhe über zwanzig bis fünfundzwanzig Meter erreicht. An
Holzzuwachs übertrifft also der schwarze Nußbaum den Walnußbaum ganz
erheblich.

~Juglans nigra~ hat eine schmälere Krone als ~Juglans regia~, seine
schmäleren Blätter stehen nicht so dicht, lassen also mehr Sonnenlicht
durch die Krone. Die Anpflanzung wird sich also namentlich dann
empfehlen, wenn die pflanzliche Umgebung des Baumes durch zu tiefen
Schatten, wie ihn der Walnußbaum meist gibt, ungünstig beeinflußt
würde. Einen Mangel hat der Baum allerdings; seine Früchte sind
nicht so wertvoll wie die des Walnußbaumes. Da Schale und Kernhaus
sehr dickwandig sind, bleibt für den Inhalt nicht viel Raum; der
Kern bleibt klein und wird zudem wegen seines starken Ölgehaltes
sehr leicht ranzig. Dieser Nachteil will mir aber nicht als
ausschlaggebend erscheinen, da ich die Früchte des Walnußbaumes nicht
als Nahrungsmittel, sondern nur als Naschgelegenheit ansprechen möchte.
Meines Erachtens wiegt der hohe Wert, den der schwarze Nußbaum als
Nutzholzerzeuger hat, den Mangel der Früchte mehr als doppelt auf. Das
Holz des amerikanischen Nußbaumes wird in Zukunft noch mehr begehrt
werden als schon jetzt, weil es ein sehr wertvoller Stoff für die
Herstellung von Flugzeug-Propellern ist.

Auch in bezug auf Anpflanzung und Pflege ist die amerikanische Nuß
nicht anspruchsvoller als die gewöhnliche Walnuß. Am besten fährt man,
wenn man den Baum nicht pflanzt, sondern die Nüsse an Ort und Stelle
legt. Die beste Zeit dafür ist der Herbst; man erreicht dadurch,
daß ungefähr achtzig vom Hundert zum Keimen kommen, während bei der
Frühjahrssaat nur bei etwa sieben vom Hundert ein Erfolg eintritt.

Ist man gezwungen, einen amerikanischen Nußbaum zu verpflanzen, so
achte man darauf, daß das sehr fleischige und leicht eintrocknende
Wurzelwerk vollständig erhalten bleibt, auch setze man es nicht unnötig
lange der Luft und Sonne aus, sondern pflanze den Baum sofort wieder
ein. Dies gilt übrigens für beide Nußbaumarten. Beachtet man diese
Hauptregel, so wird man kaum Verluste zu beklagen haben.

Es könnte noch die Frage auftauchen, ob nicht etwa das Vaterlandsgefühl
verletzt würde, wenn man _amerikanische_ Nußbäume zahlreich anpflanzte.
Dem ist aber entgegenzuhalten, daß der Walnußbaum in unsrer engeren
Heimat von Haus aus auch nicht bodenständig ist. Dem Dresdner
Heimatfreunde bietet sich Gelegenheit, einen sehr großen amerikanischen
Nußbaum an der Villa 78 an der Schnorrstraße zu bewundern. Er ist
wahrscheinlich der größte derartige Baum von Dresden und der weiteren
Umgebung.


Fußnoten:

    [11] Da ~Juglans nigra~ wegen des prächtigen Wuchses trefflich
        geeignet ist, das Landschaftsbild verschönern zu helfen,
        kann die Anpflanzung nur empfohlen werden. Die Frucht ist
        zwar weniger wertvoll, um so gesuchter ist aber das Holz.
        Vor dem Kriege wurde es in großen Mengen eingeführt, um zur
        Herstellung von Gehäusen elektrischer und photographischer
        Apparate verwendet zu werden. Es würde ein Dienst am
        Vaterlande sein, wenn es gelänge, durch eigene Erzeugung
        die Einfuhr einzuschränken. Der Baum würde in erster Linie
        zur Holznutzung in Frage kommen; die Fruchtgewinnung stünde
        erst an zweiter Stelle. Da, wie bereits erwähnt, die
        Frucht des schwarzen Nußbaumes weniger wertvoll ist als
        die des Walnußbaumes, eignete er sich vielleicht gut zur
        Anpflanzung an abgelegeneren und schwerer zu überwachenden
        Orten, denen man, wegen des zu erwartenden Fruchtdiebstahls
        und der daraus regelmäßig entstehenden Beschädigung der
        Bäume, Walnußbäume nicht anvertrauen will.

            A. Klengel.



=Über das Vorkommen der Weidenmeise= (~Parus atricapillus salicarius
Brehm~) =in unserm Vaterlande=

Von _Rich. Schlegel_


Was für ein Vogel ist das? wird mancher Leser fragen, dem auf seinen
Wanderungen Kohl-, Blau-, Sumpf- und Schwanzmeisen im Waldesgrün
liebe Weggenossen waren und durch ihr lebhaftes Wesen im Gezweig, am
Nistkästchen des Gartens oder am winterlichen Futterplatz oftmals seine
Aufmerksamkeit lebhaft fesselten. Im vogelstimmenärmeren, schweigsamen
Nadelwalde begegneten uns zuweilen auch im Verbande der zutraulichen
kleinen Vogelknirpse Goldhähnchen, Tannen- und Haubenmeisen als
charakteristische Erscheinungen, aber die Weidenmeise? Ich will den
Schleier, der sie dem Nichtornithologen verbirgt, ein wenig lüften,
einen kurzen Blick auf die Geschicke ihrer Vergangenheit werfen und
sie dem Naturfreunde und Wanderern im Hügel- und Berglande soweit
vorstellen, damit auch er sie kennenlernt und unsere Lücken in der
Kenntnis ihrer vaterländischen Verbreitung mit zu schließen in die Lage
versetzt wird.

Unser großer Chr. L. Brehm, der vielbefehdete Artzersplitterer, der
mit scharfem Blick seinen Zeitgenossen weit vorausgeeilt, war es,
der dem Studium des Vogelkleides in seiner Veränderlichkeit sein
bestes Können widmete, aber, und das war sein Fehler, geographische
und individuelle Veränderlichkeit nicht scharf auseinanderhielt.
So konnte, um nur ein Beispiel anzuführen, seine Dorfhaubenlerche,
~Galerita cristata pagorum~, gleichzeitig »bei Leipzig, Klagenfurth,
Lübs in Mecklenburg und in Ungarn« auftreten. Unser Altmeister war
es, der auch die Weidenmeise wie den kurzkralligen Gartenbaumläufer
als ausgezeichnete Arten erkannte und erstere in der Isis 1828
beziehentlich im Handbuch der Naturgeschichte aller Vögel Deutschlands
1831 unter den Namen ~Parus salicarius~, die Weidenmeise, in die
ornithologische Wissenschaft einführte. Nach ihm lebt der Vogel
»besonders an den mit Weiden besetzten Bach-, Fluß- und Teichufern«.
Mir wenigstens will es scheinen, als habe Vater Brehm außer acht
gelassen, daß die bezeichneten Aufenthaltsgebiete nur von angrenzenden
Nadelholzschonungen aus, und zwar gern besucht, aber als ständiger und
Brutaufenthalt kaum gewählt worden sein dürften. Wenn man als Ideal
erstreben muß, daß im Namen des Tieres in dieser oder jener Hinsicht
eine kurze Diagnose liege, dann erscheint mir der Name, wenigstens
für vaterländische oder andere mitteldeutsche Verhältnisse, soweit
ich sie kenne, nicht besonders glücklich gewählt zu sein. Er mag
für manche Gegenden – nach Kleinschmidt auch für die Rheingegend –
zutreffend sein, im Niederungsgebiete des Vaterlandes aber wird man
in Weidenpflanzungen oder an Bach- und Flußufern vergeblich nach
unsrer Meise Umschau halten. Da man die »neuen Arten« Vater Brehms
mit Mißtrauen betrachtete und feinere morphologische und biologische
Unterschiede wenig Geneigtheit und Verständnis fanden, hielt man es
nicht der Mühe für wert, der neuen Art weitere Aufmerksamkeit und
kritische Prüfung zuteil werden zu lassen. Erst den Forschungen der
letzten Jahrzehnte, insbesondere den ausgezeichneten, erschöpfenden
Arbeiten eines O. Kleinschmidt blieb es vorbehalten, den Vogel dem
Interesse des Fachornithologen näher zu rücken und ihm zu einer
glänzenden Auferstehung zu verhelfen, ihn mit der Zeit aber auch in
eine Menge mehr oder minder leicht unterscheidbare geographische oder
klimatische Rassen zu spalten. Seit das Rad ins Rollen kam, haben
die Fachgenossen ausnahmslos gerade diesem interessanten Vogel, dem
»winzigen ornithologischen Edelwilde«, wie es Kleinschmidt einmal
voll Begeisterung nennt, ihre ungeteilteste Aufmerksamkeit und
fleißige Feder gewidmet. So ist heute, dem Fachornithologen, dem
Systematiker und Biologen gleichwichtig, die Weidenmeise eine bekannte
und ausnahmslos anerkannte Art, deren Schriftentum, gesammelt, dicke
Bände füllen würde. Aber auch im Kreise der Vogelkundigen, wollen
wir sie trotzdem nennen, dürfte doch mancher Fachgenosse sitzen, dem
das Freileben, die Kenntnis der Art überhaupt, ein Buch mit sieben
Siegeln blieb. Was mag der Grund hierfür sein? Man hielt Sumpf- und
Weidenmeise für ein und dieselbe Art. Ich darf wohl unsere Sumpfmeise
~Parus palustris communis Bald.~ im grauen Röckchen, mit dem glänzend
tiefschwarzen und sich über den Nacken herabziehenden Scheitelfleck
und den weißen Wangen als bekannten Vogel voraussetzen. Dieser Art nun
sieht unsere Weidenmeise außerordentlich ähnlich, aber die Kopfplatte
ist glanzlos und mattschwarz, mit einem Stich ins Bräunliche und
weich im Ton. Der Schwanz (Stoß) ist deutlich und tiefer gestuft, die
weißen Wangen mehr sich abhebend und weiter seitwärts ziehend. Die
Schwingen zweiter Ordnung sind mit breiten grauen Säumen ausgestattet,
auf dem zusammengelegten Flügel einen deutlichen schmalen Längsfleck
bildend. Das sind nur die am meisten hervortretenden Artunterschiede.
Wer »Glanz-« und »Mattkopfmeise«, die Vertreter zweier morphologisch
und biologisch streng geschiedener, ausgezeichneter Formengruppen
nur einmal nebeneinander verglichen, der wird sich schwerlich jemals
wieder in der Bestimmung eines Stückes irren können. Aber im Freileben,
im Dunkel oder Zwielicht des Gezweiges, im hastigen Vorwärtseilen
der flüchtigen, von Strichunruhe ergriffenen oder den Blick des
Beobachters scheuenden Vögel sind die Kennzeichen auch dem geschulten
Auge nicht immer einwandfrei erkennbar. Da hilft nun allein schon der
Lockton über alle Zweifel hinweg. Die Sumpfmeise sagt: tje tje, in der
Erregung wohl auch h’tje dededede. Die Weidenmeise ruft ein, auch dem
stimmlich weniger geschulten Beobachter sofort auffallendes gezogenes
und gepreßtes däh – dähdähdäh oder spizidähdähdäh. Dieser Laut ist es
immer, der mein ohne dies schon zu hastig pulsierendes Ornithologenblut
in noch raschere Wallung versetzt, da er mir immer die sicherste Gewähr
dafür bietet, daß ich meinen gesuchten Freund in sicherer Nähe weiß.

Im Interesse einer geneigten Mitarbeit zum Zwecke der Festlegung
weiterer vaterländischer Örtlichkeiten, wo die mattköpfige Meise
heimatet, will ich noch in aller Kürze der als Aufenthalt bevorzugten
Geländeart und bereits bekannten Fundorte gedenken. Ich kann mich
dabei um so kürzer fassen, als ich hierüber, sowie über weitere
Resultate meiner letztmaligen Erzgebirgsstreife, die ich ausschließlich
für diesen Zweck unternahm, in einer ornithologischen Fachzeitung
ausführlicher berichten werde. Sicher ist unsere Meise, eine
borealalpine Art, vom Hügellande bis zur Kammhöhe der sächsischen
Gebirgszüge herauf, falls geeignete pflanzliche Formationen vorhanden,
eine gewiß nicht seltene, aber immer nur mehr einzeln und zerstreut
auftretende Art, die an Nadelholzformationen, beziehentlich Mischwald
gebunden zu sein scheint. Ob Kiefernschonungen allein eine besondere
Anziehungskraft auf sie auszuüben vermögen, wie ein befreundeter
vaterländischer Forscher anzunehmen geneigt ist, glaube ich nicht.
Soweit ich den »Bayrischen Wald« kenne, war dies, bei gänzlichem
Zurücktreten der Kiefer, hier ebenfalls nicht der Fall. Das Innere
geschlossener und gleichgearteter, besonders dichter, ungegliederter
und zusammenhängender Wälder meidet sie; das muß sie schon ihres
Namens wegen! Wo sich die Ränder solcher Bestände aber lichten und
in einzelne Baumgruppen verschiedenen Alters oder verschiedener
artlicher Zusammensetzung nach freiem Gelände hin auflösen, das mit
Buschwerk umrahmt ist, Laubbäume einzeln oder in Reihen bietet und
des Wassers nicht entbehrt, da darf man schon nach unserm Vogel
Erfolg versprechende Aus- und Umschau halten. Mittelhohe lichte
Schonungen und deren Ränder, gleichviel ob auf ebenem, hügeligem
Gelände oder steilem Hang, mit Laubholz- oder Buschwerkstreifen,
mit anschließenden oder eingreifenden Ufern und Rändern, Wiesen-
und Feldkulturflächen, also recht wechselvolles Gelände, wie es
Strecken mit Bauerwäldern verschiedener pflanzlicher und pfleglicher
Beschaffenheit und verschiedenen Alters zeigen, scheinen unserm Vogel
am meisten zuzusagen. Wenn die Erlkönigmeise, wie sie Kleinschmidt
in einer Monographie auch nennt, die Aufmerksamkeit des Menschen
auf sich gerichtet sieht, dann weiß sie sich meisterhaft nach den
schützenden Schonungen hin oder in die hohen Kronen zu drücken. Hier
hören wir wohl fortgesetzt oder auch mit längeren Unterbrechungen ihre
Lockrufe, aber immer versteht es der Vogel ausgezeichnet, sich vor
dem nach ihm ausspähenden Augen zu verbergen. Dabei ist die Eigenart
seines Wesens immer Unbeständigkeit und Unrast. Wenn man ihn einmal
aus den Augen verloren, und das geschieht nur zu oft bei einsetzender
Schweigsamkeit und im Verbande mit Goldhähnchen und anderem Meisenvolk,
dann kann man sich stundenlang im Suchen üben, findet aber den Vogel
nach dem Locktone immer wieder an bestimmten Stellen, wo man mit ihm
bereits einmal zusammentraf. Das sind immer Feierstunden eigener Art
für mich, wenn ich, mit mir und der Natur ganz allein im schweigsamen
Waldesdunkel, fern vom Treiben einer entsittlichten Welt, am Born
der Gottesnatur aus vollen Zügen schlürfen und an ihren Geschöpfen
erlauschen darf, was mir daheim am Arbeitstisch das Buch versagt. –

Wie die zwei Stücke der Dresdner Landessammlung beweisen, wurde die
Weidenmeise 1903 erstmalig für Sachsen nachgewiesen, und zwar für
die Gegend von Königsbrück. 1916 bis 1918 stellte ich ihr Vorkommen
mehrmalig für die Umgebung von Hohenstein-Ernsttal fest. 1918 konnte
sie ferner Heyder bei Rochlitz und Oederan beobachten. Nach Heyder wies
Mayhoff die Weidenmeise an drei verschiedenen Stellen der sächsischen
Lausitz nach. 1917 fanden sie Uttendörfer und Kramer um Herrnhut
und Niederoderwitz. 1919 machten Schelcher und Stresemann darauf
aufmerksam, daß unsere Meise in den Wäldern um Aue und Schneeberg
keine allzuseltene Erscheinung sei. Während der Michaeliswoche 1921
folgte ich zunächst den Pfaden Stresemanns und fand die Angaben
beider Forscher für die genannten Orte in jeder Hinsicht bestätigt.
Als weitere Orte ihres Vorkommens konnte ich, kammwärts wandernd, das
Floßgrabengebiet bei Albernau und Auerhammer meinen Aufzeichnungen
einfügen. Im Filzteichgebiet und den Wäldern vor Hundshübel und
Burkhardtsgrün konnte ich keinerlei Erfolge buchen. Nach zweitägigem
Suchen in den Wäldern zwischen Elterlein und Scheibenberg, sowie in
dem Waldbestande des Berges selbst, traf ich unsern »Mattkopf« auch
hier wieder an. Wie ein Blick auf die Karte Sachsens lehrt, klaffen
noch weite Lücken in der Kenntnis der Verbreitung der Weidenmeise
auf vaterländischem Boden. Ich möchte am Schlusse meiner kurzen
Ausführungen wandersfrohen Naturfreunden die Bitte ans Herz legen, bei
gegebenen Gelegenheiten dem interessanten Vertreter vaterländischer
Tierbesiedlung ihre Aufmerksamkeit nicht zu versagen, gewonnene
Resultate zu veröffentlichen oder dem Verfasser zum Zwecke einer
Gesamtbearbeitung zu überlassen. Ich darf heute schon die Versicherung
geben, daß eine diesbezügliche kleine Mühe und Unbequemlichkeit sicher
und reichlich die schönsten Früchte zeitigen werden.



Die Berankung von Gebäudeschauseiten


Die Berankung von Gebäudeschauseiten stellt eine freundliche Zutat
der Bauwerke dar, die deshalb überall großen Beifall findet, weil
sie alten unansehnlichen Gebäudemauern und schmucklosen Hauswänden
ein schönes Aussehen verleiht. Der letzterwähnte Umstand wird ja
einstimmig anerkannt, dagegen ist man über den praktischen Wert ganz
verschiedener Meinung. Während nämlich von einer Seite behauptet
wird, durch die Berankung werde dem Bauwerk Feuchtigkeit zugeführt,
behauptet die andere Partei das Gegenteil, das heißt die Feuchtigkeit
würde dem Bauwerk durch die Wurzeln der klimmenden Pflanzen entzogen.
Je nach Lage des Falles können beide Parteien im Recht oder auch im
Unrecht sein. Praktisch betrachtet wird ein Bauwerk, das an sich
infolge unsachgemäßer Ausführung Feuchtigkeit besitzt, durch die
Berankung niemals trocken werden. Anderseits kann aber auch in ein
sonst gut trockenes Bauwerk durch die Berankung niemals Feuchtigkeit
hineingetragen werden. – Die Behauptung, Kletterpflanzen tragen
Feuchtigkeit in das Bauwerk, ist nur dann zutreffend, wenn es sich um
Mauerwerk aus minderwertigem Mörtel und aus wenig gebrannten Ziegeln
handelt beziehungsweise wenn der Putz auf seiner Oberfläche Spalten
und Risse aufweist. In letztere dringen nämlich die Wurzeln ein und
führen zuweilen eine Zerstörung des Putzes herbei. Bei sachgemäß
ausgeführtem, aus guten festen Baustoffen bestehendem Mauerwerk hat
die Berankung stets günstige Erfolge gezeitigt. Denn Efeu und andere
Schlinggewächse wuchern schon seit Jahrhunderten an den Gebäuden empor,
und nur selten sind Klagen laut geworden, die den Efeu als nachteilig
bezeichnen. Gerade die Efeublätter legen sich schuppen- beziehungsweise
dachziegelartig dergestalt übereinander, daß Regen und Schnee ohne
weiteres an das Bauwerk überhaupt nicht gelangen können. Erreicht die
Feuchtigkeit aber trotzdem das Mauerwerk, so wird sie vom Efeu sehr
bald wieder herausgezogen. – Wer besonders vorsichtig sein will, kann
bei vorhandenen, älteren, gut ausgetrockneten Bauwerken die Nord- und
Ostseite nur mit solchen Pflanzen beranken, die eine weniger dichte
Hülle darstellen; die West- und Südseite dagegen kann bedingungslos
eine dichte Berankung, unmittelbar am Erdboden beginnend, erhalten.
Bei neuen Gebäuden empfiehlt es sich, zunächst eine Berankung der
Süd- und Westfront vorzunehmen. Erst später, d. h. nach gründlicher
Austrocknung, kann man die nördliche und östliche Seite beranken,
und zwar in der Weise, daß die Belaubung etwa vierzig bis sechzig
Zentimeter über dem Erdreich beginnt, damit die Sonne und die Luft
ungehinderten Zutritt zu den Fundamenten des Gebäudes erhalten.

Zu den bei uns am meisten in Betracht kommenden Rankengewächsen gehört
Efeu, wilder Wein, Glyzina, Waldrebe (Klematis), Ampelopsis-Veitchi,
Ampelopsis-Engelmanni, Pfeifenkraut (Aristolochia), rankende Rosen,
Rosen von Jericho (Lunicera) und Hopfen.

Der Wanduntergrund, d. h. also der Putz beziehungsweise die Fugen
müssen recht widerstandsfähig sein, damit den Wurzeln nicht die
Möglichkeit zum Eindringen gegeben wird. Als Wandputz eignen sich feste
Putzmassen mit Quarz- oder Porphyrzusatz, hellfarbiger Edelsteinputz
wie Terrasit und dergleichen. Efeu bevorzugt übrigens den Kalk als
Nährboden, was ja bei seiner Abstammung aus der immergrünen Zone des
Mittelmeergebietes leicht verständlich erscheint.

Neben Efeu und wildem Wein verdient der Selbstklimmer
Ampelopsis-Veitchi insofern besondere Beachtung, als sich bei diesem
niemals abstehende Zweige entwickeln, vielmehr greifen dieselben
mitsamt den Blättern immer dachziegelartig übereinander und beschützen
somit das Gebäude gegen die Unbilden der Witterung. Die Blätter fallen
allerdings im Herbst ab, so daß die Wände nur mit dem Gerüst der jungen
Triebe bedeckt sind.

Efeu gedeiht an der nördlichen Hauswand vortrefflich und stellt
auch an die Bodenbeschaffenheit keine besonderen Ansprüche. Bei
den alten Lehmhäusern kann man oft beobachten, wie gerade der Efeu
den Gebäudewänden und dem Dache einen Schutz und dem Ganzen ein
freundliches, heimisches Aussehen verleiht. Efeu bietet nicht nur
dem Wind und Wetter einen bedeutenden Widerstand, sondern auch der
Wärme und Kälte und sorgt somit für eine genügende Trockenhaltung
der Wände. Dadurch, daß die Efeublätter von der Sonne stark erwärmt
werden und diese von den Blättern aufgesaugte Wärme nach oben steigt,
sich also auch den Wänden mitteilt, werden letztere trocken und warm
gehalten. Wenn eine hell gestrichene oder geputzte Wand im Sommer die
Wärme zurückwirft, im Winter aber die Kälte und Feuchtigkeit an sich
zieht, so tritt auch hier wieder der Efeu vermittelnd ein, indem er
einen wohltätigen Einfluß auf die Mauern ausübt, damit diese nicht
dem vorzeitigen Verfalle anheimfallen. Die im Erdreich befindliche
Feuchtigkeit, die sich unter gewöhnlichen Umständen den Fundamentmauern
mitteilen würde, saugt der Efeu, der zu seiner Entwicklung selbst viel
Wasser benötigt, auf.

Wenn nun hier für die Berankung der Gebäudewandflächen eingetreten
wird, so soll damit nicht gesagt sein, daß dies für jedes Haus ohne
Ausnahme geschehen soll. Ein altes Sprichwort sagt: »Allzuviel
ist ungesund.« So auch hier. Bei weniger schönen Bauwerken ist die
Berankung deshalb sehr am Platze, weil die häßlichen Bauteile auf
diese Weise den Blicken entzogen werden, wodurch das Bauwerk an
Ansehen gewinnt. Dagegen wäre die Berankung schöner Architekturteile,
wie Ornamente, Pfeiler, Jahreszahlen, Schriften und dergleichen eine
ganz verfehlte Maßnahme, von der unbedingt abzuraten ist. – Für die
Berankung kommen nicht nur Wohnhäuser in Betracht, sondern auch die
kahlen Wandflächen von Scheunen, Schuppen, Fabrikgebäuden und Ställen
können auf diese Weise eine ganz bedeutende Verschönerung erfahren.

Natürlich bringt die Gebäudeberankung auch Nachteile mit sich, die
nicht verschwiegen werden dürfen. So kommt es nicht selten vor, daß
sich in dem dichten Gestrüpp und Blätterwerk das Ungeziefer, wie
Fliegen, Mücken, Spinnen, Mäuse, Spatzen und dergleichen einnistet, was
mitunter für die Bewohner insofern eine üble Plage bedeutet, als diese
Tiere sehr leicht in die Wohn- und Vorratsräume eindringen können.
Durch sachgemäße Vorkehrungen lassen sich indes derartige Übelstände
wirksam verhüten beziehungsweise vermindern.

Eine andere Verschönerung der Gebäudeflächen, mit der gleichzeitig ein
guter Nutzen verbunden ist, läßt sich durch Anlage von Spalierobst
erzielen. Als Spalierbäume kommen Apfel-, Birnen-, Pfirsich- und
Aprikosenbäume in Betracht. Die Früchte der Spalierobstbäume sind
schöner und schmackhafter als diejenigen der freistehenden Bäume.
Seitdem man allgemein die hohe volkswirtschaftliche Bedeutung des
Spalierobstbaues erkannte, hat derselbe in den letzten Jahren
eine gewaltige Erweiterung erfahren. Es ist festgestellt, das ein
Quadratmeter Spalierobst jährlich eine ansehnliche Summe Nutzen
abwirft. Die Befürchtung, daß die Wurzeln der Spalierbäume schädlich
für das Fundamentmauerwerk sind, ist deshalb grundlos, weil sich
dieselben nicht nach den Fundamenten zu, sondern in entgegengesetzter
Richtung entwickeln. Deshalb können auch gutgepflegte Hausspaliere
weder dem Bauwerk noch den Bewohnern irgendwelchen Schaden zufügen.
Da nun bei der Besprengung der Bäume das Wasser in die Mauer
eindringt, so empfiehlt es sich, letztere besonders zu schützen, was
unterhalb des Erdreiches durch Bestreichen mit Gudron und oberhalb
mittels hellfarbigen Pixols oder dergleichen erfolgen kann. – Die
Spaliergestelle bestehen aus tunlichst senkrecht angeordneten,
gehobelten und gefasten Latten, deren Entfernung untereinander etwa
dreißig Zentimeter beträgt. Das ganze Gestell soll man möglichst
abnehmbar einrichten und so anbringen, daß es etwa zehn Zentimeter von
der Wand entfernt ist. Die Anordnung von wagerechten Spalierlatten
ist nach Möglichkeit einzuschränken, weil auf deren oberer Fläche die
herabfallenden Blätter liegenbleiben und bei dem Hinzutreten von Regen
sich feuchte Stellen bilden, welch letztere immerhin schädlich auf das
Bauwerk einwirken können.

            (Aus dem Zentralblatt für das Deutsche Baugewerbe.)



Zur Geschichte des Heimatschutzes

Von _Carl Berger_


Es dürfte die Leser dieser Zeitschrift interessieren, daß die
Heimatschutzbewegung sich schon eines beträchtlichen Alters erfreut.
Erhaltene Dokumente aus dem vierten und fünften Jahrhundert nach
Christo geben uns davon Kunde. Die Kaiser Spätroms nahmen sich der in
Verfall begriffenen Prachtbauten des antiken Roms in rühmenster Weise
an und suchten dem Verfall derselben Einhalt zu gebieten und wenn der
Erfolg auch nicht ihren Wünschen entsprach, so ist dies wesentlich
darauf zurückzuführen, daß die entstehende kirchliche Macht in Rom die
in Verfall begriffenen Tempel und Bauten der Vorfahren als billiges
und bequemes Baumaterial zur Erbauung von Basiliken für den neuen
Staatsglauben verwandte. Der unten wiedergegebene Erlaß des Kaisers
Majorianus 458 nach Christo mag dem Leser ein Bild geben über die
Heimatschutzbestrebungen der damaligen Zeit.

    »Wir, Regierer der Staaten, wollen dem Unwesen ein Ende machen,
    welches schon lange unsere Abscheu erregt, da ihm gestattet
    wird, das Antlitz der ehrwürdigen Stadt zu entstellen. Wir
    wissen, daß hie und da öffentliche Gebäude mit sträflicher
    Gewähr der Obrigkeit zerstört werden. Während man vorgibt, daß
    ihre Steine für öffentliche Werke nötig seien, wirft man die
    herrlichen Gefüge der alten Gebäude auseinander und zerstört
    das Große, um irgendwo Kleines herzustellen. Daraus erwächst
    schon der Mißbrauch, daß selbst, wer ein Privathaus baut,
    sich unterfängt, mit Gunst der städtischen Richter das nötige
    Material von öffentlichen Orten zu nehmen und fortzutragen,
    da doch, was den Städten zum Glanze gereicht, vielmehr von
    der Liebe der Bürger sollte durch Wiederherstellung erhalten
    werden. Deshalb befehlen wir durch ein allgemeines Gesetz,
    daß alle Gebäude, welche von den Alten zum öffentlichen
    Nutzen und Schmuck errichtet worden sind, seien es Tempel
    oder andere Monumente, von niemandem dürfen zerstört noch
    angetastet werden. Welcher Richter dies zuläßt, soll um fünfzig
    Pfund Goldes gestraft werden; welcher Gerichtsdiener und
    Numerarius seinen Befehlen gehorsamt und ihm nicht Widerstand
    leistet, dem sollen nach erlittener Peitschung auch die Hände
    abgehauen werden, weil sie die Denkmäler der Alten, statt sie
    zu schützen, verunglimpft haben. Aus den Orten, die etwas
    durch ungültige Erschleichung an sich gebracht haben, darf man
    nichts veräußern, sondern wir gebieten, daß alles wieder dem
    Staate zurückgegeben werde; wir ordnen die Wiederherstellung
    des Entfremdeten an und heben für die Folgezeit die licentia
    competendi auf. Sollte aber irgend etwas entweder wegen des
    Baues eines öffentlichen Werkes, oder wegen des verzweifelten
    Gebrauches der Reparation abzutragen nötig sein, so soll der
    erlauchte und ehrwürdige Senat davon gehörig Kenntnis nehmen,
    damit, wenn er solches nach reiflicher Erwägung für nötig
    befunden hat, dieser Fall unsrer gnädigen Einsicht vorgelegt
    werde. Denn was auf keine Weise wiederhergestellt werden kann,
    soll wenigstens zum Schmuck irgendeines andern öffentlichen
    Gebäudes verwendet werden.«

F. Gregorovius zur Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Bd. 1,
S. 218. Leg. Novell. Liber. Am Ende des Cod. Theod. Tit. VI, 1, ~De
aedil. publ.~ Das Edikt ist datiert VI Idus Jul. Ravennae unter dem
Konsulat der Kaiser Leo und Majorianus anno 458 und gerichtet an den
Präfect. Prät. Aemilianus.

Schon frühere Kaiser hatten ähnliche Edikte erlassen müssen; so Valens
und Valentinio anno 376, Theodosius, Honorius und Arcadius.



Zur Einschmelzungsfrage alter Kirchenglocken

Von _C. Pfau_


Nach der verhängnisvollen Beschlagnahme von Kirchenglocken während
des unseligen Weltkrieges ist unsern Kirchfahrten in der Regel je
nur eine Glocke verblieben. Das Geläut war unvollständig geworden
und mußte oder muß ergänzt, unter Umständen auch ganz neu geschaffen
werden. Bei den einschlägigen Vornahmen wird nicht selten vonseiten
der Kirchenvorstände bei der vorgesetzten Behörde um die Erlaubnis
eingekommen, die letzte noch vorhandene Glocke veräußern, einschmelzen
zu dürfen, um einen Beitrag zu den Kosten für ein völlig neues Geläute
zu erhalten. Man strebt also in diesem Fall nicht die Wiederherstellung
des alten Geläutes an, will der Kirche vielmehr eine durchaus neue
Glockensprache geben, die nicht mehr an das frühere Geläute erinnert;
die Tonfrage soll die letzte überkommene Glocke dem Untergang weihen.

Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß nicht jedes alte Geläute
hervorragend schön war; mitunter verfügte eine Glocke sogar über einen
ziemlich blechernen, töpfernen Klang oder gellte sonst mißtönig. Dieser
Übelstand war aber schon bei der Beschlagnahme durchgängig tunlichst
berücksichtigt worden, denn man hat die Glocken nach sorgfältiger
Auswahl eingezogen, die mit sehr störenden Klangfehlern in erster
Linie, weshalb in unsern Gotteshäusern jetzt wohl schwerlich noch eine
vorhanden ist, deren Ton von der Allgemeinheit unangenehm empfunden
wird. Nur der sachkundige Musikverständige mit seinem geschulten,
feinfühligen Ohr findet auf Grund eingehender Untersuchung an so
mancher Kirchenglocke hinsichtlich ihres Tones noch einen geringen
Mangel, den bisher, vielleicht schon seit vielen Jahrhunderten kaum
jemand in der Gemeinde herausgefühlt hat. Es fragt sich deshalb, ob in
einem solchen Fall das Prüfungsergebnis des Tonkünstlers einen durchaus
zwingenden Grund enthält, die Glocke aus der Kirche zu entfernen.

Die Heimatsglocken sind von Dichtern viel besungen worden und werden
auch künftig so gefeiert werden. In fast allen unsern Kirchen, zumal
auf den Dörfern, stellen diese ehernen Werke mit die ehrwürdigsten
Denkmäler der Vergangenheit dar, denn manche besitzen ein Alter bis
etwa 600 Jahre, und wenn auch andere um Jahrhunderte jünger sind, so
überliefern sie doch durch ihre Aufschriften, Wappen und dergleichen
getreulich ein Stück Ortsgeschichte, Heimatkunde; ihr Ton gehört der
Heimat eigentümlich. Sie haben den jetzigen Angehörigen der Kirchfahrt
und ihren Vorfahren seit langen Zeiten geklungen bei der Taufe, der
Konfirmation, der Trauung, der Bestattung, sie haben zum Gottesdienst,
zum Abendmahl gerufen, sie haben ihre Stimme über die stillen Fluren
in allerlei Not und Gefahr erklingen lassen. Der Eingeborene der
Heimat ist vertraut mit der metallnen Sprache seiner Glocke, die er
liebt, die ihm in der Fremde nachklingt. Darum muß es auch als eine
ernste ethische Pflicht des Heimatschutzes, wenn dieser nicht nur auf
dem Papier stehen will, erscheinen, die Glocke tunlichst zu erhalten;
eine vernichtete Heimatglocke bedeutet den Verlust eines alten
Heimatszeugnisses, das in seiner echten Art nie wieder zu ersetzen
ist, und wenn die Gefahr der Einschmelzung droht, so sollte sich jeder
Ortseingesessene des hohen Werts seiner Glocke recht bewußt sein und
danach handeln, so daß sie möglichst erhalten bleibt. Die Genehmigung
zur Einschmelzung wird behördlicherseits nur bei Stücken von besonders
hohem wissenschaftlichen oder künstlerischem Wert verweigert; damit
soll aber nicht gesagt sein, daß man den heimatkundlichen Wert völlig
unbeachtet lassen müsse. Eine fernerhin erhaltene alte Glocke wird
unsern Nachkommen gewissermaßen mit zu einem Denkmal auf die Drangsale
des verflossenen Kriegs, denen sie unter ihren Schwestern allein
glücklich entronnen ist.

Ein unbedeutender Tonfehler, den ihr ein gewiegter Musiker schuld
gibt, kann schwerlich allein ausschlaggebend für den Untergang des
Werkes werden. Man muß auch ihre Vorzüge berücksichtigen. Wollte der
Tonkünstler in dieser Angelegenheit ausschließlich auf die Entfernung
der Glocke dringen und mit seinem Urteil einflußreiche Personen,
die über das Schicksal des fraglichen Stückes zu bestimmen haben,
bestechen, so ließe sich mit Fug und Recht entgegenhalten, daß ein
solches Gebaren in Kirchenangelegenheiten zu merkwürdigen Folgen
führen dürfte. Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. In
und an unsern Kirchen gibt es unendlich viel, an dem der Architekt,
der Raumkünstler, der Kunsthandwerker Fehler, mitunter sehr starke,
findet; diese Herren müßten dann auch verlangen können, daß alles dies
nicht Mangelfreie weggebracht und ersetzt werden möchte, falls eine
Glocke aus dem angegebenen geringfügigen Grund für immer verschwinden
muß. Schwerlich wird sich aber jemals eine Gemeinde bereit finden,
all derartigen Wünschen und Ansuchen nachzukommen; man nimmt im
Gegenteil nur zu oft wahr, daß noch heutzutage bei sogenannten
Kirchenrestaurationen so manches in die Kirche gebracht wird, was gar
nicht zu ihrer Stimmung paßt, z. B. gewisse Fußbodenfliesen einer Art,
die eher in den Durchgang eines Bahnhofes oder in ein Waschhaus gehören.

Es wäre nur zu wünschen, daß man die alte, letzterhaltene Glocke
wieder dem neuen Geläut tunlichst einfügte; die zwei neuen Glocken
ließen sich im Ton wohl meist der überlieferten so anpassen, daß für
die allgemeine Gemeinde ein befriedigender Gesamtklang erzielt würde.
Wird dieser Weg beschritten, so können künftige Geschlechter unsrer
Zeit wenigstens nicht den Vorwurf einer Glockenstürmerei machen, da
man schon hinsichtlich der Reformation nur zu oft die Bilderstürmerei
tadelt. Wir möchten nicht dazu beitragen, die wenigen uns überlieferten
kirchlichen Altertümer, die Werke unsrer Altvordern, ohne dringendste
Not noch zu vermindern. Hat die Schöpfung eines alten Meisters einen
kleinen Fehler, so kann dies noch kein Anlaß sein, sie ohne weiteres zu
beseitigen. Der Mangel gehört mit zur Eigenart; daß ehrwürdige Glocken
nicht immer genau im Ton getroffen sind, bildet eine Sonderheit in der
Geschichte der Glockenkunde, die wir auch für die Zukunft an erhaltenen
Werken nachweisen und belegen können müssen. Wollte man nur ganz
einwandfreie Glocken bewahren, so könnte man später meinen, die alten
Gießer hätten überhaupt keinen Fehler begangen. Hat eine Glocke zur
Zufriedenheit der Kirchfahrt trotz eines nunmehr entdeckten Mängelchens
schon jahrhundertelang ihren Dienst verrichtet, so kann sie auch
weiterhin ihre Stimme erschallen lassen.


Für die Schriftleitung des Textes verantwortlich: Werner Schmidt –
Druck: Lehmannsche Buchdruckerei

Klischees von Römmler & Jonas, sämtlich in Dresden.



Helft alle dazu!


Durch schwere Verluste sind wir arm geworden. Ein kostbares Gut ist uns
geblieben:

        die Heimat.

Ihr Wert ruht in der =Ursprünglichkeit der Natur=. Sie ist die Mutter,
die uns nährt und trägt. =Wer diese beraubt, vernichtet ein wertvolles
Stück »deutscher Heimaterde«.= Darum wollen wir =uns und unsere Kinder
dazu erziehen=, daß wir =Scham empfinden bei jeder Schmälerung der
Naturwerte=. Dann werden alle die Zeichen menschlicher Unreife, als

        _gedankenloses Ausgraben von Pflanzen,
        rücksichtsloses Abreißen von Zweigen,
        naturschänderische Riesensträuße,
        selbstanklagendes Stören des Naturfriedens_

von selbst verschwinden.


Landesverein Sächsischer Heimatschutz

Geschäftsstelle: Dresden-A., Schießgasse 24



»Volkskundliche Bude«

des

Landesvereins Sächsisch. Heimatschutz

Dresdner Vogelwiese

Ecke Straße 6 und Straße 7 am Barthelschen Hippodrom


Glücksradverlosung kunstgewerblicher und volkskundlicher Gewinne aus
der Verkaufsstelle Sächsischer Volks- und Kleinkunst des Landesvereins
Sächsischer Heimatschutz


Wir bitten um regen Zuspruch, der Reingewinn hilfst uns im schweren
Kampfe ums Dasein unseres Vereins


Landesverein Sächsischer Heimatschutz

Dresden-A., Schießgasse 24


Lehmannsche Buchdruckerei, Dresden-A.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

    Die Jahreszahlen der Postmeilensäulen S. 91 ff wurden zur
    besseren Lesbarkeit in eckige Klammern eingeschlossen.



*** End of this LibraryBlog Digital Book "Landesverein Sächsischer Heimatschutz — Mitteilungen Band XI, Heft 4-6: Monatsschrift für Heimatschutz und Denkmalpflege" ***

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