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Title: Das Buch vom eisernen Kanzler: Eine Erzählung für Deutschlands Jugend
Author: Ohorn, Anton
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Das Buch vom eisernen Kanzler: Eine Erzählung für Deutschlands Jugend" ***
KANZLER ***



    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
    ~so markiert~.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.

[Illustration: Cover]

[Illustration: ~Eis. Kanzler I.~

In Göttingen.]



    Das Buch
    vom eisernen Kanzler

    Eine Erzählung für Deutschlands Jugend

    von

    Anton Ohorn

    Mit Illustrationen in Farbendruck von _Max Wulff_

    [Illustration]

    Meidinger’s Jugendschriften Verlag G. m. b. H.
    Berlin W 66



Inhalt.


                                                   Seite

    Erstes Kapitel. Sorglose Jugend                    5

    Zweites Kapitel. Berliner Lernjahre               17

    Drittes Kapitel. ~Gaudeamus igitur~               30

    Viertes Kapitel. Am eigenen Herde                 46

    Fünftes Kapitel. In gärender Zeit                 63

    Sechstes Kapitel. Der Bundestagsgesandte          80

    Siebentes Kapitel. An der Newa und der Seine      99

    Achtes Kapitel. Der bestgehaßte Mann             117

    Neuntes Kapitel. Im böhmischen Feldzuge          131

    Zehntes Kapitel. Mit Blut und Eisen              146

    Elftes Kapitel. Des neuen Reiches Kanzler        193

    Zwölftes Kapitel. In Ehren und Schmerzen         210

    Dreizehntes Kapitel. Im Abendrot                 228

[Illustration]



[Illustration]



Erstes Kapitel.

Sorglose Jugend.


Ein lachender Sommertag! Weiße Wölkchen schwimmen langsam über den
blauen Grund des Himmels und spiegeln sich in dem glitzernden Teiche.
Leise rauscht das Röhricht an dessen Ufersaum, und in den Kronen
der alten Bäume ringsumher im Park flüstert es wie von Geschichten
vergangener Tage. Und die stattlichen Rüstern und Linden wissen wohl
viel zu erzählen von lustigen Festen und von ernster Zeit, zumal
erst sechs bis sieben Jahre entschwunden sind seit den glorreichen
Befreiungskriegen und der mutigen Erhebung des ganzen deutschen Volkes,
die ihre Wellen auch ins Pommernland und an die Mauern des freundlichen
Herrensitzes _Kniephof_, der sich zurzeit im Besitze des Herrn
_Ferdinand von Bismarck_ befand, getragen hatte.

Heute ist Friede im Lande, und die alten Wunden fangen langsam zu
vernarben an.

Zwischen den grünen Bäumen sieht das Schlößchen hervor, schlicht,
mit Holzfachwerk, aber traulich und behaglich. Aus dem Eingang tritt
ein Knabe, fünfjährig, schlank, mit blondem, leicht gelocktem Haar,
und schaut mit hellen, blauen Augen in die Welt. In dem frischen
Gesichte ist Lebenslust und Tatendrang zu lesen. Er sieht hinauf nach
dem heiteren Himmel, hinüber nach den grünen Bäumen des Parks, steckt
die Hände in die Taschen und steht nun breitbeinig da, offenbar in
der Überlegung, woran er im Augenblicke seine junge Kraft am besten
erproben könne.

Da kam ein Knecht.

»Jochem, wohin?« rief der Kleine.

»Der Fuchs muß ein neues Eisen haben!« sagte der Angeredete in
behaglichem Platt.

»Da geh’ ich mit!« jauchzte das Bürschlein, offenbar erfreut über
den Fingerzeig des Schicksals, und nun trabte er lustig neben dem
Manne her nach dem Wirtschaftshofe und in den Stall. Der Fuchs wurde
herausgeholt. »Jochem, setz mich drauf!« gebot der Kleine, und der
Knecht hob ihn auf den breiten Rücken des Tieres, über welchen die
kurzen Beinchen des Reiters kaum wegreichten. Daß der Mann das Pferd am
Halfter führte, duldete das Bürschchen nicht, er mußte es frei gehen
lassen, und der Kleine hielt sich an der Mähne und suchte nun durch
Zuruf den Ackergaul zu einem rascheren Tritt zu bringen, was ihm aber
nicht gelang.

Beim Schmied hob ihn der Knecht wieder ab, und nun stellte er sich so,
daß er die glühende Esse und den Amboß sah. Die jungen Augen blitzten
vor Lust, wenn unter den Hammerschlägen des Meisters die Funken
sprühten, und am liebsten hätte er selbst zu dem verrußten Werkzeug
gegriffen und mitgeholfen, denn er ahmte unwillkürlich die Bewegungen
des Schmiedes nach. Aber nicht lange hielt er aus, dann schlenderte
er, die Hände in den Taschen, weiter, hinaus ins Freie. Die Wiesen,
reif zum Gemähtwerden, standen voll saftigen Grases und im bunten
Blütenschmuck. An ihnen hinstreifend, pflückte er Blumen, und dazu sang
er ein Kinderlied.

Die Zampel fließt durch das grüne Gelände; Erlen und Weiden neigen sich
schattend über das klare Wasser, und zwischen ihnen ragen stattliche
Ulmen. Dorthin lenkte der Knabe seine Schritte, brach sich einen Zweig
aus dem Gebüsch, streifte die Blätter ab und köpfte nun die fetten,
roten Disteln, die so protzig über den Wiesengrund emporragten. Während
dieser Beschäftigung sah er einen Reiter auf einem Feldwege kommen.
Hastig lief er ihm entgegen und schrie schon von weitem jauchzend:
»Papa, Papa!«

Der Angerufene hielt sein Pferd an. Es war ein stattlicher Herr mit
einem gutmütigen Gesicht, aus dem die Freude lachte über den munteren,
frischen Jungen.

»Was machst denn du hier, _Otto_?« fragte er.

»O nichts, Papa, ich gehe spazieren und schlage dabei den Disteln die
dicken Köpfe herunter! Darf ich mit dir?«

Der Reiter beugte sich herab und hob den kleinen Burschen empor,
welchen er vor sich hinsetzte, und der nun ohne weiteres die Zügel
nahm. Der Braune schien ähnliches gewohnt zu sein, er schritt munter
aus und langte bald bei dem Herrenhause an. Ein Knecht nahm das Tier in
Empfang und hob den Kleinen aus dem Sattel, und dann ging dieser an der
Hand des Vaters in das Herrenhaus.

»Nun, Otto,« sagte dieser, »nächste Woche kommt Bernd (Bernhard) aus
Berlin!«

»Ach, das wird hübsch!« jauchzte der Bursche, »weiß das Mama schon und
Lotte Schmeling?«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte er in das Haus und in das
Gemach, in welchem er seine Mutter vermutete. Eine hochgewachsene,
schöne Dame mit klaren, freundlichen Augen trat ihm entgegen.

»Wo steckst du denn, Otto, und so erhitzt?« sagte sie mit gütigem
Vorwurf und strich mit der weißen Hand über die feuchten, zerzausten
Locken ihres Lieblings.

»Ach, ich komme mit Papa und bin auf dem Braunen geritten – und nächste
Woche kommt Bernd. Da wird’s lustig! Er erzählt immer so hübsch von
Berlin. Darf ich auch nach Berlin, Mama?«

»Ja, ja, mein Junge!«

Er küßte die Hand der Mutter und war hinaus, noch ehe der Vater
eintrat. Er eilte nach der Küche, wo »Lotte Schmeling« regierte.

»Ach Lotte, gib mir zu essen, ich habe Hunger – und weißt du – nächste
Woche kommt Bernd!«

Viel Zeit gönnte er sich zur Stillung seines Hungers nicht, denn bald
darauf war er wieder im Parke. Einen Teil seines Frühstücks trug er
noch in der Hand, und die kleinen Taschen hatte ihm Lotte Schmeling
vollgestopft mit Speiseresten, denn er wollte die Karpfen füttern.
Aber im Parke hielt ihn manches auf. Wenn er einen Vogel locken hörte,
blieb er stehen, weil er wissen mußte, wen er vor sich habe; wo ihm ein
Nestchen in den Büschen bekannt war, sah er vorsichtig nach, ob noch
alles in demselben und um dasselbe in Ordnung sei; wo ein Eichkätzchen
an einem Stamme hinhuschte, mußte er seinen Weg verfolgen und sich an
seinem possierlichen Wesen ergötzen.

Endlich stand er an dem Karpfenteiche und trat auf das kleine Podium
hinaus, um seine Gaben zu spenden. Schon nach dem ersten Wurfe der
kleinen Hand tauchten die silbergrau schimmernden Rücken auf und kamen
heran, und gierig schnappten die großen, runden Mäuler. Otto jauchzte,
wenn sie um einen besonders großen Bissen sich drängten und balgten
und ihn einander zu entreißen suchten, und er warf seine Gaben bald
rechts, bald links, um auch den minder Zudringlichen und weniger
Starken etwas zukommen zu lassen. Ganz im Hintergrunde, nach der Mitte
zu, waren einige kleinere Fische, die bei jedem Wurfe schnappten,
aber nicht herankommen konnten. Auch sie sollten ihr Teil erhalten.
Der Knabe füllte die ganze Hand dicht mit Brocken und holte nun mit
ganzer Kraft zum Wurfe aus. Dabei aber hatte er sich wohl etwas zu
weit vorgebeugt, er verlor das Gleichgewicht; klatschend schlug er
ins Wasser, so daß die Fische erschreckt auseinanderstoben, und nun
arbeitete und strampelte der kleine Bursche mit Armen und Beinen in
einer nicht ungefährlichen Lage, denn der Teich war ziemlich tief. Er
faßte nach dem Schilfe und suchte sich daran festzuhalten, aber das
schwanke Rohr bot keine Stütze. Doch war es ihm geglückt, näher an das
Podium heranzukommen; mit aller Anstrengung und durch eine unbewußt
günstige Bewegung unterstützt, konnte er es ergreifen, beide Hände
faßten rasch und sicher zu – und gleich darauf hatte sich der kleine
Mann glücklich herausgearbeitet.

Er sah ganz verdutzt zuerst nach dem Teiche und dann an sich selbst
hinab. Seine Beine waren schlammbedeckt, und Schilf hing an den
durchnäßten Kleidern. Er schüttelte sich einmal kräftig, dann trabte er
fort nach dem Herrenhause.

Er wollte zu Lotte Schmeling, seiner Vertrauten, flüchten, kam aber
gerade der entsetzten Mama in den Weg.

»Was ist passiert, Otto?« schrie sie erschrocken auf, als sie den
Kleinen sah, aus dessen Haaren das Naß niederrieselte auf das triefende
Gewand.

»O nichts, Mama – ich bin nur, wie ich die Karpfen füttern wollte, ein
bißchen in den Teich gefallen. Es tut nichts – bloß entsetzlich kalt
ist’s!«

Die Zähnchen schlugen ihm jetzt im Frost zusammen, und unter Beihilfe
von Lotte Schmeling wurde er rasch zu Bette gebracht und mußte heißen
Tee trinken.

Am Abend fühlte er sich wieder völlig munter. Der Vater hatte bei ihm
gesessen und mit ihm geplaudert: er hatte ihm gesagt, daß er schwimmen
lernen müsse, wie die Karpfen im Teiche, und zwar, sobald er wieder aus
dem Bette sein werde, und das hatte ihm viel Vergnügen gemacht. Dann aß
er sein gewohntes Abendsüppchen, und endlich, beim Dunkelwerden, kam
Mama noch einmal.

»Siehst du, Otto, wie gut es der liebe Gott meint mit kleinen, dummen
Jungen? Überall schickt er einen Engel mit ihnen, der ihnen hilft, wenn
sie in Not sind. Du wärst im Karpfenteich ertrunken, wenn er nicht
bei dir gewesen wäre und dich herübergezogen hätte, so daß du das
Podium fassen konntest. Dafür mußt du dem lieben Gott heute auch ganz
besonders danken!«

So sagte die schöne, freundliche Frau, und der Knabe faltete die
Händchen und sprach sein Abendgebet mit besonderer Herzlichkeit.

»Amen!« sagte die Mutter bewegt, als er damit zu Ende war, dann küßte
sie ihren Liebling, deckte ihn sorgsam zu und ging. –

Der Unfall hatte für Otto keine weiteren unangenehmen Folgen, und in
gewohnter vergnüglicher Weise lebte er seine Tage weiter. Als nach
einiger Zeit Bernd (Bernhard), der um fünf Jahre ältere Bruder, aus
Berlin ankam, erzählte er ihm beinahe mit einem gewissen Selbstgefühl
sein Abenteuer, vergaß dabei aber nicht, auch des Schutzengels
Erwähnung zu tun.

_Bernhard_ war ein frischer, schlanker Junge, dem es besonderes
Vergnügen machte, nach dem Berliner Aufenthalte frei durch Feld
und Wald zu schweifen, und Otto war sein beinahe unzertrennlicher
Begleiter. Die Erzählungen des Älteren von der Haupt- und Residenzstadt
Preußens und ihren Herrlichkeiten, von den militärischen Schauspielen,
von dem König und seinem Hofe verfehlten nicht, die Phantasie des
Jüngeren zu erregen und in ihm eine Sehnsucht nach diesen Wunderdingen
zu wecken. Dann setzte Bernhard der Begierde des Bruders wohl einen
kleinen Dämpfer auf, indem er ihm erzählte, wie es in der Plamannschen
Anstalt, in welcher er untergebracht war, zuging.

»Das ist nicht so wie bei Muttern. Und da kannst du nicht den ganzen
Tag im Parke herumschlendern und Karpfen füttern, und kannst auch
nicht, wenn dich hungert, zu Lotte Schmeling laufen. Da heißt’s
jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen. Dann gibt’s Milch und Brot als
Frühstück, und von sieben Uhr an mußt du drei Stunden lang auf der
Schulbank sitzen, dafür erhältst du um zehn Uhr ein Salzbrot, das du
im Sommer mit einem Apfel oder einer Birne dir schmackhafter machen
kannst, und nach einer halben Stunde geht’s wieder in die Schulstube.
Mittags um zwölf Uhr wird gemeinsam in einem großen Saale gegessen,
und da fragt dich niemand, ob dir’s schmeckt oder nicht. Wenn du dein
Schüsselchen nicht ausessen kannst, mußt du mit demselben so lange im
Garten stehen, bis du es geleert hast. Dann wieder von zwei bis vier
Uhr Unterricht, zum Vesper ein Salzbrot und nun nochmals bis sieben Uhr
auf die Schulbänke. Du, da ist man froh, wenn’s Abend geworden, und man
sein Warmbier oder Butterbrot erhält. Nur das Turnen und Fechten, das
ist hübsch! Ja, mein lieber Otto, auf Kniephof oder Schönhausen ist’s
schon schöner!«

Der Kleine hat bei solchen Schilderungen die Hände in die Taschen
gesteckt, bleibt breitbeinig vor dem Bruder stehen und sagt dann ruhig
und beinahe überlegen:

»Weißt du, Bernd, wenn _du_ es ausgehalten hast, kann ich’s auch!«

Kurze Zeit darauf gab der Vater Ottos, Herr _Ferdinand von Bismarck_,
ein kleines Fest, wie es der an der Geselligkeit sich freuende Mann ab
und zu liebte. Offiziere aus dem nahen Naugard und anderen Garnisonen
hatten sich eingefunden, und die Gastlichkeit des von Bismarckschen
Hauses, in welchem an des heiteren, lebensfrohen Gatten Seite eine
ungemein liebenswürdige und in jeder Weise feine und edle Hausfrau
waltete, kam in aller Herzlichkeit zur Geltung.

Bei der Mittagstafel herrschte ein lebhafter, munterer Ton, und der
Wein löste die Zungen noch mehr. Bernhard und Otto saßen an einem
Seitentischchen, und der letztere besonders ließ sich wenig von dem
Gespräch entgehen, zumal dasselbe bald genug auf ein Gebiet kam, das
noch immer alle Gemüter lebhaft bewegte! Die Zeit der Schmach und der
Erhebung Preußens und Deutschlands. Die Männer an dem Tische und in
den Uniformen hatten fast alle ihren Teil an jenen Tagen und jenen
Begebenheiten, und mancher wies ein blinkendes Ehrenzeichen, mancher
auch eine ehrenvolle Wundennarbe auf.

»Sie haben die Befreiungskriege nicht mitgemacht, Herr von Bismarck?«
fragte einer der jüngeren Offiziere.

»Im eigentlichen Sinne, als Streiter des Heeres, nicht. Ich habe den
Soldatenrock schon früh ablegen müssen, der Familienverhältnisse
halber. O, ich bin sehr jung schon Soldat gewesen, habe als Knabe schon
im Rathenower Leibkarabinierregiment gedient und stramm meinen Dienst
geübt. Jeden Morgen Schlag 4 Uhr war ich da und habe den Reitern den
Hafer zumessen lassen. Bei Kaiserslautern hab’ ich unter dem Herzog von
Braunschweig mitgefochten, aber es war keine Ehre zu holen. Darum hab’
ich als Rittmeister meinen Abschied genommen.«

»Haben Sie auf Ihrem Gute viel von den Franzosen zu leiden gehabt?«
fragte einer der Gäste.

»Wir sind damals, als Preußen zusammenbrach, nicht auf Kniephof,
sondern auf Schönhausen gewesen. 1815 am 1. April ist uns der kleine
Schlingel, der Otto, geboren worden – mit dem wir hoffentlich nicht
in den April geschickt werden, – aber es war eine trübe Zeit gewesen
für das Vaterland. Ob wir sie mitempfunden haben, meine Herren? – Na,
Minchen« – er wandte sich zu seiner Frau – »ich denke, wir vergessen’s
all unsere Lebenstage nicht! Zwei Tage nach der Unglücksschlacht von
Jena und Auerstädt, an einem rauhen Oktobertage des Jahres 1806, kam
die liebe, gute Königin Luise, flüchtig und geängstigt, und blieb im
Schlosse Tangermünde, Schönhausen gegenüber am linken Elbufer, über
Nacht, dann floh sie weiter gegen Ostpreußen, und hinter ihr drein
zogen die französischen Scharen und die preußische Schande. – Wenige
Tage später saß im Tangermünder Schlosse der Marschall Soult, und
seine zügellosen Banden tauchten in der ganzen Gegend auf. Damals habe
ich mein bißchen Barvermögen in Gold im Parke vergraben und flüchtete
mit meiner Frau unter Mühen und Gefahren bis nach dem »Trüben«, einer
sumpfigen, umbüschten Niederung an der Elbe, wohin die Schönhauser
sich zurückgezogen hatten. Der Aufenthalt in der langen, kalten
Oktobernacht in dem feuchten Sumpfloche war fürchterlich, zumal wir
jeden Augenblick davor bangten, daß über unserem Besitztum der rote
Flammenschein auflodern würde. Endlich, nach entsetzlich langen
Stunden, graute der Morgen. Einige schlichen nach Schönhausen und
brachten die Kunde, der Feind sei fort, und so zogen wir heimwärts.
Aber wie hatten diese Teufelsfranzosen gewirtschaftet! Verwüstung und
Elend überall in den Kätnerhütten wie im Herrenhause. Im Schlosse war
alles durcheinandergeworfen, vieles zertrümmert; den Stammbaum der
Bismarck, der im Bibliothekzimmer hing, hatten sie mit Säbeln zerhauen
und zerstochen, daß die Fetzen davonhingen – na, ich denke, dem Stamme
selber soll das nicht geschadet haben.

Als ich nach meinem Gelde im Garten ging, fand ich die Erde aufgewühlt
… aber ich sah auch bald die Goldstücke blinken. Der Feind hatte sie
nicht gefunden, und die Erdarbeit mochte das Werk eines spürenden
Hundes gewesen sein. Später habe ich, um mich und meine Bauern zu
bewahren, mir von Soult eine Schutzwache erbeten, aber meine Frau habe
ich doch größerer Sicherheit wegen nach Rathenow gebracht. Ach Gott,
aber die allgemeine Not war doch noch schlimmer als die des einzelnen,
und als unser liebes Preußen zerrissen wurde, da grenzte Schönhausen
hart an das neue Königreich Westfalen, es fehlte nicht viel, so hätten
wir Jerôme als König bekommen.«

Der brave Rittmeister nahm einen kräftigen Schluck, wie um die
schlimmen Erinnerungen damit fortzuschwemmen. Einer der Offiziere aber
fragte: »Und wie war’s in den Befreiungskriegen? Sie hatten ja auch in
der Altmark Ihren Landsturm?«

»Und ob wir einen solchen hatten! Und er hat redlich die Heimat vor
Franzosen und Russen behütet. Ich darf’s wohl ohne Ruhmredigkeit
sagen, daß ich treulich das meine dabei getan habe. Und wir hatten an
der Elbe gute Helfer gehabt in den braven Lützowern, die im Mai 1813
nach Schönhausen kamen und mit uns die Übergänge über den deutschen
Strom bewachten. Das bleibt mir eine unvergeßliche Erinnerung, jener
Gottesdienst in unserer einfachen, alten Dorfkirche, bei welchem die
neueingetretenen freiwilligen schwarzen Jäger eingesegnet wurden. Es
war rührend, wie Männer mit ergrauten Haaren neben frischen Jünglingen
sich um den braven Major von Lützow scharten, und ich habe damals mit
Tränen in den Augen manchen Wackeren gesehen, den ich nicht vergesse.
Da war der junge Theodor Körner, der Freiheitsdichter, mit seinen
dunklen Feueraugen, der dann bei Gadebusch gefallen ist, der Turner
Ludwig Jahn mit seinem Löwenkopfe, und sie sangen ein Lied ihres jungen
Kampfgenossen und leisteten einen heiligen Eidschwur fürs Vaterland,
und unser Prediger Petri hat ihnen den Segen gegeben, und der Segen hat
geholfen!«

»Ja, er hat auch mitgeholfen,« sagte jetzt der Major von Schmerling,
dessen Brust mit dem Eisernen Kreuz geschmückt war, und der noch immer
den einen Arm in der Binde trug. »Wir haben’s den Franzosen tüchtig
heimbezahlt bei Großgörschen und Großbeeren, bei Dennewitz und an der
Katzbach und zuletzt in der Leipziger Schlacht. Und jeder, der dabei
gewesen ist, darf mit Stolz davon erzählen. Am 16. Oktober haben wir um
Wachau und Güldengossa gestritten und den Reitersturm des Königs Murat
zurückgeschlagen, am 17. verübte der alte Marschall Vorwärts seinen
glücklichen Reiterstreich bei Möckern, wo Ihr Bruder, lieber Bismarck,
der brave Major Leopold von Bismarck, den Heldentod starb, und am 18.,
Kinder, da war der große Entscheidungstag. Das war ein Geschützdonner,
wie ich ihn all mein Lebtag nicht gehört habe; in Probstheide schlugen
die Kanonenkugeln von allen Seiten ein, als ob irgendwo von oben her
ein Apfelbaum geschüttelt würde. 1500 Geschütze spien ihr Verderben
gegeneinander, aber Gott war mit uns, und in der Völkerschlacht haben
wir den Mann des Jahrhunderts überwunden.«

Mit leuchtenden Augen und vorgebeugt hatte Otto nach dem Sprecher
hingesehen, und kein Wort verloren, welches aus seinem Munde ging.
Als der Major jetzt innehielt und das Glas ansetzte, sprang der
kleine Bursche auf und trat dicht vor ihn hin. Mit dem vorgestreckten
Zeigefinger deutete er auf das Eiserne Kreuz an seiner Brust und fragte
mit vollem Ernste:

»Ist Er auch von einer Kanonenkugel geschossen worden?«

Die naive Frage des Knaben löste die ernste Stimmung, welche in dem
Kreise eingetreten war, alle lachten, der Major aber zog den Kleinen zu
sich heran und sagte:

»Nein, mein Schelm, dann säße ich heute wohl nicht mehr hier. Na, wie
ist’s – du willst wohl auch einmal Soldat werden?«

Die Frau des Hauses nahm das Wort:

»Ich glaube, Otto wird einmal Diplomat, Staatsmann, und Bernhard
Landrat!«

Wieder lachten die fröhlichen Gäste, aber Herr von Bismarck sagte:

»Ja, meine Frau schlägt nicht aus der Art: Da sehen Sie die
Diplomatentochter, die sich einmal in den Kopf gesetzt hat, daß
etwas vom Geiste ihres ausgezeichneten Vaters, des wackeren Geheimen
Kabinettsrats _Menken_, auf unseren Jungen übergegangen ist. Na, wie
Gott will – er wird es schon richten!«

Heiter ging der Tag zu Ende, der für Otto manche Erregung und Bewegung
gebracht hatte. Am Abend kam er zu der Mutter, um ihr »Gute Nacht« zu
sagen.

»Otto, hast du denn auch ordentlich dein Süppchen gegessen?«

Der Knabe stand einen Augenblick verdutzt bei dieser Frage, und anstatt
eine Antwort zu geben, stürmte er hinaus nach der Küche zu Lotte
Schmeling.

»Höre, Lotte, habe ich eigentlich schon mein Süppchen gegessen?« fragte
er hastig.

»Freilich und hat sehr gut geschmeckt, denn es war schnell genug
verschwunden.«

Wie der Wind sauste der kleine Mann davon und kam zu der erstaunten
Mama zurück, um dieser nun erst, nachdem er selbst sich authentische
Sicherheit verschafft, eine wahrheitsgetreue Antwort auf ihre Frage zu
geben. Und jetzt ging er mit gutem Gewissen zur Ruhe.

Herr und Frau Bismarck saßen noch ein Weilchen beisammen, und letztere
war es, die das Gespräch auf die Kinder, besonders auf Otto, brachte.

»Es nützt nichts, er muß aus dem Hause. Hier wird er verzogen, von
mir, von dir, von Lotte und von allen. Und am besten ist’s, er kommt
zu Plamann, wo er an Bernd eine Stütze hat, daß ihm das Heimweh nicht
zu schwer wird. Ich halte dafür, eine rationelle Erziehung nach festen
pädagogischen Grundsätzen kann nicht zeitig genug anfangen.«

Herr von Bismarck wollte einige Einwendungen machen, aber er kam gegen
die Grundsätze seiner geistvollen, von einem vortrefflichen Vater
geschulten Frau nicht auf; seufzend gab er nach, und so ward bestimmt,
daß Otto nächste Ostern nach Berlin kommen sollte.



Zweites Kapitel.

Berliner Lernjahre.


An einem Frühlingstage des Jahres 1821 hielt vor dem Hause
Wilhelmstraße 139 in Berlin ein Wagen, mit zwei kräftigen Braunen davor
und mit dem Bismarckschen Wappen auf dem Schlage. Der alte Kutscher
stieg langsam ab und strängte das Handpferd aus, dann hob er aus dem
Gefährte einen hübschen, schlanken, sechsjährigen Knaben und trug ihn
beinahe zärtlich auf seinen Armen in das Haus.

Das war die Erziehungsanstalt des Professors _Plamann_, ein im Geiste
des großen Pädagogen Pestalozzi gegründetes und geleitetes Institut,
das sich trefflicher Lehrer erfreute, wie unter anderen des Begründers
des deutschen Turnwesens, Ludwig Jahn.

Als der alte Kutscher mit seinem weiten Mantel in den Mittelflur des
Hauses trat, tauchten sogleich überall jugendliche Gestalten auf, die
ihn umringten und nach seiner lebendigen Last blickten. _Otto von
Bismarck_, – denn er war es, der auf solche Weise seinen Einzug bei
Plamann hielt, – sah mit eiserner Ruhe und fester Sicherheit auf die
Gesichter unter ihm nieder, und konnte es wohl auch noch hören, wie es
hinter ihm herklang:

»Wieder ein kleiner Junker! – Ein Muttersöhnchen! – Wollen ihn schon
rankriegen!«

Dann nahm ihn der Direktor in Empfang, auch dessen Frau und Nichte,
und begrüßten ihn mit freundlichem Ernst als neuen Hausgenossen; Bernd
bewillkommnete gleichfalls den Bruder, ohne die übliche Tagesordnung
zu unterbrechen. Um die nächste Mittagszeit hatte Otto schon seinen
Platz an einem Tische im großen Saale, wo Lehrer und Schüler gemeinsam
speisten, und mühte sich, sein Gericht, das freilich nicht wie daheim
schmeckte, zu bewältigen, um nicht mit seinem Teller auf die Terrasse
hinausgestellt zu werden, wo einige, denen das Mahl nicht behagte, sich
langsam mit demselben abquälten.

Dem kleinen Neuling blieben manche Neckereien und Hänseleien nicht
erspart, und auch sein Bruder konnte ihn nicht ganz davor schützen.
Aber des Rates Bernhards, sich nichts gefallen zu lassen, hätte es bei
Otto nicht bedurft. Der kleine Mann hatte Selbstgefühl genug, um sich
nichts bieten zu lassen, was ihm unwürdig erschienen war, und wie er
schon den herkömmlichen »Einweihungsgebräuchen« einen sehr energischen
Widerstand entgegengesetzt hatte, so zeigte er auch, daß er das in der
Anstalt beliebte Abhärtungssystem und die damit zusammenhängenden
körperlichen Unannehmlichkeiten mit festem Gleichmut ertrug.

Gerade das aber reizte manchen seiner Genossen; man sah dies
ruhige, feste Wesen für junkerlichen Übermut an, und man hatte sich
vorgenommen, ihn bei Gelegenheit tüchtig zu »ducken«.

An einem der ersten warmen Tage war es, als die Zöglinge zum Baden
geführt wurden nach dem sogenannten »Schafgraben«, einem nicht
gerade sehr breiten, aber ziemlich tiefen Wasser. Auch bei solchen
Gelegenheiten wurden die Neulinge nicht besonders glimpflich behandelt.
Wer irgend Furcht zeigte, wurde von dem Lehrer kopfüber in das Wasser
geworfen, und nun von seinen Genossen mit Tauchen und Anspritzen
weidlich bearbeitet. Auf diese Prozedur hatte man sich bei dem
»hochnäsigen Junkerchen« schon lange gefreut.

Die Schar hielt am Schafgraben. Rasch waren die Burschen entkleidet
und sahen nun nach Otto, auf dessen »Wasserscheu« sie sich bereits
freuten. Der aber hatte seit seinem Bade im Karpfenteiche das Schwimmen
ganz wacker betrieben. Er trat jetzt an den Rand des Grabens, mit
einem entschlossenen Sprung war er im Wasser, welches über ihm
zusammenschlug, und dann war er verschwunden. Die Wellen kräuselten
sich leicht über der Flut, man spähte, ob nicht der Knabenkopf
emportauchen würde, und es begann eine beinahe unheimliche Spannung und
Erregung.

Da kam der Schwimmer, welcher so lange unter Wasser ausgehalten, am
anderen Ufer in die Höhe und schüttelte sich lachend, den übrigen
aber entschlüpfte ein Ah der Überraschung. Mit dem kleinen Junker von
Bismarck war nichts anzufangen, – das war jetzt den Vernünftigeren
klar, und besser schien es darum, mit ihm gut Freund zu sein.

Und immer mehr brachte er in diesem Kreise sich zur Geltung. Im Turnen
und Fechten tat er es den anderen ebenso zuvor, wie in manchem
Wissenszweige, der, wie Geschichte und Geographie, ihm besonders
behagte, und in die stramme Hausordnung fügte er sich prächtig ein.

Nur manchmal, wenn ein besonders schöner Tag die Knaben hinausbrachte
ins Freie, nach der Hasenheide, wenn er grüne Bäume, wogende Felder
und fleißige Knechte darauf sah, wenn die Lerchen neben ihm aufstiegen
gegen den blauen Himmel, da überkam ihn eine Sehnsucht nach dem stillen
Kniephof oder dem freundlichen Schönhausen, und manchmal lief ihm wohl
auch eine Träne über die Wangen, die er nicht mehr zurückdrängen konnte.

Aber er überwand diese Empfindungen, denn er wollte ein starker,
fester, tapferer Mann werden, wie er solche in der Geschichte kennen
lernte. Und die Geschichte war sein Steckenpferd. Die alte Griechensage
vom Kampf um Troja hatte es ihm besonders angetan, und die leuchtenden
Heldengestalten, die um das hochgetürmte Ilion stritten, lebten in
seiner Phantasie.

Im Plamannschen Garten, weit hinten, stand eine stattliche alte Linde.
Auf einem Aste derselben saß er eines schönen Nachmittags, andere
Genossen waren gleichfalls heraufgeklettert und wiegten sich auf den
Zweigen um ihn her, und wieder andere lagen im Grase. Heute war ein
freier Tag, – da wollten die jungen Gemüter ein besonderes Vergnügen
haben. Otto von Bismarck aber las begeistert und mit weit vernehmlicher
Stimme von dem Kampfe um die Mauer, welche das Lager der Griechen
schützen sollte, wo der helmbuschumflatterte Hektor gleich einem Löwen
die Seinen anfeuerte und mit Polydamas und Äneas, mit Glaukos und
Sarpedon dem furchtbaren Andrang der Argiver wehrte. Immer heißer wogte
der männermordende Streit, bis der furchtbare Ajax eingriff.

Und Otto las mit heißen Wangen und glühenden Augen, während die
anderen beinahe den Atem anhielten vor Erregung:

»Ajax aber brach einen scharfgezackten Marmorstein zuoberst aus
der Brustwehr und zerknirschte damit dem Epikles, einem Freunde
des Sarpedon, Helm und Haupt, daß er wie ein Taucher von dem Turme
herabschoß. Sarpedon aber klomm aufwärts, durchstach den Alkmaon,
den Sohn Thestors, mit der Lanze, faßte dann mit aller Gewalt die
Brustwehr, daß sie von seinem Stoß zusammenstürzte; doch Ajax und
Teuker begegneten dem Stürmenden. Ajax durchstach ihm den Schild; die
Lanze durchdrang ihn schmetternd, und einen Augenblick zuckte Sarpedon
von der Brustwehr hinweg. Doch ermannte er sich und feuerte seine
Lykier an, die rascher emporstürmten; aber auch die Danaer verdoppelten
ihren Widerstand. Über die Brustwehr hieben sie wild aufeinander los,
und rechts und links von den Trümmern rieselte das Blut hinab.« Otto
ließ das Buch fallen, seine Wangen glühten höher.

»Jungens – das müssen wir spielen!« rief er, und allgemeines
Beifallsgeschrei folgte. Im Nu waren die Knaben unten von den Ästen,
und die Parteien teilten sich und wählten ihre Führer. Der junge
Bismarck war Ajax, der Telamonier.

Im Garten war eine Terrasse, das war die Mauer, und um dieselbe begann
nun der Kampf, hitzig, wie um das umstürmte Ilion selber, und die
Griechen blieben Sieger.

Das Kriegsspiel ward nun zur wahren Leidenschaft, und Otto erfaßte die
Sache mit solchem Ernst, daß er bis ins kleine hinein die Schlachtpläne
entwarf und über die Wechselfälle des Kampfes besonders Buch führte. So
ging’s bis in den Winter hinein, und dieser erhöhte noch den Reiz der
Sache. Die Natur selbst lieferte verschwenderisch das Geschützmaterial,
und um die Terrasse wurde, auch unter Beteiligung der Lehrer selbst, in
den Freipausen im heftigen Schneeballgefecht gestritten.

Auch dabei war der junge Bismarck der berufene Anführer der einen
Schar. So war’s auch an einem prächtigen frischen Wintertage. Die
Terrasse hielten die Gegner besetzt und empfingen mit den reich
aufgestapelten Geschossen die Anstürmenden. Aber Otto zeigte sich
wie ein rechter Feldherr voll Umsicht und persönlicher Tapferkeit.
Während er von der einen Seite durch ein heftiges Bombardement den
Feind täuschte und seine volle Aufmerksamkeit anzog, brach er auf
einer anderen mit einer Handvoll auserwählter Genossen zum Sturme
vor und erreichte trotz der heißen Gegenwehr der Überraschten die
Terrasse, wo er nun mit den Seinen festen Fuß faßte, wo es aber auch
zu einem äußerst erbitterten Handgemenge kam. Für ein Spiel ging es
schon beinahe zu weit. Die erhitzten und erregten Parteien schlugen
unbarmherzig aufeinander los, und die jungen Helden hatten sich
ineinander verbissen, als ob es wirklich für die Ehre des Vaterlandes
geschähe.

Das Glockenzeichen rief zum Beginn des Unterrichts. Vergebens. Die
Zurufe der Lehrer und ihr persönliches Eingreifen vermochten den Kampf
nicht zu beenden, da riß Ajax-Bismarck den Schultornister von seiner
Schulter, den er wie ein echter Soldat beim Sturme getragen hatte,
und wo der Knäuel der Streiter am dichtesten war, schleuderte er das
Geschoß mit solcher Wucht hinein, daß die Kämpfenden auseinanderfuhren
und außerdem auch seinem gebieterischen Zuruf gehorchten. Nun konnte es
wieder an den Unterricht gehen.

Als derselbe beendet war, wanderte Otto nach der Behrenstraße Nr. 53.
Seine Eltern waren in Berlin eingetroffen, um in ihrer Stadtwohnung den
Sommer zuzubringen und gesellschaftliche Beziehungen zu pflegen.

Der Vater freute sich an dem frischen kleinen Burschen, die Mutter
fand ihren Liebling ein wenig wild, Otto selbst aber hatte nicht viel
Behagen in der Behrenstraße. Da war alles so vornehm und steif und
still, und auch der Papa seufzte manchmal ein wenig.

»Ja, mein Junge, – mir geht’s wie dir,« sagte er einmal, – »in Kniephof
und auf Schönhausen ist’s hübscher; na warte nur bis zum Sommer! Wenn
du in die Ferien kommst, dann sollst du ein kleines Pferd haben, und
wir reiten zusammen, und auch eine Flinte, und dann soll’s lustig durch
Feld und Wald gehen!« – –

So gingen die nächsten Jahre hin, und der Plamannsche Schüler nahm zu
an körperlicher Kraft, an Wuchs und Gewandtheit, aber auch an geistigem
Besitz, und nach der strengen Ordnung der Schulzeit schmeckte die
herrliche Freiheit in den heimischen Gärten und Wäldern doppelt gut,
und die alten Bäume im Kniephofer Park schienen dem frischen Junker nur
um so hübschere Sachen zuzuraunen.

Als er im Sommer 1827 heimkehrte, hielt ihm zu seiner ganz besonderen
Freude die Mutter ein neugeborenes Schwesterchen, das am 29. Juni
angekommen war, entgegen, und die kleine _Malwine_ wuchs ihm sehr
schnell ans Herz, und wenn er später wieder heimkam, freute er sich auf
sie am meisten.

Er besuchte seit demselben Jahre (1827) das Berliner
Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, gemeinsam mit seinem Bruder, und sie
wohnten jetzt beide in der Behrenstraße. Ein Genfer, Monsieur Gallot,
hatte sie anfangs zu beaufsichtigen, und er redete mit ihnen nur
französisch. Daß aber auch das Deutsche nicht zu kurz kam, dafür sorgte
die brave Köchin Trine Neumann aus Schönhausen. Sie liebte ihre beiden
Junker und suchte ihnen diese Liebe auch zu beweisen, dadurch, daß sie
ihnen möglichst oft ihre Lieblingsspeise, Eierkuchen, bereitete, wobei
sie manchmal ihren kleinen Ärger hatte, wenn ihre Pflegebefohlenen zu
spät heimkamen und »die Kauken afbackt« waren. Dann konnte sie wohl in
ihrem Unmute sich zu den Worten hinreißen lassen:

»Na Jungens, ut juch wat in’n Leben nix Vernünftigs, – dei Kauken sünd
all wedder afbackt!«

Im gewohnten Gleichmaß gingen die Tage, nur die Persönlichkeiten
um Otto von Bismarck her wechselten. An Stelle Monsieur Gallots
traten der Kammergerichtsreferendar Hagens und Philologe Winkelmann,
Bruder Bernhard hatte das Gymnasium absolviert und die Uniform
angezogen, Trine Neumann war in die Heimat zurückgekehrt, und
Otto war an das Gymnasium zum Grauen Kloster und in Pension zu
Professor Prevost gekommen, nachdem er Ostern (31. März) 1830
in der Dreifaltigkeitskirche von dem ausgezeichneten Theologen
_Schleiermacher_ konfirmiert worden war mit dem Weihespruche: »Was du
tust, das tue Gott und nicht den Menschen!«

Unter seinen Lehrern hatte es Professor _Bonnell_ ihm am meisten
angetan, und Lehrer und Schüler schlossen sich gegenseitig ins Herz.
So kam es, daß Otto in das Haus dieses Mannes übersiedelte und hier
in einer freundlichen Giebelstube hauste. Da hinauf trug er die
stattlichen Bände einer Weltgeschichte, die er aus der Bibliothek des
Professors entlehnte, und abends saß er, zumal im Winter, allein bei
der Frau Professor und plauderte ihr vor von den Herrlichkeiten auf
Kniephof und von seiner lieben kleinen »Maldewine«.

Vor den Fenstern sang dann wieder der Frühlingswind und erweckte die
Sehnsucht hinaus ins Freie und in die jugendgrünende Heimat. Die alte
gelbe Postkutsche fuhr in der Straße vorüber, und der Postillon blies
sein Lied, so daß der junge Gymnasiast in stiller Wehmut horchte
und Semmlers Weltgeschichte eine Weile beiseite schob. Mit dem
Herannahen des Sommers aber kam (1831) auch ein unbehaglicher Gast nach
Deutschland – die Cholera. Die Eltern in Kniephof waren in Sorge, und
eines Tages kam ein Brief von Herrn von Bismarck: Otto solle, sobald
auch nur _eine_ Erkrankung in Berlin vorkäme, sogleich nach Hause
kommen. Da gab es außer ihm wohl keinen Menschen in der preußischen
Hauptstadt, welcher die Cholera so herbeigesehnt hätte, aber sie schien
ihm zum Trotz nicht kommen zu wollen.

In der Nähe von Berlin sollte sie bereits sein, und davon wollte er
sich wenigstens überzeugen. In einem Reitstall mietete er sich ein
Pferd, einen feurigen, dunkelbraunen Wallach, und auf »Nerestan« jagte
er jetzt beinahe täglich auf der Straße nach Friedrichsfelde hinaus –
»der Cholera entgegen«.

Da kam er eines Tages an der Neuen Wache vorüber. Eben zogen die
Soldaten auf unter Trommelschlag und den üblichen Gebräuchen, an einer
Ansammlung Neugieriger fehlte es dabei nicht. Und diese Bewegung und
der Lärm machten, daß der Wallach plötzlich scheute, einen Seitensprung
tat und infolge Ausgleitens niederschlug, wobei der junge Reiter zu
argem Schaden kam. Er konnte sich nicht erheben, fremde Leute mußten
behilflich sein, ihn in einen Wagen zu bringen, und mit zerquetschtem
Fuße trug man ihn hinauf zu Frau Professor Bonnell, die nicht wenig
erschrocken war.

Da lag er nun wochenlang, und die Sonne lachte durch die Fenster und
lockte, und das Posthorn klang rufend durch die Gasse, ja, selbst die
ersehnte Cholera war angekommen, aber er mußte – nicht allzu geduldig –
warten, bis die Ärzte ihm gestatteten, Berlin zu verlassen. Da saß er
nun endlich eines Morgens hoch oben auf dem Bock neben dem »Schwager«,
und hinaus ging’s im langsamen Trott durch die heißen Straßen der
Residenz, hinein in die lachende Gotteswelt. Es war kein behagliches
Reisen und ging just auch nicht schnell – denn bis nach Stettin
brauchte man länger als zwei Tage – aber es bot doch wechselnde
Bilder, und der Postillon tat, wenn er in ein Städtchen oder in ein
Dorf einfuhr, sein Bestes auf seinem Horne.

Am dritten Tage sah er den alten, lieben Kniephof wieder und umarmte
die Eltern und küßte sein Schwesterchen, und dann brach die ganze
Lust und Frische, die in den letzten Wochen zurückgedämmt war, wieder
durch. Trotz des jüngsten Unfalls jagte er hoch zu Roß durch Wald und
Flur, aber er ergötzte sich auch mit stillem Behagen an den lauschigen
Plätzen seiner Kinderjahre unter den rauschenden Bäumen des Parkes.

Wie vielfach im Sommer, so nahm auch diesmal die Familie Bismarck
einen kurzen Aufenthalt in Schönhausen, das der wackere Inspektor
Bellin verwaltete. Es liegt in der Altmark, am rechten Elbufer,
da, wo die Havel hereinkommt. Ringsum das märkische Flachland mit
Feldern und Wiesen und mageren Kiefernwäldchen dazwischen hatte wenig
landschaftliche Reize, aber im Dorfe selbst liegen zwei Herrengüter,
und ihre Parke beleben mit dichtem Grün die Szenerie. Das Bismarcksche
Herrenhaus ist einfach gebaut; über dem schlichten Portal ist das
Kleeblattwappen der Familie, daneben ein anderes – eine Katze mit der
Maus – und darunter stehen nebst der Jahreszahl 1707 die Namen: August
von Bismarck und Dorothea Sophie Katten.

Hier war Otto geboren, und darum hatte Schönhausen seinen besonderen
Reiz für ihn, wenngleich der Park hier kleiner war als in Kniephof.
Fröhlich durchschweifte er ihn bei seiner Ankunft; er schreitet
durch die Allee von alten, breitästigen Linden, dann hinein zwischen
wuchernden Weißbuchenhecken nach dem kleinen Teiche, und nun auf
der hölzernen Brücke über den Graben hinaus ins Freie. Da lugt ein
steinernes Bild herüber, eine alte, mythologische, nackte Figur, die
wenig respektvoll dem Junker ihre Kehrseite zuwendet. Er wirft einen
Blick hinüber und schreitet weiter mit der Flinte auf dem Rücken,
hinaus ins Feld. Aber es will sich keine Beute finden. Hoch über
ihm zieht mit höhnischem Lachen ein Falke seine Kreise, einige Raben
kreischen auf den Feldern, aber jagdbares Getier ist nicht zu sehen.

Unmutig im heißen Sonnenbrand schlendert er um Mittag heimwärts. Er
schreitet wieder über das Holzbrückchen und sieht abermals den wenig
höflichen und anständigen Herkules; die Sonne beleuchtete ihn auffällig
hell, wie er so dastand und beinahe höhnisch die eine Hand rückwärts
unterhalb des Rückens legte.

Otto hatte eine Schrotladung in seiner Flinte; heimbringen wollte er
sie nicht wieder, und, einer raschen Laune folgend, riß er die Waffe
von der Schulter, legte an, und der Schuß krachte. Von dem Herkules
splitterte es, und der Leib zeigte eine bedeutend hellere Stelle in
der Nähe der Hand, der junge Schütze aber ging, wie im Bewußtsein
einer guten Tat, heimwärts. Am anderen Tage kam er mit seinem Vater an
derselben Stelle vorüber, und Herr von Bismarck sah den Herkules an,
was mit ihm geschehen war.

»Das hast du wohl verübt, Otto?«

»Ja, Papa,« antwortete der Gefragte, »aber ich habe nicht gemeint, daß
er’s spüren wird; er hat jedoch gleich mit der Hand nach hinten gefaßt.«

Der Rittmeister lächelte halb abgewandt, und damit war die Sache
abgetan.

Im Herbste ging es wieder nach Berlin und ins Gymnasium. Es kam die
Zeit, in welcher Otto sich auf sein Abiturientenexamen vorzubereiten
hatte, und er arbeitete mit Eifer und Lust. Ab und zu besuchte er auch
Bruder Bernhard, welcher als Offizier in Berlin diente und in der
elterlichen Wohnung in der Behrenstraße wohnte.

Eines Tages kam er mit einer gewissen Aufregung. Er fand Bernhard nicht
daheim und setzte sich nun auf das Sofa, um das Zimmer, obwohl er
es lange kannte, einer Musterung zu unterziehen. Da blieb sein Blick
plötzlich an der Stelle haften, wo neben dem Bücherschrank an der Wand
zwei lange Reiterpistolen hingen. Im nächsten Augenblicke sprang er
auf und holte die Schießwerkzeuge herab. Er prüfte die Hähne und fand
alles in Ordnung. Nun suchte er nach Pulver und Kugeln, und da er
die Verhältnisse der Wohnung ziemlich genau kannte, fand er beides.
Frisch ward jetzt geladen und nach einem Ziele geforscht. Er riß den
Bücherschrank auf und fand unten in demselben eine Scheibe. In wenigen
Augenblicken war sie an dem Schranke befestigt, und gleich darauf
krachte der erste Schuß.

Und nun ging es Schlag auf Schlag. Das ganze Haus kam auf die Beine.
Man wußte nicht, was vorging, und traute sich anfangs nicht in die
Wohnung, bis die Beherzten eindrangen, und nun mit Entsetzen diese
Schießübung sahen. Einer hatte den Mut, sie zu verbitten. Otto aber
sagte, ohne sich stören zu lassen: »Hier hat mir niemand etwas zu
sagen!« und krachend schlug die nächste Kugel in die Scheibe.

Da kam Bernhard; er eilte erschrocken die Treppe empor, aber als er den
Vorgang sah, wußte er nicht, sollte er lachen oder schelten. Fürs erste
aber hörte nun doch zur Beruhigung der Hausbewohner das Schießen auf,
und Bernhard fragte:

»Aber nun sage mir, Junge, was dir eigentlich eingefallen ist?«

»Na, einmal war das Warten langweilig, und zum anderen habe ich mir
Luft machen müssen.«

»Na, – was hast’, was kneipt dich denn so sehr?«

»O, diese ewige Schikane mit dem französischen Lehrer ist nachgerade
unerträglich. Und wenn ich nun denke, daß ich eine Probearbeit bei ihm
machen soll, da wurmt’s mich, und mir schwillt die Galle. Darum hab’
ich mir ein bißchen Luft machen müssen.«

»Na, und dazu muß der unschuldige Bücherschrank herhalten?«

»Ja, warum bist du auch nicht zu Hause, wenn man einen teilnehmenden
Menschen braucht!«

»Rat weiß ich aber auch jetzt keinen. Wenn du nicht französisch
arbeiten willst, dann mach’s doch englisch – ihr könnt euch ja die
Sprache wählen, soviel ich weiß!«

»Na, das ist Fopperei, Bernd! Du weißt recht gut, daß ich kein Englisch
getrieben habe. Aber ich will dir auch was sagen. Ihr sollt sehen,
was Otto von Bismarck leisten kann. Ich mache keine französische
Probearbeit! Schön Dank auch für den guten Rat – Adieu!«

Er war hinaus und eilte heimwärts. Bald darauf saß er in seiner
Giebelstube über der englischen Grammatik, und nun studierte er
darauflos, als ob davon das Heil der Welt abgehangen hätte. Als es
zur Probearbeit kam, wählte er zur Verblüffung des französischen
Lehrers und zum Staunen der anderen die englische Sprache. Und er hat
sein Examen bestanden, und bestand es auch in den übrigen Fächern in
ehrenvoller Weise.

Leb wohl, du graues Kloster in Berlin!

So vergnügt ist er noch niemals ins Pommernland heimgefahren wie
diesmal, da die Gymnasialzeit hinter ihm, dem Siebzehnjährigen, liegt,
und die Phantasie ihm fröhliche und leuchtende Bilder entrollt von der
»Burschenherrlichkeit« und von lebensfroher Studentenzeit! Schöner und
weiter schien ihm die Welt, und der Hornklang seines Postillons hallte
diesmal wundersam wieder in der freien, zukunftsfrohen Jünglingsseele.
Ein glückliches Menschenkind traf mit dem erwachenden Lenze des Jahres
1832 im alten Kniephof wieder ein.



Drittes Kapitel.

~Gaudeamus igitur.~


In der »goldenen Krone« zu Göttingen saßen an einem Maiabend des Jahres
1832 eine Anzahl junger Männer beisammen. Fröhlich klangen die Gläser,
und durch die geöffneten Fenster hinaus schallten die kraftvollen alten
Studentenweisen:

    Stimmt an mit hellem hohem Klang,
    Stimmt an das Lied der Lieder,
    Des Vaterlandes Hochgesang;
    Das Waldtal hall’ es wider!

    Der alten Barden Vaterland,
    Dem Vaterland der Treue,
    Dir freies, unbezwung’nes Land,
    Dir weih’n wir uns aufs Neue!

Das brauste einher mit machtvoller Begeisterung, und die Pokale
läuteten abermals zusammen. Einer von den Burschen erhob sich an dem
Tische, eine prächtige Jünglingsgestalt mit blitzenden blauen Augen,
strotzend in der Fülle jugendlicher Kraft.

»~Silentium!~ Bismarck will reden!«

Still ward es in dem Raume, und aller Blicke wendeten sich nach dem
Sprecher.

»Kommilitonen! Wir haben in diesen Tagen und erst heute noch auf
unserer Wanderung ein prächtiges Stück deutschen Landes gesehen, und
das Herz ist uns aufgegangen in der Schönheit des Harzwaldes, in dem
die Sage lebt auf der Bergeshöhe, wie im felsigen Talgrund, und wo
in einem gesunden Geschlechte alte deutsche Kraft und Einfachheit
der Sitten wohnt. Kommilitonen, ihr seid Mecklenburger, ich bin ein
Altmärker – ist’s bei uns daheim etwa anders? – Lebt nicht überall
derselbe gesunde Sinn, der sich freut in der Schönheit der Natur, und
der an der deutschen Scholle hängt, auf welcher unsere Wiege stand?
Mag auch ein halb Hundert verschiedenfarbiger Grenzpfähle im deutschen
Lande stehen – das Auge sieht sie, das deutsche Herz weiß nichts davon,
wenn es die Ehre der ganzen Nation gilt. Die Freiheitskriege haben es
bewiesen. Laßt uns nicht schlechter sein als unsere Väter, die bei
Leipzig und Waterloo geschlagen haben, und laßt uns immer an das Wort
unseres großen Dichters denken: »Wir wollen sein ein einzig Volk von
Brüdern!« _Eine_ Muttersprache reden wir alle, und alle haben wir im
Grunde nur _ein_ Vaterland – und das eine, große, deutsche Vaterland,
dem wir Blut und Gut weihen, es blühe und gedeihe! Füllt die Gläser:
dem Vaterlande!«

Jubelnd schallte der Zuruf, stürmisch klang es zusammen, Otto von
Bismarck aber goß den letzten Rest aus seiner Flasche, und mit dem
Rufe: »Fort mit allem, was leer und nichtig ist!« schleuderte er die
letztere durch das offene Fenster hinaus auf die Straße.

Die fröhlich lärmenden Burschen hörten weder den zornigen Aufschrei,
der von draußen hereinschallte, noch das Klirren des Glasgefäßes auf
dem Pflaster, immer höher gingen die Wogen der Begeisterung, und
immer lauter schallten Becherklang und Studentenweisen hinaus in die
schweigende Frühlingsnacht, bis endlich Bismarck erklärte: »~Satis,
quod sufficit!~« und mit einem energischen »Prost Kommilitonen!« sich
entfernte. Unter dem Tische erhob sich gleichzeitig eine mächtige
englische Dogge, welche zu den Füßen ihres Herrn gelegen hatte, und
schritt gravitätisch neben ihm hinaus.

Am nächsten Morgen schaute Otto von Bismarck mit Behagen zu seinem
Fenster in der Roten Straße Nr. 299 hinaus. Seine »Bude« war einfach
und sah »burschenmäßig« aus. Im Mobiliar war weder ein besonderer
Überfluß noch hervorragende Eleganz, denn der Hauswirt, Herr
Schumacher, wußte, wie schnell oft die Bewohner wechselten, und wie
rasch diese Art eine »gute Stube« abzuwohnen pflegte. Bismarck wünschte
es auch nicht besser. Über dem alten Sofa hatte er eine Anzahl auf
Pappe gezogener Schattenrisse seiner Freunde gehängt, an der einen
Wand prangte eine stattliche Pfeifensammlung, welche den Neid manches
Kommilitonen schon herausgefordert hatte, und vor dem Sofa lag lang
ausgestreckt die gewaltige Dogge und blinzelte schläfrig nach ihrem
Herrn, der, wie erwähnt, im offenen Fenster lehnte, angetan mit einem
bunten Schlafrock, und die lange Pfeife, welche weit hinaushing, im
Munde.

Es war ein prächtiger Frühlingstag, und dem jungen Studenten war ganz
wohlig zumute. Da unten schritten die ehrsamen Bürger hin, rasch
hinhuschende Mädchen, geschäftige Arbeiter und sorglose Studenten,
entweder ganz kommentmäßig in Flaus und Kanonen, mit dem Cerevis, oder
im Schlafrock und Morgenschuhen, den Ziegenhainer in der Faust und
die dampfende Pfeife im Munde. O, es war auch in Göttingen schön, und
an der »Königlich Großbrittanisch-Hannoverschen Georgia Augusta« ließ
sich’s leben!

Er hatte anfangs für Heidelberg geschwärmt, aber die besorgte Mama
fürchtete den burschikosen Geist, der dort walten sollte, und nachdem
in einem Familienrate ein Verwandter des Hauses, der geheime Finanzrat
Kerl, Göttingen als eine Hochschule der vornehmen Welt empfohlen und
Briefe an die Professoren Hugo und Hausmann mitzugeben versprochen
hatte, war die Sache entschieden.

Nein, in Göttingen war es gar nicht so übel! Eben als der junge Student
sich in diesen behaglichen Gedanken versenkte, pochte es an der Tür.

Die Dogge hob den Kopf, und auf das »Herein!« erschien auf der Schwelle
der Universitätspedell und überreichte mit höflichem Gruße Bismarck
ein Schreiben. Dieser liest mit einiger Verwunderung, daß er u. z.
citissime – möglichst bald – vor dem Universitätsrichter zu erscheinen
habe.

»Dem Manne kann geholfen werden!« zitierte der Studiosus halb
pathetisch, halb ärgerlich; dann fuhr er langsam in die spiegelblank
gewichsten Kanonenstiefel, sah sich einen Augenblick nach einer
geeigneten Kopfbedeckung um, und ergriff endlich einen hohen
Zylinderhut, den er sich auf das Haupt stülpte, und so, die weißen,
ledernen Beinkleider umflattert von dem bunten Schlafrock, die lange
Pfeife im Munde, schritt er, begleitet von der englischen Dogge, durch
die Gassen der vornehmen Universitätsstadt nach dem Hause des Richters.

Als er bei demselben eintrat, fuhr der alte Herr entsetzt auf vor der
respektwidrigen Erscheinung, und als ihm der gewaltige Hund, der noch
vor seinem Herrn sich hereingedrängt hatte, um die Beine schnupperte,
ward es ihm völlig unbehaglich, und er suchte sich mit vorgestemmtem
Stuhle zu schützen, wobei er rief:

»Schaffen Sie sogleich den Köter hinaus!« Bismarck rief die Dogge und
öffnete die Tür. Der Hund ging gehorsam hinaus, und jetzt kam der
Richter hinter seinem Sitze hervor, noch immer ängstlich und zornig
zugleich, und fragte:

»Wer sind Sie, und was wollen Sie?«

»Ich bin der Studiosus ~juris~ Otto von Bismarck, und was ich hier
will, müssen Sie wissen, denn Sie haben mich zitieren lassen!« Er
entfaltete das Papier, welches er erhalten hatte.

»Richtig – gut! Aber fürs erste habe ich Ihnen mitzuteilen, daß es
verboten ist, Hunde mitzubringen vor das Universitätsgericht, und daß
ich Sie darum mit einer Ordnungsstrafe von 5 Talern belege.«

»Hm – auch nicht übel!« brummte der Verurteilte halblaut, der andere
aber fuhr fort:

»Die Sache, derohalben Sie zitiert worden sind, ist die: Gestern abend
ist ein Herr, der an der »Goldenen Krone« vorüberging, durch eine
Flasche am Arme getroffen worden. Die Erörterungen haben ergeben,
daß die Flasche von Ihnen herrührte. Können Sie sich entsinnen, wie
dieselbe auf die Straße gelangte?«

»Zweifellos durchs Fenster!«

»Na, ja, allerdings – aber ich meine, eine Wirkung, wie der Wurf einer
Flasche durch das Fenster, muß doch auch eine Ursache haben!«

»Die war auch vorhanden in der Anspannung meiner Muskeln und der
Schwungkraft des Armes. Wenn Sie wünschen, Herr Universitätsrichter,
kann ich die Prozedur Ihnen ~ad oculos~ demonstrieren!«

Bismarck griff nach dem großen Tintenfasse auf dem Tische des Richters
und hob dasselbe in bedrohlicher Haltung.

»Das genügt, Herr von Bismarck, und da Sie im übrigen das Faktum nicht
in Abrede stellen, kann ich Sie entlassen. Das weitere wird Ihnen noch
mitgeteilt werden!«

Die Aussicht auf das »weitere« stimmte den jungen Studenten nicht
gerade heiter, und einigermaßen ärgerlich ging er mit seiner Dogge
heimwärts.

Noch ehe er in die Rote Straße kam, begegneten ihm vier Korpsburschen
von den Hannoveranern. Bismarck ging mit weitausgreifenden Schritten
daher, mit fliegendem Schlafrock, die Pfeife wie eine Waffe in der
Hand, und der hohe Zylinderhut, der wunderlich zu dem sonstigen Aufzuge
paßte, glänzte in der Sonne. Die »Hannoveraner« blieben stehen und
brachen in ein lautes Gelächter aus.

Bismarck war nicht in der Stimmung, sich etwas bieten zu lassen; er
trat an den vordersten der Burschen dicht heran und fragte scharf:

»Lachen Sie über mich, Herrens?«

»Natur, das können Sie doch sehen!« lachte es ihm entgegen.

»Dummer Junge!« brauste nun der Geärgerte auf.

»Wen meinen Sie?« riefen die anderen.

»Natur, alle viere!«

Damit wandte er sich und ließ die einigermaßen verblüfften
»Hannoveraner« stehen. Obwohl er noch ein Neuling war, wußte er doch,
was nun kommen mußte. Das gab höchstwahrscheinlich vier blutige
Auseinandersetzungen, aber auch davor ward ihm nicht bange. Da er
Sekundanten und kommentmäßige Waffen brauchte, begab er sich gleich
darauf zu dem Senior des Korps der Braunschweiger (Brunsvigia) und
belegte dort die Schläger. Nun wartete er ruhig das weitere ab, aber
das kam anders, als er gemeint hatte.

Die vier »Hannoveraner« waren zunächst aufgebracht über den »frechen
Fuchs«, aber einer von ihnen, ein Hausgenosse Bismarcks, der diesen
einigermaßen besser kannte, und dem die ganze »forsche« Art und Weise
desselben gefiel, warf auch den anderen einen Gedanken hin, der diesen
völlig annehmbar dünkte, und so kam es, daß alle vier noch an demselben
Tage sich bei Bismarck einfanden.

Der empfing sie mit kühler Höflichkeit.

»Ich weiß, weshalb Sie kommen, meine Herren!«

»Verzeihen Sie, Herr von Bismarck, das dürften Sie nicht wissen.
Wir kommen, um Sie wegen unseres Gelächters von heute morgen um
Entschuldigung zu bitten, und hoffen, daß Sie die »dummen Jungen«
zurücknehmen werden!«

»Unter solchen Umständen mit Vergnügen!«

»Schön. – Und wissen Sie auch, was uns veranlaßt zu solchem Vorgehen?
– Sie gefallen uns, Herr von Bismarck, und da Sie noch nirgends
eingesprungen sind, und wir uns auf einen so schneidigen Fuchs etwas
zugute tun würden, so fragen wir an, ob Sie nicht für unser Korps zu
haben sind?«

»Abgemacht! – Ihr gefallt mir, – ich bin der eure!«

Ein vierfacher herzlicher Händedruck, und die Sache war in Ordnung.

Aber um sein Duell kam er bei alledem nicht. Die »Brunsvigia« war
empört, weil er bei ihr die Waffen belegt und nun bei einem anderen
Korps eingesprungen war. Die Beleidigung konnte man nicht auf sich
sitzen lassen, und der Konsenior der Brunonen ließ Bismarck seine
Forderung überbringen.

Man war gespannt darauf, wie der junge Fuchs sich herausbeißen werde;
der aber ging frohgemut auf die Mensur gegen seinen renommierten
Gegner. Dieser glaubte anfangs den Neuling so leichthin behandeln
und mit Leichtigkeit »abführen« zu können, aber Bismarck hatte Kraft
und Übung; schon nach einigen Paraden ging er zum Angriff über, und
gleich darauf zog sich ein blutiger Schmiß über das Gesicht des
»Braunschweigers«. Im Triumph führten die »Hannoveraner« ihren Fuchs
von dannen, doppelt froh, ihn für sich gewonnen zu haben, und er machte
dem Korps auch als Paukant alle Ehre, denn aus allen seinen Mensuren
ist er als Sieger hervorgegangen.

Eines Abends saß er in der Korpskneipe der »Hannoveraner«, im
»Deutschen Haus«. Als Gast war auch ein junger Engländer, Coffin,
anwesend, der zu seinem Vergnügen einige Vorlesungen besuchte. Die
jungen Gemüter waren durch Gesang und Trunk angeregt, lebhafter
schwirrte die Unterhaltung hin und her und kam endlich auch auf
politisches Gebiet.

Angehörige verschiedener deutscher »Vaterländer« befanden sich in dem
Kreise, und das schien den Engländer zu belustigen.

»Sie haben 36 Vaterländer und kein Vaterland, und ihr Schutzpatron,
der deutsche Michel, hat’s auch gar nicht eilig, eine Eintracht zu
schaffen. Er zieht behaglich seine Schlafmütze über die Ohren, hüllt
sich vergnüglich in seinen bunten 36farbigen Schlafrock und – –«

Da stand Bismarck neben dem Fremden. Mit seinen flammenden Augen sah er
ihn an, hochaufgerichtet und drohend.

»Herr, schwätzen Sie nicht, was Sie nicht verstehen, sonst dürften Sie
den deutschen Michel ohne Schlafrock kennen lernen! – Umgürte dich mit
dem ganzen Stolze deines England, ich verachte dich, ein deutscher
Jüngling!«

Stürmische Bewegung ging durch den ganzen Kreis. Coffin war
aufgesprungen:

»Das ist eine Beleidigung!«

»Sie haben zuerst beleidigt!«

»Wir werden uns an einem anderen Orte finden!«

»Ich werde nicht fehlen!« – –

Am nächsten Tage wurde die Sache mit den Waffen ausgetragen, und der
Engländer erkannte, daß der »deutsche Michel« eine gute Klinge schlage.
Damit war der Ehre Genüge getan und die Geschichte beigelegt. Schon
wenige Tage später saßen die beiden Gegner wieder im »Deutschen Hause«
beisammen und sprachen in ernster und ruhiger Weise.

»Und Deutschland wird doch einig werden, und in seiner Einigkeit sich
wie ein Riese erheben über die Völker Europas,« sagte Bismarck.

Coffin schüttelte energisch mit dem Kopfe:

»Das wird niemals werden; aus so vielen Stücken wird kein Ganzes –
niemals!«

»Und doch werde ich rechtbehalten; in zwei Jahrzehnten ist das ganze
deutsche Volk eins geworden, aber es braucht dazu mehr als unsere
Hieber und die Tinte der Diplomaten!«

»Davon werden Sie mich nicht früher überzeugen, als bis ich es erlebe!«

»Gut, – wetten wir! 25 Flaschen Champagner gibt der Gewinner, der
Verlierer aber kommt übers Meer, um sie auszutrinken!«

»Das soll gelten, – die Herren sind Zeugen!«

So lebte in der stolzen, starken Jünglingsseele die Ahnung der großen
kommenden Zeit, die freilich im Jahre 1853 noch nicht anbrechen sollte.
Bismarck aber hat die Wette nicht vergessen und hätte sie seinerzeit
auch eingelöst, wenn der Tod nicht vordem schon seinen Partner
abgerufen hätte.

Ei, wie dem flotten Burschen die Tage dahinflogen im freundlichen
Göttingen, so daß er beinahe gar nicht dazu kommen konnte, die
Kollegien zu besuchen, weil er alle Hände voll zu tun hatte, mit
anderen Dingen! Sein Name galt etwas in Studentenkreisen, und er hatte
seinen Ruf nicht bloß auf dem Paukboden, sondern auch durch sein
Geschick, Gegensätze auszugleichen und diplomatisch zu vermitteln,
erworben.

Es war an einem kalten Januartage des Jahres 1833, als vor Göttingen
draußen in einem Wäldchen sich einige junge Leute einfanden zu
einem, wie es schien, recht ernsten Geschäft. Am Abend vorher war
ein englischer Student, Knight, auf einem Balle von dem jungen Baron
von Grabow beleidigt worden. Die Sache war an sich nicht von Belang,
aber die Gegner waren hitzig geworden und hatten sich auf Pistolen
gefordert. Und nun standen sie an dem klaren, kalten Wintermorgen da,
um die Sache auszutragen.

Bismarck war mit Knight herausgefahren, um diesem als Dolmetsch
zur Seite zu stehen. Da es aber an einem Unparteiischen fehlte, war
er gern bereit, das Amt zu übernehmen. Die Sekundanten hatten die
Waffen geladen, der Arzt stand seitwärts vor seinem aufgeschlagenen
Verbandskasten, und auf allen Gesichtern lag schwerer Ernst, denn die
Duellanten hatten nur drei Schritt Barriere verabredet.

Da sagte Bismarck:

»Meine Herren, Ihre Ausmachung bedeutet nicht mehr ein Duell, sondern
einen Mord. Dazu gebe ich meine Hand nicht! Die Sache, um deretwillen
Sie sich hier gegenüberstehen, ist, wie ich nicht zweifle, auf ein
unseliges Mißverständnis zurückzuführen, und nicht derart, daß darüber
zwei Menschenleben mit beinahe absoluter Sicherheit aufs Spiel gesetzt
werden. Ich meine, der Ehre ist auch völlig genügt, wenn Sie zehn
Schritte Abstand nehmen. Und nur für diesen Fall fungiere ich als
Unparteiischer.«

Die Duellanten erklärten sich einverstanden.

Bismarck schritt die Entfernung mit weitausgreifenden Schritten ab
und fügte noch zwei Schritte zu. Dann trat er an den Arzt heran, um
diesen von der Eigenmächtigkeit zu verständigen – und nun mußten die
Dinge ihren Lauf nehmen. Bismarck kommandierte, die Schüsse krachten
gleichzeitig, – eine Sekunde lang stand jedem der Herzschlag still,
– dann zog sich der bläuliche Rauch verschwimmend in die Morgenluft,
und die Kugeln saßen irgendwo in zwei Baumstämmen. Blut ist bei jenem
Zweikampf nicht geflossen.

Ruchbar ward die Sache aber trotzdem, und der Studiosus Bismarck
erhielt zehn Tage Karzerstrafe, die er mit stoischem Behagen absaß,
wobei er nicht versäumte, sich in die Präsenzliste einzuzeichnen, indem
er seinen Namen in die Karzertür schnitt.

Nicht gar lange danach fühlte er eines Morgens ein seltsam Mißbehagen
in seinen Gliedern. Das war ein Ziehen und Frösteln, so ganz anders
als nach lustig durchlebter Nacht, und er fand, daß es doch vielleicht
gut wäre, einen Medikus zu Rate zu ziehen. Der Arzt konstatierte
Wechselfieber, und so lag er einige Tage zu Bette, verstimmt,
gelangweilt, appetitlos, und versuchte unmutig ab und zu etwas von dem
verschriebenen Chinin einzunehmen.

Da kam eines Morgens eine Sendung aus Pommern. Ein köstlicher Duft
stieg aus der geöffneten Kiste, und der Patient begann mit zunehmendem
Interesse die Herrlichkeiten auszupacken, welche mütterliche Liebe und
Sorgfalt ihm hatte zugehen lassen. Neben den berühmten pommerschen
Gänsebrüsten lachte ein saftiger bräunlicher Schinken, und behagliche
Würste streckten ihre glänzenden Glieder dazwischen.

Ein Gruß aus der Heimat! Na, ein Stückchen Wurst wird auch bei Fieber
nicht schaden! Die Mettwurst ist so saftig und würzig, und es ist ganz
wunderbar, wie einem der Appetit beim Essen kommt. Der Kranke schneidet
eine Scheibe nach der anderen herunter, und erst, als eines der kleinen
Ungetüme, die ihre drei bis vier Pfund wiegen mochten, zur Hälfte
verschwunden war, stellte Bismarck seine Tätigkeit ein. Dabei war ihm
so wohl, wie seit einigen Tagen nicht, und der Arzt sah, als er kam,
mit freudiger Verwunderung seinen Patienten.

»Da hat das Chinin wieder einmal sein Wunder getan!« sagte er mit
Genugtuung; Bismarck aber sprach:

»Ich habe ein Mittel genommen, das mir noch wirksamer scheint.
~Recipe~: Jede Stunde ein halb Pfund pommersche Mettwurst; ’s ist
probat, lieber Doktor!«

Der Arzt sah mit verwundert großen Augen die geöffnete pommersche Kiste
und »was Arbeit unser Held gemacht.«

Zu Michaelis ging’s nach Kniephof. Drei Semester waren verlebt an
der Georgia Augusta. Da saß er wieder in dem kleinen pommerschen
Herrenhause und sah hinaus auf die bewegten Wipfel im Parke und
blies aus der langen Pfeife vergnüglich seine Rauchwolken. Die Frau
Mama schaute ihn mit Liebe und Sorge zugleich an und schien von
Göttingen ein wenig enttäuscht. Die kleine Schmarre auf der Wange –
sie stammte von der abgesprungenen Klinge eines Gegners – die bunten
Pfeifentroddeln, die Cerevis schienen ihr verwunderliche Geschichten zu
erzählen, und sie wollte ihren Jüngsten von nun ab etwas mehr in ihrer
Obhut wissen!

So kam es, daß Otto von Bismarck nicht nach Göttingen zurückging,
sondern noch drei Semester an der Berliner Hochschule verbrachte.
Es ging auch hier eine Zeitlang flott und lustig weiter, und das
»~Gaudeamus!~« klang in der preußischen Residenz nicht minder frisch
und froh als in Göttingen.

Eines Abends trat er bei seinem Freunde, dem jungen Grafen
_Kaiserlingk_, ein.

»Wie ist’s – gehst du mit zur Kneipe?« fragte er.

»Heute bin ich nicht in der Stimmung, und denke mich darum in meinen
vier Pfählen behaglich einzurichten. Bleib da, Bismarck, an »Stoff«
soll’s auch hier nicht fehlen, und meine Pfeifen stehen dir zur
Verfügung.«

»Soll gelten – das Wetter ist jetzt verlockend zum Daheimsitzen –
höre, wie der Wind um die Fenster saust. – Ah, da ist auch _Motley_«
– unterbrach er sich, als ein junger, blonder Mann eintrat, den die
beiden anderen herzlich begrüßten – »na, ~tres faciunt collegium~!«

Er streckte sich behaglich auf dem Sofa und bat: »Aber nun mußt du
unser Konvivium auch stimmungsvoll einleiten, Kaiserlingk!«

Der junge Graf setzte sich an das Instrument, und das sang und klang
durch den Raum, als webe eine Geisterschar an einem Märchen; bald weich
und melodisch, bald wild bewegt wie ein aufgeregtes Gemüt – klang es
aus den Saiten, und der große Beethoven hatte das Wort! Und auf dem
Sofa saß der wilde, flotte Bursche und hatte sich in die Ecke gelehnt
und den Kopf in die Hand gestemmt. Als der letzte Ton verklungen, sagte
er:

»Sehr schön, Kaiserlingk! – das kann böse Geister bannen, und mir ist,
als verstehe ich jetzt erst die Geschichte von Saul und David. Heute
taugte ich überhaupt nicht mehr für die Kneipe. Motley, haben Sie nicht
einen Ihrer geistvollen geschichtlichen Aufsätze bei sich, es wäre
köstlich, wenn Sie uns was mitteilen wollten.«

»Wenn es gewünscht wird, kann ich etwas holen« – sagte der junge
Engländer, der in demselben Hause wohnte, und ging. Als er
zurückkehrte, hatten sich noch zwei junge Gäste eingefunden, und
nun wurde der Abend in der anregendsten Weise verlebt. Es war spät
geworden, als Bismarck bat: »Kaiserlingk, nun noch etwas zur guten
Nacht!«

Und der junge Graf griff noch einmal in die Tasten, und der
bestrickende Zauber der »Mondscheinsonate« nahm die jungen Gemüter
gefangen.

»Kinder,« sagte Bismarck, »solch ein Abend gibt einem ordentlich eine
Sehnsucht nach dem Philistertum; lacht mich aus, wenn ihr wollt – aber
von morgen an werde ich solide und verlege mich aufs Arbeiten. Und das
hat mit ihrem Singen die Loreley getan! Gute Nacht!«

Und in der Tat legte er sich ins Zeug, um das in der flotten
Burschenzeit Versäumte nachzuholen. Um die Osterzeit des Jahres 1835
kam er eines Tages in das Haus seiner Tante, der Generalin von Kessel,
und wurde hier, wie immer, von seinen Cousinen heiter und herzlich
begrüßt.

»Na, heute bitte ich mir etwas Respekt aus! Seht ihr mir nichts an?«

Neugierig und lachend betrachteten ihn die jungen Damen von allen
Seiten.

»Was soll denn aus dir wohl werden, so über Nacht?«

»Ja, das Raten ist nicht eure starke Seite! Da will ich’s euch sagen.
Ich habe vorgestern mein Staatsexamen gemacht und bin als Auskultator
für das Stadtgericht vereidigt worden!«

»Ah! – Gratuliere! – Aber ansehen kann man dir die Würde nicht!« rief
es durcheinander, doch Fräulein Helene, die als Künstlerin sehr tüchtig
war, rief:

»Diese Phase seines Lebens muß festgehalten werden! Otto, ich male dich
als Auskultator!«

»Kann mir nur schmeichelhaft sein! Da weiß man später doch einmal, wie
man als neugebackener Philister ausgesehen hat.«

Da trat Bernhard von Bismarck ein, der gleichfalls in Berlin als
Referendar tätig war, und der mit Otto zusammenwohnte.

»Ich habe mir’s gleich gedacht, daß er bei Euch stecken wird« –
rief er; »jetzt, da er in Amt und Würde ist, sucht er freundliche
Häuslichkeiten mit heiratsfähigen Töchtern!«

»Aber Bernd« – riefen die Damen entrüstet.

»Freut euch doch, daß die Zeit vorüber ist, in welcher er jungen Damen
die Fenster einzuwerfen pflegte.«

»Und das hat er wirklich getan?«

»Da sieht man wieder die Übertreibung,« lachte Otto von Bismarck
– »wobei nicht einmal meine besondere Liebenswürdigkeit erwähnt
wird. Daß der Göttinger Professor, der durch sein Verhalten gegen
mich das Fensterattentat provoziert hatte, einige Töchter besaß,
konnte ihn freilich vor meiner Rache nicht retten, aber ich kann zu
meiner Entschuldigung sagen, daß ich die Scheiben nicht mit Steinen,
sondern mit Kandiszucker eingeworfen habe, um den Mädchen wenigstens
einigermaßen den Schrecken zu versüßen. Übrigens, bitte, stellt mir
einmal einen dienstbaren Geist zur Verfügung! Ich habe einen Schuster
in der Kronenstraße, welcher mir bis gestern ein Paar Stiefel liefern
sollte, und mich, wie bereits in früheren Fällen, im Stiche ließ. Den
Mann will ich Ordnung lehren. Seit heute früh sechs Uhr schicke ich ihm
alle zehn Minuten einen Boten mit der Anfrage, ob meine Stiefel noch
nicht fertig wären. Ich vermute, daß ich sie heute noch erhalte.«

Wenige Tage später saß der junge Auskultator im Berliner Stadtgericht
und waltete seines Berufes mit Eifer und – je nachdem – auch mit Humor.
Der Sommer verging und der Herbst, und der Winter brachte mit seinen
geselligen Vergnügungen manche schöne Abwechslung in die Einförmigkeit
seines Amtes. Von besonderem Interesse war dabei der erste Hofball,
welchem er beiwohnte.

Seine äußere Erscheinung auf demselben war in jeder Weise vornehm und
durch Gestalt und Haltung geradezu auffallend. Üppiges Haar umwallte
das hochgetragene Haupt, und in dem geistvollen aristokratischen
Gesichte blitzten frisch, lebhaft und durchdringend klar die Augen.
Wie er so Arm in Arm mit seinem Kollegen, dem Auskultator von Scherk,
dahinschritt, folgten alle Blicke den beiden prächtigen Gestalten, die
der bekannte selige Preußenkönig sich für seine Potsdamer Riesengarde
nicht gern hätte entgehen lassen. Auch dem Prinzen Wilhelm (dem
nachmaligen Kaiser Wilhelm I.) fielen die beiden jungen Männer auf, und
als sie ihm vorgestellt wurden, sagte er mit wohlgefälligem Lächeln:

»Nun, die Justiz legt wohl auch jetzt das Gardemaß an ihre Leute?«

»Königliche Hoheit,« erwiderte Bismarck, indem er klar und voll den
Prinzen anblickte, »auch wir Juristen ziehen den Soldatenrock an, wenn
es fürs Vaterland gilt!«

Am nächsten Morgen saß er, noch in Erinnerung an den vorigen Abend
versunken, am grünen Tische des Stadtgerichts. Vor ihm stand ein
biederer Berliner, der in einer Bagatellsache zu vernehmen war. Der
Mann, welcher den kaustischen Humor, aber auch die Zungenfertigkeit des
hauptstädtischen Proletariers besaß, glaubte, dem jungen Auskultator
gegenüber sich noch mehr als üblich herausnehmen zu dürfen, und
perorierte in nicht ganz ruhiger Weise. Bismarck, dem die Sache endlich
zu arg ward, sprang mit seiner imponierenden Gestalt auf und rief:
»Wenn Sie sich nicht mäßigen, werfe ich Sie hinaus!«

Der Mann war einigermaßen verdutzt über diesen unerwarteten Ausbruch,
aber auf Bismarck selbst trat der anwesende Stadtgerichtsrat herzu und
sagte, indem er ihm die Hand auf den Arm legte:

»Das Hinauswerfen ist _meine_ Sache, Herr Auskultator!«

Bismarck nahm sein Gerichtsverfahren wieder auf, der Berliner
aber, welcher nun Oberwasser erhalten zu haben meinte, wurde noch
unangenehmer als zuvor, bis der Auskultator zum zweitenmal aufsprang
und mit einem sehr bezeichnenden Seitenblick rief: »Herr, wenn Sie
sich nicht mäßigen, lasse ich Sie durch den Herrn Stadtgerichtsrat
hinauswerfen!«

Das Stadtgericht wollte Bismarck überhaupt nicht länger behagen;
er brauchte ein größeres Feld, einen weiteren Gesichtskreis, und
so verließ er 1836 Berlin und begab sich als Hilfsarbeiter zur
Königlichen Regierung nach Aachen, wo der Regierungspräsident Graf
Arnim-Boytzenburg sich freundlich des jungen Referendars annahm und
auch gesellig in seiner Familie mit ihm verkehrte.



Viertes Kapitel.

Am eigenen Herde.


König Friedrich Wilhelm III., der die Not und die herrliche Erhebung
Preußens gesehen, war gestorben, und sein Sohn, Friedrich Wilhelm
IV., hatte den Thron bestiegen. Das war im Jahre 1840, und in den
Oktobertagen desselben fanden sich zahlreiche Vertreter des Volkes und
des Adels zur Huldigungsfeier in der Hauptstadt ein. Die Sonne des
15. Oktobers war freundlich aufgegangen über dem Lustgarten, wo die
tausendköpfige Menge sich um die reichgeschmückten Söller drängte, von
welchen herab der neue Herrscher zu seinem Volke sprechen wollte.

Nun war er erschienen, ließ seine hellen Augen über die in Ehrfurcht
schweigende Versammlung schweifen, und dann begann er in der ihm
eigenen lebhaften und begeisternden Art zu sprechen. Und die Stimme
klang so klar wie Glockenton hinein in die heftiger pochenden Herzen:

»Ritter, Bürger, Landleute und von den hier unzählig Gescharten alle,
die meine Stimme vernehmen können, ich frage Sie, wollen Sie mit
Geist und Herz, mit Wort und Tat und ganzem Streben, in der heiligen
Treue der Deutschen, in der heiligeren Liebe der Christen mir helfen
und beistehen, Preußen zu erhalten, wie es ist, wie es bleiben muß,
wenn es nicht untergehen soll? Wollen Sie mir helfen und beistehen,
die Eigenschaften immer herrlicher zu entfalten, durch welche Preußen
mit seinen nur 14 Millionen den Großmächten der Erde beigesellt
ist, nämlich Ehre, Treue, Streben nach Licht, Recht und Wahrheit,
Vorwärtsschreiten in Altersweisheit zugleich und heldenmütiger
Jugendkraft? Wollen Sie in diesem Streben mich nicht verlassen und
versäumen, sondern treu mit mir ausharren durch gute und böse Tage?
O, dann antworten Sie mir mit dem schönsten und klarsten Laut der
Muttersprache, antworten Sie mir ein ehrenhaftes Ja!«

Und mit überwältigender Macht brauste das Wort durch die bewegten
Lüfte, unten aber in der dichtgedrängten Menschenmenge faßte ein
junger, stattlicher Mann die Hand des neben ihm Stehenden mit warmem
Drucke und sagte:

»Das soll gelten, Bernd, für alle Zeiten!«

»Helf uns Gott, Otto!« erwiderte der andere; der alte, stattliche Herr
aber, welcher bei den beiden stand, wischte sich einmal mit der Hand
über die Augen.

Die Menge wogte auseinander. Die drei jedoch schritten langsam
hindurch, der alte Herr in der Mitte, der nun sagte:

»Das war seit langem wieder eine schöne, erhebende Stunde, die wir alle
nicht vergessen wollen. Schade, daß wir der Mutter nicht mehr davon
erzählen können.«

Es waren drei hochragende, prächtige Gestalten, welche durch die
belebten Gassen schritten nach der Behrenstraße zu; ehe sie aber
dieselbe erreichten, kreuzte ein junger Mann von gleichfalls
auffälliger Statur ihren Weg. Er zog überrascht den Hut, und der
Jüngste von den dreien rief lebhaft:

»Schenk! – Du bist hier?«

Eine herzliche Begrüßung der Freunde folgte, und bald gingen sie,
nachdem sie sich von den beiden anderen verabschiedet hatten, zusammen
auf den Bürgersteig hin, und betraten endlich ein Weinhaus, wo sie in
einer abgelegenen Ecke sich niederließen. Der Kellner brachte Wein,
leise klangen die Gläser zusammen, und Wilhelm von Schenk sagte: »Nun
weißt du meine Erlebnisse, lieber Bismarck, jetzt laß mich hören, wie
es dir gegangen ist, seitdem du nach Aachen übergesiedelt warst.« Der
andere sprach:

»In Aachen habe ich nicht lange ausgehalten. Ich kam beinahe wieder
in die alte Burschenherrlichkeit hinein, und das wollte mir nicht
passen. Ich hatte das Bewußtsein, daß mein preußisches Beamtentum mir
dort mit Grundeis gehe, und das wollt’ ich nicht. Ich hatte mir in
den Kopf gesetzt, redlich zu arbeiten im Dienste des Vaterlandes, und
so wurde ich auf mein Ansuchen im Herbste 1837 nach Potsdam versetzt,
wo der Geheimrat Wilke mir Pünktlichkeit und Strammheit im Dienste
angewöhnte. Die konnte ich auch ganz gut brauchen, als ich im nächsten
Frühling des Königs Rock anzog und bei den Potsdamer Gardejägern als
Einjährig-Freiwilliger die Anfangsgründe der Kriegskunst exerzierte.
Das habe ich so ein halbes Jahr getrieben. Dann ließ ich mich zum
2. pommerischen Jägerbataillon in Greifswald versetzen. Da war ich
Soldat und Student zugleich und hörte in Eldena landwirtschaftliche
Vorlesungen, denn in dem Hintergrunde der nächsten Zeit lag bereits die
Aussicht, einen Teil unserer Güter übernehmen und Landwirt werden zu
müssen. Es gab so manches gutzumachen und in die Höhe zu bringen – na,
wie das eben so geht. Ostern 1839 war ich denn auch wieder in Kniephof.
Meine Eltern zogen sich nach Schönhausen zurück, und Bernhard und ich
übernahmen die pommerischen Güter, so zwar, daß mir Jarchelin und
Kniephof und meinem Bruder Külz zukam. Es fiel mir aber gleich in den
Anfang dieser selbständigen Tätigkeit ein trüber Schatten – du weißt
wohl – –«

»Ich weiß, deine treffliche Mutter ist voriges Jahr gestorben – nimm
noch die Versicherung meiner herzlichen Teilnahme! Sie war eine
ausgezeichnete Frau!«

[Illustration: ~Eis. Kanzler II.~

Friedrich Wilhelm IV. und Bismarck.]

»Ja, sie war »Verstand des Hauses«, und uns war sie noch mehr. Nun
sitzt mein Vater ernst und trüb in Schönhausen, und Malwine sucht ihn
zu erheitern, so gut das gehen will. Ich aber habe den Diplomaten an
den Nagel gehängt und baue meinen Kohl!«

»Und wenn das Vaterland ruft, bist du doch da!«

»Das ist selbstverständlich. War das nicht herzerhebend heute, wie alle
die Tausende dem König die Versicherung ihrer Treue gaben? Mir ist mein
»Ja« aus vollem Herzen gekommen – laß uns anstoßen: Dem Vaterlande die
ganze Kraft!«

Die Gläser klangen hell und voll, und die Augen der beiden jungen
Männer leuchteten. Sie saßen noch eine Weile beisammen und tauschten
alte Erinnerungen, dann erhob sich Bismarck:

»Mein Aufenthalt in Berlin ist knapp bemessen, so daß wir uns hier kaum
noch einmal sehen. Aber wenn dich dein Weg ins Pommernland führt, so
erinnere dich, daß Otto von Bismarck auf Kniephof bei Naugard sitzt und
seinen Freunden dankbar ist, wenn sie ihm die Gelegenheit geben, sie zu
bewirten!«

Kurze Zeit darauf saß er wieder in seinem schlichten Herrenhause.
Mit Scharfblick und Tatkraft erfaßte er die Verhältnisse und suchte
nach allen Kräften zu bessern. Am frühen Morgen schon war er im
Sattel und ritt durch die Felder, um nach dem Rechten zu sehen, oder
bei erfahrenen Nachbarn Rat zu erholen, und daheim machte er sich
über seine Wirtschaftsbücher und brachte Klarheit und Ordnung in die
Verwaltung seines Besitztums. Im dämmernden Abendschein schritt er
durch den Park, begleitet von seiner Dogge, und manchmal kamen ihm
recht wunderliche Gedanken, und ein stürmischer Tatendrang wollte ihn
erfassen und in die Welt treiben.

An einem solchen Abend kam er unmutig herein in seine vereinsamten,
stillen Räume. Die Bücher, welche er sonst in diesen Stunden zur
Hand nahm, wollten ihm heute nicht gefallen, die Pfeife war ihm
ausgegangen, und mit weitausgreifenden Schritten ging er durch die
Wohnräume seines Kniephof. Da blieb er vor einem Bilde stehen. Es war
ein alter preußischer Reiteroberst, der da aus dem Rahmen auf ihn
herunterschaute, sein Urgroßvater, Herr Friedrich August von Bismarck,
dem weiland in der Czaslauer Schlacht eine Kugel zwischen Leib und
Seele gefahren war. –

»Ein ganzer Mann, dieser alte Herr! Das Leben genießen und dann einen
fröhlichen Reitertod sterben fürs Vaterland – das muß schön sein! Ich
glaube, in mir steckt etwas von dem »tollen Bismarck«, und ein lustig
Reiten, ein fröhlich Zechen tut mir wieder einmal not, wenn ich nicht
versauern soll. Dabei braucht man nicht zu verderben! Morgen geht’s
einmal ins Weite!«

So sprach er zu sich selber, und wie er wieder nach seinem Zimmer
zurückschritt, sah er seine Pistolen an der Wand hängen. Er nahm sie
herab.

»Ich muß mir Luft schaffen!« rief er, wie einstens in der Behrenstraße
53 im Zimmer seines Bruders, und gleich darauf krachten die Schüsse und
schlugen in die Decke, daß Kalk und Mörtel splitterten.

Am anderen Morgen ließ er sein Pferd satteln und brauste fort, »daß
Kies und Funken stoben«. Er hatte sich erinnert, daß in Kollin bei
Stargard an diesem Abend eine vergnügte Gesellschaft beisammen sei, und
wenn es bis dahin auch etwa 14 Meilen waren, er wollte zeigen, was ein
tüchtiger Reiter und ein gutes Pferd leisten können.

In Wangerin hielt er Mittagsrast. Am Tische neben ihm saß ein junger
Mann, der sich ihm als Weinreisenden vorstellte und seine Ware anpries.
Bismarck verlangte, daß er ihm Proben vorführe, und der andere brachte,
was er bei sich hatte.

Ein Fläschchen um das andere wurde vor den Augen des erstaunten
Reisenden leer, und Bismarck begehrte immer mehr Proben, bis dem
anderen der Vorrat ausging. Das war in einem kleinen Stündchen abgetan,
und nun ging’s wieder zu Roß weiter auf der Stargarder Straße, und
abends traf der wilde Reiter in Kollin ein und überraschte die heitere
Gesellschaft. Nun gab es ein fröhlich Zechen, schallendes Gelächter
bei manchem lustigen Schwank, und dem Besucher, der aus der Einsamkeit
seines Kniephof kam, erfrischte es Herz und Mut, sich wieder einmal in
genialer Burschenlust gehen zu lassen.

Er lud seine Freunde ein, ihn auf seinem Schlößlein zu besuchen, und
sie blieben nicht aus. Der alte Kniephof sah nun manche übermütige
Stunde. In die Nacht hinaus klangen lärmende Zecherlieder, und oben
ging das Trinkhorn in die Runde, und aus den großen Pokalen trank
man Porter und Champagner durcheinander. Dann raste es mitunter
nächtlicherweile wie die wilde Jagd durch den schweigenden Park,
krachende Schüsse weckten die Ruhe der Schläfer, von abenteuerlichen
Streichen, von wunderlichen Wetten gingen die seltsamsten Geschichten
in der Runde, und bald hieß es: »der tolle Bismarck ist auf Kniephof
wieder lebendig geworden!«

Manch einer kam, angezogen durch dieses Treiben; er fand ein gastliches
Haus, einen gefüllten Becher, einen jovialen Wirt, – aber es geschah,
daß dieser mitten in der übermütig lärmenden Unterhaltung ein Wort
aufgriff, an das er ernste und geistvolle Erörterungen knüpfte, wie sie
aus historischen Reminiszenzen und aus seinem eigenen, für die Ehre des
Vaterlandes begeisterten Herzen kamen. Dann horchte die verwunderte
Tafelrunde hoch auf, und manch einem kam ein Ahnen, daß in dem jungen
Gutsherrn mehr stecke, als zur Verwaltung von Kniephof gehöre.

Das Herz hatte er auf dem rechten Flecke, und das hat er, wo es galt,
bewiesen. Im Sommer 1842 war er als Landwehroffizier in Lippehne.
Der schneidige Ulanenleutnant war auch hier einem kecken, lustigen
Streiche nicht abgeneigt, so wenig wie den Freuden des Bechers. Eines
Nachmittags kam er mit einigen Kameraden an den Wendelsee. Er wollte
mit seinen Begleitern über die Brücke gehen, die über denselben führt,
da er aber merkte, daß eben sein Reitknecht ankam, um in dem Wasser
sein Pferd zu schwemmen, blieb er stehen. Der Bursche ritt zwischen
der Brücke und der Gotthardtschen Gerberei in den See. Ob nun die
Anwesenheit der Offiziere ihn verwirrte, oder ob das Pferd den Grund
verlor, – genug, er zog die Zügel zu straff an, das Tier wurde unruhig,
bäumte sich, und der Reiter flog herab und verschwand auch sogleich in
den Wellen.

Bismarck überlegte in diesem Augenblicke nicht; er warf Mütze und
Säbel fort und sprang, wie er war, in Uniform, über das etwa 15 Fuß
hohe Brückengeländer kopfüber in den See. Mit starker Hand faßte er
den Burschen, der halb bewußtlos ihn so umklammerte, daß er selbst in
freier Bewegung gehindert war. Da riß er denselben mit sich nieder zum
Grunde, um ihn bewußtlos zu machen. Es waren bange Augenblicke für die,
welche auf der Brücke standen. Blasen stiegen aus dem Wasser … aber die
beiden Menschen kamen nicht empor. Endlich tauchte das Haupt Bismarcks
auf. Er hatte mit fester Hand den Burschen gepackt, ihn auf den Rücken
geworfen, und zog nun schwimmend ihn hinter sich her, bis er Grund
fand. Nun schleppte er den Bewußtlosen auf seinen Armen an das Ufer, wo
er freudig begrüßt wurde.

Eine gewaltige Erregung ging durch die ganze kleine Stadt, und
als Bismarck, der sich in der Nähe umgekleidet, nach derselben
zurückkehrte, kam ihm eine Schar von Bürgern mit dem Oberpfarrer Stöhr
in seiner Amtstracht an der Spitze entgegen, um ihn zu begrüßen und zu
beglückwünschen.

Bald darauf erhielt er vom König die Rettungsmedaille, welche er
jederzeit mit Stolz getragen hat.

Der flotte Offizier ging wieder nach Kniephof zurück. Es kam ihm
doppelt still vor, und manchmal war’s ihm, als dränge es ihn hinaus
in die Welt, – der gärende Most wollte noch nicht zur Klärung kommen.
Das Wort, das seine herrliche Mutter einst gesprochen: »Bernhard soll
Landrat, Otto Diplomat werden!« kam ihm immer wieder in den Sinn. Der
erste Teil war zur Wahrheit geworden, sein Bruder saß als Landrat in
Naugard, und der Ausspruch der Mutter erschien ihm bezüglich seiner
selbst wie eine vorwurfsvolle Mahnung.

So kam es, daß er einen neuen Anlauf nahm und wieder bei der Potsdamer
Regierung als Referendar eintrat. Ein rechtes Behagen fand er aber
bei alledem nicht, zumal sein Vorgesetzter, der Regierungspräsident,
ihn in beinahe geringschätziger Weise behandelte. Da kam ihm der alte
Bismarcktrotz, und es brauchte nicht viel, um den Becher des Unmuts bei
ihm überschießen zu lassen.

Eines Tages erhielt er von seinem Bruder das Ersuchen, ihn auf einige
Zeit zu vertreten. Er begab sich zu seinem Vorgesetzten, um sich einen
Urlaub zu erbitten. Als er eintrat, stand dieser am Fenster, kehrte
ihm den Rücken zu und trommelte auf der Scheibe. Bismarck stand einige
Augenblicke ruhig, dann schritt er an ein anderes Fenster und begann
nun seinerseits erst leise, dann immer vernehmbarer und lustiger einen
Marsch mit den Fingerspitzen zu exekutieren.

Jetzt fuhr der Präsident unmutig herum, und während der Referendar noch
weitertrommelte, fragte er zornig:

»Was wünschen Sie?«

»Eigentlich wollte ich mir einen Urlaub nachsuchen, jetzt bitte ich um
meinen Abschied.«

Und nun ging er nach Pommern, um für seinen Bruder einzutreten, dann
aber trieb es ihn hinaus in die Welt, und selbst seine Freunde wußten
nicht immer, wo sie mit ihrem Gedanken ihn suchen sollten.

Im Herbst 1844 trafen sich zwei derselben im Seebad Norderney. Der eine
fragte:

»Wissen Sie nichts von Otto von Bismarck?«

»Nach den letzten Nachrichten war er in England – und dieser Tage habe
ich eine Mitteilung aus Pommern erhalten, nach welcher er von dort nach
Indien zu gehen beabsichtigt.«

»Sieht ihm ähnlich, dem unruhigen Geiste, – er weiß eben nicht, wohin
er soll mit seiner Kraft.«

Und während die zwei so redeten, kam er selber mit langsamen Schritten
über die Dünenhügel her. Die Gestalt schien noch stattlicher geworden;
aus dem gesunden, bartumrahmten Gesichte blitzten die klaren Augen,
und kraftvoll und sicher kam er heran, sehr zum Staunen und zur Freude
seiner Freunde.

Lange hielt er an der See nicht aus. Er mußte heim, es zog ihn nach
Schönhausen, wo am 30. Oktober ein schönes Familienfest stattfinden
sollte, die Vermählung seiner Schwester Malwine mit seinem
Jugendfreunde Oskar von Arnim-Kröchlendorff. Das Herrenhaus in der
Altmark prangte im Festschmucke, seine »Malwine« strahlte vor Glück,
und sein Vater war freudig erregt, ihn selbst aber wollte eine leise
Wehmut fassen bei dem Gedanken, daß sein »sehr Geliebtes« jetzt aus dem
Elternhause gehe und sein Vater nun ganz allein bleiben sollte.

Als der Hochzeitslärm und die Festlust verrauscht war, blieb er noch
bei dem alten Herrn zurück. Sie gingen täglich zusammen durch den
Park und nach der Schäferei, widmeten sich gemeinsam der Beobachtung
der Thermometer und bemühten sich gleich weiland Karl V. die Uhren
im Herrenhause in Übereinstimmung zu bringen. Endlich mußte er aber
doch daran denken, wieder nach Kniephof zu gehen. Beim Abschied von
Schönhausen band er dem Inspektor Bellin und seiner Frau es dringendst
auf die Seele, recht gut für den alten Herrn zu sorgen, eine Mahnung,
welche die kleine, wackere Frau beinahe als Beleidigung hätte ansehen
dürfen.

Nicht lange danach gab es eine zweite Hochzeitsfeier, auf dem
pommerschen Herrensitze Triglaff, wo Bismarcks liebster Freund, Moritz
von Blankenburg, mit der Tochter des Hauses sich vermählte. Es war
ein vergnügtes Fest, und die Zahl der Gäste eine große. Unter den
Brautjungfern aber befand sich ein anmutiges Edelfräulein, einfach und
doch gewinnend in ihrem ganzen Wesen, und als Bismarck ihr vorgestellt
wurde, hatte er ein eigentümlich wonniges Empfinden. Das Mädchen mit
den blauen Augen, _Johanna von Puttkamer_, hatte es ihm von der ersten
Begegnung ab angetan.

»Sie ist die einzige Tochter von Jakob von Puttkamer; seine Frau ist
eine geborene von Glasenapp, und sie sitzen auf Reinfeld,« hatte
Blankenburg ihm gesagt, und ein anderer Freund fügte bei:

»Da geht’s anders zu als auf Ihrem Kniephof, lieber Bismarck. Da gibt’s
keine tollen Wetten, keine wilden Jagden und kein Porter-Sekt-Gemisch
aus Ochsenhörnern, da ist alles fein ehrsam und sittsam, ruhig und
fromm. Ihr singt »Freut euch des Lebens«, und auf Reinfeld werden nur
Choräle gesungen. Also sehen Sie dem Fräulein von Puttkamer nicht zu
tief in die Augen!«

Aber Bismarck tat, wie es ihm paßte, und als er abends im Garten zu
Triglaff neben dem anmutigen Mädchen saß und mit ihr plauderte, da
war ihm das ganze Feuerwerk gleichgültig geworden, welches dem jungen
Paare zu Ehren losgebrannt wurde. Die Stimmung war bei allen eine
froherregte: Die spielenden Lichter, die rollenden Feuersonnen,
die aufzuckenden Strahlengarben, welche in die Abenddämmerung
hineinglühten, erhöhten dieselbe, und Scherze und heitere Zurufe gingen
hin und her. –

Da sauste zischend eine Rakete empor, den funkelnden Schweif nach
sich ziehend, und aller Augen folgten. In demselben Moment erhob sich
ein stärkerer Windstoß, welcher das Geschoß seitwärts trieb gegen
den Wirtschaftshof. Dort fiel es auf ein Strohdach nieder, und nach
wenigen Minuten loderte daraus eine Flamme empor, welche nichts weniger
als programmgemäß war. Der Wind machte die Sache noch gefährlicher.
Angstrufe erschollen, Verwirrung kam unter die Gäste, die Dienerschaft
und die Dorfleute liefen davon, und die glühende Lohe schlug bereits
hoch empor und schwelte hinüber nach einem Nachbargebäude.

Bismarck verlor keinen Augenblick seine Besonnenheit. Er eilte nach dem
Stalle, wo er mit der neuvermählten Frau von Blankenburg zusammentraf,
welche, beseelt von gleicher Energie, ihm half, die Pferde
herauszuholen und vor einen Wasserwagen zu spannen, und gleich darauf
jagte der junge Edelmann die Rosse nach der Brandstätte zu und brachte
hier mit seinem bestimmten Wesen, mit seiner sicheren Klarheit Ordnung
in die Löschanstalten. Das Feuer aber griff trotzdem rasch um sich, und
am Morgen beleuchtete die aufgehende Sonne die rauchenden Trümmer auf
dem Gutshofe wie im Dorfe selbst.

Als Bismarck von Triglaff schied, sagte ihm der alte Herr von Thadden:

»Ich glaube, lieber Freund, es hat gestern zweimal gebrannt auf
Triglaff, und der zweite Brand wird sich wohl nicht wieder löschen
lassen. Na, Sie wissen wenigstens, wo die Brandstifterin wohnt und
können sie auf Reinfeld zur Rechenschaft ziehen. Viel Glück dazu!«

Die Worte sangen und klangen dem jungen Edelmann noch lange in den
Ohren, und wenn er daran dachte, mußte er still vor sich hinlächeln.

Der Winter ging, und der Frühling kam, und der junge Gutsherr hatte
alle Hände voll zu tun mit seiner Landwirtschaft, dazwischen brach wohl
auch einmal die alte, stürmische Lust, in die Welt zu jagen, sich Bahn.
Das Gefühl einer gewissen Vereinsamung überkam ihn manchmal auf seinem
Kniephof, und er strich dann freundlicher über den Kopf Odins, seines
Hundes, der ihm ein treuer Begleiter war.

Das Jahr sollte auch noch trübe genug enden. Im November erhielt
Bismarck die Nachricht, daß es mit seinem Vater, der von einem
Schlaganfall sich nicht mehr erholen konnte, recht schlimm stehe, und
so eilte er nach Schönhausen. Er fand den Teuren sehr schwach, und gab
sich keinen Hoffnungen hin. Auch der Inspektor Bellin und seine Frau
waren mutlos und verzagt. Die Frau erzählte:

»Ach, ich hab’s ja schon kommen sehen. Vor einigen Wochen, Sonntags,
kam der gnädige Herr gar nicht, um sich zur Kirche zu begeben, die er
doch nie versäumte. Die Glocken hatten schon geläutet, und so nahm ich
mir den Mut, bei ihm einzutreten und ihn zu erinnern. Da sprach er
ganz traurig: ›Ach, liebe Bellin, ich muß doch sehr schlecht hören,
wenn ich die Kirchenglocken überhöre.‹ Und dann ging er eilig nach dem
Gotteshause.«

Und der Inspektor fügte bei:

»Er hat manchmal so Ahnungen gehabt, und das gefällt mir nicht. Wie
heuer im Frühjahr uns die Elbe bis in den Park hereinkam und einige von
unseren schönen, alten Linden wegnahm, da war der gnädige Herr so sehr
gedrückt. ›Mein lieber Bellin,‹ sagte er, ›die Linden sind eingegangen,
ich denke, ich gehe nun auch bald ein‹.«

Und am 22. November hielt der treue Sohn die erkaltende Hand des Vaters
in der seinen und drückte diesem die Augen zu.

Das war ein Trauertag für Schönhausen, als der alte, brave Gutsherr in
die Gruft gesenkt wurde, und von den Bauern wischte sich manch einer
die Augen aus, dem der Verewigte mit Rat und Hilfe beigestanden. Ernst
und trübe sahen die beiden Brüder den Sarg hinabsenken, dann gingen sie
schweigend nach dem Herrenhause zurück.

»Wie ist’s, Otto,« sagte dort Bernhard, »du übernimmst Schönhausen und
überläßt mir Jarchelin.«

»Wenn dir’s so recht ist, Bernd – ich bin einverstanden!«

So war die Erbschaftsangelegenheit glatt und einfach geordnet, und das
alte Schönhausen sah im nächsten Frühling einen freundlicheren Tag.
Johannistag war’s, das liebliche Sommersonnwendfest. Die alten Linden
blühten und dufteten, die Sonne blickte hell vom blauen Lenzhimmel,
und am Portal des Herrenhauses standen der Inspektor und seine Frau,
Knechte und Mägde, Bauern und Bäuerinnen. Der Eingang war mit grünen
Reisern umwunden, und Otto von Bismarck hielt seinen Einzug in seinen
Stammsitz, und nannte sich nun _von Bismarck-Schönhausen_.

Aber einsam war es ihm hier, gar so einsam. Der tolle Jugendübermut
schien ausgeschäumt zu haben, er hatte wiederholt bereits dem Ernst
des Lebens in das Auge geschaut, hatte Amt und Würden angenommen als
Deichhauptmann und als Vertreter der Ritterschaft des Kreises Jerichow
im Merseburger Provinziallandtag. Aber seine Seele sehnte sich nach
dem Glücke des Familienlebens, und immer wieder trat das Bildnis jenes
anmutigen Fräuleins, das es ihm auf Triglaff angetan, vor ihn hin.

In solcher Stimmung traf ihn eine Aufforderung seines Freundes
Blankenburg zu einer Herbstreise; auch Fräulein von Puttkamer werde
sich beteiligen. Das war der Wink des Schicksals, ihm mußte Folge
geleistet werden.

Was war doch das für ein herrliches Wandern durch die malerischen
Täler, auf die umgrünten Höhen des eigenartigen deutschen Gebirges!
Blauer Himmel über herrlichen, lachenden Landschaftsbildern,
Lerchengesang in der Luft und jauchzenden Herzschlag in der Brust.
Das junge Blankenburgsche Paar störte den in zwei Seelen erwachenden
Frühling nicht, und unter den leise rauschenden Bäumen des Harzwaldes
ward der Bund so gut wie geschlossen. Glückselig kehrte Bismarck in
sein Schönhausen heim und setzte sich nun hin, um an Herrn und Frau von
Puttkamer auf Reinfeld zu schreiben und sie um die Hand ihrer Tochter
zu bitten.

Der Brief tat eine wunderliche Wirkung. Der alte Herr, der eben von
einem Ritt ins Feld heimkam, las ihn und traute seinen Augen kaum. Dann
eilte er zu seiner Frau.

»Höre, Luitgard, – lese ich denn recht? – Mir ist’s, als hätt’ mir
einer mit der Axt auf den Kopf geschlagen! – Der wilde Bismarck will
unsere Johanna zur Frau!«

Frau von Puttkamer schlug die Hände zusammen.

»Unmöglich – unser stilles, frommes Kind und dieser tolle Bismarck. Da
ist kein Segen drin, dazu gebe ich niemals meine Hand!«

»Ja, er schreibt auch hier, mit Johanna wäre er einig – na, das ist
eine schöne Bescherung!« Die Frau des Hauses war aufgesprungen, sie
rief nach ihrer Tochter. Das Fräulein kam mit geröteten Wangen, sie
schien zu ahnen, um was es sich handle, und daß sie nun den ersten
Kampf für den Mann ihrer Wahl bestehen müsse. Und sie bestand ihn
siegreich gegen die Aufregung des Vaters und gegen die Tränen der
Mutter. Von der Kraft ihrer Herzensneigung erfüllt, trat sie mutvoll
für den Geliebten ein, und als die Eltern den entschiedenen Willen
ihrer sonst so sanften Tochter erkannten, wurde der Freier eingeladen,
nach Reinfeld zu kommen.

Und er kam. Die imponierende Persönlichkeit mit ihrer ritterlichen,
gewinnenden Vornehmheit gewann die Mutter, der patriotische,
warmherzige, königstreue Sinn den Vater, und so gab es eine fröhliche
Verlobung.

Nun ward auf Schönhausen gerüstet zum Empfang der Herrin. Das alte
Herrenhaus ward neu in Stand gesetzt, aber es kam noch ein Winter und
ein Frühling, ehe der Bund den Segen der Kirche erhielt.

Der Lenz des Jahres 1847 zog ins Land mit Sturm und Brausen, und der
Deichhauptmann ritt hinaus, um in Wetter und Graus seinen Pflichten zu
genügen, und dabei lebte seine Seele in einer freundlichen Zukunft,
wie schön es sein werde, wenn er nach stürmischem Tage heimkommen und
Sturmmütze und Regenmantel ablegen und in das wohnliche Heim eintreten
werde, wo zwei freundliche Augen ihm entgegenleuchten, zarte, liebe
Lippen ihn begrüßen werden. Was kümmerten ihn die Frühlingsschauer
und die rauhen Wettertage! Mitunter trieb es ihn auch zu Fuße hinaus
an den Strand, um zu sehen, ob dem Uferlande keine Gefahr drohe.
So kam er einmal dahergeschritten, mit seinem forschenden Auge die
Deiche prüfend. Eine große, tiefe Lache – die Elbe war über ihre Ufer
getreten – hemmte ihn auf seinem Wege. Er stand einen Augenblick still
in ruhiger Überlegung, da erblickten ihn zwei Bauern, die mit ihren
Angelruten am Ufer standen.

Der eine kam eilig herbei:

»Herr Deichhauptmann, ich trage Ihnen auf dem Rücken hinüber.«

Bismarck lachte: »Lieber Pietsch, das sind 182 Pfund!«

»All’ eins, Herr Deichhauptmann, Ihnen tragen wir alle mit Freuden!«

Dem Edelmann schlug das Herz wärmer bei solchen Worten des schlichten
Mannes aus dem Volke. Das war die ehrliche märkische Art, die Art,
aus welcher die Liebe auch zu König und Vaterland in Not und Gefahr
erwuchs. Er dankte dem Manne herzlich, dann trat er mit seinen hohen
Stiefeln ruhig in die Lache und schritt hindurch. Wenn es der einfache
Bauer konnte, so mußte es auch der Deichhauptmann können. Die Bauern
aber sahen ihm noch ein Weilchen nach, dann sagte der eine:

»Ein ganzer Mann mit dem Herzen auf dem rechten Flecke!«

»Gott erhalt’ ihn!« sprach der andere.

Der Sommer kam, und am 20. Juli ward in Reinfeld ein schönes Fest
gefeiert, das zwei Menschen für ein ganzes reiches Leben verband, wie
sie besser sich nicht finden konnten: Die Kraft und die Anmut, die
Energie und die Milde hatten sich vereint – Otto von Bismarck hatte für
sein Haus »das Herz« gefunden.

Und nun ging es hinein in die lachende Gotteswelt, dem schönen Süden
entgegen. Die Tiroler Alpen und die Schweizer Firnen sahen nieder auf
das glückliche Paar, dem die ganze Welt zu gehören schien, und das sein
Glück widerspiegelte in den dunkeläugigen Bergseen und in der lachenden
Wonne des italienischen Landes.

In der alten Dogenstadt Venedig hielten sie kurze Rast und fuhren
über die in ernstem Schweigen ruhenden Lagunen und des Markusplatzes
historische Pracht, aber das Herz des märkischen Edelmannes schlug
höher, als er vernahm, daß gleichzeitig auch sein König Friedrich
Wilhelm IV. in der alten Stadt der Wunder weile, und er konnte es sich
nicht versagen, ihm seine Ehrerbietung auszudrücken.

Auch der König war erfreut über die Begrüßung, zumal ihm Bismarcks
Name aus seiner jungen politischen Tätigkeit, die er seit kurzem
entwickelte, vorteilhaft bekannt war; er unterhielt sich mit ihm in
seiner lebhaften, geistvollen Art und war sichtlich erfreut über die
ehrliche, schlichte Weise seines Untertans, so daß er ihn zur Tafel
lud. Einen hoffähigen Anzug führte Bismarck freilich nicht auf seiner
Hochzeitsreise mit, und er hatte Not, in Venedig etwas Passendes zu
erhalten, aber das Herz, das unter dem geliehenen Gewande schlug, war
und blieb die Hauptsache.

Begeistert für seinen König noch mehr als zuvor, setzte Bismarck mit
seiner jungen Gattin seine Reise fort, und erst der Herbst lockte ihn
wieder nach der Heimat, in das trauliche Nest, in dem er sein Vöglein
betten wollte.

Die Altmark zeigte dem Heimkehrenden kein besonders freundliches
Gesicht. Die Ernte war längst vorüber; kahl standen die Felder, durch
die Kiefernbestände fauchte der Herbstwind, und durch den sinkenden
Abend fuhr das Paar dem alten Herrensitze an der Elbe entgegen.

Sie hofften überraschend zu kommen, aber der Tag ihrer Ankunft war doch
kein Geheimnis geblieben. Über den alten, rauschenden Linden hin zog
sich ein grüßender Lichtschimmer, und als der Wagen hielt, da strahlte
es von hundert Lichtern und Fackeln, und ihr Schein vergoldete das
alte Bismarckwappen über dem Portal, die grünen Kränze und Girlanden,
die es reich umschlangen, und die glücklichen Gesichter einer lebendig
bewegten Volksmenge, welche erschienen war, des Hauses junge Herrin
festlich zu begrüßen.

Jubelnder Zuruf klang dem Paare entgegen, höher loderten die Fackeln
und Lichter, so daß ein rötlicher Schimmer über dem ganzen Bilde
lag und gegen den Himmel stieg. Noch wogte die Lust und Freude, als
Räderrasseln erklang und eine Spritze aus dem nahen Dorfe angefahren
kam, deren Bemannung, getäuscht durch den Lichtschein, jetzt erkannte,
daß es hier nichts Ernstliches zu löschen gab.

Nun konnte der Winter kommen; das freundliche Herrenschloß hatte
seinen Sonnenschein alle Tage, und der wackere Deichhauptmann fand,
wenn nach des Tages Mühen Frau Johanna im traulichen Gemache sich
an den Flügel setzte und den Zauber der Töne mit ihren gewandten
Fingern heraufbeschwor, daß es kein Glück gebe, dem einer anmutigen
Häuslichkeit vergleichbar.



Fünftes Kapitel.

In gärender Zeit.


Das Sturmjahr 1848 war über Deutschland hingebraust. Die Vertreibung
des französischen Königs durch sein Volk hatte auch hier die Geister
entfesselt, und ein ungestümer Freiheitsdrang regte sich überall.
Volksaufstände fanden da und dort statt, und während die Sehnsucht
der Besseren nach nationaler Einigung Deutschlands und nach einem
freieren Verfassungsleben hindrängte, verlangten die ungebildeten
Bevölkerungsschichten sowie fanatische Hitzköpfe überhaupt den Umsturz
alles Bestehenden, Republiken und Freiheit und Gleichheit aller Stände.

Alles war aus Rand und Band, und bis in die kleinsten Orte hinein
zitterte die Aufregung, und feindliche Parteien standen einander
gegenüber. Die Erbitterung derselben steigerte sich noch mehr, sobald
es sich um politische Wahlen in den Landtag handelte. Demokratisch und
königstreu waren die Schlagworte, um welche sich alles drehte.

Das konnte man an einem Frühlingstage des Jahres 1849 auch in
der märkischen Stadt Rathenow sehen. In den Gassen war eine
außergewöhnliche Bewegung, mehr noch aber war dies der Fall in einem
der bekanntesten Gasthäuser des Ortes, in dessen Saale Otto von
Bismarck in einer von den Königstreuen einberufenen Versammlung seine
Kandidatenrede halten wollte.

In der Gaststube im Erdgeschoß platzten die Geister bereits lebhaft
aufeinander.

»Er ist ein Junker, ein Streber, und einen solchen können wir nicht
in der Kammer brauchen!« rief ein Mann im Schurzfell, und ein anderer
erwiderte:

»Aber er weiß, was er will, und das wißt ihr Demokraten allesamt nicht!
Und er ist ein charakterfester Mann, und solche Leute brauchen wir
heutzutage.«

»Ach was, er schreibt Briefe an den König und läßt sich von ihm
einladen, sperenzelt um ihn herum in Berlin und Sanssouci.«

»Schämt Euch, Krämer« – schrie jetzt der Schornsteinfegermeister Wolf
– »daß Ihr die Tatsachen so entstellt. Ihr wißt so gut wie wir, was es
mit alledem für eine Bewandtnis hat. Den Brief hat er geschrieben, wie
in Berlin alles aus Rand und Band war, und wie die Umstürzler unseren
König so schwer beschimpft haben, und er hat darin nichts anderes
gesagt, als was jeder ehrliche, brave Preuße damals gesagt hat. Daß
das dem hohen Herrn wohltat und daß er nicht nur den Brief wochenlang
auf seinem Schreibtische liegen ließ, sondern auch den Schreiber zu
sich rief und um seinen Rat anging, ist doch nichts, was dem Herrn von
Bismarck zum Vorwurf gereichen kann.«

»Na, er hat in solchen Unterhaltungen wohl nicht fürs Volk geredet,
sondern sein Schäflein geschoren!« rief es wieder von einer Seite,
und unter Beifallsgebrüll nahm ein junger Mensch das Wort, ein
herumziehender Agitator, von dem eigentlich niemand wußte, wer und was
er war:

»Wie gut es euer Bismarck mit dem Volke meint, hat er selber klar
ausgesprochen. Alle großen Städte müßten vom Erdboden vertilgt werden,
das ist sein Wort, und warum: Weil dort allein das Volk stark genug
ist, seinen Willen durchzusetzen und seine Freiheit zu erzwingen, wie’s
in Berlin geschehen ist. Und was er dem König für Ratschläge gegeben
hat, das wissen wir ganz genau. Friedrich Wilhelm IV. war immer zu
Nachgiebigkeit geneigt, aber Bismarck war wie der Böse dahinterher
und suchte ihn zu reizen, durch Gewalt und mit Blut die heilige
Erhebung des Volkes niederzuschlagen. In Potsdam hat er das sogar in so
entschiedener Weise getan, daß die Königin hinzutretend gesagt haben
soll: »Wie können Sie in solchen Ausdrücken mit Ihrem König reden?« –
Das ist euer Bismarck, dem nichts hart genug ist, wenn dem Volke das
Fell über die Ohren gezogen werden soll, und der unsere neue Freiheit
in unserem Blute ersticken will. Fort mit Bismarck!«

Und »Fort mit Bismarck!« scholl es jetzt vielstimmig, nur der
Schornsteinfeger ließ sich nicht einschüchtern:

»Das ist leeres Geschwätz von einem hergelaufenen Manne. Freiheit von
eurer Sorte wünschen wir gar nicht, und uns ist Herr von Bismarck
gerade so recht, wie er ist. Dem wühlenden Demagogentum, das den
ehrlichen Bürgerstand beunruhigt und ruiniert, müssen die Zähne gezeigt
werden. Wir wollen auch Freiheit, aber ohne den Umsturz von alledem,
was uns von unseren Altvorderen heilig gewesen ist.«

Schreien und Johlen unterbrach den Sprecher, um den sich seine
Parteigenossen drängten, denn die Gemüter wurden immer erhitzter, der
aber rief mit lauter Stimme:

»Das ist wohl eure Freiheit, daß ihr jeden niederbrüllt, der eine
andere Meinung hat als ihr? – Gerade so haben sie’s dem Herrn von
Bismarck gemacht, als er 1847 seine Jungfernrede im Landtage hielt.
Aber er hatte gezeigt, daß er Mut und Kaltblütigkeit hat. Er las,
während sie lärmten, seine Zeitung, und als sie aufhörten, nahm er sein
Wort wieder auf. Das hat mir gefallen, und darum bleibt er mein Mann!«

Der brave Meister war in dem Lärm und Getöse wenig verständlich mehr
gewesen, nun trank er ruhig seinen Schoppen aus, und forderte seine
Parteigenossen auf, mit ihm zu gehen. Unter dem lauten Geschrei und
Hohngelächter der Gegner gingen die Männer hinaus und nach dem Saale,
welcher schon völlig angefüllt war mit Menschen, die den königstreuen
Kandidaten sehen und hören wollten.

Otto von Bismarck war eben eingetroffen. Die im Erdgeschoß hatten ihn
in ihrer Erregung nicht kommen sehen, zumal er nicht, wie man erwartet
hatte, im Wagen vorfuhr. Er stand bereits auf der Tribüne, als der
Schornsteinfegermeister mit seinen Gefährten eintrat. Die kraftvolle
Gestalt war hoch aufgerichtet, aus dem vom Vollbart umrahmten frischen
und energischen Antlitz blitzten hell und falkenklar die Augen, und die
Stimme klang hell, vernehmlich, ja mitunter scharf.

Er verurteilte rückhaltlos die Vorgänge, welche in der revolutionären
Bewegung in Berlin zur Demütigung des Königtums geführt hatten, und
entwickelte seinen Standpunkt, wie er ihn wiederholt furchtlos und
entschieden im Abgeordnetenhause betont hatte:

»Der Prinzipienstreit, welcher in diesem Jahre Europa in seinen
Grundfesten erschüttert hat, ist ein solcher, der sich nicht vermitteln
läßt. Die Prinzipien beruhen auf entgegengesetzten Grundlagen, die
von Haus aus einander ausschließen. Das eine zieht seine Rechtsquelle
angeblich aus dem Volkswillen, in Wahrheit aber aus dem Faustrecht
der Barrikaden. Das andere gründet sich auf eine von Gott eingesetzte
Obrigkeit, auf eine Obrigkeit von Gottes Gnaden, und führt seine
Entwicklung in der organischen Anknüpfung an den verfassungsmäßig
bestehenden Rechtszustand. Dem einen dieser Prinzipien sind Aufrührer
jeder Art heldenmütige Vorkämpfer für Wahrheit, Freiheit und Recht,
dem anderen sind sie Rebellen. Über diese Prinzipien wird nicht durch
parlamentarische Debatten eine Entscheidung erfolgen können; über kurz
oder lang muß der Gott, der die Schlachten lenkt, die eisernen Würfel
der Entscheidung darüber werfen. Ich aber werde leben und sterben für
den Grundsatz der Treue zu König und Vaterland, und muß es nun Ihnen
überlassen, ob Sie mich für den rechten Mann halten, Ihre Anschauungen
zu vertreten.«

Im Saale klang lauter Beifall, der bis auf die Gasse hinausdrang.
Dort aber fand er keinen Widerhall. Der junge demokratische Agitator
hatte in der Wirtsstube auch das Eisen in seinem Sinne geschmiedet,
und die Bewegung war bis auf die Straße hinaus gedrungen. Der
Schornsteinfegermeister Wolf, der nahe an dem Fenster des Saales stand,
blickte hinunter und sah die vielköpfige erregte Menge, die mit heißen
Gesichtern, glühenden Augen und geballten Fäusten sich hier drängte.

Da aber jetzt Bismarck den Saal verlassen wollte, suchte der wackere
Mann eilig zu ihm heranzukommen und sagte:

»Herr von Bismarck, gehen Sie jetzt nicht hinaus, sie wollen Ihnen an
den Leib.«

Der Angeredete hob seine mächtige Gestalt höher, ein beinahe
spöttisches Lächeln umflog den Mund, und die Augen schauten furchtlos
und ruhig drein, als er erwiderte:

»Ach, glauben Sie doch den Bläffern nicht!«

Ohne weiter sich aufzuhalten, trat er auf den Vorsaal und ging die
Treppe hinab. Im Hausflur bereits stand eine johlende Menge. Geschrei,
Zischen, niedrige Schimpfworte flogen ihm entgegen, und einige geballte
Fäuste hoben sich wider ihn.

»Rebellen hat er uns genannt – totschießen will er uns lassen – fort
mit dem Junkerregiment!« so schrie es ihm auch von der Gasse entgegen,
aber mit festem Blick schaute er über die Menge hin, und während
Meister Wolf und der Stadtschreiber Noack ihn in die Mitte nahmen,
schritt er hochaufgerichtet, mit ruhiger Sicherheit durch das Volk, das
ihm eine Gasse machte und dem kühnen Recken nicht den Weg zu verlegen
wagte.

So kam er nach dem Gasthause, wo sein Wagen stand. Die aufgeregten und
von dem unreifen Hetzer aufgereizten Leute waren ihm auch bis hierher
gefolgt und schienen seine Abfahrt hindern zu wollen. Die Lage war
äußerst unbehaglich, und als er aus dem Hause trat, gelang es ihm nur
mit Mühe, an das Gefährt heranzukommen und dasselbe zu besteigen.

Wilder und ungestümer aber brach jetzt das Geschrei und Pfeifen los,
und aus der gedrängten Schar sausten Steine nach dem kühnen Manne.
Einer derselben traf wuchtig seinen linken Arm und fiel in den Wagen.
Einen Augenblick übermannte ihn jetzt Zorn und Schmerz: er ergriff den
Stein und sprang von seinem Sitz empor mit flammenden Augen, und wie
er so den Arm erhob zum Wurfe, da drängte das feige Gesindel zurück
vor der imponierenden Erscheinung. Das gab ihm seine Ruhe wieder. Es
schien ihm unwürdig, hier Gleiches mit Gleichem zu vergelten, mit einer
verächtlichen Gebärde warf er seinen Angreifern den Stein vor die
Füße, legte sich in den Sitz zurück, rief dem Kutscher zu: »Vorwärts!«
und gleich darauf zogen die bereits unruhigen Tiere an, und durch die
zu beiden Seiten zurückweichende Menge fuhr der Wagen rasch dahin durch
die Gasse.

Die Rathenower wählten aber doch Bismarck wiederum zu ihrem
Abgeordneten, und so reiste er, nachdem er zuvor in seiner freundlichen
Häuslichkeit zu Schönhausen gewesen, neuerdings nach Berlin, um den
übernommenen Pflichten zu genügen.

Im Eisenbahnkupee saß er mit einem alten Herrn, einem ehemaligen
Offizier, beisammen und unterhielt sich mit diesem über die politische
Lage. Da stieg in einer Zwischenstation ein junges Herrchen ein,
der sein Gepäck – allem Anschein nach einen Musterkoffer – ziemlich
herausfordernd auf den Sitz legte, sich dann in eine Ecke lehnte und
nun mit überlegen spöttischem Blicke die beiden Herren betrachtete,
welche sich in ihrem ruhigen Gespräche nicht stören ließen.

Der alte Offizier hatte eben sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß
bei den Berliner Straßenunruhen der König das Militär zurückgezogen und
sich in die Hand des Volkes gegeben hatte, da warf der junge Mann eine
höhnische Bemerkung dazwischen:

»Ja, die Volkssouveränität paßt manchem nicht in den Kram, glaub’s
wohl, aber gottlob, mit Säbelrasseln und feudalen Phrasen wird die neue
Zeit nicht aufgehalten. Es geht ein scharfer Wind für die Junker, und
er wird manche alten Vorrechte wegblasen. Ja, Freiheit und Gleichheit!
Freiheit und Gleichheit!«

Bismarck sah den Menschen mit einem durchdringenden Blicke an, ohne ihn
eines Wortes zu würdigen, jener aber perorierte, unbekümmert um die
beiden anderen, in seiner geschwätzigen Art weiter. Seine Ansichten
waren so unreif, daß der alte Offizier, obwohl gerade er sich vielfach
hätte verletzt fühlen dürfen, es doch nicht der Mühe wert hielt, mit
dem kecken Angreifer anzubinden, der dadurch nur immer mehr ermutigt zu
werden schien. Bismarck aber hatte ihn immer wieder einmal mit seinen
scharfen Augen gemessen und dann sein Gespräch mit seinem Gegenüber
fortgesetzt, als ob der vorlaute Musterreiter Luft wäre.

Nun hielt der Zug auf dem Bahnhofe in Berlin. Der Reisende war
ausgestiegen, und nachdem Bismarck sich rasch von dem Offizier
verabschiedet, verließ auch er das Kupee. Mit einigen weitausgreifenden
Schritten stand er vor dem jungen Manne, seine mächtige Gestalt hoch
aufrichtend und die blitzenden Augen ihm in das Gesicht bohrend, so
daß derselbe beinahe scheu zurückwich. Wiederum machte Bismarck einen
Schritt auf ihn zu, mit seinen mächtigen Blicken ihn bannend, so daß
der andere abermals zurücktrat. Der unerbittliche Verfolger aber
heftete sich an seinen Fuß und drängte ihn so vor sich her, bis der
geängstigte Reisende beinahe an die Wand gedrückt war.

»Wie heißen Sie denn?« fragte der Verfolger kalt und fest, und der
andere stotterte in Befangenheit und Ängstlichkeit:

»Ich – ich heiße Nelke!«

»Dann hüten Sie sich, Sie Nelke, wenn Sie nicht von mir gepflückt
werden wollen!«

Noch einmal sah Bismarck dem zerknirschten Schwätzer in das blasse
Gesicht, dann wendete er sich langsam ab und schritt ruhig den Perron
entlang.

Berlin selbst wollte ihm jetzt gar nicht gefallen. Die neue Zeit
rumorte hier zu sehr in allen Köpfen, und ihre Zeichen machten sich auf
Schritt und Tritt bemerkbar. Selbst der Drang nach einer nationalen
Einheit, welcher die besten deutschen Herzen erfüllte, hatte für
Bismarck etwas beinahe Unheimliches, weil daneben auch jener unklare
Freiheitsdrang sich breitmachte, der am liebsten Thron und Krone
hinweggefegt hätte und aus Deutschland eine Republik machen wollte.

Diese Bestrebungen traten deutlich genug hervor bei der seit dem 18.
Mai 1848 in Frankfurt a. M. tagenden deutschen Nationalversammlung,
welcher Männer aus ganz Deutschland angehörten, welche den Bundestag
beseitigte, einen Reichsverweser in der Person des Erzherzogs Johann
von Österreich wählte und nun die »Grundrechte des deutschen Volkes«
und eine »Verfassung für Gesamtdeutschland« beriet. Da platzten die
Geister oft stürmisch aufeinander, und selbst die vielen vortrefflichen
Männer, die, erfüllt von wahrer Begeisterung für das Wohl des deutschen
Volkes, ihre beste Kraft und Überzeugung einsetzten, konnten nicht
immer den revolutionären Demokraten, welchen die Freiheit über die
Einheit ging, einen Damm setzen, und es kam in Frankfurt selbst unter
den Augen der Nationalversammlung zu den rohesten Ausschreitungen des
fanatischen Pöbels.

Endlich war man aber doch einig geworden, daß fortan ein erblicher
Kaiser an der Spitze Deutschlands stehen solle, und als solcher war am
28. März 1849 mit geringer Stimmenmehrheit König Friedrich Wilhelm IV.
von Preußen gewählt worden.

Der zweite April fand Berlin in einer ganz besonderen Erregung.
Die Abgesandten der Frankfurter Nationalversammlung trafen ein,
um dem König die Kaiserkrone anzubieten. In den Straßen war ein
fröhliches Wogen und Treiben, die hochgehende Begeisterung jauchzte
den einziehenden Abgeordneten zu, und der Traum der deutschen Einheit
schien sich verwirklichen zu sollen.

Um so größer war die Enttäuschung, als schon am nächsten Tage die
Nachricht von Mund zu Munde ging, der König habe die Deputation
im Rittersaale des Schlosses feierlich empfangen, aber sich nicht
entschließen können, die ihm gebotene Krone aus den Händen des Volkes
anzunehmen.

Wie ein Mehltau fiel es auf die Hoffnungen und Erwartungen der Besten,
und als die Kunde nach Frankfurt kam, wirkte sie hier so niederdrückend
auf alle Gutgesinnten, daß die radikalen Stürmer und Dränger wieder die
Oberhand gewannen und infolgedessen da und dort wieder revolutionäre
Erhebungen stattfanden, und daß sich endlich das Parlament auflöste,
beziehentlich der nach Württemberg übergesiedelte Rest desselben, das
sogenannte »Rumpfparlament«, gewaltsam aufgelöst wurde.

In Berlin gingen nach der Ablehnung der Kaiserkrone die Wogen der
Bewegung noch immer hoch, und der Landtag beriet am 20. April über
die Frankfurter Reichsverfassung und über Schritte, um den König noch
nachträglich zur Annahme der Kaiserwürde zu bewegen.

Bismarck gehörte zu jenen, welche sich nicht überzeugen konnten, daß
auf den damaligen Grundlagen eine wirkliche Einigung Deutschlands
erreicht werden könne, und daß die Eifersucht Österreichs und anderer
deutscher Staaten an der leitenden Stellung Preußens fortwährend
rütteln würde, so daß es ihm richtiger schien, daß dieses für
sich selbst auf starke Füße gestellt werde und nicht seine Kraft
unfruchtbaren Bestrebungen opfere.

So trat er auch im Abgeordnetenhause unerschrocken für diese
Überzeugung ein. Am 20. April stand er auf der Tribüne und erklärte:

»Ich habe als Abgeordneter die Ehre, die Kur- und Hauptstadt
Brandenburg zu vertreten, welche dieser Provinz, der Grundlage und
Wiege der preußischen Monarchie, den Namen gegeben hat, und ich fühle
mich deshalb um so stärker verpflichtet, mich der Diskussion eines
Antrages zu widersetzen, welcher darauf ausgeht, das Staatsgebäude,
welches Jahrhunderte des Ruhmes und der Vaterlandsliebe errichtet
haben, welches von Grund aus mit dem Blute unserer Väter gestiftet
ist, zu untergraben und einstürzen zu lassen. Die Frankfurter Krone
mag sehr glänzend sein, aber das Gold, welches dem Glanze Wahrheit
verleiht, soll erst durch das Einschmelzen der preußischen Krone
gewonnen werden, und ich habe kein Vertrauen, daß der Umguß mit der
Form dieser Verfassung gelingen werde.«

Noch energischer äußerte er sich in diesem Sinne am sechsten September.
Inzwischen hatte aber Preußen einen anderen Einigungsversuch gemacht
und mit Sachsen und Hannover das »Dreikönigbündnis« geschlossen, dem
sich eine Anzahl anderer deutschen Staaten anschloß. Aber Österreichs
Einfluß wußte die beiden Königreiche wieder von Preußen zu trennen,
welches nun mit den übriggebliebenen Bundesstaaten die sogenannte
»Union« bildete und, um derselben eine einheitliche Verfassung zu
geben, ein Parlament nach Erfurt einzuberufen beschloß.

In dieser Zeit saß Bismarck eines Abends in seiner Wohnung,
Dorotheenstraße 37, mit einigen politischen Freunden beisammen.
Das Heim war schlicht, aber gemütlich; die Lampe warf ihren milden
Schein über den breiten Tisch und auf die geistvollen Gesichter, um
die behaglicher, blauer Tabaksdampf sich wölkte, und in den Gläsern
schäumte der braune Gerstensaft. Der Hausherr saugte an »dem geliebten
Rohre«, aber dazwischen wetterleuchtete es aus seinen Augen, und seine
Hand legte sich manchmal geballt auf den Tisch, da er sagte:

»Laßt sie doch uns »Stockpreußen« schelten, ’s ist kein schlechter
Titel, und ich kann nur wiederholen, was ich in der Kammer gesagt habe:
Das Stockpreußentum, wie es vor allem in der Armee vorhanden ist, ist
unsere Stütze. Und so gut unsere Soldaten unter der schwarzweißen Fahne
bisher sich ehrenhaft geschlagen und wohlbefunden haben, so gelüstet es
weder sie noch uns, für das erprobte alte Banner ein neues dreifarbiges
einzutauschen, dessen Dauerhaftigkeit unter den jetzigen Verhältnissen
sehr zu bezweifeln ist. Wir wollen einmal dem preußischen Adler nicht
die Flügel stutzen lassen durch die gleichmachende Heckenschere aus
Frankfurt.«

»Und was versprichst du dir eigentlich von der Union?« fragte einer der
Gäste.

»So gut wie nichts, sie wird an der Eifersucht Österreichs, dem wir
zunächst noch nicht die Zähne zu zeigen uns getrauen, zugrunde gehen.
Das Erfurter Parlament verläuft im Sande, verlaßt euch darauf!«

»So hast du wohl gar keine Neigung, dich hineinwählen zu lassen?«

»Neigung? – Nein! Aber wenn ich gewählt werde, werde ich gehen, um auch
dort Preußens Rechte zu vertreten. – Aber nun, Freunde – politisch
Lied, ein garstig Lied! Laßt uns etwas anderes reden. Wißt ihr auch,
daß ich unter die Poeten gegangen bin?«

Ein allgemeines »Ah!« dann wurde eine Stimme laut, – es war die
_Savignys_ – welche Proben verlangte.

»Eine Probe soll euch werden, aber ich bitte um nachsichtige
Beurteilung, damit ich mit meinem ~gradus ad parnassum~ nicht
eingeschüchtert werde. Zuerst aber sollt ihr sehen, was mich begeistert
hat, und ich hoffe auf eure Anerkennung.«

Er holte aus einem Schranke eine ziemlich umfangreiche braunfarbige
Kaffeetasse und stellte sie vor die Freunde hin.

»Na, ist das nicht ein stattliches Objekt für eine Poetenleier?«

»Aber nun auch die Verse dazu!« rief _André_.

»Eins nach dem anderen. Zunächst müßt ihr wissen, daß dieser praktische
Haushaltungsgegenstand zu einem Geburtstagsgeschenk bestimmt ist für
unseren hagestolzen alten Freund Kleist-Retzow. Und nun das Poem!«

Er las, behaglich sich in seinem Sitze zurücklehnend, mit komischem
Pathos:

    »Nicht ganz so schwarz wie Ebenholz,
    Doch braun wie Mahagonig,
    Wünsch’ ich dir, aller Pommern Stolz,
    Ein Leben süß wie Honig.
    Wenn Wenzel[1] dich gelangweilt hat,
    Schwerin[1] den Zorn erregt in dir,
    Wenn übel dir vom Beckerrath,[1]
    Dann, Hans, erhole dich bei mir!

    Wenn dann der Kaffee dir behagt
    Und du, um streng dich zu kastei’n,
    Die zweite Tasse dir versagt,
    Dann, Hans, laß mich die erste sein!
    Und schein’ ich dir zu groß und weit
    Für ein so kleines Landrätlein,
    So denk: Es ist die höchste Zeit,
    Dir eine Gattin anzufrei’n.

    Ihr trinkt aus mir dann alle beide
    Kaffee, Schok’lade oder Thee
    Zu Tante Adelgundens Freude
    Zu Kiekow auf dem Kanapee.
    Geliebter Onkel Schievelbein,
    Schaff’ bald uns eine Tante,
    Dann wirst du alles hocherfreu’n,
    Was jemals Hans dich nannte.«

    [1] Namen von Abgeordneten.

Fröhliches Lachen lohnte den Vortrag, und die Geister des Humors
begannen in dem gemütlichen Raume jetzt ihre Flügel freier zu regen.

Noch im selben Winter kam ein Weihnachtskind in der Dorotheenstraße 37
an, ein kleiner Junker von Bismarck, der am 28. Dezember erschien und
am 12. Februar 1850 durch den Prediger Gaßner auf die Namen Nikolaus
Heinrich Ferdinand _Herbert_ getauft wurde. Die Freude war groß, da es
jetzt ein mit dem am 21. August 1848 geborenen Töchterchen _Marie_ ein
prächtiges Pärchen gab, an dessen frischem Gedeihen und munterem Wesen
die Eltern ihre herzliche Freude hatten.

Bei solchem Familienglück war es Bismarck nicht besonders erfreulich,
im kommenden Frühjahr nach Erfurt zu gehen, wohin er wirklich in das
Unions-Parlament gewählt war. Auch hier vertrat er seinen absolut
preußischen Standpunkt und war froh, als der Reichstag am 29. April
geschlossen wurde, nachdem allerdings die vorgelegte Verfassung Annahme
gefunden hatte.

Aber nun erhob sich drohend die österreichische Regierung, verlangte
entschieden die Herstellung des alten deutschen Bundestags, auf welchem
sie den ersten Rang einnahm, und lud sämtliche deutsche Fürsten
zur Beschickung desselben ein. Deutschland stand in zwei starken
Parteien sich gegenüber, die Erregung stieg auf beiden Seiten so weit,
daß in Kurhessen, wo das Volk sich gegen den Druck des Ministers
Hassenpflug auf das entschiedenste wehrte, es zwischen ihnen beinahe
zu einem blutigen Zusammenstoß gekommen wäre. Friedrich Wilhelm IV.,
eingeschüchtert durch das Dazwischentreten und die Drohungen des
russischen Kaisers Nikolaus, fürchtete jedoch einen entscheidenden
Schritt und gab in der Angelegenheit nach. Es kam der Tag von Olmütz
(29. November 1850), der in der preußischen Geschichte kein Ruhmesblatt
bedeutet, an welchem der Minister von Manteuffel dem österreichischen
Minister Schwarzenberg gegenüber die Auflösung der »Union« und die
Beteiligung Preußens an dem wiederhergestellten Bundestage zugestand
nebst einigem anderen, was drum- und dranhing.

Inzwischen hatte Bismarck im Sommer sein liebes, stilles Schönhausen
aufgesucht und mit Frau Johanna und seinem kleinen munteren
Pärchen sich der Ruhe und Muße hingegeben, welche ihm nach den
parlamentarischen Kämpfen ungemein wohltat.

Aber die Idylle fand eine kleine Unterbrechung.

Ein andauerndes Unwohlsein des Töchterchens machte einen Aufenthalt an
der See notwendig, und so ungern Bismarck sich aus dem Behagen seines
Landsitzes herausriß, der Rat des Arztes, das zärtliche Drängen seiner
Gemahlin bewogen ihn zuletzt doch, auf einige Wochen nach Stolpmünde zu
gehen.

Dann kamen wieder der Berliner Ärger und die Kammerverhandlungen den
Winter durch bis hinein in das Jahr 1851.

Um die Osterzeit desselben brach er aber auf aus der Residenz, um auf
einige Wochen zu seinen Schwiegereltern zu gehen nach Reinfeld in
Pommern. Die behagliche stille Häuslichkeit hier tat ihm wohl. Herr
von Puttkamer mit dem Samtkäppchen auf dem greisen Haupte waltete hier
wie ein guter Patriarch in Ehrbarkeit und Frömmigkeit, und von ihm und
seiner trefflichen Frau ging es wie ein stiller Segen aus durch das
ganze Haus. Das war ein Ort, so recht zu kurzdauernder Erholung, aber
Bismarck sollte auch hier nicht finden, was er suchte.

Eines Tages saß er mit seinem Schwiegervater beisammen und sprach von
der Wirtschaft und den Pferden und Hunden, als die Post gebracht wurde.
Ein Schreiben mit dem Siegel des Ministerpräsidenten von Manteuffel
fiel ihm in die Hand, und er betrachtete es einige Sekunden mit beinahe
bedenklichen Blicken. Dann öffnete er es, las flüchtig, lehnte sich mit
einem tiefen Atemzuge in seinen Sitz, und seine Hand mit dem Briefe
sank schwer auf den Tisch.

»Nach Frankfurt soll ich zum Bundestage als preußischer Gesandter, –
der Minister fragt, ob ich will.«

Herr von Puttkamer neigte sich in Erregung gegen ihn vor.

»Ja, besorgt das nicht der General von Rochow? Was bedeutet das?«

»Rochow soll, wie ich schon früher munkeln hörte, als Gesandter nach
Petersburg zurückgehen. – Aber das kommt mir so unerwartet, daß mir’s
doch ein wenig in die Glieder schlägt. Das ist weder ein besonders
angenehmer, noch besonders leichter Posten.«

»Nein, gewiß nicht,« sagte der alte Herr, »da wird einer gebraucht,
der diplomatisches Geschick und Festigkeit zugleich hat, um mit den
Beziehungen zwischen Österreich und Preußen fertig zu werden, ohne daß
auf der einen Seite gereizt, auf der anderen etwas vergeben wird. Der
Antrag will recht wohl erwogen sein!«

»Klar genug sehe ich die Verhältnisse,« sprach Bismarck lebhaft,
– »Österreich hat es darauf abgesehen, Preußen kleinzukriegen und
womöglich wegzuwischen aus der Reihe der maßgebenden Mächte. Da
heißt’s die Augen offen und den Nacken steif halten. Die Sache wird
mir verlockend. Wenn mein König dafür hält, daß ich für den Posten
brauchbar bin, werde ich ihm meine schwache Kraft nicht versagen.«

»Aber Otto, fehlt dir gerade für diese Stellung – du hast gewiegte
Staatsmänner dort – nicht die nötige diplomatische Erfahrung?«

»Erfahrungen müssen _gemacht_ werden. Papa – und übertölpeln lasse ich
mich doch nicht so leicht. Mit Patriotismus und Energie und mit etwas
natürlicher Klugheit läßt sich schon etwas wagen. Zudem weißt du ja,
daß schwierige Aufgaben und harte Nüsse meine Spezialität sind. Das
habe ich auch einmal einem gewissen Herrn von Puttkamer bewiesen, der
mir seine Tochter nicht zur Frau geben wollte.«

Der alte Herr lächelte:

»Na ja, einen festen Kopf hast du, und er sitzt auch, wie das Herz, auf
dem rechten Flecke. Tue, was du für recht hältst, und wozu dich dein
Empfinden als Mann und Untertan treibt.«

Und so schrieb Bismarck an den Minister von Manteuffel, daß er nach
Potsdam kommen und sich Seiner Majestät allergehorsamst zur Verfügung
stellen werde.

In dem Lustschlosse des großen Friedrich, dem herrlichen, grünumlaubten
Sanssouci, stellte er sich dem König vor. Friedrich Wilhelm IV.
betrachtete mit Wohlgefallen den prächtigen, hochgewachsenen Mann
mit den hellen, treuen Augen, den er schon lange um seiner ehrlichen
Geradheit und um seiner altpreußischen Gesinnung hochschätzte, und
sagte:

»Lieber Bismarck, Sie wissen, um was es sich handelt, und ich höre zu
meiner Freude von dem Minister von Manteuffel, daß Sie nicht abgeneigt
sind, Preußen in Frankfurt zu vertreten.«

Einfach und schlicht erwiderte der Angeredete:

»Wenn Eure Majestät es mit mir versuchen wollen, so bin ich bereit
dazu.«

Wieder sah Friedrich Wilhelm den Mann groß und beinahe mit Verwunderung
an.

»Aber Frankfurt ist ein schlechter Boden; und es läßt sich nicht
hehlen, daß gerade Preußen darauf nicht den besten Stand hat; ich
bewundere eigentlich Ihren Mut.«

Da erwiderte Bismarck:

»Eure Majestät bekunden durch meine Ernennung einen noch größeren Mut.
Wenn Allerhöchstdieselben mich zu dem Amte zu berufen geruhen, so hoffe
ich, daß mir Gott die Kraft geben wird, es auszufüllen. Eure Majestät
können es ja mit mir versuchen; geht es nicht, so ist’s ja leicht, mich
wieder nach Hause zu rufen.«

Das klang so fest und doch so schlicht und gerade, daß der König
beinahe ergriffen von der Antwort war und erwiderte:

»Dann versuchen Sie es mit Gott!«



Sechstes Kapitel.

Der Bundestagsgesandte.


Im alten Frankfurt a. M. liegt in der Bockenheimer Landstraße eine
freundliche Villa; inmitten grüner Gartenanlagen erhebt sich der
geschmackvolle Bau, in welchem auch der Reichsverweser Erzherzog
Johann von Österreich gewohnt hatte. Im Sommer des Jahres 1851 hatte
hier der preußische Bundestagsgesandte Otto von Bismarck seinen Sitz
aufgeschlagen und sein ganzes Familienglück mit hereingebracht in das
freundliche Haus.

Die Sonne blinkte noch in die Tautropfen im Grase, und eine wohlige
Kühle wehte von Baum und Strauch her, als er, von einem Morgenritte
heimgekehrt, durch den Garten schritt, um einen lieben Besuch
aufzufinden, den ihm das Geschick gestern in sein Haus geweht, und der
nach Aussage des Dieners auch bereits im Freien war. Auf einem sonnigen
Plätzchen traf er ihn und grüßte ihn mit Herzlichkeit.

»Guten Morgen, lieber Motley, Sie sind also auch ein Frühaufsteher!«

»Die Sonne und die Vögel locken, und hier läßt sich so gut träumen.«

»Wovon träumen Sie denn, wenn’s erlaubt ist zu fragen?«

Damit setzte sich Bismarck neben den Engländer, und dieser erwiderte
lächelnd:

»Ich habe die Vergangenheit ein wenig Revue passieren lassen. Da
tauchten mir die Göttinger Tage wieder auf, die wir zusammen verlebten,
und ich sah Sie wieder als den flotten Burschen, der in der Kneipe
und auf dem Paukboden mehr zu finden war als in den Kollegien, und
dann dachte ich wieder an unsere Berliner Zeit, an die Stunden, da
Kaiserlingk uns Beethovensche Sonaten spielte, und nun finde ich
Sie in glücklichster Häuslichkeit und zugleich als hervorragenden
Diplomaten. Verwunderlich ist mir’s just nicht, denn daß Sie aus dem
Holze geschnitzt sind, aus welchem man Männer macht, die schlechthin
alles fertigbringen, was sie wollen, ist mir schon in früherer Zeit
klargeworden, und Frankfurt ist wohl auch der Boden, wo Sie Gelegenheit
haben, Kräfte zu zeigen.«

»Sauer gemacht wird einem mitunter das Leben, aber unterkriegen
sollen sie mich nicht so leicht. Sie wissen ja, wie die Dinge liegen.
Österreich spielt hier die erste Geige, und die anderen hören in
stummer Bewunderung zu und klatschen Beifall. Das ist nun meine Sache
nicht, besonders wenn meine eigene Fiedel auf einen anderen Ton,
auf den preußischen, gestimmt ist. Sie glauben gar nicht, welche
Demütigungen man mitunter Preußen zumutet, oft bis ins Kleinliche
hinein. Aber ich werde dem einen Damm stecken.«

»Woran liegt das aber?«

Bismarck zuckte die Achseln.

»Von Wien weht keine gute Luft her. Der Minister Schwarzenberg hat
rundheraus erklärt, daß er Preußen erst erniedrigen und dann vernichten
will. Und der Bundestagspräsident, Graf Thun, im ganzen ein recht
genießbarer Herr, muß diesen völkerfreundlichen Absichten Rechenschaft
tragen. Da lobe ich mir noch den alten Fürsten Metternich, den
ehemaligen berühmten österreichischen Staatslenker, welchen ich jüngst
auf seinem Schloß Johannisberg am Rhein besuchte, der war doch nicht
gar so preußenfeindlich.«

»Von diesem Besuche habe ich gehört, und der alte Herr, dem sonst
nicht jeder paßt, soll ganz entzückt von Ihnen gewesen sein.«

»Ja, das ist einfach zu erklären: Ich habe seine Geschichten ruhig
angehört und nur manchmal die Glocke angezogen, daß sie weiterklang.
Das hat dem redseligen alten Herrn gefallen. Na, ich denke auch
Schwarzenberg mit der Zeit noch einige Achtung abzunötigen. Den
Anfang habe ich schon mit dem und jenem gemacht. Da hatte Österreich
einen Ausschuß – natürlich ohne Zuziehung Preußens – eingesetzt, der
über die Sitzungsprotokolle und deren eventuelle Veröffentlichung
beraten sollte. Freilich wäre Preußen bei den Publikationen schlecht
weggekommen. Da bin ich den Herren in die Parade gefahren, und die
Sache ist seitdem unterblieben. Und solche Geschichten könnte ich Ihnen
noch manche erzählen; aber nun kommen Sie, meine Frau wird mit dem
Frühstück warten, und nach demselben müssen Sie mich entschuldigen: Ich
habe eine Sitzung im Militärausschuß!«

Er faßte den Freund unter dem Arm und führte ihn nach dem Hause, wo
Frau Johanna anmutig und freundlich wie ein Frühlingsmorgen die Herren
begrüßte, und wo Bismarck erst noch einmal nach seinen Kindern sah
und sie fröhlich in die Luft hob, ehe er sich zu Tische setzte. Hier
war er ganz glücklicher Gatte und Vater, ganz von fröhlichem Humor
übersprudelnder Gastfreund.

Ernster sah er drein, als er nicht lange danach an dem grünen Tische
saß im Parterre des Taxisschen Palais. Auch hier winkten die grünen
Bäume herein zu den Fenstern, aber in dem Raume herrschte eine etwas
dumpfe Luft, und der Verkehr der anwesenden Herren war ziemlich
gemessen und formell.

Sie saßen in ihren Sesseln, genau nach der Rangordnung, die Vertreter
der fünf deutschen Königreiche und des Großherzogtums Hessen. Der
Präsidialsitz war noch unbesetzt, aber auch Graf Thun ließ nicht
lange auf sich warten. Er kam mit elastischen Schritten, so daß er
im ersten Augenblicke wohl für einen lebenslustigen aristokratischen
Herrn, aber nicht für einen Diplomaten hätte angesehen werden können,
blies vergnüglich den Rauch seiner Havannazigarre von sich, grüßte
liebenswürdig herablassend die Herren »Kollegen« und setzte sich dann
an seinen Platz oben an dem Tische.

Daß Graf Thun rauchte, und zwar _allein_ rauchte, während kein
anderer der Herren es wagte, dies Präsidialvorrecht ihm streitig
zu machen, hatte Bismarck bereits früher mit Mißbehagen gesehen.
Diesmal schien sich der Vorsitzende mit ganz besonderem Vergnügen dem
Genuß hinzugeben; die bläulichen Wölkchen zogen an dem Gesichte des
preußischen Gesandten hin, der feine Duft hatte etwas Verlockendes; und
da diesem nicht einleuchtete, weshalb Preußen hier am grünen Tische
nicht tun sollte, was Österreich sich erlaubte, zog er mit feinem
Lächeln sein Zigarrenetui hervor, bat sich von Graf Thun etwas Feuer
aus, und gleich darauf blies auch er die blauen Ringe in die Luft,
gleichmütig, behaglich, als ob sich das just so gehörte, während die
anderen Herren verwundert, ja, beinahe verblüfft schienen über den an
sich so unbedeutenden Vorgang.

Daheim erzählt Bismarck die Geschichte und fügte lächelnd bei:

»Es soll mich gar nicht wundern, wenn nächstens auch Bayern raucht,
und da keiner dem anderen etwas vergeben möchte, weil das als eine
Zurücksetzung seines Staates gelten könnte, wird auch Herr von Nostiz
(Sachsen) und Herr von Bothmer (Hannover) bald nachfolgen, und selbst
die Herren von Reinhard (Württemberg) und von Münch-Bellinghausen
(Hessen) werden ihre Aversion gegen das Rauchen trotz aller
unbehaglichen Folgen aufgeben. So kommt’s bei allem immer nur auf den
richtigen Anfang an!«

Die Folgezeit lehrte, daß er bezüglich des Rauchens recht hatte.

Nun widmete er sich wieder seinem lieben Gaste Motley, der in dieser
prächtigen Häuslichkeit sich einige Tage wohl und wie daheim fühlte.
Was waren das für den geistvollen Engländer für herrliche Tage und für
genußreiche Abende!

Das Wetter hatte nicht erlaubt, einen derselben im Garten zuzubringen;
so war man zuerst im Speisezimmer gewesen, wo man durch die Fenster
hinaussah auf die Bäume des Gartens, und genoß in vergnügter
Zwangslosigkeit, was die Gastlichkeit des Hauses, die Liebenswürdigkeit
der freundlichen Wirte bot.

Dann ging es nach dem anstoßenden freundlichen Saale. Außer Motley
war noch der treffliche Maler Jakob Becker mit seiner Familie des
Abends gekommen, und so saß ein Kreis guter, fröhlicher Menschen in
dem traulichen Raume beisammen. Die Herren rauchten, und der Duft der
feinen Havannas wirbelte empor, indes der geistvolle Hausherr in seiner
gemütlichen Weise scherzte:

»Sehen Sie, lieber Motley – das ist doch eine andere Tafelrunde als
die zwar achtenswerte, aber doch wenig unterhaltende im Taxisschen
Palais, wo in mir wirklich manchmal im Gefühle gähnender Unschuld die
Stimmung gänzlicher Wurschtigkeit vorherrschend wird. Ich bemühe mich
zunächst nur, und, wie es scheint, nicht ganz erfolglos, den Bund zum
Bewußtsein des durchbohrenden Gefühls seines Nichts zu bringen. Hier
aber sitze ich ohne jede andere Absicht, als mir Herz und Seele wieder
zu erfrischen im Umgang mit lieben Freunden. Und in der Hauptsache
kommen nur solche. Thun sieht in seinem Hause alles, was mit Österreich
sympathisiert, in den Kreisen des Hochadels – ich liebe mir hier den
Adel vom Schlage unseres braven Becker. Wie köstlich ist das erst im
Winter, wenn ich hier am Kamine sitzen und mit der Feuerzange in der
Glut herumstochern kann, während der Wind vor den Fenstern saust, wenn
Freund Becker oder sonst einer etwas erzählt von seinen Künstlerfahrten
und seinem Schaffen, und dann eine kunstfertige Hand in die Tasten
greift … ach bitte, Fräulein Becker, machen Sie uns die Freude!«

Die Angeredete erhob sich ohne Ziererei und setzte sich an das
Instrument. Die Töne rollten perlengleich unter den schlanken Fingern
hervor, und behaglich zurückgelehnt in seinen Sitz lauschte der
Hausherr, bis sie leise verhallend ausklangen.

»Das sind die guten Geisterchen, die dem geplagten Diplomaten manchmal
das Gleichgewicht wiedergeben helfen!« sagte er lächelnd.

»Der Himmel schenke Ihnen und Ihrem Hause recht viele gute Geister!«
erwiderte Motley.

»Na, einige ganz herzige und herrliche liegen da drüben in ihrem
Bettchen!« sprach der Maler.

»Da mögen Sie recht haben, lieber Becker,« bemerkte der Hausherr; »es
sind zwar Geisterchen mit Fleisch und Bein, aber die richtige Wirkung
tun sie doch!«

So ging der Abend hin, und als es ganz still im Hause geworden war, da
leuchtete der Lampenschimmer aus Bismarcks Arbeitsgemach hinaus in die
Nacht. Und Stunde um Stunde verging. Lange diktierte er seinem Sekretär
an den Berichten, die nach Berlin abgehen mußten, und die eine Fülle
von scharfen Beobachtungen und von klarer Einsicht in die politischen
Verhältnisse bekundeten. Dann entließ er den Beamten, setzte sich
selbst an den Tisch und schrieb noch einige wichtige Briefe, und als er
endlich zum Siegeln gekommen war, tagte bereits der Sommermorgen und
warf seinen erwachenden Schimmer in den Raum.

Nun erst legte er sich angekleidet auf sein Sofa. Gleich darauf schlief
er, tief, ruhig, aber kaum zwei bis drei Stunden. Der Sommermorgen
weckte, und der Sonnenschein lockte hinaus. Wohl waren ihm die Glieder
steif von dem nicht ganz bequemen Lager, und er fühlte eine Schwere und
Abspannung, aber er war der Mann der Kraft und der Selbstbeherrschung.
Er ließ sich sein Pferd satteln, und während die vornehme Welt
Frankfurts noch im Morgenschlummer träumte, ritt er die Bockenheimer
Landstraße hinaus, am Zoologischen Garten vorüber und in die lachende
Landschaft hinein, und da und dort blieben wohl zwei oder drei stehen
und sahen ihm nach, und einer sagte:

»Das ist der preußische Bundesgesandte – soll ein schneidiger Mann
sein!«

Motley war wieder abgereist, aber in Bismarcks gastliches Haus kamen
immer neue Besucher, und alle fühlten sich hier wohl und ungemein
angeheimelt von dem herzlichen und zwanglosen Ton, welcher hier
herrschte.

Da ließ sich eines Tages ein besonders erlauchter Gast melden,
Prinz Wilhelm von Preußen. Er war schon vordem gelegentlich einer
Truppeninspektion in Frankfurt gewesen und auf dem Bahnhofe bei seiner
Ankunft war ihm Bismarck vorgestellt worden, der in seiner Uniform als
Landwehrleutnant mit der Lebensrettungsmedaille auf der Brust dem hohen
Herrn besonders auffiel, so daß er nochmals dem General von Rochow
gegenüber seine Bedenken äußerte über die Wahl des Landwehrleutnants
Bismarck zu einem so wichtigen Posten. Aber im Gespräch mit diesem
überzeugte er sich selbst bald genug, daß der preußische Diplomat trotz
seiner verhältnismäßig jungen Jahre ein klarblickender und energischer
Mann und ein sehr warm fühlender Patriot sei.

Als er nun diesmal nach Frankfurt gekommen war, erbat sich der Baron
Rothschild eine Audienz und ersuchte, ihm die Ehre zu erweisen und bei
ihm zu speisen. Der Prinz erwiderte lächelnd, daß er sich bei Bismarck
bereits eingeladen habe, und als der Baron trotzdem in ihn drang, legte
er es ihm nahe, sich mit dem Bundesgesandten darüber abzufinden.

Rothschild fuhr in der Bockenheimer Landstraße 40 (jetzt 140) vor. Er
traf Bismarck daheim und trug ihm sein Anliegen vor, ihm den hohen Gast
zu überlassen.

»Es tut mir leid, mein verehrter Baron, Ihnen nicht dienen zu können,
aber abgesehen von der Ehre, welche ich damit meinem Hause entziehen
würde, ist mir jede Stunde wertvoll, welche ich in der Nähe des Prinzen
meines Königshauses zubringen kann.«

»Aber Exzellenz würden mich außerordentlich beglücken, wenn Sie
gleichfalls in meinem Hause und an meinem Tische erscheinen wollten.«

»Besten Dank, mein Herr Baron, aber ich muß schon auf meinem Schein
bestehen und auf meinem Vorrechte beharren.«

»Dann wollen Exzellenz mir mindestens gestatten, daß meine Speisen auf
Ihrer Tafel serviert werden, so daß wir uns in die Ehre, den hohen Gast
zu bewirten, teilen.«

»Ich kann Ihnen leider auch darin nicht entgegenkommen. Es
würde mindestens sehr verwunderlich sein, wenn der preußische
Bundestagsgesandte bei Bewirtung eines preußischen Prinzen nichts
weiter als den Tisch hergeben würde. Außerdem aber bin ich ein Gegner
jeder Halbheit – also verzeihen Sie, Herr Baron –«. Rothschild
erkannte, daß er den anderen nicht umstimmen würde, und leistete
seufzend Verzicht, der Prinz aber speiste an dem gastlichen Tische
Bismarcks und fand auch hier immer neues Wohlgefallen an dem prächtigen
Manne.

Dieser aber arbeitete unverdrossen und kraftvoll weiter in der Wahrung
der Interessen seines Staates. Dabei machte er aber bald genug die
Wahrnehmung, daß er nicht nur durch die österreichische Botschaft
sehr beobachtet werde, sondern daß man zweifellos auch Briefe von
ihm auffange und öffne. Es ging übrigens den anderen Bundesgesandten
nicht besser. Eines Tages klagte ihm Herr von Bothmer, der Vertreter
Hannovers, daß er begründeten Verdacht habe, daß auf irgendeinem Wege
Graf Thun Kenntnis von dem Inhalt seiner Korrespondenz haben müsse.
Bismarck lächelte und bemerkte, er müsse eben bei Absendung klug zu
Werke gehen.

»Aber was heißt hier klug?« fragte Bothmer.

»Das will ich Ihnen zeigen, wenn Sie ein halb Stündchen Zeit haben; ich
habe just eine Sendung zu expedieren.«

So gingen sie zusammen und bogen aus den belebten Straßen in ein
stilleres Viertel der alten Handelsstadt. In einem engen Gäßchen vor
einem schlichten Krämerladen blieb Bismarck stehen und zog seine
Handschuhe an.

»Hier lassen Sie uns eintreten!« sagte er.

Erstaunt folgte der Hannoveraner. In dem engen Laden roch es
wunderlich, so daß es ganz unmöglich gewesen wäre, diesen Geruch in
seinen Einzelheiten zu analysieren. Ein jugendlicher Verkäufer begrüßte
die beiden Herren und fragte nach ihren Wünschen.

»Ich möchte Seife, aber etwas wohlriechende,« sprach Bismarck, und der
dienstbeflissene Jüngling begann seine Proben vorzulegen. Der Diplomat
roch an jeder, dann wählte er jene, welche den stärksten Geruch hatte
und schob sie ohne weiteres in seine Tasche.

»Haben Sie auch Briefkuverts?«

»Sehr wohl!«

Nach kurzer Auswahl nahm Bismarck die schlichteste und einfachste
Sorte, zog dann ein bereits zusammengefaltetes Papier aus der Tasche,
schob es in den Umschlag und bat sich nun Tinte und Feder aus, um
die Adresse zu schreiben. Da jedoch die Handschuhe ihm hinderlich zu
sein schienen, bat er den Verkäufer, ihm die Mühe abzunehmen, was
dieser auch beinahe geschmeichelt tat. Behaglich steckte Bismarck nun
das Schreiben zu der Seife in seiner Tasche, und als er mit seinem
Begleiter vor der Türe stand, sagte er zu diesem:

»Glauben Sie nun, lieber Kollege, daß man unter diesem Kuvert, das
nach Käse und Hering, Seife und Wichse duftet, nicht so leicht meine
Depesche herausschnüffeln wird?«

Manchmal jedoch, wenn es ihm in dem Frankfurter Treiben zu unbehaglich
und in den Bundestagsverhandlungen zu langweilig und zu ärgerlich
wurde, setzte er sich auf die Eisenbahn und fuhr hinein in den
Odenwald, oder besah sich einmal das bunte Leben und Treiben in den
glänzenden Badeorten Homburg, Wiesbaden, Baden-Baden, oder er erquickte
sich an der ewigen Schönheit des Rheinstromes und seiner lieblichen
Ufer. So fuhr er eines Nachmittags nach Rüdesheim. Dort mietete er
einen Kahn und glitt hinaus auf den Strom. Der Mond warf seinen
milden, dämmerigen Schein auf die Fluten, die Luft war lau, und ihn
faßte ein Gelüste an, die Kleider abzuwerfen und sich in die silbernen
Wellen zu tauchen. Gedacht, getan, und bald schwamm er langsam und
behaglich dahin. Hinter ihm her, im Abendschimmer verdämmernd, kam
langsam das Boot, das der schweigende Ferge lenkte, hoch über dem
Schwimmer wölbte sich blau und klar der Himmel mit seinen vieltausend
Sternen, und drüben an den Ufern webte der bläuliche Mondenschimmer
um die dunkelnden Höhen, die bewaldeten Berge, die grünen Weingärten
und die grauen, schweigenden Ruinen der Vorzeit. Und das Wasser klang
und rauschte und flüsterte wie von alten Sagen. Von Bingen herüber
schimmerten einzelne Lichter, und nun hob sich der Mäuseturm düster und
ernst aus den Wellen. Hier stieg der Schwimmer ans Land, kleidete sich
an und fuhr nach Bingen hinüber, wo er Nachtrast hielt. Am nächsten
Morgen aber ging’s über Koblenz nach Frankfurt zurück.

Das erfrischte Leib und Seele.

Auf den 18. Oktober fiel der Geburtstag des Königs. Auf der Villa in
der Bockenheimer Landstraße wehten die preußischen Fahnen, und im
Laufe des Vormittags fuhren Bismarck und die Beamten der Gesandtschaft
in größtem Staat nach dem Kornmarkt, wo in der großen Reformierten
Kirche der Festgottesdienst abgehalten wurde. Die Mittagstafel aber
sah zahlreiche und erlesene Gäste, und der Hausherr verstand es, in
kräftigen, gehaltvollen Worten der Begeisterung Ausdruck zu geben,
die er selbst für seinen königlichen Herrn fühlte, und die er auch in
anderen Herzen zu entflammen wußte.

Und als der Abend kam, zog er seine Landwehrleutnants-Uniform an mit
der Lebensrettungsmedaille und begab sich nach der Kaserne, wo die
preußischen Soldaten gleichfalls festlich den Geburtstag ihres obersten
Kriegsherrn begingen. Hier war die Lust in vollem Gange. Rauschende
Musik klang durch den Saal, und in lauter, aufjauchzender Fröhlichkeit
drehten sich die Paare im Reigen. Als er eintrat, machten die Soldaten
am Eingang Honneurs und flüsterten sich, als er vorüber war, zu: »Seine
Exzellenz, der Herr Leutnant von Bismarck!« Sie kannten ihn alle, den
prächtigen, stattlichen Mann, der so heiter und herzlich sein konnte,
und auch diesmal wieder bald da, bald dort auftauchte und sich mit den
schlichten Kriegern unterhielt.

Der Herbst entblätterte die Bäume in dem Garten, und der Winter spielte
mit seinen Flocken um die freundliche Villa. Aber wenn auch der
Sturmwind um die Fenster fegte, drinnen war’s um so behaglicher. Diese
Winterabende waren köstlich, wenn in dem Salon bei dem flackernden
Kaminfeuer sich um die liebenswürdigen Wirte prächtige Gestalten
scharten, von denen jeder fand, was er nur suchen mochte: Schlichtheit,
Herzlichkeit, vornehme Sitte und frischen Humor. Wie zwanglos verkehrte
da Prinz Georg von Preußen mit Schriftstellern, in deren Kreis er sich
zählen durfte, wie gemütvoll und vergnügt plauderte die Großfürstin
Helene von Rußland (geborene Prinzessin von Württemberg) mit der Frau
des Malers Becker, und wenn die Gäste in stiller Nacht schieden, nahmen
sie etwas von dem Behagen dieses Hauses mit sich fort, das noch lange
in ihnen nachklang.

Der Winter stellte freilich auch gesellschaftliche Anforderungen, denen
Bismarck um seiner Stellung willen entsprechen mußte. Dabei fühlte
er sich nicht immer besonders vergnüglich, zumal der österreichische
»Botschafter« überall eine dominierende Stellung beanspruchte, und er
seinerseits darüber wachte, daß auch der Würde seines Staates nichts
vergeben werde.

Der englische Lord Cowley gab ein großes Fest zu Ehren seiner Königin.
Die Räume waren glänzend geschmückt; Farben und Fähnchen fast aller
Kulturstaaten woben sich zu einem bunten Bilde zusammen, aus welchem
sich das transparente englische Wappen abhob, dem gegenüber sich der
ungekrönte Doppeladler – das Wappen des deutschen Bundes – zeigte. Die
Gesellschaft war eine sehr vornehme. Graf Thun tänzelte zierlich um die
Damen, der Lord zeigte sich als vornehmer und lebhafter Wirt, zwischen
den Gesandten der deutschen Staaten bewegten sich mit graziöser
Gewandtheit der Vertreter Frankreichs, Tallenay, und der belgische Graf
Briey, und der Tanz bot bei der Reichhaltigkeit der Toiletten geradezu
glänzende Bilder. Bismarck lehnte behaglich an einer reichdekorierten
Säule und sah in das Gewühl. Im bunten Kotillon bewegten sich die
Paare, darunter viele der älteren Diplomaten, und er machte die
Bemerkung, wie viele von den Damen schwarzgelbe Seidenschleifen, die
Farben Österreichs, trugen, während er nach jenen Preußens vergebens
suchte. Eine junge Prinzessin von Nassau kam eben an ihm vorüber,
am Arme eines süddeutschen Diplomaten. Sie sah ihn flüchtig an,
aber es lag in dem Blicke selbst eine unverkennbare Beimischung von
Geringschätzung. In diesem Augenblicke trat ein anderes Mitglied der
preußischen Bundestagsgesandtschaft an ihn heran. »Fürchten Exzellenz
nicht die Ungnade Ihrer Hoheit der Prinzessin von Nassau?«

»Wieso?«

»Wir armen Preußen sind bei ihr schwer diskreditiert; Hoheit geruhte
mit allen anderen Mächten zu tanzen, nur mit Preußen nicht!«

»Das ist freilich schlimm, aber ich hoffe, daß es mir nicht den Rest
meiner Nachtruhe verderben wird,« sagte Bismarck lächelnd.

Nicht lange darauf verließ er das Fest.

Weihnachten wurde in freundlicher Weise verlebt, und das Fest brachte
dem Vielbeschäftigten einige Ruhe und Muße. Dann wieder Arbeit in
Fülle, zwischendurch aber auch manch ein vergnügter Tag! Wie war das so
lustig zur Fastnachtszeit, als er seinem Dienstpersonal ein fröhliches
Fest gab, wie er es daheim in der Altmark seit der Väter Tage gewohnt
war! Er fehlte nicht unter den »Seinen« und freute sich, wie alle Augen
lachten vor Fröhlichkeit, und wie vor allem die knusprigen, braunen
»Pannkauken« schmeckten, die er selber auch kostete. In solchen Stunden
wuchs er seinen Dienern noch mehr ans Herz, als es schon der Fall war,
und Frau Johanna nicht minder.

Der Frühling von 1852 kam ins Land. In Österreich war an Stelle des
Ministers Schwarzenberg der Graf Buol-Schauenstein getreten, und damit
schärfte sich eine bereits schwebende Angelegenheit zwischen Preußen
und Österreich noch mehr zu. Es betraf den von dem ersteren begründeten
deutschen Zollverein, für welchen die bisher noch unbeteiligten
deutschen Staaten gewonnen werden sollten, während Österreich, das von
demselben ausgeschlossen war, an der Auflösung desselben arbeitete.
Bismarck hatte hier seine vollgemessenen Verdienste, und da der neue
österreichische Ministerpräsident mit aller Macht den preußischen
Bestrebungen entgegenarbeitete, ging er im Auftrag seines Königs nach
Wien, um an den Kaiser ein Handschreiben Friedrich Wilhelms IV. zu
überbringen.

In den ersten Tagen des Juni traf er in der Hauptstadt an der Donau
ein. Der Minister Buol empfing ihn ziemlich ungnädig und erklärte
bestimmt, daß Österreich sich von Deutschland nicht als Ausland
behandeln lassen werde.

Bismarck war zwar verstimmt, aber nichts weniger als entmutigt.
Er freute sich der Liebenswürdigkeit, mit welcher er fast überall
aufgenommen ward, lebte in dem freundlichen Schönbrunn den anmutigen
Erinnerungen an seine Hochzeitsreise, und fuhr endlich am 23. Juni auf
der Donau hinab nach dem alten Ofen, wo er im kaiserlichen Schlosse
seine Wohnung erhielt. Hier saß er, hoch über Stadt und Strom, und ließ
den Blick hinausschweifen über das weite ungarische Flachland, und
dachte bei all den Schönheiten an den Kreis seiner Lieben in Frankfurt.

Von dem jungen Kaiser wurde er in besonderer Audienz mit
liebenswürdiger Herablassung empfangen und machte mit dem Hofe einen
Ausflug ins Gebirge. Stimmungsbilder von satter Farbenglut gingen
an seinem Auge vorüber. Im Hintergrunde die ungarische Königsstadt
mit ihrer hochragenden Burg, ringsum grüner Buchenwald, auf freiem
Rasenplane die kleine Tafel für etwa zwanzig Personen, eine jubelnde
Volksmenge, die sich ringsum drängte und bis in die Wipfel der Bäume
kletterte, leise hallender Hörnerklang, und als der Abend kam, das
ganze Bild übergossen vom bläulichen Mondschimmer und matt erhellt von
loderndem Fackelglanz – das alles war so fremdseltsam, daß es wie eine
Phantasie erschien, der die ernste Wirklichkeit bald folgte in Gestalt
eines Telegramms aus Berlin, welches entschieden die österreichischen
Zumutungen in der Zollvereinsfrage zurückwies.

Nicht lange darauf saß Bismarck wieder im Kreise der Seinen, der sich
am 1. August 1852 noch um ein Söhnchen vermehrte, das nach seinem hohen
Paten _Wilhelm_ genannt wurde.

Im Herbste desselben Jahres mußte er zu seinem großen Bedauern seine
freundliche Wohnung in der Bockenheimer Landstraße aufgeben, weil ein
reicher Westfale das Haus gekauft, und nun siedelte er nach der Großen
Gallusstraße Nr. 19 über; aber der Ruf der hohen Gastlichkeit, der
vornehmen und dabei gemütvollen Liebenswürdigkeit haftete auch hier an
dem Heim des Diplomaten.

Die kommenden Jahre gaben Bismarck genug Gelegenheit, seine Umsicht,
Klugheit und Tatkraft im Interesse seines Staates zu bekunden. Und
er hat in kleineren wie in gewichtigen Dingen seine Anschauungen zur
Geltung zu bringen verstanden – und eine Tätigkeit entwickelt, die
schon ihrem Umfange nach Staunen erregt. Die immerwährenden Reisen, die
eingehenden klaren Berichte, die unmittelbare Tätigkeit im Bundestage
selbst hätten einen anderen aufreiben müssen.

Da tat mitunter eine Erholung dringend not.

Im Sommer 1853 erfrischte er sich in den Wellen der Nordsee und reiste
dann durch Belgien und Holland zurück. Der politische Horizont hatte
sich umwölkt, der »Krimkrieg« zwischen Rußland und den europäischen
Westmächten hing in der Luft, und der preußische Staatsmann suchte
nach seiner besten Überzeugung seinen König in dieser Sache neutral zu
erhalten, was auch gelang.

Spott, der ihn deshalb traf, wußte er sehr geschickt und scharf
zurückzuweisen. So war er in diplomatischem Auftrage in München
gewesen, und als dort zu Ehren eines österreichischen Generals eine
Militärparade abgehalten wurde, erschien er dabei gleichfalls in
seiner Landwehruniform. Auf seiner Brust lag schon längst nicht mehr
die Rettungsmedaille allein, sondern zahlreiche hohe Orden schmückten
dieselbe. Der General, welcher an ihn herangeritten war, sah mit
einigermaßen spöttischem Blicke auf die blinkenden Auszeichnungen und
fragte:

»Schaun’s Exzellenz! Alle vorm Feind erworben?«

»Jawohl, Exzellenz, alle vorm Feinde, alle in Frankfurt a. M.,«
erwiderte Bismarck mit verbindlichem Lächeln.

Noch schärfer führte er den französischen Gesandten in Berlin, de
Moustier, ab. Die Franzosen waren über die Neutralität Preußens in
der orientalischen Frage verstimmt, und als der Gesandte mit Bismarck
zusammentraf, ließ er sich zu der Äußerung verleiten: »Preußen wird
seine Haltung noch einmal bedauern; auf diesem Wege kommt es vermutlich
nach Jena!«

»Und warum nicht nach Leipzig oder Waterloo?« fragte Bismarck dagegen,
und de Moustier war durch diese Antwort so gekränkt, daß er sich beim
König – jedoch ohne Erfolg – beschwerte.

Bismarck war einmal nicht der Mann, der seiner Würde, noch weniger aber
der Würde seines Staates etwas vergab.

Der Krimkrieg war zu Ende, und in Paris fanden sich die Vertreter der
Mächte ein, um über den Frieden zu verhandeln. Damals reiste auch der
Minister Graf Buol über Frankfurt dahin und hielt sich kurze Zeit in
letzterer Stadt auf. Da beeilten sich denn die meisten der deutschen
Bundesgesandten, ihm einen Beweis ihrer Ergebenheit zu geben, und
ließen sich durch den Graf Rechberg, welcher indes an Graf Thuns Stelle
getreten war, anfragen, wann sie ihre offiziellen Besuche machen
könnten. Aber der Herr Minister, ermüdet von der Reise, lehnte solche
Besuche ab, bestimmte jedoch eine Stunde, in welcher er für die Herren
in seiner Wohnung zu einer vertraulichen Besprechung anzutreffen sei.
Diese Mitteilung war auch Bismarck, trotzdem derselbe nicht angefragt
hatte, zugegangen. Er ließ dem Grafen Rechberg wissen, daß er durchaus
gar nicht die Absicht habe, die wertvolle Zeit des Grafen Buol in
Anspruch zu nehmen, und während die anderen Gesandten im Vorzimmer der
österreichischen Exzellenz warteten, bis es derselben genehm war, sich
von ihnen respektvoll begrüßen zu lassen, wartete Bismarck, ob nicht
Graf Buol zu ihm kommen werde.

Und derselbe kam trotz seiner »Ermüdung«.

Auch die Unterdrückung Schleswig-Holsteins durch die Dänen war eine
Angelegenheit, welche den Bundestag viel beschäftigte, ohne daß eine
Einigung zu erzielen war. Preußen hatte den besten Willen, zu helfen,
aber die Eifersucht Österreichs, die Zwietracht der anderen Mächte
banden ihm die Hände.

Trotzdem wußte Bismarck auch hier einiges zu erreichen, und vor allem
zu erlangen, daß Dänemark für den Herzog von Schleswig-Holstein eine
entsprechende Abfindungssumme entrichte.

In der schleswig-holsteinischen Sache war er übrigens selbst in
Kopenhagen gewesen. Im August 1857 war er aufgebrochen, seine Familie
hatte er nach Reinfeld gebracht, wo sie in ländlichem Behagen sich
freuen und erholen konnte, und in der dänischen Hauptstadt fand er eine
durchaus höfliche Aufnahme.

[Illustration: ~Eis. Kanzler III~

Napoleon und Bismarck in Biarritz.]

Hier war ihm alles fremd und neu, und so ließ er sich gern veranlassen
zu Ausflügen, welche den Reiz der nordischen Gegenden vor ihm
entrollten und überdies eigenartige neue Jagdvergnügen boten. Diese
Ausflüge erstreckten sich bis nach Schweden, wo er bis Tomsjonäs in
Smaland vordrang. Fremdseltsam mutete ihn die Gegend an mit ihren
weiten, wüsten Strecken, wo bald zwischen Sumpf und Moor dichtes
Gestrüpp und Unterholz wuchert, bald über grauverwittertes Gestein und
zwischen felsigen Ufern schäumende Bergwasser hinwegrauschen, bald, von
Waldesgrün umsäumt, große, dunkle Seen im Sonnenscheine träumen – wo
die Menschheit zu fehlen scheint in der großen Szenerie der Natur, die
wie im Sonntagsgewande ihrer Schöpfung ruht und mit tiefer Stille den
Jäger umfängt.

Manch jagdbares Getier verfiel seiner sicheren Büchse, und das Jagen
war nicht immer gefahrlos. So stand dem Jäger auf einer seiner Fahrten
plötzlich ein unbehaglicher Gesell gegenüber, ein braunes Ungeheuer,
das wie aus dem Boden gewachsen schien, ein Bär, der die zornigen Augen
gegen ihn wandte und nicht freundlich ihn anbrummte. Da galt kein
langes Überlegen. Auf sechs Schritte Entfernung gab der mutige Schütze
Feuer, und das Tier brach zusammen. Aber »Meister Petz« war zäh; er
begann sich noch einmal, jetzt zur Wut entfacht, zu erheben, doch
Bismarck lud schnell und ohne merkliche Bewegung seine Waffe, und als
das Tier sich nun erhob, traf es die zweite Kugel und streckte es tot
nieder.

An Körper und Geist erfrischt, die Seele erfüllt von neuen Bildern, kam
Bismarck nach Frankfurt zurück, froh, mit seinen Lieben wieder vereint
zu sein, die er sich manchmal zur Seite gewünscht hatte in einem
kleinen, stillen, freundlichen Landhause an einem der Nordlandsseen. –
Da brachte der Herbst wiederum Trübes. König Friedrich Wilhelm IV. war
infolge eines Schlaganfalles erkrankt und hatte die Stellvertretung in
der Regierung seinem Bruder, dem Prinzen Wilhelm, übertragen. Es war
eine bange Zeit für die preußischen Herzen, die bei aller Verehrung
für den Prinzen doch den Schmerz empfanden, der in dem königlichen
Hause lebte.

So ging wieder ein Jahr vorüber, und der politische Himmel schien
sich von neuem zu bewölken; zwischen Österreich und Italien begann
eine Spannung, welche für den Einsichtigen, zumal bei dem Ehrgeiz des
dritten Napoleon eine Einmischung Frankreichs zu befürchten war, eine
drohende Kriegsgefahr barg. Im Oktober 1858 übertrug der unheilbar
kranke König seinem Bruder die Regierung gänzlich, und der Prinzregent
schien der preußischen Politik eine andere Richtung geben zu wollen,
indem er ein neues Ministerium berief, auf welches er wie sein Volk
große Hoffnungen zu setzen geneigt waren.

Auch an Bismarck war anfangs dabei gedacht worden, aber seine Zeit
war noch nicht gekommen. Er wußte sich, trotz der Verstimmung seiner
Angehörigen, zu trösten, und tat auch angesichts der augenblicklichen
Situation das, was ihm das Richtige schien. Der Bundestag war in
Aufregung, mittel- und süddeutsche Staaten drängten zum Kriege gegen
Italien und Frankreich und zur Bundesgenossenschaft mit Österreich.
Eine solche unbedingte Heeresfolge ging dem preußischen Diplomaten
gegen seine Überzeugung. Dieselbe hatte er schon vorher unumwunden in
einer Denkschrift an seine Regierung ausgesprochen, in welcher er eine
selbständige preußische Politik dringendst empfahl und verlangte, daß
Preußen als der größte deutsche Staat an die ihm gebührende Stelle
in Deutschland treten müsse, selbst, wenn es darüber zum Bruche mit
Österreich komme.

Und als jetzt der Krieg sozusagen in der Luft schwebte, sahen die
übrigen deutschen Gesandten zu ihrem Erstaunen, ja Entsetzen, auf der
»Zeile« Bismarck Arm in Arm mit dem Gesandten Italiens, dem Grafen
Barral, einherschreiten.

In Berlin aber war man noch nicht geneigt, mit Österreich geradezu zu
brechen, und so erhielt der preußische Bundestagsgesandte an einem
schönen Februartage seine Ernennung zum Gesandten in Petersburg.
Erfreut war er über die Mitteilung nicht, er hatte die Empfindung,
daß man ihn »kaltgestellt« habe, aber der Prinzregent selbst gab ihm
die Versicherung, daß diese Versetzung ein Beweis ganz besonderen
Vertrauens sei – und der Mann der Pflicht tat seine Schuldigkeit.



Siebentes Kapitel.

An der Newa und der Seine.


An einem wenig freundlichen Märztage des Jahres 1859 fuhr frühmorgens
ein hochbeladener Postwagen, mit acht Pferden bespannt, zu dem Tore von
Königsberg hinaus. Auf dem Außensitze saß Otto von Bismarck und schaute
in den dämmerigen Morgen, der ihn aus Deutschland entführte nach den
Ufern der Newa.

Eine behagliche Fahrt war es eben nicht.

In den Steppen Rußlands lag noch tiefer Schnee, und mühsam arbeiteten
sich die Pferde fort, so daß der Gesandte es manchmal vorzog, neben dem
Wagen herzuschreiten, zumal das den frosterstarrten Gliedern guttat.
Bergab war es am schlimmsten; die Pferde glitten auf den glatten
Wegen aus und kamen wiederholt zum Stürzen, und in einer Stunde war
man einmal etwa 20 Schritte vorwärts gekommen. Dazu keine Nachtpost.
Durch das unbehagliche Dunkel leuchteten nur mit müdem Scheine die
Wagenlaternen, ein eisiger Wind blies über die Steppen und wehte den
feinen, beißenden Schneestaub dem Reisenden in das Gesicht, der auf
seinem freien Sitze auch gar nicht daran denken konnte, zu schlafen.
Es war eine Wohltat, das letzte Stück des Weges im Eisenbahnwagen
zurücklegen zu können.

Nach sechs Tagen traf er in Petersburg ein. In den winterlichen weißen
Hermelin gehüllt, lag die russische Kaiserstadt, und ihre Pulsader,
die Newa, flutete noch unter der Eisdecke dahin. Durch die prächtigen
Straßen fuhr Bismarck nach dem Hotel Demidoff, wo er fürs erste sein
Quartier nahm.

So verlebte er diesmal seinen Geburtstag fern von der deutschen
Heimat und den lieben Seinen, aber er war doch nicht ohne
Bedeutung; er überreichte an demselben dem Zaren Alexander II. sein
Beglaubigungsschreiben. Um die Mittagszeit war das reich vergoldete
Gefährt mit dem kaiserlichen Wappen vorgefahren, das den Gesandten nach
dem Winterpalais brachte. Durch die entlaubten Lindenalleen ging es
pfeilschnell hin, vorüber an dem Prachtbau der Admiralität, von dessen
Turme sich der herrlichste Blick über die Zarenstadt bietet, über
den Paradeplatz hinweg und dann hinein durch das Tor in den Hof des
Palastes.

Der Empfang ließ an Feierlichkeit und würdigem Zeremoniell nichts
zu wünschen, aber er hatte auch beinahe den Anstrich einer gewissen
Herzlichkeit. Der Kaiser empfing den preußischen Gesandten herablassend
liebenswürdig und schien an dessen feinem und offenem Wesen von der
ersten Stunde an Gefallen zu finden.

Auch sonst hatte Bismarck nicht über Mangel an freundlichem
Entgegenkommen zu klagen. Wie einst die Großfürstin Helene, die
geistvolle Witwe des Großfürsten Michael Pawlowitsch, eine geborene
Prinzessin von Württemberg, sich in seinem gastlichen Hause in
Frankfurt wohl befunden hatte, so vergalt sie ihm jetzt diese
Gastfreundschaft in liebenswürdigster Weise in Petersburg. Manch
schöner Abend wurde bei ihr verlebt, gemeinsam mit bedeutenden und
angesehenen Persönlichkeiten; besonderes Interesse aber erregte es,
wenn man mit Bismarck in intimem Gespräche in irgendeiner Fensternische
einen kleinen, grauhaarigen Herrn mit dem glattrasierten Gesichte und
den klugen Augen, die hinter glitzernden Brillengläsern hervorsahen,
erblickte. Das war der russische Kanzler, Fürst Gortschakoff.

Die Freundschaft der beiden war nicht neu, sie datierte schon aus
Frankfurt, wo der Fürst Gesandter seiner Regierung beim Bundestage
gewesen war, und sie wurde hier mit einer gewissen Herzlichkeit
erneuert.

Endlich kam auch für Petersburg der Frühling. Die Kanonenschüsse,
welche eines Tags von der Festung aus donnerten, verkündeten der
freudig aufatmenden Residenz, daß die Newa die starre Eisdecke
zerbrochen habe und ihr glänzender Wasserspiegel mindestens auf eine
Bootsbreite zutage getreten sei, und jedes Kind in Petersburg wußte
es, daß zu dieser Stunde der Kommandant der Festung im Paradeanzug,
und von seinen Offizieren begleitet, in eine reichgeschmückte Gondel
steige, in einem goldenen Becher Wasser aus dem Strome schöpfe und dann
hinüberfahre nach dem Winterpalais, um es dem Kaiser zu überbringen.
Tausende von Menschen strömten zusammen und füllten den Platz, während
der mächtige Herrscher oben den Becher empfing und auf das Wohl seiner
Residenz leerte. So war es alter Brauch, und der Kommandant erhielt
demselben gemäß zweihundert Dukaten.

Nun begann der Lenz auch die Ufer des Flusses zu schmücken, und
die Straßen der Stadt wurden lebendiger, zumal der glänzende
Newski-Prospekt. An der Umgebung der Residenz aber fand Bismarck
kein besonderes Gefallen. Nach Süden zu hatte die Kunst der Natur
einigermaßen nachgeholfen, nach den übrigen Seiten hin war noch viel
einförmiger Wald und Wildnis.

Ein Punkt aber hatte für ihn eine freundliche Anziehungskraft; hier
wehte es ihm entgegen wie der Hauch der Heimat. Das war das Schloß
_Peterhof_, der überreich geschmückte Sommersitz Peters des Großen, das
Versailles der russischen Kaiser, zu jener Zeit aber der Aufenthaltsort
der Kaiserin-Mutter Charlotte, der Tochter der unvergeßlichen Königin
Luise von Preußen.

An einem herrlichen Lenztage hatte er sie abermals aufgesucht, und
sie empfing ihn wie eine mütterliche Freundin. Auch heute saßen sie
auf dem Balkon, die Kaiserin auf der Chaiselongue, er selbst in einem
Fauteuil, und sahen hinaus auf das Bild zu ihren Füßen: Unmittelbar
unter ihnen der prächtige Garten mit seinen leise rauschenden Bäumen
und seinen springenden Kaskaden, dann weiter hinaus der wunderbare
Blick auf die märchenhafte Landschaft, in der aus grünen Gehegen weiße
Schlösser hervorlugen, darunter zumal das anmutige Babigon, glitzernde
Teiche, breite Alleen, dann zur Rechten die große Residenzstadt, zur
Linken die weißen Mauern der Festung Kronstadt, und im Hintergrunde das
schimmernde Meer und die im Blauen verdämmernde Küste von Karelien. Die
alte Dame in dem schwarzen Seidengewande, die mit langen Holzstäben
an einem Wollschal strickt, läßt die fleißigen Hände einen Augenblick
sinken und sagt:

»Manchmal habe ich hier an Potsdam gedacht und Sanssouci; hier ist ja
alles größer und glänzender, daheim aber ist es voll lieber Anmut –«

»Ja, Majestät, die Scholle, auf welcher unsere Wiege stand, bleibt
immer die schönste,« erwiderte Bismarck, »und sie lieben wir
unvergessen, und für sie setzen wir unser bestes Blut ein.«

»Das kann der Mann; die Bestimmung der Frau ist anders, zumal die
der Fürstin. Ihr gibt das Geschick oft eine neue Heimat, die ihr von
Gottes und Rechts wegen an das Herz wachsen muß, und es kann dann für
sie nichts herber sein, als wenn ihr Herz in Zwiespalt kommt, mit den
leidigen Erwägungen der Politik. Ich und der Kaiser nicht minder, wir
haben uns gefreut, daß Preußen im Krimkriege Neutralität bewahrte, und
dafür sind wir Ihnen ganz besonders dankbar, lieber Bismarck.«

»Ich habe dabei lediglich das Beste für Preußen im Auge gehabt,
Majestät, genau so, wie ich es in der gegenwärtigen Verwicklung
zwischen Österreich und Italien halte.«

»Sie meinen nicht, daß es für Preußen richtig sei, zugunsten
Österreichs zu intervenieren?«

»Wenn wir hier eingreifen, so wird das für uns gleichbedeutend damit,
daß wir Österreich den Krieg abnehmen und uns für dasselbe opfern. Mit
dem ersten Schuß am Rhein wird der _deutsche_ Krieg die Hauptsache,
weil er Paris bedroht. Österreich bekommt Luft, und wird es seine
Freiheit benutzen, um uns zu einer glänzenden Rolle zu verhelfen? Wird
es vielmehr nicht dahin streben, uns das Maß und die Richtung unserer
Erfolge so zuzuschneiden, wie es dem spezifisch österreichischen
Interesse entspricht? Und wenn es uns schlecht geht, so werden die
Bundesstaaten von uns abfallen wie welke Pflaumen im Winde, und
jeder, dessen Residenz französische Einquartierung bekommt, wird sich
landesväterlich auf das Floß eines neuen Rheinbundes retten.«

»Sie mögen recht haben, und haben auch den schärferen Blick für die
Verhältnisse – ich möchte nicht so düster sehen, aber wir Frauen sind
Gefühlspolitiker. – Doch schauen Sie!«

Die hohe Frau deutete mit der Rechten hinaus auf das Landschaftsbild,
wo über der See die Sonne unterging. Ein rötlicher Schimmer lag
über den blinkenden Wasserspiegeln, heller hoben sich die Häuser der
Residenz, die schweren Gebäudemassen von Kronstadt vom Horizonte ab.

»Es hat doch jedes Land seine wunderbaren, ihm eigentümlichen
Schönheiten – das Bild ist einzig, Majestät!«

»Dies Bild hat seinen eigentümlichen Reiz. – Gewiß, aber Petersburg
selbst ist eine moderne Großstadt wie die meisten anderen. Wenn Sie ein
eigenartiges Stadtbild sehen wollen, müssen Sie nach Moskau fahren.
Moskau ist Rußland, das alte, starre, halbasiatische Rußland. Den
Genuß lassen Sie sich nicht entgehen. Und jetzt eben wäre die beste
Reisezeit; wenn Ihre Geschäfte es gestatten, würde ich Ihnen sehr dazu
raten, lieber Bismarck.«

Und nun plauderte die Kaiserin so heiter und geistvoll von der alten
Russenstadt, daß ihr Zuhörer sich ganz in die seltsamen Bilder
versenkte, welche sich vor seinem Geiste entrollten, und entschlossen
war, bereits in der nächsten Zeit nach der Stadt aufzubrechen, welche
einst dem großen Napoleon zu fürchterlichem Verhängnis geworden war.

Es war zu Anfang des Juni, als er seinen Vorsatz ausführte.

Der Sonnenschein lachte in die Fenster des Kupees herein und lag
draußen über dem grünen Lande, als er abfuhr; die Tage brachten
eine beinahe unbehagliche Wärme, und da die Gegend anfing einförmig
zu werden mit ihren weiten, grünen Ebenen, Sumpfgeländen und
Birkenwäldchen, zwischen welchen keine Stadt, ja, selten ein Dorf das
Vorhandensein von Menschen bekundete, gab sich der Reisende dem Behagen
des Schlafes hin.

Als er am nächsten Morgen erwachte – es war hinter der Station Twer –
und durch das Fenster blickte, glaubte er seinen Augen kaum trauen zu
dürfen; im Frührot schimmerte weithin auf der Ebene der Schnee!

Und weiter rollte der Zug und hielt endlich im Bahnhofe in Moskau,
der heiligen Stadt der Russen. Feiner Regen sickerte nieder, als
er durch die Straßen fuhr, und der Schnee war wieder verschwunden.
Bismarck stieg im Hotel de France ab, und nachdem er von hier aus
einen brieflichen Gruß an Frau Johanna geschickt hatte, machte er sich
daran, die wunderliche Stadt kennen zu lernen, in welcher Europa und
Asien sich gleichsam die Hand reichen, und die einen seltsamen Zauber
auf jeden Besucher ausübt. Das Aussehen von Moskau ist seit dem großen
Brande im Jahre 1812 sehr zu dessen Vorteil verändert, aber auch in
der Erneuerung ist man dem alten Stil treu geblieben in der Anlage der
meist gekrümmten Straßen und in der Mischung aller Bauarten der Welt.
Von freier Höhe sah Bismarck die Stadt unter sich liegen mit ihren
grünen Dächern, ihren zahllosen grünen Kirchenkuppeln, ihren prunkenden
Palästen; zwischendurch windet sich das glitzernde Band der Moskwa,
an deren linkem Ufer das Kapitol der Stadt, der Riesenbau des Kreml
mit seinen 32 Kirchen und zahlreichen Palästen, sich erhebt, überragt
von dem achteckigen »Iwan Weliki«, über dessen zwiebelförmiger Kuppel
das hohe, vergoldete Kreuz weithin leuchtet im Sonnenglanz. Es war ein
Städtebild von überwältigender Großartigkeit und einem märchenhaften
Reiz.

Auch die Umgegend der Stadt wurde durchstreift, dem Schlosse Petrowski,
das nach dem großen Brande Napoleon zum Hauptquartier gedient hatte,
ein Besuch abgestattet und zwischen Dörfern und Fabriken weit
hinausgeschweift in die wellenförmige, fruchtbare Ebene, bis sie in die
weite, wüste Steppe übergeht.

Aber für die mannigfachen Genüsse dieser Reise mußte Bismarck büßen.
Nach Petersburg zurückgekehrt, erkrankte er an einem rheumatischen
Leiden, das sich immer mehr steigerte, und so lag er in seinen
Schmerzen fern von der Heimat und von seinen Lieben, an welche er mit
Sehnsucht dachte, und ließ sich von den russischen Ärzten Schröpfköpfe
aufsetzen und mit spanischen Fliegen quälen, bis seine gute Natur
wenigstens einigermaßen ihn auf die Beine brachte, so daß er imstande
war, am 28. Juni nach Peterhof hinauszufahren zu der Kaiserin-Mutter,
welche über sein Aussehen erschrak.

»Aber Sie müssen Urlaub nehmen, lieber Bismarck, und einige Zeit in der
Heimat zubringen. O, die Luft der Heimat und der Hauch der anmutigen
Häuslichkeit tun Wunder. Ihre Frau wird recht in Sorge um Sie sein!«
sagte die gütige Zarin.

Bismarck erwiderte:

»Um den Urlaub habe ich bereits nachgesucht, Majestät, und was Frau
Johanna betrifft, so hat sie gottlob keine Ahnung, wie man mir hier
zugesetzt hat – sie weiß nur etwas von meinen üblichen Hexenschüssen.«

»Sie sind ein guter Gatte – aber Frau Johanna verdient einen solchen
nach allem, was ich von ihr weiß. Grüßen Sie dieselbe herzlich von mir.«

Nach einiger Zeit brach er nach Deutschland auf. Angenehm war das
Reisen nicht. Bis Dünaburg ging es an, weil im Eisenbahnkupee doch
noch einigermaßen Bequemlichkeit zu erreichen war. Von dort aus
nach Königsberg aber ging es zu Wagen weiter, und Bismarck merkte
schon während der Fahrt, daß das Leiden sich mit erneuter Heftigkeit
eingestellt hatte.

So kam er in Berlin an, ein kranker Mann, und der Arzt war beinahe der
erste, welcher ihm seinen Besuch im Hotel d’Angleterre abstattete.
Zumal mit dem linken Beine sah es schlimm aus. Hier hatte er eine
Erinnerung an seine schwedischen Jagdfahrten sitzen, wo er sich bei
einem Falle am Schienbein verletzt hatte – und hier rumorte nun der
Rheumatismus am heftigsten, so daß die verordnete Jodtinktur nicht nur
nicht wirkte, sondern, wie es schien, das Übel noch verschlimmerte.

Da blieb denn nichts anderes übrig, als den besten Arzt herbeizurufen.
Dieser trat denn auch, eben aus Pommern angekommen, in die Krankenstube
und brachte Sonnenschein und eine heilende Hand mit. Es war Frau
Johanna. Sie machte dem Gemahl zärtlich besorgte Vorwürfe, daß er nicht
früher ihr von seinem Zustande Mitteilung gemacht hatte; der aber war
glücklich, als er sie bei sich hatte, und als sich auch ohne Jodtinktur
durch ihre sorgsame Pflege, durch ihr klares, heiteres Wesen, durch
ihre Umsicht und ihr Geschick sein Zustand bald so besserte, daß er
daran denken konnte, nach dem Bade Nauheim zu gehen.

So kam der September, und der Prinzregent rief ihn nach Berlin, wo er,
obgleich von der Jodvergiftung noch nicht ganz erholt, doch seine Kraft
dem Vaterlande zur Verfügung stellte, da es galt, den russischen Kaiser
in Warschau zu begrüßen und ihn von dort nach Breslau zu begleiten zu
einer Zusammenkunft mit dem Prinzregenten.

Am 16. Oktober reiste Bismarck von Berlin ab und hatte das Glück,
unterwegs mit einem alten russischen General zusammenzutreffen, welcher
ihn auf einer polnischen Station erkannt hatte. Die Wirtschaft hier
an der russischen Grenze war für gewöhnliche Reisende nicht gerade
ergötzlich: Die Polizeibehörde verlangte den Paß, die Zollbehörde
begehrte Einsicht in das Gepäck, – so ein russischer General ist jedoch
ein Gewaltherr, mächtiger als ein preußischer Gesandter, und Bismarck
wurde nicht bloß aller Plackerei überhoben, sondern fuhr auch mit
dem alten Herrn in dessen Extrazug weiter, noch dazu im kaiserlichen
Salonwagen.

So ward Lagienki erreicht, wo einst Stanislaus August sich einen
prächtigen Sommersitz erbaut hatte inmitten eines herrlichen, weit
ausgedehnten Gartens, in welchem noch eine ganze Anzahl kleiner Paläste
sich um das Schloß des Herrschers gruppieren.

Hier vergingen einige Tage in vergnügter Weise. Ein prächtiges Hoffest,
bei dem Wald und Wasser märchenhaft schön beleuchtet war und das alte,
prachtliebende polnische Blut seinen ganzen Glanz und seine volle
Lebhaftigkeit entfaltete, sowie eine Jagd im Parke von Skierniewice
hatten für Bismarck besonderes Interesse, und doch war er froh, als er
über Breslau wieder in Berlin eintraf und von hier nach dem lieben,
stillen Reinfeld fuhr.

Und wenn es denn nun wieder nach Rußland auf seinen Posten gehen
sollte, so sollte er diesmal doch nicht allein reisen; seine Familie
ging mit ihm an die Newa, und nun überkam ihn beinahe eine stille
Sehnsucht nach dem Winterquartier in Petersburg; mit Frau Johanna
und seinen Kindern zur Seite gedachte er auch den russischen Winter
auszuhalten.

Er war mit den Seinen bereits in Elbing eingetroffen; da dachte er
seines Freundes, des Herrn von Bülow, der nicht gar fern auf seinem
Gute Hohendorf saß, und diesen suchte er auf. Es war nur ein kurzes
Wiedersehen geplant, aber das Geschick fügte es anders. Er erkrankte
hier auf Hohendorf an einer schweren Lungenentzündung, und wieder hatte
Frau Johanna mit ihrem besorgten Herzen alle Hände voll zu tun, um den
teuren Mann zu pflegen.

Für diesen Winter war an die Petersburger Reise nicht mehr zu denken.
Am behaglichen Kamin zu Hohendorf saß der langsam Genesende, stocherte
nach seiner Gewohnheit in der zuckenden Flamme, freute sich, daß er
wenigstens die Seinen bei sich haben konnte, und plauderte mit seinem
Freunde über die politische Lage, die ihm ganz leidlich behagte.

Der österreichisch-italienische Krieg war vorüber, Preußen hatte
sich dabei nichts vergeben, sondern in würdiger Weise seine Stellung
gewahrt, ja, es war durch die Verhältnisse in den Stand gesetzt, näher
an die eigentliche deutsche Frage herantreten und eine Reorganisation
des deutschen Bundes ins Auge fassen zu können.

Der Rekonvaleszent auf Hohendorf freute sich, daß die Dinge still für
sich weiterreiften, ohne damals zu ahnen, daß er selbst die letzten
entscheidenden Worte dabei sprechen und die entscheidenden Taten dafür
tun sollte.

Es kam wiederum der Frühling; der Mai streute seine Blüten durch das
deutsche Land, und nun konnte Bismarck erst daran denken, mit seiner
Familie auf seinen Posten abzureisen.

Am 5. Juni rollte der Wagen durch die russische Residenz, welcher
den preußischen Gesandten und die Seinen nach dem englischen Kai
führte, wo er im Hause der Gräfin Stenbock schon im vorigen Jahre
eine entsprechende Wohnung gemietet hatte. Sie war weit und geräumig,
und wenn auch die Möbel darin abgenutzt und »ruppig« schienen, bald
ging auch durch diese Räume wie einst in Frankfurt der Hauch einer
Gemütlichkeit und eines vornehmen Behagens, wie es hier an der Newa
vielleicht einzig dastand.

Der Sommer und Herbst vergingen. Besuche und Jagdfahrten unterbrachen
das Petersburger Leben in angenehmer Weise. Auf Peterhof hatte Bismarck
zum letztenmal am 1. Juli 1860 die liebenswürdige Kaiserin-Mutter
besucht – sie starb bald darauf – und er behielt die hohe Frau in
freundlichstem Gedenken. Auf der Wende von Herbst und Winter aber
begannen die Jagden. Da gab es noch Bären und Elche in den russischen
Wäldern, und für den Weidmann war es eine Lust, im dicken, kurzen
Jagdpelz und mit den hohen Juchtenstiefeln durch Gestrüpp und
Schneehalden zu waten nach köstlicher Beute.

Der Winter aber rückte einen freundschaftlichen Kreis näher aneinander.
In den hohen, weiten Räumen flimmerte der Lichtglanz, behagliche
Wärme durchflutete die Gemächer, und im Speisezimmer saßen liebe
Gäste: Der gute Graf Kaiserlingk, der einst in Berlin den Studiosus
Bismarck mit Beethovenschen Sonaten erfreut, und welcher jetzt die
Würde eines Kurators der Universität Dorpat bekleidete, die preußischen
Gesandtschaftsmitglieder General von Loën und Legationsrat von
Schlözer, der russische Hauptmann von Erckert und andere.

»Ja, was wollen Sie, Kaiserlingk,« sagte der liebenswürdige Hausherr,
»so glänzende Feste wie der französische Gesandte kann ich nicht geben
bei meinen 25000 Talern Gehalt und 8000 Talern Mietgeld; er hat 300000
Franken zur Verfügung.«

»Dafür kann auch er keine Feste geben wie Sie, Exzellenz!« erwiderte
Erckert; »dort ist man immer unter einem unbehaglichen Zwange, hier
fühlt man sich wie daheim.«

»Na, das freut mich! So ist mir’s auch am liebsten! Doch nun
erlauben Sie mir, daß ich mich an den Kamin setze, das gibt mir ein
absonderliches Behagen!«

Zwanglos gruppierten sich die Gäste, und einer von ihnen bemerkte:

»Sie haben doch wenigstens freie Feuerung, Exzellenz, und das will in
Rußland etwas bedeuten.«

»Gott bewahre, mein Bester, die muß ich auch bezahlen. Das Holz wäre
übrigens nicht so teuer, wenn die Beamten es nicht so teuer machten.
Da sah ich einmal schönes Holz auf einem finnischen Boote. Ich fragte
die Bauern nach dem Preise, und sie nannten mir einen sehr wohlfeilen.
Als ich’s aber kaufen wollte, fragten sie mich, ob es für den Fiskus
wäre. Da beging ich die Unvorsichtigkeit, zu antworten: Nicht für den
kaiserlichen Fiskus, sondern für den königlich preußischen Gesandten.
Preußen wäre wohl ein Gouvernement des russischen Reiches? Ich sagte,
das gerade nicht, aber die Gesandtschaft hat mit der kaiserlichen Krone
zu tun. Das war eben unvorsichtig, undiplomatisch; es befriedigte die
Bauern offenbar nicht, und es half auch nichts, daß ich ihnen das Geld
gleich geben wollte. Sie fürchteten ohne Zweifel, daß ihnen dasselbe
von mir wieder abgedrückt werden würde, und daß man sie obendrein unter
dem Vorwande, sie hätten das Holz gestohlen, einstecken und ihnen
Prügel aufzählen würde. Als ich später wiederkam, waren sie alle auf
und davon. Hätte ich ihnen die Adresse eines Kaufmanns gegeben, mit
dem ich mich inzwischen verständigen konnte, hätte ich das Holz um den
dritten Teil dessen gehabt, was ich sonst bezahlte.«

Das Gespräch kam auf die Jagd, zumal sich manche schöne Trophäe
derselben in der Wohnung Bismarcks befand.

»Sie scheinen ein besonderer Günstling St. Huberts zu sein nach allem,
was ich sehe und höre,« sagte einer der Anwesenden, und Hauptmann
Erckert erwiderte:

»Herr von Bismarck schießt eine absolut sichere Kugel. Da erzählte
mir ein Bekannter, der Oberst M., vor kurzem, er sei mit fünf anderen
Jagdgefährten und unserem liebenswürdigen Hausherrn auf die Bärenpirsch
gefahren. Als der erste Bär sich zeigte, schoß Herr von Bismarck, und
das Tier brach im Feuer zusammen; es kam ein zweiter Bär, der nächste
Schütze fehlte ihn, Herr von Bismarck aber streckte ihn mit einem
Prachtschuß nieder. Ein dritter Bär rückte an, der Oberst schoß zweimal
nach demselben ohne Erfolg, und in demselben Augenblick hatte Herr von
Bismarck ihn mit tödlicher Sicherheit gefällt. Ein vierter Bär kam
nicht!«

Das Töchterchen Bismarcks lehnte bei diesen Gesprächen an dem
Fauteuil der Mutter, die beiden Söhne, der zehnjährige Herbert und
der achtjährige Bill (Wilhelm), hörten dem Gespräch von einer Ecke
des Gemaches aus zu. Als die Rede von der Bärenjagd war, flüsterten
sie einander etwas zu und eilten dann hinaus. Das Gespräch hatte bald
eine andere Wendung genommen, als sie wiederkehrten, und hinter ihnen
trabten und kollerten zwei kleine, drollige, braune Tiere herein.

»Ah, da kommt Mischka,« rief lachend Bismarck, einige Damen schrien in
augenblicklichem Schrecken auf, aber als sie die zwei possierlichen
Kerle näher ansahen, schwand jede Furcht. Es waren zwei junge Bären,
die der Hausherr gleichfalls auf der Jagd erbeutet hatte. Die Tiere
waren offenbar nicht das erstemal in den Gesellschaftsräumen der
preußischen Gesandtschaft. Sie wälzten sich behaglich auf dem Teppich,
kletterten sogar auf den Tisch und gingen behutsam darüberhin, und
als ein Diener erschien und Erfrischungen servierte, schienen sie zu
glauben, daß ihnen ein Genuß zugedacht sei, und sie hefteten sich an
die Fersen des Mannes; als er sich nun nicht um sie kümmerte, zwickten
sie ihn in die Beine, so daß er Mühe hatte, sich der drolligen braunen
Burschen zu erwehren.

So verfloß der Abend in zwangloser Heiterkeit und liebenswürdigem
Verkehr.

Auch in Petersburg ließ sich’s leben, und sogar mit einem gewissen
Behagen. Die Vormittage gab es wenig zu tun, und sie wurden der
Promenade, dem Frühstück und etwaigen Kurvorschriften gewidmet. Der
Nachmittag bis fünf Uhr gehörte dem Dienst, der Abend, soweit es
möglich war, der Familie. Sonnabend abends nahm Bismarck überdies
eine Repetition vor mit seinen Söhnen, die sich dann mit ihren Heften
bei ihm einzufinden hatten, und die der Vater in Gegenwart ihres
Hauslehrers, des Kandidaten Braune, sehr eingehend examinierte.

Drei Jahre gingen in Petersburg hin, vielfach allerdings durch Reisen
im Dienst unterbrochen. Mancher bedeutsamen Fürstenzusammenkunft hatte
er mit dem Prinzregenten beizuwohnen, und am 18. Oktober 1861 war er
in Königsberg Zeuge der erhebenden Feier der Krönung Wilhelms I., der
seinem am 2. Januar verstorbenen Bruder auf dem Throne folgte. Als
»Wirklicher Geheimer Rat« kehrte er nach Petersburg zurück, und in
seiner Seele leuchteten wie ein herrlicher Stern die Worte nach, welche
der neue königliche Herr gesprochen hatte:

»Meine Pflichten für Preußen fallen mit meinen Pflichten für
Deutschland zusammen.«

Noch einmal sah er die in Eisesfesseln geschlagene Newa, die
verschneiten Paläste des Alexander Newski-Prospektes, die glänzenden
Feste des Zarenhofs, und sein einfach-vornehm-gemütliches Haus war die
liebliche deutsche Oase im russischen Osten.

Im Mai 1862 war er bereits wieder in Berlin, gewärtig dessen, was sein
König über ihn verfügen würde. Es war eine Zeit einer unangenehmen
Spannung, und er war nahe daran, in das neugebildete Ministerium
berufen zu werden. Aber die Sache blieb in der Schwebe, und Bismarck
ritt jeden Morgen mit neuer Ungeduld auf seiner Fuchsstute hinaus in
den Tiergarten, sah den Frühling ringsum sich entfalten und Blüten
treiben und dachte an seine Lieben, welche indes in dem stillen Pommern
weilten. So kam er wieder einmal heimgeritten, und das erste, was man
ihm noch im Sattel entgegenreichte, war ein amtliches Schriftstück
mit dem bekannten großen Siegel. Er erbrach es und las, daß er zum
Gesandten in Paris ernannt sei.

So ging es aus dem Osten nach dem Westen Europas, und noch im Mai traf
er in der glänzenden Weltstadt an der Seine ein, wo Napoleon III. sein
neues Kaiserreich errichtet hatte und den Plan entwarf, »die Karte von
Europa in Ordnung zu bringen.«

Ein freundlicher Frühlingstag lachte über Paris, seinen glänzenden
Boulevards und seinen leichtlebigen Menschen, der 1. Juni war’s, und
durch die Straßen fuhr die goldglänzende Hofequipage, welche den
preußischen Gesandten nach den Tuilerien führte und zur Empfangsaudienz
bei dem Kaiser. Dieser war freundlich und entgegenkommend, und auch die
Kaiserin zeigte sich von einer liebenswürdigen Seite.

Hier warm zu werden, durfte Bismarck kaum hoffen; er hatte die
Empfindung, auf einer Durchgangsstation zu sein, die ihn bald entweder
auf den Ministersitz in Berlin oder in das Stilleben des märkischen
Landedelmannes führen mußte.

Noch im Juni hatte er sich zur Weltausstellung nach London begeben, und
dabei die hervorragendsten englischen Staatsmänner kennen gelernt, und
nachdem ihm ein Urlaub bewilligt worden, verließ er das sommerheiße
Paris, um den schönen Süden Frankreichs kennen zu lernen.

In dem alten Königsschlosse der Orleans, Chambord, das wie ein
Märchenbild mit seinen sonnbeglänzten stillen Hallen und Höfen sich
vor ihm auftat, dachte er der versunkenen Herrlichkeit des alten
französischen Herrschergeschlechts; vom alten Schlosse von Amboise
schaute er mit Entzücken hinaus auf das blühende Gelände an der Loire
mit den weißen Schlössern und Landhäusern, den weiten Maisfeldern, den
dunklen Kastanienwäldern und den grünen Weinbergen, und durch das Land
der Reben, wo an sonnigen Hängen von Margaux, Lafitte, St. Julien,
Latour und Armeillac die dunkelglutigen Trauben reifen, streifte er in
angenehmer Gesellschaft.

Von Bordeaux fuhr er nach Bayonne durch Fichtenwälder, purpurblühendes
Heidekraut und gelben Ginster wie auf einem Blumenteppich, und von
dort durch die herrlichste Landschaft nach San Sebastian. Zur Linken
erhoben sich die gewaltigen Berge der Pyrenäen, zur Rechten leuchtete
der Spiegel des Meeres. Im Fuentarabia betrat er den Boden Spaniens,
»des schönen Lands des Weins und der Gesänge«. Steile, enge Gassen,
Balkone vor den Fenstern, Schönheit und Schmutz und lustiges Lärmen von
tanzenden Weibern auf dem Markte – ein fremdes, neues Bild!

Dann saß er in dem berühmten Seebade Biarritz und schaute aus den
Fenstern des Hotel l’Europe hinaus auf die blaue See, wie sie weiß
aufschäumte zwischen den Klippen und gegen den Leuchtturm brandete, der
in ruhiger Majestät über Meer und Land hinblickte. Und am Strande von
Biarritz konnte man wohl auch an schönen Morgen, wenn der Wind kühl und
weich zu Lande wehte, ein paar Menschen sehen, denen alle die anderen
Badegäste nachschauten, und vor denen sich alle Häupter entblößten:
den breitschultrigen, hochgewachsenen preußischen Gesandten mit dem
Schlapphut auf dem mächtigen Haupte und ihm zur Rechten den dunkel
gekleideten kleinen Mann, der trotz seines Zylinderhutes nicht die
Größe des anderen erreichte – Kaiser Napoleon III.

Zu Anfang September war Bismarck in Luchon und bestieg den Col de
Venasque. Durch Buchenwälder ging es empor, bis der Schnee begann und
wunderliche dunkle Seen aus dem weißen Rahmen und zwischen den bizarren
Klippen hervorschauten. Von einer Höhe von 7500 Fuß schaute er hinab
ins spanische Land mit seinen Palmen und Kastanien, wie es eingefaßt
von der Kette des Maladetta dalag. Unter den Beschauern lag es grün
und sonnig, durchgezogen von dem Silberband seiner Flüsse, und im
Hintergrunde abgegrenzt von schneestarrenden Gipfeln und bläulichen
Gletschern, hinter denen das stolze Aragonien sich ausbreitet.

Eine Fülle von einzig schönen, fremden Bildern prägte sich der Seele
des deutschen Mannes ein, aber immer wieder kam ihm dabei der Vergleich
mit dem lieben Heimatlande, seinen grünen Bergen und seinem alten,
schönen Rhein. Und die Freude war nur halb für ihn, da er sie nicht mit
der lieben Frau teilen konnte, der er oft genug seine Grüße nach dem
stillen Reinfeld sandte.

Am 15. September traf er in Avignon ein, dem französischen Rom, und
hier fand er eine telegraphische Nachricht von größter Wichtigkeit:
Sein König berief ihn als _Minister_ nach der Heimat zurück.

Sinnend schritt der ernste Mann durch die herrlichen Gärten des Südens.
Seine Seele war voll von den Gedanken an die Zukunft, aber kein Ahnen
verkündete ihm noch, welchen Weg er eigentlich gehen, und welche Bahnen
er brechen sollte. Nach Frieden stand seine Seele, und durch blutige
Kriege sollte er schreiten! Über seinem Haupte rauschten noch die
Ölbäume Frankreichs, und er griff empor und brach sich einen Zweig ab,
den er sinnend betrachtete.

Und mit dem Ölzweig, dem Symbol des Friedens, zog er in Berlin ein.



Achtes Kapitel.

Der bestgehaßte Mann.


An einem Vormittage zu Anfang des November 1862 schritten zwei
stattliche Männer durch die Straßen der preußischen Hauptstadt.
Der eine war im Zivilanzuge mit dem dunklen Schlapphute auf dem
mächtigen Haupte, der andere trug den Militärpaletot; sein ernstes,
entschlossenes Gesicht mit dem kräftigen grauen Schnurrbart bekundete
Festigkeit und Mut.

Die beiden waren sich eben begegnet und hatten sich die Hand
geschüttelt, dann waren sie nebeneinander hergegangen, und der Offizier
sagte:

»Nun, wie war’s bei der Abschiedsaudienz in Paris, lieber Bismarck?«

»Das will ich Ihnen kurz berichten, bester _Roon_. Am 1. November fuhr
ich höchst feierlich in St. Cloud vor und überreichte unter allem
herkömmlichen Zeremoniell dem Kaiser mein Abberufungsschreiben, wobei
ich ihm zugleich mitteilte, daß Seine Majestät mich am 8. Oktober zum
Ministerpräsidenten und Minister der Auswärtigen Angelegenheiten zu
ernennen geruht haben. Napoleon war sehr liebenswürdig und gutmütig,
aber einen Einblick in unsere Verhältnisse scheint er ebensowenig
zu haben wie große wissenschaftliche Kenntnisse; ich glaube, daß er
bei uns nicht einmal das Referendarexamen bestehen würde. Der Kaiser
meinte, nachdem wir hier in Preußen erst einmal den Konflikt zwischen
der Regierung und dem Abgeordnetenhause in der Frage der Heeresreform
haben, würde es wohl nicht lange dauern, und es würde einen Aufstand
geben in Berlin und Revolution im ganzen Lande, und bei einer
Volksabstimmung hätte der König alle gegen sich. Ich sagte ihm, das
Volk baue bei uns keine Barrikaden, Revolutionen machten in Preußen nur
die Könige. Wenn der König die Spannung, die freilich vorhanden sei,
nur drei bis vier Jahre aushalte, so habe er gewonnenes Spiel. Wenn
er nicht müde würde und mich nicht im Stiche ließe, würde ich nicht
fallen. Und wenn man das Volk anriefe und abstimmen ließe, so hätte
er schon jetzt neun Zehnteile für sich. – Der Kaiser soll nach meinem
Weggange geäußert haben: »~Ce n’est pas un homme serieux~« (das ist
kein ernsthafter Mensch).«

»Und Sie haben in allem recht: daß wir in der Frage der
Heeresverstärkung zum Besten Preußens nicht nachgeben dürfen,
ist für uns selbstverständlich; sollen wir einmal dem Staat des
großen Friedrich wieder die gebührende Stellung und vor allem seine
Führerrolle in Deutschland sichern, so brauchen wir ein starkes Heer.
Und daß wir das Volk auf unserer Seite haben, beweisen die zahlreichen
Abordnungen aus allen Teilen des Landes, die an den König kommen, um
gerade jetzt ihn der Treue und der Zustimmung seiner Untertanen zu
versichern.«

»Gewiß, auch ich beharre fest bei dem, was ich in der Kammer schon
gesagt, und es ist meine tiefinnerste Überzeugung, daß Preußen nicht,
wie so oft schon, den günstigen Augenblick für sich verpassen darf
aus Mangel an Kraft, und daß die großen Fragen der Zeit zuletzt nicht
durch Reden und Majestätsbeschlüsse entschieden werden, sondern _durch
Blut und Eisen_. Darin werde ich mich nicht irremachen lassen, und ich
hoffe, die Zukunft wird mich verstehen.«

Die beiden Männer kamen an dem Schaufenster einer Buchhandlung vorüber,
und Bismarck blieb stehen:

»Lassen Sie uns sehen, was es Neues gibt!« Da hingen wunderliche
Bilder, Karikaturen, welche den Ministerpräsidenten in mancherlei
Situation darstellten, als feudalen Junker, welcher mit dem Besen die
großen Städte wegfegt, als Hausknecht, der den Saal der Abgeordneten
reinigt u. a.

Der alte General biß sich auf den grauen Schnurrbart und fand in seinem
Unmute kein Wort, Bismarck aber lachte:

»Sie sorgen damit besonders liebevoll für meine Popularität, und
einzelnes ist wirklich gar nicht übel; ärgern kann ich mich über dies
Zeug beim besten Willen nicht, ändern werden sie damit an mir auch
nichts.«

Und sie schritten weiter, bis an die Ecke der nächsten großen Straße;
hier wollte Bismarck sich verabschieden, Roon aber sagte:

»Nein doch, Verehrtester! Wenn Sie ein Stündchen Zeit haben, so nehmen
Sie mit uns das Frühstück ein; meine Frau wird sich herzlich freuen –
das wissen Sie!«

»Ich bin ohnehin schon mehr bei Ihnen als daheim in meiner
Junggesellenwirtschaft – aber Sie wollen’s nicht anders, und ich kann
mir’s gefallen lassen, solange ich hier noch allein stehe.«

Kurze Frist darauf saß er mit Roon zu Tische, und das Gespräch drehte
sich nicht mehr um die leidige Politik. Der General äußerte, sich
behaglich zurücklehnend in seinen Sessel: »Wenn ich mir das hätte
träumen lassen, lieber Bismarck, als ich in Pommern als blutjunger
Leutnant mit der Flinte hinauslief in die Felder oder Terrainaufnahmen
machte und Sie als frischer, prächtiger Junge mich begleiten, daß wir
einmal nebeneinander am Ministertische sitzen würden, Sie noch dazu –
mit allem Respekt zu melden – als Präsident –«

»Weiter können wir nun allerdings nicht kommen, und meine gute Mutter,
die schon auf Kniephof immer einen Diplomaten aus mir machen wollte,
sollte doch einigermaßen ihre Freude an mir haben.«

»Na, dafür hat jetzt Frau Johanna diese Freude!« bemerkte Frau von Roon.

»Ja, meine gute Johanna! Sie kennt aber nicht bloß die Freuden, sondern
auch die Leiden des Diplomatenlebens. Ach, wie ich mich danach sehne,
endlich wieder die Meinen hier um mich zu haben in meinem einsamen
Hause in der Wilhelmstraße, das glauben Sie kaum. Ich habe meiner Frau
auch geschrieben, daß ich alle Tage bei den guten Roons esse, und
wenn sie und meine Fuchsstute nicht wären, ich mir gar zu vereinsamt
vorkäme. Dabei wie Leporello: Keine Ruh’ bei Tag und Nacht! Da wollte
ich vor kurzem einige Tage wenigstens mich bei Malwine auf Kröchlendorf
erholen, arbeitete bis tief in die Nacht hinein, und wie ich fertig
war, goß ich statt des Streusandes die Tinte über die Geschichte,
daß sie mir nur so an den Knien hinunterfloß, und die nächsten Tage
brachten wieder so viel Arbeit, daß ich meinen schönen Gedanken
aufgeben mußte. Aber alles für König und Vaterland! Unserem guten
König!«

Er hob sein Glas mit dem funkelnden Wein, und hell klang es durch den
Raum.

Dann kamen wiederum Tage heftiger Kämpfe. Das Abgeordnetenhaus war am
14. Januar 1863 wieder zusammengetreten, aber eine Verständigung über
die von dem König gewünschte, von Bismarck als unbedingt notwendig
verfochtene Heeresreform wurde zunächst nicht erzielt, ja, die Spannung
zwischen der Regierung und den Kammern wuchs noch, als in Polen ein
Aufstand gegen Rußland ausbrach und Preußen nur einen Vertrag mit
demselben schloß, wonach bewaffnete polnische Banden und revolutionäre
Flüchtlinge auch über die preußische Grenze verfolgt werden durften.
Da die polnische Bewegung überall große Sympathien hatte, mußte sich
Bismarck heftige Angriffe gefallen lassen, sogar auf seine »preußische
Ehre«, und wohl nur wenige verstanden diesen meisterhaften politischen
Schachzug des fernblickenden Staatsmannes, der sich für künftige
Vorkommnisse die Freundschaft des mächtigen östlichen Nachbars sichern
wollte.

In jenen Tagen war es, daß er in einer Gesellschaft dem englischen
Gesandten, Sir Andrew Buchenan, begegnete, der ihn wegen des
geschlossenen Vertrages interpellierte.

Bismarck erklärte rund und bündig:

»Wir können ein unabhängiges Polen an unserer Grenze nicht dulden.«

»Wie aber, wenn der immerhin mögliche Fall eintritt, daß die Russen aus
Polen hinausgeschlagen werden, was werden Sie dann tun?«

»Dann müßten wir das Königreich selbst besetzen, um das Aufkommen einer
uns feindlichen Macht zu hindern.«

»Dies wird Europa niemals dulden – nein, dies duldet Europa nicht!«

»Wer ist Europa?«

Der Engländer war über diese Frage einigermaßen verdutzt, dann
erwiderte er:

»Nun, verschiedene große Nationen.«

»Sind dieselben bereits einig darüber?«

»Nun – die Frage ist ja – noch nicht ventiliert worden, aber Frankreich
beispielsweise würde niemals eine neue Unterdrückung Polens zulassen.«

»Und für uns ist die Unterdrückung des Aufstandes eine Frage über Leben
und Tod; übrigens ist es nutzlos, hier nicht vorliegende Möglichkeiten
weiter zu erörtern.«

Das war am 11. Februar gewesen, und eine Woche später stand der
Ministerpräsident im Abgeordnetenhause den erregten Volksvertretern in
derselben Angelegenheit gegenüber, und schwertscharf gingen die Worte
hin und her, so daß nicht lange darauf von dem König die Entlassung des
Ministeriums verlangt wurde.

Dieser aber hielt seinen Minister, und der Landtag wurde aufgelöst.

Aber trotz aller Anfeindungen fehlte es für Bismarck auch nicht an
ehrenvollen und ermunternden Anerkennungen. Besonders freute es ihn,
als eine Anzahl Patrioten ihm einen Ehrendegen überreicht hatte,
der auf der einen Seite der Klinge das Wahrwort des alten Ritters
Frundsberg: »Viel Feind’ viel Ehr’« trug, auf der anderen Seite aber
unter Bismarcks Wappen das Wort:

    Das Wegkraut sollt du stehen lan,
    Hüte dich, Jung, sind Nesseln dran.

Am 17. März 1863 hat er die schöne Waffe zum erstenmal getragen an
einem schönen Feste. Ein halb Jahrhundert vorher hatte an diesem Tage
König Friedrich Wilhelm III. den Aufruf an sein Volk erlassen zu dem
heiligen Kampfe gegen Napoleon, und nach fünfzig Jahren versammelte
König Wilhelm die Veteranen der Befreiungskriege um sich zu einer
erhebenden Erinnerungsfeier. Die breite Straße Unter den Linden entlang
zog die ehrwürdige Schar, geführt von dem Feldmarschall Wrangel, hinaus
nach dem Lustgarten. Aus allen Fenstern wurden die ersten Blüten des
Frühlings den greisen Männern zugeworfen, die an den Steinbildern ihrer
heldenhaften Führer vorbeiparadierten, und an dem Orte Halt machten, wo
das Standbild Friedrich Wilhelms III. sich erheben sollte. Das alte und
das neue Preußen reichten sich hier die Hand, und Gottes helle Sonne
beschien den vom besten Streben für sein Volk beseelten König und den
stattlichen Recken in Kürassieruniform, der an seiner Seite hielt, den
streitbaren und festen Ministerpräsidenten.

Der Konflikt mit der Volksvertretung jedoch dauerte fort, und
Mißstimmung und Spannung gegen Bismarck waren noch im Wachsen. Aber nun
konnte er sich wenigstens nach den Kämpfen des Tages wieder im Kreise
seiner Familie erholen, und Frau Johanna hatte ihm in der Wilhelmstraße
eine freundliche Häuslichkeit geschaffen.

Hier feierte er am 1. April 1864 seinen neunundvierzigsten Geburtstag,
und er brachte ihm zahlreiche Beweise von Liebe und Anhänglichkeit aus
Nähe und Ferne. Unter den vielen Schriftstücken lief auch eins ein, das
wunderlich genug war: Das polnische geheime Nationalkomitee in Warschau
teilte ihm mit, daß es das Todesurteil über ihn verhängt habe, und daß
er der Vollstreckung desselben gewärtig sein solle.

Er las das Schreiben noch einmal, dann schritt er langsam dem Kamin zu,
in welchem das Feuer flackerte, und warf den Drohbrief gleichmütig in
die Flammen. Es war nicht das erstemal, daß ihm solches begegnete, und
Frau Johanna sollte sich nicht ängstigen, wenn ihr der Zufall etwa ein
solches Schreiben in die Hände brächte.

Zu derselben Zeit war übrigens bereits eine neue bedeutsame Aktion im
Gange. Im Herbste 1863 war der König von Dänemark gestorben, und da
sein Nachfolger damit umging, die beiden Herzogtümer Schleswig und
Holstein gegen alles Recht seinem Staate einzuverleiben, nahm sich der
deutsche Bund der Bedrängten an. Bismarck aber hatte mit weitschauendem
Blicke erwogen, ob nicht eine Erwerbung dieser deutschen Ländergebiete
für Preußen möglich sei, und so setzte er durch, daß Österreich und
Preußen gemeinsam den Krieg gegen Dänemark führten. Und er wurde,
trotzdem das Abgeordnetenhaus dem Ministerpräsidenten die Mittel
verweigerte, entschieden und glücklich geführt, und endete damit, daß
Schleswig-Holstein an Österreich und Preußen abgetreten wurde. Nun
handelte es sich darum, wie es mit der Verwaltung beziehungsweise
Regierung in den Herzogtümern werden sollte, und Bismarck war fest
entschlossen, hier in keiner Weise sich von Österreich übervorteilen zu
lassen. Noch lag auf Preußen »die Schmach von Olmütz«, und diese mußte
gesühnt werden.

Es war im Hochsommer des Jahres 1865. Auf einer freundlichen, von
Tannen umgrünten Höhe in dem herrlichen Badeorte Gastein liegt ein
im Schweizerstil mit vorspringendem Dach und Holzveranden versehenes
einfaches Haus, die Villa Hollandia, und hier war es, wo in den
Augusttagen des genannten Jahres, in einer einfachen Stube, deren
Fenster hinaussahen auf die grünen Föhren, eine Anzahl Staatsmänner
in ernsten Verhandlungen sich zusammenfanden. Das Geschick von
Schleswig-Holstein sollte entschieden werden. Heiß wurde hin und her
gesprochen, während der Regen draußen tagelang niedersickerte und ab
und zu den Ausblick verhüllte. Endlich erreichte Bismarcks Festigkeit
und imponierende Ruhe, daß ein Vertrag vereinbart wurde, wonach
Österreich über Schleswig, Preußen über Holstein Hoheitsrechte ausüben
und Preußen gegen eine Abfindungssumme von 2½ Millionen das Herzogtum
Lauenburg besitzen solle. Dabei gab es noch manche Nebenbestimmungen,
welche Preußen wichtige Rechte auch für Holstein sicherten.

Am 20. August unterzeichneten in Salzburg die beiden Monarchen den
Gasteiner Vertrag, und nicht lange danach verlieh Kaiser Franz Josef
Bismarck den St. Stephanusorden, sein König aber zeichnete ihn
durch den hohen Orden vom Schwarzen Adler aus und erhob ihn in den
Grafenstand.

Aber die so geschaffenen Zustände in den Elbherzogtümern waren
unhaltbar. Österreich begünstigte in Holstein die preußenfeindlichen
Bemühungen des Herzogs von Augustenburg, Bismarck protestierte dagegen,
von Wien aus erfolgte eine scharfe, abweisende Antwort, und so spitzte
sich die Spannung zwischen Österreich und Preußen immer mehr zu. In
Österreich begann man bereits militärische Maßregeln zu treffen,
und auch Bismarck blieb nicht müßig. Er sicherte dem Staate einen
Bundesgenossen in dem Königreiche Italien und wußte sich auch der
eventuellen Neutralität Napoleons zu versichern, und nun mochte es zum
Äußersten kommen. Einmal mußte doch die Führerschaft über Deutschland
mit Blut und Eisen entschieden werden.

Im eigenen Lande aber verstand und würdigte man seine kühnen Pläne
nicht, schalt ihn einen Friedensstörer und bekämpfte ihn mit gehässigen
Verleumdungen, so daß zuletzt geradezu der Fanatismus gegen ihn
entfesselt wurde.

Es war am 7. Mai 1866 um die fünfte Nachmittagsstunde. Bismarck kam
aus dem königlichen Palais, wo er Vortrag gehalten hatte, und schritt
sinnend, langsamen Schrittes die Straße »Unter den Linden« entlang. Er
erwog die eiserne Notwendigkeit der Entscheidung mit den Waffen, zu
welcher sein friedliebender Monarch sich noch immer nicht entschließen
mochte, und so hatte er weder ein Auge für den beginnenden Frühling in
den jungbegrünten Bäumen, noch für die Menschen, welchen er begegnete.

So kam er bis in die Nähe des russischen Botschaftshotels. Da hörte er
plötzlich rasch nacheinander hinter sich zweimal einen kurzen Knall
und fühlte beinahe gleichzeitig einen Schmerz in der Seite. Er wandte
sich schnell um, und siehe, ganz nahe hinter ihm stand ein junger Mann,
der mit dem Revolver in seiner Rechten gerade nach ihm hinzielte.
Blitzschnell sprang er zu und faßte nach der Hand des Attentäters sowie
nach dessen Kehle. Da ging der Schuß los und streifte den Minister an
der Schulter; ehe es dieser versah, hatte der freche Angreifer auch
schon die Waffe in die Linke genommen und feuerte noch zweimal aus
unmittelbarster Nähe auf Bismarck; der eine Schuß fehlte, der andere
aber traf eine Rippe, und der Getroffene fühlte den erschütternden
Schlag so gewaltig, daß ihn die Besinnung zu verlassen drohte. Aber er
bezwang sich mit eiserner Gewalt und hielt den Menschen fest. Das alles
war wie in einem einzigen Augenblicke geschehen, und jetzt erklangen
ganz nahe Weisen eines militärischen Marsches. Ein Bataillon des
zweiten Garderegiments zog mit klingendem Spiele vorüber. Offiziere und
Soldaten sprangen heran, und wenige Minuten später wurde der Attentäter
gefangen abgeführt.

Der Minister atmete einigemal tief auf; über ihm lacht der blaue
Lenzhimmel, um ihn bewegt sich die geschäftige Welt wie vordem, und die
Klänge des fröhlichen Marsches schlagen noch immer an sein Ohr – und
doch hat er in Minuten Großes erlebt. Er schritt langsam, aber von dem
seltsam erhebenden Gefühl des göttlichen Schutzes erfüllt, weiter, und
in seiner Wohnung in der Wilhelmstraße stieg er bereits völlig ruhig
die Treppen hinan und begab sich nach seinem Arbeitsgemache, um vor
allem seinem König die aufregende Meldung von dem Geschehenen zu machen.

Dann wechselte er den Anzug und begab sich in den Salon seiner
Gemahlin. Er traf hier Gesellschaft, Damen und Herren, und begrüßte sie
in seiner gewohnten liebenswürdigen Weise, indem er scherzend, zu Frau
Johanna gewandt, beifügte:

»Warum essen wir denn heute gar nicht?«

Dann schritt er auf eine der Damen zu, um sie zu Tisch zu führen, und
dabei fand er Gelegenheit, indem er seine Gemahlin leicht auf die
Stirne küßte, ihr zuzuflüstern:

»Mein Kind, sie haben auf mich geschossen, aber sei ruhig, es ist
nichts!«

Die Gräfin erbleichte, und ein banger Schauer ließ sie einen Augenblick
erbeben – da war das Ereignis nicht länger zu verheimlichen. Eine
gewaltige Erregung bemächtigte sich der Gäste, schreckensvolle
Fragen, ängstliche Ausrufe klangen durcheinander, aber mit ruhigem,
verbindlichem Lächeln bat der Minister die Herrschaften, sich zu Tisch
zu begeben. Nun erzählte er kurz, wie sich alles zugetragen, und dann
aß er mit solcher Ruhe, als ob er von einem Fremden berichte, während
seine Gemahlin sowie die Gäste nicht imstande waren, sich um die
aufgetragenen Speisen zu kümmern.

Man hatte den Arzt rufen lassen, der rasch genug zur Stelle war
und nach seiner Untersuchung die Erklärung abgeben konnte, daß die
erhaltenen Verletzungen durchaus leicht und unbedenklich seien.

»Bei fünf Schüssen aus solcher Nähe,« sagte einer der Anwesenden – »das
ist wunderbar.«

»Gewiß,« erwiderte der Arzt – »hier gibt es eben nur eine Erklärung –
Gott hat seine Hand dazwischen gehabt.«

Es war wahrlich kein ruhiges Diner, das an jenem Maitag im
Ministerhotel in der Wilhelmstraße abgehalten wurde. Die Kunde von dem
Attentat hatte sich mit ungeheurer Schnelligkeit verbreitet, und zu
Wagen und zu Fuß kamen jetzt die hochgestelltesten Persönlichkeiten der
Hauptstadt, um ihre Glückwünsche auszusprechen.

Allen voran war König Wilhelm gekommen. Bismarck war dem teuren Herrn
entgegengeeilt, und in einem stillen, einsamen Gemache standen die
beiden allein sich gegenüber. Tief ergriffen schaute der Herrscher
seinem treuesten Diener in die Augen, drückte ihm die Hände und zog ihn
an sich wie einen lieben Freund, Bismarck aber konnte auf die gütigen
Worte nur eines erwidern:

»Mein Leben gehört Eurer Majestät zu jeder Stunde, ob ich für Sie
sterbe auf dem Schlachtfelde oder durch die Hand eines Mörders!«

Prinzen, Minister, Gesandte der fremden Mächte drängten sich in
den nächsten Stunden herbei, um ihre Teilnahme und ihre Freude
auszudrücken, und ehe sich noch der Abend niedersenkte in die
Straßen der Residenz, strömten auch die Scharen des Volkes in der
Wilhelmstraße zusammen, um ihre Grüße und Wünsche dem wunderbar
Geretteten darzubringen. Der Haß gegen ihn schien wie hinweggewischt,
all die Tausende, welche hier durcheinanderwogten, und stürmisch ihn
zu sehen verlangten, empfanden jetzt vielleicht einen Hauch seines
patriotischen, opferbereiten Geistes, und als er an das Fenster trat
und die jubelnden, begeisternden Zurufe der Menge an sein Ohr schlugen,
da wurde die Seele des gewaltigen Mannes wundersam ergriffen, da hatte
er noch fester die Überzeugung, daß der Weg, welchen er gehe, der
rechte sei.

Erst die Nacht brachte Ruhe in die Bewegung; im Ministerpalais in der
Wilhelmstraße schloß Bismarck sein Tagewerk mit einem stillen Dankgebet
und mit dem Gedanken, daß der Himmel selbst ihm ein Zeichen gegeben,
daß er ihn schützen wolle bei allem, was er für des Vaterlandes Ehre
unternehmen würde … und zur selben Stunde beinahe, in welcher er mit
dem Frieden eines guten Gewissens sein Lager aufsuchte, hatte sich
der frevelhafte Attentäter, der fanatische Karl Cohen, mit seinem
Taschenmesser die Pulsader durchgeschnitten. Er war am anderen Morgen
eine Leiche.

Jetzt mochten die Würfel weiterrollen, er wollte und mußte die gerechte
Sache, die er begonnen, fortführen. Und die Ereignisse gingen nun
schnell genug. Österreich selbst drängte der Katastrophe entgegen. Mit
Verletzung des Gasteiner Vertrags überwies der Kaiser die Entscheidung
über Schleswig-Holstein dem deutschen Bund, berief die holsteinsche
Ständeversammlung, und als Preußen, um sein Mitbesitzrecht zu wahren,
Truppen in Holstein einrücken ließ, stellte er beim deutschen Bunde den
Antrag, gegen Preußen das Bundesheer mobil zu machen.

Das geschah am 11. Juni 1866. Und nun kam das Ende der morschen,
kraftlosen deutschen Bundesversammlung.

Am 12. Juni fand die Abstimmung statt; mit 9 Kurialstimmen gegen 6
wurde die Bundesexekution gegen Preußen beschlossen, dessen Gesandter
nunmehr im Namen seiner Regierung den Bund als zerrissen erklärte mit
dem Beifügen, daß dieselbe auf besseren Grundlagen einen neuen zu
errichten bemüht sein werde.

Nun mußte die Entscheidung durch die Waffen kommen. Eine fieberhafte
Erregung ergriff die Gemüter, zumal in der Hauptstadt. Tag und Nacht
arbeitete Bismarck, der Telegraph spielte ununterbrochen und trug seine
Botschaften weit hinaus ins Land: Der König rief sein Heer.

In jenen Tagen saß der Minister einst im Vorzimmer des Herrschers.
Dieser war noch mit seinem kriegerischen Beirat in ernsten
Verhandlungen begriffen, welche sich außergewöhnlich in die Länge
zogen. Stille war rings um den Staatsmann, der Tag war heiß, die
Nacht arbeitsvoll gewesen. Da sank ihm langsam das Haupt auf die
Brust, die Natur machte auch an dem Gewaltigen ihr Recht geltend – er
schlummerte ein. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür des königlichen
Arbeitszimmers, und heraus trat ein Mann in Generalsuniform, eine Mappe
in der Hand. Er war weder sehr groß noch sehr kräftig, aber aus dem
bartlosen Gesichte mit den scharfgeschnittenen, geistvollen Zügen sahen
ein paar klare, kluge Augen, und um den schmalen Mund lag das Gepräge
unerschütterlicher Ruhe und Festigkeit.

Das war _Moltke_, der große Generalstabschef, die Seele der Schlachten,
der schweigende Kriegesdenker.

Er sah den Minister etwas wenig zusammengesunken in seinem Stuhle
sitzen, und es überkam ihn beinahe eine Wehmut. »Er hat so viel gewacht
für König und Vaterland« – dachte er – »wie gern gönnt’ ich ihm den
Schlummer – aber es darf nicht sein!«

Leise berührte er Bismarcks Arm, dieser öffnete die Augen, sprang
empor, und eingedenk der Situation drückte er dem anderen warm die Hand
und schritt hinein in das Arbeitsgemach des Königs.

In den Junitagen begann der Bruderstreit.

Bei Langensalza wurde das Heer der Hannoveraner samt seinem König
gefangen, und in Böhmen geschahen die ersten siegreichen Gefechte.
Eine bange Erwartung lag über den Straßen Berlins, so schwül wie
das sommerheiße, gewitterbange Wetter. Da brachte der Telegraph die
ersten Siegeskunden. Am 29. Juni ging ein Wogen und ein Treiben,
belebter als sonst, durch die Straßen der Hauptstadt. Unter den Linden
vor dem Palais des Königs staute sich die Menge, begeisterter Zuruf
klang hinauf zu den Fenstern, und in das stürmische Jauchzen schollen
die Klänge der Vaterlandsweisen, welche zuletzt übergingen in das
machtvolle Streit- und Siegeslied Martin Luthers: Ein’ feste Burg ist
unser Gott!

Es waren Stunden einer gewaltigen Erhebung und Bewegung; aber die Menge
hatte auch den Hauch jenes Geistes gefühlt, der von der Wilhelmstraße
herkam, und Bismarck, der »Bestgehaßte«, wurde mit einem Zauberschlage
der Bewunderte und Gefeierte. Die Volksmenge wälzte sich in dichtem
Strome nach seiner Wohnung; die breite Straße vermochte sie nicht zu
fassen alle die Tausende, die nach ihm riefen und ihm ihre Freude und
Verehrung ausdrücken wollten. Dunkle Wetterwolken schwankten am Himmel,
glutheiß lag es in der Luft – da trat Bismarck an das Fenster. In den
Jubelsturm der Menge dröhnte ein langhallender Donner, der einem Blitze
folgte, welcher mit seinem bläulichen Schein das bewegte Bild erhellt
hatte – dann wurde es still, und Bismarck redete, kurz und klar,
ergriffen und ernst, und als er mit einem Hoch schloß auf den König, da
schien die Straße zu erbeben unter der Gewalt der Begeisterung.

Und wieder am Himmel ein flammender Blitz, ein schweres Rollen des
Donners, und Bismarck rief:

»Der Himmel schießt Salut zu unseren Siegen!«

Einen Tag später war er mit seinem Könige auf dem Wege ins Böhmerland.



Neuntes Kapitel.

Im böhmischen Feldzuge.


Ein trüber Himmel breitete sich über der böhmischen Stadt Gitschin
aus, und ab und zu sickerte der Regen nieder in die grauen Gassen. Der
stille Ort sah an jenem 2. Juli hohe Gäste, wenn er sie auch freilich
nicht willkommen hieß. Der König war mit Bismarck, Moltke, Roon und
anderen hier eingetroffen, und traf von hier aus die Verfügungen für
den nächsten Tag – den Tag der Entscheidung. Bismarck wußte, was von
diesem abhing, und während in schweigender Nacht die Ordonnanzen auf
allen Wegen hinjagten und der Regen klingend gegen die Fenster schlug,
fand er lange keinen Schlaf. Er hatte in den Lazaretten an den Betten
der Verwundeten gestanden und hatte mehr als irgendeiner empfunden, wie
die Verantwortung für dies vergossene Blut und für diese Schmerzen auf
ihm ruhe, und er dachte seines Königs, dem er aus treuester Überzeugung
zu diesem Kampf raten mußte, und endlos lang dehnte sich die trübe
Sommernacht.

Am frühen Morgen folgte der Aufbruch. Noch immer weinte es aus den
grauen Wolken nieder, als die offenen Wagen, in deren erstem der König
mit Moltke, im zweiten Bismarck mit dem Geheimen Legationsrat von
Keudell saßen, durch Gitschins Straßen hinausrollten gegen _Sadowa_.
Drei Stunden später – es war 8 Uhr morgens – hielt der König auf
seiner Rappstute, von seinem Gefolge umgeben, auf der Höhe von Dub und
sah hinaus in die Ebene von _Königgrätz_, und der begeisterte Zuruf
der Soldaten mischte sich mit dem Dröhnen der Kanonen … Die schwere,
entscheidende Schlacht war im Gange.

Unfern von seinem König hielt auf seiner kräftigen Fuchsstute Bismarck.
Nebel und Pulverdampf wogen auf dem Walfelde durcheinander und
verhüllen oft die Bewegungen der Truppen, langsam gehen die furchtbaren
Stunden, und es ist um die Mittagszeit. Das preußische Heer ist in der
Minderzahl, und seine Führer spähen besorgt gegen Nordwesten aus, von
woher die Armee des Kronprinzen, die sehnlich erwartete, eintreffen
sollte.

Der schweigsame Schlachtenlenker Moltke aber sitzt wie aus Erz gegossen
auf seinem Pferde; sein Gesicht ist ruhig, und klar und sicher schauen
die hellen Augen auf die wogende Schlacht. Bismarck reitet an ihn
heran; er zieht sein Zigarrenetui heraus und reicht es geöffnet dem
großen Strategen hin. Der sieht auf die beiden Zigarren, welche es
enthält, mit einem prüfenden Blicke, dann greift er langsam nach der
einen. Über die Züge des Ministers fliegt es wie ein leises Lächeln, er
reitet zu seinem König zurück und spricht zu diesem:

»Majestät, unsere Sache muß gut stehen, denn Moltke hatte eben noch die
Kaltblütigkeit, aus meinem Etui die bessere Zigarre auszuwählen.«

Noch immer spähten die Blicke nach Nordosten. Dunkle Streifen traten
am Horizont hervor, die man bisher nicht bemerkt zu haben meinte.
»Ackerfurchen!« sagte jemand aus der Umgebung des Königs, Bismarck aber
schaute scharf aus, und plötzlich rief er:

»Das sind keine Ackerfurchen, die Zwischenräume ändern sich – das sind
marschierende Kolonnen!« Ein tieferer Atemzug hob die Brust des Königs,
dankend schaute eine Sekunde lang sein Auge gegen den grauen Himmel …
Nun kam die Entscheidung. Nicht lange danach donnerten von Chlum her
die preußischen Kanonen, der Kronprinz griff ein in die Schlacht, und
der Sieg konnte den Preußen nicht mehr entrissen werden.

Da übermannte den König seine Bewegung. Er sprengte dicht heran an
seine zujauchzenden Soldaten, die nach seinen Händen, nach seinem
Mantel faßten und ihre Lippen daraufdrückten.

Die Kugeln sausten und schlugen ringsum ein, eine zerspringende Granate
zerschmetterte ein Dutzend Reiter vom sechsten Kürassierregiment in
nächster Nähe des Herrschers, und Rosse und Männer wälzten sich blutig
übereinander, da ritt Bismarck dicht heran an den König, der mit voller
Ruhe nur auf die freudig bewegten Truppen achtete, und sagte:

»Als Major habe ich Eurer Majestät keinen Rat zu erteilen, als
Ministerpräsident aber bin ich verpflichtet, Eure Majestät zu bitten,
sich nicht auf diese Weise der Gefahr auszusetzen.«

Der König wendete sich lächelnd dem treuen Warner zu:

»Wohin soll ich denn als Kriegsherr reiten, wenn meine Armee im Feuer
steht?«

Bismarck entgegnete:

»Majestät, wenn Sie auch keine Rücksicht auf Ihre Person nehmen, so
haben Sie wenigstens Mitleid mit Ihrem Ministerpräsidenten, von dem Ihr
getreues Volk seinen König fordern wird; im Namen dieses Volkes bitte
ich Sie, diese gefährliche Stelle zu verlassen!«

Der König sah gerührt den Treuen an, reichte ihm die Hand und ritt
langsam weiter, viel zu langsam für den besorgten Begleiter, der seine
Erregung nicht mehr bezwingen kann und mit seiner Stiefelspitze das
Pferd des Herrschers in die Flanke stößt, daß es rascher ausgreift.

Die Entscheidungsschlacht war zu Ende – Bismarck sah am Abend auf
einen der gewaltigsten Tage in der Geschichte Preußens zurück. Der
Abend senkte sich auf das blutige Gefilde, Verwundete und Sterbende
stöhnten ringsum, und das Grauen schritt über das furchtbare Feld. Da
sah Bismarck, wie er so dahinritt, einen Dragoner zur Seite des Weges
liegen. Beide Beine waren dem Unseligen zerschossen, der regungslos
dalag und nur mit einem unsäglich bittenden Blick nach dem Reiter
schaute. Diesem tat der Jammer des Unglücklichen weh, er stieg vom
Pferde und trat an ihn heran. Gern hätte er ihm eine Linderung oder
Erquickung angedeihen lassen, er suchte in allen Taschen – aber er
fand nichts. Da stieß er mit der Hand an sein Zigarrenetui. Noch
eine Zigarre lag darin, sie sollte ihm selbst ein Labsal sein nach
den Anstrengungen und Aufregungen des Tages – aber der arme Teufel
mit seinen zerschossenen Beinen brauchte ein solches mehr, und rasch
entschlossen zog er seinen Schatz hervor, rauchte das duftende Kraut
an und steckte es dem Verwundeten zwischen die Zähne. Aus den Augen
des Soldaten aber leuchtete ein Blick unsäglicher Dankbarkeit, welchen
Bismarck nicht vergessen konnte, und besser hat ihm, nach seinem
eigenen Geständnis, keine Zigarre geschmeckt als diese, welche er –
nicht geraucht hatte.

Vorwärts ging es, hinein in die sinkende Sommernacht, in Verfolgung des
geschlagenen Gegners, und der Ministerpräsident kam bis hart vor die
Laufgräben der Festung Königgrätz. Dann ritt er zurück, um sich ein
Nachtquartier zu suchen. Seinen König hatte er untergebracht, wenn auch
nicht besonders bequem; auf einem harten Sofa hatte derselbe ein Lager
gefunden, nun galt es, für sich selbst ein Plätzchen zu finden, wo das
müde Haupt ruhen konnte.

Die Nacht war dunkel und kühl, der Regen rann noch immer in dünnen
Strähnen, und in dem Städtchen Horic waren alle Lichter längst
erloschen, als Graf Bismarck durch die engen und schlechtgepflasterten
Straßen ging. Er pochte da und dort an den Türen – niemand hörte, nur
das Bellen verschlafener Hunde klang durch die Stille. Unmutig schlug
er gegen die Fenster, daß die Scheiben splitterten – alles vergebens,
das kleine Nest war wie ausgestorben.

Endlich fand er in der Dunkelheit einen Torweg, durch welchen er in
einen Hofraum hineintappte. Im schmutzigen, weichen Boden sank der Fuß
tief ein, endlich verlor er fast völlig den Grund und sank nieder auf
das zwar nicht harte, aber sehr übelriechende Bett eines Düngerhaufens.
Dreizehn Stunden war er im Sattel gewesen, seine Glieder waren wie
zerschlagen, aber hier konnte er doch nicht bleiben. So raffte er sich
aufs neue auf und suchte wieder die dunkle, unheimliche, stille Gasse
auf und schritt bis auf den Marktplatz. In verschwommenen Umrissen
standen die grauen Häuser da, dazwischen eine Art offener Halle. Dahin
wandte sich Bismarck, und ob er auch die Überzeugung gewann, daß
der Ort eigentlich zum Aufenthalt für Rinder bestimmt war, streckte
er sich – froh, ein Dach über dem Kopfe und ein altes Wagenkissen
unter demselben zu haben – auf die harten Fliesen aus und versank in
Schlummer.

Aber noch einmal sollte er geweckt werden. Der Großherzog Friedrich
Franz von Mecklenburg fand den Schläfer und beeilte sich, ihm in seinem
eigenen Zimmer ein wenigstens einigermaßen behaglicheres Lager zu
verschaffen.

In dem traurigen kleinen Horic befand sich in den nächsten Tagen auch
das Hauptquartier des Königs, und hier traf in der Nacht zum 5. Juli
eine Depesche Napoleons III. ein, welcher sich zum Friedensvermittler
mit Österreich anbot und einen Waffenstillstand in Anregung brachte.
Der König geriet darüber in heftige Erregung, Bismarck jedoch, der
Mann der eisernen Selbstbeherrschung, fand auch hier die richtige
Antwort. Den Frieden wollte er gleichfalls, nur mußte der Preis dafür
ein entsprechender sein, und so erhielt der französische Kaiser die
in bestimmter Form gehaltenen preußischen Vorschläge: »Österreich
erkennt die Auflösung des alten deutschen Bundes an und widersetzt sich
nicht einer neuen Organisation Deutschlands, an welcher es keinen Teil
nimmt. Preußen bildet eine Union Norddeutschlands, welche alle Staaten
nördlich der Mainlinie umfaßt. Die deutschen Staaten südlich vom Main
haben die Freiheit, unter sich eine süddeutsche Union zu schließen. Die
zwischen der nördlichen und südlichen Union zu erhaltenden nationalen
Bande werden durch freies, gemeinsames Einverständnis geregelt. Die
Elbherzogtümer werden mit Preußen vereinigt. Österreichs Integrität
außer Venetien wird erhalten.«

Während die Verhandlungen noch schwebten, rückten die preußischen
Truppen unaufhaltsam vor gegen die Kaiserstadt an der Donau, und wenn
eine Besetzung derselben verhindert werden sollte, galt es für die
beteiligten Mächte rasch zu handeln.

In Mähren liegt eine kleine Stadt, _Nikolsburg_ mit Namen, überragt von
einem stolzen Schlosse, dessen Warte stattlich ins Land hinaussieht;
es ist Eigentum des Grafen Mensdorff und kam in den Julitagen des
verhängnisvollen Jahres 1866 zu großer geschichtlicher Bedeutung.

Hier hatte König Wilhelm sein Hauptquartier, und hier fand sich am 18.
Juli auch Graf Bismarck ein. Sinnend schritt er mit seinem Begleiter,
dem Geheimen Legationsrat von Keudell, durch den Torbogen in den
weiten, von stolzen Gebäuden umgebenen Hof, und wie er sein Auge
darübergleiten ließ, sprach er:

»Mein altes Schönhausen ist doch nichts dagegen, dennoch ist mir’s
lieber, daß wir hier bei Graf Mensdorff sind, als daß er jetzt bei mir
wäre.«

In Nikolsburg fanden sich auch die Vertreter Österreichs und Italiens
ein, und die Friedensverhandlungen begannen. Und hier brauchte es der
ganzen geistigen Überlegenheit, der rückhaltlosen Tatkraft Bismarcks,
um zu Ende zu führen, was er begonnen hatte. Friede wollte er haben,
und er wollte ihn zum Abschluß bringen, trotzdem die Generale des
siegreichen preußischen Heeres die Waffen noch nicht niederlegen
wollten. Selbst der König schien jetzt kriegerisch gesinnt, und sein
Ministerpräsident mußte auch ihm gegenüber seinen Standpunkt verfechten:

»Majestät, wir haben eine Höhe erreicht, von der aus die Wasser von
selbst abfließen ohne Gewalt. Uns droht der Einfall der Franzosen in
Süddeutschland, und ein neuer Kampf würde unsäglich viel Blut kosten,
und die Cholera ist uns auf den Fersen. Ich kann die Verantwortlichkeit
der Fortsetzung des Krieges nicht auf mich nehmen und müßte
zurücktreten.«

Das verfehlte seine Wirkung nicht, und Bismarck erreichte bei
seinem König auch die Zustimmung zu den meisten Einzelheiten seiner
Friedensvorschläge, und während ein Waffenstillstand die bewehrten
Gegner auseinanderhielt, ward in Nikolsburg auf den von Bismarck
entworfenen Grundlagen weiter verhandelt. Am 26. Juli aber konnte der
Meister der Politik sein Werk als fertig betrachten, und es war eines
Meisters wert. Preußen sollte eine Vermehrung erfahren um die Gebiete
von Hannover, Kurhessen, Nassau, Schleswig-Holstein und Frankfurt a. M.
und eine ansehnliche Kriegsentschädigung. Dabei war Energie mit kluger
Rücksichtnahme gepaart worden, der Weg zur Versöhnung mit dem Gegner
war offen geblieben, das diesem verbündete Sachsen geschont worden, und
worauf Bismarck sich viel zugute tun durfte – das alles war erreicht
durch Preußens eigene Kraft, und fremde Einmischung war ferngehalten
worden.

Wohl hatte Napoleon seinen Abgesandten Benedetti nach
dem Kriegsschauplatze geschickt und einen Einfluß in die
Friedensverhandlungen gewinnen wollen, aber es war nicht geglückt.
Die Friedenspräliminarien waren fertig und brauchten nur noch
unterzeichnet zu werden, da erschien Benedetti in Nikolsburg. Er ließ
sich bei Bismarck anmelden, und dieser empfing ihn, obwohl ihn die
Aufdringlichkeit des Franzosen unangenehm berührte, freundlich.

Der französische Gesandte sprach:

»Ich habe die Ehre, im Auftrage meines Souveräns Ihnen mitzuteilen, daß
derselbe, wenn er seine Zustimmung zu einer ansehnlichen Vergrößerung
Preußens geben solle, eine angemessene Entschädigung für Frankreich
verlangen müsse. Sobald der Kaiser seine Vermittlerrolle in der
preußisch-österreichischen Sache zu Ende geführt haben wird, wird er
nicht verfehlen, sich mit der Regierung seiner Majestät des Königs von
Preußen deshalb auseinanderzusetzen.«

Bismarck wurde von heißem Unmut erfaßt, aber zugleich auch von einem
Gefühl der Befriedigung darüber, daß der Franzose zu spät kam. Sehr
höflich, doch mit Festigkeit entgegnete er:

»Ich bedaure, Eurer Exzellenz bemerken zu müssen, daß amtliche
Mitteilungen solcher Art heute durchaus nicht am Platze sind. Preußen
hat die Vermittlung Frankreichs nicht gesucht und ist meines Erachtens
um so weniger zu etwas verpflichtet, als der Friede bereits fertig ist
ohne Intervention Ihres Souveräns und die Präliminarien noch in dieser
Stunde unterzeichnet werden.«

Er wandte sich ab mit einer Verneigung gegen den verblüfften
französischen Staatsmann und ging in sein Gemach. Die verhaltene
Erregung brach nun bei ihm durch. Die Tränen schossen dem gewaltigen
Manne aus den Augen, vor die er seine Hände preßte, ein Schluchzen
erschütterte den starken Recken, der von einem Weinkrampf erfaßt,
eine Zeitlang vergebens nach Fassung rang. Es war des Großen und
Erschütternden selbst für ihn zuviel gewesen in jenen Julitagen des
Jahres 1866.

Nun ging es wieder der Heimat zu. Mit seinem König traf Graf Bismarck
am 4. August bereits in Berlin ein, begrüßt von einer enthusiastischen
Volksmenge, die in maßloser Begeisterung dem König und seinem ersten
Minister entgegenjubelte. Und schon am nächsten Tage klangen im weißen
Saale des königlichen Schlosses die Friedensworte des Herrschers, mit
welchen dieser den Landtag eröffnete. Begeisterung in allen Häusern,
in allen Herzen, ein ganzes Volk, das dem so lange »bestgehaßten«
Manne zujauchzte! Diesem aber ging die Seele auf bei dem Gedanken,
wie Gott alles zum Herrlichen gewendet hatte, und in dem Hause in der
Wilhelmstraße herrschte Glück und Freude.

Am Abend des 7. August war ein kleiner Kreis von Freunden hier
versammelt. Im Salon saßen sie beisammen um den Teetisch, und die
anmutige Hausfrau wetteiferte an Liebenswürdigkeit mit dem Gatten, der
ganz das Behagen seiner wohltuenden Häuslichkeit empfand. Das war der
gewohnte sonnige Hauch, welcher durch diese Räume wehte, der Hauch der
vornehmsten und anmutigsten Gastlichkeit, welcher jedem den Aufenthalt
hier so lieb machte.

Es mochte um die zehnte Stunde sein, da meldete der Diener dem
Hausherrn, daß der französische Botschafter Benedetti um die Ehre
einer dringenden Unterredung bitte. Bismarck war gewohnt, sich zu
beherrschen; er entschuldigte sich in liebenswürdigster Weise bei
seinen Gästen und ging nach seinem Kabinett. Er wußte wohl, weshalb
der Franzose gekommen war; es war dieselbe Angelegenheit, welche
er schon in Nikolsburg berührt hatte, die Frage wegen Abtretung
deutschen Gebiets an Frankreich; aber Preußens Ministerpräsident war
entschlossen, diesmal eine ganz unzweideutige Antwort zu geben. Und er
durfte das; seines Königs Paladine Moltke und Roon hatten die Waffen
geschliffen und konnten mit ruhiger Sicherheit auf eine schlagbereite
Armee hinweisen, die stark genug sein würde, es auch mit Frankreich
aufzunehmen.

Das ging ihm rasch noch einmal durch den Sinn, als er in sein Kabinett
eintrat und Benedetti ihn mit höflicher Entschuldigung wegen der
Störung begrüßte.

»Sie vermuten, weshalb ich Sie um einiges von Ihrer Zeit bitte,« begann
der Franzose.

»Die schriftlichen Mitteilungen Ihrer Regierung, welche mir zugegangen
sind, lassen mich annehmen, daß es sich um die von Frankreich
gewünschte deutsche Gebietsabtretung handle.«

Sie hatten sich beide niedergelassen, und Benedetti fuhr fort:

»Frankreich glaubt für seine Haltung in der jüngsten Verwicklung einen
Tribut der Dankbarkeit verdient zu haben.«

»Und worin sollte dieser Tribut bestehen?«

»Frankreich wünscht seine Grenze vom Jahre 1814 wiederhergestellt zu
sehen.«

»Das heißt, wir sollen links des Rheines bayrisches, hessisches und
preußisches Gebiet abtreten –«

»Nebst der Festung Mainz.«

»Und Ihre Regierung meint, daß wir darauf eingehen würden?«

»Sie hofft dies im Interesse Preußens, das noch nicht seinen Frieden
gemacht hat mit den süddeutschen Staaten und nicht neue Verwicklungen
wünschen kann.«

»Solche wünschen wir nicht, aber wir fürchten sie auch nicht,
Exzellenz; darum bitte ich Ihre Vorschläge kurz und bündig zu
präzisieren!«

»Nun denn: Das linke Rheinufer mit Mainz oder Krieg!«

Bismarcks Falkenauge blitzte hell auf, eine flüchtige Röte huschte über
sein Gesicht, und er sah den anderen fest und ruhig an, als er sprach:

»Dann also Krieg!«

Der Franzose zuckte zusammen – eine kleine, peinliche Pause trat
ein, in welcher man nur den Pendelschlag der Uhr vernahm, dann sagte
Benedetti:

»Herr Ministerpräsident, bedenken Sie die Verantwortung die Sie mit
solcher Entscheidung auf sich laden …«

»Da gibt es kein Bedenken, und ich weiß mich der Zustimmung meines
königlichen Herrn sicher. Aber warum wollen Sie uns solche Sprünge
machen? Sie müssen doch wissen, daß für uns die Abtretung deutscher
Erde eine Unmöglichkeit ist. Ließen wir uns zu dergleichen herbei, so
hätte wir trotz aller Triumphe Bankerott gemacht. Vielleicht könnte
man andere Wege finden, Sie zu befriedigen. Aber wenn Sie auf diesen
Forderungen bestehen, so gebrauchen wir – täuschen Sie sich darüber
nicht – alle Mittel: Wir rufen nicht bloß die deutsche Nation in ihrer
Gesamtheit auf, sondern wir machen auch sofort Frieden mit Österreich
auf jede Bedingung hin, überlassen ihm ganz Süddeutschland, lassen
uns selbst den Bundestag wieder gefallen. Aber dann gehen wir auch
wieder vereinigt mit 800000 Mann über den Rhein und nehmen Frankreich
Elsaß ab. Unsere beiden Armeen sind mobil, die Ihrige ist es nicht;
die Konsequenzen denken Sie sich selbst. – Also, wenn Sie nach Paris
kommen, so verhüten Sie einen Krieg, welcher sehr leicht verhängnisvoll
werden könnte.«

Benedetti senkte das Haupt, er fühlte das Zutreffende dieser Worte, und
die Situation begann ihm immer unbehaglicher zu werden. Er erwiderte:

»Ich möchte gern Ihrem Rate folgen, aber mein Gewissen zwingt mich,
dem Kaiser zu erklären, daß, wenn er nicht auf der Gebietsabtretung
besteht, er mit seiner Dynastie der Gefahr einer Revolution ausgesetzt
ist.«

»Machen Sie Ihren Souverän darauf aufmerksam, daß gerade ein aus dieser
Frage entsprungener Krieg unter Umständen mit revolutionären Schlägen
geführt werden könnte, daß aber gegenüber einer revolutionären Gefahr
die deutschen Dynastien sich fester begründet zeigen würden als jene
des Kaisers Napoleon.«

Die Uhr zeigte Mitternacht, und noch immer endete das inhaltschwere
Gespräch nicht. Erst in der ersten Morgenstunde kam Bismarck in den
Salon zu seinen Gästen zurück, heiter und liebenswürdig, denn in
tiefster Seele wußte er, daß eine neue Gefahr abgeschlagen sei, daß
Frankreich nach seinen bestimmten Erklärungen jetzt nicht wagen würde,
das siegreiche Preußen anzugreifen. – – Und er täuschte sich nicht.

Noch der Verlauf des August brachte die Friedensschlüsse mit den
süddeutschen Staaten, die auf Seite Österreichs gekämpft hatten, und
mit diesem selbst, und in Preußens Hauptstadt erwartete man freudig
erregt die Heimkehr der ruhmbedeckten Truppen.

Am 20. September trafen sie ein. Es war ein Festtag für Berlin. Am
_Brandenburger Tor_ drängte es von Tausenden, um hier bereits der
Begrüßung des Königs durch die Vertreter der Stadt beizuwohnen. Grüne
Girlanden schmückten die Säulen, die Fahnen wehten lustig in die Weite,
und durch das Tor mit seinen stolzen Bogen kamen die Heldenscharen
herein, umjauchzt von der Begeisterung der Menge. Die Straße Unter den
Linden war verwandelt in eine herrliche ~via triumphalis~, tausend
Flaggen flatterten in den Lüften, tausend Kränze und Festons hingen an
den Häusern und den Bäumen, Blumen regnete es von allen Seiten nieder
auf die blitzenden Helme, und immer aufs neue brauste der Jubel auf
in seinen vollsten, unvergleichlichen Akkorden: wie lauter Donner
dröhnte er fort die breite Straße entlang, wo immer die Heldengestalt
des greisen Königs erschien und die Gestalten seiner Paladine. Da
ritten sie ihm vorauf mit leuchtenden Augen, der stattliche Roon, der
ernste, ruhige Moltke und Graf Bismarck. Hochaufgerichtet saß er im
Sattel, an der Uniform die Abzeichen als _Generalmajor_, wozu ihn sein
König vor kurzem ernannt hatte, und das orangefarbige Band des hohen
Ordens vom Schwarzen Adler über der breiten Brust. Unter dem blinkenden
Kürassierhelm hervor blickten die hellen, scharfen Augen, und die
gewaltige Erregung dieser Stunde machte, daß er die schwere Erschöpfung
und Abspannung niederkämpfte, die den eisernen Mann infolge der letzten
Zeit ergriffen hatte.

Aber der Erholung bedurfte er dringend, und er suchte und fand sie an
der See, auf dem grünen Eiland von Rügen, wo er in stillem Behagen
im Spätherbst jenes ereignisvollen Jahres saß, während in deutschen
Landen sein Name von Mund zu Mund ging, während der alte Groll, den
man gegen ihn gehegt, weil man ihn nicht verstanden, immer mehr und
mehr verschwand. Es galt, zwischen Preußen und den Staaten bis zur
Mainlinie, einschließlich von Sachsen, einen Verband zu schaffen zu
Schutz und Trutz, zu gemeinsamer innerer Arbeit, und Bismarck hatte
die Freude, den konstituierenden _Reichstag des Norddeutschen Bundes_
am 24. Februar 1867 eröffnet zu sehen, der nun den von seinem Schöpfer
ausgearbeiteten Verfassungsentwurf beriet. Ihm rief am 11. März der
unermüdliche Bismarck zu:

»Arbeiten wir rasch! Setzen wir Deutschland in den Sattel, reiten wird
es schon können!«

Am 16. April war die neue Verfassung angenommen, am 1. Juli trat sie
ins Leben, und am 14. Juli war Bismarck _Kanzler des Norddeutschen
Bundes_.

[Illustration: ~Eis. Kanzler IV.~

Am Abend der Schlacht von Gravelotte.]

Nun konnte er sich eine kleine Rast gönnen auf seinem neuerworbenen
Tuskulum _Varzin_. In Hinterpommern bei dem Städtchen Schlawe liegt das
Gut, welches Bismarck mit dem zugehörigen Besitz von Wussow, Puddiger,
Misdow, Chomitz und dem Vorwerk Charlottenthal sich ankaufte aus der
Ehrengabe, die er nach dem Kriege mit Österreich aus Staatsmitteln
erhalten hatte. Es liegt nicht weit von dem freundlichen Reinfeld, wo
die Wiege seiner Gattin stand, und hat einen prächtigen Waldbestand,
der den Weidmann lockte. Im Frühling 1867, als der Park seinen
Blätterschmuck angelegt hatte, und die Wiesen ringsum grünten, hatte er
es erworben, und dann war er zum erstenmal hinausgefahren.

Die Eisenbahn führte damals nur bis Schlawe, und hier mußte die Fahrt
mittels Extrapost fortgesetzt werden. Er kam mit einem Separatzug
angefahren, früher, als man ihn erwartet hatte, und ließ sich nun
behaglich auf einer Bank auf dem Perron nieder, brannte sich eine
Zigarre an und ließ die friedliche Stille ringsum auf sich wirken. Da
näherte sich ihm mit halb scheuer, halb neugieriger Miene ein Mann,
seinem Äußeren nach ein biederer, schlichter Handwerker, der ihn grüßte
und sich dann einigermaßen verlegen an das Ende der Bank setzte. Er
betrachtete eine kleine Weile den ihm Unbekannten, dann fragte er:

»Sie sind wohl der Herr, welcher mit dem Extrazuge gekommen ist?«

»Jawohl,« erwiderte Bismarck, einigermaßen über die Anfrage verwundert,
aber gutmütig-jovial fügte er bei: »Wer sind Sie?«

»Ich bin der Schuster N. aus Schlawe – und mit wem habe ich die Ehre?«

»Na, ich bin auch Schuster!«

»I, was Sie da sagen!« sprach beinahe erschrocken der schlichte Mann
und sah doch einigermaßen ungläubig nach dem stattlichen Fremden – »und
da fahren Sie mit Extrazug?«

»Warum nicht, lieber Freund? Wir Berliner Schuster können uns das
bieten.«

Der brave, neugierige Handwerker war eben daran, seine Verwunderung
auszudrücken, als eine Abteilung Husaren in Paradeuniform heranritt;
man hörte das Kommando des Rittmeisters: »Eskadron halt! Richt’ euch,
Augen rechts!« und mit Staunen sah der Schuster, wie der Offizier jetzt
an den Fremden heranritt und salutierte. Er sprang beinahe entsetzt von
der Bank auf und starrte seinen Nachbar an, als aber jetzt auch die
Extrapost heranfuhr mit dem gleichfalls parademäßig herausgeputzten
Postillon, reichte Bismarck dem vollständig verlegenen Manne die Hand
und sagte lächelnd:

»Wenn Sie einmal nach Berlin kommen, so besuchen Sie meine Werkstatt!«

Dann fuhr er hinein in den Frühlingstag, während die Husaren ihm
ihre Honneurs machten, vorbei an Feld und Wiese, durch grünen,
rauschenden Wald, durch das hübsche, kleine, bucklige Ländchen, wie es
die Gräfin Bismarck scherzend einst bezeichnete, bis die Landstraße
hineinführt in das Hof- oder Herrengut. Da liegen ihm zur Linken die
Wirtschaftsgebäude, zur Rechten das überaus schlichte, einstöckige
Herrenhaus, aber hinter diesem grüßen und winken die Buchen und Eichen
des Parkes und rauschen ihm entgegen:

»Willkommen in deinem neuen Heim!«



Zehntes Kapitel.

Mit Blut und Eisen.


Ein herrlicher Sommermorgen ist über Varzin und seinem Parke
aufgegangen, ein Julimorgen des Jahres 1870. Die Sonne spiegelt sich
in den Fenstern des Herrenhauses, die Rosen blühen und duften in dem
Garten, und über die Freitreppe schreitet Graf Bismarck herab. Er trägt
eine einfache graue Joppe, ein leicht geschlungenes Tuch um den Hals,
auf dem Haupte einen Schlapphut und in der Hand einen kräftigen Stock;
gemessen folgt seinen Schritten eine schöne Ulmer Dogge, die ab und
zu mit klugen, großen Augen nach ihm hinschaut. Über den knirschenden
Kies der Gartenwege schreitet die stattliche Gestalt dahin, vorbei
an großen Sandsteinfiguren und an einem kleinen Teiche und dann über
eine Terrasse hinauf in den leise rauschenden Park, durch dessen grüne
Laubkronen die spielenden Lichter niederhuschen. Jeden Baum sieht
das klare Auge an, denn er kennt sie alle, die prächtigen Buchen und
Eichen, und selbst den kleinen Nachwuchs. Wie einst der Knabe auf
Kniephof, so freut sich jetzt der ernste, gewaltige Mann an jedem
Nestchen, das zwischen dem Gezweige hervorlugt, an jedem Vogel, der
über ihm singt, an jedem Stämmchen, das sich kräftig entwickelt.

Auf einer Bank hält er Rast. Das treue Tier liegt zu seinen Füßen und
blinzelt hinauf nach dem blauen Himmel, sein Herr aber läßt vor seinem
Geiste eine Reihe von Bildern vorüberziehen in der einsamen Stille, die
ihm selten genug zuteil wird.

Er denkt der vergangenen Tage und all des Großen, was sie gebracht
haben, aber er schaut auch aus in eine ernste Zukunft. Der Nachbar
im Westen, Kaiser Napoleon III., der sich nicht ganz sicher fühlte
auf seinem Thron, suchte nach irgendeiner Verwicklung, die ihm in den
Augen der Franzosen Ruhm und Ansehen verleihen sollte. Er war bereits
bestrebt gewesen, das Großherzogtum Luxemburg zu annektieren, das zum
ehemaligen deutschen Bunde gehörte, aber Bismarck hatte erreicht, daß
das Ländchen als neutrales Gebiet erklärt wurde, und Frankreich mußte
die Finger davon lassen. Immer unbehaglicher wurde für Napoleon das
wachsende Ansehen Preußens, und immer mehr drängte die Stimmung des
französischen Volkes zu einer Demütigung desselben.

Da schien sich eine besonders günstige Gelegenheit zu bieten.
Spanien hatte seinen eben erledigten Thron dem Prinzen Leopold von
Hohenzollern-Sigmaringen angeboten, der mit Napoleon selbst verwandt
war. Trotzdem hatte man in Frankreich erklärt, daß die Wahl eines
Hohenzollern eine Schädigung seiner Interessen, ja, geradezu eine
Herausforderung bedeuten würde, und hatte an König Wilhelm die
Forderung gestellt, er solle dem Prinzen von Hohenzollern befehlen,
sich der Bewerbung um den spanischen Thron zu enthalten. Der König
hatte Benedetti in Ems erklärt, daß er dem Prinzen nichts zu befehlen
habe.

So lagen die Dinge augenblicklich, und Bismarck fühlte mit aller
Bestimmtheit, daß Frankreich immer neue Forderungen stellen und Preußen
um jeden Preis zum Kriege reizen würde. Seine Beruhigung war jedoch die
gerechte Sache seines Königs, die schlagfertige Armee und die Hoffnung
auf das erwachende nationale Gefühl des deutschen Volkes.

Er sah hinein in die sonnige, stille Welt, in seinen grünen, schattigen
Park und hinüber nach den weißen Mauern seines Herrenhauses, und eine
Friedenssehnsucht zog ihm durch die Seele. Da kam den Kiesweg heran
ein älterer Herr mit Zeitungen in der Hand; der Hund hob den Kopf,
blinzelte mit den klugen Augen und wedelte leicht mit dem Schweife,
– er begrüßte einen guten Bekannten, den Vorstand des Geheimbureaus
Bismarcks, den Geheimen Legationsrat Lothar Bucher.

»Gibt’s Neues von Wichtigkeit, lieber Bucher?«

»Bis jetzt nichts von Belang, Exzellenz; die französischen Zeitungen
aber rasseln sehr energisch mit den Säbeln, hier ist eine äußerst
bezeichnende Stelle!«

Er hatte sich auf Einladung seines Vorgesetzten neben diesem
niedergelassen und las:

»Unser Kriegsgeschrei ist bis jetzt ohne Antwort geblieben; die Echos
des deutschen Rheines sind noch stumm. Hätte Preußen zu _uns_ die
Sprache gesprochen, welche Frankreich spricht, wir wären schon längst
unterwegs.«

»Darin mögen sie recht haben,« sagte Bismarck, »es fragt sich nur, wie
weit sie gekommen wären.«

»Wie ist die Stimmung in den deutschen Blättern, zumal in den
süddeutschen?«

»Ganz ausgezeichnet, Exzellenz! Man erwartet, daß der König jedes
freche Ansinnen Frankreichs entschieden zurückweisen werde und ist in
Verurteilung des französischen Vorgehens von seltener Einstimmigkeit.«

»Na, und wenn es zum Äußersten kommt, wir sind bereit, denn auf
Moltke und Roon können wir uns verlassen, und wir haben in acht
Tagen gewaltige Heeresmassen marschfertig. Frankreich rennt in sein
Verderben, wenn es den Krieg provoziert.«

»Das ist die öffentliche Meinung in Deutschland!« sagte Bucher und las
aus hervorragenden Blättern einige Aufsätze Bismarck vor, der, die Arme
auf den Stock gestützt, das Haupt vorgeneigt, ihn ruhig anhörte.

Nach einiger Zeit erhob er sich.

»Nun muß der Gutsherr in sein Recht treten. Auf Wiedersehen in einer
Stunde. Hoffentlich bringt sie uns nichts Unangenehmes.«

Er ging langsam, gefolgt von der Dogge, nach dem Herrenhause zu,
durchschritt hier einen langen, schmalen Korridor, und betrat am Ende
desselben ein kleines Zimmer mit weiß getünchten Wänden und einem
breiten Fenster, durch welches das volle Licht hereinfiel auf den
einfachen Tisch und die daneben stehenden hohen Schränke, von welchen
ausgestopfte Vögel herabschauten. Ein schwarzes Ledersofa, einige
geschnitzte Stühle, altertümliche Glasgefäße auf dem breiten Kaminsims
vervollständigen die Einrichtung des Gemachs, in welchem »der Gutsherr
von Varzin« mit seinen Leuten verkehrt.

Da wartet schon mancher auf den großen Staatsmann, um mit ihm über
Forstnutzung, Industrieanlagen, Gartenwirtschaft und dergleichen zu
verhandeln, und eine Stunde ist rasch genug vorüber. Der letzte ist
gegangen, aufatmend erhebt sich Bismarck und sieht nach der Uhr, – es
ist Zeit zum Frühstück, und er wird wohl bereits erwartet.

Im Billardzimmer ist der Tisch gedeckt. Der große Raum sieht freundlich
aus. Die Fenster gehen hinaus in das Grün des Gartens, an den Wänden
hängen Bilder rheinischer Städte, die Möbel, teils gepolstert, teils
mit braunem Schnitzwerk, sehen traulich und behaglich aus, die beiden
Öfen mögen im Winter mit ihrem offenen Feuer die Gemütlichkeit des
Raumes ganz besonders erhöhen, und das in einer Nische stehende
Billard sowie der Flügel der Hausfrau lassen erkennen, daß der ernste
Diplomat gerade hier manche Stunde verbringt, die ihm wohl Erholung und
Zerstreuung bieten mag.

Hier ist er im Kreise der Seinen. Seine Gemahlin eilt ihm entgegen,
seine Tochter, Komteß Marie, hängt sich an seinen Arm, seine Söhne
grüßen ihn mit herzlicher Freundlichkeit, und bald sitzt er in seinem
Lehnstuhl, aber noch immer ist es keine ungestörte Rast. Lothar Bucher
hat ihm Briefe und Depeschen überreicht, ehe er sich mit an den Tisch
setzte, und Bismarck öffnet und überfliegt die letzteren.

Ein Schatten zieht über sein Gesicht.

»Aus Ems. Benedetti sucht um eine neue Audienz nach bei dem König. Er
wird die unverschämte Forderung seiner Regierung wiederholen; man hat
die zweifellose Absicht, uns zu brüskieren.«

Da war das Gespräch ganz von selbst wieder bei der brennenden
Tagesfrage, und Bismarck hatte zu tun, um die erregten Damen zu
beruhigen. Er selbst nahm dabei das einfache Frühstück ein, das für ihn
in der Hauptsache aus weichgekochten Eiern mit geröstetem Weißbrot,
einer Schale Milch und etwas schwarzem Kaffee bestand. Nach Beendigung
desselben sprach er:

»Aber nun ein halbes Stündchen ohne Politik! Laß uns einen Gang durch
den Park tun, mein liebes Herz, ich muß dir drei junge Buchen zeigen,
die aus einem Stamm herauswachsen, und die ich bisher noch gar nicht
entdeckt hatte. Ich habe dabei unwillkürlich an unseren Wappenspruch
denken müssen: ~In trinitate robur~ – in der Dreiheit die Stärke, und
dann habe ich an unsere lieben drei gedacht! Komm, Marie, du mußt die
Bäume gleichfalls sehen.«

Er reichte den beiden Damen den Arm, die Grafen Herbert und Wilhelm
gingen hinterdrein. So schritten sie unter den stattlichen Bäumen des
Parkes hin im lachenden Sommersonnenschein und vergaßen für eine kurze
Zeit die Wetterwolken, die am westlichen Himmel Europas sich auftürmten.

Aber die kurze Spanne gemütlichen Behagens war bald vorüber, und
Gattin und Tochter begleiteten Bismarck in sein Arbeitszimmer, in die
Werkstätte des Diplomaten.

Ein großer, sechseckiger Raum von vornehmer Einfachheit.
Eichenholzgetäfel in mehr als Manneshöhe zieht sich an den Wänden
hin, und die Decke ist durch vortretende Eichenbalken in Quadrate und
Dreiecke geteilt. In einem sechseckigen Erker sind drei schmale Fenster
angebracht, an der Wand der Tür gegenüber ein breites. Nahe demselben
steht der Schreibtisch aus Nußbaumholz mit blitzenden Messingbeschlägen
an Türen und Schubladen. Auf der mit grünem Tuch überzogenen Platte
befinden sich ein zweiarmiger Leuchter, mehrere verschieden geformte
Briefbeschwerer, ein Schreibzeug, das aus dem Holze einer bei der
Düppelstürmung eroberten Lafette geschnitzt ist, Federn und lange,
dicke Bleistifte. Kleinere Tische, mit Büchern und Schriftstücken
bedeckt, stehen da und dort, zwei Sofas laden zur Ruhe ein, im Erker
steht ein kleiner Diwan neben einer Causeuse, und von hier schweift
der Blick hinaus auf den blinkenden Spiegel eines kleinen Teiches, auf
einen ferner liegenden Ruheplatz zwischen je einer stattlichen Eiche
und Buche, und auf die wogenden Saatfelder, welche durch das dunkle
Grün bewaldeter Hügel begrenzt werden. In einer abgestumpften Ecke aber
steht das Prachtstück dieses Raumes, ein riesenhafter Kamin von nahezu
vier Meter Breite und fünf Meter Höhe.

In dem Lehnstuhl am Schreibtische hat sich Bismarck niedergelassen, die
Gräfin steht neben ihm, legt ihm zärtlich die Hand auf die Schulter und
sagt mit einem besorgten Blick auf die sich häufenden Schriftstücke:

»Das wird dich wieder viele Anstrengung und Aufregung kosten, und du
bist von deiner letzten Erkrankung noch nicht erholt!«

Der Kanzler des Norddeutschen Bundes lehnt sich behaglich in den Sitz
zurück und spricht:

»~Patriae inserviendo consumor!~ Das ist mein Wahlspruch, und du
weißt, was es heißt: Im Dienste des Vaterlands will ich aufgehen! Und
so schlimm wird es wohl nicht werden, wir Bismarcks sind aus altem
märkischen Holze – das hält etwas aus.«

Er faßte nach der lieben Hand, die noch auf seiner Schulter lag, und
streichelte sie, Gräfin Marie aber eilte herbei und brachte ihm die
lange Pfeife.

»Danke, mein liebes Kind! Das ist auch ein Sorgenbrecher!«

Er öffnete den Deckel des vor ihm stehenden Tabakskastens, der dem
Kopfe seines treuen vierfüßigen Begleiters, der prächtigen Dogge,
die sich auch jetzt zu seinen Füßen gestreckt hat, nachgebildet ist,
und stopft sich die Pfeife. Die junge, schöne Komteß hat den Fidibus
angebrannt und hält ihn zurecht, – einige kräftige Züge, der blaue
Rauch wirbelt um den Lehnstuhl und den, welcher darin sitzt, und nun
gehen die Damen und überlassen den Staatsmann seinen Sorgen und seiner
Arbeit.

Bismarck liest, und der mächtige Blaustift in seiner Hand arbeitet
dabei unablässig. Lothar Bucher kommt, hält Vortrag und macht sich
seine Notizen, und so arbeitet die Staatsmaschine von dem stillen
Varzin in Hinterpommern aus unablässig. Die Stunden vergehen, und der
Erholung darf nicht ganz vergessen werden.

Der Wagen ist vorgefahren, denn Bismarck darf, da er noch
Rekonvaleszent ist von einem Nervenleiden, nicht reiten, und mit Frau
und Tochter fährt er hinein in das freundliche, sonnige Land, und wo er
vorüberkommt, bleiben die schlichten Landleute stehen und grüßen ihn
und die Seinen mit aufrichtiger Herzlichkeit. Da und dort läßt er wohl
auch halten und redet einen oder den anderen der Leute an. Ein alter
Taglöhner stand am Wege und zog ehrerbietig die Mütze; er war krank
gewesen bis vor kurzem, und Bismarck wußte dies. Er rief dem Alten zu:

»Nu, Krischan, du büst woll wedder ganz op den Tüge?«

»I, ja,« – sagte der Angeredete treuherzig. »Sie sollten man ok hier
blieven, dann wurden Sie nochmal so frisch!«

Bismarck lachte, und im Weiterfahren sprach er:

»Ja, wer immer in Varzin sein könnte!«

Gegen sechs Uhr wurde das Diner eingenommen. Was auf den Tisch kam,
stammte beinahe alles von den Besitzungen des Grafen selbst und
mundete um so besser, als es mit heiterem Tafelgespräch gewürzt ward.
Die Stunde ging rasch, und noch einmal wanderte der Kanzler mit den
Seinen in den Park und freute sich des herrlichen Sommerabends, der
grüngoldenen Lichter, welche auf den Wegen spielten, und der tiefen
Ruhe. Da und dort ward kurze Rast gehalten; schlanke Rehe kamen aus
dem nahen Walde und huschten durch den Park bis herein in den Garten,
und Bismarck freute sich der Zutraulichkeit der schönen Tiere, die
sich durch die Nähe der Menschen nicht verscheuchen ließen. Es war
eine liebliche Idylle, in welche die Abendglocken vom Dorfe her
stimmungsvoll klangen.

Nun ward der Tee eingenommen in der umgrünten Veranda. Die Dämmerung
legte sich langsam über das Land, vom Blumengarten wehte süßer Duft,
die Lampe warf ihren traulichen Schimmer über den Tisch, und die Gräfin
Bismarck kredenzt dem Gatten das Getränk. Dann wird die lange Pfeife
wieder angebrannt, behagliche Wölkchen ziehen durch den Raum; in seinen
weiten Sessel zurückgelehnt, sitzt der große Staatsmann schweigend
und träumend, indes aus den geöffneten Fenstern des Frühstückszimmers
die Klänge an sein Ohr schlagen, welche Frau Johannas Meisterhand dem
Flügel entlocken.

Noch eine kurze Stunde, dann neigt sich der Sommertag seinem Ende zu.
Es ist noch nicht ganz um Mitternacht, als Bismarck sich erhebt, um
sich zur Ruhe zu begeben … die letzten Lichter in Varzin verlöschen,
der blaue Nachthimmel spannt sein weites Zelt über Schloß, Park
und Dorf, und die ewigen Sterne flimmern so friedvoll in ihrer
unvergänglichen Schönheit, und sie kümmern sich nicht um der Menschen
und Völker Haß und Hader.

Und drei Tage später leuchteten dieselben Sterne, aber in den stillen
Frieden von Varzin trägt fast um die Mitternachtstunde der Telegraph
eine erregende Mitteilung: Der König beruft seinen Ratgeber sogleich
nach Ems!

Am nächsten Tage war Bismarck bereits in Berlin. Hier fand er gute
Kunde: Der Prinz von Hohenzollern hatte, um nicht Veranlassung zu einer
blutigen Verwicklung zu geben, freiwillig auf den Thron von Spanien
verzichtet. Den Franzosen war der Vorwand zum Kriege genommen, beruhigt
atmete der Kanzler auf und glaubte nun auch seine Reise nach Ems nicht
beschleunigen zu müssen.

Da geschah das Unglaubliche. Benedetti trat in Ems vor den König mit
der Forderung, daß er schriftlich sich verpflichten solle, niemals
einen Hohenzollern auf dem Throne von Spanien zu dulden. Würdig und
entschieden lehnte Preußens Herrscher die demütigende Forderung ab,
einen Tag später reiste Benedetti ab, und abermals einen Tag später,
am 15. Juli, beschloß die französische Regierung unter dem übermütigen
Zujauchzen eines fanatisierten Volkes den Krieg.

An eben diesem Tage reiste auch der König Wilhelm nach Berlin, und was
er auf seinem Weg sah und hörte, durfte ihm wohl die Seele erheben
und befreien. So weit die deutsche Zunge klingt, bebten die Herzen
vor Entrüstung über die französische Frechheit und Anmaßung, und in
Millionen lebte nur ein Gedanke: dieselbe gebührend zurückzuweisen.
Überall dieselbe Begeisterung, die gleichen Beweise der Liebe und
Verehrung des einen deutschen Geistes:

    Vergessen ist der alte Spahn,
    Das ganze Volk ist eins!

Bismarck war mit dem Kronprinzen sowie mit Roon und Moltke dem König
bis Brandenburg entgegengefahren. Bewegt reichte der Herrscher seinen
Treuen die Hand, und weiter ging es der Hauptstadt zu. Durch ihre
Straßen flutete das Volk in dichtem Gedränge; mit entblößten Häuptern
stand es da, und während aus allen Fenstern die Tücher wehten zum
Empfangsgruß, schwollen die begeisterten Zurufe immer lauter an, je
näher die Wagen dem Schlosse kamen. Bis in die Nacht hinein erklangen
brausende Vaterlandslieder, stürmische Hochrufe, indes aus dem
bekannten Eckfenster des schlichten Palais der Lichtschimmer seinen
freundlichen Gruß hinaussandte. Dort beriet der König mit seinen
Getreuen, und ein Adjutant ersuchte das Volk im Namen des Herrschers um
Ruhe. Da ging _ein_ Empfinden durch all die Tausende; tiefstill ward es
um das Standbild des großen Friedrich her, und lautlos ging die Menge
auseinander.

In derselben Nacht flogen die Befehle zur Mobilmachung des Heeres durch
alle Gaue Norddeutschlands.

Es kam der 19. Juli, der Todestag der unvergeßlichen Königsrose
Luise. Vor 60 Jahren war sie heimgegangen, hinsiechend an der Not des
Vaterlands, und nun sollte in ihrem Sohne ihr ein herrlicher Rächer
erstehen. Vormittags fand im Dome ein feierlicher Gottesdienst statt in
Gegenwart des königlichen Hofes, der Ministerien und der Abgeordneten.
Unter diesen saß in der letzten Reihe die hagere Gestalt des Generals
von Moltke so schlicht und bescheiden, als wäre ihm nicht gerade eine
Hauptrolle bestimmt in dem gewaltigen historischen Drama, für welches
jetzt der Segen des Himmels erfleht wurde, und von der Empore herab
schaute Graf Bismarck ehern und ruhig auf die Andächtigen nieder. Nach
dem Gottesdienst erfolgte die Eröffnung des Reichstags im Weißen Saale
des Schlosses durch den König. Es waren erhebende, mächtig bewegende
Worte, und tiefe Ergriffenheit erfaßte die Versammlung, als er schloß:

»Je unzweideutiger es vor aller Augen liegt, daß man uns das Schwert
in die Hand gezwungen hat, mit um so größerer Zuversicht wenden wir
uns, gestützt auf den einmütigen Willen der deutschen Regierungen des
Südens wie des Nordens, an die Vaterlandsliebe und Opferfreudigkeit des
deutschen Volks mit dem Aufrufe zur Verteidigung seiner Ehre und seiner
Unabhängigkeit.

Wir werden nach dem Beispiele unserer Väter für unsere Freiheit und für
unser Recht gegen die Gewalttat fremder Eroberer kämpfen, und in diesem
Kampfe, in dem wir kein anderes Ziel verfolgen, als den Frieden Europas
dauernd zu sichern, wird Gott mit uns sein, wie er mit unseren Vätern
war!«

Kurze Zeit danach fuhr der König hinaus nach Charlottenburg. Dort
liegt zwischen grünen Parkgehegen ein schlichter Bau, das Mausoleum,
in welchem Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise ruhen. Zwei
herrliche Marmorbilder, welche die Verewigten wie friedlich Schlafende
darstellen, stehen über der Gruft, und bläulicher Lichtschimmer flutet
mild und freundlich darüberhin. Hier in einsam weihevoller Stille
betete der König und flehte den Segen seiner Eltern nieder auf den
Pfad, den er nun gehen mußte für seine und seines Landes Ehre.

Und beinahe zur selben Stunde betrat Graf Bismarck den Sitzungssaal des
Reichstags. Hochaufgerichtet und mit vor Erregung leuchtenden Augen
betrat er die Tribüne, und aller Blicke hafteten auf dem herrlichen,
stattlichen Manne, aller Parteigroll war geschwunden, und die Ahnung
dessen, was dieser große Augenblick bringen sollte, ging durch jede
Seele. Deutlich und fest klangen die inhaltschweren Worte des Kanzlers:

»Ich habe dem hohen Hause die Mitteilung zu machen, daß mir der
französische Geschäftsträger Le Sourd heute die Kriegserklärung
Frankreichs überreicht hat. Nach den Worten, die Seine Majestät soeben
an den Reichstag gerichtet hat, füge ich der Mitteilung dieser Tatsache
weiter nichts zu.«

Aufrecht standen die Vertreter des Volkes, jede Brust dehnte sich
weiter, jedes Auge blitzte heller, und voll Begeisterung klang es durch
den Saal: »Es lebe der König!«

Und durch das ganze deutsche Volk zitterte und brauste dieselbe
Bewegung, und aus allen Gauen zogen die Söhne der _einen_ Mutter
Germania heran voll heiligen Kampfesmutes, voll Zuversicht auf die
gerechte Sache und auf ihre Kraft. Bayern und Sachsen standen neben
Preußen, und wenn Napoleon auf die alte Eifersucht der deutschen Stämme
gerechnet hatte, so sollte ihm das zum fürchterlichen Verhängnis werden.

Umtost vom Jubel seines Volkes verließ der vierundsiebzigjährige
König am 31. Juli seine Hauptstadt, und am 2. August übernahm er von
Mainz aus, wo er mit Moltke, Bismarck und Roon eingetroffen war, den
Oberbefehl über die deutschen Heere. Das blutige Kriegsspiel begann.
Das waren heiße Augusttage bei Weißenburg und Wörth und um die trutzige
Festung Metz, hinter deren Wällen der sieggewohnte französische
Marschall Bazaine mit eisernen Klammern festgehalten werden mußte.

Am 16. August war das heiße Ringen bei Vionville und Mars la Tour. In
Pont à Mousson war Bismarck im Hauptquartier des Königs, und dort, von
woher die Donner der Schlacht brüllten, kämpften seine beiden Söhne in
der dritten Schwadron der Gardedragoner. Das Vaterherz war voll banger
Sorge und würde es noch mehr gewesen sein, wenn es gewußt hätte, wie
das brave Reiterregiment furchtbar geblutet und viele seiner Offiziere,
darunter seinen tapferen Obersten von Auerswald, verloren hatte. Der
Abend senkte seine Schleier über das furchtbare Feld, und Bismarck ritt
hinter seinem König her, um ein Nachtlager für diesen finden zu helfen.
In allen Häusern und Hütten lagen Verwundete und Sterbende, und nur
mit Mühe gelang es, ein Stübchen ausfindig zu machen, wo ein Feldbett
für den hohen Herrn untergebracht wurde. Der aber wollte es nicht
besser haben als die Seinen. Das Bett sollte für einen Verwundeten
bleiben, er selbst wollte auf einem Strohlager schlafen, und Bismarck
und Moltke mußten mit ihm das Zimmer teilen.

Der Kanzler fand wohl wenig Schlaf; er dachte »der Toten, der Toten,«
er dachte seiner Söhne. Mit dem erwachenden Tage ritt er hinaus in das
Schlachtfeld nach dem Lagerplatz der Gardedragoner und fragte nach
seinen Lieben. Sie hatten sich beide brav geschlagen, und Herbert hatte
für König und Vaterland geblutet, aber das Geschick war ihnen gnädig
gewesen.

Im Lazarett in Mariaville fand er beide Söhne, und in freudiger
Ergriffenheit trat er an das Lager Herberts, der durch eine Kugel am
Oberschenkel verwundet war. Wilhelm hatte sein Pferd verloren, war aber
sonst unversehrt geblieben.

Es war ein trotz allem schönes Wiedersehen, aber ein von einem leisen
Wehmutshauch verschleiertes Abschiednehmen. Für den Grafen Herbert
winkte die Rückkehr in die Heimat, Graf Wilhelm aber zog mit seinem
Regimente weiter, neuen Gefahren und Siegen entgegen, und Vater und
Sohn sollten sich erst am 2. September wiedersehen.

Am 18. August brüllten die ehernen Schlünde um _Gravelotte_ und
_Rezonville_. Am Morgen ritt Bismarck mit seinem König die Höhe bei
Flavigny hinan und sah hinein in das wogende Kampfgewühl, das bis
hierher brandete. Mehr als einmal kam er selbst sowie auch König
Wilhelm in drohende Gefahr. Es war ein furchtbares Ringen, nicht _eine_
Schlacht, sondern eine Reihe von Schlachten, die hier um das alte Metz
geschlagen wurden. St. Privat war von den preußischen Garden und den
braven Sachsen erstürmt worden nach heißem Streit und unter schweren
Verlusten, und als der Sommertag sich zu neigen begann, sanken auch die
Sterne des französischen Marschalls.

Noch einmal in der siebenten Abendstunde machte er einen verzweifelten
Vorstoß über die Talschlucht von Gravelotte hinaus, aber die wackeren
Pommern, die nach einem beschwerlichen Marsche erst vor kurzem auf dem
Schlachtfelde eingetroffen, warfen sich ihm entgegen. »Es lebe der
König!« scholl es in heller Begeisterung, und hinab ging es in den
Talgrund, Bataillon um Bataillon und jenseits wieder die Höhen hinan.

Der greise Kriegsherr aber hielt auf der Höhe nördlich von Gravelotte
und sah hinein in die sprühenden Pulverblitze, und um ihn her und
über ihn hin sausten die todbringenden Geschosse und platzten die
Granaten. Und wie einst bei Sadowa, so wußte Bismarck auch hier seinen
königlichen Herrn aus der gefährlichen Stellung fortzubringen. Er blieb
ihm treu zur Seite und geleitete ihn gegen Rezonville. Hier stieg der
greise Held, ermüdet von dem furchtbaren Tage, vom Rosse und sah sich
um nach einem Sitze. Es war nichts zu erblicken; nur ein toter Schimmel
lag in der Nähe; auf den Leib desselben und auf eine alte Brückenwage
ward nun eine Leiter gelegt, und hier saß der König, mit dem Rücken an
eine Gartenmauer gelehnt.

Die Schatten des Abends wurden grauer, unheimlich loderten unfern die
Flammen aus einem großen brennenden Gebäude gegen den Himmel, dumpf
rollten fernher noch die letzten Donner der Schlacht, und um ihren
königlichen Führer her geschart standen in erwartungsvollem Schweigen
Generale und fürstliche Herren.

Um die neunte Stunde war es, als Moltke heransprengte; aus seinen
ernsten Augen leuchtete es hell – er brachte die Kunde von dem
errungenen Siege, von der endgültigen Festnagelung des französischen
Marschalls hinter den Mauern von Metz.

Ein Telegraphenbeamter brachte eine Meldung; ihm diktierte Bismarck im
Namen des Königs folgende Depesche an die Königin Augusta:

        Biwak bei Rezonville, 18. Aug. 9 Uhr abds.

    Die französische Armee in sehr starker Stellung westlich
    von Metz angegriffen, in neunstündiger Schlacht vollständig
    geschlagen, von ihren Verbindungen mit Paris abgeschnitten und
    gegen Metz zurückgeworfen.

            _Wilhelm._

Ein Marketender war herbeigerufen worden; er hatte wenig genug zu
bieten, aber auch der bescheidene Rotwein, mit welchem die Feldflaschen
gefüllt wurden, mundete, und aus einem zerbrochenen Tulpenglase trank
der König. Sein Kanzler aber kaute an einer harten Brotrinde, denn
besseres war augenblicklich nicht zur Stillung des Hungers zu finden.

Die Nacht sank nieder, und die Schwierigkeit, ein Lager zu finden, ließ
sich kaum verkennen. Der König ritt mit seinen Begleitern hinab nach
dem Dorfe Rezonville. In allen Häusern Verwundete, endlich in einem
ärmlichen Hause ein kleines Stübchen! Aus einem Krankentransportwagen
wurde eine Bahre herbeigeschafft, dazu einige Wagenkissen, und auf
diesem unbequemen Lager, völlig angekleidet, mit seinem Mantel bedeckt,
schlief der siegreiche alte Held, nachdem man mit Mühe noch ein
Abendbrot für ihn aufgetrieben hatte.

Bismarck aber irrte durch die nächtlichen Gassen des keinen
französischen Nests, die erhellt waren von dem Feuerschein brennender
Häuser. Bei dem Wagen des Königs hielt der Erbgroßherzog von
Mecklenburg Wache, damit nichts abhanden komme, und der Kanzler selbst
suchte Haus um Haus nach einem Unterkommen. Überall vernahm er, daß
alles voll Verwundeter liege. Ein dunkles Fenster in einem Hause winkte
verheißungsvoll, und diesmal ließ er sich auch nicht von dem Hinweise
auf Verwundete abspeisen. Er stieg die Treppen hinan und fand in der
Tat ein Stübchen mit drei Betten und hielt hier erquickliche Nachtrast.

Nun galt es, Frankreichs zweites Heer festzulegen und seinen
berühmtesten Marschall Mac Mahon unschädlich zu machen, und die
deutschen Heersäulen zogen mit ruhiger Sicherheit die Wege, welche der
herrliche Schlachtenlenker Moltke ihnen anwies.

Am 23. August war das königliche Hauptquartier in Pont à Mousson. Am
Abend hatte Bismarck seine Wohnung aufgesucht; bei dem Posten an der
Tür des Hauses hielt er an:

»Nun, wie geht’s?«

»So gut es sein kann im Kriege, Exzellenz!«

»Wie steht’s mit der Verpflegung?«

»Untertänigst zu danken, Exzellenz – ich habe seit 24 Stunden keinen
Bissen gegessen!«

Bismarck erschrak beinahe über die Äußerung des Soldaten, und sogleich
eilte er in das Haus, suchte die Küche und kehrte bald mit einem
tüchtigen Stück Brot, das er selbst abgeschnitten, zu dem Manne zurück,
der die Gabe mit lebhaftem Dankgefühl entgegennahm.

Über Bar-le-duc ging es nach Clermont, einem kleinen Gebirgsstädtchen,
wo das königliche Hauptquartier mit jenem der Maasarmee zusammenkam.
In dem bescheidenen Schulhause wohnte der König, und in der Stube,
in welcher sonst der Lehrer arbeitete, war das Gemach des Kanzlers,
Arbeits- und Schlafzimmer zugleich. Eine Treppe höher in einem Saale
war das Bureau eingerichtet. Über einem Sägebock und einer Tonne
liegt eine ausgehobene Tür – das ist der Arbeitstisch, Kisten und
Koffer bilden die wenig bequemen Sitze, flackernde Kerzen, die in
leeren Weinflaschen stecken, werfen ein trübes Licht, und das Stroh
an der Wand auf dem Boden ist die Lagerstelle. – Und in diesem Raume
welch reges Leben, welch bedeutsame, hochwichtige Maschinerie! Da
arbeiten die Legationsräte von Keudell, Graf Hatzfeld, Abeken, Graf
Bismarck-Bohlen, und die Chiffreure, welche die Depeschen besorgen, da
kommen und gehen die Feldjäger und Ordonnanzen, da läuft vom frühen
Morgen bis in die Nacht ein Bericht nach dem anderen heraus und
herein, und zwischen seinen Beamten erscheint ab und zu die Gestalt
des Ministers im Interimsrocke der Landwehrreiter mit den gelben
Aufschlägen, die Beine in den hohen Stulpenstiefeln, und gibt kurze und
klare Anweisungen.

Und in einem nicht behaglicheren Raume des Schulgebäudes arbeitet der
große Generalstab mit seinem schweigsamen Chef ernst, ruhig, klar und
sicher weiter an seinem Werke, und von der Straße herauf schallt der
Trommelschlag und die Marschmusik vorüberziehender Regimenter, und die
wenigsten, die hier vorbeimarschieren, haben eine Ahnung, daß hinter
den Fenstern dieses schlichten Hauses das Räderwerk tätig ist, das die
ganze große Maschine in Bewegung setzt.

Das Vorspiel der großen Tragödie vor Sedan nahm seinen Anfang. Bei
Beaumont schlug Sachsens ritterlicher Kronprinz die Nachhut Mac Mahons
und schloß mit der von ihm befehligten Maasarmee den ehernen Gürtel,
der sich nun um Sedan legte.

Gegen Beaumont ritt auch der Kanzler her im Gefolge seines Königs.
Der Tag war heiß, schwül lag der Sommer auf dem Lande, und die
Marschkolonnen zogen langsam ihre Straße. Bismarck ritt an eine
Abteilung Bayern heran. Die Leute schienen sehr ermüdet und kamen nur
langsam vorwärts. Ein tiefes Mitgefühl erfaßt den Minister mit den
Braven, und er ruft dem Nächsten zu:

»Heda, Landsmann, wollen Sie einmal Kognak trinken?«

Der Mann sah, wie befremdet darüber, wie man eine solche Frage erst
noch tun könne, zu dem hohen Offizier auf und nickte. Da reichte ihm
der Kanzler seine Feldflasche, und als er die Kameraden des Beglückten
so sehnsüchtig und neidvoll auf diesen und das gebotene Labsal blicken
sah, ließ er die Flasche weitergehen, bis sie geleert zu ihm zurückkam.
Einer seiner Begleiter aber folgte seinem Beispiele, und auch die
zweite Feldflasche ging von Hand zu Hand. Nun holte Bismarck seine
Zigarren heraus und fing an auszuteilen, und die vergnügten Gesichter
der ermüdeten Soldaten waren ihm ein schöner Dank.

Was sich nun ereignete, in jenen ersten Septembertagen des Jahres 1870,
wird für ewig unvergessen bleiben im deutschen Volke. Das Heer Mac
Mahons, bei dem sich der Kaiser Napoleon III. selbst befand, war hinter
Sedan zurückgedrängt, und hier erfolgte die Katastrophe, in welcher der
französische Thron zerbrach.

Mit dem Morgen des 1. September hob das gewaltige Schauspiel an; noch
lag der Nebel über den Gefilden, und von Bazailles her, wo die Bayern
standen, zuckten rote Blitze, und dumpfer Donner grollte ihnen nach.

Rechts vom Dorfe Frénois auf einem Hügel hielt König Wilhelm mit seinem
Gefolge, und von hier überschaute er den Verlauf des furchtbaren
Ringens. Um die Mittagszeit war der Calvaire d’Illy, der Schlüssel der
feindlichen Stellung, genommen, erdrückend lag die deutsche Heeresmacht
um das bedrängte Sedan und um den verzweifelten Kaiser. Mac Mahon war
verwundet worden und hatte den Oberbefehl über das französische Heer
dem General Wimpffen übergeben. Aber auch dieser konnte nicht mehr
retten, was verloren war.

Die Abenddämmerung legte einen leichten Schleier über die Walstatt.
Brennende Dörfer leuchteten in der Runde, und die deutschen Batterien
spien noch immer von allen Seiten Verderben und Vernichtung gegen die
Festung. Endlich flatterte zwischen Rauch und Qualm auf der vorderen
Bastion etwas Weißes empor, die Kapitulationsflagge.

Um die siebente Stunde ritt den Hügel von Frénois der französische
General von Reille heran, tiefen Ernst in dem gebräunten Antlitz. Es
war eine erschütternde Kunde, die er brachte: Kaiser Napoleon legte
seinen Degen nieder in die Hand des Königs Wilhelm. In tiefer Bewegung
las dieser die kurzen, inhaltschweren Zeilen des besiegten Gegners
seinem Gefolge vor, und in Erschütterung und schweigend standen sie
alle. Selten wohl hat die sinkende Sonne ein solches Bild beleuchtet:
den greisen König, umgeben von deutschen Fürsten und Führern, der, auf
einer umgestürzten Pflugschar sitzend, seine Antwort auf dem Rücken
seines Adjutanten schrieb, indessen abseits in würdiger Resignation
der französische Parlamentär harrte, während nicht lange danach der
mit der wunderbaren Nachricht durch das ganze Heer fortschreitende,
lawinengleich anwachsende Jubelruf zum Himmel jauchzte, der gerötet
war von brennenden Ortschaften und von den Freudenfeuern, die weit ins
fremde Land hineinleuchteten.

Für Bismarck wie für Moltke und manchen anderen brachte die
kommende Nacht keine Ruhe. Es galt, mit dem General Wimpffen die
Kapitulationsbedingungen festzusetzen, und auf den Wunsch seines Königs
wohnte der Kanzler den Verhandlungen bei.

Im Erdgeschoß des Schlößchens von Donchery saßen die ernsten Männer in
schweigender Nacht beisammen.

»Die französische Armee ist kriegsgefangen einschließlich der
Offiziere, mit Waffen und Gepäck, doch sollen den Offizieren ihre Degen
bleiben!«

So lautete Moltkes ruhig-feste Bedingung, und vergebens bemühte sich
Wimpffen, eine günstigere zu erreichen. Er mahnte daran, wie man
durch milderes Entgegenkommen sich die Dankbarkeit des französischen
Volkes gewinnen würde, durch Härte aber dessen unauslöschlichen Haß
heraufbeschwören müßte.

Im Antlitz Bismarcks zeigte sich Erhebung, er hob das mächtige Haupt
und sah dem französischen General fest ins Gesicht, als er ihm
erwiderte:

»An die Dankbarkeit des französischen Volkes vermögen wir nicht zu
glauben, weil es keine dauerhaften Einrichtungen, keine Verehrung und
Achtung vor seiner Regierung und seinem Fürsten hat, der fest auf
seinem Throne sitzt. Auch wäre es Torheit, zu glauben, daß Frankreich
jemals uns unsere Erfolge verzeihen könnte. Sie sind ein über die
Maßen eifersüchtiges, reizbares und hochmütiges Volk, das in zwei
Jahrhunderten uns dreißigmal den Krieg erklärt hat, und das uns den
Sieg von Sadowa nicht verzeihen kann, gleich als ob das Siegen sein
alleiniges Vorrecht wäre. Frankreich muß für seinen eroberungslustigen
und ehrgeizigen Charakter gezüchtigt werden; wir wollen ausruhen, wir
wollen die Sicherheit unserer Kinder wahren, und dazu ist es nötig, daß
wir zwischen Frankreich und uns eine Schutzwehr, ein Gebiet, Festungen
und Grenzen haben, die uns für immer gegen einen Angriff schützen. Das
Glück der Schlachten hat uns die besten Offiziere der französischen
Armee überliefert; sie in Freiheit setzen, um sie aufs neue gegen uns
marschieren zu sehen, wäre Wahnsinn. Es würde den Krieg verlängern
und dem Interesse beider Völker widersprechen. Nein, General, alle
Teilnahme, welche uns Ihre persönliche Lage einflößt, alle gute
Meinung, welche wir von Ihrer Armee hegen – beides darf uns nicht
bestimmen, von den Bedingungen zurückzutreten, die wir gestellt haben.«

Es waren schwerwiegende, harte Wahrheiten, welche Bismarck hier nach
seiner ehrlichen, festen Art aussprach, und denen Wimpffen nichts
entgegensetzen konnte.

Die Mitternacht war vorüber, als der französische General mit seinen
zwei Begleitern von Donchery hinüberritt nach Sedan; er wollte die
letzte Entscheidung über die gemachten Bedingungen dem gebrochenen,
kranken Manne überlassen, der sich noch den Kaiser von Frankreich
nannte.

Bismarck hatte sich tief ermüdet nach seinem Quartier begeben und trotz
der gewaltigen Erregung, die dieser Tag gebracht, Schlaf gefunden. Aber
lange ward er ihm nicht gegönnt. Früh am Morgen wurde er geweckt mit
der Nachricht, daß Napoleon von Sedan her bereits unterwegs sei und ihn
zu sprechen wünsche. Er ritt dem Kaiser entgegen durch die dämmernde
Frühe des kühlen Septembermorgens. Da kam ihm ein zweispänniger
Wagen entgegen mit zwei galonnierten Dienern auf dem Bocke, und drei
französische Offiziere ritten zur Seite. Im Fonds des Wagens lehnte
mit müdem, gelbem Antlitz und mit dem Wesen eines kranken, gebrochenen
Mannes – Napoleon; drei Generale saßen neben ihm, beziehentlich ihm
gegenüber. Als Bismarck näherkam, stieg er vom Pferde, trat militärisch
grüßend an den Wagen und fragte nach den Befehlen des Kaisers.

Dieser hatte die Mütze abgenommen, und seine Begleiter folgten dem
Beispiel. Als Bismarck das gleiche tat, sagte Napoleon: »Bedecken Sie
sich doch!«

Sein Wunsch, zu dem König geführt zu werden, ließ sich aus mehreren
Gründen nicht erfüllen, und da er aus Furcht vor seinen eigenen Leuten
nicht nach Sedan zurückzukehren wagte, bot ihm der Kanzler sein
Quartier in Donchery an. Dahin fuhr jetzt der Wagen, dem Bismarck zur
Seite ritt.

Aber noch ehe das Städtchen erreicht war, wünschte Napoleon zu rasten.
Unfern der Maasbrücke, rechts von der Straße, deren einförmige
Pappelreihe gleichmütig zum Himmel ragte, stand ein kleines, gelb
getünchtes Haus mit vier Fenstern. Einem schlichten Weber gehörte
es. Hier stieg der Kaiser ab und ging langsam und müde, gefolgt von
Bismarck, die enge Holztreppe hinauf nach dem ersten Stockwerk. In
einer kleinen Kammer, die nur von einem Fenster erhellt wurde, standen
an einem fichtenen Tisch zwei Binsenstühle.

Hier saßen die beiden Männer, der kleine, zusammengebeugte,
tiefgedemütigte Franzose, der hochragende, stattliche, ernst und
teilnahmsvoll dreinsehende Deutsche. Eine Stunde beinahe verhandelten
sie hier miteinander. Der Kaiser beklagte, daß er wider seinen Willen
durch die öffentliche Stimmung in den unseligen Krieg hineingedrängt
worden sei und suchte für die Kapitulation von Sedan günstigere
Bedingungen zu erlangen. Bismarck mußte ihm darauf höflich, aber
entschieden bemerken, daß er in dieser militärischen Angelegenheit
inkompetent sei, wohl aber auf eventuelle Friedensverhandlungen
eingehen wolle. Dazu aber glaubte sich der gefangene Kaiser nicht mehr
berufen, und so floß das Gespräch ohne ein positives Resultat dahin.

Napoleon schien es zu enge zu werden in dem kleinen, kahlen Raume,
er erhob sich, und der Kanzler folgte ihm hinaus ins Freie. Vor dem
schlichten Weberhäuschen schweifte der Blick seitwärts über ein
blühendes Kartoffelfeld und über Buschwerk hinaus ins Land. Die beiden
Binsenstühle waren herausgetragen worden, und der Kaiser ließ sich noch
einmal nieder, Bismarck zu seiner Seite. Unter dem Himmel Frankreichs
ein wunderlich ergreifendes Bild! Noch einen letzten Versuch machte der
hohe Gefangene, seiner eingeschlossenen Armee den Abzug auf belgisches
Gebiet zu sichern, aber auch hier wich der Kanzler dieser Frage aus.

In der Nähe von Frénois liegt ein Schlößchen, Bellevue genannt. Dort
sollte Napoleon einstweilen Wohnung nehmen, und, begleitet von einer
Ehreneskorte des Leibkürassierregiments, führte Bismarck ihn dahin.
Und hier war es, wo um zwei Uhr mittags, nachdem die Kapitulation von
Sedan in dem von Moltke gewünschten Sinne abgeschlossen war, König
Wilhelm den unseligen Mann besuchte, dem sein Ehrgeiz verhängnisvoll
geworden war.

Es war um die zweite Nachmittagsstunde, als der Kaiser, das Haupt
entblößt, auf der Freitreppe am Eingange des Schlößchens, den
ehrwürdigen, weißhaarigen König begrüßte. In Napoleons Augen standen
Tränen, aber auch der siegreiche Monarch war tief bewegt. Eine
inhaltschwere Viertelstunde verrann, ehe die beiden voneinander
schieden, der Kaiser, um nach Deutschland zu ziehen, als Gefangener
nach jenem Schlosse Wilhelmshöhe bei Kassel, auf welchem zu Anfang des
Jahrhunderts der napoleonische König Jerôme seine lustige Herrschaft
geführt hatte, König Wilhelm in sein Hauptquartier zu Vendresse.

Der Champagner war selbst in Frankreich ein seltenes Getränk auf der
Tafel des greisen Heerführers, an jenem 3. September aber fehlte er
nicht, und bei dem schäumenden, perlenden französischen Weine im Kreise
seiner besten Paladine sprach der König das schöne Wort:

»Wir müssen heute aus Dankbarkeit auf das Wohl meiner braven Armee
trinken. Sie, Kriegsminister von Roon, haben unser Schwert geschärft;
Sie, General von Moltke, haben es geleitet, und Sie, Graf von Bismarck,
haben seit Jahren durch die Leitung der Politik Preußen auf seinen
jetzigen Höhepunkt gebracht. Lassen Sie uns also auf das Wohl der
Armee, der drei von mir Genannten und jedes einzelnen unter den
Anwesenden trinken, der nach seinen Kräften zu den bisherigen Erfolgen
beigetragen hat.«

In der Stille des Abends aber saß am selben Tage Bismarck in seinem
Quartier und schrieb an seine Gemahlin im Drange seines Herzens
einen schlichten und dabei doch ergreifenden Brief, der freilich
das Schicksal hatte, von den französischen Freischärlern abgefangen
zu werden, aber durch seine Veröffentlichung in der Pariser Zeitung
»Figaro« allgemein bekannt worden ist.

Mit Napoleons Gefangennahme hörte der Krieg nicht auf. Die Franzosen
gaben ihren Kaiser preis, setzten ihn ab und proklamierten die
Republik, und die Waffen redeten zunächst ihre ernste, furchtbare
Sprache noch weiter. Frankreich gedachte neue Armeen aus der Erde
zu stampfen und Freischarenbanden im Rücken der deutschen Heere
organisieren zu lassen, um diese zu beunruhigen, und diese unheimlichen
Gesellen in ihren dunklen Wollenblusen, mit der blauen Schärpe um
den Leib, lagen allerorten im Hinterhalt, zerstörten Schienenwege
und Telegraphenleitungen und suchten den deutschen Armeen die Zufuhr
abzuschneiden. Paris, das Kleinod von Frankreich, wurde stark befestigt
und eine starke Armee in die Hauptstadt gelegt, aber mit ruhiger
Sicherheit gingen die deutschen Heere ihre Siegespfade weiter, und
immer näher heran an die innerlich verkommene »Weltenseele«.

Es war am 19. September, als ein Mitglied der französischen Regierung,
der Advokat Jules _Favre_, im deutschen Hauptquartier eintraf und mit
Bismarck zu verhandeln wünschte. Dieser wohnte in der Nähe des Dorfes
Montry in dem Schlosse La Haute Maison. Langsam fuhr der Wagen des
Franzosen die bewaldete Anhöhe hinan, die nach dem wenig ansehnlichen
Hause führte, und sein Auge blieb unwillkürlich an den Zerstörungen
haften, die sich überall als Folgen von Kämpfen, die sich hier
abgespielt haben mußten, bemerkbar machten.

Bismarck empfing den Gast mit ritterlicher Höflichkeit und erkundigte
sich nach seinen Wünschen.

Favre wußte mit großer Gewandtheit und Geschicklichkeit auszuführen,
wie die französische Regierung dem Frieden nicht abgeneigt wäre, wie
dieselbe aber, ehe sie einen solchen schließen könne, gesetzlich
anerkannt sein müsse. Es liegt darum die Notwendigkeit vor, eine
konstituierende Nationalversammlung einzuberufen, was aber unmöglich
sei während der Fortdauer des Krieges; seine Bitte gehe darum auf
Abschluß eines Waffenstillstands.

Ernst und ruhig sah Bismarck dem Franzosen ins Auge, der einigermaßen
erregt mit den schlanken Fingern sich durch den weißen Bart strich.
Dann bemerkte er:

»Es wird Ihnen zweifellos klar sein, welche Nachteile für unsere
siegreich fortschreitenden Heere in einem Waffenstillstande liegen,
doch kann ich Ihren Standpunkt begreifen und würde geneigt sein, Ihren
Wunsch zu befürworten, doch werden Sie einsehen, daß wir für dessen
Gewährung eine entsprechende Entschädigung erhalten müßten.«

»Und worin würde diese wohl zu bestehen haben?«

»Da uns vor allem daran liegen muß, die Verpflegung unserer Heere
und die damit zusammenhängende Verbindung mit Deutschland gesichert
zu sehen, würden wir die Übergabe der Festungen Toul und Straßburg
verlangen müssen.«

Der Franzose fuhr erregt auf:

»Das ist eine Forderung, die doch wohl zu weit geht.«

»Ich bedaure, darauf bestehen zu müssen.«

»Das wird Frankreich und Paris niemals zugestehen, eher wird die
Hauptstadt in Trümmer sinken und alle seine Söhne opfern.«

Bismarck zuckte bedauernd die Achseln, und so beredt der Franzose auch
sprechen mochte, er blieb fest. So schied Favre, ohne einen Erfolg
erreicht zu haben, und der Kanzler geleitete seinen Besucher die Treppe
hinab. Dieser wies auf die beschädigten Wände und Mauern.

»Die Spuren Ihrer Franctireurs,« bemerkte Bismarck – »die Gegend ist
hier voll von ihnen, aber wir machen schonungslose Jagd auf sie; wir
behandeln sie als Raubgesindel, denn sie sind keine Soldaten.«

»Aber bedenken Sie, es sind doch Franzosen, welche ihren Boden, ihren
Herd und ihr Haus verteidigen. Sie sind doch wohl sicher in ihrem
Rechte, wenn sie der feindlichen Invasion Widerstand leisten, und
wenn Sie das Kriegsgesetz auf diese Leute anwenden, so ist das eine
Verkennung desselben.«

Der Kanzler erwiderte ruhig:

»Wir kennen nur Soldaten, welche einer regelmäßigen Disziplin
unterworfen sind, die anderen sind außerhalb dieses Gesetzes.«

»Dann gestatten Sie mir jedoch, Sie an das Jahr 1813 zu erinnern und an
den Aufruf des Königs von Preußen an sein Volk. Was war diese Erhebung
in Ihrem Lande damals anders als die gegenwärtige der Franctireurs?«

»Richtig,« bemerkte Bismarck, »aber unsere Bäume zeigen noch die Spuren
derjenigen Landeseinwohner, welche Ihre Generale hängen ließen.« –

Noch einmal machte Favre am nächsten Tage den Versuch, auf Schloß
Ferrières Bismarck zu günstigeren Waffenstillstandsbedingungen zu
bewegen – umsonst! »Straßburg ist der Schlüssel zu unserem Hause –
ihn _müssen_ wir haben!« Das war der bittere Bescheid, welchen der
französische Abgeordnete mit sich nahm, der von dem Kanzler mit den
Worten schied:

»Ich bin sehr unglücklich, aber ich hoffe noch immer!«

Drohender zogen sich die Wetterwolken um Paris zusammen. Mit eisernen
Armen umklammerten die deutschen Heere den Leib der koketten
Seinestadt, die sich vergebens gegen die Erdrückung wehrte; am 19.
September war die Einschließung vollendet. Etwa 8 Tage später kam von
Straßburg her die Kunde, daß die Festung sich ergeben und die alte, gut
deutsche Stadt von der Mutter Germania wieder heimgeholt worden sei.

Zu Anfang Oktober war das deutsche Hauptquartier in Versailles.
Auf der Präfektur wohnte der greise preußische Herrscher, in einem
kleinen Hause aber, in der Rue de Provence, von dessen Balkon die
schwarz-weiß-rote Fahne lustig in die Straße hineinwehte, hatte
Bismarck sein Quartier aufgeschlagen, und die Staatsmaschine arbeitete
von hier aus unaufhörlich und wahrlich auch erfolgreich, denn vergebens
hatte Frankreich den ruhig besonnenen, redegewandten Staatsmann Thiers
dahin und dorthin an andere Regierungen gesandt, um eine Einmischung
zu seinen Gunsten herbeizuführen, es hatte niemand Lust, sich um der
jungen Republik wegen in Unkosten und Aufregung zu stürzen, und die
Dinge gingen ihren Gang weiter.

Da kam auch die Kunde, daß Metz (am 29. Oktober) gefallen und die Armee
Bazaines kriegsgefangen sei. Ein neuer Jubel durchbrauste die deutschen
Heere, die Kampfesbegeisterung wuchs im Lager vor Paris, und wenn
Bismarck durch die Straßen von Versailles ritt, die Kraftgestalt in der
kleidsamen Kürassieruniform stramm aufgerichtet im Sattel, grüßten ihn
die deutschen Soldaten mit warmer Herzlichkeit, und die Franzosen sahen
mit einem Gemisch von Ingrimm und Verwunderung dem stattlichen Recken
nach.

Und hier in Versailles, in dem schlichten Hause der Madame Jessé,
liefen die Fäden zusammen, welche die starke Hand Bismarcks zu einem
gewaltigen Ganzen verflocht, zum Bande, das das einige deutsche
Reich umschlang. Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit hatte eine
Bluttaufe erhalten, welche allen Zwiespalt verwischte, und aus allen
Gauen des deutschen Südens kamen Wünsche, sich dem norddeutschen
Bunde anzuschließen. Nach Versailles kamen die Sendboten von Baden
und Hessen, Württemberg und Bayern, und die wichtigen Verhandlungen
waren im vollen Gange, während die Kanonen gegen die Außenforts der
französischen Hauptstadt ihre furchtbaren Grüße sandten.

Als der badische Minister Jolly Bismarck besuchte, brachte er ein
sinniges Geschenk mit, eine goldene Feder.

»Der Pforzheimer Fabrikant Bissinger hat mich gebeten, Eurer Exzellenz
diese Gabe zu überbringen und in seinem Namen zu bitten, daß Sie den
dritten Pariser Frieden damit unterzeichnen möchten.«

Sinnend und mit überwallender Rührung betrachtete Bismarck das
Geschenk, das ihm aus Deutschlands Süden zuging, wo er vor nicht zu
langer Zeit noch der bestgehaßte Mann war. Dann sprach er:

»Was soll ich dem gütigen Spender sagen? Wie soll ich ihm danken? In
einer Zeit, da das Schwert der deutschen Nation so ruhmreiche Taten
vollbracht hat, tut man der Feder beinahe zu viel Ehre an, wenn man
sie so kostbar ausstattet. Ich kann nur hoffen, daß der Gebrauch, zu
welchem diese Feder im Dienste des Vaterlandes bestimmt ist, demselben
zu dauerndem Gedeihen in glücklichem Frieden gereichen möge, und ich
darf unter Gottes Beistand versprechen, daß sie in meiner Hand nichts
unterzeichnen soll, was deutscher Gesinnung oder deutschen Schwertes
unwert wäre.«

Der Winter war allgemach gekommen und trieb seine Flocken durch
das französische Land, und in Bismarcks Wohnung knisterte das
Feuer im Kamin. Es war am 23. November. Der Abend war schon lange
hereingebrochen, die Teestunde, in welcher der Kanzler mit einigen
seiner Beamten, so behaglich es angehen mochte, sonst zusammenzusitzen
pflegte, war gekommen, und in dem kleinen Salon harrten bereits einige
Herren. Nahe beim Kamin saß Graf Bismarck-Bohlen, unfern davon Graf
Hatzfeld.

»Will denn die Angelegenheit noch nicht vorwärtsrücken?« sprach der
eine. »Nun haben wir glücklich Baden und Hessen dem Norddeutschen
Bunde eingegliedert – aber Bayern und Württemberg machen doch, wie es
scheint, besondere Schwierigkeiten.«

»Im Prinzip gewiß nicht,« erwiderte der andere, »aber es ist
begreiflich, daß sie gewisse Rechte sich reservieren wollen.«

»Ja, die Verwaltung von Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen –«

»Und wie ich gehört habe, will Bayern auch die Leitung seines Heeres
wenigstens zu Friedenszeiten nicht an Preußen abgeben. Hoffentlich
scheitert nicht auch diesmal das große Einigungswerk an kleinen
Bedenken.«

»Lassen Sie nur unseren geistvollen großen Chef machen, verehrter
Freund; er hat Klugheit und Energie zugleich, und versteht zu rechter
Zeit zu geben und zu nehmen.«

Der Schriftsteller Moritz _Busch_, der als Zeitungsberichterstatter
sich im Hauptquartier befand, trat herein zu den beiden Herren.

»Seine Exzellenz konferieren wohl noch immer?« fragte er. Graf Hatzfeld
deutete nach der Türe, welche zum Salon führte.

»Dort ist er mit dem bayrischen Kleeblatt, Graf Bray, Lutz und Prankh,
und die Herren scheinen zäh zu sein.«

Noch eine Viertelstunde verstrich, da öffnete sich die Flügeltüre, der
Kopf Bismarcks erschien mit hellen Augen, und das Antlitz in angenehmer
Erregung. Als er die drei bemerkte, trat er in das Zimmer, einen Becher
in der Hand. Seine Stimme klang bewegt, als er sprach:

»Nun, meine Herren, der bayrische Vertrag ist jetzt fertig und
unterzeichnet, die deutsche Einheit ist gemacht und der deutsche Kaiser
auch.«

Die Herren hatten sich erhoben, sie sahen mit leuchtenden Blicken
den Sprecher an – einige Sekunden tiefer, ergreifender Stille
verstrichen, dann erbat sich Dr. Busch die Erlaubnis, die Federn
holen zu dürfen, mit welchen das bedeutsame Aktenstück unterschrieben
worden war. Bismarck aber befahl dem Diener, eine Flasche Champagner
herbeizubringen. Die Gläser mit dem Schaumwein klirrten zusammen, und
der Kanzler sprach tief atmend:

»Es ist ein Ereignis.«

Dann schwieg er sinnend einige Augenblicke, und nun fuhr er fort:

»Die Zeitungen werden nicht zufrieden sein, und wer einmal in der
gewöhnlichen Art Geschichte schreibt, kann unser Abkommen tadeln. Er
kann sagen, der dumme Kerl hätte mehr fordern sollen; er hätte es
erlangt; sie hätten gemußt; er kann recht haben mit dem Müssen. Mir
aber lag mehr daran, daß die Leute mit der Sache innerlich zufrieden
waren. – Was sind Verträge, wenn man muß! – und ich weiß, daß sie
vergnügt fortgegangen sind. Der Vertrag hat seine Mängel, aber er
ist so fester. Ich rechne ihn zu dem Wichtigsten, was wir in diesen
Jahren erreicht haben. – Was den Kaiser betrifft, so habe ich ihnen
denselben bei den Verhandlungen damit annehmbar gemacht, daß ich ihnen
vorstellte, es müsse für ihren König doch bequemer und leichter sein,
gewisse Rechte dem deutschen Kaiser einzuräumen, als dem benachbarten
König von Preußen.«

Die Erneuerung der deutschen Kaiserkrone! Das war der Wunsch der Besten
seit Jahrzehnten, das war die immer wieder erwachende Sehnsucht des
deutschen Volkes, und nun sollte sie im fremden Lande sich erfüllen.
Und die Erfüllung ward nicht künstlich herbeigeführt, sie wuchs aus den
gewaltigen geschichtlichen Ereignissen selbst heraus. Die deutschen
Fürsten und das deutsche Volk waren eins in diesem schönen Ziele.

Am 18. Dezember trafen in Versailles dreißig Mitglieder des
Norddeutschen Reichstages ein, geführt von ihrem Präsidenten Simson.
Die vornehme französische Präfektur sah sie durch ihre Prunkhallen
schreiten, und die Bilder der alten französischen Herrscher schauten
wohl mit Verwunderung herab auf die deutschen Männer, die hier im
Namen eines ganzen Volkes kamen, um dem greisen König Wilhelm jenes
Schreiben zu überreichen, das ihn bat, die deutsche Kaiserkrone
anzunehmen. Draußen lag der Winter auf den Feldern von Frankreich, aber
Sonnenschein war’s in allen deutschen Herzen, jener Lenzessonnenschein,
der die Auferstehung schlafender Herrlichkeit verkündet.

Um den König standen die Edelsten des deutschen Volkes, seine Fürsten
und Helden, und hervorragend unter diesen die Kraftgestalt des
Kanzlers, der mit freudigem Bewußtsein daran denken durfte, daß er
diese Stunde hatte vorbereiten helfen.

Mit bewegter Stimme sprach Dr. Simson:

»Eure Majestät empfangen die Abgeordneten des Reichstags in einer
Stadt, in welcher mehrmals ein verderblicher Heereszug gegen unser
Vaterland ersonnen und ins Werk gesetzt worden ist. Und heute darf die
Nation von eben dieser Stelle her sich der Zuversicht getrösten, daß
Kaiser und Reich im Geiste einer neuen lebensvollen Gegenwart wieder
aufgerichtet und ihr, wenn Gott ferner hilft und Segen gibt, in beiden
die Gewißheit und Macht von Recht und Gesetz, von Freiheit und Frieden
zuteil werden.«

Das war des deutschen Volkes Weihnachtsgabe. Die Zeit des schlafenden
Kaisers im Kyffhäuser sollte vorüber sein, der Kaiser Rotbart sollte
verschwinden vor der Herrlichkeit des Kaiser Weißbart. Der Gedanke
mußte all die tausend Männerherzen entschädigen, die in Eis und Schnee
fern von der Heimat und ihren Lieben das schönste Fest, das Christfest,
verleben mußten.

Im Hause in der Rue de Provence in Versailles dachte Bismarck mit
verhaltener Wehmut an jenem 24. Dezember der Seinen. Im Kamin flackerte
das Feuer, und um den Tisch saß ein kleiner Kreis von Männern, der hier
gleichsam seine Familie repräsentierte, seine treuen Mitarbeiter. Ein
Christbäumchen fehlte nicht, aber es war ein winzig Dingelchen, doch
gehörte es in das deutsche Heim, um wenigstens einigermaßen Stimmung
zu machen. Und unter dem Bäumchen lag eine liebe Gabe, die mit anderen
von daheim gekommen war, ein Geschenk von Frau Johanna. Sie wußte, daß
ihr Gemahl eine besondere Vorliebe für schöne Becher habe, und so hatte
sie ihm in zierlichem Kästchen zwei derselben zugesandt, den einen in
Tula-Manier, den anderen in geschmackvollem Renaissancestil.

Aber auch sein König hatte ihn nicht vergessen. Er sandte ihm am
Christabend das Eiserne Kreuz erster Klasse, um die Verdienste
des Mannes zu ehren, der mit sicherer Hand auch aus der Mitte des
feindlichen Landes die Fäden der Politik zum Segen Deutschlands und zur
Ehre seiner Heimat verknüpfte.

Der herrlichste deutsche Festtag aber, welchen das französische
Königsschloß in jenen Tagen schaute, war der 18. Januar 1871. Vor
170 Jahre hatte der Brandenburger Kurfürst sich an diesem Tage die
preußische Königskrone aufs Haupt gesetzt, und nun ward ein König von
Preußen deutscher Kaiser. Im Palaste jenes Ludwig XIV., der einst so
tiefe Schmach und Schädigung über deutsches Land und Volk gebracht,
feierte unseres Reiches Herrlichkeit seine Auferstehung – ein Walten
der Weltgeschichte, wie es nicht ergreifender gedacht werden kann.

Vom Herrenschlosse zu Versailles wehte die Fahne der Hohenzollern
hinaus in die Winterluft. Um die Mittagsstunde standen zu beiden Seiten
der Straße von der Präfektur her in Reih und Glied die Scharen der
deutschen Soldaten, mit flammender Begeisterung im Auge, die Brust
geschwellt von einem maßlosen Hochgefühl. Andere hatten sich um das
mitten auf dem Schloßplatz sich erhebende gewaltige Reiterstandbild
Ludwigs XIV. gruppiert und unter den Statuen französischer
Kriegshelden. Die mächtigen Pforten des glänzenden Palastes, welche
in goldenen Lettern die prunkende Aufschrift tragen: »~A toutes les
gloires de la France~« waren weit geöffnet, um die erlauchten deutschen
Gäste aufzunehmen, welche im glänzenden Zuge herankamen.

Nun nahte die ehrwürdige Gestalt des Königs. Ein Brausen und Jauchzen
erhob sich, das die Lüfte erschütterte, und das selbst die neugierigen
Gaffer mächtig ergriff und eine Ahnung treudeutschen Empfindens in ihre
Seelen trug, und zwischen den jubelnden Soldaten schritt der königliche
Greis hin, hochaufgerichtet und herrlich. Am Portale begrüßte ihn
der Kronprinz, in den Vorgemächern empfingen ihn Fürsten, Minister
und Generale, und so geleiteten sie ihn in die festlich geschmückte
herrliche Spiegelgalerie des Schlosses. An der Decke des Saales war
ein Bild, das wunderlich in diese Situation paßte, eine Verherrlichung
Ludwigs XIV., vor dessen Thron sich die Mächte Europas demütig beugen.
Am Mittelpfeiler der Gartenseite war ein Altar errichtet, zu dessen
beiden Seiten die Vertreter des deutschen Heeres, Mannschaften aller
Truppenteile, standen, und von einer Estrade her winkten die Fahnen der
deutschen Armeen herab, welche von Unteroffizieren gehalten wurden,
deren Brust das eiserne Kreuz schmückte.

Eine ergreifende Stille trat ein, als der König, von den Fürsten
und seinen Recken umgeben, dem Altare zuschritt und demselben
gegenüber Platz nahm. Mit frommem Aufblick zu Gott ward die feierliche
Stunde eingeleitet. Wie daheim im Gotteshause erklang die Liturgie.
»Jauchzet dem Herrn alle Welt!« jubelte der Sängerchor, und dann trat
Hofprediger Rogge vor, um die Festpredigt zu halten. In die glänzende
und weihevolle Versammlung rief er das Wort des Psalmisten: »Herr,
der König freuet sich deiner Kraft, du setzest eine goldene Krone auf
sein Haupt,« und nun wandte er den Blick empor zu dem übermütigen
Deckengemälde und pries den Herrn, der den feindlichen Hochmut
zuschanden gemacht hatte.

Machtvoll und erhebend klang der fromme Choral: »Nun danket alle Gott!«
von hundert Männerlippen, und jetzt schritt der greise König, von dem
Kronprinzen und Bismarck gefolgt, auf die Erhöhung, von der die Fahnen
niederwallten, und verlas das Wort vom wiedererstandenen deutschen
Reiche. Dann forderte er den Kanzler auf, des neuen Kaisers ersten
Erlaß, seinen kaiserlichen Gruß, den Fürsten und Vertretern des Volkes
zu verkündigen.

Stattlicher erhob sich die Gestalt Bismarcks, festen Fußes trat er
einige Schritte vor, ernst und mit verhaltener Bewegung flog sein Auge
durch den Saal, auf welchem tiefes, feierliches Schweigen ruhte, und
dann klangen die Worte so ruhig und klar bis in die fernste Ecke des
Raumes:

»Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen – nachdem die
deutschen Fürsten und freien Städte den einmütigen Ruf an Uns gerichtet
haben, mit Herstellung des deutschen Reiches die seit mehr denn sechzig
Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen,
und nachdem in der Verfassung des deutschen Bundes die entsprechenden
Bestimmungen vorgesehen sind – bekunden hiermit, daß Wir als eine
Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben, diesem
Rufe der verbündeten deutschen Fürsten und freien Städte Folge zu
leisten und die deutsche Kaiserwürde anzunehmen. Demgemäß werden Wir
und Unsere Nachfolger an der Krone Preußens fortan den kaiserlichen
Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen
Reiches führen, und hoffen zu Gott, daß es der deutschen Nation
gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das
Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen
die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher
Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, den
Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die
geeinte Kraft seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der
Hoffnung, daß dem deutschen Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner
heißen und opfermutigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der
Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die seit Jahrhunderten
entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns
aber und unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen,
allezeit Mehrer des deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen
Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem
Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.«

Langsam trat Bismarck an die Seite seines Kaisers zurück, aus dem
Kreise der deutschen Fürsten aber schritt der Großherzog von Baden bis
an die Erhöhung heran, hoch in der Rechten schwang er den blitzenden
Helm, und in wahrer und warmer Begeisterung rief er:

»Seine Majestät der Kaiser Wilhelm lebe hoch!«

Schmetternd in Jubeltönen fiel die Musik ein, aus der ganzen
Versammlung brauste es mit erhebender Gewalt empor, das stolze Wort,
und während die Volkshymne machtvoll einsetzte, pflanzte sich die
Begeisterung fort, hinaus durch die Hallen und Höfe, die Straßen und
Plätze. Das war die Weihestunde des neuen Reiches.

Aber der Kampf auf Frankreichs Feldern und um seine Hauptstadt dauerte
noch immer fort, bis in der letzteren die Not auf das äußerste
gestiegen war: Übermütiger Trotz konnte hier nicht weiter nützen. Am
Abend des 23. Januar fuhr durch die Straßen von Versailles ein Wagen,
der wohl vordem dem kaiserlichen Hofe gehört haben mochte, aber das
Wappen daran war beseitigt worden. Drei Männer saßen darin, der hagere,
bleiche Advokat Jules Favre, dessen kleiner, beweglicher Schwiegersohn,
der Maler Martinez de Rio und Graf d’Hérisson. In der Rue de Provence,
vor dem Hause der Frau Jessé, hielt das Gefährt, die Insassen stiegen
aus und gingen langsam die Treppen nach dem ersten Stockwerk hinan. Sie
wurden von den Ministerialbeamten empfangen und erhielten an Bewirtung,
was eben aufzutreiben war, dann bat Bismarck Favre und den Grafen
d’Hérisson, bei ihm in den kleinen Salon einzutreten.

An einem runden Tisch saßen die drei, und Bismarck bot seinen Gästen
Zigarren an, welche vor ihm standen. Beide lehnten dieselben ab, und
lächelnd bemerkte der Kanzler:

»Sie tun unrecht daran; wenn man eine Unterredung beginnt, die zu
heftigen Auseinandersetzungen führen kann, ist es doch besser, beim
Zwiegespräch zu rauchen. Die Zigarre paralisiert, indem man sie hin und
her dreht und nicht fallen lassen will, einigermaßen die körperliche
Erregung und stimmt uns milder, man fühlt sich behaglich und macht sich
eher Konzessionen.«

Der bleiche, hagere französische Abgeordnete saß etwas zusammengebeugt
in seinem Stuhle, der Kanzler in seiner Kürassieruniform aufrecht
und stattlich. Er führte die Verhandlungen in einem ausgezeichneten
Französisch, welches Graf d’Hérisson geradezu mit Verwunderung anhörte.
Jules Favre glaubte an die Unterredung von Schloß Ferrières wieder
anknüpfen zu können, aber Bismarck bemerkte höflich:

»Sie vergessen, daß unsere Lage heute bereits eine andere ist wie
damals. Wenn Sie an Ihrem Grundsatze festhalten: ›Keinen Zollbreit
unseres Gebietes, keinen Stein unserer Festungen,‹ so ist es
überflüssig, weiter darüber zu sprechen. Meine Zeit ist kostbar, die
Ihrige auch, und ich sehe nicht ein, weshalb wir sie vergeuden sollten.«

Es handelte sich um die Bedingungen des Waffenstillstandes, und der
redegewandte Franzose bot alles auf, dieselben den Verhältnissen
gemäß günstig zu gestalten. Aber er fand einen überlegenen, eisernen
Gegner. Übergabe der Außenforts von Paris, Kriegsgefangenschaft der
Verteidigungstruppen, Entwaffnung der Nationalgarde und Einmarsch
deutscher Truppen in Frankreichs Hauptstadt – das waren die
wesentlichsten Forderungen des Kanzlers.

Jules Favres bleiches Gesicht rötete sich vor innerer Erregung, er
strich sich die wirren weißen Haare aus der Stirn und begann aufs neue
mit dem Versuche, eins und das andere abzudingen. Daß deutsche Soldaten
durch die Straßen von Paris marschieren sollten, war dem Franzosen ein
besonders unerträglicher Gedanke, und er bestürmte Bismarck, indem
er an dessen Großmut appellierte und auf die tiefe Verletzung der
französischen Nationalehre hinwies, darauf zu verzichten. Auch die
Entwaffnung der Nationalgarde erschien dem Vertreter Frankreichs als
tief demütigend und kränkend, und er bat dringend, von dieser Forderung
abzustehen.

Der Kanzler sah ihn ernst an und erwiderte nach einer kleinen Pause:

»Ich will Ihnen in dem letzten Punkte entgegenkommen, aber glauben
Sie mir, Sie begehen eine Dummheit. Sie werden selbst noch mit den
Gewehren zu rechnen haben, die Sie den exaltierten Menschen lassen
wollen.«

»Und Paris soll nicht verschont bleiben vor dem Schmerz einer Invasion
Ihrer Truppen?«

»Ich würde Ihnen auch hier ein Zugeständnis zu machen bereit sein,«
sprach der Kanzler, »aber der König und die Generale bestehen darauf.
Das ist die Belohnung für unsere Armee. Wenn ich nach der Rückkehr in
die Heimat einem armen Teufel mit einem Stelzfuß begegnen werde, dann
wird er sagen: Das Bein, das ich vor den Mauern von Paris gelassen
habe, gab mir das Recht, meine Eroberung zu vervollständigen; dieser
Diplomat, der im Besitze seiner gesunden Gliedmaßen ist, hat mich daran
verhindert. – Wir können uns dem nicht aussetzen, in diesem Punkte das
öffentliche Gefühl zu verletzen. Wir werden in Paris einziehen, aber
nicht über die Elyséischen Felder hinausgehen, und dort die Ereignisse
abwarten. Wir werden auch den 60 Bataillonen der Nationalgarde, welche
zuerst gebildet wurden und Sinn für Ordnung haben, die Waffen belassen.«

»Und wir dürfen wohl annehmen, daß in den abzuschließenden
Waffenstillstand auch die von Garibaldi zu unserer Unterstützung
herbeigeführte Armee eingeschlossen werde?«

In das Antlitz Bismarcks stieg eine wärmere Röte, sein ernstes Auge
blitzte auf.

»Diese Truppen sind für uns keine völkerrechtlich anerkannte
Heeresmacht; das sind Banden, die unter die Kategorie Ihrer
Freischärler fallen, mit ihnen werden wir nicht paktieren. Haben wir
uns auch veranlaßt gesehen, uns mit ihnen zu schlagen, so mag man
uns doch nicht zumuten, durch ein solches Zugeständnis ihnen eine
Berechtigung zuzuerkennen, sich in den Streit zweier großen Nationen zu
mischen.«

Der gewaltige Recke war in heftige und zornige Erregung gekommen,
und der Graf d’Hérisson, der ein schweigender Zeuge dieser ganzen
Szene war, gedachte jetzt der Äußerung, welche Bismarck vorher getan.
Mit einem raschen, kühnen Entschlusse faßte er den auf dem Tisch
stehenden kleinen Teller mit Zigarren und bot mit einer ehrerbietigen
Verbeugung dieselben dem Kanzler dar. Einen Augenblick sah ihn Bismarck
einigermaßen erstaunt an, dann flog ein Schimmer von Verständnis über
sein Gesicht, wie ein leichtes Lächeln spielte es um seinen Mund, und
er sagte:

»Sie haben recht, Kapitän, es führt zu nichts, sich zu ereifern … im
Gegenteil!«

Und als Jules Favre mit erneuter Wärme sich für den Waffenstillstand
mit Garibaldi verwendete, wurde ihm derselbe auch tatsächlich noch
zugestanden.

Die Verhandlungen dauerten auch in den nächsten Tagen noch fort. Am
Abend des 26. Januar aber fuhr der kaiserlich französische Wagen mit
dem abgekratzten Wappen wieder vor dem Hause in der Rue de Provence
vor, und in verbindlicher Weise geleitete Bismarck seine Gäste zu
demselben. Die stattliche, stolze Gestalt in der Kürassieruniform
sah achtungsgebietend aus neben der etwas zusammengebeugten hageren
und schlotterigen Erscheinung des Pariser Advokaten, dem der Kanzler
freundlich die Hand reichte. Ein Mitgefühl erfaßte ihn für den Mann,
der doch auch im Dienste seines Volkes und seiner Heimat unter den
mißlichsten Verhältnissen wirkte, und er sprach:

»Ich glaube nicht, daß, nachdem wir so weit gekommen, ein Abbruch der
Verhandlungen möglich wäre. Wenn Sie derselben Ansicht sind, wollen wir
heute abend das Feuer einstellen.«

In den Augen des Franzosen leuchtete ein Strahl dankbarer Freude auf,
als er erwiderte:

»Da ich das Unglück habe, das besiegte Paris zu vertreten, wollte
ich nicht um eine Gunst bitten, so sehr mir dies am Herzen lag. Ich
nehme gern Ihr Anerbieten an; es ist der erste Trost, den ich in
unserem Unglück empfinde. Es war mir ein unerträglicher Gedanke, daß
unnützes Blut vergossen wird, während wir über die Bedingungen eines
Waffenstillstandes verhandeln.«

»Nun wohl, so lassen wir beiderseits Befehl ergehen, daß das Feuer um
Mitternacht schweigt.«

Die Nacht brach ein, da und dort war der Himmel gerötet von Feuersglut,
die Kanonen donnerten zornig gegeneinander, um die zwölfte Stunde
aber ward es mit einmal still. Ein letzter dröhnender Schuß von der
Seinestadt herüber, und kein deutscher Schuß gab die Antwort mehr
darauf … Tiefe, beinahe ergreifende Ruhe lag über dem nächtlichen Lande.

Die Waffen hörten nun überhaupt auf zu sprechen, und am 21. Februar
trafen die neugewählten Häupter der jungen französischen Republik im
deutschen Hauptquartier ein, nachdem sich vorher die Kapitulation
von Paris vollzogen hatte; es waren _Jules Favre_ und der greise,
redegewandte und diplomatisch erfahrene _Adolf Thiers_.

So saßen sie abermals um den runden Tisch, der kleine Franzose mit
dem glatten, geistvollen Gesicht und den klugen Augen, die hinter
glänzenden Brillengläsern hervorschauten, der hagere, blasse Jules
Favre und Bismarck in seiner einfachen Uniform mit dem Eisernen Kreuze
auf der breiten Brust. Daß den Franzosen die Bedingungen, unter welchen
ihrem Lande der Friede gewährt werden sollte, hart erschienen, ist
begreiflich, aber der Kanzler wußte, was er notwendig begehren mußte:
Die Herausgabe von Elsaß-Lothringen mit den Festungen Belfort und Metz
und eine Kriegsentschädigung von 6 Milliarden Francs.

Wenn Thiers jemals den Ruf eines überaus beredten Mannes gerechtfertigt
hat, so war es in jenen Stunden, da er alles aufbot, um wenigstens
einigermaßen glimpflichere Bedingungen zu erhalten. Wenn auch
Elsaß-Lothringen preisgegeben werden mußte, so suchte er doch Metz und
Belfort für Frankreich zu retten und die Kontribution zu verringern. Im
letzteren Punkte gab Bismarck nach und ging von sechs Milliarden Francs
auf fünf herab, im übrigen aber blieb er fest. Bündig, klar und höflich
setzte er dies in seinem gewandten Französisch den beiden Gegnern
auseinander, und angesichts dieser unerschütterlichen Festigkeit geriet
Thiers in heftigere Erregung, so daß er sich zu der Äußerung hinreißen
ließ:

»~Ah, c’est une spoliation véritable, c’est une indignité~« (Ach, das
ist ja ein wahrhafter Raub, eine Schlechtigkeit!).

Bismarck hielt den Vertretern des gedemütigten, schwer getroffenen
Frankreich viel zugute, aber das ging über das Maß dessen hinaus, was
er als Vertreter Deutschlands sich bieten lassen durfte. Er erhob sich
von seinem Sitze, richtete sich hoch auf, sah den kleinen, erregten
Franzosen durchdringend an und sagte dann kühl und gemessen in
deutscher Sprache:

»Ich bedaure, aus der mir unverständlichen Äußerung, welche Sie
soeben getan, entnehmen zu müssen, daß ich des Französischen nicht so
mächtig bin, als es wünschenswert wäre, um unsere Verhandlungen in
französischer Sprache fortsetzen zu können. Wir werden uns deshalb der
deutschen Sprache bedienen müssen, um so mehr, da ich keinen Grund
erkennen kann, weshalb wir dies nicht von Anfang an getan haben. Ich
werde mir gestatten, die von uns gestellten Bedingungen des Friedens
noch einmal zusammenzufassen.«

Während er das letztere tat, saß Thiers zusammengesunken in seinem
Stuhle, Favre aber war aufgesprungen, mit erregten Händen durch das
graue Haar gefahren, dann eilte er nach einer Ecke des Gemaches und
drückte sein Haupt an die Wand.

Endlich faßte sich Thiers. Ein Zug des Unmuts ging über sein Gesicht,
dann erhob er sich, trat an einen anderen Tisch, ergriff hastig die
Feder und schrieb einiges nieder auf ein Blatt Papier, welches er nun
Bismarck reichte.

»Ist es das, was Sie wünschen?« fragte er mit vor Erregung heiserer
Stimme.

Bismarck warf einen Blick auf das Geschriebene, ein verbindliches
Lächeln huschte über seine ernsten Züge, und indem er sich langsam in
seinen Sessel niederließ, sprach er:

»Auf dieser Grundlage können wir die Verhandlungen auch in
französischer Sprache wieder aufnehmen.«

Aufs neue begann Thiers wegen Belfort zu unterhandeln mit dem Aufgebot
seines ganzen Patriotismus, mit seiner wärmsten Beredtsamkeit, aber
der Kanzler blieb auch jetzt voll höflicher Festigkeit, und tiefatmend
sagte der Franzose:

»Nun denn – Sie wollen, daß wir durch das Joch gehen, und unsere
ganze Unterhandlung ist leerer Schein. Belfort ist eine rein
französische Stadt; wollen Sie uns dieselbe nehmen, so heißt das einen
Vernichtungskrieg gegen Frankreich führen. Nun gut, führen Sie ihn
– wir aber werden Sie bis zum letzten Atemzug bekämpfen, wir werden
vielleicht erliegen, aber nicht entehrt sein!«

Das leidenschaftliche Pathos des Franzosen hatte etwas Erschütterndes,
und selbst Bismarck empfand dies. Er versicherte sich der Genehmigung
seines Kaisers und Königs, dann ließ er den Abgeordneten Frankreichs
die Wahl, ob sie Belfort behalten oder sich den Einmarsch deutscher
Truppen in ihre Hauptstadt, gegen welchen sie gleichfalls
remonstrierten, gefallen lassen wollten. Sie zogen das letztere vor.

Ein Sonntag war es, der 28. Februar, als der Friedensvertrag in
Versailles unterzeichnet wurde in Gegenwart der Vertreter Bayerns,
Württembergs und Badens. Die goldene Feder des Pforzheimer Fabrikanten
fand die ihr zugedachte Verwendung. Tiefes, ehrfurchtsvolles Schweigen,
wie es dem Unglück gegenüber geboten war, herrschte in dem Raume, als
Adolf Thiers sich niederbeugte auf das bedeutsame Dokument. In den
Augen des greisen französischen Staatsmannes schimmerte es feucht, als
er wieder aufsah, Bismarck aber war an ihn herangetreten, und indem er
ihm herzlich die Hand reichte, sprach er:

»Sie sind der letzte, welchem Frankreich diesen Schmerz hätte
auferlegen sollen, denn Sie unter allen Franzosen haben ihn am
wenigsten verdient.«

Der 1. März war angebrochen, und um die Mittagszeit dieses Tages hatte
Paris ein Schauspiel, das seine Bewohner mächtig erregte und ergrimmte.

Durch den ~Arc de Triomphe~, den Siegesbogen, zogen die deutschen
Truppen in Frankreichs Hauptstadt ein. Ein herrliches, erhebendes
Bewußtsein erfüllte die Brust der Braven, die hier endlich die
Genugtuung hatten, daß die Schmach gebüßt sei, die Frankreich zu
Anfang des Jahrhunderts ihren Vorfahren angetan. Stramm und kraftvoll
marschierten die Kolonnen, donnerndes Hurrarufen durchbrauste die
Luft, die Waffen glänzten, die Helme blinkten, und stumm, mit mühsam
verhaltenem Groll stand das Volk von Frankreich in den Straßen und
schaute auf die Sieger. Da ritt eine mächtige Gestalt heran in der
Uniform der Kürassiere, das Eiserne Kreuz auf der Brust. Unter dem
Stahlhelm blitzten ernst und scharf die Augen umher, und wie aus Erz
gegossen saß der Recke im Sattel.

Ein Murmeln und Murren ging durch die Neugierigen: »Da ist Bismarck!«

Die rückwärts Stehenden reckten sich höher, die Augen wurden finsterer
und drohend, der Kanzler aber sah hinein in die wogende Menge, ruhig
und kühl, wandte dann sein Roß herum und beugte sich herab zu einem
Manne, der ihn mit feindlicher Gehässigkeit anstarrte.

»Monsieur, darf ich Sie um etwas Feuer für meine Zigarre bitten?«
sprach er mit Liebenswürdigkeit, und der Angesprochene war so
verblüfft, daß er mit französischer Gefälligkeit dem Wunsche des
Reiters entsprach. – –

Nur wenige Tage noch weilte der Kanzler auf dem Boden von Frankreich;
am 6. März reiste er mit seinem König nach der Heimat zurück, das Herz
erfüllt von Sehnsucht nach den Seinen. Und als in den Morgenstunden
des 9. März der Zug in Berlin einfuhr, stand er schon am Fenster des
Kupees, und schaute hinaus nach den teuren Gesichtern. Und da standen
sie, die er suchte: die geliebte Frau, die herzige Tochter, und
zwischen beiden Graf Herbert in der Uniform mit dem Eisernen Kreuz.
Nach wenigen Sekunden war er bei ihnen.

»Da habt ihr euren Ollen wieder!«

Das war das humorvolle Wort, in dem er die gewaltige freudige Bewegung
seiner Seele verhüllte, als er seine Lieben umarmte.

Am nächsten Tage war er bereits wieder in Frankfurt a. M. Hier fand die
große Tragödie des gewaltigen Krieges ihren endgültigen Abschluß durch
Unterzeichnung des Friedensvertrages. Die alte, stolze Stadt hatte sich
festlich geschmückt, und durch ihre Straßen wogte eine freudig bewegte
Menge.

Vor dem Hotel »Zum Schwanen« staute sich die Masse; hier verkehrten die
Staatsmänner, welche bei diesem Nachspiel agierten, und man wollte sie
sehen, vor allen den einen, den Kanzler des neuen Deutschen Reichs.
Interesse hatte man indes für alle. Jetzt kam die hagere Gestalt
Jules Favres und schritt langsam durch die Menge, und nicht lange
nach ihm erschien der Erwartete. Die Kraftgestalt Bismarcks trat aus
dem Tore; das mächtige Haupt auf den breiten Schultern ragte über die
herandringende Menge, und begeisterte Zurufe schollen ihm entgegen.
Langsam schritt er durch die Straße, und der Jubel klang ihm nach,
wohin er ging, bis er plötzlich in eine Gasse abbog und in einem
kleinen, freundlichen Hause verschwand.

»Wer wohnt hier? Zu wem geht er?« fragte es in der Menge.

»Hier wohnt der Maler Becker! – Ah, das ist hübsch, daß er hierher
geht!«

Ja, er war gekommen, in Erinnerung an die alten, freundlichen
Beziehungen die ihm lieben Leute, seine »Sonnenscheinfamilie« zu
begrüßen. Diesmal brachte er selbst den Sonnenschein mit in das
anmutige Künstlerheim, und mancher Anklang längst verklungener
Stunden tauchte wieder auf. Wie war doch alles anders geworden, seit
er als Bundestagsgesandter hier in Frankfurt gelebt und sich mit
seinen süddeutschen Kollegen und mit dem österreichischen Präsidenten
herumgeärgert hatte.

Wenige Tage später erhielt er seine Erhebung in den Fürstenstand, die
Ehrengabe seines dankbaren Kaisers und Königs, der ihm außerdem einen
erblichen Grundbesitz im Herzogtum Lauenburg verlieh. Und am 20. März
sprach in dem neueröffneten ersten deutschen Reichstage Kaiser Wilhelm
die schönen Worte:

»Wir haben erreicht, was seit der Zeit unserer Väter für Deutschland
erstrebt wurde: Die Einheit und deren organische Gestaltung, die
Sicherung unserer Grenze, die Unabhängigkeit unserer nationalen
Rechtsentwicklung. Möge die Wiederherstellung des deutschen Reiches für
die deutsche Nation auch nach innen das Wahrzeichen neuer Größe sein;
möge dem deutschen Reichskriege, den wir so ruhmreich geführt, ein
nicht minder glorreicher Reichsfriede folgen, und möge die Aufgabe des
deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein, sich in dem Wettkampfe
um die Güter des Friedens als Sieger zu bewähren. Das walte Gott!«

Wenn irgendeiner in tiefster Seele dies kaiserliche Wort nachempfand,
so war es der Reichskanzler, der mit dem Bewußtsein, daß er mit seiner
Kraft redlich das Seine zum bisherigen Gelingen des großen Werkes getan
habe, das stille Gelöbnis verband, im Dienste seines Vaterlandes und
seines Kaisers unermüdlich weiterzuarbeiten.

»~Patriae inserviendo consumor!~ Im Dienste des Vaterlands will ich
aufgehen!«

Am 16. Juni feierte Preußen und des neuen Reiches Hauptstadt die
Heimkehr der Sieger. Wiederum kamen sie von dem Brandenburger Tor
herangezogen, und zwischen zujubelnden Menschenmassen zogen sie einher,
geschmückt mit Kränzen und grünen Reisern, und die breite Straße Unter
den Linden war überflutet von wehenden Fahnen, geschmückt mit bunten
Teppichen und Tüchern, mit Laubgewinden und Blüten. Wie schlugen die
Herzen all der Tausende höher, als vor ihrem greisen Heldenkaiser die
herrlichen drei, Bismarck, Moltke und Roon, einherritten, und nun der
alte, weißhaarige Sieger kam und mit seinem milden, freundlichen, von
tiefer Bewegung leuchtenden Antlitz auf sein Volk herniederschaute, das
immer neu in endlose Jubelrufe ausbrach, die lawinengleich fortbrausten
und immer noch anzuschwellen schienen. Hinter dem Kaiser ritten die
beiden Feldmarschälle, Kronprinz Friedrich und Prinz Friedrich Karl,
und mit ihnen ein glänzender Zug der deutschen Fürsten. Das war ein
Festtag, wie er kaum jemals in Berlin erlebt worden war, und selbst
die hereinbrechende Nacht machte der Begeisterung, dem festlichen
Wogen kein Ende. In allen Straßen und Gassen leuchtete es auf mit dem
Beginnen des Abends, aus allen Fenstern strahlte Lichtglanz, und
auch das fernste, kleinste Haus, auch das schlichte Mansardenstübchen
wollte heute nicht zurückbleiben.

[Illustration: ~Eis. Kanzler V.~

Wilhelm II. und Bismarck in Friedrichsruh.]

Um das Palais des Kaisers wogte die Menge am dichtesten;
Vaterlandslieder und stürmische Hochrufe schollen durch diese einzige
Sommernacht, und wie ein Echo klang es verhallend herüber aus der
Wilhelmstraße, wo Tausende und Abertausende um das Palais des Kanzlers
sich zusammenfanden zu stürmischen Huldigungen. Beim strahlenden
Lichterschein aber flatterte eine mächtige Fahne aus der Wohnung
Bismarcks, und was auf ihr geschrieben stand, rief immer aufs neue das
herrliche Dichterwort hinein in die Herzen der begeisterten Menge:

    Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
    In keiner Not uns trennen und Gefahr!



Elftes Kapitel.

Des neuen Reiches Kanzler.


Im freundlichen Badeorte Kissingen war die Saison in vollem Gange, und
der Sommer des Jahres 1874 hatte auch die anmutige bayrische Stadt nach
gewohnter Weise lieblich und festlich herausgeputzt, und zahlreiche
Gäste aus allen Weltgegenden suchten hier Genesung und Erholung. Zu
Anfang des Juli war auch der deutsche Reichskanzler hier eingetroffen
und bildete beinahe den mächtigsten Anziehungspunkt des schönen
Kurorts, dessen zweifellos berühmtester Besucher er war. Wo er ging
und fuhr, blieb man stehen, drängte man sich näher heran, freute man
sich seines Grußes und war man stolz, wenn man eines Wortes von ihm
gewürdigt wurde.

An einer Straßenbiegung stand um die Mittagszeit des 13. Juli eine
größere Anzahl von Damen und Herren. Man wußte, daß der Kanzler um
diese Zeit hier vorüber nach seiner Wohnung im Hause des Dr. Diruff
fahren werde. Zwei vornehm aussehende Herren gingen langsam auf und ab
in lebhaftem Gespräche; der eine sagte:

»Deutschland darf mit Recht stolz sein auf ihn; er ist der größte
Staatsmann, welchen es vielleicht jemals besessen hat.«

»Wissen Sie, daß eine solche Anerkennung gerade aus Ihrem Munde
besonderen Wert hat?« sagte der andere.

»Weshalb?«

»Weil Sie Österreicher sind, und dazu noch ein begeisterter
Österreicher, bei dem es schwer wiegt, wenn er das Jahr 1866 Bismarck
vergibt und seine Größe so voll anerkennt.«

»Ja, der Schlag von damals hat uns weh getan, und ich habe wie Tausende
meiner Landsleute ihm gegrollt, aber zuletzt muß ruhige Überlegung und
vorurteilslose Betrachtung seiner Erfolge ihm die Herzen gewinnen,
zumal aller, die deutsch reden und empfinden, ob sie im neuen Reiche
oder in Österreich wohnen. Wie herrlich hat er es verstanden, mit
den ehemaligen Gegnern an der Donau seinen Frieden zu machen; seinen
Bemühungen war im Jahre 1872 die Zusammenkunft der drei Kaiser von
Deutschland, Österreich und Rußland in Berlin zu danken, und was
dieselbe für den europäischen Frieden bedeutet hat, wissen wir alle.«

»Gewiß, aber nicht minder bewundere ich als Engländer seine Tatkraft
und Energie der Anmaßung Roms gegenüber. Das Konzil, das die
Unfehlbarkeit des Papstes zum Dogma gemacht hat, hat viel Unheil
gebracht und hätte dem protestantischen Kaisertum eine schwere
Schädigung zufügen können, wenn Bismarck nicht wie der getreue Eckart
zum Schutze der Rechte der Krone und des deutschen Volkes eingetreten
wäre. Die Maigesetze (vom 15. Mai 1873) haben der römischen Anmaßung
einen Damm gesetzt. Die katholischen Priester sollen bei ihrer ganzen
Ausbildung und die geistlichen Oberhirten bei deren Anstellung
eingedenk bleiben, daß sie nicht außerhalb der Nation stehen, sondern
zu dieser sich zu zählen haben. Aber verzeihen Sie – Sie sind selbst
Katholik –«

»Aber ein solcher, der das Wort: ›Gebt dem Kaiser, was des Kaisers
ist, und Gott, was Gottes ist,‹ verstanden zu haben meint, und dem die
Äußerung Bismarcks in der Sitzung vom 14. Mai 1872: ›Seien Sie außer
Sorge, nach Canossa gehn wir nicht!‹ die Seele erfreut und erwärmt hat
– doch sehen Sie, hier kommt er!«

Die beiden Männer standen still und sahen in der Richtung nach der
Saline hin, von woher ein offener Wagen heranrollte. Im Fond lehnte der
Kanzler, mit dem gewohnten breitrandigen Schlapphute auf dem mächtigen
Haupte, und dankte freundlich den Grüßen, welche von allen Seiten her
ihm entgegengebracht wurden.

Die zwei Herren zogen ebenfalls ihre Hüte ab, als der Wagen
vorüberfuhr, dann sahen sie ihm nach und kehrten zu ihrem Gespräche
zurück. Plötzlich vernahmen sie einen Knall, kurz und scharf, und der
Engländer rief:

»Das war ein Schuß!«

Gleich darauf eilten beide in der Richtung hin, woher der Schall
gekommen war, dem Wagen Bismarcks nach. An einer der nächsten
Straßenecken bereits drängte sich eine dichte Menge Volkes, geballte
Fäuste hoben sich in die Lüfte, und nun wurde auch ein bleicher,
aufgeregter junger Mensch dahergeschleppt, gegen welchen sich drohend
der Unmut und Zorn der Menge wendete.

»Er hat auf Bismarck geschossen – der Hund!« So lief es unheimlich von
Mund zu Mund – dazwischen klangen Fragen nach dem Kanzler.

»Er ist an der Hand verwundet, die er zum Gruße gehoben hat.«

Der Wagen, in welchem Bismarck gesessen, hatte angehalten, er
selbst war ausgestiegen, und um ihn drängten sich nun alle. Freudig
begeisterte Zurufe mischten sich mit lebhaften Kundgebungen der
Teilnahme und des heiligen Zornes, und immer dichter scharte es sich um
ihn her, als wollten alle eine Mauer bilden zum Schutze um den teuren
Mann, und wenig fehlte, so wäre er im Triumphe heimgetragen worden.

Entsetzt und erschreckt vernahm die Gräfin sowie Komtesse Marie, was
geschehen war, und wie einst in Berlin, so war er selbst auch hier am
meisten gefaßt und ruhig. Er ließ sich den Attentäter vorführen. Dieser
war ein Böttchergeselle aus Magdeburg, namens Kullmann, der durch die
fanatischen Worte seines Pfarrers zu seinem Verbrechen getrieben worden
war und unumwunden eingestand, daß er Bismarck habe töten wollen wegen
der von demselben ausgegangenen Kirchengesetze.

Mit einer Mischung von Abscheu und Mitleid betrachtete der Kanzler den
irregeleiteten Burschen, der auch aus deutschem Blute entsprossen war
und in seiner Verblendung die Mörderfaust heben konnte gegen einen
Mann, der in allem, was er tat, nur seines Volkes Ehre und seines
Vaterlandes Größe im Auge hatte.

Die Aufregung, welche durch das freundliche Kissingen ging, war groß,
gewaltiger noch jene, welche das ganze deutsche Land durchzitterte. An
dem Abend des unseligen Tages aber fanden sich Tausende von Menschen
ein vor dem freundlichen Hause des Dr. Diruff, um ihrem Herzen Luft zu
machen und ihre Liebe und Begeisterung für Bismarck zum Ausdruck zu
bringen. Stürmische Hochrufe brausten empor; man wollte den Mann sehen,
welchen die Huld des Himmels so augenscheinlich behütet hatte, und
endlich trat er heraus auf den Balkon, tiefbewegt über die Kundgebungen
treuer Anhänglichkeit und liebender Teilnahme.

Er winkte mit der unverwundeten Hand – man verstand, daß er sprechen
wolle, und tiefe, feierliche Stille lag ringsum. In diese hinein klang
die ruhige sonore Stimme, weithin vernehmbar:

»Ich danke Ihnen herzlich für die wohltuende Teilnahme, die Sie mir
bekunden, und die mich herzlich freut. Es geziemt mir nicht, weiteres
über den heutigen Vorgang zu reden. Die Sache ist dem Urteil des
Richters übergeben. Das aber darf ich wohl sagen, daß der Schlag,
der gegen mich gerichtet war, nicht meiner Person galt, sondern der
Sache, der ich mein Leben gewidmet habe: der Einheit, Unabhängigkeit
und Freiheit Deutschlands. Und wenn ich auch für die große Sache hätte
sterben müssen, was wäre es weiter gewesen, als was Tausende unserer
Landsleute betroffen hat, die vor drei Jahren ihr Blut und Leben auf
dem Schlachtfelde ließen! Das große Werk aber, das ich mit meinen
schwachen Kräften habe beginnen helfen, wird nicht durch solche Mittel
zugrunde gerichtet werden, wie das ist, wovor Gott mich gnädig bewahrt
hat. Es wird vollendet werden durch die Kraft des geeinigten Volkes.
In dieser Hoffnung bitte ich Sie, mit mir ein Hoch zu bringen dem
geeinigten deutschen Volke und seinen verbündeten Fürsten!«

Begeistert und aus bewegten Herzen stimmte die Menge in den Ruf ein,
der in allen Gauen Deutschlands frohen Widerhall fand.

       *       *       *       *       *

Wer in den siebziger Jahren in die Hauptstadt des deutschen Reiches
kam, konnte wohl erstaunt und erfreut sein über die Rührigkeit, die
sich auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zeigte, wie über die
Verschönerungen auf den Plätzen und in den Straßen, durch Gebäude und
Denkmäler. Am Sedanstage 1873 war das imposante Siegesdenkmal auf
dem Königsplatze eingeweiht worden, im nächsten Jahre die herrliche
Nationalgalerie; das Zeughaus hatte durch einen Umbau hervorragend an
Schönheit und monumentaler Bedeutung gewonnen, Museen und Galerien
wuchsen aus der Erde empor, und unter den Denkmälern war es besonders
jenes der unvergeßlichen Königin Luise, welches Auge und Herz gefangen
nahm.

Und wer nach Berlin kam, verabsäumte auch nicht, nach der Wilhelmstraße
zu wandern, um das schlichte Palais zu sehen, in welchem der Mann
wohnte, der »Deutschland in den Sattel gehoben hatte«, und dem es zu
danken war, daß es im Völkerrate eine hervorragende, ja, die erste
Rolle spielte. Das konnte zumal einem Besucher klarwerden, der in den
Junitagen des Jahres 1878 nach der Wilhelmstraße kam und sah, wie in
den Mittagsstunden ein Wagen nach dem anderen heranrollte, und hörte,
wer die Besucher des Reichskanzlerpalais waren. Die Staatsmänner
sämtlicher europäischen Großmächte fanden sich hier zusammen zu
wichtigen Beratungen, und wenn wir in den vornehmen, doch einfachen
Sitzungssaal einen Blick werfen, sehen wir den österreichischen Kanzler
Grafen Andrassy in seiner goldstrotzenden Husarenuniform neben dem
russischen Kanzler Grafen Gortschakoff, der durch seine glänzenden
Brillengläser mit seinen klaren, scharfen Augen Umschau hält; ihm zur
Seite steht Graf Schuwaloff, der russische Botschafter, im Gespräche
mit dem hageren englischen Ministerpräsidenten Beaconsfield, und dem
italienischen Gesandten Grafen Corti; der Charakterkopf des Lords Odo
Russel taucht neben den mit dem Fez bedeckten Häuptern von Mohammed
Ali Pascha und Karatheodori Pascha auf; mit dem ungarischen Grafen
Caroly konversieren lebhaft die Gesandten Frankreichs, Waddington und
Desprez … und unter all diesen bedeutenden Persönlichkeiten steht Graf
Bismarck, hervorragend durch seine äußere Erscheinung sowie durch seine
Stellung, welche ihm in diesem Kreise angewiesen ist.

Das ist der _europäische Friedenskongreß_, welcher auf Bismarcks
Anregung zusammengetreten ist, um nach Beendigung des im Jahr 1877
geführten Krieges zwischen Rußland und der Türkei weitere feindselige
Verwicklungen fernzuhalten, und der deutsche Kanzler ist der Präsident
des Kongresses und leitet die Verhandlungen mit seiner sicheren Ruhe
und energischen Klarheit. Und Europa durfte ihm Dank dafür wissen. Er
wollte dabei nicht mehr sein als »der ehrliche Makler«, und das Wort
hat er redlich eingelöst.

Der Kongreß war aber zu einer Zeit zusammengetreten, da das Herz des
Kanzlers noch blutete unter dem Nachklang ungeheurer Freveltaten,
welche das ganze deutsche Volk tief erschüttert hatten.

Schon am 11. Mai nachmittags hatte ein verkommenes Individuum, der
Klempnergeselle Hödel, ein Attentat verübt gegen den greisen Kaiser
Wilhelm, aber Gott hatte schützend seine Hand gehalten über dem
geweihten, vielgeliebten Haupte.

Da geschah das Unglaubliche, Ungeheure zum zweiten Male. Als Kaiser
Wilhelm am 2. Juni die Straße Unter den Linden dahinfuhr, fielen
aus dem zweiten Stockwerk des Hauses Nr. 18 rasch nacheinander zwei
Schüsse. Zahlreiche starke Schrotkörner drangen in Kopf, Arm und Rücken
des greisen Helden, der blutüberströmt, auf seinen Leibjäger gestützt,
im offenen Wagen dahinfuhr, während die zornig erregten Zuschauer des
entsetzlichen Vorgangs in das Haus eindrangen, von welchem aus der
Attentäter gefeuert hatte. Die Tür seines Zimmers wurde aufgesprengt,
einige Offiziere, Kriminalschutzleute und andere Personen drangen ein,
noch zwei Schüsse krachten ihnen entgegen, am Ofen des Gemaches aber
lehnte mit blutigem Antlitz ein Mensch, der nach seiner Freveltat
bereits Hand an sich selbst gelegt hatte. Rasch war er überwältigt und
in Haft gebracht, und es ergab sich, daß er der Landwirt ~Dr. phil.~
Nobiling war, und ebenso wie Hödel durch die fanatische Verhetzung der
Sozialdemokratie zu dem furchtbaren Verbrechen veranlaßt worden war.

Wie ein Lauffeuer war die entsetzliche Kunde durch Berlin geflogen, der
Telegraph hatte sie fortgetragen durch die Welt und hatte sie schnell
genug auch nach dem stillen Friedrichsruh gebracht, wo der Kanzler an
der Gürtelrose erkrankt war. Da schreckte er empor, er vergaß seine
Krankheit und eilte an das Schmerzenslager seines teuren, greisen
Herrn. Noch sah er die Wunden auf dem geliebten Angesicht, und Schmerz,
heiliger Zorn und glühende Hingebung erfaßten den gewaltigen Mann. Er
fühlte, wie es ihm heiß in die Augen stieg, aber er gelobte sich auch
in dieser Stunde auszuhalten bei seinem Kaiser, solange ihn dieser
nicht entlassen würde.

Aber auch dem furchtbaren Feinde galt es zu Leibe zu gehen, der das
Mark des deutschen Volkes zu vergiften sich bemühte, und der durch
seine verhetzenden Grundsätze deutschgeborenen Männern die Mordwaffe
gegen ihren Kaiser in die Hand gedrückt hatte – der Sozialdemokratie.
Und unter dem Eindruck der fluchwürdigen Tat Nobilings stimmte der
Reichstag dem von dem Kanzler ihm vorgelegten Ausnahmegesetz gegen die
Sozialdemokratie zu.

Wie ein zorniger Löwe war er eingetreten für dies Gesetz, das dem
Schutze des friedlichen Bürgers dienen sollte, und ergreifend klangen
die Worte, welche er im Reichstage sprach, durch alles deutsche Land:

»Wenn die sozialistischen Agitatoren den Leuten, die zwar lesen, aber
nicht das Gelesene beurteilen können, glänzende Versprechungen machen,
dabei in Hohn und Spott, in Bild und Wort alles, was ihnen bisher
heilig gewesen ist, als einen Zopf, als eine Lüge darstellen, alles
das, was unsere Väter und uns mit dem Motto: »Mit Gott für König und
Vaterland!« geführt und begeistert hat, als eine hohle Redensart, als
einen Schwindel hinstellen, ihnen den Glauben an Gott, den Glauben an
unser Königtum, die Anhänglichkeit an das Vaterland, den Glauben an
die Familienverhältnisse, an den Besitz, an die Vererbung dessen, was
sie für ihre Kinder erworben, ihnen alles das nehmen, so ist es doch
nicht allzu schwer, einen Menschen von geringem Bildungsgrade dahin zu
führen, daß er schließlich mit Faust spricht: »Fluch sei der Hoffnung,
Fluch dem Glauben und Fluch vor allem der Geduld!« Ein so geistig
verarmter und nackt ausgezogener Mensch, was bleibt dann dem übrig,
als eine wilde Jagd nach sinnlichen Genüssen, die allein ihn noch mit
diesem Leben versöhnen können! Wenn ich zu dem Unglauben gekommen wäre,
der diesen Leuten beigebracht ist – ja, meine Herren, ich lebe in einer
reichen Tätigkeit, in einer wohlhabenden Situation; aber das alles
könnte mich doch nicht zu dem Wunsche veranlassen, einen Tag länger
zu leben, wenn ich das, was der Dichter nennt: »an Gott und bessere
Zukunft glauben«, nicht hätte. – Rauben Sie das dem Armen, dem Sie gar
keine Entschädigung gewähren können, so bereiten Sie ihn eben zu dem
Lebensüberdruß vor, der sich in ruchlosen Taten äußert, wie wir sie
soeben erlebt haben.«

In jenen Tagen tiefgehender Erregung war ihm der Frieden seines Hauses
und Heims doppelt wertvoll, und die Stunden im Kreise seiner Familie,
im vertrauten Verkehr mit Freunden und selbst parlamentarischen Gegnern
an seinem Herde boten manche Anregung und Erholung.

Wilhelmstraße 76! Es ist ein ziemlich einfaches, mäßig großes Gebäude,
dies Wohnhaus des deutschen Reichskanzlers in Berlin, in dessen erstem
und einzigem Stockwerk der größte deutsche Mann der Gegenwart sein Heim
hatte.

Es war Herbst geworden in dem unseligen Jahre 1878, und die Bäume in
dem Parke hinter dem Palais haben angefangen sich zu verfärben. Unter
ihnen schreitet der Kanzler hin, und wie einst als Knabe, so freut
er sich auch jetzt noch der Schönheiten der Natur, wo immer sie ihm
begegnen. Hier ist für ihn in dem geräuschvollen, lärmenden Berlin eine
freundliche Oase. Aus den Kronen uralter, stammgewaltiger Buchen und
Linden singen die Vögel, dichtes, noch immer grünes Buschwerk umsäumt
die Wege, und in der herrlichen, von stattlichen Rüstern überwölbten
Allee schreitet der Kanzler hin neben der geliebten Frau, der Gefährtin
seiner Tage, seinem guten Kameraden.

Die Frau des Hauses ist zwar heute besonders beschäftigt, denn am Abend
gilt es Gäste zu empfangen zu einer der beliebten parlamentarischen
Soireen, aber etwas Zeit bleibt für den Gatten, der so manches in ihr
treues, verschwiegenes Herz niederlegt, ehe er mit anderen darüber
verhandelt. Ein Stündchen ist zwischen den grünen Gehegen rasch
genug vergangen, und Bismarck geht nach seinem Arbeitszimmer. Es ist
nicht besonders groß, einfach, aber geschmackvoll in seiner ganzen
Ausstattung. Über dem großen Schlafsofa hängen mehrere Porträte,
darunter vor allem jene des kaiserlichen Herrn im Zivilanzuge, wie in
Generalsuniform; von einer anderen Wand schaut das Bild König Ludwigs
II. von Bayern her, es fehlen nicht in breiten goldenen Rahmen die
lebensgroßen Porträte der beiden gewaltigen Hohenzollern, des Großen
Kurfürsten und Friedrichs II., aber auch der Gegenwart wird ihr Recht.
über dem Mahagonistehpult sehen die freundlichen Augen der Fürstin
Bismarck herab, und in ovalem Goldrahmen prangt an der Wand das in Öl
ausgeführte Porträt der Komteß Marie. Auch das Gipsmedaillon des treuen
Genossen, des Generals Moltke, fehlt nicht.

In der Mitte des Raumes steht der umfangreiche Schreibtisch, davor
zwei Polsterlehnstühle, in deren einem der Kanzler sich langsam
niedergelassen hat. Er lehnt sich noch einmal sinnend zurück und läßt
den Blick über den Tisch hinschweifen, an dem so manches bedeutsame
Schriftstück die letzte Vollendung erhalten hat. Seine Hand hat einen
der großen Bleistifte gefaßt und gleitet mit diesem über das rote
Löschpapier, das auf der grünen Tuchunterlage ruht. Vor ihm stehen
mancherlei Erinnerungen: Ein Briefbeschwerer aus einer 1866 eroberten
Kanone, und ein anderer, zu dem ein französisches Geschütz das Material
geliefert hat, und anderes mehr.

Das Signal »der Fürst ist im Arbeitszimmer« ist durch das Haus
gegangen, und es währt nicht lange, so erscheint der Geheime
Legationsrat Lothar Bucher, ein Herr von etwa sechzig Jahren mit einem
vornehmen Gesichte und klaren, verständigen Augen, der seit 1864 ein
treuer und gediegener Mitarbeiter Bismarcks geworden ist; er hält
dem Kanzler Vortrag, und nimmt seine Weisungen entgegen. Und von dem
kleinen Arbeitszimmer Bismarcks aus laufen all die tausend Fäden, die
mit der Regierung eines großen Reiches verknüpft sind.

So kommt der Abend, und der Kanzler hat daran zu denken, daß er die
Pflichten des gastfreundlich liebenswürdigen Wirtes zu üben hat.

Um die neunte Stunde belebten sich die Räume der ersten Etage.
Abgeordnete von allen Parteischattierungen stiegen die teppichbelegten
Treppen hinan, vorüber an zahlreichen Dienern in schwarzweißer Livree,
und betraten das behagliche, freundliche Empfangszimmer, wo der
Hausherr nebst seiner Gemahlin sie bereits begrüßte und den meisten
herzlich die Hand drückte. Flüchtig streiften die Augen der Ankommenden
durch den hellen Raum, und manch einer ließ sie auf dem springenden
Hasen, der auf dem Büfett stand, haften.

Da es sich just etwas um den Hausherrn lichtete, und die Besucher in
das Billardzimmer traten, fragte einer derselben flüchtig, was wohl
dieser »Meister Lampe« für eine besondere Bedeutung habe.

»Ja, sehen Sie, dieser Hase ist brünett,« sagte lächelnd der Kanzler.

»Brünett?«

»Ja, er hat einen dunkelbraunen Kopf und Rücken, während seine
Verwandtschaft gelb ist. Er war der einzige Brünette unter
fünfzehnhundert, die wir an dem Tage schossen.«

Durch die offene Tür warfen die Besucher einen Blick in das
Arbeitszimmer des großen Staatsmannes, ehe sie in die eigentlichen
Gesellschaftsräume traten und sich in denselben verteilten. Es
herrschte bald der heiterste und zwangloseste Verkehr, die weißen
Glacéhandschuhe verschwanden, in den Nischen der Fenster, an den
kleinen Tischen, überall bildeten sich plaudernde Gruppen, während die
Diener den Tee herumreichten. Frack und Uniform verkehrten friedlich
und gemütlich, sowie die Vertreter aller Fraktionen selbst. Da saß der
kleine, bewegliche Exminister von Hannover, Windthorst, zusammen mit
dem liberalen Forckenbeck, der Zentrumsführer Reichensperger mit dem
mitunter boshaften Lasker, und Scherzworte gingen hin und her.

Der Verkehr zog sich mehr nach dem länglich runden Speisesaale mit
seinen gelben Marmorwänden, von dessen Decke der altertümliche
Kronleuchter mit Messingreifen und Glasperlen herniederhängt, während
von der Wand eine Anzahl siebenarmiger Bronzeleuchter ihr Licht
hinwerfen über das belebte Bild. In diesem Raume war das Büfett
aufgestellt, das gar manches Verlockende darbot, und bald sah man
die Gäste da und dort beisammen stehen mit ihrem Teller in der Hand,
während behaglichere sich zusammensetzten, und die herumgehenden Diener
aus prächtigen silbernen Humpen das schäumende Bier einschenkten.

Der liebenswürdige Gastgeber aber tauchte mit seiner breiten Gestalt
bald da, bald dort auf, unter der machtvollen Stirne leuchteten die
Augen so frei und freundlich, und überall fand er das rechte Wort, um
die Stimmung zu beleben, und beim Zusammentreffen der Gegensätze jede
feindselige Spitze abzubrechen. Zuerst hatte das Gespräch noch eine
vorwiegend politische Färbung gehabt im Anschlusse an die erregten
Debatten über das Sozialistengesetz.

»Großen Nutzen erwarten wir von dem Gesetze nicht, Ausnahmegesetze sind
immer bedenklich!« hatte ein oppositioneller Abgeordneter bemerkt, und
Bismarck, welcher es vernahm, erwiderte:

»Mit der bloßen Abwehr der sozialistischen Umtriebe ist es freilich
nicht getan, es muß auch an die positive Heilung der sozialistischen
Schäden gegangen werden. Der Staat muß sich des kleinen Mannes, der
arbeitenden Klassen annehmen und ihnen helfen!«

»Aber das ist ja Staatssozialismus!« rief eine Stimme.

»Halt, meine Herren, so möchte ich es nicht bezeichnen, es ist vielmehr
praktisches Christentum, denn meines Erachtens sollte ein Staat, der
seiner großen Mehrzahl nach aus aufrichtigen Bekennern des christlichen
Glaubens besteht, auch bemüht sein, den Armen, Schwachen und Alten zu
helfen.«

Aber schon schweift der Blick des Kanzlers wieder durch den Kreis
seiner Gäste. Auf einem alten Herrn bleibt er haften, das war ein
Verbindungsbruder aus der fröhlichen Göttinger Studentenzeit, und
mit dem Glase in der Hand trat der Fürst an ihn heran: »Auf das alte
Blau-Rot-Gold der Göttinger Hannovera, Herr Korpsbruder!« und kräftig
klingen die Gläser zusammen.

Gleich darauf wendete er sich einer Gruppe von Herren zu, deren
heiteres Lachen ihn an ihren Tisch zog.

»Der vortreffliche Rehrücken verleitet zu Jagdgeschichten, und der Herr
Kollege X. verübt ein beneidenswertes Jägerlatein!« sagte einer der
Herren. Bismarck ließ sich bei ihnen nieder.

»Hören Sie, meine Herren, da kann ich mir’s nicht versagen, just
in Ihrem Kreise – und Sie repräsentieren Frankfurt-Nassau – eine
Jagdgeschichte zu berichten, die Ihren Landsmann, den »dicken
Daumer« mitbetrifft. Vielleicht ist einem oder dem anderen unter
Ihnen erinnerlich, daß derselbe von einer beständigen und gewaltigen
Todesfurcht gepeinigt wurde und durchaus nicht an das Sterben erinnert
sein wollte. Eines schönen Herbstmorgens bin ich mit ihm bei Frankfurt
auf der Jagd gewesen. Als wir hoch im Gebirge Rast hielten, fand ich
zu meinem Schrecken, daß ich mich nicht mit einem Frühstück versehen
hatte. Der »dicke Daumer« aber zog mit Behagen eine mächtige Wurst
hervor, von welcher er mir in großmütiger Weise die Hälfte anbot. Er
begann zu schmausen, mit einem beneidenswerten, in meiner Situation
aber sehr bedauerlichen Appetit, denn er war bereits in meine Hälfte
seiner Wurst hineingeraten. Ich hätte vor Wehmut Frankfurterisch reden
mögen. Da frage ich ihn denn so von ungefähr:

»Ach, sagen Sie mir, Her Daumer, was is doch des Weiße da unne, was aus
de Zwetschebaim herausschaut?«

»Gott, Exzellenz, da möchte eim ja der Appetit vergehe – des is der
Kirchhof.«

»Aber, lieber Daumer, da wollen wir uns doch beizeiten ein Plätzchen
suchen, da muß sich’s wunderbar friedlich ruhn.«

»Nu, Exzellenz, nu leg’ i awer die Wurscht weg.« Der dicke Daumer blieb
bei seinem Entschlusse, und ich hatte mein ordentliches Frühstück!«

Unter dem allgemein anhaltenden Lachen war Bismarck aufgestanden und
bereits zu einer anderen Gruppe getreten. Hier wurde eben erzählt, daß
ein bekannter Herr mit dem Pferde gestürzt sei, und er bemerkte:

»Ich glaube, daß es nicht reicht, wenn ich sage, daß mir das wohl
fünfzigmal passiert ist. Vom Pferde fallen ist nichts, aber mit dem
Pferde, so daß es auf einem liegt, das ist schlimm. Dabei habe ich mir
in Varzin einmal drei Rippen gebrochen. Das Seltsamste aber, was ich
in dieser Beziehung erlebte, war das: Ich war mit meinem Bruder auf
dem Heimwege, und wir ritten, was die Pferde laufen wollten. Da hört
mein Bruder, der etwas voraus war, auf einmal einen fürchterlichen
Knall: Es war mein Kopf, der auf die Chaussee aufschlug. Mein Pferd
war von der Laterne eines entgegenkommenden Wagens gescheut und mit
mir zusammengefallen, und zwar auch auf den Kopf. Ich verlor zuerst
die Besinnung, und als ich wieder zu mir kam, hatte ich sie nur halb
wieder. Das heißt, ein Teil meines Denkvermögens war ganz gut und klar,
die andere Hälfte war weg. Da mein Sattel zerbrochen war, nahm ich das
Pferd des Reitknechts und ritt nach Hause. Als mich da die Hunde zur
Begrüßung anbellten, hielt ich sie für fremde Hunde und schalt auf
sie. Dann sagte ich, der Reitknecht sei mit dem Pferde gestürzt, man
solle ihn doch auf einer Bahre holen, und war sehr böse, als sie das
auf einen Wink meines Bruders nicht tun wollten. Ich wußte nicht, daß
ich ich war, und daß ich mich zu Hause befand, oder vielmehr, ich war
ich und auch zugleich der Reitknecht. Ich verlangte nun zu essen, dann
ging ich zu Bette, und als ich am Morgen ausgeschlafen hatte, war alles
wieder gut.«

Nun wurden im Saale die Zigarren angebrannt, der Kanzler aber bat sich
aus, seine Pfeife rauchen zu dürfen; behaglich stiegen die blauen
Wölkchen gegen die Decke, und die Stimmung der Gäste wurde immer
lebendiger.

»Eine hocherfreuliche Eintracht zwischen Nord- und Süddeutschland!«
rief der Fürst lachend an einem Tische, wo Abgeordnete von diesseits
und jenseits des Mains sich in heiterster Weise unterhielten und
eben mit den gefüllten Gläsern anstießen. »Lassen Sie mich dieselbe
mitfeiern!«

»Ihr Verdienst, Durchlaucht!« rief einer der Gäste.

»Na, wie man’s nimmt! Der Himmel hat’s zum Segen gewendet. Aber wissen
Sie, wäre der Krieg von 1866 uns mißglückt, so hätte ich als Soldat den
Tod gesucht, denn ich bin überzeugt, daß mich sonst die alten Weiber in
Berlin mit nassen Handtüchern totgeschlagen hätten.«

»Ihr Empfinden in weltgeschichtlich bedeutenden und entscheidenden
Momenten muß aber doch jederzeit ein erhebendes und gewaltiges gewesen
sein, Durchlaucht,« bemerkte ein Abgeordneter, »wie war Ihnen wohl
zumute, als Sie mit Kaiser Napoleon nach Sedan zusammentrafen?«

»Ja, sehen Sie, meine Herren, das ist nun fast wunderlich. Als ich in
dem Stübchen des Weberhauses bei Donchery mit ihm zusammensaß, war mir
so wie als jungem Menschen auf dem Balle, wenn ich ein Mädchen zum
Kotillon engagiert hatte, mit dem ich kein Wort zu sprechen wußte, und
das niemand abholen wollte.«

So verrann die Zeit in dem gastfreundlichen, liebenswürdigen Hause,
und um die elfte Stunde brachen die Besucher allmählich auf. Der Fürst
reichte jedem freundlich die Hand und vergaß nicht, ein herzliches »Auf
Wiedersehen« beizufügen.

Der letzte Gast ist gegangen; der Kanzler steht einige Augenblicke
allein in dem Teezimmer und stützt die Hand auf einen kleinen
Mahagonitisch, auf welchem eine Metallplatte angebracht ist mit der
Inschrift: »Auf diesem Tische ist der Präliminarfriede zwischen
Deutschland und Frankreich am 26. Februar 1871 zu Versailles, Rue de
Provence Nr. 14, unterzeichnet worden.« Sein Blick fliegt über die
Ahnenbilder an der Wand, ein leises Lächeln huscht um die Mundwinkel,
als ob ein angenehmer Gedanke ihm durch die Seele ziehe, dann tritt er
in das kleine anstoßende Gemach, wo bei traulichem Lampenschimmer seine
Gemahlin mit einigen verwandten Damen sitzt, und bringt noch einige
Zeit in anmutigem Geplauder zu.

Hierauf sucht er noch einmal sein Arbeitsgemach auf, aber diesmal
nur flüchtig, und tritt von hier aus durch eine Tapetentür in sein
Schlafgemach, wo das von einem rotbekleideten Schirm umgebene Bett
steht, und wo ein behagliches Sofa mit einigen Polsterlehnsesseln,
eine kleine Mahagonikommode und ein alter Holzschrein an der Wand die
einfache Einrichtung vervollständigen.

Der Kanzler tritt noch einmal an das einzige Fenster, schiebt den
Wollvorhang zurück und sieht hinaus. Leise verhallend klingt der Lärm
der auch in der Nacht nicht rastenden Großstadt hierher, aber er stört
nicht, und hoch am Himmel blinken die tausend und abertausend Sterne.
Der einsame Mann aber betet im frommen Aufblick in tiefster Seele:

»Vater im Himmel, schütze Reich und Kaiser!«



Zwölftes Kapitel.

In Ehren und Schmerzen.


Am Abend des 1. März 1885 ging durch Berlin eine freudige Erregung.
Es war der Vorabend des siebzigsten Geburtstages des Reichskanzlers,
und die Hauptstadt rüstete sich, denselben festlich zu begehen. Zumal
Unter den Linden, in der Wilhelmstraße und in allen angrenzenden
Straßen bis zum Kreuzberg hinauf drängten und fluteten Hunderttausende
durcheinander, um den großartigen Fackelzug zu sehen, den die Verehrung
der Vertreter eines ganzen Volkes dem großen Staatsmann darbrachte.

An den verschiedensten Punkten hatten sich die Teilnehmer gesammelt,
und um die siebente Stunde fanden sich die einzelnen Züge im Lustgarten
zusammen, und dann strömte es hinein in die breite Straße Unter den
Linden, um zuerst an dem Königsschlosse vorüberzudefilieren. Um ½8
kam die Spitze des Zuges bei demselben an, und weithin schallender
Jubel, begeisterter Gesang der Königshymne verkündete, daß der greise
Kaiser sich seinem Volke zeigte, freudig bewegt über die Kundgebung der
Verehrung, die seinem treuesten Diener dargebracht wurde.

Eine Viertelstunde später bog der Zug in die Wilhelmstraße ein. Alle
Fenster waren dichtbesetzt von Menschen, die Straße selbst lag in
feierlicher Stille, abgesperrt von jedem Verkehr. Sechs Fanfarenbläser
in reicher Heroldstracht eröffneten den Zug, dann kamen im Galawagen
das Zentralkomitee, zahllose Sänger und die Vertreter der deutschen
Hochschulen mit flatternden Fahnen und wehenden Bannern, auf welche der
rote Schimmer der Fackeln leuchtete, welche die nebenher Schreitenden
trugen.

Vor dem Reichskanzlerpalais bogen die Sänger in den Schloßhof ein – am
Eckfenster erschien die stattliche Gestalt des Fürsten, und während
aus tausend Kehlen wie ein machtvoller Hymnus das Lied »Deutschland,
Deutschland über alles« erklang, immer aufs neue übertönt von den
brausenden Hochrufen, entwickelte sich der glänzende Zug immer mehr.

Nun flutete heller Lichtschimmer durch die Straße. Der Zug der Künstler
kam. Alles war in Pracht und Glanz getaucht, und märchenhaft schön trat
aus den wogenden Menschen ein riesenhaftes Schiff hervor, auf welchem
unter einem prachtvollen Baldachin die imposante Gestalt der Germania
sich zeigte, den Goldhelm auf dem blonden Gelock, das blanke Schwert
im Arm, wie sie freundlich niedersah auf ein Bild des Friedens. Ihr zu
Füßen stehen, in anmutigen Frauengestalten verkörpert, die deutschen
Stämme um den von Adlern geschirmten Thron, und um sie her bindet der
Landmann seine Garben, hämmert der fleißige Schmied, regt sich Gärtner
und Fischer und scharen sich fleißige Schüler um das engumschlungene
liebliche Schwesternpaar Elsaß-Lothringen. Nach dem Bugspriet zu aber
halten deutsche Soldaten, um ihre Fahnen gereiht, die Friedenswacht.

Dann kamen, von deutschen Künstlern wirksam dargestellt, die deutschen
Brüder aus den Kolonien, die Bismarck dem Reiche gewonnen. King Bell
auf hohem Kamele reitet ihnen voran, und ihm folgen die Würdenträger
von Kamerun, das wunderliche Volk der fremden Schlangenbändiger und
Sänger, und die drastischen Gestalten der braunen Landwehrleute, die
sich vor dem Kanzler platt auf die Erde niederwerfen.

Vorüber! Bei zweihundert Ruderer und Segler bilden die Einleitung zu
den patriotischen Vereinen der Hauptstadt, es folgen die Innungen mit
den festlich geschmückten Bannern; rot glänzt der Schein ihrer tausend
Fackeln, der dunkle Qualm lagert sich breit und wuchtig über dem
Bilde, und immer aufs neue folgen phantastische Prunkwagen, schimmernde
Embleme, wunderliche Transparente und noch immer kein Ende!

Anderthalb Stunden waren vergangen. Mit den Seinen stand der Kanzler am
Fenster, hochaufgerichtet, die Seele erfüllt von glücklichem Stolze,
von dem freudigsten Bewußtsein der Verehrung des deutschen Volkes, das
ihn in dieser Stunde entschädigte für manchen herben und bitteren Tag.

Mit einmal begann es heller zu leuchten als je zuvor. Ein Schimmer
wie von vollem Sonnenlichte flog durch die breite Straße und über
die vielen Menschen leuchtend in weißem Glanze lagen die Häuser
da, und einige Augenblicke schlossen sich die schier geblendeten
Augen. Die Arbeiter der Scheringschen Fabrik waren es, die mit
Magnesiumleuchten heranzogen, und als der volle magische Lichtglanz die
Szene überflutete, da traten die Sänger, wohl mehr als zweihundert,
aus dem Vorhofe des Schlosses und stimmten machtvoll ergreifend ihr
harmonisches Hoch auf das Geburtstagskind an.

Da winkte der Kanzler mit der Hand – er wollte sprechen. In wenigen
Augenblicken lag die Stille des Gotteshauses über der menschenvollen
Straße, und die Stimme Bismarcks klang klar und vernehmlich: »Noch
_zehn_ Jahre wie heute – –«

Aber schon brauste der Jubel wieder auf bei den ersten Worten.

»Zwanzig Jahre – hundert Jahre für den Fürsten! – Hoch Bismarck! – Hoch
der Kanzler!«

Und mit geradezu elementarer Gewalt brach sich die Begeisterung Bahn,
und Luft und Erde schien zu beben unter dem Jubelsturm. Immer aufs
neue winkte der Gefeierte mit der Hand, beschwichtigend und dankend
zugleich, und wiederum wurde es still, und seine Stimme klang weithin:

»Ich danke Ihnen allen aus tiefstem Herzen für die großartige Ovation,
welche Sie mir aus Anlaß meines siebzigsten Geburtstages dargebracht
haben. Das Verdienst, Deutschland groß und stark zu sehen, gebührt
unserem greisen Heldenkaiser, dem wir jetzt fünfzehn Jahre des Friedens
verdanken. Seine Majestät der Kaiser, er lebe hoch!«

Wenn die ungeheure Begeisterung überhaupt noch einer Steigerung
fähig war, so trat eine solche jetzt ein. Die ganze Liebe einer
großen, starken, glücklichen Nation drängte sich in diese riesigen,
nie gehörten Rufe der Begeisterung. Das Fest hatte seinen Höhepunkt
erreicht – aber während das aufgeregte Berlin noch lange in seinem
Jubel fortklang und sang, ward es allgemach still in der Wilhelmstraße,
und die Schleier der Nacht hüllten wieder das Haus ein, das noch vor
kurzem vom hellsten Lichte umflutet war.

Am Morgen des ersten April schritt der Kanzler langsam durch die breite
Allee seines Parkes. Noch waren die Rüstern unbelaubt, nur das Moos an
den gewaltigen Stämmen schimmerte grünlich, an dem Gesträuch ringsum
aber drängte es bereits hervor von knospendem Frühlingsweben. Vieles
ging durch die Seele des einsamen Mannes, Erinnerungen an Tage heißen
Kämpfens, aber auch schöne Erfolge.

Was war nicht durch ihn errungen und geschaffen worden seit der
Erneuerung des Reiches! Das Fundament desselben schien gesichert gegen
die Angriffe von innen und außen. Den Rachegelüsten Frankreichs war die
Spitze abgebrochen worden durch eine meisterhafte politische Aktion,
welche Deutschland mit Österreich und Italien zu einem Dreibund für
Schutz und Trutz vereinte. Der Kanzler denkt daran, wie er im September
1879 von Gastein aus nach Wien gefahren, wie ihn die Hauptstadt
Österreichs freundlich sympathisch aufgenommen, und Kaiser Franz
Joseph, der um seinetwillen die Jagd in Steiermark unterbrochen hatte,
mit herzlicher Liebenswürdigkeit empfing, in Schönbrunn ihm zu Ehren
ein diplomatisches Diner veranstaltete und ihn dabei an der Schwelle
des Saales als seinen Gast begrüßte. – Das alles dreizehn Jahre nach
Sadowa!

Der Fürst denkt auch an die Gefahr, die dem neuen Reiche von der
Eifersucht Rußlands drohte, und wie sie unter dem Einfluß günstiger
Umstände und dank seiner klugen diplomatischen Schachzüge beseitigt
worden war; er erinnert sich mit Freude und Dankgefühl der schönen
Stunde, da im September 1884 auf dem Schlosse Skierniewice sich die
Kaiser von Deutschland, Österreich und Rußland in Freundschaft die
Hände reichten zu einem neuen Dreikaiserbündnis und zu einer Bürgschaft
des europäischen Friedens.

Und weiter gehen an seinem Geiste vorüber seine Bemühungen, den
Ruhm und Ruf der deutschen Flagge und des deutschen Namens über
die Weltmeere zu tragen und in fernen Weltteilen, zumal in Afrika,
Ländereien und Kolonien zu gewinnen, um dem deutschen Handel neue
Bahnen zu erschließen und ihn zu fördern und zu heben.

Er denkt aber auch in dieser Stunde der heißen Kämpfe, die er mit
einzelnen Richtungen der deutschen Volksvertreter im Reichstage
auszustreiten hatte, und wie er manchmal an das Wort des Altmeisters
Goethe erinnert wurde: »Ach, ich bin des Treibens müde!« Mehr als
einmal hat er sein Amt niederlegen wollen in die Hände seines
Kaisers, der aber hatte auf sein Entlassungsgesuch nur das eine Wort
geschrieben: »Niemals!«

Dem gewaltigen Recken will es feucht und heiß in die Augen steigen,
wenn er des vielgeliebten greisen Herrn denkt, und er entsinnt sich
des Wortes, das er einst vor den Vertretern des deutschen Volkes
gesprochen: »Nachdem ich im Jahre 1878 meinen Herrn und König nach dem
Nobilingschen Attentate in seinem Blute habe liegen sehen, da habe ich
den Eindruck gehabt, daß ich dem Herrn, der seinerseits seiner Stellung
und Pflicht vor Gott und den Menschen Leib und Leben dargebracht und
geopfert hat, gegen seinen Willen nicht aus dem Dienste gehen kann. Das
habe ich mir stillschweigend gelobt.«

Heute ist er siebzig Jahre alt geworden im Kampf, aber auch in Ehren.
Doch dieser Tag gehört nicht ihm allein, er gehört dem ganzen deutschen
Volke. – Daran denkt er jetzt, und langsam wendet er seine Schritte dem
Hause zu.

Schon am vorhergehenden Tage waren Glückwünsche und Geschenke in
überreicher Zahl von allen Seiten her eingetroffen, heute aber kamen
deren noch weit mehr.

Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit schenkte ihm zum Angebinde den
alten Besitz seiner Familie in Schönhausen, Schloß und Gut, das 1835 an
die Familie von Gärtner gekommen war; die deutschen Papierfabrikanten
hatten einen gewaltigen Eichenschrank gesendet, der in seinen schier
zahllosen Fächern und Schubladen aller Arten Papier und Kuverts,
Stahlfedern und Bleistifte von den kleinsten und dünnsten bis zu den
mächtigen Parlamentsstiften, kurz, alles Schreibmaterial in solcher
Menge enthielt, daß Enkel und Urenkel des Kanzlers es kaum aufbrauchen
werden. Das war ja in den Sälen eine kleine Industrieausstellung.
Dazu der überreiche Blumenschmuck, und die »Getreuen in Jever«, die
alljährlich zu diesem Tage aus dem Lande der Friesen 101 Kiebitzeier zu
senden pflegten, fehlten natürlich auch diesmal nicht, und hatten ihrer
Gabe das hübsche plattdeutsche Wort beigefügt:

    Säbentig Johr lewt,
    Uemmer dütsch strewt,
    Uemmer dütsch dahn:
    Lat wieder so gahn!

Das Schönste und Liebste aber war doch wohl die Gabe seines greisen
Herrn und Kaisers, jenes prachtvolle, von der Meisterhand Anton
von Werners gemalte Bild, welches die ewig denkwürdige Szene der
Kaiserproklamation im Schlosse zu Versailles in überaus lebensvoller
Weise zur Darstellung brachte.

Tiefgerührt stand der Kanzler vor dem Gemälde, das ihm einen der
herrlichsten Augenblicke seines Lebens vor die bewegte Seele stellte,
noch mehr aber ergriff ihn das Handschreiben seines Kaisers, welches
der Gabe beigefügt war. Er las es, während es sich wie ein leiser
feuchter Schleier über seine Augen legte. Es lautete:

        »_Mein lieber Fürst!_

    Wenn sich im deutschen Lande und Volke das warme Verlangen
    zeigt, Ihnen bei der Feier Ihres siebzigsten Geburtstages zu
    bestätigen, daß die Erinnerung an alles, was Sie für die Größe
    des Vaterlandes getan haben, in so vielen dankbaren Herzen
    lebt, so ist es Mir ein tiefgefühltes Bedürfnis, Ihnen heute
    auszusprechen, wie hoch es Mich erfreut, daß solcher Zug des
    Dankes und der Verehrung für Sie durch die Nation geht. Es
    freut Mich die für Sie wahrlich im höchsten Maße verdiente
    Anerkennung und erwärmt Mir das Herz, daß solche Gesinnungen
    sich in so großer Verbreitung kundgetan, denn es ziert die
    Nation in der Gegenwart, und es stärkt die Hoffnung auf ihre
    Zukunft, wenn sie Erkenntnis für das Wahre und Große zeigt,
    und wenn sie ihre hochverdienten Männer ehrt und feiert. An
    solcher Feier teilzunehmen, ist Mir und Meinem Hause eine
    besondere Freude, und wünschen Wir Ihnen durch beifolgendes
    Bild auszudrücken, mit welchen Empfindungen dankbarer
    Erinnerung wir dies tun; denn dasselbe vergegenwärtigt einen
    der größten Momente der Geschichte des Hohenzollernhauses,
    dessen niemals gedacht werden kann, ohne sich zugleich auch
    Ihrer Verdienste zu erinnern. Sie, mein lieber Fürst, wissen,
    wie in Mir jederzeit das vollste Vertrauen, die aufrichtigste
    Zuneigung und das wärmste Dankesgefühl für Sie leben wird,
    Ihnen sage ich daher mit diesem nichts, was ich Ihnen nicht oft
    genug ausgesprochen habe, und ich denke, daß dieses Bild noch
    Ihren späten Nachkommen vor Augen stellen wird, daß Ihr Kaiser
    und König und sein Haus sich dessen wohl bewußt waren, was Wir
    Ihnen zu danken haben. Mit diesen Gesinnungen und Gefühlen
    endige ich diese Zeilen, als über das Grab hinaus dauernd. Ihr
    dankbar treu ergebener Kaiser und König Wilhelm.«

Und unter allen den vielen, den hervorragenden Persönlichkeiten,
welche an diesem Tage in das Palais nach der Wilhelmstraße kamen, war
die herrlichste der greise Kaiser selbst. Es war der weihevollste,
ergreifendste Augenblick dieses Tages, als der Herrscher in tiefer
Bewegung seinen treuen Kanzler in die Arme schloß, als das Haupt
Bismarcks sich einige Sekunden an die Schulter des teuren Herrn lehnte,
dem er sich mit Blut und Leben verpflichtet hatte bis zum letzten
Atemzuge.

Solche Minuten mußten dem Recken neue Kraft geben zu weiteren
Kämpfen, die er herrlich und mannhaft durchfocht zur Ehre und zum
Segen des Deutschen Reiches und Volkes. Immer wieder das rachelustige
Säbelrasseln von Paris her, und auch in Rußland machte sich eine
deutschfeindliche Strömung bemerkbar. Da galt es beizeiten zu kräftiger
Abwehr zu rüsten, und eine Verstärkung des Heeres zu erlangen. Und
das deutsche Volk widerstrebte der wiederholt vorgetragenen Forderung
nicht, und Bismarck konnte aller Welt das herrliche Wort zurufen:

»_Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!_«

Das war am 6. Februar 1888 gewesen, und das Wort klang in vieltausend
deutschen Herzen wieder, denen in jenen Tagen ein solcher Trost
ungemein not tat. Denn das Unheil hatte sich leise und heimtückisch
herangeschlichen an das Kraftgeschlecht der Hohenzollern, und des
Kaisers herrlicher Sohn, der Kronprinz Friedrich, »unser Fritz«,
siechte fern von der Heimat, in Italien, an einem furchtbaren Leiden
hin, das aller Kunst der Ärzte spottete. Das griff auch dem greisen
Herrscher an Seele und Leben.

Er erkrankte in den ersten Tagen des März, und dumpfes, schmerzliches
Bangen erfaßte alle Gemüter.

Am 8. März hatte der treue Kanzler seinem Herrn noch einmal kurzen
Vortrag gehalten, und die schwache Hand des kranken Greises, der »keine
Zeit hatte, um müde zu sein«, hatte mit zitternden Händen noch einmal
den kaiserlichen Namen unter das Dokument gesetzt, welches den Schluß
des Reichstags verkünden sollte.

Tieferschüttert, nahezu hoffnungslos war Bismarck fortgegangen. Vor dem
Palais aber drängten sich Tausende voll Liebe und Besorgnis, und sie
sahen ihm in das ernste Gesicht, das eisern seine Fassung zu wahren
bemüht war.

Eine endlos lange, bange Nacht verstrich; die Besorgnis raubte dem
Kanzler und manchem anderen die Ruhe, angstvoll schaute man dem Morgen
entgegen, und in dessen Verlaufe geschah das Traurige. Am 9. März um
½9 Uhr vormittags schied Kaiser Wilhelm aus dem Leben – nicht lange
danach sank die Kaiserstandarte auf dem Schlosse nieder, und ein ganzes
Volk weinte um seinen liebsten Helden.

Das waren unvergeßliche Stunden: schmerzerstarrte Männer, schluchzende
Frauen, weinende Kinder überall! Bei dem edlen Toten aber stand noch
einmal an jenem Vormittage des Reiches erster Kanzler. Da ruht der
Greis, dem er sich ganz geweiht hatte, halb sitzend, zurückgelehnt in
die weißen Kissen, und auf dem Antlitz liegt der Zug seligen Friedens,
unbeschreiblicher Ruhe und Milde. Da überwältigt es beinahe den
gewaltigen Mann; ihm stürzen unaufhaltsam die Tränen aus den Augen,
und er braucht sich ihrer nicht zu schämen, denn wer dem stillen,
unvergeßlichen Toten nahte, der mußte weinen im Übermaß eines Jammers,
der das ganze Volk durchzitterte.

Aber den Kanzler ruft seine Pflicht.

Um ½10 Uhr erschien er, fest und stark, aufgerichtet und gefaßt im
Reichstagssaale. Er erbat sich das Wort, und unter tiefem, heiligem
Schweigen begann er:

»Mir liegt die traurige Pflicht ob, Ihnen die amtliche Mitteilung von
dem zu machen, was Sie bereits tatsächlich wissen werden, daß Seine
Majestät der Kaiser Wilhelm heute vormittag ½9 Uhr zu seinen Vätern
versammelt worden ist –.«

Hier drohten die Tränen die Stimme des Redners zu ersticken, er rang
mit seiner Rührung wie ein Held, und fuhr fort:

»Die Folge dieses Ereignisses ist, daß die preußische Krone und damit
nach Artikel 11 der Reichsverfassung die deutsche Kaiserwürde auf Seine
Majestät Friedrich III., König von Preußen, übergegangen ist. Nach den
mir zugegangenen telegraphischen Nachrichten darf ich annehmen, daß
Seine Majestät, der regierende Kaiser und König, morgen von San Remo
abreisen und in der gegebenen Zeit hier eintreffen wird.

Ich hatte von dem Höchstseligen Herrn in seinen letzten Tagen« –
wiederum rannen dem Redner die Tränen über die Wangen – »in Betätigung
der Arbeitskraft, die ihn erst mit dem Leben verlassen hat, noch
die Unterschrift erhalten, welche vor mir liegt, und welche mich
ermächtigt, den Reichstag in der üblichen Zeit nach Abmachung seiner
Geschäfte, das heißt also etwa heute oder morgen, zu schließen.
Ich hatte die Bitte an Seine Majestät gerichtet, nur mit dem
Anfangsbuchstaben des Namens noch zu unterzeichnen, Seine Majestät
hatten mir darauf erwidert, daß Sie glaubten, noch den vollen Namen
schreiben zu können. Infolgedessen liegt dieses historische Aktenstück
hier vor.

Unter den obwaltenden Umständen nahm ich an, daß es den Wünschen der
Mitglieder des Reichstages ebenso wie denen der verbündeten Regierungen
entsprechen wird, daß der Reichstag noch nicht auseinander geht,
sondern zusammen bleibt bis nach dem Eintreffen seiner Majestät des
Kaisers, und ich mache deshalb von dieser Allerhöchsten Ermächtigung
weiter keinen Gebrauch, als daß ich dieselbe als historisches Denkmal
zu den Akten gebe und den Präsidenten bitte, die Entschlüsse, welche
den Stimmungen und Überzeugungen des Reichstages entsprechen, in
dieser Sitzung herbeizuführen. Es steht mir nicht zu, meine Herren,
von dieser amtlichen Stelle aus den persönlichen Gefühlen Ausdruck zu
geben, mit welchen mich das Hinscheiden meines Herrn erfüllt. Diese
Gefühle bei dem Ausscheiden des ersten deutschen Kaisers aus unserer
Mitte, die mich tief bewegen, leben im Herzen eines jeden Deutschen.
Es ist deshalb nicht nötig, demselben hier Ausdruck zu geben. Aber
eines glaube ich Ihnen dennoch nicht vorenthalten zu dürfen, nicht von
meinen Empfindungen, sondern von meinen Erlebnissen, die Tatsache,
daß inmitten der schweren Schickungen, welche der von uns geschiedene
Herr in seinem Hause noch erlebt hat, es zwei Tatsachen waren, welche
ihn mit Befriedigung und Trost erfüllten. Die eine war diejenige,
daß die Leiden seines einzigen Sohnes und Nachfolgers, unseres jetzt
regierenden Herrn, in der ganzen Welt Teilnahme erregten. Ich habe
noch heute ein Telegramm aus Neuyork erhalten, das von Teilnahme
erfüllt war und das Vertrauen beweist, das sich die Dynastie des
deutschen Kaiserhauses bei allen Nationen erworben hat. Das ist ein
Erbteil, kann ich wohl sagen, was des Kaisers lange Regierung dem
deutschen Volke hinterläßt. Das Vertrauen, das sich die Dynastie
erworben hat, wird sich auf die Nation übertragen. Die zweite Richtung,
in der Seine Majestät einen Trost gefunden hat bei den schweren
Schickungen, war diejenige, daß der Kaiser auf die Entwicklung
seiner Hauptlebensaufgabe, der Herstellung und Konsolidierung der
Nationalität des Volkes, dem er als deutscher Fürst enge angehörte,
daß der Kaiser auf die Entwicklung, welche die Lösung dieser Aufgabe
inzwischen genommen hatte, mit einer Befriedigung zurückblickte, die
den Abend seines Lebens verschönte und erleuchtete. Es trug dazu
namentlich in den letzten Wochen die Tatsache bei, daß mit seltener
Einstimmigkeit aller Dynastien, aller verbündeten Regierungen, aller
Stämme in Deutschland, aller Abteilungen des Reichstags, dasjenige
beschlossen wurde, was für die Sicherstellung der Zukunft des Deutschen
Reiches auf jede Gefahr hin, die uns bedrohen könnte, als Bedürfnis
von den verbündeten Regierungen empfunden wurde. Diese Wahrnehmung
hat Seine Majestät mit großem Troste erfüllt, und noch in den letzten
Unterredungen, die ich mit meinem dahingeschiedenen Herrn gehabt
habe – es war gestern – hat er darauf Bezug genommen, wie ihn dieser
Beweis der Einheit der gesamten deutschen Nation, wie er durch die
Volksvertretung hier verkündet worden ist, gestärkt und erfreut hat.
Ich glaube, meine Herrn, es wird für Sie alle erwünscht sein, das
Zeugnis, das ich aus eigener Wahrnehmung aus den letzten Äußerungen
unseres dahingeschiedenen Herrn ablegen kann, mit in Ihre Heimat zu
nehmen, da jeder einzelne von Ihnen einen Anteil an diesem Verdienste
hat. Die heldenmütige Tapferkeit, meine Herrn, das nationale Ehrgefühl,
die treue, arbeitssame Pflichterfüllung und die Liebe zum Vaterlande,
die in unserem dahingeschiedenen Herrn verkörpert waren, mögen sie ein
unzerstörbares Erbteil unserer Nation sein, das uns der aus unserer
Mitte geschiedene Kaiser hinterlassen hat. Das hoffe ich zu Gott, daß
dies Erbteil von allen, die wir an den Geschäften des Vaterlandes
mitzuwirken haben, im Krieg und Frieden, in Heldenmut und Hingebung,
Arbeitsamkeit und Pflichttreue bewahrt bleibe.«

Lautlose Stille folgte den Worten, die Abgeordneten, selbst jene der
sozialdemokratischen Partei, hatten sich von ihren Sitzen erhoben, der
Reichskanzler aber, der sein Schluchzen kaum mehr verhalten konnte,
hatte sich in seinen Sessel zurückgelehnt und schlug die Hände vor das
Antlitz. Es war ein erschütternder Anblick, den gewaltigen Mann, den
eisernen Kanzler, weinen zu sehen um seinen toten Kaiser.

Der Präsident von Wedell-Piesdorf schloß mit wenigen Worten die ewig
denkwürdige Sitzung, und nun schritt Bismarck von seinem erhöhten
Platze hinab in das Haus. Sein Blick haftete auf seinem treuen
Genossen, dem greisen Feldmarschall Moltke, der trotz der Nachtwachen,
trotz der Anstrengung und Aufregung der letzten Tage seiner Pflicht
getreu, seinen Sitz im Abgeordnetenhause eingenommen hatte. Er trat dem
Kanzler entgegen, und die Hände der beiden Männer fanden sich zu einem
beredten Drucke. Sprechen konnte zunächst keiner von ihnen, die Tränen
standen beiden in den Augen – es war eine ergreifende historische
Szene. Endlich faßte sich Bismarck, mit wärmerem Drucke der Hand sprach
er, und seine Stimme bebte:

»Uns beide hält des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr im Gleise!«

Der Dienst aber rief den Kanzler zur Begleitung und Heimholung des
neuen Kaisers Friedrich III. Der deutsche Himmel war nicht freundlich,
als der kranke Dulder heimkam. Es war, als liege Trauer und Schmerz
ausgebreitet durch das Land und durch die Lüfte. Als Bismarck, der
seinem neuen Herrn bis Leipzig entgegengefahren war, mit diesem nach
seinem Lande, in die Mitte seines bange und traurig harrenden Volkes
eilte, schnob der Ostwind eiskalt durch die Straßen, und der Sturm
wehte winterliche Flocken wild durcheinander, und in derselben Nacht,
um die Mitternachtsstunde, in der kein Stern vom Himmel leuchtete, und
nur die trübe flackernden, schneeverhüllten Gaslaternen und tiefrot
qualmende Fackeln die erschütternde Szene erhellten, ward die Leiche
Kaiser Wilhelms nach dem Dome überführt.

Dem Trauergottesdienst selbst vermochte Bismarck in seiner tiefen,
gramvollen Ergriffenheit nicht beizuwohnen, auch Moltke blieb fern
– beides auf Wunsch des neuen Kaisers, der ja selbst nicht seinem
toten Vater das letzte Geleit geben konnte, aber am 16. März, als der
teure Verblichene hinausgeleitet wurde nach dem stillen Mausoleum in
Charlottenburg, um dort neben seinen Eltern beigesetzt zu werden, da
fehlte der Kanzler nicht.

Als der Trauerzug die Schloßterrasse betrat, – es war etwa um ½4 Uhr,
erschien oben an einem Fenster eine hohe Gestalt in Generalsuniform,
das Orangeband des Schwarzen Adlerordens über der breiten Brust. Die
Hand winkte mit dem Taschentuche wehmutsvolle Grüße, und die stattliche
Erscheinung schien ab und zu wie von gewaltsamem Schluchzen durchbebt
zu werden. So schied der kranke Kaiser Friedrich von dem toten Kaiser
Wilhelm, der Sohn von dem heißgeliebten Vater …

Nun folgte die Regierung der 99 Tage, und solchen Heldenmut hat die
Welt selten geschaut, wie Kaiser Friedrich ihn zeigte. »Lerne leiden,
ohne zu klagen!« war sein schönes Wort, und treue Pflichterfüllung bis
in den Tod seine schöne Tat.

In ein freundliches, hohes Gemach des lieblichen, stilltraulichen
Schlosses Charlottenburg fiel der Schimmer des Frühlings. Vor den
Fenstern draußen lachten die Blüten von Baum und Strauch, und die Vögel
jauchzten, der kranke Kaiser aber saß in seinem Sessel zurückgelehnt,
zusammengebeugt, und wendete das bleiche Gesicht seinem Kanzler zu, der
vor ihm saß und ihm Vortrag hielt. Über das Antlitz Bismarcks lief ab
und zu ein leises Zucken, wie von mühsam unterdrücktem Schmerz, und der
Kaiser fragte:

»Ihnen ist nicht wohl, lieber Fürst?«

»Mein altes Nervenleiden, Majestät – die Neuralgie setzt mir wieder
einmal zu, aber man muß darüber wegkommen.«

Da erhob sich der Herrscher und zog einen Sessel heran; auf diesen
legte er die Füße seines treuen Beraters, und, damit noch nicht
zufrieden, ließ er eine Decke herbeibringen und wickelte dieselben
darin ein. Ein Gefühl tiefer Rührung erfaßte den Kanzler; der Kaiser,
kränker als er selbst, sorgte in so gütiger Weise für ihn … Der echte
Sohn des großen, edlen Hohenzollern, der ihm Herr und Freund zugleich
gewesen war.

Kaiser Friedrich war nach dem bei Potsdam gelegenen schönen
Friedrichskron übergesiedelt – – aber nur, um dort zu sterben. Am 14.
Juni hatte Bismarck den kaiserlichen Herrn noch einmal gesehen und noch
einmal den warmen Druck seiner Hand gefühlt; zu sprechen vermochte der
große Dulder beinahe nicht mehr – und einen Tag später starb der edle
Fürst.

Zum zweiten Male in kurzer Frist stand das deutsche Volk an der Bahre
seines Kaisers, und unsagbares Weh durchzitterte die Brust des greisen
Kanzlers. Aber er richtete sich auf in dem Gedanken, daß in dem Enkel
seines großen Kaisers der Geist desselben fortleben werde, und ihm
widmete er nun seine Treue und Liebe. – – –

Zum zweiten Male hatte Deutschland die schmerzliche Erinnerung an den
Tod Kaiser Wilhelms begangen – da fiel in den Nachklang dieser Stimmung
eine Kunde, welche alle Herzen mächtig bewegte: Im »Reichsanzeiger« vom
20. März 1890 stand es zu lesen, daß Fürst Bismarck und mit ihm seine
beiden Söhne aus dem Staatsdienst ausgetreten seien. Die Hand, welche
so lange das Staatsschiff sicher und fest geleitet, zog sich zurück von
dem Steuer – was mußte dazu veranlaßt haben?

Seltsame Kunden liefen von Mund zu Mund und durch die Spalten
der Blätter – absolut Sicheres war nicht festzustellen. Eine
Meinungsverschiedenheit sei zwischen dem Fürsten und dem jungen Kaiser
entstanden – das war zuletzt alles, was im Bewußtsein des deutschen
Volkes deutlich ward und dieses bis in die weitesten Schichten hinein
schmerzlich berührte.

In hohen Gnaden entließ Kaiser Wilhelm II. den treuesten Ratgeber
der Hohenzollernkrone – er ernannte ihn zum Herzog von Lauenburg und
zum Generalobersten, aber die Bitterkeit konnte er nicht bannen aus
dem Herzen des Mannes, der die Empfindung hatte, als solle er in die
Verbannung gehen. Aber er hatte den Trost, daß die Liebe mit ihm ging,
wohin er sich auch wenden mochte.

Noch einmal hatte der Fürst seinen guten alten Kaiser aufgesucht in
seiner stillen Gruft im Mausoleum in Charlottenburg. Von ihm mußte
er Abschied nehmen, ehe er Berlin verließ, so wie der treue Soldat,
der abkommandiert wird von seinem Posten, sich noch einmal bei
seinem Vorgesetzten meldet. Das freundliche blaue Licht übergoß den
weihevollen Raum und zitterte weich auf den Marmorbildern, der Kanzler
aber war an den Sarkophag seines heißgeliebten Herrn herangetreten und
neigte schwer das Haupt. Kein Menschenauge hat es gesehen, kein Herz
es nachempfunden, was in jener Stunde durch die Seele des gewaltigen
Mannes ging … Dann fuhr er nach Berlin zurück, und nun – nachdem der
heiligsten Pflicht genügt war – hatte er hier nichts mehr zu tun.

Am 29. März verließ er das kleine Palais in der Wilhelmstraße, wovon
durch so lange Jahre der Hauch seines Geistes bewegend und belebend
ausgegangen war durch die ganze Welt, und der Abschied sollte ihm nicht
leicht werden. Nicht die Erinnerungen allein erschwerten dem Fürsten
denselben, sondern auch die gewaltig an ihn herandringende Liebe des
Volkes. Was galt aller Parteizwist in einer solchen Stunde!

Die Wilhelmstraße vermochte die Menschenmenge nicht zu fassen, welche
am Nachmittage jenes 29. März sie durchwogte. Um die fünfte Stunde
waren die Wagen vorgefahren, und nun erschien der Kanzler mit den
Seinen, einen letzten, bedeutsamen Blick noch zurückwerfend. Als
aber die Tausende, die seiner harrten, ihn erblickten, da brach ein
Brausen und Rufen aus, eine elementare Begeisterung, in welcher
Liebe, Verehrung und Dankbarkeit ihren Ausdruck suchten. Stürmische
Hochrufe wiederholten sich immer aufs neue, Blumenspenden wurden von
hundert Händen herangereicht, und so dicht wogte die Volksmenge, daß
die Wagen nur langsam zu fahren vermochten. Das war kein Vergessener
und Verstoßener, es war ein Triumphator, der wegzog von der Stätte
jahrzehntelangen Wirkens, um die wohlverdiente Ruhe zu suchen.

In allen Straßen dasselbe Bild – die schweigend, in ernster, wehmütiger
Weise harrende Menge, die, sobald der Wagen Bismarcks herankommt,
in endlose begeisterte Rufe ausbricht, die trotz der zahlreichen
Schutzmannschaften durch alle Schranken drängt, um dem geliebten Manne
den letzten Gruß, die letzte Blumenspende zu bieten.

So war der Wagen am Lehrter Bahnhof angekommen und an den kaiserlichen
Gemächern vorgefahren. Der Fürst stieg aus, und in der Vorhalle
blieb er stehen, während die Menge der Nachdrängenden nur mit
größter Anstrengung so weit zurückgehalten werden konnte, daß
für den Scheidenden und die Seinen ein Weg freiblieb; er sah mit
feuchtschimmernden Augen noch einmal zurück und winkte mit der Hand zu
Gruß und Dank.

Hell und warm lag die Frühlingssonne über dem ergreifenden Bilde; sie
blitzte auf den blanken Gardekürassieren, deren eine Schwadron dem
Fürsten das Ehrengeleite gab, auf den Helmen der Schutzleute und in den
Tränen von Hunderten.

Weiter schritt der Fürst nach den Gemächern, und überall streckten sich
ihm hier die Hände entgegen zu herzlichem Abschied. Hohe Offiziere,
Diplomaten, die Gesandten fremder Staaten, der neue Kanzler von Caprivi
– alle waren sie gekommen, ihm ihre Verehrung und Freundschaft zu
bekunden, und zarte Frauenhände reichten ihm auch hier immer neuen und
herrlicheren Blumenschmuck.

Nun schritt er langsam hinab nach dem Perron auf blütenüberstreutem
Wege. Der Trompetenklang der Kürassiere erschallte, an ihrer
Front vorüber ging er hochaufgerichtet, selbst in der Uniform der
Seydlitz-Kürassiere, seinem Wagen zu. Nun aber ließ sich die Menge
nicht mehr halten. Durch die geöffneten Türen der Wartesäle flutete
es heraus in breitem Strome und umringte den Wagen des Gefeierten, in
welchem dieser mit den Seinen in einer Fülle von Blumen Platz gefunden
hatte. Mit einem beinahe wehmutsvollen Blick streift sein Auge über
die herrliche Blumenspende, die mit dem schwarz-weiß-roten Bande
umflochten ist, – der Abschiedsgruß des Kaisers; die Fürstin aber hat
den prächtigen Korb voll Flieders an sich herangezogen, die Spende der
Kaiserin, und neigt sich darüber.

Nun trat Bismarck wieder an das Fenster und schaute tiefbewegt hinaus
auf die Tausende. Da pfiff die Lokomotive. Ein brausender, nicht
endenwollender Ruf: »Wiederkommen!« durchzitterte die Luft, der Kanzler
aber legte bedeutsam, beinahe unmutig den Zeigefinger an den Mund. Das
letzte Glockenzeichen erklang, ein Kommando der Kürassiere erscholl,
und ehern standen ihre präsentierenden Reihen, während die Musik einen
Marsch anstimmte. Dazwischen schallte der brausende Gesang der »Wacht
am Rhein«, die immer erneuten Zurufe: »Wiederkommen!« – »Lebewohl!«
und das stürmische »Hoch«, das noch immer nicht verhallt, als der Zug
bereits den Bahnhof verlassen hat und den Kanzler hinwegführt in die
friedliche Stille des Sachsenwaldes.



Dreizehntes Kapitel.

Im Abendrot.


Wer von Berlin nach Hamburg fährt, passiert den Sachsenwald mit
seinen einzigen, herrlichen Buchenbeständen, die nur da und dort von
dem dunkleren Grün des Nadelholzes unterbrochen werden. Etwa eine
Meile von Hamburg entfernt liegt die Station _Friedrichsruh_, ein
kleines Örtchen mitten im Buchenwald, an dem munteren Flüßchen Aue
gelegen. Hier ist die Residenz des »Herzogs von Lauenburg«, des ersten
deutschen Reichskanzlers. Das Besitztum mit dem reichen Grund und Boden
ringsumher hat ihm die Huld seines alten kaiserlichen Herrn nach dem
großen Kriege im Jahre 1871 geschenkt, hier hat er seinen Ruhesitz
gefunden, nachdem er aus dem Amte und aus Berlin weggegangen war.

Sein Schloß, das er eigentlich erst sich erbaut hat, ist nicht
prunkvoll und stattlich, wohl aber traulich und behaglich. Ringsum
rauschen die mächtigen Buchen und verhüllen mit ihren dichten grünen
Kronen das freundliche Haus und lassen beim Näherkommen nur die rote
Umzäunungsmauer des Parkes schauen. Eine schmale Pforte in derselben
führt uns in die anmutige Idylle hinein; das gelblich getünchte
schmucke Wohnhaus lacht uns entgegen, so gastlich und lieb, daß ein
warmes Behagen davon auszugehen scheint. Auf dem Vorplatze ragt eine
mächtige Tanne empor, ein Riese der Vorzeit, wie ein Symbol der Kraft
des Mannes, der sich hier seinen Herd gebaut hat. Die pyramidenartig
verlaufende Krone hebt sich hoch hinauf nach dem blauen Himmel. Kein
Vestibül nimmt uns auf, aus dem Korridor geht es sogleich hinein in das
Wohnzimmer und in die Reihe der Familiengemächer, aus deren Fenstern
der Blick gern hinausschweift in den grünen Park, auf spiegelnde
Wasserflächen und prachtvolle Baumgruppen.

Hier wohnt der Gewaltige, friedlich und still, im Kreise der Seinen,
und sieht wie der Adler aus freier Höhe herab auf das Treiben seiner
Tage und freut sich an der Verehrung und Liebe des deutschen Volkes,
die ihm auch hierher gefolgt ist. Seine Kinder und Enkel suchen ihm den
Abend seiner Tage zu verschönen, und oft genug kommen Gäste aus allen
Teilen Deutschlands nach dem ruhigen Sachsenwalde.

Wiederum feierte er seinen Geburtstag. Freundlich war die Sonne
aufgegangen über dem Sachsenwalde, und wenn auch der Frühling noch
nicht seinen Einzug zwischen die Baumriesen gehalten hatte, so blaute
doch der Himmel verheißungsvoll, und an den Waldrändern läuteten die
Blütenglocken.

Der nahezu achtzig Jahre alte Fürst hatte sich zur gewohnten
Morgenstunde erhoben, frisch und kraftvoll, und hatte mit herzlicher
Freude und Dank die Glückwünsche seiner Familie entgegengenommen sowie
jene der bereits eingetroffenen Gäste. Um die elfte Stunde betrat
er das Empfangszimmer, und hier lag ringsum ausgebreitet die Fülle
der Gaben, welche die Liebe des deutschen Volkes aus allen Gauen des
Reiches dem verehrten Manne übersandt hatte. Hunderte von Kisten waren
schon tags zuvor eingetroffen und ausgepackt worden, und nun stand
alles wohlgeordnet: Erzeugnisse der Kunst und des Gewerbes, Spenden
der Wissenschaft und der fleißigen Frauenhand, und dazwischen ein
Blumenschmuck, als sei in diesem Saale selbst der Frühling voll erblüht.

Im tiefsten Herzen ergriffen stand der Reichskanzler inmitten dieser
Spenden, und dann schritt er an ihnen entlang, jedes einzelne
beschauend, an allem sich freuend, gleichviel ob es seinen Wert an sich
hatte oder ihn erst erhielt durch die Liebe des Gebers.

Da klangen feierlich und getragen die Klänge eines Chorals in den Saal;
der Fürst horchte einen Augenblick auf, dann trat er, begleitet von
den Seinen, hinaus auf die freundliche Terrasse auf der Rückseite des
Schlosses. Da stand eine Militärkapelle und spielte die ergreifend
fromme Weise, welche das Morgenständchen einleitete, welches sie dem
alten Kanzler darbringen wollte.

Es war ein schönes Bild: Im Vordergrunde unter den alten Bäumen die
Musiker in ihren bunten Uniformen, umringt von einem kleinen Kreise
derer, die Zutritt zu dem Parke erlangt hatten, und jenseits desselben
auf grünem Wiesengrunde, der von den dunklen Rahmen des Föhrenwaldes
sich freundlich abhob, und von welchem aus die Schloßterrasse voll zu
überschauen war, eine bewegte, dichtwogende Menschenmenge, die von nah
und fern herbeigeeilt war. In dem Saale aber, der nach der Terrasse
sich öffnete, standen die Festgäste, Herren und Damen, und sahen mit
freudiger Teilnahme auf den herrlichen Mann, der im Interimsrock der
Kürassiere, die weiße Mütze auf dem mächtigen Haupt, hochaufgerichtet
dastand und in den sonnigen Frühlingsmorgen, in die ihm zulachende Welt
hinausblickte.

Von der Wiese herüber aber brausten in die Klänge der Musik die
lautschallenden, begeisterten Hochrufe der Menge, die ihn heraustreten
sah, und ihm ihren stürmischen Liebesgruß sandte. Da winkte er mit
der Hand hinüber zu freundlichem Danke, und lauter noch jauchzte die
Begeisterung auf.

Dann trat er auf den Kapellmeister zu und reichte ihm die Rechte mit
leutseligen Worten, und aufs neue erklangen die Weisen der Musik,
jetzt heller und frischer, und ihnen reihten sich Liederklänge an,
denn ein stattlicher Sängerchor aus Hamburg oder Altona war angekommen
und brachte seine Grüße und seine Huldigung. Und in dem Parke hallte
es wider, und die Menge auf der Waldwiese, deren Zahl immer mehr
anwuchs, stand und lauschte und harrte der Stunde entgegen, da es auch
ihr vergönnt sein würde, den Gefeierten aus größerer Nähe begrüßen zu
können.

Fast ward es zuviel für den beinahe Achtzigjährigen, und sein treuer
ärztlicher Hüter, Dr. Schweninger, bat endlich für ihn um ein Stündchen
Ruhe.

So ging der Apriltag hin und kündete dem alten Reichskanzler immer neu
und beredt die Liebe eines ganzen Volkes, das nicht von ihm lassen
konnte, und das immer wiederum alles dessen gedenken mußte, was
Deutschland seinem Bismarck verdankte.

Nur ein bitterer Tropfen blieb in seiner Seele, eine Verstimmung, die
wie ein Schatten zwischen ihm und dem jungen Kaiser lag. Er hatte das
Empfinden, als hätte ihn derselbe nicht _so_, eben so ziehen lassen
dürfen. Was galten ihm die äußeren Ehren, die ihm zum Abschied noch
angetan worden waren, ein Herzenswort und eine Herzenstat hätten ihm
weit schwerer gewogen.

Das deutsche Volk aber fühlte wie einen kältenden Hauch die Entfremdung
zwischen dem Enkel des großen Kaisers Wilhelm und dem treuesten
Paladin des letzteren, und hoffte in tiefster Seele, daß auch hier ein
Frühlingstag kommen möge, der diesen Hauch hinwegfegen werde. Und des
Volkes Hoffen sollte nicht betrogen werden.

Es lebt echtes, hochherziges Hohenzollernblut auch in Kaiser Wilhelm
II., und so war er es, der dem Alt-Reichskanzler die Hand reichte zum
freundlichen Bunde. Durch ganz Deutschland flog es wie ein warmer
Lichtstrahl, als erzählt ward, wie der Herrscher dem Fürsten, der von
einem heftigen Krankheitsanfall in einem süddeutschen Bade Genesung
gesucht hatte, eines seiner Schlösser für die Zeit der Rekonvaleszenz
zum Aufenthalt anbot, und wie er ihm manche Aufmerksamkeit erwies, wie
nicht der Kaiser seinem Untertan, sondern der Freund dem Freunde sie
zu erweisen bemüht ist, und noch erfreuter schlug des deutschen Volkes
Herz, als die Kunde erscholl, daß Fürst Bismarck nach Berlin kommen
und persönlich dem jungen Herrscher für sein huldvolles Entgegenkommen
danken werde.

Am 26. Januar 1894 war es, als die erwartungsvolle Hauptstadt des
Reiches der Ankunft des greisen Kanzlers entgegenharrte. Die Sonne war
herrlich aufgegangen, als wolle sie ihn freundlich mitbegrüßen, und
die Straßen vom Lehrter Bahnhofe nach dem Königlichen Schlosse waren
durchwogt von freudig erregten Menschen. Die breite Straße Unter den
Linden hatte reichen Flaggenschmuck angelegt, vom Zeughaus und dem
Kommandogebäude wehten die Fahnen, und auf dem Königsschlosse prangte
die gelbe Kaiser- und die rote Königsstandarte.

Immer dichter wurde das Menschengewühl, und lebhafter wurde die
Bewegung, als im hellen Sonnenglanz eine Abteilung Garde-Kürassiere
nach dem Bahnhofe ritt, um das Ehrengeleit für den Fürsten zu bilden.

Bald nach den glänzenden Reitern – es war um die Mittagszeit – fuhr ein
offener kaiserlicher Wagen durch die Straße, umbraust von Hoch- und
Hurrarufen: Des Kaisers Bruder, Prinz Heinrich, fuhr nach dem Lehrter
Bahnhofe, um den Ankommenden im Namen des Herrschers zu begrüßen.
Er dankte mit freudigem Gesichte dem jubelnden Volke und den an der
Moltkebrücke in vollem Wichs aufgestellten studentischen Verbindungen.

Auf dem Lehrter Bahnhofe hatten sich eine größere Anzahl hochgestellter
Persönlichkeiten und Freunde des Fürsten eingefunden. Kurz nach ein
Uhr fuhr der Zug ein, und Prinz Heinrich trat auf den Salonwagen zu,
an dessen Fenster sich bereits das markige Antlitz Bismarcks gezeigt
hatte. Nun stieg dieser aus, und der Prinz bewillkommnete ihn auf das
herzlichste und bot ihm seinen Arm.

Wohl hatte sich die Sonne wieder verhüllt, aber auch das trübere Licht
vermochte dem ergreifenden Bilde nichts von seiner Wirkung zu nehmen.
Auf den Arm des Kaisersohnes gestützt, schritt der greise Kanzler in
seiner Kürassieruniform, langsam, aber aufrecht einher, das ehrwürdige
Angesicht leuchtend vom Widerschein schöner freudiger Bewegung. Die
Tausende aber, die vor dem Bahnhofe seiner harrten, brachen bei seinem
Anblick in endlose Jubelrufe aus, die sich fortsetzten, wo immer der
kaiserliche Galawagen mit seinen beiden Insassen auftauchte. Die
Fenster des letzteren waren freilich wegen des kalten winterlichen
Hauches und mit Rücksicht auf die Gesundheit des Fürsten geschlossen
worden, aber sein freundliches Gesicht war doch sichtbar hinter den
Scheiben und begeisterte das Volk, das in musterhafter Ordnung in fünf
bis sechs Reihen dicht hintereinander stehend den Mittelweg Unter den
Linden besetzt hielt vom Brandenburger Tor bis an die Brücke.

Da tauchten die alten Erinnerungen wieder auf an die glanzvollen
Tage, welche Deutschland unter Kaiser Wilhelm I. und seinem Kanzler
geschaut hatte, an den Siegeseinzug von 1866 und nach 1870, und
sehnsuchtsvoller, dankbarer schlugen die Herzen dem herrlichen Manne
entgegen, dessen Name mit jener gewaltigen Zeit auf ewig verbunden war.

An allen Fenstern drängten sich die Köpfe, ja, von den Kandelabern der
Straßenlaternen herab schauten neugierig-mutwillige Knabengesichter,
und die Schutzmannschaft nahm es heute nicht übel, wenn hier und da
wohl auch einer auf einem Lindenast einen Sitz gefunden hatte.

Die Wachtparade war zur gewohnten Zeit, kurz vor ein Uhr, mit
klingendem Spiele nach dem Schlosse gezogen, und ihre Musikklänge
erhöhten die freudige Stimmung der Menge. Eine geraume Viertelstunde
später blinkten vom Brandenburger Tor her die Helme der
Garde-Kürassiere, und mit ihnen kam ein Brausen und Rufen, das sich
von Mund zu Mund fortpflanzte, immer anwachsend und immer stürmischer.
Eine Abteilung berittener Schutzleute jagte im stürmischen Ritt über
den Reitweg, näher kamen die Kürassiere, und hinterher der kaiserliche
Wagen.

Viel zu schnell für die Begeisterung der Menge, welche noch hinter ihm
dreinklang, war er vorüber, und die Blicke folgten ihm nach, wie er
seinen Weg verfolgte nach dem königlichen Schlosse zu.

Im Lustgarten standen die Bürgersteige gleichfalls voll dichtgedrängter
Menschen, die alle nach der Residenz hinüberschauten, vor deren Eingang
sich das bewegte Leben widerspiegelte, das heute in ihr herrschte.
Hofequipagen rollten heran und hinweg, Offiziere und Hofbeamte eilten
hin und her, herrlicher Blütenschmuck mitten im Winter war in reichster
Fülle herbeigebracht, und alles machte den Eindruck, daß man einen
lieben, hochzuehrenden Gast erwarte.

Die vom zweiten Garderegiment gestellte Ehrenkompagnie rückte
mit klingendem Spiele an und nahm zwischen den beiden Portalen
Aufstellung, und um die erste Mittagsstunde erschien der Kaiser. Er
trug die Kürassieruniform, und, mit begeistertem Morgengruß von seinen
Grenadieren empfangen, schritt er langsam deren Front entlang und trat
dann durch das Schloßportal zurück.

Unter den schmetternden Klängen der Musik schritt der Fürst neben dem
Prinzen Heinrich an der Front der präsentierenden Grenadiere hin, und
nun war kein Halten mehr für die immer stürmischer vordrängende Flut
des Volkes. Über den freien Platz vor dem Schlosse wogte sie heran,
schnell und immer schneller, und bald war der Gefeierte umringt von
den Tausenden, die nach seinen Händen, nach dem Saume seines Paletots
faßten, um ihm ihre Liebe und Verehrung zu bezeigen.

Jetzt betrat er das Schloß, durchschritt in dem ersten der für ihn
bestimmten Gastgemächer die Reihe des kaiserlichen Hauptquartiers – und
im zweiten stand er Kaiser Wilhelm II. selbst gegenüber, Auge in Auge,
Hand in Hand, und niemand war Zeuge dieser Begrüßung, deren Bedeutung
aber nachempfunden wurde, soweit die deutsche Zunge klingt.

Schöner konnten die freundschaftlichen Beziehungen des Herrschers zu
dem treuen Berater seines Hauses freilich kaum angedeutet werden, als
bei der Frühstückstafel, welche im allerengsten Kreise eingenommen
wurde. Zwischen dem Kaiser und der Kaiserin saß der Alt-Reichskanzler,
und niemand störte die freundliche Weihe dieser Stunde.

Dann war Kaiser Wilhelm auch auf die Ruhe seines Gastes bedacht, der
sich auf seinen Wunsch einige Zeit in seine Gemächer zurückzog. Aber
nicht für lange, denn ein solcher Tag konnte nicht zur Rast bestimmt
sein, und der Fürst zeigte, daß er trotz Alters und Unwohlseins noch
immer »der eiserne« Kanzler war. Um 4 Uhr nachmittags, nachdem ihm
schon vorher sein Amtsnachfolger General von Caprivi und sämtliche
Staatssekretäre durch Abgabe ihrer Karten begrüßt hatten, fuhr er bei
der Witwe Kaiser Friedrichs vor, um ihr seine Ehrerbietung zu beweisen,
und nach 6 Uhr fand er sich an der kaiserlichen Tafel ein, an welcher
außer dem kaiserlichen Paare auch König Albert von Sachsen und Graf
Herbert Bismarck teilnahmen.

Aufs neue aber begann sich die Volksmenge Unter den Linden
zusammenzuscharen, um den Fürsten auch bei seiner Abreise zu begrüßen.
Heller Lichtglanz flutete aus den Fenstern »Unter den Linden«, als um
7 Uhr 10 Minuten die Gardereiter durch die breite, prächtige Straße
ritten und hinter ihnen her der Galawagen rollte, in welchem diesmal
Kaiser Wilhelm II. selbst seinem Gaste das Geleit gab.

Auch der Lehrter Bahnhof war von vollem Lichtglanz erhellt, dessen
Schein die Gruppen der hohen Offiziere und des kaiserlichen
Hauptquartiers beleuchtete, das in erwartungsvollem Schweigen auf dem
Perron stand. Langsam schritt Bismarck zur Seite des Kaisers heran,
nach dem Salonwagen. Noch einmal fügte sich Hand in Hand, und in
sichtlicher Bewegung zog der junge Herrscher den greisen Recken näher
heran zu sich und küßte ihn wiederholt auf die Wangen.

Nun bestieg Bismarck den Salonwagen; entblößten Hauptes stand er an dem
Fenster und sah hinaus auf seinen Kaiser, der noch immer in huldvoller
Weise redete.

Das letzte Glockensignal verklang – – in die weithin schallenden
Hochrufe mischte sich der brausende Gesang:

    Deutschland, Deutschland über Alles,
    Über alles in der Welt!

Und den Nachhall dieses Liedes in gehobener Seele, fuhr der eiserne
Kanzler wieder heimwärts nach seinem stillen Sachsenwalde. Der
darauffolgende Besuch des Kaisers in Friedrichsruh besiegelte die
Versöhnung. Der letzte Schatten war gewichen aus seiner Brust, der
volle Friede eines großen, segensreichen, abgeschlossenen Wirkens
erfüllte ihn und verklärte wie ein mildes Rot den Abend seiner Tage.

       *       *       *       *       *

Er sollte seinen lieben, stillen Sachsenwald nicht mehr verlassen. Mit
der gelassenen Ruhe des großen Mannes schaute er von seiner friedlichen
Warte den Welthändeln zu, glücklich im Kreise der Seinen, und immer
aufs neue erfreut durch die mannigfaltigen Kundgebungen der Liebe und
Verehrung seines deutschen Volkes, die ihn auch in seinem weltfernen
Asyl aufsuchten.

Da traf ihn der herbe Verlust seiner Gemahlin, die wie ein guter,
treuer Kamerad mit ihm durch das Leben gegangen, und die ihm innig
an das Herz gewachsen war. Seitdem sah ihn das Dasein mit immer
trüberen Augen an, und seine eigene Gesundheit kam immer mehr ins
Wanken. Und auch die treueste, hingebendste Liebe seiner Familie, die
aufopfernde Pflege seines Leibarztes Dr. Schweninger konnten zuletzt
das Unaufhaltsame nicht mehr aufhalten.

Es war der Sommer des Jahres 1898 gekommen und breitete seinen Schimmer
über den grünen Sachsenwald. Aber im Herrenhause zu Friedrichsruh
hegten liebende Herzen bange Besorgnisse. Der greise Fürst rang mit
immer wiederkehrenden Beschwerden, und wenn seine starke Natur auch
vorübergehend zu siegen schien, der heimtückische Gegner, mit dem er
kämpfte, setzte sein furchtbares Werk fort und brachte es jählings zu
Ende.

Am 28. Juli abends hatte der Fürst im Kreise der Seinen bei einem Glase
Wein gesessen, die geliebte Pfeife geschmaucht und sich lebhaft und
heiter wie in früheren Tagen unterhalten; am 30. vormittags las er
seine Zeitungen, frühstückte in gewohnter Weise und klagte scherzend
über den geringen Zusatz von Wein zu dem ihm gereichten Wasser. An dem
Nachmittag desselben Tages brach er zusammen, und um die elfte Stunde
der Nacht trat ihm schon der Tod an das große, treue Herz. Um ihn
stand seine Familie, ihm zur Seite der treue Leibarzt, der die letzten
Atembeschwerden ihm zu lindern bemüht gewesen, indes des Fürsten
edle Tochter, die Gräfin Rantzau, ihm den Todesschweiß von der Stirn
trocknete. Ihr galt des Sterbenden letztes Liebeswort: »Danke, mein
Kind!«

Dann lag er wie ein Schlafender, mit mildem, friedlichem Antlitz,
hoheitsvoll und edel. An seinen Sarg trat auch Kaiser Wilhelm II., der
auf die Trauerkunde, die er auf einer Nordlandsreise in Bergen erhalten
hatte, sogleich heimkehrte und am 2. August in Begleitung seiner
erlauchten Gemahlin in Friedrichsruh eingetroffen war. Im Sterbezimmer
fand die schlichte und doch so erhebende Trauerfeier statt. Das schwarz
drapierte Gemach war erfüllt von betäubendem Blumenduft, der das
ganze Schloß durchzog, und der schwarzpolierte Eichensarg verschwand
unter riesigen Kränzen, von denen Wagenladungen aus allen Teilen
Deutschlands nach dem stillen Friedrichsruh kamen. Am Fuße des Sarges
aber lagerte der prachtvolle Kranz von Teerosen auf Lorbeerblättern und
Eichenlaub, der auf einer weißseidenen Schleife die Anfangsbuchstaben
des Kaiserpaares trug.

Der Kaiser hatte gewünscht, daß »sein großer Toter« im Dome zu Berlin
beigesetzt werde, aber der eigene letzte Wunsch des Entschlafenen
stand dem entgegen. In seinem stillen Sachsenwalde wollte Bismarck
seinen letzten Schlaf schlafen in einem schmucklosen kleinen Hause, und
die Grabschrift, die er sich selbst verfaßt, sollte lauten:

»_Fürst von Bismarck, geboren am 1. April 1815, gestorben am ……, ein
treuer, deutscher Diener Kaiser Wilhelms des Ersten._«

Im Sterbezimmer eingemauert blieb der Sarg mit den irdischen Resten des
großen Kanzlers, bis das kleine Mausoleum auf dem Waldhügel gegenüber
dem Parktor vollendet sein würde.

Es ist ein friedlich-stilles Plätzchen. Ringsum rauschen die alten
Eichen, und von dem nahen Hügel, auf welchem die von treuen Anhaltinern
gestiftete Hirschgruppe steht, grüßen die dunklen Tannen, und der Blick
schweift über Schloß und Park und über ein schönes, freundliches Stück
des Sachsenwaldes.

Hier wurde er am 16. März 1899 gebettet. Das ganze deutsche Volk war im
Geiste zugegen, als sein großer Kanzler den letzten Pfad zurücklegte,
und Hunderttausende haben es beklagt, daß es aus mancherlei Gründen nur
einer kleinen Zahl Leidtragender vergönnt war, das ganze deutsche Volk
in jener Weihestunde vertreten zu dürfen. Der deutsche Kaiser hat auch
diesmal nicht gefehlt.

Beim dumpfen Klange des Chopinschen Trauermarsches bewegt sich der
Zug aus dem Schlosse. Der Regimentskapelle folgt in weitem Abstande
die Leichenparade, und längs des ganzen Weges flammt das Licht
vieler tausend Fackeln auf, von deren düsterer Glut bestrahlt der
Leichenkondukt langsam vorwärtsschreitet. Überall entblößte Häupter –
Totenstille – auch die Natur hält den Atem an. Nun naht der Sarg der
Fürstin, die an des Gatten Seite ruhen soll, und schwankt, von Kränzen
beladen, auf den Schultern der in altspanische Tracht gekleideten
Träger. Ihm folgt in einigem Abstande der Sarg des Kanzlers. Eine aus
Lorbeer gewundene Fürstenkrone liegt zu Häupten. An den Seiten der
Träger gehen im Schmuck der blinkenden Waffen Seydlitzkürassiere.
Und unmittelbar hinter dem Sarge, an der Seite des Fürsten Herbert
Bismarck, schreitet in der Uniform der Halberstädter Reiter der Kaiser,
den blitzenden Stahlhelm auf dem Haupte, das bleiche Angesicht gesenkt.

Mit dem zwölften Glockenschlage werden die Särge in der Kapelle des
Mausoleums vor dem kleinen Altare niedergesetzt, mit gezogenen Säbeln,
starr wie Bildsäulen, stehen die Kürassiere. Auch der Kaiser läßt sich
nicht nieder während der Feier. Der Lieblingschoral der verewigten
Fürstin klingt durch die Halle: »Die wir uns allhier beisammen finden«,
der Geistliche spricht kurze, erhebende Worte, dann kam wieder Orgelton
und frommer Gesang des Liedes: »Mach End’, o Herr, mach Ende«! … Drei
Salven der hinter dem Mausoleum aufgestellten Ehrenkompagnie dröhnten
dazwischen … dann war alles zu Ende. – Die Gruft schloß sich über dem
besten und größten Sohne Deutschlands!

Aber von ihm wird ein Singen und Sagen gehen bis in die fernsten
Zeiten, und solange es ein Deutsches Reich und ein deutsches Volk geben
wird, wird es zu seinen schönsten und edelsten Pflichten zählen, in
ehrenvollster Erinnerung zu bewahren die große Zeit der Erneuerung des
Reiches, den herrlichen Kaiser Weißbart und den Mann, der Deutschland
in den Sattel gehoben hat, _den eisernen Kanzler_.

[Illustration]


Setzmaschinensatz und Druck von A. Seydel & Cie., G. m. b. H.,
Berlin ~S.W.~



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.

    Korrekturen:

    S. 209: Februir → Februar
      am 26. {Februar} 1871 zu Versailles

    S. 216: betätigen → bestätigen
      Feier Ihres siebzigsten Geburtstages zu {bestätigen}

    Die unterschiedlichen Schreibweisen Skierniwicze und Skiernewice
    wurden einheitlich zur aktuellen Schreibweise Skierniewice
    korrigiert.



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