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Title: Wie es Licht geworden! : Roman
Author: Suttner, Maria Luise von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Wie es Licht geworden! : Roman" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

  Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1898 so weit
  wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler
  wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr
  verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert;
  fremdsprachliche und mundartliche Passagen wurden nicht korrigiert.

  Die Verlagswerbung wurde vom Bearbeiter an das Ende des Textes
  verschoben.

  Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt; besondere
  Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der folgenden
  Sonderzeichen gekennzeichnet:

        fett:     =Gleichheitszeichen=
        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua:  ~Tilden~

  ####################################################################



                        Wie es Licht geworden!

                            [Illustration]



                        Wie es Licht geworden!

                            [Illustration]

                                 Roman

                                  von

                       Maria Louise von Suttner.

                            [Illustration]


                          Dresden und Leipzig
                          G. Pierson’s Verlag
                                 1898.



                       Alle Rechte vorbehalten.
          Unberechtigter Nachdruck wird gerichtlich verfolgt.

                            [Illustration]



                 Meiner lieben Tante und Lehrmeisterin

                    Bertha von Suttner zugeeignet.

  +Harmannsdorf+, im Frühjahr 1898.



[Illustration]



Erster Abschnitt.


„Ich mag nicht.“

„Dieses Wort kennt man hier nicht, mein Kind: Du mußt.“ Die Klosterfrau
mit dem strengen blassen Gesicht drückte mir den Löffel so fest in die
Hand, daß es mich schmerzte. Ich würgte die verhaßte Suppe hinunter und
mit ihr die Frage, weshalb ich denn eigentlich „müsse.“

Zu Hause, da hatte es immer geheißen: „Tu’s mir zuliebe, Mimi“, und da
aß ich den ganzen Teller blank und war reichlich belohnt, durch das
freundliche Lächeln meiner Eltern.

„Du mußt.“ Jetzt erst gewahrte ich die schadenfrohen Blicke der
Schülerinnen, mit denen ich nun Tag für Tag beisammen sein sollte. Eine
stieß mich ganz besonders ab. Es lag ein böser, harter Zug um ihren
Mund und in den grünen Augen blitzte es höhnisch auf. Da fühlte ich
mich mit einemmale so grenzenlos verlassen und mit der Kindern eigenen
Intensivität, malte ich mir meine Zukunft an diesem Orte in den
düstersten Farben aus.

Bis zu diesem Augenblicke hatte ich mich den neuen Eindrücken
hingegeben, wie jemand ganz Unbeteiligter. Der kahle, weißgetünchte
Saal mit den langen Pultreihen und dem erhöhten Sitz für die
„Aufsicht“, das Alles kam mir so seltsam vor.

Noch mehr aber verwunderte mich die Frage „ob ich mich freue, ob ich
gern gekommen sei?“ Ich besann mich nicht erst lange, sondern erwiderte
rundweg: „Nein.“ Mein Blick schweifte zu den Mädchen hinüber. Sie
hatten wie auf Commando die Zähne auf die Unterlippe gepreßt und ein
vernehmliches „Mais vraiment“ gemurmelt. Wer nur auch so unverschämt
aufrichtig sein konnte! Damit kommt man nicht weit; ich blieb es auch
nicht lange.

Wie träge die Stunden dahinschlichen; noch nie hatte mir ein Tag so
endlos lang geschienen.

Christine, das Mädchen mit den bösen Augen schlich sich in einem
unbewachten Moment an mich heran und riß mir das Band vom Zopfe.

„Du garstiges Ding“, es war mir unwillkürlich entschlüpft. Sie aber
flugs bei Mère Walter. „Mimi sagt mir „Du“ und ist grob.“

Nun erfuhr ich, daß man sich nicht „Du“ sagen und nicht empfindlich
sein dürfe. Christine hätte es ganz zufällig gethan.

„Das ist nicht wahr.“

„Mein Kind, geh’ in den Winkel.“

Diese Ungerechtigkeit erweckte meinen Zorn. „Ich will nicht“ und dabei
stampfte ich mit dem Fuße auf. Mère Walter machte kurzen Proceß; sie
packte mich mit festem Griff am Arme und schleifte mich in die Ecke.
„So.“

Nun löste sich mein Widerstand in Tränen auf und ich empfand die
Ohnmacht des Schwachen dem Starken gegenüber. Und zugleich mit dem
Bewußtsein meiner Hilflosigkeit loderte es in meinem Innern auf, gleich
einer zündenden Flamme, etwas Wildes, Dämonartiges -- der Haß.

Das war mein erster Tag im Kloster, nur ein dünnes Glied der langen,
langen Kette.

Ich sprach das Abendgebet nicht mit, denn ich kam mir vergessen, von
Gott verlassen vor und lügen konnte ich damals noch nicht.

„Papa“ -- weshalb hatte er mir das, gerade das angethan? Tiefe
Sehnsucht nach dem alten lieben Heim trat an die Stelle der Auflehnung;
es wurde ruhig in meiner Seele und ich weinte mich still in den Schlaf.

       *       *       *       *       *

Wir standen im Halbkreis, mit den dunkelblauen Sonntagskleidern
angetan, endlos lange Bandschleifen um den Hals, und warteten auf die
Notenverteilung. Allwöchentlich wurden nämlich kleine Karten mit „sehr
gut“, „gut“ und „ziemlich gut“ ausgegeben, je nach dem Verdienste der
Schülerinnen.

Ich war lächerlich klein für meine acht Jahre und befand mich als
Allererste vor dem Platze, den bei dieser Gelegenheit die Oberin
einzunehmen pflegte.

Pünktlichkeit schien nicht gerade ihre starke Seite zu sein. Wir
warteten schon eine geraume Weile, als Mère Walter hereingestürmt
kam und uns geheimnisvoll zuflüsterte: „~Attention mes enfants, la
révérende Mère.~“ Gleichzeitig intonierte das Harmonium ein frommes
Lied und die Zöglinge stimmten mit ein.

Tiefe Verbeugung beim Eintritt der Erwarteten. Alle setzen sich. Mère
Walter klappt ein großes dunkles Heft auf, lächelt mit verbindlicher
Miene der Oberin zu, und beginnt dann die Verlesung. Eine endlose,
immer gleichförmige Litanei von lauter „Sehr gut“, „sehr gut“, „gut“,
die mich bei Weitem weniger fesselt, als das Gesicht der ehrwürdigen
Mutter. Um ihren zahnlosen Kiefer zuckt es wie unausgesetzte Blitze und
der große Kopf baumelt im Takte auf und ab. Es erinnert mich an die
chinesische Pagode auf unserem Kamin zu Hause und diese Ähnlichkeit
macht sie mir sympatisch. Ob sie wohl besser, sanfter ist als die
Anderen? Da plötzlich werde ich aus meiner Betrachtung aufgeschreckt.

„Mimi Steindorf, ziemlich gut.“

Mechanisch stelle ich mich vor den Tisch, mache einen ungeschickten
Knix und streckte meine Hand aus, um die Karte in Empfang zu nehmen.

„Es sind Klagen über Dich eingelaufen, Kind“, -- wie rauh und
unangenehm ihre Stimme klingt -- „Du mußt Dein Benehmen ändern und Mère
Walter um Verzeihung bitten,“ und da ich zögere: „Nun, wird es? --
schnell.“

„Ich habe nichts getan.“

„Was? -- Schäme Dich. Ich verbitte mir solche Antworten. Senke den
Blick. Mère Walter, halten Sie ihr heute eine Vorlesung über die
christliche Demut; sie scheint es dringend zu benötigen.“ Rote Flecke
zeigen sich bei diesen Worten auf ihren fahlen Wangen und lassen das
Gesicht geradezu abschreckend erscheinen. Es gleicht der gepuderten,
clownartigen Maske eines Perlhuhnes.

Nach diesem Vorgang spürte ich nicht die geringste Reue. Im Gegenteil:
ich nahm mir vor, „wirklich schlimm“ zu sein, so daß sie es nicht
länger mit mir aushielten und mich zurückschicken müßten. Ich lernte
absolut nichts, schnitt Mère Walter Grimmassen und schrieb einen
kläglichen Brief an Papa, der aber nie an seine Bestimmung gelangte, da
er der strengen Censur nicht Stand gehalten hatte.

Meine Eltern besuchten mich nach einem Vierteljahre und durch meine
Bitten schwach gemacht, erlösten sie mich zum Teil von meiner Qual,
indem sie mich „Externe“ werden ließen. Vielleicht empfanden sie auch
Gewissensbisse, als sie mein blasses Gesicht, die schlechte Haltung
gewahrten.

Freilich, ich hatte die Disteln nicht gerade gegen Rosen vertauscht.
Gleich zu Anfang schienen mir meine Eltern gänzlich verändert. Die alte
Zärtlichkeit war einem lauernden Mißtrauen gewichen, und ich wußte nur
zu wohl, wer dieses Gift in ihre Seele geträufelt hatte. Von Natur
aus zurückhaltend in meinen Liebesbeweisen, wartete ich unbewußt auf
Entgegenkommen. Doch vergeblich.

Es geschah nicht selten, daß, wenn ich irgend eine komische Situation
aus dem Klosterleben in ganz harmloser Weise schildern wollte, Papa mir
das Wort mit dem Bemerken abschnitt: „Ich dulde nicht, daß Du Dich über
die würdigen Schwestern lustig machst.“

Und so hütete ich ängstlich meine Zunge, legte jedes Wort auf die
Wagschale, wurde scheu und verschlossen.

Wenn man aber eine junge lichtdürstende Winde in den Schatten stellt,
läßt sie das Köpfchen hängen und verkümmert.

       *       *       *       *       *

Wie das weh tut, wenn man noch halbverschlafen aus den Federn muß!
Jeden Morgen setzte es förmliche Kämpfe ab zwischen Clara, der Zofe,
und mir.

„Nur noch eine Viertelstunde, nur noch zehn Minuten, bitte, liebe
gute Clara; ich bin so schrecklich müde.“ Ich hätte ihr in meinem
Schlafbedürfnis ein Königreich angeboten für diesen kurzen Genuß. Und
je nach ihrer Laune und vermutlich nach dem Inhalte des Briefes, den
sie tags zuvor von ihrem „Gefreiten“ erhalten, ließ sie sich erweichen
oder bestand auf ihrer Forderung.

Dieses unbeschreiblich wohlige Gefühl des bewußten Schlummerns, des
traumlosen Träumens, wer hätte es nicht ungezähltemale selbst empfunden!

Doch wie kurz währte die Gnadenfrist! Clara entzündete die Kerze
und zog die Jalousien auf. Und jedesmal, namentlich im Winter,
verspürte ich tiefes Unbehagen, eine Art von Katzenjammer, wenn ich
durch halbgeöffnete Lider in den farblosen Morgen blinzelte. Doch
Clara schien wenig Sinn für meine Stimmungen zu haben. Sie zog mir
mit energischem Ruck die Decke herab und installierte sich mit dem
Elektrisier-Apparat an meinem Bette.

Auch ein Erfolg des Klosters. Die storchbeinigen Stühle und die niederen
Pulte bewirkten die ersten Symptome einer Rückgrat-Verkrümmung. Ich
zuckte wie ein Frosch; dieses Prickeln und Stechen wie von scharfen
Nadelspitzen war mir gräßlich. Dann kam das Eisenmieder an die Reihe.
Auf diese Weise eingepanzert, fühlte ich mich beengt und unbeholfen,
unfähig, mich zu bücken. Mère Walter machte mir einmal eine arge
Scene, da ich ihr den herabgefallenen Zwirnknäuel nicht aufgehoben.
Ich duldete lieber die Strafe, als einfach zu erklären, das Mieder
sei schuld daran, denn ich schämte mich halb zu Tod und zitterte vor
der Entdeckung. Da würden sie dann ihre Witze über mich machen, mich
verhöhnen, Christine an der Spitze, -- nur das nicht. Ich litt ja
ohnedies gering an den Regungen unbefriedigter Eitelkeit, da meine
Eltern von krankhafter Sparsamkeit waren und oft die allernötigsten
Auslagen scheuten.

„Mama, ich möchte so gerne ein paar Knopfstiefletten haben“ und ich
zeigte ihr die durchlöcherten Sohlen.

„Man kann sie doppeln lassen. Und was hast Du denn gegen die
Zugstiefletten; sie thun genau denselben Dienst, nur daß sie billiger
sind. Wozu denn so verschwenden?“ Ich mußte also die geschmacklosen
Chaussüren forttragen, zur heimlichen Freude Christinens, die mich
nächstenliebend „das Bettlerkind“ getauft hatte.

Auch das Kleid mußte ich solange benützen, bis die Ellenbogen
durchgewetzt waren und der Rücken glänzte. Neue Handschuhe und
Haarbänder gab es nur alle heiligen Zeiten einmal, und wenn der Mantel
nicht mehr paßte, wurde solange der Kreuz und Quere nach angesetzt, bis
von der ursprünglichen Façon nichts mehr zu erkennen war. Was Wunder
da, wenn ich stets nur „ungenügend“ in der Ordnung bekam! Papa hielt
mir dann lange Strafpredigten, „ich sollte mich zusammennehmen, Andere
brächten es ja auch fertig.“

Andere! Wie leicht das gesagt war. Da war eben nicht jede
Neuanschaffung von Vorwürfen und Lamentationen begleitet, während bei
mir! -- Nicht einmal ungebrauchte Bücher hatte ich; lauter beschmutzte
Einbände mit Fingerspuren und überklebten Stellen. Wie beneidete ich
meine Nachbarin, die große Gertrud, um die vielen nagelneuen Bände!
Überdies besaß sie ein Gebetbuch, das von den feinsten französischen
Spitzenbildern strotzte, und einen Federnbehälter aus ~papier mâché~
mit einer Veilchenguirlande darauf. Ich rechnete und überlegte,
wie lange es wohl dauern würde, bis ich mir ähnliche Gegenstände
kaufen könnte. Ein paar Jahre gut, wenn Papa mein Monatsgeld von 30
Kreuzern nicht erhöhte. Und selbst dieser minimale Betrag hing von
den erhaltenen Klassen ab. Also blutwenig Aussicht! Diesmal würde es
ohnedies wieder nur „gut“ geben.

Mère Walter ließ mich auf ihr Zimmer rufen. Mein Herz klopfte zum
Zerspringen und ich starrte noch immer in tötlichem Schreck den Zettel
an, der meine Nummer trug. Ja „17“, da gab es keinen Ausweg.

Ich legte die Schürze ab und setzte mich auf das „Folterbankerl“ vor
ihrer Thüre, um zu warten, bis meine Vorgängerin herauskäme. Wäre sie
doch ewig drin geblieben, oder gleich erschienen, schon im nächsten
Moment, damit es überstanden wäre. Meine Wangen brannten, die Hände
glühten und förmliche Krämpfe befielen mich. Was sie nur wieder sagen
würde? Vielleicht gar nichts Besonderes, oder wegen der französischen
Aufgabe, dem Stockfisch. Schließlich wichen die klaren Gedanken einer
maßlosen Furchtempfindung. Ich blickte hinüber zu den arbeitenden
Gefährtinnen, die gesammelt der Lektüre lauschten. O daß ich doch an
ihrer Stelle gewesen wäre, nur nicht gerade „ich“, oder überhaupt weit
weg, ganz anderswo.

Jetzt hörte ich Schritte. Ich raffte mein bischen Mut zusammen, blickte
zum Himmel, machte hastig ein Kreuzzeichen nach dem anderen und gelobte
dem lieben Gott, „brav zu sein“, der heiligen Jungfrau, „fleißig zu
lernen“, der heiligen Filomena, „das Stillschweigen zu beobachten“,
lauter Dinge, von denen ich nachträglich keine Ahnung mehr hatte.

Übrigens pflegten mich meine Heiligen in der Regel schmählich im Stich
zu lassen. Und am Ende verdiente ich ja ihre Hilfe gar nicht, wenn
ich wirklich so schlecht war, wie Mère Walter behauptete. „In der
Kirche eingeschlafen, 6 schlechte Punkte wegen Unaufmerksamkeit in der
französischen Stunde und des Ungehorsams am Freitag.“

O dieser Freitag, wie verabscheute ich ihn. Schon beim Eintritt ins
Refektorium drang mir der penetrante Geruch von Einbrennsuppe und
Stockfisch entgegen. Ich versuchte zu essen, doch schon beim ersten
Bissen meinte ich, ersticken zu müssen. Ich zog den Atem an, um den
abscheulichen Geschmack weniger zu spüren. „Mir wird schlecht. Darf
ich es stehen lassen?“ -- „Nein, Du wirst essen.“ Ich nahm die Bissen
in den Mund, schluckte sie aber nicht, sondern schob sie in die
Wangenhöhlung und behielt sie da bis nach beendigtem Mittagsmale. Dann
stahl ich mich in den Garten, drückte das Taschentuch an den Mund und
warf es mitsammt dem Stockfisch in die geöffnete Kellerluke.

Hierauf ging es in die Kirche, um den „Kreuzweg“ zu beten. Es war
eisig kalt, wir traten uns beim Aufstehen auf die Füße, stießen an den
Bankecken an und beteten etwas Lateinisches, das wir auswendig gelernt
hatten, ohne den Sinn zu verstehen:

    „~Sancta Mater, istud agas;
    Crucifixi fige plagas
    Cordi meo valide.~“

Mein Magen knurrte und der Kopf that mir weh. Den ganzen Nachmittag
über fühlte ich Schwindel und eine eigentümliche Beklemmung. Zu Hause
wurde es noch ärger; ich klagte über Hitze und Kälte und hatte heftige
Üblichkeiten. Man schickte nach dem Arzte, einem noch jungen Manne und
Freund Papas.

Er stellte mir die gewöhnlichen Fragen der Doktoren an die Patienten
und als er hörte, daß man mich zum Essen gezwungen habe, geriet er in
Zorn. „Solch’ ein Unsinn! Ich lasse den ehrwürdigen Schwestern sagen --“

Papa räusperte sich bedeutungsvoll und führte ihn in ein Nebenzimmer.
Ich hörte deutlich, wie er meinen Eltern auseinandersetzte, daß
es unverantwortlich sei, Kinder auf diese Art zu quälen. Gegen
Idiosynkrasie lasse sich nichts machen; Zwang sei eine völlig falsche
Methode, nur geeignet, den gesunden Organismus zu untergraben. Die
Engländer seien viel vernünftiger in dieser Beziehung. „Vor Allem soll
sich der Körper kräftigen, entwickeln, dann lernt es sich von selbst.
Schicken Sie die Mimi hinaus aufs Land zur Großmama. Im Freien sein,
herumspringen den ganzen Tag, das ist das Richtige.“

Wie hüpfte mir das Herz bei der bloßen Vorstellung. Ein weiches, warmes
Dankgefühl gegen meinen Anwalt stieg in mir auf; ich hätte seine
Hände fassen und sie küssen mögen. Ja, hinaus nach Steindorf, das war
mein Traum und ich jubelte innerlich auf. Doch alsbald sanken meine
Hoffnungen auf Null.

„Ein großer Irrtum, ich kann mir als Freund diese Bemerkung schon
erlauben,“ sagte der Doktor -- Papas Erwiderung war mir entgangen -- --
„Die Kinder sind nicht für die Eltern da, im Gegenteil.“

Zu viel für meinen Kopf. Was das eigentlich hieß, faßte das
Begriffsvermögen der Achtjährigen noch nicht. Später freilich erinnerte
ich mich -- o wie oft -- an diese Worte. Wie hatte er doch Recht
gehabt, der gute Doktor Vogler.

       *       *       *       *       *

Von nun an durfte ich eine halbe Stunde später aufstehen und wurde von
der Freitagsabstinenz freigesprochen. Sonst fanden keine wesentlichen
Veränderungen zum Bessern statt; viel Lernen und recht trockenes Zeug
mitunter, blutwenig Erholung.

Um 8 Uhr Morgens versammelten wir uns zur Messe in der kleinen
Hauskapelle. Wir sangen aus großen grauen Büchern Kirchenlieder und
da nur die Wenigsten Gehör und Notenkenntnis besaßen, ging es oft
jämmerlich daneben. Eine wahre Katzenmusik.

Meine Aufmerksamkeit galt ganz anderen Dingen, als dem Gebete selbst.
Ich bewunderte die heilige Filomena, die, eine lebensgroße Wachspuppe,
in einem Glasschrein ruhte. Bald hatte sie ein fliederfarbenes, bald
ein rotes goldgesticktes, dann wieder ein weiß und grünes Kleid, da sie
über eine sehr zahlreiche Garderobe verfügte. Auf dem blondgelockten
Haupte, das etwas zurückgebogen in den Kissen lag, trug sie eine
massive Goldkrone, mit echten Rubinen besetzt. Es war die Gabe einer
reichen Gräfin, die ihre Genesung der Fürsprache unserer jugendlichen
Heiligen verdankte.

Und die vielen duftenden Wachskerzen! Ich zählte sie gewissenhaft ab,
schloß dann die Augen halb und gewahrte nur einen bläulichen Schimmer,
ganz rund, wie eine kleine Sonnenscheibe; keine deutlichen Flammen
mehr, Alles floß ineinander, vermengte sich, nur wunderlich-schillernde
Arabesken.

Oder ich vertiefte mich in den Anblick der künstlichen Blumenstöcke.
Steife, königliche Lilien wechselten mit purpurnen Malven und dunklen
Pensées ab.

Die Schwester-Pförtnerin lieferte diese Kunstwerke. Ich hatte ihr
zugesehen, wie sie, ganze Berge bunten Stoffes vor sich, zuschnitt
und klebte. Warum sollte es mir nicht auch gelingen? Ich verfertigte
eine Rose aus Seidenpapier, fand sie sehr schön und schenkte sie Mama.
Tags darauf lag sie mit anderm Kehricht auf der Schaufel. Kinderherzen
sind empfindlich. Von nun an behielt ich meine Blumen für mich oder
ich schmückte meinen kleinen Zimmeraltar damit. Natürlich nur aus
Nachahmungstrieb, denn vorderhand war mir die Frömmigkeit im wahren
Sinn des Wortes ein Buch mit sieben Siegeln.

Ich plapperte mein Morgen- und Abendgebet in Papas Gegenwart herunter
wie ein Papagei, mit den Gedanken Gott weiß wo. Oft blieb ich mitten
drin stecken, wiederholte, oder vergaß auch, für Daisy Clairvinceau,
Anna Auerbach und Sektionschef Kalb -- verstorbene Freunde der Eltern
-- die „ewige Ruhe“ zu erflehen. Ein verweisender Blick Papas genügte,
um mich vollends aus der Fassung zu bringen; ich stotterte und
verhaspelte mich umsomehr.

Damit wir während der Andacht nicht gestört wurden, mußte ich die Thür
verriegeln. Mama vergaß bisweilen nach der Stunde zu sehen und drückte
vehement die Schnalle nieder. Papa murmelte dann etwas, das einer
Verwünschung nicht unähnlich war.

Darauf mußte ich Tag für Tag dieselben Gedichte ableiern. „Der
Sperling“, „Kommt die Nacht mit ihren Sternen“ und „Die Uhr“.

    „Die Sonne sinkt,
    Der Vollmond blinkt,
    Der Bauer schließt die Scheune,
    Denn auf dem Turme schlägt es Neune“,

und so weiter, alle Stunden des Tages und der Nacht durch.

Dieses endlose Poëm hatte mir den Haß eines alten Herrn eingebracht,
der in mir eine gefährliche Concurrentin erblickte. Er sprach für sein
Leben gern und verzieh mir niemals, daß er eine halbe Stunde nicht zu
Wort gekommen. „Kinder gehören nicht in den Salon“, äußerte er wütend.

Um diese Zeit wünschte ich mir sehnlichst ein Gebetbuch in Leder
gebunden, wie das von Gertrud. Nein, wenn ich das hätte! Wie die
Blätter rauschten und knisterten -- es mußte eine Wonne sein. Ich
schüttete Wasser auf mein Büchlein und verklebte die Seiten mit Gummi
-- jetzt rauschte es auch.

Mit wie wenig gibt sich doch solch’ kleines Ding zufrieden und wie
unsinnig ist die Freude am erfüllten Wunsch. Ich hatte mir das Bitten
abgewöhnt; ich kannte die abschlägigen Antworten im Voraus. Eine
Zeitlang verzichtete ich und dann -- der Wahrheit zuliebe sei’s gesagt
-- dann stahl ich. Einen Monat blieb es unentdeckt, dann brach die
Catastrophe los, die mich in Aller Augen zur Diebin stempelte.

       *       *       *       *       *

Als ich eines Morgens den Studiensaal betrete, wirft mir Mère Walter
einen Blick zu, der mir das Blut in den Adern erstarren macht und sagt
mit dröhnender Stimme: „Folge mir.“

Mir ahnt nichts Gutes. Totenblaß tripple ich durch eine lange
Zimmerflucht hinter ihr her. Die Knie zittern mir vor Angst und ich
meine in den Boden versinken zu müssen vor Scham. „Vorwärts!“ befiehlt
meine Führerin.

Jetzt stehen wir stille; sie klopft. „Entrez.“ Ich wünsche mich tot.
Die Erkenntnis des begangenen Unrechts, das ich erst jetzt in seiner
vollen Größe erfasse, lastet mir mit Centnerschwere auf der Seele. Ich
bin halb besinnungslos vor Angst. Einen Moment blitzt mir der Gedanke
auf, zu leugnen, doch da liegen sie ja alle aufgestappelt, die ~corpora
delicti~ -- nicht eines etwa, nein ein halber Tisch voll -- und
grinsen mich verzweifelt überzeugend an. Ach Gott, was war mir da nur
eingefallen?

Ich stehe vor der Oberin, mit Armensündermiene, am ganzen Körper
bebend wie Espenlaub. Bevor sie noch ein Wort gesprochen, sinke ich
in die Knie: „Verzeihung“ -- ich presse die Worte mühsam unter Tränen
hervor.-- „das eine -- einzigemal, -- ich werde nie wieder -- so was
thun. Gewiß -- ich will mir -- viel Mühe geben -- nur nichts Papa sagen
-- das eine Mal.“

„Steh’ auf, kleine Comödiantin. Wer stiehlt, der lügt auch. Ich glaube
nicht an Deine Vorsätze. Du bist ein grundverdorbenes Geschöpf und
mußt gestraft werden. Geh’! Mère Walter, da sie dem ganzen Pensionat
Ärgernis gegeben, bestehe ich darauf, daß sie öffentlich Abbitte
leistet. Der Brief an ihre Eltern ist unterwegs. Ein arger Schlag für
ihren rechtlich gesinnten Vater.“ Damit bin ich entlassen.

Wir kehren in den Studiensaal zurück. Es flimmert mir nur so vor den
Augen. Jetzt würden es Alle erfahren.

„Meine Kinder“, beginnt Mère Walter salbungsvoll, „ich habe Ihnen eine
sehr traurige Mitteilung zu machen. Mimi Steindorf, sag’ dreimal laut
und deutlich hintereinander: „Ich habe gestohlen; meine Schwestern in
Christo, verzeihen Sie mir.““

Ein Zischen der Entrüstung dringt an mein Ohr -- dann spreche ich mit
einer mir völlig fremden Stimme die anklagenden Worte nach.

Alles geht mir aus dem Wege. Ich sitze in der hintersten Reihe und wage
nicht den Blick zu erheben. Ich suche mir einzureden, daß nicht mein
„Ich“ das Schreckliche gethan, nein, eine ganz andere Person, die in
gar keinen Zusammenhang mit mir steht und die ich ihrer unglaublichen
Dummheit halber verachte. Da sie sich schon fremdes Eigentum
angeeignet, hätte sie es doch weniger plump anstellen sollen. Die böse
Handlung an und für sich schmerzt mich weit weniger als die Entdeckung.

Ich hatte mit der Zeit einen recht ansehnlichen Vorrat aufgespeichert,
was mir eben zufällig unter die Hand kam. Bücher, Lehrgegenstände,
einen Spielball und vier Paar Bedientenhandschuhe, das Alles verschwand
in meinen Taschen, während diensteifrige Commis Mama ihre Waaren
anpriesen. Heute wollte ich gerade die Handschuhe zerschneiden und
meiner Puppe Strümpfe daraus machen. Es fällt mir inmitten meiner
ernsten Reflexionen ein und die Vereitelung des Spaßes erfüllt mich mit
Ärger. Wer weiß, was mir überhaupt nach Schulschluß bevorstand?

Genug, um es mir zu merken mein Leben lang.

Ohne erst viel Worte zu verlieren, legte mich Papa aufs Bett und
bläute mich so unbarmherzig durch, daß ich die Schmerzen eine volle
Woche spürte. Ich schrie aus Leibeskräften, strampfte mit den Füßen
und schlug mit den Händen um mich; es half Alles nichts. Dann sperrte
er mich in eine stockfinstere Kammer, von der er mir erzählt, es gehe
darin um. Eulen, Ratten, Schlangen und noch viel Ärgeres.

Ich schloß die ganze Nacht kein Auge und was ich damals empfunden, war
so haarsträubend gräßlich, daß ich es auch nicht annähernd zu schildern
vermag.

Die Rute stand permanent in Salzwasser, für den allfälligen Bedarf. Wir
kamen noch wiederholt in Berührung und gewöhnten uns aneinander. Auch
das Fasten, das stundenlange Knien auf Erbsen, es machte mir keinen
Eindruck mehr. Völlig gleichgültig ließ ich Alles über mich ergehen,
wie das liebe Vieh, das die Prügel erträgt, ohne sich zu wehren. Dumpfe
Schwüle legte sich mir aufs Gemüt; ich fürchtete die Menschen und wagte
sie nur mehr scheu von der Seite anzublicken.

Dabei sehnte ich mich unsäglich nach einem Wesen, das mich verstehen,
mir Trost zusprechen und helfen sollte, mich zu bessern. Allein
brächte ich es ja doch nie fertig. Ich war nicht schlecht aus Lust am
„Schlechtsein“, sondern aus Schwäche, aus Mangel an einem Ansporn zum
„Gutsein“.

Oft, wenn ich allein war, streckte ich die Hände aus, nach dem
unerreichbaren Phantom. Und ich jubelte laut auf, als es Gestalt
annahm, mir näher und näher kam und mich anblickte mit den Augen des
Mitleids und der unendlichen Güte.

       *       *       *       *       *

„Tu’s mir zu Liebe, Mimi!“ Tante Laura’s Hand hatte mich unter’s Kinn
gefaßt und ich sah ihr in’s Gesicht. Und was ich in ihren Zügen las,
drang mir wie heller Sonnenschein in’s Herz. Ein armes geängstigtes
Vöglein, huschte es durch die geöffnete Käfigtüre, schwang sich wie
neubelebt zum blauen Äther empor und schmetterte hoch in den Lüften
seiner Befreiung Lied „Tu’s mir zu Liebe, Mimi!“ Dieses eine sanfte
gute Wort trieb die Dämonen aus und gab den guten Mächten Raum.

Endlich, endlich! Der kindliche Übermut, die alte Daseinsfreude
kehrten wieder. Ich sprang auf, drehte mich herum wie ein Kreisel,
unaufhaltsam, rastlos, bis ich erschöpft auf einem Stuhle niedersank.

„Nein, so ein Wildfang. Was hast Du denn nur?“ Und noch ganz atemlos
erwiderte ich: „Ich bin so froh Tante, so froh. Nicht wahr, Du bleibst
recht lange hier bei uns, -- bei mir?“

„Wenn Du brav bist.“

„Ja, Tante, Dir zu Liebe.“ Sie blickte mich betroffen an; ich hatte
es so eigens feierlich gesagt. Dann nahm sie ihre Arbeit wieder auf;
ich ließ mich mit einem Spielzeug zu ihren Füßen nieder. Wir sprachen
Beide nichts, aber eine Flut von Gedanken wälzte sich durch meinen
Kopf. Mir war mit einem mal so wohl, so leicht zu Mute, wie nach einem
lauen parfümierten Bad. Alle Hindernisse schienen mir wie weggeblasen
und neue Zuversicht erfüllte mich. Und das Alles, weil mir ein Mensch
begegnet war, der mir wohlwollte und mich nicht quälte wie die andern.
Von meinen Eltern trennte mich eine Kluft -- ich empfand es deutlich --
ihnen Freude zu machen, dazu fehlte mir die Begeisterung. Sie zankten
stets und ich fürchtete sie.

Im Studiensaale hing hinter Glas und Rahmen der goldgedruckte Spruch:
„Alles zur Ehre Gottes“ und vor jeder Stunde wiederholten wir die gute
Meinung. Lippensprache, weiter nichts, die kein Echo weckte in der
Tiefe der Seele.

Die Entfernung war so weit. Der liebe Gott wohnte im Himmel und ich
konnte mir nicht vorstellen, daß mein schwaches Stimmlein bis zu ihm
dringe. Ich hatte mir ein ganz bestimmtes Bild von ihm gemacht. Ein
alter Herr mit wallendem weißen Bart, der in eine blaue Draperie
gehüllt auf einem Fauteuil sitzt. Er hat schrecklich lange fellige
Ohren, die bis zur Erde reichen. Wie soll er denn sonst hören?
Bisweilen runzelt er die Stirn und stampft mit dem Fuße, wenn gar zu
viel Geschrei da unten ist und er aus dem Durcheinander nicht klug
wird. Christine bittet, daß ich etwas anstellen und gestraft werden
möge, Papa will Ministerialrat werden und Mama „Ruhe, Ruhe“ haben. Ich
weiß nicht was es war, ich hegte kein besonderes Vertrauen zu ihm.

Wir saßen noch immer beim offenen Fenster; schillernde Wölkchen zogen
über den Abendhimmel und sachte schlich die Dämmerung heran. Laue
Frühlingsdüfte umwehten unser Haar und ein Schwalbenpaar schnäbelte auf
dem gegenüberliegenden Dache. Ich blickte die Tante an und erschrack.
Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte bitterlich.
Und das duldete der gerechte, barmherzige Gott? Also auch die Guten
mußten leiden! Arme Tante.

       *       *       *       *       *

Wir hatten unsere schwarzen Winter-Capuchons gegen helle Leinwandhauben
vertauscht, die unser Gesicht beschatteten und die grellen
Sonnenstrahlen abwehrten. Ich beteiligte mich mit großem Eifer
am Ballspiel und entschädigte mich so einigermaßen für das lange
Stillsitzen. Übrigens, man gewöhnt sich an Alles und die angenehme
Aussicht, daß meine Gegnerin Christine demnächst austreten sollte,
versöhnte mich völlig mit meinem Schicksal.

Papa steckte bis über den Ohren in seiner Arbeit und Mama klagte
ununterbrochen über die verschiedensten Zustände, die Doktor Vogler als
hochgradige Nervosität bezeichnete. So blieb ich unter Tante Lauras
Aufsicht und damit gab ich mich gern zufrieden.

Der Juni ist wunderschön in Wien. Wir setzten uns in das Gärtchen
hinter dem Haus, sie mit einem Buch, ich mit meiner Puppe „Clementine“,
die mit verständnislosen Glasaugen vor sich hinstarrte. Sie hatte eine
zerquetsche Nase und eine Glatze, aber ich war ihr herzlich zugetan,
trotz aller Mängel. Ich traktierte sie mit Sandkuchen und Maulbeeren,
dann streute ich den Spatzen kleine Semmelkrummen auf. Zwitschernd,
mit breitem Behagen picken sie die Stückchen an, sträuben das Gefieder
und sind voll Übermut. Einer sucht dem Andern zuvorzukommen, ihn zu
verdrängen und den eroberten Bissen im Notfall zu entreißen. Manche
tragen einen Brocken ihrer Familie zu, die Ledigen halten an Ort und
Stelle Tafel.

Sie kannten mich und kamen mir sehr nahe; das blinde Zutrauen dieser
Tierchen rührte mich.

Tante Laura sprach wenig und blickte oft mit einem Ausdruck ins Leere,
der mir in das Herz schnitt. Es lag etwas darin, das ich mir nicht zu
erklären wußte und das mich seltsam berührte.

Papa war doch so gut mit ihr; wenn sie für mich bat, verzieh er gleich.
Was wußte ich davon, daß sie ein einzigesmal für sich gebeten und --
vergeblich. Liebe, Sehnsucht und Entsagung! Das Kloster ist bloß der
Beginn; manche gehen aber den Dornenweg ihr Leben lang. Wenn ihre
Kräfte nicht mehr reichen, dann legen sie sich hin und sterben, oder
sie machen eine Agonie durch, die tausendmal schlimmer ist als Tod.

       *       *       *       *       *

Sechs Gulden, 20 Kreuzer; es war das Ergebnis meiner Sparbüchse
und schien mir ein Vermögen. Ich entwarf eine ausführliche Liste
der Einkäufe für die bevorstehenden Ferien. Obenan, gewissermaßen
als das Unentbehrlichste: Stoff, Spitzen und Bänder -- Clementine
brauchte dringend ein paar Kleider -- dann Lern- und Schreibsachen,
Nadeln, Seife und eine Menge anderer Dinge. Man kannte mich in den
„27 Kreuzer-Bazars“ wie falsches Geld; die Ladenfräuleins lächelten
sich zu, wenn ich eintrat, beantworteten geduldig meine ungezählten
Fragen und da ich eine gute Kunde war, behandelten sie mich mit großer
Zuvorkommenheit. Einmal weigerte ich mich, eine Vase zu kaufen, obwohl
sie billig war und mir sehr gut gefiel: ich hatte nämlich 25 Kreuzer
dafür bestimmt und sie kostete -- nur 18. Ich neigte überhaupt ein
wenig zur Pedanterie: Papa besaß diese Eigenschaft in hohem Grade, ich
mochte sie von ihm geerbt haben.

Ich zeigte ~Dr.~ Vogler die wohlvermachten Päckchen und ließ ihn raten,
was sie enthielten: mit engelgleicher Geduld unterzog er sich dieser
schwierigen Aufgabe und brachte mir selbst allerlei Tribute.

Von Tag zu Tag wuchs meine Ungeduld. Noch 6 Tage, noch 48, noch
24 Stunden. Bei der Preisverteilung ging ich natürlich leer aus:
das vermochte mir aber die Laune nicht zu trüben. Beim feierlichen
Schlußsegen in der Kirche dankte ich Gott aus übervollem Herzen für
die bevorstehenden Genüsse. Im Bette noch klatschte ich so laut in die
Hände, daß Mama, die nebenan schlief, hereinrief, ich möge doch den
Leuten wenigstens in der Nacht Ruhe geben.

       *       *       *       *       *

Ich lag schon lange wach. Durch die Ritzen der Läden drangen einzelne
Lichtstrahlen, sie wuchsen, dehnten sich aus und ließen die Gegenstände
deutlich erkennen.

Der dumpfe Lärm des Wagenrollens und das Aufschieben der Fallthüren
drang an mein Ohr. Jetzt endlich schlug es 6 Uhr; Clara konnte
nicht mehr lange auf sich warten lassen. Mit dem Ankleiden gieng es
recht langsam von Statten. Ich tanzte im Zimmer herum, machte die
gewagtesten Luftsprünge und beutelte mit dem Kopfe. Der häßliche rote
Kautschukkamm, an dem so viele Zähne fehlten, wanderte in die Ecke und
als Clara mir die modernen „Ponnys“ geschnitten, besah ich mich mit
pfauenartiger Wendung von allen Seiten. Wie gut mir das stand und im
großcarrierten dünnen Zephirkleid fühlte ich mich „zum Fliegen“ leicht
und frei. Ich trank nur widerwillig eine Tasse leeren Thee, schon das
brannte mich wie Feuer in der Kehle.

Dann verabschiedete ich mich bei Mama, die über „Migräne“ klagte. „Sei
brav, schreib’ mir -- aber erzähle lieber nichts von mir in Steindorf.“
Ich grübelte nicht weiter nach über diese seltsame Ermahnung, doch
geriet ich gänzlich aus der Fassung, als sie zwei conventionelle Tränen
weinte. Wie sollte ich mich dazu verhalten? Mir war so gar nicht
trübselig zu Mute und ich atmete erleichtert auf, als Papa verkündete,
der Fiaker warte schon. Ich stieg mit Tante Laura ein: er konnte erst
nachkommen, wenn er Urlaub erhielt; Mama reiste nach Venedig.

Fort geht es durch die bekannten Straßen, an den alten düsteren Bauten
vorbei, und den noch geschlossenen Gärten. Die grauen Klostermauern
winken mir entgegen -- da kann ich nicht länger an mich halten -- ich
stoße einen lauten „Jucherzer“ aus, so daß sich ein paar Passanten
erstaunt nach mir umwenden.

„Am Hof“ herrscht bereits reges Treiben. Der Markt ist in vollem Gange.
Eine kleine Zeltstadt ragt keck empor und die Verkäuferinnen stehen
erwartungsvoll vor ihren Tischen. Köchinnen in hellen Cattunkleidern,
das gekolbte Häubchen auf dem kokett frisierten Haar, mustern mit
Kennermiene die ausgestellte Ware. Die Körbe füllen sich mit Gemüse und
Früchten, die gelb und rot aus appetitlichen Papierdüten hervorlugen.
Etwas abseits stehen Blumen in farbenprächtiger Mischung: Hortensien,
Nelken und Reseden in Stöcken und in Büscheln.

Ein Schusterbub geht pfeifend vorbei und dreht der Öbstlerin vom ersten
Stand eine lange Nase, was ihm mit einem kräftigen Puff heimgezahlt
wird.

Unter einem Hausthor spielt ein Leiermann mit sehr viel Verve den
„Radetzkymarsch“, als ahne er, daß binnen Kurzem die Töne zur
steinernen Wahrheit würden. Dazwischen die schrillen eintönigen
Rufe der Lavendelfrau: „Kauft’s Lavendel -- Lavendel kauft’s -- das
Schipperl nur 5 Kreuzer. Kauft’s Lavendel, kauft’s.“

Eine Abteilung Bosniaken, das rote Fez schief auf die sonngebräunten
Köpfe gestülpt, marschiert in strammer Haltung vorbei, bei jedem
Schritt eine Staubwolke aufwirbelnd. Das große Wasserfaß stäubt sein
kühlendes Naß auf das graue Pflaster und die ersten matinalen Damen
führen kunstvoll kleine Sprünge aus, die Röcke bis über die Knöchel
geschürzt, um nicht in eine Lacke zu geraten.

Dieses Momentbild mit all’ seinen Einzelheiten prägte sich so tief
meinem Gedächtnis ein, daß ich es jedes Mal vor mir sehe, wenn „vom
Hof“ die Rede ist.

Der Wagen hält vor dem Bahnhof. Diensteifrige Träger besorgen das
Gepäck und geleiten uns in den Wartesaal. Auch da kenne ich Stück für
Stück das Inventar. Olivegrüne Sammetmöbel, eine massive Pendeluhr aus
Eichenholz und ein Spiegel, durch dessen Mitte ein Sprung geht und die
darauf gemalte Psyche unbarmherzig in zwei Hälften teilt.

Erstes Läuten. „Einsteigen zum Schnellzug nach Nußdorf, Klosterneuburg,
St. Andrä-Wördern, Absdorf, Limberg-Maißau, Felsried, Hainberg.“

Wir machen es uns bequem im Coupé; nochmaliges Läuten, Pfeifen und
pustend setzt sich die Lokomotive in Bewegung.

Ein wundervoller Tag. In sanfter Bläue strahlt der Himmel auf die
saftiggrünen Fluren und mit goldenen Krallen greift die Sonne in das
Herz der Ährenfelder; farbensatter Mohn und stille Kornblumen biegen
die schlanken Körper im Morgenwind. Hoch in den Lüften beschreibt
die Lerche kühne Bögen und trillert ihr lustiges Lied. Auf den
Telegraphendrähten sitzt eine große Schwalbengesellschaft beisammen --
von Weitem nimmt es sich aus, wie ein weißer beschriebener Notenbogen
-- und tauscht zwitschernd Bemerkungen aus über das dahinsausende
Ungetüm.

Hier, unter dieser Rasenfläche mit dem Monumente, liegt Vater Radetzky
begraben und dort halten hinter einer Gartenmauer steinerne Soldaten
Wach. „Salming“, das Schloß meines Onkels und da das Kirchlein inmitten
der Gräber; so einsam und abgeschlossen. Nur einmal im Jahre betritt es
der Fuß eines Priesters, am „Allerseelentage“.

Seit ich denken konnte, hatte mich Papa auf das Bemerkenswerte bei
jeder Station aufmerksam gemacht.

Das ungewöhnte Fahren und der Kohlenstaub machten mich schwindlig.
Etwas Wein und Backwerk erweckten die erschlafften Lebensgeister.

Wie lang es dauerte! Man wartet ja oft Jahre ohne zu murren -- in den
letzten Minuten aber wird man ungeduldig. Es hält mich nicht auf meinem
Platze; ich stecke den Kopf zum Fenster hinaus und erkenne die Umrisse
der kleinen historischen Stadt Hainberg. Ja, das ist die Burg, der
Kirchturm, das Stationsgebäude -- und der lichte Phaeton steht auch
schon da.

Eins, zwei, drei geht’s über die kleine Treppe.

Wenzels breites Affengesicht legt sich in freundliche Falten. „Je, wie
die Baroneß Mimi groß geworden ist; und gut ausschauen tut’s auch. Was
wird denn da der Herr Großpapa sagen?“

„Wie geht es denn Allen? Gesund?“

„Ja. Aber die Baroneß Nina geht schon eine Woche nicht aus ’n Zimmer,
weil’s eine Eichelkatzel krank ist.“

„Schade. Und Hannerl?“

„No die treibt’s! Gestern hat’s ’n ganzen Tag von nix andern geredt,
als daß d’Baroneß Mimi kommt.“ Unterwegs muß die alte treue Haut noch
über so Manches Auskunft geben.

Die Bauern auf dem Felde blicken auf, als sie das Gefährt heranrollen
hören und grüßen höflich. Das Mähen ist so hübsch mit anzusehen; ich
wollte es nächstens auch versuchen.

Vier Pferde ziehen an einem schweren Leiterwagen: die Nüstern blähen
sich und das Fell schimmert feucht vor Anstrengung. Wir haben eine
Hitze von 24 Grad. Unten im Steinbruch arbeiten sie fleißig darauf los.
Eine Anzahl fertiger Platten ist zum Verladen aufgeschichtet und dort
legen die Leute noch die letzte Hand an die Glättung eines breiten
Sockels.

Auch das gefällt mir. Aus einem eleganten Wagen, von oben herab
betrachtet, nimmt sich das Alles so hübsch und so leicht aus.
Vorstellung und Wirklichkeit decken sich aber gar selten und die unten
dachten wohl ganz anders.

Wir kommen an einem halbverfallenen Schlößchen vorbei, von dem die
Sage geht, daß nächtlicherweile Geister erstehen und allerlei Unfug
treiben. Jeder, der einmal dort geschlafen, weiß Schauerliches zu
berichten. Papa hatte mir erst kürzlich die Geschichte von den drei
protestantischen Fräulein erzählt, die in der offenen Säulenhalle im
Mondenschein lustwandelten. Brr! wie das grauenhaft war; ich bekam
eine Gänsehaut bei der bloßen Vorstellung. Dann biegen wir in die
Kastanienallee ein.

„Da schaun’s hin, Baroneß“, ruft mir Wenzel mit bezeichnender
Peitschenbewegung zu. „’S Hannerl wartet schon.“

Da steht sie richtig, im schwarzen, glatten Wollkleid, das um
Hals und Ärmel mit hellem Grätenstiche eingefaßt ist. Ein grelles
Kopftuch verbirgt ihr halbes Gesicht, das weiß und rosig ist und so
kugelrund wie ein Vollmond. Sie lacht und zeigt dabei eine Zahnlücke:
in den Händen dreht sie in sichtlicher Befangenheit einen steifen
Feldblumenstrauß. Wir lassen sie einsteigen. Die freudige Aufregung
hat sie gänzlich verwirrt; es ist kein vernünftiges Wort aus ihr
herauszubringen. Plötzlich bricht sie ohne jegliche Veranlassung in
lautes Schluchzen aus. Wenzel weiß darüber Bescheid. „S’is so eine
Gewohnheit von dem Mädel. Solang’s z’ Haus war; hat’s der Vater jeden
Tag prügelt, g’rad um die Zeit, da is aus der Schul kommen und er
hat auch schon sein Rausch g’habt. Da glaubt’s halt noch immer, es
g’schieht ihr was.“

„Aber geh’ Hannerl, sei g’scheit“, tröstet sie die Tante. „Mimi hat Dir
was Schönes mitgebracht.“ Das wirkt.

Der Wagen macht eine Biegung und wir fahren durch das breite Tor, auf
dem der Reichsadler prangt, noch von Lehenszeiten her.

Vor mir liegt mein schönes, altes Steindorf. Zarter Lindenduft umweht
uns und auf der ehemaligen Zugbrücke erwartet uns die ganze Familie.
Das Herz klopft mir zum Zerspringen vor Wonne und doch unerklärlicher
Angst. Ich wäre am liebsten jedem Einzelnen um den Hals gefallen und
hätte ihm in beredten Worten meine namenlose Freude schildern mögen.
Statt dessen fühle ich, wie mir brennende Röte die Wangen färbt und mir
die Augen übergehen vor Verlegenheit.

„Also kommt, Ihr seid gewiß hungrig“, und Großmama geleitet uns in die
Veranda. Entzückt betrachte ich das Wandgemälde; es hatte mir schon
von jeher so besonders gut gefallen: Flora sitzt lächelnd und schön
in einem Muschelwagen, den vier Genien an Seidenbändern ziehen. Ihr
nach schweben noch andere Göttinen, mit Früchten und Ähren beladen.
Es schmeckt mir vorzüglich. So ein schwarzes Landbutterbrot, Thee und
Kirschen dazu -- ich hätte mit keinem König getauscht.

In gehobener Stimmung betrete ich mein Zimmer. Ein ideales Nestchen,
ganz weiß-rosa, so frisch und sommerlich. Blumen überall, zarte
Schlingrosen auf den etwas verblaßten Tapeten und vollerblühte
Centifolien in den Vasen. Über all dem schwebt jener unbeschreibliche
Duft von Reinlichkeit und würziger Atmosphäre, wie er gutgelüfteten,
lange nicht bewohnten Räumen eigen ist. Ist es Wirklichkeit oder träume
ich? Ach, immer, immer hier bleiben; es wäre das Paradies!

Mit großer Umständlichkeit packe ich die Koffer aus und drücke Hannerl
verschiedene Geschenke in die Hand. Sie ist außer sich vor Freude. Wir
sind unzertrennlich. Aber endlich müssen wir doch zur Ruhe gehen.

„Gute Nacht, Hannerl.“

„Gute Nacht, Mimi.“

„Wenn’s nur schon morgen wäre!“

„Das möcht’ ich auch.“

Förmlich berauscht von den empfangenen Eindrücken und wohl zum Teil
auch von der köstlich-herben Luft schlafe ich ein, die Hände unter dem
Kopf gefaltet, ein „Mein lieber, lieber Gott, ich danke Dir,“ auf den
Lippen.

       *       *       *       *       *

Fräulein Auguste, die Bonne, war eine lebensfrohe junge Person, die es
vorzüglich verstand, unsere Spiele in Gang zu bringen.

Bald tummelten wir uns auf den Wiesen herum, verrichteten Gartenarbeit,
oder wir zogen in den Wald hinaus, um zu botanisieren. Dabei sangen
wir allerlei Lieder, Hannerl zum Erschlagen falsch, aber sie meinte es
gut und war gar zu herzig. Das gestreifte Waschkleid umhüllte lose den
dünnen Engerlingskörper, auf dem der große, runde Kopf wie ein echter,
rechter Bauernknödel saß.

Wenn wir Kaffee getrunken -- Fräulein Auguste konnte nur über die
unglaubliche Menge staunen, die in der bodenlosen Tiefe unserer Magen
verschwand -- arbeiteten wir für unsere Puppen. Wir statteten sie vom
Kleinsten bis zum Größten aus -- ja sie besaßen sogar Alle Geradehalter
und Sonnenschirme.

Ich war stets die Tonangebende, während sich Hannerl mehr passiv
verhielt. -- Bisweilen freilich trug sie einen gewissen Widerstand zur
Schau, eine verächtlich-ungläubige Miene, so zum Beispiel, wenn ich ihr
französische Stunden geben wollte. Es ging ihr nun einmal absolut nicht
ein, weshalb sie mehr lernen sollte, als die übrigen Kinder. Pauline
konnte auch nicht französisch und war doch Stubenmädchen geworden.
Darin aber gipfelte Hannerl’s Sehnen und Trachten. Im Grunde genommen
begriff ich es ganz gut: ja es gab Momente, wo ich um mein Leben gern
mit ihr getauscht hätte.

Was gab es aber auch auf der weiten Welt Behaglicheres, als Jungfer
Paulinens Zimmer. Weißgetünchte Wände mit vielen Bildern behangen,
blütenweiße Vorhänge, blitzblanke Fensterscheiben, von roten Bohnen
umrankt, die bis auf den Fußboden herabkrochen; ein Messingbauer mit
einer Kanarien-Menage und das Prunkstück, ein Glasschrank, in dem sich
Alles dreimal spiegelte.

Sie schien indes nicht besonders erbaut über meine häufigen Besuche,
denn ich begnügte mich nicht, den Gesammteindruck ihres reizenden
Heims mit Kennerblicken zu genießen; sie mußte mir die Albums, die
Schachteln mit den Bändern und Muscheln zeigen und mir gestatten, ab
und zu etwas besonders „schön“ zu finden, was dann regelmäßig in mein
Eigentum übergieng.

Hannerl war furchtbar ungeschickt beim Nähen. Ein paarmal versuchte
sie es, dann nahm sie die Haltung eines störrischen Maultieres an: Ich
reizte sie. „Hannerl, Du bist doch schrecklich dumm. Eigentlich will
ich gar nicht Deine Freundin sein.“

„Dann laß nur bleiben. Ich mach’ mir nix aus einer Baroneß.“

Ich fühlte mich beleidigt: das sollte sie bereuen. Es fand sich
noch am selben Tage Gelegenheit, ihr eine Kränkung zuzufügen. Wir
erhielten Besuch aus der Nachbarschaft; mein Vetter Robert und der
zehnjährige Alfons, Sohn des Fürsten Weitzperg schlossen sich uns an.
Auguste saß abseits und wir spielten Verstecken, ohne von Hannerl die
geringste Notiz zu nehmen. Sie war einfach nicht für uns vorhanden; wir
behandelten sie als Luft und sprachen zur Verschärfung der Situation
nur französisch. Dabei wußte ich es so einzurichten, daß sie ihren
Namen hören, und verstehen mußte, daß ich nur Häßliches von ihr sagte.
Als ich das Wort „Ochsenknecht“ -- diese Stelle hatte ihr Vater
bekleidet, fallen ließ, schleuderte ihr Robert ein „Pfui, wie gemein“,
in das Gesicht. Hannerl wurde über und über rot und große Thränen
traten ihr in die Augen. Da stieg es wie Scham und Mitleid in mir auf,
aber ich zeigte nichts davon und spielte weiter.

Als Alfons sich verabschiedete, pflückte ich eine schöne Rose und gab
sie ihm mit dem Bemerken: „Für Deine Mutter.“ Die Hand, die sich nach
der Blume ausgestreckt, zitterte: „Ich werd’ sie auf den Friedhof
tragen.“

Das hatte ich vergessen und um meine Ungeschicklichkeit zu bemänteln,
frug ich: „Du hast sie wohl gern gehabt?“

„Sehr.“

Es wollte keine rechte Unterhaltung mehr in Gang kommen, zwischen
Robert und mir. Ich schlich mich an Hannerl heran und schüchtern
ihren Arm betupfend, bat ich: „Sei nicht bös Hannerl, es war nicht so
gemeint.“ Sie lächelte schon und wir besiegelten unsere Versöhnung
durch einen herzhaften Kuß. Robert meinte, so etwas sei unschicklich,
ich dürfe nicht vergessen, daß ich „Baronesse“ sei. Doch das Gute hatte
in mir gesiegt und behielt die Oberhand.

       *       *       *       *       *

Es lag irgend ein Geheimnis in der Luft.

Ein fremder, vornehm aussehender Herr war auf Besuch gekommen, doch nur
eine Stunde lang geblieben. Tante Laura gieng eine zeitlang blaß und
verweint umher und verschloß sich dann ganz auf ihrem Zimmer. Wenn
Papa nach ihr fragte, meldete sie sich krank. Er schüttelte unwillig
den Kopf, ergriff Hut und Stock und gieng in den Wald hinaus. Er war
reizbar, leicht ungeduldig, in denkbar schlechter Laune.

Meine kindliche Neugier war auf das höchste gespannt: eines Abends
stellte ich mich schlafend und hörte, wie Fräulein Auguste und Pauline
mit einander flüsterten. Das also war’s gewesen! Tante Laura hatte eine
Liebe im Herzen getragen -- aber eine hoffnungslose Liebe -- denn der
Mann ihrer Wahl war ein Jude gewesen und gegen eine solche Verbindung
sträubte sich die Familie mit allen Mitteln. Vor wenigen Tagen nun war
die Nachricht gekommen, daß er im Duell gefallen sei.

Wie nichtig schienen mir die eigenen kleinen Sorgen im Vergleich zu
diesem Schmerz. Hätte ich zu ihr eilen, sie umfassen, mit ihr weinen
dürfen! Nicht helfen können!

Und die Großeltern hatten es nicht zugegeben, nur aus dem Grunde, weil
er ein Jude war. Die hatten Christus an’s Kreuz geschlagen: doch das
war lange her. 2000 Jahre. Und er mußte dafür büßen! Nein, das konnte
der gerechte Gott nicht wollen! Und schlecht war jener gewiß nicht
gewesen, sonst hätte ihn die arme Tante nicht so geliebt. Jetzt war
Alles vorbei. Oh, Tante Laura, das hast Du nicht verdient!

       *       *       *       *       *

Eine ältere Dame, Madame Berger, die Erzieherin der Tanten gewesen,
und die schöne Jahreszeit in Steindorf verbrachte, erteilte mir auf
Großmamas Wunsch Klavierunterricht. Ich mußte bei den Anfangsgründen
beginnen und langweilte mich schrecklich dabei. Meine Unaufmerksamkeit
erboste die Lehrerin; bei jedem falschen Ton versetzte sie mir einen
Klaps mit ihren spitzen, gichtischen Fingern. Oft mußte ich denselben
Takt zwanzigmal wiederholen und wünschte Madame sammt dem Klavier
zum Kuckuck. Da ich keine Spur von Lust fühlte, blieben natürlich
auch die Fortschritte aus. Ich liebte die Musik, aber nur, wenn sie
einschmeichelnd, melodienreich mein Ohr berührte. Papa spielte schön:
Großmama und ich saßen allabendlich auf dem runden Kanapee beisammen
und hörten zu. Gar häufig legte sie die Zeitung beiseite und wischte
sich unter dem Augenglase eine Träne weg: ihr Blick ruhte dann mit
unaussprechlicher Zärtlichkeit auf dem blonden Kopfe ihres Ältesten und
Lieblings.

Aber Madame Berger, die kleine, geschäftig herumtrippelnde Person
sollte lieber „~de petits corsets de batiste~ nähen.“ Sie litt an der
fixen Idee, daß man nur handgenähte Dinge tragen könne: Maschinenarbeit
war „Schlamperei“.

Gewöhnlich erstarb sie in Liebenswürdigkeit; allein mit mir, nahm
sie sich kein Blatt vor den Mund. Ich aber konnte sie nicht leiden
und war auch nicht ganz so arglos wie „die berückende Frau“ meinte.
Ein schlauer Fotograf hatte ihr diesen Bären aufgebunden und sie so
veranlaßt, einige Dutzend Bilder zu bestellen. Sie machte allen Ernstes
trotz ihrer sechzig Jahre und des Hexengesichts noch Anspruch auf
Schönheit und kokettierte mit den Herren. Mit „Don“ einer engelsguten
Haut, dem Gesellschafter Großpapas geriet sie häufig in Conflikt, weil
er ihr mit rührender Offenheit die derbsten Wahrheiten sagte. Das aber
vertrug sie nicht.

       *       *       *       *       *

Großmama verordnete mir kalte Waschungen und wies Auguste eigenhändig
an, wie sie meinen Rücken behandeln müsse. Sie nahm ein ellenlanges
Stück Rosenseife zwischen Daumen und Ringfinger und fuhr dreimal mit
der scharfen Kante sehr energisch über die Wirbelsäule. Dann rieb sie
mich mit Handtuch und Nägel trocken. Das kitzelte abscheulich, gerade
so wie beim „Geschichten“ erzählen. Da setzten Hannerl und ich uns auf
Schemeln zu ihren Füßen und sie hielt unsere Hände fest. Im Anfang
streichelte sie sie leise, im weiteren Verlauf der Erzählung aber, wenn
sie in Affekt geriet, oder gar Räuber vor uns aufmarschieren ließ,
bohrte sie sich förmlich mit den Fingern in die Innenflächen ein, und
krabbelte und kitzelte solange, bis wir uns vor Lachen schüttelten.

Hannerl verdaute die Geschichten schwer, besonders die von der „grauen
Frau“ und den „geschluckten Nasen und Ohren“. Sie fuhr des Nachts in
ihrem Bette auf und schrie um Hilfe, bis Pauline Licht entzündete und
sie beruhigte.

Mir gieng es einmal auch nicht besser. Auguste und Pauline waren zu
einem Fest ins Dorf gegangen und das Nebenzimmer blieb leer. Ich
trachtete zu schlafen: vergeblich. Dort in der Ecke knisterte es; ich
hielt den Atem an -- gewiß, ich täuschte mich nicht. Ich hörte eine
Zeitlang nichts, als das laute Klopfen meines Herzens. .. Waren das
nicht Schritte? Und jetzt ein Stöhnen, ganz deutlich. Abermals. ... Ich
steckte den Kopf unter das Kissen, aber die Angst nahm nicht ab. Ich
hielt es nicht länger aus. Suchend tastete ich nach den Zündhölzchen
und atmete erleichtert auf, als der Lichtschein das völlig leere Zimmer
beleuchtete. Ich hätte also ruhig sein können, aber der Schlaf war mir
vergangen; ich sehnte mich nach Gesellschaft, nach Aussprache, warf das
Nachtgewand über und begab mich zu Hannerl. Die schnarchte fest. Ich
rief sie an, rüttelte, zupfte sie am Ohr, alles umsonst. So wartete ich
eine Viertelstunde: dann dauerte es mir aber doch zu lange: ich machte
kurzen Proceß, hob die Decke auf, schob Hannerl an die Wand und legte
mich an ihre Seite. Endlich schien sie zu merken, daß es nicht mit
rechten Dingen zugehe. Sie brummte etwas Unverständliches und als ich
ihr in Kürze den Sachverhalt schilderte, erwiderte sie mürrisch: „So
geh’ doch schon, ich will ja schlafen.“ Dazu entschloß ich mich aber
erst, als die Ausflüglerinnen bei anbrechendem Morgen heimkehrten.

Mit meinem Mut war es überhaupt nicht weit her. Jedes Geräusch, jede
fremde Gestalt, ja jeder bellende Hund jagte mir Schrecken ein. Es
erfuhr nie eine Seele, was ich bei den Abendspaziergängen mit Papa
ausstand. Wenn die Erlen rauschten, das Käuzchen klagend schrie und die
Dämmerung die Gegend in dunkle Schleier hüllte, da kam die Furcht, das
bange Erwarten etwas Schrecklichen über mich.

Besonders vor einer Stelle graute mir. Papa hatte uns gesagt, es sei
die Wolfschlucht, in der mit Samiels Hilfe die Kugeln gegossen wurden.
Ich blickte scheu zum Himmel. Wenn jetzt plötzlich die wilde Jagd durch
die Lüfte gesaust käme, dann müßte man auf die Knie fallen, das Gesicht
auf die Erde drücken und ein Vaterunser beten. „Papa“ -- ich klammerte
mich an ihn.

„Was hast Du denn?“

„Aber siehst Du denn nicht? -- Dort, hinter dem Baum, Du auch nicht,
Hannerl?“ Statt aller Antwort hing sie sich zitternd an den andern Arm
Papas. „Ein Mann mit braunen Locken, ein Barett auf dem Kopf. Hohe
Stiefel, ein Gewehr umgehängt .. ein Wildschütze.“

„Ja, ja, ich hab’ Dir’s immer gesagt!“ bestätigte Papa, dem unsere
Angst wohl Spaß machte. Meine erregte Phantasie spiegelte mir die
verschiedensten Erscheinungen mit solcher Deutlichkeit vor, daß ich
steif und fest glaubte, die Dinge wirklich gesehen zu haben.

„~La baronne c’est un paquet de Nerfs~“ hatte sich einmal Madame Berger
über meine Mutter geäußert. Ich hatte bereits, ohne es zu wissen, die
traurige Erbschaft angetreten. Wenn Großmama schlürfend Thee trank
und an einer Honigsemmel saugte, als wäre es eine furchtbar zähe
Masse, zuckte es mir in allen Gliedern. Ich preßte die Fingernägel ins
Fleisch, biß mir die Zunge wund und konnte es nicht erwarten, daß sie
fertig war. Dieselben Qualen litt ich, wenn Jemand eine Thüre heftig
zuschlug, hustete, sich räusperte. Da lief ich unter irgend einem
Vorwand aus dem Zimmer, ballte die Fäuste, stampfte mit den Füßen und
weinte Wuttränen, bis ich mich erschöpft und erleichtert fühlte.

Natürlich ahnte niemand etwas von diesen anormalen Zuständen, denn
ich hütete mich wohl, etwas zu verraten. Man hätte mich ausgelacht,
gestraft oder zu einem Arzt geführt und jede dieser Aussichten war mir
schrecklich. Das Verspotten fürchtete ich vielleicht am meisten. Madame
Berger benützte jede Gelegenheit, mir kleine Hiebe zu versetzen. „~La
petite a l’air d’une cigogne.~“ War das wirklich wahr? -- Von diesem
Moment an wußte ich nicht, was mit meinen Armen und Beinen beginnen;
meine Bewegungen nahmen etwas Linkisches, Steifes an, das an die
Darstellungen der Altegypter gemahnte und mir vielleicht wirklich eine
Storchähnlichkeit verlieh.

O ich war empfindlich! Seit einmal Großmama aus Zerstreutheit frug:
„Du, wer ist denn das?“ redete ich nur in einer „selbsterfundenen
Person“ mit ihr. „Bitte, das meinen?“ „Bitte, vorlesen“ u. s. w. Alle
Vorstellungen vermochten nichts daran zu ändern; ich hätte mir lieber
die Zunge abschneiden lassen, als je wieder die alte, vertrauliche
Ansprache anzuwenden. Überhaupt, sie imponierte mir und verstand es
vorzüglich, alle Welt in gemessener Entfernung zu halten. Sie war in
ihrer Art eine Großmacht und hing mit allen Fasern ihres Seins an der
Regierung. Nie und nimmer hätte sie einen Eingriff in ihre Rechte als
Herrin des Hauses geduldet.

Ich sehe sie noch deutlich vor mir. Eine trotz ihrer siebenzig Jahre
stolze, aufrechte Erscheinung, mit edlen, entschiedenen Zügen, deren
Ausdruck, je nach Gelegenheit, zwischen unbeugsamer Starre und fast
kindlicher Weichheit wechselte. Wo sie ging und stand, begleitete
sie ihr Schlüsselbund: sie trug dies Abzeichen ihrer Würde mit einem
gewissen Stolz, wie der Herrscher seine Krone. Sie teilte selbst
die Vorräte aus und liebte es, in der „Speise“ eine ungestörte
Viertelstunde zu verbringen, um die Güte des Proviantes zu erproben, um
zu „kosten“. Es waren nicht immer „Mäuse“, die Unfug anrichteten unter
Mandeln und Rosinen!

Gieng Großmama spazieren, trug sie sich seltsam genug, in der Art
des vorigen Jahrhunderts. Ein breitkrämpiger, helmartiger Strohhut,
darüber um das Kinn gebunden ein dünnes Wolltuch, in der Hand einen
massiven Schirm, den Griff nach unten gekehrt, den sie bisweilen
drohend schwang wie eine Keule. Die hellen Glacéehandschuhe waren stets
nachlässig übergestreift, so daß die halben Finger frei blieben und wie
abgebundene Würstchen aussahen. Die Füße steckten in viel zu großen
Überschuhen und es geschah gar häufig, daß der eine mit ins Freie
zog, während sein Bruder mit betrübter Miene aus irgend einer Ecke
hervorguckte, in Gesellschaft eines Taschentuches, das, mit vierfachem
Knoten versehen, eine prächtige Nachthaube abgegeben hätte.

Mit der Dienerschaft verkehrte sie nie anders, als: „Hat der Kutscher
den Wagen geputzt?“ -- „Geh’ der Gärtner augenblicklich an die Arbeit“
und das in einem Ton, der von vornherein jeden Widerspruch ausschloß.

Ihr Mann war der „liebe Ferdinand“ und wagte nicht, sie anders
anzureden als „Mylady“. Bei Meinungsverschiedenheiten zog er regelmäßig
den Kürzeren und mußte sich mit dem bescheiden, was der Gattin nicht
behagte. Ein Feld zum Beispiel, auf dem der Weizen schlecht stand, war
„Dein Feld“, eine Allee hingegen mit schönen reichtragenden Bäumen war
„meine Allee“. Er aber ließ sich dadurch die Laune nicht verderben.
Unglaublich rüstig für sein hohes Alter stand er schon um 6 Uhr auf,
ging auf die Jagd, aß für Zwei und war unermüdlich im Erzählen alter
Anekdoten. Man kannte die Geschichten Wort für Wort, wußte die genaue
Reihenfolge und wehrte sich aus Leibeskräften. Es war, als säße er auf
einem Birnenbaum und beutle so lange, bis die Darunterstehenden mit
Früchten überschüttet waren. Darum hieß es immer: „Birne so und so viel
oder Waldberg“, „König von Hannoverbirne“.

„Also; wißt Ihr die Geschichte, wie ...?“

Einstimmiger Chor: „Ja, o ja.“

„No, wie geht sie?“

Jemand erzählt den Anfang.

Kleine Pause. Aufmunternd zu mir gewandt: „Mimi, weißt Du’s auch?“

„Nein, Großpapa.“

Rufe der Entrüstung von allen Seiten. Er triumphierend: „Aha, seht Ihr,
sie hat’s noch nicht gehört. Also ich werd’ es Dir erzählen.“

Don: „Die Uhr ist wieder einmal aufgezogen. Der Herr Baron wird noch
heiser werden.“ Alles umsonst.

Die Familie spannte im Gedanken Regenschirme auf, sprach durcheinander
und ließ die Birnen abprallen. Aber wenn Gäste kamen, wehe! -- Mit
erkünstelt interessierter Miene, mit der Höflichkeit von Leuten, die
„Knigge’s Umgang“ beherzigt haben, hörten sie zu, hier und dort ein
„Ach wirklich“, ein zweifelndes Kopfschütteln, ein verständnisvolles
Lachen anbringend. Großmama räusperte sich wiederholt, warf ihm
vielsagende Blicke zu, und da Alles nicht half, zog sie den andächtigen
Zuhörer an ihre Seite und sprach „Landwirtschaft und Industrie“.
Sie besaß einen regen Unternehmungsgeist und wußte stets von allen
Neuerungen auf diesen Gebieten.

Tante Nilla war nie sichtbar, wenn Fremde kamen. Hörte sie einen Wagen
rollen, verschwand sie durch eine Hinterpforte in den Wald. Dort
sammelte sie Beeren oder Schwämme, rauchte, las Heiligenlegenden und
Missionsberichte. Oder sie hielt Zwiesprache mit ihren Hunden, lauter
„Findlingen“, an irgend einer Ecke aufgelesen, wo sie, dem Verhungern
nahe, verzweifelt zu ihr aufsahen; lauter Invaliden, Pfründner, die das
Gnadenbrot aßen und ihre Tage in Ruhe beschließen durften.

Da war vor Allem Fly, ein ausgedienter Jagdhund, der von seinem
früheren Herrn mehr Prügel als gute Worte erhalten hatte und jeder
neuen Erscheinung auf zehn Schritte auswich „~serrant la queue et
portant bas l’oreil~“. Er führte das Dasein eines Rentiers, gieng immer
mehr in die Breite und trug seine „Knochen“ auf ein entferntes Feld, um
sie später einmal auszugraben.

„Pintschbock“ glich einer „Karricatur“ aus den fliegenden Blättern und
machte mit dem unförmig zausigen Körper einen geradezu lächerlichen
Eindruck. Er besaß nur eine Schönheit, ein paar Augen, die einen
anblicken konnten, daß es einem ordentlich das Herz umdrehte.

Endlich noch „Scheck“, ein plumper Stallköter, mit häßlicher, rauher
Stimme. Nach Sonnenuntergang brachte er der züchtigen Grundel, einer
Hündin, über deren Alter man nicht reden durfte, Ständchen, daß sie
ganz verwirrt wurde. Wie kam sie nur zu solcher Huldigung, sie mit den
wackligen Zähnen und dem ewigen Baucherlweh? -- Der Geschmack ist eben
verschieden, auch in der Tierwelt.

       *       *       *       *       *

Mama war mit ihrer Freundin, Frau von Cordi, einer sehr hübschen
geschiedenen Frau in Steindorf eingetroffen. Zwischen Letzterer und
Madame Berger bestand ein entschiedener Antagonismus und die Beiden
begegneten sich mit eisiger Kühle.

Frau von Cordi gefiel mir ungemein. Eine junonische Gestalt mit
Grübchen in den Wangen und kornblumenblauen Augen; selbst die Zähne,
die gegen alle Schönheitsregeln kühn hervorstrebten, erregten meine
Bewunderung. Ich trachtete mir ihren leisen wiegenden Gang anzueignen,
strich mir die Augenbrauen schwarz an und malte mir die Wangen so
feuerrot, daß Großmama fürchtete, ich habe Rotlauf und mir Zimmerarrest
diktierte. Sie behandelte mich als „Große“, was meiner Kindereitelkeit
ungeheuer schmeichelte. Ich sann hin und her, wie ich mich ihr angenehm
machen könnte und ergriff eifrig die erste Gelegenheit, die sich mir
bot. Madame Berger hatte geäußert, daß sie nicht begreife, wie man
mit einer solchen Person, die ihrem Manne davongelaufen, verkehren
könne. Sie sei eine ganz gewöhnliche Intriguantin und an Großmamas
Stelle würde sie ihr das Haus verbieten. Der Augenblick, meine Rache
auszuüben, schien mir gekommen. Nochmals das Gehörte vor mich
hingemurmelt, um nur ja nichts zu vergessen, und dann schnurstracks zur
Geschmähten. Ich war wie von einem Taumel erfaßt, unfähig, mir über
mein Vorhaben und dessen Folgen auch nur die geringste Rechenschaft
abzulegen. Hätte ich es nicht sagen können, ich wäre erstickt. Kaum
aber daß es heraus war, begriff ich, welchen Unsinn ich begangen.
Ich setzte mich ans Fenster und blieb auf der Lauer. Das Alarmsignal
erfolgte bald; Mama nahte im Eilschritt, das Taschentuch an die
Augen gepreßt. Sie machte mir die heftigsten Vorwürfe: „Du bist ein
abscheulicher, boshafter Fratz, zu nichts anderm gut, als die Leute
übereinander zu bringen. Was ist Dir nur eigentlich eingefallen?“
u. s. w. Dann hielt sie eine Art Monolog, aus dem ich nicht recht klug
wurde. „Wär’ ich doch in Venedig geblieben: dieses Steindorf hat mir
nie Glück gebracht; jetzt gönnen sie mir nicht einmal das bischen Ruhe.
Mir liegt der Ärger auf dem Magen wie ein Berg“ und dabei schluckte sie
und machte allerlei Verrenkungen. „Alle führen hier das große Wort,
nur ich soll schweigen; ich laß mir es aber nicht länger gefallen. Der
alte Drache, die Madame Berger, soll nur schön schweigen, die ist nicht
ihrem Mann durchgegangen, bei der war’s umgekehrt. Auch begreiflich.“
Sie schien meine Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben. Ein paar Tage
ging sie gähnend und seufzend herum, mit dem klagenden Blick einer
Mignon, so daß man sich unwillkürlich frug: „Was hat man Dir, Du arme
Frau, gethan?“ Dann reiste sie mit ihrer Freundin ab.

Madame Berger begegnete mir von diesem Tage an mit so unterwürfiger,
katzenartiger Liebenswürdigkeit, daß ich nur staunte.

       *       *       *       *       *

Drückende Schwüle lag auf der Erde. Nun empfand ich doch etwas wie
Mitleid mit den Knechten auf dem Felde, die in rastlosem Fleiße Garben
aufbanden, während die Sonne glühend heiß auf ihren Scheitel brannte.
Nein, ich wollte nicht mehr tauschen. Es hatte doch sein Gutes,
„Baroneß“ zu sein. Endlich erhob sich ein kühles Lüftchen. Ich nahm den
Hut ab und ließ es über Haar und Stirne wehen; eine wahre Wohlthat. Im
Westen ballten sich schwarze Wolken zusammen, und die Schwalben flogen
so nieder, daß ihre Flügel die Erde streiften. Aus dem Teiche drang das
Schluchzen der Unken und ein Libellenpaar kreiste müde über dem ruhigen
Spiegel.

Es rauschte leise in den Zweigen und die kleine „Werner Pepperl“
lockte mit eintönigem Ruf die Hühner, um sie vor Beginn des Gewitters
in Sicherheit zu bringen und der alte Gänserich trieb mit Geschnatter
seine Damen heim.

Der Himmel verdüsterte sich immer mehr und wir flohen ins Haus.
Bald folgte Blitz auf Blitz, Donner auf Donner. Feurigen Schlangen
gleich fuhr es am Himmel hin und das dumpfe Poltern brach sich in
ohnmächtiger Wut an den alten Mauern, daß es laut widerhallte. Entsetzt
schloß ich die Läden und stammelte ein Gebet um das andere. Das
Unwetter wütete die halbe Nacht hindurch. Es hatte sich zudem ein Sturm
erhoben; er rüttelte an den Fenstern, fuhr heulend um die Ecke und sang
im Schornsteine schauerliche Lieder. Es war die Strafe Gottes für meine
Sündhaftigkeit: jetzt und jetzt mußte das Schloß zusammenstürzen und
uns unter seinen Trümmern begraben. Ich besprengte mich mit Weihwasser,
erweckte Reue und Leid, schlüpfte in die Pantoffeln, hüllte mich fest
in meine Decke und forderte Fräulein Auguste auf, gleich mir ihre
Seelenrechnung zu machen. Als sie mich aber in diesem seltsamen Aufzug
erblickte, brach sie in ein so schallendes Gelächter aus, daß ich mich
entrüstet entfernte, um allein zu sterben.

Der Tod kam nicht, wohl aber sein Bruder, der Schlaf. Er strich mir
sanft über die Schläfen und nahm mich mit sich ins Reich der Träume:

Die Gestalt des dicken Verwalters tauchte vor meinem geistigen Auge
auf: bei jedem Schritt taumelte er so, daß man meinte, er müsse
umfallen, aber er verlor doch nie das Gleichgewicht. Er lehnte sich
ans Billard und erzählte, daß die Bauern einen Grenzstein verrückt
hätten: „Mein Jott, ich sach’s ja immer, ’s jiebt so jefährliche
Menschen“, dabei rutschte das Billard und er lag der Länge nach da.
Auguste hob ihn auf und ließ ihn auf einem Seile tanzen. Fly bellte.
Er sagte: „Weil der Mond scheint“ und begann zu singen: „Juter Mond,
Du jehst so stille“. Auguste meinte, er solle keinen Unsinn treiben,
ihr sei eine „jut jebratene Jans“ viel lieber, worauf er sie zu einem
fetten Schinken einlud: „Meine Vorratskammer is jerade jefüllt.“ --
„Von unjerechtem Jute, alles jekrippst von der Herrschaft“, kicherte
Auguste. Dann riß sie so heftig am Seil, daß er stürzte. Ich verspürte
einen Ruck und erwachte an ungewohntem Orte, auf meinem Bettteppich.
Als ich Auguste den Traum bis in die kleinsten Einzelheiten erzählte,
nannte sie mich geärgert ein „überspanntes Ding“. Gesunde Kinder hätten
keine solchen Träume.

       *       *       *       *       *

Robert und ich stellten lebende Bilder dar. Ich öffnete mein Haar, daß
es mir wie ein Mantel über die schmalen Schultern fiel, schlang wilden
Wein darum und legte mich mit geschlossenen Augen ins Gras. Dornröschen
schlief. Der Prinz war in einen großkarrierten Plaid gehüllt und eine
Pfauenfeder schmückte sein dunkles Sammtbarett. Er nahte schüchtern,
kniete vor mir nieder, küßte mich und ich erwachte.

Hannerl war aufgelöst vor Entzücken, obwohl seine Hoheit sie keines
Blickes würdigte. Für ihn gab es eben nur „Prinzessinnen“, das hatten
ihm seine Tanten schon an der Wiege gesungen.

Mir gegenüber war er ganz „Cavalier“. Wir feierten gerade
„Kirchweihfest“, und da ich in die Nähe der Musik wollte, bot er
mir seinen Arm und tanzte eine Tour mit mir. „Blau steht Dir am
allerbesten, wie den meisten Blondinen“, äußerte er, indem sein Blick
wohlgefällig mein Tüllkleid streifte. Er schenkte mir ein Lebkuchenherz
mit flammender Inschrift: „Aus Liebe“. Papa und der Onkel stießen sich
an und wir wurden sehr verlegen. Auguste führte mit dem Verwalter
einen Tanz auf, wie ihn die Nilpferde nicht schöner zu Stande gebracht
hätten. „Du, mir scheint, da fangt sich was an“, bemerkte Robert
altklug.

„Was denn?“

„Kleine Unschuld“ und er lächelte protektorhaft.

       *       *       *       *       *

Alle taten sehr geheimnisvoll mit den Vorbereitungen zu meinem
Namenstag. Ich lief zu Pauline, um sie auszuforschen: verriegelte
Thüren; ich bestürmte Hannerl mit Fragen -- sie schüttelte den Kopf und
Frau Huber, die Köchin, wollte auch nicht mit der Sprache heraus. „I, i
darf nix sagen, sonst könnt’s heißen, daß i eine Tratschen bin.“

„Frau Huber“, in der geöffneten Küchentüre erschien Dons kleine, feiste
Gestalt und mit gekrümmtem Zeigefinger neckisch drohend: „Frau Huber,
der Herr Baron läßt Sie ersuchen, sich ein wenig zu beeilen, weil er
sehr hungrig ist.“

Bei seinem Eintritt schmunzelte die Huberin mit hinreißender
Coquetterie. Dieses Gesicht setzte sie jedesmal auf, wenn sie ihren
einstigen Verehrer erblickte. Er hatte vor langer Zeit für sie
geschwärmt, „o wenn sie ewig grünen bliebe, die Zeit der jungen Liebe“,
und erinnerte sich nur noch ~vague~ an diese Episode seines Lebens. In
fünfundzwanzig Jahren vergißt sich so Manches, namentlich wenn eine
Gehirnkrankheit den Gedächtnisapparat geschwächt, wie es beim armen
„Don“ der Fall war. Ab und zu erzählte er von seinen Flammen und in
diesen Berichten spielte auch die Huberin eine gewisse Rolle. „Zum
erstenmal habe ich sie mit einem Einkaufskorb unter dem Arm gesehen
und das machte mir gleich einen vorteilhaften Eindruck. Sie sah so
nett und appetitlich aus. Ich hob den Deckel auf und sah Rettige und
Karfiol, mit einem Worte, lauter gute Sachen“. Später hatten zwei
Zwillingsschwestern sein Herz zu neuer Glut entfacht. „Wie die schön
und graziös auf dem Trapez turnten, eine Passion, ihnen zuzusehen, und
so wohlerzogene, brave Mädchen.“

Er schilderte mit Vorliebe seine Beamtentätigkeit an der
Franzjosefsbahn. „Das war ein aufreibendes Leben, diese Verantwortung!
Mir stehen noch jetzt die Haare zu Berg, wenn ich daran denke. Mit
einem Fuß im Grab und mit dem andern im Criminal. .. Wie damals noch
Alles primitiv war und wir uns plagen mußten, bis etwas klappte. Der
erste Ball, den wir gaben“ ... und dann stieg er regelmäßig die 4
Treppen zu einer nunmehr berühmten Burgschauspielerin empor und bat
sie, das Patronessenamt zu übernehmen. Sie sagte zu, traktierte ihn mit
schwarzem Kaffee und war sehr liebenswürdig.

Bisweilen, wenn er Reminiscenzen von anno dazumal auffrischte,
erwachte in Großpapa der Concurrenzneid und er ließ es Don bei der
Zeitungsvorlesung entgelten.

Don: „Landtagswahl“. Pause.

„Auf was warten’s denn, so lesen’s weiter.“

Nochmals „Landtagswahl“. Unter Gelächter: „Dem König von Portugal, dem
ist das ganz egal.“

„Herrgott, ist das ein Chineser.“

„No ja, aber uns geht’s ja eigentlich nichts an, wer gewählt wird. Wir
candidieren ja nicht.“

„Deshalb interessiert’s mich doch. Ich bin zum Glück nicht so wie Sie,
daß ich für nichts Sinn hab’ als für Zwetschkenknödel.“

„Da irrt der Herr Baron: ich esse Apfelstrudel und Milchreis eben so
gern.“

„Also lesen’s schon einmal weiter. Lauter, man versteht ja nichts.“.

„Ich bin schon heiser, Herr Baron, und es wird finster.“

„Jesses, hat der Mensch Faxen!“

Nach einer Weile: „Don, was sind Sie?“

„Ein Aff’.“

Großmama kannte diese Art der Unterhaltung und fand sie äußerst
unpassend. Mir hingegen bereitete es großen Spaß, zuzuhören. Ich saß
bei den Mahlzeiten neben ihm und lachte mich halb krank über seine
unvermittelten Ideensprünge. Sagte Jemand: „Das ist bequem“, murmelte
er vor sich hin: „~Madame sans gêne~“, oder irgend etwas Ähnliches und
fixierte dabei völlig geistesabwesend eine Person aus der Gesellschaft.
War es Tante Nilla, so zog sie geärgert die Augenbrauen in die Höhe und
warf ihm einen vernichtenden Blick ob solcher Kühnheit zu. Auf Auguste
war sie, seit der Verwalter ihr eine Nußtorte gesandt, nicht mehr gut
zu sprechen. Selbst kühl bis ans Herz hinan, haßte sie Alles, was nach
Verliebtheit schmeckte.

Endlich kam der Namenstag. Ich konnte es kaum erwarten: als es aber
hieß: „Jetzt“ zierte ich mich mit einemmale. Jene Schüchternheit
befiel mich, die mit dem Bewußtsein, daß „ein Ereignis“, „etwas
Vielbesprochenes“ bevorstehe, in Verbindung war. Dabei empfand ich
ein physisches Unbehagen, das mir jeden Genuß bedeutend schwächte.
Aller Blicke waren auf mich gerichtet, wie peinlich; ich unterschied
nichts deutlich, nur im bunten Durcheinander wie Farbenkleckse auf
einer Palette. Erst als ich mit Hannerl allein war, kam meine Freude
zum Durchbruch. Wir vergnügten uns mit der Betrachtung der Geschenke
und ich war in lustigster Stimmung, bis Madame Berger mir sagen ließ,
ich möge in einer halben Stunde zu ihr kommen. Diese Ankündigungen
versetzten mich jedesmal in helle Verzweiflung und ich erforschte mein
Gewissen, ob ich nicht wieder etwas „angestellt“ hätte und Strafe
bekäme.

Nein, ich täuschte mich: sie teilte mir blos mit, daß sie „~du raisin~“
für mich bestellt und daß er morgen bestimmt eintreffen müsse. War das
eine Erleichterung!

       *       *       *       *       *

Großmama nahm uns in die Garderobe mit, damit wir ihr halfen,
Bettwäsche zu verteilen. Öffnete man die laut kreischende Eisentüre, so
drang Einem der anheimelnd feuchte Moderduft einer längst vergangenen
Zeit entgegen. Eine Spinne machte geschäftig die Runde ihres schwanken
Netzes, und an den vergitterten Fenstern kletterte dunkler Epheu empor,
in dem die Tauben ihre Nester bauten.

Der massiv geschnitzte Leinenschrank nimmt ein Drittel des Raumes ein:
an der gegenüberliegenden Wand steht ein Bücherbrett; die Einbände
weisen meist farbiges Papier mit steifen Blumensträußchen auf;
Großmamas Jugendbibliothek. In scheuer Andacht stehe ich davor und
wage kein einziges zu berühren. Wie lange das her war! Noch viel, viel
länger als die lebensgroßen Bilder im gelben Salon. Damals war Großmama
Braut. Über hellgrauem Rock ein Überwurf aus schwarzem Sammet, wie es
Mode war. Der überschlanke junge Hals ist etwas entblößt und lange
blonde Locken umrahmen ein sanftes blühendes Gesicht. Ihr gegenüber
Großpapa im Jagdkostüm, eine männlich-schöne, elegante Erscheinung.
Zwei bildhübsche Menschenkinder, wie für einander geschaffen! Und sie
so reden zu hören! Keine Spur von Verweichlichung. Ohne Umhülle, ganz
echauffiert vom Tanze, direkt aus dem Ballsaal hinaus in die kalte
Winternacht und lustig herumspaziert in dünnen Atlasschuhen, weil es so
reizvoll war, durch die leeren Straßen zu wandeln, wenn Alle schliefen.

Sie hielt ein Stück blaßgrünen goldgestickten Brokates gegen das Licht.
Es war ein Kleid meiner Urgroßmutter und an einzelnen Stellen von
Motten durchlöchert. Mir gieng ein Frösteln durch die Glieder. Dieses
Stück Stoff, sonst war nichts von der Frau geblieben, die doch gleich
uns geatmet, gelebt hatte. Er spann wie ein Mysterium zwischen der
Toten und meinem Gehirne. Etwas Unbeschreibliches erfaßte mich in dem
kühlen dämmerigen Raum; es legte sich mir drückend, zentnerschwer aufs
Herz und ich wurde es lange nicht los.

       *       *       *       *       *

Papa, Auguste, Hannerl und ich, wir machten in aller Morgenfrühe einen
Ausflug auf die „Tannenhöh“, die berühmt war wegen ihrer wundervollen
Aussicht.

Es hatte tagszuvor geregnet und die Erde strömte feuchte Dünste aus.
Die aufgehende Sonne wob Strahlennetze über die blühenden Wiesen und
die dunklen Brachfelder. Zarte, bald lila, bald mattrosa Schleier
umflatterten die fernen Berge und am Himmel wogten weiße Wölkchen
dahin wie eine Heerde Schafe.

In den Dörfern spielten die Kinder auf der Straße. Sie schleiften alte,
mit Sand gefüllte Schachteln hinter sich her und ihre Züge spiegelten
jene Lust am Leben wieder, jenen Stolz, so schöne Sachen zu besitzen,
wie er nur diesem Alter eigen ist.

Eine Schaar Kühe tummelte sich auf der Weide. Die bereits Satten lagen
auf der Erde, wiederkäuend im Grünen, mit großen, ausdruckslosen Augen.

Der Postmeister eilte an uns vorbei, die gefüllte Ledertasche auf
dem Rücken, eine ellenlange Pfeife im Mund. Tag für Tag gieng er
denselben Weg, schon vierzig Jahre lang. Wie eintönig! Und doch
habe ich ihn nie anders als heiter gesehen, mit sich und seinem Los
zufrieden. Eine genügsame, anspruchslose Natur, die Haß und Neid wohl
nur vom Hörensagen kannte. Bisweilen erzälte er, wie das und jenes
früher war, Manches besser, Manches schlechter und seine Anschauungen
waren merkwürdig richtig für einen Bauer, der sein lebenlang Briefe
abgestempelt und in seinen Mußestunden das Schusterhandwerk betrieben.
Er trug sein Alter mit Frohsinn und Würde; der energische Gang und das
schneeweiße Haupt verliehen ihm etwas Strammes und Rührendes zugleich.

Unser Weg führte uns durch einen prächtigen Buchenwald. Eine Unzahl
Schwämme bedeckten den Boden und Cyclamen blühten hier und dort
zerstreut. Nun hatten wir unser Ziel erreicht, einen auf der Anhöhe
befindlichen Vorsprung, dicht umwuchert von Brombeer und Berberitze,
von dem aus man die Gegend im weiten Umkreis übersah. Papa richtete uns
das Fernrohr zurecht und wir erkannten in voller Deutlichkeit Steindorf
und alle Nachbarschlößer. Ein großartiger Anblick ohne Zweifel, aber so
weit, so grenzenlos, als sei es nicht mehr „wahr“. Angesichts dieser
Unendlichkeit stand mir der Atem still.

„Warum sagst Du denn nichts? -- Mir scheint, Du hast keinen Sinn für
Natur?“ frug mich Papa.

Was sollte ich darauf erwidern? Wie die undeutlichen Begriffe
schildern, ohne konfuses Zeug zu reden. Jeder nach seiner Art. Die
Hunde bellen den Mond an. Weshalb tun es die Menschen nicht? Der
Italiener spricht anders wie der Schweizer -- der Eine redet viel,
der Andere wenig. Und kann ein Kind nicht auch seine eigenen Gedanken
haben? Sprechen ist nicht immer nötig; Schweigen hingegen fördert das
Gefühl. Freilich, es gibt Leute, die das nicht begreifen. Da heißt
es dann gewöhnlich: „Warum sprichst Du nicht?“ „Weshalb bist Du so
still?“, als ob sich das mit einem Worte definieren ließe. Törichtes
Beginnen, das Meer in eine Nußschale füllen zu wollen.

Im Gasthaus zum „goldenen Löwen“ -- einen goldenen Löwen gibt es
nämlich überall -- nahmen wir mit wahrem Heißhunger ein ländliches Mahl
ein. Dann kletterten wir über die steile Bodentreppe und wälzten uns
im duftenden Heu, das die Scheune fast bis zur Decke füllte.

Die Nacht verbrachten wir in Sahning und ich durfte mit Hannerl in
einem Zimmer schlafen. Wir wollten rechten Unfug treiben, schliefen
aber schon beim Abtrocknen ein. Ich hörte noch wie Hannerl quiekte und
schrie, als Auguste sie in das große Wasserschaff steckte, war aber
viel zu müde, um mich wie sonst an ihrem spündeldürren Schatten zu
ergötzen.

Nach gesundem, erquickendem Schlummer besuchten wir die alte
Wallfahrtskirche des Ortes. Mit ihren zwei Türmen ragt sie stolz und
selbstbewußt in die Höhe, als könne sie Wunderdinge erzählen. Aus aller
Herren Länder pilgern sie hierher, die Bedürftigen, die Enterbten des
Schicksals, um von Maria, der mächtigen Fürsprecherin Heilung ihrer
Wunden zu erflehen. Die Legende berichtet von ganz merkwürdigen Dingen:
davon zeugen auch die zahllosen Öldruckbilder, die die Wände bedecken.
Sie stellen die Madonna unter ihren verschiedenen Titeln dar und tragen
allerlei Widmungen: „Unserer lieben Frau von der immerwährenden Hilfe,
zum Danke für die wunderbar erfolgte Genesung ihres Sohnes Alexander.“
Oder blos: „Hab’ Dank, Maria“ und die Initialen der Spender. Und
rings um den Hochaltar wächserne Herzen, Hände und Füße, auch ein
Krückenstock und ein Lederschuh. Diese Dinge störten meine Andacht,
statt sie zu erhöhen und Papas halblautes Gemurmel machte mich
vollends zerstreut.

Da fiel mir Tante Laura ein, die man mit einer Gesellschafterin auf
Reisen gesandt, und über die keine gerade erfreulichen Nachrichten
einliefen. Es hieß, sie sei zum Erbarmen traurig, teilnamslos gegen
Alles um sie her. Ich betete ein Vaterunser für sie, damit sie bald
wieder ihres Lebens froh würde.

Papa schenkte Hannerl und mir einen Gulden, um in den kleinen Buden
„Andenken“ zu kaufen. War das ein Vergnügen! Ach, wär’ ich reich
gewesen und hätte wählen dürfen! Doch es hieß warten, sich gedulden bis
der „Prinz“ käme, mich auf sein Schloß zu tragen, aus purem Edelstein.
Dann wollte ich alle Buden der Welt kaufen. Robert war nur ein
kostümierter „Prinz“, es mußte aber ein „echter“ sein und ich blickte
mit unerschütterlicher Zuversicht in die Zukunft.

       *       *       *       *       *

Die schönen Tage von Aranjuez giengen ihrem Ende entgegen und ich
stellte wehmütige Betrachtungen an über die Vergänglichkeit alles
Irdischen. Quälende Zweifel bedrückten mich, ob ich die Vergangenheit
nicht hätte besser genießen können, und wie sehr ich es in Zukunft
täte, wenn es eben eine solche gäbe.

Wenn sich doch nur irgend etwas ereignen wollte, um meinen Gedanken
eine andere Richtung zu geben und in meinem kindischen Egoismus war
es mir total gleichgültig, welcher Art diese Ablenkung sei. Eine
Feuersbrunst, ein Einfall von Dieben, einerlei. Mein Wunsch erfüllte
sich. Es hieß, ein wütender Hund mache die Gegend unsicher. Wie
unheimlich! Ich malte mir ganze Scenen aus: Er naht, schäumend, mit
weitheraushängender Zunge und glühenden Augen. Er dreht sich im Kreise,
beschnuppert den Boden, kommt immer näher und näher. In grenzenloser
Angst jage ich über die Felder hin, er mir nach. Keine 10 Schritte
entfernt knallt ein Schuß. Es ist der Jäger. Oder aber ich klettere
auf einen Baum, da würde man mich sicher nicht entdecken und ich müßte
nicht mit nach Wien.

Als es ernst wurde mit der Abreise, weinte ich so kläglich, als
müßte mir das Herz brechen; es half nichts, weder Trostesworte noch
Versprechungen. Das Stationsgebäude starrte mir kahl und fremd entgegen
und die Träger schienen mir Folterknechte. Wir setzten uns in die
kleine grünverwachsene Laube und Papa bestellte eine Stärkung. Ich
hielt Hannerl krampfhaft bei der Hand und verwandte keinen Blick von
ihrem traurigen Gesicht, in dem ich einen Widerschein des eigenen
Leides zu gewahren meinte. Dann zogen die Kastanienbäume meine
Aufmerksamkeit auf sich. Solche gab es doch auch in Wien, und Häuser
auch -- und Menschen. -- Weshalb grämte ich mich eigentlich? Da man
allenthalben denselben Dingen begegnete, warum gerade sein Herz an
dies eine Fleckchen Erde hängen? So philosophierte ich und biß schon
mutiger, mit einer Art Galgenhumor in das Würstel und trank Bier dazu,
mich zu betäuben. Ich lachte sogar, machte bleichsüchtige Witze und
stieß mit Hannerl auf ein frohes Wiedersehen an.

Nur noch wenige Minuten. Die Lokomotive mit dem glühendroten Auge fuhr
zischend in die Station ein. „Hannerl, mein liebes Hannerl, vergiß mich
nicht, denk’ recht, recht oft an mich und schreib’ mir bald.“ Wir lagen
uns in den Armen, und jegliche Contenance außer Acht lassend, brüllten
wir um die Wette, wie zwei zu Tode verwundete Löwen.

Der Kondukteur mahnte zur Eile und Papa schob mich mit festem Ruck
vor sich in das Coupé. Hier stand ich am Fenster, solange Hannerl
noch zu sehen war. Dann lehnte ich mich in den Sitz zurück und hatte
förmliche Weinkrämpfe. Ich bildete mir ein, das unglücklichste Geschöpf
auf Gottes weiter Welt zu sein und hätte 1000 mal lieber in Steindorf
Schotter zerkleinert und trockenes Brot gegessen als nach Wien zu
fahren. Papa blieb nicht ungerührt beim Anblick dieses Schmerzes,
den er im Grunde teilte. Er hieng ja auch an Steindorf und an seiner
Mutter, der er mit blinder Liebe zugetan war. Er ergriff meine Hand und
streichelte sie: „Sei doch vernünftig, Mimi. Wie lang wird’s dauern
und Du fährst wieder heraus. Einstweilen heißt es recht brav sein und
fleißig Briefe schreiben.“ Ja das wollte ich und ich sah bereits im
Geiste das schönste Briefpapier vor mir. Jetzt dauerte es volle 300
Tage. Wenn doch wenigstens schon ein Monat um wäre! Bei jeder Station
gab es mir einen Stich durchs Herz. Immer weiter, weiter! Jetzt saßen
sie gewiß schon bei der „Jause“. Ob sie von mir sprechen? Ob Hannerl
sich sehr einsam fühlte? Gestern um diese Zeit! Ach Gott!

Instinktiv schmiegte ich mich an Papa, der mir nun nahe stand, wie
lange nicht. Die gemeinsame Liebe zu einem Orte, zu Personen bildet ein
gar mächtiges Band. Ich nahm mir vor, ihm durch mein Betragen Freude zu
machen, wollte mich auch bemühen, fröhlich zu erscheinen, um Mama nicht
zu kränken.

Wir fuhren über die Donau. Ein kühler Lufthauch und gedämpftes Rauschen
drang aus der Tiefe herauf. Ein heller Lichtschimmer. Stolz, mir
zum Hohne, hebt sie das diademumstrahlte Haupt, die vielgepriesene
Wienerstadt. In den hohen, steifen Häusern sitzen die ehrsamen Bürger
beim Abendmahl; eine Mutter wiegt ihr Kind in den Schlaf. Immer wieder
muß ich aufsehen, zu den erleuchteten Fenstern -- o wie mir graut vor
der Nacht, in der aller Kummer vertausendfacht erscheint.

Als wir im Wagen saßen, sagte Papa in selten weichem Tone, der fast wie
eine Bitte klang: „Laß gut sein, sei gescheidt, sonst glaubt Mama“, --
hier brach er ab, als sei es schon zu viel gewesen.

Dann hielten wir vor einem Eckhause still. Noch immer hoffte ich, daß
ein Wunder geschehen müsse, daß Alles nur ein böser Traum sei. Aber
nein. Es gieng zwei Treppen hinauf, die matt erhellt waren von einer
einzigen Gasflamme. Mama begrüßte uns in der Tür. Wir setzten uns zu
Tisch. Mit Mühe würgte ich ein paar Bissen hinunter, dann zog ich mich
zurück. Sie hatte Steindorf mit keinem Wort erwähnt, nicht einmal für
die Grüße gedankt. Nur ob Papa Butter mitgebracht, ob es viele Schwämme
gäbe und daß die neue Bodenfarbe nicht angreifen wolle.

Ich stand in meinem Zimmer, das mit seiner Tapete, grau in grau, den
dunklen Vorhängen und hohen Kästen den Eindruck einer Kerkerzelle auf
mich machte. Und ich meinte zu ersticken. Hastig riß ich die Fenster
auf und sandte mit der Hand ungezählte Küsse in die Richtung, wo ich
Steindorf wußte. Alles hatte ich dort gelassen, Raum, Licht und Liebe.
Weshalb nur gab es Leid und Tränen? --

Ich wußt’ es nicht zu lösen, das große Rätsel des Lebens.

       *       *       *       *       *

Welch’ abscheulich schale Stimme die Uhr des nahen Kirchturms hatte,
im Vergleich zum tiefen, vollen Klang der heimatlichen: die näselnde
Parodie auf ein wunderschönes Lied. Ich fühlte den Drang nach Bewegung
und stand bei Tagesgrauen auf. Es war dunstig im Zimmer und eine Fliege
plumpste unablässig an die Scheiben an. Mama war auch schon wach. Ich
hörte durch die dünne Tapetenwand, wie sie sich im Bette herumwälzte,
das unter ihrer Last abscheulich kreischte. Sie schneuzte und räusperte
sich ununterbrochen, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sie sich
langweilte.

Ich öffnete den Koffer, entfernte das Seidenpapier und betrachtete
zärtlich jedes Stück. Mir war, als entströme der Wäsche Steindorfer
Luft, als hafte ihr etwas von dem dortigen Wasser an.

Mama’s erste Frage war: „Haben sie „oben“ nichts von mir erzählt?“

„Aber nein, ich weiß wirklich nichts.“

„Gar nichts?“

Diese Art mich auszuforschen, erweckte arges Unbehagen in mir. Was
meinte sie nur eigentlich? ....

Im Kloster gab es viele neue Gesichter; häßliche und hübsche. Einige
der älteren Schülerinnen waren ausgetreten und ich vermißte mit Wonne
Christinens lauernden Blick.

Meine Pultnachbarin war neu eingetreten. Tiefbrünett mit dunklen, etwas
geschlitzten Augen, erinnerte ihre Physionomie an die einer Japanerin.
Nach ihrem Mienenspiel zu urteilen, schien sie sich gut zu unterhalten.

Mère Walter kündigte uns als „~grande surprise~“ den Besuch der
„~révérende Mère~“ an und alle Mädchen riefen freudig: „Ah, ah!“

„Was heißt denn das?“ frug Olga ganz erstaunt. „Muß man das sagen?“ und
ohne meine Antwort abzuwarten, hüpfte sie dreimal in die Höhe wie ein
Hampelmann, den man an einem Schnürchen zieht: „Ah, ah!“

Mère Walter schmunzelte vergnügt. „Ich sehe, Olga Taroli, daß Sie
eine gute „~élève~“ werden: Sie zeigen schon jetzt „~l’esprit du
Sacré-Cœur~“.“

„Warum denn, meine Mutter?“ und leise zu mir: „Ja, spricht die
spanisch? Ich hab’ in meinem Leben nichts von diesem „~esprit~“ gehört.“

Es lag so gar nichts Gemachtes, Erkünsteltes in ihrem Wesen; das zog
mich an und dann erzählte sie so interessante Dinge. Sie mußte sehr
reich sein, wenigstens nach der Beschreibung des Palais zu urteilen,
das sie bewohnte und der eleganten Equipage, die sie abholte.

Ich schämte mich halb zu Tod, wenn ich mit Mama den kleinen
Selcherladen betrat, um mein Souper zu besorgen, um 20 Kreuzer
Schinken. Wenn sie mich sähe, wie müßte sie es gemein finden und mich
verachten.

Und doch war ich noch bei Weitem besser daran, als Franziska Hipperl,
die von den Anderen mit souveräner Geringschätzung behandelt wurde,
weil ihr Vater Delicatessenhändler war, der seine Kunden eigenhändig
bediente. „Pfui, schämen Sie sich, pfui, pfui!“ Ein förmliches
Spießrutenlaufen, wenn sie durch den Saal gieng. Selbst Mère Walter
setzte eine unnahbare Miene auf, wenn sie mit ihr verkehrte.

Vom obligaten Spaziergang heimgekehrt, hieß es: „Klavierspielen.“ Papa
hatte die Chance gehabt, irgendwo einen 50-Kreuzer-Lehrer aufzugabeln,
einen Menschen mit zerschlissenen Manschetten, tieftrauernden Nägeln
und klapperndem Gebiß.

Während Madame Berger Alles und Jedes getadelt, verfiel er in das
entgegengesetzte System des Unterrichts. Er war des Lobes voll über
mein Talent, mein Auffassungsvermögen und über meine Finger, die
dünnen Spinnebeinen gleich auf den Tasten lagen. Liszt selbst hätte
seine Freude an dieser Hand gehabt. Er sprach sehr langsam, jede
Silbe betonend, in der Art der Schulkinder, das A besonders klar
hervorhebend. „Spie--len wir das schö--ne Lied: „Fah--ret hin, fah--ret
hin, geht mir aus dem Sinn, Gril--len sind mir bö--se Gä--ste.“ Er
summte mit hoher Fistelstimme den Text vor sich hin, ganz begeistert
von der gemeinsamen Leistung. Da Papa fand, daß ich nicht genügend
taktfest sei, frug Herr Stolz -- so hieß mein Meister --, ob er einen
selbstangefertigten Apparat bringen dürfe, der hübsch und zweckmäßig,
das teure Metronom ersetze.

Mein Schrecken war nicht gering, als Herr Stolz bei der nächsten
Stunde mit großer Umständlichkeit seiner Tasche etwas entnahm, etwas
Abscheuliches. Ein alter Knopf an verknittertem Wollfaden. Mir -- das!

Mir, der vor nichts so sehr ekelte, als vor alten, verstaubten
Knöpfen. Und dazu seine Erklärung: „Ich sammle schon seit Jahren
alle alten Knöpfe, und habe bereits eine ganze Schachtel davon. Mein
Princip ist: „Nichts umkommen lassen“, da man nie weiß, wozu man die
Dinge brauchen kann. Den Faden zum Beispiel lieferte ein zerrissener
Socken, den ich nicht mehr tragen konnte. Ich schenkte allen meinen
Schülern eine derartige Vorrichtung.“ Er schwang das Pendel mit großer
Gewissenhaftigkeit hinter meinem Rücken; ich ließ es mir gefallen, doch
als er Miene machte, das kostbare Objekt meiner Obhut anzuvertrauen,
schützte ich Nasenbluten vor und ergriff schleunigst die Flucht.
Herr Stolz besaß nicht das Zeug, um zu imponieren, ich machte keine
Fortschritte und bedauerte, diese Stunde nicht angenehmer verbringen zu
können. Immerhin zog ich diese Beschäftigung noch dem darauffolgenden
Turnen vor. Das fliegende Reck machte mir den Eindruck eines Galgens,
seit ich tagaus tagein dieselben Übungen vornehmen mußte. Aufziehen, so
und so viele Schwingungen, nicht eine mehr, nicht eine weniger und dazu
das Bewußtsein des „Muß“.

Dabei wurde ich ein Gefühl der „Vereinsamung“ nicht los. Doktor Vogler,
der erzählte interessant von seinen Bekannten, seinem Berufe, aber
wenn er ausblieb! Dann bekam man nichts anderes zu hören, als daß es
ein Hundeleben sei, von früh bis spät im Bureau zu sitzen, daß die
Eier furchtbar im Preise gestiegen seien, daß der und jener in Pension
gegangen und Venedig Mamas Nerven nicht vertrieben habe. Alles im Tone
der Klage, des Mißmutes und der Unzufriedenheit mit dem Schicksal.

Es hätte mich zersteut, ab und zu, wenigstens des Sonntags
Altersgenossinnen bei mir zu sehen, aber daran war nicht zu denken.
Die Klosterregel verbat jeden Umgang, ebenso wie Theater, und Papa
hätte nie eine Mißachtung derselben geduldet. So mußte ich mich mit
Hannerls Briefen begnügen, die ich so lange las, bis ich sie auswendig
kannte. Was für wichtige Dinge die großen, unregelmäßigen Schriftzüge
verkündeten. „Ich habe lauter Einser in der Schule bekommen. Nur im
Gesang habe ich einen Dreier bekommen. Pauline hat meiner Puppe einen
Mantel gemacht. Ich spiele Domino. Auf den Fly bin ich böse, weil er
ein Reh zerrissen hat“ u. s. w.

Es ging ihr also mit dem Lernen besser wie mir. Ich hatte sogar in
einem Gegenstande „schlecht“. O dieses Rechnen! Es wollte mir nun
einmal nicht in den Kopf. Ich konnte ganz leidlich addieren und
subtrahieren, kam aber ein Punkt, ein Decimalbruch vor, breitete
sich ein undurchdringlicher Schleier über mein Gehirn. Glaubte
ich bisweilen, auf der rechten Fährte zu sein, die Schwierigkeit
überwunden zu haben, so war es gewiß Täuschung, und ich gab es auf, den
trügerischen Irrlichtern nachzujagen.

       *       *       *       *       *

Ich wurde wieder einmal zu einem Arzt geschleift, der als Specialist
für Verkrümmungen etc. ein großes Ansehen genoß.

Bei wie viel Ärzten war ich schon gewesen und Jeder hatte etwas
Anderes gesagt. Es wäre eine physische Unmöglichkeit gewesen, ihnen
allen gerecht zu werden. Sie ergiengen sich in gelehrten Ausdrücken,
Mutmaßungen der verschiedensten Art, stellten Fragen, nahmen
ausführliche Protokolle auf und man ging -- so klug wie zuvor.

Ich hätte es schon gewöhnt sein können, und doch beschlich mich
jedesmal dasselbe intensive Unbehagen, wenn ich den Wartesaal einer
Fakultät betrat. Schon der Stil dieser Räume -- sie wiesen alle mehr
oder minder Ähnlichkeit auf, -- machte einen bangen, kalten Eindruck.
Peluchegarnitur mit weißen Spitzendeckchen, kunstlose Gemälde,
Prachtbände, in denen die Patienten mit erheucheltem Interesse
blätterten. Ängstlich horchte ich auf jedes leise Geräusch, auf das
halblaute Flüstern im Nebenzimmer und hätte gerne gewußt, ob die gleich
mir Wartenden dieselbe Unruhe empfanden.

Endlich kam die Reihe an mich. Mama erzählte jedesmal dieselbe
Geschichte, die ich schon zum Überdruß gehört und Doktor Vogler fügte
einige wesentliche Erläuterungen hinzu. Ich mußte mich entkleiden -- es
war mir schrecklich -- die verschiedensten Stellungen annehmen, mich
bücken, legen, tief atmen -- es schien mir eine Ewigkeit.

Der Arzt, den man uns diesmal angeraten, war ein noch junger Mann
mit energischen Zügen. „Derlei Fälle kommen häufig bei Kindern vor,
die sich infolge zuvielen Sitzens eine schlechte Haltung angewöhnen.
Die inneren Organe haben nicht gelitten und die Verkrümmung befindet
sich in einem Zustand, wo sich noch Alles geben kann. Es ist nötig,
die Kleine in rationelle Behandlung, eventuell in eine ortopädische
Anstalt“ und als Mama unterbrechen wollte: „Ich weiß, die Eltern lieben
das nicht, aber um meine Meinung befragt, würde ich unverantwortlich
handeln, wenn ich Sie nicht darauf aufmerksam machte, daß die
Gesundheit wichtiger ist als das Studium.“

Doktor Vogler stimmte ihm durch Kopfnicken bei. Doch äußerte er
Zweifel, daß dies durchführbar sei. Sein College sah mich mitleidig an.
„Dann versuchen wir es mit dem Lagerungsapparat. Wenn Sie vielleicht
sehen wollen“, und er schob den Vorhang etwas zur Seite. Es war ein
Ungetüm aus Holz, Leder und Eisen. „Was, da drin soll ich schlafen?“
Ich begriff nicht, daß man mir im Ernste so etwas zumutete.

„Ja, wenn es sein muß.“ Mama war nur besorgt, daß die Kosten zu
bedeutend wären; das Andere schien sie kühl zu lassen.

Ich brach in Tränen aus. Doktor Vogler fuhr mir tröstend über das Haar:
„Es sieht nur so schrecklich aus. Man gewöhnt sich bald daran und lange
wird es ja hoffentlich nicht nötig sein.“

Ach, war das eine Marter: Kerzengerade auf dem Rücken liegen, den Kopf
in einer Linie mit dem Körper; die rechte Seite auf einem steinharten
Holzviereck, die linke halb in der Luft, an Gurten aufgezogen.
Gewöhnlich schlummerte ich erst um 4 Uhr morgens ein und drei Stunden
später mußte ich aufstehen. Oft vermochte ich mich nicht aufrecht zu
halten vor Müdigkeit und war kaum imstande die Tränen zurückzudrängen.
Weshalb mußte ich das durchmachen? -- Warum war ich nicht wie Andere?
Wenn ich Papa bat, mich wieder wie früher im Bett schlafen zu lassen,
geriet er in Zorn und nannte mich „ein boshaftes Ding“. Und Gott half
mir auch nicht, der böse, alte Mann.

       *       *       *       *       *

Weihnachten stand vor der Thüre. Wir hielten täglich eine Andacht im
Studiensaal, vor der kleinen, leeren Holzkrippe. Mère Walter hatte uns
in einer etwas unverständlichen Rede aufgefordert, dem Verheißenen
ein Lager zu bereiten in unserem Herzen. Wir sollten unser Inneres
läutern und mit Tugenden schmücken. Jede mußte in den Krieg ziehen
gegen ihren Hauptfehler und hatte sie am Ende des Tages einen Erfolg zu
verzeichnen, durfte sie einen Strohhalm in die Krippe legen.

Meine schwache Seite war die „Geduld“. Ich beschloß mich ins
Unvermeidliche zu fügen. Da die Himmlischen mir gegenüber so wenig
Zuvorkommenheit zeigten, wollte ich sie verblüffen, beschämen. Nein,
sie sollten wenigstens nicht triumphieren; dieser Gedanke erfüllte mich
mit Genugtuung. Ohne Murren legte ich mich in den harten Apparat und
stand mit einem überlegenen Lächeln auf. Nicht Liebe war mein Führer,
viel eher Trotz und Hohn.

Wir verfertigten Kleidungsstücke für die Armen und sollten die würdige
Mutter mit einer Summe für die Afrikamissionäre überraschen. Papa
machte ein saueres Gesicht, enthielt sich jedoch jeder Äußerung, um den
Respekt vor den Klosterfrauen nicht zu beeinträchtigen.

Die Abende waren mit den Vorbereitungen für das Christfest ausgefüllt.
Wir Drei, Doktor Vogler und ein Maler, Pitz mit Namen, verfertigten
kleine Bonbonnièren, wickelten Chokolade ein und befestigten am
Zuckerwerke Fäden.

Pitz, seines schwarzen Krauskopfes halber auch „Mohr“ genannt, zeigte
für diese Beschäftigung bei Weitem mehr Interesse als für seinen
eigentlichen Beruf. Er war durchaus nicht talentlos, aber von einer
Trägheit, einer Indolenz! Flogen ihm die gebratenen Tauben zu, dann
gut, wenn nicht, er kümmerte sich gewiß nicht weiter darum. Ein Bild
„auszustellen“ hätte ihm Entwürdigung geschienen. Bedürften die Leute
seiner, so würden sie ihn schon holen in seinem Dachstübchen, hinter
der Staffelei, wie die Sachsen ihren König, vom Vogelfang. Es holte ihn
aber Keiner, da eben Niemand von ihm wußte.

Er verstand sich vorzüglich auf das Restaurieren; er copierte hübsch,
aber eigene Ideen -- keine Spur. Seine ältesten Bekannten konnten
sich nicht entsinnen, daß ihm seine Phantasie mehr als zwei Sujets
vorgezaubert hätte, die er bis zum Überdruß verwertete. „Zechende Jäger
in der Schänke“ und „ein Bachantenzug von kleinen Kindern“. Selbst
auf der Decke seiner Stube schwebten blütenbekränzte Amoretten und die
Innenseiten seiner Kleiderkästen zeigten die altbekannten, verwitterten
Gesichter unter den grünen Filzhüten.

Papa hatte sich einmal einen Scherz erlaubt und ihn „Herr Zimmermaler“
genannt. Das aber faßte Pitz schief auf: „Der Herr Baron darf sich
nicht lustig machen über mich“, erklärte er mit drohender Miene. „Ich
habe kein Glück gehabt; bei mir stellte sich der Zufall nicht ein, der
einen Makart, einen Canon gemacht. Und mich den Leuten aufdrängen,
ah nein, dazu bin ich zu stolz“ und er warf mit herausfordernder
Miene den Kopf in den Nacken. Mit der, bornierten Leuten eigenen
Zähigkeit, beharrte er bei seinem Standpunkt. Es wäre total fruchtlos
gewesen, sich in eine vernünftige Diskussion mit ihm einzulassen, ihm
begreiflich machen zu wollen, daß die großen Meister niemals berühmt
geworden wären, hätten sie die Hände in den Schoß gelegt und würdevoll
gesagt: „Ich warte“.

Aber ebenso wie er jeden harmlosen Spaß, jeden leichten Tadel für bare
Münze hielt, ebenso nahm er jede Anerkennung, jedes Lob wörtlich. Er
deklamierte für sein Leben gern und man brauchte ihn nur zu bitten,
etwas zum Besten zu geben, so war aller Groll im Nu verraucht. Der
Künstler verschwand, um in wenigen Minuten mit gepudertem Gesicht in
ein weißes Leinentuch gehüllt, zu erscheinen. Mir wurde unheimlich
dabei zu Mute. Das verdunkelte Zimmer, der weiße Schatten und die
schaurige Geschichte der „Moritaterei“ „Lenore fuhr ums Morgenrot“.
„-- Dann gieng er in einen heiteren Ton über, sang den „Chevauxlegers“,
den „Gondolier“ und „Ich wollt’, ich könnt ein Kätzchen sein“. -- Immer
dasselbe Repertoire, nie eine Abwechslung. Sein Steckenpferd aber war
die Parodie auf den „Handschuh“. Er hatte sich beim Einstudieren seiner
Rollen so sehr in die stampfenden, wildbrüllenden Tiere hineingedacht,
daß die Nebenparteien den Hausmeister zu Hilfe riefen: „Der Maler muß
übergeschnappt sein; er treibt es furchtbar“. Und da auf wiederholtes
Klopfen keine Antwort erfolgte, sprengte er die Türe und dem erstaunten
Publikum bot sich ein Anblick dar, wie jener, wo Cervantes „Don
Quichote“ mit unsichtbaren Mächten kämpft. Pitz kroch auf allen Vieren
herum, schlug mit Händen und Füßen um sich und gab die schauerlichsten
Töne von sich. -- Es kam zur Erklärung der Situation, und von nun an
regnete es Einladungen auf ihn „zur Jause“, zu einer „deklamatorischen
Soirée“ im 4. Stock, wo er die einzige deklamatorische Kraft war. Was
Wunder da, wenn Pitz die Huldigungen zu Kopfe stiegen. Er ließ es sich
gut sein bei Braten und Wein und erklärte höchst selbstbewußt: „Jetzt
ist so ein Geriß um mich, daß ich ans Malen gar nicht mehr denken kann.“

       *       *       *       *       *

Hell prangt der Christbaum im Kerzenschmuck. Es funkelt und glitzert
von Goldstaub und Walkürenhaar und die Äste neigen sich unter der
schweren Last.

Rings an den Wänden auf weißgedeckten Tischen die Geschenke. Mein Platz
ist überfüllt, und es währt geraume Zeit, bis ich die vielen Gaben in
Augenschein genommen. Am meisten freut mich das Perlenhalsband, das mir
Tante Laura sammt einem lieben Brief gesandt. „Sei glücklich“, schloß
das Schreiben, und diese Worte machten mich traurig, ohne daß ich recht
wußte warum. Wann ist man glücklich? Wenn man nichts entbehrt, keine
ungestillte Sehnsucht mit sich herumträgt, -- oder aber wenn man sich
mit den Dingen zufriedengiebt, wie immer sie auch seien. Zu ersterem
gehört Fortunas ganz spezielle Protektion, zu letzterem ein so hoher
Grad von Philosofie, wie er nur wenig Auserwählten eigen ist.

Auch ich war nicht glücklich. Ich stellte die schönen Sachen in meinem
Zimmer auf, und in diesem öden grauen Zimmer dachte ich an Hannerl und
wie schön es wäre, das Alles mit ihr zu teilen. Ob sie wohl wußte,
mit welchem Opfer ich die Süßigkeiten erkauft, die ich ihr geschickt.
Die Nacht des Sonntag blieb ich vom Apparat befreit. Papa stellte mir
aber einen Gulden in Aussicht, wenn ich auch da viermal hindurch darin
schliefe. Es fiel mir schwer, aber Hannerl zu Liebe tat ich es.

Um Mitternacht gieng sie wohl in die Mette. Knirschender Schnee,
Sternenhimmel, der Lichtschimmer ungezählter Laternen, vermummte
Männer und Frauen. Aus allen Dörfern strömen sie zusammen, um dem
Heiland der Welt ein Wiegenlied zu singen: „Stille Nacht, heilige
Nacht.“

Brausend fällt die Orgel ein, Weihrauchduft erfüllt den Raum -- sie
Alle beten.

Wie feierlich! Wie schön!

       *       *       *       *       *

Olga hatte das Pensionat verlassen, nachdem es mehr als einen heftigen
Auftritt zwischen ihr und der würdigen Mutter abgesetzt. Obwohl wir
einander nicht näher gekommen, that es mir doch leid. Sie hatte Leben
und Abwechslung in das öde Einerlei gebracht. Welchen Unfug sie in
den „Anstands-Stunden“ getrieben! Ihr Lachen wirkte ansteckend und
versetzte den Tanzlehrer -- das einzig männliche Element in unserem
Unterricht in helle Wut.

Kaum wandte er sich um, warf sie ihm Kußhände zu, preßte die Hände
aufs Herz und einmal ertappte er sie dabei, wie sie den Zipfel seines
Taschentuches aus seinem Rocke zog. Von nun an kam Mère Walter
selbst, um uns an Stelle der alten, kurzsichtigen Mère Schale zu
beaufsichtigen. Wir standen da, als ob wir Ladstöcke verschluckt hätten
und mucksten nicht. Es war unerträglich.

Olga hatte laut geäußert, daß bei Tisch nur deshalb Missionsberichte
vorgelesen würden, um einem den Hunger zu benehmen. Sie hatte nicht
so Unrecht; diese unappetitlichen Schilderungen mußten Einem übel
machen. Der Eine briet am Spieß, den Anderen tranchierten sie bei
lebendigem Leibe und ein Dritter war derart Feinschmecker, daß er sich
bloß vom widerlichsten Ungeziefer nährte. In der Regel hörte auch
außer den beiden jungen Altgräfinnen Niemand zu, und die schienen
völlig abgehärtet gegen die Schauderberichte. Sie verschlangen mit
durchdrungener Miene doppelte Extraportionen, während ihr Geist,
von der Materie losgelöst, in höheren Regionen schwebte. Dünn wie
Sardellen, half ihnen selbst die Mastkur nichts -- sie aßen nur aus
Pflichtgefühl, um ihre Körper widerstandsfähig zu machen, für die
Anforderungen der Seele.

Den Ausschlag aber hatte gegeben, daß Olga die fehlenden Seiten ihrer
Naturgeschichte verlangte. „Ich weiß ja so, was drin steht. Warum
soll denn der Mensch nicht vom Affen abstammen. Die Affen sind oft
gescheiter wie die Menschen.“ Bei der Taschenbesichtigung fand sich ein
kleines Bändchen „Goethe-Gedichte“ vor. Sie hatte es zu Weihnachten
von ihrem Schwager erhalten. Höchste Entrüstung. Mère Walter spielte
alle Farben. Sie aber sagte so ganz obendrein: „Warum haben Sie diese
schlechten Bücher gelesen? Hat Sie wahrscheinlich doch auch mehr
interessiert als die „Nachfolge Christi.“ Ich finde gar nichts so
Schreckliches daran.“

Damit war die Sache erledigt und Olga ausgestoßen. Mère Walter legte
uns anheim, für sie zu beten: „~Ce n’est peut-être pas tellement de sa
faute. C’est une excellente enfant, elle a un cœur d’or, mais elle est
malade, oh elle est malade la pauvre!~“

Olga krank, es war zum Lachen. Solch zweiten kerngesunden Kobold gab
es gar nicht mehr. Aber Mère Walter fand offenbar, daß man bei so
unerhörtem Benehmen einer Entschuldigung bedürfe.

       *       *       *       *       *

Ein entfernter Verwandter war gestorben und hatte Papa zum
Universalerben eingesetzt. Ich durfte Trauer tragen und fühlte
mich furchtbar interessant. Des Abends beim Gebete, fügte Papa ein
Gesetzlein für den Verstorbenen bei und Mère Walter behandelte mich von
nun an mit einer gewissen Zuvorkommenheit.

Die altväterische Einrichtung unserer Wohnung wich einer modernen, und
an Stelle der häßlichen Ripsgarnitur im Salon trat eine kirschrote
Seidenpracht, die mein Auge blendete. Auch mein Zimmer erfuhr eine
Bereicherung, d. h. man schob das hinein, wofür man anderswo keinen
Platz fand.

Sonst trat keine wesentliche Änderung ein. Papa behielt die alte
Lebensweise bei und meine Hoffnung auf Erhöhung des Monatsgeldes erwies
sich als trügerisch.

Zwischen meinen Eltern herrschte eine Spannung, die mich überaus
peinlich berührte. Bei den Mahlzeiten saßen sie sich stumm gegenüber
und ~Dr.~ Vogler mußte die Unterhaltung führen.

Großmama war zum Begräbnis gekommen, hatte uns aber nicht besucht. Als
ich meinem Bedauern darüber Ausdruck gab, versetzte Mama mit großer
Schärfe: „Ich hoffe, daß sie sich’s überlegt, uns aufzusuchen: ich
verlange mir durchaus keinen Verkehr mit dieser Sippe.“

Ich blickte sie erstaunt und mit stummem Vorwurf an.

„Ja,“ versetzte sie, gezwungen lachend, „Du bist auch eine echte
Steindorf; das ist eine alte Geschichte. Man braucht Dich nur
anzuschauen; Deiner Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten.“

„Da wäre ich wirklich nur stolz“, konnte ich mich nicht enthalten, zu
bemerken und verließ das Zimmer. Schon einigemale hatte mich Mama’s
Art, Leute anzugreifen, die mir nahe standen, verletzt; in Steindorf
war dies nicht Brauch und ich fand es unpassend und wenig zartfühlend.

Die Scheidewand, die mich von Mama trennte, türmte sich immer höher
auf. Sie fand nicht den rechten Herzenston und mich kostete es
Überwindung, ihr die Hand zu küssen, sie bei dem Namen zu nennen, der
jedem Kinde heilig sein sollte: „Mutter.“

       *       *       *       *       *

„Der Erzherzog kommt mit seiner Braut.“ Also endlich ein Ereignis. Wie
ein Lauffeuer verbreitete sich die Neuigkeit im Pensionat.

Man hatte in aller Eile eine kleine Vorstellung eingeübt, und die
Rollen den hübschesten Aristokratinnen -- es war gegen alle Regel --
zugedacht.

Wir Anderen bildeten Spalier und gaben nur den dunklen Hintergrund ab,
von dem die farbenreichen Kostüme sich vorteilhaft abhoben. Die würdige
Mutter war selbst erschienen, um uns die nötigen Verhaltungsmaßregeln
zu erteilen: „~Surtout baissez les yeux. Il faut toujours avoir quelque
chose de modeste dans la tenue. Cela fait une si bonne impression et
c’est à cela aussi qu’on reconnait les enfants du Sacré -- Cœur dans le
monde.~“

Ich wagte nur verstohlen nach den Hoheiten zu blinzeln. Die Prinzessin
nahm lächelnd die Blumen entgegen, die ihr von einer Hofdame abgenommen
wurden. Sie war eine liebreizende Erscheinung und die Blicke des
Bräutigams ruhten mit Zärtlichkeit und Stolz auf ihr.

„Erzherzogin, Prinzessin sein, von Allen gefeiert, bewundert, welch’
beneidenswertes Los.“

Phantasien eines Kinderkopfes! So mancher Kaiser stöhnt unter seinem
Hermelin und risse gern die Krone von der Stirn, die ihn gleich
Dornen schmerzt. Und wie manches Arbeiterherz schlägt freudig unter
dem zerfetzten Kittel. Er bettet sein Haupt auf Gottes freie Erde:
er lacht, er weint, wenn ihm darnach zu Mute ist. Was schert den die
Zwangsjacke der Konvention, in der die Großen dieser Welt geboren
werden.

       *       *       *       *       *



Zweiter Abschnitt.


„Sie wird jetzt vierzehn Jahre alt und ist im Lernen weit hinter ihren
Gefährtinnen zurück. Es ist Indolenz oder böser Wille. Was halten Sie
davon, Doktor?“

„Ich glaube keins von beiden, lieber Baron; viel eher geht ihr das
rasche Fassungsvermögen ab; sie kann einfach nicht. Derlei Fälle sind
mir schon in meiner Praxis untergekommen, da hilft eben kein „Muß“.“

Ich war, ohne es zu beabsichtigen, Zeuge dieses Gespräches gewesen.
Doktor Vogler’s Verteidigungsrede erweckte das Selbstgefühl in mir.
Hätte er Papa recht gegeben, mich träge, boshaft genannt, -- aber
schwachköpfig, borniert, -- da durfte er nicht Recht behalten. Nein,
um keinen Preis. Er sollte mich ganz anders beurteilen. Mein Entschluß
stand fest und ich machte mich mit einem Fleiß und einer Energie an’s
Studium, daß Alle staunten. Oft saß ich bis in die sinkende Nacht vor
meinen Büchern, um das Versäumte nachzuholen und wurde in der Classe
irgend eine schwierige Frage aufgeworfen, ich wußte stets Bescheid.
Mein Stil besserte sich und die Schrift nahm einen bestimmten Charakter
an.

Papa wußte sich diese plötzliche Umwandlung nicht zu erklären und Mère
Walter sagte ihm: „Wenn sich ihrem Lerneifer auch noch die Frömmigkeit
hinzugesellt, bleibt nichts zu wünschen übrig. Vorläufig fehlt ihr noch
die Freude am Gebet, die Sehnsucht nach dem lieben Gott.“

Frommsein auf Commando, das schien mir eine hohe Forderung. Ob mein
Gesicht dann auch einen so „glatten“ Ausdruck bekäme, wie das der
Altgräfinnen! Leicht würde es mir keineswegs fallen, aber versuchen
wollte ich’s. Mein einmal geweckter Ehrgeiz, zu excellieren in allen
Dingen, nahm immer größere Dimensionen an.

Die Verhältnisse kamen mir zu Hilfe. Die Zeit war gekommen, zu der
wir alljährlich „Exerzitien“ hielten. Es war eine Art beschaulicher
Einkehr, eine Zeit des Schweigens, der Kasteiung, der Sühne und der
Bitte um Erleuchtung.

Ein Jesuitenpater, ein anerkannt guter Redner, hielt uns Predigten, um
uns in die nötige Weihestimmung zu versetzen. Mit Donnerstimme sprach
er von den vier letzten Dingen: Tod, Gericht, Himmel und Hölle.

„Das Leben hienieden ist nur eine Pilgerfahrt, eine vorübergehende
Reise, und töricht handeln Jene, die nur der Welt leben, vergessend
des eigentlichen Zieles, das uns die göttliche Weisheit gesetzt, der
eigentlichen Heimat, zu der dies Jammertal nur eine Brücke bildet.

„Wie Mancher bedenkt nicht, daß er aus dem Nichts hervorgegangen, daß
dereinst sein Körper zu Asche wird, zum Fraß der Würmer. Erwacht
bisweilen die warnende Stimme des Gewissens, sucht er sie zu betäuben:
er stürzt sich in den Strudel der Vergnügungen und speichert Schätze
auf, die Rost und Motten verzehren. So lebt er in den Tag hinein, ohne
sich zu bessern, ohne zu bereuen.

„Kommt aber das Alter mit seinen Gebrechen, fühlt er seine letzte
Stunde herannahen, dann sieht er mit Schrecken zurück auf den Weg, den
er gegangen, auf die Zeit, die er so schlecht benützt. Seine Phantasie
ergeht sich in den düstersten Vorstellungen, seine Gedanken jagen
dahin, durch eine Wüste ohne Oase: kein freundliches Bild, keine lichte
Huldgestalt, kein Verdienst, kein gutes Werk. Und der Sünder zittert.
Wenn er vor den Thron des Allerhöchsten tritt mit leeren Händen, wenn
er nichts in die Wagschale zu legen hat, das zu seinen Gunsten spricht,
dann lautet der göttliche Richterspruch: „Gewogen und zu leicht
befunden.“ „Herrgott,“ so fleht der Sterbende, „sei barmherzig. Laß
mich genesen und ich will Dir dienen als der niedrigste und getreueste
Deiner Knechte.“ Aber es ist zu spät. Schon huschen die Schatten des
Todes über das fahle Gesicht, der Atem geht schwer und eisige Kälte
steigt von den Füßen, immer höher, immer höher. Die glanzlosen Augen
weit geöffnet, das Gehör ins Unendliche verfeinert, so liegt er da,
unfähig sich zu rühren, und hört, wie sie im Nebenzimmer flüstern. „Er
lebt zu lange; er sollte sich beeilen,“ so meinen die lachenden Erben.

„Das Gefühl ohnmächtiger Schwäche, das Bewußtsein eines nutzlosen
Lebens, pressen ihm heiße Thränen aus den Augen, die einzigen
vielleicht, die er je geweint. „Nur noch einmal von vorn -- beginnen.“
Das Herz steht still und eine mitleidige Hand drückt ihm die Augen zu.

„Und glauben Sie mir, teuere Kinder in Christo,“ fährt der Pater fort,
„es gibt keinen Menschen, der nicht im letzten Augenblick bereut,
sofern der Allmächtige ihm die Gnade erweist, ihn nicht unvorbereitet
abzurufen. Selbst Voltaire, jener Lästerer, jener berüchtigte
Freigeist, der in Wort und Schrift seinen Gott verleugnet, ihn frech in
den Staub gezerrt, der ein Ausgestoßener aus der kirchlichen Gemeinde,
böses Beispiel gab, er schickte um den Priester, als er sein Ende
herannahen fühlte.

„Betrachten Sie hingegen einen heiligen Aloysius, einen Stanislaus
Kostka, die Jubellieder singend, ihren Geist aufgeben, um in die ewige
Herrlichkeit einzugehen! Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es
gehört, und in keines Menschen Herz ist es gekommen, was Gott Jenen
bereitet, die ihn lieben.“

In schwungvollen Worten schildert er die himmlischen Wonnen. Auf
lichten Wolken schweben die Seligen dahin, und Cherubime spielen
Harfe und streuen Weihrauch ihrem Herrn. Dann versetzt er uns in die
Hölle und läßt die qualvollsten Martern vor unserem geistigen Auge
vorüberziehen, daß wir uns fröstelnd in unsere Tücher hüllen.

„Tod und Hölle.“ Es klang furchtbar. Ich wollte nicht daran denken,
und doch -- immer wieder drängte sich die Frage in den Vordergrund:
„Und wenn Du jetzt stürbest, was dann?“ Schwere Sünden auf der Seele
-- ewige Verdammnis. Ich sah die Flammen züngeln, hörte die Teufel
höhnisch lachen und die Höllenuhr schaurig ticken: „Immer, nimmer.“
„Immer, nimmer.“

Wenn ich aber meine Fehler in der Einbildung übertrieb, wenn es nur
läßliche Sünden wären, die ein frommer Stoßseufzer, eine kleine
Überwindung reinwaschen können? Und bei der Vorstellung des Himmels
stieg es mir wohlig warm zum Herzen. Ja, dorthin wollte ich kommen.
„Maria und Ihr lieben Heiligen weist mir den Weg.“ Der Pater sprach
mit bebender Begeisterung von der unbefleckten Gottesmutter. „Sie
blickt voll Liebe auf ihre Kinder herab, möchte sie allesamt in ihre
schützenden Arme nehmen, ihnen helfen, ihnen beistehen. Könnte sie
weinen, welch’ bittere Thränen würde sie vergießen, wenn Eines ihrer
Schutzbefohlenen vom rechten Pfade abweicht. Und hätt’ ich alles Gold,
alle Edelsteine der Welt,“ schloß er mit Feuer, „ich wollt’ sie Dir zu
Füßen legen, Du immerdar gebenedeite Jungfrau, Du süße Himmelskönigin.“
Eine Weile blieb es ganz still, dann tönte lautes Schluchzen durch den
Saal.

Lächelnd sieht ~Mater admirabilis~ vom Bild auf uns hernieder. Wie
schön es ist, das junge unberührte Mädchen im Tempel zu Jerusalem. Sie
sitzt da, im schlichten Rosakleid, sinnend, traumverloren. Den Fuß hat
sie auf einen Schemel gestützt; ihr zur Seite stehen Spinnrocken und
Arbeitskorb. Ob sie wohl freundliche Bilder sieht, ob düsteres Ahnen
sie beschleicht, davon sagen die kindlich frommen Züge nichts. Du zarte
Rosenknospe -- in einem armen Stall zu Bethlehem, und auf dem Berge
Golgotha. Welch’ namenloses Leid!

In gehobener Stimmung traf ich meine Vorbereitungen zur Beichte. Wie
leichtsinnig war ich bis dahin gewesen, wie wenig galten mir Reue und
Vorsätze. Das mußte sich nun ändern. Eine entsetzliche Angst stieg
in mir auf. Wie, wenn ich das Sakrament ungültig empfangen hätte!
Ein Glück noch, daß ich bisher nicht zur Communion gegangen. Judas
Ischariot hatte seinen Herrn verraten. Tod -- Hölle!! Ich warf mich vor
Mère Walter auf die Knie: „Mutter, ich weiß nicht, wie mir ist und was
ich tun soll?“

„Die Gnade Gottes hält ihren Einzug in Dein Herz, mein Kind. Ich sah
es kommen und danke dem Herrn. Betrachte Deinen jetzigen Zustand
als wohlverdiente Prüfung, denn, wen Gott liebt, den züchtigt er.
Was Deine Befürchtungen anbelangt, so war es ja nicht absichtliche
Herausforderung, böser Wille“, tröstete sie. „Ich glaube, Du wirst Dich
nun würdig vorbereiten auf Deine erste Communion.“

Augenblicklich beruhigt verließ ich Mère Walter. Aber die Windstille
war trügerisch und die Skrupel ließen sich nicht bannen. Die Prüfungen
hielten an und böse Zeiten kamen für mich, da ich es nie vermocht, die
goldene Mittelstraße einzuhalten, sondern stets von einem Extrem ins
andere verfiel.

       *       *       *       *       *

Mir war zu Mute, als gienge ich über eine steinige, unebene Straße
und ich blickte bei jedem Schritt ängstlich zu Boden, um nicht zu
stolpern. Und je mehr ich Acht gab, desto ängstlicher wurde mein Gang,
desto unsicherer mein Blick. Ich sah Gespenster am helllichten Tage,
Fehler dort, wo selbst die größte Heiligkeit keine gefunden hätte. Des
Sonntags saß ich stundenlang müßig auf dem Canapee und quälte mich mit
Betrachtungen über meine Sündhaftigkeit ab. Schreiben, nähen -- meine
überspannte Phantasie spiegelte mir das als „knechtische Arbeit“ vor.
Ja nicht einmal die Goldfische bekamen Futter und die Blumen blieben
ohne Wasser. Lesen? Es hätte mich verlockt, aber Mère Walter, der ich
meinen Büchervorrat zur Controlle übergeben, hatte ihn als „mauvais
genre“ bezeichnet und konfisciert. Und schon in den frommen Erzählungen
fanden sich Dinge vor, die meinen Geist unwillkürlich beschäftigten und
das waren -- Vergehen gegen das sechste Gebot.

Meine Beichten! Ich war unglücklich, da ich immer fürchtete, zu wenig
zu sagen und nicht die richtigen Ausdrücke fand: Mère Walter beleidigt,
da ich ihren Vorstellungen kein Gehör schenkte. Sie hatte mir gut
wiederholen: „Glaub’ mir doch, Mimi, es ist ganz einerlei, ob Du das
an einem Sonntag oder einem anderen Tag um 12 Uhr oder um 2 Uhr getan
hast. Du ergehst Dich in unnötigen Längen und setzest die Geduld Deiner
Gefährtinnen auf die Probe“, sie überzeugte mich doch nicht.

Der Pater wetzte schon und fuhr sich mit seinem Taschentuch wiederholt
über die Stirne.

„Ich habe noch etwas getan, aber ich kann es nicht sagen.“

„Doch, doch mein Kind. Dem Beichtvater kann man Alles anvertrauen.“

„Ich weiß aber nicht, wie ich anfangen soll. Bitte, raten Sie,
Hochwürden: es ist so schwer.“ Im selben Moment stieg mir aber
der Gedanke auf, daß ich ein Sakrilegium begehe, weil ich ihn zu
unzüchtigen Vorstellungen verleite. „Gar so arg ist es vielleicht nicht
-- weil die Klosterfrauen auch nicht -- eigentlich habe ich nichts
begangen -- sondern unterlassen -- -- ich -- es geht nicht -- --“

„Ja dann ist’s auch für mich schwer, ich muß doch wissen, worum es sich
handelt.“

Mère Walter, die im Hintergrunde saß, machte sich schon geraume Zeit
durch Räuspern bemerkbar: das hieß, ich möge mich beeilen.

Nach endlosem Hin und Her bekannte ich dem verblüfften Pater, daß ich
nicht den Mut besaß, eine Operation vorzunehmen, wie es das Lexikon
von den Amazonen berichtete. Ich hatte so schrecklich Angst davor;
ob er vielleicht ein Mittel wisse, das durch bloßes Einnehmen wirke.
Jetzt war es endlich heraußen, Ah! Ich wagte wieder den Blick zu
erheben -- doch wer beschreibt meine Bestürzung, als ich keine Spur von
heiliger Sammlung in des Seelsorgers Zügen las, sondern im Gegenteil
den Ausdruck höchster Belustigung. Um seine Mundwinkel zuckte es von
unbändiger Lachlust und helle Tränen rannen über seine Wangen. „Aber
liebes Kind, was fällt Ihnen ein, den Körper, den Gott geschaffen,
ändern zu wollen? Nein, da seien Sie ganz beruhigt. So und nun gehen
Sie.“

Ich gieng, kehrte aber auf halbem Wege um, um mich noch einer kleinen
Eitelkeit anzuklagen. Dann kniete ich nieder, und den Kopf in den
Händen vergraben, um nur ja von außen her keine Ablenkung zu erfahren,
sagte ich meine Buße her, jedes einzelne Wort artikulierend. „Gegrüßet
seist Du, Maria“, dabei stellte ich mir die bunte Marienstatue im
Studiensaal vor, das rote Kleid und den blauen Mantel -- richtig, auf
den Goldsaum hatte ich vergessen und ich strengte meine Kopfnerven an,
zwang sie zu solcher Intensivität der Vision, bis sie mir zu Diensten
waren. Die Stirne glühte mir und die Lippen bluteten, so fest hatte
ich die Zähne darauf gepreßt. „Du bist voll der Gnaden“ -- bei diesen
Worten mußte ein verzückter Ausdruck über ihre Züge gleiten -- „der
Herr ist mit Dir“ -- da stand sie Hand in Hand mit dem Christus, wie
ihn das Altarbild zeigte. Eine krankhafte aufreibende Andacht, nach der
sich ein lebhaftes Schlafbedürfniß geltend machte.

Ich zitterte, unwissentlich eine Sünde zu begehen, wieder in den Stand
der Ungnade zu verfallen. Hätte ich im Kloster bleiben dürfen, fern
dem Weltgetriebe, Mère Walter in meine jeweiligen Bedenken einweihen;
einen Halt haben, eine Stütze, nur nicht so mir selbst überlassen, so
verloren!

Zu Hause schlich ich mich in Papas Zimmer und kehrte das Bild „Nymphen
im Bade“ gegen die Wand; das hatte ich schon längst beabsichtigt.

Von nun an machte ich keinen Gebrauch mehr von der Freitags-Dispens,
legte mir bei meinen Lieblingsspeisen Abbruch auf, und wenn
Chocoladencrème kam, verzichtete ich gänzlich darauf. Selbst Papa fand
das übertrieben, und als er eine diesbezügliche Äußerung fallen ließ,
riet ihm Doktor Vogler, mich beizeiten aus dem Kloster zu nehmen, wenn
er nicht noch ganz andere Folgen erleben wolle. Tötlicher Schreck
erfaßte mich, denn der Wunsch war in mir erwacht, den irdischen Freuden
für immer zu entsagen und in den Dienst des Herrn zu treten.

Freilich, wenn ich auf der Gasse gieng und laute Bewunderungsrufe
über mein selten schönes Haar vernahm, schien mir mein Entschluß
förmlich unausführbar. -- -- Hinterher schämte ich mich sehr über meine
Kleinlichkeit. -- Wie, das sollte mir mein himmlischer Bräutigam nicht
wert sein, und glückdurchdrungen stellte ich mir vor, wie mein dicker
blonder Zopf der Scheere zum Opfer fallen würde. -- Dann Ade auf immer,
Du sündige Welt!

Sogar über die Wahl des Ordens war ich schon ziemlich im Klaren mit
mir. Es lag nahe, in jenem einzutreten, in dem ich meine eigene
Erziehung genossen, aber ich fühlte mich zu unsicher, zu häufigen
Schwankungen unterworfen, um junge Geschöpfe mit Erfolg zu lehren. Ich
besaß noch gesundes Urteil genug, um einzusehen, daß es grausam gewesen
wäre, sie mit meinen Skrupeln, meiner schwarzen Intoleranz anzustecken.
Nein, ich paßte weit eher in einen „betenden Orden“ und da sagten mir
die Trappistinnen am meisten zu.

Ich hatte einmal ein Bild gesehen, eine Nonne, die mit ihrem Heiland
spricht. Sie kniet allein in der dämmerigen Kirche; der rötliche Schein
des ewigen Lichtes fällt auf ihre müden Züge und scheint ihnen Farbe
aufzuhauchen. Teilnamslos für Alles um sie her, gänzlich versunken in
ihre Andacht, so stellt sie das Gemälde dar. Ich wollte werden wie
jene Beterin, die leichten Herzens ihrem Gotte dient, stumm an ihrem
Grabe gräbt und ein „~memento mori~“ murmelt, wenn sie einer
Mitschwester begegnet.

Als ich einmal von meiner Absicht verlauten ließ, geriet Doktor
Vogler in arge Erregung. „Die barmherzigen Schwestern, die leisten
Tüchtiges, Hut ab vor ihnen. Die lehrenden Orden haben am Ende auch
noch einen Zweck, obwohl -- -- aber die der „ewigen Anbetung.“ --
Tagdiebe, die sich ihnen weihen, hirnverbrannte Köpfe, die reif sind
für das Irrenhaus. Es ist eine strafbare Vergeudung der Kräfte, die in
dieser Anwendung totes Kapital bedeuten, und der Menschheit nicht den
geringsten Nutzen bringen. Eine Schädigung der Gesellschaft ist es,
die von Jedermann das Recht hat, zu fordern, daß er ihr seinen Tribut
leiste, in physischer oder moralischer Beziehung. Ein zweckloses,
widerwärtiges Schauspiel, dieses Absterben bei lebendigem Leibe; ein
Fanatismus, unschön und gefährlich, wie der der Derwische. Ja, das
Leben soll man genießen, das ist natürlich und vernünftig.“

Welche verkehrte Auffassung der Dinge. Als ob der Körper, die
Befriedigung der leiblichen Wünsche Alles wäre! -- Eine unbequeme Hülle
ist’s, die nur zu häufig unsere Seele hemmt, sich aufzuschwingen in
reinere Sphären. Es schien mir so unfaßlich, daß es Leute gab, denen
diese kurze Frist hieniden mehr oder gleichwert war mit der Ewigkeit.
Eins nur war richtig: Zu büßen für begangenes Unrecht, unsere Schuld
nach Möglichkeit abtragen, um der Pein des Fegefeuers zu entgehen;
unser Inneres läutern und unausgesetzt fortschreiten auf dem Wege der
Vollkommenheit.

       *       *       *       *       *

    „Freue Dich Seele, Dein Heiland ist frei von den Banden,
    Glorreich und herrlich vom Tode erstanden.
    Der im Triumphe vom Grab sich erhebt,
    Christus, Dein Heiland ist Sieger und lebt.“

Ein lautes Jauchzen, drang es vom Chor herab und die Kirche prangte in
glühendem Rot, der Farbe der Liebe.

Sechs waren wir an der Zahl, die zum erstenmale an den Tisch des Herrn
traten. In bräutliches Weiß gehüllt, lange wallende Schleier und
Blütenkränze auf dem Haupte, betraten wir das Gotteshaus, erfüllt von
der hohen Bedeutung dieses Tages.

Draußen zwitscherten die Vögel und die Sonne sandte goldige Grüße durch
die bunten Glasfenster. -- „Ostern, Du herrliches, Du unvergleichlich
schönes Fest! O Gott vergib’, daß es mir so gut gefällt auf dieser
Welt; träufle Deine Gnade in mein Herz, erfülle es mit Sehnsucht nach
Deinem Besitz.“

So flehte ich, so erhoffte und fürchtete ich das Sakrament.

Abermals erscholl die Orgel und der Kardinal im vollen Ornat trat mit
seinem Gefolge an den Altar und schickte sich an, die Messe zu lesen.
Ich verwandte keinen Blick von der Ceremonie. Wie festgebannt starrte
ich auf das Tabernakel, in dem der Erlöser der Welt meiner harrte.
„Laß’ meine Bitten aufsteigen zu dem Trone Deiner Majestät, gib mir
der Engel Stimme, die Schönheit der Heiligen, um Dir Auge und Ohr zu
entzücken, o Herr.“

Die Opferung hatte stattgefunden: es giengen große Dinge vor und
zitternd vor Wonne und Angst sah ich dem heiß ersehnten Augenblick
entgegen.

  [Musik: ~Ve—ni Do—mine Je—su
          Ve—ni Do—mine Je—su, ve—ni ve—ni ve—ni
          Et no—li tar—da—a—a—re, et no—li tar—da—re.~]

Leise, flüsternd fast, erklang zum erstenmal die Bitte, dann wurde sie
immer lauter, eindringlicher, unwiderstehlich. Kalte Schauer überliefen
mich, und meine Füße wankten, als ich an der marmornen Communionbank
niederkniete.

„O Herr, ich bin nicht würdig, daß Du eingehst unter mein Dach.

Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“

Und während die Hostie meine Zunge berührte, schloß ich die Augen
und sprach mit meinem Gotte. „Mein süßer Jesus, ich liebe Dich, Dich
ganz allein. Verlaß’ mich nicht, steh’ mir bei und stärke mich in der
Versuchung.“

Dann geht es in feierlicher Procession durch den Garten. Die wallenden
Bandschleifen des goldgestickten Himmels in der Hand, so nahe der
Monstranz, senkt sich eine weihevolle Ruhe in mein Inneres, als wäre
ich nach langer, gefahrvoller Fahrt im sichern Hafen gelandet.

Von Nah und Fern ertönen die Osterglocken; verheißungsvoll und freudig,
ernst und kindlich singen diese metalligen Stimmen durcheinander und
dazwischen erschallt begeistert, frohlockend das Auferstehungslied.
Es liegt nichts von der düsteren Schwermut der meisten Kirchengesänge
in dieser Melodie. Jauchzend, beinah übermütig flattern die Töne
zum blauen Äther empor, wie lebensfrohe, verliebte Schmetterlinge.
Kein Wölkchen da oben -- so lieblich blau das weite Himmelszelt und
auf der Erde keimt und sproßt es im jungen Gras. Veilchen, Primeln,
Butterblumen, so einfach und doch so berückend schön.

„Herr, Gott, der Du die Welt erschaffen, aus dessen Hand die
abertausend Meisterwerke hervorgegangen, die Deine Geschöpfe erfreuen,
der Du uns den Frühling sendest, die Lande zu schmücken, ich beuge
das Haupt vor Deiner Macht. Laß’ mich Deine Schöpfung lieben, aber
bewahre mich vor zu großem Wohlgefallen am Irdischen, damit es keine
Schranke bilde zwischen Dir und mir. Gib’ mir kund Deine Ratschläge und
erleuchte mich, auf daß ich Deinen Willen tue.“

Hierauf nahmen wir am festlich geschmückten Tisch das Frühstück ein.
Goldgelbes Backwerk und duftende Chokolade standen bereit; um jeden
Teller ein Kranz aus wilden Kirschenblüten. Das schmeckte herrlich.
Die übersinnlichen Eindrücke traten in den Hintergrund, aber mit ihnen
verflog auch die ruhige Stimmung, -- um neuerdings einem peinigenden
Grübeln Raum zu geben.

Weshalb wurde ich denn die sündhaften Vorstellungen nicht los? -- Es
war eine wahre Marter. Das nackte Christkindlein auf Sankt Antonius Arm
brachte mich auf die Idee, daß wir Alle so auf die Welt kommen. Was
hatte es nur für eine Bewandtnis mit den kleinen Kindern? -- Es mußte
etwas Unrechtes, Häßliches dabei im Spiel sein, weil man es geheim
hielt, nie darüber sprach. Aber dann wäre ja auch die Mutter Gottes --
ach, ich hielt es nicht aus!

Des Abends, als ich den weißen Kranz ablegte, schien er mir beim trüben
Schein der Kerze gelblich und zerzaust, und ich breitete ein Tuch
darüber, um ihn nicht zu sehen.

So schwer war es also, einen einzigen Tag nicht zu fallen.

Mein Gott vergib!

       *       *       *       *       *

Doktor Vogler’s gelegentliche Ausfälle gegen die Klostererziehung
hatten offenbar doch Eindruck auf Papa gemacht, denn er ersann kleine
Zerstreuungen, um mich aus meinem dumpfen Hinbrüten zu reißen.

Im Grunde billigte er es sehr, wenn ein Mädchen den Schleier nahm, aber
wenn man nur eine einzige Tochter hat, wenn man zudem daran denkt,
in Pension zu gehen, sich ganz in seine vier Mauern zurückziehen, da
kann man ein wenig Sonnenschein, ein junges frisches Geschöpf schwer
entbehren. Gewiß. Mimi sollte brav und fromm sein -- er vermochte
nicht, diese beiden Begriffe zu trennen -- aber nicht in’s Kloster
gehen, sondern seine kleine Hausfrau spielen, im halbverfallenen
Gespensterschloß bei Steindorf.

Als er mir zum erstenmale davon sprach, konnte ich ein gewisses Staunen
nicht unterdrücken. Ich wußte, wie sehr Mama das Leben auf dem Lande
haßte, und daß sie diesem Projekte nie zugestimmt hätte.

Übrigens mit der Ausführung des Planes hatte es noch Zeit. Ich brauchte
ja noch zwei Jahre, um meine Erziehung zu vollenden.

Vorläufig gab es ab und zu kleine Zerstreuungen und die Evatochter
verleugnete sich noch nicht ganz in der künftigen Nonne.

Robert, der in Wien studierte, besuchte uns allwöchentlich. Dann
lauschte ich, die Hände im Schoß gefaltet, dem Gespräche der Beiden,
das sich um die erbaulichsten Dinge drehte. Als zukünftiger Officier
und als guter Katholik lautete sein Wahlspruch: „Mit Gott und mit dem
Schwerte.“ Das imponierte mir. Wenn Papa bei festlichen Anlässen die
Dragoneruniform trug, da begriff ich sehr gut, daß auch der Neffe den
schmucken Rock erwählte. „Es ist doch der schönste Beruf,“ erklärte
er bestimmt, und dann, es liegt mir so im Blute. Die Steindorf sind
von jeher auf ihrem Posten gestanden, wenn es hieß das Vaterland
zu schützen. Oh, es muß herrlich sein, so ein frischer fröhlicher
Krieg, wenn die Rosse schnauben, die Kugeln pfeifen und ein lustiges
Lagerfeuer brennt. Er hopste vor Begeisterung auf seinem Stuhl herum,
klatschte mit den Handflächen auf die dicken Schenkel und stieß heisere
Schreie aus, die an das „Schrecken“ eines Rehbockes erinnerten.
Robert, mein Märchenprinz, hatte nicht gehalten, was er versprochen.
Er machte einen unbedeutenden, etwas komischen Eindruck. Mittelgroß,
eher untersetzt, blonde in die Stirn gekämmte Haare, wasserblaue
Augen, so sah mein Vetter aus. Dabei aber von sich eingenommen und ein
„Hochhinaus“. Wenn er erst Officier wäre! Das nimmt sich doch ganz
anders aus als so ein schäbiger Civilist! Ja, glänzen wollte er, eine
Rolle spielen, die Freiherrnkrone weithin schimmern machen, die arme
Freiherrnkrone, auf der nur mehr eine ganz, ganz dünne Goldschicht
lag, so dünn, daß es nur für 10 Gulden Taschengeld reichte und zur
Pension bei „Mumelinkele“, so wurde nämlich seine Quartierfrau von
ihren Angehörigen genannt. O, sie war eine entsetzliche Hexe und
Robert wußte Schaudergeschichten zu erzählen, „die gewiß zu zwei
Drittel wahr“ waren, wie er uns versicherte. -- Im Aufschneiden
war er nämlich unerreichbar: ein Blick zur Decke und er hatte die
nettesten Geschichtchen erfunden. „Mumelinkele“ ging in einem Anzug aus
Wachsleinwand herum, damit man die Flecke nicht so sehe, „Mumelinkele“
machte den Salat im Lavoir an und tischte ihren Kostgängern Leber von
so ehrwürdigem Alter auf, daß selbst die Hunde sie verschmähten.

Mamas Antipathie gegen Alles was „Steindorf“ hieß, ging so weit, daß
sie sich nur für ein paar Minuten zeigte, wenn Robert anwesend war. Sie
blieb auch zu Hause, wenn wir zu Vieren -- denn Doktor Vogler schloß
sich uns an, so oft es seine Zeit erlaubte -- Ausflüge in den Prater
oder weiter in die Umgebung unternahmen. Ich bedauerte es nicht, denn
ich entgieng dadurch der mir verhaßten Pferdebahn. Mama, die ungern
Bewegung machte und die einen Wagen zu teuer fand, benutzte stets
die Tramway. Mir war das Drängen der Menge, das Püffe austeilen und
empfangen greulich: lieber wollte ich stundenlang bei strömendem Regen
gehen, als mich in diesen dumpfigen Kasten einpferchen.

Die „christliche Demut“ hatte noch nicht vermocht, die böse Hoffart in
mir zu ersticken. Und ich wollte den Genüssen der Welt entsagen, ich
mit meinem angeborenen Sehnen nach den kleinen Raffinements des Lebens,
nach Luxus und Eleganz? Da hieß es mutig kämpfen, lange, unverzagt.
So viele Schlacken, so viele niedere Instinkte hafteten mir an; meine
Eitelkeit war größer denn je und verfolgte mich bis in die dem Gebet
geweihten Stunden.

Großmama hatte mir ein Kleid geschickt, ein Kleid! Weißer Battiste mit
Fliedersträußchen und lila Schleifen. Dazu die ausgeschnittenen Schuhe
und den Strohut! Wie da die Leute schauen würden! Ach, wenn es nur
schon Sonntag wäre!

Meine kühnsten Erwartungen wurden übertroffen. Papa nickte mir sehr
befriedigt zu, die Andern zollten mir lebhaften Beifall, nur Robert
stand da mit weitaufgerissenem Mund und schien sich noch immer nicht
von seinem Staunen erholt zu haben. Endlich fand er die Sprache wieder
und benützte sie, um mir die schmeichelhaftesten Dinge zu sagen. Im
Grunde genommen, waren es die armseligsten Banalitäten, aber damals!
-- -- Das erste Kompliment! Der Backfisch verliert etwas von seiner
Unbefangenheit, beginnt zu ahnen. Die Wangen glühen, die Augen leuchten
und er geht so leicht, so schwebend. Weshalb? -- Die Puppe, die unter
Blättern verborgen, den Winter verbracht, das unbeholfene formlose Ding
hat die Hülle gesprengt, und fühlt sich „Schmetterling.“ Der reckt die
zarten Flügel und flattert davon in den blauen Morgen, in den nächsten
Garten, zu der schönsten Blume. Betäubt von dem Dufte ihres Atems,
unwiderstehlich angezogen von der Pracht ihrer Farben, küßt er den
rosigen Kelch. -- Er küßt und küßt immer wieder -- -- -- er kann es
nicht mehr lassen. -- Und die Blumen lächeln -- und die Blumen weinen.

Robert schien ordentlich stolz auf mich zu sein, denn er wich nicht von
meiner Seite, sah die Vorbeigehenden mit herausfordernder Miene an und
maß alle jungen Mädchen mit höchst geringschätzenden Blicken.

„Das nennt man Belagerungszustand“, erklärte Doktor Vogler und Papa
versetzte belustigt: „Ja, was ein Hacken werden will, krümmt sich
beizeiten.“ Er war überhaupt in bester Laune, wie es sich für einen
„Wurstelprater Nachmittag“ gehört.

Wir fuhren auf der Rutschbahn und im Ringelspiel, schossen nach der
Scheibe, besahen uns Taucher und Zwerge und soupierten in einer
Restauration. Die Musik spielte, dienstbeflissene Kellner trugen enorme
Tassen herum, und ein Duft von Braten und Citrone verdrängte zeitweilig
den würzigen Hauch der frühjahrlichen Natur. Schneeige Kastanienblüten
hüpften wie kecke kleine Ballerinen zur Erde und die Gasflammen
flackerten unstät in der Abendluft. Das laute Sprechen und Gelächter
der zahlreichen Gesellschaft übertönte gar häufig die bald übermütigen,
bald schwärmerischen Wienerweisen.

Robert schlang mit Heißhunger und Wonne die gereichten Portionen
hinunter, und als er damit zu Ende, sah er mich mit schwimmenden
Äuglein an, in denen es wie tröstliche Verheißungen lag: „Jetzt
kommst Du wieder an die Reihe.“ Auch mir war der Wein etwas zu Kopfe
gestiegen, oder war es die laue Frühlingsnacht, die süßen Melodien, der
Siegesrausch, den jedes Mädchen empfindet, wenn es sich seiner Jugend
und Schönheit bewußt wird?

Durch die dunklen Laubgänge traten wir den Heimweg an. Der Vetter bot
mir galant den Arm -- offenbar fühlte er sich wieder mein Beschützer
wie in unserer Kinderzeit -- und seine Gedanken flogen zurück in die
Vergangenheit.

Reminiscenzen „es war einmal.“ Ein Zauber von Poesie liegt über den
ängstlich geflüsterten Worten. Man wagt es ja nicht, laut zu sprechen,
aus Furcht, das Phantasiegebilde könne bei einer etwas derben Berührung
in Staub zerfallen.

Du unerforschliche Hexenmeisterin, von den Menschen Zeit genannt,
die Du ewig bist, die Du schon längst im Grabe ruhst, uns wie unser
Schatten verfolgst und Dich ins Unendliche verjüngst, wie viel
Thorheit, wie viel namenlose Thorheit ruht in Deinem Schoß! -- Wärest
Du ein lebendes Wesen, Du müßtest lachen, lachen bis Dir die hellen
Tränen herunterrinnen, lachen ohne Unterlaß.

„Weißt Du noch wie wir „Dornröschen“ spielten?“

„O ja, aber das ist schon lange her. Du warst der Prinz.“

„Ja, Mimi, und dann -- heirateten wir uns.“

„Ja damals!“ Und ich setzte eine würdevolle Miene auf.

„Warum betonst Du das „damals“? Wäre es denn so unmöglich?“

Sein Beharren irritierte mich und als er versuchte, meinen Arm an
sich zu drücken, machte ich mich los. -- Die festliche Stimmung war
verraucht und der Robert langweilte mich. Es war wohl der bittere
Nachgeschmack, der jedem weltlichen Vergnügen auf der Ferse folgt.
Ich zürnte dem Vetter, daß er mich aus meinem qualvollen, aber doch
gottgefälligen Innenleben herausgerissen und da kam mir wie von selbst
die Antwort.

„Ich heirate überhaupt nicht.“

„Das sagt ein jedes Mädchen“, versetzte er mit Überlegenheit.

„Nun gut, Du wirst ja sehen.“

Unsere Wege trennten sich und während ich die steilen zwei Stockwerke
zu unserer Wohnung erklomm, wurde ich die Vorstellung nicht los, daß
ich neuerlich Sünden begangen, für die mir wieder einmal kein Name
einfiel. Und an all’ dem war dieser dumme Robert Schuld gewesen.

       *       *       *       *       *

„Weißt Du auch mein Kind, daß Du auf dem besten Wege bist, eine
Egoistin zu werden. Deine Gedanken drehen sich um eine einzige Person,
und das bist Du. Sei nicht so kleinlich, vergiß nicht ob dem eigenen
„Ich“ die Interessen der streitenden Kirche: bete für die Sünder, die
Ungläubigen. Wenn Du dem Heiland eine einzige Seele zuführst, tust Du
ein viel verdienstlicheres Werk, als wenn Du Dich mit unnützen Bedenken
abquälst.“

Und übereinstimmend mit Mère Walters Ermahnungen lautete das
Evangelium, das uns der Geistliche von der Kanzel herab verkündete.

„In der Zeit sprach der Herr Jesus: Ich bin der gute Hirt. Der gute
Hirt gibt sein Leben für seine Schafe. Der Mietling aber, der kein
Hirt ist, und dem die Schafe nicht zugehören, sieht den Wolf kommen,
verläßt die Schafe und flieht; und der Wolf raubt und zerstreut die
Schafe. Der Mietling flieht, eben weil er Mietling ist und ihm an den
Schafen nichts liegt. Ich bin der gute Hirt und kenne die Meinen, und
die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater
kenne; und ich gebe mein Leben für meine Schafe. Und ich habe noch
andere Schafe, welche nicht aus diesem Schafstalle sind; auch diese muß
ich herbeiführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird Ein
Schafstall und Ein Hirt werden.“.

Nie vorher war mir dieses Evangelium so schön erschienen ... Oder
hatte es mir nur an dem nötigen Verständnis gefehlt? -- -- Wie leises
Zephirsäuseln, wie das Streicheln einer weichen Hand berührten mich die
schlichten Worte: sie lösten die harte Rinde, die mein Herz umgaben und
eröffneten es dem Geist der Liebe.

„Doktor Vogler“. Wie eine Eingebung von oben, wie die Stimme einer
anderen Welt tönte dieser Name durch mein Inneres. Was hatte es nur
für eine Bewandtnis damit? Im ersten Augenblick verblüfft, begriff
ich alsbald. -- Gehörte doch auch er zur Schaar der „Verlorenen“. Er
hatte den Glauben seiner Kindheit, diesen starken Steuermann, über Bord
geworfen und leitete allein das Fahrzeug. Früher oder später mußte es
versinken in schwarze, schwarze Tiefe. Wie war es nur möglich, daß ich
nicht schon längst daran gedacht? Wann mochte er wohl zum letztenmale
bei der Beichte gewesen sein? -- -- Ja, ich wollte, ich mußte ihn den
Krallen des Bösen entreißen und in die heilige Kirche führen. -- --
Noch war es nicht zu spät -- er hatte ja selbst wiederholt gesagt, daß
jeder Arzt, auch wenn er das unbarmherzige Todesurteil ausgesprochen,
einem Hoffnungsschimmer Raum läßt, der erst mit dem letzten Atemzug des
Kranken erlischt.

Wie er überhaupt so gütig war, so voll Mitleid gegen seine leidenden
Mitmenschen! „Es ist das Schrecklichste, an einem Schmerzenslager zu
stehen und nicht helfen zu können.“ Und da er so warm empfand, so oft
uneigennützig Hilfe spendete, -- wie konnte er so „sündhaft“ sein?
Vielleicht bedurfte er gar nicht des Glaubens. -- O Gott, vergib den
Zweifel -- vielleicht war er besser als so mancher Frommer!

Aber, -- wenn er plötzlich stürbe! Es war nicht unmöglich: er litt
an einem Herzleiden -- wenn er -- ohne zu bereuen -- und bei diesem
Gedanken erfüllte mich ein Weh, so peinigend, so tief, daß es mir
einen Seufzer erpreßte: „Du lieber, barmherziger Gott, schenk’ ihm
die Gesundheit, erhalte ihn am Leben. Dir empfehle ich auch seine
Seele: Du, die Vollkommenheit selbst, der Du die Sünder liebst und die
Gefallenen stützest, laß auch dieses Schäflein nicht zu Grunde gehen.“

Ja, ich wollte ihn bekehren und lebte nur mehr dieser Idee. Aber wie
beginnen? Ein unvorsichtiger Schritt konnte das Ganze verderben. Und
dann, würde ich den Mut besitzen, zu sprechen?

Nein, es war klüger, zu warten, bis sich eine geeignete Gelegenheit bot.

       *       *       *       *       *

Ein erdrückend schwüler Nachmittag. Ich flüchtete in das nahe von
Steindorf gelegene Wäldchen, in dessen Mitte, von Tannen umwölbt, eine
kleine Kapelle steht. Kein Sonnenstrahl drang in dies Heiligtum: es war
so kühl und still. Leise knisternd rieben sich die dunklen Zweige an
dem Gitterwerk der Fenster, sonst kein Ton, kein Laut, als sei die Welt
in weiter, weiter Ferne.

Ich war allein mit meinem Gotte und klagte ihm meine Not. „Hilf, rette,
rette ihn.“ Ein Schrei, waren mir diese letzten Worte entfahren und
ich hatte gar nicht bemerkt, daß in demselben Augenblicke Jemand die
Kapelle betreten.

„Mimi.“ Beim Klang dieser Stimme fuhr ich zusammen. Die Hände auf das
stürmisch pochende Herz gepreßt, frug ich kaum hörbar: „Weshalb sind
Sie gekommen? Was wollen -- Sie -- hier?“

„Der Zufall führte mich her, vielleicht auch ein wenig Absicht. Sie
schienen mir in letzter Zeit verändert, als ob Sie einen Kummer hätten.
-- -- Und da suchen Sie Trost bei den steinernen Heiligen? Die sollen
retten, helfen?“

Ich rang vergeblich nach Worten: die unausgesetzte Spannung meiner
Nerven machte sich in lautem Schluchzen Luft. „Seien Sie nicht grausam,
quälen Sie mich nicht“, stammelte ich flehend, „ich habe ja -- für Sie
gebetet“.

„Für mich?“ Einen Moment blieb es still. Dann beugte er sich über
mich und frug mit eigentümlich bewegter Stimme, während er meine Hand
ergriff: „Sie wollten mich dem Teufel rauben. Ist’s nicht so? Ich
gehöre also in die Hölle?“

„Wenn Sie nicht glauben.“

„Und Sie denken immerfort an diese düsteren Dinge, statt sich des
schönen Lebens zu freuen?“

„Aber wir können ja jede Minute sterben.“

„Ah, Sie meinen mein Leiden! -- Es gibt Leute, die mit einem Herzfehler
hundert Jahre alt werden.“

„Nein Sie dürfen nicht in die Hölle kommen“, versetzte ich in
kindlicher Beharrlichkeit. „Und sterben auch nicht, noch lange nicht“,
und neuerlich rannen mir die Tränen über die Wangen.

„Das täte also diesem kleinen Herzen weh? Liebe, gute Mimi.“ Und ehe
ich es verhindern konnte, trocknete er mir mit seinem Taschentuch die
Tränen. „Nein, ich will noch lange nicht sterben.“

„Und auch nicht in die Hölle kommen?“

„Aber wenn Sie im Himmel sind. Dort gibt es ja kein Leid und kein
Bedauern. Sie würden mich wohl kaum vermissen.“ Er sagte das mit jenem
leisen Anflug von Ironie, der ihm eigen war, wenn er von religiösen
Dingen sprach.

„Es täte mir nicht leid? -- Aber wie“ -- -- hier unterbrach ich mich,
denn es fiel mir ein, daß der Katechismus in der Tat jene Behauptung
aufstellt.

„Merken Sie den Widerspruch?“

Doch schon hatte ich meine Festigkeit wiedergefunden. „Es gibt Dinge,
die unser Geist nicht faßt. Wir dürfen nicht forschen.“

„Ja wenn man der Vernunft gebieten könnte, Winterschlaf zu halten!“

„Lästern Sie nicht. Es tut mir weh, Sie so sprechen zu hören.“
Und einem Instinkte folgend, löste ich das Goldkettchen mit der
Marienmedaille von meinem Halse und reichte es ihm hin. „Bitte, tragen
Sie es immer, ja?“

„Gewiß, Mimi“, versetzte er einfach und feierlich zugleich.

Ich hätte aufjubeln mögen. Der wichtigste, der erste Schritt war getan.

       *       *       *       *       *

Von nun an trafen wir uns wie auf Verabredung fast täglich in Garten
oder Wald. Das leise Rauschen in den Wipfeln, der Drosselsang, dieser
ganze weiche, schmelzende Chor, der Duft von Harz und Kräutern, es
sprach mir zum Gemüt, und mein Begleiter las in meiner Seele.

„Läge es nicht näher, hier seine Andacht zu halten, als in der kalten
düsteren Kirche? Können Sie sich einen schöneren Tempel denken, als den
grünen Wald? Blicken Sie um sich -- Alles so einfach und doch so genial
dabei. Keine gekünstelten Effekte, keine unwahren Schattierungen. Ein
Bild, von einer kühnen Meisterhand geschaffen. Da ist alles so klar,
jeder Strich berechtigt, keine unentwirrbaren Hieroglyphen.“

„Sie spielen auf die Dogmen an.“

„Vielleicht.“

„Nennen Sie mir eines, das Ihnen unwahrscheinlich vorkommt.“ Ich hatte
mich im Voraus mit schlagenden Erwiderungen, unanfechtbaren Beweisen
gewappnet und konnte es kaum erwarten, ihm zu imponieren.

„Nehmen wir die Dreifaltigkeit zum Beispiel.“

„Das begriff ich auch erst, als Mère Walter es uns durch ein Gleichnis
erklärte. Eine Kerze. Die ist ein einheitliches Ganzes, besitzt aber
Form, Licht und Wärme, gewissermaßen Eigenschaften, eine, Folge der
anderen.“

„Pardon, aber der Vergleich hinkt arg. Die Form besteht, auch ohne
Licht -- die drei Personen sollen aber unzertrennlich sein, keine
älter als die andere. Und nach Mère Walters Auslegung hätte man sie als
Großvater, Vater und Enkel zu betrachten.“ Und da er meine Verlegenheit
gewahrte. „Suchen wir irgend einen anderen beliebigen Glaubenssatz. Die
Unfehlbarkeit des Papstes.“

„Ja. Daran zweifeln Sie auch?“

„Einen Menschen, der nicht dem Irrtum unterworfen ist, gibt es nicht.
Christus selbst hatte Momente des Zweifels, der Entmutigung. -- Kennen
Sie denn die Geschichte der Päpste? -- Nein, das dacht’ ich mir. Im
Kloster, da zeigt man Ihnen den ganzen kirchlichen Apparat, mit Allem
was drum und dran ist, nur von der schönsten Seite. Nicht wahr, man hat
Ihnen erzählt, daß die Päpste durchwegs höchst ehrenwerte, tugendhafte
Persönlichkeiten waren? Lesen Sie einmal eine unparteiische Schilderung
und Sie werden sich vom Gegenteil überzeugen. Hoffahrt, Mißgunst und
andere Leidenschaften der niedersten Sorte, sie waren vielen dieser
Oberhäupter nur zu wohl bekannt.“

„Sie sind ja auch nicht als „Mensch“ unfehlbar, sondern nur, wenn sie
eine Lehre ~ex catedra~ verkünden.“

„Wenn sie also heute verkünden, es sei Todsünde, der Kirche die Hälfte
seiner Einkünfte zu verweigern?“

„Dann ist es so. Übrigens können sie nie etwas Unrechtes verlangen, da
sie der heilige Geist erleuchtet.“

„Aha, und früher haben sie geirrt. Um die Autorität an sich zu reißen,
haben sie den heiligen Geist ins Treffen geführt. Sehr klug, sehr
schlau erdacht und Sie heißt man das nachreden wie die Papageien.
Es ist empörend, wie man Sie als willenloses Werkzeug benützt, Ihre
Phantasie mit dem verworrensten unsinnigsten Zeug anfüllt. Sie selber
können nichts dafür. Es ist vielleicht sogar Unrecht von mir,“ fügte
er milder hinzu, „daß ich den Zwiespalt in Ihre Seele trage -- aber
dann handle ich auch schlecht, wenn ich dem Blinden das Augenlicht
wiedergebe. Wie viel Schönes, wie viel Beglückendes entgeht Ihnen --
es ist jammerschade. Da liegen die Schätze aufgespeichert und Sie
dürfen nicht zugreifen, weil es Sünde ist. Armes Kind.“ Und da er mein
betrübtes Gesicht sah: „Ich wollte Sie nicht kränken; aber wenn ich so
bedenke, was bei richtiger Behandlung aus Ihnen werden könnte, -- --
-- sagen Sie, Mimi, Sie haben doch die Überzeugung, daß ich es gut mit
Ihnen meine?“

Da, ich weiß nicht wie es kam, hab’ ich seine Hand genommen und mit den
Lippen berührt.

„Aber Mimi.“ Er sprach es mit großen staunenden Augen. Sie waren
wundervoll, diese Augen, leuchtend und braun.

       *       *       *       *       *

„Weißt Du auch, Bäschen, daß Du mich furchtbar schlecht behandelst?“
fragte mein Vetter Robert entmutigt. „Kaum, daß man Dich alle heiligen
Zeiten einmal zu Gesicht bekommt und da bist Du auch schon wieder
unter irgend einem nichtigen Vorwand verschwunden. Aber wart nur, jetzt
laß’ ich Dich nicht so bald wieder los. Da schau’, ich halte Dich“ und
er zupfte mich neckisch am Zopf. Soll ich Dir mein neuestes Gedicht
declamieren?“ Und ohne meine Antwort abzuwarten. „An Mimi“ heißt es.

    „Von was soll ich denn singen,
    Mir ist so weh ums Herz,
    Dem Lenz kann ich nur bringen,
    Ein Lied von Lieb und Schmerz.
    Wohl viele Sänger sangen,
    Im Frühling ist ’s gut lieben,
    Und Herzen, die nie hangen,
    Im Mai doch hängen blieben.
    Und wenn der Liebe Wunde,
    Nicht deckt mehr weißer Schnee,
    In sonn’ger Lenzesstunde,
    Da tut sie doppelt weh.
    Zu Dir möcht’ ich dann eilen,
    Du Lenzeskönigin
    Und immer bei Dir weilen,
    Nie mehr von dannen zieh’n.“

Ich sah von weitem Doktor Vogler und meine Blicke folgten seiner
Gestalt.

„Nun?“ Robert fühlte sich offenbar beleidigt, da ich kein Wort der
Anerkennung sagte.

„Ah so, ich hatte den Schluß überhört. Verzeih Robert, jetzt muß ich
fort, ich habe dringend mit Doktor Vogler zu sprechen,“ und ich eilte
davon. Schon erwachte etwas von der weiblichen Coketterie in mir. Das
Mädchen, das sich begehrt weiß, ohne die Neigung zu erwidern, gleicht
bisweilen der Katze, die mit der Maus Ball spielt und sich an der Qual
ihres Opfers weidet. Ich sah nur noch Robert’s wutverzerrtes Gesicht
und hörte ihn spöttisch rufen: „Ah so, das ist’s -- ich gratuliere.“

Die Mittagsonne brannte und wir bogen in den Buchengang ein, der sich
einer Kuppel gleich zu unsern Häuptern wölbte. Vor einem Beete roter
Nelken blieben wir stehen. Es ging eine Glut, ein Leuchten von diesen
Blumen aus, die mich fascinierten. Satte, schwüle Farben, üppige, reife
Schönheit. Ich bückte mich und pflückte eine, die ich wie spielend
durch die Finger gleiten ließ.

Er sah mich lächelnd an: „So teilen Sie auch meine Vorliebe für diese
Blumen? Mir scheinen sie eine Verkörperung von Lebenslust, von Frohsinn
und Genuß. Wer ihre Sprache versteht! -- -- Ja, Mimi, glauben Sie mir,
es erwartet Sie noch viel, unendlich viel Schönes -- da draußen im
Leben. Wie alt sind sie eigentlich. Vierzehn Jahre?“

„Schon vorüber.“

„O in diesem Alter gibt man gerne zu: später möchte man abziehen. --
Dort, sehen Sie, die melancholische, carrierte Gestalt? Macht Ihnen Ihr
Vetter sehr den Hof?“

„Aber!“ Bei dieser unerwarteten Frage schoß mir das Blut siedendheiß in
die Wangen. Ich wäre am liebsten auf- und davon gelaufen, und zerzupfte
in nervöser Hast die Nelke.

„Was kann denn die arme Blume dafür?“ Er bog den Rand meines Hutes
etwas auf und sah mir forschend ins Gesicht: „Und Sie, ahnen Sie, was
Liebe ist?“

Ich schwieg, aber in meinen Augen las er die Antwort. Er trat einen
Schritt zurück, und frug dann mit unendlich weicher Stimme: „Wirklich,
Mimi?“

„Ja.“

Sonnenfunken zitterten in den Zweigen und eine Lerche schwang sich
in die Luft, dem Herrn der Welt die Botschaft zu verkünden, daß sich
seinem uralten Gesetze zufolge zwei Menschenkinder in Liebe gefunden.

Der erste Kuß! -- Noch in späten Jahren verklären sich die Züge der
Greisin in sanfter Wehmut, wenn sie der Vergangenheit gedenkt. Ein
seliges Vergessen, ein Traum, ein Rausch, eine Wonne ohne gleichen. Der
Himmel lacht, die Engel weinen Freudenthränen.

Ja, war’s denn möglich? Ich blickte scheu zu ihm empor, die Hände auf
die Brust gepreßt, wie um es festzuhalten, das große, große Glück.

       *       *       *       *       *

„Ob es wohl Sünde war?“ Diese Idee verfolgte mich unablässig. Bei Tag
trieb sie mich hinaus aus dem Zimmer, fort, fort ins Freie. Ich meinte
zu ersticken. Stundenlang irrte ich im Wald herum, rastlos, ziellos.
Des Nachts setzte sich das Quälgeistchen an meine Seite und gab mir
keine Ruhe. Es kicherte, zog mich bei der Decke, daß ich mir nicht zu
helfen wußte.

Tante Laura merkte, daß etwas Ungewöhnliches mit mir vorgehe: „Mimi,
hab’ Vertrauen zu mir.“ Und wie ich in dies abgehärmte, ergebene
Gesicht blickte, da schüttete ich ihr mein Herz aus, gerade so wie
damals, als ich noch ein kleines Mädchen war.

„Sünde ist die Liebe niemals“, versicherte sie mir ernst. „Um in
Deinem Sinne, in Deiner Sprache zu reden, Gott selber hat diesen
Trieb, die Sehnsucht nach einem zweiten Wesen in unser Herz gelegt
und es wäre unnatürlich, wenn er sich nicht früher oder später
äußerte. „Heimlichtuerei“ meinst Du? Deine Fragen sind oft schwer zu
beantworten. Der Zauber der Poesie liegt gar häufig im Verborgenen, im
Geheimnis. -- -- Übrigens so eine erste Neigung lebt oft nicht länger
wie eine Eintagsfliege“, und da ich eine protestierende Geberde machte:
„Wozu sich über Dinge den Kopf zerbrechen, die zu keinem Resultate
führen. In einigen Jahren reden wir darüber, ja? Bis dahin kann sich
Manches geändert haben.“

„Also Sünde ist es nicht?“

„Nein, nein. Aber wenn ich Dir einen guten Rat geben soll, trachte Dir
Vincenz aus dem Kopf zu schlagen. In denke, mit etwas gutem Willen wird
es gehen, jetzt leichter wie später. Eine im Keim erstickte Neigung
gleicht einer leichten Operation, während, wenn sie Wurzel faßt, das
geht oft tief. Du stehst mir ja nahe, Mimi, und ich möchte Dich vor
trüben Erfahrungen bewahren. Besser die Wunde blutet tüchtig, als die
Narbe heilt nie. -- Übrigens, es ist ein wohlgemeinter Rat.“

„Ach Tante, ich hab’ ihn so lieb. Ich will ja nichts Anderes, als daß
es immer so bleibt.“

Wenn er mich mit bebendem Arm umschlang, dann lehnte ich beseligt den
Kopf an seine Schulter. Ich hörte das ungestüme Pochen unserer Herzen
und ein heißer Strom, durchrieselte es meine Adern. Und doch, ich hätte
nicht vermocht, den eigentümlichen Zauber zu definieren, den er auf
mich ausübte. Lag es in seinem Blick, seiner Stimme, der nonchalanten
Art seiner Bewegungen? Alles im Verein vielleicht; selbst das etwas
herbe Parfum, das seinem Taschentuch entströmte, der Schnitt seiner
Anzüge, die eleganten Hände.

Und er sollte dem Bösen verfallen sein? Mehr denn je beseelte mich
der Wunsch, ihn zu befreien. Doch hatten wir die Rolle bei unseren
Diskussionen vertauscht. Er sprach mehr, ich immer weniger; er war zu
höflich um direkt zu widersprechen, aber er zwang mich zu denken und
da zerfiel unmerklich mein Kartenhaus. Es hatte auf zu lockerer Basis
gestanden: der erste Sturm fegte es spielend hinweg. Noch gestand
ich mir’s nicht ein, doch ich fühlte das Herannahen der Katastrophe.
Unaufhörlich nagte der Wurm des Zweifels an meinem Innern: die so lange
zurückgedrängte Vernunft war erwacht und machte ihre Rechte geltend. --
Wie eine Ertrinkende rang ich mit den Wellen: es war ein ohnmächtiger
Kampf mit dunklen Gewalten. In meiner Verzweiflung rief ich die
Heiligen zu Hilfe, doch sie erhörten mich nicht. Und wie, wenn Vincenz
Recht hätte, wenn ich bis dahin in finsterer Nacht gewandelt war, in
ein Lügennetz verstrickt und erst jetzt der Erlösung entgegengieng,
der Erlösung durch die Wahrheit? -- -- -- Und wenn ich lange meinen
Kopf angestrengt, breiteten sich dichte Nebel vor mein Auge und eine
Müdigkeit überkam mich, wie ich sie bis jetzt nicht gekannt.

       *       *       *       *       *

Es war ein heißes, blutiges Ringen gewesen um den Glauben, ein Ringen
auf Leben und Tod -- und ich unterlag. Monat um Monat war vergangen und
der Tag gekommen, an dem ich das Kloster verließ.

O, endlich, endlich frei! Du junges Morgenrot, Du große schöne Welt,
jetzt seid ihr mein! Wie eine Zentnerlast fiel es mir vom Herzen;
vorbei die Zeit der Verstellung und der Heuchelei. Wie schwer war es
mir oft geworden, mich zu beherrschen, nicht mitten in der Predigt
aufzuspringen und zu rufen: „So glaubt doch nicht, es ist nicht wahr!“

Die Flut war hoch gegangen und hatte anfänglich mit ihrem Toben
und Brausen alles Andere übertönt: jetzt trat die Ebbe ein und ich
fand kostbare Perlen am Meeresstrand. Sie schillerten und strahlten
in den schönsten Farben und ihr Besitz beglückte mich. Ich hütete
meinen Schatz, verbarg ihn sorgfältig vor aller Augen, sagte nicht
einmal Vincenz davon. Doch er erriet mein Geheimnis mit dem Blick
der Liebe, die auf dem Grunde der Seele zu lesen versteht. Mit der
neuen Erkenntnis kam tiefe Ruhe und Zufriedenheit über mich: sie
spiegelten sich in meinem Gesichte, in meinem ganzen Wesen wieder.
-- Ich fürchtete keinen zürnenden, rächenden Gott: ich wollte gut
sein, nicht des Lohnes halber, sondern aus Freude daran und ich
betrachtete die ganze Welt in neuem Lichte. Ich wandelte nicht mehr auf
steinigem, zerklüftetem Wege, nein vor mir lagen sie, die verlockenden,
sonndurchglückten Blumenpfade. Das Labyrinth, in dem ich mich zu
verirren gedroht, war vom Erdboden verschwunden und es schien mir
unfaßlich, daß ich der plumpen Falle so spät entkommen war.

Himmel und Hölle! Daran hatte ich geglaubt. Spuckgeschichten,
Ammenmärchen. Und all das Andere!

„Mimi Steindorf“, ich sagte mir mit einer gewissen Ironie, „nicht
mehr Mittelpunkt des Weltalls, um den sich Alles dreht; nur ein
verschwindend kleiner Teil des Ganzen, und doch niemals „Nichts.“ Du
verlierst das individuelle Bewußtsein, aber verschwinden kannst Du
nicht. Was in Dir den geistigen Menschen, Dein höheres Ich ausmacht,
nenn’ es Seele, wenn Du willst, aber denk’ Dir darunter kein Schemen,
das beim letzten Atemzug vor Gottes Richterstuhl fährt und den Körper
erst am jüngsten Tage wieder bezieht. Heiße es „Kraft“ und versuche
nicht, den Stoff, die Materie davon zu trennen -- es wäre sinnloses
Vorgehen; denn eins bedingt das andere. Im Grunde genommen, bist Du
nichts anderes als eine Uhr. Ein zu heftiger Druck, ein Stäubchen,
das zufällig ins Gehäuse geraten: die Feder ist abgedreht, die Uhr
bleibt stehen, ohne daß sie deshalb aufhört, zu sein. Man kann sie
in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen, sie auf ihre ursprünglichen
Stoffe zurückführen: die Form erleidet eine Veränderung, die einzelnen
Teilchen aber können nicht vernichtet werden.

„Findest Du dieses Gedicht nicht schön, Mimi? Der jüngere Dumas hat
Recht. So will ich’s auch einmal“, und Vincenz las mir vor:

    „~Je ne veux pas, quand je mourrai,
    Que l’on me mette au cimetière.
    Au milieu d’un champ labouré
    Sous un sillon, que l’on m’enterre!
    Vivant, je n’aurai su rien faire,
    Mais je m’en irai consolé
    Si mort, je puis rendre à la terre
    De quoi produire un grain de blé.~“

Nein, keine Pilgerfahrt durch das Thal der Tränen, ein dauerndes Sein.
Das mußte zu edlen Taten aneifern, bewirken, daß wir uns heimisch
fühlen hieniden; das mußte das Bewußtsein der Verwandtschaft mit der
ganzen Natur, einer engen Zusammengehörigkeit erzeugen, stark genug,
die düsteren Schreckensbilder auf immer zu verscheuchen.

       *       *       *       *       *

Der Winter hatte seinen Einzug gehalten. Ein eisiger Wind wehte: er
seufzte und stöhnte, wie ein Geist, der keine Ruhe findet. Unaufhörlich
wirbelten die weißen Flocken nieder, regelmäßig, nimmermüde. Und
ringsumher, so weit das Auge reichte, eine hohe Schneedecke. Ab und zu
lugte die Sonne hinter Wolken hervor, und dann funkelte es auf Baum
und Strauch, als hätte eine verschwenderische Hand Millionen Diamanten
ausgesäet. Krächzende Raben flogen auf und umkreisten unsern Schlitten.
Die rauhe Luft versengte mir Wangen und Finger. Ich hüllte mich fester
in die Pelzdecke und lauschte der lustigen Schellenmusik. -- So ein
Winter auf dem Lande, das mußte herrlich sein ... Schade, daß es nur
ein kurzer Besuch war.

Im gemütlichen Billardzimmer saßen Großmama und Hannerl am Kamin und
banden schwarze Schleifen an die Wachskerzen der Kapelle, für die
Allerseelenmesse.

Nächtlicherweile wandte sich der Wind und tagsdarauf trat Tauwetter
ein. Papa holte mich zu einem Spaziergang ab, und wir giengen durch den
Wald. Es war fast lau, und von den Bäumen rieselte es im Takte nieder.

„Eine ungesunde Temperatur; um diese Zeit gibt es die meisten
Krankheiten“, bemerkte Papa. „Eine abscheuliche Sache, das Kranksein.“

Wir waren auf dem Friedhof angelangt. Wie seltsam dieser Garten mitten
im Winter! An den Frühling mußt’ ich denken, wenn der Flieder blüht
und Leuchtkäfer schwirren. -- -- Das ganze Dorf war hergepilgert,
um seinen Toten ein inniges Gebet zu weihen, eine stille Träne
nachzuweinen. Kränze, Perlenkronen, Lichter um jedes Kreuz. --

Ganz abseits aber, hart an der Mauer, lag ein verwahrlostes Grab, ohne
Inschrift, ohne Blumenspende. Ich äußerte mein Befremden darüber.

„Es ist ein Jägerjung, der einen Selbstmord begangen und darum kein
Anrecht auf geweihte Erde hat“, erklärte mir Papa.

„Sich umgebracht. Der Arme! Da muß er wohl recht unglücklich gewesen
sein?“

„Die Leute sagen so -- eine Liebesgeschichte.“

Es war zum erstenmale, daß Papa dieses Wort vor mir ausgesprochen:
bisher hatte er es fast ängstlich vermieden. Ich blickte ihn
unwillkürlich an. Er brach ein Tannenreis ab und legte es in sein
Notizbuch. Ein weicher, gütiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht -- er
wandte sich nochmals um -- dann traten wir den Heimweg an.

„Mimi.“

„Ja, Papa.“

Er schob seinen Arm unter den meinen. „Du bist doch jetzt ein großes
verständiges Mädchen, mit dem man über ernste Dinge reden kann?“ In
seinem Ton lag etwas, das mir wehe tat. „Es ist nur für alle Fälle,
erschrick nicht,“ fügte er beschwichtigend hinzu. „Wenn mir nämlich
etwas zustoßen sollte --“

„Nein, nein, sprich nicht davon,“ fiel ich ihm ins Wort und Tränen
traten mir in die Augen. Da er so vertrauensvoll, fast zaghaft zu mir
redete, erwachte zum erstenmale die Kindesliebe in mir. Ich wollte ihn
verteidigen, schützen gegen den Sensenmann.

„Sei gescheit, Mimi. Einmal wird es ja doch sein, das bleibt Keinem
erspart, und da ist’s immer besser, so lange es noch Zeit ist. -- --
Du weißt, daß ich nicht reich bin -- -- aber ich hinterlasse Dir doch
genügend, um eine angenehme, sorgenfreie Existenz zu führen. Du bist
auf Niemandes Gnade angewiesen und brauchst keinem Menschen zur Last zu
fallen. -- -- Ich habe für Dich gespart, wenn Du Dich auch innerlich
darüber aufhieltest. -- -- -- Und wenn Du einmal Einen vom Herzen gern
hast und er ein braver, ehrenhafter Mensch ist -- nimm ihn. Sieh nicht
nach Geld aus -- wenn er einen Beruf hat und genügend zu leben, dann
heiratet Euch.“

„Papa.“ Ich drückte seinen Arm. Einen Moment kam mir die Idee, daß
er an Vincenz dachte, doch ich wagte nicht zu fragen. -- „Ja, dann
heiratet Euch und wenn er einen andern Glauben hätte, dann -- --
trachte ihn der heiligen Kirche zu gewinnen. -- -- -- Ich habe --
-- früher einmal die Andersgläubigen gehaßt -- -- es war schweres
Unrecht -- und ich bereue es.“ Er seufzte tief. „Ja, die Verblendung.“
Dann fuhr er fort: „Falls Deine Mutter ein zweitesmal wählt, leg’
ihr kein Hindernis in den Weg. Sie ist ja am Ende noch jung und ich
glaube nicht, daß sie ihr Anrecht auf Lebensglück verleugnen wird.“ Er
hielt inne und fügte dann zögernd hinzu: „Ich möchte ohne Prunk, in
aller Stille zu Sahning begraben werden. Ich erwähne es übrigens noch
ausdrücklich in meinem Testament. Dort in der Gruft werd’ ich mich
heimisch fühlen. Es schläft schon lange Jemand dort -- -- es hat nicht
sollen sein.“

Übermannt von den Eindrücken, die so unerwartet auf mich einstürmten,
und mir meinen Vater in so schönem Lichte zeigten, weinte ich still in
mich hinein. So war die Gleichgültigkeit, seine mißmutige Art nur Maske
-- das Schicksal hatte sie ihm aufgedrängt. Armer Papa, hätt’ ich das
früher gewußt: aber Du hieltest mich so ängstlich Deinem Innenleben
fern. Er faßte mich am Kinn und streichelte mein Haar. „Sei mein
braves, starkes Mädchen. Die Schwachen kriechen stets zu Kreuz, wenn
die Schicksalsschläge wuchtig auf sie niedersausen -- ein ganzer Mensch
aber, der steht aufrecht, mitten im Donnergrollen und Sturmesbrausen.
-- Schau’, wie der Himmel schwarz ist. Wir bekommen wieder Schnee.
-- -- -- Und jetzt sprechen wir von heiteren Dingen“, setzte er mit
einer Art Galgenhumor hinzu. „Was würde Dir denn zu Weihnachten eine
Freude machen? -- -- Weißt Du, an was ich dachte? Eine kleine hübsche
Reisetasche. Die kannst Du sehr gut brauchen, wenn Du“, -- -- seine
Hand zitterte in der meinen und ein Ausdruck von Schmerz huschte über
sein Gesicht. „Es ist nichts. Nur ein leichtes Unbehagen, wie ich es in
den letzten Tagen öfters verspürte. Das vergeht“.

„Und davon hast Du gar nichts gesagt!“

„Wozu denn? Solange man nicht ins Bett muß!“ Ein Schüttelfrost überkam
ihn bei diesen Worten, daß die Zähne aufeinanderschlugen.

„Du hast Dich wahrscheinlich erkältet.“ Meine Stimme klang unsicher.
„Und es ist noch so weit nach Hause.“

Da bog, wie gerufen, ein Schlitten in die Allee ein, und ich erkannte
auf den ersten Blick Vincenz, der einen kurzen Urlaub genommen, um uns
in Steindorf zu überraschen. Er hatte sofort die Sachlage begriffen
und drängte uns, rasch einzusteigen. „Es ist nichts von Belang, aber
Sie müssen vorsichtig sein. Die Influenza grassiert gerade jetzt, und
wenn man die Pflege zu Beginn vernachlässigt, kann es die schlechtesten
Folgen haben.“

Nach einigem Sträuben legte sich Papa zu Bett, und wir leisteten ihm
Gesellschaft. Er blätterte in seinen Einschreibbüchern, und es berührte
mich peinlich, als er bemerkte: „Wirklich große Auslagen, das Trinken
und das Rauchen. Eine schlechte Gewohnheit; es könnte vielleicht in
Zukunft wegfallen.“

       *       *       *       *       *

„Meine arme Mimi, ich kann Dir nicht verhehlen, daß es schlecht, sehr
schlecht steht mit Papa. Ich habe Deiner Mutter telegrafiert: sie kann
in ein paar Stunden da sein.“ Vincenz war blaß und erregt. „An Wunder
glauben wir ja Beide nicht. -- Doch jetzt geh’ Dich etwas auszuruhen,
Du brauchst neue Kräfte.“

Ich vermochte mich in der Tat kaum mehr auf den Füßen zu erhalten. Vier
Nächte lang gewacht -- das nimmt her, wenn man es nicht gewöhnt ist.
Ich versuchte zu schlafen, doch es gelang mir nicht. Unstät irrten
meine Gedanken umher, bis sie beim Worte „Wunder“ Rast machten. Und
wenn doch -- -- aber ich konnte ja nicht mehr beten. -- -- Versuchen!
Ich faltete mechanisch die Hände und murmelte halblaut vor mich hin:
„Sei gegrüßt, Du Königin, Mutter der Barmherzigkeit“. Und plötzlich
lag ich auf den Knien, und, das Gesicht auf die Hände gestützt, fielen
mir die Worte ein; sie strömten mir von den Lippen, ein unaufhaltsam
sprudelnder Quell, und mit ihnen kehrte der alte Kinderglaube wieder.

Es war dunkel im Zimmer: matt flackerte das Feuer im Kamin, bis es
erlosch. Ich lag noch immer in derselben Stellung und beschwor Maria,
mir zu helfen. „Du kannst nicht so grausam sein, Du Gute, Gnadenreiche.
Erhalt’ ihn mir am Leben. Maria hilf, und ich will Dir’s ewig danken.
Meinen Zopf, auf den ich so eitel bin, bring’ ich Dir zum Opfer -- nur
erhöre mich. Ich hab’ ja so viel gut zu machen, da ich ihn bis jetzt
so falsch beurteilt. Auch fromm sein will ich wieder, Maria hörst Du?“

„Mimi, Mama ist da. Willst Du nicht hinunter?“ Tante Laura kam mich
fragen. Sie hatte längst verziehen und pflegte ihren Bruder mit
rührender Sorgfalt.

„Tante, steht’s sehr schlecht?“

„Mut, Kind!“, und sie drückte mir die Hand.

Tiefe Stille herrschte im Krankenzimmer. Großmama saß da mit gefalteten
Händen, den Blick auf das Kruzifix an der Wand geheftet. Sie sagte
leise Gebete vor sich hin, und ab und zu entrang sich ein tiefer
Seufzer ihrer Brust. Mama kauerte mit scheuer Miene in einer Ecke, die
Augen halb geschlossen. Auch die Übrigen schwiegen.

Papa saß mehr im Bette, als er lag. Sie hatten ihm Kissen
untergeschoben, um ihm das Atmen zu erleichtern. Als ich zu ihm
trat und ihn flüsternd frug, ob ich etwas für ihn tun könne, machte
er eine sichtliche Anstrengung zu sprechen, aber es war nur ein
undeutliches Lallen. Er hatte den Mund geöffnet, und die Hände begannen
ein unheimliches Spiel auf der Decke. Wie abgemagert sie waren in
den paar Tagen, und wie weiß! Und wie kalt sie sich anfühlten, wie
eisig kalt. Wenn das das Ende wäre, oder die Agonie! Ich verlor alle
Selbstbeherrschung, umklammerte ihn schluchzend und beschwor ihn, nicht
zu gehen, mich nicht zu verlassen. Ich küßte ihm den kalten Schweiß von
der Stirne, streichelte seinen Kopf, befahl ihm, zu bleiben. -- Ich
hatte ja gebetet -- ich erwartete das Wunder. -- Da, er atmete tief
auf, immer rascher -- das war vielleicht das wiederkehrende Leben --
rascher -- aber so seltsam, so unregelmäßig, ein gequältes, mühsames
Röcheln. -- Er rang nach Luft, schnellte in die Höhe, als ob jemand
ihn mit ungeheurer Kraft emporrisse; dann gellte ein Schrei durch
das Gemach, so klagend, so unbeschreiblich schmerzlich, seine Züge
verzerrten sich wie im Krampfe, dann fiel er schwer zurück. Noch ein
letzter, schwacher Atemzug, und es war vorbei.

Das hab’ ich lange nicht begriffen.

Mama geberdete sich wie eine Wahnsinnige, tobte und jammerte. Großmama
drückte einen langen Kuß auf das wachsbleiche Gesicht ihres Lieblings.
„Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen -- er weiß am Besten,
was er tut.“ Dann gieng sie zur Schwiegertochter, und ihr die Hand
hinhaltend: „Ich denke Helene, in einem solchen Moment vergißt man
allen Groll“, und nun umarmten sich die Beiden.

In leisen, feinen Schlägen verkündete die Wanduhr die zwölfte Stunde.
Die Kerzen waren herabgebrannt und warfen dunkle Schatten über das
marmorne Gesicht des Toten, über das nun tiefe Ruhe ausgebreitet lag.
So schön, so mild war er mir früher nie erschienen. Das rötlichblonde
Haar hob sich wie Gold von der blaßen Hautfarbe ab und die Hände lagen
wie zum Gebet verschränkt, auf der Brust.

„Wie zufrieden er aussieht, Mimi“, sagte die Großmama. „Der liebe Gott
meint es recht gut mit ihm. Dort droben ist’s ja viel, viel schöner --
da finden wir uns Alle wieder: da gibt es keinen Abschied.“

       *       *       *       *       *

Ein schwarzverhangenes Zimmer, in dem es so still ist, so schaurig
still. In der Mitte steht der erhöhte Catafalk, neben dem in riesigen
Kandelabern Wachskerzen brennen. Kränze auf dem Boden und an der Wand,
Kränze, wohin der Blick fällt. Und in all’ den Blumenaugen steht
die stumme Klage um zu früh entflohenes Leben. Sie seufzen und ihr
duftender Atem vermengt sich mit dem Geruch der Wachskerzen, mit der
dumpfen Moderatmosphäre des Todes. O dieser Geruch, er verfolgt Einem,
man wird ihn nicht los, wohin man auch flieht.

Tränen und Seufzer -- -- kein Sonnenstrahl, kein lautes Wort.

„Wie eng und kalt Du es nun hast, mein armer Papa. Könnt’ ich Dir
nur etwas Gutes tun, Dir noch einen letzten Liebesdienst erweisen!
Du schweigst. Wo bist Du? Weshalb hast Du uns verlassen? -- -- Du
bist wirklich tot? -- Ja, tot!! Du wirst mir kein einziges Wort mehr
sagen -- -- ich faß’ es nicht -- -- -- mir ist, als müßte im nächsten
Augenblick die Thür aufgehen, und dann kommst Du herein und wir
plaudern miteinander aber viel inniger, viel zärtlicher wie früher.
Ich küsse Deine Hand, o sie ist eisig kalt, wie eine Geisterhand, --
-- Dein Gesicht, so mager und -- -- die goldenen Haare -- -- nein, Du
warst anders, aber ich seh’ Dich immer so vor mir. -- Nein, laß mich,
geh, berühr’ mich nicht. -- Ich fürchte mich, wenn Du mich holst. -- --
Es ist so schwarz, so dunkel, ich will nicht sterben, nein, ich will
nicht -- ich -- o -- -- --“

Ich lag mit heftigem Fieber danieder und als ich die Besinnung
zurückerlangt, standen Tante Laura und Vincenz an meinem Bett. Sie
nötigten mich zu essen, da ich in den letzten Tagen kaum ein paar
Bissen genossen. Ich durfte auch nicht mit zum Begräbnis: sie wollten
mir Gesellschaft leisten, die Beiden, die nun meinem Herzen am nächsten
standen. Vincenz suchte meine Gedanken von dem traurigen Ereignis
abzulenken: er erzählte mir dies und das, versuchte zu lächeln, aber es
mißlang ihm kläglich. Dann ergriff er meine Hand, hielt sie vor seine
Augen und weinte, wie ein Kind: „Das war mein bester Freund -- trotz
Allem -- ein goldenes Herz. Ja Mimi, ein harter, entsetzlicher Schlag“,
und sein Gesicht überzog sich mit fahler Blässe. „Vincenz, was ist
Dir?“ Er war sich mit der Hand an die Brust gefahren. „Bitte Wasser.
So. Nur ein momentaner Schwindel.“

Großmama, dicht verschleiert, setzte sich zu mir und sprach in überaus
gütiger Weise auf mich ein. „Wir fahren jetzt nach Sahning -- ich werde
Deinem guten Papa einen Gruß bringen. Glaub’ mir, Mimi, er schaut
immerfort auf Dich herab, er hat Dich ja so lieb gehabt und wenn Du
brav und fromm bist, freut er sich.“

Das Thor wurde mit polterndem Geräusch geöffnet; ich hörte schwere
Männertritte, undeutliche Stimmen -- Schlittenschellen -- und jetzt
läuteten sie auf dem Schloßturm -- ja, es war der tiefe klagende
Ton unserer alten Glocke, immer neue tönten mit, von nah und fern
-- aus allen Ortschaften. -- „Bim--bam, bim--bam“, so klang es mir
unaufhörlich in den Ohren und doch hatte sich der ernste Zug schon seit
geraumer Weile in Bewegung gesetzt.

„Du wirst Dein Steindorf nie wiedersehen. Leb’ wohl, leb’ wohl für
immer!“

       *       *       *       *       *

Wie traurig gähnten mir die schon halbgeleerten Laden entgegen und
jedes einzelne Ding erinnerte mich an den Verstorbenen. Wie genau
hatte er in seiner peinlichen Ordnungsliebe darauf geachtet, daß jedes
Stück an seinem bestimmten Platz zu liegen kam und allen, selbst den
wertlosen Gegenständen ein erläuterndes Zettelchen beigelegt. Und jetzt
dies Durcheinander! Die Liste aller Jener, die ein Andenken begehrten,
nahm kein Ende und es hieß auf specielle Wünsche Rücksicht nehmen.

Des Nachts fuhr ich häufig erschreckt zusammen. Mir war, es lege sich
eine kalte Totenhand auf mein Herz, und in den Möbeln krachte es. Dann
rief ich Tante Laura und schmiegte mich fest an sie, bis ich ermüdet
Schlummer fand. Mama steigerte meine Erregung, indem sie mir ihre
Träume und Visionen schilderte, Karten aufschlug, und das Traumbuch
zu Rate zog. Ich hatte ihr Bücher aus der Bibliothek gebracht, aber
sie las kein einziges. Sie gähnte fortwährend und sah nach der Uhr,
worauf sie regelmäßig bemerkte: „Erst: ich dachte, es sei schon viel
mehr.“ Erst bei unserer Rückkehr nach Wien taute sie ein wenig auf. Wir
bezogen eine andere Wohnung und das Ordnen und Einrichten schien sie zu
zerstreuen. Sie zeigte neues Interesse für den Haushalt und verwandte
große Sorgfalt auf ihr Äußeres. Keine Spur mehr von der früheren
Vernachlässigung und das stand ihr vorteilhaft. Wenn wir auf der Gasse
giengen, wandten sich die Leute nach ihr um, und wenn wir Bekannten
begegneten, hieß es stets: „Sie sehen brillant aus Baronin; wirklich
man könnte Sie für Schwestern halten.“ -- Mama lächelte dann vergnügt
in sich hinein, schnürte sich noch fester und ließ sich noch gewagtere
Hüte machen.

       *       *       *       *       *

Die Trauerzeit war um, und ich hatte das achtzehnte Jahr erreicht.
Mama, deren lauter Jammer sich in kürzester Zeit überlebt hatte,
vermochte die Sehnsucht nach Abwechslung nicht länger zu unterdrücken.

Wir giengen also in die Welt. Davon hatte ich mir nach den bisher
gelesenen Romanen eine ganz andere Vorstellung gemacht.

Bei den „~jours~“ herrschte ein so steifer, ungemütlicher Ton, als
träte man bei der pompe funèbre ein, und die Soireen waren nicht
viel anders. Man würgte gezwungen eine Tasse Thee hinunter, aß ein
Stückchen Sandwich und sprach so leise, als fürchte man seine eigene
Stimme zu hören. -- Man hatte sich eben nichts zu sagen, und wenn es
ab und zu lebhaft zugieng, so war gewiß das Capitel der ~médisance~
aufgeschlagen worden. Ich mußte stets an eine Uhuhütte denken. Von Nah
und Fern stürzen sich die kecken Vögel auf das wehrlose Tier, rupfen
und picken ohne Unterlaß. Keins will zurückbleiben, und Jedes meint,
etwas Besonderes vollbracht zu haben, wenn es gehörig losgefahren. Und
wie bald war man über die Grenzen der harmlosen Stichelei hinaus!

Einmal -- ich erinnere mich noch sehr genau daran, -- bildete eine
Skandalgeschichte in allen Salons das Tagesgespräch. Es waren nicht
bloß „Klatschschwestern“, die sich daran beteiligten, -- im Gegenteil
-- die Herren der Schöpfung nahmen womöglich noch regeren Anteil.

„Comtesse X von Herrn N. N. entführt.“ In Kürze war die Geschichte
folgende: Das junge, ziemlich exaltierte Mädchen hatte die
Bekanntschaft eines eleganten, geistreichen Causeurs gemacht und sich
sterblich in ihn verliebt. Die Eltern wollten von der Sache nichts
wissen, und eines schönen Tages war das Pärchen verschwunden. Man
fand es nach längerem Suchen in einem Vorstadthôtel, und zum Überfluß
stellte sich heraus, daß der Betreffende ein verheirateter Mann war,
der Weib und Kind verlassen, aus Speculation auf das Vermögen der
Kleinen.

„Unerhört. So ein Fratz! Sie hat sich in der guten Gesellschaft
unmöglich gemacht. Man müßte ihr ja die Türe weisen.“

Wie da die Köpfe zusammengesteckt wurden, wie die Augen leuchteten
und jeder Einzelne vor Begierde brannte, noch ein klein wenig mehr zu
wissen, als die Andern, noch ein paar pikante Details hinzuzufügen.

Ich sah mich im Kreise um. War denn da Keiner, der ein Wort der
Entschuldigung, des Mitleids fand, Keiner von denen, die als gute
„Freunde“ im Hause der Gräfin verkehrten? -- Nein. -- Es war
erbärmlich, ekelhaft feig. Wie konnten sie nur in ihrem Innern so
schonungslos verdammen? Weshalb also schwiegen sie, weshalb wagten
sie nicht, frei ihre Ansicht zu bekennen? Fühlten sie sich selbst so
fleckenlos?

Mein Herz begann so heftig zu pochen, daß ich es bis in den Hals hinauf
spürte, und die Fingerspitzen zuckten mir. Mit einer Festigkeit, die
mir sonst nicht eigen war, trat ich auf Mama zu und sagte: „Gehen wir“.

„Nein, ich möchte noch bleiben.“

„Gut, so geh’ ich allein.“

Die Nebensitzenden waren aufmerksam geworden, und die Hausfrau lenkte
begütigend ein: „Was haben Sie denn, liebes Kind? Freilich, die
Klostererziehung! Da kommen Einem eben solche Dinge befremdend vor.
Man muß sich an Manches erst gewöhnen; mir gieng es ebenso.“

„Ich werde mich an gewisse Dinge nie gewöhnen. Irren ist menschlich.
Man kann bedauern, aber nicht verdammen. Wer kann wissen, ob er in
genau denselben Verhältnissen nicht ebenso gehandelt hätte?“ Tiefes
Schweigen. Aller Blicke waren auf mich gerichtet, teils mit Staunen,
teils mit überlegener Ironie; ich ließ mich aber nicht beirren. „Wenn
Sie einen Blutstropfen sehen, werden Sie ohnmächtig, -- daß aber hier
ein Opfer unter Ihren Händen verblutet,“ .... Mama zog mich am Ärmel
und murmelte ein paar entschuldigende Phrasen: „Sie ist so leicht
erregt, aber sie meint es nicht so“. Zu Hause aber erklärte sie mir
ohne Umschweife, daß sie einen weiteren Verkehr mit Dr. Vogler nicht
mehr dulde. Sie wisse schon längst, daß er mir diese verrückten Ideen
in den Kopf setze, und bedanke sich dafür, daß ich sie vor aller Welt
lächerlich mache.

„Also Papas Freund willst Du die Türe weisen?“

„Ja, sonst erleb’ ich auch noch eine Geschichte, wie die Gräfin X. Du
bist ja so schon ganz vernarrt in den kranken Menschen. Was denkst Du
Dir denn eigentlich dabei? Will er Dich vielleicht heiraten, dieser
Ritter von Habenichts?“

„Ich bitte Dich, laß es genug sein. Du könntest es bereuen. Du weißt,
Steindorf steht mir jederzeit offen.“

Sie schien meinen Widerstand zu fürchten und versetzte ruhiger: „Es
ist schrecklich mit Dir. Man wird doch noch seine Meinung sagen dürfen.“

„Solange es bloß meine Person betrifft, ja. Aber über Leute, die
hochzuschätzen, die zu verehren ich allen Grund habe, lasse ich nun
einmal nichts kommen.“

„Aber Deine Mutter kann doch Bedenken äußern, wenn es sich um so
Wichtiges handelt. Dein Wohl liegt mir ja doch am Herzen“, und sie
begann zu weinen.

„Aber ich bitte Dich.“ Ihre Tränen ließen mich kalt und ich fand kein
versöhnendes Wort. Mit einemmale sollte ihr mein Glück am Herzen
liegen! Weshalb war ihr das nicht früher eingefallen? -- Wie töricht
handelt doch das Schicksal, wenn es mit den festesten Banden Solche
verknüpft, die sich so weltfern sind!

Das Argument: „Weil es die Mutter ist“, genügte mir nicht. Ich habe
überhaupt nie Menschen aus purem „Verwandtsschaftsgefühl“ geliebt, sie
immer nur nach persönlichem Wert und Verdiensten taxiert. Daran, daß
man dieselben Vorfahren besitzt, aus ein- und derselben Familie stammt,
ist ja am Ende nichts so Anerkennenswertes.

Ich hatte mit Vincenz über diesen Punkt gesprochen, und er teilte meine
Ansicht.

Daß die Eltern ihre Kinder lieben ist nur zu begreiflich: der
natürlichste Egoismus. Daß sie das hilflose Würmlein hegen und pflegen,
es mit allem Nötigen versehen, das begehrt die Stimme der Natur, die
will, daß man sein Fleisch und Blut hochhält. Das ist eine kleine
Abtragung der riesigen Verantwortung, die mit dem Augenblick beginnt,
wo man einen Menschen in die Welt setzt. Die Tatsache, daß uns die
Eltern das Leben gegeben, verpflichtet durchaus nicht zu Dank. Sie
tun es ja doch nicht aus Liebe zu den Ungeborenen! Wie viele elende,
erbärmliche Existenzen gibt es, die lieber nie das Licht des Tages
geschaut hätten. Im Grunde genommen, stehen die Eltern, so seltsam es
auch klingen mag, in der Schuld ihrer Kinder. Das eigentliche Verdienst
beginnt erst, wenn im kleinen Geschöpfe das Denkvermögen, das bewußte
Gefühlsleben erwacht. Dann heißt es den engen Ideenkreis erweitern,
lehren, Interesse am Guten, Schönen wecken, aus dem Schatze der
Erfahrungen mitteilen, raten, und erklären. Die Liebe soll ihre Wurzel
weder in der Furcht, noch im bloßen Schicklichskeitsgefühl haben -- sie
soll Bedürfnis sein, unwiderstehlicher Drang. Glücklich jene Eltern,
die das begreifen -- sie ziehen sich Freunde heran.

Und was hatte meine Mutter getan? Meine Erziehung Andern überlassen,
weil es so bequemer war. Nie das geringste Bestreben, mir etwas von den
Dingen beizubringen, deren man im Leben so nötig bedarf. -- Das hätte
sie aus ihrer Ruhe gebracht, folglich kam es gar nicht in Betracht.
Sie selbst besaß weder Sinn noch Verständnis für die weltbewegenden
Fragen, keine Interessen höherer Art, keine Ideale. Wenn ich bisweilen
an solche Dinge rührte, versetzte sie mit erstaunlicher Offenheit:
„Das ist fade, davon versteh’ ich nichts: es ist mir zu hoch.“ Und
nicht genug daran, jetzt wollte sie mir auch den Einen rauben, der mich
begriff. Ich trug übrigens den Sieg davon. Es blieb ihrerseits bei der
Drohung und Vincenz kam nach wie vor. Doch unser schönes Verhältnis war
getrübt -- die beständige Anwesenheit Mamas legte uns einen Zwang auf:
wir fühlten uns beobachtet und die mißtrauischen Blicke einer Dritten
wirkten wie ein eisiger Wasserstrahl.

Und warum das Alles? Die Zeiten ändern sich: die Liebe sinkt im Werte.
Heutzutage gilt nur mehr das Geld. Er war eben „keine Partie“, mein
Vincenz.

       *       *       *       *       *

Der erste Ball! Freute ich mich darauf oder nicht, ich hätte es nicht
zu sagen gewußt. Die Friseurin macht mir Complimente und der Spiegel
auch. Das weiße Illusionkleid mit den Maiglöckchenguirlanden steht mir
gut: ich kann mich sehen lassen.

Als ich aber den hellerleuchteten Ballsaal betrete, beschleicht mich
solche Bangigkeit, daß ich am liebsten auf und davon möchte! Das
Licht, die Edelsteine, das eigenartige Parfum, es hat eine betäubende
Wirkung. Schöne Frauen, zarte Farben, berauschende Musik. Ich muß ans
Feenmärchen denken, wo es plötzlich lebendig wird, wo im verwunschenen
Garten die Blumen durcheinanderwandeln, singen und klingen.

„Also doch Cousine, ich dachte schon, Du hättest es Dir überlegt und
kämest nicht mehr. Nun, wie gefällt es Dir?“ -- „~Oh pardon!~“ -- da er
einer Dame auf die Schleppe getreten. Er blickte ihr nach: „Reizend.“

„Kennst Du sie, Robert?“

„Nur vom Hörensagen. Eine Ausländerin. Fabelhaft reich, soll Millionen
haben, -- aber kühl bis ans Herz. -- Hier, erlaube, daß ich Dir meinen
Kameraden, Grafen Scheuregg, vorstelle -- entschuldige, ich muß fort,
ich bin für den Walzer engagiert.“

Mama gesellte sich zu einer Schaar bekannter Damen, und Roberts
Freund gab mir den Arm. „Haben Sie heuer schon viel mitgemacht? Nein?
Schade. Hatten ein paar sehr fesche Tanzereien.... Sechsschritt oder
gewöhnlichen Walzer?“

„Ich weiß nicht.“ Ich hatte tatsächlich nie einen Schritt getanzt
und keine blasse Ahnung von diesem oder jenem. Ich hatte mich darauf
verlassen, daß ich es schon treffen würde, aber auf eine bestimmte
Frage war ich nicht gefaßt. Dabei kam ich mir so ungeschickt vor: die
Klosterschüchternheit erfaßte mich: ich hielt den Blick beharrlich
gesenkt, tanzte elend und wünschte mich weit, weit weg. Ich glitt
meinem Partner fortwährend aus dem Arm, und er hatte alle Mühe, mich
festzuhalten. Der Atem gieng mir aus; ich brachte kein Wort hervor,
als er mir eine Frage stellte, und hatte doch nicht Mut genug, ihn zu
bitten, mich auf meinen Platz zu führen. Die Leute traten mir auf die
Füße, und mir wurde schwindlig. Ich rastete ein wenig. Es kamen noch
Andere. Jeder tanzte gewissenhaft seine Pflichttour ab, jeder sagte
mir dieselben abgedroschenen Dinge in den Pausen. Man führte mich ans
Büffet, gab mir Blumen, murmelte „allerliebst“. Und doch fühlte ich
mich steinunglücklich; der Boden brannte mir unter den Füßen. Ich
flüchtete in einen verlassenen Winkel und von mitleidigen Palmen halb
verdeckt, stellte ich meine Betrachtungen an.

Mama wirbelte am Arm eines schwarzen Offiziers vorbei, strahlend,
entzückt. Und all’ die Andern bewegten sich so frei und unbefangen.
Sie lächelten, machten so fröhliche Gesichter, daß man meinen mußte,
sie unterhielten sich. Wirklich? -- Daran also finden die Menschen
Vergnügen? Nun denn, dann hatte ich eben mit der Menge nichts gemein.
Nein, wahrlich, nach dem Lorbeer einer Ballkönigin dürstete mich nicht.

„Vincenz!“ Meine Gedanken flogen in das kleine Zimmer, das er mir
beschrieben. Dort saß er am Schreibtisch, bis spät in die Nacht hinein
in seine Bücher vertieft. Ab und zu wirft er wohl einen Blick auf mein
Bild, auf die Braut, die niemals sein Weib wird. Er will es nicht:
„Kranke Menschen handeln gewissenlos, wenn sie heiraten“. So werd’ ich
verblühen, hinwelken, denn mein Gärtner pflückt mich nicht.

Die Kehle wird mir trocken, die Lider fallen mir schwer über die
Augen; ich höre noch Roberts meckerndes Lachen, dann schlafe ich ein.

Ein leichter Schlag auf meine Schulter, und ich fahre aus meinen
Träumen auf. Mama steht vor mir, glühend, noch erhitzt vom Tanz,
und merkt nichts von meiner Verstimmung: „Es ist gut, daß Du Dich
abkühlst; wir fahren bald.“ Als aber ein Offizier heranhüpft und mit
unwiderstehlicher Miene bittet: „Nur noch eine Tour, Baronin“, läßt sie
sich neuerdings entführen. Es folgte noch gar manche Tour. Der Morgen
lugte bereits farblos durch die Bogenfenster, und das Orchester spielte
träge -- als „Baronin Mutter“ ausgetanzt hatte.

       *       *       *       *       *

Ein dünnes, schwarzes Büchlein. Ich habe es in Papas Lade gefunden
und an mich genommen. Jetzt begreife ich so Manches! Du armer Toter!
Du hast meine Mutter geliebt: Du, hast Dein warmes Herz an einen
Marmorfelsen gebettet, bis es erstarrt. Immer mehr entfremdete Dich
das schale, oberflächliche Wesen Deiner Frau, und dann kehrtest Du zu
Emilie zurück: dann hast Du bei der Toten gesucht, was Dir die Lebende
versagt.

Welch’ tiefes, reines Gemüt sich in seinen Gedichten offenbart.
Einer strengen Censur hätten sie kaum Stand gehalten, aber ich fand
sie unvergleichlich schön. Eine förmliche Chronik seiner Liebe. Das
zagende, halb unbewußte Erwachen, die Unsicherheit, die Zweifel
am eigenen Glück, das allmähliche Anwachsen der Flut, das wilde,
rücksichtslose Aufschäumen. Das ganze „Ich“ gerät in Aufruhr, eine neue
Welt ersteht den Zweien, die außer sich nichts sehen, eine Welt so
zauberumflossen, so traumhaft schön, daß das Jauchzen auf den Lippen
erstirbt und Tränen in den Augen schimmern: „Zu viel, zu viel“. -- Da
ein Krach, ein Getöse mitten in die wonnevolle Lenznacht, ein jähes
Aufleuchten, plötzliche Finsternis -- eine öde Wüste ohne Ende und im
Sand ein Grabstein, darauf geschrieben steht: „Vorbei“.

„Emilie.“ Ich betrachte das Miniaturbild und kann mich nicht losreißen
von dem bezaubernden Gesicht. So jung und morgenfrisch, so blendend
schön -- und fort zu müssen -- mit ewig ungestilltem Sehnen. -- --

Mama unterbrach meine Betrachtung: „Glaubst Du, daß Oberst von Bittau
mir einen Antrag machen wird?“

„Ja, das weiß ich wirklich nicht. Denkst Du daran, zu heiraten, jetzt
schon, so bald nach -- -- --“

„Immer diese übertriebenen Sentimentalitäten! -- In meiner ersten
Ehe hab’ ich nur Böses erfahren; ich möchte auch einmal das Leben
von der angenehmen Seite kennen lernen. Oder soll ich vielleicht
warten, bis ich alt bin und mich Keiner mehr nimmt? Ich finde das
sehr sonderbar. -- -- -- Der Oberst“, fuhr sie fort, „ist sehr
vermögend, hat eine Stellung und ich -- gefalle ihm.“ Letzteres mit
gretchenhaft-verschämtem Blick. „Er sagte mir, daß ich einen selten
kleinen Fuß habe und unergründliche Nixenaugen.“ In dieser Art gieng
es fort. Wahrlich, ich gönnte ihr den Triumph, aber es irritierte mich
über die Maßen, daß sie so wenig ~fond~ und Geist besaß, um so „naiv“
zu sein. Und Papas Bild blickte uns so traurig an, als wollt’ es sagen:
„So bald vergessen? So bald schon? Ich dacht’ mir’s wohl.“

„Sie aber blieb unerbittlich. Sie baute Luftschlößer und malte sich
ihre zukünftige Existenz bis in die kleinsten Details aus. Sie
würde Equipage haben und zweimal wöchentlich empfangen -- in weißen
Glacéhandschuhen.“

„Aber das sind doch nur Nebensachen.“

„So, also mein Glück ist Nebensache?“ Sie gieng mit erregten Schritten
im Zimmer auf und ab. „Wann endlich wird man mich in Ruhe lassen? Ich
bin doch kein Kind mehr“ und sie pflanzte sich vor mir mit der Miene
einer Prophetin auf: „Und ich werde doch heiraten.“

„Natürlich, wie Du willst. Ich gehe dann nach Steindorf.“

„Meinethalben. Übrigens wäre es klüger, Du bliebest bei uns. Wir würden
ein großes Haus machen und trachten, daß Du einen Mann bekommst.“

Jetzt war es aber zu Ende mit meiner Geduld. „Gib’ Dir deshalb nur
keine Mühe. Ich teile gar nicht Deine Ansicht, daß es das höchste Glück
ist „einen Mann“ zu finden. Auf den Heiratsmarkt lasse ich mich nicht
schleppen, da mußt Du schon allein gehen.“

„Du abscheuliche Person! Das hat man davon, wenn man es gut mit Dir
meint. Du wirst mich noch ins Grab bringen.“ Ein paar Staffagetränen,
gerungene Hände, zugeschlagene Thüren, damit endeten in der Regel
unsere unerquicklichen Diskussionen.

       *       *       *       *       *

Mama, im Banne ihrer fixen Idee, ließ uns mehr Freiheit. Wir lasen
und plauderten miteinander wie in alten Zeiten und doch schwebte
unheildrohend über unserem Glücke eine dunkle Wolke. Wenn sich unsere
Hände berührten, zuckten wir zusammen und wenn er seine leuchtenden
Augen in die meinen senkte, durchlief es mich heiß. -- Unsere Liebe
hatte jenen Grad erreicht, wo die Sehnsucht nach dem Besitz erwacht und
wir wußten Beide, daß wir einander nie gehören durften.

Vincenz Leiden hatte sich verschlimmert und dazu kam, daß er sich
aufrieb im Kampfe zwischen Pflicht und Leidenschaft. -- Er suchte
mich zu täuschen, konnte aber nicht verhindern, daß er oft jählings
erbleichte und nach Atem rang.

Diese bösen Symptome machten mir große Angst. Ich beschwor ihn, seine
Praxis aufzugeben, sich eine zeitlang zu schonen und in einem wärmeren
Klima Heilung zu suchen. Lange sträubte er sich gegen diesen Plan --
die Idee einer Trennung schien ihm unerträglich, aber schließlich gab
er nach.

„Weißt Du noch Mimi, wie Du betetest um meine Gesundheit? Damals in
der Kapelle. Ich war tief gerührt. Jetzt stehen die Dinge anders. Du
warst eine gelehrige Schülerin: es werden Dir’s Wenige nachmachen.
Und glaubst Du, verdiene ich einen Vorwurf, daß ich Dir Licht und
Erkenntnis brachte?“

„Du nahmst mir einen Halt, Vincenz und anfänglich schien es mir
grausam. Jetzt bin ich Dir dankbar, daß Du das Wahngespinnst zerrissen
und mir die Wahrheit gezeigt hast.“

„Ja, es war nur der erste Schritt, der Dir schwer wurde. Aber dann muß
es Dir wie eine Erleichterung geschienen haben. Früher, da führten sie
Dich am Gängelband, da durftest Du nicht rechts und nicht links sehen.
Immer gradaus hieß es marschieren, und keine von den Blumen pflücken,
keine der Früchte brechen, die Dir so verführerisch entgegenwinkten.
-- Jetzt darfst Du Dich frei bewegen und beiseite schleudern, was sich
Dir hemmend in den Weg stellt. -- Jeder Grashalm, jeder Käfer erzählt
Dir eine Geschichte und jedes neue Blatt im Buche der Natur enthüllt
Dir große Wunderdinge. Früher Sklave, jetzt frei. -- -- Und um wie
Vieles consequenter sind wir, als Jene, die nicht zwei übereinstimmende
Erklärungen für ihre Thesen aufbringen können. Sie wissen, daß der
Mensch an Gottes unerforschlichen Ratschlüssen nichts zu ändern
vermag, und versuchen ihn durch Gebet und Gelübde. -- Sie rufen den
Barmherzigen an und preisen den Grausamen. Sie fürchten, zu hohen
Genuß am Leben zu finden, sich durch irdische Gesinnung die Thore des
Himmels zu verschließen: dabei beben sie vor dem Tod, obwohl gerade der
sie ihrem Ziele näher bringt.“

„Ja, Du hast Recht.“

„Wir denken viel logischer. Es fällt uns nicht ein, Gnade von der
„Natur“ zu erflehen, und wenn uns Böses trifft, dann ziehen wir sie
auch nicht zur Verantwortung. Unsere Göttin ist viel zu erhaben, sie
steht auf viel zu hohem Piedestal, um sich mit den kleinlichen Wünschen
der Einzelnen zu befassen. Lächelnd oder zürnend, handelt sie nach
ewigen Gesetzen, stets das Ganze im Auge behaltend. Sie schafft mit
Feenhänden und zertrümmert mit Keulenschlägen, sie ist Gott und Dämon
zugleich. „Lernt mich kennen, forschet“, ruft sie uns zu „und wir
entdecken täglich neue Reize an der Uralten, Ewigjungen. -- Wir wissen,
daß wir nur ein positives Gut, die Gegenwart, besitzen, und darum
verstehen wir zu genießen.“

„Es ist wahr. Jede neue Entdeckung auf diesem Gebiet erfüllt mich
mit einer Freude, die ich früher nicht gekannt. -- Es kommt mir vor
wie Blitze, die ins Dunkel leuchten und ich bin Jenen tief dankbar,
die unser Wissen bereichern. Es ist kein unsicheres Tasten mehr auf
trügerischem Boden, sondern ein ruhiges, angstloses Gehen.“

„Nun, dann kann ich mit meinem Werk zufrieden sein.“

       *       *       *       *       *

Robert umschwärmte seit geraumer Zeit seine Ballbekanntschaft, die
exotische Marquise. Alles an ihr war eigenartig -- Name, Erscheinung
und auch die verschiedenen Legenden, die sich um ihr kleines,
puppenhaftes Figürchen rankten. Sie war Spanierin von Geburt, nach
dem fernen Westen übersiedelt, und man faselte von ihren ungeheuren
Schätzen -- Plantagen sagten die Einen -- Goldminen behaupteten die
Andern und wichen nicht von ihren Fersen.

Früher hatten nur blonde, blauäugige Frauen für ihn existiert, jetzt
galt nur mehr der südliche Typus. -- -- Er schien allerdings etwas
piquiert über die Bereitwilligkeit, mit der ich meiner Nachfolgerin
das Feld räumte, im Übrigen besaß er nun zu wenig Zeit, um darüber
nachzudenken. Der Kopf schwirrte ihm von Hofbällen, diplomatischen
Soiréen und von seiner ersten Audienz -- einem inhaltschweren Ereignis
im Leben eines Lieutenants. Das würden noch sicher seine Kindeskinder
zu hören bekommen, etwas ausgeschmückt natürlich.

„Ich habe mit Vergnügen gesehen, daß Sie zu unseren eifrigsten Tänzern
zählen.“

„Kaiserliche Hoheit“, versetzte er schneidig „es ist aber auch eine
Passion, mit unseren Aristokratinnen zu walzen“, worauf die Hoheit
scherzend mit dem Finger drohte: „Ja, solch’ junges Blut!“

Roberts pausenloses Geschnatter ermüdete mich stets. Das gieng in einer
Leier fort wie eine Mühle, ohne Beistriche, ohne Punkte, immer im
nämlichen Tonfall. Und wie kindisch er war! Glaubte er denn wirklich,
daß Donna Trinidad die weite Reise über’s Meer gemacht, um gerade ihn
zu erorbern? Es gab ja so viele Lieutenants in der Armee: da half weder
das verschwenderisch pomadisierte Flachshaar, noch die funkelnden
Lackstiefletten und das Goldbracelet. Damit wollte er nämlich ihre
Eifersucht wecken.

Merkwürdig blieb nur die Tatsache, daß sich kein wirklich reicher
Bewerber fand und sie die Anderen in Bausch und Bogen mit souveräner
Geringschätzung behandelte.

Donna Trinidad war wie so manche exotische Größe, über die man keine
bestimmten Anhaltspunkte besitzt, aufgetaucht wie ein Meteor, um
alsbald zu verbleichen. Sie glänzte mit erborgtem Lichte und hatte
Uneingeweihte zu blenden vermocht, darunter Robert. Eines schönen Tages
war sie verschwunden auf Nimmerwiedersehen; der Hôtelier war um ein
paar tausend Gulden ärmer und um eine Erfahrung reicher.

Der Vetter wetterte und tobte über die Blamage und bedachte sich
einsichtsvoll mit dem Attribute „Wurze“, und die anderen Courmacher
wußten auf einmal die ärgsten Schaudergeschichten über die
„Talmi-Marquise“ zu erzählen.

„Ja, ein Pechvogel muß man sein“, resumierte der enttäuschte Robert
sein Abenteuer, „unter einem Unglücksstern geboren, wie ich. Ich kann
schon einmal unternehmen, was ich will, es wird mir immer mißlingen.“

Mama, die ihre Taktik ihm gegenüber geändert, suchte ihm Mut
zuzusprechen. Sie hatte ihm großmütig verziehen, daß er ein „Steindorf“
war, denn sie bedurfte seiner, um Reclame im Regiment zu machen.

Es ist etwas Eigentümliches um den Ruf, den Einem die Leute machen.
Zuerst sagt Einer so ganz obenhin etwas Lobendes, die Andern sprechen
es ihm nach; Keiner zweifelt mehr daran, oder wenn er es tut, so
schweigt er. Das Urteil wächst, verbreitet sich nach allen Richtungen,
und eines schönen Tages ist es zur öffentlichen Meinung geworden: auf
dieselbe Art wie das Klatschspiel, das Volkslied. Alle singen sie die
nämliche Weise, die Menschen, und die Spatzen auf dem Dache.

Damit rechnete Mama. Wenn dem Oberst nur Gutes, Schönes über sie
zu Ohren kam, mußte ihn das erweichen, zur Entscheidung bringen.
Und Robert war leicht zu gewinnen: ein paar gute Diners, ein paar
Schmeicheleien, und gar wenn man ihn mit einigen Gräfinnen bekannt
machte, hatte man ihn auf seiner Seite.

Von ausländischen Marquisen wollte er nichts mehr wissen: es war doch
weniger riskiert, sich an den einheimischen Adel zu halten.

       *       *       *       *       *

„Ja, ja die Intoleranz! Du wirst sie nirgends häufiger antreffen, als
bei den unteren Schichten. Das Pharisäertum ist ein weitverbreitetes
Übel. Es verursacht ein so angenehmes Prickeln, in unnahbarer Tugend
die Schwächen Anderer zu verurteilen.“

„Aber da sollte doch der Pfarrer“ -- --

Gewiß, als der Berufenste den Leuten ins Gewissen reden. Doch sieh’
Dich um, wer bekleidet in den Landgemeinden das Seelsorgeramt?
Bauernsöhne, die sich durch das kurze Studium einen gewissen Schliff
angeeignet haben, eine halbe Bildung. -- Wie oft sind ihnen nicht
einmal die schönsten Worte verständlich: „Liebe Deinen Nächsten wie
Dich selbst.“ -- „Und“, fuhr Vincenz mit Wärme fort, „hat doch gerade
dieser einzige Satz den größten Reformator aller Zeiten unsterblich
gemacht. „Liebe, Nachsicht und Vergeben“; wie viel ließe sich darüber
sagen. Hast Du den Schwanberger näher gekannt?“

„Seid ich ungehindert mit den Steindorfer-Leuten verkehrte. Ich hörte
zu seinen Lebzeiten auch nur Lobendes über ihn. Er war ein harmloser,
arbeitsamer Mensch und hatte eine kindische Freude mit seinem Haus und
seinem Gärtchen.“

„Und da kam die Krankheit? Und sie wollten keinen andern Arzt, als den
gewohnten. Vielleicht hätt’ ich ihm helfen können. Ja, das Mißtrauen.“

„Also seit der Zeit war er wie ausgewechselt. Die Frau erzählte mir,
daß er stumm vor sich hinstarre und zeitweise vor Schmerz brülle. Es
sei nicht zum Anhören.“

„Da ist’s doch nichts so Unbegreifliches, daß er sich erhenkte. -- Die
erste Regung, sollt’ man meinen, müßte die des Mitleids sein. Statt
dessen, nicht einmal aufgebahrt.“

„Die Tante schreibt’s genau“ und wir suchten die betreffende Stelle des
Briefes. „Was sie plötzlich Alles über ihn wußten. Er sei auch Keiner
von den Saubersten gewesen, hätte oft die Elle zu teuer angerechnet
u. s. w.“ Die Huberin konnte sich von ihrem frommen Entsetzen kaum
erholen: Sie schlug ein Kreuz um das andere. „Na so a Sünd, i sags
ja alleweil, wann der Mensch kein Glauben mehr hat, nachher verlaßt
’n unser Herrgott.“ Und der ~comble~ -- hielte man solche Roheit für
möglich? -- der eigene Bruder versetzte dem Leichnam eine schallende
Ohrfeige. „Da hast es für die Schand’, dies’t uns antan hast.“ Alle
weichen der Witwe aus und Niemand will bei ihr kaufen. Ich hatte den
Pfarrer ersucht, die Leute ein wenig zur Einsicht zu bringen, doch da
kam ich schön an: „Das darf man ja nicht entschuldigen, sonst machen es
die Andern nach.“

„Brillantes Argument, wirklich wahr“, bemerkte Vincenz spöttisch. „Am
Ende hängt doch auch der Elendste am Leben und wenn er es von sich
schleudert, muß er über alle Begriffe verzweifelt sein. -- Da sollte
sich dann kein Stückchen geweihte Erde -- die armen Leute halten so
viel darauf -- finden, nicht ein paar erbarmungsvolle Hände, die den
Hügel mit Blumen schmücken -- ist das nicht unmenschlich?“

„Und Christus hat doch gesagt: „Richtet nicht“ -- mir scheint, Du hast
Recht, Jedes macht sich seine eigene Religion zurecht.“

„Das ist eben die Heuchelei. Es gibt leider so erschreckend viel
Morsches in der heutigen Zeit: sowohl Menschen als Ansichten. Alles
angefressen, baufällig. -- Wenn jetzt der Messias käme, mit der Geißel
in der Hand, seinen Tempel zu reinigen -- der fände viel zu tun.“

       *       *       *       *       *

Beharrlichkeit führt zum Ziel. Mama hatte sich mit dem Obersten
verlobt. Jetzt, da sie alle Rechte auf meine Person aufgab, freute ich
mich sogar im Geheimen darüber. -- Unser Zusammenleben war mir eine
wahre Qual geworden. Meine Nerven rebellierten schon, wenn ich sie im
Nebenzimmer hörte. -- Wir Beide paßten nun einmal nicht zu einander.

Sie gab sich mit großem Eifer den Vorbereitungen für die Hochzeit hin.
Mir fielen schon die Augen vor Müdigkeit zu und sie erzählte mir noch
immer von ihrem Bräutigam. „Er ist so rücksichtsvoll“, versicherte sie
mir „und wenn er zu den Leuten von mir spricht, sagt er immer nur die
„Gräfin“. Und am Ende, man bleibt ja auch das, als was man geboren ist.“

Ich fühlte mich zu schläfrig, um ihr zu erwidern, daß ich das höchst
seltsam finde. -- Es ist gewissermaßen herabsetzend für den Mann. Wenn
Vincenz -- -- dann hätte ich mich gewiß nicht „Baronin“ titulieren
lassen.

„Die Wohnung wollen wir uns sehr schön einrichten,“ berichtete sie
weiter, „aber ich kann doch nicht nur annehmen und nicht selbst dazu
beitragen. Findest Du nicht?“

„Das weiß ich nicht. Das mußt Du doch besser verstehen!“

„Besser verstehen! Hm, das ist leicht gesagt.“ Sie zupfte nervös
an ihrem Taschentuch. -- -- „Ich habe gehofft, Du würdest mir mehr
Entgegenkommen zeigen.“

„Wieso? -- Ah, Du meinst, ich soll Dir meine Einrichtung überlassen.
Das kann ich aber nicht. Es ist ja jedes einzelne Stück inventarisch
aufgenommen.“

„Nun deshalb? Es kann ja heißen, Du habest die Sachen zu mir in
Depôt gegeben. Doch besser, als die Motten zerfressen sie. Und wenn
Du großjährig bist, kannst Du darüber nach Gutdünken verfügen, sie
mir nehmen oder lassen. Es ist eigentlich sehr sonderbar von Papa
gewesen.“ --

„Bitte, laß Papa aus dem Spiel. Nimm’ die Möbel. An so was hängt mein
Herz nicht mehr. Ich schenk’ sie Dir.“

       *       *       *       *       *

Der Tag, an dem Vincenz nach Veldes reisen sollte, war gekommen. Wir
saßen stumm nebeneinander, und schwül schwebte das Unausgesprochene
zwischen uns. Er brach zuerst das Schweigen, und wir sagten uns jene
Dinge, die sich Liebende stets zu sagen pflegen, wenn sie von einander
Abschied nehmen.

„Versprich mir, schone Dich, lebe nur Deiner Gesundheit, Vincenz. Die
Ärzte sagten doch, daß Du noch ganz geheilt werden kannst?“

„Die Ärzte“, erwiderte er sinnend, „ja, ja, die sagten es“.

„Warum dieser seltsame Ton. Bist Du nicht überzeugt davon?“

„Und wenn ich dann also ganz gesund zurückkomme -- und Du gib nur auch
recht Acht auf Dich.“

„Und schreib’ mir oft, aber nur, wenn es Dich nicht ermüdet.“

„Und Du mir auch. Als ob Du zu mir sprächest. Du weißt, mich
interessiert Alles, was mit Dir im Zusammenhang steht.“

„Versprich’ mir, daß Du oft an mich denken wirst.“

„Mimi, ist das wirklich nötig? Glaubst Du denn, ich könnte anders.“ Er
stand auf und trat ans Fenster. „Es ist schwül, findest Du nicht?“ Dann
betrachtete er mich aus der Entfernung. „Wie Du wieder hübsch bist,
Mimi.“ Und plötzlich kniete er vor mir, und den Kopf in meinem Schoß
geborgen, stöhnte er auf wie in namenloser Qual. Feurige Küsse brannten
auf meinen Armen, meinem Hals, und er stammelte trunkene Liebesworte.
-- So hatte er sich nie hinreißen lassen. Ich wehrte mich nicht --
es war ja Sommer -- und zum letztenmal. -- Dann kam ihm die Besinnung
wieder. Er sah mich an mit einem Blick, in dem sich Zärtlichkeit
und Mitleid spiegelte, und flüsterte: „Verzeih“. Noch ein Kuß, ein
Händedruck, und ich war allein.

Da machte sich mein tapfer verhaltener Schmerz Luft. Ich warf mich auf
den Boden und küßte die Stelle, auf der sein Fuß gestanden. Ich preßte
meine Lippen auf seinen Sessel, da wo sein Arm geruht, und heiße Tränen
stürzten mir aus den Augen. „Du mein Geliebter, kehr’ mir wieder -- ich
kann nicht sein ohne Dich, ich kann nicht.“

Und die Zimmer wurden schon ausgeräumt; auch dieses kam bald daran.
Hier, wo wir so viel trauliche Stunden verbracht, wo unsere Geister,
unsere Herzen eines waren, wo wir uns so nahe gewesen. -- -- Alles aus
-- -- Alles verloren, bis auf die Erinnerung.

Mein Herz hieng doch an diesen Dingen!

       *       *       *       *       *

Mamas Hochzeit hatte stattgefunden, und Tante Laura zog mit mir ins
Hôtel, da ich noch vor meiner endgiltigen Übersiedlung nach Steindorf
Einiges in Wien zu tun hatte.

Die ganze Zeit über konnte ich ein Gefühl der Ohnmacht und
Hilflosigkeit nicht loswerden. Es zog mich mit Übermacht zu Vincenz:
dort wäre ja mein Platz gewesen -- aber nur so etwas nicht! Die
Satzungen der Gesellschaft hätten mich verdammt -- es gibt eben
Schranken, die man nicht überschreiten darf.

Dumpfe Bitterkeit erfüllte mich: zum erstenmale empfand ich Haß gegen
meinen Stand. Wie beneidete ich die Armen an Geist, die Einfältigen,
die als einzige Richtschnur ihres Handelns das Gefühl kennen. Ja das
erste beste Bauernmädchen durfte tun, was mir versagt blieb. Zum
Geliebten eilen, ihn pflegen, während so -- -- „o die verwünschte
Krone“, -- ich fuhr mir mit den Händen ins Haar, als ruhe dort das
Ungetüm, als könnt’ ich es mit festem Griff erfassen, zur Erde
schleudern und mit Füßen treten.

In wahrem Fieber erwartete ich die tägliche Post und wenn ein Brief
kam, hielt ich ihn doch zagend und uneröffnet in der Hand. Ich
befühlte, besah ihn nach allen Richtungen und las, wenn der Umschlag
entfernt, vorerst nur einige Worte. Dann schloß ich mich in meinem
Zimmer ein, vertiefte mich in die geliebten Schreiben, las und las
immer wieder, bis ich sie auswendig konnte. Es waren stille süße
Träumereien, an die wir Beide nicht glaubten und die uns doch so wohl
taten, so unendlich wohl.

„Ist’s nicht töricht“, schrieb er unter Anderm, „an Dinge sich zu
klammern, auf die man kein Recht hat. Ein junges frisches Reis darf
sich nimmer an einen kranken Baum lehnen. Du bist der Frühling, die
Jugend und Gesundheit -- ich begnüge mich damit, wenn ein Strahl aus
Deinem Wesen das meine verklärt. -- -- Es scheint mir gerade das die
Weihe unseres Verhältnisses -- es wird ewig Knospe bleiben, rein und
unbefleckt.

Und doch, wenn’s anders wäre, anders sein dürfte! In stillen
Dämmerstunden, wenn der Tag Abschied nimmt von der Erde, da mal’ ich
helle Bilder. Du weißt, ich lieb’ das Licht. Mein Ideal -- etwas
hausbacken und altmodisch zwar, aber so lieblich, so ewigwährend. Ich
bin Deine Stütze, Du mein guter Geist und meine gute Stunde. Die Tage
gehen dahin so wolkenlos, so friedlich -- und doch so reich.

Doch plötzlich rückt dies sonnige Bild in weite, weite Ferne. Nein,
die Rose darf nur blühen, uns entzücken durch Duft und Farbe. Aber
Früchte tragen, Brennholz liefern für den häuslichen Herd! Es wär’ ein
unsinniges Verlangen. -- -- Das Unerreichbare! Mein Mädchen, wir werden
uns nie gehören.“

Was das aber heißt, sich lieben und -- entsagen, das vermögen nur
Solche zu begreifen, die es selbst durchgemacht. -- Es ist ein
langsamer, aber sicherer Tod -- ein Absterben bei lebendigem Leibe.
-- Tante Laura wußte davon zu erzählen und sie verstand mich. „Siehst
Du, ich hätte Dir so gern das Leid erspart: aber es gibt Kräfte,
die stärker, zwingender sind, als guter Wille. -- Du siehst sehr
angegriffen aus und da Dein Doktor nicht da ist, um seinen Rat zu
erteilen, muß ich wohl seine Stelle vertreten.“ Sie sagte es mit ihrem
sanften müden Lächeln. „Ich verordne Dir eine Praterfahrt. Komm’, der
Wagen wartet schon.“

Ich tat wie sie mich hieß: die frische Luft und das heitere Treiben
der Menge taten mir gut. Für Momente entriß es mich den quälenden
Vorstellungen.

„Also in einer Woche fahren wir nach Steindorf?“

„Ja und bis dahin mußt Du wieder rote Wangen haben und lustig sein,
denn sonst -- Du weißt schon -- da werden allerlei Bemerkungen gemacht
und es heißt am Ende, ich hätte Dich vernachlässigt.“

„Aber Tante. -- Es ist doch eine Wohltat, daß ich mit Dir sein kann,
gerade jetzt. -- Wenn ich denke, wie es früher war, mit Mama. Nein.
Überhaupt die vergangene Zeit. -- Die schönen roten Nelken. -- Die muß
ich kaufen.“ Ich stieg aus und nahm der Blumenfrau ab, was meine Hände
fassen konnten. „Ein Duft zaubert mir bisweilen Momentbilder vor -- --
es hat doch auch schon schöne Stunden gegeben in meinem Leben: es wäre
undankbar gegen das Schicksal, wollt’ ich es vergessen.“

Die frohe Stimmung verflog sofort, als wir das Hôtel betraten. Der
Portier überreichte uns eine Depesche. „Bitte umgehend kommen. Habe
Sehnsucht zu sehen: Zustand nicht unbedenklich.“

„So?“ Ich frug es in erstauntem Tone, als erführe ich da etwas, was mir
im Grunde gleichgültig war. „Das heißt also „Gefahr“?“

„Wann geht der nächste Zug?“ frug die Tante. „In anderthalb Stunden.“
„Bitte ordnen Sie an, daß der Wagen bereit ist.“

Mir war, als hätte man mir einen Hieb auf den Kopf gegeben. Ich wankte
die Treppe hinauf, in mein Zimmer, setzte mich, und der Kopf fiel mir
schwer auf die Tischplatte. So verharrte ich minutenlang. Die Tante
sprach kein Wort. Sie mochte fühlen, daß Trostesworte hier nichts
fruchten würden.

Dann trat ich ans Fenster und betrachtete mechanisch das lebensvolle,
lichtdurchflutete Straßenbild. Ich hörte auf das gedämpfte Murmeln und
bemerkte die nebensächlichsten Dinge. Ein Dienstmann rannte an die Ecke
an und ließ sein Packet fallen. Ob wohl etwas Gebrechliches darin war
und was nun geschehen würde? Zwei Bekannte begrüßten sich. Was sie wohl
zu einander sagten?

„Tante!“

„Was denn Mimi?“

„Glaubst Du nicht, daß er doch noch gesund werden kann?“

„Die Hoffnung darf man nie verlieren, Mimi.“

„Aber, er wird doch nicht -- nicht“ -- nein das Wort wollte mir nicht
über die Lippen. „Oder wenn wir zu spät, -- ach Gott, ach Gott, wozu,
wozu das Alles?“ Der Gedanke an diese Möglichkeit machte mich halb
verrückt.

Fort sauste der Zug durch die schweigende, laue Nacht. Vorbei gieng es
an alten grauen Bergriesen, deren Häupter gespenstig zum Himmel ragten.
Und ich gedachte der Fahrten nach Steindorf und zurück ins Kloster, der
letzten, namentlich mit Papa. Die Tränen, der närrische Kinderschmerz
-- o wie gern hätt’ ich das Alles nochmals durchgemacht: wie schien es
mir beneidenswert gegen diese Fahrt. Was wußt’ ich damals vom Leid und
Ernst des Lebens: was waren alle meine kleinen Sorgen im Vergleich zu
dem, was ich jetzt empfand.

Das Bewußtsein, daß er litt, er der Beste, Edelste war mir
unerträglich. Lieber, tausendmal lieber wollte +ich+ krank sein. --
-- Ich bemühte mich etwas zu finden, das ihn mir weniger liebenswert
erscheinen ließe. Umsonst. Nie, nie hatte er mir auch nur ein einziges
unfreundliches Wort gesagt, mich niemals wissentlich gekränkt. Ich war
fest überzeugt, daß er überhaupt nicht fähig war, irgend Jemand weh zu
tun. Und er, der Gute, er. -- --

„Tante.“ Ich rüttelte sie aus dem Schlaf. „Er darf nicht sterben, er
darf nicht.“

Sie trachtete mich zu beruhigen und das Rollen der Räder, dieser
gleichmäßige Lärm lullte mich in einen bleiernen Schlaf, aus dem ich
erst erwachte, als greller Sonnenschein durch die Coupéfenster drang.

Ich wußte mich nicht gleich zu orientieren. Was war geschehen und wohin
wollte ich? Ach ja, ich entsann mich. Von neuem trat mir die ganze
unerbittterliche Tragik meines Geschicks vor Augen und ich wünschte,
ich wäre nie erwacht.

Auf dem Perron eilten die Leute durcheinander, meist elegante Damen,
die eine Vergnügungsreise machten. Sie lachten so lustig -- wie konnte
man nur lachen?

Heiterer Himmel, jubelnde Vögel, fröhliche Menschen, das Alles
vermocht’ ich nicht zu fassen. Es lag ja ein schwarzes Tuch über die
Erde gebreitet -- und über ein frisches Grab. -- Darin ruhten die
Wünsche, die armen Träume meiner 18 Jahre.

       *       *       *       *       *

Über das, was folgte, besitze ich keine Aufzeichnungen. Ich hätte meine
Feder ins Herzblut tauchen müssen, denn es gibt Empfindungen, die sich
nicht in Worte fassen lassen, Dinge die wiederzugeben, keine Sprache
der Welt fähig ist. Ein unbeschriebenes Blatt sagt oft mehr, als wäre
es bis an den Rand mit Buchstaben angefüllt.

Heute wo ich überwunden, will ich das Versäumte nachholen.

„Du mein ärmstes Mädchen, ich mach’ Dir solchen Kummer!“ Mit diesen
Worten begrüßte er mich. Sie hatten seinen Stuhl nahe ans Fenster
gerückt, an das dunkle Schlingrosen die vollen, duftschweren Häupter
lehnten. Ein sanftes Lüftchen kam vom See herauf und trieb sein Spiel
mit meinem Haar.

„Weißt Du noch Mimi, wie ich Dir die Verse Victor Hugos zum erstenmale
sagte? Willst Du sie nochmals hören?“

„Ja, Vincenz.“

    „~Les rayons du soleil vous baisent trop souvent,
    Vos cheveux souffrent trop les caresses du vent~“ --

„Ja, ich war eifersüchtig damals, ich wollte nichts hergeben von dem --
-- das -- -- und jetzt muß ich es doch lassen.“

„Vincenz sprich nicht so. Du wirst ja bald ganz gesund sein.“ Er las
den Zweifel in meiner Seele. „Nein, geben wir uns keiner Täuschung hin
-- seien wir wahr, wahr bis zum Schluß.“

Da legte es sich mir wie ein eiserner Reif um die Brust, immer enger,
immer fester, bald eisig kalt, bald glühend heiß. Ihn so reden zu
hören! Und er fuhr fort:

„Wir haben uns geliebt wie Wenige, und wenn ich jetzt fort muß, so
nehme ich nur schöne Erinnerungen mit. Vielleicht ist’s besser so.
Ein warmer Sommertag -- ein voller Akkord, ohne falsche Note ohne
Dissonanz. Sieh’, wie die Sonne untergeht!“ Es war ein großartiges
Schauspiel, und in dieser Minute wirkte es überwältigend auf mich.

Im fernen Westen taucht die Tagesherrin ihr glühendes Antlitz in die
kühle Flut, und der Horizont färbt sich im weiten Umkreis purpurn.
Goldige Strahlen breiten sich netzartig über die Wasserfläche, bald
ruhig gleitend, bald dahin tanzend wie tausend und abertausend
Kobolde. Die den See umrahmenden Felsblöcke scheinen mit einemmal
belebt; rötliche und lila Reflexe huschen dahin: es ist, als ob sich
ein Regen von Veilchen und Flieder über die starre graue Masse ergösse:
jeder Stein, jedes Sandkörnchen scheint in diesen warmen Farbentönen
gebadet, und die fernen, schneeigen Gipfel haben den zarten Schimmer
des Amethyst.

Kein Mißton, kein schrilles Geräusch. -- Eine Weihe liegt auf all’ dem
-- -- -- wie eine Ahnung der Unendlichkeit.

Unsere Blicke tauchten ineinander und Vincenz legte mir seine Hand
aufs Haar. „Es ist nichts Schreckliches ums Sterben -- es ist nur
-- so traurig -- besonders für die Zurückbleibenden. -- -- Ich habe
den großen Trost, daß ich meine Pflicht erfüllte, indem ich Dich
der Wahrheit gewann. Kopf hoch, mein Mädchen; immer mutig vorwärts,
unentwegt nach dem Rechten gestrebt.

Du bist noch sehr jung, und die Versuchung kann unter mancherlei
Gestalt an Dich herantreten. Sei nicht zu vertrauensselig -- nicht
Alle wissen solches Entgegenkommen zu schätzen. Wenn Du eines Rates
bedarfst, so wende Dich an Tante Laura. Da bist Du in guten Händen.“

So ermahnte er mich, die Verzweifelte, die schluchzend vor ihm kniete.

„Mach’ mir’s nicht zu schwer“, und dabei schimmerte es feucht in seinen
Augen. „Mimi -- und nun -- laß uns Abschied nehmen. Du warst mein
Sonnenstrahl -- mein Alles.“ Ich wollte ihn umfangen -- doch ein Krampf
durchfuhr ihn und verzerrte seine Züge. Er rang mühsam nach Atem --
dann sahen mich die braunen Augen nochmals an -- zum letztenmale, voll
unendlicher Liebe. „Hab’ Dank“ hauchte er matt. Er saß ruhig da -- und
doch fühlte ich, daß er mir genommen war.

       *       *       *       *       *

Silberner Mondenschein. Flüstern der Wellen, berückender Rosenduft. Im
nahen Busch klagt die Nachtigall.

    „Wie ein welkes Blatt vom Baume fällt,
    Geht ein Leben aus der Welt.
    Die Vögel singen weiter.“

Ich eilte in den Garten, pflückte ganze Garben roter Nelken und als
meine Hände die Menge nicht mehr zu fassen vermochten, tat ich sie in
mein Kleid: ich pflückte sie alle, die ich fand, und streute sie ihm zu
Füßen, daß es sich vor ihm auftürmte, wie ein glühendroter Berg.

Dann stand ich am Seeufer. Der war so blau und tief. Wer das Vergessen
suchte! -- -- Mir war, als riefen mich geheime Stimmen. -- „Ja, Ihr
sollt nicht vergeblich rufen -- ich komme.“ Schon hob ich die Arme,
schon stand ich im Begriff, den tötlichen Sprung zu tun -- da hielt
mich eine Stimme, eine menschliche Stimme zurück. „Denk’ an ihn --
keine Feigheit -- sei ein ganzer, starker Mensch.“

Tante Laura hüllte mich in ihren Shawl und ich ließ mich willenlos ins
Haus führen.

„Sag’ mir Tante, klingt es nicht wie Hohn -- oder ist es eine Fabel?
„Sommer, Jugend -- Glück!““



Dritter Abschnitt.


Mein erster wilder Schmerz war einer stillen Wehmut gewichen. Kein
Grauen, keine Furcht, wie damals bei Papa’s Tode mengte sich in das
Andenken des geliebten Verlorenen. Ich hatte seine Möbel in mein Zimmer
bringen lassen und vertiefte mich oft stundenlang in den Anblick der
Dinge, die ihn einstmals umgaben.

Ich konnte mich noch immer nicht entschließen, meine früheren
Beschäftigungen aufzunehmen: es kam mir Alles so reizlos, so
überflüssig vor. Wozu denn auch? Für wen?

Da, eines Tages erwachte ich aus meiner Apathie. Die Tante sang -- zum
erstenmale wieder seit langer Zeit. Sie besaß keine besonders starke,
aber eine gutgeschulte, ungemein sympatische Stimme. Voll und ernst
schwebten die Töne durch den einsamen Raum -- es war das vielgeschmähte
und doch so schöne „Behüt’ Dich Gott.“ Ich fühlte, daß sie ihre Seele
hineinlegte in das Lied, denn es klang daraus wie klagender Verzicht,
ergebungsvolle Trauer. Und meine Gleichgültigkeit schwand, um einem,
noch undeutlichem Verlangen Platz zu machen, zu arbeiten, zu leisten.

Als sie geendet, saß sie eine Weile gedankenversunken vor dem
Instrument. Es lag eine Weihe in diesem Schweigen. Dann sagte sie wie
für sich: „Die Musik, wie Vieles dank’ ich ihr! Sie weckt das Schöne,
Edle in uns, sie tröstet, verleiht uns Tatkraft, -- vermehrt unsere
Zuversicht -- sie,“

„Nicht wahr Tante, gerade in diesem Moment hab’ ich Ähnliches
empfunden. -- Tatkraft -- ich glaube, das ist es. Ich möchte auch
anfangen, wie soll ich nur sagen, etwas unternehmen,“

„Ich verstehe, was Du meinst. Komm’, gehen wir in den Garten; dort
spricht sich’s besser.“

„Gehen wir“, und ich schob meinen Arm in den ihren.

„Weißt Du Mimi“, begann sie nun, „daß ich diesen Augenblick mit
einer gewissen Ungeduld erwartet habe? -- -- Ich sah, wie Du Dich
in aufreibenden Träumereien ergiengst, und fand es doch grausam,
Dich gewaltsam wachzurütteln. Aber jetzt, da Du den Anfang machst,
wollen wir uns ruhig besprechen. Mir war ja einmal gerade so zu Mut
wie Dir, -- vielleicht noch schlimmer. Auch ich klagte innerlich
über die Nutzlosigkeit des Daseins, bis ich begriff, daß es keinen
schöneren Zweck gibt, als immerfort zu handeln in den Intentionen eines
geliebten Toten. -- „Ein ganzer Mensch, der geradaus geht, immer dem
Rechten nach, ohne nach rechts und links zu sehen,“ das war ja sein
Vermächtnis. -- Was hindert Dich, die Erbschaft anzutreten?“

„Tante, ich danke Dir.“ Dem was nur ~vague~ und verschwommen mein
Inneres erfüllt, hatte sie Ausdruck verliehen, und wie mit einem
Zauberschlag den Bann gebrochen. Und die Beiden, die nun schon lang
geschwiegen, Willenskraft und Pflichtgefühl, erwachten in erneuter
Stärke. „Du mußt mir helfen, Tante. Ich will trachten, Dir’s nicht
schwer zu machen.“

Wir waren in eine Seitenallee eingebogen, und machten dort Halt, wo
von blühendem Buschwerk halb verdeckt, ein weißes Marmordenkmal stand.
Hier ruhte die Urne mit seiner Asche. Leise drang das Schluchzen der
Nachtigall zu uns herüber, und die Nelken, die roten Nelken, die den
kalten Stein umgaben, glühten in stillem Feuer.

Ich blickte auf zum blauen Himmel -- dort funkelte es goldig. Und
diese Myriaden Welten ziehen ruhig und unbekümmert ihrer Wege. Heute
strahlen sie im hellsten Licht, und morgen schon vielleicht sind sie
zersplittert, zertrümmert in Atome.

Leuchtend taucht der Mond hinter den Buchenwänden auf und wirft
seinen magischen Schimmer auf die weißen Steinfiguren in den Nischen.
Ein weiches Lüftchen umweht uns, und um die duftenden Betunienbeete
schwirren lüsterne Nachtfalter, summend, surrend.

Mir ward mit einemmal so wohl und leicht um’s Herz, als gäb’ es keine
Trennung.

„Versprich ihm Mimi, daß Du Deinen Vorsatz halten willst. Schließ ab
mit dem Alten: mach’ einen Strich darunter, wie nach einem fertigen
Capitel. Dann soll morgen ein neuer, und wir wollen hoffen, schöner
Abschnitt Deines Lebens beginnen.“

       *       *       *       *       *

„Zur Einleitung muß ich Dir eine traurige Geschichte erzählen, die Du
genau noch nicht kennst“, begann die Tante tagsdarauf. „Ich war ein
Mädchen, nicht besser und nicht schlechter, als die einmal geltende
Schablone es von gewissen Gesellschaftsklassen erfordert. Ich lebte in
den Tag hinein, sprach mein Morgen- und Abendgebet, gieng Sonntags in
die Kirche und fügte mich in Allem und Jedem den Beschlüssen meiner
Eltern, wie es die gute Sitte erfordert.

Ich war 23 Jahre alt. Da lernte ich ihn kennen -- in einer größeren
Gesellschaft. Wir sprachen nur wenige Worte und doch war es mir, als ob
wir zu einander gehörten, Eines wären schon seit Langem.

Im ersten Rausche überlegte ich nicht lange. Wenn die Meinen sahen,
wie sehr wir uns liebten, würden sie ihre Einwilligung geben und sich
darüber hinwegsetzen, daß er ein Jude war.

Wir trafen uns von nun an häufig. Dann kam er und hielt um mich an.

Mir wurde es zu eng im Zimmer; ich eilte in den Garten, um dort das
Ende der Unterredung abzuwarten. Es dauerte nicht lange. Er kam über
die Terrasse, leichenblaß, und wollte an mir vorbei. Ich rief ihn an;
er fuhr zusammen:

„Du hier? -- -- Nun denn, leb’ wohl. Wir dürfen einander nicht gehören;
es ist soeben im Familienrat beschlossen worden.“ Dabei zuckte es
schmerzlich um seine Mundwinkel.

„Du sprichst doch nicht im Ernst?“

„Es wäre wohl ein schlechter Scherz. Du kannst Dich ja selbst
überzeugen. Sie sitzen Alle beisammen im Ahnensaal, die Großeltern und
Dein Bruder. Es paßt ihnen nicht -- ich bin ein frecher Eindringling --
wir sollen nicht glücklich werden.“

Ich hatte seinen Arm gefaßt. „Ja, es heißt Abschied nehmen, Laura --
vergessen“, setzte er mit bebender Stimme hinzu. „Gib mir -- doch
nein -- nicht einmal die Hand -- Du würdest Dich besudeln.“ Und alle
Selbstbeherrschung beiseite lassend, barg er das Gesicht in die Hände
und stöhnte laut auf.

Ich küßte ihn und versprach, niemals von ihm zu lassen.

„Armes Kind, Du versprichst mehr, als Du halten kannst. Es gibt
Gesetze, die stärker sind als Liebe. Bisweilen ist es Ehre, in den
meisten Fällen aber Vorurteil. Leb’ wohl, vergiß mich.“

„Du verlangst Unmögliches. Schreiben wir uns.“

„Wozu diesen qualvollen Zustand verlängern?“

Doch ich wußte ihn schließlich zu überreden, und durch Vermittelung
meiner Freundin entstand ein reger Briefwechsel.

Es wußte Niemand um die Dauer des Verhältnisses, und eines Tages
teilte mir Mama mit, Graf X. habe um mich angehalten. Ich war wie
aus den Wolken gefallen, denn ich hatte ihm auch nicht die geringste
Beachtung geschenkt und nicht im Entferntesten daran gedacht, daß er
sich mit dieser Absicht trage. Zuerst lehnte ich entschieden ab, aber
man schürte und arbeitete so lange, bis ich schon der Ruhe halber
einwilligte.

Sie nannten mich „vernünftig“, weil ich eingesehen, daß eine Steindorf
keine ~mesalliance~ machen dürfe.

Willenlos und betäubt, ließ ich den Dingen ihren Lauf. Ich war
so ungewohnt, mit Hindernissen zu kämpfen, zudem hatten mich die
Aufregungen der letzten Zeit völlig fühllos gemacht. Ich schrieb Hans
einen logischen und ziemlich kühlen Brief; doch kaum hatte ich ihn
abgesandt, bereute ich meine Handlungsweise und depeschierte ihm:
„Brief ungültig; erwarte Sie Morgen Früh“. Nein, zu heucheln verstand
ich doch nicht.

Er kam. Wir zogen uns in einen stillen Winkel des Gartens zurück, wir
schmiedeten neue Pläne, und er, selig, mich wiederzuhaben, umschlang
und küßte mich.

Da plötzlich steht Graf X. vor uns. Er kannte Hans, ohne indessen von
unseren Beziehungen zu wissen. Meines Ermessens nach hatte ich dem
Grafen erst als angetraute Frau die Treue zu bewahren und gegebenen
Falles Rechenschaft abzulegen.

Eine Sekunde starrte er uns sprachlos an. „Da gehen ja schöne Dinge vor
sich. Sie werden mir Satisfaktion geben.“

„Ich sehe mich nicht dazu veranlaßt.“

„Schurke -- -- Feiger Judenhund.“

Um Gotteswillen! -- Das war zu viel. Ich traute meinen Ohren nicht.

„Morgen sende ich meine Sekundanten“, versetzte Hans anscheinend
gleichmütig. Weiter nichts. Ich fühlte selbst, daß er, um nicht
falschen Schein auf sich zu laden, diesen Schimpf nicht annehmen dürfe
-- -- und doch -- -- die Furcht vor etwaigem bösen Ausgange ließ mir
alles Andere gering erscheinen. „Ehre“. Ein Phantom. Und ich sank vor
ihm auf die Knie: „Nein, Hans, schlag’ Dich nicht.“

„Sei nicht kindisch, Laura. Du mußt es doch einsehen: ich kann nicht
mehr zurück.“

Und er hatte Recht, so dachte ich damals und war stolz aus ihn. Seit
undenklichen Zeiten waren Ehrenhändel unter Männern nur mit der Waffe
in der Hand ausgetragen worden. „Aber“ -- und mein Herz erbebte bei
dieser Vorstellung -- „wenn ich Dich verliere, Hans?“

„Dann muß Dich das Bewußtsein aufrecht erhalten, daß ich meine „Ehre“
verteidigte -- -- obwohl ich nur ein Jude bin. O, es geht so verrückt,
so ungerecht zu auf der Welt. Du armes süßes Kind, ich wollt’, ich
könnte Dir weniger Leid bereiten.“

„Die Nacht, die folgte, dieses beständige Schwanken zwischen Furcht und
Hoffnung -- -- wozu so Schreckliches heraufbeschwören? -- -- Es bleibt
besser begraben. -- -- Nun und das Weitere -- -- das weißt Du ja. -- --
Wie schwer sich Manches vergißt -- und es sind doch viele Jahre her!“ --

Wir schwiegen eine Weile, denn auch meiner hatte sich eine tiefe
Bewegung bemächtigt, und es dämmerte mir ein Ahnen auf, wie es kam, daß
Tante Laura groß und stark aus diesem Kampf hervorgegangen. Sie war ein
Charakter, wie man selten einen findet, voll Güte und unerbittlicher
Gerechtigkeit zugleich. Es flammte heiß in ihren dunklen Augen auf. Wie
mußte sie geliebt haben, und wie mußte sie hassen können.

„Ja damals“, fuhr sie fort, „hätt’ ich den Mörder kalten Blutes
erwürgen können, und namenlose Verachtung für all’ das, was mir bis
jetzt den Inbegriff des Rechten, Selbstverständlichen gebildet,
erfüllte mich. Vor sie, die mich um mein Glück betrogen, vor sie Alle
hintreten und ihnen zurufen: „Ihr erbärmlichen Philisterseelen, die Ihr
keine Ahnung habt, was wahre Größe, wirklicher Adel ist, schämt Euch,
errötet“.

„Mein ganzes Wesen war in Aufruhr, das Blut schäumte mir in den Adern,
und der einzige Wunsch nach Rache und Vergeltung erfüllte mich.

„Es war der erste Impuls und die Reaktion folgte alsbald. An Stelle der
leidenschaftlich-wilden Gefühle, trat eine fast unheimliche Ruhe. Ein
Schleier riß mitten entzwei, vor meinem geistigen Auge und ich sah zum
erstenmale klar in meinem Leben. -- -- Keine Träumereien mehr, nein,
sehr bestimmte Ideen, die sich durch weiteres Ausspinnen und Lesen
immer mehr befestigten.

„Und je lichter es in mir wurde, in dem Maße, als ich begriff, wuchsen
mein Mitleid, meine Nachsicht mit dieser närrischen Welt; mit diesen
armen, verblendeten Menschen.“

Sie hielt inne, dann fuhr sie fort: „Es hatte dieses Impulses --
der traurigen Anregung von außer her -- bedurft, um mich aus meiner
wohlerzogenen Verschlafenheit zu rütteln. So wurde ich das, was ich
bis dahin nicht gewesen: „ein freier Mensch.“ Der Schmerz ist so recht
eigentlich das Samenkorn, aus dem sich die Individualität entwickelt.
Großes leisten fast nur immer Jene, die in physischer Beziehung viel
durchgemacht -- die Anderen zählen zu den seltenen Ausnahmen. Und es
ist ja am Ende auch begreiflich. Wenn man zu den Schoßkindern des
Glückes zählt, nach dem Ersehnten die Hand bloß auszustrecken braucht,
wozu sich mühen und ereifern? -- -- Und so, in dem Netze kleinlicher
Alltagsinteressen verstrickt, erlahmt der Sinn für eine weite
Weltanschauung, und man schreckt ängstlich zurück vor Allem, was Einem
aus dem Geleise bringen, die Augen öffnen könnte, man wird Egoist.

Speciell in unseren Kreisen gilt eine gewisse Nonchalance und
Sorglosigkeit für „~bon ton~.“ Sich streng an die Traditionen
halten, wenig wissen, -- und nur ja nicht denken. Das wäre nämlich
zu gefährlich. Seit Generationen hielt man es so -- das beweisen die
heutigen Durchschnittstypen zur Genüge. Sieh’ Dir nur einmal so einen
jungen Majoratsherrn an. Blasiert, verlebt mit 20 Jahren, kennt er
keinen anderen Zeitvertreib als Trinken und Spielen. Über die Frauen
besitzt er -- falls er überhaupt jemals welche besessen, -- keine
Illusionen mehr. -- -- -- Und nur ja keine vernünftige Beschäftigung
-- davor schreckt er zurück, als wär’ es eine Schande, und wenn er
des ewigen Einerlei satt ist, sucht er das träge Blut künstlich zu
erhitzen. Er wettet, beginnt Händel, macht Schulden, die der Papa
bis zu einer gewissen Grenze geduldig bezahlt, und dann -- nun dann
sucht er eben eine „Partie“ um sich zu rangieren, „den Namen nicht in
Mißkredit zu bringen“, kurz er verkauft sich.

So die Männer. Wir sind um kein Haar besser daran. Der englischen
Gouvernante entwachsen, die Alles „~shocking~“ findet, was ihr
nicht behagt, verheiratet man uns, wenn wir ein gewisses Alter
erreicht haben. Die Liebe spielt nur selten eine Rolle dabei: sie
ist nur Surrogat, und Hauptsache bleiben doch immer die geordneten
Verhältnisse. -- -- Was sind die Folgen? Allmähliche ~décadence~,
Menschen ohne Mark und Kern, die keine andere Bestimmung kennen, als
„Gigerl“ oder „Modepuppe.“ Ein Sumpf von ungeahnter Tiefe, in dem wir
rettungslos verkommen, wenn wir die Gefahr nicht beizeiten erkennen
und uns gewaltsam herausreißen. -- Auch ich fand erst in letzter
Stunde den Mut dazu. Uns Frauen nimmt man eine Auflehnung gegen das
Althergebrachte ganz besonders übel. Es ist ein hartes Stück Arbeit für
ein Mädchen, einen gewissen Grad von Selbstständigkeit zu erlangen.
Es gehört ein unbeugsamer Wille, eine eiserne Ausdauer und auch ein
bischen Philosofie dazu. Wie Manche kehrt schon auf halbem Wege um, da
man sie einen „Blaustrumpf“ genannt, oder liebevolle Zweifel an ihrer
Vernunft ausgesprochen.

„Was mich anbelangt, so wurde mir’s recht schwer gemacht, aber
schließlich brachte ich es doch dahin, daß man meinen Standpunkt
respektierte. Der Kampf war die Errungenschaft schon wert. Und ich kann
mit gutem Gewissen sagen, daß ich meine Freiheit nicht mißbrauchte.
Die Pflichten, die sie mir auferlegte, hab’ ich keinen Augenblick
vergessen. Darum hab’ ich mich auch in die Reihen Jener gestellt, die
der Menschheit den Anbruch eines neuen, schönen Tages verkünden. Sie
wachrütteln, ihnen die Binde von den Augen reißen, sie unterscheiden
lehren, zur Begeisterung entflammen!“

„Ja, Du müßtest ein guter Apostel sein, Tante.“ Wie sie hoch
aufgerichtet vor mir stand, mit leuchtenden Augen, durchglüht von
edlem Eifer, war sie fast hübsch. Es lag Leben und Ausdruck in diesem
Gesicht: keine Spur von dem kalten Gleichmut der Madonna. Doppelt
rührend klang es, als sie fast leise sagte: „Ich möchte ja nur, daß
Alle, Alle glücklich werden.“

„Das wäre wohl schön -- aber ich denke es mir schwer, furchtbar schwer.
Wo soll man denn beginnen?“

„Auf fester Grundlage natürlich. Man muß das Übel mit den Wurzeln
ausrotten -- die Wurzel aber ist: das Vorurteil.“

       *       *       *       *       *

Es gab kaum eine Frage von universeller Bedeutung, die wir in unseren
Plauderstunden nicht erörterten. Es war mir ein wahrer Genuß, der
Tante zuzuhören, wie sie in kühnen, sicheren Umrissen ein Bild der
herrschenden Zustände entwarf, den Kern bloslegte und dann immer
weitere Kreise darum zog. Nichts entgieng der Schärfe ihres Blickes
und niemals verlor sie sich in Nebensächlichem. Ich lernte immer etwas
Neues und mit jedem Tage steigerte sich mein Wunsch, auch ein wenig in
ihrem Sinn zu leisten.

„Wie schade, Tante“, sagte ich in ehrlicher Betrübnis, „um die
verlorene Zeit meiner Erziehung. Gesetzt den Fall, ich käme um mein
Vermögen -- besäße ich denn die nötige Bildung, um mir mein Brot
selbst zu verdienen? -- Ohne Sprachkenntnisse -- denn das bischen
Französisch, das man uns eingetrichtert, reicht gerade für den
Hausbedarf -- weiß ich ja auch sonst sehr wenig.“

„Das ist eben die unverantwortliche Art der Erziehung. Und das
„Nichtswissen“ ist noch lange nicht das Schlimmste, für viel
gefährlicher halte ich das „halbe Wissen.“ Damit richtet man den
größten Schaden an. Und dann, wenn man die gewöhnliche Bildung
besitzt -- als Grundlage ist sie allerdings erforderlich -- soll
man seine Kräfte nicht zersplittern, sondern sie auf ein einziges
Ziel concentrieren und dabei verharren. -- Freilich die Männer im
Allgemeinen, sehen es nicht gern, wenn wir uns noch ein anderes Feld
der Tätigkeit sichern, als den häuslichen Herd. Angeblich leidet
unsere Weiblichkeit darunter, in Wirklichkeit aber fürchten sie die
Concurrenz, und wohl auch, ihr Prestige als Schützer des schwachen
Geschlechts zu verlieren, denn es entstünde ein ganz anderes
gegenseitiges Verhältnis, und wir könnten sie viel eher entbehren.“

„Also Du bist für die Emanzipation?“

„Im guten Sinne, ja. Das heißt, soweit sie sich von sinnloser
Knechtschaft losmacht und „freie Menschen“ schafft. Auf die damit
in Zusammenhang gebrachten Äußerlichkeiten halte ich nichts.
Männerkleidung, kurzgeschnittene Haare und burschikoses Auftreten
finde ich überflüssig und unschön. „Im Herzen Weib, im Kopfe Mann“,
dieses Recept wäre beiden Geschlechtern dringend anzuraten. Das Rechte
suchen, es instinktiv empfinden, und dann die Energie besitzen, es
durchzuführen.“

„Also wir haben dieselben Fähigkeiten wie der Mann? Aber warum werden
dann verhältnismäßig so wenig Frauen berühmt?“

„Ja, wir besitzen dieselben intellektuellen Fähigkeiten wie der Mann,
nur mit dem Unterschiede, daß sie bei uns lange Zeit hindurch brach
gelegen. Was sie vom „Vogelgehirn“ des Weibes sagen, ist pure Fabel.
Weil man uns seit jeher vorgepredigt, dem sei so, glaubten wir es
schließlich, ohne daran zu denken, die Richtigkeit dieser These zu
erproben. Und schon beim ersten Versuch erwies sie sich als falsch.

„Es bedarf zu Allem der Übung, für manuelle sowohl als für geistige
Fertigkeiten. Eine Hand, die man niemals gebraucht, wird eine gewisse
Ungelenkigkeit verraten, ein Körper, der nie Gymnastik betrieben,
weniger biegsam sein, als der eines Trapezkünstlers. Mit dem Verstand
und seinen verschiedenen Kundgebungen ist es genau dasselbe. Wer
von Kindheit an die Mühe des Denkens nicht scheut, wird in späteren
Jahren ein rascheres Auffassungsvermögen, ein positiveres Urteil,
eine schlagendere Logik bekunden, als Jener, der sein Leben lang
gedankenfaul gewesen -- und was eine natürliche Folge ist -- mehr
Selbstbewußtsein besitzen.“

„So denke ich mir’s eigentlich auch. Eine Maschine, die nicht geölt
und gebraucht wird, arbeitet schwer. -- -- -- -- Und heute ist die
Gleichberechtigung ein Allgemeinwunsch der Frauen?“

„Die große Mehrheit sehnt sich darnach. Ausnahmen gibt es freilich
auch da -- und dann bedürfen ja durchaus nicht Alle der Emanzipation,
sofern es sich um die Beteiligung am öffentlichen Leben handelt. Eine
Mutter hat in erster Linie die heilige Pflicht, tüchtige, nützliche
Menschen in ihren Kindern zu erziehen, als Gattin ihren Mann, falls
er das Rechte will, zu unterstützen. In diesem Falle soll sie seinen
Bestrebungen Verständnis entgegenbringen, gleichen Schritt mit ihm zu
halten trachten. Vor solchen Ehen allen Respekt.“

„Und die Einsamen -- ich meine die, die aus irgend einem Grunde allein
durch’s Leben gehen?“

„Auch die finden reichlich Beschäftigung, wenn sie nur zugreifen
wollen. Es gibt so manchen Beruf, in dem weibliche Kräfte nötig wären
-- Doktoren in erster Linie; Manche freilich würden sich nie und nimmer
dazu verstehen, dem Wohle der Gesammtheit die eigene Bequemlichkeit zu
opfern. Der Lauheit begegnet man gar häufig -- -- und dann dürfen wir
nicht an den Ausschuß vergessen, jene Armen nämlich, die mit irgend
welchen Gebrechen behaftet sind, und deren Kräfte einer angestrengten
Arbeit nicht Stand halten, die wirklich nicht können.“

„Nun, und die Vorteile der Selbstständigkeit?“

„Vor Allem, daß wir nicht auf das Heiraten „angewiesen“ sind. Die Ehe
wird dann nicht mehr als „Versorgung“ betrachtet werden, sondern sie
kehrt zu ihrer ursprünglich schönen Bestimmung zurück, dem Gipfelpunkt
der Liebe. Keine Convenienz-Ehen mehr, keine kleinlichen, unwürdigen
Intriguen.“

„Eigentlich ist’s merkwürdig, daß man so spät auf diese Idee verfiel.“

„Du hast einfach früher nicht davon gehört. Die ersten Anfänge datieren
weit zurück und heute schreitet die Frauenbewegung mit Riesenschritten
vorwärts. Mit einem Male geht es natürlich nicht. Große Dinge,
weltgeschichtliche Entwickelungsphasen bereiten sich in der Regel
langsam vor, aber einmal in Gang gebracht, gibt es keinen Stillstand
mehr.

„Im grauen Altertume wurde dem Weibe eingeprägt: „Du hast Dich als
Dienerin Deines Herrn zu betrachten“, mußt eifrig auf sein Wohl
bedacht sein, seine Launen geduldig ertragen, seine Wünsche erfüllen.
Erkühne Dich ja nicht, einen eigenen Willen zu haben, oder gar dem
Mann zu folgen, wenn er sich auf Adlerfittigen in geistige Höhen, in
die Sphären der Gedankenwelt erhebt. -- So, in dieser sklavenhaften
Befangenheit, stellen sie auch die Gemälde der damaligen Zeit dar. Mit
Rosen bekränzt sie die Stirne des Gebieters, der träge hingestreckt,
auf schwellendem Pfühle ruht, und reicht ihm knieend die Schale mit dem
Weine. Oder, später noch, sitzt sie am Spinnrocken und webt den Stoff
seiner Gewänder, und bringt ihm Schild und Speer, wenn er hinauszieht
in die blutige Schlacht.

„Heutzutage steht die Frau auf höherer Stufe -- nicht mehr Magd,
sondern Gefährtin des Mannes. „Ein Herz und eine Seele“, fügte
sie träumerisch hinzu. -- -- Wem dieses schöne große Glück des
Zusammenwirkens versagt bleibt, der findet einen teilweisen Ersatz nur
-- in der Arbeit. Sie allein hat mich gestützt, mich wieder zufrieden
gemacht. Ein dorniger Weg im Beginn, doch so verlockend, so reichlich
lohnend. -- --

„Wenn man sich resigniert und mit der Liebe abgeschlossen hat, findet
man den größten Trost in der Pflichterfüllung. -- Das Leben liegt noch
vor Dir, mein Kind, und doch frag’ ich Dich: „Willst Du meine Gefährtin
sein, mit mir ziehen in den Krieg gegen unseren ärgsten Feind: „das
Vorurteil?““

„Ja Tante, ich will.“

       *       *       *       *       *

In der Nacht war der erste Reif gefallen. Wie überzuckert starrten die
Bäume zum Himmel, der grau in grau, an den Hintergrund eines Gemäldes
im beliebten ~guache-genre~ erinnerte. Nur ein paar Hagebutten und
braungefrorene Chrysantemen standen auf dem Parterre des Gartens.

Das war der Winter.

„Jetzt kann ich’s kaum begreifen, daß einmal der Flieder blühte und die
Amsel sang. Es scheint mir eine Ewigkeit her und so unwahrscheinlich,
daß diese Zeit je wieder kommen wird. -- Die vielen Rosen -- und die
Leuchtkäfer.“

Ja und doch -- die tausend schönen Sommerblumen, die sagen uns weniger
als so ein Gräschen unter’m Schnee. „Da sieh, das hab’ ich heut
gepflückt.“ Sie hielt mir ein armseliges, blasses Blättchen hin. „Was
selten, was schwer zu erlangen ist, darnach strebt unser Sinn. Erst in
der Gegenwart wissen wir die Vergangenheit zu schätzen.“

Robert unterbrach unsere Betrachtung. Er weilte infolge einer
Verletzung, die er sich beim Reiten zugezogen, seit einigen Wochen in
Sahning und sprach während dieser Zeit öfters bei uns vor.

Es war, als suche er neuerdings eine Annäherung, doch ich taxierte
seine Gefühle richtig: „ein kleiner Intermezzo-Flirt“, so etwas um die
Tage totzuschlagen.

„Zum Sterben langweilig, zu dieser Jahreszeit auf dem Lande“,
versicherte er uns stets von Neuem. Man weiß nicht, was man anfangen
soll. Mein einziges Vergnügen, die Jagd, ist mir jetzt auch verdorben,
weil uns der S--jud die schönsten Streifen vor der Nase weggepachtet
hat. „Jetzt schießen’s herum an der Grenz, der Samuel und der Itzig,
und wie se sonst noch Alle heißen, die noblen Herren“, parodierte er in
höchster Wut. Dann schüttelte er sich: „Brr, ein Graus, ein Skandal!
Wenn +ich+ was zu sagen hätt’, Alle peitschert’ ich sie hinaus aus dem
Land, Alle; nicht einen einzigen würd’ ich dulden. Es ist schon das zu
viel. Über den Haufen schießen sollt’ man das grausliche Gesindel.“

„Das sind ja recht humane Ansichten. Bei uns darfst Du jedenfalls nicht
auf Verständnis rechnen.“

„So? Das wundert mich, speciell in diesem Falle. Jeder Cavalier denkt
heutzutage so -- muß so denken.“

„Es kommt eben darauf an, was Du unter „Cavalier“ verstehst.“

„No erlaub’ mir. Meine Regimentskameraden zum Beispiel. Frag’ sie der
Reihe nach. Sie werden Dir Geschichten erzählen, daß Dir die Haare zu
Berg stehen. Namentlich die in den polnischen Garnisonen. Wie der Jud
nach allen Seiten hin beschummelt, keinen christlichen Concurrenten
aufkommen läßt, sich festsaugt wie ein Vampyr und Einen um den letzten
Groschen bringt.“

„Lieber Robert, wenn man die Falle sieht, ist’s jedenfalls recht plump,
hineinzugehen. Du bist ja nicht der Erste, der in diesem Sinne spricht.
Solange der Jude Geld leiht, ist Alles schön und gut; wenn er aber auf
der Rückgabe besteht, dann ist er Wucherer und Räuber.“

„Und findest Du es vielleicht keine Gemeinheit, wenn man die Zwangslage
seines Nächsten in dieser Weise ausbeutet? Soll man sich das am Ende
ruhig gefallen lassen?“

„Man soll eben rechtzeitig seine Vorsichtsmaßregeln treffen, und sich
keine Gefälligkeiten von Leuten erweisen lassen, die man verachtet.
Was das Übervorteilen anbelangt, so stimme ich Dir bei. Es ist nieder,
gemein. Aber ehrlicher Weise mußt Du zugestehen, daß auch so mancher
Christ betrügt, wenn er es unbemerkt anstellen kann. Hier zum Beispiel
haben wir keinen einzigen Juden in der Gegend, und die Leute gehen
doch auch zu Grunde -- nur mit dem Unterschied, daß sie ihr Hab und
Gut den christlichen Sparkassen verschreiben.“ Und da Robert verlegen
schwieg: „Du siehst also -- das Generalisieren ist ein ganz falsches
Princip. Es gibt gute und schlechte Menschen in allen Ständen, allen
Nationen und Confessionen. Will man ein berechtigtes Urteil fällen,
muß man sich persönlich überzeugen: das bloße Hörensagen führt in
der Regel zu Trugschlüssen. -- -- -- Und daß die Semiten manche gute
Eigenschaft besitzen, die auch uns zur Ehre gereichen würde, kannst
Du doch nicht leugnen. Es herrscht eine Eintracht, ein Geist der
Zusammengehörigkeit unter ihnen, der gegenseitigen Verantwortung,
möcht’ ich fast sagen, der rührend ist, und zu großen Taten führt. Wenn
es sich darum handelt, einen der ihren aus Not und Elend zu befreien,
den bedrängten Glaubensgenossen beizustehen, leisten sie fürstliche
Beiträge. Während bei uns -- --! Die humanitären Institutionen vermögen
sich oft mit der größten Mühe kaum zu halten. Mit welch’ unerhörten
Schwierigkeiten hat die „Rettungsgesellschaft“ zu kämpfen und welch’
schmachvolle Gleichgültigkeit erfuhr die „adelige Hochwacht“ von Seite
der Standesgenossen? Jener Edelgesinnte, der die schöne Idee ins Leben
rief, wartete vergeblich auf Unterstützung, und der Gram hierüber
brachte ihn vorzeitig ins Grab.“

„Wir haben eben kein Geld. Alles gestohlen.“

„Beides unrichtig. Wieder eine Beschuldigung ohne triftigen Beweis.
Einer sagt’s in unzurechnungsfähigem Zustand, und die Andern beten’s
nach.“

„Geh’, geh’, Du bist ja eine Judenfreundin.“

„Eine Menschenfreundin ja, und bemüht, gerecht zu sein. Mir gilt nur
der persönliche Wert.“

„Aber Du mußt doch zugeben, daß die semitische „Rasse“ -- denn nur die,
nicht die Religion kommt bei unserer Abneigung in Betracht -- zahllose
widerwärtige Eigenheiten hat. Sprache, Haltung, Blick, Gesichtsschnitt.“

„Das mag unangenehm berühren -- meinethalben -- man hat schon so seine
Aversionen -- ich mag’ wieder den gewissen semmelblonden Typus nicht --
aber solcher Äußerlichkeiten halber werd’ ich die Leute nicht verfolgen
und verleumden.“

„Du willst mich nicht verstehen. Übrigens, wenn Du so sprichst, wirst
Du es Dir in unseren Kreisen gründlich verderben.“

„Das würde ich verschmerzen. Die Überzeugung vor Allem.“

Robert sah meine Tante sprachlos an. Er gehörte zu jenen Schwächlingen,
deren Waffe hohle Phrasen, von der Mode, der herrschenden Strömung
sanktioniert, einer gesunden Logik nicht Stand zu halten vermögen.
Ließ man sich einschüchtern, verlor man die Geistesgegenwart, dann
triumphierte er. Widerlegte man hingegen seine Argumente, trat man ihm
mit Sicherheit entgegen, dann räumte er beschämt das Feld.

Und plötzlich überkam mich die Lust, auch eine Bemerkung zu machen, ihn
in die Enge zu treiben.

„Wenn Dir Rothschild heute eine Million gäbe, was dann?“

„Das fällt ihm gerade ein.“

„Ich glaub’ es auch nicht. Aber gesetzt den Fall, was dann?“

Und da er mir die Antwort schuldig blieb: „Du würdest sie mit tiefem
Bückling einstecken, und wenn es sein müßte, dem Juden die Hand küssen.“

„Na hörst Du, Du bist wirklich.“ --

„Ja oder nein? Du schweigst?“

„Was sagtest Du eigentlich?“ Er spielte den Begriffsstützigen. „Ich
hab’ an ganz was Anderes gedacht.“

       *       *       *       *       *

Hannerl hatte sich in den letzten Jahren sehr zu ihrem Vorteil
verändert und war eine allerliebste Zofe geworden. Sie hält nicht
wenig auf ihr Äußeres, und stets „wie aus dem Schachterl“, richtet das
hübsche Ding wahre Verheerungen unter der männlichen Dienerschaft an.
Sie trägt vielleicht darum das Stumpfnäschen so hoch und findet es nur
natürlich, daß man sie „Fräulein“ tituliert. -- Und für Jeden hält
sie eine schnippische Antwort bereit. Bisweilen klagt sie auch mit
komisch-tragischer Geberde: „Ich hab’ kein Herz“.

Das schreckt indes den Jägerjung nicht ab. Fertel Amselzwitscher
scheint seiner Sache sicher. Er wird sie doch erringen; er zweifelt
nicht im Entferntesten daran: jedermann kann es lesen in seinem
selbstbewußten Blick. Die Mädchen waren immer Alle hinter ihm drein
gewesen, und daß gerade diese Eine ihm Widerstand leistet, reizt ihn.
-- Er, mit seinem „feschen Äußern“, seiner vornehmen Ausdrucksweise,
würde sie sich schon gefügig machen. Er spricht das reinste Hochdeutsch
und notiert sich jede eigenartige Satzwendung, die er irgendwo gelesen,
um sie gelegentlich anzubringen.

„Jungfer Hannerl, beabsichtigen Sie, meine Geduld noch lange auf die
Folter zu spannen?“

„Wissen’s, das ist eine Keckheit. Hab’ ich Ihnen vielleicht schon
einmal was Dergleichen getan?“

„Unbewußt gewiß. Sie haben so gewissermaßen ein gefallsüchtiges
Gesicht. Wie steht es mit Ihrem Naturell? Ich meine, sind Sie sehr,
‚schanschierend‘?“

„Was? Das versteh’ ich nicht.“

„Ob Sie Ihre Neigung häufig wechseln, oder ob Sie gewissermaßen
verläßlich sind?“

„Daß ich in Sie nicht verliebt bin, darauf können sie sich +ja+
verlassen. Überhaupt sind’s nicht bald fertig mit Ihrer Fragerei? Was
wollen’s denn?“

„Das.“ Und kaum hatte sie sich’s versehen, umschlang er sie und drückte
einen Kuß auf ihre frische Wange.

„Nein, so ein impertinenter Mensch!“ Sie war zuerst ganz starr,
dann aber lächelte sie neckisch. Seine Kühnheit imponierte ihr: von
nun an zeichnete sie ihn vor den Andern aus, und die Chancen des
Gärtnergehilfen Florian sanken immer mehr. Im Gegensatz zu seinem
zarten Namen, der ihn schon von vornherein zur Gärtnerei bestimmte, war
er die plumpste, unappetitlichste Erscheinung, die man sich nur denken
kann. Ein verschwollenes Gesicht, aus dem gelbe Elefanten-Äugerln
schimmerten, und ein Paar enorme, purpurrote Tatzen. Unbeholfen in
einer Art! Ein wahrhaft lächerlicher Anblick beim Piquiren und anderen
Arbeiten, die Geschicklichkeit und leichten Griff erfordern. Aber
verliebt bis über die Ohren.

Als er Jungfer Hanni zum erstenmal erblickt, sank er vor lauter
Bewunderung so tief in die weiche Mistbeeterde, daß man meinte, er
müsse Wurzel fassen, und starrte ihr so voll Entzücken nach, als hätt’
er eine Fee gewahrt.

Er nahte sich ihr schüchtern, in voller Ehrerbietung, und als sie
scherzhalber seine Huldigung entgegennahm, ward er kühner. Er verehrte
ihr eine Blumensprache, in der die auf seine Leidenschaft bezüglichen
Verse rot angestrichen waren.

Jedes Wort aus ihrem Munde versetzte ihn in den siebenten Himmel, und
wenn er sie nach Feierabend in der Bügelstube wußte, brachte er ihr die
schönsten Ständchen.

    „Hannerl, Hannerl, Mädchen ohne Gleichen,
        Hannerl, lasse Dich erweichen,
    Hannerl, Hannerl, höre doch mein Fleh’n,
    Ich liebe Dich, erhöre mich,
    Wenn nicht, müßt’ ich betrübt von dannen geh’n.“

Worauf von innen mit furchtbar falscher Stimme die ermunternde
Aufforderung erklang:

    „Um Dir nur zu gefallen,
    Versteh’ ich mich zu Allem,
    Ach komm, Geliebter, komm,
    Ach komm, Geliebter, komm.“

Beseligt drückte Florian die Hände auf sein Herz. Sie hatte ihn ja
kommen geheißen -- endlich. Nun, er würde gewiß nicht zögern. Doch
was war das, die Schnalle wollte nicht nachgeben, wie sehr er auch
daran drückte: „Aber Freiln Hannerl, seiens so gut. Ich kann ja nicht
herein.“ -- Alles umsonst, kein Lebenszeichen.

Dann raschelte es ganz leise, Hannerls gestärktes Cattunkleid, und das
schelmische Ding hielt sich die Hüften und lachte, bis ihr die Tränen
über die Wangen rollten.

Er zog ein Briefchen aus der Tasche und schob es unter die Türspalte
hinein. Er hatte es ihr schon früher einmal geben wollen, als sie ihn
kühl behandelt.

„Hochwollgeborn Freilein Johanna Patschek.

Ich habe lange mein Herz aus dem Laibe gerissen und vor Ihren Füssen
geleckt, -- sie lachten auf mich u. ich klaube, Sie mögen mich nicht.
Eine große betzweifflung für mich, daß das Frailein Johanna böse
ist. Ich bin soeben trostlos u. möchte sterben, weil sie nix zu mir
gesprochen, denn ich füll mich ganz undschuldig. Ich habe nichts gedahn
und Ihnen niemals nie eine Witterede gegeben, und alles mit Freude
gedahn, nur daß sie nicht bösse sind. Denn ein bösses Gesicht und
nichts rehten, das duht mir Weh, darum bitte ich hochachtungsfohl und
mit faltenden Händen nicht bösse sein

  Ihr geliebter Florian.“

    „Rosen, Tulpen, Nelken, alle diese Blumen welken,
    Stahl und Eisen bricht, doch unsere Liebe endet, so hofe ich, nicht.
    Sie sind mein einziger Trost, bitte, das werden sie woll einsehen.“

„Nein, so ein Narr“, entschied sie, als sie zu Ende gelesen. „Da
Fertl“, und sie schob ihm den Brief hin, „was sagst denn Du dazu?“

„Curaschi muß man haben. Beim bloßen Anschmachten sieht sich nichts
heraus. Wenn ich so delikat gewesen wäre -- -- ~à propos~ -- wann
machen wir denn Ernst?“

„Mußt Dich schon noch eine kleine Weil gedulden. Und jetzt geh, weil
ich abräumen muß im ersten Stock.“

       *       *       *       *       *

Es gibt Leute, deren Gegenwart kalmierend wirkt, die Ruhe und Frieden
bringen und wieder solche, bei denen man die Kampfeslust wittert und
unwillkürlich selbst in Harnisch gerät.

Die Ankunft meines Vetters versetzte mich jedesmal in gereizte
Stimmung. Nicht ein Punkt, in dem wir übereinstimmten, keine gemeinsame
Empfindung, und bei der gänzlichen Verschiedenheit unserer Ansichten,
entfremdeten wir uns immer mehr.

Tante Laura sah in unseren Discussionen eine gesunde Denkübung, denn
nichts schärft den Verstand so sehr, als improvisierte Wortgefechte.
Gewöhnlich war der Sieg auf meiner Seite, was ich mir in Anbetracht des
Umstandes, daß Robert durchaus kein Kirchenlicht war, nicht sonderlich
hoch anrechnete.

Momentan verbrachte er seine Zeit damit, die verschiedenen Stifte der
Umgebung unsicher zu machen. Er wurde nicht müde die Gastfreundschaft
und das wirklich charmante Entgegenkommen der Herren zu rühmen.

„Wir verstehen uns vortrefflich“, versicherte er uns ein über das
anderemal, „und ich fühle mich wirklich ganz außerordentlich wohl in
ihrer Gesellschaft.“

„Sind wohl auch Antisemiten?“ frug die Tante.

„Versteht sich -- und wie.“

„Sonderbar und traurig.“ Und was sie jetzt sagte, erinnerte mich so
lebhaft an ein Gespräch mit Vincenz, daß ich unwillkürlich seufzte.
„Das sollen „Stützen“ der Kirche sein, die in ihrem Herzen dem Hasse
Raum geben! Oder ist vielleicht irgendwo in der Schrift ein Commentar
zu finden, in dem es heißt: „Natürlich nur den Nächsten im engeren
Sinne?“ Nein so kleinliche Unterschiede hat Christus nicht gehabt.
Sein edles Herz schloß Keinen aus: es schlug und blutete für Alle.
„Liebe, Nachsicht und Vergeben.“ Und statt stolz zu sein auf ihren
Meister, in seinem Sinn zu predigen, verzerren, verstümmeln sie seine
Lehre bis zur Unkenntlichkeit.“

„Aber bitt’ Dich, Tante, wer wird denn gleich Alles so tragisch
auffassen“, unterbrach sie Robert gelangweilt. Sie aber ließ sich nicht
beirren und fuhr fort:

„Geht schön des Sonntags in die Kirche, beobachtet die Fasten, aber
wenn Euch Euer Bruder nicht zu Gesichte steht, dann beschimpft,
verleumdet ihn.“ Fühlst Du den Widersinn? -- -- -- Die Perle, die
man Solchen zuwirft, die ihren Wert nicht verstehen. Pfui über die
Augendienerei. Die Messe lesen, Sakramente austeilen -- -- Trinkgelage
feiern, bis man alle Selbstbeherrschung verliert, und den häßlichsten
Lastern fröhnen. Wem spielen sie eigentlich die Comödie vor? Das Volk
hat gar gute Augen, ist auch nicht so einfältig, wie es sich ausgibt.
Es beobachtet und findet schließlich, daß es nicht nötig habe „heiliger
zu sein, wie die Pfaffen.““

„Was hast Du denn gegen die armen Geistlichen? Ich kann Dich
versichern, daß Du ihnen sehr Unrecht tust. Du solltest einmal
mitkommen. Eine Gemütlichkeit, sag’ ich Dir! Immer großartige Diners,
die besten Weine, -- kurz ein Leben wie der Herrgott in Frankreich.
Immer guter Dinge, kreuzfidel. Geh’ komm, Tante -- Mimi“, an mich
gewandt -- „nicht wahr, es wäre fesch? Du hast doch Lust?“

„Nein: dafür bin ich nicht zu haben.“

„So, so?“ In seinen Zügen spiegelte sich eine Verblüffung wieder, die
das unbedeutende Gesicht nicht gerade geistreicher erscheinen ließ.

„Schade!“ Und mit bedeutungsvollem Blick zu mir: „Daß wir so
verschiedenen Geschmack haben müssen! Ich fühle mich, wie gesagt, ganz
zu Hause unter den Herren -- und mir ist sogar schon die Idee gekommen,
selbst Geistlicher zu werden.“

„Weshalb denn das?“

„Weil mir schon Alles Andere zu fad ist. Eine Hundeexistenz.“

„Und das fändest Du einen hinreichenden Grund?“

„Dann brauch’ ich mich wenigstens nicht mehr abzurackern um die paar
Gulden Gage, brauch’ mich um nichts mehr zu kümmern.“

„Hast Du Deinen Ehrgeiz zu dienen, so plötzlich auf den Nagel gehängt?“

„Offen gestanden, ja. Schaut nichts dabei heraus. Laues Avancement. Das
haben wir vom Frieden.“

„Ja, ein Krieg wär’ freilich äußerst wünschenswert“, unterbrach ihn
Tante Laura ironisch, „und zwar schon in allernächster Zeit, damit
Baron Robert Steindorf zu seinem zweiten Sterne kommt.“

„Nicht nur deshalb. Ich spür’s aber, ich bedarf der Anregung, der
Begeisterung, sonst verkomme ich. Ein Ereignis, etwas Besonderes. Ein
Nervenkitzel.“

„Du weißt eben nicht zu beurteilen, was die Ruhe wert ist. Du bist noch
sehr kindisch, lieber Robert.“

In seiner Eitelkeit tief verletzt und innerlich wütend, weil er kein
Wort der Entgegnung fand, verließ er uns.

Nachdem er gegangen, saßen wir noch eine Weile schweigend vor dem
Kamin, vertieft in den Anblick der roten Feuerschlangen, die gierig an
den massiven Buchenscheitern leckten, daß es prasselte und knallte.

„Der wird kein gutes Ende nehmen“, sagte die Tante seufzend.
„Heutzutage bedarf es eines anderen Empfehlungsbriefes, als eines alten
Wappenschildes. -- -- Übrigens bei ihm ist das Standesbewußtsein noch
ein relatives Glück, sonst sänke er immer tiefer. Ein bedauernswerter
Mensch, der wie mit Gewalt immer nur die Schattenseiten der Dinge
aufstöbert, immer unzufrieden, unglücklich.“

„Ich kann mir eigentlich gar nicht denken, daß es Menschen gibt, die
den Krieg wollen.“

„O doch, es gibt schon solche Egoisten, die ihn aus rein persönlichen
Gründen wünschen. Daß der Krieg ein Unglück, ein Verbrechen ist, daran
zweifelt heutzutage kein vernünftiger, rechtlich denkender Mensch mehr,
-- wohl aber daran, daß man ihn abschaffen kann.“

„Ja, aber dann müßte es überhaupt keinen Fortschritt geben.“

„Ganz richtig. Dann würden wir jetzt noch Höhlenbewohner und
Menschenfresser sein.“

Roberts Kopf zeigte sich wieder in der Türe. Er schien seinen Ärger
verwunden zu haben und frug, um was für schreckliche Dinge es sich
handle -- er habe etwas von Menschenfressern gehört.

„Wir reden gerade davon“, erwiderte die Tante, „daß mit fortschreitender
Civilisation die rohen Urzustände weichen müssen, und dazu gehört der
Krieg.“

„Natürlich“, versetzte er spöttisch.

„Eigentlich würde es mich interessieren zu hören, wie ein Marsanbeter
-- denn das bist Du ja, -- die Unvermeidlichkeit des Krieges motiviert.“

„Die liegt doch auf der Hand.“ Tante Laura blinzelte mir
verständnisvoll zu, und er fuhr fort: „Unsere ganze Existenz ist auf
den Kampf begründet. Das Eine frißt das Andere auf. So war es seit
jeher und so wird es immer sein.“

„Ja, der Kampf ums Dasein ist Naturgesetz und kann in mancher Beziehung
ein Ansporn zum Guten sein. In seiner ursprünglichen brutalen Bedeutung
aber kann er sich jedenfalls nur auf die Geschöpfe niederer Gattung
beziehen. Gerade Ihr Strenggläubigen, die Ihr Euch soviel zugute tut
auf Euere Vernunft, müßtet Euch doch scheuen, auf eine Stufe mit dem
Tiere gestellt zu werden, das zur einzigen Triebfeder seiner Handlung
den Instinkt hat. Und selbst die wilden Tiere lassen sich zähmen.
Weshalb sollten wir die Bestie in unserem Innern nicht zum Schweigen
bringen? Und dann, auch die Gesetze ändern sich nach der Zeit; die
Menschen von heute haben ganz andere Bedürfnisse als die von früher.
Die Vorschriften, die vor tausend Jahren am Platze waren, taugen jetzt
nicht mehr: man ändert und regelt ja fortwährend daran. Was noch im
Mittelalter als Heldentat gegolten, was die Raubritter so berühmt
gemacht, der Sieg des Stärkeren, das Faustrecht, das ist nun ebenfalls
verpönt.“

„O das waren himmlische Zeiten! Ich bin entschieden um ein paar
Jahrhunderte zu spät auf die Welt gekommen.“

„Hättest wohl auch gerne Heldentaten in dieser Art vollbracht?“

„Natürlich.“

„Also Du verteidigst den Mord an und für sich.“

„An und für sich -- nein. -- Aber ich verstehe nicht recht, wo Du
hinaus willst“, versetzte er unsicher.

„Du weißt’s recht gut. Das fünfte Gebot lautet: „Du sollst nicht
töten.“ Es ist also Sünde.“

„Ja, ja -- das heißt im Allgemeinen.“

„Aha, ein Hinterpförtchen. Doch bleiben wir beim Gegenstand. Der
vorsätzliche Totschlag ist Sünde und zwar vom religiösen und rein
menschlichen Standpunkt. Der Körper ist der Sitz der Seele, die Gott
nach seinem Ebenbild geschaffen. Dem Schöpfer allein steht das Recht
zu, sein Werk zu vernichten, so hält Ihr es doch für richtig, nicht
wahr?“

„Ja, das schon, aber --“

„Bitte laß mich vollenden. Dann bin ich bereit, Deine Einwendung
zu hören. Kommt ihm also ein Anderer zuvor, ist er ein Frevler,
ein Verbrecher und wird dem Gerichte ausgeliefert. Dann sitzen sie
beisammen im Namen der Gerechtigkeit und sind ganz Entrüstung und
Staunen, wie es nur möglich ist, daß ein Mensch genug Rohheit besitzt,
um seinem Mitbruder das höchste Gut zu rauben. Es hat bisher noch
Niemand zu behaupten gewagt, der Mord sei kein „Verbrechen“. Für Jenen,
der ihn begeht, gibt es nur wenige Milderungsgründe: Zwingende Not,
Geistesstörung im Moment der schrecklichen That, oder wenn die Umstände
diese Vermutung ausschließen, böses Beispiel, mangelhafte Erziehung.
Man könnte freilich auch behaupten, -- nach Deiner Auffassung
wenigstens -- daß der böse Instinkt, seine eigentliche Natur den
Menschen dazu treiben -- von dieser Eventualität aber sehen die Richter
gänzlich ab. Sie sagen auch niemals: „Ja, was ist da zu machen, es hat
immer Morde gegeben und daher wird es immer so bleiben.“ Der Mann, der
seine Hände mit Blut besudelt, ist ein Gezeichneter, ein Ausgestoßener,
der Grauen und Abscheu -- oder doch wenigstens tiefes Mitleid einflößt.
-- Das Leben des Einzelnen ist geheiligt: die Massen jedoch sind nur
gut genug, um einem Wahne geopfert zu werden.“

Sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: „Im Kriege ist
der Mörder „Sieger“ und wird in dem Maße gefeiert, als er dem Feinde
schonungslos begegnet. Er wird mit Ehren überhäuft, gelangt zu Ansehen
und auch oft zu Reichtum, und wenn er auch schon lange unter der Erde
modert, so lebt doch die Erinnerung an ihn fort. Sein Name steht mit
Goldlettern verzeichnet in den Annalen der Geschichte, als eines
Großen, Ruhmeswerten. Der Lehrer schildert in beredten Worten seine
Heldentaten und weckt im andächtig lauschenden Knaben Sehnsucht nach
ähnlichen Werken, glühende Bewunderung für den Unsterblichen. Im
kleinen Herzen keimt, künstlich großgezogen, die Giftblume des Hasses
gegen Feinde -- von denen es sich nur eine vage Vorstellung macht. Und
statt daß Seele und Verstand des jungen Wesens sich das Gleichgewicht
halten, wird dieser mit unnützem Tande angefüllt, während jene
verkümmert. -- Es weiß genauen Bescheid über den achten Glaubensartikel
und kann eine perfekte Erklärung des Parallelopipedons geben, und wenn
man es fragt, warum Karl der Große und Napoleon große Helden waren,
wird es erwidern: „Der Eine hat 4000 Sachsen den Kopf abhauen und
ganze Heidenstämme gewaltsam taufen lassen, und Napoleon hat in sechs
Schlachten gesiegt.“ Soldatenspielen, mit Gewehren hantieren, das ist
ihre Lieblingsbeschäftigung, und die Mädchen umgeben in reger Fantasie
den Vaterlandsverteidiger mit einer Aureole: Dereinst die Frau eines
Officiers zu werden, das schwebt ihnen als Ideal vor. -- Das tut
dieselbe Erziehung“, fügte sie halblaut hinzu, „die beim Einzelmörder
als Entschuldigung angeführt wird. Welche Logik.“

„Aber Tante, Du wirst doch einen Unterschied machen zwischen einem
Schenk und einem Radetzky. Und dann, Gott selbst erlaubt, will
den Krieg. Es heißt ja doch im Katechismus: „Zur Verteidigung des
Vaterlandes.““

„Wenn’s Euch genehm ist, laßt Ihr immer Euern Gott aufmarschieren.
„Du sollst nicht töten“, heißt’s im Dekalog ganz klar und deutlich,
in voller Übereinstimmung mit den Geboten der Moral. Und im neuen
Testament? Kannst Du mir etwa eine Stelle citieren, in der Christus den
Krieg gutheißt?“

Robert betrachtete angelegentlich die Spitzen seiner Stiefel. „Momentan
fällt mir gerade nichts ein.“

„Das begreife ich: weil ein solcher Passus überhaupt nicht existiert.
Soweit der göttliche Standpunkt. Aber ich denke, auch ohne göttliche
und weltliche Gesetze müßte uns das angeborene Menschlichkeitsgefühl
abhalten, eine ausgesprochen schlechte Tat zu begehen. Das Gute ist
ja an und für sich ein Gesetz; in unseren Herzen soll es eingegraben
stehen; dann brauchen wir nicht in Folianten nachzuschlagen, den
Katechismus zu befragen. Gut bleibt gut, da hilft kein Zurechtstutzen
und Mystificieren. Es ist etwas so Häßliches um die gewollte
Zweideutigkeit, um die Politik in der Religion. Doch da sind wir vom
eigentlichen Thema etwas abgekommen.“ Sie hielt einen Augenblick
inne, wie um neue Kraft zu schöpfen, und begann dann von Neuem. „Du
hältst also den Krieg für gerechtfertigt und unvermeidlich, weil die
Existenz des Menschen auf Kampf beruht, weil die Kriege immer waren,
weil Gott sie gutheißt. Diese Argumente erweisen sich aber sehr wenig
stichhaltig, wie Du siehst, oder weißt Du mir vielleicht sonst noch
etwas anzuführen, was für Deine Behauptung spricht?“

„Aber das ist ja das reine Examen, liebe Tante“, bemerkte Robert
gezwungen lächelnd, plötzlich aber -- es schien ihm eben eine gute Idee
gekommen zu sein -- nahm sein Gesicht einen triumphirenden Ausdruck an.
„Weil die Menschen sich sonst zu sehr vermehren würden.“

„Da muß man also von Zeit zu Zeit eine kleine Jagd veranstalten. Ich
denke, Ihr könntet das in aller Seelenruhe der Natur überlassen. Sie
rafft durch Krankheit und andere Katastrophen fortwährend Tausende
hinweg, ohne daß sie noch Euerer Hilfe bedarf. -- Ihr tut ja rein, als
ob Ihr angestellte Mordknechte wäret. Und dann, es gibt noch soviel
übrigen Platz, noch so viel schöne Wildniß, die nur darauf wartet,
urbar, dem Menschen untertan gemacht zu werden.“

„Zudem“, sagte Robert, „das Menschengeschlecht würde verweichlichen,
degeneriren, wenn es keine Gelegenheit fände, seinen Mut zu erproben.“

„Vergleichen wir die Jetztzeit mit dem Altertum. Obwohl die Kriege
bedeutend seltener geworden, sind wir in geistiger Beziehung
entschieden vorgeschritten, durchaus nicht degeneriert. Und sieh’
Dir nur einmal die friedliebendste aller Nationen an, die Engländer,
was für starke, markige Gestalten. Von persönlicher Tapferkeit kann
überdies nicht mehr die Rede sein. Heute entscheidet nur mehr der
blinde Zufall. Das ist das Verdienst der unglaublich raffinierten
Waffentechnik. -- Wenn Dir heute Einer sagte: „Stell’ Dich daher, denn
ich sprenge Dich mit einer Bombe in die Luft“, wirst Du Dich sicher
gegen diese Zumutung wehren, nicht?“ --

„Gewiß, das hätte ja keinen Sinn, für nichts und wieder nichts.“

„Das ist’s, was ich hören wollte. Und wofür setzest Du im Kriege Dein
Leben ein?“

„Ja erlaube mir, da sind doch wichtige Interessen im Spiel. Die
Aufrechterhaltung der Dynastie, die -- das heißt gewöhnlich die
Verteidigung.“

„Ja, aber wenn Alle sich verteidigen -- das behauptet nämlich ein Jeder
von sich -- wer greift dann an? -- Du siehst, ein Hirngespinnst, dem
zuliebe wir solche Unmassen an Geld und Arbeitskraft opfern.“

„Man muß aber doch vorbereitet sein.“

„Daran liegt es eben. Immer dieses Mißtrauen.“

„Was sollen wir denn tun? Abrüsten vielleicht und warten, daß uns der
Feind aus dem Lande jagt? Verzeih’, liebe Tante, Du meinst es ja gewiß
recht gut, und es paßt auch viel besser für eine Frau, mitleidig als
grausam zu sein -- aber Du urteilst da über Dinge, die wir Männer
naturgemäß besser verstehen.“

„Und doch gibt es manche Frauen, die viel vernünftiger und klüger sind,
als manche Männer“, konnte ich mich nun nicht enthalten, zu bemerken.

Jetzt hielt er es für geraten, einzulenken. „Du nimmst mir immer
Alles übel. -- Wie denkst Du es Dir eigentlich möglich, den Krieg
abzuschaffen?“

„Ich denke, daß sich durch guten Willen und festes Zusammenhalten Alles
erreichen ließe.“

„Aber praktisch durchgeführt?“

„Hast Du noch nie etwas von der Friedensbewegung gehört?“ erwiderte
mit bewunderungswürdiger Geduld an meiner Statt die Tante. „Sie strebt
die Vereinigung aller europäischen Völker zu einem einzigen großen
Bunde an, und an Stelle des Krieges soll ein permanentes Schiedsgericht
treten, durch das allfällige Streitigkeiten auf unblutigem Wege
ausgetragen werden.“

„Aber die Menschen werden sich nie einem solchen Urteil fügen, wenn es
sich um eine Existenzfrage handelt.“

„Die Einzelnen wollen ja gar nicht den Krieg.“

„Aber sie gehen doch.“

„Weil sie eben nicht gefragt werden. Und zudem wenden die paar
Schreier, denen es daran liegt, ihre selbstischen Zwecke zu erreichen,
alle nur möglichen Mittel an, um die Menge zu betören, sie ihres
gesunden Urteils zu berauben. Eine Art Hypnose, diese ansteckende
plötzliche Begeisterung. Die Meisten sind Herdentiere, die hinter dem
Leithammel dreinfolgen.“

„Nun eben. Da siehst Du’s ja selbst. So werden sie es immer machen.“

„Bis ihr Selbstgefühl, ihr „Menschenbewußtsein“ stark genug ist, sie
vor solcher Torheit zu schützen. Und das zu heben, daran sollen wir
nach Kräften arbeiten. Und heute ist schon ein großer Schritt vorwärts
getan. Ich zweifle gar nicht an dem Erfolge der Friedensbestrebungen.“

„Und Du glaubst wirklich, das Du das erleben wirst.“

„Es könnte wohl sein, aber wahrscheinlich ist es nicht. Die
Verwirklichung jedes großen Gedankens erfordert Zeit, viel Zeit.
Unser Auge verträgt kein zu grelles Licht, es muß sich erst langsam
daran gewöhnen. Jede neue Lehre, jede große Idee hat im Beginn mit
Hindernissen zu kämpfen.“

„Ja, also dann“ -- --

„Begreifst Du nicht, daß man sich für solch’ ein Ding erwärmen kann.“

„Offen gestanden nein. Wenn man so gar nichts davon hat.“

„Wenn man immer nur arbeiten wollte, des Lohnes halber! In einem
normalen Menschen wohnt der Drang, etwas zu leisten, ein klein wenig
zum Wohle der Gesammtheit beizutragen. Eine innere Stimme sagt uns:
„Du mußt“, und dann können wir einfach nicht anders. -- Hätten unsere
Vorfahren so gedacht, dann stünden heute nicht die vielen herrlichen
Bäume im Garten, dann gäbe es nur Haideland und keine Wälder.“

„Ja -- das schon“, sah sich Robert nun gezwungen, beizupflichten. „Die
Idee vom Schiedsgericht ist auch jedenfalls gut ausgedacht, genial,
aber -- hm“, und er schüttelte lächelnd den Kopf.

„Was aber?“

„Undurchführbar.“

Wir schwiegen Beide, da wir einsahen, daß ein weiteres Wort die Mühe
nicht gelohnt hätte. Mit welch’ impertinenter Überlegenheit er es
gesagt, das: „Undurchführbar!“

       *       *       *       *       *

Tante Laura und ich, wir standen ziemlich allein da mit unseren
Ansichten und vermieden es, darüber zu sprechen. Großpapa stack bis
über den Ohren in den alten Traditionen und fand an jeder Neuerung
etwas auszusetzen. In gewisser Beziehung erinnerte er an Robert, nur
besaß er mehr Liebenswürdigkeit wie dieser und eine durch nichts zu
trübende Heiterkeit. Er führte stets das große Wort und war genau
informiert über die Vorgänge in der Welt. Aus einer Art Pflichtgefühl
ließ er sich täglich die Zeitung vorlesen, denn im Grunde ärgerte er
sich mehr dabei, als er sich freute. „Ich sag’s ja immer, die neue
Schule. Das sind die Resultate“, wenn ein Liebespärchen sich aus dem
Staub gemacht, oder: „die Herren Socialdemokraten“, das kommt davon,
wenn man den Leuten solche Dummheiten in den Kopf setzt.“

„Die Socialdemokraten sind“, hub Don an -- --

„Na ja, Sie sind ja selber Einer, Sie Chineser.“

„Weil der Herr Baron immer glauben, nur früher war Alles gut“, stieß er
lachend hervor. Diese kleinen Dispute waren seine einzige Unterhaltung.
„Früher sind die jungen Leute auch schon miteinander durchgegangen.
Vide „Conradine Romana.““

„A so. No ja, sie hat’s aber auch büßen müssen. Oder haben wir nicht
neulich in der Urkunde von 1746 gelesen, daß die Maria Teresia sie
einfangen und ins Kloster sperren ließ?“

Dieses Gespräch bezog sich auf eine Steindorf, deren Portrait im
Speisesaale hieng. Ein hübsches Gesichtchen, dem der Schelm aus den
Augen sah. Mir hatte es immer den Eindruck gemacht, als sei der steife
Seidenstoff zu schwer für diese frische, rosige Jugend, als strebe sie,
heraus zu schlüpfen und als wollten die übermütigen, krausen Löckchen
nichts wissen von einer regelrechten Frisur. Und so war es in der Tat.
Das siebzehnjährige Mädchen war sterblich verliebt in ihren Vetter, und
da der Vater nichts wissen wollte, und sie nur umso strenger überwachen
ließ, nahm sie ihre Zuflucht zu einer List. Die kurzsichtige Erzieherin
ahnte nicht, daß sie den Abendsegen über einen verkleideten Haubenstock
gesprochen, und als sie am nächsten Morgen ihren Irrtum entdeckte, war
das edle Fräulein über alle Berge.

Großmama mengte sich niemals in politische Gespräche, dennoch war es
nicht zu verkennen, daß auch sie die jetzigen Zustände nicht billigte,
und die Zeiten vorzog, wo Robbot und Zehent an der Tagesordnung war,
und die „Herrschaft“ noch etwas galt. Und Großpapa stimmte ihr bei.

„Ich weiß mich noch ganz genau zu erinnern, wie ein jeder Bauer seinen
Tribut gebracht hat. Der Getreideboden, der Keller sind das ganze Jahr
nicht leer geworden. Und in unserer Gegend hat es einen berühmt guten
Wein gegeben. Stark wie der Teufel und moussierend wie Champagner. Da
hat die Mama einmal einen kleinen Tampus bekommen. Als junges Fräulein
hat sie nämlich nie einen Tropfen getrunken.“

Er sucht mühsam die Bissen auf dem Teller zusammen, wobei gewöhnlich
die Hälfte zurückfällt. Großmama hackt so energisch darin herum, um ihm
die Stücke zurecht zu schieben, als wäre das Fleisch ein Walfisch, und
die Gabel eine Harpune. „Geh’ lieber Ferdinand, so nimm’ Dich doch ein
wenig zusammen. Es ist ja eine Schande, wie Du ißt.“

„Du darfst nicht vergessen, daß ich blind bin“, erwidert er ruhig.

„Ich weiß schon, aber wenn Andere es können. Der König von Portugal,
der war ja auch stockblind, und wenn ich nehme, wie der appetitlich
aß!“

Don für sich: „Der König von Portugal, der ist mir ganz egal.“

„Aha hörst Du was der Don sagt. Ich find’, der Mensch ist schrecklich
keck.“

„Wenn Du den Don nicht hättest! Nicht wahr, Fellner“, fuhr sie zum
Gesellschafter gewandt fort, „ich weiß wirklich nicht, was mein Mann
ohne Sie anfangen würde.“

Don tut solches Lob sehr wohl. Er verlangt ja nichts, als dieses
bischen Anerkennung. Überhaupt ein anspruchloses, kindliches Gemüt.
Er fühlt sich wohl, trotz seines Automatenlebens. Mich aber ergreift
bisweilen etwas wie Mitleid, wenn ich ihn betrachte. Nicht, daß er
einen überarbeiteten Eindruck macht! Nein, wahrlich nicht. Sein rundes,
gerötetes Gesicht, und die über das Maß behäbige Gestalt erinnern
vielmehr an die lustigen Mönche auf den Grütznerbildern. Es kommt
daher, weil er fast keine Bewegung macht und seinen Teller stets bis an
den Rand füllt. Vom Morgen bis Abend muß er trockene Geschäftsdiktate
schreiben, aus alten Urkunden vorlesen, förmlich Verzicht leisten auf
seine Individualität. Für solche Menschen wird das selbstständige
Denken Luxussache, sie gestatten es sich nur in den seltensten Fällen,
gewöhnen es sich schließlich ganz ab und leben dahin, wie das liebe
Tier.

„Na ja natürlich. Es ist immer Alles recht, was Dein lieber Fellner
tut“, versetzt Großpapa in eifersüchtigem Ton.

„Es ist schon gut. Jetzt ein bissel ruhig sein, lieber Ferdinand, sonst
überzuckst Du Dich.“

„Du hast aber viel an mir auszusetzen. Früher, da hast Du immer nur die
guten Seiten gesehen.“

„Du warst aber auch ganz anders. Aussehen und Manieren wie ein Prinz“,
versicherte sie mir.

„Natürlich, man wird alt.“ Und dann intoniert er mit zitternder Stimme
die schöne schwermütige Melodie aus dem „goldenen Kreuz“: „Jenun,
man trägt, was man nicht ändern kann.“ Ja, das waren Zeiten damals.
Soll ich Euch erzählen, wie ich die Mama kennen lernte? Und trotz
einstimmigen Protestes beginnt er die Geschichte von Neuem:

„Ich habe mit ihrem Bruder am Gymnasium studiert. Wir waren sehr gut
miteinander und er hat mich im Hause meiner nachmaligen Schwiegereltern
aufgeführt. Constanze saß am Fenster neben ihrer Mutter und arbeitete
an einer Stickerei. Damals haben die Damen Locken getragen, und ich
schwärmte seit jeher für blondes Haar. Und sie hat so herrliches
gold-blondes Haar gehabt, -- eine Locke, die ihr bis unter die Taille
hieng. Sie sehen und mich verlieben war eins. Mein Vater war ganz wild,
weil ich ihm erklärte, daß ich bereits meine Wahl getroffen hatte.
Die oder Keine. „Dummer Bub“ hat er gesagt, „lern’ Du lieber. Mit dem
Heiraten hat es schon noch Zeit.“

„Das glaub’ ich“, mengte sich Don höchst respektswidrig ins Gespräch.
„Der Herr Baron sind ja noch vor der Schultafel gestanden.“

Großmama, die sich zuerst ablehnend verhalten, lächelte nun doch etwas
geschmeichelt, und er fährt fort:

„Vier Jahre, sage vier Jahre -- beinahe so wie der Jakob um Rebekka,
hab’ ich um die Mama geworben. Und weil mein Vater sah, daß ich meinem
Entschlusse treu blieb, gab er nach. Aber er sekierte mich in einemfort
und sagte: „Geh’ bild’ Dir nur ja nichts ein: die Constanze mag Dich ja
gar nicht.“ Die Mama wollte mir nämlich nie öffentlich einen Kuß geben,
aus übertriebenem Schicklichkeitsgefühl. Schließlich mußte er seine
Vermutung doch aufgeben.“

„Genug, genug, lieber Ferdinand,“ bestimmte Großmama, doch diesmal
fügte er sich ihrem Wunsche nicht: „O nein Mylady: jetzt kommt gerade
das Piquante.“

„Schämst Du Dich denn nicht, vor dem Kind?“ Ich war nämlich noch immer
das Kind.

„Nein, gar nicht. Es war bei einem Spaziergang. Die Eltern giengen
ein Stück voraus und ich schlich zu Constanze, die etwas im Zimmer
vergessen hatte. Wir benutzen die Gelegenheit, und wie wir mit einander
schnäbeln, steht plötzlich mein Vater vor dem Fenster und ruft in
seiner ungenierten Art herein: „Ah, da schaut’s nur einmal her:
Tut’ immer als ob’s nicht Drei zählen könnt’ und laßt sich dann von
ihm abbusseln.“ -- Wie die Mama erschrocken und verlegen war! Ganz
feuerrot. Geweint hat sie vor Verzweiflung. Gelt Mylady?“ und er
tastet nach ihrer Hand.

Um Ruhe zu haben, reicht sie ihm die Fingerspitzen und während er sie
an seine Lippen führt, murmelt sie, den Blick himmelwärts gerichtet,
als riefe sie unhörbare Zeugen an: „Nein -- nein diese Fadheiten.“

Und Tante Nilla rümpft die Nase und ißt stillschweigend weiter. Sie
spricht jetzt womöglich noch weniger als früher. -- Man sieht und
hört sehr wenig von ihr. Nur wenn die Turmuhr Mittag verkündet, tritt
sie in einen dicken Mantel gehüllt, das Gesicht mit einem Schleier so
vermummt, daß man gar nichts von ihren Zügen sieht, auf die Terrasse.
In der einen Hand trägt sie einen Marktkorb, in der anderen eine enorme
Gießkanne. Rechts und links von Hunden in einer abenteuerlichen Uniform
-- marineblau mit grauen Borten -- flankiert, so findet sie sich bei
ihren Schützlingen ein.

An einer entlegenen Stelle des Gartens ragt eine stattliche Colonie
empor, an der beständig hinzugefügt, vergrößert wird. Nie haben
altersschwache Eichkätzchen, flügellahme, hinkende Krähen eine
fürsorglichere Pflegerin, ein comfortableres Heim besessen.

Und hier taucht die schweigsame Tante auf. Sie spricht mit diesen
stummen Geschöpfen, als wenn es ihresgleichen, vernünftige Wesen wären,
und legt eine Zärtlichkeit in ihre Stimme, wie sie nur weichen Gemütern
eigen ist. Sie tadelt und lobt, streichelt sie, und lacht fast
übermütig auf, wenn Eines oder das Andere Allotria treibt. Es ist nicht
mehr dieselbe, etwas düstere Erscheinung, wie wenn sie unter Menschen
weilt. Nichts von jener unnahbaren Haltung, die von vornherein jedes
herzliche Verhältnis ausschließt.

Und es ist, als ob die Tiere sie verständen. Jedes kennt seinen Namen
und niemals meldet sich ein falscher. „Nirps!“ und der Doyen der
Krähen, ein einäugiger, ziemlich zerzupfter Gesell kommt herangetänzelt
und dienert vor ihr, oder „Stutzl“, das Eichhörnchen mit dem
angeschossenen Bein versucht einen Purzelbaum zu schlagen. -- Im Großen
und Ganzen eine traurige Gesellschaft. Mir tut ihr Anblick weh.

Ich blicke mit einer Art Staunen zur Tante hinüber: sie ist eine
von Jenen, aus denen man nicht klug wird. Vielleicht war ihr einmal
Böses widerfahren und der alte Groll lebt in ihr fort und macht sie
fühllos den Menschen gegenüber. Wer weiß! Ich hätte etwas darum
gegeben, dieses Problem zu lösen, doch es gelang mir nie. Tante Nilla
wußte ihre Persönlichkeit und alles was damit zusammenhieng, in das
undurchdringlichste Dunkel zu hüllen. Sie war und ist mir immer ein
Rätsel geblieben. Ihre Liebe zu den Tieren bildete sozusagen das
einzige Bindeglied zwischen uns. Denn auch ich schwärmte für so etwas
Kleines, Vierbeiniges, das wir im Garten hatten, ein junges Reh. Es ist
eine Waise und -- namenlos.

Wir nennen ihn nur: „Er.“ -- Das sagt aber auch Alles. Er ist eines
jener bevorzugten Wesen, die sich die Herzen Aller im Flug erobern,
ohne selbst etwas dazu zu tun. „Er“ ist, „er“ existiert und das genügt
vollkommen, dadurch erfüllt „er“ seine Pflicht. Nicht, daß er sich
etwa keiner äußeren Vorzüge rühmen darf: ganz im Gegenteil, er ist in
Allem und Jedem der comble der Vollkommenheit. Welche Anmut, welch’
hinreißende Grazie er besitzt, das hält nur Jener für möglich, der ihn
selbst gesehen. In seiner Haltung, dem stolzen Tragen des Kopfes, dem
leicht gewiegten Gang liegt eine Poesie ohnegleichen. Er hat eine Art
und Weise, Einen anzublicken, die wie Sonnenschein ins Innere dringt;
im feuchten Glanz der großen dunklen Augen liegt etwas, das zum Guten
mahnt, und einem Jünger Apoll’s die lieblichen Worte entlockte.

    „Hat diese Welt als einz’gen Lohn
    Für mein Bemühen, Spott und Hohn,
    Kann nichts mein Herz so tief erquicken,
    Als in Dein arglos Aug’ zu blicken.“

Und er war tatsächlich im Zeichen der Poesie geboren. „Im wunderschönen
Monat Mai, als alle Knospen sprangen, da war sein Lebenslichtlein
aufgegangen.“ Im Waldesschatten, nahe dem murmelnden Bach, hatte
seine Wiege gestanden; bemooster Boden, um den sich zartgrünes
Brombeergestrüpp schlang, und dort habe ich „ihn“ gefunden.

Sein Vater hatte sich in Ermangelung jeden Sinnes für Familienpflichten
auf und davon gemacht, und da „ihm“ ein tückisches Schicksal die
natürliche Ernährerin von der Seite gerissen, stand „er“ allein und
hilflos da, inmitten der weiten Welt.

Wie er zitterte in seinem Versteck und mit der weichen Sammetschnauze
meine Lippen beschnupperte! Dann begehrte „er“ infolge einer optischen
Täuschung stürmisch nach meinem Handschuh, den ich ihm auch bis auf
Weiteres willig überließ.

Ich drückte das liebe kleine Ding mit dem gefleckten Fell zärtlich an
mich, mit der Empfindung, einen Schatz gefunden zu haben. Aber mit
zärtlichen Gefühlen allein nährt man kein monataltes Reh, und so hieß
es denn, die materielle Seite in’s Auge zu fassen. Ich machte mich mit
meiner leichten Bürde auf den Heimweg und sah der Zukunft frohgemut
entgegen, denn die Adoption schien mir, wenigstens vorderhand, mit
keinen unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden. Ein eingezäunter
Platz der Obstwiese sollte sein neues Heim werden, und zur Wärterin
bestellte ich mich selbst. Die Bedürfnisse meines kleinen Kostgängers
waren recht bescheidene, und der Dank, mit dem er jede Aufmerksamkeit
entgegennahm, verdoppelte die Freude, für ihn zu sorgen.

Wenn ich ihn in den Armen hielt und er heißhungrig die mit warmer
Ziegenmilch gefüllte Saugflasche bearbeitete, bot sich mir Gelegenheit,
ihn bis in’s Detail zu studieren, und ich gewahrte Schönheiten, die
mir im ersten Augenblick entgangen waren. So weich und harmonisch war
Alles an ihm, so rührend der Ausdruck des Köpfchens, mit den langen,
aufgebogenen Wimpern und den seidigen Losern. Dann stellte ich ihn auf
die Erde und er machte kleine, furchtsame Schritte, wobei er jedoch die
übermäßig langen Beine mit einer Behutsamkeit und Grandezza voreinander
setzte, als wäre er ein Tanzmeister in Lackschuhen. Er folgte mir
auf Schritt und Tritt, benahm sich immer gut und würdevoll. -- „Er“
ist zum Tagesgespräch geworden und es machte uns Spaß, ihn im Geiste
in den verschiedensten Verkleidungen vor uns zu sehen. Bald stellten
wir ihn uns als Troubadour vor, an der Mandoline zupfend, bald wieder
im kleidsamen Rokokocostüm mit Zweispitz und Hackenschuhen, auch im
Spitzhut des Touristen, bis wir zum Resultate kamen, daß er überhaupt
nicht mehr schöner sein könne, als er war.

Wir erfanden ganze Geschichten, die wir zum Schlusse für wirklich
wahr hielten und in denen „Mutzamein“, eine zarte, weiße Katze,
die Hauptrolle spielte. Es gieng das Gerücht, daß „er“ sie zur
Wirtschafterin engagiert habe und wenn wir vor der Thür ihr „Miau“
vernahmen, frugen wir, als ob es sich von selbst verstände: „Was will
denn der gnädige Herr?“ -- „Gnädiger Herr?“ Im Grunde aber hegten wir
die feste Überzeugung, daß er bedeutend höher auf der socialen Leiter
stünde, etwa „Chevalier“ war, Marquis oder spanischer Grand. Alles
sprach dafür, wenn man auch keine bestimmten Tatsachen nachweisen
konnte. Sein elegantes Auftreten, sein vornehmer Geschmack. Er nahm
nur Delicatessen zu sich, das Erste, Saftigste, was die jeweilige
Jahreszeit bot -- Veilchen, frische Rettigblätter, die er mit
Kennermiene verzehrte, Rosen, Erdbeeren und geschnittene Äpfel.

Sehr komisch war es anzusehen, wenn er Baumäste und niederes Buschwerk
attaquierte und dazu die tollsten Sprünge machte. Er konnte eben tun,
was er wollte, wir fanden Alles „herzig“, unnachahmlich.

Robert schien sein Anblick zu ergötzen und das stimmte mich milder
gegen ihn. Ich hatte mich indes getäuscht.

„Im nächsten Frühjahr kann er ein ganz passabler Bock sein. Dann lassen
wir ihn hier im Garten aus und veranstalten eine Jagd.“

Obwohl es halb im Scherz gesagt war, empörte mich die Äußerung. Es lag
so viel Taktlosigkeit darin, so viel Rohheit des Gefühls.

       *       *       *       *       *

Ein Tag vergieng wie der andere, -- und die Jahre flossen dahin in
ruhiger Gleichmäßigkeit. Ich merkte es kaum -- es war mir zur zweiten
Natur geworden, dieses Leben, arm an Ereignissen und reich an Arbeit.

Ab und zu kam Besuch aus der Nachbarschaft und da erzählten dann die
jungen Mädchen von den Erlebnissen im Fasching und in der Stadt. Bälle,
Rennen, Toiletten und Courmacher. Sie kannten kein anderes Thema, ich
wußte nicht mitzureden und so blieben wir uns fremd.

Und doch, wenn sie gegangen, beschlich es mich wie leise Wehmut. Eine
so eigentümliche Empfindung. Ich kann nicht sagen, was es ist. Es lehnt
sich etwas in mir auf. Es fehlt mir etwas. Dann eile ich, von innerer
Rastlosigkeit getrieben, von einem Zimmer in das andere, hinaus in den
Wald, und da wird mir leichter.

Es ist so ruhig und friedlich um mich her. Ich schließe wie unbewußt
die Augen und atme in langen Zügen die würzige Harzluft ein. Das
Rauschen der Bäume klingt wie Musik an mein Ohr. Welch’ eigentümlicher
Zauber liegt doch in dem Zusammenklang dieser mannigfachen Töne, welche
Harmonie in dem bald nahen und lauten Flüstern, bald weit und leise
schallendem Echo!

„Tok-tok“ tönt es in regelmäßigem Rytmus vom nahen Baumstamm herüber.
Meister Specht hat wohl eine Postarbeit zu vollenden, und unwillkürlich
muß ich über die Geschäftigkeit des bunten Vogels lächeln. Die alten
Tannen neigen zustimmend das Haupt, und die zwei Eichkätzchen, auf
deren Fell gerade ein Sonnenstrahl fällt und es goldig schimmern
macht, halten in ihrem Haschen inne, als schämten sie sich ihrer
Spielsucht, aber schon im nächsten Moment beginnt die tolle Jagd
von Neuem. Leichtfertige, schnelle Dinger! -- Glückliche Geschöpfe,
die nichts ahnen vom schnellen Entschwinden der Zeit, nur die Lust
des Augenblickes kennen, ohne Furcht und Reue. Wer weiß, sie sind
vielleicht klüger als Jene, denen so manches Vorurteil das volle
Genießen verbittert.

Ein welkes Laub wirbelt mir in den Schoß und ich schrecke nicht
zurück vor der Berührung mit dem bleichen Gespenstchen; es will mir
fast wie ein Widerspruch scheinen, denn auch hier weht mir kalter,
erbarmungsloser Todeshauch entgegen. Auch in diesen zarten Äderchen
hat noch vor Kurzem Leben pulsiert, frisches, warmes Leben, das ein
einziger Windstoß, ein leiser Ruck vernichtet hat. Ich seufze auch
nicht, während ich es zu Boden gleiten lasse. Mag es hier auf der
feuchten Erde liegen bleiben und vermodern, mögen achtlose Menschenfüße
es zu Staub zertreten, es hört nicht auf zu sein, wenn auch in anderer
Form und Weise. Mutter Natur hat ein zu großes, liebendes Herz, sie
hängt auch am kleinsten ihrer Kinder und will sich von ihm nicht
trennen.

Alles um mich her strömt intensive Lebensfreude aus. Ein schillernder
Schmetterling wiegt sich im Cyclamenbecher und schlürft berauschenden
Trank.

Die kleinen naseweisen Ameisen summen etwas von „fleißig sein.“
Offenbar behagt ihnen mein müßiges Träumen nicht. „Nun laßt aber
auch sehen, ob ihr vollkommen genug seid, um Anderen gute Lehren zu
erteilen?“

Behutsam nähere ich mich dem aus Erde und Tannennadeln gebildeten
Haufen, in dem es schwarz wimmelt. Ich halte den Atem an und sehe
gespannt dem regen Treiben zu. Was das für geschickte Baumeister
sind! Wie klug und systematisch die Strohhalme, Nadeln und Holzspähne
auf einander geschichtet sind! Aus der winzigen Baumhöhle schöpfen
sie unermeßliche Reichtümer aus selbstfabricierten Sägespähnen. Eine
Ameisenabteilung steht auf dem balconähnlichen Vorsprung und wirft
aufrecht stehend, mit den Vorderfüßen den unten harrenden Cameraden
staubähnliche Splitter zu. Jene Anderen, welchen die Sorge für die
Mittagstafel obliegt, schleppen mühsam einen Käfer, ein totes Würmchen
herbei; sie keuchen gewiß unter der schweren Last, aber Entmutigung
kennen sie nicht. Nach minutenlanger Rast nehmen sie die Bürde wieder
auf und frisch geht es dem Ziele zu. „Nur nicht verzagen“, das ist ihr
Motto.

Ich lasse mich auf einen Reisigbündel nieder und meine Betrachtungen
schweifen von der emsigen Colonie dem blauen, wolkenlosen Himmel zu.
Wie gleichmäßig spannt er sein Zelt aus, wie unergründlich ist sein
Lächeln, das er auf so viel Glück und auf so viel -- Elend herabsendet!
... Ich kehre wieder zur Erde zurück und lenke den Blick auf die vor
mir liegende Waldpartie. Nicht ohne Wohlgefallen wende ich das Auge von
den alten hundertjährigen Buchen- und Eichenbeständen zu den Kindern
späterer Zeit, deren Prachtentfaltung der Zukunft gehört. Es macht
einen angenehmen Eindruck, dieses frische, saftige Grün, im Gegensatz
zu dem ernsten Dunkel, das wie ein Schatten, eine erfahrungsreiche
Mahnung zur Jugend hinübersieht. „Was könnten wir Euch erzählen, wie
trefflich Euch raten; noch verschmäht Ihr unsere Warnungen, einstens
aber werdet Ihr an uns denken.“ -- Vergeßt Ihr wieder einmal, Ihr
Alten, daß auch Ihr in Jugendfülle und Übermut dastandet, den Lenzhauch
in Eueren Ästen rasten ließet und die gefiederten Liebespaare in Eueren
Zweigen beherbergtet?“

Im Grase zu meinen Füßen schimmert es in schillernder Taupracht.
Es zittert und weht hin und her, wie der zarteste mit Goldfiligran
verwobene Spitzenschleier. Bedächtig zieht sie einen Faden um den
andern, die langbeinige Spinnerin, ganz unbekümmert um die arme
gefangene Eintagsfliege, die Todesqualen leidet. „Warte nur, Du
grausamer Tyrann! Wir leben nicht mehr in der Zeit des Faustrechtes;
einer schöneren Periode geht es entgegen, wo es keine Hinterlist,
keinen Betrug und -- keinen Krieg mehr giebt.“ Ich fahre mit der
Schirmspitze in den flimmernden Dunst und jetzt ist es mir leichter.
„Lebe, kleine Fliege und schwing’ Dich mit den glashellen Flügeln in
den blauen Äther empor.“

Brombeerstauden umschlingen die Baumstümpfe des Holzschlages und die
schwarzen Früchte blicken mir verlockend entgegen. Ist es denn so lange
her, daß ich an diesem Plätzchen gekniet und Erdbeerlese gehalten habe?
-- Ja, das Rad der Zeit rollt unaufhaltsam fort. Auch der Frühling, die
Jugend entflieht und der Herbst meldet sich. Doch es gibt ein schönes,
frohes Alter, es entsprießen ihm süße, erquickende Früchte, wenn ein
Lenz der Gewissenhaftigkeit, ein Sommer treuer Pflichterfüllung
vorausgegangen.

       *       *       *       *       *

Die Tante und ich, wir nahmen seit längerer Zeit regen Anteil an der
Friedensbewegung und waren mit vielen Gleichgesinnten in schriftlichen
Verkehr getreten. Und wir hätten es nur natürlich gefunden, wenn das
gesammte weibliche Geschlecht sich verbündet hätte, um der Kriegsfurie
Einhalt zu gebieten. Mußte denn nicht jedes Mutterherz bluten, bei der
Vorstellung, daß sein Kind eines Tages verstümmelt, zerfetzt, unter
namenlosen Qualen zugrunde gieng? -- Doch nein, es war noch immer Mode,
die Söhne altadeliger Familien in militärischen Anstalten erziehen
zu lassen, und wer es wagte gegen den Strom zu schwimmen, wurde mit
scheelen Blicken angesehen.

Zudem gab es mehr als einen Retrograden, der aus Princip ein wütender
Gegner der Bewegung war, sich mit Händen und Füßen wehrte, und ihr mit
beißendem Hohn begegnete.

In unserem Dorfe selbst verhielten sich die meisten Leute, namentlich
zu Beginn, ziemlich mißtrauisch. Wenn sich einmal ein Bauer etwas in
den Kopf setzt, läßt er es sich nicht so leicht wieder ausreden, und
sie hatten von jeher an dem Grundsatz festgehalten: „Nur ja schön
vorsichti sein, sonst sitzt mer mir nix, Dir nix in der Patschen. Und
gar wann’t Herrschaft d’ Hand im Spüll hat -- die kunnt an ausnutzen
und dabei no profitieren.“

Diesen Leuten gegenüber mußte man also eine eigene Taktik einschlagen.
Ihnen schroff begegnen, hätte sie abschrecken geheißen von allem Anfang
an, und sie bitten, wäre ebensowenig das Richtige gewesen. Es blieb
nur eine Möglichkeit: sie selbst zum Denken zu bringen. Wir verteilten
Flugschriften unter die Erwachsenen und beschenkten die Kinder
mit kleinen hübschen Geschichten. Und war gerade der Büchervorrat
erschöpft, so erhielten sie Spielzeug und andere Kleinigkeiten. Hin
und wieder nahm ich die Vernünftigeren auf einen Spaziergang mit, und
das schmeichelte den Eltern ungemein: „Mußt schön fleißi sein und Dein
G’setzel auswendi lernen, nachha darfst an ein Sunndag mit der Baroneß
Mimi gehen“, und die Kinder folgten gern.

Und im Verkehr mit diesen jungen Geschöpfen fühlte ich mich selbst in
meine Kindheit zurückversetzt. Meine Lieblingspuppe „Clementine“ hatte
ich dem kleinen Hauer-Reserl geschenkt und die trennte sich nicht
mehr von ihr. „Wissen’s Baroneß, ich hab’ die Tini so gern, weil’s
Ihnen g’hört hat“, versicherte sie ernst. „Überhaupt, wann Sie mir was
schaffen, so freut’s mi immer. Das war so schön, was mer neuli zum
Lesen geben haben.“

„Was war das Reserl? Ich erinnere mich nicht mehr.“

„No die G’schicht vom Soldaten, der stirbt, und wie sei kleine Tochter
ins Spital kommt und sagt, daß ohne Vattern nit leben will.“

„Ja, Reserl, gelt’ das is traurig, wenn’s so anem Kind sein Liebstes
erschießen!“

„Und ob.“ Drauf ward sie schweigsam. -- -- Sie gieng mit zaghaften
Schritten neben mir her; das Köpfchen hielt sie etwas gesenkt und
die langen schwarzen Wimpern warfen dunkle Schatten auf ihr blasses,
schmales Gesicht. Sie war kein schönes Kind, aber eigenartig durch
und durch. Für mich hatte sie eine große Schwärmerei, -- ich glaube
sie hieng noch mehr an mir als an den Eltern -- und dann noch für die
dunklen Pensèes, die in mannigfachen Farbenzusammenstellungen unsere
Gartenbeete zierten.

„Goldblumen“ so nannte sie sie, meine stummen Rivalinnen. Ich habe
die Kleine einst belauscht. Sie kniete, winzig wie ein Käferchen,
vor einer Gruppe der genannten Blumen, den Oberkörper etwas nach
vorn gebeugt, die Arme wie segnend ausgebreitet, während ihre Augen
in unbeschreiblicher Verzückung an den dunklen und gelben Köpfchen
hiengen. Ein Lächeln, das ich nie vorher an ihr gewahrt, verklärte
ihre Züge und dann plauderte sie mit den sammtenen Geschöpfen. „O wie
schön Ihr seid, meine lieben Goldblumen, schöner, viel schöner als die
Rosen und Nelken, -- ein Jed’s ein anderes G’sichterl. Ihr solltet’s
nie verdorren. Habt’s nur keine Angst. Ich pflück’ Euch nicht: ich tu’
Euch nichts zu Leide.“ Und dann küßte sie jede einzelne auf das sanfte
Blumengesicht.

Ich lauschte stumm und tiefergriffen. Es gab also Kinder mit
angeborenem poetischen Empfinden, das der Schlamm, der Schmutz, in dem
sie ausgewachsen, nicht zu ersticken vermocht. Was konnte aus einem
solchen Wesen werden, wenn es in die richtigen Hände geriet -- und
umgekehrt. -- -- --

Die paar Stunden in der Schule und dann sich selbst überlassen, den
lieben langen Tag. -- -- Wieviel schöne Anlagen, die nie zur Ausbildung
gelangen, wieviel Talente, von denen Niemand ahnt. -- Aber freilich,
wo soll der Staat das Geld hernehmen für die Erziehung, wenn er es so
nötig braucht für neue Uniformen und Gewehre.

Sie war nur eine der Vielen, die den trostlosen Verhältnissen zum Opfer
fallen und ich wurde unendlich traurig bei dem Gedanken. „Armes, armes
Reserl.“

       *       *       *       *       *

Bei meinem Vetter gieng etwas nicht mit rechten Dingen zu: wir merkten
es ihm deutlich an, und schließlich rückte er mit der Sprache heraus.
Um doch irgendwie die Zeit totzuschlagen, hatte er sich dem Spiritismus
gewidmet. Er befaßte sich mit Tischklopfen und Geisterschrift und gab
sich alle erdenkliche Mühe, uns für seinen neuesten Sport zu gewinnen.
„So versucht es doch nur einmal. Ich begreife gar nicht, wie man an
dem Einwirken überirdischer Mächte zweifeln kann.“

„Wir läugnen auch gar nicht, daß es noch unerforschte Kräfte gibt, in
der Natur: ich selbst glaube -- d. h. bis zu einem gewissen Grade an
Suggestion, und an Hypnose: doch das hat mit Deinen Geistern nichts zu
tun“, erwiderte Tante Laura.

„Du willst also nicht zugeben, daß welche existieren. Wir haben aber
Beweise dafür.“

„Du bist jedenfalls sehr genügsam, Robert, wenn Du Dich damit zufrieden
gibst, daß sich im finstern Zimmer ein Tisch bewegt, oder wenn Du
fragst, Antworten erteilt, die Dir der erste beste Bauer geben könnte.
Ich verlange da schon etwas mehr.“

„Was sollten sie denn sagen? Sie müssen ja auf das Niveau unserer
Vernunft herabsteigen, um sich uns verständlich zu machen.“

„Sie müßten im Gegenteil unseren Geist erleuchten, unser
Auffassungsvermögen erweitern, damit wir ihnen über die Alltäglichkeit
hinausfolgen könnten. Uns ganz ungeahnte, verblüffende Dinge enthüllen,
uns von der Zukunft prophezeien. Kannst Du mir etwas in dieser Art
anführen?“

„Es ist sehr schwer mit Solchen zu discutieren, die von vornherein
nicht glauben wollen.“

„Wenn es Dir gelänge, mich zu überzeugen, würde ich mich gewiß nicht
sträuben: aber bis jetzt habt Ihr nichts Markantes aufzuweisen. Im
Gegenteil, es ist ja nachgewiesen, daß die paar Haupteffekte, mit
denen sich die Spiritisten so gerne brüsten, auf schwindelhaften
Manipulationen beruhen. Weshalb scheuen Euere hohen, freien Geister
das Tageslicht? Soll nur einmal Einer eine ~séance~ bei Sonnenschein
halten! Das versuchen sie aber wohlweislich nicht: „im Dunkeln ist’s
gut munkeln.“ Und, soll ich Dir offen meine Meinung in dieser Frage
sagen?“

„Gewiß“, versetzte er zögernd.

„Ich halte es geradezu für ein Unrecht, für einen Betrug, der dummen,
leichtgläubigen Menge solchen Hokuspokus vorzumachen, sie auf den
Holzweg zu führen.“

„Aber Du, die Du so viel auf Ethik gibst, siehst Du denn nicht das
veredelnde, erhebende Moment? Die Leute werden sich mit ihrem Schicksal
viel eher aussöhnen, wenn sie in der Erwartung eines idealen Jenseits
leben.“

„Robert Robert, Du tust mir wirklich leid. Ich finde keine Spur von
Ethik, noch von Ästhetik in wandelnden, weißdrapierten Gerippen, die um
Mitternacht in den Möbeln rumoren, und furchtsame Leute an den Ohren
zupfen.“

„Immer die realistische Auffassung.“

„Aber doch mit Recht. Und Scherz beiseite, nur Leute im höchsten Grade
der Nervenzerrüttung, anormale und schwache Menschen, die einen Profit
erhoffen, die nicht Mut genug besitzen, sich in das Unabänderliche
einer Trennung zu fügen, sind Euere Genossen. -- Ja, wenn die Lieben
widerkämen“, fügte sie in Selbstvergessenheit hinzu, „dann freilich
wär’ der Abschied nicht so bitterhart. Aber bloß weil wir es wünschen
-- das genügt nicht.“

Auch ich seufzte auf und Robert trachtete meine Stimmung auszunützen:
„Du hast kein Wort gesagt? Du hältst es doch wenigstens nicht für
unmöglich?“

„Ich glaube nicht daran.“ „Wahr, wahr in allen Consequenzen, und wenn
das Herz darüber bricht“, es war sein heiliges Vermächtnis.

„Das reine Echo Deiner Tante“, versetzte er spitz und gieng.

       *       *       *       *       *

Mein Geburtstag. Ich bin 24 Jahre alt geworden. Wie ist das nur
gekommen, so rasch, so unvermerkt? Was war mein Leben bis jetzt
gewesen, und was würde es in Zukunft sein? -- --

Es klopft.

„Herein!“

Hannerl in ihrem besten Staat wünscht mir alles erdenkliche Gute. Ihr
Gesicht strahlt vor eitel Wonne, seit Großmama auf unser Zureden,
ihre Einwilligung zur Heirat mit Fertel gegeben, der nun zum Förster
avanciert war.

Im Winter sollte Hochzeit sein, und täglich nach Feierabend arbeiteten
sie an der Einrichtung ihres neuen Heims. Hannerl wurde nicht müde, mir
darüber zu berichten:

„Das erste Zimmer soll lichtgrün werden -- der Plafond mit Blumen in
den Ecken -- und der Glaskasten soll“ -- -- „Ein weißes Haar“ -- „da
schauen Baroneß“, und mit naivem Interesse hielt sie mir die eine
Flechte hin. „Aber nicht ausreißen“, bat sie, als ich es herausziehen
wollte -- -- „das ist ja schön“, und sie plauderte weiter.

Ich aber war nachdenklich geworden. Und wieder kam es über mich, jenes
ängstliche, beklemmende Gefühl, das mich in letzter Zeit so häufig
beschlich. Eine Art Schwindel und dabei ein Prickeln unter der Haut wie
von 1000 Nadelstichen. -- -- Ich fühlte mich abgespannt und müde; dabei
ward es mir zu eng im Zimmer, ich meinte zu ersticken.

Vor dem Tor erwartete mich die Schar der kleinen Gratulanten aus dem
Dorf. Sie waren komisch anzusehen, wie sie dastanden, geschniegelt und
gestriegelt, und in sichtlicher Befangenheit an ihren Schürzen zupften.
Atemlos, als jage Jemand hinter ihnen drein, plapperten sie ihren Vers
herunter und seufzten erleichtert auf, als sie damit zu Ende waren.

Nur Reserl hielt mir stumm einen Strauß Reseden hin und küßte mir die
Hand. Da stieg es mir heiß in die Augen und ich wandte mich rasch ab --
-- es sollte Niemand sehen, wie unaufhörlich mir die Tränen über die
Wangen rannen, hinab auf die Hände, die hellen, salzigen Tränen.

Das Laub prangt in den glühenden, satten Farben des Herbstes, und
feuchte Nebel rieseln herab. Ein eigentümlicher Modergeruch erfüllt die
Luft, und zahllose welke Blätter bedecken die Erde. -- Ein winziger
Vogel hüpft von Ast zu Ast und singt -- -- es klingt so traurig und
gemartert.

Graue Wolken jagen am Himmel dahin: eine unerklärliche Lust erfaßt
mich; sie zu haschen, die so rasch entfliehen. „Bleibt, eilt nicht so!“
-- -- Alles vergeht, ich komme mir so alt vor, und erst später -- wie
lang wird’s dauern!

Namenlose Traurigkeit erfüllt mich. Ich möchte mich hinlegen zu den
toten Blättern und mit vergehen im großen Sterben der Natur.

Müde lassen die letzten Blüten ihre Köpfchen hängen, als hätten sie gar
Schweres zu tragen. Wer weiß! Es kann ja Niemand in einer Rosenseele
lesen!

Auf den Wiesen spannt der Altweibersommer seine Fäden aus. -- --
Langgezogen und schwermütig tönt der Pfiff der Eisenbahn zu mir
herüber, wie der letzte, jammervolle Aufschrei einer gequälten Seele.

Dann ist es still. Das Ende. Wie öde, wie leer! Und plötzlich kommt mir
ein Lied in den Sinn, das ich die Tante singen gehört, das Tosti’sche
„Ninon“:

    „~Ninon, Ninon, que fais-tu de la vie?
    Rose ce soir, demain flétrie.
    Comment vis-tu?
    Toi qui n’as pas d’amour?~“

Morgen schon „vorbei“. -- -- Jede Minute arbeitet langsam aber sicher
am Zerstörungswerk. Unaufhaltsam treibt die Natur ihr grausames Spiel.
Sie schafft mit Feenhänden, um mit Keulenschlägen zu zertrümmern.

Nichts bringt uns das Heute zurück. -- Das Leben ist so kurz -- und im
Weibe wohnt der Drang -- sich hinzugeben in der Rosenzeit. Es ist so
traurig, dahinzuwelken, ohne geblüht zu haben.

„Vierundzwanzig Jahre“, und ich betrachtete mich lang im Spiegel. --
Ich sah bedeutend jünger aus. -- -- Aber es war doch nicht mehr der
taufrische Teint, der leuchtende Blick von früher. -- Und dann auf der
Stirne, um die Mundwinkel -- die ersten Fältchen, unmerklich dünne
Linien noch -- aber wie lange?

Vielleicht war ich überhaupt nie jung gewesen? Eine Scheintote, die
plötzlich aus dem Sarge steigt um die Rechte der Lebenden zu fordern
„Glück und Liebe.“

In der Arbeit liegt Befriedigung: ich hatt’ es selbst erfahren. -- --
Aber alles ersetzen -- nein -- -- das hat sie nicht vermocht.

Mein Herz begann zu klopfen, so laut und bang. Ich hörte seine Stimme
deutlich: sie sprach von „Leben und Genießen.“

       *       *       *       *       *

Der Winter zeigte sich ganz besonders hartnäckig in diesem Jahr und die
Post hatte infolge der argen Verwehungen wieder einmal Verspätung.
Der alte Witzelsberger lädt uns ein, in der Wohnstube Platz zu nehmen,
und wir folgen der Aufforderung gerne, denn er ist ein guter Mensch,
und einer von den Wenigen, die Schritt zu halten wissen mit ihrer
Zeit, so weit man es von einem simplen Bauer verlangen kann. In seinen
Mußestunden -- d. h. wenn er nicht amtlich zu tun hat -- betreibt er
das Schusterhandwerk, und während er auf seinem Dreifuß sitzt und
die Ahle durch das spröde Leder gleiten läßt, schweift sein Geist in
höheren Regionen. Er dichtet nicht, wie Hans Sachs, hat aber einen
offenen, empfänglichen Sinn für Alles, was die Welt bewegt. Eine
gesunde, derbe Vernunft leuchtet durch jede seiner Äußerungen, und
unter dem groben Barchentkittel steckt ein braves, ehrliches Herz.

Eben befestigt er eine Sohle an winzigen Kinderschuhen: „Die san für
die klane Bucher-Lisi aus Polenz“ erklärt er uns. „S’ war ja eh nimmer
zum Anschaun, was das arme Hascherl g’froren hat. Blaurote Füß und kein
Feuer im Ofen! -- Ja, wenn mer so in die Häuser einerschauert, da hätt’
mer bald g’nua. S’ Armsein, ja!! -- Wann eins no g’sunde Glieder hat,
und was verdienen kann, aber so an Existenz wie die sieche Hablarin --
kan Menschen zur Pfleg, und nit allemal a Stückel trockenes Brot im
Haus -- wahrhafti, s’ Herz kunnt’s Einem im Leib umdrahn. -- Und da
kauft si so a Millionarstochter um 30000 Gulden (nochmals, und sehr
gedehnt) um dreißigtausend Gulden eine seltene Pflanzen. Ja, versteh’ns
denn dös? I hab’s rein nöt glauben wollen, wier’ is g’lesen hab’. --
Die Blumen, und wenn’s a no so schen is, wie lang dauert’s denn, und
sie laßt ’n Kopf hängen? Und herentwegen, wie vüll Gut’s ließert si
mit dem Geld machen. Die wissen’s Alle miteinander nicht, die reichen
Leut’, was für a furchtbare Verantwortung als’ haben.

Vor ein paar Täg’ is in der Zeitung g’standen, daß ein Abgeordneter --
der Namen fallt mir nit glei ein -- von an Steuerzuschlag g’sprochen
hat. Viel macht’s für’n Einzelnen nit aus, -- die paar Kreuzer mehr,
die tun auch Unsereins nit weh -- und z’sammenkommen tät halt do hübsch
was, und die armen Leut’ braucherten doch wenigstens nit zu derhungern.
Da wüßt’ mer do für was, mer hätt’ was davon. Es is ja a Schand -- in
an ordentlichen Staat darf ja so was gar nicht vorkommen. Das Richtige
g’schieht so nit alleweil -- -- no freili, ma traut si’s nit z’ sagen,
sonst kommert mer in Verruf. -- -- Zu was denn um Herrgottswillen, das
viele Müllitär? -- -- Anfangen mag do Keiner, weil Jeder si fürcht’,
-- no ja, selbstverständli -- no also, jetzt steh’ns da -- und warten
-- -- is dös vielleicht a a Beschäftigung? -- Und leben müssen’s do --
Geld brauchen’s -- her damit.“

„Ja, Recht hab’ns Witzelsberger,“ versetzt die Tante. „Nicht nur, daß
das Rüsten ins Blaue hinein, Unsummen kostet, -- es erregt vor Allem
Mißtrauen, und das ist eine große Gefahr.“

„No freili -- so hab’n sie die großen Krieg no immer ang’fangen.
Mannigsmal schielt a der Ane oder der Andere von die hohen Herren
über die Grenz, und wann ihm halt beim Nachbarn a Stückerl gar z’ gut
g’fallt -- nachher geht’s los. -- Bitt’ Ihnen, für a Fleckerl Erden --
is denn dös im Verhältnis -- wenn mer denkt, wie viel tausend drunter
leiden? Wir hab’n do nix davon -- na uns fragt mer aber a nit. --
Sonst, wier’s Volk heutzutag is, a jeder Anzelne tat Ihnen antworten:
„Ah na, i bin nit für n’ Krieg, -- i nit.“ S’is ja a Jammer, wann
die Burschen fort müssen -- drei Jahr lang dienen -- wann’s nachher
hamkommen, da hab’ns das Bissel, was konnt haben, a no verlernt;
spielen si auf ’n nobligen Herrn aus, trinken, machen Schulden, tun den
Dirn’ schön und lassen’s sitzen, wenn se ’s ins Unglück bracht haben.
Na ja, von vorn anfangen, das g’freut’s net; so is kommoder -- und a
Posten zu an Officiern find’ si a nit allemal.“

Er war plötzlich nachdenklich geworden. -- „Ja wann i mi so an’s Jahr
66 erinner’“, fuhr er nach einer kleinen Pause fort -- „die Herrschaft
war dazumal auf Reisen -- weil mer kei Kirchen im Ort g’habt haben,
da san mer’s ganze Dorf an ein Sunndag in die Meß übrigangen nach
Blauenstein. I hab’ früher Flöten blasen auf’n Chor, und war immerdar
der Eifrigste im Gotteshaus. Wie aber dann der Herr Pfarrer -- jetzt
tut ihm a kan Zahn mehr weh -- ang’fangt hat in’s Hetzen, daherzureden,
als wann die Preußen kane Menschen nit wären, da hat’s mer nimmer
g’fallen. Nachha bin i ausblieben. „Pfarrer“, hab’ i simuliert,
„Pfarrer, is denn dös in der Urdnung, is denn dös a Christlichkeit,
daß’t machst, als dürft’ mer an Fremden hassen? Hat do der Herr Jesus
Christus selber g’sagt: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst -- tue
Gutes Deinen Feinden.“ Der Bischof hat’s bald derfahren, na dem war’s
halt a nit Recht und drum hat er uns an andern Seelsorger verschrieben.
Das war ein Mann, sag’ i Ihnen, Frau Baroneß, den hätten’s sollen
predigen hören! „Vor unserm Hergott san mer Alle gleich -- nur durch
gute Werke und rechtschaffenes Leben können mer uns vor seine Augen
wohlgefälli machen. Alle san mer unserm himmlischen Vater sei Kinder,
ob mer aus Frankreich oder Deutschland kommen, Juden oder Christen
sind. Keiner darf’n Andern was z’ leid tun, a Jeder soll schön staat
vor seiner Tür kehren. Da hat er nur Recht g’habt, der geistliche Herr
-- Gott hab’n selig. -- Wenn der heut aufständ’, der möcht’ dem Lueger,
der ganzen Antisemitenpartei urdentlich den Text lesen. Na i gunnert’s
ihnen, s’ war ihnen recht g’sund.

Ja alsdann -- vom Jahr 66 hab’ i Ihnen derzälen wollen. War dös a Zeit
-- i wollt’s nimmer mitmachen, na i nöt. Aber i siehs vor meiner,
akkarat als ob’s gestern wär. Im Frujahr, da san die Burschen wie
g’wönli assentiert worden. Jeder hat zum Müllitär wollen, weil’s als
was B’sonders golten hat. -- Na, und die Madeln haben’s trieben! Wann
Aner mit’n farbigen Büschel auf’n Hut z’ruckkommen is, no nachha war’s
aus. Busseln hat’s geben, uje -- und Augen verdraht haben’s, wie nit
recht g’scheit. Ganz selbstverständli hat si da so a junger Mensch
einbildt’, daß er was Extra’s is. No und mei Hannes, der hat’s halt a
nit derwarten können, und die Freud, wie’s ihn g’halten haben! I hab’
in der G’huam immer g’hofft, sie nehmen ihn viellei do nit. -- Aber er
war a g’sunder starker Mensch: wir hab’n unsere Freud’ an ihm g’habt.
Ja, dös hätt’ mer a nit denkt“, setzte er mit verschleierter Stimme
hinzu und fuhr sich mit der rauhen Hand über die Augen. „Selbigs Jahr
hat er mitmüssen, -- na z’ruckkommen is er a -- aber wie -- mir wär’s
meiner Söll lieber g’wesen, wenn ihn a Kugel glei mitten nei’ ins Herz
troffen hätt’. Bei der Schlacht von Königgrätz hab’ns ihm an Fuß wurz
abg’schossen und den Arm so verwundt, daß er’n hat in der Schlingen
tragen müssen. -- Er war schon so tüchti in der Wirtschaft g’west; hat
Alles verstanden, i hab’ mi um nix net z’ kümmern braucht; -- mit’n
Arbeiten war’s halt dann aus, in Dienst hat’n a kaner mehr g’nommen und
froh -- dös is er sei Lebtag nimmer g’worden. Mit die paar Kreuzer,
die ein Invalid auf’n Tag kriegt, -- da wird er nit satt davon. Ganz
schwermüti is er g’worn, der Hannes, zu trinken hat er ang’fangt, um
net alleweil an sein Unglück zu denken. Was wir ihn beten hab’n: „Geh,
sei g’scheit, laß’ stehen, thus Dein’ Eltern z’Lieb!“ All’s umasunst.
S’hat nix g’nutzt, er hat net aufg’merkt -- und am End’ is er d’ran zu
Grund gangen. Dös hat „uns“ der Krieg bracht.“

Ich blickte mich scheu um in dem armseligen Raum, wo sich eine
Tragödie abgespielt, wuchtiger, düsterer vielleicht, als auf mancher
Großstadtbühne. Auch hier war der Todesengel eingekehrt, um ein
blühendes Leben zu fordern: Schmerz und Verzweiflung folgte seinen
Spuren.

„Wie san’ mer an den Buab’n g’hangen! -- Kan Arbeit war uns zu schwer
und wie er aufg’schossen is und so fleißi g’lernt hat, da hab’n mer
uns net auskennt vor Freud. -- -- Nur, wenn er mit die Holzsoldaten
g’spielt hat, und „Schießen“ kommandiert, da is mer urdentli bang
g’worn. Wann’st mer Du nur net a anmal so derschossen wirst.“

„Von die Sieben san im Ganzen Dreie hamkommen; i war net der Anzige,
den’s troffen hat. Ja, ja, Frau Baroneß, so geht’s schon. -- Zwa
san auf’n Schlachtfeld blieben -- wer weiß, wo die begrab’n san!
Dutzendweis habn’s es in die Gruben g’worfen, die Preußen und die
Österreicher kunterbunt durcheinand -- jetztan haben’s si halt do
vertragen müssen. No, und die andern Zwa san an der Cholera g’storben.
Die Sterblichkeit dazumal war ganz erschrecklich. -- Keine Famüli,
wo’s nit a paar Tote geben hat.“

„Ja schrecklich, schrecklich -- und für was?“, schaltete die Tante ein.

„Dös sag’ i a. Mer bringert ja gern an Opfer, wenn mer an Zweck hätt’,
wann mer meint, si oder an Andern damit z’helfen, was Gurt’s z’tun.
-- Aber All’s hergeben für nix und wieder nix! -- -- Na -- wer dös
begreifert! -- I hab’ drum mein Vaterland nit weniger lieb und wann
Aner von uns was leist’, wann mer von ihm redt, nachher bin i ganz
stolz. „Schau, Witzelsberger is halt a an Österreicher“, denk i dann.
Der Verstand, dös is ja, was’n Menschen ausmacht. -- Wann wilde Viecher
si zerschinten und auffressen, -- das is was anders, aber der Mensch,
der dürft’ do nit vergessen, daß er Gottes Ebenbild is. -- Und dien’ i
denn mein Vaterland besser, wann i mir die graden Glieder abschießen
lass’ und Krüppel werd? Was kann i dann no leisten, was denn? -- Und
praktisch g’nommen, Profit, daß der Anzelne a was davon merket, das hat
do Kaner, nit der Sieger und net der g’schlagen wird. -- Steuerzahlen
muß mer grat a so, und besser leb’n turt mer do nit. Reich werden
höchstens a paar Leut: der Müllitärschneider und die Waffenfabrikanten
-- und dadafür -- ah’s is ja verruckt. -- -- Segn’s Frau Baroneß, in
mancher Weis waren die Menschen früher gescheiter. Da hat do no der
Krieg an Sinn g’habt, weil’s persönliche Tapferkeit geben hat, aber
irzt? -- -- S’Gewehr laden und’n Hahn losdrücken, das bringt bald
Aner zu Stand, auch der Feigste. -- Und wenn’s schon net anders geht,
wenn schon absolut g’stritten sein muß, so sollen halt Zwa die Sach’
austragen. -- Da waß i aus maner Kinderzeit, hat uns amal der Lehrer
derzölt, oder is in der G’schicht standen, dös was i nimmer -- da
haben’s es akkarat a so a getan.“

„Ja natürlich ist’s vernünftiger. Übrigens kann man einen Streit auf
ganz unblutige Weise entscheiden“, und sie setzte ihm in wenigen Worten
die Schiedsgerichtsidee auseinander.

„Sölchs war das Richtige“, erklärte er bestimmt, „na und warum sollert’
mers denn nit dahin bringen? S’ wär’ ja nur a Woltat“.

„Ja lieber Witzelsberger, gewiß. Wenn aber nur Alle so dächten wie Sie.“

„No wegen dem war’s nöt. I bin der festen Manung, daß a Jeder hier im
Dorf -- is wer der wüll, vor’n Bettgehen sein G’setzel hersagt: „Lieber
Hergott, bewahre uns vor jedem Übel, vor Krankheit, Hungersnot und
Krieg.“ Nur trauen’s si halt nit, offen zu bekennen. Wann mers fragert,
a Jeder schauert auf’n Andern, und Kaner muxert si. Bei si aber, in
sein Innern da denkt er do, daß der Krieg an Unsinn is, a Sünd. -- Ja,
wann’t Menschen g’scheiter wär’n, wird si a Mannigs ändern.“

„Vater, die Post kommt.“ Es ist seine Tochter, ein bildhübsches
Geschöpf von 18 Jahren. Das Haar umgibt in goldiger Fülle ein blasses
Gesichtchen, aus dem ein paar traurige Rehaugen blicken.

„Ja, Franzel, geh’ nur -- i kumm glei nach.“ -- „Das Madel will mer nit
gefallen -- vielleicht a a Liebschaft. Jetztan laßt’s alleweil den Kopf
hängen, hats Lachen ganz verlernt.“

„No aber, Sie können doch eine Freud’ haben mit so einer hübschen
Tochter.“

„Dös wol. Freili bin i stolz -- nit weg’n der Schönheit -- das vergeht
-- sondern weil’s a so a braves, rechtschaffens Ding is. Hat mer, so
lang i denken kann, no niemals keine böse Stund’ nit g’macht“, und
damit rückt er die Hornbrille fester auf die Nase und begibt sich in
die Amtsstube.

„Der brave Alte.“ Einer momentanen Eingebung folgend, nähert sich ihm
die Tante und drückt die arbeitsharte schwielige Hand.

       *       *       *       *       *

Langsam, ruckweise löst sich der Schnee von Bäumen und Dächern und
klatschend fallen die Tropfen zur Erde. Nur noch an einzelnen Stellen
bildet er eine schmutzigbraune Maße, die seltsam von dem jungen Grün
absticht, das wie ein weicher Teppich den Grund bedeckt.

Verheißend weht ein laues Frühlingslüftchen, und die knorrigen
Weidenbäume scheinen in hellen Flammen zu stehen. Die Sonne läßt ihre
kahlen Äste erschimmern wie pures Gold, die Tausendkünstlerin, die
liebe, liebe Sonne.

Die ersten Palmkätzchen recken die flaumigen Köpfchen und die
ungestümen Kibitze flattern auf, mit klagendem Geschrei.

Paarweise und in Gruppen, dicht aneinander geschmiegt, fest in die
Silberpelzchen gehüllt, stehen die Anemonen da und ab und zu gewahrt
man auch schon eine Primel.

Wie lange noch, und Alles steht in Blüte! Mir wird so weich, so warm
um’s Herz -- eine eigentümliche Rührung überkommt mich und treibt mir
die Tränen in die Augen. Ich weine jetzt so leicht. -- Es überläuft
mich kalt. Die bösen Nerven. Und so müde: so schwer die Glieder.
Vielleicht dachte ich zu viel an mich? Und dann empfand ich plötzlich
ein intensives Bedürfnis, Jemand ein paar gute Worte zu sagen, eine
Freude zu bereiten.

In der Entfernung taucht eine dunkle Gestalt auf. Es ist die
Witzelsberger-Franzel. Welch’ anmutiger Gang, welch’ elegante Haltung.
Ein schöner Edelstein in plumper Fassung. In zehn Jahren, vielleicht
schon früher würde sie ein welkes, abgearbeitetes Bauernweib sein, ohne
jeden Reiz.

Sie war auch mir in letzter Zeit still und traurig erschienen. Sollte
sie auch ihren Kummer haben?

„Franzel.“

Sie beschleunigte ihre Schritte, und vermied es, nach meiner Richtung
zu sehen. Ich rief mechanisch noch ein zweitesmal, und da war’s, als
besänne sie sich. Sie blieb einen Augenblick stehen, und kam dann
langsam auf mich zu.

„Wo warst denn Franzel?“

„In Sahning“, kam es stockend zurück.

„Muß schön gewesen sein im Wald. Gelt’ wir haben’s halt doch besser als
die Stadtleut, die den ganzen Tag im finstern Zimmer sitzen müssen.
Oder möchtest gern nach Wien?“

„O Gott, mir is’ alles eins -- am liebsten wär’ ich tot.“

„Aber geh Franzel, wer wird denn so reden? Was tät denn Dein Vater ohne
Dich?“ Jetzt erst fielen mir ihre verweinten Augen auf. „Is Dir denn
was Unangenehmes geschehen?“

Sie blickte beharrlich zu Boden.

„Ja, wenn Du’s nicht sagen willst.“ --

„Es nutzert ja nix. S’ is Alles -- Alles aus.“ Dabei brach sie in
krampfhaftes Schluchzen aus. „I hab’n halt so vüll gern und hab glaubt
an ihn, wie an’ Herrgott selber.“

„Dein Schatz, Franzel? So ist er Dir untreu geworden?“

„Ja, jetzt, wo’s Unglück über mich kommt, will er nix mehr von mir
wissen. Früher, da hat er mir schön tan und immer g’sagt: „Franzel, ich
versprech’ Dir, daß ich Dich heirat’, verlaß Dich nur ganz auf mich!“

„Das ist nicht recht von ihm. Hat er nicht gesagt, warum er nicht mehr
will?“

„Weil er fort muß. Sein Urlaub is aus -- Sie wissen’s ja so.“

„Aber Franzel, woher soll ich es denn wissen? Ich weiß ja gar nicht wer
er ist.“

„Das haben’s wirkli nit gewußt?“ Sie fragte ganz erstaunt. „Weil’s ihn
so oft im Schloß drin sehen, hab’ i mer denkt, daß er Ihnen was g’sagt
hat. Jesses nein -- i trau mich gar nicht z’ Haus, zum Vater -- der
jagt mich noch am End davon.“ Sie sah mich verzweifelt und hilfesuchend
an, als erwarte sie ihre Rettung von mir.

Ich aber war so empört, so erbittert über Robert, daß ich kein Wort
des Trostes fand. Und dann, was war zu tun? Ich sann hin und her,
ohne einen Ausweg zu finden. Schweigend standen wir uns eine Weile
gegenüber, dann ergriff ich Franzels Hand: „Hast’n wirklich so gern?“

„Seh’ns das ist auf einmal so kommen. Zuerst hab’ ich ihn gar nit
mögen. Dann aber, wie er so viel bettelt hat, daß er ohne mich nicht
leben kann, hat er mir erbarmt. Und jetzt -- jetzt“ -- --

„Armes Ding! Vielleicht, daß sich doch was machen läßt. Ich will
nachdenken. Eigentlich, wenn er Dir’s versprochen hat, muß er Dich ja
heiraten.“

„Das hab’ ich auch geglaubt. Er sagt aber s’ist ein Unsinn.“

„Sein Wort halten, ein Unsinn? Da irrt er sich. Sei ruhig, Franzel --
er muß es gut machen.“

„Glauben’s wirkli?“ Sie fiel mir um den Hals und jubelte unter Tränen
„wirkli?“ Dann plötzlich mit unheimlicher Entschlossenheit: „Na ja,
sonst blieb’ mir nur eins übrig. Dem Vater könnt’ ich ja die Schand’
nit antun.“

Es war plötzlich finster geworden. Graue Wölkchen ballten sich zu einem
Klumpen zusammen, verhüllten die Sonne, und ein feiner Regen sprühte
uns in’s Gesicht.

„Muß schon spät sein. Wenn ich nicht schnell geh’, komm’ ich nicht zu
Mittag nach Haus.“

„Ja, geh’ Franzel und sei ruhig.“

Die Dorfuhr schlug dumpf die zwölfte Stunde, und so oft sie zu neuem
Schlage aushub, gab es mir einen Stich in den Kopf. Was ich da soeben
gehört, schien mir wie ein dunkler Fleck auf blendenden Rosenwolken,
etwas so Häßliches, Düsteres. Da hatte man mir wieder ein Stückchen
Illusion geraubt. Ich wußte ja, wie es zugieng in der Welt -- ich
konnte es tagtäglich in der Zeitung lesen, und dennoch sträubte ich
mich, daran zu glauben. Und dann lag es vielleicht auch daran, weil das
Echo der Großstadt nur gedämpft zu mir herüberdrang, während ich heute
dem Elend gegenübergestanden, ihm ins Auge geblickt.

Mit einemmale überkam mich ein solcher Ekel vor den Menschen; ich
fühlte kein Mitleid mehr mit ihnen, nur unsägliche Verachtung.

Ich war dem Dorfe näher gekommen und hörte das schrille Gebrüll eines
Schweines. Es tat mir in den Ohren weh; ich bog rasch um die Ecke, und
was ich jetzt sah, erfüllte mich mit solchem Entsetzen, daß ich mich an
einen Baum halten mußte, um nicht umzufallen.

Unter einem geöffneten Haustor wurde ein Schwein geschlachtet. Das
Tier lag gebunden, blutüberströmt im Trog und ein Mann versetzte ihm
mit Wonne Stiche, ermutigt von den Zurufen der Umstehenden: „Nur zu,
a so, recht fest eini.“ Zwei kleine Buben verfolgten mit Spannung den
Vorgang. Ich wollte auf sie zulaufen, sie wegreißen, ihnen sagen, daß
das abscheulich sei, aber ich vermochte keinen Schritt zu machen.
Ich hörte nur das verzweifelte, gellende Schreien, zuerst laut und
fortgesetzt, dann immer seltener und schwächer -- in meinem Kopfe
wirbelte Alles durcheinander, bis ich nichts mehr wußte.

Ich wahr ohnmächtig vor dem Tor zusammengefallen und ins Schloß
getragen worden. Abends jedoch hatte ich mich bereits vollständig
erholt und erzählte der Tante die Geschichte mit der armen Franzel, in
der Robert eine so erbärmliche Rolle gespielt. Sie war so empört und
außer sich, daß ich erschrack. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt
hatte, untersagte sie mir jedwede Einmengung, da sie es für angezeigter
hielt, daß ich mich von solchen Dingen fernhalte -- sie selber wolle
mit ihm reden, an seine Ehre appellieren, falls er überhaupt noch einen
Funken dieses Gefühles besaß.

Während die Tante mit ihm verhandelte, bemächtigte sich meiner eine
große Unruhe. Was wird er sagen und wie soll es enden? Es war eine
böse, traurige Geschichte und unaufhörlich schwebte mir Franzel’s
verweintes, angstvolles Gesicht vor. Es gab nur einen Ausweg, das
begangene Unrecht zu sühnen: er durfte nicht anders handeln, es war
seine heilige Pflicht und Schuldigkeit. Die Tante kam zurück, blaß und
erregt. Die Augen sprühten Funken und die Fingerspitzen zuckten nervös.
Sofort begriff ich, wie es stand: „Er will also nicht?“

„Nein. Er weigert sich -- der Elende. Von heute ab sind wir geschiedene
Leute. O, man könnte oft verzweifeln an den Menschen! Diese verkehrten,
hirnverbrannten Ansichten, diese Gemeinheit der Gesinnung. Wahrlich,
wir Aristokraten haben’s not, uns aufzublähen, uns was zu Gute zu tun
auf unsere Noblesse. Ein armer Flickschuster ist oft tausendmal mehr
wert, als so ein vornehmer Taugenichts.“

Dann schilderte sie die Unterredung. Wie er zuerst -- ahnungslos,
daß sie um die Sache wisse -- sondiert, ob ich ihn nicht vielleicht
doch nehmen wolle. Sie solle mich bei der Gefühlsseite, beim Mitleid
packen: er müsse jetzt wieder zum Regiment, in ein entlegenes Nest, sei
allerlei Versuchungen ausgesetzt, denen er erliegen würde. „Mimi kann
mich retten, mit mir tun, was sie will: ich wäre Wachs in ihrer Hand.“

„Würdest ihr zu Liebe wohl auch Deine Ansichten zum Opfer bringen? Denn
wie Du jetzt denkst, ist ja eine Verständigung nicht möglich?“

„Alles, was sie will.“

„Nun, das spricht nicht zu Deinen Gunsten. Sie müßte ja einen Mann
verachten, der seine Überzeugung für irgend einen Vorteil hingibt.“

„Wie Du immer Alles drehst. Es scheint übrigens, daß Du an meiner
Ehrenhaftigkeit zweifelst. Ich wüßte nicht daß ich Dir Grund dazu
gegeben.“

„So? Wie vergeßlich! Nun da muß ich Deinem Gedächtnis schon etwas
nachhelfen. Es ist gar nicht so lange her -- -- übrigens vielleicht
täusche ich mich in Dir. In diesem Falle würde ich Dir das Unrecht
herzlich gern abbitten.“

„Aber worum handelt es sich denn?“ Er zupfte verlegen an seinem
Schnurbart.

„Du mußt die Franzel heiraten.“

Er schnellte von seinem Stuhl empor. „Bitt’ Dich, laß doch jetzt solche
Spässe beiseite. Mir ist wirklich nicht zum Lachen zu Mute.“

„Das begreife ich. Weinen solltest Du im Gegenteil. Ich denke, Du
kennst mich genügend, um zu wissen, daß es mir bitterer Ernst ist mit
dem, was ich sage.“

„Ja, aber seid Ihr denn Alle miteinander“ -- er hielt es für angezeigt,
das letzte schmeichelhafte Wort zu unterdrücken.

„Wenn „anständig handeln“ verrückt ist, dann bist Du allerdings
superweise.“

„Aber um des Himmels Willen, Du wirst mir doch nicht zumuten, ein
Bauernmädchen zu heiraten. Wo denkst Du denn nur hin? Das verstößt ja
gegen alle Familientraditionen.“

„Da hätte ich beinahe meine Selbstbeherrschung verloren und ihm einen
Schlag ins Gesicht gegeben“, fuhr Tante Laura fort, „doch ich bezwang
mich und frug, ob er nicht absichtlich diese falsche Auffassung
vorschütze. Ob die Ahnen es ehrenwerter fänden, wenn ihr Abkömmling
schlecht handle und keine Reue empfinde, als wenn er sich bemühe, den
Mackel von seinem Namen zu tilgen.“

„Aber geh’, so denkt ja kein Mensch. Es ist Gang und Gäbe bei den
jungen Leuten, Liebeleien anzuknüpfen, wo sich ihnen Gelegenheit
bietet. Aber Verpflichtungen? -- -- --“

„Du hast ihr Dein Wort gegeben.“

„Aber doch nur ~pro forma~. Könnte mir nicht im Traum einfallen, sie zu
meiner Frau zu erheben.“

„Das ist ein kurioser Ausdruck. Wenn Dich Eine nimmt, wird sie
herabsteigen müssen -- und zwar sehr tief.“

„Sehr liebenswürdig. Und das Alles, weil ich mich weigere, diese Gans
zu heiraten. Nein, den Großeltern, der Familie, mir selbst diese
Schmach anzutun, dazu gebe ich mich nicht her.“

„Ich kann nur staunen über diese neue Moral, die jedem Anstandsbegriff
ins Gesicht schlägt. Ein Mädchen, das nichts hat als ihren anständigen
Namen, unter falschen Vorspiegelungen ins Verderben stürzen, sein Wort
brechen, sie im Stich lassen und dann stolz von dannen ziehen mit dem
Mäntelchen „Ehrenhaftigkeit“ um die Schultern, ich muß schon sagen, da
gehört eine Gewissenlosigkeit sondergleichen dazu.“

„Du bist der Person ganz einfach aufgesessen. Ich wett’, die prahlt vor
dem ganzen Dorf damit, daß sie einen „Baron“ gehabt habt. Das passiert
nicht einer Jeden.“ Er sagte das mit einem Cynismus, der mir das Blut
erstarren ließ. Ich verließ das Zimmer.“

Der armen Franzel konnte also nicht geholfen werden. Sie gestand dem
Vater Alles und er versetzte Robert inmitten der Dorfstraße eine
schallende Ohrfeige. Es war dies die letzte Erinnerung, die Baron
Steindorf von seinem Urlaub mitnahm. Wir hörten noch ab und zu von ihm,
sahen ihn aber nicht wieder.

Es hieß, daß er Schulden mache und seine militärischen Pflichten sehr
nachlässig erfülle. Schließlich wurde er ein Trinker und gieng in noch
jungen Jahren am ~delirium tremens~ zu Grunde.

Niemand weinte um ihn. Das einzige Wesen, das ihn geliebt, Franzel,
starb, nachdem sie ein totes Kind zur Welt gebracht.



Vierter Abschnitt.


  +Palazzo Dario+, am 15. Mai.

„Venedig.“ Ich flüstere es vor mich hin, in scheuer Andacht. Stahlblau
liegt die Lagune vor mir und muntere Wellchen plätschern an die Stufen
des Palazzo. Lautlos gleiten die Gondeln dahin und lachend strahlt
der Himmel nieder auf dieses Feenland, das sagenumwoben ist, wie kein
zweites.

Bella Venezia, stolze Königin, die Du lächelnd das Blut Deiner Söhne
trankest, dieser glühenden, leidenschaftlichen Geschöpfe, die lieber
sterben wollten als unterliegen, die Du den Dichter zu höchster
Begeisterung entflammst, die Du selbst das Merkmal ewiger Poesie auf
Deiner Stirne trägst, ich neige mich vor Dir.

Ach es ist doch schön zu leben, -- bewußt zu leben! Schon scheint mir
die böse Krankheit, die ich durchgemacht, Alles was hinter mir liegt,
so nebelhaft verschwommen, in unendlich ferne Vergangenheit gerückt.
Sechs volle Wochen dagelegen, zerschlagen, völlig gleichgültig, in
einer Art Halbschlummer, dann wieder wild phantasierend, fieberheiß,
besinnungslos.

Auch Vincenz war bei mir im Traum. Einen Kranz von violetten Sternen
trug er um das Haupt. Ich frug ihn, wo die Nelken seien. „Verblüht“
erwiderte er -- und was die Sterne bedeuten? „Erinnerung.“ Da flammten
sie plötzlich auf in rotem Schein -- und dann wurden sie immer heller,
immer blasser. --

Das war in der Nacht, wo die Gefahr am größten schien. Von da an gieng
es besser ...

Jetzt fühl’ ich mich wie neugeboren, mir ist so leicht zu Mute als ob
ich Flügel hätte.

Keine Spur mehr von der Überreizung, wie ich sie früher so oft
empfunden, die mich verbittert und betrübt gemacht. Jetzt lache ich
über meine überspannten Ideen. -- Alt! Mit vierundzwanzig Jahren, bei
solcher Eindrucksfähigkeit!

Wie erfrischend, dieser salzige Meereshauch! Man möchte ihn recht tief
einsaugen, die Lungen damit füllen. Das stärkt, belebt, ist besser als
alle Medikamente.

Die eigentliche „Stagione.“ Alle Hôtels und Pensionen bis auf den
letzten Platz besetzt. Es wimmelt von Fremden. Wir können wirklich
von Glück sagen, was unsere Wohnung anbelangt. Zwei allerliebste
Schlafräume, in hellen Farben gehalten, mit großgeblumten Tapeten,
ein Arbeitszimmer, und ein ungemein gemütlicher Salon. Nichts von der
steifen Einförmigkeit der vermieteten Zimmer, sondern ein wohnliches
Kunterbunt, mit lauschigen Ecken, eingelegten Möbeln, Teppichen und
schönen Bildern.

Noch nie war ich so wunschlos froh, so stillvergnügt wie jetzt. Alles
und Jedes bereitet mir Genuß. -- Die Gondelfahrten, die guten kleinen
Diners -- immer Landesspeisen -- meine Gesundheit, das wiedererlangte
Gleichgewicht.

Ich möcht’ mit keinem König tauschen.

       *       *       *       *       *

  Am 21. Mai.

„Das ist aber eine gute Nachricht! Da, lies nur Tante“ und ich schob
ihr das Blatt hin. Hier stand es schwarz auf weiß, daß sich eine Liga
gegen das Duell gebildet.

„Endlich.“ Sonst hat sie nichts gesagt, wie dieses eine Wort. -- -- Nur
ich, die ich sie kenne, habe die Erwartung, die Sehnsucht, die Mühe
vieler Jahre herausgehört. -- Diesen Unfug zu bekämpfen, den Zweikampf
aus der Welt zu schaffen, das war ihr, die so namenlos darunter
gelitten, noch mehr am Herzen gelegen, wie der Friede. -- -- Doch sie
fühlte instinktiv, daß es klüger sei, zu warten. Wenn sie, als Frau,
die Initiative ergriffen, hätte sie nichts erreicht, nur sich und die
Sache lächerlich gemacht, statt ihr zum Siege zu verhelfen.

Ja, es wird langsam hell in den Köpfen. Es ist ja auch wirklich
lächerlich. Was beweist das Waffenglück? An ein Gottesurteil glaubt
doch heutzutage Keiner mehr. -- Wie oft büßt gerade Der sein Leben
ein, der im Rechte ist. -- Und aus welchem Anlaß schlägt man sich? --
Eines unbedachten Wortes, einer Lappalie wegen! -- -- Ist aber die Ehre
wirklich verletzt, dann muß natürlich Sühne sein. -- In diesem Falle
gibt es aber noch andere Mittel als solche, wo unschuldige Familien um
den Ernährer gebracht werden.

Jener, der aus Princip ein Duell refüsiert, ist noch lange kein
Feigling. Im Gegenteil. Wie nun einmal die Dinge liegen, gehört mehr
moralischer Mut dazu, als sich vor die Mündung einer Pistole zu stellen.

Die Engländer haben doch auch ihre Ehre und bei ihnen ist der Zweikampf
eine Unmöglichkeit geworden.

Die Liga weist eine beträchtliche Zahl der angesehensten Namen auf. An
der Spitze: „General Graf Deuchtestum.“ -- -- Das klingt fast wie ein
Stück Geschichte und gar nicht friedlich nebenbei. -- Blinkende Waffen
und Kanonendonner, und er Allen voran im Kampfe um die Freiheit. -- Wie
reimt sich das?

Jetzt weiß ich es. Er war bei uns. Der schönste alte Herr, den man sich
denken kann: einen Maler müßte dieser Kopf entzücken. So mögen die
Ritter von ehedem ausgesehen haben, nur daß keine Spur von Wildheit in
seinen Zügen liegt: die blauen Augen strahlen in fast überirdischer
Güte und eine Welt von Milde tut sich kund in seinem Lächeln. Mein
Blick hieng noch immer wie gebannt an der Hünengestalt mit dem edlen
Gesicht, dem wallenden weißen Bart. Ich fuhr erschreckt auf, als die
Tante mich vorstellte und ärgerte mich noch nachträglich über mein
Erröten.

Die Beiden plauderten wie alte Bekannte, obwohl sie sich niemals zuvor
gesehen. Ich schwieg: eine gewisse Scheu hatte sich meiner bemächtigt.
Ich wollte etwas sagen, fand die Worte nicht, kam mir so dumm und
unbedeutend vor. Vermutlich weil ich nicht gewöhnt bin, mit Fremden zu
verkehren.

Aber ich habe gut zugehört und mir jedes Wort gemerkt, das er
gesprochen. Er hat ein ungemein sympatisches Organ, weich und metallig
zugleich: zu dieser Stimme paßt auch Alles, was er sagt:

„Wenn man wie ich, sein halbes Leben auf dem Schlachtfelde zugebracht,
verlernt man es gründlich, für den Krieg zu schwärmen. Ich habe
das furchtbare Elend der Menschen, ihr Blut, ihre Tränen gesehen,
ich habe ihre Klagerufe, ihre Seufzer gehört, und bin über Leichen
hinweggeschritten, dem Siege zu. Wir zogen ein mit wehenden Fahnen und
klingendem Spiel. Die Menge jubelte uns zu. Ein Hochgefühl erfüllte
da auch mich -- eine Art Taumel -- solange die Trompeten schmetterten
und die Leute jauchzten. Ja, ja.“ Er fuhr sich mit der Hand über die
Stirne. -- -- „Irren ist menschlich -- aber wenn man sein Unrecht
eingesehen, soll man nicht starrköpfig sein. -- Dreimal hab’ ich es
mitgemacht und nur weil ich es wollte. Wie betäubt. Hab’ nicht gehört
auf das Gewissen, lange Zeit. -- -- -- Wenn ich allein war, da hab ich
immer eine Stimme vernommen, ernst und traurig -- zuerst nur selten,
dann immer häufiger und lauter: zuletzt fand ich keine Ruhe mehr bei
Tag und Nacht. Gerungene Hände, verstümmelte Jammergestalten, mit
verzerrten Zügen und noch einem letzten Fluch auf ihren Lippen. -- --
-- Da hab’ ich die Orden heruntergerissen von meiner Brust und mich
geschämt. -- -- Ja, ja, lassen wir’s gut sein. Geschehen ist geschehen.
Wie? Das Einzige, was in meiner Macht lag, habe ich getan. Meinen Sohn
abgehalten, in meine Fußtapfen zu treten. Ist mir übrigens nicht schwer
geworden. Hat selber nie was wissen wollen von den Massacres. Reist
viel herum: ist eben wieder in Amerika gewesen. Kopf voll Socialismus.
Will ein Buch schreiben über die Zustände dort. Gefallen ihm besser als
bei uns zu Hause. Wie? Ganz international.“

Er spricht gewöhnlich in kurzen Sätzen und springt oft unvermittelt von
einem Gegenstand zum andern über, was zuweilen bei Leuten vorkommt,
denen vielerlei Gedanken auf einmal durch den Kopf schwirren. Auch
wendet er das Wörtchen „Wie“ sehr häufig an, und sieht dann fragend
umher, als erwarte er die Bestätigung.

„International“, wiederholte die Tante, „das ist heutzutage der
einzig richtige Standpunkt. Freilich, Solche, die stets an der
Scholle geklebt, die haben sich gewöhnt, das Stückchen heimatlicher
Erde als Centrum zu betrachten, und alles außerhalb der Grenzen
Liegende als Barbarei. Sie urteilen nicht aus Eigenem, denn es fehlt
ihnen am Vergleich. -- Würden sie hingegen näheren Verkehr mit den
Nachbarvölkern, mit fremden Nationen pflegen, sie kämen gar bald zur
Überzeugung, daß es auch dort Menschen und Einrichtungen gibt, die
sehr vernünftig sind, und bei deren Nachahmung man nur profitieren
kann. -- Erwachsene Leute zeigen sich in der Regel weniger biegsam,
schwerfälliger in ihren Anschauungen als Kinder. Es wäre darum sehr
wünschenswert, die Letzteren für die Zeit ihrer Erziehung in ein
anderes Land zu geben. Außer dem Vorteil des Erlernens einer fremden
Sprache, wäre dies das beste Mittel zur Anknüpfung freundschaftlicher
Beziehungen, was wieder nur den Frieden fördern könnte.“

„Ja, ja, wär’ eine gute Sache, wie? -- Soll ein Gesetz werden.“

Dann kamen sie auf die momentan am wichtigsten Frage zurück, die
Abschaffung des Duells. -- -- Der Graf legte uns eine Zeitungsnotiz
vor, die zufällig einige Tage vorher in München, seiner Vaterstadt,
erschienen war:


„Der Prinzregent von Bayern gegen das Duell.“

  „Von allerhöchster Seite ist entschieden worden, daß das Urteil
  hinfällig ist, welches bestimmt, daß in einem speciellen Fall ein
  Officier vom Ehrengerichte zur Entlassung mit schlichtem Abschiede
  genötigt werde, weil er sich als principieller Gegner des Duells
  erklärt. Es ist durchaus kein Grund vorhanden, daß ein Officier,
  der einen solchen Standpunkt einnimmt, entlassen werde. Das
  bayerische Kriegsministerium hat in dieser Hinsicht eine Änderung
  der betreffenden Ehrengerichtssatzungen verfügt und so ist der Weg
  angebahnt, daß das Duell in der bayrischen Armee allmählich zu den
  Seltenheiten gehören wird.“ --

„Die Mächtigen können so viel leisten, wenn sie nur wollen“, bemerkte
Tante Laura.

„Ja freilich. Sollen mit dem guten Beispiel vorangehen. Ist ja nicht
schwer. Kostet sie nur ein Wort. -- Dann sollen sie Alle ruhig auf
ihren Tron bleiben, nicht wie mir erst gestern Einer sagte: „Monarchen
abschaffen, Alle miteinander!“ Dazu ist die Zeit noch nicht da. Kann
auch so gehen ohne Streit, wie? -- Schwert in die Rumpelkammer,
Palmenzweig so“, und er machte die Bewegung des Schwingens. „A ja, ja,
schöne Sachen, wie? -- Und nun verzeihen Sie, daß ich so lang geblieben
bin -- -- auf Wiedersehen!“

Die Tante ist ganz übermütig lustig.

Wir tranken eine Flasche Asti auf den Tod des Krieges und Duells.

       *       *       *       *       *

  Am 24. Mai.

Die beiden Schwestern aus der Nebenwohnung haben uns besucht. Diese
Visite muß ich schildern: es war zu komisch. Sie sind Italienerinnen,
capricieren sich aber, deutsch zu sprechen. „Weil ’s is eine
Heflichkeit, die was wir haben für jedermann, das kommt in unsere
Land.“

Da läßt sich also nichts einwenden.

Sie haben ihre Jugend bereits zu Grabe geläutet und geben sich
auch durchaus keine Mühe, über diese Tatsache hinwegzutäuschen.
Von Eitelkeit keine Idee: dessenungeachtet lieben sie es, in den
Erinnerungen der ~tempi passati~ zu schwelgen. Das Gesicht Corona’s,
der Älteren, zeigt noch die Spuren einer gewissen, rasch verflüchtigten
Schönheit, das, was man „~beauté du diable~“ zu nennen pflegt. Die
Augen sind dunkel und groß, die Nase ist scharf gebogen und zu lang,
die Gestalt breit und untersetzt.

Pepi’s Äußeres ist sehr nichtssagend. Sie scheint es zu wissen und hat
es sich zur Pflicht gemacht, über die eigene Person zu schweigen und
nur die Vorzüge der Schwester zu rühmen.

Eines aber haben sie gemein: im Schnattern sind sie Meisterinnen.

Corona entschuldigt sich, daß sie in Filzschuhen erschienen ist.
„Weil’s in diese Winter so eine Kälten gehabt hat, da hab’ ich mir alle
Finger von die Fiß gefrört. Es tut noch immer weh.“ Und Pepi lieferte
die mimische Begleitung zu diesem Geständnis, indem sie von einem Bein
auf das andere hüpft und mit zusammengekniffenen Lippen murmelt: „Arme
Corona! Uh, diese Schmers.“

Wir kommen auf die Geselligkeit zu reden. Sie gehen häufig in’s
Theater, im Übrigen leben sie abgeschlossen, ohne etwas mitzumachen.
Sie erklären auch ohne Umschweife, warum:

„Es is so eine eigene Sach’! Wenn man in unsere Alter auf Soiréen geht,
schauen Einen die Leut’ so komisch an und denken sich: „Was wollen denn
Die da? Warum habens nit früher geheiratet, die Gredeln?“ Es is ja grad
so, als ob man eine Sünd’ auf die Körper hätt’. Ein paar so Cavaliere,
die was kein Geld in der Taschen haben, meinen am End’, es muß uns eine
Ehr’ sein, wenn’s uns schön tun. Möchten uns nehmen, um ein Geschäft zu
machen, damit sie uns beerben. Diese Comödi kennen wir. Aber aufsitzen
tun wir nicht, weil wir keine Hase sind von diese Jahr. Überhaupt: sind
Alle miteinander nix wert, diese Männer. Unsere größte Stolz is, daß
wir ledig sind.“

„Ma, Corona“, unterbricht sie Pepi. „Warum sprichst denn so? Grad Du
hast zehne gehabt, an eine jede Hand, auch eine Fürst. Ja“, setzt
sie mit triumphierendem Lächeln hinzu, „verliebt war er bis über die
Ohren, aber der Papa hat nit wollen, daß seine Tochter einen Officieren
heiratet.“

„Armer Papa“, seufzt Corona auf, „war immer so lustig, und hat müssen
eine so böse Ende nehmen. Betrunken“, flüstert sie.

Diese Aufrichtigkeit versetzte uns doch einigermaßen in Staunen. Sie
aber ließ sich nicht beirren. „S’is eine Fatalität, die was liegt in
unsere Famili. Alle immer betrunken; auch wir werden an dieses sterben.“

Sie meinen „ertrunken“, und ich kann mir lebhaft die verblüfften
Gesichter vorstellen, die diese Mitteilung bei Anderen zur Folge hat.
Diskret hinweggehend über den heiklen Punkt, der da in unglaublicher
Naivität blosgelegt worden.

„Sie war so schwer zu befriedigen“, fährt Pepi fort. „Gefallen hat ihr
bald Einer, aber wenn die Red’ gekommen is zum Heiraten, hat’s nix mehr
wissen wollen. O, die hat so eine kalte Hers. -- Erst vor zwei Jahren
hat sie eine Korb ausgeteilt an eine gewisse Herr Mayer, eine sehr
hübsche Mensch, das was selber hat gehabt drei Millionen. Er hat immer
gesagt: „Sie soll mit die Schlafrock, das sie auf die Leib hat, meine
Frau werden, damits nicht glaubt, ich brauch’ ihr Geld.“ Und weil sie
ihn nit mögen hat, hat er in alle Wälder herumgejagt, und in die Hitz
kaltes Wasser getrunken; nachher is er an die Abzehrung gestorben und
hat noch in sein letztes Stund „Corona“ geschrieen.“

„Warum sagst denn nix von Dir? Hättest ja selber gute Partien machen
können.“

„Ja, diese fünf Doktoren! Ich hab’ immer so eine Graus gehabt vor
diese Leute, die Menschen aufschneiden und nach die Medicin riechen.“
Plötzlich stößt sie einen Freudenruf aus. Sie hat auf der Etagère die
kleine nickende Pagode erblickt. „~Ma prego~, schau Corona. Wir haben
ganz dasselbe. Früher“, erklärte sie uns eifrig, „haben wir eine Türk
gehabt. Es ist immer Alles gut gegangen, bis er gebrochen is. Da war’s
Unglück im Haus. Zuerst sind die Eltern gestorben; die Corona hat
solche Kopfweh bekommen, daß sie ihr haben die Würmer setzen müssen;
und ihre Courmacher is krank geworden von die Lieb. Da hat uns alle
Zwei von so eine Chines geträumt, und wie wir’s in die Auslag sehen, so
kaufen wir’s.“

Das Alles mit einem Ernst, als ob es sich um die wichtigsten Dinge
handle.

Die Tante frägt sie um ihre Meinung über die Bellincioni, die soeben
ein glänzendes Gastspiel in Wien absolviert.

„Ja, sie singt ganz gut“, erwidert die Ältere mit einer gewissen
Zurückhaltung, und Pepi beeilt sich, hinzuzufügen: „Die Corona kann
so schön die Musik machen. Was die hat gehabt für eine Stimme! Viel
stärker wie die Bellincioni. Früher hat sie immer Concerte gegeben, daß
die Leute sind verrückt geworden. In die Gondel war kein Platz mehr für
die Blumen. Seit ihre Kopfweh freut sie’s nicht mehr.“

„Nein weil seit diese Zeit is mir die Migräne in die Hals gestiegen.
Und dann is doch mühsam die Begleitung, weil ich so kurz bin von die
Finger.“

Ich habe das Lachen nur so hinuntergewürgt. Es ist so merkwürdig, daß
die Leute niemals selbst fühlen, wenn sie komisch sind. Und doch, was
wär’ die Erde ohne solche Menschen?

       *       *       *       *       *

  Am 28. Mai.

Täglich Neues. Wir besuchen Kirchen und Palazzis, Museum und Galerien.
Überall derselbe Reichtum. Ein Leuchten der Farben, ein Glänzen von
Gold und Edelsteinen und eine heilige Ruhe über diesen Stätten, die der
Genius umschwebt; man meint förmlich seinen Flügelschlag zu hören, die
holde Lichtgestalt zu sehen, wie sie sich herabbeugt, um die Stirne
eines Rafael, eines Michelangelo zu küssen. Die Phantasie zaubert mir
den Künstler vor, wie er vor der Leinwand sitzt und liebdurchglühte
Bilder malt. Es ist etwas Erhebendes, Überwältigendes um die
Schöpferkraft im Menschen, um die freie Kunst.

Anders ist’s wenn sie geübt wird zum Erwerb. -- Dann verliert sie das
Sonnige, das Gott-Ähnliche, möcht’ ich fast sagen.

In der Spitzenfabrik: Schweigend, mit müden blassen Gesichtern und
gekrümmten Rücken sitzen die Frauen da und verarbeiten die haardünnen
Fäden. So ein winziges Blättchen bedarf oft vieler Tage zur Vollendung.

Für diese armen Geschöpfe gibt es keinen Frühling, keine Blumen. -- Was
kümmert sie’s, daß die Sonne scheint, die Vögel singen?

Die kostbarsten Gewebe entstehen unter den fleißigen Händen, die
Fabrikbesitzer werden reiche Männer und die kleine Arbeiterin
rechnet an ihren Fingern nach, ob sie den Zins bezahlen kann für das
Dachstübchen und wie lange es noch währen wird, bis sie erblindet.

Und unten wogt das Leben. Der Reichtum! Da packt es sie mit
unwiderstehlicher Gewalt, treibt sie hinaus, in die hellerleuchteten
Gassen, unter die elegante Menge. Nur einmal noch genießen, bevor die
dunkle Nacht hereinbricht -- ein einzigesmal. Sie steht und wartet und
hofft -- und bettelt um Liebe. -- -- Dem Ersten Besten wirft sie sich
an den Hals, verschreibt sich ihm mit Leib und Seele. Ein kurzes Fest.
Küsse und Champagner -- -- dann um so größeres Elend. -- -- Das ist
das Los der Meisten. Die Reichen ohne Fehl, die mögen den ersten Stein
auf sie werfen, wenn sie es wagen, und wenn es sich verträgt mit ihrem
Gewissen.

Die zweite Auflage hab’ ich gefunden in Murano. Jeder Fremde sieht sich
die Wunder der Glaserzeugung an, um sie nachher in seinen Erzählungen
als „interessant“ zu schildern. Ich wüßte einen ganz anderen Ausdruck
dafür.

In den unteren Räumen, da wo die zähe Masse geformt wird, herrscht
eine Siedehitze. Ein Schar Männer mit aufgedunsenen Gesichtern und
verschwollenen Augen, umsteht das offene Feuer, aus dem die roten
Flammen züngeln. Sie kneten und blasen aus Leibeskräften, tun sie es
doch um das tägliche Brot.

„Ist das denn nicht sehr anstrengend und gesundheitsschädlich?“ konnte
ich mich nicht enthalten zu fragen.

„Ja gewiß, aber was will man machen?“ entgegnete der Aufseher lachend.
„Sonst gäbe es eben keine Perlen und kein Glas. -- -- Älter als 45
Jahr wird übrigens Keiner.“

„Mein Gott“, entfuhr es mir.

„Ja Signorina, das ist gar nicht so schlimm. Sonst müßten sie noch
früher verhungern. Die sind froh, wenn sie sich ihre 70 Centesimi im
Tag verdienen.“

Siebenzig Centesimi! Die armen Teufel. Und haben wohl noch Weib und
Kinder daheim.

In den Schaufenstern prangen die schönsten Vasen und Spiegel, die
teuersten Luxusgegenstände. Sie funkeln und schillern in allen
Regenbogenfarben: ihr Anblick ergötzt uns, wir bewundern die edlen
Formen und merken nicht, daß Blut und Schweiß daran klebt, sonst müßte
es uns frösteln vor Unbehagen.

Im oberen Stockwerk ist’s lichter und kühler. Jedem Arbeiter ist seine
bestimmte Beschäftigung zugeteilt, unabänderlich dasselbe, jahraus,
jahrein. Ein graues, monotones Dasein, in dem die Stunden sich
aneinanderreihen so gleichmäßig wie die Perlen an den langen Schnüren.

Da hab’ ich unwillkürlich aufgeseufzt. Ein eleganter junger Mann, auch
ein Besucher, wandte sich nach mir um, und sein Blick sagte mir, daß er
mich verstanden habe.

Des Abends fuhren wir auf die Soirée der Marchesa Berloni. Ich war
einsilbig und zerstreut, das Gesehene wollte mir nicht aus dem Sinn.
Das war wieder einmal ein schwieriges Problem. Die Eleganz, die ich
doch liebe, auf einer Seite -- das nackte Elend auf der andern.
Da Überfluß, dort Mangel; den Vorschlag, zu teilen, hätte Keiner
angenommen. -- Oder wäre ich etwa bereit gewesen, mich meines Besitzes
zu entledigen, auf die tausend kleinen Raffinements zu verzichten, die
dazu beitragen, das Leben angenehm zu machen? -- Ich gesteh’ es offen
-- nein. -- Ich würde sicher keinen Bettler von der Türe weisen, aber
alles Unnötige herschenken -- das ist doch ein anderes Ding. -- -- Wie
wenig weiß ich noch vom Socialismus, von dieser Zwillingsschwester
des Friedens! Ich will mir Bücher kaufen und mich eingehender damit
beschäftigen. -- Es muß ja doch Mittel und Wege geben -- vielleicht
auch ohne Gütergemeinschaft.

Die Gesellschaft bestand aus circa 400 Personen. Darunter war Keiner,
mit dem ich hätte sprechen können, wie mir ums Herz war. -- -- Ich
blickte mich um, -- immer in der uneingestandenen Hoffnung, eine Spur
von meinem Unbekannten zu entdecken. Vergeblich.

Die Herren, die sich um mich bemühten, sind kaum der Erwähnung wert.
Ein kleiner Spanier, der mich anschmachtete, mir nicht von den Fersen
wich, aber die ganze Zeit über keine zehn Worte sprach. Dann ein
ältliches, pergamentgelbes, eingeschrumpftes Männchen mit gefärbtem
Bart, das sich über Alles und Jedes moquirte. Eine mir unsympatische
Erscheinung. Man sieht ihm die eingebildete Überlegenheit von Weitem an.

Wir kamen auf die Friedensfrage zu sprechen, der gegenüber er sich mehr
als skeptisch verhält. „Übrigens ein ganz reizender Apostel“, bemerkte
er, das Monocle ins Auge klemmend. „Also Sie glauben wirklich an den
Frieden?“

„Ja, ich bin eine begeisterte und überzeugte Anhängerin.“

„Letzteres ist viel gesagt, mit Anwendung auf eine Sache, die, hihi --
nun ich möchte Sie nicht verletzen -- aber es ist doch mehr eine schöne
Spielerei.“

„Vielleicht fassen Sie es so auf. Ich meinerseits glaube fest an das
Gelingen. Mein Glaube ist meine Überzeugung.“

Er aber gab nicht nach, sondern versetzte in pädagogischem Tone: „Sie
mögen es so empfinden, aber logisch ist es nicht. Nein, meine liebe
Signorina. Glauben und Überzeugung das sind zwei so grundverschiedene
Dinge, die man ohne krassen Widerspruch nicht in einem Atem nennen
darf. Ich will Ihnen erklären, warum: Glauben heißt vermuten, und
nur „Wissen“ ist Überzeugung. Jene, die mit Positivem rechnen,
ereifern sich nie. Am fanatischesten benahmen sich seit jeher die, die
„glaubten“,“ fügte er mit souveräner Geringschätzung hinzu.

„Ja, ich weiß sehr gut, daß man uns Utopisten und Schwärmer nennt,
die auf Wolken durch das Leben schweben, ohne die Erde zu berühren,
jeder reellen Grundlage entbehrend. Aber sind es nicht gerade immer
die Träumer gewesen, die Großes geleistet haben? -- Sie sind sogar
unentbehrlich, denn sie liefern die Idee, den Stoff, den andere
praktisch verwerten.“

„Praktisch, hihi. Praktisch sind nur die Kanonen, die verbesserten
Waffen überhaupt. Die sprechen noch am ehesten für den Frieden. Das
andere ist alles nichts -- das bloße Wort -- Sie haben noch so wenig
Erfahrung, kleine Signorina. Das ist charmant, das kleidet Sie ganz
vorzüglich.“

Ich war so geärgert über den Schulmeisterton und die impertinenten
Blicke, mit denen er seine Complimente begleitete, daß ich keine
Erwiderung fand. Nachträglich fielen mir die treffendsten Antworten ein
-- das ist ja immer so -- und ich hielt ganze Dialoge mit mir selbst,
in denen ich das „Für und Gegen“ vertrat.

In einem einzigen Punkte teile ich seine Ansicht. Er hat sich lustig
gemacht über ein paar übertriebene Toiletten und die „Mode“ in neun
Fällen von zehn, als Löschhorn des guten Geschmackes bezeichnet. Ich
finde es nämlich auch einen Unsinn, etwas zu tragen, das man selbst
unmöglich schön finden kann, aus dem bloßen Grunde, weil es Mode ist. --

Von den jungen Mädchen hat sich Keine um mich gekümmert. Aus
verschiedenen Andeutungen hab’ ich den Grund entnommen. Sie vermeiden
absichtlich jede Annäherung an Ausländerinnen, sobald sie meinen, es
könnten gefährliche Rivalinnen sein, umsomehr als in den letzten Jahren
so mancher junge, reiche Italiener sein Herz an eine Fremde verlor.
„Nur ja sich keinen ~épouseur~ wegschnappen lassen“ und sie schließen
einen um so festeren Ring unter sich.

Also auch hier wie allenthalben das Durchschnittsmädchen: einziges Ziel
-- -- einen Mann bekommen.

       *       *       *       *       *

  Am 30. Mai.

„Nun ja, der dort unter dem Baume steht, -- links.“

„Das also ist der junge Deuchtestum? Ich habe mir ihn eigentlich ganz
anders vorgestellt.“

„Warum? Weil ich Dir gesagt habe, daß er ein seltsamer Kauz ist? Du
findest wohl“ -- das Weitere hab’ ich nicht mehr hören können, da
die beiden Damen schon zu weit waren. Ich folgte mit dem Blick der
angegebenen Richtung und unterdrückte nur mit Mühe einen Ruf der
Überraschung. Da war er ja, mein Unbekannter von Murano, an der Stelle
selbst, wo wir den General erwarteten.

Hier merkte man nichts von dem Gewimmel, das in dem vorderen Teil der
Giardini herrschte; nur wenige vereinzelte Spaziergänger verloren sich
bis an diesen Platz.

Wir setzten uns auf eine Bank, und während die Tante las, betrachtete
ich mir den Einsamen genau.

Er stand an eine Cypresse gelehnt, die Arme über der Brust verschränkt,
und sein Blick schweifte weltvergessen über das Meer.

Ich sah ihn lange an und doch bin ich nicht klug geworden aus seinem
Gesicht. Die Augen sind die eines Träumers, der bemüht ist, Alles im
rosigsten Licht zu schauen -- und der an Ideale glaubt. Und hingegen
lagert ein spöttischer, ja fast verächtlicher Zug um den Mund. Es ist,
als hätten diese Lippen Alles gekostet, und nirgends Süßigkeit, überall
nur bitteren Nachgeschmack gefunden, als müßten sie sich plötzlich
öffnen, um ein „Brrr“ des Abscheues auszustoßen.“

Sonst hatte ich die Leute, die mich beschäftigen, sofort in eine
bestimmte Categorie eingereiht -- da aber bracht’ ich’s nicht zu
Stande. Ich forschte auch vergebens nach einer Ähnlichkeit mit dem
General. Die hohe, elegante Figur, das war auch Alles.

„Ah, das ist schön. So pünktlich -- ganz wie beim Militär.“ -- Der alte
Graf war auf uns zugekommen, im weiten, dunklen Radmantel, den grauen,
weichen Filzhut auf dem Kopf. -- Er trug sich nie anders und es gab
wohl auch nichts, was besser zu ihm paßte. Es war originell, durchaus
charakteristisch.

„Hab’ meinen Sohn herbestellt“, fügte er hinzu. „Möcht’ ihn mit den
Damen bekannt machen, wenn es gestattet ist. -- -- Ah, mir scheint,
dort ist er -- -- Egon.“

Der Gerufene stand im nächsten Augenblick vor uns. Der Vater stellte
ihn uns vor. „Hat wieder geträumt; ist nicht zufrieden mit der Welt;
lieber in den Wolken, wie? Hab’ ich Recht, wie?“

Der neue Ankömmling unterhielt sich längere Zeit mit der Tante, deren
tapferes Wirken er sehr bewunderte. „Wir Socialisten sind ja sammt und
sonders Friedensfreunde. Wir verfolgen ganz dasselbe Ziel, nur auf
verschiedenen Wegen.“ Dann sprach er von seinen Reisen, und später
giengen wir voran. Es fügte sich wie von selbst, und doch wurde mir
eigentümlich bange. Wovon wird er reden?

„Eigentlich kennen wir uns schon“ begann er. „In der Glasfabrik von
Murano. Erinnern Sie sich noch?“

„O ja. -- -- Hat es auch einen so traurigen Eindruck auf Sie gemacht?“

„Gewiß. Ich habe Ihren Seufzer vernommen, als Echo meiner eigenen
Empfindungen, so etwas wie Seelenverwandtschaft herausgespürt. Die
Meisten betrachten es als Curiosum. In ihrer Gleichgiltigkeit entgeht
es ihnen ganz, daß sich da wie nirgends anders die Ungerechtigkeit
zeigt, die die Welt beherrscht.“

„Ja, daran hab’ ich auch gedacht -- und bin dabei in eine Sackgasse
geraten. -- Können Sie mir kein Werk anraten, das mir Aufschluß
erteilt. -- Ich bin leider viel zu wenig bewandert, auf diesem Gebiet.
Aber jetzt, wo mein Interesse erwacht ist“ -- --

„Gewiß. Ich will Ihnen gern einige Titel nennen. Aber die Anfangsgründe
darf doch ich Ihnen beibringen, nicht wahr?“

„Ich werde Ihnen sehr dankbar sein.“

Hierauf entwickelte er mir mit wenigen leichtfaßlichen Worten die ganze
Idee. -- Ich glaube, er hat beiläufig das gesagt:

„Wir sind keine Revolutionäre und Umstürzler im schlechten Sinn. Was
wir anstreben, werden wir auf friedliche, unblutige Weise erreichen,
indem wir die Menschen zum vernünftigen Denken zwingen -- die
Unterdrücker und ihre Opfer. Und dieser Kampf der Geister muß notwendig
die Reformen mit sich bringen.

Es handelt sich uns nicht darum, die Reichen auszuplündern und
ihr Hab’ und Gut unter die Armen zu verteilen. Nein, nur die
schroffen Gegensätze sollen gemildert werden -- durch die Gesetze.
Man verwechselt uns so häufig mit den Communisten, und das ist
ganz unrichtig. Wir wissen sehr gut, daß eine völlige Gleichheit
ausgeschlossen ist. Es wird immer Unterschiede geben, sowohl in
körperlicher als in geistiger Beziehung. Das Gegenteil wäre gerade so
unsinnig, als wenn man vom geborenen Dichter verlangen wollte, daß er
Sohlen an die Schuhe heftet, vom Crétin, daß er Astronomie betreibt,
oder vom Krüppel, daß er Lastkarren schiebt.

Die Leute müssen eben immer reden, ob sie etwas von einem Ding
verstehen oder nicht. So hat sich einmal ein Gegner folgendermaßen
geäußert:

„Geld wird es natürlich keins mehr geben: wir werden Jedes mit
einem Schein in der Hand unser Stück Fleisch, unsere Schuhwichse
und überhaupt Alles, was wir brauchen -- abholen: Niemand wird mehr
im Wagen fahren, um es den Anderen nicht voraus zu tun. -- Volle
Gleichheit. Und schon nach einem Jahr wird der Streit losgehen, weil
der A -- wie es ja unvermeidlich ist -- wieder mehr haben wird wie der
B.“

Und darauf hinzuarbeiten, eine solche heillose Confusion
heraufzubeschwören, liegt uns doch wahrlich fern. Jedem Menschen sein
Stück Brot sichern, ihm die Möglichkeit bieten, es zu verdienen, das
wollen wir. Der Eine mag Champagner trinken, der Andere sich bei
Tafelwein genügen lassen, aber was nicht mehr sein darf, das ist: hier
Berge von Gold und dort der Hunger, Crösusse und Bettler. Mit dem
Verein gegen Verarmung und Bettelei ist uns nicht gedient, ebensowenig
mit Wohltätigkeitsbazaren, die nun so sehr ~en vogue~ sind. Damit
macht man dem Strike, dem Aufruhr kein Ende. Leute, aus denen man
Nutzen zieht, müssen auch menschenwürdig behandelt werden. Es ist
ja haarsträubend, in welch’ entsetzlichen Verhältnissen die unteren
Classen leben. Wie das Vieh zusammengepfercht in dumpfen, lichtlosen
Kellerwohnungen. Mit 50, 60 Kreuzern soll eine Familie von einem halben
Dutzend Köpfen ihr Auskommen finden. Sie müssen ja da zu Grunde gehen
und sind in jenem Alter, wo Kraft und Arbeitstüchtigkeit am größten
sein sollten, Greise, weil das Maß der Sorgen zu schwer war für ihre
Schultern. Jeder blutig erworbene Heller wird controliert, die Steuer
dafür eingezogen, und dazu die ewig steigenden Preise! Man treibt
sie ja gewaltsam dem Laster in die Arme. Diebstähle, Trunksucht,
Selbstmorde, das sind die natürlichen Folgen.

Man hat leicht Geduld und Ergebenheit predigen, wenn man selbst in
geordneten Verhältnissen lebt, -- -- ich aber finde, daß die guten,
die „neidlosen“ Armen bewunderungswürdig sind. Und wenn der Funke der
Unzufriedenheit zu lichterloher Flamme wird, wenn sie schließlich genug
haben, sich zur Wehr setzen, ich würde denken: „Sie haben Recht“.

Wenn man immer und ewig Nieten in der Schicksalslotterie zieht,
wie soll man da nicht verzagt werden und unwillkürlich fragen:
„Warum gerade ich?“ Denn sich zu philosofischer Lebensanschauung
aufzuschwingen, ist in diesen Kreisen ein Ding der Unmöglichkeit.

Die Reichen aber lügen, wenn sie mit treuherzigen Mienen versichern,
daß sie ihr Geld zusammenscharren zum Wohle der Allgemeinheit.
„Verwalter unseres Vermögens“ -- „nutzbringend für den Staat.“ Ja,
schöner Nutzen das! Die Armen hungern und frieren, dieweil der Fiskus,
dieses Ungeheuer mit dem bodenlosen Schlund, sich ins Fäustchen lacht.

Freiwillig geben die Besitzenden nicht nach: sie mit dem Schwerte
in der Hand gefügig zu machen, wäre Unrecht. Moralisch also müssen
sie gezwungen werden durch die legislative Gewalt. Dazu aber ist es
erforderlich, daß sie sich in den Händen wohlmeinender Männer befinde,
die die Interessen des Volkes auch wirklich wahren.

Bei der Mißwirtschaft, wie sie momentan in fast allen Parlamenten
eingerissen hat, ist nichts für unsere Zwecke zu erreichen. Sie lesen
doch die Zeitung?“

„Gewiß.“

„Nun da werden Sie ja wissen, wie es dort zugeht. Man streitet sich
stundenlang um Bagatellen herum -- vernünftige Vorschläge, das gehört
zu den Seltenheiten. Freilich, zur Zeit der Canditatur versprechen die
Herren den Leichtgläubigen Sonne, Mond und Sterne und ködern sie mit
Bier und Geld. Sitzen sie aber einmal fest und warm im hohen Haus,
haben sie auf Alles vergessen bis auf die Diäten: die stecken sie noch
gewissenhaft ein. Es ist eine einfache Spekulation. Der Zufall, die
Bestechung entscheidet mehr, als das persönliche Verdienst und daher
kommt es so häufig vor, daß total unfähige Menschen die wichtigsten
Stellen bekleiden. Darum strebt unser Programm in erster Linie das
allgemeine, direkte Wahlrecht an. Dieses erstreckt sich auf alle
Reichsangehörigen beiderlei Geschlechts, die das zwanzigste Jahr
zurückgelegt haben. Das Volk soll aus seiner Mitte heraus bewährte
Männer, zu denen es Vertrauen hat, zu seinen Abgeordneten bestimmen.

Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Volkswehr an Stelle der
stehenden Heere, und die Schlichtung aller Streitigkeiten auf
schiedsgerichtlichem Wege. Sie sehen also, daß wir sehr friedliebende
Menschen sind. Doch ich ermüde Sie wohl?“ setzte er fragend hinzu; da
ich ihn jedoch des Gegenteils versicherte, fuhr er fort:

„Auch wollen wir die Abschaffung jener Gesetze, welche die freie
Meinungsäußerung einschränken und jener die die Frau im öffentlichen
oder privaten Leben, dem Manne gegenüber benachteiligen.“

„Also Sie finden es natürlich, daß auch die Frauen, einen ihren
Fähigkeiten entsprechenden Beruf wählen, sich am öffentlichen Leben
beteiligen?“

„Das ist doch nur gerecht: nur die Schwächlinge fürchten die
Concurrenz: aber die werden ja bald zum Schweigen gebracht werden.“

„Ist das das ganze Programm?“

„O nein. Wir sind keine so bescheidenen Leute: wir streben noch so
Manches an, z. B. die vollkommene Trennung von Kirche und Staat:
Weltlichkeit der Schule, Unentgeltlichkeit des Unterrichtes und der
Lehrmittel und Ausbildung der Talente, da wo sich welche zeigen.“

„Das wäre für Viele eine Wohltat. Ich habe mir so oft vorgestellt wie
traurig es für einen Menschen, der an seine Begabung glaubt, sein muß,
wenn ihm die Hände gebunden sind, wenn er nicht vorwärts kann, weil ihm
die Mittel fehlen, um sein Ziel zu erreichen.“

„Sie sollen noch mehr beanspruchen können. Die unentgeltliche
Rechtspflege, die Entschädigung unschuldig Verurteilter, die
Abschaffung der Todesstrafe. -- Ärztliche Hilfe und Heilmittel, das
sollen sie ebenfalls umsonst haben.“

„Und dieses Programm, das so gut, so logisch zusammengestellt ist,
soll nicht die Wünsche Aller befriedigen?“

„Nicht wahr? Es ist kaum zu begreifen, und doch gibt es leider gar
Viele, die nichts davon wissen wollen.“

„Wie ist es eigentlich mit den großen Abgaben, über die man alle Welt
jammern hört? -- Läßt sich denn da nichts machen, oder gehört das nicht
hierher?“

„Und ob. Auch da wollen wir Rat schaffen. Wir beanspruchen nämlich
die stufenweise steigende Einkommensteuer, von der dann alle
öffentlichen Ausgaben bestritten werden sollen. Erbschafts- und
Vermögenssteuer bleiben, wenn auch anders geregelt, bestehen,
hingegen sollen alle indirekten Steuern, die Zölle, überhaupt alle
jene wirtschaftspolitischen Maßnahmen abgeschafft werden, welche
die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten
Minderheit opfern. Das klingt trocken, nicht wahr? Die Anfangsgründe
jeder Wissenschaft sind so. Aber wenn man das ABC überwunden hat, macht
das Weiterspinnen Freude.“

„Mir scheint Alles ganz klar und einfach. -- Freilich, was das Letzte
anbelangt, die Abschaffung der zu weit ausgedehnten Vorteile der
Bevorzugten, kann ich mir denken, daß Sie auf Schwierigkeiten stoßen.“

„Nun ja, natürlich fehlt es uns nicht an Widerstand, doch wir werden
ihn schon brechen. Und im Innern können am Ende auch unsere Gegner,
sofern sie denken wollen, die Vorteile einer solchen Reorganisation
nicht leugnen.

Dadurch, daß das tote Capital aufhört, das heißt die Aufhäufung der
Zinsen zu Unsummen -- kommt mehr Geld in Umlauf, wobei die Wohlfahrt
des Landes steigt, und jeder Einzelne profitiert.

Für alle öffentlichen Bedürfnisse wird die Gemeinkasse, der Staat
sorgen, ebenso für den Unterhalt der Kinder und der Arbeitsunfähigen.
Er wird auch das Eigentumsrecht von Grund und Boden an sich bringen,
das heißt, es durch Kauf erwerben und die Leute damit belehnen, mit
anderen Worten: sie wären gegen mäßige Zinsen Pächter.

Jeder wird für sich selbst arbeiten und nach dem Maße seiner Leistungen
entlohnt werden. Keine Millionenerben mehr, und die Zahl der
Müßiggänger, der Drohnen wird sinken.“

„Aber“, habe ich da eingewendet, „wird die Freude, der Eifer, zu
erwerben, nicht abnehmen, wenn man nicht mehr für seine Kinder, sondern
für die Allgemeinheit arbeitet?“

„Das ist Ansichtssache. Vernünftigen Eltern wird jedenfalls der
Gedanke, daß ihre Nachkommen durch redlichen Fleiß ihr Schärflein zum
Weltbau beitragen, mehr Genugtuung bereiten, als der, daß sie auf der
faulen Haut liegen und sich durch vornehmes Nichtstun zu unnützen
Gliedern der Gesellschaft stempeln. Im Übrigen wäre ein „weniger
auf Erwerb des Mammons bedachter Sinn“ nur wünschenswert, weil dann
das Laster „Geiz“ keine so unerquicklichen Dimensionen mehr annähme,
wie heute. -- Auch die Geldheiraten würden abnehmen und die Liebe
als Regentin ein besseres, für das Ideale begeistertes Geschlecht
hervorbringen.

Freilich wird es immer kleinliche Schreier geben, denen die eigene
Bequemlichkeit mehr am Herzen liegt, als das Wohl der Gesammtheit. Aber
mit der Zeit wird es der verschwindend kleine Teil sein. Der Ruf nach
Gerechtigkeit wird mächtig anschwellen und als brausender Orkan das
All durchzittern -- und dieser Tag steht, glaube ich, in nicht all zu
weiter Ferne.“

Er hatte sich in Eifer geredet und seine blauen Augen strahlten in
sanftem Feuer. Wir waren nahe an das Hôtel gekommen, das der Graf mit
seinem Sohn bewohnte. „Ich könnte Ihnen noch so Manches über diese
Sache sagen -- von den speciellen Forderungen der Arbeiterklasse habe
ich Ihnen noch gar nicht gesprochen.“

„Wir werden doch Gelegenheit finden, das heutige Thema fortzusetzen --
so schnell dürfen Sie mich nicht im Stiche lassen.“

„Das will ich auch durchaus nicht. O nein, ich habe ganz gut bemerkt,
daß Sie einen klaren Kopf haben und solche Leute können wir nur zu gut
brauchen.“

„Was hat der Ihnen Alles erzählt?“ frug nun der General. „Schöne
Sachen, wie? -- Möcht’ gern eine Socialistin aus Ihnen machen, wie? A
ja, ja, kleine, schöne Socialistin, wie?“

„Das wird ihm leicht gelingen.“

Egon gab mir die Hand. „Wir werden Freunde sein, nicht wahr?“

„Wir sind es schon“, wollt’ ich erwidern, doch ich nickte nur
zustimmend mit dem Kopfe.

       *       *       *       *       *

  2. Juni.

Das Venedig vom Canal grande ist wesentlich verschieden von dem in den
Mercerien. Das bunte Durcheinander, das hier herrscht, contrastiert
lebhaft mit der majestätischen Ruhe des eleganten Viertels.

Der General machte unseren Cicerone, und es war unterhaltend, als
eine Schar kleiner Gassenjungen sich vor ihm aufpflanzte und rief:
„~Un soldo, san Nicolo, prego un soldo~“, und er verteilte lachend
Kupfermünzen unter sie.

„~Ma no~“, ließ sich jetzt eine weibliche Stimme vernehmen, „~non è
san Nicolo, è il nostra Generale. Buon giorno Eccelenza~.“ Es war ein
bildhübsches Weib, das diese Worte gesprochen. In Fetzen stand sie da:
ihr dichtes, blauschwarzes Haar fiel ihr in Strähnen über die Brust. --
Die Augen funkelten und in der Haltung des Kopfes lag etwas von einer
Königin.

An allen Ecken, und wo es angeht auch unter den Toren stehen
Orangenverkäufer, Zeitungsausrufer, Blumenmädchen. Ein sich gegenseitig
Überschreien, ein Anpreisen der Waren, ein Handeln und Gemurmel: ein
ohrenzerreißender Lärm.

„~Il secolo~“ -- „~popolo romano -- tre rose per una mezza lira -- ma
compra -- belle arranci, fresche, dolci -- il giornale di Milano~“
und dazwischen das Gebell der Karrenhunde, das Schäppern der kleinen
Marktwagen.

Um in dieser Gegend zu wohnen, muß man wirklich gute Nerven haben: ich
glaube auf die Dauer hielte ich das nicht aus.

Der General führt uns in ein stilleres Seitengäßchen, wo die Antiquare
ihre Buden aufgeschlagen haben. -- Es gibt da Prachtstücke, an denen
man sich gar nicht satt sehen kann. Besonders reich vertreten sind die
eingelegten und geschnitzten Truhen, Goldstickereien und Miniaturen.
Eine, die mir besonders gefiel, hab’ ich erstanden. Eine Frau in
Empirecostüme, ein schlankes Figürchen mit einem Paar großer flehender
Augen. Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie einen Schmetterling.
Die Inschrift auf der Goldleiste des Rahmens hab’ ich erst später
entdeckt. In winzig kleinen Lettern steht darauf: „~Puisse l’excès de
mon amour fixer le volage.~“ Eine kleine Fürstenkrone daneben.

Ich war entzückt über meine Entdeckung und zeigte dem Grafen das
Bild. Da schien mir’s, als ob eine seltsame Bewegung über seine Züge
geglitten wäre. -- -- -- „Ja, ja, -- ist jetzt vorbei -- vergeht so
schnell das Leben, wie? Kaum daß man vernünftig geworden, ist es aus.“
-- Und um sich blickend: „Alte Kunstschätze und moderne Menschen.
Junge Menschen, wie? -- -- Ah ja, ja, das Alte taugt nichts, das muß
fort. Immer Neues drängt zum Licht, muß sich frei bewegen können. Ist
natürlich. Bei mir wird’s auch nicht mehr lang dauern, wie?“

„Aber sprechen Sie nicht so,“ bat die Tante, und mir wurde ganz weh
ums Herz. Vom ersten Moment an hat er sich meine Sympatie erworben,
und ich weiß, daß wenn er gienge, es eine Lücke bilden würde in meinem
Leben. Du lieber, alter General! Was macht’s, daß die Jahre sich mit
Runenschrift in Deinen Zügen eingegraben, tiefe Furchen gezogen haben,
der Kreuz und Quere: bis an Dein eigentliches Wesen ist die zerstörende
Zeit doch nicht gedrungen. Noch immer stehst Du da, so unbeugsam und
wetterfest wie eine Eiche, die den Stürmen trotzt, die stolz und sicher
ihr Haupt zum Himmel hebt.

„Ein Mann, halb Engel und halb Löwe“, so hat ihn der ältere Dumas
genannt.

„Ah, diese trifft sich gut.“ Die Schwestern Trevatti waren uns förmlich
in die Arme gelaufen. „Wir haben uns geholt eine neue Gondelier,“
erläutert Pepi, „weil das frihere is in Liebe gefallen zu die Corona,
-- und die besen Zungen hier! S’is schrecklich: wir sind ganz krank.
Jetzt gehen wir in die Gemalerei, weil dort sind schene Bilder -- eine
Porträt, was soll sein die ganze Corona.“

„Da, Signorina,“ sagt die Ältere, mir eine Rose reichend. „Diese ist
von eine schene Geburt,“ fügt sie, nicht ohne Wichtigkeit hinzu.

Ich war froh, daß sich keine anderen Leute in der Nähe befanden. Der
Aufzug dieser Beiden spottet jeder Beschreibung. Was man an Farben
und Uniformen ersinnen kann, das laden sie auf sich. Eine buntbeklexte
Palette ist nichts dagegen. So etwas tut mir in den Augen weh. Meine
Überwindungskraft geht nicht so weit, daß ich mich über Derlei
hinwegzusetzen vermag. Ich weiß, es ist kleinlich: die wahre Klugheit
besteht darin, die Menschen zu nehmen, wie sie sind, mit ihren
Schwächen und Absonderlichkeiten. Ob ich das je erlernen werde?

Nachmittag sind wir herumgefahren auf dem Meer. Es war schwül; die
ganze Natur strömte eine gewisse Mattigkeit aus. Wie Gazeschleier lag
es über dem Firmament und selbst die Glocken von San Marco hatten einen
müden, gedämpften Klang. In all’ den Farben und Tönen eine schüchterne
Weichheit, die mich so seltsam bewegte.

Und der General erzählte aus seinem Leben. -- Alles war Romantik in
diesem Dasein. Ich lauschte mit geschlossenen Augen. -- Wie stürmisch
wild da mit einemmale die See wurde! -- Die Wogen brandeten, schlugen
schäumend an die Gondel, warfen sie hoch in die Luft, daß sie in
allen Fugen krachte. -- Es war die Illustration zu der Geschichte des
Greises, der an unserer Seite saß.

Seine zügellose Phantasie, sein Drang nach Erlebnissen und Abenteuern
hatten ihn noch als halben Knaben hinausgetrieben in die Welt. --
Allenthalben wo es Kampf gab, war er dabei. -- -- Pulverdampf und
Kugelregen, das sind die Erinnerungen seiner Jugend. -- Seit jeher
empfand er besondere Vorliebe für das sonnige Italien und dort war es
auch, wo zum erstenmale die Frau entscheidend in sein Leben trat. Er
fand Gegenliebe bei der jungen Fürstin, der er seine Neigung widmete
-- die Eltern waren einverstanden und die Regierung zeigte sich
hocherfreut. Dennoch gab es Mißgünstige, die diese Heirat hintertreiben
wollten. Da machte er aber kurzen Proceß, nahm seine Braut in die
Arme und ließ sie sich bei Fackelschein antrauen in stiller Nacht.
-- „Meine Division erwartete uns im Wald, wo in aller Eile ein Altar
errichtet wurde und dem Bischof wußte ich plausibel zu machen, daß es
seine Pflicht sei, uns die Hindernisse aus dem Wege zu räumen. -- --
Sie ist bald gestorben, die Arme. Ja, ja, war ein Engel, eine wirkliche
Heilige.“

Tiefen Eindruck hat mir auch folgende Episode gemacht, die er uns aus
seinem Schlachtenleben mitgeteilt:

„Es war im Mai 1860. Unter dem heiteren Himmel von Italien trug sich
das Grauenhafte zu. Wir zogen mit tausend Helden Garibaldi’s gegen
Palermo. In der Nähe des Marktfleckens Partenico erblickten wir am
Straßensaume einen Leichenknäuel, und als wir näher traten, sahen
wir, daß es zehn bis zwölf Bourbonensoldaten waren, an denen die
Hunde nagten. Garibaldi geriet in fürchterlichen Zorn und donnerte
die jubelnden Einwohner mit den Worten an: „Schämt Euch über solch’
barbarisches Treiben. Die Anhänger der Freiheit kämpften nie so; nie
wüteten sie auf so unmenschliche Weise.“

Die Partenicoer hörten in tiefer Stille diesen Ausbruch der Entrüstung
an. Dann trat Einer aus der Gruppe vor den General:

„Ja, wir haben ungerecht gehandelt, aber bevor Sie uns verurteilen,
sehen Sie selbst, was hier geschah“, und sie führten uns in vier bis
fünf Häuser, in denen eine Schar von Frauen und Kindern lag, versengt,
zu Kohle verbrannt.

„Das haben die Bourbonensoldaten getan“, schrien sie. „In die
Häuser trieben sie die Frauen und Kinder, zündeten sie an, bis die
Unglücklichen in den Flammen starben. Wir hörten das Wehgeschrei und
eilten herbei. In unserer Verbitterung vollbrachten wir den Racheakt.“

„Damals überkam mich zum erstenmale namenloser Ekel vor der Grausamkeit
der Menschen, vor der Häßlichkeit des Krieges, der alle Dämonen
entfesselt. Ähnliches gieng im Innern Garibaldi’s vor, wie er mir
später gestand. -- A ja ja, das waren Zeiten. Wie?“, und er fuhr
sich mit der Hand über das weiße Haar. -- „Hab’ aber noch nicht genug
gehabt. Auch den 66er Feldzug mitgemacht. Weiß der Teufel, warum
ich keine Ruhe hatte. Wurde am linken Arm verwundet; war eine sehr
gefährliche Geschichte -- hätten ihn bald amputieren müssen. Da bin
ich denn gelegen sechs Monate und hab’ Zeit gehabt, nachzudenken.
-- Oft hab’ ich Nächte lang kein Auge zugemacht -- immer eine weiße
Frau an meinem Bett sitzen gesehen, die fortwährend murmelte: „Ich
bin der Tod.“ -- War mir nichts passiert mitten in der Schlacht und
hab’ ruhig sterben soll’n im Bett, wie? -- Hab’ keine Lust gehabt, --
der weißen Gestalt gesagt: „Ich will leben -- geh’ fort“ -- dem Tod
getrotzt. -- Muß leben, um gut zu machen, meinem kleinen Buben andere
Ideen beizubringen -- ja ganz natürlich -- er soll vernünftiger werden,
wie sein Vater. A ja ja. -- Kleiner Bub. Ist heut’ ein erwachsener,
tüchtiger Mensch, der Egon. Wie? -- -- Schreibt den ganzen Tag -- wird
hoffentlich gelingen das Werk, wie?“ und ein stolzes Lächeln verklärte
seine Züge.

       *       *       *       *       *

  5. Juni.

Aus welchem Anlaß er Socialist geworden. Ob er den Standpunkt, den er
heute vertritt, seit jeher eingenommen, oder ob ihm die Gegensätze
früher als etwas Selbstverständliches erschienen waren? Das Alles hab’
ich Egon Deuchtestum gefragt.

„Mein Vater“ -- und in diesem Worte lag große Zärtlichkeit -- „hat
mich in den Principien der Nächstenliebe und Gerechtigkeit aufgezogen.
So viel ich mich erinnere, war es mir als Kind Bedürfnis, den Armen
zu geben. Damals hab’ ich’s instinktiv getan -- später aus Gewohnheit
und weil es mir wirklich Freude machte. -- Dabei aber ließ ich mir
nichts abgehen, legte mir keinerlei Entbehrung auf. -- -- Ich sollte
mein Freiwilligenjahr absolvieren und meine neuen Kameraden forderten
mich auf, an einem Bankett, das sie veranstalteten, teilzunehmen. Ich
gieng. Am Sylvesterabend war’s. Ein Wetter, daß man keinen Hund hätt’
auf die Gasse jagen mögen. Drin im Restaurant war’s behaglich warm;
eine elegante Gesellschaft füllte den Raum; Alles war lustig, guter
Dinge. Unser Tisch stand knapp am Fenster -- -- wir ließen es uns
gut sein, plauderten, aßen die besten und seltensten Dinge, tranken
Punsch und dann kam der Champagner an die Reihe. Ich war nie ein Freund
solcher Gelage gewesen und auch diesmal nur gekommen, um nicht als
Spaßverderber zu gelten.

Schon stand eine ganze Batterie geleerter Flaschen auf dem Tisch --
der gewöhnliche Grad der Gemütlichkeit war überschritten. Und da kein
irgendwie fesselndes Thema berührt wurde, hieng ich meinen eigenen
Gedanken nach -- und sah unwillkürlich durch das Fenster. -- Gerade
gegenüber war eine Delikatessenhandlung. Ein ärmlich gekleideter
Mann stand davor und studierte die ausgestellten Leckerbissen.
Die Züge vermochte ich nicht deutlich zu unterscheiden. Ein paar
Minuten später trat er in unser Restaurant. -- Zaghaft, mit einem so
flehenden Ausdruck, den ich nie vergessen werde, näherte er sich einer
Gesellschaft. Ein paar geputzte Damen rückten ihre Stühle beiseite und
eine hielt ihr Taschentuch an die Nase: „Puh, dieser Geruch!“ Und ein
dicker Herr rief den Kellner: „Was will der Mann hier? -- Sorgen Sie
dafür, daß die Besucher nicht durch solches Gesindel belästigt werden.“

„Herr, ein krankes -- --“

„Nichts da -- packen Sie sich fort, sonst hole ich den Wachmann“, und
der Kellner drängte ihn zur Tür. -- -- Er wankte mehr, als er gieng.
Dann ballte er die Faust -- wie man es tut, wenn man einen Fluch
ausstößt.

Der ganze Auftritt hatte keine fünf Minuten gedauert. -- Hatte mich nun
der Champagner gelähmt, mich eingeschläfert -- ich verfolgte die Scene
mit dem Blick des gleichgültigen Zuschauers. Erst als mein Nachbar sich
über den „unverschämten Kerl“ beklagte, kam ich zu mir.

Ich nahm mir kaum Zeit, in meinen Mantel zu schlüpfen -- ich eilte
hinaus, dem Verjagten nach. -- Seine Hand hab’ ich genommen und ihm
Abbitte geleistet. -- In seine elende Kammer bin ich ihm gefolgt; sein
Weib und seine vier Kinder waren blau vor Kälte. Auf einem Strohlager
lag das Jüngste -- tot. Es war gestorben in seiner Abwesenheit. -- Da
hat sich der Mann über die kleine Leiche geworfen und Dinge gebrüllt,
die mir durch Mark und Bein drangen. -- --

„Gelt, daß die Reichen sich überfressen können, muß Unsereins arbeiten
wie a Viech. -- -- Wir verdienen’s und sie verprassen’s. Von Mitleid
keine Spur -- drum hast krepieren müssen, armes Hascherl -- -- kein’
Doktor hab’n mehr zahlen können, und jetzt is aus. -- Wahrli, man
dürft’ keine Kinder haben, ’s wär’ besser für die Würmer -- so an Luxus
kann sich nur a Reicher gestatten. -- Besser war’s, wann das ganze
G’schlecht aussterbert -- sollen sich dann selbst helfen, die nobligen
Leut’.“

Lang hat’s gedauert, bis er zur Ruhe kam. -- -- Und ich stand da -- und
schämte mich -- im Namen meiner Genossen. Es schlug Mitternacht, das
neue Jahr hielt seinen Einzug. -- Da hab’ ich es dem Manne gelobt in
seine rauhe Hand: „Ich will für Euch kämpfen -- -- meine Kraft, mein
Streben weih’ ich von dieser Stunde an den Unterdrückten.“

„Ich --“ -- weiter kam ich nicht -- Tränen erstickten meine Stimme und
noch jetzt, wenn ich daran denke, zittert mir die Feder in der Hand. --
-- Danken wollt’ ich ihm, ihm sagen, wie gut das gewesen, und habe doch
kein Wort hervorgebracht. Aber meine Tränen haben mich verraten, die
sind mir unaufhaltsam herabgerollt.

Er sah mich bestürzt an. „Ich habe Sie nervös gemacht. Verzeihen Sie.“

„Sie haben mir wohl getan. So wohl.“

Der Garten, in dem wir wandelten, mit seinen dunklen Laubgängen, mit
den plätschernden Fontänen, mit dem Dufte der Magnolien schien mir
plötzlich so wundervoll. Der ganze Zauber des Südens stürmte auf mich
ein, atemraubend überwältigend.

Wir näherten uns einer Gruppe von spielenden Kindern. Ein etwa
eilfjähriger Knabe schien seinen Kameraden etwas zu zeigen, was sie
offenbar sehr interessierte, denn sie reckten die Hälser und verwandten
keinen Blick von ihm. Jetzt sahen auch wir es. Das kleine Monstre
hatte ein junges Vöglein in der Hand, das hilflos zappelte, denn es
hatte die Füße mit einem Schnürchen zusammengebunden: die Federn waren
ihm teilweise ausgerupft und aus den Augenhöhlen träufelte Blut. Mir
wurde ganz schwindlig bei dem Anblick. Egon war feuerrot geworden: die
Stirnader trat hervor und die sanften Augen sprühten Zornesblitze.
Er sagte kein Wort, sondern trat auf den Missetäter zu, riß ihm das
zuckende Tier aus der Hand und versetzte ihm einen so heftigen Schlag,
daß er taumelte. Aber gleich darauf hörten wir ihn höhnisch lachen.

Egon atmete tief auf: „Es war eigentlich unerlaubt -- aber ich konnte
mich nicht zurückhalten. Wenn ich sehe, wie man ein armes wehrloses
Geschöpf mutwillig quält, bin ich nicht Herr meiner selbst. -- -- --
-- So etwas entmutigt mich auf Tage hinaus, es erregt mich so, daß
ich nicht einmal schreiben kann. Alle Worte, die derbsten Ausdrücke
sind mir noch zu gering. -- Es ist ein so weiter Weg, den der Gedanke
zurücklegt vom Augenblicke, da wir ihn empfangen, bis zu jenem, da
wir ihn zu Papier bringen. -- -- Er verblaßt uns unter der Feder, was
als Flamme aufgelodert im Gehirn, das ist nur mehr verlöschende Glut,
sobald wir es niedergeschrieben.

Man möchte ja helfen -- ach Gott, wie gerne -- -- -- aber die
Verzagtheit drückt uns zu Boden. Keine andere Waffe zu haben gegen so
viel Roheit als diese Hände und den guten Willen. -- -- Nicht an die
eigene Kraft glauben, an sich selbst verzweifeln. -- Das Martyrium
des Zweifels, der aufreibende Zwiespalt zwischen Riesenwollen und
Zwergkönnen. Es ist eine Qual.“

So hatte er noch nie zu mir gesprochen: es war als fühle er das
Bedürfnis aus sich herauszutreten, einer teilnehmenden Seele sein „Ich“
zu enthüllen.

„Ich bin sicher, Sie werden es zu Stande bringen.“

„Sie glauben wirklich?“ -- Er sagte es ganz freudig, „Ach, wenn
Sie recht behielten. -- Bisweilen denke ich ja selbst: Es muß mir
gelingen. Ein Schrei, der aus dem innersten Herzen kommt, muß der
nicht widerhallen in den Anderen, sie bewegen, erschüttern? In solchen
Momenten bin ich voll Zuversicht. Meine Arbeit scheint mir ein
Kinderspiel -- was ich sage, kommt mir so eindringlich, so überzeugend
vor. Das ist dann Seligkeit.“

Darum also nennen sie ihn einen „seltsamen Kauz?“ -- Sie haben nicht so
Unrecht -- wie wollen „Die“ ihn verstehen! -- Diese heiße Dichternatur
mit ihren 1000 Nuancen, mit dem ewig wechselten Colorit, so tief, wie
das Meer, so schillernd wie das Gefieder der kleinen Colibris in den
Tropen, so fascinierend für den, der sie erfaßt, wie die Musik des
Südens.

„Ja, ich gestehe“, fuhr er nach einer Pause fort, „daß ich etwas
wie Neid fühle gegen die Menschen mit beschränktem Horizonte. Sie
sind relativ glücklicher als wir, die der Drang erfüllt, nach
Neuem, Gewaltigem, nach himmelhohen Zielen. Sie gleichen stillen,
durchsichtigen Wässern, ohne brausende Wogen -- denn sie sind seicht.
Niemals treten große Entschlüsse, mächtige Leidenschaften an sie heran,
oder sie ziehen vorüber, ohne sie zu berühren. Sie stehen auch nie
auf schwindelerregender Höhe, und wenn sie fallen, wird ihr Sturz ein
sanfter sein. -- -- Freilich -- es entgeht ihnen auch viel Schönes.
Ein reicher Teil ihres „Ich“ bleibt ihnen verborgen -- sie ahnen nicht
einmal die eigene Genußfähigkeit. Niedere Gewächse, die im Schatten
auf der Erde weiterkriechen, ohne glühende Farben, ohne berauschenden
Duft. Kein Sonnenstrahl zieht sie zu sich empor: sie wissen nicht, wie
lieblich der blaue Himmel ist, wie berückend der schwüle Sommer.“

Er ist ein Adler, die Anderen sind Schnecken. Ihn tragen seine Flügel
weit -- -- wenn ich ihm folgen könnte!

Und wie richtig er die modernen Menschen definiert hat. -- Ein
Bekannter schrieb ihm einmal: „Ich kann das Gefühl nicht los werden,
daß Einer hinter mir dreinjagt auf feurigem Rosse. Ich höre ihn atmen
-- er kommt immer näher mit rasender Geschwindigkeit, und da laufe und
laufe ich, solange mich meine Füße tragen.“ -- Und an dieses Gleichnis
hat er angeknüpft: „Ja, es ist wahr, man möchte zehn Dinge auf einmal
erledigen -- die Tageszeit verdoppeln. Es gäbe so unendlich viel zu
tun gerade in unserem Jahrhundert, dessen charakteristisches Merkmal
ein ununterbrochenes Hasten und Drängen ist. Diese ewig vibrierenden
Nerven, dieses heiße Streben, diese wechselnden Stimmungen, bald
zuversichtlich zum Aufjauchzen, bald verzagt bis zur Verzweiflung.
Selten ein Augenblick wirklicher Ruhe, inneren Gleichgewichts. Leben
wir denn jemals in der Gegenwart? Unser Geist eilt stets voran,
der Zukunft entgegen, schwingt sich in lichte Sonnenhöhen. -- In
unsren Träumen Götter, und beim Erwachen -- Menschen, Spielball des
Schicksals, so armselig und so nichtig. -- Dann machen wir uns mit
einer Art Galgenhumor daran, das eigene Ich zu analysieren; mit dem
Blicke des unparteiischen Kritikers die verborgensten Winkel unsrer
Seele zu durchstöbern, und was wir mit dem freien Auge nicht sehen, das
entdecken wir sicher durch das Mikroskop. -- Wir quälen uns unbewußt --
auch das hat seinen herben Reiz: es ist die Lust der Qual.

Wenn wir dann erschöpft mit heißem, schmerzenden Kopfe innehalten, wenn
die Reaktion eintritt, die betäubende Ermattung, dann fragen wir uns:
„Wozu dies Alles?“ -- Für die Überreiztheit, für die Compliciertheit
des heutigen Geschlechtes fehlt uns der richtige Ausdruck.“

Stundenlang könnt’ ich ihm zuhören, wenn er spricht. Alles, was er
sagt, hat ein eigenes Interesse für mich, und dann schmeichelt es auch
meiner weiblichen Eitelkeit, daß er sich so ausschließlich mit mir
befaßt.

Die jungen Damen warfen mir zuerst mißgünstige Blicke zu, dann änderten
sie plötzlich ihr Benehmen. Sie machen mir jetzt Avancen, besuchen
mich, laden mich ein und lassen so ganz obenhin die Bemerkung fallen,
ob denn Graf Deuchtestum nirgends hingehe, weil man ihn nie zu sehen
bekommt in der Gesellschaft.

Wenn sie wüßten, wie nutzlos ihre Bemühungen sind. -- Die
Schablonensoiréen sind ihm ein Gräuel, er hat es mir offen gestanden.

„Früher, als ich noch in den Salons verkehrte, hab’ ich keine
Befriedigung gefunden. Was wollen denn die Menschen? Diese Frage
drängte sich mir stets von Neuem auf. -- -- Die Zeit totschlagen
-- sie mit Banalitäten, mit hohlen Phrasen ausfüllen? Stundenlang
nebeneinander sitzen, ohne sich etwas zu sagen zu haben. Oder ist’s
nicht so? Es kommt mir ungefähr vor, als stellte ich mich vor den
Spiegel, um die Cravatte gerade zu schieben, während das Haus in
Flammen steht. Ich bringe das nicht fertig. Und Sie -- Sie können sich
auch unmöglich unterhalten. -- Weil Sie so grundverschieden sind -- von
den Andern.“

„Gute Nacht.“

Das klang so aufgeregt und hastig -- -- und er drückte mir die Hand so
heftig, daß mir’s wehe tat.

Es ist spät. Ich will mich niederlegen. Schlaf aber verspür’ ich keinen.

Die Sterne blinken goldig. Es war ein lila Stern, dann glühendrot. --
Es regt sich nichts -- -- weil Alles ruht. -- -- Ruht wirklich Alles?
-- Gute Nacht, Egon Deuchtestum -- -- gute Nacht.

       *       *       *       *       *

  9. Juni.

Der Ostwind. Wie er sägt an meinen Nerven! Heut’ bin ich elend. Von
Minute zu Minute ändern sich meine Stimmungen. Mein ganzes Wesen ist
in Aufruhr. Siedend heiß jagt mir das Blut zu Kopfe. Alles Denken
und Fühlen ist zu höchster Intensivität gesteigert. Ein Chaos, eine
glühendrote Finsternis, ein Hämmern, ein Pochen zum Verrücktwerden. Der
Atem geht mir aus, ich meine zu ersticken -- dann wieder schüttelt’s
mich vor Kälte, als ob ich Fieber hätte. -- -- Eine Unruhe, ein
Bedürfnis zu gehen, mich zu bewegen! Wie wenn der Tod schon seine
eisige Hand auf’s Herz legt und die Füße noch tanzen möchten -- nur ein
einziges Mal noch -- bis -- sie -- erstarren.

Gleich darauf wird es still, unheimlich still in mir. Mir ist’s, als
sei ich mir eine Fremde und nur zu Gast auf dieser Erde. Mir graut --
denn was ich ahne, ist mein anderes Ich -- mein Doppelgänger.

Die düsteren Phantasien weichen einer großen Abgespanntheit. -- Ich
fühle mich müde wie ein geprügelter Hund, unfähig, einen klaren
Gedanken zu fassen. ~Saison morte~ im Kopfe.

O, er hatte Recht. -- -- Mit welcher Gier ich meine Sensationen
zergliedere. -- -- Ich war also nur scheintot gewesen, ich hatte mich
für abgestumpft gehalten. -- Zum Lachen. Mich nie anders gesehen wie
als Matrone, etwas gebeugt, auf einen Stock gestützt, mit weißen
Scheiteln und einem Spitzentuch darauf. -- Und „Tante Mimi“ haben sie
mich genannt, nie anders als „Tante Mimi“. --

Das hatte ich wirklich geglaubt, ich, mit meiner Eindrucksfähigkeit?
Mein Ohr hört Töne, und ich sehe Farben, die es in Wirklichkeit nicht
gibt. Nuancen und Abstufungen, die man nicht festhalten kann, weil sie
zerflattern, verschwinden, wie jene Blumen auf den Wiesen, die der
leiseste Hauch hinwegfegt.

Warum bin ich auch hingegangen zu den lebendig Toten? Man hatte mich
gewarnt. Nun wollen sie mir nicht aus dem Sinn, die armen Irren von San
Clemente.

Wie ihr starrer Blick zu fragen schien: „Wer bist Du, und was willst
Du?“ -- -- Doch nein, ihnen ist’s ja einerlei. Sie fragen nicht, sie
wissen nichts. Was sie zu Menschen machte, das existiert nicht mehr.

Ich ließ mich überall herumführen. Hinter einem eisernen Gitter hält
eine Frau mit wildem Pathos einen Vortrag: „Ich bin eine Königstochter
und mit dem Prinzen Ottavio verlobt. Ich hab’ ein Riesenschloß und
Diener und viel, viel Geld in großen Kisten. Wollt Ihr welches? -- Da.“
Und sie macht die Bewegung des Ausstreuens.

Eine Greisin kauert mit blöder Miene auf dem Boden und macht
ununterbrochen das Kreuzzeichen, klopft an ihre Brust und ruft: „Geh’,
geh’ hinweg“. Dann verbirgt sie das Gesicht in den Händen, weil sie
meint, den Teufel gesehen zu haben.

Der Krankensaal ist bis auf’s letzte Plätzchen angefüllt. Ein junges,
schönes Mädchen ist darunter. -- Sie dauert mich besonders. Weshalb? --
Auch eine der unwillkürlichen Ungerechtigkeiten, daß wir mit schönen
Menschen am meisten Mitleid haben.

In einer Einzelzelle sitzt eine Frau mit gefesselten Füßen auf dem
Bett. Sie hält den Kopf gesenkt und scheint mit Jemand zu flüstern,
während sie in den Händen unablässig ein schellenartiges Spielzeug
dreht. Sie singt dazu mit klagender Stimme ein Lied. Die Wärterin
streicht ihr das Haar aus der Stirne und frägt sie etwas. „Ma no, ma
no“ erwidert sie beharrlich.

„Die Arme!“ Und die Wärterin erzählte uns, daß sie früher ganz normal
war, bis die Eltern sie zu einer verhaßten Ehe zwangen. Seit dieser
Zeit war die Schwermut über sie gekommen.

Mir wird unheimlich. Es drängt mich hinaus aus diesem düstern Kerker,
hinaus in die freie Natur. Dort wird mir leichter und ich frage mich,
ob sie, die nichts empfinden, nicht vielleicht besser daran sind,
als wir, die wir uns jeden Genuß verbittern und die, wenn wirkliches
Leid über uns hereinbricht, so furchtbar schwer daran tragen. Das
Gute, das uns widerfährt, betrachten wir als einen, uns von der Natur
geschuldeten Tribut, das Böse als ungerechtfertigte Insulte. -- Wir
lehnen uns auf, wir ringen uns die Hände wund, wir verzweifeln an
unserer Ohnmacht, wir leiden -- leiden.

Die Sonne brennt mit versengender Glut und scheint mit den kühlen
goldigblauen Wellen zu kämpfen. Weiße Möven schießen pfeilschnell über
den Spiegel dahin -- von Weitem könnt’ man sie für Wasserrosen halten.

Scharenweise haben sich die müden Arbeiter am Ufer dahingestreckt, um
ihre Polenta zu verzehren, oder Siesta zu halten. Bloßfüßige Männer
waten bis über den Knöcheln im weichen Sand, um nachzusehen, was ihnen
die Flut bescheert. Und jedesmal, wenn sie statt einer Muschel eine
Krabbe erwischen, werfen sie mit verächtlicher Miene das Ding in das
Meer zurück, wo es lustig weiterzappelt.

Ein freundliches, sonniges Bild. Ich aber kann das frühere nicht
vergessen: das Dunkle verblaßt langsamer als das Helle.

Auf dem Lido bin ich ausgestiegen. Ich suchte ein einsames Plätzchen
auf und starrte vor mich hin.

„Signorina -- Sie hier?“ -- und der kleine Spanier stand vor mir.

Etwas ärgerlich versetzte ich: „Ja, wie Sie sehen.“

„Nicht wahr, das Meer ist schön.“

„Gewiß.“

„Und groß -- und tief.“

Ich staunte über seine ungewohnte Gesprächigkeit. Dahinter mußte etwas
stecken. Dabei sah er mich so traurig an mit seinen Hundeaugen, daß er
mir erbarmte.

„Tief auch, natürlich.“

„Und wenn man hineinfällt. -- --“

„Kommt man schwer heraus -- außer wenn man schwimmen kann.“

„Da unten schlafen, ewig -- -- mit Ihnen. -- -- Ich liebe Sie ja, --
ich -- --“

Ich entfernte mich rasch. „Sie wissen nicht was Sie reden -- und mit
wem.“

Das arme, dumme Männchen -- -- -- Warum hatte gerade er mir das gesagt?
-- -- -- Und unwillkürlich dachte ich mir einen Andern an seine Stelle
-- groß und blond. -- Ich sah die lieben blauen Augen voll Zärtlichkeit
auf mich gerichtet -- -- und eine Sehnsucht überkam mich, eine
Sehnsucht riesengroß, seinen Mund sprechen zu hören -- von Liebe.

Vielleicht hat er nicht so Unrecht gehabt, der kleine Spanier. -- Ruhen
da unten auf dem Meeresgrund, wo Alles schweigt.

Die armen Irren!

Nicht mehr die Folter ungestillter Wünsche!

       *       *       *       *       *

  10. Juni.

Auf meinem Tische steht ein Rosenstrauß in einer Opalschale. Kleine
Sonnenfunken huschen über den irisierenden Stein, über die duftenden
Blumen. Purpurn die einen, blaß und zart die andern. Sie sind von ihm.
Und auch das Buch daneben. „Das Evangelium Buddhas“, die schönste, die
poetischste der Religionen, die Religion der Güte. Ich schlage es auf
und lese auf’s Geradewohl diese Stelle:

„Erbarme Dich Derer, die mühselig und beladen sind. Habe Mitleid mit
den Leidenden. Hilf den Geschöpfen, welche hoffnungslos darniederliegen
in den Fallstricken der Trübsal. Der Wohltäter hat den Pfad der
Erlösung gefunden. Er gleicht einem Manne, der ein Bäumchen gepflanzt
hat und sich dadurch Schatten, Blüten und Früchte sichert“.

Gerade diese Stelle hat er mir früher einmal genannt. Ich glaube, es
ist sein Motto.

Ich habe das Buch geschlossen, mich zurückgelehnt im Schaukelstuhl und
den Duft einer Rose eingesogen. -- -- -- Dann bin ich traurig geworden.
-- Morgen wird die Glut verbleichen -- und nichts bleibt übrig als ein
welkes Blätterhäufchen. Es war. -- Wenn man so nimmt, man müßte weinen
über die Schönheit eines Blumenlebens, das man in Händen hält. -- --

Ich kenne mich selbst nicht mehr. Ist das dieselbe vernünftige Mimi,
deren Herz erstarrte, weil es zur Maienzeit ein Frost getroffen? --
Oder ist’s die Andere, die Fremde?

Früher waren’s Nelken, jetzt sind es Rosen.

Es ist noch nicht so lange her.

O über unsere Unbeständigkeit!

       *       *       *       *       *

  Am 12. Juni.

Der General hat mir seine Photografie gegeben. „~Cosa sarebbe la vita
senza speranza? Dunque speriamo~“ steht darauf.

Ja, wenn man könnte!

       *       *       *       *       *

  Am 14. Juni.

Egon hat viel zu tun mit seinem Buch und einer Arbeiterversammlung, der
er nächstens präsidieren soll. -- Ich seh’ ihn selten und wenn, dann
scheint er mir einsilbig und zerstreut. Zum Concert aber, heute Abend,
bei Solfini, will er kommen.

„Ob mir denn nicht wohl sei“, frug die Tante, „weil ich so blaß
aussehe.“

Ich glaube, sie muß etwas gemerkt haben. Ich bin ihr dankbar, daß sie
nicht darüber spricht.

Traurig ist’s, das Leben ohne Hoffnung.

       *       *       *       *       *

  15. Juni.

Die Nachbarinnen haben uns zum Thee geladen. -- Eine Schaar verblühter
Mädchen sitzt um den Tisch, auf den eine gehäkelte Decke gebreitet ist.
So zwischen dreißig und fünfzig Jahren -- Herbstzeitlosen; die meisten
sind recht häßlich. -- -- Sie schauen in das Leere, mit dem Blick des
Leides und der getäuschten Erwartung.

Sie trinken aus großen, altmodischen Schalen Thee. Wenn sie sich
bewegen, entströmt ihren Kleidern ein leiser Duft von Lavendel und
getrockneten Rosen.

Sie flüstern, leise, furchtsam.

Ein hageres Fräulein sitzt am Spinett und spielt eine wehmütige
Melodie. -- In Moll. Gedämpft. -- Die Tasten schäppern.

Laut wie gewöhnlich, schreiend fast, sprechen nur die Hausfrauen. Sie
haben möglichst grelle Kleider angelegt zum Empfang -- und Corona trägt
eine Art Sandalen; die Lederriemen sind aber nicht festgemacht, sondern
sie schleifen nach, und die metallenen Schnallen erzeugen einen Lärm
wie Sporengerassel, wenn sie geht.

Keine hat einen Beruf. Es sind verfehlte Existenzen.

Entsetzlich.

Dann fuhren wir in’s Concert.

Das war schön.

Zuerst sang ein Österreicher -- ein gewisser Link -- von dem wir bis
dahin nie etwas gehört haben. Nun ja, Niemand ist Prophet in seinem
Vaterland. Der Mann verdient es, daß man ihm einige Aufmerksamkeit
schenkt.

Sein Lied „Der Abendfriede“, mutet an wie ein Stimmungsbild vor
Sonnenuntergang. Wie es mich ergriffen hat in seiner Zartheit und
Farbenpracht! Man atmet förmlich den Duft dieser stillen Landschaft
ein, den tiefen Frieden der Natur. Ein Schlummerlied, so leise und so
weich.

Und die närrischen Leute applaudierten; ich hätt’ es nicht vermocht.
Das höchste Glück, der größte Schmerz, -- leidenschaftliche Liebe,
tötlicher Haß, kurz alle auf’s Höchste getriebenen Sensationen
erfordern Schweigen. -- Das ist eventuell noch eine Steigerung.

Man soll den Zauber auf sich wirken lassen, still, hingebungsvoll,
entzückt.

Und dann das Brahm’sche: „Wie bist Du meine Königin.“ -- Wonnevoll,
wonne -- wonnevoll. Wie ich dieses Lied liebe!

Um mich her Sprechen und Surren wie in einem Bienenschwarm. -- --

In meinem Innern gieng etwas Seltsames vor. Diese Musik hatte ungeahnte
Tiefen in meiner Seele aufgewühlt, Schätze zu Tage gefördert, die
im Grunde schlummerten. Die starren Bande, die Fesseln meiner
Phantasie sind gelöst; ein Wunderland, ein prächtiges Bild nach dem
andern entrollt sich vor meinem schönheitsdürstenden Auge. Eine Art
Trunkenheit überkommt und entrückt mich in weltferne Regionen.

Das haben die Töne bewirkt, diese Fülle von Wohllaut, die meine Sinne
umschmeichelten, -- die einzelnen schrillen, wilden Klänge dazwischen,
die sich wie scharfe Krallen in mein Herz verfiengen, es umklammerten
-- und zerfleischten.

Tomagno sang noch italienisch das „~Vieni a l’amore~.“ Das ist ein
Künstler von Gottes Gnaden.

Ich schwelgte in den süßen Melodien -- ich habe diesen Abend doppelt
genossen, weil ich Egon in der Nähe wußte. Nach den musikalischen
Vorträgen bat er mich, mich in den Wintergarten führen zu dürfen. Es
ist ein Bau mit Säulen -- im antiken Stil. Die Luft war schwer vom
Dufte der Orangen und Tuberrosen. --

Wir standen uns gegenüber -- allein.

Ich hatte den Kopf an eine der Säulen gelehnt und wartete, daß er
spreche, irgend etwas sage, etwas Gleichgültiges.

„Sie passen hier herein. Wenden Sie den Kopf etwas zur Seite. -- Ja
so -- -- ich habe einmal eine Kamee gesehen -- die trug Ihre Züge --
nur weniger seelenvoll. Und gerade die Seele ist der Hauptreiz in
einem Gesicht, die Seele ist das, was uns so mächtig anzieht, uns
niederzwingt auf die Knie. Und darum“ -- -- -- Einige lustwandelnde
Paare kamen in unseren Bereich und maßen uns mit erstaunten Blicken:
„~Elle a de la chance, cette petite autrichienne~“, hörte ich eine Dame
sagen -- -- sein Satz blieb unvollendet.

Wir giengen bald.

Ach wenn ich wüßte! Was gäbe ich darum.

Mich selber, ganz und gar.

Und immer wieder hör’ ich das „wonne -- wonnevoll“, zuerst laut, dann
immer leiser, -- schwächer -- ersterbend.

       *       *       *       *       *

  Am 16. Juni.

Einmal wollte ich Venedig sehen -- bei Nacht. Wir fuhren den Canal
grande entlang. Es war, als hätte eine schöne Frau ihr herrlichstes
Geschmeide angetan, ihr bestrickendstes Lächeln angenommen, um die
Schar ihrer Verehrer zu blenden.

Geisterhaft bleich ragen die Palazzis zum Himmel und die Sterne
durchfurchen ihn wie feurige Garben. Die bunten Papierlampions
schaukeln hin und her im Abendwind.

Musik. Wir folgten in der Richtung, aus der die Töne drangen. --
Anfänglich waren sie leise wie ein Flüstern, das Kosen des Zephirs in
blütenbeschneiten Bäumen, plötzlich anschwellend, rauschend, brausend
wie der Föhn, wenn sein glühender Hauch die Lawinen von den Bergen
wälzt und talwärts schleudert.

Es war versengendes Feuer, das diesen Kehlen entströmte: eine
unbeschreiblich ergreifende Melodie, die weithin zitterte über die
stille Flut.

Da waren mit einemmale die trüben Bilder vergessen: ein warmes
Glücksgefühl kam über mich. Ich faltete stumm die Hände und: „Liebe --
Liebe“ -- durchbebte es mich.

       *       *       *       *       *

  Am 17. Juni.

Laß mich vor Dir knien, laß’ mich die Arme um Dich schlingen und den
Kopf an Deine Brust legen.

Denn ich gehöre Dir. Ich bin Dein Eigen mit Leib und Seele: mein ganzes
Wesen drängt sich Dir zu, Du Unvergleichlicher.

Du hast mein Herz versengt. Deine Ketten sind weich und Dein Dienst ist
wonnevoll.

Ach Gott, wie ich ihn liebe!

Wenn sie mich zum Schaffote führten, in seinem Auftrag, weil er es
wollte, ich gienge frohen Sinnes, -- in einer Art Hypnose. Mit ihm
leben -- für ihn sterben -- Andres gibt es nicht für mich. Ohne ihn
kann ich nicht sein: ich bedarf seiner wie des Atems.

Komm’ ich beschwör’ Dich, komm! --

Laß’ uns wandeln Hand in Hand, durch ein Dasein, das ewig währt, in
dem es keine Trennung gibt. -- Blumen sprießen auf unserem Weg und
Schmetterlinge umgauckeln uns.

Komm’ laß’ uns glücklich sein und laß uns Andere beglücken.

Komm’ ich befehl’ es Dir.

       *       *       *       *       *

    „Ich denk’ an Dich mit tiefer Leidenschaft,
    Ich denk’ an Dich mit meiner Seele Kraft,
    Ich will mein Denken,
    So ganz in Dich versenken,
    Daß Du gezwungen bist
    An mich zu denken.“

       *       *       *       *       *

Er hat mich gehört, er ist gekommen!

Ich wollte die Feder in mein rotes Herzblut tauchen, ins flammende
Sonnengold um das Unfaßliche niederzuschreiben.

Ist denn möglich? Er liebt mich.

Das höchste Glück hat keine Worte.

„Egon!“

[Illustration]


Albanus’sche Buchdruckerei Dresden.



              G. Pierson’s Verlag in Dresden und Leipzig.

Bertha von Suttner’s Werke:


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  Volksausgabe M. 2.--, geb. M. 3.--.

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