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Title: Hochtouren im tropischen Amerika
Author: Meyer, Hans
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Hochtouren im tropischen Amerika" ***
AMERIKA ***



    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter
    Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter
    Text ist ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so
    dargestellt=.

    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
    Im Original unterschiedliche Schreibweisen insbesondere von
    Ortsnamen wurden beibehalten.



    ❀
    Reisen
    und
    Abenteuer
    32

[Illustration: Südostseite des Chimborazo, vom Hochbecken von Riobamba
(~3000 m~) aus.]



    Hans Meyer

    Hochtouren
    im tropischen Amerika

    [Illustration]

    Leipzig / F. A. Brockhaus / 1927



Copyright 1925 by F. A. Brockhaus, Leipzig



Inhalt.


                                              Seite

    Hans Meyer. Von ~Dr.~ _Karl H. Dietzel_       5

    Einleitung                                   12

    _Der Chimborazo_                             23

      1. Der Berg                                23

      2. Der Anmarsch                            35

      3. Die erste Besteigung                    50

      4. Die zweite Besteigung                   67

    _Der Cerro Altar_                            83

    _Der Antisana_                              104

      1. Der Anmarsch                           104

      2. Die Besteigung                         112

    _Der Cotopaxi_                              128

      1. Der Berg                               128

      2. Der Anmarsch                           136

    3. Die Besteigung                           145

[Illustration: Übersichtskarte von

Mittel- und Nordecuador

Maßstab 1:2250000

Kartographische Anstalt von F. A. Brockhaus, Leipzig]



Hans Meyer.


Das vorliegende Buch »Hochtouren im tropischen Amerika« ist die
Fortführung des Bandes 25 dieser Sammlung, der Hans Meyers Hochtouren
im tropischen Afrika gewidmet war. Der Lebensgang Hans Meyers ist dort
ausführlich geschildert worden, und deshalb seien hier die Hauptdaten
nur kurz wiederholt.

Hans Meyer wurde am 22. März 1858 in Hildburghausen (S.-Meiningen)
geboren und kam 1874 mit der Übersiedlung des väterlichen
Verlagsunternehmens, des Bibliographischen Instituts, nach Leipzig.
Seine Studentenjahre, in denen er sich hauptsächlich der Geographie,
der Geschichte und den Staatswissenschaften widmete, führten ihn
nach Leipzig, Berlin und nach Straßburg, wo er auch promovierte. Dem
väterlichen Verlag hat er den Hauptteil seines arbeitsreichen Lebens
bis zum Jahre 1915 geweiht, dann erhielt er einen Ruf als Professor
der Kolonialgeographie und Kolonialpolitik und als Direktor des
Kolonialgeographischen Instituts an die Universität Leipzig, an der er
noch heute wirkt.

In die Zeit vor seiner akademischen Tätigkeit fallen seine zahlreichen
und weiten Reisen. Sie führten ihn 1881–1883 um die ganze Erde,
1886/87 nach Südafrika und Ostafrika, 1888 und 1889 ebenfalls dorthin,
wobei es ihm gelang, als Erster den Gipfel des 6010 Meter hohen
Kilimandjaro zu erklimmen. 1894 weilte er auf Tenerife und bestieg den
Pik, 1899 arbeitete er abermals am Kilimandjaro, 1903 in Ecuador und
1911 zum letzten Male in Ostafrika, das seiner Länge nach durchquert
und in seiner nordöstlichen Ecke, dem Zwischenseengebiet, näher
untersucht wurde. Auch diesmal wurden zwei Hochgipfel, der 4500 Meter
hohe Karissimbi und der aktive Niragongovulkan, bezwungen.

Die Früchte dieser Reisen hat Hans Meyer zunächst in mehreren größeren
Reisewerken niedergelegt. Der Band 25 dieser Sammlung und auch der hier
vorliegende Band bringen Auszüge davon. Aber darüber hinaus hat der
Gelehrte eine umfassende rein wissenschaftliche Tätigkeit entfaltet.
Sie nahm ihren Ausgang anfänglich von seiner literarischen Arbeit im
Bibliographischen Institut. Die Sammelwerke »Das deutsche Volkstum«, zu
dem er selbst einen einleitenden Abschnitt schrieb, und die Sieverssche
»Länderkunde« verdanken ihm ihre Entstehung, und grundlegend wurde sein
»Deutsches Kolonialreich«, zu dem er den starken Band Deutsch-Ostafrika
beisteuerte. Neben diese rein wissenschaftlichen Arbeiten treten
zahlreiche mehr praktisch eingestellte Aufsätze und Bücher. Durch
seine Tätigkeit als Mitglied des Kolonialrats, als Vorsitzender der
Landeskundlichen Kommission des Kolonialamts, als Vorstandsmitglied
der Kolonialgesellschaft und des Kolonialwirtschaftlichen Komitees hat
er jahrzehntelang zu den maßgebenden Persönlichkeiten der deutschen
Kolonialpolitik gehört, zahlreiche Ehrungen dafür empfangen und,
abgesehen von den großen Kosten seiner sämtlich aus eigenen Mitteln
bestrittenen Reisen, auch große persönliche Opfer gebracht durch reiche
Stiftungen an die Berliner und Leipziger Museen und Universitäten. Sein
schönes Leipziger Heim, in dem seine liebenswürdige Gemahlin, eine
Tochter Ernst Haeckels, waltet, ist wohl den meisten der führenden
deutschen und außerdeutschen Geographen und Kolonialpolitiker in
freundlicher Erinnerung.

Nach drei großen Gesichtspunkten läßt sich Hans Meyers Lebensarbeit
gliedern. Er begann mit tropischen Vulkan- und Hochgebirgsstudien;
daraus erwuchs ihm, weil sich diese Arbeit zu einem wesentlichen Teil
in den deutschen Kolonien abspielte, die Beschäftigung mit anfangs nur
deutschen kolonialpolitischen Fragen, und sie wiederum führten ihn
zur Länderkunde, die er für die deutschen Kolonien begründet und seit
seiner Berufung an die Leipziger Universität zu einer selbständigen
kolonialgeographischen Disziplin ausgebaut hat, wo sie von ihm nunmehr
auf alle Kolonialländer der Erde ausgedehnt und in erster Linie als
überseeische Länderkunde gelehrt wird.

Die Hochgebirgsforschung des Gelehrten wurzelt in den Glazialstudien,
die Penck und Brückner seit den achtziger Jahren in großzügiger Weise
und mit den überraschendsten Ergebnissen für die Alpen durchführten und
bei denen sie eine einstmals viel stärkere Vereisung des Gebirges zur
Eiszeit, die in mehrmaligen Intervallen auf- und abebbte, feststellten.
Die Lösung der Frage, ob diese Eiszeit sich nur auf die gemäßigten
Zonen beschränkt oder ob sie die ganze Erde umfaßt hatte, ob sie sich
abwechselnd auf der Nord- und der Südhemisphäre abgespielt oder
gleichzeitig den ganzen Erdball betroffen hat, war die Hauptaufgabe,
die sich Hans Meyer setzte. Gefunden werden konnte diese Lösung nur
durch eine eingehende Untersuchung der wenigen tropischen Gebirge,
die sich bis in so große Höhen erstrecken, daß sie noch heute einen
Schneemantel tragen, also in erster Linie am Kilimandjaro und an den
Vulkanen Hochecuadors und Kolumbiens. Die hochragenden Schneegipfel des
Ruwenzori in Afrika und des innern Neuguinea waren gegen das Ende des
19. Jahrhunderts noch sehr wenig bekannt.

Die Voraussetzung für solche Untersuchungen waren Eigenschaften des
Forschers, die nicht ohne weiteres für jeden Reisenden zutreffen.
Es handelte sich zunächst um ein Arbeiten in sehr großen Höhen, die
nur selten von Menschen erreicht werden und die eine durchgebildete
alpinistische Technik und einen außergewöhnlich kräftigen Organismus
erfordern. Das zweite hatte Hans Meyer eine gütige Natur mitgegeben,
das erste hat er sich in langem und ausdauerndem Training in
europäischen Hochgebirgen erwerben müssen. Als eine weitere, viel
größere Schwierigkeit kam aber hinzu die Lage dieser Bergriesen in
den abgelegensten Teilen der Tropen. In den achtziger Jahren war
eine Expedition schon zum Fuß des Kilimandjaro ein umständliches
und keineswegs gefahrloses Unternehmen; es führte den Reisenden
in wochenlangen Märschen durch tropisches Fieberland, das einen
europäischen Organismus schwächen mußte, und am Ziel waren schließlich
in wenigen Tagen klimatische Unterschiede zu überwinden, die sonst
nur in wochenlanger Anpassung allmählich erträglich gemacht werden.
Weiter erschwerend wirkte in diesen Gegenden auch das Fehlen
aller Hilfsmittel, die sonst dem europäischen Bergsteiger als
selbstverständlich erscheinen und die eine Organisation des ganzen
Unternehmens erforderten, die bis dahin noch nicht erprobt war und von
Hans Meyer erst geschaffen werden mußte. In den Hochanden Ecuadors
waren die Verhältnisse nicht so primitiv, die Schwierigkeiten türmten
sich nicht ganz so hoch auf, aber ihre Überwindung verlangte doch eine
praktische Erfahrung, Umsicht und Willensstärke, über die nur wenige
verfügen.

Hans Meyer hat die Ziele, die er sich gesteckt hatte, in vollem Umfang
erreicht. Es ist von ihm der Nachweis erbracht worden, daß das Phänomen
der Eiszeit mit ihren Intervallen eine allgemeine, wohl in kosmischen
Vorgängen ihre Ursache findende Erscheinung der ganzen Erde gewesen
ist, und auf seinen Schultern haben Nachfolger eine ganze Wissenschaft
entwickelt und haben entdeckt, daß auch in früheren Abschnitten der
Erdgeschichte, die weit vor der letzten Eiszeit liegen, bereits
Kälteperioden mit ganz ähnlichen Erscheinungen unsere Mutter Erde
heimgesucht haben.

Die Reise in die Hochanden Ecuadors ist der Schlußstein dieser
Untersuchungen Hans Meyers gewesen. Sie führte ihn und seinen
Begleiter, den Münchner Landschaftsmaler und Alpinisten _Rudolf
Reschreiter_, im Jahr 1903 über die Landenge von Panama nach dem
Hafen von Ecuador, Guayaquil, dann auf das Hochland nach Riobamba
hinauf zunächst in die Westkordillere auf den Chimborazo und an
den Carihuairazo, die über der Mulde von Riobamba thronen, weiter
hinüber zur Ostkordillere auf den Cerro Altar, fernerhin im
interandinen Längstal nach Latacunga und von da auf den Cotopaxi
und an den abseits stehenden, schwer zugänglichen Quilindaña; dann
längs der Hochlandstraße an den Vulkanen des mittleren Ecuador, dem
Iliniza, Corazon und Rumiñagui, vorbei nach der Landeshauptstadt
Quito; von Quito quer über die interandine Mulde zum Antisana auf
der Ostkordillere und wieder zurück zur Hauptstadt. Danach ging es
denselben Weg nach Riobamba zurück, nochmals zum Chimborazo hinauf, und
hiernach mit der Bahn wieder hinab nach Guayaquil; endlich über Panama
nach New York und heimwärts nach Deutschland.

Die ganze Reise hat nur ein halbes Jahr in Anspruch genommen,
überrascht aber durch die Vielseitigkeit ihrer Ergebnisse, die
sich nicht bloß auf die Glazialmorphologie beschränkten, sondern
eine Fülle neuen vulkanologischen, geologischen, botanischen und
völkerkundlichen Materials beibrachten. Möglich war das nur dank der
großen Reiseerfahrung Hans Meyers, die mit verhältnismäßig geringem
Kraftaufwand die Erreichung auch weitgesteckter Ziele gestattete. Der
vorliegende Band bringt aus dem darüber veröffentlichten Reisewerk
»In den Hochanden von Ecuador« die Episoden der Hochtouren auf den
Chimborazo, Cerro Altar, Cotopaxi und Antisana zum Abdruck.

Die Gabe Hans Meyers, ein gründliches theoretisches Wissen praktisch
auszuwerten, hat den Erfolg dieser Reise verbürgt und ist, wie schon
betont, einer der Hauptcharakterzüge des Gelehrten. Seine eigenartige
Laufbahn, die ihn von der Wissenschaft zur Praxis und von der Praxis
wieder zurück zur Wissenschaft führte, hat diesen wesentlichsten
Teil seiner Gelehrtenpersönlichkeit noch schärfer zur Ausbildung
kommen lassen. Auf ihm beruhen letzten Endes auch die Erfolge seiner
Dozententätigkeit, die er trotz seiner 67 Jahre mit erstaunlicher
körperlicher und geistiger Frische ausübt und in der er schon eine
stattliche Anzahl von seinen Idealen erfüllter und in seinem Sinne
auch weiter tätiger Schüler herangebildet hat. In seinen literarischen
Arbeiten kommt diese Gabe zum Ausdruck in der großen Klarheit und
Anschaulichkeit der Darstellung, die auch die Schilderungen dieses
Buches auszeichnen.

    Leipzig, im August 1925.

            ~Dr.~ _Karl H. Dietzel_.



Einleitung.


Im südamerikanischen Freistaat _Ecuador_, der seinen Namen vom Äquator
hat, der ihn durchschneidet, betreten wir ein Land, das mit rund
300000 Quadratkilometer Fläche zwanzigmal so groß ist wie Sachsen,
aber kaum anderthalb Millionen Bewohner hat, also nur ein Drittel
soviel wie Sachsen. Er gliedert sich in drei ganz verschiedene Teile:
1. das dem pazifischen Ozean benachbarte Küstenland, 2. das mittlere,
gebirgige Ecuador und 3. das etwa dreimal größere Tiefland im Osten,
den sogenannten Oriente. Das letztere Gebiet ist ein ungeheueres,
von den Amazonaszuflüssen durchschnittenes Waldland, heiß, feucht,
fieberdrohend und nur dünn bewohnt von wilden Indianerstämmen, zwischen
denen sich einige wenige Missionsstationen angesiedelt haben, im
übrigen unerforscht und unbekannt. Der mittlere, kleinere, gebirgige
Teil Ecuadors ist das Land der Kordilleren und der Hochebenen, die
heute, wie einst zur Zeit der Inkas, das Gebiet der Kultur sind. Vom
breiten tropisch-fruchtbaren Küstenstrich steigen wir auf mehreren, von
großartigem Urwald bedeckten Stufen zum kühlen Hochland an, das in der
ganzen Erstreckung Ecuadors von _zwei parallelen Gebirgsketten_, der
West- und der Ostkordillere, und den zwischen beiden eingebetteten,
durchschnittlich 3000 Meter hohen Hochebenen oder Hochbecken gebildet
wird. Wegen seiner Lage zwischen den beiden Andenketten wird das
Hochland das »interandine« Hochland genannt. Wie der Abfall der
Westkordillere nach Westen zum Küstenland, so ist der Abfall der
Ostkordillere nach Osten zum Amazonastiefland hoch und steil, so daß
das interandine Hochland wie eine umgestürzte riesenhafte Schüssel auf
der Kontinentalmasse Südamerikas liegt.

Von den beiden Kordilleren ist die _Ostkordillere_ die ältere. Sie
besteht, soweit sie nicht von jungvulkanischen Eruptivmassen bedeckt
ist, aus kristallinen Schiefern, Gneisen, Tonschiefer, schiefrigen
Diabasen, Grünschiefer usw., die von Graniten und Dioritmassen
durchbrochen sind. Sehr wahrscheinlich sind in den genannten
kristallinen Gesteinen paläozoische, triassische, jurassische und zum
Teil auch kretazeische Formationen in einem Zustand dynamomorpher
Umwandlung zu finden. Diese Ostkordillere ist durchschnittlich die
höhere und wird deshalb von den Landesbewohnern gewöhnlich Cordillera
real (Hauptkordillere, nicht »Königskordillere«) genannt.

Die _Westkordillere_ ist die jüngere. Sie ist, soweit sie nicht
jungvulkanisch ist, hauptsächlich aus dunklen Schiefern, aus
Sandsteinen, Kalksteinen und Konglomeraten aufgebaut, die alle
der Kreideformation angehören und von wahrscheinlich ebenfalls
kretazeischen Eruptivgesteinen, wie Diorit, Diabas, Porphyrit u. a.,
durchsetzt werden.

Auf diese beiden alten Kordilleren und teilweise auch auf die
Hochbecken zwischen ihnen sind die gewaltigen _Vulkane_ aufgesetzt,
die dem Hochland von Ecuador seinen besondern Charakter geben. Sie
sind geologisch jung, wahrscheinlich alle quartär, und haben mit
ihren Ausbruchsmassen einen großen Teil der Kordilleren, auf denen
sie stehen, und fast das ganze Hochplateauland dazwischen verschüttet
und unter sich begraben. Auf den Faltenzügen der ungeheuer langen
Andenketten sitzen sie obendrauf wie Reiter auf dem Sattel oder wie
Schornsteine auf dem Dachfirst. In Reihen von kolossaler Ausdehnung
und bis zu 300 Kilometer von der Küste entfernt, stehen sie da
nebeneinander. Diese Bindung an das riesige Faltengebirge können
wir einfach so erklären, daß hier durch die gewaltigen Falten der
Zusammenhang der Erdrinde gelockert ist und innere Zerreißungen oder
Aufblätterungen der Schichtenkomplexe stattgefunden haben, die dem von
unten aufdringenden Magma geringern Widerstand leisten als die durch
keine Faltenbildung gestörten Teile der Erdkruste.

Bei der großen Längenausdehnung der Kordilleren stehen in Ecuador
die Vulkane so weit voneinander entfernt, daß sie nicht das Bild
einer zusammenhängenden Kette, sondern einer von sehr weiten Lücken
unterbrochenen Reihe ausmachen. Die Landschaft bietet deshalb kein
so großartiges Panorama wie ein schneebedecktes Kettengebirge, etwa
der Kaukasus oder Himalaja. Die ungeheure Flächenentwicklung des
Hochlandes, die langen sanften Linien der vulkanischen Aufschüttung,
der Mangel an Bergketten mit ewigem Schnee, die Seltenheit von
schroffen, zackigen Bergformen, die Monotonie der alles überziehenden,
olivenbraunen Farbe der Gras- und Tuffdecken, die geringe Ausdehnung
der Bodenkultur: alles vereint sich zu einem Landschaftscharakter, der
mit dem alpinen wenig gemein hat. Er ist »andin«. Aber jeder einzelne
der Vulkankolosse ist eine unvergleichlich grandiose Erscheinung, am
meisten gerade jene, die allein stehen, wie der Chimborazo oder der
Cotopaxi. Diesem Eindruck kann auch der Umstand nur wenig Abbruch
tun, daß die Riesenberge, die im Chimborazo bis zu einer Maximalhöhe
von 6310 Meter aufragen, auf dem bereits durchschnittlich 3000 Meter
hohen Hochland als Basis aufsitzen; denn die Mehrzahl ist tief
herab mit _Firn und Gletschern_ bedeckt, am meisten der Chimborazo,
der Antisana und der Cayambe. Durchschnittlich liegt die Firn- und
Eisgrenze, die hier im tropischen Hochgebirge meist zusammenfallen,
bei 4700 bis 4800 Meter, die untere Grenze einzelner Gletscherzungen
aber noch 3–400 Meter tiefer. Auch die drei tätigen Vulkane des
Landes, der Sangay, der Cotopaxi und der Tunguragua, sind großenteils
in einen Eismantel eingehüllt, und zwar sind es auf allen Bergen die
Ost- und Nordostseiten, die die mächtigsten Eisdecken tragen, weil
das ganze Jahr hindurch die vorherrschenden Winde im Hochland als
Passate aus Osten kommen, von wo sie aus den weiten warmfeuchten
Amazonasniederungen beständig große Wasserdunstmengen mitbringen und in
Stürmen und furchtbaren Gewittern meist auf den Ostflanken der Gebirge
als Regen, Hagel und Schnee niederschlagen.

Die regenreichste, wärmste Jahreszeit im Hochland sind die
»Invierno«-Monate März bis Mai, in geringerm Maß Oktober und November.
Die schönsten, regenärmsten, kühlsten Monate sind der Juni, Juli und
August, der sogenannte »_Verano_«. Diese Verano-Monate sind für die
Hochgebirgstouren insofern günstig, als dann auf der Westkordillere und
im ganzen interandinen Hochland bei vorherrschendem Ostwind relativ
milde Witterung ist und weniger Stürme und Gewitter wüten. Ich hatte
deshalb meine Reise auf diese drei Monate verlegt; demzufolge haben wir
von den Wettergewalten relativ wenig zu leiden gehabt. Nur auf der
viel niederschlagreichern Ostkordillere trafen wir es meist schlecht,
denn dort ist in den hohen Regionen gerade der Verano die Periode der
Stürme, der Regengüsse, der Nebel und Schneefälle.

[Illustration: Der Pier von Guayaquil am Guayasfluß, mit der Uferstraße
Malecon.]

In den Sturm- und Gewittermonaten März bis Mai ist der Reisende im
andinen Gebiet über den Hochebenen so gut wie schutzlos dem Toben der
Elemente preisgegeben, weil kein Wald, kaum ein Baum in den Regionen
über 3800 Meter steht und das ganze Land in dieser Höhe, alle Ebenen,
Hügel und Berge bis zu 4500 Meter hinauf, infolge der den Baum- und
Strauchwuchs verhindernden Winde, Trockenheit und Kälte nur mit
harten Gräsern und niedrigen Stauden bewachsen ist. Das ist die immer
graubraune Region der _Páramos_, der Hochsteppen, die gefürchtet
ist wegen ihres rauhen, wechselvollen Klimas, das einem permanenten
deutschen März-April gleicht. Die Páramoregion ist ganz ungeeignet zum
Feldbau, sie wird nur bewohnt von wenigen indianischen Viehhirten, die
hier die halbverwilderten Schaf- und Rinderherden ihrer weißen Herren
beaufsichtigen, und durcheilt vom flüchtigen Páramo-Hirsch und dem
König der Lüfte, dem Kondor.

[Illustration: Ambato mit dem Chimborazo, Nordseite.]

Aber auch in der Trockenzeit sind die Reisen im interandinen Hochland
dadurch beschwerlich, daß der Reisende unausgesetzt auf elenden
Maultierwegen mit heftigem Wind und widerwärtigem Staub zu kämpfen
hat und nach des Tages Arbeit nur in den wenigen größeren Ortschaften
und Städten Gasthäuser findet, die aber nach europäischen Begriffen
meist Spelunken vierten und fünften Ranges sind. Im übrigen ist der
Reisende auf »Tambos«, die Unterkunftshütten der Lasttiertreiber
(Arrieros), angewiesen, wo man höchstens den landesüblichen Locro
(Wasserkartoffeln mit Zwiebeln) zu essen bekommt und in einem von
Ungeziefer wimmelnden Raum auf dem nie gereinigten nackten Lehmboden
neben Indianern, Hunden und Schweinen schlafen muß, wenn man nicht sein
eigenes Zelt, Feldbett und Proviant mit sich führt. Dies aber tat ich
auf meiner ganzen Reise, was mich von ecuatorianischer Gastlichkeit
unabhängig machte.

[Illustration: Kehren der Guayaquil-Quito-Bahn bei der »Teufelsnase«
unterhalb von Alausi (1900 ~m~).]

Es war mir schon im Gegensatz zu meinen afrikanischen Reisen als
eine ideale Reiseart erschienen, daß man nicht wie dort mit einem
schwerfälligen Troß von menschlichen Trägern umherziehen muß, sondern
daß man nur mit wenigen Pferden und Maultieren reist, die von zwei oder
drei Treibern besorgt werden, und bloß in den den Tieren unzugänglichen
Hochgebirgsregionen einige indianische Träger braucht, die aber an
jedem Ort neu angeworben und nach der betreffenden Bergtour gleich
wieder entlassen werden. Auch die acht bis zehn Last- und Reittiere,
die ich regelmäßig mitführte, hatte ich anfangs nur für _eine_ Tour
gemietet; da aber sie und ihre zwei Treiber, die Kolumbianer, nicht
Ecuatorianer waren, sich als außerordentlich leistungsfähig erwiesen,
behielt ich sie während der ganzen Reise und konnte ihnen schließlich
das Schwerste unbedenklich zumuten.

Wir waren gewöhnlich von Sonnenaufgang bis Spätnachmittag unterwegs,
und wenn wir dann zu einem Tambo oder Hato (Hirtenhütte) kamen
oder im einsamen Páramo die Zelte aufschlugen, wurden die Tiere
losgelassen, um sich ihre Nahrung selbst zu suchen. Stallfütterung
gibt es nicht, aber Gras wächst überall in Unmasse; freilich ist es
so hart und trocken, daß man die Grasländer der Páramos allerwärts
nur Pajonales, Strohfelder, nennt. Es ist »Heu auf dem Halm«, wie
ein Reisender die Gräser in Südwestafrika genannt hat. Nur wenn man
in bewohntere Gegenden kommt, finden die Tiere in den umzäunten,
künstlich bewässerten »Potreros« besseres Gras, oder sie bekommen ein
Bündel »Alfalfa« (~Medicago sativa~) oder »Cebada« (körnerhaltiges,
ungedroschenes Gerstenstroh) zu fressen, wofür natürlich besonders zu
zahlen ist.

Proviant für uns selbst brauchte ich immer nur für acht bis vierzehn
Tage mitzunehmen, da wir nach jeder einzelnen Tour wieder in eine
der Hochlandstädte Riobamba, Latacunga und Quito als Standquartier
zurückkehrten, wo wir uns neu verproviantieren konnten. Alkohol haben
wir auf den Touren nur in medizinischen Dosen getrunken, auch Tabak nur
im Quartier oder Lager geraucht, und auch dann nur sehr wenig.

Wegen der 1903 schon Mitte August beginnenden Regenzeit hat unser
Aufenthalt im Hochland selbst nur 2½ Monate gedauert. Aber durch
äußerste Anspannung aller beteiligten Kräfte von Mensch und Tier
vermochte ich in dieser kurzen Zeit des »Verano« doch mein Programm
durchzuführen. Die Herren Ecuatorianer im Hochland kennen und wissen
von der großartigen Gebirgswelt, die sie umgibt, gar nichts. Niemals
hat ein Ecuatorianer aus eigenem Antrieb einen Schneeberg bestiegen,
und für das, was wir dort wollten, zeigten nur ganz wenige Verständnis
und wirkliches Interesse. Nur die Winke, die mir deutsche Landsleute
und zwei oder drei ecuatorianische Herren in Riobamba und Quito aus
langer Erfahrung geben konnten, waren mir wirklich von Nutzen, aber
auch sie erstreckten sich nicht in die eigentliche alpine Region des
Gebirges. Dort ist man einzig und allein auf sich selbst angewiesen.

       *       *       *       *       *

38 Tage Seefahrt, davon die Hälfte der Zeit auf einem schmierigen,
überfüllten Küstendampfer im Pazifischen Ozean, der das Reisen zur
Qual machte, hatten mich und meinen Begleiter, Herrn Maler Rudolf
Reschreiter, endlich am 8. Juni 1903 nach dem ecuatorianischen
Haupthafen Guayaquil gebracht. Nach nur dreitägigem, den nötigsten
Vorbereitungen gewidmetem Aufenthalt dampften wir in der Frühe des 10.
Juni auf einem stark besetzten Raddampfer den breiten Guayasfluß in
reißender Strömung aufwärts und zum anderen Ufer hinüber, wo der Ort
Durán liegt, der Ausgangspunkt der _Kordillerenbahn_. In regelmäßigem
Betrieb war damals die weitaus schwierigste Strecke durch das sumpfige
Unterland und am urwaldbedeckten, tief zerschluchteten Westabfall der
Kordillere empor bis Alausi (2390 Meter), und im Ausbau die bereits
im interandinen Hochland gelegene Strecke von Guamote nach Riobamba
(2801 Meter). Erst durch sumpfig-heiße Niederung, dann in einem dichten
Blättermeer, so daß wir weithin wie in einem dunkelgrünen Tunnel durch
die Laubmassen fahren, dann wieder in einem von tropischem Bergurwald
erfüllten Tal, schließlich in unglaublichen Zickzacks an steilen
Felswänden hinauf zieht die Bahn nach Alausi empor. Von dort brachte
uns ein zweitägiger Ritt durch hügeliges grasiges Tuffland über den
breiten Rücken des Salarunespasses (3603 Meter) in die weite graubraune
Muldenebene von _Riobamba_ und nach der kleinen gleichnamigen Stadt
(12000 Einwohner), die mit ihren gepflasterten Straßen, ihren meist
einstöckigen, aus Tuffquadern erbauten Häusern, einigen steinernen
Kirchen und einer Reihe kleiner Läden einen zivilisierteren Eindruck
macht, als ich nach den Schilderungen früherer Reisenden vermutet
hatte.

Unsere Ankunft in dem verkehrslosen Städtchen war ein großes Ereignis.
Der Gobernador empfing uns infolge meiner amtlichen Empfehlung mit
ausgesuchter Liebenswürdigkeit, stellte mir ein Rundschreiben an
alle »Jefes politicos« seiner Provinz in Aussicht und versprach
Begleitung, wohin wir wollten; aber er tat nichts. Auch von den anderen
Spitzen der Riobambaer Gesellschaft, bei denen ich Empfehlungsbriefe
abgab, ward uns die allerhöflichste Aufnahme zuteil, und abends
wimmelte es in unserm Gasthaus von Besuchern, die neugierig unsere
Ausrüstung musterten und rätselhafte Dinge, wie Theodolit, Eispickel
und Steigeisen, anstaunten. Aber nicht ein einziger war imstande,
uns einige Auskünfte darüber zu geben, wie und wo man am besten dem
Chimborazo zu Leibe gehen könnte, um seine Schneeregion zu erreichen.
Kein einziger wußte, wie es oberhalb der Schneegrenze aussieht.

Eine rühmliche Ausnahme machten die Herren Gebrüder Cordovez, smarte
Geschäftsleute kolumbianischer Abkunft, die sich viel in der Welt
umgesehen hatten, perfekt Englisch sprachen und Interesse für unsere
wissenschaftlichen Ziele zeigten. Zwar wußten auch sie nichts Näheres
vom Chimborazo, aber sie halfen uns beim Engagement der nötigen
Leute und Tiere. Da waren vor allem zwei zuverlässige kolumbianische
_Arrieros_, namens Moran und Spiridion, mit guten Reit- und Lasttieren,
die ich während der ganzen Ecuadorreise behielt; dann ein Angestellter
der Herren Cordovez, ein vielgewandter junger Dalmatiner, Don _Alfonso
Santiago_, der über Peru nach Ecuador verschlagen worden war, Englisch,
Spanisch und das Kitschua der Hochlandindianer sprach und mir auf
der ganzen Reise als Reisemarschall und Dolmetscher (Mayordomo)
diente, wenn ich auch oft nahe dran war, ihn wegen seiner üblen
Charaktereigenschaften wegzujagen. Und schließlich verschafften sie mir
Empfehlungen an die Wirtschafter einiger um den Chimborazo verstreuter
Haciendas und Hatos, die sich sehr nützlich erwiesen.

Endlich hatte auch der, dem alle unsere Vorbereitungen galten, um den
sich seit Wochen unsere regsten Gedanken, unsere sehnlichsten Wünsche
und Hoffnungen gedreht hatten, nach dem wir seit acht Tagen von jedem
Paß und Hügel ausschauten, die königliche Gnade, sich uns in seiner
ganzen Größe zu zeigen: der _Chimborazo_. In stiller, schlichter
Majestät, wie die Kuppel von St. Peter über dem niedern Rom, ragt der
Schneedom über seine Umgebung empor.

Wie vor zwanzig Jahren der erste Anblick des Kilimandjaro, so ergriff
mich auch das erste Erscheinen des Chimborazo mit der Macht einer
plötzlichen Offenbarung. Demütig stehen wir kleinen Menschen vor
dem Erhabenen und lassen es klopfenden Herzens zu uns in seiner
Sprache reden, die man nur in solchen Weihestunden recht versteht.
Und wenn dann das Herz wieder zur Ruhe gekommen ist, werden die
Augen scharfsichtig, der Geist hellseherisch und er begreift von der
Erscheinung mehr als sonst. Es war schon Spätnachmittag, als uns der
Berg erschien. Schnell zog das tropische Dämmerlicht herauf. Langsam
verglomm am violetten Westhimmel die silberne ungeheuere Kuppel. Die
uns zugekehrte Ostseite lag schon im blauschwarzen Schatten, aber noch
schimmerte es geheimnisvoll um den schneeigen Scheitel, und als auch
diese letzten Töne verklungen waren, stand noch lange die finstere
Silhouette am verlöschenden Abendhimmel wie eine riesenhafte Sphinx.

Übrigens darf man sich das _Gebirgspanorama von Riobamba_ nicht
alpin im europäischen Sinn vorstellen, nicht als ein Amphitheater
oder als eine Kette von Schneegipfeln. Es ist nicht das »großartigste
Diorama der Welt«, wie es der Reisende Boussingault in französischer
Überschwenglichkeit im Jahr 1831 genannt hat; sondern in weiter
Entfernung, so daß Einzelheiten nur mit dem Glas zu erkennen sind,
zieht im Westen des weiten Riobambabeckens der lange Gebirgswall der
Westkordillere, im Osten der der Ostkordillere nordsüdwärts, und
vereinzelt sitzen auf, respektive an ihnen die schneeigen Vulkankegel
in großen Abständen: auf der Ostkordillere der zackige Altar mit der
matterhornähnlichen Obispo-Spitze und der von hier der Königsspitze
gleichende Tunguragua; auf der Westkordillere der mehrgipfelige
Carihuairazo und der gewaltige Chimborazo-Dom. Im ganzen kein
zusammenschließendes, einheitliches Hochgebirgspanorama, sondern
weitverstreute Einzelbilder.

In zweieinhalb Tagen waren wir dank fleißiger Arbeit mit allen
Vorbereitungen fertig. Nun konnte es losgehen. Zuletzt entdeckte ich
noch einen eingewanderten italienischen Handelsmann, der in seinem
Laden die besten Dinge hatte, die ich für Bergtouren brauchen konnte
und in Riobamba nicht vermutet hatte: vortreffliche italienische
Makkaroni, feinkörnigen italienischen Reis, verschiedene Biskuitsorten,
guten, rotgelben Käse, in Blechbüchsen eingemachte Früchte, namentlich
kalifornische und chilenische Pfirsiche und Birnen, und anderes
Gute mehr. So waren wir für unser bevorstehendes Lagerleben viel
besser ausgestattet, als ich nach unseren bisherigen Gasthaus- und
Reiseerfahrungen hatte hoffen können. Das war ein Glück, denn es kamen
Tage schwerer Arbeit und harter Entbehrung.



Der Chimborazo.


1. Der Berg.

Der höchste und größte Berg der ecuatorianischen Anden ist der
_Chimborazo_ (6310 Meter). Jahrhundertelang galt dieser Bergriese
für die höchste Erhebung von ganz Amerika, und wenn ihm auch dieser
Rang von der fortschreitenden Landeskenntnis genommen worden ist, so
bleibt ihm doch der Nimbus, mit dem ihn der Besuch und die begeisterten
Schilderungen des größten deutschen Forschungsreisenden, Alexander
von Humboldts, umwoben haben. Seit Humboldts vor einem Jahrhundert
unternommener Erforschung und versuchter Besteigung des Chimborazo
haben gerade wir Deutsche immer ein sozusagen landsmännisches Interesse
an dem Berg genommen. Die Mehrzahl seiner wissenschaftlichen Besucher
und Erforscher auch nach Humboldt sind Deutsche gewesen, vor allem
Wilhelm Reiß und Alfons Stübel (1870–74).

[Illustration: Spezialkarte des

Chimborazo

Maßstab 1 : 150000

Kartographische Anstalt von F. A. Brockhaus, Leipzig]

Der Naturforscher wie der Naturfreund, der Künstler wie der Alpinist,
der ecuatorianische Stadtbewohner wie der indianische Bauer, alle,
die den gewaltigen Schneeberg sehen, an ihm weilen oder arbeiten,
erkennen ihn als den König der ecuatorianischen Anden an. Er ist das
_Wahrzeichen Ecuadors_. Schon seine Erscheinung ist einzigartig. Am
weitesten von allen großen Vulkanen Ecuadors auf der Westkordillere
nach Süden vorgeschoben, ist er der einzige Schneeberg des Hochlandes,
von dem im 133 Kilometer entfernten Hafenplatz Guayaquil bei sehr
klarem Wetter ein Stück sichtbar ist, eine Erscheinung aus einer andern
Welt; und er ist der erste, der den vom tropisch-heißen Tiefland
auf der meistbegangenen Route über Guaranda zum kühlen Hochland
aufsteigenden Reisenden mit dem Zauber nordischer Schneelandschaft
begrüßt oder aber ihn beim Übergang über den berüchtigten, am
Südwestfuß des Chimborazo gelegenen Hochpaß des »Arenals« mit wildem
Páramowetter, mit tobenden Gewittern, mit eisigem Regen und Schneesturm
empfängt. Ganz allein thront er am Westrand der Hochebene von Riobamba.
Der nördlich neben ihm 10 Kilometer entfernt stehende kleinere
Carihuairazo (5106 Meter), obwohl an sich ein sehr respektabler
Schneeberg, verschwindet, von Westen, Süden und Südosten gesehen, neben
der himmelstürmenden Titanengestalt des Chimborazo fast ganz. Es ist,
als ob sich von den anderen großen Vulkanen des Hochlandes keiner in
seine Nähe wagte.

An sich ist der Vulkanbau des Chimborazo mit seiner im Mittel nur
3000 Meter betragenden relativen Höhe nur wenig höher als der des
Cotopaxi über seiner Basisebene, er ist sogar kleiner als der des Ätna
(3313 Meter) oder gar der des Pik von Tenerife über ihren Fußpunkten.
Gänzlich verschieden aber ist die _Architektur_ des Chimborazo von der
des Cotopaxi. Hier gibt es keine so weit ausholende, fast mathematische
Profilkurve wie im Aufbau des Cotopaxi, keine gleichmäßig abgestutzte
Kegelform wie dort, sondern es ist ein Komplex von kolossalen
miteinander verwachsenen Stumpfpyramiden, über den sich eine Gruppe von
fünf Schneedomen als Gipfel wölbt. Man könnte von einem »romanischen«
Stil dieses Riesenberges sprechen, so gut wie man vom »gotischen« Stil
der granitischen Sierra Nevada gesprochen hat.

Der Chimborazo zeigt sich auf jeder Front in einer gänzlich andern
Gestalt. Am großartigsten entwickelt er sich vor dem Beschauer auf der
breiten _Südostseite_. Hier ist er breiter, höher und steiler als auf
den anderen Seiten. Als ein mächtiger vereister Gebirgsrücken hebt
er sich aus dem Hochbecken von Riobamba empor, am Fuß welliges und
hügeliges Gelände von großer Monotonie, alte übereinandergelagerte
Lavaströme, Tuffschichten und alte Moränen unter einer alles
überziehenden graubraunen Decke von Páramogras. Darüber geht das
Massiv mit stärkerer Steigung in die Zone junger Moränen über, die
als ein Gürtel runder Wälle, Dämme und Kegel die Südhälfte des Berges
zwischen etwa 4700 und 5200 Meter umfassen; und von da an stürmt der
Berg in jähen, dunklen Felswänden himmelwärts, über die sich von
oben die Eisflut in einer Reihe steiler, graublauer Gletscher und
wildzerrissener Eisstürze ergießt. Über diesen aber wölben sich in
olympischer Ruhe die breiten runden Firndome der Gipfelregion.

Auf der _Ostseite_ haben wir, wenn wir nördlich vom Tambo Chuquipoquio
stehen, den Berg in seiner Schmalseite vor uns. Die mächtige runde
Firnkuppel des Ostgipfels beherrscht hier das Bild, hinter der die
westlicheren Schneegipfel großenteils verdeckt liegen, und läßt den
Berg als einen einfachen großen Vulkandom erscheinen mit gleichmäßig
konisch nach allen Seiten abfallenden Hängen. Ein großer primärer
Gletscher fließt weit nach Nordosten hinab.

Sobald man aber nach der _Nordseite_ des Berges umgebogen ist,
ändert sich das Bild total. Der Berg breitet seine vielgliedrige
Längsansicht vor uns aus, und jetzt sehen wir über dunklen Schuttmassen
und Felswänden die fünf runden Firngipfel auf dem langen Schneerücken
thronen. Die Nähe des benachbarten vereisten Carihuairazo stört
freilich die Einheitlichkeit des Bergbildes; dagegen erhöht sie mächtig
den Gesamteindruck der großen alpinen Landschaft. Sie packt und fesselt
uns um so mehr, als die Vergletscherung des Chimborazo auf keiner
andern Seite des Berges so großartig ist wie auf den dem Carihuairazo
zugewandten Flanken.

Von der Nordseite steigt die Basis des Chimborazo immer mehr nach
_Westen_ an. Dort stehen wir 4400 Meter hoch auf der wüstenhaften
Lapilli-Ebene des »Großen Arenals«, das im Süden von dem nach Guaranda
führenden Saumpfad überschritten wird, und sehen den Chimborazo wieder
in seiner kürzesten Achse. Keine andere Seite des Berges ist so einsam
und öde wie diese; nichts als Stein- und Eiswüste. Auf keiner andern
Seite erscheint er so als regelrechter schneebehelmter Vulkankegel
wie von der Westseite. Hier ist es der Riesendom des Westgipfels
(6269 Meter), der den ganzen Berg auszumachen scheint; nur ein wenig
wird rechts neben ihm von dem noch etwas größern Südgipfel in der
Überschneidung sichtbar. Zwischen beiden ist auf der Südwestseite
der Kegelmantel in der untern Berghälfte durch ein breites steiles
Gletschertal bis zum Fuß herab aufgerissen, einer der größten
Massendefekte am ganzen Chimborazo, der einen tiefen Einblick in den
vulkanischen Bau des Berges gewährt.

Seit Äonen ist der Chimborazo _kein tätiger Vulkan_ mehr. Nur noch
einige um seinen Fuß zerstreute heiße Quellen verraten Rückstände
schwacher innerer Glut. An seinen dunklen Andesitwänden nagen seit
ungezählten Jahrtausenden die Sonnenstrahlen, Nachtfröste, Winde,
Gewässer und Gletscher, und die tiefen Wunden, die sie dem Bergriesen
schlagen, werden wohl nie wieder vernarben, wohl nie wieder durch einen
neuen verjüngenden Lavaerguß ausgeheilt werden. Auch er, der stolzeste
und größte der ecuatorianischen Andenberge, unterliegt dem Schicksal
alles Irdischen, der Vernichtung. Aber noch steht er in göttlicher
Größe und Schönheit da, noch für unermeßliche Zeiten empfänglichen
Augen und Seelen zur Erhebung und heiligen Verehrung, dem geistig
Schwachen aber zur Beklemmung und Furcht, wie man überall von den
Ecuatorianern hören kann.

Wir bewundern an ihm außer seiner Größe vor allem die reiche
_orographische Gliederung_ seiner gewaltigen Massen. Wie der
Cotopaxi erscheint uns auch der Chimborazo als eine geschlossene
Bergpersönlichkeit, aber ihr Charakter ist ein anderer als der des
symmetrischen, eleganten Cotopaxi. In seinen Profilen und Formen
verbinden sich die starre harte Geradlinigkeit seiner hohen Felswände
und die vielfältig gebrochenen und gekrümmten Linien seiner Grate
und Spitzen mit den sanften Kurven seiner Schutthalden und mit den
weiten, ruhigen Wölbungen seiner himmelhohen Firne zu einer wunderbaren
Harmonie von Strenge und Milde, von Ehrfurcht gebietender Erhabenheit
und ernster Freundlichkeit. Während der Cotopaxikegel in seiner
Einfachheit sich mehr der kristallinischen Grundform nähert, setzt
sich der Chimborazo aus mehreren Einzelbergen und Stufen zu einer
höhern Einheit zusammen. Er nähert sich durch seine mannigfaltige
Gliederung mehr den organischen Gebilden, mehr dem Lebendigen als
jener. Es ist ein unbewußter Ausdruck dieser Empfindung, wenn man
im Lande seine langgestreckte Gestalt mit der eines ruhenden Löwen
vergleicht, und es ist darin auch richtig ausgesprochen, daß er trotz
seiner Mannigfaltigkeit eine geschlossene majestätische Berggestalt
ist. Sie ist, um mit F. Ratzel zu reden, nicht romantisch, sondern
klassisch. Zur Einheitlichkeit des Ganzen trägt am meisten die
ungeheuere, zusammenhängende und zusammenfassende Schnee- und Eisdecke
bei. Sie gleicht mit ihren auf und ab schwellenden Wogen alle schroffen
Trennungen aus und vereint unter sich alle Spitzen und Grate zu _einem_
Schneeberg.

Von der grauen Monotonie seiner Fußhügel weg zieht der Berg unser
schauendes Auge immer wieder an den dunkelfarbigen, steilen Hängen und
Wänden seines Felsenbaues und an seinen mattblauen Gletscherbrüchen
empor in die lichte Schneeregion und läßt es langsam über die weiten
Flächen der im Sonnenschein silbern schimmernden Firnfelder und
Firndome gleiten. Dort ist Ruhe, Einsamkeit, erhabene Größe. Sie
können wir nicht mehr schildern, nur fühlen in tiefer Ergriffenheit,
nur »still verehren«, wie Goethe vom großen Unerforschlichen
der Natur sagt. Wir begreifen, daß auch kein Künstler einem so
erhabenen Naturbild beikommen kann; schon an der Raumgröße würde
seine Kunst scheitern. Nur wenn er von dem unendlichen Reichtum der
Einzelerscheinungen absieht, das Ganze vereinfacht, das Typische
heraushebt und von Form und Linien im großen ganzen ein richtiges
Abbild gibt, kann er eine so gewaltige Bergpersönlichkeit wie den
Chimborazo malerisch bezwingen. Vollständig gescheitert an diesen
Schwierigkeiten ist Alexander von Humboldt, dessen Chimborazobilder
dem modernen Beschauer als Karikatur erscheinen, und auch Stübels
sonst unvergleichliche Panoramen sind in ihrer Überhöhung nicht
korrekt; erst meinem Begleiter Reschreiter sind künstlerisch und
wissenschaftlich zugleich einwandfreie Bilder des Berges gelungen.

Bekanntlich ist es _Alexander von Humboldt_, der zuerst von allen
wissenschaftlichen Reisenden am Chimborazo eine bedeutende Höhe
bestiegen hat. Dies war im Jahr 1802. Humboldt galt dadurch für
viele Jahre als »Höchstgestiegener« der ganzen Welt, was zu seiner
Popularität weit mehr beigetragen hat als seine übrigen Reisen und
seine wissenschaftlichen Schriften bis zum Erscheinen des »Kosmos«.

Humboldt wählte als Ausgangspunkt das noch heute bestehende Dorf Calpi
im Südsüdosten des Chimborazo und glaubte, von dort mit seiner kleinen
Karawane in einem Tag zum Gipfel des Berges und zurück nach Calpi
kommen zu können. Eine solche naive Verkennung der Schwierigkeiten
war nur in der frühesten Jugendzeit der Alpinistik möglich; hatte man
doch zu bedenken, daß man eine Höhendifferenz von rund 3000 Meter,
eine Horizontaldistanz von etwa 19 Kilometer, steile Schutthalden,
kolossale Felswände, riesige Gletscherbrüche, die Wirkungen der dünnen
Höhenluft usw. zu überwinden hatte. Zum mindesten wären drei Tage für
das Unternehmen in Anschlag zu bringen gewesen, wenn der Berg überhaupt
von dieser Seite zu bewältigen ist, was ich angesichts der furchtbaren
Zerklüftung des Eises und des Firnes auf dieser Seite bezweifle. Ein
erfahrener Alpinist wird nie auf den Gedanken kommen, der schwierigen
Südseite des Chimborazo den Vorzug vor den alpinistisch leichteren
Südwest- oder Nordwesthängen zu geben. Aber freilich hatte Humboldt die
Nordfront des Berges überhaupt nicht gesehen.

So ritt er denn mit seinen Begleitern Aimé Bonpland und dem jungen
Ecuatorianer Carlos Montufar am 23. Juni 1802 von Calpi über das
stufenförmig ansteigende Basisgelände, am kleinen See Yana-cocha
vorüber zur Grenze des frischgefallenen Schnees (4377 Meter).
Hier begann seine Fußtour, während seine Kameraden erst an der
»perpetuierlichen« Schneegrenze (4820 Meter) ihre Reittiere verließen.
Nun folgte man einem steilen, »gegen den Gipfel gerichteten, schmalen
Felskamm« von »sehr verwittertem bröckeligen Gestein«. Bald kehrten die
Eingeborenen zurück, und es blieben mit Humboldt nur Bonpland, Carlos
Montufar und ein Mestize »aus dem nahen Dorf San Juan«. Der Grat wurde
sehr schmal, oft nur 8–10 Zoll breit, links sank eine »dünneisige
Spiegelfläche« mit etwa 30 Grad Neigung ab, rechts gähnte ein Abgrund
von 800 bis 1000 Fuß Tiefe. Immer schwieriger wurde das Balancieren,
das Klettern mit Händen und Füßen, so daß die Hände an den Felsen
»schmerzhaft verletzt« wurden; und dazu wurde Humboldt durch eine
Wunde gehindert, die er »seit mehreren Wochen am Fuß« hatte. Bei 5612
Meter wurde eine barometrische Höhenmessung vorgenommen. Nach weiterm
einstündigen Steigen stellte sich bei allen die Bergkrankheit ein:
»große Übelkeit«, »Bluten aus dem Zahnfleisch und aus den Lippen«(!);
auch die »Augen waren blutunterlaufen«. Ringsum lag dichter Nebel. Bei
seinem Aufreißen sahen sie den »domförmigen Gipfel des Chimborazo ganz
nahe«, aber bald – es war 1 Uhr geworden – setzte »eine Art Talschlucht
von etwa 400 Fuß Tiefe« dem Unternehmen eine Grenze. »Mit vieler
Sorgfalt« wurde mit dem Quecksilberbarometer die Höhe gemessen: 13 Zoll
11²/₁₀ Linien bei –1,6° ~C~, woraus Humboldt 5881 Meter berechnete.
»So fehlten noch bis zum Gipfel senkrecht 1224 Fuß oder die dreimalige
Höhe der Peterskirche in Rom.«

»Nach kurzer Zeit« kehrten die Reisenden auf demselben Felsgrat zurück,
»vorsichtig wegen der Unsicherheit des Trittes«, Gesteine sammelnd,
von Hagel und Schneegestöber begleitet. Trotzdem waren sie schon um »2
Uhr und einige Minuten« wieder an der Schneegrenze, wo die Maultiere
zurückgeblieben waren (4820 Meter). Sie waren also trotz der genannten
Schwierigkeiten in nur einer Stunde die 1061 Meter von 5881 Meter
zu 4820 Meter (= 17,7 Meter pro Minute) hinabgestiegen! Durch den
Páramo de Pungupala ritten sie nach Calpi zurück, wo sie schon um 5
Uhr nachmittags wieder eintrafen. »Die Expedition oberhalb des ewigen
Schnees hatte nur 3½ Stunden gedauert.« In 3½ Stunden will somit
Humboldt die 1061 Meter hohe schwierige Strecke von 4820 Meter zu 5881
Meter hinauf- und hinabgestiegen sein, d. h. rund 300 Meter in der
Stunde. Das wäre eine Arbeit, die sich der beste moderne Bergsteiger
auf nicht schwierigem Terrain und in normaler Höhe kaum zutrauen würde;
200 Meter auf und ab sind da pro Stunde schon eine recht respektable
Leistung. Aber bei Humboldts Besteigungsversuch handelte es sich um
gänzlich ungeübte, höchst mangelhaft – ohne Seil, Eisäxte, Nagelschuhe
usw. – ausgerüstete Männer, um schwieriges Terrain auf schmalen
steilen Graten, um eine Riesenhöhe mit der aus ihr folgenden starken
Verminderung der Leistungsfähigkeit und Geschwindigkeit, um lähmende
Bergkrankheit, Verletzungen, Aufenthalte zum Beobachten und Sammeln usw.

[Illustration: Ostsüdostseite des Chimborazo, vom Tambo Chuquipoquio
(3628 ~m~) aus.]

Diese vielfachen Widersprüche in Humboldts Darstellung sind schon
früher mit Recht kritisiert worden. Da aber die große Spärlichkeit
von Zeitangaben in Humboldts Bericht eine Kontrolle der einzelnen
Zeitabschnitte unmöglich macht, so ist schwer zu sagen, wo der
Irrtum oder Fehler liegt. Am einfachsten ist die Annahme, daß
das Quecksilberbarometer, dem die Höhenmaße entnommen wurden, in
völlige Unordnung geraten war. Legen wir für die Wirklichkeit einen
Durchschnitt von 150 Meter Auf- und Abstieg pro Stunde zugrunde,
was der Leistungsfähigkeit dieser Reisenden und den von Humboldt
geschilderten Umständen am meisten entsprechen dürfte, so hätte
Humboldt mit seinen Begleitern in 3½ Stunden von der Schneegrenze
(4820 Meter) aus und wieder dahin zurück die Höhe von etwa 5350 Meter
erreicht. Und diese Höhe stimmt vollkommen zu der von ihm geschilderten
Situation seines Endpunktes, während es bei 5881 Meter, wo er seiner
Messung nach gewesen sein will, ganz anders aussieht. Dort würde er
oberhalb der Felswände mitten in der Gletscherregion gestanden haben.
Er ist nach alledem noch unterhalb der riesigen Felswände geblieben,
die den gewaltigen Firndom tragen, und fast 1000 Meter unter dem Gipfel
selbst.

[Illustration: Westseite des Chimborazo, vom Arenal grande (4450 ~m~)
aus.]

Als Humboldt seinen ersten Bericht über diesen Besteigungsversuch
veröffentlichte, lag die Reise schon 35 Jahre hinter ihm, und er war
ein Greis geworden, in dem die Erinnerung an die einstigen Vorgänge
offenbar stark verblaßt war, obwohl er die Hauptdaten dazu seinen
Tagebüchern entnommen hatte. So konnte sich allmählich die Legende
von »_der_ Chimborazobesteigung« Humboldts ausbilden, während in
Wirklichkeit das Unternehmen Humboldts da aufgehört hat, wo die wahren
Schwierigkeiten des Felskletterns und der Eisarbeit erst beginnen,
wo die Gipfelbesteigung des Chimborazo im alpinistischen Sinne erst
anfängt, wo ein Bergsteiger sein oberstes Zeltlager aufstellen müßte,
wie es dann Whymper an der Südwest- und Nordwestseite, ich an der
Nordwestseite des Berges getan haben.

[Illustration: Nordseite des Chimborazo, von oberhalb der Hacienda
Cunucyacu aus.]

Nach Humboldt haben der Franzose Joseph Boussingault und der
amerikanische Oberst Hall im Jahr 1831, die Deutschen Moriz Wagner 1859
und Alfons Stübel 1872 den Gipfel zu ersteigen versucht; bezwungen
aber hat den Hauptgipfel (6310 Meter) bisher nur der Engländer _Edward
Whymper_ mit den beiden Schweizer Führern _Gebrüder Carrel_ in zwei
glänzend durchgeführten Touren am 4. Januar und am 3. Juli 1880. Alle
anderen Ersteigungsgeschichten sind sensationelle Erfindungen.

Selbstverständlich hätte auch ich mit Herrn Reschreiter bei meiner
Andenreise den höchsten Gipfel gern »mitgenommen«, aber es war uns
nicht beschieden. Vielleicht wäre für uns der Anreiz größer gewesen,
wenn es sich um eine Erstersteigung gehandelt hätte, wie ich sie
seinerzeit nach dreimaligem Anlauf am Kilimandjaro ausgeführt habe,
oder wenn am Gipfel selbst so viel Interessantes zu sehen wäre wie auf
dem des Cotopaxi. So aber standen für mich wissenschaftliche Ziele
im Vordergrund, denen sich auch mit Rücksicht auf die zur Verfügung
stehende beschränkte Zeit das alpinistische Interesse unbedingt
unterordnen mußte, und unsern Arbeiten konnte es nur zum Vorteil
gereichen, daß sie nicht durch sportlichen Zeit- und Kraftaufwand
und durch alpinistische Unternehmungen verkürzt worden sind, die
mehr hätten sein wollen als Mittel zum Zweck der wissenschaftlichen
Hochgebirgsforschung.

Wir haben den Chimborazo zweimal von Ost über Süd und West nach Nord
in der Páramoregion von durchschnittlich 4000 Meter Höhe umkreist, an
allen vier Seiten Vorstöße in seine Gletscher- und Firnregion gemacht
und von der Nordnordwestseite her den Westdom (6269 Meter) bis 90
Meter unter seinen Gipfel bestiegen. Die erste Tour vollführten wir
Mitte Juni bei Beginn der für die Westkordillere besten, ruhigsten
Jahreszeit, die zweite Tour, welche die bei der ersten gelassenen
Lücken in der topographischen Aufnahme, in der Beobachtung der
meteorologischen Vorgänge, der Hochgebirgsflora, der Schnee- und
Eisverhältnisse usw. möglichst ergänzen sollte, in der zweiten
Augustwoche am Schluß der guten Jahreszeit. Dazwischen liegen die
Hochtouren auf den anderen großen Vulkanbergen.


2. Der Anmarsch.

Am 16. Juni 1903 ritten wir mit meinem Mayordomo Santiago, den beiden
Arrieros Spiridion und Moran und sieben Lasttieren von Riobamba
nach dem am _Ostfuß_ des Chimborazo 3628 Meter hoch gelegenen Tambo
Chuquipoquio. Dieser am Camino Real liegende Tambo ist der höchste
ständige Wohnplatz auf der Ostseite des Chimborazo, die einzige Rast-
und Nächtigungsstelle in jenen Höhen. Auf der Südseite liegt der Hato
Totorillas 350 Meter höher (3979 Meter), auf der Nordseite der Hato
Pailacocha sogar in 4266 Meter.

Von Riobamba nach Chuquipoquio geht ein breiter, bequemer Reitweg;
in vier Stunden kann man bei flottem Reiten die Strecke zurücklegen.
Wir ritten auf der vom Wind glattgefegten, von endlosen Agavenhecken
gesäumten Straße meist im Trab voraus, die »Carga«, d. h. die
Lasttiere mit den zu Fuß gehenden Arrieros, folgte im Schritt nach.
Langsam hebt sich das meist aus Tuff und Lapilli aufgeschüttete
Hügelland zum Chimborazo und der Westkordillere hin, monoton, vom
Wind zerzaust und von Staub und Flugsand verweht, gegen dessen
erstickende Anhäufung sich die wenigen kümmerlichen Mais-, Gersten-
und Lupinenfelder durch Agaven- und Kakteenzäune zu schützen suchen.
Dazwischen stehen weit verstreut wenige Indianerhütten, graubraun
wie die ganze Landschaft und von ein paar dürftigen Capuli- oder
Eukalyptusbäumen umstanden, wenn ein Wasserlauf in der Nähe ist.
Wasserläufe gibt es aber wenige in dieser Landschaft, immerhin
mehr als in größerer Nähe des Chimborazo, denn die Schmelz- und
Niederschlagswässer des Berges versinken dort im lockern Geröll
seiner Schutthalden und Fußhügel und kommen erst weiter nach der
Riobamba-Ebene hin zum Vorschein, wo oft undurchlässiges Gestein nahe
unter der Bodenoberfläche liegt.

Wir hatten es mit dem Wetter gut getroffen, denn während des größten
Teils des vierstündigen Rittes zeigte uns der Chimborazo seine
majestätische südöstliche Breitseite in nur geringer Bewölkung.
Unter der steigenden Sonne funkeln seine Firndome wie verglast, und
darunter ziehen sich in schönster Plastik die durch steile Felsgrate
voneinander getrennten Gletscherbecken herab, in denen die Eismassen
als wild zerrissene Hängegletscher abfließen. Moränenwälle von
enormer Mächtigkeit begleiten und umgeben sie und setzen talwärts
die Gletscherrichtung in einer die einstige Ausdehnung der Eisströme
deutlich markierenden Erstreckung bis in die braungrasige Páramoregion
hinein fort.

Gegen 2 Uhr trafen wir an der obern Grenze des Feldbaues (Gerste 3450
Meter) auf die große, von Guamote nach Quito führende Fahrstraße,
folgten ihr nordwärts und waren in kurzem vor einem mit verfallenden
Tuffmauern umfriedeten Gehöft von drei großen viereckigen Lehmhütten
angelangt, dem Tambo _Chuquipoquio_ (3628 Meter). Er liegt schon in
der unwirtlichen Region des Páramo. Schon wartete unser der im voraus
benachrichtigte Mayordomo und präsentierte mir ein Dutzend junger
und alter Indianer, von denen ich die acht kräftigsten als Träger
(Peones) für die Chimborazotour aussuchte. Die Kosten waren mäßig. In
einem dunkeln, mit zwei wackeligen Bettstellen bestandenen Verschlag
richteten wir uns nach Möglichkeit mit unseren Schlafsäcken und Decken
ein, während sich auf dem Hof ein neugieriges Gesindel von Arrieros und
Peones herumtrieb, die hier mit ihren Karawanen von Eseln, Pferden und
Maultieren auf der Reise von oder nach Quito nächtigten. Aber keine
Zudringlichkeit, kein Lärmen genierte uns; das liegt nicht in der
passiven Art der ecuatorianischen Indianer und Mischlinge.

Am nächsten Morgen um 7 Uhr ging es _südwestwärts_ fort mit dem Ziel
Totorillas, dem am Südfuß des Chimborazo 3979 Meter hoch gelegenen
Tambo, von dem der Saumweg über die Páramos und das »Große Arenal«
nach dem westlichen Unterland führt. Sechs Stunden lang umritten wir
die Ost- und Südostseite des Berges, immer auf und ab über Schluchten
und Rücken durch gleichförmiges Páramogelände mit kniehohem Stipagras
(Pfriemengras, ~Stipa Hans Meyeri Pilger~) und ohne Busch und Baum. Von
den Tücken des Páramocharakters hatten wir nichts zu fühlen. Rauheit
und Unbeständigkeit des Wetters, häufige und schroffe Wechsel zwischen
den Extremen, zwischen strahlender Hochgebirgssonne und wütendem,
eisigem Regen- und Schneewind, sind ja die Eigentümlichkeiten der
_Páramoregion_, die sie zur unwirtlichsten Region zwischen Tropenküste
und Schneegrenze stempeln. Aber wir hatten günstige Sommertage
getroffen. Zwar umwirbeln uns öfters Nebelfetzen und umsprühen uns mit
leichten Regenschauern (Paramitos), während der Wind zischend über das
Gras faucht, es zu Boden drückt und uns mit Sand und Steinchen bewirft,
doch dauert der Spuk nur viertelstundenlang, worauf die Sonne über uns
und über die graugrünen Grashügel sowie droben über die Felsen- und
Schneewelt des Chimborazo um so herrlichere Lichtfluten ausgießt.

An vielen Stellen sahen wir in den Talsenken und an den Hügellehnen
kleine Herden von Schafen, Rindern und Pferden weiden; meist ohne
sichtbare Hirten. Darin bilden eben die Páramos den Reichtum des
Hochlands und seiner armen Indianerbevölkerung, daß sie in jeder
Jahreszeit dem Vieh eine sichere, wenn auch nicht fette Weide
bieten. Die besten Teile haben sich freilich die Großgrundherren
auch von den Páramos weggenommen, aber es bleibt noch genug für den
Bedarf des »kleinen Mannes« und seiner kleinen Herde, noch genug
auch für seinen bescheidenen Holzbedarf (Krummholz der Sträucher)
und für seine Jagdlust (Kaninchen, Wachteln, Enten, Füchse usw.).
Von solchen jagdbaren Tieren sehen wir freilich beim flüchtigen
Durchreiten nur Spuren. Unser Weg, der »Camino«, wird aus mehreren
tief eingeschnittenen Pfaden gebildet, die nebeneinander herlaufen,
ineinander übergehen und sich wieder verzweigen. Oft sind im Tuff
übermannstiefe Hohlwege ausgetreten und von Wasser und Wind weiter
ausgefurcht, in denen nicht zwei Tiere aneinander vorüberpassieren
können. Wer zuerst eintritt, ruft und pfeift, damit eine etwa von der
andern Seite sich nähernde Karawane wartet.

Da das Wetter meist klar war, hatten wir nach Osten einen schier
unermeßlichen Überblick über die weite, nach Riobamba hinabsinkende
Hochmulde bis an die ferne Ostkordillere, über deren blaudunstige
Kette die Schneespitzen des Cerro Altar herüberleuchteten. Weiter
südlich quoll plötzlich hinter der Ostkordillere eine ungeheuere, teils
blaugraue, teils kupferbraune Wolkenmasse empor, die Ausbruchswolke
des von hier unsichtbaren _Sangayvulkans_, den man gleichzeitig
dumpf donnern hört. Sie streckt und breitet und rundet sich wie eine
kolossale Lokomotivrauchwolke, steigt in ihren obersten Wölbungen bis
zu 10000 und 11000 Meter in die Höhe und wird dort oben von einer
nordöstlichen Luftströmung in langem Zug nach Südwesten geweht, wobei
sie ihre Asche in graubraunen Schwaden und Schleiern gleich dem schief
streichenden Regen einer fernen Gewitterwolke über das Land ausstreut.

Zu unserer Rechten aber an den Steilhängen des Chimborazo, zu denen
unsere Páramoregion in schneller Steigung emporzieht, sehen wir
weiterreitend einen _Gletscher_ an den andern sich reihen, eine kleine
und fünf größere Eiszungen zwischen Chuquipoquio und Totorillas: auf
dem Osthang über Chuquipoquio eine kleine, auf der Südostseite zwei
größere, auf der Südseite drei. Die Gletscher liegen in ihren unteren
Teilen weit herab unter ihrem eigenen Moränenschutt begraben, so daß
ihre Eisgrenze nur durch nähere Untersuchung festzustellen ist. Von
einer freien Gletscherstirn ist nichts zu sehen. Der Auslauf ist
bei den meisten ganz flach. Jeder Gletscher hat sich in eine Mulde
eingebettet, die er sich im Berghang selbst gegraben hat, und alle
sind voneinander durch steile Felsgrate getrennt, in denen man deutlich
die stehengebliebenen Reste des im übrigen durch die Gletschererosion
abgetragenen Mantels des Bergmassivs erkennt.

Teilweise sind die Felsgrate durch Schutt verdeckt, der sich ihnen
als Seiten- und Ufermoränen der Gletscher an- und auflagert. Aber
jeder Gletscher hat vor seiner Zunge eine große bogenförmige Endmoräne
abgesetzt. Nach außen fallen diese Endmoränen in steilen Kegeln bis zu
250 Meter hoch ab, und mit ihren aneinandergereihten Bogen umkränzen
sie oberhalb des Graslandes von etwa 4600 Meter Höhe an die Ost- und
Südflanken des Berges wie mit einer kolossalen, freilich nimmer grünen
Girlande. Aber auch das daran anschließende Grasland zeigt noch bis
3900 Meter hinab überall die unruhigen Formen von Wällen und Dämmen in
teilweise großartigster Ausbildung, verwachsene und leicht verwischte,
aber noch deutlich erkennbare Spuren einer einst viel größern
Ausdehnung der Vergletscherung, die in der Eiszeit sich volle 600 Meter
weiter am Berge hinab erstreckte.

In ihren oberen Partien, die dem steilsten Teil des Bergmassives
anliegen, sind die Gletscher echte Hängegletscher, teilweise
Eiskaskaden von wahrhaft unheimlicher Zerrissenheit, und bei 5200
bis 5600 Meter Höhe enden, respektiv beginnen sie in senkrechten
Eiswänden von 50 bis 100 Meter Dicke, an denen da und dort die frischen
Abbruchstellen in wundervoll zartem Indigoblau schimmern. Sie sind in
zahllose Pfeiler, Türme, Rampen und Bastionen zerschnitten, die den
Druck, den Schub, den Wind, die Sonne und den Frost zum Erzeuger haben.
Die darüber sich hoch und herrlich wölbenden Gipfeldome blinkten an
vielen Stellen wieder glasig, während mir an anderen eigentümliche
mattgraue Oberflächen auffielen, die sich im Fernglas als weite Felder
von zacken- und spitzenförmigen Firngebilden erwiesen. Sollte das
»Nieve penitente« sein, dessen Vorkommen bisher in der Äquatorialzone
bestritten worden war? Oder karrenartige Firn- und Eisformen, wie ich
sie auf den Kilimandjarogletschern gefunden hatte? Die Frage machte
mich auf unsere von der Nordwestseite geplante Besteigung der oberen
Firnregion in hohem Grad gespannt.

Zwei Bachtäler von offenbarer Glazialentstehung werden gequert, dann
reiten wir über einen mächtigen Schutt- und Lavarücken immer höher
hinan, bis wir eine Stunde später am _Südfuß_ des Berges dicht am Tambo
Totorillas – mit 3979 Meter die zweithöchst gelegene Wohnstätte am
Chimborazo – im flachen, etwa 250 Meter breiten Totorillastal anlangen.

Der Tambo _Totorillas_ ist nur eine große Lehmhütte mit einem bis
auf den Erdboden reichenden Grasdach, viel elender als der Tambo
Chuquipoquio auf der Ostseite, aber trotzdem dauernd von einer
Cholofamilie (Mischlinge aus Weißen und Indianern) bewohnt, die
das Vieh der umliegenden weiten Páramos beaufsichtigen soll. Die
Behausung und der Haushalt sind typisch für diese Mischlingsrasse der
Hochregion. Im Innern der Hütte sind durch eine Flechtwand nur zwei
Räume abgeteilt; der eine mit der Feuerstelle und den Schlaflagern
der Besitzer, der andere für allerlei Vorräte, für Hunde, Hühner und
etwaige Gäste. Tische, Stühle, Bänke oder gar Bettstellen gibt es
nicht. Die Menschen schlafen neben den Tieren auf trockenem Páramogras
auf dem Erdboden zwischen Haufen von Kartoffeln und Maissäcken. Auch
ein Feuerherd ist nicht vorhanden, sondern »des Hauses trauliche
Flamme« flackert, von trockenem Kuhmist und Wurzelstöcken des
Chuquiraguastrauchs genährt, ebenfalls auf dem Erdboden zwischen ein
paar zusammengeschobenen Steinen. Der Rauch zieht durch das Grasdach
ab oder durch die einzige, aus rohen Stammstücken gefertigte Türe,
wenn diese offen ist. Wenn sie geschlossen ist, ist es stockfinster
im »Haus«. Das wenige Hausgerät, d. h. ein paar Töpfe und Schüsseln,
Hacken und Messer, steht auf dem Erdboden oder hängt an Pflöcken an den
Lehmwänden. Für einige Schweine, die gehalten werden, ist draußen im
Tuff des Talhangs eine kleine Höhle gegraben; das Rindvieh aber und die
Schafe bleiben Tag und Nacht in der Páramowildnis. Das Ganze ist eine
so primitive Behausung, daß dagegen eine tiroler Sennhütte für eine
komfortable Villa gelten kann. Und luxuriös ist das Leben eines Senners
jenem der Páramobewohner gegenüber.

So sieht es in allen Tambos, Hatos und Vaquerias (Hirtenhütten) aus,
die ich in Hochecuador gesehen habe. Ich ließ gleich unsere Zelte vor
der Hütte am Bachufer aufstellen und überließ den Tambo den Arrieros
und Peones.

Während Herr Reschreiter sich ans Zeichnen und Malen machte, ließ ich
mich von meiner braven Mula in das hier an der Südflanke des Chimborazo
emporsteigende Curipoquiotal bis auf eine alte Moräne bei 4350 Meter
hinauftragen. Dort hört der Graswuchs, das Pajonal, auf und überläßt
der merkwürdigen äquatorial-alpinen Andenflora das rauhe Terrain.
Zwischen den zerstreut wachsenden, halbmannshohen, schuppenblättrigen
und orangerot blühenden Chuquiraguasträuchern hindurch, über Tausende
von kleinen violetten und zinnoberroten Gentianen, von gelben
tannenreisförmigen Loricarien, edelweißartigen Culcitien usw. stieg
ich auf den rutschigen Schutthängen der alten und dann der jungen
Moränen bis an die Eisgrenze empor, allmählich die Vegetation hinter
mir lassend. Das Eis ist weit von dickem Moränenschutt bedeckt, aber an
mehreren Stellen unschwer zugänglich.

Vom rezenten Moränengürtel zieht sich die alte Moräne gleich
einem Lava- oder Schlammstrom in das Curipoquiotal hinab, und die
Eingeborenen nennen auch diese sowie die meisten anderen Moränenwälle
ihrer Berge »Volcanes« wie die ihnen äußerlich oft täuschend ähnlichen
wirklichen Lavaströme.

Die Firnregion des Berges hatte sich von Mitte des Nachmittags an in
schwere Wolken gehüllt, die immer tiefer sanken. Gegen Abend fing es an
zu regnen, und in der Nacht folgte ein kurzes Gewitter, dessen Guß wir
in unseren Schlafsäcken mit Behagen auf das Zeltdach prasseln hörten.
Der ringsum geschlossene Canvasboden des Zeltes hielt vollkommen
wasserdicht, so daß wir mit Ruhe den weiteren Stürmen der nächsten
Woche entgegensehen konnten. Der Morgen war naß, kalt, nebelig, windig;
man kannte das sonnige, ruhige Tal vom vorigen Mittag kaum wieder.

Unser Pfad, der uns um die ganze _Westseite_ des Chimborazo über das
große Sandfeld nach dem Gehöft Cunucyacu im Nordwesten des Berges
führen sollte, klettert westlich von Totorillas erst durch abscheuliche
Hohlwege empor und mündet dann plötzlich ohne merklichen Übergang in
eine total veränderte Landschaft, in die Wüste des »_Arenal grande_«:
auf der ganzen Westseite des Chimborazo von der Schneegrenze an bis
meilenweit nach Westen hinunter eine leicht abfallende, wenig gewellte,
öde, steinige Fläche. Nichts mehr von der Hügellandschaft der grasigen
Páramos der Süd- und Ostseite des Berges mit ihrem großartigen
Gletscherhintergrund, sondern ausgeebnete, graue Flächen von Bimsstein,
vulkanischem Sand und vulkanischer Asche in trübseliger Monotonie.

Ein paar Trockentäler sind in die Bimssteinplatten eingefurcht, aber
sie haben nur bei starken Gewitterregen oder Schneeschmelzen für kurze
Zeit etwas Wasser. Die intensive Sonnenstrahlung, die Wasserlosigkeit
und Öde des Bodens, die ausgeglichene Oberflächengestalt des Geländes,
die enorme Trockenheit und Klarheit der Luft, die Zwerghaftigkeit
der weit zerstreuten Pflanzen, das Fehlen von Tieren und Menschen:
alles vereinigt sich zum Bilde der _Wüste_. Die Pflanzen sind den
Extremen des Wüsten- und Hochgebirgsklimas zugleich angepaßt, denn
sie müssen sich ebenso gegen übermäßige Insolation, ausdörrende Winde
und Sandwehen wie gegen Schnee und Nachtfrost schützen. Die einen
schmiegen sich als einfache Rosetten platt an den bei Sonnenschein
wärmenden Boden, andere hüllen sich in einen hellgrauen Haarpelz wie
unser Edelweiß, wieder andere verdicken ihre Oberhaut zu einem wenig
durchlässigen Panzer, alle aber reduzieren möglichst ihre Atmungs- und
Verdunstungsorgane und strecken desto riesigere Wurzeln in den Boden
aus, um das spärliche Naß zu suchen. Von den meisten Arten stehen die
Individuen in niedrigen runden Büscheln dichtgedrängt beisammen, um
einander Schutz gegen den trockenen Wind und die Kälte zu bieten. Die
Landschaft ist gleichsam betupft mit solchen Polstern, die von fern wie
graue oder grellgrüne Maulwurfshaufen aussehen.

Da wir jetzt im Juni zur eigentlichen Blütezeit durch diese alpine
Wüstenlandschaft reiten, strahlen uns von allen ihren Blütenpflanzen,
von Gentianen, Valerianen, Senecien, Wernerien, Malvastren, Baccharis,
Arenaria, Alchemilla, Lupinus und anderen Tausende zierlicher weißer,
gelber, roter, violetter Blumen entgegen, die in ihrem Kontrast zu der
wüstenhaften Umgebung dem Landschaftsbild einen unbeschreiblichen Reiz
verleihen.

Der Wind weht kalt, steif und regnerisch aus Südosten hinter uns
her, so daß wir uns in unsere Gummiponchos hüllen und die Kapuzen
überklappen. In den Invierno-Monaten (November bis Mai) liegt hier oft
fußtief Schnee. Auch jetzt im Verano vergehen nur wenige Tage ohne
Schneefall, aber die weiße Decke verschwindet schnell wieder. Der
Reitweg ist hart wie eine Tenne und zieht sich, wie immer in Ecuador,
in einem halben Dutzend nebeneinanderlaufender Pfade dem Ziele zu.
Vom Chimborazo ist bis gegen 10 Uhr in den dunklen Wolkenmassen keine
Spur zu sehen. Nach links dagegen wird zuweilen unter der dicht über
uns lastenden Wolkendecke weg der Ausblick in das ferne sonnige,
dunkelwaldige Bergland der Chimborazokordillere frei, zu der unsere
Hochebene allmählich absinkt.

Den höchsten Punkt (4450 Meter) unseres Wegs erreichten wir um
Mittag bei einem Steinhaufen von Lapilli, schlackigen Bomben und
Bimssteinbrocken, auf dem fromme Furcht vor Sturm und Verderben ein
kleines Holzkreuz errichtet hat. Ein paar zerfallene Eselgerippe in der
Nähe mahnen »~memento mori~«. _Cruz alta_ heißt der Punkt.

Von hier trat ein schneller Wetterwechsel ein, da wir in den
Windschatten des Chimborazo getreten waren. Der heftige Südostwind,
der uns bisher von hinten getrieben hatte, und das Nebelwehen hörten
auf, und zu unserer Rechten wurden in großer Klarheit die Fels- und
Eiswände des West-Chimborazo sichtbar. Der Berg ist hier, auf der
Mitte der Westseite, die wir ganz überblicken, gar nicht wieder zu
erkennen. Er hat sich in einen breiten Kegel mit einer einzigen runden
Kuppel verwandelt: eine wahre Schulform eines schneebedeckten Vulkans.
Diese Kuppel ist der von einem felsigen Unterbau getragene domförmige
Westgipfel, hinter dem die übrigen Gipfel versteckt liegen. Von
Südwesten her sehen wir einen mit einigen bizarren Türmen und Nadeln
besetzten Felsgrat zum Unterrand des großen Firndoms hinaufziehen.
Wo der Grat endet, hängen rechts und links zwei von den oberen
Eisbrüchen genährte Gletscher in ihre Täler herab, die beiden einzigen
der Westseite; im Südwesten der »Trümmergletscher«, im Westen der
»Thielmanngletscher«. Nach Nordwesten aber läuft ein langgestreckter
Grat mit felsiger Schneide zum Arenal herunter, der oben im Firngewölbe
des Westgipfels verschwindet. Zerfetzte graue Wolken jagen um die
dunkelbraunen Felsen und die wunderbaren blaugrünen Eisschründe der
Westseite des Berges, und darüber blitzt das äquatoriale Sonnenlicht
auf den weißen Schneefeldern des Westgipfels, daß die Augen sich
geblendet abwenden.

Je weiter wir nach Norden reiten, desto ungestümer bläst uns wieder
der Ostwind, gegen den uns der Chimborazo eine Zeitlang geschützt
hatte, seitlich von vorne an. Zwei Stunden haben wir uns mühsam um die
Nordwestseite des Chimborazo herum durch ein vom Wind wild und wüst
verwehtes Gebiet durchzuschlagen; _Tiupongo_ heißt es. Der vulkanische
Sand ist hier in den Mulden der weiten Bodenwellen zu langen Dünen
angeweht, auf denen Mensch und Tier nur schwer vorwärts kommen. Es ist
ein Stapfen, Rutschen und Wälzen wie in tiefem, pulvrigem Schnee. Der
uns nun von vorn packende Ostwind peitscht uns den Sand wütend ins
Gesicht, so daß wir die Augen mit Schneebrillen schützen müssen.

Als wir durch dieses Dünengewirr allmählich auf die _Nordwestseite_
des Berges kamen, steckte dieser bereits wieder in dicken, düsteren
Wolken, die unaufhörlich von Nordosten heranströmten. Darunter aber
guckte eine lange, flache Eiszunge hervor, deren Stirn ein mächtiger
Moränenkegel umgrenzt: das Ende des »Stübelgletschers«. Bald danach
betraten wir endlich wieder grasigen Páramoboden und erreichten an
einem klaren, kalten Wasserlauf den kleinen Hato Poquios (4087 Meter)
im Tal von Cunucyacu, die Nordostgrenze der Sandwüste Tiupongo und des
Arenal grande. Von hier führt im Bachtal der Pfad nach der _Hacienda
Cunucyacu_ hinunter, wo wir gegen Abend im neuen »Herrenhaus« unter
einem großen Strohdach vier rohe fensterlose Lehmwände und einen mit
trockenem Páramogras beschütteten Lehmfußboden als Fremdenzimmer
bezogen.

Die Hacienda Cunucyacu, das Standquartier für unsere Besteigungen und
Untersuchungen der Nordgletscher des Chimborazo, ist mit 3759 Meter die
höchstgelegene Hacienda an der Nordseite des Berges. Wir sind zwar hier
ziemlich fern von ihm – zweieinhalb Stunden flotten Reitens bis zum
Fuß, und in Luftlinie zirka 15 Kilometer zum Gipfel –, aber wir haben
keine andere Wahl. Auf der ganzen West- und Nordseite des Chimborazo
ist es oberhalb 3000 Meter die einzige menschliche Siedlung, wo für
uns, unsere Leute und Karawanentiere genügende Nahrung und Unterkunft
zu finden ist. Sonst gibt es auf der Nordseite zwar noch ein paar zu
Cunucyacu gehörende einsame, dem Bergfuß nähere Hirtenhütten oder
Vaquerias, z. B. den Hato Pailacocha (4266 Meter), aber dort ist
bestenfalls ein Trunk saurer Schafmilch zu haben, und das ganze übrige
Gebiet bis zum Tambo Chuquipoquio am Ostfuß des Gebirges, so groß wie
mancher deutsche Kleinstaat, ist unbewohnt, menschenleer und nur von
einigen halbwilden Schaf-, Lama- und Rinderherden durchstreift, die
sich in den rauhen Páramos ihre Nahrung und ihr Nachtlager selbst
suchen müssen. Überall nur fahles, steifes Páramogras oder Sumpf oder
Sand und vulkanischer oder glazialer Gesteinschutt, nirgends ein Baum
oder Busch.

Bloß neben der Hacienda Cunucyacu, die sich wohlweislich gerade da
hingelagert hat, wo das Hochtal des Pucayacubaches (~puca~ = rot,
~yacu~ = Wasser) sich zu einem ziemlich tiefen geschützten Kessel
erweitert, grünt es innerhalb einer Umfriedigung (Potrero) frisch
von Alfalfa (Luzerne) für das Jungvieh und von Kohl für den Haushalt
des Mayordomo. Aber sonst ist die Hacienda in schlimmem Zustand.
Wohnhaus, Gesindehaus und Ställe sind vor einem halben Jahr ein Raub
der Flammen geworden – was diesen größtenteils aus trockenem Páramogras
aufgeführten Baulichkeiten alle paar Jahre einmal zu passieren pflegt
– und die ausgebrannten Grundmauern stehen trauernd neben unserer
neuen Strohhütte. Der Mayordomo behilft sich mit einigen Strohhütten
auf den benachbarten Hügeln und erweist sich uns gegenüber als Wirt
so zuvorkommend und hilfreich, wie es ihm seine engen Verhältnisse
nur gestatten. Auch ist es in diesen gottverlassenen Gegenden von
Wichtigkeit, daß sein junges Weib außer Locro (Kartoffelsuppe) auch
noch einiges andere kochen kann, was ein genügsamer Europäer zu
genießen vermag.

[Illustration: Nordnordwestseite des Chimborazo, von der Hacienda
Cunucyacu (3800 ~m~) aus.]

Bei unserm »Herrenhaus« fand sich am nächsten Tag bald eine
Versammlung von Vaqueros (Rinderhirten) ein, die der Mayordomo aus der
Umgegend hatte zusammenrufen lassen, um mich daraus einen Führer für
die Bergtour wählen zu lassen. Lauter famose Gestalten, teils reine
Indianer, teils Halbblüter, alle von untersetzter Figur und muskulös,
alle grauenhaft schmutzig, alle in verwettertem Filzhut, Poncho und
langhaarigen Lamafellhosen und mit nackten Füßen, an welche wahre
Ungeheuer von Sporen geschnallt sind. Auf ihren kleinen struppigen,
mageren Pferden jagen die Kerle wie die Teufel über ein Terrain, vor
dessen Löchern, Rissen, Sümpfen und Steinblöcken sich ein preußischer
Kavallerieleutnant zehnmal überlegen würde, ob er seinen Gaul nicht
lieber am Zügel führen solle. Ich wählte mir einen strammen, braunen,
gutmütig dreinschauenden Burschen aus und habe meine Wahl nicht zu
bereuen gehabt. Nicolas hieß der Brave.

[Illustration: Nordseite des Chimborazo, von Paila-cocha-pungo (4266
~m~) aus.]

Von der Talsohle aus, auf der die Hacienda Cunucyacu liegt, sieht
man gar nichts vom Chimborazo. Vom obern Talrand aber hat man bei
klarem Wetter einen wundervollen Überblick über den Berg; am besten
frühmorgens und spätnachmittags. Pyramidenförmig baut sich die
Nordwestfront vor uns auf. Rechts und links ziehen zwei Steilgletscher
herab, rechts der längere »Stübelgletscher« vom Westgipfel, links
der kürzere »Reißgletscher« vom Nordgipfel, zwischen ihnen das tief
in das Bergmassiv wie ein großes Kar hineingeschnittene Kesseltal
Pucahuaico (»rotes Tal«), über dessen oberen roten Felswänden die
Eismauern des Gipfelfirns aufsteigen. West- und Nordgipfel rücken in
dieser Ansicht nahe zusammen, getrennt und zugleich verbunden durch
einen leicht gesenkten Firnsattel, über dem die weiße Kuppe des
Südgipfels, des höchsten von allen (6310 Meter), noch hindurchblickt.
Von der Ostflanke des Stübelgletschers, zwischen diesem und dem tiefen
Pucahuaico, streckt der Berg nach Nordnordwesten einen hohen langen
Fels- und Schuttkamm, die Puca Loma, wie einen riesigen Strebepfeiler
auf Cunucyacu herab aus, auf dessen Rücken man ohne wesentliche
Hindernisse bis zur Eisgrenze aufsteigen kann; diese liegt dort über
5700 Meter, höher als irgend woanders am Chimborazo, und der Übergang
auf den Firnmantel der Gipfeldome schien nicht schwierig zu sein.
Die Wahl dieser, wie auf den ersten Blick zu sehen war, direktesten
Aufstiegroute ergab sich für mich von selbst.


3. Die erste Besteigung.

Am frühen Morgen des 20. Juni, nach einer stürmischen Nacht, in der
ich an bohrendem Kopfschmerz, Herr Reschreiter an Atembeklemmungen
merkte, daß unsere Höhenanpassung noch unvollkommen war und die
Bergkrankheit (Soroche) sich anmeldete, ritten wir durch das Tal
des Pucayacu dem Chimborazo entgegen. Ich hatte sechs Lasttiere,
den geländekundigen Indianer Nicolas aus Cunucyacu und die acht in
Chuquipoquio angeworbenen Indianer mitgenommen, die weiter oben bei
Beginn des schwierigen Terrains die Lasten von den Tieren übernehmen
sollten. Auf dem flachen Talboden des Pucayacu weideten kleine Herden
von Schafen und Lamas und wurden bei unserm Nahen flüchtig. Lamas
als zahme Herdentiere in den Páramos sind immer eine sonderbare
Erscheinung, an die man sich auch bei längerm Aufenthalt nur schwer
gewöhnen kann; so sehr machen die wie Rehe oder Antilopen dastehenden,
äugenden und sichernden Tiere den Eindruck von Wild, daß sich schon
mancher erfahrene Reisende täuschen ließ.

Nach zweistündigem Ritt beim Hato Poquios (4087 Meter) angelangt, ließ
ich für uns zwei kleine Fässer mit Trinkwasser füllen, da es oben auf
dem Nordnordwestgrat keine Quellen mehr gibt. Ein kurzes Stück danach
beginnt bei 4100 Meter die starke Steigung der _Nordnordwest-Loma_
(Puca Loma) und damit im orographischen Sinn der Nordfuß des
Chimborazomassivs. Sobald wir hier den steilern Anstieg begonnen
haben, lassen wir das Grasland (Pajonal) hinter uns und treten in eine
geognostisch, klimatisch und botanisch ganz andere Landschaft ein.
Diese vom Berg ausgestreckten Steilrücken (Lomas) bauen sich teils aus
Felsleisten und -graten, teils aus zersplittertem Felsschutt, Bimsstein
und Sand auf, in dem nur wenige zähe Gewächse aushalten können. Der
Vegetationscharakter ist derselbe wie auf dem Wüstenplateau der West-
und Westnordwestseite, nur die Pflanzenarten sind weiter oben, wo die
klimatischen Extreme noch viel größer werden, andere als dort. Über
die exponierten Hänge und Kämme braust den größten Teil des Tages ein
kalter heftiger Wind, entweder als Fallwind von den Eisgipfeln des
Berges herab oder als Steigungswind vom westlichen Unterland herauf
oder als Passat von Osten her. Mit sausendem Getöse wirbeln uns dicke
Staubtromben entgegen, zum Entsetzen unserer Mulas, die jedesmal kurz
kehrtmachen und auszureißen versuchen. Wie auf dem Wüstenplateau der
Westseite weht auch hier der Wind den Flugsand zu langen welligen
und tausendfach gerippelten Dünen zusammen. Vom windgepeitschten
Flugsand geglättete und geschliffene Steine (Dreikanter) liegen in
Mengen umher. Der Wind begräbt einerseits die niedrige Vegetation im
Sand, andererseits entblößt und tötet er die Polsterpflanzen und das
Knieholz durch Deflation. Oft sehen die abgestorbenen sonnengebleichten
Wurzelstöcke aus, als seien sie künstlich herauspräpariert.

Aber die lebenden kleinen Pflanzen stehen auch jetzt hier im
Frühlingsschmuck ihrer zahllosen zarten Blüten und verleihen dem sonst
so düstern Bild einen freundlichen Schönheitsschimmer. Zu Millionen
sind in der Region zwischen 4100 und etwa 4500 Meter innerhalb des
Gesichtsfeldes die kleinen krokusartigen oder sternförmigen weißen,
violetten, purpurroten und gelben Blumen der schon genannten Arten
über die Sand- und Schuttflächen verstreut. Über dieser Region,
etwa zwischen 4500 und 4800 Meter, treten die knorrigen, niedrigen
Chuquiraguasträucher zur obersten Vegetationsformation des Berges
zusammen, nicht sowohl durch Vermehrung ihrer Individuen, als durch
Verschwinden der vielen kleinen Gewächse, die sie bis hierherauf
begleitet haben. Auch sie stehen jetzt im Flor und beleben mit ihren
daumengroßen rotgelben pinselförmigen Blüten die einsame Landschaft.
Da und dort schießen um die Blütenstände ein paar winzige Kolibris wie
Diamantblitze hin und her, grün und rot metallisch schillernde Tierchen
(~Oreotrochilus~).

Gegen Mittag rasteten wir in 4720 Meter Höhe unter einigen uns
gegen den Ostwind schützenden Felsen. Mehrere von ihnen sind vom
sandbeladenen Wind geschliffen und gefurcht, so daß man zuerst an
Gletscherwirkung denken könnte. Hier leuchtete uns aus einigen
geschützten Standorten, wo der Sandboden ein wenig feucht ist, die
merkwürdigste und schönste aller hochandinen Pflanzen entgegen, das in
einen dichten hellbraunen Haarpelz gekleidete, etwa 30 Zentimeter hohe,
großblätterige, dickstengelige ~Culcitium rufescens~, das abgesehen
von seinen fahlgelben quastenförmigen Blüten einem riesigen Edelweiß
unserer Alpen gleicht.

Unter einem stürmischen Schneegestöber, das uns den ersten hochalpinen
Gruß des im Wolkengewirr versteckten Chimborazogipfels brachte, ritten
wir steil weiter hinan über grobes Trümmergestein. Bald aber war
unserm Vordringen im Sattel Halt geboten. Die Tiere, von denen wir
abgesessen waren, rutschten in dem lockern Schutt immer wieder um die
Hälfte des Schrittes zurück, blieben nach jeden weiteren paar Metern
prustend und mit fliegenden Weichen stehen und versagten schließlich
ganz. Sie unterlagen sichtlich dem Einfluß der dünnen Höhenluft. Bei
4920 Meter ließ ich absatteln und abladen und den acht Indianern so
viel aufpacken, wie jeder schleppen konnte. Der Rest des Gepäcks blieb
liegen, um am Spätnachmittag von den Peones nachgeholt zu werden.
Von uns Weißen trug jeder seinen vollgefüllten Rucksack nebst allen
möglichen Zutaten. Während sich die Arrieros mit den Tieren schleunigst
nach Cunucyacu hinab aus dem Staube machten, mühten wir uns auf den
abschüssigen Schutthängen langsam weiter bergan; auch wir alle zwei bis
drei Minuten kurz im Stehen rastend, um der Atemnot Herr zu werden,
die jetzt in 5000 Meter bei der schweren Anstrengung und Belastung mit
Macht über uns kam. Sonstige Beschwerden von Bergkrankheit blieben noch
aus. So brauchten wir zwei gute Stunden, um 250 Meter zu bewältigen.

Mitte des Nachmittags trafen wir auf dem Rücken des Nordnordwestgrates
bei 5145 Meter auf einen einigermaßen ebenen Fleck neben einem Haufen
großer Felsblöcke, der unseren beiden kleinen Zelten einigen Schutz
gegen den stürmischen Ostwind und gegen die von den Schneegipfeln
herunterblasenden Fallwinde gewähren konnte. Der übrige Teil der
Nordnordwest-Loma bis an die Eisgrenze bei 5700 Meter lag als ein
einziger langer Schuttwall sturmfrei über uns. Also wurde in dem
geschützten Winkel das _Lager_ aufgeschlagen, die Zeltstricke
mit großen Steinen fest verankert, und was nicht in den Zelten
untergebracht zu werden brauchte, zwischen den Felsen verstaut. Während
wir zwei Europäer mit Santiago das Lager herrichteten, holten die
Peones die unten an der Abladestelle zurückgelassenen übrigen Lasten
nebst einem Vorrat von Knüppelholz herauf und trollten dann, belohnt
durch einen Extraschnaps, mit dem Befehl von dannen, uns in zwei Tagen
wieder abzuholen. Bei uns im Lager blieb außer dem unvermeidlichen
Santiago nur der in Cunucyacu angeworbene Indianer Nicolas.

Kaum hatten wir unsern Unterschlupf fertig, als es von Osten her so
stark zu wehen und zu schneien begann, daß an weitere Unternehmungen
fürs erste nicht zu denken war. Wir hockten und lagen den Rest des
Nachmittags im Zeltchen, tranken Tee, rauchten, schrieben Tagebuch
und plauderten. Als es am Abend klarer wurde, hatten wir etwa 15
Zentimeter Neuschnee um uns, und nach oben hin war am Berg noch viel
mehr gefallen. Dort oben aber sahen wir jetzt anstatt des westlichen
Schneedoms eine ungeheuere helle runde Wolkenhaube, die vom Oststurm
fortwährend nach West gejagt wurde und sich von Osten her immer wieder
über den Schneegipfeln erneuerte.

In der Nacht stellte sich auch in unserer Region der Oststurm wieder
ein, und zwar mit verdoppelter Gewalt und mit Schneetreiben; zornig
stieß und riß er an unseren Zelten, »denn die Elemente hassen das
Gebild von Menschenhand«. Wir mußten mehrmals in die schneidige
schneeige Kälte hinaus, um die gelockerten Zeltstricke neu zu
verankern. Zum Schlafen kamen wir nur wenig, denn sobald wir uns zur
Ruhe ausstreckten, begannen die Nöte der Bergkrankheit, des »Soroche«,
uns zu quälen. Um die Lungen zu erleichtern und das Herz zu beruhigen,
mußten wir uns immer wieder aus der gestreckten Lage halb aufrichten
und in tiefen Atemzügen den geringen Druck und Sauerstoffgehalt der
Luft unserer 5145-Meter-Höhe zu paralysieren suchen.

Gegen Morgen stand das Thermometer auf 5½ Grad unter Null, und das
in unseren Metallbechern im Zelt stehengebliebene Wasser war zu
Eisklumpen gefroren. Das Wetter blieb sich gleich. Der eisige Ost
heulte nach wie vor und trieb den am Vortag gefallenen Schnee in langen
fliegenden Fahnen über unsern Grat. Oben über der Gipfelregion zog
noch immer die runde, breite, weiße Wolkenmasse eilig dahin. Unter
diesen Umständen mußten wir uns mit einer bloßen Rekognoszierung auf
unserm Grat hinauf begnügen, die uns in drei Stunden bis an die großen
»Roten Nordwestwände« (5715 Meter) brachte und uns zeigte, daß dort
der Übergang auf den Firn des Stübelgletschers mit Steigeisen gut
ausführbar war.

Als wir am folgenden Morgen (22. Juni) gegen 6 Uhr zur _Besteigung_ des
Westgipfels aufbrachen, der sich noch 1000 Meter über uns wölbte, war
der Neuschnee großenteils weggeblasen und weggetaut, aber der Ostwind
stürmte noch und machte uns das Steigen in dem losen, steilen Schutt
sehr sauer. Besonders Santiago, der ebenfalls einen vollen Rucksack
tragen mußte, klagte über Kopf- und Ohrenschmerzen, Atmungs- und
Herzbeschwerden und hinkte stöhnend hinterher. Besser ging es, als wir
vom Schutt auf die Schneefelder kamen, die noch auf der obern Strecke
unserer Loma lagen. Der Indianer Nicolas zögerte erst vor dem Betreten
des Schnees, da er nur seine gewohnten Bastsandalen (Alpargatas) über
einem Paar meiner Wollstrümpfe trug. Aber eine Prämienzulage gab den
Ausschlag, und er hat sich nicht den mindesten Schaden getan; eine
unerhörte Abhärtung.

Die Schneehänge waren hier in lauter schmale, flachkonkave Stufen
von Handbreite wie die »Schneegangeln« unserer Berge gegliedert,
die ziemlich horizontal von Ost nach West, also fast senkrecht zum
Neigungswinkel des Berghanges verliefen und uns, da der Schnee jetzt
fest gefroren war, das Steigen wie auf Treppen erleichterten. Dank
ihnen erreichten wir trotz des stürmischen Windes schon nach zwei
Stunden den Fuß der großen »Roten Wände«, wo der Übergang auf den
Firndom des Westgipfels beginnt.

Auf den »Roten Wänden« lagert die gewaltige Firn- und Eisdecke des
Gipfeldoms mit senkrechten, sechzig und mehr Meter hohen Abbruchmauern,
an denen die Schichtung des Schnees und die Bänderung des Eises zutage
tritt, wie die Lagen und Bänke der Laven und Agglomerate an den unter
den Eiswänden abstürzenden Felshängen. Die beiden großen Massen
werden äußerlich miteinander durch die gefrorenen Schmelzwasser, die
riesengroßen Eiszapfen, Eisstalaktiten und Eisstalagmiten verbunden,
die, 50 bis 60 Meter lang und 10 bis 15 Meter dick, über die Wände
herabstarren: ein Bild von grotesker Großartigkeit.

Unsere beiden Begleiter kehrten hier, in 5715 Meter Höhe, zum Zeltlager
zurück. Westlich vor uns lag jetzt der Oberteil des Stübelgletschers,
der bergauf in den Firnmantel des Westgipfels übergeht. Der Übergang
auf den Firnhang war mit unseren Steigeisen nicht besonders schwierig.
Fernerhin trafen wir nur an wenigen Stellen auf ausgeapertes Eis;
meist hatten wir eine gut tragende, von der Sonne schalenförmig
angeschmolzene Firnschicht unter den Füßen, ganz ähnlich den
Schneehängen, über die wir heraufgekommen waren. Das war der Anfang
eines Schmelzprozesses, der, wie wir sieben Wochen später sahen, bei
Fortdauer der nämlichen schmelzenden Faktoren allmählich die Firn- und
Eisdecken zu den wunderlichen, wilden Formen des »Nieve penitente« oder
»Zackenfirns« ausgestaltet, der uns bei unserer spätern Besteigung die
allergrößten Schwierigkeiten bereitete. Auf diesen welligen Firnfeldern
traversierten wir nun nach Westen hinüber, weil ich mutmaßte, daß wir
es dort mit weniger steilen Abhängen zu tun haben würden. Dies war
jedoch ein Irrtum. Es dauerte nicht lange, so gerieten wir in eine
Zone kolossaler Spalten, die uns Halt geboten. Bei einer Breite von
20 bis 30 Meter erreichen sie eine Tiefe von mehr als 150 Meter, ohne
den Felsgrund zu treffen. Durch mannigfache Querklüftung sind Eistürme
von 50 bis 60 Meter Höhe stehengeblieben, aber meist schief und
bereit, jeden Augenblick auf die tieferen Partien des Stübelgletschers
hinunterzustürzen, wo ihre Trümmer massenhaft angehäuft sind. In
wunderbarer Schönheit hebt sich in den gigantischen, von blitzendem
Sonnenlicht übergossenen Massen die weiße und hellblaue Schichtung
und Bänderung des Firnes und Firneises ab, hier und da getrennt durch
dünne Staubschichten, die, soweit es nicht Verwitterungsstaub ist,
wohl teilweise vom immer tätigen Sangayvulkan, zum Teil auch vom
Cotopaxi stammen. Nur in den tieferen Lagen, 20 bis 30 Meter unter der
Oberfläche, kommt ein dunkelblaues, dichtes Gletschereis zum Vorschein.

Vom Unterland war aus unserer großen Höhe von fast 6000 Meter nichts zu
sehen; es war verdeckt durch ein unabsehbares weißwelliges Wolkenmeer,
das langsam aus Westen nach Osten hinwallte und nur selten den
rötlichen Bergfuß durchschimmern ließ. In unserer Region aber wehte
aus entgegengesetzter Richtung der übliche Ostpassat der Höhe, und
zwar oben mit noch stark zunehmender Heftigkeit; denn über den Gipfel
weg fluteten die Nebel in geschlossener runder Masse, einem ungeheuern
weißen Wasserfall gleich, auf die Westseite zu uns herab, wo sie sich
nahe über uns in scheinbares Nichts auflösten. Das ganze Phänomen ist
von föhnartigem Charakter und sehr ähnlich dem sogenannten Tafeltuch
auf dem Tafelberg bei Kapstadt, wo ich es vor Jahren tagelang in
schönster Entfaltung beobachten konnte.

Nach Westen gab es für uns wegen des Spaltenlabyrinthes kein
Weiterkommen. Also schwenkten wir direkt auf den steilen Gipfelhang
ein, der hier über 40° Neigung hat. Dank unseren Steigeisen brauchten
wir nur wenig Stufen zu schlagen. Trotzdem begann infolge des
abnehmenden Sauerstoffgehalts und Luftdrucks in der 6000-Meter-Höhe das
Steigen uns beiden sehr schwer zu werden. Wir mußten alle zehn Schritt
einige Sekunden pausieren, um die Lungen wieder aufzufüllen und den
übermäßigen Herzschlag zu beruhigen. Unseres Willens aber bemächtigte
sich, ohne daß wir uns körperlich ermüdet fühlten, eine eigentümliche
Erschlaffung, deren Überwindung die höchsten Anforderungen an den
Intellekt stellte. Nur in so großen Höhen von 5000 bis 6000 Meter
habe ich an mir und anderen diese nervöse Energielähmung erlebt, die
zweifellos mit der Sauerstoffverminderung zusammenhängt. Wie früher auf
dem Kilimandjaro, so wiederholte sich diese Erfahrung später auf dem
Cotopaxi.

Langsam ging es so bis zu etwa 6050 Meter hinauf. Da tat sich vor uns
eine breite Eiskluft auf, die die ganze Westseite des Gipfels umspannte
und, wo wir auch den Versuch machten, keine haltbare Überbrückung bot.
Hier ging es mit menschlichen Kräften nicht weiter. Zum Suchen einer
neuen Anstiegsroute von der Eisgrenze aus reichte aber die Zeit nicht
mehr hin; es war 2 Uhr vorüber, und die Nebel wurden immer dichter.
Schweren Herzens mußten wir deshalb, 200 Meter unter dem Gipfel, den
Entschluß zur Umkehr fassen. Wir brachten noch eine halbe Stunde mit
Untersuchen der Firn- und Eisstruktur in dieser Höhe, mit Messen,
Skizzieren und Photographieren nützlich hin und traten dann den
Rückzug an. Der Abstieg ging, wie immer auf gutem Firn, sehr rasch.
Eine Stunde später schnallten wir bei den Felswänden an der Eisgrenze
unsere Steigeisen ab und rutschten im losen prasselnden Schutt auf der
Nordwestloma zu unseren Zelten hinunter.

Bald nach unserer Rückkunft ins Lager steckte der obere Berg wieder
ganz in einem wildbewegten Wolkenchaos, und die Nacht bescherte uns
einen neuen kräftigen Schneefall, der, bis zum Morgen andauernd, alle
weiteren Unternehmungen in den oberen Regionen für die nächsten Tage
vereitelte. Und da die Peones, die am Vormittag, wie verabredet,
heraufkamen, um uns eventuell abzuholen, einmütig erklärten, sie
würden bei so schlechtem Wetter nicht noch einmal heraufsteigen, ließ
ich das Lager in der Hoffnung abbrechen, daß wir es ein paar Wochen
später mit Wind und Wolken besser treffen würden. Was wir diesmal
von Wind und Schnee und Eis, von Gesteinen und Pflanzen und anderen
interessanten Dingen hier oben gesehen, untersucht und gesammelt
hatten, lohnte ja auch schon die Mühe.

Eine Entschädigung für die total vernebelte Aussicht nach oben gewährte
uns aber vor unserm Aufbruch das unvergleichliche _Panorama_, das sich
unter uns in der abgeschneiten, kristallklaren Atmosphäre nach Osten
und Norden hin öffnete. Vom Cayambe im Norden bis zum Cerro Altar
im Osten standen sie alle, die Schnee- und Eisriesen Hochecuadors,
im milden Glanz der Morgensonne in langen Reihen vor uns, lauter
Viereinhalb- und Fünf- bis Sechstausender. Ich nenne das Panorama
unvergleichlich, nicht um damit einen Superlativ des Eindrucks
auszusprechen, sondern weil diese hochandine Vulkanlandschaft Ecuadors
so eigenartig ist, daß keine andere, auch nicht im übrigen Südamerika,
mit ihr verglichen werden kann. Im Gegensatz zu einer europäischen oder
asiatischen Alpenlandschaft mit ihren zusammenhängenden Gebirgsketten
und langen, von ewigem Schnee bedeckten Firsten und Kämmen sehen wir
hier lauter große, meist kegel- oder pyramidenförmige Einzelberge,
die durch Intervalle von viel größeren Dimensionen, als sie die
Berge selbst haben, voneinander getrennt sind und nur von sehr
günstigen Standpunkten aus die riesigen Reihen erkennen lassen, zu
denen sie angeordnet sind. Dem großen Bild mangelt nicht bloß die
Mannigfaltigkeit der Formen und die reiche Bewegtheit der Linien,
die ein Faltengebirge wie die Alpen oder den Kaukasus so reizvoll
machen, sondern auch der belebende Wechsel von schneeigem und felsigem
Hochgebirge mit dunklen Wäldern, grünen Weidetriften und freundlicher
Kulturstaffage, die wir nur selten in einer Alpenlandschaft vermissen.

Diese ecuatorianische Andenlandschaft ist von erhabener Schönheit
durch die große Einfachheit ihrer Gestalten, durch die klassische
Ruhe ihrer Linien, durch die ungeheuere Weite ihrer Ausdehnung, durch
den tiefen Ernst ihrer gleichmäßigen, meist düstern Farbenstimmung
und ihrer unendlichen Einsamkeit. Wie die Steppe oder die Wüste
ist sie aber als Ganzes durchaus unmalerisch und kann deshalb auch
als Ganzes vom Maler nicht in ihrer Erhabenheit wiedergegeben
werden. Um die Größe der Natur zu bewältigen, muß die Kunst auch in
diesem Fall zusammenfassen, verallgemeinern; sonst muß sie sich mit
Ausschnitten, mit Teilen begnügen. Und solche Teile sahen wir auch
dort von unserer alles überragenden, hohen Warte im berückenden Zauber
malerischer Beleuchtungen und Wolkeneffekte. Wenn ich aber das Ganze
überschaute, wie da die violettbraunen, weißgipfeligen Pyramiden und
Kegel bis in unabsehbare Ferne emporragten über das flache hellgraue
Wolkenmeer, das allmählich alle dazwischenliegenden Ebenen und niederen
Berggruppen verdeckte, so hatte ich den Eindruck einer großen polaren
Insellandschaft und dachte an die eisbeladene Vulkaninsel Jan Mayen und
an Bilder aus dem Kurilen-Archipel.

Das herrliche Schauspiel dauerte kaum eine Viertelstunde, dann zogen
die Ostnebel, von den Firnhörnern des nahen, mit Neuschnee völlig
überzuckerten Carihuairazo herüberwogend, den Vorhang wieder zu, und
wir eilten unsern Leuten nach, die inzwischen mit den Zeltballen,
Blechkoffern und Kasten bergab gerannt waren, wo an dem früheren
Wechselplatz (4920 Meter) die Arrieros mit den Maultieren uns
erwarteten.

       *       *       *       *       *

In Cunucyacu gab es bis in die Nacht hinein viel Arbeit mit dem
Verpacken der Sammlungen, Neuordnung der Lasten, Revision der
Instrumente usw. Aber am nächsten Morgen war die Karawane schon wieder
fix und fertig auf den Beinen, um der _Nordseite des Chimborazo_ einen
Besuch abzustatten, wo der Reiß- und der Sprucegletscher schon längst
aus der Ferne mein Interesse erregt hatten. Unser Führer war wieder der
junge Indianer Nicolas.

Das Wetter war nebelig und regnerisch. Je näher wir dem Carihuairazo
und der Gegend des ob seiner Stürme berüchtigten Abraspungopasses
kamen, desto kälter sauste uns wieder der Wind von Osten entgegen.
Schweigend und bis über die Ohren in die Regenponchos eingehüllt,
ritten wir einer hinter dem andern auf dem kaum fußbreiten, tief
ausgetretenen Pfad durch den triefnassen Graspáramo hinan.

Bei einigen am sumpfigen Weiher _Pailacocha_ liegenden Grashütten, die
mit 4266 Meter Höhe die _höchstgelegene Ansiedlung_ (Hato) am ganzen
Chimborazo darstellen, ließ ich die Karawane mit den Arrieros zurück,
ordnete das Aufschlagen der Zelte an und ritt, da es noch ziemlich früh
am Tag war, mit Herrn Reschreiter und dem Indianer Nicolas zum Nordhang
des Chimborazo fort, wo uns der Reißgletscher entgegenleuchtete.
Gleich hinter unserm Lagerrücken geht es leicht hinab in ein weites,
wannenförmiges, grasiges Tal, das Pailacuchu, das zum Berg hin in ein
mehr steiniges, flachsohliges Tal mit amphitheatralischem Talschluß
übergeht, das Sancharumi. Runde, flache Hügel und lange niedrige
Bodenwellen, großenteils mit Azorellapolstern bewachsen, aber an vielen
Stellen auch den nackten, typischen Moränenschutt darunter hervortreten
lassend, ziehen über den Talgrund hin; lange und kurze Wälle von Schutt
liegen an und auf den felsigen Seitenrücken des Tals, die es von den
Nachbartälern trennen, und an den Felsen der östlichen Tallehne bei
4496 Meter entdeckte ich bald eine vom Gletscher abgeschliffene und
geschrammte Wand. Das ganze Tal, das eine mittlere Höhe von 4300 Meter
hat, ist ein altes Gletscherbett; es zieht sich nordostwärts in der
Richtung zum Abraspungopaß hin und hat einst seinen eisigen Inhalt
allem Anschein nach dem großen Gletscher zugeführt, der zwischen
Chimborazo und Carihuairazo nach Osten hinabfloß. Im Hintergrund dieses
Sancharumi-Tales ragt die Zungenspitze des Sprucegletschers herein.

Zum Sprucegletscher ging aber nicht mein Weg, sondern in das höhere,
westlichere Nachbartal hinauf, in dessen Talschluß der breite, steile
_Reißgletscher_ seine beiden Zungen hineinstreckt. Er nährt sich teils
von den Firnmassen des Norddoms, zum kleinern Teil vom Westgipfel,
dessen Firnpanzer 1000 Meter über dem Gletscherende am Oberrand der
nördlichen Felswände abbricht und die abgebrochenen hausgroßen Blöcke
in einem einzigen Sprung auf die Gletscherzunge hinunterstürzen läßt,
wo sie, in Millionen von Splittern zerberstend, die Gletschermasse
vermehren.

Wir reiten über enorme alte Moränenmassen, die das Reißtal zum größten
Teil erfüllen, dem Gletscher entgegen. Die farbenreiche, reizvolle
Flora der obersten alpinen Zone, die uns so oft schon entzückt hat,
begleitet uns auch hier bis zu etwa 4800 Meter hinauf, wo die
jungen Moränen beginnen. Auch hier schwirren blitzende Kolibris um
die honigreichen Chuquiraguasträucher und »stehen« mit vibrierenden
Flügeln vor den Blüten in der Luft wie Nachtfalter. Kaum 100 Meter
über uns ziehen zwei Kondore ihre großen Spiralen und spähen nach
einem gefallenen Stück Vieh oder nach einem achtlosen Andenhasen. Ein
kleiner Bach, Tarugayacu, fließt von der Stirn des Reißgletschers ab;
alles übrige Schmelzwasser, soweit es nicht schon auf dem Gletscher
verdunstet, versickert schnell im Moränenschutt und kommt erst 600 bis
800 Meter tiefer auf festem Gestein wieder zum Vorschein.

[Illustration:

            Paul Großer 1902.

Nordnordostseite des Chimborazo. Vorne alte Glaziallandschaft (4300
~m~).]

Während hier Herr Reschreiter zurückblieb, um trotz der Regenschauer
und der Schneewirbel ein Temperabild des Gletschertals und der
Eiszunge zu malen, kletterte ich mit dem immer bereiten Indianer
Nicolas über die verwünscht rutschigen, jungen Moränenhügel und
-halden noch über 300 Meter hinauf zum Gletscher selbst. An der
Gletscherstirn (5101 Meter) kommt der Abflußbach nicht aus einem
Gletschertor hervor, sondern in mehreren kleinen Wasserfäden aus
verschiedenen Teilen des der Grundmoräne aufliegenden Eisbodens. Sein
Wasser ist von der Grundmoräne der rotbraunen Laven rötlich gefärbt,
weshalb er Pucayacu (Rotwasser) genannt wird. Rotbraun ist auch die
ganze Stirn der Gletscherzunge bis zu 100 Meter höher hinauf vom
auflagernden Moränenschutt. Diese satten Farbentöne vereinen sich mit
dem Silbergrau des Gletschereises, dem reinen Weiß der Firnhänge, dem
tiefen Blau des Hochgebirgshimmels und dem millionenfachen Flor der
kleinen Gebirgsblumen zu einem wundervollen Bild andiner Symphonie und
Harmonie.

[Illustration: Westseite des Carihuairazo, vom Abraspungo (4500 ~m~)
aus.]

Nach stundenlangem Zeichnen, Malen, Messen, Photographieren, Sammeln
kamen wir bei Sonnenuntergang totmüde ins Lager zurück und merkten
in unserm festen, kleinen Zelt und in den warmen Schlafsäcken nicht,
daß es in der Nacht stürmte, regnete, hagelte, schneite, bis die
Morgensonne dem Aufruhr ein Ende machte. Bei schönster Beleuchtung
konnte ich den jetzt absolut wolkenlosen nördlichen Chimborazo ein
halbes dutzendmal photographieren und vieles sehen und messen, was am
Tag vorher unsichtbar gewesen war. Auch der Carihuairazo (5106 Meter)
stand einige Minuten ganz frei vor uns und überraschte mich vor allem
durch die außerordentlich große Ausdehnung des Firnmantels seiner
Südwestseite.

[Illustration: Zeltlager (5145 ~m~) auf der Nordnordwest-Loma des
Chimborazo.]

Als wir zum _Abraspungo_ aufbrachen, um über den Paß und durch das
Abras-Tal nach dem Städtchen Mocha am Ostfuß des Carihuairazo zu
gelangen, rüstete sich der Wetterhimmel bereits, uns auf der Paßhöhe
würdig und landesüblich zu empfangen. Über den obern Chimborazo legte
sich wieder eiligst von Osten her die bekannte weiße Sturmwolkenhaube.
Auch vom Carihuairazo kamen die dicken Nebel wie Sturzbäche herüber-
und heruntergeströmt, und bald brausten die kalten Ostwinde mit Nebel,
Regen und Schnee über den Paß und über uns selbst, daß uns Hören und
Sehen verging. Den ganzen Tag kämpften wir dem Hundewetter entgegen,
bis wir aus dem Abras-Tal in die Páramos der Ostseite hinabkamen; ein
böses Stück Arbeit für uns und ein noch böseres für unsere Tiere.

Der Abstieg durch das Abras-Tal nach Osten ist viel steiler als der
Anstieg auf der Westseite zum Abraspungo-Paß. Ohne den ortskundigen
Indianer Nicolas wäre uns ein Durchkommen ganz unmöglich gewesen.

Eine Zeitlang führte unser Pfad auf offenbaren Moränenhügeln jüngern
Alters entlang, und wo er an anstehendem Gestein vorbeiging, waren
die Felsen gletschergeschliffene Rundhöcker; aber das unsichtige
Regen- und Nebelwetter verbot jeden Einblick in die weitere Umgebung.
Und bald verlangte auch der Weg selbst – wenn man diesen von braunen
Regenbächen durchrauschten, steilen, steinigen oder lehmigen Graben,
in dem wir ritten oder zu Fuß fortstampften, einen Weg nennen will –
unsere ganze Aufmerksamkeit. Alle Augenblicke rutschten die Tiere auf
den glitschnassen, lehmbedeckten Steinblöcken aus und setzten sich mit
der Hinterhand ins Wasser, oder sie sanken bis an den Bauch in den
zähen Morast und blieben stecken, bis wir ihnen zu viert mit Ziehen,
Schieben und notgedrungen unbarmherzigen Hieben heraushalfen. An Reiten
war da nicht mehr zu denken, und unser Aussehen spottete bald aller
Beschreibung. Die Arrieros mit den Lasttieren blieben immer weiter
hinter uns zurück.

Nach Überwindung einer unter solchen Umständen lebensgefährlichen
Steilstufe betraten wir endlich bei 4160 Meter festen grünen Talboden
und kamen, nun wieder im Sattel, rascher vorwärts. Auch die Regen- und
Nebelschleier wurden lichter; bald erschien freundlichere Vegetation,
vereinzelte niedrige, mit Bartflechten behangene Bäume und Sträucher
von Berberitzen und Fuchsien, die jetzt sämtlich Blüten trugen. Trotz
der alpinen Zwerghaftigkeit wachsen die Pflanzen hier auf der immer
feuchten östlichen Passatseite doch viel üppiger als drüben auf der
westlichen Leeseite des Berges. Mehrere Wildbäche brausen von links
(Carihuairazo) und rechts (Chimborazo) dem Abrasbach zu, der allmählich
zu einem »Rio« anschwillt. Sie kommen in Wasserfällen über die steilen
Seitenwände des Tals herab, das die typische Trogform eines übertieften
alten Gletscherbettes hat.

Da uns nun unser Weg gewiesen war, nahm unser Führer Nicolas Abschied,
um sofort wieder über den stürmischen Paß allein mit seinem Pferdchen
nach Cunucyacu zurückzukehren. Ich lohnte dem braven Burschen seine
guten Dienste und versprach ihm baldige Wiederkehr, die denn auch
einige Wochen später erfolgte. Bei 3930 Meter verließen wir das sich
plötzlich zur Schlucht verengende Bachtal und traten auf die weiten
welligen Graspáramos hinaus, die langsam zur Hochebene von Riobamba
absinken. Bald erreichten wir, nun wieder an Schaf- und Rinderherden
vorbeireitend, die große nach Quito führende Landstraße (Camino real),
auf der es in langsamem Trab zwischen den Bergen Carihuairazo und
Igualata hindurch ins Tal des Rio de Mocha hinüberging. In tiefer
Dunkelheit langten wir endlich in dem auf steiler Hügelhöhe gelegenen
Städtchen Mocha (3300 Meter) an. Es war der Ausgangspunkt von Touren
auf den Carihuairazo und in nördlichere Bergregionen.


4. Die zweite Besteigung.

Sieben Wochen waren seit unserer ersten Chimborazotour verstrichen. Sie
hatten uns in die Ostkordillere zum Cerro Altar (s. S. 83), dann das
interandine Längstal entlang nach Latacunga, hinauf zum Cotopaxi (s.
S. 128) und an den abseits stehenden, schwer zugänglichen Quilindaña
geführt. Dann waren wir längs der Hochlandstraße an den Vulkanen des
mittlern Ecuador, dem Iliniza, Corazon und Rumiñagui vorbei nach der
Landeshauptstadt Quito geritten, hatten über die interandine Mulde von
Quito quer hinweg einen Abstecher zum Antisana auf der Ostkordillere
gemacht (s. S. 104) und waren schließlich nach _Riobamba_
zurückgekehrt. Nun brachen wir von hier aus am 7. August zum zweiten
Male zum Chimborazo auf.

Die gute Jahreszeit war dicht vor ihrem Ende, die Monate der
alltäglichen Gewitterstürme standen vor der Tür, und der Wetterhimmel
machte bereits ein finsteres Gesicht. Die Riobambeños meinten, es sei
nun in den »Cerros« nichts mehr zu machen und wir sollten uns die
Mühe sparen; aber ich wollte es auf einen Versuch ankommen lassen, da
sich meine Reise dem Ende näherte. Meine kleine Karawane, Menschen
und Tiere, war jetzt auf meine Reisezwecke und Anforderungen so gut
eingearbeitet, daß es jammerschade gewesen wäre, wenn ich mit ihr
die letzte Gelegenheit, vor unserm Abschied aus Ecuador noch einmal
die Chimborazogletscher zu besteigen und die Chimborazofirne zu
untersuchen, nicht voll ausgenutzt hätte.

Unter zweifelnden Glückwünschen der Riobambeños ritten wir um 10 Uhr
morgens aus der Stadt, direkt nach der Südseite zum Tambo Totorillas.
Vor 5 Uhr sattelten wir unsere Mulas bei der _Totorillashütte_ (3979
Meter) ab. Der dicke Nebel ließ uns nichts anderes vornehmen als in der
nächsten Nachbarschaft botanisieren und im Bett des Totorillasbaches
Steine sammeln, die hier von den drei Hochtälern des südwestlichen
Chimborazo zusammengeschwemmt liegen. Am Abend brach doch noch der Mond
durch das finstere Gewölk und ließ da und dort ein Stück der beiden
Hauptgipfel des Chimborazo in wundersamem Silberglanz hervorschimmern.
Das bleiche Licht und die schwarzen Schatten übertrieben alle Höhen und
Tiefen ins Fabelhafte und verliehen dem Berg einen Zug von Wildheit und
sozusagen arktischer Schrecklichkeit, den er bei Tageslicht nicht hat.

Unter dem Einfluß des Mondlichts entpuppte sich mein einer Arriero
Spiridion, dem ich bisher nicht die mindeste Sentimentalität angemerkt
hatte, plötzlich als ein höchst gefühlvoller Gitarrespieler und guter
Sänger. Auf meine Frage, warum er seine Künste nicht schon früher
gezeigt habe, antwortete er lachend: »Solange du am Tage arbeitest,
Padrón, will ich dich nicht stören oder habe ebenfalls zu arbeiten;
und wenn du am Abend aufhörst, bin ich so müde, daß ich nicht mehr
an Musik denke.« Schade um das wochenlange vergebliche Mitführen
des Saitenspiels. Übrigens war der Mann, wie schon erwähnt, ein
Kolumbianer; bei Ecuatorianern findet man solche brotlosen Künste wie
Hausmusik nur ganz ausnahmsweise.

Weniger stimmungsvoll als der Abend war unser nächtliches Lager. Um den
blutdürstigen Flohlegionen im Innern der Hütte zu entgehen, legten wir
uns, da es ziemlich windstill war, unter das Vordach des Tambo, anstatt
unser Zelt weiter draußen aufzuschlagen. Aber in 4000 Meter Höhe soll
auch ein wetterharter Hochgebirgsreisender vorsichtig sein. Bald sprang
eine kalte Brise auf und wehte uns direkt die greulichen Miasmen eines
nahe beim Tambo liegenden Pferdekadavers zu, den, wie ich am Nachmittag
gesehen, die Hunde schon zur Hälfte aufgefressen hatten. Auch in
der Nacht waren sie bei der eklen Arbeit und knurrten einander ohne
Unterlaß um die besten Bissen an. Ich retirierte mit meinem Schlafsack
in einen andern Winkel, geriet aber in Haufen feuchter Kuhfladen,
die hier als Brennmaterial gesammelt und getrocknet werden. So wurde
die Nachtstimmung zwischen Kuhmist, Aasgestank, Schweinegrunzen,
Feuerknistern, Bachrauschen, Gitarreklimpern, Lawinendonner, Windsausen
und Mondschein eine wunderliche Mischung von Beethoven, Lenau und
Zola. Leider gewannen allmählich die häßlichen Bestandteile das
Übergewicht. Als ich beim Hähnekrähen erwachte, war mir übel und weh
zumute von all der Pestilenz, und der kalte Wind hatte mir einen
bellenden Husten beschert, den ich wochenlang nicht wieder loswurde.

Bei Sonnenaufgang weiterreitend, fanden wir auf dem Arenal grande
Schnee in reichlicher Menge liegen. Mitte Juni war davon nichts zu
sehen gewesen. Damals schmückten viele Tausende weitverstreuter
kleiner Blumen die grauen Bimssteinflächen mit der Anmut des jungen,
farbenfrohen Frühlings. Aber die Herrlichkeit war kurz; jetzt waren die
zarten Kinder Floras verblüht, und es herrschte wieder für die übrigen
elf Monate des Jahres die tiefernste, dem Leben feindliche Starrheit
der alpinen Wüste. Dieses schnelle Aufflackern des Frühlings, unter dem
sich der Charakter der Landschaft für kurze Zeit total verändert, ist
in den äquatorialen Hochanden eine Eigentümlichkeit der obersten Region
der Blütenpflanzen. In der nächsttiefern Region, in den Graspáramos,
merkt man davon nichts. Der Páramo bleibt immer »Pajonal« (~paja~ =
Stroh), in dem die Mehrzahl der Halme und Rispen verdorrt ist; er
prangt nie in frischem Grün, und die angebliche »Primavera eterna«
dieser Zonen ist mit gleichem Recht ein ewiger Sommer oder ewiger
Herbst zu nennen. »Ewig« ist nur die Monotonie der Erscheinung in
diesen Graspáramos.

Nach Nordwesten hin nahm der Schnee schnell wieder ab, und bei der
Hacienda _Cunucyacu_ sah alles genau so aus wie Mitte Juni. Nur hatte
der Schnapsteufel von den Bewohnern Besitz ergriffen. Ein Besucher
hatte nach Landesbrauch einen tüchtigen Vorrat Mallorca-Branntwein
mitgebracht und die ganze Familie so gründlich alkoholisiert, daß
nichts mit ihnen anzufangen war. Erst nach zwölf Stunden bekam ich den
Hausherrn so weit, daß er in der elegischen Stimmung eines ungeheueren
Katzenjammers meine Wünsche nach Trägern und Proviant erfüllte.

Am 9. August vollführten wir von Cunucyacu unsern Aufritt und Aufstieg
zu unserm _alten Zeltplatz_ über der Vegetationsgrenze in 5145 Meter
Höhe. Allerwärts waren noch Spuren unseres ersten Aufenthalts zu
erkennen. Bald waren wir wieder mit den beiden Eingebornen von damals
in unseren beiden Zeltchen installiert.

Im Lauf des Nachmittags hatte ich wohl ein dutzendmal den Donner der
Eislawinen gehört, die von den Abbruchwänden des Firnrandes in die
tiefen Talrunsen der Nordseite des Berges stürzten. Gegen Abend wurde
es mit dem Sinken der Temperatur unter 0° still in den Eisregionen,
aber um unser Lager pfiff der kalte östliche Nebelwind und bombardierte
das Zelt mit körnigem Schnee. Wenn draußen ein Unbeteiligter die beiden
stummen kleinen Zelte im stürmischen Schneewehen der über 5000 Meter
hohen Gebirgswüste hätte liegen sehen, er hätte sie für verlassen
halten müssen. Wenn er aber durch die Türklappe gelugt hätte, hätte er
in unserm Zelt ein eigenartiges Stilleben entdeckt. In der Mitte ein
länglicher niedriger Stahlblechkoffer, und rechts und links davon, in
den Schlafsäcken halb vergraben, zwei hockende Europäer in Wolljacken
und Wollmützen, die beim trüben Schein einer alpinen Kerzenlaterne
Notizen schrieben, ihre zerrissenen Hosen flickten, Tabak rauchten und
über die Aussichten des kommenden Tages plauderten. In allen Ecken des
Zeltes alpines Gerät, Kleidungsstücke, Proviantbüchsen und dergleichen:
das Ganze die primitivste, engste, einsamste Heimstätte europäischer
Kulturmenschen, die in eine große lebensfeindliche Natur für kurze Zeit
hineingezaubert ist; und gerade im Gegensatz zu dieser starren Natur
gibt uns das kleine Heim ein so freundliches Gefühl von Gemütlichkeit
und Sicherheit, daß ich es dem vielseitigen Reiz eines opulenten
Zeltlagers in der weiten, freien, afrikanischen Steppe für kurze Zeit
mindestens gleichschätze.

Im hellen Mondenschein ging es um 5 Uhr früh bei 5° Kälte fort. Im
Osten dämmerte es schon leise. Der obere Chimborazo lag frei im fahlen
ersten Frühlicht, finstere Schatten zu uns her ausstreckend, aber auf
dem ganzen Unterland lag ein graues, welliges Wolkenmeer, das sich
langsam zu heben schien. Da der Wind eingelullt war und der Nachtfrost
den Schutt auf unserm alten nordnordwestlichen Aufstieggrat gefestigt
hatte, kamen wir schnell vorwärts.

Nach Sonnenaufgang kam schnell Bewegung in die Luft, und bald wehte
der Ostwind mit immer dichter werdenden Nebeln über die Firnfelder
der Gipfelregion. Gegen 8 Uhr standen wir unter den »Roten Wänden«
(5715 Meter) am Unterrand der Firnhaube des Westgipfels. Das dicke
Firnpolster, das noch sieben Wochen vorher auf der Oberkante der
Felswand gelegen hatte, war jetzt weggeschmolzen, aber die Felsen
waren dadurch nicht zugänglicher geworden. Wir mußten sie wie damals
westwärts umgehen, um auf den Firnhang selbst zu kommen. Da hier aber
unsere beiden Begleiter streikten, gab ich ihnen den Laufpaß. Geschwind
trollten sie sich zum Lager hinunter.

8 Uhr 20 ging es mit den Steigeisen los. Wir überschritten den Ostteil
des Stübelgletschers, dessen Eis hier zum großen Teil von einer ¼ bis
½ Meter dicken Decke rötlichen, von den Felswänden herabgefallenen
Schuttes überzogen war, und standen, als wir die Felswände unter
uns hatten, vor der seltsamsten Schnee- und Eislandschaft, die ich
je gesehen. Da es in dieser Zeit in den obersten Regionen offenbar
keinen gründlichen Neuschnee mehr gegeben hatte, hatten Sonne und
Wind einen wahren Vernichtungskrieg unbehindert führen können. Die
vordem so gut begehbaren, wellig angeschmolzenen Firnhänge waren bis
zum Gipfel hinauf in einen furchtbaren Stachelpanzer verwandelt, der
dem andringenden Bergsteiger die stärkste Gegenwehr leistete. Die
Oberfläche des Gletschers, soweit sie aus Firn bestand, und des ganzen
Gipfelfirns starrten von eisigen Zacken, Schneiden, Säulen, Tafeln und
Klippen, die, ½ bis 1½ Meter hoch, zu Millionen nebeneinanderstanden,
und zwar so dicht, daß man sich oft nur mit großer Mühe dazwischen
durchzwängen konnte. Sie sind alle in mehr oder minder deutliche
ostwestliche Reihen angeordnet, haben am Fuß eine Dicke von 10 bis 30
Zentimeter, verjüngen sich nach oben und sind an der Spitze von einem
wahren Filigran dünn geschmolzenen Eises gekrönt, das unserer Phantasie
alle nur denkbaren Figuren und Gestalten vorgaukelt. Wir haben das
typische Bild des »_Nieve penitente_«, des »Büßerschnees« oder
»_Zackenfirns_« vor uns, wie er zuerst von den südlicheren und dann
auch von den nördlicheren Kordilleren Amerikas bekanntgeworden ist und
wie ich ihn auch am obern Kilimandjaro neben eisigen Karrenbildungen
angetroffen hatte.

Der Eindruck dieser Penitenteslandschaft war um so ernster, als ihr
jetzt die Sonne fehlte, die fahl durch die hoch ziehenden Nebel
schimmerte. Man begreift die Entstehung des Namens »Büßerschnee«.
Einer unabsehbaren Schar grauer Mönchsgestalten vergleichbar, stehen
die Eisfiguren da, eine so phantastisch wie die andere und alle in
langen parallelen Reihen aneinandergeschart wie in tausendköpfigen
Prozessionen. An anderen Stellen dagegen glaubt man ein großes
Ruinenfeld zerstörter alter Städte vor sich zu sehen, von denen nur
die Mauerstümpfe in gleichmäßiger Höhe stehengeblieben sind, oder
einen ungeheuern Friedhof voll halbverfallener Grabsteine. Und wieder
an anderen Stellen sehen die zerfurchten und zerzackten Firnfelder in
der perspektivischen Verkürzung aus wie schäumende Wellenzüge, die in
wilder Bewegung plötzlich erstarrt sind.

In Anbetracht dieser Firnbeschaffenheit war es einerlei, wo wir den
Einstieg begannen. Ohne auf unserer frühern Route weiter nach Westen
abzuschwenken, hielten wir uns direkt auf den westlichen Gipfeldom
zu. Der Aufstieg ist aber hier so steil, daß ein Fortkommen ohne
Steigeisen absolut unmöglich ist, wenn man nicht stundenlang Stufen
schlagen will. Jeden Schritt und Tritt mußten wir uns zwischen den bis
an den Unterleib oder die Brust reichenden Firnzacken und Eistafeln
suchen, was uns außerordentlich viel Zeit kostete. Etwas besser wurde
es, als wir auf eine trümmerbedeckte felsige Strecke kamen, die aus
dem Firnmantel ausgeschmolzen war. An ihre obere Kante vortretend,
gewahrte ich unter mir die kolossalen Felsabstürze, die wir von tief
unten östlich über unserm Aufstiegsgrat thronen und drohen gesehen
hatten; und neben uns in erdrückender Nähe und Größe brachen die Massen
des Gipfelfirns zu jenen Felsabhängen hin in 60 bis 80 Meter hohen
prachtvollen, gleichmäßig gebänderten und durchschichteten Eiswänden
senkrecht ab, überzogen von 20 bis 30 Meter langen baumdicken Eiszapfen
oder gefrorenen Wasserfällen. Durch Spalten hatten sich Blöcke von
Hausgröße schon teilweise von der Gesamtmasse losgelöst und drohten
jeden Augenblick 600 bis 1000 Meter tief in die Abgründe des Tales
Pucahuaico zu stürzen, wo sie sich, wie wir unten sahen, zu einem
regenerierten Gletscher vereinigen, der fast ganz unter Schutt begraben
liegt.

Um 10 Uhr waren wir am Westende dieser Eiswände angelangt (5986 Meter).
Immer steiler hebt sich nun der Firnhang, immer tiefer zerschnitten und
zersägt wird seine Oberfläche, immer höher und dichter das Gewirr der
Penitentes. Langsam und mit häufigen Unterbrechungen arbeiten wir uns
aufwärts. Die Lungen pfeifen, der Atem röchelt, die Schleimhäute sind
trocken und hart wie Leder. Plötzlich erscheint über uns eine mächtige
Querspalte, die mit 5 bis 15 Meter Breite wie ein Festungsgraben den
Westgipfel auf der Nord- und Nordwestseite umringt und gleich einer
Randkluft mit einer 2 bis 3 Meter hohen Stufe absetzt. Es ist dieselbe,
die uns vor sieben Wochen weiter westlich Halt geboten hatte. Sie
ist zwar hier von mehreren Firnwällen überbrückt, aber auch diese
Brücken sind so stark zerfressen, durchlöchert und von Penitentes
verbarrikadiert, daß ein Weiterdringen schlechterdings undenkbar ist;
es sei denn, man könnte fliegen. So blieb uns nichts anderes übrig,
als hier in 6180 Meter Höhe auf die uns noch vom Scheitel des Gipfels
trennenden 90 Meter zu verzichten und uns mit dem zu begnügen, was wir
in diesen obersten Regionen an sonderbaren Erscheinungen der Firn-
und Eiswelt zu sehen und zu untersuchen hatten. Wäre der Firn so
beschaffen gewesen wie sieben Wochen vorher, wir hätten vermittelst der
Schneebrücken ohne große Schwierigkeit den Gipfel erreichen können,
denn es war erst wenig über 11 Uhr, und wir waren beide noch bei guten
Kräften. Für meine Firn- und Eisstudien war die jetzige Jahreszeit
die allergünstigste, aber für eine Gipfelbesteigung ist der August zu
spät, da die Zerstörung der Eisoberflächen durch die Sonne zu weit
fortgeschritten ist.

Kaum hatten wir dem Gipfel den Rücken gewandt, als die Nebelschwaden,
die uns bisher vereinzelt von Osten herab umflattert hatten, in dichten
Haufen aus Westen von unten her auf uns eindrangen und uns mit einem
so stürmischen Schnee- und Graupelwetter überfielen, daß wir bald
keine drei Schritt weit sehen konnten. Wie die Spürhunde hatten wir
die Nase am Boden, um in dem Labyrinth der Penitentes die Schuh- und
Eispickeleindrücke unseres Aufstiegs nicht zu verlieren. So kamen wir
gegen 1 Uhr wieder am Westfuß der »Roten Wände« an, und anderthalb
Stunden später waren wir, Kleider und Bart noch von Eiskrusten und
Eiszapfen überzogen, zurück am Zeltlager bei unseren beiden Kameraden.

Im warmen Schlafsack fühlten wir nicht, daß uns die Nacht bei steifem
Ostwind ein Minimum von –9,6° bescherte, die tiefste Temperatur, die
wir in Ecuador erlebt haben. An den Innenseiten unseres Zeltes hatte
sich am Morgen infolge unserer Atmung eine fingerdicke Reifschicht
angesetzt, die uns durch ihr prächtiges Glitzern und Funkeln viel,
durch ihr Auftauen aber wenig Freude machte, und unsere Stiefel waren
hart gefroren wie Bretter. Draußen stürmte es aus Osten wie nie zuvor.
Wäre am Tag vorher solches Wetter gewesen, wir hätten von jedem
Besteigungsversuch abstehen müssen. Unter solchen Umständen sieht sich
die Poesie des alpinen Lagerlebens anders an als bei heißem Tee im
warmen Pelzsack. Und so betrüblich uns beiden auch bei dem Gedanken
zumute war, daß dies unser letztes Lager in den Anden sei, daß damit
die schöne reiche Zeit des Ringens und Gewinnens in dieser großen
Gebirgswelt vorüber sei, so angenehm war uns doch auch die Vorstellung,
daß uns nun bald wieder ein anderes Leben blühe als wochenlange
physisch und psychisch aufreibende Arbeit, schlechte Ernährung,
schlechter Schlaf, immer froststeife Finger, Mangel an Waschwasser,
Anfälle von Soroche und dergleichen mehr.

Forschungsreisen im Hochgebirge werden vom Publikum der Laien
und vieler Geographen, die dann die Resultate vor sich haben,
gemeinhin nicht anders eingeschätzt als Reisen im Mittelgebirge
oder im Flachland. Ja, man ist im Publikum leicht geneigt, in
der sportlichen Seite, ohne die es kein erfolgreiches Reisen im
Hochgebirge geben kann, das Wesentliche bei solchen Reisen zu sehen
und das für den Zweck zu halten, was nur das Mittel zum Zweck
wissenschaftlicher Gebirgsforschung ist. Nur wer sich selbst mit Ernst
der Hochgebirgsforschung gewidmet hat, weiß, ein wieviel größerer
Einsatz und Aufwand von Kräften und Energie erforderlich ist, um eine
wissenschaftliche Hochgebirgsreise erfolgreich zu machen, als eine
die gleiche Summe von Beobachtungen und neuer Erkenntnis einbringende
Reise im Mittelgebirge oder Flachland. Ich begreife es sehr wohl und
finde es entschuldbar, wenn in so vielen Fällen die wissenschaftlichen
Resultate von Hochgebirgsreisen in gar keinem Verhältnis stehen
zu den darauf verwandten Summen von Zeit, Kraft und materiellen
Mitteln. Eine Forschungsexpedition in den afrikanischen Steppen und
Wäldern, so mühsam sie im einzelnen oft sein mag, ist, wie ich aus
langer Erfahrung weiß, meist ein Kinderspiel gegenüber einer die
Lösung wissenschaftlicher Probleme erstrebenden Hochgebirgsreise,
insbesondere einer Hochgebirgsreise in der Tropenzone, wo die
Schwierigkeiten in jeder Hinsicht noch viel größer sind als in den
allermeisten Hochgebirgen außertropischer Gebiete.

Gegen Mittag endlich erschienen unsere Peones im Lager, pfeifend
vor Anstrengung und Unbehagen, wie die Hochlandindianer dann immer
zu tun pflegen. Schnell war alles Bewegliche zusammengepackt und
aufgeladen, worauf die Kerle, um der ungemütlichen Höhe zu entgehen,
einen so ununterbrochenen Dauerlauf bergab über Schnee und Geröll
und Felsen ausführten, daß wir, nachdem wir weiter unten die uns
entgegenkommenden Maultiere bestiegen hatten, schon um 4 Uhr wieder
in der windgeschützten Mulde von _Cunucyacu_ anlangten. Der biedere
Mayordomo gab seiner Freude, uns gesund wiederzusehen, dadurch
Ausdruck, daß er ein Kalb schlachten ließ; ein unerhörter Luxus, den
wir im rinderreichen Ecuador noch nicht erlebt hatten. Leider nahm mein
von den strapaziösen Hochtouren geschwächter Magen diese Extravaganz
übel, und in der Nacht kam zu allem Überfluß noch eine stundenlange
Belästigung durch Soroche hinzu. Auch Herr Reschreiter hatte mit
Atembeschwerden, Kopf- und Kreuzschmerzen zu tun.

Über den _Soroche_, die Bergkrankheit Ecuadors, mögen hier ein paar
Worte eingeschaltet werden. Er befällt früher oder später jeden, der
die Anden aufsucht. Seine Symptome treten verschieden auf, vom leichten
Kopfweh bis zur schweren Störung aller Körper- und Geistesfunktionen,
aber zur ernsten Erkrankung oder gar zum Tode wird es beim normalen
Menschen kaum kommen. In Höhen von über 5000 Meter freilich erfordert
die Überwindung seiner Beschwerden ein beträchtliches Maß von Energie.
Die Atemnot wird besonders bei anstrengendem Aufstieg immer größer,
der Kopf immer dumpfer, die Beine werden immer schwerer. Da man stets
mit offenem Munde atmen muß, um den Hunger nach Luft zu stillen,
deren Sauerstoffgehalt in 5000 Meter nur etwa halb so groß ist wie
in Meereshöhe, so dörrt der Hals in der außerordentlich trockenen
Höhenluft total aus, jede Schluckbewegung schmerzt, und schließlich
befällt den Bergsteiger ein heftiger, keuchhustenartiger Krampfhusten,
der tagelang andauern kann und erst beim Absteigen wieder verschwindet.
Nur ein möglichst gleichmäßiges und langsames Aufeinanderfolgen aller
Körperbewegungen, möglichstes Vermeiden jedes plötzlichen Ruckes kann
da Erleichterung bringen. Aufstiege auf steilem lockern Geröll oder auf
Hängen von pulverigem Schnee mit dem unvermeidlichen Zurückrutschen
werden deshalb ganz besonders zur Qual.

Die Mechanisierung aller Bewegungen und die Konzentration aller Kräfte
des Organismus auf die rein körperliche Steigarbeit üben dabei eine
betäubende Wirkung auf das Bewußtsein aus. Die Benommenheit des Kopfes
trübt die Gedanken oder löst verworrene Vorstellungen aus, die ohne
jede Beziehung zum augenblicklichen Tun sind. Ein kaum überwindliches
Bedürfnis, sich niederzulegen und zu schlafen, stellt sich ein. Es
bedarf des Aufwandes der letzten Energie, um der gemütlichen Depression
nicht zu erliegen, den Überblick über die Situation sich zu wahren und
das Ziel fest im Auge zu behalten. Im Lager über 5000 Meter leidet man
darüber hinaus noch an lästigem Auftreiben des Leibes, an Aufstoßen der
Magengase, an Appetitlosigkeit, Darmverstopfungen, Brustbeklemmungen,
Herzklopfen und schweren Träumen während des Schlafs. Erbrechen,
Nasenbluten oder gar Bluten aus dem Zahnfleisch und den Lippen, wie es
A. von Humboldt berichtet, habe ich dagegen niemals beobachtet, weder
an mir noch an anderen.

Hauptursache dieser Erscheinungen ist zweifellos die ungenügende Zufuhr
des für die Lebenstätigkeit notwendigen Sauerstoffs zum Nervensystem
und zu den arbeitenden Organen. Sie erzwingt starke Atmungsbewegungen,
die durch die Abnahme des Luftdrucks mit zunehmender Höhe noch weiter
erschwert werden, und bewirkt Blutstauungen in den Lungen. Übermüdung
durch allzu große Anstrengung mag ihr Teil mit beitragen, ist aber
nicht ausschlaggebend. Es sind Erscheinungen, wie sie ähnlich auch
bei Blutarmut zu beobachten sind. Wirksam werden sie vor allem in
Funktionsstörungen des Nervensystems mit ihren psychischen Folgen.
Nervenanregende Mittel wie Kola und Champagner sollen deshalb gute
Wirkung haben, aber ich habe sie nicht ausprobiert. Der beste Schutz
gegen den Soroche bleibt jedenfalls der eigene feste Wille, sich nicht
unterkriegen zu lassen. Planvolle Selbstzucht kann viel dazu tun.

[Illustration:

            Paul Großer 1902.

Der Reißgletscher (5100 ~m~) am Nordgipfel des Chimborazo.]

Nach den Mühsalen unserer Chimborazobesteigung hätte ich gern einen
Tag mehr in der Hacienda Cunucyacu Rast gehalten. Aber zum Ausruhen
hatten wir keine Zeit mehr; die Tage bis zur Abfahrt nach Europa waren
uns knapp zugemessen. Drum ging es schon am übernächsten Morgen wieder
früh in den Sattel und bei immer noch stürmendem Ostwind auf dem Pfad,
den wir schon Anfang Juni geritten waren, zum Paß _Abraspungo_ zwischen
Chimborazo und Carihuairazo hinan. Damals hatte uns der berüchtigte
Abras-Paß mit so abscheulichem Wetter traktiert, daß wir von der uns
umgebenden Landschaft sehr wenig zu sehen bekommen hatten. Diesmal sah
es anfänglich dort oben nicht viel besser aus. Aber als wir die Paßhöhe
betraten, lag zu unserer freudigen Überraschung das Abras-Tal mit
seiner nächsten Gletscherumgebung ziemlich frei vor uns. Bei jedem
Schritt fand ich vollauf meine im Juni aus wenigen Beobachtungen
gewonnene Mutmaßung bestätigt, daß wir uns hier im Abras-Tal durch ein
altes Gletscherbett von großartiger Ausbildung bewegten.

[Illustration: Zackenfirn (Büßerschnee) am Chimborazo, Westgipfel, bei
6100 ~m~.

Nach einer Zeichnung von Rudolf Reschreiter.]

Jetzt sahen wir auch auf dem Oberrand der südlichen Talwände die
Stirnen dreier vom Nord-Chimborazo her kommender Gletscher liegen.
Der westlichere streckt seine hochumwallte Zunge in der Richtung
zum Abraspungo hin aus; es ist der »Abraspungo-Gletscher«. Der
östlichere, breitere und längere, hat noch vor relativ kurzer Zeit
bis in den Taltrog hineingereicht, wie seine Endmoräne zeigt. Diese
mächtige, jetzt bei 4400 Meter endende Eiszunge ist auf keiner Karte
zu finden und bisher namenlos. Einer spontanen Regung folgend, rief
darum vor diesem Eisstrom Herr Reschreiter aus: »Von nun an soll er
Hans-Meyer-Gletscher heißen!« Bald darauf konnte ich mich revanchieren,
indem ich seinen weiter östlichen Nachbar, der ebenfalls noch auf den
Karten unbekannt und unbenannt war, »Reschreitergletscher« taufte.

Vom Carihuairazo her, dessen Gletscherzungen hier kaum mehr als 5
Kilometer von denen des Chimborazo entfernt sind, münden vom Abraspungo
an in schneller Folge ebenfalls vier Seitentäler in das Abras-Tal,
alle steil zu Eiszungen im Hintergrund ansteigend, mit schroffen
Seitenwänden und flachem Boden, der großenteils von Moränen bedeckt
ist. Das Abras-Tal war die gemeinsame Sammelrinne aller dieser
Gletscher des Nordost-Chimborazo und Süd-Carihuairazo und muß einst von
einem gewaltigen Eisstrom erfüllt gewesen sein. Auch die untrüglichen
Merkmale einer zweimaligen Vergletscherung waren im Abras-Tal zu
erkennen, worauf aber hier nicht eingegangen werden soll.

Vom Ausgang der »Abras-Furche« ritten wir über die hügeligen grasigen
Ausläufer des Ost-Chimborazo hinab, auf den Tambo _Chuquipoquio_ zu,
wo wir mit unseren müden Tieren zwei Stunden später anlangten. Der Hof
war angefüllt von einer Horde angezechter Arrieros, die mit vielen
Lasttieren und Haufen von Kisten und Säcken nach Quito unterwegs waren
und, wie wir, hier nächtigen wollten. Zum letztenmal hantierte ich nun
angesichts des Chimborazo mit meinen Meßinstrumenten, Herr Reschreiter
mit Bleifeder und Skizzenbuch, zum letztenmal wurden für den nächsten
Tag die Bergstiefel geschmiert, und dann ging es zum letztenmal hinein
in den Schlafsack, der so hübsch dicht gegen die Widrigkeiten der
Außenwelt abschließt.

Der nächste Vormittag führte uns dann in dreistündigem Ritt über
die staubige, windige Tuffebene am Südostfuß des Chimborazo in das
Städtchen Riobamba zurück, von dem unsere Hochtouren ausgegangen waren.
Die Chimborazoreise war zu Ende.



Der Cerro Altar.


Wenn wir aus der zirka 25 Kilometer breiten Hochmulde von Riobamba
(2801 Meter) nach Norden schauen, haben wir zur Linken die
Westkordillere mit dem gewaltigen Firndom des Chimborazo, gerade vor
uns den breit hingelagerten, nur zeitweilig schneetragenden Vulkankegel
Igualata (4452 Meter) und rechts von ihm den Einschnitt des Rio Chambo,
durch den das Auge nach Nordosten bis zum trotzigen eisgekrönten Kegel
des Tunguragua (5087 Meter) schweift. Also drei mächtige einzelne
Vulkanberge, während hinter uns, im Süden, die langen dunkelbraunen
Tuffrücken von Yaruquiés die Hochmulde absperren.

Ganz anders ist zu unserer Rechten die _östliche_ Begrenzung der
Riobamba-Ebene. Nur 5 Kilometer östlich von der Stadt zieht der
Rio Chambo, der auch die Riobambamulde entwässert, seine tiefe
Erosionsfurche nach Norden, und unmittelbar hinter dem Flußlauf,
größtenteils sogar aus dem Flußbett heraus, hebt sich die langgezogene,
altkristallinische Bergkette der _Ostkordillere_ durchschnittlich 1000
Meter über die Ebene empor. Meist ist die Flußgrenze am Kordillerenfuß
so scharf gezogen, daß die linke hohe Uferwand von den vulkanischen
Gesteinen der Riobamba-Ebene, die rechte vom Glimmerschiefer der
alten Ostkordillere gebildet wird. Zahlreiche Seitentäler schneiden
in diese östliche Gebirgskette hinein, da und dort tragen Gipfel und
Grate ewigen Schnee, aber im ganzen ist dieses Stück der Ostkordillere
eine höchst einförmige Gebirgsbildung, schön und groß nur durch das
wunderbare Spiel ihrer Wolken, der Beleuchtung und durch die beiden
auf ihr und über ihr am Himmel stehenden Erscheinungen: geradeaus im
Osten die Felstürme und Firngrate des Cerro Altar (5404 Meter), und
im Südosten die zu noch viel größerer Höhe aufsteigende, immer ihre
Gestalt ändernde Eruptionswolke des hinter der Kordillere verborgenen
Sangayvulkans. Hier im Sangay die lebendige Gegenwart, dort im Altar
die tote Vergangenheit, die Ruine eines kolossalen Vulkanberges, dessen
aufbauende und vernichtende Tätigkeit einst noch viel machtvoller
gewesen sein muß als die des gegenwärtig Ecuador am meisten in Angst
und Schrecken setzenden Sangay.

Auch der _Cerro Altar_ sitzt, wie so viele der ecuatorianischen
Vulkane, auf der aus kristallinischen Gesteinen erbauten Kordillere
obenauf wie ein Reiter auf dem Pferd. Aber er hat die altkristalline
Basis nur teilweise zugedeckt, so daß sie auf der interandinen Seite
noch meilenweit offenliegt. Nach seinem Erlöschen ist der Vulkan
während des Erkaltens durch Sackung seiner dem Krater benachbarten
Mittelteile, später durch Verwitterung und durch Erosion der Gewässer
und Gletscher bis auf den Rest der Kraterumwallung zerstört worden.
Dieser Rest ist aber immer noch so gigantisch, daß seine Felszacken
und Firngipfel in ihrer höchsten Spitze, dem »Obispo«, 5404 Meter hoch
zum Himmel ragen und kreisförmig einen über 1000 Meter weiten Kessel
umschließen, der, mit Schnee und Eis halb angefüllt, einem mächtigen
Gletscher Ursprung und Nahrung gibt.

Von Riobamba aus sieht man bei klarem Wetter den Cerro Altar wie
eine breite, hell leuchtende Krone auf dem dunklen Scheitel der
Ostkordillere ruhen und erkennt zwischen den beiden hohen Hauptzacken
der westlichen Front den weiten, tiefen Einschnitt, hinter dem die
Eismassen des Kraterkessels sichtbar werden. Ein wundervolles Bild,
namentlich wenn nach Sturm und Wetter der dunkle Wolkenvorhang sich
teilt und der Berg bis auf den Rücken der Ostkordillere herab im
blinkenden Neuschnee dasteht. Schlechtes Wetter ist freilich dort
die Regel, wie auf der ganzen Ostkordillere. Am besten soll noch der
Oktober sein, also die Jahreszeit, die für die Westkordillere am
ungünstigsten ist. Aber es blieb uns keine Wahl, und deshalb trafen
wir es nicht gerade gut mit dem Altar, als wir ihm Anfang Juli unsern
Besuch abstatteten.

Der beste Weg von Riobamba zum Altar führt am ersten Tag nordöstlich
über die Riobamba-Ebene nach dem am Rio Chambo gelegenen Dorf
Penipe, am zweiten Tag von Penipe in die Ostkordillere hinein und
am Rio Collanes hinauf zur Hacienda Releche, und am dritten Tag von
Releche steil hinauf in die Páramoregion bis zum Fuß des großen
Altar-Kratereinschnittes im obersten Collanes-Tal. (S. Karte S. 130.)

Am 1. Juli ritten wir mit dem Mayordomo Santiago, den beiden auf der
Chimborazotour bewährten Arrieros und acht ihrer Lasttiere (lauter
Mulas) nach Nordosten ab. Nach fünf Stunden waren wir in Penipe. Die
ganze Landschaft dahin, die östliche Riobamba-Ebene mit ihren Hügeln
und Stufen und der Ostfuß des Igualata bis zum Chambofluß ist die
gleiche sandige, staubige, windige, dunkelgraue Wüstensteppe wie
westwärts zum Chimborazo hin. Es geht auf schattenlosem Weg, auf dem
die Tiere bis über die Hufe im Sand versinken, bergauf bergab meist
zwischen Hecken von Agaven und graugrünen Kaktussäulen fort. Unter dem
Sand liegen, wie am besten an den Wänden einiger vom Igualata kommender
tiefeingeschnittener, trockener Wasserrisse, die wir durchreiten
müssen, zu sehen ist, schlackige Lavaströme vereinzelter benachbarter
Eruptionsstellen, zersprengte Lavabänke, grobe Konglomerate, Gerölle
und Tuffe in mannigfaltigstem Wechsel.

Auf offenen Flächen ist der Sand und Staub zu langen Dünenzügen mit
gerippelter Oberfläche zusammengeweht, die oft bis zu 2 Meter hoch
werden. Wo aber der Staub an geschützten Stellen zur Rast kommt und
von den nächsten Regengüssen festgemacht wird, bildet er einen dichten
Löß, der oft vielfältig gebändert ist, allerlei vegetabile und andere
Einschlüsse hat, und in mächtigen Schichten von den durch direkte
Ablagerung vulkanischer Aschen entstehenden Tuffschichten kaum zu
unterscheiden ist. In diesen verfestigten Löß- wie in den Tuffschichten
fassen die Pflanzen am ersten wieder festen Fuß. Aber der Machthaber
des andinen Klimas, der Wind, läßt ihnen nirgends dauernde Ruhe. Wenn
er wieder zugepackt hat, nagt er ein Sand- oder Staubkorn nach dem
andern los und entblößt allmählich den ganzen Wurzelstock der Pflanze,
so daß sie vertrocknend abstirbt.

Regellos durch die Landschaft verstreut, meist mitten in ihren
Feldern, stehen die Strohhütten der indianischen Bauern. Es sind
pyramidenförmige Bauten aus den bis 10 Meter langen, armdicken
Blütenstengeln der Agave, über die ein hohes, breitfirstiges Dach aus
dem langhalmigen Sigsiggras (~Arundo nitida~) bis zum Erdboden herab
gelegt ist. Darin gibt es weder Fensteröffnung noch Rauchfang. Vorn
ist durch einen Ausschnitt im Dach und einen kurzen vorspringenden
Dachansatz eine kleine Vorhalle hergestellt, wo die Türe angebracht ist
und am Tag die häuslichen Arbeiten verrichtet werden. Der Innenraum
ist gewöhnlich durch eine Zwischenwand geteilt, auf deren einer Seite
die Feuerstelle und Schlafstätte, auf der andern der Wirtschafts- und
Vorratsraum, der Aufenthalt der Hunde und Hühner ist. Die Schlafstätte
ist nur eine mit Schaffellen belegte Schütte dürren Grases, die
Feuerstelle nur ein auf dem Erdboden liegender, mit ein paar Steinen
umstellter Aschenhaufen, das Hausgerät nichts als einige Matten, ein
paar unglasierte Töpfe, Kürbisschalen, ein Wasserkrug und eine Bank;
nichts was einen Schritt über das Maß des Allernotwendigsten und
Primitivsten hinausginge; nichts, was auch nur eine Spur von Schmuck
und Zier an sich trüge.

Bei der Hütte treiben sich gewöhnlich ein paar schwarze Schweine oder
einige Ziegen umher und fressen, was ihnen vors Maul kommt. Seltner
sind schon Schafe und noch seltner Rinder, die hier im eng bemessenen
Kulturland nicht frei umherlaufen dürfen, sondern neben der Hütte fest
angepflöckt stehen und gefüttert werden. Einige Hühner fehlen fast nie
und ebensowenig ein paar ruppige, windhundartige, kurzhaarige Köter,
die jedem Fremden mit wütendem Gebell entgegenstürzen, aber niemals
beißen. Sie müssen selbst zusehen, wo sie etwas zu fressen finden, denn
gefüttert werden sie nicht. Sie sind deshalb erbärmlich ausgehungert
und stehlen, was sie erwischen können. Ein ekles Gezücht, aber gute
Wächter.

Die ganze Menagerie mit Ausnahme der Rinder wird nachts mit in die
Hütte genommen. Und da diese nie gereinigt wird und die darin
hausenden Indianer sich ebensowenig waschen wie ihr Vieh, so wimmelt
die dreckige Behausung und ihre Bewohnerschaft dermaßen von Flöhen und
Läusen, daß man nach einmaliger Erfahrung lieber draußen in Wind und
Wetter bleibt als drinnen am »traulichen Herd«. Solche Prachtexemplare
von Flöhen, wie in den Indianerhütten Hochecuadors, habe ich selbst in
den deshalb verschrienen italienischen Alpenhütten nicht gesehen. Den
Wanzen dagegen scheint das Hochlandklima nicht zu bekommen. Ich machte
nur ein einziges Mal intime Bekanntschaft mit ihnen. Um so besser
gedeihen die Läuse. Überall sieht man Männer, Weiber und Kinder bei der
gewohnten Beschäftigung des gegenseitigen Lausens, und wie in vielen
anderen Ländern, so knackt auch hier der glückliche Finder die Tierchen
mit den Zähnen tot.

Halbwegs zwischen Riobamba und Penipe durchreiten wir das tiefliegende
breite Tal des vom Igualata kommenden Rio Guano; ein unpoetischer Name
für ein Bergflüßchen, aber dem Äußern nach berechtigt, weil der Fluß an
seinen Ufern hellgraue Kalksinterbänke abgesetzt hat, wie Guanodecken
auf einer Vogelinsel. Der im übrigen zwischen engen, hohen Steilwänden
forteilende Fluß erweitert an dieser Stelle sein Tal zu einer etwa
400 Meter breiten grüngrasigen Mulde, einer wahren Oase in der Wüste.
Jenseits von ihr erreichten wir in einer Stunde die Paßhöhe am
Südostfuß des Igualata und ritten steil auf miserablem Weg in das enge
schluchtige Tal des Rio Chambo hinab, während westlich an den schroffen
Wänden des Igualata mächtige Mauern von säulenförmig abgesonderten
Lavabänken wie alte Festungsruinen zu uns herunterdrohten. Von der
andern, östlichen Seite des Rio Chambo aber winkten grüne Wiesen
und gelbe Felder von den steilen unteren Hängen der Ostkordillere
herüber, die nun als ein mächtiger, wolkenschwerer Wall sich vor
uns ausstreckte, und unter uns auf einer Bodenterrasse am Fuß der
Ostkordillere leuchteten über den Fluß her die weißgetünchten Häuschen
von Penipe.

Am Chambofluß gab es für uns einen langen, lästigen Aufenthalt. Einige
Dutzend Indianer von Penipe waren unter Aufsicht eines Beamten dabei,
die uralte Hängebrücke auszubessern, die viele Stunden weit den
einzigen Übergang über den Fluß bildet. In derselben Verfassung, in der
sich dieses wunderliche Bauwerk heute befindet, hat es bereits Humboldt
in seinem Atlas »~Vues des Cordilleres~« (freilich fälschlicherweise
in einer prächtigen Palmenlandschaft) abgebildet. Das beweist, daß das
Bauwerk haltbar ist trotz seines bedenklichen Aussehens. Es ist der
Typus einer ecuatorianischen Hängebrücke: zwei armdicke Agavenbastseile
sind etwa zwei Meter voneinander von einem Ufer zum andern gezogen. Auf
jedem Ufer sind sie durch starke Holzböcke straff gespannt, so daß sie
einige Meter über dem Wasser bleiben. An den Seilen hängen zahlreiche
Baststricke, und diese tragen rohbehauene Bohlen, die außerdem noch
auf einem Netzwerk von Stricken liegen. Über diesen schwebenden,
schwankenden Knüppeldamm traversieren behutsam Menschen und Tiere; ein
Fehltritt ist gefährlich, denn die dunklen Wasser des Chambo, der hier
etwa 20 Meter breit ist, sind tief und reißend.

Steil und auf steinigem Weg geht es auf dem rechten Ufer des Chambo
zur Terrasse von _Penipe_ (Kirchplatz 2520 Meter) hinauf, das, von
zahlreichen künstlichen Wassergräben durchzogen, zwischen grünen,
ummauerten Feldern, Obstgärten und riesigen dunklen Eukalypten daliegt
wie eine kleine Burensiedlung im südafrikanischen Steppenland. Nur
sieht es hier viel ärmlicher und schmutziger aus als weiland in
Südafrika.

Wir kamen, da es in dem Nest keine »Casa posada« (Wirtshaus) gibt,
in einem wegen seiner Baufälligkeit verlassenen stallartigen
Gartenhäuschen eines der Dorfhonoratioren unter, das wir erst
ausmisteten, ehe wir unsere Schlafsäcke auf dem Lehmfußboden ausbreiten
konnten. Aber es bot wenigstens Schutz gegen Wind und Regen der Nacht.

Steil, steinig und sandig wie vom Chambotal nach Penipe, so geht es
auch am nächsten Tag von Penipe zum Berggrat, der Loma de Nabuso,
hinauf, wo in der Tiefe der Rio blanco aus der Ostkordillere in den
Chambo einmündet. Es ist ein stellenweise verteufelt heikles Reiten.
Wenn hier einmal ein Tier ausgleitet, rollt es rettungslos ein paar
hundert Meter den jähen, kahlen Berghang hinunter in den reißenden
Chambo. Die Maultiere bezwingen das schwierige Terrain in ruhigem,
stetigem Klettern, langsamer, aber sicherer als die Pferde, die an
schlimmen Stellen dem Reiter oder der Last durch heftige Bewegung
gefährlich werden können. Mit jeder weitern Viertelstunde weicht
der Landschaftscharakter mehr von dem des vulkanischen Terrains ab,
das wir am Tage vorher durchzogen haben. Alle Bergformen sind hier
schroffer, energischer, die Täler tiefer und doch breiter als drüben im
Vulkangebiet. Von der Loma de Nabuso (2931 Meter) geht es wieder steil
ins Tal des Rio blanco hinunter.

Nach anderthalb Stunden von Penipe aus hatten wir die Talsohle des
Rio blanco erreicht (2610 Meter) und folgten seinem Lauf aufwärts.
Der Bach braust und springt über Stock und Stein wie ein echter
Wildbach irgendeines Tiroler Bergtals, und wie seine Tiroler
Verwandten so führt auch er hellgrau getrübtes Wasser als Zeichen
seiner Abstammung aus vergletscherten, moränenreichen Bergeshöhen;
daher sein Name Rio blanco, weißer Bach. Die Luft ward frischer,
kühler, feuchter, je weiter wir talauf ritten. Kehle und Lunge
schwelgten. Allmählich vollzieht sich auch ein Wechsel in der
Vegetation. Die Charakterpflanzen der trockenen, warmen Hochebene,
die Agaven, Opuntien, Euphorbien, verschwinden, und es erscheinen
feuchtigkeitsliebende Formen. Wald aber gibt es auch hier nur in
schmalen Strichen und Säumen an den tiefgeschluchteten Bachläufen,
die dem Rio blanco von Osten her zueilen. Leider wimmelt es in diesen
feuchten Dickichten von Moskitos. Wir waren deshalb froh, als es nach
Passieren des Rio Tarau wieder auf grasigen, freien Berglehnen hinauf
zu einer Talstufe ging, wo zwischen Mais-, Bohnen- und Kartoffelfeldern
ein halb zerfallenes Landhäuschen und einige Hütten stehen: es ist
die Hacienda Candelaria (2765 Meter), deren Besitzer uns mit frischer
Milch labte – ein seltener Genuß im viehreichen Ecuador! Das Tal
erweitert sich weiterhin auffallend; es wird muldenförmig mit ziemlich
flachem Boden, in den der Rio blanco tief und steil eingeschnitten ist.
Hier wird das Land belebter, kultivierter. Es erscheinen Felder und
weitzerstreute Hütten.

Die Talform, die Strohhütten, das zahlreiche weidende Vieh, die
Kartoffelfelder, die erquickend frische Luft, die klare Beleuchtung
und vor allem die Vegetation an den Wegen und Rainen versetzten uns in
eine subalpine Landschaft Europas oder Nordamerikas. Freudig begrüßten
wir unter den Pflanzen gute alte Bekannte aus der Heimat: Brombeeren,
Berberitzen, Fuchsien, Salbei, Ranunkeln, Alchemillen, Brennesseln,
Wegerich, Adlerfarn usw., ja an einer Wiesenecke lachte uns sogar ein
Büschel wilder blaugelber Stiefmütterchen entgegen. Dann stiegen wir
im Zickzack zu einer Talstufe hinauf, wo die vereinzelten Hütten von
Releche (Hacienda 3117 Meter) liegen, und betraten oberhalb davon eine
Waldparzelle, in der sich plötzlich eine wunderhübsche Wiese öffnete.
Daneben blinkten zwei kleine Seen.

Die Waldwiese auf der Terrasse von _Releche_ ist ein wirklich idealer
Lagerplatz (3323 Meter). Schnell waren am Waldsaum unsere beiden
Zeltchen aufgestellt, während sich die Peones im Dickicht selbst
einrichteten. Wieder einmal genossen wir den Reiz eines stillen
Gebirgslagers und stiller häuslicher Enge inmitten einer großen Natur:
die Zelte, Feuer, Menschen und Tiere dicht beieinander, Wasser und Holz
in bequemer Nähe, während ringsum die große einsame Bergwildnis uns
teilnahmlos anzuschauen schien.

Gegen Sonnenuntergang legte sich eine wundersame ruhige Stimmung auf
die Landschaft. Gänzliche Windstille ringsum, aber hoch über den uns
schützenden Bergrücken segelten die abendlich geröteten Wolken eilig
nach Westen. Wie am Abend eines deutschen Vorfrühlingstags pfiff von
einem fernen Baumwipfel eine Drossel ihr kurzstrophiges Lied, andere
Drosseln hüpften pickend auf der Wiese umher, und auf dem nächsten See
flatterten ein paar kleine Enten. An den Blüten der Fuchsiensträucher
aber, die auf den verwetterten Berberitzenbäumen am Waldesrand
schmarotzen, schwirrten hurtig einige Kolibris und ließen ihre grün
metallischen Brustfedern und ihre rotschillernden Schwanzfedern im
Licht der Abendsonne wahrhaft Funken sprühen.

Nach Sonnenuntergang begann im Wald der schrille Gesang
unzähliger Zikaden, und während wir, von leichtem Paramitoregen
ins Zelt getrieben, lagen, lasen und rauchten, schwirrten um die
trüberleuchteten Zeltwände große Käfer, und in ihren brummenden Baß
klangen die hohen klaren Glockenstimmchen der Laubfrösche hinein, die
uns leider noch viel Regen prophezeiten.

In der Nacht trommelten denn auch stundenlang die Tropfen auf unser
Zeltdach, und am Morgen lag alles in dichtem nässenden Nebel, als wir
mit acht Peones zum Cerro Altar aufbrachen. Unsere Arrieros, die wegen
der Steilheit mit den Tieren zurückblieben, richteten sich für die
nächsten zwei Tage in einer kleinen Laubhütte möglichst regensicher
ein. Die oberste Bergwaldzone, durch die wir nun weiter stiegen,
machte uns viel zu schaffen. Von Schlinggewächsen, grünen Epiphyten,
langen grauen Bartflechten und dicht wucherndem Unterholz ist der Wald
durchsponnen und gleichsam verfilzt. Bis an die Knöchel versinkt der
Fuß in dem schwarzen Morast des Pfades, den das oben in den Páramos
weidende Vieh beim Auf- und Abtrieb zertrampelt, und über gestürzte
Baumstämme weg müssen sich die Peones mit ihren Lasten abmühen. Bald
wird der Anstieg so steil, daß an Stelle des Pfades Stufen und Löcher
treten, in denen der Fuß Halt sucht. Alles trieft von Nässe, und auf
dem schlüpfrigen lehmigen Boden gleitet einer nach dem andern fluchend
aus. Trotzdem ließen die Peones ihre Lasten nicht liegen. In 3490 Meter
Höhe überschritten wir die obere Waldgrenze. 200 Meter höher hatten
wir über dem letzten Fuchsiengestrüpp die Grasregion des Páramo bei
3700 Meter erreicht, wo der Boden etwas fester war. Aber die Steilheit
hielt an, und dazu gesellte sich auf der freien Höhe kalter Wind mit
fortdauerndem Nebeltreiben.

Bei 4200 Meter Höhe traten wir in die Region der Polsterformation
ein. Weithin verdrängen an feuchteren, leicht gesenkten Stellen die
dunkelgrünen, bis zu ½ Meter hohen runden Kissen von ~Werneria~,
~Pectophytum~ und ~Azorella~ den Graswuchs fast gänzlich. Die Polster
der dichtgedrängten kleinen Pflanzen sind so fest, daß man mit dem
eisenspitzigen Stock nur oberflächlich eindringen kann, aber neben
ihnen heben sich zahlreiche kniehohe Blütenstengel einer goldgelben
~Senecio~ empor, wie freundliche Lichtgestalten aus schwerer träger
Materie. Die Sonne, die sie hervorgezaubert, ließ uns jedoch im Stich.
Der Nebel teilte sich zwar etwas, aber der Blick reichte nicht weit:
nur braungrasige Kuppen und Berglehnen. Dazu begann es gegen Mittag bei
4230 Meter lustig zu schneien.

Jetzt war es an der Zeit, die tiefgesunkenen Lebensgeister meiner
Peones durch eine reichliche Spende von Maisbranntwein (Chicha) zu
heben, den ich zu diesem Behuf in gehöriger Menge mitgenommen hatte.
Das Zeug schmeckt abscheulich, ist aber den Indianern der höchste der
Genüsse. Die Kerle folgten denn auch dem großen strohumflochtenen
Schnapskrug wie die Sarazenen der Fahne des Propheten.

Glücklicherweise waren wir bald danach auf der Höhe des
langgestreckten, dem Altar vorgelagerten Bergrückens (Loma de
Tunguraquilla). In tausendfachen Windungen läuft der Pfad nahe seinem
Grat um kleine Sümpfe und Bachrisse herum nach Osten, immer durch
struppiges, büscheliges Páramogras, bis er in 4275 Meter Höhe plötzlich
steil nach Südosten in ein breites trogförmiges Tal abbiegt, dessen
tiefgeschluchteten, unpassierbaren Mittellauf wir hier oben auf diesem
Umweg hatten umgehen müssen. Es ist das _Val de Collanes_.

In Regen, Wind und Schnee stiegen wir an den abschüssigen grasigen
Hängen auf dem von Nässe und Lehm glitschglatten Pfad zur sumpfigen
Ebene des Collanes-Tales hinab, ein typisches altes Gletscherbett,
das nach Osten in ein ungeheures, von Schnee und Eis erfülltes
Felsen-Amphitheater übergeht: die _Caldera des Altar_. Ein wundervolles
hochalpines Diorama im Treiben der Nebel. Hier endlich beginnt das
vulkanische Gestein des Cerro Altar. Unten scheuchten wir eine Herde
halbwilder Rinder auf, die stürmisch entflohen wie ein Rudel Hirsche.
Wir folgten dem festen Geröllsaum des Baches, dessen grautrübes Wasser
die »Gletschermilch« verrät, bis an den Fuß der vordern Calderawand, wo
sich oben rechts und links von den Eismassen her zwei alte Moränenwälle
in die Talebene vorschieben und an den Enden miteinander verschmelzen.
Dichter, von Moos und Flechten fast erdrückter niedriger Buschwald hat
ihre Blockhaufen überwuchert, und dort, am untern Rand der südlichen
Moräne, wo es Brennholz und Wasser gibt, fand sich bald ein geeignetes
Plätzchen (3964 Meter) für unsere beiden Zelte, während die Peones sich
abseits eine Zweig- und Grashütte bauten. Es war ein trüber, nasser,
kalter _Lagerplatz_. Wetter und Weg hatten uns allen tüchtig zugesetzt,
neun volle Stunden waren wir von Releche an auf den Beinen gewesen, und
es versteht sich, daß wir nach Einnahme unserer üblichen Reissuppe uns
schleunigst in die trockenen, weichen, warmen Schlafsäcke verkrochen,
mit dankbaren Gefühlen für die seligen Opossums, die uns ihren molligen
Pelz im Dienst der Wissenschaft geopfert hatten.

Am nächsten Morgen war bei hellerm Wetter die Situation klarer. Wir
sahen uns in einem ungeheuern Taltrog, dessen steile, himmelhohe
Felswände sich im Osten zum Kraterzirkus des Altar halbkreisförmig
zusammenschließen. Der gletscherbedeckte Calderaboden (Plazabamba
genannt) liegt etwa 340 Meter über unserm Lagerplatz, und von uns
hinauf ziehen die beiden hochgewölbten Schutt- und Blockwälle, die uns
bekunden, daß die Gletscherzunge, die jetzt dort oben in 4300 Meter
Höhe auf einer steilen Felsstufe endet, sich einst bis hierherunter
zu 3960 Meter Höhe erstreckt hat. In dieser Ausdehnung ist der
Gletscher lange Zeit stationär gewesen, während deren er diese großen
Schuttmassen an seinem Rande absetzen konnte. Als dreißig Jahre vor mir
die deutschen Geologen Reiß und Stübel hier weilten und in wiederholten
längeren Besuchen den vulkanischen Bau des Cerro Altar studierten,
reichte der Kratergletscher noch in einer imposanten Eiskaskade bis an
den Fuß der Felsstufe herab.

Die bezeichneten alten Moränenwälle stellen aber nicht die äußersten
Grenzen der einstigen Gletscherausdehnung dar, sondern der Eisstrom
erstreckte sich in einer noch frühern Periode bedeutend weiter in das
Collanes-Tal hinaus. Wenn wir oberhalb unseres Lagers vom Kamm der
alten südlichen Moräne talabwärts schauen, sehen wir etwa 1½ Kilometer
weiter draußen an der südlichen grasigen Steilwand des trogförmigen
Collanes-Tals bis zu etwa 200 Meter hinauf vier terrassenartige Stufen
ziemlich parallel übereinander und parallel dem Talgrund entlang
ziehen, die mit großen und kleinen Blöcken besetzt sind und offenbar
Abstufungen alter Ufermoränen darstellen. Noch weiter draußen, am
Ende des Taltrogs, schließt ein mehrfach gestufter, bogenförmiger
Schuttwall, eine alte Endmoräne schönster Ausbildung von ungefähr 20
Meter Höhe, das trogförmige, flachsohlige Collanes-Tal querüber ab.

[Illustration: Die Caldera des Cerro Altar, vom Collanes-Tal aus.

Nach einer Zeichnung von Rudolf Reschreiter.]

Bis hierher haben wir also in dem »~U~-Tal« das vollkommene Bild
eines alten Gletscherbettes, in dem der von den Firnmassen der
Caldera genährte Altargletscher vor Jahrtausenden, aber immer noch
in einer geologisch jungen Vergangenheit – denn der Altar selbst
ist nicht älter als pleistozän – als ein bis 300 Meter dicker und
bis 2½ Kilometer langer Eisstrom das Tal erfüllt, ausgeräumt und
ausgeschliffen hat. Dann hat er sich, wie die Moränen zeigen, in
mehreren Abschmelzungsperioden mit dazwischenliegenden Ruhepausen
zurückgezogen, zuletzt bis in den Kraterkessel des Altar, indem er das
rezente Rückzugsgebiet mit frischen Schuttdecken überzog.

[Illustration: Marktplatz in Quito mit Klosterkirche San Francisco.]

Aber noch eine weitere Eigentümlichkeit fällt uns von unserm
Aussichtspunkt aus auf. Die Seitenwände des Tals sind bis zur Höhe
von etwa 300 Meter über dem Talboden an allen Vorsprüngen und Kanten
abgerundet und ausgeglichen. Darüber rücken die Wände in einer schiefen
Terrasse oder Leiste etwas zurück, und oberhalb von dieser sind sie
in allen ihren Formen eckig und rauh. Der untere Teil der Talmulde
mit den abgerundeten Formen ist ganz offenbar ein »Tal im Tale«, und
die Talleiste am Fuß des obern Talniveaus ist ein »Trogrand«, der
Rest eines alten Talbodens, in den der jüngere, tiefere, schmälere
Taltrog eingesenkt ist. Diese und andere glaziale Anzeichen, z. B.
die Hängetäler der Seitenbäche, bestätigten meine Vermutung, daß das
Collanes-Tal das Erzeugnis einer zweimaligen Vergletscherung ist. Näher
will ich hier nicht darauf eingehen.

[Illustration: Hochland-Indianer in Quito.]

Nach beendeter Umschau über das Collanes-Tal stiegen wir auf der
südlichen alten Ufermoräne zum Rand des Kraterbodens (Plazabamba)
empor, wo die Gletscherstirn bei 4300 Meter liegt. Noch deckte Nebel
die Caldera und die sie krönenden Felstürme, als wir uns aufmachten.
Der Anstieg war anfangs bequem durch Geröll, niedriges Gestrüpp und
über grasige Lehnen; aber im letzten Drittel gab es steile Felswände,
und erst gegen 9 Uhr waren wir am Oberrand der Felsstufe, über die das
Gletscherbächlein ins Collanes-Tal hinabrinnt, und betraten frischen
Moränenschutt und Eis. Neben uns ragte die südliche Felswand des
Caldera-Eingangs vertikal auf, bis über 30 Meter hoch hinauf prachtvoll
geschliffen und geschrammt, als hätten viele Tausende schwerer
Lastwagen ihre Radspuren daran zurückgelassen. Auf dem höchsten der
schuttbedeckten Eishügel machten wir im Kraterkessel halt.

Während wir uns zu orientieren suchten, wichen allmählich die Nebel
und gaben den ganzen _Kraterzirkus_ mit Ausnahme der höchsten Grate
und Spitzen frei. Wir stehen wie in einem ungeheueren Kar mit 1000
Meter hohen Steilwänden, aber dieses Kar hat nicht die uns bekannte
Lehnsesselform, die Karwände werden nicht von der Rückenlehne nach
den Seitenlehnen hin niedriger, sondern gerade am Eingang türmen sich
rechts und links die beiden Hauptgipfel empor, der »Canonico« auf der
Nordseite, der »Obispo« auf der Südseite, die mit 5355 Meter und 5405
Meter Höhe alle anderen Teile der Zirkuswände weit überragen. In der
Runde senken sich von den Felswänden große Firn- und Eismassen zum
Zirkusboden hinab, ein im Durchmesser über 1000 Meter weites Eis- und
Schuttfeld. Fünf niedrige, runde Felsbuckel gliedern dieses Eisfeld in
sechs primäre, kleine Gletscher, die zur tiefer gelegenen Mitte sich
vereinen und nun als ein einziger Eisstrom zum Ausgang des Kessels
fließen, der am Ende unter seinem Moränenschutt ganz verschwindet.

Ein auffallender schneebedeckter, etwa 200 Meter hoher Felskegel,
der sich im Kraterzirkus dem Fuß des »Canonico« anlehnt, scheint ein
Eruptionskegel in der Caldera zu sein, durch den sich die letzten
vulkanischen Zuckungen des Berges Luft gemacht haben. Wie in einem
Flußbett nach Ablauf des Hochwassers ein langes Band von allerlei
Rückständen, Schlamm, Sand, Holzstücke usw., am Uferhang liegenbleibt,
bis sie vom Regen abgespült werden, so liegen hier, als Flutmarken des
einstigen Gletscherhochstandes, allenthalben Moränenschuttbänder bis
100 Meter hoch über der jetzigen Gletscheroberfläche an den felsigen
Berglehnen. Rück- und Niedergang des Eises, wohin man blickt!

Die Sonne brannte in der windstillen Caldera nachgerade so kräftig auf
uns herab, daß wir trotz der 4344 Meter Höhe die Röcke auszogen und
unseren Arbeiten hemdsärmelig oblagen. Nach Mittag schien die ganze
Umgebung in langsame Bewegung geraten zu wollen; überall rieselten
dünne Schmelzwässer und knisterte und prasselte der ausgeschmolzene
Sand und Geröllschutt, überall gab nun die Moränendecke rutschend nach,
wenn man sich auf ihr bewegte. Und als wir um ½3 Uhr zur Rückkehr nach
den Zelten aufbrachen, hatte sich das Gletscherbächlein, das am Morgen
nur dünn geflossen war, in einen stattlichen Bach verwandelt, der sich
aus dem niedrigen Gletschertor durch alle die Schuttmassen Bahn brach
und unmittelbar danach als brausender Wasserfall in das Collanes-Tal
hinabstürzte.

Am späten Nachmittag wurde es auch in den höchsten Regionen des Altar
klarer und lichter, und schließlich stand der ganze riesige Berg im
goldenen Licht der Abendsonne vor uns. Die beiden vordersten Ecktürme,
der Obispo und der Canonico, ähneln in ihrer trotzigen Gestalt und
wilden Schönheit dem Eiger und dem Matterhorn. Über 1000 Meter
starren ihre jähen, nur wenig Firn festhaltenden inneren Wände über
dem Calderaboden empor, während die äußeren in zahllosen Steilstufen
abfallen und in mehreren Karen kleine Hängegletscher tragen, die in den
herrlichsten Blaubändern leuchten. Die schönste Firnkuppel des Altar
ist aber die hinter dem Obispo mitten auf der südlichen Zirkuswand
aufgetürmte »Monja grande« (große Nonne). Man begreift schlechterdings
nicht, wie sich die mächtige Firnkappe auf dem steilen Felsturm halten
kann.

Auf der Hinterwand des Zirkus thront gerade gegenüber dem breiten
Eingangstor ein kolossaler, dreizackiger Felsklotz (5294 Meter), der
den Namen »Tabernaculo« erhalten hat. Er liegt auf dem Altar wie ein
Tabernakel zwischen zwei riesigen Kerzenträgern, was wohl die Herren
Reiß und Stübel zu dieser Namengebung veranlaßt haben mag; denn die
hübschen Namen Canonico, Obispo, Monja, Tabernaculo usw. für die
einzelnen Gipfel sind keine landesüblichen, sondern von Reiß und Stübel
verliehene, da es keine einheimischen gibt. Auch auf dem Tabernaculo
und auf vielen Zinnen der nördlichen Zirkuswände lagern mächtige
Firnmassen in hoher Wölbung und mit weit überstehenden Wächten, die der
ständige Ostpassat herübergebogen hat.

Daß der Altar so, wie er heute dasteht, nichts Ursprüngliches ist,
sondern nur die Ruine eines noch größern Berggebildes, haben selbst die
Eingeborenen mit ihrer geringen Beobachtungsgabe gesehen und gedeutet.
Ich habe von Bewohnern Riobambas oft die Meinung gehört, der Berg sei
früher noch höher gewesen als der Chimborazo, sei aber vor einigen
Jahrhunderten durch Erdbeben zum Einsturz gebracht worden. Sie haben
wohl darin, daß der Berg einst höher gewesen und dann zerstört worden
sei, das Richtige getroffen, aber die Zeit haben diese kurzlebigen,
kurzdenkenden Menschen erklärlicherweise viel zu kurz bemessen. Was
können sie wissen, was geologische Zeiträume bedeuten! Der Legende,
daß der Berg gegen Ende des 15. Jahrhunderts in sich zusammengesunken
sei, ist übrigens auch kein Geringerer als A. von Humboldt zum Opfer
gefallen. Er berichtet von einem alten indianischen Manuskript, das
diese Katastrophe beschrieben habe, aber der deutsche Reisende Moriz
Wagner hat später nachgewiesen, daß Humboldt sich »eine Lüge hat
aufbinden lassen«.

Naturgewalten haben allerdings den Berg zu der heutigen Ruine gemacht,
aber diese Zerstörung hat sich allmählich in riesigen Zeiträumen
vollzogen. Sein kolossaler Kraterzirkus, seine Caldera, ist in seiner
Anlage ein Werk vulkanischer Kräfte; er ist dadurch entstanden, daß
mit dem Erlöschen der Eruptionen ein großer Teil der Magmamassen in
den weiten Eruptionsschlot zurücksank, weil die Kraft fehlte, sie
über den Kraterrand hinauszuheben. Es ist der Vorgang der »Sackung«,
wie er an so vielen Vulkanen gerade der Hochanden Ecuadors zu
beobachten ist. Den so entstandenen Kraterzirkus haben aber dann in
unablässiger, jahrtausendelanger Arbeit Wind und Wetter, vor allem das
Eis ausgeweitet, sie haben die steilen Felswände geschaffen, die ihn
jetzt umgeben, sie haben, von innen und von außen angreifend, die hohen
Zinnen und die schmalen Grate geschliffen, die ihn jetzt bekrönen. Die
Ruine des Altar ist ihr Werk.

Als am Abend die gelben, violetten und rosaroten Töne auf Fels und
Firn verblaßten, wurde es sehr schnell kühl (6 Uhr +3°). Aus den nahen
Sümpfen des Collanes-Tales erklang vielstimmiges, melancholisches
Unkenkonzert, und bald drangen von dort Scharen kleiner Stechmücken zu
uns herüber, vor deren Angriffen wir uns in unsere dichtschließenden
Zelte und Schlafsäcke zurückzogen. Als ich in der Nacht, durch den
Donner einer Lawine geweckt, nach dem Wetter sah, lag die stille große
Landschaft in zauberhaftem Mondlicht, und gerade vor uns im Einschnitt
des hochwandigen Collanes-Tals funkelte der Jupiter so blendend und
riesengroß am wolkenlosen Nachthimmel, daß ich zuerst ein Meteor zu
erblicken glaubte. Wer den Sternenhimmel in seiner ganzen Pracht sehen
will, muß in große Bergeshöhen der Äquatorialzone gehen.

Als wir mit steigender Sonne dem Altar Lebewohl sagten und den _Rückweg
nach Releche_ antraten, hatte der Gletscherbach im Collanes-Tal noch
eine dünne Eisdecke. Wir folgten dem Pfad, auf dem wir hergekommen,
und als wir, aus dem Tal auf den Nordhang heraussteigend, die ersten
Kuppen umkreisten, kam plötzlich die Nordwestfront des Canonico in
Sicht, die uns auf dem Herweg im Nebel verborgen geblieben war. Wie da
die prachtvolle Pyramide sich aus den Wolken aufbäumte, entrang sich
uns beiden ein lautes jubelndes Hurra! Auf ihren riesigen schroffen
Südwänden halten sich keine größeren Firnlager, aber auf der uns voll
zugewandten Nordwestfassade steigen Firn und Eis in unzähligen Stufen
und Brüchen über die Felswände zum schuttbedeckten Sockel herab, wo das
Eis in zwei kleinen Gletschern ausläuft.

Beim Aufstieg zur Loma de Tunguraquilla konnte ich wieder einmal die
Leistungsfähigkeit der Peones bewundern. Mit ihren 40 bis 60 Pfund
schweren Lasten auf dem Rücken stürmten diese Burschen eine Stunde lang
ohne Rast den steilen, grasigen Berg hinauf in einem Tempo, daß uns
beiden nur mit Eispickel und Rucksack beschwerten Europäern der Atem
ausging und das Herz zu springen drohte. Oben angelangt, vergossen die
Leute zwar Ströme von Schweiß, waren aber sonst nicht im mindesten von
der Anstrengung ermattet; sie haben Herzen wie eiserne Pumpen.

Diesmal war unser Marsch über diese Páramohöhen sonnig, warm und
aussichtsreich. Ein frischer Wind fauchte im hohen Sigsiggras, wie in
einem heimatlichen Fichtengehölz, kleine Hasen huschten blitzschnell
durch die Grasbüschel, und ein auf Rücken und Seiten blaugrau, an Kehle
und Bauch rotbraun gezeichneter Fuchs jagte über die Hänge. Links,
am fernen Horizont, dehnen sich zwei parallele lichtgraue Bänder in
unabsehbare Weite: die Westkordillere, deren Einzelheiten auf diese
Entfernung schwinden und nur eine unendlich lange gleichförmige,
horizontale Mauer übriglassen; und über ihr in geringem Abstand,
ebenso gleichförmig, ebenso lang, ebenso horizontal, die Schichten der
alltäglichen Mittagswolken. Aber über die endlose Wolkenbank hinaus
ragt als einzige und höchste Landmarke der Gipfel des Chimborazo mit
seiner silberblanken Firnkuppel.

Um ½3 Uhr kam tief unter uns die Mulde von Releche mit den blaugrünen
Seenaugen und der blauen Rauchsäule des Lagerfeuers unserer Arrieros
in Sicht. Um 4 Uhr waren wir unten und verabschiedeten mit einer
reichlichen Libation Feuerwasser und einer klingenden Extrazulage
unsere unermüdlichen Peones, die am selben Nachmittag und Abend noch
bis nach Penipe hinabliefen. Wir selbst folgten am nächsten Tag nach
einer ruhevollen Lagernacht. Um Mittag waren wir wieder in Penipe, und
nach kurzer Mittagspause für Mensch und Tier eilten wir weiter nach
Riobamba.



Der Antisana.


1. Der Anmarsch.

Südlich von Quito, eine halbe Stunde von der Stadtgrenze entfernt,
steht auf der Fußebene des Pichincha eine kleine, 200 Meter hohe
Vulkankuppe von auffallend regelmäßiger Gestalt: Panecillo, das
Zuckerhütchen, nennen die Einheimischen den Hügel. Seine freie,
dominierende Lage (3050 Meter) macht ihn zu einem Aussichtspunkt
ersten Ranges. Der droben Stehende sieht sich von einem mächtigen
Bergkranz umgeben. Im Rücken hat er den breiten, von tiefen
Quebradas zerschluchteten Pichincha, an den sich nach Süden und
Norden in langer Linie die Vulkanberge der Westkordillere anreihen,
fast lauter Viereinhalbtausender und noch höhere, und nach Osten
schweift der Blick über die weite, nach Süden und Osten ansteigende
Mulde des Rio San Pedro und seiner Nebenflüsse weg auf die lange
Bergmauer der Ostkordillere, die hier nicht so viele einzelne große
Vulkangipfel trägt wie die Westkordillere und geschlossener, finsterer,
unzugänglicher erscheint als jene.

Auf keiner Seite hat der Beschauer Schneeberge in seiner Nähe. »Ewige
Schneehäupter« tauchen erst in weiter Entfernung von Quito auf. Im
großen, von breiten Lücken unterbrochenen Halbkreis umziehen sie im
Süden und Osten das Panorama des Panecillo; es sind von Süden her der
doppelzackige Iliniza (5305 Meter), dann der Riesenkegel des Cotopaxi
(6005 Meter), daneben der kleinere Sincholagua (4988 Meter), weiter
östlich die große Stumpfpyramide des Antisana (5756 Meter), darauf
der niedrigere, aber stark vergletscherte Sara-urcu (4725 Meter) und
zuletzt der dem Chimborazo ähnelnde mehrgipfelige, von Eisströmen
übergossene Cayambe (5840 Meter).

In dem großen Halbkreis dieser ragenden Schneehäupter imponierten mir
der Antisana und der Cayambe am meisten, und der Antisana zog mich
vermöge seiner herrlichen Gestalt und seiner starken Vergletscherung
mit magischer Gewalt an.

Für eine Besteigung und Untersuchung des _Antisana_ gibt es nur _ein_
geeignetes Standquartier am Fuß des Berges, den Hato Antisana an der
Westsüdwestseite. Die Reise dorthin von Quito läßt sich in zwei Tagen
über den Rio San Pedro und die Orte San Rafael, Pintac, Hacienda
Pinantura und den Paß Puerta de Guamani machen. Am 26. Juli früh
brach ich mit Herrn Reschreiter und meiner alten Karawane von drei
Einheimischen und zehn Mulas nach Osten auf. Zuerst führte die Straße,
die theoretisch auch zum Fahren bestimmt ist, steil zum Bergrücken
Poingasi hinan.

Droben öffnet sich plötzlich vor uns das Land zu unseren Füßen.
Das Auge schweift freudig über die sonnige, weite Quitomulde mit
ihren unzähligen Hügeln und grünen Feldern, Haciendas und Dörfern,
Baumgruppen und Bachschluchten. Ein ungewohntes Kulturlandschaftsbild
im ecuatorianischen Hochland.

Auf einem fürchterlich gepflasterten Serpentinenweg geht es dann
zum Rio San Pedro hinunter. Die Mulas rutschen und stolpern; wer
hier stürzt, bricht unfehlbar das Genick. Aber wäre der Weg nicht
gepflastert, so wäre er an dem steilen Berghang in der Regenzeit
monatelang überhaupt nicht passierbar. Das läßt man sich wohl in
der »Provinz« gefallen, aber nicht hier in der Nähe der Hauptstadt,
deren reiche Leute ihre Haciendas draußen in der Quitomulde haben und
jederzeit mit ihnen verkehren wollen.

Eine alte Steinbrücke führt uns unten über die tiefe, kaum 10 Meter
breite Quebrada eines Nebenflusses des Rio San Pedro, in deren Grund
die tuffbraunen Fluten gurgeln. Lotrecht und glatt wie mit dem
Spaten sind die Wände des Cañons in den Tuff eingeschnitten, und
diese Tuffmassen, diese klammartigen Erosionsschluchten treffen wir
fernerhin überall in der Quitomulde, wo wir Bäche zu passieren haben.
Jenseits des Dorfes Conocoto (2594 Meter) überschritten wir auf einer
neuen Eisenbrücke die schäumenden Wasser des stattlichen, 20 Meter
breiten Rio San Pedro und kamen durch Staub und Glut nach Mittag im
Städtchen Sangolqui (2561 Meter) an, wo uns die übliche Staffage der
ecuatorianischen Provinzstädtchen umgab: baufällige, wegen der Erdbeben
nur einstöckige Häuser; Schmutz, Schweine und Hühner auf den Straßen,
wenige und lumpige Menschen.

Ganz allmählich hebt sich unser Terrain ostwärts. Zur Linken
haben wir den frei in der Talebene stehenden, stark abgestumpften
Vulkankegel Ilaló (3161 Meter), weiter zur Rechten erheben sich die
breiten Sockel des Pasochoa (4255 Meter) und des Sincholagua (4988
Meter). In der Lücke zwischen beiden erscheint aber in der Ferne
der Wunderberg Cotopaxi mit seinem ungeheuern, schnurgerade nach
Osten hinausflatternden Wolkenschleier. Auf seiner wolkenfreien
Nordwestflanke glitzern drei Gletscher im Sonnenlicht.

Die Sonne stand schon tief zwischen dem Pichincha und dem Atacatzo, als
wir in das kleine Kirchdorf _Pintac_ (2925 Meter) einzogen. Da aber das
Nest bitterwenig einladend aussah, ritten wir ohne Aufenthalt nach der
Hacienda Pinantura weiter, die nur eine kleine Stunde entfernt sein
sollte. Erst ging es auf langgestreckten, buschbewachsenen Höhenrücken
entlang, in deren graugelbe Tuffmassen der Reitpfad durch langjährige
Benutzung oft mehrere Meter tief eingeschnitten war. Darauf wurde
die Landschaft mehr und mehr páramoartig. Schon schlichen nächtliche
Schatten aus den Niederungen an den Bergen empor. Plötzlich standen wir
am scharfen Rand einer düstern Talschlucht, der _Quebrada Guapál_, die
in der Dämmerung nur noch tiefer erschien, und sahen im Abendschein am
jenseitigen Rand die Hütten der Hacienda Pinantura. Da hinabzureiten
wäre in der Dunkelheit für einen Ortsunkundigen Selbstmord; nur unser
Führer riskierte es. Wir andern tappten und rutschten zu Fuß auf dem
steinigen, tiefgefurchten, buschbewachsnen Pfad hinter ihm her, unsere
Tiere am Zügel nachziehend. Es war stockfinstere Nacht geworden,
und der dünne Schimmer der Mondsichel drang nur mit vereinzelten
Blinklichtern ins Dickicht. Alle paar Minuten lag einer von uns am
Boden und machte seinem Zorn und Schmerz durch einen kräftigen Fluch
Luft. Wer das letztere noch nicht gekonnt hat, der lernt es in Ecuador.
Endlich brausten unter uns die Wasser im Talgrund. Ohne eine Spur davon
im Dickicht zu sehen und ohne zu ahnen, wohin es ging, kletterte ich in
der Finsternis auf meine herangezogene, widerstrebende Mula und ließ
sie gottbefohlen ihren Weg im Dunkeln suchen. Sie folgte, vorsichtig
tastend und laut schnaubend, dem Tier des Führers, aber langsam
landete mich das brave Tier am andern Ufer ohne Sturzbad. So ging es
dicht hintereinander durch vier reißende Bacharme. Beim vierten half
schon das einfallende Mondlicht mit, und allmählich näherten wir uns
dem jenseitigen Oberrande der Quebrada, wo die Hütten der _Hacienda
Pinantura_ (3174 Meter) vor uns auftauchten. Ein altes Weib öffnete
auf des Führers Zuruf das verrammelte Tor. Wir nahmen vom sogenannten
Zimmer des Mayordomo Besitz, wo neben Haufen von Kartoffeln und Mais
ein zerbrochener Tisch und ein Möbel standen, das einst vermutlich
ein Sofa gewesen war, und in der Ecke sogar eine Art Bettstelle mit
Strohsack. Alles klebte von Schmutz; die aus Lehm zusammengepatzte
Stubendecke war, wie gewöhnlich, halb heruntergefallen, und natürlich
war es hundekalt, da ebenso natürlich kein Ofen vorhanden war. Aber
unsere Schlafsäcke halfen uns über alle Widrigkeiten hinweg.

Vor Sonnenaufgang des nächsten Morgens trat ich vor die Haciendamauer
an den Rand der düstern Quebrada Guapál. Darüber hinweg weitet
sich eine wundervolle Aussicht nach Westen über die große, langsam
westwärts sich senkende Ebene der Quitomulde bis zum fernen dunstigen
Pichincha, der langgestreckt und mit sanften Hängen das Panorama im
Westen abschließt. Seine breiten Gipfel heben sich nur wenig über
die flache Wölbung des schildförmigen Massivs, der höhere Südgipfel
(Guagua-Pichincha 4787 Meter) mit ein wenig Schnee, aber ohne die
leiseste Spur eines Kraterwölkchens.

Nach Osten schweifte der Blick über die leicht ansteigende Ebene
bis zum breitbuckeligen, felsigen Sincholagua, dessen kleiner
Gipfelgletscher im Morgenlicht rosig schimmerte, und südwestlich hinter
seinen langen dunklen Ausläufern leuchtete aus der Ferne die oberste
Firnkuppe des Cotopaxi herüber, der eine zarte orangerote Dampfwolke
entflatterte wie eine feingetönte Straußenfeder.

Die schnell aufsteigende Sonne mahnte zum Aufbruch. Mit nur fünf
Peones im Gefolge, die am Antisana unser Gepäck von den Maultieren
übernehmen sollten, ritten wir los. Der Pfad führt langsam an der
steilen Innenwand der Quebrada bergan. Unsere ganze Aufmerksamkeit war
aber nun von einem auf der Talsohle liegenden Lavastrom, dem _Volcan de
Antisanilla_, gefesselt, dem größten Lavastrom Ecuadors.

Sein Ende liegt bei 3045 Meter im Talgrund, und bis dahin zieht der
»Volcan« (Lavastrom) wie ein riesiger Damm oder wie ein hochgewölbter
Gletscher in der Quebrada entlang. Im Endteil hat er noch eine
Mächtigkeit von etwa 130 Meter bei etwa 200 Meter Breite. Seine
Oberfläche erreicht aber nirgends ganz das Niveau der oberen Talränder.
Oft ist er in der Mitte seiner Laufrichtung eingesunken und rechts und
links von großen Längskämmen überragt. Man sieht dem Volcan überall
die allmähliche Erstarrung in langsamer Bewegung an. Er ist dick mit
Trümmern bedeckt, so daß man das Ganze leicht für bloße Schuttmassen
halten kann.

Hell hebt sich bei Sonnenlicht der graubraune Lavastrom von den
grünen baum- und buschbewachsenen Talwänden der Quebrada Guapál
ab. Seine Oberfläche hat aber doch trotz seiner Jugend schon einen
grünlichen Anflug, stellenweise sogar einen Überzug von Vegetation.
Es sind Flechten, kleine Gräser, Farne, Steinbrechstauden und
niedriges Gestrüpp, die sich auf seinen harten Blöcken, Schlacken
und Sanden angesiedelt haben. Für die Dauer dieses stillen, aber
harten Kampfes der Pflanzen um neuen Boden haben wir gerade im
Lavastrom von Antisanilla einen guten Maßstab an seinem ziemlich genau
festzustellenden Alter. Wie Theodor Wolf nachgewiesen hat, war der
Lavastrom 1767 schon vorhanden, und da Humboldt eine Eruption des
Antisana aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, »wahrscheinlich von
1728«, erwähnt, aber von weiteren Ausbrüchen nichts berichtet wird, so
kann man mit ziemlich großer Sicherheit das jetzige Alter des Volcan
auf 1¾ Jahrhunderte berechnen.

Nach kurzem Ritt schwenkten wir aus der Quebrada Guapál südwärts ab
und kamen draußen auf dem Plateau wieder in eine Zone von bösartigen
Tuffen, in die sich die Reitwege noch tiefer eingeschnitten haben als
in die Tuffe zwischen Pintac und Pinantura. Steil geht es dann über
grasige Páramohügel hinauf, wo die höchsten kleinen Gerstenfelder der
ganzen Gegend bei 3380 Meter liegen, und endlich durch ein primitives,
das Vieh abhaltendes Holzgatter, die Puerta de Guamani (3544 Meter).
Hier stehen wir plötzlich wieder am Rand der Quebrada Guapál und
haben darin von neuem den Lavastrom von Antisanilla vor uns, und zwar
in seiner großartigsten Mittelpartie. Hier wälzt er sich auf der
uns gegenüberliegenden nördlichen Talseite, unsichtbar woher, einem
versteinerten Katarakte gleich, über den Rand der Quebrada und über die
hohe Talwand hinab in den Talgrund.

Breit und mächtig wie der Niagarafall kommt er über den Talrand
herunter. Es muß ein Schauspiel sondergleichen gewesen sein, als hier
seine Schlacken und Blockmassen in furchtbarem, unaufhörlichem Drängen
und Schieben, getrieben von der unsichtbaren Gewalt des glühenden
Magmainnern, mit Knirschen, Krachen und Donnern in die Tiefe des Tals
stürzten, wo der wütende Kampf mit den Bachwassern begann, und als dann
im Tal die ungeheure höllische Schlange dampfend und lärmend, träge,
aber unaufhaltsam weiterkroch.

Die Sonne hatte es den ganzen Vormittag gut mit uns gemeint. Dann
hatten verdächtige lange Cirrusstreifen immer dichter den Zenit
umschleiert, und nun begann es, je weiter wir auf die offenen Páramos
hinaufkamen, immer steifer aus Osten vom Antisana her zu blasen. Dort
hing dickes Gewölk tief herunter und gönnte uns keinen einzigen Blick
auf den nahen Schneeriesen. Bei 4000 Meter rasteten wir in einer
flachen Mulde inmitten einer wunderbaren Flora von kniehohen Culcitien,
die hier zu Hunderten ihre hellgrauen pelzumhüllten, von faustgroßen
grauen Blütenköpfen beschwerten Gestalten zwischen dem dunklen Grün der
Werneriapolster emporstreckten.

Jenseits der Culcitienmulde erschien endlich vor uns im wehenden Nebel
die längliche strohgedeckte Steinhütte des _Hato del Antisana_ (4095
Meter), die wir um die Mitte des Nachmittags erreichten. Nachdem die
Hacienda, die früher hier gestanden hatte, in den neunziger Jahren
abgebrannt war, benutzt man jetzt die daneben in einer windgeschützten
Bodensenke gelegene Hütte als Hato. Er ist mit 4095 Meter eine
der höchstgelegenen menschlichen Wohnungen Ecuadors. Als Bewohner
fanden wir drei indianische Hirten vor, die den mittlern Raum für
uns freigaben. Es sind nur vier rohe Steinmauern mit dem Grasdach
darüber, ohne Fensteröffnungen und ohne Rauchabzug. Hier machten wir
Standquartier für unsere Antisanatour.

Zwischen uns und dem Berg zieht welliges Páramogelände, eine
grünlichbraune Hochsteppe, leicht hinan, durchwunden vom rötlichgrauen
Band eines mächtigen jungen Lavastroms, des Guagraialina-Volcans. An
der Stelle, wo dieser am westlichen Bergeshang hervorkommt, legt sich
um die uns zugekehrte südwestliche und westliche Bergseite zwischen
4500 und 4800 Meter Höhe ein breiter Gürtel von hellgrauem frischen
Moränenschutt, und darüber strebt das schneeige Bergmassiv des Antisana
zu zwei runden Gipfeldomen himmelan; rechts der steilere, von schroffen
Felswänden getragene Südgipfel (5620 Meter), links der höhere, breitere
Nordwestgipfel (5756 Meter), dazwischen ein etwas niedrigerer zackiger
Sattel mit dem kleinen, spitzen Westgipfel; alles überzogen von einem
ungeheuern Firn- und Eismantel, der, in den oberen Bergpartien wild
zerrissen, in den unteren sanft ausgeglichen, bis zur Moränenzone bei
4800 Meter herabwallt.

Den ersten vergeblichen Versuch, den Antisana zu besteigen, hat
Alexander von Humboldt 1802 gemacht. Nach ihm ist Alphons Stübel am 25.
September 1871 bis zu 5493 Meter Höhe gelangt. Bezwungen worden aber
ist auch dieser Berg bisher nur durch Edward Whymper am 10. März 1881.
Wir haben vom 28. bis 30. Juli 1903 an und auf dem Eis des Antisana
gearbeitet und die Westseite bis über Stübels höchsten Punkt auf dem
Mittelgrat bestiegen.


2. Die Besteigung.

(Siehe Karte, Seite 130.)

Wir hatten in aller Klarheit auf dem offen vor uns ausgebreiteten
Bergpanorama die Richtung ausfindig gemacht, in der ein Vordringen
in die höchsten Regionen möglich erschien, und wollten oben von der
Ursprungsstelle des Guagraialina-Lavastroms, der hier unten am Hato
del Antisana endet, über die Firnfelder hinauf zum Sattel zwischen den
beiden Gipfeln aufsteigen, um dann eventuell nordwärts dem Hauptdom
zuzustreben. Das war im allgemeinen auch Stübels und Whympers Route.

[Illustration: Der Canonico (5355 ~m~), Nordgipfel des Cerro Altar.

Nach einer Zeichnung von Rudolf Reschreiter.]

In der Frühe des 28. Juli lag um unsern Hato dicker Reif bei 2° Kälte,
und die Luft war unsichtig von Nebel. Als aber um 7 Uhr die Sonne über
den Eiskamm des Antisana herüberblitzte, brachen wir auf und ritten
an der Westseite des Lavastroms entlang über ebene Páramoflächen
bergan. Der Pfad war gut, das Wetter schön, der Wind noch linde. Der
Antisana hatte eine prachtvoll kuppelförmige, weiße Wolkenhaube über
seine beiden Gipfel gestülpt, die ihn als einen einzigen ungeheuern
Schneedom erscheinen ließ. Vom Rand der Haube flossen fortwährend
kleine Wolkenzüge nach der Westseite herab und verflatterten schnell;
das nämliche schöne, aber nichts Gutes versprechende Spiel, wie wir
es am obern Chimborazo erst angestaunt und dann schmerzlich zu fühlen
bekommen hatten.

[Illustration: Nordwestseite der Caldera des Cerro Altar.]

Zu unserer Rechten zog der _Guagraialina-Volcan_ hochgewölbt und
blockig einher. Nach einer Stunde kletterte unser Pfad an einer
günstigen, sattelartigen Stelle über den Lavawall weg. Und da lohnte es
sich wahrlich, eine kurze Umschau über dieses merkwürdige Gebilde der
jüngsten vulkanischen Tätigkeit des Antisanakegels zu halten. Wie eine
dunkelbraune, grüngefleckte Riesenschlange windet sich der Lavastrom
von der mittlern Westseite des Antisana auf den leicht abfallenden
unteren Berghängen herab. Wir sehen ihn oben (bei 4700 Meter) unter den
Moränenhalden der Eisgrenze hervorkommen. Er ähnelt im Aussehen und in
der Gestalt sehr dem Antisanilla-Volcan, aber er ist weder so lang noch
so hoch noch so breit wie jener; seine Länge mißt etwa fünf Kilometer,
seine Höhe in den mächtigsten Teilen 40 bis 50 Meter, seine Breite bis
zu 500 Meter. Auch dieser Volcan erscheint wulstförmig, dammartig, hat
steile Seitenböschungen und eine unregelmäßig hügelige Oberfläche. In
der Mittelachse seiner ganzen Längserstreckung ist er mehr oder weniger
eingesunken, so daß er eine breite Rinne mit höheren Seitendämmen
bildet. Die Entstehung ist klar: Während die Seitenteile des Lavastroms
schnell erkaltet und erstarrt sind, ist die glühende Lava zwischen
ihnen weitergeflossen. Allmählich erstarrte auch die ganze Oberfläche,
und die Lava floß, immer zäher und träger werdend, wie in einem Tunnel
weiter. Als dann der Inhalt des Tunnels ausgeflossen war, sank die
Oberfläche des Tunnels ein.

[Illustration: Der Hato del Antisana (4095 ~m~).]

Der Guagraialina-Volcan ist aber nicht der einzige seiner Art
am Antisana. Von seinem Rücken aus sehen wir am Südwesthang des
Berges, nahe der Eisgrenze, ebenfalls unter dem hellgrauen Kranz
von jungen Moränen einen zweiten, kürzern, aber im Endteil breitern
Volcan herauskommen, der dem unsern in seiner ganzen Erscheinung
gleicht. Seinen Namen Sarahuazi (Maisberg) führt er von den vielen
gelblichen Bimssteinbröckchen, die an seinem obern Ende (4715 Meter)
aufgeschichtet liegen.

Schließlich trifft nördlich von uns unser suchendes Auge auf einen
dritten Lavastrom, den Yana-Volcan (~yana~ = schwarz oder dunkelbraun),
den höchstragenden von allen, der wie eine schwarze zackige, 50 bis
60 Meter hohe Mauer aus der Eisdecke des Antisana bei 5050 Meter
heraustritt und das weiße Firnfeld durchschneidet, aber nahe unter der
Eisgrenze mit etwa 300 Meter Breite endet. Er sieht noch frischer aus
als der Guagraialina und hat noch mehr als dieser eine ausgeprägte
Rinnenform.

Vom Ostfuß des Guagraialina eilten wir in einem breiten Bachtal dem
Westgletscher des Antisana entgegen, der oben in das Tal mündet.
Links von der Gletscherzunge wurde auf den obersten Felsen des
Guagraialina-Volcan unser in Aussicht genommener Lagerplatz sichtbar.
Dorthin hatten wir eine alte grasbewachsene Ufermoräne des einst so
viel längern Gletschers zu erklettern, die mit schönen Aufschlüssen bis
zu etwa 4200 Meter Höhe herabreicht. Um ½11 Uhr waren wir nach längerm
Stolpern und Steigen über Schlacken und Sande mit unseren Tieren auf
dem obersten kleinen Grasfleck angelangt, wo im Schutz einiger großer
Lavablöcke die _Zeltchen aufgeschlagen_ wurden (4695 Meter). Ich
schickte die Karawane nach dem Hato hinunter, von wo sie uns in zwei
Tagen abholen sollte. Bei uns blieben Santiago und unser indianischer
»Führer«, der aber nie vorher hier oben gewesen war.

Der _Pflanzenwuchs_ dringt auf unserm Volcan in einer langen Zunge
weit in die vegetationslose Zone der jungen Moränen vor, die rechts
und links von unserm Lavadamm sich bergab erstrecken. Am ganzen
westlichen Antisana rückt die Vegetation in ziemlich geschlossener
Gras- und Staudendecke bis dicht an die Moränengrenze hinan. Es fehlt
hier jener öde Gürtel von Bimssteinanhäufungen, der am Chimborazo
und am Cotopaxi von der Moränengrenze an noch einige 100 Meter
tiefer am Berg hinabreicht und dem Andrang des vegetabilen Lebens
äußerst lange und zähe Widerstand leistet. Es fehlt aber auch, da
die Schneegrenze des Antisana wegen seiner großen Feuchtigkeit
verhältnismäßig tief liegt, jene sterile Zone von Gehängeschutt, die
sich auf Bergen mit hochliegender Schneegrenze, wie dem Chimborazo,
zwischen die Moränen und die Vegetationsgrenze aus klimatischen Gründen
einschiebt. Auf unserm in die Eiswelt eindringenden Lavastrom, der
wie eine schmale Halbinsel in ein Polarmeer hineinragt, verschwinden
mit zunehmender Höhe von etwa 4300 Meter an allmählich die höheren
Gräser; die geselligen Kräuter überwiegen, aber kleine Gräser und
Zwergsträucher sind noch zahlreich eingestreut. Von 4500 Meter an
wird die Vegetationsdecke immer offener und dünner, aber noch am
Rand der sterilen, den Oberteil des Volcans verschüttenden Moränen
bei 4700 Meter ist das Wachstum so kräftig, daß man annehmen muß,
diese Formation, die man wohl am besten als Fels- und Geröllformation
bezeichnet, würde, wenn der Lavastrom noch 100 bis 200 Meter höher
hinauf reichte, in langsamer Auflösung ebenso hoch hinaufgehen, ehe
sie an den klimatischen Extremen ihre letzte Schranke findet. Nur
die tiefliegende Eisgrenze des Antisana, nicht extreme Temperaturen
oder extreme Trockenheitsgrade lassen hier die Vegetation nicht höher
steigen.

Es ist eine prächtige _Gletscherlandschaft_, die unser Zeltlager in
der Runde umgibt. Zum Berg hingewandt haben wir rechts von uns und
über unserm Lavastrom die lange Eiszunge des Westgletschers, links
einen höher am Berg endenden kürzern Eisstrom, beide auf mächtigen
Moränenkegeln ruhend, und weiter das große Firnfeld, dessen weite
Flächen sich zum Sattelkamm zwischen den beiden Antisanagipfeln
hinanheben.

Während Herr Reschreiter ein farbiges Bild des Westgletschers zu malen
begann und unser Cholo zwischen Felsblöcken eine Küche zurechtmachte,
stieg ich mit Santiago, der allerlei tragen mußte, auf den
Moränenhügeln zum Eis des _Westgletschers_ empor. Dabei bemerkte ich
etwa 50 Meter unterhalb des offenen Gletscherfußes an Wasserrissen, daß
unter dem Schutt das pure Eis liegt. Auf dem rutschigen Schutt kamen
wir in einer Stunde auf das Eisfeld selbst hinauf (bei 4900 Meter),
wo nach rechts und links der West- und der Guagraialinagletscher
abzweigen; aber nördlich vom Guagraialinagletscher tritt nun noch
ein anderer längerer Eisstrom hervor, der dort gegen den dunklen
Yana-Volcan anströmt und von ihm in zwei wildbewegte Arme gespalten
wird. Ich nenne ihn Yanagletscher. Die blauweißen Eismassen
kontrastieren scharf mit dem dunkelbraunen Lavastrom, den sie
umschließen. Trotzdem spricht sich in der langgezogenen, gewundenen
Gestalt und in den schrundigen, zackigen Oberflächen beider eine
gewisse Verwandtschaft zwischen dem erstarrten Feuerstrom und dem
erstarrten Wasserstrom aus. Aber das ganze Landschaftsbild sagt uns,
daß die Erstarrung des Wasserstroms keine Bewegungslosigkeit ist. An
geologischen Zeitmaßen gemessen, erscheinen die Firn- und Eisfelder des
Antisana in ihrem großen Zusammenhang als ein bewegtes Meer, das gegen
den breiten Küstensaum der Moränenzone anbrandet und ihn da und dort
mit der mächtigen Spritzwelle einer Gletscherzunge überflutet. Auch
dieses Meer hat seine Gezeiten, in denen es als Ganzes zurückweicht
oder vordringt, aber ihre Dauer rechnet nach Tausenden von Jahren.

Diese Gletscher des westlichen Antisana sind nicht in Tälern
eingezwängte Eisströme wie unsere alpinen, sondern Zipfel des großen,
den Antisanakegel umhüllenden Eismantels, die da über den im ganzen
gleichmäßig verlaufenden Saum des Mantels vorspringen, wo in kaum
bemerkbaren Bodenvertiefungen das Eis mehr hindrängt als an anderen
Stellen. Lange Gletscherzungen können sich nicht bilden, da wegen
der Kegelgestalt der Berge das Zehrgebiet der Eisdecke breiter ist
als das Nährgebiet. Es handelt sich also am Antisana um sogenannte
»Firngletscher«.

Auf dem schneebedeckten Eisfeld über dem Westgletscher wanderten
wir wie im bequemen Spaziergang bergan. Es ist lauter Gletschereis,
was wir unter den Füßen haben. Wohl ein Kilometer breit und fünf
bis sechs Kilometer lang, bedeckt dieser untere Saum des großen
Antisana-Eismantels die schwachgeneigten niederen Hänge des Berges.
Bergaufwärts ist das Eisfeld anfangs ganz spaltenlos, geht dann aber
mit dem Beginn der starken Steigung in große Eisbrüche über, die für
den obern Antisana charakteristisch sind. Der Schneeüberzug unseres
Eisfeldes war körnig und fest und trug vorzüglich. Weithin glänzte die
Oberfläche von blankem »Eisfirnis«. Ich sah, daß wir am nächsten Tag
anfangs leichtes Spiel haben würden. Das Nebeltreiben um die Gipfel
beruhigte und lichtete sich zeitweilig, so daß ich photographieren und
mit dem Fernglas die Firnfelder der Gipfelregion und des Sattelgrates
inspizieren konnte. Da sah ich u. a., daß dort oben viele der dem Wind
und der Sonne stark exponierten Firnkuppen und Hänge jene eigenartige,
in zahllose Klippen und Zacken zerfressene Oberfläche (Nieve penitente,
Büßerschnee, Zackenfirn) hatten, wie wir sie schon in den obersten
Regionen des Chimborazo beobachtet hatten. Sie sind hier wie am
Chimborazo auf die oberste Region von etwa 5400 Meter an beschränkt, wo
der Wind, die Sonnenstrahlung, die Lufttrockenheit und die Verdunstung
am stärksten und wo die durchlässige Firndecke am dicksten und noch am
wenigsten fest vereist ist.

Von dem flachen Schneefeld, wo der Westgletscher abzweigt, stiegen
wir auf die Zunge des Gletschers; sie ist von der Wurzel (etwa 4900
Meter) bis zum Ende (4580 Meter) etwa anderthalb Kilometer lang. Mit
steilen, oft senkrechten Seitenwänden von 10 bis 15 Meter Höhe hebt
sich die langgestreckte Eismasse über die Schutthalden, die ihren Fuß
bedecken. Der Gletscher schmiegt sich nicht wie unsere Alpengletscher
mit flachgeböschter Oberfläche in sein konkaves Bett, sondern ragt
dammartig daraus empor wie einer der oben geschilderten Lavaströme.
Querspalten sind zahlreich, aber nicht tief und meist mit Schnee
gefüllt. Je näher dem Zungenende, desto mehr zerklüftet und an den
Seiten zerschmolzen ist der Gletscher, und schließlich löst er sich in
ein großes Haufenwerk von Séracs und bizarr gestalteten Schmelztrümmern
auf, unter denen der Eisfuß wie ein zäher Teig breit ausläuft.

Vor der Gletscherstirn (4580 Meter), die sich auf einem hohen
Schuttkegel erhebt, liegen vier konzentrische Moränenbögen und
bezeichnen vier Haltepunkte im Rückgang des Gletscherendes. Die
unterste Grenze dieser jungen Endmoränen ist bei etwa 4500 Meter
zu ziehen. Und darunter dehnt sich ein Rundhöckergebiet älterer
Gletscherwirkung, deutlich erkennbar bis zu ungefähr 4200 Meter hinab
und etwa 600 Meter breit, zum südlich benachbarten Lavastrom Sarahuazi
hinüber aus.

Ins _Lager_ zurückgekehrt, fanden wir zwei zufriedene Menschen vor:
Herr Reschreiter war vergnügt, weil ihm seine Farbenskizze des
Westgletschers vortrefflich gelungen war, und der Cholo schmunzelte,
weil er einen delikaten Locro zustande gebracht hatte. Als wir den
beiden Kunstwerken die gebührende Ehre angetan hatten, legten wir
uns an den Felsen in die warme Sonne, schauten den Rauchwölkchen
unserer Tabakspfeifen nach und dachten an weiter nichts als an die
Schönheit der Welt. Den ganzen Tag war es auffallend windstill und
warm gewesen. Nirgends auf unserer Reise in Hochecuador haben wir
einen so windstillen Lagerplatz gehabt wie hier. Obwohl wir oben die
vom Ostwind getriebenen Wolken über den Firnsattel wie einen breiten
Wasserfall herabgleiten und zerfließen sahen, spürten wir doch hier
in 4700 Meter Höhe kaum einen Hauch. Wir waren im Windschatten des
Berges. Erst spät am Nachmittag gewannen die aufsteigenden Luftströme
die Oberhand, und mit ihnen zogen schwere Nebel von unten herauf
und umwirbelten uns gegen Abend erst mit Graupeln und dann mit
feinflockigem Schnee, so daß wir bald ein weißes Zeltlager hatten. In
der Nacht klärte es sich auf, aber nun fegte der allnächtliche Fallwind
stoßweise vom Berg herunter und drückte die Temperatur auf –2°.

Am Morgen waren die Zelte steif gefroren, der Schnee draußen hart.
Aber die erhoffte Klarheit war mangelhaft. Der Berg hatte seinen
üblichen großen runden Wolkenhelm und überschüttete uns schon wieder
mit einzelnen Graupelböen. Im Westen hingegen, nach dem interandinen
Hochland und seinen Vulkanbergen hin, war es herrlich klar. Dort
präsentierte der Cotopaxi im rosaroten Morgensonnenglanz seine
beschneite Nord- und Ostseite. Auf der Nordseite strecken einige
lange Lavaströme ihre dunklen Grate bis zu etwa 5000 Meter Höhe
in den Schneemantel hinauf, während auf der Ostseite der dort nur
wenig gezackte Saum der Firn- und Eisdecke bis etwa 4400 Meter und
stellenweise 4300 Meter herunterreicht. Ein feiner Puder von Neuschnee
lag auf der Ostseite des Cotopaxi bis zu etwa 4000 Meter herab; auf
den Osthängen des Sincholagua ungefähr ebenso tief, aber auf denen des
Rumiñagui, des Corazon und des Iliniza, die schon nahe an oder auf der
Westkordillere stehen, beträchtlich höher.

Während es bei uns leise weitergraupelte, setzte ich mich nach 7 Uhr
mit Herrn Reschreiter und Santiago bergauf in Bewegung. Sobald wir aus
unserm Felsenschutz heraus waren, überfiel uns gleich der pfeifende,
eisige Wind und der uns entgegenstiebende körnige Neuschnee. Um 8 Uhr
waren wir über die Moränen weg an der Eisgrenze bei 4900 Meter Höhe,
und nun ging es mit dem Seil auf dem festgefrorenen Schneefeld flott
bergan. Das ganze Firnfeld schien gegen uns in Bewegung zu sein: in
Tausenden von kleinen Strömen floß der windgetriebene Hochschnee auf
uns zu. Noch legten sich uns keine Spalten in den Weg, und noch hatten
uns die vom Mittelgrat herabflutenden Wolken nicht erreicht. Aber
nach einer Stunde begannen mit der stärkern Steigung des Berghanges
die Spalten bei 5100 Meter Höhe. Da sie großenteils mit Neuschnee
verweht waren, hieß es vorsichtig sein. Herr Reschreiter, der hier
als vorderster am Seil ging, sondierte mit dem Pickel Schritt für
Schritt, aber plötzlich brach er durch und saß bis an die Brust
in einem Loch, während sein Unterkörper frei über der Tiefe hing.
Glücklicherweise fand er für seine Fußspitze einen Stützpunkt in der
Spaltenwand. Behutsam verankerte er sich seitwärts mit dem Pickel im
festen Eis, langsam drehte er sich auf die Seite, langsam zogen wir mit
gegengestemmten Pickeln am straffen Seil, und nach ein paar Sekunden
konzentrierter Kraftanspannung standen wir wieder beieinander.

Nun ward von uns noch vorsichtiger, noch langsamer vorgegangen. Wir
hielten die Richtung auf einen großen Eisturm nahe unter dem Sattel
zu, von wo ein Traversieren durch das Klüftegewirr ostwärts zum Kamm
hinauf möglich erschien. Der Schnee war nun, als wir in die Region der
jagenden Wolken kamen, oft zu brett- oder schindelartigen, ein bis zwei
Finger dicken, flachliegenden Wehen angeblasen, die aber ganz gut
gangbar waren. Spalte nach Spalte wurde überschritten oder übersprungen
oder umgangen. So oft die Luft etwas klarer wurde, machte ich eine
photographische Aufnahme mit der Handkamera. Gegen 11 Uhr standen wir
mitten in dem großartigsten Eisgeklüfte. Rechts und links und vor uns
klafften dunkle Schlünde und starrten Wände und Türme und Zinnen von 20
bis 35 Meter Höhe empor, alles um so phantastischer, als es, von Nebeln
mehr und mehr umweht, gespenstig da und dort plötzlich auftauchte und
wieder verschwand. In den Spalten schimmerte das Eis je nach der Dichte
und Beleuchtung hellblau und meergrün und in größerer Tiefe ultramarin
und braunviolett.

In vielen Windungen die Séracs und Spalten umgehend oder auf vereisten
Schneebrücken überschreitend, gelangten wir allmählich in das Niveau
des großen Eisturms, der uns von Anfang an die Richtung gewiesen
hatte; aber der Firnhang wurde immer steiler und schwieriger, der
Wind immer wütender, der Nebel immer dichter, das Schneestieben immer
toller. Trotz der schweren Arbeit fühlte keiner von uns besondere,
aus der Bergeshöhe resultierende Beschwerden. Santiago, der sich mit
Tüchern wie ein altes Bauernweib eingebunden hatte, wimmerte bisweilen
ein wenig, aber er hielt aus. Unsere dicken Schneehauben bewährten
sich wieder vortrefflich. Darüber aber waren wir von Schnee und Eis
inkrustiert wie der berühmte Eispeter im Bilderbuch von Wilhelm Busch.
Endlich betraten wir einen ziemlich breiten Firnrücken vor einem
Steilabsturz; unter uns ein graues, düsteres Nebelchaos. Das war die
_Caldera des Antisana_ und unser Standpunkt der Sattel zwischen den
beiden Gipfeln (5505 Meter). Zu sehen war aber hier so gut wie nichts.
Nur das stand fest, daß wir bei dem Wetter nicht daran denken konnten,
über die Klüfte und Wände, die uns noch vom Hauptgipfel trennten,
wegzukommen. Der erste Versuch, den ich machte, führte uns gleich an
einen Schrund von über 20 Meter Breite und unsichtbarer Tiefe, so daß
wir ohne langes Zögern umkehrten.

Von unseren heraufführenden Spuren war schon nahe unter dem Sattel
nichts mehr zu erkennen. Der Wind hatte sie weggefegt oder mit
Kornschnee ausgeglättet. Wir begannen daher nach dem Kompaß und nach
der Erinnerung eine »~ice-navigation~« – wie es Whymper nennt –, die
im Nebel und Sturm verteufelt heikel war und unsere Aufmerksamkeit
auf das höchste anspannte. Aber glücklich wandten wir uns wieder
zwischen den bösartigen Spalten durch und erreichten nach einer Stunde
unterhalb der Bruchregion das große Firnfeld, wo wir in flottem Tempo
ausgreifen konnten. Der Schnee fiel aber jetzt auch hier so dicht,
daß eine Orientierung nach außen unmöglich war. Es entstand erst eine
Meinungsverschiedenheit über die einzuschlagende Richtung, doch ich
bestand auf strengstes Befolgen meines Kompasses, dessen Weisungen
ich schon beim Aufstieg öfters notiert hatte, und in dieser Richtung
steuernd, landeten wir um 2 Uhr richtig an derselben Stelle, wo wir am
Morgen das Eis betreten hatten. Des Seiles ledig, eilten wir nun hurtig
über die Moränenhalden hinab und standen bald, immer noch von etwas
Schnee, von Regen und von Wind begleitet, wieder bei unseren Zelten.
Die triefnassen Wettermäntel flogen herunter, und unser enges, aber
stets von neuem gebenedeites Bergheim nahm uns wieder auf.

Im stillen Zeltchen Tee trinkend, gerösteten heißen Mais kauend und
Cigarillos rauchend, warteten wir in Geduld, bis uns der Verabredung
gemäß unsere Arrieros mit den Mulas abholten. Trotz des nichtsnutzigen
Wetters kamen die Braven mit nur wenig Verspätung um Mitte des
Nachmittages an. Die beiden Männer waren ganz friedlichen, freundlichen
Sinnes, obgleich sie wieder einmal stundenlang mit ihren Bastsandalen
im schneeigen Schlick patschen mußten. Diese heitere Seelenstimmung
war, wie ich schnell merkte, durch gründliche Imprägnierung mit
Chichaschnaps hervorgerufen. Weniger vergnügt waren die »Bestias« über
das Wetter. Das hatte aber das Gute, daß sie mit uns unaufhaltsam
freundlicheren Gefilden am Bergesfuß zudrängten und auf dem Pfad der
Páramos von selbst einen Trab anschlugen, der uns noch vor Dunkelwerden
zum _Hato Antisana_ zurückbrachte. Schneidender Ostwind und strömender
Regen verfolgten uns bis unter das schützende Dach. Der Antisana hatte
es offenbar darauf abgesehen, sich uns auch einmal in seiner ganzen,
als »brava« verschrieenen Abscheulichkeit zu zeigen und uns für unsere
Frechheit, daß wir seinen Rücken betreten hatten, einen gründlichen
Denkzettel zu verabreichen.

Am nächsten Morgen stand der Berg wieder mit seinem großen weißen
Wolkenhut vor uns wie am Morgen vorher. Gern hätte ich noch einen oder
zwei Tage drangewandt, um die nordwestliche lange Gletscherzunge am
Yana-Volcan oder die Eisverhältnisse auf der Südseite zu untersuchen,
aber unsere Zeit war auf das knappste bemessen. Ich mußte mich
deshalb, während die Karawane sich zur Rückreise rüstete, mit einem
kurzen Vorstoß zum Südfuß des Antisana hin begnügen, um von den
dortigen Zuständen etwas mehr zu sehen, als es vom Hügel am Hato
aus möglich war. Jenseits des Guamanihügels erreichte ich bald eine
zweite Bodenschwelle, die eine ziemlich freie Übersicht über die
_Südwestseite_ des Berges gewährte.

Ich sah nun den Sarahuazi-Volcan östlich vom Westgletscher unter den
Moränenhalden hervorkommen und in ein breites niedriges Hügelland
auseinanderlaufen, und ich sah östlich davon die Eisgrenze des Antisana
sich leicht zum Südfuß des Berges senken, wo mit einem mächtigen
vorspringenden Felssporn die riesigen Felswände des Südgipfels
beginnen. Ich sah aber auch, daß dort die Felswände zu einem großen
amphitheatralisch in den Bergkörper hineingewölbten Kar abfallen,
das die charakteristische Lehnsesselform und einen ebenen Boden hat.
Cuchu ist die indianische Bezeichnung für diese typische Talform, die
immer ein Merkmal einstiger stärkerer Gletscherwirkung ist. Das vor
uns liegende heißt Corral-cuchu, weil die Hirten des Hato dort einen
Viehzaun (~corral~) haben. Ein noch größeres Kar von ganz ähnlicher
Gestalt liegt südöstlich daneben; es ist das San Simon-cuchu. Beide
Karböden gehen weiter draußen in enge Bachtäler über, durch welche die
Gletscherwasser abfließen. In jedem der beiden Kare liegt ein breiter,
kurzer, steiler Gletscher mit großen Spalten und Stufenbrüchen.

Zum Hato del Antisana gegen 9 Uhr zurückgekehrt, fand ich die Karawane
reisefertig. Sofort setzten wir uns zum Rückmarsch in Bewegung, der
uns an diesem Tag über Pinantura hinaus bis zur Hacienda Rosario
in der Quitomulde bringen sollte. Ich schlug aber diesmal bis zum
Antisanilla-Volcan einen etwas südlichern Pfad ein als auf der
Herreise, der sich als etwas kürzer erwies. Dabei passierten wir im
Anfang eine breite, flache Bachmulde, in der sich Scharen scheuer
Rinder tummelten und Schwärme von ibisartigen, krummschnäbeligen
Vögeln schreiend umherflogen. Es ist der von den Einheimischen
»Bandurria« (~Thersiticus caudatus~) genannte Vogel, ein möwengroßes,
dunkelgraues Tier mit weißen Bändern über den Flügeln, das der
Ostkordillere, namentlich dem Antisana, eigentümlich ist und mit seinem
Schnepfenschnabel in den Sümpfen der Páramos nach Nahrung wühlt, aber
auch im Mist der Rinderherden nach freßbarem Inhalt sucht.

An der Quebrada Puyurima bekamen wir einen guten Ausblick auf die Ost-
und Nordseite des _Sincholagua_. Ganz langsam hebt sich von uns aus die
braungraue Páramofläche 10 Kilometer zur breiten Felspyramide dieses
alten Vulkanes hin, ein Landschaftsbild von trister Einförmigkeit
und Leblosigkeit. Droben schimmern Schneeflecken auf den Wänden. Die
steile, lange Ostwand hat keine Gletscher, aber auf der Nordseite
hängt zwischen den beiden felsigen Gipfeln nahe dem Nordgipfel ein
kleiner Steilgletscher in die weite, nach Norden offene und einem
großen Kar gleichende Caldera hinab, deren obere rechte Hälfte der
Länge nach ausfüllend. Rechts und links von seiner Stirn ziehen je zwei
parallele Ufermoränen bis zum Kargrund in etwa 4200 Meter Höhe, wo eine
dreistufige Endmoräne die jüngeren Glazialbildungen abschließt.

Der Quebrada Puyurima folgend und weiter wieder am Lavastrom von
Antisanilla entlang reitend, trafen wir vor Mitte des Nachmittags in
der Hacienda Pinantura ein, kreuzten wieder die Quebrada Guapál, die
jetzt bei vollem Tageslicht nicht mehr die Schrecken hatte wie auf
dem Nachtmarsch der Herreise, und eilten jenseits durch die Tuff-
und Lößschluchten nach Pintac hinab, von wo wir gegen Abend in der
_Hacienda Rosario_ zum Nachtquartier anlangten.

Am Abend setzte die untergehende Sonne den ganzen Himmel in Flammen,
als ob sie noch im Erlöschen einen Weltenbrand entzünden wollte.
Vor der glühenden gelb-rot-violetten Dämmerungslohe standen im
Westen die schon nächtlich schwarzen Silhouetten der langgestreckten
Vulkane Pichincha, Atacatzo und Corazon, während über ihnen dunkle,
goldgesäumte Wolkenbänke, an der Oberseite zu ungeheueren Höhen
aufgetürmt, an der Unterseite wagerecht abgeschnitten und seitlich
durch lange Ausläufer miteinander zu einem Ganzen verbunden, noch
ein Gebirge über dem Gebirge, ein himmlisches über dem irdischen,
ins Dasein zu rufen schienen. In diesem Lande der großen Monotonie,
der Einförmigkeit der Linien und Flächen, der Eintönigkeit der
Farben und Stimmungen, scheint der Himmel mit seiner abendlichen und
frühmorgendlichen Farbenpracht dem Landschaftsbild die Schönheitsreize
verleihen zu wollen, die ihm die Erde versagt hat. Wir standen stumm in
Anschauen versunken, bis die Nacht dem zauberischen Schauspiel ein Ende
machte.

[Illustration:

            X. Martinez, Quito.

Die Ostkordillere, von Pinantura (3175 ~m~) aus. Hinten die
Ausbruchswolke des Cotopaxi.]

Am Morgen regnete es in Strömen. Aber je weiter wir aus dem
Bereich der nassen Ostkordillere nach Westen kamen, desto heller
wurde es; die Westkordillere lag in schönster Klarheit. Von der
Höhe des Poingasi-Rückens warfen wir einen Abschiedsblick auf die
durcheilte weite Quitomulde und stiegen dann, ihr den Rücken wendend,
vom Tuffrücken des Poingasi westwärts nach Quito hinab, das in
lethargischer Ruhe und Stille unter uns lag. Um 7 Uhr waren wir von
der Hacienda Rosario weggeritten, nach 12 Uhr zogen wir wieder in die
Hauptstadt ein.

[Illustration:

            Ölgemälde von Troya im Grassimuseum in Leipzig.

Der Antisana aus Südwest, von oberhalb des Hato (4300 ~m~).]



Der Cotopaxi.


1. Der Berg.

Von allen Schneebergen Ecuadors hat von jeher keiner so sehr das
Interesse der Ecuatorianer selbst erregt wie der Cotopaxi. Das verdankt
er seiner Lage, seiner Gestalt und seiner vulkanischen Tätigkeit.
Einer die Ost- mit der Westkordillere verbindenden Vulkanreihe
(Quilindaña-Cotopaxi-Rumiñagui-Corazon) angehörend, ist er so weit in
die interandine Hochebene vorgeschoben, daß er vom Norden und Süden
des Hochlands gut zu sehen ist. Wo wir auch im Hochlande reisten, fast
überall trat, sobald sich die Fernsicht öffnete, der wundervolle weiße
Riesenkegel des Cotopaxi aus den Wolken hervor, einzig in seiner Art,
nie zu verwechseln mit einem der anderen großen Schneehäupter, der
majestätische Zentralvulkan von Hochecuador. Ganz frei vom Fußpunkt
bis zum Gipfel, ohne Vorberge und Zwischenstufen, präsentiert er sich
auf der Westseite, und dort zieht stundenlang über seine Basisebene
die einzige große Verkehrsstraße des Hochlands hin, von Latacunga nach
Quito, auf der jährlich viele Tausende im vollen Angesicht des Berges
von Norden nach Süden oder umgekehrt wandern.

[Illustration: Stirn des Westgletschers (4580 ~m~) des Antisana.]

Den Cotopaxi kennen die Hochlandsbewohner alle, während sie über
die anderen Bergerscheinungen sehr oft im ungewissen sind. Für
die gewaltige Größe und Schönheit dieser Berggestalt sind sogar die
für Natureindrücke so stumpfen Ecuatorianer empfänglich: »~hecho
como al torno~« (wie auf der Drehbank gemacht), sagten vom Cotopaxi
schon zu Humboldt die Eingeborenen bewundernd. Freilich, bei solcher
gelegentlichen Bewunderung aus der Ferne ist es immer geblieben. Nur
wenige Ecuatorianer haben die Schneeregion des Berges betreten, und
diese wenigen immer nur in Begleitung von europäischen Reisenden.
Gewöhnlich waren es indianische Träger, die es um des klingenden Lohnes
willen taten. Von den »Gebildeten« des Landes, die sich mehr aus
Neugierde oder Eitelkeit als aus ernstem Wissens- oder Tatendrang einem
der europäischen Forscher angeschlossen haben, ist erst ein einziger
(A. Sandoval mit Theodor Wolf) zum Gipfel gelangt, weil weder ihre
physische Kraft noch ihr Mut noch ihre Energie ausreichten.

[Illustration: Die Vulkanberge von Mittelecuador

Maßstab 1 : 400000

Kartographische Anstalt von F. A. Brockhaus, Leipzig]

Der Cotopaxi erhebt sich zu seiner 6005 Meter messenden Höhe (mit
der mächtigen Firnhaube des Jahres 1903) aus der etwa 3000 Meter
hohen Ebene des Rio Cutuchi im Westen, während auf den anderen Seiten
sein Fuß auf dem Vorland in 3700 bis 3800 Meter Höhe steht. Auf der
höchsten, der Westseite, gemessen, ragt sein Haupt also nur etwa
3000 Meter über seine Hochebenenbasis empor; er gehört somit nach
seiner _relativen_ Höhe als Bergindividuum trotz seiner rund 6000
Meter betragenden Gipfelhöhe nicht zu den Riesen seines vulkanischen
Geschlechts, unter denen zum Beispiel der Kilimandjaro von einer
etwa 700 Meter hohen Ebene zu 6010 Meter emporsteigt, also eine
relative Höhe von rund 5300 Meter hat. Aber kein anderer aktiver
Vulkan der Welt hat eine größere _absolute_ Höhe als der Cotopaxi.
Über seine Umgebung erhebt er sich gleich der Zitadelle eines
gewaltigen Festungsvierecks, dessen vorgeschobene Werke die kleineren
Nachbarvulkane Rumiñagui, Pasochoa und Sincholagua sind.

Dem Anblick der großen Zahl seiner Beschauer entrückt und am wenigsten
bekannt ist die _Ostseite_ des Berges. Sie ist die steilste und
kürzeste Seite, da ihre Basis schon bei 3800 Meter dem vor- und
untergelagerten Fußgebirge aufsitzt. So große Aschenfelder wie auf den
anderen Seiten des Berges gibt es hier nicht, denn die vorherrschenden
östlichen Winde tragen die leichten Auswürflinge des Gipfelkraters
nach Westen. Aber um so gewaltiger ist im Osten die Überflutung von
Lavaströmen, da der östliche Kraterrand etwas eingeschartet ist und
die flüssige Glut am ersten übertreten läßt. In neuerer historischer
Zeit hatten sich die Laven mehr nach der Westseite ergossen, aber
gerade dadurch ist jetzt der Westrand des Kraters wieder höher
geworden als der Ostrand. Nicht nur die Lavaströme haben die Hänge der
Ostseite wild zerrissen und, am Abhang erkaltend, ohne den Bergfuß
selbst zu erreichen, zahllose Stufen und Dämme aufgebaut, sondern
auch die von den plötzlichen Schneeschmelzen herabgesandten Wasser-
und Schlammströme haben diese Bergseite tief gefurcht und ihre großen
Massen von Gesteinstrümmern ostwärts in das weite Hochtal »Valle
vicioso« gewälzt. Aber nur in den unteren Teilen der Osthänge treten
diese Zerstörungen und Neubildungen zutage; in den oberen größeren
Partien umhüllt den Kegel jetzt ein mächtiger Firn- und Eismantel,
dessen Randgletscher hier infolge der von Osten kommenden starken
atmosphärischen Niederschläge sich weiter bergab (bis etwa 4300 Meter)
ausdehnen als auf den anderen Seiten. Der Firnmantel ist aber in der
Mitte seiner ganzen Vertikallänge etwas eingebogen und verdeckt
dort mit Eis und Schnee die breite steile Bahn, die von den über den
Kraterrand quellenden und am jähen Berghang abstürzenden Lavamassen
im Massiv des Kegels ausgefahren ist. Frühere Besteiger haben diese
Formation auf der Ost- wie auf der Westseite ohne Schneebedeckung
gesehen.

Weniger tief als auf der Ostseite reicht auf der _Südseite_ die
Firn- und Eisdecke herab. Sie endet in ungefähr 4650 Meter Höhe am
Fuß der Felsmasse »Picacho«, die schroff, verwittert, ruinenhaft aus
dem Südhang des Berges hervorragt und ein vereinzeltes Überbleibsel
des ältern, vom Cotopaxi verschütteten vulkanischen Fußgebirges ist.
Sie hat zum Cotopaxi dasselbe Verhältnis wie die Somma zum Vesuv.
Auch von jüngeren Lavaströmen, Schlammströmen, Wasserrissen bemerkt
man auf der südlichen Bergseite relativ wenig, da der hochgewölbte
südliche Kraterrand seit langem ein Überfluten der Laven nach Süden
verhindert hat. Flach läuft der Südfuß bei 3700 Meter in die südlichen,
schildförmigen, älteren Vorberge aus, die, von jüngerer Asche bedeckt,
sich unabsehbar nach Süden dehnen.

Auch auf der entgegengesetzten, der _Nordseite_, steht der Fuß des
Cotopaxi in etwa 3700 Meter Höhe auf dem ältern Grundgebirge. Dorthin
aber in den weiten Binnenraum zwischen ihm selbst und seinen drei
kleineren Nachbarn Rumiñagui, Pasochoa und Sincholagua hat der große
Vulkan ungeheuere Ausbruchmassen, Lavaströme, Schlammfluten und
Aschenregen, entsandt; und über dieser Wildnis thront der höchste
Gipfel des Berges, die schneeige runde Nordkuppe, von der aus sich
der weite Firnmantel bis zu 4700 Meter herabsenkt. Wegen dieser hohen
Gipfelkuppe und weil man hier den elliptischen Kraterrand von der
Schmalseite sieht, hat die Nordseite des Berges die ausgeprägteste
Kegelform, während auf der Westseite, wo sich der elliptische
Kraterrand in der Längsansicht zeigt und keinen hochragenden Gipfel
trägt, der Kegel stark abgestumpft und breiter erscheint.

Am gleichmäßigsten in seiner Ausdehnung und Begrenzung legt sich der
Schneemantel um die _Westseite_ des Berges. Bis zu durchschnittlich
4700 Meter breitet er sich hier bergab aus, wird in der Mitte oben
bloß von zwei dunklen Felsflecken durchbrochen und ist am Rande nur
von wenigen einspringenden Lavawällen und vorspringenden ganz kurzen
Gletscherzungen gesäumt. Darunter aber sinken die dunklen Berghänge
noch weitere 1700 Meter bis zu seiner Basis ab, die hier auf der
Westseite nicht wie auf den anderen Seiten ein bergiges, ödes Vor-
und Unterland ist, sondern die interandine Hochebene selbst, durch
die sich gemächlich der Cutuchifluß windet, und von deren Wiesen,
Feldern, Gehöften und Dörfern sich einzelne Ausläufer zu dem großen
Vulkan vorschieben wie Vorposten gegen den Feind. Seine Feindschaft
gegen alles Lebendige offenbart sich gerade auf dieser Westseite
furchtbar durch die Aschenfälle und Schlammströme, die er weit
über das Kulturland entsandt hat. Und wie ein unablässig mahnendes
Warnungssignal flattert in kurzen Intervallen am Gipfel eine kleine
weiße Fahne von Kraterdämpfen. Aber gerade dieses harte Nebeneinander
von Lebensdrang und Todesgefahr macht den Anblick des Berges von der
Westseite so eindrucksvoll. Und dazu zeigt er sich von keiner andern
Seite dem Beschauer so breit, so groß, so ebenmäßig in seinem Aufbau
wie von dieser, von der ihn weitaus die meisten Menschen des Hochlandes
sehen.

Von Westen gesehen, hat der Cotopaxi keinen andern großen Berg als
Nebenbuhler neben sich. Auf keiner andern Seite holt die wundervolle
vulkanische Kurve seines Profils, deren Schönheit uns auch auf den
anderen Seiten begeistert, so weit aus wie auf dieser. Der kraftvolle
Nachdruck dieser Kurvenführung liegt in dem letzten obersten Schwung,
wie in einem titanischen, von der Erde zum Himmel geführten Hieb.
Unwiderstehlich zieht diese Bogenlinie den Blick zuerst nach oben.
Dann gleitet er mit den abwärts führenden Firnrinnen, Lavaströmen und
Wasserrissen langsam zum Bergesfuß zurück, wo die große Kurve ganz
sanft in die Horizontale der Basisebene ausklingt. »Bergschleppe«
nennen die Japaner in treffendem Vergleich bei ihren Vulkanen den
unmerklichen Übergang des untern Berghangs in die horizontale Richtung.
In diesem breiten festen Aufruhen auf seinem Fundament empfinden und
erkennen wir ein weiteres Element seiner Größe. Es ist nicht wie am
Ätna, wo der Eindruck der Breite über den der Höhe überwiegt, sondern
die Höhenwirkung dominiert am Cotopaxi entschieden. Aber wie am Ätna
und ähnlichen Vulkanen sagt uns zugleich dieses breite Auslaufen seines
Sockels, daß dieser Berg nicht durch hebende Kräfte erbaut ist, sondern
durch die von oben herabfließenden Lavaströme und Aschenregen, deren
Massen immer mehr abnehmen müssen, je weiter sie sich vom zentralen
Ausbruchspunkt entfernen.

Diesen eigenartigen bauenden Kräften verdankt der Cotopaxi seinen
_Stil_. Seine Form verrät zugleich seinen Bau und seine Jugend. Er ist,
aus einiger Entfernung gesehen, ein Vulkankegel von architektonischer
Symmetrie. Auch die Schar von kleinen parasitären Eruptionskegeln fehlt
ihm, wie sie zum Beispiel den Kilimandjaro umringen und ihm teilweise
aufsitzen. Deshalb ist eine große Ruhe und eine ruhige Größe in der
Erscheinung des Cotopaxi, die durch den riesigen, gleichmäßigen, drei
Viertel der Bergeshöhe umschließenden Schnee- und Eispanzer noch mehr
gesteigert wird. Daß die symmetrische Gestalt nicht starr wirkt,
verhindert das lebendige Spiel der Wolken, des Lichtes, der Farbe
und die bewegte Umfassungslinie der Pflanzen- und Schneedecke. Dabei
überlegen wir, daß die kolossale absolute Höhe dieses Berges von rund
6000 Meter noch längst nicht erreicht würde, wenn wir den Ätna und den
Vesuv und den Stromboli übereinanderstellen könnten. Wir ahnen die
große Ursache, die dieser Erscheinung zugrunde liegt; die Vorstellung
von den ungeheuren vulkanischen Kräften, die diesen ebenmäßigen
Riesenbau errichtet haben, flößt uns das Gefühl des Erhabenen ein
und löst in uns neben den ästhetischen auch ethische Geistesregungen
höherer Ordnung aus.

Die Versuche, den Gipfel dieses höchsten tätigen Vulkans der Erde zu
besteigen, beginnen mit Alexander von Humboldt. Seinem im Mai 1802
unternommenen Versuch folgten Boussingault und Hall im Dezember 1831,
der deutsche Reisende Moriz Wagner im Dezember 1858, aber erreicht
wurde der Gipfel von Santa Ana am Westfuß aus erst am 27. November
1872 durch Wilhelm Reiß. Seinem Reisegefährten Alphons Stübel glückte
der Versuch wenige Monate später ebenfalls. Vier Jahre danach, nur ein
Vierteljahr nach dem furchtbaren Ausbruch vom 26. Juni 1877, nahm der
an der Universität Quito als Geolog tätige Deutsche Theodor Wolf den
Berg abermals in Angriff und erreichte den Krater auf einer neuen Route
im September 1877, wobei auch die höchste Spitze des Kraterrandes, der
Nordgipfel, zum ersten Male betreten wurde. Auf der gleichen Route
hatte der spätere deutsche Staatssekretär des Reichsschatzamtes,
Freiherr von Thielmann, im Januar 1878 Erfolg. Der Klassiker des
Alpinismus, Edward Whymper, hat den Berg, den Wolf-Thielmannschen
Spuren folgend, mit Schweizer Führern gleichfalls bezwungen. Das war
im Februar 1880; seitdem hatte bis auf meine Zeit keines Menschen Auge
wieder den Krater gesehen.


2. Der Anmarsch.

Das Wetter war regnerisch und nebelig, als wir am 11. Juli 1903 von
Latacunga nach dem Dorf Mulaló am Südwestfuß des Cotopaxi ritten; meist
über ebenes Terrain. Zuerst ging es an braunwässerigen eiligen Bächen
zwischen ummauerten Gärten und Feldern entlang, dann über das breite,
flache Schwemmtal des vom Cotopaxi kommenden Rio Aláques, wo uns die
ungeheuren Massen von Geröll, Kies und großen Blöcken, die der Fluß zu
beiden Seiten seines jetzigen Bettes ausgebreitet hat, zum erstenmal
einen Begriff von der furchtbaren Wirkung der Schlammströme geben, die
der Berg bei Eruptionen durch seine Schmelzwasser entsendet. Über 4
Meter hoch liegen hier noch die Schottermassen der Eruption des Jahres
1877.

Den Verlauf dieser »Avenida« (Schlammstrom) vom 26. Juni 177
schildert recht anschaulich Wilhelm Reiß: »Mit dumpfem Brausen, fast
mit fernem donnerähnlichen Getöse wälzen sich die mit vulkanischer
Asche, Gesteinstrümmern, glühenden Lavablöcken und großen Eismassen
vermischten Gewässer am Abhang herab. An den unteren Gehängen drängen
sie sich in den dort eingeschnittenen Schluchten zusammen, dieselben
bis zu Höhen von 60 bis 100 Meter erfüllend, über die Seitenwände
sich ergießend und auf den Abhängen Schutthügel bis zu 20 und 30
Meter Höhe absetzend. Am Fuß des Berges aber, wo die Wasserläufe nur
wenig eingeschnitten sind, überschreiten sie die Talbetten und dehnen
sich als wilde Schlammfluten über das Land aus, alles vernichtend
und zerstörend. Häuser, Haciendas, Fabriken, Menschen und Vieh mit
sich fortreißend, bildeten 1877 die Schlammfluten zwischen Mulaló und
Latacunga einen weiten See von ungefähr 28 Kilometer Länge und 1,6
Kilometer Breite, in dessen ganzer Ausdehnung das Land nach Ablauf der
Gewässer etwa ein Meter hoch mit Schlamm, Schutt und Detritus bedeckt
war. Alle Straßen wurden zerstört, alle Brücken weggerissen; in der
Umgegend von Latacunga berechnete man den Verlust an Menschenleben
auf etwa 300 Personen, obgleich der Ausbruch bei Tage erfolgte und
viele sich retten konnten. Mit einer Geschwindigkeit von etwa 10
Meter in der Sekunde (!) brausten die Fluten dahin. Drei Stunden nach
seinem Eintreffen in Mulaló zerstörte der Schlammstrom bereits die 15
geographische Meilen entfernte Brücke über den Rio Pastaza am Fuß des
Tunguragua; er erhob sich dort 100 Meter hoch in dem 12 Meter breiten
Flußbett. Ähnlich einem Lavastrom, seitlich wie von einer Mauer oder
einem hohen Damm begrenzt, bewegten sich die Schlammassen vorwärts;
sie überstürzten sich wie hohe Wellen, die sich fortwährend nach vorn
überschlugen.«

Auf einer wegen der Unsicherheit des Flusses immer interimistischen
Brücke von Balken, Rohrgeflecht und Kiesbewurf setzten wir über
den 12 Meter breiten Aláquesfluß, folgten jenseits dem Ostrand der
interandinen Hochebene, die hier sumpfig und binsenbewachsen ist wie
ein alter Seeboden, und stiegen dann gemächlich durch etwas reichlicher
bebautes Land zum Dörfchen _Mulaló_ (3073 Meter) an, das mit seiner
kleinen Kirche und seinen 20 bis 30 Häusern auf einem niedrigen Hügel
liegt, wodurch es bisher von der Zerstörung durch die Schlammströme des
Cotopaxi bewahrt geblieben ist, die dicht daneben das Land überschwemmt
und verwüstet haben. Aber die Aschenregen und Steinbombardements
seines furchtbaren Nachbars Cotopaxi haben den Ort ebenso getroffen
wie die übrige Umgebung, am verderblichsten wohl im April 1768, wo die
Häuser durch die glühenden Schlacken in Brand gesetzt, elf Personen
durch vulkanische Bomben erschlagen wurden und wo der Aschenregen eine
anderthalb Fuß dicke tödliche Schicht auf die Gegend legte. Die Ruine
der damals zerstörten alten Kirche steht noch neben der neuen. Im Haus
des freundlichen »Padre Cura« (des Pfarrers) stiegen wir ab.

Der Aufforderung des Pfarrers folgend, meldeten sich am Morgen nach
unserer Ankunft eine größere Zahl Peones zu unserer Begleitung, als
wir brauchten. Die engere Auswahl traf der Vater des Priesters. Der
alte Herr machte mit den Leuten kurzen Prozeß. Er bestimmte einfach die
kräftigsten zum Mitgehen, und als einer von ihnen einen Einwand erhob,
schrie er ihn wütend an, entriß ihm den langen Stock, den die Peones
zu tragen pflegen, und hieb ihm damit über den dicken Filzhut, daß es
krachte und stäubte. Die Logik dieses Verfahrens war zwingend; in fünf
Minuten waren wir handelseinig.

Vom Cotopaxi bekamen wir auch hier nichts weiter zu sehen als die
untere Region bis zur Grenze des ewigen Schnees (bei 4700 Meter), von
dem kurze, spitze Zungen ausliefen. Darauf und darunter bis tief in
die Páramoregion herab lag dichter Neuschnee. Der Pfarrer versicherte,
der Berg werde nach starkem Neuschnee meistens ganz klar und bleibe
es zwei bis drei Tage. Äußerst wechselvoll ist am Berg das Spiel der
Wolken. Am Morgen bis gegen 9 Uhr zieht bis zur Höhe von 4000 Meter ein
langer schmaler Ring von Stratuswolken aus Osten über Süden nach Westen
dicht um den Cotopaxi. Darüber ist ein Raum von etwa 1000 Meter Höhe
ziemlich wolkenfrei, und über ihm steigen auf dem Westhang des Berges
einzelne Wolkengruppen von Westen her bergan. Ganz oben kommt der
Wolkenzug wieder aus Osten. Allmählich aber gewinnt von 9 Uhr an der
östliche Luftzug die Oberhand, und bald ziehen alle Wolken des Berges
nach Westen.

Am Mittag des 12. Juli ritten wir mit unserer kleinen Karawane und
einem noch in letzter Stunde als Führer engagierten alten Hirten, der
angeblich die ganze Süd- und Westseite des Berges bis zur Firngrenze
hinauf kannte, nach Norden weg. Gleich hinter Mulaló betraten wir
das Gebiet der Schlamm- und Schuttströme, die sich, ungeheuren Muren
unserer Alpen gleich, durch die südwestlichen Bachschluchten des
Cotopaxi herabgewälzt und nach Austritt in die Ebene zu riesigen
Trümmerfeldern ausgebreitet haben. Furchtbar ist die Vermurung im
Bereich des Rio Saquimálag mit seinen Zuflüssen. Unter den jüngeren
Eruptionen haben die von 1853, 1877 und 1881 am meisten zu diesen
Verwüstungen beigetragen. Dreiviertel Stunde ritten wir über das
Trümmerfeld, das sich westwärts noch viel breiter ausflacht. Kolossale
Blöcke verschiedenster Gesteinsarten sind zu Tausenden darüber
verstreut und geben uns eine annähernde Vorstellung von der Gewalt
dieser Schlammfluten.

Weiterreitend stiegen wir bald in die Quebrada des Rio Saquimálag (3145
Meter) hinab, der in einem etwa 150 Meter breiten Cañon zwischen 25 bis
30 Meter hohen Steilwänden von Tuff und Lapilli nach Südwesten fließt.
Die Talsohle ist durch Geröll und Sand zu einer Ebene ausgefüllt,
in der sich der Fluß fortschlängelt. Wenn aber bei Eruptionen die
Schmelzwasser mit ihren Schlammfluten kommen, erfüllen sie in wenigen
Minuten den ganzen 150 Meter breiten Cañon bis zum Rand.

All dieses Land ist begreiflicherweise nur sehr wenig mit Pflanzen
bewachsen. Es ward erst allmählich besser, als wir aus der Quebrada
Saquimálag auf die Hochterrasse hinaufkamen, wo die kleine _Hacienda
Ilitio_ (3275 Meter) inmitten von Lupinenfeldern steht.

Mehr als vorher merkten wir beim Weiterreiten, daß das Gelände in
Stufen ansteigt. Die lange, aus der Ferne ganz ungebrochen erscheinende
Kurve der Vulkanböschung ist in Wirklichkeit eine lange Folge von
kurzen und langen Stufen, die zum Berggipfel hin immer steiler werden.
Teils sind sie durch die übereinandergeflossenen, an der Stirn
steil abbrechenden Lavaströme entstanden, teils durch die rückwärts
einschneidende Erosion der Bäche. In einer solchen Erosionsbucht,
Hondon de León genannt, ging es nun durch Busch und Gras auf eine
Stufe hinauf, wo nur noch vereinzelte, von Wind und Wetter zerzauste
Berberitzenbäume und wenige Sträucher der rotweiß blühenden Fuchsie im
hohen grauen Grase stehen.

Kaum hatten wir diesen Páramo betreten (3450 Meter), da erschienen auch
schon in Scharen die lieblichsten Kinder der alpinen Flora Ecuadors,
die Gentianen. Da die Lasttiere erschöpft waren und Wasser in der Nähe
war, während es weiter oben bis an den Schnee keines mehr gab, ließ ich
hier im hohen Gras die Zelte zum _ersten Cotopaxilager_ aufschlagen
(3670 Meter), so daß uns für den nächsten Tag bis zur Schneegrenze
noch etwa 1000 Meter übrigblieben.

Während sich die Peones an der Baumgrenze für die Nacht ein dürftiges
Schutzdach aus Zweigen zusammensteckten und meine beiden Arrieros
eine Biwakküche improvisierten, trat endlich der langersehnte Moment
ein, wo wir den Bergriesen, dem wir nun schon so nahe auf den Leib
gerückt waren, in Wirklichkeit zu sehen bekamen. Nach einem prasselnden
Regenschauer riß das graue Gewölk im Nordosten auseinander, und da
stand der Cotopaxi in seiner ganzen Größe, frei vom Scheitel bis zur
Sohle. Wieviel hundertmal ich auch seit Jahren Bilder des Cotopaxi
betrachtet und studiert hatte, wie oft ich auch von seiner Schönheit
und Erhabenheit gelesen und gehört hatte, _so_ hatte ich ihn mir doch
nicht vorgestellt. Und Freund Reschreiter ebensowenig. Die plötzliche
Erscheinung ergriff uns wie ein Zauber. Wir schauten hinauf, in Andacht
versunken. Dann löste sich die Gemütsspannung in hellen Jubel aus; doch
bald gewannen wieder Verstand und Wille die Oberhand, und jeder tat,
was seines Amtes war: Reschreiter zeichnete und malte (siehe buntes
Umschlagbild), und ich photographierte, maß und suchte den ganzen Berg
mit dem Fernglas ab.

Von uns aus bergauf läuft nach wenigen 100 Metern die Páramovegetation
in ihre letzten Zungen und Flecken aus, dann folgt ein breites Band
von graubrauner Bimsstein- und Schuttwüste, durchzogen von zahllosen
Neuschneestreifen, und darüber schwingt sich der gewaltige Schneekegel
zum dunkelblauen Himmel auf, in so blendender Weiße, daß sich die
Augen von Zeit zu Zeit abwenden müssen. Lückenlos lag der ungeheure
Firnmantel um den Berg, einzig unterbrochen durch zwei relativ kleine
dunkle Felspartien an der obern Westseite. Von vielen Seiten schien
der Aufstieg zum abgestumpften Gipfel möglich, am direktesten im
Westnordwesten, am nächsten aber für uns im Westsüdwesten auf die
Südwestkuppe zu. Alles dies erweckte uns frohe Hoffnungen für die
nächsten Tage.

Unterdessen war es im Lager wohnlich geworden. Die Arrieros lagen vor
ihren primitiven Zeltchen im Gras und rauchten, die Peones kauerten
unter ihrem schnell hergerichteten Laubdach um ein qualmendes Feuer und
verzehrten schmatzend und schweigsam ihren gerösteten Mais, den »Mote«,
und wir setzten uns vor unser kleines Zelt an den Klapptisch auf unsere
beiden Blechkoffer, tranken Tee, ließen uns die warme Sonne behaglich
auf den Rücken brennen, weideten uns an der unvergleichlichen Aussicht
hinauf zum schneeigen Bergriesen oder hinunter in die bräunlich
violette, von silbernen Wasserfäden durchwobene Ebene, hinüber zum
breiten dunklen Rumiñagui und zum doppelzackigen firntragenden Iliniza
und fern hinaus zum herrlichen Kuppeldom des Chimborazo und gingen
wieder einmal auf in der ewig jungen Schönheit unserer alten Mutter
Erde. Hoch über uns zog ein Kondor – die sich regelmäßig einzustellen
pflegten, wenn wir irgendwo ein Lager aufgeschlagen hatten – seine
Kreise am dunkelblauen Firmament, und am nahen Bach flatterten
wilde Tauben und girrten im Liebesspiel. Das ist die Poesie dieser
Gebirgslager, die man gegen keinerlei Bequemlichkeiten der Welt
eintauschen möchte!

Am nächsten Morgen bannte uns zunächst ein kräftiger Regen stundenlang
ins Lager. Gegen 9 Uhr aber blitzte plötzlich die Sonne durch die
nassen Nebel, und sofort waren wir auf den Beinen zum _Weitermarsch_.
Bis zur nächsten Hügelhöhe kannte sich unser alter Führer noch aus;
wir indes ebenfalls. Dann aber hörte seine Wissenschaft auf, und die
unserige begann, soweit sie uns nun der Berg selber lehrte.

Bis hierher hatte uns offener alpiner Busch begleitet. Von 4000 Meter
an bis 4250 Meter finden sich nur noch wenige weit versprengte, dicht
an den Boden geschmiegte Polsterchen von Alchemillen und kleine
Büschel eines violetten Grases, dann durchreiten wir bis 4700 Meter
eine hochalpine Wüste, ein »Arenal«, ein wellig ansteigendes Gelände
von Lapilli, Schlacken, Bimsstein, vulkanischer Asche und Staub,
dunkelgrau bis rotbraun in der Gesamtfärbung und größtenteils so fest,
daß Menschen und Maultiere ohne viel Rutschen und Einsinken darauf
fortkommen können. Nur selten ragt aus der Schuttdecke ein großer
zackiger Felsklotz darunterliegender Laven.

Am Unterrand dieser wasserlosen Lapilliwüste brandet das Meer des
vegetabilen Lebens empor, gewinnt da und dort etwas Terrain, weicht an
anderen Stellen zurück, immer in Bewegung, immer wechselnd, aber in
meßbaren Zeiten doch stets an ein bestimmtes Strandniveau gebunden wie
der Ozean an der Festlandsküste. Das Bild vom unaufhörlichen schweren
Kampf des Lebens gegen die feindlichen Gewalten der anorganischen Natur
tritt uns nirgends in solcher Größe und Anschaulichkeit entgegen wie
an der Vegetationsgrenze hoher Gebirge. Und wir selbst stellen uns
mitten hinein, indem wir durch die Wüstenzone der Schnee- und Eisgrenze
entgegenziehen, die als eine zweite vielbewegte Strandlinie das andere,
von oben herabwogende Meer der Firnfelder und Gletscher säumt. Auch
dort ein ewiges Fluten und Zurückebben, und zwischen den beiden großen
einander entgegenstrebenden Massenbewegungen, zwischen dem Leben und
dem Tod, der schmale trennende Streifen vermeintlichen Festlandes, das
unbewegt und unbeweglich erscheint, aber doch ebenso in fortwährender
Bewegung ist.

Nun begannen wir auch die Gewalt des Windes zu fühlen. Mit wachsender
Stärke braust er aus Osten vom Berg herab uns entgegen, böenartig und
stoßweise, und zwingt uns bald, von unseren Tieren zu steigen, da
diese nicht mehr vorwärts zu bringen sind, sondern bei jedem neuen
Windstoß kehrtmachen und dem Sturm die unempfindlichere Rückseite
entgegenstemmen. Wir werfen den Tieren die Zügel über den Hals und
gehen voran; sie folgen langsam, weit hinter ihnen die beiden Arrieros
mit den Lasttieren, die ihre Bürden immer noch weiter bergan schleppen,
so sauer ihnen auch das Atemholen in der dünnen Höhenluft mit Schnauben
und Keuchen und zitternden Flanken wird. Weit hinter den Tieren der
Trupp meiner zum Lastentragen angeworbenen Peones, die wegen der
Ausdauer der Tiere überhaupt nicht in Tätigkeit traten, und am Schluß
der träge Dolmetscher Santiago und der alte »Führer«, der nie vorher in
dieser Bergeshöhe gewesen war.

Mein etwas nördlicher Kurs brachte uns bald an den Steilrand der tiefen
Schlucht des Puca-huaico. Ich sah, daß sie sich hier nur mit großem
Zeit- und Kraftverlust traversieren ließ, darum blieb ich auf unserer
bisherigen Seite und stieg ostwärts, den Schneefeldern entgegen, weiter
bergan.

[Illustration:

            Paul Großer 1902.

Der Antisana von Westsüdwest aus; Standpunkt 4300 ~m~.]

Wir blieben auf dem »Arenal« bis zur Höhe von 4576 Meter, wo das
erste Neuschneefeld begann und die hohe Stirn eines ältern Lavastroms
ein kleines, ziemlich ebenes Aschenfeld halb umschließt. Hier an den
Felsen, bergwärts einigermaßen geschützt gegen den scharfen Wind,
wurden die beiden _Zeltchen aufgestellt_ und mit schweren Steinen
ringsum verankert. Kochwasser lieferte uns der Schnee, Trinkwasser
hatten wir in einem Fäßchen mitgebracht, und Feuerholz hatten wir von
den letzten verwetterten Chuquiraguasträuchern mitgenommen. In unserer
Zeltumgebung wuchs nichts mehr als ein versprengtes Exemplar von
~Senecio microdon~, ein zwerghaftes, pelzhaariges Polsterchen, und eine
einzige ~Hypochaeris sessiliflora~, eine kaum 2 Zentimeter hohe kleine
Rosette.

[Illustration: Der Westgletscher des Antisana.

Nach einer Zeichnung von Rudolf Reschreiter.]

Sobald alles in Ordnung gebracht war, schickte ich Menschen und Tiere
nach der Hacienda Ilitio zurück, von wo aus sie uns in zwei Tagen
wieder abholen sollten. Wir waren unser vier geblieben; außer uns
beiden Europäern mein Faktotum Santiago und ein junger gutmütiger, in
Wollponcho und doppelte Schaffellhosen gepackter Indianer, der Feuer
machen, Schnee schmelzen, Reis kochen und während unserer Hochtour das
»Haus« hüten sollte.


3. Die Besteigung.

Am Abend ward uns ein unbeschreiblich farbenzauberischer
Sonnenuntergang zuteil. Der sinkende Sonnenball verwandelte den Himmel
in ein wahres Feuermeer von Rot, Purpur, Gelb, Orange, Violett und
Grün und versetzte die alten Vulkane und ihre Lavaströme in rote Glut,
als wären sie wieder lebendig geworden wie vor Jahrtausenden. Langsam
erstarb dann das Feuer in immer blaueren Tönen und wurde schließlich
durch pechschwarze Wolken ganz ausgelöscht, die vom interandinen
Hochland heraufzogen. Wir erwarteten ein schweres Gewitter, aber bald
begann es bei stillem Wetter leicht und friedlich zu schneien. Die
Nacht im warmen Zelt verlief in guter Ruhe. Nur weckte mich mehrmals
ein tiefes Brummen und Donnern (Bramidos), das vom Krater oben
herabkam, am meisten vergleichbar dem dumpfen Brausen einer fernen
Meeresbrandung. Gegen Morgen klärte sich das Wetter ganz auf, aber
damit stellte sich bei –2° ein schneidender Fallwind aus den oberen
Bergregionen ein, der uns hart anpackte. Bei Tagesgrauen um ¾6 Uhr
machten wir uns auf den Weg. Ich nahm diesmal als dritten Mann Santiago
mit, der ja schon auf dem Firn des Chimborazo Proben ganz tüchtiger
Leistungsfähigkeit abgelegt hatte – wenn er mußte – und uns jetzt durch
das Tragen des Proviants und einiger Instrumente entlasten sollte. Ich
hatte ihn in meine alpine Reservekleidung gesteckt und mit einem festen
langen Stock versehen und band ihn trotz seines Widerstrebens mit an
das Gletscherseil.

Zwei Stunden ging es auf den unteren, mit 20 bis 30° Neigung noch
mäßig steilen Schneehängen ganz gut. Der Schnee war fest und ließ
sich gut treten. Einen Fuß tief unter der Oberfläche lag das blanke
Eis. Dann aber begann der kalte, um die Ostseite des Berges herum uns
direkt entgegenfauchende Wind, der uns bisher nur lästig gewesen war,
uns mit steigender Stärke wirkliche Beschwerden zu machen. In der
Höhe tobte er noch viel heftiger. Wir sahen, wie er oben den feinen
pulverigen Hochschnee in langen grauen Fahnen wie Nebel über die
Firnkämme blies und wie der windgepeitschte Schneestaub in Tausenden
von schmalen Rieselbändern über die Firnhänge förmlich herabgeflossen
kam. Gleichzeitig führte uns der Wind einen penetranten Geruch von
schwefeliger Säure entgegen als ersten unfreundlichen Gruß von dem noch
1000 Meter über uns verborgenen Gipfelkrater.

Bisher waren wir auf der Südwestseite des Berges im Morgenschatten
gewesen. Gegen 8 Uhr blitzten die ersten Sonnenstrahlen gerade über
den Gipfelrand herüber und zauberten unter Mitwirkung der aus dem
Krater aufsteigenden Wasserdämpfe eine wunderbare orangegelbe Aureole
um den silberweißen Scheitel des Vulkans. Die Atmosphäre flimmerte
und zuckte wie über unseren heimatlichen sommerlich erhitzten Feldern
und Wegen. Der Reflex des Sonnenlichts auf den Firnfeldern wurde
bald so enorm, daß wir trotz allen Einsalbens im Gesichtsausschnitt
unserer Schneehauben einen starken Gletscherbrand davontrugen und die
Augen trotz der grauen Schneebrillen sich röteten. In den mittleren
Bergesregionen sahen wir nun die Firnhänge im Sonnenlicht wie Spiegel
funkeln, so daß mir lebhaft das Märchen vom gläsernen Berg und der
verwunschenen Prinzessin in den Sinn kam, die von dem hinaufkletternden
Ritter unter Preisgabe seines kleinen Fingers erlöst wird. Die
Firnhänge waren dort, wie wir beim Näherkommen erkannten, auch an
der Oberfläche total vereist. Darum begann nun das _Stufenschlagen_.
Stellenweise war auf dem eisigen Firn der feine Hochschnee in zackigen
Lappen angeweht, die sich oft in langen Reihen hinzogen wie eine
vielbewegte Barometerkurve und unter dem Fuß leicht wegbrachen.
Entsprechend der Gleichmäßigkeit des unter dem Eis liegenden
Bergkörpers war die Zahl der Spalten gering; erst weit oben, wo es sehr
steil wurde, nahmen sie zu.

Das spröde Eis splitterte beim Stufenhauen wie Glas. Das gab oft
schwere Arbeit für Herrn Reschreiter, der die längste Zeit als
vorderster Mann am Seil das Stufenschlagen besorgte, während ich meist
als zweiter für meinen mit weniger guten Nagelschuhen versehenen
Hintermann die Stufen vertiefte, gelegentlich den Ausgleitenden
festhielt und im übrigen Notizen schrieb, Instrumente ablas und mit
der Handkamera Aufnahmen machte. Wir haben trotz möglichster Vermeidung
der ganz aperen Stellen über 2000 Stufen geschlagen, und so ging es
recht langsam im Zickzack mit 35 bis 40° Steigung weiter aufwärts.

Rückwärts gewandt, traf der Blick auf das blendend weiße wallende
Wolkenmeer unter uns, das nur durch wenige Lücken die tief darunter
versenkten, in violette Schatten getauchten Hochebenen durchschimmern
ließ, und im Süden in weiter Ferne auf den inselgleich aus dem
Wolkenmeer aufragenden Schneedom des Chimborazo. Östlich aber von ihm
hob sich über die weiße Wolkenschicht eine noch viel höhere, teils
dunkelgraue, teils kupferbraune pilzförmige Masse gegen den lichtblauen
Horizont, die ungeheuere Eruptionswolke des Sangayvulkans (5323 Meter).
Ihre Höhe konnte ich auf annähernd 10000 Meter schätzen.

Um 10 Uhr, nach viereinhalbstündigem Steigen, hielten wir kurze
Rast; wir waren mit 5278 Meter Höhe dem Gipfel, den wir am Tag
vorher in 4 bis 5 Stunden zu bezwingen gedacht hatten, genau zur
Hälfte nahegerückt: rund 700 Meter lagen unter uns bis zum obersten
Lager, rund 700 Meter über uns bis zum Kraterrand. Noch waren wir
gut bei Kräften, aber die Einwirkung der großen Höhe spürte ich doch
in gänzlicher Appetitlosigkeit und in heftiger, auch beim Ausruhen
fortdauernder Herzpulsation: 125 Schläge in der Minute. Dazu stellte
sich bald ein anderer Feind ein, der Nebel. Schon lange hatte die
wachsende Sonnenwärme die Dünste der unteren Bergregionen in wallende
Bewegung gebracht. Langsam waren die Nebelschwaden bergauf vorgerückt,
aber immer wieder vom Ostwind der Höhe zurückgeschlagen worden. Nun
waren sie, während der Wind etwas nachließ, plötzlich da und gaben
das eroberte Terrain stundenlang nicht wieder frei. Auf unseren
vorherigen Hochtouren hatten wir die Erfahrung gemacht, daß man in den
Gipfelregionen der Kordilleren zwischen 10 oder 11 Uhr vormittags und
4 Uhr nachmittags fast immer mit Nebel rechnen muß. Ein ganz klarer
Tag ist eine außerordentliche Seltenheit, die uns auch in der besten
Jahreszeit nicht ein einziges Mal beschert war. Hier aber auf dem
Cotopaxi waren wir besser daran als auf den anderen Schneebergen, weil
hier am Tag ein Irregehen im Nebel kaum möglich ist. Bei der ungemein
gleichmäßigen Form des Bergkegels führt ein konsequentes Aufsteigen auf
dem steilsten Firnhang sicher zum Ziel, falls die Kräfte ausreichen und
falls man nicht auf offene, brückenlose Spalten trifft, die in der Nähe
des Kraterrandes häufiger werden.

Wir hielten also unsern bisherigen Kurs auf dem steilsten Schneehang
vier weitere Stunden voll mühseliger Steigarbeit ein, bis wir gegen 2
Uhr bei einem Aufreißen der Nebelhüllen nördlich von uns einige dunkle
Wände aus dem Firn emporragen sahen, die wir schon am Morgen von unten
als eine dem westlichen Oberrand des Berges ziemlich naheliegende
Felsmasse beobachtet hatten. Jetzt erkannten wir, daß von dort aus
inmitten der Westseite die Erkletterung des Kraterrandes weniger
schwierig war als auf unserer Südwestseite, wo uns weiterhin große
Spalten entgegendrohten. Also wurde vorsichtig über halb verwehte
Firnklüfte hinüber traversiert und am Fuß der Felsen in 5828 Meter
Höhe eine Viertelstunde gerastet. Die Steilwand ist ein schneefreies,
kleines Stück der Berglehne selbst, etwa 30 Meter hoch und 100 Meter
breit, eine dunkelgraue zermürbte Lava, die an vielen Stellen von
hellgrauen, strohgelben und lichtgrünen Krusten überzogen ist. Zu
meiner Überraschung fühlte sich das Gestein heiß an, und nun sah
ich auch aus vielen schmalen Rissen und Löchern dünne Dampfstrahlen
austreten. Daher also die Schneefreiheit und die Krustenbildung. An den
Rändern der Felsen hingen große Eiszapfen und lagen dicke Eisharnische,
und darüber stieg der Firnhang steil weiter zu dem noch unabsehbaren
Gipfel hinauf.

Hier erklärte unser dritter Mann, Santiago, er sei am Ende seiner
Kräfte, er könne nicht weiter mitgehen und wolle auf unsere Rückkehr
warten. Er streckte sich an den warmen Fels und schlief ein. Wir
ließen die Rucksäcke mit Mänteln und Proviant bei ihm, steckten nur
das Allernötigste zu uns und lösten das Seil, da auch für uns beide
ein Zusammensteigen am Seil über die brüchigen Felsen unpraktisch
war. Dieses Stück Felsenkletterei war, obgleich an und für sich eine
greuliche Arbeit, doch durch die Abwechslung der Bewegung und der
Umgebung eine wahre Erholung nach dem bisherigen achteinhalbstündigen
unaufhörlichen Schneetreten und Eishacken. In den oberen Teilen der
Felsen wurde die Lava ganz schlackig und löste sich beim Anstoßen in
Schollen ab. Es sind Reste der Lavaströme, die sich vom Kraterrand
über die Steilwände herabgewälzt haben und nach Zerreißung ihres
Zusammenhangs den jähen Berghang hinuntergerutscht sind. Die Hände
bekamen hier mehr zu tun als die Eispickel; oft ging es nur auf
allen vieren. Darüber im Schnee ließ es sich wieder besser an.
Selbstverständlich spürten wir nachgerade die große Luftdünne und
eine starke Ermüdung, ich noch mehr als mein zehn Jahre jüngerer
35jähriger Kamerad, aber von den schlimmen Erscheinungen des Soroche,
der eigentlichen Bergkrankheit, blieben wir verschont. Auf die große
Lufttrockenheit reagierten von Zeit zu Zeit die Lungen und der
Kehlkopf mit einem stoßhaften, krampfartigen Husten.

Der oberste Bergkegel steigt von etwa 5750 Meter an mit 40 bis 42°
empor. Da das Nebelwehen nachgelassen hatte, konnten wir minutenlang
die noch zu bewältigenden Firnfelder bis zu einem feinen Grat der
hohen Nordwestkuppe übersehen. Das Ziel schien noch so weit, daß mir
einige Momente ernstliche Zweifel aufkamen, ob wir bei der vorgerückten
Stunde – es war ½3 Uhr geworden – den Kraterrand erreichen könnten,
ohne uns der Gefahr einer nächtlichen Verspätung auszusetzen, denn die
Sonne geht ja hier unter dem Äquator um 6 Uhr unter, und um ½7 Uhr ist
bereits finstere Nacht; man hat also höchstens 13 Stunden Tageshelle
von ½6 Uhr früh bis ½7 Uhr abends. Der Gedanke jedoch, nach soviel
Arbeit so nahe am Ziel ohne schwere Widerstände in Eis oder Fels oder
Luft die Waffen strecken und sieglos umkehren zu sollen, trieb uns
vorwärts.

So kamen wir in kurzem in die oberste Region, wo die Steilhänge
in große Firnstufen und diese in lange Rücken und Hügelreihen
übergehen, lauter Schnee und Eis von sonderbaren, blumenkohlartigen
Oberflächenformen, die immer phantastischer wurden, je mehr wir uns dem
Gipfelkrater näherten. Die Stufenbildung des Firns ist zweifellos durch
darunterliegende Lavawülste und Lavatreppen verursacht, die von den
Magmaergüssen des Kraters hier oben am Rande erkaltet hängengeblieben
sind, während die Hauptmassen hinabgerutscht sind.

[Illustration: Eisbrüche am Antisana, bei 5320 ~m~.]

Noch eine Viertelstunde lavierten wir mit äußerster, nach Pausen der
Ermattung immer wiederholter Konzentration von Kraft und Willen durch
die wie riesige Wogen immer wieder vor uns aufsteigenden Firnhügel.
Aber die Oberfläche war fest und ließ den Fuß sicher auftreten. Herr
Reschreiter war ein Stück voraus, ich zurück beim Photographieren der
wundersamen Firngebilde, die hier die Form von weißen Korallenbänken
hatten. Da höre ich unfern über mir seinen Ruf: »Der Krater ist da!«
und bin in einigen Minuten bei ihm.

[Illustration: Westseite des Cotopaxi, von Santa Ana de Tiupullo (3150
~m~) aus.]

Unmittelbar vor uns öffnet sich die Erde, und aus schwindelnder Tiefe
gähnt uns der ungeheure Schlund des _Gipfelkraters_ an. Mit einem
Seufzer der Erleichterung und Genugtuung stoßen wir die Eispickel in
den Firn und setzen uns zu ruhigem Schauen auf einen Schneehügel. In
wenigen Minuten ist alles körperliche Unbehagen verschwunden; eine
angenehme körperliche und geistige Abspannung, nicht Ermüdung, kommt
über mich, während die Sinne und die Beobachtungslust in alter Weise
wieder rege werden. Und damit wächst auch erst das rechte Triumphgefühl
über den schwer erkämpften Sieg empor, das mir im Moment der
Zielerreichung gänzlich gefehlt hatte.

[Illustration: Der Krater des Cotopaxi, vom Westrand (5940 ~m~) aus.

Nach einer Zeichnung von Rudolf Reschreiter.]

Zuerst stehen wir ratlos vor den ungeheuren Dimensionen, für die
uns jeder Maßstab in dieser Landschaft fehlt. Wir können nur unser
eigenes Körpermaß auf unsere Umgebung übertragen. Der Krater ist
etwas elliptisch, seine längste Achse (Nord-Süd) 750 bis 800 Meter,
seine kurze Achse (Ost-West) 500 bis 550 Meter lang. Dabei hat er,
soweit man hinuntersehen kann, eine Tiefe von 400 bis 500 Meter, d.
i., um einen geläufigen Vergleich zu ziehen, etwa die dreifache Höhe
des Kölner Doms. Zu dieser Tiefe fallen von allen Seiten die inneren
Kraterwände jäh mit 60 bis 80° Neigung ab, nach unten trichterförmig
zusammengezogen, mehrfach in Stufen übergehend und auf diesen Stufen
und zahllosen Gesimsen so viel Raum lassend, daß sich auf
ihnen wieder Schnee- und Eisbänke festsetzen können. Von ihnen wie
von den Firnhügeln des Kraterrandes hängen gigantische Eiszapfen
von 20 bis 30 Meter Länge und 2 bis 3 Meter Dicke, stellenweise
in wahren Baldachinen, über den finsteren Abgrund hinunter. Im
Gegensatz zu den hellen Schnee- und Eismassen stehen die felsigen
Kraterwände in düsteren vielfältigen Farben da. Jede der horizontal
übereinanderliegenden Bänke von Lava und von Tuff- und Lapillischichten
ist anders gefärbt. In den oberen Lagen herrschen rötliche Töne
vor, darunter sind graue in der Mehrzahl, und unter diesen, wo die
aufsteigenden Dämpfe noch heiß sind, den Fels zerfressen und Krusten
absetzen, dämmert das Gestein graugrün, hellgrau, gelb und auch weiß.
Gips und Inkrustationen von Schwefel scheinen dort stark vertreten zu
sein.

[Illustration: Firn am obern Westhang des Cotopaxi mit
Rauhfrostbildungen.]

In der Tiefe von etwa 400 Meter ist nichts mehr zu erkennen als
emporquellender weißer und hellgrauer Dampf; doch ist dieser jetzt
nicht besonders dicht und stark. Von Zeit zu Zeit läßt sich im Innern
ein dumpfes Grollen vernehmen, wie wir es schon beim Aufstieg an
der Außenseite gehört hatten. Auch war einmal ein lautes rollendes
Getöse vernehmbar wie von einer fernen niederbrausenden Lawine, worauf
eine große Dampfwolke emporquoll, den ganzen Krater erfüllte und uns
einige Sekunden in eine penetrante Atmosphäre von schwefeliger Säure
einhüllte. Dann aber blieb es wieder bei dem ununterbrochenen mäßigen,
meist geräuschlosen Aufsteigen von balligen Dampfsäulen wie aus einem
riesigen, ruhig siedenden Kochkessel. Ob die Hauptmasse des Dampfes
im Grund des Kratertrichters aus einem einzigen, weit hinein offenen
Schacht aufsteigt, oder ob er aus einem verschütteten Kratergrund
durch zahllose Fumarolen und Solfataren zwischen Schutt und Blöcken
hervordringt, konnten wir nicht klar erkennen. Mir schien das erstere
der Fall zu sein.

[Illustration: Nordwestgipfel des Cotopaxi (6000 ~m~) mit
Rauhfrostbildungen.]

Ein wundervoller Kontrast: dieser ungeheure heißdampfende Kraterschlund
und seine obere _Firn- und Eisumwallung_. Wir können sie auf den uns
gegenüberliegenden Kraterrändern auch von ihrer Innenseite überblicken.
Hatten unsere Vorgänger hier oben nur relativ wenig oder infolge neuer
Eruptionen gar keinen Schnee angetroffen und den Kraterrand als einen
5 bis 6 Meter breiten Wall von nackten Lavablöcken oder Auswürflingen
gesehen, so umschließen jetzt auf allen Seiten Firnkuppen und Eisgrate
den Kraterkessel als eine Krone, wie sie so groß und so herrlich nur
des Königs aller Vulkane würdig ist. Die Schneeansammlungen haben
den Kraterrand oft um das Doppelte verbreitert. Von 10 bis über 60
Meter hoch lagern die Firn- und Eismassen auf dem Gestein und brechen
zum Krater hin in steilen, oft überhängenden Wänden ab. An mehreren
Stellen sieht man frische Brüche, von denen gewaltige Eislawinen in die
kochende Tiefe hinabgestürzt sind[1].

[Illustration: Westsüdwestseite des Cotopaxi, vom mittleren Lager (3670
~m~) aus.]

Was aber diese über 6000 Meter hohe Schneelandschaft des
Cotopaxigipfels in ihrem äußern Aussehen von allen anderen mir
bekannten alpinen Schneelandschaften unterscheidet, das sind die höchst
seltsamen Oberflächenformen dieser hügeligen Firnmassen. Alle diese
runden, breiten Firnhügel und Firnrücken bis etwa 150 Meter weit
auf den Außenmantel des Kraters hinab sind überzogen von Millionen
runder finger- bis armlanger Firnblätter, die gleichmäßig die Hügel
und die Mulden bedecken und aussehen wie dicke hellgraue Schuppen
oder Schindeln. Meist sind die einzelnen Blätter wieder mehrfach
gelappt gleich den Blättern der Feige oder des Weinstockes. An anderen
Stellen gleichen sie hängenden Straußenfedern, wieder an anderen den
Korallenbänken der Madreporen. Alle Formen sind gerundet, nirgends
eckig, und überall ist ihre Oberfläche krustig und pelzig, nicht glatt
vereist wie die Firnoberfläche in den tieferen Regionen des Bergkegels.
Auch in Ecuador habe ich diese eigenartigen Firngebilde nirgends wieder
gesehen. Es sind sicherlich nicht Schmelzformen der Sonne oder des
Windes, sondern Kristallisationen des aus dem Krater aufsteigenden
Wasserdampfes, also eine Art Rauhfrost, wie er ähnlich auch bei uns
daheim einmal vorkommt. Hier und da, wo in diese immer in Bewegung
befindlichen Firnmassen Spalten und Klüfte gerissen sind, sind auch
diese oft von den Rauhfrostblättern überzogen und teilweise überbrückt,
was ganz wunderbare Effekte von Schneegirlanden und Schneelauben
hervorzaubert. An einigen anderen Stellen wieder sind tiefe
dolinenartige Löcher oder Höhlen von ein bis zwei Meter Durchmesser
teils lotrecht, teils schief in den Firn eingesenkt, die ebenfalls
von solchen Schneeblättern überhangen sind, aber ihre Entstehung,
wie mir scheint, weder Bewegungen im Firn noch von oben einwirkenden
Schmelzagentien verdanken, sondern warmen Stellen des felsigen
Untergrundes, wo heiße Dämpfe aus Löchern und Spalten austreten.

[Illustration: Krater des Cotopaxi mit Rauhfrostblättern, Südhälfte.]

Die mächtigste Auftürmung der Firnmassen und damit der höchste Gipfel
des Berges liegt auf der Nordseite des Kraterrandes. Dort erhebt
sich der Firn in einer stolzen Pyramide etwa 65 Meter hoch über
den Kraterrand, dessen felsige Oberkante wir an dem innern Absturz
deutlich erkennen können. Von der westlichen Böschung dieses höchsten
nördlichen Schneegipfels zieht eine wundervolle scharfe Firnschneide
zu dem flachen Firnrücken der Westseite hinab, auf deren mittlerm
Teil wir stehen. Unser Standpunkt, dessen Höhe ich barometrisch auf
5940 Meter gemessen habe, ist ungefähr 65 Meter niedriger als die
höchste nördliche Gipfelkuppe. Dieser würde damit eine Höhe von 6005
Meter, etwas mehr oder weniger je nach der aufliegenden Firnmenge,
zuzusprechen sein.

Während unseres Aufenthalts auf dem Kraterrand blies der Ostsüdostwind
stetig, aber mäßig, so daß es bei –2° ganz gut auszuhalten war. Beim
Schauen, Messen, Schreiben, Photographieren, Skizzieren hatte aber
keiner von uns beiden an das Schwinden der Zeit gedacht. Ich bekam
deshalb einen gelinden Schreck, als ich, endlich nach der Uhr sehend,
fast 4 Uhr ablas. Wir hatten also nur noch 2½ Stunden Tageslicht für
den Abstieg, wo uns der Aufstieg 9½ Stunden gekostet hatte. Eilig
traten wir über die oberen Firnhügel den _Rückzug_ an und rutschten
bald über die obenerwähnten Felsen zu unserm wartenden Begleiter hinab,
der sich unterdessen wieder erholt hatte. Ohne längern Aufenthalt,
als die Seilbefestigung erforderte, ging es weiter und in unseren
noch guterhaltenen Spuren flott bergab, indem wir auf den weicher
gewordenen Firnhängen mit Springen und Gleiten die zahllosen Zickzacks
abschnitten, die wir bergaufwärts hatten treten und hauen müssen.
Der Nebel hatte sich sehr gelichtet, aber von Westen her rückte eine
kolossale schwarze Wolkenmauer auf uns los, als wollte sie uns
erdrücken. Auf den unteren Schneefeldern der Westseite fußend, stieg
sie vor uns kerzengerade himmelan, so hoch wie der Cotopaxi selber
und von der dahinterstehenden Sonne mit einem schmalen weißglühenden
Rand umsäumt; ein wunderbares, nie vorher gesehenes Phänomen von
unheimlicher Größe, Gestalt und Farbe. In unseren Alpen würde eine
ähnliche Erscheinung einen fürchterlichen Gewittersturm verkündet
haben, hier auch in den Monaten der Regenzeit; aber jetzt im Verano
löste sich das drohende Phantom in ein wirbelndes Schneegestöber auf,
das unsere Schritte nur noch mehr beflügelte. Einige Male verloren wir
unsere alte, kaum mehr zu erkennende Spur, fanden sie aber nach einigem
Kreuz- und Quergehen wieder und erreichten ohne weitern Zwischenfall
wirklich vor Sonnenuntergang bei ganz klar gewordenem Wetter die
Schneegrenze.

Nachdem wir das Seil abgelegt hatten, mußten wir uns einige Zeit mit
Santiago abgeben, der sehr erschöpft war. Dann bummelten wir über die
Felsen an unseren den Weg zeigenden Steinmännern vorbei zum Lagerplatz,
dessen Rauchsäule wir längst bemerkt hatten, und waren noch vor
gänzlicher Dunkelheit bei unseren _Zelten_, wo uns der zurückgebliebene
Indianer mit Bangen erwartet hatte. Der Appetit, der mir den ganzen Tag
gefehlt hatte, stellte sich nun in beängstigender Stärke wieder ein,
und nach Vertilgung alles vorhandenen Eßbaren schliefen wir, während
es draußen wieder schneite und der Bergwind unsere steifgefrorenen,
knisternden Zeltwände peitschte, in unseren molligen Pelzsäcken zwölf
Stunden ohne Unterbrechung. Gegen Mittag des nächsten Tages kamen, wie
verabredet, unsere Arrieros trotz fortdauernden Schneegestöbers mit den
Tieren wieder herauf und brachen unser Lager ab, während wir gemütlich
vorausschlenderten.

Weiter unten enthüllte sich uns noch einmal der Cotopaxi in seiner
ganzen Schönheit, und dankbar kehrte unser Blick immer wieder zu seinen
silberschimmernden Höhen zurück. Das Schneegestöber der letzten Nacht
hatte nicht viel ausgerichtet. Die Sonne hatte seine Spuren und die der
Schneefälle der beiden Vortage in den unteren Regionen größtenteils
weggewischt. Darum zeigte sich jetzt der Rand des Schneemantels tief
gezackt und eingeschnitten. Jeder der schwarzen Einschnitte ist ein
wallförmiger Lavastrom. Wie die Fangarme eines gigantischen Polypen
halten alle diese dunklen Lavabänder den Bergkörper umklammert. Ihr
zerklüftetes, durchlässiges Gestein und bei den jüngsten vielleicht
noch etwas Eigenwärme lassen den Schnee der niederen dünneren Randlagen
nicht lange auf ihnen liegenbleiben. Die Höhe dieser zur Zeit der
größten Abschmelzung sich zeigenden »wirklichen« Schneegrenze habe
ich gemessen: auf der Ostseite bei 4550 Meter, Südseite 4730 Meter,
Westseite 4850 Meter, Nordseite 4900 Meter; d. h. sie hat sich, seit
sie vor 30 Jahren zuletzt gemessen wurde, um 100 bis 180 Meter aufwärts
verschoben. Von alten Gletscherspuren ist am Cotopaxi nichts zu
bemerken. Er ist dafür zu jung.

Am Spätnachmittag des 15. Juli ritten wir, schwerbeladen mit
geologischen Handstücken, Pflanzen und sonstiger Ausbeute, wieder im
Pfarrhof von _Mulaló_ ein. Der Pfarrer nahm lebhaftes Interesse an
unserm Erfolg und Bericht. Die Dorfbewohner aber, die sich auf die
Nachricht von unserer Rückkehr einfanden, um ihre Neugierde zu stillen
und zu klatschen, zogen, nachdem sie viel Dummes gefragt, uns wenig
zugehört, viel geschwatzt, viel getrunken, geraucht und gespuckt
hatten, abends wieder heim mit Kopfschütteln und Achselzucken. Keiner
von ihnen glaubte unseren Berichten. Ich hörte, wie einer draußen
sagte: »Kein Mensch ist noch auf dem Cotopaxi gewesen. Vor 20 bis 30
Jahren erzählten es auch schon einige Europäer, aber sie haben alle
gelogen. Und nun lügen diese beiden Alemanes ebenfalls. Solche Berge
kann kein Mensch ersteigen, und wenn einer doch hinaufkäme, würde er
oben sterben.« Das ist die Überzeugung der bergscheuen Ecuatorianer von
jeher gewesen, und sie wird es voraussichtlich immer bleiben.


Fußnoten:

    [1] Während des Ausbruchs von 1911 schmolz diese Eiskrone weg
        und ließ die nackten Felsen des Kraterrandes zutage treten,
        wodurch sich auch die Höhe des Berges etwas verminderte.
        Inzwischen dürfte sich die Firnhaube zum Teil wenigstens
        wieder neu gebildet haben.



Alte Reisen und Abenteuer


    Bd. 1 =Fornão de Magalhães=, Die erste Weltumseglung.
        Bearbeitet von ~Dr.~ _H. Plischke_

    Bd. 2 =Ulrich Schmidel=, Abenteuer in Südamerika. Bearb. von
        _Curt Cramer_

    Bd. 3 =J. Cook=, Die Suche nach dem Südland. Bearbeitet von
        ~Dr.~ _H. Damm_

    Bd. 4 =Peter Kolb=, Zum Vorgebirge der Guten Hoffnung.
        Bearbeitet von ~Dr.~ _P. Germann_

    Bd. 5 =Christoph Kolumbus=, Die Entdeckg. Amerikas. Bearb. v.
        ~Dr.~ _H. Plischke_

    Bd. 6 =Kapitän Phillip=, Gründung der Strafkolonie Sydney.
        Bearbeitet von ~Dr.~ _H. Plischke_

    Bd. 7 =Carl Friedrich Behrens=, Der wohlversuchte Südländer.
        Reise um d. Welt 1721/22. Bearb. v. ~Dr.~ _H. Plischke_

    Bd. 8 =Hans Egede=, Die Erforschung von Grönld. Bearb. v. ~Dr.~
        _M. Heydrich_

    Bd. 9 =Hernando Cortes=, Die Eroberung v. Mexiko. Bearb. v.
        ~Dr.~ _H. G. Bonte_

    Bd. 10 =Francis Drake=, Als Freibeuter in Spanisch-Amerika.
        Bearbeitet von ~Dr.~ _H. Damm_

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        u. China. Bearbeitet von ~Dr.~ _A. Herrmann_

    Bd. 12 =Mungo Park=, Vom Gambia zum Niger. Bearb. von ~Dr.~ _P.
        Germann_

    Bd. 13 =Vasco da Gama=, Der Weg nach Ostindien. Bearb. v. ~Dr.~
        _H. Plischke_

    Bd. 14 =Francisco Pizarro=, Der Sturz des Inkareichs. Bearb. v.
        ~Dr.~ _H. G. Bonte_

    Bd. 15 =John Smith=, Unter den Indianern Virginiens. Bearbeitet
        von ~Dr.~ _H. G. Bonte_

    Bd. 16 =Georg Wilhelm Steller=, Von Kamtschatka nach Amerika.
        Bearbeitet von ~Dr.~ _M. Heydrich_

    Bd. 17 =Herodot=, Reisen und Forschungen in Afrika. Bearb. von
        ~Dr.~ _H. Treidler_

    Bd. 18 =Tacitus=, Germania. Bearbeitet von ~Dr.~ _H. Philipp_


Reisen und Abenteuer

    Bd. 1 =Sven Hedin=, Abenteuer in Tibet

    Bd. 2 =Sven Hedin=, Transhimalaja

    Bd. 3 =Kapitän Scott=, Letzte Fahrt (Scotts Tagebuch)

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    Bd. 17 =Einar Mikkelsen=, Ein arkt. Robinson

    Bd. 18 =H. M. Stanley=, Mein erster Weg zum Kongo

    Bd. 19 =Sven Hedin=, General Prschewalskij in Innerasien

    Bd. 20 =Sven Hedin=, Meine erste Reise

    Bd. 21 =H. M. Stanley=, Auf dem Kongo bis zur Mündung

    Bd. 22 =Henry G. Landor=, Auf verbot. Wegen

    Bd. 23 =Sven Hedin=, An der Schwelle Innerasiens

    Bd. 24 =Otto Sverdrup=, Neues Land

    Bd. 25 =Hans Meyer=, Hochtouren im tropischen Afrika

    Bd. 26 =Douglas Mawson=, Leben und Tod am Südpol

    Bd. 27 =Arthur Berger=, Auf den Inseln des ewigen Frühlings

    Bd. 28 =Vilhjalmur Stefansson=, Jäger des hohen Nordens

    Bd. 29 =Prinz Max zu Wied=, Unter den Rothäuten

    Bd. 30 =Emil Holub=, Elf Jahre unter den Schwarzen Südafrikas

    Bd. 31 =L. B. Mansilla=, Die letzten wilden Indianer der Pampa

    Bd. 32 =Hans Meyer=, Hochtouren im tropischen Amerika

    Bd. 33 =Rickmer W. Rickmers=, Die Wallfahrt zum wahren Jakob

    Bd. 34 =Wilhelm Junker=, Bei meinen Freunden den
        Menschenfressern

    Bd. 35 =H. v. Foller=, Unter Javas Sonne

    Bd. 36 =Philipp Berges=, Wunder der Erde

Jeder Band enthält 160 Seiten Text, etwa 30 Abbildungen und 2 Karten,
ist in sich abgeschlossen und einzeln käuflich / _Beide Sammlungen
werden fortgesetzt_

_Ausführliche Prospekte auf Verlangen kostenlos_


Verlag F. A. Brockhaus / Leipzig


F. A. Brockhaus in Leipzig.



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