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Title: Diesseits: Erzählungen
Author: Hesse, Hermann
Language: German
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Copyright Status: Not copyrighted in the United States. If you live elsewhere check the laws of your country before downloading this ebook. See comments about copyright issues at end of book.

*** Start of this Doctrine Publishing Corporation Digital Book "Diesseits: Erzählungen" ***


       Von _Hermann Hesse_ ist im gleichen Verlage erschienen:
                    Peter Camenzind. 38. Auflage.
                       Unterm Rad. 15. Auflage.



                              Diesseits


                             Erzählungen
                                 von
                            Hermann Hesse

                      S. Fischer, Verlag, Berlin
                                 1907

       Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
           Published, April 5, 1907. Privilege of copyright
         in the United States reserved under the act approved
             March 3, 1905 by S. Fischer, Verlag, Berlin.

                        Meiner lieben Frau Mia



Inhalt


   Aus Kinderzeiten         Seite    9
   Die Marmorsäge           »       47
   Heumond                  »      109
   Der Lateinschüler        »      185
   Eine Fußreise im Herbst  »      253



Aus Kinderzeiten


Der ferne braune Wald hat seit wenigen Tagen einen heiteren Schimmer von
jungem Grün; am Lettensteg fand ich heute die erste halberschlossene
Primelblüte; am feuchten klaren Himmel träumen die sanften Aprilwolken
und die weiten, kaum gepflügten Äcker sind so glänzend braun und breiten
sich der lauen Luft so verlangend entgegen, als hätten sie Sehnsucht, zu
empfangen und zu treiben und ihre stummen Kräfte in tausend grünen
Keimen und aufstrebenden Halmen zu erproben, zu fühlen und
wegzuschenken. Alles wartet, alles bereitet sich vor, alles träumt und
sproßt in einem feinen, zärtlich drängenden Werdefieber -- der Keim der
Sonne, die Wolke dem Acker, das junge Gras den Lüften entgegen. Von Jahr
zu Jahr steh’ ich um diese Zeit mit Ungeduld und Sehnsucht auf der
Lauer, als müßte ein besonderer Augenblick mir das Wunder der Neugeburt
erschließen, als müsse es geschehen, daß ich einmal, eine Stunde lang,
die Offenbarung der Kraft und der Schönheit ganz sähe und begriffe und
miterlebte, wie das Leben lachend aus der Erde springt und junge große
Augen zum Lichte aufschlägt. Jahr für Jahr auch tönt und duftet das
Wunder an mir vorbei, geliebt und angebetet -- und unverstanden; es ist
da und ich sah es nicht kommen, ich sah nicht die Hülle des Keimes
brechen und den zarten ersten Quell im Lichte zittern. Blumen stehen
plötzlich allerorten, Bäume glänzen mit lichtem Laube oder mit schaumig
weißer Blust, und Vögel werfen sich jubelnd in schönen Bogen durch die
warme Bläue. Das Wunder ist erfüllt, ob ich es auch nicht gesehen habe,
Wälder wölben sich und ferne Gipfel rufen, und es ist Zeit, Stiefel und
Tasche, Angelstock und Ruderzeug zu rüsten und sich mit allen Sinnen des
jungen Jahres zu freuen, das jedesmal schöner ist als es jemals war, und
das jedesmal eiliger zu schreiten scheint. -- Wie lang, wie
unerschöpflich lang ist ein Frühling vorzeiten gewesen, als ich noch ein
Knabe war!

Und wenn die Stunde es gönnt und mein Herz guter Dinge ist, leg ich mich
lang ins feuchte Gras oder klettere den nächsten tüchtigen Stamm hinan,
wiege mich im Geäste, rieche den Knospenduft und das frische Harz, sehe
Zweigenetz und Grün und Blau sich über mir verwirren und trete
traumwandelnd als ein stiller Gast in den seligen Garten meiner
Knabenzeit. Das gelingt so selten und ist so köstlich, einmal wieder
sich dort hinüberzuschwingen und die klare Morgenluft der ersten Jugend
zu atmen und noch einmal, für Augenblicke, die Welt so zu sehen wie sie
aus Gottes Händen kam und wie wir alle sie in Kinderzeiten gesehen
haben, da in uns selber das Wunder der Kraft und der Schönheit sich
entfaltete.

Ich bin wahrlich heute und jeden Tag der Welt und meines Lebens froh,
aber auch ein Glücklicher kann sich den Glanz nicht völlig bewahren, den
sein Auge in Kinderzeiten über der Erde sah. Da stiegen die Bäume so
freudig und trotzig in die Lüfte, da sproß im Garten Narziß und Hyazinth
so glanzvoll schön; und die Menschen, die wir noch so wenig kannten,
begegneten uns zart und gütig, weil sie auf unserer glatten Stirn noch
den Hauch des Göttlichen fühlten, von dem wir nichts wußten und das uns
ungewollt und ungewußt im Drang des Wachsens abhanden kam. Was war ich
für ein wilder und ungebändigter Bub, wieviel Sorgen hat der Vater von
klein auf um mich gehabt und wieviel Angst und Seufzen die Mutter! --
und doch lag auch auf meiner Stirne Gottes Glanz, und was ich ansah, war
schön und lebendig, und in meinen Gedanken und Träumen, auch wenn sie
gar nicht frommer Art waren, gingen Engel und Wunder und Märchen
geschwisterlich hin und wider. Das geht doch nicht ganz verloren, und
wenn einer seine Kindheit lieb hat und sich je und je bei ihr zu Gaste
ladet, den Staub von sich streift und sich ohne Gedanken wieder in ihre
Wildnisse verliert, der hört noch einmal Quellen reden und Wolken
singen, sieht das Licht der Sonne gütig sich zur Erde neigen und alle
Dinge mit einem Duft von Schönheit und Märchen umgeben. Und viel reicher
und mächtiger und schöner könnten wir alle sein, wenn wir häufiger auf
jenen Pfaden gingen und fester an dem goldenen Bande hielten, das uns
mit der Kindheit und mit allen Quellen unserer Kräfte zusammenhält.

Mir ist aus Kinderzeiten her mit dem Geruch des frischgepflügten
Ackerlandes und mit dem keimenden Grün der Wälder eine Erinnerung
verknüpft, die mich in jedem Frühling heimsucht und mich nötigt, jene
halbvergessene und unbegriffene Zeit für Stunden wieder zu leben. Auch
jetzt denke ich daran und will versuchen, wenn es möglich ist, davon zu
erzählen.

                   *       *       *       *       *

In unserer Schlafkammer waren die Läden zu, und ich lag im Dunkel
halbwach, hörte meinen kleinen Bruder neben mir in festen, gleichen
Zügen atmen und wunderte mich wieder darüber, daß ich bei geschlossenen
Augen statt des schwarzen Dunkels lauter Farben sah, violette und
trübdunkelrote Kreise, die beständig weiter wurden und in die Finsternis
zerflossen und beständig von innen her quellend sich erneuerten, jeder
von einem dünnen gelben Streifen umrändert. Auch horchte ich auf den
Wind, der von den Bergen her in lauen, lässigen Stößen kam und weich in
den großen Pappeln wühlte und sich zuzeiten schwer gegen das ächzende
Dach lehnte. Es tat mir wieder leid, daß Kinder nachts nicht aufbleiben
und hinausgehen oder wenigstens am Fenster sein dürfen, und ich dachte
an eine Nacht, in der die Mutter vergessen hatte, die Läden zu
schließen.

Da war ich mitten in der Nacht aufgewacht und leise aufgestanden und mit
Zagen ans Fenster gegangen, und vor dem Fenster war es seltsam hell, gar
nicht schwarz und todesfinster, wie ich mir vorgestellt hatte. Es sah
alles dumpf und verwischt und traurig aus, große Wolken stöhnten über
den ganzen Himmel, und die bläulich-schwarzen Berge schienen
mitzufluten, als hätten sie alle Angst und strebten davon, um einem
nahenden Unglück zu entrinnen. Die Pappeln schliefen und sahen ganz matt
aus wie etwas Totes oder Erloschenes, auf dem Hof aber stand wie sonst
die Bank und der Brunnentrog und der junge Kastanienbaum, auch sie ein
wenig müd und trüb. Ich wußte nicht, ob es kurz oder lang war, daß ich
im Fenster saß und in die bleiche verwandelte Welt hinüberschaute; da
fing in der Nähe ein Tier zu klagen an, ängstlich und weinerlich. Es
konnte ein Hund oder auch ein Schaf oder Kalb sein, das erwacht war und
im Dunkeln Angst verspürte. Sie faßte auch mich und ich floh in die
Kammer und in mein Bett zurück, ungewiß ob ich weinen sollte oder nicht.
Aber ehe ich dazu kam, war ich eingeschlafen.

Das alles lag jetzt wieder rätselhaft und lauernd draußen, hinter den
verschlossenen Läden, und es wäre so schön und gefährlich gewesen wieder
hinauszusehen. Ich stellte mir die trüben Bäume wieder vor, das müde,
ungewisse Licht, den verstummten Hof, die samt den Wolken fortfliehenden
Berge, die fahlen Streifen am Himmel und die bleiche, undeutlich in die
graue Weite verschimmernde Landstraße. Da schlich nun in einen großen,
schwarzen Mantel verhüllt ein Dieb, oder ein Mörder, oder war jemand
verirrt und lief dort hin und her, von der Nacht geängstigt und von
Tieren verfolgt. Es war vielleicht ein Knabe, so alt wie ich, der
verloren gegangen oder fortgelaufen oder geraubt worden oder ohne Eltern
war, und wenn er auch Mut hatte, so konnte doch der nächste Nachtgeist
ihn umbringen oder der Wolf ihn holen. Vielleicht nahmen ihn auch Räuber
mit in den Wald, und er wurde selber ein Räuber, bekam ein Schwert oder
eine zweiläufige Pistole, einen großen Hut und hohe Reiterstiefel.

Von hier war es nur noch ein Schritt, ein willenloses Sichfallenlassen,
und ich stand im Träumeland und konnte alles mit Augen sehen und mit
Händen anfassen, was jetzt noch Erinnerung und Gedanke und Phantasie
war.

Ich schlief aber nicht ein, denn in diesem Augenblick floß durch das
Schlüsselloch der Kammertür, aus der Schlafstube der Eltern her, ein
dünner, roter Lichtstrom zu mir herein, füllte die Dunkelheit mit einer
schwachen zitternden Ahnung von Licht und malte auf die plötzlich matt
aufschimmernde Tür des Kleiderkastens einen gelben, zackigen Fleck. Ich
wußte, daß jetzt der Vater ins Bett ging. Sachte hörte ich ihn in
Strümpfen herumlaufen, und gleich darauf vernahm ich auch seine
gedämpfte tiefe Stimme. Er sprach noch ein wenig mit der Mutter.

»Schlafen die Kinder?« hörte ich ihn fragen.

»Ja, schon lang,« sagte die Mutter, und ich schämte mich, daß ich nun
doch wach war. Dann war es eine Weile still, aber das Licht brannte
fort. Die Zeit wurde mir lang, und der Schlummer wollte mir schon bis in
die Augen steigen, da fing die Mutter noch einmal an.

»Hast auch nach dem Brosi gefragt?«

»Ich hab’ ihn selber besucht,« sagte der Vater. »Am Abend bin ich dort
gewesen. Der kann einem leid tun.«

»Geht’s denn so schlecht?«

»Ganz schlecht. Du wirst sehen, wenn’s Frühjahr kommt, wird es ihn
wegnehmen; das ist eine böse Jahreszeit. Ich meine als, er hat schon den
Tod im Gesicht.«

»Was denkst du,« sagte die Mutter, »soll ich den Buben einmal
hinschicken? Es könnt’ vielleicht gut tun.«

»Wie du willst,« meinte der Vater, »aber nötig ist’s nicht. Was versteht
so ein klein Kind davon?«

»Also gut Nacht.«

»Ja, gut Nacht.«

Das Licht ging aus, die Luft hörte auf zu zittern, Boden und Kastentür
waren wieder dunkel, und wenn ich die Augen zumachte, konnte ich wieder
violette und dunkelrote Ringe mit einem gelben Rand wogen und wachsen
sehen.

Aber während die Eltern einschliefen und alles stille war, arbeitete
meine plötzlich erregte Seele mächtig in die Nacht hinein. Das
halbverstandene Gespräch war in sie gefallen wie eine Frucht in den
Teich, und nun liefen schnellwachsende Kreise eilig und ängstlich über
sie hinweg und machten sie vor banger Neugierde zittern.

Der Brosi, von dem die Eltern gesprochen hatten, war fast aus meinem
Gesichtskreis verloren gewesen, höchstens war er noch eine matte,
beinahe schon verglühte Erinnerung. Nun rang er sich, dessen Namen ich
kaum mehr gewußt hatte, langsam kämpfend empor und wurde wieder zu einem
lebendigen Bilde. Zuerst wußte ich nur, daß ich diesen Namen früher
einmal oft gehört und selber gerufen habe. Dann fiel ein Herbsttag mir
ein, an dem ich von jemand Äpfel geschenkt bekommen hatte. Da erinnerte
ich mich, daß das Brosis Vater gewesen sei, und da wußte ich plötzlich
alles genau wieder, zuerst mit Freude, dann mit Unbehagen -- vielleicht
weil ich mich schämte, so lang nicht mehr daran gedacht zu haben.

Ich sah also einen hübschen Knaben, ein Jahr älter, aber nicht größer
als ich, der hieß Brosi. Vielleicht vor einem Jahre war sein Vater unser
Nachbar und der Bub mein Kamerad geworden; doch reichte mein Gedächtnis
nimmer dahin zurück, und der Anfang unserer Freundschaft schien mir
unendlich weit im unermeßlichen Raum zu liegen. Ich sah ihn wieder
deutlich: er trug eine gestrickte blaue Wollenkappe mit zwei
merkwürdigen Hörnern, und er hatte immer Äpfel oder Schnitzbrot im Sack,
und er hatte gewöhnlich einen Einfall und ein Spiel und einen Vorschlag
parat, wenn es anfangen wollte langweilig zu werden. Er trug eine Weste,
auch werktags, worum ich ihn sehr beneidete, und früher hatte ich ihm
fast gar keine Kraft zugetraut, aber da hieb er einmal den
Schmiedsbarzle vom Dorf, der ihn wegen seiner Hörnerkappe verhöhnte (und
die Kappe war von seiner Mutter gestrickt), jämmerlich durch, und dann
hatte ich eine Zeitlang Angst vor ihm, natürlich nur ein klein wenig,
und er war ja auch fast ein Jahr älter. Er besaß einen zahmen Raben, der
hatte aber im Herbst zu viel junge Kartoffeln ins Futter bekommen und
war gestorben, und wir hatten ihn beim Haftanger begraben. Der Sarg war
eine Schachtel, aber sie war zu klein und der Deckel ging nimmer drüber,
und ich hielt eine Grabrede wie ein Pfarrer, und als der Brosi dabei
anfing zu weinen, mußte mein kleiner Bruder lachen; da schlug ihn der
Brosi, da schlug ich ihn wieder, der Kleine heulte und wir liefen
auseinander, und nachher kam Brosis Mutter zu uns herüber und sagte, es
täte ihm leid, und wenn wir morgen nachmittag zu ihr kommen wollten, so
gäbe es Kaffee und Hefenkranz, er sei schon im Ofen. Und bei dem Kaffee
erzählte der Brosi uns eine Geschichte, die fing mitten drin immer
wieder von vorne an, und obwohl ich die Geschichte nie behalten konnte,
mußte ich doch lachen, so oft ich daran dachte.

Das war aber nur der Anfang. Es fielen mir zu gleicher Zeit tausend
Erlebnisse ein, alle aus dem Sommer und Herbst, wo Brosi mein Kamerad
gewesen war, und alle hatte ich in den paar Monaten, seit er nimmer kam,
so gut wie vergessen. Nun drangen sie von allen Seiten her, wie Vögel,
wenn man im Winter Körner wirft, alle zugleich, ein ganzes Gewölk.

Es fiel mir der glänzende Herbsttag wieder ein, an dem des Dachtelbauers
Turmfalk aus der Remise durchgegangen war. Der beschnittene Flügel war
ihm gewachsen, das messingene Fußkettlein hatte er durchgerieben und den
engen finsteren Schuppen verlassen. Jetzt saß er dem Haus gegenüber
ruhig auf einem Apfelbaum, und wohl ein Dutzend Leute stand auf der
Straße davor, schaute hinauf und redete und machte Vorschläge. Da war
uns Buben sonderbar beklommen zumute, dem Brosi und mir, wie wir mit
allen anderen Leuten dastanden und den Vogel anschauten, der still im
Baume saß und scharf und kühn herabäugte. »Der kommt nicht wieder,« rief
einer. Aber der Knecht Gottlob sagte: »Fliegen wann er noch könnt’, dann
wär er schon lang über Berg und Tal.« Der Falk probierte, ohne den Ast
mit den Krallen loszulassen, mehrmals seine großen Flügel; wir waren
schrecklich aufgeregt, und ich wußte selber nicht, was mich mehr freuen
würde, wenn man ihn finge oder wenn er davonkäme. Schließlich wurde vom
Gottlob eine Leiter angelegt, der Dachtelbauer stieg selber hinauf und
streckte die Hand nach seinem Falken aus. Da ließ der Vogel den Ast
fahren und fing an, stark mit den Flügeln zu flattern. Da schlug uns
Knaben das Herz so laut, daß wir kaum atmen konnten; wir starrten
bezaubert auf den schönen, flügelschlagenden Vogel, und dann kam der
herrliche Augenblick, daß der Falk ein paar große Stöße tat, und wie er
sah, daß er noch fliegen konnte, stieg er langsam und stolz in großen
Kreisen höher und höher in die blaue Luft, bis er so klein wie eine
Feldlerche war und still im flimmernden Himmel verschwand. Wir aber, als
die Leute schon lang verlaufen waren, standen noch immer da, hatten die
Köpfe nach oben gestreckt und suchten den ganzen Himmel ab, und da tat
der Brosi plötzlich einen hohen Freudensatz in die Luft und schrie dem
Vogel nach: »Flieg du, flieg du, jetzt bist du wieder frei.«

Auch an den Karrenschuppen des Nachbars mußte ich denken. In dem hockten
wir, wenn es so recht herunterregnete, im Halbdunkel beisammengekauert,
hörten dem Klingen und Tosen des Platzregens zu und betrachteten den
Hofboden, wo Bäche, Ströme und Seen entstanden und sich ergossen und
durchkreuzten und veränderten. Und einmal, als wir so hockten und
lauschten, fing der Brosi an und sagte: »Du, jetzt kommt die Sündflut,
was machen wir jetzt? Also alle Dörfer sind schon ertrunken, das Wasser
geht jetzt schon bis an den Wald.« Da dachten wir uns alles aus, spähten
im Hof umher, horchten auf den schüttenden Regen und vernahmen darin das
Brausen ferner Wogen und Meeresströmungen. Ich sagte, wir müßten ein
Floß aus vier oder fünf Balken machen, das würde uns zwei schon tragen.
Da schrie mich der Brosi aber an: »So, und dein Vater und die Mutter,
und mein Vater und meine Mutter, und die Katz und dein Kleiner? Die
nimmst nicht mit?« Daran hatte ich in der Aufregung und Gefahr freilich
nicht gedacht, und ich log zur Entschuldigung: »Ja, ich hab mir gedacht,
die seien alle schon untergegangen.« Er aber wurde nachdenklich und
traurig, weil er sich das deutlich vorstellte, und dann sagte er: »Wir
spielen jetzt was anderes.«

Und damals, als sein armer Rabe noch am Leben war und überall
herumhüpfte, hatten wir ihn einmal in unser Gartenhaus mitgenommen, wo
er auf den Querbalken gesetzt wurde und hin und her lief, weil er nicht
herunter konnte. Ich streckte ihm den Zeigefinger hin und sagte im Spaß:
»Da, Jakob, beiß!« Da hackte er mich in den Finger. Es tat nicht
besonders weh, aber ich war zornig geworden und schlug nach ihm und
wollte ihn strafen. Der Brosi packte mich aber um den Leib und hielt
mich fest, bis der Vogel, der in der Angst vom Balken heruntergeflügelt
war, sich hinausgerettet hatte. »Laß mich los,« schrie ich, »er hat mich
gebissen,« und rang mit ihm.

»Du hast selber zu ihm gesagt: Jakob beiß!« rief der Brosi und erklärte
mir deutlich, der Vogel sei ganz in seinem Recht gewesen. Ich war
ärgerlich über seine Schulmeisterei, sagte »meinetwegen« und beschloß
aber im stillen, mich ein anderes Mal an dem Raben zu rächen.

Nachher, als Brosi schon aus dem Garten und halbwegs daheim war, rief er
mir noch einmal und kehrte um, und ich wartete auf ihn. Er kam her und
sagte: »Du, gelt du versprichst mir ganz gewiß, daß du dem Jakob nichts
mehr tust?« Und als ich keine Antwort gab und trotzig war, versprach er
mir zwei große Äpfel, und ich nahm an, und dann ging er heim.

Gleich darauf wurden auf dem frühesten Baum in seines Vaters Garten die
ersten Jakobiäpfel reif; da gab er mir die versprochenen zwei Äpfel von
den schönsten und größten. Ich schämte mich jetzt und wollte sie nicht
gleich annehmen, bis er sagte: »Nimm doch, es ist ja nicht mehr wegen
dem Jakob; ich hätt’ sie dir auch so gegeben, und dein Kleiner kriegt
auch einen.« Dann nahm ich sie.

Aber einmal waren wir den ganzen Nachmittag auf dem Wiesenland
herumgesprungen und dann in den Wendelswald hineingegangen, wo unter dem
Gebüsch ein schönes weiches Moos wuchs. Wir waren müd und setzten uns
auf den Boden. Ein paar Fliegen sumsten über einem Pilz, und allerlei
Vögel flogen; von denen kannten wir einige, die meisten aber nicht; auch
hörten wir einen Specht fleißig klopfen, und es wurde uns ganz wohl und
froh zumute, so daß wir fast gar nichts zueinander sagten, und nur wenn
einer etwas Besonderes entdeckt hatte, deutete er dorthin und zeigte es
dem andern. In dem überwölbten grünen Raume floß ein grünes mildes
Licht, während der Waldgrund in die Weite sich in ahnungsvolle braune
Dämmerung verlor. Was sich dort hinten regte, Blättergeräusch oder
Vogelschlag, das kam aus verzauberten Märchengründen her, klang mit
geheimnisvoll fremdem Ton und konnte viel bedeuten.

Weil es dem Brosi zu warm vom Laufen war, zog er seine Jacke aus und
dann auch noch die Weste, und legte sich ganz ins Moos hin. Da kam es,
daß er sich umdrehte und sein Hemd ging am Halse auf und ich erschrak
mächtig, denn ich sah über seine weiße Schulter eine lange rote Narbe
hinlaufen. Gleich wollte ich ihn ausfragen, wo denn die Narbe herkäme,
und freute mich schon auf eine rechte Unglücksgeschichte; aber wer weiß
wie es kam, ich mochte auf einmal doch nicht fragen und tat so, als
hätte ich gar nichts gesehen. Jedoch zugleich tat mir Brosi mit seiner
großen Narbe furchtbar leid, sie hatte sicher schrecklich geblutet und
weh getan, und ich faßte in diesem Augenblick eine viel stärkere
Zärtlichkeit zu ihm als früher, konnte aber nichts sagen. Also gingen
wir später miteinander aus dem Wald und kamen heim, dann holte ich in
der Stube meine beste Kugelbüchse aus einem dicken Stück Holderstamm,
die hatte mir der Knecht einmal gemacht, und ging wieder hinunter und
schenkte sie dem Brosi. Er meinte zuerst, es sei ein Spaß, dann aber
wollte er sie nicht nehmen und legte sogar die Hände auf den Rücken, und
ich mußte ihm die Büchse in die Tasche stecken.

Und eine Geschichte um die andere, alle kamen mir wieder. Auch die vom
Tannenwald, der stand auf der anderen Seite vom Bach, und einmal war ich
mit meinem Kameraden hinübergegangen, weil wir gern die Rehe gesehen
hätten. Wir traten in den weiten Raum, auf den glatten braunen Boden
zwischen den himmelhohen geraden Stämmen, aber so weit wir liefen, wir
fanden kein einziges Reh. Dafür sahen wir eine Menge große Felsenstücke
zwischen den bloßen Tannenwurzeln liegen, und fast alle diese Steine
hatten Stellen, wo ein schmales Büschelchen helles Moos auf ihnen wuchs,
wie kleine grüne Male. Ich wollte so ein Moosplätzchen abschälen, es war
nicht viel größer als eine Hand. Aber der Brosi sagte schnell: »Nein,
laß es dran!« Ich fragte warum, und er erklärte mir: »Das ist, wenn ein
Engel durch den Wald geht, dann sind das seine Tritte; überall wo er
hintritt, wächst gleich so ein Moosplatz in den Stein.« Nun fragte ich
weiter, und wir vergaßen die Rehe und warteten, ob vielleicht gerade ein
Engel käme. Wir blieben stehen und paßten auf; im ganzen Wald war eine
Todesstille und auf dem braunen Boden fackelten helle Sonnenflecken, in
der Ferne gingen die senkrechten Stämme wie eine hohe rote Säulenwand
zusammen, in der Höhe stand hinter den dichten schwarzen Kronen der
blaue Himmel schön und ernst. Ein ganz schwaches kühles Wehen lief
unhörbar hin und wieder vorüber. Da wurden wir beide bang und feierlich,
weil es so ruhig und einsam war und weil vielleicht bald ein Engel kam,
und wir gingen nach einer Weile ganz still und schnell miteinander weg,
an den vielen Steinen und Stämmen vorbei und aus dem Wald hinaus. Als
wir wieder auf der Wiese und über dem Bach waren, sahen wir noch eine
Zeitlang hinüber, dann liefen wir schnell nach Haus.

Später hatte ich noch einmal mit dem Brosi Streit, dann versöhnten wir
uns wieder. Es ging schon gegen den Winter hin, da hieß es, der Brosi
sei krank und ob ich nicht zu ihm gehen wollte. Ich ging auch ein- oder
zweimal, da lag er im Bett und sagte fast gar nichts, und es war mir
bang und langweilig, obgleich seine Mutter mir eine halbe Orange
schenkte. Und dann kam nichts mehr; ich spielte mit meinem Bruder und
mit dem Löhnersnikel oder mit den Mädchen, und so ging eine lange, lange
Zeit vorbei. Es fiel Schnee und schmolz wieder und fiel noch einmal; der
Bach fror zu, ging wieder auf und war braun und weiß und machte eine
Überschwemmung und brachte vom Obertal eine ertrunkene Sau und eine
Menge Holz mit; es wurden kleine Hühner geboren und drei davon starben
hintereinander weg; mein Brüderlein wurde krank und wurde wieder gesund;
es war in den Scheuern gedroschen und in den Stuben gesponnen worden,
und jetzt wurden die Felder wieder gepflügt, alles ohne den Brosi. So
war er ferner und ferner geworden und am Ende verschwunden und von mir
vergessen worden -- bis jetzt, bis auf diese Nacht, wo das rote Licht
durchs Schlüsselloch floß und ich den Vater zur Mutter sagen hörte:
»Wenn’s Frühjahr kommt, wird’s ihn wegnehmen.«

Unter vielen sich verwirrenden Erinnerungen und Gefühlen schlief ich
ein, und vielleicht wäre schon am nächsten Tage im Drang des Erlebens
das kaum erwachte Gedächtnis an den entschwundenen Spielgefährten wieder
untergesunken und wäre dann vielleicht nie mehr in der gleichen,
frischen Schönheit und Stärke zurückgekommen. Aber gleich beim Frühstück
fragte mich die Mutter: »Denkst du auch noch einmal an den Brosi, der
immer mit euch gespielt hat?«

Da rief ich »ja«, und sie fuhr fort mit ihrer guten Stimme: »Im
Frühjahr, weißt du, wäret ihr beide miteinander in die Schule gekommen,
wenn er auch ein Jahr älter ist. Aber jetzt ist er so krank, daß es
vielleicht nichts damit sein wird. Willst du einmal zu ihm gehen?«

Sie sagte das so ernsthaft und ich dachte an das, was ich in der Nacht
den Vater hatte sagen hören, und ich fühlte ein Grauen, aber zugleich
eine angstvolle Neugierde. Der Brosi sollte, nach des Vaters Worten, den
Tod im Gesicht haben, und das schien mir unsäglich grauenhaft und
wunderbar.

Ich sagte wieder »ja«, und die Mutter schärfte mir ein: »Denk dran, daß
er so krank ist! Du kannst jetzt nicht mit ihm spielen und darfst kein
Lärmen verführen.«

Ich versprach alles und bemühte mich schon jetzt ganz still und
bescheiden zu sein, und noch am gleichen Morgen ging ich hinüber. Vor
dem Hause, das ruhig und ein wenig feierlich hinter seinen beiden
kugelrund geschnittenen, kahlen Kastanienbäumen im kühlen
Vormittagslichte lag, blieb ich stehen und wartete eine Weile, horchte
in die Flur hinein und bekam fast Lust, wieder heimzulaufen. Da faßte
ich mir ein Herz, stieg schnell die drei roten Steinstufen hinauf und
durch die offenstehende Türhälfte, sah mich im Gehen um und klopfte an
die nächste Tür. Des Brosi Mutter war eine kleine, flinke und sanfte
Frau, die kam heraus und hob mich auf und gab mir einen Kuß, und dann
fragte sie: »Hast du zum Brosi kommen wollen?«

Es ging nicht lang, so stand sie im oberen Stockwerk vor einer weißen
Kammertür und hielt mich an der Hand. Auf diese ihre Hand, die mich zu
den dunkel vermuteten grauenhaften Wunderdingen führen sollte, sah ich
nicht anders als auf die eines Engels oder eines Zauberers. Das Herz
schlug mir geängstigt und ungestüm wie ein Warner, und ich zögerte nach
Kräften und strebte zurück, so daß die Frau mich fast in die Stube
ziehen mußte. Es war eine große, helle und behaglich nette Kammer; ich
stand verlegen und grausend an der Tür und schaute auf das lichte Bett
hin, bis die Frau mich hinzuführte. Da drehte der Brosi sich zu uns
herum.

Und ich blickte aufmerksam in sein Gesicht, das war schmal und spitzig,
aber den Tod konnte ich nicht darin sehen, sondern nur ein feines Licht,
und in den Augen etwas Ungewohntes, gütig Ernstes und Geduldiges, bei
dessen Anblick mir ähnlich ums Herz ward, wie bei jenem Stehen und
Lauschen im schweigenden Tannenwald, da ich in banger Neugierde den Atem
anhielt und Engelsschritte in meiner Nähe vorbeigehen spürte.

Der Brosi nickte ganz erfreut und heiter und streckte mir eine Hand hin,
die heiß und trocken und abgezehrt war. Seine Mutter streichelte ihn,
nickte mir zu und ging wieder aus der Stube; so stand ich allein an
seinem kleinen hohen Bett und sah ihn an, und eine Zeitlang sagten wir
beide kein Wort.

»So, bist du’s denn noch?« sagte dann der Brosi.

Und ich: »Ja, und du auch noch?«

Und er: »Hat dich deine Mutter geschickt?«

Ich nickte.

Er war müde und ließ jetzt den Kopf wieder auf das Kissen fallen. Ich
wußte gar nichts zu sagen, nagte an meiner Mützentroddel und sah ihn nur
immer an, und er mich, bis er lächelte und zum Scherz die Augen schloß.

Da schob er sich ein wenig auf die Seite, und wie er es tat, sah ich
plötzlich unter den Hemdknöpfen durch den Ritz etwas Rotes schimmern,
das war die große Narbe auf seiner Schulter, und als ich die gesehen
hatte, mußte ich auf einmal heulen.

»Ja, was hast du denn?« fragte er gleich.

Ich konnte keine Antwort geben, weinte weiter und wischte mir die Backen
mit der rauhen Mütze ab, bis es weh tat.

»Sag’s doch. Warum weinst du?«

»Bloß weil du so krank bist,« sagte ich jetzt. Aber das war nicht die
eigentliche Ursache. Es war nur eine Woge von heftiger und mitleidiger
Zärtlichkeit, wie ich sie schon früher einmal gespürt hatte, die quoll
plötzlich in mir auf und konnte sich nicht anders Luft machen.

»Das ist nicht so schlimm,« sagte der Brosi.

»Wirst du bald wieder gesund?«

»Ja, vielleicht.«

»Wann denn?«

»Ich weiß nicht. Es dauert lang.«

Nach einer Zeit merkte ich auf einmal, daß er eingeschlafen war. Ich
wartete noch eine Weile, dann ging ich hinaus, die Stiege hinunter und
wieder heim, wo ich sehr froh war, daß die Mutter mich nicht ausfragte.
Sie hatte wohl gesehen, daß ich verändert war und etwas erlebt hatte,
und sie strich mir nur übers Haar und nickte, ohne etwas zu sagen.

Trotzdem kann es wohl sein, daß ich an jenem Tage noch sehr ausgelassen,
wild und ungattig war, sei es, daß ich mit meinem kleinen Bruder
händelte oder daß ich die Magd am Herd ärgerte oder im nassen Feld
strolchte und besonders schmutzig heimkam. Etwas Derartiges ist
jedenfalls gewesen, denn ich weiß noch gut, daß am selben Abend meine
Mutter mich sehr zärtlich und ernst ansah -- mag sein, daß sie mich gern
ohne Worte an heute morgen erinnert hätte. Ich verstand sie auch wohl
und fühlte Reue, und als sie das merkte, tat sie etwas Besonderes. Sie
gab mir von ihrem Ständer am Fenster einen kleinen Tonscherben voll
Erde, darin steckte eine schwärzliche Knolle, und diese hatte schon ein
paar spitzige, hellgrüne, saftige junge Blättlein getrieben. Es war eine
Hyazinthe. Die gab sie mir und sagte dazu: »Paß auf, das geb ich dir
jetzt. Später wird’s dann eine große rote Blume. Dort stell ich sie hin,
und du mußt darauf acht geben, man darf sie nicht anrühren und
herumtragen, und jeden Tag muß man sie zweimal gießen; wenn du es
vergißt, sag ich dir’s schon. Wenn es aber eine schöne Blume werden
will, darfst du sie nehmen und dem Brosi hinbringen, daß er eine Freude
hat. Kannst du dran denken?«

Sie tat mich ins Bett, und ich dachte indessen mit Stolz an die Blume,
deren Wartung mir als ein ehrenvoll wichtiges Amt erschien, aber gleich
am nächsten Morgen vergaß ich das Begießen und die Mutter erinnerte mich
dran. »Und was ist denn mit dem Brosi seinem Blumenstock?« fragte sie,
und sie hat es in jenen Tagen mehr als das eine Mal sagen müssen.
Dennoch beschäftigte und beglückte mich damals nichts so stark wie mein
Blumenstock. Es standen noch genug andere, auch größere und schönere, im
Zimmer und im Garten, und Vater und Mutter hatten sie mir oft gezeigt.
Aber es war nun doch das erste Mal, daß ich mit dem Herzen dabei war,
ein solches kleines Wachstum mit anzuschauen, zu erwünschen und zu
pflegen und Sorge darum zu haben.

Ein paar Tage lang sah es mit dem Blümlein nicht erfreulich aus, es
schien an irgend einem Schaden zu leiden und nicht die rechten Kräfte
zum Wachsen zu finden. Als ich darüber zuerst betrübt und dann
ungeduldig wurde, sagte die Mutter einmal: »Siehst du, mit dem
Blumenstock ist’s jetzt gerade so wie mit dem Brosi, der so krank ist.
Da muß man noch einmal so lieb und sorgsam sein wie sonst.«

Dieser Vergleich war mir verständlich und brachte mich bald auf einen
ganz neuen Gedanken, der mich nun völlig beherrschte. Ich fühlte jetzt
einen geheimen Zusammenhang zwischen der kleinen, mühsam strebenden
Pflanze und dem kranken Brosi, ja ich kam schließlich zu dem festen
Glauben, wenn die Hyazinthe gedeihe, müsse auch mein Kamerad wieder
gesund werden. Käme sie aber nicht davon, so würde er sterben, und ich
trüge dann vielleicht, wenn ich die Pflanze vernachlässigt hätte, mit
Schuld daran. Als dieser Gedankenkreis in mir fertig geworden war,
hütete ich den Blumentopf mit Angst und Eifersucht wie einen Schatz, in
welchem besondere, nur mir bekannte und anvertraute Zauberkräfte
verschlossen wären.

Drei oder vier Tage nach meinem ersten Besuch -- die Pflanze sah noch
ziemlich kümmerlich aus -- ging ich wieder ins Nachbarhaus hinüber.
Brosi mußte ganz still liegen, und da ich nichts zu sagen hatte, stand
ich nahe am Bett und sah das nach oben gerichtete Gesicht des Kranken
an, das zart und warm aus weißen Betttüchern schaute. Er machte hin und
wieder die Augen auf und wieder zu, sonst bewegte er sich nicht, und ein
klügerer und älterer Zuschauer hätte vielleicht etwas davon gefühlt, daß
des kleinen Brosi Seele schon unruhig war und sich auf die Heimkehr
besinnen wollte. Als gerade eine Angst vor der Stille des Stübleins über
mich kommen wollte, trat die Nachbarin herein und holte mich freundlich
und leisen Schrittes weg.

Das nächste Mal kam ich mit viel froherem Herzen, denn zu Hause trieb
mein Blumenstock mit neuer Lust und Kraft seine spitzigen freudigen
Blätter heraus. Diesmal war auch der Kranke sehr munter.

»Weißt du auch noch, wie der Jakob noch am Leben war?« fragte er mich.

Und wir erinnerten uns an den Raben und sprachen von ihm, ahmten die
drei Wörtlein nach, die er hatte sagen können, und redeten mit Begierde
und Sehnsucht von einem grau und roten Papagei, der sich vorzeiten
einmal hierher verirrt haben sollte. Ich kam ins Plaudern, und während
der Brosi bald wieder ermüdete, hatte ich sein Kranksein für den
Augenblick ganz vergessen. Ich erzählte die Geschichte von jenem
Papagei, die zu den Legenden unseres Hauses gehörte. Ihr Glanzpunkt war
der, daß ein alter Hofknecht den schönen Vogel auf dem Dach des
Schuppens sitzen sah, sogleich eine Leiter anlegte und ihn einfangen
wollte. Als er auf dem Dach erschien und sich dem Papagei vorsichtig
näherte, sagte dieser: »Guten Tag, mein Lieber!« Da zog der Knecht seine
Kappe herunter und sagte: »Bitt um Vergebung, jetzt hätt ich fast
gemeint, Ihr wäret ein Vogeltier.«

Als ich das erzählt hatte, dachte ich, der Brosi müsse nun notwendig
laut hinauslachen. Da er es nicht gleich tat, sah ich ihn ganz
verwundert an. Ich sah ihn fein und herzlich lächeln, und seine Backen
waren ein wenig röter als vorher, aber er sagte nichts und lachte nicht
laut.

Da kam es mir plötzlich vor, als sei er um viele Jahre älter als ich.
Meine Lustigkeit war im Augenblick erloschen, statt ihrer befiel mich
Verwirrung und Bangigkeit, denn ich empfand wohl, daß zwischen uns
beiden jetzt etwas Neues fremd und störend aufgewachsen sei.

Es surrte eine große Winterfliege durchs Zimmer und ich fragte, ob ich
sie fangen solle.

»Nein, laß sie doch!« sagte der Brosi.

Auch das kam mir vor wie von einem Erwachsenen gesprochen. Befangen ging
ich fort.

Auf dem Heimweg empfand ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas von der
ahnungsvollen verschleierten Schönheit des Vorfrühlings, das ich erst um
Jahre später, ganz am Ende der Knabenzeiten, wieder gespürt habe.

Was er war und wie es kam, weiß ich nicht. Ich erinnere mich aber, daß
ein lauer Wind strich, daß feuchte dunkle Erdschollen am Rande der Äcker
aufragten und streifenweise blank erglänzten, und daß ein besonderer
Föhngeruch in der Luft war. Ich erinnerte mich auch dessen, daß ich eine
Melodie summen wollte und gleich wieder aufhörte, weil irgend etwas mich
bedrückte und still machte.

Dieser kurze Heimweg vom Nachbarhaus ist mir eine merkwürdig tiefe
Erinnerung. Ich weiß kaum etwas Einzelnes mehr davon; aber zuweilen,
wenn es mir gegönnt ist, mit geschlossenen Augen mich dahin
zurückzufinden, meine ich die Erde noch einmal mit Kindesaugen zu sehen
-- als Geschenk und Schöpfung Gottes, im leise glühenden Träumen
unberührter Schönheit, wie wir Alten sie sonst nur aus den Werken der
großen Künstler und Dichter kennen. Der Weg war vielleicht nicht ganz
zweihundert Schritt lang, aber es lebte und geschah auf ihm und über ihm
und an seinem Rande unendlich viel mehr als auf mancher ganzen Reise,
die ich später unternommen habe.

Es streckten kahle Obstbäume verschlungene und drohende Äste, und von
den feinen Zweigspitzen rotbraune und harzige Knospen in die Luft, über
sie hinweg ging Wind und schwärmende Wolkenflucht, unter ihnen quoll die
nackte Erde in der Frühlingsgärung. Es rann ein vollgeregneter Graben
über und sandte einen schmalen trüben Bach über die Straße, auf dem
schwammen alte Birnenblätter und braune Holzstückchen, und jedes von
ihnen war ein Schiff, jagte dahin und strandete, erlebte Lust und Pein
und wechselnde Schicksale, und ich erlebte sie mit.

Es hing unversehens vor meinen Augen ein dunkler Vogel in der Luft,
überschlug sich und flatterte taumelnd, stieß plötzlich einen langen
schallenden Triller aus und stob verglitzernd in die Höhen, und mein
Herz flog staunend mit.

Ein leerer Lastwagen mit einem ledigen Beipferd kam gefahren, knarrte
und rollte fort und fesselte noch bis zur nächsten Krümme meinen Blick,
mit seinen starken Rossen aus einer unbekannten Welt gekommen und in sie
verschwindend, flüchtige schöne Ahnungen aufregend und mit sich nehmend.

Das ist eine kleine Erinnerung, oder zwei und drei; aber wer will die
Erlebnisse, Erregungen und Freuden zählen, die ein Kind zwischen einem
Stundenschlag und dem andern an Steinen, Pflanzen, Vögeln, Lüften,
Farben und Schatten findet und sogleich wieder vergißt und doch mit
hinübernimmt in die Schicksale und Veränderungen der Jahre? Eine
besondere Färbung der Luft am Horizont, ein winziges Geräusch in Haus
oder Garten oder Wald, der Anblick eines Schmetterlings oder irgend ein
flüchtig herwehender Geruch rührt oft für Augenblicke ganze Wolken von
Erinnerungen an jene frühen Zeiten in mir auf. Sie sind nicht klar und
einzeln erkennbar, aber sie tragen alle denselben köstlichen Duft von
damals, da zwischen mir und jedem Stein und Vogel und Bach ein inniges
Leben und Verbundensein vorhanden war, dessen Reste ich eifersüchtig zu
bewahren bemüht bin.

Mein Blumenstock richtete sich indessen auf, reckte die Blätter höher
und erstarkte zusehends. Mit ihm wuchs meine Freude und mein Glaube an
die Genesung meines Kameraden. Es kam auch der Tag, an welchem zwischen
den feisten Blättern eine runde rötliche Blütenknospe sich zu dehnen und
aufzurichten begann, und der Tag, an dem die Knospe sich spaltete und
ein heimliches Gekräusel schönroter Blütenblätter mit weißlichen Rändern
sehen ließ. Den Tag aber, an dem ich den Topf mit Stolz und freudiger
Behutsamkeit ins Nachbarhaus hinübertrug und dem Brosi übergab, habe ich
völlig vergessen. Daß der Kranke aber seine leise Freude daran hatte und
ihn sich häufig zeigen ließ, weiß ich noch wohl.

Dann war einmal ein heller Sonnentag; aus dem dunklen Ackerboden stachen
schon feine grüne Spitzen, die Wolken hatten Goldränder, und in den
feuchten Straßen, Hofräumen und Vorplätzen spiegelte ein sanfter reiner
Himmel. Das Bettlein des Brosi war näher zum Fenster gestellt worden,
auf dessen Simsen die rote Hyazinthe in der Sonne prunkte, den Kranken
hatte man ein wenig aufgerichtet und mit Kissen gestützt. Er sprach
etwas mehr als sonst mit mir, über seinen geschorenen blonden Kopf lief
das warme Licht fröhlich und glänzend und schien rot durch seine Ohren.
Ich war sehr guter Dinge und sah wohl, daß es nun schnell vollends gut
mit ihm werden würde. Seine Mutter saß dabei, und als es ihr genug
schien, schenkte sie mir eine gelbe Winterbirne und schickte mich heim.
Noch auf der Stiege biß ich die Birne an, sie war weich und honigsüß,
und der Saft tropfte mir aufs Kinn und über die Hand. Den abgenagten
Butzen warf ich unterwegs in hohem Bogen feldüber.

Tags darauf regnete es was herunter mochte, ich mußte daheim bleiben und
durfte mit sauber gewaschenen Händen in der Bilderbibel schwelgen, wo
ich schon viele Lieblinge hatte, am liebsten aber waren mir doch der
Paradieslöwe, die Kamele des Elieser und das Mosesknäblein im Schilf.
Als es aber am zweiten Tag in einem Strich fortregnete, wurde ich doch
verdrießlich. Den halben Vormittag starrte ich durchs Fenster auf den
plätschernden Hof und Kastanienbaum, dann kamen der Reihe nach alle
meine Spiele dran, und als sie fertig waren und es gegen Abend ging,
bekam ich noch Streit mit meinem Bruder. Das alte Lied: wir reizten
einander, bis der Kleine mir ein arges Schimpfwort sagte, da schlug ich
ihn, und er floh heulend durch Stube, Öhrn, Küche, Stiege und Kammer bis
zur Mutter, der er sich in den Schoß warf und die mich seufzend
wegschickte. Bis der Vater heimkam, sich alles erzählen ließ, mich
abstrafte und mit den nötigen Ermahnungen ins Bett steckte, wo ich mir
namenlos unglücklich vorkam, aber bald unter noch rinnenden Tränen
einschlief.

Als ich wieder, vermutlich am folgenden Morgen, in des Brosi
Krankenstube stand, hatte seine Mutter beständig den Finger am Mund und
sah mich warnend an, der Brosi aber lag mit geschlossenen Augen leise
stöhnend da. Ich schaute bang in sein Gesicht, es war bleich und vom
Schmerz verzogen. Und als seine Mutter meine Hand nahm und sie auf seine
legte, machte er die Augen auf und sah mich eine kleine Weile still an.
Seine Augen waren groß und verändert, und wie er mich ansah, war es ein
fremder wunderlicher Blick wie aus einer weiten Ferne her, als kenne er
mich gar nicht und sei über mich verwundert, habe aber zugleich andere
und viel wichtigere Gedanken. Auf den Zehen schlich ich nach kurzer
Zeit, da die Nachbarin mahnte, wieder hinaus.

Am Nachmittag aber, während ihm auf seine Bitte die Mutter eine schöne
Geschichte erzählte, sank er in einen müden Schlummer, der bis an den
Abend dauerte und während dessen sein schwacher Herzschlag langsam
einträumte und erlosch.

Als ich ins Bett ging, wußte es meine Mutter schon. Doch sagte sie mir’s
erst am Morgen, nach der Milch. Darauf ging ich den ganzen Tag
traumwandelnd umher und stellte mir vor, daß der Brosi zu den Engeln
gekommen und selber einer geworden sei. Daß sein kleiner magerer Leib
mit der Narbe auf der Schulter noch drüben im Hause lag, wußte ich
nicht, auch vom Begräbnis sah und hörte ich nichts.

Meine Gedanken hatten viel Arbeit damit und es verging wohl eine Zeit,
bis der Gestorbene mir fern und unsichtbar wurde. Dann aber kam früh und
plötzlich der ganze Frühling, über die Berge flog es gelb und grün, im
Garten roch es nach jungem Wuchs, der Kastanienbaum tastete mit weich
gerollten Blättern aus den aufgesprungenen Knospenhüllen, und an allen
Gräben lachten auf fetten Stielen die goldgelben glänzenden
Butterblumen.



Die Marmorsäge


Es war so ein Prachtsommer, in dem man das schöne Wetter nicht nach
Tagen, sondern nach Wochen rechnete, und es war noch Juni und man hatte
gerade das Heu eingebracht, so gesund und trocken wie schon lange nicht
mehr.

Für manche Leute gibt es nichts Schöneres als einen solchen Sommer, wo
noch im feuchtesten Ried das Schilf verbrennt und einem die Hitze bis in
die Knochen geht. Diese Leute, soweit sie nicht etwa in Indien geboren
sind, haben kein sehr zufriedenes und jedenfalls kein gleichmäßiges
Leben, denn die echten Sommer gibt es nicht alle Jahre. Dafür saugen
sie, sobald ihre Zeit gekommen ist, so viel Wärme und Behagen ein und
werden ihres meist ohnehin nicht sehr betriebsamen Daseins so
schlaraffisch froh, wie es andern Leuten nie zuteil wird. Zu dieser
harmlosen Menschenklasse gehöre auch ich; darum war mir in jenem
Sommersanfang auch so mächtig wohl, freilich mit starken
Unterbrechungen, von denen ich nachher das Nötigste erzählen werde.

Es war vielleicht der üppigste Juni, den ich je erlebt habe, und es wäre
bald Zeit, daß wieder so einer käme. Der kleine Blumengarten vor meines
Vetters Haus an der Dorfstraße duftete und blühte ganz unbändig; die
Georginen, die den schadhaften Zaun versteckten, standen dick und hoch
und hatten feiste runde Knospen angesetzt, aus deren Ritzen gelb und rot
und lila die jungen Blütenblätter strebten. Der Goldlack brannte so
überschwenglich honigbraun und duftete so ausgelassen und sehnlich, als
wüßte er wohl, daß seine Zeit schon nahe war, da er verblühen und den
dicht wuchernden Reseden Platz machen mußte. Still und brütend standen
die steifen Balsaminen auf dicken, gläsernen Stengeln, schlank und
träumerisch die Schwertlilien, fröhlich hellrot die verwildernden
Rosenbüsche. Man sah kaum eine Handbreit Erde mehr, als sei der ganze
Garten nur ein großer, bunter und fröhlicher Strauß, der aus einer zu
schmalen Vase hervorquoll, und an dessen Rändern die Kapuziner in den
Rosen fast erstickten und in dessen Mitte der prahlerisch emporflammende
Türkenbund mit seinen großen geilen Blüten sich frech und gewalttätig
breit machte.

Mir gefiel das ungemein, aber mein Vetter und die Bauersleute sahen es
kaum. Denen fängt der Garten erst an, ein wenig Freude zu machen, wenn
es dann herbstelt und in den Beeten nur noch letzte Spätrosen,
Strohblumen und Astern übrig sind. Jetzt waren sie alle tagtäglich von
früh bis spät im Feld und fielen am Abend müde und schwer wie
umgeworfene Bleisoldaten in die Betten. Und doch wird in jedem Herbst
und in jedem Frühjahr der Garten wieder treulich besorgt und
hergerichtet, der nichts einbringt und den sie in seiner schönsten Zeit
kaum ansehen. Ich fragte einmal einen Hofbauern, warum und für wen er
sich eigentlich immer wieder diese Mühe mache.

»Für dich,« sagte er ernsthaft, »und für derlei Faulenzer und arme
Schlucker, damit sie auch an etwas ihre Freude haben können. Weißt’s
jetzt?«

Seit zwei Wochen stand ein heißer, blauer Himmel über dem Land, am
Morgen rein und lachend, am Nachmittag stets von niederen, langsam
wachsenden, gedrängten Wolkenballen umlagert. Nachts gingen nah und fern
Gewitter nieder, aber jeden Morgen, wenn man -- noch den Donner im Ohr
-- erwachte, glänzte die Höhe blau und sonnig herab und war schon wieder
ganz von Licht und Hitze durchtränkt. Dann begann ich froh und ohne Hast
meine Art von Sommerleben: kurze Gänge auf glühenden und durstig
klaffenden Feldwegen durch warm atmende, hohe, gilbende Ährenfelder, aus
denen Mohn und Kornblumen, Wicken, Kornraden und Winden lachten, sodann
lange, stundenlange Rasten in hohem Gras an Waldsäumen, über mir
Käfergoldgeflimmer, Bienengesang, windstill ruhendes Gezweige im tiefen
Himmel; gegen Abend alsdann ein wohlig träger Heimweg durch Sonnenstaub
und rötliches Ackergold, durch eine Luft voll Reife und Müdigkeit und
sehnsüchtigem Kuhgebrüll, und am Ende lange, laue Stunden bis
Mitternacht, versessen unter Ahorn und Linde allein oder mit irgend
einem Bekannten bei gelbem Wein, ein zufriedenes, lässiges Plaudern in
die warme Nacht hinein, bis fern irgendwo das Donnern begann und unter
erschrocken aufrauschenden Windschauern erste, langsam und wollüstig aus
den Lüften sinkende Tropfen schwer und weich und kaum hörbar in den
dicken Staub fielen.

»Nein, so was Faules wie du!« meinte mein lieber Vetter mit ratlosem
Kopfschütteln, »daß dir nur keine Glieder abfallen!«

»Sie hängen noch gut,« beruhigte ich. Und ich freute mich daran, wie
müde und schweißig und steifgeschafft er war. Ich wußte mich in meinem
guten Recht; ein Examen und eine lange Reihe von sauren Monaten lagen
hinter mir, in denen ich meine Bequemlichkeit täglich schwer genug
gekreuzigt und geopfert hatte. Jetzt war ich obenan -- was kost’t die
Welt?

Vetter Kilian war auch gar nicht so, daß er mir meine Lust nicht gegönnt
hätte. Vor meiner Gelehrtheit hatte er tiefen Respekt, sie umgab mich
für sein Auge mit einem geheiligten Faltenwurf, und ich warf natürlich
die Falten so, daß die mancherlei Löcher nicht gerade obenhin kamen.
Vielmehr fand ich seine Ehrfurcht anfangs zwar komisch, dann aber
rührend, und in Bälde schien sie mir sogar natürlich, wohlverdient und
ganz am Platze zu sein.

Es war mir so wohl wie noch nie. Still und langsam schlenderte ich in
Feld und Wiesenland, durch Korn und Heu und hohen Schierling, lag
regungslos und atmend wie eine Schlange in der schönen Wärme und genoß
die brütend stillen Stunden, in denen ich meine Haut langsam braun
werden sah und jeden in der Nähe tätigen Feldarbeiter mit herzlicher
Schadenfreude betrachtete.

Und dann diese Sommertöne! Diese Töne, bei denen einem närrisch wohl und
traurig wird und die ich so lieb habe: das unendliche, bis über
Mitternacht anhaltende Zikadenläuten, an das man sich völlig verlieren
kann wie an den Anblick des Meeres -- das satte Rauschen der wogenden
Ähren -- das beständig auf der Lauer liegende entfernte leise Donnern --
abends das Mückengeschwärme und das fernhin rufende, ergreifende
Sensendengeln -- nachts der schwellende, warme Wind und das
leidenschaftliche Stürzen plötzlicher Regengüsse.

Und wie in diesen kurzen, stolzen Wochen alles inbrünstiger blüht und
atmet, tiefer lebt und duftet, sehnlicher und inniger lodert! Wie der
überreiche Lindenduft in weichen Schwaden ganze Tale füllt, und wie
neben den müden, reifenden Kornähren die farbigen Ackerblumen gierig
leben und sich brüsten, wie sie verdoppelt glühen und fiebern in der
Hast der Augenblicke, bis ihnen viel zu früh die Sichel rauscht!

Diese Fülle und Schönheit hätte wohl genügt, um mich froh und übermütig
zu machen, und doch hatte ich das gar nimmer nötig. Ich war
vierundzwanzig Jahre alt, fand die Welt und mich selber sehr
wohlbeschaffen und betrieb das Leben noch als eine ergötzliche
Liebhaberkunst, vorwiegend nach ästhetischen Gesichtspunkten. Nur das
Verliebtsein kam und verlief ganz ohne meine Wahl nach den
althergebrachten Regeln. Doch hätte mir das niemand sagen dürfen! Ich
hatte mich nach den nötigen Zweifeln und Schwankungen einer das Leben
bejahenden Philosophie ergeben und mir nach mehrfachen schweren
Erfahrungen, wie mir schien, eine ruhige und sachliche Betrachtung der
Dinge erworben. Außerdem hatte ich mein Examen bestanden, auf den Herbst
eine ungewöhnlich und unverdient gute Anstellung in der Stadt in
Aussicht, ein nettes Taschengeld im Sack und zwei Monate Ferien vor mir
liegen.

Es gibt wahrscheinlich in jedem Leben solche Zeiten: weit vor sich sieht
man glatte Bahn, kein Hindernis, keine Wolke am Himmel, keine Pfütze im
Weg. Da wiegt man sich gar stattlich im Wipfel und glaubt mehr und mehr
zu erkennen, daß es eben doch kein Glück und keinen Zufall gibt, sondern
daß man das alles und noch eine halbe Zukunft ehrlich verdient und
erworben habe, einfach weil man der Kerl dazu war. Und man tut wohl
daran, sich dieser Erkenntnis zu freuen, denn auf ihr beruht das Glück
der Märchenprinzen ebenso wie das Glück der Spatzen auf dem Mist, und es
dauert ja nie zu lange.

Von den zwei schönen Ferienmonaten waren mir erst ein paar Tage durch
die Finger geglitten. Bequem und elastisch wie ein heiterer Weiser
wandelte ich in den Tälern hin und her, eine Zigarre im Mund, eine
Ackerschnalle am Hut, ein Pfund Kirschen und ein gutes Büchlein in der
Tasche. Ich tauschte kluge, ernste Worte mit den Gutsbesitzern, sprach
da und dort den Leuten im Felde freundlich aufmunternd zu, ließ mich zu
allen großen und kleinen Festlichkeiten, Zusammenkünften und Schmäusen,
Zweckessen und Backtagen, Taufen und Bockbierabenden einladen, tat
gelegentlich am Spätnachmittag einen Trunk mit dem Pfarrer, ging mit den
Fabrikherren und Wasserpächtern zum Forellenangeln, bewegte mich maßvoll
fröhlich und schnalzte innerlich mit der Zunge, wenn irgend so ein
feister, erfahrener Mann mich ganz wie seinesgleichen behandelte und
keine Anspielungen auf meine große Jugend machte. Denn wirklich, ich war
nur äußerlich so lächerlich jung. Seit einiger Zeit hatte ich entdeckt,
daß ich nun über die Spielereien hinausgekommen und ein Mann geworden
sei; mit stiller Wonne ward ich stündlich meiner Reife froh und brauchte
gern den Ausdruck, das Leben sei ein Roß, ein flottes, kräftiges Roß,
und wie ein Reiter müsse man es behandeln, kühn und auch vorsichtig.
Manche Wahrheiten, die mir vor einem Jahr noch altmodisch, pedantisch
und greisenhaft geklungen hatten, fand ich neuerdings erstaunlich wahr
und tief. Ich fing sogar schon an, Studenten und solches Volk als >junge
Leute< zu empfinden und mit warmem Interesse und Wohlwollen zu
betrachten. Alles in allem war ich mein Lebtag noch nie so glücklich
gewesen. Das Leben war ein Roß, und tüchtige Rosse reiten war ganz mein
Fall.

Und da lag die Erde in ihrer Sommerschönheit um mich her, die Kornfelder
fingen an gelb zu werden, die Luft war noch voll Heugeruch, und das Laub
hatte noch lichte, heftige Farben. Die Kinder trugen Brot und Most ins
Feld, die Bauern waren eilig und fröhlich, und abends liefen die jungen
Mädchen in Reihen über die Gasse, ohne Grund plötzlich hinauslachend und
ohne Vereinbarung plötzlich ihre weichmütigen Volkslieder anstimmend.
Vom Gipfel meiner jungen Mannesreife herab sah ich freundlich zu, gönnte
den Kindern und den Bauern und den Mädchen ihre Lust von Herzen und
glaubte das alles wohl zu verstehen. Ich glaubte sogar die Volkslieder
zu verstehen. Gar nicht von oben herunter -- ein >Herr< war ich nicht
und wollte ich nicht sein. Aber das ganze Dasein so klar und klug zu
überschauen, schien mir ein Hauptvergnügen. Es war schön, über mein
Leben hinwegzublicken, das bisher so ziellos ausgesehen hatte und so
reichlich mit Dummheiten durchsetzt war, und das doch nun so simpel
dalag -- jetzt, wo ich auf der Höhe stand und den krummen Herweg wie den
geraden Weiterweg so deutlich übersehen konnte.

Um mein Glück und meine Weisheit zu krönen, beschloß ich, künftighin
meine Erfahrungen und Künste gebotenen Falles auch auf Liebessachen
anzuwenden, um mir ein überlegtes, solides Glück zu erbauen. Lieber
Gott, wie hatte ich bisher drauf los geliebt, ohne Direktion und
meistens unglücklich! Auch unter dieses Jugendkapitel gehörte nun ein
fester, sauber gezogener Strich.

                   *       *       *       *       *

In der kühlen Waldschlucht des Sattelbachs, der alle paar hundert
Schritt eine Mühle treiben muß, lag stattlich und sauber ein
Marmorsägewerk: Schuppen, Sägeraum, Stellfalle, Hof, Wohnhaus und
Gärtchen, alles einfach, solid und erfreulich aussehend, weder
verwittert noch allzu neu. Da wurden Marmorblöcke langsam und tadellos
in Platten und Scheiben zersägt, gewaschen und geschliffen, ein stiller
und reinlicher Betrieb, an dem jeder Zuschauer seine Lust haben mußte.
Fremdartig, aber hübsch und anziehend war es, mitten in dem engen und
gewundenen Tale zwischen Tannen und Buchen und schmalen Wiesenbändern
den Sägehof daliegen zu sehen, angefüllt mit großen Marmorblöcken,
weißen, bläulichgrauen und buntgeäderten, mit fertigen Platten von jeder
Größe, mit Marmorabfällen und feinem glänzendem Marmorstaub. Als ich das
erste Mal diesen Hof nach einem Neugierbesuch verließ, nahm ich ein
kleines, einseitig poliertes Stückchen weißen Marmors in der Tasche mit;
das besaß ich jahrelang und hatte es als Briefbeschwerer auf meinem
Schreibtisch liegen. Ich hätte es heute noch, aber im vorigen Frühling
kam eine Nacht, in der das Katzengejammer auf dem Nachbarsdache mich
nicht schlafen ließ, und da flog nebst andern entbehrlichen Stücken auch
jenes kleine Andenken an eine vergangene Zeit den Katzen nach in die
Dächer.

Der Besitzer dieser Marmorschleiferei hieß Herr Lampart und schien mir
von den tüchtigen Originalen jener ergiebigen Gegend eins der
eigentümlichsten zu sein. Er war früh verwitwet und hatte teils durch
sein ungeselliges Leben, teils durch sein eigenartiges Gewerbe, das mit
der Umgebung und mit dem Leben der Leute ringsum ohne Berührung blieb,
einen besonderen Anstrich bekommen. Er galt für sehr wohlhabend, doch
wußte das keiner gewiß, denn es gab weit herum niemand, der irgend ein
ähnliches Geschäft und einen Einblick in dessen Gang und Ertrag gehabt
hätte. Worin seine Besonderheit bestand, hatte ich noch nicht ergründet.
Sie war aber da und nötigte einen, mit Herrn Lampart anders als mit
andern Leuten umzugehen. Wer zu ihm kam, war willkommen und fand einen
freundlichen Empfang, aber daß der Marmorsäger jemand wiederbesuchte,
ist nie vorgekommen; schon das gab seiner ohnehin nicht gewöhnlichen
Person etwas Abgeschlossenes und fast Feudales. Erschien er einmal -- es
geschah selten -- bei einer öffentlichen Feier im Dorf oder zu einer
Jagd oder in irgend einer Kommission, so behandelte man ihn sehr
höflich, tastete aber verlegen nach der rechten Begrüßung, denn er kam
so ruhig daher und blickte jedem so gleichmütig ernst ins Gesicht wie
ein Einsiedler, der aus dem Wald hervorgekommen ist und bald wieder
hineingehen wird.

Man fragte ihn, wie die Geschäfte gingen. »Danke, es tut sich,« sagte
er, aber er tat keine Gegenfrage. Man erkundigte sich, ob die letzte
Überschwemmung oder der letzte Wassermangel ihn geschädigt habe. »Danke,
nicht besonders,« sagte er, aber er fuhr nicht fort: »Und bei Ihnen?«

Nach dem Äußeren zu urteilen, war er ein Mann, der viele Sorgen gehabt
hat und vielleicht noch hat, der aber gewohnt ist, sie mit niemand zu
teilen.

In jenem Sommer war es mir zu einer Gewohnheit geworden, sehr oft beim
Marmormüller einzukehren. Diesen Mann zu studieren und dabei womöglich
einen Triumph meiner Menschenkenntnis zu erleben, schien mir ein edles
Ziel. Ich war noch ein Anfänger in solchen Künsten und wußte nicht, daß
man so etwas nicht ungestraft treiben kann, sondern auf solchen
Entdeckungsfahrten meistens in die Strömungen eines fremden Lebens
hineingezogen wird und ihnen selten ohne Beulen und Wunden wieder
entrinnt. Überhaupt war ich noch des frohen jugendlichen Glaubens, ein
Mensch könne einem andern ins Innere sehen, wie denn jeder junge
Weltweise sich für einen durchtriebenen Beobachter hält, während er sich
selber gern undurchschaulich glaubt. So betrat ich also die Mühle mit
Zuversicht und heiterem Eifer, ohne zu ahnen, daß vielleicht gerade hier
mein Schicksal verborgen liege und nur auf die rechte Stunde warte, um
mir ein wildes Stück Leben vorzuspielen und einen ersten bitteren
Denkzettel mitzugeben.

Oft trat ich nur im Vorüberbummeln für eine Viertelstunde in den Hof und
in die kühle dämmerige Schleiferei, wo blanke Stahlbänder taktmäßig auf
und nieder stiegen, Sandkörner knirschten und rieselten, schweigsame
Männer am Werk standen und unter dem Boden das Wasser plätscherte. Ich
schaute den paar Rädern und Riemen zu, setzte mich auf einen Steinblock,
drehte mit den Sohlen eine Holzrolle hin und her oder ließ die
Marmorkörner und Splitter unter ihnen knirschen, horchte auf das Wasser,
steckte eine Zigarre an, genoß eine kleine Weile die Stille und Kühle
und lief wieder weg. Den Herrn traf ich dann fast nie. Wenn ich zu ihm
wollte, und das wollte ich sehr oft, dann trat ich in das kleine, immer
schlummerstille Wohnhaus, kratzte im Gang die Stiefel ab und hustete
dazu, bis entweder Herr Lampart oder seine Tochter herunterkam, die Tür
einer lichten Wohnstube öffnete und mir einen Stuhl und ein Glas Wein
hinstellte. Der Wein war ein vorzüglicher Markgräfler, aber mehr als ein
Glas trank ich nie davon.

Da saß ich am schweren Tisch, nippte am Glas, drehte meine Finger
umeinander und brauchte immer eine Weile, bis ein Gespräch im Lauf war;
denn weder der Hausherr noch die Tochter, die aber sehr selten beide
zugleich da waren, machten je den Anfang, und mir schien diesen Leuten
gegenüber und in diesem Hause niemals irgend ein Thema, das man sonst
etwa vornimmt, am Platze zu sein. Nach einer guten halben Stunde, wenn
dann längst eine Unterhaltung beieinander war, hatte ich meistens, trotz
aller Behutsamteit, mein Weinglas leer. Ein zweites wurde nicht
angeboten, darum bitten mochte ich nicht, vor dem leeren Glase da zu
sitzen war mir ein wenig peinlich, also stand ich auf, gab die Hand und
setzte den Hut auf.

Was die Tochter betrifft, so war mir im Anfang nichts aufgefallen, als
daß sie dem Vater so merkwürdig ähnlich war. Sie war so groß gewachsen,
aufrecht und dunkelhaarig wie er, sie hatte seine matten schwarzen
Augen, seine gerade, klar und scharf geformte Nase, seinen stillen,
schönen Mund. Sie hatte auch seinen Gang, soweit ein Weib eines Mannes
Gang haben kann, und dieselbe gute und ernste Stimme, die an Altgesang
erinnerte. Sie streckte einem die Hand mit derselben ruhigen Geste
entgegen wie ihr Vater, wartete ebenso wie er ab, was man zu sagen habe,
und sie gab auf gleichgültige Höflichkeitsfragen ebenso sachlich, kurz
und ein wenig wie verwundert Antwort. Im Anfang interessierte der Vater
mich mehr; sie kam mir wie ein Pleonasmus vor.

Aber schließlich ist ein dreiundzwanzigjähriges schönes Mädchen doch ein
ander Ding als ein noch so rüstiger Geschäftsmann, und auch bei der
auffallendsten Verwandtschaftsähnlichkeit kann man ein Weib nicht lange
mit denselben Augen und Interessen ansehen wie einen Mann. Als ich meine
Menschenkenntnis am Alten soweit erschöpft hatte, um mir darüber klar zu
werden, er sei ein merkwürdiger Mann und schwer zu verstehen, und als
die plötzlichen Schlaglichter und Verständnisse gänzlich ausblieben, die
zu einem weiteren Eindringen in sein verhülltes Wesen nötig gewesen
wären, da schien es mir kein Pleonasmus, nun auch die Tochter zu
studieren.

Sie war von einer Art Schönheit, die man in alemannischen Grenzlanden
öfters antrifft und die wesentlich auf einer ebenmäßigen Kraft und Wucht
der Erscheinung beruht, auch unzertrennlich ist von großem, hohem Wuchs
und bräunlicher Gesichtsfarbe. Ich hatte sie anfänglich wie ein hübsches
Bild betrachtet, dann aber fesselte die Sicherheit und Reife des schönen
Mädchens mich mehr und mehr. So etwa fing meine Verliebtheit an, und sie
wuchs bald zu einer Leidenschaft, die ich bisher noch nicht gekannt
hatte. Sie wäre wohl bald eklatant geworden, wenn nicht die gemessene
Art des Mädchens und die ruhig kühle Luft des ganzen Hauses mich, sobald
ich dort war, wie eine leichte Lähmung umfangen und zahm gemacht hätte.

Wenn ich ihr oder ihrem Vater gegenübersaß, kroch mein ganzes Feuer
sogleich zu einem scheuen Flämmlein zusammen, das ich vorsichtig
verbarg, und statt wie in früheren Fällen eine Szene zu riskieren und
herauszuplatzen, hockte ich zierlich und mutlos im Sessel. Die Stube sah
auch durchaus nicht einer Bühne ähnlich, auf der junge Liebesritter mit
Erfolg sich ins Knie niederlassen, sondern glich mehr einer Stätte der
Mäßigung und Ergebung, wo ruhige Kräfte walten und ein ernstes Stück
Leben ernst erlebt und ertragen wird. Trotz alledem spürte ich hinter
dem stillen Hinleben des Mädchens eine gebändigte Lebensfülle und
Erregbarkeit, die nur selten hervorbrach und auch dann nur in einer
raschen Geste oder einem plötzlich aufglühenden Blick, wenn ein Gespräch
sie lebhaft mitriß.

Ich hatte, wie schon angedeutet, vor kurzem den Stein der Weisen
gefunden und mich als Meister der Lebensklugheit entdeckt. Kaum ging mir
also das erste Licht über die Lage der Dinge auf, so hatte meine
überlegene Weisheit auch schon alles stilvoll umgedichtet und mich zu
einem klugen Manne gemacht, der zwar eingestandenermaßen sehr verliebt
ist, der aber keine Frucht vorzeitig vom Ast brechen will, sondern die
sichere Methode des Maßhaltens, Wartens und Reifwerdenlassens befolgt.

Oft genug besann ich mich darüber, wie wohl das eigentliche Wesen des
schönen und strengen Mädchens aussehen möge. Sie konnte im Grunde
leidenschaftlich sein, oder auch melancholisch, oder auch wirklich
gleichmütig. Jedenfalls war das, was man an ihr zu sehen bekam, nicht
ganz ihre wahre Natur. Über sie, die so frei zu urteilen und so
selbständig zu leben schien, hatte ihr Vater eine unbeschränkte Macht,
und ich fühlte, daß ihre wahre innere Natur nicht ungestraft durch den
väterlichen Einfluß, wenn auch in Liebe, von früh auf unterdrückt und in
andere Formen gezwungen worden war. Wenn ich sie beide beisammen sah,
was freilich sehr selten vorkam, glaubte ich diesen vielleicht ungewollt
tyrannischen Einfluß mitzufühlen und hatte die unklare Empfindung, es
müsse zwischen ihnen einmal einen zähen und tödlichen Kampf geben. Wenn
ich aber dachte, daß dies vielleicht einmal um mich geschehen könne,
schlug mir das Herz, und ich konnte ein leises Grauen nicht
unterdrücken.

                   *       *       *       *       *

Machte meine Freundschaft mit Herrn Lampart wenig oder keine
Fortschritte, so gedieh mein Verkehr mit Gustav Becker, dem Verwalter
des Rippacher Hofes, desto erfreulicher. Wir hatten sogar vor kurzem,
nach stundenlangen Gesprächen, Brüderschaft getrunken, und ich war nicht
wenig stolz darauf, trotz der entschiedenen Mißbilligung meines Vetters.
Becker war ein studierter Mann, vielleicht zweiunddreißig alt, und ein
gewiegter, schlauer Patron. Von ihm beleidigte es mich nicht, daß er
meine schönen Mannesworte meistens mit einem ironischen Lächeln anhörte,
denn ich sah ihn mit dem gleichen Lächeln viel älteren und würdigeren
Leuten aufwarten. Er konnte es sich erlauben, denn er war nicht nur der
selbständige Verwalter und vielleicht künftige Käufer des größten Gutes
in der Gegend, sondern auch innerlich den meisten Existenzen seiner
Umgebung stark überlegen. Man nannte ihn anerkennend einen höllisch
gescheiten Kerl, aber sehr lieb hatte man ihn nicht. Ich bildete mir
ein, er fühle sich von den Leuten gemieden und gebe sich deshalb so viel
mit mir ab.

Freilich brachte er mich oft zur Verzweiflung. Meine Sätze über das
Leben und die Menschen machte er häufig ohne Worte, bloß durch ein
grausam ausdrucksvolles Grinsen, mir selber zweifelhaft, und manchmal
wagte er es direkt, jede Art von Weltweisheit für etwas Lächerliches zu
erklären.

»Drüber reden kann man ja immerhin. Überhaupt, Reden kostet nichts und
ist ganz gesund, verglichen mit andern Vergnügungen. Einer sagt: das
Leben ist ein Rechenexempel, und dann kann man das eine Viertelstunde
lang nett und richtig finden. Er kann auch sagen: das Leben ist ein
Misthaufen. Es ist auch wahr, und der Erfolg ist der gleiche. Wie
gesagt, eine Viertelstunde lang.«

Eines Abends saß ich mit Gustav Becker im Adlergarten bei einem Glas
Bier. Wir saßen an einem Tisch gegen die Wiese hin ungestört und ganz
allein. Es war so ein trockener, heißer Abend, wo alles voll von
goldigem Staub ist, der Lindenduft war fast betäubend und das Licht
schien weder zu- noch abzunehmen.

»Du, du kennst doch den Marmorsäger drüben im Sattelbachtal?« fragte ich
meinen Freund.

Er sah nicht vom Pfeifenstopfen auf und nickte nur.

»Ja, sag mal, was ist nun das für ein Mensch?«

Becker lachte und stieß die Pfeifenpatrone in die Westentasche.

»Ein ganz gescheiter Mensch ist er,« sagte er dann. »Darum hält er auch
immer das Maul. Was geht er dich an?«

»Nichts, ich dachte nur so. Er macht doch einen besonderen Eindruck.«

»Das tun gescheite Leute immer; es gibt nicht so viele.«

»Sonst nichts? Weißt du nichts über ihn?«

»Er hat ein schönes Mädel.«

»Ja. Das mein’ ich nicht. Warum kommt er nie zu Leuten?«

»Was soll er dort?«

»Ach, einerlei. Ich denke, vielleicht hat er was Besonderes erlebt, oder
so.«

»Aha, so was Romantisches? Stille Mühle im Tal? Marmor? Schweigsamer
Eremit? Begrabenes Lebensglück? Tut mir leid, aber damit ist’s nichts.
Er ist ein vorzüglicher Geschäftsmann.«

»Weißt du das?«

»Er hat’s hinter den Ohren. Der Mann macht Geld.«

Da mußte er gehen. Es gab noch zu tun. Er zahlte sein Bier und ging
direkt über die gemähte Wiese, und als er hinter dem nächsten Bühel
schon eine Weile verschwunden war, kam noch ein langer Strich
Pfeifenrauch von dorther, denn Becker lief gegen den Wind. Im Stall
fingen die Kühe satt und langsam zu brüllen an, auf der Dorfstraße
tauchten die ersten Feierabendgestalten auf, und als ich nach einer
kleinen Weile um mich schaute, waren die Berge schon blauschwarz und der
Himmel war nimmer rot, sondern grünlichblau und sah aus, als müßte jeden
Augenblick der erste Stern herauskommen.

Das kurze Gespräch mit dem Verwalter hatte meinem Denkerstolz einen
leisen Tritt versetzt, und da es so ein schöner Abend und doch schon ein
Loch in meinem Selbstbewußtsein war, kam meine Liebe zu der
Marmormüllerin plötzlich über mich und ließ mich fühlen, daß mit
Leidenschaften nicht zu spielen sei. Ich trank noch manche Halbe aus,
und als nun wirklich die Sterne heraus waren und als von der Gasse so
ein rührendes Volkslied herüberklang, da hatte ich meine Weisheit und
meinen Hut auf der Bank liegen lassen, lief langsam in die dunkeln
Felder hinein und ließ im Gehen die Tränen laufen, wie sie wollten.

Aber durch die Tränen hindurch sah ich das sommernächtige Land daliegen,
die mächtige Flucht der Ackerfelder schwoll am Horizont wie eine starke
und weiche Woge in den Himmel, seitwärts schlief atmend der weithin
gestreckte Wald und hinter mir lag fast verschwunden das Dorf, mit wenig
Lichtlein und wenigen leisen und fernen Tönen. Himmel, Ackerland, Wald
und Dorf samt den vielerlei Wiesendüften und dem vereinzelt noch
hörbaren Grillengeläut floß alles ineinander und umgab mich lau und
sprach zu mir wie eine schöne, froh und traurig machende Melodie. Nur
die Sterne ruhten klar und unbewegt in halbdunkeln Höhen. Ein scheues
und doch brennendes Begehren, eine Sehnsucht rang sich in mir auf; ich
wußte nicht, war es ein Hindrängen zu neuen, unbekannten Freuden und
Schmerzen oder ein Verlangen, rückwärts in die Kinderheimat zu wandern,
mich an den väterlichen Gartenzaun zu lehnen, die Stimmen der toten
Eltern und das Kläffen unseres toten Hundes noch einmal zu hören und
mich auszuweinen.

Ohne es zu wollen, kam ich in den Wald und durch dürres Gezweige und
schwüle Finsternis, bis es vor mir plötzlich geräumig und helle ward,
und dann stand ich lange zwischen den hohen Tannen über dem engen
Sattelbachtal, und drunten lag das Lampartische Anwesen mit den matten
blassen Marmorhaufen und dem dunkel brausenden schmalen Wehr. Bis ich
mich schämte und querfeldein den nächsten Heimweg nahm.

Am nächsten Tage hatte Gustav Becker mein Geheimnis schon heraus.

»Mach doch keine Redensarten,« sagte er, »du bist ja einfach in die
Lampart verschossen. Das Unglück ist ja nicht so groß. Du bist in dem
Alter, daß dir dergleichen ohne Zweifel noch öfter passieren wird.«

Mein Stolz regte sich schon wieder mächtig.

»Nein, mein Lieber,« sagte ich, »da hast du mich doch unterschätzt. Über
so knabenhafte Liebeleien sind wir hinaus. Ich hab’ mir alles wohl
überlegt und finde, ich könnte gar keine bessere Heirat tun.«

»Heiraten?« lachte Becker. »Junge, du bist reizend.«

Da wurde ich ernstlich zornig, lief aber doch nicht fort, sondern ließ
mich darauf ein, dem Verwalter meine Gedanken und Pläne in dieser Sache
weitläufig zu erzählen.

»Du vergißt eine Hauptsache,« sagte er dann ernsthaft und nachdrücklich.
»Die Lamparts sind nichts für dich, das sind Leute von einem schweren
Kaliber. Verlieben kann man sich ja in wen man will, aber heiraten darf
man nur jemand, mit dem man nachher auch fertig werden und Tempo
einhalten kann. Du bist ja ein ordentlicher Kerl, aber die Lamparts sind
aus einem ganz andern Stoff. Die reden wenig und haben dafür eine Wucht
nach innen, die du gar nicht verstehst.«

Da ich Gesichter schnitt und ihn heftig unterbrechen wollte, lachte er
plötzlich wieder und meinte: »Na, dann tummle dich, mein Sohn, und auch
viel Glück dazu!«

Von da an sprach ich eine Zeitlang oft mit ihm darüber. Da er selten von
der Sommerarbeit abkommen konnte, führten wir fast alle diese Gespräche
unterwegs im Felde oder in Stall und Scheuer. Und je mehr ich redete,
desto klarer und abgerundeter stand die ganze Sache vor mir, und es
wundert mich nachträglich, daß ich nicht noch andre Leute in’s Vertrauen
zog.

Nur wenn ich in der Marmorsäge saß, fühlte ich mich bedrückt und merkte
wieder, wie weit ich noch vom Ziele war. Das Mädchen war stets von
derselben freundlich stillen Art, mit einem Anflug von Männlichkeit, der
mir köstlich schien und mich doch schüchtern machte.

Ich sprach mit ihr über Jahreszeit und Wetter, über Bücher, die ich ihr
lieh, aber am liebsten über >das Leben<; das war eben damals mein
Leibfach. Zuweilen wollte es mir scheinen, sie sähe mich doch gern und
habe mich heimlich lieb; sie konnte mich je und je so selbstvergessen
und prüfend ansehen, wie etwas, woran man Freude hat. Auch ging sie ganz
ernsthaft auf meine klugen Reden ein, schien aber im Hintergrund eine
unumstößlich andre Meinung zu haben.

Einmal sagte sie: »Für die Frauen oder wenigstens für mich sieht das
Leben doch anders aus. Wir müssen vieles tun und geschehen lassen, was
ein Mann anders machen könnte. Wir sind nicht so frei . . .«

Ich sprach davon, daß jedermann sein Schicksal in der Hand habe und sich
ein Leben schaffen müsse, das ganz sein Werk sei und ihm gehöre.

»Ein Mann kann das vielleicht,« meinte sie. »Das weiß ich nicht. Aber
bei uns ist das anders. Auch wir können etwas aus unserm Leben machen,
aber es gilt da mehr, das Notwendige mit Vernunft zu tragen und zu
verschönern, als eigne Schritte zu tun.«

Und als ich nochmals widersprach und eine hübsche kleine Rede losließ,
wurde sie wärmer und sagte fast leidenschaftlich:

»Bleiben Sie bei Ihrem Glauben und lassen Sie mir meinen! Sich das
Schönste vom Leben heraussuchen, wenn man die Wahl hat, ist keine so
große Kunst. Aber wer hat denn die Wahl? Wenn Sie heute oder morgen
unter ein Wagenrad kommen und Arme und Beine verlieren, was fangen Sie
dann mit Ihren Luftschlössern an? Dann wären Sie froh, Sie hätten
gelernt, mit dem, was über Sie verhängt ist, auszukommen. Aber fangen
Sie nur das Glück, ich gönne es Ihnen, fangen Sie’s nur!«

Sie war nie so lebhaft gewesen. Dann wurde sie still, lächelte sonderbar
und hielt mich nicht, als ich aufstand und für heute Abschied nahm.
Meine Weltanschauung hatte sie nicht erschüttert, und das Beispiel mit
dem Wagenrad fiel mir erst viel später wieder ein. Aber ihre Worte
beschäftigten mich nun öfters und gingen mir meistens in ganz
unpassenden Augenblicken wieder durch den Kopf. Ich hatte im Sinn, mit
meinem Freunde auf dem Rippacher Hof darüber zu reden; doch wenn ich
Beckers kühle Augen und spottbereit zuckende Lippen ansah, verging mir
immer die Lust. Überhaupt kam es allmählich so, daß ich, je mehr meine
Gespräche mit Fräulein Lampart persönlicher und merkwürdiger wurden,
desto weniger über sie mit dem Verwalter sprach. Auch schien die Sache
ihm nimmer wichtig zu sein. Höchstens fragte er hier und da, ob ich auch
fleißig ins Marmorwerk laufe, neckte mich ein wenig und ließ es wieder
gut sein, wie es in seinem Wesen lag.

Einmal traf ich ihn zu meinem Erstaunen in der Lampartschen Einsiedelei.
Er saß, als ich eintrat, in der Wohnstube beim Hausherrn, das übliche
Glas Wein vor sich. Als er es leer hatte, war es mir eine Art
Genugtuung, zu sehen, daß auch ihm kein zweites angeboten wurde. Er
brach bald auf, und da Lampart beschäftigt schien und die Tochter nicht
da war, schloß ich mich ihm an.

»Was führt denn dich daher?« fragte ich ihn, als wir auf der Straße
waren. »Du scheinst den Lampart ja ganz gut zu kennen.«

»’s geht an.«

»Hast du Geschäfte mit ihm?«

»Geldgeschäfte, ja. Ich bin eine Art Bankier für ihn. Und das Lämmlein
ist heute nicht dagewesen, wie? Dein Besuch war so kurz.«

»Ach laß doch!«

Ich war bis jetzt mit dem Mädchen in eine ganz vertrauliche
Freundschaftlichkeit gekommen, ohne indessen je mit Wissen etwas von
meiner stetig zunehmenden Verliebtheit merken zu lassen. Jetzt nahm sie
wider all mein Erwarten plötzlich wieder ein andres Wesen an, das mir
fürs erste wieder alle Hoffnung raubte. Scheu war sie eigentlich nicht,
aber sie schien einen Weg in das frühere Fremdsein zurück zu suchen, bat
nicht mehr um Bücher und bemühte sich, unsere Unterhaltung an äußere und
allgemeine Dinge zu fesseln und den angefangenen herzlichen Verkehr mit
mir nicht weiter gedeihen zu lassen.

Ich grübelte nach, lief im Wald herum und kam auf tausend dumme
Vermutungen, wurde nun selber noch unsicherer in meinem Benehmen gegen
sie und kam in ein kümmerliches Sorgen und Zweifeln hinein, das ein Hohn
auf meine ganze Glücksphilosophie war und mich stundenweise wieder
völlig zu einem ratlos verliebten Buben machte. Mittlerweile war auch
mehr als die Hälfte meiner Ferienzeit verstrichen, und ich fing an, die
Tage zu zählen und jedem unnütz verbummelten mit Neid und Verzweiflung
nachzublicken, als wäre jedesmal gerade der unendlich wichtig und
unwiederbringlich.

Zwischenhinein kam ein Tag, an dem ich aufatmend und fast erschrocken
alles gewonnen glaubte und einen Augenblick vor dem offenen Tor des
Glücksgartens stand. Ich kam bei der Sägerei vorüber und sah Helene im
Gärtchen zwischen den hohen Dahlienbüschen stehen. Da ging ich hinein,
grüßte und half ihr eine liegende Staude anpfählen und aufbinden. Es war
höchstens eine Viertelstunde, daß ich dort blieb. Mein Hereinkommen
hatte sie überrascht, sie war viel befangener und scheuer als sonst, und
in ihrem Scheusein lag etwas, das ich wie eine deutliche Schrift glaubte
lesen zu können. Sie hat mich lieb, fühlte ich durch und durch, und da
wurde ich plötzlich sicher und froh, sah auf das große, stattliche
Mädchen zärtlich und fast mit Mitleid, wollte ihre Befangenheit schonen
und tat, als sähe ich nichts, kam mir auch wie ein Held vor, als ich
nach kurzer Zeit ihr die Hand gab und weiterging, ohne nur
zurückzusehen. Sie hat mich lieb, empfand ich mit allen Sinnen, und
morgen wird alles gut werden.

Es war wieder ein prachtvoller Tag. Über den Sorgen und Aufregungen
hatte ich für eine Weile fast den Sinn für die schöne Jahreszeit
verloren und war ohne Augen herumgelaufen. Nun war wieder der Wald von
Licht durchzittert, der Bach war wieder schwarz, braun und silbern, die
Ferne licht und zart, auf den Feldwegen lachten rot und blau die Röcke
der Bauernweiber. Ich war so andächtig froh, ich hätte keinen
Schmetterling verjagen mögen. Am oberen Waldrande, nach einem heißen
Steigen, legte ich mich hin, übersah die fruchtbare Weite bis zum fernen
runden Staufen hin, gab mich der Mittagssonne preis und war mit der
schönen Welt und mit mir und allem von Herzen zufrieden. Meine scheu
gewordene Weltklugheit kehrte siegreich zurück, fand alles bestens im
Gleise und war fast so stolz und froh, als hätte sie selber den Gang der
Dinge regiert und alles so freundlich gewendet.

Es war gut, daß ich diesen Tag nach Kräften genoß, verträumte und
versang. Abends trank ich sogar im Adlergarten einen Schoppen vom besten
alten Roten.

Als ich tags darauf bei den Marmorleuten vorsprach, war dort alles im
alten kühlen Zustande. Vor dem Anblick der Wohnstube, der Möbel und der
ruhig ernsten Helene stob meine Sicherheit und mein Siegesmut elend
davon, ich saß da, wie ein armer Reisender auf der Treppe sitzt, und
ging nachher davon wie ein nasser Hund, jammervoll nüchtern. Passiert
war nichts. Helene war sogar ganz freundlich gewesen. Aber von dem
gestrigen Gefühl war nichts mehr da.

An diesem Tage begann die Sache für mich bitter ernst zu werden. Ich
hatte eine Ahnung vom Glücke vorausgeschmeckt.

Nun verzehrte mich die Sehnsucht wie ein gieriger Hunger, Schlaf und
Seelenruhe waren dahin. Die Welt versank um mich her, und ich blieb
abgetrennt in einer Einsamkeit und Stille zurück, in der ich nichts
vernahm, als das leise und laute Schreien meiner Leidenschaft. Mir hatte
geträumt, das große, schöne, ernste Mädchen käme zu mir und lege sich an
meine Brust; jetzt streckte ich weinend und fluchend die Arme ins Leere
aus und schlich bei Tag und Nacht um die Marmormühle, wo ich kaum mehr
einzukehren wagte.

Es half nichts, daß ich mir vom Verwalter Becker ohne Widerspruch die
spöttische Predigt einer glaubenslosen Nüchternheit gefallen ließ. Es
half nichts, daß ich Stunden auf Stunden durch die Bruthitze über Feld
lief oder mich in die kalten Waldbäche legte, bis mir die Zähne
klapperten. Es half auch nichts, daß ich am Samstag abend mich an einem
großen Raufhandel im Dorfe beteiligte und den Leib voller Beulen gehauen
bekam.

Und die Zeit lief weg wie Wasser. Noch vierzehn Tage Ferien! Noch zwölf
Tage! Noch zehn! Zweimal in dieser Zeit ging ich in die Sägerei. Das
eine Mal traf ich nur den Vater an, ging mit ihm zur Säge und sah
stumpfsinnig zu, wie ein neuer Block eingespannt wurde. Herr Lampart
ging in den Vorratsschuppen hinüber, um irgend etwas zu besorgen, und
als er nicht gleich wiederkam, lief ich fort und hatte im Sinn, nimmer
herzukommen.

Trotzdem stand ich nach zwei Tagen wieder da. Helene empfing mich wie
immer, und ich konnte den Blick nicht von ihr lassen. In meiner fahrigen
und haltlosen Stimmung kramte ich gedankenlos eine Menge von dummen
Witzen, Redensarten und Anekdoten aus, die sie sichtlich ärgerten.

»Warum sind Sie heut so?« fragte sie schließlich und sah mich so schön
und offen an, daß mir das Herz zu schlagen begann.

»Wie denn?« fragte ich, und der Teufel wollte, daß ich dabei zu lachen
versuchte.

Das mißglückte Lachen gefiel ihr nicht, sie zuckte die Achseln und sah
fast traurig aus. Mir war einen Augenblick, sie habe mich gern gehabt
und mir entgegenkommen wollen und sei nun darum betrübt. Eine Minute
lang schwieg ich beklommen, da war der Teufel wieder da, daß ich in die
vorige Narrenstimmung zurückfiel und wieder ins Geschwätz geriet, von
dem jedes Wort mir selber weh tat und das Mädchen ärgern mußte. Und ich
war jung und dumm genug, meinen Schmerz und meine widersinnige Narrheit
fast wie ein Schauspiel zu genießen und im Bubentrotz die Kluft zwischen
mir und ihr wissentlich zu vergrößern, statt mir lieber die Zunge
abzubeißen oder Helene ehrlich um Verzeihung zu bitten. In meinen
allerfrühesten Liebesversuchen war ich kein größerer Hanswurst gewesen!

Dann verschluckte ich mich in der Hast am Wein, mußte mächtig husten und
verließ Stube und Haus elender als jemals.

                   *       *       *       *       *

Nun waren von meiner Ferienzeit nur noch acht Tage übrig.

Es war ein so schöner Sommer, es hatte alles so verheißungsvoll und
heiter angefangen. Jetzt war meine Freude dahin -- was sollte ich noch
mit den acht Tagen anfangen? Ich war entschlossen, schon morgen
abzureisen. In der Stadt müßte sich dann irgend ein ^modus vivendi^
finden.

Aber vorher mußte ich noch einmal in ihr Haus. Ich mußte noch einmal
hingehen, ihre kraftvoll edle Schönheit anschauen und ihr sagen: >Ich
habe dich lieb, warum hast du mit mir gespielt?<

Zunächst ging ich zu Gustav Becker auf den Rippacher Hof, den ich
neuerdings etwas vernachlässigt hatte. Er stand in seiner großen, kahlen
Stube an einem lächerlich schmalen Stehpult und schrieb Briefe.

»Ich will dir adieu sagen,« sagte ich, »wahrscheinlich geh’ ich schon
morgen fort. Weißt du, es muß jetzt wieder an ein strammes Arbeiten
gehen.«

Zu meiner Verwunderung machte der Verwalter gar keine Witze. Er schlug
mir auf die Schulter, lächelte fast mitleidig und sagte: »So, so. Ja,
dann geh in Gottes Namen, Junge!«

Und als ich schon unter der Tür war, zog er mich noch einmal in die
Stube zurück und sagte: »Du, hör mal, du tust mir leid. Aber daß das mit
dem Mädel nichts werden würde, hab’ ich gleich gewußt. Du hast da so je
und je deine Weisheitssprüche verzapft -- halte dich jetzt dran und
bleib im Sattel, wenn dir auch der Schädel noch so brummt! Daß du ein
wirklicher Mann wirst, das hängt gar nicht von deiner Weisheit ab; --
ein Mann wird man nur durch Narben, und das tut vorher elend weh. Also
komm darüber weg, gelt?«

Das war vor Mittag.

Den Nachmittag saß ich im Moos am Abhang, steil über der
Sattelbachschlucht, und schaute auf den Bach und die Werke und auch auf
das Lampartsche Haus hinunter. Ich ließ mir Zeit, Abschied zu nehmen und
zu träumen und nachzudenken, namentlich über das, was Becker mir gesagt
hatte. Von meinem jungen Hochmut war nimmer viel übrig. Mit Schmerzen
sah ich die Schlucht und die paar Dächer unten liegen, den Bach glänzen
und die weiße Fahrstraße im leichten Winde stäuben; ich bedachte, daß
ich nun wohl für eine lange Zeit nicht hierher zurückkommen würde,
während hier Bach und Mühlwerke und Menschen ihren stetigen Lauf
weitergingen. Vielleicht wird Helene einmal ihre Resignation und
Schicksalsruhe wegwerfen und ihrem inneren Verlangen nach ein kräftiges
Glück oder Leid ergreifen und sich daran ersättigen? Vielleicht, wer
weiß, wird auch mein eigner Weg noch einmal sich aus Schluchten und
Talgewirre hervorwinden und in ein klares, weites Land der Ruhe führen?
-- Wer weiß?

Ich glaubte nicht daran. Mich hatte zum ersten Mal eine echte, ernste
Leidenschaft in die übermächtigen Arme genommen, und ich wußte keine
Macht in mir stark und edel genug, sie zu besiegen.

Es kam mir der Gedanke, lieber abzureisen, ohne noch einmal mit Helene
zu sprechen. Das war gewiß das beste. Ich nickte ihrem Haus und Garten
zu, beschloß, sie nicht mehr sehen zu wollen, und blieb Abschied nehmend
bis gegen den Abend in der Höhe liegen.

Träumerisch ging ich weg, waldabwärts, oft in der Steile strauchelnd,
und erwachte erst mit heftigem Erschrecken aus meiner Versunkenheit, als
meine Schritte auf den Marmorsplittern des Hofes krachten und ich mich
vor der Tür stehen fand, die ich nicht mehr hatte sehen und anrühren
wollen. Nun war es zu spät.

Ohne zu wissen, wie ich hereingekommen war, saß ich dann innen in der
Dämmerung am Tisch, und Helene saß mir gegenüber, mit dem Rücken gegen
das Fenster, schwieg und sah in die Stube hinein. Es kam mir vor, ich
sitze schon lange so da und habe schon stundenlang gehockt und
geschwiegen. Und indem ich jetzt aufschrak, kam mir plötzlich zum
Bewußtsein, es sei das letzte Mal.

»Ja,« sagte ich, »ich bin nun am Adieusagen. Meine Ferien sind aus.«

»Ach?«

Und wieder war alles still. Man hörte die Arbeiter im Schuppen
hantieren, auf der Straße fuhr ein Lastwagen langsam vorbei, und ich
horchte ihm nach, bis er um die Biegung war und verklang. Ich hätte gern
dem Wagen noch lange, lange nachgelauscht. Nun riß es mich vom Stuhl
auf, ich wollte gehen.

Ich trat zum Fenster hinüber. Auch sie stand auf und sah mich an. Ihr
Blick war fest und ernst und wich mir eine ganze lange Weile nicht aus.

»Wissen Sie nimmer,« sagte ich, »damals im Garten?«

»Ja, ich weiß.«

»Helene, damals meinte ich, Sie hätten mich lieb. Und jetzt muß ich
gehen.«

Sie nahm meine ausgestreckte Hand und zog mich ans Fenster.

»Lassen Sie sich noch einmal ansehen,« sagte sie und bog mit der linken
Hand mein Gesicht in die Höhe. Dann näherte sie ihre Augen den meinen
und sah mich seltsam fest und steinern an. Und da mir nun ihr Gesicht so
nahe war, konnte ich nicht anders und legte meinen Mund auf ihren. Da
schloß sie die Augen und gab mir den Kuß zurück, und ich legte den Arm
um sie, zog sie fest an mich und fragte leise: »Schatz, warum erst
heut?«

»Nicht reden!« sagte sie. »Geh jetzt fort und komm in einer Stunde
wieder. Ich muß drüben nach den Leuten sehen. Der Vater ist heut nicht
da.«

Ich ging und schritt davon, talabwärts durch unbekannte, merkwürdige
Gegenden, zwischen blendend lichten Wolkenbildern, hörte nur wie im
Traume zuweilen den Sattelbach rauschen und dachte an lauter ganz
entfernte, wesenlose Dinge -- an kleine drollige oder rührende Szenen
aus meiner Kleinkinderzeit und dergleichen Geschichten, die aus den
Wolken heraus mit halbem Umriß erstanden und, ehe ich sie ganz erkennen
konnte, wieder untergingen. Ich sang auch im Gehen ein Lied vor mich
hin, aber es war ein gewöhnlicher Gassenhauer. So irrte ich in fremden
Räumen, bis eine seltsame, süße Wärme mich wohlig durchdrang und die
große, kräftige Gestalt Helenes vor meinen Gedanken stand. Da kam ich zu
mir, fand mich weit unten im Tal bei anbrechender Dämmerung, und eilte
nun schnell und freudig zurück.

Sie wartete schon, ließ mich durch Haustor und Stubentür ein, da setzten
wir uns beide auf den Tischrand, hielten unsre Hände ineinander und
sprachen kein Wort. Es war lau und dunkel, ein Fenster stand offen, in
dessen Höhe über dem Bergwald ein schmaler Strich des blassen Himmels
schimmerte, von spitzigen Tannenkronen schwarz durchschnitten. Wir
spielten jedes mit des andern Fingern, und mich überlief bei jedem
leichten Druck ein Schauer von Glück.

»Helene!«

»Ja?«

»O du! --«

Und unsre Finger tasteten aneinander, bis sie stille wurden und ruhig
ineinander lagen. Ich schaute auf den bleichen Himmelsspalt, und nach
einer Zeit, als ich mich umwandte, sah ich auch sie dorthin blicken und
sah mitten im Dunkel ein schwaches Licht von dorther in ihren Augen und
in zwei großen, unbeweglich an ihren Lidern hängenden Tränen
widerglänzen. Die küßte ich langsam hinweg und wunderte mich, wie kühl
und salzig sie schmeckten. Da zog sie mich an sich, küßte mich lang und
mächtig und stand auf.

»Es ist Zeit. Jetzt mußt du gehen.«

Und als wir unter der Tür standen, küßte sie mich plötzlich noch einmal
mit heftiger Leidenschaft, und dann zitterte sie so, daß es auch mich
schüttelte, und sagte mit einer kaum mehr hörbaren, erstickenden Stimme:

»Geh, geh! Hörst du, geh jetzt!« Und als ich draußen stand: »Adieu, du!
Komm nimmer, komm nicht wieder! Adieu!«

Ehe ich etwas sagen konnte, hatte sie die Tür zugezogen. Mir war bang
und unklar ums Herz, doch überwog mein großes Glücksgefühl, das mich auf
dem Heimweg wie ein Flügelbrausen umgab. Ich ging mit schallenden
Tritten, ohne es doch zu spüren, und daheim tat ich die Kleider ab und
legte mich im Hemd ins Fenster.

So eine Nacht möchte ich noch einmal haben. Der laue Wind tat mir wie
eine Mutterhand, vor dem hochgelegenen Fensterchen flüsterten und
dunkelten die großen, runden Kastanienbäume, ein leichter Felderduft
wehte hin und wieder durch die Nacht, und in der Ferne flog das
Wetterleuchten golden zitternd über den schweren Himmel. Ein leises
fernes Donnern tönte je und je herüber, schwach und von fremdartigem
Klang, als ob irgendwo weit weg die Wälder und Berge im Schlafe sich
regten und schwere, müde Traumworte lallten. Das alles sah und hörte ich
wie ein König von meiner hohen Glücksburg herab, es gehörte mir und war
nur da, um meiner tiefen Lust ein schöner Rastort zu sein. Mein Wesen
atmete in Wonne auf und verlor sich wie ein schöner Liebesvers
hinströmend und doch unerschöpft in die Nachtweite über das schlafende
Land, an die ferne leuchtenden Wolken streifend, von jedem aus der
Schwärze sich wölbenden Baum und von jedem matten Hügelfirst wie von
Liebeshänden berührt. Es ist nichts, um es mit Worten zu sagen, aber es
lebt noch unverloren in mir weiter, und ich könnte, wenn es dafür eine
Sprache gäbe, jede in die Dunkelheit verlaufende Bodenwelle, jedes
Wipfelgeräusch, die Adern der entfernten Blitze und den geheimen
Rhythmus des Donners noch genau beschreiben.

Nein, ich kann es nicht beschreiben. Das Schönste und Innerlichste und
Köstlichste kann man ja nicht sagen. Aber ich wollte, jene Nacht käme
mir noch einmal wieder, da ich bis ins innerste Herz hinein ein Seliger
war.

Wenn ich vom Verwalter Becker nicht schon Abschied genommen hätte, wäre
ich gewiß am folgenden Morgen zu ihm gegangen. Statt dessen trieb ich
mich im Dorf herum und schrieb dann einen langen Brief an Helene. Ich
meldete mich auf den Abend an und machte ihr eine Menge Vorschläge,
setzte ihr genau und ernsthaft meine Umstände und Aussichten auseinander
und fragte, ob sie es für gut halte, daß ich gleich mit ihrem Vater
rede, oder ob wir damit noch warten wollten, bis ich der in Aussicht
stehenden Anstellung und damit der nächsten Zukunft sicher wäre. Und
abends ging ich zu ihr. Der Vater war wieder nicht da; es war seit
einigen Tagen einer seiner Lieferanten in der Gegend, der ihn in
Anspruch nahm.

Ich küßte meinen schönen Schatz, zog ihn in die Stube und fragte nach
meinem Brief. Ja, sie hatte ihn erhalten. Und was sie denn darüber
denke? Sie schwieg und sah mich flehentlich an, und da ich in sie drang,
legte sie mir die Hand auf den Mund, küßte mich auf die Stirn und
stöhnte leise, aber so jammervoll, daß ich mir nicht zu helfen wußte.
Auf all mein zärtliches Fragen schüttelte sie nur den Kopf, lächelte
dann aus ihrem Schmerz heraus merkwürdig weich und fein, schlang den Arm
um mich und saß wieder mit mir, ganz wie gestern, schweigend und
hingegeben. Sie lehnte sich fest an mich, legte den Kopf an meine Brust,
und ich küßte sie langsam, ohne etwas denken zu können, auf Haar und
Stirn und Wange und Nacken, bis mir schwindelte. Ich sprang auf.

»Also soll ich morgen mit deinem Vater reden oder nicht?«

»Nein,« sagte sie, »bitte, nicht.«

»Warum denn? Hast du Angst?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Also warum denn?«

»Laß nur, laß! Rede nicht davon. Wir haben noch eine Viertelstunde
Zeit.«

Da saßen wir und hielten uns still umfangen, und während sie sich an
mich schmiegte und bei jeder Liebkosung den Atem anhielt und schauerte,
ging ihre Bedrücktheit und Schwermut auf mich über. Ich wollte mich
wehren und redete ihr zu, an mich und an unser Glück zu glauben.

»Ja, ja,« nickte sie, »nicht davon reden! Wir sind ja jetzt glücklich.«

Darauf küßte sie mich mehrmals mit stummer Kraft und Glut und hing dann
erschlaffend und müde in meinem Arm. Und als ich gehen mußte, und als
sie mir in der Tür mit der Hand übers Haar strich, sagte sie mit halber
Stimme: »Adieu Schatz. Komm morgen nicht! Komm gar nicht wieder, bitte!
Du siehst doch, daß es mich unglücklich macht.«

                   *       *       *       *       *

Mit einem quälenden Zwiespalt im Herzen ging ich heim und vergrübelte
die halbe Nacht. Warum wollte sie nicht glauben und glücklich sein? Ich
mußte an das denken, was sie mir schon vor einigen Wochen einmal gesagt
hatte: »Wir Frauen sind nicht so frei wie ihr; man muß tragen lernen,
was über einen verhängt ist.« Was war denn über sie verhängt?

Das mußte ich jedenfalls wissen, und darum schickte ich ihr am Vormittag
einen Zettel und wartete abends, als das Werk stillstand und die
Arbeiter alle gegangen waren, hinter dem Schuppen bei den Marmorblöcken.
Sie kam spät und zögernd herüber.

»Warum bist du gekommen? Laß es jetzt genug sein. Der Vater ist
drinnen.«

»Nein,« sagte ich, »du mußt mir jetzt sagen, was du noch auf dem Herzen
hast, alles und alles, ich gehe nicht eher weg.«

Helene sah mich ruhig an und war so blaß wie die Steinplatten, vor denen
sie stand.

»Quäl mich nicht,« flüsterte sie mühsam. »Ich kann dir nichts sagen, ich
will nicht. Ich kann dir nur sagen -- reise ab, heut oder morgen, und
vergiß das, was jetzt ist. Ich kann nicht dir gehören.«

Sie schien trotz der lauen Juliabendluft zu frieren, so zitterte sie.
Schwerlich habe ich je eine ähnliche Qual empfunden, wie in diesen
Augenblicken. Aber so konnte ich nicht gehen.

»Sag mir jetzt alles,« wiederholte ich, »ich muß es wissen.«

Sie sah mich an, daß mir alles weh tat. Aber ich konnte nicht anders.

»Rede,« sagte ich fast rauh, »sonst geh’ ich jetzt im Augenblick zu
deinem Vater hinüber.«

Sie richtete sich unwillig auf und war in ihrer Blässe bei dem
Dämmerlicht von einer traurigen und großartigen Schönheit. Sie sprach
ohne Leidenschaft, aber lauter als vorher.

»Also. Ich bin nicht frei, und du kannst mich nicht haben. Es ist schon
ein andrer da. Ist das genug?«

»Nein,« sagte ich, »das ist nicht genug. Hast du denn den andern lieb?
Lieber als mich?«

»O du!« rief sie heftig. »Nein, nein, ich hab’ ihn ja nicht lieb. Aber
ich bin ihm versprochen, und daran ist nichts zu ändern.«

»Warum nicht? Wenn du ihn nicht magst!«

»Damals wußte ich ja noch nichts von dir. Er gefiel mir; lieb hatte ich
ihn nicht, aber es war ein rechter Mann, und ich kannte keinen andern.
Da hab’ ich >ja< gesagt, und jetzt ist es so und muß so bleiben.«

»Es muß nicht, Helene. So etwas kann man doch zurücknehmen.«

»Ja, schon. Aber es ist nicht um jenen, es ist um den Vater. Dem darf
ich nicht untreu werden.«

»Aber ich will mit ihm reden --«

»O du Kindskopf! Verstehst du denn gar nichts --?«

Ich sah sie an. Sie lachte fast.

»Verkauft bin ich, von meinem Vater und mit meinem Willen verkauft, für
Geld. Im Winter ist Hochzeit.«

Sie wendete sich ab, ging ein paar Schritte weit und kehrte wieder um.
Und sagte: »Schatz, sei tapfer! Du darfst nicht mehr kommen, du darfst
nicht --«

»Und bloß ums Geld?« mußte ich fragen.

Sie zuckte die Achseln.

»Was liegt daran? Mein Vater kann nimmer zurück, er ist so fest
angebunden wie ich. Du kennst ihn nicht! Wenn ich ihn im Stich lasse,
gibt es ein Unglück. Also sei brav, sei gescheit, du Kind!«

Und dann brach sie plötzlich aus: »Versteh doch, du, und bring mich
nicht um! -- Jetzt kann ich noch, wie ich will. Aber wenn du mich noch
einmal anrührst -- ich halte das nimmer aus . . . Ich kann dir keinen
Kuß mehr geben, sonst gehen wir alle verloren.«

Einen Augenblick war alles stille, so stille, daß man im Haus drüben den
Vater auf und ab gehen hörte.

»Ich kann heute nichts entscheiden,« war meine Antwort. »Willst du mir
nicht noch sagen -- wer es ist?«

»Der andre? Nein, es ist besser, du weißt es nicht. O, komm jetzt nicht
wieder -- mir zulieb!«

Sie ging ins Haus, und ich sah ihr nach. Ich wollte fortgehen, vergaß es
aber und setzte mich auf die kühlen weißen Steine, hörte dem Wasser zu
und fühlte nichts als ein Gleiten, Gleiten und Hinwegströmen ohne Ende.
Es war, als liefe mein Leben und Helenens Leben und viele ungezählte
Schicksale an mir vorbei dahin, schluchtabwärts ins Dunkle, gleichgültig
und wortlos wie Wasser. Wie Wasser . . .

Spät und todmüde kam ich nach Haus, schlief und stand am Morgen wieder
auf, beschloß, den Koffer zu packen, vergaß es wieder und schlenderte
nach dem Frühstück in den Wald. Es wurde kein Gedanke in mir fertig, sie
stiegen nur wie Blasen aus einem stillen Wasser in mir auf und plagten
und waren nichts mehr, sobald sie sichtbar geworden waren.

>Also jetzt ist alles aus,< dachte ich hier und da, aber es war kein
Bild, keine Vorstellung dabei; es war nur ein Wort, ich konnte dazu
aufatmen und mit dem Kopf nicken, war aber so klug wie vorher.

Erst im währenden Nachmittag wachte die Liebe und das Elend in mir auf
und drohte mich zu überwältigen. Auch dieser Zustand war kein Boden für
gute und klare Gedanken, und statt mich zu zwingen und eine besonnene
Stunde abzuwarten, ließ ich mich fortreißen und legte mich in der Nähe
des Marmorwerks auf die Lauer, bis ich den Herrn Lampart das Haus
verlassen und talaufwärts auf der Landstraße gegen das Dorf hin
verschwinden sah.

Da ging ich hinüber.

Als ich eintrat, schrie Helene auf und sah mich tief verwundet an.

»Warum?« stöhnte sie. »Warum noch einmal?«

Ich war ratlos und beschämt und bin mir nie so jämmerlich vorgekommen
wie da. Die Tür hatte ich noch in der Hand, aber es ließ mich nicht
fort, so ging ich langsam zu ihr hin, die mich mit angstvollen,
leidenden Blicken ansah.

»Verzeih, Helene,« sagte ich nun.

Sie nickte viele Mal, blickte zu Boden und wieder auf, wiederholte
immer: »Warum? O du! O du!« In Gesicht und Gebärden schien sie älter und
reifer und mächtiger geworden zu sein, ich erschien mir daneben fast wie
ein Knabe.

»Nun, also?« fragte sie schließlich und versuchte zu lächeln.

»Sag mir noch etwas,« bat ich beklommen, »damit ich gehen kann.«

Ihr Gesicht zuckte, ich glaubte, sie würde jetzt in Tränen ausbrechen.
Aber da lächelte sie unversehens, ich kann nicht sagen wie weich und aus
Qualen heraus, und richtete sich auf und sagte ganz flüsternd: »Komm
doch, warum stehst du so steif da!« Und ich tat einen Schritt und nahm
sie in die Arme. Wir hielten uns mit allen Kräften umklammert, und
während bei mir die Lust sich immer mehr mit Bangigkeit und Schrecken
und verhaltenem Schluchzen mischte, wurde sie zusehends heiter,
streichelte mich wie ein Kind, nannte mich mit phantastischen Kosenamen,
biß mich in die Hand und war erfinderisch in kleinen Liebestorheiten. In
mir kämpfte ein tiefes Angstgefühl gegen die treibende Leidenschaft, ich
fand keine Worte und hielt Helene an mich gezogen, während sie mich
mutwillig und schließlich lachend liebkoste und neckte.

»Sei doch ein bißchen froh, du Eiszapfen!« rief sie mir zu und zog mich
am Schnurrbart.

Und ich fragte ängstlich: »Ja, glaubst du jetzt, daß es doch noch gut
wird? Wenn du doch nicht mir gehören kannst --«

Sie faßte meinen Kopf mit ihren beiden Händen, sah mir ganz nah ins
Gesicht und sagte: »Ja, nun wird alles gut.«

»Dann darf ich hierbleiben, und morgen wiederkommen und mit deinem Vater
sprechen?«

»Ja, dummer Bub, das darfst du alles. Du darfst sogar im Gehrock kommen,
wenn du einen hast. Morgen ist so wie so Sonntag.«

»Jawohl, ich hab’ einen,« lachte ich und war auf einmal so kindisch
froh, daß ich sie mitriß und ein paar Mal mit ihr durch das Zimmer
walzte. Dann strandeten wir an der Tischecke, ich hob sie auf meinen
Schoß, sie legte die Stirn an meine Wange, und ich spielte mit ihrem
dunkeln, dicken Haar, bis sie aufsprang und zurücktrat und ihr Haar
wieder aufsteckte, mir mit dem Finger drohte und rief: »Jeden Augenblick
kann der Vater kommen. Sind wir Kindsköpfe!«

Ich bekam noch einen Kuß, und noch einen, und aus dem Strauß vom
Fenstersims eine Resede an den Hut. Es ging gegen den Abend, und da es
Samstag war, fand ich im Adler allerlei Gesellschaft, trank einen
Schoppen, schob eine Partie Kegel mit und ging dann zeitig heim. Dort
holte ich den Gehrock aus dem Schrank, hängte ihn über die Stuhllehne
und betrachtete ihn mit Wohlgefallen. Er war so gut wie neu, seinerzeit
zum Examen gekauft und seither fast nie getragen. Das schwarze,
glänzende Tuch erweckte lauter feierliche und würdevolle Gedanken in
mir. Statt ins Bett zu gehen, setzte ich mich hin und überlegte, was ich
morgen Helenens Vater zu sagen hätte. Genau und deutlich stellte ich mir
vor, wie ich vor ihn treten würde, bescheiden und doch mit Würde, malte
mir seine Einwände, meine Erwiderungen, ja auch seine und meine Gedanken
und Gebärden aus. Ich sprach sogar laut, wie ein sich übender Prediger,
und machte die nötigen Gesten dazu, und noch als ich schon im Bette lag
und nahe am Einschlafen war, deklamierte ich einzelne Sätze aus der
mutmaßlichen Unterredung von morgen her.

>Gewiß, Herr Lampart, ich verstehe das vollkommen. Allein ich darf
vielleicht darauf hinweisen --<

Am Ende wurde es mir selber lächerlich.

Dann war es Sonntagmorgen. Ich blieb, um nochmals in Ruhe nachzudenken,
im Bett liegen, bis die Kirchenglocken läuteten. Während der Kirchzeit
zog ich mein Staatskleid an, mindestens so umständlich und peinlich wie
damals vor dem Examen, rasierte mich aufs feinste, trank meine
Morgenmilch und hatte immerhin ein wenig, das heißt ganz erheblich
Herzklopfen. Unruhig wartete ich, bis der Gottesdienst aus war, und
schritt, als kaum das Ausläuten vertönt hatte, langsam und ernsthaft und
die staubigen Wegstellen vermeidend, durch den schon heißen, dunstigen
Vormittag die Straße zum Sattelbach und talabwärts meinem Ziel entgegen.
Trotz meiner Behutsamkeit geriet ich in dem Gehrock und hohen Kragen in
ein leises Schwitzen.

Als ich die Marmorsäge erreichte, standen im Weg und auf dem Hofe zu
meinem Erstaunen und Unbehagen einige Leute aus dem Dorf herum, auf
irgend etwas wartend und in kleinen Gruppen leise redend, wie etwa bei
einer Gant.

Doch mochte ich niemand fragen, was das bedeute, und ging an den Leuten
vorbei zur Haustür, verwundert und beklommen wie in einem ängstlich
sonderbaren Traume. Eintretend stieß ich in dem Flur auf den Verwalter
Becker, den ich kurz und verlegen grüßte. Es war mir peinlich, ihn da zu
treffen, da er doch glauben mußte, ich sei längst abgereist. Doch schien
er daran nimmer zu denken. Er sah angestrengt und müde aus, auch blaß.

»So, kommst du auch?« sagte er nickend und mit ziemlich bissiger Stimme.
»Ich fürchte, Teuerster, du bist heute hier entbehrlich.«

»Herr Lampart ist doch da?« fragte ich dagegen.

»Jawohl, wo soll er sonst sein?«

»Und das Fräulein?«

Er deutete auf die Stubentür.

»Da drinnen?«

Becker nickte, und ich wollte eben anklopfen, als die Tür aufging und
ein Mann herauskam. Dabei sah ich, daß mehrere Besucher in dem Zimmer
herumstanden und daß die Möbel teilweise umgestellt waren.

Jetzt wurde ich stutzig.

»Becker, du, was ist hier geschehen? Was wollen die Leute? Und du, warum
bist du hier?«

Der Verwalter drehte sich um und sah mich sonderbar an.

»Weißt du’s denn nicht?« fragte er mit veränderter Stimme.

»Was denn? Nein.«

Er stellte sich vor mich hin und sah mir ins Gesicht.

»Dann geh nur wieder heim, Junge,« sagte er leise und fast weich und
legte mir die Hand auf den Arm. Mir stieg im Hals ein Würgen auf, eine
namenlose Angst flog mir durch alle Glieder.

Und Becker sah mich noch einmal so merkwürdig prüfend an. Dann fragte er
leise: »Hast du gestern mit dem Mädchen gesprochen?« Und als ich rot
wurde, hustete er gewaltsam, es klang aber wie ein Stöhnen.

»Was ist mit Helene? Wo ist sie?« schrie ich angstvoll heraus. »Etwas
Schlimmes?«

Becker nickte, ging auf und ab und schien mich vergessen zu haben. Ich
lehnte am Pfosten des Treppengeländers und fühlte mich von fremden,
blutlosen Gestalten beengend und höhnisch umflattert. Nun ging Becker
wieder an mir vorbei, sagte: »Komm!« und stieg die Treppe hinauf, bis wo
sie eine Biegung machte. Dort setzte er sich auf eine Stufe, und ich
setzte mich neben ihn, meinen schönen Gehrock rücksichtslos
zerknitternd. Einen Augenblick war es totenstill durchs ganze Haus, dann
fing Becker zu sprechen an.

»Nimm dein Herz in die Hand und beiß auf die Zähne, Kleiner. Also die
Helene Lampart ist tot, und zwar haben wir sie heut morgen vor der
unteren Stellfalle aus dem Bach gezogen. -- Sei still, sag nichts! Und
nicht umfallen! Du bist nicht der einzige, dem das kein Spaß ist.
Probier’s jetzt und drück’ die Männlichkeit durch. Jetzt liegt sie in
der Stube dort und sieht wieder schön genug aus, aber wie wir sie
herausgeholt haben -- das war bös, du, das war bös . . .«

Er hielt inne und schüttelte den Kopf.

»Sei still! Nichts sagen! Später ist zum Reden Zeit genug. Es geht mich
näher an als dich. -- Oder nein, lassen wir’s; ich sag’ dir das alles
dann morgen.«

»Nein,« bat ich, »Becker, sag mir’s! Ich muß alles wissen.«

»Nun ja. Kommentar und so weiter steht dir später jederzeit zu Diensten.
Ich kann jetzt nur sagen, es war gut mit dir gemeint, daß ich dich all
die Zeit hier ins Haus laufen ließ. Man weiß ja nie vorher. -- Also, ich
bin mit der Helene verlobt gewesen. Noch nicht öffentlich, aber --«

Im Augenblick meinte ich, ich müsse aufstehen und dem Verwalter mit
aller Kraft ins Gesicht hauen. Er schien es zu merken.

»Nicht so!« sagte er ruhig und sah mich an. »Wie gesagt, zu Erklärungen
ist ein andermal Zeit.«

Wir saßen schweigend. Wie eine Gespensterjagd flog die ganze Geschichte
zwischen Helene und Becker und mir an mir vorbei, so klar wie schnell.
Warum hatte ich das nicht früher erfahren, warum nicht selber gemerkt?
Wieviel Möglichkeiten hätte es da noch gegeben! Nur ein Wort, nur eine
Ahnung, und ich wäre still meiner Wege gegangen, und sie läge jetzt
nicht dort drinnen.

Mein Zorn war schon erstickt. Ich fühlte wohl, daß Becker die Wahrheit
ahnen mußte, und ich begriff, welche Last nun auf ihm lag, da er in
seiner Sicherheit mich hatte spielen lassen und nun den größeren Teil
der Schuld auf seiner Seele hatte. Jetzt mußte ich noch eine Frage tun.

»Du, Becker -- hast du sie lieb gehabt? Ernstlich lieb gehabt?«

Er wollte etwas sagen, aber die Stimme brach ihm ab. Er nickte nur,
zweimal, dreimal. Und als ich ihn nicken sah, und als ich sah, wie
diesem zähen und harten Menschen die Stimme versagte, und wie auf seinem
herben, übernächtigen Gesicht die Muskeln so deutlich redend zuckten, da
fiel mich das ganze Weh erst an, und ich senkte den Kopf und schluchzte
ohne Halt.

Nach einer guten Weile, da ich durch die versiegenden Tränen aufschaute,
stand jener vor mir und hielt mir die Hand hingestreckt. Ich nahm sie an
und drückte sie, er stieg langsam vor mir her die steile Treppe hinunter
und öffnete leise die Tür des Wohnzimmers, in dem Helene lag und das ich
mit tiefem Grauen an jenem Morgen zum letzten Mal betrat.



Heumond


Das Landhaus Erlenhof lag nicht weit vom Wald und Gebirge in der hohen
Ebene.

Vor dem Hause war ein großer Kiesplatz, in den die Landstraße mündete.
Hier konnten die Wagen vorfahren, wenn Besuch kam. Sonst lag der
viereckige Platz immer leer und still und schien dadurch noch größer als
er war, namentlich bei gutem Sommerwetter, wenn das blendende
Sonnenlicht und die heiße Zitterluft ihn so anfüllte, daß man nicht
daran denken mochte ihn zu überschreiten.

Der Kiesplatz und die Straße trennten das Haus vom Garten. >Garten<
sagte man wenigstens, aber es war vielmehr ein mäßig großer Park, nicht
sehr breit aber tief, mit schönen stattlichen Ulmen, Ahornen und
Platanen, gewundenen Spazierwegen, einem jungen Tannendickicht und
vielen Ruhebänken. Dazwischen lagen sonnige, lichte Rasenstücke, einige
leer und einige mit Blumenrondels oder Ziersträuchern geschmückt, und in
dieser heiteren, warmen Rasenfreiheit standen allein und auffallend zwei
große einzelne Bäume.

Der eine war eine Trauerweide. Um ihren Stamm lief eine schmale
Lattenbank und ringsum hingen die langen, seidig zarten, müden Zweige so
tief und dicht herab, daß es innen ein Zelt oder Tempel war, wo trotz
des ewigen Schattens und Dämmerlichtes eine stete, matte Wärme brütete.

Der andere Baum, von der Weide durch eine niedrig umzäunte Wiese
getrennt, war eine mächtige Blutbuche. Sie sah von weitem dunkelbraun
und fast schwarz aus. Wenn man jedoch näher kam oder sich unter sie
stellte und emporschaute, brannten alle Blätter der äußeren Zweige, vom
Sonnenlichte durchdrungen, in einem warmen, leisen Purpurfeuer, das mit
verhaltener und feierlich gedämpfter Glut wie in einem Kirchenfenster
leuchtete. Die alte Blutbuche war die berühmteste und merkwürdigste
Schönheit des großen Gartens und man konnte sie von überall her sehen.
Sie stand allein und dunkel mitten in dem hellen Graslande, und sie war
hoch genug, daß man, wo man auch vom Park aus nach ihr blickte, ihre
runde, feste, ruhig und schön gewölbte Krone mitten im blauen Luftraum
stehen sah, und je heller und blendender die Bläue war, desto schwärzer
und feierlicher ruhte der Baumwipfel in ihr. Er konnte je nach der
Witterung und Tageszeit sehr verschieden aussehen. Oft sah man ihm an,
daß er wußte, wie schön er sei und daß er nicht ohne Grund allein und
stolz weit von den anderen Bäumen stehe. Er brüstete sich und blickte
kühl über alles hinweg in den Himmel. Oft auch sah er aber aus, als
wisse er wohl, daß er der einzige seiner Art im Garten sei und keine
Brüder habe. Dann schaute er zu den übrigen, entfernten Bäumen hinüber,
suchte und hatte Sehnsucht. Morgens war er am schönsten, und auch abends
bis die Sonne rot wurde, aber dann war er plötzlich gleichsam erloschen
und es schien an seinem Orte eine Stunde früher Nacht zu werden als
sonst überall. Das eigentümlichste und düsterste Aussehen hatte er
jedoch an Regentagen. Während die anderen Bäume atmeten und sich reckten
und freudig mit hellerem Grün erprangten, stand er wie tot in seiner
Einsamkeit, vom Wipfel bis zum Boden schwarz anzusehen. Ohne daß er
zitterte, konnte man doch sehen, daß er fror und daß er mit Unbehagen
und Scham so allein und preisgegeben stand.

Auch unter den gesellig in schönen Gruppen beieinander stehenden
Parkbäumen gab es einige besonders herrliche. Den größten, die alte
Ulme, sah man schon eine Stunde weit von allen Straßen aus wie einen
dunklen und schweren Turm aufragen. Es gab sogar ein Habichtnest auf
ihr. Dann folgten im Rang und Alter die Platanen, von denen eine ganze
Allee da war. Von ihren graugrünen, tigerartig gefleckten Stämmen bekam
der ganze Weg, auch wenn er voll Schatten war, etwas Helles und
Spielendes, weil die lichten Rindeflecken an stehengebliebenen
Sonnenschein erinnerten. Doch waren die vielen Ahorne und die paar
großen, kühlen Waldbuchen nicht weniger schön. Und auf allen nisteten
Singvögel jeder Art.

Früher war der regelmäßig angelegte Lustpark ein strenges Kunstwerk
gewesen. Als dann aber längere Zeiten kamen, in welchen den Menschen ihr
mühseliges Warten und Pflegen und Beschneiden verleidet war und niemand
mehr nach den mit Mühe hergepflanzten Anlagen fragte, waren die Bäume
auf sich selber angewiesen. Sie hatten Freundschaft untereinander
geschlossen, sie hatten ihre kunstmäßige, isolierte Rolle vergessen, sie
hatten sich in der Not ihrer alten Waldheimat erinnert, sich aneinander
gelehnt, mit den Armen umschlungen und gestützt. Sie hatten die
schnurgeraden Wege mit dickem Laub verborgen und mit ausgreifenden
Wurzeln an sich gezogen und in nährenden Waldboden verwandelt, ihre
Wipfel ineinander verschränkt und festgewachsen, und sie sahen in ihrem
Schutze ein eifrig aufstrebendes junges Baumvolk aufwachsen, das mit
glatteren Stämmen und lichteren Laubfarben die Leere füllte, den brachen
Boden eroberte und durch Schatten und Blätterfall die Erde schwarz,
weich und fett machte, so daß nun auch die Moose und Gräser und kleinen
Gesträuche ein leichtes Fortkommen hatten.

Als nun später von neuem Menschen herkamen und den einstigen Garten zu
Rast und Lustbarkeit gebrauchen wollten, war er ein kleiner Wald
geworden. Man mußte sich bescheiden. Zwar wurde der alte Weg zwischen
den zwei Platanenreihen wiederhergestellt, sonst aber begnügte man sich
damit, schmale und gewundene Fußwege durch das Dickicht zu ziehen, die
heidigen Lichtungen mit Rasen zu besäen und an guten Plätzen grüne
Sitzbänke aufzustellen. Die Bäume konnten damit zufrieden sein und noch
mehr die Singvögel, welchen nun eine gute Pflege ward. Man versuchte
sogar Nachtigallen einzugewöhnen, aber sie konnten sich nicht halten.
Und die Leute, deren Großväter die Platanen nach der Schnur gepflanzt
und beschnitten und nach Gutdünken gestellt und geformt hatten, kamen
nun mit ihren Kindern zu ihnen zu Gast und waren froh, daß in der langen
Verwahrlosung aus den Alleen ein Wald geworden war, in welchem Sonne und
Winde ruhen und Vögel singen und Menschen ihren Gedanken, Träumen und
Gelüsten nachhängen konnten.

                   *       *       *       *       *

Paul Abderegg lag im Halbschatten zwischen Gehölz und Wiese und hatte
ein weiß und rot gebundenes Buch in der Hand. Bald las er darin, bald
sah er übers Gras hinweg den flatternden Bläulingen nach. Er stand eben
da, wo Frithjof über Meer fährt, Frithjof der Liebende, der
Tempelräuber, der von der Heimat Verbannte. Groll und Reue in der Brust
segelt er über die ungastliche See, am Steuer stehend; Sturm und Gewoge
bedrängen das schnelle Drachenschiff und bitteres Heimweh bezwingt den
starken Steuermann.

Über der Wiese brütete die Wärme, hoch und gellend sangen die Grillen
und im Innern des Wäldchens sangen tiefer und süßer die Vögel. Es war
herrlich, in dieser einsamen Wirrnis von Düften und Tönen und
Sonnenlichtern hingestreckt in den heißen Himmel zu blinzeln, oder
rückwärts in die dunkeln Bäume hinein zu lauschen, oder mit
geschlossenen Augen sich auszurecken und das tiefe, warme Wohlsein durch
alle Glieder zu spüren. Aber Frithjof fuhr über Meer, und morgen kam
Besuch, und wenn er nicht heute noch das Buch zu Ende las, war es
vielleicht wieder nichts damit, wie im vorigen Herbst. Da war er auch
hier gelegen und hatte die Frithjofsage angefangen, und es war auch
Besuch gekommen und mit dem Lesen hatte es ein Ende gehabt. Das Buch war
dageblieben, er aber ging in der Stadt in seine Schule und dachte
zwischen Homer und Tacitus beständig an das angefangene Buch und was im
Tempel geschehen würde, mit dem Ring und der Bildsäule.

Er las mit neuem Eifer, halblaut, und über ihm lief ein schwacher Wind
durch die Ulmenkronen, sang das Gevögel und flogen die gleißenden
Falter, Mücken und Bienen. Und als er zuklappte und in die Höhe sprang,
hatte er das Buch zu Ende gelesen, und die Wiese war voll Schatten und
am hellroten Himmel erlosch der Abend. Eine müde Biene setzte sich auf
seinen Ärmel und ließ sich tragen. Die Grillen sangen noch immer. Paul
ging schnell davon, durchs Gebüsch und den Platanenweg und dann über die
Straße und den stillen Vorplatz ins Haus. Er war schön anzusehen, in der
schlanken Kraft seiner sechzehn Jahre, und den Kopf hatte er mit stillen
Augen gesenkt, noch von den Schicksalen des nordischen Helden erfüllt
und zum Nachdenken genötigt.

Die Sommerstube, wo man die Mahlzeiten hielt, lag zu hinterst im Hause.
Sie war eigentlich eine Halle, vom Garten nur durch eine Glaswand
getrennt, und sprang geräumig als ein kleiner Flügel aus dem Hause vor.
Hier war nun der eigentliche Garten, der von alters her »am See« genannt
wurde, wenngleich statt eines Sees nur ein kleiner, länglicher Teich
zwischen den Beeten, Spalierwänden, Rabatten, Wegen und Obstpflanzungen
lag. Die aus der Halle ins Freie führende Treppe war von Oleandern und
Palmen eingefaßt, im übrigen sah es »am See« nicht herrschaftlich,
sondern behaglich ländlich aus.

»Also morgen kommen die Leutchen,« sagte der Vater. »Du freust dich
hoffentlich, Paul?«

»Ja, schon.«

»Aber nicht von Herzen? Ja, mein Junge, da ist nichts zu machen. Für uns
paar Leute ist ja Haus und Garten viel zu groß, und für niemand soll
doch die ganze Herrlichkeit nicht da sein! Ein Landhaus und ein Park
sind dazu da, daß fröhliche Menschen drin herumlaufen und je mehr desto
besser. Übrigens kommst du mit solenner Verspätung. Suppe ist nimmer
da.«

Dann wandte er sich an den Hauslehrer.

»Verehrtester, man sieht Sie ja gar nie im Garten. Ich hatte immer
gedacht, Sie schwärmen fürs Landleben.«

Herr Homburger runzelte die Stirn.

»Sie haben vielleicht recht. Aber ich möchte die Ferienzeit doch
möglichst zu meinen Privatstudien verwenden.«

»Alle Hochachtung, Herr Homburger! Wenn einmal Ihr Ruhm die Welt
erfüllt, lasse ich eine Tafel unter Ihrem Fenster anbringen. Ich hoffe
bestimmt es noch zu erleben.«

Der Hauslehrer verzog das Gesicht. Er war sehr nervös.

»Sie überschätzen meinen Ehrgeiz,« sagte er frostig. »Es ist mir
durchaus einerlei, ob mein Name einmal bekannt wird oder nicht. Was die
Tafel betrifft --«

»O, seien Sie unbesorgt, lieber Herr! Aber Sie sind entschieden zu
bescheiden. Paul, nimm dir ein Muster!«

Der Tante schien es nun an der Zeit, den Kandidaten zu erretten. Sie
kannte diese Art von höflichen Dialogen, die dem Hausherrn so viel
Vergnügen machten, und sie fürchtete sie. Indem sie Wein anbot, lenkte
sie das Gespräch in andere Gleise und hielt es darin fest.

Es war hauptsächlich von den erwarteten Gästen die Rede. Paul hörte kaum
darauf. Er aß nach Kräften und besann sich nebenher wieder einmal
darüber, wie es käme, daß der junge Hauslehrer neben dem fast
grauhaarigen Vater immer aussah, als sei er der Ältere.

Vor den Fenstern und Glastüren begann Garten, Baumland, Teich und Himmel
sich zu verwandeln, vom ersten Schauer der heraufkommenden Nacht
berührt. Die Gebüsche wurden schwarz und rannen in dunkle Wogen
zusammen, und die Bäume, deren Wipfel die ferne Hügellinie
überschnitten, reckten sich mit ungeahnten, bei Tage nie gesehenen
Formen dunkel und mit einer stummen Leidenschaft und Großartigkeit in
den lichteren Himmel. Die vielfältige fruchtbare Landschaft verlor ihr
friedlich buntes zerstreutes Wesen mehr und mehr und rückte in großen,
fest geschlossenen Massen zusammen. Die entfernten Berge sprangen kühner
und entschlossener empor, die Ebene lag schwärzlich hingebreitet und
ließ nur noch die stärkeren Schwellungen des Bodens durchfühlen. Vor den
Fenstern kämpfte das noch vorhandene Tageslicht müde mit dem
herabfallenden Lampenschimmer.

Paul stand in dem offenen Türflügel und schaute zu, ohne viel
Aufmerksamkeit und ohne viel dabei zu denken. Er dachte wohl, aber nicht
an das was er sah. Er sah es Nacht werden. Aber er konnte nicht fühlen,
wie schön es war. Er war zu jung und lebendig, um so etwas hinzunehmen
und zu betrachten und sein Genüge daran zu finden. Woran er dachte, das
war eine Nacht am nordischen Meer. Am Strande zwischen schwarzen Bäumen
wälzt der düster lodernde Tempelbrand Glut und Rauch gen Himmel, an den
Felsen bricht sich die See und spiegelt wilde rote Lichter, im Dunkel
enteilt mit vollen Segeln ein Wikingerschiff.

»Nun Junge,« rief der Vater, »was hast du denn heut wieder für einen
Schmöker draußen gehabt?«

»O, den Frithjof!«

»So so, lesen das die jungen Leute noch immer? Herr Homburger, wie
denken Sie darüber? Was hält man heutzutage von diesem alten Schweden?
Gilt er noch?«

»Sie meinen Esajas Tegner?«

»Ja, richtig, Esajas. Nun?«

»Ist tot, Herr Abderegg, vollkommen tot.«

»Das glaub’ ich gerne! Gelebt hat der Mann schon zu meinen Zeiten
nimmer, ich meine damals, als ich ihn las. Ich wollte fragen, ob er noch
Mode ist.«

»Ich bedaure, über Mode und Moden bin ich nicht unterrichtet. Was die
wissenschaftlich-ästhetische Wertung betrifft --«

»Nun ja, das meinte ich. Also die Wissenschaft -- --?«

»Die Literaturgeschichte verzeichnet jenen Tegner lediglich noch als
Namen. Er war, wie Sie sehr richtig sagten, eine Mode. Damit ist ja
alles gesagt. Das Echte, Gute ist nie Mode gewesen, aber es lebt. Und
Tegner ist, wie ich sagte, tot. Er existiert für uns nicht mehr. Er
scheint uns unecht, geschraubt, süßlich . . . .«

Paul wandte sich heftig um.

»Das kann doch nicht sein, Herr Homburger!«

»Darf ich fragen, warum nicht?«

»Weil es schön ist! Ja, es ist einfach schön.«

»So? Das ist aber doch kein Grund, sich so aufzuregen.«

»Aber Sie sagen, es sei süßlich und habe keinen Wert. Und es ist doch
wirklich schön.«

»Meinen Sie? Ja, wenn Sie so felsenfest wissen, was schön ist, sollte
man Ihnen einen Lehrstuhl einräumen. Aber wie Sie sehen, Paul -- diesmal
stimmt Ihr Urteil nicht mit der Ästhetik. Sehen Sie, es ist gerade
umgekehrt wie mit Thucydides. Den findet die Wissenschaft schön, und Sie
finden ihn schrecklich. Und den Frithjof --«

»Ach, das hat doch mit der Wissenschaft nichts zu tun.«

»Es gibt nichts, schlechterdings nichts in der Welt, womit die
Wissenschaft nicht zu tun hätte. -- Aber, Herr Abderegg, Sie erlauben
wohl, daß ich mich empfehle.«

»Schon?«

»Ich sollte noch etwas schreiben.«

»Schade, wir wären gerade so nett ins Plaudern gekommen. Aber über alles
die Freiheit! Also gute Nacht!«

Herr Homburger verließ das Zimmer höflich und steif und verlor sich
geräuschlos im Korridor.

»Also die alten Abenteuer haben dir gefallen, Paul?« lachte der
Hausherr. »Dann laß sie dir von keiner Wissenschaft verhunzen, sonst
geschieht’s dir recht. Du wirst doch nicht verstimmt sein?«

»Ach, es ist nichts. Aber weißt du, ich hatte doch gehofft, der Herr
Homburger würde nicht mit aufs Land kommen. Du hast ja gesagt, ich
brauche in diesen Ferien nicht zu büffeln.«

»Ja, wenn ich das gesagt habe, ist’s auch so und du kannst froh sein.
Und der Herr Lehrer beißt dich ja nicht.«

»Warum mußte er denn mitkommen?«

»Ja siehst du, Junge, wo hätt’ er denn sonst bleiben sollen? Da wo er
daheim ist, hat er’s leider nicht sonderlich schön. Und ich will doch
auch mein Vergnügen haben! Mit unterrichteten und gelehrten Männern
verkehren ist Gewinn, das merke dir. Ich möchte unsern Herrn Homburger
nicht gern entbehren.«

»Ach, Papa, bei dir weiß man nie, was Spaß und was Ernst ist.«

»So lerne es unterscheiden, mein Sohn. Es wird dir nützlich sein. Aber
jetzt wollen wir noch ein bißchen Musik machen, nicht?«

Paul zog den Vater sogleich freudig ins nächste Zimmer. Es geschah nicht
so häufig, daß Papa unaufgefordert mit ihm spielte. Und das war kein
Wunder, denn er war ein Meister auf dem Klavier und der Junge konnte,
mit ihm verglichen, nur eben so ein wenig klimpern.

Tante Grete blieb allein zurück. Vater und Sohn gehörten zu den
Musikanten, die nicht gerne einen Zuhörer vor der Nase haben, aber gerne
einen unsichtbaren, von dem sie wissen, daß er nebenan sitzt und
lauscht. Das wußte die Tante wohl. Wie sollte sie es auch nicht wissen?
Wie sollte ihr irgend ein kleiner, zarter Zug an den beiden fremd sein,
die sie seit Jahren mit Liebe umgab und behütete und die sie beide wie
Kinder ansah.

Sie saß ruhend in einem der biegsamen Rohrsessel und horchte. Was sie
hörte, war eine vierhändig gespielte Ouvertüre, die sie gewiß nicht zum
ersten Mal vernahm, deren Namen sie aber nicht hätte sagen können; denn
so gern sie Musik hörte, verstand sie doch wenig davon. Sie wußte,
nachher würde der Alte oder der Bub beim Herauskommen fragen: »Tante,
was war das für ein Stück?« Dann würde sie sagen »von Mozart« oder »aus
Carmen«, und dafür ausgelacht werden, denn es war immer etwas anderes
gewesen.

Sie horchte, lehnte sich zurück und lächelte. Es war schade, daß niemand
es sehen konnte, denn ihr Lächeln war von der echten, schönen,
gottgeschenkten Art. Es geschah weniger mit den Lippen als mit den
Augen; das ganze Gesicht, Stirn und Wangen glänzten innig mit, und es
sah aus wie ein tiefes Verstehen und Liebhaben.

Sie lächelte und horchte. Es war eine schöne Musik und sie gefiel ihr
höchlich. Doch hörte sie keineswegs die Ouvertüre allein, obwohl sie ihr
zu folgen versuchte. Zuerst bemühte sie sich herauszubringen, wer oben
sitze und wer unten. Paul saß unten, das hatte sie bald erhorcht. Nicht
daß es gehapert hätte, aber die oberen Stimmen klangen so leicht und
kühn und sangen so von innen heraus, wie kein Schüler spielen kann. Und
nun konnte sich die Tante alles vorstellen. Sie sah die zwei am Flügel
sitzen. Bei prächtigen Stellen sah sie den Vater zärtlich schmunzeln.
Paul aber sah sie bei solchen Stellen mit geöffneten Lippen und
flammenden Augen sich auf dem Sessel höher recken. Bei besonders
heiteren, fidelen Wendungen paßte sie auf, ob Paul nicht lachen müsse.
Dann schnitt nämlich der Alte manchmal eine Grimasse oder machte so eine
burschikose Armbewegung, daß es für junge Leute nicht leicht war an sich
zu halten.

Je weiter die Ouvertüre vorwärts gedieh, desto deutlicher sah das
Fräulein ihre beiden vor sich, desto inniger las sie in ihren vom
Spielen erregten Gesichtern. Und mit der raschen Musik lief ein großes
Stück Leben, Erfahrung und Liebe an ihr vorbei.

                   *       *       *       *       *

Es war Nacht, man hatte einander schon Schlafwohl gesagt und jeder war
in sein Zimmer gegangen. Hier und dort ging noch eine Türe, ein Fenster
auf oder zu. Dann ward es still.

Was auf dem Lande sich von selber versteht, die Stille der Nacht, ist
doch für den Städter immer wieder ein Wunder. Wer aus seiner Stadt
heraus auf ein Landgut oder in einen Bauernhof kommt und den ersten
Abend am Fenster steht oder im Bette liegt, den umfängt diese Stille wie
ein Heimatzauber und Ruheport, als wäre er dem Wahren und Gesunden näher
gekommen und spüre ein Wehen des Ewigen.

Es ist ja keine vollkommene Stille. Sie ist voll von Lauten, aber es
sind dunkle, gedämpfte, geheimnisvolle Laute der Nacht, während in der
Stadt die Nachtgeräusche sich von denen des Tages so bitter wenig
unterscheiden. Es ist das Singen der Frösche, das Rauschen der Bäume,
das Plätschern des Baches, der Flug eines Nachtvogels, einer Fledermaus.
Und wenn etwa einmal ein verspäteter Leiterwagen vorüberjagt oder ein
Hofhund anschlägt, so ist es ein erwünschter Gruß des Lebens und wird
majestätisch von der großen Weite des Luftraums gedämpft und
verschlungen.

Wer an Unruhe und schnelles Leben gewöhnt ist und nun einmal in diese
Stille hinein lauschen darf, der empfindet tief das Wesen der Nacht, der
Trösterin und Königin, die aus unerschöpften Quellen Rast und Einkehr,
Trost und Träume, Selbstvergessen, Schlummer und neue Kräfte spendet.
Und der wunderliche Mensch, zumal wenn er jung ist, meint eine solche
Nacht nicht besser feiern zu können als durch ein recht langes
Wachbleiben. Der Hauslehrer hatte noch Licht brennen und ging unruhig
und müde in der Stube auf und ab. Er hatte den ganzen Abend bis gegen
Mitternacht gelesen.

Dieser junge Herr Homburger war nicht, was er schien oder scheinen
wollte. Er war kein Denker. Er war nicht einmal ein wissenschaftlicher
Kopf. Aber er hatte einige Gaben und er war jung. So konnte es ihm, in
dessen Wesen es keinen befehlenden und unausweichlichen Schwerpunkt gab,
an Idealen nicht fehlen.

Zur Zeit beschäftigten ihn einige Bücher, in welchen merkwürdig
schmiegsame Jünglinge sich einbildeten, Bausteine zu einer neuen Kultur
aufzutürmen, indem sie in einer weichen, wohllauten Sprache bald Ruskin,
bald Nietzsche um allerlei kleine, schöne, leicht tragbare Kleinode
bestahlen. Diese Bücher waren viel amüsanter zu lesen als Ruskin und
Nietzsche selber, sie waren von koketter Grazie, groß in kleinen Nuancen
und von seidig vornehmem Glanze. Und wo es auf einen großen Wurf, auf
Machtworte und Leidenschaft ankam, zitierten sie Dante oder Zarathustra.

Deshalb war auch Homburgers Stirn umwölkt, sein Auge müde wie vom
Durchmessen ungeheurer Räume und sein Schritt erregt und ungleich. Er
fühlte, daß an die ihn umgebende schale Alltagswelt allenthalben
Mauerbrecher gelegt waren und daß es galt, sich an die Propheten und
Bringer der neuen Seligkeit zu halten. Schönheit und Geist würde ihre
Welt durchfluten und jeder Schritt in ihr würde von Poesie und Weisheit
triefen.

Vor seinen Fenstern lag und wartete der gestirnte Himmel, die schwebende
Wolke, der träumende Park, das schlafend atmende Feld und die ganze
Schönheit der Nacht. Sie wartete darauf, daß er ans Fenster trete und
sie schaue. Sie wartete darauf, sein Herz mit Sehnsucht und Heimweh zu
verwunden, seine Augen kühl zu baden, seiner Seele gebundene Flügel zu
lösen. Er legte sich aber ins Bett, zog die Lampe näher und las im
Liegen weiter.

Paul Abderegg hatte kein Licht mehr brennen, schlief aber noch nicht,
sondern saß im Hemde auf dem Fensterbrett und schaute in die ruhigen
Baumkronen hinein. Den Helden Frithjof hatte er vergessen. Er dachte
überhaupt an nichts Bestimmtes, er genoß nur die späte Stunde, deren
reges Glücksgefühl ihn noch nicht schlafen ließ. Wie schön die Sterne in
der Schwärze standen! Und wie der Vater heute wieder gespielt hatte! Und
wie still und märchenhaft der Garten da im Dunkeln lag!

Die Juninacht umschloß den Knaben zart und dicht, sie kam ihm still
entgegen, sie kühlte, was noch in ihm heiß und flammend war. Sie nahm
ihm leise den Überfluß seiner unbändigen Jugend ab, bis seine Augen
ruhig und seine Schläfen kühl wurden, und dann blickte sie ihm lächelnd
als eine gute Mutter in die Augen. Er wußte nicht mehr, wer ihn anschaue
und wo er sei, er lag schlummernd auf dem Lager, atmete tief und schaute
gedankenlos hingegeben in große, stille Augen, in deren Spiegel Gestern
und Heute zu wunderlich verschlungenen Bildern und schwer zu
entwirrenden Sagen wurden.

Auch des Kandidaten Fenster war nun dunkel. Wenn jetzt etwa ein
Nachtwanderer auf der Landstraße vorüberkam und Haus und Vorplatz, Park
und Garten lautlos im Schlummer liegen sah, konnte er wohl mit einem
Heimweh herüberblicken und sich des ruhevollen Anblicks mit halbem Neide
freuen. Und wenn es ein armer, obdachloser Fechtbruder war, konnte er
unbesorgt in den arglos offenstehenden Park eintreten und sich die
längste Bank zum Nachtlager aussuchen.

                   *       *       *       *       *

Am Morgen war diesmal gegen seine Gewohnheit der Hauslehrer vor allen
andern wach. Munter war er darum nicht. Er hatte sich mit dem langen
Lesen bei Lampenlicht Kopfweh geholt; als er dann endlich die Lampe
gelöscht hatte, war das Bett schon zu warmgelegen und zerwühlt zum
Schlafen, und nun stand er nüchtern und fröstelnd mit matten Augen auf.
Er fühlte deutlicher als je die Notwendigkeit einer neuen Renaissance,
hatte aber für den Augenblick zur Fortsetzung seiner Studien keine Lust,
sondern spürte ein heftiges Bedürfnis nach frischer Luft. So verließ er
leise das Haus und wandelte langsam feldeinwärts.

Überall waren schon die Bauern an der Arbeit und blickten dem ernst
Dahinschreitenden flüchtig und, wie es ihm zuweilen scheinen wollte,
spöttisch nach. Dies tat ihm weh und er beeilte sich, den nahen Wald zu
erreichen, wo ihn Kühle und mildes Halblicht umfloß. Eine halbe Stunde
trieb er sich verdrossen dort umher. Dann fühlte er eine innere Öde und
begann zu erwägen, ob es nun wohl bald einen Kaffee geben werde. Er
kehrte um und lief an den schon warm besonnten Feldern und unermüdlichen
Bauersleuten vorüber wieder heimwärts.

Unter der Haustür kam es ihm plötzlich unfein vor, so heftig und happig
zum Frühstück zu eilen. Er wandte um, tat sich Gewalt an und beschloß,
vorher noch gemäßigten Schrittes einen Gang durch die Parkwege zu tun,
um nicht atemlos am Tisch zu erscheinen. Mit künstlich bequemem
Schlenderschritt lief er durch die Platanenallee und wollte soeben gegen
den Ulmenwinkel umwenden, als ein unvermuteter Anblick ihn erschreckte.

Auf der letzten, durch Holundergebüsche etwas versteckten Bank lag
ausgestreckt ein Mensch. Er lag bäuchlings und hatte das Gesicht auf die
Ellbogen und Hände gelegt. Herr Homburger war im ersten Schrecken
geneigt, an eine Greueltat zu denken, doch belehrte ihn bald das feste
tiefe Atmen des Daliegenden, daß er vor einem ruhig Schlafenden stehe.
Dieser sah abgerissen und windig aus und je mehr der Lehrersmann
erkannte, daß er es mit einem vermutlich ganz jungen und unkräftigen
Bürschlein zu tun habe, desto höher stieg der Mut und die Entrüstung in
seiner beleidigten Seele. Überlegenheit und schöner Mannesstolz
erfüllten ihn, als er nach kurzem Zögern entschlossen näher trat und den
Schläfer wachschüttelte.

»Stehen Sie auf, Kerl! Was machen Sie denn hier?«

Das Handwerksbürschlein taumelte erschrocken empor und starrte
verständnislos und ängstlich in die Welt. Er sah einen Herrn im Gehrock
befehlend vor sich stehen und besann sich eine Weile, was das bedeuten
könne, bis ihm einfiel, daß er zu Nacht in einen offenen Garten
eingetreten sei und dort genächtigt habe. Er hatte mit Tagesanbruch
weiter wollen, nun war er verschlafen und wurde zur Rechenschaft
gezogen.

»Können Sie nicht reden, was tun Sie hier?«

»Nur geschlafen hab’ ich,« seufzte der Angedonnerte und erhob sich
vollends. Als er auf den Beinen stand, bestätigte sein schmächtiges
Gliedergerüste den unfertig jugendlichen Ausdruck seines fast noch
kindlichen Gesichts. Er konnte höchstens achtzehn Jahr alt sein.

»Kommen Sie mit mir!« gebot der Kandidat und nahm den willenlos
folgenden Fremdling mit zum Hause hinüber, wo ihm gleich unter der Türe
Herr Abderegg begegnete.

»Guten Morgen, Herr Homburger, Sie sind ja früh auf! Aber was bringen
Sie da für merkwürdige Gesellschaft?«

»Dieser Bursche hat Ihren Park als Nachtherberge benützt. Ich glaubte
Sie davon unterrichten zu müssen.«

Der Hausherr begriff sofort. Er schmunzelte.

»Ich danke Ihnen, lieber Herr. Offen gestanden, ich hätte kaum ein so
weiches Herz bei Ihnen vermutet. Aber Sie haben recht, es ist ja klar,
daß der arme Kerl zum mindesten einen Kaffee bekommen muß. Vielleicht
sagen Sie drinnen dem Fräulein, sie möchte ein Frühstück für ihn
herausschicken? Oder warten Sie, wir bringen ihn gleich in die Küche. --
Kommen Sie mit, Kleiner, es ist schon was übrig.«

Am Kaffeetisch umgab sich der Mitbegründer einer neuen Kultur mit einer
majestätischen Wolke von Ernst und Schweigsamkeit, was den alten Herrn
nicht wenig freute. Es kam jedoch zu keiner Neckerei, schon weil die
heute erwarteten Gäste alle Gedanken in Anspruch nahmen.

Die Tante hüpfte immer wieder sorgend und lächelnd von einer Gaststube
in die andere, die Dienstboten nahmen maßvoll an der Aufregung teil oder
grinsten zuschauend, und gegen Mittag setzte sich der Hausherr mit Paul
in den Wagen, um zur nahen Bahnstation zu fahren.

                   *       *       *       *       *

Wenn es in Pauls Wesen lag, daß er die Unterbrechungen seines gewohnten
stillen Ferienlebens durch Gastbesuche fürchtete, so war es ihm ebenso
natürlich, die einmal Angekommenen nach seiner Weise möglichst kennen zu
lernen, ihr Wesen zu beobachten und sie sich irgendwie zu eigen zu
machen. So betrachtete er auf der Heimfahrt im etwas überfüllten Wagen
die drei Fremden mit stiller Aufmerksamkeit, zuerst den lebhaft redenden
Professor, dann mit einiger Scheu die beiden Frauensleute.

Der Professor gefiel ihm, schon weil er wußte, daß er ein Duzfreund
seines Vaters war. Im übrigen fand er ihn ein wenig streng und ältlich,
aber nicht zuwider und jedenfalls unsäglich gescheit. Viel schwerer war
es, über die Mädchen ins reine zu kommen. Die eine war eben schlechthin
ein junges Mädchen, ein Backfisch, jedenfalls ziemlich gleich alt wie er
selber. Es würde nur darauf ankommen, ob sie von der spöttischen oder
gutmütigen Art war, je nachdem würde es Krieg oder Freundschaft zwischen
ihm und ihr geben. Im Grunde waren ja alle jungen Mädchen dieses Alters
gleich und es war mit allen gleich schwer zu reden und auszukommen. Es
gefiel ihm, daß sie wenigstens still war und nicht gleich einen Sack
voll Fragen auskramte.

Die andere gab ihm mehr zu raten. Sie war, was er freilich nicht zu
berechnen verstand, vielleicht drei- oder vierundzwanzig und gehörte zu
der Art von Damen, welche Paul zwar sehr gerne sah und von weitem
betrachtete, deren näherer Umgang ihn aber scheu machte und meist in
unzählige Verlegenheiten verwickelte. Er wußte an solchen Wesen die
natürliche Schönheit durchaus nicht von der eleganten Haltung und
Kleidung zu trennen, fand ihre Gesten und ihre Frisuren meist affektiert
und vermutete bei ihnen eine Menge von überlegenen Kenntnissen über
Dinge, die ihm tiefe Rätsel waren.

Wenn er genau darüber nachdachte, haßte er diese ganze Gattung. Sie
sahen alle schön aus, aber sie hatten auch alle die gleiche demütigende
Zierlichkeit und Sicherheit im Benehmen, die gleichen hochmütigen
Ansprüche und die gleiche geringschätzende Herablassung gegen Jünglinge
seines Alters. Und wenn sie lachten oder lächelten, was sie sehr häufig
taten, sah es oft so unleidlich maskenhaft und verlogen aus. Darin waren
die Backfische doch viel erträglicher.

Am Gespräch nahm außer den beiden Männern nur Fräulein Thusnelde -- das
war die ältere, elegante -- teil. Die kleine blonde Berta schwieg ebenso
scheu und beharrlich wie Paul, dem sie gegenüber saß. Sie trug einen
großen, weich gebogenen, ungefärbten Strohhut mit blauen Bändern und ein
ganz blaßblaues, dünnes Sommerkleid mit losem Gürtel und schmalen weißen
Säumen. Es schien, als sei sie ganz in den Anblick der sonnigen Felder
und heißen Heuwiesen verloren.

Aber zwischenein warf sie häufig einen schnellen Blick auf Paul. Sie
wäre noch einmal so gern mit nach Erlenhof gekommen, wenn nur der Junge
nicht gewesen wäre. Er sah ja sehr ordentlich aus, aber gescheit, und
die Gescheiten waren doch meistens die Widerwärtigsten. Da würde es
gelegentlich so heimtückische Fremdwörter geben und auch solche
herablassende Fragen, etwa nach dem Namen einer Feldblume, und dann,
wenn sie ihn nicht wußte, so ein unverschämtes Lächeln, und so weiter.
Sie kannte das von ihren zwei Vettern, von denen einer Student und der
andere Gymnasiast war, und der Gymnasiast war eher der schlimmere,
einmal bubenhaft ungezogen und ein andermal von jener unausstehlich
höhnischen Kavalierhöflichkeit, vor der sie so Angst hatte.

Eins wenigstens hatte Berta gelernt und sie hatte beschlossen, sich auch
jetzt auf alle Fälle daran zu halten: Weinen durfte sie nicht, unter
keinen Umständen. Nicht weinen und nicht zornig werden, sonst war sie
unterlegen. Und das wollte sie hier um keinen Preis. Es fiel ihr
tröstlich ein, daß für alle Fälle auch noch eine Tante da sein würde; an
die wollte sie sich dann um Schutz wenden, falls es nötig werden sollte.

»Paul, bist du stumm?« rief Herr Abderegg plötzlich.

»Nein, Papa. Warum?«

»Weil du vergißt, daß du nicht allein im Wagen sitzest. Du könntest dich
der Berta schon etwas freundlicher zeigen.«

Paul seufzte unhörbar. Also nun fing es an.

»Sehen Sie, Fräulein Berta, dort hinten ist dann unser Haus.«

»Aber Kinder, ihr werdet doch nicht Sie zueinander sagen!«

»Ich weiß nicht, Papa -- ich glaube doch.«

»Na, dann weiter! ist aber recht überflüssig.«

Berta war rot geworden und kaum sah es Paul, so ging es ihm nicht
anders. Die Unterhaltung zwischen ihnen war schon wieder zu Ende und
beide waren froh, daß die Alten es nicht merkten. Es wurde ihnen
unbehaglich und sie atmeten auf, als der Wagen mit plötzlichem Krachen
auf den Kiesweg einbog und am Hause vorfuhr.

»Bitte, Fräulein,« sagte Paul und half Berta beim Aussteigen. Damit war
er der Sorge um sie fürs erste entledigt, denn im Tor stand schon die
Tante und es schien als lächle das ganze Haus, öffne sich und fordere
zum Eintritt auf, so gastlich froh und herzlich nickte sie und streckte
die Hand entgegen und empfing eins um das andere und dann jedes noch ein
zweites Mal. Die Gäste wurden in ihre Stuben begleitet und gebeten,
recht bald und recht hungrig zu Tische zu kommen.

                   *       *       *       *       *

Auf der weißen Tafel standen zwei große Blumensträuße und dufteten
mächtig in die Speisengerüche hinein. Herr Abderegg tranchierte den
Braten, die Tante visierte scharfäugig Teller und Schüsseln. Der
Professor saß wohlgemut und festlich im Gehrock am Ehrenplatz, warf der
Tante sanfte Blicke zu und störte den eifrig arbeitenden Hausherrn durch
zahllose Fragen und Witze. Fräulein Thusnelde half zierlich und lächelnd
beim Herumbieten der Teller und kam sich zu wenig beschäftigt vor, da
ihr Nachbar, der Kandidat, zwar wenig aß, aber noch weniger redete. Die
Gegenwart eines altmodischen Professors und zweier junger Damen wirkte
versteinernd auf ihn. Er war im Angstgefühl seiner jungen Würde
beständig auf irgend welche Angriffe, ja Beleidigungen gefaßt, welche er
zum voraus durch eiskalte Blicke und angestrengtes Schweigen abzuwehren
bemüht war.

Berta saß neben der Tante und fühlte sich geborgen. Paul widmete sich
mit Anstrengung dem Essen, um nicht in Gespräche verwickelt zu werden,
vergaß sich darüber und ließ es sich wirklich besser schmecken als alle
anderen.

Gegen das Ende der Mahlzeit hatte der Hausherr nach hitzigem Kampfe mit
seinem Freunde das Wort an sich gerissen und ließ es sich nicht wieder
nehmen. Der besiegte Professor fand nun erst Zeit zum Essen und holte
maßvoll nach. Herr Homburger merkte endlich, daß niemand Angriffe auf
ihn plane, sah aber nun zu spät, daß sein Schweigen unfein gewesen war,
und glaubte sich von seiner Nachbarin höhnisch betrachtet zu fühlen. Er
senkte deshalb den Kopf so weit, daß eine leichte Falte unterm Kinn
entstand, zog die Augenbrauen hoch und schien Probleme im Kopf zu
wälzen.

Fräulein Thusnelde begann, da der Hauslehrer dauernd versagte, ein sehr
zärtliches Geplauder mit Berta, an welchem die Tante sich beteiligte.

Paul hatte sich inzwischen voll gegessen und legte, indem er sich
plötzlich übersatt fühlte, Messer und Gabel nieder. Aufschauend
erblickte er zufällig gerade den Professor in einem komischen
Augenblick: Er hatte eben einen stattlichen Bissen zwischen den Zähnen
und noch nicht von der Gabel los, als ihn gerade ein Kraftwort in der
Rede Abdereggs aufzumerken nötigte. So vergaß er für Augenblicke, die
Gabel zurückzuziehen, und schielte großäugig und mit offenem Munde auf
seinen sprechenden Freund hinüber. Da brach Paul, der einem plötzlichen
Lachreiz nicht widerstehen konnte, in ein mühsam gedämpftes Kichern aus.

Herr Abderegg fand im Drang der Rede nur Zeit zu einem eiligen
Zornblick. Der Kandidat bezog das Lachen auf sich und biß auf die
Unterlippe. Berta lachte mitgerissen ohne weiteren Grund plötzlich auch.
Sie war so froh, daß Paul diese Jungenhaftigkeit passierte. Er war also
wenigstens keiner von den Tadellosen.

»Was freut Sie denn so?« fragte Fräulein Thusnelde.

»O, eigentlich gar nichts.«

»Und dich, Berta?«

»Auch nichts. Ich lache nur so mit.«

»Darf ich Ihnen noch einschenken?« fragte Herr Homburger mit gepreßtem
Ton.

»Danke, nein.«

»Aber mir, bitte,« sagte die Tante freundlich, ließ jedoch den Wein
alsdann ungetrunken stehen.

Man hatte abgetragen und es wurden Kaffee, Kognak und Zigarren gebracht
-- »wenn die Damen es wirklich gern erlauben.« Sie erlaubten es, und
auch der Kandidat steckte sich eine Zigarre an.

Paul wurde von Fräulein Thusnelde gefragt, ob er auch rauche.

»Nein,« sagte er, »es schmeckt mir gar nicht.«

Dann fügte er, nach einer Pause, plötzlich ehrlich hinzu: »Ich darf auch
noch nicht.«

Als er das sagte, lächelte Fräulein Thusnelde ihm schelmisch zu, wobei
sie den Kopf etwas auf die Seite neigte. In diesem Augenblick erschien
sie dem Knaben scharmant und er bereute den vorher auf sie geworfenen
Haß.

Sie konnte doch sehr nett sein.

                   *       *       *       *       *

Der Abend war so warm und einladend, daß man noch um elf Uhr unter den
leise flackernden Windlichtern im Garten draußen saß. Und daß die Gäste
sich von der Reise müde gefühlt hatten und eigentlich früh zu Bett
hatten gehen wollen, daran dachte jetzt niemand mehr.

Die warme Luft wogte in leichter Schwüle ungleich und träumend hin und
wider, der Himmel war ganz in der Höhe sternklar und feuchtglänzend,
gegen die Berge hin tiefschwarz und goldig vom fiebernden Geäder des
Wetterleuchtens überspannt. Die Gebüsche dufteten süß und schwer und der
weiße Jasmin schimmerte mit unsicheren Lichtern fahl aus der Finsternis.

»Sie glauben also, diese Reform unsrer Kultur werde nicht aus dem
Volksbewußtsein kommen, sondern von einem oder einigen genialen
Einzelnen?«

Der Professor legte eine gewisse Nachsicht in den Ton seiner Frage.

»Ich denke es mir so --« erwiderte etwas steif der Hauslehrer und begann
eine lange Rede, welcher außer dem Professor niemand zuhörte.

Herr Abderegg scherzte mit der kleinen Berta, welcher die Tante Beistand
leistete. Er lag voll Behagen im Stuhl zurück und trank Weißwein mit
Sauerwasser.

»Sie haben den Ekkehard also auch gelesen?« fragte Paul das Fräulein
Thusnelde.

Sie lag in einem sehr niedrig gestellten Klappstuhl, hatte den Kopf ganz
zurückgelegt und sah geradeaus in die Höhe.

»Jawohl,« sagte sie. »Eigentlich sollte man Ihnen solche Bücher noch
verbieten.«

»So? Warum denn?«

»Weil Sie ja doch noch nicht alles verstehen können.«

»Glauben Sie?«

»Natürlich.«

»Es gibt aber Stellen darin, die ich vielleicht besser als Sie
verstanden habe.«

»Wirklich? Welche denn?«

»Die lateinischen.«

»Was Sie für Witze machen!«

»Man tut eben, was man tun kann.«

Paul war sehr munter. Er hatte zu Abend mehr Wein zu trinken bekommen
als sonst, nun fand er es köstlich, in die weiche, dunkle Nacht hinein
zu reden, und wartete neugierig, ob es ihm gelänge, die elegante Dame
ein wenig aus ihrer trägen Ruhe zu bringen, zu einem heftigeren
Widerspruch oder zu einem Gelächter. Aber sie schaute nicht zu ihm
herüber. Sie lag unbeweglich, das Gesicht nach oben, eine Hand auf dem
Stuhl, die andre bis zur Erde herabhängend. Ihr weißer Hals und ihr
weißes Gesicht hob sich matt schimmernd von den schwarzen Bäumen ab.

»Was hat Ihnen denn im Ekkehard am besten gefallen?« fragte sie jetzt,
wieder ohne ihn anzusehen.

»Der Rausch des Herrn Spazzo.«

»Ach?«

»Nein, wie die alte Waldfrau vertrieben wird.«

»So?«

»Oder eigentlich hat mir doch das am besten gefallen, wie die Praxedis
ihn aus dem Kerker entwischen läßt. Das ist fein.«

»Ja, das ist fein. Wie war es nur?«

»Wie sie nachher Asche hinschüttet --«

»Ach ja. Ja, ich weiß.«

»Aber jetzt müssen Sie mir auch sagen, was Ihnen am besten gefällt.«

»Im Ekkehard?«

»Ja, natürlich.«

»Dieselbe Stelle. Wo Praxedis dem Mönch davonhilft. Wie sie ihm da noch
einen Kuß mitgibt, und dann lächelt und ins Schloß zurückgeht.«

»Ja -- ja,« sagte Paul langsam, aber er konnte sich des Kusses nicht
erinnern.

Des Professors Gespräch mit dem Hauslehrer war zu Ende gegangen. Herr
Abderegg steckte sich eine Virginia an und Berta sah neugierig zu, wie
er die Spitze der langen Zigarre über der Kerzenflamme verkohlen ließ.
Das Mädchen hielt die neben ihr sitzende Tante mit dem rechten Arm
umschlungen und hörte großäugig den fabelhaften Erlebnissen zu, von
denen der alte Herr ihr erzählte. Es war von Reiseabenteuern, namentlich
in Neapel, die Rede.

»Ist das wirklich wahr?« wagte sie einmal zu fragen.

Herr Abderegg lachte.

»Das kommt allein auf Sie an, kleines Fräulein. Wahr ist an einer
Geschichte immer nur das, was der Zuhörer glaubt.«

»Aber nein?! Da muß ich Papa drüber fragen.«

»Tun Sie das!«

Die Tante streichelte Bertas Hand, die ihre Taille umfing.

»Es ist ja Scherz, Kind.«

Sie hörte dem Geplauder zu, wehrte die taumelnden Nachtmotten von ihres
Bruders Weinglas ab und gab jedem, der sie etwa anschaute, einen gütigen
Blick zurück. Sie hatte ihre Freude an den alten Herren, an Berta und
dem lebhaft schwatzenden Paul, an der schönen Thusnelde, die aus der
Gesellschaft heraus in die Nachtbläue schaute, am Hauslehrer, der seine
klugen Reden nachgenoß. Sie war noch jung genug und hatte nicht
vergessen, wie es der Jugend in solchen Gartensommernächten warm und
wohl sein kann. Wie viel Schicksal noch auf alle diese schönen Jungen
und klugen Alten wartete! Auch auf den Hauslehrer. Wie jedem sein Leben
und seine Gedanken und Wünsche so wichtig waren! Und wie schön Fräulein
Thusnelde aussah! Eine wirkliche Schönheit.

Die gütige Dame streichelte Bertas rechte Hand, lächelte dem jetzt etwas
vereinsamten Kandidaten liebreich zu und fühlte von Zeit zu Zeit hinter
den Stuhl des Hausherrn, ob auch seine Weinflasche noch schön im Eise
stehe.

»Erzählen Sie mir etwas aus Ihrer Schule!« sagte Thusnelde zu Paul.

»Ach, die Schule! Jetzt sind doch Ferien.«

»Gehen Sie denn nicht gern ins Gymnasium?«

»Kennen Sie jemand, der gern hineingeht?«

»Sie wollen aber doch studieren?«

»Nun ja. Ich will schon.«

»Aber was möchten Sie noch lieber?«

»Noch lieber? -- Haha --. Noch lieber möcht’ ich Seeräuber werden.«

»Seeräuber?«

»Jawohl, Seeräuber. Pirat.«

»Dann könnten Sie aber nimmer so viel lesen.«

»Das wäre auch nicht nötig. Ich würde mir schon die Zeit vertreiben.«

»Glauben Sie?«

»O gewiß. Ich würde --«

»Nun?«

»Ich würde --, ach das kann man gar nicht sagen.«

»Dann sagen Sie es eben nicht.«

»Das tu ich auch.«

Es wurde ihm langweilig. Er rückte zu Berta hinüber und half ihr
zuhören. Papa war ungemein lustig. Er sprach jetzt ganz allein und alles
hörte zu und lachte.

Da stand Fräulein Thusnelde in ihrem losen, feinen englischen Kleide
langsam auf und trat an den Tisch.

»Ich möchte Gutenacht sagen.«

Nun brachen alle auf, sahen auf die Uhr und konnten nicht begreifen, daß
es wirklich schon Mitternacht sei.

Auf dem kurzen Weg bis zum Hause ging Paul neben Berta, die ihm
plötzlich sehr gut gefiel, namentlich seit er sie über Papas Witze so
herzlich hatte lachen hören. Er war ein Esel gewesen, sich über den
Besuch zu ärgern. Es war doch fein, so des Abends mit Mädchen zu
plaudern.

Er fühlte sich als Kavalier und begann zu bedauern, daß er sich den
ganzen Abend nur um die andere gekümmert hatte. Die war doch wohl ein
Fratz. Berta war ihm viel lieber und es tat ihm leid, daß er sich heute
nicht zu ihr gehalten hatte. Und er versuchte ihr das zu sagen. Sie
kicherte.

»O, Ihr Papa war so unterhaltend! Es war reizend.«

Er schlug ihr für morgen einen Spaziergang auf den Eichelberg vor. Es
sei nicht weit und so schön. Er kam ins Beschreiben, sprach vom Weg und
von der Aussicht und redete sich ganz in Feuer.

Da ging gerade Fräulein Thusnelde an ihnen vorüber, während er im
eifrigsten Reden war. Sie wandte sich ein wenig um und sah ihm ins
Gesicht. Es geschah ruhig und etwas neugierig, aber er fand es spöttisch
und verstummte plötzlich. Berta blickte erstaunt auf und sah ihn
verdrießlich werden, ohne zu wissen warum.

Da war man schon im Hause. Berta gab Paul die Hand. Er sagte Gutenacht.
Sie nickte und ging.

Thusnelde war vorausgegangen, ohne ihm Gutenacht zu sagen. Er sah sie
mit einer Handlampe die Treppe hinaufgehen und indem er ihr nachschaute,
ärgerte er sich über sie.

                   *       *       *       *       *

Paul lag wach im Bette und verfiel dem feinen Fieber der warmen Nacht.
Die Schwüle war im Zunehmen, das Wetterleuchten zitterte beständig an
den Wänden. Zuweilen glaubte er es in weiter Ferne leise donnern zu
hören. In langen Pausen kam und ging ein schlaffer Wind, der kaum die
Wipfel rauschen machte.

Der Knabe überdachte halbträumend den vergangenen Abend und fühlte, daß
er heute anders gewesen sei als sonst. Er kam sich erwachsener vor,
vielmehr schien ihm die Rolle des Erwachsenen heute besser geglückt als
bei früheren Versuchen. Mit dem Fräulein hatte er sich doch ganz gut
unterhalten, und nachher auch mit Berta.

Es quälte ihn, ob Thusnelde ihn ernst genommen habe. Vielleicht hatte
sie eben doch nur mit ihm gespielt. Und das mit dem Kuß der Praxedis
mußte er morgen nachlesen. Ob er das wirklich nicht verstanden, oder nur
vergessen hatte?

Er hätte gern gewußt, ob Fräulein Thusnelde wirklich schön sei, richtig
schön. Es schien ihm so, aber er traute weder sich noch ihr. Wie sie da
beim schwachen Lampenlicht im Stuhl halb saß und halb lag, so schlank
und ruhig, mit der auf den Boden niederhängenden Hand, das hatte ihm
doch gefallen. Wie sie lässig nach oben schaute, halb vergnügt und halb
müde, und der weiße schlanke Hals -- im hellen, langen Damenkleid -- das
könnte gerade so auf einem Gemälde vorkommen.

Freilich, Berta war ihm entschieden lieber. Sie war ja vielleicht ein
wenig sehr naiv, aber sanft und hübsch, und man konnte doch mit ihr
reden ohne den Argwohn, sie mache sich heimlich über einen lustig. Wenn
er es von Anfang an mit ihr gehalten hätte, statt erst im letzten
Augenblick, dann könnten sie möglicherweise jetzt schon ganz gute
Freunde sein. Überhaupt begann es ihm jetzt leid zu tun, daß die Gäste
nur noch zwei Tage bleiben wollten.

Aber warum hatte ihn, als er beim Heimgehen mit der Berta lachte, die
andere so angesehen?

Er sah sie wieder an sich vorbeigehen und den Kopf umwenden, und er sah
wieder ihren Blick. Sie war doch schön. Er stellte sich alles wieder
deutlich vor, aber er kam nicht darüber hinweg -- ihr Blick war
spöttisch gewesen, überlegen spöttisch. Warum? Noch wegen des Ekkehard?
Oder weil er mit der Berta gelacht hatte?

Der Ärger darüber folgte ihm noch in den Schlaf.

                   *       *       *       *       *

Am Morgen war der ganze Himmel bedeckt, doch hatte es noch nicht
geregnet. Es roch überall nach Heu und nach warmem Erdstaub.

»Schade,« klagte Berta beim Herunterkommen, »man wird heute keinen
Spaziergang machen können?«

»O, es kann sich noch den ganzen Tag halten,« tröstete Herr Abderegg.

»Du bist doch sonst nicht so eifrig fürs Spazierengehen,« meinte
Fräulein Thusnelde.

»Aber wenn wir doch nur so kurz hier sind!«

»Wir haben eine Luftkegelbahn,« schlug Paul vor. »Im Garten. Auch ein
Krocket. Aber Krocket ist langweilig.«

»Ich finde Krocket sehr hübsch,« sagte Fräulein Thusnelde.

»Dann können wir ja spielen.«

»Gut, nachher. Wir müssen doch erst Kaffee trinken.«

Nach dem Frühstück gingen die jungen Leute in den Garten; auch der
Kandidat schloß sich an. Fürs Krocketspielen fand man das Gras zu hoch,
und man entschloß sich nun doch zu dem andern Spiel. Paul schleppte
eifrig die Kegel herbei und stellte auf.

»Wer fängt an?«

»Immer der, der fragt.«

»Also gut. Wer spielt mit?«

Paul bildete mit Thusnelde die eine Partei. Er spielte sehr gut und
hoffte von ihr dafür gelobt oder auch nur geneckt zu werden. Sie sah es
aber gar nicht und schenkte überhaupt dem Spiel keine Aufmerksamkeit.
Wenn Paul ihr die Kugel gab, schob sie unachtsam und zählte nicht
einmal, wieviel Kegel fielen. Statt dessen unterhielt sie sich mit dem
Hauslehrer über Turgenjeff. Herr Homburger war heute sehr höflich. Nur
Berta schien ganz beim Spiel zu sein. Sie half stets beim Aufsetzen und
ließ sich von Paul das Zielen zeigen.

»König aus der Mitte!« schrie Paul. »Fräulein, nun gewinnen wir sicher.
Das gilt zwölf.«

Sie nickte nur.

»Eigentlich ist Turgenjeff gar kein richtiger Russe,« sagte der Kandidat
und vergaß, daß es an ihm war zu spielen. Paul wurde zornig.

»Herr Homburger, Sie sind dran!«

»Ich?«

»Ja doch, wir warten alle.«

Er hätte ihm am liebsten die Kugel ans Schienbein geschleudert. Berta,
die seine Verstimmung bemerkte, wurde nun auch unruhig und traf nichts
mehr.

»Dann können wir ja aufhören.«

Niemand hatte etwas dagegen. Fräulein Thusnelde ging langsam weg, der
Lehrer folgte ihr. Paul warf verdrießlich die noch stehenden Kegel mit
dem Fuße um.

»Sollen wir nicht weiterspielen?« fragte Berta schüchtern.

»Ach, zu zweien ist es nichts. Ich will aufräumen.«

Sie half ihm bescheiden. Als alle Kegel wieder in der Kiste waren, sah
er sich nach Thusnelde um. Sie war im Park verschwunden. Natürlich, er
war ja für sie nur ein dummer Junge. Der Fratz! Der Fratz!

»Was nun?«

»Vielleicht zeigen Sie mir den Park ein wenig?«

Da schritt er so rasch durch die Wege voran, daß Berta außer Atem kam
und fast laufen mußte, um nachzukommen. Er zeigte ihr das Wäldchen und
die Platanenallee, dann die Blutbuche und die Wiesen. Während er sich
beinahe ein wenig schämte, so grob und wortkarg zu sein, wunderte er
sich zugleich, daß er sich vor Berta gar nimmer geniere. Er ging mit ihr
um, wie wenn sie zwei Jahre jünger wäre. Und sie war still, sanft und
schüchtern, sagte kaum ein Wort und sah ihn nur zuweilen an, als bäte
sie für irgend etwas um Entschuldigung.

Bei der Trauerweide trafen sie mit den beiden andern zusammen. Der
Kandidat redete noch fort, das Fräulein war still geworden und schien
verstimmt. Paul wurde plötzlich gesprächiger. Er machte auf den alten
Baum aufmerksam, schlug die herabhängenden Zweige auseinander und zeigte
die um den Stamm laufende Rundbank.

»Wir wollen sitzen,« befahl Fräulein Thusnelde.

Alle setzten sich nebeneinander auf die Bank. Es war hier sehr warm und
dunstig, die grüne Dämmerung war schlaff und schwül und machte
schläfrig. Paul saß rechts neben Thusnelde.

»Wie still es da ist!« begann Herr Homburger.

Das Fräulein nickte.

»Und so heiß!« sagte sie. »Wir wollen eine Weile gar nichts reden.«

Da saßen alle vier schweigend. Neben Paul lag auf der Bank Thusneldes
Hand, eine lange und schmale Damenhand mit schlanken Fingern und feinen,
gepflegten, mattglänzenden Nägeln. Paul sah beständig die Hand an. Sie
kam aus einem weiten hellgrauen Ärmel hervor, so weiß wie der bis übers
Gelenk sichtbare Arm, sie bog sich vom Gelenk etwas nach außen und lag
ganz still, als sei sie müde.

Und alle schwiegen. Paul dachte an gestern abend. Da war dieselbe Hand
auch so lang und still und ruhend herabgehängt, und die ganze Gestalt so
regungslos halb gesessen halb gelegen. Es paßte zu ihr, zu ihrer Figur
und zu ihren Kleidern, zu ihrer angenehm weichen, nicht ganz freien
Stimme, auch zu ihrem Gesicht, das mit den ruhigen Augen so klug und
abwartend und gelassen aussah.

Herr Homburger sah auf die Uhr.

»Verzeihen Sie, meine Damen, ich sollte nun an die Arbeit. Sie bleiben
doch hier, Paul?«

Er verbeugte sich und ging.

Die andern blieben schweigend sitzen. Paul hatte seine Linke langsam und
mit ängstlicher Vorsicht wie ein Verbrecher der Frauenhand genähert und
dann dicht neben ihr liegen lassen. Er wußte nicht, warum er es tat. Es
geschah ohne seinen Willen, und dabei wurde ihm so drückend bang und
heiß, daß seine Stirne voll von Tropfen stand.

»Krocket spiele ich auch nicht gerne,« sagte Berta leise, wie aus einem
Traum heraus. Durch das Weggehen des Hauslehrers war zwischen ihr und
Paul eine Lücke entstanden und sie hatte sich die ganze Zeit besonnen,
ob sie herrücken solle oder nicht. Es war ihr, je länger sie zauderte,
immer schwerer vorgekommen es zu tun, und nun fing sie, nur um sich
nicht länger ganz allein zu fühlen, zu reden an.

»Es ist wirklich kein nettes Spiel,« fügte sie nach einer langen Pause
mit unsicherer Stimme hinzu. Doch antwortete niemand.

Es war wieder ganz still. Paul glaubte sein Herz schlagen zu hören. Es
trieb ihn, aufzuspringen und irgend etwas Lustiges oder Dummes zu sagen,
oder wegzulaufen. Aber er blieb sitzen, ließ seine Hand liegen und hatte
ein Gefühl, als würde ihm langsam, langsam die Luft entzogen, bis zum
Ersticken. Nur war es angenehm, auf eine traurige, quälende Art
angenehm.

Fräulein Thusnelde blickte in Pauls Gesicht, mit ihrem ruhigen und etwas
müden Blick. Sie sah, daß er unverwandt auf seine Linke schaute, die
dicht neben ihrer Rechten auf der Bank lag.

Da hob sie ihre Rechte ein wenig, legte sie fest auf Pauls Hand und ließ
sie da liegen.

Ihre Hand war weich, doch kräftig, und von trockener Wärme. Paul
erschrak wie ein überraschter Dieb und fing zu zittern an, zog aber
seine Hand nicht weg. Er konnte kaum noch atmen, so stark arbeitete sein
Herzschlag, und sein ganzer Leib brannte und fror zugleich. Langsam
wurde er blaß und sah das Fräulein flehend und angstvoll an.

»Sind Sie erschrocken?« lachte sie leise. »Ich glaube, Sie waren
eingeschlafen?«

Er konnte nichts sagen. Sie hatte ihre Hand weggenommen, aber seine lag
noch da und fühlte die Berührung noch immer. Er wünschte sie
wegzuziehen, aber er war so matt und verwirrt, daß er keinen Gedanken
oder Entschluß fassen und nichts tun konnte, nicht einmal das.

Plötzlich erschreckte ihn ein ersticktes, ängstliches Geräusch, das er
hinter sich vernahm. Er wurde frei und sprang tief atmend auf. Auch
Thusnelde war aufgestanden.

Da saß Berta tiefgebückt an ihrem Platz und schluchzte.

»Gehen Sie hinein,« sagte Thusnelde zu Paul, »wir kommen gleich nach.«

Und als Paul wegging, setzte sie noch hinzu: »Sie hat Kopfweh bekommen.«

»Komm, Berta. Es ist zu heiß hier, man erstickt ja vor Schwüle. Komm,
nimm dich zusammen! Wir wollen ins Haus gehen.«

Berta gab keine Antwort. Ihr magerer Hals lag auf dem hellblauen Ärmel
des leichten Backfischkleidchens, aus dem der dünne, eckige Arm mit dem
breiten Handgelenk herabhing. Und sie weinte still und leise schluckend,
bis sie nach einer langen Weile rot und verwundert sich aufrichtete, das
Haar zurückstrich und langsam und mechanisch zu lächeln begann.

                   *       *       *       *       *

Paul fand keine Ruhe. Warum hatte Thusnelde ihre Hand so auf seine
gelegt? War es nur ein Scherz gewesen? Oder wußte sie, wie seltsam weh
das tat? So oft er es sich wieder vorstellte, hatte er von neuem
dasselbe Gefühl: ein erstickender Krampf vieler Nerven oder Adern, ein
Druck und leichter Schwindel im Kopf, eine Hitze in der Kehle und ein
lähmend ungleiches, wunderliches Wallen des Herzens, als sei der Puls
unterbunden. Aber es war angenehm, so weh es tat.

Er lief am Hause vorbei zum Weiher und in den Obstgängen auf und ab.
Indessen nahm die Schwüle stetig zu. Der Himmel hatte sich vollends ganz
bezogen und sah gewitterig aus. Es ging kein Wind, nur hin und wieder im
Gezweig ein feiner, zager Schauer, vor dem auch der fahle, glatte
Spiegel des Weihers für Augenblicke kraus und silbern erzitterte.

Der kleine alte Kahn, der angebunden am Rasenufer lag, fiel dem Jungen
ins Auge. Er stieg hinein und setzte sich auf die einzige noch
vorhandene Ruderbank. Doch band er das Schifflein nicht los: es waren
auch schon längst keine Ruder mehr da. Er tauchte die Hände ins Wasser,
das war widerlich lau.

Unvermerkt überkam ihn eine grundlose Traurigkeit, die ihm ganz fremd
war. Er kam sich wie in einem beklemmenden Traume vor -- als könnte er,
wenn er auch wollte, kein Glied rühren. Das fahle Licht, der dunkel
bewölkte Himmel, der laue dunstige Teich und der alte, am Boden moosige
Holznachen ohne Ruder, das sah alles unfroh, trist und elend aus, einer
schweren, faden Trostlosigkeit hingegeben, die er ohne Grund teilte.

Er hörte Klavierspiel vom Hause herübertönen, undeutlich und leise. Nun
waren also die andern drinnen und wahrscheinlich spielte Papa ihnen vor.
Bald erkannte Paul auch das Stück, es war aus Griegs Musik zum Peer
Gynt, und er wäre gern hineingegangen. Aber er blieb sitzen, starrte
über das träge Wasser weg und durch die müden, regungslosen Obstzweige
in den fahlen Himmel. Er konnte sich nicht einmal wie sonst auf das
Gewitter freuen, obwohl es sicher bald ausbrechen mußte und das erste
richtige in diesem Sommer sein würde.

Da hörte das Klavierspiel auf und es war eine Weile ganz still. Bis ein
paar zarte, wiegend laue Takte aufklangen, eine scheue und ungewöhnliche
Musik. Und nun Gesang, eine Frauenstimme. Das Lied war Paul unbekannt,
er hatte es nie gehört, er besann sich auch nicht darüber. Aber die
Stimme kannte er, die leicht gedämpfte, ein wenig müde und willenlose
Stimme. Das war Thusnelde. Ihr Gesang war vielleicht nichts Besonderes,
vielleicht nicht einmal schön, aber er traf und reizte den Knaben ebenso
beklemmend und quälend wie die Berührung ihrer Hand. Er horchte, ohne
sich zu rühren, und während er noch saß und horchte, schlugen die ersten
trägen Regentropfen lau und schwer in den Weiher. Sie trafen seine Hände
und sein Gesicht, ohne daß er es spürte. Er fühlte nur, daß etwas
Drängendes, Gärendes, Gespanntes um ihn her oder auch in ihm selber sich
verdichte und schwelle und Auswege suche. Zugleich fiel ihm eine Stelle
aus dem Ekkehard ein und in diesem Augenblick überraschte und
erschreckte ihn plötzlich die sichere Erkenntnis. Er wußte, daß er
Thusnelde lieb habe. Und zugleich wußte er, daß sie erwachsen und eine
Dame war, er aber ein Schuljunge, und daß sie morgen abreisen würde.

Da klang -- der Gesang war schon eine Weile verstummt -- die helltönige
Tischglocke, und Paul ging langsam zum Hause hinüber. Vor der Türe
wischte er sich die Regentropfen von den Händen, strich das Haar zurück
und tat einen tiefen Atemzug, als sei er im Begriff einen schweren
Schritt zu tun.

                   *       *       *       *       *

»Ach, nun regnet es doch schon,« klagte Berta. »Nun wird also nichts
daraus?«

»Aus was denn?« fragte Paul, ohne vom Teller aufzublicken.

»Wir hatten ja doch -- -- Sie hatten mir versprochen, mich heut auf den
Eichelberg zu führen.«

»Ja so. Nein, das geht bei dem Wetter freilich nicht.«

Halb sehnte sie sich danach, er möchte sie ansehen und eine Frage nach
ihrem Wohlsein tun, halb war sie froh, daß er’s nicht tat. Er hatte den
peinlichen Augenblick unter der Weide, da sie in Tränen ausgebrochen
war, völlig vergessen. Dieser plötzliche Ausbruch hatte ihm ohnehin
wenig Eindruck gemacht und ihn nur in dem Glauben bestärkt, sie sei doch
noch ein recht kleines Mädchen. Statt auf sie zu achten, schielte er
beständig zu Fräulein Thusnelde hinüber.

Diese führte mit dem Hauslehrer, der sich seiner albernen Rolle von
gestern schämte, ein lebhaftes Gespräch über Sportsachen. Es ging Herrn
Homburger dabei wie vielen Leuten; er sprach über Dinge, von denen er
nichts verstand, viel gefälliger und glatter als über solche, die ihm
vertraut und wichtig waren. Meistens hatte die Dame das Wort und er
begnügte sich mit Fragen, Nicken, Zustimmen und pausenfüllenden
Redensarten. Die etwas kokette Plauderkunst der jungen Dame enthob ihn
seiner gewohnten dickblütigen Art; es gelang ihm sogar, als er beim
Weineinschenken daneben goß, selber zu lachen und die Sache leicht und
komisch zu nehmen. Seine mit Schlauheit eingefädelte Bitte jedoch, dem
Fräulein nach Tisch ein Kapitel aus einem seiner Lieblingsbücher
vorlesen zu dürfen, wurde zierlich abgelehnt.

»Du hast kein Kopfweh mehr, Kind?« fragte Tante Grete.

»O nein, gar nimmer,« sagte Berta halblaut. Aber sie sah noch elend
genug aus.

»O ihr Kinder!« dachte die Tante, der auch Pauls erregte Unsicherheit
nicht entgangen war. Sie hatte mancherlei Ahnungen und beschloß, die
zwei jungen Leutchen nicht unnötig zu stören, wohl aber aufmerksam zu
sein und Dummheiten zu verhüten. Bei Paul war es das erste Mal, dessen
war sie sicher. Wie lang noch, und er würde ihrer Fürsorge entwachsen
sein und seine Wege ihrem Blick entziehen! -- O ihr Kinder!

Draußen war es beinahe finster geworden. Der Regen rann und ließ nach
mit den wechselnden Windstößen, das Gewitter zögerte noch und der Donner
klang noch meilenfern.

»Haben Sie Furcht vor Gewittern?« fragte Herr Homburger seine Dame.

»Im Gegenteil, ich weiß nichts Schöneres. Wir könnten nachher in den
Pavillon gehen und zusehen. Kommst du mit, Berta?«

»Wenn du willst, ja gern.«

»Und Sie also auch, Herr Kandidat? -- Gut, ich freue mich darauf. Es ist
in diesem Jahr das erste Gewitter, nicht?«

Gleich nach Tisch brachen sie mit Regenschirmen auf, zum nahen Pavillon.
Berta nahm ein Buch mit.

»Willst du dich denen nicht anschließen, Paul?« ermunterte die Tante.

»Danke, nein. Ich muß eigentlich üben.«

Er ging in einem Wirrwarr von quellenden Gefühlen ins Klavierzimmer.
Aber kaum hatte er zu spielen begonnen, er wußte selbst nicht was, so
kam sein Vater herein.

»Junge, könntest du dich nicht um einige Zimmer weiter verfügen? Brav,
daß du üben wolltest, aber alles hat seine Zeit, und wir älteren
Semester möchten bei dieser Schwüle doch gern ein wenig zu schlafen
versuchen. Auf Wiedersehen, Bub!«

Der Knabe ging hinaus und durchs Eßzimmer, über den Gang und zum Tor.
Drüben sah er gerade die andern den Pavillon betreten. Als er hinter
sich den leisen Schritt der Tante hörte, trat er rasch ins Freie und
eilte mit unbedecktem Kopf, die Hände in den Taschen, durch den Regen
davon. Der Donner nahm stetig zu und erste scheue Blitze rissen zuckend
durch das schwärzliche Grau.

Paul ging um das Haus herum und gegen den Weiher hin. Er fühlte mit
trotzigem Leid den Regen durch seine Kleider dringen. Die noch nicht
erfrischte, schwebende Luft erhitzte ihn, so daß er beide Hände und die
halbentblößten Arme in die schwerfallenden Tropfen hielt. Nun saßen die
andern vergnügt im Pavillon beisammen, lachten und schwatzten, und an
ihn dachte niemand. Es zog ihn hinüber, doch überwog sein Trotz; hatte
er einmal nicht mitkommen wollen, so wollte er ihnen auch nicht
hinterdrein nachlaufen. Und Thusnelde hatte ihn ja überhaupt nicht
aufgefordert. Sie hatte Berta und Herrn Homburger mitkommen heißen, und
ihn nicht. Warum ihn nicht?

Ganz durchnäßt kam er, ohne auf den Weg zu achten, ans Gärtnerhäuschen.
Die Blitze jagten jetzt fast ohne Pause herab oder quer durch den
Himmel, in phantastisch kühnen Linien, und der Regen rauschte lauter.
Unter der Holztreppe des Gärtnerschuppens klirrte es auf und mit
verhaltenem Grollen kam der große Hofhund heraus. Als er Paul erkannte,
drängte er sich fröhlich und schmeichelnd an ihn. Und Paul, in plötzlich
überwallender Zärtlichkeit, legte ihm den Arm um den Hals, zog ihn in
den dämmernden Treppenwinkel zurück und blieb dort bei ihm kauern und
sprach und koste mit ihm, er wußte nicht wie lang.

Im Pavillon hatte Herr Homburger den eisernen Gartentisch an die
gemauerte Rückwand geschoben, die mit einer italienischen
Küstenlandschaft bemalt war. Die heiteren Farben, Blau, Weiß und Rosa,
paßten schlecht in das Regengrau und schienen trotz der Schwüle zu
frieren.

»Sie haben schlechtes Wetter für Erlenhof,« sagte Herr Homburger.

»Warum? Ich finde das Gewitter prächtig.«

»Und Sie auch, Fräulein Berta?«

»O, ich sehe es ganz gerne.«

Es machte ihn wütend, daß die Kleine mitgekommen war. Gerade jetzt, wo
er anfing sich mit der schönen Thusnelde besser zu verstehen.

»Und morgen werden Sie wirklich schon wieder reisen?«

»Warum sagen Sie das so tragisch?«

»Es muß mir doch leid tun.«

»Wahrhaftig?«

»Aber gnädiges Fräulein --«

Der Regen prasselte auf dem dünnen Dach und quoll in leidenschaftlichen
Stößen aus den Mündungen der Traufen.

»Wissen Sie, Herr Kandidat, Sie haben da einen lieben Jungen zum
Schüler. Es muß ein Vergnügen sein, so einen zu unterrichten.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Aber gewiß. Er ist doch ein prächtiger Junge. -- Nicht, Berta?«

»O, ich weiß nicht, ich sah ihn ja kaum.«

»Gefällt er dir denn nicht?«

»Ja, das schon. -- O ja.«

»Was stellt das Wandbild da eigentlich vor, Herr Kandidat? Es scheint
eine Rivieravedute?«

Paul war nach zwei Stunden ganz durchnäßt und todmüde heimgekommen,
hatte ein kaltes Bad genommen und sich umgekleidet. Dann wartete er, bis
die drei ins Haus zurückkehrten, und als sie kamen und als Thusneldes
Stimme im Gang laut wurde, schrak er zusammen und bekam Herzklopfen.
Dennoch tat er gleich darauf etwas, wozu er sich selber noch einen
Augenblick zuvor den Mut nicht zugetraut hätte.

Als das Fräulein allein die Treppe heraufstieg, lauerte er ihr auf und
überraschte sie in der oberen Flur. Er trat auf sie zu und streckte ihr
einen kleinen Rosenstrauß entgegen. Es waren wilde Heckenröschen, die er
im Regen draußen abgeschnitten hatte.

»Ist das für mich?« fragte Thusnelde.

»Ja, für Sie.«

»Womit hab’ ich denn das verdient? Ich fürchtete schon, Sie könnten mich
gar nicht leiden.«

»O, Sie lachen mich ja nur aus.«

»Gewiß nicht, lieber Paul. Und ich danke schön für die Blumen. Wilde
Rosen, nicht?«

»Hagrosen.«

»Ich will eine davon anstecken, nachher.«

Damit ging sie weiter nach ihrem Zimmer.

                   *       *       *       *       *

Am Abend blieb man diesmal in der Halle sitzen. Es hatte schön abgekühlt
und draußen fielen noch die Tropfen von den blank gespülten Zweigen. Man
hatte im Sinn gehabt zu musizieren, aber der Professor wollte lieber die
paar Stunden noch mit Abderegg verplaudern. So saßen nun alle bequem
plaudernd in dem großen Raum, die Herren rauchten und die jungen Leute
hatten Limonadebecher vor sich stehen.

Die Tante sah mit Berta ein Album an und erzählte ihr alte Geschichten.
Thusnelde war guter Laune und lachte viel. Den Hauslehrer hatte das
lange erfolglose Reden im Pavillon stark mitgenommen, er war wieder
nervös und zuckte leidend mit den Gesichtsmuskeln. Daß sie jetzt so
lächerlich mit dem Büblein Paul kokettierte, fand er geschmacklos, und
er suchte wählerisch nach einer Form, ihr das zu sagen.

Paul war der Lebhafteste von allen. Daß Thusnelde seine Rosen im Gürtel
trug und daß sie lieber Paul zu ihm gesagt hatte, war ihm wie ein
starker Wein zu Kopf gestiegen. Er machte Witze, erzählte Geschichtchen,
hatte glühende Backen und ließ den Blick nicht von seiner Dame, die sich
seine Huldigung so graziös gefallen ließ. Dabei rief es im Grund seiner
Seele ohne Unterlaß: »Morgen geht sie fort! morgen geht sie fort!« und
je lauter und schmerzlicher es rief, desto sehnlicher klammerte er sich
an den schönen Augenblick und desto lustiger redete er darauf los.

Herr Abderegg, der einen Augenblick herüberhorchte, rief lachend: »Paul,
du fängst früh an!«

Er ließ sich nicht stören. Für Augenblicke faßte ihn ein drängendes
Verlangen, hinauszugehen, den Kopf an den Türpfosten zu lehnen und zu
schluchzen. Aber nein, nein!

Währenddessen hatte Berta mit der Tante >Du< gemacht und gab sich
dankbar unter ihren Schutz. Es lag wie eine Last auf ihr, daß Paul von
ihr allein nichts wissen wollte, daß er den ganzen Tag kaum ein Wort an
sie gerichtet hatte, und müde und unglücklich überließ sie sich der
gütigen Zärtlichkeit der Tante.

Die beiden alten Herren überboten einander im Aufwärmen von Erinnerungen
und spürten kaum etwas davon, daß neben ihnen junge unausgesprochene
Leidenschaften sich kreuzten und bekämpften.

Herr Homburger fiel mehr und mehr ab. Daß er hin und wieder eine schwach
vergiftete Pointe ins Gespräch warf, wurde kaum beachtet, und je mehr
die Bitterkeit und Auflehnung in ihm wuchs, desto weniger wollte es ihm
gelingen Worte zu finden. Er fand es kindisch, wie Paul sich gehen ließ,
und unverzeihlich, wie das Fräulein darauf einging. Am liebsten hätte er
gute Nacht gesagt und wäre gegangen. Aber das mußte aussehen wie ein
Geständnis, daß er sein Pulver verschossen habe und kampfunfähig sei.
Lieber blieb er da und trotzte. Und so widerwärtig ihm Thusneldes
ausgelassen spielerisches Wesen heute abend war, so hätte er sich doch
vom Anblick ihrer weichen Gesten und ihres schwach geröteten Gesichtes
jetzt nicht trennen mögen.

Thusnelde durchschaute ihn und gab sich keine Mühe, ihr Vergnügen über
Pauls leidenschaftliche Aufmerksamkeiten zu verbergen, schon weil sie
sah, daß es den Kandidaten ärgerte. Und dieser, der in keiner Hinsicht
ein Kraftmensch war, fühlte langsam seinen Zorn in jene weichlich trübe,
faule Resignation übergehen, mit der bis jetzt fast alle seine
Liebesversuche geendet hatten. War er denn je von einem Weib verstanden
und nach seinem Wert geschätzt worden? O, aber er war Künstler genug, um
auch die Enttäuschung den Schmerz, das Einsambleiben mit allen ihren
verborgensten Reizen zu genießen. Wenn auch mit zuckender Lippe, er
genoß es doch; und wenn auch verkannt und verschmäht, er war doch der
Held in der Szene, der Träger einer stummen Tragik, lächelnd mit dem
Dolch im Herzen.

Und nun lächelte er beständig. Er nahm kaum mehr am Gespräch teil, aber
er lächelte nachsichtig, schmerzlich und überlegen, und es war ihm ein
neuer, bitterer Triumph, daß niemand sehen wollte, wie wund sein Lächeln
war. So geschah es, daß dieser seltsame Hanswurst im Innersten
vielleicht befriedigter war als alle anderen.

                   *       *       *       *       *

Man trennte sich erst spät. Als Paul in sein kühles Schlafzimmer trat,
sah er durchs offene Fenster den beruhigten Himmel mit stillstehenden,
milchweißen Flaumwölkchen bedeckt; durch ihre dünnen Flöre drang das
Mondlicht weich und stark und spiegelte sich tausendmal in den nassen
Blättern der Parkbäume. Fern über den Hügeln, nicht weit vom dunkeln
Horizont, leuchtete schmal und langgestreckt wie eine Insel ein Stück
reinen Himmels feucht und milde, darin ein einziger blasser Stern.

Der Knabe blickte lange hinaus und sah es nicht, sah nur ein bleiches
Wogen und fühlte reine, frisch gekühlte Lüfte um sich her, hörte
niegehörte, tiefe Stimmen wie entfernte Stürme brausen und atmete die
weiche Luft einer anderen Welt. Vorgebeugt stand er am Fenster und
schaute, ohne etwas zu sehen, wie ein Geblendeter, und vor ihm ungewiß
und mächtig ausgebreitet lag das Land des Lebens und der Leidenschaften,
von heißen Stürmen durchzittert und von dunkelschwülem Gewölk
verschattet.

Die Tante war die letzte, die zu Bette ging. Wachsam hatte sie noch
Türen und Läden revidiert, nach den Lichtern gesehen und einen Blick in
die dunkle Küche getan, dann war sie in ihre Stube gegangen und hatte
sich beim Kerzenlicht in den altmodischen Sessel gesetzt. Sie wußte ja
nun, wie es um den Kleinen stand, und sie war im Innersten froh, daß
morgen die Gäste wieder reisen wollten. Wenn nur auch alles gut ablief!
Es war doch eigen, so ein Kind von heut auf morgen zu verlieren. Denn
daß Pauls Seele ihr nun entgleiten und mehr und mehr undurchsichtig
werden müsse, wußte sie wohl, und sie sah ihn mit Sorge seine ersten,
knabenhaften Schritte in den Garten der Liebe tun, von dessen Früchten
sie selber zu ihrer Zeit nur wenig und fast nur die bitteren gekostet
hatte. Dann dachte sie an Berta, seufzte und lächelte ein wenig und
suchte dann lange in ihren Schubladen nach einem tröstenden
Abschiedsgeschenk für die Kleine. Dabei erschrak sie plötzlich, als sie
sah, wie spät es schon war.

Über dem schlafenden Haus und dem dämmernden Garten standen ruhig die
milchweißen, flaumig dünnen Wolken, die Himmelsinsel am Horizont wuchs
langsam zu einem weiten, reinen, dunkelklaren Felde, zart von
schwachglänzenden Sternen durchglüht, und über die entferntesten Hügel
lief eine milde, schmale Silberlinie, sie vom Himmel trennend. Im Garten
atmeten die erfrischten Bäume tief und rastend und auf der Parkwiese
wechselte mit dünnen, wesenlosen Wolkenschatten der schwarze
Schattenkreis der Blutbuche.

                   *       *       *       *       *

Die sanfte, noch von Feuchtigkeit gesättigte Luft dampfte leise gegen
den völlig klaren Himmel. Kleine Wasserlachen standen auf dem Kiesplatz
und auf der Landstraße, blitzten goldig oder spiegelten die zarte Bläue.
Knirschend fuhr der Wagen vor und man stieg ein. Der Kandidat machte
mehrere tiefe Bücklinge, die Tante nickte liebevoll und drückte noch
einmal allen die Hände, die Hausmädchen sahen vom Hintergrunde der Flur
der Abfahrt zu.

Paul saß im Wagen Thusnelde gegenüber und spielte den Fröhlichen. Er
lobte das gute Wetter, sprach rühmend von köstlichen Ferientouren in die
Berge, die er vorhabe, und sog jedes Wort und jedes Lachen des Mädchens
gierig ein. Am frühen Morgen war er mit sehr schlechtem Gewissen in den
Garten geschlichen und hatte in dem peinlich geschonten Lieblingsbeet
seines Vaters die prächtigste halboffene Teerose abgeschnitten. Die trug
er nun, zwischen Seidenpapier gelegt, versteckt in der Brusttasche und
war beständig in Sorge, er könnte sie zerdrücken. Eben so bang war ihm
vor der Möglichkeit einer Entdeckung durch den Vater.

Die kleine Berta war ganz still und hielt den blühenden Jasminzweig vors
Gesicht, den ihr die Tante mitgegeben hatte. Sie war im Grunde fast
froh, nun fortzukommen.

»Soll ich Ihnen einmal eine Karte schicken?« fragte Thusnelde munter.

»O ja, vergessen Sie es nicht! Das wäre schön.«

Und dann fügte er hinzu: »Aber Sie müssen dann auch unterschreiben,
Fräulein Berta.«

Sie schrak ein wenig zusammen und nickte.

»Also gut, hoffentlich denken wir auch daran,« sagte Thusnelde.

»Ja, ich will dich dann erinnern.«

Da war man schon am Bahnhof. Der Zug sollte erst in einer Viertelstunde
kommen. Paul empfand diese Viertelstunde wie eine unschätzbare
Gnadenfrist. Aber es ging ihm sonderbar; seit man den Wagen verlassen
hatte und vor der Station auf und ab spazierte, fiel ihm kein Witz und
kein Wort mehr ein. Er war plötzlich bedrückt und klein, sah oft auf die
Uhr und horchte, ob der kommende Zug schon zu hören sei. Erst im letzten
Augenblick zog er seine Rose hervor und drückte sie noch an der
Wagentreppe dem Fräulein in die Hand. Sie nickte ihm fröhlich zu und
stieg ein. Dann fuhr der Zug ab, und alles war aus.

Vor der Heimfahrt mit dem Papa graute ihm, und als dieser schon
eingestiegen war, zog er den Fuß wieder vom Tritt zurück und meinte:
»Ich hätte eigentlich Lust, zu Fuß heimzugehen.«

»Schlechtes Gewissen, Paulchen?«

»O nein, Papa, ich kann ja auch mitkommen.«

Aber Herr Abderegg winkte lachend ab und fuhr allein davon.

»Er soll’s nur ausfressen,« knurrte er unterwegs vor sich hin,
»umbringen wird’s ihn nicht.« Und er dachte, seit Jahren zum ersten Mal,
an sein erstes Liebesabenteuer und war verwundert, wie genau er alles
noch wußte. Nun war also schon die Reihe an seinem Kleinen! Aber es
gefiel ihm, daß der Kleine die Rose gestohlen hatte. Er hatte sie wohl
gesehen.

Zu Hause blieb er einen Augenblick vor dem Bücherschrank im Wohnzimmer
stehen. Er nahm den Werther heraus und steckte ihn in die Tasche, zog
ihn aber gleich darauf wieder heraus, blätterte ein wenig darin herum,
begann ein Lied zu pfeifen und stellte das Büchlein an seinen Ort
zurück.

Mittlerweile lief Paul auf der warmen Landstraße heimwärts und war
bemüht, sich das Bild der schönen Thusnelde immer wieder vorzustellen.
Erst als er heiß und erschlafft die Parkhecke erreicht hatte, öffnete er
die Augen und besann sich, was er nun treiben solle. Da zog ihn die
plötzlich aufblitzende Erinnerung unwiderstehlich zur Trauerweide hin.
Er suchte den Baum mit heftig wallendem Verlangen auf, schlüpfte durch
die tiefhängenden Zweige und setzte sich auf dieselbe Stelle der Bank,
wo er gestern neben Thusnelde gesessen war und wo sie ihre Hand auf
seine gelegt hatte. Er schloß die Augen, ließ die Hand auf dem Holze
liegen und fühlte noch einmal den ganzen Sturm, der gestern ihn gepackt
und berauscht und gepeinigt hatte. Flammen wogten um ihn, und Meere
rauschten, und heiße Stürme zitterten sausend auf purpurnen Flügeln
vorüber.

Paul saß noch nicht lange an seinem Platz, so klangen Schritte und
jemand trat herzu. Er blickte verwirrt auf, aus hundert Träumen
gerissen, und sah den Herrn Homburger vor sich stehen.

»Ah, Sie sind da, Paul? Schon lange?«

»Nein, ich war ja mit an der Bahn. Ich kam zu Fuß zurück.«

»Und nun sitzen Sie hier und sind melancholisch.«

»Ich bin nicht melancholisch.«

»Also nicht. Ich habe Sie zwar schon munterer gesehen.«

Paul antwortete nicht.

»Sie haben sich ja sehr um die Damen bemüht.«

»Finden Sie?«

»Besonders um die eine. Ich hätte eher gedacht, Sie würden dem jüngeren
Fräulein den Vorzug geben.«

»Dem Backfisch? Hm.«

»Ganz richtig, dem Backfisch.«

Da sah Paul, daß der Kandidat ein fatales Grinsen aufsetzte, und ohne
noch ein Wort zu sagen, kehrte er sich um und lief davon, mitten über
die Wiese.

Mittags bei Tisch ging es sehr ruhig zu.

»Wir scheinen ja alle ein wenig müde zu sein,« lächelte Herr Abderegg.
»Auch du, Paul. Und Sie, Herr Homburger? Aber es war eine angenehme
Abwechslung, nicht?«

»Gewiß, Herr Abderegg.«

»Sie haben sich mit dem Fräulein gut unterhalten? Sie soll ja riesig
belesen sein.«

»Darüber müßte Paul unterrichtet sein. Ich hatte leider nur für
Augenblicke das Vergnügen.«

»Was sagst du dazu, Paul?«

»Ich? Von wem sprecht ihr denn?«

»Von Fräulein Thusnelde, wenn du nichts dagegen hast. Du scheinst
einigermaßen zerstreut zu sein --.«

»Ach, was wird der Junge sich viel um die Damen gekümmert haben,« fiel
die Tante ein.

»Ja, da hast du recht.«

                   *       *       *       *       *

Es wurde schon wieder heiß. Der Vorplatz strahlte Hitze aus und auf der
Straße waren die letzten Regenpfützen vertrocknet. Auf ihrer sonnigen
Wiese stand die alte Blutbuche, von warmem Licht umflossen und auf einem
ihrer starken Äste saß der junge Paul Abderegg, an den Stamm gelehnt und
ganz von rötlich dunkeln Laubschatten umfangen. Das war ein alter
Lieblingsplatz des Knaben, er war dort vor jeder Überraschung sicher.
Dort auf dem Buchenast hatte er heimlicherweise im Herbst vor drei
Jahren die >Räuber< gelesen, dort hatte er seine erste halbe Zigarre
geraucht und dort hatte er damals das Spottgedicht auf seinen früheren
Hauslehrer gemacht, bei dessen Entdeckung sich die Tante so furchtbar
aufgeregt hatte. Er dachte an diese und andere Streiche mit einem
überlegenen, nachsichtigen Gefühl, als wäre das alles vor Urzeiten
gewesen. Kindereien, Kindereien!

Mit einem Seufzer richtete er sich auf, kehrte sich behutsam im Sitze
um, zog sein Taschenmesser heraus und begann am Stamm zu ritzen. Es
sollte ein Herz daraus werden, das den Buchstaben T umschloß, und er
nahm sich vor, es schön und sauber auszuschneiden, wenn er auch mehrere
Tage dazu brauchen sollte.

Noch am selben Abend ging er zum Gärtner hinüber, um sein Messer
schleifen zu lassen. Er trat selber das Rad dazu. Auf dem Rückweg setzte
er sich eine Weile in das alte Boot, plätscherte mit der Hand im Wasser
und suchte sich auf die Melodie des Liedes zu besinnen, das er gestern
von hier aus hatte singen hören. Der Himmel war halb verwölkt und es sah
aus, als werde in der Nacht schon wieder ein Gewitter kommen.



Der Lateinschüler


Mitten in dem enggebauten alten Städtlein liegt ein phantastisch großes
Haus mit vielen kleinen Fenstern und jämmerlich ausgetretenen
Vorstaffeln und Treppenstiegen, halb ehrwürdig und halb lächerlich, und
ebenso war dem jungen Karl Bauer zumute, welcher als siebzehnjähriges
Schülerlein jeden Morgen und Mittag mit seinem Büchersack hineinging. Da
hatte er seine Herzensfreude an dem schönen, klaren und tückelosen
Latein und an den altdeutschen Dichtern, und hatte seine Plage mit dem
schwierigen Griechisch und mit der Algebra, die ihm im dritten Jahr so
wenig lieb war wie im ersten, und wieder seine Freude an ein paar
graubärtigen alten Lehrern und seine Not mit ein paar jungen; denn die
jungen wollten immer ihren Schülern durchaus den eigentlichen tieferen
Sinn der Dinge beibringen, und die Knaben hatten doch mit dem
Auswendiglernen schon Pein und Mühe genug.

Nicht weit vom Schulhaus, schon in der übernächsten Gasse, stand ein
uralter Kaufladen, da ging es über dunkelfeuchte Stufen durch die immer
offene Türe unablässig aus und ein mit Leuten, und im pechfinsteren
Hausgang roch es nach Sprit, Petroleum und Käse. Karl fand sich aber gut
im Dunkeln durch, denn hoch oben im selben Haus hatte er seine Kammer,
dort ging er zu Kost und Logis bei der Mutter des Ladenbesitzers. So
finster es unten war, so hell und frei war es droben; dort hatten sie
Sonne, soviel nur schien, und sahen über die halbe Stadt hinweg, deren
Dächer sie fast alle kannten und einzeln mit Namen nennen konnten.

Aber von den vielerlei guten Sachen, die es im Laden in großer Menge
gab, kam nur sehr weniges die steile Treppe herauf, zu Karl Bauer
wenigstens, denn der Kosttisch seiner alten Frau Kusterer war mager
bestellt und sättigte ihn niemals. Davon aber abgesehen hausten sie und
er ganz freundschaftlich zusammen, und seine Kammer besaß er wie ein
Fürst sein Schloß. Niemand störte ihn darin, er mochte treiben, was es
war, und er trieb vielerlei. Die zwei Meisen im Käfig wären noch das
wenigste gewesen, aber er hatte auch eine Art Schreinerwerkstatt
eingerichtet, und im Ofen schmolz und goß er Blei und Zinn, und sommers
hielt er Blindschleichen und Eidechsen in einer Kiste -- sie
verschwanden immer nach kurzer Zeit durch immer neue Löcher im
Drahtgitter. Außerdem hatte er auch noch seine Geige, und wenn er nicht
las oder schreinerte, so geigte er gewiß, zu allen Stunden bei Tag und
bei Nacht. Nicht daß er darum viel gekonnt hätte; im Gegenteil, er hatte
das spröde Notenwesen mit Seufzen wieder aufgegeben und fröhnte einem
ziellosen Probieren und Phantasieren, das ihm unendliche Freude machte.
Außerdem spielte er täglich seine Lieblingslieder >Am Brunnen vor dem
Tore<, >z’ Lauterbach han i mein Strumpf verlore<, >Fahr mir net über
mei Äckerle<, >Weißt du wieviel Sternlein< und eine Menge andre, auch
Choräle.

So hatte der junge Mensch jeden Tag seine Freuden und ließ sich die Zeit
niemals lang werden, zumal da es ihm nicht an Büchern fehlte, die er
entlehnte, wo er eins stehen sah. Er las eine Menge, aber freilich war
ihm nicht eins so lieb wie das andre, sondern er zog die Märchen und
Sagen sowie Trauerspiele in Versen allen andern vor.

Das alles, so schön es war, hätte ihn aber doch nicht satt gemacht.
Darum stieg er, wenn der fatale Hunger wieder zu mächtig wurde, so still
wie ein Wiesel die alten, schwarzen Stiegen hinunter bis in den
steinernen Hausgang, in welchen nur aus dem Laden her ein schwacher
Lichtstreifen fiel. Dort war es nicht selten, daß auf einer hohen leeren
Kiste ein Rest guten Käses lag, oder es stand ein halbvolles
Heringsfäßchen offen neben der Tür, und an guten Tagen oder wenn Karl
unter dem Vorwand der Hilfsbereitschaft mutig in den Laden selber trat,
kamen auch zuweilen ein paar Hände voll gedörrte Zwetschgen,
Birnenschnitze oder dergleichen in seine Tasche.

Diese Züge unternahm er jedoch nicht mit Hinterlist, Habsucht und
schlechtem Gewissen, sondern teils mit der Harmlosigkeit des Hungernden,
teils mit den edel verachtungsvollen Gefühlen eines hochherzigen
Räubers, der keine Menschenfurcht kennt und der Gefahr mit kühlem Stolz
ins Auge blickt. Auch schien es ihm ganz den Gesetzen der sittlichen
Weltordnung zu entsprechen, daß das, was die alte Mutter geizig an ihm
sparte, der überfüllten Schatzkammer ihres Sohnes entzogen würde.

Diese verschiedenartigen Gewohnheiten, Beschäftigungen und Liebhabereien
hätten, neben der allmächtigen Schule her, eigentlich genügen können, um
seine Zeit und seine Gedanken auszufüllen. Karl Bauer war aber davon
noch nicht befriedigt. Teils in Nachahmung einiger Mitschüler, teils
infolge seiner vielen schöngeistigen Lektüre, teils auch aus eignem
Herzensbedürfnis betrat er in jener Zeit zum ersten Mal das schöne
ahnungsvolle Land der Frauenliebe. Und da er doch zum voraus genau
wußte, daß sein derzeitiges Streben und Werben zu keinem realen Ziele
führen würde, war er nicht allzu bescheiden und weihte seine Verehrung
dem schönsten Mädchen der Stadt, die aus reichem Hause war und schon
durch die Pracht ihrer Kleidung alle gleichaltrigen Jungfern weit
überstrahlte. An ihrem Hause ging der Schüler täglich vorbei, und wenn
sie ihm begegnete, zog er den Hut so tief wie vor dem Rektor nicht. Das
konnte er gefahrlos wagen, da mindestens ein Dutzend von seinen
Mitschülern dem schönen Kinde dieselben Huldigungen darbrachte. Sodann
versuchte er es mit Gedichten, wobei jedoch nichts Nennenswertes
herauskam, denn außerdem daß seine Verse nicht die edelsten waren,
fehlte auch der lebendige Trieb einer wirklich echten Zuneigung, um
nicht gar Leidenschaft zu sagen.

                   *       *       *       *       *

So waren seine Umstände beschaffen, als durch einen Zufall eine ganz
neue Farbe in sein Dasein kam und neue Tore zum Leben sich ihm öffneten.

Eines Abends gegen Ende des Herbstes, da Karl von der Schale mit dünnem
Milchkaffee wieder gar nicht satt geworden war, trieb ihn der Hunger auf
die Streife. Er glitt unhörbar die Treppe hinab und revierte im
Hausgang, wo er nach kurzem Suchen mit heißem Dankgefühl einen irdenen
Teller stehen sah, auf welchem zwei Winterbirnen von köstlicher Größe
und Farbe sich an eine rotgeränderte Scheibe Holländerkäse lehnten.

Leicht hätte der Hungrige erraten können, daß diese Kollation für den
Tisch des Hausherrn bestimmt und nur für Augenblicke von der Magd
beiseite gestellt worden sei; aber im überquellenden Entzücken des
unerwarteten Anblicks lag ihm der Gedanke an eine gütige
Schicksalsfügung viel näher, und er barg die Gabe mit dankbaren Gefühlen
in seine Taschen.

Noch ehe er damit fertig und wieder verschwunden war, trat jedoch die
Dienstmagd Babett auf leisen Pantoffeln aus der Kellertüre, hatte ein
Kerzenlicht in der Hand und entdeckte entsetzt den Frevel. Der junge
Dieb hatte noch den Käse in der Hand; er blieb regungslos stehen und sah
zu Boden, während in ihm alles auseinanderging und in einen Abgrund von
weinerlich-zorniger Scham versank. So standen die beiden da, von der
Kerze beleuchtet, und das Leben hat dem kühnen Knaben seither wohl
schmerzlichere Augenblicke beschert, aber gewiß nie einen peinlicheren.

»Nein, so was!« sprach Babett endlich und sah den zerknirschten Frevler
an, als wäre er eine Moritat. Dieser hatte leider nichts zu sagen.

»Das sind Sachen!« fuhr sie fort. »Ja, weißt du denn nicht, daß das
gestohlen ist?«

»Doch, ja.«

»Herr du meines Lebens, wie kommst du denn dazu?«

»Es ist halt dagestanden, Babett, und da hab’ ich gedacht --«

»Was denn hast gedacht?«

»Weil ich halt so elend Hunger gehabt hab’ . . .«

Bei diesen Worten riß das alte Mädchen ihre Augen weit auf und starrte
den Armen mit unendlichem Verständnis, Erstaunen und Erbarmen an.

»Hunger hast? Ja, kriegst denn nichts zu futtern da droben?«

»Wenig, Babett, wenig.«

»Jetzt da soll doch! Nun, ’s ist gut, ’s ist gut. Behalt’ das nur, was
du im Sack hast, und den Käs auch, behalt’s nur, ’s ist noch mehr im
Haus. Aber jetzt tät’ ich raufgehen, sonst kommt noch jemand.«

In merkwürdiger Stimmung kehrte Karl in seine Kammer zurück, setzte sich
hin und verzehrte nachdenklich erst den Holländer und dann die Birnen.
Dann wurde ihm freier ums Herz, er atmete auf, reckte sich und stimmte
alsdann auf der Geige eine Art Dankpsalm an. Kaum war dieser beendet, so
klopfte es leise an, und wie er aufmachte, stand vor der Tür die Babett
und streckte ihm ein gewaltiges, ohne Sparsamkeit bestrichenes
Butterbrot entgegen.

So sehr ihn dieses erfreute, wollte er doch höflich ablehnen, aber sie
litt es nicht, und er gab gerne nach.

»Geigen tust du aber mächtig schön,« sagte sie bewundernd, »ich hab’s
schon öfter gehört. Und wegen dem Essen, da will ich schon sorgen. Am
Abend kann ich dir gut immer was bringen, es braucht’s niemand zu
wissen. Warum gibt sie dir’s auch nicht besser, wo doch wahrhaftig dein
Vater genug Kostgeld zahlen muß.«

Noch einmal versuchte der Bursche schüchtern dankend abzulehnen, aber
sie hörte gar nicht darauf und er fügte sich gerne. Am Ende kamen sie
dahin überein, daß Karl an Tagen der Hungersnot beim Heimkommen auf der
Stiege das Lied >Güldne Abendsonne< pfeifen sollte, dann käme sie und
brächte ihm zu essen. Wenn er etwas andres pfiffe oder gar nichts, so
wäre es nicht nötig. Zerknirscht und dankbar legte er seine Hand in ihre
breite Rechte, die mit starkem Druck das schöne Bündnis besiegelte.

Und von dieser Stunde an genoß der Gymnasiast mit Behagen und nicht ohne
eine gewisse dankbare Rührung die Teilnahme und Fürsorge eines guten
Frauengemütes, zum ersten Mal seit den heimatlichen Knabenjahren, denn
er war schon früh in Pension getan worden, da seine Eltern auf dem Lande
wohnten. An jene Heimatjahre ward er auch oft erinnert, denn die Babett
bewachte und verwöhnte ihn ganz wie eine Mutter, was sie ihren Jahren
nach auch annähernd hätte sein können. Sie war gegen vierzig und im
Grunde eine eiserne, unbeugsame, energische Natur; aber Gelegenheit
macht Diebe, und da sie so unerwartet an dem Jüngling einen dankbaren
Freund und Schützling und Futtervogel gefunden hatte, trat mehr und mehr
aus dem bisher schlummernden Grunde ihres gehärteten Gemütes ein fast
zaghafter Hang zu einiger Weichheit und selbstlosen Milde an den Tag.

Diese Regung kam dem Karl Bauer zugute und verwöhnte ihn schnell, wie
denn so junge Knaben alles Dargebotene, sei es auch die seltenste
Frucht, mit ruhiger Bereitwilligkeit und fast wie ein gutes Recht
hinnehmen. So kam es auch, daß er schon nach wenigen Tagen jene so
beschämende erste Begegnung bei der Kellertüre völlig vergessen hatte
und jeden Abend seine >Güldne Abendsonne< auf der Treppe erschallen
ließ, als wäre es nie anders gewesen.

                   *       *       *       *       *

Trotz aller Dankbarkeit wäre vielleicht Karls Erinnerung an die Babett
nicht so unverwüstlich lebendig geblieben, wenn ihre Wohltaten sich
dauernd auf das Eßbare beschränkt hätten. Jugend ist hungrig, aber sie
ist nicht weniger schwärmerisch, und ein Verhältnis zu Jünglingen läßt
sich mit Käse und Schinken, ja selbst mit Kellerobst und Wein nicht auf
die Dauer warmhalten.

Die Babett war nicht nur im Hause Kusterer hochgeachtet und
unentbehrlich, sondern genoß in der ganzen Nachbarschaft den Ruf einer
tadelfreien und doch wieder nicht zu herben Ehrbarkeit. Wo sie dabei
war, ging es auf eine anständige Weise heiter zu. Das wußten die
Nachbarinnen, und sie sahen es daher gern, wenn ihre Dienstmägde,
namentlich die jungen, mit ihr Umgang hatten. Wen sie empfahl, der fand
gute Aufnahme, und wer ihren vertrauteren Verkehr genoß, der war besser
aufgehoben als im Mägdestift oder Jungfrauenverein.

Feierabends und an den Sonntagnachmittagen war also die Babett selten
allein, sondern stets von einem Kränzlein jüngerer Mägde umgeben, denen
sie die Zeit herumbringen half und mit allerlei Rat zur Hand ging, aber
gar nicht kühl und streng, sondern mit Witz und kräftigen Sprüchen.
Dabei wurden Spiele gespielt, Lieder gesungen, Scherzfragen und Rätsel
aufgegeben, und wer etwa einen Bräutigam oder einen ordentlichen Bruder
besaß, durfte ihn gern mitbringen. Freilich geschah das nur sehr selten,
denn die Bräute wurden dem Kreise meistens bald untreu, und die jungen
Gesellen und Knechte hatten es mit der Babett nicht so freundschaftlich
wie die Mädchen. Denn lockere Liebesgeschichten duldete sie nicht; wenn
von ihren Schützlingen eine auf solche Wege geriet und durch ernstes
Vermahnen nicht zu bessern war, so blieb sie ausgeschlossen.

In diese muntere Jungferngesellschaft ward der Lateinschüler als
harmloser Gast aufgenommen, und vielleicht hat er dort mehr gelernt als
im Gymnasium, wenn auch nicht in den offiziellen Lehrfächern. Den Abend
seines Eintritts hat er nicht vergessen. Es war im Hinterhof, die
Mädchen saßen auf Treppenstaffeln und leeren Kisten, es war dunkel und
oben floß der viereckig abgeschnittene Abendhimmel noch in schwachem
mildblauem Licht. Die Babett saß vor der halbrunden Kellereinfahrt auf
einem Fäßchen, und Karl stand schüchtern neben ihr an den Torbalken
gelehnt, sagte nichts und schaute in der Dämmerung die ruhigen Gesichter
der Mädchen an. Zugleich dachte er ein wenig ängstlich daran, was wohl
seine Kameraden zu diesem abendlichen Verkehr sagen würden, wenn sie
davon erführen.

Ach, diese Mädchengesichter! Fast alle kannte er vom Sehen schon, aber
nun waren sie, so im Halblicht zusammengerückt, ganz verändert und sahen
ihn wie lauter Rätsel an. Er weiß auch heute noch alle Namen und alle
Gesichter, und von vielen die Geschichte dazu. Was für Geschichten!
Wieviel Schicksal, Ernst, Wucht und auch Anmut in den paar kleinen
Mägdeleben!

Es war die Anna vom Grünen Baum da, die hatte als ganz junges Ding in
ihrem ersten Dienst einmal gestohlen und war einen Monat gesessen. Nun
war sie seit Jahren treu und ehrlich und galt für ein Kleinod. Sie hatte
große braune Augen und einen herben Mund, saß schweigsam da und sah den
Jüngling mit kühler Neugierde an. Aber ihr Schatz, der ihr damals bei
der Polizeigeschichte untreu geworden war, hatte inzwischen geheiratet
und war schon wieder Witwer geworden. Er lief ihr jetzt wieder nach und
wollte sie durchaus noch haben, aber sie machte sich hart und tat, als
wollte sie nichts mehr von ihm wissen, obwohl sie ihn heimlich noch so
lieb hatte wie je.

Die Margret aus der Binderei war immer fröhlich, sang und klang und
hatte Sonne in den rotblonden Kraushaaren. Sie war beständig sauber
gekleidet und hatte immer etwas Schönes und Heiteres an sich, ein blaues
Band oder ein paar Blumen, und doch gab sie niemals Geld aus, sondern
schickte jeden Pfennig ihrem Stiefvater heim, der’s versoff und ihr
nicht danke sagte. Sie hat dann später ein schweres Leben gehabt,
ungeschickt geheiratet und sonst vielerlei Pech und Not, aber auch dann
ging sie noch leicht und hübsch einher, hielt sich rein und schmuck und
lächelte zwar seltener, aber desto schöner.

Und so fast alle, eine um die andre, wie wenig Freude und Geld und
Freundliches haben sie gehabt und wieviel Arbeit, Sorge und Ärger, und
wie haben sie sich durchgebracht und sind obenan geblieben, mit wenig
Ausnahmen lauter wackere und unverwüstliche Kämpferinnen! Und wie haben
sie in den paar freien Stunden gelacht und sich fröhlich gemacht mit
nichts, mit einem Witz und einem Lied, mit einer Handvoll Walnüsse und
einem roten Bandrestchen! Wie haben sie vor Lust gezittert, wenn eine
recht grausame Martergeschichte erzählt wurde, und wie haben sie bei
traurigen Liedern mitgesungen und geseufzt und große Tränen in den guten
Augen gehabt!

Ein paar von ihnen waren ja auch widerwärtig, krittelig und stets zum
Nörgeln und Klatschen bereit, aber die Babett fuhr ihnen, wenn es not
tat, schon übers Maul. Und auch sie trugen ja ihre Last und hatten es
nicht leicht. Die Gret vom Bischofseck namentlich war eine Unglückliche.
Sie trug schwer am Leben und schwer an ihrer großen Tugend, sogar im
Jungfrauenverein war es ihr nicht fromm und streng genug, und bei jedem
kräftigen Wort, das an sie kam, seufzte sie tief in sich hinein, biß die
Lippen zusammen und sagte leise: »Der Gerechte muß viel leiden.« Sie
litt jahraus jahrein und gedieh am Ende doch dabei, aber wenn sie ihren
Strumpf voll ersparter Taler überzählte, wurde sie gerührt und fing zu
weinen an. Zweimal konnte sie einen Meister heiraten, aber sie tat es
beide Mal nicht, denn der eine war ein Leichtfuß und der andere war
selber so gerecht und edel, daß sie bei ihm das Seufzen und
Unverstandensein hätte entbehren müssen.

Die alle saßen da in der Ecke des dunkeln Hofes, erzählten einander ihre
Begebenheiten und warteten darauf, was der Abend nun Gutes und
Fröhliches bringen würde. Ihre Reden und Gebärden wollten dem gelehrten
Jüngling anfänglich nicht die klügsten und nicht die feinsten scheinen,
aber bald wurde ihm, da seine Verlegenheit wich, freier und wohler, und
er blickte nun auf die im Dunkel beisammen kauernden Mädchen wie auf ein
ungewöhnliches, sonderbar schönes Bild.

»Ja, das wäre also der Herr Lateinschüler,« sagte die Babett und wollte
sogleich die Geschichte seines kläglichen Hungerleidens vortragen, doch
da zog er sie flehend am Ärmel, und sie schonte ihn gutmütig.

»Da müssen Sie sicher schrecklich viel lernen?« fragte die rotblonde
Margret aus der Binderei, und sie fuhr sogleich fort: »Auf was wollen
Sie denn studieren?«

»Ja, das ist noch nicht ganz bestimmt. Vielleicht Doktor.«

Das erweckte Ehrfurcht, und alle sahen ihn aufmerksam an.

»Da müssen Sie aber doch zuerst noch einen Schnurrbart kriegen,« meinte
die Lene vom Apotheker, und nun lachten sie teils leise kichernd, teils
kreischend auf und kamen mit hundert Neckereien, deren er sich ohne
Babetts Hilfe schwerlich erwehrt hätte. Schließlich verlangten sie, er
solle ihnen eine Geschichte erzählen. Ihm wollte, so viel er auch
gelesen hatte, keine einfallen als das Märchen von dem, der auszog, das
Gruseln zu lernen; doch hatte er kaum recht angefangen, da lachten sie
und riefen: »Das wissen wir schon lang,« und die Grete vom Bischofseck
sagte geringschätzig: »Das ist bloß für Kinder.« Da hörte er auf und
schämte sich, und die Babett versprach an seiner Stelle: »Nächstes Mal
erzählt er was andres, er hat ja so viel Bücher daheim!« Das war ihm
auch recht und er beschloß, sie glänzend zufriedenzustellen.

Unterdessen hatte der Himmel den letzten blauen Schimmer verloren, und
auf seiner matten Schwärze schwamm ein Stern.

»Jetzt müsset ihr aber heim,« ermahnte die Babett, und sie standen auf,
schüttelten und rückten die Zöpfe und Schürzen zurecht, nickten einander
zu und gingen davon, die einen durchs hintere Hoftürlein, die andern
durch den Gang und die Haustüre.

Auch Karl Bauer sagte Gutenacht und stieg in seine hohe Kammer hinauf,
befriedigt und auch nicht, mit unklarem Gefühl. Denn so tief er in
Jugendhochmut und Lateinschülertorheiten steckte, so hatte er doch
gemerkt, daß unter diesen seinen neuen Bekannten ein andres Leben gelebt
ward als das seinige und daß fast alle diese Mädchen, mit fester Kette
ans rührige Alltagsleben gebunden, Kräfte in sich trugen und Dinge
wußten, die für ihn so fremd wie ein Märchen waren. Nicht ohne einen
kleinen Forscherdünkel gedachte er möglichst tief in die interessante
Poesie dieses naiven Lebens, in die Welt des Urvolkstümlichen, der
Moritaten und Soldatenlieder hineinzublicken. Aber doch fühlte er diese
Welt der seinigen in gewissen Dingen unheimlich überlegen und fürchtete
heimlich allerlei Tyrannei und Überwältigung von ihr.

Einstweilen ließ sich jedoch keine derartige Gefahr blicken, auch wurden
die abendlichen Zusammenkünfte der Mägde immer kürzer, denn es ging
schon stark in den Winter hinein, und man machte sich, wenn es auch noch
mild war, jeden Tag auf den ersten Schnee gefaßt. Immerhin fand Karl
noch Gelegenheit, seine Geschichte loszuwerden. Es war die vom
Zundelheiner und Zundelfrieder, die er im Schatzkästlein gelesen hatte,
und sie fand keinen geringen Beifall. Die Moral am Schlusse ließ er weg,
aber die Babett fügte eine solche aus eignem Bedürfnis und Vermögen
hinzu. Die Mädchen, mit Ausnahme der Gret, lobten den Erzähler über
Verdienst, wiederholten abwechselnd die Hauptszenen und baten sehr, er
möge nächstens wieder so etwas zum besten geben. Er versprach es auch,
aber schon am andern Tag wurde es so kalt, daß an kein Herumstehen im
Freien mehr zu denken war, und dann kamen, je näher die Weihnacht
rückte, andre Gedanken und Freuden über ihn.

Er schnitzelte alle Abend an einem Tabakskasten für seinen Papa und dann
an einem lateinischen Vers dazu. Der Vers wollte jedoch niemals jenen
klassischen Adel bekommen, ohne welchen ein lateinisches Distichon gar
nicht auf seinen Füßen stehen kann, und so schrieb er schließlich nur
>Wohl bekomm’s!< in großen Schnörkelbuchstaben auf den Deckel, zog die
Linien mit dem Schnitzmesser nach und polierte den Kasten mit Bimsstein
und Wachs. Alsdann reiste er wohlgemut in die Ferien.

                   *       *       *       *       *

Der Januar war kalt und klar, und Karl ging, so oft er eine freie Stunde
hatte, auf den Eisplatz zum Schlittschuhlaufen. Dabei ging ihm eines
Tages sein bißchen eingebildeter Liebe zu jenem schönen Bürgermädchen
verloren. Seine Kameraden umwarben sie mit hundert kleinen
Kavalierdiensten, und er konnte wohl sehen, daß sie einen wie den andern
mit derselben kühlen, ein wenig neckischen Höflichkeit und Koketterie
behandelte. Da wagte er es einmal und forderte sie zum Fahren auf, ohne
allzusehr zu erröten und zu stottern, aber immerhin mit einigem
Herzklopfen. Sie legte eine kleine, in weiches, feines Leder gekleidete
Linke in seine frostrote Rechte, fuhr mit ihm dahin und verhehlte kaum
ihre Belustigung über seine hilflosen Anläufe zu einer galanten
Konversation. Schließlich machte sie sich mit leichtem Dank und
Kopfnicken los, und gleich darauf hörte er sie mit ihren Freundinnen,
von denen manche listig nach ihm herüberschielten, so herzlich hell und
boshaft lachen, wie es nur hübsche und verwöhnte kleine Mädchen können.

Das war ihm zu viel, er tat von da an diese ohnehin nicht echte
Schwärmerei entrüstet von sich ab und machte sich ein Vergnügen daraus,
künftighin den Fratz, wie er sie jetzt nannte, weder auf dem Eisplatz
noch auf der Straße mehr zu grüßen.

Seine Freude darüber, dieser unwürdigen Fesseln einer faden Galanterie
wieder ledig zu sein, suchte er dadurch zum Ausdruck zu bringen und
womöglich zu erhöhen, daß er häufig in den Abendstunden mit einigen
verwegenen Kameraden auf Abenteuer auszog. Sie hänselten die
Polizeidiener, klopften an erleuchtete Parterrefenster, zogen an
Glockensträngen und klemmten elektrische Drücker mit Zündholzspänen
fest, brachten angekettete Hofhunde zur Raserei und erschreckten Mädchen
und Frauen in entlegenen Vorstadtgassen durch Pfiffe, Knallerbsen und
Kleinfeuerwerk.

Karl Bauer fühlte sich bei diesen Unternehmungen im winterlichen
Abenddunkel eine Zeitlang überaus wohl; ein fröhlicher Übermut und
zugleich ein fast ängstlich beklemmendes Erlebensfieber machte ihn dann
wild und kühn und bereitete ihm ein köstliches Herzklopfen, das er
niemand eingestand und das er doch wie einen Rausch genoß. Nachher
spielte er dann zu Hause noch lange auf der Geige oder las spannende
Bücher und kam sich dabei vor wie ein vom Beutezug heimgekehrter
Raubritter, der seinen Säbel abgewischt und an die Wand gehängt und
einen friedlich leuchtenden Kienspan entzündet hat, um sich noch ein
stilles Feierabendvergnügen zu gönnen.

Als aber bei diesen Dämmerungsfahrten allmählich alles immer wieder auf
die gleichen kleinen Streiche und Ergötzungen hinauslief und als niemals
etwas von den heimlich erwarteten richtigen Abenteuern passieren wollte,
fing das Vergnügen allmählich an ihm zu verleiden, und er zog sich von
der ausgelassenen Kameradschaft enttäuscht mehr und mehr zurück. Und
gerade an jenem Abend, da er zum letzten Mal mitmachte und nur mit
halbem Herzen noch dabei war, mußte ihm dennoch ein kleines Erlebnis
blühen.

Die Buben liefen zu viert in der Brühelgasse hin und her, spielten mit
kleinen Spazierstöckchen und sannen auf Schandtaten. Der eine hatte
einen blechernen Zwicker mit Fenstergläsern auf der Nase, und alle vier
trugen ihre Hüte und Mützen mit burschikoser Leichtfertigkeit schief auf
dem Hinterkopf. Nach einer Weile wurden sie von einem eilig
daherkommenden Dienstmädchen überholt, sie streifte rasch an ihnen
vorbei und trug einen großen Henkelkorb am Arm. Aus dem Korbe hing ein
langes Stück schwarzes Band herunter, flatterte bald lustig auf und
berührte bald mit dem schon beschmutzten Ende den Boden.

Ohne eigentlich etwas dabei zu denken, faßte Karl Bauer im Übermut nach
dem Bändel und hielt ihn fest. Während die junge Magd sorglos
weiterging, rollte das Band sich immer länger ab, und die Buben brachen
in ein frohlockendes Gelächter aus. Da drehte das Mädchen sich um, stand
wie der Blitz vor den lachenden Jünglingen, schön und jung und blond,
gab dem Bauer eine Ohrfeige, nahm das verlorene Band hastig auf und
eilte schnell davon.

Der Spott ging nun über den Gezüchtigten her, aber Karl war ganz
schweigsam geworden und nahm an der nächsten Straßenecke kurzen
Abschied.

Es war ihm sonderbar ums Herz. Das Mädchen, dessen Gesicht er nur einen
Augenblick in der halbdunkeln Gasse gesehen hatte, war ihm sehr schön
und lieb erschienen, und der Schlag von ihrer Hand, so sehr er sich
seiner schämte, hatte ihm mehr wohl als weh getan. Aber wenn er daran
dachte, daß er dem lieben Geschöpf einen dummen Bubenstreich gespielt
hatte und daß sie ihm nun zürnen und ihn für einen einfältigen Ulkmacher
ansehen müsse, dann brannte ihn Reue und Scham so heftig, als hätte er
mindestens einen Brudermord verübt.

Langsam ging er heim und pfiff auf der steilen Treppe diesmal kein Lied,
sondern stieg still und bedrückt in seine Kammer hinauf. Eine halbe
Stunde lang saß er in dem dunkeln und kalten Stüblein, die Stirn an der
Fensterscheibe. Dann langte er die Geige hervor und spielte lang und
viel, aber keine heftigen Phantasieen, sondern lauter sanfte, alte
Lieder aus seiner Kinderzeit und darunter manche, die er seit vier und
fünf Jahren nimmer gesungen oder gegeigt hatte. Er dachte an seine
Schwester und an den Garten daheim, an den Kastanienbaum und an die rote
Kapuzinerblüte an der Veranda, und an seine Mutter. Und als er dann müde
und verwirrt zu Bett gegangen war und doch nicht gleich schlafen konnte,
da geschah es dem trotzigen Abenteurer und Gassenhelden, daß er ganz
leise und sanft zu weinen begann und stille weiter weinte, bis er
eingeschlummert war.

                   *       *       *       *       *

Karl kam nun bei den bisherigen Genossen seiner abendlichen Streifzüge
in den Ruf eines Feiglings und Deserteurs, denn er nahm nie wieder an
diesen Gängen teil. Statt dessen las er den Don Carlos, die Gedichte
Emanuel Geibels und die Hallig von Biernatzki, fing ein Tagebuch an und
nahm die Hilfsbereitschaft der guten Babett nur selten mehr in Anspruch.

Diese gewann den Eindruck, es müsse etwas bei dem jungen Manne nicht in
Ordnung sein, und da sie nun einmal eine Art mütterlicher Fürsorge um
ihn übernommen hatte, erschien sie eines Tages an seiner Kammertür, um
nach dem Rechten zu sehen. Sie kam nicht mit leeren Händen, sondern
brachte ein schönes Stück Lyonerwurst mit und drang darauf, daß Karl es
sofort vor ihren Augen verzehre.

»Ach laß nur, Babett,« meinte er, »jetzt hab’ ich gerade keinen Hunger.«

Sie war jedoch der Ansicht, junge Leute müßten zu jeder Stunde essen
können, und ließ nicht nach, bis er ihren Willen erfüllt hatte. Sie
hatte einmal von der Überbürdung der Jugend an den Gymnasien gehört und
wußte nicht, wie fern ihr Schützling sich von jeder Überanstrengung im
Studieren hielt. Nun sah sie in der auffallenden Abnahme seiner Eßlust
eine beginnende Krankheit, redete ihm ernstlich ins Gewissen, erkundigte
sich nach den Einzelheiten seines Befindens und bot ihm am Ende ein
bewährtes volkstümliches Laxiermittel an. Da mußte Karl doch lachen und
erklärte ihr, daß er völlig gesund sei und daß sein geringerer Appetit
nur von einer Laune oder Verstimmung herrühre. Das begriff sie sofort.

»Pfeifen hört man dich auch fast gar nimmer,« sagte sie lebhaft, »und es
ist dir doch niemand gestorben. Sag, du wirst doch nicht gar verliebt
sein?«

Karl konnte nicht verhindern, daß er ein wenig rot wurde, doch wies er
diesen Verdacht mit Entrüstung zurück und behauptete, ihm fehle nichts
als ein wenig Zerstreuung, er habe Langeweile.

»Dann weiß ich dir gleich etwas,« rief Babett fröhlich. »Morgen hat die
kleine Lies vom unteren Eck Hochzeit. Sie war ja schon lang genug
verlobt, mit einem Arbeiter. Eine bessere Partie hätte sie schon machen
können, sollte man denken, aber der Mann ist nicht unrecht, und das Geld
allein macht auch nicht selig. Und zu der Hochzeit mußt du kommen, die
Lies kennt dich ja schon, und alle haben eine Freude, wenn du kommst und
zeigst, daß du nicht zu stolz bist. Die Anna vom Grünen Baum und die
Gret vom Bischofseck sind auch da, und ich, sonst nicht viel Leute. Wer
sollt’s auch zahlen? Es ist halt nur so eine stille Hochzeit, im Haus,
und kein großes Essen und kein Tanz und nichts dergleichen. Man kann
ohne das vergnügt sein.«

»Ich bin aber doch nicht eingeladen,« meinte Karl zweifelnd, da die
Sache ihm nicht gar so verlockend vorkam. Aber die Babett lachte nur.

»Ach was, das besorg’ ich schon, und es handelt sich ja auch bloß um
eine Stunde oder zwei am Abend. Und jetzt fällt mir noch das Allerbeste
ein! Du bringst deine Geige mit. -- Warum nicht gar! Ach, dumme
Ausreden! Du bringst sie mit, gelt ja, das gibt eine Unterhaltung, und
man dankt dir noch dafür.«

Es dauerte nicht lange, so hatte der junge Herr zugesagt.

Am andern Tage holte ihn die Babett gegen Abend ab; sie hatte ein
wohlerhaltenes Prachtkleid aus ihren jüngeren Jahren angelegt, das sie
stark beengte und erhitzte, und sie war ganz aufgeregt und rot vor
Festfreude. Doch duldete sie nicht, daß Karl sich umkleide, nur einen
frischen Kragen solle er umlegen, und die Stiefel bürstete sie trotz des
Staatskleides ihm sogleich an den Füßen ab. Dann gingen sie miteinander
in das ärmliche Vorstadthaus, wo jenes junge Ehepaar eine Stube nebst
Küche und Kammer gemietet hatte. Und Karl nahm seine Geige mit.

Sie gingen langsam und vorsichtig, denn seit gestern war Tauwetter
eingetreten, und sie wollten doch mit reinen Stiefeln draußen ankommen.
Babett trug einen ungeheuer großen und massiven Regenschirm unter den
Arm geklemmt und hielt ihren rotbraunen Rock mit beiden Händen hoch
heraufgezogen, nicht zu Karls Freude, der sich ein wenig schämte, mit
ihr gesehen zu werden.

In dem sehr bescheidenen, weißgegipsten Wohnzimmer der Neuvermählten
saßen um den tannenen, sauber gedeckten Eßtisch sieben oder acht
Menschen in ehrbarer Fröhlichkeit beieinander, außer dem Paare selbst
zwei Kollegen des Hochzeiters und ein paar Basen oder Freundinnen der
jungen Frau. Es hatte einen Schweinebraten mit Salat zum Festmahl
gegeben, und nun stand ein Kuchen auf dem Tisch und daneben am Boden
zwei große Bierkrüge. Als die Babett mit Karl Bauer ankam, standen alle
auf, der Hausherr machte zwei schamhafte Verbeugungen, die redegewandte
Frau übernahm die Begrüßung und Vorstellung und jeder von den Gästen gab
den Angekommenen die Hand.

»Nehmet vom Kuchen,« sagte die Wirtin. Und der Mann stellte schweigend
zwei neue Gläser hin und schenkte Bier hinein.

Karl hatte, da noch keine Lampe angezündet war, bei der Begrüßung
niemand als die Gret vom Bischofseck erkannt. Auf einen Wink Babetts
drückte er ein in Papier gewickeltes Geldstück, das sie ihm zu diesem
Zwecke vorher übergeben hatte, der Hausfrau in die Hand und sagte einen
Glückwunsch dazu. Dann wurde ihm ein Stuhl hingeschoben, und er kam vor
sein Bierglas zu sitzen.

In diesem Augenblick sah er mit plötzlichem Erschrecken neben sich das
Gesicht jener jungen Magd, die ihm neulich in der Brühelgasse die
Ohrfeige versetzt hatte. Sie schien ihn jedoch nicht zu erkennen,
wenigstens sah sie ihm gleichmütig ins Gesicht und hielt ihm, als jetzt
auf den Vorschlag des Wirtes alle miteinander anstießen, ruhig und
freundlich ihr Glas entgegen. Hierdurch ein wenig beruhigt, wagte Karl
sie offen anzusehen. Er hatte in letzter Zeit jeden Tag oft genug an
dies Gesicht gedacht, das er damals nur einen Augenblick und seither
nicht wieder gesehen hatte, und nun wunderte er sich, wie anders sie
aussah. Sie war sanfter und zarter, auch etwas schlanker und leichter
als das Bild, das er von ihr herumgetragen hatte. Aber sie war nicht
weniger hübsch und noch viel liebreizender, und es wollte ihm scheinen,
sie sei kaum älter als er.

Während die andern, namentlich Babett und die Anna, sich lebhaft
unterhielten, wußte Karl nichts zu sagen und saß stille da, drehte sein
Bierglas in der Hand und ließ die Junge, Blonde nicht aus den Augen.
Wenn er daran dachte, wie oft es ihn verlangt hatte, diesen Mund zu
küssen, erschrak er beinahe, denn das schien ihm nun, je länger er sie
ansah, desto schwieriger und verwegener, ja ganz unmöglich zu sein.

Er wurde kleinlaut und blieb eine Weile schweigsam und unfroh sitzen. Da
rief ihn die Babett auf, er solle seine Geige nehmen, und etwas spielen.
Der Junge sträubte und zierte sich ein wenig, griff dann aber schnell in
den Kasten, zupfte, stimmte und spielte alsdann ein beliebtes Lied, das,
obwohl er zu hoch angestimmt hatte, die ganze Gesellschaft sogleich
mitsang.

Damit war das Eis gebrochen, und es entstand eine laute, wennschon sehr
ehrbare Fröhlichkeit um den Tisch. Eine nagelneue kleine Stehlampe ward
vorgezeigt, mit Öl gefüllt und angezündet, Lied um Lied klang in der
Stube auf, ein frischer Krug Bier wurde aufgestellt, und als Karl Bauer
einen der wenigen Tänze, die er konnte, anstimmte, waren im Augenblick
drei Paare auf dem Plan und drehten sich lachend durch den viel zu engen
Raum.

Gegen neun Uhr brachen die Gäste auf. Die Blonde hatte eine Straße lang
denselben Weg wie Karl und Babett, und auf diesem Wege wagte er es, ein
Gespräch mit dem Mädchen zu führen.

»Wo sind Sie denn hier im Dienst?« fragte er schüchtern.

»Beim Kaufmann Kolderer, in der Salzgasse am Eck.«

»So, so.«

»Ja.«

»Ja freilich. So . . .«

Dann gab es eine längere Pause. Aber er riskierte es und fing noch
einmal an.

»Sind Sie schon lange hier?«

»Ein halb Jahr.«

»Ich mein’ immer, ich hätte Sie schon einmal gesehen.«

»Ich Sie aber nicht.«

»Einmal am Abend, in der Brühelgasse, nicht?«

»Ich weiß nichts davon. Liebe Zeit, man kann ja nicht alle Leute auf der
Gasse so genau angucken.«

Glücklich atmete er auf, daß sie den Übeltäter von damals nicht in ihm
erkannt hatte; er war schon entschlossen gewesen, sie um Verzeihung zu
bitten.

Da war sie an der Ecke ihrer Straße und blieb stehen, um Abschied zu
nehmen. Sie gab der Babett die Hand und zu Karl sagte sie: »Adieu, denn,
Herr Student. Und danke auch schön.«

»Für was denn?«

»Für die Musik, für die schöne. Also Gutnacht miteinander.«

Karl streckte ihr, als sie eben umdrehen wollte, die Hand hin, und sie
legte die ihre flüchtig darein. Dann war sie fort.

Als er nachher auf dem Treppenabsatz der Babett Gutnacht sagte, fragte
sie: »Nun, ist’s schön gewesen oder nicht?«

»Schön ist’s gewesen, wunderschön, jawohl,« sagte er glücklich und war
froh, daß es so dunkel war, denn er fühlte, wie ihm das warme Blut ins
Gesicht stieg.

                   *       *       *       *       *

Die Tage nahmen zu. Es wurde allmählich wärmer und blauer, auch in den
verstecktesten Gräben und Hofwinkeln schmolz das alte graue Grundeis
weg, und an hellen Nachmittagen wehte schon Vorfrühlingsahnung in den
Lüften.

Da eröffnete auch die Babett ihren abendlichen Hofzirkel wieder und saß,
so oft es die Witterung dulden wollte, vor der Kellereinfahrt im
Gespräch mit ihren Freundinnen und Schutzbefohlenen. Karl aber hielt
sich fern und lief in der Traumwolke seiner Verliebtheit herum. Das
Vivarium in seiner Stube hatte er eingehen lassen, auch das Schnitzen
und Schreinern trieb er nicht mehr. Dafür hatte er sich ein Paar eiserne
Hanteln von unmäßiger Größe und Schwere angeschafft und turnte damit,
wenn das Geigen nimmer helfen wollte, bis zur Erschöpfung in seiner
Kammer auf und ab.

Drei- oder viermal war er der hellblonden jungen Magd wieder auf der
Gasse begegnet und hatte sie jedesmal liebenswerter und schöner
gefunden. Aber mit ihr gesprochen hatte er nicht mehr und sah auch keine
Aussicht dazu offen.

Da geschah es an einem Sonntagnachmittag, dem ersten Sonntag im März,
daß er beim Verlassen des Hauses nebenan im Höflein die Stimmen der
versammelten Mägde erlauschte und in plötzlich erregter Neugierde sich
ans angelehnte Tor stellte und durch den Spalt hinausspähte. Er sah die
Gret und die fröhliche Margret aus der Binderei dasitzen und hinter
ihnen einen lichtblonden Kopf, der sich in diesem Augenblick ein wenig
erhob. Und Karl erkannte sein Mädchen, die blonde Tine, und mußte vor
frohem Schrecken erst veratmen und sich zusammenraffen, ehe er die Tür
aufstoßen und zu der Gesellschaft treten konnte.

»Wir haben schon gemeint, der Herr sei vielleicht zu stolz geworden,«
rief die Margret lachend und streckte ihm als erste die Hand entgegen.
Die Babett drohte ihm mit dem Finger, machte ihm aber zugleich einen
Platz frei und hieß ihn sitzen. Dann fuhren die Weiber in ihren vorigen
Gesprächen fort. Karl aber verließ sobald wie möglich, scheinbar um sich
schlendernd ein wenig im Hofe umzuschauen, seinen Sitz und schritt eine
Weile hin und her, bis er neben der Tine Halt machte.

»So, sind Sie auch da?« fragte er leise.

»Jawohl, warum auch nicht? Ich habe immer geglaubt, Sie kämen einmal.
Aber Sie müssen gewiß alleweil lernen.«

»O, so schlimm ist das nicht mit dem Lernen, das läßt sich noch zwingen.
Wenn ich nur gewußt hätte, daß Sie dabei sind, dann wär’ ich sicher
immer gekommen.«

»Ach, gehen Sie doch mit so Komplimenten!«

»Es ist aber wahr, ganz gewiß. Wissen Sie, damals bei der Hochzeit ist
es so schön gewesen.«

»Ja, ganz nett.«

»Weil Sie dortgewesen sind, bloß deswegen.«

»Sagen Sie keine so Sachen, Sie machen ja nur Schund.«

»Nein, nein. Sie müssen mir nicht bös sein.«

»Warum auch bös?«

»Ich hatte schon Angst, ich sehe Sie am Ende gar nimmer.«

»So, und was dann?«

»Dann -- dann weiß ich gar nicht, was ich getan hätte. Vielleicht wär’
ich ins Wasser gesprungen.«

»O je, ’s wär’ schad um die Haut, sie hätt’ können naß werden.«

»Ja, Ihnen wär’s natürlich nur zum Lachen gewesen.«

»Das doch nicht. Aber Sie reden auch ein Zeug, daß man ganz sturm im
Kopf könnt’ werden. Geben Sie obacht, sonst auf einmal glaub’ ich’s
Ihnen.«

»Das dürfen Sie auch tun, ich mein’ es nicht anders.«

Hier wurde er von der herben Stimme der Gret übertönt. Sie erzählte
schrill und klagend eine lange Schreckensgeschichte von einer bösen
Herrschaft, die eine Magd erbärmlich behandelt und gespeist und dann,
nachdem sie krank geworden war, ohne Sang und Klang entlassen hatte. Und
kaum war sie mit dem Erzählen fertig, so fiel der Chor der andern laut
und heftig ein, bis die Babett zum Frieden mahnte. Im Eifer der Debatte
hatte Tines nächste Nachbarin dieser den Arm um die Hüfte gelegt und
Karl Bauer merkte, daß er einstweilen auf eine Fortführung des
Zwiegespräches verzichten müsse.

Er kam auch zu keiner neuen Annäherung, harrte aber wartend aus, bis
nach nahezu zwei Stunden die Margret das Zeichen zum Aufbruch gab. Es
war schon dämmerig und kühl geworden. Er sagte kurz adieu und lief eilig
davon.

Als eine Viertelstunde später die Tine sich in der Nähe ihres Hauses von
der letzten Begleiterin verabschiedet hatte und die kleine Strecke
vollends allein ging, trat plötzlich hinter einem schönen alten
Ahornbaume hervor der Lateinschüler ihr in den Weg und grüßte sie mit
schüchterner Höflichkeit. Sie erschrak ein wenig und sah ihn beinahe
zornig an.

»Was wollen Sie denn, Sie?«

Da bemerkte sie, daß der junge Kerl ganz ängstlich und bleich aussah,
und sie milderte Blick und Stimme beträchtlich.

»Also, was ist’s denn mit Ihnen?«

Er stotterte sehr und brachte wenig Deutliches heraus. Dennoch verstand
sie, was er meine, und verstand auch, daß es ihm ernst sei, und kaum sah
sie den Jungen so hilflos in ihre Hände geliefert, so tat er ihr auch
schon erbärmlich leid, natürlich ohne daß sie darum weniger Stolz und
Freude über ihren Triumph empfunden hätte.

»Machen Sie keine dummen Sachen,« redete sie ihm gütig zu. Und als sie
hörte, daß er erstickte Tränen in der Stimme hatte, fügte sie hinzu:
»Wir sprechen ein andermal miteinander, jetzt muß ich heim. Sie dürfen
auch nicht so aufgeregt sein, nicht wahr? Also aufs Wiedersehen!«

Damit enteilte sie nickend, und er ging langsam, langsam davon, während
die Dämmerung zunahm und vollends in Finsternis und Nacht überging. Er
schritt durch Straßen und über Plätze, an Häusern, Mauern, Gärten und
sanftfließenden Brunnen vorbei, ins Feld vor die Stadt hinaus und wieder
in die Stadt hinein, unter den Rathausbogen hindurch und am oberen
Marktplatz hin, aber alles war verwandelt und ein unbekanntes Fabelland
geworden. Er hatte ein Mädchen lieb, und er hatte es ihr gesagt, und sie
war gütig gegen ihn gewesen und hatte >auf Wiedersehen< zu ihm gesagt!

Lange schritt er ziellos so umher, und da es ihm kühl wurde, hatte er
die Hände in die Hosentaschen gesteckt, und als er beim Einbiegen in
seine Gasse aufschaute und den Ort erkannte und aus seinem Traum
erwachte, fing er ungeachtet der späten Abendstunde an laut und
durchdringend zu pfeifen, worauf er sich ganz vortrefflich verstand. Es
tönte widerhallend durch die nächtige Straße und verklang erst im kühlen
Hausgang der Witwe Kusterer.

                   *       *       *       *       *

Tine machte sich darüber, was aus der Sache werden solle, viel Gedanken,
jedenfalls mehr als der Verliebte, der vor Erwartungsfieber und süßer
Erregung nicht zum Nachdenken kam. Das Mädchen fand, je länger sie sich
das Geschehene vorhielt und überlegte, desto weniger Tadelnswertes an
dem hübschen und flotten Knaben; auch war es ihr ein neues und
köstliches Gefühl, einen so feinen und gebildeten, dazu unverdorbenen
Jüngling in sie verliebt zu wissen. Dennoch dachte sie keinen Augenblick
an ein Liebesverhältnis, das ihr nur Schwierigkeiten oder gar Schaden
bringen und jedenfalls zu keinem soliden und ersprießlichen Ziele führen
konnte.

Hingegen widerstrebte es ihr auch wieder, dem armen Buben durch eine
harte Antwort oder durch gar keine wehe zu tun. Am liebsten hätte sie
ihn halb schwesterlich, halb mütterlich in Güte und Scherz
zurechtgewiesen. Denn obwohl sie keine zwei Jahre älter war als Karl
Bauer und obwohl sie seine Manieren hochschätzte und vor der
Gelehrsamkeit, die sie unnötigerweise bei ihm vermutete, Respekt hatte,
schien er ihr doch gar unerwachsen und bübchenmäßig. Mädchen sind
ohnehin in diesen Jahren häufig schon fertiger und ihres Wesens sicherer
als Knaben, und eine Dienstmagd vollends, die ihr eigen Brot verdient
und ihre feste Stellung und Pflicht im Leben hat, ist in Dingen der
Lebensklugheit ohne Zweifel jedem Schüler oder Studentlein weit
überlegen, zumal wenn dieser verliebt ist und sich willenlos ihrem
Gutdünken überläßt.

Die Gedanken und Entschlüsse der bedrängten Magd schwankten zwei Tage
lang hin und wider. So oft sie zu dem Schluß gekommen war, eine strenge
und deutliche Abweisung sei doch das richtige, so oft wehrte sich ihr
Herz, das in den Jungen zwar keineswegs verliebt, aber ihm doch in
mitleidig-gütigem Wohlwollen zugetan war.

Und schließlich machte sie es, wie es die meisten Leute in derartigen
Lagen machen; sie wog ihre Entschlüsse so lang gegeneinander ab, bis sie
gleichsam abgenutzt waren und zusammen wieder dasselbe zweifelnde
Schwanken darstellten wie in der ersten Stunde. Und als es Zeit zu
handeln war, tat und sagte sie kein Wort von dem zuvor Bedachten und
Beschlossenen, sondern überließ sich völlig dem Augenblick, gerade wie
Karl Bauer auch.

Diesem begegnete sie am dritten Abend, als sie ziemlich spät noch auf
einen Ausgang geschickt wurde, in der Nähe ihres Hauses. Er grüßte
bescheiden und sah ziemlich kleinlaut und kläglich aus, denn das Warten
hatte ihn doch mitgenommen. Nun standen die zwei jungen Leute
voreinander und wußten nicht recht, was sie einander zu sagen hätten.
Die Tine fürchtete, man möchte sie sehen, und trat schnell in eine
offenstehende, dunkle Toreinfahrt, wohin Karl ihr ängstlich folgte.
Nebenzu scharrten Rosse in einem Stall, und in irgendeinem benachbarten
Hof oder Garten probierte ein unerfahrener Dilettant seine
Anfängergriffe auf einer Blechflöte.

»Was der aber zusammenbläst!« sagte Tine leise und lachte gezwungen.

»Tine!«

»Ja, was denn?«

»Ach Tine -- --«

Der scheue Junge wußte nicht, was für ein Spruch seiner warte, aber es
wollte ihm scheinen, die Blonde zürne ihm nicht unversöhnlich.

»Du bist so lieb,« sagte er ganz leise und erschrak sofort darüber, daß
er sie ungefragt geduzt hätte.

Sie zögerte eine Weile mit der Antwort. Da griff er, dem der Kopf ganz
leer und wirbelig war, nach ihrer Hand, und er tat es so kindermäßig
schüchtern und hielt die Hand so ängstlich lose und bittend, daß es ihr
unmöglich wurde, ihm den verdienten Tadel zu erteilen. Vielmehr lächelte
sie beinahe gerührt und fuhr dem armen Liebhaber mit ihrer freien Linken
sachte übers Haar.

»Bist du mir auch nicht bös?« fragte er, selig bestürzt.

»Nein, du Bub, du kleiner,« lachte die Tine nun freundlich. »Aber fort
muß ich jetzt, man wartet daheim auf mich. Ich muß ja noch Wurst holen.«

»Darf ich nicht mit?«

»Nein, was denkst du auch! Geh voraus und heim, nicht daß uns jemand
beieinander sieht.«

»Also gut Nacht, Tine.«

»Ja, geh jetzt nur! Gut Nacht.«

Er hatte noch mehreres fragen und erbitten wollen, aber er dachte jetzt
nimmer daran und ging glücklich fort, mit leichten, ruhigen Schritten,
als sei die gepflasterte Stadtstraße ein weicher Rasenboden, und mit
blinden, einwärts gekehrten Augen, als komme er aus einem blendend
lichten Lande. Er hatte ja kaum mit ihr gesprochen, aber er hatte >du<
zu ihr gesagt und sie zu ihm, er hatte ihre Hand gehalten, und sie war
ihm mit der ihren übers Haar gefahren. Das schien ihm mehr als genug und
auch noch nach vielen Jahren und vielen Stürmen fühlte er, so oft er an
diesen Abend im Märzen dachte, ein lindes, warmes Glücklichsein und eine
dankbare Güte seine Seele wie ein Lichtschein erfüllen.

Die Tine freilich, als sie nachträglich das Begebnis überdachte, konnte
durchaus nimmer begreifen, wie das zugegangen war. Doch fühlte sie wohl,
daß Karl an diesem Abend ein großes Glück erlebt habe und ihr dafür mehr
als dankbar sei, auch vergaß sie seine kindliche Verschämtheit und
schüchterne Zärtlichkeit nicht und konnte schließlich in dem
Geschehenen, das ja doch nimmer zu bessern war, kein so großes Unheil
finden. Immerhin wußte sich das kluge und brave Mädchen von jetzt an für
den Schwärmer verantwortlich und nahm sich vor, ihn so sanft und sicher
wie möglich an dem angesponnenen Faden zum Rechten zu führen. Denn daß
eines Menschen erste Verliebtheit, sie möge noch so heilig und köstlich
sein, doch nur ein Behelf und ein Umweg sei, das hatte sie, es war noch
nicht so lange her, selber mit Schmerzen am eignen Leben erfahren. Nun
hoffte sie, dem Kleinen ohne allzu vieles unnötige Wehetun über die
Sache hinüber zu helfen.

Das nächste Wiedersehen geschah erst am Sonntag bei der Babett. Dort
begrüßte Tine den Gymnasiasten freundlich, nickte ihm von ihrem Platze
aus ein- oder zweimal lächelnd zu, zog ihn mehrmals mit ins Gespräch und
schien im übrigen nicht anders mit ihm zu stehen als früher. Für ihn
aber war jedes Lächeln von ihr ein unschätzbares Geschenk und jeder
Blick eine Flamme, die ihn mit Glanz und Glut umhüllte.

Einige Tage später aber kam Tine endlich dazu, deutlich mit dem Jungen
zu reden. Es war nachmittags nach der Schule, und Karl hatte wieder in
der Gegend um ihr Haus herum gelauert, was ihr nicht gefiel. Sie nahm
ihn durch den kleinen Garten in einen Holzspeicher hinter dem Hause mit,
wo es nach Sägspänen und trockenem Buchenholz roch. Dort nahm sie ihn
vor, untersagte ihm vor allem sein Verfolgen und Auflauern und machte
ihm klar, was sich für einen jungen Liebhaber von seiner Art gebühre.

»Du siehst mich jedesmal bei der Babett, und von dort kannst du mich ja
allemal begleiten, wenn du magst, aber nur bis dahin, wo die andern
mitgehen, nicht den ganzen Weg. Allein mit mir gehen darfst du nicht,
und wenn du vor den andern nicht Obacht gibst und dich zusammennimmst,
dann geht alles schlecht. Die Leute haben ihre Augen überall, und wo
sie’s rauchen sehen, schreien sie gleich Feurio.«

»Ja, wenn ich doch aber dein Schatz bin,« erinnerte Karl etwas
weinerlich. Sie lachte.

»Mein Schatz! Was heißt jetzt das wieder! Sag das einmal der Babett oder
deinem Vater daheim, oder deinem Lehrer! Ich hab’ dich ja ganz gern und
will nicht unrecht mit dir sein, aber eh’ du mein Schatz sein könntest,
da müßtest du vorher dein eigner Herr sein und dein eignes Brot essen,
und bis dahin ist’s doch noch recht lang. Einstweilen bist du einfach
ein verliebter Schulbub, und wenn ich’s nicht gut mit dir meinte, würd’
ich gar nimmer mit dir drüber reden. Deswegen brauchst du aber nicht den
Kopf zu hängen, das bessert nichts.«

»Was soll ich dann tun? Hast du mich nicht gern?«

»O Kleiner! Davon ist doch nicht die Rede. Nur vernünftig sein sollst du
und nicht Sachen verlangen, die man in deinem Alter noch nicht haben
kann. Wir wollen gute Freunde sein und einmal abwarten, mit der Zeit
kommt schon alles, wie es soll.«

»Meinst du? Ja, du mußt’s wissen. Aber du, etwas hab’ ich doch sagen
wollen --«

»Und was?«

»Ja, sieh -- nämlich -- --«

»Red’ doch!«

»-- ob du mir nicht auch einmal einen Kuß geben willst.«

Sie betrachtete sein rotgewordenes, unsicher fragendes Gesicht und
seinen knabenhaften, hübschen Mund, und einen Augenblick schien es ihr
nahezu erlaubt, ihm den Willen zu tun. Dann schalt sie sich aber
sogleich und schüttelte streng den blonden Kopf.

»Einen Kuß? Für was denn?«

»Nur so. Du mußt nicht bös sein.«

»Ich bin nicht bös. Aber du mußt auch nicht keck werden. Später einmal
reden wir wieder davon. Kaum kennst du mich und willst gleich küssen!
Mit so Sachen soll man kein Spiel treiben. Also sei jetzt brav, am
Sonntag seh’ ich dich wieder, und dann könntest du auch einmal deine
Geige bringen, nicht?«

»Ja, gern.«

Sie ließ ihn gehen und sah ihm nach, wie er nachdenklich und ein wenig
unlustig davonschritt. Und sie fand, er sei doch ein ordentlicher Kerl,
dem sie nicht zu weh tun dürfe.

                   *       *       *       *       *

Wenn Tines Ermahnungen auch eine bittere Pille für Karl Bauer gewesen
waren, er folgte doch und befand sich schließlich gar nicht schlecht
dabei. Zwar hatte er vom Liebeswesen einigermaßen andre Vorstellungen
gehabt und war anfangs ziemlich enttäuscht, aber bald entdeckte er die
alte Wahrheit, daß Geben seliger als Nehmen ist und daß Lieben schöner
ist und seliger macht als Geliebtwerden. Daß er seine Liebe nicht
verbergen und sich ihrer nicht schämen mußte, sondern sie anerkannt,
wenn auch zunächst nicht belohnt sah, das gab ihm ein Gefühl der Lust
und Freiheit und hob ihn aus dem engen Kreise seiner bisherigen
unbedeutenden Existenz in die höhere Welt der großen Gefühle und Ideale.

Bei den Zusammenkünften der Mägde spielte er jetzt jedesmal ein paar
Stücklein auf der Geige vor.

»Das ist bloß für dich, Tine,« sagte er nachher, »weil ich dir sonst
nichts geben und zulieb tun kann.«

Zweimal gewährte sie ihm ein besonderes Stelldichein, einmal an einem
freien Nachmittag hinter dem Hause und einmal an einem Freitag Abend auf
einem einsamen Zimmerplatz in der Vorstadt. Beide Mal, ohne daß sie ihn
irgend zärtlicher behandelt oder ihm mehr als das Halten und Streicheln
ihrer Hand gegönnt hätte, beglückte ihn die Heimlichkeit der Verabredung
und des Zusammenseins und das Vertrauen, das sie ihm damit zeigte, und
er kehrte wie von großen Abenteuern und überschwenglichen Genüssen heim.

                   *       *       *       *       *

Der Frühling rückte näher und war plötzlich da, mit gelben Sternblümlein
auf zartgrünen Matten, mit dem tiefen Föhnblau ferner Waldgebirge, mit
feinen Schleiern jungen Laubes im Gezweige und wiederkehrenden
Zugvögeln. Die Hausfrauen stellten ihre Stockscherben mit Hyazinthen und
Geranien auf die grünbemalten Blumenbretter vor den Fenstern. Die Männer
verdauten mittags unterm Haustor in Hemdärmeln und konnten abends im
Freien Kegel schieben. Die jungen Leute kamen in Unruhe, wurden
schwärmerischer und verliebten sich.

An einem Sonntag, der mildblau und lächelnd über dem schon grünen
Flußtal aufgegangen war und nach Mittag schon ganz erstaunlich wärmte,
ging die Tine mit einer Freundin spazieren. Sie wollten eine Stunde weit
nach der Emanuelsburg laufen, einer Ruine im Wald. Als sie aber schon
gleich vor der Stadt an einem fröhlichen Wirtsgarten vorüberkamen, wo
eine Musik erschallte und auf einem runden Rasenplatz ein Schleifer
getanzt wurde, gingen sie zwar an der Versuchung vorüber, aber langsam
und zögernd, und als die Straße einen Bogen machte, und als sie bei
dieser Windung noch einmal das süß anschwellende Wogen der schon ferner
tönenden Musik vernahmen, da gingen sie noch langsamer und gingen
schließlich gar nicht mehr, sondern lehnten am Wiesengatter des
Straßenrandes und lauschten hinüber, und als sie nach einer Weile wieder
Kraft zum Gehen hatten, war doch die lustig sehnsüchtige Musik stärker
als sie und zog sie rückwärts.

»Die alte Emanuelsburg lauft uns nicht davon,« sagte die Freundin, und
damit trösteten sich beide und traten errötend und mit gesenkten Blicken
in den Garten, wo man durch ein Netzwerk von Zweigen und braunen,
harzigen Kastanienknospen den Himmel noch blauer lachen sah. Es war ein
herrlicher Nachmittag, und als Tine gegen Abend in die Stadt
zurückkehrte, tat sie es nicht allein, sondern wurde höflich von einem
kräftigen, hübschen Mann begleitet, um den ihre nebenher laufende
Freundin sie mit Recht nicht wenig beneidete.

Und diesmal war die hübsche Tine an den Rechten gekommen. Er war
Zimmermannsgesell und ein brauchbarer Mensch, der mit dem Meisterwerden
und einer etwaigen Heirat nicht mehr allzu lange zu warten brauchte. Er
sprach andeutungsweise und stockend von seiner Liebe und deutlich und
fließend von seinen Verhältnissen und Aussichten. Es zeigte sich, daß er
unbekannterweise die Tine schon einige Mal gesehen und begehrenswert
gefunden hatte und daß es ihm nicht nur um ein vorübergehendes
Liebesvergnügen zu tun war. Eine Woche lang sah sie ihn täglich und
gewann ihn täglich lieber, zugleich besprachen sie offen alles Nötige,
und dann waren sie einig und galten voreinander und vor ihren Bekannten
als Verlobte.

Auf die erste traumartige Erregung folgte bei Tine ein stilles, fast
feierliches Fröhlichsein, über welchem sie eine Weile alles vergaß, auch
den armen Schüler Karl Bauer, der in dieser ganzen Zeit vergeblich auf
sie wartete.

                   *       *       *       *       *

Als ihr der vernachlässigte Junge wieder ins Gedächtnis kam, tat er ihr
so leid, daß sie im ersten Augenblick daran dachte, ihm die Neuigkeit
noch eine Zeitlang vorzuenthalten. Dann wieder schien ihr dies doch
nicht gut und erlaubt zu sein, und je mehr sie es bedachte, desto
schwieriger kam die Sache ihr vor. Sie bangte davor, sogleich ganz offen
mit dem Ahnungslosen zu reden, und wußte doch, daß das der einzige Weg
zum Guten war; und jetzt sah sie erst ein, wie gefährlich, wenn nicht
unrecht ihr wohlgemeintes Spiel mit dem Knaben gewesen war. Jedenfalls
mußte sogleich etwas geschehen, ehe der Junge durch andre von ihrem
neuen Verhältnis erfuhr und dumme Streiche machte. Auch wollte sie
durchaus nicht, daß er schlecht von ihr denke. Sie fühlte, ohne es
deutlich zu wissen, daß sie dem Jüngling einen Vorgeschmack und eine
Ahnung der Liebe gegeben hatte und daß die Erkenntnis des Betrogenseins
ihn schädigen und ihm das Erlebte vergiften würde. Sie hatte nie
gedacht, daß diese harmlose Knabengeschichte ihr so zu schaffen machen
könnte.

Am Ende ging sie in ihrer Ratlosigkeit zur Babett, welche freilich in
Liebesangelegenheiten nicht die berufenste Richterin sein mochte. Aber
sie wußte, daß die Babett ihren Lateinschüler ehrlich lieb hatte und
sich um sein Ergehen sorgte, und so wollte sie lieber einen Tadel von
ihr ertragen als den jungen Verliebten unbehütet alleingelassen wissen.

Der Tadel blieb allerdings nicht aus. Die Babett, nachdem sie die ganze
Erzählung des Mädchens aufmerksam und schweigend angehört hatte,
stampfte zornig auf den Boden und fuhr die reumütige Bekennerin mit
rechtschaffener Entrüstung an.

»Mach keine schönen Worte!« rief sie ihr heftig zu. »Du hast ihn einfach
an der Nase herumgeführt und deinen gottlosen Spaß mit ihm gehabt, mit
dem Bauer, und nichts weiter.«

»Das Schimpfen hilft nicht viel, Babett. Weißt du, wenn mir’s bloß ums
Amüsieren gewesen wär’, dann wär’ ich jetzt nicht zu dir gelaufen und
hätte dir’s eingestanden. Es ist mir nicht so leicht gewesen.«

»So? Und jetzt, was stellst du dir vor? Wer soll jetzt die Suppe
ausfressen, he? Ich vielleicht? Und es bleibt ja doch alles an dem Bub
hangen, an dem armen.«

»Ja, der tut mir leid genug. Aber hör mir zu. Ich meine, ich rede jetzt
mit ihm und sag’ ihm alles selber, ich will mich nicht schonen. Nur hab’
ich wollen, daß du davon weißt, damit du nachher kannst ein Aug’ auf ihn
haben, falls es ihn zu arg plagt. -- Wenn du also willst --?«

»Kann ich denn anders? Kind, dummes, vielleicht lernst du was dabei. Die
Eitelkeit und das Herrgottspielenwollen betreffend, meine ich. Es könnte
nicht schaden.«

Diese Unterredung hatte das Ergebnis, daß die alte Magd noch am selben
Tag eine Zusammenkunft der beiden im Hofe veranstaltete, ohne daß Karl
ihre Mitwisserschaft erriet. Es ging gegen den Abend, und das Stückchen
Himmel über dem kleinen Hofraum glühte mit schwachem Goldfeuer. In der
Torecke aber war es dunkel, und niemand konnte die zwei jungen Leute
dort sehen.

»Ja, ich muß dir was sagen, Karl,« fing das Mädchen an. »Heut müssen wir
einander adieu sagen. Es hat halt alles einmal sein Ende.«

»Aber was denn -- -- warum --?«

»Weil ich jetzt einen Bräutigam hab’ --«

»Einen -- -- --«

»Sei ruhig, gelt, und hör mich zuerst. Siehst, du hast mich ja gern
gehabt, und ich hab’ dich nicht wollen so ohne Hüst und ohne Hott
fortschicken, wie man’s auch oft macht. Ich hab’ dir ja auch gleich
gesagt, weißt du, daß du dich deswegen nicht als meinen Schatz ansehen
darfst, nicht wahr?«

Karl schwieg.

»Nicht wahr?«

»Ja, also.«

»Und jetzt müssen wir ein Ende machen, und du mußt es auch nicht schwer
nehmen, es lauft auf der Gasse voll mit Mädchen, und ich bin nicht die
einzige und auch nicht die rechte für dich, wo du doch studierst und
später ein Herr wirst und vielleicht ein Doktor.«

»Nein du, Tine, sag das nicht!«

»Es ist halt doch so und nicht anders. Und das will ich dir auch noch
sagen, daß das niemals das Richtige ist, wenn man sich zum ersten Mal
verliebt. So jung weiß man ja noch gar nicht, was man will. Es wird nie
etwas draus, und später sieht man dann alles anders an und sieht ein,
daß es nicht das Rechte war.«

Karl wollte etwas antworten, er hatte viel dagegen zu sagen, aber vor
Leid und innerem Schluchzen brachte er kein Wort heraus. Doch kämpfte er
tapfer mit den Tränen und hielt sich männlich aufrecht.

»Hast du was sagen wollen?« fragte die Tine.

»O du, du weißt ja gar nicht -- --«

»Was, Karl?«

»Ach, nichts. O Tine, was soll ich denn anfangen?«

»Nichts anfangen, bloß ruhig bleiben. Das dauert nicht lang, und nachher
bist du froh, daß es so gekommen ist.«

»Du redest, ja, du redest --«

»Ich red’ nur, was in der Ordnung ist, und du wirst sehen, daß ich ganz
recht hab’, wenn du auch jetzt nicht dran glauben willst. Es tut mir ja
leid, du, es tut mir wirklich so leid.«

»Tut’s dir? -- Tine, ich will ja nichts sagen, du sollst ja ganz recht
haben -- -- aber daß das alles so auf einmal aufhören soll, alles --«

Er kam nicht weiter, und sie legte ihm die Hand auf die zuckende
Schulter und wartete still, bis sein Weinen nachließ.

»Hör mich,« sagte sie dann entschlossen. »Du mußt mir jetzt versprechen,
daß du brav und gescheit sein willst.«

»Ich will nicht gescheit sein! Tot möcht’ ich sein, lieber tot, als so
-- --«

»Du, Karl, tu nicht so wüst! Schau, du hast früher einmal einen Kuß von
mir haben wollen -- weißt noch?«

»Ich weiß.«

»Also. Jetzt, wenn du brav sein willst -- sieh, ich mag doch nicht, daß
du nachher übel von mir denkst; ich möcht’ so gern im Guten von dir
Abschied nehmen. Wenn du brav sein willst, dann will ich dir den Kuß
heut geben. Willst du?«

Er nickte nur und sah sie aus verweinten Augen ratlos an. Und sie trat
dicht zu ihm hin und gab ihm den Kuß, und der war still und ohne Gier,
rein gegeben und genommen. Zugleich nahm sie seine Hand und drückte sie
leise, dann ging sie schnell durchs Tor in den Hausgang und davon.

Karl Bauer hörte ihre Schritte im Gang schallen und verklingen; er
hörte, wie sie das Haus verließ und über die Vortreppe auf die Straße
ging. Er hörte es, aber er dachte an andre Dinge.

Er dachte an eine winterliche Abendstunde, in der ihm auf der Gasse eine
junge blonde Magd eine Ohrfeige gegeben hatte, und dachte an einen
Vorfrühlingsabend, da im Schatten einer Hofeinfahrt ihm eine Mädchenhand
das Haar gestreichelt hatte, und die Welt war verzaubert und die Straßen
der Stadt waren fremde, selig schöne Räume gewesen. Melodien fielen ihm
ein, die er früher gegeigt hatte, und jener Hochzeitsabend in der
Vorstadt mit Bier und Kuchen. Bier und Kuchen, kam es ihm vor, war
eigentlich eine lächerliche Zusammenstellung, aber er konnte nicht
weiter daran denken, denn er hatte ja seinen Schatz verloren und war
betrogen und verlassen worden. Freilich, sie hatte ihm einen Kuß gegeben
-- einen Kuß . . . O Tine!

Müde setzte er sich auf eine von den vielen leeren Kisten, die im Hof
herumstanden. Das kleine Himmelsviereck über ihm wurde rot und wurde
silbern, dann erlosch es und blieb lange Zeit tot und dunkel, und nach
Stunden, da es mondhell wurde, saß Karl Bauer noch immer auf seiner
Kiste, und sein verkürzter Schatten lag schwarz und mißgestaltet vor ihm
auf dem unebenen Steinpflaster.

                   *       *       *       *       *

Es waren nur flüchtige und vereinzelte Blicke eines Zaungastes gewesen,
die der junge Bauer ins Land der Liebe getan hatte, aber sie waren
hinreichend gewesen, ihm das Leben ohne den Trost und Glanz der
Frauenliebe traurig und wertlos erscheinen zu lassen. So lebte er jetzt
leere, schwermütige Tage und verhielt sich gegen die Ereignisse und
Pflichten des alltäglichen Lebens teilnahmslos wie einer, der nicht mehr
dazu gehört. Sein Griechischlehrer verschwendete nutzlose Ermahnungen zu
Selbstzucht und fleißigerer Arbeit an den unaufmerksamen Träumer; auch
die guten Bissen der getreuen Babett schlugen ihm nicht an und ihr
wohlgemeinter Zuspruch glitt ohne Wirkung an ihm ab.

Es war eine sehr scharfe, außerordentliche Vermahnung vom Rektor und
eine schmähliche Arreststrafe nötig, um den Entgleisten wieder auf die
ebene Bahn der Arbeit und Vernunft zu zwingen. Er sah ein, daß es
töricht und ärgerlich wäre, gerade vor dem letzten Schuljahr noch sitzen
zu bleiben, und begann in die immer länger werdenden Frühsommerabende
hinein zu studieren, daß ihm der Kopf rauchte.

Das war der Anfang zur Genesung, obwohl Karl selber nicht daran glaubte.
Die vielen Stunden trostlos traurigen Brütens hatten ihn elend gemacht,
so daß jetzt die unerläßliche strenge Arbeit ihm wohltat, schon weil sie
seine Gedanken nicht um den ewig gleichen Jammer weiter kreisen ließ.

Freilich zuweilen geschah es trotzdem noch, daß abends im Bett oder auch
auf einsamen Spaziergängen die halbbetäubte Verzweiflung wieder
erwachte, daß er Tines Namen hundertmal aussprach und sich heiß und müde
weinte. Manchmal suchte er auch die Salzgasse auf, in der Tine gewohnt
hatte, und begriff nicht, warum er ihr kein einziges Mal mehr begegnete.
Das hatte jedoch seinen guten Grund. Das Mädchen war schon bald nach
ihrem letzten Gespräch mit Karl abgereist, um in der Heimat ihre
Aussteuer fertig zu machen. Er glaubte, sie sei noch da und weiche ihm
aus, und nach ihr fragen mochte er niemand, auch die Babett nicht. Nach
solchen Fehlgängen kam er, je nachdem, ingrimmig oder traurig heim,
stürmte wild auf der Geige oder starrte lang durchs kleine Fenster auf
die vielen Dächer hinaus.

Immerhin ging es vorwärts mit ihm, und daran hatte auch die Babett ihren
Teil. Wenn sie merkte, daß er einen übeln Tag hatte, dann kam sie nicht
selten am Abend heraufgestiegen und klopfte an seine Türe. Und dann saß
sie, obwohl sie ihn nicht wissen lassen wollte, daß sie den Grund seines
Leides kenne, lange bei ihm und brachte ihm Trost. Sie redete nicht von
der Tine und nichts von Liebessachen, aber sie erzählte ihm kleine
drollige Anekdoten, brachte ihm eine halbe Flasche Most oder Wein mit,
bat ihn um ein Lied auf der Geige oder um das Vorlesen einer Geschichte.
So verging der Abend friedlich, und wenn es spät war und die Babett
wieder ging, war Karl stiller geworden und konnte ohne böse Träume
schlafen. Und das alte Mädchen bedankte sich noch jedesmal, wenn sie
adieu sagte, für den schönen Abend.

Langsam gewann der Liebeskranke seine frühere Art und seinen Frohmut
wieder, ohne zu wissen, daß die Tine sich bei der Babett öfters in
Briefen nach ihm erkundigte. Er war ein wenig männlicher und reifer
geworden, hatte das in der Schule Versäumte wieder eingebracht und
führte nun so ziemlich dasselbe Leben wie vor einem Jahre, nur die
Eidechsensammlung und das Vögelhalten fing er nicht wieder an. Aus den
Gesprächen der Oberprimaner, die im Abgangsexamen standen, drangen
verlockend klingende Worte über akademische Herrlichkeiten ihm ins Ohr,
und da er nun wußte, daß er nicht sitzen bleiben müsse, fühlte er sich
diesem Paradiese wohlig näher gerückt und begann sich nun allmählich auf
die langen Sommerferien ungeduldig zu freuen. Jetzt erst erfuhr er auch
durch die Babett, daß Tine schon lange die Stadt verlassen habe, und
wenn auch die Wunde noch zuckte und leise brannte, so war sie doch schon
geheilt und dem Vernarben nahe.

Auch wenn weiter nichts geschehen und die ganze Sache nun abgeschlossen
gewesen wäre, hätte Karl die Geschichte seiner ersten Liebe in gutem und
dankbarem Andenken behalten und gewiß nie vergessen. Es kam aber noch
ein kurzes Nachspiel dazu, das er noch weniger vergessen hat.

Acht Tage vor den Sommerferien hatte die Freude auf die Heimkehr und
Freiheit in seiner noch biegsamen Seele die nachklingende Liebestrauer
übertönt und verdrängt. Er begann schon zu packen, verbrannte alte
Schulhefte und trieb mit den Büchern, die er im legten Schuljahr nimmer
brauchte, seinen Schacher. Die Aussicht auf Waldspaziergänge, Flußbad
und Nachenfahrten, auf Heidelbeeren und Jakobiäpfel und ungebunden
fröhliche Bummeltage machte ihn so froh, wie er lange nicht mehr gewesen
war. Glücklich lief er durch die heißen Straßen, und an Tine hatte er
schon seit mehreren Tagen gar nimmer gedacht.

Um so heftiger schreckte er zusammen, als er eines Nachmittags auf dem
Heimweg von der Turnstunde in der Malzgasse unvermutet mit Tine
zusammentraf. Er blieb stehen, gab ihr verlegen die Hand und sagte
beklommen Grüßgott. Aber trotz seiner eigenen Verwirrung bemerkte er
bald, daß sie traurig und verstört aussah.

»Wie geht’s, Tine?« fragte er schüchtern und wußte nicht, ob er zu ihr
>du< oder >Sie< sagen solle.

»Nicht gut,« sagte sie einfach. »Kommst du ein Stück weit mit?«

Er kehrte um und schritt langsam neben ihr die Straße zurück, während er
daran denken mußte, wie sie sich früher dagegen gesträubt hatte, mit ihm
gesehen zu werden. Freilich, sie ist ja jetzt verlobt, dachte er, und um
nur etwas zu sagen, tat er eine Frage nach dem Befinden ihres
Bräutigams. Da zuckte Tine so jämmerlich zusammen, daß es auch ihm weh
tat.

»Weißt du also noch nichts?« sagte sie leise.

»Nein, aber was ist denn --«

»Er liegt im Spital, und man weiß nicht, ob er mit dem Leben davonkommt.
-- Was ihm fehlt? Von einem Neubau ist er abgestürzt und ist seit
gestern nicht zu sich gekommen.«

Schweigend gingen sie weiter. Karl besann sich vergebens auf irgendein
gutes Wort der Teilnahme; ihm war es wie ein beängstigender Traum, daß
er jetzt so neben ihr durch die Straßen ging und Mitleid mit ihr haben
mußte.

»Wo gehst du jetzt hin?« fragte er schließlich, da er das Schweigen
nimmer ertrug.

»Wieder zu ihm. Sie haben mich mittags fortgeschickt, weil mir’s nicht
gut war.«

Er begleitete sie bis an das große stille Krankenhaus, das heiter und
reinlich zwischen hohen Bäumen und umzäunten Anlagen stand, und ging
auch leise schaudernd mit hinein über die breite Treppe und durch die
mit Matten belegten sauberen Flure, deren mit Medizingerüchen erfüllte
Luft ihn scheu machte und bedrückte.

Dann trat Tine allein in eine numerierte Türe. Er wartete still auf dem
Gang; es war sein erster Aufenthalt in einem solchen Hause, und die
Vorstellung der vielen Schrecken und Leiden, die hinter allen diesen
lichtgrau gestrichenen Türen verborgen waren, nahm sein Gemüt mit Grauen
gefangen. Er wagte sich kaum zu rühren, bis Tine wieder herauskam.

»Es ist ein wenig besser, sagen sie, und vielleicht wacht er heut noch
auf. Also adieu, Karl, ich bleib jetzt drinnen, und danke auch schön.«

Leise ging sie wieder hinein und schloß die Türe, auf der Karl zum
hundertstenmal gedankenlos die Ziffer siebzehn las. Seltsam erregt
verließ er das unheimliche Haus. Die vorige Fröhlichkeit war ganz in ihm
erloschen, aber was er jetzt empfand, war auch nicht mehr das einstige
Liebesweh. Wohl fühlte er dieses noch, aber eingeschlossen und umhüllt
von einem viel weiteren, größeren Fühlen und Erleben. Er sah sein großes
Entsagungsleid klein und lächerlich werden neben dem greifbaren Unglück,
dessen Anblick ihn überrascht hatte. Er sah auch plötzlich ein, daß sein
kleines Schicksal nichts Besonderes und keine grausame Ausnahme sei,
sondern daß auch über denen, die er für Glückliche angesehen hatte,
unentrinnbar das Schicksal walte.

Aber er sollte noch mehr und noch Besseres und Wichtigeres lernen. In
den folgenden Tagen, da er Tine häufig im Spital aufsuchte, und dann,
als der Kranke so weit war, daß Karl ihn zuweilen sehen durfte, da
erlebte er nochmals etwas ganz Neues.

Da lernte er sehen, daß auch das unerbittliche Schicksal noch nicht das
Höchste und Endgültige ist, sondern daß schwache, angstvolle, gebeugte
Menschenseelen es überwinden und zwingen können. Noch wußte man nicht,
ob dem Verunglückten mehr als das hilflos elende Weiterleben eines
Siechen und Gelähmten zu retten sein werde. Aber über diese angstvolle
Sorge hinweg sah Karl Bauer die beiden Armen sich des Reichtums ihrer
Liebe erfreuen, er sah das ermüdete, von Sorgen verzehrte Mädchen
aufrecht bleiben und Licht und Freude um sich verbreiten und sah das
blasse Gesicht des gebrochenen Mannes trotz der Schmerzen von einem
frohen Glanz zärtlicher Dankbarkeit verklärt.

Und er blieb, als schon die Ferien begonnen hatten, noch mehrere Tage
da, bis die Tine selber ihn zum Abreisen nötigte.

Im Gang vor den Krankenzimmern nahm er von ihr Abschied, anders und
schöner als damals im Hof des Kustererschen Ladens. Er nahm nur ihre
Hand und dankte ihr ohne Worte, und sie nickte ihm unter Tränen zu. Er
wünschte ihr Gutes und hatte selber in sich keinen besseren Wunsch, als
daß auch er einmal auf die heilige Art lieben und Liebe empfangen möchte
wie das arme Mädchen und ihr Verlobter. Darauf reiste er nach Hause, und
am ersten Ferienabend, als er früh zu Bett gegangen war, sagte sein
Vater lächelnd zur Mutter: »Ist er nicht verändert, der Karl? Was denkst
du?«

»Ja,« meinte sie nachdenklich, »er ist anders geworden. Beinahe schon
wie ein rechter Mann, und mehr soll er ja auch nicht werden.«



Eine Fußreise im Herbst


Seeüberfahrt

Ein sehr kühler Abend, feucht, ungastlich und früh dunkelnd. Auf einem
steilen Sträßlein, zum Teil lehmiger Hohlweg, war ich vom Berge
herabgestiegen und stand am Seeufer allein und fröstelnd. Nebel rauchte
jenseits von den Hügeln, der Regen hatte sich erschöpft und es fielen
nur noch einzelne Tropfen, kraftlos und vom Winde vertrieben.

Am Strande lag ein flaches Boot halb auf den Kies gezogen. Es war gut im
Stande, sauber gemalt, kein Wasser am Boden, und die Ruder schienen ganz
neu zu sein. Daneben stand eine Wartehütte aus Tannenbrettern,
unverschlossen und leer. Am Türpfosten hing ein altes messingenes Horn,
mit einer dünnen Kette befestigt. Ich blies hinein. Ein zäher,
unwilliger Ton kam heraus und flog träge dahin. Ich blies noch einmal,
länger und stärker. Dann setzte ich mich ins Boot und wartete, ob jemand
käme.

Der See war nur leicht bewegt. Ganz kleine Wellen schlugen mit
schwächlichem Klatschen an die dünnen Bootwände. Mich fror ein wenig und
ich wickelte mich fest in meinen weiten, regenfeuchten Mantel, steckte
die Hände unter die Achseln und betrachtete die Seefläche.

Eine kleine Insel, dem Anscheine nach nur ein stattlicher Felsen, ragte
in der Seemitte schwärzlich aus dem bleifarbenen Wasser. Ich würde, wenn
sie mein wäre, einen Turm darauf bauen lassen, mit wenigen Zimmern und
quadratischem Grundriß. Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Eßzimmer
und eine Bibliothek.

Dann würde ich einen Wärter hineinsetzen, der müßte alles in Ordnung
halten und jede Nacht im obersten Zimmer Licht brennen. Ich aber würde
weiterreisen und wüßte nun zu jeder Zeit eine Zuflucht und Ruhestätte
auf mich warten. In fernen Städten würde ich jungen Frauen von meinem
Turm im See erzählen.

»Ist auch ein Garten dabei?« würde vielleicht eine fragen. Und ich: »Ich
weiß nicht mehr, ich war so lange nimmer dort. Wollen Sie, daß wir
hinreisen?«

Sie würde mir mit dem Finger drohen und lachen, und der Blick ihrer
hellbraunen Augen würde sich plötzlich verändern. Möglich auch, daß ihre
Augen blau sind oder schwarz, und ihr Gesicht und Nacken bräunlich, und
ihr Kleid dunkelrot mit Pelzbesätzen.

Wenn es nur nicht so kühl gewesen wäre! Eine unangenehme
Verdrießlichkeit wuchs in mir herauf.

Was geht mich die schwarze Felseninsel an? Sie ist lächerlich klein,
wenig besser als ein Vogeldreck, und man könnte auf ihr überhaupt nicht
bauen. Wozu auch, bitte? Und was liegt daran, ob eine junge Frau, die
ich mir erdenke und der ich möglicherweise, falls sie wirklich
existierte, mein Turmschloß zeigen würde, falls ich eines hätte -- ob
diese junge Frau blond ist oder braun und ob ihr Kleid einen Pelzbesatz
hat oder Spitzen oder gewöhnliche Litzen? Wären mir Litzen etwa nicht
gut genug?

Gott bewahre, ich gab den Pelzbesatz, den Turm und die Insel preis, rein
um des Friedens willen. Meine Verdrießlichkeit kassierte die Bilder
mürrisch, schwieg und nahm zu statt ab.

»Bitte,« fragte sie nach einer Weile wieder, »wozu sitzest du eigentlich
hier, an einem weltfremden Ort, in der Nässe am Strand und frierst?«

Da knirschte der Kies, und eine tiefe Stimme rief mich an. Es war der
Fährmann.

»Lang gewartet?« fragte er, während ich ihm das Boot ins Wasser schieben
half.

»Gerade lang genug, scheint mir. Jetzt also los!«

Wir hängten zwei Paar Ruder ein, stießen ab, drehten und probierten den
Takt aus, dann arbeiteten wir schweigend mit starken Schlägen. Mit dem
Erwarmen der Glieder und mit der flotten, taktfesten Bewegung kam ein
anderer Geist in mir auf und machte dem fröstelnd trägen Unmut ein
rasches Ende.

Der Schiffsmann war graubärtig, groß und mager. Ich kannte ihn, er hatte
mich vor Jahren mehrmals gerudert; doch erkannte er mich nicht wieder.

Wir hatten eine halbe Stunde zu rudern, und während wir unterwegs waren,
ward es vollends Nacht. Mein linkes Ruder rieb in seiner Öse bei jedem
Zuge mit rostig knarrendem Ton, unter dem Vorderteil des Bootes schlug
das schwache Gewoge unregelmäßig mit hohlem Geräusch an den
Schiffsboden. Ich hatte zuerst den Mantel, dann auch noch die Jacke
ausgezogen und neben mich gelegt, und als wir uns dem jenseitigen Ufer
näherten, war ich in einen leichten Schweiß geraten.

Jetzt spielten vom Strande her Lichter auf dem dunkeln Wasser, zuckten
springend in gebrochenen Linien und blendeten mehr als sie leuchteten.
Wir stießen ans Land, der Fährmann warf seine Bootskette um einen dicken
Pfahl. Aus dem schwarzen Torbogen trat der Zöllner mit einer Laterne.
Ich gab dem Schiffsmann seinen kleinen Lohn, ließ den Zöllner an meinem
Mantel schnuppern und zog mir die Hemdärmel unter der Jacke zurecht.

Im Augenblick, da ich wegging, fiel mir der vergessene Name des
Schiffers wieder ein. »Gut Nacht, Hans Leutwin,« rief ich ihm zu und
ging davon, während er, die Hand vorm Auge, mir erstaunt und brummend
nachglotzte.


Im goldenen Löwen

In dem alten Städtlein, das ich nun vom Seegestade her durch den
ungeheuren Torbogen betrat, begann erst eigentlich meine Lustreise. In
diesen Gegenden hatte ich vorzeiten eine Weile gelebt und mancherlei
Sanftes und Herbes erfahren, wovon ich jetzt da oder dort noch einen
leisen Duft und Nachklang anzutreffen hoffte.

Ein Gang durch nächtige Straßen, von erleuchteten Fenstern her spärlich
bestrahlt, an alten Giebelformen und Vortreppen und Erkern vorüber. In
der schmalen, krummen Maiengasse hielt mich vor einem altmodischen
Herrenhause ein Oleanderbaum mit ungestümer Mahnung fest. Ein
Feierabendbänklein vor einem andern Hause, ein Wirtsschild, ein
Laternenpfahl taten dasselbe und ich war erstaunt, wieviel längst
Vergessenes in mir doch nicht vergessen war. Zehn Jahre hatte ich das
Nest nimmer gesehen, und nun wußte ich plötzlich alle Geschichten jener
merkwürdigen, schönen Jünglingszeit wieder.

Da kam ich auch am Schloß vorbei, das stand mit schwarzen Türmen und
wenigen roten Fenstervierecken kühn und verschlossen in der regnerischen
Herbstnacht. Damals als junger Kerl ging ich abends selten dran vorüber,
ohne daß ich mir im obersten Turmzimmer eine Grafentochter einsam
weinend dachte, und mich mit Mantel und Strickleiter über halsbrechenden
Mauern, bis an ihr Fenster empor.

»Mein Retter,« stammelte sie freudig erschrocken.

»Vielmehr Ihr Diener,« antwortete ich mit einer Verbeugung. Dann trug
ich sie sorgsam die ängstlich schaukelnde Leiter hinab -- ein Schrei,
der Strick war gerissen -- ich lag mit gebrochenem Bein im Graben und
neben mir rang die Schöne ihre schlanken Hände.

»O Gott, was nun? Wie soll ich Ihnen helfen?«

»Retten Sie sich, Gnädigste, ein treuer Knecht wartet Ihrer bei der
hintern Pforte.«

»Aber Sie?«

»Eine Kleinigkeit, seien Sie unbesorgt! Ich bedaure nur, Sie für heute
nicht weiter begleiten zu können.«

Es hatte seither, wie ich aus der Zeitung wußte, im Schloß gebrannt;
doch sah man, wenigstens jetzt bei Nacht, keine Spuren davon, es war
alles wie früher. Ich betrachtete mir den Umriß des alten Gebäudes eine
kleine Weile, dann bog ich in die nächste Gasse ein.

Und da hing auch noch derselbe groteske Blechlöwe im Schild des
ehrwürdigen Wirtshauses. Hier beschloß ich einzukehren und um Nachtlager
zu fragen.

Ein gewaltiger Lärm schlug mir aus dem weiten Portal entgegen, Musik,
Geschrei, Hin und Wider der Dienerschaft, Gelächter und Pokulieren, und
im Hofe standen abgeschirrte Wagen, an denen Kränze und Girlanden aus
Tannenreis und Papierblumen hingen. Beim Eintreten fand ich den Saal,
die Wirtsstube und sogar noch das Nebenzimmer von einer fröhlichen
Hochzeitsgesellschaft besetzt. An ein ruhiges Abendessen, eine
beschaulich erinnerungsselige Dämmerstunde beim einsamen Schoppen und
ein frühes, friedliches Schlafengehen war da nicht zu denken.

Indem ich die Saaltüre öffnete, drang ein ausgesperrter kleiner Hund
zwischen meinen Beinen durch in den Raum, ein schwarzer Spitzerhund, und
stürzte mit wütendem Freudengebell unter den Tischen hindurch seinem
Herrn entgegen, den er sogleich erblickt hatte, denn er stand gerade
aufrecht an der Tafel und hielt eine Rede.

»-- und also, meine verehrten Herrschaften,« rief er mit rotem Gesicht
und überlaut, da fuhr wie ein Sturm der Hund an ihm hinauf, kläffte
freudig und unterbrach die Rede. Gelächter und Scheltworte erklangen
durcheinander, der Redner mußte seinen Hund hinausbringen, die verehrten
Herrschaften grinsten schadenfroh und tranken einander zu. Ich drückte
mich beiseite, und als der Herr des Spitzerhundes wieder an seinem Platz
und wieder in seiner Rede war, hatte ich das Nebenzimmer erreicht, legte
Hut und Mantel weg und setzte mich ans Ende eines Tisches.

An vortrefflichen Speisen fehlte es heute nicht. Und schon während ich
am Hammelbraten arbeitete, erfuhr ich von meinen Tischnachbarn das
Nötigste über die Hochzeit. Das Paar war mir nicht bekannt, wohl aber
eine große Zahl der Gäste -- Gesichter, die mir vor Jahren vertraut
gewesen waren und die mich nun, viele schon im halben Rausch, beim
Schein der Lampen und Kronleuchter umgaben, mehr oder minder verändert
und gealtert. Einen feinen Bubenkopf mit ernsten Augen, mager und zart
geschnitten, sah ich wieder -- erwachsen, lachend, schnurrbärtig, eine
Zigarre im Mund, und ehemalige junge Bursche, denen das Leben um einen
Kuß und die Welt um einen Narrenstreich feil gewesen war, staken nun in
Backenbärten, hatten die Hausfrau bei sich und regten sich in
Philistergesprächen über Bodenpreise und Änderungen des
Eisenbahnfahrplans auf.

Alles war verändert und doch noch lächerlich kenntlich, und am wenigsten
verändert war erfreulicherweise die Wirtsstube und der gute weiße
Landwein. Der floß noch wie je so herb und freudig, blinkte gelblich im
fußlosen Glase und weckte in mir das schlummernde Gedächtnis zahlreicher
Kneipnächte und Kneipenstreiche. Mich aber kannte niemand wieder und ich
saß im Getümmel und nahm am Gespräche teil als ein zufällig herein
verschlagener Fremder.

Gegen Mitternacht, nachdem auch ich einen Becher oder zwei über den
Durst genossen hatte, gab es einen Streit. Um eine Bagatelle, die ich
schon am andern Tag vergessen habe, ging es los, hitzige Worte klangen,
und drei, vier halbberauschte Männer schrieen zornig auf mich ein. Da
hatte ich genug und stand auf.

»Danke meine Herren, an Händeln liegt mir nichts. Übrigens sollte der
Herr da sich nicht so unnötig erhitzen, er hat ja ein Leberleiden.«

»Woher wissen Sie das?« rief er noch barsch, aber verblüfft.

»Ich sehe es Ihnen an, ich bin Arzt. Sie sind fünfundvierzig Jahre alt,
nicht wahr?«

»Stimmt.«

»Und haben vor etwa zehn Jahren eine schwere Lungenentzündung
durchgemacht?«

»Herrgott, ja. An was sehen Sie denn das?«

»Ja, das sieht man eben, wenn man geübt ist. Also gute Nacht, ihr
Herren!«

Sie grüßten alle ganz höflich, der Leberleidende machte sogar eine
Verbeugung. Ich hätte ihm auch noch seinen Vor- und Zunamen und den
seiner Frau sagen können, ich kannte ihn so gut und hatte früher manches
Feierabendgespräch mit ihm gehabt.

In meiner Schlafkammer wusch ich mir das heiße Gesicht, schaute vom
Fenster über die Dächer weg auf den blassen See hinüber und ging dann zu
Bett. Eine Zeitlang hörte ich noch dem langsam abnehmenden Festlärmen
zu, dann übernahm mich die Müdigkeit und ich schlief bis zum Morgen.


Sturm

Am verstürmten Himmel trieben zerfaserte Wolkenbänder, grau und lila,
und ein heftiger Wind empfing mich, als ich am nächsten Vormittag nicht
zu früh meine Weiterreise antrat. Bald war ich oben auf dem Hügelkamm
und sah das Städtchen, das Schloß, die Kirche und den kleinen Bootshafen
eng und spielzeughaft lustig am Gestade unter mir liegen. Schnurrige
Geschichten aus der Zeit meines früheren Hierseins fielen mir ein und
machten mich lachen. Das konnte ich brauchen, denn je näher ich dem Ziel
meiner Wanderung rückte, desto befangener und schwüler wurde mir, ohne
daß ich es mir gestehen mochte, das Herz.

Das Gehen in der kühlen sausenden Luft tat mir wohl. Ich hörte dem
ungestümen Winde zu und sah im Vorwärtsschreiten auf dem Gratsteig mit
aufregender Wonne die Landschaft weiter und gewaltiger werden. Von
Nordost her hellte der Himmel auf, dorthinüber war die Aussicht frei und
zeigte lange, bläuliche Gebirgszüge in großartiger Ordnung aufgebaut.

Wunderlich, wie aus diesem Halbkreis wild und wirr geschichteter
Bergzüge, die wie eine erstarrte Sintflut oder Titanenschlacht aussehen,
plötzlich ein klares, vernünftig und sogar elegant konstruiertes System
wird, sobald man sie als Wasserspeicher für die Tieflande ansieht! Ein
Naturforscher hat mich einmal darauf hingewiesen. Freilich kann ich nur
für Minuten auf seine Art betrachten, dann fließt die Ordnung wieder ins
Chaos zusammen und ich mag nicht glauben, dieses Gebirge sei so zackig
und jenes so mild gewellt, nur damit die Leute in der und jener Stadt
auch Trink- und Waschwasser haben.

Der Wind nahm zu, je höher ich kam. Er sang herbstlich toll, mit Stöhnen
und mit Lachen, fabelhafte Leidenschaften andeutend, neben denen unsere
nur Kindereien wären. Er schrie mir niegehörte, urweltliche Worte ins
Ohr, wie Namen alter Götter. Er strich über den ganzen Himmel hinweg die
irrenden Wolkentrümmer zu parallelen Streifen aus, in deren gleicher
Linie etwas widerwillig Gebändigtes lag und unter welchen die Berge sich
zu bücken schienen.

Dem Brausen der Lüfte und dem Anblick der weiten Bergländer wich die
leise Befangenheit und Bänglichkeit meiner Seele. Daß ich einem
Wiedersehen mit meiner Jugendzeit und einem Kreise noch ungewisser
Erregungen entgegenging, war nicht mehr so wichtig und beherrschend,
seit Weg und Wetter mir lebendig geworden waren.

Bald nach Mittag stand ich ausruhend auf dem höchsten Punkte des
Höhenweges und mein Blick flog suchend und bestürzt über das ungeheuer
ausgebreitete Land hinweg. Grüne Berge standen da, und weiter entfernt
blaue Waldberge und gelbe Felsberge, tausendfach gefaltete Hügelgelände,
dahinter das Hochgebirg mit jähen Steinzacken und milden, bleichen
Schneepyramiden. Zu Füßen in seiner ganzen Fläche der große See,
meerblau mit weißen Wellenschäumen, zwei vereinzelte flüchtige Segel
darauf, geduckt hingleitend, an den grün und braunen Ufern lodernd gelbe
Weinberge, farbige Wälder, blanke Landstraßen, Bauerndörfer in
Obstbäumen, kahlere Fischerdörfer, hell und dunkel getürmte Städte. Über
alles weg bräunliche Wolken fegend, dazwischen Stücke eines tief klaren,
grünblau und opalfarben durchleuchteten Himmels, Sonnenstrahlen
fächerförmig aufs Gewölk gemalt. Alles bewegt, auch die Bergreihen wie
hinflutend und die ungleich beleuchteten Alpengipfel jäh, unstet und
springend.

Mit dem Sturm- und Wolkentreiben flog auch mein Fühlen und Begehren
ungestüm und fiebernd über die Weite, ferne Schneezacken umarmend und
flüchtig in hellgrünen Seebuchten rastend. Alte, betörende Wandergefühle
liefen wechselnd und farbig wie Wolkenschatten über meine Seele,
Empfindung der Trauer über Versäumtes, Kürze des Lebens und Fülle der
Welt, Heimatlosigkeit und Heimatsuchen, wechselnd mit einem
hinströmenden Gefühl der völligen Loslösung von Raum und Zeit.

Langsam verrannen die Wogen, sangen und schäumten nicht mehr, und mein
Herz wurde still und ruhte unbewegt, wie ein Vogel in großen Höhen.

Da sah ich mit Lächeln und wiederkehrender Wärme Straßenkrümmen,
Waldkuppen und Kirchtürme der vertrauten Nähe; das Land meiner schönen
Jünglingsjahre blickte mich unverändert mit den alten Augen an. Wie ein
Soldat auf seiner Landkarte den Feldzug von damals aufsucht und
überliest, von Rührung so sehr wie vom Gefühl der Geborgenheit erwärmt,
las ich in der herbstfarbenen Landschaft die Geschichte vieler
wundervoller Torheiten und die schon fast zur Sage verklärte Geschichte
einer gewesenen Liebe.


Erinnerungen

In einem ruhigen Winkel, wo mir ein breiter Felsen den Sturm abhielt, aß
ich mein Mittagsbrot. Schwarzbrot, Wurst und Käse. -- Nach ein paar
Stunden Bergaufmarsch bei starkem Winde der erste Biß in ein belegtes
Brot -- das ist eine Lust, fast die einzige, die noch das ganze
durchdringend Köstliche, bis zur Sättigung Beglückende der echten
Knabenfreuden hat.

Morgen werde ich vielleicht an der Stelle im Buchenwald vorüberkommen,
an der ich den ersten Kuß von Julie bekam. Auf einem Ausflug des
Bürgervereins Konkordia, in den ich Julies wegen eingetreten war. Am Tag
nach jenem Ausflug trat ich wieder aus.

Und übermorgen vielleicht, wenn es glückt, werde ich sie selber
wiedersehen. Sie hat einen wohlhabenden Kaufmann namens Herschel
geheiratet, und sie soll drei Kinder haben, von denen eins ihr
auffallend gleicht und auch Julie heißt. Mehr weiß ich nicht, es ist
auch mehr als genug.

Aber ich weiß noch genau, wie ich ihr ein Jahr nach meiner Abreise aus
der Fremde schrieb, daß ich keine Aussicht auf Stellung und
Geldverdienst habe und daß sie nicht auf mich warten möge. Sie schrieb
zurück, ich solle mir und ihr das Herz nicht unnötig schwer machen; sie
werde da sein, wenn ich wiederkäme, sei es bald oder spät. Und ein
halbes Jahr später schrieb sie doch wieder und bat sich frei, für jenen
Herschel, und im Leid und Zorn der ersten Stunde schrieb ich keinen
Brief, sondern telegraphierte ihr mit meinem letzten Gelde, vier oder
fünf geschäftsmäßige Worte. Die gingen übers Meer und waren nicht zu
widerrufen.

Es geht so närrisch im Leben zu! War es Zufall oder Schicksalshohn oder
kam es vom Mut der Verzweiflung -- kaum lag das Liebesglück in Scherben,
da kam Erfolg und Gewinn und Geld wie hergezaubert, da war das nimmer
Erhoffte im Spiel erreicht und war doch wertlos. Das Schicksal hat
Mucken, dachte ich, und vertrank mit Kameraden in zwei Tagen und Nächten
eine Brusttasche voll Banknoten.

Doch an diese Geschichten dachte ich nicht lange, als ich nach der
Mahlzeit mein leeres Wurstpapier dem Winde hinwarf und, in den Mantel
gewickelt, Mittagsrast hielt. Ich dachte lieber an meine damalige Liebe,
und an Julies Gestalt und Gesicht, das schmale feine Gesicht mit den
noblen Brauen und großen dunkeln Augen. Und dachte lieber an den Tag im
Buchenwald, wie sie langsam und widerstrebend mir nachgab und dann bei
meinen Küssen zitterte und dann endlich wieder küßte und ganz leise, wie
aus einem Traum hervor lächelte, während noch Tränen an ihren Wimpern
glänzten.

Vergangene Dinge! Das Beste daran war aber nicht das Küssen und nicht
das abendliche Zusammenpromenieren und Heimlichtun. Das Beste war die
Kraft, die mir aus jener Liebe floß, die fröhliche Kraft, für sie zu
leben, zu streiten, durch Feuer und Wasser zu gehen. Sich wegwerfen
können für einen Augenblick, Jahre opfern können für das Lächeln einer
Frau, das ist Glück. Und das ist mir unverloren.

Pfeifend stand ich auf und ging weiter.

Als die Straße jenseits vom Hügelkamm abwärts sank und ich genötigt war,
vom Anblick der Seeweite Abschied zu nehmen, lag eben die Sonne, schon
dem Untergehen nah, im Kampf mit trägen, gelben Wolkenmassen, die sie
langsam umschleierten und verschlangen. Ich hielt inne und schaute
rastend den fabelhaften Vorgängen am Himmel zu:

Hellgelbe Lichtbündel strahlten vom Rande einer schweren Wolkenbank in
die Höhe und gegen Osten. Rasch entzündete sich der ganze Himmel
gelbrot, glühend purpurne Streifen durchschnitten den Raum, zur gleichen
Zeit wurden alle Berge dunkelblau, an den Seeufern brannte das rötlich
welke Ried wie Heidefeuer. Dann verschwand alles Gelb, und das rote
Licht wurde warm und milde, spielte paradiesisch um traumzarte,
hingehauchte Schleierwölkchen und lief in tausend feinen Adern rosenrot
durch mattgraue Nebelwände, deren Grau sich langsam mit dem Rot zu einem
unsäglich schönen Lilaton vermischte. Der See wurde tiefblau und nahezu
schwarz, die Untiefen in der Nähe der Ufer traten hellgrün mit scharfen
Rändern hervor.

Als der fast schmerzlich schöne Farbenkrampf erlosch, dessen Feuer und
rapide Flüchtigkeit an großen Horizonten immer etwas hinreißend Kühnes
hat, wandte ich mich landeinwärts und blickte erstaunt in eine schon
völlig abendklare, gekühlte Tälerlandschaft. Unter einem großen Nußbaum
trat ich auf eine bei der Lese vergessene Frucht, hob sie auf und
schälte mir die frische lichtbraune feuchte Nuß heraus. Und als ich sie
zerbiß und den scharfen Geruch und Geschmack verspürte, überraschte mich
unversehens eine Erinnerung. Wie von einem Stück Spiegelglas ein
Lichtstrahl reflektiert und in einen dunkeln Raum geworfen wird, so
blitzt oft mitten im Gegenwärtigen, durch eine Nichtigkeit entzündet,
ein vergessenes, längst gewesenes Stückchen Leben auf, erschreckend und
unheimlich.

Das Erlebnis, an das ich in jenem Augenblick nach vielleicht zwölf oder
mehr Jahren zum ersten Mal wieder dachte, war mir ebenso peinlich wie
teuer. Als ich mit etwa fünfzehn Jahren auswärts in einem Gymnasium war,
besuchte mich eines Tages im Herbst meine Mutter. Ich hielt mich sehr
kühl und stolz, wie es mein Gymnasiastenhochmut forderte, und tat ihr
mit hundert Kleinigkeiten weh. Andern Tages reiste sie wieder ab, kam
aber vorher noch ans Schulhaus und wartete unsere Morgenpause ab. Als
wir lärmend aus den Klassenzimmern hervorbrachen, stand sie bescheiden
und lächelnd draußen, und ihre schönen gütigen Augen lachten mir schon
von weitem entgegen. Mich aber genierte die Gegenwart meiner Herren
Mitschüler, darum ging ich ihr nur langsam entgegen, nickte ihr
leichthin zu und trat so auf, daß sie ihre Absicht, mir einen
Abschiedskuß und Segen zu geben, aufgeben mußte. Betrübt aber tapfer
lächelte sie mich an, und plötzlich lief sie schnell über die Straße zur
Bude eines Fruchthändlers, kaufte ein Pfund Nüsse und gab mir die Tüte
in die Hand. Dann ging sie fort, zur Eisenbahn, und ich sah sie mit
ihrer kleinen altmodischen Ledertasche um die Straßenecke verschwinden.
Kaum war sie mir aus den Augen, so tat mir alles bitter leid und ich
hätte ihr meine törichte Bubenroheit unter Tränen abbitten mögen. Da kam
einer meiner Kameraden vorbei, mein Hauptrivale in Angelegenheiten des
^savoir vivre^. »Bonbons von Mamachen?« fragte er boshaft lächelnd. Ich,
sofort wieder stolz, bot ihm die Tüte an, und da er nicht annahm,
verteilte ich alle Nüsse, ohne eine für mich zu behalten, an die Kleinen
von der vierten Klasse.

Zornig biß ich auf meine Nuß, warf die Schalen ins schwärzliche Laub,
das den Boden bedeckte, und wanderte auf der bequemen Straße unter einem
grünblau und goldig verhauchenden Späthimmel hin zu Tal und bald darauf
an herbstgelben Birken und fröhlichen Vogelbeerbüscheln vorbei in die
bläuliche Dämmerung junger Tannenstände und dann in die tiefen Schatten
eines hohen Buchenwaldes hinein.


Das stille Dorf

Zwei Stunden später am Abend hatte ich mich, nach langem sorglosem
Schlendern, in einem Gewimmel schmaler, finsterer Waldwege verlaufen und
suchte, je dunkler und kühler es wurde, desto ungeduldiger nach einem
Ausgang. Mich geradeaus durch den Laubwald zu schlagen ging nicht an,
der Wald war dicht und der Boden stellenweise sumpfig, auch wurde es
allmählich stockfinster.

Stolpernd und müde tastete ich in der wunderlichen Aufregung des
nächtlichen Verirrtseins weiter. Häufig blieb ich stehen, um zu rufen
und dann lang zu lauschen. Es blieb alles still, und die kühle
Feierlichkeit und dichte Schwärze des lautlosen Waldinnern umgab mich
von allen Seiten, wie Vorhänge von dickem Sammet. So töricht und eitel
es war, machte mir doch der Gedanke Freude, daß ich um ein Wiedersehen
mit einer fast vergessenen Geliebten in dem fremd gewordenen Lande mich
durch Wald und Nacht und Kälte schlage. Ich fing leise meine alten
Liebeslieder zu singen an:

   Mein Blick erstaunt und muß sich senken,
   mein Herz schließt alle Tore zu,
   dem Wunder heimlich nachzudenken --
   so schön bist du!

Dazu war ich durch Länder gewandert und hatte mir in langen Kämpfen den
Leib -- und die Seele voll Narben geholt, um nun die alten dummen Verse
zu singen und den Schatten lang verblaßter Knabentorheiten nachzulaufen!
Aber es machte mir nicht wenig Freude, und während ich mühsam den
gewundenen Pfad verfolgte, sang ich weiter, dichtete und phantasierte,
bis ich müde ward und stille weiterlief. Suchend tastete ich an dicke
Buchenstämme, die von Efeuästen umklammert waren und deren Zweige und
Wipfel unsichtbar im Finstern schwammen. So ging es noch eine halbe
Stunde und ich begann endlich kleinlaut zu werden. Da erlebte ich etwas
unvergeßlich Köstliches.

Urplötzlich war der Wald zu Ende und ich stand zwischen den letzten
Stämmen hoch an einer steilen Bergwand, und unter mir schlief ein weites
Waldtal in der Nachtbläue, und mitten darin zu meinen Füßen lag still
und heimlich mit sechs, sieben kleinen rotleuchtenden Fenstern ein
Dörflein. Die niederen Häuser, von denen ich fast nur die breiten, leise
schimmernden Schindeldächer sah, lehnten sich eng aneinander, in einer
leichten Biegung, und zwischen ihnen lief schmal und dunkel die
schattige Gasse, und an ihrem Ende stand ein großer Dorfbrunnen. Weiter
oben, am halben Berge gegenüber, lag allein zwischen vielen dämmernden
Kirchhofkreuzen die Kapelle. In ihrer Nähe lief auf einem steilen
Hügelwege bergan ein Mann mit einer Laterne. Und drunten im Dörflein, in
irgend einem Hause, sangen ein paar Mädchen mit kräftigen, hellen
Stimmen ein Lied.

Ich wußte nicht, wo ich war und wie das Dorf heiße, und ich nahm mir
vor, auch nicht danach zu fragen.

Mein bisheriger Weg verlor sich am Waldrande bergaufwärts, so stieg ich
behutsam ohne Pfad durch steile Weiden hinab, dem Dorf entgegen. Ich
geriet in Gärten und auf schmale Steinstaffeln, fiel über eine
Stützmauer und mußte schließlich einen Zaun überklettern und durch den
seichten Bach springen, dann aber war ich im Dorfe und trat am ersten
Gehöfte vorbei in die krumme, schlafende Gasse. Bald fand ich das
Wirtshaus, das hieß zum Ochsen, und war noch nicht geschlossen.

Das Erdgeschoß war still und dunkel, aus der gepflasterten Flur führte
eine alte verschwenderisch gebaute Treppe mit bauchigen Geländersäulen,
von einer am Strick aufgehängten Laterne erleuchtet, empor in einen
Fliesengang und zur Gästestube. Diese war reichlich groß, und der von
einer Hängelampe beschienene Tisch beim Ofen, an dem drei Bauern vor
ihren Weingläsern saßen, lag wie eine Lichtinsel in dem halbdunkeln,
großen Raum.

Der Ofen war geheizt, ein würfelförmiges Gebäude mit dunkelgrünen
Kacheln; in den Kacheln spiegelte freudig warm das matte Lampenlicht,
unterm Ofen lag ein schwarzer Hund und schlief. Die Wirtin sagte Grüß
Gott, als ich hereinkam, und einer von den Bauern schaute prüfend her.

»Was ist das für einer?« fragte er zweifelnd.

»Weiß nicht,« sagte die Wirtin.

Ich setzte mich an den Tisch, grüßte und ließ Wein kommen. Es gab nur
Heurigen, einen hellroten jungen Most, der schon stark im Reißen war und
mir prächtig warm machte. Dann fragte ich nach einem Nachtlager.

»Das ist so eine Sache,« meinte die Frau und zuckte die Achseln. »Wir
haben schon ein Zimmer, freilich, aber da ist gerade heut ein Herr drin.
Es wäre auch ein zweites Bett in der Stube, aber der Herr schläft schon.
Wenn Sie hinaufgehen und mit ihm reden wollen --?«

»Nicht gern. Und sonst gibt’s keinen Platz?«

»Platz schon, aber kein Bett mehr.«

»Und wenn ich mich da zum Ofen lege?«

»Ja, wenn Sie das wollen, freilich. Ich geb Ihnen dann eine Decke und
wir legen ein paar Scheiter nach, so müssen Sie nicht frieren.«

Nun ließ ich mir Eier kochen und eine Wurst geben, und während des
Essens fragte ich, wie weit ich noch von meinem Reiseziel sei.

»Sagen Sie, wie lang geht man von hier nach Ilgenberg?«

»Fünf Stunden. Der Herr droben, der die Stube hat, will morgen auch
wieder hinüber. Er ist dort daheim.«

»So so. Und was treibt er denn hier?«

»Holz kaufen. Er kommt jedes Jahr.«

Die drei Bauern mischten sich nicht in unser Gespräch. Es waren, dachte
ich mir, die Waldbesitzer und Fuhrleute, mit denen der Ilgenberger
Händler den Holzkauf abgeschlossen hatte. Mich hielten sie offenbar für
einen Geschäftemacher oder Beamten und trauten mir nicht. So ließ ich
sie auch in Ruhe.

Kaum hatte ich gegessen und lehnte mich im Sessel zurecht, da fing der
Mädchengesang von vorher plötzlich wieder an, ganz laut und nahe. Sie
sangen das Lied von der schönen Gärtnersfrau, und beim dritten Vers
stand ich auf und ging an die Küchentür und klinkte leise auf. Da saßen
zwei junge Dirnen und eine ältere Magd am weißen tannenen Tisch bei
einem Kerzenstumpen, hatten einen Berg Bohnen zum Ausschoten vor sich
und sangen während der leichten Feierabendbeschäftigung. Wie die ältere
aussah, weiß ich nicht mehr. Aber von den jungen war die eine
rötlichblond, breit und blühend, und die zweite war eine schöne Braune
mit ernstem Gesicht. Sie hatte die Zöpfe in einem sogenannten >Nest<
rund um den Kopf gewunden und sang selbstvergessen mit einer hellen
Kinderstimme vor sich hin, während das sich spiegelnde Kerzenflämmlein
in ihren lieben Augen blitzte.

Als sie mich in der Tür stehen sahen, lachte die Alte, die Rötliche
schnitt eine Fratze und die Braune sah mir eine Weile ins Gesicht, dann
senkte sie den Kopf, wurde ein wenig rot und sang lauter. Sie fingen
gerade einen neuen Vers an und ich fiel mit ein, so gut und kräftig ich
es vermochte. Dann holte ich meinen Wein herüber, nahm eine dreibeinige
Stabelle her und setzte mich singend mit an den Küchentisch. Die
Rotblonde schob mir eine Handvoll Bohnen zu und ich half denn mit
aushülsen.

Als alle die vielen Strophen ausgesungen waren, sahen wir einander an
und mußten lachen, was der Braunen überaus prächtig zu Gesichte stand.
Ich bot ihr mein Glas hin, doch nahm sie es nicht an.

»Sie sind aber eine Stolze,« sagte ich betrübt. »Sind Sie denn etwa von
Stuttgart?«

»Nein. Warum von Stuttgart?«

»Weil es heißt:

   Stuegert isch e schöne Stadt,
   Stuegert lit im Tale,
   wos so schöne Mädle hat,
   aber so brutale.«

»Er ist ein Schwab,« sagte die Alte zur Blonden.

»Ja, er ist einer,« bestätigte ich. »Und Sie sind vom Oberland, wo die
Schlehen wachsen.«

»Kann sein,« meinte sie und kicherte.

Ich sah aber immer die Braune an, und ich setzte aus Bohnen den
Buchstaben M zusammen und fragte sie, ob sie so heiße. Sie schüttelte
den Kopf und ich machte nun ein A. Da nickte sie und ich begann nun zu
raten.

»Agnes?«

»Nein.«

»Anna.«

»Nichts.«

»Adelheid?«

»Auch nicht.«

Und so viel ich riet, es war alles falsch, sie aber wurde ganz fröhlich
darüber und rief schließlich: »O Sie Unvernunft!« Als ich sie dann sehr
bat, sie möchte mir jetzt ihren Namen sagen, schämte sie sich eine
kleine Zeit, dann sagte sie schnell und leise: »Agathe« und wurde rot
dabei, wie wenn sie ein Geheimnis preisgegeben hätte.

»Sind Sie auch ein Holzhändler?« fragte die Blonde.

»Nein, das nicht. Seh ich denn so aus?«

»Oder ein Geometer, nicht?«

»Auch nicht. Warum soll ich Geometer sein?«

»Warum? Darum.«

»Ihr Schatz wird einer sein, gelt?«

»Mir wär’s schon recht.«

»Singen wir noch eins, zum Schluß?« fragte die Schöne, und während die
letzten Schoten uns durch die Finger gingen, sangen wir das Lied »Steh
ich in finstrer Mitternacht«. Als das zu Ende war, standen die Mädchen
auf und ich auch.

»Gut Nacht,« sagte ich zu jeder und gab jeder die Hand, und zu der
Braunen sagte ich: »Gut Nacht, Agathe.«

In der Wirtsstube brachen jetzt die drei Rauhbeine auf. Sie nahmen
keinerlei Notiz von mir, tranken langsam ihre Reste aus und zahlten
nichts, waren also jedenfalls für diesen Abend die Gäste des
Ilgenbergers gewesen.

»Gute Nacht auch,« sagte ich, als sie gingen, bekam aber keine Antwort
und schlug hinter den Dickköpfen die Türe kräftig zu. Gleich darauf kam
die Wirtin mit Pferdedecken und einem Bettkissen. Wir bauten aus der
Ofenbank und drei Stühlen ein leidliches Nachtlager, und zum Troste
teilte die Frau mir beim Weggehen mit, das Übernachten solle mich nichts
kosten. Das war mir auch recht.

Halb ausgekleidet und mit meinem Mantel zugedeckt lag ich am Ofen, der
noch wohlig wärmte, und dachte an die braune Agathe. Ein Vers aus einem
alten frommen Liede, das ich in Kinderzeiten oft mit meiner Mutter
gesungen hatte, fiel mir ein:

   Schön sind die Blumen,
   schöner sind die Menschen
   in der schönen Jugendzeit -- -- --

So eine war Agathe, schöner als Blumen, und doch mit ihnen verwandt. Es
gibt überall, in allen Ländern, einzelne solche Schönheiten, doch sind
sie nicht allzu häufig, und so oft ich eine sah, hat es mir wohlgetan.
Sie sind wie große Kinder, so scheu wie zutraulich, und haben in ihren
ungetrübten Augen den unbewußt seligen Blick eines schönen Tieres oder
einer Waldquelle. Man sieht sie an und hat sie lieb, ohne ihrer zu
begehren, und während man sie ansieht, will es einem wehetun, daß diese
feinen Bilder der Jugend und Menschenblüte auch einmal altern und
vergehen müssen.

Bald schlief ich ein, und es mag von der Ofenwärme gekommen sein, daß
mir träumte, ich liege am Felsgestade einer südlichen Insel, spüre die
heiße Sonne auf meinen Rücken brennen und sähe einem braunen Mädchen zu,
das allein in einer Barke seewärts ruderte und langsam ferner und
kleiner wurde.


Morgengang

Erst als der Ofen erkaltet war und mir die Füße starr wurden, wachte ich
frierend auf, und da war es auch schon Morgen und nebenzu in der Küche
hörte ich jemand den Herd anheizen. Draußen lag, zum ersten Mal in
diesem Herbst, ein dünner Reif auf den Wiesen. Ich war vom harten Liegen
steif und mitgenommen, aber gut ausgeschlafen. In der Küche, wo die alte
Magd mich begrüßte, wusch ich mich am Wasserstein und bürstete meine
Kleider aus, die gestern bei dem windigen Wetter sehr staubig geworden
waren.

Kaum saß ich in der Stube beim heißen Kaffee, da kam der Gast aus der
Stadt herein, grüßte höflich und setzte sich zu mir an den Tisch, wo
schon für ihn gedeckt war. Er tat aus einer flachen Reiseflasche ein
wenig alten Kirschgeist in seine Tasse und bot auch mir davon an.

»Danke,« sagte ich, »ich trinke keinen Schnaps.«

»Wirklich? Sehen Sie, ich muß es tun, weil ich die Milch sonst nicht
vertragen kann, leider. Jeder hat ja so seinen Bresten.«

»Na, wenn Ihnen sonst nichts fehlt, dürfen Sie nicht klagen.«

»Gewiß, ja. Ich klage auch nicht. Es liegt mir fern -- --«

Er gehörte zu den Leuten, denen es ein Bedürfnis ist, sich recht oft
ohne Ursache zu entschuldigen. Zwar weiß ich, daß diese Art von Narren
leicht lästig wird und daß ihre Bescheidenheit, sobald sie irgendwie zu
Courage kommen, ins Gegenteil umschlägt, doch sind sie immerhin amüsant
und ich habe sie nicht ungern. Im übrigen machte er einen anständigen
Eindruck, etwas zu höflich, aber intelligent und offen. Gekleidet war er
kleinstädtisch, sehr solid und sauber, aber schwerfällig.

Auch er musterte mich, und da er mich in Kniehosen sah, fragte er, ob
ich auf dem Veloziped gekommen sei.

»Nein, zu Fuß.«

»So so. Eine Fußtour, ich verstehe. Ja, der Sport ist eine schöne Sache,
wenn man Zeit hat.«

»Sie haben Holz gekauft?«

»O, eine Kleinigkeit, nur für den eigenen Bedarf.«

»Ich dachte, Sie wären Holzhändler.«

»Nein, doch nicht. Ich habe ein Tuchgeschäft. Das heißt einen Tuchladen,
wissen Sie.«

Wir aßen Butterbrot zum Kaffee, und während er sich Butter nahm, fielen
mir seine wohlgebildeten langen und schmalen Hände auf.

Den Weg nach Ilgenberg schätzte er auf sechs Stunden. Er hatte seinen
Wagen da und lud mich freundlich zum Mitfahren ein, doch nahm ich nicht
an. Ich fragte nach Fußwegen und bekam leidliche Auskunft. Dann rief ich
die Wirtin und zahlte meine kleine Zeche, steckte Brot in die Tasche,
sagte dem Kaufmann Adieu und ging die Treppe hinab und durch die
gepflasterte Flur in den kalten Morgen hinaus.

Vor dem Hause stand des Tuchhändlers Gefährt, eine leichte zweisitzige
Kutsche, und eben zog ein Knecht den Gaul aus dem Stall, ein kleines
fettes Rößlein, das weiß und rötlich wie eine Kuh gefleckt war.

Der Weg führte talaufwärts, eine Strecke den Bach entlang, dann
ansteigend gegen die Waldhöhen. Indem ich allein dahin marschierte, fiel
mir ein, daß ich im Grunde alle meine Wege so einsam gemacht habe, und
nicht nur die Spaziergänge, sondern alle Schritte meines Lebens. Freunde
und Verwandte, gute Bekannte und Liebschaften waren ja immer dabei, aber
sie umfaßten mich nie, erfüllten mich nie, rissen mich nie in andere
Bahnen als die ich selber einschlug. Vielleicht ist jedem Menschen, er
sei wie er wolle, wie einem geschleuderten Ball seine Wurfbahn
vorgezeichnet und er folgt einer längst bestimmten Linie, während er das
Schicksal zu zwingen oder zu hänseln meint. Jedenfalls aber ruht das
»Schicksal« in uns und nicht außer uns, und damit bekommt die Oberfläche
des Lebens, das sichtbare Geschehen, eine gewisse Unwichtigkeit, etwas
ergötzlich Spielzeughaftes, dessen Anblick einen stillen Zuschauer sein
Leben lang angenehm beschäftigen kann. Was man gewöhnlich schwer nimmt
und gar tragisch nennt, wird dann oft zur Bagatelle. Und dieselben
Leute, die vor dem Anschein des Tragischen in die Kniee sinken, leiden
und gehen unter an Dingen, die sie nie beachtet haben.

Ich dachte: Was treibt mich jetzt, mich freien Mann, nach dem Städtlein
Ilgenberg, wo Häuser und Menschen mich nichts mehr angehen und wo ich
kaum anderes als Enttäuschung und vielleicht Leid zu finden hoffen kann?
Und ich sah mir selber verwundert zu, wie ich ging und ging und zwischen
Humor und Bangigkeit hin und wider schwankte.

Es war ein schöner Morgen, die herbstliche Erde und Luft vom ersten
Winterduft gestreift, dessen herbe Klarheit mit dem Steigen des Tages
abnahm. Große Starenzüge strichen in schöner keilförmiger Ordnung mit
lautem Schwirren über die Felder. Im Tale zog langsam die Herde eines
Wanderschäfers hin, und mit ihrem leichten Staube vermischte sich der
dünne blaue Rauch aus des Schäfers Pfeife. Das alles samt den Bergzügen,
farbigen Waldrücken und weidenbestandenen Bachläufen stand in der
glasklaren Luft frisch wie ein gemaltes Bild, und die ergreifende
Schönheit der Erde redete ihre leise, sehnsüchtige Sprache, unbekümmert
wer sie höre.

Das ist mir immer wieder sonderbar, unbegreiflich und hinreißender als
alle Fragen und Taten des Tages und Menschengeistes: wie ein Berg sich
in den Himmel reckt und wie die Lüfte lautlos in einem Tale ruhen, wie
gelbe Birkenblätter vom Zweige gleiten und Vogelzüge durch die Bläue
fahren. Da greift einem das ewig Rätselhafte so beschämend und so süß
ans Herz, daß man allen Hochmut ablegt, mit dem man sonst über das
Unerklärliche redet, und daß man doch nicht erliegt, sondern alles
dankbar annimmt und sich bescheiden und stolz als Gast des Weltalls
fühlt.

Am Saume des Waldes flog mit lautklatschendem Flügelschlagen ein
Wildhuhn vor mir aus dem Unterholz. Braune Brombeerblätter an langen
Ranken hingen über den Weg herein, und auf jedem Blatte lag seidig der
durchsichtig dünne Reif, silbrig flimmernd wie die feinen Härchen auf
einem Stück Sammet. Wenn einem Maler oder Kunststicker oder Keramiker
eine halbe Nachahmung solcher Töne gelingt, so reißt man in der Stadt
die Augen auf.

Als ich nach längerem Steigen im Walde eine Höhe und eine
aussichtsreiche freie Halde erreichte, kannte ich mich bald wieder in
der Landschaft aus. Den Namen des Dörfleins, in dem ich genächtigt
hatte, wußte ich aber nicht und habe auch nicht nach ihm gefragt.

Mein Weg führte am Rand des Waldes weiter, der hier die Wetterseite
hatte, und ich fand meine Kurzweil an den kühnen, bedeutungsvoll
grotesken Formen der Stämme, Äste und Wurzeln. Nichts kann die Phantasie
stärker und inniger beschäftigen. Zuerst herrschen meistens komische
Eindrücke vor: Fratzen, Spottgestalten, und Karikaturen bekannter
Gesichter werden in Wurzelverschlingungen, Erdspalten, Astgebilden,
Laubmassen erkennbar. Dann ist das Auge geschärft und sieht, ohne zu
suchen, ganze Heere von wunderlichen Formen. Das Komische verschwindet,
denn alle diese Gebilde stehen so entschlossen, keck und unverrückbar
da, daß ihre schweigende Schar bald Gesetzmäßigkeit und ernste
Notwendigkeit verkündet. Und endlich werden sie unheimlich und
anklagend. Es ist nicht anders, der wandelbare und maskentragende Mensch
erschrickt, sobald er ernsthaft zusieht, vor den Zügen jedes natürlich
Gewachsenen. Denselben Eindruck wie vor den Formen des Gesteins und der
Bäume hatte ich einst vor einigen Photographieen von Indianern, deren
gewaltige, furchtbare Gesichter Züge wie von Holz oder Eisen hatten --
vielleicht auch Masken, aber unveränderliche.

Es ist lustig, im Umrisse eines Berggipfels ein Gesichtsprofil zu
entdecken und in einem Felsen die Figur eines Tieres. Aber wer nie
anders als so betrachtet, wer nie übers Zufällige hinaus die natürlich
entstandenen Formen vergleicht und sieht, wem diese Formen nie zu
ergreifenden Gebärden, zu stummer Sprache, zu gefesselter Kraft und
Leidenschaft werden, der ist ein Tropf, und es gibt nichts
Ärgerlicheres, als eine Strecke weit mit so einem wandern zu müssen.


Ilgenberg

Das Dorf, das ich nach zwei Stunden auf Fußwegen erreichte, hieß
Schluchtersingen und war mir von einem früheren Besuche her bekannt. Als
ich durch die Dorfgasse schritt, sah ich vor einem neugebauten Gasthof
einen Wagen stehen und erkannte sofort das Gefährt des Kaufmanns aus
Ilgenberg und sein kleines, sonderbar geflecktes Pferd.

Er selber trat gerade aus der Türe, um wieder einzusteigen, als er mich
daherkommen sah. Sogleich grüßte er lebhaft und winkte mir zu.

»Ich habe hier noch Geschäfte gehabt, fahre jetzt aber direkt nach
Ilgenberg. Wollen Sie nicht mitkommen? Das heißt, wenn Sie nicht lieber
zu Fuß gehen.«

Er sah so gutmütig aus und mein Verlangen nach dem Ziel meiner Reise war
allmählich so gespannt, daß ich annahm und einstieg. Er gab dem
Hausknecht ein Trinkgeld, nahm die Zügel und fuhr los. Der Wagen lief
gar leicht und bequem auf der guten, harten Straße und mir tat nach
tagelangem Fußgängertum das herrschaftliche Gefühl des Fahrens wohl.

Wohl tat mir auch, daß der Kaufmann keine Versuche machte mich
auszufragen. Ich wäre sonst sogleich wieder ausgestiegen. Er fragte nur,
ob ich auf einer Erholungsreise sei und ob ich die Gegend schon kenne.

»Wo steigt man denn jetzt in Ilgenberg am besten ab?« fragte ich.
»Früher war der Hirschen gut; der Besitzer hieß Böliger.«

»Der lebt nimmer. Die Wirtschaft hat jetzt ein Fremder, ein Bayer, und
sie soll zurückgegangen sein. Doch will ich das nicht beschwören, ich
hab’s vom Hörensagen.«

»Und wie ist’s mit dem Schwäbischen Hof? Da war seinerzeit einer namens
Schuster drauf.«

»Der ist noch da, und das Haus gilt für gut.«

»Dann will ich dort einkehren.«

Mehrmals machte mein Begleiter Miene, sich mir vorzustellen, doch ließ
ich es nicht dazu kommen. So fuhren wir durch den lichten, farbigen Tag.

»Es geht so doch ringer als zu Fuß,« meinte der Ilgenberger.

»Das wohl, ja. Ein Freund von mir, ein Basler, hat das auch
herausgefunden. Er schwärmt für Fußtouren, aber im zweiten oder dritten
Dorf nimmt er jedesmal einen Einspänner und steigt dann erst kurz vor
der Stadt wieder ab.«

»Die Art kenn ich, ja. Aber zu Fuß ist es gesünder.«

»Wenn man gute Stiefel hat. Übrigens ist Ihr Gaul ein lustiger Patron,
mit seinen Flecken.«

Er seufzte ein wenig und lachte dann.

»Fällt’s Ihnen auch auf? Freilich, die Flecken sind gespäßig. In der
Stadt haben sie ihn mir >die Kuh< getauft, und man soll die Leute
spotten lassen, aber es ärgert mich doch.«

»Gehalten ist das Tier gut.«

»Nicht wahr? Es geht ihm nichts ab. Sehen Sie, ich hab’ das Rößlein
gern. Jetzt spitzt es schon die Ohren, weil wir von ihm reden. Es ist
sieben Jahr alt.«

In der letzten Stunde redeten wir wenig mehr. Mein Begleiter schien
ermüdet, und mir nahm der Anblick der mit jedem Schritt vertrauter
werdenden Gegend alle Gedanken gefangen. Ein bangköstliches Gefühl, Orte
der Jugendzeit wiederzusehen! Erinnerungen blitzen in verwirrender Menge
auf, man lebt ganze Entwicklungen in traumhafter Sekundeneile wieder
durch, unwiederbringlich Verlorenes blickt uns heimatlich und
schmerzlich an.

Eine schwache Erhöhung über die unser Wagen im Trabe lief, öffnete den
Blick auf die Stadt. Zwei Kirchen, ein Mauerturm, der hohe Rathausgiebel
lachten aus dem Gewirre der Häuser, Gassen und Gärten herüber. Daß ich
den humoristischen Zwiebelturm einmal mit Rührung und klopfendem Herzen
begrüßen würde, hätte ich damals nicht gedacht. Er schielte mich mit
seinem heimlichen Kupferglanz behaglich an, als kenne er mich noch und
als habe er schon ganz andere Ausreißer und Weltstürmer als bescheidene
und stille Leute heimkommen sehen.

Noch sah ich die unvermeidlichen Veränderungen, Neubauten und
Vorstadtstraßen nicht, alles sah aus wie vorzeiten, und mich überfiel
beim Anblick die Erinnerung wie ein heißer Südsturm. Unter diesen Türmen
und Dächern hatte ich die märchenhafte Jugendzeit gelebt,
sehnsuchtsvolle Tage und Nächte, wunderbare schwermütige Frühlinge und
lange, in der schlecht geheizten Mansarde verträumte Winter. In diesen
Gartensträßchen war ich nachts in Liebeszeiten brennend und verzweifelnd
umhergewandert, den heißen Kopf voll von abenteuerlichen Plänen. Und
hier war ich glücklich gewesen wie ein Seliger über den Gruß eines
Mädchens und über die ersten schüchternen Gespräche und Küsse unserer
Liebe.

»Ja, es zieht sich noch,« sagte der Kaufmann, »aber in zehn Minuten sind
wir daheim.«

Daheim! dachte ich. Du hast gut reden.

Garten um Garten, Bild um Bild glitt an mir vorüber, Dinge, an die ich
nie mehr gedacht hatte und die mich nun empfingen, als sei ich nur für
Stunden fortgewesen. Ich hielt es nimmer im Wagen aus.

»Bitte halten Sie einen Augenblick, ich gehe von hier vollends zu Fuß
hinein.«

Etwas erstaunt zog er die Zügel an und ließ mich absteigen. Ich hatte
ihm schon gedankt und die Hand gedrückt und wollte gehen, da hustete er
und sagte: »Vielleicht sehen wir uns noch, wenn Sie im Schwäbischen Hof
wohnen wollen. Darf ich um Ihren Namen bitten?«

Zugleich stellte er sich vor. Er hieß Herschel und war, ich konnte nicht
zweifeln, Julies Mann.

Ich hätte ihn am liebsten erschlagen, doch nannte ich meinen Namen, zog
den Hut und ließ ihn weiterfahren. Also das war Herr Herschel. Ein
angenehmer Mann, und wohlhabend. Wenn ich an Julie dachte, was für ein
stolzes und prächtiges Mädchen sie gewesen war und wie sie meine
damaligen phantastisch kühnen Ansichten und Lebenspläne verstanden und
geteilt hatte, dann würgte es mich im Halse. Mein Zorn war augenblicks
verflogen. Gedankenlos in tiefer, hilfloser Traurigkeit ging ich durch
die alte, kahle Kastanienallee in das Städtchen hinein.

Im Gasthaus war gegen früher alles ein wenig feiner und modern geworden,
es gab sogar ein Billard und vernickelte Serviettenbehälter, die wie
Globusse aussahen. Der Wirt war noch derselbe, Küche und Keller waren
einfach und gut geblieben. Im alten Hof stand noch der schlanke
Ahornbaum und lief noch der zweiröhrige Trogbrunnen, in deren kühler
Nachbarschaft ich manche warme Sommerabende bei einem Bier vertrödelt
hatte.

Nach dem Essen machte ich mich auf und schlenderte langsam durch die
wenig veränderten Straßen, las die alten wohlbekannten Namen auf den
Ladenschildern, ließ mich rasieren, kaufte einen Bleistift, sah an den
Häusern hinauf und strich an den Zäunen hin durch die ruhigen Gartenwege
der Vorstadt. Eine Ahnung beschlich mich, daß meine Ilgenberger Reise
eine große Torheit gewesen sei, und doch schmeichelte mir Luft und Boden
heimatlich und wiegte mich in umrißlose, schöne, wirre Erinnerungen. Ich
ließ keine einzige Gasse unbesucht, stieg auf den Kirchturm, las die ins
Gebälk des Glockenstuhls geschnitzten Lateinschülernamen, stieg wieder
hinunter und las die öffentlichen Anschläge am Rathaus, bis es anfing zu
dunkeln.

Dann stand ich auf dem unverhältnismäßig großen, öden Marktplatz,
schritt die lange Reihe der alten Giebelhäuser ab, stolperte über
Vortreppen und Pflasterlücken und hielt am Ende vor dem Herschelschen
Hause an. Am kleinen Laden wurden gerade die Rolläden heruntergelassen,
im ersten Stockwerk hatten vier Fenster Licht. Ich stand unschlüssig da
und schaute am Haus hinauf, müde und beklommen. Ein kleiner Junge
marschierte den Platz herauf und pfiff den Jungfernkranz; als er mich
dastehen sah, hörte er zu pfeifen auf und sah mich beobachtend an. Ich
schenkte ihm zehn Pfennig und hieß ihn weitergehen. Dann kam ein
Lohndiener und bot sich mir an.

»Danke,« sagte ich, und plötzlich hatte ich den Glockenzug in der Hand
und schellte kräftig.


Julie

Die schwere Haustür ging zögernd auf, im Spalt erschien das Gesicht
einer jungen Dienstmagd. Ich fragte nach dem Hausherrn und wurde eine
dunkle Treppe hinaufgeführt. Im Gang oben brannte ein Öllicht, und
während ich meine angelaufene Brille abnahm, kam Herschel heraus und
begrüßte mich.

»Ich wußte, daß Sie kommen würden,« sagte er halblaut.

»Wie konnten Sie das wissen?«

»Durch meine Frau. Ich weiß, wer Sie sind. Aber legen Sie, bitte, ab.
Hier, wenn ich bitten darf. -- Es ist mir ein Vergnügen. -- O, bitte.
So, ja.«

Es war ihm offenbar nicht sonderlich wohl, und mir auch nicht. Wir
traten in ein kleines Zimmer, wo auf dem weißgedeckten Tisch eine Lampe
brannte und zum Abendessen serviert war.

»Hier also. Meine Bekanntschaft von heute morgen, Julie. Darf ich
vorstellen, Herr -- --«

»Ich kenne Sie,« sagte Julie und erwiderte meine Verbeugung durch ein
Nicken, ohne mir die Hand zu geben.

»Nehmen Sie Platz.«

Ich saß auf einem Rohrsessel, sie auf dem Diwan. Ich sah sie an. Sie war
kräftiger, schien aber kleiner als früher. Ihre Hände waren noch jung
und fein, das Gesicht frisch, aber voller und härter, noch immer stolz,
aber gröber und glanzlos. Ein Schimmer von der ehemaligen Schönheit und
zarten Anmut war noch vorhanden, an den Schläfen und in den Bewegungen
der Arme, ein leiser Schimmer -- --

»Wie kommen Sie denn nach Ilgenberg?«

»Zu Fuß, gnädige Frau.«

»Haben Sie Geschäfte hier?«

»Nein, ich wollte nur die Stadt wieder einmal sehen.«

»Wann waren Sie denn zuletzt hier?«

»Vor zehn Jahren. Sie wissen ja. Übrigens fand ich die Stadt nicht
allzusehr verändert.«

»Wirklich? Sie hätte ich kaum wieder erkannt.«

»Ich Sie sofort, gnädige Frau.«

Herr Herschel hustete.

»Wollen Sie nicht zum Abendessen bei uns vorlieb nehmen?«

»Wenn es Sie gar nicht stört --«

»Bitte sehr, nur ein Butterbrot.«

Es gab jedoch kalten Braten mit Gallerte, Bohnensalat, Reis und gekochte
Birnen. Getrunken wurde Tee und Milch. Der Hausherr bediente mich und
machte ein wenig Konversation. Julie sprach kaum ein Wort, sah mich aber
zuweilen hochmütig und mißtrauisch an als möchte sie herausbringen,
warum ich eigentlich gekommen sei. Wenn ich es nur selber gewußt hätte!

»Haben Sie Kinder?« fragte ich, und nun wurde sie ein wenig
gesprächiger. Schulsorgen, Krankheiten, Erziehungssorgen, alles im
besseren Philisterstil.

»Ein Segen ist ja die Schule trotz alledem doch,« sagte Herschel
dazwischen.

»Wirklich? Ich dachte immer, ein Kind sollte möglichst lange
ausschließlich von den Eltern erzogen werden.«

»Man sieht, Sie selber haben keine Kinder.«

»Ich bin nicht so glücklich.«

»Aber Sie sind verheiratet?«

»Nein, Herr Herschel, ich lebe allein.«

Die Bohnen würgten mich elend, sie waren schlecht entfädet.

Als das Essen abgetragen war, schlug der Mann eine Flasche Wein vor, was
ich nicht ablehnte. Wie ich gehofft hatte, ging er selber in den Keller,
und ich blieb eine Weile mit der Frau allein.

»Julie,« sagte ich.

»Was beliebt?«

»Sie haben mir noch nicht einmal die Hand gegeben.«

»Ich hielt es für richtiger --«

»Wie Sie wollen. -- Es freut mich zu sehen, daß es Ihnen gut geht. Es
geht Ihnen doch gut?«

»O ja, wir können zufrieden sein.«

»Und damals -- sagen Sie mir, Julie, denken Sie nie mehr an damals?«

»Was wollen Sie von mir? Lassen wir doch die alten Geschichten ruhen! Es
ist gekommen, wie es kommen mußte und wie es für uns alle gut war, meine
ich. Sie haben schon damals nicht recht nach Ilgenberg hereingepaßt, mit
allen Ihren Ideen, und es wäre nicht das Richtige gewesen --«

»Gewiß, Julie. Ich will nichts Geschehenes ungeschehen wünschen. Ich
wollte nur irgend ein Wort von damals hören, eine Erinnerung. Sie sollen
nicht an mich denken, gewiß nicht, aber an alles andere, was dazumal
schön und lieb war. Es ist doch unsere Jugendzeit gewesen, und die
wollte ich noch einmal aufsuchen und ihr ins Auge sehen.«

»Bitte, reden Sie von anderem. Für Sie mag es anders sein, aber für mich
liegt zu viel dazwischen.«

Ich sah sie an. Alle Schönheit von damals hatte sie verlassen, sie war
nur noch Frau Herschel.

»Allerdings,« sagte ich grob und hatte nichts dagegen, als nun der Mann
mit zwei Flaschen Wein zurückkam. Die erste Flasche wurde aufgemacht und
ich war nicht verletzt, als Julie das Mittrinken ablehnte.

Es war schwerer Burgunder, und Herschel, der sichtlich kein Weintrinker
war, begann schon beim zweiten Glase anders zu werden. Er fing an, seine
Frau mit mir zu necken. Als sie nicht darauf einging, lachte er und
stieß sein Glas an meines.

»Zuerst wollte sie Sie gar nicht ins Haus haben,« vertraute er mir an.

Julie stand auf.

»Entschuldigen Sie, ich muß nach den Kindern sehen. Das Mädel ist noch
immer nicht ganz wohl.«

Damit ging sie hinaus, und ich wußte, sie würde nicht zurückkommen. Ihr
Mann machte zwinkernd die zweite Flasche auf.

»Sie hätten das vorher nicht sagen dürfen,« warf ich ihm vor.

Er lachte nur.

»Lieber Gott, so grätig ist sie schließlich nicht, daß sie das
übelnimmt. Trinken Sie doch! Oder schmeckt Ihnen der Wein nicht?«

»Der Wein ist gut.«

»Nicht wahr? Ja, sagen Sie, wie war denn das nun damals mit Ihnen und
meiner Frau? Kindereien, was?«

»Kindereien. Doch tun Sie besser, nicht davon zu reden.«

»Gewiß -- freilich -- ich will ja nicht indiskret sein. Zehn Jahre ist
es her, nicht?«

»Verzeihen Sie, ich muß es vorziehen jetzt zu gehen.«

»Warum denn schon?«

»Es ist besser. Vielleicht sehen wir uns ja morgen noch.«

»Na, wenn Sie durchaus gehen wollen --. Warten Sie, ich leuchte Ihnen.
Und wann kommen Sie morgen?«

»Nach Mittag, denke ich.«

»Also gut, zum schwarzen Kaffee. Ich begleite Sie ins Hotel. Nein, ich
bestehe darauf. Wir können ja dort noch etwas zusammen nehmen.«

»Danke, ich will zu Bett, ich bin müde. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau,
bis morgen.«

Vor der Haustür schob ich ihn ab und ging allein davon, über den großen
Marktplatz und durch die stillen dunkeln Straßen. Ich lief noch lange in
der kleinen Stadt herum, und wenn von irgend einem alten Dach ein Ziegel
gefallen wäre und hätte mich erschlagen, so wäre es mir auch recht
gewesen. Ich Narr! Ich Narr!


Nebel

Am Morgen wachte ich zeitig auf und beschloß, sogleich weiter zu
wandern. Es war kalt und ein Nebel lag so dicht, daß man kaum über die
Straße sah. Frierend trank ich Kaffee, bezahlte Zeche und Nachtlager und
ging mit langen Schritten in die dämmernde Morgenstille hinein.

Rasch erwarmend ließ ich Stadt und Gärten hinter mir und drang in die
schwimmende Nebelwelt. Das ist immer wunderlich ergreifend zu sehen, wie
der Nebel alles Benachbarte und scheinbar Zusammengehörige trennt, wie
er jede Gestalt umhüllt und abschließt und unentrinnbar einsam macht. Es
geht auf der Landstraße ein Mann an dir vorbei, er treibt eine Kuh oder
Ziege oder schiebt einen Karren oder trägt ein Bündel, und hinter ihm
her trabt wedelnd sein Hund. Du siehst ihn herkommen und sagst Grüß
Gott, und er dankt; aber kaum ist er an dir vorbei und du wendest dich
und schaust ihm nach, so siehst du ihn alsbald undeutlich werden und
spurlos ins Graue hinein verschwinden. Nicht anders ist es mit den
Häusern, Gartenzäunen, Bäumen und Weinberghecken. Du glaubtest die ganze
Umgebung auswendig zu kennen und bist nun eigentümlich erstaunt, wie
weit jene Mauer von der Straße entfernt steht, wie hoch dieser Baum und
wie niedrig jenes Häuschen ist. Hütten, die du eng benachbart glaubtest,
liegen einander nun so ferne, daß von der Türschwelle der einen die
andere dem Blick nicht mehr erreichbar ist. Und du hörst in nächster
Nähe Menschen und Tiere, die du nicht sehen kannst, gehen und arbeiten
und Rufe ausstoßen. Alles das hat etwas Märchenhaftes, Fremdes,
Entrücktes, und für Augenblicke empfindest du das Symbolische darin
erschreckend deutlich. Wie ein Ding dem andern und ein Mensch dem
andern, er sei wer er wolle, im Grunde unerbittlich fremd ist, und wie
unsere Wege immer nur für wenig Schritte und Augenblicke sich kreuzen
und den flüchtigen Anschein der Zusammengehörigkeit, Nachbarlichkeit und
Freundschaft gewinnen.

Verse fielen mir ein und ich sagte sie im Gehen leise vor mich hin:

   Seltsam, im Nebel zu wandern!
   Einsam ist jeder Busch und Stein,
   kein Baum sieht den andern,
   jeder ist allein.

   Voll von Freunden war mir die Welt,
   als noch mein Leben licht war;
   nun, da der Nebel fällt,
   ist keiner mehr sichtbar.

   Wahrlich, keiner ist weise,
   der nicht das Dunkel kennt,
   das unentrinnbar und leise
   von Allen ihn trennt.

   Seltsam, im Nebel zu wandern!
   Leben ist Einsamsein.
   Kein Mensch kennt den andern,
   jeder ist allein.

                                 Ende

            Buchdruckerei Roitzsch, G. m. b. H., Roitzsch



Anmerkungen zur Transkription

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
gekennzeichnet. Fremdsprachige Textstellen, die im Original in Antiqua
gesetzt sind, wurden ^so^ markiert.

Einfache Anführungszeichen wurden durch “>” und “<” ersetzt.

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   [S. 14]:
   ... geschwisterlich hin und wieder. Das geht doch ...
   ... geschwisterlich hin und wider. Das geht doch ...

   [S. 18]:
   ... mit der Mutter ...
   ... mit der Mutter. ...

   [S. 46]:
   ... Am Nachmitag aber, während ihm auf seine ...
   ... Am Nachmittag aber, während ihm auf seine ...

   [S. 52]:
   ... Staub fielen ...
   ... Staub fielen. ...

   [S. 144]:
   ... ungleich und träumend hin und wieder, der Himmel ...
   ... ungleich und träumend hin und wider, der Himmel ...

   [S. 150]:
   ... herzlich hatte lachen hören. Er war ein Esel gegewesen, ...
   ... herzlich hatte lachen hören. Er war ein Esel gewesen, ...

   [S. 189]:
   ... wie das andre, sondern er zog die Märchen und und Sagen ...
   ... wie das andre, sondern er zog die Märchen und Sagen ...

   [S. 198]:
   ... Abendhimmel noch in schwachem mildblauen ...
   ... Abendhimmel noch in schwachem mildblauem ...

   [S. 204]:
   ... ließ er weg, aber die Babett fügte ein solche aus ...
   ... ließ er weg, aber die Babett fügte eine solche aus ...

   [S. 211]:
   ... »Dann weiß ich dir gleich etwas,« rief Babette ...
   ... »Dann weiß ich dir gleich etwas,« rief Babett ...

   [S. 213]:
   ... Babette trug einen ungeheuer großen und massiven ...
   ... Babett trug einen ungeheuer großen und massiven ...

   [S. 243]:
   ... und Pflichten des alltäglichen Lebens teilnahmlos ...
   ... und Pflichten des alltäglichen Lebens teilnahmslos ...





*** End of this Doctrine Publishing Corporation Digital Book "Diesseits: Erzählungen" ***




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