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Title: Die Schwestern Hellwege Author: Gysae, Otto Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Schwestern Hellwege" *** Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Folgende Zeichen sind für die verschiedenen Schriftformen benutzt worden: ~gesperrt gedruckter Text~ =antiqua gedruckter Text= Die Schwestern Hellwege Dieses Buch wurde als dritter Band der vierten Jahresreihe für die Mitglieder des »Volksverbandes der Bücherfreunde« hergestellt und wird nur an diese abgegeben / Den Einband zeichnete Adolf Propp Die Schwestern Hellwege Roman von Otto Gysae [Illustration] Volksverband der Bücherfreunde Wegweiser-Verlag G.m.b.H. Berlin 1923 I Da stand der Sarg. Frau Hellwege war am Dienstag gestorben, und morgen sollte sie das bäuerische Landhaus verlassen, in dem sie seit des Rechtsanwalts Hellwege Tod mit ihren vier Töchtern Sommer und Winter gelebt hatte. Eine reiche Erziehung, die mit gutem Grunde die Einsamkeit der Heide und die schwerfällige Besonnenheit der Torfbauern aufgesucht hatte, blieb unvollendet. Vor den Kindern stand das Leben mit einer fragenden Geste; die Mutter hatte eine Antwort bekommen, konnte sie ihnen aber nicht mehr sagen. Da stand nun der Sarg. Er ruhte auf zwei Holzblöcken, die inmitten der Diele auf der Strohmatte standen. Es war ein hoher, dämmeriger Raum. Im Hintergrunde führten rechts und links Türen nach draußen; sie waren bis zu Kopfeshöhe geschlossen. Durch den Ausschnitt darüber quoll warmes Licht; in breiten Schichten flirrten Sonnenstäubchen. Sie berührten das Kopfende des Sarges. Hinten saß ein grünschwarzes Dunkel, das die Rückwand der Diele trauernd verhüllte. Vorn standen Schranke und alte Truhen an den bläulichweiß gekalkten Wänden, die in dem Trauerschmuck geringelter Eichenlaubgirlanden befremdet und ernst nach der Mitte blickten. Zu Füßen des Sarges lagen bäuerische Kränze in robusten Farben, noch warm von der Mittagsonne, die stundenlang auf sie herniedergebrannt hatte. Die vordere Tür stand weit offen, und draußen auf Kieswegen und Rasenflecken war gelbes Licht. Ein surrendes Geräusch kam von der geschwärzten Decke herab, wo Fliegen und Mücken durcheinanderschwirrten, und ab und zu ein leise kratzendes Klirren der Eichenblätter an den Wänden. Sehr einsam stand der Sarg. Eine breite Stille hatte sich um ihn gelagert und wachte bei ihm. Durch die Tür guckte mit scheuem Glucksen ein Huhn, aber es traute sich nicht herein und lief mit federndem Schritt wieder auf den Rasen. Das Licht ging weiter und stand als ein graugoldener Streifen hinter dem Sarge. Langsam sank der Sarg in Schatten. Plötzlich kam eine Bewegung in das Licht. Es irrte umher und sammelte sich dann in einer Fülle von blaßblondem Haar, das über schmale Schultern herabflutete. Evelyn trat schüchtern an den Sarg. Sie legte einen großen Strauß Wiesen-Vergißmeinnicht auf den schwarzen Deckel. Wie waren die Knöchel über den kindlichen nackten Füßen fein und intelligent! -- Sie schob einen Kranz zurecht. »Da ist nun mein süßes Muttel drin!« Die Oberlippe zog sich in die Höhe, und die graublauen Augen sahen in Fernen. Da glitten ihre Kinderjahre rauschend vorüber, und in Nebeln stand die Zukunft hinter ihnen. Sie machte eine Bewegung mit der Hand und ging nach der Tür, die vorn zum Wohnzimmer führte. Die wurde von innen geöffnet. Marianne erschien auf der Schwelle. »Hast du ihr Blumen gebracht?« fragte sie die Kleine. »Vergißmeinnicht!« Marianne trat auf die Diele. Ihr junger Körper spottete des einfachen Konfirmationskleides, das für seine weichen Formen zu eng war. Der Stoff konnte die vollen Arme, die Linie der Hüften nicht verhüllen. Aus den Ärmeln, die viel zu kurz waren, hingen die weißen Hände weit heraus. »Es ist schön hier!« sagte sie langsam und blieb vor den Kränzen stehen. Evelyn hatte den Kopf auf die Seite geneigt. »Möchtest du da drin liegen?« fragte sie. »Ich denke es mir schön,« fuhr sie nach einer Weile fort. »Ganz lang sich ausstrecken, den Kopf nach hinten gelehnt, und mein Haar so über die linke Schulter herüber.« Sie faßte ihren blonden Reichtum mit beiden Händen und strich mit den Fingern weich darüber hin. Marianne blickte sie scheu an. »Und dann in die Erde?« »Und dann liegen meine Hände auf dem Haar, hoch oben über der Brust, weißt du, und zwischen den Fingern halte ich Vergißmeinnicht,« sie überlegte einen Augenblick, »oder Margueriten --, was sieht zu meinem Haar besser aus, Marianne?« Marianne schüttelte den Kopf. »Und meine Augen mache ich leise zu, aber ich fühle die Sonne.« »Du bist doch tot!« unterbrach Marianne schwerfällig. »Nachher kommen Männer und legen einen schweren Deckel über dich und nageln ihn zu. Und dann trägt man dich weg in das tiefe Loch ...« »Daran denke ich nicht,« beharrte Evelyn. »Das ganze Dorf kommt dann zusammen und steht hier vor mir. ›Wie schön sie ist!‹ sagen sie alle. Und der Pastor steht zu meinen Füßen und spricht von der Blume, die nun gebrochen ist, und Tante Laura macht ihr heiliges Gesicht, dicke Tränen rollen über ihre Backen. Und ich blinzle ein bißchen, da kann ich von allen grade die gelben Flachshaare sehen, und vom Pastor den breiten schwarzen Rücken. Dann lache ich für mich.« »Pfui, Evy!« sagte Marianne und kniete nieder, um die Kränze zu ordnen. »An was du alles denkst! Bist du denn nicht traurig?« »Ich habe Muttel lieber, als ihr alle. Aber davon kann ich doch nicht sprechen!« sagte Evelyn leise. Marianne schüttelte den Kopf. Plötzlich legte sie sich lang vor den Kränzen hin. Das Kleid strammte über ihre Brust, und ihr Rock schob sich in die Höhe, daß man die runden Beine sah. »Siehst du! Nun legst du dich ja selbst hin!« lachte Evelyn auf. »Das ist etwas anderes!« sagte Marianne. Evelyn glitt zu ihr. Nun lagen sie nebeneinander, die Köpfe halb unter den Blumen versteckt. Evelyn sah einer weißen Lilie in den Kelch. »Hast du Angst vor dem Tode?« fragte sie nachdenklich. Marianne sah mit halbgeöffneten Augen zur Decke hinauf. »Ich weiß nicht. In den Himmel kommen, und Mama wiedersehen, und auch Papa, das ist ja sehr schön. Aber, was tut man dort den ganzen Tag?« »Da ist eine endlos weite Wiese,« sagte Evelyn langsam und schwelgend, »und darüber blauer Himmel und Sonnenschein, Blumen sind da, viele Blumen, und ich liege im Grase, lasse alle meine Glieder los, daß sie mir garnicht mehr gehören und dann erzähle ich mir Märchen ...« »Woher weißt du denn das alles?« fragte Marianne ungeduldig und streckte die Beine wieder aus. Das Laub der Kränze raschelte bei der Bewegung. »Das weiß ich,« sagte Evelyn bestimmt. »Im Himmel ist alles so, wie ich es mir wünsche.« Marianne lachte kurz. »Das glaub ich nicht! Ich will jedenfalls erst mal hier auf der Erde glücklich sein!« »Wie willst du denn glücklich sein, wenn du Angst vor dem Tode hast?« fragte Evelyn. Sie richtete sich auf, stützte die Hände auf die Matte und sah ihrer Schwester ins Gesicht. »Man muß eben gut sein hier auf der Erde!« sagte sie kleinlaut. »Dann kommt man in den Himmel. Und dann braucht man sich vor dem Tode nicht zu fürchten!« Evelyn sah sie spöttisch an. »Deinen Himmel wünsche ich mir nicht!« sagte sie energisch; dann ließ sie sich wieder auf der Matte nieder und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Der Lichtstreifen hinter dem Sarge war mehr und mehr verblaßt und dann verschwunden. Graublaue Dämmerung stand schweigend zwischen den Wänden. Die beiden Mädchen träumten unter dem Sarge von einem fernen Glück. Für Evelyn war es ein traumhaftes Jenseits, für Marianne eine heiße Gegenwart, die schon vor der Tür stand und die Arme nach ihrem sehnsuchtsvollen Leibe ausbreitete. Violette Schleier senkten sich langsam von oben herab. Marianne lag, ohne sich zu rühren, und fühlte ihr Blut rinnen. Evelyn hob die Hand und strich über das Holz des Sarges. Da war eine Stelle so weich. Sie glitt langsam darüber hin. Was mochte das sein? Das Holz war hart; aber diese eine Stelle war ganz weich, wie Seide. Sie faßte wieder hinauf; jetzt war es nur das harte Holz, aber nun hatte sie es wieder, weiter oben. Sie richtete sich auf, um zu sehen, was es eigentlich sei. Sie hob sich in die Höhe -- und dann schrie sie auf. Eine haarige Raupe kroch langsam am Sarg hinauf. Evelyn floh nach der Tür und begann plötzlich zu schluchzen. Marianne wendete sich träge um. »Was hast du?« fragte sie. Evelyn weinte bitterlich. Marianne erhob sich, erblickte die Raupe, nahm sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, trug sie in den Garten und legte sie auf den Rasen. »Da ist doch nichts weiter dabei,« sagte sie gleichmütig. Evelyn weinte nur noch heftiger. »Mein armes Muttel! Mein armes Muttel!« Die Tür zur Rechten tat sich auf, und Agnes Elisabeths rotes Haar wurde sichtbar. »Kinder, kommt zum Abendbrot!« sagte sie sanft und freundlich. Marianne trat neben Evelyn und zog ihr die Hände von den Augen. »Komm, sei vernünftig!« Die Kleine sah eine Weile vor sich hin, dann warf sie den Kopf zurück und folgte Marianne in das Wohnzimmer. Ein großer Raum mit vier niedrigen Fenstern, vor denen weiße Mullvorhänge mit roten Übergardinen hingen. Auf den Fensterbänken blutrote Geranien und schmächtige Zimmerlinden mit großen Blättern. In der Ecke ein rotes Sofa, mit altem Gobelinstoff überzogen, ein zierlicher Damenschreibtisch, an dem Frau Hellwege ihre wenigen Briefe geschrieben hatte, vor dem Kamin ein weißes Bärenfell, blasse Polster, in der Mitte ein runder handfester Tisch. Um ihn herum Bauernstühle mit grünen Seidenkissen, die von den Balltoiletten der Urgroßmutter träumten. Auf der blankgescheuerten Holzplatte des Tisches war zum Abendessen gedeckt. Agnes Elisabeth saß schon an ihrem Platze und schnitt Brot. Der erste Eindruck, den man hatte, war krauses rotgoldenes Haar, das wie Feuer um ihren Kopf glühte, und eine feinknochige Figur. Sie war nicht schön, das Gesicht kühn geschnitten, die Nase fein und fest, die Augen blaßgrau. Julie stand am Fenster. Ein Rest von Licht fiel auf das kapriziöse Ohr und hob die geschwungene Linie, die zur Schulter lief, scharf heraus. Es war ihre beste Linie. Julie liebte es, in der Dämmerung am Fenster zu stehen. Sie wußte von dem mattgoldenen Schleier, der ihre Haut schimmern ließ und alle Schatten ihres blaßblauen Leinenkleides weich machte. Aber Julie war nicht eitel ...? »Bleib sitzen, Agnes Elisabeth, laß mich eingießen!« sagte Evelyn, nahm Tine Schwenke, die große Grünglasierte, ging mit ihr um den Tisch und goß den Tee in die gelben, grünen, blauen Tassen. »Dein Haar sieht wunderschön aus in diesem matten Licht.« Sie hatte ihren Kummer schon vergessen und sah nur die Schönheit, die vor ihr stand. »Früher streute man Asche darauf, wenn man trauerte; das müßte dir stehen! Wie grauer Spitzentüll!« »Was du immer für verrückte Ideen hast, Evelyn,« sagte Marianne. Ihr rundgeschweifter Rücken machte träge die Bewegung des Kauens mit. »Das würde ein netter Schmutzkram werden! Komm, gib mir lieber mal etwas Schinken!« Evelyn lachte und schob ihr einen Teller hin. »Du bist das materiellste Geschöpf, das ich kenne.« »Man sieht ja auch, wo es bleibt!« warf Julie ein. Marianne nahm sich ein Stück Schinken und sah über den Tisch. »Ich weiß nicht, es ist so ungemütlich heute,« sagte sie. »Warum haben wir eigentlich kein Tischtuch?« »Julie findet es hübscher,« antwortete Agnes Elisabeth. »Warum soll sie nicht ihren Willen haben? Schön finde ich es ja auch nicht.« Marianne schüttelte den Kopf. »Was tun wir nun mit unseren Kleidern?« Julie lachte. »Wir können ja nachsehen; Vielleicht hängen unsere Konfirmationskleider noch irgendwo auf dem Boden.« Sie strich langsam über ihren bloßen Arm. »Dicke, wenn du nur so viel Schönheitssinn hättest, wärest du heute nicht in diesem Auszug erschienen!« Sie zeigte es an ihrem Fingernagel. »Es gibt eben verschiedene Arten von Schönheitssinn,« sagte Evelyn. »Marianne tut es auf ihre Weise. Sie liest jeden Abend in einem Goldschnittbuch über Teintpflege; danach braut sie sich dann alles mögliche zusammen, Salben und Tinkturen.« Evelyn lachte. »Davon hat sie auch ihre rosige Farbe,« sagte Julie. Marianne schob die Unterlippe vor. Evelyn lachte. »Komm, iß!« »Nun seid mal still,« sagte Agnes Elisabeth. »Überlegt euch lieber mal, wie wir es nun mit dem Trauern machen wollen. Wir können die Leute nicht so vor den Kopf stoßen, wenn sie morgen zum Begräbnis kommen. Denkt euch Tante Lauras Entsetzen. Wir haben sie schon genug verletzt, weil wir sie jetzt nicht hier haben wollen.« »Ach, sie ist nur unglücklich, weil sie nicht den ganzen Tag hier am Sarg sitzen und weinen darf,« warf Julie ein. »Ich habe noch mein Kleid von Vaters Tod, das zieh’ ich an,« sagte Agnes Elisabeth bestimmt. »Ich behalte das Kleid an, das ich jetzt trage!« gab Julie zurück. »In dem hat Mama mich immer gern gesehen.« In der Tür erschien Gesch Margret, das Mädchen, mit einem Kranz von Lavendel, Reseden und Flocks. »Hier, Fräulein Hellwege, ik schall ok velmals gröten von Fro Klattenberg. Un de Fräuleins schullen man nich to trurig sin. Un denn let se ok frogen, we dat mit denn Botterkoken to de Beerdigung wern schull?« »Schade, daß der Flocks drin ist, sonst wäre er hübsch,« warf Julie ein. »Ja, Gesch Margret, ich denke, wir nehmen drei große Platten,« meinte Agnes Elisabeth. »Und dann viel Kaffee.« Gesche schluchzte hinter ihrer Schürze. Die grüne Tür schloß sich. Die Gardine am Türfenster flatterte noch einen Augenblick hin und her. Evelyn zog ihr Taschentuch heraus. Dann legte sie ihren bloßen Arm auf den Tisch, beugte den Kopf darüber und weinte. Julie sah nachdenklich zum Fenster hinaus; hinter der Sauberkeit der steifen Gardinen schwieg die Abendluft. Marianne blickte an ihrer schwarzen Fülle hinunter. Eine Stille kam langsam ins Zimmer und streckte sich schwer über die Schwestern aus. Da draußen vor der Tür lag die Mutter, das fühlten sie plötzlich wieder. Der Tod stand drüben auf der dunkeln Diele; sie fühlten seine Nähe. Nach einer Weile stand Agnes Elisabeth leise auf, ging zu Evelyn, hob sie sanft auf und zog sie auf ihren Schoß. Evelyns Kopf fiel müde an ihre Schulter. Agnes Elisabeths Hand glitt über die blasse Wange der kleinen Schwester. »Siehst du, Muttchen geht es nun gut. Nun hat sie keine Schmerzen mehr, nur Ruhe, die sie immer so gern mochte.« Der blonde Kopf schmiegte sich mit leisem Rascheln an das blaßgrüne Kattunkleid. Agnes Elisabeth wußte plötzlich, daß sie nun Evelyns Mutter war, daß sie die Kleine liebhaben würde wie ihr Kind und auf sie achten und sie beschützen würde. »Wir haben Muttchen doch so lieb,« fuhr sie leise fort. »Darum freuen wir uns, daß es ihr gut geht. Wir brauchen nicht zu weinen.« Evelyn zog die Knie herauf und kauerte nun wie ein Kind auf der Schwester Schoß. Agnes Elisabeth strich über die schmalen Beine und die kleinen Füße. Die waren ganz kalt. Mit einer weichen, mütterlichen Bewegung faßte sie hinüber nach dem Sessel, nahm den Schal und wickelte die Füße hinein. Die Kleine lag ganz still. Vielleicht wußte sie, daß sie doch noch eine Mutter hatte?! Julie stand auf und nahm ein Paket vom Schreibtisch. »Ich kann wohl die Lampe anzünden?« Agnes Elisabeth nickte und setzte sich mit Evelyn aufs Sofa; sie schmiegte sich in die Kissen und sah vor sich hin. Evelyns Arme glitten langsam herab. »Ich bin nämlich so müde, so müde, du!« Gesch Margret kam, um abzudecken. Julie zündete die Hängelampe an. Weiches Licht lag nun auf Tisch und Teppich; oben, durch einen seidenen Schirm gedämpft, verlor es sich im Zwielicht. Marianne ließ sich in den Schaukelstuhl sinken. »Hol dir doch eine Handarbeit, Marianne,« sagte Agnes Elisabeth. »Du kannst doch nicht immer so faul im Lehnstuhl sitzen.« »Hm!« machte Marianne, stand schwerfällig auf und kramte in einer Schieblade. Julie öffnete das Paket, breitete Briefe vor sich aus und begann sie zu ordnen. »Was hat Mama doch für eine feine Handschrift gehabt!« sagte sie. »Ich glaube, Mama hat früher sehr gern geschrieben.« Sie legte die Briefe aufeinander. »Noch aus der Mädchenzeit, an die Großeltern, ›Mein lieber Ernst, 26. Juni‹, das muß ihr erster Brautbrief gewesen sein.« »Laß mich sehen!« sagte Marianne schnell und kam eilig an den Tisch. »Setz dich hin,« wehrte Julie ab. »Erst will ich sie ordnen.« Marianne setzte sich mit einer Stickerei -- Frau Hellwege hatte sie noch begonnen -- in den Schaukelstuhl und machte ein paar träge Stiche. »Ob es eigentlich indiskret ist, diese Briefe zu lesen?« fragte Julie. »Vielleicht sollte man sie besser verbrennen! Sie sind doch nicht für uns bestimmt.« »So war Mama doch nicht,« sagte Agnes Elisabeth. »Sie hat mir manchmal daraus vorgelesen.« »Außerdem ist es sehr interessant,« warf Marianne ein. »Das wäre kein Grund!« »Vielleicht können wir auch etwas daraus lernen!« »Willst du mir die Briefe mal geben,« bat Agnes Elisabeth; »ich weiß einen, der ist so schön!« Julie reichte ihr ein paar hinüber. Agnes Elisabeth suchte eine Weile und zog dann einen dünnen, blauen Bogen heraus und entfaltete ihn. »17. Oktober, ›du sagtest neulich, daß Schönheit ein Schmuck unseres Lebens sein sollte‹, ja, dieser ist es.« Sie gab ihn Julie. »Willst du ihn vorlesen?« Julie rückte näher an den Tisch heran und beugte sich über den Brief. Ihre krausen Haare hingen zitternd herab und berührten den Bogen. Sie begann: »Du sagtest neulich, daß Schönheit ein Schmuck unseres Lebens sein sollte. Ich habe lange darüber nachgedacht und habe gefunden, daß ich hierin anderer Meinung bin. O, nicht nur dies! Es handelt sich nicht um eine Meinung, die ich dir zuliebe gern daran geben würde. Hier geht es um mein ganzes inneres Leben. Ich weiß nicht, ob du mich ganz verstehen wirst, Ernst. Sieh, Schönheit ist das erste, was ich zum Leben brauche, ebenso notwendig brauche wie Essen und Trinken. Wenn ich an mein bisheriges Leben zurückdenke: wie einsam war es! Ich fand bei den Eltern wenig Verständnis, noch seltener eine Anregung. Die Tage gingen dahin, einer wie der andere, wie eine abgeleierte Melodie. Was wäre aus mir geworden, wenn ich nicht selbst zugefaßt und mit beiden Händen, soviel ich nur fassen konnte, Schönheit in mein trauriges Dasein hineingetragen hätte. Ich wäre ja verkommen. So aber habe ich mir ganz vorsichtig und leise, daß kein anderer davon merkte, ein kleines Haus gebaut. In dem wohnte ich ganz allein, mit allen meinen Träumen; die erwachten dort langsam zu einer weichen, bunten Wirklichkeit. Nur dort habe ich mein Leben gelebt. Den anderen war ich ein ruhiges, immer williges Wesen, das braune Kleider trug und niemanden störte.« Agnes Elisabeth lächelte. »Diese braunen Kleider! Weicher, wolliger Kaschmir, und die schmale weiße Spitzenkrause am Halse!« »O wie glücklich war ich in meinem Haus! Alles, was sich darin befand, und alles, was ich dort tat, war schön! Es gab keine häßliche Linie. Du kannst dir denken, daß ich es schließlich nicht mehr verlassen wollte. Ich trug es also mit mir herum. Und mit jedem Tage lernte ich es noch mehr liebhaben. Wenn etwas Rauhes, Häßliches von draußen kam, kroch ich schnell in meinen kleinen Winkel zurück, zog die spinnwebfeinen Schleier über mein Gesicht und ließ die Sonnenstäubchen in meinem Haar flimmern. Dann konnte mir niemand etwas tun. Und so habe ich immer nur von Schönheit gelebt, von Blumen, Licht und Farben, von weiter Ruhe und feingetönten Stimmungen. Und nun willst du, daß Schönheit nur eine kleine äußerliche Annehmlichkeit sein soll, wo sie doch allein meinem Leben seinen Wert geben kann?! Nun soll ich sie umtun wie einen Sonntagsschmuck, wie eine dünne goldene Kette, und ist doch mein braunes Kleid, das ich alle Tage trage! Schreibe mir bald, daß du mich so haben willst, wie ich bin. Agnes.« Aus Mariannes Stuhl kam ein langgezogenes »Ach!« Ihre volle weiße Hand zog gelangweilt einen Faden durch den Kanevas. Julie hielt das Briefblatt vor ihr Gesicht. »Dieser feine violette Duft! Findest du nicht, Agnes Elisabeth, daß Duft eine Farbe hat?« »Es wird Lavendel gewesen sein.« Marianne lehnte den Kopf zurück und zog den Atem langsam durch die Nase. »Ich möchte mich am liebsten in Parfüm baden.« »Nur das nicht!« entgegnete Julie schnell. »Daß du uns wieder solchen Moschusgeruch ins Haus bringst wie neulich. Ich mag nur frischen, herben Geruch, von harzigem Holz oder nasser Wiesenerde.« Evelyn verzog ihr Gesicht und riß die Augen auf. »Ich dachte, ich läge schon lange in meinem Bett. Und nun sitzen wir hier alle noch!« »Bist wie ein großes Baby auf meinem Schoß eingeschlafen,« sagte Agnes Elisabeth. »Komm, Marianne, pack’ deine Arbeit zusammen.« Marianne stand auf. »Schläfst du heute nacht wieder bei uns, Julie?« »Nein, ich sage dir ja, ich bleibe in Mamas Zimmer.« »Daß du das magst! In einem Bett, in dem eben erst jemand gestorben ist!?« Julie zuckte die Achseln. Die Schwestern gingen zur Ruhe. Evelyns Hand glitt noch einmal über den Sarg. »Morgen bring’ ich dir wieder frische Blumen!« flüsterte sie. * * * * * Nun war das ganze Haus eingeschlafen. Agnes Elisabeth schloß behutsam die Wohnstubentür. Ihr Kleid streifte die Kränze am Sarg. In der Hand hielt sie eine kleine Petroleumlampe, die sie auf eine Truhe an der Wand setzte. Die Kuppel klirrte eine Weile. Von der Decke glitt eine sammetbraune Motte und zog langsam um das Licht. Agnes Elisabeth blickte sinnend auf den rosig leuchtenden Alabasterfuß und in das trübe Petroleum. Dann wendete sie sich um. Die Schatten der Nacht zeichneten den Sarg übernatürlich, hoben ihn gleichsam in die Höhe. Die Kränze hatten sich zu einer dunkeln Masse zusammengetan. Da starrten wohl noch einige aufrecht wie Schildwachen, aber die meisten waren müde zusammengesunken. So lagen sie da, alle beieinander, die bunten Gewinde von den reichen Bauern, der dünne Tannenkranz von der alten Nortorf, mit seinen paar roten Fensterblumen, -- sie hatte so manches Kleid für Frau Hellwege gemacht --, die anspruchsvollen Maréchal-Niel-Rosen vom Vormund, die schönen und die häßlichen: die Nacht hatte sie alle gleichgemacht, hatte allen Blumenduft in sterbenden Modergeruch verwandelt. Agnes Elisabeth wußte nicht, wie lange sie da gestanden hatte. Sie fühlte nur, wie ihre Arme schwer in den Gelenken hingen. Plötzlich hörte sie ein sprödes Schluchzen. Als ob eine Stimme sich aus allen den toten Blumen losgerungen hätte! Erst als Tränen sich zögernd von ihren Augen lösten und den Weg über ihr Gesicht suchten, wußte sie, daß das Schluchzen von ihr gekommen war. Sie sah sich hilflos um. Da war ein alter Strohstuhl neben der Truhe. In dem kauerte sie sich zusammen; sie stützte ihre Arme auf die Knie und legte das Gesicht in beide Hände. In der Ecke stand der grüne Schrank; oben hinter dem geschweiften Aufsatz war eine Schar von Einmachegläsern aufgebaut. Von da oben herunter glitt langsam etwas Schwarzes, Weiches. Es stand einen Augenblick still, lang und geschmeidig. Das war die alte Katze. In dem hochgehobenen Schwanz bebte ein Zittern. Die glasigen Augen sahen sich suchend um. Dann schob sie ihren Körper mit streichelnder Bewegung nach vorn. Die Pfoten ließen den Sand auf der Diele nur eben schnurren. Sie kam langsam am Sarg vorüber, schnüffelte an den Kränzen vorbei, blinzelte zur Lampe hinauf und rieb ihren Rücken an Agnes Elisabeths Kleid. Die fuhr mit einem kleinen Schreck in die Höhe, als wüßte sie nicht recht, wo sie wäre. »Ach, das bist du, gute alte Miese! Willst mir Gesellschaft leisten?« Sie hob die Katze auf ihren Schoß. »Siehst du, nun sind wir drei ganz allein! Sie,« sie hob den Zeigefinger nach dem Sarge, »du und ich.« Die Katze fing leise zu schreien an. »Ach so!« Sie setzte das Tier hin, stand auf und ging in die Küche. Mit einer Schale voll lauwarmer bläulicher Milch kam sie zurück. Die schmale Katzenzunge schleckte durstig. Agnes Elisabeth griff nach ihrem Strickstrumpf. Die Nadeln klirrten eintönig. Die Katze leckte. Das Lampenlicht ruhte sich auf Agnes Elisabeths rotem Haar aus. Die Schatten träumten leise hin und her. Die Diele lag ausgestreckt und schlief schwer und fest. Und die Stille schwieg über allem. II Die blauen Rouleaus waren heruntergelassen, nur die zwei Fenster nach der Schattenseite waren offen geblieben. Hinter ihnen sah man einen schmalen Kiesweg, eine dichte Hecke mit harten stachligen Blättern und ein Stück blauen Himmels. Die Luft stand kühl im Zimmer. Nur strichweise lag ein leiser Tapetengeruch. Das bläuliche Licht macht alles gleichgültig und nüchtern. Auf dem rechten Rouleau streckte sich der Schatten eines großen Efeublattes und glich einer Menschenhand, die den Pergamentstoff leise schaukelte. In dem goldenen Empirespiegel sah man wieder das Rouleau, das grünlichblau herübernickte, und davor den grauweißen Mullbeutel der Lampe, der mit Fliegenpunkten bedeckt war. Draußen atmete ein Klingen, gleich einem Blinzeln der Sonnenhitze, die im Garten hing. Durch die Ritze zwischen der Fensterbank und der blauen Kante kam es herein und glitt auf dem Teppich müde hin und her. Es war eine Glocke, die am anderen Ende des Dorfes zu Frau Hellweges Begräbnis geläutet hatte und nun wieder einschlief. Auf der Diele erwachte ein verworrenes Geräusch von Stimmen. Ein Huhn gluckste, Schritte schlürften. Die Türklinke bewegte sich und wurde mit einem harten Ton heruntergedrückt. Das Rouleau bebte, schrak auf. Das Zimmer erwachte. Die Tür öffnete sich. Eine Welle von gelbem Licht flutete herein. Marianne stand auf der Schwelle. »Nein, diese Tante Laura!« sagte sie empört. »Hast du gesehen, Julie, wie sie die Tränen in den Augen zerdrückte!« Julie trug einen Teller mit Butterkuchen herein. »Das ist alles, was sie übergelassen haben.« Julie verzog die Nase. »Neben mir stand der junge Klattenberg, der roch nach Pomade! Ich mußte an dich denken.« Sie sah geradeaus. Die feine Linie um den Mund verschärfte sich; ihre Hand strich langsam vom Ohr über den bloßen Hals. »Jedenfalls ist mir über all dieser Unwahrheit meine eigene Trauer ganz verloren gegangen. Ich freute mich, wie der Sarg endlich hinuntergelassen war und ich die Stimme des Pastors nicht mehr zu hören brauchte.« Gesche kam mit rotgeschwollenen Augen und brachte ein Teebrett. Julie setzte die Tassen auf den Tisch. »Was hattest du eigentlich für eine lange Unterhaltung mit dem Schullehrer?« fragte sie. Marianne wurde verlegen und sah weg. »Ach, nichts weiter! Er hat mir kondoliert.« »Na,« lachte Julie zweifelnd. Und dann eine abwehrende Handbewegung: »Er hat so große Hände!« Marianne wendete sich kurz ab. »An dir ist doch auch nichts Ideales.« Julie lachte. Agnes Elisabeths ruhiges Gesicht und Evelyns blasse Wangen, auf denen noch Spuren von Tränen zu sehen waren, erschienen in der Tür. »Ist alles fertig, Julie? Sie kommen gleich.« »Ja, hoffentlich reicht der Kuchen. Weinen macht hungrig!« sagte Julie böse. Evelyns verweintes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Gesche öffnete die Tür. Der Vormund und seine Frau, dahinter Tante Laura, kamen gefühlvoll gebeugt herein. Auf ihren Gesichtern lag noch der letzte pietätvolle Satz zur Ehrung der Seligen. Agnes Elisabeth gab den dreien die Hand und bat sie, Platz zu nehmen. Tante Lauras Fülle versank im Sofa. Sie schaute schmerzvoll zur Decke hinauf. Julie und Marianne gaben sich einen Ruck, standen auf, gossen Kaffee ein und setzten sich zu den andern. Tante Sophie, die Frau des Vormundes, zog Evelyn auf den Stuhl neben sich. Nach einer Weile strich der Vormund seinen rötlichblonden Schnurrbart, zog ein leise nach Kampfer riechendes Taschentuch heraus und schneuzte sich geräuschvoll. Marianne streckte ihre runden Finger aus, befeuchtete sie und pickte langsam die Krumen vom Teller. Der Vormund räusperte sich, schob seinen Stuhl zurück und begann: »Da wir noch Zeit haben, liebe Agnes, würde ich gern mit dir besprechen, wie ihr euch nun eure nächste Zukunft denkt. Habt ihr schon irgendwelche Pläne?« Agnes Elisabeth strich die Kaffeeserviette glatt. »Nein, wir dachten alles beim alten zu lassen.« Tante Laura bewegte ihren Kopf energisch hin und her. »Nun, hier auf dem Lande könnt ihr doch unmöglich bleiben!« Marianne hob träge den Kopf und sah zu der Tante hinüber. »Denkst du denn, wir lassen unser Haus im Stich?!« »Ihr könnt es ja als Sommerwohnung behalten,« meinte der Vormund, »wie es sich euer Vater auch anfänglich gedacht hat. Das Haus in der Stadt ist jetzt zwar noch vermietet; der Kontrakt läuft aber zum Oktober ab, und ich könnte am 1. Juli noch kündigen. Eure Verhältnisse sind ja, Gott sei Dank, so, daß ihr zwei Häuser bewohnen könnt. Und für Evelyns Stunden ist es doch überaus wünschenswert, daß ihr, wenigstens im Winter, in der Stadt wohnt.« »Ich danke dir herzlich für deine Bemühungen, Onkel Wilhelm,« sagte Agnes Elisabeth. Sie legte den Kopf zurück und setzte in energischem Tone hinzu: »Wir wollen hier draußen bleiben! Mit Evelyn ist es ja bisher sehr gut gegangen; eine Änderung für dieses halbe Jahr ist wohl nicht nötig.« Evelyn neigte den blonden Kopf ein wenig zur Seite. »Laß uns nur nicht weggehen!« »Wir passen überhaupt nicht mehr in die Stadt!« warf Julie ein. »Hier kümmert sich kein Mensch um uns. Hier sind wir glücklich!« Der Vormund wiegte den Kopf. »Ihr seid sonderbare Geschöpfe! Warum wollt ihr euch denn so abschließen? Ihr habt hier ja nichts von eurem Leben! Euch fehlt jede Anregung!« Julie richtete ihren Oberkörper straff auf und schob die Hände vor. »Onkel Wilhelm!« Tante Sophie nickte ihr begütigend zu. Der Vormund wendete sich und sprach über die Schulter zu Julie: »Bestes Kind, ~was~ habt ihr denn? Moor, und nochmals Moor, Heide und endlose Wasserzüge. An Verkehr ...« »Ungeschliffene, schmutzige Bauern!« ergänzte Tante Laura. »Aber einen Pfarrer!« sagte Marianne; ihre weiße Hand machte eine kleine segnende Bewegung. »Und einen Lehrer!« warf Julie mokant ein. »Na ja, daß das sehr viel ist, könnt ihr doch wirklich nicht behaupten,« meinte der Vormund. »Habt ihr denn gar nicht einmal das Verlangen nach Konzerten ...?« »Aber Herr Craner!« meinte Tante Laura vorwurfsvoll. »Bedenken Sie doch, jetzt im Trauerjahr! Eure liebe Mutter freilich ...« »Die ist tot!« rief Julie ungeduldig. »Laß sie doch in Frieden!« Tante Lauras Busen wogte vor Entrüstung. Die Jettkette klirrte hin und her. »Na ja,« lenkte der Vormund ein; »wir können uns das ja noch überlegen! Solche Eile hat es ja nicht! Aber eine Hausdame müßt ihr unbedingt haben!« Tante Laura hüstelte vom Sofa her. In Agnes Elisabeths Augen kamen Tränen. Sie beugte sich weit vor. »Wir? In unser schönes stilles Haus ein fremdes Wesen, das immer da ist und uns nichts angeht!? Nein! Wir vier wollen allein bleiben!« Tante Sophie legte leise ihre Hand auf Agnes Elisabeths Schulter. »Wir wollen euch ja keine Fremde ins Haus bringen,« sagte sie herzlich. »Tante Laura hat sich erboten, Mutterstelle an euch zu vertreten.« »W--w--was?« schrie Marianne ungezogen. Der Vormund warf ihr einen verweisenden Blick zu. Tante Laura setzte sich in Positur, wie ein aufgeplusterter Spatz. »Ihr wißt, ich habe eure gute Mutter so lieb gehabt!« sagte sie. »Es ist mir wie eine Aufgabe vom lieben Gott geworden, euch die Heimgegangene nach besten Kräften zu ersetzen. Darum will ich das Opfer bringen und ...« Julie lachte. Über Agnes Elisabeths Gesicht ging ein Unbehagen. Sie schloß hochmütig die Augen; ihre Stimme schien von weit dahinten zu kommen. »Es ist sehr liebenswürdig von dir, Tante Laura, aber dieses Opfer nehmen wir natürlich unter keiner Bedingung an! Ich bin jetzt sechsundzwanzig Jahre und, glaube ich, alt genug, hier mit den Schwestern allein zu leben.« Tante Lauras Augen schillerten hinter den roten Sammetpolstern ihrer Wangen. Sie spitzte den Mund zu einem milden Lächeln. »Nun, ich will mich nicht aufdrängen! Ich meinte es nur gut mit euch! Und ich weiß, ihr werdet noch einmal entbehren, was ihr heute von euch gewiesen habt.« Tante Sophie machte eine gewandte Bewegung. »Agnes Elisabeth hat wohl nicht so unrecht! Sieh mal, du als ältere Dame ...« Der Vormund zog langsam das Augenlid herunter und faßte an seine Wimpern. »Tja, Agnes Elisabeth, da ist nicht viel zu machen, bei eurer Selbständigkeit! Versucht’s denn in Gottes Namen!« Agnes Elisabeth lächelte befreit. »Ich werde natürlich oft herauskommen und nach euch sehen! Hoffentlich geht alles gut! Und Evelyn ... Na ja, man muß sehen!« »Evelyn kommt Ostern zu uns,« sagte Tante Sophie freundlich. »Das hat mir deine Mama noch versprochen, Evelyn. Kommst du auch gern?!« Evelyn nickte. »Dann können wir wohl gehen!« sagte Tante Laura, erhob sich schwerfällig und faßte nach ihrer Pelerine. Julie half ihr eilfertig. »Dann machst du eine hübsche Reise mit uns!« sagte Tante Sophie zu Evelyn. »Wir werden uns schon gut vertragen.« Tante Laura knöpfte an ihrer Pelerine. »Was macht ihr denn mit Mamas alten Sachen?« erkundigte sie sich bei Agnes Elisabeth. »Das haben wir uns noch nicht überlegt!« gab diese gereizt zurück. »Ich glaube, es ist nun Zeit,« meinte der Vormund, sah nach der Uhr und stand auf. »Ich komme nächstens einmal heraus. Wahrscheinlich schicke ich dir vorher noch einige Papiere, die du unterschreiben mußt. Mein Bruder bringt sie dir vielleicht; er wollte sowieso mal einen Ausflug ins Moor machen.« »Es ist schrecklich, daß wir dir so viele Mühe machen, Onkel Wilhelm,« sagte Agnes Elisabeth. »Na, na, ich tu’ es ja gern!« brummte er gutmütig. »Denn, ade, ihr Moorkatzen!« Er gab den Schwestern die Hand. Tante Laura konnte es sich nicht versagen, der erschrockenen Evelyn einen lauten Kuß zu geben. Julie bog ihr noch geschickt aus. Die Schwestern blieben im Zimmer. Agnes Elisabeth begleitete die Verwandten durch den Vorgarten. Die beschnittenen Linden breiteten sich schwer und duftend vor der Giebelseite des Hauses. Unter ihnen, gegen die weißgetünchte Hauswand gelehnt, standen links und rechts zwei grüne Bänke, neben ihnen in weißen Kübeln schlanke Lorbeerbäumchen. Der schmale buchsbaumgefaßte Kiesweg führte abschüssig nach dem weißen Holzgitter, mitten durch grünen Rasen, vorbei an tiefroten und rosaweißen Malvenstöcken. »Wie hübsch sauber ihr alles habt!« meinte Tante Sophie im Vorübergehen. »Habt noch vielen Dank!« sagte Agnes Elisabeth und klinkte die Pforte hinter ihnen wieder ein. Durch den mehligen Staub der Chaussee, an den großen Bauernhöfen vorüber, gingen nun die drei. Breitgewachsene Kastanien waren zu beiden Seiten postiert. Ihre eiförmigen grünen Schatten lagen in regelmäßigen Abständen auf dem farblosen Grund; mit den sonnenbeschienenen Zwischenräumen bildeten sie eine Kette von Langeweile. Tante Laura stöhnte. Wilhelm Craner seufzte; dann pfiff er vor sich hin. »Von Trauer war da nicht viel zu merken!« »Du weißt ja, sie sind anders, als andere Menschen,« meinte Sophie. Laura Bassemanns Sonnenschirm entfaltete sich. »Wie das noch enden soll! Die Julie ist schon ganz von Agnes Elisabeths verrückten Ideen angesteckt.« »Das ist schließlich Schuld der Mutter,« meinte der Rechtsanwalt. »Ich habe ihr oft genug vorgestellt, sie solle die Kinder nicht hier in die Einsamkeit vergraben. Aber sie konnte von ihrem kleinen Haus nicht lassen.« Sophie Craner nahm ihr Kleid höher. »Die beste Lösung wäre, Agnes Elisabeth verheiratete sich.« »Ihr Bruder, Herr Craner,« meinte Laura Bassemann geschwätzig. »Sollte das nicht was sein!?« Craner hörte nicht auf sie. Das Dorf lag hinter ihnen. Links und rechts von der Chaussee streckte sich die Heide, die endlose, flimmernde Heide. Stahlblaue verglaste Gräben mit fetter Moorerde an den Rändern, kleine Getreidestriche, hin und wieder eine Birke, die ihre weißen Glieder dehnte. Darüber der Himmel wie eine riesige, in weißer Glut schwingende Glocke. Craner sah sich um. »So unrecht haben die Mädels eigentlich nicht, wenn sie sich von diesem Fleck Erde nicht trennen wollen!« Es kam keine Antwort. Nur Sophies Kleid rauschte. Das Stationsgebäude träumte abseits an einem Seitenwege. Davor ein Laternenpfahl, über und über mit Rosen bewuchert, darunter ein kläffender Köter, auf der Bank vor dem Haus eine eingenickte Bauernfrau, in der Tür würdig der Vorsteher. »Hier sieht es allerdings sehr nach Anregung aus!« meinte Laura Bassemann. »Sie werden schon noch verkommen.« »Sie hätten sie auch nicht davor bewahrt!« sagte der Rechtsanwalt gereizt. Fräulein Bassemann hob ihren Kleiderrock hoch, daß man die weißen baumwollenen Strümpfe leuchten sah, und beguckte sich ihren steifgestärkten Unterrock. »Netter Staub!« Dann kam die Sekundärbahn lärmend durch die Heide daher. Die drei stiegen ein. Sophies ruhiges Gesicht sah noch einmal durch das Coupéfenster. Dann setzte sich die kleine Maschine wieder in Bewegung. Die vier Wagen klapperten einträchtig hintereinander her. Die Heide nahm sie auf. Eine weiße Wolke nickte noch einmal herüber. Der Vorsteher schob die rote Mütze zurück und trat ins Haus. Die Sonne schien weiter. III Evelyn hockte mit hochgezogenen Knien auf einem Stuhl in Julies Zimmer. In ihren Händen lag ein dickes Gesangbuch. Die kleinen Finger spielten mit den silberbeschlagenen Ecken. Mit murmelnder Stimme lernte sie: »Keiner Gnade sind wir wert, Doch hat er die Gnadenpforte Hier uns ...« Sie stockte und warf verstimmt den Kopf nach hinten. Ihr bloßer Fuß sah unter dem Kleid hervor und trommelte eine ärgerliche Melodie. Sie öffnete das Buch und las mit leiernder Betonung: »Keiner Gnade sind wir wert, Doch hat er in seinem Worte Endlich sich dazu erklärt; Sehet nur, die Gnadenpforte Ist hier völlig aufgetan« Sie klappte das Buch zu und rasselte den Schluß herunter: »Jesus nimmt die Sünder an!« Julie wandte den Kopf vom Schreibtisch herüber, sah die kleine Schwester erstaunt an und lachte. »Was machst du eigentlich?« »Ich lerne!« sagte Evelyn verdrießlich. »Es ist schrecklich! Die Gnadenpforte tut sich immer zu früh auf!« »Dann mach’ sie doch zu! Und das Buch würde ich auch zumachen!« »Ich muß es aber morgen können,« gab Evelyn weinerlich zurück. »Weißt du, ich habe Gesangbuchverse nie gelernt!« erklärte Julie. »Ich glaube nicht, daß es dem lieben Gott eine große Freude ist, wenn man sie am Schnürchen herleiern kann.« »Aber der Pastor hat es uns doch aufgegeben!« »Also gut!« meinte Julie gleichgültig und wendete sich wieder zu ihrer Arbeit. Der dünne Arm stützte sich auf das helle Kirschbaumholz. Eine blaue Glockenblume -- es standen da so viele beieinander in der irdenen Vase -- reckte neugierig ihren dünnen Leib nach der bräunlichweißen Haut, die goldig porös schimmerte. Die goldenen Lettern der Bücher, die gravitätisch nebeneinander standen, blicken auf Julies stumpfbraunes Haar; das hing in seidigen Flocken auf die enggedruckten Seiten herab. Julie las in Brownings Gedichten. Die alte Pendeluhr dicht am Ofen schlug sechs, dünn und blechern. Auf den Wänden zitterte Sonnenlicht. In dem Glas der goldgerahmten Kupferstiche spiegelte sich die große Silberkugel draußen im Garten, ein Stückchen Rasen und die Efeublätter, die das Fenster einrahmten. »Warum wird man eigentlich konfirmiert?« fragte Evelyn plötzlich hinüber. »=O world, as God has made it: all is beauty, and knowing this, is love.=« Julie hörte mit einem kleinen Seufzer auf. »Stör mich doch nicht immer,« sagte sie ruhig. »Du brauchst doch nicht zu arbeiten! Du tust es doch nur zu deinem Vergnügen!« Evelyn gähnte. »Ich finde es zwecklos, daß ich konfirmiert werde. Warum tut man eine Sache, deren Sinn man nicht begreift?« »Als ich so alt war wie du, habe ich Mama dasselbe gefragt. Sie sagte: ›Tue es trotzdem, Kind, du wirst daran erfahren, wie vergeblich es ist, dort nach Schönheit zu suchen.‹« »Ich wünschte, es wäre vorüber!« seufzte Evelyn. »Mama meinte, daß man einmal versuchen müsse, auch diesen Weg zum Glücklichsein zu gehen, um dann bewußt wieder umkehren zu können, und sich einen anderen zu suchen.« »Würdest du deine Kinder konfirmieren lassen, Julie?« Julie sah durch das offene Fenster. Sie mußte immer offene Fenster in ihrem Zimmer haben. »Nein! Ich würde nicht wagen, sie nach irgendeiner Seite hin zu drängen. Sie sollten Freiheit haben in allen Dingen!« »Man müßte überhaupt tun dürfen, was man will!« sagte Evelyn auf einmal energisch. »Ich möchte den ganzen Tag auf dem Rasen sitzen, die Pfauen um mich herum; alle ihre Farben würden auf meinem Kleide spielen. Und in meinem Schoße sollten lauter Blumen liegen. Und Menschen dürften nur kommen, wenn ich winkte!« Sie machte eine kleine souveräne Bewegung. Die Begonie an Julies Brust löste sich und fiel mit einem leisen Geräusch zu Boden. Julie bückte sich nach ihr. »Ich habe mir mein Leben so eingerichtet, wie ich es brauche. Ich kümmere mich um keinen Menschen und tue nur, was mir Freude macht.« Sie strich mit der Hand über das ausgeschlagene Buch, nahm die Blume und steckte sie wieder fest. Ihr Kopf neigte sich; in die Linie der Schultern kam eine kleine Krümmung, der viereckige Ausschnitt des Kleides verschob sich und ließ einen braungoldenen Schatten blinken. Von Evelyn kam wieder das eintönige Geräusch des Gesangbuchliedes. »Doch bat er in seinem Worte endlich sich dazu erklärt ...« In der Tür erschien ein Laken, und darin Agnes Elisabeth, mit einem blauleinenen Badeanzug bekleidet. »Bist du noch nicht fertig, Evelyn? Vertrödelst deinen ganzen schönen Nachmittag!« Evelyns feuchtrote Lippen zogen sich zusammen. »Marianne und ich wollen baden; kommt ihr mit?« Evelyn strahlte; sie klappte ihr Buch zu und warf es auf das Sofa. Julie sah auf. »Ja, ich komme euch nach!« Nun war es der Garten, ein wundervoll altmodischer Garten. Dichte, hohe Hecken, brennende Beete, buchsbaumgefaßte Wege, Rasenflächen, Hollunderlauben, eine lange Tannenallee und unten der schmale Fluß. Jenseits Gestrüpp, eine hohe, sich neigende Weide, dahinter endlose Wiesen und grasendes Vieh. Und über allem klarer Sommerhimmel. »Ich kann mein Band nicht aufkriegen!« Evelyn reckte ihren Arm auf den Rücken. Agnes Elisabeth half ihr. Dann ließ sie das Badelaken fallen. Die Haare zogen flirrende seidige Lichter aus den bloßen Armen. Mit kurzen Schritten ging sie an die fettgrüne Böschung und hinein in das klare goldbraune Wasser. Das Haar schwamm darauf wie eine Flut brandig gelber Blüten. Mit kurzen Stößen glitt sie vorwärts. »Wie eine untergehende Sonne siehst du aus!« rief Evelyn ihr nach. Das Wasser gluckste und glutterte. An Marianne glitt eben ein blaßblauer Unterrock herunter. Sie bückte sich und löste die Strumpfbänder. Der runde Nacken tauchte aus den Spitzen. Langsam genießend zog sie sachte das Schwarz des Strumpfes von den weißen Beinen. Das Fleisch atmete auf und wurde weich und voll. Die Füße schmiegten sich in das Rasengrün. Sie zog die Schultern in die Höhe und ließ das Hemd streichelnd hinuntergleiten. Weiß lag es zu ihren Füßen. Weißer noch waren ihre Knöchel, ihre reifen Hüften, ihre vollen Brüste. Marianne sog den warmen Duft ihres Körpers ein. Das zitternde Grün der Bäume griff sehnsüchtig nach ihrer Schönheit. Dann hob sie die Arme und verschränkte sie hinter dem Kopfe. Vom Wasser her kam Agnes Elisabeths Stimme und schreckte das anbetende Lauschen auf. »Wollt ihr heute nicht mehr baden?« »Nein, ich muß warten, bis Marianne aufhört, sich zu bewundern!« rief Evelyn, die im Grase hockte. »Sie sieht himmlisch aus!« Sie drehte sich auf ihren kleinen Schenkeln herum und sah zu Marianne auf. »So bist du mir doch am angenehmsten, wenn du so stumm nackend dastehst. Eigentlich ist es Sünde, daß gerade du so schön bist!« Evelyn stand auf. Feine Grasabdrücke waren über das rosige Fleisch verstreut. Wie ein Mantel hing das Haar um ihre kindlichen Formen. Sie glitt den Rand hinunter und sank mit einem kleinen Juchz ins Wasser. Marianne ging vorsichtig in das laue Gold und ließ sich auf dem Rücken treiben. Evelyn kam plötzlich in die Höhe. »Oh, ich habe vergessen, mein Haar aufzubinden!« Sie kletterte prustend auf die Böschung. Die Wassertropfen glitterten an ihr herunter. Agnes Elisabeth stand schon neben ihr und faßte das Haar. Das blaue Leinen spannte sich straff um ihren Körper. Herb stand das Weiß zu dem scharfen Blau. In den Augen schimmerte ein Glanz. Nur die Glut des Haares gab den Gedanken an schweres Blut. Nun kam auch Julie aus der Laube. Aus ihren Linien sprach Strenge. Der Bronzeton ihrer Haut ließ sie schmal und flach aussehen, wie einen Jüngling. Nur der weiche Gürtel unter der kleinen, festen Brust, der niemals eingeschnürt worden war, erschien frauenhaft. Ihre Hand glitt langsam über den Hals. Sie blickte auf Agnes Elisabeth. »Warum hast du einen Badeanzug an? Es sieht uns doch niemand hier!« sagte sie erstaunt. Agnes Elisabeth steckte das Haar der Kleinen fest. »Ich mag es lieber!« sagte sie und ging wieder ins Wasser. Julie blieb einen Augenblick vor der goldenen Bronze stehen. Dann beugte sie sich etwas nach vorn und sprang hinein. Evelyn planschte mit kindlichem Vergnügen. Marianne lag regungslos. Die lauen Wellen faßten nach ihr wie Hände und hauchten über ihre Haut wie sehnsüchtige Lippen. Julie tauchte auf und nieder. »Wenn es nur nicht so lau wäre! Man hat gar nicht das Gefühl, daß man naß wird!« Ein Schatten ging über das Wasser. Drüben neben der Weide stand eine schwarzweißgefleckte Kuh. Das fette Gesicht sah mit überlegenem philosophischen Lächeln aus seinen runden, schönen Augen auf all das Weiße, Lebendige. Julie bespritzte Evelyn. »Sieh, da ist etwas, was den ganzen Tag im Grase liegt und nichts tut!« Evelyn lachte. Sie sprang mit einem Satz, wie eine Katze, an Julies Hals und tauchte ihren Kopf unter. Es gab Geschrei und Lachen. Dann faßten sich alle vier an der Hand und tanzten Ringel-Rangel-Rosenkranz. Der Kuhschweif wedelte dazu, warm und gemütvoll. Ein dickes rotes Etwas in blauem Kattunkleid raste plötzlich vom Hause her, tauchte zwischen den Bäumen unter, erschien wieder, verschwand hinter dem Gebüsch und stand endlich prustend am Wasser. »Fräulein, der Herr Pastoor! Ik hevv em schon jümmer seggt, dat Se im ’en Woter wären. Ober he hät Tid. He will so lange luern, bit Se rein sind!« Marianne kreischte auf. Evelyn kam mit der Gnadenpforte. »Wie dumm!« sagte Agnes Elisabeth ärgerlich. »Was machen wir nun? Ich mit meinem nassen Haar kann mich unmöglich sehen lassen!« Julie zog gemütlich ihre Beine aus dem Wasser. »Bei mir geht es schnell mit dem Anziehen! Genießt es nur weiter!« Sie verschwand in der Laube und trat nach kurzer Zeit in ihrem Leinenkleide wieder heraus. »Amüsiert euch derweilen mit der Kuh!« rief sie und ging langsam den Kiesweg hinauf; am Blumenbeet blieb sie stehen und pflückte ein paar Heliotropen. * * * * * Im Wohnzimmer, am Fenster, das nach dem Garten führte, stand der Pastor. Frech wippte das Gardinenmuster auf seiner Glatze. In den Winkeln über der Oberlippe saß behaglich eine Phantasie über die weißen Mädchenkörper dort unten, die er nicht sah, deren Stimmen aber ab und zu heraufklangen. Seine Hand lag unruhig auf der Fensterbank. Julie trat in die Tür, blieb einen Augenblick stehen und stellte mit lächelnder Genugtuung bei sich fest, daß der Pastor am Fenster stand, und daß dort unten der Fluß war. »Guten Abend, Herr Pastor!« sagte Julie. Der Pastor zuckte zusammen und wendete sich um. »Ach so, -- so!« Er griff mit der Hand in die Luft. Mit einem Zucken flog die kleine Phantasie davon, und das sanfte Lächeln setzte sich mechanisch in die altgewohnten Falten. »Verzeihen Sie, daß ich erst heute wieder den Weg zu Ihnen finde,« begann er. »Und daß ich Sie nun auch noch beim ... auch noch störe.« »Sie stören mich durchaus nicht, Herr Pastor,« sagte sie mit friedlichem Spott. »Ich war in den letzten Tagen leider so beschäftigt, und da ich heute etwas mehr Zeit habe, wollte ich mein Vorhaben endlich ausführen und sehen, wie es Ihnen geht.« Sie saßen sich gegenüber in den tiefen Mahagonimöbeln. Julies Hände lagen ausgestreckt auf dem Holz. Von ihrem Körper strahlte ein feuchter Duft. Der Vanillegeruch der Heliotropen an ihrem Kleide tiefte die laue Badatmosphäre. Der Pastor sah, wie die letzten Tropfen an ihrem Hals herunterrieselten ... Sie sprachen von den Dingen des Alltags. Der Abend kam mit nassen Lichtern. Julies Stimme hatte aufgehört zu sprechen. Der Pastor blickte auf. Die Möbel standen plötzlich aufdringlich um ihn herum. Die Bedrängnis, die von diesem frischen Leibe ausging, faßte ihn mit unsichtbaren Armen und ließ ihn seinen Blick nicht von ihr wenden. Der starke Nacken drehte sich im Kragen. Er fand keine Worte mehr. Endlich nach einer schweren Pause flog ein Gedanke vorüber. Er nahm hastig aus seiner Brieftasche einen Zettel, auf dem eine Auswahl von Sprüchen für Frau Hellweges Leichenstein verzeichnet war. »Vielleicht haben Sie selbst schon ein Wort für das Grab Ihrer Mutter ausgewählt? Es ist doch eine so schöne Sitte!« Julie wandte den Kopf ein wenig. »Nein! Es soll nur Name, Geburts- und Todestag geschrieben werden! Ich wüßte nicht, aus welchem Grunde da noch mehr stehen sollte.« »Aber, liebes Fräulein, das sagen Sie doch nicht im Ernst. Ein solches Wort soll denen, die trauernd an dem Grabe stehen, zur Erbauung dienen, es soll ...« »Ich bedarf keiner Erbauung!« sagte Julie ruhig. »Die brauchen wir alle! Aber nicht dies allein: die Worte, die auf dem Grabstein leuchten, sollen zu Ihnen reden, als spräche Ihre selige Mutter vom Himmel herab zu Ihnen, als wollte sie ihre Kinder trösten und sie hinweisen auf das Wiedersehen.« »Das ist ja alles sehr schön und gut,« meinte Julie. »Aber was soll man damit, wenn man an ein Wiedersehen nicht glaubt?« Der Pastor blickte verdutzt auf. »Das hatte ich nicht gewußt!« stotterte er. »Ja, aber dann sind Sie ja, -- nein, Sie werden wieder davon abkommen, ich weiß es, ich glaube es!« sagte er mit Bekennermut. Julie lächelte. Der Pastor bekam es plötzlich mit der Angst um Evelyn. »Um eins möchte ich Sie bitten,« sammelte er sich. »Daß ich auf Ihren Glauben noch keinen Einfluß habe, weiß ich.« »Ja!« bestätigte Julie. »Wenn schon ... Aber lassen Sie durch Ihre Anschauungen nicht die reine Kinderseele Ihrer Schwester getrübt werden! Bedenken Sie, daß das Kind zu Ostern seinen Glauben vor dem Altar bekennen soll!« Der Pastor stand auf. »Ich habe noch niemals meinen Einfluß auf andere Menschen dazu benutzt, sie an ihrer freien Selbstbestimmung zu hindern!« sagte Julie mit Hochmut. »Aber ...« »Dafür danke ich Ihnen! Es ist Zeit zu gehen; meine Frau wartet mit dem Abendbrot. Grüßen Sie Ihre lieben Schwestern von mir! Und ...« Er reichte Julie die Hand, die sie nur widerstrebend berührte. »Wenn Sie Rat brauchen, ich meine, nicht nur in äußerlichen Dingen, wenn Sie geistlicher Hilfe bedürfen, so kommen Sie! Ich warte auf Sie!« Julie zog ihre Hand zurück, und der Pastor verschwand hinter der Tür. Eine Trübe blieb im Zimmer liegen. Julie stand unter dem Kronleuchter. Ihre Hände hingen schlaff herab. Sie lächelte. Geheimnisvoll blickte dieses Lächeln aus den Schatten, die im Zimmer schweigend warteten. Durch das Fenster kam vom Garten eine kühl duftende Dämmerung herein. Weich glitt sie um Julies Gesicht. Dann schallten helle Stimmen auf der Diele. Julie wendete langsam den Kopf. IV Lehrer Lukas Allm wohnte neben der rosa getünchten Kirche in einem roten Backsteinhaus. Man brauchte nur die viereckigen Linien, die gleichmäßig verteilten Fenster zu sehen, um zu wissen, daß es die Schule war. Kam man um die Ecke, so waren da einige dürftige Turngeräte, die vereinsamt auf einem öden Platz standen. Ging man noch eine Ecke weiter, so sah man etwas, was bunt und fröhlich leuchtete, wie pausbäckiger Bengels vergnügtes Lachen. Das war der Garten des Schullehrers. Am Zaun, der an die Wiese grenzte, träumte feuerroter Mohn. Auf den schmalen Beeten wuchs Kapuzinerkresse, dazwischen Lavendel und zierliche Porzellanblümchen. Große Bohnen standen in langen Reihen, daneben zog sich Erbsengeranke mit schneeweißen Blüten hin. Lukas Allm hatte aus eignen Mitteln eine kleine blaugemalte Veranda an das Haus anbauen lassen. Die Trauben der Glycinien fingen schon an, seine Hoffnungen auf ein gemütliches Plätzchen zu erfüllen. Er brauchte einen solchen stillen Winkel. Früher war er in der Stadt gewesen, an der Gemeindeschule. Er hatte mit seiner Mutter in einer Gasse gewohnt, wo es nach Grünkramläden und Straßenmüll roch. Bevor er aber davon krank wurde, bewarb er sich um eine Landstelle. Und so war er in das Heidedorf gekommen, wo er ein Hungergehalt bezog, von Kohl und Speck lebte, aber seinen Himmel sah und seine Blumen pflegte. Lukas Allm besaß eine besondere Mischung von Gemüt und Verstand. Er war strebsam, nicht nach den höchsten, aber doch nach hohen Dingen. Überall wollte er lernen, und mit der schon in seiner Schädelform ausgesprochenen Beharrlichkeit setzte er viel bei sich durch. Er hatte ein paar gute und eine große Anzahl mittelmäßiger Bücher gelesen. Aus diesen geistigen Bausteinen, die er auf dem Fundament der Halbbildung des Volksschullehrers zusammentrug, entstand ein Gebäude, das an das Miethaus eines braven Maurermeisters erinnerte, der sich Architekt nennt. Natürlich war er stolz darauf und baute lustig weiter. Er hielt dieses Haus für seinen wertvollsten Besitz und ließ die wenigen Menschen seiner Bekanntschaft gern darin zu Gast sein. Es gab aber Zeiten, wo ihm das Haus zu eng wurde. Das geschah, wenn das wirkliche Leben ihm atmend gegenüber trat. Und dann hatte er den Mut, sein Haus unverzüglich zu verlassen und sich ganz der Weisung seines tiefen Gemüts anzuvertrauen. Er tat dies ganz instinktiv, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. Er konnte nicht anders, und darum wollte er auch nicht anders. Er war weit davon entfernt, den Wert dieses Muts zu sich selbst beurteilen zu können, ja, in den meisten Fällen bedauerte er ihn als eine menschliche Schwäche. Und doch war dies die vorzüglichste Eigenschaft seines Wesens. Sie hatte ihn veranlaßt, der Mutter zuliebe seine Studien für das höhere Lehrfach aufzugeben, bei armen Kindern mit Schiefertafeln und alten Hosen auszuhelfen und von seinem Gehalt ein paar Mark für die Schwester zu erübrigen, die an einen kleinen Beamten im Westfälischen verheiratet war. Aber auch eine fröhliche Befriedigung hatte sie ihm geschenkt, und den Himmel, der über der Heide träumte, und seine kleine Veranda. Dort saß Lukas Allm jetzt vor einem Tisch; auf der mit Blumen bestickten Decke lagen Bücher und blaue Hefte, dazwischen stand das Tintenfaß. Lukas Allm strich sich über den braunen Vollbart, klappte das Buch über Moorkultur zu und zog einen blauen Stoß heran. Er blätterte ihn durch und besah sich die Haar- und Grundstriche seiner Schüler. Zu unterst fand er ein Heft, auf dem mit feinen Buchstaben der Name Evelyn Hellwege geschrieben stand. Das war der Aufsatz, den sie ihm in der letzten Privatstunde abgegeben hatte. Er schlug ihn auf und las ihn langsam durch. Sein Gesicht, das zu Anfang mit lehrerhafter Strenge nach Fehlern suchte, verlor sich plötzlich in einer lächelnden Unschlüssigkeit und klärte sich dann zu einer warmen Freude. Es war ein Vorgang, der sich auch bei den Stunden, die er Evelyn erteilte, abzuspielen pflegte. Er wollte sie in die Kalkmauern seiner Gelehrsamkeit führen, aber sie lief ihm davon und winkte ihm von einer Wiese zu. Was konnte er anderes tun, als ihr nachgehen? Im Grunde lernte er mehr von ihr, als sie von ihm. Auch das Thema dieses Aufsatzes hatte sie selbst bestimmt. Sie hatte für die Schuld der Jungfrau von Orleans nur ein übersehendes Lächeln gehabt und dann erklärt, sie wolle ihre Arbeit über den »Ernst und das Lachen« schreiben. Das war sie nun, und Lukas Allm lachte. Das Lachen stand ihm besser als das Korrigiergesicht, und seine Mutter freute sich, als sie es sah. In der Tür stand sie mit einem Pack Wäsche. »Stör’ ich dich auch?« Der Lehrer sah auf und schüttelte den breiten Kopf. Er hielt der alten Frau seine große Hand hin. Sie nickte ihm zu und klopfte mütterlich seinen Arm. »Vom Feiertag-Heiligen scheinst du nicht viel zu halten!?« »Ach, das ist keine Arbeit!« sagte er und machte eine froh-nachlässige Bewegung. »Das Heft vom Fräulein! Literatur!« betonte er wichtig. »Ich muß dir mal ihren letzten Aufsatz vorlesen! Etwas träumerisch, aber ganz geistvoll.« Die Mutter machte ein bedenkliches Gesicht. »Höre mal zu!« Der Lehrer nahm das Heft und lehnte sich im Stuhl zurück. »Der Ernst und das Lachen. Alle Menschen wollen lieber lachen, als ein ernstes Gesicht machen. Sie arbeiten sechs Tage ernst im Schweiße ihres Angesichts, und am siebenten ruhen sie und sind vergnügt und lachen. Warum können die Menschen nicht immer lachen, Sonntags und Alltags? Sie können es nicht, weil man sie gelehrt hat, bei der einen Gelegenheit zu lachen und bei der anderen traurig zu sein. Die Menschen wissen nicht, daß Ernst und Lachen zusammengehören. Wenn ich bei der Arbeit bin, Verse lernen oder sticken muß, so könnte ich wohl traurig sein. Aber ich fühle den Sonnenschein im Gesicht; und wenn sie draußen einen Sarg vorübertragen, so sehe ich die Blumen. Und dann lache ich. In allem Ernst wird doch noch ein Plätzchen für ein kleines Lachen sein. Nun sitze ich mitten auf der Wiese, und Blumen liegen in meinen Händen, die Sonne küßt mich, und alle Vögel jubeln. Wenn ich dann lache, so ist es mir sehr ernst mit diesem Lachen. Ist es nicht ein heiliger Ernst, wenn einer glücklich ist und lacht?! Für den, der in sich selbst zufrieden ist, sind Ernst und Lachen dasselbe!« Lukas Allm legte das Heft auf den Tisch. »Das ist doch reizend!« Er machte eine bedeutende Handbewegung. »Wie gut ist diese Antithese durchgeführt!« Die Mutter nickte. »Ich hätte gar nicht gedacht, daß die Kleine sich überhaupt zum Schreiben hinsetzte. Die Fräulein Julie, ja! Aber die Eva!« Sie faltete die Hände über ihrer Schürze. Die altmodischen Ohrringe baumelten. Der Kopf ging von links nach rechts. »Ja, ja, was aus denen wohl noch wird!? Es ist doch traurig, so ohne Vater und Mutter! Es paßt ja keiner auf sie auf! Einen Mann finden sie hier draußen auch nicht!« Der Lehrer wiegte den Kopf. »Man weiß nicht!« »Glaubst du, daß die einen aus dem Dorfe nehmen? Dafür sind sie viel zu vornehm! Wenn sie ja auch sonst immer freundlich und nett sind, und auch wirtschaftlich und fürs Einfache und alles selber tun im Haushalte!« Über die Kressenbeete fiel ein Schatten; er stand einen Augenblick still und kam dann zögernd nach der Veranda zu. Der Lehrer sah hinaus. Da stand ein Fremder, der sich suchend umblickte. Er war mittelgroß und trug einen Jackettanzug mit Gamaschen, starke, gelbbraune Stiefel und einen langgebundenen roten Schlips. Der Lehrer stand auf. Der Fremde griff an den Hut. »Wollen Sie die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, wo Fräulein Hellwege wohnen? Im Dorf ist man wohl gerade beim Mittagessen; jedenfalls habe ich niemanden getroffen, den ich um Auskunft bitten konnte.« Lukas Allm griff verlegen in sein dichtes Haar. »Ja, bitte, die Fräuleins wohnen ein paar Häuser weiter. Ich will es Ihnen zeigen.« »Wenn Sie mir nur das Haus beschreiben wollten; ich finde mich schon zurecht.« Des Lehrers rote Hand stand in der blauen Luft. »Wenn Sie von hier die Chaussee links hinuntergehen, an den drei großen Bauernhöfen vorbei. Da liegt rechts das Haus. Sie erkennen es schon an dem weißen Gitter, und dann ist es auch ein bißchen absonderlicher als die anderen.« »Meinen Sie, daß man die Fräuleins zu Hause trifft?« fragte der Fremde und schob seinen Schlips zurecht. Der Lehrer entwickelte ein baumwollenes Taschentuch. »Sie werden wohl zu Hause sein,« meinte er. »Ausflüge machen sie nur bei Regen und Sturm.« »Na, da will ich mein Glück versuchen! Ich danke Ihnen.« Lukas Allm sammelte seine unbeholfenen Glieder und brachte den Fremden bis an die Chaussee. »Dort drüben steht mein Rad,« sagte dieser. »Dann haben Sie wohl schon ein gutes Stück von der Gegend gesehen!« Sie gingen schräg über den Spielplatz, wo an einem verwitterten Barren das Zweirad des Fremden stand. Der Moorboden zitterte elastisch unter den viereckigen Stiefeln des Lehrers. »Sie haben einen hübschen Schulhof,« sagte der Fremde und griff nach der Lenkstange. Über Lukas’ Gesicht kribbelte es wie lauter Kinderlachen. »Das habe ich alles für die Bengels selbst gezimmert.« Der Fremde führte das Rad auf die Chaussee. »Haben Sie vielen Dank,« sagte er, sprang mit kurzem Schwung auf und fuhr in den Sonnenschein hinein. Lukas Allm blieb noch einen Augenblick stehen, bis die kleine Staubwolke um die Ecke verschwand. Dann trottete er behaglich über den Platz zurück in den Garten. Da stand er nun in all dem Flimmer. Die Sonne machte keinen Unterschied, sie küßte den guten dicken Kopf so weich, wie alle die Blumen. Eine behagliche Zufriedenheit glänzte in seinen runden Augen. Dann kam ein wohliges Dehnen in seine Muskeln. Und plötzlich streckte sich ein angenehmer Gedanke in ihm aus. Der Fremde würde bei Hellweges von ihm sprechen, und Marianne würde an ihn erinnert werden. Und sie würde einen Augenblick mit ihren Gedanken bei ihm sein. Feierstill wurde es dem kleinen Licht des Heidedorfs zumute. Langsam sog er die warme Luft ein, den Duft von träumenden Blumen. Aber plötzlich kam ein feiner Bratengeruch dazwischen. Das Lächeln um den großen Mund wurde noch inniger. Es war heute ja Sonntag. Und da stand auch die Mutter in der Tür. »Lukas, wir wollen essen!« rief sie. Lukas Allm ging langsam die Holzstufen hinauf. V Heinrich Craner lehnte sein Rad an das weißgemalte Gitter und ging den Kiesweg nach dem Hause hinauf. Die grüne Tür war verschlossen. Eine schwarze Katze lag davor und blinzelte in der Sonne. Er faßte nach dem Messingklopfer und weckte die Stille drinnen im Hause. Ein Klappern wurde hörbar, der Riegel wurde zurückgeschoben. Gesch Margrets Gesicht glänzte im grünen Rahmen. »Sind Fräulein Hellweges zu Hause?« »Besuk ...!« stotterte sie und sah hilfesuchend über die Diele zurück. Craner wurde durch die dämmerige Diele gewiesen, wo schon der Mittagstisch gedeckt stand. Das Mädchen öffnete ihm die Wohnstube und knallte die Tür hinter ihm zu. Nun stand er allein in dem kühlen, fein nach Lavendel riechenden Zimmer. Er sah sich um. Da war nichts Außergewöhnliches. Die Möbel standen umher wie überall, die Blumen blühten auf den Fensterbänken, an den Wänden hingen Bilder. Da war weder übertriebene Ordnung, noch aufdringliches Wesen. Und doch berührte ihn alles wohltuend. War hier nicht mit einer gewissen kühlen Präzision der Charakter fein empfindender Menschen ausgesprochen?! Eine feine Novelle hätte in diesem Raum spielen können. Er suchte nach Dingen, die ihm diesen Eindruck übermitteln mochten, er betrachtete die verschiedenen Gegenstände, da öffnete sich die Tür, und Agnes Elisabeth trat ein. Ein weiß und blaßlila gestreiftes Kleid trug sie, mit vielen Rosenrüschen und Falten; es mochte noch aus der Zeit ihrer Großmutter sein. Craner trat auf sie zu. »Ich glaube, Sie kennen mich nicht mehr, Fräulein Hellwege. Mein Bruder schickt mich; ich soll Ihnen einige Vormundschaftspapiere überbringen.« »O doch! Ich erinnere mich,« sagte Agnes Elisabeth ruhig. »Sie waren bei Papas Begräbnis, nicht wahr? Es tut mir leid, daß Sie unsertwegen den weiten Weg haben machen müssen. Wollen Sie mit in den Garten kommen?« Craner ging neben Agnes Elisabeth über die Diele. Er bemühte sich, durch das rote Gewirr ihrer Haare die Augen zu erkennen. Diese Augen interessierten ihn. Er hatte ihre Farbe im Zimmer nicht finden können. Sie fühlte seinen Blick, und das machte sie befangen. Noch niemand hatte Agnes Elisabeth befangen gemacht. Sie kamen in den Garten. Da war ein schimmerndes Schweigen. Sie gingen über die seidenglatten Nadeln der Tannenallee. Auf dem Rasen saß Evelyn unter einem Hängerosenbusch. Neben ihr schillerte Pfauengefieder in der Sonne. Wie eine Märchenprinzessin sah sie aus. »Du bist so faul, wie du lang bist!« rief sie nach der Laube drüben. »So faul! Steh doch selbst auf! Ich sag’ ja: so faul, wie du lang bist!« Sie strich über den Pfauenhals. »Nicht? wir bleiben hier sitzen!« Und dann zerpflückte sie die Rosen in ihrem Schoße. Aus der Laube kam ein träges Summen, das irgendein sentimentales Lied bedeuten konnte. »Dort ist Tante Sophies Patenkind,« sagte Agnes Elisabeth zu Craner. »Evelyn!« rief sie hinüber. Das Weiße auf dem Rasen sah sich nach allen Seiten um, suchte nach einem Schuh und kam dann langsam auf die beiden zu. Erst, als sie vor ihnen stand, hob Evelyn die Augen. »O so!« »Ich soll Sie grüßen von Tante Sophie, Fräulein Evelyn!« »So, dann sind Sie der Bruder von Onkel Wilhelm! Es ist nett, daß einmal jemand zu uns kommt!« »Wilhelm begreift Sie gar nicht in Ihrer Vorliebe für die Einsamkeit, Fräulein Hellwege,« wendete sich Craner an Agnes Elisabeth. »Nein, ich glaube sogar, er hält uns für überspannt und absonderlich. Und das sind wir doch wirklich nicht!« Sie sah lächelnd an sich herunter. Der Großmutter Kleid machte sie ein wenig erröten. »Nun, wie alle Welt sehen Sie nicht aus!« meinte er mit ruhiger Anerkennung. Evelyn ging auf den Rasen. »Marianne, ein Er ist da.« In der Laube schwieg es eine Weile, dann gab es einen Krach, -- und dann einen Plumps. »Meine schöne Hängematte!« jammerte Evelyn. Rosenrot und schläfrig erschien Marianne. Unten um die Ecke bog Julie, mit einem Buch in den Händen. Craner wußte, daß es vier Schwestern waren. Vier, -- das war sonst so übersehbar gewesen; er hatte dabei die Empfindung von etwas angenehm Handlichem gehabt. Jetzt aber erschien es ihm plötzlich weich und unbestimmt. Er begrüßte die beiden anderen Schwestern. Marianne war ein wenig enttäuscht. Als sie die Hängematte verließ, hatte sie eine kleine Hoffnung gehabt, es könne der Lehrer sein. Sie hatte bereits die schauernde Wärme geheimnisvoller Strahlen empfunden, die von ihr ausgehen und den ungelenken Mann verwirren würden. Nun war es bloß des Vormunds Bruder, der ihr freundlich guten Tag sagte, ohne bewundernd die Augen aufzureißen. Sie dachte plötzlich an Lukas Allm mit Sehnsucht. Julie stellte inzwischen mit sachlicher Kühle das Äußere ihres Gastes fest. Er war gut angezogen. Der Kragen hätte eine Kleinigkeit niedriger sein können, aber der Schlips hatte eine ruhige Farbe, die zum Anzug und auch zum Gesicht paßte. Seine Bewegungen waren angenehm und sicher, manchmal sogar schön; wenn er im Gespräch die Hand erhob und mit leicht gekrümmten Fingern eine dokumentierende Geste machte, gab es eine gute Linie. Und in allem, was er sagte, war eine lächelnde Bestimmtheit. Übrigens wandte er sich oft an Agnes Elisabeth und sah sie dabei mit freudigem Interesse an. Das war amüsant. »So bin ich denn auf ein Jahr herübergekommen, um in Berlin noch genauere Studien über Tropenkrankheiten zu machen und das Material, das ich drüben gesammelt habe, durchzuarbeiten,« erzählte er. Marianne hatte eine Abneigung gegen alle Ärzte. Sie dachte immer gleich an Operationen, rote Narben und Karbolgeruch. Sie blieb mit Evelyn zurück, und die beiden warfen sich mit Tannenzapfen. »Sie sollten auch nach Berlin gehen, Fräulein Julie,« meinte Craner. »Mein Bruder sagt mir, daß Sie es mit Ihren Studien sehr ernsthaft meinen. Er ist der Ansicht, Sie sollten sich nicht hier vergraben, sondern ein Examen machen.« »Warum?« fragte Julie ruhig. »Sie erreichen dann doch ein Ziel, bringen Ihre Arbeit zu einem gewissen Abschluß und kommen mitten in das wissenschaftliche Leben hinein. Auch gewinnen Sie eine noch viel tiefere Freudigkeit zu Ihrem Beruf, wenn Sie für andere Menschen arbeiten und dabei Erfolge sehen!« Julie lehnte den Kopf etwas zurück und faßte ihr Buch mit beiden Händen. »Ich möchte nicht für andere Menschen arbeiten! Was ich tue, geschieht nur für mich selbst!« sagte sie langsam. Craner sah sie erstaunt an. »Priesterin des neuen Glaubens«, fuhr es durch seinen Kopf. Agnes Elisabeth lachte kurz. »Nicht wahr, Sie halten uns für sehr egoistisch?« »Das sind wir schließlich alle,« lenkte Craner ein. »Aber ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, daß es Freude macht, seinen Mitmenschen zu helfen. Natürlich ist auch diese Freude eigentlich eine selbstsüchtige Empfindung, doch ...« »Ich will nach meinem Geschmack leben; weil meine Arbeit ihm entspricht, tue ich sie,« sagte Julie und brach eine weiße Rose ab. »Wenn andere Menschen etwas von meiner Arbeit haben, soll es mich freuen. Aber dies ist nicht der Zweck, den ich verfolge; ebensowenig, wie es mir auf Erfolg ankommt.« »Das ist sehr heldenmütig!« sagte Craner mit leisem Spott und lächelte. »O nein!« kam es kühl zurück. »Übrigens führen Sie Ihre Idee auch nicht ganz durch!« begann Craner wieder. »Sie leben hier doch alle füreinander, nicht wahr?« »Ich glaube nicht,« sagte Julie. »Nebeneinander! Nur Agnes Elisabeth, ja!« Sie drehte den Kopf hinüber. »Sie lebt für uns! Aber sie ist auch die Güte selbst!« fügte sie mit heiterem Lächeln hinzu. Agnes Elisabeth schwieg, als Craner sie anblickte. Sie kam sich plötzlich so allein mit ihm vor, und es war gut, daß Gesch Margrets Schürze erschien. Das Essen ging kurz vorüber. Craner erzählte von seinem Aufenthalt in Kapstadt. Er hatte treffende Vergleiche, satte Farben. Die Schwestern hörten angeregt zu. Evelyn genoß das Weite, Unbekannte, und schwelgte in der Empfindung von noch blauerem Himmel, von Wärme, die noch heißer flimmerte. Mariannes Phantasie ging in die silbernen Mondnächte hinein; sie sehnte sich nach der lauwarmen Luft, die ihren Körper streicheln und ihr heißes Blut in Erregung bringen würde. »Und nun wollen Sie ein ganzes Jahr in Berlin bleiben?« fragte Julie. »Ja, bis zum nächsten August. Ich freue mich auf diese Zeit. Man kann in einer großen Stadt viel intensiver arbeiten. Es gibt da so viele Hilfsmittel, die einem die Arbeit erleichtern. Die hat man draußen nun einmal nicht. Auch Sie sollten das bedenken, Fräulein Julie. Bibliothek, Kunstsalons, Vorträge sind immerhin eine schätzenswerte Beigabe, auch wenn man nur dem eigenen Geschmack leben will.« Er lächelte. »Nein, wir wollen alle zusammen in unserem Hause bleiben! Das haben wir uns versprochen, nicht wahr, Agnes Elisabeth?« »Also doch Altruismus!« meinte Craner. Julie warf den Kopf zurück. Die Erdbeeren waren gegessen, Agnes Elisabeth hob die Tafel auf. Marianne und Evelyn gingen wieder ihre eigenen Wege, Julie holte sich ein Buch. Craner stand plötzlich mit Agnes Elisabeth allein in der Laube, in der eine grüngoldene Dämmerung zitterte. Sie hatte ihre kurzen weißen Hände auf den Tisch gestützt; in ihrem Haar flimmerte halbes Licht. Craner fühlte mit einem Male die Einsamkeit, an der dieses Geschöpf ihre Kraft und ihre Liebe verzehrte. Der Hauch von Mütterlichkeit, der wie ein Goldton über ihrem Wesen lag, berührte ihn schmerzlich. Mit beiden Händen gab sie den Schwestern, was sie an Liebe besaß; aber keine dankte es ihr. Er nahm die Papiere heraus, die ihm sein Bruder mitgegeben hatte. »Darf ich Ihnen kurz erklären, um was es sich handelt?« Agnes Elisabeth blickte auf und war sofort bei der Sache. Sie setzte sich auf die Bank, Craner zog einen Korbstuhl heran. Mit sachlicher Stimme erläuterte er den schwülstigen Geschäftsstil der Formulare; auf einem Blatt Papier machte er ihr verständlich, wie sie dieselben zu behandeln hätte. »Hier müssen Sie dann die verschiedenen Daten ausfüllen, also etwa: Agnes Elisabeth, in diese Rubrik hier: geboren den so und so vielten, und so weiter. Nicht wahr, Sie verstehen mich?« Agnes Elisabeth hörte aufmerksam zu. Sie empfand ein neues Wohlbehagen. Sie lehnte sich an diese ruhige Stimme an. Nun würde schon alles in Ordnung kommen. Dann sprach er von ihrem Einsiedlerleben. »Ich glaube Sie zu verstehen,« meinte er freundlich. »Sie sind in engster Verbindung mit der Natur, die Ihnen immer mehr geben kann, als Menschen es vermögen. Rücksichten auf die kleinen Dinge des Alltags sind hier kaum vorhanden. Und darum laufen Sie wenig Gefahr, sich selbst zu verlieren.« »Wir haben es von Mama so übernommen,« sagte Agnes Elisabeth weich. »Und wir sind glücklich darin. Verstanden hat uns bis jetzt freilich noch niemand. Aber wozu braucht man Verstehen?« In ihren Augen war wieder jene Verschlossenheit sichtbar, die jeden Einblick in ihre Empfindungen kühl zurückwies. Craner staunte. Dieser sprunghafte Wechsel zwischen Bewegung und geraden, harten Linien! Eine knisternde Unruhe, gleich einem Feuer, das mitten in der Heide emporzuckt und fliehend über lange Strecken flirrt. »Ich weiß nur nicht,« begann er wieder, »ob nicht doch mit der Zeit andere Bedürfnisse aufwachen werden ...« »Dann wird man weitersehen,« sagte sie, stand auf und legte die Papiere zusammen. Das grüne Licht umhüllte sie kalt und trennte sie plötzlich von ihm. Diese Luft stand feindlich gegen ihn auf; das blasse Gesicht schien zu sagen, daß er nun entlassen sei. Dann kann ich mich ja wohl verabschieden, dachte er. Er erhob sich gleichfalls. »Ich glaube, es wird Zeit, daß ich an den Heimweg denke!« »Ich hoffe, daß Sie noch einmal wiederkommen, bevor Sie nach Berlin gehen!« sagte sie und gab ihm die Hand. »Ist es Ihnen wirklich recht, wenn ich Sie noch einmal aufsuche?« »Ich meine immer das, was ich sage!« Sie zog etwas ungeduldig die Augenbrauen zusammen. Die zwei gingen den Seitenweg am Hause entlang. Die Hecke machte die Luft stickig; erdwarm und medizinisch roch der Buchsbaum. Evelyn kam ihnen aus der Seitentür entgegen, mit einem riesigen Strauß von Heliotropen und weißen Rosen. »Bringen Sie den, bitte, Tante Sophie mit!« Marianne saß auf der Bank vor dem Hause. Sie träumte in die Landstraße hinaus, die von Hellweges Haus schnurgerade in die Heide führte. Ihre Gedanken hingen ganz dort hinten, wo die Bäume sich zu einer bläulichen Wölbung zusammentaten. Craner verabschiedete sich. Es gelang ihm nicht, einen herzlichen Ton zu finden, so sehr er auch darnach suchte. Agnes Elisabeths Augen standen ihm im Wege. Aber diese Augen begleiteten ihn die lange Chaussee hinunter, und wenn er in die Sonne blickte, sah er sie in flimmernden Kreisen vor sich. * * * * * Über den Wiesen wetterleuchtete es. Ein schwacher Donner grummelte in der Ferne. Ein schwüler Heugeruch zog geheimnisvoll durch das weitgeöffnete Fenster. Draußen war es schwarz. Nur von den bekalkten, krumpeligen Stämmen der Birnbäume ging ein Leuchten aus, als ständen da nackte Beine im Grase. Wenn die Blitze kamen, war für Augenblicks Weile der Tag in fahlem Lichte da. Totenstill war es. Das verhaltene Murren klagte über die Ebene, und diese ferne Klage machte das Schweigen nur tiefer. Wie leer war dies Schweigen! Agnes Elisabeth sah stumm hinein. Die Stille starrte sie an, wie die toten Räume ihres Inneren. Wie leer war es auch dort! Die Schwestern bei der Hand nehmen wollte sie und sie führen, aber sie gingen ihre Wege allein. Sie wollte der Mutter blumenstilles Empfinden weiterleben heißen in diesem lieben Hause, aber der Rhythmus wollte nicht mehr stimmen, und neue Melodien wachten auf, die denen besser klangen; sie wollte so gern für andere leben und ihnen helfen, aber hier war nichts zu helfen; sie waren Naturen, die nur sich selbst vertrauten; sie sehnte sich nach Hilfsbedürftigkeit, die leises Streicheln brauchte; wie weich hätte ihre kurze Hand streicheln können. Aber es war keiner da! Evelyn vielleicht noch eine kurze Weile, aber dann ...? Die Blättermassen draußen blickten regungslos auf sie herein, mit starren Augen. Ängstigend und unbewegt stand jenes Versprechen vor ihr. »Daß die Kinder eine Heimat behalten«, hatte die Mutter gesagt, »geh du nicht von ihnen.« Sie hatte es ihr versprochen, in einem Taumel schmerzlicher Begeisterung, die diese Lebensaufgabe mit beiden Händen erfaßt und sich zu eigen gemacht hatte. Aber wie anders sah nun die Wirklichkeit aus! Hätte die Mutter nicht eigentlich wissen müssen, daß dieser letzte Wille für Agnes Elisabeth die Ursache eines zwecklosen Daseins werden würde!? Von vornherein waren die Kinder gelehrt worden, zuerst sich selbst zu suchen, um sich dann aus eigner Kraft des Lebens Wertvollstes zu sammeln. Nun sollte sie denen eine Heimat sein, die doch bei sich selbst zu Hause waren und keine andre Heimat brauchten. Waren Frau Hellwege vielleicht in letzter Stunde Zweifel gekommen, ob der Weg, den sie den Kindern gewiesen hatte, der richtige sei? Oder hatte die Angst vor dem Tode ihren Glauben zittern lassen, daß sie nach Händen gegriffen hatte, denen sie ihren liebsten Besitz anvertrauen könnte? Jedenfalls hatte Agnes Elisabeth das Versprechen gegeben und mußte es halten; und sie wollte es auch. Daran war kein Zweifel. Wie würde ihr Leben nun weiter gehen? Es blitzte. Draußen auf dem Rasen lag noch Evelyns Hut. Sie würde den Haushalt besorgen und alles mit den Geschwistern teilen. Was würde sie von diesen zurückempfangen? Sie würde geben, geben! Aber das würde niemals seliger sein als Nehmen! Sie strich mit der Hand über ihre Arme. Ein schwüler Windschauer ließ das Laub draußen verschlafen rascheln. Die Baumkronen wiegten sich sehnsüchtig zueinander. Ein Rieseln stieg in ihrem Nacken auf und glitt kalt über den Rücken hinunter. Was sie aber brauchte ...?! Sie glitt von der Fensterbank hinab und stand in der Mitte des Zimmers. Sie streckte sich plötzlich lang auf die harten Holzdielen aus. Die Arme preßten sich gerade an ihren Körper, als müßten sie ihn festhalten. Ja, was sie brauchte! Liebe brauchte sie, und immer und immer wieder Liebe. Sie wollte Liebe geben, aber sie wollte sie auch nehmen! Die Blitze zuckten über ihren weißen Körper, die Bäume sahen erschrocken herein. Da lag sie und krümmte sich unter den Schmerzen ihrer Sehnsucht. Eine schwere Wärme dämmerte vor ihrem Gesicht. Vor ihren Augen tanzten Funken. Drüben im Alkoven standen zwei brennende Kerzen. Mit heiliger Ruhe leuchteten ihre Flammen. Sie ließen die knisternde Masse des Haars kupfergolden glühen, rostbraun erlöschen. Und ein feiner Rauch stieg gerade in die Höhe, wie eine Bitte, daß dieses Opfer Gnade finden möge. So lag Agnes Elisabeth lange. Als warte sie in dieser Stille auf Erlösung. Aus braungoldiger Tiefe tauchte ein grünbeschirmtes Nachtlicht auf, dessen Leuchten rötlich durch eine weiße Hand schimmerte. Eine blasse Helle tastete durch das Zimmer. Julie blieb vor dem Körper der Schwester stehen und betrachtete ihn. Agnes Elisabeth zog ihre Glieder zusammen und richtete sich auf. Ihre Augen fanden Julie nicht sogleich; sie sah die Kerzen, das Nachtlicht und die zuckenden Schatten auf der Tapete; sie hörte den leisen Regen. Eine stumpfe Pause dehnte sich. »Evelyns Hut wird naß werden!« sagte sie. Sie besann sich. »Was willst du noch so spät, Julie?« -- »Das Glucksen in der Regentonne läßt mich nicht einschlafen. Hast du nicht irgend etwas Einschläferndes? Ich habe schon so viel wirres Zeug durcheinandergeträumt!« Agnes Elisabeth stand auf, ging auf die Diele und holte von dem Büfett die Obstschüssel. »Komm, Äpfel helfen am besten.« Julie nahm einen und biß krachend in die Schale. Der Apfelduft brachte vieles wieder in Ordnung. Agnes Elisabeth flocht ihr Haar in einen strammen Zopf und war ganz die alte. Julie setzte sich auf einen Strohstuhl und stützte die Arme auf die Knie. »Ich glaube, ich gehe nun doch nach Berlin,« sagte sie gemächlich. »Das Fleisch schmeckt, wie Seide. Etwas fade! Man kann vielleicht dort besser arbeiten.« Agnes Elisabeth setzte sich unschlüssig auf den Bettrand. »Wenn du meinst -- natürlich! Aber ich denke, du arbeitest nur zu deinem Vergnügen?« Julie machte mit dem halben Apfel eine Geste. »Das tue ich auch! Aber was Craner sagte, hat mich berührt. Wenn ich jetzt in die Stadt fahre, um mir Bücher zu holen, wie ist das umständlich! Dort habe ich jeden Tag alles zur Verfügung. Und ich will alles nehmen, was ich haben kann.« »Dann werden wir also nicht zusammen bleiben?« »Nein! Das heißt, ich komme natürlich wieder; vielleicht ein, zwei, drei Jahre bleibe ich in Berlin, dann nehme ich mir irgendeine große Arbeit mit hierher und wohne wieder bei euch.« Agnes Elisabeth zog die dünne Decke herauf und legte den Kopf ins Kissen. »Du kannst tun, was du willst,« sagte sie müde. Julie legte das Kerngehäuse auf den Teller. »Es ist doch gut, daß wir unser Leben so genießen können, wie wir es uns wünschen.« Sie dehnte sich behaglich. »Wir ...?« dachte Agnes Elisabeth. »Genießen ist die vornehmste Kunst des Lebens,« sagte Julie und stand gähnend auf. »Gute Nacht! Soll ich die Lichter ausmachen?« »Bitte!« kam es vom Alkoven. Die Flammen, eine nach der anderen, beugten sich zur Seite, duckten sich und verloschen. Das Nachtlicht zog langsam ab, die bloßen Füße tappten über die Diele. Agnes Elisabeth lag allein, im Dunkeln. Ein lächelnder Schimmer war noch in ihren Augen. Genießen ...?! Aber dann wurde er breit, höhnisch und grinsend. VI Viele Tage später. Ein Früh-August-Mittag. In grünen Hecken ein rosa Kleid. In flachem Bastkorb honiggoldene und graurote Himbeeren. Auf weißen Fingern hellroter Saft. Der Himmel blank. Der Lohegeruch zwischen den Beeten kräftig und herb. Reseden, Himbeeren, Lavendel, Zentifolien: ~ein~ opalschimmernder Duft. In langsamen Stößen Lindenatem vom Hause her. Nur dieses! Und ein dickes Summen von Bienen. »Mein Blut ist röter als das Blut der anderen!« erzählte sich Marianne. »Julie wird klares hagebuttenrotes haben, bei Agnes Elisabeth wird es sein wie lauter Geranien, meines ist schwer und tief wie Burgunder-Rot.« Ihr Haar war an den Schläfen feucht geworden. Sie strich es zurück. »Wenn die Welt keine rote Farbe hätte! Alle Farben könnten fehlen, nur Rot nicht!« Sie bekam eine plötzliche Sehnsucht, sich in rote Blüten zu legen. Daß sie schon in der Heide wäre! Es war so heiß! Mit langsamen Schritten ging sie dem träumenden Hause zu. Im Milchkeller war eine klingende Kühle, graugrünes Licht und ein Streifen Sonne mit zitternden Stäubchen. Der Bastkorb blieb auf dem Holzregal stehen. Das rosa Kleid stand nun oben in der Haustür, ganz überworfen von Schattenflecken, die von den Lindenblättern kamen. Ein großer Strohhut hing nachlässig in der gerundeten Hand und baumelte ab und zu ein bißchen hin und her. Nach einer Weile beugte sich der Kopf nach vorn und wandte sich dann schnell um. Der Entschluß war da. »Gesche! Ich will noch ausgehen!« rief Marianne in die Diele zurück, und irgendwo aus der Dämmerung kam eine Antwort. Dann wurde der Hut in die Höhe gehoben und ließ sich auf dem Haar nieder. Das rosa Kleid wanderte an den Malvenstöcken vorbei, durch das weiße Gitter. Marianne ging geradeaus, mitten in die Heide hinein. Eine breite Hitze brannte auf dem Wege. Die Bäume standen steif; die Schatten, die sich um die Stämme herum zeichneten, waren wie grüngemalte Untersätze; wie aus einer Spielzeugschachtel aufgebaut sahen die langen, in der Ferne sich verlierenden Reihen aus. Weißer Staub krisselte in der Luft. »Fast etwas zu heiß,« dachte Marianne. »Aber rund und weich. Das gibt es nur im Sommer. Herbst ist eckig und dürr, Winter verhungert und verhärmt, Frühling blaß und aufgeregt.« Sie schlenkerte die Arme hin und her. Die Glieder waren wie losgelöst, die Bewegungen glatt, wie schmelzendes Wachs. Das Kleid schleifte über die Erde und wirbelte ein Wölkchen hinter ihr auf. Hellgebacken standen die Kornfelder da. Der Buchweizen roch nach Apfelgrütze. In rosigem Glanze schimmerte dahinter die Heide. »Wie Himbeerglasur,« dachte Marianne. Sie bog in den schmalen weißsandigen Weg ein. Es war nur eine breite Furche, in der große Büschel Erika standen, zwischen Zittergras und Glockenblumen. Sie ging langsam und träge, unschlüssig, ob sie nicht stehenbleiben sollte. Ihre Füße, die der Sand bei jedem Schritt festhielt, zogen den Körper beschwerlich durch das Gestrüpp. Von den krumpeligen Kiefern kam ein staubiger Duft. Ab und zu kroch eine blaufeine Welle von Moorrauch über den Hügel. Libellen strichen auf mit einem feinen Saitenklang, und Schmetterlinge glitten durch die Luft, wie gelbe Rosenblätter. An der weichen Hügelbrust, wo die Birke so allein stand, setzte sich Marianne hin. Sie legte den Hut neben sich in das Heidekraut und streckte sich bequem aus. Die Gräser gaben ihr ein krauses Gefühl am Halse. Sie holte das Taschentuch heraus und legte es unter ihren Kopf. Dann huschelte sie sich zurecht und sah behaglich in den Himmel. Der Hügel glühte, und die Blumen standen wie aus lauter Glas. Wenn der Erdhauch darüber glitt, gab es ein feines Klirren. Ihr Auge ruhte träge auf dem kurzen Horizont, wo jeder Stiel und jeder Strauch, jede Blüte und Blume auf den Himmel geklebt zu sein schien. Und das weite Heidebett wiegte und wogte sie ein. Sie war die Königin in rosenseidenen Kissen unter einem Baldachin von Atlas. Durch den Saal zog ein Klingen, wie von Musik, die drüben jenseits des Flusses spielte; ein Summen schwoll und flachte sich, wie Stimmen von Menschen, die in den Vorzimmern warteten, ihr zu huldigen. Nun mußte einer kommen in Sammet mit Spitzen, mit einem goldenen Degen und einer Feder auf dem Hut. Die Menge vor den Türen sollte warten, er würde vor ihrem Lager knien und bittend ihre Hände suchen. Mit halbgeschlossenen Augen sah sie ihn, und ihre Lippen glühten. Sie wollte nicht zögern, ihn zu empfangen ... * * * * * Ein blanker Strohhut erschien plötzlich zwischen den Gräsern. Da stand er eine Weile sehr vergnügt. Dann ging er weiter und wanderte auf den Blumen dahin. Nach einer Weile wuchs ein Stock in die Höhe, und bald darauf hob sich der Hut. Ein rotes Gesicht, ein dunkler Bart, eckige Schultern, ein grauer Anzug: der Lehrer. Die da lag, erkannte ihn unter halben Lidern. Sie hielt den Atem an und war ganz still. Der Lehrer stand auf der Höhe, breit und mächtig. Er sah sich um. Nun schien er zu erschrecken. Er schob den Kopf nach vorn. Eine Weile Unschlüssigkeit. Dann wendete er sich brav zur Seite und stieg den Hügel dort hinunter, nicht ohne den Kopf noch einmal umzudrehen. Dabei kam sie freilich nicht auf ihre Kosten. »Herr Allm!« Der Lehrer zuckte und wandte sich um. Er tat, als ob er sie suchte, kam aber geraden Wegs mit steigenden Schritten auf Marianne zu. Sie hob die Schultern und stützte sich auf den Arm. Nun stand er vor ihr und zog den Strohhut vom Kopfe. »Ist dies Ihre Erholung nach der Schule?« Sie beschrieb träge mit der Hand einen Kreis. Von Lukas Allm kam keine Antwort. Er tastete mit den großen Händen an der Krempe des Huts entlang. »Gehen Sie oft hier spazieren?« fragte Marianne nach einer Pause. »Ja, ja, sehr oft!« stotterte Lukas. »Ich -- ja!« Mariannes Fußspitze schaukelte auf und nieder. »Wollen Sie hier ein bißchen ausruhen?« Lukas’ Augen machten einen Spaziergang über die Linie ihres Körpers hinab zu der trägen Bewegung des Fußes. Dann setzte er sich bescheiden ihr gegenüber in das Gestrüpp. »Wenn Sie erlauben.« Marianne bedauerte, daß er sich nicht neben sie setzte. »Erzählen Sie mir etwas!« bat sie weich und schmiegte den Kopf wieder auf das Taschentuch. Lukas Allm schwieg; er grübelte, wovon er sprechen könne. Von den Kindern? Da wußte er gerade nichts. Von Evelyn? Das paßte nicht. Von ...? Ja, wovon ...? »Wissen Sie nichts?« fragte sie unter den Sträuchern. Der Lehrer rückte sich zurecht und räusperte sich. »Die Heide ist schön!« sagte er eilig. »Ja,« kam es unbarmherzig zurück. Lukas Allm sah sie an, sah an ihr vorbei, nun wußte er wieder nicht weiter. Es wurde ihm plötzlich warm, die Zunge lag trocken am Gaumen, und im Halse gab es kurze Stöße, die den Atem versetzten. Was war denn? Er saß hier mitten unter der Sonne in einem Heidestrauch, und dort ... dort war Marianne, dort lag sie, und er war mit ihr zusammen. »Ja, ich gehe sehr oft hier spazieren!« »Hm!« summte es. »Immer, wenn die Schule zu Ende ist.« Er starrte auf das Kleid, das über der Brust auf und nieder ging. Mit ihr allein, mit ihr zusammen. Ein kleines Heldenlächeln ging über sein Gesicht. Und doch wäre er jetzt gern in seiner Veranda gewesen, wo man sich so einen kleinen gefährlich-behaglichen Traum wohl gönnen, ihn aber auch schnell wieder beiseite stellen konnte. Hier aber saß er, hier war ~er~, und da war ~sie~. Und alles war so hell, so heiß und wirklich. Ein Rascheln erschreckte ihn. Marianne richtete sich auf, stützte den Kopf in die Hände und sah ihn an. Sie sah ihn an. Mit schweren Augen! Und ihre Glieder sahen ihn an, und ihre Lippen sahen ihn an. Lukas Allm pflückte eine Blume und betrachtete ihre Blätter. Er zwang die Augen hinunter. Eine lange Pause. »Ja,« sagte sie fest. Lukas schlug die Augen empor. Er erschrak vor ihrem Blick. Dunkelblau, unter langen blonden Wimpern. Von der Seite schimmerte es rosa, eine Fülle von Rosa ... Plötzlich kam ein Duft herüber, eine schwüle Welle. Ihre Haare flirrten vor seinen Augen. »Woran denken Sie?« Ein paar Bilder flogen ihm durch den Kopf, die Mutter, die Schulstube, und verschwanden in der Luft. Im Mittagsglühen lag der Körper vor ihm. »Sie haben es dort heiß! Wollen Sie sich nicht hierher setzen?« Marianne tat ihr Gesicht in die Blüten. Nun saß Lukas Allm neben ihr, zwei Handbreit entfernt; ein Käfer krabbelte von seinem Rock auf ihr Kleid. Ihre Hand glitt vom Gesicht und lag da vor ihm. Nackt lag sie da, und sehnsüchtige Lust war in ihrer Rundung. Seine Augen zog sie hinab. Die irrten eine Weile umher, dann blieben sie hängen und kamen nicht fort. Lukas Allm faßte ins Gras; nur zufällig berührte seine Hand die weiche Haut. Nur zufällig hoben sich ihre Finger und blieben auf des Lehrers breiter Hand liegen. Nun verging eine lange Zeit. Keines rührte sich. Als wüßten sie nicht, daß ihre Hände beieinander lagen ... In Marianne war ein lässig genießendes Warten. Wie angenehm war es doch, dies Warten in der Hand zu haben! Es war ein hübsches Gefühl, zu wissen, daß er, der da neben ihr saß, abhängig von ihr war. Nun wollte sie es noch ein Weilchen hinausschieben. Sie dehnte sich. Der ganze flimmernde Sommertag kam ihr zu Hilfe, tiefte das Rosa, ließ die Haut leuchten, hob ihren Körper auf und zeigte dem armen, hilflosen Lehrer, wie schön sie war. Der wußte nun gar nichts mehr. Er starrte nur immer zur Seite, dahin, wo der runde Hals im Kleide verschwand. Marianne fühlte seinen Blick. Ein kleiner Triumph breitete sich in ihr aus. Sie empfand etwas von unbegrenzter Machtmöglichkeit. Aber auch ein flirrender Schleier schwebte vor ihren Augen, von der Nähe eines Augenblicks, da sie bewußtlos lächelnd alle Macht darangeben würde. Und wie sie daran dachte, stand dieser Augenblick auch schon neben ihr, und sie griff nach ihm. Ihre Finger preßten sich fest um des Lehrers Hand. Und dann zog sie ihn langsam, ganz langsam zu sich herab. Lukas Allm fühlte plötzlich ihren Atem und sah ihre schimmernde Haut. Ein Brausen siedete in seinen Ohren. Dann schlug es über ihm zusammen. Er fühlte feuchte Lippen ... Vielleicht wollte er jetzt aufspringen und weglaufen, aber nun legten sich ihre Hände weich um seinen Nacken und hielten ihn fest. Und das änderte alles. Schließlich hatte er nicht umsonst seine Jugend fern von allen Wirklichkeiten verträumt und in seiner Heidestille eine Fülle unbewußter Sehnsucht und unverbrauchter Empfindungskraft aufgespeichert. Seine Hände tasteten nach ihrem Kopf, faßten ihr Haar, glitten über den Hals und preßten ihren Körper. Mit geschlossenen Augen lag Marianne da. Und er küßte ihre Lippen, ihre Wangen, ihre Augen, ihren Hals. Sehnsüchtig sog er ihren Duft. Er mußte Jahre wieder einholen, die vorübergedämmert waren! Oh, und Marianne ...! Gold und glühendes Rot wogte vor ihren Augen. Schauer rieselten durch ihren Körper. Hierhin, dorthin flog ihr Empfinden. Jetzt war es in den Lippen und nahm seine Küsse, nun im Haar und zitterte unter seinem warmen Atem, nun wieder am Hals und bog sich voll Lust unter dem Kribbeln seines Bartes. Der ganze Leib ein Meer von Glut; ein Spannen in allen Nerven, ein Loslassen, das leuchtend schwer dahinfloß, eine bebende Wonne, die über ihrer Haut ausgestreckt war wie Seide oder Blumen oder streichelnde Hände. So küßten sie sich. Bis er plötzlich sich schwer atmend aufrichtete, während Marianne bewegungslos liegen blieb. Ein Gefühl von Leere. Eine unbestimmte Farbe von Übersättigung. Ein paar stockende Gedanken: »Das hättest du nicht tun sollen« und »Was nun?« und sogleich danach eine brave, neugebackene Würde: »Nun bin ich verlobt!« Und da unten im Grase nichts von alledem. Nur ein Weitertreiben, ein Sich-Dehnen in lauwarmen Fluten. Nach einer Weile wurden die Wellen flacher, und plötzlich schlug Marianne die Augen auf, verwundert, als sei sie da irgendwo an den Strand gespült und wüßte nicht, wo sie wäre. Lukas Allm atmete auf. Der Stolz auf seine neue Würde war klein geworden, als er sie regungslos vor sich liegen sah. Ob ihr etwas geschehen sein mochte?! Was konnte das kleine Heidelicht von jenen Flammen wissen, die in diesem jungen Körper glühten! Er hatte sie entzündet; nun sie aufbrannten, bekam er es mit der Angst. Mit einer richtigen Jungensangst. Aber jetzt strich er sich erleichtert über die Stirn. »Nun sind wir verlobt!« sagte er strahlend. Marianne richtete sich auf und sah ihn erstaunt an. Plötzlich lachte sie. Lukas Allm machte ein befremdetes Gesicht. »Wir sind nun verlobt!« betonte er wichtig. »So!« sagte sie langgedehnt. »Ja, natürlich!« Auf seinem Gesicht lag bereits der Sonnenschein einer glücklichen Ehe, in ein paar Falten hatten sich sogar schon einige wichtige Sorgen niedergelassen. Er holte tief Atem. Also am 5. August nach der Schule hatte er sich in der Heide mit der dritten Tochter des verstorbenen Rechtsanwalts Hellwege verlobt. Noch dazu heimlich. Ja, er selbst wußte es kaum. Plötzlich war die Liebe gekommen, »wie der Frühling auf leisen Sohlen«, hatte er irgendwo einmal gelesen. Er rückte näher und nahm Mariannes Hand. Nun mußte er wohl von Liebe sprechen. »Haben Sie,« stotterte er, »haben Sie ... hast du mich lieb?« Er erschrak über seine Frage und freute sich doch zugleich. Das spielte sich alles so ab, wie er es in Büchern gelesen hatte: Marianne wurde rot und flüsterte »Ja« und entzog ihm ihre Hand. Er war glücklich und stolz. Aber Marianne stand auf und nahm ihren Hut. »Du darfst es niemandem sagen! Und morgen mittag ...« VII Wenn Evelyn etwas Heimliches tat, so geschah es, wo die Äste der breiten Kastanie einen Saal bildeten, dessen Tapeten stumpfgrüne Blätter waren, während von der Decke ein Dämmerlicht herniederfloß, wie von Flammen, die durch feine grüne Seide hindurchzitterten. Es war der siebente Ast in der Höhe. Er war breiter als die anderen und gab mit dem Stamm als Rückenlehne einen bequemen Platz. Bequem, wenn man dünn war, nicht allzu groß und dichtes blondes Haar als Kissen hatte. Dort saß sie nun jeden Tag, nach Tisch, wenn Agnes Elisabeth noch im Haushalt zu tun hatte, Julie in ihrem Zimmer las und Marianne in der Laube an ihrem Tagebuch schrieb. Marianne schrieb nämlich seit einigen Wochen auf goldgeränderten Seiten Gefühle nieder. Hier war die Erde weit weg von ihr, und in dem Stückchen Himmel da oben gab es weite Möglichkeiten, in die ihre Träume ahnungsvoll hineingingen. Wenn ihr Kleid von den angehockten Knien herabglitt, dann war es wie der Spitzenschleier einer Fee oder die seidene Schleppe einer Prinzessin. Vielleicht auch nichts davon, nur eine schöne Linie und das Bewußtsein, daß sie ihr zugehörte. Der grüne Saal war heute eine Halle mit Bogenfenstern und Säulen, morgen ein Garten mit fremden Bäumen, die es nirgends gab, und Blumen voll kühlen Dufts. Und Schmetterlinge kamen, sie zu besuchen, Kavaliere in Seide oder träumende Boten von Märchenufern. Ganz, wie es ihr beliebte. Doch seit acht Tagen lag zwischen den Ästen eingeklemmt da oben ein Buch. Und wenn Evelyn dort saß, dann sah man nur etwas Weißes, das sich zusammenkauerte, und in der Mitte -- alle Linien schienen da hineinzulaufen -- dieses grüne Buch. Das war Jens Peter Jakobsens »Frau Marie Grubbe«. Da las sie nun von allen den seltsamen Dingen, die es in der Welt gibt. Mit kühlem Grausen las sie davon. Und zum ersten Male streckte sie ihre Hände nach des Lebens Wirklichkeiten aus. Und was das Heimliche betrifft, so hatte Julie ihr das Buch nicht geben wollen, aber sie hatte es sich genommen. VIII Mitten in die Farben des Herbstes hinein, die sich zu Tode glühten, kam ein Brief von Heinrich Craner, der Agnes Elisabeths Adresse trug. Sie saß im Garten, als er ihr gebracht wurde, nähte an einem Kleide für Evelyn und dachte darüber nach, daß Marianne in letzter Zeit so angegriffen aussah. Die Naht wurde zu Ende gebracht und der Brief dann langsam geöffnet. Craner schrieb: »Wenn ich mir überlege, daß Sie mich innerhalb der letzten sieben Jahre nur ein paar kurze Stunden gesehen haben, daß diese Stunden ausgefüllt waren von geschäftlichen Besprechungen, die für gegenseitiges persönliches Verstehen wenig Raum gaben, so kommen mir Bedenken, ob ich diesen Brief schreiben darf. Mache ich mir aber klar, daß Sie dem Leben stets mit offnen Augen gegenübergestanden haben, daß Ihr Blick nicht getrübt worden ist durch konventionelle Brillengläser und scharf geblieben durch die klare Atmosphäre Ihres stillen selbstbewußten Lebens, daß Ihre gerade Natur nur Ursprüngliches und Unmittelbares verlangen kann, so weiß ich, daß ich diesen Brief schreiben muß. Also schreibe ich ihn. Was nun kommt, möchte von einer Empfindung sprechen. Ich zweifle, ob es mir gelingen wird, ihr Ausdruck zu geben. Ich bin nicht gewöhnt, von meinen Gefühlen zu reden, und es fällt mir in der gegenwärtigen Lage doppelt schwer, da es mir bisher nicht gelungen ist, festzustellen, ob Ihr Inneres auf dieselbe Tonart gestimmt ist wie das meine. Aber auch eine in dürftige Hülle gekleidete Empfindung werden Sie erkennen, wenn sie nur überhaupt einen Wert für Sie hat. Ich liebe Sie. Darf ich Ihnen erklären, wie es dazu kam? Ich habe in meinem Leben vielleicht mehr über mich nachgedacht, als die meisten zu tun pflegen. Ich habe schon von Kind auf die Gewohnheit gehabt, mich nicht mit allgemeinen Glückswerten zufrieden zu geben, sondern mir auf eigne Faust mein bißchen Glück zu erkämpfen. Es ist mir gelungen. Nach mannigfachen Zickzackwegen natürlich, die aber, wenn ich sie von mühsam erreichter Höhe nun rückschauend betrachte, doch eine gerade Linie bilden. Die Lebenserfahrung, die ich nach innerem Streit im Studierzimmer, nach äußeren Kämpfen an Krankenbetten, in Hospitälern und auf sonnenbrennenden Schlachtfeldern Südafrikas gewinnen durfte, ist die: Glück heißt: Persönlichkeit sein und aus der Fülle eigner Kraft andere glücklich machen. Ich darf sagen, daß ich mir dies Glück zu eigen gemacht habe. Aber nun will es mir nicht mehr genügen. Seit einigen Monaten bin ich mir darüber klar geworden, daß eine Sehnsucht in mir lebt, die schon jahrelang unbewußt geschlummert hat. Es hat lange gedauert, bis ich wußte, was das Ziel dieser stillen Sehnsucht ist. Jetzt weiß ich es! Alle Menschen, denen ich bis heute äußerlich nähergestanden habe, waren mir innerlich fremd. Aber ich brauche jemand, der mich etwas angeht, der nach mir greift mit Liebe und mich festhält mit Verstehen. Harte Hände, die in mein Leben hineinfassen und es rütteln, und doch auch weiche Hände, die es milde streicheln. Als ich Sie vor vier Monaten verließ, wußte ich, daß Sie für mich bedeuten können, was ich brauche. Das war zunächst eine kühle Überlegung. Mit jedem Tage, den ich bei meiner Arbeit durchlebte, wurde sie mehr und mehr verdrängt durch ein herzliches und inniges Gefühl für Sie. Ich komme zu Ihnen als ein Bittender, doch nicht um Opfer. Was ich Ihnen geben kann, ist nur ein Leben voll Arbeit unter den erschwerten äußeren Bedingungen eines ungünstigen Klimas. Arbeit, aber vielleicht auch Ruhe, gewisse, fröhliche Ruhe, die nur die Arbeit geben kann. Und Liebe! Keine amour, aber ein treues, ehrliches Empfinden! Ich bitte Sie nicht um eine schnelle Antwort! Ich werde am 29. Oktober zu Ihnen kommen und mir meine Antwort selbst holen. Heinrich Craner.« Eine Weile sah Agnes Elisabeth regungslos vor sich hin. Vorerst verstand sie nichts von diesem Brief; er traf sie plötzlich und unerwartet; sie war erschrocken und unfähig, einen Gedanken zu fassen. Langsam gingen ihre Augen über die vergilbten Rasenflächen und den Wollstoff auf dem Tisch und blieben wieder auf dem Bogen liegen. »Auch weiche Hände, die es milde streicheln ...« Plötzlich wachte in ihrem Nacken ein Feuer auf, verbreitete sich rasch über ihren Rücken, fuhr hinab bis in die Fußspitzen, loderte hinauf zum Scheitel. Sie lehnte sich weit zurück, ließ die Hände herabsinken und warf den Kopf nach hinten. Und dann fuhr die Erkenntnis durch sie hindurch: Da war jemand, der hatte sie lieb! Das packte sie jäh. Das ergriff sie wie ein Taumel. Sie sprang auf und ging in den Garten. Unten am Wasser saß Evelyn, mitten im Sonnenschein. »Pass’ auf, ich kriege dich!« rief sie ihr zu. Die Kleine war schnell auf den Beinen und lief über den Rasen. Nun wurde es ein Tollen und Jagen, mit fliegenden Kleidern und lautem Gejuchze. Evelyn rannte durch die Tannenallee zum Wasser hinunter. Agnes Elisabeth lief ihr nach, blieb aber plötzlich stehen und sah sich um. Vor ihr stand die Masse einer Rotbuche, auf deren blutenden Blättern mattes Gold schimmerte, dicht über Rasens Höhe karmoisinrote Kugeln von Georginen, und etwas höher, lang und schmal, weinrote Haselnußgerten. Dort drüben die kupferhelle Freudigkeit breiter Ahornzweige, die sich lachend vor dunkle Tannen drängte. Und ganz hinten, ein Spott auf des Herbstes Sterben: in dürrem Gebüsch gleißendes Scharlachrot. Und dies alles jauchzte ihr zu, schrie und jubelte. Oh, sie hätte ihre Arme ausbreiten mögen nach diesen tausend Flammen brennenden Rots, die eigens für sie entzündet waren. Und die Flut des Sonnenlichts hätte sie trinken wollen, durstig, und zitternd unter der Bürde ihres Glücks. Eine Bürde war es ...! Wie sie weiterging, waren ihre Schritte schwer, als müßten sie sich beugen, -- wie heißes Gold rann das Blut durch ihre Adern. Und irgendwo da drinnen war eine Last, die alle Glieder müde machte. Aber sie dachte nichts anderes, als daß sie diese Last tragen dürfte, jetzt noch wie in einem Traum, und nun mit Gewißheit. Mit Gewißheit ...! Trotzdem freilich wußte sie noch nicht, was sie mit Craners Brief anfangen sollte. IX Eines Morgens erwachte der Pastor mit dem Gedanken, daß es wohl Christenpflicht sei, sich wieder einmal um die verwaisten Schwestern zu kümmern. Da es noch vor sieben war, legte er sich auf die andere Seite, zog das Federbett höher und überlegte sich die Sache: Die langen Abende begannen; man konnte nicht immer Bücher lesen, vielleicht wäre es ganz nett, einen Verkehr anzufangen. Aus dem Bett neben ihm kam ein Seufzen. Hinter dem Berg von Kissen tauchte die Nachtmütze der Pastorin auf. »Gottfried! Es ist sieben!« Das Rasseln des Weckers, der auf der Marmorplatte des Waschtisches stand, fuhr frech in die morgendliche Stille. »Ich sage ja, genau mit dem Glockenschlag wache ich immer auf!« lobte es auf der weiblichen Seite. Gottfried Gerlach wandte sich und sandte ihr einen begrüßenden Blick. »Es scheint zu regnen,« meinte sie und hob sich in die Höhe. »Natürlich! Also wieder keine Wäsche aufzuhängen!« Er überlegte, ob er ihr von seinem Plan sprechen sollte. Sehr günstig war der Augenblick nicht. Lieber noch ein Weilchen warten! Er stand auf und zog sich an. Später, beim Waschen, als er mit den Armen im Becken herumfuhr, bemerkte er beiläufig: »Eigentlich sollte man die Hellweges wohl mal einladen!« Die Pastorin zog gerade einen roten Moirérock über. »Warum? Das haben wir doch nicht nötig!« sagte sie und arbeitete mit den Ellbogen den Rock herunter. Der Pastor griff nach dem Handtuch und rieb sein Gesicht. »Nötig ja nicht! Aber die verlassenen Waisen könnten etwas guten Einfluß schon gebrauchen!« Der »gute Einfluß« überredete Betty stets. Sie fand nun auch, daß es gut wäre, auf die jungen Mädchen einzuwirken. Sie erinnerte sich plötzlich, daß die Kleine bei Hellweges immer so naseweise Fragen stellte, daß Julies Mundwinkel spöttisch zucken konnten, wenn sie mit ihr sprach. »Ohne jede Erziehung!« sagte sie. »Es ist wahr, Gottfried, wir haben Pflichten!« Die Mission war erkannt, und man ging ihr sofort zuleibe. Die Schwestern wurden feierlich zum Abendbrot geladen, und damit es sich auch lohne, forderte man auch den Schullehrer mit seiner Mutter und Hinrich Teetje auf. * * * * * Dies war nun die Abendgesellschaft. Die Hängelampe schummerte über dem Tischtuch. Ein Geruch von Braunbier und Schinken stieg von der Tafel und mischte sich in den Ecken, wo die zwei Blumenetageren standen, mit dem welken Duft letzter Rosen. Da saßen sie alle einträchtig, eines neben dem anderen. Mine, das Mädchen, stand an der Tür und glotzte mit aufgerissenen Augen auf das, was am Tisch geschah. Warum das nur immer schnackte und redete?! Wenn man bei Tisch saß, dann aß man und sprach nicht. Das älteste Fräulein Hellwege hatte ein Kleid von schierer schwarzer Seide an. Und die zweite schien Herrn Pastor richtig auszuschimpfen. »Ich nehme nur Goldreinetten. Und ich lasse den Saft einkochen, bis er braunschwarz wird,« erklärte die Pastorin. »Kochen Sie auch Gelee ein?« kam es von Frau Allm. »Nein, mein liebes Fräulein Julie, an und für sich habe ich nichts gegen das Studieren; aber der Beruf der Frau liegt auf einem anderen Gebiete!« sagte Gerlach bedeutungsvoll. »Das kommt auf die Persönlichkeit an,« meinte Julie. Auf ihrem Gesicht lag eine matte Farbe, wie errötende Bronze. War es nicht, als hätte man eine feine Radierung in eine Bauernstube gehängt!? Das Holzbraun des Kleides, das flüchtende Braun des Haares, das Golddunkel der Aster im Haarknoten ... Der Pastor hingegen fand, daß Braun nicht ihre Farbe sei. Zwischen Wurstbroten und weichem Ei setzte er sein Gespräch mit ihr fort. Er hatte sich heute bis an die Zähne gewappnet. Sich bloßstellen, wie neulich, wollte er nicht wieder. Sie schien auch nachgiebiger zu sein. Übrigens, das mußte er ihr lassen: ein klares Denken hatte sie. »Nein, weißt du, aus allen den kleinen gelben Viehchen sind nun große weiße Enten geworden!« erzählte Evelyn ihrem kleinen Nachbarn, dem siebenjährigen Hermann des Pastors. »Und auch die Hängematte ist wieder heil, durch die Marianne damals durchfiel.« Sie zeigte auf die Schwester, die in einer farbenfrohen Seidenbluse stumm und strahlend neben Lukas Allm saß. Hätte nicht das Tischtuch ein zuckendes Fältchen geworfen, wären nicht beider Arme in einem Bogen zueinander geneigt gewesen, man hätte von einer Unterhaltung zwischen den beiden nichts bemerkt. Evelyn wollte just über dieser Betrachtung den kleinen Hermann vergessen, da lag schon seine schmierige Patschhand auf der Seide ihres Ärmels. »Du -- und?« Die blauen Augen strahlten. »Dann schaukelst du mich wieder so hoch, daß ich in die Bäume fliege!?« So hatte jeder sein Teil. Hinrich Teetje saß, und seine grauen Augen saugten sich fest in rotem Haar. Er wußte nicht, ob das schicklich war. Er wußte überhaupt nichts von dergleichen Dingen. Er wußte nur, daß das ein Feuer anfachte, und daß er still dasitzen mußte, damit es gut brenne. Und sie, die seinen Blick fühlte, dachte an Heinrich Craner und gab Hinrich einen freundlichen Blick. Wenn ein Luftzug kommt, brennen Flammen heller. Mine kicherte. Ihr Pastor bückte sich und hob Fräulein Hellweges Serviette auf. »Ich hatte neulich einen Brief von Herrn Craner, er schrieb mir über Evelyns Stunden und ihre Konfirmation.« »Die Pfauen tragen eine Krone auf dem Kopfe.« »Essen Sie Äpfel nicht gerne, Fräulein Marianne?« So hatte es endlich zu einem Satze gereicht. »Sie ist eine reizende Frau, Ihre Tante Sophie.« »Ich will auch niemandem eine Freude machen!« »Ich danke Ihnen auch schön für Andersens Märchen, Frau Allm!« »Hat es Ihnen gefallen, Fräulein Eva?« Der rote Saftpudding! Und dann: »Hab’ Dank für Speise und Trank!« Der Pastor stellte mit einer gewissen Genugtuung fest, daß Julies Blick während des Betens zerstreut über die Wände ging. Er folgte ihm. Doch als sie sich drüben im Spiegel fanden, senkte er strafend die Augenlider. Unter allgemeinem Stühleschurren kam man ins Wohnzimmer. »Nun, mein lieber Teetje, was machen Ihre landwirtschaftlichen Studien? Gehen Sie noch mal wieder nach Berlin zurück?« Teetje antwortete schwerfällig, aber seine Stimme war schön und brachte Fülle in das unbewohnt riechende »beste Zimmer« des Pfarrhauses. »Ich muß zusehen! Ich weiß es noch nicht genau, Herr Pastor! Mit Vater seiner Gesundheit wird es immer wackeliger! Es wird mir schwer genug werden, das Lernen aufzugeben. Wenn er mich braucht, muß ich natürlich hier sein.« »Auch, wenn Sie mitten im Lernen sind?« fragte Julie interessiert. »Gewiß, Fräulein.« Da war kein Zweifel. »Sie können ja Ihre Arbeit auch hier draußen weiterbringen,« sagte Agnes Elisabeth freundlich vom Sofa her, wo sie neben Frau Allm saß. Hinrich Teetje wurde heftig. »Nein! Eins oder das andere! Lernen oder wirtschaften! Die Bücher oder der Hof!« Sein schmales, fast rassereines Gesicht tiefte sich in einer Farbe, die irgend etwas Innerliches zudeckte. »Aber Sie entscheiden sich nicht für die Bücher, auch wenn Sie sie lieber mögen?« fragte Julie gespannt. »Nun mögen Sie für Ihre Ansicht reden,« lächelte der Pastor. »Diesen werden Sie nicht bekehren.« -- Seine Zigarre qualmte in dicken Schwaden. »Bekehren, das wissen Sie, Herr Pastor, ist nicht mein Geschmack.« Wie dieser Hinrich Teetje wohl mit einer Zigarette aussehen würde? dachte sie. »Nein!« sagte Hinrich schlicht. »Schade!« Julie interessierte sich für ihn. »Warum tun Sie nicht, was Ihnen Freude macht?« »Ich habe meinem Vater, als er mir erlaubte, in die Stadt zu gehen, versprochen, daß ich kommen will, wenn er mich ruft, damit ~ich~ dann seine Arbeit tue.« »Und ich meine,« sagte der Pastor und legte seine Hand auf Hinrichs Schulter, »solche Kindesliebe hat höheren Wert als die Jagd nach eigenem Glück.« »Kindesliebe ist das nicht, Herr Pastor!« entgegnete Hinrich Teetje. Damit schloß er zu, und man hörte an dem Abend kein Wort mehr von ihm. Wo des Pastorhauses einzige Palme stand, saßen Marianne und Lukas Allm. Die Palmenhände verdeckten begehrliches Kichern und halblaute Worte. Marianne schwamm im Vergessen alles Äußeren und hatte als Stütze nur des Lehrers rote Hand. Das Halbdunkel der Ecke gab ihr weite Träume, und die Luft der Prachtstube ließ sie sich als würdige Lehrersfrau fühlen. Hin und wieder nippte sie von dem süßen Stachelbeerwein. Evelyn saß allein und blätterte in einem Bilderbuch des kleinen Hermann, der schon zu Bett gegangen war. ›Am Himmel schön die Sternlein stehn, die Glock’ schlägt zwei, sie gehn hinunter nach der Reih’ ...‹ Das Gespräch floß in geschwätziger Breite dahin. Allmählich dehnte es sich, stumme Blasen stiegen auf, endlich blieb es sachte stehen. Frau Allms Socke spitzte sich zum Zeh, Agnes Elisabeth erhob sich, und nach Bedanken und Gutenachtsagen ging man auseinander. Wenn Marianne und Lukas Allm sich noch zu einem Zusammentreffen in der Heide am nächsten Mittag verabredet hatten, so hatte man davon jedenfalls nichts gehört. »Es sind junge Seelen; gute Eindrücke werden in ihnen haften bleiben,« sagte der Pastor und schloß die Haustür. X Wie tote Städte standen die Torfhaufen nebeneinander, in geraden Straßen, die verlassen waren. Hier eine Stadt, dort eine, alle ausgestorben, als sei die Pest hindurchgegangen. Der Wind fegte über das Moor. Aus der Ferne kam er heulend heran, wimmerte über den Bäumen und prasselte hinten in die Dorfstraße hinein. Staub wirbelte er auf, duckte Hagebuttensträuche zu Boden, ließ Eichengebüsch klirrend erschauern und die entlaubten Birken ihre Leiber zur Erde biegen. Alles, was noch Sommer war, riß er ab und pfiff es in die Luft. Drüben stand die Sonne. Zwischen Dunst ein matter Streifen und in Schleiern eine kalte Kugel. Es war kein Licht, das von ihr kam; eine Blässe, die nur traurig war, ein Glanz wie blindes Messing. Feindschaft war heraufgekommen aus toten Winkeln und hatte alles Glück und alles Jubeln verstummen lassen. An Licht und Sonne mochte man nicht glauben und ließ es gehen, wie es ging. In der Mitte der Straße ging Agnes Elisabeth. Der Wind preßte sich fest an sie, so daß das Kleid wie nasse Tücher um ihre Formen klebte. Sie lehnte sich dagegen. Der Sturm wußte, daß sie ihm gehörte. Just, als die gelbe Scheibe sich hinter graue Schwaden versteckte, erschien unten, wo die Chaussee mit kreisrunder Öffnung in der Ferne verschwand, ein dunkler Punkt. Er wurde größer, und dann erkannte Agnes Elisabeth, daß es der war, den sie erwartete. Ihre Füße fingen zu laufen an. Sie lief, bis sie bei ihm war. Nun stand sie vor ihm und wußte erst jetzt, daß sie gelaufen war. Eben noch hätte sie ihre Arme um ihn werfen mögen, hätte sich an ihn pressen, ihn küssen mögen, nun konnte sie nichts von alledem. Demütig stand sie und wartete. Heinrich Craner nahm ihre Hände und neigte sich über sie, aber er wagte es nicht, sie zu küssen. War er erschrocken darüber, daß sie so auf ihn zugeflogen war, mit wirrem Haar, das wie Flammen flirrte, mit ungestümen Bewegungen, leidenschaftlich, und doch kalt!? Jedenfalls schien es ihm, als seien in ihrer Gestalt alle Stimmungen dieser Herbstesherbheit vereinigt: ein Brausen über unendliche Flächen der Sehnsucht, ein Rütteln an allem, was einengte, freilich auch nur blasses Licht, das kaum noch an sich glauben mochte. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind!« sagte er ruhig. Agnes Elisabeth machte eine abwesende Bewegung. Noch war sie wie im Traum; alles war so selbstverständlich geschehen, ohne daß sie etwas dazu getan hatte; sie hatte das Haus verlassen, mechanisch die Richtung zum Bahnhof eingeschlagen, war immer weiter gegangen, bis sie ihn sah, und dann war sie ihm entgegengelaufen. Aber nun sie neben ihm schritt, fühlte sie plötzlich eine Verwunderung, die irgendwoher von außen zu kommen schien, vielleicht von den Bäumen, die ihre Köpfe schüttelten, von dem zweifelnden Blick der Sonne, die sich aus dem Dunst wieder herausquälte. Craner ging eine Weile schweigend neben ihr her und versuchte hin und wieder ihren Blick zu finden. Aber der war zur Erde geneigt. -- Plötzlich -- es schien, als habe er nur darauf gewartet, daß sie die Brücke überschritten -- begann er: »Sie haben meinen Brief verstanden, nicht wahr? Ich weiß es; Sie wären sonst nicht gekommen, nicht so gekommen.« Agnes Elisabeth erschrak. Hatte sie sich etwas vergeben? Kurz darauf aber dachte sie daran, daß er sie lieb hatte, und gleichzeitig erwachte Wärme in ihr. Craner mochte sie fühlen. »Ich möchte Ihnen sagen, wie glücklich ich darüber bin. Was ich Ihnen schrieb, habe ich bisher keinem Menschen gesagt. Das Vertrauen fehlte mir. Bei Ihnen habe ich nicht einen Augenblick gezögert.« Ein froher Stolz breitete sich in ihr aus, mehr noch, ein glückliches Gefühl der Zusammengehörigkeit. »Und das andere,« fuhr er zögernd fort; »daß ich ...« Es war Agnes Elisabeth nicht möglich, ihm zu helfen. Nicht, weil sie zu schüchtern gewesen wäre; sondern einfach, weil sie nicht verstand, von Liebe zu sprechen. Craner gab sich einen Ruck. »Ja! Ich habe Sie lieb!« Das wurde kurz und trocken hervorgestoßen. Aber es berührte sie unmittelbar. Sie drehte jäh den Kopf und sah ihn an. Aber Craner blickte nach den Torfstädten hin; als dürfe er sich nicht beirren lassen, sprach er heftig weiter: »Und ich brauche Ihre Liebe. Sie wissen nicht, was es heißt, da unten zu sitzen, fern von aller Kultur, auf sich selbst angewiesen, ohne irgendeine Möglichkeit, geistig weiterzukommen.« Er hielt inne und suchte mit den Augen zwischen den Bäumen. Er wußte gar nicht mehr, worauf er eigentlich hinauswollte. Agnes Elisabeth hatte gespannt zugehört, um ihn zu verstehen. Der Sturm riß seine Worte weg; sie mußte sich mühen, sie aufzufangen. Sie begriff nur, daß er nicht glücklich war und sie brauchte. Das war auch alles, was sie hören wollte. »Aber das meine ich eigentlich nicht,« sagte er, sich besinnend. »Ich meine, man ist so allein! Die paar Menschen, die ich hatte, bedeuteten nichts für mich. Und ich ...« Agnes Elisabeth wunderte sich plötzlich, wie zaghaft dieser Mann war, der ihr doch damals ein Gefühl von Sicherheit hatte geben können. Das rührte sie. Sie empfand, daß etwas Verwandtes in ihnen war. Allein, o ja, allein war auch sie. Sie hätte es gern gesagt. Aber Craner achtete nicht darauf. »Ich brauche Sie so sehr!« sagte er kurz, fast hilflos. Agnes Elisabeth hatte ihn plötzlich ganz vergessen. Sie dachte nichts anderes, als daß ihr Leben einsam war. Sie wollte es einmal aussprechen dürfen, reden ohne Aufhören von dieser Einsamkeit, in der sie sich hinschleppen mußte, sie wollte sich ausweinen und ihren Kopf anlehnen dürfen. »Wollen Sie nun bei mir sein?« Agnes Elisabeth nickte langsam mit dem Kopf. Eine unbestimmte Empfindung wurde in ihr wach. Warum sprach er noch immer? Sie wünschte, daß er schwiege, daß eine Stille käme, in der sie alles vergessen könnte. Aber er fragte weiter: »Wollen Sie mir nicht einmal sagen, ob Sie mich liebhaben? Hast du mich lieb, Agnes Elisabeth?« »Ja, o ja!« Es war, als ob etwas in ihr zerspränge, etwas anderes sich frei machte. Ein Ton war darinnen, wie von brechenden Ästen. Dann kamen jene Augenblicke, die allein in Agnes Elisabeths Erinnerung an diesen Tag zurückblieben. Er nahm sie in seine Arme und küßte sie. Er küßte sie mit der Empfindung eines einfachen, gesunden Mannes. Aber für sie war es mehr. Während er ihr nur einen Teil seines Ichs geben konnte, schenkte sie ihm alles. Jede Farbe ihres Empfindens, jede Linie ihres Körpers war Hingabe. Nicht aus Liebe! Die Liebe allein hätte bei ihr solches nicht zuwege bringen können. Sondern weil Agnes Elisabeth stark war, und weil in dieser Stärke ihre Schwäche lag. Eine gefährliche Schwäche! Denn eine, die allein und nur mit eigener Kraft gehen will, die muß damit rechnen können, daß mitten auf der Straße des Lebens ein Durst nach Liebe sie übermannt und eine Sehnsucht, ihre Arme um einen Hals zu schlingen, und daß dann keiner da ist, dem sie es tun, keiner, der ihren Durst stillen könnte. Diese Rechnung stimmte bei Agnes Elisabeth nicht. Weder ihre Mutter, noch ihre Schwestern waren dagewesen, wenn sie nach ihnen gerufen hatte; sie war so oft am Wege liegen geblieben, sie hatte sich freilich wieder aufgerafft und war mit trotzigen Lippen weitergelaufen. Wenn Schwestern und Mutter dann kamen und nach ihr suchten, dann war sie schon weit weg, an blühenden Gartenzäunen des Lebens, und bedurfte ihrer nicht mehr. So waren sie aneinander vorbeigegangen. Aber hier war einer da, als sie ihn brauchte. Wie sie ihn küßte! Sie streckte ihre Arme aus und klammerte sich an ihn ... Als sie sich endlich aufrichtete und hastig seinen Arm nahm, war es dunkel geworden. Wo die Sonne gestanden hatte, war nur qualmender Dunst; aus dem Moor stiegen Schatten auf. Der Rest von Licht, der auf Bäumen und Sträuchern gesessen hatte, war zusammengesunken. Die Nacht kam eilig von allen Seiten. Craner war es, der zuerst wieder Worte fand. »Morgen will ich mit meinem Bruder sprechen. Er weiß noch nichts. Er wird sich wundern.« Und er lachte. Dieses Lachen war der Anfang von dem, was nun alles in kurzen Worten schnell und schreckhaft zu Ende gehen ließ. Sie faßte ängstlich nach seiner Hand. Er streichelte sie und sprach weiter, ohne ihrer Angst zu achten: »Und deine Schwestern ...?« Vor ihren Augen flirrte etwas vorüber, was ganz schwarz war, wogte und plötzlich zerriß. Dann schien es ihr mit einem Male, als ob alles, was sie in der letzten halben Stunde erlebt hatte, abgeschlossen und beiseite gestellt sei. Sie war wieder die Agnes Elisabeth von früher; der da neben ihr ging, war ein fremder Mann. Sie riß ihre Hand los: »Nein, ich kann nicht! Ich muß bei den Schwestern bleiben.« »Warum? Sie sind doch erwachsen.« »Noch nicht.« »Ist das ein Grund, ihnen solches Opfer zu bringen?« »Ich habe Mama versprochen, bei ihnen zu bleiben.« »So kann es deine Mutter nicht gemeint haben.« Sie schwieg. »Du hast nicht den Mut, glücklich zu sein?« Sie schwieg. Nach einer langen Weile sagte sie: »Ich darf auch nicht so weit von ihnen weggehen.« »Du willst nicht mit mir kommen?« »Jetzt nicht.« »Später?« »Später? -- Willst du wiederkommen?« Die Frage verhallte. Wohl antwortete er »Ja«, aber dieses Ja kam ein wenig später, als sie gehofft hatte. Nun hörte sie es nicht mehr. Craner sprach weiter, aber es ging an ihr vorüber, ohne daß sie es verstand. Plötzlich blieb sie stehen: »Ich muß gehn. Ich danke Ihnen. Und ich ...« Sie kam nicht zu Ende. Einen Augenblick stand sie unbewegt. Dann wendete sie sich ab und ging in das Halbdunkel zurück. Mechanisch setzte sie Schritt vor Schritt. Es war, als wenn sie an den Bäumen entlangglitte. Plötzlich empfand sie einen Schmerz. Sie drehte sich um. Er war nicht mehr zu sehen. Ihre Gedanken waren ausgelöscht, ihr Empfinden betäubt. Es tat wohl, zu stehen und sich nicht zu rühren. Bis Menschenstimmen herüberkamen, von drüben, wo ein Landweg aus dem Moor herauskroch. »Wirst mich auch wieder küssen?« Dann ein unterdrücktes Kichern. Agnes Elisabeth hob schwer den Kopf und kehrte um. Kurz vor dem Dorfe erkannte sie in einiger Entfernung zwei Gestalten, die nach einer Weile zwischen den Kastanienstämmen der Dorfstraße verschwanden. Sie kam an den ersten Bauernhof, der behäbig neben der Straße lag. Der gehörte Hinrich Teetje, fiel ihr ein. Als sie die Gartenpforte öffnete, dachte sie: Ob sich Marianne niemals diesen wiegenden Gang abgewöhnen wird? * * * * * Agnes Elisabeth und Marianne saßen im Wohnzimmer. In der Stille des Lampenlichts gingen Gedanken hinüber und herüber. Es war ein erbitterter Streit, der schweigend gefochten wurde. Bei Marianne kämpfte jene draufgängerische Leidenschaft, die das böse Gewissen gibt. Sie wußte sehr wohl, daß etwas nicht zu Recht und in Ordnung war. Und darum machte sie tollkühne Ausfälle, um künstlich Übergewicht zu erzwingen. Agnes Elisabeth wurde als Gegner von ihr unterschätzt. Bei ihr handelte es sich nicht um Recht oder Unrecht, sondern um die Existenz. Sie kämpfte mit dem Letzten um ihre Stellung gegenüber den Geschwistern. Weil sie diese halten wollte, hatte sie bereits eine viel wertvollere darangegeben. Nun mußten wohl Erbitterung und Haß auf ihrer Seite sein. Sie behielt die Oberhand. Der Kampf war in Wirklichkeit schon entschieden, als sie sich zum Fragen entschloß. »Warum hast du kein Vertrauen zu mir, Marianne?« »Wenn du keines zu uns hast!« flog es zurück. Agnes Elisabeth duckte sich ein wenig. Marianne machte ein herausforderndes Gesicht. Aber es dauerte nicht lange. Agnes Elisabeth klappte ihr Buch zu und nahm es fest in die Hand. »Warum triffst du dich heimlich mit dem Lehrer?« »Das ist meine Sache.« »Nein!« »Also gut! Ich liebe ihn!« sagte Marianne mit Stolz. »Du mußt doch wissen, daß sich das nicht gehört. Du kannst doch nicht mit einem fremden Manne in der Dunkelheit durch die Heide laufen!« »Übrigens sind wir verlobt,« sagte Marianne. Es gefiel ihr, die Märtyrerin ihrer Liebe zu spielen. »Das wird sich finden!« »Ich heirate ihn doch!« Eine Pause ging zwischen ihnen hindurch. »Einen Dorfschullehrer!« Agnes Elisabeth schämte sich, dieses Wort ausgesprochen zu haben. »Darüber sieht man hinweg, wenn man liebt.« Marianne wollte ihn sich erkämpfen. Pathos klang aus ihrer Stimme. Dies war der Augenblick, in dem man zum Weibe heranreifte. »Dann begreife ich nicht, warum Herr Allm noch nicht zu mir gekommen ist oder an Onkel Wilhelm geschrieben hat.« »Wenn du das nicht verstehst?! Meinst du, wir werden unser Glück gleich den Verwandten preisgeben?« »Hast du kein Gefühl dafür, daß du dir etwas vergibst? Nicht vor den Leuten! Aber vor dir selbst! Wenn du im Dunkeln --« »Im Dunkeln ist es viel interessanter!« »Durch solche Heimlichkeiten müßte sich dein Empfinden verletzt fühlen.« Marianne schob den Stuhl zurück und lachte. »Heimlichkeiten! Hast du übrigens keine, Agnes Elisabeth?« Sie kam sich mit einem Male wie verheiratet vor. Nun war auch die Neugierde da. »Ich kann dich ja verstehen! Da ich selbst so etwas durchlebe!« Die täppische Vertraulichkeit traf. Agnes Elisabeths Züge wurden hart. »Nein!« sagte sie schroff. »Also nicht!« meinte Marianne pikiert und stand auf. Man hätte so gut ein bißchen darüber reden können; aber wenn Agnes Elisabeth nicht wollte! »Hast du Gesche mein Kleid zum Plätten gegeben?« fragte sie kühl. »Ja!« Marianne schlenderte aus dem Zimmer. Agnes Elisabeth wandte den Kopf. Erbitterung schwoll in ihr auf, wie über eine Demütigung. Dieses junge Ding wollte über Liebe reden ...?! Agnes Elisabeth biß die Zähne zusammen. Vielleicht schmerzte sie weniger der törichte Vergleich, als daß sie selbst durch ihn so klein wurde und übelnehmerisch mit Marianne zankte. Sie stand auf. Das Zimmer blickte sie gleichgültig an, die Lampe dämmerte. Sie fühlte etwas Graues, Unendliches, das vor ihr aufzog und über sie hin griff. Ihre Augen schlossen sich, schraken aber gleich wieder auf. Sie mußte wohl nach den anderen sehen. Sie ging in Julies Zimmer. Kreischendes Juchzen und ein Unterrock, der herumwirbelte. Julie saß auf dem Tisch, Marianne auf dem Sofa und Evelyn tanzte. »Einen Hochzeitsreigen! Hörst du nicht? Einen Hochzeitsreigen!« rief Marianne. Evelyn drehte sich taumelnd, sank zur Erde und blieb laut lachend liegen. Plötzlich verstummte sie. Ein furchtsamer Blick ging zu der Schwester, die in dem engen Türrahmen stand, wie ein Bild auf grauem Hintergrund: das Kleid verschwamm, nur Wange und Schläfe traten als harte Lichter heraus, und darüber glühte das rote Gewirr des Haars. Agnes Elisabeth kam für einen Augenblick der Gedanke, den Schwestern zu sagen, was heute geschehen war. Daß Glück und Entsagung einander gemessen hatten, und daß sie, ohne zu zögern, das Glück beiseite geschoben und sich für die Entsagung entschieden hatte, um ihretwillen! Sie blickte schüchtern hinüber, als suchte sie Hilfe. Aber Julie sah weg. Ein harter Zug lag in ihrem Profil. Marianne hob sich träge in die Höhe. »Einen Hochzeitsreigen!« kommandierte sie von neuem. Evelyn sprang auf, begann gravitätisch durch das Zimmer zu schreiten. Agnes Elisabeth ging wieder hinaus. Ein Lachen klirrte hinter ihr her. Sie ging in ihre Stube und setzte sich an den Tisch. Gedankenlos blickte sie durch die Luft. Nach einer Weile fiel ihr Kopf auf die Hände. Und wieder nach einer Weile krümmte sich ihr Rücken unter zuckenden Stößen. Das war die Einsamkeit ... XI Es hatte über Nacht gefroren. Dünne Zweige starrten in den Himmel, dazwischen schimmerte Sonnenschein wie goldener Staub. In diesem harten Licht vor den Fenstern eine Masse von kleinen Beinen, blauen Röckchen und roten Backen und ein fröhlicher Lärm, der von der Erde kurz zurückhallte. Die Schule war aus, und die kleine Gesellschaft quirlte vor der Tür, balgte sich, schrie und trottete schließlich in Gruppen gemächlich nach Hause. Der Lehrer saß drinnen am Fenster und sah ihnen nach. Aber nur eine kurze Weile. Dann ging er an den Schreibtisch und legte ein Blatt Papier vor sich hin. Er wollte dichten. Das tat er in letzter Zeit öfter. Heute während der Geographiestunde war ihm ein Gedanke gekommen, so etwas von ›weitem Erdenrund‹ und ›wird mein Herz nun ganz gesund‹. Das wollte er aufschreiben. Er stützte den Kopf in die Hand und sann. So schnell ging die Sache doch nicht. Um zunächst einmal anzufangen, schrieb er mit der schwungvollen Schrift, deren er sich nur als Autor bediente, »An Marianne«. Das sah gut aus. Nun weiter! In der ersten Strophe mußte von dem unbefriedigten Suchen nach Glück gesprochen werden, »habe nun ach, Philosophie, Juristerei und Medizin« fiel ihm ein. Etwas Faustisches natürlich! Aber wie? Er schaute suchend in die Luft und wartete darauf, daß ihm ein Gedanke kommen würde. Statt dessen aber klopfte es, und ehe Lukas Allm Zeit gefunden hatte, »Herein« zu rufen, öffnete sich die Tür und Agnes Elisabeth trat ins Zimmer. »Guten Morgen, Herr Allm!« Der Lehrer sprang auf. Sie blieb vor ihm stehen. »Ich möchte mit Ihnen sprechen!« Lukas Allm machte eine ungeschickte Handbewegung und wies auf einen Stuhl. »Wollen Sie, bitte ...« Sie beachtete es nicht, sondern fragte knapp: »Was haben Sie mit meiner Schwester?« Natürlich war ihr Ton feindselig. Lukas wurde rot; am Kinn fing es an und ging plötzlich bis zur Stirn hinauf. »Ja, ja ...« stotterte er verlegen. »Ich habe sie lieb! Ich liebe sie,« verbesserte er sich. »Und trotzdem treffen Sie sich heimlich mit ihr und bringen sie ins Gerede!?« Daran hatte Lukas noch nie gedacht. »Ach,« murmelte er bestürzt. »Ich ... Sehen Sie, wie es so kam ...« Er war immer nur kommandiert worden und hatte gehorcht. »Wir trafen uns zufällig ...« Er starrte auf den Bogen, der auf dem Tische lag. Plötzlich fiel ihm ein, daß er verlobt war und etwas unternehmen müsse. »Was soll ich denn tun?« fragte er hilflos. Agnes Elisabeth lächelte ein wenig. Der Mann tat ihr leid. »Wenn ~Sie~ das nicht wissen, dann ...« »Wir haben uns ja verlobt,« raffte er sich zusammen. »So?! Und Sie wollen sich heiraten?« fragte sie einfach und naiv. Das erdrückte ihn nun wieder. So für sich hatte er ja an nichts anderes gedacht als an die feierliche Trauung und die warme Fröhlichkeit eines jungen Hausstandes. Aber die Wirklichkeit beginnen, das war doch etwas anderes. Er versuchte in den Gedanken hineinzugehen. »Sie werden den Vormund aufsuchen, Herrn Wilhelm Craner, und werden ihn um die Hand meiner Schwester bitten!« »Ja!« machte er bedrückt. »Wenn Sie zurückkommen, dürfen Sie uns besuchen, um mir mitzuteilen, was Herr Craner Ihnen gesagt hat.« Lukas Allm schwirrte es vor den Augen. »Glauben Sie, daß er ... Ich weiß nicht, wie ich ihm das sagen soll! Ich bin, glaube ich, manchmal etwas verlegen ...« Agnes Elisabeth wurde ungeduldig. »Sie können auch schreiben! Aber Sie dürfen meine Schwester nicht eher wiedersehen, als bis der Vormund darüber entschieden hat. Hier ist seine Adresse.« Sie legte einen Zettel auf den Tisch. Lukas Allm schob den Kopf vor. »Ich danke Ihnen!« Und dann sah er zu Boden. »Nicht wahr, Sie denken nicht schlecht von mir? Ich ... Ich bin ja so ...« Agnes Elisabeth schüttelte ruhig den Kopf; dann wandte sie sich um. »Adieu, Herr Allm!« Die Tür schlug zu. Der Lehrer blieb noch eine Weile stehen, dann setzte er sich an den Tisch. »An Marianne« stand da noch auf dem Papier. Er malte den Schnörkel nach. Dann plötzlich schrieb er darunter, jetzt aber mit kalligraphischer Diplomschrift: »Hochgeehrter Herr Craner!« Aber weiter kam er vorläufig nicht; die Feder blickte hilflos auf das Papier, gerade als ob Lukas Allm vor Herrn Craner stünde. XII Es ist eine alte Erfahrung, daß man die Lebensauffassung eines Menschen nach der Einrichtung der Räume, in denen er sich aufhält, richtiger beurteilen kann, als nach den Anschauungen, die er äußert. Die farbenreine Ateliereinrichtung eines unbemittelten Malers spricht eindringlicher von verfeinertem Lebensgenuß als die kunststrotzenden Prachträume reicher Mäcene. Und in den Bücherregalen, dem mit Manuskripten bedeckten Schreibtisch des Gelehrten wie in den einfachen alten Mahagonimöbeln eines Fürsten empfindet man mehr von aristokratischer Überlegenheit, als beide zu zeigen wagen. Diese stumme Sprache der Dinge konnte auch mancherlei Wissenswertes über Wilhelm Craner und Tante Sophie erzählen, wenn man einen Gang durch das Eßzimmer machte. Es war mit schwerer Pracht eingerichtet. Dunkle Ledertapeten mit blassem Gold machten den Raum feierlich: Das geschnitzte Büfett hatte etwas von einem Altarschrein, das Silber darauf erinnerte an heilige Gefäße. Und doch war es nicht der Eindruck des Luxus, den man bekam. Daß Wilhelm Craner reich war, wußte man. Man empfand vielmehr, daß, was hier geschah, mit dem Zeremoniell einer religiösen Handlung vor sich ging. Die Beschäftigung des Essens und Trinkens geschah mit einer Art Andacht, nicht um der Kostbarkeit der Speisen willen, sondern aus Ehrfurcht vor häuslicher Sitte. Diese war das erste Gebot in Sophie Craners geregeltem Haushalt. Man verdankte ihm die Schulung des Dienstpersonals, die Ordnung der Wäscheschränke, die Blumen in den Vasen, aber wohl auch den Mangel an Stimmung. Für Hellweges war es dort nichts. Heute waren sie alle zum Essen da. »Damit man euch endlich mal wiedersieht,« wie Tante Sophie geschrieben hatte, in Wirklichkeit aber, weil vor drei Tagen ein sauber geschriebener Brief bei Wilhelm Craner eingetroffen war, der eine schöne Aufregung hervorgerufen hatte. Die Mahlzeit verlief wie immer; ein paar Gespräche wurden begonnen, blieben wieder stecken, und das Schweigen wurde ebenso feierlich herumgetragen wie der Rehbraten. Julie zog ab und zu ein mokantes Lächeln auf, aber es paßte nicht recht her. Marianne natürlich aß. In dem Augenblick, wo Onkel Wilhelm sein Wassernäpfchen beiseite schob, erhob sich die hübsche Französin und eine Sekunde später die kleine Rena; sie machte einen Knicks und verschwand an der Hand der Gouvernante. Nach weiteren zwei Minuten nickte Onkel Wilhelm seiner Frau zu, und man begab sich in die Halle. Eigentlich war es Brauch, die begonnene Unterhaltung hier fortzusetzen, aber heute geschah das Unerhörte, daß Onkel Wilhelm Agnes Elisabeth sogleich in sein Zimmer bat. Er schloß die Tür und bot ihr einen Sessel an. Dann nahm er einen Brief von seinem Schreibtisch und gab ihn ihr zu lesen. Während Agnes Elisabeth aufmerksam las, ging er im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er stehen und lachte kurz: »Was sagst du dazu?« Agnes Elisabeth blickte auf und zuckte die Schultern. Die ganze Sache war ihr mit einem Male so gleichgültig. Sie beobachtete einen dicken Spatz, der auf der Terrasse hin und her hüpfte und ab und zu mit weit offenem Schnabel piepste. »Woher glaubt dieser Mensch die Berechtigung zu haben, ganz einfach um ihre Hand anzuhalten!?« sagte Craner heftig. »Berechtigung?« meinte Agnes Elisabeth kühl. »Warum nicht?« Sie sagte es nur, um überhaupt etwas zu sagen. »Ich würde mich bedanken, wenn Rena solch eine Partie machen wollte.« »Vielleicht paßt er besser zu Marianne, als irgend jemand aus der Stadt,« sagte Agnes Elisabeth ruhig. »Ich verstehe dich nicht! Hier hätte sie viele Gelegenheiten, sich gut zu verheiraten. Sie ist ganz wohlhabend, sie ist hübsch ...« »Herr Allm scheint sie aber liebzuhaben.« »Ja, mein Gott, solche Ideale können aber doch nicht den Ausschlag geben.« »Du magst recht haben,« sagte sie nachgiebig. Diese Milde war neu an ihr. Vielleicht wunderte sie sich selbst darüber. »Ja, und was nun die Hauptsache ist: weiß denn Marianne schon davon? Ich meine, hat schon irgendeine Erklärung stattgefunden?« Agnes Elisabeth nickte. »Und wie verhält sie sich dazu?« »Sie will ihn heiraten.« »Natürlich!« Der Vormund trat erregt ans Fenster. Die Sache war ihm sehr unangenehm. Es gab schon jetzt genug Menschen, die sich nach dem Ergehen der armen Waisen erkundigten, mit einem kleinen Lächeln, das ihn ärgerte. »Soll man sie in eine Pension schicken?« fragte er ungeduldig. »Ich glaube, Mama würde gegen eine solche Heirat nichts eingewendet haben,« sagte Agnes Elisabeth. »Davon kann natürlich nicht die Rede sein; das mußt du doch auch sagen! Ich weiß, wie sehr du deine Schwestern liebst; du kannst unmöglich wollen, daß Marianne den ersten besten nimmt.« Agnes Elisabeth fand es wunderlich, daß Onkel Wilhelm von ihrer Liebe zu den Schwestern sprach. Es war ihr, als ob sie ein Lob erhielt, das sie nicht verdiene. Und dann wieder tat es weh wie eine Geringschätzung, wie ein Brocken, der ihr zugeworfen würde. »Ich kann nur das wollen, wovon ich glaube, daß es auch nach Mamas Willen wäre.« »Dann ist mit dir nicht zu verhandeln,« entgegnete Craner heftig. »Deine Mutter hat dir die Kinder anvertraut; das ist richtig. Aber deine Pflicht kann nicht darin bestehen, daß du sie in ihren verschrobenen Ansichten noch bestärkst! Dadurch schadest du ihnen mehr, als du ihnen nützt.« Es stieg etwas in Agnes Elisabeth auf, was heiß war und vor ihren Augen flimmerte; etwas Gewalttätiges, was ihre Hand schon aufhob, ihn zu schlagen. Sie kannte diese schreckenvollen Augenblicke. Ihre Hände preßten sich zusammen. Aber plötzlich breitete es sich, wurde flacher und war verschwunden. Nur eine Mattigkeit blieb zurück, ein Dämmern: Dies alles war ja so gleichgültig! Wilhelm Craner mochte empfinden, daß er ihr weh getan hatte. Und dann war ihm auch plötzlich eine Bemerkung eingefallen, die sein Bruder über die vier Schwestern hatte fallen lassen. »Schade, daß sie gar nicht verstehen, wie sich die Älteste für sie opfert,« hatte dieser gesagt. Eine Ahnung stieg in ihm auf. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Wir werden die Sache schon ins Gleis bringen. Man möchte euch doch glücklich sehen! Auch dich!« Agnes Elisabeth nickte verständnislos. »Ich werde nun mit Marianne sprechen. Du bleibst wohl hier?« Und er rief Marianne, die mit nicht geringer Erregung das Zimmer betrat. Was die beiden nun verhandelten, davon verstand Agnes Elisabeth fast nichts. Sie hörte nur die trockene Stimme des Vormunds und Mariannes verschwollene Antworten. Sie sah von ihm, der jetzt am Schreibtisch saß, nur einen Streifen der hohen Stirn und die Hand, die in der Luft hin und her ging, und von Marianne erkannte sie nur das Weiß des Taschentuchs, das sich ab und zu von dem marineblauen Kleide zu dem rosigen Gesicht hinauf begab. Agnes Elisabeth fühlte sich wie verstoßen. Sie war hier, aber ebensogut hätte sie mitten im Moor sein können, wo man in dem Boden einsank und seine Arme vergebens nach Hilfe ausstreckte. Nach einer Weile kam ihr der Gedanke, wie es wohl geworden wäre, wenn sie Heinrich -- für sich nannte sie ihn doch nicht anders -- ihr Jawort gegeben hätte. Und dann betrachtete sie das Gesicht des Onkels, der sich jetzt umgewendet hatte und lebhaft sprach. Sie ging aufmerksam darüber hin und vergaß nicht eine Falte. Es war viel Familienähnlichkeit vorhanden. Um den Mund Selbstvertrauen, aber auch Selbstsucht. Die Augen klug, aber ohne Tiefe. Die Stirn voller Runzeln. Sie sah weg. Eine schmerzhafte Empfindung war plötzlich in ihr. Sie fühlte, daß eine Verbindung zwischen ihr und Heinrich Craner bestand, und daß sie von dieser nicht loskam. Die Unterhaltung schien beendet zu sein. Onkel Wilhelm klopfte Marianne gutmütig auf die Schulter. »Du bist doch damit einverstanden?« wandte er sich herum. Agnes Elisabeth schrak auf. »Natürlich! Wie du meinst, Onkel Wilhelm.« Aber sie wußte nicht, um was es sich handelte. Sie hatte plötzlich den Gedanken gehabt, daß Marianne sich mit Lukas Allm verheiraten würde, daß Julie nach Berlin wollte, daß Evelyn zu Tante Sophie ins Haus kommen sollte und daß sie dann frei sein würde ... Ob Heinrich zu ihr zurückkehren würde ...? Auf dem Heimwege erzählte ihr Marianne mürrisch, daß Onkel Wilhelm den Lehrer zu sich bitten wolle, um ihn kennenzulernen; dann machte sie ihr Vorwürfe, sie habe kein Interesse für ihre Angelegenheit und sei überhaupt eine lieblose Schwester. XIII Die Heide fing zu schlafen an. Nebel hatten sich gebreitet und deckten sie zu. Die Tage kamen und gingen wie die Wolken, die über den Himmel zogen, eine wie die andere ... Und einmal -- es war schon im Dezember, -- nachmittags, als die Nacht von Osten heraufdämmerte, irrten ein paar Flocken zur Erde, und es wurden ihrer mehr, und dann rieselte es herunter, die ganze Nacht und den nächsten Tag, und gegen Abend hörte es auf. Da wußte man, daß es bald Weihnachten war. Bei Hellweges nähten sie an Mariannes Aussteuer. Alles, was an irrenden Empfindungen sich sonst gekühlt hatte auf Rasenflächen und in goldenem Wasser, saß nun eng beieinander und schwelte und glomm. Mariannes Wangen röteten sich tiefer über dem weißen Leinen. Zu Anfang gefiel sie sich in dem gewöhnlichen Brautglück. Da blätterte man in Katalogen, hatte Gratulationsbriefe zu lesen und ließ sich von der geschmeichelten Schwiegermutter verziehen. Aber das Neue wurde alt, und die rosa und himmelblauen Farben wurden nüchtern. Zwischen Tag und Abend gab es Stimmungen, wo Marianne eine Bitterkeit überkam. Daß dies nun alles war! Daß es keine dunkeln Ecken mehr gab, wo man sich ängstlich und heimlich küssen konnte, daß es hell lichter Tag sein sollte, wenn Lukas’ Lippen die ihren berührten. Und dann fand sie auch manchmal, daß es eigentlich eine Anmaßung wäre, daß Lukas Allm sie liebte. Sie deuchte sich viel zu gut für ihn. Und über ihn hinweg reichte sie einem die Hände, der nicht da war und nie kommen würde. Das quälte sie zuerst, dann wurde es ein Genuß, von dem sie bald nicht genug haben konnte. Wenn Lukas Allm kam, geschah es oft, daß sie sich in ihr Zimmer einschloß und ihn nicht sehen mochte. Sie saß dann mit vielen Kissen in einem Korbstuhl, während er draußen auf Fußspitzen vorbeischlich; und sie haßte ihn, weil er da war, weil er sie heiraten wollte, weil er nicht ~mehr~ war. Sie weinte, biß sich in die Finger und kostete alle Wonnen der Phantastik bis zur Neige. Wenn sie an diese Neige kam, sehnte sie sich plötzlich nach seinen breiten Händen und verlangte nach seinen Küssen. Und der Schluß war fast immer derselbe: sie lief zum Schulhaus hinüber. -- Es war Mitleid darin, wenn sie sich dann an ihn preßte, ein angenehmes Gefühl von Herablassung mit einer Würze von Märtyrertum. Anders waren die Abende. Mancherlei Gedanken stiegen auf, und schauernde Empfindungen breiteten sich. Vielleicht, weil das Leinen kühl war und die Hände heiß, vielleicht auch, weil es gerade Nachtkleider waren, die sie nähte. Wenn sie da alle vier um den Eßtisch saßen, war in ihr nichts anderes als ein Warten auf das Schlafengehn. Die fertige Wäsche wurde dann in ihr Zimmer gelegt, -- sie schlief jetzt allein, -- und nachdem sie die Tür verriegelt hatte, bekleidete sie sich vor dem Spiegel in einer gewissen lüsternen Neugierde mit allem dem Kalten, Feinen, das ihre Haut kühl betastete. Und die Nachtkleider hob sie sich bis zuletzt auf. Nicht etwa, daß sie jetzt an Lukas Allm gedacht hätte; sie wußte sehr wohl, daß das nicht passend gewesen wäre. Aber gerade diese Grenze war nur ein Reiz mehr. Das Ungewisse wartete noch auf sie. Wenn ihre Phantasie rosenrot um sie herum stand, legte sie sich in ihr Bett, in das weiche, weiße, volle Bett. Und wenn sie wollte, dann lag sie kalt, ohne sich zu rühren, und lauschte, wie es um sie brauste. Und dann wollte sie niemals ihr Mädchenbett verlassen. Aber zu anderen Zeiten, -- und die kamen, -- häufte sie Kissen neben sich, schlang die Arme um sie ... Und dann küßte sie, -- nicht Lukas Allm, aber ~ihn~! Alle Wirklichkeit stand dann weit, weit fort. Diese Abende blieben auch nicht ohne Einfluß auf die anderen. Es war immer dasselbe Bild. Die Stube mit ihren dämmernden Ecken, die Hängelampe, die leise hin und her schaukelte, der Tisch mit Leinen bedeckt, und da saßen sie, verbissen sich in ihre Arbeit, schwiegen und ließen ihre Gedanken wandern. Wovon man sprach, -- man tat es nicht allzuoft -- war natürlich immer die Aussteuer und die täglichen Nichtigkeiten der Ehe. Evelyn fand dies alles nüchtern. Daß man ganze Ballen Zeug mit lautem Ratschen zerriß und ohne Ende rote Buchstaben und Zahlen stickte! Sie wollte nur Seide haben, knisternde Seide und viele Spitzen; vor allem müßte alles plötzlich vor ihr liegen, und man dürfte nicht wissen, woher es käme. Julie wurde sich über manche Dinge klar, an die sie bisher nur gelegentlich gedacht hatte. Ohne Hochmut! Da war weder Spott über Mariannes bräutliche Wichtigtuerei, noch jene gemachte Überlegenheit, die nichts ist als Neid und boshafter Entgelt für verletztes Schamgefühl. Sie wurde von der schwülen Atmosphäre -- denn in aller Gedanken war der Mann gegenwärtig, und in dem Schweigen war viel von der erwartenden Bangigkeit des Weibes, das seine Nähe fühlt -- eigentlich nicht berührt. Aber sie stand mit offenen Augen vor diesen neuen Vorgängen und ging mit ihrem Verstande, wie sie glaubte, in Wirklichkeit mit ihrem Empfinden daran, diese Eindrücke zu verarbeiten. »Die Frau ist in der Ehe doch nur ein Anhängsel,« sagte sie einmal. Marianne widersprach ihr würdevoll und redete von der veredelnden Kraft der Liebe. Julie schüttelte den Kopf. »Liebe ist bei ihm nur eine kleine Kammer seines Innern, wo er seine paar Empfindungen zusammengeworfen hat, weil er sich zwischen ihnen nicht mehr zurechtfinden kann, also etwas ganz Nebensächliches! Dort aber, wo er zu Hause ist, will er die Frau gar nicht bei sich haben. Da ist sie ihm nur im Wege!« Hier sah Agnes Elisabeth auf, mit einem Blick voll Hilflosigkeit. »Im Innersten will er nicht, daß die Frau neben ihm steht,« fuhr Julie fort. »Die mag nur in der Kammer bleiben, und wenn es ihm gefällt, will er sie dort besuchen.« Und ein anderes Mal meinte sie, die Frau gebe in der Ehe zuviel auf. »Empfindungen darf man schon gar nicht in die Ehe mit hineinbringen. Denn der Mann will nur die eine Empfindung von seiner Frau haben, daß sie ihn liebt, das heißt, daß sie für ihn sorgt, daß das Essen gut schmeckt, und daß das Zimmer warm ist, und daß sie sich von ihm küssen läßt, wenn er gerade Lust hat.« Auch mit dieser Ansicht blieb Julie natürlich allein. Denn die andern und vielleicht sogar Evelyn fühlten sich innerlich viel zu sehr beteiligt, als daß sie Julies Nüchternheit hätten gutheißen können. Zum mindesten hatten sie alle drei schon einmal mit dem Gedanken an eines Mannes Liebe gespielt, und ihre Phantasie hatte Bilder geschaffen nach eigenem Wunsch und eigener Sehnsucht. Das hatte Julie nie getan. Für sie war die Ehe nicht der heimliche Garten, der jenseits der Berge lag, dessen Düfte abends wohl herüberzogen, sondern etwas Selbstverständliches, ja Gleichgültiges, daß man sich Gedanken darum nur machte, wenn ein äußerer Anlaß sie herbeirief. Einmal sagte sie ganz ruhig und gelassen zu Marianne: »Auf dem Boden steht noch unsere alte Wiege: nimm sie dir doch mit!« Das gab drüben einen hochroten Kopf und bei Agnes Elisabeth stumme Empörung. Julie verstand nicht, wie man dadurch verletzt sein könnte, und machte ein verwundertes Gesicht. Übrigens hatte diese Bemerkung eine tiefere Wirkung, als Julie geglaubt hätte. Marianne begann nämlich von diesem Tage an darüber nachzudenken, daß sie Kinder haben würde. Und das war gut für Marianne. Denn ihr Empfinden, das in der Treibhausluft ihrer Sinnlichkeit schon seltsame Auswüchse hervorgebracht hatte, bekam nun mehr Platz, breitete sich auf dem weichen Ahnen von Mütterlichkeit und entwickelte sich zu einem kräftigen Gefühl. Von Natur aus war Marianne gesund. Ihre Gesundheit war nur so vollblütig, daß sie zur Gefahr für sie hätte werden können. An dieser Gefahr kam sie nun vorbei. Der größere Teil ihrer Gefühle vereinigte sich nun auf das Kind; sie fand daran Arbeit genug, sehnte sich und hoffte, nährte und erzog und baute Schlösser in blaue Möglichkeiten hinein. Agnes Elisabeth dachte bei dem allem, daß ~sie~ es sein könnte, für die man nähte, und daß sie es nicht war. Eigentlich dachte sie nur dieses. Und es tat ihr nicht einmal besonders weh; Ecken und Kanten hatten diese Gedanken gar nicht. Aber sie lagen auf ihr, wie eine Schicht grobfaseriger Sägespäne. Sie wartete immer, daß Heinrich Craner noch käme, aber sie hoffte nie darauf. Sie dachte auch an ihre Liebe zu ihm. Aber liebte sie ihn noch? Es begann eine weite Ebene in ihr zu werden. Oft schloß sie die Augen; es war ja nichts da, wonach sie auszuschauen brauchte, und dann war auch alles so glatt, und es ging sich so weich in dieser Dämmerung. Im übrigen war diese Zeit wie eine schläfrige und eintönige Musik. Die Tonleitern des Haushalts stiegen auf und ab, am Sonntag in =C=-Dur, am Montag in =G=-Dur, am Dienstag in =D=-Dur. Dazu kam vielleicht alle drei Wochen einmal die sentimental lärmende Weise eines Kaffeekränzchens beim Pastor. Nur ~eine~ frische Melodie gab es. Wenn die Nebel zerrissen und die Wiesen fest wie eine blendende Glasplatte dalagen. Dann wurde die Wäsche beiseite geworfen, und die Wirtschaft mochte liegen bleiben. Die Schlittschuhe wurden geholt und mit gerafften Röcken ging es hinaus in die Winterluft, vom Morgen bis zum späten Abend. Es war keine Seltenheit, daß die Dunkelheit sie überfiel und sie zwang, in einem kleinen Wirtshaus zur Nacht zu bleiben; das erhöhte dann nur die kecke Stimmung und steckte manch flackerndes Gelächter an. Kamen aber die Wolken wieder herauf, schleppte sich der warme Wind über die krachende Eisfläche, dann war auch diese Melodie verklungen. Natürlich verging kein Tag, an dem nicht Lukas Allms Gestalt das Zimmer füllte. Er hatte etwas von einem treuen Hunde, der behaglich von einem zum andern geht und dann breit an einem Flecke sitzen bleibt. Sie hatten ihn alle gern, wenn auch von einem geschwisterlichen Verhältnis keine Rede sein konnte. Er war da, und weil er nicht störte, gewöhnte man sich an ihn. Auch seine gutmütige Zärtlichkeit gegen Marianne hatte man sich schlimmer vorgestellt. Vor allem aber -- dessen wurden sie sich natürlich nicht bewußt -- wirkte seine Gegenwart befreiend. Denn jene unbestimmbaren Empfindungen, die das Schweigen aus der Tiefe herauskommen ließ, alle die Gedanken und Ahnungen, die in diesen Ehevorbereitungen die Nähe des Mannes witterten, verflogen im Nu, wenn Lukas Allm ins Zimmer trat. Da saß er dann, flüsterte mit Marianne und machte seine Späße mit Evelyn. Man brauchte sich nicht vor ihm zu fürchten, denn es war ja nicht ~er~, der eben noch aus jener Ecke schreckhaft herübergeblickt hatte. So gingen denn die Tage und verschwanden, neue kamen und immer neue, blieben ihre Weile und waren vergessen. Ein spärliches Licht breitete sich auf Stunden, als der Tannenbaum brannte und Frau Allm im Schwesternkreise ein paar Tränen über ihres Sohnes Glück vergoß. Dann ging es in das neue Jahr hinein. XIV So kam auch nun für Evelyn der Tag, von dem in der Predigt so eindringlich zu hören ist, daß er die Kinderzeit abschließe und die Tore des Lebens und der Welt öffne. Jener Tag, der oft verhängnisvoll wird, weil er die Seele des Kindes erschreckt und zaghaft macht. Nicht allein, daß man dem Kinde in dieser Zeit einredet, seine Sündenschuld sei unermeßlich, und nur der Glaube könne es wieder mit Gott versöhnen, während das Kind doch genau weiß, daß es sich bisher mit seinem lieben Gott sehr gut vertragen hat. Nicht genug, daß hierdurch die Begriffe des Kindes verwirrt werden, daß es plötzlich ängstlich wird, sich abquält, seine Sünden zu erkennen, sich selbst zum Feinde zu nehmen und rührende Versuche macht, den wahren Glauben zu erkämpfen, während Denkvermögen und Empfinden sich sträuben und doch nicht stark genug sind, solchen Widersinn zu begreifen. Die eigentliche Gefahr ist dies noch nicht. Aber daß man die Fäden zerreißt, die, von Kinderspielen geknüpft, durch Kinderträume sich weiterspinnen, daß man die zarte Pflanze aus dem Boden seiner Phantasie herausnimmt und in dürres Land setzt, daß man von dem Werden einer Seele keine Ahnung hat und die Umkehrung alles Denkens und Empfindens proklamiert, das ist die Gefahr. Wohl keiner ist ganz um sie herumgekommen; wohl alle haben mit irrenden Mühen vieler Jahre erst wieder bauen müssen, was ihnen zerstört wurde; und die meisten brachten es nicht einmal fertig, vergaßen es und wohnten in Ruinen. Und wenige nur haben ihre Kinderseele wiedergefunden. Evelyn war mit vielen Vorurteilen und einem ehrlichen Verdacht an diese Zeit herangegangen, einem Verdacht, der ihr im Blute lag und sich gegen alles richtete, was ihrem Schönheitsgefühl zuwider ging. Darum drehte sie jedes Ding, das wie ein Samenkorn in ihrer Seele Boden gesenkt werden sollte, erst mit schlanken Fingern herum, ehe sie es nahm, suchte nach Schönheiten, fand sie nicht und legte es beiseite. Freilich blieben auf diese Weise nicht viele Samenkörner liegen. Evelyn ließ sich durch nichts beeinflussen. Julies Unabhängigkeit war durch die Bücher bedingt, die sie las. Evelyn aber ging mit traumhafter Sicherheit ihren Weg. Sie suchte nicht, aber sie fand. Sie sehnte sich und war doch immer zu Hause. Fragen, die sich vor ihr aufstellten, lösten sich von selbst, wenn sie mit weichem Lächeln ihren Kopf zurücklehnte. Als die kleine Orgel unter Lukas Allms Händen ihr Nachspiel mit Trompetenregister in die Morgenluft hinausschmetterte, verließ Evelyn neben Agnes Elisabeth die Kirche. Sie betraten den Weg, der über den Kirchhof führte, während Tante Sophie und Marianne weihevoll die Stufen herabschritten und gleich nach Hause gingen. An dem Hügel blieben sie stehen. Schon viele Monate lag nun der Stein zwischen dem Efeugeranke. Der Himmel war klar wie ein Bergsee, und es roch nach Erde, die schon von Veilchen wußte. An diese Veilchen dachte Evelyn, und daß sie der Mutter gern welche in den Schoß gelegt hätte. Über den kahlen Sträuchern drüben glitzerten helle Tropfen. Da flimmerten die Lichter der Zukunft. Agnes Elisabeth stand stumm. Groll war in ihrem Schweigen, und sogar Haß. Evelyn aber lächelte. Und aus diesem Lächeln wurde für Agnes Elisabeth doch noch ein Sonnenblick, wenn er auch nur kurz über sie hinglitt und schnell wieder verblaßte. XV »Wenn jemand einmal von der Familie aufgenommen ist, dann gehört er auch zu uns!« war Sophie Craners Grundsatz. Damm hatte sie ein elegantes weißes Moirékleid angezogen, als sie zu Mariannes Hochzeit hinausfuhr. Dort saß sie nun mitten auf dem Rasen in einem Korbstuhl und machte mit Lukas Allms Schwager Konversation, während die Mehrzahl der Gäste sich im Garten erging. Der kleine Bahnassistent aus dem Westfälischen strebte ab und zu nach weltmännischer Haltung, indem er den Arm in die Hüfte stemmte und sich ein wenig zu Tante Sophie hinunterbeugte. »Ich finde es sehr richtig, daß Ihr Schwager hier draußen bleiben will. Er kennt die Leute; sie mögen ihn gern, und die Kinder hängen ja geradezu an ihm!« sagte Sophie Craner freundlich. »Es tut einem nur leid, daß er dann garnicht weiterkommen kann. Er mit seiner Vorbildung! Unterprima! Und vom Seminar so glänzende Zeugnisse.« Tante Sophie machte ein freundlich-andächtiges Gesicht. »Wollen Sie sich nicht setzen?« Sie schob den Schuh unter dem Kleide hervor und tippte mit dem Fuß an einen Gartenstuhl. Der Bahnassistent knickte im Kreuz zusammen. »Danke sehr! Danke verbindlichst!« Der Schuh irritierte ihn. Dergleichen hatte er bisher nur in einem Laden in Berlin gesehen, auf gebogenen Eisenstangen mit hellblauen Plüschpolstern. Er hob die Schöße seines Uniformrocks und ließ sich mit zaghafter Gebärde auf dem Stuhl nieder. »Er sollte doch noch den höheren Lehrberuf erlernen. Jetzt, wo er es kann!« begann der Bahnassistent wieder. »O, meinen Sie?!« sagte sie kühl. »Männchen! ich suche dich schon überall!« Da stand Frau Hempel auf dem Kiesweg. Sie wagte nicht recht, den Rasen zu betreten. »Kommen Sie doch zu uns!« lud Sophie Craner sie ein. Aber noch ehe Frau Hempel den halben Weg gemacht hatte, stürzte das schluchzende Lenchen an die Falten ihres Kleides. »Aber Lenchen! Mein gutes Kleid!« Die rotsamtne Kamelie in ihrem Haar schwankte hin und her. »Was ist denn los? Warum heulst du denn so?« »Mutting, mir ist so übel!« Auf dem mageren Halse klimperte eine Korallenkette. Und auf dem Gesicht jammerte die Ungemütlichkeit eines verdorbenen Magens. »Die rosa Torte!« schluchzte sie. Frau Hempel fuhr ihr liebevoll mit dem gesteiften Taschentuch über das Gesicht. »Ja, Lenchen, die ist nun hin!« Evelyn kam aus der Laube und nahm der Frau das Kind ab. »Du siehst ja schön aus!« lachte sie. »Komm, ich will dich abwaschen!« Die beiden verschwanden hinter dem Gebüsch. Als Frau Hempel nun glücklich bei Tante Sophie anlangte, hatte sich inzwischen um diese ein ganzer Kreis versammelt. »Ach ja, gnädige Frau,« seufzte sie, »Sie haben es gut, mit dem Fräulein für Ihre Kleine! Aber unsereins!« Sie strich mit der Hand über den weißseidenen Einsatz ihres braungefärbten Brautkleides und glättete den Pointlacekragen. Der Pastor zog sich einen Stuhl heran. »Das letzte Mal war es eine so traurige Veranlassung, die uns zusammenführte, meine verehrte Frau Craner!« Tante Sophies Gesicht zeigte eine gemessene Trauer, wie man sie kurz nach Ablauf des Trauerjahrs an den Tag zu legen pflegt, verbunden mit einem kirchlichen Anflug, der in den Mundwinkeln lag. Sie hielt auf gute Beziehungen zur Kirche. Der Pastor wurde wehmütig. »Wie würde sich die Selige über das Glück ihrer Tochter gefreut haben!« Drüben auf dem Kieswege wurde das Glück sichtbar. Man sah ein schweres Atlaskleid, -- das Weiß ließ Mariannes runde Glieder dick erscheinen, -- einen grünen Kranz und ein Gebäude von stehendem Tüll, nicht zu vergessen einen schwarzen Arm, der quer über die Taille ging, sie umschlang und sie, von der Ferne gesehen, gleichsam zerschnitt. Daneben Schwarz, eine breite Masse von Schwarz, mit einem ganz schmalen weißen Streifen, das war Lukas Allms Kragen. Die beiden schwammen in Glück. Auf ihres Lebens breitem Fluß schimmerte Sonnenlicht. Sie trieben dahin, schlossen die Augen unter den Strahlen und atmeten die seidenweiche Luft. Trotzdem konnte von einem alle Winkel ausfüllenden Genießen dieses Sommersonnentages nicht die Rede sein. Denn ihre Blicke gingen allzuoft nach jener geheimnisvollen Biegung, die der Strom dort unten machte, wo er in den Wald hineinglitt, hinter dessen schweigenden Bäumen unbekannte Dinge warteten. Nicht, daß sie ungeduldig gewartet hätten; aber es ging eine Anziehung von dort aus, und je weiter die Sonne sich nach Westen wendete, um so unmittelbarer wurde ihre Kraft. Nun kam Agnes Elisabeth und bat zum Kaffee. Der allgemeine Aufbruch nach dem Platz unter den Ahornbäumen gab dem Brautpaar Gelegenheit, zu verschwinden, um sich für die Reise umzukleiden. Draußen saß die Hochzeitsgesellschaft an einer langen Tafel. Auf der einen Seite ging es geräuschvoll zu, -- es fehlte nicht an Vettern und Freunden, die sich eine Hochzeit ohne animierte Stimmung nicht denken konnten, -- auf der andern jedoch -- dort saß die nähere Verwandtschaft -- gebrach es an Gesprächsstoff: nachdem man sich während des Essens einander mit unterstrichener Freundlichkeit genähert hatte, kamen sich jetzt alle mit einem Male vereinsamt vor und saßen stumm nebeneinander. Nur der Pastor sprach unentwegt, sog an einer großen Zigarre und schien sehr aufgeräumt zu sein. Evelyn und Julie gingen nacheinander ins Haus, um Marianne Lebewohl zu sagen. Nach einer Weile erschien die Braut in dem für Hochzeitsreisen vorgeschriebenen Anzug. Die alte Kalesche des Bauern Teetje hielt vor dem Garten. Dann kam Lukas Allm; er trug ein Köfferchen und hob es gewichtig auf den Bock. -- Schließlich wurde es der gewöhnliche Abschied: Marianne weinend von einer Schwester zur andern, Frau Allm mit Tränen der Rührung am Halse ihres Sohnes, die näheren Verwandten mit würdigen Mienen in einigen Schritten Abstand, im Hintergrund die Jugend, gaffend, mit unverschämtem Zartgefühl ... Dann reckte sich Lukas Allm in die Höhe, sah nach der Uhr und drängte zur Abfahrt. Marianne riß sich schluchzend los. Und endlich rollte der Wagen die Chaussee hinunter, während der Pferdeknecht mit der Peitsche knallte, um die Gäule, die vor dem Torfwagen nie anders als im Schritt gingen, zu einem Galopp oder Trab zu überreden. Die Gesellschaft blieb nicht mehr lange beisammen. Genau eine halbe Stunde nach der Abfahrt des jungen Paares fuhr Wilhelm Craners Wagen vor, und Tante Sophie atmete erleichtert auf, als sie darin saß. Ein Jagdwagen brachte die übrigen Gäste nach der Stadt zurück. Frau Allm bat die Schwestern, bei ihr zu Abend zu essen, aber Agnes Elisabeth lehnte ab. Und endlich waren sie allein. Als ob ihnen etwas zerstört sei, so fühlten sie sich. Was zerstört war, war nicht ihr schwesterliches Zusammenleben, auch nicht die Unbefangenheit, mit der sie bisher der Wirklichkeit des Lebens gegenüber gestanden hatten, sondern der Rhythmus ihres Hauses, die Melodie seiner farbigen Stille. Die hellen Wände, die alten Möbel, ihre Tannenallee, ihr Rasen, dies alles hatte durch die Gesellschaft, die sich hier breitgemacht hatte, einen Teil seines Zaubers verloren. Die Stimmung, die bisher über den Kleinigkeiten ihres Lebens ausgebreitet gewesen war, war mit einem Male zerrissen, und sie konnten die Fäden nicht finden, sie neu zu weben. Selbst Julies mokantes Lächeln, das sonst wie ein reinigender Luftzug allen zurückbleibenden Dunst aus dem Hause geweht hatte, versagte heute. »Das war nicht schön!« meinte sie matt. Und Evelyn, die verschüchtert auf einer niedrigen Bank saß, erklärte nach einer Weile: »Ich hätte ihn nicht geheiratet!« XVI Heinrich Craner, der in Berlin eine möblierte Wohnung im Hansaviertel bewohnte, hatte eine Karte von seinem Bruder erhalten, daß Julie Hellwege am siebzehnten Mai mittags in Berlin eintreffen werde, und daß er ihn bitte, sie abzuholen und nach ihrer Pension am Nollendorfplatz zu bringen. Es war Heinrich etwas peinlich, mit Julie zusammenzutreffen; denn er zweifelte nicht, daß sie von seiner Werbung um Agnes Elisabeth wüßte. Und er hatte nicht gerade den Wunsch, über diese Angelegenheit zu sprechen. Denn sie beschäftigte ihn nicht mehr so ausschließlich, wie es während des Winters der Fall gewesen war. Agnes Elisabeth war bei ihm ein wenig in Vergessenheit geraten, und die paar Versuche, die er angestellt hatte, sich ihr Bild in Erinnerung zu bringen, hatten eine andere Wirkung hervorgebracht, als er beabsichtigt zu haben glaubte. Mit merkwürdigem Mißgeschick nämlich hatte er immer neue Züge an Agnes Elisabeth gefunden, die ihm nicht gefielen. Insonderheit verdroß es ihn, daß sie ihn um der Geschwister willen auf eine spätere Zeit vertröstet hatte, daß sie also für die Schwestern mehr Liebe übrig zu haben schien, als für ihn. Er, der sich mit Vorliebe einen =selfmade-man= nannte, war hierdurch an der verletzbaren Stelle seiner männlichen Eitelkeit getroffen. Die Folge waren Zweifel, ob sie überhaupt ein tieferes Gefühl für ihn besäße, und als diese erst da waren, mußte sich seine Liebe bald in eine Ecke flüchten. So oft er nun an Agnes Elisabeth dachte, spürte er mit einer gewissen Genugtuung den bittern Geschmack einer Enttäuschung, als habe sie seine Zuneigung nicht verdient, und die Opfer, die er ihr gebracht, -- er mühte sich, die Wertstücke dieser Opfer in helles Licht zu setzen, -- nicht zu würdigen verstanden. Er hatte den Schritt vom Groll zur Gleichgültigkeit noch nicht getan, er war noch nicht so weit, die innere Verbindung mit Agnes Elisabeth als gelöst zu betrachten, aber es stand außer Zweifel, daß diese Angelegenheit bereits eine abgeschlossene Episode für ihn war. In Wirklichkeit hatte sich dieser Vorgang übrigens noch etwas anders abgespielt. Jene Überlegungen über Agnes Elisabeths Eigenschaften kamen nämlich nicht von ungefähr, sondern sie waren erst durch einige äußere Umstände herbeigeführt worden. Zum ersten Male seit sechs Jahren verkehrte Craner wieder in großer Gesellschaft. Sein Vermögen, sein Selbstbewußtsein und seine mannigfaltigen, in der Tat auch nicht gewöhnlichen Erlebnisse machten ihn manchen Kreisen zum interessanten Mann, der überall gern gesehen wurde, dem man sogar den Hof machte. Craner spielte die Rolle, die man ihm aufnötigte, anfangs mit Belustigung, aber mit um so größerem Behagen, je länger es dauerte. Das konnte man einem jungen Manne nicht übelnehmen, der jahrelang jegliche Anregung, und insonderheit den Verkehr mit Damen, entbehrt hatte. Es war nur zu bedauern, daß er diese Verwöhnung ganz ernst nahm, daß er von diesen jungen Frauen und Mädchen begeistert war, ihre Bildung, ihren Anzug, ihr Benehmen bewunderte und den Fehler beging, Vergleiche zwischen ihnen und Agnes Elisabeth anzustellen. Auf diese Weise bekamen seine langatmigen Überlegungen, seine enttäuschten Empfindungen einen Stich ins Kleinbürgerliche. Um so mehr, als er sich seit einigen Wochen für die hübsche Tochter eines Bankiers interessierte und sich täglich die biedersten Beweisgründe vorhielt, um dieses Interesse vor sich zu rechtfertigen. XVII Frisches Grün, Frühlingsduft, leichte Staubwolken: das war Julies erster Eindruck von Berlin. Und eigentlich enttäuschte er sie. Bäume und Büsche, das konnte sie zu Hause auch haben, und besser; die hier waren ja nur aufgebaut und hingestellt und konnten gewiß einen richtigen Sturm nicht vertragen. Sie wollte Häusermassen haben, Menschengewühl, Lärm und Spektakel. Es müßte ein Gedränge sein, daß man Angst bekäme. Hier so gemächlich dahinzufahren, wie mit Teetjes Gaule ... »Ja, Evelyn ist nun bei Tante Sophie.« »Und das junge Paar?« »Auf der Hochzeitsreise! Sie waren zuerst in Berlin, sind aber schon nach Dresden weitergereist. Wir wissen noch nicht viel von ihnen; wir haben nur ein paar Ansichtskarten bekommen.« Ein Coupé mit einem gut angezogenen Kutscher rollte vorüber. In Craner breitete sich ein behagliches Gefühl aus, er dachte plötzlich an Ellinor Grünhagen. »Agnes Elisabeth ist nun ganz allein!« sagte Julie kalt. »So!« Die angenehme Empfindung war sofort zerstört. Craner machte ein verlegenes Gesicht. Er war erbittert. Sie schwiegen, bis der Wagen vor der Pension am Nollendorfplatz hielt. »Sie erlauben, daß ich Ihnen gelegentlich etwas von Berlin zeige?« Er war stolz, daß er seine Verstimmung mit ruhiger Überlegenheit verbarg. Übrigens war Julie eigentlich ganz pikant, und dann machte es auch einen guten Eindruck, wenn man sich einer Verwandten ritterlich annahm. Es sei liebenswürdig von ihm, sie wolle daran denken! * * * * * Das war nun ihr Zimmer. Eine Atmosphäre von braunem Plüsch. Man konnte nicht mehr und nicht weniger verlangen. Für den Preis gab es eben dieses Zimmer. Jeder Gegenstand darin schien zu wissen, daß er mit dazu beitrug, die Höhe dieses Preises zu bestimmen. Die Aussicht auf die Anlagen, das Sofa, der Schreibtisch, dies alles war eingeschätzt worden und ergab, zu der Lage und der Verpflegung hinzuaddiert, den Wert pränumerando. Dann erschien auch Fräulein Meusel, in einem blauen Schneiderkleid mit Litzenbesatz. »Herzlich willkommen, mein liebes Fräulein Hellwege. Ich hoffe, Sie fühlen sich bei uns wohl!« sagte sie mit kühler, geschäftsmäßiger Freundlichkeit. Julie war angenehm berührt. Sie machte den Eindruck einer Dame, sie wollte nicht mehr sein, als sie war, und führte ihre Pension und schrieb ihre Rechnungen. Allerdings, Rechnungen mußte sie schreiben ... Dann ging man zu Tisch. »Fräulein Auguste Berg, unsere Gelehrte, Fräulein Liecke, Sängerin, Fräulein Thea Allenbach, unsere kleine Bildhauerin.« Damit setzte sie sich. Gleich während der Suppe fühlte Julie sich von drüben fixiert. Sie bemerkte mit Unbehagen, wie Thea Allenbachs Augen über ihr Gesicht gingen und in jede Ecke stöberten. Erst lachte sie gezwungen, aber schließlich fragte sie über den Tisch hin: »Warum sehen Sie mich immer an?« »Oh, ich bin Bildhauerin! Sie haben so ein entzückend schmales Kinn! Dieser Zug hier ...« Sie machte eine affektierte Bewegung. »Sie haben gewiß schon viel erlebt!« Julies Hand strich über ihren Hals. »Ich bin Künstlerin, wissen Sie, und da achtet man auf alles!« »Sie sehen heute recht blaß aus!« sagte Fräulein Meusel zu der Sängerin. »Mein Herz wollte mal wieder nicht mit!« erklärte Fräulein Liecke mit wehleidigem Pathos. »Nächste Woche soll mein Konzert sein und ich kann nicht singen. Mit mir wird’s wohl überhaupt bald zu Ende gehen.« »Ach was, Liecke,« sagte Thea, »erst werden Sie die Welt noch von sich reden machen. -- Fräulein Liecke hat eine himm--lische Stimme!« wendete sie sich an Julie. »Eine Altstimme?« »Und was für eine! Zwei Töne tiefer als ein Ochse, sagt ihr Professor!« Die Unterhaltung amüsierte Julie. Übrigens war sie auf diese Altstimme gespannt. Wenn Fräulein Liecke sprach, hatte sie vorläufig keinen anderen Eindruck, als eine Erinnerung an Öl und Vanillegeruch. »Sind Sie auch musikalisch?« fragte Fräulein Meusel. »Nein, eigentlich nicht,« entgegnete Julie. Auguste Berg rückte ihren Klemmer zurecht. »Endlich mal eine, die nicht Kunstenthusiastin zu sein scheint. Gott sei Dank! Heutzutage, wissen Sie, haben die jungen Mädchen überhaupt nichts anderes im Kopf als Kunst. Die notwendigsten Fragen des Lebens,« sie nestelte an ihrem Kragen, »die notwendigsten ...« Julie dachte, sie würde es nun wohl so oft sagen, bis der Kragen zugehakt wäre. Und da es nicht kam, nahm sie es ab. »Die notwendigsten Fragen? Sie interessieren sich also dafür?« »Ja, gewiß!« »Ja unserer Zeit, wo endlich die Frau erwacht, wo sie ihre Persönlichkeit findet, wo wir neue Bahnen gehen und das Feld unsrer Tätigkeit mehr und mehr erweitern, ist es die Pflicht jeder Frau, wenn sie überhaupt Anspruch auf den Namen Frau erheben will, mitanzufassen!« »Struve hält die ägyptische Kunst überhaupt für die größte. Struve ...« »Gott, hören Sie auf!« sagte die Liecke, »wir wissen, Struve ist der einzige Künstler! Struve, Struve ...« »Ist nicht eine Salome von ihm?« fragte Julie hinüber. »Die ~war~ von ihm,« meinte Thea geringschätzig. »Über die ist er aber längst hinaus!« Julie hatte die Empfindung von rosa Gazewolken, auf denen die kleine Künstlerin schwebte. »So! Mir hat sie auch nicht gefallen!« sagte sie ruhig. »Nun, in der Behandlung der Flächen ist sie vorzüglich. Gott, leicht verständlich sind seine Sachen alle nicht. Man muß sich natürlich die Mühe nehmen, in seine Ideen einzudringen, man muß vor ihm stehenbleiben!« Thea Allenbach hatte ihn natürlich verstanden. »Sie wollen hier Ihr Examen machen?« fragte Fräulein Liecke. Julie hob den Kopf. »Examen? Das weiß ich nicht. Ich will nur arbeiten.« »Das ist die einzig richtige Auffassung,« rief Thea herüber. -- »Examen, Anerkennung, darauf kommt es nicht an!« Das bestritt Fräulein Liecke nun energisch. Sie war Hochschülerin und durfte ihr System nicht im Stich lassen. Fräulein Berg hatte zwar das Lehrerinnenexamen bestanden, sprach sich aber dagegen aus. Nach Prüfungen könne man nicht urteilen; die seien höchstens ein Beweis, daß das Handwerkszeug für ein Fach da sei, aber mehr besagten sie auch keinen Tipps. Es entspann sich ein regelrechter Streit, in dem Auguste Berg mancherlei Brauchbares gesagt hätte, wenn es nicht so einseitig und animos herausgekommen wäre. Die Liecke, als »beste Schülerin«, vertrat den Standpunkt der Lehrer, Thea zitierte Struves mystische Worte und bewegte sich im übrigen in Gemeinplätzen über Freiheit, künstlerische Individualität und dergleichen mehr. Julie wußte schließlich gar nicht mehr, daß sie es gewesen war, die diesen Kampf veranlaßt hatte; dagegen meinte sie, daß es nun Zeit sei, aufzustehen. Fräulein Meusel mochte das gleiche empfinden und hob mit einem freundlichen Wort die Tafel auf. Nun war Julie in ihrem Zimmer und packte ihre Koffer aus. Die Gespräche schwirrten noch in ihren Ohren, die Stimmen fuhren durcheinander, und die Gesichter wollten nicht weggehen. Was war das für eine künstliche Aufregung um alle möglichen Dinge, ein Hagel von Schlagworten und Standpunkten, ein Getue und Gehabe, ohne jeden ersichtlichen Grund! Sie fragte sich plötzlich, warum sie eigentlich nach Berlin gekommen wäre? Onkel Wilhelm hatte ihr zugeredet. Draußen in der Heide würde sie ihr Leben nur verträumen, hatte er gesagt; sie würde zwar vielleicht allerhand innere Anregung finden, aber ihre Studien niemals über ein gewisses Maß hinausbringen können. Nun hatte allerdings Onkel Wilhelm keinen rechten Begriff von ihrer Arbeit. Einmal dachte er doch wohl insgeheim, daß sie es auf ein Examen absehe, und dann glaubte er auch, daß sie sich mit einem bestimmten Fach beschäftige. Aber sie hielt nun einmal nicht auf System. Sie las, machte sich Notizen, Auszüge, wurde zu neuer Lektüre angeregt und nahm diese vor. Es war nicht nur Philosophie, oder nur Literatur, oder nur Geschichte, was sie trieb, sondern von allem etwas. Die Auswahl, die sie traf, wurde durch ihr Gefühl bestimmt, nicht durch ein Ziel, dem sie zugestrebt hätte. Denn der Zweck ihrer Arbeit war ja Genießen. Obwohl Julie Onkel Wilhelm im Innersten nicht recht geben konnte, -- denn sie lebte der Überzeugung, daß sie auf ihre Weise überall, auch in der Einsamkeit der Heide, arbeiten könne, -- war sie doch klug genug, viele seiner Gründe anzuerkennen. Darum wollte sie den Versuch machen, ob der Aufenthalt in Berlin, die Berührung mit andersgearteten Menschen, die Anregung durch Theater und Vorträge nutzbringender für ihre Arbeit wäre als die Stille. Sie hatte diesen Vorsatz gefaßt und wollte ihn ausführen; sie wollte sich durch nichts beirren lassen. Das wiederholte sie sich; und sie schien es nötig zu haben. Denn nebenan hörte man nun verworrenes Gespräch und ab und zu den Anfang einer Gesangsübung. So viel Ruhe wie zu Hause würde sie hier also nicht haben. Das stand fest. Übrigens zweifelte sie auch schon daran, daß sie von diesen Damen Anregung, geschweige denn inneren Nutzen haben würde. Vielleicht von Fräulein Berg; die schien jedenfalls ernsthaft zu arbeiten. Aber die beiden anderen waren wohl nur Dilettantinnen, die mit Künstlerallüren kokettierten. Immerhin, auch von ihnen wollte sie nehmen, was zu nehmen wäre. So versuchte Julie also mit Eifer, sich die Straße vorzuzeichnen, die sie hier gehen wollte. Daß sie die wichtigsten Momente vergaß, jene Dinge, die an den Ecken jedes neuen Weges warteten, um andere Ausblicke zu öffnen und andere Ziele zu zeigen, das war kein Schaden. Die Energie, die einen gewissen Erfolg ohne weiteres verbürgt, blieb somit ungeschwächt durch Sorgen um künftige Dinge. Durch ihren Mut besaß sie von vornherein eine Überlegenheit. Wer sie jetzt gesehen hätte, wie sie fröhlich mitten im Zimmer stand, wie das Licht die Linien ihres Gesichts kühn nachzeichnete, der hätte die Gewißheit gehabt, daß sie sich hier nicht verlieren würde. XVIII Julies Zimmer hatte sich in den zwei Monaten, die sie nun schon in Berlin war, verändert. Zwar standen dieselben Möbel darin, dieselben gleichgültigen Bilder hingen an den Wänden; nur einige Linien waren verschoben. Der Schreibtisch hatte günstigeres Licht bekommen, der kleine Tisch, auf dem früher eine bunte Photographie gestanden hatte, war jetzt mit Büchern bedeckt. Und durch diese Änderungen hatte das Zimmer ein persönliches Aussehen bekommen. Es roch nicht mehr nach dem Preise, nicht mehr nach Koffern und den Kleidern der früheren Bewohner, es war nicht mehr Pension, sondern Julies Zimmer. Denn nun waren auch Blumen da, nicht etwa die bekannten Töpfchen mit Alpenveilchen oder Fuchsien, sondern lange Vasen und niedrige Schalen mit den reinen Farben des Feldes. Heute breitete sich geradezu ein Goldton über dem Zimmer. Auf den Schreibtisch, auf die Kommode, auf den Ofensims, wo nur Licht und guter Hintergrund war, hatte Julie Goldlack hingestellt. Sie selbst saß am Fenster mit einem Buche; und so oft geschah es, daß sie das Buch zuschlug und den graublauen Einband neben die Blumen hielt. Darauf hatte sie sich schon so lange gefreut; immer war sie in der Stadt herumgelaufen, um Goldlack zu kaufen, aber die kümmerlichen Stengel hatte sie nicht gemocht; heute endlich war sie mit einem großen Strauß zurückgekommen. Ihr fiel zum ersten Male ein, daß ihre Lebensweise hier eigentlich kaum anders sei als zu Hause; zwar besuchte sie ihre Vorträge pünktlich und kehrte mit gewissenhaften Notizen zurück, zwar ging sie oft ins Theater, aber wirkliche Freude fand sie doch erst, wenn sie mit ihren Büchern und Blumen allein war. Die vielgerühmte Anregung der Großstadt hatte sie enttäuscht. Es war eine phrasenhafte Architektur nicht nur in den öffentlichen und privaten Gebäuden, sondern auch in der Bildung der Menschen, mit denen sie zusammenkam, ein Zug von Handwerksmäßigkeit, ein Mangel an künstlerischer Lebendigkeit. Das hatte Julie sehr bald empfunden, und nachdem sie in den ersten Wochen mancherlei Verkehr gehabt hatte, fing sie nun schon an, lieber zu Hause zu bleiben. Es war ihr ja nicht um Kenntnisse zu tun, sondern um Schönheit. Und gerade die hatte sie nicht gefunden. Konventionelle Schönheiten natürlich allerwärts; in ihren Vorträgen flossen sie in Strömen. Aber Julie wollte Schönheiten haben, die ihr allein gehörten. Schien also der Berliner Aufenthalt nur den Erfolg zu haben, daß Julie zu der Einsicht kam, zu Hause sei es besser, so dachte sie doch nicht daran, jetzt wieder fortzugehen. Jedenfalls schlug sie jetzt ihr Buch wieder auf und freute sich, daß sie noch eine Stunde Zeit hatte, bis sie sich für die kleine Abendgesellschaft bei Professor Stockmann umziehen mußte. Sie blätterte und suchte eine Stelle und las. Es waren die »Essays« von Ellen Key. Selten war ihr ein Buch so viel gewesen. Noch nie hatte sie so stark den Eindruck gehabt, als wäre hier ausgesprochen, was sie schon seit Jahren unklar empfunden hatte. Mit jeder Zeile, die sie las, schien etwas in ihr frei zu werden. Die Töne, die schon lange aus fragender Tiefe zu ihr heraufgekommen waren, einten sich zu einer Melodie, und sie erkannte jetzt etwas, das allen ihren Hoffnungen, Wünschen und Handlungen Richtung gegeben hatte, ohne daß es ihr recht bewußt geworden war. Heute las Julie den kurzen Aufsatz über das Weib der Zukunft. Diese Worte hatten bei ihr schon nahezu eine Geschichte. Zuerst war es ein Staunen gewesen vor der frühlingsfrohen Kraft dieser Persönlichkeit, die ihre eigenen geheimsten Wünsche offenbarte. Dann -- Wochen waren darüber hingegangen -- mit einem Male hatte sie entdeckt, daß die Entwicklungsmöglichkeiten, von denen hier die Rede war, auch in ihr verborgen waren, daß sie sie nur bisher noch nicht gekannt hatte. Da war sie sich vorgekommen wie eine, die im Zimmer sitzt und ihre bescheidene Freude über ein bißchen Sonnenschein hat, aber plötzlich geht die Tür weit auf, und draußen lacht es und jubelt von Blumen, und das Licht ist gleich einem Meer, und über den Himmel segeln Wolken. Und dann tritt jemand herein und sagt: »Dies alles ist dein, du weißt es nur noch nicht! Du brauchst nur aufzustehen und hineinzugehen!« -- Es ward das Jauchzen des Sommermorgens, ein Gefühl von Macht, ein Ausbreiten der Arme, ein ungestümes Laufen in die Luft hinein, ja, Tränen von Glück und Dankbarkeit. Aber heute war es wieder ganz anders. Sie sah nicht mehr die Fernen, nicht mehr das weite Grün, nicht mehr das unendliche Blau. Sie war vor einer Blume stehengeblieben. Und wie ihre Sehnsucht bisher an der Linie des Horizonts gehangen hatte, so senkte sie sich nun in den Kelch dieser einen Blüte hinein. »Sie wird stets Geliebte bleiben, und nur so wird sie Mutter werden! Ihr religiöser Kult wird sein, des Lebens Seligkeit zu schaffen.« Es kamen wohl viele Düfte aus dem tiefen Kelche dieser Blume, wie es viele Arten Sehnsucht gibt. Dufteten diese Worte von des Lebens Seligkeit nicht nach Rosen, und wußten sie nicht von der Liebe heißen Lippen? War es nicht herb und doch betäubend, zu empfinden, daß Macht in ihren Händen lag? Daß nur die Frau der Welt die Kostbarkeiten bringen kann, die des Lebens Seligkeiten schaffen?! Und waren da nicht auch die Tiefen ungewisser Dinge, vor denen man ein süßes Grauen empfand ...? Von diesen Sehnsüchten blieb keine bei Julie. Eine andere kam, leise und zaghaft, das Dämmern aufzuwecken, in dem die Empfindungen der Jungfräulichkeit geträumt hatten: die Sehnsucht nach Mütterlichkeit. In diesem neuen Empfinden waren Schmerz und Glück so nahe beieinander, daß es eine Ruhe wurde, die sanft über die Augen strich. Und Julie stand mit andächtiger Scheu, wie vor etwas Heiligem. Aber sie war keine von denen, die träumend stehenbleiben. Ihre Gedanken gingen weiter. Ellen Key fährt an jener Stelle fort: »Sie wird mit klarem Blick und tiefem Verantwortlichkeitsgefühl den Vater ihrer Kinder wählen.« Julie hatte diesen Gedanken noch nicht bewußt ergriffen, aber ihr Empfinden mochte wohl schon auf ihn lauschen. XIX Generationen hindurch waren Professor Stockmanns Vorfahren Geistliche gewesen. Von Hause aus derbfäustige Naturen, hatten sie schon im Dreißigjährigen Krieg den Protestantismus mit Begeisterung verteidigt. Dies war ihre gesündeste und beste Zeit gewesen. Denn der empfindsame Augenaufschlag des Pietismus, der ihr folgte, war nichts für ihre einfachen Augen. Diese Augen waren nicht scharf genug, um Empfindung von Phrase zu scheiden. Und so hatte sich der Väter Überzeugungstreue in ein Gewirr unklarer Gedanken und verwaschener Gefühle gewandelt, und die persönliche Tat des protestantischen Bekenntnisses war zu einer leeren Tradition geworden. Diese Tradition machte man in der Familie nun zur Grundlage einer Erziehung, die heute kaum anders war als vor zweihundert Jahren. Es war System in dieser Erziehung. Die Bilder an den Wänden, Porträts von Francke, Spener, der Christuskopf von Guido Reni, die vergilbten Photographien von Werken der Nazarener redeten dieselbe eindringliche Sprache wie Morgen- und Abendandachten, Bet- und Bibelstunden. Es gab keine Gespräche, die nicht mit geistlichen Betrachtungen gewürzt gewesen wären, keinen Entschluß, bei dem man vergessen hätte, zu prüfen, ob er Gottes Wille sei. -- Den Dingen der Welt stand man mit der uneingestandenen Feindseligkeit und dem Argwohn der evangelischen Milde gegenüber. Man war tolerant; aber man wußte, daß durch eine Falte der Stirn, durch geschickt eingeschaltete Nebensätze eine Verurteilung schärfer ausgesprochen werden kann als durch gehässige Rede. Man verehrte die Kunst: aber sie mußte an den Stufen von Gottes Thron stehen. Man sah die Kunstwerke unter evangelischem Gesichtswinkel, man hörte die Musik zur Ehre Gottes. Dieses Erziehungssystem bemächtigte sich ihres Lebens derart, daß von persönlichem Religionserlebnis, von religiöser Sehnsucht längst nicht mehr die Rede sein konnte; vielmehr durfte man sagen, daß den Stockmanns der Protestantismus in Fleisch und Blut übergegangen war. Unter dieser Voraussetzung war es zu begreifen, daß die Jungen schon mit zwölf Jahren ihre festen Ziele hatten, und daß aus ihnen Menschen wurden, die niemals mit Scheu vor den Fragen des Lebens stehenblieben, die weder den heiligen Ernst des Suchens, noch das Glück des Findens kannten. Es kamen freilich Tage, wo des Lebens Sturmwinde heransausten, morsche Stämme zu brechen und Platz zu schaffen für junge Bäume, die stark werden sollten. Da wäre Gelegenheit gewesen, einmal aufzuräumen, einmal nachzusehen, was des Wachsens noch wert wäre, und der Schößlinge zu achten, die heimlich aus dem Schutt herauskamen. Aber das taten die Stockmanns nicht. Hatte bis zu diesem Zeitpunkte alle Verantwortung den Eltern zugesprochen werden müssen, so traf sie jetzt die junge Generation. Diese aber wagte keinen Kampf. Vielleicht wollte sie ihre Gewohnheiten nicht aufgeben, vielleicht war sie überhaupt zu blaß, zu kränklich. Der Mangel an Lebensmut und Lebensbejahung, der sie den Kampf vermeiden hieß, vererbte sich gleichfalls und wuchs im Laufe der Zeiten zu einer beträchtlichen Schuldenlast heran. Die Eigenschaften, die beim Urgroßvater wertvoll gewesen waren, wirkten heute als eigensinnige Schrullen. Aus seinem Glauben war Starrheit geworden, aus seiner Innigkeit Sentimentalität. Durch die Ehen, die in der Familie geschlossen worden waren, hatten die Wirkungen dieser Erziehung nicht aufgehoben werden können. Es waren immer Frauen gewesen, die verwandtem Boden entstammten. Nur eine Ausnahme gab es, und diese Frau hatte allerdings anderes Blut in die Familie hineingebracht; das war Mathilde Dorn gewesen, die Tochter eines stillen Gelehrten, dessen Leben voller Güte unbemerkt bei trockener Fachwissenschaft vorübergegangen war, nach dessen nicht ganz aufgeklärtem Tode man jedoch einige Arbeiten über die Freiheit der naturwissenschaftlichen Forschung vorfand, die seine Persönlichkeit unter eine veränderte Beleuchtung brachten. Mathilde Dorn war verschlossen und träumerisch. Ihr Wesen hatte die Milde eines Regens, der an schwülen Sommertagen zur Erde rauscht, ohne zu kühlen. Als Professor Stockmann sie heiratete, lebte ihr Vater noch, und als die Kinder kamen, Martha und zwei Jahre später Johannes, war zu hoffen, daß ihre Erziehung von anderer Art sein würde, als sonst in der Familie gebräuchlich war. Denn Mathilde liebte ihre Kinder mit dem leidenschaftlichen Muttergefühl einer Frau, die nichts anderes hat als ihre Kinder. Besaß sie auch selbst kein stark ausgeprägtes eigenes Wesen, so durfte man doch von diesem durch keine Begriffe beirrten mütterlichen Gefühl mancherlei erwarten. Aber nach wenigen Jahren starb Mathildens Vater, und geraume Zeit darauf folgte sie ihm, ohne ihre Kinder bis zu einer inneren Selbständigkeit gebracht zu haben. Es sei ein Herzleiden, sagten die Ärzte, aber in Wirklichkeit ging sie an den fortgesetzten stillen Vorwürfen zugrunde, die ihr Mann wegen jener Schriften ihres Vaters gegen sie erhoben hatte. Immerhin erkannte man noch heute an den Kindern die Mutter. Martha, die seit ihrer Konfirmation dem Hauswesen vorstand, verband mit der kindlichen Liebe zum Vater doch eine gewisse Unabhängigkeit. Sie hatte den Glauben ihres Vaters, aber ein Glanz war übers ihn gebreitet, der von persönlichem Empfinden herkam. Johannes hingegen hatte von der Mutter die Zweifel geerbt. Sie entbehrten zwar der Schärfe und hatten hin und wieder eine gewisse Haltlosigkeit zur Folge; aber an dieser Stelle kam ihm die Hartnäckigkeit des Vaters zugute. So gab es in seinem Leben wenigstens scheinbare Kämpfe. Selbständigkeit gehörte nicht zu seinen Eigenschaften. Aber er besaß eine gewisse Geschicklichkeit: er nahm niemals Partei für Anschauungen, die den Familientraditionen zuwiderliefen, aber er machte kleine Konzessionen, gestand einigen Punkten eine Berechtigung zu und fühlte sich immer auf der Höhe überlegener Milde. Professor Stockmann hatte sich allmählich in seine Kinder gefunden. Daß der positive Glaube ihnen keine Herzenssache war, wußte er wohl; aber er zog es vor, diese Lücke zuzudecken, ohne sie zu ergründen. Für diese Nachsicht forderte er stillschweigend das Festhalten an allen äußerlichen Gewohnheiten. Es gab keinen Widerspruch gegen seine Anschauungen; und die Kinder waren klug genug, dem Vater zu folgen, ja, sie taten es sogar aus Überzeugung. Drei- bis viermal im Jahr ging man zur Kommunion, morgens und abends versammelte man sich zur Andacht, genau so, wie es unter dem seligen Generalsuperintendenten gewesen war. Zu dieser Familie kam Julie Hellwege. XX Es gibt Farben, die sich im Schatten gleichen, im Licht aber einander nicht mehr kennen. Und es gibt Menschen, die in der Dämmerung des Alltags meinen, sie gehören zusammen, und doch plötzlich einander fremd sind, wenn das Licht einer Morgenstunde in jene dunkeln Ecken fällt, die ihnen selbst noch unbekannt waren. Oft freilich geschieht es, daß das Leben vorüberschreitet, und jene Stunde will nicht kommen und bleibt fern, bis diese Menschen sterben; und erst die Kinder gewahren, daß sich Abgründe geschrofft haben, wo die Väter an sichere Straßen glaubten. So war Rechtsanwalt Hellwege gestorben und hatte noch drei Tage vor seinem Tode von seinem Studienfreunde Stockmann erzählt, mit ihm habe er sich immer am besten verstanden. Und nun saß Julie dem Professor gegenüber, und der hörte nicht auf, sich zu verwundern und zu entsetzen, daß dieses die Tochter seines Kommilitonen Hellwege war. Und der Doktor Johannes fühlte sich befangen, merkte etwas von Überlegenheit, die anerkannt werden müßte, und trat dennoch auf die Seite seines Vaters. Julie war nicht so sicher, wie sie sich gab. Mokantes Lächeln war hier nicht am Platz, und jede Art von Spiegelfechterei bedeutete einen Verlust. An Energie wäre dieser Gegner sicher gleichwertig, nachgeben würde er nie, und es bedürfte starker Waffen, sich zu behaupten. Trotz allem war sie unbekümmert und darum von vornherein im Vorteil. »Wir sind immer am liebsten jedes für sich allein gewesen: vielleicht, weil wir so sehr zusammengehörten, weil etwas ganz Besonderes zwischen uns bestand und wir nicht wollten, daß ein laues Familienglück daraus würde.« »Und Sie sind sicher, daß niemand von Ihnen bei diesem Verhältnis zu kurz kommt?« »Vielleicht! Aber das ist dann eigene Schuld. Um selbst glücklich zu sein, darf man nicht auf andere warten.« Julie hörte ihre Stimme klar und bestimmt. Es ist ein eigenes Gefühl, lachend in eine Umgebung zu kommen, wo nüchterner Ernst und graue Gleichmäßigkeit herrschen. Und wie empfindet man die stummen Entgegnungen, die von allen Seiten zu einem kommen, sei es, um einem zu danken, daß man den Mut hatte, die Ruhe aufzuwecken, sei es, um sich zu sträuben, weil solches geschieht! Der Professor schüttelte den Kopf. »Kind! Was sind das für Anschauungen! Gerade das Zusammenhalten der einzelnen Glieder macht das Familienglück innig und fest. Sehen Sie meine Kinder an!« Der Doktor nickte gehorsam Beifall. »Das haben wir gewiß erfahren ...!« »Aber es kann doch auch eine Gefahr darin sein: viele meinen, nur für andere leben zu müssen, und verlieren darüber sich selbst.« Der Pastor hob die Hand. »Ist das ein Nachteil? ›Liebe deinen Nächsten als dich selbst‹, sagt die Schrift.« Der Doktor fand einen Ausweg. »Man muß es eben verstehen, aus dem Boden der Familie Kraft für die eigene Persönlichkeit zu ziehen. Natürlich soll man sich selbständig entwickeln. Aber darf man nicht dennoch etwas haben, woran man sich anlehnen kann, wenn müde Stunden kommen?!« Julie hatte eine lächelnde Empfindung: wie mochte es aussehen, wenn dieser blonde, gesunde Mann sich müde an seine Familie lehnte, an den weißen Kopf seines Vaters oder an Marthas schlicht abfallende Schultern?! »Ich sage ja nur, daß gerade die Familie einen hindern kann, überhaupt selbständig zu werden; da sind Rücksichten und Bedenken ...« »Und gerade diese bilden die treffliche Erziehung des Familienlebens,« entgegnete der Professor lebhaft. »Sollen wir doch einer dem anderen helfen, mit Liebe, Nachsicht und Demut, einander fördern auf dieser irdischen Reise. Wir sollen entsagen lernen und unser Selbst verleugnen ...« Julie blickte mit einem Anflug von Mitleid auf die scharfen Züge des alten Mannes; in diesen Falten lagen allerdings ganze Geschichten von Entsagung, und man suchte vergebens nach einer weichen Fläche, die von Lebensfreude hätte sprechen können. Sie empfand ein Grauen, als sei sie in dieses Gerechten Gewalt gegeben und müsse ihm gehorchen. Blumen, Sonne und Farben wurden blaß und glitten in unerreichbare Ferne, und an den Wänden standen Drohungen. Sie warf ängstlich den Kopf in die Höhe. »Ein Recht zu entsagen habe ich nur dann, wenn ich es aus eigener Erkenntnis und freiem Willen tue.« Der Doktor horchte. »Wie stolz Sie sind! Es ist gewiß ein hoher Standpunkt ...« Aber der Vater unterbrach ihn. »Nein, nein, das wäre pharisäischer Hochmut. Entsagen heißt: das eigene arme Ich ausstreichen und sich in Gottes Willen fügen!« Julie schwieg. Und der Doktor Johannes war ihr vielleicht dankbar dafür. Als man nach dem Essen unter Thorwaldsens Christus saß, griff der Professor das Thema von neuem auf. »Sehen Sie, liebes Kind, neulich hatte ich einen Brief von Ihrem Vormund. Er schrieb, Sie seien nun hier, und ich möchte mich in Erinnerung an Ihren seligen Vater Ihrer ein wenig annehmen, nun, Sie wissen ja, daß Sie bei uns wie zu Hause sein sollen, ja, und da schrieb er auch von Ihrer Schwester Marianne. Die ganze Familie war mit dieser Verlobung erst nicht einverstanden, nicht wahr? Ich weiß nicht, ob es nur Demut und Selbstverleugnung war, was Ihre Schwester bewogen hat, den Antrag dieses einfachen Mannes anzunehmen; aber ich möchte glauben, daß beides in ihr mitgesprochen hat, als sie den Entschluß faßte, ihm fürs Leben zu folgen. Nun sind die beiden so glücklich geworden. Muß man da nicht von Gottes Fügung sprechen, die alles besser gemacht hat, als die Familie es je für möglich gehalten hätte, die schon jetzt für die demütige Ergebung in seinen Willen reichen Lohn schenkt?« Julie wurde rot und dachte an die Tage, die jener Verlobung vorausgegangen waren; sie fühlte sich plötzlich verantwortlich für Marianne, nicht gerade, weil sie ihre Schwester war, sondern aus jenem Solidaritätsempfinden heraus, das das ganze Geschlecht verbindet. Eine Art von Scham erwachte in ihr, daß hier ein Mann daranging, etwas aufzudecken, was für die Frau immer keusch und unberührt bleiben sollte; und dann fühlte sie eine ärgerliche Gereiztheit, wie täppisch doch diese Hände wären, wie pfiffig und plump der Versuch, an dieser simplen Verlobungsgeschichte beweisen zu wollen, wie Gottes Gerechtigkeit die Entsagung belohne. »Meine Schwester hatte ihn einfach lieb!« sagte sie schroff. »Ist die eheliche Liebe kein Geschenk Gottes?« »Und weil sie ihn lieb hat, kann von Entsagung nicht die Rede sein!« »Nun, -- die Verhältnisse, in die sie gekommen ist, sind doch wohl recht einfach,« meinte der Professor behaglich. »Es wird manche Träne gekostet haben, sich dahinein zu gewöhnen, fürliebzunehmen mit einem niedrigen Hause, mit der Einsamkeit des Landlebens, den bescheidenen Freuden eines Dorfschullehrers ...« »Sie hätte es doch anders haben können!« meinte der Doktor, »und darum erscheint es mir als ein Zeichen von Demut, daß sie ...« »Wenn man jemand lieb hat, muß man alles für ihn tun können, nicht aus Demut, nicht aus Entsagung, sondern aus Liebe. Das ist nicht weiter gut oder groß, sondern natürlich und selbstverständlich!« »Nun ja, gewiß,« stimmte der Doktor bei. Julie war verstimmt. Das Gespräch erschien ihr plötzlich unnötig. Sie war mit der Absicht hergekommen, von diesen Menschen etwas zu lernen, und fand sich enttäuscht. Sie hatte sich selbst aus dem Spiele lassen, nur Neues aufnehmen, irgendeine Feinheit verstehen, eine scharfgezeichnete Linie sehen, andersgeartete Anschauungen hören wollen. Davon war hier nichts zu finden. Dies war weder friedlicher Meinungsaustausch noch ehrlicher Kampf. Vielmehr nichts anderes, als rechthaberisches Gezänk, wie etwa Kinder sich um ihre Spielsachen streiten. Da wurden Worte falsch gedeutet, Begriffe verschoben, jeder saß trotzig ernst auf seinem Stuhl und dachte nicht daran, dem andern entgegenzukommen, und dazu diese ölige, versalzene Milde, wie eine schlecht zubereitete Mayonnaisensauce! Und was das schlimmste war: sie selbst wurde von diesem Ton angesteckt, sie blieb nicht bei der Sache, suchte nach spitzen Entgegnungen und fühlte sich klein und häßlich. Der Doktor wollte einlenken. »Alles, was aus Liebe geschieht, steht jenseits von Gut und Böse.« Da lachte Julie. Und mit diesem Lachen hatte sie ihre gute Laune wiedergefunden. Martha hatte während der Unterhaltung schweigsam in einer Ecke gesessen. Wovon Julie sprach, das hatte sie wohl schon manchmal gelesen, aber noch niemals aussprechen hören. Sie hatte Ähnliches auch schon gedacht, aber noch nicht den Mut gehabt, davon zu reden. So lauschte sie ängstlich und begeistert auf Julies Stimme, mit der leidenschaftlichen Erregung der schwachen Seele, die nur in ihrer Phantasie den Kampf wagt und Triumphe feiert. Julie verstand sich nicht auf solche Wesen; sonst hätte sie eine dankbare Wärme und den fast flehenden Ausdruck einer Bitte empfunden, als Martha ihr beim Weggehen sagte: »Kommen Sie recht, recht bald wieder!« Doktor Johannes begleitete Julie nach Hause. Das ließ er sich nicht nehmen, den ganzen Abend hatte er sich darauf gefreut. Nicht eigentlich gefreut, aber er hatte darauf gewartet, als müsse er sich verteidigen oder sie wenigstens über sich aufklären, als dürfe er es unter keinen Umständen zulassen, daß sie mit diesem, wie er meinte, unfertigen Eindruck Von ihm wegginge. Oh, es wäre im Grunde natürlich ganz gleichgültig, was andere Menschen über ihn dächten; man mochte ihn getrost verurteilen. Johannes liebte es, sich ein wenig als Märtyrer zu fühlen. Er wußte ja genau, daß er richtig handelte, wenn er mit kindlicher Ehrfurcht seine Anschauungen vor dem Vater verbarg. Aber, nun ja, er hätte doch gern mit Julie darüber gesprochen. Er redete sich vor, sie würde ihn verstehen, vielleicht bemitleiden oder gar bewundern. Als sie um die Straßenecke bogen, fing er an: »Sie waren vielleicht erstaunt, daß ich meinem Vater gegenüber mit meiner Meinung etwas zurückgehalten habe. Meine Situation zu Hause ist nicht ganz einfach. Meines Vaters Anschauungen sind streng orthodox. Für ihn als Professor der Dogmatik besteht ja auch geradezu die Notwendigkeit, seine Stellung zu religiösen und ethischen Fragen genau zu präzisieren.« Es freute ihn, wie klar er sich ausdrückte. Die Worte klangen rund von den Häuserwänden zurück. Seine Schritte waren fest und bewußt. Es schien, als wolle die Stille der Straße seiner Energie noch besonderen Nachdruck verleihen. Julie betrachtete ihn. Aber ehe er fortfahren konnte, sagte sie etwas, wovon ihr erst in diesem Augenblick einfiel, daß sie während des ganzen Abends den Wunsch gehabt hatte, es auszusprechen. »Ich finde, Sie haben keinen Mut!« Das hatte der Doktor freilich nicht erwartet. Aber gleichzeitig empfand er merkwürdigerweise ganz deutlich, daß nur dieses über sein Verhalten gesagt werden konnte. Er suchte nach einer Entgegnung: Kindesliebe, väterliche Autorität ...! Doch plötzlich hatte er den Wunsch, sie möchte weiterreden. Er fühlte eine ferne Möglichkeit von Freiheit. »Sie haben doch das Recht, Ihre Meinung zu vertreten. Wollen Sie Ihren Vater täuschen? Das glaube ich nicht. Oder wollen Sie aus Ehrfurcht vor ihm schweigen? Ich wäre traurig, wenn mein Kind nicht mehr von mir gelernt hätte, als zu schweigen oder Beifall zu klatschen, wenn ich rede. Und ich denke es mir den glücklichsten Augenblick, wenn mein Kind mir zum ersten Male aus Überlegung widerspräche.« Johannes hatte eine peinliche Empfindung. Daß sie von ihren Kindern sprach, war ihm unangenehm. Er hätte sie sich weiblicher gedacht. »Jedenfalls kann ich mir nicht denken, daß man dabei glücklich sein kann,« fuhr Julie fort. »Nein, nein, ich bin auch nicht glücklich,« stotterte Johannes. »Wie ich Ihnen schon sagte: meine Situation ...« »Übrigens wäre es verständlich, wenn Sie wirklich schweigen ~wollten~. Die natürliche Empfindung der Innigkeit, die Eltern und Kinder verbindet, macht es uns, den Kindern, eigentlich unmöglich, die Eltern belehren zu wollen. Aber wie einer es ertragen kann, schweigen zu ~müssen~, seine Persönlichkeit unterdrückt zu sehen, das kann ich nicht begreifen.« Sie gingen eine Weile nebeneinander her, ohne etwas zu sagen. Johannes hatte sich diese Unterhaltung anders gedacht. Er war nicht zufrieden. Aber er mochte sie nicht abbrechen. In der Nachtluft ging es sich so behaglich, und eigentlich hörte er es gern, wenn sie über ihn sprach. Seine Gedanken waren vielleicht schon gar nicht mehr bei der Sache, und nur, um irgendetwas zu entgegnen, fragte er: »Wie soll man anders handeln?« »Indem man seine persönliche Freiheit behauptet.« »Wie denken Sie sich das? Soll ich den häuslichen Frieden stören? Soll ich widersprechen?« »Nein!« Julie schüttelte den Kopf. Sie dachte nach; sie überlegte ganz ernsthaft, wie dem Doktor geholfen werden könnte. Sie wurde sich gar nicht bewußt, daß sie zum ersten Male einem erwachsenen Menschen nach eigener Überlegung einen Rat geben wollte, und daß es eigentlich ein etwas komischer Fall sei, einem jungen Privatdozenten Verhaltungsmaßregeln darüber zu erteilen, wie er sich seine Selbständigkeit bewahren solle. Plötzlich fragte sie unvermittelt: »Wohnen Sie bei Ihrem Vater?« Natürlich, das täte er. Warum sollte er auswärts wohnen? »Nun ja, damit würde ich anfangen. Ich würde mir zwei Zimmer mieten, in einer ganz anderen Gegend von Berlin, die würde ich mir nach meinem Geschmack einrichten, mit Bildern, Vasen und Blumen; dann hat man doch erst mal ein richtiges Zuhause, wo man bei sich selbst ist. Und dort müssen Sie so leben, wie es Ihren Anschauungen entspricht. Und ...« Sie brach plötzlich ab. Sie wunderte sich mit einem Male, daß sie so eindringlich zu ihm gesprochen hatte. Johannes war in einer weichen Erregung. Sie hatte recht. Natürlich hatte sie recht. Wenn er allein wohnte, durfte ihm keiner dreinreden; dann war er Herr in seinem Hause. So dachte er. Aber fühlte er nicht auch etwas Warmes, Unbekanntes? Erregte es ihn nicht, daß da eine neben ihm ging, daß das ungewisse Licht der Laternen ein feines Profil zeichnete, das wieder erlosch, wenn sie vorüber waren, daß seidige Haare leise zitterten, und wenn der Abendwind sie aufhob, das Weiß einer Schläfe schimmerte? »Und dann?« fragte er nach einer Weile. »Das müssen Sie selbst ausfindig machen!« sagte sie und lachte kurz. Wie war er hilflos! Das belustigte sie wieder. Aber sie wollte sehen, was daraus wurde. »Wenn es so weit ist, können wir ja weiterberaten,« meinte sie vergnügt. Nun waren sie vor dem Hause angelangt, und sie gab ihm die Hand. Er war unschlüssig, ob er ihr danken müsse, oder ob er sie fragen könne, wann sie wiederkäme. Aber das war nun zu spät, denn die Tür fiel schon ins Schloß. Er ging langsam den Weg zurück und beschäftigte sich mit dem Plan, eine Junggesellenwohnung zu beziehen. Aber es war etwas in der Luft, was seine Gedanken immer wieder aufstörte und zu ganz fernliegenden Dingen gehen ließ. Er erinnerte sich der Buden seiner Freunde, der Plüschmöbel, der Koffer in der Ecke; dann fiel ihm ein, daß er da manchmal Besuch angetroffen hatte, Damenbesuch, ein kicherndes Lachen lag ihm plötzlich im Ohr; dann flirrten allerhand Worte an ihm vorüber, von goldener Studentenfreiheit, und er dachte mit einem Male, daß er solche Erlebnisse nie gehabt hatte. Er bog um die Ecke; da stand noch wie vorhin die verschlafene Droschke. Hier hatte Julie von dem Kinde gesprochen. Und nun fühlte er wieder etwas Warmes, als ginge sie neben ihm, er empfand etwas Körperliches. Doch als er dann die Tür des väterlichen Hauses aufschloß, war nichts von allem mehr da; er klinkte auf, tastete sich hinein, so gewohnheitsmäßig, als käme er aus dem theologischen Seminar. Julie fand in ihrem Zimmer einen Brief von Marianne vor. Es war ein Bericht über die Hochzeitsreise und ihr warmes Nest, in das sie nun mit Lukas eingezogen sei. Es fehlte nicht an einigen Stellen, die frauenhaft erfahren klingen sollten. Zu anderen Zeiten würde Julie sich darüber mokiert haben. Aber jetzt mußte sie plötzlich und ohne jede Veranlassung an Johannes Stockmann denken. Julie zerriß den Brief, ohne ihn zu Ende zu lesen, und warf die Stücke in den Papierkorb. Dann griff sie nach einem Buche ... Doch nein! Sie legte es wieder fort und begnügte sich damit, an Agnes Elisabeth zu schreiben und ihr eine scharfe Schilderung von dem nußbaumpolierten Ton in der Familie Stockmann zu geben. XXI Um diese Zeit fingen sie im Dorfe an, über Agnes Elisabeth zu sprechen. Es war nicht der gewöhnliche Klatsch, der von Haus zu Haus geht, sich an den Ofen niederläßt, sich behaglich breit macht und wichtig tut, als könne er allein die Unterhaltung führen, bis er langweilig wird, weil er keine neuen Geschichten mehr zu erzählen weiß, und schließlich in einer Ecke stehenbleibt und vergessen wird. Über Fräulein Hellwege sprach man in anderer Art. Irgendwo einmal waren ein paar Worte gefallen, sie sei zuzeiten so wunderlich. Keiner hatte diese Worte aufgehoben, sie waren im Staube des Alltags liegen geblieben. Aber unter dem Staub mochte doch fruchtbarer Boden gewesen sein, der Bauern bedächtige Zweifelsucht, ein unbewußter Argwohn gegen alles, was außerhalb des Verständnisses ihres Standes lag. Als die warmen Tage mit den lichten Abenden vorüber waren und zum ersten Male des Morgens Reif über den Wiesen schimmerte, da war ein Flüstern aufgewacht, und keiner wußte, von wannen es gekommen war. Es war da, wisperte hier ein Weilchen, glitt an den Zäunen entlang, raschelte drüben am andern Ende des Dorfs ... Sie sei wunderlich geworden. Tagelang gehe sie durch Haus und Garten, ohne ein Wort zu sprechen, mit dem nämlichen blassen Gesicht. Einige hatten sie des nachts in einem langen, weißen Kleide gesehen; vor der Laube stehe sie und rühre kein Glied, sagten welche, und andere erzählten, sie sei ganz langsam durch die Tannenallee gegangen, hinauf und hinunter, und wieder hinauf und hinunter, bis die Kirchenuhr drei geschlagen habe. Der Pastor traf sie auf dem Kirchhofe; da kniete sie vor dem Grabe ihrer Mutter, und es war ihr gleichgültig, ob einer an ihr vorüberkam, sie kniete und betete; oder sie pflanzte Blumen auf dem Hügel, am nächsten Morgen aber riß sie die Blüten ab und zerbrach die Stengel. Einmal war sie verschwunden, irgendwo in der Heide oder im Moor mochte sie sein, und erst am Abend des zweiten Tages kehrte sie heim und trug Blumen im Haar. Solche Dinge flüsterte man, weder aus Neugierde, noch aus Teilnahme; es war nichts anderes, als der einfache Vorgang, daß etwas herumkam, und daß nun alle darum wußten. Im Lehrerhaus gab dies Anlaß zu einiger Verstimmung. Lukas Allm war voller Mitgefühl und hatte allerhand Pläne im Kopf, daß Agnes Elisabeth zu ihnen ins Haus ziehen solle, oder daß sie reisen solle, daß er an den Vormund schreiben oder einmal mit ihr selbst sprechen müsse. Marianne hingegen fühlte sich bloßgestellt und grollte mit Agnes Elisabeth. Sie wollte nur um Gottes willen kein Familiengerede und meinte, dies alles sei ohne Belang. »Man muß ihr nur Zeit lassen, dann wird sie schon von selbst darüber hinwegkommen,« sagte sie und fühlte sich dabei älter als die Schwester und mit allen inneren Erfahrungen einer verheirateten Frau ausgestattet. Da Mariannes Meinung noch immer maßgebend war, blieb es bei Lukas’ guter Absicht. Auch wurden beider Gedanken bald nach einer anderen Richtung hin gelenkt, und diese Dinge traten in den Hintergrund. Obwohl man erst im September stand, begannen sie nämlich mit einem Male von Weihnachten zu sprechen, und daß sie dann nicht mehr allein sein würden. Von nichts anderem sprachen sie. Lukas Allm hatte dabei jene weiche Freude, mit der Kinder an das Christfest denken, während in Marianne vielerlei Sorgen waren, Geschäftigkeit und Unruhe, wie es einer jungen Frau zukommt. * * * * * An einem jener späten Sommertage, die den Frieden eines schlummernden Kindes haben, just als die Sonne unterging, erfuhr auch Hinrich Teetje von den Gerüchten über Agnes Elisabeth. An dem Fenster der Gaststube stand er und trank sein Braunbier aus, als der Wirt vorsichtig zu ihm trat, den Tisch abwischte und mit verhaltener Stimme sagte: »Die ist nun glücklich wunderlich geworden!« Teetje stellte sein Glas hart auf den Tisch. »Wer?« »Die Älteste von Hellweges.« Und als der andere keine Miene verzog, kam es triumphierend hinterdrein: »Zwei Stunden ist sie heute wieder auf dem Kirchhof gewesen.« »Unsinn!« Darauf hatte der Wirt nur gewartet. Denn nun kam die ganze Geschichte, mit Anmerkungen, Erläuterungen und sämtlichen möglichen Lesarten. Teetje saß daneben und starrte nach dem Fenster, hinter dem rote Lichtschwaden dampften. Plötzlich lachte er laut, stand auf, legte sein Geld auf den Tisch und ging weg. Er kam an Hellweges Haus vorüber. Es schwieg in dem schreckhaft bewußtlosen Licht, mit dem der Tag nach dem Kampf der ersten Dämmerung noch einmal die Augen öffnet, um zu sterben. Mitten auf der Straße blieb er stehen, bis die Schatten der Nacht sich hoben und um ihn herumstanden. Da lächelte er, ein grausames Lächeln, und dann ging er nach Hause. Zu derselben Stunde erhielt Agnes Elisabeth die Anzeige von Heinrich Craners Verlobung mit Fräulein Ellinor Grünhagen. Dabei fand sich ein Brief: ein paar Worte, daß er ihr doch niemals hätte geben können, was sie brauchte, daß sie ihm das freundliche Gedenken einer Schwester bewahren möge, und was in solchen Fällen sonst noch geschrieben zu werden pflegt. Agnes Elisabeth las beides mit vollkommener Ruhe, wie die Mitteilung einer gleichgültigen Person. Der ihr das geschrieben hatte, war auch längst nicht mehr derselbe, der ihre Gedanken beherrscht hatte. Als es dunkel geworden war, ging sie zu Marianne, um ihr ein Rezept zu bringen, um das sie gebeten hatte. Marianne hieß sie mit ungewöhnlicher Feierlichkeit willkommen, brachte sie ins Wohnzimmer, schloß behutsam die Tür, griff nochmals nach der Klinke, trug die Lampe auf einen kleinen Tisch an der Wand, setzte sich neben Agnes Elisabeth und hatte etwas auf dem Herzen. Sie druckste eine Weile, und als Agnes Elisabeth endlich von dem Rezept anfing, kam es: »Ich muß dir etwas sagen!« Dann erfuhr Agnes Elisabeth unter Flüstern, daß Marianne um Weihnachten herum ein Kind erwarte. Es flossen Tränen, und Marianne war stolz auf sie. Denn neben echter Freude nahm doch das Gefühl der Wichtigkeit den größeren Platz in ihr ein. Auch war sie schon ganz von dem Egoismus der jungen Mutter beherrscht, die an nichts anderes denkt, als an ihr Kind. Sie bezog es auf sich, als Agnes Elisabeth beide Hände vor ihr Gesicht legte und weinte; und Marianne freute sich dessen. Aber Agnes Elisabeth weinte um anderes. Sie weinte, wie Kinder weinen, die sich verlaufen haben und nicht nach Hause finden können. Zwar suchte Agnes Elisabeth schon lange nicht mehr nach einem Wege, erst jetzt aber wußte sie, daß sie sich verlaufen hatte und niemals mehr nach Hause finden würde. XXII Evelyn war nun mitten in der großen Welt. Sehnte sie sich nicht zurück nach den feinen Tönen ihrer spielenden Träume, nach ihrer grünen Wiese, nach ihren Pfauen, nach ihrer kindlich-souveränen Verachtung? Gewiß nicht! Denn mit unbewußter Sicherheit und dem leichten Schritt fröhlichen Genießens ging sie durch alles Neue hindurch, nahm, wovon sie mochte, fand vielerlei und atmete und lachte. Was vergangen war, war noch bei ihr, aber nicht als eine wehmütige Erinnerung. Es war ein Teil von ihr geworden, ein Stück ihres lächelnden Selbsts, das ihre Augen heller machte. Es geschah nie, daß sie sich schmerzlich nach der Vergangenheit umgewendet hätte, ebensowenig, wie sie an die Zukunft dachte. Sie liebte weder die Erinnerungen an das Gestern, noch kleine Hoffnungen auf Morgen und Übermorgen. ~Heute~ lebte sie, und sie hatte genug zu tun, wollte sie alle Schönheiten zusammentragen, wie sie früher Blumen in ihren Schoß gesammelt hatte. Während des Sommers waren sie im Schwarzwald gewesen, und als es kalt wurde, hatte der Arzt gesagt, Tante Sophie müßte nach dem Süden. Onkel Wilhelm konnte sie nicht begleiten, denn es lagen umfangreichere Aktenstücke auf seinem Schreibtische als je, Rena durfte ihre Stunden nicht versäumen, so war es selbstverständlich, daß Evelyn mit ihr ging. In einer Villa dicht bei St. Raphaël wohnten die beiden, machten Spaziergänge, saßen im Sonnenschein auf ihrer Terrasse und abends vor dem Kaminfeuer, empfingen ab und zu Besuche, freuten sich, wenn sie wieder allein waren, und gaben einander gern die zarten Zeichen einer wachsenden Vertrautheit, die den Altersunterschied vergessen machten. Es zeigte sich, daß auch Sophie Craner viel Schönheitssinn besaß, und daß Evelyns Träume eng mit verfeinerten Lebensbedürfnissen zusammenhingen, die Tante Sophies elegantem Luxus nicht allzu fern standen. Wenn es kein Kleid sein konnte aus Rosenblättern oder dem Atlas, der abends über stillen Wassergräben liegt, so tat es auch eine Toilette aus Seidenchiffon oder ein Hut aus Spiegelsammet. Das war kaum ein Schritt, und Evelyn hatte ihn bald getan. Sie sprachen viel miteinander. Evelyn bekam dabei mehr zu hören, als Tante Sophie anfänglich hatte sagen wollen, und sie erwiderte solches Vertrauen durch eine feine Dankbarkeit. Oft schwiegen sie auch und empfanden den Rhythmus gleichartiger Stimmung. So bildete sich unbemerkt ein gegenseitiger Einfluß, der zwar ihr Wesen nicht änderte, aber gewisse Seiten an die Oberfläche brachte, die bisher in der Tiefe gewesen waren. Und ihr Leben hier, losgelöst von heimatlicher Enge, in der Stille der kleinen Villa, den duftenden Garten und das unendliche Meer vor Augen, und etwas weiter entfernt, aber doch deutlich zu spüren, ein gewisses Parfüm des eleganten Badeorts, war recht geeignet, die neue Freundschaft zu befestigen. Nun kam noch ein gemeinsames Erlebnis dazu. Mr. Clavé war der jüngere Bruder von Sophie Craners Pensionsfreundin; er besaß ein hübsches Vermögen und hatte gestern um Evelyns Hand angehalten. Dem Antrage waren viele Besuche in der Villa »Celeste« vorangegangen. Abende mit Chopin und ein wenig Kaminmelancholie, Nachmittage, ganze Nachmittage, mit Tennis, Racket-Flirt und der guten Beleuchtung schräger Sonnenstrahlen, endlich sogar Morgenstunden, auf den Steinen am Wasser, wo es gluckste oder schäumte, wenn Tante Sophie noch ruhen mußte und Evelyn mit einem Buche dort unten saß und auf ihn wartete. Denn sie wartete auf ihn. Die Liebesgeschichte verlief bei ihm nicht anders, als sie in solchen Fällen vor sich zu gehen pflegt. Und Evelyn machte es sehr viel Freude, dies mit anzusehen. Nicht, daß sie ihn ermutigt oder gar mit ihm gespielt hätte. Es tat ihr wohl, sich geliebt zu wissen, und sie zeigte ihm dies mit Behagen. In diesem Behagen ging sie richtig spazieren; sie dehnte sich, bewegte Hände und Füße und freute sich der weichen Luft, die um sie herum war. Alle die Zeichen, die er ihr von seiner Liebe gab, nahm sie mit Lächeln hin, wie Blumen, die er ihr brachte, dankte ihm auch und sagte mehr als einmal, daß dies sonnige Tage seien, die sie glücklich machten. Aber nun hatte er den Fehler begangen, sie heiraten zu wollen. Darauf fand Evelyn nur die Antwort: »Wie schade!« Daß er ihre Blumen unter der Ehe schützendem Glasdache vertrocknen lassen wollte, ernüchterte sie und machte ihr den ganzen Menschen mit einem Male alltäglich. Tante Sophie erfuhr davon und hielt es für nötig, einige ernste Worte mit Evelyn zu reden. Aber eigentlich verstand Tante Sophie sie ganz gut, das wußte Evelyn auch, und schließlich lachten sie beide. »Auf diese Weise bekommst du aber nie einen Mann,« sagte Tante Sophie. »Ich will auch keinen,« behauptete Evelyn. »Und wenn du einmal einen lieb hast?« »Dann möchte ich ihn gerade deshalb nicht heiraten!« Sophie Craner lachte. Evelyns Mund ward zu einem weichen Lächeln. »Sieh mal: Liebe, das ist etwas so Feines; man sollte es gar nicht berühren. So, wie die Farben dort in den Wassertropfen; wenn ich das Wasser in die Hand nehme, ist keine mehr da. Es bleibt nur Wasser übrig; damit kann ich mich zur Not ein bißchen waschen, aber das ist auch alles.« »Vielleicht hast du ihn so lieb, daß du wünschst, immer mit ihm zusammenzusein?« Evelyn sah ein Weilchen vor sich hin. Dann wiegte sie ihr Haar. »Vielleicht! Nun ja, dann werde ich ihn heiraten. Aber ich denke mir, die feinen Farben werden dann verdrängt; satte Farben kommen, die übermorgen nüchtern werden. Es ist traurig, sich nach etwas zu sehnen, was nicht wiederkehren kann.« Tante Sophie neigte den Kopf. »Und dann ...« Evelyns Nase zuckte. Tante Sophie dachte, daß Evelyn vielleicht niemals heiraten würde. Durch Evelyn aber ging eine kleine Wehmut. Wenn Mr. Clavé sie nicht hätte heiraten wollen, wäre vielleicht ... Aber dann lachte sie. Denn das Wasser spritzte bis zu ihr herauf und schimmerte in tausend Farben. XXIII Liebe Julie! Ich wollte Dir schon lange schreiben, seit drei Wochen nehme ich es mir jeden Morgen vor, aber ich bin nie dazu gekommen. Ich bin in der letzten Zeit zu manchem nicht gekommen. Es gibt so viele alte Dinge nachzusehen. Und dann ist der Garten ...! Es dauert so lange, bis man alle Wege gegangen ist. Alle diese Blumen, diese vielen Blumen, die es jetzt gibt. Auf dem Rasenplatz hinten haben wir das eine Beet verändert. Die Rosen wollten nicht mehr weiterkommen. Nun stehen da Begonien. Sehr rote, die den Rasen eigentlich blaß machen. Der große alte Birnbaum, links vom Hause, hat so viele Birnen gehabt wie noch niemals; wir haben ihn stützen müssen. Das sah dann abends so aus, als stünde da jemand. Sehr unheimlich! Ich mußte oft nachts drei- oder viermal wieder aufstehen, um nachzusehen, ob da wirklich niemand war. Schlafen tue ich überhaupt nicht sehr gut. Diese Birnen also: da ist nun niemand, der sie aufißt. Soll ich Dir vielleicht welche schicken? Die jungen Mädchen essen sie vielleicht gern. Abends rumort es jetzt immer furchtbar auf dem Boden. Die Marder haben Junge gekriegt, und das schreit wie kleine Kinder. Die Nächte sind lauter als die Tage. Auf Mamas Grab bin ich auch viel. Die Blumen wachsen nicht ordentlich. Einmal standen da Heliotropen, die wurden dürr; dann setzte ich Verbenen ein; auch die standen nur einen Tag; denn mir fiel ein, daß Mama sie nie hat leiden mögen. Nun habe ich Geranien gepflanzt; das sieht lustig aus, beinahe komisch für einen Kirchhof. Ich gehe alle Tage hinüber und begieße die Blumen. Es scheint ein sehr trockener Herbst zu werden. Wenn nur nicht so viele Menschen da wären. Gesche kocht den ganzen Tag Saft; das tut sie nun schon seit dem Juni, von der Erdbeerenzeit an. Die Katze hat sehr gealtert. Sie liegt den ganzen Tag in der Sonne und surrt. Das sehe ich mir gern an. Evelyn schickte vorgestern eine große Kiste mit Weintrauben. Das sind doch andere Trauben als hier bei uns; sie schmeckten so schön. Es geht ihr sehr gut, und sie bekommt viel zu sehen. Sie lernt auch Menschen kennen. Marianne wird Weihnachten ein kleines Kind bekommen. Ich gehe manchmal zur Nortorf; sie macht so hübsche winzige Sachen für das Kind. Zwischen unsern alten Kindersachen hab’ ich auch gekramt. Da lag noch meine große Wachspuppe. Großmamas Korbsammlung hatte ich auch ganz vergessen. Wie viele Stücke das sind! Diese feingeflochtenen italienischen, und die mit dem seidenen Futter! Ich ordne sie alle nach der Größe. Gestern kam ein Brief von Onkel Wilhelm; er hat viel Interesse für Euch! Er beunruhigt sich etwas über den jungen Mann, mit dem Du in das Museum gehst. Aber ich denke, wenn Du ihn bei Stockmanns kennengelernt hast ...! Kommst Du zu Weihnachten nach Hause? Zum Herbstreinemachen haben wir auch Dein Zimmer wieder in Ordnung gebracht. Wie viele tote Fliegen da waren, auf den Fensterbänken und auf der Diele; es waren mindestens zwei Hände voll. In den Strümpfen, die Du mir schicktest, waren viele Löcher. Das Seidenzeug habe ich gefunden. Es ist schön weich und glänzend. Aber lasse es ja auf Futter arbeiten; es ist sonst ein so unheimlich kaltes Gefühl auf der Haut. Oben lag auch Mutters Brautschleier; er riecht nach Orangenblüten und Spinnen. Ich habe ihn zwischen meine Wäsche gelegt. Übrigens hat es diesen Sommer mehr Spinnen gegeben als jemals. Warum magst Du sie eigentlich nicht leiden? Früher schrieb ich Briefe schneller. Jetzt habe ich beinahe den ganzen Abend dazu gebraucht. Erst hat Teetje mich am Fenster erschreckt. Und dann kam die Sonne noch einmal durch, obgleich es schon längst über ihre Zeit war. Jetzt regnet es. Vor lauter Rauschen kann man nichts hören. Wenn sich irgendwo jemand versteckt hat, hinter dem Wandschirm, hinter der Gardine, unter dem Sofa, draußen vor der Tür, überall kann ja jemand sein! aber man hört nichts vor Rauschen ... Deine getreue Schwester Agnes Elisabeth. XXIV Die neue Sittlichkeit der Ehe, die sich schon zuzeiten träumerisch geregt hat und nun vielleicht beginnt, zum Bewußtsein zu erwachen, braucht Menschen, die sich darauf verstehen, die Seele zu suchen. Natürlich muß man einmal damit aufhören, von den Freuden des Junggesellenlebens und den Pflichten der Ehe in einem Atemzuge zu sprechen. Man muß zu der Einsicht kommen, daß eine Ehe, die nicht mehr bedeutet als den Abschluß toller Jugendstreiche und das Hineintappen in die Behäbigkeit des eigenen Heims, von vornherein mit einer Lüge anfängt. Natürlich muß man sich darüber klar werden, daß die Frau kein Haustier ist und auch kein Spielzeug. Man wird guttun, auch auf den Stolz zu verzichten, mit dem manche sich einer treuen, ein wenig zärtlichen Kameradschaft rühmen. Diese ist nur ein Übergang. Mann und Frau sollen endlich einmal Ehrfurcht voreinander fühlen, ein scheues und doch inniges Verlangen nach des anderen Seele. Dazu ist freilich nötig, daß ein jedes erst die eigene Seele findet. Man findet sie nicht, wo heute Menschen ihr Innerstes zu finden glauben. In die Tiefe muß man hinabsteigen, muß lauschen, ob aus den Abgründen die Stimme der Seele ruft. Wir müssen auf Entdeckung ausgehen und dürfen keine Mühe scheuen. Ein wenig Mut ist vonnöten, und die Bürde der Begriffe wird man lieber oben lassen. Nur wer sich selbst gefunden hat, darf hoffen, auch des anderen Seele zu finden. Denn nur dann versteht sich einer auf das Suchen. Eines solchen Mannes Sehnsucht wird sein, der Geliebten immer nur das Beste seines Wesens zu geben. Eine solche Frau wird dem Geliebten nicht nur die Mutter seines Kindes, sondern die Ergänzung seines Wesens sein, die seine Kraft zum Leben bringt. Solche tiefe, im letzten nur geahnte Verbindung zweier Wesen ist die Wurzel der neuen Sittlichkeit. Sie verachtet die Gedankenlosigkeit, mit der heute Menschenseelen in Ehen zertreten werden, sie lehrt eine Nächstenliebe, die Ehrfurcht heißt. Sie hält die Seele des Menschen für wertvoller als Geist oder Körper, sie wendet sich gegen jede Vergewaltigung, die man heute noch gute Sitte zu nennen wagt. Sie gibt keine Zwangsgesetze: mögen die einen in einer Ehe leben, die sich äußerlich von der heutigen nicht unterscheidet; mögen die anderen, die um die zarte Blume ihrer Liebe Sorge tragen und den Frost des Alltags fürchten, wieder auseinandergehen. Sie kennt nur ein Gesetz: sich selbst und seine Liebe heilighalten. * * * * * So waren Peter Owens Anschauungen über die Ehe, und so war seine Liebe zu Julie. Er war von Beruf Maler und traf Julie im Hause des Professors Stockmann, bei dem er auf Grund einer Familienempfehlung -- seine Tante hatte den Generalsuperintendenten gekannt -- verkehrte. In der abgestandenen Atmosphäre des Stockmannschen Hauses hatte es nur weniger Worte bedurft, um beide fühlen zu lassen, daß etwas Gemeinsames sie verband. Bei einem Gespräche, in dem der Professor erklärt hatte, die moderne Kunst liege im argen, und Julie sich vergeblich mühte, die Kunst gegen den Angriff des Doktors Johannes zu verteidigen, hatte Peter Owen schweigend in seiner Ecke gesessen, und erst als der Professor dem Streite mit geringschätziger Milde ein Ende machte, hatte er gesagt: »Wir werden trotzdem weitermalen!« Diese Worte waren soviel wie ein Handschlag, und Julie war ihm dankbar, daß er nicht Partei ergriffen hatte. Nach einiger Zeit hatten sie sich in einer Kunstausstellung wiedergesehen. Natürlich hatten sie von Heide und Moor gesprochen. Und dann waren sie auf ihre Heimat gekommen. Da hatte sie von dem Sonnenschimmer ihres Hauses erzählt und er von der ernsten Herbheit Jütlands. Und das Gefühl der Zusammengehörigkeit war bewußter geworden. Als sie sich trennten, hatte er versprochen, ihr Bücher zu schicken, und die waren am nächsten Tage bei ihr abgegeben worden. Als Julie sie sah, hatte sie die Empfindung seines Blicks, seiner kühlen graublauen Augen. Peter Owen war an demselben Tage abgereist. -- Er erfuhr während der nächsten Wochen, daß er Julie liebte, und als er Anfang Dezember zurückkehrte, geschah es, weil er nicht anders konnte. Julie hatte seine Bücher gelesen und hatte auf ihn gewartet, mit einer festlichen Freude. Doch als sie wochenlang nichts von ihm hörte, wurde sie traurig, und eines Tages dachte sie über den Grund dieser Traurigkeit nach. Es schien ihr plötzlich ein weites Stück Wegs, bis sie mit ihrem ganzen Empfinden in diese Traurigkeit hineinkam. Wie hatte sie nur so lange nicht nachsehen können! Das war ihr fremd an ihr selbst. Aber diese Traurigkeit war so weich, die Farben waren dunkel und seidentief, mit einem Unterton von Gold; man konnte sich hinlegen und weinen und weinen. Aber schien sich da nicht doch ein Lachen zu verstecken, ein sonnenstrahlendes Lachen? Sie probierte dieses Lachen, und sie lachte in der seidentiefen Farbe ihrer Traurigkeit. Da freilich schwindelte ihr; es begann ein Zittern, dann kam ein Drehen und Wirbeln, -- es tollte vor ihren Augen, bis sie nicht mehr wußte, wo sie war, und mit den Händen in die Luft griff, sich festzuhalten. Als sie die Augen wieder aufschlug, fand sie sich hoch oben in kühler Luft und fühlte nichts anderes als diese Luft zwischen den Lippen, und daß ihre Hand etwas umspannte. Es war nur eins von seinen Büchern, woran sie sich klammerte, aber da wußte sie, daß sie Peter Owen liebte. Nach einigen Tagen traf sie ihn, nachmittags, als schon Dämmerung in den Straßen lag. Er ging auf der anderen Seite und wurde ihrer nicht gewahr. Julie zögerte keinen Augenblick, sie ging hinüber und begrüßte ihn. »Wie gut, daß Sie endlich da sind!« Er sah sie einen Augenblick fest an. »Ja, ich glaube auch; es ist gut!« Und dann gingen sie schweigend. Die Menschen strichen an ihnen vorüber wie Schatten, der Lärm quoll aus den Straßen wie aus Fernen, die ihr Schweigen nur tieften. Ganz sicher gingen sie, als wäre es nie anders gewesen. Aber sie sprachen kein Wort. Nur Julie lachte. Sie mußte lachen. Und Peter Owen sah sie an und verstand sie. Bis sie oben an seinem Atelier waren. Vor einem Bilde stand sie. Die letzten Lichter des Abends griffen nach ihr, und sie hielt stille. Eine gespannte Klarheit war in ihrem Empfinden. Sie fühlte alles, was um sie herum in halber Dunkelheit träumte: die Bronze drüben in der Ecke, die Staffelei, den niedrigen Tisch; sie fühlte, daß Peter Owen am Fenster stand, und daß viele Schritte zwischen ihnen lagen. Aber noch etwas anderes war in ihr, etwas Sicheres, etwas, von dem sie, ohne zu fragen, wußte, daß es kommen mußte, so gewiß, als hätte sie darum gearbeitet, und dieses sei nun das Ziel. Und dann kam sie sich auch so zu Hause vor. Peter Owen wartete. Er lehnte am Fenster und sah zu ihr hinüber. Gedanken kamen und gingen. Dann blieb nur der eine, daß sie da war. Eine Erinnerung an seine Mutter streifte ihn. Dann war plötzlich eine Kindersehnsucht da: wenn der Mantel der Dämmerung über die Felder schleppte, wenn sachte die Sterne kamen, dann hatte er seine Hände oft voll Sehnsucht ausgestreckt ... Er trat leise zu ihr und küßte sie. XXV Sie waren täglich beisammen. Sie nahmen die Tage mit Lächeln und gaben einander, soviel sie nur geben konnten. Zuerst war es seine Kunst, die sie mit leisem Finger berührte. Und Farben kamen, die er noch nicht gekannt hatte. Man machte seinen Bildern den Vorwurf, sie seien zu blaß. Diese Blässe war auch vorhanden, als der Ausdruck eines allzu feinen Farbenempfindens. Es wurde anders. Julie hatte gewiß die Augen für seine Töne, aber sie brachte ihn dahin, die brausende Musik satter Farben zu lieben. Erfuhren sie hierbei, wie ihrer beider Empfinden sich ergänzte, so bemerkten sie an Büchern, über die sie sprachen, an Erlebnissen und Gedanken, die sie einander erzählten, manche Ähnlichkeit ihrer Anschauungen. Bei ihm waren sie fest, kühl leuchtend, bei ihr alles ein wenig weicher. So schritten sie durch neues Land und fanden Schönheiten. Sie waren im Irrtum, wenn sie glaubten, daß sie sich ihren Weg selbständig suchten. Ihre Liebe ging ihnen voraus, sie folgten nur, träumend, ohne die Augen aufzuschlagen. -- Manchmal glaubten sie zu wissen, daß es ein Ziel gab; aber wenn sie daran dachten, waren sie froh, in einer Wirklichkeit zu sein, die noch weit davon entfernt war. Sie kam nicht jeden Tag zu ihm; aber wenn sie kam, war es meist am dämmernden Nachmittag. Sie liebte es, an seinem geräumigen Backsteinkamin zu sitzen und zuzusehen, wie er den Tee machte. Es hatte ihn belustigt, daß sie niemals auf den Gedanken gekommen war, es ihm abzunehmen. Es gab viele Dinge an ihr, über die er sich wunderte. Man wußte niemals, was sie tun oder sagen würde. So konnte sie ungeniert sein, daß er sich oft wunderte. War ihr eine Haarnadel in den Halsausschnitt des Kleides gefallen, so konnte sie ruhig lächelnd hinunterfassen, um sie wieder heraufzuholen. Sie sprach mit ihm über alles, über Dinge, die sie vielleicht nackt vor ihm auszogen. Er meinte, ihre Haut berühren zu können. Aber die Art, ~wie~ sie sprach, ließ ihn dann nur etwas Kühles an seinen Händen fühlen; nie, daß eine zitternde Schwüle über ihn gekommen wäre. Dabei war sie weiblich, oft sogar frauenhaft. Und immer war sie neu, immer eine andere. Nun war auch ~er~ gezwungen, sich zu geben, wie er war. »Sag’ mir, Julie,« fragte er sie einmal, »warum machst du ein so seltsames Gesicht, wenn ich dich küsse? -- Ich tue es doch, weil ich dich liebhabe!« »Glaubst du, ich hätte dich nicht lieb? -- Ich habe dich lieb, mit aller Hoffnung, mit allem! Aber siehst du, da ist etwas zwischen dir und mir, etwas Feines, Gläsernes, das mich ganz von dir trennt, wodurch ich dich aber so gut sehen kann, alles an dir sehen kann, jede Linie. Das gehört zu mir! So etwas war immer bei mir. Aber sieh, wenn ich dich küsse, muß ich ohne dies kommen. Und dann bin ich nicht mehr ich selbst! Ich bin jetzt so glücklich. -- Ich will jetzt nichts anderes!« »Wenn du einmal etwas anderes willst, Julie, wirst du es mir dann sagen?« »Oh, das wirst du schon merken!« -- Sie lachte. »Und wenn ich einmal mehr will, als ich jetzt habe ...« Diese Dinge waren es, vor denen Peter Owen haltmachte. So sehr er sich anstrengte, konnte er sich doch nicht darüber klar werden, ob sie die Gedanken, von denen zu sprechen sie nie müde wurde, auch in die Wirklichkeit ihres Lebens hineintragen würde. »Du mußt Kinder furchtbar gern haben!« sagte sie einmal. »Diese Jungens!« Sie hielt eine Lithographie an ihre kurzsichtigen Augen. »Wie wundervoll muß es sein, Kinder zu haben!« »Meinst du?« -- Er wußte in diesem Augenblick nicht, was für ein Gesicht er machte. Sie sah ihn ruhig an und entwickelte ihm ganz genau, wie sie ihre Kinder erziehen würde. Er liebte es übrigens, daß sie kurzsichtig war. Wenn sie zusammen spazierengingen, stützte er sie bei jedem Straßenübergang. Dann war sie von ihm abhängig. Dieses Gefühl hatte er selten bei ihr. Er liebte es, wenn ihre Hände auf dem Tisch herumtasteten und nach einem Gegenstande suchten. Dann war sie ganz hilflos, so daß er die Empfindung hatte, sie würde ihn nie verlassen können. »Ich habe noch nie dein Schlafzimmer gesehen,« sagte Julie eines Tages. »Komm, ich will es gern sehen!« Er schlug den Vorhang zurück und ließ sie eintreten. »Das ist hübsch!« sagte sie und atmete erleichtert auf. Er sah von der Tür aus, wie kindlich ihre Linien sich auf dem blassen Winterhimmel zeichneten. »Weißt du eigentlich, wie hübsch du bist, Julie?« »So genau, wie du es von dir weißt!« Sie drehte sich um, und zwischen ihren Lippen kam ein ganz klein wenig eine unartige Kinderzunge heraus. »Peter ...!« »Und dieses ist dein Bett!?« Sie schlug die Decke ein bißchen zurück und legte ihren Kopf leise auf sein Kissen. Er stand in der Tür und rührte sich nicht. »Komm, Peter! Lege einmal deinen Kopf hier neben mich!« Er kam. Als sein Kopf neben dem ihren lag, war es ganz still in ihm. Sie wußten nicht, wie lange sie so gelegen hatten. Da kam Julie mit einem weichen kleinen Lachen in die Höhe. »Siehst du, wenn du heute nacht hier liegst, wirst du denken, daß ich ebenso wie jetzt bei dir bin. Dann mußt du sogar deine Arme ganz fest um mich legen!« Sie strich noch einmal mit der Hand über das Kissen; dann gingen sie hinüber. * * * * * Es war Schnee gefallen, und Julie ging mit Peter Owen durch den Tiergarten. Er erzählte ihr vom Winter zu Hause, von seiner Mutter, von seinen alten Träumen. Aber Julie war heute Freude, nur Freude. Sie freute sich, daß der Schnee unter ihren Füßen knirschte, daß Peter neben ihr ging, daß sie jung war, und daß es Entsetzen geben würde, wenn Stockmanns sie mit ihm zusammen sähen. Sie war ganz Freude; der Sinn seiner Worte glitt an ihr vorüber, aber der stille Klang kam zu ihr hinein, zu allem Jubelnden, das in ihr war, und schuf einen Unterton von Wehmut, der Glück nur um so inniger macht. Alles, was an Empfindung in ihr war, streckte sich aus, alle Sehnsucht kam, nach Schönheiten zu suchen, sie war mitten im Leben und ~wollte~ leben! Dann waren sie oben bei ihm. »O Peter, wie glücklich ich bin!« sagte sie. »Du machst mich so glücklich!« »Julie ...!« War es so weit, daß er fragen konnte? Sie besann sich eine Weile. Dann ging sie zu ihm. Es war nur von einer Ecke des Zimmers bis zur anderen, und das Zimmer war nicht groß. Aber es war ihr, als ginge sie einen langen Weg, als ginge sie durch Säle, schimmernde Säle, die sie nicht kannte, und die doch immer da gewesen sein mußten und nur auf sie gewartet hatten. Als sie endlich bei ihm war, tat sie die Hände auf seiner Brust zusammen und gab sich ganz in seine Arme. Nun war das andere da. Und es brachte schon einen Schimmer von dem Lichte jener Stunde, in der sie ihm ganz gehören würde. XXVI Kurz vor Weihnachten erhielt Julie einen Brief von Professor Stockmann. Darin stand, er wolle sie gern in einer wichtigen Angelegenheit sprechen, ob sie noch vor dem Fest zu ihm kommen könne. Dann folgten noch ein paar geheimnisvolle Andeutungen, von der rechten Weihnachtsfreude, die auch in ihr Herz Einzug halten möge, daß wir in dieser begnadeten Zeit recht daran denken sollten, unseren Mitmenschen Liebe zu erweisen und deren Liebe in der rechten Demut hinzunehmen ... Es war der 23. Dezember, ein kalter Tag mit klarer, starrer Luft, und Julie ging nun zu ihm. Gemächlich schritt sie zwischen den Tannenbäumen hindurch, die überall auf der breiten Straße standen. Sie dachte nicht darüber nach, was der Professor von ihr wolle, ihre Gedanken waren bei Agnes Elisabeth. Es tat ihr mit einem Male leid, daß Agnes Elisabeth Weihnachten ganz allein sein würde. Wie gut, daß sie wenigstens Zeit zu einem langen Brief gefunden und ihr das Bild und die Bücher geschickt hatte. Einen Augenblick stiegen Zweifel in ihr auf, ob sie nicht doch nach Hause fahren oder ihr wenigstens offen den Grund ihres Hierbleibens hätte sagen sollen. Aber ... Plötzlich hörte sie ihren Namen nennen. Sie blickte auf. Heinrich Craner stand vor ihr, neben sich eine elegante junge Dame. Schade, daß die Farbe des Kostüms nicht zu dem Blau des Hutes paßte, stellte Julie fest. »Ah, so fleißig, daß Sie selbst Weihnachten nicht nach Hause fahren? Darf ich Ihnen meine Braut vorstellen?« Fräulein Grünhagen reichte Julie liebenswürdig die Hand. Julie redete frisch mit den beiden. Es interessierte sie, einmal einem dieser Wesen gegenüberzustehen, die es fertigbringen, sich mit Spitzen, Chiffongewuschel, goldenen Täschchen und sonstigem Gebaumel zu behängen. Ob er nun wieder nach Südafrika gehe? Er wüßte es noch nicht. Jedenfalls solle im Mai die Hochzeit sein. Danach wollten sie nach Norwegen reisen. Um diese Zeit könne man anderswohin ja nicht gehen. Vielleicht bliebe er dann auch hier; man hätte ihm eine Stellung angeboten. Freilich die Unabhängigkeit dort unten ...! Julie lächelte. Fräulein Grünhagen schien für Afrika keine Neigung zu haben. »Ich weiß nicht, ob meine Gesundheit das Klima verträgt; Professor Stengel meint ... Und dann: ohne jede Anregung, ohne Theater, Konzerte ...« Julie dachte, wie oft Heinrich Craner wohl darüber geklagt haben mochte. Bei der Gedächtniskirche trennten sie sich. »Ich würde mich freuen, Sie einmal bei meinen Eltern zu sehen!« Fräulein Grünhagen hob ihr Kleid auf und nickte Julie freundlich zu. Julie bog in die Rankestraße ein. Ob Agnes Elisabeth ihn wirklich einmal liebgehabt hat? dachte sie. Nun kam sie zu Stockmanns. Martha begrüßte sie im Korridor. »Wie lange waren Sie nicht bei uns, Julie!« sagte sie mit einem ängstlichen Blick. »Vater ist in seinem Studierzimmer. Er wartet schon den ganzen Tag auf Sie! Hoffentlich kam Ihnen sein Brief nicht ungelegen!« Julie war überrascht. Hatte Martha sich vielleicht verlobt? Sie war so weich, nahm ihr Hut und Jacke so zärtlich ab, sah sie ein paarmal verstohlen an ... Martha öffnete ihr die Tür zu des Professors Zimmer und ließ sie allein eintreten. Hier war eine trockene Luft, die nach Plüsch und kalter Zigarrenasche roch. Der Professor saß am Schreibtisch. Eigentlich ist sein Kopf beinahe schön, dachte Julie und freute sich der scharfen Profillinie, die im Fensterrahmen stand. Sie nahm sich vor, sehr freundlich zu ihm zu sein. Er stand auf und drückte ihr die Hand. »Wie schön, daß Sie doch noch kommen! Machen Sie sich’s gemütlich!« Er schob ihr einen Sessel zu. Julie setzte sich. Sie hatte eine peinliche Erinnerung an ihren Konfirmationstag; ob diese aus der feierlichen Erwartung kam oder von dem Rosa der Alpenveilchen hinter den gelblichen Stores, wußte sie nicht. Der Professor räusperte sich. »Mein liebes Fräulein Julie!« begann er. »Ich habe es mir reiflich überlegt, ehe ich Sie bat, zu mir zu kommen. Ich weiß, daß in einem Falle, wie dem vorliegenden, am besten Frau zu Frau redet. Die meine ist ja nun leider schon seit vielen Jahren heimgegangen, und Ihre liebe Tante ...« Julie durchfuhren mit einem Male allerhand wirre Gedanken: Marianne, die ihr Kind erwartete, Agnes Elisabeth, die so seltsam geschrieben hatte ... Oder sollte man von Peter Owen und ihr wissen? »Ihre liebe Tante, die ihrer angegriffenen Gesundheit wegen im Süden weilt, wollte ich durch einen langen Brief nicht aufregen. Als Freund Ihres seligen Vaters und auch als Ihr väterlicher Freund glaube ich eine gewisse Berechtigung zu haben ...« »Aber, Herr Professor, was ist denn geschehen?« fragte sie ungeduldig. »Ich will mich kurz fassen.« Er räusperte sich von neuem. »Mein Sohn kam vor einigen Tagen zu mir, um mir ein Geständnis zu machen.« Er stockte einen Augenblick und hätte sich gern an Julies Erstaunen geweidet. »Das Geständnis seiner Liebe zu Ihnen, meine liebe Julie!« fuhr er bedeutungsvoll fort. Sie hielt die Augen gesenkt. »Es hat mich innig gefreut, daß nun auch mein Sohn, der so still und treu nur seiner Arbeit gelebt hat, die Liebe kennenlernt. Gerade zu dieser heiligen Advents- und Weihnachtszeit. Diese Liebe, die erst durch das Christentum in die Welt gekommen ist, die durch die christliche Ehe zu einer veredelnden Gemeinschaft wird. Nun hat der Herr sie Ihnen beiden zum Christgeschenk machen wollen!« »Uns ...?« »J--ja, -- ja, -- ja! Zum lieben Weihnachtsfest ist es ja besonders die Aufgabe der Frau, zu beglücken und Liebe zu spenden. Diesmal hat der Herr gerade Ihnen die Freude machen wollen, daß Sie einem Menschen Ihre ganze Liebe geben dürfen!« »Aber, Herr Professor ...« »Gewiß, ich verstehe, Sie wundern sich, daß mein Johannes Ihnen dies alles nicht selbst sagt. Er dachte, es würde Ihnen zu plötzlich kommen, zu unerwartet. Sie werden ihm für dieses Zartgefühl gewiß nur dankbar sein.« Der Professor stand auf und blieb vor ihr stehen. »Ich weiß ja, Ihre Anschauungen haben sich noch nicht zu der Klarheit durchgerungen, deren wir für das Leben bedürfen. Noch bauen Sie zu sehr auf eigene Kraft, meine liebe Julie! Darum schickt der Herr Ihnen eine treue Hand, an der Sie sich festhalten sollen, um gemeinsam den Weg zum himmlischen Vaterhause zu suchen. Nicht wahr, Sie werden diese Hand mit Freude und Demut ergreifen? Meine liebe Julie, darf ich ihm die Antwort bringen, daß Sie die Seine werden wollen?« Der schwarze Rock kam näher und näher auf sie zu ... Sie konnte keine Worte finden. »Herr Professor, es tut ... Es tut mir ... So leid tut es mir ... Aber ich habe ihn nicht lieb! Nein, ich habe ihn ~gewiß~ nicht lieb!« »Ich begreife, es kommt Ihnen zu überraschend! Sie sagen, Sie haben ihn nicht lieb ...« Julie schüttelte heftig den Kopf. Ein Gefühl von Widerwillen schlug plötzlich über ihr zusammen. Die stickige Luft, die rosa Blumen, seine wohlmeinend überlegene Stimme verursachten ihr Unbehagen. »Sie sagen, Sie haben ihn nicht lieb?! Die Liebe wird kommen, mein Kind, wenn Sie nur in Demut darauf warten!« Seine Güte begann gereizt zu werden. »Bei andern mag das sein. Von mir aber weiß ich genau, daß ich ihn niemals liebhaben werde.« Er machte noch einen Versuch. »Bedenken Sie, was Sie von sich weisen! Sie stehen allein in der Welt. So, wie Sie sind, wie Sie alles Freie, Moderne lieben, liegt die Gefahr nahe, daß Sie sich verlieren und vom rechten Wege abkommen. Sie kennen das Leben nicht! Sie wissen nicht, was Sie jetzt ausschlagen! Sie brauchen eine Stütze, und Johannes möchte Ihnen diese Stütze sein. Er würde Ihnen ...« Julie stand auf. »Ich liebe ihn nicht, und ich weiß, daß auch nicht das geringste Verstehen zwischen uns ist!« Nun wurde er ängstlich um seine Mission. »Nein, so dürfen Sie nicht gehen! Johannes muß selbst ...« »Bitte, Herr Professor! Er kann nichts daran ändern. Ich danke Ihnen, daß Sie es gut mit mir gemeint haben!« Damit war sie aus der Tür. Sie hörte noch, daß der Professor ihr folgte, aber er ging ins Zimmer nebenan. Julie fuhr in ihre Jacke, setzte den Hut auf, fand irgendwo ihre Handschuhe und riß den Schirm aus dem Ständer. Schon kam des Professors Stimme der Tür wieder ganz nahe, auch Johannes schien zu sprechen. Sie riß die Tür auf und flog die Treppe hinunter. Hinter ihr wurden Schritte hörbar, Johannes, der etwas Heftiges sagte ... Nun war sie draußen. Sie ging schnell. Die Menschen bogen ihr aus, so schnell ging sie. Plötzlich fing sie mitten auf der Straße zu weinen an. Wie konnte man so allein sein! So ganz verlassen! Es kam ihr vor, als ob alles, was sie sich an Anschauungen erkämpft hatte, sie im Stich ließe, als ob ihre innere Unabhängigkeit ein Traum sei, der der Wirklichkeit nicht standgehalten hätte. Sie suchte nach Gedanken, an die sie sich hätte klammern können; aber woran sie auch dachte, alles war gleichgültig, alles erfüllte sie mit Widerwillen. Was sie umgab, erschien ihr häßlich; die Straße war schmutzig, die Schaufenster aufdringlich erleuchtet, die Menschen rücksichtslos, der Himmel ein grauer Dunst. Ein kahles Gefühl von Heimatlosigkeit, ein Frost, der gleichsam von innen kam, das war alles, was sie empfand. Einer wäre dagewesen, der hätte ihr helfen können. Manche lassen sich auch helfen und werfen ihren Kummer weg. Das aber konnte Julie nicht. Es war ihr unmöglich, Peter Owen auch nur mit einem Wunsche zu streifen. So kam sie nach Hause. Auf dem Korridor tobte Weihnachtsferientrubel. Thea Allenbach, kokett angezogen, lief mit einer Reisetasche und zwei Pappschachteln hin und her, die Liecke band sich vor dem Spiegel ihren Schleier um, und nun erschien auch Fräulein Meusel. Sie war in gehobener Stimmung, denn sie freute sich auf ein paar ruhige Tage. Den Tee könnten sie doch noch zusammen trinken, bis zu ihrem Zuge hätten sie noch Zeit genug! »Gott, meine Theosophie habe ich vergessen,« schrie Thea. »Wo sind nur wieder meine Gummischuhe!« beklagte sich die Liecke. »Sie kommen doch auch, Fräulein Hellwege?« fragte Fräulein Meusel. »Wir haben unsern kleinen Baum schon angesteckt.« Aber Julie wollte nicht. Nein, das konnte sie nicht. »Verzeihen Sie, Fräulein Meusel, ich habe solches Kopfweh!« »Ja, ja, mit der Liebe!« kam es aus der Ecke, wo die Gummischuhe gesucht wurden. »Na adieu, fröhliches Fest!« rief Thea. »Danke schön! Viel Vergnügen zu Hause,« entgegnete Julie und ging in ihr Zimmer. »Grüßen Sie Ihren blonden Freund von mir,« kam es hinter ihr her. Im Zimmer war es dunkel. Nur an der Decke blinzelten die Lichter der Straße. Ihre Hand streifte einen Stuhl, sie stieß ihn heftig zurück. Was war denn geschehen? Sie wollte doch gewiß nichts Absonderliches vom Leben, nichts Außergewöhnliches. Sie wußte doch, daß Heiraten so vor sich ging, daß der Antrag kam und alles Weitere sich mit geschäftsmäßiger Feierlichkeit abspielte. Unter anderen Bedingungen, meinte sie, hätte ihr dies alles auch nicht weh getan. Aber, daß es so gekommen war! Daß dieser alte Mann, den sie geachtet hatte, sie mit seinem Sohne zusammenbringen wollte, ganz gleich, ob sie ihn liebte oder nicht, daß er sich ihr Alleinstehen in der Welt zunutze machte, sich ihrer Schwachheit und Zaghaftigkeit bedienen wollte, um sie zu dieser Ehe zu überreden, das traf sie. Nicht nur ihren Stolz. Oh, demütigend war es wohl, aber es kam ihr auch unsittlich vor. Ihr Schamgefühl litt. Sie war oft bei Stockmanns gewesen und hatte sich mit Johannes beinahe freundschaftlich gestanden. Vieles an ihm gefiel ihr; erst neulich hatte er ihr gesagt, er wolle bei dem Vater wohnen bleiben, er fühle sich innerlich dazu verpflichtet; das hatte sie für ihn eingenommen. Mit dem Professor hatte es zwar immer erregte Auseinandersetzungen gegeben; aber Achtung vor seinen Anschauungen war stets in ihren Worten gewesen. Sie hatte von diesen Menschen lernen wollen und hatte auch nach dem ersten mißlungenen Versuche nicht die Mühe gescheut, es wieder und nochmals zu tun. Hatten Stockmanns nicht einmal so viel von ihr kennengelernt, daß sie sich einen Begriff davon hätten machen können, wie sie über die Ehe dächte. Ohne Liebe ...! Lange saß Julie und grübelte darüber, wie dieses hatte kommen können. Es mußte schon spät sein, als sie durch ein Klopfen aufgeschreckt wurde. Das Mädchen kam; dieser Brief sei abgegeben worden. Ob sie die Lampe bringen solle? -- Ja, wenn sie so freundlich sein wolle. Julie nahm den Brief, und jetzt zum ersten Male dachte sie an Peter Owen. Ja, o ja! Sie konnte es kaum erwarten, daß Licht käme. Sie streichelte den Brief, riß ihn auf und ging ans Fenster; vielleicht könnte sie ihn bei dem Lichte der Laternen lesen. Aber es war nichts zu erkennen. Endlich kam die Lampe. Sie setzte sich an den Tisch und nahm den Bogen vor die Augen. »Mein sehr verehrtes, gnädiges Fräulein!« las sie. Sie drehte das Blatt heftig um. »Johannes Stockmann!« -- Einen Augenblick dachte sie daran, den Brief zu einem Knäuel zu ballen; den wollte sie auf die Straße werfen oder ins Feuer oder in den Papierkorb. Doch dann hob sie müde die Hände und las: »Mein Vater hat mir soeben das Ergebnis seiner Unterredung mit Ihnen mitgeteilt. Ich bin dadurch schmerzlicher betroffen, als Sie wahrscheinlich ahnen werden. Wenn ich mit diesen Zeilen nochmals zu Ihnen komme, so geschieht es nicht in der Hoffnung, doch noch eine günstige Antwort auf meine Frage von Ihnen zu erlangen, sondern um ein Mißverständnis aufzuklären, das mich Ihnen in einem falschen Lichte hat erscheinen lassen. Als ich meinem Vater mitteilte, daß ich Sie um Ihre Hand bitten wolle, stand er meiner Bitte um seine Einwilligung nicht so freundlich gegenüber. Er äußerte Bedenken, die sich insonderheit auf Ihre freieren Anschauungen bezogen. Es gab eine lebhafte Auseinandersetzung, aus der ich schließlich nur dadurch als Sieger hervorging, daß ich meinem Vater sagte, Sie würden, wenn Sie erst meine Frau wären, unter seinem und meinem Einfluß gewiß wieder auf den rechten Weg kommen. Dieses Argument leuchtete ihm ein. Er wollte sich jedoch nicht nehmen lassen, selbst als erster mit Ihnen darüber zu reden. Weil ich hoffte, daß Sie für seine väterliche Sorgfalt das rechte Verständnis haben würden, fügte ich mich. Ich will Ihnen offen alles sagen. Daß ich Sie sehr lieb habe, brauche ich nicht zu betonen; Sie werden aus den Zugeständnissen, die ich meinem Vater gemacht habe, um seine Einwilligung zu erlangen, erkennen, ~wie~ lieb ich Sie haben muß. Aber noch etwas anderes muß ich Ihnen sagen. Gerade durch Sie hoffte ich mich von den drückenden Fesseln frei zu machen. Mit Ihnen wollte ich ein neues Leben anfangen. Sie sollten es mich lehren. Das war die sehnende Hoffnung, die ich auf Sie setzte, die große Lebensfrage, die Sie entscheiden sollten. Nun haben Sie anders beschlossen. Ich werde lernen müssen, mich damit abzufinden. Aber Sie sollen später nicht an mich zurückdenken als an einen, der den Kampf nicht wagen wollte. Deshalb habe ich Ihnen diese Zeilen geschrieben. Sie werden mir wohl nichts zu antworten haben; jedenfalls wissen Sie nun alles. Ihr Johannes Stockmann.« Julie legte den Brief aus der Hand. Aber plötzlich zerriß sie den Brief und krampfte die Hände ineinander. Dann sank sie auf die weiße Decke ihres Bettes und schluchzte. Sie sehnte sich nach Peter. XXVII Sie sehnte sich nach Peter, die ganze Nacht hindurch, bis der Morgen kam. Da wußte sie, daß sie zu ihm gehen mußte. Mit einem Male war dieser Gedanke da. Und er veränderte alles. Bei Peter war sie schon oft gewesen, daran war nichts Neues, jetzt aber schien es ihr doch ganz anders. Als geschehe es heute zum ersten Male mit Bewußtsein, mit einem Empfinden, das bisher geträumt hatte, heute aber jede Schönheit tausendfältig nehmen würde, mit allem Jubel ihres Glückes. Wie eine Kinder-Weihnachtsfreude wartete es in ihr. Sie kam sich vor wie eine, die am Vormittag, als die Mutter aus der Weihnachtsstube kam, scheu und sehnsüchtig durch die halboffene Tür hineingeblickt hatte. Da stand der Baum, groß und dunkel, und auf dem Tisch lagen viele Dinge. So seltsam sah das alles aus, als ob es schliefe. Aber sie wußte, daß es am Abend anders sein würde. Ein Glanz, der durch die Tür bräche, Wogen von Licht, die aus einer leuchtenden Mitte herniederfluteten und das Zimmer bis in seine dunkelsten Ecken füllten, unzählige Lichtpünktchen, die sich leise wiegten oder strahlend stillestünden. Noch immer war es Vormittag. Stunden müßten gehen, bis es dunkel würde. Sie saß am Fenster, hatte ihre Uhr vor sich hingelegt und sah auf die Straße. Oder in den Himmel oder ins Zimmer zurück. Der Zeiger rückte so langsam. Zwei Pakete wurden für sie gebracht, Weihnachtspakete. Das eine kam von Evelyn. Nelken und Veilchen waren darin, ein Duft von stillen Gärten und blauem Himmel. Lange saß Julie davor. Dann öffnete sie das andere Paket. Eine rote Juchten-Schreibmappe von Marianne, feine Taschentücher und eine Bernsteinkette von Agnes Elisabeth. Sie legte es beiseite. Eigentlich berührte sie dies alles nur wenig. Kaum, daß sie sich über den Bernstein freute, den sie sich früher einmal so gewünscht hatte! Sie dachte an die Schwestern; aber sie machte sich nicht die Mühe, sich vorzustellen, wo sie heute abend sein würden. So weit von ihr waren sie, der räumliche Abstand erschien klein gegen die graue Strecke innerer Entferntheit. Wieder sah sie auf die Straße oder in den Himmel oder ins Zimmer zurück. Die Zeit wollte nichts von Eile wissen, trödelte eine Viertelstunde, schlürfte weiter, schien ganze Minuten lang stillzustehen und kam mühselig zum Mittag. Die Blumen dufteten stärker, ein blasser Fleck auf der Fensterbank erzählte ein wenig von Sonne. Langsam ging es in den Nachmittag hinein. Als die Schatten in den Ecken zu flüstern begannen, wurde aus der Freude ein Bangen. Ganz unbestimmt war es, wußte nicht, was es eigentlich wollte. Sie schloß die Augen, ihre Hände fielen in den Schoß. Ein weiches Flimmern ging durch ihren Körper, ein laues Gefühl, unter dem sie stillhielt und kein Glied rühren mochte. Dergleichen kannte Julie noch nicht; sie wäre zu andern Zeiten darüber erschrocken gewesen, hätte nicht eher geruht, als bis sie gefunden hätte, woher es käme. Aber auch ihre Empfindungen lagen mit halbgeschlossenen Augen unter einem Schleier verhängten Lichts. Eine lange Zeit verging. Es war dunkel, als Julie aufschrak. Oben an der Decke blinzelten wieder die Laternenlichter, gerade wie gestern abend, und sie kam sich vor, als sei es noch gestern und sie habe diesen Tag nur geträumt. Sie sah nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten vor sechs. Da sprang sie auf. Um fünf Uhr hatte sie bei ihm sein wollen. Er wartete schon. Sie mußte eilen. Hut und Jacke, einen großen Strauß von Evelyns Veilchen, -- und fort war sie. Draußen auf der Straße begann es schon weihnachtsstill zu werden. Große Flocken segelten herunter und zergingen auf den Steinen. Die Luft war, als ob es tauen wollte. Julie ging schnell. Nach kaum zehn Minuten stand sie vor seinem Hause. Sie wollte eintreten, aber plötzlich kehrte sie um und ging weiter. Als ob sie Angst hätte! Sie ging die Straße zu Ende, bog in die nächste Seitenstraße, lief immer weiter, wie im Traum, und konnte ihr banges Gefühl nicht los werden. Fast eine Stunde irrte sie so umher und wußte kaum noch, wo sie war. Überall sah sie jetzt Christbäume glänzen, hörte auch hier und da ein Weihnachtslied und kam sich wie das arme Kind vor, von dem sie bei Stockmanns einmal in einem Traktätchen gelesen hatte. Und plötzlich war eine Sehnsucht da, dieselbe Sehnsucht nach Lichtern und Weihnachtsduft, wie bei dem armen Kinde, und dann kam eine andere, die sie wohl kannte, seit gestern abend. Da wollte sie umkehren. Aber die Straße, in der sie war, erschien ihr mit einem Male bekannt, und plötzlich sah sie sich wieder vor seinem Hause. Sie ging hinein. Im Wohnzimmer saß er, in einem Mahagonisessel. Auf dem Schreibtisch standen zwei Messingleuchter mit dicken Wachskerzen, die still herunterbrannten, als sei hier eine Kirche. Auf dem Tisch wartete der Tee, der aber schon kalt war; vor zwei Stunden hatte Peter ihn bereitet, er hatte nichts davon getrunken, sondern mit ihm gewartet, bis halb sechs, bis sechs und dann noch eine Zeit, von der er nicht mehr wußte, wie lang sie gewesen war. »Der Tee ist kalt geworden!« »Du bist böse?« »Hm!« »Wirklich? Es ist Weihnachten, du!« »Du bist wohl bei Stockmanns gewesen?« »Komm, das wollen wir lassen!« Sie küßte ihn auf die Stirn, setzte sich ihm gegenüber und roch an den Veilchen. Peter nahm seine Pfeife heraus. »Du erlaubst?« Sie nickte. Er setzte die Pfeife in Brand. An ihre Torfbauern mußte Julie denken, so hielt er die Pfeife im Mund. Sah er nicht aus, wie ein ungezogener Junge, mit seinem kindlichen Ausdruck um den Mund, den grauen Augen, die manchmal hellblau leuchteten, wie wenn ein Wind über blaues Wasser geht? Kokettierte nicht ein kleines verschmitztes Lächeln aus diesen Augen, in kurzen, flackernden Blicken? Plötzlich fing er an, mit halben Sätzen zu sprechen, wie einer tut, der die Pfeife im Munde hat. »Hör’ mal, Julie, ich habe mir etwas überlegt.« Ein paar blaue Wolken qualmten auf. »Es ist wohl besser, ich schreibe an deinen Vormund und bitte ihn in aller Form um deine Hand.« Julie saß ganz still. Sie betrachtete eine Kerze, die schief gebrannt war und ihr Wachs langsam träufeln ließ. »Wir sind dann richtig verlobt, vor aller Welt verlobt, und den Ansprüchen der Gesellschaft ist Genüge getan. Es ist natürlich eine Äußerlichkeit, eine törichte Form, aber man muß sie eben mitmachen. Es hat keinen Zweck, sich auszuschließen!« Julie schwieg noch immer. Nun war die Wachssträhne auf dem Messing gelandet. »Wir können dann bald heiraten, wir sehen uns zusammen die Welt an, später leben wir hier oder auf dem Lande.« Von Julie kam kein Laut. Sie saß tief im Schatten. Er konnte nur sehen, daß ihre Handflächen vor dem Gesicht lagen. Er merkte, daß sie weinte. Es war kein Schluchzen, auch keine Tränen. Wie ein blasser Duft kam es zu ihm herüber. In diesem Dufte sonnte sich sein Lächeln. »Wir werden dann alles miteinander teilen. Natürlich ohne übertriebene Rücksichten; jeder kann seine eigenen Wege gehen. Du arbeitest, ich male. Du bist mein Kamerad, mit dem ich über alles sprechen kann. Du kennst auch meine Freunde noch gar nicht,« dabei hatte er ihr vor acht Tagen gesagt, daß er nur einen alten Schulfreund oben in Holstein habe. »Von denen wirst du mancherlei Anregung haben. Wir werden ein Haus machen, viele Menschen sehen, vergnügt und glücklich nebeneinander durchs Leben gehen.« Julies Hände sanken von ihrem Gesicht; ihre Augen sahen unbewegt in das Kerzenlicht. »Das sind katholische Kirchenkerzen,« sagte Peter. Dann lachte er. Julie stand auf und ging zu den Lichtern hin. »Julie!« Ein Zittern kam in den Heiligenschein, den die krausen Haare um ihren Kopf legten. »Julie!« »Ja ...?« »Komm!« »Nein, wenn du ~das~ willst, komme ich überhaupt nicht mehr zu dir! Wenn du glaubst, meine Liebe sei eine Allerweltsliebe ...« Nun war es an ihm, still zu sein. »Es ist mir gleich, was du von mir denkst, aber ich habe dich anders lieb, als daß ich dich danach heiraten werde! Gelübde tun, von denen ich nicht weiß, ob es nicht später ein Verbrechen ist, sie zu halten, alles, womit ich dich lieb habe, in Formen zwangen, zwischen denen es das ganze Leben bleiben soll, denen man immer nur Zugeständnisse machen muß, die einen erniedrigen, das Heiligste, was ich habe, im Alltag abnutzen ...! In deinem ›gastfreien Hause‹, und wenn ich für dich nicht ~mehr~ sein darf als dein Kamerad! Das würde nicht lange dauern. -- So bin ich, und wenn du mich so nicht haben willst ...« Aus dem Lächeln in Peter Owens Gesicht war ein Strahlen geworden. »Julie ...!« Sie blickte sich um. Als sie sein Gesicht sah, machte sie ihre kleinen Schritte und kam auf ihn zugelaufen. »Ich wollte es so gern einmal von dir hören!« sagte er. Sie küßte ihn. O ja, sie küßte ihn. Und nun wollten sie Weihnachten feiern. Der Duft von ihrer Kindheit Tagen sollte im Zimmer dämmern, die wichtigen Geschichten sollten sich von neuem begeben, vom Versteckspielen im Hause der Großeltern, von den Windmühlenflügeln, die sie beinahe mitgenommen hätten, vom Hektor, der dann gestorben war. An ihren Kinderträumen wollten sie das Heute messen und konnten ihr Glück nicht anders sagen, als mit ihrem alten Kinderlachen. Sie mußte die Augen zumachen, damit er die Leuchter hinaustragen und den Baum hereinbringen konnte. Damit sie nicht zu früh aufsehe, mußte sie bis hundert zählen; sie hörte aber schon bei fünfzig auf, und da stand vor ihr der kleine Baum mit allen seinen Lichtern. Wie sie jubeln und lachen konnten! Um den Tisch herum liefen sie und sahen ihn von allen Seiten an und fanden, daß er von hier so lustig aussähe, aber von da noch lustiger. Julie wollte die Lichter recht genau betrachten, diese vergnügten Lichter, und kam zu nahe, daß ihr Haar schon ein wenig zu knistern anfing, er mußte sie wegziehen; da sie nun einmal in seinen Armen war, mußte er sie wohl küssen. Dann durfte er sie nicht stören, am Schreibtisch saß sie und malte ihre Verlobungsanzeige auf ein großes Stück Papier; die legte sie ihm unter den Baum und machte ein feierliches Gesicht, daß er dachte, es sei irgend etwas Liebes, was sie ihm aufgeschrieben hätte; nun war es dies. Und sie lachte ihn aus! Geschenke hatten sie keine; was hätten sie sich auch noch schenken sollen? »Ich dachte, du würdest mir eine Börse gehäkelt haben, Julie! Oder du hättest mir eine Brieftasche gestickt!« »Ich ~habe~ ein Geschenk für dich, Peter,« sagte sie und wendete sich ein wenig ab. »Du weißt wohl nicht, was es sein könnte?« »Nein!« kam es lächelnd zurück. »Nicht?« »Nein!« Da drehte sie sich langsam um, der Heiligenschein der Weihnachtslichter war wieder über ihrem Haar. »Mich!« sagte sie still. Die Lichter, die bis jetzt geflackert und geschaukelt hatten, brannten nun ganz ruhig. Feierlich, wie es solchen Weihnachtslichtchen zukommt. Ganz sachte brannten sie herunter. Und dann erloschen sie eins nach dem anderen. XXVIII Es regnete. Der Himmel war eine qualmende Dunstmasse. In krisselnden Strichen kam das Wasser am Fenster vorbei, spritzte gegen die Scheiben und klatschte auf die Dächer; an den Scheiben flossen die Tropfen in Bächen, und die Dächer waren blank. Ab und zu fuhr ein Windstoß daher und preßte den Regen gegen eine Wand, daß es zischte und knatterte. Dann sprangen Böen aus den Wolken, nahmen das Wasser und fuhren durch die Straßen, peitschten es vor sich hin und schleppten es hinter sich her, waren plötzlich verschwunden, und wieder tropfte es in der Dachrinne und klopfte an die Fenster. »Bei solchem Wetter kommen viele Gedanken und Träume!« sagte Julie. Sie saß an ihrem Platz in Peters Atelier, neben dem Mahagoni-Pulte, wo sie ein wenig vom Fenster sehen konnte und doch zwischen allen den lieben Dingen des Zimmers war. Peter hockte in einem Sessel. »Früher waren dieses meine liebsten Farben! Jetzt freilich ...« Er schwieg. Er empfand, daß er von etwas anderem, etwas ganz Bestimmtem sprechen wollte. Aber er wußte nicht, was es war. Er schwieg und suchte danach. Bis Julie es fand. »Ich denke an etwas, woran ich schon oft gedacht habe seit Weihnachten.« »Vielleicht ist es das, wonach ich suche?! Sag’ es mir, Julie!« Sie schwieg. Der Regen schlug gegen das Fenster. Schwaden zogen draußen vorüber. Julie sah hinaus. Nach einer Weile kam es leise: »Ich wüßte gern, ob wir wohl ein Kind haben werden?!« Peter sagte nichts. Aber dies war es, wovon er mit ihr sprechen wollte. »Ich denke darüber nach,« fuhr er nach einer Weile fort, »ob das Kind uns wohl dankbar dafür sein wird, daß seine Eltern nicht verheiratet sind?« Wie weich klangen ihre Worte! War es nicht, als ob die Linien ihres Gesichts, auf denen die Dämmerung halbe Lichter spielen ließ, jetzt in leisen Tönen zu ihm sprächen? »Ich möchte wissen, Peter, ob ein Kind einem niemals Vorwürfe machen kann? Die Menschen sind noch nicht so weit, daß sie den Unterschied begreifen zwischen Kindern aus einer Vernunftheirat und solchen, die -- aus dem kommen, was zwischen uns ist. Die Menschen werden es einem solchen Kinde sehr schwer machen, glaube ich; das Kind wird vielleicht seine beste Kraft daran verschwenden müssen, nur über die Schwierigkeiten hinwegzukommen, die ihm die Eltern bereitet haben.« Sie hatte ihre Hände gefaltet und sah zu Peter hinüber. Er saß still in seiner Ecke. Er wußte, wie schwer es Julie sein mußte, an diese Dinge zu rühren, die sie früher so leicht hatte in ihre Hände nehmen können, weil sie noch nicht zu ihnen gehört hatten. »Glaubst du nicht, daß die Erziehung das Kind davor schützen wird? Ich meine, durch sie müßte es innerlich frei werden, so daß es unbekümmert seinen Weg gehen kann ...!« »Ja, Peter! Aber vielleicht wird das Kind auch anders denken. Es will sein Leben selbst bestimmen dürfen, ebenso unabhängig, wie wir es getan haben; frei soll es vor dem Leben stehen, soll gehen dürfen, wohin seine Überzeugung es drängt. Darf man seine Entscheidung beeinflussen?« Peter nickte langsam. »Glaubst du nicht, daß wir unserem Kinde ...?« »Peter!« Sie sah ihn mit strahlendem Lächeln an. »Ja, unserem Kinde! Glaubst du nicht, daß wir ihm alles Schöne zeigen werden, so daß es fühlen und begreifen wird, was unser Leben ausfüllt?« »Ja, Peter, das werden wir! Aber dürfen wir auch diese Frage seines Lebens ~entscheiden~? Entscheiden, ohne es vorher zu fragen? Ich glaube es nicht!« Peter schaute sie bewegt an. »Nicht wahr, du verstehst mich, Peter? Nicht die Menschen fürchte ich, und daß sie von Schande sprechen könnten; aber vor diesem Kinde würde ich mich fürchten, daß es einmal sagen könnte, wir hätten ihm im Wege gestanden.« Sie saß eine Weile in Sinnen verloren. Und dann sagte sie leise: »Deshalb würde ich mir vielleicht doch wünschen, daß du mich heiratest!« Peter stand vor ihr; seine Hand strich über ihr Haar. »Und, nicht wahr, Peter, von uns selbst geben wir dabei doch nichts auf?! Zwischen uns beiden bleibt alles, wie wir es einander neulich gesagt haben!?« Peter beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Stirn. Dann zog er sie in seinen Sessel. Lange saßen sie da, ganz still. Bis Peter ihre beiden Hände nahm und sagte: »Dann soll es bald geschehen, Julie!« Sie neigte ihren Kopf sehr tief. »Du mußt das wissen, Peter! Ich weiß von diesen Dingen nichts!« Und plötzlich weinte sie. * * * * * Noch an demselben Abend schrieb Peter Owen an den Vormund -- übrigens war Julie bereits seit einem halben Jahre mündig -- und zeigte diesem an, daß er sich mit Julie verheiraten werde. Er schätze sich glücklich, in verwandtschaftliche Beziehungen zu Herrn Craners Familie zu kommen, aber er bitte ihn, sich seinen und Julies Wünschen anzupassen und auf eine Hochzeitsfeier zu verzichten. Dieser Brief erregte in der Familie Entsetzen. Sechs Wochen später fand die Trauung statt. XXIX Das Leben ist für jeden von uns eine andere Musik. Ein Konzert, in dem Symphonien von Gassenhauern begleitet werden und Tänze neben Trauermärschen klingen. Ein Publikum, das sich hineindrängen läßt und nicht weiß, was gespielt werden wird. Die meisten hören eine Musik, die ihnen nicht gefällt, und blicken neidisch auf die anderen, die im Konzert eine Elitenummer erwischt haben. Wenige nur, die so klug sind, sich die Stücke auszusuchen, die sie hören wollen, die einen Blick ins Programm werfen und, wenn sie nicht finden, was sie brauchen, zu Hause bleiben und sich ihre Musik selbst machen. Julie und Peter gehörten zu diesen wenigen. Zwar bot ihnen das Programm der Familie Brautgesang und Hochzeitsmärsche. Aber dergleichen mochten sie nicht hören. An jenem Weihnachtsabend hatten sie ihre eigene Musik gefunden. Mit einer stillen Frage hatte sie begonnen, und eine Antwort war gekommen, brausend wie großes Orchester, mit Strömen von Licht und Wogen von Farben. Monate gingen, in denen nur diese Musik erklang, ein breites Andante voll Andacht, ein sonniges Scherzo mit Julies Kinderlachen, ein weinendes Adagio, mit Tränen allzu großer Freude, ein Presto, in dem es jubelte vor Glück. Der Frühling war schon im Lande, als wieder ein neuer Satz begann. Es war dasselbe Thema, das er brachte, und doch ein anderes. Sie schwiegen ergriffen, als sie es hörten, sie falteten ihre Hände. War es nicht etwas Neues und Großes? Und war es nicht doch das alte? Nur eine Melodie war hinzugekommen, aber um diese eine Melodie rankte sich alles herum; alles klammerte sich an ihr fest, ward zu einem Crescendo, das in ihr seinen Höhepunkt fand. Aus der alten Melodie war die neue der Mütterlichkeit geworden. * * * * * Wie verschieden davon war die Musik, die die Schwestern zu hören bekamen. Agnes Elisabeths Leben war kaum noch etwas anderem vergleichbar als dem dumpfen Plappern der Nonnen in den Klosterkirchen, während des Mittelalters Brandwolken über dem Lande qualmten. Ab und zu sprangen rote Lichter in ihr ödes Haus, flogen über ihr Gesicht und warfen Entsetzen vor ihre Füße. Im Lehrerhaus gab es Wiegenlieder, surrende Weisen, die ein wenig nach Kinderwäsche riechen und ohne allzu große Tiefe von dem Glück der Heimat und der warmen Stube singen. Bei Lukas die breite Innigkeit des Volksliedes, bei Marianne rosig robuste Mütterlichkeit und ein gut Teil satter Sentimentalität. Für Evelyn war das Leben gleich einer Ballmusik, gleich einem Walzer, in dessen wiegendem Rhythmus Sehnsucht nach Lebensfreude singt. Die Geigen klangen so weich, wie der Mond im schlafenden Garten; dann hüpften die Lichter herbei, Windlichter lustiger Feste, kokettes Pizzicato mit Triangel und Glockenspiel. Auch Tante Sophie bekam ein wenig davon ab, und sie wurde wehmütig, wenn sie daran dachte, daß dieser Tanz bald zu Ende wäre und an seine Stelle wieder die Würde der Abonnementskonzerte träte, von denen man nicht mehr hatte als jedesmal ein neues Kleid, und die man nur besuchte, weil es zum guten Ton gehörte. Als Tante Sophie im April nach Hause zurückkehrte, hatte sie aber nicht den Mut, auf ihr Abonnement zu verzichten; es war auf Lebenszeit genommen, und sie mußte sich damit abfinden. Im Stockmannschen Hause blieb es die alte Motette, die früher einmal eine Melodie mit geraden Holzschnittlinien gewesen war, nun aber längst durch weichliche Schnörkel stillos und schwülstig geworden war. Bei Johannes mehr Empfindung, aber doch immer nur einem geistlichen Liede vergleichbar, wie es jeder Kantor für den Hauptgottesdienst komponiert, Mendelssohn, Abt und ein wenig Lassen ... * * * * * So hörten sie ein jedes, was ihm zukam. Die einen bestimmten sich die Musik ihres Lebens selbst, die anderen bekamen zu hören, was eben da, wo sie im Leben standen, gespielt wurde. Die Zeit schlug ihren Rhythmus dazu, eintönig dem einen, dem andern ein frischer Puls bewußten Lebens. Sie schleppte sich durch den Winter hindurch, bis die Stürme des Frühlings das Eis zerhämmerten. Sie brachte Blumen und eilte leichtbewegt über die Wiesen, um alle diese Blumen zu verstreuen. Nun war es schon der langsame, schweigende und klingende Rhythmus des Sommers geworden. XXX Wie anders Julie doch war! Peter hatte sich darauf gefreut, sie zu pflegen, wenn das Kind käme, bei ihr zu sein, so daß sie nach ihm greifen könnte, wenn sie ihn brauchte. Er hatte auf die Stunden gemeinsamen Wartens gehofft, in denen sie lauschen wollten, wie sich in ihrer Nähe das Geheimnis schweigend vollziehe. Er hatte daran gedacht, daß sie an anderen Tagen Pläne machen würden: wie sie mit dem Kinde spielen und tollen wollten und selbst wieder zu Kindern werden würden. Von dem allem geschah nichts. Julie wollte es anders. Er konnte nicht traurig darüber sein; er mußte ihr recht geben. Julie wollte nach Hause, um in dieser Zeit allein zu sein und nur dem Kinde zu leben. Inmitten der ganzen heimatlichen Schönheit! Von dieser wollte sie umgeben sein, wenn sie auf das Kind wartete, von dieser wollte sie nehmen, soviel sie nur konnte, damit es dem Kinde zugute käme, in dieser sollte das Kind zur Welt kommen. Da hinaus konnte der Lärm der Welt nicht dringen, dort würde nicht einmal Peter ihre Andacht stören. Auch würde sie nicht immer in Angst zu sein brauchen, daß Peters Augen sich mit Nachsicht und Rührung von ihrer Gestalt abwenden müßten. Peter widersprach ihr nicht und ließ sie reisen. XXXI An einem Sommertage lehrte Julie nach Hause zurück. Teetjes Wagen hatte sie am Bahnhof abgeholt. Agnes Elisabeth hatte mitfahren wollen, war aber im letzten Augenblick nirgends zu finden gewesen. Nun hielt sie vor der weißen Gartenpforte. Gesche stürmte aus dem Hause, strahlte über das ganze Gesicht und wischte vor freudiger Verlegenheit mit den Händen über die Schürze. Teetje stieg vom Bock, hob die Koffer herunter: »Man too, Gesche, faten Se ok man mit an!« Julie sprach zwar noch mit Gesche, aber Teetjes Worte schienen hier vorzugehen. Unterwürfig griff Gesche zu und schleppte die Sachen mit hinein. Ein paar halbe Worte kamen zu Julie hinüber: »Fräulein het seggt -- man blot up de Däälen ...« Und dann Teetjes barsche Stimme: »Hä, wa, -- Narrnkram! Man foors rin damit in die Stubben!« Die beiden verschwanden im Haus, und Julie ging ihnen langsam nach. Die Malvenstöcke standen noch da, aber wieviel größer waren sie geworden! Früher war eine blaßrosa dazwischen gewesen; jetzt gab es nur dunkelrote. Unter den Linden dämmerte das alte grünglasige Licht. Wie stark sie dufteten! Die grünen Bänke erschienen dunkler, ein klebriger Glanz lag über ihnen; er kam von den Lindenblüten. Auf der Diele gackerten zwei Hühner, in der Mitte schlief, ein schwarzer Knäuel, die Katze. Die Dielenuhr schlug halb fünf. Warum nur Agnes Elisabeth nirgends zu sehen war? Julie mochte sie nicht rufen. Im Hause war es totenstill. Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Der Drücker ging noch immer etwas schwer und klapperig. Drinnen stand Hinrich Teetje. »Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit, Herr Teetje! Meine Schwester haben Sie wohl nicht gesehen?« Seine Hand fuhr durch die Luft. »Vielleicht auf dem Kirchhof, da ist sie heut noch nicht gewesen!« Er faßte an seine Mütze. »Na guten Tag!« Damit ging er. Julie sah sich im Zimmer um. Die Luft war abgestanden und wußte vom Sonnenschein und Staub vieler Tage. Es roch nach Kalk, nach Spinnen und heruntergelassenen Rouleaus. Die Fenster sollten nun wieder offen sein. Die Vasen standen voll vertrockneter Blumen. Das Zimmer dünkte sie niedrig gegen die Berliner Etagenwohnung; es war ihr überhaupt fremd geworden. In der letzten Zeit hatten sich ihre Gedanken ja auch nicht oft hierher gefunden. Sie ging an ihr Bett. Die gute alte Bettstelle! Großmamas Decke, die feine lila gestreifte Bettdecke hatte viele Fliegenflecke bekommen. Die vergilbte Heloise in dem schmalen Goldrahmen hing noch immer schief, im Spiegel waren einige blinde Stellen mehr. Sie wusch sich die Hände; erst an dem Moorwasser merkte sie, daß es noch ihr Zimmer war, und daß sie hier bald wieder zu Hause sein würde. -- Mitten im Zimmer stand sie noch und trocknete sich die Hände, als vor dem Fenster ein Kopf erschien und eine Stimme von draußen hereinrief: »Unten im Garten sitzt sie! Unter der großen Esche!« Julie erschrak. War der noch immer da?! Durfte er hier so im Garten herumlaufen? Sie wollte Agnes Elisabeth nach ihm fragen. Der Mensch hatte etwas Merkwürdiges. Sie ging in den Garten. Hier war vieles, was sie hätte begrüßen mögen, aber sie hatte keine Zeit, denn Agnes Elisabeth kam die Tannenallee herauf. Sie sprach mit jemandem, den Julie nicht sehen konnte. Julie ging ihr entgegen. »Sie ist voller geworden«, dachte sie, »und auch schöner.« Die Schwestern gaben sich die Hand und küßten sich. Es war ein Kuß ohne Innigkeit; die eine hatte das Küssen verlernt, die andre wußte, wie anders Küsse sein können. »Ich konnte nicht zum Bahnhof kommen,« sagte Agnes Elisabeth. »Ich hab’ hier noch Unkraut gefunden; wenn man es nicht rechtzeitig ausrupft, wird es immer schlimmer. Hier ist schon wieder welches!« Sie bückte sich; es schien, als wolle sie da hockenbleiben. »Dieser dumme Schachtelhalm! Immer reißt man die Stiele zu kurz ab!« Julie blieb stehen. »Komm, Agnes Elisabeth, wir können es ja morgen tun.« »Wie du willst!« Sie gingen einige Schritte. »Als ich von Berlin wegfuhr, regnete es noch,« sagte Julie. »Hier ist das Wetter so schön!« »Ja, es ist in diesem Jahre früh Sommer geworden. Sieh mal, wie groß die Äpfel sind! Sogar Gewitter hat es schon gegeben. Drüben bei Gertelmanns, weißt du, wo wir manchmal beim Schlittschuhlaufen einkehrten, hat es eingeschlagen. Aber sie sagen, er selbst habe es angesteckt. Das ist überhaupt ein alter Trinker! Seine Frau ...« »So!« sagte Julie. Es wunderte sie, daß sich die Schwester um solchen Klatsch kümmerte. Sie kamen ans Haus. »In deinem Zimmer sind die Rouleaus herabgelassen, Agnes Elisabeth!?« »Da schlafe ich schon längst nicht mehr. Ich ziehe in allen Zimmern herum. Mir ist immer, als ob da etwas wäre, was mich heraustreibt ...« »Du warst ja auch so allein! Das wird nun besser werden!« sagte Julie. Nach einer Weile nahm sie die Hand der Schwester und streichelte sie. Es fiel ihr auf, wie trocken die Haut war. Sie erschrak darüber. Agnes Elisabeth ließ ihr die Hand nur einen Augenblick; dann zog sie sie kurz zurück, als müsse sie versteckt werden. »Komm, Gesche hat den Kaffeetisch in der Lindenlaube gedeckt!« sagte sie. »Die ist schön sicher!« Auf dem Tischtuch standen viele Tassen. Julie wußte nicht, was sie alle hier sollten. »Hast du heute nachmittag Besuch?« fragte sie. »Kommen noch andere Menschen?« »Nein, nein, das ist nur so!« Agnes Elisabeth griff über den Tisch, tauschte zwei Obertassen miteinander, wechselte zwei Untertassen und brachte sie alle in Bewegung, die rosa auf die grünen, die blauen unter die gelben. Bis Julie es nicht mehr mit ansehen konnte und die Tassen stellte, wie sie zusammengehörten. »Warum tust du das?« fragte sie befremdet. Agnes Elisabeth nickte nur. Da empfand Julie zum ersten Male Angst. -- Sie tranken Kaffee und aßen Butterkuchen. Eine Weile war es still zwischen ihnen. Julie machte sich bewußt, daß sie eigentlich überhaupt noch nicht miteinander gesprochen hatten. Agnes Elisabeth aber schien es nicht anders zu wollen; sie aß und trank und sah vor sich hin; ab und zu fuhr sie zusammen und warf einen scheuen Blick hinter sich. Sie mußte das immer schon getan haben, denn sie schien es gar nicht mehr zu wissen. Sie mochte mit ihrem Gedanken auch so fern sein, daß Julies Gegenwart sie kaum berührte. »Wie fein hier alles geharkt ist!« sagte Julie. »Früher sah es nicht so schön aus. Wer tut das?« »Ich! Man kann dann besser sehen, ob irgend jemand im Garten war.« Julie sah erschrocken auf. »Geht denn manchmal jemand durch den Garten?« Agnes Elisabeth schwieg. Nach einer Weile sagte sie langsam: »O ja!« »Wer? Hier hat doch niemand etwas zu suchen. Mich hat es schon gewundert, daß Teetje immer hier war. Ist er es?« Agnes Elisabeth lachte. Ganz anders, als Menschen sonst lachen. Früher hatte sie anders gelacht, dachte Julie. Jetzt verzog sich nur der Mund, und ein kleiner, grauenvoll harter Ton kam heraus. Vielleicht lacht so einer, in dem die Einsamkeit allzu laut schreit: er will sie zum Schweigen bringen, will endlich wieder seine eigene Stimme hören und hat doch Angst, daß sie von den Wänden zurückkomme und nicht mehr seine eigene Stimme sei, sondern tausend fremde. »Freust du dich, daß ich wieder da bin?« fragte Julie. »Natürlich!« »Wir wollen wie früher leben; es soll alles sein wie damals! -- Auch Evelyn kommt gewiß bald zurück.« »Evelyn ist ein dummes Kind!« »Warum?« »Es ist jemand da gewesen, der hat sie heiraten wollen. Sie aber ...« »Sie wird ihn nicht geliebt haben!« »Man sollte mit beiden Händen zugreifen, wenn einer einen will!« »Du bist sehr anders geworden, Agnes Elisabeth!« Wieder kam ein Schweigen, ein breites Schweigen. In dem Summen der Bienen siedete die Nachmittagshitze, von den Blumenrabatten kam ein schwerer Duft. Agnes Elisabeth breitete ein Paket bunter Seidenfäden auf dem Tisch aus. Weiche Seide in altmodischen Farben, wie man sie in Urgroßmutters Stickkörben findet. Sie begann, die Fäden auseinanderzuwirren. Es war eine schwierige Arbeit; alle Augenblicke blieb die Seide an ihren rauhen Händen haften. »Warum tust du das?« fragte Julie. »Das muß doch langweilig sein?« Agnes Elisabeth hielt ein paar Fäden mit den Zähnen fest und zog an den Strähnen. »Das werden schöne glatte Zöpfe! Ich muß daran denken, wie ich früher Evelyns Haar abends einflocht.« Julie stellte sich vor, wie Peter dies wohl malen würde: das blasse Gesicht, das rote Haar, die rieselnden Lindenschatten, die bunte Seide und das fahl-sonnige Zwischenlicht. »Es ist auch eine so nette Unterhaltung,« sagte Agnes Elisabeth langsam. »Gesche sagt auch ...« »Bist du oft mit Marianne zusammen?« Agnes Elisabeth lachte. »Weißt du, sie ist dick geworden; sie findet mich nicht so leicht!« »Versteckst du dich vor ihr?« Agnes Elisabeth kicherte. »Gehst du nicht manchmal zu ihr?« »Ja! Lukas ist auch immer sehr nett!« »Wie ist ihr Kind?« »Ganz niedlich! Sie macht nur zu viel Aufhebens davon. Sie ist manchmal so albern; sie macht sich auch so wichtig ...« »Aber sie ist glücklich über das Kind?« »Sie küßt es immerzu!« Julie war von Agnes Elisabeths zwecklosem Eifer schon angesteckt. »Soll ich dir flechten helfen?« Sie hielt ihr die Finger hin, um die Seide aufzunehmen. »Ich bin auf Marianne neugierig,« sagte sie nach einer Weile. »Du wirst sie wohl nicht zu sehen bekommen! Weil du dich ohne sie verheiratet hast!« Sie brach ab; nach einer Weile kam es schwerfällig hinterdrein: »Ach ja, ich habe dich noch nicht gefragt: Wie geht es deinem Mann? Peter? Nicht?« »Ich danke dir. Es geht ihm gut!« »Ich habe zu ihr gesagt: ›Wenn Julie es so will ...‹« Sie fand nicht weiter und nestelte an der Seide. Dann hob sie ihren Kopf und sah Julie an: »Nicht wahr? Aber Marianne natürlich ...« »Und Marianne ist noch immer böse?« »Du kennst sie ja!« »Dann ist ihr nicht zu helfen!« »Um Verzeihung bitten magst du wohl nicht?« »Agnes Elisabeth!« rief Julie empört, aber gleichzeitig auch erschrocken. »Ich meinte nur ... Ich muß das oft tun!« Sie legte die Seidenflechten zusammen, eine auf die andere. »Ich freue mich dann, wenn alles wieder in Ordnung ist. Mama war auch so dafür!« Julie wollte etwas erwidern. Aber sie fühlte sich mit einem Male außerstande. Nicht nur, weil sie begriff, daß es nutzlos sein würde. Sie kam sich ausgeschlossen vor, als stünde sie vor einer Tür und könne nicht hinein. * * * * * Abend war es. Seidiger Dunst stand über dem Garten, an den Bäumen hingen ein paar Lichter, die von der schmalen Mondsichel kamen. Um das Haus ging ein Klappern. Drüben bei Agnes Elisabeths Wohnzimmer fing es an, kam hinten herum ... Plötzlich erschien Agnes Elisabeth vor Julies Fenster und schlug den Laden zu. »Was soll das?« rief Julie hinaus. »Warum tust du das?« »Das muß so sein! Man ist dann sicherer!« Julie kam ans Fenster und lehnte den Laden wieder zurück. »Aber, Agnes Elisabeth, das haben wir früher nicht getan!« »Es ist auch anders geworden!« »Bei mir müssen die Fenster aufbleiben! Ich fürchte mich nicht!« In Agnes Elisabeths Stimme kam ein weinerlicher Ton: »So schließe wenigstens die Tür ab, Julie! Es ist nicht mehr wie früher!« Sie stand auf dem Rasen, einen Rechen in der Hand, mit dem sie die Wege noch einmal nachgesehen haben mochte. Julie beugte sich zu ihr hinaus. »Wenn du dich fürchtest, soll ich dann nicht lieber bei dir schlafen?!« Agnes Elisabeth tat, als höre sie nichts, und begann den Weg unter dem Fenster zu harken. Julie ging ins Zimmer zurück. Die Angst um die Schwester war wieder da. Eine Angst, die an hundert Dingen hing und sich doch eigentlich auf nichts gründete, ein Zittern vor etwas Grausigem, das irgendwo wartete, sich nicht greifen ließe und doch da wäre und drohte. Sie mußte sich beschäftigen. Sie schloß ihren Schreibtisch auf, stellte alle Sachen wieder an ihren alten Platz, ging an den Koffer, packte die letzten Stücke aus. Dabei wartete sie immer darauf, daß Agnes Elisabeth käme, ihr gute Nacht zu sagen. Sie wollte mit ihr über all dies Seltsame sprechen, wollte sie fragen, ob sie ihr nicht helfen könne. Wie ein kleines Mädchen kam sie sich vor, als sie daran dachte, daß sie helfen solle. Sie wußte nicht, wo sie mit helfen beginnen sollte. Agnes Elisabeth kam nicht. Vielleicht besprach sie mit Gesche noch das Essen für morgen oder sah nach dem neu eingekochten Saft. Schließlich dauerte es Julie zu lange, und sie ging hinaus. Auf der Diele brannte ein Nachtlicht. Die Dunkelheit erschien dunkler dadurch. In der Küche war niemand zu sehen; nur die Glut verglimmender Torfstücke kroch noch über den Herd. Julie ging nach Agnes Elisabeths Zimmer hinüber, faßte die Klinke und wollte eintreten. Die Tür war verschlossen. Drinnen sprang jemand auf. »Wer ist da?« »Ich bin es ... Julie! Ich wollte dir gute Nacht sagen!« »Ich bin schon zu Bett,« sagte es drinnen nach einer Weile. »Ich bin müde.« »Du bist doch nicht krank?« »Warum sollte ich krank sein? Geh nur zu Bett, Julie!« »Wenn du mich brauchst, Agnes Elisabeth, weckst du mich, hörst du?!« Von drinnen kam keine Antwort. Julie ging in ihr Zimmer zurück. Sie trat ans Fenster und sah in den Garten hinaus. Da waren mit einem Male viele weiße Laken. Große grelle Flecke! Sie erschrak. Dann fiel ihr ein: die hatte wohl Agnes Elisabeth noch aufgehängt. Sie zog ihren Stuhl heran und lehnte die Arme auf die Fensterbank. Lange Zeit saß sie so. Plötzlich fuhr sie zusammen. Irgendwo dort hinten war ein Schatten über die Laken gegangen. Sie beugte sich hinaus. Es war nichts zu sehen; der Garten lag totenstill. Sie ging ins Zimmer zurück an ihren Schreibtisch. Hier lag alles, womit sie sich die letzten Jahre beschäftigt hatte. Jetzt würde sie zu solcher Arbeit fürs erste nicht mehr kommen. Da waren auch Peters Aquarelle. Sie wollte sie morgen aushängen; jetzt war sie zu müde. Sie begann sich langsam auszukleiden. Plötzlich ging sie ans Fenster und ließ das Rouleau herunter. -- Es war doch vielleicht besser. Dann legte sie sich hin und löschte das Licht. XXXII Es war an einem der nächsten Tage. Sie gingen durch den Garten, und auf dem Wege um den großen Rasenplatz erfuhr Agnes Elisabeth, daß Julie ein Kind bekommen würde. Ihr Gesicht veränderte sich nicht, als sie es hörte, und es dauerte eine Weile, bis sie etwas sagte. Endlich aber kamen Worte, und Julie hatte andere erwartet. »Es ist gut, daß du hier bist! Gesche und ich werden für dich sorgen. Wir werden alle die kleinen Sachen nähen und zurechtmachen, das wird hübsch werden, wir werden dich pflegen ...« Agnes Elisabeth streichelte Julies Haar. Da fing Julie zu weinen an. Nur weil diese rauhe Hand sie streichelte, weinte sie. Dann kam eine Wehmut über sie, und sie weinte immer heftiger. Ihre Kindheit, ihre Arbeit, die Empfindungen, die sie damals geträumt und mit Peter erlebt hatte, dies alles glitt an ihr vorüber. Die neben ihr ging, hatte ebenfalls ihre Hände ausgestreckt, aber sie hatte nichts bekommen! Sie war an ihr vorbeigegangen, alle die Jahre hindurch, und hatte sie nicht ~einmal~ geküßt, alle die Jahre. Sie aber streichelte sie! »Du darfst nicht traurig sein, Julie, es wird schon alles gut werden!« Sie kamen an die Johannisbeersträucher. Die Trauben troffen hernieder wie Blut. Da nickte Agnes Elisabeth plötzlich. »Ach ja! Ich hatte es ganz vergessen! Hier steht noch so viel Unkraut!« Sie bückte sich und fuhr mit den Händen in das grüne Gewucher. Julie setzte sich unten am Wasser auf eine Bank. Wieder kamen Tränen in ihre Augen, als sie die Schwester dort zwischen den Sträuchern hocken sah. Das also war aus ihr geworden! -- Sie sammelte Körbe und ordnete sie nach der Größe, sie flocht bunte Seide und zupfte Unkraut. Sie hantierte zwischen Nichtigkeiten, freute sich an müßigem Klatsch und verkroch sich vor Marianne. War sie nicht einmal eine Mutter für sie alle gewesen?! Sie hatte ihre Liebe weggegeben und besaß nicht mehr als einen Rest, der ihre Hand nur eben noch zu einem spröden Streicheln hob. Sie hoffte nichts mehr vom Leben und konnte sich doch nicht von ihm abwenden. An irgend etwas mußte sie sich noch immer halten, selbst wenn es nur die Angst war, die sie hierhin und dorthin trieb, die im Sonnenlicht nach ihr schielte und des Nachts hinter ihrem Bette stand. Mit gierigen Händen griff sie nach dieser Angst und meinte, das Leben zu fassen. Sie wußte noch nicht, daß das Leben sie vergessen hatte! * * * * * Agnes Elisabeth kniete auf dem Wege und wühlte mit beiden Händen zwischen den Johannisbeersträuchern. Ob sie dieses Mal wohl dabei sein durfte?! Bei Marianne hatte man sie nicht hineingelassen. Aber hier im eignen Hause! Sie wollte das doch gern einmal sehen, wie so das Leben anfängt! Diese dumme Wolfsmilch! Fünf Blätter, drei Krauseminzen, vier schwarze Johannisbeerblätter, bei zunehmendem Mond, er wurde jetzt voller; dann könnte sie endlich wieder schlafen! Auf den Boden mußte sie gehen, wegen der Wiege und der Kindersachen und der Wachspuppe ...! Und der Doktor ...! Wann würde das Kind kommen? Kam es nicht oft vor, daß die Mutter dabei starb? Dann wollte ~sie~ das Kind haben! Dann wollte sie aber lachen! Daß ~sie~ ein Kind hatte! Als sie endlich aufstand, war alles Unkraut wieder eingepflanzt. * * * * * Julie ging inzwischen durch den Garten. Sie lehnte sich ans Gitter und sah die Chaussee hinunter. Ein paar Torfwagen rumpelten vorüber, ein kleines Bauernmädchen knickste. Alles war wie früher. Eben wollte sie ins Haus, da kam um die Ecke dort drüben etwas Gelbes; ein volles Rosa wölbte sich darüber und zuoberst nickte ein Geranke von Federn, Blumen und Stroh. Julie in ihrer Kurzsichtigkeit meinte zuerst, das Ganze sei Marianne. Sie atmete auf, als sich das eine als Kinderwagen, das andere als Mariannes Hut herausstellte. Nun löste sich etwas Schwarzes und steuerte nach der Tür herüber. Das Gelbe mit dem rosa Verdeck aber zog vorüber. Dahinter kam Marianne, eine Weile nichts, als Marianne, breit und voll und himmelblau ... Sie blickte zur Seite und wollte Julie nicht sehen. Das war eine Demonstration! Julie nahm sie belustigt entgegen. »Guten Tag, Julie!« sagte Lukas. »Ich mußte doch kommen und dich begrüßen.« Julie gab ihm die Hand. »Das ist nett von dir! Wie geht es dir, Lukas?« »Gut!« Sein Gesicht strahlte. Er war froh, daß er standhaft geblieben war; wenn es auch nicht gerade gegen Mariannes Willen, so war es doch ohne ihre Zustimmung geschehen, daß er sie verlassen hatte, um Julie zu begrüßen. »Wie geht es Marianne und eurer Kleinen?« fragte Julie. »Der Kleinen? Oh, das ist ein Prachtmädel! Gesund und fidel, wiegt schon vierundzwanzig Pfund! Auch Marianne geht es, Gott sei Dank, recht gut. Sie hat viel im Haushalt zu tun. Es ist gemütlich bei uns. Du solltest ...« Er brach plötzlich ab und wurde rot. Julie mußte lächeln; sie war eingehüllt in eine Wolke von Fliederparfüm. Das war Mariannes Seife, und auch Lukas mußte sie natürlich benutzen. »Nicht wahr, Julie,« begann er stockend, »du trägst es Marianne nicht nach, daß sie ...? Sie wird schon zur Einsicht kommen. Im Grunde ist sie doch so gut ...!« Julie nickte freundlich. »Ich kenne sie. Aber willst du nicht hereinkommen, Lukas?« »Ich habe keine Zeit. Pastor Gerlach will mich heute noch sehen. Wir richten eine Schulbibliothek ein; da gibt es viel zu besprechen. Du hast wohl keine alten Bücher, die du entbehren kannst?« »Ich will einmal nachsehen!« »Wir nehmen alles mit Dank an!« Lukas schüttelte ihr die Hand und ging eiligen Schrittes der Kirche zu. Der Fliedergeruch dehnte sich in der Sommerluft, wurde flacher und dünner und war verschwunden. Julie verstand jetzt besser als früher, daß man Lukas Allm lieb haben konnte. Aber warum gerade Marianne ihn lieb hatte?! XXXIII Stockrosen, Geranien, Begonien und Nelken waren nie so brennend rot zur Blüte gekommen, Brombeerranken und wilder Wein, Klematis und Hopfen waren niemals eine so undurchdringliche Hecke gewesen, Laubkronen und Büsche hatten sich niemals so lichtlos geschlossen. Wo Sträucher und Stauden nicht reichten, half anderes nach. Winden und wilde Rosen webten Zweige und Stiele zu festem Gewirr, Unkraut schoß auf, kam in Ranken und Dornen hinein und mußte sich verloren geben. Die Fäden der Spinnen und flüchtiges Sommerhaar hängten Schleier darüber, hielten fest, was an sterbenden Blüten und Blättern zur Erde wollte, und machten das Dickicht nur dichter, die Wirrsal nur rätselhafter. Grüne Wände wuchsen und taten sich zusammen, engten die Luft und wiesen das Licht auf wenige Wege, sammelten es auf den gezirkelten Beeten, ließen es auf des Rasens Mitte aufrecht stehen und drängten es zu kurzem Flackern auf dem trägen Wasser der Gräben, an rissigen Eichenstämmen und um die weißen Füße der Birken. Die Glut des Sommers brütete zwischen den Hecken, kroch die Stämme hinauf und ließ Blumen lohen und Laubdunkel zu flüssigem Glast zerschmelzen. Viele Düfte hingen schwer im Garten; kaum konnte der Wind sie rühren und tragen: die Schwüle der Linden, die säuerliche Dürre der Sommerblumen, der silbrige Staub blühender Pappeln, die betäubende Fäule des Schilfs und der Schwertlilien. Wo das Flimmern des Mittags in den stahlblauen Himmel hineinzitterte, da tanzten die feinen Ringelkränze der Mücken. Der Tag kam herauf, stand schweigend seine Stunden und ging hinunter. Still war es, vom Morgen bis zum Abend. Die Stille stand im Garten wie eine fremde Frau. Keiner sollte wagen, sie zu stören. In ihrem Gesicht lauerte ein Lächeln, das böse war. Keiner sollte sprechen. Worte sind gleich Steinwürfen in einen schweigenden See. Unter gläserner Fläche schlief Angst und Entsetzen. Die da saßen, wußten das. Sie fühlten diese Augen. Sie wollten sie nicht sehen und hängten doch ihre Blicke an sie. Sie schauten weg und sahen sie doch überall. Die Angst war in ihnen, sie lauerte in der Tiefe ihrer eigenen Seelen. Die eine schielte nach der Seite, ob da etwas wäre, fürchtete die Büsche, in denen sich einer verstecken könnte, und zitterte vor dem Schatten, weil er dunkel war, und vor der Helle, weil sie schrie. Die andere sah ungewisse Lichter der Zukunft und wartete auf Schmerzen, sie lachte ihrem Kinde zu und breitete die Hände aus, damit der Tod es nicht sehe. So ging der Sommer vorüber. XXXIV In den ersten Tagen des Oktobers wurde das Kind geboren. Es war ein Junge, und Julie nannte ihn nach Peters zweitem Vornamen Niels. Von allen Schmerzen blieb ihr keiner erspart, aber Julie ertrug sie lächelnd und hatte sie schnell wieder vergessen über der Wirklichkeit, die anders war, als sie gedacht hatte. Die ersten Tage dämmerten vorüber, mit heruntergelassenen Rouleaus, langsam wandernden Sonnenflecken, Fenchelgeruch und Krankenzimmerstille. Das hielt Julie nicht lange aus, sie hörte nicht auf zu bitten, man solle sie in den Garten bringen. Weil der Herbst so weich war und die Laube so geschützt, taten sie ihr den Willen und trugen sie des Mittags hinaus. Da durfte sie in der Herbststille liegen, unter dem träumerischen Himmel, bis gegen vier. Niels war bei ihr, und wenn Agnes Elisabeth an den Hecken Hagebutten sammelte, konnte sie sehen, wie Julie mit dem Kinde sprach. Nur das Lächeln auf Julies Gesicht sah sie, und das fließende Sonnengold in ihren Haaren. Nicht mehr! Eigentlich wollte sie auch das nicht sehen! Agnes Elisabeth dachte unablässig an das Kind. In den ersten Tagen war sie scheu in den Zimmern umhergelaufen oder hatte in einer Ecke gesessen und nach der Wiege gestarrt. Keiner hatte sie beachtet, sie hatte so recht ihren Gedanken nachhängen können. Eigentlich war es eine merkwürdige Sache mit solch einem Kinde! Es war mit einem Male da, es schrie und wollte trinken. Es war häßlich und machte Mühe. Und doch hätte sie es am liebsten genommen und totgeküßt. O ja! Das kleine zappelnde Ding in die Finger nehmen, daß das Körperchen in den Handflächen läge, und der Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger ... Einige Tage später jedoch, als sie es einmal versucht hatte, war die alte Doris dazugekommen und hatte ihr das Kind weggenommen. Nun wollte sie es auch gar nicht mehr sehen! Sie hatte jetzt ihr eigenes Kind. Sie hatte sich die Wachspuppe vom Boden geholt, die war größer als Niels, sie machte die Augen zu, wenn sie wollte. Aber sie guckte doch immer wieder hinüber und schlich dem Kinde nach, ob sie es vielleicht sehen könnte. Denn das Kind war lebendig, die Wachspuppe aber war tot. Zu manchen Zeiten fragte sich Agnes Elisabeth, ob sie eifersüchtig auf Niels wäre. Er war so einfach ins Haus gekommen und hatte Besitz von ihm ergriffen; um ihn drehte sich die Wirtschaft, die alte Doris stellte Gesche mit an, wo sie sie nur brauchen konnte, um seinetwillen kam ein Korb mit allerhand Sachen von Tante Sophie, um seinetwillen erschien Lukas jeden Tag und fragte schüchtern, wie es dem Kinde und der Mutter gehe, um seinetwillen wurde jeden Morgen ein Brief gebracht, der aus Berlin kam und zur Folge hatte, daß Doris für die nächste halbe Stunde nicht zu Julie hineinging. Es fehlte nur noch, daß ihr Schwager eines Tages in der Tür stände und den Jungen sehen wollte. Dann wäre sie ganz aus dem Hause geschoben, und die anderen säßen darinnen. Das wollte sie sich nicht gefallen lassen! Nein, freiwillig würde sie nicht weggehen! Noch während sie solche Dinge dachte, stand sie auf und ging in die Küche, um den Kakao für Julie anzurühren. Sie tat das mit aller Sorgfalt, probierte, ob er süß genug wäre, quirlte die Milch hinein und suchte die schönsten Cakes für Julie aus. Dann brachte sie alles selbst hinaus, stellte es auf den Tisch, rückte Julie die Tasse zurecht und saß ein Weilchen bei ihr. Bevor sie ging, streichelte sie Julies Haar. Jedesmal dachte sie daran, daß Mama so mit ihr getan hatte, wenn sie früher einmal krank gewesen war. * * * * * Es war plötzlich, als sei die Stille nun lange genug im Hause gewesen. Evelyn kam eines Tages mit zwei riesigen Koffern an und brachte so viel Fröhlichkeit und Lachen mit, daß die Linden ihre Kronen schüttelten, als vermöchten sie nicht zu glauben, daß alles wieder beim alten sein sollte. Das Haus aber wunderte sich nicht, sondern es war stolz auf seine Kinder. Sie waren in der Welt herumgelaufen, hatten viele andere Häuser gesehen und darin gewohnt; in einem hatten sie gelacht, im anderen geweint, -- und schließlich waren sie doch vor Sehnsucht umgekehrt und zurückgekommen. Nun müßten sie auch wieder unten im Flusse Ringelrangelrosenkranz tanzen. Dazu wäre es jetzt freilich zu kalt, dachte das alte Haus. Und Evelyn wäre so elegant geworden, sie täte es vielleicht überhaupt nicht mehr. Evelyn saß fast den ganzen Tag bei Julie und erzählte von der großen Welt. Von einem jungen Künstler, den sie in Wien kennengelernt hätte -- übrigens traf auch alle vierzehn Tage ein Brief mit fremdländischer Marke für Evelyn ein, -- von Tante Sophies grüner Seidenkrepptoilette, von einem eleganten Hut, den sie sich ausgedacht hätte. Sie mußte alle Bilder von Peter Owen sehen und erfand zu ihnen lange Geschichten. Plötzlich tollte sie dann wieder durchs Zimmer, lief in den Garten und sagte ihrer alten Kastanie guten Tag, kam wieder hereingewirbelt und tanzte vor Niels einen provenzalischen Tanz. Niels fing dann zu schreien an, Julie lachte, und Agnes Elisabeth mußte kommen, wie es früher gewesen war, und mahnen: »Kinder, seid doch vernünftig!« Übrigens fand sich auch Marianne wieder ins Haus. Evelyn war bei ihr gewesen und hatte sie wegen ihrer kleinbürgerlichen Wichtigtuerei ausgelacht; eine ellenlange lustige Rede hatte sie gehalten, mitten in Mariannes Salon, wo Ponceaurot, Erdbeerfarbe und schmutziges Grün von allen Seiten in ihre Worte hineinschrieen. Das hatte freilich nicht genügt, Mariannes Sinn zu wenden, gestern aber war Pastor Gerlach bei ihr gewesen und hatte sie gebeten, sie möchte ihren Einfluß bei der Schwester geltend machen, damit das Kind endlich getauft werde. Eine Anmeldung sei bislang noch nicht bei ihm eingelaufen. So hatte Marianne sich ausgemacht und war bei den Schwestern erschienen. Evelyn mochte schlimme Dinge im Kopf haben; als Marianne hereinkam, zog sie ein Gesicht, daß diese ihre Würde fallen ließ, schnell auf Julie zuging, ihr einen Kuß gab und den Jungen bewunderte. Damit war die Angelegenheit erledigt, und Marianne fühlte sich sichtlich erleichtert. Nun waren sie alle Tage zusammen und ließen alles sein, wie es früher gewesen war. Sie fanden, daß sie alle in das Leben hineingesehen hätten, sich ihr Teil geholt hätten und wieder zurückgekommen wären, ein jedes mit dem, was ihm zukäme. Sie fanden, daß das Zimmer dasselbe geblieben war, daß es hier wieder helldunkle Abende und sonnenblasse Morgenstunden geben würde. Sie fanden aber auch, daß sie einander im Innersten kaum noch kannten, daß nur die Strenge des Alltags, die Gewohnheit sie zusammenhielt und ihre Hände ineinanderlegte, als seien die Jahre nicht gewesen. XXXV Es war Winter, die Wiesen hatten unter Wasser gestanden, und das Wasser war seit einer Woche Eis. Die Schlittschuhe mußten vom Boden herunter und hatten nur noch nachts ihre Ruhe. Julie blieb bei dem Kinde, aber die anderen liefen hinaus. Weit in das Land, wo es blitzte wie von Stahl. Sie lachten und tollten, und die Luft ließ ihre Fröhlichkeit klingen wie die silberschwarze Fläche unter ihren Füßen. Aber das dauerte nur Tage. Evelyn fand es zu kalt und fing an, von der Wärme des Südens zu reden, Marianne wurde müde und begann vom Haushalt und von ihrem Kinde zu sprechen. Am nächsten Morgen blieben sie daheim. Agnes Elisabeth allein blieb übrig. Sie wurde bedauert, weil sie keine Gesellschaft hatte; Lukas bot sich an, sie am Sonntag zu begleiten. Aber sie dachte nicht daran, dies anzunehmen. Lukas lief schlecht, außerdem brauchte sie auch niemanden. Lukas kam die Ablehnung gelegen, denn es wäre eine Qual für ihn gewesen, den ganzen Tag über die Wiesen zu laufen. Auch die Schwestern freuten sich, denn Agnes Elisabeth hatte schon in früheren Zeiten Lukas immer nach Hause geschickt, sie konnte sich also nicht allzusehr verändert haben. Agnes Elisabeth aber freute sich am meisten. Denn nun wollte sie einmal wirklich laufen, wie man laufen mußte, ohne Anhängsel, die vor tiefen Stellen, vor Gräben und Kanälen, Angst hatten, die immer von hinten riefen, man möchte warten, und lange berieten, wohin es gehen solle. Zuerst den Fluß entlang und dann der Sonne entgegen, mitten in lauter Licht hinein, dann links über die Ebene, die ohne Ende war und immer weiter ging, bis irgendwo Bauernhäuser kamen ... Da wollte sie wieder nach rechts biegen und ein Weilchen vor dem Winde laufen. Sie konnte beinahe die Augen zumachen, so glatt war es hier, so frei von Gestrüpp und Wurzeln. Die Sonne ginge schon nach Westen hinüber. Sie könnte ja einmal Umschau halten, wo sie wäre ... Wenn sie es nicht wüßte, könnte sie im nächsten Dorfe fragen und allmählich an die Heimkehr denken. So wollte sie. Und so tat sie. * * * * * Die Ebene funkelte. Ein Himmel blaßblau, eine Sonne rund, fest und lichtloser beinah als das Eis, stahlscharf die verzweigten Linien einiger Bäume. Das war alles, was sie sah. Da stand sie und dachte, daß Mittag längst vorüber sei, und daß es wohl weit nach Hause sei. Es freute sie, daß sie nur so ungefähr die Richtung wußte, und daß es noch eine schöne Strecke war, mindestens zwei Stunden. Sie freute sich über den Staubgeschmack, den sie auf den Lippen hatte, über das Prickeln, das von den Füßen in die Knie heraufkam. Sie dachte mit einem Male, hier sei sie nun allein, daß irgendwo Schwestern von ihr wären, Julie und Marianne und Evelyn, das sei wohl nur ein Traum. Sie konnte sich auf einmal nicht erinnern, wie diese Schwestern aussähen, sie wußte nicht, wie sie sprächen. Auch darüber freute sie sich. Es schien übrigens alles seine Richtigkeit zu haben. Von dort drüben war sie gekommen, sie konnte noch einen Baum erkennen, an dem sie vorbeigelaufen war. Freilich war es schon lange Zeit her. Vorher war sie mit dem Winde gelaufen und hatte die Sonne zur Rechten gehabt. Das war noch viel länger her. Als ob Monate dazwischenlagen. Was sie vordem getan hatte, wußte sie nicht mehr. Sie sah an sich hinunter, wunderte sich, daß hier, mitten in dieser unendlichen Eisebene, etwas war, was sich bewegte. Sie hob den Arm, schob den Fuß vor ... Das lebte, das war ein Mensch! Also war sie doch nicht allein ...? Wie kam dieser Mensch, der sie selbst sein sollte, hierher? Von dort drüben. Dort war der Baum. Bei ihm hatte sie ein paar Bogen gemacht. Sie setzte an und lief einen. Weil er nach rechts gegangen war, mußte einer nach links ihm folgen. Er fiel nicht gut aus. Der nächste wurde besser. Nun noch einmal! Und wieder! Sie lief und drehte sich, beschrieb Kreise nach innen und nach außen, Kurven, erst große und kleine, dann abwechselnd eine große, einen Kreis nach innen, eine kleine, einen Kreis nach außen ... Plötzlich stand sie wieder still. Vor ihr war ein Baum. Sie hatte ihn vielleicht schon einmal gesehen. Es war eine Erle, und der Zweig mit den schwarzen Früchten mußte gewiß ein wenig herunterhängen. Es war der Baum, bei dem sie früher einmal gewesen war. Aber damals hatte die Sonne weiter rechts gestanden, jetzt aber ... Wo war die Sonne ...? Sie schaute nach ihr aus. Aber sie war nicht mehr da. Sie wendete sich um und suchte. Über den Himmel war ein seidiger Schimmer gespannt, und dort drüben schwamm in zähem Dunst ein gelbliches Licht. Wie schnell hatte sich das verändert! Soeben noch ...!? Auch über dem Eise sah es anders aus, glasig, fast goldgrün; die Bäume waren wie übergossen von lauwarmem Gold. Plötzlich dachte sie an das Kind. An welches Kind ...? An das Kind, das sie küssen wollte! Jetzt erst fiel ihr ein, daß es höchste Zeit sein müßte, umzukehren. Sofort waren eine Menge Gedanken da, das Abendbrot, ob Gesche nichts vergessen würde, morgen reines Tischzeug, Silberputzen ... Plötzlich wurde sie sich mit der Klarheit früherer Tage bewußt, daß sie schnell laufen müsse, wenn sie noch vor Dunkelheit in bekannte Gegend kommen wolle. Wenn sie nur erst den Deich hätte! Dann würde sie sich ja wohl zurechtfinden. Aber vom Deich war nichts zu sehen. Er mußte nach Westen zu liegen. Oder mehr nach Süden ...? Dort war ein Mensch. Sie wollte ihn fragen. Hoffentlich könnte sie ihn einholen. Oder kam er ihr entgegen? Sie lief auf ihn zu. Der Wind wickelte sich in ihr Kleid; er war stärker als heute morgen; sie konnte kaum aufsehen, so stark war er. Er versetzte ihr den Atem; er war auch nicht mehr gleichmäßig, er kam ruckweise ... Hoffentlich würde sie ihn nachher im Rücken haben, dann käme sie wohl schnell nach Hause. Aber gegenan ...! Wie schwer es sich lief! Das Eis war schmierig geworden; es gab beim Laufen keine scharfen Linien mehr, sondern nur breite weißliche Spuren. Da war ein Hügel, der wie eine Insel im Eise lag. Erlen standen da und ein paar Weiden und noch ein anderer Baum. Dort mußte sie ihn fassen. Sie winkte hinüber, rief und lief schneller. Dann war sie da, und vor ihr stand -- Hinrich Teetje. »Ja, -- das hat denn wohl so sein sollen!« sagte er. Sie vergaß zu fragen. Aber sie schrie. Einen kurzen Schrei! Dieser Schrei hatte ihr schon lange in der Kehle gesessen. Hinrich Teetje sagte nichts. Doch als sie weglaufen wollte, hielt er sie am Arme fest. Sie zuckte unter seiner Hand und direkte sich und empfand grauenvolle Wonne. Dann packte er sie mit beiden Armen, hob sie in die Höhe und trug sie hinauf, wo unter einer Eiche Reisig und Stroh lagen. Dort legte er sie hin. Sie blieb liegen. Er küßte sie, gierig, wie ein Hund. Sie küßte ihn wieder ... * * * * * Sie stieß ihn von sich hin, daß er taumelte. Dann kroch sie auf den Knien den Hügel hinunter. Sie schlug mit dem Kopf an einen Ast, blieb mit dem Haar in den Zweigen hängen und riß sich die Hände blutig. Immer auf den Knien kroch sie weiter, bis das Eis in den Wunden brannte. Da half sie sich auf die Füße, kam hoch und lief, so schnell sie konnte. Hinter sich hörte sie Klappern und Rasseln und kreischendes Schneiden von Schlittschuhen. Sie lief schneller, sie raste über das Eis. Er kam nicht weit mit. Schon bald schien er eine andere Richtung genommen zu haben; sie hörte ihn weit dort drüben. Dann war alles verschwunden. Sie blieb stehen und schloß die Augen. Heiß brauste es, troff in schwarzroten Streifen und flammte in zerrissenen Flecken. Gedanken gab es keine mehr; ihr Empfinden war wie eine Wüste. Nach einer langen Zeit fühlte sie, daß ihre Hände warm und feucht waren, und wieder nach einer langen Zeit sah sie nach, was das wäre. Da lief Blut herunter. Sie blickte auf. Um sie herum war nichts als Nebel. Rauchender Nebel. Er wälzte sich um sie herum, drängte sich nahe an sie heran, daß sie es brenzlig an den Lippen spürte, schwamm zurück, machte ihr Platz, daß sie ein paar Schritte laufen konnte, fing sie wieder auf, griff mit Händen nach ihrer Haut, nach ihrem Haar, rieb sich an ihren Armen, faßte über ihren Körper ... Es war ganz still. Die Ungeheuer stiegen um sie herum, krochen am Boden, bäumten sich auf ... Aber es war ganz still. Die Stille sauste in ihren Ohren. Dann hörte sie ein Schurren, als ob etwas über das Eis wische. Krisselnder Schneestaub war es, den der Nebel fegte. Dann ward es ein Glucksen, wie wenn Wasser in dünnen Schuhen steht. Taufeuchtigkeit drängte von unten herauf. Lange Zeit hörte sie das und begriff es noch immer nicht. Plötzlich aber fühlte sie es. Sie fühlte, daß kein Baum, kein Strauch zu sehen war, kein Himmel über ihr, nichts, nichts als Nebel. Sie war allein gelassen. Ganz allein mit diesem Nebel, mitten in den Wiesen. Es war nicht Mittag, es war nicht Abend, es war nicht Nacht ... Das Eis wollte sie nicht mehr haben, die Sonne war weggegangen, die Häuser hatten sich zugedeckt, und die Menschen ... Sie begann zu schreien. Sie begann zu laufen. Sie lief und schrie. Das Eis schrie mit ihr, schrie sich aus in brechendem Krachen. Sie lief. Der Nebel lief hinter ihr her und jagte sie, und das Wasser spritzte herauf, bis in ihr Gesicht. Sie lief und es kam kein Ende. Plötzlich bewegte sich etwas unter ihr, krümmte sich ... Die ganze Fläche schwankte. Von weit da drüben kam es und von jener Seite und von überall und schwankte mit ... Als sie nicht mehr schreien konnte, wimmerte sie: »Mutter! -- Mutter! -- Mutter!« Dann hörte auch dies auf. Sie lief und lief ... Endlich kam ihr etwas in den Weg. Groß war es und dunkel und reckte sich ... Sie wollte die Hände ausstrecken ... Da schlug es ihr schon ins Gesicht. Das Große, Dunkle gab nach, schwankte mit ihr hin und her. Eine alte Weide war es. Da mußte wohl ein Graben sein. Sie wollte weiter, aber sie konnte die Füße nicht heben. Als sie sich bückte, kam sie in Wasser. Sie riß die Jacke herunter und klammerte sich an die Weide. Das Wasser kam höher, und das Eis raschelte an ihrem Kleide. Sie zerrte sich an dem Baum in die Höhe. Er neigte sich, und das Wasser kam bis an ihre Brust. Noch einmal schrie sie auf. Dann stemmte sie die Knie gegen den Baum und riß sich nach oben. Da gab er nach, warf sie vor sich hin und schlug sie tot. XXXVI Am Morgen fand man sie, kaum eine Viertelstunde von Hellweges Haus. Drüben bei Gertelmanns, wo der Fluß die Biegung macht. Daniel und der Knecht rackerten sich fast eine halbe Stunde ab, den Körper unter der Weide hervorzuziehen. Dann legten sie ihn auf einen Wagen; ihn zu tragen, war es bis zu Hellweges zu weit. So würden sie auch noch hinüberkommen, ehe die Kirche aus wäre, meinte Daniel. Aber die Predigt war kurz gewesen -- man fror jetzt zwischen den Mauern --, und so trafen die Kirchgänger den Wagen, just als er an der Kirche vorüber wollte. Weil Daniel so sonderbar aussah, und weil etwas Schwarzes auf seinen Knien lag, ließ man sich gern seinen Sonntagsstaat mit Schmutz und tauendem Schnee bespritzen, drängte sich an den Wagen und wollte sehen, was da nicht richtig wäre. Als sie erkannten, wen Daniel bei sich hatte, kehrten alle um und gingen dem Wagen nach. Wenn eine Leiche da ist, schweigt man. Wenn aber bei Lebzeiten viel Gerede und Munkeln und Tuscheln gewesen ist und mit einem Male der Tod dazwischenkommt, alles still zu machen, so kann man sich nicht zufrieden geben. Denn es ist nichts in der Welt, was aufkäme mit wunderlichem Wesen und Menschen erschreckte, und dürfte mit einem Male hingehen und sterben, als wäre nie etwas gewesen. Es muß alles seine Ordnung haben. Die Alten zwar nickten nur, bedächtig und zufrieden, wie man tut, wenn etwas so ausgegangen ist, wie man es erwartet hat. Aber die Jungen, die weiter hinten gingen und der Leiche nicht so nahe waren, konnten ruhig aussprechen, was gesagt werden mußte. Das hätte sie nun von dem Laufen bei Nebel und Tauwetter; so etwas könnte kein gutes Ende nehmen; aber sie hätte ja nicht hören wollen! Wunderlich, wie sie gewesen wäre! Eigentlich sei es gut für das ganze Dorf, daß sie nun schliefe! Wer so anders gewesen sei und nicht unter Menschen gepaßt habe! Wer nachts herumgelaufen sei und keine Ruhe habe finden können! Nun würde sie ihre Ruhe haben, auf dem Kirchhofe, wo sie ja immer schon gesessen hätte. »Dat schöt wi eerst noch to sehn kriegen, ob de Ruhe hebben ward. Denn dat dat mit richtigen Dingen togon is, glövt See doch wol silbens nich!« sagte plötzlich jemand. Da wurde es mit einem Male still. Und es stand fest, daß sie den Tod selbst gewollt hätte. Der Wagen hielt. Die Leute blieben stehen. Es war kein neugieriges Gedränge. Mit spitzen Gesichtern sahen sie zu, wie Daniel sich schwerfällig aufrichtete und die Leiche herunterhob. Wie ein Haufe von Anklägern standen sie, die jede Bewegung der Beschuldigten verfolgen. Einen Augenblick erschien das grünlichweiße Gesicht, das rote Haar über der Menge. Sie konnte sich nicht verteidigen! Sie trugen sie hinein. Alle blieben stehen. Es war eine Drohung, wie sie da warteten, breitbeinig, schweigsam, ohne Erbarmen. Man fand es in der Ordnung, daß der Gemeindevorsteher und der alte Gertelmann ins Haus gingen, um drinnen zu sagen, wie man draußen hierüber dachte. Sie warteten. Der Wind blies durch die Straße. Sie schlugen die Kragen hoch. Es fing zu schneien an, große Flocken, die sie naß machten. Sie warteten. Bis die beiden wieder herauskamen und nickten. Da waren sie zufrieden und konnten auseinandergehen. * * * * * Im Alkoven lag sie und schlief. Große Flocken klebten die Scheiben zu, und das dämmernde Licht des Frühnachmittags ging zu den brennenden Kerzen, die um ihr Bett herumstanden. Sie hatten nur Tannengrün streuen können. Woher sollten sie Blumen nehmen ...?! Sehr fern war die Tote, sehr allein! Zwar saßen die Schwestern bei ihr; man hätte meinen können, sie seien alle vier noch einmal beisammen; zwar schluchzte Marianne und wußte nicht, wie sie es tragen sollte; zwar weinte Evelyn viele hilflose Tränen. Doch dies alles geschah mitten im Zimmer. Die Tote aber lag im Alkoven! Zwischen ihr und den Schwestern stand die blasse Helle der Kerzen; über die kamen sie nicht hinweg. Sie wollten mit ihr von alten Zeiten sprechen, wollten ihr danken, -- denn es gab wohl viel zu danken --, aber es war nicht möglich. Es schien, als wolle die Tote nichts mehr von ihnen wissen. Vor den Fenstern war es schon dunkel, als Gesche die Tür öffnete. Lukas Allm und der Pastor traten ein. Julie stand auf und reichte ihnen die Hand. Der Pastor trat neben das Bett und sah mitleidig auf die Tote. Lukas stand in der Ecke und weinte. Er, der sie am meisten mit Freundlichkeit umgeben hatte, war auch der einzige, der etwas von eigener Schuld empfand. Nach einer Weile wendete sich der Pastor zu den Schwestern. »Wir wollen miteinander beten!« Sie standen auf und traten um das Bett herum, und der Pastor faltete die Hände und betete: »Aus der Tiefe rufen wir, Herr, zu dir! So du willst Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen? Diese Tote ist dahingegangen, in der Blüte ihrer Jugend, in der Hälfte ihrer Tage ist sie dahingegangen. Den Schwesternkreis hat sie verlassen und das Ziel ihres irdischen Lebens gefunden. Herr, wir wissen nicht, ob sie in ihren Sünden gestorben ist; aber wir flehen zu dir, du wollest dich ihrer erbarmen. Denn bei dir ist Gnade und viel Erlösung. Du hast ihr Leben reich gesegnet, und ihrer Arbeit warst du gnädig. Den verwaisten Schwestern durfte sie die Mutter sein, sie durfte für sie sorgen, du gabst Gelingen zu ihrem Werke und ließest sie die Früchte genießen. Es kann dein Wille nicht sein, daß diese Seele verlorengehe. Du bist gerecht und heilig. Sünde bleibt nicht vor dir. Aber du bist auch gnädig und voll großer Güte. Darum heben wir unsere Hände zu dir auf: Vergib ihr ihre Sünde und nimm sie in Gnaden in dein himmlisches Reich. Herr, lehre uns bedenken, daß auch wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Daß wir beizeiten tun, was zu unserem Frieden dient, daß wir entsagen der Hoffart der Welt und töten des eigenen Herzens Wünsche, daß wir wandeln in deinem Licht und merken auf dein Wort. Herr, hilf uns, daß wir nicht vergehen! Herr, hilf uns, daß es niemals von uns heißen müsse: Sie haben ihren Lohn dahin!« * * * * * Der Pastor schwieg. Dann drückte er den Schwestern, einer nach der anderen, die Hand. Unter schluchzendem Flüstern bedankte sich Marianne, auch Lukas atmete auf; das Gefühl der Trostlosigkeit hatte ihn verlassen. Mit den Worten des Pastors war eine weiche Empfindung über ihn gekommen: da drüben, wo die Tote nun sei, wäre ein anderer, der besser für sie sorgen würde, als sie alle es hatten tun können. Der Pastor ging. Lukas trat noch einmal an das Bett und legte seine Hand auf das rote Haar, so, wie er es manchmal bei Marianne tat. Wie hilflos doch die Toten sind! dachte Evelyn. ~Der~ konnte sie nun streicheln, was er im Leben nie fertiggebracht hätte, und der Pastor hatte solche Worte über sie sagen dürfen. Dann gingen sie alle hinaus. Die Tote blieb allein, wie sie es auch im Leben gewesen war. * * * * * Nach einer Weile kam Julie zurück. Sie hatte Niels auf dem Arm und setzte sich in den großen Stuhl zwischen Ofen und Fenster. Als Niels die Lichter sah, begann er laut zu krähen. Als er sie im Spiegel nochmals fand, strampelte er mit Armen und Beinen. Julies Haar glänzte so goldig, die kleinen Finger mußten schnell hinein, mußten zerren und den Kopf zu sich herunterziehen. »Das muß Jungchen nicht! Dann tust du Mutter weh!« sagte Julie und machte ihr Haar von den kleinen Händen frei. Sie setzte ihn zurecht und neigte sich zu ihm hinunter. »Siehst du, sie hätte auch solch einen kleinen Jungen haben müssen wie dich! Sie war so arm! Sie war so allein! Sie hat immer für uns gesorgt, hat alles für uns getan. Aber darüber hat sie sich selbst vergessen. Siehst du, für andere leben kann man nur, wenn das eigene Leben voll ist von Schönheit und Freude. Sonst hat es keinen Wert! Du kannst das jetzt noch nicht verstehen, aber später wirst du es wissen! Peter und ich, wir wollen dafür sorgen, daß in deinem Leben so viel Schönheit, so viel Lachen und so viel Glück sein wird, daß du auch andere Menschen glücklich machen kannst. Du sollst noch viel glücklicher werden als Peter und ich, bis du einmal so weit bist, daß du unsere Hilfe nicht mehr brauchst!« Mit großen Augen sah das kleine Wesen zu Julie auf. Ganz, als verstünde es alles, was sie ihm sagte. Sie beugte sich hinunter und küßte ihren Jungen. Draußen kamen Schritte über die Diele, feste, kurze Schritte. Dann sprang die Tür auf. Julie erschrak. Ein Zittern lief über die Kerzen. Eine nach der anderen zuckte zusammen. Hinrich Teetje stand vor Agnes Elisabeth. Stand -- und sagte kein Wort. ~Ende~ *** End of this LibraryBlog Digital Book "Die Schwestern Hellwege" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.