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Title: Friedrich Nietzsche in seinen Werken
Author: Andreas-Salomé, Lou
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Friedrich Nietzsche in seinen Werken" ***

FRIEDRICH NIETZSCHE

IN SEINEN

WERKEN

VON

LOU ANDREAS-SALOMÉ.

MIT 2 BILDERN UND 3 FACSIMILIRTEN BRIEFEN NIETZSCHES.


ZWEITE AUFLAGE.


MOTTO:


NIETZSCHES WAHLSPRUCH:

»Increscunt animi, virescit volnere virtus.--«
                    Furius Antias bei Gellius.


VERLAGSBUCHHANDLUNG CARL KONEGEN

(ERNST STÜLPNAGEL). WIEN 1911.



Nicht Willens mich auseinanderzusetzen, weder mit dem
inzwischen veröffentlichten Nachlaß Nietzsches, noch
mit Andern über Nietzsche, lasse ich diese Schrift in
unverändertem (anastatischem) Druck neu auflegen.

Lou Andreas-Salomé.



IN TREUEM GEDENKEN GEWIDMET

EINEM UNGENANNTEN



INHALTS-VERZEICHNISS.



Sein Wesen

Seine Wandlungen

Das »System Nietzsche«


[Illustration]


Ein Brief Friedrich Nietzsches zum Vorwort.



I. ABSCHNITT

SEIN WESEN.



MOTTO:

»Der Mensch mag sich noch so
weit mit seiner Erkenntniss ausrecken,
sich selber noch so objectiv Vorkommen:
zuletzt trägt er doch Nichts davon,
als seine eigene Biographie.«

(Menschliches, Allzumenschliches I. 513.)



»Mihi ipsi scripsi!« ruft Friedrich Nietzsche in seinen Briefen
wiederholt nach Vollendung eines Werkes aus. Und gewiss hat es etwas
zu bedeuten, wenn der erste lebende Stilist dies von sich selber
sagt, er, dem es, wie keinem Zweiten, gelungen ist, für jeden seiner
Gedanken, und noch für die feinste Schattirung darin, den erschöpfenden
Ausdruck zu finden. Dem, der Nietzsches Schriften zu lesen weiss, ist
es denn auch ein verrätherisches Wort: es deutet die Verborgenheit
an, in welcher alle seine Gedanken stehen, die lebendige Hülle, die
sie vielgestaltig umkleidet, es deutet an, dass er im Grunde nur für
sich dachte, für sich schrieb, weil er nur sich selbst beschrieb, sein
eignes Selbst in Gedanken umsetzte.

       *       *       *       *       *

Die »Bitte« in der »Fröhlichen Wissenschaft«, auf welche in dem
vorstehend facsimilirten Briefe Bezug genommen ist, lautet:


    »Ich kenne mancher Menschen Sinn
    Und weiss nicht, "Wer ich selber bin!
    Mein Auge ist mir viel zu nah--
    Ich bin nicht, was ich seh und sah.
    Ich wollte mir schon besser nützen,
    Könnt' ich mir selber ferner sitzen.
    Zwar nicht so ferne wie mein Feind!
    Zu fern sitzt schon der nächste Freund--
    Doch zwischen dem und mir die Mitte!
    Errathet ihr, um was ich bitte?«

    (Scherz, List und Rache 25.)



Wenn es überhaupt die Aufgabe des Biographen ist, den Denker durch
den Menschen zu erläutern, so gilt dies in ungewöhnlich hohem Masse
für Nietzsche, denn bei keinem Andern fallen äusseres Geisteswerk und
inneres Lebensbild so völlig in Eins zusammen. Auf ihn trifft es ganz
besonders zu, was er in dem vorangestellten Briefe von den Philosophen
überhaupt ausspricht: dass man ihre Systeme auf die Personalacten ihrer
Urheber hin prüfen solle. Später hat er der gleichen Auffassung in den
Worten Ausdruck gegeben: »Allmählig hat sich mir herausgestellt, was
jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntniss ihres
Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires.« (Jenseits
von Gut und Böse 6.)

Dies war denn auch der leitende Gedanke in meinem in dem vorstehenden
Briefe erwähnten Entwurf zu einer Charakteristik Nietzsches, den
ich ihm im October 1882 vorlas und mit ihm durchsprach. Die Arbeit
enthielt im Umriss den ersten Theil des vorliegenden Buches und
einzelne Abschnitte des zweiten Theiles,--der Inhalt des dritten, das
eigentliche »System Nietzsche« war damals noch nicht geboren. Im Laufe
der Jahre erweiterte sich, im Anschlüsse an die rasch aufeinander
folgenden Werke, jene Charakteristik immer mehr, und Einzelnes daraus
ist bereits in besonderen Aufsätzen veröffentlicht worden.[1] Es
handelte sich für mich ausschliesslich darum, die Hauptzüge von
Nietzsches geistiger Eigenart zu schildern, aus denen allein seine
Philosophie und ihre Entwicklung begriffen werden können. Zu diesem
Zwecke beschränkte ich mich freiwillig sowohl nach der Seite der
rein theoretischen Betrachtungsweise, als auch hinsichtlich der rein
persönlichen Lebensbeschreibung. Beides durfte nicht zu weit geführt
werden, wenn die Grundlinien seines Wesens deutlich hervortreten
sollten. Wer Nietzsche auf seine Bedeutung als Theoretiker hin prüfen
wollte, auf das, was etwa die zünftige Philosophie aus ihm zu lernen
vermöchte, der würde sich enttäuscht abwenden, ohne zum Kern seiner
Bedeutung vorzudringen. Denn der Werth seiner Gedanken liegt nicht
in ihrer theoretischen Originalität, nicht in dem, was dialektisch
begründet oder widerlegt werden kann, sondern durchaus in der intimen
Gewalt, mit welcher hier eine Persönlichkeit zur Persönlichkeit
redet,--in dem, was nach seinem eigenen Ausdruck wohl zu widerlegen,
aber doch nicht »todtzumachen« ist. Wer andererseits von Nietzsches
äusserem Erleben ausgehen wollte, um sein Inneres zu erfassen, der
würde ebenfalls nur eine leere Schale in der Hand behalten, aus welcher
der Geist entwichen ist. Denn man kann von Nietzsche sagen, dass er
nach aussen hin eigentlich nichts erlebte:[2] all sein Erleben war ein
so tief innerliches, dass es sich nur im Gespräch, von Mund zu Mund,
und in den Gedanken seiner Werke kundthat. Die Summe von Monologen,
aus denen im Wesentlichen seine vielbändigen Aphorismensammlungen
bestehen, bilden ein einziges grosses Memoirenwerk, dem sein
Geistesbild zu Grunde liegt. Dieses Bild ist es, das ich hier zu
zeichnen versuche: das _Gedanken-Erlebniss_ in seiner Bedeutung für
Nietzsches Geisteswesen--das _Selbstbekenntniss_ in seiner Philosophie.

Obgleich Nietzsche seit einigen Jahren häufiger genannt wird als irgend
ein anderer Denker, obgleich viele Federn damit beschäftigt sind,
theils Jünger für ihn zu werben, theils gegen ihn zu polemisiren, so
ist er doch in den Grundzügen seiner geistigen Individualität nahezu
unbekannt geblieben. Denn seitdem die kleine, zerstreute Schaar seiner
Leser, die er stets besass, und die ihn wahrhaft zu lesen verstand,
zu einer grossen Schaar von Anhängern angewachsen ist, seitdem weite
Kreise sich seiner bemächtigt haben, ist ihm das Schicksal widerfahren,
welches jedem Aphoristiker droht; einzelne seiner Ideen, aus dem
Zusammenhang gelöst und dadurch beliebig deutbar, sind zu Stich- und
Schlagworten ganzer Richtungen gemacht worden, erklingen im Kampf von
Meinungen, im Streit von Parteien, denen er selbst völlig fern stand.
Wohl verdankt er diesem Umstand seinen raschen Ruhm, den plötzlichen
Lärm um seinen stillen Namen,--aber im Besten, durchaus Einzigartigen
und Unvergleichlichen, das er zu geben hat, ist er dadurch vielleicht
übersehen worden und unbeachtet geblieben,--ja in eine vielleicht noch
tiefere Verborgenheit zurückgetreten als vorher. Viele feiern ihn
zwar noch laut, mit der ganzen Naivetät gläubiger Kritiklosigkeit,
doch gerade sie gemahnen unwillkürlich an sein bitteres Wort: Der
Enttäuschte spricht: »Ich horchte auf Widerhall, und ich. hörte nur
Lob--« (Jenseits von Gut und Böse 99). Kaum Einer von ihnen ist ihm
wahrhaft nachgegangen,--fernab von den Andern und ihrem Tagesstreit
und allein in der Ergriffenheit seines eigenen Innern; kaum Einer hat
diesen einsamen, schwer ergründlichen, heimlichen und auch unheimlichen
Geist begleitet, der Ungeheures zu tragen wähnte und an einem
ungeheuren Wahn zusammenbrach.

Daher ist es, als stände er da inmitten derer, die ihn am meisten
preisen, wie ein Fremdling und Einsiedler, dessen Fuss sich in ihren
Kreis nur verirrte, und von dessen verhüllter Gestalt Keiner den Mantel
gehoben,--ja, als stände er da mit der Klage seines »Zarathustra« auf
den Lippen:


    »Sie reden Alle von mir, wenn sie Abends ums Feuer sitzen,
    aber Niemand--denkt an mich! Dies ist die neue Stille, die
    ich lernte: ihr Lärm um mich breitet einen Mantel um meine
    Gedanken.«


_Friedrich Wilhelm Nietzsche_ ist am 15. October 1844 als der
einzige Sohn eines Predigers in Röcken bei Lützen geboren, von wo
sein Vater später nach Naumburg versetzt wurde. Seine Schulbildung
empfing er in der nahegelegenen Schulpforta und ging dann als Student
der classischen Philologie an die Universität Bonn, wo damals der
berühmte Philologe Ritschl lehrte. Er studirte fast ausschliesslich
unter Ritschl, verkehrte auch persönlich viel mit ihm und folgte ihm
im Herbst 1865 nach Leipzig. In seine Leipziger Studienzeit fällt
Nietzsches erste persönliche Beziehung zu Richard Wagner, den er
1868 im Hause von dessen Schwester, der Frau Prof. Brockhaus, kennen
lernte, nachdem er sich schon früher mit seinen Werken vertraut
gemacht. Noch vor seiner Promotion berief 1869 die Universität
Basel den 24jährigen Nietzsche auf den Lehrstuhl des Philologen
Kiessling, der von dort an das Johanneum in Hamburg ging. Nietzsche
erhielt erst eine ausserordentliche, kurz darauf eine ordentliche
Professur für classische Philologie, und die Universität Leipzig
verlieh ihm den Doctorgrad ohne vorhergehende Promotion. Neben seinen
Universitätscollegien übernahm er den Unterricht des Griechischen
in der dritten (höchsten) Classe des Baseler Pädagogiums,--einer
Mittelanstalt zwischen Gymnasium und Universität,--an welcher noch
andere Universitätsprofessoren, wie der Culturhistoriker Jacob
Burckhardt und der Philologe Mähly, lehrten. Hier gewann er grossen
Einfluss auf seine Schüler; sein seltnes Talent, junge Geister an
sich zu fesseln und entwickelnd, anregend auf sie zu wirken, kam zu
voller Geltung. Burckhardt sagte damals von ihm: einen solchen Lehrer
habe Basel noch niemals besessen. Burckhardt gehörte zum engsten
Freundeskreise Nietzsches, zu dem noch der Kirchenhistoriker Franz
Overbeck und der Kantphilosoph Heinrich Romundt zählten. Mit den
beiden Letztem wohnte Nietzsche zusammen in einem Hause, welches nach
Veröffentlichung der »Unzeitgemässen Betrachtungen« in der Baseler
Gesellschaft den Beinamen: »Die Gifthütte« erhielt. Gegen Schluss
seines Baseler Aufenthalts lebte Nietzsche eine Zeit lang mit seiner
einzigen, fast gleichaltrigen Schwester Elisabeth zusammen, die später
seinen Jugendfreund Bernhard Förster heiratete und mit diesem nach
Paraguay ging. 1870 machte Nietzsche den deutschfranzösischen Krieg als
freiwilliger Krankenpfleger mit; nicht lange darauf traten die ersten
drohenden Anzeichen eines Kopfleidens hervor, das sich in periodisch
wiederkehrenden heftigen Schmerzen und Uebelkeiten äusserte. Will
man Nietzsches eigenen, mündlichen Aeusserungen Glauben schenken,
so war dieses Leiden erblicher Natur, und ist sein Vater demselben
erlegen. Neujahr 1876 fühlte er sich bereits so köpf- und augenkrank,
dass er sich im Pädagogium vertreten lassen musste, und von da ab
verschlimmerte sich sein Zustand derartig, dass er mehrere Male dem
Tode nahe war.

»Ein paar Mal den Pforten des Todes entwischt, aber fürchterlich
gequält,--so lebe ich von Tag zu Tage; jeder Tag hat seine
Krankengeschichte.« Mit diesen Worten schildert Nietzsche in einem
Briefe an einen Freund die Leiden, unter welchen er ungefähr 15 Jahre
zugebracht hat.

Umsonst verlebte er den Winter 1876-1877 in dem milden Klima von
Sorrent, wo er sich in Gesellschaft einiger Freunde befand: von Rom
war seine langjährige Freundin Malwida von Meysenbug (Verfasserin
der bekannten »Memoiren einer Idealistin« und Anhängerin R. Wagners)
zu ihm gekommen; von Westpreussen Dr. Paul Rée, mit dem ihn schon
damals Freundschaft und Gleichheit der Bestrebungen-verband. Dem
kleinen gemeinschaftlichen Hauswesen hatte sich auch noch ein junger
brustkranker Baseler, Namens Brenner, zugesellt, der jedoch bald darauf
starb. Als auch der Aufenthalt im Süden ohne günstige Wirkung auf seine
Schmerzen blieb, gab Nietzsche 1878 seine Lehrthätigkeit am Pädagogium
und 1879 seine Professur an der Universität endgiltig auf. Seitdem
führte er nur noch ein Einsiedlerleben, theils in Italien--meistens in
Genua--theils im Schweizer Gebirge, namentlich in dem kleinen Engadiner
Dorfe Sils-Maria, unweit des Maloja-Passes.

Sein äusserer Lebenslauf erscheint damit abgeschlossen und gleichsam
beendet, während sein Denkerleben erst jetzt recht eigentlich beginnt:
so dass uns der Denker Nietzsche, mit dem wir uns zu beschäftigen
haben, erst am Ausgang dieser Lebensereignisse vollkommen deutlich
entgegentritt. Trotzdem werden wir auf alle Schicksalswendungen und
Erlebnisse, die hier nur kurz skizzirt worden sind, bei Gelegenheit
der verschiedenen Perioden seiner Geistesentwicklung noch ausführlicher
zurückkommen müssen. Sein Leben und Schaffen zerfällt in der Hauptsache
in drei ineinander übergreifende Perioden, die je ein Jahrzehnt
umfassen:

Zehn Jahre, 1869--1879, dauerte Nietzsches Lehrthätigkeit in Basel;
diese philologische Wirksamkeit fällt der Zeit nach fast völlig
zusammen mit dem Jahrzehnt seiner Jüngerschaft Wagner gegenüber und
mit der Veröffentlichung derjenigen Werke, welche von der Metaphysik
Schopenhauers beeinflusst sind: sie währte von 1868 bis 1878, in
welchem Jahre er zum Zeichen seiner philosophischen Sinnesänderung
Wagner sein positivistisches Erstlingswerk: »Menschliches,
Allzumenschliches« übersandte.

Seit dem Anfang der Siebzigerjahre bestand seine Verbindung mit Paul
Rée, die im Herbst 1882 ihren Abschluss fand,--gleichzeitig mit der
Vollendung der »Fröhlichen Wissenschaft«, des letzten derjenigen Werke
Nietzsches, die noch auf positivistischer Grundlage ruhen.

Im Herbst 1882 fasste Nietzsche den Entschluss, sich zehn Jahre
lang aller schriftstellerischen Thätigkeit zu enthalten. In dieser
Zeit tiefsten Schweigens wollte er seine neue, dem Mystischen sich
zuwendende Philosophie auf ihre Richtigkeit prüfen und dann 1892 als
ihr Verkündiger auftreten. Diesen Vorsatz hat er nicht ausgeführt,
sondern gerade in den Achtzigerjahren eine fast ununterbrochene
Productivität entfaltet und ist dann noch vor Ablauf des von ihm
angesetzten Jahrzehntes verstummt: 1889 setzte ein gewaltsamer Ausbruch
seines Kopfleidens plötzlich aller weiteren Geistesarbeit ein Ziel.

Der Zeitraum aber zwischen der Niederlegung seiner Baseler Professur
und dem Aufhören aller geistigen Thätigkeit überhaupt umfasst wiederum
ein Jahrzehnt, die Zeit von 1879--1889. Seitdem lebt Nietzsche als
Kranker, nach einem vorübergehenden Aufenthalt in der Anstalt von
Professor Binswanger in Jena, bei seiner Mutter in Naumburg.

Die beiden diesem Buche beigegebenen Bilder zeigen Nietzsche
inmitten dieser letzten zehn Leidensjahre. Und gewiss ist dies die
Zeit gewesen, in welcher seine Physiognomie, sein ganzes Aeussere,
am charakteristischesten ausgeprägt erschien: die Zeit, in welcher
der Gesammtausdruck seines Wesens bereits völlig vom tief bewegten
Innenleben durchdrungen war, und selbst noch in dem bezeichnend blieb,
was er zurückhielt und verbarg. Ich möchte sagen: dieses Verborgene,
die Ahnung einer verschwiegenen Einsamkeit,--das war der erste, starke
Eindruck, durch den Nietzsches Erscheinung fesselte. Dem flüchtigen
Beschauer bot sie nichts Auffallendes; der mittelgrosse Mann in seiner
überaus einfachen, aber auch überaus sorgfältigen Kleidung, mit
den ruhigen Zügen und dem schlicht zurückgestrichenen braunen Haar
konnte leicht übersehen werden. Die feinen, höchst ausdrucksvollen
Mundlinien wurden durch einen vornübergekämmten grossen Schnurrbart
fast völlig verdeckt; er hatte ein leises Lachen, eine geräuschlose
Art zu sprechen und einen vorsichtigen, nachdenklichen Gang, wobei
er sich ein wenig in den Schultern beugte; man konnte sich schwer
diese Gestalt inmitten einer Menschenmenge vorstellen,--sie trug das
Gepräge des Abseitsstehens, des Alleinstehens. Unvergleichlich schön
und edel geformt, so dass sie den Blick unwillkürlich auf sich zogen,
waren an Nietzsche die Hände, von denen er selbst glaubte, dass sie
seinen Geist verriethen,--eine darauf zielende Bemerkung findet sich in
»Jenseits von Gut und Böse« (288): »Es giebt Menschen, welche auf eine
unvermeidliche Weise Geist haben, sie mögen sich drehen und wenden,
wie sie wollen, und die Hände vor die verrätherischen Augen halten
--als ob die Hand kein Verräther wäre!--.«[3]

Wahrhaft verrätherisch sprachen auch die Augen. Halbblind, besassen
sie dennoch nichts vom Spähenden, Blinzelnden, ungewollt Zudringlichen
vieler Kurzsichtigen; vielmehr sahen sie aus wie Hüter und Bewahrer
eigener Schätze, stummer Geheimnisse, die kein unberufener Blick
streifen sollte. Das mangelhafte Sehen gab seinen Zügen eine ganz
besondere Art von Zauber dadurch, dass sie, anstatt wechselnde, äussere
Eindrücke wiederzuspiegeln, nur das Wiedergaben, was durch sein Inneres
zog. In das Innere blickten diese Augen und zugleich,--weit über die
nächsten Gegenstände hinweg,--in die Ferne, oder besser: in das Innere
wie in eine Ferne. Denn im Grunde war seine ganze Denkerforschung
nichts als ein Durchforschen der Menschenseele nach unentdeckten
Welten, nach »ihren noch unausgetrunkenen Möglichkeiten« (Jenseits
von Gut und Böse 45), die er sich rastlos schuf und umschuf. Wenn er
sich einmal gab, wie er war, im Bann eines ihn erregenden Gesprächs zu
Zweien, dann konnte in seine Augen ein ergreifendes Leuchten kommen
und schwinden;--wenn er aber in finsterer Stimmung war, dann sprach
die Einsamkeit düster, beinahe drohend aus ihnen, wie aus unheimlichen
Tiefen,--aus jenen Tiefen, in denen er immer allein blieb, die er
mit Niemandem theilen konnte, vor denen ihn selbst bisweilen Grauen
erfasste,--und in die sein Geist zuletzt versank.

Einen ähnlichen Eindruck des Verborgenen und Verschwiegenen machte
auch Nietzsches Benehmen. Im gewöhnlichen Leben war er von grosser
Höflichkeit und einer fast weiblichen Milde, von einem stetigen,
wohlwollenden Gleichmuth,--er hatte Freude an den vornehmen Formen im
Umgang und hielt viel auf sie. Immer aber lag darin eine Freude an
der _Verkleidung_,--Mantel und Maske für ein fast nie entblösstes
Innenleben. Ich erinnere mich, dass, als ich Nietzsche zum ersten
Male sprach,--es war an einem Frühlingstage in der Peterskirche
zu Rom,--während der ersten Minuten das gesucht Formvolle an ihm
mich frappirte und täuschte. Aber nicht lange täuschte es an diesem
Einsamen, der seine Maske doch nur so ungewandt trug, wie Jemand, der
aus Wüste und Gebirge kommt, den Rock der Allerweltsleute trägt; sehr
bald tauchte die Frage auf, die er selbst in die Worte zusammengefasst
hat: »Bei Allem, was ein Mensch _sichtbar werden_ lässt, kann man
fragen: was soll es _verbergen_? Wovon soll es den Blick ablenken?
Welches Vorurtheil soll es erregen? Und dann noch: bis wie weit geht
die Feinheit dieser Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?«

Dieser Zug stellt nur die Kehrseite der Einsamkeit dar, aus welcher
Nietzsches Innenleben ganz herausbegriffen werden muss,--einer sich
stetig steigernden Selbstvereinsamung und Selbstbeziehung auf sich.

In dem Maasse, als sie zunimmt, wird alles nach Aussen gewandte Sein
zum Schein,--zum blossen täuschenden Schleier, den die Einsamkeitstiefe
nur um sich webt, um zeitweilig für Menschenaugen erkennbare Oberfläche
zu werden. »Tiefdenkende Menschen kommen sich im Verkehr mit Andern als
Komödianten vor, weil sie sich da, um verstanden zu werden, immer erst
eine Oberfläche anheucheln müssen.« (Menschliches, Allzumenschliches
II 232). Ja, man kann selbst Nietzsches Gedanken, sofern sie sich
theoretisch aussprechen, noch mit zu dieser Oberfläche rechnen, hinter
der, abgründig tief und stumm, das innere Erleben ruht, dem sie
entstiegen sind. Sie gleichen einer »Haut, welche Etwas verräth, aber
noch mehr verbirgt« (Jenseits von Gut und Böse 32); »denn«, sagt er
»entweder verstecke man seine Meinungen, oder man verstecke sich hinter
seine Meinungen« (Menschliches, Allzumenschliches II 338). Er findet
eine schöne Bezeichnung für sich selbst, wenn er in diesem Sinne von
den »Verborgenen unter den Mänteln des Lichts« redet (Jenseits von Gut
und Böse 44),--von denen, die sich in ihre Gedankenklarheit verhüllen.

In jeder Periode seiner Geistesentwicklung finden wir daher Nietzsche
in irgend einer Art und Form der Maskirung, und immer ist sie es,
welche die jeweilige Entwicklungsstufe recht eigentlich charakterisirt.
»Alles, was tief ist, liebt die Maske.... Jeder tiefe Geist braucht
eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine
Maske« (Jenseits von Gut und Böse 40).

»Wanderer, wer bist Du?-- -- --Ruhe Dich hier aus.-- -- --erhole
Dich!-- -- --Was dient Dir zur Erholung?-- -- --« »Zur Erholung? Zur
Erholung? Oh du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gieb mir, ich
bitte-- --« »Was? Was? sprich es aus!--»Eine Maske mehr! Eine zweite
Maske!...« (Jenseits von Gut und Böse 278).

Und zwar wird es sich uns aufdrängen, dass in dem Grade, als
seine Selbstvereinsamung und grüblerische Selbstbeziehung auf
sich ausschliesslicher wird, auch die Bedeutung der jedesmaligen
Verkleidung eine tiefere wird, und das wirkliche Wesen hinter seiner
Aeusserungsform, das wirkliche Sein hinter dem vorgehaltenen Schein
immer weniger sichtbar zurückweicht. Schon in »Der Wanderer und sein
Schatten« (175) weist er auf die »Mediocrität als Maske« hin. »Die
Mediocrität ist die glücklichste Maske, die der überlegene Geist
tragen kann, weil sie die grosse Menge, das heisst die Mediocren,
nicht an Maskirung denken lässt--: und doch nimmt er sie gerade
ihretwegen vor,--um sie nicht zu reizen, ja nicht selten aus Mitleid
und Güte.« Von dieser Maske des Harmlosen an wechselt er sie bis zu
der des Grauenhaften, die noch Grauenhafteres hinter sich verbirgt:
»--bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzu
gewisses Wissen.« (Jenseits von Gut und Böse 270),--und endlich bis zu
einem täuschenden Lichtbild des göttlich Lachenden, das den Schmerz
in Schönheit zu verklären strebt. So ist Nietzsche innerhalb seiner
letzten philosophischen Mystik allmälig in jene letzte Einsamkeit
versunken, in deren Stille wir ihm nicht mehr folgen können, die uns
nur noch, wie Symbole und Wahrzeichen, seine lachenden Gedankenmasken
und deren Deutung übrig lässt, während er für uns bereits zu dem
geworden ist, als den er sich einmal in einem Briefe unterschreibt:
»Der auf ewig Abhandengekommene.« (Brief vom 8. Juli 1881 aus
Sils-Maria.)

Dieses innere Alleinsein, diese Einsamkeit ist in allen Wandlungen
Nietzsches der unveränderliche Rahmen, aus welchem sein Bild uns
anschaut. Mag er sich verkleidet haben, wie er will,--immer trägt
er »die Einöde und den heiligen unbetretbaren Grenzbezirk mit sich,
wohin er auch gehe«. (Der Wanderer und sein Schatten 387.) Und es
drückt daher auch nur das Bedürfniss aus, dass das äussere Dasein
seiner einsamen Innerlichkeit entsprechen möge, wenn er einem Freunde
schreibt: (Am 31 October 1880 aus Italien.)

»Als Recept, sowie als natürliche Passion erscheint mir immer
deutlicher die Einsamkeit und zwar die vollkommene,--und den Zustand,
in dem wir unser Bestes schaffen können, muss man hersteilen und viele
Opfer dafür bringen können.«

Den zwingenden Anlass aber, sein inneres Alleinsein so vollkommen wie
möglich zu einem äusseren zu machen, bot ihm erst sein _körperliches
Leiden_, welches ihn von den Menschen forttrieb und selbst den Verkehr
mit einzelnen seiner Freunde,--immer einen seltenen Verkehr zu
Zweien,--nur mit grossen Unterbrechungen möglich machte.

Leiden und Einsamkeit,--das sind also die beiden grossen Schicksalszüge
in Nietzsches Entwicklungsgeschichte, immer stärker ausgeprägt,
je näher man dem Ende kommt. Und sie tragen bis an das Ende jenes
wundersame Doppelgesicht, welches sie als ein äusserlich _gegebenes
Lebenslos_, und zugleich als eine rein psychisch bedingte, eine
_gewollte innere_ Nothwendigkeit erscheinen lassen. Auch sein
physisches Leiden, nicht minder als seine Verborgenheit und Einsamkeit,
reflectirte und symbolisirte etwas Tiefinnerliches--und dies so
unmittelbar, dass er es auch in seine äussere Schickung aufnahm wie
einen ihm zugedachten ernsten Freund und Wegegenossen. So schreibt er
einmal bei Gelegenheit einer Beileidsäusserung (Ende August 1881 aus
Sils-Maria): »Es jammert mich immer zu hören, dass Sie leiden, dass
Ihnen irgend etwas fehlt, dass Sie Jemanden verloren haben: während bei
mir Leiden und Entbehrung _zur Sache_ gehören und nicht, wie bei Ihnen,
zum Unnöthigen und zur Unvernunft des Daseins.«

Hierauf beziehen sich die einzelnen, in seinen Werken zerstreuten
Aphorismen über den _Werth des Leidens für die Erkenntniss_.

Er schildert den Einfluss der Stimmungen des Kranken und des
Genesenden auf das Denken, er begleitet die feinsten Uebergänge
solcher Stimmungen bis ins Geistigste hinauf. Eine periodisch
wiederkehrende Erkrankung, wie die seinige es war, scheidet beständig
eine Lebensperiode, und damit auch eine Gedankenperiode von der
vorhergehenden. Sie gibt durch dieses Doppeldasein die Erfahrungen
und das Bewusstsein zweier Wesenheiten. Sie lässt alle Dinge immer
wieder auch dem Geiste neu werden,--»_neu schmecken_« nennt er es
einmal höchst treffend,--und setzt ganz neue Augen auch noch für das
Gewohnteste, Alltäglichste ein. Ein Jegliches erhält etwas von der
Frische und dem lichten Thau der Morgenschönheit, weil _eine Nacht_
es vom vorhergehenden Tage getrennt hat. So wird jede Genesung ihm
zu einer Palingenesis seiner selbst und darin zugleich des Lebens um
ihn,--und immer wieder ist der Schmerz »verschlungen in den Sieg«.

Deutet Nietzsche es schon selbst an, dass die Natur seines physischen
Leidens sich gewissermassen in seinen Gedanken und Werken widerspiegle,
so springt der enge Zusammenhang von Denken und Leiden noch auffälliger
hervor, wenn man sein Schaffen und dessen Entwicklung als Ganzes
betrachtet. Man steht nicht jenen allmäligen Veränderungen des
Geisteslebens gegenüber, wie sie ein Jeder durchmacht, der seiner
natürlichen Grösse entgegenwächst,-- nicht den Wandlungen des
_Wachsthums_: sondern einem jähen Wandel und Wechsel, einem fast
rhythmischen Auf und Nieder von Geisteszuständen, die letzten Grundes
nichts Anderem zu entspringen scheinen, als einem _Erkranken an
Gedanken und einem Genesen an Gedanken_.

Nur aus der innersten Bedürftigkeit seiner ganzen Natur, nur aus
dem quälendsten Heilungsverlangen heraus erschliessen sich ihm neue
Erkenntnisse. Kaum aber ist er völlig in ihnen aufgegangen, kaum hat
er an ihnen ausgeruht und sie seiner eignen Kraft assimilirt,--da
ergreift es ihn auch schon wieder wie ein neues Fieber, etwas wie ein
unruhig drängender Ueberschuss an innerer Energie, der zuletzt seinen
Stachel gegen ihn selbst kehrt und ihn an sich selber erkranken lässt.
»Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft», sagt Nietzsche
im Vorwort zur Götzen-Dämmerung (s. I);--in diesem Zuviel thut seine
Kraft sich Schmerzen an, tobt sie sich aus in leidvollen Kämpfen,
reizt sich auf zu den Qualen und Erschütterungen, an denen sein Geist
fruchtbar werden will.[4] Mit der stolzen Behauptung: »Was mich nicht
umbringt, macht mich stärker!« (Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 8)
geisselt er sich,--nicht bis zum Umbringen, nicht bis zum Tode, aber
eben bis zu jenen Fiebern und Verwundungen, deren er bedarf. Dieses
Schmerzheischende zieht sich durch die ganze Entwicklungsgeschichte
Nietzsches als die eigentliche Geistesquelle in ihr; er spricht es
am treffendsten in den Worten aus: »Geist ist das Leben, das selber
ins Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne
Wissen,--wusstet ihr das schon? Und des Geistes Glück ist dies: gesalbt
zu sein und durch Thränen geweiht zum Opferthier,-- wusstet ihr das
schon?------Ihr kennt nur des Geistes Funken: aber ihr seht den Amboss
nicht, der er' ist, und nicht die Grausamkeit seines Hammers!« (Also
sprach Zarathustra II 33.) »Jene Spannung der Seele im Unglück,--
-- --ihre Schauer im Anblick des grossen Zügrundegehens, ihre
Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen
des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist,
List, Grösse geschenkt worden ist:--ist es nicht ihr unter Leiden,
unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden?« (Jenseits von
Gut und Böse 225.)

Und immer wieder tritt Zweierlei an diesem Vorgang besonders auffällig
hervor: Einmal der enge Zusammenhang von Gedankenleben und Seelenleben
in seinem Wesen, die Abhängigkeit seines Geistes von den Bedürfnissen
und Erregungen seines Innern. Dann aber die Eigenthümlichkeit, dass aus
dieser so engen Zusammengehörigkeit sich immer von Neuem Leiden ergeben
müssen; jedesmal bedarf es einer höhen Gluth der Seele, wo es zu
höchster Klarheit, zu hellem Licht der Erkenntniss kommen soll,--aber
nie darf diese Gluth in wohlthuender Wärme ausströmen, sondern muss
verwunden mit sengenden Feuern und brennenden Flammen: auch hier
gehört,--wie er es in dem oben angeführten Briefe ausdrückt,--»das
Leiden zur Sache«.

Wie Nietzsches körperliches Leiden der Anlass zu seiner äusseren
Vereinsamung wurde, so muss auch in seinem psychischen Leidenszustand
einer der tiefsten Gründe gesucht werden für seinen scharf zugespitzten
Individualismus, für die strenge Betonung des »Einzelnen« als
des »Einsamen« in Nietzsches besonderem Sinn. Die Geschichte des
»Einzelnen« ist durchaus eine _Leidensgeschichte_ und nicht irgend
welchem allgemeinen Individualismus zu vergleichen,--ihr Inhalt lautet
viel weniger: »Selbstgenügsamkeit« als: »_Selbsterduldung«_.Betrachtet
man das leidensvolle Auf und Nieder seiner Geisteswandlungen, dann
liest man die Geschichte eben so vieler Selbstverwundungen, und es
verbirgt einen langen, schmerzlichen Heldenkampf mit sich selbst, wenn
Nietzsche über seine Philosophie die kühnen Worte setzt: »Dieser Denker
braucht Niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber!« (Der
Wanderer und sein Schatten 249.)

Seine ausserordentliche Fähigkeit, sich immer wieder in die härteste
Selbstüberwindung einzuleben, in jeder neuen Erkenntniss immer wieder
heimisch zu werden, scheint nur da zu sein, um die Trennung vom
Neuerrungenen jedesmal um so erschütternder zu gestalten. »Ich komme!
brich Deine Hütte ab und wandre mir entgegen!« gebietet ihm der Geist,
und mit trotziger Hand macht er sich selbst obdachlos und sucht von
Neuem das Dunkel, das Abenteuer und die Wüste auf mit der Klage auf
den Lippen: »Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten
Fuss: und weil ich muss, so habe ich oft für das Schönste, das mich
nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick,--weil es mich nicht
halten konnte!« (Fröhliche Wissenschaft 309.) Sobald ihm in einer
Anschauungsweise wahrhaft wohl geworden ist, erfüllt sich an ihm selbst
sein Wort: »Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe
hinaus.« (Jenseits von Gut und Böse 73.)[5]

Der _Meinungswechsel_, der _Wandlungsdrang_ stecken daher der
Philosophie Nietzsches tief im Herzen, sie sind durchaus bestimmend für
die Art seines Erkennens. Nicht umsonst nennt er sich im Schlusslied
von »Jenseits von Gut und Böse« einen: »Ringer, der zu oft sich selbst
bezwungen,--Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,-- --Durch eignen
Sieg verwundet und gehemmt.«

Im Heroismus der Bereitwilligkeit, die eigne Ueberzeugung preiszugeben,
nimmt dieser Drang in seinem Innern geradezu die Stelle der
_Ueberzeugungstreue_[6] ein. »Wir würden uns für unsere Meinungen
nicht verbrennen lassen:« heisst es in Der Wanderer und sein Schatten
(333), »wir sind ihrer nicht so sicher. Aber vielleicht dafür, dass
wir unsere Meinungen haben dürfen und ändern dürfen.« Und in der
Morgenröthe (370) spricht sich diese Gesinnung in den schönen Worten
aus: »Nie etwas zurückhalten oder Dir verschweigen, was _gegen Deinen
Gedanken_ gedacht werden kann. Gelobe es Dir! Es gehört zur ersten
Redlichkeit des Denkens. Du musst jeden Tag auch Deinen Feldzug
gegen Dich selber führen. Ein Sieg und eine eroberte Schanze sind
nicht mehr Deine Angelegenheit, sondern die der Wahrheit,--aber auch
Deine Niederlage ist nicht mehr Deine Angelegenheit!« Darüber steht
als Titel: »Inwiefern der Denker seinen Feind liebt.« Aber diese
Feindesliebe entspringt der dunklen Ahnung, dass im Feind ein künftiger
Genosse verborgen sein könne, und dass nur des Unterliegenden neue
Siege harren: sie entspringt der Ahnung, dass für ihn der stets
gleiche, schmerzliche Seelenprocess der Selbstverwandlung unumgängliche
Bedingung aller Schaffenskraft sei. »Der Geist ist es, der uns
rettet, dass wir nicht ganz verglühen und verkohlen.-- --Vom Feuer
erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben, von Meinung
zu Meinung,-- --als _edle Verräther_ aller Dinge.« (Menschliches,
Allzumenschliches, I 637.) »--wir _müssen_ Verräther werden,
Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. (Menschliches,
Allzumenschliches, I 629.) Dieser Einsame musste gleichsam sich
selber vervielfältigen, in eine Mehrheit von Denkern zerfallen, in
dem Masse, als er sich in sich selber abschloss;--nur so vermochte
er geistig zu leben. Der Selbstverwundungstrieb war nur eine Art
seines Selbsterhaltungstriebes: nur indem er sich immer wieder in
Leiden stürzte, entlief er seinen Leiden. »Unverwundbar bin ich
allein an meiner Ferse!-- -- -- -- --Und nur wo Gräber sind, gibt es
Auferstehungen!-- -- --Also sang Zarathustra;« (II 46)--Er, zu dem das
Leben einst »dies Geheimniss redete«: »Siehe, sprach es, ich bin das,
was sich immer selber überwinden muss« (II 49).[7]

Ueber nichts hat wohl Nietzsche so oft und so tief nachgedacht,
wie über dieses sein eignes Wesensräthsel, und über nichts können
wir uns daher aus seinen Werken so gut unterrichten wie gerade
hierüber: im Grunde waren ihm alle seine Erkenntnissräthsel nichts
anderes. Je tiefer er sich selbst erkannte, desto rückhaltsloser
wurde seine ganze Philosophie zu einer ungeheuren Widerspiegelung
seines Selbstbildes,--und desto naiver legte er es dem Allbilde als
solchem unter. Wie unter den Philosophen abstracte Systematiker ihre
eignen Begriffe zu einer Weltgesetzlichkeit verallgemeinert haben, so
verallgemeinert Nietzsche seine Seele zur Weltseele. Aber um sein Bild
zu zeichnen, bedarf es nicht erst der Zurückführung seiner sämmtlichen
Theorien auf ihn selbst, wie es in den folgenden Theilen geschieht.
Ein gewisses Verständniss dafür ist auch schon hier möglich, wo
Nietzsche lediglich in Bezug auf seine geistige Veranlagung betrachtet
wird, Der Reichthum derselben ist zu mannigfaltig, als dass er in
einer bestimmten Ordnung erhalten werden könnte; die Lebendigkeit und
der Machtwillen jedes einzelnen Talentes und Geistestriebes führen
nothwendig zu einer nie beschwichtigten Nebenbuhlerschaft aller
Talente. In Nietzsche lebten in stetem Unfrieden, nebeneinander und
sich gegenseitig tyrannisirend, ein Musiker von hoher Begabung, ein
Denker von freigeisterischer Richtung, ein religiöses Genie und ein
geborener Dichter. Nietzsche selbst versuchte, daraus die Besonderheit
seiner geistigen Individualität zu erklären, und erging sich häufig in
eingehenden Gesprächen darüber.

Er unterschied zwei grosse Hauptgruppen von Charakteren: solche,
deren verschiedene Regungen und Triebe in Harmonie zueinander
stehen, eine gesunde Einheit bilden, und solche, deren Triebe und
Regungen sich gegenseitig hemmen und befehden. Die erste Gruppe
verglich er,--innerhalb des einzelnen Individuums,--mit dem Zustande
der Menschheit zur Zeit des Heerdenwesens, vor aller staatlichen
Gliederung: wie dort der Einzelne seine Individualität und sein
Machtgefühl nur besitzt im geschlossenen Ganzen der Heerde, so hier
die einzelnen Triebe im Ganzen der geschlossenen Persönlichkeit, deren
Inbegriff sie bilden. Die Naturen der zweiten Gruppe dagegen leben
in ihrem Innern, wie die Menschen bei einem Kriege Aller gegen Alle
leben würden;--die Persönlichkeit selbst löst sich gewissermassen in
eine Unsumme von eigenmächtigen Triebpersönlichkeiten auf, in eine
Subject-Vielheit. Dieser Zustand wird nur überwunden, wenn von aussen
her eine höhere Macht, eine stärkere Autorität geschaffen werden kann,
die über Alle zu herrschen weiss: gleich einem Gesetz staatlicher
Gliederung, für das es nur unterworfene Gewalten gibt. Denn was in den
zuerst geschilderten Naturen ganz instinctmässig vor sich geht--die
Einordnung des Einzelnen ins Ganze,--das muss hier erst erobert und den
tyrannischen Einzelgelüsten abgezwungen werden als eine unerbittlich
feste Rangordnung der Triebe untereinander.[8] Man sieht, hier ist der
Punkt, an welchem Nietzsche die Möglichkeit einer Selbstbehauptung als_
Ganzes durch das Leiden alles Einzelnen_ aufgegangen ist. Hier liegt
wie in einer Knospe eingeschlossen die ursprüngliche Bedeutung seiner
späteren Decadenz-Lehre mit dem Grundgedanken: es giebt die Möglichkeit
eines höchsten Vermögens und Schaffens durch ein beständiges Erdulden
und Verwunden. Mit einem Wort: hier ging ihm die Bedeutung des
_Heroismus als Ideal_ auf. Die eigene qualvolle Unvollkommenheit
riss ihn dem Ideal und dessen Tyrannei entgegen: »Unsere Mängel
sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen.« (Menschliches,
Allzumenschliches, II 86).

»Was macht heroisch? zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten
Hoffnung entgegengehen« sagt er (Fröhliche Wissenschaft 268). Und ich
füge dem noch drei Aphorismen bei, die er mir einmal niederschrieb,
und die mir seine Auffassung mit besonderer Schärfe zu verdeutlichen
scheinen:

»Der Gegensatz des heroischen Ideals ist das Ideal der harmonischen
Allentwicklung,--ein schöner Gegensatz und ein sehr wünschenswerther!
Aber nur ein Ideal für grundgute Menschen. (Zum Beispiel: Goethe).[9]

Weiter: »Heroismus--das ist die Gesinnung eines Menschen, der ein Ziel
erstrebt, gegen welches gerechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt.
Heroismus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergang.«

Und als drittes: »Menschen, die nach Grösse streben, sind gewöhnlich
böse Menschen; es ist ihre _einzige Art, sich zu ertragen_.« Das Wort
»böse« will hier ebenso wie oben das Wort »gut« weder im Sinn des
landläufigen Urtheils noch überhaupt im Sinne eines Urtheils genommen
werden, sondern blos als Bezeichnung eines Thatbestandes: und als eine
solche bezeichnet es für Nietzsche stets den »innern Krieg« in einer
Menschenseele,--dasselbe, was er später »Anarchie in den Instincten«
nennt. In seiner letzten Schaffensperiode hat sich ihm, auf dem Wege
einer bestimmten Gedankenentwicklung, das Bild dieses Seelenzustandes
bis zum Culturbilde der Menschheit ausgedehnt; die Losungsworte heissen
da: Innenkrieg = Décadence, und Sieg = Selbstuntergang der Menschheit
zur Erschaffung einer Uebermenschheit. Ursprünglich aber handelt es
sich für ihn um sein eigenes Seelenbild.

Er unterscheidet nämlich die harmonische oder einheitliche und die
heroische oder vielspältige Naturanlage als die beiden Typen des
_handelnden_ und des _erkennenden_ Menschen, mit anderen Worten: den
Typus seines Wesens-Gegensatzes und seinen eigenen.

Zum handelnden Menschen wird ihm der Ungetheilte und Unzersetzte,
der Instinct-Mensch, die Herrennatur. Wenn dieser seiner natürlichen
Entwicklung folgt, muss sein Wesen sich immer selbstsicherer und fester
zuspitzen und seine gedrängte Kraft in gesunden Thaten sich entladen.
Die Hemmnisse, welche die Aussenwelt ihm möglicherweise entgegenstellt,
enthalten zugleich eine Anregung und Förderung dafür: denn nichts ist
ihm naturgemässer, als der tapfere Kampf nach aussen hin, in nichts
erweist sich seine ungebrochene Gesundheit so sehr als in seiner
Kriegstüchtigkeit. Mag sein Intellect klein oder gross sein: in jedem
Fall steht er im Dienst dieser frischen Wesenskraft und dessen, was
ihr wohl thut und noth thut,-- er hat sich ihr in seinen Zielen nicht
entgegengesetzt, er hat sie nicht zersetzt, er folgt nicht eignen Wegen.

Ganz anders der erkennende Mensch. Anstatt nach einem festen
Zusammenschluss seiner Triebe zu suchen, der sie schützt und erhält,
lässt er sie so weit als irgend möglich auseinanderlaufen; je breiter
das Gebiet, das sie zu umfassen lernen, desto besser, je mehr der
Dinge, bis zu denen sie ihre Fühlhörner ausstrecken, und die sie
betasten, sehen, hören, riechen, desto tüchtiger sind sie ihm für seine
Zwecke,--für die Zwecke des Erkennens. Denn ihm ist nunmehr »das Leben
ein Mittel der Erkenntniss« (Fröhliche Wissenschaft 324) und erruft
seinen Genossen zu (Fröhliche Wissenschaft 319): »Wir selber wollen
unsere Experimente und Versuchstiere sein!« So gibt er sich selbst
freiwillig als Einheit auf,--je polyphoner sein Subject, desto lieber
ist es ihm:


    »Scharf und milde, grob und fein,
    Vertraut und seltsam, schmutzig und rein,
    Der Narren und Weisen Stelldichein:
    Dies Alles bin ich, will ich sein,
    Taube zugleich, Schlange und Schwein!«

    (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 11.)


Denn wir Erkennenden, sagt er, müssen dankbar sein »gegen Gott,
Teufel, Schaf und Wurm in uns,-- -- -- --mit Vorder- und Hinterseelen,
denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder-
und Hintergründen, welche kein Fuss zu Ende laufen dürfte, wir die
geborenen, geschworenen, eifersüchtigen Freunde der _Einsamkeit_-- --«.
(Jenseits von Gut und Böse 44.) Der Erkennende hat die Seele, welche
»die längste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann,-- -- --die
_umfänglichste_ Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und
schweifen kann;-- -- --die sich selber fliehende, die sich selber im
weitesten Kreise einholt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am
süssesten zuredet: -- -- --die sich selber bebendste, in der alle Dinge
ihr Strömen und Wiederströmen und Ebbe und Fluth haben-- -- --.« (Also
sprach Zarathustra III 82.)

Mit solcher Seele wird man zum »Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn«
(Jenseits von Gut und Böse 205), immer im Begriff, sich selbst zu
entlaufen, um sich bis in fremdes Wesen hinein zu erstrecken: »Wenn
man erst sich selber gefunden hat, muss man verstehen, sich von Zeit
zu Zeit zu _verlieren_--und dann wieder zu finden: vorausgesetzt, dass
man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachtheilig, immer an Eine
Person gebunden zu sein.« (Der Wanderer und sein Schatten 306.) Das
Gleiche besagen die Verse (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und
Rache 33):


    »Verhasst ist mir's schon, selber mich zu führen!
    Ich liebe es, gleich Wald- und Meeresthieren,
    Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,
    In holder Irrniss grüblerisch zu hocken.
    Von ferne her mich endlich heimzulocken,
    Mich selber zu mir selber--zu verführen.«


Das Versehen ist überschrieben »Der Einsame«, d. h. der von den
Anforderungen und Kämpfen der Aussenwelt möglichst Abgeschiedene;
denn kriegstüchtig nach aussen hin wird ein solches Innenleben in dem
Masse immer weniger, je vollkommener es benommen und bewegt ist von
den Kriegen, Siegen, Niederlagen und Eroberungen innerhalb seiner
eignen Triebe. In der Einsamkeit seiner geistigen Selbstversenkung und
Selbsterweiterung sucht es vielmehr eine Hülle, die es schonend behüte
vor den lauten und verwundenden Lebensereignissen draussen,--steht
es doch schon ohnedies in Kampf und Wunden; gilt doch von diesem
Erkennenden die Schilderung:--das ist ein Mensch, der beständig
ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt;
der von _seinen eigenen Gedanken wie von Aussen her_,-- --als von
_seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen_ getroffen wird.« (Jenseits
von Gut und Böse 292.)

Denn die kriegerische Stellung der Triebe zu einander in seinem Innern
ist damit nicht aufgehoben, sondern eher gesteigert: »Wer aber die
Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade
hier als inspirirende Genien (oder Dämonen und Kobolde--) ihr Spiel
getrieben haben mögen, wird finden,-- -- -- -- --dass jeder Einzelne
von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und
als berechtigten _Herrn_ aller übrigen Triebe darstellen möchte.
Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig und _als solcher_ versucht er zu
philosophiren« (Jenseits von Gut und Böse 6).

Daher grade legt die Erkenntniss des Erkennenden ein »entscheidendes
Zeugniss dafür ab, _wer er ist_,--das heisst, in welcher Rangordnung
die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind«
(ebendaselbst).

Trotzdem aber wird durch das Erkennen in diesem Innen-Krieg eine
Verwandlung vollzogen, die demselben eine neue Bedeutung gibt,--eine
rettende und erlösende Bedeutung: in der Erkenntniss ist ein allen
Trieben gemeinsames Ziel gegeben, eine Richtung, der ein jeder von
ihnen insofern zustrebt, als sie alle das Nämliche erobern wollen.
Die Zersplitterung des Beliebens, die Tyrannei der Willkür ist damit
gebrochen. Die Triebe halten an ihrer »Subjects-Vielheit« fest, aber
sie unterstellen dieselbe einer höheren Macht, die ihnen als Dienern
und Werkzeugen befiehlt; sie bleiben wild und kriegerisch, aber sie
werden in ihrem Kriegs-Ziel unvermerkt zu Helden, die zu kämpfen
und zu bluten berufen sind;--das heroische Ideal ist inmitten ihrer
Selbstsucht aufgerichtet und zeigt den für sie einzig möglichen Weg
zur Grösse. So ist die Gefahr der Anarchie beseitigt zu Gunsten eines
sichern »Gesellschaftsbaues der Triebe und Affecte«.

Ich erinnere mich eines mündlichen Ausspruches von Nietzsche, der sehr
bezeichnend diese Freude des Erkennenden an der umfassenden Breite und
Tiefe seiner Natur ausdrückt,--die Lust, die daraus entspringt, dass
er sein Leben nunmehr als ein »Experiment des Erkennenden« (Fröhliche
Wissenschaft 324) auffassen darf: »Einer alten, wetterfesten Burg
gleiche ich, die viele versteckte Keller und Unterkeller hat; in
meine eignen verborgensten Dunkelgänge bin ich noch nicht ganz
hinabgekrochen, in meine unterirdischen Kammern bin ich noch nicht
gekommen. Sollte mit ihnen nicht alles unterbaut sein? sollte ich nicht
aus meiner Tiefe zu allen Oberflächen der Erde hinaufklettern können?
sollten wir nicht auf jedem Dunkelgang zu uns selber wiederkehren?«

Dasselbe Gefühl gibt auch in der »Fröhlichen Wissenschaft« (249)
der Aphorismus wieder, der die Ueberschrift trägt: »Der Seufzer des
Erkennenden«: »Oh über meine Habsucht! In dieser Seele wohnt keine
Selbstlosigkeit,-- vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, welches
durch viele Individuen wie durch _seine_ Augen sehen und wie mit
_seinen_ Händen greifen möchte,--ein auch die ganze Vergangenheit noch
zurückholendes Selbst, welches nichts verlieren will, was ihm überhaupt
gehören könnte! Oh über diese Flamme-meiner Habsucht! Oh dass ich in
hundert Wesen wiedergeboren würde!«

Auf diese Weise wird das Umfassende und Verschlungene der
unharmonischen, der »stillosen« Natur zu einem gewaltigen Vorzug:
»Wollten und wagten wir eine Architektur nach _unserer_ Seelen-Art,--
-- -- -- so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein!« (Morgenröthe
169.)--aber kein Labyrinth, in welchem die Seele sich selbst verliert,
sondern aus dessen Wirrnis sie zur Erkenntniss hindurchdringt. »Man
muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären
zu können«,-- dieses Wort Zarathustras (I 15) gilt von ihr, die
zum Sternendasein, zum Licht geboren ist als zu ihrem eigensten
Wesensgenius, ihrer eigensten Verklärung. Nietzsche hat dies unter dem
Namen: »Eine lichte Art von Schatten« geschildert (Der Wanderer und
sein Schatten 258): »Dicht neben den ganz nächtigen Menschen befindet
sich fast regelmässig, wie an sie angebunden, eine Lichtseele. Sie ist
gleichsam der negative Schatten, den jene werfen.«

Diese Lichtseele ist um so strahlender, je mächtiger und nächtiger,
also je tyrannischer und gefährlicher die Natur ist, welche sich
gleichsam in ihr verbrennen lässt,--alle ihre Neigungen als Brennstoff
in diese heilige Gluth wirft. Die Art, in welcher dies geschieht,
wechselt mit dem Erkenntnissstandpunkt des Erkennenden: Nietzsches
Auffassung dessen, was »Erkenntnisse ist, ist in seinen verschiedenen
Geistesperioden eine verschiedene, und dementsprechend verschiebt sich
auch jedesmal das, was er die »innere Rangordnung der Triebe« nennt,
innerhalb des wogenden Kampfes in dieser reichen Genie-Natur. Man
kann sagen, dass aus den wechselnden Bildern solcher Verschiebungen
sich die Geschichte seiner Entwicklung im Wesentlichen zusammensetzt,
bis in seiner letzten Schaffensperiode sein ganzes Innenleben sich
in philosophischen Theorien widerspiegelt: bis ihm Dunkelseele und
Lichtseele zu Repräsentanten des Menschlichen und Uebermenschlichen
werden.

Der geschilderte Seelenprocess selbst aber bleibt durch alle Wandlungen
hindurch in seinen Grundzügen der nämliche. »Hat man Charakter,
so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt,«
sagt Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse 70). Nun, dieses ist sein
typisches Erlebniss, das immer wiederkommt, an dem er sich immer wieder
aufrichtete, über sich selbst erhob,--an dem er auch endlich sich in
sich selbst überschlug und zu Grunde ging.

Und daran _musste_ er wohl zu Grunde gehen. Denn in dem gleichen
Process, der ihm stets von neuem Heilung und Erhebung sicherte, lag
auch schon das pathologische Moment dieser Art von Geistesentwicklung
verborgen. Auf den ersten Blick fällt es nicht auf. Man sollte
vielmehr meinen, in einer Kraft, die sich selber so zu heilen weiss,
müsse mindestens ebensoviel Gesundheit stecken wie in dem ruhigen
Frieden einer harmonischen Kräfteentfaltung. Ja, sogar eine weit
grössere Gesundheit: denn sie ist im Stande, selbst an dem, was
Wunden schlägt und Fieber erzeugt, sich noch zu befestigen und zu
beweisen; sie ist im Stande, Krankheit und Kampf zu einem _Stimulans_
für Leben und Erkennen umzuwandeln, zu einem Sporn und Hellsehen für
ihre Zwecke,--sie _umfasst_ also schadlos Kampf und Krankheit. Auf
solche Weise wollte Nietzsche, namentlich zuletzt, namentlich als er
am krankhaftesten war, seine Leidensgeschichte aufgefasst wissen:
alseine _Genesungs_geschichte. Allerdings vermochte diese gewaltige
Natur es, sich mitten aus Schmerzen und Widerstreit heraus in ihrem
Erkenntnissideal selbst zu heilen und zusammenzufassen. Aber, nach
erlangter Genesung, _bedurfte_ sie wiederum ebenso nothwendig der
Leiden und Kämpfe, der Fieber und Wunden. Sie, die sich selbst Heilung
geschafft, ruft jene wieder, hervor; sie wendet sich gegen sich
selbst, schäumt gleichsam über, um sich in neue Krankheitszustände zu
ergiessen. Ueber jedem erreichten Erkenntnissziel, jedem erlangten
Genesungsglück stehen immer wieder die Worte: »Wer sein Ideal erreicht,
kommt eben damit über dasselbe hinaus«, denn: »sein Ueberglück ward
ihm zum Ungemach« (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 47),
und er fühlt sich: »verwundet von seinem Glücke«[10] (Also sprach
Zarathustra II 2). »_Sich Schmerzen machen_. Rücksichtslosigkeit des
Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung,
welche Betäubung begehrt.« Menschliches, Allzumenschliches I 581.

Die Gesundheit ist hier also nicht das Ueberlegene und Ueberragende,
welches das Pathologische, als ein Nebensächliches, zu einem Werkzeug
für sich umschafft, sondern beide bedingen sich, ja _enthalten_ sich
gegenseitig,--beide zusammen stellen thatsächlich eine eigenthümliche
_Selbstspaltung_ innerhalb ein und desselben Geisteslebens dar.

Eine solche innere Spaltung liegt nämlich dem ganzen geschilderten
Seelenprocess zu Grunde. Anscheinend zwar sollte in ihm die
Vielspältigkeit, die Subjects-Vielheit der unharmonisch veranlagten
Natur, in einer hohem Einheit, in einem richtunggebenden Ziel
aufgehoben werden. Nun vollzieht sich aber dieser Vorgang _innerhalb_
der vielspältigen Seele in der Weise, dass ein einziger Trieb sich
alle übrigen unterordnet; mit anderen Worten: die Vielspältigkeit
wird auf eine um so tiefer gehende _Zweispaltung_ reducirt. So wenig
wie die Gesundheit hier überragend das Krankhafte mit _umfasst_,
so wenig umfasst und überragt der herrschende Trieb wahrhaft das
gesammte Innere, indem er es in den Dienst der Erkenntniss stellt:
der Erkennende blickt wohl mit seinen Geistesaugen auf sich selbst
wie auf eine zweite Wesenheit, aber er bleibt doch in der eigenen
Wesenheit gefangen; er ist nur im Stande sie zu spalten, nicht über sie
hinauszugreifen. Die Macht der Erkenntniss also, weit davon entfernt,
eine einigende zu sein, ist vielmehr eine trennende,--aber die Tiefe
der Trennung erweckt den _Schein_, als läge das Ziel aller Regungen
_ausser ihnen_. In Folge dieser Selbsttäuschung drängen alle Kräfte
begeistert der Erkenntniss zu, als vermöchten sie damit sich selbst und
ihrem Zwiespalt zu entlaufen.

Man sollte allerdings glauben, es werde wenigstens eine Art von
Zusammenschluss des Gesammtlebens dadurch erreicht, dass auf der einen
Seite das Triebleben, unter dem darauf gerichteten Erkenntnissblick,
zu ungeheurer Bewusstheit gesteigert wird,--dass auf der anderen das
Denken durch die Welt der Stimmungen und Triebe eine ungemeine Belebung
erhält. Aber das Resultat ist ein gerade entgegengesetztes, indem
der Gedanke die Unmittelbarkeit aller inneren Regungen _zersetzt_,
die Erregungen des Inneren hinwiederum die beherrschte Strenge des
Gedankens beständig _lockern_. So durchdringt thatsächlich die Spaltung
des Ganzen alles Einzelne nur immer weiter und tiefer.

Was ist es nun, das trotzdem eine so hohe, geradezu erlösend wirkende
Befriedigung aus einer so durchsichtigen Selbsttäuschung quellen
lässt? Was ist es, das einen Schein dazu befähigt, das ganze Sein,
wenn auch unter steten Erkrankungen und Verwundungen, zu beseligen
und zu verklären? Mit dieser Frage stehen wir vor dem eigentlichen
Nietzsche-Problem; sie erst weist uns auf den geheimen Zusammenhang des
Gesunden und Pathologischen in ihm.

Indem nämlich die Vielheit unverbundener Einzeltriebe sich in zwei
einander gleichsam gegenüber stehende Wesenheiten zerspaltet, von denen
die Eine herrscht, die Andere dient,--wird es dem Menschen ermöglicht,
zu sich selber nicht nur wie zu einem _anderen_, sondern auch wie zu
einem _höhern_ Wesen zu empfinden. Indem er einen Theil seiner selbst
sich selber zum Opfer bringt, ist er einer _religiösen Exaltation_
nahe gekommen. In den Erschütterungen seines Geistes, in denen er das
heroische Ideal eigener Preisgebung und Hingebung zu verwirklichen
wähnt, bringt er _an sich selbst einen religiösen Affect_ zum Ausbruch.

Von allen grossen Geistesanlagen Nietzsches gibt es keine, die tiefer
und unerbittlicher mit seinem geistigen Gesammtorganismus verbunden
gewesen wäre, als sein religiöses Genie. Zu einer anderen Zeit,
in einer andern Culturperiode würde dasselbe diesem Predigerssohn
sicherlich nicht gestattet haben, zum Denker zu werden. Unter den
Einflüssen unserer Zeit erhielt jedoch sein religiöser Geist die
Richtung aufs Erkennen und vermochte dasjenige, wonach es ihn
instinctiv am drängendsten verlangte, wie nach dem natürlichen Ausdruck
seiner Gesundheit, nur in krankhafter Weise zu befriedigen,--das
heisst, er vermochte es nur vermittelst einer Rückbeziehung auf sich
selbst anstatt auf eine ihn mit umfassende, ausser ihm liegende
Lebensmacht. So erreichte er das gerade Gegentheil des Angestrebten:
nicht eine höhere Einheit seines Wesens, sondern dessen innerste
Zweitheilung, nicht den Zusammenschluss aller Regungen und Triebe zu
einem einheitlichen Individuum, sondern ihre Spaltung zum »_Dividuum_«.
Es war immerhin eine Gesundheit erreicht,--doch mit den Mitteln
der Krankheit; eine wirkliche Anbetung, doch mit den Mitteln der
Täuschung; eine wirkliche Selbstbehauptung und Selbsterhebung, doch
mit den Mitteln der Selbstverwundung. Deshalb liegen in dem gewaltigen
religiösen Affect, aus dem ganz allein bei Nietzsche alle Erkenntniss
hervorgeht, unlöslich in einen Knoten verschlungen: eigne _Aufopferung_
und _eigne Apotheose_, Grausamkeit der eignen _Vernichtung_ und
Wollust der eignen _Vergötterung_, leidvolles Siechen und siegende
Genesung, glühender Rausch und kühle Bewusstheit. Man fühlt hier die
enge Verknüpfung der Gegensätze, die einander unaufhörlich bedingen:
man fühlt das Ueberschäumen und freiwillige Hinabstürzen der aufs
Höchste erregten und gespannten Kräfte ins Chaotische, Dunkle,
Schauerliche, und dann wieder aus diesem heraus ein Drängen ins Lichte,
Zarteste,--das Drängen eines Willens, der sich«-- --von der Noth der
Fülle und Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze
löst«,[11]--ein Chaos, das den Gott gebären möchte,--gebären _muss_.

»Im Menschen ist _Geschöpf_ und _Schöpfer_ vereint: im Menschen
ist Stoff, Bruchstück, Ueberfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos;
aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte,
Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag...«. (Jenseits von Gut
und Böse 225.) Und hier zeigt sich, dass unablässiges Leiden und
unablässige Selbstvergöttlichung sich gegenseitig bedingen, indem
ein jedes seinen eignen Gegensatz immer wieder neu erzeugt,-- wie es
Nietzsche in der Geschichte des Königs Viçvamitra ausgedrückt findet,
»der aus tausendjährigen Selbstmarterungen ein solches Machtgefühl und
Zutrauen zu sich gewann, dass er es unternahm, einen _neuen Himmel_ zu
bauen:-- -- --Jeder, der irgendwann einmal einen »neuen Himmel« gebaut
hat, fand die Macht dazu erst in der eignen Hölle...« (Genealogie der
Moral III 10.) Eine andere Stelle, wo er dieser Sage gedenkt, steht
in der Morgenröthe (113) und folgt unmittelbar auf die Schilderung
jener machtdurstigen Leidenden, die als das würdigste Object ihrer
Vergewaltigungslust sich selbst auserlesen haben: »Der Triumph des
Asketen über sich selber, sein dabei nach Innen gewendetes Auge,
welches den Menschen zu einem Leidenden und zu einem Zuschauenden
zerspaltet sieht und fürderhin in die Aussenwelt nur hineinblickt, um
aus ihr gleichsam Holz zum eigenen Scheiterhaufen zu sammeln, diese
letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung, bei der es nur noch Eine
Person gibt, welche in sich selber _verkohlt_-- --« Dieser Abschnitt,
der die Beschreibung aller bisherigen Askese und ihrer Motive enthält,
schliesst mit der Bemerkung: -- --ja, ist denn wirklich der Kreislauf
im Streben nach Auszeichnung mit dem Asketen am letzten Ende angelangt
und in sich abgerollt? Könnte dieser Kreis nicht noch einmal von Anfang
an durchlaufen werden, mit der festgehaltenen Grundstimmung des Asketen
und zugleich des mitleidenden Gottes?«

In »Menschliches, Allzumenschliches« (I 137) sagt er darüber: Es gibt
einen _Trotz gegen sich selbst_, zu dessen sublimirtesten Aeusserungen
manche Formen der Askese gehören. Gewisse Menschen haben nämlich ein
so hohes Bedürfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht auszuüben, dass
sie-- -- --endlich darauf verfallen, _gewisse Theile ihres eigenen
Wesens_-- -- --zu tyrannisiren.-- -- --Dieses Zerbrechen seiner selbst,
dieser Spott über die eigene Natur, dieses spernere se sperni,
aus dem die Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich _ein
sehr hoher Grad der Eitelkeit_.-- -- --Der Mensch hat eine wahre
Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen
und _dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu
vergöttern_.«--und 138: »-- --Eigentlich liegt ihm also nur an der
Entladung seiner Emotion; da fasst er wohl, um seine Spannung zu
erleichtern, die Speere der Feinde zusammen und begräbt sie in seine
Brust,«--und 142: »-- --er geisselt seine Selbstvergötterung mit
Selbstverachtung und Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhre
seiner Begierden,-- -- --er versteht es, seinem Affect, zum Beispiel
dem der äussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er
in den der äussersten Erniedrigung übergeht und seine aufgehetzte Seele
durch diesen Contrast aus allen Fugen gerissen wird;-- -- --es ist im
Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er begehrt, aber vielleicht
jene Wollust, in der alle anderen in einen Knoten zusammengeschlungen
sind. Novalis, eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit durch
Erfahrung und Instinct, spricht das ganze Geheimniss einmal mit naiver
Freude aus: »Es ist wunderbar genug, dass nicht längst die Association
von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre
innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat.«

In der That ist eine rechte Nietzsche-Studie in ihrer Hauptsache
eine _religionspsychologische_ Studie, und nur insoweit als das
Gebiet der Religionspsychologie bereits aufgehellt ist, fallen
auch helle Streiflichter auf die Bedeutung seines Wesens, seines
Leidens und seiner Selbst-Beseligung. Seine ganze Entwicklung ging
gewissermassen davon aus, dass er den Glauben verlor, also von der
»Emotion über den Tod Gottes«,--dieser ungeheuren Emotion, die bis in
das letzte Werk hineinklingt, das Nietzsche, schon auf der Schwelle
des Wahnsinns verfasste,-- bis in den vierten Theil seines: »Also
sprach Zarathustra«. _Die Möglichkeit, einen Ersatz[12] »für den
verlorenen Gott« in den verschiedensten Formen der Selbstvergottung_
zu finden, das ist die Geschichte seines Geistes, seiner Werke, seiner
Erkrankung. Es ist die Geschichte des »_religiösen Nachtriebes im
Denker_«, der noch mächtig bleibt, auch nachdem der Gott zerbrach,
auf den er sich bezog, und auf den Nietzsches Worte Anwendung finden
können: (Menschliches, Allzumenschliches I 223): »Die Sonne ist
schon hinunter gegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und
leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.« Man
lese darüber den ergreifenden Gefühlsausbruch des »tollen Menschen« in
der »Fröhlichen Wissenschaft« (125). »Wohin ist Gott?« rief er, »ich
will es Euch sagen! _Wir haben ihn getödtet_!--ihr und ich! Wir Alle
sind seine Mörder!-- -- -- -- -- --Hören wir noch nichts vom Lärm der
Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der
göttlichen Verwesung?--auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt
todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller
Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, ist
unter unseren Messern verblutet,--wer wischt dies Blut von uns ab?
Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen?-- -- -- --_Ist nicht die
Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern
werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen_? Es gab nie eine grössere
That,--und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That
willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!«-- --

Die Antwort auf diesen Ausbruch von Qual und Sehnsucht gab sich
Nietzsche in seiner letzten Schaffensperiode mit den Worten
Zarathustras (I Schluss): »Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass
der Uebermensch lebe!«--und sprach damit den innersten Seelengrund
seiner Philosophie aus.

Die Gottsehnsucht wird in ihrer Qual zu einem Drang der Gott-Schöpfung,
und dieser musste sich nothwendig in Selbstvergottung äussern.
Mit richtigem Blick erkannte Nietzsche im religiösen Phänomen die
ungeheure Auslebung des individuellsten Verlangens, den Willen zur
höchsten Selbstbeseligung. Dieser Individualismus, der als Kern in
allem Religiösen steckt, dieser »sublime Egoismus«, der in allem
Religiösen frei und naiv ausströmt, indem er sich auf eine von aussen
gegebene Lebens-oder Gottesmacht zu beziehen glaubt, wurde in ihm,
dem »Erkennenden«, auf sich selbst zurückgeworfen. Und so gelangt er
dazu, sich die ihm vom Verstände aufgedrungene Gottlosigkeit mit dem
vermessenen Schlüsse innerlich anzueignen: »_Wenn_ es Götter gäbe, wie
hielte ich's aus, kein Gott zu sein! Also gibt es keine Götter.« Diese
Worte stehen im zweiten Theil des »Also sprach Zarathustra« (6); an sie
lassen sich jene anderen anschliessen (55): »_Und Anbetung wird noch in
Deiner Eitelkeit sein_!« In ihnen ist die ganze Gefahr ausgesprochen,
die über dem »Einsamen« und »Einzelnen« schwebt, der sich spalten und
verdoppeln muss. »Einer ist immer zu viel um mich.-- -- --Immer Einmal
Eins--das gibt auf die Dauer Zwei!« (Also sprach Zarathustra I 76.)

Die Art, wie er sich zu dieser Zweiheit stellte, wie er sich gegen
sie zur Wehre setzte oder ihr nachgab, und worin er sie jedesmal
suchte,--das alles bedingt den Wandel seiner Erkenntniss, sowie die
Eigenart seiner verschiedenen Geistesperioden--bis endlich seine
Zweiheit ihm zu einer Hallucination und Vision, zu einer leibhaften
Wesenheit wurde, die seinen Geist verdüsterte, seinen Verstand
erstickte. Er vermochte nicht sich länger gegen sich selbst zu wehren:
Dieses war das dionysiche Drama vom »Schicksal der Seele« (Zur
Genealogie der Moral, Vorrede XIII) in Nietzsche selbst. Die Einsamkeit
des Innenlebens, in welcher der Geist über sich selbst hinausgelangen
will, ist nirgends tiefer und schmerzvoller als zum Schluss. Man könnte
sagen, die stärkste Mauer in dieser verhängnissvollen Selbstvermaurung
sei ein zarter, glänzender, göttlicher Schein, der sie umgaukelt, eine
Luftspiegelung, die ihm die eigenen Grenzen verwischt und verbirgt.
Jeder Gang nach aussen führt immer wieder in die Tiefe dieses Selbst
zurück, das sich schliesslich zu Gott und Welt, zu Himmel und Hölle
werden muss--jeder Gang führt es einen Schritt weiter in seine letzte
Tiefe und in seinen Untergang.

Diese Grundzüge von Nietzsches Eigenart enthalten die Ursachen des
zugleich _Raffinirten_ und _Exaltirten_, das auch dem Grossen und
Bedeutenden in seiner Philosophie beigemischt ist gleich einer
brennenden Würze. Am schärfsten wird es wohl von der unverdorbenen
Zunge junger und gesunder Geister herausgeschmeckt werden,--oder
auch von denen, die, im ruhigen Frieden glaubensvoller Anschauungen
geborgen, niemals den ganzen furchtbaren Kampf und Brand eines religiös
veranlagten Freigeistes am eignen Leibe erfahren haben. Aber es ist
auch dasjenige, was Nietzsche in so hohem Masse zum Philosophen unserer
Zeit hat werden lassen. Denn in ihm hat typische Gestalt gewonnen,
was sie in ihrer Tiefe bewegt: jene »Anarchie in den Instincten«
schöpferischer und religiöser Kräfte, die zu gewaltig nach Sättigung
begehren, um sich mit den Brosamen begnügen zu können, welche vom Tisch
der modernen Erkenntniss für sie abfallen. Dass sie sich nicht mit
ihnen begnügen können. aber ebensowenig ihre Stellung zur Erkenntniss
preisgeben,-- gleich unersättlich im leidenschaftlichen Verlangen
wie unermüdlich im Darben und Entbehren,--das ist der grosse und
erschütternde Zug im Bilde der Philosophie Nietzsches. Das ist es auch,
was sie in immer neuen Wendungen zum Ausdruck bringt:--eine Reihe von
gewaltigen Versuchen, dieses Problem moderner Tragik, das Räthsel der
modernen Sphinx zu lösen und sie in den Abgrund zu stürzen.

Aber deshalb ist es eben der _Mensch_ und nicht der _Theoretiker_,
auf den wir unsern Blick richten müssen, um uns in den Werken
Nietzsches zurechtzufinden,--und deshalb wird auch der Gewinn, das
Resultat unserer Betrachtung nicht darin bestehen, dass uns ein
neues theoretisches Weltbild in seiner Wahrheit aufgeht, sondern
das Bild einer Menschenseele in ihrer Zusammensetzung von Grösse
und Krankhaftigkeit. Zunächst scheint die philosophische Bedeutung
in Nietzsches Wandlungen dadurch abgeschwächt zu werden, dass sich
jedesmal genau derselbe innere Process abspielt. Aber sie wird vertieft
und verschärft, weil der Wechsel der Ansichten immer wieder auf das
Wesen übergreift. Nicht nur die äusseren Umrisslinien einer Theorie
sind jedesmal verändert, sondern die ganze Stimmung, Luft, Beleuchtung
wandelt sich mit ihnen. Während wir Gedanken einander widerlegen hören,
sehen wir Welten versinken, neue Welten emporsteigen. Gerade hierauf
beruht die wahre Originalität des Nietzscheschen Geistes: durch das
Medium seiner Natur, die Alles auf sich und ihre intimsten Bedürfnisse
bezieht, aber sich auch an Alles hingebend verliert, erschliessen sich
ihm jene inneren Erlebnisse und Ergebnisse von Gedankenwelten, die
wir sonst nur mit dem Verstände streifen, ohne sie jemals in ihren
Tiefen auszuschöpfen und ohne daher an ihnen schöpferisch zu werden.
Theoretisch betrachtet, lehnt er sich häufig an fremde Muster und
Meister an, aber das, worin diese ihre Reife, ihren Productionspunkt
haben, wird ihm nur zum Anlass, daran zu eigner Productivität zu
gelangen.[13] Die geringste Berührung, die sein Geist empfand, genügte,
um in ihm eine Fülle innern Lebens,--Gedanken-Erlebens, auszulösen.
Er hat einmal gesagt: »Es gibt zwei Arten des Genie's: eins, welches
vor allem zeugt und zeugen will, und ein andres, welches sich gern
befruchten lässt und gebiert.« (Jenseits von Gut und Böse 248.)
Zweifellos gehörte er der letzteren Art an. In Nietzsches geistiger
Natur lag--ins Grosse gesteigert--etwas Weibliches;[14] aber er
ist darin in einem solchen Masse Genie, dass es fast gleichgiltig
erscheint, woher er die erste Anregung empfängt. Wenn wir alles
zusammenlesen, was sein Erdreich befruchtet hat, dann haben wir einige
unscheinbare Samenkörner vor uns: wenn wir in seine Philosophie
eintreten, umrauscht uns ein Wald schattenspendender Bäume, umfängt
uns die verschwenderische Vegetation einer wildgrossen Natur. Seine
Ueberlegenheit bestand darin, dass er jedem Samenkorn, welches in sein
Inneres fiel, entgegenbrachte, was er selbst als das Kennzeichen des
echten Genies anführt: »den neuen, treibenden Fruchtboden mit einer
urwaldfrischen unausgenutzten Kraft.« (Der Wanderer und sein Schatten
118.)


[1] Eine zusammenfassende Charakteristik Nietzsches, in der zum ersten
Male die drei Perioden seiner geistigen Entwicklung unterschieden und
bestimmt charakterisirt sind, erschien in der Sonntags-Beilage der
Vossischen Zeitung 1891, Nr. 2, 3 und 4. Ausserdem brachte die »Freie
Bühne« eingehendere Ausführungen einzelner Punkte unter dem Titel »Zum
Bilde Friedrich Nietzsches, Jahrg. II (1891), Heft 3, 4 und 5, Jahrg.
III (1892), Heft 3 und 5; das Magazin für Literatur 1892, October, »Ein
Apokalyptiker«; Der Zeitgeist 1893, Nr. 20, »Ideal und Askese«.

[2] Was das Leben--, die sogenannten »Erlebnisse« angeht,-- wer von uns
hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei solchen Sachen
waren wir, fürchte ich, nie recht »bei der Sache«, wir haben eben unser
Herz nicht dort--und nicht einmal unser Ohr!« (Zur Genealogie der
Moral, Vorrede III.)

[3] Eine ähnliche Bedeutung legte er seinen selten kleinen und
feinmodellirten Ohren bei, von denen er sagte, sie seien die wahren
»Ohren für Unerhörtes«. (Zarathustra I 25.)

[4] »Giebt es--eine Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse,
Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit,
aus der Ueberfülle selbst?------Giebt es vielleicht--eine Frage für
Irrenärzte--_Neurosen der Gesundheit_?« (Versuch einer Selbstkritik zur
neuen Ausgabe der »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« IV u.
IX.)

[5] Vgl. auch »Die fröhliche Wissenschaft« 253, »Eines Tages erreichen
wir unser Ziel--und weisen nunmehr mit Stolz darauf hin, was für lange
Reisen wir dazu gemacht haben. Wir kamen aber dadurch so weit, dass wir
an jeder Stelle wähnten, zu Hause zu sein.«

[6] Daher nennt er die Ueberzeugungen _Feinde der Wahrheit_:
»Ueberzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.«
(Menschliches, Allzumenschliches, I 483).

[7] Durch diesen Trieb entwickelte er sich mehr, als er es selbst wahr
haben wollte, zu jenem »Don Juan der Erkenntniss«, den er (Morgenröthe
327) folgendermassen schildert: »Er hat Geist, Kitzel und Genuss an
Jagd und Intriguen der Erkenntniss--bis an die höchsten und fernsten
Sterne der Erkenntniss hinauf!--bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen
übrig bleibt, als das absolut _Wehethuende_ der Erkenntniss, glefich
dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelüstet
es ihn am Ende nach der Hölle,--es ist die letzte Erkenntniss, die
ihn _verführt_. Vielleicht, dass auch sie ihn enttäuscht, wie alles
Erkannte! Und dann müsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die
Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit
einem Verlangen nach einer Abendmahlzeit der Erkenntniss, die ihm nie
mehr zu Theil wird!--denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen
keinen Bissen mehr zu reichen.«

[8] »Die Instincte bekämpfen _müssen_--das ist die Formel für
décadence: so lange das Leben _aufsteigt_, ist Glück gleich Instinct«,
sagt er (Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates 11), und
unterscheidet so den Dekadenten von der geborenen Herrennatur.

[9] Nietzsche fasst hier, nebenbei bemerkt, Goethe durchaus anders
auf als einige Jahre später (in der Götzen-Dämmerung). Hier sieht er
noch in ihm den Antipoden seiner eigenen, unharmonischen Natur--später
hingegen einen ihm tief verwandten Geist, der nicht harmonisch war,
sondern sich durch Ausgestaltung und Hingabe seiner selbst zum
Harmonischen _umschuf_.

[10] Vgl. auch Jenseits von Gut und Böse 224: »wir-- -- --sind erst
dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am meisten--in Gefahr sind.«

[11] »Versuch einer Selbstkritik«, in der neuen Ausgabe der »Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik« XI.

[12] Siehe in der Fröhlichen Wissenschaft (Scherz, List und Rache 38)
über die menschliche Bestimmung als erfüllt in der Gottschöpfung des
Menschen:


    »Der Fromme spricht:
    »Gott liebt uns, weil er uns erschuf!«
    »Der Mensch schuf Gott!« sagt drauf ihr Feinen.
    Und soll nicht lieben, was er schuf?
    Soll's gar, weil er es schuf, verneinen?
    Das hinkt, das trägt des Teufels Huf.



[13] Auch wenn man von denjenigen Denkern absieht, welche die
verschiedenen Phasen von Nietzsches Entwicklung direct bestimmt haben,
lassen sich viele seiner Gedanken schon bei früheren Philosophen
nachweisen. Auf diese für die wahre Bedeutung Nietzsches durchaus
unwesentliche Thatsache ist neuerdings mit dem grössten Lärm von Leuten
hingewiesen worden, denen lediglich der Zufall das eine oder andere
philosophische Buch in die Hände gespielt hat. In der vorliegenden
Schrift ist absichtlich auf die Stellung Nietzsches in der Geschichte
der Philosophie kein Bezug genommen, da dies eine eingehende
systematische Prüfung seiner einzelnen Theorien auf ihren objectiven
Werth zur Voraussetzung haben würde, was einer besonderen Arbeit
Vorbehalten bleiben muss.

[14] Manchmal, wenn er dies besonders empfand, war er geneigt, das
weibliche Genie als das eigentliche Genie zu nehmen. »Die Thiere denken
anders über die Weiber, als die Menschen; ihnen gilt das Weibchen als
das productive Wesen.-- -- -- -- --Die Schwangerschaft hat die Weiber
milder, abwartender, furchtsamer, unterwerfungslustiger gemacht;
und ebenso erzeugt die geistige Schwangerschaft den Charakter des
Contemplativen, welcher dem weiblichen Charakter verwandt ist:--es sind
die männlichen Mütter.--« (Die fröhliche Wissenschaft 72.)



II. ABSCHNITT


SEINE WANDLUNGEN.


MOTTO:


    »Die Schlange, welche sich nicht
    häuten kann, geht zu Grunde. Ebenso
    die Geister, welche man verhindert,
    ihre Meinungen zu wechseln; sie hören
    auf, Geist zu sein.«

(Morgenröthe 573)



Die erste Wandlung, die Nietzsche in seinem Geistesleben durchkämpfte,
liegt weit zurück in der Dämmerung seiner Kindheit oder doch wenigstens
seiner Knabenjahre.

Es ist der Bruch mit dem christlichen Kirchenglauben. In seinen
Werken findet diese Trennung selten Erwähnung. Trotzdem kann sie als
der Ausgangspunkt seiner Wandlungen angesehen werden, weil schon
von ihr aus ein charakteristisches Licht auf die Eigenart seiner
Entwicklung fällt. Seine Aeusserungen über diesen Gegenstand, den ich
besonders eingehend mit ihm besprochen habe, betrafen hauptsächlich
die Gründe, welche den Glaubensbruch hervorrufen. Weitaus die meisten
religiös veranlagten Menschen werden erst durch intellectuelle
Gründe dahin gedrängt, sich in schmerzlichen Kämpfen von ihren
Glaubensvorstellungen loszusagen. Wo aber, in selteneren Fällen,
die erste Entfremdung vom Gemüthsleben selbst ausgeht, da ist der
Process ein kampfloser und schmerzloser; der Verstand zersetzt nur,
was schon vorher abgestorben,--eine Leiche war. In Nietzsches Fall
fand eine eigenthümliche Kreuzung dieser beiden Möglichkeiten statt:
weder waren es nur intellectuelle Gründe, die ihn ursprünglich von den
anerzogenen Vorstellungen frei machten, noch auch hatte der alte Glaube
aufgehört, den Bedürfnissen seines Gemüths zu entsprechen. Vielmehr
betonte Nietzsche immer wieder, dass das Christenthum des elterlichen
Pfarrhauses seinem inneren Wesen »glatt und weich« angelegen
habe--»gleich einer gesunden Haut«, und dass ihm die Erfüllung all
seiner Gebote so leicht geworden sei wie das Befolgen einer eignen
Neigung. Dieses gleichsam angeborene, unveräusserliche »Talent« zu
aller Religion hielt er für eine der Ursachen der Sympathie, die ihm
ernste Christen selbst dann noch entgegenbrachten, als er bereits durch
eine tiefe Geisteskluft von ihnen getrennt war.

Der dunkle Instinct, der ihn hier zum ersten Mal aus lieb und theuer
gewordnen Gedankenkreisen forttrieb, erwachte grade in diesem
Heimathsgefühl, in diesem warmen »Zu Hause«, von dem sich Nietzsches
Wesen darin umfangen fühlte. Um in machtvoller Entwicklung zu sich
selbst zu gelangen, bedurfte sein Geist der seelischen Kämpfe,
Schmerzen und Erschütterungen,--er bedurfte dessen, dass sein Gemüth
sich die Trennung von diesem ruhigen Friedenszustand _anthat_, weil
seine Schaffenskraft von der Emotion und Exaltation seines Innern
abhängig war: hier tritt uns die Erscheinung des _Schmerzheischenden_
in der »Decadenten-Natur« zum ersten Mal in Nietzsches Leben entgegen.

»Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich
selbst her,« (Jenseits von Gut und Böse 76) und verbannt sich selbst in
eine Gedankenfremde, in der er von nun an zu einem ewigen Wandern ohne
Rast und Ruhe bestimmt ist. Aber in dieser Rastlosigkeit lebt von nun
an eine unersättliche Sehnsucht in Nietzsche, die nach dem verlorenen
Paradies zurückstrebt, während seine Geistesentwicklung ihn zwingt,
sich in grader Linie immer weiter davon zu entfernen.

Im Gespräch über die Wandlungen, die schon hinter ihm lagen, äusserte
Nietzsche einmal halb im Scherz: »Ja, so beginnt nun der Lauf und wird
fortgesetzt,--bis wohin? wenn Alles durchlaufen ist,--wohin läuft man
alsdann? Wenn alle Combinationsmöglichkeiten erschöpft wären,--was
folgte dann noch? wie? müsste man nicht wieder beim Glauben anlangen?
Vielleicht bei einem _katholischen_ Glauben?« Und der Hintergedanke,
der sich in dieser Aeusserung verbarg, trat in den ernst hinzugefügten
Worten aus seinem Versteck:

»_In jedem Fall könnte der Kreis wahrscheinlicher sein als der
Stillstand._«

Eine in sich selbst zurücklaufende, niemals stillstehende
Bewegung,--das ist in Wahrheit das Kennzeichen der ganzen Geistesart
Nietzsches. Die Combinationsmöglichkeiten sind keineswegs unendlich,
sind im Gegentheil sehr begrenzt, da der vorwärts treibende,
selbstverwundende Drang, der die Gedanken nicht zur Ruhe kommen lässt,
ganz und gar der innern Eigenart der Persönlichkeit entspringt: so
weit auch die Gedanken zu schweifen scheinen, so bleiben sie doch
stets an die gleichen Seelenvorgänge gebunden, die sie immer wieder
zurück unter die herrschenden Bedürfnisse zwingen. Wir werden sehen,
inwiefern Nietzsches Philosophie in der That einen Kreis beschreibt,
und wie zum Schlüsse der Mann in einigen seiner intimsten und
verschwiegensten Gedankenerlebnisse sich wieder dem _Knaben_ nähert,
so dass von dem Gang seiner Philosophie die Worte gelten: siehe einen
Fluss, der in vielen Windungen zurück zur Quelle fliesst!« (Also sprach
Zarathustra III 23.) Es ist kein Zufall, dass Nietzsche in seiner
letzten Schaffensperiode zu seiner mystischen Lehre von einer ewigen
Wiederkunft gelangte: das Bild des _Kreises,--eines ewigen Wechsels
in einer ewigen Wiederholung,_--steht wie ein wundersames Symbol und
Geheimzeichen über der Eingangspforte zu seinen Werken.

Als sein erstes »literarisches Kinderspiel« (Zur Genealogie der Moral,
Vorrede VI) nennt Nietzsche einen Aufsatz aus seiner Knabenzeit,
»über den Ursprung des Bösen«, worin er, »wie es billig ist«, Gott
»zum _Vater_ des Bösen« machte. Auch gesprächsweise erwähnte er
diesen Aufsatz als Beweis dafür, dass er sich schon zu einer Zeit
philosophischen Grübeleien hingegeben habe, wo er sich noch in dem
philologischen Schulzwang der Schulpforte befand.

Wenn wir Nietzsche aus seiner Kindheit in seine Lehrjahre und dann in
die lange Zeit seiner philologischen Thätigkeit folgen, dann erkennen
wir auch hier deutlich, wie seine Entwicklung von Anfang an auch rein
äusserlich unter dem Einfluss eines gewissen Selbstzwanges verläuft.
Schon die strenge philologische Schulung musste einen solchen Zwang für
den jungen Feuergeist enthalten, dessen reiche schöpferische Kräfte
dabei leer ausgingen. Ganz besonders aber galt dies von der Richtung
seines Lehrers Ritschl. Grade bei diesem wurde das Hauptaugenmerk,
sowohl nach Seite der Methode wie nach Seite der Probleme, auf formale
Beziehungen und äussere Zusammenhänge gerichtet, während die innere
Bedeutung der Schriftwerke zurückstand. Für Nietzsches ganze Eigenart
aber war es bezeichnend, dass er später seine Probleme ausschliesslich
der Welt des Innern entnahm und geneigt war, das Logische dem
Psychologischen unterzuordnen.

Und doch war es eben hier, in dieser strengen Zucht und auf diesem
steinigen Boden, dass sein Geist so früh reife Frucht trug und
Ausgezeichnetes leistete. Eine Reihe vortrefflicher philologischer
Untersuchungen[1] bezeichnet den Weg von seinen Studienjahren an bis
zu der Baseler Professur. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine
zu frühe Entfesselung des ganzen Geistesreichthums Nietzsches durch
das Studium der Philosophie oder der Künste ihn von vornherein zu
jener Zügellosigkeit verführt hätte, der sich einige seiner letzten
Werke nähern. So aber gab für seine »vielspältigen Triebe« die kühle
Strenge philologischer Wissenschaft eine Zeit lang das einigende und
zusammenhaltende Band ab, indem es für Manches, das in ihm schlummerte,
zur Fessel wurde.

In welchem Grade jedoch Nietzsches unberücksichtigte starke Talente
ihn quälten und störten, während er seinen Fachstudien nachging, das
empfand er darum nicht minder als ein tiefes Leiden. Namentlich war
es der Drang nach Musik, den er nicht abzuweisen vermochte, und oft
musste er Tönen lauschen, während er Gedanken lauschen wollte. Wie eine
tönende Klage begleiten jene ihn durch die Jahre hindurch, bis ihm sein
Kopfleiden jede Ausübung der Musik unmöglich machte.

Aber wie gross auch der Gegensatz war, den Nietzsches Philologenthum
zu seinem spätem Philosophenthum bildete, so fehlt es doch nicht an
zahlreichen vermittelnden Zügen, die von der einen Periode zu der
andern überleiten.

Grade die Richtung Ritschls, welche diesen Gegensatz zu verschärfen
scheint, kam in einer bestimmten Besonderheit Nietzsches Geistesart
sogar entgegen, indem sie seinen Hang zum Produciren noch verstärkte
und ausbildete. Es lag in ihr das Streben nach einer gewissen formell
künstlerischen Abrundung und virtuosen Behandlung wissenschaftlicher
Fragen, möglich gemacht durch strenge Begrenzung derselben und
Concentrirung auf einen gegebenen Punkt. Bei Nietzsche stand nun das
Bedürfniss, durch freiwillige und concentrirte Beschränkung einer
Aufgabe, dieselbe in rein künstlerischer Weise zum Abschluss zu
bringen, in engem Zusammenhang mit dem Grundtrieb seiner Natur, über
das Selbstgeschaltene immer wieder hinauszugehen, es als ein endgültig
Erledigtes, Vergangenes, von sich abzustossen. Für den Philologen ist
ein solcher Wechsel der Aufgaben und Probleme von selbst gegeben,--den
für Nietzsche charakteristischen Ausspruch: »Eine Sache, die sich
aufgeklärt hat, hört auf, uns etwas anzugehen,« (Jenseits von Gut und
Böse 80)--könnte ein Philologe gethan haben, denn für diesen wird
thatsächlich ein aufgeklärtes Dunkel zu einer völlig erledigten Sache,
die ihn nicht länger zu beschäftigen braucht. Aber es sind hiervon tief
verschiedene Gründe, die Nietzsches häufigen Gedankenwechsel bedingen,
und daher ist es in hohem Grade interessant zu sehen, wie sich hier
die Gegensätze des Philologenthums und Philosophenthums dennoch zu
berühren scheinen, und wie Nietzsche auch in dieser ihm fremdesten
Verkleidung,--der nüchtern philologischen,-- in dieser äussersten
geistigen Selbstunterordnung, sein Selbst durchsetzte.

Der Philologe tritt einem Problem mit seiner Gesinnung, seinem innern
Menschen, überhaupt nicht nahe, assimilirt es sich in keiner Weise und
wird von ihm daher auch nur so lange festgehalten, als er zur Lösung
der Aufgabe bedarf. Für Nietzsche dagegen bedeutete Beschäftigung
mit einem Problem, bedeutete _erkennen_, vor allem andren: sich
erschüttern lassen; und von einer Wahrheit sich überzeugen bedeutete
ihm: von einem Erlebniss überwältigt werden,--»über den Haufen geworfen
werden«, wie er es nannte. Er nahm einen Gedanken auf, wie man ein
Schicksal auf sich nimmt, das den ganzen Menschen ergreift und in Bann
schlägt: er _lebte_ den Gedanken noch viel mehr, als er ihn dachte,
aber er that es mit einer so leidenschaftlichen Inbrunst, einer so
maasslosen Hingebung, dass er sich an ihm erschöpfte,-- und, gleich
einem Schicksal, das ausgelebt ist, fiel der Gedanke wieder von ihm ab.
Erst in der Ernüchterung, wie sie naturgemäss einer jeden derartigen
Erregung folgen musste, Hess er seine überwundene Erkenntniss rein
intellectuell auf sich wirken; erst dann ging er ihr mit still und klar
nachprüfendem Verstände nach. Sein merkwürdiger Wandlungsdrang auf dem
Gebiete philosophischer Erkenntniss war durch den ungeheuren Drang nach
immer neuen Emotionen geistigster Art bedingt, und daher war für ihn
vollkommene Klarheit stets nur die Begleiterscheinung von Ueberdruss
und Erschöpfung.

Aber selbst in dieser Erschöpfung verlassen ihn seine _Probleme_
nicht, der Ueberdruss gilt nur ihren _Lösungen_, durch welche die
Quelle der Erschütterung momentan verschüttet worden ist. Die
gefundene Lösung war deshalb für Nietzsche jedesmal ein Signal zu einem
_Gesinnungswechsel_, denn nur so liess sich das Problem festhalten, die
Lösung von neuem versuchen. Mit wahrem _Hass_ verfolgte er hinterher
Alles, was ihn zu ihr getrieben, Alles, was ihm geholfen hatte,
sie zu finden. Da »eine Sache, die sich aufgeklärt hat, aufhört,
uns etwas anzugehen«, so wollte Nietzsche im Grunde nichts von der
endgiltigen Aufklärung eines Problems wissen, und jenes Wort, das
scheinbar die volle Befriedigung erfolgreichen Denkens zum Ausdruck
bringt, bezeichnete für ihn die Tragik seines Lebens: er wollte
nicht, dass; die Probleme seiner Forschung jemals aufhören sollten,
ihn etwas anzugehen, er wollte, dass sie fortfahren sollten, ihn im
Tiefsten seiner Seele aufzuwühlen, und daher war er gewissermaassen
der Auflösung gram, die ihm sein Problem raubte, daher warf er sich
jedesmal auf sie mit der ganzen Feinheit und Ueberfeinheit seiner
Skepsis und zwang sie schadenfroh,--seines eigenen Leids und des
Schadens, den er sich damit zufügte, froh!--ihm seine Probleme wieder
herauszugeben. Deshalb kann man von vorn herein mit einem gewissen
Recht von Nietzsche sagen: was innerhalb einer Denkrichtung, einer
Betrachtungsweise diesen leidenschaftlichen Geist dauernd festhalten,
was einen neuen Wandel und Wechsel unmöglich machen soll, das muss im
letzten Grunde _unaufklärbar_ für ihn bleiben, es muss der Energie
aller Lösungsversuche widerstehen, seinen Verstand an tödtlichen
Räthseln aufreiben,--an Räthseln gleichsam kreuzigen. Als endlich in
der That auf diesem; Wege die Erschütterung seines Innern stärker
geworden war, als die durch sie gewaltsam gespornte Verstandeskraft, da
erst gab es für ihn kein Entrinnen und kein Entweichen mehr. Doch da
verlor sich auch nothwendig das Ende in Dunkel, Schmerz und Geheimniss:
in eine Besessenheit der Gedanken durch die Gefühlserregungen, die
einem stürmischen Meere gleich über ihnen zusammenschlugen.

Wer Nietzsches Zickzack-Pfaden bis zuletzt folgt, der tritt dicht an
diesen Punkt heran, wo er sich, im Grauen vor einer letzten Aufklärung
und Problemlösung, endgiltig in die ewigen Räthsel der Mystik
hinabstürzt.--

Die Geistesbegabung Nietzsches zeichnete sich aber noch durch zwei
Eigenschaften aus, die in gleicher Weise dem Philologen wie später
dem Philosophen zu statten kamen. Die erste war sein Talent für
Subtilitäten, seine Genialität in der Behandlung feinster Dinge, die
von einer zarten und sichern Hand angefasst sein wollen, um nicht
verwischt und entstellt zu werden. Es ist dasselbe, was ihn später
nach meinem Dafürhalten als Psychologen noch mehr _fein_ als _gross_
erscheinen lässt,--oder lieber: am grössten im Erfassen und Gestalten
von Feinheiten. Höchst bezeichnend ist dafür der Ausdruck, den er
einmal (Der Fall Wagner 3) von den Dingen gebraucht, wie sie sich dem
Blick des Erkennenden darstellen: »Das _Filigran_ der Dinge«.

In Verbindung mit diesem Zuge steht die Neigung, Verborgenem und
Heimlichem nachzuspüren, Verstecktes ans Licht zu ziehen--; der
Blick für das Dunkel, und die instinctiv ergänzende Anempfindung und
Nachempfindung, wo dem Wissen Lücken bleiben. Ein grosser Theil von
Nietzsches Genialität beruht hierauf. Es hängt dies aufs engste mit
seiner hohen künstlerischen Kraft zusammen, in der sich der Blick
für das Feine und Einzelne in wundervoller Weise zu einem grossen,
freien Schauen des Zusammenhanges, des Gesammtbildes erweitert. Im
Dienste strengphilologischer Kritik hat er dieses Talent geübt,
um aus den Texten das Verblasste und Vergessene gewissenhaft
herauszulesen,[2]--aber in diesem Bemühen ist er zugleich schon über
seine rein gelehrten Studien hinausgeführt worden. Der Weg, auf dem
dieses geschah, führt uns zu seiner bedeutendsten philologischen
Arbeit, zu der Arbeit über die Quellen des Diogenes Laertius.

Denn die Beschäftigung mit dieser Schrift wurde für ihn der Anlass,
dem Leben der alten griechischen Philosophen und seiner Beziehung
zum Gesammtleben der Griechen nachzugehen. In seinen späteren Werken
kommt er einmal darauf zu sprechen (Menschliches, Allzumenschliches
I 261). Man sieht es, wie er über den Trümmern der Ueberlieferung
gesessen und gegrübelt haben mag, in die Lücken, in die entstellten
Theile die verlornen Gestalten hineindichtend, sie nachschaffend
und entzückt wandelnd »unter Gebilden von mächtigstem und reinstem
Typus«. Er schaut hinein in die Dämmerung jener Zeiten »wie in eine
Bildner-Werkstätte solcher Typen«. Und es ergreift ihn wunderbar, sich
vorzustellen, dass dort die Ansätze gelegen haben mögen zu einem noch
höhern Philosophentypus, wie ihn vielleicht Plato »von der sokratischen
Verzauberung frei geblieben« gefunden hätte. Dies Alles ist aber mehr
als ein blosser Uebergang vom Philologen zum Philosophen. Was sich
da in seinen sehnsüchtig schaffenden Gedanken verrieth, während er
gezwungen war, trockene Kritik zu üben, legt schon den letzten und
höchsten Punkt seines Ehrgeizes bloss; nicht umsonst ist es gewesen,
dass Nietzsche in die Philosophie nicht auf dem Wege abstracter
philosophischer Fachstudien eintrat, sondern auf dem einer tiefen
Auffassung des philosophischen Lebens in seiner innersten Bedeutung.
Und wenn wir das Ziel bezeichnen wollten, welchem durch alle Wandlungen
hindurch die Kämpfe dieses unersättlichen Geistes galten, so vermöchten
wir dafür kein bezeichnenderes Wort zu finden als das von der ersehnten
Entdeckung »einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen Möglichkeit
des philosophischen Lebens«. (Menschliches, Allzumenschliches i 261.)

So steht jene rein philologische Schrift dicht vor der ganzen Reihe der
späteren Werke,--einer kleinen, in der Mauer halb verborgenen Pforte
vergleichbar, die in ein umfangreiches Gebäude einführt. Wenn wir sie
öffnen, streift unser Blick schon die lange Flucht der Innenräume,
bis zum letzten, zum dunkelsten. Und wer hier auf der Schwelle stehen
bleibt und hindurchblickt, der vermag der gewaltigen Kraft nicht
ohne Staunen zu gedenken, die Stein um Stein zu einem Ganzen fügte:
einer Kraft, die jeden Einzeltheil mit verschwenderischem Reichthum
ausschmückte, ihn spielend zu so zahllosen Seitengängen und verborgenen
Verstecken ausbaute, als beabsichtige sie ein Labyrinth,--und die
dennoch mit eiserner Consequenz stets in gerader Grundlinie an ihrem
Werke weiter schuf.

An seinen griechischen Studien ging aber Nietzsche nicht nur die Ahnung
seines innerlichsten Strebens und die erste Fernsicht auf das Ziel
seiner geheimen Sehnsucht auf, sondern sie wiesen ihm auch den Weg, auf
dem er sich diesem Ziel nähern konnte. Denn sie waren es, die ihm das
ganze Culturbild des alten Hellenenthums zeigten, die ihm jene Bilder
einer versunkenen Kunst und Religion entrollten, in deren Anschauen
er in durstigen Zügen »frisches volles Leben« trank. So stellt er
seine philologische Gelehrsamkeit in den Dienst culturhistorischer,
ästhetischer, geschichtsphilosophischer Forschung und überwindet ihren
Formalismus.

Es verwandelt und vertieft sich für ihn damit die Bedeutung der
Philologie, »die zwar weder eine Muse noch eine Grazie, aber eine
Götterbotin ist; und wie die Musen zu den trüben, geplagten, böotischen
Bauern niederstiegen, so kommt sie in eine Welt voll düsterer Farben
und Bilder, voll von allertiefsten und unheilbarsten Schmerzen, und
erzählt tröstend von den lichten Göttergestalten eines fernen, blauen,
glücklichen Zauberlandes«.

Diese Worte sind der Antrittsvorlesung Nietzsches an der Baseler
Universität »Homer und die Klassische Philologie« (24) entnommen,
die (Basel 1869) nur für Freunde gedruckt worden ist. Zwei Jahre
später erschien (Basel 1871) eine andere kleine Schrift derselben
Geistesrichtung: »Sokrates und die griechische Tragödie«, welche
indessen fast vollständig, mit nur äusserlichen Umstellungen des
Gedankenzusammenhangs, in das 1872 veröffentlichte erste grössere
philosophische Werk Nietzsches: »Die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik« (Leipzig, E. W. Fritsch, jetzt C. G. Naumann)[3]
aufgenommen worden ist. In diesen beiden Arbeiten baute Nietzsche seine
culturphilosophischen Ausführungen noch auf streng philologischer
Grundlage auf; und sie alle haben dazu beigetragen, seinen Namen unter
den philologischen Fachgenossen zu verbreiten. Dennoch bezeichnen sie
schon den Weg, den er, von seinem ursprünglichen Fachstudium aus, durch
Kunst und Geschichte hindurch, zurückgelegt hatte, um schliesslich
in die geschlossene Weltanschauung einer bestimmten Philosophie
einzutreten. Es war die Weltanschauung Richard Wagners, die Verknüpfung
seines Kunststrebens mit Schopenhauers Metaphysik. Wenn wir das Werk
aufschlagen, so befinden wir uns mitten im Bannkreis des Meisters von
Bayreuth.

Durch ihn erst vollzog sich für Nietzsche die volle Verschmelzung
von Philologenthum und Philosophenthum, wurde erst jenes Wort wahr,
womit er seinen »Homer und die klassische Philologie« schliesst, indem
er einen Ausspruch des Seneca umkehrt: »philosophia facta est quae
philologia fuit,« »damit soll ausgesprochen sein, dass alle und jede
philologische Thätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer
philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte
als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche
bestehen bleibt.«

Der Zauber, der Nietzsche auf Jahre hinaus zum Jünger Wagners
machte, erklärt sich namentlich daraus, dass Wagner innerhalb des
germanischen Lebens dasselbe Ideal einer Kunstcultur verwirklichen
wollte, welches Nietzsche innerhalb des griechischen Lebens als
Ideal aufgegangen war. Mit der Metaphysik Schopenhauers trat im
Grunde nichts anderes hinzu, als eine Steigerung dieses Ideals ins
Mystische, ins unergründlich Bedeutungsvolle,--gleichsam ein Accent,
den es durch die _metaphysische Interpretation_ alles Kunsterlebens
und Kunsterkennens noch erhielt. Diesen Accent empfindet man am
deutlichsten, wenn man den »Sokrates und die griechische Tragödie«
vergleicht mit der Ergänzung und Erweiterung, die derselbe in dem
Hauptwerk: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«
erhalten hat. In diesem Buche sucht Nietzsche alle Kunstentwicklung
auf die Bethätigung zweier entgegengesetzter »Kunsttriebe der Natur«
zurückzuführen, die er nach den beiden Kunstgottheiten der Griechen
als das Dionysische und das Apollinische bezeichnet. Unter ersterem
versteht er das orgiastische Element, wie es sich in den wonnevollen
Verzückungen, in der Mischung von Schmerz und Lust, von Freude und
Entsetzen, in der selbstvergessenen Trunkenheit Dionysischer Feste
auslebte. In ihnen sind die gewöhnlichen Schranken und Grenzen des
Daseins vernichtet, scheint das Individuum wieder mit dem Naturganzen
zu verschmelzen; zerbrochen ist das Principium individuationis; »der
Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge liegt
offen« (86). Näher gebracht wird uns das Wesen dieses Triebes durch
die physiologische Erscheinung des Rausches. Die ihm entsprechende
Kunst ist die Musik. Den Gegensatz bildet der formenbildende Trieb,
der in Apollo, dem Gott aller bildnerischen Kräfte, verkörpert ist. In
ihm vereinigt sich maassvolle Begrenzung, Freiheit von allen wilderen
Regungen und weisheitsvolle Ruhe. Er muss als der erhabene Ausdruck,
als »die Vergöttlichung des »Principii individuationis« (16) betrachtet
weiden, »dessen Gesetz das Individuum, d. h. die Einhaltung der Grenzen
desselben, das Maass im hellenischen Sinne ist« (17). Die Macht des
durch ihn symbolisirten Triebes offenbart sich physiologisch in dem
schönen Schein der Welt des Traumes. Seine Kunst ist die plastische des
Bildners.

In der Versöhnung und Verbindung dieser beiden sich anfänglich
bekämpfenden Triebe erkennt Nietzsche Ursprung und Wesen der attischen
Tragödie, die als die Frucht der Versöhnung der beiden widerstrebenden
Kunstgottheiten ebenso sehr dionysisches als apollinisches Kunstwerk
ist. Entstanden aus dem dithyrambischen Chor, der die Leiden des
Gottes feierte, ist sie ursprünglich nur Chor, dessen Sänger durch
die dionysische Erregung so verwandelt und verzaubert wurden, dass
sie sich selbst als Diener des Gottes, als Satyrn, empfanden und als
solche ihren Herrn und Meister Dionysos schauten. Mit dieser Vision,
die der Chor aus sich erzeugt, gelangt sein Zustand zu apollinischer
Vollendung. Das Drama als »die apollinische Versinnlichung dionysischer
Erkenntnisse und Wirkungen« ist vollständig. »Jene Chorpartien, mit
denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermassen der
Mutterschoss des eigentlichen Dramas« (41); sie sind das dionysische
Element desselben, während der Dialog den apollinischen Bestandteil
bildet. In ihm sprechen von der Scene aus die Helden des Dramas als die
apollinischen Erscheinungen, in denen sich der ursprüngliche tragische
Held Dionysos objectivirt, als blosse Masken, hinter denen allen die
Gottheit steckt.

Wir werden am Schlüsse unseres Buches sehen, in welch eigenthümlicher
Weise Nietzsche ganz zuletzt noch einmal auf diesen Gedanken
zurückgriff, indem er seine verschiedenen Entwicklungsperioden
und Gesinnungswandlungen so darzustellen versuchte, als seien sie
nicht unmittelbare Aeusserungen seines Geistes gewesen, sondern
gewissermaassen nur willkürlich vorgehaltene Masken, »apollinische
Scheinbilder«, hinter denen sein dionysisches Selbst, göttlich
überlegen, das ewig gleiche geblieben sei. Die Ursachen dieser
Selbsttäuschung werden wir am Schlüsse erkennen.

Die Bedeutung, die Nietzsche dem Dionysischen beimisst, ist
charakteristisch für seine ganze Geistesart: als Philolog hat er mit
seiner Deutung der Dionysoscultur einen neuen Zugang zur Welt der
Alten gesucht; als Philosoph hat er diese Deutung zur Grundlage seiner
ersten einheitlichen Weltanschauung gemacht; und über alle seine spätem
Wandlungen hinweg taucht sie noch in seiner letzten Schaffensperiode
wieder auf; verwandelt zwar, insofern ihr Zusammenhang mit der
Metaphysik Schopenhauers und Wagners zerrissen ist: aber sich doch
gleich geblieben in dem, worin schon damals seine eignen verborgenen
Seelenregungen nach einem Ausdruck suchten; verwandelt erscheint sie
zu Bildern und Symbolen seines letzten, einsamsten und innerlichsten
Erlebens. Und der Grund dafür ist, dass Nietzsche im Rausch des
Dionysischen etwas seiner eignen Natur Homogenes herausfühlte: jene
geheimnissvolle Wesenseinheit von Weh und Wonne, von Selbstverwundung
und Selbstvergötterung,--jenes Uebermass gesteigerten Gefühlslebens, in
welchem alle Gegensätze sich bedingen und verschlingen, und auf das wir
immer wieder zurückkommen werden.

Den schärfsten Contrast zum Dionysischen und der aus ihm geborenen
Kunstcultur bildet die Geistesrichtung des theoretischen, aller
Intuition entfremdeten Menschen, die auf den Namen des Sokrates
getauft wird. In der »Geburt der Tragödie« sucht Nietzsche die
Entwicklung dieser Geistesrichtung von Sokrates an durch die
Philosophie und Wissenschaft aller Jahrhunderte bis auf unsere Zeit
in grossen Zügen zu schildern. Mit Sokrates, dessen Vernunftlehre
sich gegen die ursprünglichen hellenischen Instincte kehrte, um
sie zu zügeln,--»schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der
Dialektik um«, und es beginnt jener Triumphzug des Theoretischen, das
durch Vernunft-Einsicht die letzten Gründe des Seins zu erforschen
und dasselbe corrigiren zu können vermeint. Diesem Optimismus hat
erst Kants Kritik ein Ende bereitet, indem sie auf die Grenzen des
theoretischen Erkennens hinwies und, wie Nietzsche später witzig
bemerkt, die Philosophie zu einer »Enthaltsamkeitslehre« reducirt, »die
gar nicht über die Schwelle hinwegkommt und sich peinlich, das Recht
zum Eintritt _verweigert_« (Jenseits von Gut und Böse 204). Dadurch
schaffte sie, nach Nietzsche, Raum für die Regeneration der Philosophie
durch Schopenhauer, der endlich einen Zugang zum unerforschten Sein
und zu dessen Umgestaltung auf dem Wege der intuitiven Erkenntniss
erschlossen habe.

In den Jahren 1873--1876 veröffentlichte Nietzsche im Geist und Sinn
seines vorhergehenden Werkes, unter dem Gesammttitel: »_Unzeitgemässe
Betrachtungen_«, vier kleinere Schriften,--bestimmt: »gegen die Zeit,
und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden
Zeit«, zu wirken. Die erste derselben, die den Titel führte: »_David
Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller_«, bestand in einer
vernichtenden Kritik des damals überaus gefeierten Buches »Der alte
und der neue Glaube«, und einer energischen Befehdung des einseitigen
Intellectualismus unserer modernen Bildung. Von dauernderem Interesse
ist die zweite höchst werthvolle Schrift: »_Vom Nutzen und Nachtheil
der Historie für das Leben_«, deren Grundgedanke in Nietzsches letzten
Werken, wenn auch modificirt, aber darum nicht weniger deutlich
wiederkehrt als seine Auffassung des Dionysischen. Das Wort Historie
bezeichnet hier den Begriff des Gedankenlebens, ganz allgemein gefasst,
im Gegensatz zum Instinctleben;--Erkennen des Vergangenen, Wissen
vom Gewesenen, im Gegensatz zur vollen Lebenskraft des Gegenwärtigen
und Werdenden. Die Schrift behandelt die Frage: »Wie ist das Wissen
dem Leben unterthan zu machen?« und präcisirt den Standpunkt des
Verfassers in dem Satze: »Nur soweit die Historie dem Leben dient,
wollen wir ihr dienen.« Sie dient ihm aber nur so lange, als gegenüber
den zersetzenden, belastenden und überall eindringenden Einflüssen des
Gedanklichen die wichtigste Seelenfunction im Menschen noch völlig
intact geblieben ist. »-- --die _plastische Kraft_ eines Menschen,
eines Volkes, einer Cultur,-- --ich meine jene Kraft, aus sich
heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und
einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene
Formen aus sich nachzuformen« (10). Sonst entsteht in uns ein Chaos
fremder, uns nur zugeströmter Reichthümer, die wir nicht zu bewältigen,
nicht zu assimiliren im Stande sind, und deren Mannigfaltigkeit
daher das Einheitliche und Organische unserer Persönlichkeit
schwer gefährdet. Wir werden dann zum passiven Schauplatz
durcheinanderwogender Kämpfe, in denen sich die verschiedensten
Gedanken, Stimmungen, Werthurtheile unaufhörlich befehden; wir leiden
unter den Siegen der Einen wie unter den Niederlagen der Andern, ohne
im Stande zu sein, unser Selbst zu ihrer Aller Herrn zu machen.

Hier findet sich zum ersten Mal eine Hindeutung auf Nietzsches so
viel besprochenen _Decadenzbegriff_, der in seinen späteren Werken
eine so grosse Rolle spielt. Nicht umsonst gemahnt uns diese erste
Beschreibung der Decadenzgefahr an die von uns gegebene Schilderung
seines eignen Seelenzustandes;--wir können hier schon den seelischen
Ursprung derselben deutlich erkennen: es ist die geheime Qual, die
es diesem leidenschaftlichen Geist verursachte, den steten Andrang
überwältigender Erkenntnisse und Gedankenströmungen auszuhalten,--
Gewalt, mit der all sein Denken und Wissen auf sein Innenleben
einwirkte, so dass die Fülle innerer einander widerstreitender
Erlebnisse die geschlossenen Grenzen der Persönlichkeit zu sprengen
drohte. Er sagt selbst im Vorwort (V) zu jener Schrift: »--Auch soll--
-- --nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir
jene quälenden Empfindungen erregten, meistens aus mir selbst und
nur zur Vergleichung aus Anderen entnommen habe.«[4] Was er in sich
selbst vorfand, das wurde ihm zur allgemeinen Gefahr des ganzen
Zeitalters,--und steigerte sich später sogar zu einer Todesgefahr
für das ganze Menschenthum, die ihn zum Erlöser und Erretter
aufrief. Die Folge aber dieses Umstandes ist ein eigenthümlicher
Doppelsinn, der durch die ganze Schrift hindurch geht und einem
kundigen Nietzsche-Leser sofort auffällt: da nämlich dasjenige, was am
herrschenden Zeitgeist seine Bedenken hervorrief, doch etwas wesentlich
Anderes war als sein eigenes Seelenproblem, so wendet er sich ohne
Unterschied gegen zwei voneinander völlig verschiedene Dinge: Einmal
gegen die Verkümmerung eines vollen, reichen Seelenlebens durch den
erkältenden und lähmenden Einfluss einseitiger Verstandesbildung: »Der
moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen
Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit ordentlich
im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst« (36). »Im Inneren ruht
dann wohl die Empfindung jener Schlange gleich, die ganze Kaninchen
verschluckt hat und sich dann still gefasst in die Sonne legt und
alle Bewegungen ausser den nothwendigsten vermeidet.-- --Jeder, der
vorübergeht, hat nur den einen Wunsch, dass eine solche »Bildung«
nicht an Unverdaulichkeit zu Grunde gehe« (37).--Das andere Mal
aber gerade gegen die allzu heftige, aufreizende und aufrührerische
Einwirkung des Gedanklichen auf das psychische Leben, gegen den dadurch
hervorgerufenen Kampf zusammenhangloser wilder Triebkräfte.

Es ist ein Unterschied wie zwischen Seelenstumpfsinn und
Seelenwahnsinn. In Nietzsche selbst pflegten die abstractesten Gedanken
sich in Gemüthsmächte umzusetzen, die ihn mit unmittelbarer und
unberechenbarer Gewalt fortrissen. In dem von ihm gezeichneten Bilde
unseres Zeitalters mussten sich ihm daher die beiden entgegengesetzten
Wirkungen des Intellectuellen vermischen, und in Bezug auf die eine von
ihnen,--auf die chaotische Entfesselung des Seelenlebens,--verschmolzen
ihm in ähnlicher Weise zwei verschiedene Ursachen mit einander. Es
handelt sich nämlich nicht nur um die rein intellectuellen Einflüsse,
nicht nur um die Gefahr des Verstandesmässigen für das Instinctmässige,
sondern auch um die uns vererbten und einverleibten Einflüsse
längst verflossener Zeiten, die, einst einer intellectuellen Quelle
entsprungen, jetzt nur in der Form von Trieben und Gefühlsschätzungen
in uns leben.

Der geschlossenen Persönlichkeit droht also nicht nur die Gefahr, die
von aussen kommt, sondern auch diejenige, die sie in sich trägt, die
mit ihr geboren ist,--jene »Instinct-Widersprüchlichkeit«, die das
Erbe aller Spätlinge ist, denn--Spätlinge sind Mischlinge.

Die Ueberwindung des Nachtheils, den die »Historie« in diesem
Sinn,--erlernt oder erlebt,--bringen kann, liegt in der Hinwendung
auf das Unhistorische. Unter dem Unhistorischen versteht Nietzsche
die Rückkehr zum Unbewussten, zum Willen des Nichtwissens, zum
Horizont-Abschliessenden, ohne das es kein Leben gibt. »Jedes Lebendige
kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar
werden« (11),-- --»Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre
ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt«.-- --Es ist wahr: erst
dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend,
zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst
dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller,
blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das
Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder
Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem,
Uebermaasse von Historie hört der Mensch wieder auf« (12 f.). Seine
Kraft misst sich an dem Maass des Historischen, das er verträgt und
besiegt,--an der Kraft des Unhistorischen in ihm: »Je stärkere Wurzeln
die innere Natur eines Menschen hat, um so mehr wird er auch von der
Vergangenheit sich aneignen oder anzwingen; und dächte man sich die
mächtigste und ungeheuerste Natur, so wäre sie daran zu erkennen,
dass es für sie gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde,
an der sie überwuchernd und schädlich zu wirken vermöchte; alles
Vergangene, eigenes und fremdestes, würde sie an sich heran, in sich
hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen. Das was eine solche
Natur nicht bezwingt, weiss sie zu vergessen; es ist nicht mehr da,
der Horizont ist geschlossen und ganz, und nichts vermag daran zu
erinnern, dass es noch jenseits desselben Menschen, Leidenschaften,
Lehren, Zwecke gibt.« (11) Ein solcher Geist treibt Historie auf alle
drei Weisen, auf die sie überhaupt getrieben werden kann, ohne ihr
nach irgend einer der drei Richtungen hin zu verfallen: er schaut sie
an als _Monumentalgeschichte_, indem er seinen Blick auf den grossen
Gestalten der Vorzeit ruhen lässt und sie auf sein Werk und sein
Wollen bezieht, ohne sich jedoch an sie zu verlieren: als begeisternde
Vorgänger und Genossen. Er vertieft sich in _antiquarische Geschichte_,
indem er alles Vergangene durchwandert! wie die Stätte seines eignen
Vorlebens,--wie Jemand, der die Stätte seiner eignen Kindheit betritt,
an welcher ihm auch das Geringste werthvoll und bedeutsam erscheint:--
--»--er versteht die Mauer, das gethürmte Thor, die Rathsverordnung,
das Volksfest wie ein ausgemaltes Tagebuch seiner Jugend und findet
sich selbst in diesem Allen, seine Kraft, seinen Fleiss, seine Lust,
sein Urtheil, seine Thorheit und Unart wieder. Hier Hess es sich leben,
sagt er sich, denn es lässt sich leben, hier wird es sich leben lassen,
denn wir sind zäh und nicht über Nacht umzubrechen. So blickt er, mit
diesem »Wir«, über das vergängliche wunderliche Einzelleben hinweg und
fühlt sich selbst als den Haus-, Geschlechts- und Stadtgeist« (28). Er
wird endlich drittens auch _kritisch_ auf die Geschichte blicken, um
zum Aufbau einer Zukunft eine Vergangenheit umzubrechen, und hierzu
bedarf er der grössten Lebenskraft, denn grösser als die Gefahr, ein
Schwärmer oder ein Sammler zu werden, ist die, ein Verneinender zu
bleiben. »Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst
gefährlicher Process:-- -- --Denn da wir nun einmal die Resultate
früherer Geschlechter sind,-- -- --ist (es) nicht möglich sich ganz
von dieser Kette zu lösen.-- --Wir bringen es im besten Falle zu
einem Widerstreite der ererbten, angestammten Natur und unserer
Erkenntniss,-- -- --wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen
Instinct, eine zweite Natur an, so dass die erste Natur abdorrt. Es
ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu
geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man
stammt-- -- --. Aber hier und da gelingt der Sieg doch, und es gibt--
-- -- -- --einen merkwürdigen Trost: nämlich zu wissen, dass auch
jene erste Natur irgend wann einmal eine zweite Natur war und dass
jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird« (33 f.).--Man kann
diese drei Betrachtungsweisen der Historie in gewissem Sinne auf drei
Perioden von Nietzsches eigener Entwicklung anwenden, indem man mit
der antiquarischen, die dem Philologen zukommt, den Anfang macht,
darauf die monumentale Auffassung folgen lässt, die ihn veranlasst, als
Jünger zu Füssen grosser Meister zu sitzen, und endlich seine spätere
positivistische Periode als die kritische bezeichnet. Nachdem aber
Nietzsche auch diese letztere überwunden hatte, verschmolzen ihm alle
drei Standpunkte zu einem einzigen, auf dem, wie sich zeigen wird,
die in dieser Schrift enthaltenen Gedanken in geheimnissvoller und
ergreifender Weise wiederkehren sollten, in der extremen und paradoxen
Zuspitzung des Satzes: das Historische sei unterthan dem individuellen
Leben, dessen ständige Bedingung das Unhistorische ist.--Die starke
Natur, die er als zugleich historisch und unhistorisch beschreibt, ist
somit ein Erbe aller Vergangenheit und dadurch ungeheuer in der Fülle
des Erlebens, aber ein Erbe, der seinen Reichthum wahrhaft fruchtbar zu
machen weiss, weil er ihn wahrhaft besitzt, über ihn gebietet,--nicht
von ihm besessen und beherrscht wird. Ein solcher Erbe und Spätling
ist dann immer zugleich der _Erstling_ einer neuen Cultur und, als
Träger der Vergangenheit, ein Gestalter der Zukunft: der Reichthum, den
er ausstreut, trägt noch den künftigen Zeiten Früchte. Er ist einer
von den grossen »Unzeitgemässen«, welche in die fernste Vergangenheit
niedertauchen, in die fernste Zukunft hinausweisen, in ihrer Zeit aber
immer als Fremdlinge dastehen, obgleich in ihnen die Gegenwart ihre
höchste Kraft sammelt und ausgibt.

Hier liegt der erste Ansatz zu den Gedanken der letzten
Schaffensperiode Nietzsches: ein Einzelner der Genius der gesammten
Menschheit, allein, fähig, von der Gegenwart aus die Vergangenheit als
Ganzes zu deuten und damit auch die Zukunft, als fernstes Ganzes, bis
in alle Ewigkeit in ihrem Ziel und Sinn zu bestimmen.

Rein äusserlich betrachtet, reichen die Wurzeln dieser Anschauung
hinab bis zu Nietzsches Philologenthum, welches ihn dazu führte, sich
alter Culturen erkennend zu bemächtigen. Wissen und Sein waren seiner
geistigen Eigenart stets Eins: und so hiess für Nietzsche classischer
Philologe sein so viel als Grieche sein. Gewiss musste dies die ihn
quälende Instinctwidersprüchlichkeit, welche sich für ihn zum Gegensatz
von Antik und Modern zuspitzte, noch verstärken, gleichzeitig aber
auch die Mittel zu ihrer Bekämpfung enthalten, nämlich: durch die
Vergangenheit, der Gegenwart überlegen, die Zukunft bauen; aus einem
Mann der Zeit zu einem Spätling älterer Culturen und einem Erstling
neuer Cultur werden.[5]

Zweien solcher »Unzeitgemässen«,--das ist Vorzeitgemässen und
Zukunftgemässen, sind die beiden letzten von Nietzsches »Unzeitgemässen
Betrachtungen« geweiht: »_Schopenhauer als Erzieher_«, und »_Richard
Wagner in Bayreuth_«. In diesen beiden, mit überströmender Begeisterung
aufgerichteten, Standbildern des Genius wird es besonders klar, 'bis
zu welchem Grade die angestrebte Cultur des Unzeitgemässen in einem
Cultus des Genies gipfelte. Im Genie besitzt die Menschheit nicht nur
ihren Erzieher, ihren Führer, ihren Verkünder, sondern auch ihren
eigentlichen und ausschliesslichen Endzweck. Die Vorstellung von den
»erhabenen Einzelnen«, um derentwillen allein die übrige »Fabrikwaare
der Natur« vorhanden sei, ist einer von jenen Schopenhauerischen
Grundgedanken, die Nietzsche nie wieder losgelassen haben. Etwas
in seinem innersten Geist dürstete ebenso unersättlich nach der
ungeheuren Steigerung des Egoistischen in das Idealselbstische, das
darin liegt, als auch nach der dunklen Kehrseite dieses höchsten
Menschenlooses, nach dem »Einsamen« und »Heroischen«. In seiner
mittleren Schaffensperiode ging er scheinbar von dieser ursprünglichen
Genievorstellung ab, weil sie ihren metaphysischen Hintergrund
eingebüsst hatte, von dem allein der grosse »Einzelne« sich in
übermenschlicher Bedeutsamkeit abheben konnte,--wie eine Gestalt aus
der höheren und wahren Welt. Aber der Gedanke des Geniecultus barg
einen Ansatz zu dem, was Nietzsche, am Ende seiner Entwicklung, mit
einem Griff genialen Wahnsinns, dann wieder aus ihm gestaltet hat.
Denn zum Ersatz einer metaphysischen Deutung steigerte sich ihm der
_positive Lebenswerth_ des Genies noch so hoch über Schopenhauers
Auffassung desselben hinaus, dass diese letztere nur ein schwaches
Gegenbild zu der seinen bietet.

Solange nämlich der Geniecultus ein Cultus des Metaphysischen in der
menschlichen Physis blieb, erstreckte er sich auf eine fortlaufende
Reihe, eine Kette solcher »Einzelner«, die einander in Sinn und
Wesen ebenbürtig und gleichwerthig waren. Sie werden nicht als
Bestandtheile einer Entwicklungslinie des Menschlichen betrachtet,
sie: »--setzen nicht etwa einen Prozess fort, sondern leben
zeitlos-gleichzeitig«,--sie bilden »eine Art von Brücke über den wüsten
Strom des Werdens«. »-- -- --ein Riese ruft dem anderen durch die
öden Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört durch muthwilliges,
lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das
hohe Geistergespräch fort.« (Nutzen u. Nachtheil d. Histor. 91). Weil
es dieses »Gezwerge« ist, das die ganze Entwicklungsgeschichte sowohl
in ihren Geschehnissen, wie in ihren Gesetzen bestimmt, so ist Eins
sicher: »Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen,sondern nur
in ihren höchsten Exemplaren.« (A. a. O.)

Aber da auch die höchsten Exemplare nur das zum Ausdruck bringen,
was in der Tiefe des Menschlichen überhaupt, als sein metaphysisches
Grundwesen, ruht, so unterscheiden sie sich von der Masse der Menschen
weniger durch eine Wesens_verschiedenheit_, als vielmehr durch eine
_Wesensenthüllung_, durch eine göttliche Nacktheit,--während der
Mensch der Masse tausend über sein wahres Wesen gebreitete Schichten
trägt, die alle der Welt und Lebensoberfläche angehören und sich
hier und da bis zur Undurchdringlichkeit verhärten. »Wenn der grosse
Denker die Menschen verachtet, so verachtet er ihre Faulheit: denn
ihrethalben erscheinen sie als Fabrikware.-- --Der Mensch, welcher
nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich
bequem zu sein« (Schopenhauer als Erzieher 4). Daher ist liebevolle
Erziehung und Bemühung um Alle die Folge dieser Anschauungsweise, die
im tiefsten Sinn Alle gleichstellt, weil sie den metaphysischen Kern in
jeder Schale ehrt; sie entfernt sich darum von nichts so weit als von
Nietzsches späteren Forderungen der Sklaverei und Tyrannei.

Ist aber wie in Nietzsches späterer Philosophie dieser metaphysische
Hintergrund zerstört, löst sich das übersinnliche Sein in das
unendliche Werden des Wirklichen auf, so vermag sich der Einzelne über
die Masse nur durch einen Wesensunterschied zu erheben, der einem
höchsten Gradesunterschied gleichkommt: indem er die Quintessenz
dieses Werdeprocesses repräsentirt, umfasst er denselben möglichst
in seiner Totalität, während der Mensch der Masse ihn nur blind und
bruchstückweise zu erleben und in sich darzustellen weiss. Dieser
Einzelne wäre gewissermassen als der Einziges imstande, der langen
Entwicklung, die sich Geschichte nennt, einen Sinn zu geben; er
selbst wäre nicht wie der Schopenhauerische Mensch geschaffen aus
übersinnlichem Stoff, aber dafür wäre er durch und durch Schöpfer
und als solcher imstande, der Welt jene Bedeutsamkeit der Dinge zu
ersetzen, an die der Metaphysiker glaubt. Anstatt vieler einander
ebenbürtiger Einzelner, die sich wie ein gleichmässig hoher
zusammenhängender Bergrücken über dem Menschengetriebe erheben, gibt
es daher in Nietzsches letzter Philosophie nur den grossen Einsamen,
der sich als Gipfel des Ganzen darstellt; nach oben hin ist er noch
viel einsamer als sie, denn er ist als Abschluss der Entwicklung das
höchste Exemplar der Gattung, nach unten aber ist er viel härter und
herrischer als sie, denn die Masse und das Leben bedeuten an sich, oder
metaphysisch, nichts; er muss ihnen erst bis an seinen Gipfel hinan
eine bestimmte Rangordnung verleihen. Es ist leicht begreiflich, warum
erst mit ihm der Geniecultus ins Ungeheure wächst, denn in Ermangelung
der metaphysischen Deutung, durch die der Schopenhauerische Mensch von
vornherein in eine höhere Ordnung der Dinge erhoben wird, kann Er nur
durch das Mittel des Ungeheuren überzeugen.

Folgendes sind die vier Gedanken der ersten philosophischen Periode
Nietzsches, womit er sich, wenn auch in stets veränderter Auffassung
bis zuletzt beschäftigt hat: es sind das Dionysische, die Decadenz, das
Unzeitgemässe, der Geniecultus. Wie wir ihn selbst, so werden wir auch
sie immer wiederfinden, und in demselben Maasse, als er sich selbst
immer persönlicher in seiner Philosophie zum Ausdruck bringt, gestaltet
er auch sie immer charakteristischer. Betrachtet man seine Gedanken in
ihrem Wechsel und ihrer Mannigfaltigkeit, dann erscheinen sie fast
unübersehbar und allzu complicirt; versucht man hingegen aus ihnen
herauszuschälen, was sich im Wechsel stets gleich bleibt, dann erstaunt
man über die Einfachheit und Beständigkeit seiner Probleme. »Immer ein
Anderer und immer Derselbe!« konnte Nietzsche von sich sagen.

Dass die Wagner-Schopenhauerische Weltanschauung eine so tiefe
Bedeutung für Nietzsche gewann, dass er später noch nach allen Kämpfen
und von ganz entgegengesetzten Richtungen seines Geisteslebens aus
sich wieder ihren Grundgedanken annäherte, zeigt, wie sehr dieselbe
seiner ganzen Natur entgegenkam, wie sehr sich in ihr aussprach, was in
ihm schlummerte. Aus seinem Philologenthum in dieses Philosophenthum
erhoben, fühlte er sich ohne Zweifel einem Gefangenen gleich, von dem
die Ketten fallen. Waren doch vorher seine besten Kräfte gebunden
gewesen; jetzt durfte er aufathmen, jetzt wurde Alles in ihm befreit.
Seine künstlerischen Instincte schwelgten in den Offenbarungen der
Wagner'schen Musik; seine starke Veranlagung zu religiösen und
moralischen Exaltationen genoss in der metaphysischen Ausdeutung dieser
Kunst eine beständige Möglichkeit der Erhebung. Sein umfassendes
gründliches Wissen diente der neuen Weltanschauung, die sich in seiner
Auffassung des Griechenthums wiederspiegelte. Da in Wagners Person
das Kunstgenie Thatsache geworden, in ihm gleichsam der »erlösende
Heiland« gegeben war, so fiel Nietzsche die Stellung des Erkennenden,
des wissenschaftlichen Vermittlers, zu: damit blieb er in der Aufgabe
des Philosophen. Aber die gewonnene Erkenntniss selbst bildete nur
den Anlass zur vollen Entfaltung seiner künstlerischen und religiösen
Eigenart, und eben dies bezeichnet ihren Werth für seinen Geist.
Wonach er sich schon während seiner philologischen Studien gesehnt
hatte, als er dem Leben der alten Philosophen nachforschte, das war
hier zur Wahrheit geworden: das Denken ein Erleben, die Erkenntniss
ein Mitarbeiten und Mitschaffen an der neuen Cultur; im Gedanken
durften alle Seelenkräfte Zusammenwirken: er forderte den ganzen
Menschen. Nietzsche gibt nur dem befreienden Entzücken Ausdruck, das
er hier genoss, wenn er am Schluss seines »Sokrates und die klassische
Philologie« in die Worte ausbricht: »Ach! Es ist der Zauber dieser
Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss!«

Und wie seine einzelnen Geistesanlagen sich jetzt freier ausleben
und entwickeln durften, so bot diese Periode in Nietzsches Leben
auch jenem tiefsten, fast weiblichen Bedürfnisse seines Inneren nach
persönlicher Anbetung, nach Aufblick, volle Befriedigung, das sich
später so schmerzlich an sich selbst befriedigen musste. Mochte die
Wagner-Schopenhauerische Philosophie, ihrer ganzen Anschauungsweise
nach, ihm ein noch so tiefes Glück gewähren, so war doch das
Werthvollste für ihn hier das persönliche Verhältniss zu Wagner, der
unbedingte Aufblick zu ihm. Seine Begeisterung entzündete sich darin
an einer ausser ihm stehenden Persönlichkeit, in der er gleichsam
das Ideal seines eigenen Wesens verkörpert zu sehen glaubte. Das
Glück eines solchen Glaubens breitet über die Gedanken der ersten
philosophischen Schriften Nietzsches etwas Gesundes, beinahe Naives,
das von der Eigenart seiner späteren Werke scharf absticht. Es ist,
als sähe man ihn erst an dem Bilde seines Meisters Wagner und dessen
Philosophen Schopenhauer sich selbst begreifen und errathen. Denn
mit instinctiver Scheu weist er noch jene Kunst zurück, sein eigenes
Selbst in bewusster Weise zum »Object und Experiment des Erkennenden«
zu machen, die Kunst, an der er später so gross und so krank werden
sollte. »Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und
verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch
sich siebenmal siebzig abziehen und wird doch nicht sagen können »das
bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schaale«. Zudem ist es ein
quälerisches gefährliches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben
und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam
hinabzusteigen. Wie leicht beschädigt er sich dabei so, dass kein Arzt
ihn heilen kann« (Schopenhauer als Erzieher 7). Und deshalb ruft er der
Jugend, die nach Einsicht in ihr eigenes Selbst begehrt, die Worte zu:
»was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich
beglückt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir
auf, und vielleicht ergeben sie dir-- -- --ein Gesetz, das Grundgesetz
deines eigentlichen Selbst. Vergleiche diese Gegenstände, sieh,-- --
--wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir
selbst hingeklettert bist; denn dein wahres Wesen liegt nicht tief
verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir -- -- --.« (A. a.
O.)

Mit einer Offenheit, die ihm später während der Zeit peinlichster
Selbstanalyse ganz abhanden kam, legt er die Motive bloss, aus denen
es ihn von Anfang an inbrünstig nach einer solchen Jüngerschaft
verlangt habe--nach einem überlegenen »Wegweiser zugleich und
Zuchtmeister« (Schopenhauer als Erzieher 14): »-- --darf ich ein wenig
bei einer Vorstellung verweilen, welche in meiner Jugend so häufig
und so dringend war, wie kaum eine andre. Wenn ich früher recht nach
Herzenslust in Wünschen ausschweifte, dachte ich mir, dass mir die
schreckliche Bemühung und Verpflichtung, mich selbst zu erziehen,
durch das Schicksal abgenommen würde: dadurch dass ich zur rechten
Zeit einen Philosophen zum Erzieher fände, einen wahren Philosophen,
dem man ohne weiteres Besinnen gehorchen könnte, weil man ihm mehr
vertrauen würde als sich selbst.« (Schopenhauer als Erzieher 8 f.) Es
ist interessant, zu beobachten, wie er zu diesem Zwecke hinter dem
Denker Schopenhauer einen Idealmenschen Schopenhauer zu entdecken
sucht,[6] und wie er Wagner gegenüber von einer tiefen Verwandtschaft
ihrer beiderseitigen Naturen ausgeht. In der That überrascht die
Uebereinstimmung der von ihm geschilderten natürlichen und geistigen
Anlagen Wagners mit der »Vielstimmigkeit« seiner eigenen Anlagen, wie
sie im ersten Theil dieses Buches dargelegt ist. So sagt er in »Richard
Wagner in Bayreuth« (13): »Jeder seiner Triebe strebte ins Ungemessene,
alle daseinsfreudigen Begabungen wollten sich einzeln losreissen und
für sich befriedigen; je grösser ihre Fülle, um so grösser war der
Tumult, um so feindseliger ihre Kreuzung«.

Dann, beim Eintritt der »geistigen und sittlichen« Mannbarkeit
Wagners, gelangt diese »Vielheit« zum Zusammenschluss und zugleich
zu einer eigentümlichen »Spaltung in sich«. »Seine Natur erscheint
in furchtbarer Weise vereinfacht, in zwei Triebe oder Sphären
auseinandergerissen. Zu unterst wühlt ein heftiger Wille in jäher
Strömung, der gleichsam auf allen Wegen, Höhlen und Schluchten ans
Licht will und nach Macht verlangt. (10.)-- -- -- -- -- --Der gesammte
Strom stürzte sich bald in dieses, bald in jenes Thal und bohrte in
die dunkelsten Schluchten:--in der Nacht dieses halb unterirdischen
Wühlens erschien ein Stern hoch über ihm-- --« (12.) »Wir thun einen
Blick in die _andere_ Sphäre Wagners. Es ist die eigenste Urerfahrung,
welche Wagner in sich selbst erlebt und wie ein religiöses Geheimniss
verehrt:-- -- --jene wundervolle Erfahrung und Erkenntniss, dass
die eine Sphäre seines Wesens der andern treu blieb,-- -- --die
schöpferische, schuldlose lichtere Sphäre der dunkelen, unbändigen,
tyrannischen.« (13.)

»Im Verhalten der beiden tiefsten Kräfte zu einander, in der Hingebung
der einen an die andere, lag die grosse Nothwendigkeit, durch welche er
allein ganz und er selbst bleiben konnte.« (13.)

Gegen den Schluss der Schrift sucht Nietzsche auch die Musik Wagners
aus dieser ihm selbst so verwandten Eigenart heraus zu begreifen, indem
er das musikalische Genie Wagners als eine Art Wiederspieglung von
dessen seelischen Zuständen auffasste:

»-- --wie seine Musik sich mit einer gewissen Grausamkeit des
Entschlusses dem Gange des Dramas, der wie das Schicksal unerbittlich
ist, unterwirft, während die feurige Seele dieser Kunst darnach lechzt,
einmal ohne alle Zügel in der Freiheit und Wildniss umherzuschweifen.«
(82.)

»Ueber allen den tönenden Individuen und dem Kampfe ihrer
Leidenschaften, über dem ganzen Strudel von Gegensätzen, schwebt,--
--ein übermächtiger symphonischer Verstand, welcher aus dem Kriege
fortwährend die Eintracht gebiert.« (79.)

»Nie ist Wagner mehr Wagner, als wenn die Schwierigkeiten sich
verzehnfachen und er in ganz grossen Verhältnissen mit der Lust des
Gesetzgebers walten kann. Ungestüme, widerstrebende Massen zu einfachen
Rhythmen bändigen, durch eine verwirrende Mannigfaltigkeit von
Ansprüchen und Begehrungen Einen Willen durchführen«--. (80.)

Aber gerade diese Verwandtschaft ihrer beiderseitigen Naturen musste
Nietzsche schliesslich zu einer Weiterentwicklung seines Geistes
auf einsamen Bahnen führen, sie musste ihn irgend wann einmal von
Wagner losreissen. Sobald Nietzsche in dieser Periode den Höhepunkt
erreicht hat, ist auch schon der erste Schritt vorgezeichnet, der ihn
unvermeidlich abwärts führen musste. Es erscheint als eine völlige
Verkehrung des Sachverhalts, wenn er später in seinem ungerechten
Büchlein »Der Fall Wagner« behauptet: »Mein grösstes. Erlebniss war
eine _Genesung_. Wagner gehört bloss zu meinen Krankheiten.« (Vorwort.)
Denn in das Krankhafte geht seine Entwicklung erst lange nach seinem
Bruch mit Wagner, ja man kann von seiner Wagnerperiode in gewissem
Sinne sagen, dass sie zu seinen überwundenen Gesundheiten gehört habe.
Trotzdem aber darf man das Wahre in seiner Behauptung nicht überhören:
dass er nämlich damals seinen eigenen Höhepunkt noch nicht erreicht
habe, wie gesund und glücklich er auch zu jener Zeit gewesen sei.

Diese Gesundheit hätte er sich nur erhalten können um den Preis der
Grösse. Um aus dem Jünger ein Meister zu werden, musste er erst in sein
Selbst einkehren; da aber seine Natur mit zwingender Nothwendigkeit
nach einer Jüngerschaft im religiösen Sinne verlangte, so blieb nur die
eine Möglichkeit, Jünger und Meister in sich selbst zu vereinigen,--
sei es auch, um daran zu leiden, sei es auch, um an einer krankhaften
Verschmelzung Beider zu Grunde zu gehen. Von seinem Weg zur Grösse
gilt Zarathustras Wort: »Gipfel und Abgrund--das ist jetzt in Eins
beschlossen!«

Man hat dem Abfall Nietzsches von Wagner die verschiedenartigsten
Deutungen gegeben, man hat ihn aus rein idealen
Beweggründen--unwiderstehlichem Wahrheitsdrang--und auch aus
menschlichen-allzumenschlichen Motiven zu erklären gesucht. In
Wirklichkeit kreuzte sich aber wohl beides darin in ganz ähnlicher
Weise, wie dies schon in der allerersten Wandlung Nietzsches, in seiner
Abwendung vom Glauben, der Fall gewesen war; gerade der Umstand, dass
er volles Genügen, Seelenfrieden und eine Geistesheimat gefunden hatte,
dass ihm Wagners Weltanschauung so weich und glatt anlag wie eine
»gesunde Haut«, kitzelte ihn, sie sich abzustreifen, Hess ihm sein
»Ueberglück als Ungemach« erscheinen, Hess ihn »verwundet werden von
seinem Glück«. Auf diese Art der Entstehungseiner freigeisterischen
Richtung findet seine »Vermuthung über den Ursprung der Freigeisterei«
überhaupt (Menschliches, Allzumenschliches I 232) Anwendung, die durch
allzu starke Empfindungsseligkeit in der gegebenen Weltanschauung
erzeugt werde: »Ebenso wie die Gletscher zunehmen, wenn in den
Aequatorialgegenden die Sonne mit grösserer Gluth als früher auf
die Meere niederbrennt, so mag auch wohl eine sehr starke, um sich
greifende Freigeisterei Zeugniss dafür sein, dass irgendwo die Gluth
der Empfindung ausserordentlich gewachsen ist.«

Erst in der selbstgewollten, selbstgesuchten Peinigung wuchs seinem
Geist die streitbare, harte Rüstung, mit der gewappnet er dann gegen
seine alten Ideale zu Felde zog. Gewiss empfand er es als eine
Befreiung, sich mit dem Verzicht auf Erhebendes und Schönes zugleich
aus einer letzten Abhängigkeit loszulösen; aber dennoch stellte diese
Selbstbefreiung einen Act der Entsagung dar; er litt unter ihr, wie man
unter Wunden leidet, auch wenn man sie sich selbst geschlagen hat.

Der Bruch vollzog sich endgiltig und für Wagner völlig unerwartet,
als dieser mit seiner Parsifal-Dichtung bei katholisirenden Tendenzen
angelangt--war, während Nietzsches Geistesentwicklung in einer jähen
Wandlung sich der positivistischen Philosophie der Engländer und
Franzosen zugewandt hatte. Der Abfall Nietzsches von Wagner bedeutete
aber nicht nur eine Trennung der Geister, sondern zerriss zugleich ein
Verhältniss, in welchem sich beide so nahe gestanden hatten, wie nur
der Sohn dem Vater, der Bruder dem Bruder nahe steht. Ganz vergessen,
ganz verschmerzen konnte es wohl keiner von ihnen. Noch im Herbst 1882,
ein halbes Jahr vor dem Tode Wagners, wurde während der Bayreuther
Festspiele,--der Erstaufführung des Parsifal--, der Versuch gemacht,
Nietzsche vor dem Meister zu erwähnen. Nietzsche weilte damals in der
Nähe, in dem thüringischen Dörfchen Tautenburg bei Dornburg, und seine
alte Freundin Fräulein von Meysenbug meinte, obschon mit Unrecht, dass
im Fall des Gelingens Nietzsche zu bewegen gewesen wäre, nach Bayreuth
zu kommen und Sich mit Wagner zu versöhnen. Indessen der Versuch
misslang; Wagner verliess in grosser Erregung das Zimmer und verbot,
den Namen jemals wieder vor ihm auszusprechen. Aus ungefähr derselben
Zeit stammt folgender in Facsimile wiedergegebene Brief Nietzsches, der
seine eigene Stellung in dem Bruch mit Wagner beredt genug schildert:

[Illustration]

[Illustration]

[Illustration]

[Illustration]

Wenn ich diese kurze Schilderung lese, dann sehe ich ihn selbst vor
mir, wie er, während einer gemeinsamen Reise von Italien her durch die
Schweiz, mit mir das Gut Triebschen bei Luzern besuchte, den Ort, an
welchem er mit Wagner unvergessliche Zeiten verlebt hatte. Lange, lange
sass er dort schweigend am Seeufer, in schwere Erinnerungen versunken;
dann, mit dem Stock im feuchten Sande zeichnend, sprach er mit leiser
Stimme von jenen vergangenen Zeiten. Und als er aufblickte, da weinte
er.

Mit seiner innern und äussern Loslösung von dem Wagnerthum und der
Philosophie Schopenhauers fällt Nietzsches schwerstes körperliches
Leiden zusammen. So lebte er damals, körperlich wie geistig, unter
Stürmen und Schmerzen, die ihn in die Nähe »leiblichen wie seelischen
Todes« brachten. Seine Krankheit war zum Ausbruch gekommen in
den Jahren gesteigertster Productivität, allzu vielseitiger und
aufreibender Beschäftigung mit wissenschaftlichen Untersuchungen,
philosophischen Problemen, mit der geistigen Bewegung der Gegenwart,
der Kunst Wagners und mit der Musik selbst. Es ist gewiss nicht
zufällig, dass auch der letzte, verhängnissvolle Ausbruch seines
Kopfleidens am Ende der Achtziger Jahre ebenfalls auf eine Periode
ungeheurer geistiger Schaffenskraft und Regsamkeit folgte. Wenn
er sich am gesundesten und rüstigsten, in der Vollkraft seiner
Leistungsfähigkeit fühlte, dann kam er stets der Krankheit am nächsten;
und die Zeiten unfreiwilliger Müsse und Ruhe waren es, die ihm immer
wieder Erholung brachten und die Katastrophe noch aufhielten.

Dieser Vorgang spiegelt rein körperlich etwas von jenem eigenthümlich
pathologischen Zuge der »Uebergesundheit« seines Geisteslebens wieder,
welche in Krankheitszustände überzuströmen pflegte, nachdem sie ihren
Höhepunkt erreicht hatte. Aus ihnen rang er sich aber mit der zähen
Kraft seiner ungeheuren Natur stets wieder zur Gesundheit durch.

Solange er noch die Schmerzen bezwang und die volle Arbeitskraft
in sich fühlte, konnte selbst das Leiden seiner lebensvollen
Unverwüstlichkeit und Selbstbehauptung noch nichts anhaben. Noch am 12.
Mai 1878 schreibt er im Ton getrosten Muthwillens in einem Briefe aus
Basel: »Die Gesundheit schwankend und gefährlich, aber--fast hätte ich
gesagt: was geht mich meine Gesundheit an?«

Aber dann folgt, am 14. December 1878, die Hindeutung auf den
voraussichtlich nothwendigen Rücktritt von der Professur: »Mein
Zustand ist eine Thierquälerei und Vorhölle, ich kanns nicht leugnen.
_Wahrscheinlich_ hört es mit meiner akademischen Thätigkeit auf,
_vielleicht_ mit der Thätigkeit überhaupt, _möglicherweise_ mit--
--u. s. w.« Und dann die bittere Klage: »Es scheint mir nichts mehr
zu helfen, die Schmerzen waren gar zu toll.-- -- --Immer heisst es:
Ertrage! Entsage! Ach, man bekommt die Geduld auch satt. Wir haben die
Geduld zur Geduld nöthig!«

Endlich, im Tone stiller Ergebung, ein Brief aus Genf, vom 15. Mai 1879:

»Mir geht es nicht gut, aber ich bin ein alter routinirter
Leidtragender und werde meine Bürde weiterschleppen,--aber _nicht_
mehr lange, so hoffe ich!«

Bald darauf legte er seine Professur nieder, und auf immer umfing
ihn die Einsamkeit, Der Verzicht auf seine Lehrthätigkeit fiel
ihm schwer,--war es doch im Grunde der Verzicht auf jede fernere
strengwissenschaftliche Arbeit. Kopf und Augen,--er nennt sich selbst
einen »Kranken, der jetzt leider auch ein Sieben-Achtel-Blinder
ist, und nicht mehr lesen kann, ausser mit Schmerzen und auf ein
Viertelstündchen« (Brief an Rée)--, hinderten ihn nunmehr dauernd an
einem stofflichen Ausbau seiner Gedanken durch ausgebreitete Studien.
Wie umfangreich und vielseitig er seine Forschungen angelegt hatte,
zeigt die grosse Mannigfaltigkeit seiner an der Universität und am
Pädagogium zu Basel gehaltenen Vorlesungen.

Allerdings beschränkte er sich damals noch auf die Erforschung des
Hellenenthums und blieb philosophisch in den Fesseln eines bestimmten
metaphysischen Systems gebunden. Aber seine spätere Selbstbefreiung vom
Zwang dieses Systems hätte unter andern Gesundheitsverhältnissen um so
günstiger wirken müssen. Das Culturbild des griechischen Lebens, aus
dem er damals mit den Augen des Metaphysikers die tiefsten Grundzüge
des Weltbildes und Menschenlebens herauszulesen meinte, würde sich
ihm, auf dem Wege wissenschaftlicher Weiterarbeit, allmählig zu einem
Totalbilde der Weltentwicklung erweitert haben. In der Genialität
seiner feinen Anempfindung und künstlerischen Nachgestaltungskraft
war er geradezu prädestinirt zu geschichtsphilosophischen Leistungen
im Grossen. Sein Drang zum Produciren wäre dadurch gehindert worden,
sich allzusehr ins Subjective zu verlieren; empfand er es doch oftmals
selbst, dass, je beflügelter, drängender und leidenschaftlicher
geartet die Gedanken sind, desto umfassender und strenger der Stoff
sein müsse, an dem sie gebunden, von dem sie beherrscht werden. Daher
begegnen wir in seinen Werken bis zuletzt immer wieder erneuten
fruchtlosen Anstrengungen, sich nach aussen hin auszubreiten und sein
Denken wissenschaftlich zu begründen,--es ist etwas vom vergeblichen
Flügelschlagen eines gefangenen Adlers darin. Er war durch seine
Gesundheit _genöthigt_, sich selbst zum Stoff seiner Gedanken zu
nehmen, sein eignes Ich seinem philosophischen Weltbilde unterzulegen
und dieses aus dem eignen Innern herauszuspinnen. Vielleicht hätte
er im andern Falle etwas so ganz Eigenartiges,--und daher so ganz
Einzigartiges, nicht geleistet. Aber trotzdem vermag man nicht
ohne das tiefste Bedauern auf diesen Wendepunkt in Nietzsches
Schicksal zurückzublicken,--auf diesen unheimlichen _Zwang_ zur
Selbstvereinsamung und Selbstabschliessung,--man vermag sich dem Gefühl
nicht zu entziehen, dass er hier an einer Grösse, die ihm Vorbehalten
war, _vorübergeht_.

An dieser Stelle wird es um Nietzsche Nacht. Seine bisherigen Ideale,
seine Gesundheit, seine Arbeitskraft, sein Wirkungskreis,--Alles, was
seinem Leben Licht und Glanz und Wärme gegeben hatte, entschwand ihm
eins nach dem andern. Es war ein ungeheurer Zusammenbruch, unter dessen
Trümmern er wie begraben wurde. Es begannen seine »_Dunkel-Zeiten_.«
(S. Der Wanderer u. sein Schatten 191.)

Die jetzt folgenden Schriften sind nicht, wie die bisherigen, aus
einer Fülle herausgeschöpft, die in ihm angesammelt und bereit lag,
von einem Ziel aus verfasst, das er erreicht zu haben glaubte,--sie
erzählen vielmehr davon, wie er sich in seiner Nacht orientirt und
langsam vorwärts tastet, sie sind die qualvollen, kampfvollen, endlich
sieghaften Schritte nach einem dunklen Ziele hin.

»Als ich allein weiter ging,« bekennt er viele Jahre später
(Einführende Vorrede zum zweiten Bande von »Menschliches,
Allzumenschliches«) von dieser Zeit, »zitterte ich: nicht lange
darauf, und ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der
unaufhaltsamen Enttäuschung über Alles, was uns modernen Menschen
zur Begeisterung übrig blieb-- --«. Aber nicht als einen Klagenden
sehen wir ihn sich durch die Trümmer hindurchkämpfen,--und mit Recht
bezeichnet er dies als den Reiz jener Schriften: »dass hier ein
Leidender und Entbehrender redet, wie als ob er _nicht_ ein Leidender
und Entbehrender sei.« (Ebendaselbst.)

Immer wieder wird er zu einem Neu-Schaffenden und Neu-Entdeckenden.
Tief unter die Trümmerwelt steigt er hinab, er untergräbt und
unterwühlt noch ihre letzten Fundamente und späht mit nachtgewöhntem
Auge nach den verborgenen Schätzen und Heimlichkeiten des Erdinnern
aus. Ein zweiter Trophonius, listig aus-und einschlüpfend, weiss er
auch aus der Tiefe noch Aufschluss zu geben über die Welt da droben
und ihr Räthsel zu deuten. So sehen wir ihn: »einen Unterirdischen, an
der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden,-- --wie er
langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne
dass die Noth sich allzusehr, verriethe, welche jede lange Entbehrung
von Licht und Luft mit sich bringt.« Und darüber kommt uns jene
zuversichtliche Frage, mit der er selbst auf diese Jahre zurückblickte,
und die die Betrachtung seiner ferneren Entwicklungsgeschichte uns
beantworten soll: »--Scheint es nicht, dass-- -- --er vielleicht seine
eigne lange Finsterniss haben will, sein Unverständliches, Verborgenes,
Rätselhaftes, weil er weiss, was er auch haben wird: seinen eignen
Morgen, seine-eigne Erlösung, seine eigne Morgenröte?...« (Einführende
Vorrede zur neuen Ausgabe der »Morgenröte«.)

[Illustration]

[Illustration]

[Illustration]

[Illustration]

Mit solchen Gefühlen von Selbstmitleid und Selbstbewunderung blickte
Nietzsche auf die Geistesperiode zurück, vor welcher wir nunmehr
stehen. Wir sehen: das Charakterische sind von vornherein die
Kämpfe und Wunden, die es ihn kostete, sich die neue Weltanschauung
anzueignen; es ist das tiefe Erkranken an ihr, aus dem er sich
alsdann seine neue Gesundheit schuf. Seine Originalität musste sich
daher zunächst viel weniger in den Einsichten und Theorien selbst
aussprechen, die sich ihm damals erschlossen, als vielmehr in der
Kraft, mit der er sich vom alten Ideal losriss, um sie erfassen
zu können. Er gelangte eben nicht wie die Meisten zum Bewusstsein
erhöhter Selbständigkeit und eigenster Geistesthätigkeit auf Grund
einer intellectuellen Entwicklung, die uns gleichgiltig und kalt
stimmt gegenüber den verlassenen unreiferen Gedanken. Er gelangte dazu
nur durch eine gewaltsame Empörung gegen das Ehemalige, wobei die
intellectuellen Gründe den Gesinnungswechsel weniger bedingten als
begleiteten. Daher sehen wir anfänglich immer, dass Nietzsche die neuen
Gedanken in einer gewissen Unselbständigkeit so hinnimmt, wie er sie
gerade vorfindet,--dass er sie zunächst wieder kritiklos empfängt; denn
seine ganze Kraft ist inzwischen vollständig in Anspruch genommen von
den allerinnerlichsten Erlebnissen, und die neuen Theorien als solche
bilden,--um einen Lieblingsausdruck von Nietzsche zu gebrauchen,--nur
eine vorläufige »Vordergrundsphilosophie«, während im verborgenen
Hintergründe, den Kämpfen des Seelenlebens, sich der eigentlich
entscheidende Process abspielt.

Je fester er mit dem Alten verwachsen ist, je gewaltsamer der Sprung
ins Neue eine vollständige Entwurzelung aus dem heimischen Geistesboden
verlangt, desto tiefer ist die innere Bedeutung der Wandlung. So
kann man in gewissem Sinne sagen, dass gerade die scheinbare innere
Unselbständigkeit, mit welcher Nietzsche sich einer fremden Denkweise
vorläufig hingiebt, eine Kraft heroischester Selbständigkeit verbürgt.
Während die theuersten Gedanken ihn heimlocken, überlässt er sich
wehrlos Gedankenkreisen, denen gegenüber er sich noch als Fremdling,
ja insgeheim noch als Gegner fühlt,--aber mit jenem schönen Wort im
Herzen: »Ein Sieg und eine eroberte Schanze sind nicht mehr deine
Angelegenheit, sondern die der Wahrheit,--aber auch deine Niederlage
ist nicht mehr deine Angelegenheit.« (Morgenröthe 370 »Inwiefern der
Denker seinen Feind liebt.«)

Man muss dies im Auge behalten, wenn man Nietzsches unvermitteltem
Gesinnungswechsel gerecht werden und die Entstehung seines
positivistischen Erstlingswerkes begreifen will,--dieses Werkes,
welches so überraschend und unerwartet seinem Geiste entsprang. Erst
im Jahre 1876 war die letzte der »Unzeitgemässen Betrachtungen«,
das in überströmender Begeisterung geschriebene Büchlein »Richard
Wagner in Bayreuth«, erschienen, und schon in dem Winter 1876/1877
entstand die erste seiner Aphorismensammlungen: _Menschliches,
Allzumenschliches_. Ein Buch für freie Geister. (Dem Andenken
Voltaire's geweiht zur Gedächtniss-Feier seines Todestages, des 30.
Mai 1778) nebst einem Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche.
(Verlag von Ernst Schmeitzner, Chemnitz, 1878.) Von keinem Buche gilt
mit grösserm Recht das Wort, das er über die Werke dieser Periode
schrieb: »Meine Schriften reden _nur_ von meinen _Ueberwindungen_:
ich bin darin, mit Allem, was mir feind war.-- -- --Einsam nunmehr,--
--nahm ich-- --Partei _gegen_ mich und _für_ Alles, was gerade mir
wehe that und hart fiel«. (Einführende Vorrede zur Neuen Ausgabe von
Menschliches, Allzumenschliches II, VIII.) Jenes Werk spiegelt den
damaligen Zustand seines Geistes so deutlich wieder, dass es zwei
völlig von einander verschiedene Bestandtheile zu enthalten scheint:
einerseits den noch unselbständigen Positivisten Nietzsche, der uns
in den neu übernommenen Theorien fast nichts Eigenes giebt, sondern
uns nur darüber orientirt, wo er sich jetzt befindet,--in welche
neue »Haut« er sich fast passiv hat kleiden lassen; andererseits
den Kämpfer und Dulder Nietzsche, der sich entschlossen von den
ehemaligen Idealen losringt und uns in diesem Kampfe eine ergreifende
Fülle des originalsten Gedankenlebens durch die Inbrunst offenbart,
mit welcher er sich gegen sein eigenes altes Selbst wehrt und sich
selbst verwundet. Hieraus erklärt sich auch die Leidenschaftlichkeit
und Rücksichtslosigkeit der Angriffe, die er gegen Wagner und dessen
Ansichten richtet. Niemand ist weniger fähig zu ruhig abwägender
Gerechtigkeit als der, welcher seinen Ueberzeugungswechsel gerade
vollzieht,--und dies nicht aus rein intellectuellen Gründen, sondern
selber aus der Tiefe des »Menschlichen, Allzumenschlichen« seiner
eigenen Natur heraus. Keinen Gedanken schleudern wir so weit, so
heftig von uns fort, als denjenigen, von dem wir uns soeben erst in
schmerzlichem Widerstreit getrennt haben, und vor dem wir noch verletzt
und erschüttert, voll geheimer Wunden, die unser Stolz verbirgt,
dastehen: es ist Hass darin als ein Nachklang unvergesslicher Liebe.

Durchaus bezeichnend für das Jähe und Innerliche der Wandlung
Nietzsches ist es, dass sie auch diesmal ihren Ausgang von einem
_persönlichen Verhältniss_ nahm. Wie der bitterste Stachel im Kampf
gegen das alte Erkenntnissideal ein Freundschaftsbruch war, so
verkörperte sich für Nietzsche auch der neue Erkenntnisstypus wiederum
in einer Persönlichkeit. Je leidensvoller die Einsamkeit, in welche
der Freundschaftsbruch ihn zurückwarf, desto mehr Innigkeit gewann
Nietzsches Beziehung zu Paul Rée, denn »für einen solchen Einsamen ist
der Freund ein köstlicherer Gedanke als für die Vielsamen,« wie er Rée
einmal schreibt. (31. October 1880, aus Italien.)

War sein Verhältniss zu Richard Wagner durch die Ausschliesslichkeit
gekennzeichnet, mit der Nietzsche in ihm aufging und zu ihm aufsah:
durch seine _Jüngerschaft_,--so bildet sein Freundschaftsbund mit Rée
mehr eine geistige _Genossenschaft_, die selbst dadurch nicht behindert
wurde, dass die Freunde fern von einander lebten, und Rée nur zeitweise
seinen Wohnsitz in Westpreussen verlassen konnte, um mit Nietzsche an
verschiedenen Orten zusammenzutreffen. Schon am 19. November 1877 klagt
Nietzsche von Basel aus, wo er noch im Kreise von Gesinnungsgenossen
lebte, über diese Entfernung, welche ihn, infolge einer Erkrankung
Rées, für längere Zeit vom Freunde getrennt hielt:

»Möge ich bald von Ihnen, mein Freund, hören, dass die bösen
Krankheitsgeister ganz von Ihnen gewichen sind; dann bliebe mir für Ihr
neues Lebensjahr nichts zu wünschen übrig, als dass Sie bleiben, der
Sie sind und dass Sie mir bleiben, der Sie im letzten Jahre waren,--
-- -- -- -- -- -- --ich muss Ihnen doch sagen, dass ich in meinem
Leben noch nicht so viel Annehmlichkeiten von der Freundschaft gehabt
habe, wie durch Sie in diesem Jahre, gar nicht von dem zu reden,
was ich von Ihnen gelernt habe. Wenn ich von Ihren Studien höre, so
wässert mir immer der Mund nach Ihrem Umgänge; wir sind geschaffen
dafür, uns gut zu verständigen, ich glaube, wir finden uns immer auf
dem halben Wege schon, wie gute Nachbarn, die immer zur gleichen Zeit
den Einfall haben, sich zu besuchen, und sich auf der Grenze ihrer
Besitzungen einander entgegenzukommen. Vielleicht steht es ein wenig
mehr in Ihrer Gewalt, als in meiner, die grosse räumliche Entfernung
zu überwinden; darf ich in dieser Beziehung für das neue Jahr hoffen?
Ich selber bin gar zu elend und gebrechlich daran, als dass ich nicht
um die beste Freude, die es giebt, bitten dürfte, selbst wenn die Bitte
unbescheiden ist--ein gutes Gespräch unter uns über menschliche Dinge,
ein persönliches Gespräch, nicht ein briefliches, zu dem ich immer
untauglicher werde.«-- -- -- -- --

Je mehr Nietzsches körperliches Leiden ihn in die Einsamkeit zwang,
je einsiedlerischer, fern von allen Menschen, er leben musste, um
dieses Leiden ertragen zu können, desto sehnsüchtiger verlangt er
nach dem Freunde, der seine Einsamkeit zur »Zweisamkeit« machen
solle: »Zehnmal täglich wünsche ich bei Ihnen, mit Ihnen zu sein.«
(Brief aus Basel, December 1878.) »Immer knüpfe ich im Geist meine
Zukunft mit der Ihrigen zusammen.« (Aus Genf, Mai 1879.) »Viele
Wünsche habe ich aufgeben müssen, aber noch niemals _den_, mit Ihnen
zusammenzuleben,--mein »Garten Epikurs.«« (Aus Naumburg, den letzten
October 1879.)

Die heftigen Schmerzen und Anfälle, unter denen Nietzsche litt, weckten
damals Todesgedanken in ihm, und diese geben einem jeden Wiedersehen
eine besonders tief empfundene Bedeutung. »Wie viel Freude haben Sie
min gemacht, mein lieber, ausserordentlich lieber Freund!« ruft er
nach einem solchen aus. »Also ich habe Sie noch einmal gesehen und so
gefunden, wie mein Herz mir die; Erinnerung bewahrt hatte; wie ein
beständiger, angenehmer Rausch wars, diese Tage hindurch. Ich gestehe
Ihnen, ich hoffe nicht mehr auf ein Wiedersehn, die Erschütterung
meiner Gesundheit ist zu tief, die Qual zu anhaltend, was nützt mir
alle Selbstüberwindung und Geduld! Ja, in Sorrentiner Zeiten gab es
noch zu hoffen, aber das ist vorbei. So preise ich denn, Sie gehabt zu
haben, mein herzlich geliebter Freund.«-- -- --

Die beiden Freunde gelangten in diesen Jahren zu um so
übereinstimmenderen Ansichten, als ihre Studien vielfach gemeinsame
waren. Rée vermittelte Nietzsche meistens die Bücher, deren er
bedurfte, las dem Augenleidenden vor und lebte mit ihm in einem
ständigen, theils brieflichen, theils persönlichen Verkehr und
Gedankenaustausch.


    »Mein geliebter Freund!« schreibt Nietzsche nach einer
    etwas länger währenden Trennung, »Für unser Zusammensein,--
    falls ich dieses Glück doch noch erleben sollte, ist
    viel in mir präparirt. Auch ein Kistchen Bücher steht
    für jenen Augenblick bereit, Réealia betitelt, es sind
    gute Sachen darunter, über die Sie sich freuen werden.
    Können Sie mir ein lehrreiches Buch, womöglich englischer
    Abkunft,[7] aber ins Deutsche übersetzt und mit mit gutem,
    grossem Druck zusenden?--Ich lebe ganz ohne Bücher, als
    Sieben-Achtel-Blinder, aber ich nehme gern die verbotene
    Frucht aus Ihrer Hand.--Es lebe das Gewissen, weil es
    nun eine Historie haben wird und mein Freund an ihm zum
    Historiker geworden ist! Glück und Heil auf Ihren Wegen. Von
    Herzen Ihnen nahe

    Ihr

    Friedrich Nietzsche.



So schreibt er dem Freunde immer wieder, in verschiedenen Wendungen:
»Bei allem Guten, das Sie thun oder Vorhaben, wird auch für mich der
Tisch gedeckt und mein Appetit ist sehr lebendig nach _Réealismus_, das
wissen Sie!«

So wurde denn der Réealismus die ursprüngliche Form, in der Nietzsche
den philosophischen Realismus in sich aufnahm und den alten Idealismus
begrub. Schon das anonym erschienene kleine Erstlingswerk Rées (Berlin,
Carl Duncker, 1875), dessen »_Psychologische Beobachtungen_«--
Sentenzen im Geist und Stil La Rochefoucaulds-- schätzte Nietzsche
nicht nur, sondern er überschätzte es sogar, wie ein noch jetzt
erhaltener Brief an den Verfasser bekundet. Rées Lieblingsautoren
wurden nun auch die seinigen: die französischen Aphoristiker, die
La Rochefoucauld, La Bruyère, Vauvenargues, Chamfort, beeinflussten
um diese Zeit ausserordentlich Nietzsches Stil und Denken. Von den
philosophischen Schriftstellern Frankreichs bevorzugte er mit Rée,
Pascal und Voltaire, von den Novellisten Stendhal und Mérimée. Von
ungleich tieferer Bedeutung war jedoch für ihn Rées zweites Werk »_Der
Ursprung der moralischen Empfindungen_« (Chemnitz, Ernst Schmeitzner,
1877)[8], das für die nächste Zeit gewissermassen Nietzsches
positivistisches Glaubensbekenntnis bildete. Dadurch wurde er zu
den englischen Positivisten gefühlt, an die Rée sich angeschlossen
hatte, und die auch Nietzsche bald allen ähnlichen deutschen Werken
vorzog. Die Hauptanziehungskraft, die der Positivismus auf ihn
ausübte, lag vornehmlich in der Beantwortung jener einen Frage, die
Rée in seinem Buch behandelte, der Frage nach der Entstehung des
moralischen Phänomens. Für Rée fiel sie zusammen mit der Frage
_nach den Gründen der Sanction_ altruistischer Empfindungen; seine
Untersuchungen richteten sich hauptsächlich gegen die ethischen Systeme
der bisherigen Metaphysik. Da nun die Ethik Wagners und Schopenhauers
auf dem Altruismus und dessen metaphysischem Gefühlswerth fusst, so
musste Nietzsche gerade in Rées Buch die geeignetesten Waffen zu seinem
Kampf gegen die verlassene Weltanschauung finden. »Der Ursprung der
moralischen Empfindungen« wurde der eigentliche Gegenstand seiner
Forschung, und man kann sein Erstlingswerk kurz als den Versuch
bezeichnen, zur vollen Einsicht in die Nichtigkeit seiner ehemaligen
Ideale zu gelangen durch die Einsicht in ihre _Entstehungsgeschichte_.
Auf diesem Wege wird sein gesammtes Philosophiren zu einer Analyse und
Geschichte menschlicher Vorurtheile und Irrthümer; der Metaphysiker
wird zum Psychologen und Historiker und stellt sich auf den Boden
eines nüchternen und consequenten Positivismus. Er schloss sich aufs
Engste der englischen positivistischen Schule an in ihrer bekannten
Zurückführung der moralischen Werthurtheile und Phänomene auf den
_Nutzen_, die _Gewohnheit_ und das _Vergessen_ der ursprünglichen
Nützlichkeitsgründe; es bedarf daher keiner besonderen Erläuterung
seiner Theorien; es genügt auf die Richtung hinzuweisen, welcher er
sie entnahm. Man vergleiche Stellen wie die folgende in »Menschliches,
Allzumenschliches«: »Die Geschichte der-- -- --moralischen Empfindungen
verläuft in folgenden Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen
gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein
der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man
die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen
an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft »gut«
oder »böse« innewohne.« (I 39). »Wie wenig moralisch sähe die
Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter könnte sagen, dass
Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterin an die Tempelschwelle
der Menschenwürde hingelagert habe.« (I 92). Den Weg, auf dem die
sogenannte Moralität der Handlungen entstanden ist, kann man mit den
Worten bezeichnen:«--_jetzt_ aus Gewohnheit, Vererbung und Anerziehung,
_ursprünglich_, weil (es)--_nützlicher_ und _ehrebringender_ ist.«
(II 26). Ferner, Der Wanderer und sein Schatten (40): »Die Bedeutung
des Vergessens in der moralischen Empfindung: Die selben Handlungen,
welche innerhalb der ursprünglichen Gesellschaft zuerst die Absicht auf
gemeinsamen Nutzen eingab, sind später von anderen Generationen auf
andere Motive hin gethan worden: aus Furcht oder Ehrfurcht vor Denen,
die sie forderten und anempfablen, oder aus Gewohnheit, weil man sie
von Kindheit an um sich hatte thun sehen, oder aus Wohlwollen, weil
ihre Ausübung überall Freude und zustimmende Gesichter schuf, oder
aus Eitelkeit, weil sie gelobt wurden. Solche Handlungen, an denen
das Grundmotiv, das der Nützlichkeit, _vergessen_ worden ist, heissen
dann _moralische_.« »Der Inhalt unseres Gewissens ist Alles, was in
den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmässig _gefordert_
wurde« (52), indem dem einzelnen Menschen das, was in der Geschichte
der Menschheit in der bezeichneten Weise entstanden ist, überliefert
wird als eine Summe religiös sanctionirter und festgeprägter
Pflichtbegriffe. »Die Sitte respräsentirt die Erfahrungen früherer
Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche,--aber _das
Gefühl für die Sitte_ (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene
Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die
Indiscutabilität der Sitte.« (Morgenröthe 19).

So zieht sich durch das ganze Werk hindurch, was schon der Titel
charakteristisch andeutet: die Gedankenarbeit der Zerstörung, die
rücksichtslose Blosslegung der »Allzumenschlichkeit« dessen, was bisher
heilig, ewig, übermenschlich hiess. Um zu sehen, mit welcher schroffen
Einseitigkeit und Uebertreibung sich Nietzsche hier gegen sich selbst
wandte, lohnt es die Mühe, seinen nunmehrigen Anschauungen in Bezug
auf diejenigen vier Punkte nachzugehen, die in seiner vorhergehenden
philosophischen Periode eine entgegengesetzte Deutung erfahren hatten:
in Bezug auf die Bedeutung des »Dionysischen«, des »Dekadenz-Begriffs«,
des »Unzeitgemässen«, und des »Geniecultus«. An Stelle des Dionysos
steht hier der früher so viel geschmähte Sokrates als Schirmherr und
Tempelhüter des neuen Wahrheitstempels da. »Wenn Alles gut geht, wird
die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern, lieber
die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt, als die Bibel, und
wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständniss
des einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates,
benuzt werden. Zu ihm führen die Strassen der verschiedendsten
philosophischen Lebensweisen zurück, welche im Grunde die Lebensweisen
der verschiedenen Temperamente sind, festgestellt durch Vernunft
und Gewohnheit und allesammt mit ihrer Spitze hin nach der Freude
am Leben und am eignen Selbst gerichtet.-- -- --« (Der Wanderer
und sein Schatten 86). Dieser Sieg des Sokratischen, der Vernunft
und weisen Leidenschaftslosigkeit, über das Dionysische, über die
Affectsteigerung und den selbstvergessenen Lebensrausch, gipfelt in
dem Satz, dass »der wissenschaftliche Mensch die Weiterentwickelung
des künstlerischen« (Menschliches, Allzumenschliches I 222), und
alles dessen sei, was auf dem Rausch anstatt auf der Einsicht beruht,
denn: »an sich ist-- --der Künstler schon ein zurückbleibendes
Wesen.« (Menschliches, Allzumenschliches I 159). Daher bedeutete für
Griechenland das Aufkommen des sokratischen Geistes einen _ungeheuren
Fortschritt_. »Die Formen aus der Fremde entlehnen, nicht schaffen,
aber zum schönsten Schein umbilden--das ist griechisch: nachahmen,
nicht zum Gebrauch, sondern zur künstlerischen Täuschung,-- --
--ordnen, verschönern, verflachen--so geht es fort von Homer bis
zu den Sophisten des dritten und vierten Jahrhunderts der neuen
Zeitrechnung, welche ganz Aussenseite, pomphaftes Wort, begeisterte
Gebärde sind und sich an lauter ausgehöhlte, schein-, klang- und
effect-lüsterne Seelen wenden.--Und nun würdige man die Grösse jener
Ausnahme Griechen, welche die _Wissenschaft_ schufen. Wer von ihnen
erzählt, erzählt die heldenhafteste Geschichte des menschlichen
Geistes!« (Menschliches, Allzumenschliches II 221; Vergleiche auch
Morgenröthe 544 über das damalige »Jauchzen über die neue Erfindung
des _vernünftigen_ Denkens.») Die _Abkunft alles Gefühlsmässigen_
von _Urtheilen_ und _ursprünglichen Gedankenschlüssen_ wird deshalb
Denen entgegengestellt, die dem Affectleben als dem höchsten Leben das
Wort reden. »--Gefühle sind nichts Letztes, Ursprüngliches, hinter
den Gefühlen stehen Urtheile und Werthschätzungen, welche in der Form
von Gefühlen uns vererbt sind. _Die Inspiration, die aus dem Gefühle
stammt, ist das Enkelkind eines Urtheils--und oft eines falschen!--und
jedenfalls nicht deines eigenen! Seinem Gefühle vertrauen--das heisst
seinem Grossvater und seiner Grossmutter und deren Grosseltern
mehr gehöre hen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft
und unserer Erfahrung._« (Morgenröthe 35). Die »edlen Schwärmer«,
welche die Unterordnung des Fühlens unter das vernünftige Denken zu
verhindern suchen, verführen dadurch zu einer »_Lasterhaftigkeit
des Intellectes._« (Morgenröthe 543). »_Diesen schwärmerischen
Trunkenbolden_ verdankt die Menschheit viel Übles:-- -- --Zu alledem
pflanzen jene Schwärmer mit allen ihren Kräften den Glauben _an den
Rausch als an das Leben im Leben_: einen furchtbaren Glauben! _Wie
die Wilden jetzt schnell durch das »Feuerwasser« verdorben werden und
zu Grunde gehen, so ist die Menschheit_-- -- --_langsam und gründlich
durch die geistigen Feuerwässer trunken machender Gefühle_-- --
--_verdorben worden:_« (Morgenröthe 50).-- -- --daran denken sie
nicht, dass die _Erkenntniss_ auch der hässlichsten Wirklichkeit schön
ist,-- -- --Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt-- --
--;-- --zwei so grundverschiedene Menschen, wie Plato und Aristoteles,
kamen in dem überein, was _das höchste Glück_ ausmache,-- --: sie
fanden es im _Erkennen_, in der Thätigkeit eines wohlgeübten findenden
und erfindenden _Verstandes_ (_nicht_ etwa in der »Intuition,« _nicht_
in der Vision, und ebenfalls _nicht_ im Schaffen,--)--« (Morgenröthe
550). Damit fällt der bisherige Genie-Cultus:[9] »Ach, um den
wohlfeilen Ruhm des »Genie's«! Wie schnell ist sein Thron errichtet,
seine Anbetung zum Brauch geworden! Immer noch liegt man vor der Kraft
auf den Knieen--nach alter _Sclaven-Gewohnheit_ --und doch ist,
wenn der Grad von _Verehrungswürdigkeit_ festgestellt werden soll,
nur _der Grad der Vernunft in der Kraft_ entscheidend. (Morgenröthe
548).--Es ist die Zeit angebrochen für die strengen und schlichten
Geister, die übermässige Verherrlichung der künstlerischen Genialität
steht der »fortschreitenden Vermännlichung der Menschheit« entgegen.
(Menschliches, Allzumenschliches I 147). Scheinbar kämpft das Genie
wohl für »die höhere Würde und Bedeutung des Menschen«, es »will sich
die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht
nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte Methoden
und Resultate«, anstatt zurückzutreten gegenüber der höherstehenden
»wissenschaftlichen Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt, erscheine
diese auch noch so schlicht«. (Menschliches, Allzumenschliches I 146).
Wenn man die sogenannte »Inspiration« untersucht, so zeigt sich, dass
nicht so sehr das Wunder einer zeugenden Phantasie, sondern ebenfalls
nur die »Urtheilskraft« sichtend, ordnend, wählend, das Kunstwerk
erzeugt,--»wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethoven's ersieht,
dass er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen und aus
vielfachen Ansätzen gewissermaassen ausgelesen hat.-- -- -- -- --die
künstlerische Improvisation steht tief im Verhältniss zum ernst und
mühevoll erlesenen Kunstgedanken«. (Menschliches, Allzumenschliches
I 155) Daher ist Genie in viel höherem Grade _erlernbar_, als meist
angenommen wird: »Redet nur nicht von Begabung, angeborenen Talenten!
Es sind grosse Männer aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren.
Aber sie _bekamen_ Grösse, wurden »Genie's«,-- -- --: sie hatten Alle
jenen tüchtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Theile
vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen;
sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen,
Nebensächlichen hatten, als an dem Effecte eines blendenden Ganzen.«
(Menschliches, Allzumenschliches I 163). Der Drang, das Wunder der
Genialität zu erklären und herabzusetzen, ist hier, wo es in Nietzsches
Gedanken dem Wagner-Wunder gilt, ebenso stark, wie später, in seiner
letzten Geistesperiode, der Drang, dem Genie--diesmal dem _eigenen_
Genie--das Wort zu sprechen und es auf das höchste zu glorificiren.
Hier erscheint ihm sogar jede wahrhafte Grösse als ein Verhängniss,
weil sie »_viele schwächere Kräfte_ und _Keime zu erdrücken_« sucht,
während es nur gerecht und wünschenswerth sei, dass nicht nur einzelne
Grosse leben, sondern dass ebenfalls den »_schwächeren und zarteren
Naturen auch Luft und Licht gegönnt_« (Menschliches, Allzumenschliches
I 158) werde. »Das Vorurtheil zu Gunsten der Grösse: Die Menschen
überschätzen ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende.-- -- --Die
extremen Naturen erregen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist
auch eine viel geringere Cultur nöthig, um von ihnen sich fesseln zu
lassen.« (Menschliches, Allzumenschliches I 260).

Er findet nicht Worte genug, um den Hochmuth derer zu geissein,
die sich von der Allgemeinheit ausgenommen wissen wollen: »es ist
Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus
sei und dass die gesammte Menschheit _unsere_ Strasse ziehe. Man
soll der hochmüthigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden«
(Menschliches, Allzumenschliches I 375). Denn diese Phantasterei
beruht meistens auf einer eitlen Selbsttäuschung über die Motive
unseres Thuns und Lassens; der wahre Denker weiss, dass eine so
starke Betonung der Rangunterschiede unter den Menschen unberechtigt
ist, und dass das Menschliche, selbst in seinen edelsten und höchsten
Regungen, noch ein »Allzumenschliches« bleibt. Kraft dieser Einsicht
ist er imstande, sich mit allen Uebrigen auf Eine Stufe zu stellen und
sich gerade dadurch denkend über sein eignes unzulängliches Wesen zu
erheben. »Vielleicht, dass es eine Zukunft giebt, wo dieser Muth des
Denkens so angewachsen sein wird, dass er als der äusserste Hochmuth
sich _über_ den Menschen und Dingen fühlt,--wo der Weise als der am
meisten Muthige _sich selber_ und das Dasein am meisten _unter sich_
sieht?« (Morgenröthe 551). Deshalb besitzt der Weise die Neigung,
die menschlichen Handlungen auf ihre Allzumenschlichkeit zu prüfen:
»Man wird selten irren, wenn man extreme Handlungen auf Eitelkeit,
mittelmässige auf Gewöhnung und kleinliche auf Furcht zurückführt.«
(Menschliches, Allzumenschliches 174). Die Bedeutung der Eitelkeit als
eines Hauptmotivs der menschlichen Handlungen wird immer neu betont und
erwogen,--wie ihr auch in _Rées_ Buch ein besonderes Capitel gewidmet
war. »Wer die Eitelkeit bei sich leugnet, besitzt sie gewöhnlich in so
brutaler Form, dass er instinctiv vor ihr das Auge schliesst, um sich
nicht verachten zu müssen.« (Menschliches, Allzumenschliches II 38).
»Wie arm wäre der menschliche Geist ohne die Eitelkeit!« (Menschliches,
Allzumenschliches I 79). Die Eitelkeit, das »menschliche Ding an sich.«
(Menschliches, Allzumenschliches II 46). »Die ärgste Pest könnte der
Menschheit nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus
ihr entschwände.« (Der Wanderer und sein Schatten 285). Denn auch
das, was wir uns gewöhnt haben, für Kraftgefühl und Machtbewusstsein
inneren höchsten Werthes anzusehen, ist meistens nur ein Ausfluss
der Eitelkeit, sich hervorzuthun. Der Mensch will für mehr gelten,
als er eigentlich seiner Kraft nach zu gelten berechtigt ist. »Er
merkt zeitig, dass nicht Das, was er _ist_, sondern Das, was er gilt,
ihn trägt oder niederwirft: hier ist der Ursprung der _Eitelkeit_.«
(Der Wanderer und sein Schatten 181. »Die Eitelkeit als die grosse
Nützlichkeit.«),--wo Nietzsche den _Mächtigen_ gleichsetzt mit dem
Eitlen, Listigen, Klugen, der die eigne Furchtsamkeit und Wehrlosigkeit
dadurch verbirgt, dass er sich Ansehen verschafft. Die einschlägigen
Aussprüche stehen im schärfsten Gegensatz zu seiner spätem
Anschauung der Sklaven- und Herrennaturen, sowie der ursprünglichen
Gemeinwesen. (Vergl. auch den Aphorismus »Eitelkeit als Nachtrieb des
ungesellschaftlichen Zustandes« in Der Wanderer und sein Schatten 31.)
Die Eitelkeit schwindet in dem Maasse, als sich der höher stehende
Mensch der Gleichheit oder doch der Aehnlichkeit menschlicher Motive
bewusst wird und sich selbst in der ihn allen Andern gleichstellenden
»Allzumenschlichkeit« seiner Triebe erkennt.

Der einzige wahrhaft werthbestimmende Unterschied zwischen den Menschen
liegt ausschliesslich in der Art und dem Grade ihres intellectuellen
Vermögens; die Menschen _veredeln_ heisst demnach nichts anderes, als
_Einsicht_ unter sie tragen. Selbst das, was vom moralischen Standpunkt
aus als _böse_ bezeichnet wird, erweist sich meistens als bedingt durch
geistige Verkümmerung und Verrohung. »Viele Handlungen werden böse
genannt und sind nur dumm, weil der Grad der Intelligenz, welcher sich
für sie entschied, sehr niedrig war.« (Menschliches, Allzumenschliches
I 107). Die Unfähigkeit, den Schaden oder das Weh, welches man Andern
zufügt, richtig zu taxiren, lässt den sogenannten Verbrecher, den in
seiner Geistesentwickelung Zurückgebliebenen, als besonders grausam
und herzlos erscheinen. »Ob der Einzelne den Kampf um das Leben so
kämpft, dass die Menschen ihn _gut_, oder so, dass sie ihn _böse_
nennen, darüber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit seines
Intellects.« (Menschliches. Allzumenschliches I 104). »Die Menschen,
welche jetzt grausam sind, müssen uns als Stufen _früherer Culturen_
gelten,------. Es sind _zurückgebliebene_ Menschen, deren Gehirn, durch
alle möglichen Zufälle im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und
vielseitig fortgebildet worden ist.« (Menschliches, Allzumenschliches I
43). Es sind die Menschen des Niedergangs. Je vorgeschrittener aber ein
Mensch, desto mehr verfeinert, mildert, ja verdünnt sich gewissermassen
die rohe Instinctkraft der ursprünglichen Leidenschaften, aus der noch
die Handlungen des Zurückgebliebenen quellen.--»Gute Handlungen sind
sublimirte böse; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte, gute.
-- -- --Die Grade der Urtheilsfähigkeit entscheiden, wohin Jemand
sich-- -- --hinziehen lässt.-- -- -- --Ja, in einem bestimmten Sinne
sind auch jetzt noch _alle_ Handlungen dumm, denn der höchste Grad von
menschlicher Intelligenz-- -- --wird sicherlich noch überboten werden:
und dann-- -- --wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus
einer moralischen sich in eine _weise Menschheit umwandeln könne_«.
(Menschliches, All-zurnenschliches I 107). Ihr Merkzeichen aber wird
sein, dass in den Menschen »der gewaltthätige Instinct schwächer«,
»die Gerechtigkeit in Allen grösser« wird, »Gewalt und Sclaverei«
aufhört. (Menschliches, Allzumenschliches I 452). Beneidenswerth
sind Diejenigen, in denen sich durch generationenlange Gewöhnung
ein milder, mitleidsvoller und liebevoller Sinn vererbt hat: »_Die
Herkunft von guten Ahnen macht den ächten Geburtsadel aus; eine
einzige Unterbrechung in jener Kette, Ein böser Vorfallr also hebt
den Geburtsadel auf. Man soll Jeden, welcher von seinem Adel redet,
fragen: hast du keinen gewaltthätigen, habsüchtigen, ausschweifenden,
boshaften, grausamen Menschen unter deinen Vorfahren_? Kann er darauf
in gutem Wissen und Gewissen mit Nein antworten, so bewerbe man sich
um seine Freundschaft. (Menschliches, Allzumenschliches I 456). »Das
beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran
zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage
eine Freude machen könne. Wenn dies als ein Ersatz für die religiöse
Gewöhnung gelten dürfte, so hätten die Menschen einen Vortheil bei
dieser Aenderung.« Und diese Verherrlichung der zarten und mitleidigen
Regungen auf Kosten nicht nur der brutalen Roheit, sondern auch der
begeisterten Leidenschaft des religiösen oder künstlerischen Rausches
klingt aus in der schönen Begründung der Religionslosigkeit: »Es ist
nicht genug Liebe und Güte in der Welt, um noch davon an eingebildete
Wesen wegschenken zu dürfen.« (Menschliches, Allzumenschlichen
1129).[10]

Wir werden später sehen, wie stark sich Nietzsches letzte Philosophie
gegen diese Auffassung der Mitleids Moral und der Abschwächung des
Instinctlebens richtet, Und wie ihm nur derjenige der höchststehende
Mensch heissen wird, der die ganze Fülle der leidenschaftlichen
Triebe und Instincte in sich birgt,--also der »böse« Mensch. Noch ist
ihm aber ausserhalb der Güte und Selbstlosigkeit kein Menschenwerth
denkbar, weil nur diese die Ueberwindung der thierischen Vergangenheit
darstellen.

Deshalb sollte man den Weisen allein zugleich gut nennen, nicht
weil er anders geartet ist als der Unweise, sondern weil die
ursprüngliche menschliche Beschaffenheit in ihm vergeistigt und
dadurch »die Wildheit in seinen Anlagen besänftigt« worden ist
(Menschliches, Allzumenschliches I 56). »Die volle Entschiedenheit
des Denkens und Forschens, also die Freigeisterei, zur Eigenschaft
des Charakters geworden, macht im Handeln massig: denn sie schwächt
die Begehrlichkeit« (Ebendaselbst 464). »Dabei verschwindet immer
mehr-- -- --die übermässige Erregbarkeit des Gemüthes. Er (der
Weise) geht zuletzt wie ein Naturforscher unter Pflanzen, so unter
Menschen herum und nimmt sich selber als ein Phänomen wahr, welches
nur seinen erkennenden Trieb stark anregt« (Ebendaselbst 254). Alle
menschliche Grösse beruht auf einer Verfeinerung des Instinctmässigen;
der höchste Mensch entsteht durch das Abstreifen des Thierischen,
als ein »Nicht-mehr-Thier«, rein negativ gedacht; er ist als das
»dialektische und vernünftige Wesen« das »Ueber-Thier« (Menschliches,
Allzumenschliches I 40), in dem sich »eine neue Gewohnheit, die des
Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Ueberschauens« allmählich
anpflanzen kann (Ebendaselbst 107).

Ein »Ueber-Mensch« hingegen, als ein Wesen von _positiven_ neuen
und höheren Eigenschaften, galt Nietzsche damals als vollendete
Phantasterei und seine Erfindung als der stärkste Beweis menschlicher
Eitelkeit. »Es müsste geistigere Geschöpfe geben, als die Menschen
sind, blos um den Humor ganz auszukosten, der darin liegt, dass der
Mensch sich für den Zweck des ganzen Weltendaseins ansieht, und die
Menschheit sich ernstlich nur mit Aussicht auf eine Welt-Mission
zufrieden giebt« (Der Wanderer und sein Schatten 14). »Ehemals suchte
man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf
seine göttliche _Abkunft_ hinzeigte: diess ist jetzt ein verbotener
Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Affe, nebst anderem
greulichen Gethier, und fletscht verständnissvoll die Zähne, wie um zu
sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in
der entgegengesetzten Richtung: der Weg, _wohin_ die Menschheit geht,
soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit-- -- --dienen. Ach, auch damit
ist es Nichts!-- -- -- -- --Wie hoch die Menschheit sich entwickelt
haben möge--und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer, als am Anfang
stehen!--es giebt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung,
so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer »Erdenbahn« zur
Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt
das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen
Schauspiele eine Ausnahme geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!«
(Morgenröthe 49). Vermöchte ein Mensch das Leben ganz zu erkennen,
so müsste er »am Werthe des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das
Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden,
er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen,--denn
die Menschheit hat im Ganzen _keine_ Ziele, folglich kann der
Mensch-- -- --nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine
Verzweiflung« (Menschliches, Allzumenschliches I 33). Daher lautet
»der erste Grundsatz des neuen Lebens«: »man soll das Leben auf das
Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher auf das
Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolkenhafteste hin« (Der
Wanderer und sein Schatten 310). Man soll wieder »zum guten Nachbar
der nächsten Dinge« (Der Wanderer und sein Schatten 16) werden und,
anstatt im »Unzeitgemässen« der fernsten Vergangenheit und Zukunft zu
schwelgen, die höchsten Erkenntnissgedanken der eigenen Zeit in sich
verkörpern. Denn es ist der Menschheit nunmehr, anstelle all jener
phantastischen Ziele, »die Erkenntnis der Wahrheit als das einzige
ungeheure Ziel«' (Morgenröthe 45) vor Augen zu stellen. »Dem Lichte
zu--deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntniss--dein letzter
Laut« (Menschliches, Allzumenschliches I 292). Es ist möglich, dass
ein solcher überhandnehmender Intellectualismus ihr Glück und ihre
Lebensfähigkeit beeinträchtigt, dass er also in einem gewissen Sinne
ein »Decadenz-Symptom« ist,--aber hier deckt sich der Begriff der
Decadenz mit dem der edelsten Grösse: »Vielleicht selbst, dass die
Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht!-- --
--Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister?-- --wir wollen Alle
lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss!«
(Morgenröthe 429). Ein solcher »Tragödien-Ausgang der Erkenntniss«
(Morgenröthe 45) wäre gerechtfertigt, denn für sie ist kein Opfer zu
gross: »Fiat veritas, pereatvita!« Dieses Wort fasste damals Nietzsches
Erkenntnissideal zusammen,-- dasselbe Wort, gegen das er sich noch
kurz zuvor mit der grössten Erbitterung gewendet hatte, und das er nur
wenige Jahre später wieder ebenso heftig bekämpfen sollte, so dass die
_Umkehrung_ desselben als die Quintessenz sowohl seiner ursprünglichen
als auch seiner späteren Lehre gelten kann. Das _Lebenwollen_ um jeden
Preis, auch um den Preis der Lebenserkenntniss, --das ist die »neue
Lehre«, die Nietzsche später jener Lebensmüdigkeit entgegenstellte,
deren Einsicht in der Werthlosigkeit alles Geschaffenen gipfelt: »In
der Reife--des Lebens und des Verstandes überkommt den Menschen das
Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen« (Menschliches,
Allzumenschliches I 386); denn »Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit
des Lebens beruht auf unreinem Denken« (Ebendaselbst 33).

Verfolgt man Nietzsches Gedanken in dieser Gruppe von Werken, so
kann man deutlich herausempfinden, unter welchem inneren Zwange er
sie zu immer schroffem Consequenzen zuspitzte, und mit welchem Grade
von Selbstüberwindung dies jedesmal geschah. Aber gerade infolge des
_Gegensatzes_, in dem diese Erkenntnissrichtung zu seinem innersten
Bedürfen und Verlangen stand, wurde die Erkenntniss der Wahrheit für
ihn zu einem _Ideal_,--gewann sie für ihn die Bedeutung einer höheren,
von ihm selbst unterschiedenen, ihm schlechthin überlegenen Macht. Der
Zwang, dem er sich damit unterwarf, befähigte ihn ihr gegenüber zu
einem enthusiastischen,--fast _religiösen_ Verhalten und ermöglichte
ihm jene 'religiös motivirte _Selbstspaltung_, deren Nietzsche
bedurfte,--jene Selbstspaltung, durch die der Erkennende auf sein
eigenes Wesen und dessen Regungen und Triebe herabblicken kann wie auf
ein _zweites_ Wesen. Indem er sich so gleichsam der Wahrheit als einer
Idealmacht _opferte_, gelangte er zu einer Affect-Entladung religiöser
Art, die eine viel intensivere Gluth in ihm erzeugen musste, als sie
sich jemals an einer warmen, kampflosen Befriedigung seiner innern
Wünsche und Neigungen hätte entzünden können. So erscheint in dieser
Periode, paradox genug, sein ganzer Kampf _wider den Rausch_, seine
ganze Verherrlichung der Affectlosigkeit lediglich als ein Versuch,
sich durch diese Selbstvergewaltigung zu berauschen.

Daher vollzog er seine Wandlung in einem äussersten Extrem; ja man
könnte sagen: die Energie, mit welcher er sich zu einem lauten,
rückhaltlosen »Ja!« der neuen Denkweise gegenüber aufrafft, stelle nur
den Gewaltact eines »Nein!« dar, mit dem er seine eigne Natur und ihre
tiefsten Bedürfnisse zu unterjochen strebt. Jene »vorurteilslose Kälte
und Ruhe des Erkennenden«, sein Ideal in dieser Geistesperiode, begriff
für ihn eine Art sublimer Selbstfolterung in sich, und er ertrug sie
nur, indem er dabei die Leiden seines Seelenlebens entschlossen als
eine Krankheit auffasste, als eine von den »Krankheiten, in denen
Eisumschläge noth thun« (Menschliches, Allzumenschliches I 38),--und
auch wohl thun,--denn »die scharfe Kälte ist so gut ein Reizmittel als
ein hoher Wärmegrad«.

Deshalb tritt seine Uebereinstimmung mit R^es Gedankenrichtung nirgends
so vollständig zu Tage als gerade in dem Erstlingswerk »Menschliches,
Allzumenschliches«, zu einer Zeit also, wo er am schwersten unter
seiner Trennung von Wagner und dessen Metaphysik litt. Daher Hess
er sich in seinem übertriebenen Intellectualismus vielfach von der
persönlichen Eigenart Rées leiten. Er formte sich auf Grund derselben
ein ganz bestimmtes Idealbild, das ihm zur Richtschnur diente: die
Ueberlegenheit des Denkers über den Menschen, die Nichtachtung aller
Schätzungen, welche dem Affectleben entspringen, die unbedingte und
rückhaltlose Hingabe an die wissenschaftliche Forschung erstand vor ihm
als ein _neuer und höherer Typus des erkennenden Menschen_ und verlieh
seiner Philosophie ihr eigenthümliches Gepräge.

Im Bedürfniss, die rein wissenschaftlichen Gedanken, die er dem
Positivismus entnahm, in einer menschlichen Form verkörpert zu
denken, verfing er sich im Bild einer einzelnen, ganz bestimmten
Persönlichkeit, die ihm selbst durchaus entgegengesetzt war, und
marterte sich damit, die Züge dieses Bildes noch zu verschärfen. Dass
er immer wieder zu seiner Entwickelung der Selbstverneinung, zu seiner
Geistessteigerung der freiwilligen Schmerzen bedurfte, erklärt auch
hier den scheinbaren Widerspruch, dass er, um seine Selbständigkeit
aus dem Bannkreise Wagners und der Metaphysik zu retten, sich wieder
unter fremden Bann stellte, sein Selbst aufzugeben suchte. Denn weder
im Charakter der philosophischen Richtung noch in dem des persönlichen
Verhältnisses lag eine Veranlassung dazu; die Gründe blieben vielmehr
rein innerlicher Natur. Sie allein trieben ihn zum engen Anschluss an
einen Andern und dessen Gedanken; sietrieben ihn, gleichsam aus einem
»Collectivgeist« (Menschliches, Allzumenschliches I 180) heraus zu
denken und zu schaffen. In diesem Sinne konnte er bei Uebersendung
seines »Menschlichen, Allzumenschlichen« dem Freunde schreiben: »Ihnen
gehört's,--den Andern wird's geschenkt!« und gleich darauf hinzufügen:
»Alle meine Freunde sind jetzt einmüthig, dass mein Buch von Ihnen
geschrieben sei und herstamme: weshalb ich zu dieser neuen Vaterschaft
gratulire! Es lebe der Réealismus!«

Es stellte sich eben zwischen den beiden Freunden eine eigenthümliche
Art der Ergänzung heraus, die derjenigen ganz entgegengesetzt war,
welche einst zwischen Nietzsche und Wagner bestanden hatte. Für
Wagner, als das Kunstgenie, musste Nietzsche der Denker und Erkennende
sein, der wissenschaftliche Vermittler der neuen Kunstcultur. Jetzt
hingegen war in Rée der Theoetiker gegeben, und Nietzsche ergänzte
ihn dadurch, dass er die praktischen Consequenzen der Theorien zog und
ihre innere Bedeutung für Cultur und Leben festzustellen suchte. An
diesem Punkt, bei der Frage nach dem Werth, schied sich die geistige
Eigenart der Freunde. So hörte der Eine da auf, wo der Andere anfing.
Rée, als Denker von schroffer Einseitigkeit, liess sich durch solche
Fragen nicht beeinflussen; ihm ging der künstlerische, philosophische,
religiöse Geistesreichthum Nietzsches ganz ab, dagegen war er von
Beiden der schärfere Kopf. Mit Staunen und Interesse sah er, wie
seiae fest und sauber gesponaenen Gedankenfäden sich unter Nietzsches
Zauberhänden in lebendige frischblühende Ranken verwandelten. Für
Nietzsches Werke ist es charakteristisch, dass selbst ihre Irrthümer
und Fehler noch eine Fülle von Anregung enthalten, die ihre allgemeine
Bedeutung erhöht, selbst wo jene ihren wissenschaftlichen Werth
verringern. Im Gegensatz dazu ist es für Rées Schriften bezeichnend,
dass sie mehr Mängel als Fehler besitzen; dies drückt wohl am klarsten
aus der Schlusssatz des kurzen Vorwortes zum »Ursprung der moralischen
Empfindungen«: »In dieser Schrift sind Lücken, aber Lücken sind
besser, als Lückenbüsser«! Nietzsches geniale Vielseitigkeit hingegen
erschliesst neue Einblicke gerade in Gebiete, zu denen der Logik der
Schlüssel fehlt, in denen diese sich gezwungen sieht, dem Wissen seine
Lücken zu lassen.

Während für Nietzsche die leidenschaftliche Verschmelzung des
Gedankenlebens mit dem gesammten Innenleben charakteristisch war,
bildete einen Grundzug von Rées geistigem Wesen die schroffe und
bis zum Aeussersten gehende Scheidung von Denken und Empfinden.
Nietzsches Genialität entsprang dem lebensvollen Feuer hinter seinen
Gedanken, welches sie in einem so herrlichen Lichte ausstrablen
liess, wie sie es auf dem Wege der logischen Einsicht allein nicht
hätten gewinnen können; Rées Geistesstärke beruhte auf der kalten
Unbeeinflussbarkeit des Logischen durch das Psychische, auf der
Schärfe und klaren Strenge seines wissenschaftlichen Denkens. Seine
Gefahr lag in der Einseitigkeit und Abgeschlossenheit dieses Denkens,
in einem Mangel an jener weitgehenden und feinen Witterung, die mehr
Verständniss als Verstand verlangt; Nietzsches Gefahr lag gerade
in seiner unbegrenzten Anempfindungsfähigkeit und der Abhängigkeit
seiner Verständeseinsichten von allen Regungen und Erregungen seines
Gemüths. Selbst da, wo seine jeweilige Denkweise momentan mit geheimen
Wünschen und Herzenstrieben in Widerspruch zu gerathen schien,
schöpfte er doch seine höchste Erkenntnisskraft aus dem wilden Kampf
und Widerstreit mit solchen Wünschen und Trieben. Rées Geistesart
hingegen schien selbst dann noch jede Betheiligung des Gemüthslebens an
Erkenntnissfragen auszuschliessen, wenn einmal das Erkenntnissresultat
seinem individuellen Empfinden entsprach. Denn der Denker in ihm
blickte überlegen und fremd auf den Menschen in ihm herab und saugte
demselben dadurch gewissermaassen einen Theil seiner Energie aus,
und mit der Energie den Egoismus. An dessen Stelle gab es in diesem
Charakter nichts als eine tiefe, lautere, unbegrenzte Güte des Wesens,
deren Aeusserungen in einem interessanten und ergreifenden Gegensatz
standen zu der kalten Nüchternheit und Härte seines Denkens. Nietzsche
aber besass umgekehrt jene hochfliegende Selbstliebe, die sich selbst
so lange in ihre Erkenntnissideale hinein verlegt, bis sie sich fast
mit ihnen verwechselt und der Welt mit der Begeisterung des Apostels
und Bekehrers gegenübertritt.

So lag hinter aller theoretischen Uebereinstimmung der Freunde eine
um so tiefere Verschiedenheit des Empfindens unter der Gedankenhülle
verborgen. Was durchaus der natürliche Ausdruck der geistigen Eigenart
des Einen war, war für den Andern der volle Gegensatz der seinigen;
aber eben darum Beiden dasselbe Ideal. Nietzsche schätzte und
überschätzte an Rée, was ihm selbst am schwersten fiel, weil eben für
ihn in einem solchen Selbstzwang wieder die innere Bedeutung seiner
Wandlung lag: »Mein lieber Freund und Vollender!« nennt er ihn deshalb
in einem Briefe, »wie sollte ich es auch aushalten, ohne von Zeit zu
Zeit meine eigene Natur gleichsam in einem gereinigten Metall und
in einer erhöhtem Form zu sehen,--ich, der ich selber Bruchstück--
-- --bin und durch selten, selten gute Minuten in das bessere Land
hinausschaue, wo die ganzen und vollständigen Naturen wandeln!«

Aber diese von sich selbst absehende Hingebung ist nur der Weg, auf
dem er sich innerhalb einer neuen Weltanschauung zu einem eigenen
neuen Selbst durchringt; es ist nur der leidende Zustand, in dem er
den aufgenommenen fremden Geistessamen zu seinem eignen lebensvollen
Originalgeist umschafft und ausgestaltet. Es sind wie immer die
Geburtswehen, die seine neue Schöpfung begleiten und es ihm verbürgen,
dass er sich mit; seinem ganzen Wesen und allen seinen Kräften in ihr;
ausleben und erneuern wird.

Die Geschichte also, wie Nietzsche sich in dieser Wandlung entwickelt
und sie wieder verlässt, ist wesentlich eine Geschichte seines
innern Erlebens, seiner Seelenkämpfe. In den hierhergehörigen
Werken,--von seinem Erstgeborenen und Schmerzenskinde »Menschliches,
Allzumenschliches« an, bis hinein in die tiefbewegte freudige Stimmung
der »Fröhlichen Wissenschaft«, die gewissermassen schon der folgenden
Geistesperiode angehört, liegt diese Entwicklung vor uns ausgebreitet.
In ihnen allen hat er in einer Reihe von Aphorismensammlungen das »Bild
und Ideal des Freigeistes« aufrichten wollen, des freien Geistes in
seinen Gedanken über alle Gebiete des Wissens und des Lebens und noch
mehr in der Fülle seiner Gedankenerlebnisse selbst. Die Grundstimmung,
aus der ein jedes dieser Bücher hervorgegangen ist, prägt sich
jedesmal als das eigentlich Charakteristische an demselben schon im
Titel aus. Niemals sind Nietzsches Titel zufällig, indifferent oder
abstractem Stoff entnommen, sie sind ganz und gar Bilder innerer
Vorgänge, ganz und gar Symbole. So fasste er auch den Grundinhalt
seiner einsamen Denkerexistenz am Schluss der Siebzigerjahre in
wenigen Worten zusammen, als er auf das Titelblatt des zweiten Werkes
schrieb: »Der Wanderer und sein Schatten« (Chemnitz 1880, Ernst
Schmeitzner). Aus der Hitze der ersten, leidenschaftlichen Kämpfe ist
er hier in die Einsamkeit seiner selbst eingekehrt; aus dem Krieger
wurde ein Wanderer, der statt feindseliger Angriffe auf die verlassene
Geistesheimath nunmehr das Land seiner freiwilligen Verbannung danach
durchforscht, ob der steinige Boden sich nicht anbauen lasse, ob nicht
auch er irgendwo seine fette Erdkrume besitze. Der laute Zwiespalt
mit dem Gegner hat sich in die Stille eines Zwiegesprächs mit sich
selbst aufgelöst: der Einsame hört seinen eigenen Gedanken zu wie
einer mehrstimmigen Unterhaltung, er lebt in ihrer Gesellschaft wie
unter ihrem ihn überall hin begleitenden Schatten. Noch erscheinen
sie ihm düster, einförmig und gespenstisch, ja, so hoch und drohend
emporgewachsen, wie es Schattengebilde nur sind, wenn die Sonne im
Untergang steht. Aber nicht lange mehr, denn seine Nähe streift ihnen
allmählich alles Schattenhafte ab: was Gedanke war und farblose
Theorie, das erhält Klang und Blick, Gestalt und Leben. Ist dies
doch der innere Process seiner Aneignung und Umschaffung des Neuen
und Ungewohnten: dass er ihm Leben einhaucht, dass er ihm zu voller
Lebensfülle verhilft. Man möchte sagen: Nietzsche wählt sich die
düstersten Gedankenschatten aus, um sie mit seinem eigenen Blut zu
nähren, um sie, sei es auch unter Wunden und Verlusten, zuletzt dennoch
zu seinem eigenen lebendigen Selbst verwandelt zu sehen, zu seinem
Doppel-Selbst.

In dem Maasse als die Gedanken, mit denen er sich umgiebt, von dem
ganzen Reichthum seines Wesens in sich aufnehmen, in dem Maasse als
sie sich langsam mit der ganzen wunderbaren Kraft und Gluth desselben
sättigen, wird die Stimmung immer gehobener und getroster. Man fühlt:
hier geht Nietzsche Schritt um Schritt den Weg zu sich selbst, beginnt
heimisch zu werden in seiner neuen »Haut«, beginnt sich in seiner
Eigenart auszuleben, ihm ist wie einem Wanderer, der nach harter
Mühsal endlich nach Hause kommt. Er will nicht mehr dasselbe Ziel des
Denkens erreichen, wie sein Genosse Paul Rée, er will _das Seine_:
dies hört man sogar schon aus Briefen heraus, in denen er immer noch
den Theoretiker bewundert: »Immer mehr bewundere ich übrigens, wie gut
gewappnet Ihre Darstellung nach der logischen Seite ist. Ja, so etwas
kann ich nicht machen; höchstens ein bischen seufzen oder singen,--aber
beweisen, dass es Einem wohl im Kopfe wird, das können Sie, und daran
ist hundertmal mehr gelegen.«

In solchem »Singen und Seufzen« hatte sich gerade die eigene Genialität
seinem Bewusstsein aufgedrängt, als die Gabe zu den herrlichsten
Klagegesängen und Siegeshymnen, die jemals eine Gedankenschlacht
begleiteten, als die Schöpfergabe, auch noch den nüchternsten, den
hässlichsten Gedanken in innere Musik umzusetzen. Lebte doch der
Musiker in ihm sich nicht mehr auf eigene Kosten aus, er ging mit auf,
ein Einzelton, in der neuen grossen Melodie des Ganzen.

Und dies giebt in der That seinen Werken und Gedanken zu dieser Zeit
noch eine ganz besondere Bedeutung: die neue Einheitlichkeit, die
sein Wesen dadurch gewonnen hat, dass alle seine Triebe und Talente
allmählich dem einen grossen Ziele des Erkennens dienstbar gemacht
worden sind. Der Künstler, der Dichter, der Musiker Nietzsche, anfangs
gewaltsam zurückgedrängt und unterdrückt, beginnt wieder sich Gehör
zu verschaffen, aber unterthan dem Denker in ihm und dessen Zielen;--
--dies hat ihn dazu befähigt, von seinen neuen Wahrheiten in einer
Weise zu »singen und zu seufzen« die ihn zum ersten Stilisten der
Gegenwart erhoben haben.[11] Seinen Stil auf Ursachen und Bedingungen
hin prüfen ist daher mehr, als die blosse Ausdrucksform seiner Gedanken
untersuchen: es bedeutet, Nietzsche in seinem innersten Grundwesen
belauschen. Denn der Stil dieser Werke ist entstanden durch die
opferwillige und begeisterte Verschwendung grosser künstlerischer
Talente zu Gunsten des strengen Erkennens,--durch das Bestreben, _nur_
dieses strenge Erkennen und nichts als dieses auszusprechen, aber
nicht in abstracter Allgemeinheit, sondern in individualisirtester
Nüancirung,--so wie es sich in allen Regungen einer ergriffenen und
erschütterten Seele wiederspiegelt. Die lebendigste Innerlichkeit und
Fülle hatte Nietzsche schon in den Werken seiner ersten Geistesperiode
in vollendete Form zu giessen verstanden,--aber erst jetzt lernte er,
sie mit der Schärfe und Kälte nüchternen Denkens zu verbinden: wie ein
goldener Ring umschliesst dieses die Lebensfülle in einem jeden seiner
Aphorismen und verleiht ihnen gerade hierdurch ihren eigenthümlichen
Zauber. So schuf Nietzsche gewissermaassen einen _neuen Stil_ in der
Philosophie, die bis dahin nur den Ton des Wissenschafters oder die
dichterische Rede des Enthusiasten vernommen hatte: er schuf den Stil
des _Charakteristischen_, der den Gedanken nicht nur als solchen,
sondern mit dem ganzen Stimmungsreichthum seiner seelischen Resonanz
ausspricht, mit all den feinen und geheimen Gefühlsbeziehungen, die ein
Wort, ein Gedanke weckt. Durch diese Eigenart meistert Nietzsche nicht
nur die Sprache, sondern hebt zugleich über die Grenze sprachlicher
Unzulänglichkeit hinaus, indem er durch die Stimmung miterklingen
lässt, was sonst im Worte stumm bleibt.

In keines Andern Geist aber konnte das bloss Gedachte so völlig zu
etwas wirklich Erlebtem werden, wie in Nietzsches Geist, denn keines
Andern Leben ging je so völlig darin auf, mit dem ganzen innern
Menschen am Denken schöpferisch zu werden. Seine Gedanken hoben sich
nicht, wie es gewöhnlich der Fall ist, vom wirklichen Leben und dessen
Ereignissen _ab_: sie _machten_ vielmehr das eigentliche und einzige
Lebensereigniss dieses Einsamen _aus_. Und dem gegenüber erschien ihm
auch der lebensvollste Ausdruck, den er für sie fand, noch blass und
leblos: »Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten
Gedanken!« so klagt er in dem schönen Schluss-Aphorismus von
»Jenseits von Gut und Böse« (296). »Es ist nicht lange her, da wart ihr
noch so bunt, jung und boshaft, voller Stacheln und geheimer Würzen,
dass ihr mich niesen und lachen machtet--und jetzt?-- -- --Welche
Sachen schreiben und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chinesischem
Pinsel, wir Verewiger der Dinge, welche sich schreiben _lassen_, was
vermögen wir denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das, was eben welk
werden will und anfängt, sich zu verriechen! Ach, immer nur abziehende
und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle! Ach, immer nur Vogel,
die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen
lassen,--mit _unserer_ Hand!--Und nur euer _Nachmittag_ ist es, ihr
meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben
habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig
Gelbs und Brauns und Grüns und Roths:--aber Niemand erräth mir daraus,
wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken und Wunder
meiner Einsamkeit, ihr meine alten, geliebten-- -- --_schlimmen_ Gedanken!«

Es gehört ganz wesentlich dazu, dass man sich Nietzsche bei
seinen stillen und einsamen Wanderungen vorstelle, ein paar
Aphorismen mit sich herumtragend als das Resultat langer stummer
Selbstunterhaltung,--nicht über den Schreibtisch gebückt, nicht mit der
Feder in der Hand:


    »Ich schreib nicht mit der Hand allein:
    Der Fuss will stets mit Schreiber sein.«


singt er in der Fröhlichen Wissenschaft (Scherz, List und Rache 52).
Gebirge und Meer umgeben ihn bei seinen Gedanken-Wandelungen als der
wirkungsvolle Hintergrund für die Gestalt dieses Einsamen. Am Hafen
von Genua träumte er seine Träume, sah eine neue Welt am verhüllten
Horizont empordämmern in der Morgenröthe und fand das Wort seines
Zarathustra (II 5): »-- --aus dem Überflüsse heraus ist es schön
hinaus zu blicken auf ferne Meere.« Im Engadiner Gebirge aber erkannte
er sich selbst wie in einer Wiederspiegelung von Kälte und Gluth,
aus deren Mischung alle seine Kämpfe und Wandlungen hervorgegangen
waren. »In mancher Natur-Gegend entdecken wir uns selber wieder, mit
angenehmem Grausen; es ist die schönste Doppelgängerei,« sagt er davon
(Der Wanderer und sein Schatten 338), »-- -- --in dem gesammten--
-- -- Charakter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die
Schrecknisse des ewigen Schnees hingelagert hat, hier, wo Italien
und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimath aller
silbernen Farbentöne der Natur zu sein scheint: Von diesem Ort mit
seinen »kleinen, abgelegenen Seen,« aus denen ihn »die Einsamkeit
selber mit ihren Augen anzusehen schien,« sagt er auch in einem Briefe:
»Seine Natur ist der meinigen verwandt, wir wundem uns nicht über
einander, sondern sind vertraulich zusammen.«

Aeusserlich betrachtet, hatte ihn allerdings sein Kopf- und Augenleiden
gezwungen, rein aphoristisch zu arbeiten, aber auch seiner geistigen
Eigenart entsprach es immer mehr, seine Gedanken nicht in der
fortlaufenden Kette vor sich zu sehen, wie man sie, systematisch
arbeitend, auf dem Papier fixirt, sondern ihnen zuzuhören wie in einem
Gespräch zu Zweien, einem immer wieder abgebrochenen und immer wieder
aufgenommenen, von Einzelheiten ausgehenden Dialog,--der seinen »Ohren
für Unerhörtes« (Also sprach Zarathustra I 25), vernehmbar wurde gleich
gesprochenem Wort.

»Schreiben kann ich nicht, obschon ich es herzlich gern thun möchte,«
schreibt er auf einer Postkarte (Januar 1881 aus Italien). »Ach, die
_Augen_! Ich weiss mir damit gar nicht mehr zu helfen, sie halten mich
förmlich _mit Gewalt ferne_ von der Wissenschaft--und was habe ich
ausserdem! Nun, die Ohren! könnte man sagen.« Aber mit diesem Lauschen
und Horchen nahm er es sehr genau, und es giebt keinen Satz in seinen
Büchern, auf den nicht Anwendung findet, was er einmal in einem seiner
Briefe schreibt: »Ich bin immer von sehr feinen Sprachdingen occupirt;
die letzte Entscheidung über den Text zwingt zum scrupulösesten »Hören«
von Wort und Satz. Die Bildhauer nennen diese letzte Arbeit: ad unguem.«

Als Nietzsche im Jahre 1881 sein drittes Werk auf positivistischer
Grundlage, die »_Morgenröthe_« (Chemnitz 1881, Ernst Schmeitzner),
vollendete, da war in ihm der Process einer Verlebendigung und
Individualisirung der aufgenommenen Theorien schon vollkommen
zum Abschluss gelangt Dieses Werk und in ebenso hohem Grade das
nächstfolgende erscheinen mir daher als die bedeutendsten und
gehaltvollsten seiner mittleren Geistesperiode. Denn in ihnen ist
es ihm gelungen, praktisch den übertriebenen Intellektualismus zu
überwinden, dem er sich in »Menschliches, Allzumenschliches« noch
ohne Weiteres in freiwilliger Selbstmarterung unterworfen hatte,--
es ist ihm gelungen, denselben innerlich und individuell zu ergänzen
und menschlich zu vertiefen, ohne die wissenschaftliche Grundlage,
auf die er sich gestellt hatte, unter den Füssen zu verlieren,--ohne
die Strenge der Erkenntnissmethode zu lockern, mit der er seinen
Problemen nachging. Nietzsches eigene Natur hatte ihm geholfen,
die Einseitigkeiten und Härten seiner praktischen Philosophie zu
widerlegen, und einen lebensvolleren Typus des Erkennenden aus
den Gedankenkämpfen der letzten Jahre herauszugestalten. Denn die
Unterordnung des Affektlebens unter das Denken hatte sich, wie wir
sahen, in Nietzsche vermöge einer so gewaltigen inneren Hingebung an
das Wahrheitsideal vollzogen, dass gerade dadurch ihm die _Bedeutung
des Affectlebens für das Denken aufgehen musste_. Unmerklich verschob
sich ihm damit der Hauptaccent von dem rein intellectuellen Vorgang
auf die Macht des Gefühls, die sich in den Dienst auch noch der
nüchternsten und hässlichsten Wahrheiten zu stellen vermag, bloss weil
sie _Wahrheiten_ sind. So beginnt denn schon wieder an Stelle der
Verstandeskraft die Seelenkraft zu dem zu werden, was den Rang des
Denkers als Menschen bestimmt. Und es ist leicht zu sehen, wie auf
diesem Wege allmählich der Werth einer ganz neuen Denkweise Nietzsche
aufgehen musste,--einer allem Verstandesmässigen überhaupt abholden
Philosophie.

In keinem seiner Bücher lassen sich so sehr wie in der »Morgenröthe«
die feinen Uebergänge und Gedankenverbindungen nachweisen, die von
seiner positivistischen Geistesperiode in die darauf folgende einer
mystischen Willensphilosophie hinüberleiten. Der _Uebergang_ von
einem Alten zu einem Neuen macht, ähnlich wie im »Menschlichen,
Allzumenschlichen«, den hohen Reiz und Werth des Buches aus. Aber
in ganz entgegengesetzter Weise wie dort, wo wir _theoretisch_ der
vollendeten Thatsache eines Gesinnungswechsels gegenüberstehen, in den
sich das leidende Gefühl erst allmählich hineinzufinden sucht. Hier
dagegen wird jede Möglichkeit einer _Theorien-Aenderung_ noch mit
Heftigkeit zurückgewiesen als »Versuchungen des wissenschaftlichen
Menschen«, während die Seele schon begehrlich und tastend ihre
Fühlhörner immer wieder nach dem Verbotenen ausstreckt, wie sehr
der Verstand es ihr auch verwehrt. So sind es Aeusserungen leisen
Schwankens, einzelne Ausbrüche tief erregten Seelenlebens, denen wir
ahnungsvoll das Zukünftige entnehmen, weil sie in diesem Gemüthszustand
eine ungewollte Naivetät und Unmittelbarkeit besitzen, die Nietzsche
sonst vollständig abgeht. Hier _verräth_ er sich fortwährend, ohne
es zu ahnen, indem er den Anlass zu jeder »Versuchung« prüft und
tadelt,--er entblösst das Geheime und Verborgene seines Innenlebens,
sodass wir zu sehen glauben, wie sein vergangenes und sein zukünftiges
Selbst mit einander hinter dem Rücken der scheinbar unangetasteten
Verstandesphilosophie das Bekenntniss heimlichen Höffens und Verlangens
austauschen. In der Auflehnung gegen dieses heimliche Hoffen und
Verlangen ruft er sich in dem Aphorismus »Nicht die Leidenschaft zum
Argument der Wahrheit machen!« (Morgenröthe 543) die Worte zu: »Oh,
ihr-- -- --edlen Schwärmer, ich kenne euch!-- -- -- -- --Bis zum Hass
gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es!--
-- --Farbige Bilder, wo Vernunftgründe noth thäten! Gluth und Macht
der Ausdrücke!-- -- --Ihr versteht euch darauf, zu beleuchten und zu
verdunkeln, und mit Licht zu verdunkeln!-- -- -- -- --Wie dürstet ihr
darnach, Menschen in diesem Zustande --es ist der der Lasterhaftigkeit
des Intellectes --zu finden und an ihrem Brande eure Flammen zu
entzünden!-- -- --« Erst in Nietzsches letzter Philosophie begreift
man ganz, wie sehr er selbst es ist, an den er die Mahnung richtet:
»Nichts wäre verkehrter, als abwarten wollen, was die Wissenschaft über
die ersten und letzten Dinge einmal endgültig feststellen wird,--
-- --Der Trieb, auf diesem Gebiete durchaus _nur Sicherheiten_ haben
zu wollen, ist ein _religiöser Nachtrieb_, nichts Besseres,--« (Der
Wanderer und sein Schatten 16).

Aber inmitten zahlreicher derartiger Auflehnungen gegen sich selbst,
bricht dann auch vereinzelt der Ueberdruss durch an der strengen
Selbstbescheidung des Verstandes-Erkennens und an--»der Tyrannei
des Wahren«:--»ich wüsste nicht, warum die Alleinherrschaft und
Allmacht der Wahrheit zu wünschen wäre;-- -- -- --man muss sich
von ihr im Unwahren ab und zu _erholen_ können,--sonst wird sie uns
langweilig,--« (Morgenröthe 507). Und sehnsüchtig ruft er sogar den
von ihm geschmähten Künstlern zu: »Oh, wollten doch die Dichter wieder
werden, was sie einstmals gewesen sein sollen:--_Seher_, die uns Etwas
von dem _Möglichen_ erzählen! Wollten sie uns von den _zukünftigen
Tugenden_ Etwas vorausempfinden lassen! Oder von Tugenden, die nie auf
Erden sein werden, obschon sie irgendwo in der Welt sein könnten,--von
purpurnglühenden Sternbildern und ganzen Milchstrassen des Schönen! Wo
seid ihr, ihr Astronomen des Ideals?« (Morgenröthe 551).

So sehen wir in der »Morgenröthe« nicht nur, wie er gegen die heimlich
in ihm aufsteigenden Gelüste ankämpft, sondern wie er ihnen auch
schon nachgiebt, in der hingegebenen Sehnsucht nach etwas Neuem, in
der Ahnung eines vor ihm aufsteigenden Erkerintnisszieles. Beides
ist in charakteristischer Weise mit einander vermischt, insofern ja
die höchste Gluth der Seele, die Nietzsche für ein Erkenntnissideal
aufwendet, bei ihm stets den bereits beginnenden Niedergang desselben
Ideals anzeigt, dem er sich zur Zeit der Unbeirrtesten Ueberzeugung
von dessen Wahrheit und Nothwendigkeit nur mit Widerstreben gefügt
hatte. Dies ist die »Sonnenbahn der Idee«, wie er sie selbst auf Grund
eigener Erfahrung geschildert hat: »Wenn eine Idee am Horizonte eben
aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur der Seele dabei sehr kalt.
Erst allmählich entwickelt die Idee ihre Wärme, und am heissesten ist
diese-- --, wenn der Glaube an die Idee schon wieder im Sinken ist.«
(Der Wanderer und sein Schatten 207.) Sich selbst aber charakterisirt
er in derselben Schrift (331) mit den Worten: »Jene Personen, welche
langsam beginnen und schwer in einer Sache heimisch werden, haben
nachher mitunter die Eigenschaft der stätigen Beschleunigung,--sodass
zuletzt Niemand weiss, wohin der Strom sie noch reissen kann.«

Die Macht der langsam und schwer, aber um so verhängnissvoller und
unwiderstehlicher entzündeten Innerlichkeit,-- diese überschäumende
Fülle, musste ihn schliesslich dem Positivismus entfremden und zu neuen
Gedankenfernen führen. Schon sieht er im vollsten Gegensatz zur früher
verherrlichten »Affectlosigkeit« sein Ideal darin, dass der Erkennende
»der Mensch Eines hohen Gefühls, die Verkörperung einer einzigen
grossen Stimmung« sei; es soll ihm »eben Das der gewöhnliche Zustand«
sein, »was bisher als die mit Schauder empfundene Ausnahme hier und da
einmal in unseren Seelen eintrat: eine fortwährende Bewegung zwischen
hoch und tief und das Gefühl von hoch und tief, ein beständiges
Wie-auf-Treppen-steigen und zugleich Wie-auf-Wolken-ruhen«. (Fröhliche
Wissenschaft 288.) Vor einem solchen »Erkennenden« steht jetzt als
Lockung" was ihm ehemals als Gefahr galt: »Einmal den Boden verlieren!
Schweben! Irren! Toll sein!« (Fröhliche Wissenschaft 46.) Und in der
»Morgenröthe« (271) heisst es unter der Ueberschrift »Feststimmung«:
»Gerade für jene Menschen, welche am hitzigsten nach Macht streben, ist
es unbeschreiblich angenehm, sich _überwältigt_ zu fühlen! Plötzlich
und tief in ein Gefühl, wie in einen Strudel hinabzusinken! Sich die
Zügel aus der Hand reissen zu lassen, und einer Bewegung wer weiss
wohin? zuzusehen!«

In einer solchen Feststimmung des Ueberflusses und Ueberschusses,
langsam aus den nüchternsten Erkenntnissen herausgeschöpft und
angesammelt,--in einem solchen Zauber der Ausspannung und Erholung
nach langem Arbeitstag, gleitet Nietzsche in eine Welt der Mystik
hinein. In einer solchen Selbstüberwältigung besiegt der eigene
Sieg den Sieger. Es ist das »_Glück des Gegensatzes_«, das er darin
sucht, des Gegensatzes zum Kühlen, Strengen, Verstandesmässigen der
positivistischen Denkweise: die Erkenntniss neu gegründet auf die
begeisterten Eingebungen des Gefühls, des Affectlebens, und unterthan
gemacht dem Schaffensdrang des Willens.

Diese »Morgenröthe« ist kein blasses, kaltes, rückwärts leuchtendes
Aufklärungslicht mehr,--hinter ihr erhebt sich schon eine wärmende,
lebenzeugende Sonne, und während er selbst noch im grauen Zwielicht
der Dämmerung dasteht, sind seine Augen schon sehnsüchtig auf diesen
hellen verheissenden Schein am Horizont gerichtet. »Es gibt so viele
Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben!« schrieb er mit den
Worten des Rig-veda als Motto auf das Titelblatt, ohne dass er noch
zu glauben wagte, er selbst sei berufen, ein solches Leuchten am
Himmel der Erkenntniss zu entzünden, Das Buch enthält »Gedanken über
die moralischen Vorurtheile«, wie dem Titel ergänzend beigefügt ist,
und damit will es scheinbar noch dem zersetzenden, negirenden Geiste
der vorhergehenden Werke angehören; aber darüber schwebt schon ein
träumender, hoffender Geist, der zwar nur hier und da vollen Ausdruck
findet, aber schweigend sinnt, wie es zu ermöglichen wäre, aus allen
_Vorurtheilen_ heraus zu neuen _Werthurtheilen_ zu gelangen, wie es
möglich wäre, zum Schöpfer neuer Werthe zu werden. »Wenn endlich auch
alle Bräuche und Sitten vernichtet sind, auf welche die Macht der
Götter, der Priester und Erlöser sich stützt, wenn also die Moral
im alten Sinne gestorben sein wird: dann kommt--ja was kommt dann?«
(Morgenröthe 96.)

Der Sturz, der Abbruch des Alten ist eben kein Ende mehr, vielmehr ein
Ausblick, ein Anfang und ein Appell an alle besten Geisteskräfte. »Es
kommt eben noch etwas,--die Hauptsache kommt noch!« verspricht die
Morgenröthe und wird immer heller und röther.

Ein Jahr nach Veröffentlichung der »Morgenröthe« schrieb Nietzsche denn
auch zum ersten Mal wieder über neue philosophische Hoffnungen und
Fempläne:


    -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
    »Nun, liebste Freundin, Sie haben immer für mich ein gutes
    Wort in Bereitschaft, es macht mir grosse Freude, Ihnen
    zu gefallen. Die fürchterliche Existenz der Entsagung,
    welche ich führen muss und welche so hart ist, wie je eine
    asketische Lebenseinschnürung, hat einige Trostmittel,
    die mir das Leben immer noch schätzenswerter machen als
    das Nichtsein. Einige grosse Perspectiven des geistig
    sittlichen Horizonts sind meine mächtigste Lebensquelle. Ich
    bin so froh darüber, dass gerade auf diesem Boden unsere
    Freundschaft ihre Wurzeln und Hoffnungen treibt. Niemand
    kann so von Herzen sich über Alles freuen, was von Ihnen
    gethan und geplant wird!

    Treulich Ihr Freund

    F. N.«


Und kurz darauf ruft er am Schlüsse eines anderen Briefes aus:

»Auch ich habe jetzt Morgenröthen um mich, und keine gedruckten!
Was ich nie mehr glaubte,-- -- -- --das erscheint mir jetzt als
möglich,--als die goldene Morgenröthe am Horizonte all' meines
zukünftigen Lebens-- -- --.«

Diese Stimmung, die mit der Gewalt der Sehnsucht eine neue Geisteswelt
fern am Horizont heraufbeschwor, damit sie Ersatz böte für alles, was
Zweifel und Kritik zerstört hatten, klingt am deutlichsten durch in den
Schlussworten der »Morgenröthe«, in denen Nietzsche seine kritische und
negirende Denkrichtung selber als einen _Wegweiser_ zu neuen Idealen
aufzufassen sucht:

»Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen
der Menschheit _untergegangen_ sind? Wird man vielleicht uns einstmals
nachsagen, dass auch wir, _nach Westen steuernd, ein Indien zu
erreichen hofften_,--dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu
scheitern? Oder, meine Brüder? Oder--? (Morgenröthe, Schluss.)

Als Nietzsche im Jahre 1882 seine »Fröhliche Wissenschaft« vollendete,
da war ihm sein Indien bereits zur Gewissheit geworden: er glaubte
gelandet zu sein an den Küsten einer fremden, noch namenlosen,
ungeheuren Welt, von der nichts anderes bekannt sei, als dass sie
jenseits alles dessen liegen müsse, was von Gedanken angefochten,
von Gedanken zerstört werden kann. Ein weites, scheinbar uferloses
Meer zwischen ihm und jeder Möglichkeit einer erneuten begrifflichen
Kritik,--jenseits aller Kritik meinte er festen Boden gefasst zu haben.

Der übermüthige Jubel dieser Gewissheit klingt in den Versen wieder,
die er in das Widmungs-Exemplar seiner »Fröhlichen Wissenschaft«
schrieb:


    »Freundin, sprach Columbus, traue
    Keinem Genuesen mehr!
    Immer starrt er in das Blaue
    Fernstes zieht ihn allzusehr!
    Wen er liebt, den lockt er gerne
    Weit hinaus in Raum und Zeit,--
    Üeber uns glänzt Stern bei Sterne
    Um uns braust die Ewigkeit.«


Aber er irrte sich in Bezug auf die völlige Neuheit und Jenseitigkeit
des Landes,--es war der umgekehrte Irrthum des Columbus, der, das
Alte suchend, das Neue fand. Denn Nietzsche war in der That, ohne
es zu bemerken, nach einer Weltumseglung von der entgegengesetzten
Seite an die Küste eben desjenigen Landes zurückgelangt, von welchem
er ursprünglich ausgegangen, und welches er für immer im Rücken
gelassen zu haben glaubte, als er sich von der Metaphysik abwandte.
Wir werden es an allen Werken seiner letzten Geistesperiode erkennen,
in wiefern sie wieder aus jenem alten Boden hervorgewachsen sind,
wenn auch in ihrem Wachsthum und ihrer Eigenart beeinflusst durch
die Erfahrungen der letzten Jahre. Unstreitig hatte ein Hauptwerth
der positivistischen Denkrichtung für Nietzsche darin gelegen, dass
sie ihm wenigstens innerhalb gewisser Grenzen wirklich Spielraum für
alle diese Stimmungs-Uebergänge und Gefühlsschwankungen zu bieten
vermochte und ihn dadurch eine Zeit lang festhielt. Sie schlug ihn
nicht in Fesseln, wie es die Metaphysik nothwendig gethan hatte,
sondern wies ihm nur eine Wegerichtung; sie bürdete ihm nicht ein
Erkenntnisssystem auf, sondern gab ihm im wesentlichen nur eine neue
Erkenntnissmethode an die Hand. Darum war auch seine Emancipation von
ihr keine so gewaltsame und plötzliche wie seine Wagnerwandlung, sie
war, anstatt eines Fesselsprengens, ein allmähliches Sich-Verfliegen
und Sich-Verlaufen,--»all mein Wandern und Bergsteigen: eine Noth
war's nur und ein Behelf des Unbeholfenen:--_fliegen_ allein will
mein ganzer Wille!« (Also sprach Zarathustra III 19.) »Ich habe gehen
gelernt: seitdem lasse ich mich laufen!« (I 54.) Aber wohl vollzog sie
sich ebenso unaufhaltsam und unwiderruflich, wie die vorhergehende
Wandlung. Denn über die rein empiristische Betrachtungsweise seiner
Probleme, über die principielle Beschränkung auf das Erfahrungsgebiet,
musste Nietzsche irgend wann einmal wieder hinaus; einer Philosophie
der »letzten und höchsten Dinge« in irgend einer Form konnte er, der
ganzen Art seines Geistes nach, nicht dauernd entsagen. Es konnte
sich im Grunde nur darum handeln, auf welchem stillen. Seitenweg er
sich wieder dorthin zurückschleichen würde,--wo die Götter und die
Uebermenschen hausen.

Nietzsche schreibt einmal an Rée:

»Ach, liebster, guter Freund, mit dem schmerzlichsten Bedauern lese
ich-- -- --die Nachricht Ihres Krankseins. Was soll aus uns werden,
wenn wir in unseren besten Jahren so elend dahinwelken?-- -- --_Will
uns das Schicksal ein schönes Greisenalter aufsparen, weil unsere
Denkweise diesem am natürlichsten, wie eine gesunde Haut, anliegt?_
Aber müssten wir da nicht zu lange warten? Die Gefahr wäre, dass wir
die Geduld verlören--.«

Er verlor sie völlig. »Schon krümmt und bricht sich mir die Haut!«
sang er gleich darauf in einem schlechten Versehen der »Fröhlichen
Wissenschaft«, und unter der »Greisenhaut« des »affectlosen
Erkennenden« regte sich machtvoll jener Verjüngungsdrang, aus welchem
heraus Nietzsche noch in seinem Untergange eine Apotheose des Lebens,
des ewigen Lebens, schrieb.

Das Schicksal brauchte ihm kein Greisenalter auf-zusparen--.

Aber als die Basis der neuen Lehre, die er verkünden wollte, als
das einzige zuverlässige Fundament, auf dem sie errichtet werden
könnte, dachte sich Nietzsche damals doch noch eine wissenschaftliche
Begründung. Gerade in dieser Zeit des Ueberganges sehen wir ihn
daher von dem lebhaftesten Verlangen ergriffen, sich grossen
zusammenhängenden Forschungen widmen zu dürfen, denen er seit langen
Jahren hatte entsagen müssen. Mit nimmermüdem Interesse und Antheil
verfolgte er die Studien, welche Rée seit 1878 unternommen hatte, um
durch sie die Grundgedanken seines ersten moralphilosophischen Buches
zu erweitern und zu erhärten. Als dieser 1881 Nietzsche mittheilte,
dass er sein neues Werk noch vor Ablauf des Jahres zu vollenden hoffe,
empfing er die beglückte Antwort: »Dieses selbe Jahr soll nun auch das
Werk ans Licht bringen, an dem ich im Bilde des Zusammenhanges und
der goldenen Kette meine arme, stückweise Philosophie vergessen darf!
Welches herrliche Jahr 1881!«

Die in Frage stehende Schrift: »Die Entstehung des Gewissens« (Berlin
1885) wurde jedoch erst vier Jahre später völlig beendigt, nachdem
Nietzsche inzwischen längst den letzten Rest seiner »Freigeisterei« von
sich abgestreift und die abgelegte Haut auch schon mit der gewöhnlichen
Energie verbrannt hatte. Aber durch den regen Antheil, den er so
lange an Rées Studien zu jenem Buche genommen, hat es eine bestimmte
Bedeutung für sein Gedankenleben gewonnen. Doch stützt er sich jetzt
nicht in demselben Sinne auf »Die Entstehung des Gewissens«, wie er
sich einst in »Menschliches, Allzumenschliches« auf den »Ursprung der
moralischen Empfindungen« gestützt hatte. Darauf beruht überhaupt
ein Unterschied zwischen der letzten Geistesperiode Nietzsches und
der vorhergehenden positivistischen, dass er sich nicht mehr darauf
beschränkt, einzelne gegebene Theorien in ihrer inneren Bedeutsamkeit
zum Ausdruck zu bringen, sondern dass er sich der kühnsten Entwickelung
eines eigenen Systems hingiebt, dass er aus dem Aphoristischen,
Vereinzelten hinausstrebt. Hatte die »freigeisterische« Richtung ihn
dazu angetrieben, ihre Erkenntnisse in tiefstem Erleben und Empfinden
zu verinnerlichen, so drängte nun die leidenschaftliche Gewalt dieses
inneren Erlebens ihrerseits nach Entlastung in bestimmten Gedanken und
Theorien; sie drängte danach, sich in neue geschlossene Weltbilder
umzusetzen.

Im Sommer 1882 wurde Nietzsche dadurch zu dem Entschlüsse geführt,
sich während einer Reihe von Jahren demjenigen Studium zu widmen,
das ihm für den systematischen Ausbau seiner »Zukunftsphilosophie«
unentbehrlich zu sein schien, dem Studium der Naturwissenschaften. Er
wollte zu diesem Zwecke sein Leben im Süden aufgeben, um in Paris,
Wien oder München Vorlesungen zu hören. Zehn Jahre lang sollte jede
schriftstellerische Thätigkeit eingestellt werden, bis das Neue in ihm
nicht nur völlig ausgereift, sondern auch auf wissenschaftlichem Wege
als richtig erwiesen wäre.

Etwas später als Nietzsche fühlte auch Rée das Bedürfniss, sich mit
den Naturwissenschaften auseinanderzusetzen, die ihnen Beiden bisher
fremd geblieben waren. Er jedoch wünschte sie nicht als Material zum
Ausbau eigener philosophischer Hypothesen heranzuziehen, sondern
hatte, nach Vollendung seines Buches, das Verlangen, neue Gedanken frei
auf sich wirken zu lassen und völlig aus seinem engeren Specialgebiete
herauszutreten. So wandte er sich denn der Medicin zu, studirte noch
einmal, und machte sein Staatsexamen als praktischer Arzt, mit der
Absicht, sich längere Zeit der Psychiatrie zu widmen und auf diesem
Umwege zu den Geisteswissenschaften zurückzukehren, Niemals standen
sich die Freunde geistig ferner als damals, wo sie scheinbar noch
einmal Dasselbe zu erstreben schienen: sie waren an den einander
entgegengesetzten Polen ihres Wesens und Geistes angelangt.[12] Das
spricht sich bezeichnend auch darin aus, dass die geplanten zehn
Jahre des Schweigens für Nietzsche gerade diejenigen seiner grössten
Productivität wurden, während Rée bis jetzt den Punkt noch nicht
erreicht hat, auf dem sein altes Schaffen und sein neues Wissen in Eins
verschmelzen und ihn zu neuer erhöhter Selbstthätigkeit anregen müssen.

Nietzsche war durch sein Kopfleiden an der Ausführung seiner
Entschlüsse gehindert worden; schon der anbrechende Winter 1882 fand
ihn wieder in seiner Einsiedlerklause zu Genua. Doch auch bei besserer
Gesundheit wäre das Vorhaben nicht ausführbar gewesen. Denn Nietzsche
befand sich nicht mehr in jenem abwartenden Zustande, in welchem
der Geist noch Fremdes aufnehmen, sich störenden Einsichten willig
unterordnen kann; er war schon viel zu stark productiv erregt, um
noch von irgend etwas berührt zu werden, das ihn in seinem Drange zu
schaffen hätte aufhalten können. Während er zur Entfesselung seiner
Schaffenskraft einer ersten Befruchtung von aussen her bedurfte, sei
es selbst unter Schmerzen und Selbstüberwindung, während er sich einer
solchen fremden Erkenntniss gegenüber hingebend verhielt, in der
Inbrunst der Verschmelzung mit ihr sein Selbst preisgab, erscheint
er--einmal befruchtet--um so unzugänglicher und unbeeinflussbarer. Er
ist ganz benommen vom eigenen Zustand und von Dem, was Leben in ihm
gewinnen will. Richtet sich aber seine Aufmerksamkeit nach aussen, so
geschieht es nur noch, um für das Leben, das aus ihm geboren werden
soll, um jeden Preis Raum zu schaffen, keineswegs aber, um seine
Existenzbedingungen noch einmal zu prüfen und in Frage zu stellen.

Der ihm durch seinen körperlichen Zustand zum zweiten Mal aufgezwungene
Verzicht auf umfassende wissenschaftliche Studien führte dieses Mal
zu dem entgegengesetzten Resultat wie zur Zeit seines Wagnerbruches
und seiner positivistischen Periode. Damals war er die Veranlassung,
dass Nietzsche, anstatt neue Theorien zu begründen, die von Anderen
aufgenommenen innerlich auszuschöpfen und in ihren Seelenwirkungen
festzustellen suchte. Jetzt hingegen wird er dadurch verleitet, die
ihm fehlende theoretische Grundlage gewissermassen hinzuzudichten.
Hierin liegt geradezu ein Grundzug der letzten Philosophie Nietzsches:
das Bedürfniss, sich systematisch auszubreiten, als gelte es, den
verschiedensten Wissensgebieten die Beweise für die Richtigkeit seines
schöpferischen Gedankens zu entnehmen, in Wahrheit jedoch nur ein
gewaltsames Raumschaffen für denselben: ein so souveränes Ausleben
seiner Innerlichkeit, dass sich ihm unwillkürlich das ganze Weltbild zu
einer Wiege seiner Schöpfung umgestaltet.

Dementsprechend gewinnen von jetzt an alle seine Lehren, so paradox
dies klingen mag, einen um so persönlicheren Charakter, je
allgemeiner gefasst sie erscheinen, je allgemeingiltigere Bedeutung
sie beanspruchen. Zuletzt verbirgt sich ihr Hauptkern unter so
vielen Schalen, ihr letzter Geheimsinn unter so vielen Masken, dass
die Theorien, in denen er zum Ausdruck kommt, fast nur noch Bilder
und Symbole inneren Erlebens sind. Endlich fehlt jeder Wille zur
Uebereinstimmung und zur Verständigung mit Anderen,--»Mein Urtheil
ist mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht«
(Jenseits von Gut und Böse 43)--und doch wird gleichzeitig dieses
Urtheil zum Weltgesetz decretirt, zu einem Befehl an die ganze
Menschheit. Denn so vollständig verschmilzt für Nietzsche zum Schlüsse
innere Eingebung und Aussen-Offenbarung, dass er in seinem Innenleben
das Weltganze zu umfassen wähnt, und sein Geist in mystischer Weise
den Inbegriff des Seienden in sich zu enthalten, aus sich zu gebären
glaubt.« Für mich--wie gäbe es ein Ausser-mir? Es gibt kein Aussen!«
(Also sprach Zarathustra III 95.)

Entsprechend dem Umstande, dass Nietzsches letzte Schaffensperiode ganz
und gar in der philosophischen Ausdeutung seines eigenen Seelenlebens
besteht, nennt er »Die fröhliche Wissenschaft«, das Werk, welches
sie einleitet, in einem seiner Briefe »das Persönlichste unter
meinen Büchern«, und klagt noch kurz vor dem Druck der »Fröhlichen
Wissenschaft« in einem anderen Briefe: »Das Manuscript erweist sich
seltsamer Weise als unedirbar. Das kommt vom Princip des mihi ipsi
scribo!«

In der That hat er wohl niemals so völlig für sich selbst
geschrieben, als zu jener Zeit, wo er im Begriffe stand, seiner
ganzen Weltbetrachtung sein eigenes Selbst unterzulegen, Alles aus
seinem eigenen Selbst heraus zu erklären. So ist die Mystik der neuen
Grundlehren Nietzsches wohl schon hier enthalten, aber noch verborgen
im rein persönlichen Element, aus dem sie hervorging. In Folge dessen
bilden diese Aphorismen Monologe, monologischer gemeint als sonst
irgend etwas in Nietzsches Werken, gleichsam halblaute >Zwischenreden«,
ja oft nur gedacht als ein stummes geistiges Mienenspiel, das weit mehr
verstecken als verrathen soll. Die Gedanken der »Zukunftsphilosophie«
reden schon daraus zu uns, aber sie umgeben uns noch gleich
verschleierten Gestalten, deren Blick dunkel und räthselhaft auf uns
ruht, und dies nicht, weil sie, wie in der »Morgenröthe«, nur Ahnungen
zum Ausdrücke bringen und noch der festen Züge und sicheren Umrisse
entbehren, sondern weil ihnen mit Absicht ein Schleier übergeworfen und
Schweigsamkeit anbefohlen wurde. Mit dem Finger an der Lippe scheint
Nietzsche hier vor uns zu stehen, und gerade daraus entnehmen wir, dass
er uns Viel, dass er uns Alles zu bekennen wünscht.

Aber es wird ihm schwer, ohne Rückhalt davon zu sprechen, weil
auch in diesem Falle sein Selbstbekenntniss zugleich wieder ein
Schmerzensbekenntniss ist. Und in einem viel tieferen, viel
schmerzvolleren Sinn als bisher führt uns diesmal die Philosophie
Nietzsches hinein in die verborgenen Leiden und Qualen seines Erlebens,
sodass, im Vergleiche hierzu, selbst die harten Kämpfe und Entsagungen
seiner positivistischen Periode uns harmlos und gefahrlos Vorkommen
werden. Auf den ersten Blick erscheint dies als ein Widerspruch, da
Nietzsches letzte Philosophie gerade aus dem Drange he'rvorgegangen
ist, an Stelle der ihm widerstrebenden positivistischen Theorien eine
Weltanschauung aufzubauen, die seinem innersten Verlangen völlig
entspräche. Insofern beginnt er in der That seine letzte Wandlung
unter Jauchzen und Frohlocken. Aber man darf nicht vergessen, dass
diese äusserste Selbsteinkehr, dieser Versuch, das Weltbild aus seinem
Eigenbild zu construiren, Nietzsches_ Leiden an sich selbst zu Tage_
treten lässt, aus dem sein tiefster Wesensgrund besteht. Bisher hat er
in seinen Erkenntnisswandlungen diesem Leiden an sich selbst dadurch
zu entrinnen gesucht, dass er den einen Theil seines Selbst durch
den anderen quälte und tyrannisirte, aber bei allen Wandlungen des
theoretischen Menschen blieb unverwandelt und sich ewig gleich der
praktische Mensch mit seinen inneren Nöthen. Jetzt erst, wo Nietzsche
sich nicht mehr zwingt und kasteit, jetzt erst, wo er seiner Sehnsucht
freie Worte giebt, begreift man ganz, in welcher Qual er lebte, hört
man endlich den Schrei nach _Erlösung von sich selbst_,--nach seinem
_Wesens-Gegensatz_, nach vollständiger und endgiltiger Verwandlung,
Umwandlung,-- nicht einzelner Erkenntnisse nur, sondern des ganzen, des
innersten Menschen. Man sieht förmlich, wie er hier, in Verzweiflung,
aus sich selbst heraus und nach aussen greift, nach einem erlösenden
Ideal, welches er aus einem solchen Wesens-Gegensatz zu formen sucht.
Daher liess sich voraussehen: sobald Nietzsche seinen Seeleninhalt
frei zum Weltinhalt umschuf, sobald er seinem intimsten Erleben
die Weltgesetze entnahm, musste seine Philosophie ein tragisches
Weltbild zeichnen: die Menschheit musste von ihm aufgefasst werden
als eine an sich selbst leidende, an ihrer eigenen Entwicklung
hoffnungslos krankende Zwittergattung, deren Daseinsberechtigung gar
nicht in ihr selbst, sondern in einer schlechthin anderen, höheren,
Uebermenschen-Gattung liege, zu der sie nur eine Brücke bilden solle.
Das Endziel der Menschheit sei Untergang und Selbstaufopferung zu
Gunsten dieses ihr entgegengesetzten Ideals.

Erst am Eingang zu Nietzsches letzter Philosophie wird daher völlig
klar, bis zu welchem Grade es der religiöse Grundtrieb ist, der sein
Wesen und Erkennen stets beherrschte. Seine verschiedenen Philosophien
sind ihm ebensoviele Gott-Surrogate, die ihm helfen sollen, ein
mystisches Gott-Ideal ausser seiner selbst entbehren zu können. Seine
letzten Lehren enthalten nun das Eingeständniss, dass er dies nicht
vermag. Und gerade deshalb stossen wir in seinen letzten Werken
wieder auf eine so leidenschaftliche Bekämpfung der Religion, des
Gottesglaubens und des Erlösungsbedürfnisses, weil er sich ihnen so
gefährlich nähert. Hier spricht aus ihm ein Hass der Angst und der
Liebe, mit dem er sich seine eigene Gottesstärke einreden, seine
menschliche Hilflosigkeit ausreden möchte. Denn wir werden sehen,
kraft welcher Selbsttäuschung und geheimen List Nietzsche endlich den
tragischen Conflict seines Lebens löst,--den Conflict, des Gottes zu
bedürfen und dennoch den Gott leugnen zu müssen. Zuerst gestaltet
er mit sehnsuchtstrunkener Phantasie, in Träumen und Verzückungen,
visionengleich, das mystische Uebermenschen-Ideal, und dann, um
sich vor sich selbst zu retten, sucht er, mit einem ungeheuren
Sprung, sich mit demselben zu identificiren. So wird er zuletzt zu
einer Doppelgestalt, halb kranker, leidender Mensch, halb erlöster,
lachender Uebermensch. Das Eine ist er als Geschöpf, das Andere
als Schöpfer, das Eine als Wirklichkeit, das Andere als mystisch
gedachte Ueberwirklichkeit. Oft aber, während man seinen Reden darüber
zuhört, empfindet man mit Grauen, dass er als Gegenstand der Anbetung
hinstellt, was in Wahrheit auch für ihn nicht vorhanden ist, und man
gedenkt seines Wortes, »-- -- --wer weiss, ob sich nicht bisher in
allen grossen Fällen eben das Gleiche begab: dass die Menge einen Gott
anbetete,--und dass der »Gott« nur ein armes Opferthier war!« (Jenseits
von Gut und Böse 269.)

»Das Opferthier als Gott« ist wahrlich ein Titel, der über der
letzten Philosophie Nietzsches stehen könnte und am deutlichsten den
inneren Widerspruch enthüllt, der in ihr liegt,--jene Exaltation
von Schmerz und Wonne, in der beide ununterscheidbar in einander
fliessen. Wir haben vorher gesehen, inwiefern es eine Feststimmung
war, in der Nietzsche in seine letzte Geisteswandlung hinüberglitt,--
eine Feierstimmung träumenden Rausches und Ueberflusses: wir sehen
jetzt den Punkt, an welchem die Gewalt der inneren Erregung in den
Schmerz überschlägt. Er war in jener ganzen Zeit, selbst in seinem
Alltagsleben, erfüllt von einer Stimmung äusserster seelischer
Ueberwältigung, in der man sogar der Ausgelassenheit fähig ist, aber
nur weil alle Nerven beben, in der man leicht bis zum Scherzen und
Lachen gelangt, aber nur mit zitternden Lippen. Bedurfte es doch
jedesmal für Nietzsche einer solchen Verschlingung von Wonne und Weh,
von Begeisterung und Leiden, um ihn einer geistigen Wiedergeburt
entgegenzuführen. Sein Glück musste erst zum »Ueberglück«, und in
diesem Uebermass zum eigenen Gegner und Gegensatz geworden sein;
Frieden und Heimatgefühl, wo er sie einmal innerhalb eines gewonnenen
Erkenntnissgebietes mühsam errungen hatte, mussten ihn erst zu
Selbstverwundung und Selbstvertreibung gereizt haben, damit sein Geist
in sich selber schwelgen und sich in neuen Schöpfungen entlasten konnte.

Es ist dafür bezeichnend, dass er sein Werk, im Jauchzen seines
Herzens, die frohe Botschaft, »Die fröhliche Wissenschaft« nannte,
zugleich aber über den Schluss-Aphorismus desselben die düsteren
Räthselworte setzte: »Incipit tragoedia!«

Dieser Verbindung von tiefer Erschütterung und spielendem Uebermuth,
von Tragik und Heiterkeit, welche für die ganze Gruppe der letzten
Werke charakteristisch ist, entspricht es auch, dass die »Fröhliche
Wissenschaft«, im schärfsten Gegensatz zu dem dunkeln Geheimniss
der Schlussworte, ein »Vorspiel« in Versen besitzt: »Scherz, List
und Rache.« Hier begegnen uns zum ersten Mal Verse in Nietzsches
Schriften,--sie mehren sich aber in dem Maasse, als er seinem
persönlichen Untergang zuzuschreiten glaubt. In Gesängen klingt sein
Geist aus. Die Verse sind überraschend verschieden an Werth, zum
Theil vollendet: Gedanken, die an ihrer eigenen Schönheit und Fülle
sich zu Gedichten wandelten;--zum Theil von einer so wunderlichen
Unvollkommenheit, wie sie nur die Laune des Muthwillens vom Zaune
bricht. Ueber ihnen allen aber ruht etwas seltsam Ergreifendes: Sind
es doch Blumen, die sich ein Einsamer auf den Leidensweg streut, der
seiner harrt, um den Schein zu erwecken, dass es ein Freudenweg sei.
Frisch gebrochenen Rosen gleichen sie, auf die sein Fuss treten will,
während er schon beschäftigt ist, in seinen leidvollsten Erkenntnissen
seinem Haupte die Dornenkrone zu flechten.

Sie klingen wie ein Präludium zu dem erschütternden Schauspiel seiner
höchsten Erhebung und seines Unterganges. Von diesem Schauspiel hebt
auch die Philosophie Nietzsches den Vorhang nicht ganz. Was sie uns
zeigt, ist nur, gleich einem Bilde auf diesem Vorhang, ein buntes
Blumengewinde, aus dem, halb versteckt, die Worte gross und traurig
hervorleuchten:


    »Incipit tragoedia!«



[1] Die philologischen Arbeiten Nietzsches sind: _Zur Geschichte
der Theognideischen Spruchsammlung_, im Rheinischen Museum, Bd. 22;
_Beiträge zur Kritik der griechischen Lyriker, I. Der Danae Klage von
Simonides_, im Rhein. Mus., Bd. 23; _De Laertii Diogenis Fontibus_,
im Rhein. Mus., Bd. 23 und 24; _Analecta Laertiana_, im Rhein. Mus.,
Bd. 25; _Beiträge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes_,
Gratulationsschrift des Pädagogiums zu Basel. Basel 1870.--_Certamen
quod dicitur Homeri et Hesiodi e codice Florentino post H. Stephanum
denuo_ ed. F. N., in den Acta societatis philologae Lipsiensis ed.
Fr. Ritschl, Vol. I; dazu der florentinische Tractat über _Homer und
Hesiod_, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf, im Rhein. Mus, Bd. 25
und 28. Auch rührt das »Registerheft« zu den ersten 24 Bänden des
Rheinischen Museums (1842-1869) von ihm her, das er nach Ritschls
Disposition zusammenstellte.

[2] Er hat so gelesen, wie er es einmal »gut lesen« nennt: »--das
heisst langsam, tief, vor- und rücksichtig, mit Hintergedanken,
mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen--«
(Einführende Vorrede zur neuen Ausgabe der Morgenröthe 11.)

[3] Dieses Buch erregte bei seinem Erscheinen das lebhafteste
Missfallen der philologischen Zunft; hatte der Verfasser es doch
gewagt, seinen Ausführungen nicht nur die Lehren des verpönten
Philosophen Arthur Schopenhauer, sondern auch die künstlerischen
Anschauungen des damals noch ebenso geschmähten »Zukunftsmusikers«
Richard Wagner zu Grunde zu legen. Ein junger philologischer
Heisssporn, Ulrich v. Wilamowitz-Möllendorf, der jetzt zu den
hervorragenden Vertretern der classischen Philologie in Deutschland
gehört, machte sich in nicht besonders glücklicher und geschmackvoller
Weise zum Sprachrohr zünftiger Einseitigkeit. Ohne der Eigenart des
Nietzscheschen Buches irgendwie gerecht zu werden, griff er es in der
Broschüre »Zukunftsphilologie! eine erwidrung auf F. N.'s »gebürt der
tragödie«, Berlin 1872, von einem beschränkt philologischen Standpunkte
auf das heftigste an. Für den Angegriffenen traten in die Schranken
derjenige, an den vor Allen das Buch gerichtet war, Richard Wagner,
der Künstler, in einem in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« vom
23. Juni 1872 abgedruckten offenen Briefe an Friedrich Nietzsche,
und Erwin Rohde, der bereits damals von seiner tiefen Kenntnis des
griechischen Alterthums die vollgiltigsten Proben abgelegt hatte.
In der ausgezeichnet geschriebenen Streitschrift: »Afterphilologie.
Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner«, Leipzig 1872,
stellte er sich auf den von dem Gegner gewählten Boden und wies die
von diesem gemachten Einwände und Beschuldigungen zurück, worauf v.
Wilamowitz dann noch mit einer Duplik, »Zukunftsphilologie! Zweites
Stück, eine erwidrung auf die rettungsversuche für F. N.'s »gebürt der
tragödie«, Berlin 1873, antwortete.

[4] Vergleiche die einführende Vorrede zur Neuen Ausgabe des zweiten
Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, wo es IV heisst: »--was ich
gegen die »historische Krankheit« gesagt habe, das sagte ich als Einer,
der von ihr langsam, mühsam genesen lernte-- -- --.

[5] Vorwort V: »Auch soll-- --nicht verschwiegen werden,-- -- -- --dass
ich nur, sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen
bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemässen
Erfahrungen komme.«

[6] Vgl. Schopenhauer als Erzieher 19: »ich ahnte, in ihm jenen
Erzieher und Philosophen gefunden zu haben, den ich so lange suchte.
Zwar nur als Buch: und das war ein grosser Mangel. Um so mehr strengte
ich mich an, durch das Buch hindurch zu sehen und mir den lebendigen
Menschen vorzustellen, dessen grosses Testament ich zu lesen hatte,
und der nur solche zu seinen Erben zu machen verhiess, welche mehr
sein wollten und konnten als nur seine Leser: nämlich seine Söhne und
Zöglinge.

[7] Nietzsche lebte damals in einer Bewunderung der englischen
Gelehrten und Philosophen, die später in ihr Gegentheil umschlug; in
Menschliches, Allzumenschliches II 184 nennt er sie noch die »ganzen,
vollen und füllenden Naturen«, und in einem Briefe an Rée nennt er die
englischen Philosophen der Gegenwart, »den einzig gut philosophischen
Umgang, den es jetzt giebt«. Dementsprechend ist das Einzige, was
er in dieser Periode an seinem ehemaligen Meister Schopenhauer noch
hochschätzt: »sein harter Thatsachen-Sinn, sein guter Wille zu
Helligkeit und Vernunft, der ihn oft so englisch--erscheinen lässt.«
(Fröhliche Wissenschaft 99.)

[8] Erwähnt wird es von Nietzsche in »Menschliches, Allzumenschliches«
I 37.

[9] Vergleiche Menschliches, Allzumenschliches die Aphorismen über
»Cultus des Genius' aus Eitelkeit« (162) und »Gefahr und Gewinn im
Cultus des Genius'.« (164).

[10] Dieser Besitz von »Liebe und Güte« als der heilsamsten Kräuter und
Kräfte im Verkehre der Menschen (Menschliches, Allzumenschliches I 48)
ist noch mehr werth als die gepriesene grosse einzelne Aufopferung;
noch »mächtiger an der Cultur gebaut«, hat jenes immerwährende
freundliche Wohlwollen, das des Lebens »_Behagen_« schafft.
(Menschliches, Allzumenschliches I 49)

[11] Vergleiche die folgenden Aphorismen, die Nietzsche mir einmal
aufschrieb:

_Zur Lehre vom Stil._

1.

Das Erste, was noth thut, ist Leben: der Stil soll _leben_.

2.

Der Stil soll _dir_ angemessen sein in Hinsicht auf eine ganz bestimmte
Person, der du dich mittheilen willst. (Gesetz der _doppelten
Relation_.)

3.

Man muss erst genau wissen: »so und so würde ich das sprechen und
_vortragen_«--bevor man schreiben darf. Schreiben muss eine Nachahmung
sein.

4.

Weil dem Schreibenden viele _Mittel_ des Vortragenden _fehlen_, so
muss er im Allgemeinen eine _sehr ausdrucksvolle_ Art von Vortrag
zum Vorbild haben: das Abbild davon, das Geschriebene, wird schon
nothwendig viel blässer ausfallen.

5.

Der Reichthum an Leben verräth sich durch _Reichthum an Gebärden_. Man
muss alles, Länge und Kürze der Sätze, die Interpunctionen, die Wahl
der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente--als Gebärden
empfinden _lernen_.

6.

Vorsicht vor der Periode! Zur Periode haben nur die Menschen ein Recht,
die einen langen Athem auch im Sprechen haben. Bei den meisten ist die
Periode eine Affectation.

7.

Der Stil soll beweisen, dass man an seine Gedanken _glaubt_, und sie
nicht nur denkt, sondern _empfindet_.

8.

Je abstracter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muss
man erst die _Sinne_ zu ihr verführen.

9.

Der Tact des guten Prosaikers in der Wahl seiner Mittel besteht darin,
dicht an die Poesie heranzutreten, aber _niemals_ zu ihr überzutreten.

10.

Es ist nicht artig und klug, seinem Leser die leichteren Einwände
vorwegzunehmen. Es ist sehr artig und _sehr klug_, seinem Leser
zu überlassen, die letzte Quintessenz unserer Weisheit _selber
auszusprechen_.

[12] Siehe in der »Fröhlichen Wissenschaft« (279) unter der
Ueberschrift »Sternen-Freundschaft« die schönen Worte, mit denen
Nietzsche damals von dieser geistigen Genossenschaft Abschied nahm.



III. ABSCHNITT.


DAS "SYSTEM NIETZSCHE"



MOTTO:

»Schaffen wollt ihr noch die Welt,
vor der ihr knien könnt.«

(Also sprach Zarathustra II. 47).



    Geist? Was ist mir Geist! Was ist mir Erkenntniss! Ich
    schätze nichts als _Antriebe_,--und ich möchte schwören,
    dass wir darin unser Gemeinsames haben. Sehen Sie doch durch
    diese Phase _hindurch_, in der ich seit einigen Jahren
    gelebt habe,--sehen Sie _dahinter_! Lassen _Sie_ sich nicht
    über mich täuschen--glauben doch nicht, dass »der Freigeist«
    mein Ideal ist!! _Ich bin_-- -- --Verzeihung! Liebste Lou!

    F. N.


In dieser geheimnissvollen Weise bricht der vorstehende Brief
Nietzsches ab, den er in der Zeit zwischen der Veröffentlichung der
»Fröhlichen Wissenschaft« und derjenigen seiner mystischen Dichtung
»Also sprach Zarathustra« geschrieben hat. In den wenigen Zeilen sind
bereits die wesentlichsten Züge der letzten Philosophie Nietzsches
angedeutet: auf dem Gebiet der Logik die principielle Abkehr von dem
bisherigen reinlogischen Erkenntnissideal, von der theoretischen
Strenge der verstandesmassigen »Freigeisterei«; auf dem Gebiet der
Ethik, anstatt der bisherigen negirenden Kritik, die Verlegung der
Wahrheitsbegründung in die Welt der seelischen Antriebe, als der Quelle
einer neuen Werthung und Abschätzung aller Dinge; ferner eine Art von
_Rückkehr_ zu Nietzsches erster philosophischer Entwicklungsphase,
die vor seinem positivistischen Freigeisterthum liegt,--nämlich zur
Metaphysik der Wagner-Schopenhauerischen _Aesthetik_ und ihrer Lehre
vom übermenschlichen Genie. Und hierauf endlich gründet sich, als
auf den Kempunkt der neuen Zukunftsphilosophie, _das Mysterium einer
ungeheuren Selbst-Apotheose_, das er in dem zögernden Wort »Ich
bin«--sich noch scheut auszusprechen.

Nietzsches letzte Geistesperiode umfasst fünf Werke: Die vierbändige
Dichtung »_Also sprach Zarathustra_« (I und II 1883; III 1884,
Chemnitz, Ernst Schmeitzner; IV 1891, Leipzig, C. G. Naumann);
_Jenseits von Gut und Böse_, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft
(1886, Leipzig, C. G. Naumann; 2. Auflage 1891); _Zur Genealogie
der Moral_, eine Streitschrift (1887, Leipzig, C. G. Naumann); _Der
Fall Wagner_, ein Musikanten-Problem (1888, Leipzig, C. G. Naumann);
endlich die kleine Aphorismen-Sammlung _Götzen-Dämmerung_ oder _Wie
man mit dem Hammer philosophirt_ (1889, Leipzig, C. G. Naumann).
Wir können hier aber nicht dem Gange seines philosophischen Denkens
Schritt für Schritt an der Hand jener Werke folgen, da sie nicht, wie
die der vorhergehenden Periode, ebensoviele Entwicklungsstufen seines
Gedankens darstellen, sondern zum ersten Mal alle dazu bestimmt sind,
der Darlegung eines _Systems_ zu dienen, wenn auch nur eines Systems,
das mehr auf ihrer Gesammtstimmung als auf der klaren Einheitlichkeit
begrifflicher Deduction beruht. Der aphoristische Charakter, den seine
Bücher auch hier bewahren, erscheint daher in diesem Fall als ein
unleugbarer Mangel der Form seiner Darstellung, nicht, wie bisher,
als ein eigenthümlicher Vorzug derselben. Was Nietzsche durch seine
vollendete Meisterschaft in der aphoristischen Form gelang: einen
jeden Gedanken in seiner seelischen Bedeutsamkeit voll auszuschöpfen
und mit allen seinen feinen inneren Nebenbeziehungen wiederzugeben, das
reicht nicht aus für die systematische Begründung eigener Theorien,
sondern löst sie hier und da in ein geistreiches Spiel mit blendenden
Hypothesen auf. Nietzsche wurde sowohl durch sein Augenleiden als
auch durch seine Gewöhnung an sprunghaftes Denken dazu gezwungen, im
Allgemeinen an seiner alten Schreibweise festzuhalten, aber immer
wieder macht er,--sowohl in Jenseits von Gut und Böse, als auch in
der Genealogie der Moral,--den Versuch, über das Rein--Aphoristische
hinauszukommen, seine Gedanken systematisch zu ordnen und vorzutragen,
weil das, was ihm vorschwebt, ein einheitliches Ganzes geworden ist.

Daher finden wir auch hier zum ersten Mal bei ihm eine Art
von _Erkenntnisstheorie_, einen Ansatz dazu, sich mit den
erkenntnisstheoretischen Problemen auseinanderzusetzen, nachdem
er ihnen bisher immer aus dem Wege gegangen war, wie er überhaupt
gern jedes Problem mied, dem sich nur auf rein begrifflichem Wege
beikommen lässt. Jetzt erst bleibt er nicht mehr ohne Weiteres bei der
praktischen Philosophie stehen, sondern hält es für nothwendig, auf
die Mittel hinzuweisen, mit denen er sich das erkenntnisstheoretische
Pförtchen aufgebrochen habe, durch das er zu seinen Hypothesen
gelangt. Ziemlich ausführliche Bemerkungen darüber finden sich an den
verschiedensten Stellen seiner Werke zerstreut. Es erscheint aber
höchst charakteristisch, dass sie sich erst jetzt finden, wo er der
Welt des Abstrakt-Logischen principielle Feindschaft erklärt und fest
entschlossen ist, alle schwierigen Begriffsknoten, auf die er stossen
könnte, mit einem Schwerthieb zu zerhauen: er befasst sich mit der
Erkenntnisstheorie eben nur, um sie über den Haufen zu werfen.

Zur Zeit seines Wagnerthums war Nietzsche als Jünger Schopenhauers
diesem seinem Meister in der bekannten Interpretirung und Modificirung
Kants gefolgt, laut welcher die Fragen nach den höchsten und letzten
Dingen ihre Beantwortung finden, zwar nicht durch den Verstand, sondern
durch die höchsten Eingebungen und Erleuchtungen des Willenslebens.
Später stimmte Nietzsche, unter heftigem Protest gegen diese Annahme
der Schopenhauerischen Metaphysik, der strengen Selbstbescheidung der
Erfahrungswissenschaft zu, welche sich mit dem Verstandeserkennen auf
den ihm zugänglichen Gebieten begnügt. Aber Nietzsche hielt diese
Zustimmung nur so lange aufrecht, als er mit Hilfe eines fanatischen
Intellektualismus sich aus dem bescheidenen Verstandeserkennen ein ihn
begeisterndes Wahrheitsideal zu schaffen vermochte, dem sich sein Wille
und Seelenleben blind unterwarf. Sobald sein Fanatismus sich erschöpft
hatte, sobald seine Begeisterung die intellektuellen Ziele und Werthe
nicht mehr in so über-schwänglich-idealer Beleuchtung sah, wurde er
derselben überhaupt überdrüssig und verlangte nach neuen Idealen. In
diesem Verlangen ging ihm nun innerhalb des Positivismus eine Einsicht
auf, die er bisher nicht beachtet hatte: nämlich die Einsicht in die
Relativität alles Denkens, die Zurückführung alles Verstandeserkennens
auf die rein praktische Grundlage des menschlichen Trieblebens, dem es
entstammt und von dem es dauernd abhängig ist.

Diesem Wege, der ihm von seinen eigenen philosophischen Genossen
vorgezeichnet war, brauchte er nur mit gewohnter Exaltation zu folgen,
um schliesslich zu seiner ursprünglichen Schätzung der Affekte
zürückzugelangen. Denn was für die Andern nur eine natürliche
Consequenz war, welche die moderne Erkenntnisstheorie zieht, und welche
die Methode und die Resultate der Erfahrungswissenschaft als solche gar
nicht berührt, daraus entnahm Nietzsche den Anstoss zu einem völligen
Gesinnungswechsel. Mit derselben äussersten Uebertreibung und demselben
Fanatismus, mit denen er das streng begriffliche Denken als höchstes
Wahrheitsideal angebetet hatte, verhöhnt er es jetzt als etwas Geringes
und Niedriges gegenüber den Trieben, die es in Wahrheit regieren.

Was sich inzwischen verändert hat, ist zwar nur seine _Stimmung_, nur
seine _Gefühlsauffassung_ der Sachlage, aber eben dies besagt für
Nietzsche Alles: es veisst ihn allmählich fort zu immer weitergehenden
Folgerungen und wird so schliesslich zum Ausgangspunkt für eine neue
Weltanschauung.

Dieser Verlauf ist typisch für die Entstehung aller Grundgedanken
in Nietzsches »Zukunftsphifosophie-«; ihm werden wir in seiner
Erkenntnisstheorie wie in seiner Morallehre, in seiner Äesthetik wie
in seiner letzten Mystik wieder begegnen und stets dieselben drei
Entwicklungsstufen daran wahrnehmen: zuerst das Anknüpfen an einzelne
letzte Consequenzen der modernen Erfahrungswissenschaft, dann ein
Umschlagen seiner Gemüthsstimmung in der Auffassung solcher Ergebnisse,
ihre Zuspitzung und Uebertreibung bis aufs Aeusserste, und endlich,
daraus fliessend, seine eigenen, neuen Theorien.

Hinsichtlich dieser sind aber zwei Seiten zu unterscheiden,
einestheils ihr thatsächlicher philosophischer Gehalt, anderntheils
Nietzsches rein seelische Wieder-Spiegelung in ihnen, indem er sich
in seinen Gedanken den Ausdruck für sein tiefstes Wesen schafft.
Diese Selbstwiederspiegelung führt uns zu dem Bilde Nietzsches
zurück, wie es im ersten Theile dieser Arbeit entworfen ist.
Der Gedankengehalt aber der neuen Lehre erweist sich als eine
kunstvolle Verbindung der beiden philosophischen Phasen in Nietzsches
Geistesentwicklung,--als ein Muster von zwei verschiedenen mit
genialer Hand ineinandergeflochtenen Geweben: der Schopenhauerischen
Willenslehre und der Entwicklungslehre der Positivistem

Für Nietzsches Erkenntnisstheorie, mit ihrer Bekämpfung der Bedeutung
des Logischen und ihrer Zurückführung desselben auf das schlechthin
Unlogische, kommt am meisten in Betracht sein Buch »Jenseits von
Gut und Böse«, das in einzelnen Abschnitten ebensogut heissen
könnte: »Jenseits von Wahr und Falsch«. Denn hier erörtert er am
ausführlichsten die _Unberechtigung der Werthgegensätze_ »wahr und
unwahr«, die mit der Einsicht in ihren Ursprung nicht minder hinfällig
werden, wie die Werthgegensätze »gut und böse«. »Das Problem vom Werthe
der Wahrheit trat vor uns hin,-- -- --Was in uns will eigentlich »»zur
Wahrheit««?-- -- --Gesetzt, wir wollen Wahrheit: _warum nicht lieber
Unwahrheit?_-- --« (1.) »Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme,
dass es einen wesenhaften Gegensatz von »wahr« und »falsch« giebt?
Genügt es nicht, Stufen der Scheinbark eit anzunehmen-- --?« (34.) »In
welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch!-- -- --
erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit
durfte sich--die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem
Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen,
zum Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern--als
seine Verfeinerung«! (24.) Das »Bewusstsein« ist nicht »in irgend
einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven _entgegengesetzt_,--das
meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte
heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen.« (3.) Alle Logik
ist letzten Endes nichts anderes als eine blosse »Zeichen-Convention«
(Götzen-Dämmerung III 3), alles Denken eine Art von »Zeichensprache
der Affekte«, da »wir zu keiner anderen »Realität« hinab oder hinauf
können als gerade zur Realität unserer Triebe--denn Denken ist nur ein
Verhalten dieser Triebe zu einander.« (Jenseits von Gut und Böse 36).
Und daraus folgt denn schon: »-- --_je mehr_ Affekte wir über eine
Sache zu Worte kommen lassen, _je mehr_ Augen, verschiedne Augen wir
uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird
unser »Begriff« dieser Sache, unsre »Objektivität« sein. Den Willen
aber überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen,
gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt
_castriren_?... (Zur Genealogie der Moral III 12).

Hier ist der Punkt, an welchem Nietzsches Auffassung plötzlich von
seiner ehemaligen abweicht und ihn zu der entgegengesetzten führt.
Hat er früher davor gewarnt, irgend einem Affekt zu trauen, weil
derselbe doch nur das »Enkelkind« alter vergessener und wahrscheinlich
irrthümlicher Urtheilsschlüsse sei, so beruft er sich jetzt auf die
uralte Gefühlsgrundlage, der alle Urtheilsschlüsse entstammen, und
degradirt diese so zu unselbständigen, abhängigen »Enkelkindern« des
Gefühls. Für beide Auffassungen findet er die gesuchte Begründung
noch in der positivistischen Weltanschauung, aber was dort friedlich
neben einander besteht,--die Relativität des Denkens und diejenige
des Affektlebens,-- --das trennt sich für ihn in zwei unversöhnliche
Gegensätze: auf der einen Seite steht der bis auf die Spitze getriebene
Intellektualismus, dem er sich bis dahin hingegeben, und durch den
er alles Leben dem Denken, alles Gemüth dem Verstände unterthan
machen wollte,--auf der anderen Seite eine ebenfalls auf das Höchste
gesteigerte Gefühlsexaltation, die sich für ihre lange Unterdrückung
rächt und in ihrem Lebensüberschwang sich nur genug thun kann in einem
fanatischen: »fiat vita, pereat veritas!«

Darum heisst es weiter: »Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch
kein Einwand gegen ein Urtheil;-- --Die Frage ist, wie weit es
lebenfördernd, lebenerhaltend -- --ist;-- -- --Verzichtleisten auf
falsche Urtheile (wäre) ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung
des Lebens.« (Jenseits von Gut und Böse 4.) »Bei allem Werthe, der
dem Wahren, dem Wahrhaftigen,-- --zukommen mag: es wäre möglich,
dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, und der Begierde ein
für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben
werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass, _was_ den Werth
jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit
jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche
Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu
sein.« (Jenseits von Gut und Böse 2.) »-- -- --wir sind von Grund
aus, von Alters her--_ans Lügen gewöhnt_. Oder, um es tugendhafter
und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr
Künstler als man weiss.« (Ebendaselbst 192.) Und das Lebenerhaltendere
der Lüge ist es, das den Künstler hoch über den wissenschaftlichen
Menschen und dessen Wahrheitsforschung stellt. »--die Kunst, in der
gerade die Lüge sich heiligt, der Wille zur Täuschung das gute Gewissen
zur Seite hat,« (Zur Genealogie der Moral III 25), ist es auch, um
derentwillen jetzt plötzlich wieder die ehemals so geschmähten
Metaphysiker weit vornehmer und schätzenswerther erscheinen, als
die »Wirklichkeits-Philosophaster«, mit ihrer Genügsamkeit und
»Lappenhaftigkeit«. (Jenseits von Gut und Böse 10.)

An dieser erneuten Verherrlichung des Künstlerthums und selbst
der Metaphysik erkennt man, wie weit Nietzsche schon zu einem
neuen, entgegengesetzten Typus des Erkennenden durchgedrungen
ist, und wie weit er sich bereits von den positivistischen
»Wirklichkeits-Philosophastern« entfernt hat. Denn was diese als
eine unvermeidliche _Zugabe_ zum erkennenden Denken betrachten
und im Erkenntnissakt nach Möglichkeit zu _reduciren_ suchen: die
Abhängig-keitdes Denkens vom menschlichen Triebleben,--das gerade
bedarf, nach Nietzsche der höchstmöglichen Steigerung. Die Einsicht
in die Relativität alles Denkens, in die engen Grenzen, die der
Wahrheitserkenntniss gezogen sind, dien! ihm ausschliesslich zur
Proklamirung einer neuen Grenzenlosigkeit des Erkennens, die
demselben den absoluten Charakter wiedergeben soll. Weil Nietzsche
der absoluten Ideale bedurfte, um sie anbeten und an ihnen seine
Hingebung ausleben zu können, suchte er, sobald sein logisches
Wahrheitsideal allzu bescheiden zusammenschrumpfte, Abhilfe in
dessen Gegensatz, im Maasslosen des gesteigerten Affektlebens.
Ist er vorher davon ausgegangen, das Wahrheitsstreben von einer
letzten Illusion zu befreien, indem er es als relativ auffasste, so
öffnet er sich nun einen neuen Zugang zu neuen Illusionen: durch
Verlegung des Erkenntnissgebietes in das der Gefühlserregungen und
Willenseingebungen. Damit sind alle zurückhaltenden, einschränkenden
Dämme niedergerissen und rückhaltlos darf das Affektleben darüber
hinfluthen. Nirgends Gewissheit oder überall Gewissheit, das kommt
hier beinahe auf dasselbe hinaus; wo der Gedanke alle selbständigen
Erkenntnissrechte eingebüsst hat, da schweift er, als Spielzeug und
Werkzeug der ihn regierenden verborgenen Triebe bis in die fernsten
Fernen, bis in die tiefsten Tiefen. Ist Nietzsche ursprünglich aus
dem geheimnissvoll schimmernden Zaubergarten der Metaphysik in die
nüchterne Verstandeswelt empirischer Forschung eingetreten, so verliert
er sich jetzt in den Irrgarten einer Wildniss, die, ungelichtet
und undurchdringlich, diese Verstandeswelt umgiebt. Gerade der
Umstand, dass in ihr noch keine Wege gebahnt sind, dem Denken noch
keine Richtung gewiesen ist,--dass Alles in ihr noch herrenlos und
gesetzlos ist, und der Willensmachtspruch Raum hat für jegliches
Schaffen,--gerade dies Abenteuerlich-Gefährliche ist ihm Bürgschaft
für den richtigen Weg, denn es erscheint als die Richtung mitten ins
Innere des Lebens, mitten in seine Urkräfte hinein. »Räthsel-Trunkene,
Zwielicht-Frohe« nennt daher Zarathustra seine Jünger, »deren Seele mit
Flöten zu jedem Irr-Schlunde gelockt wird:--denn nicht wollt ihr mit
_feiger Hand einem Faden nachtasten_; und, wo ihr _errathen_ könnt, da
hasst ihr es, zu _erschliessen_.« (Also sprach Zarathustra III 6 f.)
»Auch im Erkennen fühle ich nur meines Willens Zunge und Werde-Lust
(Ebendaselbst II 8); »Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist!«
(Ebendaselbst I 43), denn das Leben spricht: »Auch du, Erkennender,
bist nur ein Pfad und Fusstapfen meines Willens: wahrlich, mein Wille
zur Macht wandelt auch auf den Füssen deines Willens zur Wahrheit!«
(Ebendaselbst II 50)

Nietzsche, der so lange Zeit hindurch, zur Beschwichtigung und
Zügelung seyier tieferregten Innerlichkeit und ihres Affektlebens,
eine kalte und nüchterne Denkweise benutzt hatte, erfuhr nun an sich
selber, was er früher einmal vorahnend und warnend, in »Menschliches,
Allzumenschliches (II 275), geschildert: »Hat man seinen Geist
verwendet, um über die Maasslosigkeit der Affekte Herr zu werden,
so geschieht es vielleicht mit dem leidigen Erfolge, dass man die
Maasslosigkeit auf den Geist überträgt und fürderhin im Denken und
Erkennenwollen ausschweift.[1] In einem solchen Verlangen wild
auszuschweifen, schafft er sich einen neuen Wahlspruch:»Nichts
ist wahr, Alles ist erlaubt!« (Zur Genealogie der Moral III. 24.)
und preist den Werth der Täuschung, der willkürlichen Fiktion, des
Unlogischen und »Unwahren«, als der im Grunde lebenfördernden,
willensteigernden Mächte. In der Vorstellung, dass ja in dem gesammten
Weltbilde, so wie wir es um uns aufgebaut haben, wir selbst als die
Schöpfer mit unserer psychischen Eigenart drinstecken, und dass unser
Erkennen letzten Endes doch nichts ist als eine »Anmenschlichung der
Dinge«, schwelgt er so lange, bis das Weltganze sich ihm zu einem
Traumbilde verflüchtigt, das sich der Einzelne willkürlich ersonnen
hat. »Warum dürfte die Welt, _die uns etwas angeht_--, nicht eine
Fiktion sein?« fragt er sich (Jenseits von Gut und Böse 34), mit dem
Hintergedanken: _und also durch einen Gewaltakt umzuschaffen sein_?

Hierauf bezieht sich ein kurzes interessantes Kapitel in der
»Götzen-Dämmerung« (IV), dessen Absicht aber nur im Zusammenhang mit
den übrigen zerstreuten Bemerkungen Nietzsches über diesen Gegenstand
ganz verständlich wird. Es ist überschrieben: »Wie die »wahre Welt«
endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums.« und enthält eine
Skizzirung des philosophischen Entwicklungsganges von den Alten bis zu
uns. Die alte Philosophie fasste schon, wenn auch erst in naiver Weise,
den Erkennenden und sein Weltbild, die Person und die Wahrheit, als
identisch; sie gipfelte in der Umschreibung des Satzes: »ich, Plato,
_bin_ die Wahrheit.« »Die wahre Welt«, im Gegensatz zur unwahren,
scheinbaren, in der die Unweisen leben, ist, »erreichbar für den
Weisen,--lebt in ihr, _er ist sie_.« Im Christenthum trennt sich die
Idee der »wahren Welt« fortschreitend von der Persönlichkeit, indem
sie sich entmenschlicht und sublimirt, als Zukunftsverheissung, als
Versprechen über den Menschen auffliegt. Endlich, durch eine Reihe
von metaphysischen Systemen hindurch, verblasst sie bei Kant zu einem
blossen Schatten, »unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar,«--bis sie
sich, mit der endgiltigen Abkehr von aller Metaphysik, völlig zu Nichts
verflüchtigt: »Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei
des Positivismus.« Damit steigt die bisher, als scheinbar und unwahr
gescholtene Welt im Preise, weil sie die einzig übrigbleibende ist:
»Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit;
Schamröthe Plato's; Teufelslärm aller freien Geister.« Aber mit der
Einsicht in die Entstehung der Fabel von der »wahren Welt« haben wir
zugleich die Entstehungsweise des Weltbildes unserer Erkenntniss
überhaupt eingesehen. Jetzt, wo der Glaube an eine mystische »wahre«
Welt hinter der scheinbaren, durch Täuschung und Irrthum entstandenen,
uns nicht mehr tröstet, was bleibt uns noch übrig? »Mit der wahren
Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft,« die ja nur als
deren Gegensatz möglich war. Wieder ist der Mensch auf sich selbst
zurückgeworfen als auf den _Selbstschöpfer aller Dinge_. Wieder ist die
alte Fassung: »Ich, Plato, bin die Welt,« möglich geworden und steht
als letzte Weisheit am Anfang aller Philosophie, nun aber nicht mehr in
der naiven, noch ungebrochenen Identificirung von Person und Wahrheit,
von Subjekt und Objekt, sondern als klar bewusste und gewollte
Schöpferthat Dessen, der sich selbst als den Weltenträger erkannt hat.
»Ich, Nietzsche-Zarathustra, bin die Welt, sie ist, weil ich bin,
sie ist, wie ich will.« Dieses Ergebniss wird nur angedeutet in den
geheimnissvollen Schlussworten: »_Mittag; Augenblick des kürzesten
Schattens; Ende des längsten Irrthums. Höhepunkt der Menschheit;
Incipit Zarathustra_.«

Hier lässt es sich schon deutlich verfolgen, wie sich neue und ins
Mystische überschlagende Gedanken Nietzsches mit Elementen mischen
und verknüpfen, die er noch der modernen Erkenntnisstheorie entnimmt.
Und damit ist bereits der Punkt erreicht, von dem aus sich seine
neue Lehre aufbaut, und bei dem es sich nicht mehr um eine blosse
Gefühlsübertreibung gewisser allgemeingiltiger Einsichten handelt. Denn
aus der Thatsache der Begrenztheit und Relativität alles menschlichen
Erkennens, und aus der der Priorität des menschlichen Trieblebens
gegenüber demselben formt sich ihm unvermerkt der neue Typus des
Philosophen: das überlebensgrosse Bild eines Einzelnen, dessen
Gewaltwille über wahr und unahr entscheidet, und in dessen Hand das
Verstandeserkennen der Menschen ein blosses Spielzeug ist. Man könnte
sagen: dasjenige, was den Geist zu strenger Selbstbescheidung zwingt,
was ihn von allen Seiten bedingt und beeinflusst, das personificirt
sich Nietzsche unter dem Bilde einer zügellosen Allmacht, die er
auf einen übermenschlichen Einzelnen überträgt. Ja, in ihm sollen
alle Triebe und Kräfte alles Menschenthums dermaassen entfesselt
und gesteigert gedacht werden, dass die Quintessenz des Lebens, der
Kraft-Extract des Ganzen, in ihm gleichsam Person geworden ist, sodass
er auch die Erkenntnissnormen umzuprägen und zu verrücken im Stande
wäre. Doch geschieht dies nicht in einem Act der Contemplation, sondern
in einer schöpferischen That, als Handlung und Befehl, der an die Welt
ergeht. »--_Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und
Gesetzgeber_: sie sagen »_so soll_ es sein!« sie bestimmen erst das
Wohin? und Wozu? des Menschen-- --,--sie greifen mit schöpferischer
Hand nach der Zukunft-- --. Ihr »Erkennen« ist _Schaffen_, ihr
Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist--_Wille zur
Macht_.« (Jenseits von Gut und Böse 211.) Ihre Philosophie »schafft
immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie
ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht,
zur »Schaffung der Welt«, zur causa prima« (Ebendaselbst 9). Die
»cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Cultur« (Ebendaselbst 207)
sind es, mit deren Erläuterung und Beschreibung sich Nietzsches ganze
Zukunftsphilosophie beschäftigt, ja, in deren Bilde ihr gesammter
Inhalt besteht. In seiner Erkenntnisstheorie wird ihnen nur der Boden
bereitet, in seiner Ethik und Aesthetik wachsen sie aus diesem Boden
immer höher hinauf in eine religiöse Mystik, in der Gott, Welt und
Mensch zu einem einzigen ungeheuren Ueberwesen verschmelzen.

Es ist leicht zu sehen, inwiefern sich Nietzsche mit dem Bilde dieses
Schöpfer-Philosophen seinen ehemaligen metaphysischen Anschauungen
nähert, wie er aber dieselben zugleich durch seine späteren
wissenschaftlichen Theorien zu modificiren sucht. Die »idealen«
Wahrheiten der Metaphysik mit ihren erhebenden und tröstenden Deutungen
des Welträthsels nimmt er nicht wieder auf, aber indem er überhaupt
mit der Möglichkeit einer »Wahrheit« aufräumt, indem er die Skepsis
in das Gebiet des Erkennens hineinträgt und sich auf den Standpunkt
»Alles ist unwahr« stellt, schafft er sich Raum, um einen _Ersatz_
für jene verlorenen idealen Wahrheiten und Trostgründe herzustellen.
Durch einen Machtspruch, durch einen Willensakt wird in die Dinge die
Bedeutung hineingelegt, die sie an sich selbst nicht haben; aus dem
Wahrheits-_Entdecker_, als welcher der Philosoph bisher galt, ist er
gewissermassen zum Wahrheits-_Erfinder_ geworden, zu einem Ȇberreichen
des Willens« (Jenseits von Gut und Böse 212), der zwar Unwahrheiten und
Täuschungen ausspricht, aber dessen schöpferischer Wille sie wahr, d.
h. zu überzeugenden Wirklichkeiten, zu machen weiss. »Wer seinen Willen
nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt wenigstens einen _Sinn_
noch hinein« (Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 18). Damit kehrt er
sich gegen die Metaphysiker, aber wie sie nimmt er sich das Recht zu
einer Umdeutung und Umschaffung der Dinge auf Grund der über die blosse
Verstandeskraft hinausgehenden Eingebungen des Gemüths.

In dieser persönlich gedachten Ueberlegenheit des Affektlebens über das
Verstandesleben, in welcher schliesslich der Wahrheitsgehalt einer
Erkenntniss als unwesentlich erachtet wird gegenüber ihrem Willens- und
Gefühlsgehalt, spiegelt sich rückhaltlos Nietzsches Geistesart, sein
innerstes Wesen und Sehnen wieder. Nach dem langen Zwang im Dienste des
strengen Wahrheitserkennens war dies eine Reaktion, deren Seligkeit
ihn in einen Taumel der Mystik hineinriss. Seine eigene Seele gibt
er jenem übermenschengrossen Schöpfer-Philosophen, in dem des Lebens
Fülle und Ueberfülle sich drängt und schöpferisch nach Entlastung
durch den Gedanken verlangt,--es ist der »tropische« Mensch, auf den
die Worte passen, die wir bereits im ersten Theile dieses Buches auf
Nietzsches tieferregtes Innenleben angewendet haben: »die umfänglichste
Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen
kann;-- -- --die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten
Kreise einholt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am süssesten
zuredet: die sich selber bebendste, in der alle Dinge ihr Strömen und
Wiederströmen und Ebbe und Fluth haben« (Also sprach Zarathustra III
82).

Aber noch weiter geht diese unwillkürliche und gewaltsame Reaktion
gegen die vorhergehende Geistesperiode, und geht die unbewusste
Selbstwiderspiegelung in den Theorien, bis hinein in das persönlichste
Empfinden Nietzsches. Denn in ihnen treffen wir auch auf jenen
unheimlichen Zug in Nietzsches Seelenleben, wonach er sich nur in
der Selbstopferung und Selbstvergewaltigung befriedigte und seiner
Exaltation genug that. Wie er sich zuvor zur Unterwerfung unter die
Forderungen eines strengen Intellektualismus gezwungen hatte, so zwingt
er jetzt umgekehrt den Verstand, den Trieb zu rein intellektuellem
Erkennen, unter den Machtwillen der Affekte. Hatte er zuvor seinen
seelischen Menschen vergewaltigt, so vergewaltigt er jetzt den
erkennenden Menschen in sich. Er ruht nicht eher, als bis der Triumph
des entfesselten Lebenswillens zu einer Selbstverhöhnung des Verstandes
wird: in unheimlicher Weise resultirt schliesslich die höchste
Erkenntniss aus einer Selbstpreisgebung alles logischen Erkennens,--der
Denker wird »heimlich durch seine Grausamkeit gelockt und vorwärts
gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der _gegen sich selbst_
gewendeten Grausamkeit«.--er muss als »Künstler und Verklärer der
Grausamkeit« walten (Jenseits von Gut und Böse 229). Der menschliche
Geist taucht zuletzt freiwillig hinab in seine Vernichtung, denn nur so
empfängt er die höchste Offenbarung,--er taucht hinab ins Grenzenlose,
Maasslose, das über ihm zusammenschlägt, denn nur so erfüllt er
sein Ziel. Wir werden in der ganzen letzten Philosophie Nietzsches,
in der Ethik wie in der Aesthetik, den durchgehenden Grundgedanken
wiederfinden: _dass der Untergang durch das Uebermass_ die Bedingung
einer höchsten Neuschöpfung sei, und daher mündet auch Nietzsches
Erkenntnisstheorie in eine Art schauerlich--persönlicher Mystik aus, in
der die Begriffe Wahn und Wahrheit unlöslich verkettet sind, und das
»Uebermenschliche« daher kommt als ein Blitz, der den Geist treffen und
tödten, als ein Wahnsinn, mit dem sein Wahrheitssinn geimpft werden
soll: »Wollte ich doch, sie hätten einen Wahnsinn, an dem sie zu Grunde
gingen!-- -- --Wahrlich ich wollte, ihr Wahnsinn hiesse Wahrheit!--
--Und des Geistes Glück ist diess: gesalbt zu sein und durch Thränen
geweiht zum Opferthier,--wusstet ihr das schon? Und die Blindheit des
Blinden und sein Suchen und Tappen soll noch von der Macht der Sonne
zeugen, in die er schaute,--wusstet ihr das schon?« (Also sprach
Zarathustra II 33).

Aber dieses letzte Mysterium kann uns, wie das ganze Bild des
Schöpfer-Philosophen überhaupt, nur fortschreitend, in der Ethik
und Aesthetik Nietzsches, völlig deutlich werden, indem es, von den
abstrakten Grundlinien aus, stets körperhaftere Züge gewinnt, bis es
endlich, als eine mystische Wesensverklärung Nietzsches selber, in
seiner persönlichen Einzelgestalt vor unseren Augen steht.

Dass erst die Ethik der Erkenntnisstheorie ihre rechte Erläuterung
und Begründung giebt, erhellt schon aus dem Charakter des Erkennenden
als des wahren Trägers des Lebenswillens,--des Erkennenden als des
Handelnden und Schaffenden. Es gilt daher im höchsten Grade von
Nietzsches Philosophie, was er von den Systemen der Philosophen
überhaupt aussagt: »dass die moralischen-- --Absichten-- --den
eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze
gewachsen ist« (Jenseits von Gut und Böse 6). Dieser enge Zusammenhang
des Philosophen mit dem Leben als solchem und mit dessen menschlichsten
und persönlichsten Zwecken soll ihn am entschiedensten von allen Denen
trennen, die das Leben anfeinden oder pessimistisch ansehen. Er soll
der geborene Lebens-Apologet sein und seine Philosophie eo ipso eine
Lebens-Apotheose, denn zu sich selbst kann das Leben nur immer wieder
»Ja« sagen. In Wirklichkeit jedoch ist fast immer das Gegentheil der
Fall gewesen (Götzen-Dämmerung II I). »Über das Leben haben zu allen
Zeiten die Weisesten gleich geurtheilt: _es taugt nichts_.... Immer und
überall hat man aus ihrem Munde denselben Klang gehört,--einen Klang
voll Zweifel, voll Schwermuth, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand
gegen das Leben.« War doch dieser geschwächte Lebenswille eine Folge
der Verfeinerung und Sublimirung ihres menschlich-thierischen Wesens,
der intellektuellen und beschaulichen Eigenart ihrer Natur,--war
es doch, nach Nietzsches ehemaliger Auffassung, gewissermaassen
zugleich ihr _Adelszeichen_, das sie von den geistig rohen Menschen,
vom _Pöbel_, unterschied und zu ihrer Führerrolle berechtigte. Hier
hat sich nun die Auffassung dahin verändert, dass nicht mehr auf
die Lebensdurchgeistigung, sondern auf die Lebensschwächung der
Nachdruck gelegt wird. Die Menschen des Geistes erscheinen nunmehr als
die Kranken und Entnervten, als die _Niedergangstypen_ eines jeden
Zeitalters. Der von Nietzsche so geliebte und verherrlichte Philosoph,
der bei den Griechen die Lehre von der Herrschaft der Vernunft über
die Naturinstinkte vertrat, Sokrates, wandelt sich ihm damit wieder
zu der gefährlichen und geschmähten Versucher-Gestalt, die er für
Nietzsche zur Zeit der Schopenhauerischen Periode war. Sokrates, der
Hässliche, Missgestaltete unter den vornehmen, wohlgebildeten Griechen,
trat unter ihnen auf als der erste grosse Decadent, er corrumpirte
und verschnitt den ursprünglichen hellenischen Lebensinstinkt, indem
er ihn der Vernunftlehre unterwarf (Vergleiche Götzen-Dämmerung II
»Das Problem des Sokrates«). Darin ist er das Urbild aller Denker,
die das Leben durch das Denken meistern wollen, aber wie sie Alle
beweist er damit Nichts gegen das Leben, sondern nur Etwas gegen das
Denken. Denn wenn auch bisher alle Philosophen zur Missachtung des
Daseins, zur Erschlaffung der lebenerhaltenden Instinkte beigetragen
haben, so spricht sich darin nicht eine Wahrheit hinsichtlich des also
geringgeschätzten Lebens aus, sondern nur der Widerspruch, in den sie
mit sich selber gerathen sind, als das charakteristische Symptom eines
Krankheitszustandes. Es lehrt nur, dass die Menschen des überwiegenden
Intellekts sich von der Lebensquelle, die auch ihrem Intellekt erst
Nahrung zuführt, abgekehrt haben, dass sie Abgelebte, Müde, Spätlinge
niedergehender Culturen sind, dass sie in sich nicht mehr die
sieghafte, heilende, umformende Kraft besitzen, welche über die Schäden
und Lücken des Daseins triumphirt und dasselbe zu höherer Entwicklung
weiterführt. Ihnen allen gilt daher die argwöhnische Frage: »Waren sie
vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest? spät? wackelig?
ddcadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden als Rabe, den
ein kleiner Geruch von Aas begeistert?...« (Götzen-Dämmerung II 1.)

Aber nicht nur ihnen gilt diese Frage, denn sie repräsentiren nur die
äusserste Spitze dessen, worin die ganze Entwicklung der Menschheit
gipfelt. Der stumpfen und dumpfen Einheitlichkeit seines ursprünglichen
Thierbewusstseins entrissen, ist der Mensch durch die Weiterbildung
seiner Geistesfähigkeiten in Zwiespalt mit dem Naturgrund gerathen,
in dem seine Kraft wurzelt. Er ist damit zu einer Halbheit, zu
einem Zwitterding geworden, das ersichtlich seine Erklärung und
Daseinsberechtigung nicht aus sich selber schöpfen kann,--? er ist
der verkörperte Uebergang zu Etwas, das noch nicht entdeckt, noch
nicht geschaffen ist, und als ein solcher Uebergang ist der Mensch das
krankhafteste,--»das noch nicht _festgestellte_ Thier.« (Jenseits von
Gut und Böse 62). So haftet der Decadenz-Charakter dem Menschenthum als
solchem an und nicht nur einer einzelnen Form, einem einzelnen Gebiet
desselben.

Wir finden demnach die ersten Anfänge der Decadenz, des Niederganges
ungebrochenen Lebens, schon im Entstehen aller Cultur,--da wo sich die
wilde Bestie Mensch, das »menschliche Raubthier«, durch den ersten
socialen Zwang in seiner ungezügelten Freiheit beengt fühlt. »Jene
furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen
die alten Instinkte der Freiheit schützte-- -- --brachten zu Wege,
dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich
rückwärts, sich _gegen den Menschen selbst_ wandten.« »Alle Instinkte,
welche sich nicht nach Aussen entladen, _wenden sich nach Innen_--
ist das, was ich die _Verinnerlichung_ des Menschen nenne: damit
wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine »Seele«
nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei
Häute eingespannt, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung
des Menschen _nach Aussen_ gehemmt worden ist.« »Der Mensch, der
sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in
eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst
zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den
Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier,-- -- --. Mit
ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von
welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des
Menschen--_an sich_: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von
der thierischen Vergangenheit, einer Kriegserklärung gegen die alten
Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit
beruhte.« (Zur Genealogie der Moral II 16.)

Wenn dementsprechend die Krankhaftigkeit des Menschen gewissermaassen
sein Normalzustand, seine specifisch menschliche Natur selbst ist,
und die Begriffe Erkrankung und Entwicklung als nahezu identisch
gefasst werden, so müssen wir natürlich auch am _Ausgang_ einer
langen culturellen Entwicklung wieder der nämlichen Decadenz als
Resultat begegnen. Sie hat nur das Aussehen verändert. Es sind die
Zeiten langer friedlicher Gewöhnung, in denen sie in ihrer neuen Form
auftritt, Zeiten, in denen das strenge Zusammenhalten, die harte Zucht
und Unterordnung der Einzelnen nicht mehr als nothwendig erscheinen,
sondern die Mittel zu einer sorgloseren und volleren Selbstauslebung
reichlich vorhanden sind. Die starre Gleichförmigkeit, zu der durch
eine Jahrhunderte währende Schulung Alle herangezüchtet worden sind,
beginnt sich aufzulösen und dem Spiel des Individuellen Platz zu
machen. »Die Variation, sei es als Abartung (in's Höhere, Feinere,
Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität, ist plötzlich in der
grössten Fülle und Pracht auf dem Schauplatz, der Einzelne wagt einzeln
zu sein und sich abzuheben.« »Lauter neue Wozu's, lauter neue Womit's,
keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und Missachtung mit
einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden
schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des
Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnissvolles Zugleich von
Frühling und Herbst.« (Jenseits von Gut und Böse 262.)

Wenn in der zuerst geschilderten ursprünglichen Decadenzform die
Leidenschaften des Menschen sich gegen ihn selbst wenden, ihn bedrohen
und zerfleischen, weil er sich nicht nach Aussen hin entladen, nicht
wehren kann,--so gerathen sie jetzt aus dem entgegengesetzten Grunde
in einen gleichen Innenkrieg miteinander, weil keine Verhältnisse
mehr vorhanden sind, gegen die der Mensch sich zu wehren hätte,
nichts, was seine Kriegskraft nach Aussen hin abzuziehen vermöchte.
Im zahmen Frieden des geordneten Lebens hat der inzwischen so stark
verinnerlichte Mensch nur noch sich selbst zum Kampfplatz seiner
ungeberdigen Triebe. Sobald diese sich zu regen anfangen, beginnt er
wiederum, an sich zu leiden, »Dank den wild gegeneinander gewendeten,
gleichsam explodirenden Egoismen«, die sein überaus complicirt
gewordenes Wesen in sich begreift, und durch die es allmälig alle
Geschlossenheit der Persönlichkeit wieder einbüsst. In diesem Stadium
bildet der Mensch das Endglied einer einzigen ungeheuer langen
Entwicklungskette, deren einzelne Ringe ihm alle einverleibt sind,
als die Summe der gesammten allmälig angezüchteten intellektuellen,
moralischen und socialen »Menschlichkeit« nebst sämmtlichen nur allzu
lebendigen Instinkterinnerungen an die zurückliegende Thierheit.

Aber wenn diese beiden Formen der Decadenz mit Nothwendigkeit der
menschlichen Natur entspringen und unumgängliche Durchgangsphasen für
deren Weiterbildung zu etwas Höherem sind, so gibt es daneben noch eine
dritte Art der Decadenz, welche die geschilderten Krankheitszustände
unheilbar zu machen und die Möglichkeit einer Wiedergenesung zu
verhindern droht. Das ist die falsche Weltdeutung, die unrichtige
Lebensauffassung, die durch jenes Leiden und jene Krankheit gezeitigt
wird. Es ist die Aufforderung zur Askese in gleichviel welcher Form,
zur Abkehr vom Leben und seinen Schmerzen, zur Hingebung an die
Müdigkeit, die als Folge des immerwährenden »Krieges der man ist«
auftritt. Ein solches asketisches Ideal predigen nicht nur alle
Religionen und Moralen, sondern auch jeder Intellektualismus, der das
Denken auf Kosten des Lebens unterstützt und das Ideal der »Wahrheit«
dem Ideal einer möglichsten Lebenssteigerung entgegensetzt. Das wahre
Heilmittel für diese um sich greifende Corruption bestände gerade in
der vollen Hinwendung zum Leben, damit aus dem chaotischen Reichthum
durcheinander ringender Gegensätze eine neue höhere Gesundheit geboren
werde.

»Man ist nur _fruchtbar_ um den Preis, an Gegensätzen reich zu
sein (Götzen-Dämmerung V 3), vorausgesetzt, dass noch genügende
Kraft da ist, sie zu tragen, sie zu _ertragen_. Dann ist scheinbare
Auflösung und Decadenz, dann ist alle sogenannte Corruption »nur
ein Schimpfname für die Herbstzeiten«,--d. h. für die Zeiten der
abfallenden Blätter, aber auch der reifenden Früchte. Insofern kann
Decadenz und Fortschritt ein und dasselbe bedeuten: den Fortschritt dem
nothwendigen Ende zu,--»Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen
_Schritt für Schritt weiter in der décadence_.-- -- --Man kann diese
Entwicklung _hemmen_ und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen,
aufsammeln, vehementer und _plötzlicher_ machen: mehr kann man nicht.«
(Götzen-Dämmerung IX 43.) Ein solches Ende, eine solche tragische
Verknüpfung von vorwärts und niederwärts wird dadurch erklärt, dass der
Mensch nicht in sich selbst seine Erfüllung findet, sondern über sich
selbst hinaus drängt nach etwas Höherem, als er ist. Es ist »mit der
Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, -- --Thierseele auf Erden
etwas so Neues, Tiefes,-- --Widerspruchsvolles und _Zukunftsvolles_
gegeben«,--dass daraus die Zuversicht auf eine mögliche, neue Über-Art
des Menschlichen geschöpft werden kann. Es ist, als ob sich damit
»Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel,
sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses
Versprechen sei.« (Zur Genealogie der Moral II 16.) »Der Mensch ist ein
Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch,--ein Seil über einem
Abgrunde.-- --Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke
und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass
er ein _Übergang_ und ein _Untergang_ ist.« (Also sprach Zarathustra
I 12.) Die Decadenzerscheinungen können daher der Menschheit zu
Zeiten des hereinbrechenden Unterganges und der sich ankündigenden
Neugeburt ebenso wenig erspart bleiben als »einem schwangeren Weibe die
Widerlichkeiten und Wunderlichkeiten der Schwangerschaft: »-- -- --als
welche man vergessen muss, um sich des Kindes zu freuen.«

Die Einsicht in die durchgängige »Allzumenschlichkeit« der Triebe,
die Nietzsche früher so stark betont hatte, wird hier also nicht
aufgegeben, sondern noch möglichst _verschärft_ und zum Ausgangspunkt
seiner neuen Menschheitstheorie genommen. Aus einer verstandeskalten
Einsicht hat sie sich ihm zu einem _Gemüthsaffekt_ gesteigert, und
als solcher gewinnt sie eine so ungeheure Bedeutung, dass sie alle
seine Seelen- und Gedankenkräfte aufwühlt, bis ihm in Zorn, Gram
und Entsetzen neue »Flügel und quellenahnende Kräfte« (Also sprach
Zarathustra III 77) wachsen, mit denen er sich über sie erhebt.
Aus dem _Accent_, den er auf seine ehemalige Einsicht legt, aus
den äussersten Consequenzen, die er aus ihr zieht, quillt ihm die
übermächtige Sehnsucht nach seiner neuen Theorie, nach dem Gedanken
einer Selbstopferung des Allzumenschlichen für das Uebermenschliche.

Wie sich in dem erkenntnisstheoretischen Theile von Nietzsches
neuer Lehre die Abhängigkeit des Logischen vom Seelischen, des
Gedankenlebens vom Gemüthsleben wiederspiegelt, so tritt uns in jenem
Menschheitsbilde einer leidenden Ueberfülle zum Zweck einer Neugeburt
die Erklärung seines eigenen Wesens entgegen: die Selbstopferung
durcheinanderringender Triebe zur Entbindung höchster Schaffenskraft.
Aus dem tiefen, ihm stets gegenwärtigen Gefühl eigener Krankhaftigkeit,
eigenen Leidens ist seine Decadenzlehre hervorgegangen. Auch von ihr
gilt, was von allen Theorien seiner letzten Philosophie gilt: die
schmerzlichen psychischen Vorgänge, die bei ihm bisher die _Ursache_
und _Begleiterscheinung_ der verschiedenen Erkenntnissprocesse waren,
werden nunmehr zum _Erkenntniss_-inhalt selbst.

Der Gedanke einer überreich gewordenen, sich opfernden Menschheit
ist es denn auch, von dem aus Nietzsche, zurückblickend, den ganzen
Gang der Menschheits-Entwicklung begreift. Um desswillen allein war
jene lange und peinvolle Zähmung ursprünglicher Thierwildheit nöthig,
obgleich sie den Menschen zum Decadenten heranzüchtet, und er ihr
schliesslich doch wieder entwächst. Ihr Sinn ist es gewesen, ihn mit
der ganzen Fülle seiner Innerlichkeit zu bereichern und ihn dann
zum Herrn dieses Reichthums und seiner selbst zu machen. Das konnte
nur durch einen langen harten Zwang geschehen, in dem sein Wille,
als, der eines noch Unmündigen, gleichsam unter Schlägen und Strafen
zur Mündigkeit erzogen wurde. So lernte der Mensch einen _längeren_
und _tieferen_ Willen haben, als das vergessliche, vom Augenblick
beherrschte, dem Augenblicksimpulse unterworfene Thier. Er lernte für
sein Wollen einstehen--er wurde »das Thier, das _versprechen darf_«.
Alle Menschheitserziehung ist im Grunde eine Art von _Mnemotechnik_:
sie löst das Problem, wie dem unberechenbaren Willen ein _Gedächtniss
einzuverleiben_ sei. »Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also
auch zu sich _Ja sagen dürfen_--das ist--- eine _späte_ Frucht:--wie
lange musste diese Frucht herb und sauer am Baume hängen! Stellen wir
uns--ans Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich
seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte
endlich zu Tage bringt, _wozu_ sie nur das Mittel war: so finden wir
als reifste Frucht-- --das souveraine _Individuum_, das nur sich
selbst gleiche,-- --, kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen
Willens, der _versprechen darf_.« (Zur Genealogie der Moral II I ff.)
Dieser Selbstgewissheit des freigewordenen, herrgewordenen Individuums
entspricht eine neue Art von _Gewissen_, nachdem der Mensch den Moral
Vorstellungen und Idealbegriffen des Herkommens--seinen strengen,
nunmehr überflüssig gewordenen Erziehern--entwachsen ist, und damit das
alte Gewissen seine Wurzel und Berechtigung in ihm verloren hat.

Auch die Willenstheorie Nietzsches weist eine Verschmelzung seiner
ehemaligen metaphysischen Anschauungen mit einem wissenschaftlichen
Determinismus auf. Als Jünger Schopenhauers unterschied Nietzsche
gleich diesem zwischen dem mysteriösen Willen »an sich«, der die
Grundlage der Schopenhauerischen Metaphysik ausmacht, und dem Willen,
wie er für unsere menschliche Wahrnehmung in die Erscheinung tritt.
Er nannte ihn also frei, insofern die letzten Gründe seines Seins und
Wesens jenseits unserer gesammten Erfahrungswelt liegen, jenseits
des für diese geltenden Causalitätsgesetzes; unfrei, insofern die
einzelne Willenserscheinung uns nur wahrnehmbar wird innerhalb des
unzerreissbaren Netzes des allgemeinen Causalzusammenhangs. Nachdem
Nietzsche dann mehrere Jahre einem consequenten Determinismus
gehuldigt hatte, hält er auch jetzt noch an der Ansicht fest, dass der
»Wille« sich am Gängelbande der ihn bestimmenden Einflüsse sozusagen
erst seinen Namen verdiene. Aber was er als Determinist hinsichtlich
der mysteriösen _Herkunft_ und Abstammung des Willens leugnet, das
versucht er dafür an das _Ziel_ und _Ende_ der Willensentwicklung
zu stellen. Ist nämlich in Folge der von ihm geschilderten
langen Willenszüchtung durch Zwang und äussere Beeinflussung ein
reifer, selbstgewisser, dem Augenblick entwachsener und das Leben
beherrschender Wille allmählich _geschaffen worden_, so ist er damit
in einem Sinne frei geworden, dem gegenüber die Deterministen Unrecht
bekommen: denn nun lassen sich seine Handlungen nicht länger aus
einer bestimmten Zeit und Umgebung ableiten, nun wird er durch nichts
mehr als durch sich selbst, d. h. durch seine _gewaltig angewachsene
und rücksichtslos explodirende Stärke_ bestimmt,--er ist reines, von
der Zeit gelöstes Machtbewusstsein. Allerdings ist dieses sein Wesen
nicht mehr _metaphysischer_ Natur, denn es ist geworden, es ist das
_Resultat_ einer Entwicklungsreihe, und die erreichte Freiheit des
Willens ist die Tochter der Nothwendigkeit und strengsten Bedingtheit
des Willens. Aber es ist dennoch etwas Mystisches um diese Freiheit,
denn sie wendet sich nunmehr als eine _unbedingte_ Macht umgestaltend
und umschaffend _gegen_ eben die natürlichen Bedingungen, denen
sie entsprungen. Die Welt der Wirklichkeit in ihrer uns allein
zugänglichen und begreiflichen Entwicklung hatte Nietzsche in
seiner positivistischen Zeit als das Werthvollste schätzen gelernt,
indem er sich gegen die andersgesinnten Metaphysiker mit dem Wort
kehrte: »Alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles Werdende
unterschätzt,« (Menschliches, Allzumenschliches I 162)--blos weil man
die Entstehungsursachen des ersteren nicht mehr nachprüfen, nicht
mehr durchschauen kann. Nun gelangt er zu dem gleichen Anstaunen
des Fertiggewordenen und scheinbar Vollkommenen; und alles Werdende
erscheint ihm nur noch schätzenswerth, insofern es der Weg dazu ist.
Die Bedingtheit aller Dinge wird von ihm auch jetzt zugestanden,
aber nur, weil aus ihr heraus irgend wann einmal eine über alle
Bedingtheit und Erfahrung hinausgehende mystische Bedeutsamkeit aller
Dinge sich offenbaren soll. Von der Machtstärke des freigewordenen
Willens hängt diese Bedeutsamkeit ab, denn von ihm wird sie in die
Dinge hineinerschaffen; darum will Nietzsche an Stelle des »freien«
und »unfreien« Willens der Deterministen den Ausdruck »_starker_
und _schwacher_ Wille« gesetzt sehen (Jenseits von Gut und Böse 21)
und die gesammte Psychologie aufgefasst wissen als »Morphologie und
_Entwicklungslehre des Willens zur Macht_«. (Ebendas. 23.)

Der Willensmächtige ist also jederzeit der im höchsten Grade
»Unzeitgemässe«, er ist Derjenige, in dem _Genie_ geworden ist, was
sich durch lange Zeit hindurch in der Menschheit vorbereitet hat.
Im Genie strömt frei aus, was von der Menschheit in Unfreiheit und
Knechtschaft erlernt wurde. Genies sind wie »Explosivstoffe, in denen
eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer,
historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt,
gehäuft, gespart und bewahrt worden ist,-- -- --die Zeit, in der sie
erscheinen, ist zufällig; dass sie fast immer über dieselbe Herr
werden, liegt nur darin, dass sie stärker, dass sie _älter_ sind, dass
länger auf sie hin gesammelt worden ist;-- -- --die Zeit ist relativ
immer viel jünger, dünner, unmündiger, unsicherer, kindischer.«-- --
--»Der grosse Mensch ist ein Ende;-- -- --Das Genie--in Werk, in That--
ist nothwendig ein Verschwender: _dass es sich ausgiebt_, ist seine
Grösse.... Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt;
der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede
solche Obhut und Vorsicht.« (Götzen-Dämmerung IX 44.)

Im Genie tritt also, wenigstens nach einer bestimmten Richtung, in
ausserordentlichem Grade das zu Tage was den Menschen befähigen
soll, von seiner Art zu einer Ueber-Art fortzuschreiten, eine
Selbstvergeudung zu Gunsten einer Neuschöpfung, ein verschwenderischer
Reichthum, in dessen Gaben sich die ganze Vergangenheit abgelagert
hat, und in dem sie zugleich ganz und gar Fruchtbarkeit geworden
ist,--Zukunftsbefruchtung. Denke man sich nun ein Genie, das
nicht, gleich anderen Genies, seine Genialität nur auf einem
oder einigen Gebieten besitzt, sondern in Bezug auf das gesammte
Menschheitsbewusstsein,--so etwa, dass in ihm wirksam und lebendig
ausströmt, was je in demselben gelebt und gewirkt: ein solches Genie
wäre das Bild des Menschen, aus dem der Uebermensch geboren wird. Es
würde in sich die ganze Vergangenheit überschauen und zusammenfassen,
ja, es enthielte in sich »die ganze Linie Mensch, bis zu ihm selbst
hin noch«, und deshalb müsste sich in ihm plötzlich Weg und Ziel der
Menschheitszukunft offenbaren. Zum ersten Mal erhielte durch den
Machtwillen eines solchen Offenbarers die Menschheitsentwicklung
Richtung, Ziel und Zukunft, alle Dinge eine innere und endgiltige
Bedeutsamkeit:--mit einem Wort, zum ersten Mal erstände der
Philosoph als der Schaffende, wie Nietzsche ihn sich denkt: als
der Willensmächtige, der Menschheitsgenius, der das Leben in sich
Begreifende, an dem offenbar wird, was Nietzsche vom Denken überhaupt
sagt: es sei »in der That viel weniger ein Entdecken, als ein
Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen
uralten Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals
herausgewachsen sind:--Philosophien ist insofern eine Art von Atavismus
höchsten Ranges.« (Jenseits von Gut und Böse 20.) Alles Höchste eine
Art von Atavismus,--darin liegt der wunderlich _reaktionäre_ Charakter
der ganzen letzten Philosophie Nietzsches, der sie am schärfsten von
der seiner vorhergehenden Periode unterscheidet. Es ist ein Versuch,
an Stelle der metaphysischen Verherrlichung bestimmter Dinge und
Begriffe die ihres Alters und ihrer weit zurückliegenden Herkunft
zu setzen. Er nimmt das »Wiedererinnern« und »Wiedererkennen« nur
deshalb nicht im Sinne Platos, weil er meint, es durch die ungeheuer
lange Zeitstrecke des Bestehens alles Denkens ebenso bedeutsam und
übermenschlich fassen zu können. Deshalb gilt ihm, dass von allem
Hochgearteten nur das Aelteste das Zukunftbestimmende sei,[2] dass
Werth und Vornehmheit der Dinge ausschliesslich an das Alter gebunden
seien: erst am Ende angelangt, weisen sie ihren Schatz auf, weisen sie
sich als Macht, Freiheit und unabhängig gewordene Kraft aus. »Wer (die
guten Dinge) _hat_, ist ein Andrer, als wer sie erwirbt. Alles Gute
ist Erbschaft: was nicht ererbt ist, ist unvollkommen, ist Anfang ...
« (Götzen-Dämmerung IX 47), vornehm ist: »was sich nicht improvisiren
lässt.« Nichts ist mithin pöbelhafter, unvornehmer, als das Werdende
und der Bringer des Werdenden und Neuen: der moderne Mensch und der
moderne Geist, der von seiner Zeit ganz und gar bedingt und daher ganz
und gar Sklavengeist ist. Herrengeist kann er erst werden, nachdem ihm
Jahrhunderte und Jahrtausende einverleibt sind, und er dadurch selbst
ein »Unzeitgemässer«, »zeitlose Genialität« geworden ist.

»Demokratismus war jeder Zeit die Niedergangs-Form der organisirenden
Kraft:-- -- --Damit es Institutionen giebt, muss es-- --Wille,
Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen
zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte
hinaus, zur _Solidarität_ von Geschlechter-Ketten vorwärts und
rückwärts in infinitum.« (Götzen-Dämmerung IX 39.) Es ist interessant,
durch Vergleichung der entsprechenden Stellen in Nietzsches
vorhergehenden Werken zu sehen, welche Wandlung in der Auffassung einer
Theorie der blosse Gefühlsumschlag bei ihm hervorzurufen vermag, und
wie unversöhnlich sich dadurch die Gegensätze sofort zuspitzen. Jetzt
geisselt er die »pöbelhafte[3] Gleichmacherei« aller Menschen und
die zahmen Friedenszustände, in denen keine rohen Barbarengewalten
mehr aufkommen können, welche die gesunde Kraft alter Zeiten in die
ermattete und entkräftete Gegenwart hinübertragen würden. Barbaren
sind »die _ganzeren_ Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit
bedeutet, als »die ganzeren Bestien«--).« (Jenseits von Gut und Böse
257.) Diese ganzeren Menschen und ganzeren Bestien erscheinen in einem
solchen Gesellschaftszustand als böse und gefährlich, sie werden zu
Verbrechern gestempelt und demgemäss behandelt,-- ja, sie _sind_ kraft
ihrer stärkeren Naturtriebe die geborenen Verbrecher und Biecher der
bestehenden Ordnung. »Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des
starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen,-- -- --Ihm fehlt die
Wildniss, eine gewisse freiere und gefährlichere Natur und Daseinsform,
in der Alles, was Waffe und Wehr im Instinkt des starken Menschen ist,
_zu Recht besteht_. Seine _Tugenden_ sind von der Gesellschaft in Bann
gethan.« (Götzen-Dämmerung IX 45.) Das Freiheitsideal, wonach einem
_Jeden_ eine gewisse Freiheit zukommt, das also auch den Schwächsten
und Geringsten zur Freiheit der Bewegung gelangen lässt, steht dem
seinen gerade entgegen: seine rücksichtslose Auslebung fordert immer
die Vergewaltigung Anderer, seine Stärke äussert sich unwillkürlich
und nothwendig in einem Zertreten jeder ihn umgebenden Schwäche. Der
Grund aber dieser in ihm ausbrechenden Stärke der Instinkte ist, dass
er sozusagen von einer älteren Kultur-stufe herkommt, ein älteres
Stück Menschenthum darstellt: dass er, mit einem Wort, gleich dem
Willensmächtigen und dem Genie, im höchsten Grade atavistisch veranlagt
ist. Mag diese ihm von Alters her innewohnende Instinktmacht an sich
noch so unedler Natur sein, edel ist sie schon dadurch, dass sie einen
Durchbruch lang angesammelter Fülle, einen starken Explosivstoff
darstellt, mit welchem die Vergangenheit die Zukunft befruchtet. Wo der
Verbrecher sehr stark, wo er also zugleich ein Genie seiner Art und
ein »Willensfreier« ist, da gelingt es ihm manchmal, die herrschende
Zeitrichtung seiner atavistischen Sonderart entsprechend zu leiten und
das ihm widerstrebende Zeitalter unter seinen Tyrannenwillen zu beugen.
Ein Beispiel hierfür ist Napoleon, den Nietzsche ähnlich auffasst wie
Taine. Auch ihm erscheint es von der grössten Bedeutsamkeit, dass
Napoleon ein Nachkomme der Tyrannen-Genies der Renaissance-Zeit ist,
der, nach Corsica verpflanzt, in der Wildheit und Ursprünglichkeit der
dortigen Sitten das Erbe seiner Vorfahren unangetastet in sich bewahren
konnte, um endlich mit der Gewalt desselben das moderne Europa zu
unterjochen, das ihm einen ganz anderen Spielraum der Kraftentladung
bot, als einst Italien seinen Ahnen geboten hatte. Nietzsches
Bewunderung für den grossen Corsen gehört seiner letzten Geistesperiode
an, wie er auch die italienische Renaissance früher wesentlich anders
auffasste.[4]

In der Urgesundheit seiner gewaltthätigen Instinktkraft und seines
rückhaltlosen Egoismus wurde Napoleon nun für Nietzsche das Idealbild
der geborenen Herrennatur, wie sie sein soll, und wie wir sie auch
heute noch brauchen, um Alles auszurotten, was durch die Sklavennatur
der modernen Menschen an moralischen Rücksichten und weichlichen
Regungen grossgezogen worden ist. Wir kommen damit zu Nietzsches
viel besprochener und vielfach überschätzter Unterscheidung zwischen
Herren-Moral und Sklaven-Moral. Anfangs ging Nietzsche auch hier von
positivistischen Anregungen aus. Wie schon erwähnt, gab Rées damals im
Werden begriffenes Werk »Die Entstehung des Gewissens« den Anlass,
mit dem Freunde das ganze Material, dessen dieser für seine eigenen
Zwecke bedurfte, durchzusprechen,--namentlich auch den etymologischen
und historischen Zusammenhang der Begriffe vornehm-stark-gut,
niedrig-schwach-schlecht in der ältesten Moral oder auf der sozusagen
vormoralischen Culturstufe. Die Art, wie diese Gespräche und
gemeinsamen Studien noch einmal von den beiden Freunden aufgenommen
wurden, war charakteristisch für die Beziehung, in der Nietzsche auch
jetzt noch zu den positivistischen Anschauungen stand: er hörte den
Gedanken derselben noch einmal geduldig zu, entnahm ihnen hie und da
die Anregung oder das Material zu eigenem Denken, wandte sich aber
hierbei bereits feindlich gegen seine ehemaligen Genossen.

In Rées Werk wurde die historische Verschiebung des Urtheils zu Gunsten
aller wohlwollenden, gleichmachenden Regungen als ein natürlicher
und allmählicher Uebergang zu höher entwickelten Gesellschaftsformen
aufgefasst: die anfängliche Verherrlichung der raubthierhaften Kraft
und Selbstsucht weicht immer mehr der Einführung milderer Sitten und
Gesetze, bis endlich in der christlichen Moral das Mitleid und die
Nächstenliebe als höchstes Gebot religiös sanktionirt erscheint.
In seiner persönlichen Abschätzung des moralischen Phänomens war
Rée indessen weit davon entfernt, sich auf die Seite der englischen
Utilitarier zu stellen, denen er in seinen wissenschaftlichen
Anschauungen sonst am nächsten kommt. Für Nietzsche hingegen spitzte
sich, in Folge seiner veränderten persönlichen Auffassung des
Moralischen, der geschichtlich gegebene Unterschied zwischen den beiden
verschiedenen Verthbestimmungen dessen, was »gut« heisst, zu zwei
unversöhnlichen Gegensätzen zu: zu einem Kampf zwischen Herren-Moral
und Sklaven-Moral, der ungeschlichtet bis in unsere Tage hineinreicht.
Die ungemein grosse Bedeutung, die alles Willensmächtige und
Instinktstarke für ihn gewonnen hatte, verleitete ihn, darin die einzig
mögliche Quelle aller gesunden Moral zu erblicken, in der Sanktionirung
wohlwollender Regungen hingegen ein tödtliches Uebel, an dem die ganze
Menschheit bis heute kranke. Seine bisherige Zurückführung aller
moralischen Werthurtheile auf den Nutzen, die Gewohnheit und das
Vergessen der ursprünglichen Nützlichkeitsgründe erschien ihm nunmehr
als unrichtig: eine solche Entstehung konnte sich höchstens für die
Sklaven-Moral schicken, für die andere musste ein vornehmerer Ursprung
gefunden werden. Denn vornehm ist es, ein Ding ohne Rücksicht auf den
Nutzen gut oder schlecht zu nennen, und so verfährt die Herrennatur:
sie empfindet sich selbst in ihrem Wesen und allen ihren Regungen
als »gut« und sieht auf Alles, was diesen nicht entspricht, also
auf alles Schwache, Abhängige, Furchtsame, mit unwillkürlicher und
halb unbewusster Geringschätzung als auf das »Schlechte« herab. Ganz
anders entsteht die Sklaven-Moral dieser Geringgeschätzten, dieser
»Schlechten«: sie entsteht nicht spontan und von sich selbst aus,
sondern auf dem Boden des Ressentiment als eine Art Racheakt: sie nennt
alles »böse«, hassenswerth, was den herrschenden Ständen angehört, und
erst von da aus erfindet sie, als etwas Abgeleitetes, _ihren_ Begriff
»gut« für sämmtliche jenen _entgegengesetzte_ Eigenschaften,--also für
das Schwache, Unterdrückte, Leidende. Auf der einen Seite steht mithin
das »unschuldbewusste Raubthier«, das starke, »frohlockende Ungeheuer«,
das sogar die schlimmsten Thaten, wenn es sie selbst begeht, mit einem
»Übermuthe und seelischen Gleichgewichte« vollbringt, wie »einen
Studentenstreich« (Zur Genealogie der Moral I 11), auf der anderen
Seite der Unterdrückte, Hassgeübte, dessen Seele ohnmächtig nach
Rache dürstet, während er die Moral des Mitleids und der erbarmenden
Nächstenliebe zu predigen scheint. Zu einem vollkommenen Idealbild
ist dieser letztere Typus im Christenthum ausgearbeitet worden, das
Nietzsche ohne Weiteres als einen ungeheuren Racheakt des Judenthums
an der selbstherrlichen antiken Welt auffasst. Dass die Juden den
Stifter des Christenthums gekreuzigt und seine Religion verleugnet
haben, soll die eigentliche Feinheit dieses Racheplanes gewesen sein,
damit die anderen Völker unbedenklich »an diesem Köder anbeissen«.[5]
Es ist aber nicht nothwendig, Nietzsche in allen seinen Erklärungen
und seiner bisweilen gewagten Geschichts-Interpretation nachzugehen,
weil die eigentliche _Bedeutsamkeit_ dieser Anschauung für seine
Philosophie an anderer Stelle liegt, als wo man sie gemeinhin sucht.
Im Bedürfniss, Alles möglichst zu verallgemeinern und wissenschaftlich
zu begründen, hat Nietzsche versucht, Etwas, dessen Bedeutung für
ihn innerhalb eines verborgenen seelischen Problems lag, aus der
Menschheitsgeschichte zu entwickeln und in sie hineinzulegen. Deshalb
ist es zu bedauern, wenn das Eigenartige in Nietzsches Gedankengang
verwischt wird, indem man daran die falsche Seite über Gebühr betont:
die der Wissenschaftlichkeit. Auch von diesen Hypothesen Nietzsches
gilt es, und ganz besonders von diesen, dass man sie nicht theoretisch
nehmen darf, um den originellen Kern aus ihnen herauszuschälen. Nicht
was die Seelengeschichte der Menschheit sei, sondern wie seine eigene
Seelengeschichte als diejenige der ganzen Menschheit aufzufassen
sei, das war für ihn die Grundfrage. Im schärfsten Gegensatz zu der
philologischen Genauigkeit, mit der er anfänglich und im Wesentlichen
auch in der vorhergehenden Periode Geschichte und Philosophie
interpretirt hatte, spielt jetzt die exakte wissenschaftliche Forschung
keine Rolle mehr neben seinen genialen Einfällen und Ideen,--und
sie konnte auch keine mehr spielen, weil Nietzsche verhindert war,
wissenschaftlich zu arbeiten.

Von allen Studien, die er jetzt noch streifen mochte, gelten daher
seine Worte aus der »Fröhlichen Wissenschaft« (166)--dass wir »_Immer
in unserer Gesellschaft« bleiben_, auch wo wir wähnen, Fremdes
aufzunehmen: »Alles, was meiner Art ist, in Natur und Geschichte, redet
zu mir, lobt mich, treibt mich vorwärts, tröstet mich--: das Andere
höre ich nicht oder vergesse es gleich.« »_Grenze unseres Hörsinns_:
Man hört nur die Fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort
zu finden.« (Ebendaselbst 196.) »Wie gross auch die Habsucht meiner
Erkenntniss ist: ich kann aus den Dingen nichts Anderes herausnehmen,
als was mir schon gehört,-- das Besitzthum Anderer bleibt in den Dingen
zurück.« (Ebendaselbst 242.)

Bei einer so willkürlichen Behandlung des Materials zu Gunsten seiner
philosophischen Hypothesen entfernte er sich viel weiter von sachlicher
Beobachtung und Begründung, wurde er viel subjektiver bestimmt in
seinen Schlüssen und Folgerungen, als in den Jahren, wo er sich noch
bewusst auf das innerlich Erlebte beschränkte. Jetzt wurde aus dem
innerlich Bedeutsamen das nach Aussen hin Bestimmende und Gesetzgebende
und er selber der »grosse Gewalt-Herr«, der »gewitzte Unhold, der mit
seiner Gnade und Ungnade alles Vergangene zwänge und zwängte: bis es
ihm Brücke würde und Vorzeichen und Herold und Hahnenschrei.« (Also
sprach Zarathustra III 74.)

Für Nietzsches seelisches Problem handelt es sich von vornherein
weniger darum, den Gegensatz zwischen Herren-Moral und Sklaven-Moral
geschichtlich richtig zu fixiren, als um Feststellung der Thatsache,
dass der Mensch, so wie er bis heute von unten herauf geworden ist,
_beide_ Gegensätze in sich trägt, dass er das leidende Resultat einer
solchen Instinkt-Widersprüchlichkeit, einer solchen Einverleibung von
Doppel-Werthungen ist. Wenn wir uns Nietzsches Decadenz-Schilderung
entsinnen, so finden wir in ihr den Menschen als geborene Herren-Natur,
d. h. in ursprünglich ungezähmter Kraft und Wildheit, aber geknechtet
und zum gehorchenden Sklaven gemacht durch den socialen Zwang, durch
die Thatsache der beginnenden Kultur selbst. Alle Kultur als solche
beruht für Nietzsche auf einem solchen Krankmachen, Sklavischmachen
des Menschen, und ausdrücklich bemerkt er, dass ohne diesen Vorgang,
ohne gewaltsam gegen sich selbst gekehrt zu werden, die menschliche
Seele »flach« und »dünn« geblieben wäre. Seine ursprüngliche
Herren-Natur ist noch nichts als ein herrliches Thier-Exemplar und zur
Weiterentwickelung erst befähigt durch die _Wunden_, die ihrer Kraft
beigebracht werden,--denn in der Qual dieser Wunden muss sie lernen,
sich selbst zu zerfleischen, sich an sich selbst zu rächen, ihre
Ohnmacht in nach Innen gekehrten Leidenschaften auszulassen: _alles
dies ausschliesslich auf dem Boden des sklavischen Ressentiment_.
»Das Wesentliche,-- -- --wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass
lange und in Einer Richtung _gehorcht_ werde: dabei kommt-- --auf
die Dauer immer Etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf
Erden zu leben.« (Jenseits von Gut und Böse 188.) Nun gilt dieser
Decadenz-Zustand Nietzsche allerdings nicht nur als überwindbar,
sondern geradezu als die nothwendige Voraussetzung für den daraus zu
züchtenden willenslangen, affektstarken, selbstsicheren Menschen,
aber man beachte wohl: Dieser vollendete Mensch mit seiner vertieften
und individualisirten Herren-Natur soli keineswegs seinem naiven
Egoismus leben, nicht die Vorurtheile und Sklavenketten abstreifen, um
sich Selbstzweck zu sein, sondern er soll zum Erstling einer höheren
Menschengattung werden und für ihre Neugeburt sich opfern, denn, wie
wir gesehen, stellte ja für Nietzsche der Gipfel der Entwickelung den
Untergang der Menschheit dar, indem diese nur der Uebergang zu etwas
Höherem, eine Brücke, ein Mittel ist. Je grösser daher ein Mensch
ist, je mehr Genie, je mehr Gipfel in einem jeden Sinne, um so mehr
ist er auch ein Ende, eine Selbstvergeudung, ein Ausströmen letzter
Kräfte,--»zum Vernichten bereit im Siegen!« (Also sprach Zarathustra
III 91.) Er soll »etwas Vollkommenes, zu-Ende-Gerathenes,
Glückliches, Mächtiges, Triumphirendes«, nur werden, damit er »zu
Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit« sei, »wie ein Bogen, den
alle Noth immer nur noch straffer anzieht«, (Zur Genealogie der Moral
I 12) ein Bogen, dessen Pfeil nach dem Uebermenschen zielt. So wird er
denn zu einem Kampfplatze widerstrebender und einander bekriegender
Triebe, aus deren schmerzlicher Fülle allein alle Entwickelung
hervorgeht; es zeigt sich in ihm wieder jenes Durcheinander von
Herrschenwollen und Dienen müssen, von Vergewaltigung des Einen durch
den Andren,--woraus einst alle Kultur geworden, und woraus nun eine
Ueber-Kultur als letzte und höchste Schöpfung entstehen soll. Er ist
kein Friedvoller und sich selbst Geniessender, sondern ein Kämpfender
und Selbst-Untergang. Er wiederholt also _in sich_ und auf Grund
seiner vollkommen individualisirten und geistesfreien Persönlichkeit
genau dasselbe, was einst auf die Menschheit _von Aussen her_, durch
Knechtung, als ein aufgezwungenes Erziehungsmittel wirkte,--wir
finden in ihm wieder »diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese
Künstler-Grausamkeit, diese Lust, sich selbst als einem schweren
widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine
Kritik, einen Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein einzubrennen,
diese unheimliche und entsetzlich-lustvolle Arbeit einer mit sich
selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich leiden macht, aus Lust
am Leidenmachen. (Zur Genealogie der Moral II 18.) Denn gerade die
vollendetste und umfassendste Seele muss am klarsten und unwid erruf
lichsten das Grundgesetz des Lebens in sich zum Ausdruck bringen,
welches heisst: »Ich bin das, _was sich immer selber überwinden muss_«.
(Also sprach Zarathustra II 49.)

Es ist nicht zu verkennen, wie sehr Nietzsche seinen eignen
Seelenzustand diesen Theorien untergelegt, wie stark er sein eignes
Wesen in ihnen wiedergespiegelt, und wie er endlich dem tiefsten
Bedürfniss desselben das Grundgesetz des Lebens selbst entnommen
hat. Seine leidvolle »Seelen-Vielspältigkeit«, seine gewaltsame
»Zweispaltung« in einen sich opfernden, anbetenden und in einen
beherrschenden, vergöttlichten Wesenstheil liegt seinem gesammten Bilde
der Menschheitsentwickelung zu Grunde. Ueberall, wo er von Herren- und
Sklaven-Naturen spricht, muss man dessen eingedenk bleiben, dass er
von sich selbst spricht, getrieben von der Sehnsucht einer leidenden
und unharmonischen Natur nach ihrem Wesens-Gegensatz und von dem
Verlangen, zu einem solchen als zu seinem Gott aufblicken zu können.
Sein eigenes Ich schildert er, wenn er vom Sklaven sagt: »sein Geist
liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte
muthet ihn an als _seine_ Welt, _seine_ Sicherheit, _sein_ Labsal«;
(Zur Genealogie der Moral I 10)--und er beschreibt sein Gegenbild in
der handelnden, frohen, instinktsicheren, unbekümmerten Herren-Natur,
dem ursprünglichen Thatenmenschen. Aber indem er das Eine die
Voraussetzung des Andren sein lässt, indem er die Menschen-Natur als
solche zu dem Schauplatz macht, auf dem sich diese beiden Gegensätze
immer wieder treffen, um sich gegenseitig zu überwinden, fasst er sie
als _Entwickelungsstufen innerhalb desselben Wesens_, die, historisch
betrachtet, Gegensätze bleiben, sich aber im Einzelwesen, psychologisch
betrachtet, als eine _Wesenstheilung innerhalb des entwickelungsfähigen
Menschen erweisen_. Daher ist seine Auffassung des geschichtlichen
Kampfes zwischen Herren- und Sklaven-Naturen in seiner ganzen Bedeutung
nichts als eine vergröberte Illustration dessen, was im höchsten
Einzelmenschen vorgeht, des grausamen Seelenprozesses, durch den dieser
sich in Opfergott und Opferthier spalten muss.

Erst jetzt lässt sich feststellen, was eigentlich Nietzsches
»Umwerthung aller Werthe«, aller bisherigen Moralund Idealauffassungen
bedeutet, und wie sie sich zum _asketischen Ideal_ verhält, in
dem jetzt alle religiösen und moralischen Ideale für Nietzsche
zusammengefasst sind. Diese Umwerthung aller Werthe beginnt allerdings
damit, dass sie jeglicher Askese den Krieg erklärt,--beginnt mit
einer Heiligsprechung des »Allzumenschlichen« im Menschen, das
bisher geschmäht und unterdrückt wurde, weil das Natürliche und
Sinnliche dem Ueber-natürlichen und Uebersinnlichen im Wege stand,
an das man als an eine unumstösslich gegebene Thatsache glaubte.
Nietzsches Zukunftsphilosoph aber glaubt nicht langer, dass irgend
ein Uebermenschenthum _gegeben_ sei, es müsste denn erst _geschaffen_
werden durch den Menschen selbst, und dazu verfügt er ja über kein
andres Material als über die elementare Lebenskraft der Natur, wie
sie ist. Es gilt also nicht mehr, das Diesseits in ein höheres
Jenseits möglichst restlos zu verflüchtigen, sondern die ganze Fülle
eines reichen, ungeahnt herrlichen Jenseits mitten aus dem Diesseits
hervorzulocken.[6] Daher giebt er den verachteten, gefürchteten,
misshandelten Trieben, den Leidenschaften des »natürlichen« noch von
keiner Moral zurechtgestutzten Menschen ihr Existenzrecht wieder. Mit
der Ueberzeugung, dass es nicht auf eine Scheidung von guten und bösen
Kräften ankomme, sondern auf eine Stärkung und äusserste Steigerung der
Lebenskraft überhaupt, damit das Leben aus sich selbst heraus seinen
höchsten Zweck verwirklichen könne, ist es gegeben, »dass dem Menschen
sein Bösestes nöthig ist zu seinem Besten,--dass alles Böseste seine
beste _Kraft_ ist und der härteste Stein dem höchsten Schaffenden;
und dass der Mensch besser _und_ böser werden muss«. (Also sprach
Zarathustra III 97.)

Als ein Fürsprecher des Lebens soll der Mensch sich in seiner Tugend
ausgeben, preisgeben, verschwenden; aber indem er sein eigenes Selbst
zu seiner Tugend umtauft, soll er sie zu einer Machtfülle in sich
steigern, die ihn endlich zersprengt gleich einem zu engen Gefäss:
er soll sie nur besitzen, um von ihr besessen zu werden. Zu einem so
kraftquellenden Uebermaass anwachsend, verschlingt sie endlich ihn und
seinen Einzelwillen in der Gluth und Empfindung des Ganzen,--wandelt
sie sich ihm zur Brücke, auf welcher er dem Untergange zuschreitet:
»Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss: und darum sollst
du deine Tugenden lieben,--denn du wirst an ihnen zu Grunde gehen«.
(Ebendaselbst I 47.) »Ich liebe Den, dessen Seele übervoll ist, so dass
er sich selber vergisst, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle
Dinge sein Untergang.« (Ebendaselbst I 14.)

So gleichbedeutend hiernach _egoistische Kraftauslebung_ und _Tugend_
im ersten Augenblick erscheinen mögen, so tief bleiben sie doch in
Wahrheit von einander geschieden. Wohl ist der Werthunterschied
zwischen den menschlichen Kräften und Eigenschaften, den alle Moral
als einen qualitativen auffasst, im Grunde völlig ins Quantitative
verlegt, aber die willige und begeisterte Hingabe an diese das
Selbst zerstörende Kraftsteigerung begreift darum nicht minder
einen Werthunterschied der Gesinnung in sich. Die Verwerflichkeit
der Gesinnung wird betont, wenn es heisst, dass nicht das Böse der
Menschengrösse schlimmster Feind sei, sondern -dass sein Bösestes so
gar klein ist! Ach dass sein Bestes so gar klein ist!« (Ebendaselbst
III 97.) Das _Uebermaass_ ist der Weg _zum Uebermenschlichen_, deshalb
geht diesem der Ruf voran: »Wo ist doch der Blitz, der euch mit
seiner Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden
müsstet?--Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz,
der ist dieser Wahnsinn!--« (Ebendaselbst I 11.)

Daher darf man den Weg, den Nietzsche zur Erreichung seines
Idealzieles wählt, nicht mit diesem Ziele selbst verwechseln; er
betrachtet die Herrschaft der »furchtbaren Instinkte« nur als ein
Mittel, dessen er für den höchsten Endzweck bedarf. Ganz mit Unrecht
und in grobem Missverständniss ist ihm vorgeworfen worden, sein
»Uebermensch« trage statt der Züge eines Jesus die eines Cesare
Borgia, oder sonst eines lasterhaften Unmenschen. In Wahrheit ist der
»Unmensch« dem »Uebermenschen« nicht Vorbild, sondern nur Sockel;
er stellt sozusagen den unbehauenen Granitblock dar, der gefordert
wird, um auf demselben eine Götterstatue aufzurichten. Und diese
Götterstatue des Uebermenschen-Ideals ist in Art und Wesen nicht nur
von ihm verschieden, sondern ihm geradezu entgegengesetzt. Dabei
wird der Gegensatz so tief und scharf gefasst, wie es selbst in
der asketischesten Moral nicht der Fall ist. Alle Moral strebt nur
eine Verbesserung und Verschönerung des Menschlichen an, während
Nietzsche davon ausgeht, dass eine ganz neue Species, eine Ueberart,
geschaffen werden müsse. Was bisher als ein Uebergang von Niederem zu
Höherem galt, unter Beibehaltung des charakteristisch Menschlichen
im Idealbilde, das fasst Nietzsche als einen vollständigen Bruch,
als den Kampf sich befehdender Gegensätze auf; was bisher nur ein
Gradesunterschied zwischen dem »natürlichen« und dem »moralischen«
Menschen innerhalb des beiden gemeinsamen Menschsems war, das wird bei
Nietzsche zu einem absoluten Wesensgegensatz zwischen dem Naturmenschen
und dem Uebeimenschen. Deshalb kann man sagen: Betrachtet man den
_Moral-Weg_, den Nietzsche einschlägt, so ist für denselben allerdings
das Anti-Asketische bezeichnend, indem er nicht dem steilen und
steinigen Pfade der Selbstentsagung gleicht, sondern mitten in eine
tropische Wildniss unbekümmerten Selbstgenusses führt. Fasst man
hingegen Nietzsches _Moral-Ziel_ genauer ins Auge, so erweist es sich
als völlig asketischer Natur, indem es den Menschen nicht nur erheben,
sondern vollständig über ihn hinausgehen, ihn nicht nur läutern,
sondern ihn vollständig aufheben will. Einerseits also bekämpft
Nietzsche die übliche Moral wegen ihres asketischen Grund Charakters,
wegen ihrer Geringachtung und Verdammung der untermenschlichen
Begierden, denen er, als der Kraftquelle im Menschen, so hohen Werth
zuspricht; "andrerseits aber bekämpft er die herrschende Moral nicht
minder heftig in dem, worin sie ihm nicht asketisch genug ist. Er
wendet sich grundsätzlich gegen ihren optimistischen Glauben, als ob
auf dem Wege einer bestimmten Läuterung der Mensch einem Idealziele
nahegebracht werden könne; denn der Mensch ist nach Nietzsches Meinung
unfähig hierzu, und daher beruht alle sogenannte Veredelung auf einer
blossen Schwächung der elementaren Lebenskraft. »Nackt hatte ich
einst Beide gesehn, den grössten Menschen und den kleinsten Menschen:
allzuähnlich einander,--allzumenschlich auch den Grössten noch!« (Also
sprach Zarathustra III 98.) Der Versuch aller Moral, das Menschenwesen
einem Idealwesen anzuähneln, ergiebt nur eine unwirkliche Nachahmung
auf Kosten der wirklichen Kraft, und alle moralische Umwandlung ist
deshalb nur eine Art von ästhetischer Verschleierung des geschwächten,
aber sonst völlig unveränderten menschlichen Wesens. »Wie? Ein grosser
Mann? Ich sehe immer nur den Schauspieler seines eignen Ideals.«
(Jenseits von Gut und Böse 97.) »Ich suchte nach grossen Menschen, ich
fand immer nur die _Affen_ ihres Ideals.« (Götzen-Dämmerung I 39.)

Aus dieser pessimistischen Auffassung des Menschlichen entspringt
der extrem-asketische Grundzug, den das Idealziel in Nietzsches
Philosophie erhält; dasselbe ist nur erreichbar durch den Untergang
des Menschen. Und dieser Grundzug tritt in der Folge um so extremer
hervor, je prinzipieller Nietzsche alles Asketische zu verleugnen und
auszumerzen bemüht ist. Je ausschliesslicher am Anfang die Steigerung
der egoistischen Kraft gefordert wird, desto ungeheurer erscheint am
Ende der Entwickelung die Forderung, das eigene Selbst aufzugeben,
damit Raum für den Uebermenschen geschafft werde. Hiess es zuerst: Der
Mensch ist Etwas, das böse, wild und grausam werden muss, so heisst es
schliesslich: »Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss«,--alle
erlangte Grausamkeit und Wildheit ist letzten Endes nur dazu da, um
sich gegen den Menschen selbst zu kehren und ihn zu vernichten.

So unversöhnlich fallen die beiden Seiten von Nietzsches Ethik
auseinander, die er in ein und demselben Gebot zusammenfasst,--in
dem ersten und einzigen Moralgesetz, das in die neuen Werthtafeln
eingegraben wird: »Werdet hart!« (Also sprach Zarathustra III 90 =
Götzen-Dämmerung, Schluss.) Aus dem Wort: »Werdet hart!« blickt in der
That deutlich das Doppelantlitz der Nietzsche-Moral, mit seinen Zügen
voll tyrannischer Grausamkeit und asketischer Entsagung. Denn hart
werden bedeutet einmal die Widerstandskraft gegen alle weichen und
wohlwollenden Regungen, die Versteinerung im egoistischen Selbstgenuss,
kurz: Härte gegen Andere, guten Willen zur Ausübung herrischer Macht;
das andere Mal aber bedeutet es die Härte gegen sich selbst, als den
Untergehenden, der zermalmt werden muss,--es bedeutet: Euch adelt die
Härte in demselben Sinne, wie sie den Stein adelt, den der Künstler
zu einem hohen Kunstwerk verarbeiten will. Alles dürft ihr, nur Eines
nicht, nicht nachgeben, nicht zerbröckeln während seiner Arbeit, sonst
ist all euer Menschliches, wie hoch es auch in den Augen der alten
Moral dastehen mag, nur noch gut für den Kehrichthaufen, den man
hinwreg fegt; es ist Abfall und verdorbenes Material. Einer solchen
Bestimmung gegenüber erscheint als das Verwerflichste die ängstliche
Weichlichkeit des Gefühls, die zagende Bedenklichkeit angesichts des
Furchtbaren, des Entscheidenden. Denn, so singt Zarathustra, der
Zukunftsschöpfer, »--zum Menschen treibt er mich stets von Neuem, mein
inbrünstiger Schaffens-Wille; so treibt's den Hammer hin zum Steine.
Ach, ihr Menschen, im Steine schläft mir ein Bild, das Bild meiner
Bilder! Ach, dass es im härtesten, hässlichsten Steine schlafen muss!
Nun wüthet mein Hammer grausam gegen sein Gefängniss. Vom Steine
stäuben Stücke: was schiert mich das?« (Also sprach Zarathustra II 8.)

Hiermit stehen wir vor dem Räthsel und Geheimniss in den
Lehren Nietzsches,--vor der Frage: Wie denn die Entstehung des
Uebermenschlichen aus dem Unmenschlichen überhaupt möglich sei, wenn
Beide als unversöhnliche Gegensätze zu denken sind. Die Beantwortung
dieser Frage erinnert unwillkürlich an ein altes moralisches
Heilrezept, welches ungefähr so lautet: »Um einen Fehler loszuwerden,
gebe man ihm nach und übertreibe ihn so lange, bis er durch seine
Uebertreibung und sein Uebermaass abschreckend wirkt.« Das moralische
Heilrezept, das Nietzsche für die Menschheit schrieb, weil er für
sich selbst kein probateres wusste, besitzt eine gewisse Aehnlichkeit
damit. Er wollte in der That den Menschen durch die Entfesselung aller
wildesten Triebe in einen Zustand bringen, in dem der egoistische
Selbstgenuss durch das Uebermaass und die Uebertreibung zu einem
_Leiden am eignen Selbst_ wird. Aus der Qual eines solchen Leidens
heraus sollte dann eine grenzenlose übermächtige Sehnsucht nach dem
_eignen Gegensatz_ erwachsen,--die Sehnsucht des Starken, Unmässigen,
Heftigen nach dem Zarten, Maassvollen, Milden; die Sehnsucht der
Hässlichkeit und dunklen Begierde nach der Schönheit und lichten
Reinheit,--die Sehnsucht des gequälten, von seinen wilden Trieben
besessenen Menschen nach seinem Gott. Nietzsche hielt es für möglich,
dass aus einem solchen Gemüthszustand thatsächlich dessen Gegensatz
durch die Uebergewalt eines Affektes hervorbrechen könne. So
erscheint ihm einmal der Grossmüthige »als ein Mensch des äussersten
Rachedurstes, dem eine Befriedigung sich in der Nähe zeigt und der
sie so reichlich, gründlich und bis zum letzten Tropfen _schon in der
Vorstellung_ austrinkt, dass ein ungeheurer schneller Ekel dieser
schnellen Ausschweifung folgt,--er erhebt sich nunmehr »über sich«,
wie man sagt, und verzeiht seinem Feinde, ja segnet und ehrt ihn. Mit
dieser Vergewaltigung seiner selber, mit dieser Verhöhnung seines
eben noch so mächtigen Rachetriebes giebt er aber nur dem neuen
Triebe nach.« (Die fröhliche Wissenschaft 49.) Die Grundbedingung für
eine solche Darstellung des scheinbar Uebermenschlichen durch das
eigne Selbst ist aber, dass dieses die wilde Kraft seines qualvollen
Uebermaasses bewahre,--dass es sie nicht schwäche, zügele, massige,
»läutere«, um den Gegensätzen ihre schmerzliche Spannung zu nehmen.
Je höher hinauf, zu den zartesten ßlüthen des Schönen und Göttlichen
es gelangen will, desto tiefer hinab in das schwärzeste Erdreich, in
sein Unmenschliches, Untermenschliches muss es die Wurzeln seiner
Kraft senken. Dadurch wird freilich das Uebermenschliche, das der
Mensch erzeugt, zur Darstellung eines blossen, göttlichen Scheines,
sozusagen eines Momentbildes, nicht zu der seines wirklichen, eignen
Wesens, --aber nur in dieser Weise ist es überhaupt realisirbar. Da
keine allmähliche Entwickelung, kein Uebergang die Gegensätze einander
nähert, da sie sich vielmehr gerade kraft ihrer Gegensätzlichkeit
bedingen und erzeugen, so bleibt ewig ein unüberbrückbarer Abgrund
zwischen ihnen bestehen; auf der einen Seite die bis zum Furchtbaren
gesteigerte, bis zum Chaotischen aufgewühlte Lebenswirklichkeit der
menschlichen Triebe,--auf der andren Seite ein blosses Scheinbild, eine
leichte Wesenswiderspiegelung, gewissermaassen eine göttliche _Maske_,
der gar keine selbständige Wirklichkeit innewohnt. Und somit Hesse sich
gegen diese Theorie Nietzsches im »allerhöchsten Grade derselbe Vorwurf
erheben, den er der üblichen Moralauffassung macht, nämlich, dass
es genüge, den Menschen einem vorgehaltenen Idealbilde anzuähneln:
der Vorwurf, dass nur eine ästhetische Verschleierung, nicht aber
eine durchgreifende Umwandlung erzielt werde, dass also der Mensch zu
einem blossen »Schauspieler seines Ideals« herabsinke. Wir begegnen
hier genau derselben Erscheinung, die uns an Nietzsches Stellung
zum Asketischen überraschte: was Nietzsche am grundsätzlichsten
zu bekämpfen scheint, das nimmt er schliesslich selbst am
grundsätzlichsten in seine Theorien auf,--aber nur in den äussersten
Consequenzen und im extremsten Sinn. Was er auf seinem Wege als Mittel
zum Zweck am entschiedensten verwirft, das benutzt er schliesslich,
um es seinem Endzweck, seinem Ziele selbst einzuverleiben. Ja, man
kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse
verfolgt upd erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, dass es irgendwie
tief--tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen
Lebens steckt. Dies gilt sowohl von Personen wie von Theorien.

Meistens giebt Nietzsche in solchen Fällen selber zu, dass der
von ihm bekämpfte Gegenstand eine Art von Werth besessen habe
als Moment der Entwickelung zu seiner neuen Auffassung hin. Im
vorliegenden Falle gesteht er: der Mensch habe seine _Fähigkeit_
zur Ueber-menschen-Darstellung erst allmählich gewonnen durch seine
Entwickelung innerhalb der herrschenden Moral, Kunst und Religion.

Erst indem diese ihn an die Möglichkeit seiner Wesensveredelung
glauben liess, lehrte sie ihn »so sehr Kunst, Oberfläche,
Farbenspiel-- --werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr leidet«;
(Jenseits von Gut und Böse 59) sie hat »uns die Schätzung des Helden,
der in jedem von allen diesen Alltagsmenschen verborgen ist, und
die Kunst gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und
gleichsam vereinfacht und verklärt ansehen könne,--die Kunst, sich vor
sich selber »in Scene zu setzen«. So allein kommen wir über einige
niedrige Details an uns hinweg!« (Die fröhliche Wissenschaft 78.) Der
Unterschied zwischen dem bisherigen Menschen und dem von Nietzsche
angestrebten bestände demnach darin, dass letzterer sich nicht dem
Glauben hingiebt, sein Wesen habe sich umgewandelt und verändert,
seitdem er moralische, künstlerische und religiöse Züge in sich
entwickelt; er bleibt sich dessen bewusst, dass er sozusagen nur als
Dichter oder Schauspieler schafft, wenn er das Ideale zur Erscheinung
bringt Aber diese Einsicht darf ihm erst kommen, wenn er das von
Nietzsche vorausgesetzte Kraftmaass erreicht hat, wenn er »stark genug,
hart genug, Künstler genug geworden ist«. Sonst würde er die Wahrheit
nicht ertragen, dass sein Wesen unabänderlich, sein übermenschliches
Ideal nur ein geschautes Bild, sein höchstes sittliches Werk nur ein
_Kunstwerk_ ist. So ist es zu verstehen, wenn Nietzsche sagt: »--
--man könnte die homines religiosi mit unter die Künstler rechnen,
als ihren _höchsten_ Rang.« (Jenseits von Gut und Böse 59.) Denn das
künstlerische Prinzip ist es, aus dem die lebendigen höchsten ethischen
und religiösen Werthunterschiede fliessen, und Nietzsches »Jenseits
von Gut und Böse«, wie auch sein »Jenseits von wahr und falsch«, macht
Halt vor dem »Jenseits von schön und hässlich« und dringt nicht bis zu
diesem durch. Der Uebermensch ist nur möglich und begreiflich als das
_Kunstwerk des Menschen_. Und wollen wir uns davon ein Bild machen,
so giebt es dafür vielleicht kein besseres, als das von Nietzsche in
seiner »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« gebrauchte,
wenn er vom Verhältniss des Dionysischen zum Apollinischen in der
Kunstschöpfung redet. Er vergleicht dort die apollinischen Visionen,
welche aus dem orgiastischen Kraftleben des Dionysischen entstanden
sind, jener bekannten optischen Erscheinung, bei welcher durch das
Hineinstarren ins volle Gluthmeer der Sonne dunkle farbige Flecken
gleichsam als Heilmittel vor unseren geblendeten Augen erzeugt
werden, indem er das Phänomen in seiner Umkehrung benutzt: durch das
Hinabtauchen in das schmerzvolle Dunkel entfesselten Uebermaasses, sich
selbst verschlingender Urkräfte ersteht vor uns in gleicher Heilwirkung
ein zartes strablendes Lichtbild des Uebermenschlichen. Und wie in der
griechischen Tragödie, auf die Nietzsche sein Gleichniss anwendet, die
apollinischen Lichtbilder, d. h. die Heldengestalten der hellenischen
Bühne, im Grunde nur Masken des Einen Gottes Dionysos waren, so
verkörpert auch dieses im Ueberdrang des Schöpferischen erzeugte Bild
des Uebermenschen im Grunde nur einen göttlichen Schein, ein Symbol
im künstlerischen Sinn. Hinter ihm, abgründig tief und in »purpurner
Finsterniss«, ruht das dionysische Sein selber, die Elementargewalt des
Lebens, deren es zu seiner Erzeugung immer wieder von neuem bedarf.

So sehen wir, dass in Nietzsches Philosophie die Ethik unmerklich in
die Aesthetik überfliesst,--in eine Art von religiöser Aesthetik,--und
dass die Lehre vom Guten ermöglicht wird durch die Göttlichkeit des
Schönen. Die feine Grenze, auf der sich der Schein dem Sein vermählen
muss, um das Ideal zu gestalten, macht die Welt des Schönen und ihrer
phantastischen Selbsttäuschung zum »eigentlichen Mutterschooss idealer
und imaginativer Ereignisse«, zu denen der tiefste Impuls gerade
dadurch gegeben wird, dass sie ewig unrealisirbar bleiben, dass die
Sehnsucht ihnen keine wesenhafte Wahrheit und Wirklichkeit zu verleihen
vermag. Es ist derselbe Zustand, den Nietzsche schildert, wenn er
von einem Künstler sagt, er habe viel mehr »von seinem--Unvermögen,
als von seiner reichen Kraft.-- -- --eine ungeheure Lüsternheit nach
dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er
seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und Heisshungers.«
(Die fröhliche Wissenschaft 79.) Man muss sich also die Entstehung
des übermenschlichen Scheines, das Mysterium von der plötzlichen
Selbstentsagung und Selbstaufhebung, diese asketische Grundvorstellung,
auf welche Nietzsches Ethik hinausläuft,--als ein _ästhetisches
Phänomen_ denken, als eine so intensive Versenkung in die Qual des
Uebermaasses, dass aus ihr die Sehnsucht den Gegensatz als eine
geschaute und nachgelebte _Vision_ hervortreibt. »-- --von Niemandem
will ich so als von dir gerade Schönheit, du Gewaltiger:« heisst
es von dem starken, mit übermächtigen Affekten geladenen Menschen,
»aber gerade dem Helden ist das _Schöne_ aller Dinge Schwerstes.
Unerringbar ist das Schöne allem heftigen Willen.-- --Diess nämlich
ist das Geheimniss der Seele: erst, wenn sie der Held verlassen hat,
naht ihr, im _Traume_,--der Über-Held« (Uebermensch). (Also sprach
Zarathustra II 54 f.) In seligem Traume stammelt sie dann: --ein
Schatten kam zu mir--aller Dinge Stillstes und Leichtestes kam--zu
mir! Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten.« (II 8.) Denn
»Alles Göttliche läuft auf zarten Füssen!«--»Was wäre denn schön, wenn
nicht erst der Widerspruch sich selbst zum Bewusstsein gekommen wäre,
wenn nicht erst das Hässliche zu sich selbst gesagt hätte: ich bin
hässlich?« In der Hässlichkeit jenes chaotischen Uebermaasses, bis
zu welchem der Mensch seine wildesten Kräfte entfesseln soll, bricht
er zuletzt den Stab über sich selbst, als über den von Wesensgrund
aus hässlichen. »Ein _Hass_ springt da hervor:-- --Er hasst da
aus dem tiefsten Instinkte der Gattung heraus; in diesem Hass ist
Schauder, Vorsicht, Tiefe, Fernblick,--es ist der tiefste Hass, den
es giebt. Um seinetwillen ist die Kunst _tief_....« (Götzen-Dämmerung
IX 20.) Sie ist tief, weil sie durch diesen Hass dem Menschen die
grenzenlose Sehnsucht nach dem Schönen lehrt und so die Erzeugung des
schönen Scheines aus der entfesselten Ueberfülle des wirklichen Seins
ermöglicht; sie ist tief, weil sie einen ungeheuren Idealisirungsdrang
weckt und den Menschenwillen durch die Vision der Schönheit zur
»Zeugung« reizt, sodass er in leidenschaftlicher Begeisterung sich
seinem eigenen Wesensgegensatz vermählt. So wird die zügellose Kraft
bis zum höchsten Uebermaass nur gesteigert, um in einen Rauschzustand
der Begeisterung überzuströmen, der die. Bedingung zur schöpferischen
Erzeugung des Schönen ist. »Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl
der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die
Dinge ab, man _zwingt_ sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt
sie,--man heisst diesen Vorgang _Idealisiren_.« (Götzen-Dämmerung IX
8.) »Man bereichert in diesem Zustande Alles aus seiner eignen Fülle:
was man sieht, was man will, man sieht es geschwellt, gedrängt, stark,
überladen mit Kraft. Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge,
bis sie seine Macht wiederspiegeln,-- --. Dies Verwandeln-_müssen_ in's
Vollkommne ist--Kunst.« (Ebendaselbst IX 9.)

Trägt Nietzsches Ethik einen vorwiegend ästhetisirenden Charakter,
indem die Verwandlung ins Vollkommne nur einen schönen Schein
ergiebt, so nähert sich dafür seine Aesthetik sehr stark dem
Religiös-Symbolischen, insofern sie aus dem Drang entsteht, die
Menschen und Dinge zu _vergöttlichen_, sie ins Gotthafte aufzulösen,
um sie zu ertragen. Ueber diesen psychischen Vorgang hat Nietzsche
nicht bloss eine Theorie aufgestellt und in zerstreuten Aphorismen
angedeutet, sondern er hat auch den Versuch gemacht, selbst das
grundlegende Erstlingswerk zu schaffen, in dem jene hohe Schöpferthat
des Menschen, die Erzeugung des Uebermenschlichen,--zum ersten
Mal vollbracht wird. Dieses Werk ist seine Dichtung »Also sprach
Zarathustra«. Die Zarathustra-Gestalt, als eine Selbstverklärung
Nietzsches, als eine Widerspiegelung und Verwandlung seiner Wesensfülle
in einem gottartigen Lichtbilde, soll ein vollständiges Analogon
bilden zu der von ihm geträumten Entstehung des Uebermenschlichen aus
dem Menschlichen. Zarathustra ist sozusagen der Nietzsche-Uebermensch,
er ist der »Ueber-Nietzsche«. Infolgedessen trägt das Werk einen
täuschenden Doppel-Charakter: es ist einerseits eine Dichtung in rein
ästhetischem Sinn und kann als solche von rein ästhetischem Standpunkt
aus verstanden und beurtheilt werden; andererseits aber will es nur in
einem rein-mystischen Sinn Dichtung sein,--im Sinn eines religiösen
Schöpfungsaktes, in dem die höchste Forderung der Ethik Nietzsches zum
ersten Mal ihre Erfüllung findet. Daraus erklärt es sich, dass das
Zarathustra-Werk das am besten missverstandene unter allen Büchern
Nietzsches geblieben ist, um so mehr, als meistens angenommen worden
ist, es enthalte in dichterischer Form eine _Popularisirung_ dessen,
was die übrigen Schriften in strengerer philosophischer Form geben. In
Wahrheit aber ist es das am wenigsten populär gemeinte seiner Werke;
denn wenn es bei Nietzsche jemals eine »esoterische« Philosophie
gab, die Niemandem völlig zugänglich werden sollte, so liegt sie
hier, und dem gegenüber gehört Alles, was er sonst geschrieben, dem
mehr exoterischen Theil seiner Lehre an. Daher erschliesst sich das
tiefste Verständniss des »Zarathustra« weniger auf dem Wege der
Nietzsche-Philosophie, als auf dem der Nietzsche-Psychologie, indem man
den verborgenen Seelenregungen nachspürt, die Nietzsches ethische und
religiöse Vorstellungen bedingen und seiner seltsamen Mystik zu Grunde
liegen. Dann zeigt es sich, dass die Theorien Nietzsches alle aus dem
Bedürfniss der eigenen Selbsterlösung geflossen sind,--aus dem Sehnen,
seiner tief bewegten und leidvollen Innerlichkeit jenen Halt zü geben,
den der Gläubige in seinem Gott besitzt. Dieses gewaltige Wünschen und
Verlangen erzwang sich schliesslich Befriedigung: es schuf den Gott
oder doch ein gotthaftes Ueberwesen, in dem das Gegenbild des eigenen
Wesens veräusserlicht und verklärt wurde. Die Doppelgestalt, die
Nietzsche sich damit selbst gab, und in der er sich als einen »Zweiten«
anschaute, ist in seinem Zarathustra verkörpert, wandelt in ihm
gleichsam auf eigenen Füssen. Seltsam schimmert an einzelnen Stellen
der Dichtung das heimliche Eingeständniss durch, dass Zarathustra
keine eigene Wesenswahrheit habe, sondern nur ein Dichtergeschöpf
sei, und selbst ein Dichter und Erdichtender: »--was sagte dir einst
Zarathustra? Dass die Dichter zuviel lügen?--Aber auch Zarathustra
ist ein Dichter.« (II 68.) Doch es liegt ja schon in Nietzsches
Auffassung des höchsten Ideals, dass der Schein das Recht hat, sich
als Sein und Wesen zu geben,--ja, dass alle höchste Wahrheit in der
_Scheinwirkung_, im Effekt auf Andere besteht. Der Mensch, in seiner
mystischen Wesenswandlung, sucht ganz und gar zu einem lockenden,
sehnsuchtweckenden und erziehenden Scheinbilde zu werden, dem nichts
Hochgeartetes zu widerstehen vermag. Von ihm gilt das Wort: »Wer von
Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine Schüler
ernst,--sogar sich selbst.« (Jenseits von Gut und Böse 63.)

Damit ist in bewusster Weise eine Rechtfertigung der »heiligen
Täuschung« gegeben, und nicht umsonst sagt Nietzsche wiederholt, dass
es das Problem von der »pia fraus« sei, dem er am längsten und tiefsten
nachgegangen. Auch die Redlichkeit, als eine verhältnissmässig späte
Tugend des modernen Wahrheitsmenschen, hat der grosse »Unzeitgemässe«,
der frei über die Tugenden aller Kulturen verfügt, in sich zu
überwinden um seiner Zwecke willen, die ein weiches Gewissen nicht
vertragen. In bezeichnenderweise steht schon in der »fröhlichen
Wissenschaft« (159): »Wer jetzt unbeugsam ist, dem macht seine
Redlichkeit oft Gewissensbisse: denn die Unbeugsamkeit ist die Tugend
eines anderen Zeitalters, als die Redlichkeit.« Zu Zarathustra aber
spricht der kluge Bucklichte, der ihm zuhört und ihm seine Gedanken
abliest: »--warum redet Zarathustra anders zu seinen Schülern--als
zu sich selber?« (II 91.) Und Zarathustra selber ruft diesen zu:
»Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von mir und wehrt euch gegen
Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! _Vielleicht betrog er
euch_.-- -- -- --Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines
Tages umfällt? Hütet euch, dass euch nicht eine Bildsäule erschlage!«
(I 111.)

Je vollständiger aber nach dieser Seite hin alle Wirklichkeit und
Wahrheit entschwan, je bewusster das Ideal als Scheinbild gedacht
wurde, desto grösser Nietzsches Verlangen, ihm _religiös_ eine Wahrheit
zuzugestehen, es zu einer mystischen Selbstvergottung zu machen. Und
hier sehen wir, wie sein Gedanke einen wunderlichen Kreis um sich
selbst beschreibt: um der asketischen Selbstvernichtung aller Moral zu
entgehen, löst er das moralische Phänomen in ein ästhetisches auf, in
dem die Grundnatur des Menschen neben seiner ästhetischen Lichtgestalt
unverändert bestehen bleibt; um aber dieser Lichtgestalt eine positive
Bedeutung zu verleihen, erhebt er sie ins Mystische, Religiöse und
ist dann, um diesen lichten Gegensatz herauszubringen, gezwungen, die
wirkliche menschliche Grundnatur möglichst dunkel und leidvoll zu
malen. Damit das erlösende Ueberwesen glaubhaft würde, mussten die
Gegensätze möglichst verschärft, musste es vom natürlich-menschlichen
Wesen möglichst unterschieden werden. Jeder vermittelnde Uebergang
hätte die mystische Illusion zerstört und den Menschen auf sich
selbst zurückgeworfen; das Ueberwesen wäre dann zu einer blossen
Wesensentwickelung in ihm selbst geworden. Die Schatten mussten auf
der einen--der menschlichen--Seite in demselben Maasse vertieft
werden, als auf der anderen--der übermenschlichen--das Licht heller
hervortreten und den Glauben erzwingen sollte, dass es völlig anderer
Art sei. So entstand die Lehre, dass zur Erzeugung des Uebermenschen
der Unmensch nöthig sei, und dass nur aus dem Uebermaass der wildesten
Begierden die sich selbst preisgebende Sehnsucht nach dem eigenen
Gegensatz hervorgehe. Gegen diese mystische Gottschöpfung lässt sich
derselbe Vorwurf richten, den Nietzsche der _christlich-asketischen
Gottschöpfung_ gemacht hat: es sei in ihr des Menschen _Wille_ gewesen,
»ein Ideal aufzurichten -- -- -- --, um angesichts desselben seiner
absoluten Unwürdigkeit handgreiflich gewiss zu sein.« Und dann: »Dies
Alles ist interessant bis zum Übermaass, aber auch von einer schwarzen
düsteren entnervenden Traurigkeit,-- -- -- --. Hier ist _Krankheit_,
es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im
Menschen gewüthet hat:--und wer es noch zu hören vermag-- -- --wie in
dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei Liebe, der Schrei des
sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlösung in der _Liebe_ geklungen hat,
der wendet sich ab, von einem unbesieglichen Grausen erfasst.... Im
Menschen ist so viel Entsetzliches!...« (Zur Genealogie der Moral II
22.)

Dieser Zug zum Asketischen und Mystischen, der sich, inmitten des
Kampfes wider das Asketische und Mystische, so stark als der geheime
Grundzug der Philosophie Nietzsches ausweist, zeigt am deutlichsten
die Rückwendung zu seiner ersten philosophischen Weltanschauung,
der Schopenhauerisch-Wagnerischen. Aber indem er sich im Prinzip
gegen alle bisherige Mystik und Askese auflehnt, giebt er in nicht
geringerem Grade dem Einflüsse nach, den die Erfahrungswissenschaft
und die positivistische Theorie auf ihn ausgeübt haben,--und
so treten denn auch hier die beiden Hauptlinien seiner letzten
Philosophie unverkennbar hervor. Die mystische und asketische
Bedeutung des Aesthetischen ist in seinem System keine geringere
als in dem Schopenhauers; bei Beiden fällt sie zusammen mit dem
tiefsten ethischen und religiösen Erleben, und nicht umsonst greift
Nietzsche, um diese Bedeutung zu erläutern, auf Gedanken und Bilder
seiner »Geburt der Tragödie« zurück. Aber bei Schopenhauer wird das
ästhetische Schauen aufgefasst als ein mystischer Durchblick in den
metaphysischen Hintergrund der Dinge, in das Wesen des »Dinges
an sich«, und setzt deshalb die Beschwichtigung des gesammten
Seelenlebens, gewissermaassen die Abstreifung alles Irdischen, voraus.
Bei Nietzsche hingegen, wo der metaphysische Hintergrund fehlt, und
wo es gilt, dafür einen Ersatz mitten aus dem Ueberschwang irdischer
Lebenskräfte heraus zu _schaffen_, ist die psychische Voraussetzung
die gerade _entgegengesetzte_: das Schöne soll das Willensleben im
Tiefsten erregen, es soll alle Kräfte entfesseln, »brünstig machen und
zur Zeugung reizen«, denn es handelt sich nicht um die metaphysische
Offenbarung von etwas ewig Seiendem, sondern um die mystische Schöpfung
von etwas nicht Vorhandenem; das »Mystische« bei Nietzsche ist
daher stets so viel wie ins Ungeheure und folglich Uebermenschliche
gesteigerte Lebenskraft. Genau aber so, wie bei Schopenhauer das
Ueberirdische aus der asketischen Vernichtung des Irdischen resultirt,
ist bei Nietzsche der mystische Lebensüberschwang nur möglich als
eine Folge des Unterganges alles Menschlichen und Gegebenen durch
das Uebermaass. Und hier liegt der Haupt-Berührungspunkt beider
Anschauungen: beide gehen durch das _Tragische_ in das Selige ihrer
Mystik ein. »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«[7]
hat sich verwandelt in eine Geburt der Tragödie aus dem Geiste des
Lebens. Das Leben, als »das, _was sich immer selber überwinden muss_«,
fordert immer wieder als Grundbedingung immer höherer Schöpfungen den
Untergang. Was tragisch erscheint vom Standpunkte dessen, der zu einem
solchen Untergang bestimmt ist, wird als Seligkeit unerschöpflicher
Lebensfülle empfunden vom Standpunkte des Daseins selbst oder dessen,
der sich mit diesem identificirt, über sich selbst siegt, indem
er es in sich bis zum Uebermaass steigert. In charakteristischer
Weise zeigt sich diese veränderte Auffassung des Tragischen in der
»Götzen-Dämmerung«, wo Nietzsche noch einmal sein altes Problem aus der
»Geburt der Tragödie«, die Bedeutung der dionysischen Mysterien und des
tragischen Gefühls der Griechen, bespricht. Ursprünglich war ihm der
dionysische Orgiasmus das Entladungsmittel der Affekte, wodurch die
für das Schauen der apollinischen Bilder erforderliche Seelenstille
hergestellt wurde,--jetzt ist er ihm der Schöpfungsakt des Lebens
selbst, das der Raserei und des Schmerzes bedarf, um aus ihnen heraus
das Lichte und Göttliche zu gestalten.[8] Ursprünglich war er ihm ein
Zeugniss für die--in Schopenhauerischem Sinne--tief pessimistische
Natur der Griechen, indem im Orgiasmus das Innerste des Lebens sich
als Dunkel, Schmerz und Chaos enthüllte; jetzt erscheint er ihm als
der lebensdurstige hellenische Instinkt, der sich nur im Uebermaass
genug thun konnte, und der auch noch in Schmerz, Tod und Chaos der
triumphirenden Unerschöpflichkeit des Lebens froh ward:-- -- -- --in
den dionysischen Mysterien-- -- --spricht sich die _Grundthatsache_
des hellenischen Instinkts aus--sein »Wille zum Leben«. _Was_ verbürgte
sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das _ewige_ Leben, die ewige
Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und
geweiht; das triumphirende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus;
-- -- -- -- -- --In der Mysterienlehre ist der _Schmerz_ heilig
gesprochen: die »Wehen der Gebärerin« heiligen den Schmerz überhaupt,--
-- --Damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, damit der Wille
zum Leben sich ewig selbst bejaht, _muss_ es auch ewig die »Qual der
Gebärerin« geben.... Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos:-- -- --«.
(Götzen-Dämmerung X 4.) »Dass alle Schönheit zur Zeugung reize« (IX
22), ist das Religiöse an der Kunst, denn diese lehrt das Vollkommene
schaffen. Die höchste, d. h. religiöseste Kunst ist die tragische,
denn in ihr zeugt der Künstler aus dem _Furchtbaren das Schöne_. »_Was
theilt der tragische Künstler von sich mit_? Ist es nicht gerade der
Zustand _ohne_ Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen, das er
zeigt?-- -- -- --Die Tapferkeit und Freiheit des Gefühls vor einem
mächtigen Feinde, vor einem erhabenen Ungemach, vor einem Problem, das
Grauen erweckt--dieser _siegreiche_ Zustand ist es, den der tragische
Künstler auswählt, den er verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das
Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien; wer Leid gewohnt ist,
wer Leid aufsucht, der _heroische_ Mensch preist mit der Tragödie sein
Dasein,--ihm allein kredenzt der Tragiker den Trunk dieser süssesten
Grausamkeit.--« (IX 24.)

»Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und
Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans
wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des _tragischen_ Gefühls,--
--Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten
Problemen; der Wille zum Leben, im _Opfer_ seiner höchsten Typen der
eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend--_das_ nannte ich dionysisch,
_das_ errieth ich als die Brücke zur Psychologie des _tragischen_
Dichters. _Nicht_ um von Schrecken und Mitleiden loszukommen,-- --
--: sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust
des Werdens _selbst zu sein_,--jene Lust, die auch noch die _Lust am
Vernichten_ in sich schliesst ...-- -- -- --« (X 5.)

Diese Auffassung des Tragischen und des durch dasselbe bedingten
Lebensgefühls machte es möglich, dass Nietzsche gerade bei seiner
Rückkehr zur Schopenhauerischen Philosophie des Pessimismus und
der Askese seine lebensfreudigste Lehre schuf,--seine Lehre von
der _ewigen Wiederkunft aller Dinge_. So sehr Nietzsches System
»philosophisch wie psychologisch einen asketischen Grundzug forderte,
ebensosehr erforderte es dessen Gegensatz, die Apotheose des Lebens,
denn in Ermanglung eines metaphysischen Glaubens gab es ja nichts
anderes als das leidende und leidvolle Leben selbst, das glorificirt
und vergöttlicht werden konnte. Nietzsches Lehre von der ewigen
Wiederkunft ist niemals genügend betont und gewürdigt worden, obwohl
sie gewissermaassen in seinem Gedankengebäude sowohl das Fundament,
als auch die Krönung bildet und diejenige Idee gewesen ist, von der
er bei der Conception seiner Zukunftsphilosophie ausgegangen ist,
und mit der er sie auch abschliesst. Wenn sie erst hier ihre Stelle
findet, so geschieht dies, weil sie nur im Zusammenhänge des Ganzen
verständlich wird, und weil in der That Nietzsches Logik, Ethik und
Aesthetik als Bausteine für die Wiederkunftslehre gelten müssen. Den
Gedanken einer möglichen Wiederkehr aller Dinge im ewigen Kreislauf
des Seins hat Nietzsche schon in der »fröhlichen Wissenschaft«, im
vorletzten Aphorismus des Buches »_Das grösste Schwergewicht_«, als
eine Vermuthung ausgesprochen: »Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts,
ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte:
»Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch
einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues
daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und
Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir
wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge--und ebenso diese
Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser
Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer
wieder umgedreht--und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!«--Würdest du
dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon
verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren
Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: »du bist ein Gott
und nie hörte ich Göttlicheres!« Wenn jener Gedanke über dich Gewalt
bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht
zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem »willst du diess noch einmal
und noch unzählige Male?« würde als das grösste Schwergewicht auf
deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben
gut werden, um nach nichts _mehr zu verlangen_, als nach dieser letzten
ewigen Bestätigung und Besiegelung?--«

Hier tritt der Grundgedanke deutlich hervor--fast deutlicher und
unumwundener als irgendwann später, denn Nietzsche ertrug es
nicht, ganz über das zu schweigen, was seinen Geist erfüllte und
erregte. Aber es erschütterte ihn noch so sehr, von dieser neuen
Erkenntniss zu sprechen, dass er seinen Wiederkunftsgedanken ganz
unauffällig wie einen harmlosen Einfall zwischen andere Einfälle
hineinschob, so dass wer darüber hinliest, den Zusammenhang mit der
ernsten Schlussbetrachtung »_Incipit tragoedia_« nicht merkt,--»so
heimlich, dass alle Welt es überhört, dass alle Welt _uns_ überhört!«
(Einführende Vorrede zur neuen Ausgabe der Morgenröthe 5.) So steht er
denn da, inmitten der übrigen Gedanken, gerade als der Verhüllteste
unter den Verhüllten, und an dem feinen Maskenscherz, Etwas dadurch
am besten zu verstecken, dass man es offen und nackt hinstellt, hat
der an Heimlichkeiten so reiche und aller Heimlichkeit so frohe Geist
Nietzsches trotz aller tiefen Seelenbewegung seinen Spass gehabt.

Thatsächlich trug er sich schon damals mit jenem Gedanken wie mit
einem unentrinnbaren Verhängniss, das ihn »verwandeln und zermalmen«
wollte; er rang nach dem Muth, ihn siqh selbst und den Menschen als
unumstössliche Wahrheit in seiner ganzen Tragweite zu gestehen.
Unvergesslich sind mir die Stunden, in denen er ihn mir zuerst, als ein
Geheimniss, als Etwas, vor dessen Bewahrheitung und Bestätigung ihm
unsagbar graue, anvertraut hat: nur mit leiser Stimme und mit allen
Zeichen des tiefsten Entsetzens sprach er davon. Und er litt in der
That so tief am Leben, dass die Gewissheit der ewigen Lebenswiederkehr
für ihn etwas Grauenvolles haben musste. Die Quintessenz der
Wiederkunftslehre, die strablende Lebensapotheose, welche Nietzsche
nachmals aufstellte, bildet einen so tiefen Gegensatz zu seiner eigenen
qualvollen Lebensempfindung, dass sie uns anmuthet wie eine unheimliche
Maske.

Verkündiger einer Lehre zu werden, die nur in dem Maasse erträglich
ist," als die Liebe zum Leben überwiegt, die nur da erhebend zu
wirken vermag, wo der Gedanke des Menschen sich bis zur Vergötterung
des Lebens aufschwingt, das musste in Wahrheit einen furchtbaren
Widerspruch zu seinem innersten Empfinden bilden,--einen Widerspruch,
der ihn endlich zermalmt hat. Alles, was Nietzsche seit der Entstehung
seines Wiederkunfts-Gedankens gedacht, gefühlt, gelebt hat, entspringt
diesem Zwiespalt in seinem Inneren, bewegt sich zwischen dem »mit
knirschenden Zähnen dem Dämon der Lebensewigkeit fluchen« und der
Erwartung jenes »ungeheuren Augenblicks«, der zu den Worten die Kraft
giebt: »du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!«

Je höher er sich, als Philosoph, zur vollen Exaltation der
Lebensverherrlichung erhob, je tiefer litt er, als Mensch, unter seiner
eigenen Lebenslehre. Dieser Seelenkampf, die wahre Quelle seiner ganzen
letzten Philosophie, den seine Bücher und Worte nur unvollkommen ahnen
lassen, klingt vielleicht am ergreifendsten durch in Nietzsches Musik
zu meinem »Hymnus an das Leben«, die er im Sommer 1882 componirte,
während er mit mir in Thüringen, bei Dornburg, weilte. Mitten in der
Arbeit an dieser Musik wurde er durch einen seiner Krankheitsanfälle
unterbrochen, und immer wieder wandelte sich ihm der »Gott« in den
»Dämon«, die Begeisterung für das Leben in die Qual am Leben. »Zu Bett.
Heftiger Anfall. _Ich verachte das Leben_. F. N.« So lautete einer der
Zettel, die er mir zuschickte, wenn er an sein Lager gefesselt war. Und
dieselbe Stimmung spricht sich in einem Briefe aus, den er kurz nach
Vollendung jener Composition schrieb:


    »Meine liebe Lou,

    Alles was Sie mir melden, thut mir sehr wohl. Uebrigens
    _bedarf_ ich etwas des Wohlthuenden!

    Mein Venediger Kunstrichter hat einen Brief über meine Musik
    zu Ihrem Gedichte geschrieben; ich lege ihn bei--Sie werden
    Ihre Nebengedanken dabei haben. _Es kostet mich immerfort
    noch den grössten Entschluss, das Leben zu acceptiren. Ich
    habe viel vor mir, auf mir_, hinter mir;-- -- -- -- -- -- --

    _Vorwärts_------_und aufwärts_!-- --«


Damals war, wie gesagt, die Wiederkunfts-Idee für Nietzsche noch
keine Ueberzeugung geworden, sondern erst eine Befürchtung. Er hatte
die Absicht, ihre Verkündigung davon abhängig zu machen, ob und wie
weit sie sich wissenschaftlich werde begründen lassen. Wir wechselten
eine Reihe von Briefen über diesen Gegenstand, und immer ging aus
Nietzsches Aeusserungen die irrthümliche Meinung hervor, als sei es
möglich, auf Grund, physikalischer Studien und der Atomenlehre, eine
wissenschaftlich unverrückbare Basis dafür zu gewinnen. Damals war es,
wo er beschloss, an der Wiener oder Pariser Universität zehn Jahre
ausschliesslich Naturwissenschaften zu studiren. Erst nach Jahren
absoluten Schweigens wollte er dann, im Fall des gefürchteten Erfolges,
als der Lehrer der ewigen Wiederkunft unter die Menschen treten.

Es kam bekanntlich ganz anders. Innere und äussere Gründe machten
Nietzsche die geplante Arbeit unmöglich, trieben ihn wieder nach dem
Süden und in die Einsamkeit zurück; Das Jahrzehnt des Schweigens aber
wurde zum beredtesten und fruchtbarsten seines ganzen Lebens. Schon ein
oberflächliches Studium zeigte ihm bald, dass die wissenschaftliche
Fundamentirung der Wiederkunftslehre auf Grund der atomistischen
Theorie nicht durchführbar sei; er fand also seine Befürchtung, der
verhängnissvolle Gedanke werde sich unwiderleglich als richtig
beweisen lassen, nicht bestätigt und schien damit von der Aufgabe
seiner Verkündigung, von diesem mit Grauen erwarteten Schicksal
befreit zu sein. Aber nun trat etwas Eigenthümliches ein: weit davon
entfernt, sich durch die gewonnene Einsicht erlöst zu fühlen, verhielt
sich Nietzsche gerade entgegengesetzt dazu; von dem Augenblick an,
wo das gefürchtete Verhängniss von ihm zu weichen schien, nahm er es
entschlossen auf sich und trug seine Lehre unter die Menschen: in
dem Augenblick, wo seine bange Vermuthung unbeweisbar und unhaltbar
wird, erhärtet sie sich ihm, wie durch einen Zauberspruch, zu einer
unwiderlegbaren Ueberzeugung. Was wissenschaftlich erwiesene Wahrheit
werden sollte, nimmt den Charakter einer mystischen Offenbarung
an, und fürderhin giebt Nietzsche seiner Philosophie überhaupt als
endgiltige Grundlage, anstatt der wissenschaftlichen Basis, die innere
Eingebung--seine eigene persönliche Eingebung.

Was war es, das trotz des widerstrebenden Grauens auf der einen und
des mangelnden Beweises auf der anderen Seite einen so umwandelnden
Einfluss auf ihn ausübte? Erst die Lösung dieses Räthsels gewährt
uns einen Einblick in das verborgene Geistesleben Nietzsches, in die
Entstehungsursache seiner Theorien. Eine _neue tiefere Bedeutsamkeit
der Dinge_, ein neues Suchen und Fragen nach den letzten und höchsten
Problemen--dies alles, was Nietzsche als Metaphysiker gekannt, als
Empiriker aber schmerzlich vermisst hatte, das war es, was ihn in die
Mystik seiner Wiederkunftslehre hineintrieb. Mochte auch diese Lehre
mit neuen Seelenqualen für ihn verbunden sein, mochte sie ihn sogar
zermalmen, lieber nahm er das Leiden am Leben auf sich, als in der
Entgötterung und Entgeistung desselben zu beharren. Ausser mit diesem
Leiden konnte er mit allen anderen Leiden fertig werden,--ja er ertrug
sie nicht nur, sondern wusste noch seinen Geist an ihnen zu spornen und
zu stacheln, indem sie ihn lehrten, nach einem Sinn, nach dem tiefsten
Geheimsinn des Lebens unablässig zu suchen und zu forschen. »Hat man
sein _warum_? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem _wie_?«
sagt Nietzsche in der »Götzen-Dämmerung« (I 12). Aber sein warum? als
die Grundsehnsuch seines Lebens, verlangte nach einer ausgiebigen
Beantwortung und vertrug keine Selbstbescheidung.

So begehrte der Philosoph in ihm auch hier nicht danach, von der Qual
einer gefürchteten Lehre errettet, sondern nur, an ihr fruchtbar, an
ihr zum Wissenden und Wahrseher zu werden,--und er begehrte dies so
inbrünstig, dass, selbst mit dem Hinfälligwerden der wissenschaftlichen
Beweisgründe, jener innere Grund Macht genug besass, um eine
schwankende Muthmaassung zu begeisterter Ueberzeugung zu steigern.

Daher wird auch der theoretische Umriss des Wiederkunfts-Gedankens
eigentlich niemals mit klaren Strichen gezeichnet; er bleibt blass
und undeutlich und tritt vollständig zurück hinter den praktischen
Folgerungen, den ethischen und religiösen Consequenzen, die Nietzsche
scheinbar aus ihm ableitet, während sie in Wirklichkeit die innere
Voraussetzung für ihn bilden.

In einem seiner frühesten Werke, in der zweiten der »Unzeitgemässen
Betrachtungen« (Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das
Leben), erwähnt Nietzsche einmal (23), vorübergehend, der
Wiederkehrs-Philosophie der Pythagoräer, als eines geeigneten Mittels,
um »jedes Factum in seiner genau gebildeten Eigenthümlichkeit und
Einzigkeit« zu unverlierbarer Bedeutung zu erheben, fügt aber hinzu,
dass eine solche Lehre in unserem Denken nicht eher Raum beanspruchen
könne, als bis die Astronomie wieder zu Astrologie geworden sei. Gewiss
sind ihm die theoretischen Schwierigkeiten einer modernen Neubelebung
dieser alten Idee in späteren Jahren nicht geringer erschienen, als
zur Zeit seines Glaubens an Schopenhauers Metaphysik. Aber eben diese
Metaphysik deutete ihm damals die Dinge des Lebens in erhebender
Weise und machte damit jede mystische Grübelei überflüssig. Das ewige
Sein hinter dem ungeheuren Werdeprozess der Erscheinungswelt, das
sich in einer jeden Gestaltung derselben objektivirt, gewissermaassen
durch eine jede, als ihr höherer Sinn, hindurchschimmert, Hess
nicht die Sehnsucht aufkommen, diesem Werdeprozess selbst, durch
eine ewige Wiederholung desselben im Kreislauf des Seins, eine über
das Ephemere hinausgehende Bedeutung zuzuschreiben. Erst später,
als Nietzsche vor einer metaphysischen Weiterklärung absah und
unwillkürlich nach einem Ersatz dafür verlangte, drängte sich ihm
jener Gedanke wieder auf. Scheinbar freilich schwächt derselbe den
Pessimismus der positivistischen Lebensauffassung um nichts ab,
ja, eher verschärft er ihn noch; denn die Sinnlosigkeit einer ins
Unendliche verlaufenden Werde-Linie erscheint wegen ihrer unzählbaren
verhüllten Zukunftsmöglichkeiten weniger niederdrückend, als eine stete
Wiederholung des Sinnlosen in sich selbst. Aber charakteristischer
Weise entsprang hieraus die neue Erlösungsphilosophie Nietzsches.
Gerade durch die Verschärfung des Niederdrückenden und Trostlosen, das
in einer nüchternen und kalten Betrachtungsweise des Lebens liegt,
gerade durch den harten Zwang, immer wieder zu einem solchen Leben
zurückkehren zu müssen, sollte der Menschengeist zu seiner höchsten
That angespornt werden: er sollte, gleichsam gepeitscht von Verdruss
und Grauen, rriit gewaltigem Willen dem sinnlosen Leben einen Sinn,
dem zufälligen Werdeprozess des Ganzen ein Ziel geben und damit die
thatsächlich nicht vorhandenen Lebenswerthe aus sich heraus erschaffen.

So kann man sagen, dass Nietzsche, anstatt sich vom Pessimismus
seiner »Freigeisterei« abzuwenden und zur tröstlicheren Metaphysik
zurückzukehren, diesen Pessimismus bis auf das Aeusserste
steigert,--dass er es aber nur thut, um den äussersten Ueberdruss und
Lebensschmerz als ein _Sprungbrett_ zu benutzen, von dem er sich in die
Tiefen seiner Mystik hinabstürzen will.

In der That schien der Wiederkunftsgedanke besonders dazu geeignet,
eine solche Wirkung auszuüben, insofern er sich auf das wirkliche Leben
eines jeden Einzelnen bezieht und sich nicht nur an das philosophirende
Denken, sondern mehr noch an den schaffenden Willen richtet. Dem
Lebensganzen, als einem sinnlosen und zufälligen Ganzen, denkend
gegenüber zu stehen, ist etwas Anderes, als es im Einzelleben immer
aufs neue sinnlos wiederholen zu müssen, ohne ihm jemals entrinnen
zu können;--damit gewinnt die rein abstrakte Betrachtungsweise eine
Richtung auf das Persönliche, und die philosophische Theorie wird
in das empfindliche lebendige Fleisch hineingedrückt, gleich einem
schmerzenden Sporn, der dazu antreiben soll, um jeden Preis eine neue
Hoffnung, einen neuen Lebenssinn, ein neues Lebensziel zu schaffen.

In Bezug auf diesen Optimismus ist Nietzsche's letzte Philosophie
das genaue Gegenbild seiner ersten philosophischen Weltanschauung,
der Schopenhauerischen Metaphysik mit ihrer Verherrlichung
des buddhistischen Ideals der Askese, der Willensverneinung
und Lebens-Abkehr. Die alte indische Lehre von einer ewigen
Wiedergeburt in der Seelenwanderung, als des Fluches, dem ein jeder
verfällt, der nicht bis zur Selbstverneinung durchgedrungen, ist
von Nietzsche geradezu umgekehrt worden. Nicht _Befreiung_ von dem
Wiederkunftszwange, sondern freudige _Bekehrung zu ihm_ ist das Ziel
des höchsten sittlichen Strebens, nicht Nirwana, sondern Sansära
der Name für das höchste Ideal. Diese Korrektur vom Pessimistischen
ins Optimistische ist der eigentliche Unterschied zwischen
Nietzsches ursprünglichem und späterem Denken und stellt in der
Entwickelung dieses einsamen Leidenden einen heldenmüthigen Sieg der
Selbstüberwindung dar. Philosophisch aber ist sie durch die dazwischen
liegende positivistische Geistesperiode Nietzsches vorbereitet
worden, in der dieser das Dasein allerdings erst recht pessimistisch
betrachten, zugleich aber sich auf die Lebenswirklichkeit beschränken
und allen metaphysischen Nebendeutungen derselben entsagen lernte.
Denn sein Optimismus folgt, als philosophische Lebenslehre, aus der
Betonung und Verewigung der Lebensthatsache selbst, als des obersten
Prinzips; durch den gewaltsam bis ins Mystische gesteigerten _Accent_,
den er ihr gab, schuf er sich ihre Vergöttlichung. In den Kreislauf des
Lebens unerbittlich verstrickt, auf ewig an ihn gebunden, müssen wir
»Ja« sagen lernen zu allen seinen Gestaltungen, um sie zu ertragen; nur
durch die Kraft und Freudigkeit eines solchen »Ja« versöhnen wir uns
mit dem Leben, indem wir uns mit ihm identificiren. Dann fühlen wir
uns als einen schöpferischen Theil seines Wesens, ja, als dieses Wesen
selbst in seiner unersättlichen überquellenden Macht und Fülle. Die
_auf Lebenskraft gegründete rückhaltlose Lebensliebe_ ist deshalb das
einzige heilige Moralgesetz des neuen Gesetzgebers; die bis zum Rausch
_entfesselte Lebens-Exaltation_ nimmt die Stelle ein der religiösen
_Erhebung_, ja, eines Gottes-Kultus.

Ueber diesen Umschlag von Pessimismus in Optimismus und über das neue
Ideal der Weltbejahung spricht sich Nietzsche, in »Jenseits von Gut und
Böse« (56), folgendermaassen aus: »Wer, gleich mir, mit irgend einer
räthselhaften Begierde sich lange darum bemüht hat, den Pessimismus
in die Tiefe zu denken und aus der halb christlichen, halb deutschen
Enge und Einfalt zu erlösen, mit der er sich diesem Jahrhundert zuletzt
dargestellt hat, nämlich in Gestalt der Schopenhauerischen Philosophie;
wer wirklich einmal-- -- --in die weltverneinendste aller möglichen
Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat-- -- -- --, der hat
vielleicht ebendamit, ohne dass er es eigentlich wollte, sich die Augen
für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des übermüthigsten,
lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem,
was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es,
_so wie es war und ist_, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus,
_unersättlich da capo_ rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen
Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im
Grunde zu Dem, der gerade dies Schauspiel nöthig hat--und nöthig macht:
weil er immer wieder sich nöthig hat--und nöthig macht-- --Wie? Und
dies wäre nicht--circulus vitiosus deus?«

In diesen Worten ist nicht nur angedeutet, wie ganz für Nietzsche der
Optimismus aus der Verschärfung und Uebertreibung des Pessimismus
hervorgesprungen ist, sondern auch inwiefern seiner neuen Philosophie
ein Charakter religiöser Erhebung eigen ist.

Der Mensch fühlt sich einerseits zum Weltganzen, zum Lebensganzen
mystisch erweitert, sodass sein eigener Untergang, sowie seine eigene
Lebenstragödie gar nicht mehr für ihn vorhanden ist,--und andererseits
wieder verleiht er diesem, an sich zufälligen und sinnlosen,
Lebensganzen eine Verpersönlichung und Vergeistigung, durch die es
zur Gottheit erhoben wird. Welt, Gott und Ich verschmelzen zu einem
einzigen Begriff, aus dem sich nun für das Einzelwesen ebenso gut, wie
aus irgend einer Metaphysik, Ethik oder Religion, ableiten lassen:
eine Norm des Handelns und eine höchste Anbetung. Den Hintergrund der
ganzen Vorstellung aber bildet der Gedanke, dass das Weltganze eine
Fiktion des Menschen sei, der es schafft und, in seinem Gottsein, d.
h. in seiner Wesenseinheit mit der Lebensfülle, es von sich und seinem
schöpferischen und wertheprägenden Willen abhängig weiss. So erklärt
sich das geheimnissvolle Wort in »Jenseits von Gut und Böse« (150): »Um
den Helden herum wird Alles zur Tragödie« (das heisst: der Mensch als
solcher ist gerade in seiner höchsten Entwickelung der Untergehende
und Geopferte), »um den Halbgott herum Alles zum Satyrspiel« (das
heisst: in seiner vollen Hingebung an das Lebensganze lächelt er als
ein Erhobener auf sein eigenes Schicksal herab); »und um Gott herum
wird Alles--wie? vielleicht zur »Welt«?--« (das heisst: durch die
vollkommene Identificirung des Menschen mit dem Leben wird nicht nur
er selbst versöhnt in das Lebensganze aufgenommen, sondern wird auch
dieses absolut in ihn hineingezogen, sodass er zum Gott wird, der die
Welt aus sich entlässt und im Weltschaffen unausgesetzt sein Wesen
äussert).

Und hier stossen wir wieder auf den Grundgedanken in Nietzsches
Philosophie, der die Wiederkunftslehre, wie alle seine Lehren, in
ihm hat entstehen lassen: auf jene ungeheure Vergöttlichung des
Schöpfer-Philosophen. In ihm ruhen Anfang und Ende dieser Philosophie,
und map kann sagen, dass auch der abstrakteste Zug des Systems ein
Versuch ist, seine gewaltigen Uebermenschen-Züge zu zeichnen. Wir
haben gesehen, dass er, sowohl innerhalb der Logik wie der Ethik, zu
einem Inbegriff des Lebensganzen erhoben wurde, als das Ueber-Genie,
das alles Andere in sich trägt. Wir haben ferner gesehen, wie, in
Nietzsches Aesthetik, seine Bedeutung ins Religiös-Mystische derart
zugespitzt wurde, dass er sich vom Bloss-Menschlichen unterschied und
als Gotteswesen das Menschenwesen mit umfasste. Aber erst auf Grund
der Wiederkunftslehre wächst Alles zu einer einzigen gigantischen
Gestalt zusammen, denn nur der Umstand, dass der Weltverlauf kein
_unendlicher_, sondern ein sich in seiner Begrenzung _stetig
wiederholender_ ist, macht es möglich, ein Ueberwesen zu construiren,
in dem der ganze Weltverlauf ruht und sich abschliesst. Nur durch ein
solches gewinnt derselbe endgiltig Sinn und Ziel und die _Richtung_
auf die erlösende Schöpfung des Uebermenschen,--nur so wird diese
letztere zu mehr als einer Hypothese,--wird sie zu einer _That_.
Daher sehen wir auch, dass Nietzsche diese seine fundamentalste und
zugleich mystischeste Lehre sozusagen nicht in seinem eigenen Namen
vorträgt, sondern in dem seines Zarathustra; nicht der Denker und
Mensch soll sie vortragen, sondern Der, dem Gewalt vergehen ist, sie
in beseligende Erlösung umzusetzen.[9] Streift aber Nietzsche je
einmal in seinen Aphorismen den Wiederkunfts-Gedanken, danm verstummt
er mit einer Geberde des Schreckens und der Ehrfurcht:--Aber was
rede ich da? Genug! Genug! An dieser Stelle geziemt mir nur Eins, zu
schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein
freisteht, einem »Zukünftigeren«, einem Stärkeren, als ich bin,--was
allein _Zarathustra_ freisteht, _Zarathustra_ dem _Gottlosen_ ...« (Zur
Genealogie der Moral II 25.)

Und die seelische Bedeutung der Zarathustra-Gestalt für Nietzsches
Wesen selbst wird ebenfalls erst völlig deutlich hier, wo sie als
Träger der Wiederkunftslehre auftritt. Er glaubte sie in sich enthalten
wie ein mystisches Wesen, aber unterschieden von seiner natürlichen
und menschlichen Existenzform als Nietzsche. In seiner zufälligen
Zeiterscheinung, körperlich und geistig bedingt durch die Umstände
und Wechselfälle seines vorübergehenden Lebens, betrachtete Nietzsche
sich als einen »Dekadenten«, gleich den Anderen, nur wert und dazu
bestimmt unterzugehen. Aber andererseits hielt Nietzsche sich für das,
nothwendig krankhaft disponirte, Medium, durch welches die Ewigkeit
aller Zeiten sich ihrer selbst und ihres Sinnes bewusst wird,--für den
fleischgewordenen Menschheitsgenius selbst, in dem die Vergangenheit
der Gegenwart das Räthsel aller Zukunft löst. So glaubte er das in sich
zu verkörpern, was er als höchste Bedeutung menschlicher Dekadenzform
geschildert hatte: er fühlte sich krank in den Geburtswehen, die einem
übermenschlichen Wesen galten, er fühlte sich als einen Untergehenden
und Zerbrechenden zu Gunsten einer höchsten Neuschöpfung, welche die
Welt erlösen sollte:--»Dass der Schaffende selber das Kind sei, das
neu geboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein wollen und der
Schmerz der Gebärerin.« (Also sprach Zarathustra II 7.)

Zarathustra ist also das Kind, sowie gleichzeitig der Gott Nietzsches,
sowohl die That oder Kunstschöpfung eines Einzelnen, als auch die
Zusammenfassung dieses Einzelmenschen mit der ganzen Linie Mensch,
mit dem _Menschheitssinn_ selbst. Er ist »Geschöpf und Schöpfer«,
der »Stärkere, Zukünftigere«, der die leidende menschliche
Nietzsche-Erscheinung überragt,--er ist der »Ueber-Nietzsche«. Aus
ihm spricht deshalb auch nicht das Erleben und Verstehen eines
Einzelnen, sondern das Menschheitsbewusstsein selbst von seinen
fernsten Ursprüngen an,-- --daher seine Worte: »Ich gehöre nicht zu
Denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf. Ist denn mein Erleben
von Gestern? Das ist lange her, dass ich die Gründe meiner Meinungen
erlebte. Müsste ich nicht ein Fass sein von Gedächtniss, wenn ich auch
meine Gründe bei mir haben wollte?« (Also sprach Zarathustra II 68.)

So entsteht ein wundersames Gedankenspiel, in dem Nietzsche und sein
Zarathustra unablässig in einander überzugehen und sich wieder
von einander zu lösen scheinen. Vollständig durchsichtig wird dies
für den, der weiss, in wie vielen kleinen, rein persönlichen Zügen
Nietzsche sich selbst in seinen Zarathustra hineingeheimnisst hat, und
bis zu welch visionärer Verzückung sich ihm dieses ganze Mysterium
steigerte. Hieraus erklärt sich auch das unerhörte Selbstbewusstsein,
mit dem er von seinem Buche spricht, und das ihn einmal in die Worte
ausbrechen lässt: »ein Buch, so tief, so fremd, dass sechs Sätze daraus
verstanden, d. h. erlebt haben, in eine höhere Ordnung der Sterblichen
erhebt!«

War seine Zarathustra-Dichtung für ihn das Werk, durch das aus einem
Menschlichen ein Uebermenschliches herausgeboren wurde, so mag er
sein unveröffentlichtes, nur im ersten Theile vollendetes Hauptwerk
»Der Wille zur Macht« gewissermaassen als von der Zarathustra-Gestalt
geschaffen gedacht haben,--d. h. von einem Ewigen und Freien,
dem allein eine »Umwerthung aller Werthe« gelingen kann, weil er
ausser jeder Zeit und jedes Einflusses dasteht, als ein schlechthin
Unabhängiger, Alles in sich Begreifender und Umfassender. Nur so ist
Nietzsches Behauptung in der »Götzen-Dämmerung« (IX 51) zu verstehen:
»Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt,
meinen _Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste_.--«
Im ersten Falle soll das Uebermenschliche den Tiefen des
Nietzsche-Menschenthums entstiegen sein, im zweiten schwebt es bereits
frei schaffend über demselben.

So mystisch-geheimnissvoll diese Zarathustra-Figur auch in ihrer
Weltbedeutung gefasst ist, sö streng logisch schliesst sie sich
doch in ihrer Gestaltung an Nietzsches Ausführungen über das
Wesen des Genialen, des Willensfreien und des Atavistischen, als
des Zukunftbedingenden, an. Die Betrachtung dieser Theorien hat
gezeigt, dass sie alle auf die mögliche Erschaffung eines Ueberwesens
hinzielen; und es ist interessant zu verfolgen, wie früh schon sich
in Nietzsche verwandte Gedanken geregt haben, die sich später,
aus seiner ersten philosophischen Periode herübergenommen, durch
seine positivistische Weltanschauung hindurchgearbeitet haben, um
schliesslich in seiner letzten Philosophie zu neuem Leben erweckt
zu werden. Das Genie der Ethik und Aesthetik umfasst bereits bei
Schopenhauer Sinn und Wesensgrund der ganzen Welt und Menschheit
und thutdies in einem jeden solchen Genius gleichwertig aufs neue,
aber Sinn und Wesensgrund bedeuten bei diesem das hindurchleuchtende
ewige Sein, das metaphysische Ding an sich, ganz losgelöst von der
thatsächlichen Entwickelungsgeschichte von Welt und Menschheit.
Nietzsche aber, der von diesen metaphysischen Vorstellungen absieht,
braucht das Auftreten des Genius in einem einzigen, isolirten
Ueberwesen, das eine Mehrzahl von seinesgleichen ausschliesst und
die thatsächlich gegebene Erscheinung von Welt und Menschheit in
sich begreift. In »Menschliches, Allzumenschliches« (II 185) sagt
er noch im Hinblick auf den Schopenhauerischen Gedanken, den er in
positivistischem Sinne modificirt: »Wenn Genialität, nach Schopenhauers
Beobachtung, in der zusammenhängenden und lebendigen Erinnerung an
das Selbst-Erlebte besteht, so möchte im Streben nach Erkenntniss des
gesammten historischen Gewordenseins-- -- --ein Streben nach Genialität
der Menschheit im Ganzen zu erkennen sein. Die vollendet gedachte
Historie wäre kosmisches Selbstbewusstsein.« Dazu stelle man auch die
nachfolgenden Aeusserungen in der »fröhlichen Wissenschaft«, so (34)
den Aphorismus _Historia abscondita_: »Jeder grosse Mensch hat eine
rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die
Wage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus
ihren Schlupfwinkeln--hinein in _seine_ Sonne.« Ferner (337): »-- --
--wer die Geschichte der Menschen insgesammt als _eigene_ _Geschichte_
zu fühlen weiss, der empfindet in einer ungeheuren Verallgemeinerung
allen jenen Gram des Kranken, der an die Gesundheit, des Greises, der
an den Jugendtraum denkt, des Liebenden, der der Geliebten beraubt
wird, des Märtyrers, dem sein Ideal zu Grunde geht, des Helden am Abend
der Schlacht, welche Nichts entschieden hat und doch ihm Wunden und
den Verlust des Freundes brachte--; aber diese ungeheure Summe von
?Gram aller Art tragen, tragen können und nun doch noch der Held sein,
der beim Anbruch eines zweiten Schlachttages die Morgenröthe und sein
Glück begrüsst, als der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden vor
sich und hinter sich, als der Erbe aller Vornehmheit, alles vergangenen
Geistes und der verpflichtete Erbe, als der Adeligste aller alten
Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen
noch keine Zeit sah und träumte: diess Alles auf seine Seele nehmen,
Aeltestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der
Menschheit: diess Alles endlich in Einer Seele haben und in Ein Gefühl
zusammendrängen:--diess müsste doch ein Glück ergeben, das bisher der
Mensch noch nicht kannte,--eines Gottes Glück voller Macht und Liebe,
voller Thränen und voll Lachens, ein Glück, welches, wie die Sonne am
Abend, ? fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichthume wegschenkt
und in's Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt,
wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dieses
göttliche Gefühl hiesse dann--Menschlichkeit!«

Aber die menschliche Genialität wird für Nietzsche in immer geringerem
Grade durch das Erkennen oder das erworbene Nachempfinden des
historisch Gewordenen ausgelöst, denn die Fülle des Gewordenen liegt
im Menschen selbst bereit und kann durch tiefere Selbstversenkung
hervorgeholt und zum Bewusstsein gebracht werden. Schon in
»Menschliches, Allzumenschliches« (I 14) weist er auf die Eigenschaft
des Affektes, hin, rückwirkend Schlummerndes in uns zu wecken, das
vergangenen Zuständen angehört: »Alle _stärkeren_ Stimmungen bringen
ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie
wühlen gleichsam das Gedächtniss auf.« Aber nicht nur hinsichtlich der
individuellen Vergangenheit mit ihren Affekten, sondern gleichzeitig
auch dessen, was sich an Gedanken und Empfindungen im Laufe der
Menschheits-Entwicklung abgesetzt hat,--denn der Einzelne ist ein
Erzeugniss derselben und enthält ihre verschiedenen Stufen noch
fortdauernd in sich. Hierauf ist in der »fröhlichen Wissenschaft« (54)
Bezug genommen, in dem Aphorismus »_Das Bewusstsein vom Scheine_«: »Wie
wundervoll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch fühle ich
mich mit meiner Erkenntniss zum gesammten Dasein gestellt! Ich habe für
mich _entdeckt_, dass die alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte
Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet,
fortliebt, forthasst, fortschliesst,--ich bin plötzlich mitten in
diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume
und dass ich weiterträumen _muss_, um nicht zu Grunde zu gehen: wie
der Nachtwandler weiterträumen muss, um nicht hinabzustürzen. Was
ist mir jetzt »Schein«! Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines
Wesens,--was weiss ich von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben
nur die Prädikate seines Scheines! Wahrlich nicht eine todte Maske,
die man einem unbekannten aufsetzen und auch wohl abnehmen könnte!
Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in
seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein
und Irrlicht und Geistertanz und nichts Mehr ist,--dass unter allen
diesen Träumenden auch ich, der »Erkennende«, meinen Tanz tanze, dass
der Erkennende ein Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge zu
ziehen und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, und dass die
erhabene Consequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das
höchste Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und
die Allverständlichkeit aller dieser Träumenden unter einander und eben
damit _die Dauer des Traumes aufrecht zu erhalten_.«

Hier hat Nietzsche schon die Wendung gemacht, die den Uebergang zu
seiner späteren Mystik bildet. In dieser ist die Welt ihm zu einer
Fiktion des Erkennenden geworden, der, wenn er, wie aus nachtwandelndem
Traume, zum Bewusstsein der Fiktion erwacht, sich wohl als Herr und
Schöpfer fühlen kann, der den Sinn dieses Scheines, dieses Traumes
gebieterisch bestimmt. Umgestaltet durch die mystische Vorstellung,
dass das Erwachen aus dem Traume des Alllebens zugleich zu einer
schöpferischen welterlösenden That wird, kehrt derselbe Gedanke
später in wundervoll dichterischer Einkleidung in dem Lied der »alten
Brumm-Glocke« (Also sprach Zarathustra III 110 f.) wieder, die in
tiefer Mitternacht den beginnenden Tag des Erwachenden durch zwölf
Schläge verkündet:


                             _Eins_!

                         Oh Mensch! gieb Acht!

                             _Zwei_!

                  Was spricht die tiefe Mitternacht?

                             _Drei_!

                     »Ich schlief, ich schlief--,

                             _Vier_!

                 »Aus tiefem Traum bin ich erwacht:--

                             _Fünf_!

                          »Die Welt ist tief,

                             _Sechs_!

                   »Und tiefer als der Tag gedacht.

                            _Sieben_!

                         »Tief ist ihr Weh--,

                             _Acht_!

                   »Lust--tiefer noch als Herzeleid:

                             _Neun_!

                         »Weh spricht: Vergeh!

                             _Zehn_!

                   »Doch alle Lust will Ewigkeit--,

                              _Elf_!

                    »--will tiefe, tiefe Ewigkeit!

                             _Zwölf_!


Die schliessliche Ausgestaltung dieser Vorstellungen enthält wiederum
starke Anklänge an Nietzsches Schopenhauerische Periode und an
die indische Philosophie, jedoch immer mit der charakteristischen
Modifikation, dass das Endziel sowie der dahin führende Weg, anstatt im
_Lebenserlöschen_, in der _Lebenssteigerung_ zu suchen sei. Aber wie
sehr sich trotzdem diese beiden Gefühlsauffassungen des Daseinsproblems
einander nähern, ergiebt sich nicht zum wenigsten daraus, dass,
nach neuerer Auffassung, selbst die indische Lebensabkehr, dieser
extremste Ausdruck der weltverneinenden Philosophie, eigentlich
nicht die Befreiung vom Leben anstrebt, sondern nur die Erlösung
vom Immer-wieder-sterben-müssen infolge der Seelenwanderung. Es ist
schliesslich nichts als eine andere Form der Todesfurcht, die in den
übrigen Religionen das Motiv des Unsterblichkeitsglaubens abgegeben
hat;--es ist eine Furcht, deren Beschwichtigung ebenso wohl erreicht
werden kann durch ein Aufgehobensein in die Lebensewigkeit, bei voller
Identificirung des Einzelnen mit der Kraft und Fülle des Lebensganzen,
als auch durch ein Abstreifen und Verflüchtigen aller Lebenstriebe, mit
denen Tod, Erlöschen, Vergehen unabtrennbar verknüpft sind.[10]

Aber der Reiz, den für Nietzsche eine mystische Auslegung von
Traumzuständen und die Auffassung des Weltbewusstseins als eines
Traumbewusstseins besass, hatte noch einen persönlichen Grund. In der
That handelte es sich dabei für ihn um mehr als nur um ein Gleichniss
oder Analogon,--denn er war überzeugt, dass speciell in den Zuständen
des Rausches und Traumes eine Fülle von Vergangenheit im Menschen
zur Gegenwart wieder erweckt werden könne. Träume spielten stets
eine grosse Rolle in seinem Leben und Denken, und in seinen letzten
Jahren entnahm er ihnen oft, wie einer Räthsellösung, den Inhalt
seiner Lehre. In dieser Weise verwendet er zum Beispiel den in »Also
sprach Zarathustra« (II 80 ff.) erzählten Traum, den er im Herbst
1882 in Leipzig gehabt hatte; er wurde nicht müde, ihn deutend mit
sich herumzutragen. Eine geistreiche oder dem Gefühl des Träumenden
glücklich angepasste Interpretation konnte ihn dann beglücken und
förmlich erlösen. So erklärt es sich, dass er schon früh sich mit
diesem Gegenstände beschäftigt hat, aber indem er noch gewagte
Deutungen abwies, wie er sie später bevorzugte. Er hat über ihn an
verschiedenen Stellen von »Menschliches, Allzumenschliches« gesprochen.
(Ivlan vergleiche beispielsweise den Aphorismus I 12 »_Traum und
Kultur_« und 113 »_Logik der Traumes_«.) Dort meint er noch, dass
die Verworrenheit und das Ungeordnete der Vorstellungen im Traume, der
Mangel an Klarheit und Logik und an richtigem Kausalzusammenhang, der
im Schläfe unsere Art zu urtheilen und zu schliessen kennzeichne, an
die Zustände der frühesten Menschheit erinnern, die, ebenso wie noch
heute die Wilden, _auch im Wachen_ so verfahren habe, wie wir jetzt
im Traume. In der »Morgenröthe« hingegen spricht er schon nicht mehr
von einer derartigen Analogie, sondern geradezu von der möglichen
Reproducirung eines Stückes Vergangenheit im Traume. Und in der
»fröhlichen Wissenschaft« steigert sich ihm hier und da der Traum
schon zu einem positiven Abbild des Lebens und der Weltvergangenheit im
Einzelmenschen. Von hier war es nur noch ein Schritt zu einem dritten
Gedanken, der die beiden vorhergehenden zusammenfasste: den einen, dass
im Traume die Vergangenheit reproducirt werde,--den anderen, dass das
Weltganze und die Lebensentwickelung philosophisch einer Traumfiktion
zu vergleichen sei,--aus deren Verbindung sich dann ergab, dass der
Traum, unter gewissen Umständen, die Wiederbelebung alles gewesenen
Lebens sei,--das Leben hinwiederum in seinem tiefsten Wesen ein Traum,
dessen Sinn und Bedeutung wir, als Erwachende, zu bestimmen haben.
Das Nämliche gilt von allen dem Traume verwandten Zuständen, von
allen, die tief genug hinabführen könnten in das Chaotische, Dunkle,
Unergründliche des Lebens-Untergrundes,--nicht nur der gewesenen
Menschheit, sondern noch unter diese hinab bis zu Dem, woraus auch
sie erst geworden ist. Denn der friedliche Traum reicht hierfür nicht
aus; es bedarf eines viel wirklicheren und selbst furchtbareren
Erlebens: das Chaos aufwühlender Leidenschaften und orgiastischer
Dionysos-Zustände,-- --ja, _der Wahnsinn selbst_, als ein Zurücksinken
in die Unentwirrbarkeit aller Gefühle und Vorstellungen, erschien
ihm als der letzte Weg zu den in uns ruhenden Urtiefen vergangener
Menschheitsschichten.

Schon früh hatte er über die Bedeutung des Wahnsinns als einer
möglichen Erkenntnissquelle gegrübelt, und über den Sinn, der darin
gelegen haben möge, dass die Alten ihn als ein Zeichen der Erwählung
ansahen. In der »fröhlichen Wissenschaft« sagt er in Bezug darauf:
»Nur wer schreckt--führt«, und in der »Morgenröthe« (312) stehen die
folgenden, merkwürdigen Worte, die an seine spätere Vorstellung eines
die gesammte Menschheits-Vergangenheit verkörpernden Zukunftsgenius
erinnern: »In den Ausbrüchen der Leidenschaft und im Phantasiren
des Traumes und des Irrsinns entdeckt der Mensch seine und der
Menschheit Vorgeschichte wieder:-- -- --; sein Gedächtniss _greift
einmal weit genug rückwärts_, während sein civilisirter Zustand sich
aus dem Vergessen dieser Urerfahrungen, also aus dem Nachlassen
jenes Gedächtnisses entwickelt. Wer als ein Vergesslicher höchster
Gattung allem Diesen immerdar sehr fern geblieben ist, _versteht
die Menschen nicht_.« Damals wünschte jedoch Nietzsche, selbst ein
solcher »Vergesslicher« zu sein, da er die menschliche Grösse noch im
»affektlosen Erkennenden« suchte und in dem, was »von der Vernunft
geboren« ist. Damals nannte er es noch eine grausige Verwirrung
ehemaliger Zeiten, dass ihnen von neuen grossen Erkenntnissen der
Wahnsinn so oft unabtrennbar erschienen sei: »-- --wenn--trotzdem
neue und abweichende Gedanken, Werthschätzungen, Triebe immer
wieder herausbrachen, so geschah diess unter einer schauderhaften
Geleitschaft: fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen
Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches
und Aberglaubens bricht. Begreift ihr es, wesshalb es der Wahnsinn
sein musste? Etwas in Stimme? und Gebärde so Grausenhaftes und
Unberechenbares-- -- --? Etwas, das so sichtbar das Zeichen völliger
Unfreiwilligkeit trug,-- -- --, das den Wahnsinnigen dergestalt
als Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien?--
-- --Gehen wir noch einen Schritt weiter: allen jenen überlegenen
Menschen, welche es unwiderstehlich dahin zog, das Joch irgend
einer Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zu geben, blieb,
_wenn sie nicht wirklich wahnsinnig waren_, Nichts übrig, als sich
wahnsinnig zu machen oder zu stellen-- -- --. »Wie macht man sich
wahnsinnig, wenn man es nicht ist-- -- --?« diesem entsetzlichen
Gedankengange haben fast alle bedeutenden Menschen der älteren
Civilisation nachgehangen;-- -- --Wer wagt es, einen Blick in die
Wildniss bitterster und überflüssigster Seelennöthe zu thun, in
welchen wahrscheinlich gerade die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten
geschmachtet haben! Jene Seufzer der Einsamen und Verstörten zu hören:
»Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahnsinn, dass ich
endlich an mich selber glaube! Gebt Delirien und Zuckungen, plötzliche
Lichter und Finsternisse, schreckt mich mit Frost und Gluth, wie sie
kein Sterblicher noch empfand, mit Getöse und umgehenden Gestalten,
lasst mich heulen und winseln und wie ein Thier kriechen: nur dass ich
bei mir selber Glauben finde! Der Zweifel frisst mich auf, ich habe
das Gesetz getödtet, das Gesetz ängstigt mich wie ein Leichnam einen
Lebendigen; wenn ich nicht mehr bin als das Gesetz, so bin ich der
Verworfenste von Allen.-- -- -- --.« (Morgenröthe 14.)

Wie in der »Morgenröthe« so oft gerade Gedanken, die schon heimlich
auf Nietzsche zu wirken begonnen hatten, erklärt oder widerlegt
werden, so zeigt auch diese Schilderung, in welcher Weise ihm später
Rauschzustände als Beweise besonderer Erwählung galten. Er ging
aus von der Trostlosigkeit und dem Grauenhaften alles Bestehenden,
von einem Zerrbilde der Wirklichkeit, das aus einer Karikirung des
Positivismus in ihm entstanden war, und wollte an dessen Stelle
ein Neues und Herrliches _schaffen_. Aber da dieses Geschaffene
ganz ausschliesslich auf ihm beruhte, so stand und fiel es mit
seiner eigenen Zuversicht,--an sich war es ja gar nicht vorhanden.
Tausendfältig müssen daher die Zweifel, die ihn quälten, gewesen
sein, sobald die Stimmung auch nur auf einen Augenblick sank;
unerbittlich das Verlangen, in dieser schwankenden, zweifelnden
Menschlichkeit sich selbst von einem selbstsicheren, ewiggewissen
Wesen, Nietzsche za unterscheiden von Zarathustra. Mochte dann jenem
auch das Schauerlichste als Loos im zeitlich gegebenen Selbstuntergang
zufallen,--für diesen blieb es ein Zeichen der Erwählung und Erhöhung;
mochte jener im Zustande des Schauerlich-Chaotischen selbst bis zu
seiner Thierwerdung hinabsteigen müssen,--für diesen war es nur der
Ausdruck des Allumfassens, das auch das Niederste und Tiefste in
sich aufnimmt. In diesem Sinne heisst es in der »Götzen-Dämmerung«
(13) vom Philosophen höchsten Ranges, dass er eine Art Verbindung
von Thier und Gott sei, und ein verwandter Gedanke liegt auch in dem
Ausspruch über den Erkennenden als Schöpfer-Philosophen (Jenseits
von Gut und Böse 101): »Heute möchte sich ein Erkennender leicht als
Thierwerdung Gottes fühlen.« Ja, diese Maske des Niedersten könnte vor
den Menschen die passendste Darstellungsform des Höchsten sein, denn
in ihr beschämt er sie nicht und verbirgt auf wirksame Weise seinen
Glanz: »Sollte nicht erst der _Gegensatz_ die rechte Verkleidung sein,
in der die Scham eines Gottes einhergienge?« (Jenseits von Gut und
Böse 40). Hierin tritt uns der letzte Versuch des Sich-Verbergens bei
Nietzsche entgegen, ein letztes Mal sein Verlangen nach der Maske.
Scheinbar soll sie den Gott in ein allzumenschliches Gewand hüllen,
während ihr in Wahrheit das erschütternde Bedürfniss zu Grunde liegt,
das furchtbare Schicksal, das Nietzsches Menschengeist drohte, ins
Göttliche umzudeuten, um es zu ertragen. In dem Aphorismus »_Hier ist
die Aussicht frei_« (Götzen-Dämmerung IX 46) giebt er eine Andeutung,
dass es Grösse der Seele sein könne, »_dem Unwürdigsten_« ohne
Furcht entgegenzugehen: »Ein Weib, das liebt, opfert seine Ehre; ein
Erkennender, welcher »liebt«, opfert vielleicht seine Menschlichkeit;
ein Gott, welcher liebte, ward Jude ...«

So sehen wir die Selbstopferung und Selbstvergewaltigung, die gewollte
Qual der Zwiespältigkeit nicht nur gesteigert bis hinauf in das
Geistigste, sondern auch hineingetragen bis in das Persönlichste.
Immer deutlicher spitzt sich der ganze Gedankengang zu in einer
selbstvernichtenden _That_, durch welche, in persönlichem Handeln
und Erdulden, die Erlösung vollendet wird. Liess es sich deutlich
verfolgen, wie Nietzsches Innenleben sich in seiner Zukunftslehre
in philosophischen Formen ausspricht, so sind wir hier an den Punkt
gelangt, wo seine Philosophie sich in ein allerpersönlichstes Erleben
zurückverwandelt,--entsprechend dem Wort: »ich trinke die Flammen
in mich zurück, die aus mir brechen« (Also sprach Zarathustra II
35). Und waren die Grundzüge seines Denkens nur Linien, die sich,
anstatt zu einem abstrakten System, zu den ungeheuren Umrissen einer
Gottes-Gestalt, einer mystischen Selbst-Apotheose, zusammenschlcssen,
so schlägt jetzt die Beseligung der Selbstvergöttlichung um in die
_rein menschliche Lebenstragödie_. Zarathustras erlösende Weltthat
ist zugleich Nietzsches Untergang, Zarathustras göttliches Recht der
Lebensdeutung und der Umwerthung aller Werthe wird nur um den Preis
erlangt, einzugehen in jenen Urgrund des Lebens, der sich in Nietzsches
Menschendasein darstellt als die dunkle Tiefe des Wahnsinns. »Wer
aber meiner Art ist«, sagt Zarathustra (III 2), »der entgeht einer
solchen Stunde nicht: der Stunde, die zu ihm redet: »Jetzo erst gehst
du deinen Weg der Grösse! Gipfel und Abgrund--das ist jetzt in Eins
beschlossen!« Das Grauen Zarathustras vor diesem unergründlichen
Versinken, vor diesem »Abgrunds-Gedanken«, ist daher zugleich
Nietzsches Grauen vor seinem persönlichen Schicksal; ununterscheidbar
verschmilzt beides, in der Dichtung, die ja nichts ist als die
Schilderung des verklärten Nietzsche-Lebens, des Ueber-Nietzschethums.

»Also rief mir Alles in Zeichen zu: »es ist Zeit!« Aber ich--hörte
nicht: bis endlich mein Abgrund sich rührte und mein Gedanke mich biss.
Ach, abgründlicher Gedanke, der du _mein_ Gedanke bist! Wann finde
ich die Stärke, dich graben zu hören und nicht mehr zu zittern? Bis
zur Kehle hinauf klopft mir das Herz, wenn ich dich graben höre! Dein
Schweigen noch will mich würgen, du abgründlich Schweigender! Noch
wagte ich niemals, dich _herauf_ zü rufen: genug schon, dass ich dich
mit mir--trug!« (Also sprach Zarathustra III 16). Dieser erschütternden
Worte muss man eingedenk sein, wenn man in Nietzsches Dichtung die
Beschreibung der »stillsten Stunde« liest, in der ihm das Leben selbst
befiehlt, seinen Gedanken zu erleben und zu verkünden,--das lachende
selbstselige Leben, welches über das Leid des Einzelnen hinweglacht,
weil es in seiner eigenen Fülle Seligkeit ist:

»Bis in die Zehen hinein erschrickt er, darob, dass ihm der Boden
weicht und der Traum beginnt. Dieses sage ich euch zum Gleichniss.
Gestern, zur stillsten Stunde, wich mir der Boden: der Traum begann.
Der Zeiger rückte, die Uhr meines Lebens holte Athem--, nie hörte ich
solche Stille um mich: also dass mein Herz erschrak. Dann sprach es
ohne Stimme zu mir: »_Du weisst es, Zarathustra_?«--Und ich schrie
vor Schrecken bei diesem Flüstern, und das Blut wich aus meinem
Gesichte:-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --Da geschah
ein Lachen um mich. Wehe, wie diess Lachen mir die Eingeweide zerriss
und das Herz aufschlitzte!-- -- -- -- -- -- --Und wieder lachte es und
floh: dann wurde es stille um mich wie mit einer zwiefachen Stille. Ich
aber lag am Boden, und der Schweiss floss mir von den Gliedern.-- -- --
--« Also sprach Zarathustra II 97 ff.

Hieran schliesst sich (III 92 ff.) das Kapitel »Der Genesende«:

»Eines Morgens,-- -- --, sprang Zarathustra von seinem Lager auf wie
ein Toller, schrie mit furchtbarer Stimme und gebärdete sich, als _ob
noch Einer_[11] auf dem Lager läge, der nicht davon aufstehn wolle;--
-- -- -- -- --Zarathustra aber redete diese Worte:

Herauf, abgründlicher Gedanke, aus meiner Tiefe! Ich bin dein Hahn und
Morgen-Grauen, verschlafener Wurm: auf! auf! Meine Stimme soll dich
schon wach krähen!

Knüpfe die Fessel deiner Ohren los: horche! Denn ich will dich hören!
Auf! Auf! Hier ist Donners genug, _dass auch Gräber horchen lernen_![12]

Und wische den Schlaf und alles Blöde, Blinde aus deinen Augen! Höre
mich auch mit deinen Augen: meine Stimme ist ein Heilmittel noch für
Blindgeborne.

Und bist du erst wach, sollst du mir ewig wach bleiben. Nicht ist
das _meine_ Art, Urgrossmütter aus dem Schlafe wecken, dass ich sie
heisse--weiterschlafen![13]

Du regst dich, dehnst dich, röchelst? Auf! Auf! Nicht röcheln--reden
sollst du mir! Zarathustra ruft dich, der Gottlose!

Ich, Zarathustra, der Fürsprecher des Lebens, der Fürsprecher
des Leidens, der Fürsprecher des Kreises-- dich rufe ich, meinen
abgründlichsten Gedanken!

Heil mir! Du kommst--ich höre dich! Mein Abgrund _redet_, meine letzte
Tiefe habe ich an's Licht gestülpt!

Heil mir! Heran! Gieb die Hand-- --ha! lass! Haha!-- --Ekel, Ekel,
Ekel-- -- --wehe mir!«

Das Bild des Wahnsinns steht am Ende der Philosophie Nietzsches als
eine grelle und furchtbare Illustration zu den erkenntnisstheoretischen
Ausführungen, von denen er in seiner Zukunftsphilosophie ausgeht. Denn
den Ausgangspunkt bildete die Auflösung alles Intellektuellen durch
die Herrschaft des Chaotisch-Triebartigen, das jenem Grundlage und
Sinn ist,--die Folgerung aber der Erkenntnisstheorie Nietzsches läuft
hinaus auf den Untergang des Erkennenden zum Behufe der Erfassung
einer höchsten Lebensoffenbarung, auf das »mit Wahnsinn sollst du
geimpft werden« alles Verstandeserkennens. In ergreifender Weise
mischen sich die Ahnung des ihm bevorstehenden persönlichen Schicksals
und die mystische Auffassung des Geisteslebens und seiner Bedeutung
überhaupt in den Worten Zarathustras (II 33): »Geist ist das Leben,
das selber ins Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das
eigne Wissen,--wusstet ihr das schon? Und des Geistes Glück ist diess:
gesalbt zu sein und durch Thränen geweiht zum Opferthier,--wusstet ihr
das schon? _Und die Blindheit des Blinden und sein Suchen und Tappen
soll noch von der Macht der Sonne zeugen, in die er schaute_,--wusstet
ihr das schon?«

So sollte der Wahnsinn noch zeugen von der Macht der Lebenswahrheit, an
deren Glanz der Menschengeist erblindet. Denn kein Verstand führt in
die Tiefe der Lebensfülle selbst hinein,--nicht hineinklettern lässt es
sich in diese Fülle, Stufe um Stufe, Gedanke um Gedanke: »Und wenn dir
nunmehr alle Leitern fehlen, so musst du verstehen, _noch auf deinen
eigenen Kopf zu steigen_: wie wolltest du anders aufwärts steigen?--
-- -- -- --Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun
und Hintergrund: so musst du schon über dich selber steigen,--hinan,
hinauf, bis du auch deine Sterne noch _unter_ dir hast!« (Also sprach
Zarathustra III 2 f.)

Hiermit scheint ein Ende erreicht und die Entwickelung des Ganzen
nothwendig abgeschlossen zu sein: der unersättliche leidenschaftliche
Drang, der diesen Geist trieb und steigerte, hat ihn zuletzt aufgezehrt
und in sich zurückverschlungen. Für uns, die Draussenstehenden,
umnachtet ihn von jetzt an völliges Dunkel, tritt er ein in eine
Welt allerindividuellsten inneren Erlebens, vor der die Gedanken,
die ihn begleiteten, Halt machen müssen: ein tief erschütterndes
Schweigen breitet sich für uns darüber aus. Aber nicht nur _können_
wir seinem Geiste in die letzte Verwandlung hinein nicht mehr folgen,
welche er mit Darangabe seiner selbst erreicht, wir _sollen_ ihm auch
nicht folgen: darin eben ruht ihm der Beweis seiner Wahrheit, die
völlig eins geworden ist mit allen Geheimnissen und Verborgenheiten
seiner Innerlichkeit. In seine letzte Einsamkeit hat er sich vor uns
zurückgezogen und die Pforte hinter sich geschlossen. An ihrem Eingang
aber leuchten uns die Worte entgegen: -nun ist deine letzte Zuflucht
worden, was bisher deine _letzte Gefahr_ hiess! das muss nun dein
bester Muth sein, dass es hinter dir keinen Weg mehr giebt!-- --hier
soll dir Keiner nachschleichen! Dein Fuss selber löschte hinter dir den
Weg aus, und über ihm steht geschrieben: Unmöglichkeit.« (Also sprach
Zarathustra III 2.)

Und als einzige Kunde, dass auch noch hinter dieser Pforte eine uns
unzugängliche Welt der Geisteswandlungen liegt, verhallt von innen
her leise die Klage: »Ach, meinen härtesten Weg muss ich hinan! Ach,
ich begann meine einsamste Wanderung!-- -- --Eben begann meine letzte
Einsamkeit. Ach, diese schwarze traurige See unter mir! Ach, diese
schwangere nächtliche Verdrossenheit! Ach, Schicksal und See! Zu euch
muss ich nun _hinab_ steigen!-- -- --tiefer hinab in den Schmerz als
ich jemals stieg, bis hinein in seine schwärzeste Fluth! So will es
mein Schicksal: Wohlan! ich bin bereit.

Woher kommen die höchsten Berge? so fragte ich einst. Da lernte ich,
dass sie aus dem Meere kommen. Diess Zeugniss ist in ihr Gestein
geschrieben und in die Wände ihrer Gipfel. _Aus dem Tiefsten muss das
Höchste zu seiner Höhe kommen_.--« (III 2 ff.)

So sind Tiefe und Höhe, Abgrund des Wahnsinns und Gipfel des
Wahrheitssinns ineinander verschlungen: »Vor meinem höchsten Berge
stehe ich : _darum_ muss ich erst tiefer hinab als ich jemals stieg«
(III 3). Und so feiert die höchste Selbstvergöttlichung erst ihren
vollen mystischen Sieg in der tiefsten Vernichtung, im Erliegen und
Untergang des Erkennenden. Von den beiden symbolischen Thieren, die um
Zarathustra sind, der Schlange der Erkenntniss und Klugheit und dem
Adler des aufstrebenden königlichen Stolzes, bleibt nur dieser ihm
treu: »Möchte ich klüger sein! Möchte ich klug von Grund aus sein,
gleich meiner Schlange! Aber Unmögliches bitte ich da: so bitte ich
denn meinen Stolz, dass er immer mit meiner Klugheit gehe! Und wenn
mich einst meine Klugheit verlässt:-- --möge mein Stolz dann noch mit
meiner Thorheit fliegen!

--Also begann Zarathustra's Untergang.« (I 26.)

So entschwindet uns Nietzsches Geist in einem Geheimniss von Untergang
und Erhebung: in einer von Adlern umflogenen Dunkelheit.

Es liegt hierin etwas Rührendes und Ergreifendes, wie in der Rückkehr
eines müden Kindes in seine ursprüngliche Glaubensheimat, in der
es noch keines Verstandes bedurfte, um der höchsten Segnungen und
Offenbarungen theilhaftig zu werden. Nachdem der Geist alle Kreise
durchlaufen und alle Möglichkeiten erschöpft hat, ohne Genüge zu
finden, erkauft er sie sich endlich mit dem höchsten Opfer, der
Opferung seiner selbst. Wir werden an jenes im zweiten Abschnitt
(S. 49) erwähnte Wort Nietzsches erinnert: »wenn Alles durchlaufen
ist,--wohin läuft man alsdann? wie? müsste man nicht wieder beim
Glauben anlangen? Vielleicht bei einem katholischen Glauben? _In jedem
Fall könnte der Kreis wahrscheinlicher sein, als der Stillstand_.«
In der That beschreibt er in seiner Selbstwiederholung einen Kreis.
Und es ist interessant, dass, in dem Maasse als er sich seinem
ursprünglichen Ausgangspunkt nähert, und der Verstand als solcher
bedeutungslos erscheint gegenüber einem mystischen _glaubenheischenden_
Ueberwesen, seine Philosophie immer absolutere und reaktionärere
Züge annimmt, indem er dem eigenen ehemaligen Individualismus die
Wiederherstellung einer absolut geltenden Tradition entgegensetzt
und die Selbstvergottung in religiösen Absolutismus ausmünden lässt.
Es ist deshalb so interessant, weil dieser Verlauf, trotz seiner
pathologischen Voraussetzungen, psychologisch etwas geradezu Typisches
hat: Wenn der religiöse Trieb, vom freien Denken genöthigt, sich streng
individuell auszuleben, sich zuletzt, wie bei Nietzsche, aus dem
eigenen Selbst etwas Göttliches erschafft, dann erzwingt er sich damit
sofort wieder die absolutesten und reaktionärsten Machtbefugnisse, die
je einem objektiv gedachten Gotte zustanden,--bis er den Verstand
selbst, dessen Erkenntnissdrang ihm ursprünglich die Richtung gab,
_absetzt_ und ihm jeden ferneren Einspruch abschneidet. Aus dem
Menschen soll der Gott erstehen, auch wenn der Mensch dies erst durch
eine Rückkehr zu Kindheit und Unmündigkeit ermöglichen müsste. Erst in
dieser Zweitheilung, die er um jeden Preis in sich vollzieht, feiert er
seine Erlösung und mystische Selbstvereinigung im Glauben:


    -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
    Um Mittag war's, da wurde Eins zu Zwei....

    Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss,
    Das Fest der Feste:
    Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste!
    Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss,
    Die Hochzeit kam für Licht und Finsterniss


wie es, am Schlüsse von »Jenseits von Gut und Böse«, in dem
wundervollen Nachgesang »Aus hohen Bergen« heisst.

Das persönliche Schicksal Nietzsches fügt sich, als Schlussstein,
diesem ganzen Gedankengebäude derartig ein, dass man nicht an dem
Einflüsse zweifeln kann, den seine trüben Vorahnungen auf die
Gestaltung seiner Zukunftsphilosophie gehabt haben. Mit gewaltiger
Hand hat er das, was ihn erwartete, hereingezwungen in den Plan des
Ganzen und dienstbar gemacht dem letzten Geheimsinn seiner Philosophie.
Von hier aus hat er, rückwärts blickend, zum ersten Mal sein Leben
und Denken in dem Wechsel seiner Wandlungen als Ganzes überschaut und
dem Werdegang seines Selbst nachträglich einen einheitlichen Sinn von
mystischer Bedeutung untergelegt,--gerade so wie der Schöpfer-Philosoph
dies in Bezug auf das Lebensganze der Menschheit thut. So ward er sich
selbst zum deutenden Gott, der, wenn auch ein wenig gewaltsam, alle
vergangenen Dinge zum Besten, d. h. zum höchsten Endziel, wendet.
»Das Vergangene zukunftdeutend« zu machen, ist jetzt sein Wahlspruch,
also das gerade Gegentheil dessen, was er vordem, inmitten seiner
Wandlungen, angestrebt hatte, nämlich: das Vergangene immer wieder
rasch abzustossen, um es möglichst vollkommen von einer immer neuen
Zukunft zu trennen.

Hierin ist auch schon der starke Einfluss seiner früheren Standpunkte
auf die Gedanken seiner Zukunftsphilosophie begründet. Ehemals sah er
den Beweis geistiger Unabhängigkeit in der Fähigkeit, sich stets wieder
von den ergriffenen Wahrheiten loslösen zu können, und es erschien
ihm daher unwesentlich, ob er im Ergreifen derselben sich an Andere
angelehnt hatte. Jetzt fordert seine allumfassende Unabhängigkeit,
dass in allen vergangenen und widerlegten Gedanken sein eigenes Selbst
und dessen Sinn festgehalten werde,--aber deshalb dürfen sie nunmehr
auch nur von diesem Selbst allein, nicht von Anderen, angeregt worden
sein. Daher hat man Nietzsches letzten Werken gegenüber, in denen
er anscheinend am unabhängigsten ein eigenes System errichtet, so
häufig die Empfindung, als stehe er mit rückwärts gewendetem Blick
und Antlitz da, als nähere er sich wieder den verlassenen Stätten
seiner alten Wandlungen, während er sich doch in der Selbstständigkeit
seiner ganz individuell gewonnenen Hypothesen am weitesten von ihnen
entfernt. Die Lösung dieses Widerspruches liegt darin, dass er
seinen früheren Ueberzeugungen nur dasjenige entnimmt, worin sein
individuelles Wesen, sein verborgenes Wollen zum Ausdruck kommt,
dasjenige, was diesem leidenschaftlichen Geiste in allen, andern
Denkern entnommenen Theorien im Grunde nur als unbewusster Vorwand, als
unwillkürliche Gelegenheitsursache für seine innere Entwickelung hatte
dienen müssen. Am Ende der Entwickelung angelangt, fasst er sich in
cler Einheitlichkeit seines ganzen Innenlebens zusammen, durchschaut
und überschaut er dasselbe und betont nun die allen Wandlungen zu
Grunde liegende Einheitlichkeit ebenso nachdrücklich, wie er ehemals
ausschliesslich seine Wandlungsfähigkeit betont hatte. Wie jemand, der
im Begriff steht, eine Reise anzutreten, von der es eine Wiederkehr
nicht mehr giebt, wie jemand, der Abschied nehmen will und dazu Alles
um sich sammelt, was einst sein Eigen war, so sehen wir Nietzsche
jetzt das Seine zurücksammeln aus den verschiedenen Geistesphasen, die
er durchlaufen hat. Er unternimmt ein »Abschätzen des Erreichten und
Gewollten, eine _Summirung_ des Lebens« (Götzen-Dämmerung IX 36), mit
dem Bewusstsein: »Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim--mein
eigen Selbst, und was von ihm lange in der Fremde war und zerstreut
unter alle Dinge und Zufälle.« (Also sprach Zarathustra III 1.)

Dies machte ihn ungerecht gegen seine ehemaligen Genossen und deren
Ueberzeugungen; er _wollte_ vergessen, wie oft sie die Richtung seines
Denkens bestimmt hatten: »Man soll die Gerüste wegnehmen, wenn das
Haus gebaut ist« (Der Wanderer und sein Schatten 335). Das ist die
»_Moral für Häuserbauer_«, so dachte er und ignorirte, dass es für
seinen Bau je der Gerüste bedurft hatte. Diese Ungerechtigkeit ist
also jener früheren gerade entgegengesetzt, die dem leidenschaftlichen
Wechsel der Gedanken entsprang, der Energie, mit der er jedesmal die
abgelöste Gedankenhaut vernichtete. Jetzt will er nicht mehr daran
glauben, dass eine ihm fremde Haut ihm je habe fest anwachsen können.
Dem Positivismus gegenüber spricht sich diese Ungerechtigkeit ganz
besonders in der Vorrede seines Buches »Zur Genealogie der Moral« sowie
an vereinzelten Stellen der übrigen Werke aus,--Wagner gegenüber in
der kleinen Schrift »Der Fall Wagner«. Die letztere fordert zu einem
interessanten Vergleich auf zwischen der Art, wie Wagner in ihr, und
wie er in »Menschliches, Allzumenschliches« bekämpft wird, zwischen dem
Hass, mit dem er damals das Wagnerthum von sich schleuderte, und dem
Hass, mit dem er jetzt sich ihm wieder nähert, um daraus sein geistiges
Eigenthum herauszuholen, ohne seine Selbständigkeit preiszugeben.

Zuletzt führte ihn sein Verlangen, schon von Anfang an als selbständig
und einheitlich zu gelten, so weit, dass er, in der Vorrede (vom
September 1886) zu dem zweiten Bande der zweiten Auflage von
»Menschliches, Allzumenschliches« (1), erklärte, alle seine früheren
Schriften seien »_zurückzudatiren_«, sie redeten _nur_ von dem,
was er zur Zeit ihrer Entstehung bereits _überwunden_, was bereits
_hinter_ ihm gelegen; der Autor, der überlegen über ihnen gestanden,
habe sich in einer absichtlichen Verkleidung gezeigt. So soll die
vierte Unzeitgemässe Betrachtung »Richard Wagner in Bayreuth« in ihrer
Verherrlichung Wagners nur »eine Huldigung und Dankbarkeit gegen
ein Stück Vergangenheit« gewesen sein, und auch die positivistischen
Schriften sollen in ihrem Eingehen auf Rées Anschauungen nur die
nachträgliche Darstellung eines bereits Ueberlebten geben. Auf diesen
Versuch Nietzsches, den Sinn seiner Werke umzuprägen, sie gleichsam
mit einer neuen Jahreszahl zu überprägen, lässt sich sein eigenes Wort
anwenden (Vorrede, vom Frühling 1886, zum ersten Bande der zweiten
Auflage von »Menschliches, Allzumenschliches« 1): »Vielleicht, dass
man mir in diesem Betrachte mancherlei »Kunst«, mancherlei feinere
Falschmünzerei vorrücken könnte«. Es gehörte auch dies mit zu den
vielen Maskirungen dieses Einsiedlers, dass er sich endlich eine
Maske zuschrieb, die er nie getragen; aber begreiflich ist es und
verzeihlich, meinte er doch auch hier in seinem Herzen mit jener
Maske nur _sich selbst_, d. h. den Menschen Nietzsche, im Gegensätze
zu Zarathustra, als dem mystischen Ueber-Nietzsche. Der menschliche
Nietzsche konnte ja dann freilich bei seiner jedesmaligen Wandlung
nichts von seinem eigenen Maskencharakter wissen,--das vermochte nur
der Ueber-Nietzsche, den Nietzsche hinterher von Anbeginn in sich
geahnt und empfunden haben wollte. Somit wäre der Ueber-Nietzsche
nichts als eine mystische Interpretirung des innersten Wesens und
Verlangens Nietzsches, jenes verborgenen »Grundwillens«, der,
wie wir sahen, ihm selbst völlig unbewusst, die Theorien Anderer
zurechtschnitt, um sich in ihnen schliesslich mit voller Kraft selber
durchzusetzen.

Im Herbst 1888, nach Vollendung des ersten Buches der »_Umwerthung
aller Werthe_« (»des Willens zur Macht«), das noch nicht veröffentlicht
worden ist, glaubte Nietzsche sein Werk, wenigstens vorläufig,
abgeschlossen zu haben. Denn die »Götzen-Dämmerung«, deren Vorrede
vom 30. September 1888 datirt ist, ist augenscheinlich aus einer
Stimmung des Fertiggewordenseins und des Wartens auf das Letzte
heraus geschrieben worden. In bezeichnenderweise lautete ihr erster
Titel »Müssiggang eines Psychologen«, und in dem Vorwort nennt er sie
geradezu »eine Erholung«. Sie ist indessen ein überaus interessanter
Müssiggang, weil sie eines von denjenigen Büchern Nietzsches ist,
in denen er sich am öftesten selber verräth und aus dem Geheimen
seiner Seele plaudert. In dieser Beziehung ähnelt sie, obschon
stofflich viel unbedeutender, dem »Menschlichen, Allzumenschlichen«
und der »Morgenröthe«. Legt Nietzsche in dem ersten dieser beiden
Werke etwas von seinem Innenleben bloss durch die Art, wie er sich
mit einer plötzlichen, aber endgiltig vollzogenen Wandlung seelisch
abfindet,--und lässt er uns in dem zweiten dadurch einen Blick in sein
Inneres thun, dass er neu auftauchende Wünsche und Gedanken analysirt
und bekämpft, bevor er sich von ihnen in seine neue Philosophie
fortreissen lässt, so wird in der »Götzen-Dämmerung« ein völlig
verschiedener Gemüthszustand zum Verräther an ihm: der nachzitternde
Affekt eines ungeheuren Vollbringens, eine Erschöpfung, in die sich die
Erwartung des Kommenden mischt.[14] In dieser Erschütterung sehen wir
ihn aus der »Götzen-Dämmerung« gleichsam in die eigene Geistesdämmerung
hinübergleiten.

Dieselbe Stimmung kennzeichnet auch den bereits im Jahre 1885
entstandenen vierten und letzten Theil der Zarathustra-Dichtung,
der aber erst 1891 allgemein zugänglich gemacht worden ist. Aus
seinen Seiten klingt das Lachen des Uebermenschen, doch hier und
da schon schrill und in unheimlichen Dissonanzen. Diese letzten
Reden Zarathustras sind, rein persönlich betrachtet, vielleicht
das Ergreifendste, das Nietzsche geschrieben, weil sie ihn als den
Untergehenden zeigen, der seinen Untergang hinter einem Lachen
verbirgt. Durch diesen Ausgang erst wird uns in seiner ganzen
Grossartigkeit der unversöhnliche Widerspruch klar, der darin lag,
dass Nietzsche seine Zukunftsphilosophie mit einer »fröhlichen
Wissenschaft« einleitete, dass er sie eine frohe Botschaft nannte,
dazu bestimmt, das Leben in seiner ganzen Kraft, Fülle und Ewigkeit
für immer zu rechtfertigen,--und dass er als ihren höchsten Gedanken
die _ewige Wiederkunft_ des Lebens aufstellte. Erst jetzt erkennen
wir völlig den sieghaften Optimismus, der über seinen letzten Werken
ruht, wie das rührende Lächeln eines Kindes, der aber als Kehrseite
das Antlitz eines Helden zeigt, der seine von Grauen entstellten
Züge verhüllt. »Ist alles Weinen nicht ein Klagen? Und alles Klagen
nicht ein Anklagen? Also redest du zu dir selber, und darum willst
du, oh meine Seele, lieber lächeln, als dein Leid ausschütten«, singt
Zarathustra (Also sprach Zarathustra III 104), und daher geht er einher
als »der scharlachne Prinz jedes Übermuths« (Dionysos-Dithyramben 7).
Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte
mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter.« (Also
sprach Zarathustra IV 87.)

Das Grosse ist: er wusste, dass er unterging, und doch schied
er--lachenden Mundes, »rosenumkränzt«--das Leben entschuldigend,
rechtfertigend, verklärend--. In dionysischen Dithyramben klang sein
Geistesleben aus, und was sie in ihrem Jubel übertönen sollten, war ein
Schmerzensschrei. Sie sind die letzte Vergewaltigung Nietzsches durch
Zarathustra.

Nietzsche hat einmal das paradoxe Wort ausgesprochen: »Lachen heisst:
schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen« (Fröhliche Wissenschaft
200). Eine solche überlegene Schadenfreude, die des eigenen Schadens
froh zu werden, ja, ihn sich selbst zuzufügen imstande ist, geht als
ein heroischer Selbstwiderspruch und ein heroisches Lachen durch
Nietzsches ganzes Leben und Leiden. In der gewaltigen Seelenkraft aber,
durch die er sich so hoch über sich selbst zu stellen vermochte, lag,
psychologisch betrachtet, für ihn eine innere Berechtigung, sich als
mystisches Doppelwesen anzusehen, und liegt für uns der tiefste Sinn
und Werth seiner Werke.

Denn auch uns tönt ein erschütternder Doppelklang aus seinem Lachen
entgegen: das Gelächter eines Irrenden--und das Lächeln des
Ueberwinders.


[1] Vergl. hierzu die folgenden Aeusserungen Nietzsches in den Werken
seiner vorhergehenden Periode:

»Zwischen den sorgsam erschlossenen Wahrheiten und solchen »geahnten«
Dingen bleibt unüberbrückbar die Kluft, dass jene dem Intellekt, diese
dem Bedürfniss verdankt werden.-- -- -- --man hat nur den inneren
Wunsch, dass es so sein möge,--also dass das Beseligende auch das
Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns, schlechte Gründe als gute
einzukaufen« (Menschliches, Allzumenschliches I 131). Sich davon
_verleiten lassen_ oder nicht,--das bestimmte damals für ihn geradezu
die Rangordnung der Menschen. »Was ist mir-- --Feinheit und Genie,
wenn der Mensch-- --schlaffe Gefühle im Glauben und Urtheilen bei
sich duldet, wenn _das Verlangen nach Gewissheit_ ihm nicht als die
innerste Begierde und tiefste Noth gilt,--als Das, was die höheren
Menschen von den niederen scheidet!« (Die Fröhliche Wissenschaft
2). Und in der Morgenröthe (497) rühmt er noch als Kennzeichen _der
wahren Grösse_ des Denkers, im Gegensatz zu der temperamentvollen
Genialität, »das _reine, reinmachende Auge_, das nicht aus ihrem
Temperament und Charakter gewachsen scheint,« sondern unbeeinflusst
von diesen die Dinge widerspiegelt. »Hätte es nicht allezeit eine
Ueberzahl von Menschen gegeben, welche die Zucht ihres Kopfes--ihre
»Vernünftigkeit«--als ihren Stolz, ihre Verpflichtung, ihre Tugend
fühlten, welche durch alles Phantasiren und Ausschweifen des Denkens
beleidigt oder beschämt wurden,-- -- --: so wäre die Menschheit längst
zu Grunde gegangen! Ueber ihr schwebte und schwebt fortwährend als
ihre grösste Gefahr der ausbrechende _Irrsinn_--das heisst eben das
Ausbrechen des Beliebens im Empfinden, Sehen und Hören, der Genuss in
der Zuchtlosigkeit des Kopfes, die Freude am Menschen-Unverstande.
Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der Gegensatz der Welt des
Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines
Glaubens, kurz das Nicht-Beliebige im Urtheilen. Und die grösste
Arbeit der Menschen bisher war die, über sehr viele Dinge mit einander
übereinzustimmen und sich ein Gesetz der Uebereinstimmung aufzulegen--
-- -- -- --schon das langsame Tempo, welches er (der Allerweltsglaube)
-- -- --verlangt,-- -- -- --macht Künstler und Dichter zu
Ueberläufern:--diese ungeduldigen Geister sind es, in denen eine
förmliche Lust am Irrsinn ausbricht, weil der Irrsinn ein so fröhliches
Tempo hat!« (Die Fröhliche Wissenschaft 76). Und man meint, er richte
sich gegen sein eigenes späteres Selbst, wenn er den Künstlern und
Frauen jene Unwissenschaftlichkeit des Geistes vorwirft, die sich
von allen Hypothesen fanatisiren lasse, welche »den Eindruck des
Geistreichen, Hinreissenden, _Belebenden, Kräftigenden_ machen.« Gleich
ihnen wollen die Meisten »stark fortgerissen werden, um dadurch selber
einen _Kraftzuwachs_ zu erlangen«, nur wenige »haben jenes sachliche
Interesse, das von persönlichen Vortheilen, auch von dem des erwähnten
Kraftzuwachses absieht. Auf jene bei Weitem überwiegende Classe wird
überall dort gerechnet, wo der Denker sich als Genie benimmt und
bezeichnet, also wüe ein höheres Wesen dreinschaut, welchem Autorität
zukommt. Insofern das Genie jener Art die Glut der Ueberzeugungen
unterhält und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn
der Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit,--wenn es sich
auch noch so sehr für deren Freier halten sollte.« (Menschliches,
Allzumenschliches I 635.)

[2] Vergleiche dagegen in Menschliches, Allzumenschliches I 147
Nietzsches Protest gegen »_die Kunst als Todtenbeschwörerin_«, weil sie
die Gegenwart durch die Vorstellungskreise des Vergangenen beeinflussen
will. »Sie flicht,-- -- --, ein Band um verschiedene Zeitalter und
macht deren Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben
wie über Gräbern, welches hierdurch entsteht,« doch wirkt dasselbe
schädlich und rückbildend. Die »Todtenerwecker« und »Todtenbeschwörer«
dieser Art betrachtete Nietzsche als »eitle Menschen«, denn sie
»schätzen ein Stück Vergangenheit von dem Augenblick an höher, von dem
an sie es nachzuempfinden vermögen«. (Morgenröthe I 59.) Wir müssen, so
meinte er, dem Gefühlsüberschwang möglichst entgegenwirken, der uns in
verschiedenster Art von aller vergangenen Kultur allmählich überkommen
ist; sich darin gehen lassen, käme einer Annäherung an Wahnsinn und
Krankheit gleich: »-- -- --die ganze Last unsrer Kultur ist so gross
geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkräfte die
allgemeine Gefahr ist, ja dass die kultivirten Klassen der europäischen
Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer grösseren Familien
in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist.-- -- --dennoch macht sich
eine _Verminderung_ jener Spannung des Gefühls, jener niederdrückenden
Kultur-Last nöthig,-- -- -- --wir müssen den Geist der Wissenschaft
beschwören, welcher kälter und skeptischer macht-- -- -- -- -- --«.
(Menschliches, Allzumenschliches I 244.) »Wird dieser Forderung der
höheren Kultur nicht genügt, so ist fast mit Sicherheit vorherzusagen,
welchen Verlauf diemenschliche Entwicklung nehmen wird: das Interesse
am Wahren hörtauf, je weniger es Lust gewährt; die Illusion, der
Irrthum, die Phantastik erkämpfen sich-- -- --ihren ehemals behaupteten
Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist
die nächste Folge.« (I 251.)

[3] Siehe z. B. in »Der Wanderer und sein Schatten«. »Die
demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen die alte
Pest tyrannenhafter Gelüste. (289.)--Unmöglichkeit fürderhin, dass die
Fruchtfelder der Kultur wieder über Nacht von wilden und sinnlosen
Bergwässern zerstört werden! Steindämme und Schutzmauern gegen
Barbaren, gegen Seuchen, gegen _leibliche und geistige Verknechtung_!«
(275). Ferner in Menschliches, Allzumenschliches: »-- --die wildesten
Kräfte brechen Bahn,-- -- --damit später eine mildere Gesittung hier
ihr Haus aufschlage. Die schrecklichen Energien--Das, was man das Böse
nennt--sind die cyklopischen Architekten und Wegebauer der Humanität(I
246),« bis »die guten, nützlichen Triebe, die Gewohnheiten des edleren
Gemüthes so sicher und allgemein geworden, dass es-- -- --keiner
Härten und Gewaltsamkeiten als mächtigster Bindemittel zwischen
Mensch und Mensch, Volk und Volk« bedarf. (I 245.) Gerade wie später
ist für Nietzsche der gewaltthätige Mensch ein Zurückgebliebener und
Atavist, aber eben darum ein auszurottender Rest, kein Führer in die
Zukunft. »Der unangenehme Charakter, der-- -- -- --, gegen abweichende
Meinungen gewaltthätig und aufbrausend ist, zeigt an, dass er einer
früheren Stufe der Kultur zugehört, also ein Ueberbleibsel ist: denn
die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und
zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters; er ist ein
_zurückgebliebener_ Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an
Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, _alles Wachsende und Werdende
liebevoll empfindet_,--kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen,
beansprucht, sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist,--das ist
ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Kultur der Menschen
entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo die
rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren; der
andere lebt auf deren _höchsten Stockwerken, möglichst entfernt von
dem wilden Thier_, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der
Kultur, eingeschlossen wüthet und heult.« (I 614.)

[4] So sagt er in Menschliches, Allzumenschliches (I 237): »Die
italienische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten,
welchen man die _moderne Kultur_ verdankt: also _Befreiung des
Gedankens, Missachtung der Autoritäten. Sieg der Bildung über den
Dünkel der Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft_.«

Ebenso entgegengesetzt war seine Auffassung von Napoleons Genie und
Thatendrang, wie eine Stelle desselben Werkes zeigt (I 164): »--
--Es ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den Menschen
jener Schauder vor sich selbst überfällt, sei es nun jener berühmte
Cäsaren-Schauder oder der-- --Genie Schauder;-- --so dass er zu
schwanken und sich für etwas Uebermenschliches zu halten beginnt.--
-- -- -- --In einzelnen seltenen Fällen mag dieses Stück Wahnsinn
wohl auch das Mittel gewesen sein, durch welches eine solche nach
allen Seiten hin excessive Natur fest zusammengehalten wurde: auch
im Leben der Individuen haben die Wahnvorstellungen häufig den Werth
von Heilmitteln, welche an sich Gifte sind; doch zeigt sich endlich,
bei jedem »Genie«, das an seine Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem
Grade, als das »Genie« alt wird: man möge sich zum Beispiel Napoleon's
erinnern, dessen Wesensicherlich gerade durch seinen Glauben an sich
und seinen Stern und durch die aus ihm fliessende Verachtung der
Menschen zu der mächtigen Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen
modernen Menschen heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in
einen fast wahnsinnigen Fatalismus übergieng, ihn seines Schnell- und
Scharfblickes beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde.«

In der Morgenröthe (549) führt er den rücksichtslosen Egoismus des
Thatendranges in Napoleon auf dessen epileptische Krankheitsdisposition
zurück, anstatt, wie später, auf die ausbrechende »Uebergesundheit«
dessen, der alle Gewaltinstinkte einer vergangenen Kultur im Leibe hat.

[5] Gegenüber Nietzsches späterer Verachtung des jüdischen Charakters
lese man in der _Morgenröthe_ (205) seinen Aphorismus »_Vom Volke
Israel_«: »-- --Wohin soll auch diese Fülle angesammelter grosser
Eindrücke,-- -- --, diese Fülle von Leidenschaften, Tugenden,
Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art,--wohin soll
sie sich ausströmen, wenn nicht zuletzt in grosse geistige Menschen
und Werkel Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene
Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen
Völker kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen
vermögen--,-- -- -- --dann wird jener siebente Tag wieder einmal da
sein, an dem der alte Judengott sich-- -- --, seiner Schöpfung und
seines auserwählten Volkes _freuen_ darf,--und wir Alle, Alle wollen
uns mit ihm freun!«

[6] Für diesen Zustand einer freien Auslebung der Individualität
hat Nietzsche in seiner Zarathustra-Dichtung, die man das Hohe Lied
modernen Individualismus nennen könnte, die schönsten Worte gefunden.
Als besonders charakteristisch können die nachfolgenden Aussprüche
gelten:

»Wenn ihr Eines Willens Wollende seid, und diese Wende aller Noth euch
Nothwendigkeit heisst: da ist der Ursprung eurer Tugend.

Wahrlich, ein neues Gutes und Böses ist sie! Wahrlich, ein neues tiefes
Rauschen und eines neuen Quelles Stimme!-- -- -- -- Bleibt mir der
Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend!-- -- -- Lasst sie
nicht davon fliegen vom Irdischen und mit den Flügeln gegen ewige Wände
schlagen! Ach, es gab immer so viel verflogene Tugend!

Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück--ja,
zurück zu Leib und Leben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe, einen
Menschen-Sinn!-- -- -- --

Tausend Pfade giebt es, die nie noch gegangen sind; tausend
Gesundheiten und verborgene Eilande des Lebens. Unerschöpft und
unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschen-Erde.« (I 109 f.)

-- --»Willst du den Weg zu dir selber suchen?-- -- -- --

-- -- --So zeige mir dein Recht und deine Kraft dazu!-- -- -- --

Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und
nicht, dass du einem Joche entronnen bist.-- -- -- --

Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge
künden: frei wozu?

Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen Willen
über dich aufhängen wie ein Gesetz?-- -- --« (I 87 f.)

»-- --Dass euer Selbst in der Handlung sei, wie die Mutter im Kinde
ist: das sei mir euer Wort von Tugend!« (II 21.)

»Es ist euer liebstes Selbst, eure Tugend.« (II 18.)

»--von Grund aus liebt man nur sein Kind und Werk; und wo grosse Liebe
zu sich selber ist, da ist sie der Schwangerschaft Wahrzeichen: so fand
ich's.« (III 14.)

»Mein Bruder, wenn du eine Tugend hast, und es deine Tugend ist, so
hast du sie mit Niemandem gemeinsam. So sprich und stammle: »-- -- -- --

Nicht will ich es als eines Gottes Gesetz, nicht will ich es als eine
Menschen-Satzung und Nothdurft:-- -- --

Aber dieser Vogel baute bei mir sich das Nest: darum liebe und herze
ich ihn,--nun sitzt er bei mir auf seinen goldnen Eiern.«-- --

Einst hattest du Leidenschaften und nanntest sie böse. Aber jetzt hast
du nur noch deine Tugenden: die wuchsen aus deinen Leidenschaften.

Du legtest dein höchstes Ziel diesen Leidenschaften ans Herz: da wurden
sie deine Tugenden und Freudenschaften.

Und ob du aus dem Geschlechte der Jähzornigen wärest oder aus dem der
Wollüstigen oder der Glaubens-Wüthigen oder der Rachsüchtigen:

Am Ende wurden alle deine Leidenschaften zu Tugenden und alle deine
Teufel zu Engeln.« (I 45 f.)

[7] Musik nach Schopenhauer gefasst als das tönende Abbild des Dinges
an sich.

[8] Ein verwandter Gedanke klingt in der »fröhlichen Wissenschaft«
(84) an, wenn Nietzsche die Wirkung der orgiastischen Culte darin
sieht, dass die Menschen besänftigt und von ihren Leidenschaften
befreit wurden, indem »man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer
Affekte aufs Höchste trieb, also den Rasenden toll, den Rachsüchtigen
rachetrunken machte:--alle orgiastischen Culte wollen die ferocia einer
Gottheit auf Ein Mal entladen und zur Orgie machen, damit sie hinterher
sich freier und ruhiger fühle«.

[9] Im Zusammenhänge dieser Gedanken lese man die Schilderung der
ewigen Wiederkunft in Also sprach Zarathustra (III 9 ff.) »Vom Gesicht
und Räthsel«.

»Siehe diesen Thorweg!-- -- --: der hat zwei Gesichter. Zwei Wege
kommen hier zusammen: die gieng noch Niemand zu Ende.

Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse
hinaus--das ist eine andre Ewigkeit.

Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den
Kopf:--und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen.
Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: »Augenblick.«

Aber wer Einen von ihnen weiter gienge--und immer weiter und immer
ferner: glaubst du,--dass diese Wege sich ewig widersprechen?«-- -- --

Muss nicht, was laufen kann von allen Dingen, schon einmal diese Gasse
gelaufen sein? Muss nicht, was geschehn kann vonallen Dingen, schon
einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein?

Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du--von diesem
Augenblick? Muss auch dieser Thorweg nicht schon--dagewesen sein?

Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge verknotet, dass dieser
Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? _Also_--sich selber
noch?

Denn, was laufen _kann_ von allen Dingen: auch in dieser langen Gasse
_hinaus_--_muss_ es einmal noch laufen!--

Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser
Mondschein selber, und ich und du im Thorwege, zusammenflüsternd, von
ewigen Dingen flüsternd--müssen wir nicht Alle schon dagewesen sein?

--und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns,
in dieser langen schaurigen Gasse--müssen wir nicht ewig wiederkommen?--

Also redete ich, und immer leiser: denn ich fürchtete mich vor meinen
eignen Gedanken und Hintergedanken.-- -- --

Hieran schliesst die Erzählung vom heulenden Hunde, der für einen
Menschen um Hilfe ruft. Dem Menschen, einem jungen Hirten, ist eine
Schlange in den Schlund gekrochen und hat sich dort festgebissen.

»Meine Hand riss die Schlange und riss:--umsonst! sie riss die Schlange
nicht aus dem Schlunde. Da schrie es aus mir: »Beiss zu! Beiss zu! Den
Kopf ab! Beiss zu!«--so schrie es aus mir, mein Grauen, mein Hass, mein
Ekel, mein Erbarmen, all mein Gutes und Schlimmes schrie mit Einem
Schrei aus mir.-- -- --

--Der Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieth; er biss mit gutem
Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange--: und sprang empor.--

Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch,--ein Verwandelter, ein
Umleuchteter, welcher _lachte_! Niemals noch auf Erden lachte je ein
Mensch, wie ei lachte!

Oh meine Brüder, ich hörte ein Lachen, das keines Menschen Lachen
war,----und nun frisst ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die nimmer
stille wird.«

Die Schlange der im Kreise verlaufenden ewigen Wiederkehr ist es, von
der Zarathustra den Menschen erlöst, indem er ihr den Kopf abbeisst:
indem er das Sinnlose und Grauenhafte an ihr aufhebt und den Menschen
zu ihrem Herrn macht--zum Verwandelten, Umleuchteten, lachenden
Uebermenschen:

»So rathet mir doch das Räthsel, das ich damals schaute, so deutet mir
doch das Gesicht des Einsamsten!

Denn ein Gesicht war's und ein Vorhersehn:--_was_ sah ich damals im
Gleichnisse? Und wer ist, der einst noch kommen muss?«

Vgl. (III 96): »-- --wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und
mich würgte! Aber ich biss ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir.«

[10] Der Zufall wollte, dass eines der vermuthlich letzten
wissenschaftlichen Werke, mit denen Nietzsche sich ganz eingehend
beschäftigt hat, dasjenige eines Schopenhauerianers strengster
Observanz über indische Philosophie war, und dieses ihn dem Ideenkreis
seiner eigenen ehemaligen Weltanschauung noch einmal nahe brachte.
Es ist das vortreffliche Buch von _Paul Deussen_ »_Das System des
Vedanta nach den Brahma-Sûtra's des Bâdarâyana und dem Commentare
des Çankara über dieselben_.« (Leipzig, Brockhaus 1883), in dem der
Verfasser seinen Gegenstand zwar objektiv darstellt und interpretirt,
ihn aber zugleich von seinem eigenen Standpunkte aus beurtheilt. Es ist
unmöglich, in Nietzsches seit 1883 verfassten Schriften den Einfluss
dieses Büches zu verkennen, besonders hinsichtlich der Vergöttlichung
des Schöpfer-Philosophen und dessen Gleichsetzung mit dem höchsten,
allesumfassenden Lebensprinzip, sowie hinsichtlich der Vorstellung,
dass dieser das Nacheinander alles Gewordenen gewissermaassen in einem
seelischen Nebeneinander in sich enthalte, in einer räumlichen anstatt
einer zeitlichen Seelenwanderung. Manchmal ist man versucht, wenn man
die zerstreuten Ausführungen Nietzsches über einzelne Seelenzustände in
ihrer halb mystischen Bedeutung zusammenhält, »Atman« und »Brahman« zur
Erklärung an den Rand zu schreiben.

[11] Nietzsche--Zarathustra.

[12] Die Gräber des Vergangenen, alles Gewesenen.

[13] Im Gegensatz zum blossen Erforschen und gedanklichen Erkennen des
Vergangenen durch die Wissenschaft, die Nichts zu erlösen vermag.

[14] Unverhüllter noch spiegelt sich dieser Gemüthszustand in den um
dieselbe Zeit (Herbst 1888) entstandenen und hinter dem vierten Theile
von »Also sprach Zarathustra« gedruckten »Dionysos Dithyramben«.
Besonders bezeichnend sind u. a. die nachfolgenden Verse (5 ff.):


    Jetzt--einsam
    mit dir,
    _zwiesam im eignen Wissen_,
    _zwischen hundert Spiegeln_
    _vor dir selber falsch_,
    _zwischen hundert Erinnerungen_
    _ungewiss_,
    an jeder Wunde müd,
    an jedem Froste kalt,
    in eignen Stricken gewürgt,
    _Selbstkenner!_
    _Selbsthenker!_

    Ein Kranker nun,
    der an Schlangengift krank ist;
    ein Gefangner nun,
    der das härteste Loos zog:
    im eignen Schachte
    gebückt arbeitend,
    _in dich selber eingehöhlt_,
    _dich selber an grabend_,
    _unbehülflich_,
    _steif_,
    _ein Leichnam_--,
    -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
    -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
    Lauernd,
    kauernd,
    Einer, der schon nicht mehr aufrecht steht!
    _Du verwächst mir noch mit deinem Grabe_,
    _verwachsener Geist!_...



DIE BRIEFE


Erster Briefe


An Lou von Salome

[Leipzig, vermutlich 16. September 1882]

Meine liebe Lou, Ihr Gedanke einer Reduktion der philosophischen
Systeme auf Personal-Akten ihrer Urheber ist recht ein Gedanke aus
dem »Geschwistergehirn«: ich selber habe in Basel in diesem Sinne
Geschichte der alten Philosophie erzählt und sagte gern meinen
Zuhörern: »Dies System ist widerlegt und tot--aber die Person dahinter
ist unwiderlegbar, die Person ist gar nicht tot zu machen.«--Zum
Beispiel Plato.

Ich lege heute einen Brief des Professor Jacob Burckhardt bei, den Sie
ja einmal kennenlernen wollten. Auch er hat etwas Unwiderlegbares in
seiner Persönlichkeit; aber da er ein ganzer eigentlicher Historiker
ist (der Erste unter allen lebenden), so hat er gerade daran, an dieser
ewig ihm einverleibten Art und Person, kein Genügen, er möchte gar zu
gerne einmal aus andern Augen sehen, zum Beispiel, wie der seltsame
Brief verrät, aus den meinigen. Übrigens glaubt er an einen baldigen
und plötzlichen Tod, durch Schlagfluß, nach Art seiner Familie;
vielleicht möchte er mich gerne als Nachfolger in seiner Professur?--
Aber über mein Leben ist schon verfügt.--

Inzwischen hat der Prof. Riedel hier, der Präsident des deutschen
Musik-Vereins, für meine »heroische Musik« (ich meine Ihr
»Lebens-Gebet«) Feuer gefangen--er will es durchaus haben, und es ist
nicht unmöglich, daß er es für seinen herrlichen Chor (einen der ersten
Deutschlands, »der Riedelsche Verein« genannt) zurecht macht. Das
wäre so ein kleines Weglein, auf dem wir beide zusammen zur Nachwelt
gelangten--andre Wege vorbehalten.--

Was Ihre »Charakteristik meiner selber« betrifft, welche wahr ist,
wie Sie schreiben: so fielen mir meine Verschen aus der »Fröhlichen
Wissenschaft« ein--[II, 22] mit der Überschrift »Bitte«. Erraten
Sie, meine liebe Lou, um was ich bitte?--Aber Pilatus sagt: »Was ist
Wahrheit!«--

Gestern nachmittag war ich glücklich; der Himmel war blau, die Luft
mild und rein, ich war in Rosenthal, wohin mich Carmen-Musik lockte.
Da saß ich drei Stunden, trank den zweiten Cognac dieses Jahres,
zur Erinnerung an den ersten (ha! wie häßlich er schmeckte!) und
dachte in aller Unschuld und Bosheit darüber nach, ob ich nicht
irgendwelche Anlage zur Verrücktheit hätte. Ich sagte schließlich nein.
Dann begann die Carmen-Musik, und ich ging für eine halbe Stunde unter
in Tränen und Klopfen des Herzens.--Wenn Sie aber dies lesen, werden
Sie schließlich sagen: ja! und eine Note zur »Charakteristik meiner
selber« machen.--

Kommen Sie doch recht, recht bald nach Leipzig! Warum denn erst am 2.
Oktober? Adieu,



Zweiter Briefe


An Lou von Salome: 16-07-1882.

Nun, meine liebe Freundin, bis jetzt steht Alles gut, und Sonnabend
über 8 Tage sehen wir uns wieder. Vielleicht ist mein letzter Brief an
Sie nicht in Ihre Hände gelangt? Ich schrieb ihn Sonntag vor 14 Tagen.

Was Bayreuth betriff, so bin ich zufrieden damit, nicht dort sein zu
müssen; und doch, wenn ich ganz geisterhaft in Ihrer Nähe sein könnte,
dies und jenes in Ihr Ohr raunend, so sollte mir sogar die Musik zum
Parsifal erträglich sein (sonst ist sie mir nicht erträglich.) Ich
möchte, daß Sie vorher noch meine kleine Schrift »Richard Wagner in
Bayreuth« lesen; Freund Ree besitzt sie wohl. Ich habe so viel in
Bezug auf diesen Mann und seine Kunst erlebt--es war eine ganze lange
Passion: ich finde kein anderes Wort dafür.

Die letzten geschriebenen Worte Wagner's an mich stehen in einem
schönen Widmungs-Exemplare des Parsifal »Meinem theuren Freunde
Friedrich Nietzsche. Richard Wagner, Ober-Kirchenrath. Genau zu
gleicher Zeit traf, von mir gesendet, bei ihm mein Buch »Menschliches
Allzumenschliches« ein--und damit war Alles klar, aber auch Alles zu
Ende.

Ich habe viel an Sie gedacht und im Geiste so mancherlei des
Erhebenden, Rührenden und Heiteren mit Ihnen getheilt, daß ich wie mit
meiner verehrten Freundin verbunden gelebt habe. Wenn Sie wüßten, wie
neu und fremdartig mir alten Einsiedler das vorkommt!--Wie oft habe ich
über mich lachen müssen! Was Bayreuth betrifft, so bin ich zufrieden
damit, nicht dort sein zu müssen; und doch, wenn ich ganz geisterhaft
in Ihrer Nähe sein könnte, dies und jenes in Ihr Ohr raunend, so sollte
mir sogar die Musik zum Parsifal erträglich sein (sonst ist sie mir
nicht erträglich.)

Und wie glücklich bin ich, meine geliebte Freundin Lou, jetzt in Bezug
auf uns Beide denken zu dürfen »Alles im Anfang und doch Alles klar!«
Vertrauen Sie mir! Vertrauen wir uns! Mit den herzlichsten Wünschen für
Ihre Reise Ihr Freund Nietzsche.



Dritter Briefe


Tautenburg bei Dornburg Thüringen.

3. Juli 1882

Meine liebe Freundin,

Nun ist der Himmel über mir hell! Gestern Mittags gieng es bei mir
zu wie als ob Geburtstag wäre: Sie sandten Ihre Zusage, das schönste
Geschenk, das mir jetzt Jemand hätte machen können--meine Schwester
sandte Kirschen, Teubner sandte die drei ersten Druckbogen der
»fröhlichen Wissenschaft«; und zu alledem war gerade der allerletzte
Theil des Manuscriptes fertig geworden und damit das Werk von 6
Jahren (1876-1882), meine ganze »Freigeisterei«! Oh welche Jahre!
Welche Qualen aller Art, welche Vereinsamungen und Lebens-Überdrüsse!
Und gegen Alles das, gleichsam gegen _Tod und_ Leben, habe ich mir
diese meine Arznei gebraut, diese meine Gedanken mit ihrem kleinen
kleinen Streifen _unbewölkten Himmels_ über sich:--oh liebe Freundin,
so oft ich an das Alles denke, bin ich erschüttert und gerührt und
weiß nicht, wie das doch hat gelingen können: Selbst-Mitleid und das
Gefühl des Sieges erfüllen mich ganz. Denn es ist ein Sieg, und ein
vollständiger--denn sogar meine Gesundheit des Leibes ist wieder, ich
weiß nicht woher, zum Vorschein gekommen, und Jedermann sagt mir, ich
sähe jünger aus als je. Der Himmel behüte mich vor Thorheiten!--Aber
von jetzt ab, wo Sie mich berathen werden, werde ich gut berathen sein
und brauche mich nicht zu fürchten.--

Was den _Winter_ betrifft, so habe ich _ernstlich_ und _ausschließlich_
an Wien gedacht: die Winterpläne meiner Schwester sind ganz unabhängig
von den meinigen, es giebt dabei _keine_ Nebengedanken. Der Süden
Europa's ist mir jetzt aus dem Sinn gerückt. Ich will nicht mehr einsam
sein und wieder lernen, Mensch zu werden. Ah, an _diesem_ Pensum habe
ich fast Alles noch zu lernen!--

Nehmen Sie meinen Dank, liebe Freundin! Es wird _Alles_ gut, wie Sie es
gesagt haben.

Unserem Rée das Herzlichste!

Ganz _Ihr_ F.N.




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