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Title: Das goldene Tor Author: Speckmann, Diedrich Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Das goldene Tor" *** ====================================================================== Der vorliegende Text wurde in Fraktur gesetzt; offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen wurden übernommen. Zeilen, die aus Gedankenstrichen bestehen, sind als Gedankenpausen dargestellt. Folgende Zeichen sind für die verschiedene Schriftform benutzt worden: ~gesperrt gedruckter Text~ ===================================================================== Das goldene Tor Erzählung von Diedrich Speckmann [Illustration] Berlin 1923 Verlag von Martin Warneck Erschienen 1907 98.-110. Tausend Alle Rechte vorbehalten Gedruckt in Stuttgart bei J. F. Steinkopf Obgleich die Sonne noch hoch am Himmel stand, lag Familie Eggers in den Betten. Nicht Krankheit hatte sie hineingetrieben, auch Faulheit nicht, sondern die grimmige Kälte. Auf neun Grad unter Null acht Tage nach Lichtmeß waren so kleine Leute wie der Häusling Harm Eggers mit ihrem Feuerungsvorrat nicht eingerichtet. Der winzige Haufe Sprickerholz und Torf, der noch auf der Diele am Ziegenstall lag, mußte fürs Kaffee- und Kartoffelkochen, also für die innere Erwärmung, gespart werden. Die äußere war nirgends billiger und gründlicher zu haben als im Bett. In die Lehmwände der engen, unsauberen Stube, die mit ihrem gänzlichen Mangel an Schmuck und der zerbrochenen, notdürftig mit Lumpen verstopften Fensterscheibe nicht nur bei neun Grad Kälte und ungeheiztem Ofen einen frostigen Eindruck machte, waren zwei Schlafschränke, sogenannte Butzen, eingebaut. In der einen lagen Harm Eggers und seine Frau Trina. Sie strickten emsig Strümpfe aus Heidschnuckenwolle. Was fertig war, flog durch die Stube in die Fensterecke, um beim nächsten Kirchgang zusammengerafft und in Steinbeck beim Kaufmann Böcking gegen Kaffee, Zucker und Salz umgetauscht zu werden. In der Wiege vor dem Ehebett schlief ein Säugling, mit einem Bart von Milch und Schmutz um das breite Mäulchen. Der übrige Kindersegen füllte die zweite Butze. Ein zehnjähriger Junge war dabei, sich das Einmaleins in den Schädel zu rammen. Ein siebenjähriger und ein Mädchen von sechs Jahren lasen Bohnen aus. Dabei spielten sie einander allerhand Schabernack, heimlich, um sich den Eltern nicht zu verraten. So verliefen die Winternachmittagsstunden trotz des ungeheizten Ofens behaglich, friedlich und nutzbringend. Bis es dem Siebenjährigen einfiel, dem Bruder, der eben mit geschlossenen Augen sich das schwierige Neunmalneun überhörte, eine dicke Bohne in das Gesicht zu knipsen. Dieser griff sich mit einem »Au!« an die hart getroffene Nasenspitze, dann schlug er mit seinem Buch und stieß mit seinen Füßen um sich. Darob stimmten Bruder und Schwester, wahllos getroffen, ein Geheul an, und der jäh erwachende Säugling mischte sein Schreistimmchen auch in das geschwisterliche Konzert. Da war’s um die Ruhe der Mutter beim Strickstrumpf geschehen. Sie kam aus dem Bette gefahren, schlug und stieß, ohne den Fall zu untersuchen, in die Kinderbutze hinein, bis die Ruhe wiederhergestellt war. Dann beugte sie sich über den jüngsten Schreihals und summte, sich mit der Wiege hin und her schaukelnd: Hu, huhuhu, hu. Aber der kleine Kerl schrie weiter. Da legte sie sich ins Bett, nahm den Jungen an sich, hüllte ihn warm ein und reichte ihm die Brust. Wie sie so auf das begierig trinkende Kind niederblickte, verlieh die Mutterliebe selbst diesem stumpfen, harten Gesicht für Augenblicke etwas wie einen heimlichen Adel. Als Trina ihr Kind gestillt hatte und es eben wieder in die Wiege legte, ging die Stubentür auf, und ein etwa vierzehnjähriger Junge trat ein. Die Bücher, die er unter dem Arm trug, legte er auf den Tisch und seine Mütze auf den kalten Ofen. Also gehörte auch er hier ins Haus. Aber er war von ganz anderer Art als die andern Kinder. In deren Gesichtern bestimmten die hervortretenden Backenknochen und der breite Mund den Ausdruck. Die Stirn wich bescheiden zurück, und bei den Augen fiel nichts weiter auf, als daß sie sehr rund waren. In des Ankömmlings Gesicht dagegen hatte die Stirn die Vorherrschaft, und die Augen sahen nicht wie die der andern nach dem, was der benachbarte Mund verschlingen könnte, sondern es war, als ob sie über dieses Nächste hinwegschauten und nach etwas Fernem suchten. Es war Peter, Harms Sohn aus erster Ehe, den Trina als ziemlich hoffnungsloses älteres Mädchen bei ihrer Verheiratung mit in den Kauf hatte nehmen müssen. Er stand vor der Einsegnung und kam eben von der Konfirmandenstunde aus Steinbeck, dem anderthalb Stunden entfernten Kirchdorf, zurück. »Süh,« sagte Trina, »dat paßt. Weeg mi dat Kind, ick will melken.« Peter stellte sich gehorsam an die Wiege, die Stiefmutter fuhr in die Holzschuhe, band sich ein Tuch um den Kopf und ging hinaus. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da trat Peter dicht an die elterliche Butze, steckte den Kopf hinein und sagte zögernd und leise: »... Vader! ...« Harm Eggers blickte von seinem Strumpf auf und sah dem Jungen verwundert in das Gesicht. »Wat hest du? Wat makst du för Ogen!« »Ick ... ick schall Scholmester weern.« »Wat? Du?« »Ja, ick.« »Wer seggt dat?« »De Herr Pestohr.« »Soo? Hett de uns wat to seggen?« »He well darför sorgen, dat de Sak di keenen Gröschen kosten deit.« »Hoho, dormit is dat nich afmakt. Du hest uns mannig Stück Brod und Speck upäten. Nu mußt du mi helpen, dat ick din Bröders und Süsters ok grot krieg'.« »O Vader, wenn ick minen Lohn as Scholmester krieg', will ick jümmer an di denken.« »Hä, de paar Daler! De wullt du woll sülwst bruken können.« »Och Vader, lat mi!« »Hm ... Wenn ick ok woll, du schast man sehn, Mudder giwt't nich to ...« »Jea, Mudder ... De gönnt mi öwerall nix ... Wenn min sel' Mudder noch an't Lewen wör, denn so ...« Peter vollendete den Satz nicht. Er sah trüben Blickes durch die blinden Fensterscheiben in den dämmernden Abend hinaus. Der Vater fuhr sich mit den Stricksticken hinter die Ohren und machte ein verlegenes Gesicht. In seinen besten Stunden fühlte er, was er selbst und der Junge mit seiner ersten Frau verloren hatten. Und dann hatte er Peter gegenüber etwas wie ein böses Gewissen, weil er ihn nicht besser gegen die Ausnutzung und Drangsalierung durch die Stiefmutter in Schutz nahm, und schämte sich seiner Schwäche und Bequemlichkeit. Nach einer Weile fragte er: »Nix kösten schall't mi?« »Nee, keenen roden Pennig,« versicherte Peter eifrig, »und de Herr Pestohr seggt, du schöllst em mal besöken. O, Vader, ick bidd' di, gah hen!« Harm Eggers räusperte sich. »Hmhm, ick will mal hören, wat Mudder darto seggt.« »Vader ...« sagte Peter leise und zögernd, »... frag aber ok ... min rechte Mudder ...« »Och Jung, wat snackst du mannigmal för narr'sch Tüg! De is ja dod ...« Peter schwieg. Er ließ den Blick wieder durch das Fenster in die dämmernde Ferne irren. »Jung, wenn du so steihst und kiekst, denn sühst du just so ut as din Mudder selig.« Langsam wandte Peter sich dem Vater zu. »Is ~dat~ wahr?« fragte er. Der Vater nickte stumm, seufzte leise und ließ die Stricksticken wieder klirren, wie um sich auf andere Gedanken zu bringen. Die stille, heimliche Freude, die auf Peters Gesicht lag, sah er nicht. Bald darauf kam Trina Eggers vom Melken zurück. In der Tür wischte sie sich mit dem Jackenärmel über den Mund. Denn sie hatte eben einen tüchtigen Trunk warmer Ziegenmilch getan. Nach einem Blick in die Wiege sagte sie: »Clas slöppt. Mak Füer an und sett Water up!« Peter ging hinaus. Nachdem er den berußten Kessel mit Wasser gefüllt und an den Haken über der offenen Feuerstelle gehängt hatte, kniete er nieder, rakte die Asche von den fast erloschenen Kohlen, blies mit vollen Backen hinein und legte trockenes Reisig auf. Knisternd umsprangen ihn die Funken, und eine weißliche Rauchwolke kletterte an den Zacken des schwarzglänzenden Kesselhakens in die Höhe. Peter ließ sich von der hellen Lohe Gesicht und Hände wärmen und schaute nachdenklich in die prasselnden, in buntem Farbenspiel durcheinander schießenden Gluten des von zusammengesuchtem Holzwerk genährten Herdfeuers. Die letzten Worte des Vaters gingen ihm im Kopf rundum. Also er hatte Ähnlichkeit mit seiner seligen Mutter? Sie war gestorben, als er kaum drei Jahre alt war, und ihr Bild war seiner Vorstellung entschwunden. Nun versuchte er, seine Züge ins Weibliche und ins Mütterliche zu übersetzen. Ein deutliches Bild gewann er damit ja nicht. Aber er freute sich, daß er ihr Gesicht haben sollte. Denn er hatte sie noch immer lieb und dachte oft an sie. Der Kessel fing an zu singen. Das hörte Peter gern. Dabei ließ sich so schön sinnen und träumen. Aber plötzlich fuhr er auf. Aus der Stube klang ein Wortwechsel in das Kesselsingen und das Funkenknistern hinein. Was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen, aber er wußte sofort, daß es sich um ihn und seine Zukunft handelte. Es ging sehr lebhaft dabei zu ... Nun hat die Stiefmutter das Wort ... Noch immer ... Ob sie gar nicht wieder aufhören will? Endlich! ... Aber, Gott sei Dank, der Vater ist noch nicht zum Schweigen gebracht. Ruhig und bestimmt scheint er seine Meinung zu sagen ... Nun sie wieder. Was für eine schrille Stimme sie hat! ... Jetzt beide durcheinander, in höchster Erregung ... Peter sitzt mit stürmisch klopfendem Herzen am Feuer, zwischen Furcht und Hoffnung hin und her geworfen. Da fliegt die Stubentür auf, und der Vater kommt herausgeschritten, mit einer Entschlossenheit in Haltung und Miene, die ihm sonst fremd ist. »Peter!« ruft er laut über die Diele. Peter springt wie eine Feder vom Herde in die Höhe. »Hier bin ick.« »Peter, ick heww din Mudder selig up ehren Dodenbedd in de Hand toseggt, dat ick jümmer god för di sorgen wull. Morrn gah ick to'n Pestohr.« »Und ick segg ...,« kreischt Trina, die ihrem Mann auf dem Fuße gefolgt ist, aber er unterbricht sie hart: »Trina, ick segg di't in Goden, hol nu din Mul!« Und wirklich, sie schwieg. Der Ton, mit dem er dies sagte, und der Ausdruck seiner Augen, in denen ein flackernder Widerschein des Herdfeuers war, verrieten ihr, daß sein Inneres nahe am Siedepunkt war. Wenn man ihn dann noch weiter reizte, fing er an zu rasen. Das hatte sie einmal erlebt, und seitdem ließ sie es so weit nicht mehr kommen. Lieber nahm sie eine kleine Niederlage hin und wartete auf eine Gelegenheit, sie auszuwetzen. Harm Eggers machte sich hinten auf der Diele zu schaffen und pfiff munter vor sich hin. Die häusliche Szene hatte nach der langen Bettruhe sein Blut angenehm in Wallung gebracht. Dazu kam das Hochgefühl des Siegers, und vor allem das Bewußtsein der erfüllten Vaterpflicht. Trina dagegen war in ihrer schlimmsten Laune. Sie schlug die Türen, stieß mit dem Geschirr und hetzte den Stiefsohn von einer Arbeit zur andern. Nach dem Abendbrot ging die Familie bald zur Ruhe. Peter aber mußte vorher das Jüngste in Schlaf wiegen. Der Trankrüsel wurde gelöscht -- Öllampen waren auf dem Lande noch nicht in Gebrauch --, aus den Butzen kamen bald die ruhigen Atemzüge der Schlafenden, leise knirschte die Wiege auf dem Sande des Lehmbodens. Da gehörte Peter sich selbst und seinen Gedanken. Er saß nicht weit vom Fenster und blickte hinaus. Das war so seine Art. Er sah mehr aus dem Fenster, als seine vier Geschwister zusammen. Denn unbewußt suchten seine Augen und seine Seele in der Ferne etwas, was die Nähe und Enge nicht gab. Wie er jetzt so in Gedanken versunken hinausschaute, sah er die klare Winternacht mit unzähligen Sternen geschmückt. Da dachte er an seine Mutter, wie er öfters tat, wenn er zu den Sternen aufschaute. Das hing mit einer frühen Kindheitserinnerung zusammen. Die Mutter hatte so viel gehustet und gestöhnt und gar nicht schlafen können. Nun lag sie auf einmal still mit weißem, feierlichem Gesicht und schlief so friedlich. Da freute sich der kleine Peter und ging auf den Zehen und spielte ganz leise, um die Mutter nicht zu wecken. Am Morgen des dritten Tages aber holte die Großmutter des Bauernhauses, zu dem des Vaters Kate gehörte, ihn ab, schenkte ihm drei Stück Zucker und einen dicken Apfel, und den ganzen Nachmittag spielte er sehr vergnügt mit den Kindern des Bauern. Am Abend brachte die freundliche alte Frau ihn wieder nach Hause. Da suchte er die Mutter, fand sie aber nicht, in ihrem Bette und im ganzen Hause nicht. Und er fragte die alte Frau, wo sie geblieben wäre. Da nahm die ihn auf den Arm und zeigte ihm durch das Fenster -- es war dasselbe, an dem er jetzt eben saß -- den dunklen Himmel mit all den hellen Sternen. Dort oben wohne die Mutter nun. Und aus einem der vielen Kucklöcher kucke sie herab, ob ihr Peter auch artig und lieb sei. Da hatte er die Augen angestrengt, ob er sie nicht sehen könnte. Und als er ihr liebes, weißes Gesicht nicht fand, da hatte er geweint. Aber bald hatte er sich getröstet und sich vorgenommen, immer artig und lieb zu sein, damit die Mutter droben an ihrem goldenen Himmelsfenster eine Freude hätte. Als kleiner Junge hatte er dann noch oft ihr Gesicht dort oben gesucht. Als großer Junge und Konfirmand tat er das nicht mehr. Aber wenn er die Himmelsfenster seines ersten Kinderglaubens sah, dachte er an sie. Und wie sollte er diesen Abend ihrer nicht gedenken? Heute hatte sie in sein Leben eingegriffen, hatte ihrem Kinde den Weg frei gemacht. -- Nun lag eine Zukunft vor ihm. Eine Zukunft, wie der arme Häuslingsjunge sie sich nie hatte träumen lassen. Dicke Bücher, merkwürdiger, wunderbarer Dinge voll; ein sauberes Häuschen im Garten mit Blumen vor den Fenstern; Kinderscharen, deren Augen an seinem Munde hingen. Ja, zuletzt sah er sich in einer hohen, alten Kirche auf der Orgelbank sitzen, und all die Pfeifen und Flöten gehorchten ihm. Er ließ sie brausen wie Sturmesbrausen, und dann wieder ganz lieblich singen, wie das Rotkehlchen singt im Busch ... Diese schönen Zukunftsträume wurden durch einen Kälteschauder gestört, der ihm plötzlich über den Rücken lief, und zugleich flogen seine Zähne klappernd aufeinander. Da stand er auf, entkleidete sich schnell, packte den siebenjährigen Bruder, der sich in der Kinderbutze quer gelegt hatte, in die richtige Lage, kroch hinein, wurde in dem gut vorgewärmten Nest schnell warm und war ebenso schnell eingeschlafen. * * * * * Am nächsten Morgen zog Harm Eggers seinen Sonntagsrock an, umwand Kopf und Hals mit einem roten Schaltuch, so, daß die etwas kopfscheuen Ohren an den Kopf gedrückt und vorm Erfrieren geschützt waren und nur Augen und Nase in die kalte Welt hinauslugten, nahm seinen Eichheister in die Faust und machte sich auf den Weg, seine Vaterpflicht zu erfüllen und seines Erstgeborenen Zukunft mit dem Steinbecker Pfarrherrn zu beraten. »Middag bin ick wedder 'rin,« war sein letztes Wort, als er schon die Türklinke in der Hand hatte. Als Peter am Mittag aus der Schule kam, war der Vater noch nicht zu Hause. Eine Stunde wartete man auf ihn, und Peter lief immer wieder vor die Tür und sah den Weg entlang nach ihm aus. Endlich setzten sie sich an den Tisch. »Wo Vader woll so lange bliwt?« fragte das kleine Mädchen. »Bi'n Branntwien!« antwortete Trina rauh. Dann sah sie Peter von der Seite an und sagte: »Und wovon kummt dat? Von dine verdammten Scholmestergrappen! He ward sick wedder schön enen ansupen, de ole Swinegel de!« Peter zuckte zusammen und schwieg. Was seine Stiefmutter so brutal aussprach, das hatte er im stillen auch schon gefürchtet. Harm Eggers war ein Gelegenheitstrinker. Da die Leute ihn für einen guten, anständigen Kerl hielten, seine Trina aber und ihre Sippe nicht leiden konnten, so schrieben sie diesen »lütten Fehler« auf die Rechnung des bösen Weibes. Damit trafen sie auch wohl ziemlich das Richtige. Aber heute betrank Harm Eggers, der wirklich, während man zu Hause auf ihn wartete, in einer behaglich durchwärmten Schenkstube des Kirchdorfs saß, sich nicht aus ehelichem Kummer, sondern aus Freude und Vaterstolz. Er hatte ja vom Pastor so viel Gutes über seinen Peter gehört, daß sein Vaterherz der Freude und des Stolzes voll war. Und all das Schmeichelhafte konnte er unmöglich für sich behalten. Und seine Frau daheim konnte er doch nicht damit erfreuen. So mußten es denn die in der Gaststube einkehrenden Bauern, Viehtreiber und Fuhrleute hören, was Peter Eggers, Harm Eggers' Sohn aus erster Ehe, für ein begabter Junge war, und daß der Pastor ihn durchaus zum Schulmeister und Küster machen wollte, und dem Vater fiele es zwar schwer, bei den vielen kleinen Kindern, aber er wollte dem Jungen doch nicht im Wege sein, und wenn er selbst trocken Brot essen sollte. Zwischendurch kam dann wohl der Seufzer: »Wenn dat min sel' Fru noch belewt harr!« Dann trat ihm das Nasse in die Augen, und er suchte es durch das Nasse in dem Glase, das nimmer leer blieb, zu vertreiben. Peter sah indessen immer wieder nach dem Vater aus. Je weiter die Stunden vorrückten, um so mehr graute ihm vor der Rückkehr. Er merkte deutlich, welch eine Wut sich den Nachmittag über in seiner Stiefmutter ansammelte. Gegen ihn war sie fast freundlich, aber er wußte wohl, diese Freundlichkeit war der falsche, stechende Sonnenschein vor dem Losbruch eines schrecklichen Gewitters. Es wurde dunkel, es wurde Abendbrotzeit. Harm Eggers war immer noch nicht zurückgekehrt. Um acht Uhr schickte die Mutter die Kinder ins Bett, verriegelte die Türen und löschte das Licht. Sie selbst legte sich angekleidet in ihre Butze. Lange Zeit lag Peter mit wachen Augen und horchte. An sich und seine Zukunft dachte er nicht. Mit Angst dachte er nur an das, was die nächsten Stunden bringen würden. Zuletzt fiel er doch in leichten Schlaf. Ein Geräusch weckte ihn. An der Haustür wurde gerüttelt. Leise erhob er sich und wollte durch die Stube schleichen, um zu öffnen. Da befahl die Mutter: »Gah in din Bedd!« Einen Augenblick schwankte er, ob er nicht ihrem Befehl trotzen sollte. Einen Augenblick drängte es ihn, an ihr Bett zu gehen und Vergebung für den Vater zu erbitten. Aber er tat nichts von beidem und legte sich wieder. Schritte kamen um das Haus herum. Es klopfte an die Fensterscheiben. »Trina, mak up!« Keine Antwort. Es pocht stärker. Die Fensterscheiben sind in Gefahr. »He sleit de Finster twei! Mak em up!« schreit die Stiefmutter mit heiserer Stimme. Peter springt auf, läuft barfüßig und im Hemde durch die Stube, über die Diele, und schiebt den Riegel zurück. Die Tür fliegt auf, ein eisiger Lufthauch, mit widerwärtigem Fuselgeruch gemischt, weht ihm entgegen, er fühlt sich von zwei Armen umschlungen, feuchte Lippen küssen seinen Mund und lallen: »Jaja, min Hartensjung, freu di, Scholmester wardst du.« Entsetzt und angeekelt entwindet Peter sich der Umklammerung und läuft in die Stube. Der Vater taumelt ihm nach. In der Tür stellt er sich steif hin, stößt mit dem Eichheister auf die Schwelle und lallt: »Ick bin de Herr, und ick bin de Vader, und Scholmester ward de ...« Weiter kommt er nicht. Die Frau ist wie eine Furie auf ihn los gefahren, Peter springt wie von Sinnen in seine Butze; indem er die Tür hinter sich zustößt, sieht er noch, wie sie dem Trunkenen den Stock aus den Händen reißt, er vergräbt sich tief in das Bett, kauert sich zusammen und preßt die Fäuste vor die Ohren. So lag er lange, lange, und fühlte wie noch nie den ganzen Jammer seiner freudlosen, gedrückten Kinderzeit, das ganze Elend seines Elternhauses, das durch Trunk und Brutalität zu einer Hölle geworden war. Wenn doch die Eltern mit dem Eichenknüppel kämen und ihn totschlügen! Er wollte sich ganz gewiß nicht wehren. Endlich, -- nach seinem Empfinden mußte wenigstens eine Stunde vergangen sein, und die Luft in dem Bett war so verbraucht, daß ihm der Atem still stehen wollte -- hob er ein klein wenig die Decke, atmete tief auf und horchte. Das Entsetzliche war vorüber. Nur ein leises Stöhnen kam von drüben. Dazu weinte der Säugling. Da sich niemand um ihn kümmerte, ging das Weinen allmählich in ein Wimmern über, das nach und nach auch erstarb ... Vorsichtig schob er die Tür seiner Butze zurück und sah in die Stube. Da lag ein umgestürzter Stuhl. Die Scherben eines zerbrochenen Tellers bedeckten den Fußboden. Durch das Fenster leuchteten die Sterne, ruhig, klar und schön. Aber heute kamen ihm bei ihrem Anblick keine lichten, warmen Gedanken. Er ließ sich in die Kissen zurückfallen und verfiel aufs neue ins Grübeln. Mit grausamer Wollust wühlte er in der Erinnerung an häßliche Szenen, die er hier in seinem Elternhause erlebt hatte. Je länger er lag, desto mehr füllte seine Seele sich mit Bitterkeit. An den Vater dachte er mit Verachtung, und beim Gedanken an die Stiefmutter ballte er die Fäuste und knirschte mit den Zähnen und fühlte einen heißen Haß in sich aufsteigen. Aber, Gott sei Dank, der Tag war ja nicht mehr fern, an dem er den beiden aus den Händen laufen konnte. Der Pastor hatte ihm gesagt, wenn er Schulmeister werden sollte, würde er gleich nach den Osterferien bei einem alten Schulmeister in die Lehre treten. Er rechnete aus, wie lange es bis dahin noch wäre. Ostern fiel früh: sieben Wochen und fünf Tage! Dann schlägt die Stunde der Erlösung. Dann ade, du enges, schmutziges, dumpfes, zank- und haßerfülltes Elternhaus! Es war Gründonnerstag. In der Steinbecker Kirche wurden die Kinder konfirmiert. Der Pastor war heute nicht die steile Kanzeltreppe hinaufgeklettert, sondern stand vor dem Altar, inmitten der jungen, festlich geschmückten Schar. Die Mädchen trugen schwarze Kappen, die vorn mit einem weißen, fein gefältelten Strich versehen waren, und hielten über den funkelnagelneuen Gesangbüchern zusammengefaltete weiße Tücher. Die ärmeren Jungens steckten zum Teil in Abendmahlsröcken, die ihnen offenbar nicht persönlich auf den Leib geschneidert waren. Denn kleine Leute, die den Pfennig umdrehen mußten, hielten einen Rock von mittleren Maßen für ihre ganze Jungensschar auf Lager. Peter aber, der ärmste von allen, trug seinen eigenen Anzug. Dafür hatte seine Mutter kurz vor ihrem Tode einer zuverlässigen Frau eine kleine, sauer ersparte Summe übergeben. Als Peter an diesem Morgen den Rock angezogen hatte, war ihm eine große, blanke Träne daran hinuntergelaufen. Der Pastor war einer jener gutmütigen Menschen, die des Lebens harte und häßliche Wirklichkeit nicht sehen und allen ihren Mitmenschen das Beste zutrauen. Herzbeweglich schilderte er die ungezählten und unverdienten Wohltaten, die jene Eltern dort im Schiff der Kirche an diesen ihren Kindern um den Altar im Leiblichen und im Geistlichen getan hätten. Sie hätten für sie gearbeitet, gewacht, gesorgt, gehungert, gebetet, hätten den Trieb zur Tugend in die jungen Seelen gepflanzt, wären mit gutem Beispiel vorangegangen usw. Da weinten die Mütter reichliche Tränen der Rührung über ihre so lebhaft und öffentlich anerkannte Gutheit, und ihre Tränentüchlein gingen eifrig zwischen Schoß und Augen hin und her. Zur Ehre von Trina Eggers muß aber gesagt werden, daß ihr Tuch auf dem Gesangbuch liegenblieb, und daß sie bei dieser Schilderung sich aufopfernder Mutterliebe ein leises Unbehagen empfand. Peter dachte währenddessen nur an seine rechte Mutter. Er hatte ja seinen Konfirmandenanzug als einen Beweis ihrer treuen Fürsorge vor Augen, und zweifelte nicht daran, sie würde, wenn sie bei ihm geblieben wäre, alles das an ihm getan haben, was der Pastor, mit seinem starken Glauben an die Menschen, den Vätern und Müttern seiner Gemeinde insgesamt zutraute. Als der Gottesdienst beendigt war, ging Trina Eggers in einen Bäckerladen und kaufte für fünf Silbergroschen Butterkuchen. Bei den letzten Häusern des Dorfes langte sie in die Tüte, sagte: »Da!« und reichte Peter ein tüchtiges Stück. Und zu Hause, als sie den Kuchen unter ihre Kinder verteilte, bekam er noch einmal eins, und zwar das größte, auf dem noch dazu der Zuckerguß sich am besten gehalten hatte. Die Stiefgeschwister machten neidische Gesichter, und der Siebenjährige heulte über die mütterliche Ungerechtigkeit. Aber von Peter bekam Trina einen dankbaren Blick, und den kleinen unbequemen Stachel, den die Konfirmationsrede doch in ihr zurückgelassen hatte, war sie glücklich wieder los. Daß Peter Schulmeister werden sollte, dabei war es geblieben, obgleich Trina seit jener Nacht wieder die Oberhand hatte. Der Pastor hatte, nachdem Harm Eggers seine väterliche Zustimmung gegeben, gleich das Nötige in die Wege geleitet. Ein älterer Schulmeister der Nachbargemeinde Olendorf, Wencke in Wehlingen, der etwas schwächlich war und eine große Schule hatte, war bereit, Peter nach den Osterferien in sein Haus aufzunehmen und ihn die Schulmeisterei zu lehren. Präparandenanstalten gab's noch nicht, für die große Masse der Landlehrer beschränkte sich der Seminarbesuch auf ein halbes Jahr und fand erst statt, nachdem die jungen Leute einige Jahre praktisch mit ihren Konfirmandenkenntnissen in der Schule gearbeitet hatten. Die Schul- und Lehrerverhältnisse waren also von den heutigen, sehr fortgeschrittenen, himmelweit verschieden. Deshalb wollen wir in dieser Geschichte unserm guten Peter, seinem Lehrmeister und seinen Kollegen auch getrost den heute außer Gebrauch gekommenen und verpönten Titel »Schulmeister« geben. So nannten sie sich selbst, so nannten die Leute sie, und so schrieb der Pastor ins Kirchenbuch. Der Titel »Lehrer« klingt für diese Leutchen, bei denen die Großeltern des heutigen Geschlechts den Landeskatechismus, das Einmaleins und ein wenig Lesen und Schreiben lernten, zu feierlich und anspruchsvoll. Am Tage nach Ostern ging Peter nach Steinbeck, um seinem Pastor einen Abschiedsbesuch zu machen. Stolz schritt er in seinem Konfirmandenrock durch die Straßen des Kirchdorfs. Wenn ihm Leute begegneten, suchte er auf ihren Gesichtern zu lesen, ob sie ihn, der vor zwei Wochen in der Konfirmandenprüfung vor der ganzen Gemeinde mit den besten Antworten geglänzt und ein besonderes Lob erhalten hatte, wiedererkannten. Nun stand er vor der großen, grünen Tür des Pfarrhauses, das er von vorne noch nie betreten hatte. Ob er anklopfen mußte? Darüber war er nicht belehrt worden, aber er hatte einen Spruch gelernt: Wer anklopfet, dem wird aufgetan. Er klopfte also an, aber ihm wurde nicht aufgetan. Da schielte er verstohlen durch das Fenster neben der Haustür auf den Vorplatz, und da er niemanden sah, wagte er es, die Tür selbst vorsichtig zu öffnen. »Klinglinglingling« lärmte die Hausglocke. Peter erschrak, als ob er auf einer bösen Tat ertappt wäre. Das Dienstmädchen kam und sah ihn fragend an. »Is He inne?« fragte Peter. »Jawohl, der Herr Pastor ist in seiner Stube,« sagte in belehrendem und verweisendem Tone das Mädchen. »Aber, Junge, nimm wenigstens deine Mütze vom Kopfe, wenn du zu uns kommst!« fügte sie hinzu. Blitzartig riß Peter die Kopfbedeckung herunter und stand rotübergossen da. Das Mädchen lächelte im Hochgefühl ihrer überlegenen Bildung und wies ihn gnädig die Treppe hinauf. Indem Peter die Stufen hinanstieg, biß er sich auf die Lippen und ärgerte sich über sich selbst. Daß man in fremden Häusern die Mütze abnahm, hatte er doch in der Schule gelernt. Und nun hatte er's doch vergessen! Nun stand er vor der Tür mit dem Namensschild des Pastors. Nachdem er sich die Füße auf der Strohmatte gereinigt hatte, klopfte er an. Ganz bescheiden, mit den Fingerspitzen. ~Wie~ man anklopfte, darüber hatte er keinen Spruch gelernt. Als keine Antwort kam, faßte er sich ein Herz und ging ungerufen hinein. Der Geistliche saß an seinem Schreibtisch vorm Fenster und blickte verwundert auf. »Mein Sohn,« sagte er, »wenn man zu einem Menschen in die Stube will, dann klopft man gefälligst an.« »Herr Ppestohr,« stamerte Peter, »ich ... ich ~habe~ angeklopft.« »Ach so, ja, da kratzte was; ich meinte, das wäre mein kleiner Polli. Na, setz dich!« Peter setzte sich tief errötend auf einen Stuhl. Die Mütze hielt er mit beiden Händen gegen die Brust gepreßt. »Freust du dich, Schulmeister zu werden?« fragte der Pastor. »Ja.« »Ist deine Aussteuer schon fertig?« Peter machte ein verwundertes Gesicht. Aussteuer kriegten doch nur die Mädchen mit, wenn sie freiten. »Ich meinte, ob du gehörig mit Zeug und Wäsche ausgerüstet bist.« »Jaa.« »Wenn du man bloß nicht Heimweh nach Muttern kriegst!« »Nee!« »Nanu! Nicht so kühn, mein Jüngchen! Aber du kennst ja das schöne Lied: ›Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden.‹ Und: ›Wenn Menschen auseinandergehn, dann sagen sie: Auf Wiedersehn.‹« »Ich ... ich habe bloß noch eine Stiefmutter ...« »Ach so, daran hatte ich nicht gedacht ... Aber hmhm, ich habe Stiefmütter gekannt, die hatten die angenommenen Kinder ebenso lieb, wie ihre eigenen ... Hm, ich wollte nur sagen, in sechs Wochen ist schon Pfingsten. Dann kannst du schon mal nach Hause hinüberspringen. Und dann kommen ja auch bald die großen Ferien ...« Die Pastorin steckte den Kopf in die Tür und rief ihren Mann heraus. Peter, der bislang steif auf dem Stuhl gesessen und dem alten Herrn unverwandt auf den Mund gesehen hatte, wie in der Kinderlehre, atmete freier auf und sah sich in der Studierstube um. Da bekam er einen großen Schreck. Was für eine Menge Bücher! Und wie dicke dabei! Am längsten und mit der größten Verwunderung haftete sein Blick an der Reihe der mächtigen Kirchenbücher. Was mußte so ein geistlicher Herr für ein gelehrter Mann sein! Natürlich nahm er an, daß dieser in seiner großen Bibliothek ebensogut Bescheid wußte, wie er in seiner kleinen, die aus vier schmalleibigen Schulbüchern bestand. Er war manchmal stolz gewesen, daß er mehr wußte als die andern in der Schule und Kinderlehre. Die letzten Wochen, seit er am Palmsonntag vor der ganzen Gemeinde mit seinem Wissen geglänzt hatte, war ihm dieses Hochgefühl fast immer gegenwärtig geblieben. Aber diese in Schweinsleder und Pappe gebändigte Gelehrsamkeit, die ihn hier zugleich mit einem Duft feinen Tabaks umgab, verwirrte ihn und machte ihn ganz klein. Als der Pastor wieder in die Stube trat, flog Peter in die Höhe, wie er's von der Konfirmandenstunde her gewöhnt war, nur mit noch größerem Respekt, wegen der neu entdeckten Gelehrsamkeit des stattlichen Herrn. Er wurde nicht wieder zum Sitzen genötigt, bekam einige gute Lehren und Wünsche mit auf den Weg und konnte gehen. Leise schlich er die Treppe hinab und war froh, als er unbemerkt die Haustür erreicht hatte, ohne noch einmal von dem Mädchen, vor dem er sich vorhin so blamiert hatte, gesehen zu sein. Den Kopf trug er jetzt nicht so hoch als vorhin. Bescheiden und demütig ging er seines Weges. * * * * * Am Abend des Sonntags nach Ostern sollte Peter in Wehlingen antreten. Das Dorf war drei Stunden von seiner Heimat entfernt. Sein Vater begleitete ihn und trug auch die in einen buntgewürfelten Kissenüberzug gestopfte »Aussteuer«. Das geistige Rüstzeug, seine Bibliothek, hatte Peter selbst unter dem Arm. Vater und Sohn sprachen kaum miteinander. Von Haus aus waren sie beide schweigsam, und heute, angesichts der Abschiedsstunde, schloß ihnen auch eine gewisse Verlegenheit den Mund. Der Weg führte durch Steinbeck, und an Harm Eggers' liebstem Wirtshaus vorbei. Hier bog er zur Seite, und als Peter zögerte, ihm zu folgen, sagte er freundlich und ein wenig verlegen: »Kumm, Jung', wöt uns erst 'n bäten verhalen.« Da ging Peter mit ihm hinein. Harm bestellte zwei »lüttje Klare«. Als der Wirt das Gläschen vor Peter hinstellte, sagte der Vater: »He is ja nu ok 'n mündigen Christenminschen,« worauf jener nickte und lachte. Peter hob das Glas vorsichtig, nippte daran, schüttelte sich und setzte es wieder hin. »Smeckt he nich?« fragte der Vater leise. Peter zog ein krauses Gesicht und schüttelte den Kopf. »Töw' man,«[1] flüsterte Harm, mit den Augen zwinkernd. Als der Wirt den Rücken gewandt hatte und sich an dem Schenktisch zu schaffen machte, nahm er schnell das Glas, trank es aus und stellte es leer wieder vor Peter hin, froh darüber, daß er seinem Fleisch und Blut eine schwere Blamage erspart hatte. Darauf kaufte er ihm eine dick mit Zucker bestreute Maulschelle. Als Peter anfing, die eine Hälfte des trocknen, noch von Ostern übriggebliebenen Gebäcks hinunterzuwürgen, sagte der Vater: »Christoffer, up een Been kann'n nich stahn« und ließ sich das Glas aufs neue füllen. Da aber stand der Junge entschlossen auf, packte die andere Hälfte der Maulschelle in die Tasche und drängte den Vater, schnell auszutrinken und mit ihm aufzubrechen. Unter der Wirkung des Alkohols wurde Harm gesprächiger. Und der nahe Abschied von seinem Jungen trug dazu bei, daß er sentimental wurde, während sonst diese Stimmung erst etwa nach dem siebenten Glas sich einzustellen pflegte. Er schluckte einige Male trocken nieder, seufzte, und sagte endlich: »Ach ja, Peter ... din' Mudder ...« Peter sah den Vater erwartungsvoll an. »... 't sünd nu all meist twolf Jahr, dat se in de Eer[2] liggt. Ach ja, wenn ick an de Tied torüg denk ...« »Vader,« fragte Peter leise, »wat hett Muddern egentlich fehlt?« »Hoßen[3], Kind, slimmen Hoßen ... Wör hier in de Bost[4] nich echt ... Lungensük ... ehr Mudder is dar ok an storwen ... ehr Süster ok ... Min Familje is so karnig und gesund ... Grotvader is achunachzig Jahr old worrn und hett all sin Tähnen mit in't Sarg krägen ... Aber ehre Familje ... keen goden Karn is da nich in ... sünd in de Bost nich echt ... Ach ja, wenn dat dar eenmal so instickt ... Junge, wenn du man echt bist!« Er sah Peter prüfend und besorgt von der Seite an. »Aber Vader,« sagte der Junge überrascht, »ick bin doch ganz gesund.« »Ach ja, dat ~wör~ din Mudder ok ... Aber de Karn wör nich god, dat wör hier in de Bost keen echten Kram ... Wat mi bange makt, du sühst ehr gar to ähnlich, du hest gar to väl van ehr afkrägen. Wenn du mehr van mi harrst, dat wör bäter för di. Wi Eggers sünd alle so gesund.« Peter betrachtete heimlich das Gesicht des Vaters. Im stillen war er doch froh, daß er mehr von der Mutter hatte. »Dat Starwen is dine Mudder bannig swar worrn,« begann der Vater wieder. »Harr se väle Kälen[5]?« fragte Peter. »Och nee, de könn se god drägen. Se harr di so öwer alle Maten lew ...« Dem Jungen lief es heiß über den Rücken. »›Dat Kind, dat arme Kind! ... Wat schall ut Peter weern?‹ So güng dat jümmer wedder ... Ick möß ehr verspräken, ... dat ick jümmer god för di sorgen woll. De Hand heww ick ehr darup geben möst ... Da könn se starwen ... Ach Gott ja, twolf Jahr is dat nu all her ... Wenn'n so trügdenkt ... mannigmal ... ick woll man seggen ... ick harr mannigmal woll bäter för di sorgen könnt ... Ja, dat harr ick ... jawoll, jawoll ... aber glöw mi, ick harr't sülwst nich licht ... Trina is so ganz anners as din' sel' Mudder ... Wenn ick ~de~ beholen harr ... Djunge, Djunge! ... Du kennst de Welt noch nich, du weeßt nich, wat so 'n Frugensminsch 'n Keerl ruptrecken kann, wenn se darnah is, und wat se em rünnerrieten kann in'n Dreck ...« Er blieb plötzlich stehen. Sie hatten eine Höhe erreicht. Vor ihnen im Tale lag ein Dorf. »Dat is Wehlen, nu finnst du woll hen, ick will ümkehren, adjes,« sagte der Vater hastig, gab dem Jungen unbeholfen die Hand, ohne ihn anzusehen, setzte das Bündel nieder, wandte sich um und ging mit langen, steifen Schritten den Hügel hinab. Peter stand verwundert und sah ihm nach. Unter den Worten des Vaters hatte er mit Liebe seiner Mutter gedacht. Nun fühlte er auf einmal ein warmes Gefühl auch gegen den Vater in sich aufsteigen. Ja, der Mann, der dort hinabschritt, und er, der ihm nachblickte, sie gehörten doch zusammen, trotz allem. Der hatte seine Mutter auch liebgehabt. Und wenn sie bei ihm geblieben wäre ...? Im stillen bat Peter dem Vater ab, wenn er einmal Gedanken der Verachtung und Auflehnung gegen ihn gehabt hatte. Der Vater war unten im Tale stehengeblieben und hatte sich umgewandt. Mit der Hand die Augen schirmend, schaute er zurück. Und Peter stand noch immer auf der Höhe und sah ihm nach. Sie winkten einander nicht zu, aber doch flog zwischen Vater und Kind ein leises, wehes Abschiedsgrüßen hinüber und herüber ... Nun verschwand des Vaters Gestalt in einem Fuhrengehölz. Peter wischte sich schnell über die Augen und wandte sich entschlossen herum. Da lag es vor ihm, das Tal, in dessen Schoß ein Stück seiner Zukunft ruhte. Was er dort sah, gefiel ihm wohl. Das Dorf lag an einem Flüßchen, in Wiesen eingebettet. Rechts zogen sich ansehnliche Wälder hin, Tannen und auch etwas Laubwald. Peter, dessen Geburtsort auf einer trockenen, kargen Wasserscheide lag, war von der lieblichen Anmut der Gegend überrascht. Wenn die Menschen nur danach waren, sollte es ihm dort unten schon gefallen. So nahm er denn seine Siebensachen und machte sich munter auf den Weg. Die grünen Spitzen der Gräser wagten sich eben hervor, die Weidenkätzchen steckten vorsichtig die Sammetpfötchen heraus, Krähenscharen lärmten in der Luft, eine Amsel flötete von der Spitze einer Tanne ihr sehnsüchtiges Vorfrühlingslied. Alles ahnte an diesem kühlen, lichten Sonntagabend, daß ein Neues, Herrliches werden wollte, und nicht zum mindesten der junge Schulmeister, der mit langen, frohen Schritten in das Tal hinabstieg. Nicht weit vom Dorfe begegnete ihm ein kleines Mädchen, dessen Alter er auf sieben Jahre schätzte. Da gab Peter sich einen Ruck und fühlte sich zum erstenmal als Schulmeister. Er machte sich recht gerade, um möglichst groß zu erscheinen, zupfte noch schnell sein Röckchen zurecht, hielt sein Bündel mehr hinter sich und redete das Kind an, freundlich und ein ganz klein wenig väterlich, erst hochdeutsch, dann platt. Aber er bekam aus dem kleinen Ding nichts heraus, weder dessen Namen noch Auskunft über die Lage des Schulhauses. Nach wiederholten Versuchen ging er kopfschüttelnd weiter. Wenn die Kinder hier alle so schwer von Begriff waren, würde er noch seine Last haben. Bei den ersten Häusern sagte ihm eine Frau, zur Schule müßte er durch den ganzen Ort gehen. Aufrecht und fest schritt er die Dorfstraße dahin, gehoben von dem Gefühl, in diesen Minuten für ein ganzes Dorf der Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein. Die Kinder, die auf den Höfen spielten, hielten inne, und er grüßte sie wohlwollend. Die Erwachsenen vor den Haustüren nickten ihm zu, und er grüßte sie freundlich und höflich. Als ihm ein Koppel halbwüchsiger Burschen begegnete, versuchte er, seinem Gruß einen kameradschaftlichen Ton zu geben. Aber die dummen Bengel, mit der diesem Alter eigenen Verachtung alles dessen, was irgend mit der Schule zusammenhängt, musterten ihn von oben herab und lachten ihm dreist ins Gesicht. Doch er hatte keine Zeit, sich darüber zu ärgern. Denn schon grüßte ihn über einem Hause die Inschrift: »Hier lehret man die Jugend, zu Gottesfurcht und Tugend«, und mit Herzklopfen faßte er den Türdrücker des Hauses, unter dessen Dach er fortan lernen, lehren und leben sollte. Als Peter die Tür des Schulhauses hinter sich schloß, öffnete sich gegenüber eine Stubentür, und es erschien ein alter Frauenkopf, der sich aber, kaum seiner ansichtig geworden, wieder zurückzog. Peter hörte, daß er gemeldet wurde: »Vader, he is'r.« Darauf kam ein hageres, grauhaariges, bartloses Männchen angetrippelt, das den Ankömmling an der Hand nahm und in die Stube zog, mit den Worten: »Szüh, ßüh, da bist du ja. Is man gut. Wir haben schon auf dich gewartet. Na, setz dich ... Da hast du deine Sachen woll in? Die leg' da an die Erde. So, so. Bist wohl recht müde von dem langen Weg?« »O nein,« sagte Peter, »Vater ist mitgegangen und hat meine Aussteuer getragen.« »Aussteuer? Wo hast du die denn?« fragte der Schulmeister verwundert. Peter wies etwas unsicher auf sein Bündel. »Aussteuer im Kissenüberzug? Hihihi, das ist gut. Mudder, hest du't hört? Dor hett he sin' Utstüer in.« Die Schulmeisterin, die in einem Rohrlehnstuhl saß, verzog ihr faltenreiches, teilnahmloses Gesicht zu einem schwachen Lächeln. Peter war rot geworden. »Na ja ...« begann der Schulmeister wieder, »du hast doch wohl schon gegessen? Wir sind schon eine halbe Stunde damit fertig. Wegen meinem Magen essen wir immer früh.« Peter sagte bescheiden, er hätte erst vor zwei Stunden eine Maulschelle gegessen. »Das ist ja man gut. Sonst, wenn du noch Hunger hättest ... Denn wollen wir gleich den Abendsegen lesen und zu Bett gehen. Denn morgen Punkt sieben Uhr geht's an die Arbeit. Langschläferei und Unpünktlichkeit dulde ich nicht. Das mußt du dir gleich heute merken.« Mutter Wencke war aufgestanden, nahm ein Buch vom Wandbrett und legte es, bei dem Lesezeichen aufgeschlagen, vor ihren Gebieter hin. Dann holte sie das Brillenfutteral von der Fensterbank, zog die Brille mit ihren zitterigen Fingern heraus, putzte sie an der Schürze und reichte sie handgerecht dem Alten. Hier geht's anders zu zwischen Mann und Frau, als zu Hause, dachte Peter. Nachdem der Schulmeister mit etwas tremulierender Stimme eine kurze Abendbetrachtung vorgelesen hatte, hieß er Peter sein Bündel aufnehmen und stieg mit ihm eine knarrende Holztreppe hinan. Oben angekommen, führte er ihn in eine kleine Dachkammer. »So, mein Sohn,« sagte er, »hier hast du alles. Hier steht dein Bett, und da kannst du dich waschen, und da ist auch 'n Leuchter und Reißsticken, wenn du dir mal 'n Licht anstecken willst. Aber damit sei vorsichtig! Du wohnst hier unterm Strohdach. So, nun mach's dir in deinem Heim recht gemütlich und schlaf' wohl!« Damit ging er und knarrte mit seinen Filzpantoffeln die Treppe hinab. Peter sah sich in dem Stübchen um. Es war in Wirklichkeit nur ein Bretterverschlag unter dem unverkleideten Strohdach. Bett, Tisch, Stuhl, Schemel mit Waschbecken nahmen drei Viertel des Raumes ein. Wer diese Stube ein elendes Loch nannte, brauchte noch nicht anspruchsvoll zu sein. Aber dem guten Peter lagen solche Gedanken himmelfern. In ihm fand des Schulmeisters Wort ein jubelndes Echo: Dein ~Heim~, ~dein~ Heim! Die Gefühle, die beim Klang dieses lieben Wortes in allen heimseligen deutschen Menschenkindern wach werden, waren Peter bis auf diese Stunde fremd geblieben. Die väterliche Kate, in der er die schmutzige Stube mit sechs und die dumpfe Butze mit drei Menschen hatte teilen müssen, die ihm alle innerlich fremd und zum Teil feindlich waren, war ihm niemals ein Heim gewesen. Nun hatte er auf einmal eins, und es war ihm, als hätte er damit etwas gefunden, wonach er sich lange im stillen gesehnt hatte. Gemütlich sollte er sich's in seinem Heim machen, hatte der Alte gesagt. Gemütlich? Das Wort hatte er noch nie gehört. Aber seinem Klange lauschte er ab, was es sagen wollte. Er zog das schwarze Röckchen aus und hing es an die Wand, vertauschte die engen, staubigen Stiefel mit bequemen Holzpantoffeln, baute die Bücher auf dem Tisch auf und wusch sich die Hände. Ei, wie wurde es da gemütlich! Zuletzt zündete er das Licht an. Wie freundlich sah jetzt erst das saubere Zimmerchen aus, mit den beiden Bildern an den Wänden und dem weißen Gardinchen über dem zweischeibigen Fensterfach! Peter rieb sich die Hände, zog den Kopf zwischen die Schultern und fand sein Heim urgemütlich. Als er eine Weile die Freude über sein gemütliches Heim ausgekostet hatte, öffnete er das Fenster und sah hinaus. Von dem Garten drunten konnte er nichts deutlich erkennen. Die Nacht war völlig hereingebrochen. Dennoch blieb er, in den engen Rahmen gezwängt, lange im Fenster liegen. In der Stille, die um ihn war, in dem Dunkel, das nach all den Eindrücken dieses Tages keine neuen mehr zu ihm ließ, mußte er über die Veränderung nachdenken, die der heutige Tag in sein Leben gebracht hatte. Das alte Leben lag hinter ihm wie ein böser Traum, und vor ihm ein neues, unbekannt, aber so verheißungsvoll, daß ihm das Herz klopfte, wenn er nur daran dachte ... Er sah über sich zum Nachthimmel empor und schärfte seine Augen. Zuletzt fingen hoch droben, in unendlicher Ferne, einige Sterne an, durch die blaue Nacht zu glimmen. Und es wurde ihm, als käme aus seligen Fernen durch die weiten Räume ein stilles Grüßen gezogen. In tiefem Erschauern empfand seine Seele dieses wunderbare Grüßen und wurde darüber so weit und froh, daß er es in dem engen Fensterrahmen nicht mehr aushalten konnte. Er zog sich in sein Heim zurück, hob die Hände, dehnte die Brust, atmete selig bang, und plötzlich warf er sich auf die Knie, und ein wortloses, heißes Dankgebet entquoll seinem übervollen Herzen. Als seine Seele sich auf diese Weise von dem Überschwang ihrer Glücksgefühle befreit hatte, fing plötzlich in ihm etwas an zu knurren. Es war der Magen. Dieser war nicht von einer so rührenden Bescheidenheit wie sein Besitzer, und mit einer halben Maulschelle für einen halben Tag und eine ganze Nacht nicht zufrieden. Zum Glück erinnerte Peter sich, daß die zweite halbe Maulschelle noch in der Tasche seines Konfirmationsrockes steckte. Er zog sie heraus, und ganz langsam aß er sie, um dem unzufriedenen Gast, der von der Freude allein nicht satt werden wollte, eine wirkliche Mahlzeit vorzutäuschen. Zwischendurch trank er einen Schluck Wasser aus dem Kruge. Ein Glas hatte er nicht. Darauf ging er zur Ruhe. Als er sich niederlegte, warf er sich stürmisch in dem Bettkasten hin und her. Die Freiheit und Wonne, dieses tun zu können, ohne wie zu Hause sofort mit geschwisterlichen Beinen zusammen zu geraten, mußte er doch erst einmal auskosten. Dann machte er's sich auf der rechten Seite gemütlich, zog die Beine an, blinzelte behaglich mit den Augen, ehe er sie schloß, und fühlte sich so recht von Herzen heimselig. Schlaf wohl, du junges, armes, hungriges, glückliches Schulmeisterlein! Alle Stunden, die dir unter diesem Dache kommen, werden wohl nicht so reich, nicht so glücklich sein, wie diese ersten. * * * * * Als Peter am andern Morgen erwachte, dachte er mit Schrecken daran, daß Schulmeister Wencke Langschläferei und Unpünktlichkeit nicht duldete. Ob er die Zeit nicht schon verschlafen hatte? Darüber beruhigte er sich zwar bald; denn es war noch nicht völlig hell. Da er aber eine Uhr nicht fragen konnte, weil er keine hatte, und die Sonne nicht, weil sein Fenster nach Westen lag, so hielt er es für das sicherste, sofort aufzustehen. Beim Ankleiden betrachtete er die beiden Bilder, die durch ihr Dasein gestern abend die Gemütlichkeit seines Heims gehoben hatten, die er aber in dem schwachen Licht der Talgkerze sich noch nicht genauer angesehen hatte. Zu Häupten des Bettes hing ein rahmenloser Holzschnitt. Er mochte aus einer alten Bilderbibel stammen und war mit Schusternägeln an der Wand befestigt. Abraham, der Vater der Gläubigen, schickte sich mit bekümmertem Gesichte an, seinen Sohn Isaak zu schlachten, der ganz geduldig seinen Hals hinhielt, während im Hintergrunde der Engel des Herrn die Einhalt gebietende Rechte hochhielt und mit der Linken einen sich gewaltig sträubenden Bock heranzerrte. Das Bild an der senkrechten Längswand war viel freundlicher. Es war dazu bunt, und hatte einen mit Fliegendenkmälern punktierten Goldrand. Eine hehre Frauengestalt, in rotem Ober- und blauem Untergewande, schwebte in rosigen Wolken, rings von reizenden Engelköpfchen umgeben. Darunter stand: »Maria, die Himmelskönigin.« Dieses Bild sah Peter sich viel länger an als das andere. Als er mit dem Ankleiden fertig war, wollte er hinuntergehen. Oben an der Treppe blieb er aber stehen und horchte in das Haus hinab. Dort war noch alles still. Da schlich er mit größter Vorsicht die Stufen hinab. Trotzdem war die altersschwache Treppe so indiskret, jeden seiner leisen Tritte durch das hallende, morgenstille Haus zu melden. Unten angekommen, schob er den Riegel zurück und trat in den frischen Morgen hinaus. Die Sonne ging eben auf und übergoß den Himmel mit flammendem Rot. Aber darauf achtete Peter nicht weiter. Das hatte er hundertmal gesehen, wenn die Stiefmutter ihn vor Tau und Tag aus dem Bett herausjagte. Es kam ihm heute darauf an, das Neue kennen zu lernen, das ihn hier erwartete. So ging er denn zuerst durch den Garten. Der war noch kahl und wartete auf Sonnenschein und warme Tage. Trotzdem ließ Peter sich von Bäumen und Büschen die herrlichsten Versprechungen machen. Der dicke Apfelbaum, der dem Hause zustrebte und einen Zweig bis dicht vor sein Kammerfenster sandte, der in schöner Gabelung stolz aufwärts strebende Birnbaum, die Johannis- und Stachelbeersträucher, die schon zu grünen und zu blühen angefangen hatten, was verhießen sie nicht alles dem Gaumen des noch nicht Fünfzehnjährigen, der solche Genüsse bislang fast nur vom Hörensagen kannte! Als er den Garten kennengelernt hatte, schlenderte er ins Dorf hinaus. Da freute er sich über die breiten, behäbigen Bauernhöfe, die hinter bemoosten Knüppelzäunen unter dicken Eichen lagen. Wo er zu Hause war, auf der hohen Heide, war das alles viel ärmlicher als in diesem bachdurchrieselten Tale, dessen Anmut ihn gestern schon erfreut hatte. Aus einem der Häuser kam ein Junge mit einem Schulbuch in der Hand. Da drehte Peter um und ging eiligst nach Hause zurück. Die Schulmeistersleute saßen beim Kaffee. »Wo bleibst du denn?« fragte der Schulmeister, indem seine Stirnhaut sich in Falten legte. »Ich habe bloß eben einen kleinen Spaziergang gemacht,« entschuldigte sich Peter. »Na, hör' mal, diese Morgenspaziergänge laß man unterwegs. Es ist nicht nötig, daß du uns beiden alten Leute morgens um fünf Uhr aus dem Schlaf trampelst. Ich bin zufrieden, wenn du so früh aufstehst, daß du uns vor dem Kaffee die Stiefel putzen kannst. Ich bin nämlich nicht dafür, wie es viele Schulmeister tun, in Holzschuhen zu unterrichten. Wir dürfen uns nicht so gehen lassen. Auch meine Pfeife mußt du mir immer stopfen. Die pflege ich in der Schreibstunde zu rauchen.« Während dieser Dienstanweisung hatte die Schulmeisterin Peter eine dicke Scheibe Brot dünn mit Seimhonig bestrichen. Und jetzt machte er sich darüber her, als ob er von zwei Uhr nachts an mit nüchternem Magen in der Scheune gedroschen hätte. Gegen seine Gewohnheit faßte er das Brot wie seine Stiefbrüder zu Hause, nämlich mit beiden Händen, um tüchtig nachschieben zu können. Bis der Schulmeister sagte: »Anständige Leute essen mit einer Hand.« Da wurde er rot und legte seinem Eßungestüm Zügel an. Draußen auf dem Hof sammelten sich die Kinder. Einige klapperten schon mit ihren Holzschuhen in die nahe Schulstube. Die Zeiger der blumenbemalten Wanduhr zeigten fünf Minuten vor sieben. Da sagte Schulmeister Wencke: »Heute brauchst du noch nicht zu unterrichten. Du wirst vielmehr meinem Unterrichte beiwohnen. Wir wollen in den einzelnen Fächern Wiederholungen anstellen. Du wirst da sehen, was geleistet ist, und was in einer ordentlichen Schule geleistet werden muß. Die Kinder werden ja immerhin in den Osterferien mancherlei vergessen haben, und meine besten Schüler sind jetzt gerade konfirmiert. Das mußt du bedenken, wo mal etwas nicht klappt. Für zehn Uhr habe ich mir dann die Abc-Schützen bestellt. Komm! Bring' dir einen Stuhl mit!« Hinter dem alten Schulmeister trat der junge in die Schulstube, wobei er in dem Bewußtsein, daß aller Augen auf ihm ruhten, seinem weichen Jungensgesicht einen ernsten und strengen Ausdruck zu geben suchte. Mit Würde ließ er sich angesichts der Klasse auf seinem Stuhl nieder und legte die Beine lässig übereinander. Nach einem Gesangvers und Gebet führte Wencke dem jungen Schüler und Kollegen seine Schule vor. Der Tausend! Wie das klappte! Biblische Geschichten, Katechismusstücke, Sprüche kamen nur so angeflogen, beim Lesen wurden die Sätze förmlich verschlungen, die Lösungen der Rechenexempel folgten reflexartig. Peter sah verdutzt bald die Schule, bald den Lehrer an, und kam aus dem Verwundern gar nicht heraus. Hinter das Geheimnis dieser großartigen Unterrichtserfolge ist der gute, ehrliche Peter nie recht gekommen. Sein Vorgänger aber, der gerissener war als er, hatte es schon mit einem halben Jahre herausgehabt. Schulmeister Wencke hielt für seinen Vorgesetzten, den Pastor von Olendorf, der bei Schulprüfungen die ihm sehr sympathische Gewohnheit hatte, niemals selbst die Kinder zu fragen und die Wahl der zu behandelnden Gegenstände dem Lehrer zu überlassen, in allen Unterrichtsfächern einige Paradestücke auf Lager, die im Sommer und Winter, vor und nach den Ferien, gleich gut gingen. So war er in den Ruf eines tüchtigen Pädagogen gekommen und erhielt deshalb auch Präparanden zur Ausbildung zugewiesen. Diese Paradestücke hatte er eben Peter vorgeführt und in diesem wieder einmal das Gefühl des eigenen Nichts wachgerufen, zugleich aber auch den heiligen Entschluß, daß er unermüdlich arbeiten wollte, bis er würdig wäre, seinem Meister wenigstens die Schuhriemen aufzulösen. Um zehn Uhr kamen dann die Kleinen, von den Müttern an der Hand geführt. Sie kamen mit bangen Gesichtern, und ein kleiner Bengel schrie so mörderlich und sperrte sich so sehr, daß er auf dem Arm hergetragen werden mußte. Die erzieherische Weisheit der Eltern hatte nämlich für gut befunden, von frühester Jugend an den Kindern mit dem Schulmeister als dem leibhaftigen Buhmann zu drohen, um sie dadurch zur Tugendhaftigkeit zu schrecken. Diese seine kleine hagere Person umschwebenden Schrecken mußte Herr Wencke also zuerst zerstreuen. Sein süßestes Gesicht, das er aufsteckte, genügte dazu nicht, und freundliche Worte mit Backenstreicheln und Kitzeln unter dem Kinn taten es auch nicht. Das wußten die Eltern und brachten im Handkorb Tüten voll süßer Anlockungsmittel herbei, die sie dem Schulmeister im Hause heimlich vor den draußen ängstlich umherstehenden Kindern überreichten. Die Körbe enthielten aber auch noch andere Schätze: Präsente für den Mann, dem die teuersten Schätze nun auf Jahre zur Vorbereitung für dieses und jenes Leben anvertraut werden sollten, und der bei seinem kargen Gehalt einige Schinken und Würste gut gebrauchen konnte. Solche schöne Sitte half diesem zugleich, die Rangordnung der Kleinen richtig zu bestimmen. Wenn er sie nach der Güte der elterlichen Gaben setzte, war er sicher, daß seine kleine Schulgemeinde ein getreues Abbild der großen Schulgemeinde wurde, die in Bauern, Anbauern und Häuslinge sozial scharf gegliedert war. So wurde denn Heini Renken, dessen Mutter einen mittleren Schinken und eine armlange Mettwurst mitbrachte und zugleich andeutete, sie würden nächstens ein fettes Kalb schlachten, Erster, und Jürgen Brammer mit seiner verschimmelten Leberwurst gebührte der letzte Platz. Nachdem Schulmeister Wencke angesichts der offenen Körbe über die Rangordnung sich schlüssig geworden war, überließ er die Mütter seiner Frau zur Bewirtung mit einer Tasse Kaffee und machte sich mit seinem Gehilfen daran, die auf dem Hof herumstehenden Kinder für die geordnete menschliche Gesellschaft einzufangen. Mit Hilfe der vorgehaltenen Köder ging das ziemlich leicht. Nur Jürgen Brammer, der vorhin so geheult hatte, traute der Sache noch immer nicht, und Peter mußte ihn auf dem Arm in die Schulstube tragen und sich auf einen Wink des Schulmeisters auch weiter diesem offenbar schwierigsten Charakter des Jahrgangs widmen. Er hatte mit seinen ersten Erziehungsversuchen den schönsten Erfolg. Als der kleine Kerl merkte, daß er es nicht mit dem leibhaftigen Buhmann zu tun hatte, sondern mit einem Jungen, der so gar nichts Menschenfresserisches an sich hatte, hörte er auf zu weinen, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und nahm einen roten Bonbon aus der ihm hingehaltenen Tüte. Als er eine Weile daran gelutscht hatte, nahm er das klebrige Ding aus dem Munde und bot es Peter an. Fast hätte der zugegriffen, denn Süßigkeiten aß er gern. Er besann sich aber zur rechten Zeit, daß sich dies mit seiner Würde als Schulmeister nicht vertrug, und sagte: »Nee, nee, behol' man!« Da Jürn auf diese Weise den roten Bonbon nicht los werden konnte, steckte er ihn in die Tüte, um einen grünen zu probieren. Mit der Nahrung des Geistes verschonte Wencke heute die Kleinen noch. Er ließ sie schmausen, holte aus jedem mit viel pädagogischem Geschick den Namen heraus, scherzte plattdeutsch mit ihnen, ermahnte sie, immer fleißig zur Schule zu kommen, zeigte eine Papptafel, auf der ein braunes Hottehüh dahertrabte, und ließ sie laufen. So verlief der erste Schultag für alle Beteiligten sehr erfreulich. Die Kinder konnten den ganzen Tag in Süßigkeiten schwelgen, sofern nicht die Eltern grausamer waren als der liebe Schulmeister und dessen großmütige Geschenke an sich nahmen. Unter des letzteren Wiemen sah es aus, als ob ein Schweinchen hätte dran glauben müssen. Und Peter war froh, die erste Aufgabe, die ihm in seinem Lebensberuf gestellt war, glatt gelöst zu haben. Beim Mittagessen ließ der Schulmeister sich über die Familien aus, die heute ihre Kinder ihm anvertraut hatten. Peter lernte auf diese Weise einen Teil der Schulgemeinde kennen. Freilich nur in der Hinsicht, ob einer viel oder wenig hatte, filzig war oder gern herausrückte. Außerdem lernte Peter beim Mittagessen den Luxus des Lebens kennen. Der Tisch war mit einem weißen Leintuch gedeckt, und jeder Esser hatte seinen eigenen Teller. Über letzteren freute Peter sich aus demselben Grunde, wie er sich über das eigene Bett freute. War er zu Hause im Bett mit den geschwisterlichen Beinen in Kampf geraten, so am gemeinsamen Eßnapf mit ihren Holzlöffeln. Und nirgends waren Trinas Sprößlinge selbstsüchtiger und unangenehmer als am Eßtröglein. Schnell sah der Junge, der bislang nur Holzschleef und Naturgabel gebraucht hatte, seinen Lehrmeistern ab, wie man die Eßgerätschaften einer höheren Kultur handhabte, und schlug eine wackere Klinge. Das Honigbrot vom Morgenkaffee hatte seinen Magen noch immer nicht wegen des ausgefallenen Abendbrotes beruhigt, und Frühstück gab's nicht. »Von wegen meinem Magen,« hatte der Schulmeister erklärt. Als die Messer und Gabeln ruhten, nahm der Schulmeister wieder das Wort. »Ein lateinischer Schriftsteller,« begann er, »hat einmal ein Wort gesprochen, das die Gelehrten so übersetzen: Eine gesunde Seele in einem gesunden Körper. Wir Schulmeister, das ist klar, haben für unsern schweren Beruf eine gesunde Seele nötig. Die können wir aber nur haben, wenn unser Leib gesund bleibt. Um ihn gesund zu erhalten, müssen wir neben der Arbeit des Geistes, die wir an der lieben Jugend betreiben, auch unsern Körper arbeiten lassen. So habe ich's immer gehalten. Es waren meine besten Tage, wenn ich im Schweiß meines Angesichts mein Brot aß, wie es uns ja auch schon in der Bibel verheißen ist. Abgesehen davon, daß die Schulmeisterei einen mit der Familie allein nicht ernährt. Und da habe ich immer gefunden, die gesündeste Arbeit ist das Graben. Ich wäre nicht so alt geworden, wenn ich nicht viel gegraben hätte. Für dich wird das auch gut sein. Komm, ich will dich anweisen.« Er führte Peter in den Garten und zeigte ihm ein Stück Land. »Kannst du dieses wohl bis zum Kaffee umgegraben haben? Wir wollten gern Erbsen legen.« Peter versprach, sein Bestes zu tun. »Dein Vorgänger,« sagte der Schulmeister wieder, »warf so ein Stück Land im Handumdrehen herum. Na, er war aber auch einen guten Kopf größer als du. Sieh zu, wie weit du kommst, grabe nicht zu flach, und verteile den Dünger gut!« Damit ging er, um seinerseits des Leibes Gesundheit durch ein Mittagsschläfchen zu pflegen. Peter machte sich munter ans Werk. Er war froh, daß ihm eine Arbeit gegeben war, die er beherrschte, bei der er nicht ängstlich zu tasten brauchte. An so etwas hatte die Stiefmutter ihn tüchtig herangekriegt. Er tummelte sich, um hinter seinem großen Vorgänger nicht allzuweit zurückzubleiben. Und wirklich, er warf das Stück herum, ehe er zum Kaffeetrinken gerufen wurde. Ja, vom nächsten auch noch zwei Reihen! Als der Schulmeister nach seinem Mittagsschläfchen die Arbeit prüfte, zollte er ihr vollen Beifall, und am Kaffeetisch warf er in Peters Tasse ein Stück Zucker mit den Worten: »Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.« Peter war sehr froh. Er hatte einmal das angenehme Gefühl, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein. Dazu hatte die Stiefmutter es trotz all seiner sauren Arbeit im Hause und auf dem Felde nie kommen lassen. Nach dem Kaffeetrinken half er seinem Lehrherrn Erbsen legen. Und bald legte er sie allein. Denn als der Schulmeister seinen Diensteifer bemerkte, schmunzelte er stillvergnügt und beschränkte die eigene Arbeit darauf, mit der Pfeife im Munde Anweisungen zu geben. Als sie mit dem Abendessen fertig waren und noch am Tisch saßen, konnte Peter seine Wißbegier nicht mehr bezwingen. An der Wand hing ein länglicher Kasten mit einem Stiel, an dem einige Bindfäden her liefen. Das Ding hatte ihn schon bei allen Mahlzeiten des Tages so merkwürdig angesehen, als ob es mehr wäre als ein Kasten zur Aufbewahrung von Garnknäueln oder Rauchtabak oder dergleichen. Er fragte also den Schulmeister, was es mit dem zweifelhaften Kasten auf sich hätte. Der lächelte weise und gab dann ernsthaft die Erklärung: »Was du da siehst mein Sohn, ist nicht ein Kasten, sondern eine Geige. Gewöhnliche Leute nennen sie auch Vigeline. Dieselbige ist ein musikalisches Instrument. Sie besteht aus einem dünnen Holzkasten, der als Resonnanzboden dient. Derselbe ist nicht mit Bindfäden bespannt, sondern mit Saiten, die aus Tierdärmen gewonnen werden. Mit jenem Bogen, der jenseits des Ofens hängt, wird der Ton erzeugt. Wart', ich will dir mal ein Stückchen spielen.« Mit großen Augen sah Peter den Vorbereitungen zu, dem Spannen und Stimmen der Saiten, dem Ansetzen des Bogens, der Bewegung der Finger. Als der Schulmeister dann eine schlichte Volksweise zu spielen begann, legte er die Arme ineinander und schloß die Augen. Vater Wencke war ein herzlich schlechter Musikante. Er hatte einen harten, kratzenden Strich, und auch mit dem Abstimmen der Saiten nahm er es nicht eben genau. Dennoch, kaum hatte er angefangen, so war sein Zuhörer in einer andern Welt. Denn der gehörte von Haus aus zu den Menschen, welche die Seele voll heimlicher innerer Musik haben, und diese zum Singen und Klingen zu bringen, dazu bedurfte es keines künstlerisch vorgetragenen Meisterwerkes. Dazu hatte sonst das mäßige Orgelspiel auf der mangelhaften Kirchenorgel in Steinbeck genügt. Dazu genügte jetzt auch die einfache, wehmütige Volksweise, von Schulmeister Wencke auf schlecht gestimmter Geige gekratzt. Dieser bemerkte die tiefe Bewegung, die seinen Zuhörer ergriffen hatte, und spielte die Melodie dreimal hintereinander. Beim dritten Male gab er sich wirklich Mühe, seiner Geige lange, süße Töne zu entlocken. Als er sie dann absetzte und Peter tief aufatmend die Augen öffnete, sagte er freundlich: »Wenn wir erst etwas weiter sind, und du bleibst so folgsam und fleißig, wie du heute warst, werden wir sehen, ob du auch genügend musikalische Begabung hast, um das Geigenspiel zu lernen.« Für diese Worte bekam er einen Blick, wie er ihn dankbarer in seiner ganzen Schulmeisterpraxis wohl nicht geerntet hat. Peter sah den ganzen Abend den Himmel voller Geigen hängen. Bald darauf stieg er in sein stilles Reich hinauf. Auch diesen Abend war er der glücklichste Mensch im ganzen Dorf. Nicht so stürmisch kam das Gefühl seines Glücks über ihn, als gestern abend, da er in seinem Fenster lag. Aber er freute sich desselben als eines stillen, ruhigen Besitzes, in dem er, der arme Stiefsohn Trinas, sich unendlich reich fühlte. Daß es nicht leicht war, als Schulmeister das zu leisten, was nach dem ihm heute gezeigten Vorbild geleistet werden mußte, fühlte er auch wohl. Aber er spürte die Freudigkeit in sich, seine ganze Kraft einzusetzen. Und dann mußte es ja gehen. * * * * * Das war Peters erster Tag im Schulhause zu Wehlingen. Wie er, ins Wasser hineingeworfen, zwar nicht regelrecht schwimmen, aber doch durch Paddeln sich leidlich oben zu halten lernte, was für Dummheiten er machte und wie er die allergröbsten allmählich zu meiden begann, wie er Kinderherzen gewann und Kinderhöschen stramm zog, das alles wollen wir hier nun nicht weitläufig erzählen. Denn uns interessiert weniger Peter der Schulmeister, als Peter der Mensch. Nicht das wollen wir vor allem wissen, wie Peter mit den kleinen Wehlinger Bauernjungens und -deerns fertig wurde, sondern, wie er mit sich selbst, mit der Welt, mit dem Leben fertig wurde. Und darüber ist aus den nächsten beiden Jahren nur weniges summarisch zu berichten. So glückliche Abende wie die beiden ersten hat Peter während dieses Zeitraumes in seiner Dachkammer nicht wieder erlebt. Wie der Mensch sich an alles gewöhnt, so gewöhnte er sich auch daran, daß er eine eigene Stube und ein eigenes Bett hatte. Nur wenn er aus den Ferien, aus den elenden Verhältnissen seines Vaterhauses, zurückkam, fühlte er anfangs annähernd wieder das Glück jener ersten Abende. In jenen glücklichen Stunden hatte die junge Seele, die einem engen, dumpfen Käfig entronnen war, sich frei gewähnt und jubelnd ihre Flügel geregt, um aufzufliegen. Aber bald genug mußte sie merken, daß sie nur den Käfig getauscht hatte. Mochte der neue Käfig auch nicht ganz so eng und drückend sein wie der alte, das freie Flügelregen und Fliegen verbot er doch auch. Schulmeister Wencke war ein kleinlicher Mensch, der seine Präparanden im Schul- und Wirtschaftsbetrieb ausnutzte, aber unfähig war, ihnen für ihren Beruf wirklich etwas zu geben. Als Peter ihm eines Tages ehrlich klagte, er könne mit den Kindern das nicht erreichen, was ihm am ersten Tage als erreichbar gezeigt wäre, da sah der Schulmeister ihn groß an und sagte: »Du dummer Junge, du willst in ein paar Wochen das können, wozu ich mein ganzes langes Leben gebraucht habe?« Wenn Peter sich einmal in irgend einer Schwierigkeit Rat holen wollte, hieß es meist nur: »Junge, das weißt du nicht? Denk doch man bloß ordentlich nach! Ist ja ganz leicht. Schlau genug bist du dazu.« Die früheren Präparanden hatten ausnahmslos mit der Zeit einen förmlichen Haß gegen den Mann gefaßt. Dazu kam es bei Peter nicht. Wenn er einmal böse auf ihn werden wollte, verglich er ihn schnell mit seiner Stiefmutter, und dann fand er den selbstsüchtigen Mann ganz erträglich. Er hatte eben in harter Schule gelernt, gar keine Ansprüche an die Menschen zu stellen und schon zufrieden zu sein, wenn sie ihn nur leben ließen. -- Einige Wochen lang hatte er den Schulmeister beinahe lieb. Das war während der Zeit, als dieser ihm Geigenstunden gab. Aber bald sagte eine Saite knax, und nach ein paar Tagen eine zweite. Da hängte der Alte die Geige an die Wand und meinte, nun müßten sie's erst mal aufstecken. Wenn er mal in den Flecken käme, wollte er sich frische Saiten mitbringen. Er kam zwar öfters in den Flecken und brachte sich Tabak mit, aber Saiten nicht. Es schnitt Peter manchmal ins Herz, wenn die Verstummte mit ihren schrägliegenden Augen ihn von ihrem alten Ruheplatz so traurig anschaute. Wenn er zufällig allein in der Stube war, trat er wohl einmal an sie heran und zupfte an der gebliebenen Baßsaite. Dann brummte die alte Freundin, zornig und wehmütig zugleich. Es wäre dem armen Jungen zu wünschen gewesen, daß er nach seiner elenden Jugendzeit in mütterliche Hände gekommen wäre. Wo diese sehnsüchtige Kinderseele nur ein wenig Verständnis, ein ganz klein wenig Liebe gefunden hätte, da hätte sie sich dankbar aufgeschlossen, wie das Marienblümchen in der ersten spärlichen Märzsonne. In den rechten Händen wäre Peter weich wie Wachs gewesen. Aber von mütterlicher Art, die dem armen Jungen das zuerst mit so inbrünstiger Liebe als Heim umfaßte Schulhaus zu einer wirklichen Heimat hätte machen können, hatte die Schulmeisterin auch gar nichts. Seit ihre erwachsenen Kinder das Haus verlassen hatten, lebte sie nur noch für ihren Mann. An dem sah sie wie an einem Halbgott hinauf und diente ihm wie eine treue Magd. Zu Peter hatte sie kein anderes Verhältnis, als daß sie für seines Leibes Nahrung und Notdurft leidlich sorgte. Peter las viel. Als Wenckes Bücher ihm nichts mehr zu sagen hatten, wußte er sich solche hier und da bei den Lehrern der Nachbarschaft zu leihen. Er las, was ihm gerade unter die Finger kam, und bei seinem guten Gedächtnis behielt er auch manches von dem Gelesenen. Aber, da er zu unreif war, um eine Auswahl zu treffen und die Einzelheiten einzuordnen und geistig zu verbinden, so hatte er selbst keine rechte, tiefe Freude daran. Deshalb suchte er andern Freude damit zu machen. Aber damit hatte er auch kein rechtes Glück. Die Leute schätzten seine Belehrungen nicht, zumal er von Schulmeister Wencke die Kunst gelernt hatte, die einfachsten Dinge mit vielen Worten breitzutreten. Als er merkte, daß die Menschen seine Weisheit verachteten, bedauerte er sie aufrichtig und fing an, sich als einen jener »Unverstandenen« zu fühlen, die mitleidig auf das Leben und die Menschen herabblicken und wunder meinen, was die Welt in ihnen verkennt. Es war schlimm, daß es ihm an Menschen fehlte, an denen er hinaufsehen mußte, von denen er sich Maßstäbe zu richtiger Selbsteinschätzung hätte holen können. Für die wirkliche Lebenstüchtigkeit mancher Bauersleute seines Dorfes hatte der kleine Büchermensch natürlich kein Auge. So kam der grüne Junge nach und nach in einen Hochmut hinein, der ihn um so unangenehmer machte, als er zu seinem eigentlichen Wesen gar nicht paßte. Wenn kein Mensch Peter in diesen Jahren recht leiden konnte, so hatte er dennoch ~einen~ wahren und treuen Freund. Das war des Schulmeisters Phylax, der aus einer angesehenen Schäferhundefamilie stammte. Wenn er mit diesem an den Sonntagnachmittagen in der Heide, fernab von den Blicken der Menschen, herumtollte, hatte er den Gelehrten und Schulmeister ganz ausgezogen und war nichts als der gute, große Junge, der mit lachenden Augen über die Heide sprang. Aber wenn er mit ihm durch das Dorf nach dem Schulhause zurückkehrte, war er wieder der Herr Schulmeister, und auch Phylax mußte dieser Würde seines Freundes durch gesittetes Benehmen Rechnung tragen. Vielleicht war dieser zweite Käfig, das Schulmeisterhaus in Wehlingen, noch gefährlicher für Peter als der erste, die stiefmütterliche Kate. Denn jetzt stand er in den Jahren, wo es sich entscheiden mußte, ob er ein aufrechter, tüchtiger Mensch werden oder als eine aus Mangel an Wärme, Licht und Luft verkrüppelte und verkümmerte Existenz am Boden dahinvegetieren sollte. Das letztere erschien nachgerade als das Wahrscheinlichere. Da, am Anfang des dritten Jahres bei Schulmeister Wencke, trat ein Neues in sein Leben hinein. Als Peter am Sonnabend nach Ostern, einen Tag früher, als er erwartet wurde, abends nach Wehlingen zurückkehrte, fand er das Schulhaus bereits verschlossen. Er machte sich bescheiden durch leises Bewegen des Drückers und durch Hüsteln bemerkbar, und wartete geduldig, bis der Alte heranschlarren und, über Störung der Nachtruhe brummend, öffnen würde. Der wohlbekannte Schlarrschritt ließ sich aber nicht hören, sondern der Riegel wurde plötzlich schnell zurückgeschoben, und es kam Peter vor, als ob drinnen schnelle Füße husch husch husch über die Diele davoneilten. Darüber wunderte er sich, und als er ins Haus trat, sah er sich auf dem Vorplatz nach allen Seiten um, entdeckte aber nichts Besonderes. So stieg er leise seine knarrende Treppe hinauf, legte sich schlafen, und schlief, von der langen Wanderung und der Frühjahrsluft ermüdet, tief in den Sonntag hinein. Endlich erwachte er mit einem starken Hungergefühl. Denn er war ja wieder einmal ohne ordentliches Abendbrot zu Bett gegangen. Er kleidete sich schnell an und ging hinunter, um zu sehen, ob die Schulmeisterin trotz des verschlafenen Morgenkaffees noch etwas für ihn hätte. Noch auf der Treppe, sah er durch die halboffene Küchentür mit Verwunderung, daß drinnen etwas Buntes, Schnelles hantierte. Ehe ihm klar wurde, was das war, ging die Tür ganz auf, und vor ihm stand ein -- Mädchen. »Guten Morgen,« sagte sie munter, »den Kaffee habe ich dir warm gestellt und bringe ihn gleich, geh man in die Stube!« Peter tat, wie ihm geheißen. Das erste in der Wohnstube, worauf sein Blick fiel, war ein Glas gelber Osterblumen, das auf dem Tisch stand. Und auf dem Nähtischchen neben einer Handarbeit entdeckte er eins mit Weidenkätzchen. Der Frühling, an dessen ersten zarten Kindern er sich gestern auf der Wanderung erfreut hatte, war auf einmal, ganz gegen seine Gewohnheit, auch ins Schulmeisterhaus gekommen und sogar in die dunkle Nordstube. Die Tür ging auf. Da kam ein heller Sonnenstrahl hereingehuscht, dann erschien eine blanke Zinnkanne, in deren geputztem Metall sich auch ein wenig Frühlingssonne gefangen hatte, und die bewegte sich gerade auf Peter zu. Er rückte scheu mit dem Stuhle und sah von der Seite in ein Paar nahe Augen, die waren ganz voll Frühling und Sonne. »Bist du bange vor mir?« fragten ein Paar lachende Lippen, die zu diesen Augen gehörten. »Nehee,« sagte Peter errötend und rückte mutig wieder auf seinen Platz. Das Mädchen stand jetzt ihm gegenüber, die Hand auf der Kaffeekanne, aus der sie ihm eben eingeschenkt hatte, und sah ihm unbefangen und ruhig beobachtend ins Gesicht. Peter beugte sich vor Verlegenheit zu seiner Tasse und tat schlürfend einen tiefen Zug. »Du wunderst dich wohl, daß ich auf einmal hier bin?« fragte das Mädchen. Peter wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, wagte es, sie anzublicken und sagte: »Ja, das ist mir sehr auffällig. Was willst du denn hier?« »Mein Großvater schrieb mir, ich sollte kommen und Großmutter helfen; es würde ihr mit der Arbeit zu viel.« »Ach soo. Denn bist du dem Schulmeister Albers in Audorf seine Tochter ...,« sagte Peter. Er hatte sich jetzt von seinem Staunen erholt und fühlte sich der Situation gewachsen. »Wie heißt du denn?« »Marie. Ich bin die älteste.« »Wie alt bist du denn?« »Siebzehn.« »So alt schon? Du siehst viel jünger aus. Ich bin auch siebzehn.« »Mehr noch nicht? Du siehst viel älter aus.« »Soo? Meinst du? Das freut mich.« Sie lachte plötzlich laut auf. »Was lachst du?« fragte Peter errötend. »Och Mensch, du bist so furchtbar komisch.« »Was? Ich?« »Ja, wenn du einen um was fragst, machst du gerade so'n Gesicht wie mein Großvater.« »Soo?« »Ja, so'n rechtes Schulmeistergesicht. Aber nun laß den Kaffee nicht ganz kalt werden, und vergiß das Essen nicht.« Peter gehorchte. Er trank ein paar Schluck und aß einige Mundvoll dazu. »Meine Großeltern sind zur Kirche. Großvater war böse, daß ich dich dazu nicht früh genug geweckt hatte,« sagte sie, indem sie sich an den Osterblumen zu schaffen machte. »Och, das schadet nicht viel,« sagte Peter, »ich bin die Festtage über oft genug hingewesen. Sag' mal, bleibst du lange hier?« »Dieses Jahr gewiß. Zu Hause bin ich über.« »Wie viel seid ihr denn bei euch?« »Sieben. Fünf Mädchen und zwei Jungens.« »Sieben? Ja, das ist zu viel.« »Zu ~viel~?« »Ja, zu viel. Als ich noch zu Hause war, waren wir fünf. Das war schon reichlich. Nun sind da auch schon wieder zwei zugekommen, und wir sind auch sieben. Das ist zu viel.« »Bei uns war's nicht zu viel. Wie wir immer vergnügt gewesen sind, das kannst du dir gar nicht denken. Hier hatte ich die ersten Tage ordentlich Heimweh. Ist man gut, daß du gekommen bist. So ist's doch wenigstens noch einer mehr.« Peter wurde ein wenig rot und sah zum Fenster hinaus. Dann trank er seine Tasse aus und stand auf, um nach oben zu gehen. Aber sie sagte: »Bleib' noch'n Augenblick sitzen. Ich will schnell hinauf und deine Stube zurechtmachen.« Und schon war sie hinaus. Er hörte das schnelle Knarr-knarr-knarr der Treppe, dann, wie sie oben das Fenster aufstieß und eilig hin und her ging, wie sie sein Bett klopfte. Dazu sang sie trällernd eine muntere Weise. Was sollte bloß hieraus werden? Das ganze Haus war ja wie verwandelt. Als ob alles auf den Kopf gestellt wäre! Bald war sie wieder unten. »So!« sagte sie lustig, »nun mach' daß du 'rauf kommst! Ich will jetzt hier zu Mittag decken, daß alles fertig ist, wenn die Großeltern aus der Kirche kommen.« Peter stieg hinauf. Als er in seine Dachstube kam, sah er sich unwillkürlich nach den Spuren ihrer Tätigkeit um. Es kam ihm vor, als ob sein Bett weicher aufgelockert wäre als sonst. Ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch gelegen hatte -- er hatte gestern abend noch eben die Nase hineingesteckt -- war, schwapp, zugeklappt und in die Reihe der andern gestellt. Der Anzug, den er gestern beim Zubettgehen über den Stuhl geworfen hatte, hing fein säuberlich an seinem Haken. Was sollte das geben, was sollte das geben? -- Es wurde ihm auf seiner Dachstube bald langweilig. Ein Buch vor die Augen zu nehmen, fühlte er keine Lust. Draußen lachte die Aprilsonne. Da beschloß er, einmal durch den Garten zu spazieren. Kaum war er bei dem dicken Apfelbaum, da hörte er schnelle Tritte hinter sich. Und richtig, da war sie, an die er gerad' eben dachte. »Halt!« rief sie lustig, »bin mit allem fertig, die Kartoffeln stehen auf dem Feuer, darf ich ein büschen mit?« »Och jaa,« sagte Peter, »wenn du Zeit hast ...« »Sag' mal,« fragte sie, indem sie nebeneinander den Steig hinuntergingen, »kommt dir das hier in Wehlingen nicht manchmal sehr langweilig vor?« »Langweilig? Och nee.« »Hast du denn Freunde?« »Freunde? Weißt du, Marie, unter den Menschen sind wenige, die einen verstehn. Meine Freunde sind die Bücher.« Sie lachte hell auf. »Was? Die alten toten Dinger sind deine Freunde? Hast du denn Lust, zu lesen?« »Wer etwas werden will, der muß viel lesen und lernen,« sagte er ernsthaft. »Was liest du denn?« »Och, alles Mögliche. Geistliches und Weltliches, Poesie und ... das andere, was so gewöhnlich geschrieben ist und sich nicht reimt ..., Naturgeschichte und Weltgeschichte und ...« »Mensch, verstehst du das denn alles?« »Och ja, das geht. Man muß eben seinen Verstand gebrauchen und scharf denken.« »Junge, Junge, denn mußt du ja schrecklich klug werden.« Peter lächelte überlegen und machte dann ein Gesicht, als ob er eben daran wäre, die letzten Fragen alles Seins denkend zu bewältigen. »Mensch, du siehst schon ordentlich gelehrt aus, mit deinen Falten vorm Kopf.« Er sah zur Seite und blickte in ihr lachendes Gesicht. Die grauen Augen, die Grübchen in den Wangen, der rote Mund, die weißen Zähne, alles lachte. Da mußte er auch lachen. »Eigentlich müßtest du erst'n Bart kriegen, und dann die Falten,« meinte sie. »Etwas kommt hier auch schon,« sagte Peter stolz und zupfte an seiner Oberlippe. »Wirklich?« fragte sie lachend und kam ganz nahe, um sich von dem Vorhandensein der paar winzigen blonden Härchen zu überzeugen. Er fühlte ihren Hauch auf seinem Gesicht, es wurde ihm ganz wunderlich zumute. »Wirklich, 'ne Idee is da schon, muß aber noch tüchtig wachsen.« Sie waren an ein Stückchen frisch gegrabenen Landes gekommen. »Das habe ich gestern gemacht,« sagte sie, mit dem Fuß eine auf den Weg gefallene Erdscholle zertretend, »ach ja, is noch 'n schöne Arbeit, den ganzen Garten umzugraben ... Ob mir wohl einer dabei hilft?« Sie sah Peter schelmisch an. »Meinst du mich?« fragte er. »Wen denn sonst?« »Ich habe diese Jahre viel hier im Garten gearbeitet,« erklärte Peter, »aber ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mich diesen Frühling und Sommer ganz den Büchern zu widmen. Weil ich doch im Herbst aufs Seminar komme, weißt du.« »Ach du, mit deinen alten Büchern immer! Du tust grad' so, als ob das ganze Leben so zwischen den Pappdeckeln säße.« »Marie, darüber mußt du nicht reden. Das verstehst du nicht,« verwies er ernstlich. »Übrigens das mit dem Graben ... ich will nicht sagen ... so 'ne Viertelstunde nach dem Mittagessen mal ... oder auch mal 'ne halbe ... das ginge am Ende doch ... Die alten Lateiner hatten ein Wort, das die Gelehrten folgendermaßen übersetzen: eine gesunde Seele in einem gesunden Körper. Für die Seele sind die Bücher, und für den Körper, ja, da ist so ein Stündchen Arbeit mal ganz gut ... Ja, ich will dir wohl mit helfen ...« »Peter, du sollst mal sehen, das wird aber gemütlich. Zu zweien arbeitet sich's viel besser als allein. Großvater und Großmutter schlafen dann; da können wir uns immer schön was erzählen. Ich muß dir so viel erzählen, von meinen kleinen Brüdern zu Hause, und von meinen Schwestern, und was wir da abends immer spielen. Und du, na du kannst mir mal was aus deinen Büchern erzählen. Aber nicht so'n langweiligen Kram, wo'n bei gähnen muß. Daß ich doch etwas von deiner Gelehrsamkeit abkriege und nicht so dumm bleibe ... Hör'! Was ist das?« Aus dem Dorf tönte plötzlich etwas herüber, wovon man zunächst nicht wissen konnte, ob es ein Schmerzensgebrüll oder eine Art von Gesang sein sollte. Wenn man genauer hinhörte, war die Melodie des Chorals: »Wie schön leucht' uns der Morgenstern« herauszuhören. Es klang trotz der Entfernung grauenerregend. Und das Mädchen starrte ihren Begleiter entsetzt an, als sie fragte: »Was ist das?« Peter sagte gleichmütig: »Och, da wohnt so'n alter Kerl, der vor'n Stücker zwanzig Jahren verrückt geworden ist. So grölt er jeden Sonntagvormittag.« »Ist das nicht der Gesang: ›Wie schön leucht' uns der Morgenstern, voll Gnad' und Wahrheit von dem Herrn?‹« »Ja, der soll's ja wohl sein. Mit dem, was daran fehlt.« »Woher weiß denn der arme Mensch, daß Sonntag ist?« »Och, das mag er wohl daran sehen, daß die andern Leute ihr gutes Zeug anziehen und nach der Kirche gehen.« »... Wie schön, daß der arme Mensch doch auch seinen Sonntag hat! ... Hör', jetzt kann man's auch verstehen. Er hat nach dem ersten Vers gleich den letzten angefangen. Hör': Amen -- Amen -- komm du schöne -- Freudenkrone -- bleib nicht lange, -- deiner wart' ich mit Verlangen ... Nun ist er still ... Wenn sie ihm doch bald geschenkt würde!« Peter warf schnell einen erstaunten Blick auf das Mädchen, das still nach der Richtung schaute, wo eben der Gesang verstummte. Dann senkte er ein wenig den Kopf und errötete. Er schämte sich. Auf der Höhe, über die der Kirchweg führte, wurden die ersten zurückkehrenden Kirchbesucher sichtbar. Da gingen die beiden langsam und schweigend durch den Garten zum Hause zurück. Vor der Haustür wurde Peter stürmisch von seinem alten Freunde Phylax begrüßt, der eben von einem Frühjahrsbummel durch das Dorf zurückkam. Er tätschelte ihm zweimal mit der Hand über den Kopf und kümmerte sich dann nicht weiter um ihn. Da leckte Phylax sich verlegen ums Maul, und in seinem ehrlichen Hundegesicht war ein ähnlicher Ausdruck, wie etwa in dem eines Menschen, der sich nach langer Trennung einem alten Freunde an die Brust geworfen hat und nun plötzlich merkt, daß bei jenem die Freundschaft merklich abgekühlt ist, vielleicht weil sich inzwischen für ihn etwas Besseres gefunden hat. Phylax sah das Mädchen mit einem Blick an, als ob er sie in Verdacht hätte, ihm die Freundschaft Peters gestohlen zu haben. Als die Schulmeistersleute zurückkamen, setzte die jetzt vierköpfige Familie sich sofort an den Mittagstisch. »Peter,« begann der Schulmeister, »durch deine Langschläferei hast du dich um eine ganz wunderschöne Predigt gebracht. Der Pastor hat anerkennenswert gut über das heutige Evangelium gepredigt: Wie der Herr unter die Jünger tritt bei verschlossenen Türen und sagt: Friede sei mit euch. Dieser schöne Gruß klang da immer wieder durch, und ging einem recht zu Herzen. Ich habe mich sehr erbaut ... Aber Marie, was hast du bloß mit dem Essen angefangen? Der Suppe fehlt das Salz, und das Fleisch hast du nicht mürbe gekriegt. Hast du denn gar nicht an meine Zähne und meinen schwachen Magen gedacht?« Die Getadelte wollte die Zähigkeit des Fleisches mit dem Alter der Kuh entschuldigen, wurde aber zur Ruhe verwiesen. Da konnte Peter sich nicht mehr halten. Ihm hatte es die beiden Jahre noch nie so gut geschmeckt wie eben jetzt, und er sagte, ohne aufzublicken: »Ich finde im Gegenteil, es schmeckt alles ~sehr~ gut,« und hieb tapfer mit den Zähnen auf eine Sehne ein. Die Schulmeisterin hatte ihre Gabel hingelegt und sah Peter starr von der Seite an. Der Schulmeister aber sagte, hämisch lächelnd: »Soo? Du hast wohl mal wieder gehörig hungern müssen, bei deinem nassen Vater und der zärtlichen Stiefmutter?« Peter wurde glutrot und beugte sich tief über den Tisch. Er schämte sich vor der neuen Hausgenossin. Als man aufstand, ging er schnell aus der Stube, ohne jemand anzusehen. Auf seiner Dachkammer angelangt, schlug er mit der Faust dröhnend auf den altersschwachen Tisch. Seine Scham war dem Zorne gewichen. Zum ersten Male, solange er in Wehlingen war, war er auf den Schulmeister wirklich zornig. Da läuft der Kerl, dachte er, in die Kirche und erbaut sich an dem Friedensgruß des Auferstandenen, und dann kommt er wieder und verdirbt seinen Mitmenschen den schönen Sonntag; dem armen Ding da unten durch ungerechtes Mäkeln am Essen und ihm, Peter, durch den hämischen Spott über seine häuslichen Verhältnisse, an denen er doch unschuldig war und unter denen er ohnehin genug litt. Aber so war der Mann eigentlich ja schon immer gewesen. Peter wunderte sich, daß er jetzt erst anfing, ihn zu durchschauen. An diesem Vormittag war's ihm gewesen, als sei ein neuer Geist in das Schulhaus eingezogen. Er mußte bitter lachen, wie er jetzt daran dachte. Nein, der alte mürrische, unzufriedene, kleinliche Geist hatte nach wie vor die Herrschaft. Aber etwas anders war's doch geworden ... Wart', morgen mittag, wenn die beiden alten Ekel auf dem Ohr liegen, dann grabe ich im Garten ... Nicht allein, wie diese beiden langweiligen Jahre, sondern in Gesellschaft. Sie freut sich mächtig darauf. Wie lachten ihre Augen, als ich ihr versprach, daß ich ihr helfen wollte! Och ja, es kann ganz interessant werden. Solche Mädchen haben was Komisches an sich ... Ich soll ihr aus den Büchern erzählen ... Was nehme ich da wohl? Ich muß etwas Leichtes aussuchen. Das Schwere versteht so'n Mädchen ja doch nicht ... Daß ein Gelehrter gesagt hat, die Menschen stammten von den Affen ab, und es auch Menschen gibt, von denen man das beinahe glauben könnte ... Daß der alte Kaiser Barbarossa unten im Kyffhäuser sitzt, und der lange weiße Bart ist ihm durch den steinernen Tisch gewachsen, und daß Deutschland vielleicht noch mal einen Kaiser wieder kriegte; einige meinten, der König von Preußen müßte es werden, aber er, Peter, hätte mal gelesen, die Preußen wären gar keine echten Deutschen, sondern halbe Russen, und er hätte mal einen Preußen gesehen und von diesem einen sehr schlechten Eindruck gewonnen ... Daß die Franzosen einmal eine große Revolution gemacht und dabei ihren König geköpft und den lieben Gott abgesetzt hätten. So wäre es aber doch nicht gegangen, und da hätten sie ihn wieder eingesetzt, das heißt nicht den richtigen, sondern nur ein »höchstes Wesen« ... Daß die Menschen einen Stoff entdeckt hätten, den sie Elektrizität nennten, und manche meinten, damit würde man noch mal Wagen ziehen können. Aber das glaube er nicht, denn es sei schon wunderbar genug, daß der Dampf das könne ... Daß Schiller und Goethe die größten deutschen Dichter wären, aber sie wären beide tot, und nun gäbe es gar keine Dichter mehr, die ordentlich reimen könnten ... und so noch vieles mehr. Aber dies war für morgen wohl erst einmal genug. Peter war seines geistigen Besitzes noch niemals so von Herzen froh gewesen als diesen Sonntagnachmittag, da er die Aussicht hatte, ihn am nächsten Tage auf so angenehme Weise zu verwerten. Und dann wollte sie ihm ja auch erzählen. Ach ja, von ihren Brüdern und Schwestern! Davon versprach er sich nicht viel. Aber was sollte man sonst groß von ihr verlangen? Sie war ja nur ein Mädchen. Die lasen und lernten ja gar nichts mehr, wenn sie aus der Schule waren. Aber sie war doch wohl etwas anderes als die meisten ... Sie hatte ja selbst gesagt, daß sie nicht so dumm bleiben wollte. Na, was er, Peter, dazu tun konnte, das wollte er gewiß tun. * * * * * Am nächsten Morgen trug Peter einige der für den Nachmittag vorgesehenen Unterrichtsgegenstände in der Schule vor. Er hatte sich zwar die Form, in der er's ihr bringen wollte, gestern nachmittag schon einigermaßen überlegt. Aber es konnte nicht schaden, wenn er auch den Vortrag einmal praktisch durchübte. Beim Mittagessen sagte der Schulmeister: »Kinder, es hilft nun nichts, ihr müßt gleich beide tüchtig ans Graben. Daß wir die Frühjahrssaat in die Erde kriegen!« Peter verbarg die Freude seines Herzens unter einer gleichgültigen Maske. Aber eine Sekunde lang zuckte es doch über sein Gesicht. Marie hatte ihn heimlich auf den Fuß getreten. »Denn kommt,« sagte der Schulmeister, »daß ich euch anweise.« Sie holten schnell ihre Spaten aus der Scheune und folgten dem Alten. Der führte sie an die Ostgrenze des Gartens und sagte: »So, Peter, hier gräbst ~du~. Und ~du~, Marie, fährst dort im Westen fort, wo du angefangen hast. Jeder für sich! Daß ihr mir nicht die kostbare Zeit mit Schnacken vertrödelt!« »Och Großvater, dürfen wir nicht zusammen arbeiten? Wir wollen auch tüchtig fleißig sein,« sagte Marie. »Nein, Kind,« sagte der Alte bestimmt, »das hält euch nur auf. Und das schickt sich auch nicht für so'n großen Jungen und so'n großes Mädchen.« »Das schickt sich nicht?« fragte Peter und sah den Schulmeister fast herausfordernd an. »Nein. Ihr seid beide keine Kinder mehr. Steh nicht, Marie, und gaff'! Mach, daß du an deine Arbeit kommst!« Sie nahm ihre Schaufel und entfernte sich, zögernd und widerwillig. Der Schulmeister ging langsam durch den Garten ins Haus zurück. Peter hatte die Zähne aufeinandergebissen und sah ihm voll Wut nach. Nicht mal eine kleine Unterhaltung gönnte ihm der bei der Arbeit? War er, Peter, denn sein Sklave? Man sollte dem ekligen Kerl die Schaufel vor die Füße werfen und keinen Stich mehr für ihn tun. Er sah nach dem entgegengesetzten Ende des Gartens hinüber. Marie hatte auch noch nicht angefangen zu graben. Sie blickte zu ihm herüber. Den Ausdruck ihres Gesichts konnte er bei der Entfernung nicht erkennen. Aber er sah, daß sie ärgerlich mit dem Fuße aufstampfte. Ach was! dachte Peter, der Alte schläft. Geh einfach hin und grabe mit ihr! Aber ... »das schickt sich nicht.« Was schickt sich nicht? Daß er sie, die Belehrung verlangte, belehrte? Daß er ihren engen Gesichtskreis erweiterte? Warum sollte sich das nicht schicken? Er nahm seine Schaufel und tat ein paar Schritte. Aber es stand wie eine unsichtbare Mauer zwischen ihm und ihr: »Es schickt sich nicht.« Dem Befehl des Schulmeisters hätte er heute mit gutem Gewissen getrotzt. Aber über dieses dumme Wort kam er nicht hinweg. Und dem Mädchen drüben ging es ebenso. Auch sie dachte daran, dem Großvater zu trotzen und zu Peter hinüber zu gehen. Aber ... »es schickt sich nicht.« Warum nicht? »Ihr seid keine Kinder mehr.« Nachdenklich sah sie vor sich hin, eine feine Röte legte sich auf ihr Gesicht; dann nahm sie die Schaufel und fing langsam an, das Erdreich herumzuwerfen. Peter stieß plötzlich seinen Spaten in die Erde und ging mit kurzen, trotzigen Schritten ins Haus. Als er die knarrende Treppe hinanstieg, gab er sich keine Mühe, leise zu gehen. Der Alte sollte es hören und sich darüber ärgern, daß er nicht für ihn graben wollte. Voll Grimm riß er ein Buch aus der Reihe und fing an zu lesen. Aber bald irrten seine Blicke über die Zeilen hinweg. Er war mit seinen Gedanken im Garten. Da fiel ihm plötzlich ein, wenn er sich tüchtig ans Graben machte, müßten sie ja doch bald zusammentreffen. Und nach einer Weile stieg er trotzig die Treppe wieder hinab und kehrte in den Garten zurück. Und fing an zu graben, wobei er sich immer wieder beteuerte, der alte Schulmeister wäre es nicht wert, daß man den kleinen Finger für ihn rührte. Als er sich endlich zwang, nicht mehr an ihn zu denken, fingen all die schönen Sachen, die er bei ihr hatte anbringen wollen, an, ihn sehr zu drücken. Aber je mehr er in Schweiß geriet, desto leichter und klarer wurde ihm der Kopf. Er grub nicht nur das halbe Stündchen, das er gestern allenfalls den Büchern entziehen zu dürfen gemeint hatte, sondern den ganzen Nachmittag. Wenn er einmal innehielt, schielte er unter dem Baumgezweige und über dem Beerengesträuch weg nach der Westseite des Gartens. Und es traf sich fast immer, daß Maries Arbeitspausen mit den seinigen zusammenfielen. Dann schaute sie zu ihm herüber. So waren sie, obgleich der ganze Garten und das »Es schickt sich nicht« des Schulmeisters zwischen ihnen lag, doch Arbeitsgenossen, wenn sie sich auch nichts aus den Büchern und aus dem Leben erzählen konnten. Dem brummigen Alter gegenüber, das im Hause bei geschlossenen Fensterläden durch ein Mittagsschläfchen im Bett verbunden war, fühlte die Jugend im Garten, über dem der wunderliche April bald lachte, bald weinte, sich durch die gleiche Arbeit verbunden. So wiederholte es sich in den nächsten Tagen. Peter wurde seinen Büchern fast untreu. Auch wenn er auf seiner Stube saß, widmete er sich ihnen nicht mit dem gleichen Eifer wie sonst. Sie schienen ihm so viele völlig gleichgültige Dinge zu enthalten. Er nahm sich aber fest vor, nach der Frühjahrsbestellung wollte er alles, was er jetzt versäumte, nachholen. Der April vergaß in diesem Jahre früher als gewöhnlich seine wunderlichen Launen und brachte die schönsten Sonnentage. Die kleinen Vögel kamen zurück, jagten sich durch Busch und Baum in frohem Liebesspiel, suchten Halme und Federn zum Nestbau und sangen den beiden fleißigen jungen Menschenkindern zu ihrer Arbeit. Wenn die herzfrohe Grasmücke im Fliederbusch es so recht jubelnd machte, standen diese, von der Arbeit ausruhend, sahen nach dem Vöglein und sahen dann einander froh an. Denn so nahe hatten sie sich schon zusammengearbeitet, daß sie das konnten. Zuweilen, auf dem Wege von und zu der Arbeit, und auch wohl einmal zwischendurch, sprachen sie auch miteinander. Aber die Harmlosigkeit jenes ersten Sonntagmorgens war nicht mehr. Das Gespräch wollte gar nicht so recht in Gang kommen. Peter, der sonst immer so weise und weitläufig hatte reden können und vorher immer ganz genau wußte, was er sagen wollte, war in den paar kurzen günstigen Augenblicken jedesmal wie auf den Mund geschlagen. Aber er tröstete sich. Er meinte, das würde sich schon wieder machen, wenn sie nur erst zusammen auf einem Stück arbeiteten. Die Stunde kam ja mit jedem Spatenstich näher. Am Abend vor diesem langersehnten Tage saß Peter auf seiner Dachstube und überlegte sich noch einmal, was er ihr denn morgen eigentlich erzählen wollte. Da hielt er es für gut, zwischen den Dingen, die er vor zehn Tagen sich vorgenommen hatte, zu sichten. Die Affengeschichte und die Politik schied er aus. Dafür schob er ein Gedicht von Schiller ein, das er auswendig gelernt hatte, weil es ihm so sehr gefiel: In einem Tal bei armen Hirten Erschien mit jedem jungen Jahr, Sobald die ersten Lerchen schwirrten, Ein Mädchen schön und wunderbar. Die ersehnte, mit vielen tausend Spatenstichen und manchem Schweißtropfen verdiente Stunde war gekommen! Aber o weh! Die Aermsten! Schulmeister Wencke fühlte sich diesen Tag so frisch und fand die Frühlingsluft so köstlich, daß er auf das gewohnte Mittagsschläfchen verzichtete und nahe der Arbeitsstätte von Peter und Marie Bohnen legte. So gruben denn die beiden ihre letzten Reihen stumm und verdrossen und waren so ärgerlich, daß sie auch einander nicht einmal einen freundlichen Blick gönnten. Was hatte Peter sich nicht alles von dieser gemeinsamen Arbeit versprochen! Und wie war das alles zu Wasser geworden! Aber schön war's doch gewesen. Jetzt, wo die Arbeit vollendet war, fehlte ihm etwas. Er suchte Ersatz in seinen Büchern. Aber die wollten ihn gar nicht recht fesseln. Immer wieder irrte sein Blick durch das kleine Fenster der Dachkammer in das Grün des Apfelbaumzweiges und darüber hinaus ins Blaue. * * * * * Die Bohnen, die Schulmeister Wencks zitterige Hand unter Peters stillen Verwünschungen in die Erde gesteckt hatte, hielten es dort unten im Dunkeln nicht lange aus. Es dauerte nur wenige Tage, so schickten sie grüne Blättchen ans Licht empor. Und bald angelten grüne Ränkchen nach einem Halt, um noch höher aufzusteigen ins goldene Licht. »Marie,« sagte da eines Mittags der Schulmeister, »die Bohnenstangen müssen eingesteckt werden. Peter kann dir dabei helfen. Ich will mich lieber hinlegen, habe so Rheumatismus in der rechten Schulter. Wißt ihr, wie das gemacht wird?« »Ja,« sagten Peter und Marie wie aus einem Munde. Peter wollte just vor Freude Marie auf den Fuß treten. Da fiel's ihm plötzlich ein: »Das schickt sich nicht für so'n großen Jungen, und ihr seid keine Kinder mehr.« Und er zog den schon ausgestreckten Fuß zurück. Marie mußte nach dem Essen zunächst das Geschirr aufwaschen. Denn auch Mutter Wencke fühlte sich nicht ganz wohl. Peter aber sprang auf den Hausboden, wo nicht weit von seiner Dachkammer die Bohnenstangen überwintert hatten, stieß die von staubigem Spinnegewebe umsponnene Luke auf und warf die Schächte hinaus. Dann sprang er, immer zwei Absätze überschlagend, die Treppe hinunter und schleppte sie, jedesmal ein gutes halbes Dutzend auf die Schulter legend, zum Bohnenfelde. Als er sie alle an Ort und Stelle hatte, setzte er sich erhitzt auf den Stangenhaufen, trocknete den Schweiß und sah erwartungsvoll nach dem Hause ... Horch, da quiekt die alte Gartentür. Und da leuchtet ihr Schleierhut zwischen dem lichten Maiengrün. Aber! Was ist das? Da soll doch der ...! Zehn Schritte hinter ihr der alte Kerl. Ist der mit seinem Rheumatismus nicht längst im Bette?! Peter biß ingrimmig die Zähne aufeinander und wünschte dem Schulmeister den Rheumatismus in beide Beine. »Ich bin doch bange, daß ihr mir die Sache nicht recht macht,« quäkte der Schulmeister, als er bei den Bohnen angekommen war. »Die Wurzeln müssen geschont werden, und die Stangen müssen fest in die Erde, daß der Wind mir nachher den ganzen Kram nicht umreißt, und auskommen müssen wir auch mit dem Haufen auf beiden Feldern; denn neue sind so schnell nicht zu kriegen.« Dann nahm er eine Stange, um sie in die Erde zu stoßen. »Au!« schrie er plötzlich mit schmerzlich verzogenem Gesicht, ließ die Stange los und griff sich nach der rechten Schulter. »Nein, Kinder, es ist doch zu toll. Ihr müßt's allein tun. Macht's so, wie ich gesagt habe, schont mir die Wurzeln, nicht zu dicht an die Pflanzen mit den Stangen, aber tief in die Erde und gut durch Querstangen verbunden, und seht, daß ihr auskommt!« Damit ging er, die wehe Schulter schmerzlich haltend. Peter sah ihm nicht ohne Schadenfreude nach, und als er in Mariens Schleierhut blickte, entdeckte er da auch nicht gerade Mitgefühl. »Wollen hoffen, daß er sehr schön schläft,« sagte er lachend, »das ist für so alte Leute das beste.« Da nickte sie und lachte auch. Und nun machten sie sich an die Arbeit. Peter riß den Haufen der Stangen auseinander, und mit Sorgfalt suchten sie jedesmal zwei Stangen aus, die nach Länge und Stärke zueinander paßten. Dann nahm er die eine und sie die andere, und sie stellten sich, das Bohnenbeet zwischen sich, einander gegenüber, und jedes stieß seine Stange mit der jungen Kraft seiner siebzehn Jahre in den lockeren Erdboden, erst mit der Muskelkraft der Arme, dann das ganze Körpergewicht einen Augenblick mit einem Ruck daran hängend. Bald fanden sie heraus, daß sich auf Kommando besser arbeiten ließ, und sie kamen überein, bei jeder Stange abwechselnd das Rucken und Nachstoßen zu kommandieren. »Eins, zwei, drei, ~Ruck~, eins, zwei, drei, ~Ruck~!« kommandierte Peter mit seiner rauhen, unreinen Stimme, die im Wechseln begriffen war. »Eins, zwei, ~drei~, eins, zwei, ~drei~!« kommandierte mit heller, reiner Stimme Marie. Zwischendurch rüttelte Peter einmal prüfend an seiner Stange und an Marie ihrer: sie saßen beide gleich fest in der Erde. An seine Wissenschaft, die er so lange für Marie mit sich herumgetragen hatte, dachte Peter mit keinem Gedanken. Er hatte völlig genug an den Bohnenstangen, an dem Schleierhut mit dem rosig überschatteten, lieblichen Gesicht darin, an der jungen Gestalt, die sich kraftvoll und zierlich zugleich vor seinen verwunderten Augen bewegte. Wenn er in dieser Stunde einen Wunsch hätte äußern dürfen, wie der Mann im Märchen, so wäre es sicher der gewesen, bis an sein Ende bei der warmen Maiensonne im grünen Garten unter Grasmückengesang mit Marie Bohnenstangen einstecken zu dürfen. Aber solcher Wunsch wurde ihm von keiner gütigen Fee gewährt, und bald staken die Schächte alle in der Erde. Es blieb nur noch übrig, die Verbindungsstangen über die Kreuzungsstellen zu legen und festzubinden. In stillschweigender Uebereinkunft machten sie das so, daß jeder eine um die andere Kreuzungsstelle verband, so daß sie, immer wieder voreinander vorübergehend, die ganze Stangenreihe entlang beieinander blieben. Peter band richtige Knoten, Marie Schleifen, aber fest saßen die Schleifen wie die Knoten. Nun stand das Stangengerüst, aufrecht, gleichmäßig und fest. Noch einmal prüften sie das Ganze mit derbem Ruck. Das Gebäude gab nicht nach. »Das haben wir gut gemacht,« sagte er stolz und froh, »ja, ja, wir beide zusammen, das gibt was.« Ein Fink kam angeflogen, setzte sich auf die höchste der Stangen und schmetterte seinen Vers herunter. »Kuck da, Marie,« rief Peter, »der freut sich auch über unser Werk.« Marie sagte verwundert: »Mensch, heute sollte man gar nicht denken, daß du ein Schulmeister bist.« »Ein Schulmeister?« fragte Peter lustig, »das bin ich heute auch nicht. Heute nachmittag bin ich mal ein Mensch. Meinst du denn, daß unsereiner immer ein weises, feierliches Gesicht machen muß?« »Och nee,« lachte sie, »das habe ~ich~ noch niemals gemeint. Aber nun sind wir fertig. Nun kannst du wieder an deine Bücher gehen.« »An meine Bücher? Och Menschenkind, schnack' doch nicht so'n dummes Zeug! Die Bücher? Die sind ganz gut für den Winter. Aber an solchem Maitag wie heute? Am liebsten möchte ich in einem fort jubeln und singen.« »Denn sing doch!« sagte sie. »Ich hab' dich noch niemals singen hören.« »Och nein, zum Singen ist's doch viel zu schön ... Fliegen möchte ich, so hoch wie die Schwalben, und noch viel höher; so hoch wie die Sonne da steht, und noch tausendmal so hoch.« »Menschenkind! Was hast du bloß? Du bist ja ganz aus dem Häuschen.« »Oh, Marie ... es ist heute so wunderschönes Wetter. Das dringt einem ins Herz und ins Geblüt. Wer heute nicht anders ist als sonst, weißt du, was der verdient?« »Na?« »Ordentlich welche hinten vor!« sagte Peter übermütig, hielt die rechte Hand schlagbereit und sah sich um, als ob er jemand suchte, an dem er diese Strafe vollziehen könnte. Marie lachte hell auf. »Nun bist du ja auf einmal doch wieder Schulmeister,« sagte sie und sah ihm lustig in die Augen. »Kuck mal den kleinen Vogel da zwischen den Kartoffeln,« flüsterte Peter eifrig, indem er mit dem Finger hinzeigte. »Das ist ja ein Wippsteert,« sagte sie froh. »Ei kuck doch mal, wie zierlich er da hüpft und wippt ... Die kleinen Vögel kommen mir immer vor wie lebendige Blumen ...« »Ei ja,« sagte Peter verwundert, »das hast du dir fein ausgedacht ...« »Wie hat der liebe Gott das doch alles so schön gemacht in der Welt!« »Ja,« sagte Peter nachdenklich und froh. Das Vöglein erhob sich plötzlich und flog mit lautem Angstgeschrei dem Hause zu. Die beiden sahen ihm nach. Da kam von dort eine Krähe geflogen, die lautlos über die Baumkronen dahinstrich und von zwei kleinen Vögeln unter schrillen Klagetönen verfolgt wurde. »Die armen Wippsteerte!« sagte Marie traurig, »da hat ihnen die scheußliche Krähe ein Kind geraubt.« »Und eben saß das kleine Tier hier so seelenvergnügt vor uns und wippte mit dem Schwanz,« sagte Peter ernst. »Ja, so geht es oft ... auch im Menschenleben ...« Sie schwiegen beide. Marie bückte sich und legte eine in der Luft schwankende Bohnenranke an die nächste Stange. Peter folgte ihrem Beispiel, und so boten sie allen Pflanzen, die sich schon nach einem Halt sehnten, hilfreiche Hand. Zu einem zarten Ränkchen, das sich widerspenstig zeigte, sagte Peter, und die alte Fröhlichkeit war wieder in seiner Stimme: »So halte dich doch, du eigensinniges Ding! Und wachse tüchtig drauflos! Im August wollen wir Bohnen essen. Magst du gern Bohnen, Marie?« »Und wie! Und wenn wir sie vor uns auf dem Tische haben, dann denken wir immer an diesen schönen Nachmittag. Nicht?« »Ja, das ist gewiß,« sagte Peter mit frohen Augen. Wieder ertönte das Jammergeschrei des Bachstelzenpärchens. Die Krähe holte sich eben das zweite Junge für ihre Brut. Peter hatte einen Stein aufgegriffen und warf grimmig hinter dem Räuber her. »Dabei kann man ja gar nicht wieder fröhlich werden, wenn man das immer sehen und hören muß,« sagte Marie, noch trauriger als vorhin. »Ach, Tiere trösten sich bald,« sagte Peter. »Da hast du wohl recht ... aber wenn ich daran denke, wie damals mein kleiner Bruder starb ...« »Und wie damals meine Mutter starb ...« fügte Peter noch leiser hinzu. Nach einer Weile sagte er: »Du, das Sterben müßte überhaupt nicht sein. Oder die Menschen müßten doch erst sterben, wenn sie alt und lebenssatt sind. Meinst du nicht auch?« »... Ich weiß nicht ... Als mein kleiner Bruder starb, da fingen wir andern Geschwister an, uns viel mehr lieb zu haben als früher. Und ich glaube beinahe, unsere Eltern hatten uns von da an auch viel lieber. Und ob das gerade immer das beste ist, wenn man so sehr alt wird, weiß ich auch nicht.« Sie bückten sich schweigend zu den Bohnenranken. Nach einer Weile fragte Marie: »Du, sag' mal, magst du eigentlich meine Großeltern gern leiden?« »Gern leiden?« wiederholte Peter. »Weißt du, Marie, die sind beide alt, und ich bin jung. Und du bist auch jung.« »Jaa ... davon mag das wohl kommen.« »Was?« »Och ... ich meinte man ...« »Ja, Marie, davon kommt das. Wenn wir alt sind, sind wir auch anders. Aber jetzt sind wir jung. O Marie, was ist das schön, daß wir jung sind! Zwei Alte und ein Junger im Hause, das war manchmal nicht schön. Aber nun, zwei Alte und zwei Junge, das geht wunderschön. Meinst du nicht auch, Marie?« »Och ja, Peter ... ich war das ja auch von Hause so gewohnt, wo wir die vielen Geschwister waren.« Die Gartentür ging. »Großvater,« sagte Marie erschrocken. »Sei man nicht bange,« sagte Peter zuversichtlich, »du kannst sicher sein, daß er diesmal zufrieden ist. Was mit soviel Lust und Liebe gemacht ist ...« Der Schulmeister kam, prüfte das Werk der beiden, erst mit den Augen auf das Aussehen, dann mit der Hand auf seine Festigkeit, und sagte dann: »Das habt ihr sehr gut gemacht, Kinder. Ich muß euch loben. Kommt, nun sollt ihr auch Kaffee haben!« Er wandte sich, die beiden warfen sich einen frohen Blick zu und gingen als gute Gesellen nebeneinander hinter dem Alten her. Zum dritten Male erklang das Wehgeschrei der Vogeleltern, und Peter und Marie sahen sich erschrocken an. Der Schulmeister aber hob den Kopf und fragte: »Was sind das for welche?« »Wippsteerte,« sagte Peter hinter ihm. »Schade,« sagte der Schulmeister, »der Wippsteert gehört auch zu den nützlichen Vogelarten.« -- »Was ist das für ein herrlicher Tag heute!« sagte sich reckend Schulmeister Wencke, als sie am Kaffeetisch saßen, auf den die Sonne bunte Kringel malte. »Man sieht's euch ordentlich an, Kinder, wie die Arbeit euch gut getan hat. Jaja, die Arbeit. Und wenn man jung ist. Wenn unsereiner nur nicht das vermuckte Reißen in den Knochen hätte! Aber etwas besser ist's auch schon als heute mittag.« »Drinkt man düchtig Kaffee,« mahnte Mutter Wencke, die das Mittagsschläfchen gestärkt und der sonnige Maientag und die gute Laune ihres Gebieters aufgeheitert hatten. »Wenn de Putt leddig[6] is, geet[7] ick frischen up.« Sie sprach immer plattdeutsch. Peter dachte, solch ein Maientag könnte doch beinahe alte, grämliche Schulmeistersleute wieder jung und lustig machen. Heute ging im Schulhause wirklich ein anderer Geist um. Als sie vom Tisch aufstanden, taumelte er glücklich seine knarrende Bodentreppe hinan. Was sollte er nun bloß diesen Nachmittag anfangen? Da standen seine Bücher und sagten: »Wir sind auch noch da.« Er stellte sich ans Fenster -- zum Sitzen hatte er keine Ruhe -- und nahm ein Buch vor die Augen. Aber die Sonne lachte auf die Blätter, und die Buchstaben tanzten. Sie wollten sich nicht zu Wörtern zusammenfinden, und zu vernünftigen Sätzen erst recht nicht. Er legte das Buch hinter sich und nahm ein anderes. Es war dieselbe Geschichte. Der Geist, der in diesen beiden Büchern wohnte, war nicht stark genug, seinen vor Freude außer Rand und Band geratenen Geist zu fesseln. Da nahm er ein drittes Buch. Es war eigentlich nur ein schmales Heftchen, das er sich von einem Kollegen im Kirchdorf geliehen hatte. Darauf war zu lesen: Goethe, Ausgewählte Gedichte. Peter hatte mehrfach darin geblättert. Er schätzte Goethe im allgemeinen nicht. In dem Heft standen manche Dinger, die Gedichte sein sollten, aber sich durchaus nicht reimten. Ja, in einigen waren nicht einmal die Verse gleich lang. Um so ungereimtes, unegales Zeug zu schreiben, dachte Peter, brauchte einer doch kein großer Dichter zu sein. Aber anderes reimte sich gut, und er fand es auch sonst ganz nett. Als er das Büchlein durchblätterte, fiel ihm ein Gedicht in die Augen, das war überschrieben: Mailied. Die Maisonne lag auf dem Garten und blinkte in den Blättern des Apfelbaumes vor seinem Fenster. Das kann passen, dachte Peter, das Lied wollte er lesen. Und die Buchstaben hörten auf zu tanzen und standen ganz klar vor ihm. Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es dringen Blüten Aus jedem Zweig Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch. Der Kuckuck! dachte Peter. Das ist ja gar nicht zusammengedichtet, das ist ja wirklich so! Er überzeugte sich noch einmal davon, indem er in den blühenden Garten hinabblickte und den Vogelstimmen lauschte, die so süß herauftönten. Und Freud' und Wonne Aus jeder Brust, O Erd', o Sonne! O Glück, o Lust! Er griff sich an seine glückdurchbebte Brust und las die herrlichen Worte noch einmal, sie leise vor sich hinsprechend und jedes einzeln durchkostend. O Lieb', o Liebe! So golden schön, Wie Morgenwolken Auf jenen Höh'n! Du segnest herrlich Das frische Feld Im Blütendampfe Die volle Welt. Er atmete tief auf und schlug das Blatt um: O Mädchen, Mädchen ... Er erschrak und las hastig weiter, mit angehaltenem Atem: Wie lieb' ich dich! Wie blinkt dein Auge! Wie liebst du mich! So liebt die Lerche Gesang und Luft, Und Morgenblumen Den Himmelsduft, Wie ich dich liebe Mit warmem Blut, Die du mir Jugend Und Freud und Mut Zu neuen Liedern Und Tänzen gibst, Sei ewig glücklich, Wie du mich liebst! Er warf das Buch hin, streckte die Arme von sich, sah mit weitoffenen Augen in die Sonne und fühlte das warme Blut und neue Jugend und Kraft und Mut durch seine Adern rinnen. Ja, ja, das war's: O Mädchen, Mädchen, wie lieb' ich dich! ... Der gute Peter! Seine jungen siebzehn Jahre hat er unter dem Druck und in der Kälte gestanden. Elternliebe, Geschwisterliebe, Freundschaft -- bis auf die mit dem Hund -- sind ihm fremd geblieben. Einsam und verprügelt daheim, einsam und gedrückt hier im Schulhause. Nun ist's auf einmal über ihn gekommen. Nun ist seine junge Seele plötzlich erglüht und weiß sich nicht zu helfen und zu fassen vor übergroßem Glück. Plötzlich, mitten in seiner jubelnden Freude, mußte er an die armen Wippsteerte denken. Da kam eine tiefe Traurigkeit über ihn. Er redete sich ein, Wippsteerte gäbe es ja so viele, und auf ein Nest voll käme es nicht an. Aber die Traurigkeit wollte nicht weichen. Und er merkte, daß er gar nicht über die Wippsteerte traurig war. Aber worüber denn? Das wußte er selbst nicht. Er blätterte gedankenlos in seinem Goethe. Da fiel sein Blick auf die Verse: Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte! Bis hierher war er gekommen, da rief's unter dem Fenster: »Peter!« Da ist alle Traurigkeit mit einem Schlage verschwunden. Es ist ihre liebe, helle Stimme. O Mädchen, Mädchen, wie lieb' ich dich! -- Mit zitternden Knien stieg Peter seine Treppe hinunter. Als er in die Wohnstube trat, wehte es ihm wie Eisesluft entgegen. Bei den Alten war der Maientag schon wieder dahin. Grämlich hockten sie auf ihren Stühlen ... Aber da kommt ja der Frühling. Wie ihre Augen leuchten! Wie sie das viele Geschirr sicher und zierlich zu tragen weiß! Aber da! Eine Untertasse fängt an zu wackeln, bekommt das Übergewicht, Peter springt hinzu, zu spät! Mit lautem Krach fliegen die Scherben auseinander. Die Alte bekommt vor Schreck einen nervösen Zufall, dem Schulmeister fährt's in die kranke Schulter, beide schimpfen, Marie weint, und Peter sitzt da voll Wut, Liebe und Mitleid und denkt unwillkürlich an die Worte, die er eben gelesen: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß ...« Nur diese waren ihm im Gedächtnis geblieben. * * * * * Schulmeister Wenckes rheumatische Schulter behielt, wie immer, recht. Es wurde ander Wetter. Die schönen Sonnentage waren dahin, und graue Regenwolken ließen alle die Herrlichkeit, die jene hervorgezaubert hatten, in einem viel nüchternerem Licht erscheinen. Und mit Peters Maienglück ging's ähnlich. Die abendliche Szene, die ihn aus seinen Himmeln in die rauhe Wirklichkeit des Wehlinger Schulhauses herabriß, machte den Anfang, und die folgenden Tage mit Schulplackerei und unwirscher Stimmung im Hause und Regen draußen arbeiteten weiter, ihn einigermaßen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Und das war auch gut. Wie hätte ein Junge, dem die Buchstaben vor den Augen tanzten, die Wehlinger Schuljugend das Lesen lehren können? Deshalb war es gut, daß sie bald wieder leidlich vernünftig und ehrbar vor seinen Augen einhermarschierten. Mit dem Einstecken der Bohnenstangen hatte die Gartenarbeit einstweilen ihren Abschluß gefunden. Das war Peter freilich nicht angenehm. Aber vielleicht war auch das ganz gut. Aber, obgleich Wolken und Regen die Maienherrlichkeit verhüllten und die Menschen ihre Arbeit einstellten, es war im Garten doch alles lebendig und wuchs und kam vorwärts. Und obgleich Peter wieder mehr Schulmeister und Büchermensch war und keine Bohnenstangen mehr einsteckte, den Frühling hatte er doch in sich, und der wirkte und schaffte in ihm an allen Enden. Er wuchs und kam vorwärts. Unter den großen Schulkindern, denen er auch in einigen Fächern Unterricht gab, hatte er einen langen Jungen, der ebenso begabt wie frech war. Es war Peter immer schwer geworden, ihm gegenüber sein Ansehen als Lehrer zu wahren. Im Wissen konnte jener es mit ihm ja nicht aufnehmen, aber im übrigen fühlte der von Kindheit an gedrückte, arme Häuslingsjunge nicht selten die Überlegenheit des körperlich und geistig gesunden Sprößlings bester Bauernrasse. Als der Schlingel sich nun wieder einmal eine Ungezogenheit erlaubte und den aufmerksam gewordenen jungen Schulmeister kameradschaftlich herausfordernd ansah, fühlte dieser sich plötzlich überlegen. Er ging mit festem, dröhnendem Schritt auf seinen Gegner los und sagte ihm mit jetzt völlig gewechselter Stimme, er möchte die Ungezogenheit nur noch einmal wiederholen, dann sollte er mal was erleben. Der Junge sah Peter verdutzt in die Augen, merkte, daß aus ihnen eine Kraft und Entschlossenheit sprach, mit der nicht zu spaßen war, und ärgerte ihn fortan wie ein Schüler seinen Lehrer, aber nicht mehr auf kameradschaftlichem Fuße. Zu seiner großen Genugtuung hörte Peter am Schluß der Stunde, wie die großen Mädchen sich zuflüsterten: »Kinners, Kinners, de lüttje Scholmester is nu abers 'n Keerl worrn!« Peter machte sich jetzt, nachdem die Gartenarbeit zur Ruhe gekommen war, auch wieder mit Eifer an seine Bücher. Damit erging's ihm auch merkwürdig. Früher meinte er, ein Buch wäre ein Buch und hätte als solches Anspruch darauf, von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen zu werden. Jetzt klappte er manche Bücher nach ein paar Seiten zu, und in andern las er nur einzelne Abschnitte, die er sich selbst auswählte. Früher hatte er wahllos alles zu behalten gesucht, was ihm unter die Augen kam. Jetzt verbot er seinem Gedächtnis oft geradezu, sich mit irgend welchen gleichgültigen Dingen zu belasten. Manchmal machte er sich im stillen Fragezeichen, obgleich die Sache da schwarz auf weiß vor ihm stand. Der Glaube an die Unfehlbarkeit der Druckerschwärze wurde ihm wankend. Einmal bekam er zwei Bücher geliehen, von denen das eine eine »wahre Geschichte«, das andere ein »Roman« sein wollte. Er nahm die »wahre Geschichte« mit gutem Vertrauen zur Hand, aber bald legte er sie mit dem Gefühl zur Seite, daß in dem Buche alles unwahr und verlogen wäre. Dann machte er sich mit großem Mißtrauen an den »Roman«. Dieses Fremdwort übersetzte er sich nämlich mit »Lügengeschichte«. Aber schon auf der zweiten Seite wurde ihm, als ob aus den Zeilen ein stilles, ernstes Menschenauge ihn anschaute, und bald klopfte ihm ein Menschenherz entgegen, und sein Herz klopfte mit. Bald mußte er vor Behagen lächeln, dann wieder mußte er sich die Tränen trocknen. Als er das Buch zu Ende gelesen hatte, fing er gleich wieder von vorne an. Und nach vier Wochen las er es zum dritten Male. Dann konnte er das Buch ruhig wieder zurückgeben. Denn die Menschen, von denen es erzählte, lebten jetzt mit ihm und waren ihm gute Freunde geworden. Von da an suchte er nach solchen Büchern, fand ihrer aber nur wenige. In den meisten, die sich auch Romane nannten, waren die Menschen ebensolche mit allerlei zweifelhafter Weisheit ausgestopfte und mit fadenscheinigem Tand behängte tote Puppen wie in der »wahren Geschichte«. Als Peter so angefangen hatte, beim Lesen auszuwählen, abzulehnen, Fragezeichen zu machen, zu vergleichen, Verbindungslinien zu ziehen, das Lebendige zu suchen, kurz, als er angefangen hatte, nicht mehr als Schulmeister, sondern als Mensch zu lesen, hatte er an seinen Büchern eigene tiefe Freude und brauchte nicht mehr nach Abnehmern für seine jeweilig neueste Weisheit zu suchen. Er wußte auch gar nicht mehr so viel, was er andern hätte erzählen können, und wenn der frühere Eifer, zu belehren, ihn noch einmal packte, sagte er sich: Vielleicht wissen sie's auch ohne dich, und wenn sie's nicht wissen, dann schadet's auch nicht viel. Wenn er einmal darüber nachdachte, wann und wie die große Wandlung über ihn gekommen wäre, mußte er immer wieder an das Bohnenstangenstecken und an Marie denken. Und wenn er so recht von Herzen an sie dachte, tanzten die Buchstaben wieder, und die lebendigsten Bücher waren tot. Aber das schadete nichts. Nachher waren sie dann wieder um so lebendiger, und aus den Buchstaben schaute mit helleren Augen eine Welt, in die einzudringen ihm von Tag zu Tag mehr Freude machte. Ja, ja, der Frühling schaffte an allen Enden. Unten in des Schulmeisters Obst- und Gemüsegarten, und oben in der engen Dachstube, wo ein junges Menschenherz ihn erlebt hatte, endlich, nachdem es lange unter der Eisdecke des Winters in Erstarrung gelegen hatte. Und auch in einem andern jungen Herzen schaffte er wohl, trotz der Nähe der beiden alten Eisklumpen, die er nicht mehr schmelzen konnte. Wo etwas werden und wachsen will, dahin hat er ja noch immer den Weg gefunden. Die Sommerferien nahten. Peter hatte sich die ganzen Jahre noch nicht auf Ferien gefreut. Aber dieses Mal fürchtete er sich vor der langen, langen Zeit, die er fern von Wehlingen zubringen sollte. Er hätte etwas darum gegeben, wenn er die vier Wochen hätte ausstreichen können. Am letzten Sonntag vor Schulschluß hatte er in Olendorf den Gottesdienst besucht und blieb den Nachmittag über bei einem Kollegen und Altersgenossen, mit dem er oberflächlich ein wenig verkehrte. Marie war seit einigen Tagen verreist, um zu Hause die Kindtaufe von Nummer acht mitzufeiern. Und den Sonntagnachmittag allein bei den sauertöpfischen Alten zu verleben, hatte er keine Lust. Ohne sie konnte er sich das Schulhaus gar nicht mehr denken. Gegen Abend trat er den Rückweg an. Der Kollege begleitete ihn eine Strecke. Im Kirchdorf war heute Tanzmusik, und die Straße auf und ab schlenderten Scharen geputzter junger Leute. Die Musikanten kamen eben mit ihren Instrumenten, und die Wirtshausdiele hatte ihre bekränzten Tore weit und einladend geöffnet. »Möchte auch wohl mitmachen,« sagte der andere, lüstern hineinblickend, »aber mein Küster gönnt's mir nicht. Er ist noch einer von den Altmodischen und meint, wir Schulmeister gehörten so halb und halb mit zur Geistlichkeit.« »Die jungen Kerls,« sagte Peter, »nehmen uns Schulmeister doch nicht für voll.« »Aber die Deerns,« sagte der andere, »wenn einer man'n rechter Kerl ist.« Er hielt sich ohne Zweifel für einen solchen und zupfte an den Härchen, die ihm auf der Oberlippe sproßten. Die waren etwas länger als Peter seine und konnten übers Jahr vielleicht schon Bekanntschaft mit dem Rasiermesser machen. Um Peter zu beweisen, daß er kein Dummer mehr war, erzählte er dann allerhand Geschichten vom Olendorfer Jungvolk. Geschichten, wie der weltfremde Peter sie von der Wehlinger Jugend nie gehört hatte. Nachdem dieser eine Zeitlang schweigend zugehört hatte, sagte er zuletzt: »Na, Mensch, nun hör' man endlich auf mit deinen dummen Geschichten!« Als der Begleiter umgekehrt war, ging Peter langsam durch die Heide. Es war sehr warm, und Eile hatte er ja nicht. Nach einer Viertelstunde führte der Weg in eine Senkung, das Wendenloch, hinab. Dort sollte es nicht ganz geheuer sein, wie Peter aus einer alten Chronik wußte. Und eine alte Frau hatte ihm erzählt, hier wäre ihr einmal der Heideteller begegnet, der zur Strafe für seine Sünden bis an den jüngsten Tag die Heidekräuter zählen müßte. Und was ihre Mutter gewesen wäre, die hätte zweimal den Ohnekopf gesehen. Einmal hätte er seinen Kopf unter dem Arm getragen, das andere Mal mit ihm den Hügel hinab Kegel geschoben, und aus dem Tale habe einer, wahrscheinlich der Teufel selbst, unheimlich gerufen: Alle Neune! An diese Geschichten dachte Peter, der Volksaberglaube hatte auch über ihn einige Gewalt, und so zögerte er ein wenig, ehe er in das von dunklen Wacholdern und weißen Sandblößen durchzogene Tal hinabstieg. Plötzlich rief es munter hinter ihm: »'n Abend, Peter!« Er flog jäh herum. Marie! -- »Wo kommst denn du auf einmal her?« »Ich bin eben mit der Post in Olendorf angekommen. Und du? Was stehst du hier herum?« »Och, ich habe mal den jungen Schulmeister in Olendorf besucht.« »Den alten ekligen Flapps, der neulich bei uns war?« »Ja. Was sollte ich mich allein zu Hause herumlangweilen?« »Und nun gehst du auch nach Hause?« »Ja, natürlich doch!« »Ob wir zusammen gehen ...?« »Och ja, das meine ich doch. Zu zweien geht's sich besser, besonders abends. Und auf diesem Wege!« Sie wandten sich zum Gehen. »Warum ist's denn gerade hier gut, zu zweien zu gehen?« fragte sie. »Weil's da unten nicht sauber ist.« »Nicht sauber?« lachte sie auf. »Du kluger Mensch glaubst noch an Spuken?« »Das nicht gerade. Aber etwas anderes ist's einem doch, wenn man abends allein in solche Gegend kommt. Soll ich dir erzählen, was Wohlers Mudder mir von dem Wendenloch verraten hat?« »Ach, laß man! Glauben tu ich's doch nicht. Und was sollen wir uns mit solchen dummen Geschichten gruseln machen?« -- »Na, wie war's denn zu Hause?« fragte Peter nach einer Weile. »Och, ganz nett ...« »Jetzt seid ihr schon acht.« »Ach ja ...« »Was seufzest du? Du meintest doch Ostern, sieben, das wäre gar nicht zu viel. Acht ist doch bloß einer mehr.« »Ach Peter, wenn man älter wird, denkt man über manche Dinge mehr nach. Acht Geschwister, das sind nicht bloß acht lustige Spielkameraden, das sind auch acht hungrige Münder, die jeden Tag satt werden wollen.« »Das habe ich schon lange gewußt.« »Ja, du kluger Peter du! Und denn in so 'n armen Schulmeisterhause ... bei hundertundzwanzig Taler ... das hat seine liebe Not.« »Aber du bist da nun ja heraus und hast bei uns genug zu essen.« »Ja, aber meinst du denn, daß ich bloß an mich denke?« -- Sie gingen jetzt eine Weile schweigend. Je tiefer sie in das enge Heidetal hinabkamen, desto heißer und dumpfer wurde die Luft. Peter sah sich um. Sie waren zwischen den Wacholdern und Sandmulden ganz allein ... Plötzlich fielen ihm die Geschichten ein, die ihm vorhin der Kollege erzählt hatte. Da mußte er zur Seite blicken und sie ansehen. Aber schnell wandte er wieder den Kopf. Nach einer halben Minute sah er wieder zur Seite und ließ die Augen langsam an ihrer Gestalt entlang gleiten. »Was kuckst du?« fragte sie. »Darf ich dich nicht ankucken?« Er versuchte zu lachen. »Nein, so nicht ...« »So nicht?« lachte Peter verlegen und heiser. Aber er zwang sich, nicht wieder hinzusehen. Nur einmal sandte er einen schnellen Blick nach ihrem Gesicht. Er wollte sehen, ob sie auch nicht böse wäre. Nein, das war sie nicht. Der Weg führte jetzt wieder aufwärts. In dem staubfeinen Mahlsand war das Gehen schwer. »Was für eine Hitze!« stöhnte Peter und riß sich die Mütze vom Kopf. »Wenn wir nur erst oben wären!« sagte sie, »es ist so schrecklich schwül hier.« »Wollen wir uns nicht einen Augenblick ausruhen?« fragte Peter. Sie blieb stehen und sah ihn an. Dann sagte sie hastig: »Nein!« und schlug einen noch schnelleren Schritt an. Endlich hatten sie die Höhe erreicht. Ein frischer Lufthauch wehte ihnen ins Gesicht. Sie blieben stehen und atmeten tief auf. »Ach, wie tut das wohl!« sagte das Mädchen. »Sieh mal da,« sagte Peter lebhaft und zeigte mit dem Finger nach dem Horizont. Sie hob die Augen und sagte: »Ja, das ist wunderschön ...« Ein schönes, farbenkräftiges Abendrot mit tiefem Goldton war durch Höhenzüge, Wälder und Wolken so abgegrenzt, daß nur ein schmales Stück davon sichtbar war, welches in der dunklen Umrahmung aber um so wunderbarer leuchtete. »Sieht das nicht gerade so aus wie ein Tor?« fragte Peter andächtig, als sie eine Weile schweigend hingeschaut hatten. »Ja,« stimmte sie nachdenklich zu, »wie ein Tor von lauter Gold. Und unser Weg führt ganz gerade hinein.« »Weißt du, woran ich da denken muß?« »Ach Peter, wie kann ich das wissen?« »Da ist mir auf einmal eine Geschichte eingefallen.« »Was für eine?« »Och ... ich habe sie noch keinem Menschen erzählt.« »Ist's denn keine gute Geschichte ...?« »O doch. Wunderschön ist sie, oder nein, eigentlich auch sehr traurig ... Weißt du was, Marie? Ich hätte beinahe Lust, sie dir zu erzählen ...« »Ja, Peter, ganz wie du meinst. Ich habe immer gern schöne Geschichten gehört. Wenn sie auch 'n bißchen traurig sind, das schadet gar nichts.« »Du weißt doch, daß meine rechte Mutter ganz früh gestorben ist, als ich erst drei Jahre alt war?« Er sah sie an. Sie nickte still. »Als sie meine Mutter nach dem Kirchhof getragen hatten, und ich das nicht wußte und die Leute fragte, wo sie geblieben wäre, zeigte mir eine ganz alte, weiße Frau den dunklen Himmel mit seinen Sternen und sagte, da oben im Himmel wäre meine Mutter nun, und die Sterne wären lauter Fenster, da könnte sie herauskucken. Ich glaubte das natürlich, denn ich war damals noch ein Kind. Als ich nun wohl so fünf Jahre alt war, spielte ich eines Abends nicht weit von unserem Hause am Waldrande. Es war ziemlich dunkel, die Fledermäuse flogen schon. Wie ich so zufällig den Weg entlang durch den Wald sehe, ist's da auf einmal ganz hell, und über dem Hellen steht ein großer goldener Stern, gar nicht hoch über der Erde. Da denke ich, heute abend ist die goldene Himmelstür offen, und wenn du schnell läufst, kannst du hinkommen, ehe sie wieder zugemacht wird. Und dann findest du da wohl eine Treppe, die zu dem hellen Fenster hinaufführt, und findest da wohl deine Mutter. Ich lief also in den Wald hinein. Da war's so still, daß ich mich fast fürchtete, und ich dachte: Wenn du bloß einen hättest, der mitginge! Aber ich lief doch weiter. Da plötzlich rauschte etwas Schreckliches dicht über mir und rief: Uhuh, Uhuh -- ich glaube jetzt wohl, es ist ein Uhu gewesen. Da duckte ich mich schnell in den Graben am Wege und weinte laut und war schrecklich bange, weil ich ganz allein war. Zuletzt kam ein Mann auf dem Wege daher, hob mich auf und fragte, wie ich so spät noch in den Wald käme. Ich wollte in den Himmel, sagte ich, und zeigte ihm das goldene Tor. Da schüttelte er den Kopf und sagte, der Weg wäre viel zu weit, dahin könnte ich allein nicht gehen. Und nahm mich auf den Arm und trug mich nach Hause, und da erzählte er, wie er mich gefunden hätte. Und meinem Vater seine neue Frau gab mir eine tüchtige Tracht Schläge und sagte, sie wäre nun meine Mutter, und ich müßte sie liebhaben. Aber wenn ich auch die Schläge gekriegt habe, an die goldene Himmelstür habe ich doch noch oft denken müssen ... Und habe sie auch noch oft gesehen ... Und habe immer gedacht, wenn du doch bloß einen hättest, der mit dir gehen könnte. Aber ich konnte keinen finden, den ich darum bitten mochte. Sie sahen alle aus, als ob sie dazu keine Lust hätten ... Ich bin beinahe immer allein gewesen als kleiner Junge ... Und bin immer allein geblieben ... das ganze Leben durch ... Erst zu Hause ... und dann bei deinen Großeltern auch ... Aber, o Marie, seit Ostern ist mir's, als ob ich zum ersten Male in meinem Leben nicht allein wäre ... Wir beide haben ja zusammen im Garten gegraben. Wir haben zusammen die Bohnenstangen eingesteckt. O wie war das schön! Und nun gehen wir hier miteinander. Hier ist der Weg. Und da ist das goldene Tor wieder. Sieh, wie es leuchtet und lockt! Ich glaube ... wenn wir beide zusammenblieben, dann kämen wir hin ...« »Och Peter ...« sagte sie und sah ihn mit großen, weitoffenen Augen an, »... wenn wir dahin wollen, wo deine Mutter ist, dann müssen wir doch vorher erst -- sterben.« »Och Marie,« sagte Peter erschrocken, »sprich nicht solch ein Wort und mache nicht solche Augen! Hör' zu, ich will dir sagen, wie ich jetzt, wo ich groß bin, das mit dem goldenen Tor verstehe. Sieh, ich bin ja jetzt noch ein armer, dummer Junge. Aber das möchte ich nicht bleiben. Und ich möchte auch nicht so'n Schulmeister werden, der in einem halben Jahr auf dem Seminar so das Allernotdürftigste gelernt hat und selbst nicht mehr weiß, als was er die Kinder lehren muß. Nein, ich möchte nachher auf das Hauptseminar und da noch ein paar Jahre tüchtig lernen und studieren, damit ich von den Dingen den Grund zu wissen kriege. Und das Orgelspiel möchte ich gründlich lernen. Ich mag furchtbar gern Musik hören und habe noch mehr Lust, selbst welche zu machen. Dein Großvater hat mir schon einmal etwas Geigenstunden gegeben, und ich konnte das auch ziemlich gut begreifen. Aber bald hatte er keine Lust mehr und hat's wieder aufgegeben. Und dann möchte ich Küster werden, irgendwo, wo eine große, schöne Orgel ist. Und dann möchte ich lange Jahre gesund wirken und schaffen. Und auch tüchtig Geld verdienen. Denn ein Arbeiter ist seines Lohnes wert. Daß ich gemütlich leben kann in einem freundlichen Heim. Und mir auch mal was Schönes kaufen kann ... eine schöne alte Geige; denn die alten sind die besten, hat dein Großvater mir mal gesagt ... und gute Bücher auch. Daß ich lesen kann, was die größten und besten Menschen gedichtet und gedacht haben. Denn, Marie, es gibt nicht bloß diese Welt, die wir mit unsern Augen vor uns sehen. Es gibt auch eine Welt, die wir nicht sehen können. Die Musik ist eine Pforte dazu, und gute Bücher führen uns auch hinein. In diese wunderbare Welt habe ich bis jetzt nur ein paarmal einen schnellen Blick getan, aber ich möchte so recht darin zu Hause werden ... Und dann, ganz zuletzt ... ja, dann möchte ich auch dahin, wohin ich als Kind schon laufen wollte, durch das goldene Tor dahin, wo meine Mutter nun schon so lange ist ...« »Peter, das ist aber nicht wenig, was du dir da alles vorgenommen hast. Und du meinst, daß du dieses alles erreichen wirst?« »Ja, Marie; denn es ist so viel Sehnsucht in mir. Ich habe sie schon immer gehabt, aber nun hast du sie erst recht geweckt.« »Ich!?« »Ja, du. Und ich werde alles erreichen ... wenn du mit mir gehst.« »Aber Peter, ich kann doch nicht mit dir auf das Seminar und Hauptseminar gehen ...« »Brauchst du auch nicht. Ich muß bloß wissen, daß wir beide, die wir hier jetzt auf diesem Wege zusammen gehen, für unser ganzes Leben zusammengehören. Sagst du ja, gut, dann erreiche ich auch, was ich will und wonach ich mich sehne. Seit dem Nachmittag, wo wir zusammen die Bohnenstangen eingesteckt haben, bin ich ein ganz anderer Mensch geworden. Ich kann viel besser unterrichten jetzt und verstehe auch viel mehr von dem, was in den Büchern steht. Wenn du ja sagst, dann erreiche ich, was ich will, das fühle ich ganz deutlich in mir. Und dann wirst du einmal Küsterfrau, und wenn deine Eltern für die vielen Kinder nicht genug zu essen haben, können wir gern eins oder zwei zu uns nehmen. Aber, Marie, daran mußt du jetzt nicht denken. Auch daran nicht, daß ich gern möchte, daß du ja sagst. Du mußt ganz tief hinabsteigen, bis in dein innerstes Herz, und das mußt du fragen. Denn nur ein Ja, das da herauskommt, kann mir was helfen ... Du brauchst dich gar nicht zu übereilen. Wir haben noch beinahe eine Viertelstunde bis nach Hause ...« »O Peter ...« begann sie, brach aber schnell ab. Schweigend stiegen sie in das Tal hinab. Nur einmal sagte Peter: »Sieh dir das goldene Tor noch einmal an, ehe die große Wolke es zuschließt!« Da blieben sie eine Weile stehen, sahen schweigend zu, wie die Nachtwolken das letzte Abendglühen verhüllten, und gingen dann langsam weiter. Als sie am Schulgarten ankamen, -- das Haus war von dieser Seite das erste im Dorf -- fühlte Peter, daß ihre leichte Hand sich unter seinen Arm schob, sein Herz fing an stürmisch zu klopfen, und er hörte, wie sie leise sagte: »Mein lieber Peter, ja, ich gehe mit dir.« Da blieb er stehen, faßte ihre beiden Hände und fragte: »Marie, ist das ganz gewiß? So furchtbar gewiß, als du hier vor mir stehst? Kann ich mich darauf verlassen, heute und alle Tage, im Leben und im Sterben?« »Peter, warum fragst du das so furchtbar ernst?« fragte sie erschrocken. »Weil bis jetzt in meinem Leben das Glück und das Gute immer nur ein paar Stunden gedauert hat. Wenn ich eben anfangen wollte, mich darüber zu freuen, war's wieder weg ...« »Du armer Junge du!« »Kann ich mich darauf verlassen?« fragte Peter noch einmal. Sie machte leise ihre Hände los, und plötzlich umschlang sie ihn und drückte ihm einen Kuß auf den Mund. Ehe Peter, der, von dem Gefühl des Ernstes dieser Stunde völlig durchdrungen, auf so etwas nicht im mindesten gefaßt war, zu sich kam, war sie ihm entschlüpft. Jetzt wollte er hinter ihr drein. Aber sie gebot ihm mit aufgehobenem Finger Halt und flüsterte, er möchte draußen noch etwas warten und dann erst auf sein Zimmer hinaufgehen. Die Großeltern hätten einen so leisen Schlaf. Dann verschwand sie in der Haustür. Peter schlich durch eine Zaunlücke in den Garten und setzte sich in die Jelängerjelieberlaube. Vor ihm lag die dunkle Masse des Hauses. Nun blinkte dort ein Lichtschein auf, und eine schlanke Gestalt trat vor das Fenster, sich gegen das in der Tiefe des Zimmers brennende Licht abhebend. Peter legte die Hand auf sein klopfendes Herz und sagte zu sich: Die gehört nun mir, durch Wort und Kuß mir verbunden. Da habe ich nun endlich gefunden, was ich so lange gesucht habe, ein Menschenkind, das mich liebhat, das mit mir gehen will, all den Zielen entgegen, von denen ich so lange geträumt habe. Und wie an jenem ersten Abend in Wehlingen, als er von seiner Dachstube Besitz ergriff, so kam auch jetzt wieder, wo er ein viel größeres Gut errungen hatte, ein heißes, tiefes Dankgefühl über ihn. Die Blüten der Laube dufteten stark und süß, Nachtschmetterlinge flatterten und surrten zwischen den Blättern, und drinnen saß ein junges Menschenkind mit gefaltet um die Knie geschlungenen Händen vor dem Schöpfer seines Lebens, wortlosen Dankes und tiefen Glückes voll. -- Hinter dem zugezogenen Fenster und niedergelassenen Vorhang war der Lichtschein längst erloschen, als Peter endlich aufstand und dem Hause zuschritt. Nachdem er leise den Schlüssel hinter sich umgedreht hatte, zog er die Stiefel aus und schlich auf Socken die Treppe zu seiner Dachkammer hinauf. Am andern Morgen in der ersten Unterrichtsstunde wiederholte er mit den Kindern biblische Geschichten. Ein Junge erzählte, wie Jakob des Nachts von der Himmelsleiter träumte. Wie träumend schaute Peter zum Fenster hinaus. »Setz dich,« sagte er dann mechanisch, »Stina Blom, fahre fort!« Stina Blom war das feinste, zarteste Kind der Schule, und die erzählte nun in ihrer stillen, feinen Art: »Als er noch mit den Hirten redete, kam Rahel mit den Schafen ihres Vaters. Und er wälzte den Stein von dem Loch des Brunnens und tränkte ihre Schafe; und küssete Rahel und weinte laut. Und Jakob blieb bei Laban und dienete ihm. Und nach einem Mond sagte Laban: Du sollst mir nicht umsonst dienen. Sage an, was soll dein Lohn sein. Laban aber hatte zwo Töchter: die älteste hieß Lea, und die jüngste Rahel. Aber Lea hatte ein blödes Gesicht, Rahel war hübsch und schön. Und Jakob gewann die Rahel lieb, und sprach: Ich will dir sieben Jahr um Rahel, deine jüngste Tochter dienen. Laban antwortete: Es ist besser, ich gebe sie dir, denn einem andern; bleibe bei mir. Also dienete Jakob um Rahel sieben Jahre, und deuchten ihn, als wären's einzelne Tage, so lieb hatte er sie.« »Halt!« rief Peter, »bis dahin. Das hast du wunderschön erzählt, Stina, setz dich!« »Also dienete,« wiederholte er langsam, »Jakob um Rahel ... sieben Jahre, und deuchten ihn, als wären's einzelne Tage, ... so lieb hatte er sie ... Ja ja, das war gut, Stina. Also warum kamen die sieben Jahre Jakob so kurz vor, Stina?« Stina stand wieder auf und sagte: »Weil er Rahel so schrecklich liebhatte.« * * * * * Zwei Tage später zog Peter in die Sommerferien. Als er in die Küche kam, um seiner Marie für vier lange Wochen Lebewohl zu sagen, griff sie hinter sich in den Schrank und brachte ein sauber eingewickeltes Butterbrot zum Vorschein. »Steck's weg! Zum Andenken,« sagte sie, und Peter ließ es in seiner Tasche verschwinden. Tief gerührt von solcher zarten Aufmerksamkeit -- bisher hatte noch niemand daran gedacht, ihm für die dreistündige Wanderung einen Imbiß mitzugeben -- suchte er nach Worten des Dankes. Aber da kam Mutter Wencke in die Küche und machte diese unmöglich, und überhaupt der Abschiedsszene ein Ende. Peter nahm seinen Stock und ging. An der Straßenbiegung, wo das Schulhaus seinen Blicken entschwinden mußte, sah er sich um. Ob sie ihm nachblickte? Er suchte mit den Augen Haus und Garten ab, fand ihr Köpfchen aber nirgends. Aber er tröstete sich schnell. Sie hatte ihm ja das Butterbrot gegeben ... und Sonntagabend noch viel was Schöneres. Und froh wanderte er seines Weges, in den goldigen Sommertag hinein, durch reifende Kornfelder im Tale und dann durch die weite, braune Heide. Bald singend, dann summend, dann pfeifend, und endlich wieder schweigend, zog er seine Straße. Als er anderthalb Stunden gewandert war, lockte ein gluckerndes Bächlein ihn vom Wege. Er legte sich in die Blumen, die es umsäumten, und zog sein Brot aus der Tasche. Andächtig faltete er das Papier auf seinen Knien auseinander. Da lagen zwei belegte Butterbrote vor ihm. Dünn das Brot, dick die Butter, und noch dicker die Mettwurst. Marie, Marie, was bist du gut! Lange erfreute er sich an dem Anblick. »Zum Andenken,« hatte sie gesagt. Aber schließlich sagte er sich doch, dies würde die vernünftigste Verwendung sein, auch ganz im Sinne der Spenderin, wenn er dabei nur mit Liebe an sie dachte. So begann er denn, in warmen Gedanken an sie, die Butterbrote zu verzehren. Solche hatte er alle seine Lebtage noch nicht gegessen; Stiefmutter und Mutter Wencke hatte beim Butterbrotmachen einen anderen Schnitt und Strich. Von Zeit zu Zeit führte er die hohle Hand zum Bach hinab und schöpfte sich einen kühlen Trunk. So hielt er sein Wanderfrühstück, umsummt von Hummeln und Bienen, die in den Blumen am Wasser und in der schon erblühten Moorheide Honig suchten. Als er die Andenken sich einverleibt hatte, nahm er das Einwickelpapier von der Erde auf. Das wollte er als wirkliches Andenken an diese schönste Wanderung seines Lebens und die besten Butterbrote, die er je gegessen, mit sich nehmen. Es waren zwei aus einem gefüllten Schreibheft gerissene Blätter. Das eine war von oben bis unten sorgfältig mit der Wahrheit bemalt: »Köln ist eine Stadt am Rhein,« das andere mit der ebenso zweifellosen Tatsache: »Der Löwe frißt gern Fleisch.« Dazu zeigten beide schöne, runde Butterflecken. Peter betrachtete die Blätter genau und andächtig, dann faltete er sie zusammen und schob sie in seine Rocktasche. Als er weiterging, überlegte er sich, wie er diese Wohltat wieder gutmachen sollte. Er beschloß, demnächst den Markt in Steinbeck zu besuchen und Mutter Bollermann aus Lüneburg das größte Kuchenherz abzukaufen, das sie hatte, und seiner Marie dieses nach den Ferien mitzubringen. * * * * * Peter hatte sich vor den langen Sommerferien im Vaterhause gefürchtet. Jetzt fand er sie viel weniger schlimm, als sie ihm vorgeschwebt hatten. Die Lebensfreudigkeit, zu der sein gedrücktes Wesen in dieser glücklichen Zeit aufgeblüht war, war durch die elenden häuslichen Verhältnisse nicht tot zu kriegen. Und sein Humor auch nicht. Was? Peter Eggers und Humor? Wer hätte je gedacht, daß diese beiden sich finden würden? Der junge Schulmeister, der alle Dinge gleich ernsthaft nahm und von jeder Widerwärtigkeit tief verstimmt wurde, und der leise und heimlich lächelnde Lebensvergolder und Lebensüberwinder Humor? Aber es war so, Peter hatte auf einmal Humor. Wenn die Stiefgeschwister sich wie eine kleine Ferkelschar um das Eßtröglein drängten und eine Viertelstunde nichts waren als kauendes und schmatzendes Behagen, konnte Peter lächeln. Nicht so erhaben, wie früher, daß die Stiefmutter erbost auf ihn losfuhr und rief: »Du ole uppgepuste Scholmester du!« sondern so ganz fein, so ganz von innen heraus, daß ein anderer es nur eben sehen und Trina ihn freundlich ansah und sagte: »Ja, Peter, 't is'ne gesunde Art, freten könnt se as de lütten Swin'.« Peter merkte bald, daß man, wie in der Schule, so auch hier im Hause ihm anders begegnete, wie früher. Die Stiefgeschwister zeigten einigen Respekt, auch Trina behandelte ihn nicht mehr einfach als dummen Jungen. Er merkte auch hier, daß die Schulmädchen recht hatten mit ihrem Flüstern: »He is'n Keerl worrn.« Da er sich in einem Holzverschlag am Ziegenstall eine eigene Schlafgelegenheit einrichten durfte, hatte der durch die Dachstube im Schulhause Verwöhnte auch in seinen äußern Lebensverhältnissen einigermaßen seine Gemütlichkeit. Eines Sonntagnachmittags nahm Vater Eggers seinen Erstgeborenen heimlich beiseite und sagte vertraulich: »Kumm, Jung, wöt mal'n bäten utgahn.« Peter wußte gleich, wohin die Reise gehen sollte, und machte Schwierigkeiten. Aber diese neue Anerkennung seiner Männlichkeit schmeichelte ihm, und er ließ sich bereden. Und in der Kneipe angekommen, trank er tapfer aus, was der Vater im einschenken ließ. Am andern Morgen erwachte er mit greulichem Kopfweh, und Trina fragte ihn freundlich: »Wullt du ok so'n Süpern weern as din Vader?« Da gelobte er sich, auf solche Proben seiner Männlichkeit ein für allemal zu verzichten. Einmal besuchte Peter auch seinen Pastor, gegen den er ein Gefühl der Dankbarkeit behalten hatte, weil dieser ihm die Wege zu seinem Beruf geebnet hatte. Der alte Herr machte große Augen und sagte verwundert: »Sieh mal an, Peter, wie du dich herausgemacht hast. Es gefällt dir wohl gut in Wehlingen?« »Jawohl, Herr Pastor, es könnte mir in der ganzen Welt nirgends besser gefallen,« sagte Peter mit leuchtenden Augen. »Ja, ja,« meinte der Pastor, »der alte Wencke hat als Schulmann einen sehr guten Ruf,« worauf Peter nichts sagte. Der Pastor fragte ihn dann noch dies und das, und hatte an seinem ungezwungenen Wesen und seinen frischen Antworten eine solche Freude, daß er ihn zum Kaffeetrinken einlud. Die Pastorin machte zwar erst ein etwas krauses Gesicht. Aber nachher meinte sie, und ihre sehr kritisch veranlagten ältlichen Töchter stimmten zu, man sollte gar nicht glauben, daß der alte Saufaus Eggers einen so manierlichen und netten Sohn haben könnte. Er arbeitete viel in diesen Wochen; denn Michaelis sollte er ja nun auf das Seminar. Als die Ferien halb herum waren, wollte er die Weltgeschichte vornehmen. Da merkte er zu seinem Schrecken, daß er den Leitfaden in Wehlingen vergessen hatte. Aber der Schreck verwandelte sich schnell in Freude. Er mußte nun ja hin und das Buch holen. Die nächste Nacht schlief er unruhig, und in aller Herrgottsfrühe machte er sich auf den Weg. Bislang hatte er für die Wanderung nach Wehlingen immer drei Stunden und länger gebraucht. Heute legte er den Weg in kaum zwei und einer halben zurück. Als er jene Höhe erreichte, von der das Dorf im Grunde sichtbar wird, wirbelte er den Stock um den Kopf und sprang in langen Sätzen ins Tal hinab. Nun stand er mit klopfendem Herzen vor dem Schulhause und streckte die zitternde Hand aus, die Tür zu öffnen ... Was ist das? Sie ist verschlossen. Wie er ratlos steht und umhersieht, kommt eine Nachbarsfrau mit dem Schlüssel und erzählt ihm, die Schulmeistersleute wären heute morgen alle drei verreist, zum Besuch bei dem verheirateten Sohne. Da wäre was Lüttjes angekommen. Sie müßte das Haus bewachen und das Vieh versorgen. Peter machte ein sehr langes Gesicht, und als die Frau ihm aufgeschlossen hatte, stieg er sehr langsam die knarrende Treppe hinauf. Lange saß er an seinem Tisch und ärgerte sich, daß er nicht einen Tag früher auf den Gedanken gekommen wäre, Weltgeschichte zu arbeiten. Beinahe hätte er aber den Leitfaden, um dessentwillen er die weite Reise gemacht hatte, noch einmal vergessen, als er seine Dachstube verließ. Von der schnellen Wanderung erhitzt und durstig geworden, ging er in die Küche, um sich ein Gefäß zum Wasserschöpfen zu holen. Da sah er eine Schürze an der Wand hängen, blau mit weißen Tupfen. Er erkannte sie sofort wieder. Die hatte sie getragen, als sie ihm die Butterbrote gab. Mit Rührung und Dankbarkeit betrachtete er das unschuldige Stück Zeug. Dann nahm er die Schöpfkelle, hob sich auf dem Hof einen Eimer voll Wasser aus dem Brunnen, und tat einen hastigen und langen Zug. Beim Trinken hatte er das Gefühl, als sei das Wasser für seinen erhitzten Zustand eigentlich zu kalt, aber er achtete nicht weiter darauf. Danach ging er in den Garten, geraden Weges zum Bohnenfelde. Hier dachte er mit stiller Freude des sonnigen Maientages, da sie zusammen die Stangen eingesteckt hatten. Jetzt waren sie von den Bohnen grün umwunden und mit tausend roten Blüten bedeckt. Ach, was hatte seit jenen Stunden auch in ihm alles zu grünen und zu blühen angefangen! -- Einige Saudisteln, die sich unpassender Weise auf diesem für ihn geheiligten Boden angesiedelt hatten, riß er aus und warf sie über den Zaun. Endlich trat er den Rückweg an. Er ging sehr langsam. Jetzt wirkte ja keine heimliche Kraft mehr, die ihn zog. Bald fühlte er sich ermüdet, und der Weg wurde ihm sauer. Ein Schmerzgefühl stellte sich ein, und er kam auf den Gedanken, dieses möchte von dem hastigen kalten Trunk kommen. Aber er tröstete sich, es würde schon wieder vorübergehen. Die nächsten Tage fühlte er sich nicht recht wohl. Er lag nicht zu Bett und war nicht eigentlich krank, aber es war doch nicht mit ihm, wie es sein sollte. Da kamen ihm allerhand trübe Gedanken. Ob sein Glück Bestand haben würde? Konnte nicht irgend etwas Ungeahntes kommen und es grausam zerstören? Sein Lebensglaube, der eben angefangen hatte, sich von dem jahrelangen Druck zu erholen, wollte in diesen Tagen körperlichen Übelbefindens wieder wankend werden. Einmal wachte er in der Nacht plötzlich auf, stieß einen Schmerzensschrei aus, sah starr um sich, fühlte sein Herz bis in die Halsschlagader hinauf klopfen und hatte das deutliche Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen sein mußte. Es dauerte lange, bis er ganz zu sich kam und sich mit dem Gedanken trösten konnte, daß er in sechs Tagen wieder zu ihr kommen sollte, die ihm Wort und Kuß darauf gegeben hatte, daß sie immer und ewig treu zu ihm halten wollte. Trotzdem dauerte es lange, bis er wieder einschlief. Die letzten Ferientage ging es ihm wieder besser, und er konnte den Steinbecker Sommermarkt besuchen. Er paßte einen Augenblick ab, wo nur Kinder den Stand der Lüneburger Kuchentante umringten, und brachte bescheiden sein Anliegen vor. Mutter Bollermann lächelte verständnisinnig, und brachte aus einer besonderen Kiste ein rot bemaltes, mit weißem Guß verziertes Riesen-Kuchenherz zum Vorschein. »So eins hat dem Redbauern sein Willem seiner Braut auch geschenkt,« sagte sie, »ist's Ihnen so recht, junger Herr?« Peter errötete tief und fragte leise nach dem Preise. Die sechs Silbergroschen, die verlangt wurden, konnte er gerade aufwenden. Denn er hatte einige Tage für den erkrankten Schäfer des Bauern, dem die väterliche Kate gehörte, die Schafe gehütet. So nahten die Ferienwochen ihrem Ende. Es war doch nicht ganz so, daß die Jahre ihn gedeucht hätten, als wären es Tage. Nicht einmal von den Wochen konnte er das sagen. Ja, sogar die Tage und Stunden konnten ihm lang genug werden, so lieb er seine Rahel hatte. Endlich! Endlich war der Tag gekommen, da er sein Bündel schnüren und wieder dahin fliegen konnte, wo's ihm lieb und heimisch war. Nur mit Mühe bezwang er sich, bis nach Mittag zu warten. Aber der Schulmeister hatte ihm einmal erklärt, es sei nicht nötig, daß er früher als am letzten Nachmittag vor dem Beginn der Schule aus den Ferien zurückkehre. Gegen ein Uhr, in der tollsten Mittagsglut des heißen Augusttages, brach Peter auf. Den Rock über der Schulter, den Lederholster mit Wäsche und einigen Büchern auf dem Rücken, das rote Herz, dreifach eingepackt, unter dem linken Arm und den Wanderstab in der rechten Hand, so zog er stillfroh seine Straße. Eine laute Fröhlichkeit ließ die glühende Hitze, wie in der ganzen Natur, so auch in ihm nicht aufkommen. Im Süden braute sich etwas zusammen, und unheimlich schnell zog ein Gewitter herauf. Peter wollte sich anfangs nicht in seinem Marsch aufhalten lassen. Als aber die Donner härter rollten und in der Ferne die grauen Schrägstreifen niedergehender Regenmassen den Himmel verfinsterten, flüchtete er doch in einen leeren Schafstall, der nicht weit vom Wege in einem kleinen Fuhrengehölz stand. Es war gut, daß Peter Zuflucht gesucht hatte. Denn das Unwetter brach gleich darauf mit unheimlicher Gewalt los. Die Fuhren ringsum bogen sich ächzend, um dem über die Heide daherbrausenden Sturm auszuweichen. Durch das blaugraue Dunkel, das sich über das Land gelegt hatte, zuckten unaufhörlich die grellen Blitze und erleuchteten den Stall bis in die verstaubten Spinnegewebe unter dem Dach, und die rollenden Donner ließen den aus Eichenholz gefügten Bau in seinen Grundfesten erbeben. Das Unwetter ging so schnell vorüber, als es gekommen war, und bald verließ Peter seine Zufluchtsstätte, obgleich es noch nicht aufgehört hatte, zu regnen. Da sah er, daß das Gewitter auf seinem Wege vor ihm herzog. Schneller als er, mußte es jetzt schon Wehlingen erreicht haben. Da kam eine Angst über ihn. Eben vorher, als das Gewitter über seinem eigenen Kopf stand, hatte er davon nichts gewußt, sich vielmehr des grausig-schönen Naturschauspiels gefreut. Nun kam's auf einmal über ihn. Konnte nicht jeder Blitzschlag, der drüben niederging, das ihm so teure Leben vernichten? -- Er dachte plötzlich an das schreckhafte Erwachen vor einigen Nächten, wie er da das ganz deutliche Gefühl gehabt hatte, daß etwas Schreckliches geschehen sei. Da wurde seine Angst noch größer. Und nun tauchte auf einmal eine Erinnerung auf, die sie noch steigerte. Es hatte ihm vor Jahren einmal jemand gesagt, in der Familie seiner Mutter wäre das »Vörkieken,« das Ahnen künftigen Unheils, erblich. Wenn auch er diese Gabe hatte ...? Mit wachsender Angst eilte er dahin, so schnell seine Füße ihn tragen wollten. Wenn ein Blitz von Wolke zu Wolke fuhr, atmete er erleichtert auf. Wenn der nächste dann wieder zur Erde zuckte, zitterten ihm die Knie vor Angst. Nun liegt die letzte Höhe vor ihm. Er läuft, stürmt sie hinan. Wird die Rauchwolke, die Feuergarbe noch nicht sichtbar? ... Noch nicht? ... Nun hat er die Höhe gewonnen. Unversehrt und friedlich liegt das Dorf in seinem grünen Tale vor ihm. Das Gewitter ist nahe daran, am Horizont mit leisem Grollen zu verschwinden. Ein Gott sei Dank entrang sich Peters Lippen. Er versuchte, über seine törichte Furcht zu lachen. Aber so recht frei wurde ihm dabei nicht. Er kam ins Dorf. Einige Leute begegneten ihm auf der Straße, und er sah ihnen scharf ins Gesicht. Es wollte ihm scheinen, als ob sie ihn traurig und fragend anblickten, so ganz anders als sonst. Da wurde die Angst vor drohendem Unheil wieder wach. Ein Kind dämmte und leitete, am Wege hockend, die Bäche, die nach dem Gewitterregen die Straße hinabliefen. An dessen harmlos heiterem Wesen und Gesicht richtete Peter sich auf und suchte wieder über seine dumme Angst zu lachen. Nun stand er vor dem Schulhause. Sein Herz klopfte in freudiger Erwartung. Und doch fürchtete er sich, die Tür zu öffnen. Er ließ die Augen an dem Hause entlangschweifen. Und es kam ihm vor, als ob dieses etwas Fremdes hätte. Was es war, wußte er nicht, aber es war irgend etwas anders als sonst. Endlich faßte er sich ein Herz und öffnete die Haustür ... Warum schweigt die Glocke? ... Wie angebannt blieb er stehen und wagte nicht, einen Schritt nach vorwärts zu tun. Da öffnete sich die Stubentür, und ein fremder Mann kam heraus. Er ging leise, auf den Fußspitzen. Peter starrte den Unbekannten an. Ein Zug in seinem Gesicht schien ihm bekannt. »Was willst du?« fragte der Mann flüsternd. »Ich will Schule halten,« sagte Peter ebenso leise. »So, denn bist du wohl Peter Eggers?« »Jaa.« »Hast du unsere Nachricht nicht bekommen, daß du vorläufig noch zu Hause bleiben solltest?« »Nein, aber warum denn?« »Meine Tochter ist schwer krank.« »Wer!? Marie? ...« Der andere nickte: »Doppelseitige Lungenentzündung ... Bitte, gehe leise die Treppe hinauf, und verhalte dich oben ganz still. Sie liegt gerade unter dir. Wir haben ihr Bett in die Wohnstube gebracht.« »Sie wird doch wieder gesund?« fragte Peter, und die helle Angst stand in seinem Gesicht. »Wir hoffen es zu Gott,« sagte der Mann. »Heute abend ist die Krisis. Dann muß es besser werden ... oder ...« Er wandte sich und barg das Gesicht in der Hand. Peter setzte den Fuß so leicht wie möglich auf die dritte Treppenstufe. Trotzdem knarrte das alte Holzwerk. Da zog er die Stiefel aus und schlich auf den Socken nach oben. In seiner Kammer angekommen, ließ er sich auf seinen Stuhl fallen, legte die schlaffen Arme lang auf den Tisch und starrte vor sich hin. Er wiederholte sich die eben gehörten Worte, und immer wieder aufs neue ... aber nur bis zu dem Oder. Davor prallte seine Seele wie vor einem schauerlichen Abgrund zurück. Irgendein Geräusch traf sein Ohr. Da lauschte er gespannt, hörte nun aber nichts. Nur vor dem Fenster war ein Fliegengesumm. Er merkte, daß in seinem Zimmer noch die schwüle Gewitterluft der Mittagsstunden war, und öffnete das Fenster. Die Fliegen stürmten hinaus, und ein frischer, würziger Luftzug strömte herein. Da atmete Peter einige Male tief auf. Dann setzte er sich wieder hin und wagte nicht, sich zu rühren in der furchtbaren Stille, die um ihn war. Das Haus war wie ausgestorben. So saß er lange, lange, und dachte an die vergangenen glücklichen Tage, vom Spaziergang am ersten Sonntag unter der Kirchzeit, über die gemeinsame Arbeit im Garten, bis zu der abendlichen Wanderung, dem goldenen Tore entgegen, und bis zum Abschied in der Küche. In diesem Kreise suchte er seine Gedanken festzuhalten, aber zuweilen gingen sie doch über die Bannlinie hinaus und kamen bis an das entsetzliche Oder, und flüchteten sich, von Grausen gepackt, wieder in die vergangenen Tage. Ein Geräusch traf sein Ohr. Es kam jemand die Treppe herauf ... Was mochte er bringen ...? Die Hand gegen das stürmisch klopfende Herz gepreßt, ging Peter an die Tür und öffnete. Da stand der alte Schulmeister vor ihm und sagte, hastiger, als sonst seine Art war: »Peter, es muß einer zum Arzt, daß er sofort noch einmal kommt. Willst du?« »Ja,« hauchte Peter. »Dann aber schnell!« Und Peter ergriff Mütze und Stock, nahm die Stiefel in die Hand und sprang die Treppe hinunter, zog sie draußen an, drückte die Daumen in die Hände, das Seitenstechen zu hindern, und lief im Laufschritt dahin. Wenn er, um Luft zu schöpfen, im Lauf innehalten mußte, ging er in lang ausgreifenden Schritten, den Stock kräftig einsetzend. Als er das Wendenloch hinunterlief, stürzte er in dem losen Sande, aber ebenso schnell war er wieder auf den Füßen. Es war nur ein Gedanke, ein Wille in ihm: Vorwärts, vorwärts! An jeder Minute konnte das teure Leben hängen. Eine Viertelstunde vor Olendorf mußte er langsamer werden, da er einen stechenden Schmerz in der Brust fühlte. Dieser wurde zuletzt so heftig, daß er bei den ersten Häusern des Dorfes eine halbe Minute sich an einen Baum lehnen und innehalten mußte. Dann aber quälte er sich weiter und erreichte das Haus des Arztes. »Nachtglocke!« stand über der Tür. Ohne sich zu besinnen, riß er stürmisch an dem Handgriff und hörte, wie es gellend durchs Haus klang. Da kam des Doktors Kutscher und fragte, was für ein Ochse da so unvernünftig bei offener Tür an der Nachtglocke risse. »Ich muß zum Doktor,« stieß Peter atemlos heraus. »Der Herr Doktor sitzt drüben beim Bier.« Auf den Gedanken, den Arzt herausrufen zu lassen, kam er nicht. So platzte er denn mitten in den Kreis der Honoratioren hinein, die in bester Laune um den Stammtisch saßen. Sie hatten eben ein lautes Gelächter über eine Anekdote angestimmt, die ihr Witzbold, der Apotheker, zum besten gegeben hatte. Wie dieser sich triumphierend im Kreise umsah, begegneten seine Augen über den Tisch denen Peters. »Baah, du Mondkalb, kommst wohl direktemang vom Monde 'runtergefallen?« sagte der Apotheker und machte seine beliebte Blödsinnsgrimasse. Schallendes Gelächter, alle Augen wandten sich dem Jungen zu. Wie aber dessen flackernde Augen von einem zum andern irrten, wie er dann an den Arzt herantrat und mit heiserer Stimme sagte: »Herr Doktor, kommen Sie schnell zu des Schulmeisters Marie nach Wehlingen!« da verstummte das Lachen, und der Witzbold war über diesen Witz nicht froh. Der Doktor aber sagte freundlich: »Geh nur mein Sohn. Ich komme gleich, will nur eben mein Bier austrinken.« Peter wandte sich und ging taumelnd durch die Stube. An der Tür hörte er aus dem Gemurmel, das sich am Tisch erhoben hatte, zwei Worte deutlich heraus. Die Worte des Arztes: »Wenig Hoffnung.« Nun war er draußen und schwankte, die Hand auf die noch immer schmerzende Brust gepreßt, die Dorfstraße entlang. Bei jedem Schritt klang es in ihm: Wenig Hoffnung, wenig Hoffnung. Oder hatte der Arzt gesagt: Keine Hoffnung? Nein. Oder doch? Nein, nein, er hatte den Klang noch im Ohr: wenig Hoffnung ... Er kam ins Freie, der kühle Abendwind umfächelte seine heiße Stirn. Da konnte er sich an das zweite Wort anklammern: Hoffnung. Wenig Hoffnung, aber Hoffnung. Dann wollte er auch hoffen. Aber nicht wenig Hoffnung, nicht eine kleine Hoffnung wollte er haben, sondern eine große, feste, starke. Aber wo diese Hoffnung verankern? In der Kunst des Arztes? Unmöglich. Der wollte erst sein Bier austrinken. Und hatte selbst nur wenig Hoffnung. Da, als er bei dem Menschen, an den in solchen Nöten die letzte Hoffnung sich anklammert, keinen Ankergrund für seine Hoffnung fand, dachte er plötzlich an Gott. Er hatte viel über ihn gelernt, viel über ihn gelehrt, auch wohl in Stunden übergroßen Glücks seiner dankbar gedacht. Jetzt kam er zum erstenmal zu ihm, von des Lebens Jammer und Not gepeitscht. Über ihm wölbte sich in hehrer Schönheit der Sternenhimmel. Sollte der, der diese wunderbaren Welten geschaffen hat, nicht dem jungen Menschenkinde, das auch sein Geschöpf ist, das Leben lassen und die Gesundheit wiedergeben können, auch wenn die armseligen Menschen nur wenig Hoffnung haben? Ja, er ~kann~ es gewiß. Aber ~will~ er es? Er hat gesagt: Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten. Und er begann zu rufen und zu beten und zu flehen. Aber seine Hoffnung fand keinen Ankergrund. Da fiel ihm das Wort Jesu ein: Ich sage euch: Wahrlich, so ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin, so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein. Also auf den Glauben kam's an. Und er zwang sich zum Glauben. Er biß die Zähne aufeinander und sagte: Ich ~will~ glauben. Und hoffen. Ja, ich behalte sie. Aber dann kam plötzlich wieder das: Oder? und: Wenig Hoffnung, und der Glaube brach zusammen, und der Hoffnungsanker riß aus. Immer neuen Anlauf nahm er, aber immer wieder stürzte er ab. Zuletzt erhob er sein Haupt und schaute fest zu einem großen, leuchtenden Stern auf, der in unausdenkbaren Fernen über seinem Wege stand, und es wollte ihm scheinen, jetzt wollte es gehen mit dem Glauben, Auge in Auge mit dem aller Erdennot Entrückten. Aber plötzlich traf ein blendender Schein seine Augen. Ein Meteor schoß in weitem Bogen durch die Himmelsräume, um dann plötzlich zu erlöschen ... Nein, wenn selbst die Sterne vom Himmel fallen! ... Bald sah er wohl, daß sein Stern noch in der alten Ruhe und Klarheit am Himmel stand. Aber seine Seele war so müde, daß er nicht noch einmal versuchte, sie zu dem bergeversetzenden Glauben zu zwingen. Was er heute innerlich erlebt und körperlich geleistet hatte, das ging über seine Kraft, und jetzt taumelte er wie träumend, die Augen manchmal schließend. Das Wendenloch hatte er schon hinter sich und stieg zu jener Höhe empor, von der sie damals in das goldene Wolkentor geschaut hatten. Da machte er die Augen weit offen und sah zur Rechten ... Da sah er sie an seiner Seite gehen ... Er wunderte sich gar nicht darüber ... Nur darüber wunderte er sich, daß sie ein langes, weißes Kleid trug, und daß er ihren Schritt nicht hörte ... Und als er auf ihre Füße sah, ging sie nicht, sondern schwebte ... Und als er nach vorne sah, sah er auch wieder das goldene Himmelstor geöffnet. Da kam eine tiefe, stille Seligkeit über ihn ... Aber plötzlich fing sie an, schneller zu schweben. Er wollte sie halten. Aber ihr weißes Gewand glitt ihm aus den Händen. Er wollte ihr sagen, sie hätte ihm versprochen, daß sie mit ihm zusammen zum goldenen Tor gehen wollte. Aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Er strengte sich an, sie einzuholen. Aber der Abstand wurde immer größer. Nun war sie in dem leuchtenden Tore angelangt, wandte sich um, ihr Gesicht glänzte, sie winkte ihm mit der Hand, deutete auf den Weg, das Tor schloß sich, er fühlte den stechenden Schmerz in der Brust, kam zu sich -- und stand unmittelbar vor dem Schulhause. Er wußte jetzt, daß sie gestorben war, ohne daß es ihm jemand zu sagen brauchte. Beim Hinaufsteigen auf seine Kammer gab er sich jetzt auch keine besondere Mühe, das Knarren der Stufen zu vermeiden. Körperlich und seelisch erschöpft sank er angekleidet auf sein Lager und lag wach mit geschlossenen Augen. Unten fuhr ein Wagen vor. Brr! sagte der Kutscher. Der Doktor, dachte Peter, der hat hier nichts mehr zu suchen. Die Haustür wurde geöffnet, kurzer gedämpfter Wortwechsel, Gute Nacht, Üh! der Wagen rollte wieder davon. In der Wohnstube unten wurde es lebendig. Hin und her gehen, leise Stimmen, Geräusche wie von Waschgeschirren ... jetzt waschen sie die Tote ... jetzt legen sie ihr das Totenhemd an ... Wieder gehen Türen, und Pantoffeln schurren über den Fußboden ... sie tragen sie aus der Stube hinaus. Wohin? ... Schräg über die Diele, in ihre Kammer. Dort also wird sie aufgebahrt ... Nun ist die Familie wieder unter der Dachkammer in der Wohnstube versammelt .. Gedämpfte Unterhaltung ... Der alte Schulmeister liest den Abendsegen, wie immer. In seinem eigentümlich singenden Tonfall. Jetzt betet er das Vaterunser ... Amen ... Sie gehen auseinander ... Jemand verläßt das Haus ... Noch hin und wieder ein leises, unbestimmtes Geräusch ... Dann ist's still ... Peter hörte dies alles mit scharfem Ohr und verfolgte es mit wachem Bewußtsein. Aber ohne allen Schmerz, wie etwas, was ihn gar nichts anging, was sich von selbst verstand und nicht anders sein konnte. Sein Geist registrierte einfach mit größter Schärfe, was geschah, ohne daß irgend ein Gefühl die Vorgänge begleitete. Sein Empfindungsleben war lahm gelegt, ausgeschaltet. Dieser Zustand hatte durchaus nichts Unangenehmes. Es war vielmehr eine Art wohliger Schwäche, die ihn umfangen hielt. Zuletzt fiel er in eine Art Schlaf, ohne jedoch das Bewußtsein ganz zu verlieren. Auch blieb ihm dumpf gegenwärtig, daß er in der Brust einen Schmerz fühlte. Der Tag war schon weit vorgeschritten, als er endlich die Augen aufschlug. Das erste war, daß er sich fragte, ob er einen schweren, schrecklichen Traum geträumt hätte. So ähnlich, wie vor einigen Nächten, als er in großer Angst aufwachte. Aber ein Blick auf die beschmutzten Stiefel, die er noch an den Füßen trug, brachte ihm die Erinnerung wieder. Und mit der Erinnerung kam seinem ein wenig ausgeruhten Nervensystem nun auch die Empfindung zurück. Wie eine ungeheure Last warf der entsetzliche Verlust sich mit seiner ganzen Schwere ihm auf die Seele. Er warf sich herum, bohrte die Fäuste in die Augenhöhlen und wühlte sich tief in die Kissen. Das Licht, das nach solcher Nacht wie an jedem Morgen die Kammer füllte, konnte er nicht ertragen. So lag er lange, lange. Zuletzt fühlte er einen brennenden Schmerz in den Augen. Da wunderte er sich, daß er nicht weinte. Sonst war der Tränenquell ja so leicht geflossen. Schon, wenn er etwas Trauriges oder Rührendes las. Heute war er wie ausgetrocknet. Er versuchte zu weinen und bewegte die entzündeten Lider über den trockenen Augäpfeln auf und nieder. Aber Tränen kamen nicht. Ist auch gut, tröstete er sich, bitter lachend, so kannst du besser den gleichgültigen Menschen unten im Hause was vormachen, die nicht wissen, wie es in dir aussieht, und es auch nicht wissen dürfen. Er stand auf und fing an, sich umzukleiden. Da fiel sein Blick auf das Bild über seinem Bett, das die Opferung Isaaks darstellte. Er hielt inne, sein Gesicht verzerrte sich, und Verzweiflungsgedanken gingen durch seine Seele. Da sagen sie nun, du wärest die Liebe; du wärest barmherzig und gnädig und von großer Güte und Treue. Und doch quälst du uns arme Menschenkinder bis aufs Blut. Ja, früher, in der Zeit der Wunder, ging dann zuletzt doch noch alles gut ... wie bei dem alten Mann da ... Aber der war ja auch der Vater der Gläubigen ... Aber bei uns andern, die wir uns zu solchem übermenschlichen Glauben nicht zwingen können ... Ha! ... Uns, die wir aus der Tiefe heraus möchten ... ja, eine Zeitlang ist's uns wohl, als ob du uns die Hand reichtest, aber dann plötzlich lässest du uns fallen und stürzen, in den Abgrund, in die Verzweiflung. Er lachte heiser und wandte sich dem anderen Bilde zu. Manchmal hatte es ihm wohlgetan, das verklärte Antlitz in den Wolken. Aber jetzt lachte er es spöttisch an. Ja, Himmelskönigin, du hast es leicht, ein hoheitsvolles, erhabenes Gesicht zu machen. Schwebst ja in den Wolken, fern von Erdenjammer und Erdennot ... Aber einst ... ja, als du auf Erden gingst, ja, da hast du diese auch kennengelernt ... damals, als du, das Schwert im Herzen, mit tausend Schmerzen aufblicktest zu deines Sohnes Tod ... Bei diesem Gedanken löste sich ein klein wenig der spöttische, höhnische Zug um den Mund des Verzweifelnden. Sein Blick fiel auf das gut verpackte Kuchenherz, das auf dem Tische lag. Er nahm es und warf es unter die Bettstelle. Die ganze Geschichte kam ihm plötzlich wie eine kindische Albernheit vor. Als er sich fertig angekleidet hatte, ging er hinunter. Die Familie war im Wohnzimmer versammelt. Es wurde gerade das Mittagessen aufgetragen. Peter lachte bitter in sich hinein. Vor zwölf Stunden wuschen sie hier die Tote. Nun setzen sie sich hin zu schmausen ... Er überlegte sich, ob er nicht den Eltern und Großeltern teilnehmend die Hand geben sollte. Aber warum? Was hatten die denn verloren? Die Großeltern eins von zwanzig Enkelkindern, und die Eltern von den acht Kindern, die sie nur mit Mühe sättigen konnten, ein einziges. Die blieben reich und behielten genug übrig, womit sie sich trösten konnten ... Aber er? ... Er sagte tonlos »Guten Tag«, und wie das Wort sein Ohr traf, lachte er innerlich darüber, daß die Menschen auch an einem solchen Tage eine solche Redensart über die Lippen bringen konnten. Als er sich an seinen Platz gesetzt hatte, sagte der alte Schulmeister: »Peter, der Doktor ist gestern abend doch nicht mehr früh genug gekommen.« »Nein,« sagte Peter gleichgültig, »er wollte erst sein Bier austrinken.« Die vier Menschen sahen ihn verwundert an. »Es hätte doch vielleicht nicht mehr geholfen,« sagte Mariens Vater sanft. »Nein, es war keine Hoffnung mehr,« sagte Peter. »Wir müssen uns unter Gottes Willen beugen,« sagte der Schulmeister. »Sein Wille ist ja stets der beste,« sagte Peter. »Aber Peter, wie sagst du das merkwürdig?« fragte der Alte. »Wieso?« fragte Peter dagegen. »Es ist doch so; das bringen wir ja schon den kleinen Kindern bei.« Er beugte sich über seinen Teller und aß, gierig und hastig, fast wie ein ausgehungertes Tier. Seit vierundzwanzig Stunden hatte er ja gefastet. Da sagte Mariens Mutter: »Es ist schade, daß du diese Nacht nicht etwas eher wiedergekommen bist. Unsere Selige fragte nach dir.« Peter sah die Frau an. Es war das erstemal, daß er einen der Tischgenossen ansah. »Nach mir?« fragte er. In seiner Stimme war ein leises Zittern. »Ja, zweimal. Sie wollte dir auch Adieu sagen.« Peter fühlte, daß sich in ihm etwas lösen wollte. Er konnte nicht weiteressen. Aber mit großer Selbstbeherrschung drängte er die Bewegung, die ihn übermannen wollte, zurück. Als sie vom Tisch aufstanden, fragte die alte Schulmeisterin, ob er die Tote sehen wollte. Sie sähe so schön und friedlich aus, als wenn sie schliefe und jeden Augenblick aufwachen könnte. Peter fühlte ein Würgen im Halse und stieß ein rauhes »Nein!« heraus. Dann ging er schnell hinaus. Mariens Vater sah ihm kopfschüttelnd nach und sagte: »Ein merkwürdiger Mensch. Scheint sehr wenig Gemüt zu haben.« »Och ja,« sagte der Schulmeister, »was soll man von so einem verlangen? Der Vater ist ein Säufer.« Peter war inzwischen auf seine Dachstube gegangen. Er fühlte, daß er nicht nachdenken und zu sich kommen ~durfte~. So nahm er ein Rechenbuch und zwang sich, Rechenaufgaben zu lösen. Er wählte die schwierigsten, die er finden konnte. Wo er die richtige Lösung nicht gleich fand, rechnete er die Aufgabe ein zweites und ein drittes Mal. Als sein Geist dieser Arbeit müde war, nahm er das Lesebuch und begann zu lesen. Den Sinn der Sätze faßte er nicht, und wollte es auch nicht. Es kam ihm nur darauf an, durch das mechanische Wiedererkennen der Buchstaben eine Stunde zu überwinden. Zuletzt schlug er ein Schreibheft auf und malte einmal über das andere die Worte: »Aller Anfang ist schwer.« Sorgfältig zog er Haarstrich um Grundstrich, Haarstrich um Grundstrich. So gelang es ihm, sein Empfindungsleben fast ganz auszuschalten und den Tag hinzubringen. Er bedurfte dazu seiner ganzen Willenskraft. Aber er fühlte deutlich, wenn er seinen Empfindungen nachgäbe, so würde er zusammenbrechen, so wäre sein Verstand in Gefahr. Gleich nach dem Abendessen, bei dem die Familie ihn nicht wieder ins Gespräch zog, ging er zu Bett und zwang sich von tausend an abwärts zu zählen. Es gelang ihm wirklich, einzuschlafen. Als er aufwachte, war es dunkle Nacht, und die Uhr in der Wohnstube unter ihm schlug zwölf. Der Schlaf hatte ihn gestärkt. Seine Nerven hatten einige Widerstandskraft wiedererlangt, er durfte es wagen, an sie zu denken. Da faßte ihn auf einmal eine unendliche Sehnsucht, sie zu sehen. Er vertröstete sich auf den kommenden Tag, aber das heiße Verlangen seines Herzens ließ sich nicht abweisen. Zweimal hatte er ihm Schweigen geboten. Als es aber den dritten Angriff auf seine Willenskraft machte, da gab er nach. Er stand auf, kleidete sich leicht an, nahm das brennende Licht in die Hand und trat mit bloßen Füßen aus seiner Kammer. Oben an der Treppe blieb er stehen und horchte angespannt ins Haus hinab. Er hörte nichts als das Klopfen seines Herzens. Da stieg er vorsichtig hinab, die unsicheren Stufen, die am lautesten zu knarren pflegten, meidend. Unten an der Treppe lauschte er noch einmal. Kein Ton als das Ticken der Uhr in der Wohnstube. Da ging er weiter, das Licht mit der Linken schirmend. Nun stand er vor ihrer Kammertür. Er stellte das Licht auf die Erde und faßte den Drücker mit beiden Händen, um jedes Geräusch zu dämpfen. Die Tür wich lautlos, er trat ein, zog das Licht nach sich und schloß die Tür so leise, wie er sie geöffnet hatte. Dann erst wandte er sich um. Da stand das Bett, von einem weißen Leintuch überspannt. Mit leise zitternder Hand hob er die Hülle, die sein Liebstes barg. Und nun lag die Geliebte vor ihm, das Haupt leicht zur Seite geneigt, im Haar eine welkende Rosenknospe, die Hände über einem Kreuz auf dem weißen Totenhemd gefaltet. Da löste sich die Erstarrung, die seit vierundzwanzig Stunden auf seiner Seele gelegen hatte, in heißen Tränen, und er mußte sich mit Gewalt bezwingen, daß er nicht laut schluchzte. Aber dem Lauf der Tränen wehrte er nicht. Plötzlich fuhr er auf und horchte. In der benachbarten Kammer hatte sich etwas geregt. Der Schein des Lichtes konnte ihn verraten, und schnell drückte er es aus. Und nun war er in der dunklen Kammer mit seinem toten Lieb allein. Er umklammerte mit seinen fiebernden Händen über ihren kalten Händen das Kreuz, er beugte sich nieder und küßte sie, auf die Stirn, die Augen und den Mund. Er fühlte die Kälte des Todes nicht. Er fühlte nichts als die heiße, heiße Liebe, die sein ganzes Wesen mit der Geliebten verband. Dann deckte er sie sorgfältig wieder zu, nahm die Kerze und schlich im Dunkeln in sein Dachstübchen hinauf. Als er wieder in seinem Bette lag, faltete er die Hände über der Brust. Nicht um zu beten. An Gott dachte er mit keinem leisen Gedanken. Aber er hatte ein so dankbares Gefühl in seinem Herzen, daß die Todesstarre, die so lange seine Seele zusammengepreßt hatte, von ihm genommen war, daß er wieder weinen, fühlen und lieben konnte. Wenn aber ein Gefühl froher Dankbarkeit sein Herz durchwärmte, dann mußte er die Hände falten, der gute Peter. -- -- * * * * * Auf der Diele des Schulhauses war über drei Stühlen der Sarg aufgebahrt. Zu Häupten und zu Füßen brannten Lichter, die in einem leisen Zugwind flackerten. Einige Tannenkränze lehnten umher. Nach und nach fand sich das Trauergefolge ein. Die Lehrer der Nachbarschaft und die großen Bauern wurden in die Stube genötigt, tranken Kaffee oder Grog, nach eigener Wahl, aßen Kuchen. Die kleinen Leute standen auf dem Vorplatz und der Diele umher und ließen die Flasche kreisen. In einer Ecke der Diele hockten die Singjungens um eine Truhe und aßen schwatzend die ihnen als Sangeslohn zukommenden Stuten. Zwei Ziegen streckten die langen Bärte aus ihrem Stall heraus und sahen neugierig zu. Die Hühner, die man nicht vom Wiemen heruntergelassen hatte, gaben ihren Unwillen durch Scharren kund. Eine Henne verkündete gackernd, daß sie ein Ei gelegt hatte. Peter kam erst von seiner Dachstube herab, als sie angefangen hatten zu singen. Die Jungens sangen mit schrillen Stimmen: Alle Menschen müssen sterben, alles Fleisch vergeht wie Heu, und musterten inzwischen, da sie die Verse auswendig konnten, die fremden Schulmeister. Dann las Schulmeister Wenckes nächster Nachbar mit halb singender, halb weinerlicher Stimme den neunzigsten Psalm und sprach ein Vaterunser. Nachdem dann die Kinder noch einmal gesungen hatten, traten die Träger herzu, entfernten die Lichter vom Sarge, trugen ihn hinaus und hoben ihn auf den vor dem Tor wartenden, im Grunde mit Stroh bedeckten Leiterwagen. Dann stiegen an einer Leiter die Frauen der nächsten Verwandtschaft hinauf und nahmen tief verhüllt vor und hinter dem Sarge Platz. Der Fuhrmann ergriff das Handpferd am Zügel und ließ anziehen. Da lüfteten die Männer ihre Mützen, und hinter dem Wagen ordnete sich das Gefolge; die Familie voran, die befreundeten Lehrer, die Dorfleute. Der Leichenzug folgte nicht dem nächsten und gebräuchlichsten Wege nach dem Kirchdorfe; denn alter Volksglaube ließ nicht zu, daß die Toten denselben Weg nähmen mit den Lebendigen. Er zog durch eine Talsenkung, die von dem Zug der Toten seit alters den Namen »Totengrund« führte. Die Wagengeleise waren von blühender Heide überwuchert; denn es war diesen Sommer nur ein Toter dieses Weges gefahren. An der Grenze der Wehlinger Gemarkung wurde ein Strohbündel unter dem Sarge hervorgezogen und hinter dem Wagen quer über die Spur geworfen. Das sollte den Geist der Toten hindern, in die alte Behausung zurückzukehren und die Lebenden zu schrecken. Das Gefolge wich vor dem Bündel behutsam rechts und links aus. Peter ging zuerst bei den Lehrern. Da begann ein alter Schulmeister Fragen an ihn zu stellen: Wann er aufs Seminar wollte? Wie alt er wäre? Für welche Fächer er sich besonders interessierte? Nach welchen Büchern er arbeitete? Peter gab kurz Antwort, benutzte aber einen Augenblick, als der Ausfrager mit seinem Nachbarn auf der andern Seite sprach, ein wenig zurückzubleiben. Nun war er unter den Bauern. Diese hatten ihre kurzen Pfeifen in Brand gesteckt und sprachen über den vor wenigen Tagen im Flecken abgehaltenen Viehmarkt. Peter blieb noch weiter zurück und folgte bald dem Zuge als letzter. Aber mit seinen Gedanken und Gefühlen war er ihr, die jetzt ihre letzte Straße zog, von allen wohl am nächsten. Vor ihm wand sich der lange schwarze Zug durch die vollerblühte Heide. So weit der Blick reichte, ein Meer roter Blüten. Und darin das Gesumm und Geschwirr der Immen, die überall, im Totengrund wie auf den luftigen Höhen, ihre süße Weide fanden. Als die Spitze des Zuges das Kirchdorf erreichte, läuteten die Glocken. Die große tief und regelmäßig, die kleine, von einem Kinde schlecht geläutet, unruhig und aufgeregt dazwischen. Vor dem Kirchhofstor stockte der Zug. Nach einer Minute setzte er sich unter Kindergesang wieder in Bewegung. Nachdem er sich nach alter Sitte um die Kirche bewegt hatte, hielt er aufs neue, der Gesang verstummte mit einer langgezogenen Schlußnote des Küsters, das Geläut mit einem letzten Nachklang der kleinen Glocke. Peter hielt sich im Hintergrunde, hatte die Augen geschlossen und hörte nur wie aus weiter Ferne, was da vorne vor sich ging: das Schurren der Taue, die liturgischen Formeln, das hohle Aufschlagen der Schollen, das wieder einsetzende Singen und Glockengeläut ... Als er aufblickte, sah er die Augen des Totengräbers fragend auf sich gerichtet. Da wurde er mit Schrecken gewahr, daß die andern sich bereits alle vom Grabe abgewandt hatten. Hastig drehte er sich um und folgte ihnen in die nahe Kirche. Hier setzte er sich im Rücken der Gemeinde hinter einen Pfeiler. Er war froh, einen Platz gefunden zu haben, wo ihn niemand sehen konnte, und er selbst auch keinen Menschen sah. Peter war nicht gekommen, um sich trösten zu lassen. Er hatte ja in den vergangenen glücklichen Zeiten sein Glück allein, heimlich vor allen Menschen, getragen, und wußte, sein Leid würde er erst recht ganz allein und einsam tragen müssen. Und das wollte er auch. Kein Mensch konnte und sollte ihm davon das Geringste abnehmen. So hörte er denn auch kaum hin, wie der Pastor die Eltern und Großeltern tröstete, wie er ein blaß gehaltenes Bild der in der Blüte geknickten lieblichen Jungfrau entwarf. Was ging ihn das alles an? Was konnte der Pastor von der Toten wissen, die nur ein Vierteljahr seiner großen und zerstreuten Gemeinde angehört hatte, mit der er wohl nie ein Wort gewechselt hatte? -- Aber plötzlich traf ein Wort von der Kanzel sein Ohr, das ihn aufmerken ließ. Der Pastor hatte von einem goldenen Tor geredet. Wie kam der Mann dazu, von etwas zu reden, was zwischen ihr, deren Mund nun geschlossen war, und ihm heiligstes Geheimnis war? Und nun horchte er mit angehaltenem Atem. »Die Entschlafene,« so führte der Geistliche aus, »hat sich in ihren Fieberträumen immer wieder mit einem goldenen Tore beschäftigt, so ist mir gesagt worden. Und dann hat sie mit einem Begleiter gesprochen, der an ihrer Seite dem goldenen Tore zugewandert ist. Was, meint ihr, liebe Christen, ist das für ein Wandergenosse gewesen? Ich zweifle nicht daran, es war ein heiliger Engel, den Gott der Herr ihr zum Geleite gegeben, um sie aus dem dunklen Tal der Todesschatten durch das goldene Tor hinaufzuführen in das Land des ewigen Lichts.« Durch die Gemeinde ging ein lautes Schluchzen. Wenn einer hinter den Pfeiler geblickt hätte, und er hätte die rechten Augen gehabt, so würde er da ein Menschenantlitz gesehen haben, das für einen Augenblick von tiefinnerer Seligkeit durchleuchtet war. Und vielleicht hätte er da an ein Engelsantlitz denken müssen. -- Die Trauerfeier war beendet. Die Verwandten traten noch einmal an das Grab, die andern kehrten nach der Sitte zu kurzer Rast in dem nahen Wirtshause ein. Peter aber machte sich sofort auf den Heimweg. Er mußte allein sein. Langsam ging er über die weite, stille, blühende Heide, und dachte mit stiller, tiefer Wehmut der glücklichen Zeiten. Er hatte das Gefühl, als ob sie weit, weit hinter ihm lägen. Und doch lagen nur drei Tage dazwischen. Aber was für Tage! ... Und wie lange war es her, daß er an ihrer Seite den Weg gegangen war? Es waren fünf Wochen. Da wurde er auf einmal zweifelhaft. War er nicht zweimal mit ihr diesen Weg gewandert? Einmal am letzten Sonntagabend vor den Ferien. Dessen erinnerte er sich ganz deutlich. Da hatte er ihr ja die Geschichte vom goldenen Tore erzählt, und sie hatten sich versprochen, von nun an Wandergenossen zu bleiben. Aber es war ihm, als müßte er noch ein zweites Mal mit ihr dieses Weges gegangen sein ... Allmählich dämmerte ihm herauf, was er vor drei Tagen, in jenem merkwürdigen Zustande jenseits der Schwelle des wachen Bewußtseins, auf diesem Wege erlebt hatte. Er hatte sich dieses Erlebnisses seither nicht erinnert, wohl deshalb, weil es in Regionen des Unterbewußtseins vor sich gegangen war, die dem vom Willen abhängigen Sicherinnern nicht zugänglich sind. Jetzt, an dem Orte, wo es ihm begegnet war, bei dem lebhaften und innigen Denken an jene erste Wanderung, kam es herauf, traumhaft verschleiert ... Hatte er sie da nicht an seiner Seite schweben sehen? ... In langem, weißem Kleide? ... schnell und immer schneller dem goldenen Tore zu? ... Das mußte um die Stunde ihres letzten Kampfes gewesen sein ... Also um dieselbe Stunde, da sie, wie die Verwandten dem Pastor berichtet hatten, das goldene Tor offen und den Wandergefährten an ihrer Seite gesehen hatte ... Wunderbar ... Während sie mit dem Tode ringend auf ihrem Bette lag, und während er zerschlagen und seiner selbst nicht mächtig über die Heide ging, hatte da zwischen ihren Seelen ein geheimnisvoller Verkehr stattgefunden? ... Hatten die einander geschaut, gegrüßt, aneinander Geleit und Halt und Freude gefunden? ... War das denkbar? ... Denkbar wohl nicht ... aber vielleicht trotzdem Wahrheit ... Je länger er darüber nachsann oder vielmehr -fühlte, um so gewisser wurde es ihm. Dann aber war es ja sicher, daß ihre Liebe nicht an das leibliche Beieinander gebunden war ... daß sie Weggenossen bleiben konnten, auch wenn sie ihm vorausgeeilt war ... Und hatte sie nicht auch, ehe sie in dem goldenen Tore verschwand, auf den Weg, der deutlich vor ihm lag, gewiesen und ihm gewinkt? ... um ihm zu zeigen, daß sie denselben Weg hatten und zusammengehörten? ... Er dachte an seine Mutter. Die hatte ihm, obgleich sie so früh hinweggerissen war, durch die ganze Kindheit das Geleit gegeben. Ganz gewiß, dann konnte auch die jetzt ihm entrissene, aber durch die engsten Seelenbande ihm verbundene Weggefährtin seine Weggefährtin bleiben, das Stück Weges, das er noch vor sich hatte. Vielleicht war dieses ja auch gar nicht so lang, wie er ihr das vor fünf Wochen in seinem jungen, frohen Lebensmut ausgemalt hatte. Vielleicht mußte er in Beziehung auf das goldene Tor noch einmal umlernen. Am Ende hatte sie doch recht gehabt, als sie damals, wohl vorahnend, sagte: »Aber Peter, wenn wir in das goldene Tor hineinwollen, dann müssen wir ja vorher -- sterben.« Damals war er darüber erschrocken und hatte das Sterben ganz ans Ende gesetzt, nach all dem Großen und Schönen, das er vorher erreichen wollte. Aber wenn es früher käme, wäre denn das so schlimm? ... Und vielleicht kam's ja auch so. Er dachte an die Besorgnis seines Vaters, daß er, Peter, zu viel von der Mutter geerbt haben möchte und in keiner guten Haut steckte. Und der dumpfe Schmerz in seiner Brust war ja seit jenem rasenden Laufen nach dem Arzt immer noch nicht ganz gewichen ... Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er dachte wieder an die Begräbnispredigt. Was? Er, der Schulmeister Peter Eggers, ein Engel? Das war wirklich zum Lachen. Aber plötzlich wurde sein Gesicht wieder ernst. Ja, ~sie~, wie sie da in weißem, wallendem Kleide neben ihm schwebte, wie sie am Ziel das von innen durchleuchtete Antlitz nach ihm zurückwandte, ~sie~ hatte wie ein Engel ausgesehen. Und war sie überhaupt nicht in sein armes, einsames, dumpfes Leben wie ein Engel aus einer andern Welt hineingetreten? Hatte er nicht eines Abends in duftender Jelängerjelieberlaube gesessen und Gott gedankt, daß er sie ihm gegeben? ... Gefaßt und getröstet langte Peter am Schulhause an. Als er aber eintrat und auf der Diele die drei Stühle sah, die den Sarg getragen hatten, und als sein Blick in ihre offene Kammer fiel, in der eben die einhütende Nachbarsfrau Ordnung schaffte, da übermannte ihn der Schmerz aufs neue. Er hielt die Hand vors Gesicht, eilte die Treppe hinauf und warf sich auf sein Bett. Die Nachbarsfrau hatte es auch übernommen, für die von der Beerdigung Zurückkehrenden den Kaffee zu kochen. Als sie sah, daß Peter zurück war, goß die gute Seele ihm vorab eine Tasse auf, legte ein Stück Butterkuchen auf den Rand und trug's ihm hinauf. Sie fand den jungen Schulmeister auf dem Bette liegend, den Kopf in die Kissen vergraben. Da faßte sie ihn mütterlich am Arm, schüttelte ihn und sagte: »He! Wat fehlt em? Is he krank?« Peter flog erschrocken in die Höhe und sah die Frau hohläugig und verstört an. »Hier hett he'n Tass' Kaffee ... Wat? He hett weent? Achjajija, dat junge söte Lewen« -- die Frau führte mit der freien Hand die Schürze an die Augen -- »in düsse Johren, wenn eene so väl köst[8] hett und just to bruken is, huhuhu. Aber se is ja den besten Weg, huhu. Nu drink he man. So'n Tass' Kaffee helpt den Menschen wedder up.« Peter nahm die Tasse und setzte sich auf seinen Stuhl. Die Frau stand neben ihm, hatte die Schürze wieder fallen lassen und die Hände in die Seiten gestemmt. »Hett se 'ne schöne Liekenred' krägen?« fragte sie. »Och ja,« sagte Peter. »Wat for'n Text?« »Text? ... de Text? ... Mewsmudder, dat weet ich würklich nicht.« »Wat? 'n Scholmester, und denn so vergätern?« sagte Mewsmutter verwundert. »Ick hew noch alle Liekentexte von mine Fründschap in'n Kopp.« Und nun zählte sie ihm die der letzten zwanzig Jahre auf, gab auch bei mehreren einige Gedanken aus der über sie gehaltenen Rede wieder. Dabei weinte sie noch einmal über die Verluste und ließ sich noch einmal von all den schönen Texten trösten. Zuletzt wischte sie sich mit der Schürze die Augen, schnaubte sich in derselben gründlich aus, nahm die leere Tasse und ging wieder an ihre Arbeit. Peter sah ihr kopfschüttelnd nach. Wie waren solche Leute zu beneiden! Die weinten ihre Tränen, backten Butterkuchen, hörten eine schöne Leichenpredigt, kochten Kaffee und gingen wieder an ihre Arbeit. Und gingen wieder an ihre Arbeit. Ja, und das tat Peter am andern Morgen auch. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Denn die kleinen Wehlinger Jungens und Deerns wollten darum doch lesen und schreiben und rechnen lernen, wenn Peter auch ein wehes, zerrissenes Herz hatte. Sie stellten sich am nächsten Morgen wieder vollzählig ein. Auf dem Schulhofe waren sie wohl etwas stiller als sonst. Aber ihr Morgenlied sangen sie mit kräftigen Stimmen, und die beiden Lehrer hatten alle Hände voll zu tun. Denn die Jugend hatte beim Heu viel verschwitzt und war durch die lange Freiheit des Stillsitzens auf den Schulbänken entwöhnt. Am Mittagstisch sagte der Schulmeister, indem er sich ein wenig reckte: »Wie ist das gut, daß wir endlich so weit sind! So etwas bringt immer viel Aufregung mit sich, und die ist nichts für alte Leute. Gott sei Dank, daß nun alles wieder im alten Geleise ist.« Ja, alles wieder im alten Geleise. Auch den leergewordenen Platz am Tische fand Peter nach drei Tagen wieder besetzt. Beim Familienkaffee nach der Beerdigung war die Verabredung getroffen, daß der Schulmeistersleute ältester Sohn seine älteste Tochter der schwächlichen Mutter zur Hilfe im Haushalt schicken sollte. Diese hieß auch Marie, und war ein munteres, quickes, junges Ding mit lebenshungrigen Augen und runden Gliedern. Die neue Marie langweilte sich bald bei den grämlichen Alten und suchte Zeitvertreib bei Peter. Wenn die beiden, durch eine Wiederholung der Rede des Schulmeisters vom Zeitvertrödeln und von der Unschicklichkeit getrennt, im Garten Sommerarbeit taten, war sie alle Viertelstunden bei ihm und hatte bald dies zu fragen und bald das zu schwatzen. Das »Es schickt sich nicht für so'n großes Mädchen« des Schulmeisters war für sie nicht da. Peter hörte ihrem munteren Geplauder ganz gern zu, und da ihre in das dumpfe Schulhaus eingezwängte Lebenslust ihn dauerte, so war er immer freundlich gegen sie und zwang sich, auf ihre Interessen einzugehen, auch wenn ihm danach nicht gerade zumute war. Aber das genügte ihr nicht. Und als sie merkte, daß sie ihm durch Äugeln und andere Kunststückchen nicht mehr abgewinnen konnte, versuchte sie's mit einem Bauernsohn auf der Nachbarschaft, wo sie mehr Glück hatte. Sie ist dann nach einem guten Jahre aus dem grämlichen Schulhause als Herrin auf den schönen Bauernhof übergesiedelt und eine kleine dicke, fröhliche, tüchtige Bauerfrau geworden. Eines Nachmittags gegen Ende September, als Peter Birnen pflückte, kam sie angetänzelt und bat ihn, ihr bei dem Ausziehen der Bohnenstangen zu helfen. Das trockene Kraut hätte sie schon zum größten Teil heruntergerissen. Aber die Querstangen lägen ihr zu hoch. Da könnte ein so kurzes End wie sie nicht heranreichen. Peter verbarg sein Gesicht hinter einem Birnenast und sagte: »Marie, das laß nur. Das will ich wohl gegen Abend allein besorgen.« »Du bist zu nett, Peter,« sagte sie erfreut, »dann kann ich ja gleich hingehen und mich hübsch machen. Aber vorher schmeiß mir eine süße, gelbe Birne herunter!« Peter erfüllte ihren Wunsch, und sie ging, herzhaft die Zähne in die Frucht schlagend, davon. Am Abend, als der müde Herbstsonnenschein auf dem Garten lag, machte Peter sich daran, das Werk des leuchtenden Mainachmittags niederzulegen. Er zog Mariens Schleifen auf und löste seine Knoten. Dann zog er die fest in der Erde steckenden Stangen heraus, erst seine Reihe, dann ihre. Als sie alle auf dem Haufen lagen, setzte er sich darauf und hielt den Kopf in die Hände gestützt. So saß er eine ganze Weile. Dann stand er auf und begann, die Stangen ins Haus, zu tragen. Einst hatte er je acht mit spielender Leichtigkeit auf die Schultern genommen. Jetzt ging er schon unter der Last von sechsen gebückt und mühsam. Als er zum letztenmal zum Felde gehen wollte, um die letzte Tracht zu holen, begegnete ihm Marie auf dem Gartenwege. Sie sah ihn groß an und rief: »Mensch, wie siehst du aus! Fehlt dir was?« »Ich bin müde,« sagte Peter tonlos. »Die Stangen sind wohl schwer?« »Ja ...« Diese Arbeit war die letzte, die Peter für die Wehlinger Schulmeistersleute tat. Am Tage darauf zog er in die Herbstferien. Den Winter sollte er auf dem Seminar zubringen. Auf jener Höhe, von der er an jenem Vorfrühlingsabend zuerst das Tal und das Dorf erblickt hatte, blieb er stehen und schaute lange zurück. Er lehnte sich an eine junge Birke, und diese ließ einige vor der Zeit gestorbene gelbe Blätter an ihm hinab zur Erde wirbeln. Auf der Heide ringsum lag das braune Blühen des Herbstes. Keine Imme summte mehr nach Honig; kein blauer Schmetterling gaukelte über den toten Blüten. Nur eine Grille zirpte müde und leise, und in der Ferne rief der Regenpfeifer sein langgezogenes Tühttüht. Dem Einsamen auf der Höhe lief ein Frieren über den Rücken. Noch einen Blick tat er in das verlassene Tal, dann fuhr er sich mit der Hand über die Augen und wandte sich langsam zum Gehen. Ein halbes Jahr nur nahm die Ausbildung der jungen Schulmeister auf dem Seminar in Anspruch. Selbstverständlich genügte diese Zeit nicht, um das Wissen wesentlich zu erweitern oder gar die Bildung zu vertiefen. Sie diente vielmehr in der Hauptsache dazu, dem Schulwesen des Landes eine gewisse Einheitlichkeit zu geben. Manche der alten Schulmeister, die der Anzucht des Nachwuchses oblagen, gaben ihren Zöglingen allerhand persönliche Liebhabereien und Wunderlichkeiten mit, selbsterfundene Schnörkel an den Buchstaben, Rechenmethoden eigenen Gewächses, theologisierende Privatmeinungen in der Religion und ähnliches. Das alles wurde in dem halben Seminarjahre heruntergehobelt, und dann wurden die jungen Leute als fertige und selbständige Schulmeister wieder auf die Dörfer geschickt. Da mochten sie sich denn entwickeln, wie ihre Anlagen und die Verhältnisse es mit sich brachten. Die einen wurden richtige Bauern, denen die Landwirtschaft obenan stand und die Arbeit in der Schule Nebensache war. Andere wuchsen sich zu wunderlichen Pedanten oder Originalen aus, wie sie in den Witzblättern noch heutigen Tages herumspuken. Aber viele wurden auch tüchtige Menschen, die in der Schule wie in der Dorfgemeinde, wie in der eigenen Haus- und Ackerwirtschaft voll ihren Mann standen, das Nötigste die Jugend lehrten und im übrigen durch Gottesfurcht, Fleiß und Sparsamkeit Jungen wie Alten ein Vorbild waren. Manches Dorf in stiller Heide hat wohl noch heute viel von dem Besten seiner Eigenart der Saat zu verdanken, die vor fünfzig oder mehr Jahren so ein schlichter, frommer, tüchtiger Mensch mit wenig Kunst und treuem Herzen ausgesät hat. Peters Lebensschiff begehrte ja damals, als der volle Wind in seinen Segeln stand, nach ferneren Zielen als nach der nächsten besten weltverlorenen Nebenschulmeisterei. Seit es aber im Sturm Mast und Segel verloren hatte, war es mit dem nächsten kleinen Hafen zufrieden. Für die Aufnahme in das Seminar sollte Peter ein von einem beamteten Arzt ausgestelltes Gesundheitszeugnis beibringen. Als der Amtsphysikus des nächsten Fleckens ihn untersucht hatte, fragte er, ob seine Eltern noch lebten. Peter sagte, seine Mutter wäre seit vierzehn Jahren tot, und auf die weitere Frage des Arztes, woran sie gestorben wäre, sie hätte viel husten müssen. »Haben Sie niemals einen Schmerz in der linken Brustseite gefühlt?« fragte der Arzt weiter. »Ja,« sagte Peter, »vor ein paar Monaten hab' ich einmal schrecklich laufen müssen, und da hat es hier in der Brust mir zuletzt sehr weh getan. Zuweilen fühle ich das noch an derselben Stelle.« Der Arzt überlegte einen Augenblick, mit den Fingern auf den Tisch trommelnd, dann setzte er sich hin, zu schreiben. »Sie haben,« sagte er dabei, »einen kleinen Knacks in der Lunge weg. Sie müssen sich gut ernähren und viel in die frische Luft gehen. Dann heilt das wohl wieder aus und vernarbt. Das hat man oft.« Um dieselbe Zeit sprach der Pastor von Olendorf gelegentlich einer Amtshandlung in Wehlingen bei Schulmeister Wencke vor, der seinen Vorgesetzten mit ebenso tiefen wie steifen Bücklingen empfing. »Ich muß,« sagte dieser, »ein eingehendes Zeugnis für Peter Eggers an das Seminar schicken, kenne ihn aber zu wenig und möchte mich deswegen mit Ihnen beraten. Ich mache mir gleich Notizen. Fleiß?« »War sehr gut,« sagte Schulmeister Wencke mit Nachdruck, »er hat viele dicke Bücher durchgelesen. Meine Bücher alle zusammen, und hat sich noch welche zugeliehen.« »Betragen?« »Hat sich immer sehr gut betragen. Fürs Weltliche, was den jungen Leuten heutzutage mächtig im Kopfe sitzt, hatte er gar keinen Sinn.« »Fähigkeiten und Leistungen?« »Das ging auch an. Ich denke, dieser Zögling soll mir noch Ehre machen.« »Wollen Sie noch ein allgemeines Urteil über seinen Charakter abgeben?« »Jaa, das ist nun so' ne eigene Sache. Wenn ich ehrlich sein soll, es fehlt ihm wohl an Gemüt.« »So? Ob Sie sich da nicht täuschen? Wenn ich so an die Augen des jungen Menschen denke ...« »Och, Herr Pastor, ich habe ihn zweiundeinhalb Jahr in meinem Hause gehabt. Wenn man einen da nicht kennen lernt! Und denn so'n alter Schulmeister, der bald fünfzig Jahre Schule gehalten hat -- wenn ~der~ den Menschen nicht bis auf den Grund sieht? Uebrigens, bei Peter Eggers war das nicht schwer. Als wir neulich hier im Hause den traurigen Todesfall hatten, sagte mein Schwiegersohn, gleich nachdem er nur ein einziges Mal mit ihm am Tisch gesessen hatte: »Vater,« sagte er zu mir, »dieser junge Mensch scheint sehr wenig Gemüt zu haben.« Naja, woher sollte er's auch haben, der arme Junge? Sein Vater ist ja leider Gottes dem Trunk ergeben, und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« »Also auch schon Neigung zur Trunkfälligkeit haben Sie bei ihm entdeckt?« »O bewahre, Herr Pastor, sehr solide, Herr Pastor. Na, ich wollte so einem denn auch, hier bei mir im Hause! Wir haben gar keine Spirituosen im Hause, und ins Wirtshaus komme ich manchmal ein ganzes Jahr lang nicht hinein. Nur daß man sich mal ein Pfeifchen gönnt.« »Das Rauchen ist für einen so jungen Menschen eigentlich auch noch nicht gut.« »O bewahre, Herr Pastor, der hat noch keine Pfeife Tabak in den Mund genommen. Ich wollte ihm auch! Nee, ich wollte man sagen, daß ich alter Mann mir ab und an mal ein Pfeifchen gönne. Denn ich halte das für keine Sünde ...« »Das Zeugnis über die einzelnen Unterrichtsfächer schicken Sie mir in den nächsten Tagen wohl zu, damit ich es beilegen kann.« »Jawohl, Herr Pastor, gleich morgen früh sollen Sie es haben.« * * * * * Nach den Herbstferien zog Peter also in die Seminarstadt. Durch einen Marsch von einigen Stunden erreichte er die nächste Bahnstation und benutzte von hier ab die vor einigen Jahren dem Verkehr übergebene Eisenbahn. Mit einer Geschwindigkeit, die den unerfahrenen Heidjer zuerst in Angst versetzte, trug sie ihn seinem Ziel entgegen. Die Stadt mit der Fülle ihrer für Peter neuen Eindrücke, der Seminarbetrieb, das Zusammenleben mit den Altersgenossen, alles dies wirkte zunächst erfrischend und belebend auf seinen müden Geist. Der Direktor des Seminars war ein jüngerer Geistlicher, der die Leitung der Anstalt erst kürzlich übernommen hatte. Er stammte aus den Kreisen der kirchlichen Erweckungsbewegung und war bemüht, seine Zöglinge von der rationalistischen Betrachtungsweise der Religion, die sie meistens mitbrachten, abzuleiten. Dabei fiel über die Vernünftigkeit und Plattheit des geltenden Katechismus manches harte Wort, und Peter stimmte der Kritik innerlich meist zu. Aber was sein Lehrer an die Stelle setzen wollte, das leuchtete ihm deshalb noch nicht ein. Und selbst wenn nicht so viele harte Nüsse darin zu knacken gewesen wären, würde Peter das Gelehrte sich kaum innerlich angeeignet haben. Denn jenes zarte Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schüler, das gerade für diesen Unterricht unbedingt nötig ist, soll er nicht das gerade Gegenteil von dem wirken, was mit ihm beabsichtigt wird, kam zwischen Peter und seinem Direktor nicht zustande. Dieser, der in dem Pastoralzeugnis gelesen hatte, daß Peter wenig Gemüt zu haben scheine, mochte von vornherein ihm nicht ohne Mißtrauen begegnet sein, und Peter war so geartet, daß er einem Menschen, der ihm nicht mit vollem Vertrauen entgegenkam, einfach sein Herz verschloß. Er hatte das Gefühl, daß sowohl der alte Katechismus wie auch der junge Direktor sehr viel von Gott und göttlichen Dingen wußten, aber wer von beiden recht hatte, und ob überhaupt einer von ihnen recht hatte, blieb ihm ungewiß, und er fühlte auch keinen Zwang in sich, sich darüber zu entscheiden. Wenn die studierten Herren sich nicht einmal darüber klar und einig werden konnten, wenn, wie der Direktor sagte, auf den Universitäten auch der Kampf zwischen den Professoren über diese Fragen hin und her wogte, was sollte denn so ein armer Schulmeister machen? Das Seminar war Internat, und Peter mußte sein Zimmer mit zwei Seminargenossen teilen. Und während des Unterrichts, in den Pausen, beim Essen, war er mit der ganzen Schar zusammen. Dies war ihm anfangs nicht unangenehm. Es riß ihn ja auch von dem Grübeln über das Vergangene und Verlorene hinweg. Dieser Verkehr verschaffte ihm auch manchen Einblick in andere Art und fremdes Leben, der ihm, dem Lebensunkundigen, wertvoll sein mußte. Aber er fühlte immer wieder, daß er ein langweiliger Geselle war, der sich selbst nicht geben konnte. Was war denn in seinem Leben, das sich andern mitteilen ließ? Die andern erzählten von zu Hause. Daran dachte er am liebsten nicht einmal. Die andern machten sich über die alten Schulmeister lustig, bei denen sie in die Lehre gegangen waren. Ueber des alten Wencke Wunderlichkeiten Witze zu reißen, fehlte es Peter sowohl an Begabung wie an Lust. Die andern zogen hin und wieder einander mit zarten Verhältnissen auf, und es waren auch mehrere unter ihnen, von denen die Rede ging, sie wüßten genau, wen sie im nächsten Frühjahr zur Frau Schulmeisterin machen wollten. Wenn auf derartiges die Rede kam, fühlte Peter einen heißen Schmerz und stürzte am liebsten davon. Manchmal mußte er sich wundern, wie viel andere erlebt hatten, und kam sich ihnen gegenüber vor wie ein unerfahrenes, unbeholfenes Kind. Aber dann kam's ihm plötzlich wieder zum Bewußtsein, daß er viel, viel mehr durchgemacht hatte als die andern. Nur war es nicht derart, daß man davon erzählen, damit sich aufspielen, darüber Scherze machen konnte. Einige Kameraden begegneten ihm, denen gegenüber er das Gefühl hatte, als ob aus ihnen etwas Verwandtes ihm entgegenkäme, und er versuchte, sich ihnen zu nähern. Aber zu einer wirklichen Freundschaft kam es nicht. Der Boden, auf dem eine rechte Jugendfreundschaft gedeihen kann, war in ihm, der der Liebe Lust und Leid so früh und so tief erfahren, wohl schon zerstört. Und das geräuschvolle, genau geregelte Anstaltsleben war dem Werden einer solchen in einem Menschen von der Veranlagung Peters ohnehin nicht günstig. So vereinsamte er mehr und mehr unter seinen Kameraden. Die einen hielten ihn für stolz und unkameradschaftlich, andere sahen in ihm einen Kopfhänger, noch andere meinten einfach, es wäre aus ihm nicht klug zu werden. Und alle ließen ihn seiner Wege gehen und kümmerten sich nicht um ihn. Dieses Verhältnis zwischen Peter und seinen Mitseminaristen entging auch den Lehrern nicht, welche dadurch das Urteil des mitgebrachten Zeugnisses und die eigenen Eindrücke bestätigt sahen. Als sie einmal in der Konferenz ihre Ansichten darüber austauschten, erhob sich aber doch eine Stimme des Widerspruchs. Der Jüngste des Kollegiums, der erst kürzlich von seiner Dorforgel an das Seminar versetzt war, sagte: »Ich glaube, in diesem Peter steckt mehr, als es zunächst scheint. Es fiel mir in der Gesangstunde auf, daß er musikalisch sehr begabt ist. Und da habe ich nun aus Liebhaberei angefangen, ihn im Geigenspiel privatim etwas vorzunehmen. In der Art, wie er die Geige anlegt, in dem Ausdruck seiner Augen beim Spielen liegt etwas, was mich zweifelhaft macht, ob der junge Mensch in unserm Kollegium ganz richtig beurteilt wird.« Die älteren Herren lächelten mild im Bewußtsein ihrer teils durch Universitätsstudium, teils doch durch höheres Lebensalter erworbenen überlegenen Menschenkenntnis, und der Direktor sagte, leicht verweisend: »Mein lieber junger Freund, Sie sind geneigt, die Menschen allzusehr nach dem Verhältnis zu Ihrer geliebten Musik zu beurteilen. Peter Eggers stammt aus den gedrücktesten und unglücklichsten Familienverhältnissen, und in solchen Menschen kommt das Beste, das Herz, das Gemüt, nicht zur Entwicklung. Ich merke das besonders in der Religionsstunde. Aber den andern Herren wird das auch nicht entgangen sein.« Diese nickten, und der Jüngste schwieg. Aber er hörte, nicht auf, den Vereinsamten auf sein Zimmer zu rufen -- er selbst wohnte auch im Seminargebäude -- und den Unterricht, den einst Schulmeister Wencke so schnell abgebrochen hatte, fortzusetzen. Er hatte an den Fortschritten seines Schülers viel Freude. Aber der Mensch blieb ihm nach wie vor rätselhaft. Eines Abends, als über dem Geigenunterricht die Dämmerung hereingebrochen war, schloß der Lehrer das Notenheft, nahm selbst die Geige zur Hand und spielte Händels Largo. Als er den letzten Ton verklingen ließ, hörte er Peter leise schluchzen. Er legte ihm sanft den Bogen auf die Schulter und fragte teilnehmen: »Was ist dir?« Peter schwieg. »Willst du's mir nicht sagen?« fragte der Lehrer, indem er den Bogen auf den Tisch legte und nach Peters Hand griff. »Ach, solche Musik wühlt alles wieder in einem auf ...« »Was denn ...?« Peter schwieg. »Du hast es wohl zu Hause nicht leicht gehabt?« fragte der Lehrer mitleidig. »Och, das ist es nicht ...« sagte Peter und schüttelte den Kopf. »Kannst du's mir denn nicht sagen? Ich frage dich nicht als dein Lehrer, sondern als dein Freund. Einem Freunde einmal sein Herz ausschütten, das tut wohl ...« »... Als ich bei Schulmeister Wencke in Wehlingen war, ... als ich da zwei Jahre gewesen war, ... als ich letzte Ostern nach den Ferien wieder hinkam ... ich ... ich kann's Ihnen doch nicht sagen ...« »Denn quäle dich nur nicht ... Du sagtest erst, die Musik wühle das alles wieder auf. Ja, das tut sie wohl. Aber sie bringt es auch fein sanft wieder zur Ruhe. Sie ist eine holde, freundliche Trösterin ...« »Ja, das fühle ich wohl ...« »Komme nicht erst in vier Tagen wieder, sondern schon morgen nachmittag. Wir wollen diese letzten Wochen bis Ostern jeden Tag ein halbes Stündchen geigen, damit du dir nachher selbst weiterhelfen kannst. Willst du?« »O Herr Seminarlehrer!« -- Peter hatte also einmal einen Menschen gefunden, der ihm mit warmem Herzen entgegenkam. Es fiel wieder einmal ein Sonnenstrahl in sein armes Leben hinein, und sogleich war's, als ob es unter dem warmen Anhauch neu aufblühen wollte. Die Kameraden wunderten sich nicht wenig, daß Peter plötzlich viel kameradschaftlicher und munterer erschien, und gingen dem Verkehr mit ihm nicht mehr so ängstlich aus dem Wege. Der Herr Direktor war erstaunt, daß Peter anfing, Antworten zu geben, die eine innere Anteilnahme verrieten. Ja, dachte er, wenn man's nur versteht, den jungen Leuten ans Herz zu kommen! In der letzten Konferenz vor der Schlußprüfung sagte er: »Über Peter Eggers habe ich mich die letzten Wochen recht gefreut. Er hat sich bei uns gut herausgemacht. Die Herren werden das auch gemerkt haben.« Die Herren nickten zustimmend, nur der Jüngste unten am Tisch nicht. Der lächelte ganz fein vor sich hin. Peter bestand die Abgangsprüfung gut. Die halben Stunden bei dem freundlichen Manne und bei seiner Musik hatten ihm ein so frohes Lebensgefühl gegeben, daß er frisch und munter antworten konnte und in dem rechten Augenblick sich an manches erinnerte, was er einst in Wehlingen gelesen oder gelernt, aber längst vergessen geglaubt hatte. Bei der Bekanntmachung des Ergebnisses schüttelte der Direktor ihm besonders herzlich die Hand und sprach die Hoffnung aus, ihn nach einigen Jahren als Hauptseminaristen wiederzusehen. Am Abend des Prüfungstages ging Peter zu seinem Musiklehrer, um sich von ihm zu verabschieden. Als er bei ihm eintrat, sagte dieser: »Ich habe mir gedacht, du kämst doch wohl nicht fürs erst dazu, dir eine Geige anzuschaffen. Und es wäre doch schade, wenn du das Spielen unterbrechen müßtest. Ich habe nun zufällig für einen Spottpreis ein ganz gutes Instrument kaufen können und möchte dich bitten, es von mir zum Andenken und aus Liebe zu unserer gemeinsamen Freundin, der Musik, anzunehmen. Hier ist's.« Peter starrte abwechselnd seinen Lehrer und die ihm in die Hand gedrückte Geige an, und suchte nach Worten. Aber der feinfühlende Mann half ihm darüber hinweg. »Probier' man gleich mal,« sagte er munter, »oder laß uns mal zweistimmig etwas spielen. Vielleicht einen Choral? Schlag' mal einen vor! Gestimmt habe ich die Geige schon.« Peter schwieg noch immer. »Na, was soll's sein?« fragte der andere und setzte seine eigene Geige an. Da sagte Peter hastig: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren,« faßte die Geige und ließ dreimal nacheinander die Saiten die jubelnde Weise jauchzen. Und der Seminarlehrer spielte ebenso freudig bewegt die zweite Stimme dazu, und dachte im stillen, indem er in Peters glückverklärte Augen sah: Das ist nun einer ohne Herz und Gemüt. O ihr klugen Menschenkenner! Als Peter die Geige absetzte, fing er an zu stammeln: »O Herr Seminarlehrer, w ... was soll ich ... bloß ...« »Du sollst bloß den Mund halten,« sagte der lächelnd und hielt ihm den Rücken seiner Geige vor den Mund. »Was du meinst und fühlst, das hast du ja eben schon mit deiner Geige gesagt. Möge sie dir eine gute Freundin werden, die in der Freude mit dir jubelt und im Leid mit dir weint und dich durch ihr mitfühlendes Herz tröstet.« »O Herr Seminarlehrer!« -- * * * * * Am Tage darauf -- es war am Sonnabend vor Palmsonntag -- setzte Peter sich auf die Eisenbahn, um nach Hause zu fahren. Das gute Examen, die ihm vom Direktor gemachte Aussicht auf das Hauptseminar, die Erinnerung an den freundlichen Musiklehrer, die Geige, die in ihrem schwarzen Kasten nahe bei ihm stand, die frische Märzluft, der Sonnenschein, der in die Fenster des Wagenabteils fiel, alles wirkte zusammen, Peter in eine frohe und mutige Stimmung zu versetzen. Auf einer größeren Station, wo die Lokomotive Wasser einnehmen mußte, stieg ein alter Bauer ein, musterte die drei Insassen des Wagenabteils, unsern Peter, einen Handlungsreisenden und eine Bauerfrau, und machte sich's bequem. »Wat hollt he hier so lang?« fragte die Frau den Bauern. »O,« sagte dieser trocken, »dat Peerd is noch jung; dat möß eben mal an'n Titt.« Die drei Fahrgäste lachten, jeder auf seine Art: Peter still, die Frau hehehe, der Handlungsjüngling hihihi. Der Bauer klopfte mit dem Knöchel seines Mittelfingers auf Peters Geigenkasten und fragte: »Wat hett he dar in?« »'n Vigelin'.« »Kann he spälen?« »'n bäten.« »Denn späl he mal eenen up!« »Och ...« sagte Peter zögernd. »Man to; dor geiht de Tied bi hen,« fiel die Frau ein. »Sain Se doch kain Frosch und tun Se's. Ain luschtiges Schtickche verkürzt die Fahrt durch de langwailige Lineburger Haide,« ermunterte der Handlungsreisende. Peter, in der frohen Laune nach wohl bestandenem Examen, ließ sich erbitten, nahm seine Geige und fidelte munter darauf los: Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus, den Dessauer Marsch, und was ihm sonst in die Finger kam. Als er aufhörte, weil seine Station nahe war, fragte der alte Bauer: »Is he Spälmann?« »Nee.« »Wat denn?« »Scholmester.« »Wonem hollt de Schol?« »Heww noch keen Schol. Kam hüt eben von't Seminar.« »Deuker! Dat könn passen. Ick bin ut Solten. Dat liggt'n halbe Stund' van Brundörp. Wi bruckt just'n Scholmester.« »So--o?« »Weet he wat? Ick kann god mit unsen Herrn Zupperndenten. Dar gah ick morrn vor de Karktied hen. Denn, schall he man sehn, kriggt he den Deenst.« »Scholstellen sünd upstunns genog to hewn,« sagte Peter. »Wenn ener'n god Tügnis hett, kann he sick'n Platz utsöken. Makt jo keen' Umstänn' von min'thalwen, Vader.« »Wenn ich m'r darf erlauben ain gut gemainte Rat,« mischte sich der Handlungsreisende ein, »ich wird' gehen nit zu de Bauern, ich wird' gehen in de Schtadt zu de jebildete Lait'.« »Di hollt keener fast,« sagte der Bauer trocken. »Dine Ort[9] könnt wi up'n Lanne nich bruken. Aber, wat ick man seggen woll,« wandte er sich wieder zu Peter, »god schall he't bi uns in Solten hewn. Wi sünd alltohopen gode Lüe.« Der Zug pfiff, Peter mußte aussteigen. »De Zupperndent well em woll schriewen. Und wenn he nah Solten kummt, denn frag' he man glieks nah Clas Mattens ...« rief der Alte ihm nach. »Aber deukerweg, ick weet ja noch gar nich, wat sin Nam' is, und wo he to Hus is?« Er lehnte sich aus dem Wagenfenster und Peter rief dem Zuge, der sich schon wieder in Bewegung gesetzt hatte, seinen Namen und Wohnort nach. Dann machte er sich rüstig auf den Marsch nach Hause, wo er spät am Abend ankam. An die Begegnung in der Eisenbahn dachte er kaum wieder zurück. Fünf Tage später bekam er ein Schreiben folgenden Wortlauts: »Es gereicht mir zur Freude, Ihnen mitzuteilen, daß Ihre Bewerbung um den Schuldienst zu Solten, die durch den Bauern Claus Mattens an mich gelangt ist, von mir als dem Patron der genannten Stelle berücksichtigt worden ist. Ich habe Sie bereits gestern Hohem Königlichen Konsistorio präsentiert, und wird Ihre Anstellung zweifellos unverzüglich erfolgen. Es wird gut sein, wenn Sie gleich nach dem Feste sich mir vorstellen und mit den Schulverhältnissen bekannt machen wollen. Der Weg von Ihrer Heimat nach hier beträgt gute vier Stunden, was ja für einen gesunden jungen Mann eine Kleinigkeit ist. Sie müssen über Wiechel gehen. Beerbohm, Superintendent.« Peter machte große Augen, als er diesen Brief las. Er ärgerte sich zunächst, daß der zufällige Reisegenosse auf solche Weise in sein Schicksal und Leben eingegriffen hatte. Dazu kam, daß sein Vater und er sich folgenden Tages das Schulhaus eines näher gelegenen Dorfes ansehen wollten, von dem viel Rühmens gemacht wurde. Aber bald gab Peter sich zufrieden. Aus dem Briefe des Superintendenten schien ihm Wohlwollen zu sprechen. Der alte Bauer in der Eisenbahn hatte ihm auch nicht übel gefallen, und allzu nahe bei Muttern zu bleiben, darauf kam es ihm ja nicht gerade an. Am Dienstag nach Ostern machte Peter sich auf, um seinen Vorgesetzten und seine künftige Wirkungsstätte kennenzulernen. Der Vater bestand darauf, ihn zu begleiten. Anfangs gingen sie schweigend nebeneinander. Aber bald kam es Peter vor, als ob der Vater etwas Besonderes auf dem Herzen hätte. Er räusperte viel und spuckte übermäßig oft aus. Endlich machte er Anstalt, damit herauszukommen. »Peter, ick mutt di mal wat seggen.« »Man to, Vader.« »Weeßt du, wat Mudder und ick uns dacht hewwt?« »Nee.« »Wi wollen woll mit di trecken[10].« »Mit mi? Nah Solten?« »Ja, min Jung. Süh, dat is bäter för di. Denn mak ick di fein dat Land to Schick[11]. Du kriegst da doch nix van torecht. Bist ja de starkste nich, din sel' Mudder wör't ok nich. Und Trina, de kakt[12] di denn wat ... Dat du dine Uppassung[13] hest ... Süh, 'n Fro kannst du di noch nich nehmen. Da bist du to jung to ... Wat makst du för'n Gesicht? ... Is Trina de lesten Johren nich jümmer ganz god mit di wän?« »Och ja, dat güng woll ...« »Süh, uns well dat in dat ole Hüsselhus gar nicht mehr recht gefallen. De Bur lett us dat Dak so rein öwer'n Kopp tohopen fallen. Und Land hewwt wi ok nich genog to Katuffeln for de välen Kinner.« »Und det schöt denn ok alle mit nah Solten?« »Alle nich. De beiden öllsten könnt wi all verme'en[14].« »Denn sünd dat noch veer ...« »Nee, fief.« »Is dat nich'n bäten väl för so'n Scholhus?« »Och nee. Wenn de in so'n Hüsselhus ünnerkreepen[15] könnt, hewwt se in so'n grot Scholhus Platz mehr als to väl.« »Meenst du ...?« »Hm, süh, dat wär doch schön, wenn du dine lütten Bröers und Süsters[16] sülwst als Scholmester lehren künnst.« »Och ... dat will ick just nich seggen. Und wenn se mal wecke verdeent hewwt und ick hau' jüm, wat seggt ehre Mudder denn?« »Dar is se god van stellt.[17] Up't Hauen hollt Trina grote Stücke.« »Dar hest du recht. Aber wenn ~ick ehr~ Fleesch und Blod hauen do, dat well ehr doch woll nich passen.« »Och, Peter, dat well so slimm woll nich wän. Und dat si di sleit, da brukst du nich bange vör to wän. Se fat't di nich mehr an.« »Is dankenswert. Dar harr ick ok keene rechte Lust mehr to.« »Du bist also davon tofreden, dat wi mit di treckt ...?« »Och Vader, da mutt ick mi erst up besinnen. Wi möt ok erst tosehn, wenn dat in Solten mit dat Hus und dat Annere passen deit.« »Da hest du recht; deshalw bin ick ok hüt mit di gahn.« Als sie in Brundorf bei der Kirche anlangten, trennten sich ihre Wege. Der Sohn ging nach rechts zur Superintendentur, der Vater nach links in ein Wirtshaus, um seine Rückkehr zu erwarten. Peter wurde von einem älteren, sehr behäbigen Herrn freundlich aufgenommen, wegen des guten Zeugnisses, das eben angekommen war, beglückwünscht und in das Sofa genötigt. Darauf belehrte der Superintendent ihn über die Schulverhältnisse, die er in Solten vorfinden würde. Die Schule wäre ein Jahr lang bei dem großen Lehrermangel unbesetzt geblieben. Da würde viel nachzuholen sein. Und eine frische, junge Kraft sei da gerade am Platze. Peter versprach, er werde sein Bestes tun. »Welches ist Ihre religiöse Stellung?« fragte der geistliche Herr plötzlich und unvermittelt, und sein joviales Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. Peter sah ihn verdutzt an. Danach hatte ihn in seinem ganzen Leben noch kein Mensch gefragt. »Meine religiöse Stellung?« wiederholte er langsam, um Zeit zu gewinnen, sich die Antwort zu überlegen. »Ich wollte wissen, ob Sie ein Pietist sind,« erklärte der Superintendent seine Frage näher. »Pietist?« fragte Peter zögernd. Die Spitznamen, mit denen die verschiedenen kirchlichen Richtungen einander belegten, waren ihm nicht geläufig. Der Geistliche machte eine ungeduldige Handbewegung. »Dann muß ich mich deutlicher aussprechen. Der neue Seminardirektor ist so einer von den neumodischen Pietisten, die die Welt um zweihundert Jahre zurückschrauben und den Leuten die Köpfe verdrehen möchten. Ich wollte gern wissen, ob er das bei Ihnen auch fertiggebracht hat.« »Der Herr Seminardirektor,« sagte Peter, »lehrte in vielen Stücken anders als unser Landeskatechismus, den wir in der Schule gelernt haben. Ob aber seine Lehre so viel besser war, wie er immer behauptete, das kann ich nicht entscheiden.« »Es freut mich sehr, mein lieber junger Freund,« sagte der alte Herr sichtlich erleichtert und klopfte dem jungen Schulmeister auf die Knie, »daß Sie sich haben nicht einfangen lassen, daß Sie sich Ihre geistige Freiheit und Selbständigkeit bewahrt haben. Ich begreife gar nicht, was diese Menschen darin finden, uns immer wieder mit ihren alten unklaren, mystischen Geschichten zu kommen. Gott, Tugend, Unsterblichkeit, diese drei Größen stehen fest. Der Philosoph Kant hat sie ein für allemal als Postulate der praktischen Vernunft nachgewiesen. Was darüber ist, das ist vom Übel.« »Ja,« sagte Peter nachdenklich, »diese Dinge sind sehr schwer.« »Was? Schwer?« fragte der andere verwundert. »Absolut nicht schwer. Man muß nur seinen gesunden Menschenverstand gebrauchen. Dann ist alles ganz klar. Daß ein höheres Wesen diese wunderschöne Welt geschaffen haben muß, daß wir Menschen ohne Tugend nicht menschenwürdig leben können, und daß für die vielen Ungerechtigkeiten dieses Lebens einmal eine ausgleichende Gerechtigkeit eintreten muß, das werden Sie doch nicht leugnen wollen?« »Gewiß nicht, Herr Superintendent, ich will gar nichts leugnen,« sagte Peter. »Es freut mich wirklich,« nahm der andere wieder das Wort, »erst einmal die Gewißheit zu haben, daß Sie kein Pietist sind. Einen solchen könnte ich in Solten auch nicht gebrauchen. Die Verhältnisse sind nämlich in dieser Beziehung dort etwas verwickelt. Freilich, der Kern der Bevölkerung besteht aus vernünftigen Leuten. Die Tätigkeit meines Amtsvorgängers, und meine eigene -- das darf ich in aller Bescheidenheit sagen -- haben in der Gemeinde sehr aufklärend gewirkt und die alten verstaubten Spinngewebe zum größten Teil aus den Köpfen herausgebracht. Nun ist aber gerade in Solten mir vor einer Reihe von Jahren der Wolf in die Herde gebrochen. Ein fremder Schuster, aus der Rheingegend zugewandert, ist dort hängengeblieben und hat sich eine Anbauerstelle erheiratet. Der hält wenig auf die Kirche, ist ein echter Pietist und Okkultist, und sucht in Solten Anhang zu gewinnen. Und, wie ich leider sagen muß, nicht ganz ohne Erfolg. Es gibt ja immer urteilslose Menschen, die so einem nachlaufen. Ich hoffe nun, daß Sie dort dem verderblichen Treiben dieses Mannes entgegenarbeiten und nicht nur in der Schule, sondern auch außerhalb derselben aufklärend wirken werden ... Übrigens, ich habe gleich von vornherein die besten Hoffnungen auf Sie gesetzt. Unser alter prächtiger Claus Mattens, der Sie neulich in der Eisenbahn für uns eingefangen hat, hat mir erzählt, wie Sie da im Zuge frank und frei Ihre Geige aus dem Kasten genommen und eins nach dem anderen gefiedelt haben. Solche frischen, lustigen jungen Leute, die das Leben genießen, natürlich in Züchten und Ehren, die habe ich für mein Leben gern. Denn ich bin auch einmal jung gewesen. Da dachte ich gleich: Der ist kein Kopfhänger, und heute habe ich ja darüber Gewißheit bekommen. Na, wie denken Sie sich denn einzurichten?« »Das weiß ich noch nicht genau,« sagte Peter. »Meine Eltern denken halb und halb daran, mit mir zu ziehen.« »Ach du meine Güte! Aber das Schulhaus hat ja nur eine einzige Stube außer dem Schulzimmer, und Sie haben Reihetisch bei den Bauern.« »Soo?« »Ja, hat Ihnen das denn der alte Claus Mattens nicht gesagt?« »Nein.« »Und Sie haben sich danach nicht erkundigt?« »Nein, dazu war keine Zeit; ich mußte aussteigen.« »Und dann bewerben Sie sich um die Stelle?« »Herr Superintendent, ich habe mich nicht beworben. Der Mann sagte, ich müßte in Solten Schulmeister werden. Ich hielt das für Spaß, und habe gar nicht wieder daran gedacht, bis ich dann auf einmal Ihren Brief kriegte.« Der alte Herr schlug die Hände zusammen und schüttelte sich vor Lachen. »Dieser alte Schlauberger! Darum kam er so pfiffig an und sagte: ›Herr Zupperndent, ick heww uns'n Scholmester infungen, 'n ganzen nüdlichen frischen Jungkeerl‹. Schön war das nicht gerade von dem Alten, Sie so hinters Licht zu führen. Aber schließlich, was soll man dazu sagen? Jeder ist sich selbst der Nächste. Für sein Dorf hat der Alte gut gesorgt. Ich fürchtete schon, die Stelle müßte wieder unbesetzt bleiben. Und ein paar Jährchen werden Sie es da schon aushalten. Nur, daß Sie Ihre lieben Eltern mitbringen, das ist unmöglich, so leid es mir tut.« »Och,« sagte Peter, »das schadet am Ende nicht ganz viel.« »Es sollte mich freuen,« versetzte der andere, »wenn diese Enttäuschung nicht gar zu groß für Sie wäre ... Um aber noch einmal auf die eigentümlichen Verhältnisse in Solten zurückzukommen, ich möchte Sie bitten, sich den Pietistenschuster vom Leibe zu halten und ihn überhaupt nicht zu besuchen. Er wird's natürlich probieren, Sie für seine überspannten Gedanken zu kapern und durch Sie Einfluß auf die Jugend zu gewinnen. Denn wer die hat, hat ja die Zukunft. Also hüten Sie sich vor ihm, gehen Sie ihm aus dem Wege! Junge Leute von Ihrem Alter sind noch nicht innerlich gefestigt genug, um solchen Einflüssen, wenn sie ihnen Zutritt zu sich gestatten, den nötigen inneren Widerstand entgegenzusetzen. Und dann noch eins, aber im Vertrauen. Wir haben einen sehr vernünftigen Amtshauptmann, der durchaus nicht gewillt ist, solches Konventikelwesen der Dunkelmänner in seinem Bezirk umsichgreifen zu lassen. Der würde uns ganz gern einmal seinen Landjäger zur Verfügung stellen. Also, wenn Sie etwas merken von polizeiwidrigen Abendversammlungen und Zusammenrottungen in den Häusern, so machen Sie mir gefälligst Meldung. Ich habe auch schon einigen zuverlässigen Bauern einen leisen Wink in dieser Richtung gegeben. Aber es ist nun einmal so, gegen die Geistlichkeit hält diese Gesellschaft immer zusammen, und den Landjäger sehen sie nicht gern in ihrem Dorf. Also ich verlasse mich auf ~Sie~. Ich würde Ihnen nun raten, sich heute gleich Ihren künftigen Wirkungskreis und Ihr Häuschen anzusehen. Und dann treten Sie Anfang nächster Woche frisch und fröhlich Ihren Dienst an.« Peter war aufgestanden, machte den tiefen und steifen Bückling, den er Schulmeister Wencke abgesehen hatte, und bekam von seinem freundlichen Vorgesetzten einen warmen Händedruck zum Abschied. Als er in die Gaststube des benachbarten Wirtshauses trat, um seinen Vater abzuholen, blickte dieser, hinter einem Schnapsglas sitzend, mit gerötetem Gesicht ihn höhnisch an und sagte, unbekümmert um die Anwesenheit einiger Gäste: »Du bist doch'n Döskopp und bliwst'n Döskopp.« Peter war starr mitten im Zimmer stehengeblieben und fragte aufs höchste erstaunt: »Wat is denn?« »Läßt di dor de slechste Scholstelle in't ganze Land uphangen, läßt di von so'n olen Glattsnacker in de Iserbahn so anfleiten, dat de nu in alle Wirtschaften vertellen kann, wat ick for'n Dämelklas van Jungen heww. Hähähähä.« »Aber Vader, besinn' di doch!« »Ick? Ne besinn' du di! Wer hett domols, as em dat verlöwt würd, Scholmester to weern, sinen Vader verspraken, dat he em helpen wull, de lütten Kinder grot to kriegen?« »Vader!« »Wer harr dat grote Wort, dat he sin' olen Öllern, de so väl Godes an em dan hewwt, to sick nehmen woll?« »Vader,« sagte Peter, sich mühsam beherrschend, »ick gah nu nah Solten, wullt du mit?« »Ick? Hähähä. Ick? Wat heww ick da to söken? In dat ole Muslock, wo nich mal een Morgen Land to hört, hä! Gah man alleen und kiek di dine Dummheit an! Hüt abend kummst du hier wedder för und halst mi aff. Weertsmann, schenk mi noch'n Lütten in! Wenn ener as Vader so'n Dämelklas van Jungen hett ...« »Affhalen do ick di nich,« sagte Peter hart und bestimmt, »ick kann god ahn' di henfinnen, wo ick hen will.« Der Vater stürzte eben hastig sein Glas hinunter. »So is't recht,« fuhr Peter voll Bitterkeit fort, »sup di man düchdig enen an, daß de Lüe glieks Bescheed weten, wat de nee Scholmester för'n Vader hett. Adjüs.« »Du verdammte Jung,« keuchte Harm Eggers und sprang in voller Wut auf. Aber er wurde von zwei Männer, die mit ihm am Tische saßen, festgehalten. Und Peter ging aufrecht und die Füße hart aufsetzend hinaus. Draußen hörte er noch, wie der Vater drinnen lärmte und fluchte, und mit schnellen Schritten eilte er davon. Es kam ihm zwar für einen Augenblick ein leises Gefühl der Reue, daß er mit solchem pietätlosen Wort von seinem Vater geschieden war. Aber ein inneres Kindesverhältnis zu dem Manne, der in den letzten Jahren durch den Trunk immer mehr heruntergekommen war, hatte er eigentlich doch nicht mehr gehabt. Dann war es ja schließlich zu ertragen, wenn das äußerliche lose Band nun auch durchgerissen war. Und das Neue, dem er entgegenging, brachte ihn schnell über solche Gedanken hinweg. Als Peter das Kirchdorf hinter sich hatte, lag Solten in der Ferne auf einer mäßigen Anhöhe vor ihm. Er mußte das Dorf mit Wehlingen vergleichen. Das behäbige Bauerndorf in dem wiesen- und waldreichen Bachtale war ohne Frage viel reizvoller als diese neue Heimat auf der hohen Geest. Heide sah man von dieser Seite nur wenig. An der Straße zwischen dem Kirchdorf und Solten war alles Ackerland, das aber mit seiner losen, sandigen Ackerkrume wie mit dem hungrigen Winterkorn den Eindruck großer Magerkeit und Kargheit machte. Bei den ersten Häusern des Dorfes griff Peter sich einen Jungen auf, um sich zum Schulhause führen zu lassen. Der Junge ging mit ihm eine Weile die ungepflasterte Dorfstraße entlang, bog dann auf ein Gehöft ab und auf ein Gebäude zu, das man zunächst für eine Scheune halten mußte. Als sie aber um dasselbe herumgingen, zeigten sich einige Fenster und eine Tür. Peter stand vor seinem neuen Heim. Er rüttelte an der Tür, die jedoch verschlossen war. Als er sich umsah, kam aus dem Bauernhause, auf dessen Hofe das Schulhaus lag, ein Mann in Hemdsmauen mit einem Schlüssel in der Hand. Der sagte trocken »Dag« und schloß dem jungen Schulmeister sein Haus auf. Während sie miteinander die Schulstube und einen zweiten weißgetünchten Raum mit einem Fenster, in dem eine Scheibe zerbrochen war, besahen, erzählte er, bis vor wenigen Jahren hätte die Schule und Schulmeisterwohnung von Hof zu Hof gewechselt. Aber das wäre der Gemeinde schließlich lästig geworden, und so hätte sie ihm diese Scheune abgekauft und zu einer schönen Schule umgebaut. Die Fensterscheibe hätten im Winter die Jungens beim Schneeballen eingeworfen, aber er glaube sicher, daß die Gemeinde eine neue würde einsetzen lassen. Beim nächsten Bauernmal wollte er das vorbringen, und Eile hätte die Sache ja wohl nicht; denn es ginge ja auf den Sommer. Als die beiden mit ihrer Besichtigung fertig waren und wieder ins Freie traten, sah Peter, daß sein alter Freund aus der Eisenbahn auf die Schule zugeschritten kam, den Brösel im Munde und sein pfiffigstes Lächeln im Gesicht. Peter fühlte einen Grimm gegen den Mann und überlegte sich, wie er dem Ausdruck geben sollte. Der Alte kam ihm aber zuvor: »Kiek mal an, da is he ja all, unse lütte Scholmester van de Iserbahn.« »Jawoll,« unterbrach ihn Peter, »den ji so bannig anföhrt hewwt. Dat harr ick van jo nich dacht.« »Anföhrt?« fragte der Alte mit der unschuldigsten Miene von der Welt, indem er die Pfeife aus dem Munde nahm und behaglich ausspuckte. »Jawoll, anföhrt! Wat is denn dat för'n Scholhus?« »Och, so'n jungen Bengel, de keen Fro und Kinder hett, kann't genog dormit don.« »Und de por elenden Daler, för de ener sick hier schinnen mutt.« »Oh, he kriegt ja Äten und Drinken to. Wo woll he denn mit väl Geld hen? Dat hett all mannigenen up slechte Weg' brocht. Abers nu kam he man, min lüttje lewe Scholmester. Min Olsch' is bi und kakt'n Tass' Kaffee. Dorbi wöt wi uns wedder verdrägen.« Peter wollte noch Schwierigkeiten machen, aber der Alte streckte den Arm mit der Pfeife aus und schob ihn lachend vor sich her. Da ergab er sich und ging mit. »Spaß mutt makt weern,« begann der Bauer wieder, »aber nu lat uns dar mal vernünftig öwer snacken. Süh, wi hewwt all'n ganz Johr keenen Scholmester hatt, und de, den wi harrn, wör'n ganzen Natten. Aber unse Kinner könnt doch nicht upwassen as de armen Heiden, as dat lewe Veih. Nich wohr, dat geiht doch nich?« »Nee, dat geiht nich,« sagte Peter. »Aber möß ick denn jüst her?« »Och nee, min beste Minsch, harr ick'n annern in de Iserbahn drapen[18], de mi ebenso god gefallen harr as he, denn harr ick den nahmen.« »Dat glöw ick,« sagte Peter lachend. »So, nun sünd wi to Hus,« sagte der Bauer und trat mit Peter in die große Missentür seines stattlichen Hauses. Während sie über die lange Diele gingen, beobachtete er Peters Gesicht von der Seite, blieb dann plötzlich stehen und sagte: »Scholmester, hett he denn keene Ogen in sinen Kopp?« »Wat is denn?« fragte Peter erschrocken und sah sich vor die Füße, ob er etwa dem umherlaufenden Federvieh zu nahe getreten wäre. »Dor rechts und dor links steiht dat beste Veih in't ganze Dorp und he sleit[19] dor keen Og' nah hen?« »Och ja, dat is ok wahr ...« sagte Peter und holte das Versäumte nach. »De Koh dor mit den Blessen vor den Kopp, dat is gewiß de beste.« »Nee, lütt' Scholmester, dat is just de ordenärste in'n ganzen Stall.« »Ach soo ... ick verstah van so wat nich ganz väl.« »Gor nix versteiht he; dat seh ick,« sagte Clas Mattens. Am Herde angekommen rief er: »Hier, Mudder, is he, unse Scholmester. Nu bring dinen Kaffee man rin.« Sie gingen in die Stube und nahmen auf der Bank am gedeckten Tische Platz. »Na Scholmester, nu segg he mal,« begann Mattens wieder, »geiht he noch wedder nah Hus oder bliewt he forns[20] hier?« »Forns hier bliewen? Güng dat woll?« fragte Peter lebhaft. »'t geiht allens,« antwortete der Bauer. »Min' Peer hewwt woll mal'n Dag Tied. Denn spannt wi morrn an und halt sin Saken, Bedd, Disch und wat he süssen[21] noch hett, und denn is't ferdig. 't schall em ok nich väl kösten.« »Hmhm.« »Schall ick morrn anspannen?« »... Da is man'n Haken bi ...« »Wat denn?« »Ick heww keen Bedd und Disch und Stohl und wat dor süssen noch tohört ...« »Denn mutt he sick dat köpen. Is keen annern Rat.« »Dor is ok man wedder 'n Haken bi.« »Wat denn?« »To'n Köpen hört Geld.« »Dat stimmt.« »Und dat heww ick nich.« »Hett denn sin Vader nix?« »Wat de hett, dat brukt he sülwst.« »Dat is'n verdullten Kram,« sagte Clas Mattens und kratzte sich hinter den Ohren. »Nee, dat gelt nich, erst Bodder un denn dick Honnig up. Dat smeckt bäter.« Er schob Butter und Honigteller nahe an Peter heran, und dieser war auch nicht blöde. Da er den Honig schon aufgestrichen hatte, schmierte er die Butter dazwischen. »Dat is'n verdullten Kram ...« wiederholte der Bauer nachdenklich. »Ohn' Bedd geih't nicht, und'n Disch und Stohl is ok nödig.« Nach einer Weile sagte er entschlossen: »Scholmester, he hett seggt, ick harr em anföhrt. Dat mag wän, he harr süssen woll'n bätern Platz kriegen könnt. Aber nu hör he to: ick will dat wedder god maken. Ick will em dat Geld, wat he nödig hett, lehnen[22], dat he sick inrichten kann. Aber denn mutt he mi dat'n bäten upschriewen, dat dat Bedd und de annern Saken mi tohört, bet he se ganz betalt hett. 't is man wegen Lewen und Starwen ... Is em dat so recht?« »O beste Vader Mattens, daför schall he väl dusendmal bedankt wän! Up wecke Ort schall ick dat noch wedder ...« »Nu mak he keenen langen Dröhnsnack. Dat wör afmakt. Hören deit em also nix as wat he up'n Liew hett? Wo hett he denn sin Vigelin'?« »De is noch tu Hus. Und ok süssen heww ick dar noch allerhand, wat hier her mutt, Strümp und Hemden und'n bäten Tüg und min Böker ...« »God, denn spann ick morrn an, und wi beiden föhrt hen und halt den ganzen Kram her. Und wat wi süssen brukt, dat köpt wi uns unnerwegs.« »Dat geiht ja schön. Aber, wat ick noch seggen woll, in min Stuw' is'n Fenster twei.« »Dat schall Discher Buck insetten. Dat well ick woll vör de Gemeen' up mi nehmen.« »Och Vader Mattens, wat freu ick mi, dat ick jo in de Iserbahn drapen heww, und dat ick nah Solten kämen bin!« sagte Peter mit ehrlicher Freude. Clas Mattens, der nach beendigtem Kaffeetrinken eben seine Pfeife wieder angesteckt hatte, schmunzelte und blies ein paar mächtige Wolken von sich. * * * * * Am nächsten Morgen spannte Mattens mit dem Frühesten an, und neben dem breitschulterigen, behäbigen Bauersmann nahm der schmale, lang aufgeschossene Schulmeister Platz. So fuhren sie langsam in den frischen Aprilmorgen hinaus. Das Gespräch zwischen ihnen riß nicht ab. Die Führung lag in den Händen des Bauern. Er sprach von den Feldern, Heiden, Wäldern, Wiesen, Dörfern, Gehöften, Menschen und Tieren und allem andern, was in seinen Gesichtskreis gehörte, mit jener Treffsicherheit und Sachlichkeit und jenem trockenen Humor, die nur aus dem intimen Umgang mit den Dingen und der behaglichen Freude an ihnen sich ergeben. Er sprach in jener urgesunden echten Bauernart, die den nicht gar zu blasierten Kulturmenschen immer wieder überrascht, und ihn erquickt wie der frische Duft der Scholle, die nachdenkliche Menschen immer wieder zweifelhaft macht, ob unsere ganze Kultur und »Bildung« wirklich so viel wert ist, wie es uns von allen Dächern gepredigt wird, ob wir für sie nicht einen zu hohen Preis gezahlt haben; in jener Art, von der ein Bücherschreiber, der nicht raffiniert für ein raffiniertes Publikum, sondern deutsch für das deutsche Volk schreiben möchte, immer wieder lernen muß, und um die er manchmal so einen schlichten Heide- und Moorbauer aufrichtig beneidet. Denn ganz lernt's einer doch nicht wieder so, der leider »schrecklich viel gelesen.« Hätte Peter vor einem Jahre mit einem Mann wie Clas Mattens eine Fahrt über die Heide gemacht, so würde er mit Kunst und Tücke das Wort an sich gerissen und belehrende Vorträge über wer weiß was für abliegende Dinge gehalten haben. Denn damals hielt er sich wegen seines bißchens Bücherweisheit für »gebildet« und verpflichtet, andere zu bilden und zu belehren. Heute aber hielt er den Mund, hörte zu und fragte. Denn er war jetzt gebildet genug, um einzusehen, daß auch ein Schulmeister, der ein gutes Abgangszeugnis vom Seminar in der Tasche hat, noch nicht alle Weisheit mit Löffeln gefressen hat, daß er noch tüchtig lernen mußte und sich auch nichts vergab, wenn er von einem Bauern lernte. Er war gebildet genug, um die Welt des gefestigten, auf seine Scholle und Arbeit stolzen Bauerntums als eine ganze und reiche Welt zu empfinden, die es durchaus nicht nötig hatte, sich vor der Welt der Bildung und Bücher, in die er selbst ein wenig hineingerochen hatte, schamhaft zu verkriechen. Und er war gebildet genug, um einzusehen, daß er an diese Welt, in der er ja auch leben sollte, wieder mehr Anschluß suchen mußte, daß neben dem, was in den Büchern stand, auch das ihn umgebende Leben Beachtung verdiente. So machte er denn während dieser Fahrt Ohren und Augen weit auf und war des Bauern lernbegieriger Schüler. Es kam bei diesen Gesprächen zwischen Bauer und Schulmeister zufällig heraus, daß Clas Mattens nicht schreiben und nur mangelhaft lesen konnte. Peter kannte ja viele, die statt ihres Namens drei Kreuze machten. Aber bei Mattens wunderte ihn das doch, und er sagte: »Dat harr ick nich dacht.« »Jawoll,« lachte der Alte, »ji Scholmester bild't jo jümmer in, wenn da'n düchdigen Keerl is, de in de Welt paßt und sinen Kram versteiht, denn harrt ji dat Meiste darto dan. Kinners, Kinners, 't hett all Keerls in de Welt geben, as noch keen Scholmester de Jungs de Böxen stramm tög.« Nach einer Fahrt von vier Stunden langte das Gefährt vor Harm Eggers' Häuslingskate an. Als Peter innerlich auf alles gefaßt und gegen alles gewappnet, in die Tür trat, hörte er den Vater in der Stube laut schnarchen. Seine jüngste Schwester erzählte ihm eifrig, er wäre dun[23] nach Hause gekommen und hätte von Muttern schreckliche Prügel gekriegt. Sie zeigte ihm auch lachend den Stock, der in der Ecke stand. Die Mutter wäre auf der Nachbarschaft zum Waschen. Peter raffte in größter Eile seine Sachen zusammen, trug sie auf den Wagen, sprang selbst hinauf und bat Mattens, davonzufahren. »Wat? Nich mal'n Tass' Kaffee kakt uns din' Mudder? Dar harr ick mi bannig up spitzt.« »Se is nich to Hus,« sagte Peter kurz. Auf der Rückfahrt kauften sie in einem Flecken, was sie für die erste Einrichtung für nötig hielten. In ihren Ansichten darüber stimmten sie bis auf einen Punkt überein. Der Bauer meinte, Peter könne sich wenigstens den Sommer über ganz gut draußen am Hofbrunnen waschen und brauchte kein Waschgeschirr. Aber Peter, der an diesen Luxus von Wehlingen und vom Seminar her gewöhnt war, wollte nicht gern auf ihn verzichten. Mattens meinte, die Schulmeister würden immer großartiger, und man wüßte nicht, wo das schließlich noch hinaus sollte, gab aber endlich doch nach. Es ging bereits gegen Abend, als sie wieder zu Hause anlangten. Der Bauer half dem jungen Schulmeister, die Siebensachen abzuladen und ins Haus zu schaffen. »So,« sagte er, als sie damit fertig waren, »nu mak he sick man allens fein to Schick, und adjüs ok.« Dann hängte er in die Stränge ein und zog mit seinem Gespann ab. Peter stand in seiner Stube zwischen seinem Hausrat. Jetzt war's wirklich eine kleine Aussteuer. Da kam ihm plötzlich die Erinnerung, wie Schulmeister Wencke in Wehlingen ihn vor drei Jahren auf seine Kammer geführt und gesagt hatte: »So, nun mach's dir nur gemütlich in deinem Heim.« Wehmütig dachte er daran, mit was für einem jäh erwachenden Heimgefühl er damals von dem Dachstübchen Besitz ergriffen hatte. Von dem Glück und Jubel jener Stunden war er heute weit entfernt. So konnte er sich überhaupt nicht mehr freuen. Aber froh war er doch, daß er nun wieder ein eigenes Heim hatte. Das enge Zusammenleben mit innerlich ihm fremden Altersgenossen, wie das Seminar es mit sich gebracht hatte, war ihm zuletzt fast unerträglich geworden. Es mochte ja zuerst ganz heilsam für ihn gewesen sein. Aber im Grunde war er doch einer der Menschen, deren Bestes nur in der Stille und Einsamkeit reift, und denen es darum einfach Lebensbedürfnis ist, oft und viel allein zu sein. Das war ja nun im Soltener Schulhause wieder möglich. Und darüber freute er sich. Er machte sich an die Einrichtung seines Zimmers. Denn gemütlich sollte es hier auch werden. Die schwierigste Arbeit nahm er zuerst in Angriff: das Bettmachen. Da sie hierfür nur Oberbett und Kissen gekauft hatten -- ein Laken hatte Frau Mattens aus ihrem Leinenschatz hergegeben und mäßig verrechnet -- so brauchte Peter Stroh, um die Butze aufzufüllen und sich eine weiche Unterlage zu bereiten. Er ging in das Bauernhaus, auf dessen Hof die Schule lag, und bat darum. Swiebertsbauer war glücklicherweise nicht zu Hause. Wahrscheinlich hätte er Peter auf das nächste Bauernmal vertröstet, wo beschlossen werden könnte, welche Höfe je ein Bund Stroh für das Bett des Schulmeisters zu liefern hätten. Die Bäuerin aber war menschenfreundlicher. Sie kommandierte ihre Magd, das nötige Stroh nach dem Schulhause hinüberzutragen und dem Schulmeister auch gleich das Bett fertigzumachen. »So'n Mannsminsch kennt dar doch nix von,« sagte sie. Als die Magd nach Ausführung ihres Auftrages gegangen war, fuhr Peter mit dem Einrichten fort. Die Geige, sein wertvollstes Besitztum, stellte er auf den niedrigen Beilegerofen, dessen Eisenplatten zweimal mit dem »Fräuwlein von Samaria« und einmal mit Christi Taufe geschmückt waren. Den gekauften Tisch stellte er an die Längswand und baute seine Bücher an dieser auf. Die Wände waren gänzlich kahl, und gerade über dem Tische war ein Stück Bewurf abgefallen. Aber Peter besaß ein Mittel, diesen Schönheitsfehler zu verdecken und der kahlen Fläche einigen Schmuck zu verleihen. In der Seminarstadt hatte er sich einmal bei einem Althändler für wenige Groschen ein paar ungerahmte Bilderblätter gekauft. Die brachte er mit kleinen Nägeln über seinem Tische an. Das eine Blatt zeigte das Bild eines alten Mannes mit tiefgefurchten Zügen und wallendem Barte, der einsam auf seinem Lager saß und das Haupt auf eine vor ihm stehende Harfe gestützt hielt, auf deren Saiten seine welken Finger leise Töne zu greifen schienen. Darunter standen die Worte: Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. Wegen dieser Worte vor allem, die er zum erstenmal an jenem glücklichsten Tage seines Lebens gelesen hatte, als seine Seele eben mit Goethes Mailied gejubelt hatte, war ihm dieses Bild in dem Fenster des Antiquars so lieb geworden, daß er es sich endlich kaufen mußte. Und da hatte der Mann ihm gleich ein anderes Bild gezeigt, das dazu gehöre, und er hatte sich dieses auch gekauft. Da stand ein Mädchen in langem, weißem Kleide, halb Kind, halb Jungfrau, an eine Säule gelehnt und schaute mit schmerzlich sehnsüchtigem Blicke in die Weite. Darunter stand: So laßt mich scheinen, bis ich werde; Zieht mir das weiße Kleid nicht aus! Ich eile von der schönen Erde Hinab in jenes feste Haus. Als Peter mit dem Einräumen seines Zimmers fertig war, setzte er sich an seinen Tisch, stützte den Kopf in die Hände, sah gerade vor sich auf seine Bilder und ihre Verse, und verfiel in tiefes Sinnen. Tränenbrot und durchweinte, kummervolle Nächte ... ja, er selbst kannte sie auch, so jung er war gegen den Alten auf dem Bilde ... Der alte Harfenspieler hatte durch sie die himmlischen Mächte kennen gelernt. Konnte er das auch von sich sagen? ... Nein. Im Gegenteil. Vorher hatte er von Gott -- so setzte er stillschweigend für die himmlischen Mächte ein -- gewußt und ohne Bedenken und Zweifel, aber freilich, auch ohne sich viele Gedanken zu machen, über ihn gelehrt. Das war so leicht gewesen. Es stand ja alles fertig im Katechismus und in der Bibel. Dann hatte er in jener Verzweiflungsnacht zu Gott geschrien und keine Antwort bekommen, keine Erhörung gefunden. Seitdem fühlte er im Unterricht manchmal etwas wie ein böses Gewissen, wenn er von ihm lehrte. Aber er beruhigte sich: Wir Schulmeister müssen's alle, es steht einmal in den alten Büchern so drin, und Religion ist immer gewesen und muß auch sein. Und doch waren auch wieder Stunden in seinem Leben, in denen er das Gefühl gehabt hatte, als ob er jetzt, nachdem er den Gott seiner kindlichen Vorstellungen verloren, erst auf dem Wege wäre, Gott von ferne zu ahnen, ihn vielleicht einmal zu kennen; als ob er sein Liebesglück und Liebesleid, seine Jubelstunden und seine durchweinten Nächte einbeziehen könnte, ja müßte, in einen verborgenen Liebeswillen, der geheimnisvoll über seinem Leben waltete. Selten waren solche Stunden, und es waren auch dann nur Ahnungen, die ganz leise und heimlich durch seine Seele zogen. Die entgegengesetzte Stimmung, daß er mit einem blinden, grausamen Geschick haderte, daß er sich dumpf und stumpf unter etwas Unabänderliches zu beugen suchte, hatte die Vorherrschaft ... Der Harfenspieler war ein alter Mann. Vielleicht hatte der auch nicht immer so an seine Leiden und Schmerzensnächte gedacht, so voll stiller Ergebung, ja voll Dankbarkeit für das, was solche Zeiten ihm gegeben. Das kam vielleicht erst mit den Jahren ... Peter ließ seine Augen auf dem zweiten Bilde ruhen. Von dessen Versen hatte er bislang überhaupt nichts verstanden. Es war ihm lieb geworden, weil das weiße Kleid des Kindes und ein leiser Zug in ihrem Gesicht ihn an seine Tote erinnerte. Und bei dem festen Hause hatte er ganz unbestimmt an das goldene Tor gedacht. Wie er nun so in stillem Sinnen hinschaute, haftete sein Auge an einem kleinen Wörtlein: So laßt mich scheinen, bis ich ~werde~ ... Werden ... Werden ... ~Was~ werden? Das stand da nicht ... Nur: werden ... Wie er darüber nachdachte, wollte es ihm plötzlich scheinen, als sei in diesem schlichten Wörtlein sein ganzes Jugendsehnen auf das kürzeste und treffendste ausgedrückt. Nicht, was so an der Oberfläche getrieben hatte: Hauptseminar und Küsterstelle usw., sondern das, was in der Tiefe geströmt und jene Wünsche getragen hatte. Und es kam ihm die Erinnerung an eine Frühlingszeit seines Lebens, da er dieses Werdens mit seligen Schauern selber inne geworden war. Aber dann waren ja wieder Zeiten gekommen, in denen er die Empfindung hatte, als ob alles in ihm tot und still läge. Nun stand dieses Wort vom Werden über seinem Schreibtisch, und er wollte es als eine freundliche Verheißung nehmen, daß das Werden doch noch nicht aufgehört habe, daß die alte Sehnsucht noch Erfüllung finden könnte. Die beiden Bilder hingen nebeneinander. Und der Antiquar hatte ihm beim Kauf gesagt, daß sie eng zusammengehörten. Er hatte auch irgend eine Geschichte erzählt, die das beweisen sollte. Die war ihm aber entfallen, wenn er sie überhaupt recht aufgefaßt hatte. Ja, vielleicht gehörte, auch ohne diese besondere Geschichte, überhaupt im Leben, alles dieses zusammen: Die kummervollen Nächte und das Tränenbrot und das Werden, die schöne Erde und das feste Haus und das goldene Tor; das Suchen und Sehnen, das Weinen und Verzweifeln, das Wachsen und Werden, und ... Gott ... Es war etwas in ihm, was sich nach Aussprache sehnte. Da nahm er seine Geige. Den Blick auf den Harfenspieler gerichtet, begann er zu spielen, schmerzvoll klagende Weisen mit einem leisen Unterton der Ergebung, wie sie der Alte einst seiner Harfe entlockt haben mochte. Dann wandte er sich dem andern Bilde zu und zog lange, süße, innige Töne. Tränen füllten seine Augen, und mit den umflorten Blicken sah er in Mignons Bild das Bild seiner teuren Toten. Da packte ihn ein wilder Schmerz, und schrill und scharf zog er mit dem Bogen über die Saiten. Dann schaute er wieder auf den zum Frieden gekommenen Alten, strich allmählich ruhiger, und ging zuletzt in Händels Largo über, das ihm von allen Tonstücken, die er kannte, das liebste war. Er stand jetzt vor dem Fenster, und sein Blick flog zu dem Stückchen Himmel auf, das zwischen der Schule und dem nahen Bauernhause sichtbar war. * * * * * Am nächsten Tage fing Peter an, sich in Solten herumzuessen. Das Dorf zählte sieben Halbhöfe, und jeder hatte die Verpflichtung, einen Tag der Woche den Schulmeister zu Mittag und Abend zu beköstigen. Den Morgenimbiß nahm er zu Hause ein, und traf mit einer benachbarten Häuslingsfrau, der er auch die Wartung seines Zimmers übergab, das Abkommen, daß sie ihm durch eins ihrer Kinder dazu einen Becher frischgemolkener Ziegenmilch herüberschickte. Da Peter jetzt des Willens war, die Welt, in der er lebte, und das ihn umgebende Leben kennenzulernen, so war ihm der Reihetisch ganz lieb. Denn dazu bot er ja die beste Gelegenheit, die sich nur denken ließ. Wenn er des Mittags mit hungrigem Magen auszog, kam er sich fast wie ein Entdeckungsreisender vor und hielt Augen und Ohren offen. Er versuchte von dem Aussehen der Häuser auf ihre Bewohner, von dem Vieh auf die Menschen, von den Menschen auf das Vieh, von den Eltern auf die Kinder, von den Kindern auf die Eltern zu schließen, er verglich, stellte Betrachtungen an, kurz, er studierte das Leben und die Menschen. Was die Hofbesitzer betraf, so fand er bald heraus, daß er gleich am ersten Tage die größten Gegensätze kennengelernt hatte: den wortkargen, stumpfen, geizigen Swiebertsbauern, und den humoristischen, klugen, noblen Mattensbauern. Frauen gab's, wie überall, ordentliche und schlampige, heitere und mürrische, gut aussehende und häßliche, mütterliche und stiefmütterliche. Von den Altenteilern hatten die einen etwas Patriarchalisches in ihrem Wesen, die andern hatte das Leben, Arbeit und Sorge müde und stumpf gemacht. Peter packte das Leben mit wachen Sinnen, und wo er's packte, da wurde es ihm interessant. Während er die Menschen beobachtete, beobachteten die Menschen ihn, und schon am Ende der Woche stand das Urteil über ihn ziemlich fest: »Wi hewwt'n lütten schönen Scholmester krägen. He is gar nich stolz, itt wat up'n Disch kummt und hett Ogen in'n Kopp.« Nur die Schulkinder, die ja demnächst am meisten mit ihm zu tun haben sollten, hielten ihr Urteil in der Schwebe. Die wollten doch lieber erst sehen, wie er sich in der Schule machen würde. Am Sonntag ging Peter nach Brundorf zur Kirche. Er setzte sich auf den Orgelchor, woselbst der Organist ihm schlimmes Herzeleid antat. Er hatte seine Orgel schlecht in Stimmung und griff und trat mehr als einmal böse daneben. Denn er dachte: Was verstehen die dummen Bauern von Musik? Wenn's ihnen man tüchtig in die Ohren braust! Peter drehte sich einige Male herum und bearbeitete den breiten Rücken des Kollegen mit empörten Blicken. Aus dem Stadium, in dem ein Tongeräusch wie Schulmeister Wenckes Geigenkratzen Musik für ihn gewesen war, war er jetzt heraus, und die gute und gutgespielte Orgel der Hauptkirche der Seminarstadt hatte ihn verwöhnt. Als der Superintendent auf der Kanzel erschien und seine Predigt begann, hörte Peter aufmerksam zu. Viel aufmerksamer und angestrengter, als je früher in Steinbeck und Olendorf. Denn es war nun einmal der Trieb in ihm erwacht, das Leben und die Menschen, wo und wie sie sich ihm boten, kennenzulernen. Da hatte er nun bald das Gefühl, solche Predigt könnte nur ein Mann halten, der mit Gott und der Welt, vor allem aber mit sich selbst auf das schönste zufrieden ist. Er beneidete den geistlichen Herrn und alle, die wie er das Leben im hellsten Sonnenschein liegen sahen, verklärt von der Güte eines alliebenden Vaters und von einer allgemeinen, die Welt -- wenigstens mit Worten -- umspannenden Menschenliebe. Indem er dann aber tiefer darüber nachdachte, fand er doch, die wirkliche Welt und das wirkliche Leben zu erkennen und zu verstehen, das hatte doch auch seine Vorzüge, wenn dabei auch mancher schöne Traum zerrann, und so schöne Phrasen, wie sie von der Kanzel herunterpurzelten, unmöglich wurden. Die Erkenntnis des Wirklichen empfand der junge Schulmeister, wenn er auch erst eben angefangen hatte, die Augen und Ohren aufzumachen, doch schon als eine Bereicherung des eigenen Lebens. Wie seine Augen so auf dem glattrasierten, runden, strahlenden Gesicht des Geistlichen ruhten, sah er plötzlich neben diesem den abgehärmten, von langem weißen Bart umwallten Kopf seines alten Harfenspielers. Da mußte er die beiden nach ihrem Aussehen und nach ihren Worten vergleichen und von diesen Aeußerungen aus auf das dahinterliegende Wesen schließen. Der eine redete des langen und breiten von der Güte und Liebe eines großen Vaters über dem Sternenzelt. Der andere sprach bescheiden, fast scheu, von himmlischen Mächten. Der Mann auf der Kanzel redete von sich und seinem fröhlichen Glauben und legte dabei beteuernd vor der ganzen Gemeinde die Hand auf die breite Brust. Der alte Harfner saß allein in einer engen Zelle, auf die Harfe gestützt, und sprach, ganz für sich, wie von einem Dritten, aber in Worten, in denen des eigenen schwergeprüften Herzens Schlag zitterte ... Da fühlte der junge Schulmeister sich dem Manne auf der Kanzel fremd und fremder, und dem alten Harfenspieler immer verwandter. Als von der Kanzel ein Ausfall gegen die Feinde des Lichts und der Aufklärung kam, mußte er an den Schuster denken, vor dem er so eindringlich gewarnt war. In Solten hatte er sonst noch nichts über den Mann gehört, als daß er gute und billige Ware liefere. Jetzt, wo der Superintendent gegen Leute seiner Art zu Felde zog, fühlte Peter beinahe etwas wie Sympathie für ihn und beschloß, trotz aller Warnung vor der damit verbundenen Gefahr, seine Bekanntschaft zu machen. Als Peter nach beendigtem Gottesdienst sich auf den Heimweg machte, beschäftigten ihn die Gedanken, die ihm während der Predigt gekommen waren, noch immer. Dieser Superintendent gehörte ohne Zweifel zu den Menschen, die der Seminardirektor als »öde, platte, geistlose Rationalisten und Totengräber der Kirche« bezeichnet hatte. Und der letztere war ja von ersterem als »Pietist und Dunkelmann« gebrandmarkt worden. »Und welches ist ~Ihre~ religiöse Stellung?« hatte der Superintendent ihn gefragt. Peter lachte, als ihm die wunderliche Frage einfiel. Aber sofort wurde er wieder ernst. Er gestand sich, daß er jetzt, nachdem der Trieb, das Wirkliche zu erkennen, in ihm erwacht war, den Wunsch verspürte, auch über diese schweren, schwersten Fragen, die in der Schule täglich vorkamen, Klarheit zu gewinnen. Aber wie? Aus Büchern? Zu ihnen hatte er in dieser Sache wenig Vertrauen, seitdem er wußte, wie die hochstudierten Herren, die sie schrieben, einander widersprachen. Da dachte er wieder an seinen alten Harfenspieler. Der wußte von den tiefen verborgenen Kräften, die der Menschen Leben gestalten, tragen und segnen, wohl mehr als jene hochgelehrten Herren. Wo hatte er das gelernt? In der Schule des Lebens ... In der Schule der Leiden ... Ja, in der Schule der Leiden, vielleicht war da das Letzte und Tiefste und Größte zu lernen ... »Na, lütte Scholmester,« rief hinter ihm Clas Mattens' muntere Stimme, »he hollt den Kopp ja so dal, he is woll ganz deepdenksch[24] vandag?« Peter blieb stehen und erwartete den herankommenden Bauern. »Hewwt wi nich'n schönen Zupperndenten?« fragte dieser, nachdem er Peter eingeholt hatte. »Och ja,« meinte der Schulmeister, »he kann bannige Wöer[25] maken.« »Blot eenen Fehler hett he,« sagte Mattens, »he makt ~to väl~ Wöer. He künn datsülwige in de halwe Tied seggen. Aber dat hört woll to de Gelehrsamkeit van de groten Herrns, dat se sick nich so kort befaten könnt as'n dummen Buersmann. Ick hol't mit den Spruch: 'n lange Wost[26] und'n korte Predigt, dorbi kann'n dat Winderdag und Sommerdag utholen.« Am nächsten Morgen wurde Peter durch die Stimmen der Kinder, die sich frühzeitig vor der Schule versammelten, aus dem Schlaf geweckt. Er stand schnell auf, schloß die Schultür auf, trank seine Ziegenmilch und trat zum erstenmal vor die ihm anbefohlene Kinderschar. Das Gesicht der Schule war das ihm von Wehlingen her vertraute: Blaue und graue Augen, hellblonde Haare, die Langköpfe weit zahlreicher als die Kurzköpfe. Der Kinder, die irgendwie von dem allgemeinen Typus abwichen, waren nur wenige. Aber ein Kind -- das sah Peter auf den ersten Blick -- machte in dieser Umgebung einen fremdartigen Eindruck. Es war ein Mädchen von etwa zwölf Jahren. Das schmale Gesichtchen war feiner geschnitten und weißer in der Farbe als die der Kameradinnen, und die dunklen Augen hatten ganz ihren eigenen Ausdruck. Peter glaubte die Gesamtheit der übrigen Kinder auf den ersten Blick ihrem Grundcharakter nach zu kennen. Es war dieselbe Art, mit der er herangewachsen war, und die er in Wehlingen zweiundeinhalb Jahre unterrichtet hatte, die ungemischte niedersächsische Rasse. Aber dieses eine Gesicht gab ihm Rätsel auf. Peter eröffnete seine Tätigkeit als selbständiger Lehrer nach einigen Gesangversen mit einer kleinen Ansprache, in der er die Kinder zu Fleiß, Aufmerksamkeit, gesittetem Betragen und anderen Schülertugenden ermahnte und die Hoffnung aussprach, daß sie selbst es ihm möglich machen würden, den Stock nicht zu gebrauchen. Denn er schlüge höchst ungern und wäre in seiner ersten Schule beinahe ganz ohne Schläge ausgekommen. Dieser Teil seiner schönen Rede fand die größte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Ein großer Bengel wechselte mit seinem Banknachbarn einen vielsagenden Blick. Darauf begann Peter nach dem Stundenplan mit der Religionsstunde. Er wollte zunächst feststellen, was die Kinder an Memorierstoff beherrschten, und stellte Fragen aus dem Landeskatechismus. Die Kinder hatten den Text leidlich binnen, trotz des lehrerlosen Jahres, während dessen nur selten ein Schulmeister aus der Nachbarschaft zur Vertretung herübergekommen war. Aber, so oft Peter fragte, fiel es ihm auf, daß das fremdartige Mädchen nicht aufzeigte, ja, nicht einmal aufblickte. Wie verlegen saß sie da und sah vor sich nieder. Zuletzt stellte er eine ausgesucht leichte Frage und rief sie auf, obgleich sie sich wieder nicht meldete. In die Schule kam eine Bewegung, die Kinder stießen sich an, lachten, legten sich auf die Tische und wandten die Köpfe, um die Gefragte zu beobachten. Peter brachte durch ein paar energische Worte die Gesellschaft zur Ordnung und Ruhe und wandte sich dann wieder an die aufgerufene Schülerin, die mit gesenktem Kopf schweigend in der Bank stand. Er versuchte ihr zu helfen, indem er die Antwort anfing. Vergeblich. Ratlos sah er sich in der Klasse um. Da meldete sich ein anderes Mädchen, und als Peter ihr zunickte, sagte: »Lina ihr Vater will das nicht haben, daß sie den Katechismus lernt.« »Sooo?« fragte er verwundert. Da flog die kleine Plappertasche wieder in die Höhe und fuhr fort: »Lina ihr Vater sagt, im Katechismus steht der rechte Glaube nicht in.« »Setz dich und halt deinen Mund!« sagte Peter ärgerlich. »Was ist dein Vater?« fragte er freundlich das Kind, das noch immer stand und jetzt rot übergossen war. »Schuhmacher,« war die schüchtern gegebene Antwort. Die Plappertasche zeigte wieder eifrig den Finger, wobei sie dem Schulmeister den Arm entgegenzuckte und sich über die Bank warf. »Was willst du denn nur?« fragte Peter ärgerlich. »Lina ihr Vater ist ein Fremder, er ist ...« »Wenn du dich noch einmal um Sachen kümmerst, die dich nichts angehen, stelle ich dich dort in die Ecke,« sagte Peter, scharf verweisend. Das Mädchen nahm die Schürze und maulte. »Na, Lina, setz dich,« wandte er sich wieder an die andere, »ich denke, fortan müssen wir hier in der Schule lernen, was der Lehrer will. Das geht wohl nicht anders.« Er sagte das ganz freundlich. Das Kind in seiner Verlegenheit tat ihm leid. Und über die andern, die mit Interesse und Schadenfreude die Szene zwischen dem neuen Lehrer und dem Kinde des fremden Schusters verfolgten, ärgerte er sich. Er hatte gleich die Empfindung, daß diese Fremdartige keinen leichten Stand unter ihren Mitschülern hätte, und nahm sich vor, auf sie besonders zu achten und sie zu schützen, wenn es nötig sein sollte. Denn er kannte die Herzlosigkeit und Grausamkeit der Jugend gegen alles, was anders ist und sich nicht glatt dem Hergebrachten fügt. Hatte er doch selbst in seiner Jugend sie öfter erfahren. Nach einer Weile ging er zu der biblischen Geschichte über. »Wer kann mir die Geschichte von Maria und Martha erzählen?« fragte er. Einige Finger wurden zaghaft gehoben und wieder zurückgezogen. Nur Schusters Lina zeigte ruhig und sicher auf, und ihre dunklen Augen sahen den Lehrer voll an. Peter war froh, daß er ihr vor der Klasse eine Genugtuung geben konnte, und rief sie freundlich auf. Und nun erzählte sie. Und erzählte so, daß Peter sie verwundert ansehen mußte. Es kam ihm vor, als hörte er eine ganz neue Geschichte, ja, als sähe er sie vor sich, die geschäftige Martha und die stille, innige Maria, und den Herrn, der von der Wanderung in dem Heim der Schwestern eingekehrt ist. Als sie fertig war, sagte Peter: »Das hast du gut erzählt, Lina. Darüber habe ich mich gefreut.« Er ließ sich dann noch einige Geschichten von anderen Kindern erzählen. Die beherrschten den Text ja auch wohl. Aber wie hölzern und plump kamen sie damit über, wie ging dabei das Zarte, Schöne, Tiefe verloren! Er konnte sich nicht versagen, Linas Erzählen den anderen als vorbildlich hinzustellen. Als er es getan hatte, bereute er es aber auch schon. Die Kinder, die ihre Geschichten ebenso fließend aufgesagt hatten, machten verwunderte Gesichter und sandten einen nicht gerade freundlichen Blick nach der durch das erste Lob des neuen Schulmeisters ausgezeichneten Mitschülerin hinüber. Um zehn Uhr entließ er die Kinder. Er hatte, dem Beispiel seines alten Lehrmeisters folgend, für diese Stunde die Schulneulinge bestellt. Auch hier in Solten kamen die Eltern der Kleinen zum Lehrer und überreichten ihm süße Anlockungsmittel. Die nahrhafteren Beigaben für den Schulmeister selbst fehlten hier natürlich, wegen des Reihetisches. Peter schrieb auf jede Tüte den Namen des Kindes, das er mit ihr an sich fesseln sollte. Als er fünf Tüten vor sich hingelegt hatte, trat ein Vater mit leeren Händen vor ihn hin und redete ihn hochdeutsch an: »Herr Lehrer, mein Paulchen kommt auch ohne Zuckertüte gern zu Ihnen. Wir haben ihm erzählt, daß Sie ein lieber, freundlicher Herr sind.« Peter sah sofort an den Augen des Mannes, die Ähnlichkeit mit denen der kleinen Lina hatten, daß er den Schuster vor sich hatte. Vor den versammelten Eltern erklärte der junge Schulmeister, er werde die Kinder einstweilen nach dem Abc setzen, und später nach Betragen, Fleiß und Tüchtigkeit. Die Eltern räusperten sich, einige sahen sich an, und ein Bauer, den Peter von den Hofbesitzern, die er bislang kennen gelernt hatte, am wenigsten leiden konnte, weil er in seinem Wesen etwas Dummprotziges hatte, sagte: »Jea, dat is man so'ne Sak'; min Kinner hewwt bi den olen Scholmester jümmer baben an säten. Und ick bin ok de böberste wän. Min sel. Vader harr den grötsten Hoff.« »Denn will ick wünschen, Westermann,« sagte Peter, »dat jon Willem 'n düchdigen Jungen is und ok wedder den böbersten Platz innenehmen kann.« Er entließ die Eltern und rief seine Kleinen in die Schulstube. Sie kamen ängstlich und zaghaft. Denn auch in Solten hatten die lieben Mütter aus erzieherischen Gründen die Person des Schulmeisters mit allen erdenklichen Schrecken umkleidet. Auch die Zuckertüten konnten nicht alle Angst aus den Gesichtern verscheuchen. Nur ein kleines, eckiges Bürschchen kam munter angestapft, sah sich mit den schwarzen Äuglein interessiert um und ließ sie dann voll Vertrauen in denen des Lehrers ruhen. Als aber die anderen ihre Zuckertüten bekamen, verdunkelte sich das fröhliche Gesichtchen, und in den schwarzen Augen wurde Regenwetter. Peter fragte Westermanns Willem, der, weil sein Vater den größten Hof besaß, die größte Tüte hatte, ob er Paul etwas abgeben wollte. Willem sagte stramm: »Nee.« Er wandte sich an die anderen. Die wollten sich, Willems Beispiel folgend, ebenfalls auf nichts einlassen. Peter hielt eine kleine plattdeutsche Rede über das Wohltun und Mitteilen und bat dann die Kinder, sie möchten je zwei Boltjen aus der Tüte nehmen, und ihm, dem Schulmeister, schenken. Alle taten es, bis auf Willem. Peter ärgerte sich über den dickköpfigen Bengel und nahm sich von ihm, was die andern freiwillig gegeben hatten. Da stellte sich der kleine Kerl steil hin und sagte: »Dat segg ick to minen Vader, dat du mi de Boltjen stahlen hest. De hett he för mi kofft, und nich vör den Schoster sinen.« Peter überreichte die auf diese Weise verfügbar gemachten Süßigkeiten dem kleinen Paul, bei dem nach dem Regen denn auch sofort wieder Sonnenschein eintrat. Darauf wies er den Kleinen ihre Plätze an. Paul Döhler wurde nach dem Alphabet der erste, Willem Westermann mußte den letzten Platz erhalten. Dieser machte ein Gesicht, als ob er protestieren wollte, sagte aber doch nichts. Peter beschäftigte die Kinder ein Stündchen mit einem Bilde, auf dem Haustiere fraßen, brüllten, krähten, schliefen und sonst sich ihres Lebens freuten. Viel brachte er aus ihnen noch nicht heraus. Aber es schien ihm, als würde sowohl Paul Döhler seinen ersten wie Willem Westermann seinen letzten Platz während der Schuljahre behaupten. Als er die Kinder entlassen hatte und in seine Stube gegangen war, hörte er plötzlich draußen ein lautes Geschrei. Er lief hinaus und sah, daß der große, starke Willem den zarten Schusterpaul zu Boden geworfen hatte und auf ihn losschlug. Als er hinzugeeilt war, erhob er sich soeben, die dem Schwächeren geraubten klebrigen Bonbons in der Hand. Peter nahm den Jungen beim Kragen, schnitt sich von einem nahen Birkengebüsch eine Rute und erteilte ihm eine tüchtige Tracht Schläge. Die Süßigkeiten warf der Junge dabei in den Sand. Als Peter den kleinen Bösewicht losließ, entfernte dieser sich um einige zwanzig Schritt, und aus dieser sicheren Entfernung streckte er die Hand drohend nach dem Schulmeister aus und sagte: »Töw[27] man, dat segg ick minen Vader, dat du mi slan hest.« Peter mußte über den erbosten kleinen Kerl laut lachen, aber ganz wohl war ihm doch nicht. Die ersten Schultage nach Ostern in Wehlingen beim Schulmeister Wencke waren harmonischer, zu größerer allseitiger Zufriedenheit, verlaufen. Und er selbst hatte das Gefühl, nicht in allem ganz richtig gehandelt zu haben. Wenn er in Solten Schwierigkeiten haben würde, das fühlte er, so würden sie irgendwie mit den Schustersleuten zusammenhängen. Dem Superintendenten blühte von dieser Seite her viel Verdruß, und der junge Schulmeister machte sich darauf gefaßt, daß es ihm ebenso gehen würde. Er stellte sich aber die Frage, ob er darum die beiden schwarzäugigen Kinder missen möchte, und beantwortete sie sich mit einem entschiedenen Nein. Die beiden würden seine Tätigkeit als Lehrer und seine Stellung im Dorfe erschweren, aber die beiden würden ihm auch Freude machen. Um der beiden willen erschien ihm gleich heute seine Schule so interessant, wie ihm die in Wehlingen mit ihrer ungemischten Niedersachsenrasse niemals erschienen war. An diesem Tage war der Reihetisch bei Clas Mattens. Beim Mittagbrot war der Bauer sehr aufgeräumt, und über seinen originellen Schnäcken überwand Peter die etwas unbehagliche Stimmung, die sich seiner bemächtigt hatte. Als er aber am Abend wieder zu ihm kam, war ander Wetter eingetreten. Der Bauer fuhr seine Frau an, und dann den Knecht, und war über Tisch sehr einsilbig. Als die Familienangehörigen nach dem Abendbrot das Zimmer verlassen hatten, räusperte er sich einige Male und sagte dann endlich: »Scholmester, dat helpt nich. Ick mutt em mal'n bäten vörnehmen. In't Dörp is düssen Nahmiddag väl öwer em snackt worrn.« »Soo?« fragte Peter. »Wat harrn de Lüe denn to snacken? Wat Godes?« »Nee,« sagte Mattens kurz, »hüt' wör't nix Godes!« »Wat denn?« »De Lüe hett dat verdraten[28], dat he glieks den ersten Dag enen van de Lütten dörtagelt[29] hett.« Peter erzählte, wie ehrlich Willem seine Schläge verdient hatte, und sprach seine Überzeugung aus, daß sie ihm sehr heilsam sein würden. Der Bauer zuckte die Achseln. »Wenn ick min' Meenung seggen schall,« sagte er, »de Scholmester is Meister van de Schol. Wat buten[30] passeert, dat geiht em nix an. Daför sünd de Öllern.« »Nee, Mattens-Vader, dar stah ick up'n ganz anner Stück,« rief Peter lebhaft, »ick bin Scholmester in de Schol, up de Straten und in de Hüser, Alldag und Sünndag. Ick will de Öllern düchdig helpen, de Kinner god uptotrecken.« »Scholmester, Scholmester, ick ra'e[31] em god. Lat he sine Näs' davon! Dormit makt he blot böse Lüe und't helpt nix. Unse Lüe sind god, wenn ener jüm gewähren lett. Abers wenn ener jüm an den Wagen föhrt ... Scholmester, he is noch jung, he kennt de Buern noch nich.« »Bangemaken gelt[32] nich,« sagte Peter zuversichtlich. »De Lüe willt dat woll marken, dat ick dat god mit jüm und ehre Kinner meen.« »Und denn is da noch väl hen und her snackt. Dat den frömden Schoster sin Jung as de böberste[33] sitt, und Krischan Westermann sin, den grötsten Buern in't Dörp sin, as ünnerste ...« »Kann ick wat darto, dat de Schoster 'n D und de grötste Buer 'n W in sinen Namen hett?« fragte Peter. »So is dat niemals Mode wän,« sagte Clas Mattens ernst. »Süh, Scholmester, unse Herrgott hett dat so inricht, dat't Kaiser und Könige und Edellüe und Börger und Buerslüe in de Welt giwt. Und unse Herrgott hett dat ok inricht', dat't in de Dörper Buern und Anboer und Hüsselüe[34] giwt. Dor kann he nix an ännern.« »Will ick ok nich. Aber deshalw kann den Schoster sin doch baben sitten in de Schol.« »Dat is Revolutschon.« »Revolutschon!?« »Jawoll. Wat is Revolutschon denn anners as wenn dat, wat nah ünnen hört, nah baben kummt, und wat nah baben hört, nah ünnen. So 'ne Grappen as de, dat he nu up'n Mal de Kinner anners setten well, as dat van Adam sine Tieden her begäng[35] wän is, de stammt ok van dat dulle Jahr achtunveertig.« »Dor mögt ji woll recht hewn, Mattens Vader. Van dat Johr stammt öwerall väl Godes.« »Godes?« Der Bauer machte ein bedenkliches Gesicht. »Scholmester, ick ra'e em god, spräk he sökke Ansichten nich vör de Lüe ut! So wat mögt wi Buern up'n Lanne nich hören.« »Na, de Revolutschonstied hett doch för den dütschen Buernstand ok väl brocht. Dar hett de Erbuntertänigkeit uphört und ...« »Erbuntertänigkeit? So lange as de Heide bläuht und de Wind weiht und de Hahn kreiht, sünd wi Lüneborger Buern kenen unnerdan wän as den Herrgott in sinen hogen Hewen[36]. Nee, lütte Scholmester, mit sökke Geschichten mutt he uns nich kamen! Daför sünd wi to klok, und mit den olen Demokratenkram wöt wi nix to don hewn. Ick ra'e em god, richt' he sick nah't Dörp und föhr he keene neen Moden in! Dormit schad't he sick man sülwst. Und mi ok. Ick heww em ja 'ranhalt, und wenn dat mal mit em nich so inslan schöll, as ick dat höpen[37] do, denn krieg' ick de Nackensläg.« Claus Mattens griff nach seinem Nacken, als ob er die Schläge schon fühlte. Peter ging von dieser Unterredung nachdenklich nach Hause. Die ersten Tage in Solten hatte er das Gefühl gehabt, daß es ihm leicht werden würde, sich in diese Welt der Bauern, die ihm plötzlich interessant geworden war, einzuleben. Heute war es ihm deutlich geworden, wie tief doch die Kluft war, die ihn von dem Empfinden dieser Leute trennte. Ganz konnte einer, der einmal etwas durch die Bücher in einer weiteren Welt zu Hause geworden war, doch in dieser engen Welt eines Bauerndorfes nicht wieder heimisch werden. Da er aber gelernt hatte, von sich und seinem Berufe etwas kleiner und von dem ihn umgebenden Leben größer zu denken, so nahm er sich vor, so weit es ihm möglich wäre, dem Hergebrachten und den Wünschen der Gemeinde Rechnung zu tragen. Und als er sich ins Bett legte, war er bereits entschlossen -- am nächsten Tage die Kleinen nach der Ordnung: Bauern-, Anbauer- und Häuslingskinder umzusetzen. Dem gegenüber, was ein ganzes Dorf als das Selbstverständliche, Natürliche, weil Althergebrachte, ansah, seine eigene Ansicht durchzudrücken, war Trinas Stiefsohn und Schulmeister Wenckes Zögling denn doch nicht Charakter genug. Und andererseits war er zu klug und kannte die Bauern zu gut, um nicht zu wissen, daß er mit Hartnäckigkeit in dieser Lappalie den Erfolg seiner Berufstätigkeit in Solten gleich am ersten Tage aufs Spiel setzte. Außerdem war die Beweisführung des alten Bauern nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben. Er war ja auch selbst der Sohn eines der konservativsten deutschen Stämme. Und wenn er auch ein Wörtlein für achtundvierzig geredet hatte, so hatte er einfach nachgeschwatzt, was er irgendwo einmal gelesen hatte. Er wußte weder, um was es sich damals gehandelt hatte, noch, was dabei herausgekommen war. Von Politik hatte er überhaupt nicht die geringste Ahnung. Ihre bewegenden Fragen wirklich kennenzulernen, dazu fehlte es ihm an Anleitung und Gelegenheit. Und auf ein paar leicht aufgeschnappte Schlagworte zu leben und zu sterben, dafür war er schon zu reif. Kurz und gut, am nächsten Morgen nahm er die Umordnung vor. Die Kinder waren damit einverstanden, und das Dorf sehr befriedigt. »'n düchdigen Scholmester,« hieß es, »he is nich so'n Hornoss', de mit den Kopp dör de Wand well. He well noch wat toleern[38].« Als Claus Mattens den jungen Schulmeister zuerst wiedersah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und sagte: »Ick heww mi doch nich in em irrt. He hett Charakter.« Peter sah ihn verwundert an. Daß er in dieser Sache nun gerade viel Charakter gezeigt haben sollte, war ihm neu. Die ganze körperliche Kraft der Jugend, den vollen Schwung eines jugendlichen Idealismus hatte der junge Lehrer nach Solten nicht mehr mitgebracht. Eine gewisse körperliche und seelische Müdigkeit lag vielmehr auf ihm. Er vergaß sie, wo seinem suchenden Geist sich etwas Neues zum Erkennen bot. Aber in dem täglich wiederkehrenden Einerlei des Schulbetriebes fühlte er sie, da drückte sie auf ihn. Unter diesem Druck war die Gefahr groß, daß er mit der Zeit in den alten Schlendrian des Unterrichtens zurückfiel, in den er bei Schulmeister Wencke im zweiten Jahre, nachdem der Reiz des Neuen verflogen, schon ziemlich tief hineingeraten war: daß er sich nämlich begnügte, den Text der biblischen Geschichten stumpfsinnig einzuprägen und abzufragen, mit dem Landeskatechismus das gedruckte Frage- und Antwortspiel zu treiben, das Lesen nach der Seite der rein mechanischen Fertigkeit zu betreiben usw. Der eingesessenen Soltener Schuljugend gegenüber hätte er dabei sein Gewissen mit der Zeit beruhigt. Die säßen ihre Stunden und Jahre ab, um konfirmiert zu werden und dann möglichst schnell alles zu vergessen, so hätte er sich wohl vorgeredet. Nun war da aber in der Schule ein Augenpaar, das gehörte nicht einem Leib, der seine Stunden absaß, sondern einer Seele, die hungrig war, die etwas verlangte. Den Eindruck hatte Peter am ersten Tage gewonnen, und er wurde ihn nicht wieder los. Es war, als ob diese Augen ihm zuriefen: Schulmeister, laß dich nicht gehen. Hüte dich vor dem Schlendrian. Bereite dich ernsthaft vor. Komm nicht mit dem alten abgeleierten Formelkram ... Schulmeister, das war heute mal schwach. Das hast du nur so dahingeschwatzt, um die Stunde auszufüllen ... Schulmeister, in dieser biblischen Geschichte liegt viel mehr drin, als du herausgeholt hast. Dieses und Ähnliches las Peters Gewissen in den dunklen Augen des Kindes und konnte darüber nicht einschlafen. Indem aber Peter sich zusammenraffte, um dem einen Kinde etwas zu geben, gab er auch den andern mehr. Er merkte bald selbst, daß sein Unterricht Interesse weckte. Hier und da bekam ein Augenpaar einen lebhafteren Ausdruck. Hin und wieder erhielt er gute Antworten von Kindern, von denen er sie nicht erwartet hatte. Es war doch ein anderes Unterrichten, als früher in Schulmeister Wenckes Manier. Und vor allem auch für sich selbst gewann Peter etwas, indem er sich zwang, es mit der Vorbereitung ernst zu nehmen und in der Stunde seine Kraft einzusetzen. Er bemerkte mit Verwunderung, wie ihm an den alten Unterrichtsstoffen, die er längst an den Schuhen abgelaufen zu haben glaubte, ganz neue Seiten aufgingen, wie ihm dabei Gedanken kamen, die ihn selbst überraschten und die ihm persönlich wertvoll wurden. Vor allem erging's ihm so mit den biblischen Geschichten. Als Jungen, und auch noch als jungen Schulmeister in Wehlingen, hatte ihn bei diesen besonders das Fremdartige, Wunderbare, das von seiner Umgebung und von dem gewöhnlichen Lauf der Dinge Abweichende interessiert. Das trat jetzt zurück. Er sah hier jetzt Menschen vor seinen Augen irren und zurechtkommen, leiden und jubeln, wachsen und werden, kämpfen und siegen. Immer wieder mußte er sich über den Lebensreichtum der evangelischen Erzählungen und Gleichnisse wundern. Das war nicht das Leben seiner Bauern und auch nicht das Leben seiner Bücher. Aber Leben war's, echtes, rechtes Leben, das fühlte er immer wieder. Und all dies Leben, das wurde ihm immer deutlicher, ging von ~einer~ Quelle aus, von Jesus Christus. Der hatte es so reich und stark in sich und nahm es immer wieder aus verborgenen Tiefen. Und seine Freunde konnten nicht von ihm loskommen. »Herr, wohin sollten wir gehen?« fragten sie, »du hast Worte des ewigen Lebens.« Und was wurden sie in dem Verkehr mit ihm, diese galiläischen Fischer und Bauern! Es war durchaus kein theologisches Interesse, was den jungen Schulmeister bei diesen Entdeckungen leitete. Es war vielmehr das Interesse des innerlich werdenden Menschen, der sich nach vollem, ganzem, tiefem Leben sehnt und sich dahin wendet, wo etwas diesem Lebenshunger Sättigung zu versprechen scheint. Es war das Wachsen einer Seele, die sich wie die junge Pflanze unwillkürlich dahin streckt, wo die Bedingungen des Wachstums, Licht und Luft und Wärme, vorhanden sind. * * * * * Als Peter etwa drei Wochen in Solten war, verspürte er eines Abends Lust, den Schuster einmal zu besuchen. Durch die Kinder hatte er auch an ihrem Vater Interesse bekommen. Und auch die Angst des hochwürdigen Herrn in Brundorf vor diesem Verführer machte den Wunsch in ihm rege, den gefährlichen Menschen kennenzulernen. So wollte er sich denn doch nicht von dem Herrn Vorgesetzten bevormunden lassen, daß er sich von ihm in seiner eigenen Schulgemeinde seinen Verkehr vorschreiben ließ. Er wartete die völlige Dunkelheit ab und machte sich dann auf den Weg. Das Haus lag etwas außerhalb des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe. Als er sich diesem näherte, tönte ihm Gesang entgegen. Schon wollte er umkehren, da verstummte der Choral, und er setzte seinen Weg fort. Als er vor der Tür ankam, hörte er drinnen einen Mann reden, im Gebetston. Neben dem nicht ganz schließenden Vorhang her sah er, daß eine größere Anzahl von Menschen in dem Zimmer auf den Knien lag. Da wandte er sich zum Gehen. Aber in eben diesem Augenblick schlug ein Satz des Gebets ganz deutlich an sein Ohr: »Bringe unsern jungen Schulmeister aus der Finsternis zu deinem wunderbaren Licht.« Peter lachte kurz auf, wandte sich schnell auf dem Hacken herum und machte, daß er von dem Hause fortkam. Dieser unverschämte Pechhengst! Diese unausstehlichen Pharisäer! Da lagen sie auf den Knien und beteten, wie weiland ihr Vorbild im Tempel: »Herr, wir danken dir, daß wir nicht sind wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Schulmeister.« Ha, diese Dunkelmänner wollten einen klug machen, der auf dem Seminar die Abgangsprüfung als Zweitbester bestanden hatte? Wie die Menschen doch bemüht waren, ihn zum Licht zu führen! Der Seminardirektor auf seine Weise, der Superintendent auf seine, und nun auch noch dieser Schuster! Wenn nur nicht das, was der eine für Licht hält, in den Augen des anderen gerade die allerdickste Finsternis wäre! Eine verrückte Welt! Da hält jedermann die armselige Tranfunzel, bei der er sich selbst vielleicht leidlich zurechtfindet, für das große Licht, das aller Welt leuchten soll, und hält alle die für Lichtfeinde und Dunkelmänner, die lieber ihrer eigenen Tranfunzel folgen wollen. Von dem Wunsch, den Schuster kennenzulernen, war Peter geheilt. Am nächsten Morgen, als die beiden Kinder des Mannes vor ihm in ihren Bänken saßen, mußte er sie nachdenklich betrachten. Die hatten beide etwas Sonniges in ihrem Wesen. Auch der kleine Paul. Es war eine Lust zuzusehen, wie er mit muntern Äuglein und spitzen Fingern den Feinden, Buchstaben genannt, keck zu Leibe ging. Wie traurig, daß solche Kinder in dem Hause des Dunkelmannes dahindämmern mußten! Nicht einmal eine Zuckertüte am ersten Schultage hatte der harte Mann dem kleinen Kerl gegönnt, und die hatte doch sogar er, Peter, seinerzeit bekommen. Er nahm sich aufs neue vor, ihnen wenigstens in der Schule zu geben, was irgend in seinen Kräften stände. Was denn? fragte er sich. Auch wieder -- Licht. Da mußte er lachen. Das steckte in den Menschen doch einmal unausrottbar drin, daß sie einander Licht bringen wollten. Und es war vielleicht auch gut, wenn auch die Unvollkommenheit der menschlichen Natur es mit sich brachte, daß die Menschen so verschieden darüber dachten, was nun eigentlich das Licht sei. Aber es war doch wohl gut, daß die Menschen das, was sie für das Beste hielten, einander gönnten. Wie er sich die Sache so überlegte, konnte er auch über den Schuster nicht mehr ganz so hart urteilen, als er es gestern abend getan hatte. * * * * * Eines Tages im Herbst, als Peter eben den Unterricht begonnen hatte, klopfte es an die Tür, und ehe er Herein rufen konnte, trat der Superintendent in die Schulstube. »Guten Morgen, lieber Eggers,« sagte dieser, indem er sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. »Sie sind nun schon fast ein halbes Jahr hier. Da möchte ich doch mal sehen, wie's eigentlich bei Ihnen aussieht. Lassen Sie mich mal!« Peter trat bescheiden zwei Schritt hinter den Vorgesetzten zurück. »Na, Kinder, wollen mal biblische Geschichte nehmen. Wer erzählt mir vom Jüngling zu Nain?« Einige Finger hoben sich. Auch Schusters Lina zeigte auf, in ihrer stillen, sicheren Weise. Wenn er sie doch nur aufriefe! dachte Peter. Aber der alte Herr griff sich einen vierschrötigen Jungen, der die Geschichte denn auch auf seine Art ordentlich erzählte. Darauf sprach der Superintendent mit den Kindern von dem Jüngling, den sie so früh von der schönen Erde weg in das dunkle, schauerliche Grab tragen wollten, von der Mutter, die nur den einen Sohn hatte und eine arme Witwe war, von dem teilnehmenden Gefolge und von den anderen Einzelzügen, die dabei aus der schlichten Einfalt der evangelischen Erzählung in rührselige Breite gezerrt wurden. Zuletzt fragte er: »Nun sagt mir noch mal, Kinder, wie war also der Jüngling, als der Heiland ihn traf?« »Tot,« lautete die Antwort. »Gut, aber was für ein Tod ist das wohl gewesen?« Kein Finger rührte sich. Die Kinder machten dumme Gesichter und sahen bald den Fragenden, bald den im Hintergrunde stehenden Schulmeister an. »Dann will ich deutlicher fragen: ~Wie~ tot ist der Jüngling wohl gewesen?« Ein kleines Mädchen meldete sich lebhaft. »Nun, mein Kind« »~Ganz~ tot.« »So, glaubst du das wirklich?« fragte der alte Herr lächelnd. »Hast du schon jemals gesehen, daß ein Toter wieder aufgestanden ist?« Die kleine Unschuld schwieg. Sie hatte überhaupt noch keinen Toten gesehen. »Habt ~ihr~ das schon gesehen?« wandte der Superintendent sich an die ganze Schule. Keine Hand hob sich. »Na, also!« »Haben Sie das den Kindern nicht erklärt?« wandte der geistliche Herr sich an den jungen Lehrer. »Nein, Herr Superintendent ...« »Dann will ich's euch sagen. Paßt nur hübsch auf! Der Jüngling war schwer krank gewesen und zuletzt vor allzu großer Schwäche in einen Zustand tiefer Bewußtlosigkeit, in einen ganz festen Schlaf gefallen. Da meinte seine Mutter, er wäre tot, und bestellte die Beerdigung. Weil es bei solchen Leuten scheint, als ob sie tot wären, nennt man sie ~schein~tot. Als nun die Träger unterwegs den Sarg hinstellten, gab das schon einen Ruck, und als nun der Meister den Jüngling an der Hand zog und ihn laut anrief, erwachte er aus seinem Scheintode. Dergleichen hat man öfter gehabt.« Die Kinder waren ganz Ohr. Peter sah auf seine linke Stiefelspitze. »Nun wollen wir Katechismus nehmen,« sagte der Superintendent. »Frage 165: Wie hat man für seine Gesundheit zu sorgen?« Alle Kinder der ersten beiden Bänke zeigten auf, bis auf Schusters Lina. Wenn er nur das Unglückskind nicht faßte! Denn Peter hatte dem Mädchen das Nichtlernen des Katechismus stillschweigend so hingehen lassen. Richtig, da hat er sie schon. »Du, da, die zweite auf der zweiten Bank!« Lina stand auf, sah vor sich nieder und schwieg. »Das weißt du nicht? Und alle auf deiner Bank zeigen die Finger. Schäme dich, du großes Mädchen, setz dich!« Ihre Nachbarin gab die Antwort. »Durch gesunde Speise und Trank, durch Mäßigkeit in Essen, Trinken und Schlafen; durch Mäßigung aufwallender heftiger Gemütsbewegungen, durch Arbeitsamkeit, Vorsichtigkeit, und durch die, auch zu unserer Empfehlung bei anderen Menschen unentbehrliche Reinlichkeit.« »Gut. Wie sagt der weise Sirach darüber?« Ein Junge schrie die Antwort: »Mein Kind, prüfe, was deinem Leibe gesund ist, und was ihm ungesund ist, das gib ihm nicht.« »Gut. Nun aber du noch mal, du Faule da, so billig können wir dich nicht laufen lassen. Warum haben wir unseren Gliedmaßen eine gewisse Leichtigkeit und Gewandtheit zu nützlichen Arbeiten zu verschaffen?« Lina stand wieder auf und sah verlegen vor sich nieder. Peter wagte die bescheidene Bemerkung, den kleinen Katechismus Luthers könnte das Mädchen sicher und gut. »Das genügt mir nicht,« sagte der Superintendent kopfschüttelnd. »Gerade auf den Abschnitt unseres Landeskatechismus, der von dem pflichtmäßigen Verhalten gegen uns selbst handelt, lege ich besonderen Wert. Lassen Sie das Kind nachher zurückbleiben und das lernen, was es nicht gewußt hat.« Ein anderes Mädchen mußte die ausstehende Antwort geben: »Wir erleichtern uns dadurch unsere Berufsgeschäfte, daß sie uns schneller und besser vonstatten gehen, und machen uns bei anderen angenehm.« »Gut, mein Kind. Einen schönen Vers dazu. Finger weg! Im Chor!« Die Kinder standen auf und schrien: Gesunde Glieder, muntre Kräfte, Wieviel sind die, o Gott, nicht wert! Wer taugt zu des Berufs Geschäfte, Wenn Krankheit seinen Leib beschwert? Ist nicht der Erde größtes Gut Gesundheit und ein froher Mut? So laß mich denn mit Sorgfalt meiden Was meines Körpers Wohlsein stört, Daß nicht, wenn meine Kräfte leiden, Mein Geist den innern Vorwurf hört: Du selbst bist Störer deiner Ruh, Du zogst dir selbst dein Leiden zu! Darauf prüfte der Superintendent noch kurz im Lesen, Schreiben und Rechnen. Die »Realien« standen noch nicht auf dem Stundenplan einer Dorfschule. Nachdem er sich zum Schluß einen Choral hatte singen lassen, sagte er freundlich: »Nun sollt ihr für heute frei haben. Macht, daß ihr nach Hause kommt!« Lina sah fragend ihren Lehrer an, der aber gerade in anderer Richtung blickte. Einen Augenblick zögerte sie, dann ging sie mit den anderen hinaus. Als das Geklapper der Holzschuhe verhallt war, klopfte der Superintendent dem jungen Schulmeister auf die Schulter und sagte: »Ich bin im ganzen mit Ihren Leistungen zufrieden. Das wird schon werden. Sie müssen nur in der biblischen Geschichte nicht vergessen, den Kindern die Sachen vernünftig zu erklären. Sonst verdunkeln wir damit wieder, was wir in anderen Stunden aufklären. Und im Katechismus müssen Sie alle Kinder gleichmäßig im Auge haben. Das darf nicht vorkommen, daß ein so großes Mädchen gänzlich versagt. Sie nannten vorhin Luthers Katechismus. Nun, ich verkenne natürlich nicht, daß Luther für seine Zeit ein ganz tüchtiger Mann gewesen ist. Aber sein Katechismus ist im Grunde heute doch veraltet. Es ist auch bezeichnend, daß unsere neuesten Pietisten sich gerade auf ihn berufen, um uns in das von ihm nicht überwundene finstere Mittelalter zurückzustoßen. Sehen Sie, wir haben Männer wie Röhr und Wegscheider, und Teller und Gabler, und auch der Verfasser unseres Landeskatechismus gehört zu ihnen, die sein Werk für unsere Zeit fortgesetzt und vollendet haben. Um noch einmal auf Luthers Katechismus zurückzukommen, wo finden Sie da etwas, was dem Abschnitt unseres Landeskatechismus ›Vom pflichtmäßigen Verhalten gegen uns selbst‹ an die Seite zu stellen wäre?« »Herr Superintendent, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, es will mir scheinen, als ob die Dinge, die in diesem Abschnitt abgehandelt werden, zum Teil eigentlich mit der christlichen Religion so ganz viel nicht zu tun hätten.« »Das verstehen Sie nicht, mein lieber Eggers, weil Sie nicht studiert haben ... Sehen Sie, in der alten Religion grübelte man stets über Dinge nach, die wir nicht wissen und nicht wissen können. Da ist es nun gerade der Vorzug der Religion der Aufklärung, daß sie durchaus praktisch gerichtet ist, daß sie sich um das wirkliche Leben kümmert und dafür allerhand nützliche Lehren gibt. Sie werden bemerkt haben, wie ich mich Sonntag für Sonntag bemühe, den biblischen Texten praktische Seiten abzugewinnen, was wirklich zuweilen gar nicht leicht ist. Wenn Sie sich daran ein Beispiel nehmen wollen, werden Sie Ihren Religionsunterricht immer praktischer und fruchtbringender zu gestalten lernen. Nun aber, wie gesagt, im allgemeinen bin ich wirklich sehr mit Ihren Leistungen zufrieden. Und was nicht ist, das wird schon noch werden ... Apropos, was machen denn unsere hiesigen Dunkelmänner?« Peter sagte, er hätte den Schuster erst einmal gesprochen, am ersten Schultage, als er seinen Sohn gebracht habe. »Hat er auch schon ältere Kinder in der Schule?« fragte der alte Herr interessiert. »Eins,« sagte Peter kurz. »Wie machen seine Sprößlinge sich denn?« »Gut. Es sind tüchtige und fleißige Kinder.« »Naja, wir wollen hoffen, daß die Schule ihnen die Rückständigkeiten aus dem Kopfe herausbringt, die ihnen zu Hause hineingesetzt werden. Haben Sie auf die Kinder besonders acht! Na, nachher kriege ich sie ja auch noch, im Konfirmandenunterricht ... Haben Sie etwas gemerkt von heimlichen Wühlereien und Winkelversammlungen?« »Och, Herr Superintendent, es widerstrebt mir, dahinter her zu spionieren. Ich denke immer: Was die Menschen so in ihren Häusern treiben, das geht dich nichts an. Ich möchte auch nicht, wenn einer sich darum kümmerte, was ich zwischen meinen vier Wänden treibe.« »Es handelt sich aber hier um unerlaubte, heimliche Zusammenrottungen,« sagte der Superintendent mit einem verwunderten Blick auf den jungen Schulmeister. »Wenn der Schuster sich einige gute Freunde einladen will, um mit ihnen zu singen und zu beten, was ist dagegen zu sagen?« »Dagegen ist zu sagen, daß zum Singen und Beten die öffentlichen Gottesdienste in der Kirche eingerichtet sind. Ich muß jetzt gehen, damit meine Frau nicht mit dem Essen auf mich zu warten braucht. Vergessen Sie aber nicht, mein Freund, daß Kirche und Schule gemeinsam berufen sind, über dem Wohl und der Gesundheit des Volkslebens zu wachen. Und lassen Sie sich nicht verführen! Bleiben Sie ein geistig freier und aufrechter Mensch!« Der alte Herr hatte Hut und spanisches Rohr genommen und ging. Peter gab ihm über den Hof bis an die Straße das Geleit. Nachdenklich ging er dann nach seinem Hause zurück. Alle diese Menschen, der Superintendent, der Schuster, Claus Mattens, lebten zusammen in einer kleinen Heidegemeinde, fernab von der großen Welt, aßen dasselbe Brot, tranken dasselbe Wasser, und doch lebte jeder von ihnen in seiner eigenen Welt, ohne den anderen und seine Welt zu kennen. Und alle waren sie bemüht, ihn, den Unfertigen, der sich noch nicht irgendwo festgesetzt hatte, zu sich herüberzuziehen, der eine durch sein Gewicht als Vorgesetzter, der andere durch seine Bauernklugheit, der dritte durch sein Gebet. Eine wunderliche Welt! Peter schüttelte den Kopf. Wie leicht wurde der alte Herr mit den Dingen fertig, die er selbst für die schwersten hielt! Der sagte einfach: »Ich habe das studiert; ich muß das wissen. Und Sie haben nicht studiert; folglich verstehen Sie nichts davon.« Wenn es mit der Religion nicht mehr auf sich hat, als dieser studierte Herr sich darüber zusammenstudiert hat, dann weg damit, lieber heute als morgen, aus der Schule, und aus dem Leben auch. Aber etwas mehr sitzt doch wohl dahinter ... Oder wenigstens ursprünglich ist's mehr gewesen ... Darüber würde wohl die Bibel am besten Auskunft geben können, die ja damals geschrieben ist. Will mich doch einmal danach umtun, unbekümmert darum, was Kirchenleute und Schuster nachher aus dem Ursprünglichen gemacht haben. Interessant ist und bleibt die Sache nun doch einmal. Wenn unsereiner nur Lesen, Schreiben und Rechnen pauken sollte, es wäre ja, um aus der Haut zu fahren. Hierbei kann man doch einmal warm werden, kann seinen Kindern mal ans Herz kommen ... Wenn unter eine Spatzenschar ein Spatz kommt, der etwas anders aussieht als die anderen Spatzen, dann hacken diese so lange auf ihm herum, bis er tot ist. Ein Spatz soll eben ein Spatz sein, von der alten guten Spatzenart. Jede Abweichung davon ist ein todwürdiges Verbrechen. Die Rolle eines solchen unglücklichen Vogels spielten unter der Soltener Schuljugend die Schusterskinder. Warum hatten die dunkle Augen? Warum kamen sie nicht mit Holz- sondern mit Lederschuhen zur Schule? Warum balgten sie sich nicht wie die anderen? Warum kamen sie abends nicht zum Spiel? Warum machten sie sich durch ihre Streberei bei dem Schulmeister so beliebt? Kurz, warum waren sie anders als die anderen? Das konnte die Schuljugend nicht hingehen lassen, und wo sie konnte, wischte sie den Fremden eins aus. Und sie hatte dabei das allerbeste Gewissen von der Welt. Sie war überzeugt, damit die Sache der Heimat gegen das Fremde, ja die der Kirche gegen die Abtrünnigen zu vertreten. Ja, sie war eben auch ein getreues Abbild der großen Welt, die Schule in Solten. Peter hatte einige Male den Stock gebraucht, als er von diesen Hänseleien und Quälereien etwas gemerkt hatte, aber damit die Sache nur schlimmer gemacht. Nur daß die Bösewichter jetzt vor den Augen des unbegreiflich parteiischen Lehrers sich hüteten, wenn sie ihrer guten und gerechten Sache weiter dienten. Peter war jetzt fünfviertel Jahr in Solten. Er hatte sich gut eingelebt, und die Leute hatten ihn gern. Er fühlte sich wohl im Dorfe und brachte auch die Ferien dort zu. Nach Hause zu gehen, konnte er nicht mehr über sich gewinnen, seitdem der Vater ihm öffentlich im Wirtshause von Brunsdorf Undankbarkeit für die empfangene Wohltaten vorgeworfen hatte. Von der bei Clas Mattens geliehenen Summe hatte er bereits einen Teil zurückgezahlt. Am Abend vor dem Wiederbeginn der Schule nach den Sommerferien sah Peter zu seiner Verwunderung den Schuster auf sein Haus zukommen. Er hatte sonst keine Beziehung zu ihm, als daß er sich von ihm seine Schuhe flicken und besohlen ließ. Was mochte der Mann wollen? Wollte er einen Bekehrungsversuch machen? Peter nahm sich die größte Kühle und Zurückhaltung vor. Er schlug sein dickstes Buch auf und begann irgendwo zu lesen. Es klopfte. Peter schwieg. Es klopfte noch einmal. »Herein,« sagte Peter wie aus dem tiefsten Nachdenken heraus. »Guten Tag, Herr Lehrer.« »Guten Tag,« sagte Peter tonlos und las seinen Satz zu Ende. Dann wandte er sich langsam herum und fragte kühl: »Was wünschen Sie?« »Herr Lehrer,« sagte der Schuster, wobei er in großer innerer Erregung die Mütze zwischen den Händen drehte, »meine Kinder müssen von den anderen Kindern im Dorfe viel leiden. Aber ich habe bis jetzt immer dazu still geschwiegen. Denn es steht geschrieben: Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr. Aber, Herr Lehrer, heute darf ich nicht schweigen. Denn wenn Menschen schweigen wollten, müßten die Steine schreien.« »Was ist denn passiert?« fragte Peter. »Machen Sie doch nicht so viele Worte!« Der Schuster erzählte nun kurz und sachlich, seine Tochter Lina hätte mit dem kleinen Paul diesen heißen Nachmittag unten in den Wiesen das letzte Heu trocken gemacht, das wegen der Regenzeit nicht eher hätte eingebracht werden können. Und da hätten die beiden wegen der großen Hitze sich in der Aue gebadet. Während sie im Wasser waren, wären ein paar Jungens gekommen, die von ihnen unbemerkt im Gebüsch geangelt hätten, und hätten Linas Kleider versteckt und sich dann von ihrem Gebüsch aus an der Verlegenheit des Mädchens geweidet und ihr häßliche Worte zugerufen. Paul hätte lange suchen müssen, bis er die Kleider wiedergefunden hätte. Und seine Tochter läge nun im Bette, müsse in einem fort krampfartig weinen und wolle sich gar nicht beruhigen lassen. Peter war aufgefahren und fragte zornblitzenden Auges: »Wer hat das getan?« »Erkannt haben meine Kinder,« sagte der Schuster, »nur Westermanns Johann. Aber es ist noch ein anderer dabeigewesen.« »Gut,« sagte Peter, »ich werde die Buben schon herauskriegen und sie dann in einer Weise bestrafen, daß Sie zufrieden sein sollen.« Der Schuster sagte sanft: »Ach, Herr Lehrer, es ist ja nicht um meinetwillen. Es ist doch nur der armen Jungen wegen, daß die nicht so auf dem Weg des Verderbens weitertaumeln.« »Meinetwegen können Sie's auch so ansehen,« sagte Peter, unangenehm berührt. »Übrigens, ... es tut mir sehr leid, daß gerade Ihre Lina von einer solchen Bosheit und Schändlichkeit betroffen ist. Ich kann mir denken, wie sie das mitgenommen hat. Sie ist so ein feines, zartfühlendes Kind. Überhaupt eigentlich meine liebste Schülerin.« »Das freut mich, Herr Lehrer,« sagte der andere, »Lina erzählt uns auch immer viel Schönes vom Herrn Lehrer, aus der biblischen Geschichtsstunde.« »So? Das freut mich! In diesen Stunden habe ich auch am meisten Freude an ihr. Sie hat so eine feine Art, die biblischen Geschichten zu erzählen, die einem wohltut.« »Ach ja,« sagte der Schuster und hielt den Kopf ein wenig schief, »sie hat den Herrn Jesum recht lieb, und es freut mich, daß wir einen Lehrer haben, der auch auf das eine, was not ist, hinarbeitet. Die Geschichte, wo der Herr dies zu der Maria und Martha sagt, ist ja die erste gewesen, die der Herr Lehrer sich hier in Solten haben erzählen lassen.« »Ach ja,« sagte Peter, »das machte sich so zufällig.« »Ich dachte,« fuhr der andere fort, »der Herr Lehrer hätten uns wohl schon einmal besucht.« »Ich war auch schon einmal auf dem Wege,« sagte Peter, »aber ich glaubte zu stören.« »Warum?« »Sie hatten die ganze Stube voll Menschen und sangen und ...« »Ach so, dann war das an einem Mittwochabend. Ja, da sind immer einige Brüder und Schwestern bei uns, und wir betrachten Gottes Wort ... Aber wenn der Herr Lehrer uns sonst mal besuchen will, dann stört er nie ... Oder wenn er auch mal an unseren Versammlungen teilnehmen will? ...« »Ich danke,« sagte Peter kurz und schroff, »ich fürchte, zu Ihren Freunden passe ich nicht.« »Nichts für ungut, Herr Lehrer! Es war nicht böse gemeint ...« »Weiß ich, weiß ich. Wir Menschen sind eben verschieden ...« Der Schuster ging. Peter blieb nachdenklich zurück. War ihm der Mann sympathisch oder unsympathisch? Seine höfliche Art, das ewige »Herr Lehrer« berührte den an die einfache Anrede »Scholmester« Gewöhnten fremdartig. Mit den vielen biblischen Redewendungen in seiner Sprechweise machte er ihm den Eindruck eines Menschen, der auf Stelzen geht, statt auf den eigenen gesunden Füßen. Aber trotzdem war in seiner Art und auch in seinem Gesicht etwas, was Peter zweifelhaft machte, ob er ihn kurzerhand als einen Frömmling und Pharisäer abtun dürfte. Er fühlte, daß dieser Mann gegen den Strom schwamm, daß er anders war, als die anderen. Solche nannten die Menschen dann gleich Pharisäer, was ja -- so hatte er auf dem Seminar gelernt -- »Abgesonderte« hieß. Auch er selbst hatte diesen Titel auf dem Seminar einmal bekommen, weil er ja auch mehr seine eigenen Wege ging. Der Schuster hatte die feine, stille Art seines Kindes damit erklärt, daß sie den »Herrn Jesum recht lieb« habe. Das klang ja nun recht pietistisch und hatte Peter sehr fremdartig berührt, und die schiefe Kopfhaltung des Mannes bei diesen Worten erst recht. Aber, indem er jetzt darüber nachdachte, erschien die Sache selbst ihm doch gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Warum sollte nicht ein Kindesherz dem Menschensohn, wie sie ihn das letzte Jahr aus seinen Worten und Gleichnissen kennengelernt hatten, etwas wie Liebe entgegenbringen? Und warum sollte dieses freundliche, holde Bild nicht auf eine Kindesseele schließlich einwirken? -- Auch er, der Lehrer selbst, hatte ja gegenüber dieser Gestalt, die in solchen Stunden vor ihnen stand, etwas empfunden. Liebe würde er es gerade nicht nennen. Eher Bewunderung, Ehrfurcht oder so ähnlich ... Aber vielleicht konnte man es auch Liebe nennen. Man mußte dieses Wort dann nur anders verstehen, als es gewöhnlich im Leben gebraucht wurde. Wenn der Schuster davon sprach, klang das etwas süßlich und weichlich. Das mußte heraus. Dann war eigentlich nicht so viel dagegen zu sagen. Peter dachte plötzlich wieder daran, wie schändlich man diesem Kinde mitgespielt hatte. Da packte ihn ein großer Zorn, und er ging auf den Hof und schnitt sich ein paar tüchtige Eichenstöcke. Swiebertsbauer kam zufällig darauf zu und fragte: »Na, Scholmester, wat will he denn mit de Eken?« »Tweislan[39] up den Puckel[40] van böse Buben,« sagte Peter grimmig. »Scholmester, nehm he lewer Barken, de sünd daför wussen.« »Barken, de dot't düttmal nicht. Dor möt de Eken ran.« »Wer schall de Släg denn hewn?« »Wer se verdeent hett.« »De armen Jungs ...« * * * * * Als Peter am nächsten Morgen in die Schulstube trat, suchte sein erster Blick Schusters Lina. Sie fehlte. »Wo ist deine Schwester?« fragte er den kleinen Paul. »Im Bett,« sagte der, »is krank.« Über die Gesichter einiger großer Jungens ging ein verstohlenes Grinsen. »Johann Westermann, komm eben mal mit in meine Stube!« sagte Peter. Der Junge kam frech mit seinen Holzschuhen angeklappt. Als Peter ihn in seinem Zimmer allein hatte, trat er dicht vor ihn hin: »Hast du gestern nachmittag Linas Kleider versteckt?« Der Junge sah ihn dreist an und sagte stramm: »Nein.« Peter öffnete die Tür zum Schulzimmer und rief Paul heraus. Er stellte dem großen Jungen den kleinen gegenüber und fragte diesen: »Ist der hier gestern bei euch in den Wiesen gewesen?« »Ja,« sagte Paul. »Weißt du's ganz gewiß? Hast du ihn selbst gesehen?« »Ja.« »Dann gehe wieder in die Schulstube.« Als Paul die Tür hinter sich geschlossen hatte, packte der Lehrer den großen Jungen im Kragen, warf ihn über den Stuhl und schlug ihn, so fest er konnte und solange seine Kraft vorhielt. Dann riß er ihn wieder in die Höhe und fragte mit heiserer Stimme und außer Atem: »Wer war der andere?« Der Junge biß sich auf die Lippen und schwieg. »Was, du willst auch noch trotzen?« schrie Peter in Wut. »Willst du's mir sagen oder nicht?« »Nee,« sagte der Junge. Da packte Peter eine namenlose Wut. Er griff dem Jungen an die Kehle, warf ihn auf den Boden und schlug mit dem Eichenstock auf ihn los, gleichgültig, wohin er traf. Dabei kreischte er: »Du sagst es mir, und wenn ich dich totschlagen soll.« Der Junge stieß und schlug und biß um sich, aber gegenüber dem immer rasender werdenden Zorn des Erwachsenen war er machtlos. Endlich gab er den Namen seines Kameraden preis. Da ließ Peter von ihm ab, stürzte in die Schule, riß Swieberts Georg aus der Bank. Wie der sich sträubte, packte er ihn ins lange Haar, und als er ihn endlich vor den Bänken hatte, schlug er blindlings auf ihn ein. Endlich mußte er erschöpft innehalten. Da sah er, daß eben die letzten Kinder sich entsetzt zur Tür hinausdrängten. Einige Knaben waren durch das Fenster gegangen und hatten dabei eine Scheibe zertrümmert. Peter ließ sein Opfer los und wankte keuchend an die Tür. »Hierbleiben!« schrie er mit heiserer Stimme, aber kein Kind wandte sich um. Von einer wilden Panik erfaßt, flüchtete die ganze Schar davon. Peter ging in die Schulstube zurück. Er war allein. Swieberts Georg hatte sich durch das Fenster davongemacht. Er sank auf einer Schulbank zusammen und preßte die Hände gegen die Schläfen, in denen das Blut hämmerte. So saß er und stierte eine Weile gedankenlos vor sich hin. Dann fühlte er plötzlich ein Würgen in der Brust und im Halse und wurde von einem schrecklichen Hustenanfall gepackt. Es schüttelte ihn, daß ihm das heiße Blut im Gesicht glühte und die Augen aus ihren Höhlen traten. Als der furchtbare Anfall ein wenig nachließ, wankte er in seine Stube und warf sich auf sein Bett. Allmählich kehrte ihm die Besinnung wieder. Da griff er sich in die Haare, und in ihm rief es: Was hast du gemacht? Was hast du gemacht? Er fühlte eine tiefe Scham und wühlte den Kopf in die Kissen. So lag er lange. Ein neuer Hustenanfall riß ihn in die Höhe, noch schrecklicher als vorhin. Er hatte das Gefühl, als könnte jeden Augenblick in seiner Brust etwas zerreißen. Als er sich endlich ermattet in das Bett zurückfallen ließ, kam es ihm zum Bewußtsein, daß er schwer krank war. Seit jenem kalten Trunk und seit jenem nächtlichen Rennen zum Arzt hatte er sich ganz gesund nicht mehr gefühlt. Seit längerer Zeit hatte er einen quälenden Husten, dessen Anfälle ihn sehr ermatteten. Er dachte an das bedenkliche Gesicht des Amtsphysikus nach der Untersuchung seiner Lungen. Kein Zweifel, es war dieselbe Krankheit, an der seine Mutter so jung gestorben war, die nun auch in ihm ihr langsames Zerstörungswerk verrichtete. Dieser Gedanke war ihm in dem letzten Jahre hier und da wohl schon gekommen, aber er hatte ihn, ausgenommen die Stunden, in denen er besonders innig an seine Tote dachte, immer wieder schnell davongescheucht. Das tat er heute nicht, sondern mit einer Art grausamer Wollust ging er ihm nach. Wenn der Husten ihn packte und schüttelte, wartete er auf einen Blutsturz und war beinahe enttäuscht, daß er ausblieb. Es wurde Mittag. Er spürte keinen Hunger und hatte schon beschlossen, auf die Mahlzeit zu verzichten. Aber da erwachte sein Trotz. Das konnten sie ihm im Dorf als Schwäche, als Bekenntnis eines Schuldgefühls auslegen. Er biß die Zähne aufeinander, das wollte er nicht. So raffte er sich auf, wusch sich, brachte das Haar in Ordnung, nahm seinen Stock zur Hand und ging erhobenen Hauptes, aufrecht, durch das Dorf nach dem Hofe, der ihn heute zu speisen hatte. Als er in das Haus trat, kam ein Dienstmädchen und wies ihn in eine kleine Altenteilerstube, die er sonst noch nicht betreten hatte. Hier trug sie ihm schnell und scheu das Essen auf. Sonst hatte er hier, wie in allen Häusern, mit der Familie am Tisch die Mahlzeit eingenommen. Er begann zu essen. Aber er brachte nur mit äußerster Anstrengung ein wenig hinunter. Als er sich eine Zeitlang gequält hatte, nahm er ein Stück Fleisch und einige Kartoffeln, wickelte sie in Papier und steckte sie in die Tasche. Er wollte den Leuten nicht verraten, wie dieser Morgen ihn mitgenommen hatte. Aus demselben Grunde setzte er die Füße hart auf und schlug die Türen kräftig zu, als er das Haus verließ. Auf dem Hofe sah er sich einmal um. Aus den Fenstern blickten ihm feindselige Gesichter nach. Auf der Dorfstraße sah er in der Ferne Clas Mattens daher kommen. Er freute sich, diesen zu treffen und ihm gegenüber sein Verhalten rechtfertigen zu können. Dieser konnte vielleicht dann auch die anderen wieder zur Vernunft bringen. Aber kurz bevor sie einander begegnen mußten, bog der Bauer auf ein Gehöft ab. Und als Peter vorbei war und sich umblickte, sah er, daß jener das nur getan hatte, um eine Begegnung zu vermeiden. Jetzt ging er schon seines Weges auf der Dorfstraße weiter. Den ganzen Nachmittag wurde er von widerstreitenden Gedanken hin- und hergeworfen. Bald lobte er sich, daß er den Bubenstreich so gründlich geahndet hatte. Bald wieder machte er sich schreckliche Vorwürfe, weil er sich so vergessen hatte. Bald glaubte er, in einem heiligen, gerechten Mannesstolz aufgelodert zu sein. Und dann wieder schämte er sich tief vor sich selbst. Bald hob er den Kopf, als ob er Kraft in sich fühlte, der ganzen Welt zu trotzen, um darauf wieder den Tod herbeizuwünschen, der ihn aus dem Kampf entrücken sollte. Ein wie trotziges, und denn doch wieder bis zum Äußersten verzagtes Ding das Menschenherz ist, das erfuhr er in diesen Stunden gründlich. Am Abend kam der Knecht des Gemeindevorstehers und brachte ihm einen Brief. Dieser enthielt die kurze Aufforderung des Superintendenten, am nächsten Morgen um acht Uhr vor ihm zu erscheinen. Peter schlief die Nacht über leidlich, fühlte sich am andern Morgen erquickt und war geneigt, seine Sache als eine Kleinigkeit anzusehen. Auch die Wanderung durch die frische Morgenluft tat ihm wohl, und als er bei der Wohnung seines Vorgesetzten anlangte, fand er beinahe Freude daran, sich vor diesem zu verantworten. Als er in seine Studierstube trat und ihm wie gewöhnlich die Hand zur Begrüßung reichen wollte, wurde er durch eine Handbewegung und durch ein kurzes »Setzen Sie sich« auf einen Stuhl verwiesen. »Ich habe Sie in einer sehr unangenehmen Sache herzitieren müssen,« begann der Superintendent, nachdem er seine Pfeife in die Ecke gestellt hatte. »Es waren einige Hausväter Ihres Dorfes bei mir, um im Namen der ganzen Schulgemeinde Beschwerde über Sie zu führen. Sie wissen wohl warum.« »Jawohl,« sagte Peter klar und bestimmt, »weil ich ihren sauberen Jungens die Prügel gegeben habe, die sie doppelt und dreifach verdient hatten. Haben meine Verkläger das auch gesagt?« »Ich habe natürlich den Ursachen der Züchtigung nachgeforscht, und da sind sie damit herausgekommen. Die Männer geben selbst zu, daß es eine Dummheit von den Kindern war.« »Eine Dummheit? ~Ich~ meine, eine Bosheit.« »Nun ja, ich gebe Ihnen gerne zu, es war kein schönes Stück, und eine mäßige Züchtigung war da wohl am Platze. Immerhin muß man bedenken, es handelt sich um Kinder. Bei ruhigem Blute besehen, war's schließlich doch wohl nur ein unschuldiger Kinderstreich.« »Herr Superintendent, ich muß Ihnen in aller Ehrerbietung widersprechen. Ich kenne meine Missetäter ganz genau. Von ›kindlicher Unschuld‹ kann bei denen wohl nicht gut die Rede sein. Ich bin auf dem Lande, nur vier Stunden von hier, groß geworden. Und wenn ich auch von jeher meine eigenen Wege gegangen bin, so weiß ich doch sehr gut, was bei unseren vierzehnjährigen Jungens von dem, was Sie ›kindliche Unschuld‹ nennen, zu halten ist. Aber ich würde nicht viel daraus gemacht haben, wenn nicht durch diesen Streich gerade ein Kind betroffen wäre, das in meiner Schule und im Dorfe schon seit langem einen schweren Stand hat, weil es begabter, zarter, empfindlicher ist, als die ganze andere Gesellschaft. Andere Mädchen meiner Schule hätten in solchem Falle vielleicht halbverschämt gekichert. Aber Lina Döhler ist darüber krank geworden. Darum, was anderen gegenüber vielleicht nur ein dummer Jungensstreich gewesen wäre, das war bei diesem Kinde einfach eine Gemeinheit.« »Es will mir scheinen, mein Lieber, daß die Bauern auch in dem anderen Beschwerdepunkt nicht ganz unrecht haben, daß Sie parteiisch wären und nicht alle Kinder mit dem gleichen Maß mäßen. Was bewegt Sie, die Tochter des Schusters vorzuziehen?« »Vorziehen? Ich bin mir nicht bewußt, sie vorgezogen zu haben. Ich versuche nur, jedes Kind nach seiner Eigenart zu behandeln. Das muß ich freilich sagen, ich bin froh und dankbar, daß ich diese Schülerin in meiner Schule habe. Ein solches Kind ist für den Lehrer nicht nur eine Freude, sondern geradezu ein Segen. Es zwingt ihn, sich zusammenzureißen und sein Bestes zu geben. Es bewahrt ihn davor, ein seichter Schwätzer zu werden ...« »Also Ihr Pflichtgefühl ist nicht stark genug, um Sie davor zu bewahren? Dazu brauchen Sie eine kleine niedliche Larve mit dunkelbraunen Augen?« »... Herr Superintendent!« »Wir schweifen zu weit ab. Ich habe Ihnen einige Fragen vorzulegen, die Sie mir kurz beantworten wollen. Warum schenken Sie diesem Kinde das Lernen des Katechismus?« Peter sah seinen Vorgesetzten betroffen an und schwieg. »Als ich im letzten Herbst Ihre Schule revidierte, ertappte ich dieses Mädchen darauf, daß sie zwei wichtige Fragen des Katechismus nicht konnte. Ich gab Ihnen auf, das Kind nachsitzen zu lassen. Man sagt mir, Sie wären dieser dienstlichen Weisung nicht nachgekommen. Wie steht's damit?« »Die Leute haben Ihnen recht berichtet.« »Haben Sie denn im Hause das Kind das Versäumte nachholen lassen?« »Nein,« sagte Peter kurz. »Warum nicht?« fragte der Superintendent scharf. Peter schwieg. »Na, dann will ich's Ihnen sagen. Außer einem anderen Grunde, der heimlich mitgespielt haben mag: weil Sie den Schuster mehr fürchten als mich, Ihren Vorgesetzten.« »Nein, Herr Superintendent,« sagte Peter, indem er sich aufrichtete, »sondern, weil ein Mädchen wie Lina Döhler es nicht nötig hat, die Pflichten gegen sich selbst aus dem Katechismusgeschwätz auswendig zu lernen.« Der Superintendent schlug mit der Hand auf den Tisch und rief: »Unerhört! Sie aufgeblasener Schulmeister Sie, der seine ganze Weisheit in einem Winter auf dem Seminar aufgesammelt hat, Sie wagen, unseren altehrwürdigen, bewährten Katechismus zu beschimpfen? Unerhört! Ja, wenn Sie ihn selbst nur besser kennten und beherzigten! Gerade in den Sätzen, um die es sich bei Ihrer geliebten Schülerin damals handelte, war, soweit ich mich erinnere, die Rede von ›Mäßigung aufwallender, heftiger Gemütsbewegungen‹. Hätten Sie sich diese Worte hinter die Ohren geschrieben, statt in ihrem schulmeisterlichen Dünkel darüber zu Gericht zu sitzen, dann hätten Sie sich nicht soweit vergessen können, in blinder Wut mit einem Eichenknüppel um sich zu schlagen und zu schreien: Ich schlage dich tot. Sie können Gott danken, daß es nicht wirklich zu einem Totschlag gekommen ist. ~Ihr~ Verdienst war das jedenfalls nicht! Schämen Sie sich! Sie haben alle Ursache, die großen Worte, die Sie hier geführt haben, zu lassen und sich einmal gründlich zu demütigen. Na, nun husten Sie man nicht auf einmal so!« Peter hatte während der letzten Sätze seines Vorgesetzten einen Hustenanfall bekommen, der fast eine halbe Minute anhielt. Als er wieder Ruhe hatte, sagte er gequält: »Herr Superintendent, verzeihen Sie, ich bin schwer krank. Ich glaube, meine Krankheit ist auch mit schuld daran, daß ich mich so vergessen habe.« »Ach was! ~Sie~ krank? Sie haben sich in Solten tüchtig herausgemacht und sehen geradezu blühend aus. Solche faulen Entschuldigungen kann ich nicht gelten lassen. Wegen Ihrer Jugend und Unerfahrenheit will ich jedoch von weiteren Schritten absehen, erteile Ihnen aber wegen gröblicher Ueberschreitung des Züchtigungsrechtes und wegen Ungehorsams gegen einen Befehl Ihres Vorgesetzten hiermit eine scharfe Rüge. Außerdem lege ich Ihnen auf, mir binnen drei Tagen zu berichten: erstens, daß Sie die Väter der von Ihnen mißhandelten Kinder um Verzeihung gebeten haben, und zweitens, daß die Tochter des Schusters die Katechismusstücke, um die es sich bei der Revision handelte, inzwischen gelernt hat. Innerhalb sechs Wochen haben Sie weiter zu berichten, daß sie alles nachgeholt hat, was sie dank Ihrem freundlichen Entgegenkommen bisher hat versäumen dürfen. Endlich möchte ich Sie noch ersuchen, im dienstlichen Verkehr mit mir sich eines angemesseneren Tones zu befleißigen. Sie hätten heute öfter als einmal verdient, an die Luft gesetzt zu werden. Sie können jetzt gehen.« Der Rückweg nach Solten wurde Peter sauer. Er mußte sich mehrere Male an einen Baum lehnen. Zum Mittagessen ging er nicht in das Dorf. Der Reihetisch hätte ihn heute zu Westermann geführt, und dem wollte er lieber doch nicht unter die Augen treten. Er blieb auf seinem Zimmer und aß ein wenig von dem Brot, das die Häuslingsfrau, die ihm die Morgenmilch besorgte und sein Zimmer aufräumte, für ihn mitzubacken pflegte. Und dann kamen wieder die unendlich langen Nachmittagsstunden. Eine Arbeit, die ihm über sie hinweggeholfen hätte, vorzunehmen, war er nicht imstande. Er lag auf seinem Bett und mußte grübeln und grübeln. Grübeln über das Geschehene, wie gestern. Und grübeln, was nun werden sollte. Und dabei wurde er auch von den widerstreitendsten Gedanken hin und her geworfen. Bald war er entschlossen, dem Vorgesetzten zu trotzen, was auch daraus werden mochte. Dann wieder erwog er dessen Forderungen, und überlegte, wie er sie erfüllen könnte. Zu einem festen und dauernden Entschluß kam er nicht. Als er lange so einsam sich gequält hatte, kam ihm der Gedanke: Wenn du doch nur ~einen~ Menschen hättest, mit dem du dich beraten könntest. Aber mit wem? Mit Clas Mattens? Ja, es war gut mit ihm zu reden und zu beraten, solange man im Dorfe lieb' Kind war. Es war interessant und lehrreich, ihm zuzuhören, wenn er in seiner sachlichen und humorvollen Weise von den Dingen des bäuerlichen Lebens sprach. Aber für das, worum es sich jetzt handelte, fehlte ihm jedes Verständnis. Da war er einfach der Bauer, der mit den Bauern durch dick und dünn ging. Und diese alle hielten fest zusammen. Peter fühlte, daß er die Dorfgemeinde geschlossen gegen sich hatte. Und er empfand auch, dieser Gemeingeist war so stark, daß er selbst von den wohlwollendsten Männern unter diesen Umständen keine gerecht abwägende Beurteilung seiner Sache erwarten dürfte. Da dachte er an den Schuster. Wie seine Kinder in der Schule, so nahm er selbst in der Dorfgemeinde eine Ausnahmestellung ein. Ob er sich einmal mit ihm beraten sollte? Der Mann hatte ja auch die Menschen gegen sich gehabt und Kämpfe durchgemacht. Und um seinet- und seiner Familie willen war er, Peter, ja auch in diese böse Lage hineingekommen. Ohne Lina und Paul hätte er alle seine Lebtage in Solten so friedlich Schule halten können, wie der alte Wencke in Wehlingen. Sollte er versuchen, sich bei ihm Rat zu suchen? Nein, der Mann war doch zu wunderlich. Der redete dann wieder seine Sprache Kanaans und wollte alle Schwierigkeiten mit schönen Bibelsprüchen lösen. Aber je länger Peter grübelte und sich quälte, desto größer wurde sein Verlangen, einen Menschen, ein Menschenantlitz zu sehen und ein Menschenwort zu hören. Und endlich schrieb er ein paar Zeilen an den Schuster, in denen er ihn dringend bat, ihn noch heute abend zu besuchen. Diese übergab er dem Kinde seiner Aufwärterin, nebst einem Paar Stiefel, die besohlt werden mußten. Der Weg bis zur Wohnung des Mannes nahm zehn Minuten in Anspruch. So glaubte er, ihn in einer halben Stunde erwarten zu können ... Eine ganze Stunde war schon vergangen, und noch immer wartete er vergebens. Da nahm er, um die Zeit hinzubringen, seine Geige, stimmte sie sehr sorgfältig und begann zu spielen. Aber die gute Freundin war diesen Abend kalt und teilnahmlos. Sie machte wohl ihre Töne, aber es war keine Seele darin. Fast hart warf er das Instrument auf den Tisch. Nach einem Menschen sehnte er sich, nach einem Menschenauge und Menschenwort. Endlich -- es war inzwischen völlig dunkel geworden -- wurden draußen Fußtritte laut, und nach umständlichem Fußreinigen vor der Haustür trat der Erwartete ein. »'Abend, Herr Lehrer haben mich herbestellt,« sagte er förmlich und steif. »Was wünschen der Herr Lehrer von mir?« »Ach bitte, nehmen Sie doch Platz,« sagte Peter, »und lassen Sie mich erst Licht anzünden.« Als die Lampe brannte, fing er an, unruhig und gesenkten Hauptes in der Stube hin und her zu gehen. »Der Herr Lehrer sieht sehr angegriffen aus,« sagte der Besucher. »Kein Wunder, ich habe auch schreckliche Stunden hinter mir, die ich meinem schlimmsten Feinde nicht gönnen möchte,« sagte Peter, vor dem Manne stehenbleibend. »Ja,« sagte der Schuster und nickte still vor sich hin, »des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist.« Der erste Bibelspruch! dachte Peter. Er fuhr fort, die Stube zu durchmessen. Plötzlich blieb er wieder vor seinem Gaste stehen: »Was soll ich machen? Raten Sie mir!« »Sie müssen sich demütigen,« sagte der andere einfach. »Ach, gedemütigt bin ich heute genug. Ich war beim Superintendenten.« »Das nützt nichts. Sie müssen sich selbst demütigen ... vor Gott und Menschen ...« »Vor Gott?« »Ja, das ist die Hauptsache.« »Ja, mein Lieber, Sie reden immer so viel und schön von Gott, als ob Sie mit in seinem Rate säßen. Nun hören Sie mal zu, aber erschrecken Sie nicht zu sehr. Wir wollen mal ganz ehrlich sein. Was hilft es, sich und anderen Menschen was vorzumachen? An Ihren ›lieben Gott‹ glaube ich gar nicht. Ich habe auch wohl mal geglaubt, aber eine schreckliche Nacht meines Lebens hat mir meinen Glauben hingemordet.« »Soo? ... Das ist vielleicht gut.« »Das ist gut?« »Ja.« »Warum?« »Was Sie da verloren haben, war der wirkliche Gott gar nicht. Das war nur ein Götze, den Sie sich selbst in ihrem kindlichen Unverstand zurechtgemacht hatten, und meinten dann, dieser arme Götze könnte und müßte Ihnen nun alle irdischen und sündlichen Wünsche erfüllen. Und als er das nicht tat, warfen Sie ihn über Bord ... Wer den lebendigen Gott einmal gefunden hat, der kann ihn nicht wieder verlieren.« »Wer ist denn dieser lebendige Gott?« »Der Vater unseres Herrn Jesu Christi.« »Das habe ich tausendmal gehört, und bin damit nichts klüger als vorher.« »Lieber Herr Lehrer, ich weiß von meiner Lina, daß Sie unseren Herrn nicht verachten, daß Sie ihn auch liebhaben. Nun, der hat gesagt: Philippe, wer mich siehet, der siehet den Vater.« »Aber wie macht man's denn, daß man in ihm den Vater sieht?« »Das muß Gott uns blinden Menschen offenbaren. Niemand kennet den Vater denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren. Und niemand kennet den Sohn denn nur der Vater, und wem es der Vater will offenbaren.« »Ja, so jagt ihr uns ewig im Kreise herum, ihr klugen Schriftgelehrten ...« »Wissen Sie was, Herr Lehrer? Ich freue mich herzlich, daß Sie in diese Not hineingekommen sind.« »Darüber freuen Sie sich?« »Sie sagten vorhin, Sie hätten in einer schrecklichen Nacht Gott verloren. Und ich sage Ihnen, in einer noch schrecklicheren Nacht der Seele werden Sie den lebendigen Gott wiederfinden. Wenn der Wellen Macht in der trüben Nacht will des Herzens Schifflein decken, da wird er seine Hand nach Ihnen ausstrecken.« »Verstehen Sie sich auch aufs Prophezeien?« »Nein, aber ich weiß, Sie werden die Last, die Sie sich selbst aufgeladen haben, nicht eher los werden, als bis Sie sie auf Gott geworfen haben.« »Soo? Das meinen Sie ...« »Sie gehören überhaupt zu den Menschen, die nicht ohne Gott sein können. Sie haben auch schon in Ihren Kinderjahren Stunden gehabt, wo Sie ihm nicht ferne waren.« »Woher wissen Sie das?« »Das weiß ich nicht. Das fühle ich. Was ich aber wirklich fühle, das ist mir viel gewisser, als was ich mit dem Kopfe weiß. Sehen Sie, Herr Lehrer, bei welchen Menschen muß ich an das Wort des Apostels Paulus denken: Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Und bei welchen an das Wort des Kirchenvaters Augustin: Du hast uns zu dir geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in dir. Das unruhige Herz haben Sie schon. Schon lange haben Sie das Herz, das da dürstet nach dem lebendigen Gott wie ein dürres Land. Und seine Ruhe wird es noch finden ...« »Ja, wenn sie's mit Erde zudecken ...« »Nein ... schon früher ... vielleicht schon gar bald ...« »... Na ja ... aber ich habe Sie nicht hergebeten, um mit ihnen über theologische Spitzfindigkeiten zu streiten und mir Ihre Ahnungen erzählen zu lassen. Ich wollte Sie in meiner schwierigen Lage um Rat fragen.« »Darüber sprechen wir ja auch nur.« »Na ja, aber nun etwas anderes! Ich war heute vor den Superintendenten geladen. Dieser, Ihr besonderer Freund, verlangt von mir, daß ich hingehen und die Eltern der bösen Buben um Verzeihung bitten soll.« »Da hat der Herr recht. Ich sagte ja auch vorhin schon, Sie müßten sich demütigen, auch vor den Menschen.« »Aber wo bleibt da meine Achtung im Dorf? Wie kann ich mich dann noch als Schulmeister sehen lassen?« »Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden.« »Ach ja, Ihre Bibelsprüche kenne ich auch.« »Aber Sie verstehen Sie noch nicht recht ... Ihre Stellung als Lehrer haben Sie durch Ihre Raserei selbst zunichte gemacht. Die können Sie nur wieder gewinnen, wenn Sie es ehrlich aussprechen, daß Ihnen das, was geschehen ist, ehrlich leid tut.« »Das ist aber nicht so leicht ...« »Nein, für den alten Adam nicht.« »... Und was der Superintendent dann noch verlangt, geht Sie besonders an. Ich soll Ihre Lina zwingen, den Katechismus zu lernen.« »Das dulde ich nicht, daß dieses Buch in mein Haus kommt.« »Wenn ich nun aber Ihre Tochter tagtäglich nachsitzen lasse und auf diese Weise zwinge?« »Das ist Ihre Sache, die Sie mit Ihrem Gewissen abmachen müssen. Ich könnte es ja nicht hindern. Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen. Aber ich sage meinen Kindern auch immer, daß sie in der Welt vieles sehen, hören und lernen müssen, was dem Herrn nicht zur Ehre ist. Das müßten Sie sehen, als sähen sie es nicht, hören, als hörten sie es nicht. Was in den Kopf hineingeht, das verunreinigt den Menschen nicht. Wenn's nur nicht ins Herz eingeht! Und davor bin ich bei meiner Lina nicht bange.« »Warum sprechen Sie eigentlich immer in biblischen Ausdrücken?« »Soo? Tue ich das? Dann muß das wohl davon kommen, daß ich viel in der Bibel lese.« »Deshalb halten viele Menschen Sie für einen Heuchler.« »Das mögen Sie tun. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber Gott siehet das Herz an ...« »Ach, was sitzt so ein armer Schulmeister dazwischen ...!« »Nicht bloß die Schulmeister, wir alle sitzen arg dazwischen in dieser bösen Welt ...« Sie schwiegen. Draußen schlug der Hofhund an und riß wütend an der Kette. Der Schuster horchte auf. »Ist da jemand vor dem Fenster?« fragte er leise. »Och, wer sollte da sein ...« sagte Peter gleichgültig. Aber in demselben Augenblick zuckten sie beide zusammen. Mit scharfem Geklirr und Gekrach war ein faustdicker Stein durch das Fenster dicht an Peters Kopf vorbeigeflogen, und an der Wand, ein Stück Kalkbewurf mit sich reißend, zur Erde gefallen. Draußen entfernten sich eilige Schritte. Peter ging hin, nahm den Stein auf und sagte bitter, ihn in der Hand wägend: »Wenn dieser eine halbe Elle mehr nach rechts geflogen wäre, dann wäre alle Not auf einmal zu Ende.« »Herr Lehrer!« rief der Schuster erschrocken, »so dürfen Sie nicht reden.« »So hassen sie mich,« sagte Peter und drückte den Stein verzweifelnd vor die Stirn. »Das hat ein böser Bube getan,« sagte der andere, »deshalb dürfen Sie nicht an den Menschen verzweifeln!« »So und so ähnlich habe ich die Menschen immer gekannt ...« »Herr Lehrer, ich weiß wohl, wie tief das sündliche Verderben ist, das seit Adams Fall in der menschlichen Natur steckt. Aber wirklich, so schlecht sind die Menschen nicht.« »Die gegen mich anders waren, kann ich an den Fingern abzählen, und behalte noch einige Finger übrig ...« »Herr Lehrer, Sie lästern Gott, wenn Sie so sprechen.« »Kann ich dafür, wenn er die Menschen nicht besser geschaffen hat? Wenn er seiner Schöpfung keine bessere Krone hat aufsetzen können?« »Herr Lehrer, Sie wissen nicht, was Sie reden.« »Bitte, gehen Sie!« »Es wird mir schwer, Sie in diesem Zustande allein zu lassen ...« »Aber ich will und kann von der ganzen Bande, die sich Krone der Schöpfung nennt, keinen mehr vor Augen sehen. Hören Sie, ~keinen~!« »... Dann muß ich ja gehen ... Aber ich werde diese Nacht daheim für Sie beten.« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Was Sie in Ihrem Hause machen, geht mich nichts an.« »Gott ... befohlen,« sagte der Schuster bewegt und streckte Peter die Hand hin. Dieser zögerte erst, dann berührte er sie flüchtig mit seiner Linken. Der Mann sah ihm in die irren, glühenden Augen und bat sanft: »Lieber Herr Lehrer, bitte, gehen Sie gleich ins Bett. Nicht wahr, das versprechen Sie mir?« »Wenn Sie nur erst hinaus sind!« sagte Peter, erregt mit dem Fuße aufstampfend. Da ging der Mann. Draußen hallten seine Schritte, und der Hund schlug an. Dann verhallten die Schritte und der Hund kroch wieder in seine Hütte, die hohl schnurrende Kette nachschleifend. Nun atmete Peter auf und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. Da horchte er auf. Was war das wieder für ein Geräusch? ... Jetzt war's still. Plötzlich fiel ihm ein, das ganze Dorf ringsum steckte voll von Menschen, Menschen. Hinweg! Da draußen, in der Heide, da sind keine Menschen. Er nahm hastig Mütze und Stock und taumelte hinaus. Aah, wie das wohltut, so ein kühler Nachtwind, nach der dumpfen Stubenluft ... Wenn mir nur keiner begegnet. Ach nein, die schlafen alle. Die Art hat es gut. Des Tags über arbeiten sie sich müde, und des Abends kriechen sie in ihre Butzen, zu zweien oder zu mehreren. Jeder hat welche, die zu ihm gehören. Und das ganze Dorf gehört zusammen. Da versteht einer den anderen, und jeder findet am anderen Rückhalt. »Wi sünd alltohopen gode Lüe,« sagt Clas Mattens. Ha! ... Da brennt ein Licht! ... Ach ja, da wohnt der Schuster. Der gute Narr ... er will diese Nacht für mich beten. Wie damals: Herr, bringe auch unseren lieben Schulmeister aus der Finsternis zum Licht, ha! ... Wie das gleich anstrengt, wenn der Weg ein wenig bergan steigt. Das Herz rast, wohl hundertzwanzig Schläge in der Minute ... Ach, der schreckliche Husten ... So, nun geht es wieder ... Hier hören die Äcker auf, die Heide fängt an. Wie das duftet ... Ach ja, es ist August, die Heide blüht ... Und da oben glühen die Sterne ... Mutter, was waren das für glückliche Zeiten, als du da oben noch an den goldenen Himmelsfenstern saßest! Mutter, wo bist du? Kannst du deinem verlorenen Kinde nicht nahe sein in diesen schrecklichen Stunden? Hier geht es, in dunkler Nacht, durch die öde Heide, den Tod in der Brust, von den Menschen gehaßt, und muß sich selbst verachten. Und du hast so kalte, tote Augen ... Zum goldenen Tore? ... Ha! ... Einst leuchtete es vor uns, und das Herz war all seines Suchens und Sehnens so froh, nun ist's verschlungen in Nacht und Grauen ... Das war alles, alles Lüge ... Das Grab ist tief und stille, und schauerlich sein Rand, es deckt mit dunkler Hülle ein unbekanntes Land ... Vielleicht auch einen Ort der Qual, voll Heulen und Zähneklappen ...? Ach einen Ort mit mehr Qual als diese »schöne Erde« kann's ja gar nicht geben. Hier stoßen sie einen mit Füßen, werfen einen mit Steinen ... machen fromme Redensarten, und es steckt nichts dahinter ... Aber nein, mach' dir selbst nichts vor! Du selbst bist Störer deiner Ruh, du zogst dir selbst dein Leiden zu ... Ja, so ist's ... Und das ist das Schlimmste ... Das Allerschlimmste ... Das bringt einen so herunter ... Das jagt einen in die Nacht hinaus ... So weit schon? Da ist ja die Mergelgrube ... Wie die Füße schwer sind ... ein wenig liegen und ruhen. Ah, wie das wohltut ... Da unten, zwischen den hohen, steilen Wänden, blinkt das tiefe Wasser ... War es nicht hier? ... Ja, hier haben sie vor Jahren ein armes Menschenkind herausgezogen, dem des Lebens Bürde zu schwer geworden ... hinterm Zaun liegt's begraben in Brundorf ... Wenn sie morgen wieder einen herausziehen ... niemand würde eine Träne weinen ... niemand ... »Der elende Selbstmörder« würden sie sagen und ein Grab hinterm Zaun graben, wo der Weg drüber hingeht ... Aber was schadet das ... es sind ja Menschen ... wen sie im Leben von sich gestoßen haben, der braucht ja auch nicht im Tode bei ihnen zu liegen. Warum langsam und qualvoll hinsiechen ... wem geschieht damit ein Gefallen ... Vier Schritte weiter gekrochen, ein Sturz, ein kurzer Kampf, und alles ist vorbei ............. Ja es ist das Beste ... »Ich eile von der schönen Erde hinab in dieses dunkle Haus.« Noch einen Blick zurück ... Was ist das für ein heller Stern dort über der Höhe? Ach so, es ist das Licht im Hause des Frommen ... »Ich werde diese Nacht für Sie beten ...« Da unten ist Ruhe ... So, jetzt nur noch ein wenig Übergewicht und ... Was hat der Mann für einen anderen zu beten ... Zu wem betet er denn? ... Gott! ... bist du? So gib mir Antwort! ... Der Nachtvogel schreit -- denn er ist. Das Gras säuselt -- denn es ist, Aber du? -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Wie kommt es denn aber, daß, solange Menschen atmen, Menschen an ihn glauben? Wie kommt es, daß der da auf dem Berge an ihn glaubt? ... Er sagt, Jesus Christus ist der Weg zu Gott. Aber da sind wir gleich wieder mitten in der Ungewißheit. Die einen sagen, der ist ein irrender, schwacher Mensch gewesen und am Kreuze an seinem Gott verzweifelt. Und die anderen sagen, er ist der Sohn Gottes, lebet und regieret in Ewigkeit ... Ja, als wir in den Büchern deiner Jünger von dir lasen, da hob deine Gestalt sich groß und herrlich vor uns. Da wurde uns, als könntest du uns das wahre Leben schenken, wonach wir uns sehnten, und uns helfen, die Welt zu überwinden, mit ihrer Lust und ihrem Leid ... Und Karfreitags haben wir unter deinem Kreuze gestanden ... und haben gesungen: All Sünd hast du getragen, sonst müßten wir verzagen, erbarm dich unser, o Jesu. Ja, das war einmal -- -- -- -- Das war einmal -- -- -- -- -- -- -- -- -- Oder? -- -- -- -- -- Oder? -- -- -- -- -- -- -- -- * * * * * * * * * * * * * * * Es wurde ihm, als ob die tiefsten Tiefen seines Wesens, Seelentiefen, die er bis auf diese Stunde in sich nicht einmal geahnt hatte, wunderbar durchwärmt würden. Und diese Wärme entband Kräfte, ungekannte, ungeahnte Seelenkräfte des Lebens ... eines Lebens, das fühlte er bei seinen ersten heimlichen Regungen, nach dem er sich lange gesehnt hatte. Er sprang plötzlich auf seine Füße. Nein, nein, nein, nein! Da unten in dem dunklen Wasser war sein Ziel nicht. Er mußte weiter wandern. Dem goldenen Tore zu ... Durch die grauenvolle Nacht fing es nun wieder an vor seiner Seele zu schimmern. Und die schon am Ziel waren, seine Toten, die ihm Wegweiser und Wandergenossen geworden, jetzt sahen sie ihn wieder mit lebenden, liebenden Augen an. Es war, als hätten auch sie aus einer geheimnisvollen Quelle des Lebens und der Liebe Leben und Liebe getrunken ... Und die Menschen ... Er konnte jetzt nicht an die denken, die ihm Böses getan auf seinem Wege. Er mußte derer gedenken, die ihm Liebe erwiesen, und fand ihrer eine ganze Reihe, mehr als er früher je gedacht hätte, von seinen Kindestagen an bis auf die letzten Stunden ... Er war am Hause des Schusters angelangt, in dem das Licht jetzt auch gelöscht war. Da blieb er einen Augenblick nachdenklich stehen, und als er seinen Weg fortsetzte, nickte er still vor sich hin. Er ging jetzt die Dorfstraße entlang und dachte an die Schwierigkeiten und Wirrnisse, in die er hineingeraten war. Wo waren sie geblieben? Was war einfacher, als morgen in dieses und in jenes Haus zu gehen und zu sagen, daß das Geschehene ihm herzlich leid täte? Und was das andere betraf? Was war leichter, als dem Superintendenten kurz und klar hinzuschreiben, für die Behandlung seiner Schülerin in Sachen des Katechismus nehme er, der Lehrer, die volle Verantwortung auf sich, und er halte es für eine Ungerechtigkeit, jene für etwas büßen zu lassen, was er selbst gefehlt habe, wenn es eine Verfehlung sei. Zu Hause angekommen, zündete er ein Licht an. In der schwachen Helligkeit, die dieses um sich verbreitete, sah er die Bilder des Harfenspielers und Mignons. Da nahm er das Licht und hielt es nahe heran und las die Verse und nickte dazu, langsam und nachdenklich und froh. Wie einer, der über einem Rätsel, das ihn nicht losließ, lange gesonnen hat und nun sich endlich auf dem Wege sieht, es zu lösen ... Dann ging er zu Bett. Was er in den letzten Stunden Schreckliches erlebt hatte, lag wie ein halbvergessener grausiger Traum hinter ihm. Und vor ihm leuchtete, lockender und heller und näher denn je: das goldene Tor ... * * * * * Von einem Geräusch an der Haustür erwachte er. Einige Kinder standen vor der Schule und begehrten Einlaß. Mit Schrecken sah Peter, daß es gleich sieben Uhr war, und kleidete sich eiligst an. Als er vor die Tür trat, sah er, daß kaum die Hälfte der Schulkinder versammelt war. Da sagte er ihnen, sie möchten vorläufig nach Hause gehen, um neun Uhr wiederkommen und die noch fehlenden Kinder auch mitbringen. Als die Schulkinder sich zerstreut hatten, ging Peter ins Dorf und geradeswegs nach Westermanns Hofe. Er traf den Bauern auf der Diele vor den Kühen. Dieser starrte ihn verwundert an. Aber Peter ging schnell auf ihn zu und sagte, es täte ihm aufrichtig leid, daß er sich so vergessen hätte, und er bäte ihn um Verzeihung. Wenn ein Bauersmann etwas Unangenehmes auf dem Herzen hat, was herunter soll, macht er meist erst viele allgemeine Redensarten und kommt dann ganz zuletzt und wie beiläufig mit der Hauptsache heraus. Ähnliches mochte Westermann auch vom Schulmeister erwartet haben, und inzwischen hätte er sich wohl eine Antwort überlegt, die dem Groll, den er gegen den Schulmeister hegte, entsprochen hätte. Aber diese Art Peters, so mit der Tür ins Haus zu fallen, verwirrte ihn und er brachte stockend etwas heraus wie: Das wäre schon gut, und er selbst hätte mit dem großen Jungen ja auch oft seine Not, und Prügel müßten sein; nur zuschanden dürfe man so'n Kind doch nicht schlagen. Na, der Schulmeister wäre noch jung und hitzig, und hätte nun ja wohl eingesehen, wie weit er gehen dürfe, und mit den Jahren kühlte das Blut sich auch mehr ab, und der Mensch würde besinnlicher. Zuletzt fragte er Peter, ob er mit ihm frühstücken wollte. Der nahm das Anerbieten an, und die beiden setzten sich zusammen in die Dönze und aßen Brot und Sülze und tranken einen kleinen Köm dazu. »Dat wi nu jümmer gode Lüe bliewt,« sagte der Bauer, indem sie anstießen. Auch bei Swiebertsbauer ging's Peter ganz gut. »Ick heww't ja glieks seggt,« meinte dieser trocken, »he schöll Barken nehmen und kene Eken. Eken sünd för so wat nich wussen.« Peter ging auch zu seinem alten Freunde Mattens und erzählte ihm mit Freuden, nun wäre alles wieder gut. »Würklich?« fragte dieser und kratzte sich im Nacken, »Scholmester, Scholmester, wat heww ick van sin'twegen för Nackensläg krägen düsse Dag'! Oh, wo mi dat freut! Kumm rin, darup möt wi'n lütten Köm nehmen.« Peter dankte. Er hätte schon bei Westermann einen getrunken. »Bi Westermann?« fragte Mattens erstaunt. »Deuker ja, wenn ~de~ Mann enen utgiwwt, denn is't würklich alles wedder god. Scholmester, ick freu mi nu doch wedder, dat ick em in de Iserbahn ankaschiert heww.« Um neun Uhr hatte Peter seine Schule vollzählig beisammen. Die Kinder hatten die Einladung bestellt, er selbst hatte unterwegs eingeladen, was er getroffen hatte, und wie ein Lauffeuer war die Kunde durchs Dorf gesprungen, der Schulmeister wäre wieder vernünftig geworden und hätte mit seinem ergrimmtesten Feinde gefrühstückt. Als Peter in die Schulstube trat und alle Blicke halb neugierig, halb ängstlich auf sich gerichtet sah, war es ihm nicht möglich, den Unterricht in der üblichen Weise zu beginnen und zu tun, als ob nichts geschehen wäre. »Meine lieben Kinder,« begann er bewegt. Die Kinder machten verwunderte Gesichter. Diese Anrede war ihnen fremd, und noch mehr ihr Ton. »Ihr seid mir vorgestern alle davongelaufen. Aber ich mache euch keinen Vorwurf daraus. Es war meine Schuld ... Des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist. Aber ihr werdet mich, will's Gott, nie wieder so sehen, wie ihr mich gesehen habt ... Wie sagt doch Gott zu dem Brudermörder Kain? ›Die Sünde ruhet vor der Tür. Aber laß du ihr nicht ihren Willen, sondern herrsche über sie.‹ So ist's bei mir, und bei euch, bei uns allen. Gott helfe uns, daß wir über sie herrschen können. Und wenn sie uns einmal überrumpelt, daß wir wieder aufstehen. Und nun laßt uns unseren Morgengesang singen: Aus meines Herzens Grunde, die ersten beiden Verse.« Die Kinder setzten voll und kräftig ein, und Peter sang das Lied mit einem freudig bewegten Herzen, wie in seinem ganzen Leben nicht. Nur bei den ersten Strophen des zweiten Verses mußte er vor innerer Bewegung schweigen: »Daß du mich hast aus Gnaden in der vergang'nen Nacht vor Gefahr und allem Schaden behütet und bewacht.« Und dann fing er an, zu unterrichten. Er hatte eigentlich gefürchtet, er würde nach solcher Nacht dafür zu müde sein. Jetzt wunderte er sich, wie ihm die Gedanken zu und die Worte von den Lippen strömten. So hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht unterrichtet, so hatten die Kinder noch nie an seinem Munde gehangen. Was er ihnen heute gab, das stand nicht in den Büchern, die er vor der Schule zur Vorbereitung schnell eingesehen hatte, das nahm er aus seinem Eigensten und Tiefsten. Zwar störten ihn einige Hustenanfälle. Aber wenn er sie überwunden hatte, war er gleich wieder voll Freudigkeit und Kraft, fortzufahren. Als es Mittag war, entließ er die Kinder. Wie er den sich zur Tür Hinausdrängenden nachsah, fiel ihm plötzlich der Vers von Mignons Bilde ein: »So laßt mich scheinen, bis ich werde.« Da jauchzte sein Inneres auf. Was er so lange geschienen, das war er heute geworden: ein Schulmeister, ein wirklicher Meister der Schule. All seine bisherige Schulmeisterei erschien ihm plötzlich als Scheinkram, Wortgeplärr, Karrendienst. In diesen drei Stunden erst war er der Herrlichkeit seines Berufes ganz inne geworden. Er hatte nicht nur kleine Finger gesehen, die Buchstaben schreiben lernen wollten, blaue Äuglein, die sie wiederzuerkennen sich mühten. Er, der Gewordene, hatte die Nähe junger Seelen gefühlt, die wachsen und werden wollten ... Als er vom Mittagessen aus dem Dorf zurückkam, setzte er sich sofort hin, um dem Superintendenten zu schreiben. Er zeigte ihm an, daß er mit den betreffenden Hausvätern Rücksprache genommen habe und die Sache erledigt sei. Was die die Tochter des Schusters betreffende Forderung seines Vorgesetzten anbeträfe, schrieb er diesem ehrerbietig und bestimmt in dem Sinne, wie er sich schon in der Nacht darüber klar geworden war, daß er ihr nicht nachgekommen sei und nicht nachkommen werde. Den Brief schickte er gleich durch einen Jungen an seine Adresse. Der Superintendent machte beim Lesen dieses Briefes seines jüngsten Schulmeisters verwunderte Augen. Aber seinem Lebensgrundsatz, sich vor aufwallenden, heftigen Gemütsbewegungen aus Pflichtgefühl gegen sich selbst zu hüten, blieb er auch in dieser Sache treu. Er verfolgte sie auch nicht weiter. Beim hohen Konsistorium war für den alten Landeskatechismus nicht mehr viel zu machen. Da hatte der Wind sich in den letzten Jahren auch gedreht. Außerdem verriet ihm der Ton des Briefes, daß er hier nicht einen servilen Kriecher und Jajabruder vor sich hatte, sondern einen aufrechten Menschen, einen, der über Nacht etwas wie ein Charakter geworden war. Dieses war sein erster Eindruck beim Lesen des Briefes. Bald ging ihm freilich ein besseres Licht auf. Der junge, ungefestigte Schulmeister war natürlich auch ein Opfer der Verführungskünste des pietistischen Schusters geworden. Am Abend dieses Tages, um die Stunde, da gestern der Schuster bei ihm gewesen war, kam Peter auf den Gedanken, den Mann, gegen den er jetzt eine tiefe Dankbarkeit empfand, zu besuchen. Aber als er länger darüber nachdachte, unterließ er es doch. Was sollte er ihm sagen? Ihm saß das Herz nicht so auf der Zunge wie jenem. Er konnte über das, was er in tiefster Seele erlebte, nicht zu anderen Menschen sprechen. * * * * * In der nächsten Zeit fühlte Peter, wie seine Kräfte allmählich nachließen. Aber der befreite, von einer neuen Kraft getragene Geist, belebt durch die neugewonnene Freude am Beruf, hielt den hinsiechenden Leib noch längere Zeit aufrecht und gewann ihm, nach Zeiten allzu großer Schwäche, noch manche Stunde freudigen und kraftvollen Wirkens ab. Ein Wort Jesu wurde ihm in dieser Zeit vor anderen lieb und wertvoll: Ich muß wirken, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Peter war froh und dankbar für jeden Tag seines dem Ende zueilenden Lebens, den er durch Willenskraft noch für den so spät in seiner Herrlichkeit erkannten Beruf gewinnen konnte. Bis Mitte November gab er den Unterricht noch einigermaßen vollständig, wenn er auch häufig gezwungen war, die Stunden umzulegen und die Kinder verhältnismäßig viel mit Schreiben und Rechnen zu beschäftigen. Von da an mußte er die Kinder nach zweistündigem Unterricht, den er zuletzt nur noch sitzend erteilte, heimschicken. Seine Kraft war dann völlig erschöpft, und er brachte die übrigen Stunden des Tages, meist fiebernd, im Bett zu. Die Dorfleute taten, was sie konnten. Jetzt, nachdem sie ihren Schulmeister erzogen und zur Vernunft gebracht hatten, mochten sie ihn recht gern. Da er nicht mehr zu den Mahlzeiten in die Häuser gehen konnte, schickten die Bauernfrauen ihm das Essen ins Haus, und die guten legten nach dem Schlachtfest eine frische Wurst bei, oder schlugen trotz der Eierknappheit ihm eins extra in die Suppe, um ihren guten Schulmeister, wenn's möglich wäre, recht bald wieder auf die Beine zu bringen, oder ihm doch eine Freude zu machen. Die Kinder der Häuslingsfrau, die bei Peter aufwartete, lebten in diesen Wochen herrlich und in Freuden. Peter hoffte noch immer, bis Weihnachten den zweistündigen Unterricht aushalten zu können. Aber am Montag der Weihnachtswoche mußte er liegenbleiben und den Kindern zurufen, daß sie nach Hause gingen. Er hörte, wie sie sich langsam und still entfernten, wie die Schritte der letzten Nachzügler auf dem Hofe verhallten. Sein Tagewerk war getan. Der Kranke, der von der Häuslingsfrau nur mangelhaft verpflegt und bedient wurde, hatte auf seinem einsamen Krankenlager manche schwere und trübe Stunde durchzumachen. Hin und wieder kam einer von den Dorfleuten zu Besuch. Claus Mattens stellte sich gleich am ersten Tage ein. Er erzählte dies und das, aber Peter merkte bald, daß der Mann etwas Besonderes auf seinem Herzen hatte. Das kam denn zuletzt auch herunter. Peter könnte, so meinte der Bauer, ja nicht selbst hingehen und sein fälliges Gehalt holen. Ob er ihm den Weg abnehmen sollte? Und ob er nicht von dem Gelde so viel behalten könnte, daß Peters Sachen, bis auf den Tisch etwa, bezahlt wären? Peter gab seine Zustimmung. Da war der Freund sichtlich erleichtert, machte noch einige nette Scherze und wünschte beim Weggehen gute Besserung. So kam der Tag vor dem Fest heran. Es war dicke Schneeluft, und der Kranke hatte viel unter Atemnot zu leiden, bis nach Mittag die Luft klarer wurde. Gegen Abend kam der Schuster. Er entschuldigte sich, daß er nicht schon eher einmal vorgesprochen hätte. Aber zu Weihnachten wollte alle Welt in neuen Stiefeln gehen, und grad' eben hätte er das letzte Paar abgeliefert. Der Besucher blickte in den Ofen, und fand das Feuer erloschen. Er sah sich im Zimmer um. Es war seit mehreren Tagen nicht gekehrt. »Herr Lehrer,« sagte er, »es wäre besser, wenn Sie nach Hause reisten. Hier kriegen Sie ihr Recht nicht.« »Nach Hause?« fragte Peter schmerzlich. »Ich kann nicht nach Hause. Meine Mutter ist tot, und die enge Kate ist voll kleiner Kinder. In all der Unruhe halte ich's nicht aus.« »Aber Sie können hier doch nicht allein liegenbleiben.« »Ach, es wird wohl nicht lange mehr dauern.« »Das steht in Gottes Hand ... Herr Lehrer, darf ich mir eine Bitte erlauben?« »Und?« »Kommen Sie zu uns!« »Zu Ihnen?« fragte Peter verwundert. »Ja, sehen Sie, wir haben selbst viel Schweres durchgemacht und verstehen uns wohl ein wenig auf das Krankenpflegen. Und es ist auch besser für Sie. Da kommen manchmal Stunden, wo einer sich nach dem Wort und Gesicht eines anderen Menschen sehnt. Unser Heiland ist in Gethsemane auch immer wieder aufgestanden und zu seinen Jüngern gegangen.« Peter sah den Mann einen Augenblick an. Dann streckte er die weiße, abgezehrte Hand aus und ergriff die harte, braune Pechhand des Schusters, die er stumm mit warmem Druck festhielt. »Dürfen wir Sie holen?« fragte der andere wieder. Peter nickte. »Gott vergelt's Ihnen, was Sie an mir tun, und ... schon getan haben ...« Der Mann sah dem Kranken ein paar Sekunden tief in die Augen, als ob er in seiner Seele lesen wollte. Dann ging er. Nach einer guten Stunde kam er zurück, begleitet von ein paar Männern, in denen Peter Häuslinge des Dorfes erkannte. An der Art, wie der Schuster mit ihnen verkehrte, merkte er, daß sie zu denen gehörten, die jener »Brüder« zu nennen pflegte. Das wunderte Peter; denn sie waren von ganz anderer Art als der Schuster und lebten still für sich hin, ohne irgendwie hervorzutreten. Die Männer legten ihn mit dem Bett auf eine mitgebrachte Tragbahre, verhüllten ihn sorgfältig gegen die Winterkälte und trugen ihn sorgsam durch das Dorf. Als endlich die Bahre hingestellt und von den Decken befreit wurde, riß Peter die Augen weit auf. Vor ihm stand ein Christbaum, im Schmuck seiner brennenden Lichter. Und um ihn her standen Lina und der kleine Paul, und noch ein kleines Mädchen, und ein Jüngstes hockte auf dem Arm der Mutter, und die Kinder sahen bald in den hellen Lichterbaum, und bald auf den kranken Gast. »Singt mal, Kinder,« sagte der Vater, und Lina schlug den Arm um Paulbruder, und sie sangen zusammen zweistimmig das Weihnachtslied, das Peter in den letzten Wochen sie gelehrt: »Stille Nacht, heilige Nacht.« Dann setzte der Schuster sich die dicke Hornbrille auf und las das Evangelium von der Geburt des Heilands, und die Kinder, in deren dunklen Augen die Lichter des Tannenbaumes glänzten, hörten andächtig zu, und die Männer standen mit den Mützen in den Händen und schauten ernst und still drein. Als der Hausvater das Buch geschlossen hatte, sagte er: »So, Kinder, nun drückt die Lichter vorsichtig aus und geht in die andere Stube, daß der Herr Lehrer Ruhe hat. Und du, Mutter, sorgst wohl, daß er noch etwas Warmes zu essen kriegt. Und ji beiden gaht noch mal in dat Scholhus und bringt den Scholmeister sin Kram her, dat wi em dat recht gemütlich maken könnt.« »Ok de beiden Biller an de Wand,« sagte Peter leise, »und min Vigelin'. Dat dor man nix an passiert!« »Herr Lehrer, Sie können sich auf meine Freunde verlassen,« beruhigte der Schuster den Kranken. Als Peter ein wenig genossen hatte, kamen die Männer schon zurück. Der Schuster mußte die Bilder über seinem Bett befestigen, Mignon links, den Harfenspieler rechts. Dazwischen fand die Geige ihren Platz, so, daß der Kranke sie ohne große Anstrengung erreichen konnte. Dies waren ihm die liebsten Besitztümer. Die Anordnung des übrigen überließ er den anderen. Bald hatten sie ihn verlassen, und im Hause wurde es still. Aber Peter konnte noch lange nicht einschlafen. Es war ja der erste Weihnachtsabend, den er im Leben gefeiert; in der Stube war noch der Harzduft des ersten Christbaums, in dessen Lichterglanz er geschaut hatte. Wie schade, daß das alles so schnell vorübergegangen war, fast ehe er sich recht hatte besinnen können! Nein, noch nicht einschlafen, noch eine Weile liegen und sich still weiter freuen ... Bald holte er sich die Genossin seiner Leiden und Freuden heran, seine Geige. Stillfroh spielte er mit den Fingern auf dem einsamen, dunklen Krankenlager die lieben, alten Weihnachtsweisen, die um dieselbe Stunde wohl durch Hunderttausende froher, heller Christenhäuser schallten. So schlummerte er zuletzt ein, die treue Freundin im Arm und stille Weihnachtsfreude im Herzen. Es folgten schwere Tage und Wochen für den Kranken. Manche Stunde blieb ihm nichts als stillhalten und leiden. Aber im tiefsten Grunde blieb er immer froh und dankbar. Denn er konnte leiden unter treuer Liebe Hut und Pflege. Was hatte der arme Junge in einem kurzen Leben von Liebe erfahren! Eine dunkle Erinnerung aus den ersten Lebensjahren sagte ihm, daß er einmal warm in Mutterarmen geruht hatte. Dann der kurze Maimond seines Lebens, da sein ganzes Wesen in Liebe aufgeblüht war. Dann noch die Freundlichkeit des Musiklehrers auf dem Seminar. Sonst war er ohne Liebe und einsam seine Straße gezogen. Nun hatte der dunkle, stürmische Tag doch noch seinen stillen, lichten Abend. Über den letzten Wochen seines zur Neige gehenden Lebens lag der warme Glanz treusorgender Liebe. Wie gut sie alle im Hause sich auf die Behandlung des Kranken verstanden! Wenn es dem Leidenden lästig wurde, Menschen um sich zu haben, brauchte er es gar nicht zu sagen. An irgendwelchen Anzeichen merkten sie das und verließen leise das Zimmer. Und wenn er sich nach Gesellschaft sehnte, so dauerte es auch meist nicht lange, bis jemand kam. Der Schuster sprach am liebsten über geistliche Dinge, und seine Gesellschaft konnte dem Kranken am ehesten drückend werden. Es blieb eben zwischen den beiden der Gegensatz zwischen rheinischer und niedersächsischer Art. Bei dem lebhaften Rheinländer ging es ganz nach dem Wort: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Der schwerfällige Niedersachse dagegen mußte sein Bestes und Tiefstes keusch im Busen verschließen. Er mochte und konnte nicht darüber reden. Diese Schweigsamkeit und das Fehlen eines Echos machte den Schuster manchmal bedenklich, ob es mit dem Seelenheil seines Pfleglings schon recht bestellt sei, und er sprach immer wieder über alles, was ihm dazu nötig schien. Peter lag dann meist mit geschlossenen Augen und nickte von Zeit zu Zeit, wenn ein Gedanke darunter war, den er als Baustein seines inneren Werdens, das in diesen Leidenszeiten nicht ruhte, gebrauchen konnte, oder ein Wort, das ihm für die dunklen Nachtstunden Trost versprach. Der gute Schuster brachte aber auch manches zutage, was Peter höchst wunderlich vorkam, ja was ihn wohl geradezu abstieß. Denn ganz konnte der Schriftgelehrte hinter der Schusterkugel die Finger von dem heiklen Gebiet der Theologasterei nicht lassen. Am liebsten war ihm Linas Gesellschaft. Wenn das Mädchen an seinem Bett saß, das feine Gesichtchen über die Handarbeit gebeugt, wenn sie ihn fragend anblickte, ob er einen Wunsch hätte, wenn sie seinen fiebernden Lippen zu trinken reichte, dann konnte er sein Leiden fast vergessen. Hatte sie ihn so eine Zeitlang durch ihre stille Gegenwart erfreut, fühlte er meistens den Wunsch, ihre liebe Stimme zu hören. Dann bat er sie, ihm etwas vorzulesen, bald ein Stück aus der Heiligen Schrift, bald ein Gedicht, das ihm lieb geworden war, oder wonach er sonst gerade Verlangen trug. Dann lag er meist mit geschlossenen Augen; und wenn er auch oft zu schwach war, um den Inhalt des Gelesenen in sich aufzunehmen, so tat ihm doch der Klang ihrer Stimme schon wohl. Am Abend seines kurzen Tagewerks war es ihm eine stille Freude, daß er fast zwei Jahre an dieser lieblichen Menschenknospe Gärtnerdienste hatte tun dürfen. Eines Nachmittags in der Dämmerung, als sie an seinem Bett saß und ihm lange vorgelesen hatte, ergriff er ihre Hand und hielt sie lange fest. »Die dritte,« kam es zuletzt leise über seine Lippen. »Wie, Herr Lehrer?« fragte das Kind. »Ach, Lina, ich dachte an etwas. Habe ich etwas gesagt?« »Ja, Sie sagten: Die Dritte.« »Ach so, ja; ja, ich dachte an etwas ...« Er hatte daran gedacht, daß das Kind, dessen Hand er in der seinen fühlte, die dritte gewesen war in der Reihe der Frauengestalten, die ihm den Weg gezeigt hatten. Das letzte und, wie er empfand, tiefste und innerste Werden, das er erlebt hatte, konnte er sich ohne die Arbeit und Vertiefung, wozu ihn dieses Kindes Wesen gezwungen, gar nicht denken. Die Frau des Schusters hielt es nicht, wie ihr Mann, mit vielen Worten. Dafür aber war sie die verständnis- und liebevollste Pflegerin. Wenn sie ihm das Bett machte, wenn sie ihm das Essen brachte und dem Appetitlosen freundlich zusprach, oder wenn sie ihn bei zu großer Schwachheit fütterte wie ein kleines Kind, immer hatte der Kranke das Gefühl, von Mutterhänden gepflegt zu sein. Ganz so, dachte er, würde seine eigene Mutter es auch machen, wenn sie noch lebte. Peter sann in einsamen Stunden viel über sein Leben nach. Und da fiel es ihm auf das Gewissen, daß er einst mit einem so pietätlosen Wort von seinem Vater gegangen war. Er bat den Schuster, diesem von seiner Krankheit zu schreiben und ihn zu bitten, daß er seinen kranken Sohn einmal besuchte. Nach drei Tagen kam Harm Eggers an. Peter hatte sich vorgenommen, wegen jener häßlichen Abschiedsszene ihn um Verzeihung zu bitten. Aber er kam nicht dazu. Denn kaum hatte der Vater das abgezehrte Gesicht des Sohnes gesehen, so brach er in wildes, krampfartiges Schluchzen aus. Peter war tief ergriffen, daß dem Vater sein Leiden so zu Herzen ging, und fühlte auch, daß die kindliche Liebe trotz allem in seinem Herzen noch nicht erstorben war. Als aber der Vater sich gar nicht fassen konnte, sah er ihm scharf in die Augen und merkte, daß der Alkohol an diesem Gefühlsausbruch nicht unschuldig war. »Vader!« sagte er tieftraurig. Da fing dieser an, ihm zu versichern, daß er an seiner Krankheit keine Schuld habe. Die hätte er ganz allein von seiner Mutter geerbt. Aber er würde wohl bald wieder besser werden, denn er, der Vater, wäre so gesund, und die ganze Familie, und Trina, und die Geschwister wären alle so gesund, und Peters Urgroßvater wäre beinahe neunzig Jahre alt geworden und hätte alle Zähne mit in den Sarg gekriegt. Peter hatte sich gequält zur Wand umgedreht, und als der Vater im Weggehen ihn einlud, die Osterferien zu Hause zu verleben, antwortete er nicht. Die nächsten Stunden waren sehr schwer für den Kranken. Er mußte noch einmal seine verlorene, elende Jugendzeit in der Erinnerung durchleben und konnte den ganzen Tag keine Menschen um sich haben. Und auch in den nächsten Tagen kam immer wieder ein bitteres Gefühl über ihn, daß er so von dem Menschen, der ihm das Leben gegeben, hatte Abschied nehmen müssen. Und dann, Anfang März, kam der Tag der letzten Kämpfe. Als der Schuster an diesem Morgen an sein Bett trat, sagte der Kranke, matt zu Mignons Bilde deutend: »Ich eile von der schönen Erde hinab in jenes feste Haus.« »Herr Lehrer, diese Erde schön?« fragte der andere erschreckt. »Ein rechtes Jammertal ist sie.« »Ja ... ja ... ein Jammertal ... und doch wunderschön ...« Über die bleichen Zügen ging wie ein stilles Leuchten die Erinnerung glücklicher Tage. »Und doch ... schön,« sagte er noch einmal. »Herr Lehrer,« sagte der Schuster dringlich und voll Angst, »Sie stehen vor den Toren der Ewigkeit. Ich bitte Sie um Ihrer Seelen Seligkeit willen, denken Sie an das eine, was not tut, denken Sie an Gott und unsern Heiland!« »Ich danke ihm ... daß die Erde ... so schön war ...« »Nein, nein, nicht rückwärts schauen, sondern vorwärts. ... Der Apostel Paulus schreibt ...« Der Kranke schüttelte abwehrend den Kopf und sagte leise: »Ich weiß, an wen ich glaube ...« Da ließ der Mann von ihm ab und beschränkte sich darauf, für seine Seele still zu beten. Als die Sonne untergehen wollte, warf sie einen letzten Schein auf die Fenster der stillen Krankenstube, daß sie tief goldig erglänzten. Da öffnete der Sterbende, der schon lange bewußtlos gelegen hatte, die Augen und flüsterte leise: »Marie!« Der Schuster erschrak und wandte sich zu seiner Frau: »Immer noch diese weltlichen Gedanken! Daß so ein junges Blut gar nicht von der Welt loskommen kann ... Herr, zeige ihm dein Heil!« Wieder machte der Sterbende langsam und weit die Augen auf und wandte sie dem Lichte zu. Sie schienen in unendliche Fernen zu schauen. Und diese blassen Lippen öffneten sich und hauchten: »Das ... goldene ... Tor ...« »Er ist doch auf dem rechten Wege,« flüsterte der Schuster, und über sein Gesicht ging eine stille Freude, »... er sieht schon die Tore Jerusalems, der hochgebauten Stadt, von ferne leuchten ...« »Und nun ist er angekommen,« sagte er nach einer Weile. * * * * * Zu der Beerdigung kamen der Vater, die Stiefmutter und die ältesten Geschwister auf einem geliehenen Wagen angefahren. Aus Solten sandte jedes Haus zwei zum Trauergefolge. Auch die ganze Schuljugend folgte; jedes Kind trug einen Tannenkranz. Der alte Superintendent hatte seit Weihnachten einen Adjunkten und war froh, diesem das Begräbnis übertragen zu können. Als die Gemeinde vom Grabe sich in die Kirche begeben hatte, verlas der junge Pastor nach der Sitte zunächst den von einem Lehrer der Nachbarschaft verfaßten Lebenslauf, der die äußeren Lebensdaten des Verstorbenen in stereotyper Form aufzählte. Dann legte er das Blatt zur Seite und fuhr fort: »Was wir eben gehört haben, andächtige Trauerversammlung, ist von dem Leben unseres Entschlafenen das, was vor aller Augen liegt. Sein wirkliches Leben, das Leben, das sich in dem Tiefsten und Eigensten abspielt, das kennt wohl kein Mensch, die nächsten Angehörigen nicht ausgenommen. Ich habe den Entschlafenen auf seinem letzten Lager einige Male besucht und hätte gern einen Blick in sein inneres Leben, seine Entwicklung, sein Werden und Wachsen getan. Aber er hat mir diesen Blick nicht verstattet. Er durfte es wohl nicht, weil die Zartheit und Keuschheit seiner Seele es ihm verbot. Ich habe aber den Eindruck gewonnen, daß er in der Stille viel Leid erfahren und schwere Kämpfe hat durchmachen müssen, und daß er gesiegt hat in der Kraft dessen, durch den wir Christen die Welt überwinden wollen. In dem Lebensalter, in dem er von uns gegangen ist, sind die meisten von uns noch gar nichts. Aber ich glaube, er ist hingegangen nicht als ein Unreifer, sondern als ein Reifer, der ganz in der Stille durch beides, Liebes und Leides, was der Lenker seines Lebens ihm geschickt, etwas geworden ist zu seines Gottes Ehre. Vielleicht sind solche Menschen, die nichts aus sich machen, unerkannt und manchmal auch wohl verkannt ihren Weg gehen, still suchen und sich sehnen, still lieben und leiden, still glauben und hoffen, wachsen und werden, kämpfen und siegen, gerade die besten unseres Geschlechts und Gottes liebste Kinder ...« * * * * * Nach Beendigung der Feier kehrten die Verwandten in das Sterbehaus zurück. Sie wollten der Einfachheit halber Peters Hinterlassenschaft gleich auf dem Wagen mitnehmen. Als sie diese zusammensuchten, verteilte die Stiefmutter gleich die einzelnen Kleidungs- und Wäschestücke an ihre anwesenden größeren Kinder. »Düsse Mütz,« sagte sie, »kannst du man updrägen, Vader.« Und Harm Eggers paßte sie gehorsam auf. Die Schulbücher sollten die Jüngsten in der Schule verreißen; wo man mit den gelehrteren bleiben wollte, mußte sich später finden. »Wat fangt wi mit de Vigelin' an?« fragte Trina. Der Schuster bat, sie zum Andenken an den Toten behalten zu dürfen. »Wat will he utgewen?« Zwanzig Silbergroschen bot der Mann. »Nee, ünner'n Daler geiht dat Ding nich weg,« erklärte Trina bestimmt. Der Schuster legte schweigend den Taler auf den Tisch. Die Bilder an der Wand blieben ihm ohne Entgelt, da sie nicht als zur Erbmasse gehörig erkannt wurden. Reich mit Beute beladen fuhr die trauernde Familie davon. Trina berechnete gerade den Gesamtwert des Erbes, da hielt der Wagen an. Clas Mattens war ihm mit seinem Schein in den Weg getreten und erhob Anspruch auf den Tisch. Es gab eine häßliche Szene, aber der Schein und des Bauern Hartnäckigkeit behielten den Sieg. Mit geschmälertem Erbe zog die Familie trauernd weiter. Die Schustersleute ließen die Zimmerwand, an der Peter seinen letzten Kampf gekämpft, wie sie war. In der Mitte hing seine treue, nun auch verstummte Geige. Links schaute Mignon sehnsuchtsvoll träumerisch in die Ferne: So laßt mich scheinen, bis ich werde, Zieht mir das weiße Kleid nicht aus! Ich eile von der schönen Erde Hinab in jenes feste Haus. Rechts saß der Alte über der Harfe gebückt und raunte zu ihren müden Klängen: Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte! Über den dreien aber hing ein Stück gelblichen, starken Papiers, das mit schlichten schwarzen Buchstaben bedruckt war. Diese schlichten schwarzen Buchstaben waren der Jubelruf und Triumphgesang eines Mannes, der auch ein Lebensbezwinger und Weltüberwinder war: Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unseren Herrn Jesum Christum! Fußnoten: [1] Warte nur. [2] Erde. [3] Husten. [4] Brust. [5] Qualen. [6] leer. [7] gieße. [8] gekostet. [9] Art. [10] ziehen [11] in Ordnung [12] kocht [13] Aufwartung [14] vermieten [15] unterkriechen [16] Brüder und Schwestern [17] damit ist sie sehr zufrieden [18] getroffen. [19] schlägt. [20] sofort. [21] sonst. [22] leihen [23] betrunken [24] schwermütig [25] Worte [26] Wurst [27] warte nur [28] verdrossen [29] durchgehauen [30] draußen [31] rate [32] gilt [33] oberste [34] Häuslinge [35] gebräuchlich [36] Himmel [37] hoffen [38] dazu lernen [39] Entzweischlagen [40] Rücken *** End of this LibraryBlog Digital Book "Das goldene Tor" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.