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Title: Erinnerungen eines alten Leipzigers : Humoristische Chronika aus Leipzigs jüngerer Vergangenheit
Author: Lippold, Adolf
Language: German
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  Anmerkungen zur Transkription

  Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
  ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
  ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=.

  Lange Folgen von Gedankenstrichen wurden auf eine einheitliche Länge
  gekürzt.

  Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
  Buches.



                 Erinnerungen eines alten Leipzigers.

                      Humoristische Chronika aus
                   Leipzigs jüngerer Vergangenheit.


                            [Illustration]


                         Von =Adolf Lippold.=

                 Mit Zeichnungen von =Richard Wolff=.

                               =Heft 1.=

                            =Leipzig 1893.=
                         Verlag von Otto Lenz.



                        Vorrede des Verfassers!


Der außerordentliche Beifall, welchen die »Erinnerungen eines alten
Leipzigers« bei ihrer ersten Veröffentlichung im Leipziger Tageblatt
gefunden haben, veranlassen mich, diese damals meist kurzgefaßten, zum
Theil mehr skizzenhaften Arbeiten, welche dem beschränkten Raum eines
Tagesfeuilletons angepaßt sein mußten, zu vervollständigen und weiter
auszuarbeiten und als einen gewiß wünschenswerthen Beitrag zur Chronik
der Stadt Leipzig, zunächst in Heften, wobei jedes Heft ein in sich
abgeschlossenes Ganze bilden wird, herauszugeben.

Die Geschichte unserer lieben Stadt und mit ihr die Deutschlands,
weist wohl bis an die ältesten Zeiten zurück keinen Zeitraum auf,
der in dem gesammten politischen und volkswirthschaftlichen Leben
der Bevölkerung so bedeutende Veränderungen gebracht hätte, als die
verhältnißmäßig kurze Spanne Zeit von 1840—71. Die Revolution von
1848/49, die Kriege von 1863, 66 und 70/71 brachten in diesem Umfange
nie geahnte, politische Umwälzungen und die Gewerbefreiheit, welche dem
alten Zunftzwang und mancher anderen früheren Einrichtung den Todesstoß
versetzte, ließ im ganzen volkswirthschaftlichen Leben riesige
Veränderungen Platz greifen. Die alte Zeit mit ihrem, trotz Allem,
mannigfachen Guten, sank in Trümmer und eine neue Zeit mit ganz anderen
Lebens- und Existenzbedingungen kam heran. Und doch ist uns so manches
aus jener alten Zeit lieb und werth geblieben, und da bei dem jetzigen
Hasten und Jagen nach des Lebens oft nur eingebildeter Glückseligkeit
die Vergessenheit des Vergangenen viel schneller eintritt, als dies
früher der Fall war, so ist diese »Chronik aus Leipzigs jüngerer
Vergangenheit« dazu bestimmt, auch der jetzigen und den kommenden
Generationen ein Bild der früheren Verhältnisse und Einrichtungen vor
die Augen zu führen und für die Geschichte Leipzigs zu erhalten.

Ich bitte, in diesem Sinne das Ganze ebenso freundlich aufzunehmen und
zu beurtheilen, wie dies mit den einzelnen Skizzen im Feuilleton des
Leipziger Tageblattes der Fall war; zumal dieser Beitrag zur Chronik
von Leipzig nicht in dem gewöhnlichen trocknen Stile der Chronisten
erscheint, sondern auch der Humor in demselben zu seinem Rechte
gelangt, um dem Ganzen die rechte Würze zu verleihen.

Es sollen, gleichsam eingestreut in eine Chronik über Leipzigs
räumliche und sonstige Entwicklung, möglichst genaue Schilderungen aus
und nach dem damaligen Volksleben unserer Stadt hier Platz finden, und
wenn bei denselben hier und da einmal ein Stück Satyre mit unterläuft,
so bitte ich zu berücksichtigen, daß die Satyre die Schwester des
Humors ist und eine Verhöhnung oder Verspottung mancher der jetzt
Vielen unmöglich dünkenden früheren Einrichtungen in keiner Weise in
der Absicht des Verfassers liegt.

Mit diesen Versicherungen schicke ich das kleine Werk hinaus in die so
verschiedenartig urtheilende und denkende Welt, möge ihm sein Lebensweg
nicht allzusehr erschwert werden.


    _Leipzig_, im Juli 1893.
                                   =Der Verfasser.=



                                  I.

                   Die alte innere Stadt anno 1840.


Im Jahre 1840, also vor nunmehr länger als einem halben Jahrhundert,
sah es in unserm deutschen Vaterland und mit ihm in den einzelnen
Staaten noch gewaltig anders aus als jetzt, wo das weltgeschichtlich
so bedeutende 19. Jahrhundert in wenig Jahren in das Reich der
Vergangenheit hinabsinkt. Damals Reaktion, noch halbe Hörigkeit,
Frohndienste, Zehntenabgaben, Abhängigkeit der Schule von der Kirche,
Zunftwesen, das Eisenbahn- und Maschinenwesen in seinen Windeln
liegend, gegenseitige Eifersüchteleien unter den einzelnen Staaten,
Deutschland mißachtet von allen anderen Staaten -- aber anderseits
blühender Gewerbe- und Handwerkerstand, gegenseitige Treue und Glauben,
geringe Steuern und Militärlasten u. s. w. u. s. w.

Und jetzt? Ein geeintes Deutschland, feste Gliederung der einzelnen
Staaten an einander, würdige Vertretung nach Außen, gediegenes
unabhängiges Schulwesen, Gewerbefreiheit, ein dichtes Netz von
Eisenbahnen, massenhafte neue Erfindungen, die Nähmaschinen, Gas,
elektrisches Licht, Telegraph und Telephon -- aber anderseits
Rückgang des früher so blühenden Mittel- und Handwerkerstandes,
Socialdemokratie, riesige Militärlasten und schwere Steuern; Gegensätze
wie sie wohl kein einziges der vergangnen Jahrhunderte im gleichen
Maaße aufweist.

Nicht zum Wenigsten aber sind es die Städte des Landes, welche sich
riesig verändert haben und unter ihnen wieder die größeren Städte,
welche in den wenigen Jahrzehnten ihren Umfang nach allen Richtungen
mächtig ausdehnten und deren Bevölkerungszahl im gleichen Maaße stieg.

Daß auch unser Leipzig, schon vermöge seiner günstigen politischen und
geschäftlichen Lage, im Centrum von Deutschland und vermöge seiner
besonderen Vorzüge als alte weltberühmte Handels- und Universitätsstadt
hierin nicht zurückblieb, ist selbstredend, ja es ging mit wenig
Ausnahmen allen anderen Städten Deutschlands voran, indem es sowohl
seinen Umfang wie seine Bevölkerungszahl in den letzten 50 Jahren
versechsfachte.

Ein großstädtisches Treiben hat sich entwickelt und mit ihm sind nicht
nur die früheren um Vieles bescheideneren Ansprüche an das Leben,
sondern auch ein gut Theil der alten Gemüthlichkeit verloren gegangen
und nur in der Erinnerung des alten Leipziger Bürgers leben dieselben
fort, bis auch der Letzte derselben dahinstirbt und die alten lieben
Erinnerungen mit ins Grab nimmt. -- -- --

Anno 1840 waren Leipzigs Vorstädte, auf deren allmälige Entwicklung
wir später eingehender zurückkommen, noch im Entstehen begriffen und
zwar verstehen wir unter diesen Vorstädten keineswegs das jetzige
aus der Anektirung der dicht bei Leipzig gelegenen Dörfer gebildete
Neu-Leipzig, sondern die jetzigen, sogenannten inneren Vorstädte,
welche sich rings um die früheren Wallgräben und jetzigen Promenaden
ziehen. Der Wallgraben, dessen bedeutende Tiefe man noch an den Resten
desselben bei der nun auch dem Untergang geweihten Pleißenburg erkennen
kann -- und von dem der Töpfer- und östliche Fleischerplatz sowie der
Schwanenteich noch Ueberbleibsel sind, zog sich in den vierziger Jahren
noch vom südlichen Ausgang der Petersstraße bis zum Georgenhause,
der jetzigen Creditanstalt an der Ecke des Brühls und der jetzigen
Goethestraße. Nur der Augustusplatz unterbrach denselben. Das alte
architektonisch prächtig ausgeführte Petersthor, welches erst 1860
abgetragen wurde, bildete eine geräumige, mit Fahr- und Fußwegen,
welche durch Säulen und Wandöffnungen von einander getrennt waren,
versehene Halle und eine breite Brücke führte über den, rechts und
links tief unten liegenden Wallgraben nach dem Roß- und Königsplatz
und dem Obstmarkte, auf welch letzterem an Markttagen die von auswärts
mit Stroh und Heu nach der Stadt kommenden Händler feil hielten. In
der Mitte des Petersthores, links von der Petersstraße, befand sich
an dem Durchgang für Fußgänger eine Spitzbogenthür, welche auf die
sogenannte Terrasse oder Bastei führte. In der linken Seite dieser
schmalen nach der ersten Bürgerschule führenden Gasse standen bis
zur Universitätsstraße ganz gleichmäßige, wunderhübsche, idyllisch
gelegene, nur einstöckige Häuschen, welche sich mit dem Rücken an die
Peterskirche und deren Nebenhäuser lehnten, kleine sorgfältig gepflegte
Vorgärten hatten und bis zum Dach mit wildem Wein überzogen waren.
Der Neumarkt hatte damals also noch keinen Ausgang auf die jetzige
Promenade. Auf der rechten Seite der Terrasse befand sich die etwa
brusthohe oben mit Granitsteinen belegte Mauer, welche die kleine Gasse
von dem tiefen Wallgraben schied. Rechts und links von der Petersbrücke
aus, welche schon damals unten mit Erde ausgefüllt war, führten dichte
Tannengebüsche bis hinunter in den Wallgraben, oder wie er damals
genannt wurde, den Stadtgraben. Zwei mehr als sechszig Fuß hohe riesige
Pappeln, deren letzte erst bei einem Umbau des Polichschen Geschäftes
weggeschlagen wurde, standen wie zwei kolossale Wächter rechts und
links des Petersthores und ragten vom Grunde des Stadtgrabens noch
weit über das sehr hohe, oben mit dem steinernen Stadtwappen gekrönte
Petersthor hinaus.

Unten im Wallgraben, dessen Abhänge auch auf der Promenadenseite und
an der Universitätsbrücke mit dichtem Tannengehölz bewachsen waren,
standen wilde Obstbäume, Vogelkirschen und Eibenbäume in ziemlich
wirrem Durcheinander und nur beim Ausgang der Universitätsbrücke am
Roßplatz führte ein schmaler Fußpfad hinab in die für uns Jungen zu
Räuber- und Indianerspielen besonders verlockenden geheimnißvollen
Gestrüppe des »alten Stadtgrabens«. War aber »Blech« -- diesen
Spitznamen führte bei uns Jungen der damalige _einzige_ Wächter der
Promenadenanlagen und der Stadtgräben -- in der Nähe, so bahnten wir
uns auch oft genug, nicht gerade zum Vortheil unserer Hosen und Kutten,
einen Weg durch das düstere Gestrüppe der Tannen und mit Vorliebe
saßen wir in demselben versteckt und erzählten uns Räubergeschichten
aller Art, je schauerlicher desto willkommener, bis uns »Blech«, der
»Schippendittrich« -- so nannten wir ihn auch wegen seiner stets
mitgeführten Schippe -- auch hier aufstöberte und aus unserm Tuskulum
hinausjagte.

An der Universitätsstraße führte ebenfalls eine Brücke, die
Universitätsbrücke, über den Graben, der auf der jenseitigen Seite,
also hinter der ersten Bürgerschule nach dem Roßplatze zu mit hölzernen
Barrieren versehen war, auf denen wir »Kolter und Waitzmann« spielten
und unsre ersten kühnen Versuche auf dem Gebiete des Turnens und
Seiltanzes machten. Der Roßplatz, damals noch nicht planirt und mit
vielen Bodensenkungen versehen, bot uns zur Winterszeit, wenn es
glatteiste, eine treffliche Schlittschuhbahn.

Die Grimmaische Straße schloß nach dem Augustusplatz das schon in
den vierziger Jahren gefallene Grimmaische Thor ab und von ihm bis
zum Georgenhaus standen hohe düstere Universitätsgebäude, das noch
vorhandene, aber umgebaute »schwarze Bret«, das »rothe Colleg« u. s. w.
An der rechten Seite dieser Gasse -- der jetzigen Goethestraße, stand
ebenfalls eine Mauer, welche dieselbe vom früheren Stadtgraben,
jetzigen Schwanenteiche schied. Der Eselsplatz, jetzige Ritterplatz
beim Königl. Palais, hatte hier keinen Ausgang und auch vom Brühl
führte nur das sogenannte »Zuchthauspförtchen« auf die schmale Passage.
Die ersten wirklichen Promenadenanlagen erstreckten sich von hier bis
an das jetzige »alte Theater«. Uralte Häuser, darunter die »weiße
Taube« bildeten von hier einen kleinen Halbkreis bis zum westlichen
Brühlausgange gegenüber der Hainstraße. Wo jetzt das Hotel Müller am
Neukirchhof steht, standen damals uralte, frühere Klostergebäude,
welche sich nach dem alten Theater zu fortsetzten und an der
Promenadenseite des jetzigen Hotels »Stadt Gotha« mit dem sogenannten
»Neupförtchen« ihren Abschluß fanden. Von hier aus bis zum Schloß
Pleißenburg ist die Scenerie seit 1840 nur wenig verändert worden, mit
Ausnahme der Freilegung der Thomaskirche. Am Thomaskirchhof zwischen
der alten Thomasschule und dem früheren »Schneiderhaus« (damals
Eigenthum der reichen Schneiderinnung) lag das »Thomaspförtchen«. Das
Schloß Pleißenburg, dessen wahrhaft malerische Schönheit, mit seinen
fliegenden Gärten und Bastionen, seinen Säulen und mittelalterlichen
Thorgängen, schon durch die Ende der sechsziger und in den siebenziger
Jahren unsres Jahrhunderts stattgefundenen Vor- und Einbauten stark
entstellt worden ist, schließt unsern Rundgang um Altstadt Leipzig.

Die Petersstraße, damals noch ziemlich still, da sich die
Hauptgeschäfte Leipzigs mit Ausnahme des von Gustav Steckner, in der
Grimmaischen Straße befanden, zeigte eine Menge ebenfalls sehr alter
und großer Gebäude auf. Da war zunächst der »Hirsch« an der Ecke der
Magazingasse, dann »Stadt Wien«, halb Hotel, halb Oekonomiehof, bei
dessen im Zickzack angelegten Durchgange nach der Schloßgasse man über
Pfützen, Löcher und Dunghaufen steigen mußte, dann das finstere alte
»Juridicum« mit seiner Halle und der im Hofe befindlichen altberühmten
Kitzing und Helbigschen Restauration, dann die »drei Könige« und der
»goldene Arm«, alles seitdem umgebaute Häuser. In der Magazingasse
stand rechts am Petersthore die thurmlose alte Peterskirche und an
der Ecke des Neumarktes der alte Rathsmarstall, ebenfalls ein uralter
baufälliger Oekonomiehof, dessen Hauptsehenswürdigkeit ein riesiger
Dunghaufen in der Mitte des durch zwei große Scheunenthore nach dem
Neumarkt und der Magazingasse zu abgeschlossenen Hofes bildete. In der
Universitätsstraße stand rechts neben dem »Bär« das alte rußgeschwärzte
»Lutherhaus«. Vom Café Francais resp. Grimmaischen Thor bis zum Eckhaus
der Universitätsstraße erstreckten sich die erst 1846 weggerissenen
sogenannten Colonaden, die übrigen Straßen und Gäßchen der inneren
Stadt haben sich bis auf verschiedene Um- und Neubauten von Häusern
nur wenig verändert. Als im Jahre 1845 der Markt neu gepflastert
wurde, pflasterte man auch das noch jetzt zu sehende Wappen der Stadt
mit farbigen Steinen in die vor dem Rathhausdurchgang befindliche
Marktfläche. Am Ende des Brühls nach Osten lag das alte »Georgenhaus«,
ein altes finstres burgähnliches Gebäude, welches die Wohnstätte der
»Versorgten«, aber auch ein Krankenhaus für Sieche und besonders
Irrsinnige, sowie das Waisenhaus enthielt. Ueber seinem Eingangsthore
befand sich die Legende des mit dem Drachen kämpfenden Ritters St.
Georg in Stein gehauen. Dem Georgenhaus gegenüber, an der Ecke der
Ritterstraße lag die »alte Heuwaage«, gewissermaßen eine Copie
der damals noch mit einem Treppenthurm versehenen »alten Waage« am
Marktplatz.

Die alte »Wasserkunst«, welche am jetzigen Eingange der Mozartstraße,
an der Nonnenmühle lag, versorgte die Stadt mit Röhrwasser (Flußwasser)
und deshalb befand sich im Hofe fast jeden Hauses ein gewöhnlich
hölzerner Wasserbehälter, Röhrtrog genannt. Das Trinkwasser lieferten
zahlreiche in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt befindliche
Brunnen, von denen einige besonderes Renommée und Zulauf seitens
der Bevölkerung hatten. Da war zunächst der noch jetzt stehende
»Löwenbrunnen« am Naschmarkt, dann der »goldne Brunnen« am Markte,
gegenüber dem Salzgäßchen, dann der »Neumarktsbrunnen« an der »Marie«,
Ecke des Neumarktes und Grimmaische Straße; der berühmteste aber war
der »Bettelbrunnen« auf dem Augustusplatz, gegenüber der Johannisgasse.
Letzterer war von Bänken umgeben und einige Frauen kredenzten dem
Durstigen aus bereit gehaltenen Gläsern für einen »Dreier« gern das
kühlende Naß.

Die Polizeiverhältnisse waren überaus gemüthliche. Die Bewohnerschaft
war den meist lange Jahre im Dienst befindlichen, mit derbem Stock
bewaffneten Polizeidienern, nach ihren Revieren, meist genau
bekannt und das ehrwürdige Institut der Nachtwächter war auch von
Leuten besetzt, die vorzüglich bei dem damals noch völlig unter der
Gerichtsbarkeit der Universität stehenden Bruder Studio Spaß verstanden
und ihre Kundschaft kannten. Die Handwerksgesellen und Lehrlinge,
wie auch viele Handlungsgehilfen wohnten im Hause des Meisters oder
Brodherrn; die Bedürfnisse waren geringer wie jetzt, Nahrungsmittel
und Wohnungen billiger und die Steuern gegen jetzt kaum nennenswerthe,
ihre Eintreibung aber eine so der allgemeinen Gemüthlichkeit Rechnung
tragende, daß wir uns nicht versagen können, der Erinnerung an eine
solche Episode ein besonderes Capitel zu widmen.



                                  II.

    Heiterer Rückblick auf die Steuerbeitreibung in früherer Zeit.


Wenn man als älterer Bürger unserer guten Zukunfts-Millionen-Stadt
um vierzig Jahre zurückblickt auf die Steuerverhältnisse der guten
alten Zeit und sie mit der Jetztzeit vergleicht, so überläuft
Einem einerseits ein gelindes Grausen über die jetzt nie endende
Steuerschraube und andererseits ein Lächeln darüber, daß man schon
damals über hohe Steuern raisonnirte. Bedenkt man, daß zu jener Zeit
der Inhaber des kaufmännischen Geschäftes, in welchem Schreiber
Dieses seine Lehrzeit vollbrachte, trotzdem das Geschäft mit einem
Commis und mehreren Verkäuferinnen betrieben wurde und also kein
unbedeutendes war, Alles in Allem noch nicht 10 Thaler, also 30 Mk.,
Steuern im Jahre bezahlte, ein Betrag, den jetzt schon ein Arbeiter
mit etwa 900 Mk. Einkommen zu erlegen hat, so bekommt man ungefähr
einen Begriff von dem Unterschied zwischen jetzt und damals. Und dabei
war die Eintreibungsmethode damals eine so gelinde, daß dieselbe für
die Jetztzeit eine wahre Freude wäre, und bei dieser Methode kam es
fast niemals zu tragischen Episoden, wie jetzt leider oft genug, wohl
aber häufig zu den heitersten Vorkommnissen. Es existirte damals
nämlich, als es noch nicht so genau darauf ankam, ob einige Tausende
ihre Steuern bezahlten oder nicht, denn das Land war ja reich genug,
noch das Mahnen durch dazu von der Steuerbehörde vom Garnisoncommando
erbetene Soldaten. Zu diesem nicht unlucrativen Geschäft commandirten
nun in der Regel die Hauptleute sogenannte, meist verheirathete,
Stellvertreter, d. h. solche Soldaten, welche für dreihundert Thaler,
außer ihren eignen sechs Jahren, noch weitere sechs Jahre freiwillig
dienten. Diese alten Soldaten nun wurden dazu auserlesen, die säumigen
Steuerzahler zu ihrer Pflicht zu bringen, und wenn es in Leipzig hieß
»_Der Schütze kommt_«, so wußte jedes Kind, was dies zu sagen hatte.

Wenn also irgend Jemand mehr als billig mit den Steuern im Rückstand
war und die erste Mahnung eines Rathsdieners, an welchen die
Mahngebühr im Betrage eines Sechsers (sechs Pfennige) zu entrichten
war, unberücksichtigt ließ, so erhielt er nach einigen Wochen den mit
Schwert und Patronentasche umgürteten »Schützen« (in Leipzig standen
Schützen und Jäger) zum Besuch. Derselbe mahnte wieder und hatte einen
Betrag von 25 Pfennigen oder zwei gute Groschen zu erhalten. Blieb auch
diese Mahnung ohne Erfolg, so erschien der Krieger wieder, diesmal aber
mit dem Gewehr, und mußte nunmehr 75 Pfennige Mahngebühr erhalten,
vorausgesetzt natürlich, daß sie der Säumige hatte oder bezahlte. Lud
aber auch auf diese Mahnung der Schuldige nicht schleunigst ab, so
erschien -- der kriegerische Mahner mit Ober- und Untergewehr, den
Tornister feldmäßig gepackt, den Kriegshut (Tschacko) auf dem Haupte,
zum letzten Mal und forderte den Tribut der Landesverwaltung sofort! --
Erhielt er aber denselben wiederum nicht, so -- -- -- quartirte sich
der edle Krieger ganz einfach bei dem Schuldner ein, verlangte Bett und
reichliche Atzung und -- blieb so lange, bis -- eben gezahlt wurde. Daß
bei dieser Methode mancherlei sehr komische Intermezzi mit unterliefen,
ist selbstverständlich, und da mir aus meiner Jugendzeit eines
derselben, weil es in unserem eigenen Haushalte passirte, besonders
erinnerlich ist, so sei es den Lesern dieses Heftes mitgetheilt.

Meine Eltern bewohnten damals für den Miethzins von 80 Thaler die
ziemlich geräumige erste Etage (Was würde dieselbe wohl jetzt Miethe
kosten?) eines Hauses in der Petersstraße und bei uns hatte ein Zimmer
mit Alkoven der akademische Maler O. M. als Chambergarnist inne. Das
persönliche Besitzthum dieses ebenso talentvollen wie leichtlebigen
jungen Mannes bestand aus einem sogenannten guten Anzug, der aber
auch eigentlich sein einziger war; denn einige sonst noch vorhandene
Unaussprechliche besaßen derartige Defecte, daß er, wenn er dieselben
für den häuslichen Gebrauch anlegen wollte, oft ernstlich im Zweifel
darüber war, zu welchem Loch er hinein schlüpfen sollte. Außer
diesem Anzug besaß der Edle noch einen alten menschenfreundlichen
Schlafrock -- menschenfreundlich in der Beziehung, als er dem Besucher
die vorerwähnten Defecte wenigstens einigermaßen verhüllte, obwohl
dieselben den glücklichen Besitzer durchaus nicht genirten. Nennen
wir nun noch einige, nicht zweifellose Hemden, Strümpfe, ein halbes
Dutzend Vatermörder, ein Paar niedergetretene ehemalige Hausschuhe,
~vulgo~ Laatschen, einen türkischen Fez, eine lange Tabakspfeife und
einen Stiefelknecht, sowie ein Paar roh zusammengeschlagene Latten
(stolz von ihrem Besitzer Staffelei genannt), Pinsel und eine Anzahl
meist zerbrochener Farbentöpfe, so glauben wir von seinem Reichthum
nichts vergessen zu haben. Halt! Etwas haben wir doch vergessen! Seinen
unverwüstlichen Humor, welcher ihn befähigte, das Leben stets nur von
seiner Lichtseite zu betrachten, sowie eine Beredsamkeit, die jede
andere absolut zum Schweigen brachte und ihn oft genug siegreich aus
Situationen zog, welche peinlich zu werden drohten. Brachte er es
doch fertig, einst seinem als sehr grob bekannten Schneider, nachdem
derselbe Jahr und Tag auf die Bezahlung seiner Rechnung gewartet
hatte und mit seiner massivsten Grobheit anrückte, durch seinen bald
schmeichelnden, bald herzbrechend klingenden Zungenschlag nicht blos
zu noch längerem Warten zu vermögen, sondern ihm -- ach derselbe wußte
nicht, was er that -- -- noch um zwei Thaler anzupumpen. Niemand
vermochte eben dem lustigen und luftigen Gesell ernstlich oder
gar dauernd Gram sein. Selbst mein Vater, der in Geldsachen etwas
skeptischer Natur war, unterlag seinem Zauber, von meiner Mutter mit
ihrem guten mitleidigen Herzen gar nicht zu reden. Hatte er Geld, so
kamen allerdings seine Wirthsleute zuerst daran, dann aber flog es
in alle Winde -- und Steuern? -- Lieber Gott! Steuern betrachtete er
als ihm widerrechtlich auferlegten Tribut, gegen welchen sich, wie
er sagte, seine innerste Natur empörte -- deshalb bezahlte er solche
schon aus Prinzip nicht. -- -- Diese letztere löbliche Eigenschaft
war denn auch sowohl der Steuerbehörde wie den mahnenden Soldaten
hinreichend bekannt, und wenn daher auch der Name O. M. bei jeder
neuen Steuerrate mit größter Pünktlichkeit stets wieder auf der
Restantenliste figurirte, so strichen erfahrene Mahner eben denselben
einfach an und ersparten sich ein für allemal den für sie und den Staat
vollkommen unnützen Weg. Nur wenn einmal unter den militairischen
Plagegeistern neue, mit ihrer Kundschaft nicht Vertraute eingestellt
worden waren, passirte es wohl, daß ein solcher, getrieben von
löblichem Pflichteifer, eine neue Attaque auf den leider stets leeren
Geldbeutel des Malers machte, mit welchem Erfolg, wird der Leser gleich
erfahren. -- -- --

Es war in der Dämmerstunde eines regnerischen Herbsttages, als wir
Zwei -- ich war nämlich ein Specialfreund von O. M. -- in dessen
Stube zusammen waren. Er lag, in den Schlafrock gehüllt, den Fez auf
dem lockigen Haupte, in keineswegs malerischer Pose auf dem Sopha, ich
saß auf dem hölzernen Tritt an den Fenstern. Zwischen uns herrschte
momentanes Schweigen und zwar aus gutem Grunde, denn wir waren Beide
mit der Vertilgung je einer riesigen Fettbemme eifrig beschäftigt,
wie dieselben in solcher Größe und Dicke nur meine sparsame Mutter
uns Kindern servirte. Diesmal aber war, wie schon oft, unter »uns
Kindern« auch wiederum unser Chambergarnist gewesen, denn Mutter hatte
seine beredten Blicke bei Austheilung der Bemmen an uns sehr richtig
verstanden und ihm ebenfalls eine geschmiert, die er nun mit dem
Appetit eines gesunden sechsundwanzigjährigen Mannes verzehrte. Sein
Geldbeutel befand sich eben wieder einmal im Zustande vollständiger
trostloser Leere, was Wunder, daß ihn das knusprige Bauernbrod von der
Größe eines mäßigen Wagenrades, sowie das delicate Schinkenfett auf das
Verführerischste in die Augen lachten?

[Illustration]

Eben war der letzte Bissen unter dem vollen, blonden Schnurrbart
meines Freundes verschwunden, und er angelte mit der Rechten nach der
herabgerutschten langen Pfeife, da erklangen auf dem Flur draußen harte
Tritte, eine derbe Hand pochte an die Thür, und ehe noch M. »herein«
rufen konnte, öffnete sich dieselbe. Herein trat in oben beschriebener
vollständiger Ausrüstung ein Schütze. Derselbe schloß die Thür hinter
sich und begann seinen Vers herzusagen:

»Im Auftrage der etc. Steuerbehörde komme ich, um Sie zum letzten Mal
zur Bezahlung der restirenden Steuern aufzufordern!«

Augenblicklich war mein Freund auf den Beinen und schritt
freudestrahlend mit Grandezza auf den bärtigen Krieger zu.

»Sei mir willkommen, gewappneter Vertheidiger meiner heimathlichen
Gefilde, Gruß und Kuß entbiete ich Dir -- o in Waffen strotzender
Jüngling!«

Der biedre Schütze wich vor der ihm angedrohten Umarmung einige
Schritte zurück.

»Ach«, sagte er gemüthlich, »machen Se doch keen Unsinn! Hier is de
Quittung, wo ham Se d’n s’Geld?«

»Geld?« declamirte M. pathetisch mit der Pfeife in der Luft herum
vagirend, so daß der Soldat wieder etwas zurückweichen mußte, »Geld?
-- Bedarf es des elenden Mammons, um zwei deutsche Männer, sich in
gemeinsamer Liebe zu dem theuern Vaterlande begegnend, an die Brust
sinken zu lassen? O -- komm Bruder in meine Arme -- --«. Jetzt wurde
die Sache aber doch, wie es schien, dem Schützen etwas zu bunt.

»Ach, machen Se doch keene solchen Ginkerlitzchen!« rief er, »wenn Se
eben nich bezahlen, denn bleibe ich hier bei Sie im Quartier un habe zu
verlangen -- --«

»Wie?« antwortete freudestrahlend der Gemahnte, »Du bist gekommen,
um in diesen der Kunst geweihten Hallen mein Gast zu sein? O --
nochmals -- sei tausendmal willkommen! Doch jetzt hinweg mit dem
Völker mordenden Gewehr, herunter mit Deiner schweren Behauptung und
dem belastenden Tornister! -- Entgürte Deine Hüften« -- -- -- hierbei
nahm er dem theils verdutzten, theils in der Aussicht auf ein längeres
gutes Quartier schmunzelnden Soldaten Gewehr, Tzschacko und Tornister
ab und schnallte ihm die Leibkoppel los, »-- so und nun -- herab mit
den Stiefeln und bequem gemacht; den schweren Rock aus -- was wäre
das für ein Gastfreund, der dem geliebten Gast nicht sein Alles gäbe!
-- Hier -- meine Laatschen an Deine bisher von rauhem Leder bedeckten
Füße -- hier mein Schlafrock zur weicheren, wärmenden Hülle und -- --
hier meinen von einem tunesischen Seeräuber mit eigner Hand erbeuteten
Fez -- -- -- so -- -- -- und nun -- o Liebling des Mars, mach’ Dir es
bequem auf dem schwellenden Sopha -- --!«

Und richtig saß binnen fünf Minuten der edle Vaterlandsvertheidiger,
angethan mit Schlafrock, Laatschen und Fez, ein nicht sehr geistreiches
Lächeln auf den Lippen, auf dem Sopha, indeß M. in seine Stiefeln fuhr,
seinen Anzug herbeischleppte und -- ohne wegen seiner verschiedentlich
erscheinenden Blößen in Verlegenheit zu gerathen, in kaum glaublicher
Schnelle vollständig Toilette zum Ausgehen machte.

»Sie sein zu gitig!« sagte schmunzelnd der »Liebling des Mars«, im
Sopha lehnend. »Nee so freindschaftlich -- na -- mir wer’n uns schon
vertragen! -- Aber -- wo woll’n Se denn hin?« frug er, als jetzt M.
seinen etwas schäbigen Calabreser eifrig abbürstete.

»Ich? Du fragst noch -- Freund meiner Seele? -- Ich gehe, um den nun
einmal zum Leben unentbehrlichen schnöden Mammon aufzutreiben -- denn
-- siehe -- o Bruder -- kein Stümpfchen Licht zur Beleuchtung dieser
traulichen Hallen, keinen Spahn Holz und kein Stücklein Kohle zur
Speisung des stattlichen Ofens, kein Stücklein Brod und -- -- keinen
Pfennig Geld nenne ich mein! -- Aber -- verzage nicht -- ich habe
da unten -- wo die Schlösser der Hauptstadt stehen -- in Dresdens
lachenden Gefilden -- einen Oheim -- zu dem eile ich auf dem Rappen des
Schusters, und habe ich von ihm des Mammons Fülle erbettelt, so nah ich
auf des neu errichteten Dampfrosses beflügeltem Rücken, und bringe dem
harrenden Gaste der köstlichsten Speisen in Menge!«

Immer länger war das Gesicht des guten »Schützen« während dieses
Sermons geworden, jetzt sprang er aber vom Sopha auf und sagte
entrüstet:

»I -- nu -- das geht doch nich, mei Gutster! Wie lange soll denn das
dauern?«

»Erzürne Dich nicht -- o -- Freund! Ich eile; binnen vier, höchstens
fünf Tagen schon trägt mich auf’s Neue das Dampfroß in Deine Arme!«

»Was?! -- Schwafeln Se doch nich so dumm! -- I! Zum Donnerwetter! Da
könnte ich derweile verhungern! Ich sehe’s schon ein -- Sie wär’s egal.
Nee -- so dumm sin mer nich, da geh’ ich lieber in de Caserne -- das
wäre noch scheener -- -- --«

Und weiter raisonnirend warf sich der undankbare Gast, trotz
der schmerzlichen Miene seines Gastfreundes, schleunigst die
Kleidungsstücke desselben wieder von sich, zog seine Stiefeln fluchend
an, umgürtete sich, sackte den Tornister und stülpte den Kriegshut
auf, nahm sein Gewehr und -- -- -- ward nicht mehr gesehen! O. M. aber
kleidete sich nach dem Entfliehen seines Gastes ruhig wieder aus, legte
die von Letzterem verschmähten Gewänder wieder an, stopfte sich eine
neue Pfeife, legte sich aufs Sopha und -- erzählte mir mit stoischer
Ruhe, nachdem sich meine Lachlust endlich wieder gelegt hatte, die
Räubergeschichte von: »Sixtiniano, dem furchtbaren Banditen«.



                                 III.

                           Die Südvorstadt.

                Ein Sonntagsausflug vor fünfzig Jahren.


Wenn man jetzt durch die Straßen der mächtig emporwachsenden
Südvorstadt schreitet und dann, rechts abbiegend, den Rennplatz umgeht
und sich, auf einer Bank des sorgfältig gepflegten Scheibenparkes
Platz nehmend, dann um vierzig Jahre zurückversetzt und an die
damaligen idyllischen Zustände dieser Stadtgegend denkt, schüttelt
man wohl unwillkürlich über die Vergänglichkeit alles Irdischen
und doch wieder über das unermüdliche Schaffen der Menschenhand
das Haupt und ein Lächeln über diese Erinnerung an die -- ach so
schöne -- Jugendzeit, huscht über das alternde Angesicht. Hat sich
doch gerade die Südvorstadt, die ursprünglich von der Natur sehr
stiefmütterlich beanlagt war, zu einem der schönsten und wohl auch
am zahlreich bevölkertsten Stadttheile emporgehoben, sie, die selbst
noch zu Zeiten des unvergeßlichen Turnfestes, also vor kaum 30 Jahren,
noch nicht einmal in den Kinderschuhen ihrer Entwickelung stand.
Außer dem Peterssteinweg mit seinen alten niedrigen Häusern, welche
seitdem zum guten Theil ebenfalls Neubauten gewichen sind, standen,
pflichtgemäß jedem Fremden als hervorragende Sehenswürdigkeiten
Leipzigs bezeichnet, das Römische Haus und diesem gegenüber am Ende
der kleinen Burggasse das wohl zehn Stock hohe Seilerhaus, dessen
Besitzer, ein unter die Originale des alten Leipzigs gehöriger,
ebenso reicher, wie besonders zur Weihnachtszeit sehr mildthätiger
Seilermeister, noch einen anderen nicht auf all zu große Reinlichkeit
schließenden Beinamen führte. Hinter dem Seilerhause befand sich
das Bad des Altmeisters der Fischerinnung Händel und an dasselbe
schlossen sich bis zur Pleißengasse die zahlreichen Fischerhäuschen,
keines höher, als daß nicht ein mäßig großer Mann bequem auf das Dach
hätte langen können, mit kleinen am Pleißenufer gelegenen blühenden
Gärtchen, eine echte und rechte Fischercolonie. Mitten hinein in die
Breite der Kleinen Burggasse, sich mit dem linken Seitenflügel an
das alte Gerichtsamt, damals Bezirksgericht I, lehnend, stand das
einstöckige sogenannte Töpferhaus, über dessen niederer Hausthür
ein in Stein gehauener Töpfer mit Zipfelmütze auf dem Kopfe und der
Pfeife im Munde, bei seiner Arbeit abgebildet war. Dann kam der alte
Petersschießgraben, dessen Hauptfronte, wenn im Saale des ersten
Stockes Tanzmusik war, Complimente machte und neben dem Römischen
Hause die alte »Grüne Linde«, welche mit der »Dürren Henne« -- jetzt
Bamberger Hof, Windmühlenstraße -- und dem noch jetzt existirenden
»Blauen Roß« am Königsplatz, die drei größten Ausspannungsgasthöfe des
Südviertels bildeten. Zum Petersschießgraben gehörten, nach der Zeitzer
Straße zu, noch einige ebenso niedrige Hütten wie die Fischerhäuser,
denen gegenüber an der Ecke der jetzigen Emilienstraße das sogenannte
»Storchnest«, ein uralter, großer, der Stadt gehöriger Oekonomiehof,
auf dessen Dach sich als Wahrzeichen ein alle Jahre besiedeltes
Storchnest befand und dann -- ja dann war es mit den Häusern, da sich
auch das alte Zeitzer Thor hier befand, zu Ende. Halt! Doch nicht,
mitten in den Gärten und Getreidefeldern lag rechts an der Straße,
der Stolz des damaligen vergnügungssüchtigen Leipzigers, das Tivoli;
außer dem Waldschlößchen in Gohlis und dem Helm in Eutritzsch, wohl
damals das am stärksten frequentirte Tanzlocal der soliden Leipziger
Bürgerschaft. Weiter unten, rechts im Thale, stand das Gosenschlößchen
(jetzt Schubert’s Ballhaus), dann die Brandbäckerei und das 1866 auf
so schauerliche Art abgebrannte Feldschlößchen, letzteres mitten im
Felde. Die Ansprüche an das Leben und seine Vergnügungen waren damals
natürlich weit bescheidener als jetzt, und es war nicht gegen den guten
Ton, wie man jetzt in durchaus falscher und überflüssiger Prüderie fast
durchgängig annimmt, wenn Vater Sonntags beim Spaziergang nach einem
Etablissement auch Muttern mal im Tanze schwenkte! Schreiber dieses
weiß noch ganz genau, wie mißbilligend zwar Vater jedesmal die Miene
verzog, wenn er sah, daß Mutter zum Spaziergang nach der Brandbäckerei,
zwei, drei steifgestärkte weiße Röcke anzog, aber -- er protestirte
nicht. Mutter plagte sich die ganze Woche über, gleich ihm, ehrlich
und tummelte sich rechtschaffen, die bescheidene Sonntagsfreude
verkümmerte ihr Vater nie. Und so ging es denn hinaus ins sonnige Freie
durch die Münzgasse und über den kaum ellenbreiten Steg, der über den
Floßgraben auf den Floßplatz führte. Der Floßgraben, welcher die ganze
Länge des Floßplatzes durchströmte und auf welchem das _Rathsfloßholz_
auf dem einfachsten Wege vom Gebirge bis nach der Stadt herabschwamm,
um auf dem Platze selbst in zahlreichen riesigen Stößen zum Trocknen
aufgeschichtet zu werden, ist heute ebenfalls verschwunden. Dann führte
der Weg an der _Schimmelei_ -- Schimmel’s Gut mit der Insel Buen Retiro
-- vorüber, immer zwischen Gärten, bis hinaus auf die Brandbäckerei,
wo bei Kaffee, die Portion mit fünf Tassen, für zwei gute Groschen und
delicatem Kaffee- oder Käsekuchen, das große Stück für einen Sechser,
in einer der prächtigen Lauben Platz genommen wurde. Dies war für uns
Kinder. Nach einer oder zwei Stunden ging es dann zurück, Vater wollte
nun seine Gose trinken. Der prächtige Garten des Tivoli erstreckte
sich damals bis zum Brandweg, der jetzigen Dufourstraße, hinunter
und hatte hier ebenfalls einen Eingang. Durch diesen traten wir nun
ein, und indeß Vater die dickbauchige Gosenflasche mit Kennermiene
balancirte und einschenkte, tummelten wir uns froh in dem geräumigen
Garten. Die Töne der Tanzmusik unter Vater Wenck’s gediegener Leitung
drangen deutlich und lockend heraus durch die geöffneten Thüren.
Vatern wurde es bei denselben allmählich etwas unbehaglich, denn immer
deutlicher wippte Mutter bei jedem neuen Tanze mit dem Fuße und ihr
gutes freundliches Angesicht nahm allmählich bedenkliche Mienen an.
Da -- endlich, als ein schöner ruhiger Walzer begann, erinnerte sich
Vater energisch seiner sonntäglichen Pflicht. Vorsichtig legte er die
Cigarrenspitze auf den Tisch, räusperte sich vernehmlich, bot dann
Muttern voll Grandezza die Hand, und, bewundert von ihrer ehelichen
Nachkommenschaft, drehten sich gleich darauf Beide im Tanze auf dem
spiegelglatt gebohnten Saale. Hei, wie flogen da die aufgebauschten
Röcke unserer Mutter, und die langen Schöße von Vaters Sonntagsrock,
aus dessen hinterer Tasche die Enden eines neuen rothseidenen
Taschentuches zierlich herausschauten, flatterten hinterher. Vaters
Auge blickte zwar etwas stier, denn er konnte das Drehen nicht
vertragen, aber Mutter hielt fest und wankte nicht, bis der Walzer zu
Ende war. Aufatmend stand dann Vater erst einen Augenblick, um sich
über den Ausgang zu orientiren, dann aber zog er das bewußte Rothseidne
hervor und mit Genugthuung und männlicher Würde führte er, von uns
Kindern im Triumph begleitet, seine wieder in Güte strahlende bessere
Hälfte zurück in den Garten. Noch ein oder zweimal und zwar in der
Regel bei dem schönen Schottisch:

  »Meine Mutter schickt mich her, ob der Kaffee fertig wär --
  Sag Deiner Mutter ein Compliment und der Kaffee wär’ verbrennt! etc.«

oder zum Contre, bei welch’ letzterem alle Zierlichkeit der früheren
Tanzweise entfaltet wurde, mußte Vater ins Geschirr, wie er sich
wohl dann und wann ausdrückte, dann aber hatte Vater Ruhe. Er hatte
dann seine zwei Gosen, Mutter ihre Tänze, wir unsern Kuchen und heim
ging es wieder, denn der Abend nahte heran und mit ihm die Zeit des
Abendbrodes, nach welchem wir Kinder ein für allemal ins Bett mußten.



                                  IV.

                        Das Gutenbergfest 1840.


So verhältnißmäßig einfach nun auch vor 40—50 Jahren die Bürger und
Einwohner Leipzigs in ihrer Häuslichkeit lebten, trotzdem es schon
zu jener Zeit sehr reiche Leute in der Stadt gab und wirklich Arme
nur wenige vorhanden waren, so gastfreundlich und splendid war doch
die ganze Bevölkerung, wenn es galt, nationale oder sonst für die
Wissenschaft, Kunst oder Cultur bedeutungsvolle Feste zu feiern,
und dieser hohe Sinn, zu dem sich noch stets eine offene Hand bei
auswärtigen oder heimischen Unglücksfällen gesellte, hat sich Gott Lob
bis zum heutigen Tage erhalten.

Eines der bedeutendsten Volksfeste der damaligen Zeit war das am 24.,
25. und 26. Juni 1840 in Leipzig zu Ehren Gutenbergs und der Erfindung
der Buchdruckerkunst gefeierte »Vierhundertjährige Jubiläum der
Letzteren«.

Mittwoch, den 24. Juni versammelte sich die Kramer-Innung am
Kramerhause, Ecke des Neumarktes und des Kupfergäßchens; die
Mitglieder der Universität, Rektor, Professoren etc. und Studenten
im Hofe des Mauricianums; die Buchhändler in der Buchhändlerbörse in
der Ritterstraße und die Buchdrucker, Setzer und Schriftgießer in
ihrem Innungslokale und zogen unter Glockengeläute von da ab auf den
Marktplatz, wo die Communalgarde Spalier bildete. An der nördlichen
Seite des Marktes, vom goldenen Brunnen bis zur Hainstraße, also wo
jetzt das Siegesdenkmal steht, war eine große Tribüne errichtet für den
hohen Rath, die Offiziere der Garnison, die auswärtigen Deputationen
und Damen derselben. Mitten auf dem Markte bei der mittelsten Laterne
stand ein drei Ellen hohes und 16 Ellen langes, gleich der Tribüne
reich dekorirtes Podium, auf welchem 2 Pressen und 1 Schriftgießerei
verhüllt standen, neben an, ebenfalls verhüllt, stand auf hohem
Postament die vom Töpfermeister Funk kunstvoll angefertigte Statue
Gutenbergs in Lebensgröße. Auf den Söllern des Rathhauses und des
demselben gegenüber liegenden Aeckerlein’schen Hauses waren zwei
Musikchöre postirt, welche den Festzug der vorgenannten Corporationen
mit Musik begrüßten. Nach einer feierlichen Festrede und einem
gemeinschaftlichen Gesang, fielen die Hüllen von der Statue und den
Maschinen und letztere traten in Thätigkeit.

In der Buchhändlerbörse war große Ausstellung alter Schriften,
Pressen und Bücher. Nach dem Festaktus auf dem Markte war feierlicher
Gottesdienst in den Leipziger Kirchen, am Abend aber allgemeine
Illumination der Häuser der inneren Stadt.

Vor dem Grimmaischen Thor, auf dem Augustusplatze war vom Zimmermeister
Richter, der auch die Tribüne und das Podium errichtet hatte, eine
stattliche Festhalle -- »wie Leipzig in solcher schöner Gestalt noch
nie gesehen«, sagt eine Urkunde mit dem Festbericht aus jenen Tagen
-- erbaut worden. Dieselbe nahm fast die ganze Länge und Breite des
Platzes rechter Hand vom Fahrweg ein und in derselben war am 24.
Abends großer Commers, am 25. aber, von Nachmittag an bis fast zum
anderen Morgen großer Ball der Honoratioren und geladenen Festgäste
der Stadt. Am 26. Juni aber war allgemeines Volksfest. Früh begann
dasselbe mit einem großen Festzug, in welchem alle Gewerke mit ihren
Insignien vertreten waren, durch die Straßen der Stadt und zuletzt
zum Gerberthore hinaus auf den großen Festplatz, den Wiesen gegenüber
von Pfaffendorf, also da wo jetzt die Yorkstraße und ein neuer
Stadttheil steht. Auf den vier Ecken des Platzes waren Tanzböden zur
allgemeinen freien Benutzung errichtet, zu denen der Rath der Stadt
die Musik besoldete. Für die Jugend fanden allerlei Preisspiele wie
Wettrennen, Vogelschießen, Hahnenkampf, Sackhüpfen, Stangenklettern
und Topfschlagen statt, auch waren zahlreiche Caroussels vorhanden.
Geräumige Restaurationszelte spendeten gegen landesübliche Münze
Speisen und Getränke. War das ein Leben! Hier führte ein schmucker
Altgeselle im besten Sonntagsstaate, angethan mit blauem Frack
mit blanken Knöpfen, gelben Nankinghosen und ditto Weste, den
unvermeidlichen haushohen Cylinderhut auf dem Kopfe, des schmunzelnden
mit seiner Eheliebsten beim »Teppchen Braunbier« sitzenden Meisters
Töchterlein zum Tanz und polkte, zierlich »Schiebekästchen« und
»rechtsum--linksum« machend, beneidet von seinen Mitgesellen und
bewundert von den Lehrjungen, auf den nur flüchtig abgehobelten
Brettern dahin. »Mamsell Louischen!« flüsterte er ihr dabei in das
rosige Ohr »Ach -- wenn -- ich erst Meister bin -- -- --!«

Hier stockt der Biedere verlegen, aber ein beredter Blick Louischens
sagt ihm, daß sie ihn dennoch verstanden hat und -- -- -- ganz seiner
Meinung sei -- -- und beglückt segelt das junge Paar weiter, daß
die Frackschöße nur so fliegen und die langen Enden des zierlich
und kunstvoll geknüpften seidenen Halstuches im Winde flattern, als
beabsichtigten sie, ihr intimes Verhältnis mit den steifgeplätteten
Vatermördern durchaus aufzugeben. -- -- --

Dicht daneben waren zwei Pfähle etwa 3 Ellen von einander in die
Erde geschlagen und beide oben durch einen Strick verbunden. An dem
Strick hingen, durch einen Faden festgehalten dicht neben einander
»Sechserknackwürste« und echte »Wiener Sausischen« männiglich
bekannt als Meister Stöpels wohlrenommirtes Fabrikat. Eine Anzahl
größere Jungen und halbwüchsige Lehrbuben steckten bis zum Hals in
Getreidesäcken, so daß nur der Kopf und obere Hals frei blieb und
bemühten sich in dieser Situation nach den etwa ein viertel Elle über
ihren Köpfen baumelnden Würstchen hinaufzuspringen, um ein solches
mit dem Munde herabzureißen, die auf diese Weise erkämpften Würste
waren dann ihr Eigenthum. Die komischsten Capriolen waren bei diesen
Bemühungen geradezu unvermeidlich. -- -- --

»Ja -- un am Sonntage bist de mit der dicken Emile, vom Bäcker Winter,
bis früh um Dreie im »Wettiner« gewesen, un mir sagst de, daß de Wache
hättst! Foi Deibel!« sagte eine schlanke Vertreterin der dienenden
Classe zu einem flott aussehenden Oberjäger der Garnison, der -- die
mit des Königs Namenszug versehene zweizipfliche Mütze keck aufs Ohr
gedrückt, schuldbewußt vor der zürnenden Küchenhebe den Kopf senkte.

»Aber Carline -- -- --.«

»Mit uns hat sich’s aus carlint« raisonnirte die Schöne zungengeläufig
weiter, bis die lockenden Töne eines Walzers vom nahen Tanzboden an ihr
Ohr schlagen -- -- ach -- -- Otto -- -- der Ungetreue tanzt so schön!
Der Schwerenöther weiß die Gelegenheit sofort zu benutzen.

»Carlinchen -- nur den Walzer noch!«

Caroline schwankt, aber kühn umfaßt Otto ihre Hüfte -- und -- im
nächsten Augenblick neigt sie versöhnt das eben noch so finstere
Angesicht auf die Schulter des flotten Jägers und mit dem sanften
Wiegen im Tanze verfliegt ihr Zorn und aufs Neue schwört sie zu der
grün-weißen Fahne der sächsischen Armee. -- --

So nahte der Abend heran und die Studenten ziehen mit Fackeln in den
Händen im langen, von Musikbanden begleiteten Zuge vom Festplatz nach
der Stadt und durch die Straßen, und als sie auf dem Marktplatz den
Zug beenden, tönt brausend unter dem Zusammenwerfen der noch glimmenden
Fackeln ihr »~Gaudeamus igitur~« zum sternenbesäten Himmel empor.
-- -- Auf dem Festplatz aber geht es bis spät in die Nacht lebhaft
zu, wenn auch der Tanz mit der elften Stunde sein Ende erreicht. Aber
Alles verläuft in schönster Ordnung und die Communalgarde, welche
den Aufsichtsdienst in diesen Festtagen mit versah, rückt ebenfalls,
begleitet von Weib und Kind, in der Nacht wieder in die Stadt ein,
im erhebenden Bewußtsein, auch in diesen Tagen ihrer beschwornen
Bürgerpflicht gewissenhaft genügt zu haben. -- -- -- Ja -- die
Communalgarde -- sie war der Kern der Leipziger Bürgerschaft in Waffen
und schon ihre öffentlichen Exercitien schufen wahre Volksfeste. Wie es
aber bei denselben zuging, dies sei im nächsten Capitel wahrheitsgetreu
geschildert.



                                  V.

                    »Die Communalgarde rückt aus!«


Die Communalgarde Leipzigs, eine Nachfolgerin der 1812 durch den
französischen Stadtkommandant auf direkten Befehl des Kaisers Napoleon
ins Leben gerufenen Nationalgarde, vereinigte in ihren Reihen die
sämmtlichen zum Waffentragen geeigneten, gesunden Bürger Leipzigs aller
Stände ohne Unterschied. Sie hatte den Zweck, gewissermaßen das damals
nur wenige Militair durch Mitübernahme des städtischen Wacht- und
Sicherheitsdienstes gewissermaßen zu entlasten. Eine ihrer Abtheilungen
hatte bei Ausbruch von Schadenfeuern stets die Cordons zu ziehen,
indeß eine andre allabendlich eine Wache im Stockhaus am Naschmarkt
bezog. Kriegerisch thätig ist die Communalgarde, außer 1849 im
Aprilaufstand zu Leipzig, bei welchem die Bürgergarde im Kampfe mit den
Aufständischen drei Mann verlor, nie gewesen. Sie war eine friedliche
Truppe und selbst die Wache im Stockhaus war wohl mehr der Form als
der Nothwendigkeit wegen vorhanden. Kriegerische Lorbeeren waren bei
dieser »Käsekuchen-Wache«, wie sie im Volksmunde hieß, von vorn herein
ausgeschlossen, da sich das Wachtlokal dicht neben der Polizeiwache
befand, so daß man nicht wußte, ob die Communalgarde zum Schutze der
Polizeiwache, oder diese zum Schutze jener vorhanden sei.

Das Einexerciren resp. Trillen der neu eintretenden Mannschaften
erfolgte gewöhnlich im »Wettiner Saal«, einem jetzt ebenfalls
verschwundenen Tanzetablissement, welches in der »blauen Mütze«
ziemlich versteckt lag und Sonntags den Soldaten und Dienstpersonal als
Vergnügungsstätte diente.

Zum Eintritt in die Garde war jeder Mann verpflichtet, der das damals
nur mit großen Kosten zu erlangende Bürgerrecht erwarb.

Nun -- in jenen idyllischen Zeiten, wo nur wenig Militair vorhanden
war, gönnte man den wackeren Bürgern gern die harmlose Spielerei,
ab und zu im militairischen Kleide, angestaunt von den Ihrigen, zu
prangen, und wenn auch jeder einzelne Gardist über die dienstliche
Schuriegelei, wie er es nannte, raisonnirte, innerlich war er doch gern
dabei; gab es doch dadurch manche Gelegenheit, der strengen Aufsicht
der Frau Gemahlin ab und zu unter dem Vorgeben dienstlicher Abhaltung
ein Schnippchen zu schlagen, zumal Aermere stets kameradschaftlichst
von den besser Situirten mit durchgeschleppt wurden, wenn die Zahl
der Mai- und anderen Bowlen auf Wache bedenklich wuchs oder der nie
fehlende Käsekuchen zu delikat war und noch andere lukullische Genüsse
nach sich zog.

Und nun erst, wenn es hieß: »Die Communalgarde rückt aus!«

Dieses Ausrücken fand in der Regel monatlich einmal im Sommer statt und
endete mit einem Exerciren im _Feuer_, zu welchem Zwecke jeder Gardist
4—6 Platzpatronen und ein Dutzend Zündhütchen empfing. War ein solcher
feierlicher Tag gekommen, so entstand schon gegen Mittag das lebhafte
Treiben eines Volksfestes in den Straßen. Von 1 Uhr an sah man die
Gardisten in möglichstem Glanz, angethan mit Ober- und Untergewehr,
zur Feier des Tages »auf Befehl« in weißen Unaussprechlichen, den
Sammelorten ihrer Compagnien zuschreiten. Und etwas später trabten
die Angehörigen der schmucken Escadron, mit ihren weißen Mänteln
auf dem Rücken, ebenfalls denselben zu. Diese, nach der Uniform der
sächsischen Gardereiter gekleidete Escadron, aus besonders günstig
situirten Leuten gebildet, welche auf eigenen Pferden gut beritten
waren und die auch ein eigenes Corps gut geschulter Trompeter hatte,
bildete einen Glanzpunkt des ganzen Auszugs. Der zweite und für die
Meisten bedeutendste Glanzpunkt aber war die vorzügliche unter Meister
Wenck’s kunstsinniger Leitung stehende Musik der Communalgarde.
Wenn die einzelnen Bataillone von ihren verschiedenen Sammelpunkten
zusammengetroffen, was meist an der östlichen Promenade geschah, so
dehnte sich die Aufstellung der 4 Bataillone vom Blücherplatz bis
zur Post aus und hier wurden die Leute von ihren selbstgewählten
Unterofficieren und Officieren rangirt. Commandant war meist ein
zu diesem Zwecke von der Armee abgegebner Subalternofficier, Ende
der fünfziger Jahre Oberlieutenant Neumeister, der aber hier
Majorsepauletten trug. Schon bei dem Rangiren auf dem Stellplatze ging
es nicht ohne drollige Scenen ab.

»Aber -- heern se Gevatter Lehmann -- ä gleenes Bischen besser hätten
se doch wees Gott de Kneppe an der Montirung butzen kennen, mer gomm’n
orndlich in’n Verruf mit unser Gorporalschaft!«

»Ich hat grade keen Spiritus derheeme un meine Kleene hats Gnobholz als
Linial mit in de Schule genomm’n und dort liegen lassen!«

»I nu wenn och -- -- un Sie -- -- Brickner -- ham Gott Strampach gar
statt de weißen, meisegraue Hosen an -- nee, da heert Alles uff!«

»I -- meine Frau -- das Luderchen war rackrig, weil se heite emal zu
Hause bleib’n muß un -- richtig -- wie ich in de weißen Hosen fahren
will -- sin se noch klitschennaß -- --«

»Na aber -- da gonnten Se doch wenigstens schwarze anziehn!«

»Die hatten vor’n Jahre hinten ä Knacks gekriegt un da hab’ch se mein
Adolf zur Confirmation machen lassen un Geld zu ä baar neien hat’ch
noch nich!«

                   *       *       *       *       *

Vor und hinter der Front trieben sich natürlich und zwar möglichst in
der Nähe ihrer im militairischen Schmuck prangenden Erzeuger, Hunderte
von Jungen aller Altersclassen herum.

»Du -- das is mei Vater!«

»Welcher denn!«

»Der mit dem rothen Fähnchen uff der Flinte -- wees de, was der is?
Gorporal is er, und weil er die kleene Fahne hat, nennt mer’n ooch
Schallonär!«

»Der Kleene mit den krummen Beenen?«

Furchtbare Keilerei folgte diesen Worten.

Endlich kam der Commandant mit seinem Adjutanten angaloppirt. Die
Compagnien standen rangirt und marschfertig.

»Ich bitte Eich blos«, flehte ein Hauptmann seine Leute an, »macht mer
ene ordentliche Schwenkung, un ja Keener links statt rechts um, die
Studenten ham’s eemal heute wieder reene uff uns abgesehen, und looft
nich so durchenander, wie de Horburger Zwiebellaatscher -- --«

[Illustration]

»Achtung!« commandirte der Commandant, »zu Zweien abgezählt -- --
Zweien ausgerückt -- -- rechts um -- -- vorwärts Marsch!«

Die prächtige Musik fiel ein, die Trompeten der Escadron erklangen, die
Keilerei der Jungen endete mit einigen letzten Püffen und Kopfnüssen,
und wie eine buntschillernde Schlange wand sich der Stolz der Leipziger
Frauen und Kinder im möglichsten Gleichtritt um Promenade und zur
Gerberstraße oder dem Rosenthalthore hinaus dem kaum zehn Minuten
entfernten alten Exercirplatze zu.

»Meester -- se ham rechts statt links!«

Der Angeredete hoppste mit den Füßen.

»Se ham zweemal gehoppst statt blos emal, Se ham immer noch rechts!«

Der Sünder brummte etwas in den Bart, hoppste aber noch einmal, diesmal
besser. -- --

»Heinrich -- kommt Deine Alte och ’naus?«

»Na -- ob -- de ganze Familie -- S’is aber ooch zu scheene
heite! -- -- --«

Auf dem alten idyllisch gelegenen Exercirplatz der damaligen kleinen
Garnison, der zwischen Gohlis und der Gerberstraße -- weiter erstreckte
sich damals die Stadt nicht -- liegt und der das Rosenthal im Rücken
hat, standen zu den Zeiten, wo die Communalgarde exercirte, riesige
Restaurationszelte aufgeschlagen, deren bunte Fahnen und Wimpel gar
lustig im Winde wehten. Lager- und Bayerisch Bier, aber auch Braunbier
in steinernen Flaschen, sowie Gose, vor Allem aber die Düfte, welche
die in den Blechkesseln brodelnden Stöpelschen _echten Wiener_
Würstchen verbreiteten, ließen lucullische Genüsse erwarten, und
Mancher der nach dem kurzen Marsch auf den Platz rückenden Gardisten
hob schon von der Ferne schnüffelnd sein Riechorgan und ein mildes
Lächeln verdrängte die finstere Miene von der Stirn des von der
Schwere eines viertelstündigen Marsches angegriffenen kriegerischen
Bürgers. Der Commandant, der seine Leute kannte, hatte denn auch
ein Einsehen, denn nach glücklich vollzogenem Aufmarsch ließ er die
Gewehre zusammensetzen und die Mannschaften wegtreten. Die den Marsch
begleitenden oder ihm vorausgeeilten Frauen oder Kinder der gewappneten
Bürger hatten mittlerweile bereits in ihrem Stammzelte Quartier gemacht
und empfingen nun den Gatten und Vater, und nun flogen die befrackten
dienstbaren Geister, daß es eine Lust war.

»I Herrjeh, Meister Werner, is denn das Ihr Kleenster? Wie alt is er
denn?«

»Elf Monate -- ä dichtiger Kerl, nich wahr?« antwortet der Meister
stolz und setzt das bewußte jüngste Glied seiner zahlreichen Familie
auf seinen Schoß. Plötzlich aber hebt er höchst ärgerlich den Knaben
empor und übergiebt ihn den Händen der ahnungsvollen Gattin.

»Schweinigel!« murmelt der glückliche Vater erzürnt, »s’is mer,
weeß Gott, durch un durch gegangen!« und eifrig wischt er an seinen
unschuldsfarbenen Unaussprechlichen.

Da rufen die Hörner zum kriegerischen Dienst und die Gardisten streben
mehr oder minder eilig ihren Compagnieplätzen zu.

»Heernse Müller --« sagt der Hauptmann einer Compagnie -- seines
Zeichens sonst Advocat und deshalb etwas streng im Dienst, zu einem
Gardisten, der in einer Hand das Gewehr, in der andern ein Paar dick
mit Senf bestrichene Wiener Würste mit Semmeln hält »das nehm’s Se mer
aber nich ibel -- komm’n Se gar mit den Würsten in der Hand ins Glied
geloofen, da heert doch alles uff!«

Der Angeredete hat mittlerweile zwei so riesige Bissen von den Würsten
und der Semmel genommen, daß er -- im Begriffe zu antworten -- ein
Stück Wurst in die unrechte Kehle kriegt; er verdreht schrecklich
die Augen, so daß ihm sein Rottenmann freundschaftlich und hilfreich
wiederholt ins Kreuz pufft, worauf ihm ein kräftiger Hustenanfall
wieder die zur Existenz nothwendige Luft verschafft.

»De Schinderei is zu arg« murmelte er pustend, »nich ä mal seine beeden
Würstchen gann mer in Ruhe verzehr’n!«

»Müller! Wenn Se nu de Würste nich gleich verschwinden lassen, zeige
ich Sie an und sie kriegen ä baar Strafwachen!« raisonnirt der
Hauptmann weiter.

»Herrjeh -- wo soll ich se hinthun -- ich gann se doch nich ins Gras
schmeißen?«

»Weeßt De, Emil«, flüsterte ihm sein Hintermann zu, »steck se in de
Patrontasche!«

»Du -- da hast De Recht!« Erfreut öffnet Müller die Tasche, da sieht er
die Platzpatronen.

»Nee --« sagt er weiter, »das geht nich -- die heeßen Wärschte und
das Pulver -- wenn nachher die Geschichte losginge --  -- --« und mit
heroischem Entschluß schenkt er die trockne Semmel einem hinter der
Front stehenden Knaben und schiebt dann mit einem Mal den Rest der
beiden Würstchen in den Mund. --

                   *       *       *       *       *

Das Exerciren beginnt und stolz und staunend sehen die Familienglieder,
wie ihr Gatte und Vater im Schweiße seines Angesichtes rechts und links
um macht, schwenkt und aufmarschirt.

»I du meine Gite!« sagte Frau Schulze zur Frau Meier. »Sehen Se blos
-- se laden werklich de Gewehre -- wenn nur meiner nischt neinthut in
seine Flinte, denn der hat allemal Malheur damit -- un losgehn thut se
doch nicht!«

Die muthigen Gardisten bereiten sich nun auf Befehl des Commandeurs
zum Sturm auf die am oberen Wege beim Eingang von Gohlis sitzende alte
Obstfrau vor. Die Plänkler rennen im soliden Hundeträppchen vor die
Front und zeigen durch allerhand schreckliche Geberden mit der guten
alten Flinte einem unsichtbaren Feind an, daß sie ihm mit der ganzen
Tapferkeit alter schlachtergrauter Germanen an den Kragen gehen wollen;
die Musik fällt rauschend ein, was die Courage der Plänkerer sichtlich
erhöht, die Tamboure wirbeln -- die Bajonette senken sich --

»Zur Seite Gewehr! -- Vorwärts -- Laufschritt -- Hurrah! -- -- Haalt!
-- -- Legt an! -- Feuer!« -- -- Prasselnd krachen die Schüsse aus den
Gewehren und der angenehme Geruch des Pulverdampfes steigt kitzelnd und
erhebend in die Nasen der tapferen Gardisten und macht ihren Busen in
Kampfesmuth schwellen.

»Heite sin wenigstens die Hälfte Gewehre losgegangen«, sagt die alte
Pauline, die obenerwähnte Obstfrau, welche die Leistungen der Truppe
infolge langjähriger Beobachtungen gleich einem Commandanten zu
beurtheilen vermochte, »so scheene fällts nich allemal aus!« -- -- --

Die kriegerischen Uebungen neigen sich ihrem Ende zu. Die Compagnien
nehmen am oberen Wege Aufstellung mit der Front nach den Zelten. Der
Commandant reitet auf die linke Seite in der Mitte der Entfernung
zwischen Garde und Zelten. Der Schlußactus des Exercirens, der
Vorbeimarsch in Compagnien, in Parade vor dem Commandeur, beginnt.

»Das mer Alles mit dem linken Beene antritt un nich wieder welche mit’n
rechten, wie’s letzte Mal Viele, und der rechte Flügel immer e Bischen
eingezogen marschirt, die uff’n linken Flügel ham nich solche lange
Beene wie Sie, meine Herrn von rechts, un bleiben sonst zurück! Herr
Leitnant Krause, wenn die Compagnie vor uns sich in Bewegung setzt,
zählen Sie recht laut die Schritte; das Defilliren is mit dreißig
Schritt Abstand befohlen! -- Passen Se also ja gut uff!«

Die Abtheilung der Trommler schlägt ein und schreitet vorwärts, hinter
ihr folgt die Musik.

»Bum!« schlägt die große Trommel an und mit einem kriegerischen Marsch
fällt die Musik ein.

»Erste Compagnie zum Defiliren in offener Colonne! Vorwärts, Marsch!«

»Eins -- Zwei -- Drei -- Vier -- Fünf -- Sechs!«, zählt der
diensteifrige Lieutenant.

»Kinder, paßt gut uff!« ruft der Hauptmann.

»Zwölf -- Dreizehn -- Vierzehn -- Fünfzehn -- --«

»Gewehr in die rechte Hand!«

»Vierundzwanzig -- Fünfund -- -- --«

»Compagnie -- Vorwärts -- -- Marsch!«

»Links -- links -- links -- Augen links!«

Die Gardisten wenden das Angesicht nach links, dem salutirenden
Commandanten zu, an dem sie jetzt in passabler Richtung
vorbeimarschiren.

»Ueber’s Gewehr! -- Los -- rechts um -- links schwenkt -- sooo -- sehn
Se meine Herren, so muß es immer gehen! -- Ham Se gesehen, Leitnant
Krause, wie dem Herrn Commandant unsere Compagnie gefiel? Na -- wir
trinken nachher noch ein Fäßchen kameradschaftlich auf meine Kosten!
Setzt die Gewehre -- -- zusammen! Tretet ab!«

»Weißt Du, Paul«, sagt die junge niedliche Frau des Apothekers Krause,
indem sie zärtlich den mit der weißen Binde geschmückten Arm des
ihr erst vor Kurzem angetrauten Gatten faßt -- »Du siehst in Deiner
Lieutenantsuniform wie ein junger Kriegsgott aus.«

Der geschmeichelte Lieutenant lächelt beglückt und nimmt sich zum Dank
für diese Lobrede ernstlich vor, seinem kleinen Weibchen die Mantille,
die ihr bei Steckner so gut gefallen hat, gleich morgen zu kaufen, sie
muß seiner Lili reizend stehen.

Im Hauptzelt aber, mitten unter den Bürgergardisten, sitzt der
Commandant und eine Anzahl Officiere, ebenfalls meist mit den Ihrigen,
und hier kommt auch Gott Bacchus zu hohen Ehren, bis der Abend
herannaht und die Truppe wieder zum Gewehr eilt, um in die Stadt
zurückzumarschiren und am Stellplatz auseinanderzugehen. Vater gab dann
wohl seinem Aeltesten oder dem eigens dazu beorderten Lehrbuben die
feuerspeiende Waffe zum Heimtragen und ließ dabei Mutter sagen, daß er
noch wegen verschiedener dienstlicher Besprechung ins Versammlungslokal
der Compagnie müßte und deshalb _leider_ noch nicht nach Hause kommen
könnte. Mutter wußte aber ganz genau, was dies zu sagen hatte, drückt
aber für heute ein Auge zu. -- -- --

»Sagen Se mal, Frau Nachbarin, wenn ist denn Ihr Mann nach Hause
gekommen, meiner kam glücklich um Dreie!«

»Na -- meiner erst -- ’s war ooch um die Zeit -- na -- un gekooft
hatt’r sich Een!«

»Ich hab’ mein’n aber ticht’g de Wahrheet gesagt!«

»Wissen Se -- das kann ich bei meinem Mann nich, denn wenn er de
Uniform anhat -- da hat er seine militair’sche Laune -- aber er kriegt
sein Fett noch -- warten Se nur!« -- -- --

Das war die wahrheitsgetreue Schilderung eines Sommernachmittags, an
dem es hieß: »Die Communalgarde rückt aus!«

Längst ist diese Institution schlafen gegangen, aber wenn dieselbe auch
keinerlei politischen Werth mehr hatte, so brachte sie es doch mit
sich, daß sich die verschiedenen Kreise der Bürgerschaft näher traten,
als dies jetzt möglich ist. Mancher Freundschaftsbund ward durch sie
geknüpft, der noch bis zum heutigen Tage in alter Treue fest besteht,
und darum ist sie es wohl werth, nicht ohne Weiteres als etwas längst
Abgethanes, Veraltetes und Lächerliches vergessen zu werden.

                            [Illustration]


                 Druck von _Fr. Bartholomäus_, Erfurt.



                                  VI.

                          Der »hohe Seeler!«


Menschen, welche vermöge der angeborenen oder angewöhnten Originalität
ihres Aeußeren, oder ihres Lebens oder Charakters eine besondere
Beachtung finden, können nur in kleineren und allenfalls in
Mittelstädten gedeihen. Im Getriebe der Großstadt treten sie um so
weniger hervor, als in dem großstädtischen Hasten und Jagen nach Erwerb
und des Lebens sonstigen, oft nur eingebildeten Gütern, der Einzelne
nur wenig hervortritt oder seine Originalität nur einem kleinen Kreise
bekannt wird. Diese -- sogenannten -- Originale theilen sich entweder
in solche, welche ihren Wirkungskreis in das öffentliche Leben und
Volkstreiben verlegen und andererseits wieder in solche, welche sich
vom Verkehr mit der übrigen Welt möglichst abschließen, und wenn
Erstere eben durch ihren Verkehr mit dem übrigen Publicum schnell
bekannt werden, so geschieht dies in der Regel erst recht, wenn sich
ein Mensch inmitten des bürgerlichen Lebens von der übrigen Welt
aus irgend einem Grunde abzusondern versucht. Die liebe Neugierde,
welche oft selbst da Geheimnißvolles sucht, wo ganz und gar nichts
zu verbergen ist und die Verhältnisse offen vor Jedermanns Auge
liegen, entwickelt in solchen Fällen eine kaum glaubliche Phantasie,
und vermag man absolut nichts in den pecuniären Verhältnissen des
sich Abschließenden zu entdecken, so kommt man schließlich auf
allerlei Vermuthungen, von denen meist eine immer toller ist als
die andere, keine aber toll genug, als daß sie nicht Glauben und
ihre Nachbeter und Vergrößerer fände. Genau so liegt die Sache auch
bezüglich derjenigen Originale, welche im öffentlichen Leben verkehren,
und dasselbe geradezu aufsuchen, wenn die sonstigen Verhältnisse
derselben nicht näher bekannt sind. Ein wahrer Sagenkreis spinnt sich
bald um die betreffenden Personen und es ist kein Wunder, wenn sich
dieselben zuletzt auf ihre Originalität selbst Allerlei einbilden und
eine Beachtung finden, die sie im Grunde eigentlich in keiner Weise
verdienen.

Auch in unserem Leipzig hat es, als sich seine Einwohnerzahl noch in
den bescheidenen Grenzen des dritten Viertels vom ersten Hunderttausend
bewegte, also vor 30—40 Jahren, niemals an Originalen gemangelt, und
dieselben waren bei dem damals noch geringen Stadtumfang Jedermann wohl
bekannt.

Eines derselben führte im Volksmunde den -- mindestens seltsamen --
Namen: »_Der hohe Seeler!_«, und trotz des eigenthümlichen Beiwortes
war er von den damaligen bekannten Stadtoriginalen nicht blos das
älteste, sondern auch ein sehr ehrenwerther Mann.

Ein gewissermaßen romantischer Winkel des alten damaligen Leipzigs
war die kleine Burggasse, damals eine Sackgasse, welche westwärts
nur einen Ausgang durch die schmale kaum mannshohe Hausflur einer an
der Pleiße liegenden Fischerhütte hatte. Vorn, quervor -- kaum zehn
Schritte von der Zeitzer Straße -- dem jetzigen Peterssteinweg --
bis zwei Drittel in die Gasse hineinragend, stand angelehnt an das
alte Bezirksgericht, nur links eine schmale Passage nach dem hintern
Theil der Gasse lassend, das kleine Töpferhaus mit seinem Wahrzeichen
über der Thür; hinter ihm war rechts die Mauer des Bezirksgerichts.
Kaum zwanzig Schritte weiter, auf der linken Seite, nur rechts eine
kleine Passage lassend, stand ein anderes kleines Haus, in welchem
Dirnen zur Miethe wohnten. Hinter diesem Hause aber erhob sich -- ein
Wahrzeichen des damaligen Leipzig -- thurmhoch und langgestreckt das
»hohe Seilerhaus«, angestaunt, nicht blos von den Leipzigern, sondern
auch, besonders zur Meßzeit, von vielen Fremden ob seiner gigantischen
Höhe. Bis zum siebenten Stockwerke war es bewohnt, dann kamen einige
Etagen Böden und zuletzt das langgestreckte, von einem Gitter umgebene
flache Dach, auf welchem der Besitzer des Hauses, Seilermeister X. in
alleiniger Gesellschaft eines das Rad drehenden Jungen und der das Haus
umschwärmenden Vögel seine Spinnbahn aufgerichtet hatte. Oft, wenn
stürmische Winde das Haus umsausten, so daß die Dachsparren knarrten
und die Dachbalken seufzten, mag es wohl dem Jungen unheimlich auf der
luftigen Höhe geworden sein, aber der Meister schien unempfindlich
gegen das Walten der Elemente, ruhig und sicher setzte er seinen
Rückschritt fort, selten kam ein Wort über seine Lippen, wohl aber
blieb er manchmal wie träumend stehen und warf einen Blick auf das
prächtige Rundgemälde, welches ihm die Natur hier oben auf der Höhe
seines Hauses bot. -- Das war im Sommer und allenfalls an schönen
Frühjahrs- und Herbsttagen; im Winter und bei rauhem Wetter, das letzte
Jahrzehnt seines Lebens aber, als ihm wohl seine allmälig abnehmenden
Kräfte das Ersteigen der vielen Treppen nicht mehr gestatteten, das
ganze Jahr über, hielt er sich in seinem Verkaufsgewölbe in der
damaligen Zeitzer Straße auf und hier war es wo seine Originalität
im Verkehr mit dem Publicum immer mehr bekannt wurde, ihm aber auch
zugleich zu dem von uns bereits erwähnten Beiwort verhalf.

Johann Gottfried X. war im Jahre 1790 in Liebertwolkwitz geboren;
nachdem er das Seilerhandwerk erlernt hatte, sowie kurze Zeit auf
der Wanderschaft gewesen war, zog er kurz nach der Völkerschlacht
nach Leipzig, wo er im Jahre 1818 das Bürgerrecht erwarb und sich als
Seilermeister niederließ. Schon nach einigen Jahren erkaufte er das
damals Zeitzer Straße Nr. 4, jetzt Peterssteinweg Nr. 5 gelegene,
freilich damals viel niedrigere, unscheinbare Haus, das sich jetzt
-- 1866 umgebaut -- um vieles freundlicher präsentirt. Im Parterre
des schmalen Häuschens, neben dem Hauseingang, befand sich der noch
nach alterthümlicher Weise mit schmaler Bogenthür und vergittertem
Fenster versehene Laden, dessen eisenbeschlagene Thür und Fensterladen
zur Nachtzeit inwendig an Vorlegebalken angeschraubt wurden. Hinter
dem selbst zur Tageszeit stets halbfinstern Laden befand sich ein
Raum, der eigentlich eine Ladenstube sein sollte, der aber damals dem
Meister zur Aufbewahrung von Oel, Fett, Hanf, Roßhaaren, Stricken und
Seilen etc. diente. Der Laden machte schon an und für sich keinen
freundlichen Eindruck, obwohl man damals durch keinerlei Eleganz
verwöhnt war. Hatte doch damals selbst Gustav Steckner’s schon zu jener
Zeit bedeutendes Modenwaarengeschäft nur zwei winzige Auslegefenster
und unter seinen Geschäftsräumen sogar die meist von den ärmeren
Volksklassen frequentirte Schank- und Speisewirthschaft der Mutter
Jummel, deren Düfte den die Auslagen bewundernden Damen in die Näschen
stiegen. Aber der an nur etwas Sauberkeit gewöhnte Besucher oder
Käufer fuhr denn doch ein Wenig zurück, wenn er unvorbereitet den
Seilerladen betrat. Thüren und Fenster, Ladentisch und Regale, Wände
und Dielen, ja selbst länger liegende Waaren waren von einer förmlichen
Schmutzkruste überzogen. Gewaltige, dicke Netze von Spinnweben hingen
in den Ecken und an den aufgestapelten Pech- und Oelfässern, so daß
man sofort merkte, daß hier gewiß seit Jahren keine reinigende Hand
thätig gewesen war. Das Glanzstück des Ganzen aber, wenn man hier
anders vom Glanze des Thrans, Oels und Talgs reden darf, war der
Besitzer dieses zierlichen Ladens in eigner Person. Eingehüllt in
einen uralten, defecten Schlafrock oder Ueberrock, im Winter auch in
einen alten Schafpelz, welcher die hagere Gestalt vom Hals bis zu
den Füßen einschloß, auf dem Kopfe eine alte Schirmmütze, Alles aber
überzogen mit einer dicken Kruste von Schmutz, kein Zeichen von Wäsche
verrathend, hauste hier einsam und allein Jahre lang, bis in sein hohes
Alter der Besitzer all dieser Herrlichkeiten.

Und doch war Meister X. nicht blos ein vermögender, sondern, wenigstens
nach damaligen Begriffen, sogar ein reicher Mann zu nennen. Was
machte ihn zum Sonderling? War es Menschenfeindlichkeit oder Geiz,
der ihn verursachte diesen öden, trostlosen Aufenthaltsort lieb zu
gewinnen? -- Keines von Beiden! -- Denn in des Alten Brust schlug
trotz seiner Einsilbigkeit und Absonderung von den Menschen ein
warmes mitfühlendes Herz, das wußten die Armen Leipzigs am besten,
von denen Keiner unbeschenkt den Laden verließ. Am meisten aber kam
sein Wohlthätikeitsgefühl zum Ausbruch, wenn die Weihnachtszeit
herannahte, und in den letzten Tagen vor dem Feste war ein Gedränge
von Jung und Alt, vom frühen Morgen bis zum späten Abend vor dem
Laden, denn es war männiglich bekannt, daß »der hohe Seeler« keinen
Käufer ohne Weihnachtsgeschenk entließ, war auch das Kaufsobject noch
so gering und der Kaufende nur ein sogenannter Weihnachtskunde, der
sich sonst das ganze Jahr über nicht wieder sehen ließ. Daß natürlich
diese Freigebigkeit speculativ ausgenutzt wurde, ist selbstredend, und
zwar am meisten von der lieben Jugend, die auf solche Weise kleine
Weihnachtsgeschenke für Geschwister und Eltern billig erwarb; ja die
Kinder einzelner Familien behandelten die Gelegenheit theilweise
geschäftsmäßig, indem immer eines abwechselnd wieder zu dem Alten
ging, bis die wenigen Sparpfennige alle waren.

»Meester mir eene Schachtel Streichhölzer vor zwee Pfenn’ge!«

Der Käufer erhielt seine Streichhölzer und ein warmes Halstüchelchen im
Werthe von fünfzig Pfennigen zu.

»Mir vor e Dreier Brennöl!«

Ein rothgemustertes baumwollenes Taschentuch erfolgte als Zugabe.

Eine arme Frau mit einem blassen Kind auf dem Arme legte einen
Vierpfenniger auf den Tisch und ließ suchend ihre Augen umherschweifen,
als wüßte sie nicht, was sie für dieses Geld, ihr einziges, nehmen
sollte.

»Nu?« frug endlich der Alte mürrisch.

Aber ehe die Frau antworten konnte, schob er ihr den Vierpfenniger
wieder zu, nahm von unten ein gutes warmes Kopftuch für die Frau und
eine warme gestrickte Jacke und Mütze für das Kind, legte es vor beide
hin und kehrte sich ab, bis die Frau den Laden verlassen hatte.

»Meester -- ne Schachtel Streichhölzer vor zwee Pfenn’ge!«

»Du -- Du! Du warst schon zweemal da!«

»Ich? -- Nee Meester -- ich nich!«

Der Alte nahm ein Halstuch.

»Ach Meester! -- So eens habe ich schon!« sagte der Junge sich selbst
verrathend.

»Siehste -- Bengel?«

Aber er erhielt trotzdem das gewünschte rothe Taschentuch für den
Vater. -- -- --

So ging es fort und man kann sich wohl ausrechnen, daß diese vielen
Hunderte von Geschenken allein einen großen Betrag ausmachten,
abgesehen von den vielen Unterstützungen, die der »hohe Seeler«
thatsächlich so gab, daß -- wie die Schrift sagt, »die Rechte nicht sah
was die Linke gab.«

Auch Meister X. war einst ein lebensfroher Mann gewesen, aber seit er
Ende der dreißiger Jahre von seiner Frau geschieden wurde, zog er sich
immer mehr und mehr von der Gesellschaft Anderer zurück und wurde ein
einsamer Mann. Am 12. Oktober 1865, im Alter von 75 Jahren, starb er,
einsam wie er gelebt. Sein Sterbelager soll ein Haufen Roßhaare in
seiner Ladenstube gewesen sein. Das »hohe« Seilerhaus fiel beim Neubaue
des jetzigen Gerichtsgebäudes und der Anlegung der Harkortstraße.



                                 VII.

                      Kramerlehrling und Gehilfe.


Wenn man jetzt, in unserer Zeit der Gewerbefreiheit, der Freizügigkeit,
aber auch des Börsenschwindels, und vielfachen unsoliden
Geschäftsgebahrens, in unserer Zeit, welche an Stelle des _praktischen_
Erlernens der Kaufmannschaft fast nur die _theoretische_ Ausbildung
gesetzt hat, und dadurch _überhaupt_ diese Ausbildung zum _fermen_,
in _allen_ Zweigen gewandten Kaufmann geradezu zur Seltenheit macht,
zurückdenkt, wie sorgfältig selbst in kleinen Geschäften vor 40
Jahren diese Ausbildung erfolgte, so kann man nicht umhin, ob der
jetzigen Oberflächlichkeit den Kopf zu schütteln. Wohl giebt es auch
jetzt noch eine große Anzahl von Kaufleuten, welche ihre Kenntnisse
in allen Zweigen kaufmännischen Wissens möglichst zu vervollkommnen
streben, allein dieselben bilden jetzt eine wahrhaft erschreckende
Minderzahl. Nicht jeder Lehrling ist in der pekuniär glücklichen Lage,
eine Handelsschule während seiner Lehrzeit besuchen zu können, und
da die Chefs jetzt entweder selbst nur einseitig gebildet sind, oder
sich nicht die Mühe nehmen, ihre Kenntnisse auch im Laufe der Lehrzeit
dem Lehrling mitzutheilen, weil sie entweder selbst zu beschäftigt
sind oder dies überhaupt für überflüssig halten, so kommt es, daß der
jetzige Handlungsgehilfe oft von den Zweigen der Handelswissenschaften,
in welchen er während seiner Lehrzeit nicht beschäftigt wurde, nicht
einmal die einfachsten Kenntnisse besitzt. Commis, welche tüchtige
Decorateure oder Verkäufer und Reisende sind, haben oft nur ganz
mangelhafte Ausbildung in der Buchführung etc., und ebenso ist es
umgekehrt der Fall. Daher kommt es auch, daß so viele, eben nur in
_einem_ Fache, also _einseitig_ ausgebildete junge Kaufleute schnell
herunter kommen, wenn sie einmal stellenlos werden, weil sie eben
vermöge ihrer _einseitigen_ Ausbildung andere Stellungen als die
gewöhnten nicht auszufüllen vermögen.

Etwas ganz Anderes war dies in den Zeiten vor der Gewerbefreiheit, wo
die Ausbildung des Lehrlings _nach allen Seiten_ zwischen Lehrherrn und
Lehrling eine _contractlich ausgedungene_ war, und daß der Lehrherr
auch seinen Verpflichtungen nachkam, dafür sorgte die Oberaufsicht und
die Gehilfenprüfung durch die Oberhäupter der »_Kramer-Innung_«.

Freilich waren damals die Lehrherren selbst _nach allen Seiten_ hin
kaufmännisch gebildet, und der Fall, daß ein solcher sich lediglich
deshalb einen Buchhalter hielt, weil er selbst eben nicht viel von
der doppelten Buchführung verstand, war damals fast undenkbar. Ebenso
hatte sich das allgemeine Geschäft noch nicht in so viele Specialitäten
getheilt wie jetzt, dazu kamen damals viel verwickeltere Geld-, Maß-
und Gewichtsverhältnisse, deren Kenntniß eine unbedingt nothwendige war
und welche den Jüngling zum fortwährenden Rechnen geradezu zwangen.
Selbst dem simplen Lehrling eines kleinen Materialwaarengeschäftes
blieb z. B. das Bankwesen nicht fremd. Er mußte wissen, daß vier
Thaler Conventionsmünze sieben süddeutsche Gulden werth waren, ebenso
mußte er preußische und andere Goldstücke genau nach ihrem jeweiligen
Cours kennen, ebenso den Cours der Hunderterlei in- und ausländischen
Cassenscheine, Banknoten und Coupons, er mußte mit der Goldwaage
Bescheid wissen, wenn ihm ein von irgend einem menschenfreundlichen
Cravattenfabrikanten (Wucherer) beschnittener Ducaten zur Zahlung
vorgelegt wurde, er mußte schnell die an dem Goldstück fehlenden »Aß«
und daraus wieder den geringeren Werth (vom Courswerth) desselben zu
ermitteln verstehen etc. etc. Und andererseits, im Manufacturwaarenfach
mußte er wissen, daß das Yard = 1⅞ Leipziger Ellen, das »Schock«
Leinwand und Handtücher 60 Ellen, 6 Berliner = 7 Leipziger, 5 Brabanter
= 7 Leipziger Ellen, daß das »Pack« seidener schweizer Taschentücher
7 Stück derselben enthielt, daß ein »Stein« Wolle = 20 Pfund und
eine »Tonne« = 20 Centner war, er mußte blitzschnell ausrechnen
können, welchen Einkaufspreis die Leipziger Elle in Neugeld hatte,
wenn die Berliner Elle Buckskin 42 gute Groschen (24 = einen Thaler)
zu stehen kam. Auch das damals bedeutend höhere Porto, welches in
den verschiedenen Staaten Deutschlands stets differirte, zwang ihn
zum Rechen; lag ihm doch als Lehrling die alleinige Führung und
Verantwortung über die Portocasse ob. Und nun erst die Cassenscheine
und Banknoten der vielen Einzelstaaten und Privatgesellschaften, da
gab es welche, die heute mit ¼, morgen mit ⅜ und übermorgen mit ⅙%
unter dem Nennwerth angenommen wurden, die Oesterreicher mit ihrem
schwankenden Cours, die wilden und -- -- die gefährlichsten -- die
verfallenen. Der Courszettel mußte also damals schon vom Lehrling sehr
fleißig studirt werden.

Alles dies aber machte den Lehrling _umsichtig_. Aber was ihm dabei
ein gewisses Selbstgefühl gab, war das Bewußtsein, einer mächtigen,
alten und hochangesehenen Corporation, wenn auch zunächst nur als
deren niedrigstes Glied anzugehören. Er wußte, daß, wenn er seine
Pflichten getreu erfüllte, auch sein Lehrherr ihm gegenüber sehr ernst
verpflichtet war, und Beide nahmen daher die Sache nicht so leicht, wie
dies zum großen Teil jetzt geschieht.

[Illustration: Das Kramerhaus zu Leipzig.]

Kurz nach Ostern jeden Jahres, wenn die Confirmationsfeierlichkeiten
vorüber waren, fand auf dem Kramerhaus im Saale desselben in
feierlicher Sitzung der versammelten Innungsmitglieder unter Leitung
des »amtsführenden Kramermeisters« zunächst die Freisprechung der
»ausgelernten« Lehrlinge und darauf in einer zweiten Sitzung die ebenso
feierliche »Verpflichtung und Aufnahme« der neueintretenden Lehrlinge
statt. Zu diesem Behufe begaben sich die Angehörigen des Knaben mit
demselben und seinem zukünftigen Lehrherrn an dem bestimmten Tage und
zu der bestimmten Stunde in das genannte Sitzungslocal, wo die Knaben
auf einigen Holzbänken neben einander Platz nahmen. Wie manchem von
ihnen, die erst vor wenigen Tagen die trauliche Schule verlassen hatten
und nun auch das Elternhaus, wenigstens zum Theil, verlassen sollten,
denn meist wohnten die Lehrlinge in der Familie des Principals,
klopfte es etwas ängstlich in der Brust, angesichts der stattlichen
Reihe alter, theilweise noch mit mächtiger Allongeperrücke oder
herausfordernden steifen Vatermördern angethanen und streng aus ihrem
einfachen Holzrahmen auf den jungen Nachwuchs herabblickenden Bilder
früherer Kramermeister, welche die Wände des Saales zierten.

Mit einem einfachen Gebet ward die Sitzung eröffnet, und nachdem der
amtsführende Meister die Anwesenden begrüßt, legte er sowohl den
Lehrherren wie den Lehrlingen ihre gegenseitigen Pflichten dar, worauf
er dieselben fragte, ob sie bereit seien, denselben jederzeit und
in allen Stücken nachzukommen. War dies von den Betheiligten bejaht
worden, so nahm der Vorsitzende die neuen Lehrlinge als nunmehrige
Glieder der Innung mittelst Handschlages jedes Einzelnen in Pflicht,
worauf wiederum ein kurzes Gebet die Feier schloß.

Der Knabe war nun Lehrling und diente von der Pike an, doch war die
jeweilige Zeit seiner verschiedenen Verwendung im Laufe der Lehrzeit
genau contractlich formulirt und festgesetzt.

Die Lehrzeit betrug in der Regel vier Jahre, das Lehrgeld, welches an
den Principal, jedoch nur dann gezahlt wurde, wenn der Lehrling bei
ihm Kost und Logis genoß, schwankte, je nach der Größe des Geschäftes,
zwischen 300 und 900 Mark, außerdem mußte er noch ein vollständiges
Gebett guter Betten mitbringen, welches er während seiner Lehrzeit
benutzte, das aber nach Beendigung derselben Eigenthum des Lehrherrn
verblieb. Im ersten Jahre mußte der junge Handlungsbeflissne so
ziemlich alle Arbeiten machen, welche in der niederen Region, in
der er sich befand, vorkamen. War er Materialist, so mußte er bei
der täglichen Oeffnung und Reinigung des Ladens helfen, erlernte
die Geheimnisse des Zuckerschlagens und richtigen Schwenkens des
Kaffeesiebes, er mußte Düten kleben und Kaffee, Rosinen und Mandeln
lesen und sah mit Neid auf den _Aeltesten_ (Lehrling), der verzweifelt
einige unter seinen Ohren sprossende Haare zu einem Anfluge von
Backenbart pflegte und beim Erscheinen feinerer Kundschaft blitzschnell
aus dem Contor hervorschoß, um dieselbe mit einem Schwall süßer Reden
zu bedienen, wobei er den _Kleinen_ stetig kommandirte oder bei Seite
schob. In Manufacturwaaren erlernte er die Aus- und Umpackung der
Waaren, die Auszeichnung derselben und das Geheimniß mit der Scheere
_fadenrecht_ zu schneiden, die Waarenstöße in schnurgerader Linie
aufzuführen und drang in die Anfangsgründe der Wissenschaft der
Appretur und des Unterschiedes zwischen Seide, Wolle, Baumwolle und
Leinen, sowie der Mysterien vom Gebrauche des Fadenzählers. Dabei gab
es Facturen kunstgerecht in die richtige Fächerbreite zu falzen, Briefe
zu copiren, Wege zu laufen, das Portobuch und die Portocasse richtig
zu führen, allmälig in die Geheimnisse der Farben-Nüancen und das
richtige Zusammenpassen derselben einzudringen -- und so ging es von
Morgens früh bis Abends spät, immer arbeiten, immer Neues zu erlernen,
Sonntags und Wochentags, und die Zeit flog dabei schnell vorüber.

Im zweiten Jahre lernte der Materialist selbstständig verkaufen, er
begann barfüßige Jungen, die er noch im ersten Jahre voll Hochachtung
nach ihren Wünschen fragte, ziemlich von oben herab zu behandeln und
ließ sich, wenn dieselben für »n’en Dreier Pfeffer« holten, nicht mehr
preußische Dreier für vollwerthig aufhängen; er lernte mit Grazie mit
der einen Hand einen Hering und mit der anderen eine sauere Gurke aus
den Fässern nehmen, handhabte gewandt den Oeltrichter und verstand der
Waage das richtige »Schnippchen« zu geben. Der Manufacturist wurde
zur Bedienung bescheiden auftretender Bauersleute oder baumwollene
Cravatten kaufender Dienstmädchen zugelassen, er lernte Tuche nach dem
Faden reißen, machte die Anfangsgründe der Decoration der Schaufenster
durch, überwand jetzt spielend die complicirten Verhältnisse der
»Wiener, Brabanter, Berliner und Leipziger Elle, der Yards und der
Meter« zueinander, knüpfte allmälig sein halbseidenes Halstuch immer
zierlicher um die bescheidenen Vatermörder und spielte kleinen
Mädchen gegenüber, die für die Mutter (Mamas gab es damals noch
wenig) anderthalb Elle Franzleinwand zur Taillenfütterung holten, den
angehenden Schwerenöther.

Im dritten Jahre siedelte der Materialist »aufs Lager« über, erlernte
die riesigen Zuckerfässer nachwiegen, den verschiedenen Inhalt der
Nudelkisten von außen erkennen, drang tief in die Geheimnisse der
Behandlung des »Schweizerkäses« mit Rum ein, zankte sich mit den
zahlreichen Frachtfuhrleuten und stellte denselben ihre Frachtbriefe
aus, wußte verblaßten Rosinen und Corinthen neuen Glanz aufzuwichsen,
röstete den Kaffee in schulgerechter Weise und wußte genau »blauen
Menado« von »Perl-Kaffee« zu unterscheiden. Er führte das Lagerbuch,
und die während seiner Anwesenheit im Geschäfte nie sein Ohr
verlassende Feder gab ihm eine gewisse Würde.

Der Manufacturist hatte die Geheimnisse der Gewebe- und
Farbenverschiedenheiten jetzt vollständig überwunden, er verstand,
etwas mundfaulen Kunden ihre Wünsche so ziemlich vom Gesicht abzulesen,
lernte ein der Kundschaft gefallendes Muster, wenn das Stück nicht
mehr genug Inhalt besaß, um den voraussichtlichen Bedarf der Kundin zu
decken, rechtzeitig unter der Ladentafel verschwinden zu lassen und
der Käuferin oft das Gegentheil des Gewünschten aufzuschwatzen, er
entwickelte große Kühnheit und Entschiedenheit in seinen Behauptungen
über das, was der Kundin »stehen« und »kleiden« müsse und wußte
bescheidene Widersprüche durch ein fast mitleidiges Lächeln auf das
Siegreichste zu überwinden.

Im vierten Jahre empfing der junge Kaufmann, entweder von der Hand des
Chefs selbst oder dessen erstem Vertreter, die Schlußpolitur, indem er
»ins Contor« versetzt wurde.

Da jeder Principal genau wußte, daß damals bei _jedem_ Stellenwechsel
eines jungen Mannes stets die erste Frage war: »Wo haben Sie gelernt?«
und somit sein Renommee als Kaufmann und als Lehrherr im Besonderen
auf dem Spiele stand, so war es Ehrensache für ihn, den jungen Mann
gut auszubilden. War er doch nach dem Lehrvertrag verpflichtet,
dem »Ausgelernten« eine Stelle als Commis zu beschaffen oder ihn
selbst mindestens ein Jahr als solchen mit einer bestimmten Summe zu
salairiren.

Der »Dreijährige« oder »Große« lernte nun von der simplen Strazze
bis zum Hauptbuch, vom Geschäftsunkostenconto bis zum Bilanzconto
die Buchführung gründlich kennen, er drang in die Geheimnisse der
Correspondenz, indem er nach Feierabend zahllose stilgerechte Briefe an
nur in seiner Phantasie existirende Firmen richtete, in denen er alle
nur denkbaren Vorkommnisse von der einfachen Bestellung eines Fasses
Schmierseife bis zur Uebersendung complicirter Contoauszüge und der
Anzeige discontirter Kundenwechsel mit »Damno«, Zinsenberechnung etc.
etc. zur Ausführung brachte, welche Briefe dann sein Chef gewissenhaft
prüfte und gemachte Fehler rügte. Der »Dreijährige« Manufakturist
verstand jetzt kunstvoll Chales und Saloppen in den vollendetsten
Falbenwurf zu bringen, nahm eine Gönnermiene gegen jüngere Markthelfer
und Burschen an, verwendete stets von seinen acht guten Groschen
Wochentaschengeld 25 Pfennige, um sich Sonntags die Haare kräuseln zu
lassen und machte an denselben Tagen weite Spaziergänge in möglichst
menschenleere Gegenden, um eine Dreipfennigcigarre aus Propsthaidaer
Deckblatt und Stötteritzer Einlage zu maltraitiren, was diese ihm mit
rührender Gewissenhaftigkeit wieder vergalt. Er bewegte sich, den ob
seiner Weisheit staunenden »neuen« Lehrlingen gegenüber, mit Vorliebe
in kaufmännischen Kunstausdrücken, warf mit »Sconto«, »Bilanzen«,
»Credit und Debet« um sich und ärgerte sich über sein Rothwerden, wenn
ihn eine hübsche Kundin schelmisch anlachte. Die Hauptsache aber war
und blieb Lernen, ernstes, eifriges Lernen und -- so war es in allen
Branchen.

Hatte sich nun aber der Lehrling tadellos gehalten und war der
Lehrherr nicht besonders skeptischer Natur, so rief er wohl schon zur
Weihnachtsfeier vor Ostern des vierten Jahres den Lehrling ins Contor
und theilte dem Hocherfreuten mit, daß er ihm in Anbetracht seiner
guten Führung den Rest der Lehrzeit erlasse und von heute ab als Commis
betrachte und als solchen salairire.

Das Personal, welches aber in der Regel bereits Wind von dem Vorhaben
des Chefs bekommen hatte, trat nach Geschäftsschluß ~in corpore~
vor den frischgebackenen Commis und überreichte ihm als Zeichen der
Anerkennung seiner neuen Würde und treuer Collegialität Cylinderhut
und Spazierstock, sowie eine blumengeschmückte Cigarrenspitze mit
darin steckender Cigarre. Diese neue Attribute eines »Commis« mußte
der Ueberraschte nun zur allgemeinen Freude sofort anlegen und die
Cigarre anstecken, worauf obligates Gratuliren und Händeschütteln und
schließlich ein kleines Zechgelage folgte, bei dem der »neue Commis«
oft einen kleinen Haarbeutel davon trug.

[Illustration: Die Ueberreichung der Attribute eines Commis!]

Zu Ostern aber saß der junge Commis wieder in der feierlichen
Versammlung im »Kramerhause« (in Leipzig, Ecke des Neumarktes und
Kupfergäßchens), aber die alten Herren da oben schienen ihm diesmal um
Vieles freundlicher auf ihn herabzublicken; gewandt beantwortete er die
prüfenden Fragen des amtsführenden Kramermeisters, dann erfolgte seine
und der übrigen Genossen feierliche Lossprechung, die Ueberreichung
seines Lehrbriefes, und erhobenen Herzens stimmte der junge Gehilfe
in das gemeinschaftliche Gebet ein, welches die ernste und würdige
Feierlichkeit schloß.

Der junge Mann trat nun hinaus in das Getriebe des kaufmännischen
Lebens, aber nicht hin- und hertastend und schwankend, sondern festen
Fußes, denn er wußte, daß er etwas Ordentliches gelernt hatte und
zwar _praktisch_ gelernt, was sich um Vieles fester einprägt als das
theoretisch Erlernte. Er war weder an einen bestimmten Theil des
Geschäftsbetriebes, noch _unbedingt_ an eine Branche gebunden, und all’
dieses verlieh ihm eine Sicherheit, die seinem weiteren Fortkommen
große Vortheile brachte.

Längst sind jene Zeiten mit ihren ehrwürdigen Gebräuchen in das Meer
der Ewigkeit versunken. In den Räumen des alten Kramerhauses haben sich
Miethbewohner eingerichtet. Gleichgültig geht jetzt der kaum der Schule
entwachsene Kaufmannslehrling mit qualmender Cigarette an jener Pforte
vorüber, welche vor 40 Jahren sein Standes- und Altersgenosse nur
zagend und schon auf der Straße den Hut ziehend, überschritt.

Die Bilder der alten Herren Kramermeister sind aus jenen Räumen
verschwunden und fristen unter allerlei Gerümpel in irgend einer
abgelegenen Bodenkammer ihr fragwürdiges Dasein. Ohne Achtung vor ihren
strengen Mienen, ihren steifen Gesichtern und ihren vollen, weißen
Perrücken spielen die Mäuse auf ihren Rahmen und nagen an ihnen herum,
bis sie zerfallen und vermodern, wie schon längst ihre eigenen Körper
zerfallen und vermodert sind.

Alles ist anders geworden. Ob auch besser? Wir glaubens nicht!



                                 VIII.

                 Verschiedene Chronika’s von 1840—45!


[Sidenote: Eröffng. d. M.-L. Bahn.]

Am 18. August 1840 wurde die Magdeburg-Leipziger Eisenbahn dem
Verkehr übergeben, der Bau derselben hatte etwa zwei Jahre gedauert.
Vormittags ½12 Uhr kamen die ersten drei Züge hier in Leipzig an, der
erste, eine Maschine und fünf Wagen mit dem Directorium und obersten
Bauleitern, der zweite Zug mit zwei Locomotiven und dreißig Wagen mit
den Deputationen der Städte Magdeburg, Halle, Cöthen, Bernburg und
Schkeuditz, der dritte Zug hatte eine Locomotive und elf Wagen mit
Publicum. Die Maschinen und Wagen waren alle mit Fahnen und Guirlanden
geschmückt. Mittags fand großes Tractement im (alten) Gewandhaus-Saale
mit Tafelmusik und vielen Festreden statt. Nachmittags halb ein Uhr
ging der ganze Zug wieder ab. Sowohl bei Ankunft wie bei der Abfahrt
wurden im Schloßhofe Kanonen gelöst.

[Sidenote: Hinrichtung.]

Am 18. November 1840 wurde Johann David Saupe aus Connewitz, bei
Leipzig, welcher im Februar dieses Jahres die Wittwe Nitzsche in
Gohlis sträflich ermordet und beraubt hatte, auf der kleinen Wiese bei
der Mühle zu Gohlis mit dem Schwerte hingerichtet. Der Scharfrichter
hieb den Delinquenten erst tief in die Achsel, so daß derselbe laut
aufschrie, erst beim zweiten Hiebe fiel der Kopf. Die Studenten und das
zuschauende Volk wollten das Schaffot stürmen und nur mit Mühe gelang
es der Communalgarde und den Soldaten, dies zu verhindern.

[Sidenote: Erste Fiaker.]

Ein bedeutsamer Tag für den Lokalverkehr in und um Leipzig war der 31.
März 1841. An diesem Tage trat das Institut der Fiaker, der Vorläufer
der jetzigen Droschken in’s Leben. Ganz Leipzig war auf den Beinen und
wollte fahren. Die Tour kam für eine Person innerhalb Leipzigs und der
Vorstädte zwei gute Groschen, auf die Dörfer vier gute Groschen. Am
meisten wurde von der neuen Einrichtung die Corporation der städtischen
Chaisen- oder wie sie sich selbst nannten Sänftenträger-Compagnie
betroffen, auf welche wir noch in einem besonderen Artikel oder Capitel
zurückkommen werden. Man feierte diese neue Errungenschaft sogar in
Versen, das beste Geschäft machten natürlich die Fiaker’s selbst dabei.

[Sidenote: Neugeld.]

In diesem selben Jahre wurde auch das erste Neugeld ausgegeben, welches
den Thaler auf 30 Neugroschen ~à~ 10 Pfennige, statt wie bisher auf 24
gute Groschen ~à~ 12½ Pfennig festsetzte. Das Publicum konnte sich aber
nur äußerst schwer an die Aenderung gewöhnen und rechnete noch länger
als zwanzig Jahre sehr viel nach der alten Münze, ja dieselbe war so
eingewurzelt, daß sogar im Engrosverkehr der Kaufleute, hauptsächlich
bei Tuchen und Buckskins noch bis weit in die 70er Jahre hinein der
Preis noch immer nach »_guten Groschen_« berechnet und facturirt wurde.

[Sidenote: Neue Glocken.]

Am 19. Juni 1841 wurden auf den Thurm der Johanniskirche drei neue
Glocken aufgezogen und am Johannistag zum ersten Mal geläutet.

[Sidenote: Bettelbrunnen.]

Am 22. Juni desselben Jahres wurde der Bettelbrunnen nach erfolgter
Renovation wieder eingerichtet und zur Benutzung freigegeben, es
war zugleich ein Dach über den Brunnen gebaut worden, das auf vier
hölzernen Säulen stand, auch Bänke zum Ausruhen für die Trinkenden
waren ringsum aufgestellt worden.

[Sidenote: Großes Hagelwetter.]

Am 9. August kam ein schauderhaftes Gewitter mit großem Sturm und
Hagelschlag über unsere gute Stadt, wie es sich eines solchen die
ältesten Leute nicht erinnern konnten. Das Unwetter erstreckte sich
von Thekla im Norden Leipzigs bis zum Dorfe Gröbern (wohl Cröbern bei
Zwenkau) im Süden. Dachziegel und Fenster wurden von den faustgroßen
Schlossen zertrümmert und das Getreide niedergeschlagen. Die Vögel
fielen todt aus der Luft und von den Bäumen, deren Aeste und Laub
überall den Boden bedeckte. In den Verkaufsgewölben der inneren Stadt
stand das Wasser theilweise fast eine Elle hoch.

[Sidenote: Königstraße.]

Anno 1842 im Frühjahr wurde die Königstraße angelegt durch den früheren
Reimerschen Garten. Der ganze Garten wurde zu einer förmlichen
Vorstadt, da auch die Bosen- und Kirchstraße (beide zusammen bilden
jetzt die Nürnberger-Straße vom Grimmai’schen Steinweg bis zur
Ulrichsgasse), sowie die Lindenstraße abgesteckt wurden.

[Sidenote: Große Dürre.]

Anno 1842 wo von Ostern bis weit hinein in den Sommer kein Regen
fiel, herrschte im ganzen Lande eine solche Dürre, daß viele kleinere
Flüsse ohne Wasser waren und die Mühlen nicht mehr mahlen konnten. Die
Roggenernte war noch ziemlich gut, aber das Sommergetreide Hafer,
Gerste, Weizen, Erbsen, Kraut und Kartoffeln ergaben eine so schlechte
Ernte, daß viele Bauern ihr Vieh vollständig verkaufen mußten, da
kein Futter zu haben war. Die Kanne Butter kam im Monat August 20
Neugroschen und das Viertel Brod 1 Thaler.

[Sidenote: Hinrichtung.]

Am 23. August 1842 früh ¼7 Uhr wurde zu Gohlis der Buchbindergeselle
Johann Ernst Heinrich Seyfarth, gebürtig aus Altenburg, wegen an seiner
schwangeren Geliebten Louise Schild aus Eisenberg, in der Nacht vom
30. September zum 1. October 1841 im Rosenthale verübten Meuchelmordes
durch den Bischofswerdaer Scharfrichter mit dem Schwert enthauptet.
Der Delinquent war erst 20 Jahre alt, die Hinrichtung ging schnell und
gut von statten. Es war dies in Leipzig die letzte Hinrichtung mit dem
Schwert.

[Sidenote: Große Brände.]

Am 5.-8. Mai 1842 war der große Brand in Hamburg. Ende Mai brannte
die Stadt Camenz fast ganz nieder und am 7. September ging fast die
Hälfte der Stadt Oschatz mit Rathhaus und Kirche in Flammen auf. Von
Leipzig gingen nach letzterer Stadt 2 Spritzen, 2 Feuerwächter, 2
Sänftenträger, ein Commando Schützen der Garnison und verschiedene
Deputirte des hohen Rathes mittelst Extrazugs Abends ab.

In der Nacht vom 29. zum 30. October brannte die Angermühle am
Ranstädter Steinweg.

[Sidenote: Dresdn. Thor.]

Anno 1843 wurde das alte Dresdner Thor, welches am 18. October 1813
die Königsberger Landwehr unter Major Friccius, der hierbei seinen Tod
fand, stürmte, weggerissen. Es stand da, wo jetzt der östliche Flügel
der 3. Bürgerschule steht und reichte bis an das Gottesackergebäude
des alten Friedhofes. Es wurde am Ende der Dresdner Straße, bei der
jetzigen Grenzgasse und dem Gerichtsweg ein neues Thor errichtet,
welches Dienstag den 3. October eingeweiht wurde.

[Sidenote: Altes Theater.]

Im October desselben Jahres wurde das (alte) Stadttheater behufs
Umbaues und gänzlicher Renovation geschlossen, seine Wiederöffnung
fand in feierlichster Weise gelegentlich der Rückkehr Sr. Majestät des
Königs Friedrich August von einer Reise nach Italien anno 1844 am 10.
August statt.

[Sidenote: Deutsch-Katholiken.]

Anno 1844 am 9. Februar fand Mittags 12 Uhr in der Buchhändler-Börse
in der Ritterstraße die erste Versammlung der in Leipzig wohnhaften
Katholiken, behufs Berathung über Abänderung verschiedener Satzungen
der katholischen Kirche statt. Referent und Hauptsprecher der
Versammelten war Robert Blum, der einen allgemeinen Austritt aus
der katholischen Kirche und Gründung einer neuen beantragte. Sein
eifrigster Gegner und Gegenredner war der Bäckermeister Schmieritz,
doch behielt Blum die Oberhand und so erfolgte wenige Tage darauf
unter Betheiligung der angesehendsten Katholiken die Gründung der
»Deutschkatholischen Gemeinde«, der sich sofort 150 Mitglieder
anschlossen.

[Sidenote: Streng. Winter.]

Der Winter anno 1844/45 war außerordentlich streng und anhaltend, so
daß oft die Eisenbahnzüge ganz ausblieben. Monatelang, vom November
bis weit in den April nichts wie Eis und Schnee; Holz und Kohlen waren
kaum mehr zu beschaffen, da alle Wege tief verschneit und eisbedeckt
waren. Die Dachrinnen platzten an den Häusern und die Sperlinge lagen
massenhaft erfroren auf den Straßen und in den Gärten. Noch am 7. März
wurde der Sattler Carl auf der Straße bei Mockau erfroren aufgefunden.

[Sidenote: Bau der Kath. Kirche.]

Mitte Juli 1845 wurde mit dem Bau der Katholischen Kirche in Reichels
Garten begonnen, die Maurermeister Purfürst und Siegel und der
Zimmermeister Schwabe führten unter einem auswärtigen Baumeister den
Bau aus, der anno 1847 am 5. August durch den Bischof Dietrich aus
Dresden feierlich eingeweiht und der Gemeinde übergeben wurde.

[Sidenote: Aufruhr.]

Am Nachmittag des 12. August 4 Uhr traf Se. Königl. Hoheit Prinz
Johann von Sachsen (Chef der gesammten Communalgarden des Landes) in
Leipzig ein, inspicirte die Communalgarde und nahm Revue über dieselbe
ab. Abends 9 Uhr wurde dem Prinzen vor dem am Roßplatz befindlichen,
in den achtziger Jahren neugebauten und in seiner jetzigen Gestalt
errichteten, alten ~Hotel de Prusse~ von dem Musikchore der
Communalgarde ein Ständchen gebracht, welches mit dem Zapfenstreich
schloß. Natürlich hatte sich eine ungeheure Menschenmenge angesammelt,
und als die Musikanten wieder abgezogen waren, johlten und brüllten
einige Burschen vor dem Hotel. Verwünschungen gegen den Prinzen,
den man für einen Feind der neuen antipäpstlich-deutschkatholischen
Glaubensbewegung hielt, wurden laut, die Menge wurde immer
aufgeregter und stimmte das Lutherlied »Eine feste Burg etc.« an und
dazwischen tönten Hochrufe auf den kurz zuvor in Leipzig gewesenen
ehemaligen katholischen Priester Johannes Ronge, der ebenfalls zum
Deutschkatholicismus übergetreten war.

Als aber sich einige rüde Burschen, wie solche bei derartigen
Gelegenheiten stets vorhanden sind, ohne daß man weiß woher sie kommen,
dazu verstiegen, die Fenster des Hotels einzuwerfen, rückte eine
Abtheilung Militair (Schützen) zum Schutze des Prinzen vor weiteren
Insulten, vor die Front des Hotels.

Nachdem auf dreimalige Aufforderung des Commandanten der Abtheilung
sich die Menge, von der man allerdings sagt, sie habe die drei
Aufforderungen gar nicht gehört, nicht zerstreute, erfolgte eine Salve
aus den Gewehren des Militairs auf das Volk. Schon die Thatsache, daß
von den in der Nähe der Truppen befindlichen Personen kein Einziger
verletzt wurde, zeigt an, daß die Soldaten angewiesen waren, hoch
-- also über die Köpfe der Tumultuanten zu feuern; leider hatte man
hierbei aber wohl kaum daran gedacht, daß damals ~Hotel de Prusse~
bedeutend tiefer lag als die jenseits der Haupttumultuanten befindliche
Fahrstraße und der Hauptweg der viel höher gelegenen Promenade. Da nun
aber auf der Promenade ebenfalls Leute standen oder spazieren gingen,
welche aber mit dem Tumult auch nicht das Geringste zu thun hatten und
die damaligen Gewehre auch lange nicht so weit trugen wie jetzt, so
kam es, daß gerade von jenen vollständig Unschuldigen zahlreiche Opfer
fielen.

Es waren dies zwei auf dem Wege zum Dienst befindliche Postsekretaire,
ein Schriftsetzer, ein Markthelfer, ein _Polizeidiener_, ein
Schneidermeister, ein Privatlehrer und ein Destillateur.

Alle acht wurden am 15. August früh Morgens, unter Begleitung des
Handelsstandes, der Innungen und betheiligten Gewerke mit ihren Fahnen
und Insignien zusammen zur Ruhe bestattet. Vor dem Thore des Friedhofes
wurden die Särge in einen Kreis gestellt und Superintendent ~Dr.~
Großmann hielt eine ergreifende Grabrede.

Der Prinz reiste am 13. August Morgens 6 Uhr per Wagen durch das
Windmühlenthor über Thonberg nach Grimma ab. -- -- --



                                  IX.

            Die letzte öffentliche Hinrichtung in Leipzig.


Anno 1853 am 5. Januar wurde in der Georgenstraße zu Leipzig die Witwe
Friese, 57 Jahre alt, eine alleinstehende, daselbst wohnhafte Frau
durch Hammerschläge auf den Kopf und Erdrosselung ermordet aufgefunden.
Der Mörder hatte die alte Dame nach vollbrachter That fein säuberlich
ans Fenster auf ihren Stuhl gesetzt und den Leichnam auf demselben
angebunden, so daß man außen die Umrisse des Körpers sehen konnte und
wegen ihres Nichterscheinens außerhalb der Wohnung in Folge dessen
auch nicht sofort Verdacht faßte. Erst als die Ermordete gar nicht von
ihrem Platze weichen wollte, erbrach man die Thür zu ihrer Wohnung und
entdeckte den stattgefundenen Raubmord. Ein Mann Namens Eduard Müller,
der als Budenwächter sogar in städtischen Diensten stand und welcher
öfters für die Dame kleine Wege besorgte, wurde alsbald gefänglich
eingezogen, und da man nicht blos eine Masse geraubter Sachen bei
ihm fand, sondern ihn sogar im Bett, angethan mit einem Hemd der
Ermordeten, antraf, so war man sicher, den richtigen Thäter erwischt
zu haben, trotzdem Müller auf das Frechste leugnete. Während der
Untersuchung stellte es sich heraus, daß die wenigen Papiere, welche
Müller besaß und auf Grund welcher er in Leipzig seinen Aufenthalt
genommen hatte, gefälscht waren, und als mehrere Personen, denen Müller
vorgeführt wurde, die Meinung aussprachen, er sei mit dem vor zwei
Jahren aus dem Gefängniß zu Merseburg ausgebrochenen, wegen mehrfachen
Raubmords, verbunden mit Brandstiftung, dort zum Tode verurtheilten
Carl August Ebert aus Drossen, 32 Jahre alt, identisch, wurde Müller
alias Ebert nach Merseburg transportirt, um seine Recognoscirung
zu bewirken. Allein hier erklärte man merkwürdiger Weise, nach
Confrontirungen Müller’s mit vielen Leuten, welche den Ebert ganz
genau kennen wollten, derselbe sei nicht Ebert, und so brachte man den
Gefangenen wieder nach Leipzig. Hier gestand denn endlich derselbe
nicht nur seine Thäterschaft bezüglich des Mordes an der alten
Dame, sondern auch ein, daß er dennoch Ebert sei, und wurde nun zum
Tode durch Enthauptung verurtheilt. Die Hinrichtung sollte mittelst
Guillotine, welche damit zum ersten Mal in Sachsen in Gebrauch genommen
wurde, stattfinden.

Daß wir Herren Jungen in dem hoffnungsvollen Alter von 12—13 Jahren
natürlich über das Wann? und Wo? dieser _öffentlich_ stattfindenden
Execution auf das Genaueste informirt waren, verstand sich von selbst,
ebenso, daß jeder von uns alle Mittel daran zu setzen gelobte, das
Schauspiel, denn als solches und als nichts Anderes wurde der Act der
Gerechtigkeit allgemein betrachtet, mit anzusehen. Meine Aussichten
standen in dieser Beziehung ziemlich schlecht; Mutter war zwar auf
einige Tage verreist und konnte mich also nicht hüten, Vater aber war
ein ernster Mann von wenig Worten, welcher erklärte, er würde keinen
Schritt nach jener Execution gehen. Unter keinen Umständen aber hätte
ich es gewagt, ihn für mich um die nothwendige Erlaubniß zu bitten,
da dies allein schon wenig erfreuliche Folgen für mich gehabt hätte,
und so verzichtete ich bereits unter tiefem Bedauern, als am Abend vor
der Hinrichtung plötzlich mein Oheim mütterlicher Seite aus Chemnitz
eintraf, um dieselbe mit anzusehen. Trotz seines Widerwillens konnte
oder mochte nun doch mein Vater dem nahen Verwandten, welcher in
Leipzig nur wenige Straßen kannte, seine Bitte, ihn an Ort und Stelle
der Execution zu begleiten, nicht abschlagen, und klopfenden Herzens
hörte ich, wie mein Vater, als wir Kinder eben schlafen gingen, seine
Einwilligung gab und ihren Aufbruch auf nächsten Morgen halb vier Uhr
festsetzte.

Ich lag schon im Bett, in der an unser Wohnzimmer stoßenden Kammer,
als ich durch die halboffene Thür die Abmachung der beiden Herren mit
anhörte, und da ich mir ausrechnete, daß ich gegen sieben Uhr, zu
welcher Stunde meine um ein Jahr ältere Schwester aufstand, um in
Abwesenheit der Mutter den Morgenkaffee zu bereiten, längst wieder zu
Hause sein konnte, so beschloß ich, lieber die ganze Nacht kein Auge
zuzuthun, als die Zeit von Vaters Weggang zu verschlafen, denn -- daß
ich dann ebenfalls hinauswollte, war fest bei mir beschlossen. Indeß
-- was sind eines Kindes Vorsätze -- und noch dazu die eines Bengels,
dessen Fuß den ganzen geschlagenen Tag über in Bewegung ist, und der
sich natürlich auch am Abend einer entsprechenden Müdigkeit erfreut.
Ich sank deshalb, auch diesmal, trotz aller heroischen Anläufe, mich
wach zu erhalten, gar bald in meinen üblichen festen Schlaf, während
welchem man mich ruhig mit sammt dem Bett hätte forttragen können und
würde also unbedingt die Zeit verschlafen haben, hätte nicht Vater
bei seinem Weggehen meine Schwester, ebenfalls erst nach längerer
Bemühung, aufgeweckt, damit dieselbe hinter ihm die Wohnung wieder
verschlösse und dann wieder zu Bette ginge. Fünf Minuten nach dem
Weggange der beiden Herren lag meine Schwester wieder in den Banden
des Schlafes, und weitere fünf Minuten darauf befand ich mich auf der
Straße. Der Frühling des Jahres 1854 war rauh und regnerisch, wir
befanden uns zwar im Juni, aber trotzdem war das Wetter wie sonst im
April. Es war noch nicht vier Uhr und durch den herrschenden Nebel
noch nicht hell genug, um weithin sehen zu können, auch nisselte
es ab und zu ein wenig, nachdem es die ganze Nacht über geregnet
hatte. Die Hinrichtung fand auf den sogenannten Gerberwiesen, welche
sich zwischen dem Händel’schen Bad in der Parthe und dem jetzigen
Güterbahnhof der damals noch nicht existirenden Berlin-Anhalter Bahn
ausdehnten, statt, und trotz der Frühe des Morgens und der naßkalten
Witterung strebten bereits Tausende demselben Ziele zu. Damals, wo
Leipzig noch kaum 60000 Einwohner hatte, war auch die Bevölkerung
betreffs des Straßenpflasters und anderer Einrichtungen noch nicht so
verwöhnt wie jetzt und die Hauptpflege des Pflasters erstreckte sich
auf die zur Meßzeit mit dichtem Menschengewühl bedeckten Straßen der
inneren Stadt. Ein geradezu schauerliches Pflaster mit vielen Löchern
hatte nun gerade die Gerberstraße, obwohl damals weder Blücher- noch
Löhrstraße existirten und der ganze kolossale Verkehr nach dem Norden
nur durch sie bewerkstelligt werden konnte. Auch an jenem Tage hatten
sich in den vielen Löchern Pfützen gebildet. Nun kam, eben als ich von
der Windmühlenstraße, wo wir wohnten, im Dauerlaufe am alten Leihhause
-- einer dem Zusammenbrechen nahen alten Baracke auf dem jetzigen
Blücherplatz -- angekommen war -- ein zur Execution als Bedeckung
commandirtes Bataillon Communalgarde in Parade-Uniform und also -- in
weißen Hosen -- mit Musik anmarschirt, dem ich mich anschloß. Zu beiden
Seiten der Colonne der ritterlichen Vertheidiger der Stadt marschirten,
ebenfalls in vollem Wichs -- Pikesche und hohe Stiefeln -- eine
Unmasse, meist Corpsstudenten, und wenn nun die guten kriegerischen
Bürger oder bürgerlichen Krieger gewissenhaft und wegen ihrer weißen
Unaussprechlichen ängstlich bemüht waren, den zahlreichen Pfützen,
selbst auf die Gefahr des militairischen Tactes, sorgsam aus dem Wege
zu gehen, so waren die durch ihre hohen Stiefel geschützten Studenten
erst recht bemüht, in diese Pfützen mit größter Gewissenhaftigkeit und
Todesverachtung hineinzuspringen und zu patschen, so daß der schmutzige
Inhalt derselben mannshoch aufspritzte und sich zum Ergötzen des ganzen
begleitenden verehrlichen Publicums über die weißen Beinkleider und
die schmucke Uniform der ärgerlichen Gardisten ergoß. Wohl fluchten
die Letzteren laut ob dieser Handlungsweise der studirenden Jugend,
allein kaltblütig bliesen dieselben den Raisonnirenden den Rauch ihrer
langen Pfeifen in das Gesicht und -- es blieb beim Alten. Endlich
war unter lebensgefährlichem Gedränge die ebenso uralte wie schmale
Gerberbrücke und das dicht dabei befindliche Gerberthor passirt und
der Weg führte rechts die jetzige Berliner Straße, welche damals außer
der Scharfrichterei und den kleinen Häuschen der Damenbadeanstalten im
Gerbergraben kein einziges Wohnhaus aufzeigte, hinaus, über die Gleise
der Magdeburger Bahn -- auch die Thüringer Bahn existirte damals noch
_nicht_ -- hinweg und dann lagen wiederum rechts die Gerberwiesen
vor uns. Das Schaffot, zu welchem drei Stufen in die Höhe führten,
war vielleicht vier- bis fünfhundert Schritt von dem Ufer der Parthe
errichtet und die Communalgarde schwenkte, die bereits zu Tausenden
versammelte Zuschauerschaar durchbrechend, auf dasselbe zu und nahm
von einem um dasselbe gebildeten Viereck die Parthen- und rechte
Seite, eine Abtheilung Jäger der Garnison bildete die anderen beiden
Seiten des Vierecks. Leider gelang es mir nicht, mit der Communalgarde
zugleich nach vorn zu kommen, die kolossale Menschenfluth drängte
mich zurück, und so hatte ich wider Willen Gelegenheit, das Treiben
auf dem riesigen Platze mit anzusehen. -- Wie sehr wohl hat doch die
Gesetzgebung gethan, wenn sie jetzt das Walten der strafenden Justiz,
bei ihrer höchsten Strafe, in die engen Mauern der Strafanstalten
verweist, wo sich der schauerliche Act wenigstens in würdiger
Feierlichkeit abspielen kann, und wie sehr Unrecht man früher mit
der Meinung hatte, daß die _öffentliche_ Hinrichtung berufen sei,
abschreckend zu wirken, das begriff an jenem Tage sogar der Knabe. Denn
all die Tausende hier schienen nicht zu einem Acte tiefernster Lehre,
sondern zu einem Schauspiel, ja Volksfest versammelt zu sein. Wagen und
Stände mit Kaffee-, Bier- und Schnapsverkäufern; Händler mit Semmeln,
Kuchen, Brod, Fleischwaaren und Wiener Würstchen wechselten mit
Colporteuren, welche Ebert’s und andere Mordthaten und Hinrichtungen
in Poesie und Prosa laut zum Verkaufe anboten, ab. Alles lachte,
drängte und machte mehr oder minder rohe und zweideutige Witze. Mehrere
industriöse Leute waren mit ganzen Wagen voll Stühlen und Holztischen
erschienen, welche sie an die Zuschauer vermietheten und wobei sie
reißenden Absatz fanden -- -- --

Plötzlich -- -- ein allgemeines »sie kommen« und alle Augen richteten
sich auf die etwas höher gelegene Straße, von welcher eben einige
Wagen, umgeben von berittenen Gendarmen, nach dem Viereck einbogen. Ich
drängte mit Macht nach vorn, schlüpfte hier einem schimpfenden Bürger
zwischen den Beinen und dort einem anderen unter dem Arme durch, nahm
Püffe und Schimpfworte in den Kauf und kam ein gutes Stück vorwärts,
jetzt aber stak ich in der Mitte eines festgekeilten Menschenstroms,
sah nichts als Röcke und Hüte und den von Wolken umzogenen Himmel
-- es war zum Verzweifeln! -- Da stand vor mir auf einem Holzstuhl
ein Student, vor sich hielt er, als Partnerin desselben Stuhles, ein
rothbackiges, mit weißer Schürze angethanes Dienstmädchen.

»Knirps --« sagte er, mich gewahrend, »steig auf die Stuhllehne und
halte Dich an meinen Schultern fest!«

Im Moment war ich droben. Tiefe Stille herrschte, eben stieg der
Verurtheilte, ein kräftiger Mann mit rothem Vollbart, die Stufen
des Schaffots hinauf. Jetzt aber kam es über mich wie ein Gefühl
unendlicher Angst, ich sah das schräge Fallbeil, hörte in der Ferne
die Worte des Richters, welcher dem Mörder nochmals das Urtheil
vorlas, sah, wie die Gehilfen des im Frack dastehenden Scharfrichters
den Verbrecher ergriffen, dann aber legte es sich wie ein Nebel über
meine Augen, ich vermochte es nicht, nach jenen verhängnißvollen zwei
Säulen, zwischen denen das Beil hing, zu sehen, meine Füße wankten und
krampfhaft hielt ich mich an der Schulter des Studenten fest, da --
ein klatschender Schlag vom Schaffot her -- ein tiefer Seufzer aus der
Brust des Studenten -- »es ist geschehen«, sagte er mit bleicher Wange,
»Gott sei dem Sünder gnädig!«

»Ist es nicht gerade, als ob die Sonne mit ihrem Erscheinen gezögert
habe, bis der Elende gebüßt hat?« sagte ein vor mir herschreitender
Herr zu einem anderen. Ich blickte auf und -- in der That -- drüben
über Händel’s Bad stieg sie, leuchtend und strahlend die Wolken
durchbrechend, in die Höhe, während noch das Blut des Verbrechers
durch die Bretterritzen des Schaffotes sickerte, wo Hunderte von
Abergläubischen bemüht waren, einige Tropfen desselben mit Tüchern und
Lappen aufzufangen.

Die Sonne gab aber auch mir meine Courage zurück, und als mein
Vater gegen sieben Uhr heimkehrte, lag ich schon länger als eine
Viertelstunde wieder in den Federn, mir aber doch gelobend, ein solches
Schauspiel niemals wieder aufzusuchen.



                                  X.

                Die Leipziger Sänftenträger-Compagnie.


Mit Errichtung der Fiaker erlitt ein bis dahin blühendes, unseren Tagen
und Geschlechtern gewiß eigenartig erscheinendes Institut einen Stoß,
der sein völliges Eingehen nur noch zu einer Frage der Zeit machte. Es
war dies die ehrsame Corporation der Leipziger Chaisenträger, wie sie
im Volksmunde genannt wurde, oder die »Sänftenträger-Compagnie«, wie
sie sich selbst nannte und wie auch ihr amtlicher Titel lautete.

Diese Corporation, welche länger als 150 Jahre bestand und sich einst
nicht blos hoher Blüthe, sondern auch der Gunst der ganzen Leipziger
Bevölkerung, besonders aber der Honoratioren im höchsten Grade
erfreute, trug einen halbamtlichen Charakter und zwar insofern, als ihr
der Rath von ihrem Inslebentreten an, am Anfang des 18. Jahrhunderts,
bis zu ihrer Auflösung, am Ende der sechziger Jahre oder Anfang der
siebziger Jahre unseres Jahrhunderts, die Chaisen gegen entsprechende
Miethe stellte und die Mitglieder, welchen außerdem noch die Pflicht
oblag, bei Feuersgefahr mit einer ihnen besonders zugetheilten Spritze
helfend einzugreifen, von Amts wegen feierlich bei ihrem Eintritt in
die Compagnie in Pflicht nahm.

Die Chaisen oder Sänften ersetzten früher die jetzigen Droschken. Es
waren einsitzige, viereckige Holzkasten, innen mehr oder minder elegant
eingerichtet, denn es gab sogenannte Staatssänften und einfachere.
Sie hatten rechts und links, wie die Droschken, Thüren mit zum
Herunterlassen eingerichteten Fenstern, ebenso Glasfenster nach vorn,
welche aber sämmtlich durch innen angebrachte Zugvorhänge verdeckt
werden konnten. Zwei lange, lackirte Stangen, welche rechts und links
unter angebrachte Halter geschoben wurden, dienten zum Tragen der
Sänften und diese Stangen trugen vorn und hinten an kreuzweise über die
Brust fallenden weißlackirten Ledergurten je ein Mann der uniformirten
Sänftenträger-Compagnie. Die Uniform der Sänftenträger bestand in einem
langen blauen Livréerock mit blanken Knöpfen und bis zum Anfang dieses
Jahrhunderts in Kniehosen, weißen langen Strümpfen, Schnallenschuhen
und dreieckigem Hut, später trugen sie lange Beinkleider und blaue
Dienstmützen mit weißem Rand, der Rock aber blieb derselbe, doch
erschienen sie auch später noch manchmal, bei besonders festlichen
Gelegenheiten, in ihrer alten Galakleidung; so z. B., als sie am 5.
August 1847 den zur feierlichen Einweihung der katholischen Kirche
nach Leipzig gekommenen Bischof Dietrich aus Dresden zur Kirche
trugen. Wie mancher andere Comfort waren auch die Sänften eine ins
Deutsche übertragene französische Einrichtung, und wenn sich im vorigen
Jahrhundert die geputzten, hochfrisirten und mit Schönheitspflästerchen
versehenen Leipziger Damen in den Staatssänften zu den Vergnügungen
oder zu Besuchen in Richter’s, Reichel’s oder Bosen’s Garten tragen
ließen, so schritten oft die zierlich und stutzerhaft gekleideten
und mit dem Paradedegen bewaffneten jungen Kaufleute oder sonstigen
Verehrer neben her und suchten eifrig ein Wort oder doch wenigstens
einen Blick der Angebeteten zu erhaschen. Auch bei Bällen und
Gewandhausconcerten spielten die Chaisenträger mit ihren Tragen eine
große Rolle, denn Equipagen wurden mit Ausnahme ziemlich schwerfälliger
Reisewagen selbst von reichen Familien nur wenig gehalten, auch war
das damalige Pflaster derart, daß man seinen Körper, besonders bei
schlechtem Wetter, lieber einer von den wohlgeübten Trägern sanft
(daher auch der Name Sänfte) behandelten und ohne alle Erschütterungen
getragenen Chaise, als dem schweren Wagen anvertraute, dessen Federn
nur mangelhaft waren und der oft aus einem Loch in das andere fiel.
Bei solchen Fahrten wurden die damals hohen Frisuren und Reifröcke der
Damen oft bedenklich erschüttert und die Perrücken oder zierlichen
Zöpfe der gepuderten Herren derangirt, und da waren denn die Sänften
sehr an ihrem Platze. Außer mancher anderen Vergünstigung hatten die
Sänftenträger auch noch bis zu ihrer Auflösung das Vorrecht, das
Klafterholz, welches sich Private für ihren Hausbedarf anfahren ließen,
_auf der Straße_ vor dem betreffenden Hause zerkleinern zu dürfen,
und vielen alten Bürgern wird noch diese Thätigkeit dieser Leute, bei
welcher auch die Frauen derselben mit eingriffen, erinnerlich sein. Es
war dabei Sitte, ihnen außer dem Lohne noch das größte Holzscheit,
gleichsam als Trinkgeld, zu überlassen.

[Illustration: Die Sänften und ihre Benutzung bei Gewandhausconcerten.]

Mit dem Eintritt des Fiaker- und Droschkenwesens verschwanden auch
allmälig die Sänften aus dem öffentlichen Gebrauch und nur Kranke,
welche jede Erschütterung durch das Fahren im Wagen vermeiden wollten,
benutzten dieselben noch ab und zu. Trotzdem bestand aber die Compagnie
noch manches Jahrzehnt fort, und zwar wurden die Sänftenträger amtlich
als Träger der Siechkörbe bei eingetretenen Unglücksfällen oder bei
schwer Erkrankten behufs deren Transportes in’s Krankenhaus verwendet.
Außerdem behielten sie ihren Spritzendienst und ihre Holzhauerarbeiten
und fanden so immer noch ihre bescheidene Existenz.

Hierzu kam aber noch mancherlei weitere Thätigkeit und zwar zuerst
die als Fabrikanten des seiner Zeit vorzüglich bei Leipzigs
Frauen vielgepriesenen, ja bis zum heutigen Tage noch nicht
ganz vergessenen, auch weit über Leipzigs Grenzen wohlbekannten
»Chaisenträgerpflasters«, dessen heilkräftige Wirkung sich so ziemlich
auf alle bekannten und unbekannten inneren Krankheiten erstrecken
sollte. Gegen Gicht und Rheumatismus, Verrenkungen durch Hebung zu
großer Lasten, verursachte Leibesschäden, gegen Knochenfraß, alte
Wunden, Hexenschuß und Kreuzschmerzen half dasselbe, der Tradition
nach, mit absoluter Sicherheit; ja als wir Kinder uns einst bei einem
mehrtägigen Besuche auf dem Gute unseres »Buttermanns« in Bösdorf im
Essen übernommen hatten und daran nach erfolgter Rückkehr tüchtig
laborirten, brachte unsere alte gute Großtante allen Ernstes für jedes
von uns ein halbellengroßes fettgeschmiertes Chaisenträgerpflaster
herbeigeschleppt, welches das Innere kräftig zertheilen und uns wieder
herstellen sollte. Tantchen nahm es denn auch furchtbar übel, als die
Mutter ihre Pflaster dankend zurückwies und uns mittelst einiger
Tassen aufgelösten Bittersalzes und der Leistungen einer mächtigen
Familienklystirspritze, welch letztere damals in keiner Familie zu
fehlen pflegte, einer schnellen Radicalcur unterzog und binnen zwei
Tagen wieder vollständig herstellte. Erst am nächsten Aschermittwoch,
wo wir Kinder pflichtgemäß, wie es damals Sitte war, mit bänder- und
blumengeschmückten Tannenzweigen sämmtlichen Pathen und Verwandten aufs
Quartier rückten und in handgreiflicher Weise »die Asche abkehrten«,
versöhnten wir die gute Alte wieder vollständig, und jedes von uns
erhielt einen mächtigen »Vierpfenniger« als gebührende Belohnung für
unsere »Arbeit.«

Thatsache ist, daß die Fabrikation dieses Chaisenträgerpflasters,
dessen Zusammensetzung von den Mitgliedern der Compagnie streng geheim
gehalten wurde und welches dieselben für »einen Sechser« bis zu »zwei
guten Groschen« je nach dem Umfang desselben verkauften, eine ganz
beachtenswerthe Einnahmequelle der Compagnie bildete.

Vom Anfange ihrer Errichtung bis zu ihrer gänzlichen Auflösung hausten
die Chaisenträger unter den vier Bogen der »Börse« am Naschmarkt.
Im Hintergrunde derselben standen die Sänften und weiter vorn an
den Eingängen standen Stühle, an deren Seite an der Wand kleine
Spiegel angebracht waren, denn die Chaisenträger waren in der That
Tausendkünstler und ebenso vielseitig als solche.

Sie waren nämlich nicht blos Sänften- und Siechkorbträger,
Spritzenleute, Holzzerkleinerer und Fabrikanten ihres berühmten
Pflasters, sondern huldigten auch dem Schönheitsgefühle, indem sie
-- man staune -- Jedermann und jederzeit gegen den Obolus von »einem
Sechser« kunstgerecht die Haarfülle verschnitten, wobei allerdings das
Wort »verschneiden« oft genug in des Wortes verwegenster Bedeutung zu
nehmen war. Dies hinderte aber verschönerungssüchtige Handwerksgesellen
und Lehrjungen, ja selbst sparsame Handwerksmeister nicht, ihre Frisur
ruhig den Scheerenleistungen der Sänftenträger anzuvertrauen und ihre
Locken _stufenweise_ in den solchergestalt auch der Kunst geweihten
Hallen der Börse fallen zu sehen. Wir Herren Jungen waren natürlich
Stammgäste der biederen Leuteverschönerer.

»Junge -- nee -- deine Haare! -- Gleich gehst de zu’n Chaisenträgern,
un -- -- runter damit -- hier hast de ’nen Sechser!«

Das war dann für uns ein gefundenes Fressen, wie wir damals mehr
bezeichnend als sprachlich schön uns zu äußern pflegten, denn die Alten
wußten immer etwas Hübsches bei der Procedur der Haarabsäbelung zu
erzählen.

Freilich, großen Staat machten sie nicht mit uns und der »Comfort« war
gerade nicht übermäßig, aber das machte nichts aus, wir Bengel waren
damals eben noch nicht so von der Cultur beleckt, wie jetzt die »jungen
Herren«, wie heutzutage der Friseur jeden »dummen Jungen« anredet.

Der eben anwesende Chaisenträger steckte uns, nachdem wir rittlings
auf dem uralten Polsterstuhle Platz genommen hatten, vorn und hinten,
zum Schutz für unsere »Kutte«, je ein blaugewürfeltes, in Folge
mancher Prisenspuren nicht ganz »zweifelsohne« Taschentuch rings in
die Halsöffnung der »Kutte« und nun ging die Procedur frisch, fromm,
fröhlich vor sich. Erwachsenen, von deren Aeußerem der haarschneidende
Künstler stillahnend, leider sich aber oft mit dieser Ahnung selbst
betrügend, vermuthete, daß sie sich zu der horrenden Leistung von einem
»Neugroschen« aufschwingen würden, wurden _weiße_ Tücher vorgesteckt,
bei uns Jungen war dies überflüssig und uns auch vollständig
gleichgiltig.

Während nun in diesen heiligen Hallen, vor den Augen des zahlreich
vorüberziehenden verehrten Publicums, unsre oft arg zerzausten und
meist etwas struppigen »Locken« unter der Scheere des Alten fielen,
erzählte uns derselbe gewissenhaft alle Neuigkeiten des Tages, denn
die Alten erfuhren Alles und waren eine lebendige Chronik -- oft auch
~chronique scandaleuse~, ja sie führten sogar länger als ein volles
Jahrhundert ein ziemlich genaues Tagebuch über alle Stadtereignisse
irgendwie bemerkenswerther Natur und waren nicht böse, wenn wir diese
ihre Leistungen als Chronisten bewunderten und durchstöberten.

War die Procedur des Haarschneidens vorüber und hatte auch der aus
gewissen hier besser verschwiegenen Gründen nunmehr in Function
gesetzte »kleine Kamm« seine Pflicht gethan, so schüttelten wir Tücher
und Haare ab und überreichten feierlich dem Alten den Lohn für seine
Arbeit. Dieser prüfte dann das Geldstück genau, denn, es gab damals
auch Sechser, _die darnach waren_, und dann erfolgte große Betrachtung
im Handspiegel, worauf uns der Gute mit einem »So, nu siehst de wieder
wie e Mensch aus«, feierlich entließ. Mutter schlug dann wohl bei
unserem Anblick ab und zu entsetzt die Hände zusammen, aber Vater sagte
dann beruhigend und lachend »Na -- laß nur -- se wachsen schon wieder!«
Und damit war die Sache abgethan.

In der damaligen Zeit, wo noch nicht einmal die in den sechziger
Jahren fest organisirte städtische Feuerwehr existirte, sondern nur
die Bürgerschaft, soweit sie nicht Dienst in der Communalgarde that,
und die sogen. »Schutzverwandten« (eine Art Bürger 2. Classe, die aber
kein Wahlrecht hatten) zum Spritzendienst bei ausbrechendem Feuer,
je nach den Stadtvierteln, herangezogen wurden, hatte natürlich eine
Corporation wie die Sänftenträger, von denen die Hälfte Tag und Nacht
auf ihrem Posten war, auch als Feuerwehrleute großen Werth, und die
Fälle, in denen die Spritze derselben bei Schadenfeuern zuerst auf
dem Platze war und die für diesen Diensteifer ausgesetzte Prämie
empfing, sind sehr zahlreich. Die Compagnie hat bei großen Bränden
wiederholt Hervorragendes, sowohl beim Löschen, als beim Retten und
Bergen der bedrohten Mobilien etc., ja selbst von Menschen, geleistet,
und da die strenge Ehrlichkeit ihrer Mannschaften wohlbekannt war, so
wußten die vom Feuer Betroffenen da, wo die Spritze und Mannschaft der
Sänftenträger-Compagnie erschien, das Ihrige in guten Händen, zumal da
in jener Zeit sich oft schnell herbeigeeiltes Gesindel die Gelegenheit
zu Nutzen machte, um zu stehlen, und die Feuerversicherung noch bei
Weitem eine nicht so eine allgemeine war, wie zur Jetztzeit.

Selbst auswärts war in solchen Fällen die Compagnie öfters thätig,
und als halb Oschatz in Flammen stand, ging auch die Spritze der
Sänftenträger mit einiger Mannschaft, begleitet von Deputirten des
Rathes, mit Extrazug dahin ab und trat dort in Action.

So war die Compagnie länger als 150 Jahre eine volksthümliche, beliebte
und hochgeachtete Corporation, bis die Alles unterminirende Zeit
endlich auch sie erst zum Wanken und dann zum Falle brachte und die
folgenden undankbaren, flüchtigen Geschlechter in wenig Jahrzehnten
dieselbe vergaßen.

Legte schon das Erscheinen der Droschken ihre ursprünglichen
Functionen als Sänftenträger lahm, so daß eine Sänfte nach der
anderen die Halle am Naschmarkt räumen mußte, so machte später die
Organisation der städtischen Feuerwehr auch ihre Hilfe bei Feuersgefahr
entbehrlich. Der aller Handarbeit feindliche Dampf treibt jetzt sogar
holzspaltende Maschinen, und Brandt’sche Pillen, Glöckner’sches
Pflaster und andere Mixturen und Salben haben längst das alte gute
Chaisenträgerpflaster aus der Zahl der heilkräftigen Hausmittel
verdrängt. Barbiere und Friseure bearbeiten jetzt die Köpfe und deren
Haarfülle kunstgerecht mit Walzenbürste, amerikanischer Douche und
-- -- Haarschneidemaschinen; leer und verwaist sind die einst so
traulichen Hallen am Naschmarkt, nur in einer derselben sitzt jetzt
eine menschenfreundliche ältliche Dame und giebt dem Bedürftigen --
-- -- verschämt dabei lächelnd -- einen gewissen Schlüssel zu einer
gegenüberliegenden stillen Klause, gegen Einlegung -- -- eines Sechsers
-- -- wollte sagen -- -- eines Fünfpfennigers deutscher Reichswährung.

Die Alten sind heimgegangen, nur einer noch, der alte »Vater Wolf«,
haust in seiner kleinen freundlichen Wohnung im »Königshaus« am Markt,
vorn heraus »fünf Treppen« hoch, dem Himmel oder doch den Wolken ebenso
nahe als der undankbaren Erde.



                                  XI.

                              ~D. L. M.~


In einem altrenommierten Leinenwaarengeschäft der Petersstraße, welches
noch jetzt besteht, kam es vor vielen Jahren öfters vor, daß sich
unter den vielen Käufern auch zeitweilig solche befanden, welche dem
etwas mißtrauischen, originellen Chef des Geschäftes betreffs ihrer
Absichten zweifelhafter Natur zu sein schienen. In solchen Fällen rief
er durch das kleine Fenster aus seinem Contor, durch welches er den
Laden und die Käufer überblicken konnte, stets laut »~D. L. M.~« seinen
Verkäufern zu.

Einst -- als eine _sehr hohe Dame_ -- allein und in unscheinbarer
Kleidung im Laden erschien, um Einkäufe zu machen, rief der Alte wieder
laut sein »~D. L. M.~« heraus.

Die Dame aber wandte sich lächelnd zu dem Rufenden und sagte: »Nein --
Vater ~F.~ -- ich mause nicht!«

Die drei Buchstaben sollten nämlich ein Warnungsruf für das Personal
des Alten sein und bedeuteten, was der Dame bekannt war: »_Das Luder
maust!_«



                                 XII.

                   Allerlei Chronika von 1846—1849.


[Sidenote: Brand vom Hotel de Pologne.]

Anno 1846 Abends 7 Uhr am 29. August ertönten die Sturmglocken von
allen Stadtthürmen, die Tamboure der Communalgarde wirbelten durch
die Straßen und die Signalhörner der Jäger schmetterten durch die
Luft. Feuerruf ertönte aus der Hainstraße! -- Es brannte im Hotel de
Pologne. Ein Markthelfer in der Droguenhandlung von Marx daselbst
war mit offener Kerze in den Keller des Hauses gegangen, wo große
Vorräthe von Naphta, Vitriolöl und Spiritus lagerten und hatte daselbst
ein Anfangs unbedeutendes Feuer verursacht. Erschrocken suchte er
es selbst zu dämpfen, aber im Augenblick hatte dasselbe Spirituosen
und andere feuergefährliche Stoffe erfaßt und wuchs riesig an. Die
schnell herbeigeeilten Feuerwehren, insbesondere die Spritzen der
Nachtwächter, Lampenleute und Chaisenträger vermochten den brennenden
Stoffen gegenüber nichts zu thun. Man warf Sand, Erde und Mist in die
Flammen, aber umsonst, dieselben durchbrachen schnell das Parterre und
durchschlugen den ersten und zweiten Stock des Hauses. Der furchtbare
Dampf zwang Alles zum Zurückweichen. Das Feuer griff mit solcher
Gewalt um sich, daß in wenig Stunden nicht blos das Hotel de Pologne,
sondern auch der »blaue Stern« und der »Adler« in Flammen stand. Leider
erforderte der kolossale Brand viele Menschenopfer. Ein vom »Stern«
einstürzendes Fenster erschlug von einem vorüberfahrenden Sturmfaß
Pferd und Kutscher, sowie des Letzteren Knecht. Die ganze Nacht über
heulten die Sturmglocken und nach und nach kamen sämmtliche Spritzen
der umliegenden Orte an. Auch das Tags zuvor ins Cantonnement gerückte
Schützen-Bataillon wurde zurückberufen und traf wieder in Leipzig
ein. Alle Fabriken stellten ihre Leute zur zeitweiligen Ablösung der
Bedienung der Spritzen zur Verfügung, ein Gleiches thaten die Turner.
Die Schlauchführer griffen den riesigen Feuerheerd, mit Todesverachtung
und unter eigener Lebensgefahr, von allen Seiten an und drangen
sowohl von der Rückseite -- der Katharinenstraße aus, wie vom Brühl
und vom »großen Joachimsthal« her über die Dächer vor, während Massen
von Schläuchen von den in der Hainstraße gegenüber liegenden Häusern
und deren Dächern ebenfalls Ströme von Wasser in die Gluth sandten;
aber erst nach fast drei Tagen furchtbarer Arbeit war das Feuer auf
seinen Heerd beschränkt. Dasselbe brannte nach Außen noch länger als
14 Tage und von Zeit zu Zeit hörte man im Innern die Explosion der
Spiritusfässer.

Da gerade diese drei Häuser hunderten von auswärtigen Tuch- und
Buxkinfabrikanten als Verkaufslokale dienten und die Messe unmittelbar
bevorstand, so wurden auf den theilweise noch rauchenden Trümmern
schleunigst Buden für die alsbald eintreffenden Fremden errichtet,
aber als man nach der Messe, _fast 12 Wochen nach dem Brande_, den
Schutt gründlich aufzuräumen begann, _stieß man immer noch auf
brennende Stellen_. Mehrere Fremde, sowie ein Oberkellner des Hotels
verbrannten in den Zimmern. Unter der eingestürzten Einfahrt fand man
beim Aufräumen die Ueberreste eines Weinküfers, eines Wollsortirers
und eines Mannes von der Feuer-Colonne erschlagen vor. Ein wackrer
Schornsteinfeger rettete mit eigner Lebensgefahr mittelst einer
Leiter eine um Hilfe rufende Dame aus dem über und über brennenden 3.
Stockwerk des Adlers, indem er sie aus einem Fenster auf die Leiter
trug und, selbst vom Feuer verletzt, glücklich vor dem Einsturz des
Gebälkes zur Erde brachte. Die Knochen und sonstigen Ueberreste von
8 Personen wurden nach einigen Tagen feierlich zusammen beerdigt,
6 weitere Personen fand man erst später auf oder dieselben starben
nachträglich an ihren Brandwunden, der Letzte derselben war der
Maurer Gehlicke, der beim Retten verunglückt war. Er wurde am 30.
September 1846 als erste Leiche auf dem neuen Johannisfriedhof an den
Thonberg-Straßenhäusern beerdigt.

[Sidenote: Neuer Friedhof.]

Am 28. September 1846 Nachmittags übergab Bürgermeister ~Dr.~ Groß den
neuen Johannisfriedhof zur Benutzung, worauf durch Superintendent ~Dr.~
Großmann, unter Theilnahme einer großen Menschenmenge, die feierliche
Einweihung desselben stattfand.

[Sidenote: Erschoss. Liebespaar]

Anno 1847 am 16. August erschoß sich hinter den Gärten bei Sellerhausen
ein junges Liebespaar aus Volkmarsdorf. Der Jüngling war 18, das
Mädchen 17 Jahre alt. Das Mädchen wurde am 18. August unter Vorantritt
der Geistlichkeit und der Schuljugend, sowie ihrer Angehörigen und
Freunde beerdigt. Die Jünglinge von Volkmarsdorf trugen den Sarg. Der
Leichnam des jungen Mannes kam auf die Anatomie!!!

[Sidenote: Mendelssohn-Bartholdy †.]

Am 4. November 1847 starb hierselbst in der Königstraße der Königl.
Preuß. Capellmeister ~Dr.~ Felix Mendelssohn-Bartholdy. Am 7. November
wurde der Sarg mit dem Leichnam des Verewigten unter Vorantritt zweier,
abwechselnd Trauer-Märsche spielender Musikchöre, unter großem Blumen-
und Palmenschmuck und dem Geleit der Mitglieder des Conservatoriums,
der Universität, der Civil- und Militairbehörden im feierlichen Zug
durch Petersthor und Petersstraße, Markt, Grimmaische Straße in das
Innere der Universitäts-(Pauliner-)Kirche gebracht, vor dem Altar
niedergesetzt und mit brennenden Wachskerzen umgeben. Nach abgehaltenem
Trauergottesdienst und Absingen des Chorals »O Haupt voll Blut und
Wunden etc.« unter Orgel- und Posaunenbegleitung, wurde der Sarg Abends
per Extrazug nach Berlin gebracht.

[Sidenote: Robert Blum †.]

Anno 1848 am 14. November kam die Nachricht von Robert Blum’s
Erschießung, in der Brigittenau zu Wien am 9. November, dem Tage
vor seinem Geburtstage, nach Leipzig und fand desselben Tages eine
große Volksversammlung in der Thomaskirche statt. Dieser folgte am
26. November 1848 die Todtenfeier für Robert Blum in Leipzig. Auf
dem Roßplatz stellten sich sämmtliche Innungen und Corporationen mit
ihren Fahnen auf, darunter die Buchdrucker mit einer rothen Fahne und
der Inschrift von Blum’s Namen und Todestag. Punkt 11 Uhr marschirte
der Zug vom Roßplatz um die Promenade, an der Post vorbei, durch die
Hallesche und Katharinenstraße auf den Markt. Hier theilte sich der
Zug und hatte die erste Abtheilung Gottesdienst in der Nikolai- -- die
Andern in der Thomaskirche. Nachmittags gab der Turnerchor auf dem
Exercirplatz bei Gohlis zu Ehren des Erschossenen drei Salven ab.

Robert Blum wurde am 4. November in Wien, nach Bewältigung des dortigen
Aufstandes gefangen genommen und nach kriegsgerichtlichem, durch den
Fürst Windischgrätz bestätigtem Urtheil am 9. November standrechtlich
erschossen.

Am 7. December 1848 veröffentlichte Rechtsanwalt ~Dr.~ Gustav Haubold
im Leipziger Tageblatt Folgendes:

   »Ich übergebe hiermit die Abschiedsworte Robert Blum’s, zur
  Widerlegung vielfach verbreiteter Gerüchte, der Oeffentlichkeit.

    Leipzig, den 7. Dec. 1848.

                         ~Dr.~ Gustav Haubold,
              Vormund der 4 unmündigen Geschwister Blum.

   Diese Abschiedsworte aber lauteten:

      Mein theures, gutes, liebes Weib!

   Lebe wohl für die Zeit, die man ewig nennt, die es aber nicht sein
  wird. Erziehe unsre -- jetzt nur Deine Kinder zu edlen Menschen,
  dann werden sie ihrem Vater nimmer Schande machen. -- Unser kleines
  Vermögen verkaufe mit Hilfe unsrer Freunde. Gott und gute Menschen
  werden Euch ja helfen. Alles was ich empfinde rinnt in Thränen dahin,
  daher nur nochmals: leb wohl theures Weib. Betrachte unsre Kinder als
  theuerstes Vermächtniß, mit dem Du wuchern mußt und ehre so Deinen
  treuen Gatten. Leb wohl, leb wohl! Tausend, tausend -- die letzten
  Küsse von:         Deinem
                           Robert.

 Wien, den 9. Nov. 1848, Morgens 5 Uhr.
       Um 6 Uhr habe ich vollendet!

   Nachschrift.

   Die Ringe hatte ich vergessen, ich drücke Dir den letzten Kuß auf
  den Trauring. Mein Siegelring ist für Hans, die Uhr für Richard,
  der Diamantknopf für Ida, die Kette für Alfred als Andenken. Alle
  sonstigen Andenken vertheile Du nach Deinem Ermessen. --

   Man kommt, lebe wohl! Lebe wohl!

                   *       *       *       *       *

[Sidenote: Neue Speiseanstalt.]

Anno 1849 wurde die frühere Getreide-Expedition am Königsplatz
(jetzt Ecke Königsplatz und Markthallenstraße) in eine städtische
Speiseanstalt umgewandelt. Die Portion Gemüse und Fleisch kam 12
Pfennige. Die Anstalt wurde am 1. Februar 1849 eröffnet.

[Sidenote: Revolution und Straßenkampf in Leipzig.]

Am 6. Mai ging auch in Leipzig die Revolution los, nachdem dieselbe
bereits am 3. Mai in Dresden zum Ausbruch gekommen war. Vom 3. bis
mit den 5. Mai passirten viele Freischaaren nach Dresden hier durch,
darunter allein 900 Mann aus Werdau und Crimmitzschau. Am 6. Mai
sammelten sich Volksmassen auf dem Roß- und Königsplatze an, welche
die Escadron der Communalgarde durch Einreiten zu zerstreuen suchte.
Hierbei fiel ein Schuß, wodurch ein Mann aus dem Volkshaufen verwundet
wurde. Nun begann der Kampf zwischen dem Volk und den Bürger-Gardisten.
Die Aufständischen erbauten Barrikaden an der Ecke des Marktes und des
Thomasgäßchens, ferner am Neumarkt, gegenüber der Reichsstraße und
die höchste und stärkste am Café Francais in der Grimmaischen Straße.
Hierbei plünderten die Aufständischen den Meißnerschen Gewehrladen
im Thomasgäßchen. Die Bürger-Gardisten nahmen die Barrikaden am
Thomasgäßchen und Neumarkt schnell, wobei auf Ersterer der Souffleur
Wrede vom Stadttheater erschossen wurde; aber bei der Barrikade am
Ausgang der Grimmaischen Straße fanden sie so lebhaften Widerstand,
daß sie sich am 6. Mai zurückziehen mußten, wobei Gardist Müller
erschossen und die Gardisten Böttchermeister Herrmann und Bäckermeister
Ottilie verwundet wurden. Erst am Morgen des 7. Mai zwischen 5 und 6
Uhr gelang es der Bürger-Garde auch die letzte Barrikade zu nehmen,
wobei Gardist Seidenwaarenhändler Gontard todt blieb und auf Seiten
der Aufständischen der Schmiedegesell der Leipzig-Dresdner-Bahn
Merkisch fiel. Auch ein armes Dienstmädchen Namens Emilie Dreßler,
welche im weißen Engel diente, wurde hierbei beim Milchholen auf dem
Grimmaischen Steinweg durch eine Kugel getödtet. Hiermit war der
Aufstand in Leipzig zu Ende.

Am 9. Juli starb noch an seiner Wunde Gardist Böttchermeister Herrmann
und wurde gleich den Gardisten Müller und Gontard mit militairischen
Ehren beerdigt.

[Sidenote: Alter Friedhof.]

Am 1. November wurde die Gottesackermauer, welche die um die
Johanniskirche liegende Abtheilung des alten Friedhofes umgab,
niedergelegt und der Platz bis an den Spittel eingeebnet und
freigemacht.



                                 XIII.

               Die innere Stadt zur Messe vor 40 Jahren.


Bei den jetzigen Anstrengungen, welche man in anerkennenswerther
Weise macht, um die Leipziger Messen wieder zu heben und den früheren
Verkehr, wenn auch nur annähernd, wieder herbeizuführen, dürfte es
gewiß Jedermann interessiren, einen Blick auf das Leben und Treiben
innerhalb unseres Leipzig zur Meßzeit um 40 Jahre zurückzuwerfen. Wer
den damaligen Verkehr, der bis zum Anfang der sechziger Jahre unseres
Jahrhunderts fortwährend stieg, um allerdings dann durch den Ausbau
des Eisenbahnnetzes und andere gewichtige Factoren, bis zur Mitte
der siebziger Jahre erst allmälig, dann aber, hauptsächlich wohl mit
veranlaßt durch allerlei verkehrte und den freien Verkehr hemmende
Maßregeln, rapid abzunehmen, nicht mit eigenen Augen gesehen hat,
vermag sich wohl kaum noch einen Begriff von demselben zu machen, und
deshalb soll eine möglichst genaue Schilderung desselben in diesen
Blättern den jetzigen und vielleicht auch späteren Generationen ein
Bild von demselben geben. Wenn wir sagen, daß in der inneren Stadt
z. B. jedes Haus bis in seine entferntesten Winkel dazu eingerichtet
war, Meßzwecken zu dienen, so mag Mancher dies jetzt für arge
Uebertreibung halten, und doch war es nicht blos in der That so,
sondern -- was die Hauptsache ist -- diese entferntesten Winkel waren
auch mit Verkäufern besetzt und wurden mit horrenden Miethpreisen
bezahlt. Es ist natürlich, daß zu jener Zeit die Besitzer von Häusern
der inneren Stadt thatsächlich im Besitz der »goldene Eier« legenden
Henne waren und an jene Zeiten mit Wehmuth und voller Groll auf die
Jetztzeit zurückdenken. Gab es doch Grundstücke, welche durch ihre
Meßvermiethungen riesige Erträge abwarfen, und wenn z. B. zu jener
Zeit Auerbach’s Hof _zu jeder Stunde_, Tag und Nacht, _das ganze Jahr
über gerechnet_, einen Doppellouisdor eingebracht haben _soll_, was
ungefähr jährlich 300000 Mark beträgt, so ist dies ganz sicher nicht
das einzige, ja höchst wahrscheinlich noch gar nicht das einträglichste
Grundstück gewesen. Gab es doch Häuser, in denen sich, wie im Hotel de
Pologne, Elephant, goldnen Hahn, Anker, gr. Joachimsthal, Mauricianum
etc. etc. Hunderte von Ständen und Verkaufsgewölben -- ferner das
alte Gewandhaus mit seiner riesigen Anzahl von Tuchständen auf den
sogenannten Tuchböden -- befanden, und einfache Hofstände wurden mit
4—500 Mark pro Messe, kleinere Läden mit 8—1200 Mark und große Gewölbe
mit 1500 bis 2000 Mark _für die Hauptmesse_ bezahlt. Ja selbst in der
nie zu der Größe der Hauptmessen gekommenen, nur zwei Wochen währenden
Neujahrsmesse war der Verkehr immer noch ein vielfach stärkerer, als
jetzt zu den Hauptmessen. Aber alle diese Hausstände und Läden genügten
noch bei Weitem nicht für den riesigen Engrosverkehr, denn es waren
noch alle Straßen und Plätze mit Buden für die kleineren Fabrikanten
und Grossisten besetzt, und in den Hauptstraßen befanden sich
Waarenlager bis in die dritten und vierten Stockwerke der Häuser.
Dabei hatte jede Branche ihre bestimmten Straßen inne. Die Grimmaische
Straße, in welcher Verkaufsstände und Buden fast die Hälfte der
Straßenbreite vom Grimmaischen Thor bis zum Markt einnahmen, enthielt
die Lager der Damenconfection, der Herrenconfection, Blumenfabriken,
Gold- und Silber- und Bijouteriewaarenfabrikanten, sowie Hüte, Mützen
und Kunsthandlungen (Bilder). Im Mauricianum hielten Hunderte von
Lederhändlern, ebenso im rothen Colleg und der ganzen Ritterstraße,
welche noch Buden für Kunstleder, Schäftefabriken, Nähnadeln und
Zwirngrossohändler trug. Der Nicolaikirchhof und die Nicolaistraße
waren mit rheinländischen und Lausitzer Posamenten, Apoldaer Strumpf-
und Phantasie-Wollartikeln, sowie sächsischen Baumwollwaaren besetzt.
Im Salzgäßchen domicilirten sächsische Cravatten-, Cachenez- und
Taschentücherfabriken und Grossisten, im Goldhahngäßchen Chemnitzer
Damaste und Berliner Chales und Tücher. In der Reichsstraße standen die
großen Firmen der Manufacturwaarenbranche aus Greiz, Gera, Glauchau,
Meerane, sowie solche, die englische und sächsische Lüsters und Orleans
führten; in den Höfen und Durchgängen, sowie im Böttchergäßchen wurden
Hohenstein-Ernstthaler Westen, Bett- und Tischdecken, Teppiche und
Läuferstoffe, baumwollene Cords und Hosenstoffe, Lamas und Flanelle,
sowie Möbelplüsche feilgehalten. In der Katharinenstraße waren die
großen Lager Eilenburger und Berliner Kattune und Piqués, die Lausitzer
Leinwand-, Gedeck- und Handtuchfabrikanten, Shlipse und Cravatten,
Drelle und Bettzeuge zu finden. Im Brühl von der Reichsstraße bis zur
Hainstraße befanden sich schweizer und englische, sowie sächsische
Gardinen, Crefelder und Berliner Seidenwaaren und Sammete, Jupons und
Schürzen, sowie Breslauer und Berliner Futterstoffe, im untern Brühl
bis zur Ritterstraße der riesige Rauchwaaren-, Fell-, Borsten- und
Därmehandel, sowie der jüdische Trödelmarkt, letzterer auf hunderterlei
Ständen mit ebensovielerlei alten und neuen Gegenständen. Einen
geradezu riesigen Complex aber nahmen die noch jetzt zahlreichen
Tuch- und Buckskin- und Confectionsstofffabriken und Grossisten
damals ein. Alle Höfe und Durchgänge von der Katharinen- nach der
Hainstraße, von dieser bis zur Fleischergasse und wieder von dieser
bis zum Neukirchhof, auf welchem sich noch Hunderte von Ständen in
Buden befanden, sowie sämmtliche Läden der genannten Straßen waren
mit dieser Branche bis in die kleinsten Winkel besetzt. In den
großen Läden der Hainstraße dominirten die Berliner Weltfirmen der
Confectionsstoffbranche, welche oft mit einem Apparat von über einem
Dutzend Leuten, bestehend aus Chef, Procurist, Buchhalter, Commis,
Lehrlingen und Markthelfern, zu denen sie aber noch ein anderes Dutzend
Packer und Meßhelfer hier engagirten, zur Messe kamen. Das Gewicht
der Waaren, welche diese Häuser, wie Jacob Landsberger, Reinhold
Wolff und Co., Rosenstiel Söhne, Morgenstern Söhne etc., hierher mit
zur Messe brachten, betrug Hunderte von Centnern, und bereits Wochen
vor der Messe trafen Ladungen derselben hier ein. Vor uns liegt die
Specificirung der Meßspesen eines solchen Geschäftes, dieselben
betrugen für _eine einzige_ Michaelismesse in ihrer Gesammtheit
3215 Thaler 28 Neugroschen, also fast 10000 Mark; dabei ist jedoch
ausdrücklich bemerkt, daß in dieser Summe die Gehalte des mitgebrachten
Personals nicht mit inbegriffen waren. Diese Geschäfte führten Alles,
was zur Herren- und Damenconfection (die Confection erstreckte sich
damals bei Damen nur auf Mäntel etc., nicht auf Kleider) gehörte:
Buckskins aller Art, Tuche, Ratiné, Double, Krimmer, Plüsche etc. bis
herab zu den Cloths. Welchen Meßumsatz ein derartiges Haus machen
mußte, um nur erst die Spesen zu verdienen, kann sich wohl Jeder
leicht vorstellen. Sie verdienten aber nicht blos die Spesen, sondern
mehr.

[Illustration: Die Katharinenstraße zur Messe Anno 1850.]

Im großen Joachimsthal, Stern und Hotel de Pologne standen die Tuch-
und Buckskinhändler aus Aachen, Verviers, Quedlinburg und Berlin,
in den anderen Häusern und Straßen, sowie auf dem Neukirchhof die
Fabrikanten aus Cottbus, Spremberg, Forst, Sorau, Crimmitschau und
Werdau. Die kleineren Fabrikanten feiner Tuche standen seltsamerweise
weit von ihren Collegen entfernt und zwar auf dem Neumarkt und im
Gewandhaus. Es waren dies die aus Roßwein, Leisnig und Döbeln. Auf der
oberen Hälfte des Neumarktes standen die Antiquare, in den Höfen und
Hausfluren die Gemäldehändler. Die Petersstraße war damals nur wenig
geschäftlich belebt, es saßen deshalb rechts und links auf derselben
die Obsthändler. Auf dem Marktplatz fanden sich Spielwaaren, Geigen-
und Instrumentenfabriken, Annaberger geklöppelte Spitzen, Marmor-,
Glas- und Meerschaumwaaren und tausenderlei Anderes, im Thomasgäßchen
Pariser Bijouterien, Schweizer Weißwaaren und Spielwaaren. Auf dem
Thomaskirchhof befanden sich die Eisen- und Kurzwarenhändler.

So waren in der inneren Stadt die Branchen vertheilt, dabei fand ein
fortwährendes Gewühl und Gedränge statt: vor den Geschäftslocalen
standen trotz der die Straßen ohnehin sehr beengenden Buden noch
Pyramiden von Kisten und Waarenballen, und auf dem schmalen, nun noch
übrigen Fahrweg schlängelten sich hin- und herschleudernde Schleifen,
Roll- und Lastwagen, Droschken und Handwagen im bunten Knäuel
durcheinander. Arbeiten -- feste arbeiten! war die Losung während der
Vor- und Engroswoche, und wenn Abends spät in den Geschäften endlich
die Läden vorgesetzt wurden und der Andrang der Käufer für den Tag
zu Ende war, dann ging das Zusammenstellen der Commissionen, das
Registriren, Facturiren, Copiren, Vergleichen und Verpacken los,
denn am Tage war dazu keine Zeit, und oft schliefen die Ermüdeten die
wenigen verbleibenden Stunden auf den Ballen. Aber »der Alte« ließ sich
in dieser Zeit schwerer Arbeit »nicht lumpen«, es gab Bier, Kaffee,
Punsch und kalte Küche im Ueberfluß, und die »Meßgratification« war
auch nicht zu verachten.

Wo sind jetzt jene Zeiten? Längst und wohl für immer vergangen! -- --
Die Buden verschwanden von den Straßen, die sonst so belebten Höfe
stehen meist leer, die Regaleinrichtungen in den Hausfluren verfallen,
und die früher so beschäftigten Ballenaufzüge in den großen Durchgängen
strecken betrübt ihren Arm in die Luft. Daß bei solchem Verkehr und
den kolossalen Geschäftsumsätzen natürlich auch eine Menge Menschen
ihre Existenz fanden, ist einleuchtend. So kamen speziell aus den
ärmeren Gegenden des Erzgebirges und Vogtlandes zu jeder Messe Hunderte
von Leuten mit ihrem Schiebebock (einrädriger Handwagen) und der
hölzernen Trage zu Fuß nach Leipzig, lösten sich für wenige Groschen
bei der Behörde einen Arbeitsschein, wurden registrirt und erhielten
nun eine um den linken Arm zu tragende Blechmarke mit ihrer Nummer.
Diese Leute traten nun als Packer oder Meßhelfer bei den Fremden in
Dienst, erhielten zwei Thaler pro Tag und kehrten nach der Messe ebenso
wieder zu Fuß, diesmal aber mit einem hübschen Sümmchen ersparten
Verdienstes, in ihre Heimath zurück. Sie waren treu und ehrlich und
meist viele Jahre bei demselben »Meßfremden« thätig. Solcher Existenzen
aber gab es vielerlei, und so verbreitete die Leipziger Messe ihren
Segen tausendfältig bis weit in die Ferne. Aber auch die Leipziger
Gewerbe fanden durch die Messe und ihren riesigen Verkehr reichlichen
Absatz. Zimmerleute zum Aufbau der tausenden von Meßbuden, Tischler und
Schlosser zu den Regalen, Firmenschreiber, Schneider und Schuhmacher,
alle, alle mußten zur Messe mit verstärkten Kräften oft Tag und Nacht
arbeiten.

Vom Bäuerlein, das zur Messe mit seinen Gäulen kam, um bei Spediteuren
oder dem Rollfuhrverein in den Dienst zu treten, bis zum Rußbuttenmann
und dem Verkäufer des »Wach--holder--beer--saft«, von der armen Wittwe,
die zur Messe mit Kind und Kegel in der ärmlichen Küche auf der nur
nothdürftig mit Stroh bedeckten Diele schlief, um ihre Stube einem
»Meßfremden« einzuräumen, bis zum Hotel I. Ranges -- Alle fanden Brot
und Nahrung von der Leipziger Messe.



                                 XIV.

                        Der damalige Meßfremde.


_Der »Meßfremde«_, in keiner Weise identisch mit dem jetzt gleich
einem flüchtigen, oft nur scheinbar glänzenden Meteor nur auf
Tage die Messe besuchenden »Meßonkel«, war im Gegensatz zu diesem
leichtlebigen, anspruchsvollen, über alles raisonnirenden, oft nur
dem Vergnügen huldigenden und ebenso schnell, wie er gekommen, wieder
verschwindenden, unbeständigen Meßbesucher -- ein Mann von soliden
Grundsätzen. Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit bezüglich der
Meßquartiere und Toleranz gegen mäßige Meßpreise und entsprechend
verkleinerte Beefsteaks, sowie den damals noch weitberühmten
sächsischen Kaffee war seine lobenswerthe Eigenschaft. Er nahm es nicht
übel, wenn er für das Bett in einem Zimmer des 4. Stockes, welches
Zimmer außer ihm noch zwei, drei andre »Meßfremde« zur Nachtzeit
bewohnten, für die Nacht drei Mark bezahlen mußte, und fiel nicht vor
Schreck auf den Rücken, wenn er des Morgens seine Stiefel nur mit
Studentenwichse (Speichel) nothdürftig gewichst fand. Wußte er doch,
daß im Uebrigen seine »Wirthsleute« Alles thaten, was sie ihm an den
Augen absehen konnten; und war erst der ärgste »Meßtrubel« vorüber
und die Masse der großen Einkäufer wieder abgereist, dann avancirte
er ohne Preiserhöhung zum Selbst- und Alleinherrscher in seiner
Stube, die Wirthin kochte ihm seine Lieblingsgerichte. Der Kaffee
wurde nicht mehr gar so sehr »in die Länge« gezogen, er trat in den
Alleinbesitz eines pfundschweren Hausschlüssels, den er sich wegen
der Größe und des Gewichtes desselben in den auf seiner Kehrseite
befindlichen Hosenriegel schnallte, und schäkerte gern mit den ihn
»Onkel« anredenden Kindern seines Gastfreundes, selbst wenn dieselben
nicht weiblichen Geschlechtes und jünger als 16 Jahre waren. Schon sein
ganzes Aeußere bei seiner Ankunft machte einen vertrauenerweckenden,
soliden Eindruck. Seine Hauptkennzeichen waren im Sommer langer
Gehrock und hochgeschlossene Weste mit massivgoldener Uhrkette nebst
daran hängendem Petschaft, niedrige Reisemütze mit breitem Schild,
Regenschirm, Cylinderhutschachtel, Geldkatze, bescheidene Vatermörder
mit schwarzseidenem Halstuch und dickbauchige Reisetasche mit den
aufgestickten Worten »~Bon voyage~« oder »~Au revoir~«; im Winter kam
ein mächtiger Reisepelz, Pelz- oder lange Filzstiefel oder Fußsack
(letzterer wieder mit Stickerei versehen), sowie ein dicker, 3—4
Ellen langer gestickter Shawl hinzu, dessen Enden ihm malerisch bis
auf die Knie herabfielen. Den Platz der Sommermütze hatte dann eine
runde Pelzmütze eingenommen. So entstieg er pustend, aber munter
und beweglich, dem Post- oder Eisenbahnwagen, mit nie fehlender
Pünctlichkeit empfangen von seinem über das ganze Gesicht lachenden
erzgebirgischen »Meßhelfer«, der nun hinter seinem »Herrn« mit dem
Gepäck ins »Logis« trabte. Hier fand nun feierlicher Empfang statt,
der »Meßfremde« schälte sich aus und hörte nun ebenso gewissenhaft
den Rapport seines »Wirthes« über etwaigen neuen Familienzuwachs oder
sonstige intimere Familienereignisse mit an, wie er selbst gewissenhaft
über die Seinen zu Hause rapportirte; denn der »Meßfremde« wohnte oft
wieder in derselben Familie, in welcher schon sein Vater gewohnt hatte,
und oft verband die beiden Familien langjährige, enge Freundschaft.
Nachdem sich der »Meßfremde« von den Strapazen der Reise erholt hatte,
ging es sofort an die Arbeit, denn obwohl er meist schon Mittwoch
oder höchstens Donnerstag vor der »Vorwoche« eingetroffen war, gab es
doch scharf zu thun. Da mußte der »Meßzoll« (pro Centner 25 Pfennige)
erlegt, die Ballen und Kisten angenommen und controlirt und dann --
zunächst hinter verschlossenen Ladenthüren -- ausgepackt werden.
Daneben gab es die langjährigen Nachbarn, welche ebenfalls aus allen
Richtungen der Windrose eintrafen, zu begrüßen, um Abends todtmüde in
den »Kahn« oder »Gondel« zu fallen. Freitags und Sonnabends trafen
bereits die »Einkäufer« ein, machten ihre Runden, drangen bis in die
dunkelsten Winkel der Höfe, und Montags ging das Geschäft los. Da wurde
geprüft und untersucht, geschachert und gefeilscht, die dickleibigen
Brieftaschen der Einkäufer wurden schlanker und zusehends dünner,
dagegen füllten sich die Geldkatzen der Verkäufer. Alle Quartiere
waren doppelt und dreifach belegt, die Hotels und Gasthöfe bis auf
den letzten Vorsaalplatz besetzt, und in den Judenherbergen in den
Hinterhäusern des Brühls und der Ritterstraße lagen die Söhne Israels
schichtenweise zur Nachtzeit neben- und aufeinander. Alles arbeitete,
hastete, lachte, scherzte, denn Alles verdiente Geld, und »Leben und
leben lassen« war der allgemeine Wahlspruch. Waren aber die »großen
Einkäufer« wieder verschwunden und die Vorwoche zu Ende, so stellte
sich zur nun kommenden Meßwoche die »kleine Kundschaft aus der Provinz«
ein. Diese treuesten aller Kunden brachten ebenfalls straffe Beutel
mit, beglichen ihre alten Conten und belasteten dieselben durch neue
Einkäufe. Das Geschäft war hier ein glattes, auf gegenseitigem, durch
langjährige Verbindung begründetem Vertrauen basirend. Immer noch war
die Arbeit eine scharfe, angestrengte, denn wenn sich auch die zweite
Woche ihrem Ende zuneigte, die »Kunden« seltener wurden, fehlte es
doch nicht am Geschäft. Es stellten sich die Männer mit der scharf
ausgeprägten Physiognomie ein. Sie fragten nach »ä Pöstchen _Waare_«
oder »_ä Ramschpöstchen, er kann sein groß_ oder _klein_« -- und
dann neigte sich die Engrosmesse ihrem Ende zu, und die Arbeit ließ
bedeutend nach.

Jetzt ging aber auch mit dem »Meßfremden« eine bedeutende Umwandlung
vor. Er häutete sich geradezu.

Er steckte eine unternehmende, ja kecke Miene heraus; kam der Abend
heran, so legte er »den guten Anzug« an, steif gestärkte Vatermörder,
von einer leichtfertigen bunten Halsbinde lose umschlossen, schauten
über die großgeblumte seidene Weste mit dem breiten Kragen; in
der Mitte des Vorhemdchens prangte eine ungeheure Busennadel, der
langschößige solide Rock verschwand, und ein »Schniepel« (Frack)
oder kurzer Rock mit breitem Revers umhüllte nur flüchtig seine
Hüften. Breite Galons und straffe Stege zierten die hellen Hosen,
ein schwindelhaftes Fischbeinstöckchen ersetzte den soliden
Familienregenschirm, und der nach oben kühn geschweifte Cylinderhut
hielt aus der Tiefe seines Futterals seine Auferstehung. Haupthaar
und Backenbart erhielten durch Brenneisen und Bürsten sanfte
Kräuselungen und einen kühnen Schwung, der Trauring marschirte in die
Tiefen der Westentasche und -- -- -- der »Meßfremde« stürzte sich
-- in den darauffolgenden Tagen am chronischen Kater leidend -- mit
Todesverachtung in die Freuden und Genüsse der Messe, heute hier --
morgen da »den Affen loslassend« bis das allmälige Verschwinden fast
aller Einkäufer und auch etwas »moralischer Katzenjammer« ihn wieder
solideren Bahnen zulenkte und er -- den Trauring wieder ordnungsgemäß
placirend -- dem verführerischen, aber, ach, so gemüthlichen Leipzig
wieder einmal Ade sagte, schon im Voraus die Wochen berechnend, welche
vergehen mußten, ehe er hier wieder seinen Einzug halten konnte.



                                  XV.

                              Wichsekrah!


Einer der beliebtesten und drolligsten Volksoriginale der damaligen
Zeit in Leipzig war ein kleiner kaum vier Fuß hoher Mann, im
Volksmunde »Wichsekrah« genannt und unter diesem Namen nicht blos den
Einheimischen, sondern auch fast allen regelmäßigen Meßbesuchern wohl
bekannt. Seine zwerghafte aber keineswegs verwachsene Person steckte
stets in einem abgetragenen schwarzen Anzug, Rock mit langen Schößen,
Weste und meist viel zu langen Hosen. Sein verhältnißmäßig viel zu
großer Kopf, auf dem er stets einen mehr oder minder abgeschabten
Cylinderhut trug, war nur von spärlichem Haar bedeckt, eine dicke,
ziemlich lange Nase saß in dem schwammigen, finnigen Gesicht und den
großen breiten Mund mit den wulstigen Lippen beschattete eine Anzahl
Haare zweifelhafter Farbe, welche Wichsekrah in ihrer Gesammtheit
mit dem Namen Schnurrbart beehrte: doch behaupteten seine besonderen
Gönner, insbesondere die stets zu allerlei Allotria aufgelegten
Studios, es seien die Motten in diese defecte und lückenhafte
Manneszierde hineingekommen. Ein Vorhemdchen, dessen Weiße niemals
zweifelsohne war, und dessen Hüftbänder ihm consequent unter den
Rockschößen hervorbaumelten, bedeckte die breite Heldenbrust des
kleinen Mannes, und ein Paar ebenfalls bezüglich ihrer Farbe zwischen
dem Weiß der Unschuld und einem soliden Schmutziggrau schwankende
Vatermörder umschlossen, festgehalten durch ein altes zerknittertes
Halstuch, den Hals Wichsekrah’s.

Wenn wir nun noch hinzufügen, daß derselbe infolge einer Angewohnheit
den Kopf ein wenig nach links geneigt trug, wodurch der linke
Vatermörder stets traurig, einer geknickten Lilie gleich, seine Spitze
abwärts senkte, während die des rechten kühn in die Lüfte starrte, so
haben wir mit historischer Treue das Bild unseres Helden der jetzigen
und den späteren Generationen vor die Augen geführt. -- -- Halt! Noch
Eines fehlt! Eines -- ohne welches Wichsekrah eben nicht Wichsekrah
gewesen wäre, eines -- ohne welches man ihn nie sah -- das zu ihm
gehörte wie die Sohle zum Stiefel und der Kaftan zum polnischen Juden.

Dieses Eine war -- sein Kasten; ein ziemlich großer, sehr fester
Holzkoffer, den sein Besitzer stets an einem breiten Lederbande,
welches er über die Brust und Schulter hängte, mit sich herumtrug.
Dieser Kasten, viel zu groß für seine angeblichen Zwecke, als
Behälter der wenigen Schachteln und Büchsen mit Wichse, Pomade und
Streichhölzern, mit welchen Gegenständen Wichsekrah handelte, war denn
auch zu Höherem bestimmt, denn -- er war das Podium eines ausübenden
Künstlers, Declamators, Sängers und -- -- Tänzers, als welcher sich
einem verehrungswürdigen, kunstliebenden Publicum, mochte dasselbe nun
aus halbwüchsigen Jungen, auf den Katerbummel begriffenen Studios oder
ulklustigen Meßonkels bestehen, wenn es nur irgend Geld einbrachte,
Wichsekrah sich entpuppte. Wichsekrah war trotz seines nicht sehr
geistreichen Aussehens und der dämlichen Miene, welche er in der Regel
aufsteckte, ein ganz aufgeweckter, heller Junge und in erster Linie
Geschäftsmann.

»Vor Nischt -- is Nischt! -- Die Wichs is gut!« war sein heimlicher
Wahlspruch, und der Zusatz »De Wichs is gut« war ihm so zur Gewohnheit
geworden, daß er überhaupt jeden Satz, jede Rede und Declamation,
ja sogar seine Leistungen auf dem Gebiete Terpsichorens stets und
unwiderruflich damit schloß. Leider stieß er beim Sprechen etwas
mit der Zunge an, was seine rhetorischen Leistungen einigermaßen
beeinträchtigte. An gewöhnlichen ruhigen Tagen war Wichsekrah nur
selten zu sehen, er besuchte dann höchstens ab und zu die Kneipen
der Studentenschaft, aber wenn irgendwo zu einem Feste die Massen
zusammenströmten, hauptsächlich aber wenn Tausende von Meßfremden
die Straßen bevölkerten, dann fehlte auch Wichsekrah niemals und je
lebhafter es zuging, desto mehr war er in seinem Element, desto mehr
ging er aus sich heraus, desto größer war er in seinen Leistungen.

»Hollah -- da is Wichsekrah! -- Wichsekrah Hurra! Declamire mal --
willst ne feine Habbannah?«

Der Angeredete blinzelte unter seinen buschigen Brauen die ihn auf
diese Art Anredenden grüßend und schläfrig listig an.

»Wennst de eene hast?« schmunzelte er dann vergnügt, wenn die Prüfung
wenigstens mittelmäßig befriedigend ausgefallen war. »De Wichs is gut!«

»Hier -- eine ganz feine!«

Krah betrachtete die erhaltene Cigarre mißtrauisch eine Weile.

»De hast doch kee Feierwerk neingethan? De Wichs is gut.«

»I -- wo -- aber nu declamire ooch e mal -- -- --«

Aber Wichsekrah kannte seine Verehrer, hier war außer der Cigarre
sicher nichts Baares zu holen, eine Cigarre aber war nischt und »vor
Nischt is Nischt«. Er steckte deshalb auch die Giftnudel, als was er
sie sofort erkannte, ruhig ein, sagte:

»Danke -- de Wichs is gut!« und trollte weiter, den etwas verblüfften
Cigarrenspender mit Gelassenheit dem spöttischen Gelächter seiner
Genossen preisgebend.

Es ist am Ende der Engroswoche. Die Vorwoche der Messe mit ihren
zur Zusammenstellung und Verpackung der massenhaften Verkäufe
durchgearbeiteten Nächten ist vorüber, und das Engrosgeschäft
neigt sich seinem Ende zu. Die stillen Tage beginnen und vor den
Geschäftslocalen stehen die Chefs und Commis in rosiger unternehmender
Laune, denn die Messe war gut und der Umsatz ein bedeutender, kein
Wunder, daß Scherz und allerlei Ulk getrieben wird, zumal die fremden
Verkäufer einander seit vielen Jahren kennen und hier zusammen hausen.
Da kommt Wichsekrah mit seinem Kasten auf dem Rücken, einen qualmenden
Cigarrenstummel im Mundwinkel, langsam dahergebummelt, und im Nu ist er
von dem fidelen Chorus regelrecht gestellt.

»Guten Tag, meine Herren -- scheene Wichse, Pommade, Streichhelzer --
de Wichs is gut!«

»Bravo Wichsekrah! Declamiren! Rede reden! Singen -- was macht die
Wichse?«

»De Wichs is gut!«

Allgemeines Gelächter und erneute Aufforderungen zur Vorführung seiner
Künste.

»De Bolizei -- --« versucht Wichsekrah sich scheinbar gegen die Wünsche
des Chorus zu stemmen.

»De Wichs is gut!«

»I -- Unsinn! Hier herein!« Man drängt ihn in eines der großen
Verkaufslocale oder einen geräumigen Hof. Neue treten herzu. »Wer ist
denn da?«

»Wichsekrah!«

»Hallo Krah, nun man los«, commandirt ein Berliner Fabrikant, der nun
während der letzten Meßtage ernstlich daran denkt, ein Wenig »in die
Höhe« zu gehen, ehe er, scheinbar unschuldig als das bekannte Lämmlein
auf der Weide, wieder »zu Muttern« heimkehrt.

Krah kennt seine Leute, jetzt ist er im richtigen Kreise. Scheinbar
noch immer widerstrebend, läßt er sich den Kasten herunternehmen,
hilfebereit greifen ihm verschiedene Hände unter den Arm, und
im nächsten Augenblick, nicht ohne aber vorher sorgsam seinen
Cigarrenstummel sicher verwahrt zu haben, steht er auf seinem Kasten
und legt los.

»Da -- da -- das -- L -- Lämmbchen!«

»Ein kleines L -- Lämmbchen w -- w -- weiß wie -- --«

»Klee« fielen seine Verehrer ein.

»I -- Nee -- heeren se! -- de Wichs is gut!«

»Weiter Krah -- nicht irre machen!«

»Da -- da -- das Lämmbchen!

Ein kleines Lämmbchen -- w -- weiß wie Schnee

Ging -- ei -- einstm -- mals auf die Weide -- -- De Wichs is gut!«

»Famos Krah! -- Weiter!«

»Mutwillig sprang es in den -- --«

»Schnee -- -- --«

»N -- -- n -- nee -- se derfen Een nich irre machen -- de Wichs is gut!«

»Bravo Krah! Weiter!«

»Mutwillig sprang es in den -- -- --«

»See!«

»Nee doch! -- De Wichs ist gut!«

»Mutwillig sprang es in -- --«

»Die Spree!«

»W -- w -- wenns de’s besser weeßt -- denn kann ichs Maul halten! De
Wichs is gut!«

»Nicht doch Krah! -- Weiter!«

»Mutwillig sprang es in den Klee

Mit aus -- ge -- l -- lassner --«

»Kreide!«

»Du bist dumm! -- De Wichs is gut!«

»Jeses -- da laßt ’n doch ruhig weiter deklamiren!«

»Ja wohl! Maul halten!«

»Mit ausgelassner Freide!«

»Komm Krah -- trink erst e Mal!«

»Wenn’st de was hast! De Wichs is gut!«

Leider umgab die meisten seiner Declamationen und die mit blecherner,
meckernder Stimme von ihm nun vorgetragenen Lieder kein zarter
poetischer Duft, und müssen wir deshalb darauf verzichten, dieselben
hier, sei es auch nur zum Theile, weiter auszuführen. Der frühere
Meßonkel war in dieser Beziehung nicht so verwöhnt und wählerisch, er
liebte zeitweilig eine derbe Kost und -- -- -- Wichsekrah’s Poesie
und Prosa ließ allerdings in dieser Beziehung nichts zu wünschen
übrig. Kein Wunder, daß der ihm gespendete Beifall ein ungeheurer,
allgemeiner und aufrichtiger war, und wenn zuletzt der Tausendkünstler
seinen Gesang mit Tanz begleitete und zum Schluß gar ~à la~ Taglioni
versuchte, mit möglichst malerischer Pose das Bein zu heben, wobei ihn
ein paar hilfreiche Arme vor dem Umfallen bewahrten und er dann mit
seinem Schlußwort »De Wichs is gut!« vom Kasten herabkletterte, um den
schmierigen Cylinder von Hand zu Hand wandern zu lassen, da regnete
es nur so Groschen und Zweigroschenstücke in denselben, und mit einem
tiefen Bückling entfernte sich der so vielseitige Geschäftsmann, um
-- -- -- in der nächsten Straße sofort anderen Ulkbedürftigen in die
Hände zu fallen und sein Spiel aufs Neue zu beginnen.

»Hadje, meine Herren -- de Wichs is gut!«

Wer nun aber etwa aus dem bisher Geschilderten schließen will, daß
in Wichsekrah’s Brust blos Raum für rein commerzielle Gefühle und in
seinem Hirn nur der Erwerbssinn herrschte, der täuscht sich gewaltig,
denn auch mildere Gefühle bewegten oft genug Wichsekrah’s Busen, und
vor Allem war sein Sehnen nach der Gunst holder Weiblichkeit ein
gewaltiges, leider oft genug von seinen Hauptgönnern, den buntbemützten
Jüngern der Wissenschaften, zu allerlei tollen Streichen benutzt. In
jenen philiströsen Zeiten -- wie sie wenigstens jetzt der »aufgeklärte«
Geist nennt -- hatten die Hausmütter noch die Ansicht, daß ihre Töchter
zunächst bestimmt seien, dereinst als wackere Hausfrauen zu walten und
daß sie zu diesem Behufe vor Allem die Geschäfte und Pflichten einer
solchen von der Pike auf lernen müßten. Jede gute Mutter hätte damals,
falls es ihr Töchterlein aus Scheu vor Scheuerbürste und Waschfaß
vorgezogen hätte, wie es jetzt modern und allgemein Sitte ist, lieber
für 15—30 Mk. monatlich als elegant gekleidete Verkäuferin hinter
den Ladentischen zu stehen, lediglich um sich die Haut des zarten
Patschhändchens nicht zu verderben, dieses Töchterlein schleunigst
mit Scheuerlappen und Kehrbesen eines Anderen belehrt. Dafür saßen
die Bürgerstöchter damals aber auch Nachmittags, wenn die Wirthschaft
in voller Ordnung war, mit Vorliebe häkelnd oder strickend hinter den
sorgsam gepflegten Blumenstöckchen am Fenster und schauten nach dem
Wetter und -- -- in allen Ehren -- -- auch ein wenig nach des Landes
Söhnen und hierunter nicht am Allerwenigsten nach den mit Pikesche
oder doch mit farbiger Mütze versehenen Jünglingen aus. Hatte nun
ein solches sittsames Töchterlein durch irgend Etwas, sei es stolze
Abweisung, kleine Malicen etc. den Zorn eines Studenten erregt, so
mußte in der Regel Wichsekrah auf ganz seltsame Weise die Rache des
schnöde Verletzten, als wohlbezahlter Vertreter desselben vollziehen
und zwar auf folgende infernalische Weise.

[Illustration: Wichsekrah.]

Man wies ihm von einem sicheren Punkte aus die spröde Schöne und machte
Wichsekrah unter Beihilfe eines guten Achtgroschenstückes klar, daß die
junge Dame ihn (Krah) neulich gesehen habe und in heimlicher Liebe zu
ihm entbrannt sei. Es sei deshalb nothwendig, ja seine Ritterpflicht,
nicht gar zu sehr den Grausamen zu spielen, sondern der Liebenden
wenigstens zu zeigen, daß er sie verstehe und ihre Gefühle erwidere.
Hierauf folgten besondere Anweisungen über sein Benehmen.

Ob nun bei Wichsekrah in der That der Glauben an die Mittheilungen
des Studio Fuß faßte, oder ob es nicht vielmehr das gespendete
Achtgroschenstück und eigne Lust an einem Schabernack war, kurz
Wichsekrah ging gern auf den ausgeheckten Plan ein, postirte sich, auf
seinem Kasten Platz nehmend, gerade gegenüber dem Fenster der bedrohten
Maid und warf, sobald dieselbe nur einmal aufblickte, nicht blos die
wahrhaft schrecklich zärtlichsten Liebesblicke, sondern auch Kußhände
zu Dutzenden nach der erst ärgerlich erröthenden, dann immer zorniger
werdenden und schließlich, da Krah nicht vom Platze wich, unter einer
Thränenfluth zum Vater oder der Mutter flüchtenden Jungfrau, worauf es
Wichsekrah für gerathen fand, schleunigst das Feld zu räumen, denn mehr
als einmal war ihm für seine Gastrolle als Ritter Toggenburg, durch des
Vaters Gesellen und Lehrbuben, ein sehr ungewünschter Lohn zu Theil
geworden.

Was konnte aber der arme Wichsekrah für die heißen Gefühle seines
Mannesherzens? -- Und um diesen Gefühlen Rechnung zu tragen, war er
auch in seiner bescheidenen Häuslichkeit durch zarte Bande gefesselt.

Gegensätze ziehen sich an und berühren sich gern, sagt das Sprichwort
und wie oft große, starke Männer ihr Herz für immer an kleine, zarte
Frauen hängen, so auch umgekehrt. Das letztere war bei Wichsekrah der
Fall. Zwar waren die Bande, welche diese beiden Menschen vereinigte,
nur loser Natur und vor keinem Altar geknüpft und Standesämter gabs
damals noch nicht, auch war die zarte Hälfte keine von Jenen, welcher
jemals des Papstes Tugendrose beschieden gewesen wäre, aber -- das
genirt bekanntlich große Geister nicht -- und -- kleinen -- gehts
nichts an.

Wenn aber sonst der Mann des Weibes Beschützer zu sein pflegt, so war
dies bei Wichsekrah und seiner Gefährtin umgedreht der Fall, und wenn
er sich auch, gänzlich in Verkehrung der Thatsachen und Sachlage, ja
einmal als Haupt des Hauses fühlen wollte, so machte sie ihm sehr
schnell begreiflich, daß sie in diesem Falle die Mütze wäre, welche
noch _über_ dem Haupte sitzt.

Kam Wichsekrah von seinen Geschäftsausflügen nach Hause, so räumte sie
ihm als sorgsame Hausfrau zunächst alle Taschen gründlich aus, und wenn
er ja einmal allzu lebhaft dagegen protestirte, so zog sie ihn -- wie
die Fama berichtet -- mit zarter Hand einfach ein Wenig über die Knie
-- -- und -- -- »De Wichse is gut!« war der Schlußeffect.

Wer aber war Wichsekrah eigentlich und was wurde aus ihm?

Julius Alexander _Grahn_, genannt Wichsekrah, war im Jahre 1822 in
Leipzig geboren. Sein im Jahre 1849 verstorbener Vater war Zeichner,
kam aber gänzlich herunter und fiel der Armenanstalt zur Last. Seine
öffentlichen Declamationen gelegentlich seines Hausirhandels mit
Wichse, Pomade und Streichhölzern wurden ihm wiederholt von der
Behörde untersagt, worüber er sich in der Nummer vom 18. October 1861
des Tageblattes öffentlich beschwerte. Diese Annonce hatte folgenden
Wortlaut:

  Wie kommt es denn, daß die Herrn mir Alles verbieten -- wollten?

               Der Leipziger Wichs-General. J. A. Grahn.

Er starb am 6. September 1881 im hiesigen Armenhause.



                                 XVI.

                  Student und Verbindungströdeljude.


Vor dreißig Jahren und länger, wo unsere Vorstädte erst in ihren
Anfängen bestanden, concentrirte sich natürlich der ganze damalige
Meßverkehr nur auf die wenigen Straßen der inneren Stadt, und da
dieser Verkehr ein kolossaler und bei weitem größerer als jetzt war,
so wurde natürlich jede Straße und jedes Haus mit in den Meßtrubel
gezogen. Unwillkürlich kommt dem alten Leipziger ein Lächeln an,
wenn er jetzt liest, daß man jetzt sogar für die Concessionirung
neuer Pferdebahnlinien durch die innere Stadt die Straßen derselben
für zu eng hält, wenn er an jene Zeit zurückdenkt, wo zur Meßzeit
stündlich Hunderte von Fracht- und Rollwagen, untermischt mit den
jetzt ganz verschwundenen schwerfälligen Holzschleifen, deren
Schleudern oftmals geradezu lebensgefährlich war, die von Fremden
aller Art vollgepfropften Straßen passirten. Dabei standen sogar
noch oft Pyramiden von Kisten und Waarenballen vor den Trottoirs und
-- was hauptsächlich zu berücksichtigen ist -- die volle Hälfte der
Straßenbreite nahmen noch dazu Verkaufsbuden ein. Freilich -- war man
auch nicht so empfindlich wie heute --, wo ein harmloser Bänkelsänger
vielen ästhetischen Leuten ein Greuel sein würde und man sofort einem
gesammten hohen Rath das Leben sauer machen würde, wenn man nicht
hübsch bequem zur Meßzeit das Trottoir passiren könnte. Keinem Menschen
fiel es ein, einmal einen im Gedränge erhaltenen Puff übel zu nehmen;
man freute sich vielmehr, je größer der Trubel war, wußte man doch, daß
derselbe Ströme Goldes nach Leipzig brachte und von der Steuer-Einnahme
bis zum Eckensteher, dem Vorläufer der jetzigen Dienstleute, Alle durch
diesen Trubel Geld verdienten.

Selbst der kleinste und finsterste Hofwinkel war mit Waarenlagern
auswärtiger großer und kleiner Fabrikanten besetzt und brachte schweres
Geld ein, und dasselbe war bezüglich der Wohnungsräume der Fall.
Fast keine Familie, selbst sehr gut situirte, gab es, die nicht ihre
_Meßfremden_ gehabt hätte, und die Fälle, daß der Sohn wieder bei dem
Sohne des Mannes wohnte, bei dem bereits sein Vater als Meßbesucher
gehaust hatte, waren gar nicht selten. Für die Hausbesitzer der inneren
Stadt waren dies gar goldene Zeiten, denn nicht nur, daß ihnen jeder
Winkel ihres Hauses baares Geld einbrachte, nein, auch die Miether
wechselten im eigenen Interesse nur höchst selten, und so ging der
Vortheil des Einen mit dem des Andern getreulich Hand in Hand und Alle
befanden sich wohl dabei. Nun gab es aber noch eine Classe Miether
damals, welche für die Bewohner der inneren Stadt von Bedeutung waren,
und dies waren die Studenten. Seit mit der Errichtung des neuen
Krankenhauses in der Liebigstraße, vor 27 Jahren, die Universität
allmälig ihre Hörsäle in die südöstliche Vorstadt verlegt hat, sind
auch die Studenten zum allergrößten Theil nach jenem neuen Viertel
ausgewandert, damals aber, vor 40 Jahren, wohnten dieselben bis auf
wenige Ausnahmen sämmtlich in der inneren Stadt. Auch hier herrschte
eine größere Treue und Anhänglichkeit zwischen Miether und Vermiether
als jetzt, denn das jetzige sogenannte Semestermiethen der Studenten
kam gar nicht vor und in der Regel wohnten die Letzteren während der
ganzen Dauer ihrer Studien in Leipzig bei ein und demselben Wirthe.
Bei dieser Vermiethung spielten nur die pecuniären Verhältnisse des
Musensohnes insofern eine Rolle, als er, falls dieselbe besonders
günstig waren, _meßfrei_ gemiethet hatte, also auch während der Messe
sein Zimmer behielt. Die meisten Studenten aber zogen es, in richtiger
Beachtung des dann bedeutend geringeren Miethzinses, den sie würdiger
verwenden konnten, vor, während etwa 2 bis 3 Wochen jede Hauptmesse,
wo der Meßfremde erschien, das Feld insofern zu räumen, als sie nur
für die Tageszeit ihre Stube bewohnten, zur Nachtruhe aber mit irgend
einem Dachkämmerlein vorlieb nahmen. Damals waren zur Meßzeit die jetzt
lediglich als Rumpelkammer oder Trockenböden dienenden Bodenräume bis
auf die letzte Ecke besetzt, denn Abends, wenn als unbeschränkter
Usurpator fast der ganzen Familienwohnung, der Meßfremde erschien, ging
-- wie der Vater des Schreibers dieser Erinnerungen oft sagte -- der
Zug ab, d. h. Weib und Kind und nicht selten in ihrer Mitte »_unser
Student_« trat den Marsch in die höheren Regionen an, was von Seiten
der Musensöhne oft genug Veranlassung zu allerlei Allotria gab.

Am Tage aber wohnte er in seinem gewöhnlichen Zimmer, steckte den Kopf
mit der langen Pfeife zum Fenster hinaus und schaute, je nach dem
Zustand seiner Casse, mehr oder minder sehnsüchtig nach dem zur Messe
mit größter Unfehlbarkeit erscheinenden »_Verbindungströdeljuden_« aus.

Weit aus dem Innern Rußlands oder Polens erschien er, der specklockige
Schylock, mit seinem schwarzen, ebenfalls speckglänzenden Kaftan
und seinem runden Käpsel auf dem Haupte. Seine Sehnsucht waren alte
Kleider, die er in riesigen Posten zur Messe hier einkaufte und nach
seiner Heimath entführte. Nur der Eingeweihte wußte, daß _oft_, ja
sogar _meist_, unter der schmutzigen Hülle dieser Trödeljuden sich
Männer von großem Reichthum bargen und daß deren alte Brieftasche oft
Summen enthielt, wie sie wohl sonst nur ganz bedeutende Einkäufer mit
zur Messe brachten. Ihre Lieblingskundschaft waren naturgemäß die
immer Geld bedürftigen Studenten, und nach und nach hatte fast jedes
Corps, jede Burschenschaft und Verbindung »Verbindungströdeljuden«,
der zum Beginn der Messe gewissenhaft vom Kneipvater der einzelnen
Corporationen die Adressen der »gnädigen Herren« holte und dann
denselben einzeln seine Aufwartung machte.

Melodisch ließ er zunächst im lieblichsten Moll wiederholt sein
»_Nix zu handeln hier!?_« ertönen, und erst wenn der so von seiner
Anwesenheit in Kenntniß gesetzte Geschäftsfreund sein buntbemütztes
Haupt zum Fenster hinaussteckte und ihm herablassend mit der Pfeife
zuwinkte, trat er in tiefster Demuth ins Haus des »gnädigen Herrn« und
klopfte gleich darauf zaghaft an die Zimmerthür desselben.

Mittlerweile hatte der Studiosus Alles zusammengeschleppt, was er
nur überhaupt für irgendwie verwerthbar hielt. Beinkleider mit mehr
als zweifelhaften Sitzgelegenheiten, eine verschossene Pikesche
aus altersgrauem Sammet, Kanonenstiefel, deren Schäfte in tiefster
Zerknirschung über die Vergänglichkeit auch der besten Glanzwichse
wie geknickte Lilien das Haupt hingen. Eine ersoffene Spindeluhr,
das letzte Andenken an die Zeit auf dem Kasten (Gymnasium), welche
ihr Inhaber einmal in nächtlicher Zerstreutheit statt auf den Tisch
in das Waschbecken gesteckt hatte und die seitdem stöckisch jede
weitere Thätigkeit verweigerte. Ferner gab es ein von schöner Hand
erhaltenes Cervis mit zwar schmutzig gewordenen, aber -- was der
Hebräer auf den ersten Blick sah -- echten Goldborden. Ein Paar alte
silberne Sporen, ein noch passabler Winterüberzieher, zwei Westen und
-- vier ausrangirte Vorhemdchen. Das war es, was »unser Student« auch
einst dem alten Itzig Ephraim Rosenstiel aus Meseritz, stolz wie ein
Spanier, zum Kaufe anbot und welche Gegenstände überhaupt in der Regel
die Geschäftsverbindung zwischen Student und Trödeljude ausmachen.
Ich -- ein hoffnungsvoller Bengel von 13 Jahren -- dem »unser
Student« in guter Kameradschaft soeben den momentan hoffnungslosen
und verzweifelten Zustand seiner pecuniären Verhältnisse anvertraut
hatte, harrte voll Interesse des Geschäftsabschlusses. Wußte ich
doch, daß »unser Student« dann, im Vollgefühl seines Reichthums,
sicher einen Griff in den mammongefüllten Beutel thun und mir, dem so
mannichfach Vertrauten, einen Obulus in Gestalt eines Sechsers oder
wohl gar eines Groschens zukommen lassen würde, den mir der Vater
zum Besuche der damaligen Meßneuheit »des geschundenen Raubritters«
entschieden verweigerte. Itzig Ephraim Rosenstiel, nachdem er dem
»gnädigen Herrn« demüthig guten Tag und tausend Jahre voller Glück
und Gesundheit gewünscht hatte, brachte aber in das stolze Bewußtsein
unseres »Studenten«, solche herrliche Sachen zu besitzen, alsbald
eine bedenkliche Bresche, indem er fragte, ob der »geehrteste und
hochgelehrte Herr Baron« -- »unser Student« war das achte oder zehnte
Kindlein eines biederen Dorfpastors, der auf einen sehr bekannten Namen
hörte -- »_nichts Anderes zu handeln habe_.«

Hierauf eifriges Auseinandersetzen der Vorzüge der Verkaufsobjecte
seitens des schon weniger stolzen Besitzers, zweifelndes Kopfschütteln
und geringschätziges Prüfen der Kehrseiten der unglücklichen Hosen;
wiederholtes Hervorheben des Glanzobjectes der ganzen Ausstellung,
des Winterüberziehers; erneuertes Kopfschütteln des geschäftskundigen
Ephraims, welcher that, als ob Uhr, Sporen, beide von Silber,
Goldborden und Ueberzieher, welche er sofort als erwerbungswerth
erkannte, keinen Pfennig werth wären, und endlich die Frage: »was der
gnädige Herr Doctor« für den »Ramsch« haben wolle.

»Zehn Thaler!«

[Illustration: Verbindungströdeljude.]

Itzig Ephraim blinzelte den Verkäufer mitleidig an, faßte nach seinem
schmierigen Cylinder und erklärte feierlich, daß er darauf dem
»gnädigen Herrn« nicht bieten könne, worauf ihn derselbe »zum Teufel«
zu gehen einlud und erklärte, der nächste Concurrent Itzig’s, der sich
auf der Straße bemerkbar mache, solle die Sachen haben. Itzig Ephraim
verschwand und wir Beide sahen uns verständnißinnig an, aber noch ehe
wir unsere Bemerkungen austauschen konnten, öffnete sich ganz leise
die Thür wieder ein wenig, Itzig steckte den Kopf herein und sagte mit
flötender Stimme:

»Wollen Se nehmen zwei Thaler?«

»Nee -- machen Sie, daß Sie fortkommen!«

Die Thür öffnete sich etwas weiter.

»Wollen Se auch nischt nehmen drei Thaler vor das alte Zeug, was nischt
werth is acht gute Groschen?«

»Unser Student« schwieg verstockt und wendete sich dem Fenster zu, da
eben auf der Straße wiederum der Ruf »Nix zu handeln hier« hörbar wurde.

Aber auch Itzig Ephraim Rosenstiel hatte den Ruf vernommen und,
erschreckt ob der ihm drohenden Concurrenz, schob er seine glänzende
Person aufs Neue ins Zimmer.

»Gott wie heißt -- gnädiger un gelehrter Herr -- wollen Se verruiniren
e armen Geschäftsmann, was gekimmen is hundert Meilen von Polen, um
zu verdienen s’ Brot vor seine armen Kinder -- wollen Se nehmen finf
Thaler?«

»Unser Student« stand am Fenster und beugte sich hinaus.

»Gott -- was werden Se rufen erst e Andern, der doch nischt kann mehr
geben als ich, was wollen Se haben im Ernst?«

»Acht Thaler! Keinen Pfennig weniger!«

Itzig Ephraim streckte alle zehn Finger in die Luft und erklärte
sich für das nichtswürdigste Scheusal auf Gottes Erdboden, für einen
Rabenvater, der seinen hungernden Kindern das Brod vom Munde wegstehle,
wenn er auch nur einen Pfennig mehr als _sechs Thaler_ geben könne --
aber »_unser Student_« winkte nach unten, worauf Itzig Ephraim seinen
Arm faßte und -- sieben Thaler -- bot, ein Gebot, das der siegende
Verkäufer endlich, _jeder Zoll ein Grande_ -- annahm.

Hierauf zögernde Bezahlung, worauf Itzig auf einmal seine gute Laune
wiederfand, woraus der stolze Verkäufer zur Genüge merkte, daß er
dennoch der »Gemachte« war. Dies störte aber den großen Geist des
»gnädigen Herrn« nicht, huldvoll versprach er dem Juden auch fernerhin
seine Kundschaft, und auch meine Hoffnung wurde nicht zu Schanden.
Gewissenhaft aber trug ich den funkelnden Groschen hin, um staunend
die Geheimnisse des »geschundenen Raubritters« mit anzuschauen, wo
das dankbare Publicum auf offener Scene die darstellenden Acteure mit
Stöpel’schen _Wiener_ Würstchen fütterte und mit Lagerbier tractirte.
Fürwahr, welchem Darsteller würde es jetzt, selbst auf der größten
Bühne, so wohl, wie damals jenen ihrer Collegen in der einfachsten
Bretterbude am Roßplatz zu Leipzig?



                                 XVII.

         Ein Abend bei den Harfenistinnen in Auerbachs Keller
                       zur Messe vor 40 Jahren.


Wer vor 30 oder 40 Jahren zur Sommerszeit eine Geschäfts- oder
Vergnügungsreise in das an Naturschönheiten reiche, jetzt immer
noch viel zu wenig bekannte und geschätzte sächsische Erzgebirge
machte, verließ in Chemnitz die Bahn und ging zu Fuß durch prächtige
Wiesengründe, über Berge und durch liebliche Thäler, in denen sich
die kleinen, vielfach von wildem Wein umrankten Häuser mit den rothen
Ziegeldächern wie solche in den bekannten Spielwaarenschachteln
ausnahmen, nach dem hoch gelegenen, damals nur kleinen, aber durch
seine Spitzenklöppelei doch schon weitbekannten Annaberg. In der
Mitte des etwa zehnstündigen Weges kam er in das schön in einem
Thalkessel gelegene Städtlein _Thum_. Aus fast allen Häusern des
alterthümlichen Städtchens klapperte dem ermüdet, aber von seiner
Wanderung hochbefriedigten Wanderer, wenn er von der »Katze«, einem
auf der Höhe vor Thum liegenden Gasthaus, aus ins Thal hinabstieg,
der dreiviertel Tact der Webstühle oder das Seufzen der aufgezogenen
Strumpfwirkerstühle entgegen, und im Rathskeller fand er billige
und reichliche Atzung und ein sauberes Bett für die Nachtruhe. Am
andern Morgen aber verließ er den geraden Pfad nach Annaberg und
wandte sich in der Regel am Ende des Marktplatzes nach rechts, um den
»Greiffenstein« mit seinen romantischen Höhlen zu besteigen, auf dessen
Höhe man einen wahrhaft prachtvollen Umblick bis weit hinein ins schöne
erzgebirgische Land genießt. Da liegen Annaberg und Scheibenberg,
Schlettau und Ehrenfriedersdorf und Gelenau vor unseren Blicken, und
aus der Ferne lugt Schloß Augustusburg, Zschopau und Schellenberg
durch die Thalmulde herüber. Und hatte sich damals der Wanderer an
all’ diesen, im Sonnenlicht funkelnden Herrlichkeiten satt gesehen, so
schlug er sich rechts in den herrlichen Eichen- und Buchenwald, folgte
einem ziemlich steil herabführenden schmalen Fußpfad und gelangte,
begleitet vom Gesange der Lerchen, dem Triller des Buchfinkens, dem
Pfeifen des Dompfaffens und der Amsel, nach einstündigem Marsch in das
hochgelegene Städtlein Geyer.

Erstaunt hielt der Wanderer beim Heraustreten aus dem Walde seinen
Schritt einige Augenblicke an, denn ein eigenthümliches Gemisch von
Tönen drang aus den nahen hüttenähnlichen Holzhäusern des Ortes zu
ihm herüber, und erst beim Einmarsch in den Ort entwirrten sich die
einzelnen Töne, so daß sie der Fremde zu deuten oder wenigstens zu
erkennen vermochte.

Da guckte aus dem geöffneten Parterrefenster eines Häuschens eine
Clarinette, während aus dem ersten und einzigen Stockwerk desselben
ein angehender Trompetenvirtuos seinem Instrument die schauerlichsten
Töne -- untermischt mit zahlreichen »Fröschen« -- entlockte. Weiterhin
klang das harmonische Summen eines vortrefflich gespielten Violoncellos
über die Straße, dem eine Flöte und eine erste Geige ebenso
vortrefflich accompagnirten. Aus anderen Häusern rauschten Harfen- und
Guitarrenklänge und der Contrabaß brummte verdrießlich dazwischen. Wenn
aber der Reisende zur Abendzeit im Städtlein eintraf, und ehe er das
schmale, hoch von Betten gethürmte Nachtlager bestieg, noch einmal die
wenigen Gassen des Städtchens durchschritt, so konnte er gar prächtige
Concerte aus den kleinen, dem Felsen abgerungenen Gärten, hören und
zwischen den gutgespielten Instrumenten erklangen die Melodien alter
Volkslieder von frischen wohlklingenden Mädchenstimmen.

Und wie in Geyer, so war es in dem kleinen Gebirgsnest Elterlein, in
Grünhain, Schlettau und Scheibenberg und in all’ den großen Dörfern bis
Schwarzenberg, denn hier war die eigentliche Heimath der Harfenisten.
Jetzt ausgestorben und durch die um Vieles minderwerthigen Tingeltangel
verdrängt, aber nicht ersetzt, bezogen die Harfenisten vor 30 und 40
Jahren und bis weit in das vorige Jahrhundert zurück außer vielen
anderen Orten des In- und Auslandes auch regelmäßig in zahlreichen
Trupps die Leipziger Messe, und sowohl Fremde wie Einheimische
erfreuten sich an ihren Liedern und ihrer Musik. Auch das nahe Böhmen
stellte, wie bekannt, und wie noch heute seine Musikanten.

Das eigentliche Hauptinstrument jener, sich meist aus
Familienmitgliedern oder doch nahen Verwandten zusammensetzenden
Trupps bildete die ehrwürdige, jetzt nur noch in größeren Capellen zu
findende Harfe; eine Geige und drei, vier Guitarren vervollständigten
die Harmonie einer solchen kleinen Capelle. Die Geige und wohl auch
die Flöte spielte in der Regel das einzige männliche Mitglied der
reisenden Truppe, und dieses war oft der Vater, meist aber der Bruder,
Gatte oder sonstige Verwandte der anderen weiblichen Mitglieder oder
eines derselben. Mochten sie aber auch die übrige Zeit weilen, wo sie
wollten, ob auf ihren Reisen, die sie bis in weitentfernte Länder
brachten, oder zu Hause, wo sie in der Ferienzeit Spitzen klöppelten
und daneben neue Musikstücke und Lieder einübten; zur Meßzeit zogen
sie alle immer wieder der Handelsstadt an der Pleiße und Elster zu,
und eine Messe -- ohne Harfenistinnen, das wäre damals von Jedermann
eben gar nicht als eine richtige, vollwichtige Messe angesehen worden.
An den letzten Tagen vor Beginn der Messen zogen sie in Leipzig ein
und rückten in ihre bescheidenen Quartiere in den Hinterhäusern der
Vorstädte, wo sie für ein Billiges Unterkommen fanden. Sie theilten
sich in sogenannte ansässige und in fliegende Trupps. Die letzteren
bestanden in der Regel nur aus zwei, höchstens drei Personen, fast
immer zwei Schwestern und einen Bruder dabei. Dieselben zogen fast
stets mit Geige und Harfe, nie aber ohne letztere, von Schenke zu
Schenke, wo keine »ansässige Capelle« concertirte, stellten sich
in eine passende Ecke des Gemaches und spielten ihre zwei bis drei
Stücklein, worauf ein Mädchen mit zusammengebogenem Notenblatt bei
den Gästen cassiren ging. Dreier der verschiedensten Nationalitäten,
formlose Vierpfenniger und preußische Sechser empfing die auch für die
kleinste Gabe freundlich dankende Harfenistin; hatte sie aber ihre
Runde beendet, so gaben die Zwei oder Drei ein sogenanntes Schlußstück
zum Besten und verschwanden, um in unzähligen anderen Localen aufs Neue
ihr Glück zu versuchen.

Eine um Vieles günstigere Stellung nahm die »ansässige«
Harfenisten-Capelle ein. Sie bestand mindestens aus vier, meist aber
aus fünf bis sechs Personen und »spielte« die ganze Messe über in ein
und demselben, natürlich nur größerem und stark besuchtem Locale, in
welches sie regelmäßig alle Messen wiederkehrte und durch vieljährige
Thätigkeit in demselben gar bald heimisch und mit den musikalischen
Lieblingswünschen der Gäste vertraut wurde.

Wer nun aber vielleicht glaubt, daß diese, oft dreiviertel des Jahres
in der Welt herumziehenden Mädchen unter die Classe der besonders
leichtfertigen und unsoliden zu rechnen gewesen seien, der irrt sich
gewaltig. Sie waren meist durchaus ehrbare Mädchen, welche zwar einen
und zwar selbst etwas derben Spaß verstanden, im Uebrigen aber durchaus
die sittlichen Grenzen innezuhalten wußten. Gar mancher Musensohn
oder Handlungscommis, welcher nach »Feierabend« (Polizeistunde) auf
vieles Bitten die Erlaubniß erhielt, die schöne »Hulda« oder »Anna«
-- nach Hause zu begleiten, und der entzückt und im Vorgefühl seines
Sieges die schwere Harfe durch Dick und Dünn, eine halbe Stunde weit,
der zierlich Kleid und Röckchen bei den Straßenübergängen hebenden
vorausschreitenden Harfenistin nachtrug, mußte an der bewußten
Hausthür, belohnt mit einem neckischen Dank, mit langem Gesicht ohne
Kuß abziehen. Wenn er sich dann auch gegen seine ihn beneidenden
Genossen aller möglichen Erfolge rühmte, so waren dies doch eben nur
Flunkereien; Thatsache war, daß die Harfenistin der früheren Messen
bei Weitem besser war als ihr Ruf. In großen Etablissements, wie in
_Auerbach’s Keller_ z. B., wo die Harfenistinnen bis 2 Uhr Morgens
spielen durften, waren denn auch stets nur besonders gut geschulte
Trupps zu finden. Kein Wunder, daß der Zudrang zu diesen Localen auch
ein großer war. Sowohl im oberen, eleganteren Keller, den hauptsächlich
Familien besuchten, wie im unteren sogenannten Faustkeller, dessen
Möblement aus einfachen Holztafeln mit gekreuzten Beinen und ebenso
einfachen Stühlen bestand und der fast nur von der Herrenwelt
frequentirt wurde, concertirte je eine tüchtige Capelle Harfenistinnen.
War nun schon im oberen Keller das Leben ein lebhaftes und das Treiben
im hohen Grade animirt, so mußte, wer im Faustkeller Platz nahm, ein
gut Theil Humor besitzen, denn das Treiben daselbst war oft sehr
fidel und durchaus zwanglos, wenn auch stets anständig. Griesgrämige
Gesichter konnte man hier nicht brauchen, entweder hellten sich
dieselben schnell auf oder ihr verstockter Besitzer verschwand ebenso
schnell wieder, wie er gekommen.

Ein allgemeines »Hut ab!« begrüßte den biedern Meßbesucher, wenn
er, angezogen von dem aus dem Faustkeller emportönenden Jubel, die
steile Treppe zögernd betrat. Verdutzt schaute der neue Ankömmling auf
die unter ihm sitzende dichtgedrängte Masse ihm entgegenwinkender,
jubelnder, feuchtfröhlicher Zecher, denen das im Hintergrund des
Kellers stehende, mächtige, fast 4 Ellen hohe Faustfaß ein würdiges
Relief gab.

Unwillkürlich zog er den Hut.

»Runterkommen!« tönte das weitere Commando, und schon entschlossener
und angezogen von dem frohen, tollen Treiben beeilte der »Neue« seine
Schritte und verschwand sofort in dem dichten Menschenknäuel. Da saßen
sie Alle einig und vergnügt beisammen, die verschiedensten Elemente
der Einheimischen und Fremden, die einen guten Tropfen und einen
fidelen Jux über Alles liebten. Der biedere Schuhmachermeister aus der
Provinz, der heute seine Bürde Leder eingekauft hatte, saß neben dem
Großeinkäufer aus Griechenland in seiner Nationaltracht; der flotte
Student neben dem Fabrikanten; der Berliner Grossist neben dem Commis
seines erbittertsten Concurrenten, und über Allen schwebte der Geist
des Weins und der harmlosen Fröhlichkeit.

»Gustchen! Göttlichste aller Harfenschlagenden Schönen!« ruft
begeistert ein ältlicher Herr, dessen Glatze und goldne Brille, sowie
das weiße Halstuch auf einen, kurze Zeit seiner heimathlichen Herde
entronnenen Seelenhirten schließen läßt, der auf einige Tage zur Messe
gekommen ist und, der schönen -- ach längst entschwundenen Studienzeit
gedenkend, aufthaut -- »Dein Wohl -- im Wein!«

Und das schöne erzgebirgische Kind wirft dem »alten Herrn« einen
so süßen Blick als Dank zu, daß er sein Herz im innersten Busen
erzittern fühlt und es ihm heiß bis zu der sonst in unschuldiger Weiße
erglänzenden, jetzt aber sanft gerötheten »_Platte_« hinaufsteigt.

»Du -- -- --?« sagt sein Nachbar und Bruder, ein etwas verknöcherter
Gymnasiallehrer, der hier mit ihm zu kurzem Wiedersehen
zusammengetroffen ist und doch erst die eigentliche Veranlassung zu
ihrem Besuche des Faustkellers gegeben hat, »wenn das Deine Frau wüßte!«

Erbleichend ob der schauderhaften, schrecklichen Möglichkeit sinkt
dem entflammten Pastor die zum Einschänken erhobene Flasche herab und
während er fast entnüchtert ein »~Apage Satanas!~« murmelt, ergießt
sich der goldene, flüssige und süffige Strom auf den Schooß des
Sonntagsstaates seines Nachbarn zur Linken, eines massiv groben Baiern,
der sofort alle Schleußen seiner Beredsamkeit öffnet und dem armen
Theologen eine Fluth von Grobheiten und Ehrentiteln an den Kopf wirft,
in denen besonders das Thierreich eine hervorragende Rolle spielt.

»Sie -- sein’s a Vie’ch!« schließt er seinen entrüsteten Sermon, um
aber gleich darauf, als er das Entsetzen des geistlichen Herrn sieht
und seine gestammelten Entschuldigungen hörte, von der Grobheit zum
Jovialismus überzugehen, den Attentäter auf die Schulter zu klopfen und
zu versichern »Na -- ’s macht nix aus -- Schad nur um den Wein!« -- --
und der einen Moment bedrohte Frieden ist wieder hergestellt. »Auf
Ehre« flötet ein junger, stark nach Patschouli duftender Benjamin, der
am Tage im Meßlokale seines Berliner Chefs in Fellen und Rauchwaren
macht, indem er bemüht ist, das thalergroße Monokel, das consequent
immer wieder auf die starkentwickelte Nase herabfällt, aufs Neue in’s
Auge zu klemmen, »auf Ehre reizende Rosa, wie Se hab’n gesungen vorhin
das Lied von der Schwalben wie se ziehn heimwärts, is mer geworden
ganz warm ums Herz, un wenn mer a Herz hat als Cavalier« -- jetzt
saß glücklich das Monokel wieder oben, aber durch das Einklemmen
desselben zogen sich die buschigen Augenbrauen des »Cavaliers« in so
unnatürlicher Weise in die Höhe, daß sein Gesicht nicht gerade als ein
besonders geistreiches gelten konnte, »so mechte mer wohl singen, wie
der Herr von Fielitz im Berliner Opernhaus: Reich mir die Hand mein
Leben, komm auf mein Schloß -- -- --.«

Bumms -- fällt ihm das Monokel wieder auf das Riechorgan, was seinen
halblauten pathetischen Gesang unterbricht.

»Darf ich mer machen de Hoffnung, daß Se sein nich grausam un gestatten
mer zu leisten Ihnen Ritterdienste; darf ich Se begleiten später nach
Hause?«

»Das dauert noch lange -- --«

»Un wenn’s noch so lange dauerte -- bin ich nich mei eigner Herr und
bin gekommen von meine Giter, blos zum Vergnügen nach der Leipziger
Messe?«

»I gar!« flüstert Rosa zerstreut, denn ein lustiger, bildhübscher,
kecker Musensohn wirft ihr eben eine Kußhand zu.

»Gott soll mer leben lassen« ereifert sich der, sich immer mehr in sein
phantastisches Lügengewebe verstrickende handlungsbeflissne Benjamin,
»mei Name is --«

»Esau -- Esau« fällt der eifersüchtige Musensohn ein, der seine
Aufschneidereien mit angehört hat, »Esau -- ist sein Name -- und in
Meseritz ist er derhame -- das E ist nur deshalb zu seinem sonst
richtigen Namen gesellt, weil sich die »Cavaliere« von Meseritz
und Umgegend auf etwas gespanntem Fuß mit der »Sau« befinden --
holdseligste Rosa!«

Rosa und die Umsitzenden lachen laut und der liebegirrende Benjamin
fährt wüthend auf, aber sein Nachbar und Concurrent seines Chefs zieht
ihn gewaltsam an den Rockschößen wieder auf die Bank herab.

»Machen Se kenen Stuß, Levy« sagt er, »der Herr Student is e kleiner
Spaßvogel -- allons -- angestoßen!«

»In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht!« pflichtet der
ebenfalls aufgethaute Gymnasiallehrer bei und hält sein Glas hin;
zögernd begraben die beiden Nebenbuhler das Kriegsbeil und die Gläser
klingen hell aneinander.

»Also Levy heißt er« brummt der Student in sich hinein, »e Vieh ist
also doch dabei!«

»Was ham Se gesagt!?« fragt hitzig der nur halb versöhnte Benjamin.

Schrumm -- schrumm -- schrumm rauschen die Harfentöne durch den Keller
und die drallen Mädchen erheben sich zum Chorgesang.

Aller Streit ist vergessen, frisch tönen die Mädchenstimmen
durcheinander im Sopran und Alt und beim Refrain des Liedes aus den
»Mottenburgern« stimmt Alles mit ein:

»Ja ich bin der Oberbürgermeister -- bin der Tyrann, ja der Tyrann von
Mottenburg!« -- --

Der Schuster aus der Provinz singt, daß die Wände wackeln könnten, der
Gymnasiallehrer will durchaus mit dem Berliner Grossisten Brüderschaft
trinken, was aber der Mann der Gottgelahrtheit noch glücklich
verhindert. Der Bruder Studio schwingt sich unter ungeheurem Jubel auf
das Hauptfaß und dirigirt, auf demselben reitend das Lied bis zum Ende
desselben.

Der Theologe macht einen kühnen Versuch, den Arm um die Hüfte der jetzt
zum Cassiren die Runde machenden Hulda zu legen, begegnet aber auf
diesem Wege der Hand des stark »angerissenen« Bruders, wodurch beider
Hände erschrocken zurückfahren; der »Giter« besitzende Monokelbändiger
lehnt sich stolz befriedigt und siegesgewiß zurück, denn »Rosa« hat
ihm -- ach der Aermste wußte nicht, daß er bereits der Fünfte war, der
dasselbe Versprechen heute Abend erhielt -- das Recht ihrer Begleitung
nach Hause zugestanden und der Student verschwindet auf wenige
Augenblicke, um draußen den Zustand seiner Casse zu prüfen, denn »hier
wird nicht gepumpt« steht in Form eines buntkolorirten Bildes bereits
im oberen Keller zu lesen.

Das Notenblatt aber, welches Hulda mit demselben Lächeln, Alt oder Jung
-- Christ oder Jude -- entgegenhält, bedeckt sich mit Sechsern und
Groschen, ja Zweigroschenstücken und wie sie dasselbe in die hinter dem
Bruder an der Wand hängende Geldkatze leert, gibt es dem Nagel an der
Wand einen ordentlichen Ruck.

So geht es fort, Lieder und Musikstücke wechseln ab, eine Flasche
Rebensaft folgt der andern, Niemand denkt ans Heimgehen, bis auf
einmal auf einer der oberen Stufen das »Auge des Gesetzes« in Gestalt
eines untersetzten Polizeidieners erscheint, der halb schmunzelnd,
halb dienstlich streng das noch vollzählige Auditorium einen Moment
betrachtet, als thäte es ihm Leid dies fidele Völkchen zu stören. Indeß
-- der Dienst geht über Alles, er steigt deshalb noch eine oder zwei
Stufen weiter herab, hebt den stockbewaffneten Arm und als hierauf
etwas Ruhe eintritt, läßt er seinen Vers los.

»Heern Se -- meine Herrn -- s’ is um Zwee, un -- s’ thut mer leid, aber
s’ is Feierabend!«

[Illustration: Ein Abend in Auerbachs Keller.]

Damit aber entfesselt der Biedre ein Meer lustigen Widerspruchs.

»Hut ab! -- Runterkommen! Mittrinken! Rede reden!« So tönt’s ihm
opponirend entgegen, ja -- der total bezechte Gymnasiallehrer ruft
schluchzend »Uff’s Faß!«

»Heern Se« sagt der Mann der Staatsgewalt, »s’ geht Se werklich nich
länger, Se missen nu ’naus!«

»Runterkommen -- Maul halten -- Mittrinken!« opponiren die Zecher.

Zögernd kommt der Mann des Gesetzes einige Stufen weiter herab; das
Fluidium des Weines steigt ihm kitzelnd in die Nase -- noch schwankt
er -- --

»Prost, würdiger Vertreter der herrschenden und alle Unthat rächenden
Nemesis« ruft ein angehender Journalist und hält dem Polizeidiener
das gefüllte Glas entgegen, »bist Du ein fühlender Mensch, gleich uns
hochachtend Bachus den Fröhlichen, so komm -- o Edler in unsere Arme
und schlürfe mit uns, durch gleiche Bande vereint, den süffigen Nektar
der Reben -- bist Du es nicht -- so entfleuch aus diesen historischen
Hallen und -- -- -- geh selber heeme!«

»Bravo -- bravo!« schrie händeklatschend das verehrte Auditorium.

Der biedre Polizeidiener aber war »ein fühlender Mensch«, halb zogen
ihn hilfreiche Hände, halb kam er selbst; zehn Weingläser, alle gefüllt
mit der edlen Gottesgabe, wurden ihm entgegen gehalten und -- -- -- der
Edle verschmähte keins. In sanften Incarnat erglühte seine stattliche
Nase, zwar protestirte er noch eine kurze Zeit, dann aber ergab er sich
bedingungslos, bis die Harfenistinnen »einpackten« und aufbrachen,
ihnen folgte ein Schwarm Verehrer und »Benjamin« erkannte oben auf der
Straße, daß der Student bereits die Harfe Rosas in der Linken trug und
ihr mit der Rechten lachend den Arm bot.

Ein höhnisches, »Gute Nacht, Esau!« drang noch an das Ohr des in allen
seinen Gefühlen Getäuschten und ingrimmig wandelte er der heimischen
Stätte des »Brühls« zu, um seinen Aerger und Jammer zu verschlafen.
Gewiß aber wäre er um Vieles getrösteter heimgegangen, wenn er das
etwas lange Gesicht des Studenten gesehen hätte, als Rosa demselben an
ihrer Hausthür, weit draußen in der Vorstadt, mit dankendem Lächeln
ihre Harfe abnahm und -- freilich nach zärtlichem Händedruck -- mit
Schwestern und -- dem den Schluß machenden Bruder hinter der Hausthür
verschwand.

Der Titel, mit dem sich Bruder Studio hierauf selbst regalirte, fing
auch mit dem E. an und rangirte ebenfalls unter die weniger geachteten
Thiernamen. -- -- -- Rechts und links vom Ausgange des altberühmten
Kellers, auf der Straße standen, steif an die Wand gelehnt, wie weiland
zwei Statuen des steinernen Roland zu Halle, der Theologe und sein
gleich ihm total bezechter Bruder, der aus aller Façon gekommene Lehrer
der heranwachsenden Jugend.

»Bruder -- komm!« lallte der Theologe.

»N -- e -- e -- e« stammelte der andere, »komm Du!«

»Ich -- kann -- die Wand -- nicht -- los -- lassen -- -- -- sonst --
fall ich um!«

»Na warte -- dann komm -- ich -- -- wie kannst -- du nur so -- viel
trinken!« sagte, von vielfachem Schlucksen unterbrochen, der Lehrer und
versuchte kühn seine Nüchternheit dadurch zu beweisen, daß er seine
Wand loslies, um dem Bruder zu helfen.

Ach -- er wußte nicht, was er that -- der Unglückliche, denn kaum hatte
er den verwogenen Schritt gemacht, so versagten die rebellirenden Beine
dem guten Willen den Gehorsam und statt zur Unterstützung des Bruders,
trugen sie ihn im Sturmschritt über die Straße hinüber, wo er mit dem
Cylinderhut voran, unter einem furchtbaren Knall an der Bretterthür der
zur Messe daselbst seit vielen, vielen Jahren stehenden Nadlerbude vor
Anker ging.

Der nun formlose Hut schob sich ihm über die Augen und die Brille über
die Nase, so daß totale Finsterniß das Haupt des Guten umgab; aber er
murrte nicht gegen sein Geschick, sondern vertraute auf die Sorgsamkeit
und Menschenfreundlichkeit irgend eines vorüberkommenden Nachtrathes
(Nachtwächters). Ein solcher erschien dann auch bald und nachdem er
aus dem geistlichen Herrn glücklich ihre gemeinschaftliche Wohnung
herausgebracht hatte, entdeckte er auch den in Dunkelheit schwebenden
Gymnasiallehrer und brachte glücklich Beide nach Hause.

                   *       *       *       *       *

Am anderen Abend war die Scenerie und Handlung so ziemlich dieselbe,
nur mit täglich veränderten Personen, die Harfenisten ausgenommen; denn
selbst der Solideste schlug, wenn er einmal zur Messe fuhr, ein wenig
über den Strang, ohne daß dies aber seiner sonstigen Reputation irgend
etwas geschadet hätte.

[Illustration]



                                XVIII.

                   Allerlei Chronika von 1850—1859.


[Sidenote: Cholera.]

Anno 1850 brach Anfang August die Cholera in Leipzig aus. Die erste
Woche starben 59 und darauf von Woche zu Woche 72, 88, 99, 98, 116,
92, 60, 45, von der zehnten Woche war die Seuche als erloschen zu
betrachten.

[Sidenote: Feuer.]

Am 21. September brannte der sogenannte Holzhof im Bauhof, Terrain
der jetzigen Bauhof- und unteren Turnerstraße. Es gingen sämmtliche
Arbeitsschuppen, riesige Posten Nutzhölzer, sowie 1500 Klaftern
Brennholz in den Flammen auf. Der Brand währte zwei Tage, zu retten war
bei der kolossalen Hitze, welche das Flammenmeer verbreitete, nichts.

[Sidenote: Neue Brücke.]

Anno 1851, am 9. September, wurde die neue Brücke nach Reichels Garten
(an der katholischen Kirche) zunächst aber nur für den Fußverkehr
eröffnet. An demselben Tage wurde das Frankfurter Thor am Kugeldenkmal
abgebrochen und bis an die Chaussee verlegt.

[Sidenote: Oestreicher.]

Anno 1852 vom 12. bis 23. März passirten theils per Bahn, theils per
Fußmarsch 9 Colonnen Oestreicher aus Holstein nach Böhmen unsre Stadt.
Es war das 4. Armeecorps unter Feldmarschallleutnant von Legeditsch,
an Fußtruppen 11 Bataillone mit 13320 Mann, incl. 319 Offiziere, 185
Pferde und 22 Fuhrwerke. Ferner an Cavallerie, Artillerie, Train und
Depots 181 Offiziere, 5980 Mann, 4290 Pferde, 68 Geschütze und 626
Fuhrwerke.

[Sidenote: Kornähren.]

Am 12. Dezember 1852 wurden auf einem Stoppelfelde bei Eutritzsch
blühende Kornähren gefunden.

[Sidenote: Raubmord.]

Anno 1853 am 5. Januar wurde im Hause Georgenstraße 10 die Witwe
Friese, 57 Jahre alt, erschlagen und beraubt aufgefunden. (Siehe Heft
II: Die letzte öffentliche Hinrichtung von Leipzig.)

[Sidenote: Meuchelmord.]

Am 26. Januar, Abends zwischen 8 und 9 Uhr, wurde der Hausmann
Gimpel Hohe Straße 26 (Laurentius-Gärtnerei) durch einen Stich
meuchelmörderisch getödtet. Der Thäter ist nicht entdeckt worden.

[Sidenote: Armenhaus.]

Am 21. März wurde der Grundstein zum neuen Armenhaus am Gerichtsweg
gelegt.

[Sidenote: Pestalozzistift.]

Am 27. Mai wurde der Grundstein zum Pestalozzistift am Exerzierplatz
gelegt.

[Sidenote: König Friedr. August †.]

Anno 1854 am 15. August kam die Leiche des am 9. August bei Irnstein
in Tyrol durch den Hufschlag eines Pferdes getödteten Königs Friedrich
August von Sachsen auf dem Bairischen Bahnhofe hier an, wurde unter dem
Geläute aller Glocken auf der Verbindungsbahn nach dem Dresdner Bahnhof
übergeführt und von da Nachmittags 4 Uhr mittelst Extrazuges nach
Dresden gebracht.

[Sidenote: Synagoge.]

Am 7. September wurde der Grundstein zum Juden-Tempel in der
Centralstraße gelegt. (Eingeweiht und eröffnet wurde derselbe am 10.
September 1855.)

[Sidenote: Fleischtaxe.]

Anno 1855 am 15. Juli wurde die Fleischtaxe bei den hiesigen und den
Landfleischern aufgehoben. Rindfleisch kam zu dieser Zeit das Pfund 5
Neugroschen, Schweinefleisch 48, Schöpsenfleisch 40 und Kalbfleisch 30
Pfennige.

[Sidenote: Missionshaus.]

Am 14. Mai wurde zum Missionshaus am bairischen Bahnhof (jetzige
Carolinenstraße) der Grundstein gelegt.

[Sidenote: Thür. Bahn.]

Am 9. Juli wurde mit dem Bau der Thüringer Eisenbahn begonnen.
(Eröffnet wurde dieselbe 1856 am 25. März.)

[Sidenote: Landgericht.]

Anno 1856 wurde das Landgericht vom Rathhause an das neue Königliche
Gerichtsamt abgegeben und zwar am 6. Juni.

Am 19. September wurde auch das Criminal- und Stadtgericht im neuen
Bezirksgerichtsgebäude am Petersteinwege abgetreten. Die Gefangenen
kamen einstweilen, bis die Gefängnisse fertig waren, in den (alten)
Peterschießgraben. Die erste öffentliche Gerichtsverhandlung fand am 3.
November 1856 statt und zwar gegen die Gebrüder Beuchelt.

[Sidenote: Museum.]

Anno 1857 am 23. März wurden die Promenadenbäume vom Petersthore bis
zum Augustusplatz weggeschlagen, der Stadtgraben angefangen auszufüllen
und der Bau des Museums begonnen.

Anno 1858 am 26. Dezember wurde das neue Museum eröffnet.

[Sidenote: Plagwitzer Straße.]

1858 am 1. Pfingstfeiertag war der neue Weg von Reichelsgarten nach
Plagwitz (jetzige Plagwitzer Straße) zum ersten Mal gangbar.

[Sidenote: Einwohnerzahl.]

Am 29. Dezember 1858 betrug Leipzigs Einwohnerzahl mit dem Militair
74097 und zwar 36973 männliche und 37124 weibliche.

[Sidenote: Peters-Zwinger.]

Anno 1859 am 1. Januar wurde mit dem Abbruch der alten Magazingebäude,
sowie der kleinen Häuser links vom Petersthor, dem sogenannten
Peters-Zwinger begonnen.

[Sidenote: Berliner Bahn.]

Am 2. Januar 1859 wurde die Berliner Bahn eröffnet.

[Sidenote: Mord.]

Am 25. Februar Abends 10 Uhr erstach der Oberjäger Manicke vom 1.
Jägerbataillon (unsrer Garnison) in der Thieleschen Wirthschaft
(Bordell) kleine Fleischergasse No. 18, aus Eifersucht seinen Kamerad
und besten Freund, den Oberjäger Heinecke in der Trunkenheit.

[Sidenote: Das Schillerfest.]

Das hundertjährige Geburtstagsfest Friedrich Schillers wurde 1859
in fast allen Städten Deutschlands gefeiert und daß hiervon unser
Leipzig keine Ausnahme machte, ist selbstverständlich. Am Abend des
9. November zogen die Sänger mit zirka 500 bunten Laternen von der
Centralhalle aus nach Gohlis vor das ehemalige Schillerhaus, in welchem
Schiller das »Lied an die Freude« dichtete, welches renovirt und zum
dauernden Andenken als eine durch den längeren Aufenthalt des Dichters
geweihte Stätte vom Rathe der Stadt Leipzig angekauft worden war.
Im Theater fand an demselben Abend Festvorstellung statt. Am Morgen
des 10. November bot die Stadt einen überaus festlichen Anblick.
Fast kein Haus war ohne Fahnen- und Blumenschmuck. Auf dem Markt
stand auf hohem Postament die Colossalbüste des Dichterfürsten. Von
9—½11 Uhr fand in allen Schulen, sowie in der Aula der Universität
feierlicher Festaktus statt und um 12 Uhr schlossen fast alle
Geschäfte ihre Läden, was damals gelegentlich eines Festes noch
nicht in Leipzig stattgefunden hatte. Von 12 Uhr an begannen die
sich an dem riesigen Festzug betheiligenden Corporationen auf dem
Augustusplatz und um die Promenade, sowie die Grimmaische Straße
herein bis auf den Markt Aufstellung zu nehmen. Da kam hoch zu Roß
die Gesellschaft »Hyppomannia«, hinter ihr die Sänger mit fliegenden
Fahnen und klingendem Spiel. Dann kamen die Studenten, von berittenen
Chargirten angeführt, jede einzelne Couleur im vollen Wichs, die
blanken Schläger in den Händen, ihnen folgte der Künstlerverein mit
berittenen Herolden und einem Musikchor in alter Schweizertracht voran,
die Mitglieder zum großen Theil nach Personen aus Schillers Werken
kostümirt. Ihnen folgten die Professoren und Schüler der Kunstakademie
mit ihren Emblemen. Dann kam die löbliche Kramerinnung und die sehr
zahlreich vertretenen Turner und nun folgten in einer unabsehbaren
Reihe von geschmückten Wagen und kostümirten Gruppen die Innungen.
Zuerst die Gelbgießer mit zwei großen Altarleuchtern auf den Armen
kostümirter Träger, die Klempner, geführt von stattlichen Gesellen in
selbstgefertigten Harnischen, die Bäcker mit ihrer alten Schwedenfahne,
die Scene ihrer Heimkehr von der Schlacht bei Lützen darstellend,
dann die Schriftsetzer, auf festlichem Wagen das »Lied an die Freude«
setzend, welches auf dem holpernden Wagen, der eine Presse trug,
gedruckt und unter die Zuschauer ausgeworfen wurde. Die Barbiere, dem
ehemaligen Regimentsfeldscheer huldigend. Hier wurden die Innungen
durch das gesammte Lehrerkollegium Leipzigs unterbrochen. Nun schwankte
ein Wagen, mit hohem blumengeschmückten Baldachin über Schillers Büste,
daher. Rechts und links der Büste saßen auf zwei Riesenkürbissen zwei
Elfen mit gefüllten Blumenkörbchen und streuten kleine Bouquets unter
die Menge. Es war dies der Wagen der Gärtner. Den Gärtnern folgten Rath
und Stadtverordnete, nach ihnen kamen die Buchbinder, vier Lehrlinge
trugen einen Riesenband Schillerscher Werke. Jetzt kamen auf hübsch
dekorirtem Wagen die Cigarrenmacher in voller Arbeit, die gefertigten
Cigarren ebenfalls unter die Menge austheilend. Jedem Wagen folgten die
übrigen Meister, Gehilfen und Lehrlinge des Gewerbes. Nun kam hoch zu
Roß in prachtvoller mittelalterlicher Tracht, gefolgt von geharnischten
Rittern, der Landvoigt Geßler mit Rudenz und Harras, hinter ihnen ein
Haufen Kriegsknechte, von denen einer auf einer Stange des Landvoigts
Hut trug. Ihnen folgten Wilhelm Tell mit seinem Knaben, umgeben von
Schweizervolk. Die Gruppe war von der löblichen Schneiderinnung
gestellt worden und bildete einen hervorragenden Glanzpunkt im Zuge.
Im Zuge der Schuhmacherinnung, welche nun kam, schritt Hans Sachs mit
seinen Gesellen im Costüm. Die Schmiede folgten mit bekränztem Ambos
und Hämmern, die Schlosser mit einer im vollen Betrieb befindlichen
Werkstätte auf einem Wagen, die Maschinenbauer ebenfalls mit Wagen als
Werkstätte und im Zuge getragenen Miniaturlokomotiven, Tendern und
Wagen. Die Pianofortearbeiter mit Schiller selbst in antiker Tracht,
die Stirn lorbeerumkränzt, die goldne Leyer im Arm. Die Glockengießer
mit einem Wagen, auf welchem Schillers Glocke steht. Die Fleischer,
auf einem Wagen zwei bekränzte Opferlämmer mitführend, indeß andere
weißgekleidete Gesellen im Zuge eine riesige Wurst tragen. Die Töpfer
mit zwei Wagen mit Drehscheiben im Betrieb und einem kolossalen
Topf. Den Hutmachern schwebt ein mächtiger Freiheitshut voran, dann
folgen die Riemer und Sattler, die Glaser und Tischler, Zimmerleute
und Maurer und die anderen Gewerke, sowie die von einem Berittenen
geführten Eisenbahnarbeiter. Der Zug dauerte länger als eine Stunde im
Vorüberziehen.

Abends war ein kolossaler von allen Zugtheilnehmern ausgeführter
Fackelzug. Als Nachfeier wurde am 11. November die Schiller-Linde in
Gohlis gepflanzt.

[Sidenote: 450 jähr. Universitäts-Jubiläum.]

Am 9. Dezember 1859 feierte die Universität ihr 450 jähriges Bestehen
in Leipzig. König Johann und sämmtliche Prinzen wohnten dem Festmahl
im Schützenhaus (jetzt Krystallpalast) bei. Abends war Commers in
der Centralhalle. Die königliche Familie wurde von den Studenten mit
Fackeln zum Bahnhof geleitet.

[Sidenote: Vatermord.]

Am 25. September 1859 Abends 8 Uhr erschoß der Conditorgehilfe Clermont
im Hause Königsplatz Nr. 1 parterre, seinen Stiefvater, den Cafetier
Krüger mit zwei Pistolenschüssen. Er wurde am 14. Januar 1860 wegen
Todtschlages zu 15 Jahren Zuchthaus verurtheilt, nach einiger Zeit
aber von Sr. Majestät zu 8 Jahren Gefängnis begnadigt.



                                 XIX.

                           Die Hiersemusen!


»Da -- da -- da«

»Was denn -- wo denn?«

»Was ist denn los?«

»Da läuft sie -- --«

»Ah -- jetzt kommt sie hierher!«

»Wer denn -- wo denn?«

»Na -- sehn se denn nich, da is se ja!«

»Ah -- -- de _Hierschemusen_!«

So flogen oft die Worte und Reden herüber und hinüber, auf den
Straßen unseres guten Leipzig in den vierziger, fünfziger und
sechziger Jahren unseres Jahrhunderts. Ein Rudel Jungen und Mädchen
kam dann dahergestürmt und umkreiste, sie neugierig anstarrend, eine
schlankgewachsene Frau von schier undefinirbarem Alter, welche inmitten
des Trubels ruhig dahin schritt. Nur wenn ihr ein dreister Bengel
einmal etwas zu nahe kam, stockte einen Augenblick ihr Fuß; wie zur
Abwehr, aber niemals drohend, hob sie leicht den schirmbewaffneten Arm,
und -- hui -- wie stiebte die leichtfüßige Schaar sofort auseinander,
freilich nur um gleich darauf, einem Volke dreister und zudringlicher
Spatzen gleich, dasselbe Spiel wieder zu beginnen. Der Bengel aber, den
sie angesehen hatte, blieb meist betroffen zurück.

»Du -- kann die aber Een ansehn!«

»Wie denn -- se wollte Dir wohl was thun?«

»I -- nee, nee -- aber -- weeßte -- ’s wurde mer ganz nippernäppsch
derbei!« -- -- --

»De Hirschemusen!« sagten die stehenbleibenden Frauen, dieselbe an sich
vorbeigehen lassend. »Se sieht immer noch aus wie früher.«

»Nee -- die verrickte Person -- sehn Se blos, Frau Müllern, heute hat
se bei der Hitze gar e Pelzmantel um -- --«

»Ja -- ja -- und im Winter läuft se mit dem Strohhut un’n Sonnenschirm!«

»Aber’n Pompadour oder e Körbchen hat se egal am Arme!«

»Das arme Thier -- Du lieber Gott -- mer weeß ooch noch nich, was een
an der Stirn geschrieben steht, die hat ooch nich gedacht daß se emal
als Halbverrickte uff der Straße rum loofen wirde.«

»Ja -- ja -- mer erzählt Verschiednes!«

»Na -- Heernse -- da kennt’ch se e Licht uffstecken -- e ganzen Roman
sag ich Sie!«

»I -- da erzähln se doch, Frau Melzern -- ich bin, weeß Kneppchen, nich
neigierig, aber -- -- --«

»Ja, Frau Melzern, erzähln se’s nur, ich habe ooch schon lange so was
munkeln hören -- --«

»I nu!« sagt Frau Melzer geheimnißvoll, indem sie den Marktkorb, gleich
den andern beiden Frauen, auf die Erde stellt -- -- »wissen Se --
eegentlich is es e Geheimniß -- un blos de Bolizei wees es -- aber ooch
nur ganz heemlich un blos de Höchsten dervon -- aber mei Neffe der is
Schreiber beim Gericht -- und -- die wissen Alles!«

»Gott, ’s leeft mer ordentlich kalt übern Rücken!« sagte die Müllern,
das leichte Umschlagetuch trotz der Hitze um sich ziehend.

»Nu, daß es nich richt’g mit ihr is, wissen Se.«

»Natürlich -- Se meenen hier oben -- --«

»Na ja« -- fährt Frau Melzer ungeduldig über die Unterbrechungen fort,
denn jeder Nerv in ihr drängt sie, den Quatsch, den sie selbst erst
heute von einer andern _Freundin_ gehört hatte, möglichst vergrößert
wieder los zu werden, »freilich -- im Koppe is es nich richtig mit ihr,
aber -- wissen Se, wovon das kommt?«

[Illustration: Die Hiersemusen.]

Frau Müller und Frau Lehmann wissen’s natürlich nicht und zittern vor
Neugierde.

»Eene arme verlass’ne Creatur is se -- aus Liebe is se ibergeschnappt,
weil se der schlechte Kerl verlassen hat -- --«

»Nee -- die Männer -- die Männer --«

»Aber -- das is noch lange nich Alles -- ’s richt’ge Geheimniß kommt
erst noch -- aber -- ich bitte Sie -- keen Menschen en eenziges Wort --
nicht wahr? Mer kommt doch für seine Güte nich gern in Ungelegenheiten.«

Die Müllern legt betheuernd die Hand auf die Brust und gelobt tiefstes
Schweigen. Die Lehmann reckt alle zehn Finger in die Luft -- sie ist
sprachlos vor Neugierde.

»Hab’n Se gesehn, was de Hierschemusen immer vor feine Sachen hat --
wenn Se se ooch immer zur verkehrten Jahreszeit anzieht, heite den
nobeln Pelzmantel -- --«

»Un vorigen Winter e echtes blaues Barègekleid mit drei großen Volants
un e breiten idaliänschen Strohhut -- -- --« fällt die Müllern ein.

»Un e ganz neien Sonnenschirm von gelber Seide mit Spitzen -- --«, sagt
die Lehmann.

»Sehn Se? Sehn Se?« fährt Frau Melzer triumphirend fort. »Un -- wo hat
se’n her? Liederlich is se nich und ooch nich mehr in den Jahren dazu
-- verdienen thut se ooch nischt -- also? -- -- Ich weeß es -- woll’n
Se’s wissen?«

Welche Frage! -- Die drei Köpfe der Frauen fahren eng zusammen.

»Von ihrem Vater kriegt se’s -- von ihrem heemlichen Vater -- un das
is -- -- --«

Athemlose Spannung der beiden andern Frauen, höchster Triumph der
Melzern.

»Das is -- -- -- ä reicher bohlscher (polnischer) Graf!!«

»Ae -- -- bohlscher -- -- -- Graf!«

»Heern Se, nu thun Se mer aber de Liebe an, un vertreten Se nich länger
’s Trottoir!« sagt hinzukommend, mit gemüthlicher Amtsmiene der
Polizeidiener, »ich muß Se sonst weeß der hohle uffschreiben!«

»Herr Jeses -- Se ham Recht -- mei Mittagessen!« besinnt sich Frau
Melzer, nimmt schnell ihren Korb und -- nach einem letzten Blick auf
die Freundinnen eilt sie hastig davon.

Dies führt aber auch die beiden anderen Frauen zu ihrer Pflicht zurück.

»Mei Mann -- er wird so immer gleich ungeduldig, wenn er mal den
Kleenen warten muß -- na -- Adje!« sagt die Lehmann und -- weg ist sie.

»Na -- ich will nur ooch machen, daß ich zu Hause komme, die hochnäsige
Krausen, die immer Alles zuerst wissen will in ganz Leipzig, wird sich
scheene wundern, wenn ich ’r Alles erzähle -- -- ä bohlscher Graf
-- -- -- ä richtger bohlscher Graf?«

                   *       *       *       *       *

So entstanden und schwirrten die Gerüchte über die Hierschemusen in
unserm Leipzig hin und her, eins immer unsinniger als das andere
-- bald sollte sie die Tochter eines russischen Fürsten, bald die
verlassene Geliebte irgend eines exotischen Prinzen sein -- und
woben allmählig um die arme Person einen Nimbus, der in keiner Weise
gerechtfertigt war. Auch der Name Hiersemus war ihr vom Volksmunde
verliehen, kein Mensch kannte sie unter einem andern, außer einigen
Eingeweihten des Polizeiamtes. Und was verbarg sich schließlich hinter
diesem Namen und dem um sie gewobenen Sagenkreis? Die alte, einfache
Geschichte einer armen, verlassenen Frau, die sich ihr Unglück in den
Kopf gesetzt und ihren harm- und gefahrlosen, zeitweiligen Irrsinn nur
dadurch documentirte, daß sie consequent im Sommer Winterkleidung und
im Winter Sommerkleidung trug. Von schlanker Gestalt, mußte sie trotz
einiger Sommersprossen im Gesicht in ihrer Jugend sicher nicht unschön
gewesen sein, und fast dreißig Jahre lang bemerkte man fast keinerlei
Veränderung an ihr.

Wer aber war sie und wie war ihr Lebensgang?

                   *       *       *       *       *

Frau Amalie Auguste Stalzer, dies war der richtige Name der
Hiersemusen. Ganz merkwürdiger Weise läßt sich auch nicht der
allergeringste Anhaltepunkt darüber finden, wie der Volksmund darauf
gekommen ist, gerade den seltsamen Namen Hiersemus für sie zu
wählen. Zwar war in früheren Zeiten diese jetzt fast ganz von der
Volksspeisekarte verschwundene Speise ein Leibgericht der Leipziger,
und auf der Menukarte der städtischen Speiseanstalt fungirte »Hirsemus
mit Syrup« oder »Hirsemus mit Pflaumen« früher fast jede Woche einmal
und ist auch jetzt noch dann und wann auf ihr zu finden; allein in
welche Verbindung der Volksmund jene Unglückliche mit seinem alten
Leibgericht gebracht hat, ist unerfindlich und wird wohl nun auch
niemals ergründet werden.

Die Hiersemusen war im Jahre 1806 in Breslau geboren und in der
katholischen Religion erzogen worden. Ihr Vater war Stadtsoldat, hieß
Josef Sattler und war aus Olmütz gebürtig. Er wurde nach Auflösung der
Truppe der Stadtsoldaten pensionirt und starb in Leipzig im Jahre 1834.

Jungfrau Amalie Auguste Sattler soll von hervorragender Schönheit
und Lieblichkeit gewesen sein, worauf selbst ihr Aussehen noch als
Vierzigerin und Fünfzigerin hindeutet, insbesondere sollen ihr ein
Paar prächtiger blauer Augen und eine Fülle goldblonden Haares schon
sehr frühzeitig Massen von Bewunderern zugeführt haben. Unter all
diesen Bewerbern zeichnete sich besonders der damalige junge Bürger
und Cigarrenhändler Anton Stalzer aus, und da er trotz der Armuth und
des niederen Standes des jungen Mädchens seine Bewerbungen auf das
Eifrigste betrieb und als Bürger -- welche Eigenschaft damals eine
gewisse höhere gesellschaftliche Stellung bedeutete als jetzt -- der
Vielumworbenen eine gesicherte Existenz bieten konnte, so sagte Amalie
Auguste, zumal da auch ihr Herz dem jungen hübschen Mann freudig
entgegenschlug, gern ja und wurde bereits 1822, also kaum 16 Jahre
alt, das Weib des geliebten Mannes. Glückstrahlend zog sie am Arme des
Geliebten in das ihr von demselben bereitete Heim, und auch ihr alter
Vater war glücklich, sein einziges Kind wohl versorgt zu wissen. -- --

Aber Vater und Kind hatten sich in dem jungen Ehemann bitter getäuscht.
Seine Verhältnisse waren längst total zerrüttet, und nur um die
Geliebte zu besitzen, hatte er Alles aufgeboten und es wohl verstanden,
diese Zerrüttung vor Jedermann sorgfältig zu verbergen. Aber als er
sein Ziel erreicht hatte, ward er zum offenbaren Schurken, und kaum
ein Jahr nach der fröhlich gefeierten Hochzeit verschwand Stalzer für
immer aus Leipzig, Alles mit sich nehmend, was er nur konnte, sogar
die geringen Sparpfennige des alten Soldaten, und seine junge kaum
17 jährige Frau in tiefster Noth und Verzweiflung zurücklassend.

Er blieb für immer verschollen.

Die junge Frau fiel in eine langandauernde, schwere Krankheit, und
als sie endlich von des alten Invaliden väterlicher Hand sorgsam
gepflegt vom Krankenlager wieder erstand, da war nicht blos der größte
Theil ihrer körperlichen Schönheit vernichtet, sondern auch ihr Geist
umnachtet oder doch für immer getrübt.

Noch länger als elf Jahre lebte der alte Soldat, und da es seine
Tochter verstand, kunstvoll zu sticken und zu nähen, so hatten Beide im
Verein mit seiner Pension ihr einfaches, aber genügendes Auskommen.

Im Jahre 1834 starb der Alte, und die junge Frau stand nun ganz
allein auf der Welt. Da ihr leichter Irrsinn vollständig harm- und
gefahrloser Natur war, so ließ man sie ruhig gewähren, sie fand unter
den vielen reichen in Leipzig wohnenden katholischen Glaubensgenossen
willige und gutbezahlende Abnehmer für ihre Stickereien und außerdem
reiche Unterstützung durch Geld und Ueberlassung bereits getragener,
oft noch sehr werthvoller Kleidungsstücke. Daher kam es auch, daß sie
oft solche trug, deren Eleganz und Werth in keiner Weise mit ihrem
Stand als Stickerin harmonirte. Im Laufe der Jahre aber bildete sich
noch ein anderer Erwerbszweig bei ihr aus, der ihr zwar, wie man sagt
die Kundschaft der Damen bis zu den höchsten Gesellschaftskreisen
Leipzigs verschaffte, sie aber auch leider mehrfach in Conflict mit den
städtischen Behörden brachte; sie wurde nämlich eine bekannte und sehr
gesuchte Kartenschlägerin, und manche als feingebildet und besonders
geistreich bekannte Dame -- man sagt sogar, daß auch die Herrenwelt
diese Dienste der Hiersemusen gern in Anspruch nahm -- lauschte
heimlich im verschlossenen Gemach den Glück oder Unglück aus den bunten
Blättern verkündenden geheimnißvollen Worten der stets kalt und düster
blickenden Sybille. -- -- --

So trieb die Hiersemusen ihr stilles Wesen viele Jahre lang. Ob Alles
sich auch nach und nach um sie herum veränderte -- sie blieb sich
gleich, und wenn man sie auch einmal monatelang nicht gesehen hatte und
sie als todt betrachtete, so belehrte Einen der oft plötzliche Ruf auf
der Straße »De Hierschemusen« eines Andern.

Aber in ihren Verhältnissen trat mit dem zunehmenden Alter doch
allmählich eine große Veränderung ein, ihre alten Freunde und Kunden
starben dahin, andere Kartenschlägerinnen, die vielleicht besser lügen
konnten als sie, machten ihr auch hier erfolgreich Concurrenz, und so
trat nach und nach die bittre Noth an sie heran, ihr Geist verwirrte
sich mehr und mehr, dazu kam körperliches Leiden, und es war somit
ein Glück für sie, als sich der Rath ihrer als Bürgersehefrau annahm
und sie als Versorgte Anfang der siebenziger Jahre im städtischen
Georgenhaus unterbrachte. Fast noch ein volles Jahrzehnt lebte sie hier
still und friedlich, bis sie am 31. August 1879 im hohen Alter von 73
Jahren verschied.



                                  XX.

                            Der Judenbrühl.


Wenn auch der Leipziger Brühl zum Theil jetzt noch ein lebhaftes
Verkehrsleben und in seinem östlichen Theile eine vorwiegend
orientalisch-israelitische Färbung zeigt, so hält die Jetztzeit doch
nicht im Geringsten bezüglich dieses israelitischen Charakters des
Brühls einen Vergleich mit der Zeit vor fünfzig Jahren und länger
aus. Die schroffen Gegensätze zwischen Christen- und Judenthum sind
wesentlich mildere geworden. Die Zeiten, in denen außerhalb der Messen
den Juden der Handel, ja selbst der Aufenthalt in Sachsen untersagt
oder wenigstens sehr erschwert war, sind längst einer milderen
Gesetzgebung gewichen. Die Messen sind in ihrem riesigen Verkehr aller
Völker unter einander ungeheuer zurückgegangen, der früher freie
jüdische Meßhandel in allen Straßen der Stadt ist eingeschränkt worden,
und so ist es kein Wunder, daß auch der alte frühere Judenbrühl, der
früher allein eine hervorragende Sehenswürdigkeit Leipzigs zur Meßzeit
bildete, den Charakter als Mittelpunct des specifisch jüdischen
Handelsverkehrs längst verloren hat. Früher theilte man unsern
Leipziger Brühl in drei Theile. Der westliche, von der Hain- bis zur
Katharinenstraße, hieß der obere, der mittlere, von Katharinen- bis
Nicolaistraße, der Herrenbrühl und der untere östliche Theil, bis zum
damaligen Georgenhause, hieß der Judenbrühl. Zur Meßzeit aber wurde der
ganze Brühl in der Regel »Judenbrühl« genannt. Der Brühl sah damals
noch etwas anders aus als jetzt. Er bildete an seinem östlichen Ende,
also nach der jetzigen Goethestraße zu, eine Art Sack-Gasse, welche auf
der einen Seite das alte finstere Georgenhaus, ein altes burgähnliches
Gebäude und rings umgeben von hohen Mauern, abschloß. Das Georgenhaus
sprang ziemlich weit in die Straße hervor; über seinem Thore sah man
die Legende des weiland Ritter Georg, wie derselbe einen Lindwurm
fein säuberlich aufspießt, in Stein gehauen. Das Georgenhaus selbst
bildete früher einen hervorragenden Theil von Leipzigs Befestigungen;
zur damaligen Zeit aber war es Arbeitshaus. Man erzählte damals, daß
hier in jenen stillen Räumen der Stock gar namhafte Erziehungs- und
Besserungsresultate geliefert habe. Außer diesem Erziehungsinstitut
befand sich im Georgenhaus noch das städtische Waisenhaus und die
damals nur primitiven Anstalten zur Aufnahme Blöder und Irrer.

Als die Eisenbahnen im Entstehen waren, gab es unter den jüdischen
regelmäßigen Meßbesuchern solche, welche mit Ausnahme ihrer in Leipzig
zu den Messen verlebten Zeit fast die ganze übrige Zeit auf der steten
Reise von und nach Leipzig begriffen waren. Denn da diese Handelsjuden
den Grundsatz hatten, möglichst billig zu reisen, so kam es bei ihnen
weniger darauf an, daß dies auch möglichst schnell geschah. Die
Gelegenheiten, die sie deshalb theilweise benutzten, um von und nach
Leipzig zu kommen, waren denn auch sehr verschieden, oft originelle.
So kannte ich einen alten Juden aus Russisch-Polen, der länger als 30
Jahre seine Reise zur Neujahrsmesse nach Leipzig thatsächlich auf der
Pritsche des Schlittens eines besser situirten Glaubensgenossen gemacht
hatte. Wenn man bedenkt, daß der Schlitten in Eis und Schnee, Sturm
und oft bedeutender Kälte Wochen zu seiner Tour bedurfte, und daß die
Lebensweise des Pritschenfahrers dabei in der Regel eine sehr spärliche
war, kann man eine solche Leistung wohl als eine hervorragende
betrachten. Andere Juden kamen mit gewöhnlichen Frachtwagen, sie warfen
ihr bescheidenes Reisebündel auf dieselben und liefen bergan nebenher,
bergab saßen sie hinten auf. Es war schon eine Art Aristokratie der
Judenschaft, welche sich dazu verstieg, in Gemeinschaft einen mit
elenden Brettersitzen ausgestatteten gewöhnlichen Leiterwagen zu
nehmen, der dann mit Menschen aufs Aeußerste vollgepfropft wurde.
Den höchsten Adel aber bildeten diejenigen, welche sich bis zu einem
gemeinschaftlichen, altersschwachen Omnibus aufgeschwungen hatten, bei
welchem dann sogar die äußeren Wagentritte je einen zahlenden Passagier
aufnehmen mußten.

So kamen sie an -- jeden Donnerstag vor der Vorwoche einer jeden Messe,
und auf dem Plauenschen Platz, vor dem damaligen alten Leihhause, wo
jetzt die Pferdebahnwartehalle an Tscharmann’s Hause steht, da lud der
glückliche Fuhrmann, meist selbst ein polnischer Jude, seine glänzenden
Passagiere ab. Glänzend in des Wortes verwegenster Bedeutung, denn die
langen bis zu den Füßen reichenden Kaftane, wie die langen Schafpelze
und die runden Käpsel, die gerollten langen Haarlocken, Prösen genannt,
die scharf gezeichneten Gesichter und die listig blickenden Augen
-- Alles glänzte -- erstere vor Fett und Schmutz, letztere von der
Hoffnung auf »ä faines Geschäftche!«

Und die außer den Messen meist leeren Räume der Hinterhäuser des
Judenbrühls füllten sich. -- In einer einzigen Stube, oft nur auf
Strohsäcken und Decken als Lagerstätte, »logirten« oft zehn und
mehr dieser erwerbsbeflissenen Kinder Israels, und kaum war der
Montagmorgen der ersten Meßwoche angebrochen, so stürzten sich alle mit
Todesverachtung ins Geschäft, und der melodische Ruf der Handelsjuden
tönte durch alle Straßen unseres guten Leipzigs. Die sparsamen
Hausfrauen Leipzigs kramten in allerlei abgelegten Sachen, legten
nicht mehr repräsentations- und nicht mehr die Reparatur vertragende
Kleider- und Wäschestücke, zu eng gewordene Westen des gutgepflegten
Ehegatten, Beinkleider mit den unmöglichsten Defecten, verbogenes Zinn-
und Kupferzeug, sorgsam zu diesem Zwecke aufgesparte Hüte und was nur
noch einigermaßen verwerthbar erschien, auf einen Haufen zusammen,
dabei beflissen, jeden Gegenstand in ein möglichst günstiges Licht
zu stellen, und erwarteten nun ihren alten Bekannten aus Polen mit
klopfendem Herzen. Sie wußten, Veilchen Rosenduft kaufte zwar Alles,
was nur überhaupt noch verwerthbar erschien, aber -- er war auch zäh,
zäh wie Hosenleder, und unglaubliche Zungenschlachten, bei denen von
Seiten der zarten Frauen nicht immer salonfähige Worte fielen, die aber
Veilchen Rosenduft, jeder Zoll ein Grande Seigneur, stets mit größter
Honigsüße vergalt, wurden geschlagen, bis Veilchen den Sieg behielt und
die erbeutete Trophäe in Gestalt eines Hosenpaares etc. seinem Museum
derartiger Sachen einverleibte.

Seine intime Freundschaft mit Bruder Studio haben wir bereits
geschildert, und so beschränken wir uns darauf, zu constatiren, daß
auf diese Weise durch die sich innerhalb vier voller Meßwochen riesig
anhäufenden Massen von alten und ältesten Kleidern die ohnehin
aufs Aeußerste beschränkten Logis der Kinder Israel allmälig so
vollgepfropft wurden, daß ein Anderer als diese Leute es für eine
blasse Unmöglichkeit erklärt haben würde, in denselben auch nur eine
Stunde zuzubringen. Die glücklichen Bewohner aber schienen sich sehr
wohl dabei zu befinden. Nun entwickelte sich aber auf dem Judenbrühl
der Handel der Trödeljuden wieder unter sich um die den Leipzigern
erst abgekauften Sachen. Hier war vom lebensmüden, bis zur Entstellung
mit Beulen versehenen Cylinder bis zum hocheleganten, wenn auch etwas
verblaßten seidenen Schuh der Prima Ballerina und vom zinnernen
Löffel mit verbogenem Griff bis zum schweren silbernen Eßbesteck
und gigantischen Armleuchter Alles zu sehen, was nur überhaupt
transportabel war. -- Es fanden sich auch Käufer aus der Bürgerschaft
bis zum Gelehrten, der auf irgend ein altes hierher verschlagenes
seltenes Buch bot; ein allgemeines Handeln, Feilschen, Schachern vom
frühen Morgen bis in die sinkende Nacht entwickelte sich auf diesem
Theile des Judenbrühls. Die meisten der eingekauften alten Sachen
gingen nach Rußland und Polen, wo dieselben entweder gereinigt und
reparirt ihrer ursprünglichen Bestimmung aufs Neue wieder zurückgegeben
oder zu allen nur möglichen andern Sachen umgearbeitet wurden. --
Wie der verbogene Kupferkessel als goldglänzender preußischer Dreier
vielleicht dieselben Hände wieder passirte, die ihn gefertigt und als
unbrauchbares Möbel verschleudert hatten, so erschienen hunderterlei
Gegenstände auf der nächsten Messe wieder in totaler Umgestaltung, und
nichts gab es für den Trödeljuden, das nicht wenigstens zu Etwas gut
gewesen wäre. So konnte es beispielsweise vorkommen, daß der frühere
glückliche Besitzer einer defekt gewordenen Hose, welche er froh war
einem Juden »aufgehalst« zu haben, nächste Messe auf dem Brühl eine
Anzahl in den verschiedensten Façons schwungvoll gearbeiteter Mützen,
an dem besonderen Stoffmuster, als aus den Beständen seine frühere Hose
deutlich wiedererkannte; und der Häringsbändiger, dessen Locken jetzt
eine solche Mütze bedeckte, ahnte nicht, daß gerade ihre Bestandtheile
früher das Hintertheil der Hose seines erbittertsten Nebenbuhlers in
der Gunst irgend einer Schönen gebildet hatte.

So gab es kein Haus der Stadt, in welches nicht wenigstens einer oder
der andere der Handelsjuden eingedrungen wäre, und überall sah man den
stets demüthigen und bescheidenen Mann gern, so daß Viele, als dieser
Hausirhandel verboten wurde, die alten Geschäftsfreunde sehr vermißten.

Dabei war es oft rührend und erhebend, auch für Andersgläubige, mit
anzusehen, mit welcher Strenge gerade diese alten, oft so schmierigen
Juden, trotz ihrer Sucht, um jeden Preis Geschäfte zu machen, ihre
religiösen Feste feierten und streng die für dieselben vorgeschriebenen
Satzungen hielten.

Wie bekannt, fallen gerade in die Hauptzeit der Michaelismesse die
höchsten Festtage der Israeliten.

Zuerst das Neujahrsfest mit seinem zweiten Tage, dann das
Versöhnungsfest, das Laubhüttenfest und dessen zweiter Tag, dann das
Fest Laubhüttenende und zuletzt das Fest Gesetzesfreude.

Da sah man, was man sonst nie sah, auch den Aermsten und
Unscheinbarsten der Juden die Geschäfte vollständig ruhen lassen
und nicht blos die besten Kleider hervorsuchen, sondern -- -- _in
weißer Wäsche_ erscheinen. Privatsynagogen mit zum Theil theuren
Eintrittspreisen wurden eröffnet. Auf dem damals ebenfalls noch nach
der Promenade zu abgeschlossenen Eselsplatz (jetzt Ritterplatz)
und in vielen Höfen der Ritterstraße und des Brühls erstanden die
Laubhütten, und ungeachtet des öfteren Zudranges Andersgläubiger und
deren nicht immer tactvollen Benehmens verrichteten die strenggläubigen
Juden hier ihre Gebete. Manchem, der herzugekommen war, sich lustig
zu machen, erstarb angesichts der Glaubenstreue und ruhigen Ausübung
ihrer Religionsgebräuche das lose Wort auf der Zunge. -- -- -- Wer nun
aber, sowohl aus der Sparsamkeit, wie aus dem übrigen Benehmen dieser
Handelsjuden etwa geschlossen haben würde, daß dieselben alle arm
oder mittellos gewesen wären, der würde sich sehr getäuscht haben und
erstaunt gewesen sein, wenn er erfahren hätte, daß viele dieser Leute
mit Tausenden von Thalern in ihren schmierigen Brieftaschen hierher
nach Leipzig zur Messe kamen und außerdem oft noch über bedeutende
Credite bei den hiesigen Bankiers verfügten.

Durch das Zuchthaus- oder, wie es eigentlich hieß, das Georgenpförtchen
gelangte man an eine steinerne Treppe, welche auf den Wall der früheren
Stadtbefestigungen führte. Hier stand auf der rechten Seite bis an
das Grimmaische Thor eine Reihe ganz gleicher einstöckiger Häuschen
-- genau wie von der Magazingasse bis zum Petersthor. Nur ein sehr
schmaler Pfad zog sich vor den Häuschen, Peters- und Grimmaischer
Zwinger genannt, hin, auf der andern Seite fiel der Stadtgraben, damals
schon durch den Schwanenteich hier beim Brühl verdrängt, steil hinab.

Dem Georgenhaus gegenüber stand die alte, mit einem an der Ecke der
Ritterstraße vorspringenden Thurm versehene Heuwaage. Auch die unteren
Theile der Ritter- und Nicolaistraße waren zur Meßzeit fast durchgängig
Massenquartiere von Handelsjuden.

Die meist noch im alterthümlichen Kreuzbogenstile gebauten
Gewölbe, sämmtliche Höfe und alle Straßen steckten voll Verkäufer
und zwar dominirte zwischen Nicolai- und Katharinenstraße die
noch jetzt bedeutende Rauchwaarenbranche, von dort an kamen die
Manufactur-, Seiden- und Weißwaaren, und im oberen Brühl, mit der
Leinwandhalle, dominirte die Leinenbranche. Auch Buden waren auf
dem Brühl aufgestellt, und das Gewühl war zur Meßzeit oft geradezu
lebensgefährlich. Am Ende des Brühls gen Westen, da wo jetzt die
Tuchhalle steht, stand bis Mitte der vierziger Jahre ein lebhaft
frequentirter Gasthof mit Ausspannung, »die goldene Gans«. Der Besitzer
derselben hieß Peter und wurde daher von Jedermann »Gänsepeter« genannt.

Das melodische »Nix zu handeln« des polnischen Trödeljuden tönt schon
längst nicht mehr durch Leipzigs Straßen -- auch der Trödeljude
ist vornehm und sässig geworden, die öffentlichen Laubhütten zur
Michaelismesse sind verschwunden -- verschwunden das alte Meßtreiben
auf dem Judenbrühl und der Stadt überhaupt, wie lange wird’s noch
dauern und die ganze Leipziger Messe wird, wie der alte Judenbrühl, zur
Mythe?



                                 XXI.

                           Unter den Buden.


Wenn man in Betracht zieht wie sich noch heutzutage die Kinder Leipzigs
und der Umgegend freuen, wenn Vater oder Mutter ihnen verspricht
mit ihnen »unter die Buden« zu gehen, trotzdem die jetzigen Messen
eigentlich, betreffs des früheren Treibens während derselben, kaum
noch der Schatten der Messen vor 40 und 50 Jahren sind, so kann man
wohl ungefähr darauf schließen, welche Freude eine solche Botschaft
damals bei uns Kindern hervorrief. Mit den Vergnügungen für die Kinder
war es vor 40 Jahren außer dem Treiben auf Straßen und Plätzen bei
weitem nicht so gut bestellt wie jetzt, wo Reisen, Sommerfrischen,
Feriencolonien, Schrebergärten, ja Kindersommerfeste und -- -- --
Kinderbälle -- -- -- zu der Tagesordnung gehören. Zwar war der
Schulunterricht damals ein einfacherer betreffs der einzelnen Fächer,
aber keineswegs ein kürzerer und durch den oft übertriebenen Wust, den
damals allein das Auswendiglernen ganzer Capitel der Bibel und ganzer
Serien von Gesangbuchsliedern in Anspruch nahm, und der uns auch in
den Ferien ganze Berge von Arbeiten aufbürdete, waren wir keineswegs
weniger mit Arbeiten belastet wie die Kinder der Jetztzeit.

Wenn wir uns nun trotzalledem nicht blos unsern guten Humor bewahrten,
sondern auch gesund und kräftig emporwuchsen, so lag dies wohl mit
daran, daß erstens der jetzige sogenannte gute Ton, oder sagen wir
lieber die nur zu oft eine ungesunde Frühreife der Kinder zeitigende
jetzige Erziehungsmethode, die wahre Kindesnatur noch nicht so in
Fesseln schlug und künstlich unterdrückte, sondern auch daran, daß sich
damals Leipzig selbst innerhalb der Stadt noch zum großen Theil einen
gewissen ländlichen Charakter bewahrt hatte. Große Plätze, Rosenthal,
Promenaden, viele alte Oekonomiehöfe, Wallgräben, die vielverzweigten
Flüsse, ferner die großen damals noch sämmtlich unbebauten Terrains von
Reichels-, Gerhards-, Reimers-, Lehmanns-Garten u. s. w. gewährten uns
Kindern geräumige Tummelplätze inmitten der Stadt. Dennoch war dies
alles ziemlich einförmiger Natur und es war somit kein Wunder, wenn wir
das jedesmalige Herankommen der Messen besonders freudig begrüßten. --
Was gab es da alles zu sehen! Uns’re Kinder, welche jetzt Gelegenheit
haben Panoramen, Zoologischen Garten und anderes auch außerhalb der
Messen zu sehen, haben keine Ahnung davon, wie wir staunend vor
den großen Menagerieen eines _Kreuzberg_ und Anderer standen und
glücklich waren, wenn wir die 2 guten Groschen erschwingen konnten,
welche zum Besuche dieser Riesenbuden erforderlich waren. Damals war
der gesammte Roß- wie Königsplatz und auch der Obstmarkt mit Schau-,
Schieß- und Trinkbuden vollständig besetzt. Von der Königstraße bis
zur Holzgasse (Sternwartenstraße) standen die Schießbuden in doppelten
Reihen und der stereotype Ruf der in denselben fungirenden -- meist mit
grellfarbigen Blousen oder sonstigen fantastischen Trachten bekleideten
-- Mädchen, »’Mal schießen meine Herren? Viermal fär ä Groschen!«
lockte handlungsbeflissene Jünglinge, biedere Handwerksmeister und
Gesellen, ebenso wie den Bruder Studio und den behäbigen Meßfremden an
die oft kunstreich und humorvoll ausgestatteten Schießstände. Zögernd
traten auch wir Jungen, dem Zauber der aufgesteckten Thonpfeifen und
rothhosigen Soldaten erliegend, heran und opferten unsern Dreier oder
wenn’s hoch kam unsern Sechser dem flüchtigen Waffenspiel, um dann
gleich hinterher das so schnell vergeudete Geld bitter zu bereuen --
freilich -- hin war hin. Vor dem damaligen alten Kurprinz standen zwei
uralte Caroussells, damals Reitschulen genannt. Man mußte auf einer
Treppe in das Innere der völlig umkleideten Buden hinaufgehen und
fand hier einen vollständigen Eisenbahnzug -- damals ein besonderes
Zugmittel -- dessen Lokomotive der glückliche und stets vielbeneidete
Inhaber dieses Platzes mit den Rädern rasseln und sogar pfeifen lassen
konnte. Der überaus einfache Mechanismus dieser Reitschulen wurde
durch Schieben in der unteren verhängten Hälfte in Bewegung gesetzt.
Schieber waren natürlich wir Knaben, wofür wir dann abwechselnd
mitfahren durften. Von hier bis zur kleinen Windmühlengasse (jetzt
Markthallenstraße) standen die Schankbuden, in denen -- außer der von
Stöpel, -- Harfenisten spielten. Bei Stöpel gab es die von Jedermann
als Delikatesse anerkannten, echt »Wiener Würstchen«. -- -- Dann
folgten wieder große Schaubuden, von denen wir nur die von »Knie« und
von »Rappo« als die bedeutendsten und als fast jede Messe anwesend
erwähnen wollen, -- Mordgeschichten, vor deren in jeder Beziehung
schauerlich großen Bildern das verehrte kunstsinnige Publikum gruselnd
stand und welches die im Duett oder Terzett unter Begleitung eines
Leierkastens vorgetragene Beschreibung der ausgestellten Moritaten
mit offnen Ohren und offnem Munde vernahm -- producirten sich an der
Seite der Stöpelschen Bude und an anderen Durchgängen; dazu Juden mit
offnen Verkaufskästen, Bergleute mit nachgebildeten »Bargwarken aus
Freibarg«, Kraftmesser, Schaukeln, Caspartheater, wilde Männer, Zwerge
und Albinos, Riesen und zarte Frauen von 400 Pfund Gewicht, optische
Liebesspiegel, in denen liebesbedürftige dienende Jungfrauen vom Lande
und aus der Stadt sofort den ihnen dereinst bestimmten Zukünftigen
sehen konnten und für den geopferten Groschen sogar gleich einen, noch
dazu gedruckten, Brief desselben erhielten. -- Stände mit Fleckseife,
an denen den Bauern die fettigen Rockkragen zu einer Hälfte gewaschen
wurden, so daß sie nun, um auch die andre Hälfte rein zu kriegen,
schon gezwungen waren ein Stück Seife zu kaufen, was wieder Andere
veranlaßte, ebenfalls solche zu erstehen. Elektrisirmaschinen, an denen
Hilfsbedürftige die Wohlthaten des elektrischen Funkens vom zarten
Zucken an bis zum Schlage, der einen Ochsen hätte umwerfen können, an
sich probiren lassen konnten. -- Delikatessen und Glücks-Zuckerwaaren-
und Kräppelchenbuden, Seelöwen, Bärenführer mit Bären, Affen und in
der Regel auch einem Kameel, Savoyarden mit Murmeltieren, neue offne
Reitschulen mit allem möglichen und unmöglichen Gethier zum Reiten,
dazwischen fliegende Trupps Meßmusikanten füllten Roß- und Königsplatz
bis auf den großen Theil aus, den stets ein »Cirkus _Renz_ oder _Suhr_
und _Hüttemann_« u. s. w. einnahmen, aus. Auch Bosco, der echte und
wahre Bosco, war zu jener Zeit fast zu jeder Messe in Leipzig und
machte glänzende Geschäfte. --

[Illustration: Unter den Buden.]

Auf dem Augustusplatze aber, der damals noch in seiner vollen Größe
existirte und noch nicht durch die Bauten des Museum-, Neuen Theater-,
Mendebrunnen und durch die Anlagen an demselben verkleinert wurde,
standen viele Tausende zum Theil mächtige Verkaufsbuden aller Branchen.
Große Detailfirmen aus Berlin, Frankfurt und andren weit entfernten
Orten nahmen mit ihren riesigen Waarenlagern oft ein ganzes Viertel der
langen Budenreihen ein. -- Buden mit zehn und mehr Verkäufern waren
keine Seltenheit und der Umsatz dieser einzelnen Firmen war oft ein so
bedeutender, daß -- wollten wir denselben in Zahlen bezeichnen -- von
manchem, der den damaligen Meßverkehr nicht gekannt hat, derselbe als
unglaublich hingestellt werden würde.

Ein heiteres fröhliches Leben herrschte unter diesen Meßverkäufern
und es war gar nichts seltenes, daß an besonders geschäftsstillen
Vormittagen -- wenn ein Trupp Meßmusikanten auf dem Platz erschien,
alsbald Alt und Jung in den Reihen im Tanze dahinflog, und da diese
Geschäftsleute eben auch Geschäfte machten und dem Grundsatz »leben
und leben lassen« huldigten, so fiel hierbei natürlich auch für die
armen Musikanten etwas Erkleckliches ab. Während der sogenannten
»Meßfreiheit« d. h. der Zeit zwischen dem Einläuten und Ausläuten
der Messen, was stets mit der sogenannten »Armensünderglocke« des
Rathhauses geschah, durfte trotz der damals noch nicht existirenden
Gewerbefreiheit Jedermann handeln mit was es ihm beliebte und ohne
daß von ihm ein Nachweis zum Gewerbebetrieb verlangt wurde. In dieser
Zeit durfte keine Pfändung in Handelssachen vorgenommen und Niemand
in Wechselhaft genommen werden. Alle damaligen Gesetze waren eben
dahin gerichtet, die Messen und ihren Verkehr zu schützen und jedes
Hinderniß eines freien Meß- und Handelsverkehrs von denselben fern zu
halten. -- -- -- Mit diesen gewiß nur lobenswerthen Bestrebungen unsrer
früheren Stadtväter waren freilich die massenhaften Einschränkungen,
welche man seit dem Jahre 1874 dem freien Meßverkehr anlegte, nicht
in Einklang zu bringen und die schädigenden Folgen, welche dieselben
naturgemäß haben mußten, sind denn auch nicht nur nicht ausgeblieben,
sondern haben den allgemeinen Meßverkehr so reducirt, daß man jetzt
alles Mögliche aufbietet, um nur annähernd den früheren Verkehr wieder
herbeizuführen. -- Mit welchem Erfolg -- davon möge ein späterer
Chronist berichten.



                                 XXII.

             Die Leipziger Meßmusikanten und das Tagebuch
                   des Chorführers und Leinewebers
          Gottfried Hahn aus Stollberg im sächs. Erzgebirge.


Wie die Harfenistinnen, so standen auch die Mitglieder jener fliegenden
Capellen, welche zur Meßzeit regelmäßig hier in Leipzig eintrafen und
mit ihren mehr oder minder gediegenen musikalischen Produktionen die
Herzen der übrigen Meßbesucher und Einwohner, nicht zu vergessen die
für alle musikalischen Genüsse sehr empfänglichen Dienstboten besonders
weiblichen Geschlechtes, erfreuten, aus dem sächsischen Erzgebirge und
Vogtlande, sowie aus dem nahen Böhmen. Sie gehörten durchgängig der
armen Volksklasse an und waren meist Weber oder Bergleute. Es gab unter
diesen Chors einzelne in Bergmannstracht, andere uniformirt, welche
eine ganz acceptable Concert- oder Ballmusik leisten konnten, und da
sie selbst, d. h. die Mitglieder derselben die bescheidensten Menschen
waren, welche man sich nur denken konnte, auch die kleinste Gabe
dankend annahmen und sich da, wo sie Nichts kriegten, einfach wieder
trollten, so waren sie durchgängig beliebt und gern gesehen. Ja selbst
Nörgler, welche über Alles räsonirten und denen es niemand recht machen
konnte und die deshalb auch oft genug darüber schimpften, wenn einer
der Musikanten draußen an der Vorsaalthür klingelte und um eine kleine
Gabe bat, freuten sich im Geheimen doch, wenn sie den ersten Choral
einer solchen Capelle wieder hörten. »Es ist doch wieder Messe« sagten
sie dann erfreut und summten unwillkürlich die Melodie mit. »Es ist
Messe!« jubelte Rieckchen oder die stramme Pauline beim Fensterputzen,
wenn sie die bekannten Töne zum ersten Mal wieder, seit vielen Wochen,
auf der Straße hörte und beugte sich waghalsig so weit aus dem Fenster,
wie sich dies einigermaßen mit ihrer Sicherheit und den Regeln des
Anstandes vertrug.

»Es ist Messe!« flüsterte die kleine Näherin oben im vierten Stock und
emsig kramte sie im Schubkasten ihres kleinen Nähtisches nach einigen
noch übrigen Pfennigen für die Musikanten herum.

»Herrjeh -- s’ is werklich schon wieder Messe -- wie de Zeit vergeht!«
sagte de Müllern zu ihrer Busenfreundin und Logisnachbarin der
Richtern, »heern se die scheene Musike?«

»I -- nu freilich!« antwortete die Richtern »s’in de Bergleite --
wissen se -- die die grünen Federstitze uff de Schackos ham, dasmal
ham se noch eine Bauke un ene Lyra mitgebracht, wo sie druff mit ä
Stäbchen wunderscheene klimbern, nee -- ich heere se zu gerne!«

[Illustration: Leipziger Meßmusikanten.]

»Ach Gott!« sagt die Müllern, horchen se blos, jetzt spielen sie den
Schneiderwalzer. -- Jeses -- da denke ich sie stets an mein seeligen
Mann, s’ war den sei Lieblingsstückchen, er sang allemal mit -- horchen
se blos -- jetzt singen se derzu:

    »-- -- -- Jette -- Jette -- zum Ballette
      Muß der Junge ganz gewiß!
    Denn schau doch -- O Frau doch -- Genau doch -- Nur diese --
      Schnurgeraden Füße -- Wie Bratenspieße -- -- --.«

»Hurrah! S’ is wieder Messe! De Meßmusikanten sin wieder da« brüllten
wir Herren Jungens und warfen Mützen und Schultornister jubelnd
hoch in die Luft, daß die blechernen Penale (früheren Feder- und
Bleistiftbehälter wie jetzt die Federkästen) neue Beulen kriegten und
die ohnehin strapazirten Mützen vollends aus aller Façon kamen. Hei!
was begann nun für uns für eine lustige Zeit. Wir schätzten es uns
zur hohen Ehre, den Musikanten als lebendige Notenpulte zu dienen und
kleine Schlachten, deren Resultate häufig zerschundene Gesichter und
blutige Nasen waren, wurden zwischen uns geschlagen, um dieser Ehre
theilhaftig zu werden. Verächtlich und triumphirend blickten wir Sieger
auf unsre Besiegten oder auf die _höheren Söhne_, deren Eltern ihren
auf uns neidisch blickenden Sprößlingen diese Dienstleistung im Reiche
der schönen Künste nicht gestatteten.

»Donnerwetter -- schon wieder Messe!« rief der Bruder Studio aus, die
»Meßmusikanten sind da -- na da wird wohl Levy Schmul auch bald kommen
-- Zeit wird’s, denn -- -- --«

So klang es von allen Seiten und allen Ständen der Bevölkerung bis
in die äußersten Winkel der Vorstädte hinaus, denn schon mit dem
Glockenschlage sechs, des Montages der Vorwoche begannen diese
Zugvögel mit größter Pünktlichkeit ihre musikalische Thätigkeit. Den
Anfang an jedem Morgen machte stets ein Choral, denn der blutarme Weber
und Bergmann des Gebirges hat ein gar frommes Herz. Wie vielseitig
aber ihre Thätigkeit oftmals war und welcher Bescheidenheit sie
sich in allen Dingen befleißigten, verräth am Besten das Tagebuch
des Meßmusikanten Gottfried Hahn aus Stollberg im Erzgebirge von
der Michaelismesse 1851, welches wir hier, genau nach seiner eignen
Niederschrift folgen lassen.


Dage- und Cassabuch for unsre Gesellschaft, gefiert von Gottfried Hahn.

Vorgestern, als den 15. September 1851, sein mer hier in Leibzig zur
Michaelimesse angekommen, nämlich ich Gottfried Hahn aus Stollberg im
sächsischen Erzgebirge als erste Drombete, mei Bruder Luis mit der
zweiten Drombete un’n Glabbenhorn, meiner Muhme ihr Sohn, der August
bläst’s Waldhorn, Kremplers Heinrich aus Obervogelgesang mit der
Bosaune, Hesse aus Oberpfannenstiel als erste Clarnette und Bäslers
Fritze aus Lauterbach mit der zweiten Clarnette un’n Biston, mer
sein also sechs Mann. Finf Tage warn mer unterwegens un ham uns mit
Spiel’n von Ort zu Ort glicklich durchgefressen bis hierher. Gestern,
am 16. ham mer uffn Naschmarkt vorn Herrn Aktuar von die Bolizei
Probe gespielt. Mir wählten derzu das scheene Lied, als Marsch »Gott
sei mit Dir mein Sacksenland« was mer aus’n ff kennen un bestanden
ooch de Probe glänzend, so daß mer glicklich unsern Schein kriegten.
Indem Krempler Heinrich zwar der Aeltste is, aber so sehre seift, ham
se mich zum Kassirer erwehlt, aber s’ wird ooch Zeit, daß was in de
Casse kommt, denn wie mer den Schein bezahlt hatten un dann in unser
Quartier in der Webergasse No. 4 kamen, wo mer mit e Freiberger
Bergmusikantenkor in ener leeren Dischlerwerkstelle uff lauter scheenen
Strohsäcken schlafen, hattn mer in der Casse nur noch … Thlr. --.-- 7
Pfennge.

Heite, den 18. September is Sonntag un durften mer noch nich spielen,
mir sein deswegen alle zusammen in de liebe Kirche gegang’n, dadermit
mir de Messe »mit Gott« anfangn; Nachmittags warn mer in Rosendahl,
wo’s nischt kost un Abends geht’s zeitig zu Bette heite.

Heite, den 18. September habn mer angefangen, zuerst in der Bosenstraße
un mit’n Choral »Wie scheen leichtet der Morgenstern,« dann ’n
»Schneiderwalzer« un zuletzt ’n »Bergmannsgruß«, wozu mei Bruder Luis,
der August, Hesse un Bäsler den Dekst sangen. ’S machte sich sehr
hibsch. Nachher wurden mer von ener Köchin, die in der »Bretzel« an der
Ecke der Holzgasse dient, fer morgen frieh um sechse zu e Ständchen
bestellt un kriegten mer zwanzig Neigroschen in Voraus. S’is nämlich
der Köchin ihr Geburtstag morgen, un s soll so aussehn, als wenn e
Verehrer ihr das Ständchen bringen läßt. Im Ganzen ham mer heite
eingenommen 2 Thlr. 8 Gr. 4 Pfg., worunter aber zwee falsche Dreier un
e versilberter Zweefennger.

Heite, den 19. September habn mer erst der Köchin zwee Dreppen hoch das
Ständchen gebracht. Erst bliesen mer den Choral »Wach auf mein Herz«,
dann »Wir winden Dir den Jungfernkranz« un als Schlußstück das scheene
Lied »Heinrich ach -- un seine Caroline.« Die Köchin that sehr gerihrt
un mer kriegten Jeder e Schnaps un zusammen noch e Viergroschenstick.
Einnahme heite zusammen 1 Thlr. 28 Gr. 7 Pfg.

Bis heite den 23. September ham mer von 20. 21. 22. und 23. eingenommen
14 Thlr. 7 Gr. 2 Pfg.

Mit dem Krempler Heinrich is es ä wahres Elend, indem er zu sehre seift
und was da aus der Bosaune rauskommt kann mer sich denken. Gestern
Abend spielten mir in ä Privathaus, wo se uns reinholten un mer ooch zu
essen und trinken kriegten un se nach unserer Musik danzten. Nachher
sammelten se selber vor uns ein und kriegten mir noch 1 Thlr. 2 Gr. 6
Pfg. Krempler war so voll, daß mern reene zu Hause tragen mußten. Na --
er hats aber von mir beese gekriegt! --

Heite den 24. September war klener Meßsonntag. Ich hätt bald Malehr
gehabt heite, weil mer e Student in der Petersstraße zwee große
Vierfennger in Pabier gewickelt, von 3 Drebben hoch runter un mir grade
uff de Nase schmiß, daß se ganz dicke wurde. Abends ham mer heite in
der großen Dierbude uff’n Obstmarkt gespielt, aber weil Heinrich wieder
emal een dichtg zu sich genommen hatte, un der große Löwe for die Döne
aus Heinrichn seiner Bosaune kee musikalisches Geheer hatte, gabs
zuletzt e großen Grawall un der starke Löwenbändger schmiß uns zuletzt
alle eenzeln, eenen nach dem andern zur Bude naus, was mer blos ganz
alleene Heinrichen un sein Saufen zu verdanken hatten.

    In die erste Woche ham mir also eingenommen,
        alter Rest                          -- Thlr. -- Gr. 7 Pfg.
    Datum den 18. September                  2   „    8  „  4  „
    dihto den 19.     „                      1   „   28  „  7  „
      dihto    bis mitgerechnet 23. Sept.   14   „    7  „  2  „
    in den Privathaus eckstra                1   „    2  „  6  „
    Heite, Datum den 24. September           3   „   --  „  8  „
                                            -----------------------
                   magt zusammengerechnt    22 Thlr. 18 Gr. 4 Pfg.

    Dadervon hab’ch bezahlt fir 6 Mann
        Logis un Kaffee fir 8 Tage, jeder
        Dag 15 Ngr.                          4   „   --   „ --  „
                                          ------------------------
                             bleibt         18 Thlr. 18 Gr. 4 Pfg.

    Für Mittagsbrod in der Speiseanstalt fir
    8 Dage vor sechs Mann, jeder
    Dag 72 Pfg.
                        1 Thlr. 27 Gr. 6 Pfg.

    un an jeden von uns
    Vorschuß v. 1 Thlr. 6   „   --  „ -- „   7   „   27  „  6  „
                       --------------------------------------------
                             bis heite Rest 10 Thlr. 20 Gr. 8 Pfg.

Datum 26. September. Seit gestern spielen wir alle Abende bei Rappon
(Rappo, größte Seiltänzer- und Akrobaten-Gesellschaft, welche in
den 40er und 50er Jahren fast regelmäßig die Messen besuchte) in
seiner Bude von sechsen bis um elfe, wofir wir jeden Abend 1 Thaler
8 Gutegroschen kriegen. Mei August hat in den eenen wilden Indianer,
die daneben in der Bude lebendge Hihner zerubben un fressen, den alten
Leinweber Dietze aus Schlettau sein Sohn Edward, der vor 4 Jahren von
derheime fortgelaufen is erkannt, na -- das Metier kennt mer nich
gefallen! Bei Rappos geht das Geschäft gut un solln mer ooch noch ganz
egale neie Mitzen kriegen.

Datum 27. September. Heinrich war gestern Abend wieder so knill, daß
er Grakehl in Quartier mit een von de Freiberger kriegte, der hat’n
aber furchtbar zugedeckt un heite hat er e ganz blaues Ooge. Mei Bruder
Luis fand heite frieh in seiner Drombete e Kinderzulp, den Eener
wahrscheinlich aus Unsinn neingewärcht hatte, ä recht eenfeltger Spaß.
Einnahme den 25., 26. un 27. September, ohne das von Rappon, was mer
wechentlich kriegen 9 Thlr. 11 Gr. 1 Pfg.

Datum 1. Oktober. Heite war erster großer Meßsonntag un alles kribbelte
un krabbelte von Menschen, mer mechte wissen wo se nur alle herkommen.
Un weils bis jetzt so leidlich gegangen ist, fingen wir heite frieh
um sechsse mit dem Choral »Mein Erstgefiehl sei Preis und Dank« an.
In der blauen Mitze kriegten mer for unsern scheenen Vortrag vom
Bergmannsgruß, ä wahrhaftiges Achtgroschenstück in Pabier gewickelt
zugeworfen. S’ war e bohlsches (polnisches) aber das schad nichts, mir
wärn’s schon los. Heinrich freilich meente gleich, daß mer daderfür
sollten for jeden gleich zwee Glas Braunbier kofen, aber der Siffel
wurde überstimmt.

    Einnahme d. 28. 29. 30. Sept. un heite
         d. 1. Oct. zusammen                   16 Thlr.  7 Gr.  6 Pfg.
    daderzu vom 25. 26. und 27. Sept.           9   „   11  „   1  „
    Von Rappon for diese Woche = 7 Dage
         jeder 1 Thlr. 10 Ngr.                  9   „   10  „  --  „
    Un alter Rest                              10   „   20  „   8  „
                                            -------------------------
                                               45 Thlr. 19 Gr.  5 Pfg.

    Wieder ab vor diese Woche vor Logis,
    Kaffee un Mittagessen
                       5 Thlr.  27 Gr.  6 Pfg.
    Un neier Vorschuß
    vor Jeden 1 Thlr.  6   „    --  „  --  „   11   „   27 „    6 „
                       -----------------------------------------------
                                  bleibt Rest  33 Thlr. 21 Gr.  9 Pfg.

womit mir kenn sehr zufrieden sein. Die scheenen Mitzen hab’n mer von
Rappon ebenfalls umsonst erhalten. Se sind grau mit silbernen Bonbong,
wie de östreichschen Militärmitzen un sehn sehr fein aus, mir habn uns
dichtg driber gefreit.

Datum 4. October. Dietzens Junge der den Indianer machte is
fortgelaufen und bei Renzen als Mohr in den Zirkus eingetreten. Er
sagt er könnte die Kost nich länger vertragen. Heite haben mir bei die
Studenten in’n Thiringer Hof in der Burgstraße bei e Commers bis jetzt,
wo’s frieh um Dreie is, gespielt un hatte uns Rappo für diesen Abend
freigegeben. Bier gabs so viel mir nur wollten und finf baare Thaler
kriegten mer außerdem noch, Heinrich war natürlich schon um Zwelfe so
beseift, daß’n de Studenten uff e Faß festgebunden un nischt wie Unsinn
mit’n getrieben ham. Morgen wird er schöne Töne aus seiner Bosaune
rausbringen! S’is e Jammer mit den Kerl, aber wenn mer heem kommen sag
ichs gewiß seiner Frau, der Carline, vor der hat er geherigen Respekt.
Einnahme den 2. 3. und 4. October ohne Rappon seins 13 Thlr. 7 Gr. 2
Pfg.

Datum 6. October. Hab ich’s nich gesagt? Ae ganzen Dag is Heinrich
dienstunfähig gewesen gestern von wegen seiner Beseiftheit, weshalb
August mußte de Bosaune blasen. Ja -- ja -- der Suff der bringt
Krempler noch in ä friehes Grab. Gestern früh wie mer gerade an der
Sandgasse den Morgenchoral spielten, kommt e Herr und sagt, mir sollten
in de Königstraße No. 11, zwei Dreppen hoch gehn, da wohnte e Freind
von ihm der heite seinen Geburtstag hätte, indem er grade 30 Jahre alt
wirde. Wir sollten recht sachte de Dreppen nauf gehn un oben mit aller
Macht das Lied »Schier dreißig Jahre bist Du alt« blasen, worüber sich
sein Freund furchtbar frein wirde. Als Lohn gab der Herr 1 Thaler,
dann ging er mit uns bis in de Hausflur, blieb aber unten stehen. Wir
freiten uns über das noble Geschenk und schlichen uns ganz leise de
2 Dreppen nauf. Oben nahmen wir sachte Aufstellung un legten nu los,
daß de Wände zitterten. Kaum aber warn mer bis zur dritten Strofe
gekommen, so ging uff emal de Vorsaalthür uff un e Frauenzimmer in
ener Nachtjacke und de Haare einzeln in Pabier gewickelt, stürtzte
mit e großen Besen uff uns los un haute uff uns ein daß uns Heern un
Sehn verging un wir lauter Frösche rausbrachten. Ich denke natirlich
mer sein vielleicht falsch gegangen un trete vor un will den Irrthum
aufklären, da kommt aber uff emal noch e Frauenzimmer, ene ganz Alte,
ebenfalls aus dem Logis rausgesterzt, die haut mich schwipp, schwapp
mit e nassen dreckgen Scheuerlappen um Maul und Ohren, daß ich bald
erstickte, denn der Lappen blieb mir auf Mund und Nase und dem Hals
kleben un ich war froh, daß die Alte loslies un ich ebenfalls Hals
über Kopf ausreißen konnte, wie meine Collegen schon gethan hatten. Ae
ganzes Werterbuch voll Schimpfworten, sowie den Besenstiel schickten
uns die Frauenzimmer noch hinten nach und erst unten wickelten mir
meine Freinde den Lappen runter, so daß ich wieder ordentlich Athem
holen konnte. Wir waren natirlich iber so ne Behandlung fir unsre
musikalische Leistung eiserst aufgebracht, aber der Herr, der immer
noch in der Hausflur stand, wollte sich todlachen, griff in die
Westentasche und ich denke, na -- e Viergroschenstick macht Alles
wieder gut, was aber drickt er mir in de Hand? E Pabier -- un wie ichs
besehe is es werklich und wahrhaftig e Finfthalerschein! Na -- unsre
Freide! Nu sagte uns der Herr, die Dame oben sei ene vom Theater, ene
Dänzerin, heite sei ihr Geburtstag wo sie wirklich 30 Jahre wirde,
un weil se sich immer nur fir 23 Jahre alt ausgebe, habe er ihr den
Possen gespielt. Wir stellten uns nun auf die Straße vor dem Hause auf
und spielten fast eine Viertelstunde lang weiter nichts als »schier
30 Jahre bist Du alt« bis die Alte schimpfend an uns vorbei un nach
der Bolizei lief, weshalb wir uns nun trollten; der Herr war ebenfalls
gegangen.

Datum 8. October. Gestern Nachmittag spielten mir von dreien bis um
sechse bei e Richtschmaus in der Zeitzerstraße und kriegten derfor 1
Thaler un freies Bier. Natierlich hatte Heinrich wieder e dichtigen
Zacken, un de Folge war, daß mir’n bei Rappon de Bosaune wegnehmen
mußten, weil er egal falsche Döne rausbrachte und de Harmonie störte.
Rappo drückte e Auge zu, weil mir nun blos Finfe waren; na warte nur
Heinrich, wenn mir wieder zu Hause kommen, Deine Carline soll Alles
erfahren wie de Dich aufgeführt hast.

    Einnahme den 5. 6. 7. und 8. October
         zusammen                          11 Thlr. 29 Gr. -- Pfg.
    Ekstra von dem Ständchen v. 5. October  6   „   --  „  --  „
    Einnahme vom 2. 3. und 4. October      13   „    7  „   2  „
    Einnahme von Rappon, for 6 Dage         8   „   --  „  --  „
    Alter Rest                             33   „   21  „   9  „
                                          ------------------------
                                           72 Thlr. 28 Gr.  1 Pfg.

    wieder ab Logis, Kaffee, Mittagessen und
         Jeden 1 Thlr. Vorschuß            11   „   27  „    6 „
                                         -------------------------
                               bleibt Rest 61 Thlr. -- Gr.   5 Pfg.

Datum 11. October. Vorgestern haben mir ene Innung aus der alten
Herberge in die neue geblasen un dann den Obermeister Ständchen
gebracht, aus der Innungskasse kriegten mir dafür 3 Thaler und von den
Obermeistern noch zwei Thaler, gestern spielten mir den Nachmittag im
Garten der großen Funkenburg wo viele Menschen warn weil e Luftballon
losgelassen wurde, wir kassirten iber 4 Thaler, was uns noch nicht
bassirt ist. Einnahme Alles in Allen den 9. 10. und 11. October, ohne
Rappon seins 16 Thlr. 4 Gr. 7 Pfg.

Datum 13. October. Mer merkt daß de Messe zu Ende geht, die Einkäufer
und großen Verkäufer sind alle fort und die Straßen in der Stadt sind
viel leerer wie vorige Woche noch. Aber dafor gehts Geschäft auf dem
Augustusplatz flott und s’is e Gedränge daß mer kaum durchkann. Die
Handelsleute sind fröhlich und vergnügt un Vormittags wenn mir oder
e anders Chor kommen und spielen, tanzen sie oft in den Reihen daß
de Buden wackeln und dann geben se uns gerne ä paar Pfennge oder ä
Sechser, viele Male aber geben se e Groschen, ja -- s’is e fideles
Völkchen. Bei’n Schustern hatten se gestern ene Bude bekränzt weil der
Händler darin nunmehro seit 30 Jahren zur Messe kam, wir mußten ihm e
Ständchen bringen un dann sammelten se für uns und brachten bald finf
Thaler for uns zusammen. Mir wollten das viele Geld for die kleine Mühe
erst nich nehmen, aber -- se meenten wir wirden’s wohl schon brauchen
kennen. Du lieber Gott, da hatten se freilich recht, zumal wenn mer ä
armer Weber is wie ich und 6 lebendge Kinder zu Hause hat.

Einnahme den 9. 10. und 11. October Alles in Allen aber ohne Rappon
seins 15 Thlr. 29 Gr. 8 Pfg.

Datum 15. October. So wäre se denn zu Ende de liebe Messe. Fir uns war
se wieder recht segensreich und morgen kenn mer heimwärts wandern, denn
for de ärgste Noth for nächsten Winter is Gott sei Dank gesorgt. Es
giebt doch noch recht gute Menschen in der Welt, die gerne geben, auch
wenn sie selbst nicht viel haben.

Rappo hat sich wieder nobel gemacht und uns, für die letzte Woche statt
7 Dage jeden 1 Thlr. 10 Ngr. was zusammen 9 Thlr. 10 Ngr. gemacht
hätte, 14 Thaler gegeben.

    Einnahme d. 12. 13. 14. u. 15. October 25 Thlr. 11 Gr. 2 Pfg.
    ferner Einnahme vom 9. 10. u. 11. Oct. 15   „   26  „  8  „
    von Rappon                             14   „   --  „ --  „
    hierzu Alter Rest                      61   „   --  „  5  „
                                         ------------------------
                                          116 Thlr. 11 Gr. 5 Pfg.

    ab für Logis, Kaffee un Mittagsbrod     5   „   27  „  6  „
                                         ------------------------
                              bleibt Rest 110 Thlr. 13 Gr. 9 Pfg.

Es kommt also auf Jeden von uns 18 Thlr. 12 Gr. 3 Pfg., wofür wir alle
Gott danken. Krempler Heinrich hat uns himmlisch gute Worte gegeben,
daß wir seiner Carline von seiner Aufführung nichts sagen sollen und
weil er sonst ein guter Kerl un dichtger Bläser is un sich de letzten
Dage gutgehalten hat, so hab’n mern alle versprochen, diesmal noch zu
schweigen.

[Illustration]



                                XXIII.

                   Allerlei Chronika von anno 1860.


[Sidenote: Diebstähle in der Universitäts- und Stadtbibliothek.]

Am 27. Februar anno 1860 wurde ein hiesiger, bis dahin hochgeachteter
Privatgelehrter wegen mehr als hundert Diebstählen von Bildern,
Pergamenten, Buchschalen u. s. w., welche er in gewinnsüchtiger Absicht
und zum schweren Nachtheil der Universitäts- und Stadtbibliothek
begangen hatte, zu einer Zuchthausstrafe von 5 Jahren verurtheilt.
~Dr.~ … gehörte einer alten und angesehenen Familie Leipzigs an,
besaß Frau und Kinder und hatte, da Niemand Verdacht gegen ihn faßte,
aus alten, sehr werthvollen Werken der beiden Bibliotheken seltene
und einen hohen Werth repräsentirende Kupfer- und Stahlstiche,
Radirungen, ebenso kostbare, zum Theil nie wieder zu ersetzende
Einbände, Meisterwerke alter Buchdrucker- und Buchbinderkunst, aus den
ihm anvertrauten Werken herausgerissen, die Defecte durch Einklebung
anderer Blätter u. s. w. zu verdecken gesucht und dann das Gestohlene
an auswärtige Antiquare und Kunsthändler verkauft. Da es sich in fast
allen Fällen um höchst seltene Werke, zum Theil Unicas handelte, so
war der Verlust, den beide Bibliotheken erlitten, kaum annähernd zu
ermitteln, jedenfalls aber ein sehr hoher und gar nicht zu ersetzender.

[Sidenote: Petersthor.]

Am 5. Februar wurde mit dem Abbruch unsres alten prächtigen
Petersthores begonnen und der Stadtgraben links von demselben bis zur
Universitätsbrücke ausgefüllt; zugleich wurde der Zwinger vollständig
niedergelegt und der Neumarkt erhielt einen Ausgang auf die nun zu
errichtenden Promenadenanlagen. Der Abbruch des Petersthores war zu
Ostern beendet.

[Sidenote: Fleischhalle.]

Am 16. April wurde die neue Halle für die Landfleischer eröffnet und
dem Verkehr übergeben. -- Jetzt Gebäude der permanenten Industrie- und
Gewerbeausstellung am niedren Park, gegenüber der neuen Börse.

[Sidenote: Omnibusse.]

Am 12. August trat die Omnibusgesellschaft »Heuer« ins Leben und
wurde dies Unternehmen allgemein mit hoher Freude begrüßt. Die ersten
eröffneten Linien waren Reudnitz (grüne Schenke), Lindenau (Drei
Linden) und Plagwitz (Insel Helgoland), später entstand noch als
Concurrenzgesellschaft die »Fiacer-Compagnie«, welche nach jahrelanger
erbitterter Concurrenz schließlich das Feld allein behauptete, bis auch
sie vor der 1872 erscheinenden Pferdebahn den Betrieb einstellen mußte.
Die Touren erstreckten sich zuletzt auf alle jetzigen Vorstadtdörfer.
Der Preis pro Tour betrug 15 Pfg.

[Sidenote: Pulverhäuser.]

Am 17. August wurden die alten Pulverhäuschen vom damaligen
Judengottesacker im Johannisthal -- (jetzige Sternwarte) -- entfernt
und auf das Feld gegenüber dem Napoleonstein verlegt.

[Sidenote: Hagelwetter.]

Am 27. August, Abends 7 Uhr, kam ein großes Hagelwetter über unsere
Stadt. Nachdem am Nachmittag eine sengende Gluth geherrscht hatte,
färbte sich der Himmel plötzlich in beängstigender Weise roth und
gelb und ebenso plötzlich ging das Unwetter los. Es erstreckte sich
von Corbetha bis Wurzen und zwei Stunden in der Breite. Obwohl das
Unwetter nur wenige Minuten anhielt, waren dennoch seine Folgen
ungeheure. Auf den östlichen Seiten der Leipziger Straßen und Plätze
waren die sämmtlichen Fensterscheiben zerschlagen, und die Dachziegel
und heruntergefallenen Essenköpfe lagen über eine halbe Elle hoch auf
den Straßen. Fiacer und Droschken mußten in die erste beste Hausflur
hineinfahren, um nur die Pferde vor den faustgroßen Hagelstücken
zu retten, die Wagenleder aber waren meist durchgeschlagen. Allein
in dem damals noch sehr kleinen Dörfchen Lindenau zählte man 16955
zertrümmerte Fenster. Auf den Straßen sah es aus als ob Revolution
gewesen wäre. Aus den Fenstern wehten die ebenfalls theilweise
zerfetzten Gardinen heraus, die durchlöcherten Firmen hingen in
Fetzen herab und die Keller waren mit Wasser angefüllt, das sogar
in den Verkaufsläden der innern Stadt theilweise über eine Elle
hoch stand. Die Schloßenstücken wogen bis zu 10 Loth (170 ~grm.~).
Da die Michaelismesse unmittelbar bevorstand, so mußte der Schaden,
ohne Rücksicht auf die bedeutenden Kosten, so schnell wie nur irgend
möglich, reparirt werden und Glaser, Schiefer- und Ziegeldecker
erhielten sechs- und achtfache Löhne. Von allen Seiten der Windrose
eilten auf diese Kunde die Arbeitskräfte herbei, aber trotzdem bedurfte
es wochenlanger Arbeit, um die Schäden wenigstens einigermaßen zu
ersetzen.



                                 XXIV.

              Eckensteher und Nachtwächter vor 40 Jahren.


Mit dem Jahre 1860 erlosch auch das denkwürdige Institut der
sogenannten privilegirten »Eckensteher«, der Vorläufer unsrer jetzigen
Dienstmänner. Wer hätte wohl noch nicht wenigstens traditionsweise von
den Eckenstehern mit ihrem unverwüstlichen, an Faulheit grenzenden
Phlegma, ihrer denkwürdigen »Bulle« und ihrem meist sehr schlagfertigen
Mutterwitz gehört. Sie hatten ihre Standorte, wie schon ihr Namen
ergiebt, an den Ecken der Straßen und Plätze, waren vom Rathe der
Stadt verpflichtet und trugen am linken Arm das Zeichen ihres
Standes, die ihnen vom Rathe zugetheilte Nummer. Naturgemäß gab es
gute und mindergute sowie schlechte Plätze und auch hier war der
Gewerbebetrieb genau geregelt, dergestalt, daß neue Anfänger stets
zuerst die schlechtesten Plätze nehmen mußten. Wurde ein besserer
Platz durch Tod oder sonstigen Abgang seines bisherigen Inhabers
vacant, so rückten die Andern genau in ihrer Reihenfolge nach. Doch
gab es auch Eckensteher, welche ihre alte liebgewordene Ecke um keinen
Preis vertauschten. Diese wurden dann ein für allemal übersprungen.
Dadurch kam es, daß diese Eckensteher sich nicht nur im Laufe der
vielen Jahre, in welchen sie meist ihre Stellen inne hatten, eine
feste Kundschaft herangebildet hatten, sondern auch jeden einzelnen
Bewohner ihres Rayons genau kannten, mit seinen Verhältnissen oft
genauer vertraut waren als manchem lieb war und daß auf diese Weise
die Eckensteher sowohl eine Art lebendigen Adreßbuches wie ziemlich
zuverlässigen Auskunftsbureau bildeten. Wahrhaft bewundernswerth war
ihre außerordentliche Vielseitigkeit in Leistungen. So waren eine große
Anzahl jener Eckensteher am ganz frühen Morgen »Milchmädchen«, am
Tage dann Eckensteher und Abends »Kegeljungen«, bei besonders stillem
Geschäftsgang nahmen sie auch wohl an kegelfreien Abenden den Hebekorb
mit Brezeln und durchschritten unter dem melodischen Rufe »Warme weeche
Brezeln -- warme weeche!« die Straßen. Noch andre von ihnen hatten sich
sogar zu Amt und Würden aufgeschwungen, indem sie Abends halb zehn
Uhr zum Naschmarkt zogen, wo sie die Attribute ihrer amtlichen Würde
-- Mantel, Spieß und Horn empfingen und nun hinauszogen in das ihnen
angewiesene Revier, um daselbst für die Nachtzeit als Auge des Gesetzes
zu fungiren und als ehrsame Nachtwächter über Schlaf und Eigenthum
ihrer Mitbürger zu wachen.

Würdevoll -- die Beine gespreizt, den langen Spieß in der Rechten,
das kleine Horn an der linken Seite, während noch ein großes Horn auf
ihrem Rücken herunterbaumelte -- schritten sie, wenigstens so lange
die Straßen belebt waren, dahin und regelmäßig bei jedem Stundenschlag
gaben sie der aus irgend einem Grunde noch wachenden Bewohnerschaft ein
lautes Zeichen ihrer Wachsamkeit, indem sie ins Horn stießen und je
nach der Stunde einen Vers sangen, worauf wiederum ein Hornstoß ihre
Kunstleistung beschloß. Der punkt Zehn Uhr zu singende Vers war so
ziemlich überall derselbe -- er lautete:

    »Hört Ihr Herrn und laßt Euch sagen --
    S’hat zehn geschlagen --
    Bewahrt das Feuer und auch das Licht --
    Daß kein Schaden gesch--iecht --
    Lobt Gott den Herrn!«

Bei dem Absingen der späteren Stunden bis zum Ende der Nachtwache, die
im Sommer bis Morgens vier, im Winter bis fünf Uhr Morgens dauerte,
blieben die Strophen 1, 2 und 5 dieselben, die 3. und 4. Strophe aber
war je nach der Stunde eine andere, meist der Dichtkunst und Phantasie
der einzelnen Nachträthe (so wurde der Nachtwächter vom Bruder Studio
genannt) überlassen. Daß der Eckensteher auch zugleich der Vertraute
aller Sorten von Liebespaaren war und vorzüglich mit der studentischen
Bevölkerung auf dem verständnißinnigsten Fuße stand, versteht sich
von selbst. Er kannte die Uhren und sonstige für das taxirende
Auge menschenfreundlicher Gelddarleiher irgend einen Werth habende
Besitzgegenstände seiner studentischen Kundschaft genau und wußte mit
gefühlvollem Herzen stets Rath, wenn es galt, einen dieser Gegenstände
auf einige Zeit an einen Ort stiller Beschaulichkeit zu versetzen, wenn
sein Client, was freilich sehr oft vorkam, an der Schwindsucht seines
Geldbeutels laborirte. --

Sittigen Bürgerstöchtern und sonstigen mit Schönheit begabten
Huldinnen wußte er geschickt die liebesglühenden Brieflein girrender
Handlungscommis oder studirender Ganymed’s zuzustecken, mochten
auch gegen das Liebesglück ihrer Töchter unempfindliche Väter und
eifersüchtige Mütter das ehrsame Jungfer Töchterlein zehnfach bewachen.
War man doch damals noch nicht so weit fortgeschritten auf dem Wege der
Cultur, um seine Gefühle der Eselswiese der Tagesblätter anzuvertrauen
und dieselbe zugleich -- wie dies jetzt üblich und jedenfalls
gefahrloser ist -- als ~Postillon d’amour~ zu benutzen. Fanden aber
in seinem Rayon Hochzeiten oder Kindtaufen statt, so war es wieder
der in sein bestes Gewand gehüllte Eckensteher, welcher der ehrsamen
Jungfer Brautführerin oder Gevatterin von ihrem Partner das zierliche
Körbchen mit den weißen Handschuhen überbrachte und als Gegengeschenk
an seinen Auftraggeber den Rosmarinzweig oder das gestickte Taschentuch
mitnahm. -- Daß bei all diesen Thaten der biedre Vermittler ebenfalls
seine Rechnung fand, ist selbstverständlich. Im Aeußeren sahen sich
die Eckensteher so ziemlich gleich, sie trugen dunkle Jacken, Hosen
und Westen von starkem baumwollnen Stoff, eine niedrige Mütze, und
über die linke Schulter geknüpft das breite Gurtband ihres Schibocks
oder Karrens. Im Winter kam noch eine gestrickte Jacke hinzu, die sie
dann meist über der Jacke trugen. Ihr unzertrennlicher Begleiter, dem
sämmtliche Nasen ein sanftes rosiges Incarnat verdankten, war die
»Kümmelbulle«, welche, gleichsam als ihr zweites Herz, in nächster
Nähe desselben ihren Platz hatte und deren nie versiegender Inhalt
wesentlich zur Unerschütterlichkeit ihres philosophischen Phlegma’s
beitrug. Waren nun die Eckensteher in ihrer Eigenschaft als solche wie
bereits erwähnt mit der Kundschaft ihres Rayons genau bekannt, so war
dies in ihrer Eigenschaft als Nachtwächter, so weit sie diesen Dienst
versahen, erst recht der Fall. Sie kannten so ziemlich die sämmtlichen
Tugenden und Untugenden sämmtlicher Bürger und sonstigen Bewohner
ihres Kreises, so weit sich dies auf deren kleine Liebhabereien
bezüglich des Kneipens erstreckte und ließen verständnißinnig bei
diesen kleinen Schwächen die weitgehendste Nachsicht walten. Für
Manchen aber und hier müssen wir leider immer wieder »Bruder Studio«
in erster Linie anführen, waren sie nur zu oft ein wahrer Schutzengel,
der für einen sanften Händedruck mit metallischem Klang und ein gutes
Zweigroschenstück stets empfänglich, den bezechten und irregehenden
Bürger der Stadt oder der Universität, in menschenfreundlichster
Weise, die wankenden Piedestale kräftig stützend, unter die Arme griff
und sanft heimgeleitete zu Muttern oder der diese Sachen schon etwas
ruhiger betrachtenden Wirthin. Nur in seiner amtlichen Ehre, als zum
Schutze der Ruhe und Sicherheit verpflichtetes Glied der städtischen
Verwaltung, durfte der Gute nicht gekränkt werden und in solchen
Momenten, wo ihn Bruder Studio oder andre ulklustige Brüder, auf
irgend einem zugstillen Eckchen fanden, wenn er sich einmal auf wenige
Augenblicke »innerlich beschaute« und ihm heimtückisch von hinten in’s
große Horn bliesen, konnte er sogar die beschworendste Freundschaft
total vergessen und »sehre eklig« werden. Leider müssen wir aber
bekennen, daß solche Attentate auf die gutmüthigen »Nachträthe« nur zu
oft vorkamen, und wenn dann diese Attentäter gar noch behaupteten, er
-- der würdige und verpflichtete Wächter der Nacht -- habe geschlafen,
so war es rein aus mit der Freundschaft und mit vorgehaltenem Spieße
brachte er die schnöden Verleumder »auf die Wache«.

Das kam aber selten vor, denn der biedre Nachtrath wußte sehr wohl
jugendlichen Uebermuth von flegelhaftem Benehmen zu unterscheiden.
-- Hierbei sei eines heiteren Vorkommnisses gedacht, das Verfasser
selbst mit erlebte und das die Gutmüthigkeit der Nachträthe illustrirt.
Einer unsrer Freunde hatte nach dem Weihnachtsfest zu Anfang der
fünfziger Jahre, früher als er eigentlich zu erwarten hatte, seinen
Lehrbrief als nunmehriger Commis nebst einer hübschen runden Summe als
Weihnachtsgeschenk bekommen und zur gemeinschaftlichen Feier dieses
Ereignisses hatten wir, außer dem Festgeber noch vier oder fünf junge
Leute, tüchtig geknippen. Die Folgen dieser für uns damals ungewohnten
Kneiperei waren natürlich bei uns allen eine mehr oder mindere
Bezechtheit, und in der durch dieselbe hervorgerufenen jugendlich
tollen Laune beschlossen wir, der in Lurgensteins Garten wohnenden
Angebeteten -- natürlich nur per Distanz Angebeteten -- unsres
Freundes, deren Geburtstag etwa zwei Stunden vorher angebrochen war,
ein Ständchen zu bringen. Gesagt -- gethan. Einer von uns besaß einen
prächtigen lyrischen Tenor, und damit der Lärm nicht zu groß werde,
sollte der Tenor das Lied: »Den Frauen Heil« allein singen, während
wir andern seinen Gesang mit Brummstimmen begleiteten. Wir schlüpften
über die Pleißenbrücke, zogen uns in dem bis an das betreffende
Haus reichenden Gebüsch bis an letzteres heran und legten los. Die
Geschichte klappte famos. Trotzdem unser Tenor nur halblaut sang,
mußten dennoch unsre Stimmen bis in die inneren Gemächer des Hauses
dringen, denn eben als wir den zweiten Vers unsres Liedes begannen,
sahen wir, wie sich oben an einem Fenster des ersten Stockwerkes eine
Gestalt bewegte, das Fenster öffnete und -- ach welche Enttäuschung für
unsre Gefühle -- ein mit irgend einem Etwas gefülltes Gefäß im weiten
Bogen nach unserm vermutlichen Standpunkt entleerte. Erschrocken und
in allen unsern Gefühlen tief verletzt, brachen wir unser Ständchen
Knall und Fall ab und wollten uns eben zurückziehen, da hörten wir,
eben aus dem Gebüsch auf die Straße getreten, vor uns an der Hausthür
eine pustende räsonnirende Stimme und -- ein Nachtwächter, angethan mit
Spieß und Horn, stand vor uns. Der Gute hatte den molligen Winkel an
der tiefen Hausthür benutzt, um -- sich ein wenig inwendig zu besehen
-- unsern Gesang gar nicht gehört und an unsrer statt die für uns
bestimmte nasse Ladung von jenem Undankbaren da oben bekommen.

[Illustration: Nachtwächter.]

»Nee«, räsonnirte er pustend und an sich herumwischend, »sollte mer
so was glooben? Die denken am Ende gar, ich habe geschlafen -- s’is e
Skandal -- nich e mal so e bischen ausruhn gönn’ se Een. Foi Deibel! Un
wer wees was se runter gegossen ham!«

Wir umgaben ihn tröstend und mit ihm auf die da oben räsonnirend -- --
da -- -- wie ich so hinter ihm stehe, hängt mir sein großes Horn,
welches die Nachtwächter sonst nur zum sogenannten »Feuertuten«, also
bei ausgebrochner Feuersgefahr benutzten, so verführerisch vor der
Nase, daß ich -- wie eine geheime Macht zog’s mich dazu -- im nächsten
Augenblick das unselige Mundstück desselben gefaßt hatte und zwei --
drei schauerliche Stöße aus demselben mit aller Macht meiner gesunden
Lunge entlockte. Ach! -- Kaum war die grause Frevelthat geschehen,
so bangte uns auch vor dem nun zu erwartenden Strafgericht und in
seltsamer Uebereinstimmung nahmen wir unsre Force zusammen und rissen
aus was nur die Beine leisten wollten.

Jetzt war aber offenbar dem guten Nachtrath die Laus vollständig über
die Leber gelaufen, das war ihm doch zu bunt!

Da wir viel zu leichtfüßig waren, als daß er uns hätte einholen können,
so gab er auf seinem kleinen Horn wiederholt das Nothsignal. Während
nun die Anderen sich rechts nach der Nonnenmühle zu glücklich in
Sicherheit brachten, flohen der neuernannte Commis und ich quer über
die Promenade und auf das Thomaspförtchen zu und hier erreichte uns die
rächende Nemesis. -- Schon glaubten wir uns gerettet und lachten über
den tollen Streich -- da -- als wir im schnellsten Lauf uns durch das
Pförtchen in Sicherheit bringen wollten, sprang inwendig hinter der
Ecke ein zweiter Nachtrath vor, senkte quer über unsern Weg seine lange
Lanze und -- im nächsten Moment rollten wir in süßer Gemeinschaft mit
unsern Sonntags-Nachmittags-Vier-Uhr-Anzügen in den durch aufgethauten
Schnee und Regen gebildeten zollhohen Schlamm und wurden die leichte
Beute des von uns so tief in seiner Würde gekränkten Nachtrathes.

Aber -- o Himmel! Wie sahen wir aus! -- Von oben bis unten mit einer
wahren Schlammkruste überzogen, in meinen nagelneuen Cylinderhut
war der eine Nachtwächter in der Hitze seines Ausfalls mit dem Bein
getreten -- ade Vierthalerhut -- indes der Cylinder meines Freundes in
den in der Ecke stehenden Wasserkasten vom Wind hineingetrieben worden
war und jetzt sanft auf den Wogen desselben dahintrieb. -- Ach, die
Vorwürfe zu Hause, und nun gar noch polizeiliche Anzeige -- Strafe --
Herrgott vielleicht gar Gefängniß -- -- --!!

Mein Freund weinte bittre Thränen und auch mit mir stand die Geschichte
so so. --

Da, wie die beiden Verfolger unsern großen Kummer sahen, entfloh ihr
Zorn und ihre Wuth und das Mitleid trat an ihre Stelle. »Da sehn se
nu was se angericht ham!« sagte der von mir so freventlich Beleidigte
-- »na ja sie sein eb’n noch halbe Kinder -- -- komm se mit -- ich
wohne gleich hier in der Burgstraße -- meine Frau mag aufstehn und sie
renevirn -- denn so kenn se nich zu Hause gehn.«

Und so wurde es; statt uns anzuzeigen und in Strafe und Ungelegenheiten
zu bringen, weckte der Gute sein Weib, dieses stand auf, und während
wir behaglich in dem kleinen Stübchen einige Tassen schnell bereiteten
Kaffees genossen, trocknete der Schmutz an unsern Sachen am heißen Ofen
zur dann leicht zu entfernenden Kruste, und gesäubert konnten wir, noch
ehe es völlig Tag wurde, unsre eignen Wohnungen wieder aufsuchen.

»Lassen’s nur«, sagte der Alte, als wir ihm unser letztes
Achtgroschenstück als Dank überreichten, »dadervor is’s nich geschehn«,
und wir hatten alle Noth, daß Mutter Bremme, seine Frau, diese unerhört
große Vergütung für Kaffee, Herberge und Reinigung endlich annahm. --

Eine gute alte Sitte war es auch früher, da wo in Restaurants
und anderen Etablissements in der Neujahrsnacht Festlichkeiten,
insbesondere Gesellschaftsbescheerungen stattfanden, mit dem
Glockenschlage 12 Uhr Nachts den Nachtwächter hereinzurufen, der dann
im Saale feierlich seines Amtes waltete, in der Regel einen besonders
schönen auf den Jahreswechsel bezüglichen Vers sang und in’s Horn
stieß. Geradezu Regel war dies z. B. im Schützenhaus (Kristallpalast),
wo dies stets geschah. Ein Thaler war dann mindestens der Lohn, der dem
Nachtwächter gespendet wurde, oft aber auch bedeutend mehr.

Auch Eckensteher und Nachtwächter sind anderen modernen Einrichtungen
gewichen. Für den Eckensteher ist der moderne Dienstmann erstanden
und in der Nacht unterbricht kein Hornruf oder Gesang, es sei denn
ein unberechtigter von den Geistern des Bachus oder des Gambrinus
hervorgerufener, die nächtliche Stille.

Einsam zieht dann der Schutzmann seine Bahnen und für jedes Vergehen
winkt das Strafmandat.

»Sitte und Anstand« verlangt das Gesetz mit eiserner Strenge und doch
herrschten beide früher ganz gewiß mehr als jetzt.



                                 XXV.

Der alte Petersschießgraben und Leipziger Volksoriginale: ~Dr.~ Ewald.


Bis zur Erbauung des Tivoli, welches gegen die Mitte der vierziger
Jahre errichtet wurde, war eigentlich unser Leipzig nicht überflüssig
mit größeren Vergnügungslokalen versehen. Der Wettiner Hof in der
»blauen Mütze«, der inmitten eines ziemlich wüsten Hofplatzes stand,
war der Tummelplatz für die Hefe des Volkes, andere größere Säle
existirten fast gar nicht und so kam es, daß der schon damals stark
baufällige Petersschießgraben mit seinen, fast die ganze Länge der
jetzigen Münzgasse und des Floßplatzes einnehmenden Schießständen und
sehr bescheidenen Gartenanlagen von der Leipziger Bürgerschaft der
Mittelstände stark frequentirt wurde. Freilich war damals auch der
Bewohner Leipzigs noch bei weitem nicht so fußfaul wie zur Jetztzeit,
wo oft für kaum einige Minuten entfernte Strecken schon Pferdebahn
und Droschke benutzt wird. Zur Sommerszeit machte man damals weite
Fußtouren mit Kind und Kegel und zwar stets hin und zurück zu Fuß.
Statt der jetzigen modernen Kinderwagen hatte man damals die kleinen
blauen Handleiterwagen mit Deichsel, an diese spannten sich die
größeren Geschwister vor, oder auch wo solche nicht vorhanden waren,
ein dienstwilliger Lehrjunge oder Gesell und fort ging es, hinaus ins
Freie und Tagestouren wie nach Grimma, Lausigk, Borna, Schkeuditz u.
s. w. wurden sehr häufig unternommen. Einige Flaschen brausendes und
schäumendes, von Muttern selbst gefülltes Braunbier, auch wohl ein
Fläschchen Kümmel, dazu eine wohlgefüllte Tasche mit Brod, Butter,
Käse, Schinken und hausschlachtener Wurst, bildeten die gediegene
Verproviantirung, und wie herrlich schmeckte dies Alles im grünen
Wald oder auf grüner Aue, gelagert unter dem Schatten irgend einer
mächtigen Eiche. Wurde es Vatern zu warm, so zog er den langschößigen
Rock aus und legte ihn mit auf den allgemeinen Bagagewagen, wo auch
Mutters »Saloppe« (Umschlagetuch) noch ihren Platz fand. Vater steckte
die Mütze auf seinen Stock und hielt in der Linken den mit Kanaster
gefüllten Ulmer (Tabackspfeife), Mutter spannte zum Schutz vor der
Sonne den Regenschirm (Familientulpe) auf, wir Kinder sprangen mit dem
Spitze nebenher und keine Königsfamilie konnte glücklicher sein, als
wie wir alle es waren. -- -- --

Kam aber der Herbst ins Land, so suchte man die näheren Vergnügungsorte
auf. Den »großen« und den »kleinen Kuchengarten«, die »Tabacksmühle«
zwischen Thonberg und Stötteritz, Stünz mit seinem »Käsebruch« u.
s. w. Vor Allen aber den »Petersschießgraben« am Petersteinweg.
In dem langgestreckten Saal der ersten Etage saßen dann Bürger
und Handwerksmeister, aber auch der Gelehrte und der Student an
alterthümlichen Holztafeln mit kreuzweisen Untergestellen, einträchtig
beisammen und beim Braun- oder Doppelbier oder der damals in doppelt
so großen Flaschen enthaltenen Gose, discourirten sie über Politik und
Stadtklatsch. Das Glas Braunbier kam damals 8 Pfennig, das nur wenig
getrunkene Doppelbier einen guten Groschen (12 Pfennige) und die große
Flasche Gose 2 gute Groschen; Butter, Brod und Käse in reichlicher
Portion 12 Pfennige, mit Schinken 25 Pfge., eine Portion Schweinebraten
40 Pfennige, ein großes Beefstäck 30 Pfennige. Die Pfeife war in fast
Aller Händen, denn die Cigarren waren erst seit wenigen Jahren in
Aufnahme und noch theuer. Das letztere war auch bezüglich der erst
nicht lange vorher aufgekommenen Streichhölzer der Fall, weswegen
jeder Raucher mit Feuerstein und Stahl und Zündschwamm oder Lunte, die
man über, auf ausgehöhlte Flaschenpfropfen gesteckte Nadeln strickte,
versehen war. In den Ecken des Saales waren aber auch zur allgemeinen
Benutzung sogenannte Tischfeuerzeuge, mit Spiritus und Fidibus
angebracht.

Wo sich aber auch damals »de Berger un Meester -- natürlich mit
Kind und Kegel -- Junggesellen und Jungfer Töchtern oder Mamsellen«
(Fräulein galt nur als Bezeichnung für adlige oder allenfalls
für Professoren- und sonstige hochgestellte Beamten-Töchter)
zusammenfanden, stets stellte sich da auch in den dreißiger und Anfangs
der vierziger Jahre ein Mann ein, der unter dem Namen »~Dr.~ Ewald« als
städtisches Original Groß und Klein bekannt war.

Dieser »~Dr.~ Ewald«, aus guter Bürgerfamilie stammend, war ein
verbummelter und gänzlich heruntergekommener Student, der viele Jahre
in Leipzig studiert, den Doktortitel aber niemals erworben hatte,
sondern nur von Volksgnaden trug. Damals -- von schier undefinirbarem
Alter, sicher aber ein hoher oder doch mittlerer Vierziger, schwärzte
er sich überall ein, wo er hoffte freie Zeche zu bekommen und ließ
sich dafür auch Alles gefallen. Wenn wir sagen »Alles«, so ist dies
in sehr weit ausgedehntem Maaße zu verstehen, denn damals war man
für Späße, welche man jetzt als »mehr als derb« bezeichnen würde,
noch bei Weitem nicht so empfindlich wie jetzt. Da Ewald Gott und
alle Welt kannte, so blieb er an diesem und jenem Tische stehen, bis
man ihn hieß »e mal mitzutrinken.« Wehe aber dem Unglücklichen, der
hierbei die Vorsicht so weit außer Acht ließ, dem »~Dr.~« seinen noch
sehr gefüllten Krug anzubieten, denn der gab ihn nicht wieder her,
sondern leerte ihn, dabei fortwährend Trinksprüche auf »die Frau
Meesterin« -- das »Jungfer Töchterlein« u. s. w. ausbringend, bis auf
den letzten Tropfen. Studenten -- -- die er nur mit »Commilitonen«
anredete, machten sich öfters folgenden wenig sauberen Witz mit ihm.
Sie kneteten aus Mehl, Schmutz, Tabacksasche, Cigarrenstummeln und
anderen delikaten Ingredienzen einen Kloß, spuckten hinein und legten
ein Achtgroschenstück daneben und -- »guten Appetit« -- Ewald fraß
den Kloß und steckte das Geld dafür in die Tasche. Sein Bruder hatte
sich erschossen und renommirend lief er nun in dessen Rock herum und
zeigte Jedem das Loch, wo die Kugel hineingegangen war, indem er nur
bedauerte, daß Jener zu seinem Selbstmord den »guten Rock« angezogen
habe.

Dabei machte er jeder Schürze die Cour und erlebte hierbei Abenteuer,
welche nicht allemal günstig für seine Kehrseite abliefen. Damals kam
das schöne Lied auf »Du hast ja die schönsten Augen« u. s. w. und
sofort erkor es Ewald sich zum Lieblingslied, mit welchem er jedes
Mädchen oder Frau drangsalirte, die das Unglück hatte seinem Blicke zu
begegnen.

[Illustration: Der alte Petersschießgraben.]

Einige dieser Abenteuer sind vielleicht nicht unwerth der Vergessenheit
entrissen zu werden, wobei wir bemerken, daß wir nur streng als
Wahrheit verbürgte Thatsachen anführen.

Im »goldenen Horn« (jetzt Stadt London) in der Nikolaistraße waltete
damals ein drolliger und jovialer Mann, Namens Schwabe, als Wirth, der
gern einen Jux mitmachte und z. B. einstmals auf seinem Pferde, infolge
einer Wette, dreimal um sein Billard ritt. Dieser Schwabe hatte nun
eine ebenso schöne, wie lebenslustige und heitere Frau und da auch ihr
der »~Dr.~ Ewald« in deutlichster und dabei aufdringlichster Weise die
Cour schnitt, so beschlossen beide Eheleute, indem sie noch einige
Gäste ins Vertrauen zogen, mit Ewald einen derben Ulk auszuführen.

Frau Schwabe ließ demselben, es war im Winter, merken, daß sie für
seine Huldigungen nicht unempfindlich sei und versprach ihm für den
andern Tag ein Plauderstündchen, zumal da ihr Mann verreist sei.
Ewald stellte sich nun auch pünktlich ein und lachend ließ die schöne
Frau seine Liebesbetheurungen über sich ergehen, indeß im Nebenzimmer
ihr Mann versteckt war. Plötzlich aber schrie sie auf »Ach um
Himmelswillen! Da kommt mein Mann -- eben ging er am Fenster vorbei! --
Ach! gewiß hat der Verdacht -- der bringt uns alle Beide um!«

Ewald vor Schreck halbtodt, hörte gleich darauf, wie Schwabe wüthend an
der verschlossenen Stubenthür rüttelte und mußte sich nun im Waschhaus
in dem großen Waschkessel verstecken, wobei er zu seinem namenlosen
Entsetzen hörte, wie der Wirth mit Pistol und Säbel überall »den
Verführer« suchte und dabei wiederholt ins Waschhaus kam und schwor,
den Verführer kalten Blutes zu ermorden. Viele Stunden bis zum späten
Abend mußte der Bethörte bei großer Kälte in seinem unbequemen Versteck
zubringen, bis Abends der Hausknecht erschien und in der Finsterniß,
ohne ihn angeblich zu sehen, mehrere Fuhren Wasser über ihn in den
Kessel goß. Erst da zwangen ihn Kälte und Nässe sich dem Hausknecht
auf Gnade und Ungnade zu ergeben, und er war froh, als ihn derselbe
heimlich lachend entwischen lies.

Ein anders Mal hatte er sich in das Töchterlein des Gohliser Müllers
verliebt. Diese -- sich ebenfalls mit ihrem Schatz verabredend --
ladet Ewald zum Stelldichein in die Mühlräume. Da auch hier der Schatz
erscheint, läßt ihn die Jungfer in einen großen Mehlkasten kriechen
und nimmt mit ihrem Geliebten kosend auf dem Deckel desselben Platz.
Zu seiner Angst hört er im Kasten, wie der Andere plötzlich Ewalds
Hut findet und nun schrecklich zu toben anfängt und ihn mit Mord und
Todtschlag bedroht; schließlich schleudert der Wüthende den Hut auf
einen hohen Holzstoß im Hofe und entfernt sich angeblich. Ewald, über
und über mit Mehlstaub bedeckt, ersteigt auf einer Leiter den Holzstoß,
ist aber kaum oben, als ihm die Leiter weggenommen wird und er nun zu
Jedermanns Gaudium stundenlang in seinem verstaubten Costüm dort oben
zubringen muß, bis man ihn mit einer Tracht Prügel auch hier endlich
entließ.

Im Laufe der Zeit kam Ewald immer mehr und mehr herunter und wurde
häufig Bewohner von »Sct. Stich« (Georgenhaus). Man fand ihn in den
vierziger Jahren eines Morgens sterbend an der »Gothischen Pforte« (da
wo jetzt das Harkort-Denkmal steht) im Gebüsch liegend, trug ihn ins
Georgenhaus und daselbst starb er nach wenigen Tagen.



                                 XXVI.

                   Leipzigs Südosten vor 40 Jahren.


Ebenso viele Veränderungen wie der Südwesten Leipzigs hat auch
der Südosten aufzuweisen, nur sind daselbst, mit Ausnahme der
neuen Universitätsgebäude in der Liebigstraße, weniger neue Plätze
bebaut, als vielmehr alte neu bebaut worden, auch das Capitel der
Straßendurchbrüche spielt hier eine große Rolle. An der Ecke des
Königsplatzes und der Windmühlenstraße befand sich die »dürre Henne«,
ein großer, uralter Ausspannungsgasthof, dessen Parterrefenster so
niedrig waren, daß man bequem, ohne groß den Fuß zu heben, von der
Straße aus ins Gastzimmer steigen konnte, weshalb der Anfang der
fünfziger Jahre in diesem Gasthof dienende handfeste Hausknecht, unter
dem Namen »langer August« eine stadtbekannte Persönlichkeit, an die
Luft zu expedirende Gäste stets einfach durch die Fenster, statt durch
die Thür auf die Straße warf, wo dieselben auf dem haufenweisen Schmutz
ein sanftes Bett fanden. Gegenüber der »Dürren Henne«, am Königsplatz
und Ecke der Kleinen Windmühlengasse, jetzt Markthallenstraße, lag das
einstöckige Gebäude der städtischen Speiseanstalt mit einer riesigen
Fahnenstange, auf welcher, so lange die Essenszeit währte, stets eine
große Fahne in den Stadtfarben aufgezogen wurde. Ein Dreieck bildete
mit diesen Häusern die ebenfalls uralte »goldene Kutsche«, welche neben
dem zum Theil noch jetzt stehenden Bäckerhaus stand. An die ebenfalls
noch jetzt am Anfang der Windmühlenstraße rechts und links stehenden
alten Häuser schlossen sich links bis zum »Schrödergäßchen«, jetzt
Kurprinzstraße, so niedere Hütten, daß man bequem mit der Hand auf
deren Dach greifen konnte und dasselbe war rechts bis zur Brauerei,
Ecke der Emilienstraße, der Fall. Wenige Schritte von der Emilienstraße
aufwärts stand das Windmühlenthor. Die Windmühlenstraße wurde damals
noch durch Oellampen beleuchtet, welche an Ketten über die Mitte der
Straße hingen, zum Anbrennen und Auslöschen; wenn letzteres nicht,
wie meist der Fall, der Wind besorgte, wurden die Lampen von der
Seite aus herunter und wieder hinauf geleiert. Weiter hinauf bis zum
Bayerischen Bahnhof lagen Gärten. Von der Emilienstraße, Albert-, Hohe
und Sidonienstraße, sowie Elisenstraße waren nur Anfänge vorhanden,
der Schletterplatz lag öd und wüst mit einem haustiefen Abgrund, in
dem sich noch lange die Ruinen eines kleinen Häuschens, sowie die
deutlichen Spuren eines Wasserlaufes befanden. Dem Volksmunde nach
sollte hier früher eine kleine Mühle, getrieben durch einen Bach,
gestanden haben. Turner-, Roß-, Brüder-, Jablonowsky- und Nürnberger
Straße existirten noch nicht. Die Thalstraße begann da, wo die
Nürnberger Straße beim Bayerischen Bahnhof jetzt einmündet und ging
quer durch die Gärten, auf denen jetzt die Anatomie steht, hinter dem
»Kanonenteich«, welcher unergründlich sein sollte, herum, bis er sich
an der jetzigen Brüderstraße an die jetzige Thalstraße anschloß. An
der Stelle der jetzigen Brüderstraße bei der Anatomie lagen tief im
Grunde, ein Sackgäßlein bildend, die sogenannten »_sieben Häuser_«,
wegen ihres ganz gleichen (hüttenähnlichen) Ansehens die »Brüderhäuser«
genannt, von denen wohl die Brüderstraße ihren Namen erhalten hat. An
der Einbiegung der heutigen Brüderstraße in die Thalstraße lag rechts,
da wo sich jetzt die Anlagen auf dem freien Platz befinden, ein Teich,
etwa dreiviertel so groß wie der heutige Platz und von kreisrunder
Form. Dies war der Kanonenteich. In demselben sollte Napoleon zur
Völkerschlacht vor seinem Rückzug eine große Anzahl, man sagte sechzig,
Kanonen versenkt haben. Thatsache ist, daß mehrere Versuche mit
Tauchern und Taucherglocken angestellt wurden, um die Schätze darin
zu heben, die aber wegen der Tiefe des Teiches, wohl auch wegen des
Schlammes in demselben zu keinem Resultate führten.

Hinter dem Kanonenteiche, nach der Liebigstraße zu, waren damals Tannen
und Fichten angepflanzt und das dichte Gestrüpp derselben bildete für
uns im den Flegeljahren befindlichen Bengels vortreffliche Verstecke
für unsre Rauchstudien. Die zu letzteren nöthigen Incredienzen kauften
wir damals in dem späteren Markart’schen Geschäft, Ecke der Nikolai-
und Grimmaischen Straße ein, denn es war männiglich bekannt, daß man in
dieser empfehlenswerthen Handlung die _größten_ und _dicksten Cigarren_
(und das war natürlich die Hauptsache) für 1 Pfennig, sage und schreibe
»einen Pfennig« erhielt. Was sich damals in jenem Dickicht für Herz-
und Magenbewegende Scenen abgespielt haben, davon schweigt am liebsten
des Sängers Höflichkeit.

Die Zuschüttung des Kanonenteiches dauerte jahrelang und erforderte
große Massen von Material. Das Schrödergäßchen, jetzt Kurprinzstraße,
fiel erst in den siebziger Jahren und ist daher wohl noch Vielen in
seiner ursprünglichen Gestalt wohlbekannt. Zu befahren war dasselbe
nicht, da es am Kurprinz bis zum Ausgang nach dem Roßplatz so eng
wurde, daß kaum zwei Personen neben einander gehen konnten. Nur
die linke Seite des Gäßchens, von der Windmühlenstraße aus, war
mit niedrigen Hütten bebaut, in deren einer ein uralter, völlig
kahlköpfiger Mann wohnte -- der alte Quarch -- der damals mit einem
Hundefuhrwerk den -- große Wäsche veranstaltenden Hausfrauen Flußwasser
~à~ Tonne für 2 gute Groschen ins Haus fuhr. Dieser alte Quarch war
ebenfalls ein Original und stadtbekannt, er hatte mehrere Male große
Vermögen binnen wenig Jahren verjubelt und wenn das Geld alle war,
griff er mit demselben Humor immer wieder zu seinem Hundefuhrwerk. Er
war schon ein sehr alter Mann, als er wiederum ein Achtel des damaligen
großen Looses (80000 Thaler damals) gewann, davon gab er aber diesmal
seinem Sohne die Hälfte seines Gewinnes, der Rest war wiederum in
einigen Jahren in alle Winde. Trotzdem nahm er das Anerbieten seines
Sohnes, zu ihm zu ziehen, nicht an, sondern kehrte auch diesmal zu
seinem Hundefuhrwerk zurück. -- Die ganze rechte Seite des ziemlich
langen Schrödergäßchens nahm der riesige Garten des »Kurprinz« ein.

Der Kurprinz selbst war eine Art Edelsitz mit großem Oeconomiebetrieb,
die großen Stallungen für Pferde und Rindvieh lagen auf einem Platze
an seiner südöstlichen Seite und in der Mitte desselben dehnten sich
Einzäunungen für Kühe und Schafe sowie der mächtige Dunghaufen aus. Im
vorderen Hofe befanden sich Werkstätten und Remisen für Maler, Lackirer
und Equipagenbauer.

Die rechte Seite der Thalstraße bildeten damals ebenfalls noch Gärten
des Johannisthals und da, wo sich jetzt die Sternwarte befindet,
war damals der alte Judenfriedhof mit seinen eingefallenen Gräbern
und verwitterten Grabsteinen. Auf demselben Hügel lagen auch die
Pulverhäuser der Garnison, welche später am Napoleonsteine am Thonberg
ihren Platz fanden.

Die jetzige Sternwartenstraße, damals Holzgasse, enthielt in ihrem
vorderen Theile links, wo sie einen kleinen Platz bildet, den
sogenannten Trödelmarkt, Buden mit Trödlern und rechts an der Ecke der
jetzigen Turnerstraße die Armenschule. Die sämmtlichen Durchbrüche
der Turner- und Nürnberger Straße waren nicht vorhanden. Das ganze
Terrain hinter den Häusern rechts bis zur Glockenstraße nahm der
damalige städtische Holzhof ein. Ein Theil des letzteren ward in den
fünfziger Jahren dem Bau der Turnhalle resp. zunächst dem Turnplatz
eingeräumt. Die Thalstraße mit nur wenigen alten Häusern bildete die
Grenze und zugleich den Anfang des Johannisthals, welches damals
mehr als doppelt so groß war wie jetzt. Die Ulrichsgasse, damals
Sandgasse, war an der Thalstraße durch eine Mauer abgeschlossen,
an Stelle der Roßstraße stand am Roßplatz das »schwarze Roß« mit
Oekonomiegebäuden und großem Garten; die jetzige Nürnberger Straße
war eine Sackgasse, welche vom Johannisplatz bis zur Johannisgasse
»Kirchstraße«, von da an bis an die Abschlußmauer der Ulrichsgasse
aber »Bosenstraße« hieß. Das prächtige alte Petersthor hatte, von der
innern Stadt aus, links in seinem Thorbogen ein kleines Pförtchen,
durch welches man auf den sogenannten »Zwinger«, einen schmalen Weg,
kam, an dessen linker Seite allerliebste, ganz gleichartige, bis zum
Giebel mit wildem Wein bewachsene einstöckige Häuschen mit winzigen,
aber sorgfältig gepflegten Vorgärtchen standen. Dieselben dehnten
sich bis zur Universitätsbrücke aus, denn, von der Petersbrücke bis
zur Universitätsbrücke (jetzt Schillerstraße) und von dieser weiter
bis zum Augustusplatz lag tief im Grunde der Stadtgraben, mit seinen
zahlreichen Bäumen und Gesträuch, ein willkommener Tummelplatz für
uns Jungen. Hinter der Johanneskirche aber, an der Dresdner Straße,
lag und liegt noch die damals durch den als Pädagogen weit bekannten
und berühmten Director ~Dr.~ Ramshorn bis in die 70er Jahre so
vortrefflich geleitete 3. Bürgerschule, zu welcher sich die Schüler
aller Stadttheile drängten.

Von städtischen Schulen existirten damals in Leipzig nur die drei
Bürgerschulen, die Armenschule in der Holzgasse und die Wendler’sche
Rathsfreischule am Thomaskirchhof. An höheren Schulen »Thomas-« und
»Nicolaischule«, sowie mit der 1. Bürgerschule in demselben Gebäude,
die damals nur vierklassige Realschule, jetzt Realgymnasium. Aber
wer jetzt die stolzen Gebäude all dieser Schulen betrachtet und
sich noch zurückzudenken vermag an unsere ursprüngliche alte liebe
3. Bürgerschule, ehe das jetzt hinten quer vorstehende Hauptgebäude
errichtet wurde, der kann wohl ein Lächeln nicht unterdrücken. Rechts
auf dem großen wüsten Platze, den Rücken nach den Gärten der jetzigen
Salomonstraße zu, standen drei kleine hüttenartige Häuschen, nur aus
Parterre und erstem Stock bestehend, neben einander, und in diesen
altersschwachen Hütten, deren wurmzerfressene Holztreppen beim Hinauf-
und Hinabrennen von uns Bengels bedenklich seufzten und in allen Fugen
krachten, was uns natürlich keineswegs zur zarten Rücksichtnahme
veranlaßte, befand sich die gesammte dritte Bürgerschule. Hei! war
das ein Gaudium, wenn die Freiviertelstunde herannahte und wir
hinabstürmten auf den Platz, um an den zum Neubau angefahrenen
Sandsteinen unsere turnerischen Künste zu üben oder vor der sanfteren
jugendlichen Damenwelt unsere Kräfte zu zeigen. Wir waren oft eine
tolle Bande und doch sind aus den Schülern der damaligen dritten
Bürgerschule eine große Anzahl tüchtiger Männer hervorgegangen,
welche zum Theil auch ihrer Vaterstadt in hohen Aemtern dienten und
noch dienen. Freilich, Papa Ramshorn führte ein strenges Regiment und
sein Rohrstöckchen saß ihm stets locker genug im linken Aermel seines
Frackes. Tüchtige Lehrer, auf welche noch heute der frühere Schüler
mit Dank, Ehrerbietung und Stolz zurückdenkt oder denen er, soweit sie
verstorben sind, ein treues und theures Andenken bewahrt, standen dem
scharfblickenden Direktor treu zur Seite und brachten die Schule auf
eine hohe Blüte. Ich nenne nur den in der Schule ebenso strengen, wie
im sonstigen Verkehr mit seinen Schülern wahrhaft kinderfreundlichen
und geselligen, jetzigen Prediger der Thomaskirche ~Dr.~ Suppe,
ferner die Lehrer ~Dr.~ Thomas, ~Dr.~ Kühr, Kunath, ~Dr.~ Heinold,
den späteren Organisten der Nikolaikirche und als tüchtigen Musiker
bekannten, damaligen Schreiblehrer Schaab etc. etc. Und als dann
endlich 1853 das neue Haus bezogen wurde, da zog auch der alte Geist
mit hinüber in dasselbe und ist in demselben geblieben, noch viele
viele Jahre, wohl bis zum heutigen Tag.

Fünfundzwanzig Jahre nach Errichtung des neuen Schulhauses der 3.
Bürgerschule feierten Lehrer und Schüler ein frohes Fest und auch
die alten Schüler kamen, zum Theil aus weiter Ferne, um an demselben
theilzunehmen, wobei sie der Schule ein kostbares Harmonium und eine
Votivtafel stifteten. -- Viele sind seit jener Zeit wieder schlafen
gegangen, aber wenn es gilt, das fünfzigjährige Jubiläum der Schule zu
feiern, werden wohl sicher die wenigen noch Lebenden von jenen Alten
nicht fehlen.



                                XXVII.

                           »In Wechselhaft!«


Der Brauch, einen Schuldner für seine Schuld auch mit seiner Person,
also nicht blos mit seiner gesammten Habe verantwortlich und haftbar
zu machen, ist uralt und findet sich schon vor Jahrtausenden, als
noch nicht an die so viel und so oft fälschlich gerühmte christliche
Milde zu denken war. Trotzdem daß er, man möge die Sache betrachten
wie man wolle, immerhin ein barbarischer Brauch sein und bleiben wird,
weil er eben das erste und höchste und edelste Recht des Menschen,
die Freiheit, für Thaten beschränkt, welche in ihrer überwiegenden
Mehrzahl aus keiner bösen Absicht entspringen, hat sich dieser Brauch
bis in die Neuzeit, wenn auch in wesentlich gemilderter Form, erhalten
und sogar in die jetzt bestehenden deutschen Reichsgesetze Aufnahme
gefunden, wenn der Schuldner seiner eidlichen Versicherung über seinen
Besitzstand ausweicht und die gerichtliche Angabe desselben unter
seinem Eide verweigert.

Mit dem Eintritt des Wechsel-Verkehrs in der kaufmännischen und
handelstreibenden Welt, welche Einrichtung eine große Erleichterung des
bis dahin üblichen Modus der Baarzahlung und der Anweisung, sowie des
Geldverkehrs mit fremden Plätzen überhaupt mit sich brachte, verband
sich naturgemäß auch ein größeres gegenseitig vorausgesetztes Vertrauen
und schon deshalb, damit dieses Vertrauen nicht, oder doch möglichst
wenig, getäuscht und nicht der geschäftlichen Unsicherheit Thür und
Thor geöffnet werde, hielt man es für nothwendig, daß in solchen Fällen
auch ein Einstehen jedes in diesen Verkehr Gezogenen mit seiner Person
und mit seiner Freiheit als Individuum erforderlich sei.

Während nun die persönliche Haft für Schulden jetzt nur noch unter
den bereits erwähnten Fällen und Vorkommnissen besteht, war es bis
zum Eintritt der neuen Reichsgesetze möglich und sogar häufig, daß
ein Schuldner auf Antrag seines Gläubigers ohne Weiteres in Haft
genommen werden mußte, wenn er einen mit seiner Unterschrift versehenen
Wechsel nicht bezahlte; gleichviel ob er nun Acceptant oder blos
Girant desselben war. Diese Haft war die sogenannte Wechselhaft. Diese
Wechselhaft war allerdings bei den damaligen Gesetzen bezüglich der
Einklagbarkeit einer Wechselschuld in vielen Fällen nothwendig, denn
das Gesetz bestimmte, daß, _so lange ein Schuldner nicht in Person
vor Gericht_ seine Unterschrift unter dem Wechsel anerkannt hatte,
_überhaupt keine Pfändung_ auf Grund dieses Wechsels ausgeführt werden
durfte, und so kam es oft vor, daß sich ein Schuldner oft wochen-,
ja monatelang versteckte oder verreiste, um der Vorführung zum
Verhandlungstermin aus dem Wege zu gehen. In diesem Falle aber konnte
sein Geschäft ruhig fortbetrieben und eine Pfändung nicht vollstreckt
werden, weil eben der Richter ohne die _persönliche_ Anerkennung
seiner Unterschrift den Schuldner nicht zur Zahlung verurtheilen konnte.

Diese Verhältnisse brachten es dann auch mit sich, daß oft wahre
Jagden nach Wechselschuldnern vorkamen und zwar weniger um grade
denselben in die Wechselhaft zu bringen, als um ihn wenigstens
vorläufig zum Verhandlungstermin vorführen zu lassen, denn hatte er
seine Unterschrift anerkannt, so konnte auch sofort die Pfändung vor
sich gehen und die Haft wurde in der Regel erst dann beantragt und
vollstreckt, wenn die Pfändung erfolglos ausgefallen war. Es ist
natürlich, daß trotz des Ernstes, der solchen Situationen zu Grunde
lag, doch auch sehr oft ein guter Theil Humor bei denselben mit
unterlief, wie dies, man möchte fast sagen in der ganzen Natur der
Sache liegt. Man verstand zwar schon damals in Geldsachen ebensowenig
Spaß wie heute, aber -- der militairische Charakter des ganzen
Beamtenthums trat damals noch nicht so in den Vordergrund wie heute.
Man war ein gut Theil gemüthlicher und wo es nur einigermaßen ging,
faßte man eine Sache lieber von der jovialen, wie von der grimmigen
Seite auf. Zwar waren die Sachsen auch damals schon sehr gute
Soldaten, allein der Militarismus war doch noch nicht so allgemein
geworden und so ins Volk gedrungen, als daß er die alte sächsische
Gemüthlichkeit ganz verdrängt hätte; selbst die Männer des Gesetzes,
die Gerichtsdiener und amtlichen Boten, welche zwar fast alle lange
Jahre als Soldaten gedient hatten, ehe sie zur Würde eines solchen
Staatsbeamten gelangten, legten mit dem Soldatenrock auch das
militairische Gebahren meist wieder ab und zeigten wieder die mildere
Flagge des -- friedlichen Staatsbürgers. --

Wenn damals irgend Jemand das Unglück gehabt hatte, quer schreiben zu
müssen, und dann das weitere Malheur, den Wechsel am Verfalltage nicht
bezahlen zu können, so daß derselbe unter Protest zurückgegangen
war, so erfolgte zunächst an ihn eine schriftliche Vorladung zum
Verhandlungstermin, welcher er aber, ohne irgend eine Verurtheilung
zur Zahlung, wie dies jetzt ist, befürchten zu müssen, ruhig ignoriren
konnte. Von nun aber war der Schuldner gleichsam vogelfrei, denn
der Gläubiger erließ eine Realcitation, welche die Vorführung des
Schuldners zum Zwecke der Anerkennung seiner Unterschrift, zu
jeder Tages- und eventuell sogar zur Nachtzeit verfügte und den
überbringenden »Wechseldiener« (Gerichtsdiener) bevollmächtigte, den
Schuldner zu verhaften, wo er ihn auch finde. Zahllose Possen und
Schwänke spielten sich schon bei solchen Gelegenheiten, oft gradezu
wider Willen der einen oder der andern, oder selbst beider Seiten, ab;
denn da der Schuldner ebenso auf seiner Hut war und danach trachtete
sich nicht erwischen zu lassen, bis er das Geld zur Bezahlung seiner
Schuld aufgetrieben hatte, oder der Gläubiger der Erfolglosigkeit
seiner Bemühungen müde, mildere Saiten zog und Theilzahlungen
bewilligte; wie anderseits der »Wechseldiener« alles aufbot, um des
Schuldners habhaft zu werden, so konnten komische Situationen gar nicht
ausbleiben. Dabei kannten die Wechseldiener, infolge langjähriger
Erfahrungen und manches ihnen gespielten Streiches, ihre Pappenheimer
genau und besaßen ihre Kundschaft, wie jeder andere Erwerbszweig
dieselbe besitzt. Am ehesten fügte sich noch der biedre Kleinbürger und
Geschäftsmann in seine Geschicke, aber der leichtlebige Schuldenmacher,
der theure Sohn seines Vaters, der Lebemann, der Schauspieler, Student
in höheren Semestern u. s. w. setzte natürlich alles daran, die
geliebte Freiheit auch fernerhin zu behalten und dem nach ihm suchenden
»Mann des Gesetzes« ein Schnippchen zu schlagen, wo er es nur irgend
vermochte.

In solchen Haushaltungen, wo der Besuch des »Wechseldieners« in
ziemlich sicherer Aussicht stand, war man, falls der Schuldner es
wirklich riskirte in seiner Wohnung zu bleiben, vom Tagesgrauen an
auf der Wacht, oft floh der Gesuchte von einem Zimmer zum andern und
legte sich gemüthlich wieder im ersten Zimmer ins Bett, wenn der
Diener noch Betten, Schränke, unter Sofas u. s. w. im letzten Zimmer
durchsuchte; es wurden die gewagtesten Manöver ausgeführt, um das
scharfe Auge des Suchenden zu täuschen, aber dieser hatte eine gute
Nase und langjährige Erfahrung für sich. Kein noch so schön in voller
Ordnung dastehendes Bett vermochte ihn zu täuschen, er langte den
Verfolgten unter den sauber darüber gebreiteten Decken hervor, kein
noch so harmlos erscheinender Kleiderschrank entging seinen gründlichen
Nachforschungen, und wenn der Gesuchte nicht geradezu verreist war,
erwischte er ihn schließlich doch; selbst bis in den Keller stiegen
die eifrigen Wechseldiener hinab und ebenso verfolgten sie ihr Opfer,
wenn es sein mußte, sogar bis auf das Dach des Hauses, hatten sie
aber den Gesuchten endlich erwischt, so erfolgte kurzer Prozeß auf
dem »Wechselgericht.« Verurtheilung, Pfändung und -- -- Wechselhaft
erfolgte eventuell, ohne jede Pause und ehe es sich der unglückliche
Querschreiber versah, saß er hinter eisernen Vorhängen. -- In der Regel
aber waren die so Inhaftirten, bis auf die Entbehrung der Freiheit,
mit ihrem Schicksal nicht sehr unzufrieden. Und in der That, etwas
Glücklicheres, als die frühere Wechselhaft konnte es in Haftsachen wohl
überhaupt nicht geben. -- -- --

Die vier doppelten Dachfenster des obersten Geschosses im alten
Bezirksgericht, welche nach der Münzgasse herauslagen, verriethen
die Räume, in denen die Wechselhaft vollstreckt wurde. Ein langer,
heller Corridor verband eine Anzahl geräumiger, einfach aber genügend
möblirter Zimmer, deren gegenseitige Verbindungsthüren unverschlossen
waren, so daß den Häftlingen ein vollständig freier Verkehr unter sich
zustand. Sie konnten ihre eigenen Kleider tragen, sich Betten und
andere zu ihrem Comfort gewünschte Sachen »herauf« kommen lassen und --
falls sie Geld hatten -- essen und trinken was sie wollten. Sie konnten
rauchen und spielen und alle nur möglichen Spiele, welche »Abgehende«
den Zurückbleibenden vermachten, waren vorhanden, ebenso waren sie
berechtigt, am Tage Besuche zu empfangen. -- Trotz der oft sehr
verschiedenen Bildungsklassen, welche hier zusammentrafen, herrschte
»hier oben« die ungestörteste Einigkeit und -- man sollte es kaum
glauben -- meist ein sehr fideles Leben. Immer waren Etliche darunter,
welche Geld hatten und diese schleppten die Anderen kameradschaftlich
mit durch. Ja -- es gab ordentliche Stammgäste dort oben, die eben
prinzipiell nicht bezahlten und ihrem Gläubiger nicht blos durch ihren
Gleichmuth, mit der sie hier freie Wohnung und Kost genossen, fast zur
Verzweiflung brachten, sondern auch mit allem Raffinement von ihrer
Lage Vortheil zogen. -- Vortheil? -- Jawohl! -- Sie wurden leidend und
der Arzt, den natürlich wieder der Gläubiger bezahlen mußte, verordnete
Spaziergänge in frischer Luft. Da zeigte es sich denn, daß sich die
Stiefeln des Schuldners in zu schlechtem Zustande befanden, oder wohl
gar die Unaussprechlichen so defect waren, daß hier Neuanschaffungen
ganz unumgänglich nothwendig waren -- alles auf Kosten des Gläubigers,
der natürlich das Recht hatte, dies wieder vom Schuldner zu verlangen
-- aber -- der regte und rührte sich nicht. Mit dem fröhlichsten
Gesicht empfing er seinen Gläubiger, nahm herablassend die ihm gebotene
Cigarre von demselben an und erklärte, daß es ihm hier außerordentlich
gefiele und er es sich gar nicht besser wünschen könne -- freilich
werde er nächstens auf Beschaffung einiger Hemden und Unterbeinkleider
antragen müssen, da er hier ja nichts verdienen könne -- und -- -- --
und -- -- -- bezahlen? -- -- Ja -- davon sagte der Gute kein Wort.
-- Waren aber die 14 Tage, für welche stets vorher vom Gläubiger die
Beköstigungsbeträge einzuzahlen waren, vorüber und die neue Einzahlung
erfolgte nicht rechtzeitig, so öffneten sich schnell die Thüren des
»Wechselarrestes« und der Schuldner wurde ohne Weiteres entlassen.

Auch Gesunde waren berechtigt, einige Stunden, an einem Tage in
der Woche, auszugehen. Das heißt, sie wurden nicht etwa in den
Gefängnißhöfen spazieren geführt, sondern erhielten einen in Civil
gekleideten Diener mit sich und durften sich dann frei in der Stadt
bewegen wo sie eben wollten. Zu diesen Spaziergängen wurden allerdings
nur mit allen Schlichen und Ränken vertraute Diener commandirt, denn
oft genug suchten sich bei solchen Gelegenheiten die Inhaftirten ihrer
handfesten Begleiter auf irgend einer Weise zu entledigen und dadurch
die goldne Freiheit wieder zu erlangen. --

Einer der hervorragendsten Characterdarsteller Deutschlands war der zu
Anfang der fünfziger Jahre hier in Leipzig vom Stadttheater enagirte
X. …, welcher von hier mit bedeutendem Gehalt an das Hoftheater zu
Dresden engagirt wurde, aber schon frühzeitig so versumpfte, daß er
schließlich sein Ende auf der Landstraße als total heruntergekommenes
Subject fand. Dieser X. war schon hier, trotz seines, für die damaligen
Zeiten sehr hohen Gehaltes, fast immer in den Händen jener dunklen
Ehrenmänner, bei denen Cravatte und Strick gleichbedeutend ist. In
permanenter Geldnoth schrieb er natürlich mit Vorliebe quer, was ihm
am kürzesten zu Geld verhalf. Kein Wunder, daß X. sehr bald mit dem
»Wechseldiener« auf dem Kriegsfuße stand und -- wenn er auch denselben
unzählige Male zu entgehen wußte, schließlich doch, als er sich in
einem großen Garderobekorb aus dem Theater tragen ließ, von seinen
Verfolgern entdeckt, herausgelangt und in Wechselhaft gebracht wurde.
Kein größeres Malheur konnte X., für den möglichst unbeschränkte
Freiheit und Zügellosigkeit geradezu Lebensbedingung war, passiren, und
da es ihm unmöglich war, den Gläubiger zu befriedigen, so trachtete er
mit allen seinen Sinnen darnach, demselben dennoch einen Streich zu
spielen und sich -- koste es was es wolle -- so schnell als möglich zu
befreien. Mittlerweile stellte er sich aber als der Lustigste aller
Inhaftirten, schwor, er wolle doch sehen wer es länger aushalte, er --
oder der Geldbeutel des Gläubigers, und als sein Ausgehetag herankam,
versicherte er seinem Begleiter, daß er in keiner Weise daran denke,
etwa auszureißen; -- Gott bewahre, aber lustig und fröhlich wollten
sie sich heute wenigstens einmal machen. Da man an Ort und Stelle den
Versicherungen des X. wenig Vertrauen schenkte, so gab man ihm einen
der bewährtesten Diener mit, indem man demselben doppelte Vorsicht zur
heiligsten Pflicht machte.

Aber X. schien in der That an kein Ausreißen zu denken. Er that,
als könne er kein Wässerchen trüben und nachdem der Besuch einiger
Weinwirthschaften die beiden Ausflügler in eine unternehmende und
rosige Stimmung versetzt hatte, wurde der gerichtliche Begleiter
vertrauensvoller und milde freundschaftliche Gefühle gegen seinen
Gefangnen zogen allmählich in seinen sonst nur des Dienstes eiserne
Strenge geweihten Busen ein.

»Hollah«, sagte X. dem alten Unteroffizier, cordial auf die Schulter
schlagend, als sie schon etwas »angerissen« aus der Tiefe von
Aeckerleins Keller an das Tageslicht stiegen, »wir haben noch
reichlich zwei Stunden Zeit, deshalb auf zu Vater W… allwo liebliche
Mädchenblumen aus allerlei Ländern, dem lustigen Verehrer des Bachus,
mit sittigem Lächeln und geringer Sprödigkeit die Erzeugnisse des
Weinbaus vom Rhein und der Rhone und dem süffigen Nektar des perlenden
Champagners credenzen. Auch Du Bruder und Mitbewohner jener der
heiligen Hermandad geweihten Hallen wirst kein Kostverächter sein!«
»Hm« der gute Bruder kratzte sich doch ein Weniges im Kopf. Er kannte,
wenigstens von Sagen und Hören, jene Weinwirthschaft, wohin ihn sein
Schützling führen wollte. Es war ein wenig Raum einnehmendes Häuslein
am Neukirchhof, das noch jetzt steht und seiner geringen, nur 3
Fenster breiten Front, bei einer Höhe von fast 4 Stockwerken, halber,
im Volksmunde »das schmale Handtuch« genannt wurde. »Allerdings --
Donnerwetter! -- Die Idee war nicht schlecht! Aber ob sich der Besuch
dort auch mit seiner Instruction vertrug? -- Hm! Eigentlich stand
nichts dagegen drinn -- wenn er nur seinen Begleiter wieder richtig
»höheren Orts« ablieferte -- dann hatte er seine Pflicht erfüllt. Na --
dafür wollte er schon sorgen.«

[Illustration: »In Wechselhaft!«]

»Nanu, Alter? -- Nix Courage? -- Fürchtet Euch wohl gar vor den lieben
herzigen Dingern und ihren schelmischen Guckaugen -- was?«

Das griff den Alten, der ohnehin keineswegs abgeneigt war, einmal
wieder den Schwerenöther zu spielen, gewaltig an seine Mannesehre.

»I -- nu -- Nee!« sagte er, »vor was wär’n mer denn Soldat und acht
Jahre Oberjäger beim 1. Bataillon gewesen, aber -- -- na -- und’s
braucht’s ja Niemand zu wissen, wo mir gewesen sind -- wenn mer nur
pinktlich wieder zu Hause komm’n!«

»Bravo«, rief der Verführer, »das war ein Mannswort! Auf zu Vater
W…!« -- -- dort war es nun allerdings wunderhübsch! Auf ein
verständnißvolles Augenzwinkern des Schauspielers, Wirth und Bedienung
waren von X. schon brieflich instruirt worden, umgab bald ein ganzer
Kranz »sittiger Mädchen« den alten, ehrlichen Amtsdiener, während sich
X. in der Nebenstube ans Piano setzte und spielte und sang. -- Herrgott
von Mannheim! War das ein Leben. Eierpunsch und Rothwein, Rheinwein
und Champagner und wer weiß was Alles credenzten die gar nicht sehr
spröden Huldinnen dem alten Soldaten. Bald kam Olga, bald Irma, bald
Flora und wie die prächtigen Mädels alle hießen, um mit ihm anzustoßen,
und als dieselben unter den Klängen einer im Nebenzimmer gespielten
Polka paarweise dahinflogen, da legte auch er kühn die Rechte um die
Hüfte der üppigen Rosa und zeigte rechtsrum, linksrum und im zierlichen
Schiebekästchen seine als ehemaliger flotter Jäger vielerprobten
Kenntnisse in der edlen Tanzkunst.

Er blickte aber doch von Zeit zu Zeit vorsichtig ins Nebenzimmer. Na --
da war aber nichts zu besorgen, X. hatte ja gar den Rock abgelegt und
saß in Hemdsärmeln am Pianoforte -- der lief nicht davon, so viel stand
fest und in der Gewißheit, sich vielleicht niemals wieder in seinem
Leben so amüsiren zu können und noch dazu ohne einen Pfennig dafür
auszugeben zu brauchen, stürzte er sich auf’s Neue »rin ins Vergnügen«
und genoß das ihm so freundlich Gebotene in vollen Zügen. -- -- --

»Hm« -- was war denn das? -- Er hatte wohl gar geschlafen? -- Es war
ihm noch ganz dumm vor’m Kopf. -- Er blickte um sich. -- Er saß in
einem kleinen Cabinet auf einem Sofa, die Thür stand offen und von fern
her tönten die Pianoklänge herüber zu ihm. -- Himmel! -- halb zwei
Uhr Nachts! -- Mit einem Satze war er in die Höhe. Heiliger Bimbam!
Und um acht Uhr Abends sollte er spätestens mit seinem Schutzbefohlnen
»zu Hause« sein. -- -- -- Na das war eine schöne Bescheerung! Und da
setzt sich der Unbesonnene und Verführer noch da vorne ans Pianoforte
und ließ ihn hier schlafen, statt ihn rechtzeitig zu wecken. -- --
Donnerwetter -- und sein Schädel -- es war ihm, als ob ein Dutzend
Teufel darin Steine mahlten. -- So eine Unverschämtheit -- na -- dem
X. wollte er aber schon seine Meinung sagen. -- -- Herr Je -- da saß
ja ein ganz andrer Herr am Pianoforte als X. und -- die Mädels lachten
alle, wie er jetzt in den »Salon« trat.«

»Na -- hab’n Sie denn ausgeschlafen?« frug ihn Röschen schelmisch. »Ei
-- ei -- wer wird so wenig vertragen können!«

»Wo ist denn Herr X.?«

»Der Herr, mit dem Sie kamen? -- Ja -- wir kennen ihn nicht -- der ist
aber schon kurz vor acht Uhr weggegangen, er sagte, wir sollten Sie nur
ruhig schlafen lassen, in dem Zustande, wie Sie wären, könne er sie
nicht mit heimnehmen -- er ginge deshalb allein nach Hause. Sie würden
schon Alles hier bezahlen!«

Wenn schon die ersten Beweise angethan waren, ihn vor Schrecken fast
auf den Rücken zu werfen, so gab unserm guten »Wechseldiener« der
Schluß völlig den Rest.

Er taumelte hinterrücks, bis er einen Stuhl fand, auf den er hilflos
und total vernichtet sank.

»Bezahlen? -- -- Bezahlen?« Er zählte im Geiste seine gesammten
Moneten -- ach -- die langten ja kaum zu einer Portion Wellfleisch im
Gerichtsamt III. »Bezahlen? Bezahlen?«

»Ja freilich! -- Sie haben zusammen 2 Flaschen Champagner ~à~ 4 Thaler,
macht 8 Thaler; 4 Flaschen Wein ~à~ 1½ Thaler, macht 6 Thaler, und
11 Glas Schlummerpunsch ~à~ 8 gute Groschen, zusammen 17 Thaler 20
Neugroschen!«

»Siebzehn Thaler -- -- --« ächzte der plötzlich Entnüchterte, »ja ich
habe ja gar kein Geld!«

Rosa holte, sich das Lachen verbeißend, den Wirth, dem der aus allen
seinen Himmeln Gestürzte seinen Namen und sein Amt sagen mußte.

»Na da geh’n Sie nur«, meinte derselbe, als ihm der Unglückliche
jammernd seine Schicksale berichtete, »hoffentlich bezahlt Herr X.,
sonst muß ich mich freilich an Sie halten.«

Halb betäubt von der Wucht seiner Erfahrungen, wankte der getäuschte
Vertreter der Nemesis ins Gerichtsamt, ach -- um dort zu erfahren wie
sich auch noch seine heimliche Hoffnung darauf, daß X. wenigstens
wieder allein in die Haft zurückgekehrt wäre, als eine trügerische
beweisen sollte. Jetzt erst erkannte er die ganze Größe des ihm
gespielten Streiches und zitterte vor den Folgen desselben. --
Glücklicherweise waren dieselben gelinder als er dachte. X. bezahlte
nicht nur die gemachte Zeche, sondern auch den Wechselgläubiger diesmal
ziemlich schnell und der gute Amtsdiener kam daher mit einer allerdings
»rüsselhaften Nase« davon.

Als er aber dieselbe in devotester Stellung in Empfang genommen hatte
und aus dem Amtszimmer seines Vorgesetzten wieder hinaus auf den
Corridor trat, erhob er alle 10 Finger zum Schwure in die Luft und
gelobte sich feierlich -- nie wieder einem zum Spaziergang ausgeführten
Arrestanten zu trauen -- vor Allem aber nie einem Schauspieler -- »denn
da is mer alle Mal der Gemachte« schloß er stets, wenn er einmal im
Kreise gleichgesinnter Freunde diese seine Abenteuer vortrug.



                                XXVIII.

              Der Verbrechertisch in der »Guten Quelle«.


Nach der gewaltsamen Niederwerfung des Volksaufstandes von 1849 begann
im politischen Leben unseres Vaterlandes eine lange trübe Zeit.

Tod, langjähriges Zuchthaus, freiwillige oder gezwungene Verbannung
traf Diejenigen, welche sich am Aufstand -- sei es mit den Waffen in
der Hand, sei es durch Wort oder Schrift -- betheiligt hatten, und
doch waren unter denselben ein großer Theil, die man zu Deutschlands
besten Männern zählen konnte und welche nur zu den Waffen griffen, um
den Traum von Deutschlands Einheit schon damals zur Wirklichkeit zu
machen. Wie ein Alp lag es damals viele Jahre lang auf den Gemüthern
frei denkender Männer, und selbst die Presse wagte es, angesichts
einer streng gehandhabten Censur, nur ganz schüchtern, die geheimen
Herzenswünsche der Nation dann und wann zum bescheidenen Ausdruck zu
bringen. Indessen schmachteten viele, viele wackere Männer in den
Gefängnissen Deutschlands, und ein Jahrzehnt und darüber verging, ehe
auch ihnen das goldene Licht der Freiheit wieder leuchtete.

Den Männern aber, denen es beschieden war, wenn auch theilweise erst
nach vielen Jahren, nach unendlichen Leiden und harter Kerkerhaft
wieder in das bürgerliche Leben ihrer Heimath und zu den Ihren
zurückzukehren, lohnte das Volk auch mit treuer Verehrung und
Anhänglichkeit, und die deutsche Jugend blickte bewundernd und ihren
Worten achtungsvoll lauschend zu ihnen empor. Ja, jenen Männern war es
zum großen Theile mit zu verdanken, daß die Ideale der deutschen Nation
nicht verblaßten, sondern immer gewaltiger anwuchsen, bis -- freilich
erst nach hartem Ringen und aus einem Meere von Blut -- endlich diese
Ideale sich verkörperten und der deutsche Aar siegreich emporstieg, das
neue deutsche Reich erstand.

Es ist natürlich, daß sich diese Männer in ihren Wohnorten meist
gesellig zusammenfanden, um ihre Erinnerungen gegenseitig auszutauschen
und gemeinschaftlich von einer freundlicheren Zukunft zu plaudern.

Auch in unserm Leipzig fand sich im Anfang der sechziger Jahre ein
solcher Kreis von Gesinnungs-Genossen und Leidensgefährten zusammen,
und sowohl der weitberühmte Gelehrte, wie der einfache Mann des
Handwerks war darin vertreten. Groß war der Kreis nicht, denn gar viele
»Begnadigte« hatten doch noch eine neue Heimath jenseits des Meeres
gesucht; aber er hielt treu zusammen und war unter dem Namen »_der
Verbrechertisch in der guten Quelle_« männiglich gar wohl bekannt.

Damals wirthschaftete der bei allen alten Leipzigern gar
beliebte »Vater Grun« in dem noch jetzt bestehenden großen
Restaurations-Etablissement, und bei ihm, dem selbst durch und durch
deutsch gesinnten Manne, fanden auch jene so lange Geächteten ihr
dauerndes freundliches Heim.

Gleich links vom Eingang ins Local war eine nischenartige Ecke, so
recht geschaffen für eine trauliche Tafelrunde; an den beiden Wänden
befanden sich Bänke mit Ledersitzen, vorn herum hochlehnige Stühle und
in der Mitte ein großer runder Tisch. Das war der »Verbrechertisch« in
der »Guten Quelle«. Wer pflegte nun dort zu sitzen? Da war zunächst
_Roßmäßler_, mit dem feinen durchgeistigten Gesicht und dem langen
schneeweißen Vollbart, Professor der Naturgeschichte an der Akademie
zu Tharandt, gediegener und äußerst fruchtbarer Schriftsteller auf
diesem Gebiete und ebenso bekannt als Volksschriftsteller der
damaligen freisinnigen Richtung, ferner 1848 Mitglied des Frankfurter
Parlamentes und nahm auch am Rumpfparlament zu Stuttgart Theil.
Wegen dieses letzteren Schrittes seines Amtes entsetzt, lebte er
von da an in Leipzig, wo er 1806 geboren war, bis zu seinem bereits
1867 erfolgten Tode. Sein Platz am Verbrechertisch war zugleich
der Ehrensitz, hinten an der Wand und ihm als Aeltestem von den
Anderen zugetheilt worden. Den Platz neben ihm hatte ein anderer
Weißkopf inne, dessen mildes freundliches Angesicht vorzüglich
alle Kinderherzen sofort zu ihm hinzog. Es war der Dichter und
Schriftsteller _Friedrich Hofmann_, damals als langjähriger Mitarbeiter
und Redacteur der »Gartenlaube« männiglich als »Gartenlauben-Hofmann«
bekannt, allen Kinderfreunden aber durch seine herzigen Kinderlieder
unvergeßlich. Links von Professor Roßmäßler saßen zwei Männer, die
sich so ähnlich sahen, daß man sie sofort als Brüder erkannte. Es
waren die _Gebrüder Dolge_. Beide hatten sich am Aufstand, mit der
Waffe in der Hand, betheiligt; während aber die Strafe des einen
Moritz Dolge (später Schnittwaarenhändler zu Leipzig, außerdem viele
Jahre Mitglied des Stadtverordneten-Collegiums und des Direktoriums
des damaligen Vorschußvereins, der jetzigen Creditbank) † 1872 in
Leipzig, verhältnißmäßig mild ausfiel, brachte der ältere Bruder August
Dolge viele Jahre im Zuchthause zu Waldheim zu. Beide, ursprünglich
einfache Handwerksgesellen, waren hochintelligente Leute. August
Dolge, seines Zeichens Tischler und Instrumentenbauer, wurde, als am
Aufstand betheiligter Kriegsreservist gefangen, ließ sich aus seiner
Zelle im Schloß Pleißenburg an einer Leine herab, um zu entfliehen.
Leider riß aber der Strick in der Höhe von zwei Stockwerken und Dolge
stürzte in der Gegend, wo jetzt die beiden Getreidethürme stehen,
also am Ausgang der Pleißenburg nach der Burgstraße zu, herab auf das
Straßenpflaster und brach hierbei ein Bein. Hierauf wieder gefangen,
wurde er erst zum Tode verurteilt und brachte dann lange Jahre im
Zuchthaus zu. Zu Anfang der sechziger Jahre endlich begnadigt, schwang
er sich lediglich durch eigene Energie und Thatkraft zum bedeutenden
Pianofortefabrikanten und Chef eines Welthauses dieser Branche in die
Höhe. Er ging später nach Nordamerika, wo seine Fabrikanlagen einen
solchen Umfang angenommen haben, daß dieselben zu einer besonderen
Stadt anwuchsen, welche nach dem Gründer »Dolgeville« heißt und
lebt noch jetzt daselbst. Er hat aber Alt-Leipzig eine gar treue
Anhänglichkeit bewahrt, denn trotz seines hohen Alters kommt er alle
paar Jahre einmal von Drüben herüber zum Besuch und ist denn stets
ein hochgefeierter Gast der hiesigen Insulanerriege (auf welche wir
später in einem besonderen Artikel noch zurückkommen werden). Der
frühere braune Bär »August« sowohl, der im zoologischen Garten seinen
eigenen Käfig hatte, wie auch der jetzige August, dessen Ersatzmann --
sind Geschenke Dolge’s an die Insulanerriege, welche ihrerseits diese
Geschenke dem zoologischen Garten übergaben.

[Illustration:
 Benseler. Würkert.  M. Dolge.  A. Dolge. Roßmäßler. Hofmann. Albrecht.

Der Verbrechertisch in der »Guten Quelle«.

 Grumbach.      Bock.      Keil.      Oelkers.
]

Nicht so regelmäßig wie die Anderen erschien als Gast des
»Verbrechertisches« im Anfang der sechziger Jahre häufig ein langer,
blasser Mann, dessen gebeugte, hagere Statur, verbunden mit dem tiefes
Seelenleiden verrathenden, fast bartlosen Angesicht, das sich erst
im Laufe der Alles nivellirenden Zeit wieder etwas rundete, auch
körperliche Leiden verriethen; als vollberechtigtes Mitglied jener
Tafelrunde. Es war der frühere Pastor von Mittweida, in Sachsen,
Ludwig Würkert. Jeder Zoll ein hochbegeisterter Anhänger der deutschen
Einheitsidee, hatte er bei Beginn des Aufstandes mit Wort und Schrift
die Sache des Volkes ergriffen und feuerte sogar von der Kanzel herab
die Männer und Jünglinge des Gebirges an, für diese Ideen in den
Kampf zu ziehen. Viele, viele Jahre, mehr als zehn, brachte er dafür
im Zuchthaus zu, und als er dasselbe endlich als Begnadigter wieder
verließ, da war er nicht blos ein gebrochener, sondern auch von den
Seinen verlassener Mann. Seine Frau hatte sich von ihm scheiden lassen,
seine Kinder hatten ihn verlassen. Aber seine alten Gefährten ließen
ihn nicht im Stich.

Mit ihrer Hilfe pachtete er das in der Klostergasse liegende Hotel de
Saxe, und die freien Vorträge, welche alsbald Ludwig Würkert, hier
zugleich Volksredner, Volkslehrer und Gastwirth, jede Woche an einem
oder mehreren Abenden hielt, zogen Tausende von deutschgesinnten
Gästen aller Altersclassen und aller Stände herbei, und an solchen
Abenden war der Saal des Etablissements mit allen Nebenräumen stets bis
auf den letzten Platz gefüllt. Da saß der einfache Handwerker neben
dem Gelehrten, der Großkaufmann neben dem Studenten, und lauschten
den begeisterten Worten, welche jener Vielgeprüfte da oben auf der
kanzelartigen Erhöhung der Saaltreppe sprach.

Nur wenige Jahre wirkte hier Würkert in seiner doppelten Eigenschaft
als Gastgeber und Volksredner. Als ihm aber dann die Stellung eines
Geistlichen einer freien Gemeinde (der freireligiösen Gemeinde in
Hanau) geboten wurde, da gab er, obwohl seine jetzige Stellung sicher
lucrativer war, diese ohne Zögern auf und nahm die immerhin nur
bescheidene neue Stellung an. Nebenbei gab er dann noch die Zeitschrift
»Freie Glocken« heraus. Er hatte aber doch in Alt-Leipzig nicht nur
seinen ersten neuen Wirkungskreis, sondern auch ein neues Heim und eine
andere treue Gattin gefunden. Ludwig Würkert starb 1876 am Schlagfluß
in Leisnig, wo er zuletzt privatisirte, am Abend vor dem Tage, an
dem er eine Gefängnißstrafe wegen Preßvergehens antreten sollte. Sein
Begräbniß hatte zahllose Leute herbeigezogen und als der die Grabrede
haltende freireligiöse Geistliche unter anderm sprach: »Würkert ist
nicht gestorben -- Würkert lebt noch« verstanden Viele »Würkert lebe
hoch« und stimmten lebhaft in diesen Hochruf auf den Todten mit ein.
Schade, daß er dieses letzte Hoch nicht mehr gehört hat.

Die Mitglieder des »Verbrechertisches« theilten sich in sogenannte
»seßhafte« (solche die eben wirklich gesessen oder doch für ihre
freisinnigen Handlungen und Worte gebüßt hatten) und »zugelassne«
Mitglieder. Unter den »seßhaften« sind außer den bereits verzeichneten
noch folgende zu nennen: Professor Benseler, Professor Raschig, Advokat
Segnitz † 1873, Theodor Oelkers † 1869, Korbmacher Vieweg † 1871,
Magister Naundorf, Buchhändler Ludwig Schreck (floh, steckbrieflich
verfolgt, nach Frankreich, kehrte in den 60er Jahren zurück) †
1868, Dr. Burkhardt, Buchdrucker Grumbach, Louis Lindner (der lange
Lindner), war Seminarlehrer in Grimma. Derselbe weigerte sich bei
einem Zweckessen auf des Königs Wohl anzustoßen. Angezeigt, sagte
er naiv: Der König hat das Frankfurter Parlament anerkannt, dann
aber die Reichsverfassung nicht -- ich kann also nicht auf sein Wohl
trinken. Hierauf ward er eingesperrt, abgesetzt und schrieb nachher
ans Ministerium einen viele Seiten langen Protest. Die letzte Seite
hiervon hatte er schwarz umrahmt und da stand: »Ich behalte mir mein
Recht vor bis zu der Zeit -- wo in Sachsen wieder Gerechtigkeit
gilt!« -- Wahrscheinlich hielt ihn Beust für närrisch, es erfolgte
wenigstens hierauf kein neues Vorgehen gegen ihn! Er lebte in Leipzig
von Berichterstattung, Correkturen, hielt unermüdlich und unentgeltlich
Vorträge über Geschichte in Arbeiterkreisen, war der treueste, beste
Mensch und Freund (irren wir nicht verwandt mit L. Otto -- Peters) †
1891. Redacteur Aug. Peters † 1860. Als dieser starb, warf Würkert,
da er am Grabe nicht länger sprechen durfte, drei Hände voll Erde
ins Grab. Bei dem ersten Wurfe sprach er feierlich: »Dresden«, beim
zweiten Wurfe: »Bruchsal« (hier saß Peters jahrelang im Zuchthaus),
beim dritten Wurfe: »Waldheim« (hier hatte Würkert im Zuchthaus
gesessen) -- weiter sagte er nichts -- aber der Eindruck dieser drei
Worte war bei Allen ein erschütternder und -- der letzte noch in
Europa lebende: ~Dr.~ Karl Albrecht, der jetzt in Freiburg in Baden
weilt und dem Verfasser viele Mittheilungen über den Verbrechertisch
und seine Mitglieder, so weit sie Verfasser nicht persönlich gekannt
hat, verdankt. ~Dr.~ Karl Albrecht ist ein Leipziger Kind und am
4./4. 1823 im »Pelikan« (jetzt ebenfalls einem Neubau gewichen) am
Neumarkt geboren. In weiten Kreisen bekannt als Lehrer, Schriftsteller
und einer der ältesten Stenographen (Gabelsberg) gerieth auch er,
begeistert für Deutschlands Wiedergeburt, in das Fahrwasser der
Revolution 1848/49 und trat persönlich und schriftlich für seine Ideale
ein. Langjähriges Gefängniß war auch sein Lohn. Außer ihm lebt nur noch
ein seßhaftes Mitglied des »Verbrechertisches« -- eben der bereits
genannte August Dolge in Dolgeville in Nordamerika. Alle Vorstehenden
waren _seßhafte_ Mitglieder und viele derselben erst zum Tode
verurtheilt und dann zu langjährigem Zuchthaus begnadigt worden. Als
_Gäste_ wurden am Verbrechertisch zugelassen: ~Dr. med.~ Heyner, ~Dr.~
Apel † 1867, Schriftsteller Wartenburg † 1889, Ernst Keil † 1878, Prof.
Bock † 1874. Letzterer wurde, obwohl er »_nie gesessen_«, an dem Tisch
zugelassen, »_weil er wenigstens alle Tage werth gewesen wäre, ins
Zuchthaus zu kommen_«. (Formel seiner Zulassung zum Verbrechertisch.)
Beim Turnfest 1863 war auch _Fritz Reuter_ Gast am Verbrechertisch und
hielt an einem Abend eine Ansprache an die Anwesenden.

Die jetzige Generation, welche nun bereits seit vielen Jahren mit
der Thatsache eines geeinten Deutschlands und des wiedererstandenen
Kaiserreiches rechnet, vermöchte es wohl nur schwer, sich in jene Zeit
politischer Zerrissenheit unseres Vaterlandes zurückzudenken. Die
Ideale des nach der Einigkeit der deutschen Stämme strebenden Volkes
waren mit dem Niederschlagen der Bewegung 1848 und 1849 wohl eingedämmt
und momentan zu Boden geschlagen worden, aber sie lebten dennoch fort
und zwar nicht zum Wenigsten in den Herzen der deutschen Jugend, und am
Anfang der sechziger Jahre, als auch die politische Luft wieder etwas
milder wehte, da griff die Bewegung so allgemein um sich, dabei aber
streng auf dem gesetzlichen Boden bleibend, daß auch die Regierungen
der einzelnen Staaten sich schließlich derselben auf die Dauer nicht
mehr zu entziehen vermochten und derselben nachgaben.

Die Turner-, Sänger- und, nicht zu vergessen, die Schützenvereine,
letztere in hochherziger Weise in allen ihren Bestrebungen stets
unterstützt durch einen echt deutsch fühlenden Fürsten, den erst jüngst
verstorbenen Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha, waren es, welche
auf großen nationalen Festen, wie sie seit jener Zeit Deutschland nie
wieder gesehen hat, das deutsche Banner aufs Neue entfalteten und
hochhielten. Alle Stämme deutscher Nation strömten auf diesen Festen
zusammen und höher als jemals flammte der deutsche Patriotismus im
gesammten Volke auf. Wohl haben auch wir Leipziger seit jener Zeit hohe
patriotische Feste gefeiert -- aber wer von den Bewohnern das dritte
deutsche Turnerfest in Leipzig 1863 mit erlebt hat, der muß sagen, daß
alle diese Feste nur ein schwacher Abglanz jenes für alle Theilnehmer
unvergeßlichen Festes geblieben sind. Und die Folgen dieser Tage
blieben nicht aus. Mit dem noch in demselben Jahre erfolgten Einmarsch
der deutschen Executionstruppen in Holstein eröffnete sich jene Reihe
von Kämpfen und Ereignissen, welche das deutsche Volk endlich zum
erwünschten Ziele führen sollten.

Damals wurde der »Verbrechertisch« in der Guten Quelle zum Centralpunct
des national gesinnten Leipzigs.

Vater Grun sorgte dafür, daß hier die eingehenden Depeschen stets
zuerst eingesehen werden konnten, und waren dies besonders wichtige,
so erhob sich ein Mitglied des »Verbrechertisches«, um dieselben
vorzulesen. Schon das Erheben des Betreffenden von seinem Sitze
genügte, um unter den vielen Hunderten der in dem großen Local
Versammelten sofort die tiefste Stille eintreten zu lassen. Und dann
fügte wohl der Vorleser dem Telegramm einige patriotische Worte hinzu,
denen wir jungen Leute begeistert lauschten, indem wir uns gelobten
treu mit zu arbeiten an dem großen nationalen Werke, soviel es mit
unsern geringen Kräften nur irgend möglich sei.

So kam 1866 und so kam 1870. Vater Roßmäßler war freilich schon
schlafen gegangen und ruhte aus von des Lebens Kämpfen und vielen
Enttäuschungen, aber die Anderen hielten treu zusammen, und als die
deutschen Stämme aufs Neue die Kriegsfahne entrollten, da sammelte
sich ein großer Theil der zur Fahne Eilenden ein letztes Mal vor dem
Ausmarsch in jenen Hallen, und wieder erschollen erhebende Worte
von den Männern jener hochverehrten Tafelrunde. Höher und höher
schlugen an jenem unvergeßlichen Abend die patriotischen Wogen, und
als ein Leipziger Blatt es damals wagte, (Sächsische Zeitung), in
particularistisch-antideutschem, franzosenfreundlichen Sinne einen
Leitartikel zu bringen, da zog eine große Schaar Einberufener vor das
Haus jenes Redacteurs und warf daselbst die Fenster ein. Gewiß, das war
keine Heldenthat, und das Thun derselben war wohl kaum zu billigen,
aber dennoch waren unter jenen jungen Leuten die besten Volksclassen
vertreten und viele von ihnen, viele, viele, haben durch ihren Tod auf
dem Felde der Ehre oder schwere Verwundung und tapferen Kampf bewiesen,
daß es ihnen mit ihrem feurigen Eifer für Deutschlands Geschick auch
heiliger Ernst war.

Aber auch während wir draußen im Felde waren, blieb der
»Verbrechertisch« der Centralpunct der patriotischen Leipziger
Bevölkerung. Wie strahlten die Mienen der Alten, wenn sie dem reich
versammelten Auditorium wieder eine neue Siegesdepesche vorlesen
konnten! Vergessen waren dann alle früheren trüben Zeiten, und freudig
stimmten sie in die patriotischen Gesänge der Anderen ein.

So erlebten noch Viele von jener Tafelrunde das Wiedererstehen des
Deutschen Reichs. Dann aber lichtete sich der Kreis allmälig mehr und
mehr. Einer nach dem Andern ging zur ewigen Ruhe, Andere wandten sich
weg von Leipzig, und auch Vater Grun, der alte treue Gastgeber jener
Tafelrunde, machte sich auf zum Marsche in das himmlische Dorado.

Die leichtgeschürzte Muse hat jetzt in jenen Räumen ihr Standquartier
aufgeschlagen, und in derselben Ecke, in der einst jener denkwürdige
Tisch stand, sitzt jetzt vielleicht Abends ein angehendes junges Braut-
oder Liebespärchen und beklatscht freudig die Witze irgend eines
Komikers. So ändern sich die Zeiten!



                                 XXIX.

                          Allerlei Chronika.


[Sidenote: Augustusplatz.]

Anno 1861 im Frühjahr wurden die Promenaden hinter dem Museum angelegt,
auch neue Bänke statt der früheren alten Latten- oder steinernen Bänke
für die Spaziergänger aufgestellt.

[Sidenote: Roßplatz.]

Nach der Messe zu Ostern, wurde ein Theil des Roßplatzes planirt und
mehr ebner gemacht als bisher, wobei man viele Skelette kaum eine Elle
tief in der Erde fand; aus den Ausrüstungsgegenständen, Knöpfen und
Uniformüberresten, welche gleichzeitig mit zu Tage kamen, erkannte man,
daß die Beerdigten meist der russischen Garde angehört hatten.

[Sidenote: Hirsch erlegt.]

Am 27. September schoß der damalige Burgkellerwirth Herr Trietschler
in der Burgaue bei Böhlitz-Ehrenberg einen starken Hirsch im Gewicht
von 288 Pfd. Es wird dies wohl der letzte Hirsch gewesen sein, der in
unseren Rathshölzern geschossen worden ist. Einige Tage darauf wurde
derselbe unter großem Zulauf im Hofe des Burgkellers öffentlich zur
Schau aufgehängt und dann in einer solennen Festlichkeit verzehrt.

[Sidenote: Pfähle und Ketten.]

Anno 1861 wurden auch die steinernen weißangestrichenen Pfähle vor
Teubners Haus am Augustusplatz, welche früher durch Ketten verbunden
waren, entfernt. (Es waren diese Pfähle bei den Herren Jungen sehr
beliebte Voltigirgegenstände.)

[Sidenote: Rundtheile.]

Im Spät-Sommer wurden die mit Gras bewachsenen und von einigen Büschen
umsäumten sogenannten Rundtheile vom Augustusplatz entfernt, Theile
des Fleischerplatzes planirt, sowie die Promenaden an der Thomaspforte
verändert.

[Sidenote: Gewerbefreiheit.]

Anno 1862 am 1. Januar trat im Königreich Sachsen die Gewerbefreiheit
in Kraft, welche insofern für viele Handels- und Gewerbetreibende von
hoher Wichtigkeit war, als mit ihr zugleich das Gesetz fiel, welches
bis dahin den Juden verbot, auch außer den Messen in Leipzig frei
Handel zu treiben, oder Grundbesitz zu erwerben. -- Die einzelnen
Gewerbe, fast sämmtlich in Innungen mit uralten und streng gehandhabten
Gesetzen, wachten peinlich darüber, daß nicht das Mitglied eines
andern Gewerbes etwas that, anfertigte oder verkaufte, welches in den
Gewerbebetrieb nur des Einen gehörte. Kein Herrenschneider durfte
Damensachen anfertigen und umgedreht und oft ging ein Gegenstand bis zu
seiner vollständigen Fertigstellung durch eine ganze Menge einzelner
an sich verschiedener Gewerke, weil eben jeder nur seinen Theil
daran machen durfte. Manche harte, aber auf der andern Seite wieder
wohlweise Einrichtungen und Gesetze über das Meisterwerden und den
ganzen Geschäftsbetrieb fielen mit einem Schlage, denn während früher
nur so viele Meister in einer Stadt ihr Gewerbe betreiben durften,
als auch voraussichtlich daselbst ihre gute Nahrung hatten, konnte
sich nun -- sogar ohne das Meisterstück zu machen, ja ohne überhaupt
das betreffende Handwerk erlernt zu haben, Jedermann etabliren. Daß
natürlich insbesondere die alten Meister, welche damals sämmtlich
ihre gute Existenz hatten und nun Alles aufbieten mußten, um der sich
mächtig entwickelnden Concurrenz entgegenzuarbeiten, sehr über die
neue Einrichtung räsonnierten, ist natürlich. Die Gewerbefreiheit ist
aber auch, trotz ihres Namens bis zum heutigen Tage, wo noch Anwalts-
und Apothekenzwang existieren, eine niemals vollkommene, ihren Namen
thatsächlich entsprechende gewesen und ihr Segen daher noch immer ein
fraglicher.

[Sidenote: Turnfest.]

Anno 1863 fand in der Zeit vom 2. bis 6. August unter kolossaler
Betheiligung aus ganz Deutschland das 3. deutsche Turnfest in Leipzig
statt. (S. No. XXXI.)



                                 XXX.

        Die politische Lage Deutschlands zu Ende der fünfziger,
         bis Mitte der sechsziger Jahre des 19. Jahrhunderts.


Auf die gewaltsame Niederwerfung des Aufstandes 1848/49 folgte mehr
als ein Jahrzehnt der starren Reaktion. Gerade diejenigen Männer,
welche Amt und Würden, Stellung und Vermögen daran gesetzt hatten,
das deutsche Reich wieder zu einem wahrhaft geeinten, geschlossnen
Ganzen zu machen, fielen als Opfer ihrer nationalen Bestrebungen.
Tod und langjähriges Gefängniß bis zur Zuchthausstrafe des gemeinen
Verbrechers, oder im günstigeren Falle freiwillige oder erzwungene
Verbannung war ihr Loos. Noch bis weit in die fünfziger Jahre hinein
dauerten Verhaftungen und Verurteilungen politisch Gravirter fort und
die unter der Zuchtruthe einer harten Censur stehenden Zeitungen,
die in ihren Spalten oft die Steckbriefe auf ihre eignen früheren
Mitarbeiter bringen mußten, seufzten lange unter dem bestehenden
Druck und vermieden politische Erörterungen wo sie es nur vermochten.
Die Turnvereine, mit Recht als die jederzeitigen feurigen Träger
des nationalen Gedankens betrachtet, aber durchaus fälschlich als
»_demokratisch_« gesinnt verdächtigt, wurden scharf beobachtet
und wo es nur ging in ihrer Entwicklung gehemmt; Servilismus und
kriechendes Streberthum, Frömmelei und politische Heuchelei waren an
der Tagesordnung. -- -- --

Und doch -- trotz all diesen Hindernissen, vermochte man wohl den
nationalen Funken zu unterdrücken, aber nicht zu verlöschen und obwohl
er eben unterdrückt wurde, wo es nur anging -- in der Presse wie im
Lehrstuhl -- so loderte er doch immer wieder hoch empor, in den Festen,
welche das deutsche Volk, aus allen Gauen nach einem Central-Punkte
zusammenströmend, zusammen feierte und bei welchen die Ideale der
deutschen Nation immer und immer wieder zum unverhohlenen Ausdruck
kamen. -- --

Jetzt wo seit bereits einem viertel Jahrhundert die schon damals
geforderten Ziele zum allergrößten Theile erreicht sind, vermögen
sich die jetzt lebenden Generationen wohl nur schwer in die damaligen
Verhältnisse zurückzuversetzen und -- viele der Aelteren haben
unter den politischen Erfolgen der Neuzeit die Misere jener Tage
längst vergessen, oder standen den Weltereignissen schon damals so
gleichgiltig gegenüber, wie sie es jetzt -- nach der Neu-Errichtung
des deutschen Reiches wieder thun. Ja -- es giebt nicht Wenige, welche
nur zu sehr geneigt sind -- im Bewußtsein der jetzigen politischen
Macht des geeinten Deutschlands -- auf jene Tage mit spöttischer
Ueberlegenheit zurückzublicken, dabei aber ganz vergessend, daß --
wenn sich nicht eben das Volk, vor Allem aber die damalige Jugend in
_allen_ deutschen Gauen ihrer nationalen Ziele voll und ganz bewußt
und fest entschlossen gewesen wäre, für dieselben mit Gut und Blut
einzustehen -- wohl schwerlich Deutschlands Fürsten diesem wahrhaft
inneren und unaufhaltsamen Drange der Nation nachgegeben hätten.
Daß diese opferfreudige Begeisterung des damaligen Jungdeutschlands
aber eine unmittelbare Folge der Jahre 1848/9 war und deshalb auch
jenes Blut nicht vergeblich geflossen ist, ist eine unbestreitbare
Thatsache, und nachdem die ärgste Zeit der Reaktion vorüber war,
wurden auch die berechtigten Forderungen des Volkes aufs Neue
immer und immer wieder laut. Im Anfange der sechsziger Jahre aber,
als sich auch für die politisch stark Gravirten von 1848/9 die
Gefängnisse wieder öffneten und viele Begnadigte aus dem Exil wieder
in die Heimath zurückkehrten, unverrückt die Ziele und Ideale der
eignen Jugend im Auge behaltend, da ging die politische Entwicklung
Deutschlands mit Riesenschritten vorwärts. -- -- Betrachtet man die
damalige politische Lage der deutschen Einzelstaaten, so sah man
überall nur unerquickliche Verhältnisse. In Oesterreich -- wo nicht
blos in dessen deutschen Staaten, sondern auch in Ungarn mächtige
Kämpfe nothwendig gewesen waren, um die Autorität der Regierung
aufrecht zu erhalten, herrschte ein noch viel schwererer Druck wie
im übrigen Deutschland. Magyaren- und Deutschthum befanden sich
im schroffsten Gegensatze, die Gefängnisse überfüllt, nirgends
Vertrauen, dazu die neuen Schläge im Kriege gegen Frankreich und
Piemont 1859, die Finanzen nahe am Staatsbankrott, dabei fortwährende
Häkelei und nie endende Eifersüchtelei auf den zweiten deutschen
Großstaat Preußen. In Baden noch weit- und tiefgehende Nachwirkungen
des dortigen großen Aufstandes, denen sich ein großer Theil des
dortigen Militärs angeschlossen hatte. Nicht viel besser war es in
den übrigen süddeutschen Staaten. In Preußen, wo eben König Wilhelm
den Thron bestiegen hatte, in dem das Volk, verstimmt durch manche
seiner früheren Erklärungen zur Zeit der Volkserhebung, nicht seinen
späteren ruhmreichsten und erhabendsten Fürsten ahnte, bereiteten
sich die harten Kämpfe zwischen Regierung und Volksvertretung vor;
in Sachsen liebäugelte Beust mit dem Liberalismus, ohne aber mit
offnen Karten zu spielen, in Hessen seufzte das Volk unter seinen
Kurfürsten; die größeren Staaten untereinander eifersüchtig und
uneinig, die kleineren Staaten bald hier bald dorthin schwankend,
aber stets auf ihre Selbstständigkeit pochend, zehnerlei Geld aus
hunderterlei Staatsbanken, bis ins Kleinste tiefe Zerrissenheit, dazu
das Schmerzenskind der deutschen Nation, Schleswig-Holstein -- fürwahr
-- die gesammten politischen Verhältnisse waren sehr traurige zu
nennen und die Hoffnung auf eine Besserung derselben lag -- wenigstens
scheinbar -- noch im weiten Felde.

Da war es denn kein Wunder, daß sich die Augen aller wahrhaften
Vaterlandsfreunde vertrauend und hoffend auf einen Fürsten richteten,
der, obschon nur Herrscher eines kleinen deutschen Staates, doch durch
hunderterlei Züge bewiesen hatte, daß er in Wahrheit ein Fürst mit echt
deutschen Gesinnungen sei, bereit, jederzeit für deutsch nationale
Bestrebungen in die Schranken zu treten und dieselben zu stützen und zu
schützen, so viel es nur irgend in seiner, freilich sehr beschränkten
Macht stand.

Es war dies der erst vor Kurzem in hohem Alter und gesegnet von seinem
ganzen Lande und Millionen anderer Deutscher gestorbene Herzog Ernst
II. von Sachsen-Coburg-Gotha.

Er war es, unter dessen Augen und mit dessen Bewilligung und
entgegenkommender Theilnahme das erste deutsche Turnfest 1860 in Coburg
stattfand, der diesen Festen seine besondere Aufmerksamkeit widmete und
sehr wohl erkannte, wie sich auf diesen Festen die besten und national
gesinntesten Männer Deutschlands persönlich näher traten und der diese
Zwecke in wahrhaft fürstlicher, großherzigster Weise begünstigte und
förderte. Offen bekannte er seine Sympathieen für die deutsch-nationale
Bewegung und so kam es, daß in den sogenannten Sturmjahren 1848/49
sein Land von jeder aufständischen Bewegung verschont blieb.

»Schützen-Ernst« haben ihn, den wahrhaft deutschen Fürsten, später
oft und spöttisch Viele genannt, welche entweder unfähig waren,
die Tragweite jener Volksverbrüderungen auf den ersten Turner- und
Schützenfesten zu erkennen oder böswillig genug, um den hervorragenden
Antheil, den Herzog Ernst an der endlichen Wiedergeburt des deutschen
Reiches hat, zu verringern. Wohl wird auch jetzt noch bei den mehr
prunkhaft glänzenden, als politisch werthvollen Festen der neueren Zeit
der Patriotismus gefeiert, aber -- welch schwachen Abglanz dieselben
jetzt, gegen die früheren, von der Sehnsucht und dem Gefühl der
allgemeinen Zusammengehörigkeit getragenen Feste, bilden -- nun -- die
jetzige Generation mag und kann dies vielleicht nicht begreifen, aber
die -- welche einst inmitten derselben standen, die jene Zeiten der
kläglichen Zerrissenheit Deutschlands noch als Männer gekannt und jene
erhebenden Feste mitgefeiert haben, die kennen den Unterschied zwischen
damals und jetzt genau und mit ihm auch die großartige Bedeutung dieser
Feste selbst. Meldeten sich doch im Herbst 1863 als es hieß, Herzog
Ernst beabsichtige mit einem Heere Freiwilliger gegen Dänemark zu
ziehen, um Schleswig-Holstein zu befreien, binnen wenig Tagen viele
Tausende junger Leute aller Stände, und wieder waren es die Turnhallen,
in denen diese Contingente ihren Sammelplatz fanden. Aber es kam nicht
so weit, denn als man sah, daß man dem Drängen des Volkes um Abhilfe
jenes Zwitterzustandes in den Herzogthümern nicht länger widerstehen
konnte, da raffte sich endlich der deutsche Bund zusammen, schon zu
Weihnachten 1863 rückten Sachsens und Hannovers Executionstruppen in
Schleswig-Holstein ein und die erste Serie jener blutigen Kämpfe von
1864, 66, 70 und 71 nahm ihren Anfang.



                                 XXXI.

    Das 3. deutsche Turnfest zu Leipzig vom 2. bis 6. August 1863.


Vom Rathhausdurchgang links ist in der Mauer unsres altehrwürdigen
Rathhauses eine einfache Steinplatte in die Wand gelassen, welche
die ebenso einfache Inschrift »Zur Erinnerung an das 3. deutsche
Turnfest zu Leipzig vom 2.-6. August 1863« trägt und welche der Stadt
Leipzig von der gesammten deutschen Turnerschaft als Dank für ihre
Gastfreundschaft in jenen Tagen, als dies bis jetzt unübertroffene,
erhabendste und großartigste aller wahrhaft deutschen Feste stattfand,
gewidmet worden ist. Viele Tausende gehen täglich gleichgiltig an jener
einfachen Gedenktafel vorüber, ohne auf sie zu achten oder allenfalls
flüchtig den Blick über dieselbe gleiten zu lassen; noch andere lächeln
beim Lesen der Inschrift fast mitleidig -- »1863 -- ach das ist ja
lange her -- eine längst vergessene Zeit -- Kindereien damals --
politische Spielereien -- da lobe ich mir doch das stolze Siegesdenkmal
-- -- --.« Aber es bleibt doch auch zuweilen einer oder der andere
hier stehen, denen man allerdings ansieht, daß er im Herbst oder im
Winter des Lebens steht, sinnend betrachtet auch er die unscheinbare
Tafel und auch er lächelt; aber dieses Lächeln verklärt sein alterndes
Angesicht und noch lange, während er weiter dahinschreitet, gedenkt
er jenes größten und deutschesten aller Feste, jener herrlichen Tage
voll glühender Begeisterung, in denen die Bewohner Leipzigs und der
Umgegend vom Palast bis zur kleinsten und ärmlichsten Behausung
gleichsam aufgingen in dem Bestreben, eine Gastfreundschaft und eine so
herzlich warme Theilnahme am ganzen Fest zu bieten, wie dieselbe in
der Geschichte aller früheren oder späteren deutsch-nationalen Feste
nie wieder geboten und nie wieder erreicht worden ist.

Schon zum 1. deutschen Turnfest zu Coburg 1860 hatten sich, freudig
empfangen von Fürst und Land daselbst, einige Tausende deutscher
Turner zusammengefunden, und als 1861 das 2. deutsche Turnfest in
Berlin stattfand, stieg die Anzahl derselben auf etwa 4000. In
Berlin wurde nun zunächst Nürnberg zur Feier des 3. dieser Feste
für 1863 ins Auge gefaßt, allein man entschied sich schließlich für
das besser im Centralpunkt von Deutschland liegende Leipzig und die
durchaus national und hochpatriotisch gesinnten Oberhäupter der
Stadt, der unvergeßliche Oberbürgermeister ~Dr.~ Koch und der ebenso
patriotische Polizeidirektor ~Dr.~ Rüder nahmen die Entscheidung für
Leipzig freudig und mit opferwilliger Begeisterung auf. Wir haben
im vorstehenden Artikel die damalige politische Lage, wenn auch nur
flüchtig geschildert. Die starre Reaktion der fünfziger Jahre hatte
nachgelassen und das deutsche Volk drängte zur Klärung der politischen
Lage, aber noch immer mußte sich die Presse an vielen Orten Zügel
anlegen, noch immer gab es Regierungen, welche die sich mehr und mehr
entfaltende Volksbewegung mißtrauisch betrachteten -- da tönte der
Ruf des Comités der deutschen Turnerschaft durch ganz Deutschland
und bis in die entferntesten Winkel des Landes begann ein Rüsten und
Organisiren, um diesem Rufe in ungeahnter Weise Folge zu leisten. Was
nützte es Dänemark, daß es seinen Schleswig-Holstein’schen Turnern
geradezu verbot nach Leipzig zu gehen? Zu Hunderten -- als Geschäfts-
und als Vergnügungsreisende, als Handwerksburschen, angeblich für die
Wanderschaft ausgerüstet, gingen diese Turner und mit ihnen Hunderte
Anderer über die Grenze, die Fahnentücher wurden in Ränzel verpackt
und erst jenseits der Grenze fand man sich zusammen, um in Leipzig
auch die Schleswig-Holstein’schen Fahnen, freilich mit dem Trauerflor
beschattet, vor den übrigen deutschen Brüdern zu entrollen.

Indeß rüstete sich die Feststadt in wahrhaft großartiger Weise
zur würdigsten Begehung des Festes. Hochherzig, alle kleinlichen
Bedenken bei Seite schlagend, bewilligten Rath und Polizeidirektion
das Anerbieten der Turnerfeuerwehr, ihr allein den gesammten
Festpolizeidienst anzuvertrauen, und so geschah das für jene Zeiten
doppelt unmöglich Gehaltene, Unerwartete, daß zu einem Feste, welches
eine volle Woche dauerte und an welchem Hunderttausende sich in Leipzig
zusammenfanden, kein uniformirter Polizist oder Gendarm zu sehen war.
Das Wort König August des Gerechten von Sachsen »Vertrauen erweckt
Vertrauen« bewährte sich denn auch hier im glänzendsten Maaße, denn
die Behörden hatten in keiner Weise ihr Vertrauen zum deutschen Volk
zu bereuen, auch nicht der geringste Mißklang störte die allgemeine
Harmonie, trotz der tausendfach verschiednen Zusammensetzung der
theilnehmenden Elemente.

Wie bereits bemerkt, hatte Leipzig Anfangs an Nürnberg, dessen
Gastlichkeit erst kurz vorher beim Sängerfeste sich so glänzend bewährt
hatte, eine gefährliche Nebenbuhlerin. Da beschlossen, ehe noch der
Turnverein selbst über seine Stellung zur Festfeier mit sich einig
war, die Stadtverordneten am 18. September 1861 eine Zuschrift an den
Stadtrath des Inhalts:

»Das Collegium, welches die Wahl Leipzigs zum Festorte des dritten
allgemeinen Turnfestes mit Freuden begrüßen würde, erklärt sich bereit,
die zu einer würdigen Feier desselben erforderlichen Kosten zu
bewilligen, und giebt dem Wunsche Ausdruck, daß die Behörden die Wahl
Leipzigs in jeder Weise begünstigen möchten.«

Und der Rath erwiderte am 16. Oktober: »er sei dem Beschlusse der
Stadtverordneten, daß sie die Wahl Leipzigs zum Festorte des dritten
allgemeinen Turnfestes mit Freuden begrüßen würden, einstimmig
beigetreten, sei bereit, die Wahl der Stadt in jeder Weise zu
begünstigen, und werde die seitens der Stadtverordneten ausgesprochene
Bereitwilligkeit, die zu einer würdigen Feier des Festes erforderlichen
Kosten zu verwilligen, entsprechend benutzen.«

Der Voranschlag der Festkosten, wie ihn der Centralausschuß nach den
von sämmtlichen Unterausschüssen eingereichten Budgets aufgestellt
hatte, erreichte die Höhe von 75,000 Thlrn.; der muthmaßliche
Kostenausfall war auf 29,000 Thlr. berechnet. Mit dem 10. April 1862
war der Tag gekommen, an dem über die Bewilligung dieser großen Summe
bei den Stadtverordneten verhandelt werden sollte; der Rath der Stadt
Leipzig hatte bereits einige Tage vorher die Bewilligung beschlossen
und um Zustimmung bei den Stadtverordneten nachgesucht. Unterlag es
nun auch keinem Zweifel, daß diese Zustimmung nicht ausbleiben würde,
so verbreitete doch die Nachricht davon allgemeine Freude und wir
Leipziger waren stolz auf unsere Stadtväter.

Bei solchem Entgegenkommen der Bürgerschaft und der Behörden mußten
alle Bedenken und Abneigungen drinnen und draußen, welche sich gegen
die Wahl Leipzigs geregt hatten, schwinden, um so mehr, als auch das
_Königliche Ministerium des Innern_ auf deshalb ergangene Anfrage und
Bitte des Turnraths in dankenswerthester Weise die Abhaltung des Festes
und des mit demselben verbundenen Turntags zu gestatten versprach. Der
Ausschuß der deutschen Turnvereine erklärte sich einmüthig für die Wahl
Leipzigs zum Festorte und Nürnberg schob das von ihm beabsichtigte Fest
auf das Jahr 1865 hinaus.

Als _Festplatz_ wurde sodann eine vom Stadtrath mit dankenswerther
Bereitwilligkeit überlassene, fast ganz ebene und trocken gelegene
Feldflur erwählt, welche sich unweit der Zeitzer Straße an der
Connewitzer Chaussee mit geringer Erhebung nach der Seite des
Napoleonsteines in Form eines Vierecks, zugänglich von allen Seiten,
ausdehnt. Es ist dies der jetzige Schmuckplatz an der südlichen
Baierischen Straße, begrenzt von Schenkendorf und Moltkestraße, auf dem
jetzt zwei Schulen stehen, sowie dessen Verlängerung nach Süden, damals
vom Tivoli ab alles noch freies Feld.

Wie thatsächlich Alles -- selbst frühere Feinde des Festes -- von dem
allgemeinen patriotischen Jubel angesteckt wurde, noch ehe dasselbe
eigentlich begann, beweist die Thatsache, daß nicht ein Haus ohne
Fahnen und Blumenschmuck blieb; wie zwei, drei Tage vor dem Beginn
keine Elle Fahnenstoff, keine Elle grauer Turnerdrell (unsre Turner
trugen früher den gelbgrauen Drell und zwar Hosen und Jacken, das
blaugraue dunkle Turnertuch kam erst durch die zum Feste kommenden
österreichischen Turner und zwar auch die Jackets zur Aufnahme) mehr
in ganz Leipzig aufzutreiben war. Auch Nichtturner kleideten sich
massenhaft in die Turnertracht und bei den Knaben aller Größen verstand
sich dies von selbst, wollten die Eltern nicht große Thränenfluten
hervorrufen. Auch wurde die zum Fest bestimmte Flur, um den lockeren
Ackerboden genügend zu befestigen, rechtzeitig mit Heusamen bestellt.
Ihre Größe, 1500000 Quadratfuß, war nach der Zahl der Personen
bemessen, welche sie in den Festtagen, sei es als Mitwirkende, sei es
als Zuschauer, betreten sollten. Freilich ließen sich in beiderlei
Beziehungen nur Vermuthungen aufstellen, allein die statistischen
Erhebungen über die Menge der Turnvereine und die Zahl ihrer
Mitglieder, die Erfahrungen über die Festlust derselben, welche u. A.
in Coburg und Berlin gemacht worden waren, sowie die Beobachtungen
des Zuschauerandrangs in Berlin und Frankfurt a. M., gaben diesen
Vermuthungen einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit. Der Turnrath war
nach sorgfältigem Ueberschlage der betreffenden Verhältnisse zu der
Einsicht gekommen, daß man bei der _Abgrenzung_ und _Ausstattung des
Turnplatzes_ immerhin auf 12000 gleichzeitig Turnende, unter denen
9—10000 Auswärtige, und auf 20—30000 Zuschauer Bedacht nehmen müsse.
Was hier vom Turnplatze und den Zuschauerräumen galt, hatte nicht
minder für alle anderen Räumlichkeiten, welche sich jenen anschließen
müssen, seine Bedeutung, insbesondere für den _Bau einer Festhalle_
neben dem Turnplatze.

Bereits bis zum Abend des 10. Juli, also noch volle 4 Wochen vor dem
Feste, waren 13890 fremde Turner zu Freiquartieren angemeldet, 5000
mehr als man im günstigsten Falle vermuthet hatte, und diese Zahl
stieg bis zum Beginn des Festes auf 18000 Mann. Am stärksten war
Berlin vertreten mit 1139 Mann, welche je nach ihren Vereinen zu den
Turnerhosen rothe oder blaue Wollblousen trugen. Wien mit über 200
Mann, Hamburg über 100 Mann, Pisa in Italien mit 2 Mann, Verona 1 Mann,
Amerika mit mehreren Turnern, ferner 5 Abgeordnete aus Siebenbürgen,
von denen zwei von ihren Frauen, einer von seinen beiden Töchtern
begleitet wurden. Aus London kamen 12 (darunter 2 Engländer), aus
Amsterdam 5, Rotterdam 5, Melbourne 1, Dorpat 2 u. s. w. Die folgende
Uebersicht zeigt die bis zum 9. Juli 1863 eingelaufenen Festanmeldungen
nach Turnkreisen:

     I. Kreis: Prov. Preußen und nördl. Posen     316.
    II.   „    Schlesien und Südposen             696.
   III.   „    a. Mark und Prov. Sachsen         3301.
          „    b. Pommern                         366.
    IV.   „    Norden (Hamb., Holst., Mecklenb.)  330.
     V.   „    Niederweser und Ems                 64.
    VI.   „    Hannover                           246.
   VII.   „    Oberweser                          176.
  VIII.   „    Niederrhein und Westphalen          75.
    IX.   „    Mittelrhein                        139.
     X.   „    Oberrhein (Baden)                   15.
    XI.   „    Schwaben (Württemberg)              62.
   XII.   „    Bayern                             222.
  XIII.   „    Thüringen                         1393.
   XIV.   „    Sachsen                           4617.
    XV.   „    Oesterreich                       1136.
  Ausland                                          16.

Und trotzdem damals Leipzig nur etwa 75000 Einwohner zählte und außer
den Turnern noch sicher 80—100000 Festbesucher und sonstige Fremde
an jenen Tagen in Leipzig anwesend waren, so daß in den Hotels und
Gasthäusern selbst die Vorsäle mit Betten belegt und zu Quartieren
umgewandelt wurden, meldeten sich sogar noch am Sonnabend und Sonntag,
also dem Tag vor dem Festzug noch Familien, die durchaus noch ihre
Turner haben wollten und sehr betrübt heimgingen, wenn ihr Wunsch
momentan nicht erfüllt werden konnte. Alle Detailgeschäfte schlossen
während des Festzuges und viele Engrosfirmen schlossen mit Ausnahme
der Expedirung der nothwendigsten Sachen und der Erledigung der Briefe
gleich für die ganze Dauer des Festes.

Schreiber dieses kannte in seinem Hause einen alten vertrockneten
Großkaufmann, der bis zum letzten Tage vor dem Feste demselben
skeptisch, fast feindlich gegenüber stand und seinem Personal
wiederholt eingeprägt hatte, daß er den »Unsinn und die patriotische
Gefühlsduselei« nicht mitmachen werde und deshalb der Geschäftsgang
genau derselbe bliebe wie an allen anderen Tagen. Als aber unter sich
immer höher steigernden Jubel des Volkes die Schleswig-Holsteiner, die
Wiener, die Berliner, die Frankfurter, die Tyroler u. s. w. mit ihren
»Was ist des Deutschen Vaterland« spielenden Musikchören am Hause
vorbei und zum Stellplatz zogen, da mochte sich doch Etwas gar mächtig
im Innern der alten Krämerseele rühren.

»Wiesecke«, sagte er zu seinem ebenso alten Cassirer, als er sah,
daß dem die Thränen der Freude über die Wangen liefen, »Wiesecke --
Sie alter Mensch -- ich gloobe gar Sie heulen. Na --« und auch seine
Stimme klang auf einmal seltsam gedrückt und bewegt, »zahlen Sie den
Markthelfern jeden einen Extrawochenlohn aus und den Commis eine halbe
Monatsgage extra und dann fort mit Euch -- werde die Briefe jeden
Morgen selbst erledigen!«

Und er verschwand, begleitet vom »Hurrah« seiner überraschten Getreuen,
schleunigst im Allerheiligsten seines Privatkontors. -- --

Solche Fälle aber kamen sehr viele vor. -- Ja -- es war doch eine große
Zeit! --

Die Aufstellung des Festzuges am Montag, den 3. August geschah nach
folgenden Bestimmungen:

  Kreis   IV. Norden          16 Riegen }
    „   VIII. Niederrhein und           } Johannisplatz.
              Westphalen       3   „    }
    „     XI. Schwaben         3   „    }

  Kreis   XV. Oesterreich     42 Riegen } Augustusplatz am
                                        } Schneckenberge.

    „     IX. Mittelrhein      6   „    } Augustusplatz am
    „   XIII. Thüringen       60   „    } Museum.

    „     VI. Hannover        11   „    } Turnplatz.
    „    XII. Bayern          10   „    }

    „      I. Nordosten       16   „    } Gellert- u. Felixstraße.
    „      X. Oberrhein        1   „    }

    „     II. Schlesien       30   „      Fleischerplatz.

    „    VII. Oberweser        8   „    } Obstmarkt.
    „      V. Niederweser      3   „    }

    „    III. Mark           165   „    } Königs- u. Thalstraße.
    „         Pommern         16   „    }

    „    XIV. Sachsen        202   „    } Roßplatz.
              Leipzig                   }

[Illustration: Festhalle und Festplatz zum 3. deutschen Turnfest zu
Leipzig.]

 Die Aufstellungslinien sind durch eine Reihe von Standarten
 bezeichnet; die Reihenfolge in jedem Kreise ist die alphabetische.

 Pünktlich 11 Uhr Morgens sammeln sich die Turner bei der Standarte,
 welche den Namen ihres Wohnortes trägt, oder falls eine solche nicht
 vorhanden ist, bei der des alphabetisch nächsten Ortes.

 Abholung der Fahnen aus dem Schützenhause zwischen 9—11 Uhr durch 3
 Mann und Aufstellung derselben hinter die betreffenden Standarten.
 11½ Uhr Eintheilung der Riegen und Vertheilung der Armbinden an die
 Vorturner; genaue Aufstellung der Riegen in Sechserreihen durch die
 Vorturner. Der Vorturner begiebt sich an die linke, ein Riegenmitglied
 an die rechte Seite der Standarte; ist eine solche nicht vorhanden, so
 hat sich der Vorturner an die linke Seite der vordersten Reihe seiner
 Riege zu stellen.

 12 Uhr Vereinigung der Abtheilung nach gegebenem Befehle auf dem
 Augustusplatze und Eintheilung der Musikchöre.


                              Zugordnung.

              Vorreiter.
              Berittenes Musikchor.
              Fünfzehner-Ausschuß und Festausschuß.
              Beurtheilungs-Ausschuß.
              Erstes Musikchor.
              Ausländer.
              Kreis IV. Norden etc. siehe oben.

 Der Zug bewegt sich durch folgende Straßen:

 Grimmaische, Ritterstraße, Brühl, Nikolaistraße, Universitätsstraße,
 Schillerstraße, Neumarkt, Reichsstraße, Brühl, Hainstraße, um den
 Markt herum, Petersstraße, Königsplatz, Zeitzerstraße.

 Auf dem Festplatze begiebt sich jede Riege an das Geräth, welches die
 Armbinde ihres Vorturners zeigt.

 Die Fahnen werden gerade über den Festplatz getragen und in der
 Festhalle abgeliefert.


Und nun zum Festzug selbst, den in seinen Einzelheiten auch nur
annähernd zu beschreiben den Raum unsrer Hefte bedeutend überschreiten
würde. Mehr als 700 Turnvereine in einem Zuge von circa 20000
Theilnehmern, fast 600 Fahnen und mehr als 100 Musikchören, das
stattliche 60 Mann starke Turnertrommelchor mit seinem Tambourmajor,
der drei, vier Stockwerke hoch, während er ruhig weiter marschirte,
seinen schweren Majorsstock emporwirbelte und denselben, immer dabei
weiter marschirend, stets mit unfehlbarer Sicherheit wieder auffing.
Die großen auswärtigen Vereine mit ihren prachtvollen Musiken,
die Bornaer mit ihrem Knabenmusikchor, Ostpreußen und Badenser,
Südösterreicher und Hannoveraner, Pfalzbaiern und Deutschpolen und
dieser Zug, dessen Vorbeipassiren gute zwei Stunden in Anspruch nahm,
begrüßt von einem Regen von Bouquets und Blumen, aus den einzelnen
Stockwerken der reichgeschmückten Häuser, an Bindfaden herabgelassnen
Flaschen mit Bier, Wein, ja Champagner, oder Körbchen mit belegten
Brödchen, am Wege aufgestellten Tonnen mit Bier und Wasser, von seinem
Ausgangspunkte bis zu der damals noch inmitten von Stoppelfeldern
stehenden Festhalle, begleitet von Hochs und Hurrahs Hunderttausender
begeisterter Menschen. Die studentischen Turner aller deutschen
Universitäten, in vollem Wichs, für sich allein schon ein minutenlanger
stattlicher Zug und dann zuletzt -- unsere braven Leipziger Turner in
ihrer strammen Haltung, trotz ihrer mannichfachen Thätigkeit schon vor
dem Zuge und dem stundenlangen Marschiren in der wahrhaft tropischen
Hitze jenes Tages ungebeugt und flotten Schrittes; die »dicke Riege«
zusammengesetzt aus 71 hundertachtzig- und zweihundert-pfündigen
aktiven Turnern ganz Deutschlands -- -- -- genug davon, nur Eins sei
nochmals betont, daß es einen solchen Zug nie vor und auch niemals
wieder nachher bis zum heutigen Tage auf irgend einem deutschen Feste
gegeben hat.

Die Turnübungen, vor allem aber die in so riesigem Maaßstabe
ausgeführten Freiübungen verliefen in glänzender Weise. Die
gastronomischen Leistungen sowohl in der Festhalle wie in den andern
großen Zelten des riesigen Platzes waren vorzügliche. Vier offne zum
unentgeltlichen Tanze errichtete Tanzböden wurden von Alt und Jung auf
das Lebhafteste frequentirt. Heisa -- wie flogen die durch kolossale
Crinolinen aufgebauschten Kleider, mancher Reifen knickte im Gedränge,
mancher Puff wurde eingenommen und ausgetheilt, in den großen Zelten
saßen die Turner mit ihren Wirthsleuten und während aus dem einen
die sehnsuchtsvolle Frage im Lied »Was ist des Deutschen Vaterland«
emporstieg, erklang es drüben aus einem andern »Schleswig-Holstein
meerumschlungen -- Deutscher Freiheit hohe Wacht« und in einem dritten
gab ein Berliner in Knittelversen die Mär von »Sobbe und Putzki« den
auf gegenseitiges Ehrenwort von der Festung durchgebrannten preußischen
Lieutenants zum Besten. Ueberall Musik und Gesang und patriotische
Ansprachen, hier verbrüderten sich Ostpreußen und Baiern, dort Berliner
und Wiener und Manche, die sich schon nach wenig Jahren mit der Waffe
in der Hand feindlich gegenüber stehen sollten, stießen hier begeistert
zusammen an auf das hehre Ziel, das sie alle verfolgten -- auf das Wohl
des geeinigten Deutschlands! In der Festhalle aber hingen die Fahnen
der germanischen Stämme friedlich neben einander und hoch über allen
thronten die alten deutschen Reichsfarben »Schwarz, Roth, Gold.«


                   Schwarz -- Roth -- Gold.

                              1.

    Will =Schwarz= der Himmel sich bekleiden,
    Und dünket Euch, es werde Nacht,
    Es wollt’ die Sonn’ auf ewig scheiden,
    Die Euch vordem so hold gelacht --

    Wenn rauher Sturm die Grenz’ umwettert
    Des theuern Vaterland’s und glaubt,
    Daß er’s wie schwache Bäum’ entblättert
    Und seiner höchsten Zier beraubt --

    Wenn ihr dereinst bedränget werdet
    Von übermüth’gem rauhen Feind,
    Und wenn die Freiheit ist gefährdet,
    Die Euch zu einem Volk vereint --

    Wenn Eure Brüder sind geschlagen
    In Fesseln, in des Kerkers Nacht,
    Will Euch erfassen banges Zagen
    Ob Eurer Gegner Uebermacht:

                              2.

    Dann =Roth= soll Eure Losung heißen.
    Denn Roth ist Licht und Roth ist Blut;
    Und mächtig sollt Ihr dann entreißen
    Das Vaterland der Feinde Wuth.

    Die Trommeln sollen wirbelnd schallen,
    Was Spiel einst war, es werd’ zur Wehr;
    Und wenn auch Brüder um Euch fallen --
    Es gilt für Freiheit und für Ehr’!

    Da setzt hintan das eigne Streben,
    Wo’s gilt dem theuren Vaterland,
    Da bauet jedes Zittern, Beben,
    Daß sicher kämpfe Eure Hand.

    Was Ihr geübt in heitern Tagen,
    Wo Fröhlichkeit die Zeit verkürzt,
    Das soll der Feinde Macht dann schlagen,
    Daß sie gebrochen niederstürzt.

                              3.

    Und =Gold=’ner Ruhm wird Euch dann krönen
    Als Sieger in dem heil’gen Streit,
    Daß Ihr erfüllt des Volkes Sehnen
    Nach seines Landes Herrlichkeit.

    Wie es begleitete mit Segen
    Des Vaterlandes treuen Sohn,
    So bringt es Euch nun Dank entgegen
    Als Euren reichsten, schönsten Lohn.

    Ein immer heit’rer Frühlingsmorgen,
    Des goldnen Friedens Sonnenschein,
    Die werden dann statt aller Sorgen
    Des deutschen Landes Erbtheil sein.

    Und wieder werdet Ihr Euch schaaren
    Zu Festen, wo Ihr zeigen wollt,
    Daß Eure Herzen treu bewahren
    Der Farben Mahnung: _Schwarz_ -- _Roth_ -- _Gold_.

Und spät Abends auf dem Heimweg da füllten sich erst die Restaurationen
in der innern Stadt, im Burgkeller, bei Schatz in der Ritterstraße, bei
Baarmann, Zill, gute Quelle, Hotel de Saxe, Pöhler in der Klostergasse,
Auerbachs- und Aeckerleins Keller, bei Prager, schwarzes Brett, beim
alten Löwe Nikolaistraße, Rabestein, Keil auf dem Neumarkte u. s. w.
wurde der Nachttrunk eingenommen und viele, viele der fremden Turner
vergaßen dabei total, wo sie eigentlich wohnten. Wehe -- wenn da der
vorsorgende Wirth nicht bei ihnen war. -- Aber auch da fand sich Rath.

»Was? -- Sie wissen nicht, wo Sie wohnen? -- Schadet nichts -- immer
kommen Sie mit mir -- es gehen viele geduldige -- Turner in eine Stube
uff die paar Stunden bis es wieder Tag wird!« Und so brachte mancher
Bürger oft noch ein halbes Dutzend fremde Turner außer den eignen mit
nach Hause. Und Hausfrauen und Töchter machten keine bösen Gesichter.
War es doch Sommerszeit und warm. Da wurden Matratzen aus den Betten
gehoben und Betten auf den Dielen ausgebreitet und einträchtlich
schliefen Wirth und Gäste in zwangloser Reihe durch einander, bis
aufs Neue ein festlicher Tag anbrach und die Verlaufnen mit Hilfe der
Festpolizei ihre Quartiere wieder ermitteln konnten.

In einen auf dem Blücherplatz unter der eisernen Bude stehenden
Omnibus bettete ein väterlich gesinnter Nachtwächter in einer einzigen
Nacht nach und nach sieben bezechte Turner, welche all und jedes
Orientirungsvermögen total verloren hatten, und so ging es überall
zu, keine Arretierungen, keine polizeiliche Einmischung; Alles wurde
in Güte geordnet und -- wahrlich die Polizeibehörde Leipzigs hat ihr
anerkennungswerthes Vertrauen in die Festpolizei, die Turnerfeuerwehr
und Rettungskompagnie nicht zu bereuen gehabt.

Mit dem üblichen Feuerwerk am 6. August ging das Fest programmmäßig zu
Ende und Deutschlands Turner zogen wieder heimwärts; der Fahnenwald
fiel von den Häusern, die vertrockneten Guirländen und der andere
Blumenschmuck sank in den Staub, wenige Tage später war in den Straßen
der Stadt nichts mehr von all dem Festesglanz zu erblicken. Nur draußen
-- damals weit vor der Stadt, stand noch Monate lang die verödete
Festhalle inmitten der Felder auf einsamer Höhe, unweit der Stätte, wo
einst Napoleon I. während der Schlacht bei Leipzig beinahe in die Hände
preußischer Husaren gefallen wäre; bis auch sie fiel und die einfache
Steinplatte am Rathhauseingang als einziges Andenken an jene herrlichen
Tage zurückblieb. -- -- --

Mehr als 30 Jahre sind seit jenen Tagen vorübergerauscht. Die
alten deutschen Farben: »Schwarz, Roth, Gold« wehen dem Heere des
geeinigten Deutschlands nicht voran, aber doch eine Trikolore, welche
in mörderischen Kämpfen ihre Bluttaufe empfing und unter der die
germanischen Stämme geeint zusammenstehen -- einer für den andern --
alle aber zusammen -- »_für das theure Vaterland!_« -- -- --


                       Feier der Völkerschlacht.

In demselben Jahre, in welchem das dritte deutsche Turnfest in Leipzig
stattfand, vollendete sich auch ein halbes Jahrhundert seit jenen
schweren aber ruhmvollen Tagen, an denen vom 16.-18. Oktober 1813 die
napoleonische Macht auf Leipzigs Ebenen für immer gebrochen wurde, und
die gastfreie Stadt nahm aufs Neue tausende von Ehrengästen freudig in
ihren Mauern auf.

War es aber beim Turnfest meist die kraftstrotzende Jugend, welche sich
einfand, so fanden sich in den Tagen vom 16.-18. Oktober 1863 tausende
von Männern in Leipzig ein, auf deren Haupt der Schnee des Alters lag
und unter denen nur wenige sich befanden, welche das siebenzigste
Lebensjahr nicht bereits überschritten hatten.

Es war ein großer Teil der Ueberlebenden jener Männer, welche genau
vor 50 Jahren Vater und Mutter, Haus und Hof, Schreibtisch, Kanzel und
Werkstatt verlassen hatten, um dem Rufe des bedrängten Vaterlandes zu
folgen und zu den Waffen zu greifen, und die dann im blutigen Ringen
rings um Leipzigs Mauern die corsische Macht brachen und Deutschland
von der eisernen Faust jenes Emporkömmlings für immer befreiten.

Waren auch seit jenen Tagen viele Tausende jener Kämpfer um die
deutsche Freiheit hinweg gestorben, so waren doch immer noch mehr als
3000 dem Rufe des Comités, welches sich aus dem »Verein zur Feier
des 18. Oktobers« zusammensetzte, gefolgt und aus allen Richtungen
der Windrose, zum Teil aus weiter Ferne gekommen, um noch einmal
jene Stätten zu sehen, an denen sie einst gestritten und gelitten,
an der sie ihre Brüder fallen sahen, aber an denen sie sich auch
unvergänglichen Ruhm erwarben und die ihnen allen deshalb auch ewig
theuer und unvergeßlich geworden waren. --

Und die bewährte Leipziger Gastfreundschaft statuirte ein neues Exempel
-- mit hoher Freude nahm sie die alten Veteranen in ihren Mauern auf --
treu eingedenk des Spruches:

»Wer seine alten Krieger ehrt -- der ehrt sich selbst.«

Die ganze Stadt hatte zu Ehren der Veteranen einen reichen Festschmuck
angelegt. Besonders historische Stätten, wie die Dresdner- und
Frankfurter-Straße, erhielten ihren alten Namen, den sie zur Zeit der
Schlacht geführt, wieder und das althistorische Dresdner Thor, welches
die Königsberger Landwehr unter so ungeheuren Opfern erstürmte und sich
dadurch den ersten Eintritt zur Stadt erzwang, ward -- wenigstens als
Dekoration zum Feste -- genau so aufgebaut, wie es damals beim Sturm
ausgesehen hatte.

Und bei dem festlichen Bankett, welches die gastfreie und dankbare
Stadt den alten Kriegern gab, saß der einfache, in den Sorgen des
Lebens ergraute Handarbeiter neben dem zu hohen Würden aufgestiegenen,
reich dekorirten General und seine, blind und unscheinbar gewordenen
alten Kriegsdenkmünzen wurden mit derselben Ehrfurcht betrachtet wie
die hohen Orden seines Nachbars. Manche Thräne der Rührung und hoher
Freude sah man in den Augen der gefeierten Greise und die Stadt Leipzig
flocht sich einen neuen Ehrenkranz in die Geschichte ihrer Existenz.

Am 18. Oktober aber, dem entscheidenden Tage der Völkerschlacht, da
stellte die Stadt den Veteranen Wagen, und in für die Alten bequemer
Weise ging es hinaus zu einer Rundfahrt auf die Stätten jener vor
fünfzig Jahren stattgefundenen Kämpfe, und man mußte da die alten
Veteranen sehen, wie sie die Gegenden und Orte wieder erkannten, an
denen sie gekämpft -- wie sie zu stummem Gebet die Hände falteten oder,
mit einer Thräne im Auge, manches damals gefallnen Freundes und guten
Kameraden gedachten. -- Auch russische damalige Mitkämpfer waren zum
Feste erschienen, ebenso drei alte dekorirte Mütterchen, von denen
zwei als Marketenderinnen, die dritte aber als Soldat verkleidet, die
Schlacht und den Feldzug mitgemacht hatten. -- -- --

Damals wurde auch seitwärts des jetzigen Napoleonsteins feierlich
der Grundstein zu einem Denkmal an die Völkerschlacht gelegt -- wird
wenigstens die hundertjährige Feier derselben das Denkmal endlich
fertig sehen? -- -- --



                                XXXII.

                Leipzigs frühere Feuerwehrverhältnisse.

                     A. Die städtische Feuerwehr.

Es ist selbstverständlich, daß man zu einer Zeit, wo man noch bei
Weitem nicht mit den jetzigen Hilfsmitteln gegen Feuersgefahren
versehen war, wie jetzt, bezüglich eines Schadenfeuers viel ängstlicher
war wie heute. Von einer Wasserleitung im jetzigen Maaßstabe war noch
keine Rede. Nur die allerdings Leipzig in besonders günstiger Weise
durchkreuzenden Flüsse, und lagen diese zu entfernt, die sogenannten
Röhrtröge und die Brunnen lieferten das zum Löschen nothwendige,
oft nur mit vieler Mühe zu beschaffende Wasser; was namentlich zur
Winterszeit, wenn Flüsse und Röhrtröge eingefroren waren, oft mit
großem Zeitverlust verbunden war. Mit Recht legte man deshalb damals
dem Ausbruch eines Schadenfeuers eine viel größere Bedeutung bei, wie
jetzt, wo Telegraph und Telephon es bewerkstelligen, selbst großen
Feuern binnen wenigen Minuten auf das Energischste auf den Leib zu
rücken und dieselben durch massenhafte Ueberschwemmungen mit Wasser,
womöglich schon in ihren Anfängen zu unterdrücken. Nicht ohne Lächeln
denkt jetzt wohl der am Morgen erwachende ältere Bürger Leipzigs, wenn
er bemerkt, daß in seiner unmittelbaren Nähe in der verflossenen Nacht
ein Brand stattgefunden hat, ohne daß er in seiner Nachtruhe gestört
worden ist oder überhaupt etwas bemerkt hat, an jene Zeiten zurück,
in denen selbst der Ausbruch eines -- wenigstens für die Jetztzeit
ganz unbedeutenden Feuers -- eine Alarmirung der ganzen Stadt und
ihrer Vorstädte zur Folge hatte. -- Es kann nicht unsere Absicht sein,
eine ausführliche Geschichte des Feuerlöschwesens unserer Stadt zu
schreiben, allein die früheren Einrichtungen in dieser Richtung bieten
doch des Interessanten genug, daß wir wenigstens das Nothwendigste
davon hervorheben, um den jetzigen und einst späteren Generationen
ein, wenn auch nur gedrängtes Bild über den Unterschied zwischen
damals und jetzt zu geben. -- Eine Alarmirung der Stadt war damals,
so wenig einleuchtend es auch Vielen dünken mag, dennoch geradezu
eine Nothwendigkeit, und wenn auch in dieser Richtung nun allerdings
meistens des Guten etwas zu viel gethan wurde, so dachte man damals
eben mit Recht »besser zu viel als zu wenig!«

Sind doch sogar in der jetzigen Zeit mit ihren weitgehenden und
vortrefflichen Löscheinrichtungen noch Brände vorgekommen, welche
nur mit aller Anstrengung bekämpft werden konnten und denen sogar
verschiedene Male Menschenleben zum Opfer fielen, um wie viel mehr
war man es sich damals schuldig, die denkbar größte Aufmerksamkeit
walten zu lassen, um die Bekämpfung eines Feuers gleich bei dessen
Beginn in Angriff nehmen zu können. Damals hielt die Stadt selbst nur
eine verhältnißmäßig geringe Anzahl wirklich zum Feuerlöschdienst
ausgebildeter, besoldeter Feuerwehrleute, erst 60, dann 80 und später
140 Mann, welche in zwei Abtheilungen, Tag und Nacht mit einander
abwechselnd, Dienst oder Feuerreserve hatten. Diese Feuerwehrleute,
meistens Schuster und Schneider, hatten ihr Wachtlokal in den 40er
und 50er Jahren unseres Jahrhunderts in den hüttenähnlichen Gebäuden
der alten Armenschule, an der Stadtmauer nach Schloß Pleißenburg zu
an der Schulgasse, genau auf demselben Grund und Boden, wo jetzt das
kaufmännische Vereinshaus und die Bauhütte steht. Ein mäßig großer
Mann konnte bequem mit der Hand auf das Dach dieser baufälligen
Hütten langen. Hier trieben die diensthabenden Mannschaften am Tage
zugleich ihr Handwerk als Schuster und Schneider und fanden, da sie
selbst die verzweifeltsten Flickarbeiten bereitwilligst ausführten
und die loyalsten Preise für kunstvoll eingesetzte Hosenboden oder
mehr haltbare und gediegene, als künstlerisch schöne Seitenflecke
für Schuhe und Stiefeln stellten, stets reichliche Arbeit. Gegen
Ende der fünfziger Jahre, als die alten Schulgebäude abgerissen
wurden, siedelten die Feuerwehrmänner nach der Magazingasse über,
wo sie bis zur vollständigen Neuorganisation des städtischen
Feuerlöschwesens verblieben. Zu diesen ständigen Feuerwehrleuten mit
ihren Spritzen kamen noch etwa 130 Mann Nachtwächter, Lampenputzer
(Laternenanzünder), Röhrwärter (Wasserleitungsbeamte) und Chaisen- oder
Sänftenträger ebenfalls mit eigenen, vom Rathe gestellten Spritzen
und die sogenannte Arbeiterkolonne, Arbeiter, von denen stets eine
gewisse Anzahl Feuerreserve hatten, während welcher Zeit sie auf den
Feueralarm hin, gegen entsprechende Entschädigung pro Stunde, zum
Spritzendienst ausrücken mußten. Die Spritzen waren sogenannte Pariser,
größere und kleinere Handspritzen und theilweise mit Zubringern. Um
wenigstens für’s Erste gleich Wasser bei der Hand zu haben, standen
auf verschiedenen Plätzen, sowie an vielen Straßenecken auf massiven
Holzschleifen (eine Art Schlitten, welche auch früher Sommer und
Winter zum Transport von Ballen und anderen Meßgütern in Leipzigs
Straßen verwendet wurden und deren Schleudern oft lebensgefährlich
war) befestigte riesige Tonnen, sogenannte Sturmfässer, welche stets
mit Wasser gefüllt sein mußten, um eventuell sofort, durch die Pferde
des damals an der Ecke des Neumarkts und der Magazingasse befindlichen
städtischen Marstalls, auf den Platz des ausgebrochenen Schadenfeuers
transportirt zu werden. Zu allen diesen complicirten und sicher nicht
leicht in wirklich nützlicher Weise zu dirigirenden Einrichtungen
kam nun noch der ebenso complicirte Apparat zur Feuermeldung selbst.
Telephon gab es noch nicht, Telegraphen nur in sehr beschränktem
Maaße, am meisten war es der Fall, daß beim Ausbruch eines Feuers,
Einer oder Mehrere, dabei unterwegs fortwährend »Feuer« schreiend,
nach der Polizeiwache am Naschmarkt lief, (andere Polizeiwachen
existirten damals noch nicht) oder die Thürmer meldeten das Feuer
durch die Feuerglocke. Im letzteren Falle signalisirten die Thürmer
die Lage des Feuers bei Tage durch Herausstecken einer rothen Fahne
nach der Richtung des Feuers zu, bei Nacht durch Heraushängung einer
großen Laterne. Zugleich zeigten sie durch die Schläge der Feuerglocke
in ganz kurzen Zwischenräumen an, ob das Feuer in der inneren Stadt
(innerhalb des Promenadenrings), in der Vorstadt oder auf den nahen
Dörfern (jetzigen Vorstädten) war und zwar indem sie jedesmal auf der
Feuerglocke einen, zwei oder drei Schläge abgaben. Wenn auf diese Weise
die Polizeiwache benachrichtigt war, erfolgte Mittheilung derselben an
die Commandos der Garnison und der Communalgarde und nun erfolgte die
allgemeine Alarmirung der ganzen Stadt. Die Nachtwächter ließen auf
dem großen Horn ihre schauerlichen Feuerrufe erschallen, die Trommler
der Communalgarde rasselten mit dem Generalmarsch durch die Straßen,
dazwischen ertönten die Feuersignale aus den Hörnern der in Leipzig
liegenden Jäger und Schützen. Die Feuerkommandos der Communalgarde
und Jäger eilten, gefolgt von Sturmfässern, Zubringern und Spritzen
und einer neugierigen Menschenmasse, im Trabe der Feuerstätte zu.
Auf den Sammelplätzen angekommen, sammelten sich die Reserven der
Communalgarden und Spritzenbedienungen. In der Nacht öffneten sich
wie mit einem Schlage die Kneipen wieder, Männer, Frauen und Kinder,
oft nur auf das Primitivste bekleidet, stürzten aus den Wohnungen,
schiebend und geschoben, puffend und gepufft, schimpfend und geschimpft
dem Orte des Schauspiels zu -- um -- wenn sie oft nach weitem Wege
hinkamen, häufig zu erfahren, daß das Feuer längst mittelst einiger
nasser Lappen gedämpft war und nun über ihre vergebliche Wanderung
räsonnirend wieder heimwärtszogen. Und doch bewies die Dämpfung großer
und gefährlicher Brände, welche in den vierziger und fünfziger Jahren
stattfanden, wie der Brand des Hotel de Pologne, der Barfußmühle, der
Thomasmühle, der Brauerei in der Windmühlenstraße, des alten Holzhofes
und anderer, daß schon damals die Leipziger Feuerwehr Tüchtiges
leistete. Hierzu trugen ausgesetzte Prämien für besonders gute
Leistungen und vorzüglich für zuerst auf der Brandstelle eintreffende
Spritzen wesentlich mit bei.

Mit dem größeren Anwachsen der Stadt erkannte man nun gar wohl die
Unzulänglichkeit der zum größten Theil noch aus dem vorigen Jahrhundert
datirenden Einrichtungen, und Behörden wie Bürgerschaft wurden
täglich mehr davon überzeugt, daß schnelle Hülfe hier nothwendig sei.
Leider ließ sich dieselbe, wenn auch dringend gewünscht und eifrig
angestrebt, doch nicht ohne Weiteres beschaffen, und es mußten vor
Allem die Vertreter der Gemeinde an den enormen Kosten praktischer
Löscheinrichtungen und ihrer Erhaltung Anstoß nehmen; Kosten, von so
bedeutender Höhe, daß sie manchen Gemeinden überhaupt unerschwinglich
erscheinen mußten. Da fand sich ein Ausweg, der zum Ziele zu führen
schien, und der sich auch außerordentlich praktisch bewährte: -- es war
die Gründung freiwilliger Feuerwehren, vorzugsweise gebildet aus der
Jugend unserer Turnvereine.

Bot sich doch hier auf dem Felde des Feuerlöschwesens den _strebsamen_
Gliedern der Turnvereine die beste Gelegenheit, die auf dem
Turnplatz gewonnene Körperkraft und leibliche Gewandtheit, That- und
Willenskraft, mit einem Worte, Gemeinsinn, zu bethätigen.


                   B. Die Leipziger Turnerfeuerwehr.

_Die Leipziger Turnerfeuerwehr_ bildete sich im Jahre 1846, kurz
nach Gründung des Allgemeinen Turnvereins, und erlebte zehn Jahre
später, nachdem sie bis dahin ein kümmerliches Dasein gefristet, eine
Reorganisation, durch die ihr die Stellung angewiesen wurde, die sie
bis zu ihrer Auflösung einnahm. Ihre Stärke betrug im Jahre 1863 zur
Zeit des Turnfestes 170 Mann und wurde später auf 200 Mann erhöht.

Die Organisation unserer Leipziger Turnerfeuerwehr beruhte in jeder
Beziehung auf sehr rationellen Principien; denn nicht nur, daß sie
direct den Hauptmann, die Zugführer und die betreffende Anzahl
Mitglieder zum Ehrengerichte wählte, hatten nur diejenigen Beschlüsse
Geltung, welche von der Compagnie sanctioniert waren; hiervon waren
jedoch selbstverständlich alle diejenigen Verfügungen und Maßnahmen
ausgeschlossen, die unmittelbar zur Verwaltung oder zum Commando
gehörten. Hinsichtlich ihrer Thätigkeit beruhte sie auf dem Principe
der Vielseitigkeit, denn nach § 1 des Grundgesetzes konnte sie auch
auf Anordnung des Feuerlösch-Commandos zu anderen Functionen als zur
Spritzenbedienung und Rettung von Menschen und Sachen verwendet
werden, so daß sie bei ausgebrochenen Schadenfeuern stets hinreichende
Beschäftigung fand. Sie war in Folge dessen mit der nöthigen Ausrüstung
versehen, wie dieselbe zu Ausübungen ihrer Funktionen nach den
Principien der Neuzeit erforderlich war und wie wir sie noch jetzt bei
den größeren freiwilligen Feuerwehren des Landes finden; dasselbe galt
bezüglich ihrer Bekleidung. Nach den Grundgesetzen des Corps mußte
jedes Mitglied gleichzeitig auch Mitglied des damals allein in Leipzig
existirenden allgemeinen Turnvereins sein und wurde vor seiner Aufnahme
wegen gehöriger Pflichterfüllung vom Rathe der Stadt vereidet.

Außerdem waren Bestimmungen über die zu erfüllenden Pflichten des
Einzelnen vorhanden. Die Compagnie wählte direct den Hauptmann,
die betreffende Anzahl Zugführer und zwei Ehrenrichter. Zwei der
letzteren wurden vom Turnrathe aus dessen Mitte ernannt, während der
fünfte Richter der jedesmalige Hauptmann war, der auch den Vorsitz
im Ehrengerichte führte. Die Anführer bedurften der Bestätigung
des Stadtrathes und waren demselben verantwortlich. Die Wahl der
Rottmeister, Rohrführer etc. etc. war dem Hauptmann anheimgegeben. Aus
dem Disciplinargesetze heben wir nur § 1 hervor. Derselbe lautete:
»Jedes Mitglied der Turner-Lösch- und Rettungscompagnie hat in und
außer dem Dienste ein ehrenhaftes männliches Betragen, insbesondere im
Dienste Nüchternheit, Pünktlichkeit, Ruhe, Ausdauer, Gehorsam und, wo
es gilt, Muth mit Besonnenheit zu zeigen«.

Fast alle Mitglieder waren eifrige, und ein großer Teil tüchtige
Turner, so daß, abgesehen von der körperlichen Kraft und Gewandtheit
der Einzelnen, durch das fast tägliche Zusammensein auf dem Turnplatze
ein reger kameradschaftlicher Geist die Gesammtheit belebte, ein Geist,
der nicht allein bei den Uebungen oder sonstigen Zusammenkünften, auch
in der Praxis sich bewährt und seine guten Folgen gezeigt hat.

Die Compagnie war 1863 in zwei Züge eingetheilt (später drei), unter je
einem Zugführer, einer entsprechenden Anzahl Rottmeister, Rohrführer
und Steiger, und bediente, nebst verschiedenen anderen Geräthen, zwei
Spritzen. Die Steiger einige dreißig Mann stark, einschließlich der
Zug- und Rohrführer, hatten bei einem ausgebrochenen Schadenfeuer
zuvörderst die Verpflichtung, die nicht zur Spritze gehörigen
Gegenstände herbeizuschaffen beziehentlich zu bedienen, die Verbindung
zwischen dem Hauptmann, den Zug- und Rohrführern zu unterhalten und
sich hinsichtlich der Rettung von Menschen und Sachen zur Verfügung
des Feuerlösch-Commandos zu stellen, wozu sie die nöthige Ausrüstung
besaßen. Sobald diese Verrichtungen ausgeführt waren oder sonst
keine weitere Verwendung für sie vorlag, mußten sie zur Bedienung
der Spritzen zurückkehren. Da jedoch sämmtliche Mannschaften auf die
genannten Verrichtungen mit eingeübt wurden, so waren dieselben, auch
ohne Steiger zu sein, sehr häufig zu den speciellen Dienstleistungen
derselben zu verwenden.

Die Steiger wurden durch eine Commission, vor welcher die Aspiranten
eine Prüfung abzulegen hatten, ernannt, wurden aber, nachdem sie diese
bestanden, erst nach sechs Monaten und wenn sie sich während dieser
Zeit unausgesetzt als tüchtig bewiesen hatten, definitiv als solche
bestätigt. Die Commission, bei welcher der Hauptmann den Vorsitz
führte, wurde ebenfalls auf die Dauer eines Jahres aus der Mitte der
Steiger ernannt. Die Uebungen fanden meist auf dem Turnplatz statt.
Die Spritzen der Compagnie waren größere Pariser Karrenspritzen,
davon einer mit Zubringer aus der Jauck’schen Fabrik zu Leipzig.
Als Rettungsleiter wurde die Copenhagener angewendet. Die übrige
Ausrüstung correspondirte mit der der jetzigen Feuerwehren.

Zur ersten Neu-Organisation der städtischen Feuerwehr, wie dieselbe
1868/69 eintrat, wo die Turnerfeuerwehr bereits 3 Züge stark war, sei
Folgendes erwähnt:

Die besoldete Feuerwehr betrug von da ab, bis zu ihrer jetzigen,
neuesten Organisation an festbesoldeten Mannschaften:

        6 Oberfeuerwehrmänner,
        1 Fourier,
       36 Feuerwehrmänner,
       18 Spritzenmänner,
       81      do.       Tag- und Nachtabtheilung
      -----
  Sa. 142 Mann,

hierzu kamen noch 20 Chaisenträger und 25 Laternenwächter, also
zusammen 187 Mann, von denen am Tage 103, in der Nacht 184 Mann präsent
waren.[1]

Dieselben vertheilten sich auf 7 Wachen. Eine 8. Wache bezog die
Turnerfeuerwehr und Rettungskompagnie abwechselnd, aber nur täglich auf
die Zeit von Abends 8 Uhr bis Morgens 5 Uhr.

Hierzu kamen an Reserve-Mannschaften: 670 Mann mit 13 Viertelsspritzen;
120 Mann freiwillige Rettungskompagnie.

Demnach, unter Nichtrechnung der Turnerfeuerwehr, welche sich bereits
1871 auflöste, zusammen 977 Mann mit 47 Spritzen und den sonstigen
erforderlichen Geräthen. (Hierbei eine Landspritze (Omnibusspritze) von
Jauck in Leipzig.)

Nachdem die Turnerfeuerwehr mit der Neuorganisation der städtischen
Berufsfeuerwehr auf 3 Züge gebracht worden war, erhielt dieselbe
ihr Wachlokal, welches sie abwechselnd mit der Rettungskompagnie
zu beziehen hatte, in der Fleischhalle (jetzt interimistisches
Reichsgericht) Ecke des Brühls und der Goethestraße und zwar in
einem Gewölbe nach dem Brühl heraus. Die Wachtmannschaften bestanden
je aus 10 Mann unter dem Commando eines Zugführers, Rottmeisters
oder Steigers und war so eingetheilt, daß jede Abtheilung im Jahre
16 Wachen zu thun hatte. Wir kommen auf diese Wachen noch speziell
weiter hinten in einem besonderen Artikel zurück. Der Dienst bei
der Turnerfeuerwehr sowohl, als bei der Rettungskompagnie waren
unentgeltlich zu leisten, und für den Wachtdienst und bei dem Ausbruch
von Schadenfeuern wurde vom Rath der Stadt Leipzig eine kleine
Entschädigung gewährt. Bei der Dämpfung aller Brände, welche unsre
Stadt, von der Errichtung der Turnerfeuerwehr bis zu deren Auflösung
betraf, nahm die Turnerfeuerwehr hervorragenden Antheil, indeß konnte
es bei dem immer weiter fortschreitenden Ausbau des Feuerlöschwesens
in Leipzig allmälig nicht an Anfangs nur kleinen Differenzen zwischen
Berufs- und Turnerfeuerwehr fehlen. Thatsache ist, daß man von Seiten
der ersteren die letztere, trotzdem sie es eigentlich war, welche zum
Ausbau des städtischen Feuerlöschwesens nicht nur in vielen Fällen die
ersten Direktiven und nothwendigen Fingerzeige gegeben hatte und deren
exakte Organisation und Eingreifen bei Bränden sich jederzeit auf das
Vortrefflichste bewährt hatte, nach und nach über die Achsel anzusehen
und als etwas Entbehrliches zu betrachten begann. Diese bedauerlichen
Zustände spitzten sich im Laufe der Jahre immer mehr und mehr zu.
Selbst von untergeordneten Mitgliedern der Berufsfeuerwehr mußten
solche der Turnerfeuerwehr manche Nichtachtung ertragen, obwohl sich
die Mitglieder der letzteren aus den besten Ständen zusammensetzten.
Auf Beschwerden erfolgten laue Verweise, die in keiner Weise das
gekränkte Ehrgefühl des Corps zu beruhigen vermochten, ja dasselbe
mußte schließlich selbst einsehen, daß man den offenbaren Wunsch, sie
los zu sein, selbst höheren Ortes hegte und so kam es denn allmälig so
weit, daß das Corps, obwohl mit Leib und Seele für ihren freiwillig
übernommenen Beruf begeistert und thätig, mit bittren Gefühlen und
schweren Herzen seine freiwillige Auflösung selbst beschloß und
diese im Juni 1871 erfolgte. Wie manches früher mit Begeisterung
aufgenommene Gute und Vortreffliche später bei Seite geschoben wird,
so erging es auch der Turnerfeuerwehr und nach ihr der freiwilligen
Rettungskompagnie; aber es ist die Pflicht des Chronisten, derartige
gemeinnützige Einrichtungen auch für spätere Generationen in der
Geschichte der Stadt zu verzeichnen und dadurch die Anerkennung und den
Dank, den unsre Vaterstadt denselben schuldet, zum dauernden Ausdruck
zu bringen.

[Illustration: Oswald Faber,

Führer des zweiten Zuges der ehemaligen Leipziger Turner-Feuerwehr.]

Die Commandanten der Turnerfeuerwehr waren: Advocat _Max Rose_ (später
Stadtrath), Staatsanwalt _Löwe_.

Wird aber in Leipzigs Geschichte überhaupt der edlen Turnerei und
speciell der freiwilligen Feuerwehren gedacht, so kann dies unmöglich
geschehen, ohne dabei auch eines Mannes zu gedenken, der -- jetzt ein
Veteran derselben -- doch noch immer geistig und frisch in Mitten
derselben steht, dessen Verdienste um das Turn- und Feuerlöschwesen
-- in welch Letzterem er eine ganze Reihe noch jetzt als praktisch
bewährte Einrichtungen erfand -- bedeutende sind und der unzählige
Male mit Wort und Schrift für dasselbe begeistert und viele Andere
begeisternd eintrat und wahrhaft unermüdlich wirkte. Es ist dies der
Kaufmann und Turngeräthefabrikant Herr Oswald Faber in Leipzig,[2]
dessen Bild als Zugführer der Turnerfeuerwehr wir auf dem Titelblatt
und im Text unsres Heftes VI bringen. In wahrhafter Bescheidenheit
hat er sich stets allen Ovationen für seine Thätigkeit entzogen, ihm
gebührt ein Ehrenplatz in dieser Chronik unsres Leipzigs.

[1] Nach Oswald Fabers »Die freiwilligen Feuerwehren,« 3. Auflage.

[2] Mit seiner Concurrenzarbeit »Ueber Organisation von
Dorf-Feuerwehren« mit der großen silbernen Medaille der k. k.
österreich. Regierung prämirt im Juli 1870 auf dem 8. deutschen
Feuerwehrtag zu Linz.

                       C. Die Rettungscompagnie.

Die Leipziger freiwillige Rettungscompagnie, welche neben der
städtischen und der Turnerfeuerwehr bestand, rekrutirte sich aus
Leipziger Bürgern und Einwohnern von den besten Gesellschaftsklassen
herab bis zum Arbeiterstande. Ein sehr großer Theil derselben waren
ebenfalls noch aktive oder doch frühere Turner. Die Compagnie, deren
Zusammensetzung, Ziele u. s. w. so ziemlich dieselben waren, wie
die der Turnerfeuerwehr, wich an der Bekleidung insofern von der
Turnerfeuerwehr ab, als sie dunklere, schwarzgraue Blousen mit dem auf
die Brustseite angestepptem R. C. trug. Obwohl die Mitglieder derselben
ebenfalls zum Spritzen- und Steigerdienst vollständig ausgebildet waren
und ihre eigene vom Rath beschaffte Spritze besaßen, war ihr Augenmerk
doch in erster Linie, wie schon ihr Name sagt, auf das Rettungswerk von
Personen und beweglichem Besitzthum gerichtet. Die Rettungscompagnie,
welche eine Stärke von etwa 100 Mann besaß, wechselte mit der
Turnerfeuerwehr behufs Besetzung der Wache im Brühl dergestalt ab, daß
sie, nachdem die 15 tägigen Wachtposten der Turnerfeuerwehr beendet
waren, ihrerseits nun während 9 Tagen die Wache besetzte, worauf
wieder der Turnus der ersteren begann. Auch die Rettungscompagnie
nahm an der Tilgung aller Brände während der Zeit ihres Bestehens mit
gleicher Bravour und großer Pflichttreue und Erfolg Theil und hielt --
kleine Häkeleien dann und wann ausgenommen -- mit der Turnerfeuerwehr
treue Kameradschaft. Aber dieselben Gründe, welche schon 1871 eine
freiwillige Auflösung der Turnerfeuerwehr herbeiführten, führten auch
obwohl mehr als ein Jahrzehnt später ihre freiwillige Auflösung herbei.
Dieselbe erfolgte am 31. Dezember 1886. Bei dem Abschiedscommers im
alten Schützenhause am Abend des 31. December wurde die gesammte
Mannschaft zur Tilgung eines größeren Feuers nach Reudnitz commandirt.
Commandanten der Rettungscompagnie waren nach einander:

  Kaufmann _Rudolf Gruner_ (s. Bericht an den Rath vom 5. August 1842).

  Advokat (späterer Stadtrath) _Schilling_ vom 5. April 1851
  (ausgetreten am 1. Februar 1862).

  Eisengießereibesitzer _Gustav Götz_ vom 12. Februar 1862 (ausgetreten
  am 17. Februar 1870).

  Kaufmann _Hermann Meister_, vom 23. Februar 1870; (vom 1. Juni 1875
  städt. Branddirektor).

  Zimmermeister _Aug. Kersten_ (vom 5. Juni 1875, gest. im August 1883).

  Baumeister _W. Rob. Rost_ (vom 12. Oktober 1883 bis zur Auflösung der
  Compagnie am 31. Dezember 1886).

Beide Corporationen wurden vielen Hunderten freiwilliger Feuerwehren
in ganz Deutschland zum Vorbild, sie nahmen unter allen derselben den
ältesten und berechtigsten Vorrang ein und wenn jetzt noch das --
namentlich für kleinere und mittlere Gemeinden von so außerordentlich
wichtigen, werthvollen und mit verhältnißmäßig geringem Kostenaufwande
verbunden -- freiwillige Feuerlöschwesen in so hoher Blüthe steht, so
fällt ein guter Theil des Bewußtseins, wesentlich hierzu beigetragen zu
haben, auf die ehemalige freiwillige Feuerwehr zu Leipzig.



                                XXXIII.

                  Auf der Wache der Turnerfeuerwehr.


Das Wachtlokal der Turnerfeuerwehr und Rettungscompagnie befand
sich bis zur Auflösung beider Corporationen im Brühl, Ecke der
Göthestraße, damalige städt. Fleischhallen und zwar in ursprünglich zum
Verkaufsgewölbe eingerichteten Räumen. Groß war dasselbe nicht und von
übermäßigem Comfort war darin keine Rede. Im Hintergrund des ziemlich
tiefen, aber nicht sehr breiten Lokals befanden sich nebeneinander
die »Pfefferkuchen« ~vulgo~ »Matratzen« auf den Holzpritschen, auf
denen des Schlafes bedürftige Wachtmannschaften sich ausstrecken und
der Ruhe pflegen konnten, falls sie nicht die »Wache« hatten oder gar
die Wache allarmirt wurde. Ein einfacher großer Holztisch und mehrere
Stühle, eine Stechuhr zur Controlle der Wachthabenden, an den Wänden
Pflöcke und Kleiderhalter und eine alte Wanduhr, dies war die ganze
Einrichtung der »freiwilligen Wache.« Das Allarmiren nun ging früher,
ehe die Wachtlokale mit der Polizeiwache telegraphisch verbunden waren,
allerdings nicht ohne wirklichen Allarm vor sich. Da stürmten die
Feuerglocken von den Thürmen, die Trommeln der Communalgarden rasselten
durch die Straßen und die Feuersignale ertönten aus den Hörnern der
Signalisten der Garnison und bei Nacht erschollen in diesen Chaos von
Tönen noch der dumpfe Ton der Nachtwächterhörner, feuerrufende Menschen
rannten durch die Straßen und von allen Seiten jagten Spritzen und
Zubringer, Sturmfässer und Geräthewagen dem Ziele zu, welches von den
Thürmern durch Herausstecken von Fahnen oder bei Nacht von Laternen als
die Gegend, in welcher das Feuer ausgebrochen war, angedeutet wurde.
Die zuerst am Brandplatz ankommende Spritze wurde prämiirt und diese
Prämie haben sich die beiden freiwilligen Corps oft genug errungen.
Waren doch ihre Mannschaften mit Leib und Seele bei der Sache und
trotz des meist heiteren, geselligen Lebens, welches sich stets auf
diesen Wachen entwickelte, stand dieselbe stets auf dem Sprunge, ihre
übernommenen Pflichten auch voll und ganz auszuführen. Daß hierbei
einige Mal sogar ein Uebereifer zu Tage trat, ist wohl entschuldbar.
So hatten junge Mannschaften des 2. Zuges, die sich Nummer und Farbe
ihrer Spritze noch nicht genau eingeprägt hatten, einst das Malheur,
bei Feuerlärm einst am hellen Tage, statt ihrer Spritze, die der
Rettungscompagnie aus dem gemeinschaftlichen Depôt an der ersten
Bürgerschule zu ziehen und mit Unterstützung einiger hilfsbereiter
Lehrbuben und Gesellen im vollen Lauf nach der Brandstelle zu fahren
und dort in Thätigkeit zu setzen. Und -- welche Freude! -- ihre Spritze
war die erste am Platze und erhielt die Prämie! -- Aber -- welche
Enttäuschung, welche Spötteleien und gegenseitigen Vorwürfe, als
das Versehen erkannt wurde und nun die Prämie der Rettungscompagnie
zufiel! --

Beim Commers, nach Legung des Grundsteines zum Denkmal für die
Völkerschlacht (Anno 1863 -- Gott weiß, wann das Denkmal selbst erbaut
wird) sang die Turnerfeuerwehr:

    Wir und die Rettungscompagnie --
    Sahn oftmals uns kaum an
    Und dennoch hatten wir uns nie
    Etwas zu Leid gethan.
    Woraus der Streit entstanden war,
    Ist Keinem recht bekannt
    Und doch verging so manches Jahr --
    Eh’ er sein Ende fand etc. etc.

Für alle Theilnehmer an diesen Wachen bildeten dieselben ein Vergnügen,
und den Werth und die Bedeutung derselben für das kameradschaftliche
Wesen lernte man eigentlich erst richtig erkennen, als man in der
letzten Kneiperei der Turnerfeuerwehr am 22. Juli 1871 unter anderen
Schwanen-Gesängen auch den Vers sang:

    Nachdem zuvor im Tageblatt
    Die Gründe dargelegt man hat --
    Verschied zwar sanft -- und dennoch schwer --
    Die Leipz’ger Turnerfeuerwehr!

Männer der besten Gesellschaftsklassen, aber auch einfache Gesellen und
Handwerker gehörten der Truppe an und alle verband das Gefühl echter
kameradschaftlicher Freundschaft. Daß natürlich die Wachen der beiden
Corps von den Wachen der berufsmäßigen Feuerwehr insofern bedeutend
abwichen, als dieselben eben von den betreffenden Mannschaften mit
Vergnügen bezogen und »abgeschraubt« wurden, ist selbstverständlich,
und nicht nur ein geselliges, sondern auch oft genug ein
feuchtfröhliches Treiben, so weit solches mit den übernommenen
Pflichten vereinbar war, machte sich geltend. Scat und der solidere
Schafkopf traten in ihr volles Recht und wurden weidlich »gedroschen«,
oft aber waren auch Gäste »auf Wache«, die sich nicht »lumpen« ließen
und zur allgemeinen Erheiterung mit beitrugen. An Letzterer fehlte es
aber auch so nicht und so flog die Zeit von Abends 8 bis 2 Uhr vorüber.
Erst um diese Zeit, wo die sogenannte »Hundewache« (von 2—4) begann,
machte sich die Ermüdung geltend und die gefürchteten »Pfefferkuchen«
(Matratzen) wurden aufgesucht. Gefürchtet aber waren diese
Schmerzenslager wegen der Unmasse jener schwarzen Eindringlinge, die
sich sogar oft genug bis zu Quälgeistern unsrer Damenwelt aufschwingen
und also für den robusten Körper eines Feuerwehrmannes nicht die Spur
von Achtung oder Nachsicht hatten. Das hopste und sprang lustig umher
und zwickte und zwackte, daß männiglich nicht die zartesten Redensarten
den Sprechwerkzeugen der also Gefolterten entquollen.

»Donnerwetter!« schrie einst, früh gegen 3 Uhr, als der
Wachtcommandant, noch allein munter, bei der Stechuhr saß und las, ein
Wehrmann und sprang mit gesträubtem Haar und einem neuen Fluche vom
»Pfefferkuchen« herab.

»Was ist denn los?« rief erschrocken der Lesende.

»Donnerwetter« rief der Andere, seines Zeichens ein biederer
Tanzlehrer, wieder und griff nach seinem Helm, als wollte er die Wache
verlassen, »e Scorpion -- e Scorpion hat mich gebissen -- ich gehe
heem!«

Der Wachtcommandant hatte alles Mögliche zu thun, ja mußte zuletzt
seine ganze Autorität aufbieten, um den Aufgeregten zu beruhigen, der
dabei blieb »e Scorpion« habe ihn gebissen.

Auch die anderen Mitglieder der Wache waren munter geworden und eine
allgemeine Durchsuchung der »Pfefferkuchen« begann. Hei! wie das
fröhlich hüpfte und sprang -- und -- man fand zwar keinen Scorpion --
aber ein so riesiges Exemplar der Familie »Floh« wurde trotz der zu
solchen Fängen nur wenig geschickten Hände der tapferen Turner gefangen
und hingerichtet, daß es auf dem Tisch ordentlich »knallte« und es kein
Wunder war, wenn der Jünger Terpsichores an einen Scorpion gedacht
hatte. -- --

Jedem von denen, die als Gäste einen solchen Wachtabend mit verleben
durften, wird derselbe sicher unvergeßlich sein und manche bethätigten
ihre Dankbarkeit dafür, daß sie der Wache »etwas stifteten«.

So hatte sich einst ein Meßfremder aus Nordhausen auf der Wache so
gut amüsirt, daß er versprach, der Wache ein Fäßchen Nordhäuser --
aber echten und alten -- zu schicken. Aber als dieselbe Mannschaft
nach 15 Tagen wieder auf Wache kam, fragten sie vergeblich nach dem
Fäßchen und man lachte schließlich über das windige Versprechen. Wie
ward aber den Guten zu Muthe, als sie bald darauf erfuhren, daß das
Fäßchen allerdings richtig angekommen war, aber an einem von der
Rettungscompagnie besetzten Abend, und da das Geschenk eben einfach
an die »freiwillige Wache« adressirt war, so hatten sich die von
der Rettungscompagnie nicht als Verächter der von einem »Pirnschen«
gegebenen edlen Gottesgabe bewiesen und den Inhalt des Fäßchens
zur allgemeinen, tiefgefühlten Entrüstung der Anderen -- bis auf die
Nagelprobe geleert. Ja -- ja:

    Wir und die Rettungscompagnie u. s. w.

Und die -- waren doch so unschuldig -- so unschuldig. -- Der Nordhäuser
wurde aber als »ausgezeichnet« von ihnen gepriesen -- nicht gerade zur
Beruhigung der Anderen.

[Illustration: Auf der Wache der Turnerfeuerwehr.]

Manche alten Kämpen der Turnerfeuerwehr und Rettungscompagnie werden
frühere Mitglieder der beiden Corps auf unserem Bilde erkennen. Viele
-- viele von ihnen sind längst schlafen gegangen.

Es ist nicht zu leugnen, daß sich mit der Neuorganisation der Leipziger
Feuerwehr zu einem möglichst organischen Ganzen, sich die Wache der
freiwilligen Wehren allmälig als überflüssig -- ja vielleicht sogar der
allgemeinen Verwaltung -- hinderlich erwies und so kam es denn, daß im
Laufe der Zeit Zustände eintraten, bei denen die freiwilligen Wehren
fühlen mußten, daß sie -- entbehrlich waren und dies höheren Ortes
längst anerkannt wurde. Das Beste wäre nun wohl gewesen, wenn man dies
einfach und offen den Corps mitgetheilt hätte, statt dessen -- und dies
wohl wieder, weil man ihre früheren großen Dienste eben ganz und voll
anerkannte -- suchte man durch kleinliche Manöver mancher Art die Corps
zu veranlassen, selbst zu gehen, und als dies denn endlich geschah,
konnte man sich nicht wundern, daß Gefühle bitterer Enttäuschungen und
Zurücksetzungen mit zum Ausbruch kamen, wenn auch nur innerhalb der
letzten Versammlungen und geselligen Feste der Corps selbst.

    Der Rath schrieb auch »Ich danke schön,
    Es ist schon gut -- der Mohr kann geh’n --
    Gebt möglichst bald -- am liebsten gleich,
    Die Blousen ab -- und Euer Zeug!«

    D’rauf streckten alle das Gewehr --
    Mit Gurten, Flechen, Beilen schwer,
    Beladen sah man Manchen hin --
    Zu Brutus -- unserm Hausmann zieh’n! u. s. w.

sangen sie wehmüthig im letzten Commers am 22. Juli 1871 und daß man
sie zwang freiwillig zu gehen, kam in den Versen eines anderen Liedes
bei jenem Commers so recht schmerzlich zum Ausdruck. Da hieß es unter
Anderem:

    Der junge Baum, den in die Erde --
    Wir voller Hoffen einst gesenkt,
    Daß er ein Waldeskönig werde --
    Hat reiche Freude uns geschenkt.

    Er bot dem Wetter Trotz, der Starke,
    Und seine Krone brach kein Sturm --
    Nun aber nagt an seinem Marke,
    An seiner Lebenskraft der Wurm.

    Und soll er lange kläglich siechen
    Wehrlos des gier’gen Wurmes Raub --
    Und endlich doch am Boden liegen
    Mit dürrem Ast -- und welkem Laub?
    -- Nein -- dreimal Nein! Die letzte Liebe
    Gewährt ihm noch und zaudert nicht --
    Daß von der Axt und ihrem Hiebe
    In voller Pracht er niederbricht!

                   *       *       *       *       *

Mehr als zwanzig Jahre sind seitdem verflossen, aber die Geschichte der
freiwilligen Turnerfeuerwehr und der etwas später ebenfalls aufgelösten
Rettungscompagnie ist mit der Leipzigs eng verflochten geblieben und
den beiden Corps gebührt für immer ein Ehrenblatt in der Chronik
unserer Vaterstadt.



                         Inhalts-Verzeichniß.


                                Heft 1.

  Vorrede des Verfassers                                            3

  Die alte innere Stadt anno 1840                                   5

  Heiterer Rückblick auf die Steuerbeitreibung in früherer Zeit
        (mit Bild.)                                                12

  Die Südvorstadt. -- Ein Sonntagsausflug vor 50 Jahren            20

  Das Gutenbergfest 1840                                           25

  »Die Communalgarde rückt aus!« (mit Bild)                        29


                                Heft 2.

  Der »hohe Seeler!«                                               41

  Kramerlehrling und Gehilfe (mit Bild)                            47

  Verschiedene Chronica’s von 1840—1845                            58

  Die letzte öffentliche Hinrichtung in Leipzig                    64

  Die Leipziger Sänftenträger-Compagnie (mit Bild)                 71

  ~D. L. M.~                                                       80


                                Heft 3.

  Allerlei Chronica von 1846—49                                    81

  Die innere Stadt zur Meßzeit vor 40 Jahren (mit Bild)            87

  Der damalige Meßfremde                                           94

  Wichsekrah (mit Bild)                                            98

  Student und Verbindungströdeljude                               108

  Ein Abend bei den Harfenistinnen in Auerbachs Keller vor
        40 Jahren (mit Bild)                                      115


                                Heft 4.

  Allerlei Chronica von 1850—1859                                 129

  Die Hiersemusen! (mit Bild)                                     135

  Der Judenbrühl                                                  143

  Unter den Buden (mit Bild)                                      150

  Die Leipziger Meßmusikanten und das Tagebuch des Chorführers
        und Leinewebers Gottfried Hahn aus Stollberg
        im sächs. Erzgebirge (mit Bild)                           156


                                Heft 5.

  Allerlei Chronica von anno 1860                                 169

  Eckensteher und Nachtwächter vor 40 Jahren (mit Bild)           171

  Der alte Petersschießgraben (mit Bild) und Leipziger Originale:
        ~Dr.~ Ewald                                               180

  Leipzigs Südosten vor 40 Jahren                                 186

  In Wechselhaft (mit Bild)                                       193

  Der Verbrechertisch in der »guten Quelle« (mit Bild)            206


                                Heft 6.

  Allerlei Chronica                                               217

  Die politische Lage Deutschlands zu Ende der fünfziger, bis
        Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts            219

  Das 3. deutsche Turnfest 1863 (mit Bild)                        224

  Feier der Völkerschlacht 1863                                   239

  Leipzigs frühere Feuerwehrverhältnisse                          241

  Auf der Wache der Turnerfeuerwehr (mit Bild)                    254



                  =Verlag von Otto Lenz in Leipzig.=
   ----------------------------------------------------------------

                   Bibliothek niederdeutscher Werke:

 Bd. 1. =Frans Essink, sien Liäwen un Driewen äs aolt Mönstersk Kind.=
    Von Prof. ~Dr.~ H. _Landois_, 1. humor. Teil: =Bi Liäwtieden.= 7.
    Aufl., illustriert. brosch. M. 3.--, elegant geb. M. 4.--

 Bd. 2. =Frans Essink.= 2. satyr. Teil: =Nao sienen Daud.= 6. Aufl.,
    illustriert, brosch. M. 1.80, elegant geb. M. 2.70.

 Bd. 3. =Frans Essink.= 3. romant. Teil: =Up de Tuckesburg.=
    Brosch. M. 4.--, geb. M. 5.--.

 Bd. 4. =Sappholt aus Westfalens Dichterhain oder Mirza Schaffy in
    Holsken.= Neue humor. plattdeutsche Gedichte von Tonius Happenklang.
    Mit Illustrationen, brosch. M. 1.40, elegant geb. M. 2.25.

 Bd. 5/6. =De westfölsche Husfrönd.= Allerlei Spinnstuowengeschichten
    von Karl Prümer. Bd. 1/2. brosch. ~à~ M. 1.80, geb. à M. 2.70.

 Bd. 7. =Rugge Wiäge.= Aus dem westfälischen Bauernleben in
    niederdeutscher Sprache erzählt von Ferdinand Krüger. 3. Ausgabe,
    brosch. M. 2.--, eleg. geb. M. 2.80.

 Bd. 8. =Dä Chronika van Düöpm.= Ernste und spassige Epistel mit
    allerlei schäune Biller von Karl Prümer, brosch. M. 1.80,
    elegant geb. M. 2.70.

 Bd. 9. =Plattdütsche Lachpillen= oder lustige Reimereien in der Mundart
    der Kanonen- und Kohlenstadt Essen von Willem Täpper in Bochum.
    Bd. 1.  3. Auflage. Brosch. M. 1.20, eleg. geb. M. 2.10.

 Bd. 10/13. -- -- Band 2/5 erscheinen später.

 Bd. 14/16. =Hempelmann’s Smiede.= Ein westfälischer Roman aus der
    »guten alten Zeit« in münsterländisch-niederdeutscher Sprache von
    Ferdinand Krüger. Bd. 1/3. brosch. ~à~ M. 3.--, geb. ~à~ M. 4.--

                   =Weitere empfehlenswerthe Werke:=

 =Frl. Paulinchen Huhn’s Briefe= an ihre Freundin Frl. Laura Niedlich.
    brosch. Mk. 3.--, eleg. geb. Mk. 4.--

    »Cabinetstücke psychol. Feinmalerei« (Lpzg. Tagebl.) -- »erinnert
    an Raabe’s Chronik der Sperlingsgasse« (Allg. Modenztg.) --
    »ergötzl. Bild kleinstädt. Lebens« (National-Ztg.) »für die
    »Buchholzen« Schwärmende wird das echten Berliner Humor enthaltende
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 =Blumensprache= nebst Liedern der Liebe. 15. Aufl., brosch. M. --.75,
    geb. 1.25.

     Die Verlagshandlung =Otto Lenz= in =Leipzig=, Gellertstr. 16.



  Weitere Anmerkungen zur Transkription


  Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
  Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

  Korrekturen:

  Prinzipal → Principal (häufigere Verwendung)
  S. 54:  Da jeder {Principal} genau wußte

  Peterstraße → Petersstraße (es gibt keine Peterstraße in Leipzig)
  S. 7:   links von der {Petersstraße}
  S. 9:   Die {Petersstraße}, damals noch
  S. 80:  Leinenwaarengeschäft der {Petersstraße}
  S. 84:  Petersthor und {Petersstraße}
  S. 162: in der {Petersstraße}




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