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Title: Aus meinem Leben — Erster Teil
Author: Bebel, August, 1840-1913
Language: German
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Aus meinem Leben


Von August Bebel


Erster Teil



1910


Meiner lieben Frau



Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Aus der Kinder- und Jugendzeit
Die Lehr- und Wanderjahre
Zurück nach Wetzlar und weiter
Mein Eintritt in die Arbeiterbewegung und das öffentliche Leben
Lassalles Auftreten und dessen Folge
Der Vereinstag der deutschen Arbeitervereine
Friedrich Albert Lange
Neue soziale Erscheinungen
Der Stuttgarter Vereinstag
Wilhelm Liebknecht
Zunehmende Verstimmung in den Arbeitervereinen
Die Katastrophe von 1866
Nach dem Krieg
Die Weiterentwicklung des Verbandes der deutschen Arbeitervereine
Persönliches
Der Marsch nach Nürnberg
Die Gewerkschaftsbewegung
Meine erste Verurteilung
Vor Barmen-Elberfeld



Vorwort.


Der Wunsch vieler meiner Parteigenossen, ich möchte meine Erinnerungen
schreiben, trifft mit meinem eigenen Wunsche zusammen. Ist man wie ich
durch die Gunst der Verhältnisse in eine einflußreiche Stellung gelangt,
dann hat auch die Allgemeinheit ein Recht, die Umstände kennen zu
lernen, die dazu führten. Aber auch die Menge falscher Anklagen und
schiefer Urteile, mit denen ich so oft überschüttet wurde, lassen es mir
gerechtfertigt erscheinen, der Oeffentlichkeit zu zeigen, was daran
Wahres ist.

Dazu sind Offenheit und Wahrheit die ersten Erfordernisse, andernfalls
hat es keinen Zweck, über sein Leben Veröffentlichungen zu machen. Der
Leser meiner Aufzeichnungen, einerlei auf welcher Seite er steht oder zu
welcher Partei er sich zählt, wird mir nicht den Vorwurf machen können,
ich hätte vertuscht oder schön gefärbt. Ich habe die Wahrheit gesagt
auch dort, wo mancher denken wird, ich hätte besser getan, sie zu
verschweigen. Diese Ansicht teile ich nicht. Es gibt keinen fehlerlosen
Menschen, und manchmal ist es das Bekenntnis eines Fehlers, das den
Leser am lebhafteren interessiert und zur richtigen Beurteilung am
besten befähigt.

Wollte ich nach Möglichkeit die Wahrheit schreiben, so konnte ich mich
nicht auf mein Gedächtnis verlassen. Nach einer Reihe von Jahren läßt
einen das Gedächtnis im Stich, selbst Vorgänge, die sich einem tief
einprägten, erlangen im Laufe der Jahre unter allerlei Suggestionen eine
ganz andere Gestalt. Ich habe diese Erfahrung häufig nicht nur bei mir,
sondern auch bei anderen gemacht. Ich habe nicht selten im besten
Glauben Vorgänge früherer Jahre im Kreise von Bekannten und Freunden
erzählt, die sich nachher, zum Beispiel durch aufgefundene Briefe, die
unmittelbar unter dem Eindruck der Vorgänge geschrieben wurden, ganz
anders darstellten. Das hat mich zu der Ansicht geführt: Kein Richter
sollte über wenige Jahre eines Vorfalls hinaus einem Zeugen einen Eid
abnehmen. Die Gefahr des Falscheides ist groß.

Um die Richtigkeit meiner Angaben und auch der Auffassungen, wie ich sie
zu einer bestimmten Zeit hatte, festzustellen, habe ich nach Möglichkeit
Briefe, Notizen, Artikel usw. benutzt.

Aber es gab Abschnitte in meinem Leben, in denen es gefährlich war,
Briefe aufzubewahren, wollte ich nicht zum Denunzianten an anderen oder
an mir selbst werden. Das war ganz besonders die Zeit unter der
Herrschaft des Sozialistengesetzes, während welcher ich jede Stunde
Gefahr lief, einer Haus- und körperlichen Durchsuchung unterworfen zu
werden, sei es, um Material für einen Prozeß gegen mich oder gegen
andere zu gewinnen. Ich stand lange Zeit bei Polizei und Staatsanwälten
in dem Rufe, ein gefährlicher Mensch zu sein, dem man nicht über den Weg
trauen dürfe. Vielleicht nicht mit Unrecht. Aus denselben Gründen verbot
sich aber auch die Führung eines Tagebuchs.

In der vorliegenden Veröffentlichung ist namentlich in bezug auf die
antisozialistischen Arbeitervereine in den sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts ein Material enthalten, das bisher nur teilweise bekannt
war. Nachdem Ende Oktober letzten Jahres in Frankfurt a.M. L. Sonnemann
gestorben ist, lebt außer mir keiner mehr, der die Geschichte jener Zeit
so kennt und miterlebte wie ich, und dem auch das Material zur Verfügung
stand. Ich hoffte, mit der Arbeit weiter zu kommen, als ich gekommen
bin. Aber Krankheit, die mich fast zwei Jahre lang zu jeder
anstrengenden Geistesarbeit unfähig machte, ließ es nicht zu. Behalte
ich die nötige Gesundheit, so soll dem ersten in nicht zu langer Zeit
ein zweiter und vielleicht ein dritter Teil folgen.

Schöneberg-Berlin, Neujahr 1910

A. Bebel.



[Illustration: Meine Geburtsstätte. Die Kasematte zu Deutz-Köln.]



Aus der Kinder- und Jugendzeit.


Will man einen Menschen genauer beurteilen, so muß man die Geschichte
seiner Kinder- und Jugendjahre kennen. Der Mensch kommt mit einer Anzahl
Anlagen und Charaktereigenschaften zur Welt, deren Entwicklung von den
ihn umgebenden Zuständen sehr wesentlich abhängt. Anlagen und
Charaktereigenschaften können durch Erziehung und Beispiel der Umgebung
gefördert oder gehemmt, ja bis zu einem gewissen Grade unterdrückt
werden. Es hängt alsdann von den Verhältnissen im späteren Leben, öfter
auch von der Energie der betreffenden Persönlichkeit ab, ob und wie
fehlerhafte Erziehung oder unterdrückt gewesene Eigenschaften sich
Geltung verschaffen. Das kostet oft genug einen schweren Kampf mit sich
selbst, denn die Eindrücke, die der Mensch in seiner Kinder- und
Jugendzeit empfängt, beeinflussen am meisten sein Fühlen und Denken. Was
immer im späteren Leben die Verhältnisse aus dem einzelnen machen, die
Eindrücke seiner Jugend wirken im guten wie im schlimmen Sinne auf ihn,
und oft bestimmen sie sein Handeln.

Ich wenigstens muß eingestehen, daß die Eindrücke und Erlebnisse in den
Kinder- und Jugendjahren mich häufig in einer Weise gefangen nahmen, daß
ich Mühe hatte, mich ihrer zu erwehren, und ganz los geworden bin ich
sie nie.

Der Mensch ist irgendwo geboren.

Mir wurde dieses Glück zuteil am 22. Februar 1840, an welchem Tage ich
in der Kasematte zu Deutz-Köln das Licht der Welt erblickte. Mein Vater
war der Unteroffizier Johann Gottlob Bebel in der 3. Kompagnie des 25.
Infanterieregiments, meine Mutter Wilhelmine Johanna geborene Simon.
Mein Taufschein weist nicht Deutz — das damals noch eine selbständige
Gemeinde war —, sondern Köln als Geburtsort auf, offenbar weil die
Deutzer Garnison zu jener der Festung Köln und zur gleichen
Kirchengemeinde gehörte.

Das „Licht der Welt“, in das ich nach meiner Geburt blickte, war das
trübe Licht einer zinnernen Oellampe, das notdürftig die grauen Wände
einer großen Kasemattenstube beleuchtete, die zugleich Schlaf- und
Wohnzimmer, Salon, Küche und Wirtschaftsraum war. Nach der Angabe meiner
Mutter war es abends Schlag neun Uhr, als ich in die Welt trat, insofern
„ein historischer Moment“, als eben draußen vor der Kasematte der
Hornist den Zapfenstreich blies, bekanntlich seit „unvordenklichen
Zeiten“ das Zeichen, daß die Mannschaften sich zur Ruhe zu begeben
haben.

Prophetisch angelegte Naturen könnten aus dieser Tatsache schließen, daß
damit schon meine spätere oppositionelle Stellung gegen die bestehende
Staatsordnung angekündigt wurde. Denn streng genommen verstieß es wider
die militärische Ordnung, daß ich als preußisches Unteroffizierskind in
demselben Augenblick die Wände einer königlichen Kasemattenstube
beschrie — und ich soll schon bei meiner Geburt eine recht kräftige
Stimme gehabt haben —, in dem der Befehl zur Ruhe erlassen wurde.

Aber die so folgerten, täuschten sich. Es hat später noch geraumer Zeit
bedurft, ehe ich mich aus den Banden der Vorurteile befreite, in die das
Leben in der Kasematte und die späteren Jugendeindrücke mich geschlagen
hatten.

Es ist nicht überflüssig, weil für die Beurteilung meiner selbst
notwendig, hier einiges über meinen Vater und meine Mutter zu sagen.
Mein Vater war in Ostrowo in der Provinz Posen geboren, als der Sohn des
Böttchermeisters Johann Bebel. Ich glaube annehmen zu müssen, daß die
Bebels aus dem Südwesten Deutschlands (Württemberg) nach dem Osten, etwa
um die Reformationszeit, eingewandert sind. Feststellen konnte ich, daß
um 1625 schon ein Bebel in Kreuzburg (Schlesien) lebte. Aber zahlreicher
sind sie bis heute in Südwestdeutschland vorhanden. Auch kommt der Name
Bebel seit der Reformationszeit durch Träger desselben in öffentlichen
Stellungen vor. Ich erinnere an den Verfasser der „Facetiae“, den
Humanisten Heinrich Bebel, der Professor in Tübingen war und 1518 starb.
Ferner gab es einen Buchdrucker Johann Bebel in Basel, der um 1518 die
Utopie des Thomas Morus herausgab. Ein Professor Balthasar Bebel lebte
um 1669 in Straßburg i.E. und ein Dr. med. Friedrich Wilhelm Bebel um
1792 in Nagold in Württemberg. Der Name Bebel ist auch noch verballhornt
als Böbel in Süddeutschland zu finden. Daß mein Vater vom Osten nach dem
Westen verschlagen wurde, hatte seinen Grund darin, daß er mit
seinem Zwillingsbruder August im Jahre 1828 in ein posensches
Infanterieregiment, ich glaube in das 19., eintrat. Als dann im Jahre
1830 der polnische Aufstand ausbrach, hielt es die preußische Regierung
für angemessen, die posenschen Regimenter aus der Provinz zu entfernen.
Das Regiment, in dem mein Vater diente, wurde als Teil der preußischen
Bundesgarnison nach der damaligen Bundesfestung Mainz verlegt. Dieser
Umstand veranlaßte, daß mein Vater und meine Mutter sich kennen lernten.

Meine Mutter stammte aus einer alteingesessenen, nicht unbemittelten
Kleinbürgerfamilie der ehemaligen freien Reichsstadt Wetzlar. Der Vater
war Bäcker und Landwirt. Die Familie war zahlreich, und so trat meine
Mutter, dem Beispiel der Töchter anderer Wetzlarer Familien folgend, die
Wanderung nach Frankfurt a.M. an, woselbst sie als Dienstmädchen
Stellung nahm. Von Frankfurt kam sie nach dem benachbarten Mainz und
machte hier die Bekanntschaft meines Vaters. Als dann später das
betreffende Infanterieregiment wieder nach der Provinz Posen
zurückversetzt wurde, trat mein Vater in Rücksicht auf seine Braut,
vielleicht auch, weil es ihm im Rheinland besser gefiel als in seiner
Heimat, aus demselben aus und trat in das in Köln-Deutz garnisonierende
25. Infanterieregiment ein. Sein Zwillingsbruder August, mein Taufpate,
folgte seinem Beispiel insofern, als dieser in das damals in Mainz
garnisonierende 40. Infanterieregiment (8. rheinisches Füsilierregiment)
übertrat.

Eine preußische Unteroffiziersfamilie der damaligen Zeit lebte in
erbärmlichen Verhältnissen. Das Gehalt war mehr als knapp, wie denn zu
jener Zeit überhaupt in der Militär- und Beamtenwelt Preußens Schmalhans
Küchenmeister war, und so ziemlich jeder für Gott, König und Vaterland
den Schmachtriemen anziehen und hungern mußte. Meine Mutter erhielt die
Erlaubnis, eine Art Kantine führen zu dürfen, das heißt sie hatte das
Recht, allerlei kleine Bedarfsartikel an die Mannschaften der Kasematten
zu verkaufen, was in der einzigen Stube geschah, die wir inne hatten. So
sehe ich sie im Geiste noch heute vor mir, wie sie abends bei der mit
Rüböl gespeisten Lampe den Soldaten die steinernen Näpfe mit dampfenden
Pellkartoffeln füllte, à Portion 6 Pfennig preußisch.

Für uns Kinder — mir war im April 1841 der erste Bruder und im Sommer
1842 der zweite geboren worden — war das Leben in den Kasematten ein
Leben voller Wonnen. Wir trieben uns in den Kasemattenstuben umher,
verhätschelt oder auch gehänselt von Unteroffizieren und Mannschaften.
Waren aber die Stuben leer, weil die Mannschaften zu Uebungen ausgerückt
waren, so begab ich mich auf eine derselben und holte die Gitarre des
Unteroffiziers Wintermann, der auch mein Taufpate war, von der Wand, auf
der ich dann so lange musikalische Uebungen betrieb, bis keine Saite
mehr ganz war. Um diesen ungezügelten Musikübungen und ihren bösen
Folgen eine entsprechende Ablenkung zu geben, schnitzte er mir aus einem
Brett ein gitarreartiges Instrument, das er mit Darmsaiten bezog. Ich
saß nunmehr mit diesem in Gesellschaft meines Bruders stundenlang auf
der Türschwelle zu einem Hof in der Deutzer Hauptstraße und malträtierte
die Saiten, was die beiden Töchter eines gegenüberwohnenden
Dragonerrittmeisters so „entzückte“, daß sie uns öfter für meine
musikalischen Leistungen mit Kuchen oder Konfekt regalierten. Natürlich
litten unter diesen musikalischen nicht die militärischen Uebungen. Der
Anreiz dazu lag ja in der ganzen Umgebung, er lag buchstäblich in der
Luft. Sobald ich also die ersten Hosen und den ersten Rock anhatte, die
selbstverständlich beide aus einem alten Militärmantel des Vaters
gezimmert worden waren, stellte ich mich, ausgestattet mit der nötigen
Bewaffnung, neben oder hinter die auf dem freien Platz vor der Kasematte
übenden Mannschaften und ahmte ihre Bewegungen nach. Wie mir meine
Mutter später öfter humorvoll erzählte, soll ich namentlich das rechts
und links Aufrücken meisterlich fertig bekommen haben, eine Uebung, die
den Mannschaften viel Schweiß verursachte und bei der ich ihnen manchmal
von dem kommandierenden Offizier oder Unteroffizier als Muster
hingestellt worden sein soll.

Meines Vaters Augen sahen aber allmählich das Kommißleben anders an wie
sein Sohn. Er war zwar, wie uns meine Mutter öfter erzählte, gleich
seinem Bruder ein außerordentlich gewissenhafter, pünktlicher und
adretter Militär — ein sogenannter Mustersoldat —, aber er hatte zu
jener Zeit bereits seine zwölf und mehr Jahre Militärdienstzeit auf dem
Rücken, und stand ihm das Soldatenleben schließlich, wie man zu sagen
pflegt, bis an den Hals. Der Dienst wurde damals wohl auch noch
kleinlicher und engherziger betrieben als heute. Der Gamaschendienst
feierte zu jener Zeit seine Orgien. An Unabhängigkeits- und
Oppositionsgeist hat es meinem Vater offenbar auch nicht gefehlt, für
den zu jener Zeit in der Rheinprovinz der rechte Boden war, und so kam
er öfter in höchstem Zorn und mit Verwünschungen auf den Lippen vom
Exerzierplatz in die düstere Kasemattenstube. Als im Jahre 1840 unter
Louis Philipp und seinem Ministerium Thiers ein Krieg zwischen
Frankreich und Preußen drohte, soll er eines Tages in höchster Empörung
in die Stube getreten sein, weil nach seiner Ansicht ein blutjunger
Offizier ihm zu nahe getreten war, und meiner Mutter zugerufen haben:
„Frau, wenn es losgeht, die erste Kugel, die ich verschieße, gilt einem
preußischen Offizier!“ Der Ausdruck „preußischer Offizier“ im Munde
eines preußischen Unteroffiziers befremdet, er erklärt sich aber. Damals
und noch viel später wurde von der Bevölkerung des preußischen
Rheinlands jeder Offizier und Beamte einfach als „Preuß“ bezeichnet. Die
Rheinländer fühlten sich noch nicht als Preußen. Mußte ein junger Mann
Soldat werden, hieß es kurz: er muß Preuß (plattdeutsch „Prüß“) werden.
Es gab sogar hierfür ein derbes Schimpfwort. Ich hörte noch im Frühjahr
1869, als ich mit Liebknecht in einer politischen Angelegenheit in
Elberfeld war, daß in der Wirtsstube des Hotels, in dem wir wohnten,
ein Gast zu den anderen sagte: „Was will denn der preußische Offizier
hier?“, als er auf der Straße einen Offizier vorübergehen sah. Elberfeld
hatte damals wie heute keine Garnison.

Die geschilderte Auffassung war offenbar auch meinem Vater geläufig
geworden. Als er dann in den Jahren 1843 und 1844 nach fünfzehnjähriger
Dienstzeit als schwer kranker Mann über Jahr und Tag im Militärlazarett
verbringen mußte, den Tod und das Elend seiner Familie vor Augen, hat er
die Mutter wiederholt in der nachdrücklichsten Weise gebeten, nach
seinem Tode uns Jungen ja nicht für das Militärwaisenhaus einzugeben,
weil damit die Verpflichtung zu einer späteren neunjährigen Dienstzeit
in der Armee verbunden war. Bei dem Gedanken, daß die Mutter dieses
dennoch aus Not tun könnte, rief er in seiner durch die Krankheit
gesteigerten Erregung wiederholt aus: „Tust du es dennoch, ich erstech'
die Jungen vor der Kompagnie.“ In seiner Erregung übersah er, daß er
alsdann nicht mehr unter den Lebenden war.

Meinem Vater schlug insofern die Erlösungsstunde, als ihm im Frühjahr
1843 der Posten eines Grenzaufsehers angeboten wurde, für welchen Dienst
er sich seit langem gemeldet hatte. Er nahm den Posten an, und so zog
die Familie teils zu Fuß, teils auf dem Frachtwagen sitzend, der die
Möbel trug — denn eine Eisenbahn gab es zu jener Zeit in jener Gegend
noch nicht —, nach Herzogenrad an der belgischen Grenze. Aber unseres
Bleibens war hier nicht lange. Noch war die dreimonatige Probezeit nicht
zu Ende, so hatte sich mein Vater infolge des anstrengenden
Nachtdienstes eine schwere Erkrankung zugezogen. Muskelentzündung nannte
es meine Mutter, ich vermute, es war Gelenkrheumatismus, wozu sich die
Schwindsucht gesellte. Da durch den Nichtablauf der Probezeit mein Vater
noch nicht aus dem Militärverhältnis entlassen war, mußten wir mit dem
schwerkranken Manne dieselbe Reise in derselben Weise wieder nach Köln
zurücklegen. Ein sehr schweres Stück für meine Mutter. In Köln
angekommen, wurde der Vater in das Militärlazarett geschafft, und uns
wurde wieder eine Stube in den Deutzer Kasematten, diesmal hinten nach
dem Wallgraben hinaus, angewiesen. Nach dreizehnmonatiger Krankheit
starb der Vater, 35 Jahre alt, ohne daß die Mutter die Berechtigung zum
Bezug einer Pension hatte. Wir mußten kurz nach dem Tode des Vaters die
Kasematte verlassen, und die Mutter wäre schon jetzt gezwungen gewesen,
nach ihrer Heimat Wetzlar überzusiedeln, wenn nicht der Zwillingsbruder
des Vaters, August Bebel, sich der Mutter und unserer annahm. Um diese
Pflicht besser erfüllen zu können, entschloß er sich, Herbst 1844, meine
Mutter zu heiraten.

Dieser mein Stiefvater war im September 1841 wegen Ganzinvalidität mit
einem Gnadengehalt von zwei Talern monatlich aus dem Dienst im 40.
Infanterieregiment entlassen worden. Ursache der Invalidität war der
Verlust der Kommandostimme infolge einer Kehlkopfentzündung, die später
ebenfalls in Schwindsucht ausartete. Er hatte nach Aufgabe seiner
Stellung im Regiment nahezu zwei Jahre als Polizeiunteroffizier im
Militärlazarett in Mainz fungiert und hatte alsdann provisorisch die
Stelle eines Revieraufsehers in der Provinzial-Korrektionsanstalt
Brauweiler bei Köln angenommen. Seine eigentliche Absicht war, bei der
Post in Dienst zu treten. Aber damals befand sich das Postwesen noch in
Stagnation. Sollte eine Stelle besetzt werden, so mußte meist erst ein
bisheriger Stelleninhaber sterben oder pensioniert werden, ehe eine
solche frei wurde. Bezeichnend für die Art des Postdienstes jener Zeit
ist, daß, als mein Stiefvater im Sommer 1844 nach Ostrowo an seinen
Bruder schrieb, um eine ihm nötige amtliche Vollmacht für seine Heirat
zu erwirken, er auf der Adresse des zufällig in meinen Händen
befindlichen Briefes vermerkte: „Absender bittet um baldige Abgabe.“ Die
Briefbestellung war also damals offenbar eine seltene und auch säumige.
Die gewünschte Stelle bei der Post als Briefträger wurde meinem
Stiefvater nach mehrjährigem Warten endlich im Oktober 1846 angetragen,
als er eben auf der Totenbahre lag.

Wir siedelten im Spätsommer 1844 nach Brauweiler über. Mein nunmehriger
Vater hatte hier in der großen Provinzialanstalt sicher den schwersten
Dienst. Er war unter anderem auch Aufseher der Gefangenenanstalt, die
sich dort für die Arbeitshäusler befand, die wegen Vergehen in der
Anstalt zu Gefängnis verurteilt wurden. Die Anstalt bildete einen großen
Komplex von Gebäuden und Höfen und umschloß auch Gartenland. Das alles
war mit einer hohen Mauer umzogen. Männer, Frauen und jugendliche
Insassen waren voneinander getrennt. Um nach dem Arresthaus zu gelangen,
in dem sich auch unsere Wohnung befand, mußte man über mehrere Höfe
schreiten, die durch schwere verschlossene Türen voneinander getrennt
waren. Das Arresthaus war also von jeder menschlichen Umgebung
abgeschieden. Allabendlich, sobald die Dämmerung eintrat, flogen
Dutzende von Eulen in allen Größen mit ihrem Gefauche und Gekrächze um
das Gebäude und jagten uns Kindern Angst und Schrecken ein. Der
Aufenthalt dieser Eulen war der Turm der nahen Kirche. Auch sonst war
dieser Aufenthalt für uns Kinder, und vermutlich auch für meine Eltern,
kein erfreulicher. Der Dienst meines Vaters, der morgens um 5 Uhr begann
und bis zum späten Abend währte, war ein sehr anstrengender und mit viel
Aerger verknüpft. Die Art der damaligen Gefangenenbehandlung war eine
grausame. Ich habe mehr als einmal mit angesehen, daß junge und ältere
Männer, die extra schwer bestraft wurden, sich der scheußlichen Prozedur
des Krummschließens unterziehen mußten. Dieses Krummschließen bestand
darin, daß der Delinquent sich auf den Boden der Zelle auf den Bauch zu
legen hatte. Alsdann bekam er Hand- und Fußschellen angelegt. Darauf
wurde ihm die rechte Hand über den Rücken hinweg an den linken Fuß und
die linke Hand ebenfalls über den Rücken an den rechten Fuß gefesselt.
Damit noch nicht genug, wurde ihm ein leinenes Tuch strickartig um den
Körper über Brust und Arme auf dem Rücken scharf zusammengezogen. So als
lebendes Knäuel zusammengeschnürt, mußte der Uebeltäter zwei Stunden
lang auf dem Bauch liegend aushalten. Alsdann wurden ihm die Fesseln
abgenommen, aber nach wenigen Stunden begann die Prozedur von neuem.

Das Gebrülle und Gestöhne der so Mißhandelten durchtönte das ganze
Gebäude und machte natürlich auf uns Kinder einen schauerlichen
Eindruck.

Hier in Brauweiler besuchte ich schon von Herbst 1844 ab, erst
vierundeinhalb Jahre alt, die Dorfschule, und zwar wurde ich in diesem
jugendlichen Alter als „Freiwilliger“ aufgenommen. Kehrten wir Kinder
aus dieser zurück, so mußten wir eines der Anstaltstore passieren, das
eine Schildwache zu öffnen hatte. Eines Tages aber waren wir starr vor
Ueberraschung, als der Posten die Tür öffnete und wir statt des bisher
im Gebrauch gewesenen Tschakos einen glänzenden Helm von sehr
bedeutender Höhe auf seinem Haupte thronen sahen. Diese ersten Helme
waren im Vergleich zu ihren Nachfolgern in der Jetztzeit wahre Ungetüme
und entsprechend schwer. Wir erholten uns von unserer Ueberraschung und
unserem Staunen erst, als der Posten uns zuherrschte: „Jungs, macht, daß
ihr hereinkommt, oder ich schlage euch die Tür vor der Nase zu!“

Das Leben für uns Kinder war in der Anstalt nicht sehr
abwechslungsreich. Es spielte sich in der Hauptsache innerhalb eines
Teiles der Anstaltsmauern ab. Auch wurde unser Vater, der ein sehr
strenger Mann war und dem es an Aerger nicht fehlte, immer reizbarer,
eine Reizbarkeit, die durch die mittlerweile bei ihm zum Ausbruch
gekommene Schwindsucht immer mehr zunahm. Die Mutter und wir Kinder
hatten darunter viel zu leiden. Mehr als einmal mußte die Mutter dem
Vater in die Arme fallen, wenn dieser in maßloser Erregung schwere
körperliche Züchtigungen an uns vollzog. Sind Prügel der höchste Ausfluß
erzieherischer Weisheit, dann muß ich ein wahrer Mustermensch geworden
sein. Aber was ich geworden bin, wurde ich wohl trotz der Prügel.

Andererseits wieder war der Vater aufs emsigste für unser Wohl bemüht,
denn er war trotz alledem ein gutherziger Mann. Konnte er uns zum
Beispiel zu Weihnachten, Neujahr oder Ostern eine Freude bereiten, so
geschah es, soweit es die bescheidenen Mittel erlaubten. Und sehr
bescheiden waren diese. Neben freier Wohnung (zwei Stuben), Heizung und
Licht empfing der Vater monatlich etwa acht Taler Gehalt. Damit mußten
fünf, später vier Menschen auskommen, da mein jüngster Bruder, ein
bildhübsches Kind und der Liebling des Vaters, Sommer 1845 starb.

Die Krankheit meines Vaters machte unterdes rapide Fortschritte.
Bereits am 19. Oktober 1846 starb er nach etwa zweijähriger Ehe. So war
meine Mutter binnen drei Jahren zum zweitenmal Witwe und wir vaterlose
Waisen. Auch aus dieser Ehe hatte die Mutter keinen Anspruch auf
staatliche Unterstützung. Nunmehr blieb ihr nichts übrig, als nach ihrer
Heimat Wetzlar überzusiedeln. Anfang November wurden abermals die
Siebensachen auf einen Wagen geladen — die heutigen Möbelwagen gab es
wohl zu jener Zeit noch nicht — und wurde die Reise nach Köln
angetreten. Das Wetter war häßlich. Es war kalt und regnerisch. In Köln
wurde der Hausrat am Rheinufer unter freiem Himmel aufs Pflaster
gesetzt, um von dort per Schiff nach Koblenz und von dort wieder per
Wagen das Lahntal hinauf nach Wetzlar transportiert zu werden. Als wir
abends gegen 10 Uhr die Schiffskajüte zur Fahrt nach Koblenz betraten,
war diese mit Menschen überfüllt und herrschte ein Tabaksqualm zum
Ersticken. Da uns niemand Platz machte, legten wir zwei Jungen, todmüde
wie wir waren, uns dicht an der Tür auf den Fußboden und schliefen, wie
nur müde Kinder schlafen können. Den fünften oder sechsten Tag kamen wir
endlich in Wetzlar an, in dem damals noch meine Großmutter und vier
verheiratete Geschwister — drei Schwestern und ein Bruder — meiner
Mutter lebten.

Unsere eigentliche Jugendzeit verlebten wir jetzt hier. Wetzlar, eine
kleine, romantisch gelegene Stadt, besaß damals eine ganz vortreffliche
Volksschule. Zunächst kamen wir beide in die Armenschule, die sich in
einem großen Gebäude, dem Deutschen Haus, das ehemals den deutschen
Ordensrittern gehörte, befand. In dem großen Vorhof zu diesem Gebäude
steht links das einstöckige Haus, in dem einst Charlotte Buff, die
Heldin in Goethes Werther, wohnte. Der Zufall wollte, daß ich später
mehreremal in diesem Hause übernachtete, als einer meiner Vettern
Cicerone für das Charlotte-Buff-Zimmer wurde. Ich kann mich auch noch
der Feier zum hundertsten Geburtstag Goethes (1849) erinnern, die am
Wildbacher Brunnen stattfand, woselbst sich die Goethelinde befindet.
Der Brunnen heißt seit jener Zeit Goethebrunnen. Zehn Jahre später
wohnte ich der Feier zu Schillers hundertstem Geburtstag im Salzburger
Stadttheater bei.

Nach einigen Jahren wurde die Armenschule mit der Bürgerschule
verschmolzen, wir hießen jetzt Freischüler; die Mädchen erhielten das
Deutsche Haus als Schulhaus angewiesen.

Mit der Schule und den Lehrern fand ich mich im ganzen sehr gut ab, nur
mit dem Kantor nicht, der mir nicht hold war. Ich gehörte zu den besten
Schülern, was namentlich unseren Lehrer der Geometrie, ein kleiner
prächtiger Mann, veranlaßte, mich mit noch zwei Kameraden extra
vorzunehmen und uns in die Geheimnisse der Mathematik einzuweihen. Wir
lernten mit Logarithmen rechnen. Neben Rechnen und Geometrie waren meine
Lieblingsfächer Geschichte und Geographie. Religion, für die ich keinen
Sinn hatte — und meine Mutter, eine aufgeklärte und freidenkende Frau,
quälte uns zu Hause nicht damit —, lernte ich nur, weil ich mußte. Ich
war zwar auch hier mit an der ersten Stelle, aber das verhinderte nicht,
daß ich namentlich in der Katechumenenstunde dem Oberpfarrer einigemal
Antworten gab, die gar nicht ins Schema paßten und mir kleine
Strafpredigten eintrugen.

Im übrigen war unser Oberpfarrer ein sehr ehrenwerter Mann und durchaus
kein Frömmling, was aber, nebenbei bemerkt, nicht verhinderte, daß man
ihm eines Tages, richtiger in einer Nacht, einen losen Streich spielte.
In Wetzlar bestand zu jener Zeit die Sitte, sie besteht vielleicht auch
heute noch, die im Spätherbst oder Winter geschlachteten Gänse eine
Nacht der Durchfrierung auszusetzen, das soll dem Geschmack des Bratens
förderlich sein. Die Gans wurde also in respektvoller Höhe, in der Regel
vor das Fenster gehängt. So auch bei Oberpfarrers. Aber am nächsten
Morgen war die Gans verschwunden. Dagegen hing am darauffolgenden Morgen
das fein säuberlich abgenagte Gerippe der Gans am Glockenzug der Haustür
und daran befestigt ein Zettel, auf dem das schöne Verslein stand:

  Guten Morgen, Herr Schwager!
  Gestern war ich fett und heut bin ich mager!

Ganz Wetzlar lachte, denn in einer kleinen Stadt sprechen sich
derartige Vorkommnisse rasch herum. Ich nehme an, auch der Oberpfarrer
lachte.

Wenn ich aber fleißig lernte und überall im Können mit an der Spitze
stand, so stand ich auch an der Spitze der meisten losen Streiche, die
nun einmal bei Jungen, die ein größeres Maß Bewegungsfreiheit haben,
unausbleiblich, ja selbstverständlich sind. Das brachte mich in
„sittlicher“ Beziehung in einen üblen Ruf. Namentlich genoß ich diesen
bei unserem Kantor, der das Departement des Aeußern zu vertreten hatte,
das heißt, der all die bösen Streiche, die der Schule gemeldet wurden,
an den Attentätern zu bestrafen hatte. Wieso er, statt des Rektors, zu
dieser Rolle kam, weiß ich nicht. Vielleicht daß sein Dienstalter oder
seine Körperfülle oder ein Gewohnheitsrecht ihn dazu prädestinierte.
Auch wußte er mit unnachahmlicher Grazie und sehr wirksam den Bakel zu
schwingen. Weniger schmerzte es, wenn er mit seinen kleinen fetten
Händen uns rechts und links ins Gesicht fuhr, daß es nur so klatschte.
Aber auch in einem solchen Moment konnte ich nicht unterlassen, die
kleinen fetten Hände zu bewundern.

Unsere Haupttummelplätze waren die nächste Umgebung des Domes, das alte
Reichskammergerichtsgebäude, dessen große Räume jahrelang als Lagerplatz
einem Gastwirt dienten, die große Burgruine Kalsmunt vor der Stadt, die
Felsenpartien an der Garbenheimer Chaussee — der Ort Garbenheim besitzt
ebenfalls Erinnerungen an Goethe —, auf deren Felsplatten wir unsere
„Festungen“ errichteten, die alte Stadtmauer und vor allem die auf einem
Hochplateau gelegene Garbenheimer Warte, von der aus wir im Herbste
unsere Raubzüge in die Kartoffelfelder unternahmen, um Kartoffeln zum
Braten zu holen. Eines Tages mußten wir dafür eine mehrstündige
Belagerung durch eine Bauernfamilie aushalten, die wir aber siegreich
abschlugen. Die Streifereien durch Wald und Flur, namentlich während der
Ferien, waren zahllos.

Auch war das Obststrippen, wie wir es nannten, eine
Lieblingsbeschäftigung im Sommer und Herbste, denn die Umgebung Wetzlars
ist sehr obstreich. Die Lahn, ein ganz respektabler Fluß, gab im Sommer
die gewünschte Badegelegenheit und im Winter die Möglichkeit zum
Schlittschuhsport. Bei einer solchen Gelegenheit passierte es, daß mein
Bruder hart neben mir in ein leicht zugefrorenes Loch einbrach und
unzweifelhaft unter das Eis geraten und ertrunken wäre, breitete er
nicht unwillkürlich die Arme aus, die ihn oben hielten. Ein Kamerad und
ich zogen ihn aus dem Wasser und brachten ihn auf eine Felsplatte an der
Garbenheimer Chaussee. Hier mußte er sich entkleiden, wir borgten ihm
einzelne Kleidungsstücke von uns und rangen dann seine Kleider aus, die
wir in der ungewöhnlich warmen Februarsonne trockneten. Die Mutter
erfuhr erst nach Monaten den Unfall ihres Zweiten, was dadurch
ermöglicht wurde, daß wir unsere Kleider selbst reinigten, auch, so gut
es ging, selbst flickten, um die Risse dem Auge der Mutter zu verbergen.

Das Jahr darauf half ich einem meiner Vettern, der einige Jahre älter
war als ich, bei ähnlicher Gelegenheit das Leben retten. Dieser, ein
vorzüglicher Schlittschuhfahrer, kam eines Tages in sausender Fahrt die
Lahn herunter und fuhr auf ein Wehr zu, wobei er infolge der
spiegelblanken Eisfläche nicht sah, daß vor dem Wehr ein breiter
Streifen offenes Wasser war. Voll Schrecken schrie ich ihm zu,
umzukehren. Er gehorchte auch. Aber es war zu spät. Als er den
Ausweichbogen beschrieb, brach er ein. Krampfhaft hielt er sich am Eis
fest, sobald er aber den Versuch machte, ein Bein auf dasselbe zu
bringen, brach es von neuem. Rasch riß ich jetzt einen langen
gestrickten wollenen Schal, wie sie damals allgemein getragen wurden,
vom Hals, nahm einen zweiten von einem neben mir stehenden Kameraden,
knüpfte beide zusammen und warf das eine Ende meinem Vetter zu, das er
glücklich erhaschte. Jetzt zogen wir ihn langsam auf festes Eis. Er war
gerettet.

Mein schlimmer Ruf bei unserem Kantor war allmählich so fest begründet,
daß er es als selbstverständlich voraussetzte, daß ich bei jeder
Teufelei, die vorkam, beteiligt sei. Versuchte ich einmal einen
Kameraden vor ungerechter Strafe zu schützen, indem ich mich für diesen
ins Mittel legte, so wurde ich ohne Gnade als Beteiligter angesehen und
mitbestraft, auch wenn ich gänzlich unbeteiligt war. Später hat man mir
in der Partei die Eigenschaft, um jeden Preis gerecht sein zu wollen,
scherzweise als Gerechtigkeitsmeierei angekreidet. Oft genug hatte
allerdings unser Kantor berechtigte Ursache, mit mir ins Gericht zu
gehen. So als ich eines Tages, dem dunklen Triebe nach „Berühmtheit“
folgend, in die roten Sandsteinstufen zum Eingang in den Dom in
lapidaren Buchstaben meinen vollen Namen, Geburtsort und Geburtstag
eingemeißelt hatte. Ein starker Nagel als Meißel und ein Stein als
Hammer bildeten die Werkzeuge, die ich dazu benutzte. Natürlich wurde
die böse Tat am nächsten Sonntag beim Kirchgang allseitig entdeckt, auch
von dem Kantor. Endresultat: etwelche Ohrfeigen und dreimal über Mittag
bleiben. Das bedeutete, daß ich vom Schluß der Schule am Vormittag bis
zum Beginn derselben am Nachmittag im „Karzer“ zubringen mußte, also
erst nach dem zweiten Schulschluß nach Hause kam und so mein Mittagessen
einbüßte. Zum Glück aber hatte der Kantor eine weichmütige Tochter.
Diese beobachtete mich an der Seite ihres Bräutigams, als ich am zweiten
Mittag am Karzerfenster stand und philosophische Betrachtungen über die
Freiheit der Spatzen anstellte, die auf dem Schulhof in Scharen lärmten.
Von meinem Schicksal gerührt, erwirkte sie mir bei ihrem Vater sofort
eine vollständige Amnestie und kam selbst, um mir die Freiheit
anzukündigen und mich aus der Haft zu entlassen. Es war die erste und
einzige Begnadigung, die mir in meinem Leben zuteil geworden ist. Hätte
das Ewigweibliche öfter über mein Geschick zu entscheiden gehabt, ich
glaube, ich wäre manchmal besser davongekommen.

Indes kam auch für mich der Tag der Erkenntnis, an dem ich mir sagte,
jetzt mußt du doch anfangen, ein ordentlicher Kerl zu werden. Dieser Akt
vollzog sich also. Der Sohn des Majors des in Wetzlar garnisonierenden
Jägerbataillons, Moritz v.G., war mein Kumpan bei vielen losen Streichen
gewesen. Da kam das Schulexamen. Der einzige Mensch, der von der
Bevölkerung demselben als Zuhörer beiwohnte, war Major v.G., ein Hüne an
Gestalt. Die Prüfung war zu Ende, und es wurden die Zensuren verlesen.
Merkwürdigerweise wurden diese ausschließlich auf das sittliche
Verhalten hin erteilt. Alle Schüler der Klasse hatten bereits ihre
Zensur erhalten, nur Moritz v.G. und ich waren übrig. Wir allein
erhielten die Zensur fünf, also die schlechteste, die es gab. Der Vater
Major verzog keine Miene, aber ich habe Grund, anzunehmen, daß es zu
Hause für Moritz nicht glimpflich abging. Ich sah ihn seit jenem Tage
nie wieder, er kam unmittelbar nach jenem Vorgang auf die
Kadettenschule. In den neunziger Jahren erfuhr ich, daß er in K. eine
hohe militärische Stellung bekleidete. Ihm hatte also seine böse
Bubennatur so wenig geschadet wie mir. Von jener Stunde an wurde ich
ordentlich, das heißt ich tat nichts mehr, was mir Strafen eintrug. So
erhielt ich im nächsten Examen die Zensur drei und bei der folgenden und
letzten Prüfung, an der ich teilnahm, die Eins. Wäre es damals auf die
Stimmung der Klasse angekommen, ich hätte auch eine der beiden zur
Verteilung gelangten Prämien erhalten. Als der Rektor den Namen des
zweiten Ausgezeichneten nennen wollte, rief die ganze Klasse meinen
Namen. Der Rektor aber meinte, ich hätte mich zwar sehr gebessert, aber
doch nicht in dem Maße, um mir eine Prämie zu geben. So trat ich
prämienlos ins Leben.

       *       *       *       *       *

Unsere materiellen Verhältnisse konnten sich in Wetzlar nicht bessern.
An Pension konnte meine Mutter keinen Anspruch erheben. Die einzige
Unterstützung, die sie später vom Staat erhielt, bestand in 15
Silbergroschen pro Monat und Kopf von uns zwei Jungen. Diese waren ihr
gewährt worden, weil sie trotz des Abratens ihres ersten Ehemannes uns
beide als Kandidaten für das Militärwaisenhaus in Potsdam angemeldet
hatte. Es war die Not, die sie dazu zwang; sie hatte zwar von ihrer
mittlerweile gestorbenen Mutter fünf bis sechs Parzellen Land geerbt,
die in den verschiedensten Gemarkungen um Wetzlar herum zerstreut lagen.
Und sie hatte, der Not gehorchend, auch mehrere davon bereits verkauft,
um leben zu können. Aber dieser Verkauf fiel ihr herzlich schwer. Ihr
ganzes Dichten und Trachten war darauf gerichtet, uns den noch
vorhandenen Besitz zu erhalten, damit wir nicht gänzlich mittellos in
der Welt stünden. Was eine Mutter für ihre Kinder opfern kann, habe ich
an der eigenen erfahren. Einige Jahre lang hatte meine Mutter für ihren
Schwager — einen Handschuhmacher — weiße Militärlederhandschuhe genäht,
das Paar für 6 Kreuzer, ungefähr 20 Pfennig. Mehr als ein Paar im Tag
konnte sie aber nicht fertigen. Dieser Verdienst war zum Leben zu wenig,
zum Sterben zu viel. Aber auch diese Arbeit mußte sie nach einigen
Jahren aufgeben, denn auch sie war mittlerweile von der Schwindsucht
ergriffen worden, die ihr in den letzten Lebensjahren jede Arbeit
unmöglich machte. Ich als Aeltester mußte die Ordnung des kleinen
Hauswesens, Stube und Kammer, übernehmen. Ich hatte Kaffee zu kochen,
Stube und Kammer zu reinigen und sie samstäglich zu scheuern; ich mußte
das Zinn- und Blechgeschirr putzen, unser Bett machen usw., eine
Tätigkeit, die mir nachher als Handwerksbursche und politischer
Gefangener sehr zustatten kam. Da es meiner Mutter später aber auch
unmöglich wurde, zu kochen, ging jeder von uns beiden zu einer Tante zu
Mittagessen, die sich zu diesem Liebesdienst bereit erklärten. Für die
Mutter selbst holten wir abwechselnd bei verschiedenen bessersituierten
Familien das bißchen Essen, dessen sie benötigte. Um unsere Lage etwas
zu verbessern, beschloß ich, als Kegeljunge tätig zu sein. Nach Schluß
der Schule ging ich zum Kegelaufsetzen auf die Kegelbahn in einer
Gartenwirtschaft. Von dort kam ich in der Regel erst abends gegen zehn
Uhr nach Hause, am Sonntag weit später. Aber das fortgesetzte Bücken
verursachte mir so heftige Rückenschmerzen, daß ich jeden Abend stöhnend
nach Hause kam. Ich mußte diese Beschäftigung einstellen. Eine andere
Beschäftigung, an der wir Jungen beide teilnahmen, war im Herbst das
Kartoffellesen bei der Ernte auf den Aeckern einer unserer Tanten. Es
war, wenn es neblig, naß und kalt war, keine angenehme Beschäftigung,
von früh sieben bis zum Dunkelwerden auf den Kartoffelfeldern zu
arbeiten, aber es winkte uns als Lohn ein großer Sack Kartoffeln für den
Winter, außerdem erhielten wir jeden Morgen, wenn wir mit aufs Feld
gingen, zur Anregung ein großes Stück Zwetschgenkuchen, den wir beide
leidenschaftlich liebten.

Als ich im dreizehnten und mein Bruder im zwölften Lebensjahr stand, kam
vom Militärwaisenhaus die Nachricht, mein Bruder könne einrücken. Ich
war auf Grund ärztlicher Untersuchung als körperlich zu schwach dazu
erklärt worden. Jetzt sank aber meiner Mutter der Mut; sie fühlte ihr
Ende nahen, und so glaubte sie es nicht verantworten zu können, daß mein
Bruder für zwei Jahre Militärerziehung nachher zu neun Jahren
Militärdienstzeit verpflichtet werde. „Wollt ihr Soldat werden, so geht
später freiwillig, ich verantworte es nicht,“ äußerte sie zu uns. So
unterblieb der Eintritt meines Bruders in das Militärwaisenhaus, der für
mich damals zu meinem Bedauern nicht in Frage kam.

Mein lebhaftes kindliches Interesse weckten die Bewegungsjahre 1848 und
1849. Die Mehrzahl der Wetzlarer Einwohner war entsprechend der
Traditionen der Stadt republikanisch gesinnt. Diese Gesinnung übertrug
sich auch auf die Schuljugend. Bei einer Disputation über unsere
politischen Ansichten, wie sie unter Schuljungen vorzukommen pflegt,
stellte sich heraus, daß nur ein Kamerad und ich monarchisch gesinnt
waren. Dafür wurden wir beide mit einer Tracht Prügel bedacht. Wenn sich
also meine politischen Gegner über meine „antipatriotische“ Gesinnung
entrüsten, weil nach ihrer Meinung Monarchie und Vaterland ein und
dasselbe sind, so ersehen sie aus der vermeldeten Tatsache, vielleicht
zu ihrer Genugtuung, daß ich schon fürs Vaterland gelitten habe, als
ihre Väter und Großväter noch in ihrer Maienblüte Unschuld zu den
Antipatrioten gehörten. Im Rheinland war wenigstens zu jener Zeit der
größere Teil der Bevölkerung republikanisch gesinnt.

Für meine Mutter brachte jene Zeit in ihr tägliches Einerlei insofern
eine kurze Abwechslung, als, ich glaube bei dem Rückmarsch aus dem
badischen Feldzug, das Bataillon des 25. Infanterieregiments, bei dem
mein Vater gedient hatte, kurze Zeit in Wetzlar verblieb. In demselben
standen noch eine Anzahl Unteroffiziere, die meine Mutter von früher
kannten. Diese besuchten uns jetzt. Auf ihr Drängen ließ sich meine
Mutter herbei, einen Mittagstisch für sie einzurichten. Profitiert hat
sie wohl nichts. Ich hörte eines Tages, daß zwei der Gäste auf der
Treppe beim Fortgehen sich unterhielten und das Essen sehr lobten, sich
aber auch wunderten, daß es meine Mutter für so billigen Preis liefern
könne.

Sehr amüsant für uns Jungen waren die Bauernrevolten, die sich in jenen
Jahren im Wetzlarer Kreise abspielten. Die Bauern mußten damals noch
allerlei aus der Feudalzeit übernommene Verpflichtungen erfüllen. Da
alles für Freiheit und Gleichheit schwärmte, wollten sie jetzt diese
Lasten auch los sein; sie rotteten sich also zu Tausenden zusammen und
zogen nach Braunfels vor das Schloß des Fürsten von Solms-Braunfels. An
der Spitze des Zuges wurde in der Regel eine große schwarzweiße Fahne
getragen, zum Zeichen, daß man allenfalls preußisch, aber nicht
braunfelsisch sein wolle. Ein Teil des Haufens trug Flinten vermiedenen
Kalibers, die große Mehrzahl aber Sensen, Mist- und Heugabeln, Aexte
usw. Hinter dem Zug, der sich mehrfach wiederholte und stets unblutig
verlief, marschierte in der Regel die Wetzlarer Garnison, um den Fürsten
zu schützen, wenn sie nicht schon vorher ausgerückt war. Ueber die
Begegnung der Bauernführer mit dem Fürsten kursierten in Wetzlar sehr
amüsante Erzählungen. Die Wetzlarer blieben noch lange in ihrer
oppositionellen Stimmung. Als im Jahre 1849 oder 1850 der Prinz von
Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm I., in Begleitung des Generals v.
Hirschfeld, der damals das 8. rheinische Armeekorps kommandierte, auf
seiner Inspektionsreise auch nach Wetzlar kam, wurde sein Wagen vor dem
Tore mit Schmutz beworfen. Ein Verwandter von mir, der sich bei einer
Gelegenheit zum Sturmläuten hatte fortreißen lassen, wurde mit drei
Jahren Zuchthaus bestraft. Für die Bürgerwehr, die in den
Bewegungsjahren auch in Wetzlar bestand, hatte ich nur ein Gefühl der
Geringschätzung, obgleich mehrere meiner Verwandten zu ihr gehörten, und
zwar wegen der mangelnden militärischen Haltung, mit der sie ihre
Uebungen vornahm. Mit der wiederkehrenden Reaktion verschwand sie.

       *       *       *       *       *

Das Jahr 1853 machte meinen Bruder und mich zu Waisen. Anfang Juni
starb meine Mutter. Sie sah ihrem Tode mit Heroismus entgegen. Als sie
am Nachmittag ihres Todestags ihr letztes Stündlein herannahen fühlte,
beauftragte sie uns, ihre Schwestern zu rufen. Einen Grund dafür gab sie
nicht an. Als die Schwestern kamen, wurden wir aus der Stube geschickt.
In trübseliger Stimmung saßen wir stundenlang auf der Treppe und
warteten, was kommen werde. Endlich gegen sieben Uhr traten die
Schwestern aus der Stube und teilten uns mit, daß soeben unsere Mutter
gestorben sei. Noch an demselben Abend mußten wir unsere Habseligkeiten
packen und den Tanten folgen, ohne daß wir die tote Mutter noch zu sehen
bekamen. Die Aermste hatte wenig gute Tage in ihrem Ehe- und Witwenleben
gesehen. Und doch war sie immer heiter und guten Mutes. Ihr starben
binnen drei Jahren zwei Ehemänner, außerdem zwei Kinder, außer meinem
jüngsten Bruder eine Schwester, die vor mir geboren worden war, die ich
aber nicht gekannt habe. Mit uns zwei Brüdern hatte sie wiederholt
schwere Krankheitsfälle durchzumachen. Ich erkrankte 1848 am
Nervenfieber und schwebte mehrere Wochen zwischen Leben und Tod. Einige
Jahre danach erkrankte ich an der sogenannten freiwilligen Hinke, kam
aber mit graden Gliedern davon. Mein Bruder stürzte, neun Jahre alt,
beim Spiel in einer Scheune von der obersten Leiterstufe auf die Tenne
herab und trug eine schwere Kopfwunde und eine Gehirnerschütterung
davon. Auch er entging nur mit genauer Not dem Tode. Meine Mutter selbst
litt mindestens sieben Jahre an der Schwindsucht. Mehr Trübsal und Sorge
konnten einer Mutter kaum beschieden sein.

Ich kam jetzt zu einer Tante, die eine Wassermühle in Wetzlar in
Erbpacht hatte, mein Bruder kam zu einer anderen Tante, deren Mann
Bäcker war. Ich mußte jetzt fleißig in der Mühle zugreifen. Besonderes
Vergnügen machte es mir, mit den beiden Eseln, die wir besaßen, Mehl
aufs Land zu den Bauern zu transportieren und Getreide von ihnen in
Empfang zu nehmen. Am liebsten aber war mir, wenn ich nur wenig Getreide
zum Rücktransport erhielt, dann konnte ich auf einem der Esel nach der
Stadt reiten. Das ließ sich auch unser Schwarzer, der ein geduldiges
Tier war, gefallen, aber unser Grauer, der jung und feurig war, dachte
anders. Er besaß offenbar so etwas wie Standesbewußtsein, denn außer der
gewohnten Last litt er keine fremde auf seinem Rücken. Als ich aber doch
eines Tages auf seinem Rücken Platz genommen hatte, setzte er sich
sofort in Trab, steckte den Kopf zwischen die Vorderbeine und schlug mit
den Hinterbeinen nach Kräften aus. Ehe ich mich's versah, flog ich in
einem eleganten Bogen in den Straßengraben. Glücklicherweise ohne mich
zu verletzen. Er hatte seinen Zweck erreicht, ich ließ ihn fortan in
Ruhe.

Außer den beiden Eseln besaß meine Tante ein Pferd, mehrere Kühe, eine
Anzahl Schweine und mehrere Dutzend Hühner. Und da sie auch
Landwirtschaft betrieb, fehlte es nicht an Arbeit, obgleich neben ihrem
Sohn ein Müllerknecht — wie damals die Gesellen genannt wurden — und
eine Magd beschäftigt wurden. Hatte der Knecht keine Zeit, so mußte ich
Pferd und Esel putzen und manchmal auch das Pferd in die Schwemme
reiten. Die Sorge für den Hühnerhof war mir ganz überlassen. Ich mußte
die Fütterung der Hühner besorgen, die Eier aus den Nestern nehmen oder
wohin sonst diese gelegt worden waren und den Stall reinigen. Mit diesen
Beschäftigungen kam Ostern 1854 heran. Es folgte meine Entlassung aus
der Schule, ein Ereignis, dem ich keineswegs freudig entgegensah. Am
liebsten wäre ich in der Schule geblieben.



Die Lehr- und Wanderjahre.


Was willst du denn werden? war die Frage, die jetzt mein Vormund, ein
Onkel von mir, an mich stellte. „Ich möchte das Bergfach studieren!“
„Hast du denn zum Studieren Geld?“ Mit dieser Frage war meine Illusion
zu Ende.

Daß ich das Bergfach studieren wollte, war dadurch veranlaßt, daß,
nachdem im Anfang der fünfziger Jahre die Lahn bis Wetzlar schiffbar
gemacht worden war, in der Wetzlarer Gegend der Eisenerzabbau einen
großen Aufschwung genommen hatte. Bis dahin hatten Haufen Eisenerze fast
wertlos vor den Stollen gelegen, weil die hohen Transportkosten die
Ausnutzung der Erze wenig rentabel machten. Da aus dem Bergstudium
nichts werden konnte, entschloß ich mich, Drechsler zu werden. Das
Angebot eines Klempnermeisters, bei ihm in die Lehre zu treten, lehnte
ich ab, der Mann war mir unsympathisch, auch stand er im Rufe eines
Trinkers. Drechsler wurde ich aus dem einfachen Grunde, weil ich
annehmen durfte, daß der Mann einer Freundin meiner Mutter, der
Drechslermeister war, und der in der Stadt den Ruf eines tüchtigen
Mannes genoß, bereit sein werde, mich in die Lehre zu nehmen. Dies
geschah auch. Die Begründung, mit der er meine Anfrage bejahte, war
wunderlich genug. Er äußerte, seine Frau habe ihm erzählt, ich hätte
mein religiöses Examen bei der Konfirmation in der Kirche sehr gut
bestanden, er nehme also an, ich sei auch sonst ein brauchbarer Kerl.
Nun war ich sicher kein dummer Kerl, aber ich müßte die Unwahrheit
sagen, wollte ich behaupten, ich sei in der Drechslerei ein Künstler
geworden. Es gab solche, und mein Meister gehörte zu ihnen, aber ich
habe es trotz aller Mühe nicht über die Mittelmäßigkeit gebracht, was
nicht verhinderte, daß ich drei Jahre später, am Ende meiner Lehrzeit,
für mein Gesellenstück die erste Zensur bekam.

Meine physische Leistungsfähigkeit wurde durch meine körperliche
Schwäche beeinträchtigt. Ich war ein ungemein schwächlicher Junge, wozu
wohl auch mangelhafte Ernährung beitrug. So bestand unser Abendessen
viele Jahre täglich nur in einem mäßig großen Stück Brot, das mit Butter
oder Obstmus dünn bestrichen war. Beschwerten wir uns, und wir klagten
täglich, daß wir noch Hunger hätten, so gab die Mutter regelmäßig zur
Antwort: Man muß manchmal den Sack zumachen, auch wenn er noch nicht
voll ist. Der Knüppel lag eben beim Hunde. Unter sotanen Umständen war
es erklärlich, daß wir uns heimlich ein Stück Brot abschnitten, wenn wir
konnten. Aber das entdeckte meine Mutter sofort und die Strafe blieb
nicht aus. Eines Tages hatte ich wieder dieses Verbrechen begangen.
Trotz aller Mühe, die ich mir gegeben hatte, den glatten Schnitt der
Mutter nachzuahmen, wurde am Abend die Tat von ihr entdeckt. Ihr
Verdacht fiel, ich weiß nicht warum, auf meinen Bruder, der sofort mit
der breiten Seite eines langen Bureaulineals, das aus der Väter Nachlaß
stammte, ein paar Schläge erhielt. Mein Bruder protestierte, er sei
nicht der Täter gewesen. Das sah aber meine Mutter als Lüge an, und so
bekam er eine zweite Portion. Jetzt wollte ich mich als Täter melden,
aber da fiel mir ein, daß das töricht wäre; mein Bruder hatte die
Schläge weg, und ich hätte wahrscheinlich noch mehr als er bekommen.
Damit tröstete ich auch meinen Bruder, als dieser nachher mir Vorwürfe
machte, daß ich mich nicht als Täter gemeldet hatte. Es ist begreiflich,
wenn jahrelang mein Ideal war, mich einmal an Butterbrot tüchtig satt
essen zu können.

Meister und Meisterin waren sehr ordentliche und angesehene Leute. Ich
hatte ganze Verpflegung im Hause, das Essen war auch gut, nur nicht
allzu reichlich. Meine Lehre war eine strenge und die Arbeit lang.
Morgens 5 Uhr begann dieselbe und währte bis abends 7 Uhr ohne eine
Pause. Aus der Drehbank ging es zum Essen und vom Essen in die Bank.
Sobald ich morgens aufgestanden war, mußte ich der Meisterin viermal je
zwei Eimer Wasser von dem fünf Minuten entfernten Brunnen holen, eine
Arbeit, für die ich wöchentlich 4 Kreuzer gleich 14 Pfennig bekam. Das
war das Taschengeld, das ich während der Lehrzeit besaß. Ausgehen durfte
ich selten in der Woche, abends fast gar nicht und nicht ohne besondere
Erlaubnis. Ebenso wurde es am Sonntag gehalten, an dem unser
Hauptverkaufstag war, weil dann die Landleute zur Stadt kamen und ihre
Einkäufe an Tabakpfeifen usw. machten und Reparaturen vornehmen ließen.
Gegen Abend oder am Abend durfte ich dann zwei oder drei Stunden
ausgehen. Ich war in dieser Beziehung wohl der am strengsten gehaltene
Lehrling in ganz Wetzlar, und oftmals weinte ich vor Zorn, wenn ich an
schönen Sonntagen sah, wie die Freunde und Kameraden spazieren gingen,
während ich im Laden stehen und auf Kundschaft warten und den Bauern
ihre schmutzigen Pfeifen säubern mußte. Nur am Sonntag vormittag,
nachdem ich die Sonntagsschule nicht mehr besuchte, wurde mir gestattet,
zur Kirche zu gehen. Dafür schwärmte ich aber nicht. Ich benützte also
die Gelegenheit, die Kirche zu schwänzen. Um aber sicher zu gehen und
nicht überrumpelt zu werden, erkundigte ich mich stets erst, welches
Lied gesungen werde und welcher Pfarrer predige. Eines Sonntags aber
ereilte mich mein Geschick. Beim Abendessen frug der Meister, ob ich in
der Kirche gewesen sei? Dreist antwortete ich: Ja! Er frug weiter: was
für ein Lied gesungen worden sei? Ich gab die Nummer an, entdeckte aber
zu meinem Schrecken, daß die beiden Töchter, die mit am Tische saßen,
kaum das Lachen verbeißen konnten. Als ich nun auf die dritte Frage: wer
von den Pfarrern predigte denn? auch eine falsche Antwort gab, schlugen
diese eine laute Lache auf. Ich war hereingefallen. Ich war zu früh an
die Kirchtüre gegangen, noch ehe der Küster die neue Liedernummer
aufgesteckt hatte, und in bezug auf den Namen des Pfarrers war ich
falsch berichtet worden. Der Meister meinte trocken: es scheine, daß ich
mir aus dem Kirchenbesuch nichts machte, ich möchte also künftig zu
Hause bleiben. So war ein schönes Stück Freiheit verloren. Ich warf mich
nun mit um so größerem Eifer auf das Lesen von Büchern, die ich ohne
Wahl las, natürlich meistenteils Romane. Ich hatte schon in der Schule
meine Vorzugsstellung gegen Kameraden, denen ich beim Lösen der
Aufgaben half oder ihnen das Abschreiben derselben erlaubte, dazu
benutzt, sie zu veranlassen, mir zur Belohnung Bücher, die sie hatten,
zu leihen. Dadurch kam ich zum Beispiel zum Lesen von Robinson Crusoe
und Onkel Toms Hütte. Jetzt verwandte ich meine paar Pfennige, um Bücher
aus der Leihbibliothek zu holen. Einer meiner Lieblingsschriftsteller
war Hackländer, dessen Soldatenleben im Frieden dazu beitrug, meine
Begeisterung für das Militärwesen etwas zu dämpfen. Weiter las ich
Walter Scott, die historischen Romane von Ferdinand Stolle, Luise
Mühlbach usw. Aus der Väter Nachlaß hatten wir einige Geschichtsbücher
gerettet. So ein Buch, das einen ganz vortrefflichen Abriß über die
Geschichte Griechenlands und Roms enthielt. Den Verfasser habe ich
vergessen. Ferner einige Bücher über preußische Geschichte, natürlich
offiziell geeicht, deren Inhalt ich so im Kopfe hatte, daß ich alle
Daten in bezug auf brandenburgisch-preußische Fürsten, berühmte
Generale, Schlachttage usw. am Schnürchen hersagen konnte. Schmerzlich
wartete ich auf das Ende der Lehrzeit, ich hatte Sehnsucht, die ganze
Welt zu durchstürmen. Aber so schnell, wie ich wünschte, ging es nicht.
An demselben Tage, an dem meine Lehrzeit beendet war, starb mein
Meister, und zwar ebenfalls an der Schwindsucht, die damals in Wetzlar
förmlich grassierte. So kam ich in die seltsame Lage, an demselben Tage,
an dem ich Geselle geworden war, auch Geschäftsführer zu werden. Ein
anderer Geselle war nicht vorhanden, ein Sohn, der das Geschäft hätte
fortführen können, fehlte; so entschloß sich die Meisterin, allmählich
auszuverkaufen und das Geschäft aufzugeben. Für die Meisterin, die eine
auffallend hübsche und für ihr Alter ungewöhnlich rüstige Frau war, die
mich stets gut behandelte, wäre ich durchs Feuer gegangen. Ich zeigte
ihr jetzt meine Hingabe dadurch, daß ich über meine Kräfte arbeitete.
Von Mai bis in den August stand ich mit der Sonne auf und arbeitete bis
abends 9 Uhr und später. Ende Januar 1858 war das Geschäft liquidiert,
und ich rüstete mich zur Wanderschaft. Als ich mich von der Meisterin
verabschiedete, gab sie mir außer dem fälligen Lohn noch einen Taler
Reisegeld. Am 1. Februar trat ich die Reise zu Fuß bei heftigem
Schneetreiben an. Mein Bruder, der das Tischlerhandwerk erlernte,
begleitete mich ungefähr eine Stunde Weges. Als wir uns verabschiedeten,
brach er in heftiges Weinen aus, eine Gefühlsregung, die ich nie an ihm
beobachtet hatte. Ich sollte ihn zum letzten Male gesehen haben. Im
Sommer 1859 erhielt ich die Nachricht, daß er binnen drei Tagen einem
heftigen Gelenkrheumatismus erlegen sei. So war ich der Letzte von der
Familie.

Mein nächstes Ziel war Frankfurt a.M. Von Langgöns aus benutzte ich die
Bahn und kam so noch an demselben Tage den Abend in Frankfurt an, wo ich
in der Herberge zum Prinz Karl einkehrte. Arbeit wollte ich noch nicht
nehmen, so fuhr ich zwei Tage später mit der Bahn nach Heidelberg. Der
Zug, auf dem ich fuhr, hatte statt Glasfenster Vorhänge aus Barchent,
die zugezogen werden konnten. Damals bestand noch der Paßzwang, das
heißt es bestand für die Handwerksburschen die Verpflichtung, ein
Wanderbuch zu führen, in das die Strecken, die sie durchwandern wollten,
polizeilich eingetragen — visiert — wurden. Wer kein Visum hatte, wurde
bestraft. In vielen Städten, darunter auch in Heidelberg, bestand weiter
zu jener Zeit die Vorschrift, daß die Handwerksburschen morgens zwischen
8 und 9 Uhr auf das Polizeiamt kommen mußten, um sich ärztlich,
namentlich auf ansteckende Hautkrankheiten, untersuchen zu lassen. Wer
die Stunde für diese Visitation übersah, mußte mit der Abreise bis zum
nächsten Tage warten, er bekam kein Visum. So erging es mir, weil ich
die Vorschrift nicht kannte und auf das Polizeiamt zu spät kam. Von
Heidelberg wanderte ich zu Fuß nach Mannheim und von dort nach Speier,
woselbst ich Arbeit fand. Die Behandlung war gut und das Essen ebenfalls
und reichlich, schlafen mußte ich dagegen in der Werkstatt, in der in
einer Ecke ein Bett aufgeschlagen war. Das geschah mir später auch in
Freiburg i.B. In jener Zeit bestand im Handwerk noch allgemein die
Sitte, daß die Gesellen beim Meister in Kost und Wohnung waren, und
diese letztere war häufig erbärmlich. Der Lohn war auch niedrig, er
betrug in Speier pro Woche 1 Gulden 6 Kreuzer, etwa 2 Mark. Als ich mich
darüber beklagte, meinte der Meister: er habe in seiner ersten
Arbeitsstelle in der Fremde auch nicht mehr erhalten. Das mochte
fünfzehn Jahre früher gewesen sein. Sobald das Frühjahr kam, litt es
mich nicht mehr in der Werkstätte. Anfang April ging ich wieder auf die
Walze, wie der Kunstausdruck für das Wandern lautet. Ich marschierte
durch die Pfalz über Landau nach Germersheim und über den Rhein zurück
nach Karlsruhe und landaufwärts über Baden-Baden, Offenburg, Lahr nach
Freiburg i.B., woselbst ich wieder Arbeit nahm. In jenem Frühjahr war
die Nachfrage nach Schneidergehilfen ungemein stark; und da ich sehr
flott marschierte und im Aeußern der Vorstellung, die man sich von einem
Schneidergesellen machte, durchaus entsprach, wurde ich auf dieser Reise
öfter schon vor den Toren der Städte von Schneidermeistern angesprochen,
die in mir ein Objekt für ihre Ausbeutung zu sehen glaubten. Mehrere
wollten nicht glauben, daß ich kein Schneider sei, andere wieder
entschuldigten sich, daß sie mich für einen solchen gehalten, „weil ich
ganz wie ein Schneider aussähe“.

In Freiburg i.B. verlebte ich einen sehr angenehmen Sommer. Freiburg ist
nach seiner Lage eine der schönsten Städte Deutschlands; seine Wälder
sind bezaubernd, der Schloßberg ist ein herrliches Stückchen Erde, und
zu Ausflügen in die Umgegend locken Dutzende prächtig gelegener Orte.
Aber was mir fehlte, war entsprechender Anschluß an gleichgesinnte junge
Leute. Ein Zusammenhang mit Fachgenossen bestand zu jener Zeit nicht.
Die Zunft war aufgehoben, und neue Gewerksorganisationen gab es noch
nicht. Politische Vereine, denen man als Arbeiter hätte beitreten
können, existierten ebenfalls nicht. Noch herrschte überall in
Deutschland die Reaktion. Für reine Vergnügungsvereine hatte ich aber
keinen Sinn und auch kein Geld. Da hörte ich von der Existenz des
katholischen Gesellenvereins, der am Karlsplatz sein eigenes Vereinshaus
hatte. Nachdem ich mich vergewissert, daß auch Andersgläubige Aufnahme
fänden, trat ich, obgleich ich damals Protestant war, demselben bei.

Ich habe nachmals, solange ich in Süddeutschland und Oesterreich
zubrachte, in Freiburg und Salzburg dem katholischen Gesellenverein als
Mitglied angehört und habe es nicht bereut. Der Kulturkampf bestand zum
Glück zu jener Zeit noch nicht. In diesen Vereinen herrschte daher auch
damals gegen Andersgläubige volle Toleranz. Der Präses des Vereins war
stets ein Pfarrer. Der Präses des Freiburger Vereins war der später im
Kulturkampf sehr bekannt gewordene Professor Alban Stolz. Die
Mitgliedschaft wurde durch den von den Mitgliedern gewählten Altgesellen
repräsentiert, der nach dem Präses die wichtigste Person war. Es wurden
zeitweilig Vorträge gehalten und Unterricht in verschiedenen Fächern
erteilt, so zum Beispiel im Französischen. Die Vereine waren also eine
Art Bildungsvereine; wie diese Gesellenvereine später sich gestaltet
haben, darüber vermag ich nichts zu sagen. In dem Vereinszimmer fand man
eine Anzahl allerdings nur katholischer Zeitungen, aus denen man aber
doch erfahren konnte, was in der Welt vorging. Das war für mich, der
schon am Ende der Schuljahre und nachher in den Lehrjahren, als der
Krimkrieg entbrannt war, sich lebhaft um Politik bekümmerte, eine
Hauptsache.

Auch das Bedürfnis nach Umgang mit gleichaltrigen und strebsamen jungen
Leuten fand hier seine Befriedigung. Ein eigenartiges Element im Verein
waren die Kapläne, die, jung und lebenslustig, froh waren, daß sie
gleichaltrigen Elementen sich anschließen konnten. Ich habe einige Male
mit solchen jungen Kaplänen die vergnügtesten Abende verlebt. Einen
solchen Abend verlebte ich unter anderen in München, indem ich das
Gesellenvereinshaus auf der Rückreise von Salzburg besuchte und darin
wohnte, und zwar Anfang März 1860. Verließ das Gesellenvereinsmitglied
den Ort, so bekam er ein Wanderbuch mit, das ihn in den Gesellenvereinen
und bei den Pfarrherren, falls er bei diesen um Unterstützung
vorsprechen wollte, legitimierte. Ich bin noch heute Besitzer eines
solchen Buches, in dem auf der ersten Seite der heilige Josef mit dem
Christkindlein auf dem Arme abgebildet ist. Der heilige Josef ist der
Schutzpatron der Gesellenvereine. Den Gründer derselben, Pfarrer
Kolping, damals in Köln, der, irre ich nicht, selbst in seiner Jugend
Schuhmachergeselle war, lernte ich in Freiburg im Breisgau kennen,
woselbst er eines Tages einen Vortrag hielt.

Im September drängte es mich, weiterzuwandern. Ich verließ Freiburg und
marschierte bei herrlichstem Wetter durch das Höllental über den
Schwarzwald nach Neustadt, Donaueschingen und Schaffhausen. Ein
wunderbarer Anblick war es in jenen Tagen, schon am Nachmittag am
Firmament einen gewaltigen Kometen — den Donatischen — zu beobachten,
der in seltenem Glanze strahlte und einen Schweif von ungewöhnlicher
Länge besaß. Zu jener Zeit stand der Schwarzwald noch in seiner ganzen
Pracht und Herrlichkeit. Jahrzehnte später haben die Axt und die Säge
große Strecken des prächtigsten Waldes gefällt und gelichtet. Die
moderne Entwicklung forderte es. In der Schweiz durfte ich nicht
bleiben. Der Aufenthalt in der Schweiz war damals den preußischen
Handwerksburschen von ihrer Regierung verboten. War doch der Neuenburger
Streit das Jahr zuvor erst zuungunsten der preußischen Regierung beendet
worden. Außerdem hätten die Handwerksburschen republikanische Ideen in
sich aufnehmen können, und das mußte im Interesse der staatlichen
Ordnung verhütet werden. Als ich im Frühjahr 1858 auf der preußischen
Gesandtschaft in Karlsruhe um die Erlaubnis zum Aufenthalt in der
Schweiz anfragte, wurde mir diese mit Hinweis auf das bestehende Verbot
verweigert.

So wanderte ich auf der Schweizer Seite nach Konstanz, fuhr zu Schiff
über den Bodensee nach Friedrichshafen, wobei ich infolge eines Sturmes
seekrank wurde. Von Friedrichshafen ging der Marsch zu Fuß über
Ravensburg, Biberach, Ulm, Augsburg nach München. In Württemberg bestand
zu jener Zeit in den Städten die Einrichtung, daß die reisenden
Handwerksburschen ein sogenanntes Stadtgeschenk in Empfang nehmen
konnten, das in der Regel 6 Kreuzer betrug, um sie vom Fechten
abzuhalten. Ich habe dieses Geschenk überall gewissenhaft kassiert. Von
Ulm aus schloß sich mir ein stämmiger Tiroler an, der wie ein Fleischer
aussah, aber ein Schneider war. Statt eines Berliners trug er einen
Militärtornister auf dem Rücken, was ihm, da er auch eine leinene Bluse
trug, ein seltsames Aussehen gab. Da unser Geld knapp war und Fechten
zu keiner Zeit als Schande für einen Handwerksburschen galt, klopften
wir ziemlich häufig die Dörfer ab, die wir passierten. Eines Mittags
hatten wir wieder in einem Dorfe einen strategischen Plan entworfen. „Du
nimmst die rechte Seite, ich die linke!“ hieß es. Als ich in ein Haus
kam und ansprach, erhielt ich von der Tochter mit dem Geschenk zugleich
die Warnung, mich in acht zu nehmen, der Gendarm sei in der Nähe. Das
ließ ich mir gesagt sein und sprach nicht mehr an. Als ich aber außen
vor dem Dorfe ein stattliches Haus stehen sah, allerdings auf der
anderen Seite, das aber aussah, als könnten seine Bewohner zwei
Handwerksburschen unterstützen, konnte ich der Versuchung nicht
widerstehen und marschierte drauflos. Glücklicherweise betrachtete ich
das Haus mir nochmals von außen, ehe ich die sechs oder sieben
Steinstufen hinaufstieg, und da entdeckte ich zu meiner Ueberraschung
über der Tür ein Schild mit dem Inhalt: Königlich bayerische
Gendarmeriestation. Hier ging ich mit Andacht vorbei und legte mich
außerhalb des Dorfes im herrlichsten Sonnenschein auf eine Wiese, um
meinen Reisegenossen zu erwarten. Dieser kam endlich angetrappt und
marschierte direkt auf das Haus los, das ja auf der ihm zugeteilten
Seite lag. Ohne es von außen anzusehen, stieg er die Treppe hinauf und
ging hinein. Ich gestehe, daß ich in diesem Augenblick von einem wahren
Lachkrampf befallen wurde. Nach einigen Sekunden kam aber der Tiroler
zum Hause herausgeschossen, sprang mit einem mächtigen Satze über
sämtliche Treppenstufen und rannte, was ihn die Beine tragen konnten,
davon. Als ich ihn lachend frug, was denn passiert sei, erzählte er: er
sei direkt nach der Kuchel (Küche) gegangen, aus der es sehr gut
gerochen habe, dort aber habe ein Gendarm in Hemdärmeln gestanden und
ihn angeschnauzt, was er wolle. Er habe natürlich die Situation sofort
erkannt und sei spornstreichs zum Hause hinaus.

Anderen Nachmittags kamen wir nach Dachau. Hier machte mein Reisekollege
den Vorschlag, wir sollten beide bei den Schneidermeistern Umschau
halten, was ich ganz gut könnte, da jeder mich für einen Schneider
halte. Es sei hier bemerkt, bei einer Umschau bei den Meistern des
Gewerbes fielen die Geschenke wesentlich reichlicher aus, als wenn man
focht. Gedacht, getan. Vorsichtshalber ließ ich aber dem Tiroler den
Vortritt. Daß dieses klug gehandelt war, zeigte sich sofort. Wir stiegen
in einem Hause die Treppe hinauf und läuteten den Meister heraus. Sobald
der Tiroler sagte: Zwei zugereiste Schneider bitten um ein Geschenk,
antwortete der Meister: Sehr erfreut, ich kann Sie beide gut brauchen,
geben Sie mir Ihre Wanderbücher. Hatte er das Wanderbuch in der Hand, so
war die Sklavenkette geschmiedet, denn alsdann mußte man zu arbeiten
anfangen. Während nun der Tiroler zögernd sein Wanderbuch aus der
Rocktasche zog, machte ich rechtsumkehrt und sprang in großen Sätzen die
Treppe hinunter und zum Städtchen hinaus. Daß ich den Tiroler als
Reisegefährten verlor, bedauerte ich, er war ein guter Kamerad und
angenehmer Gesellschafter gewesen.

Von Dachau führte zu jener Zeit eine schnurgerade Straße, die rechts und
links mit breitgewachsenen Pappeln besetzt war, nach München. Das Bild
der Straße wurde abgeschlossen durch die Türme der Münchener
Frauenkirche, den Heinrich Heineschen „Stiefelknecht“, die am Ende der
meilenlangen Straße zu stehen schienen. Ich wanderte mißmutig meinen
Weg, als hinter mir ein Bauer mit einem Korbwagen erschien, der offenbar
nach München fuhr. Ueber den Inhalt des Wagens war eine große Plane
gedeckt. Der Weg war noch weit und der Spätnachmittag herangekommen. Ich
frug höflich an, ob mir das Aufsitzen gestattet sei. Der Bauer
antwortete in seinem bayerischen Deutsch, das ich damals noch nicht
verstand, aber seine Worte legte ich als Zustimmung aus. Ich stieg also
auf den Wagen und rückte mich behaglich auf der Plane zurecht. Der Bauer
sah wiederholt hinter sich und rief mir einiges zu, was ich aber
ebenfalls nicht verstand. Endlich zogen wir in München ein. Der Wagen
hielt am Karlstor vor einem Kaufmannsladen. Ich sprang ab, zog den Hut
und dankte höflich für die Freifahrt. In demselben Augenblick hatte der
Bauer die Plane zurückgezogen, an der jetzt ein mehrere Pfund schwerer
Butterklumpen klebte. Ich hatte, ohne es zu wissen, mit den
Stiefelabsätzen in einem nur mit der Plane bedeckten Butterfaß
herumgearbeitet. Sobald ich das angerichtete Unheil sah, wurde ich
blutrot, bat um Verzeihung und erklärte mich bereit, den Schaden zu
ersetzen. In demselben Augenblick erfolgte eine Lachsalve zweier junger
Mädchen, die aus einem Fenster der ersten Etage sahen und das Schauspiel
beobachtet hatten. Das machte mich noch verlegener. Der Bauer aber half
mir rasch aus der Verlegenheit, indem er auf mein Angebot, Schadenersatz
zu leisten, grob antwortete: „Mach', daß du fortkommst, du hast a nix!“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen; in wenigen Sätzen war ich um die
Ecke in der Neuhauser Straße. So oft ich nach München ans Karlstor
komme, fällt mir dieser Vorgang wieder ein.

In München war ich am Tage nach Schluß der siebenhundertjährigen Feier
der Gründung der Stadt angekommen, eine Feier, die eine ganze Woche
gewährt hatte und an die sich unmittelbar das Oktoberfest anschloß. Die
ganze Bevölkerung war noch in dulci jubilo, und auf der Herberge in der
Rosengasse, auf der zu jener Zeit noch stark zünftlerische Sitten
herrschten, ging es hoch her. Ich wurde freundlich begrüßt und blieb
eine volle Woche in München, in dem es mir ausnehmend gefiel. Aber so
sehr ich und meine Kollegen sich bemühten, mir Arbeit zu verschaffen, es
war vergeblich. Alle Stellen waren besetzt. Keiner wich. So entschloß
ich mich, nach Regensburg zu wandern. Mit noch einem Reisegefährten, der
ebenfalls nach dort wollte, begab ich mich an die Isar, um zu sehen, ob
wir mit einem Floß bis Landshut fahren könnten. Man hatte uns gesagt,
daß wenn wir uns auf dem Floß zum Rudern bereit erklärten, wir gratis
mitfahren könnten und auch Verpflegung erhielten. Das erste war richtig,
das zweite nicht. Die Isar war um jene Zeit wasserarm und hatte
zahlreiche Krümmungen. Mein Reisegefährte — ein Trierer —, der vorne
steuerte und ich hinten, machte überdies seine Sache sehr ungeschickt,
und so fuhren wir einigemal auf den Sand, was den Flößer in Zorn
versetzte, wobei es Schimpfworte regnete. Während einer Ablösung ließ
ich mich mit den Passagieren, Bauersleuten und einem Pfarrer, in ein
politisches Gespräch ein, das von meiner Seite so hitzig geführt wurde,
daß der Flößer drohte, „den verdammten Preiß“ in die Isar zu werfen,
wenn er nicht aufhöre, zu disputieren. Ich schwieg, denn mit dem Wasser
der Isar im Oktober Bekanntschaft zu machen, hatte ich keine Lust. Als
wir in Mosburg, einige Stunden vor Landshut, gegen Abend landeten,
schlugen wir uns seitwärts in die Büsche. Wir hatten von der Fahrt
genug.

In dem Nachtquartier, das wir bei dunkler Nacht, empfangen von wütendem
Hundegebell, in einem Dorfwirtshaus fanden, waren alle Räume überfüllt
mit Leuten, die am nächsten Morgen zum Jahrmarkt in Landshut sein
wollten. Wir mußten in der Scheune Platz nehmen, in der bereits einige
Dutzend Männlein und Weiblein durcheinanderliegend Platz genommen
hatten. Kaum lagen wir frierend im Halbschlummer, als wir durch Lärm
geweckt wurden. Eine der Frauen, die bereits im Stroh lag, war Zeugin,
wie ihr Mann der Magd, die ihn mit einer Laterne in der Hand zum
Nachtquartier in die Scheune geleitete, mit einigen derben
Zärtlichkeiten dankte. Darauf hielt sie ihm eine Strafpredigt im
echtesten Bayerisch, die alle Schläfer aufscheuchte und großes Gelächter
hervorrief. Morgens, es war noch pechfinster, suchten wir unseren Ausweg
aus der Scheune, wobei wir gewahr wurden, daß wir beide, die wir auf der
Höhe eines Heuhaufens uns quartiert hatten, während der Nacht auf
entgegengesetzten Seiten heruntergerutscht waren.

In Regensburg fand ich mit einem gleichfalls zugereisten Kollegen aus
Breslau in der gleichen Werkstatt Arbeit. Man hatte mir abgeraten,
dieselbe anzunehmen, der Meister sei in ganz Bayern als der größte
Grobian bekannt. Ich ließ mich aber nicht abschrecken.

In Regensburg erlebte ich nicht viel Bemerkenswertes. Im Kreise der
Fachgenossen, in dem ich verkehrte, war mit Ausnahme des Breslauers
keiner, der höhere geistige Bedürfnisse hatte. Wer am meisten trank, war
der Gefeiertste. So gingen wir beide die meisten Sonntagabende ins
Theater, in dem wir natürlich auf den Olymp stiegen, auf dem der Platz 9
Kreuzer kostete. Eines Tages wollten wir aber auch in der Woche uns ein
bestimmtes Stück ansehen. Das war aber undurchführbar, weil der Schluß
unserer Arbeitszeit mit dem Beginn des Theaters zusammenfiel. Wir gaben
also unserer Köchin gute Worte, das Abendessen eine halbe Stunde früher
anzurichten, wir würden die Uhr in der Stube entsprechend vorrücken.
Damals gab es in Süddeutschland und Oesterreich bei den Meistern stets
warmes Abendessen. Nach dem Essen kleideten wir uns rasch um und
stürmten nach dem Theater. In demselben Augenblick, in dem wir von der
einen Seite in dasselbe traten, kam von der anderen Seite der Meister
mit seiner Frau, und in demselben Augenblick schlug auch die Uhr auf
einer benachbarten Kirche sieben. Jetzt wäre erst unsere Arbeitszeit zu
Ende gewesen. Wir waren verraten. Merkwürdigerweise sagte der Meister am
nächsten Tage zu uns kein Wort, aber zur Köchin äußerte er: „Hören Sie,
Kathi, nehmen Sie sich vor den Preißen in acht, die haben gestern abend
die Uhr um eine halbe Stunde vorgerückt.“

Von Regensburg aus stattete ich auch einen Besuch der Walhalla ab, die
oberhalb Donaustauf von der Bergeshöhe einen weiten Blick in die Ebene
gewährt. Bekanntlich ist Ludwig I. von Bayern, der „Teutsche“, der
Erbauer der Walhalla, in der zu jener Zeit unter den aufgestellten
Büsten der Berühmtheiten diejenige Luthers fehlte.

Der Winter von 1858 auf 1859 war ein sehr langer und strenger. Hohe
Kälte setzte bereits Mitte November ein. Ein Streit mit dem Meister
veranlaßte mich, schon am 1. Februar, trotz Kälte und Schnee, auf die
Reise zu gehen. Der Breslauer schloß sich mir an. Wir marschierten
zunächst nach München, woselbst wir abermals vergeblich um Arbeit
anklopften. Nunmehr marschierten wir weiter über Rosenheim nach
Kufstein. Der Eintritt nach Oesterreich machte uns Kopfzerbrechen.
Damals wurde an der Grenze von jedem Handwerksburschen, der nach
Oesterreich wollte, der Nachweis von fünf Gulden Reisegeld verlangt.
Diese hatten wir aber nicht. So verfielen wir auf die Idee, von der
letzten bayerischen Station die Bahn nach Kufstein zu benützen. Um
möglichst als Gentlemen auszusehen, putzten wir extrafein unsere Stiefel
und Kleider und steckten einen weißen Kragen auf. Unsere List hatte den
gewünschten Erfolg. Unser sauberes Aussehen und die Tatsache, daß wir
mit der Bahn ankamen, täuschte die Grenzbeamten; sie ließen uns
unbeanstandet passieren. Bei starker Kälte und meterhohem Schnee ging
die Reise zu Fuß durch Tirol. Die Kälte und der Schnee trieben die
Gemsen aus dem Gebirge herab, deren Lockrufe wir auf dem Marsch in der
Abenddämmerung hörten. Sehr verwundert waren wir, beim Fechten reichlich
Geld zu erhalten, und zwar Kupferstücke in der Größe unserer heutigen
Zweimarkstücke. Als wir am ersten Abend in das Gasthaus traten, trugen
wir schwer an der Last der erfochtenen Münzen. Als wir aber am nächsten
Morgen unsere kleine Rechnung beglichen, mußten wir den halben
Wirtstisch mit diesen Kupfermünzen bedecken. Es stellte sich heraus, daß
dieselben in wenig Wochen wertlos wurden, weil die österreichische
Regierung neue Münzen herausgegeben hatte. So löste sich das Rätsel von
der großen Freigebigkeit, man war froh, das wertlos werdende Geld los zu
sein.

Endlich marschierten wir nach einer Reihe Tage über Reichenhall direkt
nach Salzburg, das wir an einem Nachmittag bei wundervollem Sonnenschein
erreichten. Wir standen wie gebannt, als wir bei dem Marsch um einen
niederen Gebirgsrücken (den Mönchsberg) die Stadt mit ihren vielen
Kirchen und der italienischen Bauart, überragt von der Feste Salzburg,
vor uns liegen sahen.

Was mir im späteren Leben als ein Rätsel erschien, war, daß ich von all
den Märschen, bei denen ich oft bis auf die Haut durchnäßt wurde und
jämmerlich fror, nie eine ernste Krankheit davontrug. Meine Kleidung war
keineswegs solchen Strapazen angepaßt, wollene Unterwäsche war ein
unbekannter Luxus und ein Regenschirm wäre für einen wandernden
Handwerksburschen ein Gegenstand des Spottes und Hohnes geworden. Oft
bin ich morgens in die noch feuchten Kleider geschlüpft, die am Tage
vorher durchnäßt wurden und am nächsten Tage das gleiche Schicksal
erfuhren. Jugend überwindet viel.

In Salzburg fand ich Arbeit, wohingegen mein Reisegefährte, nachdem ich
ihm mit dem Rest meines Geldes nach Kräften ausgeholfen, weiter nach
Wien reiste. In Salzburg verblieb ich bis Ende Februar 1860. Bekanntlich
ist Salzburg nach seiner Lage eine der schönsten Städte Deutschlands,
denn damals gehörte es noch zu Deutschland; aber es steht im Rufe, im
Sommer sehr viel Regentage zu haben. Eine Ausnahme machte der Sommer
1859, der wunderbar genannt werden mußte. Der Sommer 1859 war aber auch
ein Kriegssommer. Der Krieg zwischen Oesterreich auf der einen und
Italien und Frankreich auf der anderen Seite war in Norditalien
entbrannt. Dadurch wurde das Leben in Salzburg insofern besonders
interessant, als Massen Militär aller Waffengattungen und Nationalitäten
singend und jubelnd nach Südtirol zogen. Einige Monate später kamen die
Armen niedergedrückt als Besiegte zurück, gefolgt von Hunderten von
Wagen mit Verwundeten und Maroden. Zunächst aber herrschte
siegesfreudige Zuversicht. Ich war über die politischen Ereignisse so
aufgeregt, daß ich an Sonntagen, für andere Tage hatte ich weder Zeit
noch Geld, nicht aus dem Café Tomaselli ging, bis ich fast alle
Zeitungen gelesen hatte. Als Preuße hatte man zu jener Zeit in
Oesterreich einen schweren Stand. Daß Preußen zögerte, Oesterreich zu
Hilfe zu kommen, sahen die Oesterreicher als Verrat an. Als guter
Preuße, der ich damals noch war, suchte ich die preußische Politik zu
verteidigen, kam aber damit übel an. Mehr als einmal mußte ich mich vom
Wirtschaftstisch entfernen, wollte ich nicht eine Tracht Prügel
einheimsen. Als dann aber die freiwilligen Tiroler Jäger aus Wien,
Nieder- und Oberösterreich nach Salzburg kamen und auch dort ihr
Werbebureau aufschlugen, packte mich die Abenteurerlust. Mit noch einem
Kollegen, einem Ulmer, meldeten wir uns als Freiwillige, erhielten aber
die Antwort: daß sie Fremde nicht brauchen könnten, nur Tiroler fänden
Aufnahme. War es nun hier nichts mit dem Mitdabeisein, so entschloß ich
mich, als jetzt verlautete, daß Preußen mobil mache, mich in der Heimat
als Freiwilliger zu melden. Ich schrieb sofort an meinen Vormund: er
möge mir zu diesem Zwecke einige Taler Reisegeld senden. Nach einiger
Zeit kam auch das Geld — sechs Taler — an, aber jetzt bedurfte ich
desselben als Reisegeld nicht mehr, denn mittlerweile war der Friede
von Villafranca geschlossen worden. Der Krieg war zu Ende. Dagegen
leistete mir das Geld gute Dienste, als ich im nächsten Frühjahr nach
Wetzlar reiste.

Die Löhne waren auch in Salzburg — wie überall in der Drechslerei —
schlechte. Da war sparen schwer. Ich hatte mir im Spätherbst den ersten
Winterrock auf Abzahlung gekauft; und als gewissenhafter Mensch sparte
ich nicht nur, ich darbte, um die wöchentlichen Raten zahlen zu können.
Dabei drückte mich noch eine große Sorge. Die Arbeit war knapp, und ich
fürchtete, als Jüngster in der Werkstatt nach Neujahr die Kündigung zu
erhalten. Das hatte die Meisterin durch meinen Kollegen erfahren. Als
ich nun ihr und dem Meister am Neujahrstag gratulierte, gab sie mir die
tröstliche Versicherung, daß ich bis zu meiner Heimreise in Arbeit
bleiben könne. Damit fiel mir ein Stein vom Herzen. Unwillkürlich dachte
ich an den Neujahrsempfang, den der österreichische Gesandte, Baron von
Hübner, das Jahr zuvor bei der Gratulationscour in den Tuilerien gehabt
hatte, bei der die Ansprache Napoleons an Hübner als die Einläutung zum
italienischen Krieg angesehen wurde.

In Salzburg bestand ein katholischer Gesellenverein mit über 200
Mitgliedern, unter denen sich nicht weniger als 33 Protestanten, fast
alle Norddeutsche, befanden. Ich trat ebenfalls dem Verein bei, aus den
schon oben angeführten Gründen. Präses des Vereins war ein Dr. Schöpf,
Professor am dortigen Priesterseminar. Schöpf war ein junger,
bildschöner Mann mit einem äußerst liebenswürdigen und jovialen Wesen.
Er soll dem Jesuitenorden angehört haben. Schöpf wußte natürlich, daß
eine Anzahl Protestanten seinem Verein angehörten.

In einer Vereinsversammlung erklärte er eines Tages offen, daß ihm die
Protestanten die liebsten seien, weil sie zu den fleißigsten Besuchern
des Vereins gehörten. Jeden Sonntag abend hielt er einen stets stark
besuchten Vortrag, der ein reiner Moralvortrag war, den jeder, wes
Glaubens er immer war, ohne Bedenken besuchen konnte. Ich wurde mit Dr.
Schöpf bekannt, und auf seine Einladung besuchte ich ihn öfter Sonntag
nachmittag in seiner Wohnung, wo wir uns namentlich über die Zustände in
Deutschland und Oesterreich unterhielten, und er überraschend freie
Anschauungen äußerte.

Weihnachten rückte heran, und es sollte wie üblich vom Verein eine
Weihnachtsfeier veranstaltet werden. Im Verein hatte sich eine kleine
Musikkapelle und ein Gesangverein gebildet. Diese sollten bei jener
Gelegenheit Vorträge zum besten geben. Außerdem sollten nach Dr. Schöpfs
Vorschlag eine Anzahl Mitglieder, die verschiedenen deutschen
Volksstämmen angehörten, Deklamationen vortragen. Ich wurde als
Repräsentant der Rheinländer hierzu ausersehen. Ich hatte ein Gedicht
„Die Zigarren und die Menschen“ vorzutragen. Die Uebungen fanden in Dr.
Schöpfs Wohnung statt, wobei er uns mit Bier und Brot regalierte. Bei
diesen Uebungen passierte mir, daß ich fast immer einen Fehler im
Schlußreim machte, indem ich ein Wort anwandte, das wohl zum Reim, aber
nicht zum Sinne des Gedichtes paßte. Dr. Schöpf warnte mich
nachdrücklich, doch ja am Festabend den Fehler nicht zu machen. Der
Festtag (19. Dezember) kam. Dem Fest wohnte eine illustre Gesellschaft
bei! Der Fürstbischof von Salzburg, der Abt von Sankt Peter und eine
Anzahl anderer Geistlicher, auch Vertreter der Behörden. Endlich kam
auch mein Vortrag an die Reihe. Kurz vor meinem Auftreten ermahnte mich
Dr. Schöpf nochmals, mich ja in acht zu nehmen, was ich ihm feierlichst
versprach. Aber mit des Geschickes Mächten ist kein ew'ger Bund zu
flechten, und das Schicksal eilet schnell. Abermals machte ich den
Sprechfehler, worauf im Hintergrund des Saales Dr. Schöpfs Arm
auftauchte, der mir mit der Faust drohte. Das Unglück war aber
geschehen, ich glaube, die meisten haben es nicht einmal bemerkt. Im
übrigen verlief die Feier sehr gemütlich, und ich ging, ohne Schaden an
meiner Seele genommen zu haben, vergnügt nach Hause.

Im März ist der St. Josefstag, der in Oesterreich ein hoher Feiertag
ist. St. Josef ist, wie ich schon anführte, der Schutzpatron der
katholischen Gesellenvereine. Einige Zeit vor diesem Tage hielt Schöpf
eine eindringliche Rede an die katholischen Mitglieder des Vereins, daß
sie an diesem Tage vollzählig zur Kirche gehen möchten. Er wisse wohl,
äußerte er, daß junge Leute sich gern darum drückten, aber diesmal gehe
es nicht, man dürfe ihn nicht blamieren, denn die Kaiserin — die Witwe
des Kaisers Ferdinand, die in Salzburg wohnte —, die viel für den
Verein tue, werde es sicher erfahren. Den Nachmittag, setzte er
schmunzelnd hinzu, machen wir dann eine Wallfahrt nach Maria-Plain, ein
Wallfahrtsort, dessen Kirche auf einem Hügel mitten in der Ebene, eine
gute Stunde von Salzburg, prachtvoll gelegen ist. Dort werde auf Kosten
der Kasse ein Faß Bier ausgelegt, das zweite zahle er, er sei sicher,
hierbei fehle niemand. Alle lachten. Ich glaube, er behielt recht. Die
Wallfahrt fand statt, wir Nichtkatholiken marschierten wohlgemut und
vollzählig im Zug, hinter der Fahne, die der Altgeselle trug, auf der
der heilige Josef mit dem Christkind auf dem Arme abgebildet war. In
Maria-Plain angekommen, besahen wir uns die überreich geschmückte
Kirche. Dann ging es zum Trunk. Die Fässer wurden rasch geleert, gar
mancher ging wankenden Schrittes nach Salzburg zurück. Der Zug war
aufgelöst. Wie die Fahne mit dem heiligen Josef wieder nach Salzburg
kam, weiß ich bis heute nicht.

Dr. Schöpf, ich und ein Hannoveraner traten zusammen den Rückweg an. In
der Stadt angekommen, führte er uns in ein Café, in dem wir eine Partie
Billard spielten. Es war für mich die erste und letzte, die ich in
meinem Leben spielte. Natürlich verloren wir zwei, aber Dr. Schöpf
zahlte.

Ende Februar 1860 reiste ich nach Hause. Einige dreißig Jahre später
schickte mir ein Ritter v. Pfister aus Linz einen Brief nach Berlin, in
dem es hieß: er habe nach Berlin reisen wollen und habe bei dieser
Gelegenheit mir einen Gruß vom Domherrn Dr. Schöpf in Salzburg
überbringen sollen, er sei aber durch Krankheit an der Reise verhindert
worden, so schicke er mir brieflich dessen Gruß. Wieso Dr. Schöpf sich
meiner erinnerte, ist mir ein Rätsel geblieben. Er konnte unmöglich
annehmen, daß der neunzehn- bis zwanzigjährige junge Drechslergeselle —
wenn er sich überhaupt dessen entsann — der spätere sozialdemokratische
Reichstagsabgeordnete war. Solch tiefen Eindruck hatte ich sicher nicht
auf ihn gemacht. Ich nehme vielmehr an, daß Kollegen aus dem Zentrum,
denen ich gelegentlich meine Salzburger Erlebnisse erzählte, den
Domherrn davon unterrichtet hatten. Als ich Anfang dieses Jahrhunderts
nach langer Zeit wieder einmal nach Salzburg kam, war Dr. Schöpf einige
Jahre zuvor gestorben. Die joviale, heitere Natur und die volle
Lebensfreude soll er sich bis an sein Ende bewahrt haben.

Ich will die Mitteilungen über meinen Salzburger Aufenthalt nicht
schließen, ohne noch eines Vorgangs zu erwähnen, der damals unter uns
jungen Leuten erzählt und viel belacht wurde. Zu jener Zeit lebte im
Sommer König Ludwig I. von Bayern, der bekanntlich wegen der
Lola-Montez-Affäre die Regierung niederlegte, in Schloß Leopoldskron, in
nächster Nähe Salzburgs. Der König, ein hoch aufgeschossener Herr, der
im grauen Sommeranzug, den Kopf mit einem großen, etwas ramponierten
Strohhut bedeckt und mit einem starken Krückstock in der Hand, öfter an
unserer Werkstatt vorbeipassierte, liebte es, in der Umgebung Salzburgs
allein Spaziergänge zu machen. Eines Tages machte er wieder einen
solchen und sieht, wie ein Knabe sich abquält, Aepfel von einem Baume
herunterzuwerfen. Der König tritt zu dem Knaben und sagt: „Schau, das
mußt du so machen!“ und schleudert seinen Krückstock mit bestem Erfolg
in die Aeste des Baumes. Das hatte aber aus dem in der Nähe liegenden
Hause die Bäuerin beobachtet, die jetzt hochrot vor Zorn in die Tür trat
und dem König, den sie nicht kannte, zurief: „Du alter Lackl, schamst di
net, den Buam bein Aepflstehln z'helfe!“ Der König nahm seinen
Krückstock und trollte sich von dannen. Am nächsten Morgen erschien ein
Diener und brachte der Bäuerin einen Gulden mit der Bemerkung: das sei
für die Aepfel, die gestern der Herr vom Baum geschlagen habe. Auf ihre
Frage, wer denn der Herr gewesen sei, erfolgte die sie höchst
überraschende Antwort: der König Ludwig.

Wenn ich hier einen verstorbenen Bayernkönig des Obstfrevels bezichtige,
will ich wahrheitsgemäß hinzufügen, daß auch ich in dieser Beziehung
nicht ohne Fehl und Sünde war. Es waren die prachtvollen Pfirsiche im
Mirabellengarten, der dem Fürstbischof gehörte, die es mir angetan
hatten. Ich konnte bei mehreren Spaziergängen in dem Garten der
Versuchung nicht widerstehen, einige der Früchte mir anzueignen. Ich
nehme an, dem Fürstbischof hat mein Obstfrevel nicht geschadet, und mir
bekamen die Früchte vorzüglich. Auch meine Gewissensbisse verschwanden,
als ich las, daß der heilige Ambrosius, der gegen Ende des vierten
Jahrhunderts Bischof von Mailand gewesen war, geäußert habe:

„Die Natur gibt alle Güter allen Menschen _gemeinsam_; denn Gott hat
alle Dinge geschaffen, _damit der Genuß für alle gemeinschaftlich sei_.
Die Natur hat also das Recht der Gemeinschaft erzeugt, und es ist nur
die _ungerechte Anmaßung_ (usurpatio), die das Eigentumsrecht erzeugte.“

Konnte mein Tun glänzender entschuldigt, ja gerechtfertigt werden?



Zurück nach Wetzlar und weiter!


Am 27. Februar 1860 trat ich die Heimreise an. Bahnen gab es zu jener
Zeit im südöstlichsten Bayern noch nicht, außerdem reiste damals der
Handwerksbursche am billigsten zu Fuß, wenn er sich ein bißchen mit aufs
Fechten verlegte. Das Wetter war wieder miserabel. Als ich eines Tages
bei stürmischem Schneewetter, das mir ins Gesicht schlug, die Hände in
den Hosentaschen, den Stock unter dem Arme und die Hutkrempe ins Gesicht
gezogen, auf der Straße über den fränkischen Landrücken stapfte, wurde
ich plötzlich am Arm gepackt und in den Straßengraben geschleudert. Als
ich verwundert aufschaute, war es das Pferd vor einem mir
entgegenkommenden Fuhrwerk, das mich klugerweise am Arme gepackt und
beiseite geschleudert hatte. Bei dem stürmischen Wetter hatte ich das
herankommende Fuhrwerk weder gesehen noch gehört.

Um Mitte März kam ich nach mehr als zweijähriger Abwesenheit wieder in
Wetzlar an.

Bei der Militäraushebung wurde ich wegen allgemeiner Körperschwäche um
ein Jahr zurückgestellt. Dasselbe passierte mir die nächsten Jahre bei
der Gestellung in Halle a.S., so daß ich schließlich als
militäruntauglich entlassen wurde. Einstweilen trat ich, da eine
Arbeitsstelle in Wetzlar nicht zu haben war, bei einem jüdischen
Drechslermeister in Butzbach, zwei Meilen von Wetzlar, in Arbeit. Als
aber die Jahreszeit immer schöner wurde und eines Tages drei meiner
Schulfreunde mit dem Berliner auf dem Rücken in die Werkstatt traten und
mir mitteilten, daß sie sich auf der Wanderschaft nach Leipzig befänden,
„da zog es mich mächtig hinaus“, wie es im Handwerksburschenlied heißt,
und ihnen nach. Ich versprach meinen Freunden, binnen drei Tagen zu
folgen, und hoffte sie einzuholen, falls sie nicht zu große Märsche
machten. Ich konnte dieses Angebot riskieren, denn im Marschieren war
mir zu jener Zeit keiner über.

Ich hatte bisher nicht die geringste Sehnsucht gehabt, Leipzig und
Sachsen kennen zu lernen, und wäre es auf mich angekommen, ich hätte
damals Leipzig und Sachsen nicht gesehen. Und doch war diese Reise in
mehr als einer Richtung entscheidend für meine ganze Zukunft. So
entscheidet sehr oft der Zufall über das Schicksal des Menschen.

Ich möchte hier einschalten, daß ich von dem Satze: der Mensch ist
seines Glückes Schmied, blutwenig halte. Der Mensch folgt stets nur den
Umständen und Verhältnissen, die ihn umgeben und ihn zu seinem Handeln
nötigen. Es ist also auch mit der Freiheit seines Handelns sehr windig
bestellt. In den meisten Fällen kann der Mensch die Konsequenzen seines
momentanen Handelns nicht übersehen; er erkennt erst später, zu was es
ihn geführt hat. Ein Schritt nach rechts statt nach links, oder
umgekehrt, würde ihn in ganz andere Verhältnisse gebracht haben, die
wiederum bessere oder schlechtere sein könnten als jene, in die er auf
dem eingeschlagenen Wege gekommen ist. Den klugen wie den falschen
Schritt erkennt er in der Regel erst an den Folgen. Oftmals kommt ihm
aber auch die richtige oder falsche Natur seines Handelns nicht zum
Bewußtsein, weil ihm die Möglichkeit des Vergleichs fehlt. Der
Selfmade-man existiert nur in sehr bedingtem Maße. Hundert andere, die
weit ausgezeichnetere Eigenschaften haben als der eine, der obenauf
gekommen ist, bleiben im verborgenen, leben und gehen zugrunde, weil
ungünstige Umstände ihr Emporkommen, das heißt die richtige Anwendung
und Ausnutzung ihrer persönlichen Eigenschaften verhinderten. Die
„glücklichen Umstände“ geben erst dem einzelnen den richtigen Platz im
Leben. Für unendlich viele, die diesen richtigen Platz nicht erhalten,
ist des Lebens Tafel nicht gedeckt. Sind aber die Umstände günstig, so
muß allerdings die nötige Anpassungsfähigkeit vorhanden sein, sie
auszunutzen. Das kann man als das persönliche Verdienst des einzelnen
ansehen.

Ich holte die drei Freunde ein, noch ehe sie Thüringen erreicht hatten,
und kam gerade recht, um den einen, der bereits wunde Füße hatte,
hilfreich unter den Arm zu nehmen, was beim Durchwandern der Orte bei
den Bewohnern öfters Heiterkeit erregte. Wir passierten Ruhla, Eisenach,
Gotha und kamen nach Erfurt. Hier übernachteten wir zum ersten Male in
der Herberge eines christlichen Jünglingsvereins. Aber nur einmal und
nicht wieder. Das muckerische, schleichende Wesen des Herbergsvaters
widerte mich an. Am Abend mußten wir auf Kommando gemeinsam zu Bett
gehen. Als wir die erste Etage erstiegen hatten, öffnete sich die Tür zu
einem kleinen Saal, und eine Choralmelodie tönte uns entgegen, die ein
glatt gescheitelter, hellblonder Jüngling auf einem Harmonium spielte.
Ueberrascht traten wir ein, neugierig auf die Dinge, die da kommen
würden. Darauf trat der Herbergsvater auf ein Podium und las aus einem
Gesangbuch einen Vers Zeile für Zeile vor. Die zitierte Zeile hatten wir
unter Begleitung durch das Harmonium nachzusingen. Aehnliches war mir in
einem katholischen Gesellenvereinshaus nicht passiert. In München zum
Beispiel war an der Wand der Stube, in der wir zu zweit schliefen, ein
gedrucktes Gebet angeschlagen mit dem Ersuchen, es vor dem Zubettgehen
zu beten. Von einem moralischen Zwang keine Spur. Ich wiederhole, wie es
seitdem in den katholischen Gesellenvereinen geworden ist, weiß ich
nicht.

In Erfurt fing der geschilderte Vorgang an, uns zu amüsieren. Wir
brüllten wie Löwen die vorgespielte Melodie mit dem zitierten Text. Dann
ging's höher hinauf in den Schlafsaal. Nachdem vorschriftsmäßig unsere
Hemdkragen auf fremde Bewohner untersucht worden waren, stiegen wir zu
Bett. Darauf entfernte sich der Herbergsvater mit dem Licht, und
schwarze Dunkelheit herrschte. Jetzt ging aber unter den Dutzenden
junger Leute, unter denen fast alle deutschen Landsmannschaften
vertreten waren, ein Ulken und Spotten los, wie es mir bisher noch nicht
zu Ohren gekommen war. Die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als in
der entfernteren Ecke des Saales ein Schlafgenosse aus Württemberg im
unverfälschtesten Schwäbisch einige humoristische Bemerkungen machte.
Erst spät nahm der Lärm ein Ende. Nächsten Tages marschierten wir nach
Weimar. Hier erklärten meine Begleiter, nicht weitergehen zu können,
denn alle drei hatten sich die Füße wundgelaufen; sie wollten mit der
Bahn nach Leipzig fahren. Ich protestierte dagegen, denn mein Geld war
sehr knapp, und was dann, wenn es in Leipzig keine Arbeit gab? Doch mein
Protest half nichts, wollte ich nicht allein reisen, so mußte ich
mitfahren. Am 7. Mai 1860, abends 11 Uhr, kamen wir in Leipzig an und
frugen uns durch nach der Herberge in der Großen Fleischergasse. Als wir
nächsten Tages beim herrlichsten Maiwetter die Stadt und die in voller
Frühjahrspracht stehenden Promenaden besichtigten, gefiel mir Leipzig
ungemein. Ich hatte auch Glück und bekam Arbeit, und zwar in einer
Werkstatt, in der ich den Artikel kennen lernte, auf den ich mich später
selbständig machte. Traf ich vierundzwanzig Stunden später in Leipzig
ein, so wäre die Stelle von einem anderen besetzt worden. So entschied
hier wieder „ein Augenblick des Glückes“ über meine Zukunft. Zum
zweitenmal arbeitete ich in einer größeren Werkstatt. Es wurden fünf
Kollegen und ein Lehrling neben mir beschäftigt. Meister und Kollegen
gefielen mir, die Arbeit auch, bei der sich etwas lernen ließ. Was mir
aber nicht gefiel, war der schlechte Kaffee, den wir morgens erhielten,
und das an Quantität und Qualität äußerst mangelhafte Mittagessen.
Frühstück, Vesper und Abendbrot mußten wir uns selbst stellen. Die
Schlafstelle war beim Meister; wir schliefen sieben Mann in einer
geräumigen Bodenkammer. Ich fing sehr bald an, gegen die Kost zu
rebellieren. In einigen Wochen hatte ich die Kollegen so weit, daß sie
sich zu einer gemeinsamen Beschwerde bei dem Meister verstanden, wobei
wir erklärten, gemeinsam die Arbeit einzustellen, falls unsere
Beschwerde keinen Erfolg hätte. Wir drohten also mit Streik, noch ehe
einer von uns dieses Wort gehört hatte. Die Form der Abwehr ergab sich
eben aus der Sache selbst. Der Meister war äußerst betreten, er
erklärte, er verstehe die Klagen nicht, ihm schmecke das Essen
ausgezeichnet. Das war natürlich. Er aß mit seiner Familie später als
wir und bekam ein anderes Essen. Das wußte er nicht. Nach wiederholten
Verhandlungen erreichten wir, daß wir gegen entsprechende Entschädigung
von seiner Seite die Selbstbeköstigung durchsetzten, wobei er, wie er
behauptete, finanziell noch profitierte. Er hatte seiner Frau mehr für
unsere Verpflegung zahlen müssen, als wir forderten. Später erreichten
wir durch hartnäckiges Liegenbleiben im Bett, daß der Beginn der
Arbeitszeit von morgens 5 Uhr auf 6 Uhr hinausgeschoben wurde. Noch
später setzten wir auch die Stückarbeit durch, auf die der Meister nicht
eingehen wollte, weil er fürchtete, schlechte Arbeit geliefert zu
bekommen, worin er sich täuschte, wie er sich nachher überzeugte.
Schließlich erlangten wir auch das Wohnen außer dem Hause.



Mein Eintritt in die Arbeiterbewegung und das öffentliche Leben.


Die Uebernahme der Regentschaft in Preußen durch den Prinzen Wilhelm von
Preußen, den Bruder König Friedrich Wilhelms IV., sowie der italienische
Krieg hatten das Volk mächtig aufgerüttelt. Der Druck der
Reaktionsjahre, der seit 1849 auf dem Volke lastete, war gewichen.
Insbesondere war es die liberale Bourgeoisie, die jetzt sich politisch
zu regen begann, nachdem sie während der Reaktionsjahre ihre ökonomische
Entwicklung nach Kräften gefördert hatte und sehr viel reicher geworden
war. Immerhin kann ihre damalige Entwicklung keinen Vergleich aushalten
mit der Entwicklung, die ihr Wirtschaftssystem nach 1871 und besonders
seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erlangt hat.

Die Bourgeoisie verlangte jetzt ihren Anteil an den Staatsgeschäften,
sie wollte nicht nur in Preußen parlamentarisch herrschen, in ihrer
großen Mehrheit erstrebte sie auch eine Einheit Deutschlands unter
preußischer Spitze, um ganz Deutschland politisch und wirtschaftlich zu
einem von einheitlichen Grundsätzen geleiteten Staatswesen zu machen,
wie das durch die Revolution von 1848 und 1849 und das damalige deutsche
Parlament vergeblich versucht worden war. Dieses Bestreben kam durch die
Gründung des Deutschen Nationalvereins im Jahre 1859 zum Ausdruck,
dessen Präsident Rudolf v. Bennigsen wurde. Die Berufung des
altliberalen Ministeriums Auerswald-Schwerin durch den Prinzregenten
schwellte die Hoffnungen des Liberalismus. Das veröffentlichte Programm
des Prinzregenten hätte freilich große Hoffnungen nicht gerechtfertigt,
wogegen ihn auch seine Vergangenheit und namentlich seine Rolle in den
Revolutionsjahren hätte schützen sollen. Aber die liberale Bourgeoisie
sah eine neue Aera hereinbrechen.

Der Liberalismus ist stets hoffnungsselig, sobald ihm nur der Schein
eines liberalen Regimentes winkt, soviel Enttäuschungen er auch im Laufe
der Jahrzehnte erlebte. Weil ihm selbst der Mut und die Energie zu
kräftigem Handeln fehlt und er vor jeder wirklichen Volksbewegung Angst
hat, setzt er seine Hoffnungen stets auf die Regierenden, die ihm
scheinbar oder wirklich etwas entgegenkommen. Durch den Enthusiasmus und
das blinde Vertrauen, das er solchen Persönlichkeiten entgegenbringt,
hofft er dieselben seinen Interessen dienstbar zu machen. Im
vorliegenden Falle wurden die Blüten seiner Hoffnungen bald genug
geknickt. Der Prinzregent, vom Scheitel bis zur Sohle Soldat, empfand
zunächst das Bedürfnis einer gründlichen Militärreform auf Kosten der
bis dahin geltenden Landwehreinrichtungen. Nach seiner Auffassung hatte
sich die geltende preußische Heeresorganisation während und nach der
Revolution, sowie bei der Mobilmachung im Jahre 1859 nicht bewährt. Die
Verwirklichung seiner Pläne kostete aber nicht nur viel mehr Geld, sie
verstießen auch gegen die Traditionen, die sich im Volke seit 1813 über
die Brauchbarkeit der Landwehr gebildet hatten; außerdem wurde in der
neuen Organisation die Verlängerung der Dienstzeit von zwei auf drei
Jahre und für die Reserve von zwei auf vier Jahre verlangt.

Die Landwehr hatte allerdings in den Revolutionsjahren hier und da
versagt, sie fühlte sich zu sehr eins mit dem Volke und war nicht ohne
weiteres für reaktionäre Handstreiche zu haben, und für einen Krieg, der
nicht populär war, war sie ebenfalls schwer zu brauchen. Das war es
aber, was den Prinzregenten mit bewegte, sie bei der neuen Organisation
nach Möglichkeit in den Hintergrund zu drängen. Als aber die
Reorganisation ohne die ausdrückliche Zustimmung der Kammer, die,
kurzsichtig genug, zunächst die Mittel provisorisch bewilligt hatte,
definitiv eingerichtet wurde, begannen die Liberalen, die in der Zweiten
Kammer die Mehrheit hatten, aufsässig zu werden. Allein der Prinzregent
ließ sich nicht irre machen und reorganisierte weiter. Das rief den
Konflikt hervor. Die Wahlen im Dezember 1861 verstärkten die Opposition.
Obgleich die Regierung durch Gewährung liberaler Konzessionen
(Ministerverantwortlichkeitsgesetz und eine neue Kreisordnung) die
Kammer zu gewinnen suchte, lehnte diese jetzt die geforderten Kosten für
die Heeresorganisation ab. Darauf erfolgte im März 1862 die Auflösung
der Kammer, die aber das Resultat hatte, daß bei den Neuwahlen im Mai
dieselbe noch weit radikaler zusammengesetzt wurde. Die Konservativen
waren auf elf Mann zusammengeschmolzen.

Der Konflikt spitzte sich immer mehr zu, und der König, der keinen Rat
mehr wußte, berief jetzt Herrn v. Bismarck, der preußischer Gesandter
bei dem Bundestag in Frankfurt a. M. war — September 1862 —, an die
Spitze des mittlerweile konservativ zusammengesetzten Ministeriums. Das
war derselbe Bismarck, den schon 1849 Friedrich Wilhelm IV. als roten
Reaktionär, der nach Blut rieche, bezeichnet hatte. Der Konflikt
zwischen Regierung und Kammer erlangte damit seinen Höhepunkt.

In der deutschen Frage war mittlerweile ebenfalls die Bewegung in ganz
Deutschland immer lebendiger geworden und schlug hohe Wogen. Der
Nationalverein verlangte die Einberufung eines deutschen Parlamentes auf
Grund der Reichsverfassung und des Wahlgesetzes von 1849. Zugleich
sollte Preußens Rivale, Oesterreich, in Rücksicht auf seine starken
nichtdeutschen Bevölkerungsteile aus diesem neuen Reiche hinausgedrängt
werden. Die Mehrheit des Nationalvereins wollte ein Kleindeutschland
bilden im Gegensatz zu jenen, die Deutsch-Oesterreich nicht
ausgeschlossen sehen wollten und sich deshalb Großdeutsche nannten.
Diese Gegensätze beherrschten die Kämpfe für die Lösung der deutschen
Frage in der ersten Hälfte der sechziger Jahre. Daneben ging die
sogenannte Triasidee, wonach neben Oesterreich und Preußen die Mittel-
und Kleinstaaten eine Vertretung in der künftigen Reichsbildung
forderten, die aus einem dreiköpfigen Direktorium bestehen sollte.

Den Umfang, den die Bewegung angenommen hatte, und die große Bedeutung,
die sie noch erlangen konnte, veranlaßt die weitsichtigeren Liberalen,
beizeiten ihr Augenmerk auf die Arbeiter zu richten und diese für ihre
politischen Ziele zu gewinnen. Was sich in den letzten fünfzehn Jahren
in Frankreich abgespielt hatte, die rapide Entwicklung der
sozialistischen Ideen, die Junischlacht, der Staatsstreich Louis
Bonapartes und seine demagogische Ausnutzung der Arbeiter gegen die
liberale Bourgeoisie, ließ es den Liberalen ratsam erscheinen, womöglich
ähnlichen Vorkommnissen in Deutschland vorzubeugen. So benutzten sie vom
Jahre 1860 ab den Drang der Arbeiter nach Gründung von Arbeitervereinen
und förderten diese, an deren Spitze sie ihnen zuverlässig erscheinende
Personen zu bringen suchten.

Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands hatte zwar in jener Zeit
erhebliche Fortschritte gemacht, aber immerhin war Deutschland damals
noch überwiegend ein kleinbürgerliches und kleinbäuerliches Land. Drei
Viertel der gewerblichen Arbeiter gehörten dem Handwerk an. Mit Ausnahme
der Arbeit in der eigentlichen schweren Industrie, dem Bergbau, der
Eisen- und Maschinenbauindustrie, wurde die Fabrikarbeit von den
handwerksmäßig arbeitenden Gesellen mit Geringschätzung angesehen. Die
Produkte der Fabrik galten zwar als billig, aber auch als schlecht, ein
Stigma, das noch sechzehn Jahre später der Vertreter Deutschlands auf
der Weltausstellung in Philadelphia, Geheimrat Reuleaux, der deutschen
Fabrikarbeit aufdrückte. Für den Handwerksgesellen galt der
Fabrikarbeiter als unterwertig, und als Arbeiter bezeichnet zu werden,
statt als Geselle oder Gehilfe, betrachteten viele als eine persönliche
Herabsetzung. Zudem hatte die große Mehrzahl dieser Gesellen und
Gehilfen noch die Ueberzeugung, eines Tages selbst Meister werden zu
können, namentlich als auch in Sachsen und anderen Staaten anfangs der
sechziger Jahre die Gewerbefreiheit zur Geltung kam. Die politische
Bildung dieser Arbeiter war sehr gering. In den fünfziger Jahren, das
heißt in den Jahren der schwärzesten Reaktion groß geworden, in
denen alles politische Leben erstorben war, hatten sie keine
Gelegenheit gehabt, sich politisch zu bilden. Arbeitervereine oder
Handwerkervereine, wie man sie öfter nannte, waren nur ausnahmsweise
vorhanden und dienten allem anderen, nur nicht der politischen
Aufklärung. Arbeitervereine politischer Natur wurden in den meisten
deutschen Staaten nicht einmal geduldet, sie waren sogar auf Grund eines
Bundestagsbeschlusses aus dem Jahre 1856 verboten, denn nach Ansicht des
Bundestags in Frankfurt a.M. war der Arbeiterverein gleichbedeutend mit
Verbreitung von Sozialismus und Kommunismus. Sozialismus und Kommunismus
waren aber wieder uns Jüngeren zu jener Zeit vollständig fremde
Begriffe, böhmische Dörfer. Wohl waren hier und da, zum Beispiel in
Leipzig, vereinzelte Personen, wie Fritzsche, Vahlteich, Schneider
Schilling, die vom Weitlingschen Kommunismus gehört, auch Weitlings
Schriften gelesen hatten, aber das waren Ausnahmen. Daß es auch Arbeiter
gab, die zum Beispiel das Kommunistische Manifest kannten und von Marx'
und Engels' Tätigkeit in den Revolutionsjahren im Rheinland etwas
wußten, davon habe ich in jener Zeit in Leipzig nichts vernommen.

Aus alledem ergibt sich, daß die Arbeiterschaft damals auf einem
Standpunkt stand, von dem aus sie weder ein Klasseninteresse besaß, noch
wußte, daß es so etwas wie eine soziale Frage gebe. Daher strömten die
Arbeiter in Scharen den Vereinen zu, die die liberalen Wortführer
gründen halfen, die den Arbeitern als Ausbund der Volksfreundlichkeit
erschienen.

Diese Arbeitervereine schossen nun zu Anfang der sechziger Jahre aus dem
Boden wie die Pilze nach einem warmen Sommerregen. Namentlich in
Sachsen, aber auch im übrigen Deutschland. Es entstanden in Orten
Vereine, in denen es später viele Jahre währte, bis die sozialistische
Bewegung dort einigen Boden fand, obgleich der frühere Arbeiterverein
mittlerweile eingegangen war.

In Leipzig war damals das politische Leben sehr rege. Leipzig galt als
einer der Hauptsitze des Liberalismus und der Demokratie. Eines Tages
las ich in der demokratischen „Mitteldeutschen Volkszeitung“, auf die
ich abonniert war und die der Achtundvierziger Dr. Peters redigierte,
der Ehemann der bekannten verstorbenen Vorkämpferin für die Frauenrechte
Luise Otto-Peters, die Einladung zu einer Volksversammlung zur Gründung
eines Bildungsvereins. Diese Versammlung fand am 19. Februar 1861 im
Wiener Saal statt, einem Lokal, das in der Nähe des Rosentals in einem
Garten stand. Als ich in das Lokal trat, war dasselbe bereits überfüllt.
Mit Mühe fand ich auf der Galerie Platz. Es war die erste öffentliche
Versammlung, der ich beiwohnte. Der Präsident der Polytechnischen
Gesellschaft, Professor Dr. Hirzel, hatte das Referat, der mitteilte,
daß man einen Gewerblichen Bildungsverein als zweite Abteilung der
Polytechnischen Gesellschaft gründen wolle, weil Arbeitervereine auf
Grund des Bundestagsbeschlusses von 1856 in Sachsen nicht geduldet
würden. Dagegen erhob sich Opposition. Neben Professor Roßmäßler, der
Mitglied des deutschen Parlaments in Frankfurt a.M. gewesen und von
seiner Professur an der Forstakademie zu Tharandt durch Herrn von Beust
gemaßregelt worden war, nahmen Vahlteich und Fritzsche das Wort und
verlangten volle Selbständigkeit des Vereins, der ein politischer sein
müsse. Die Verfolgung von Unterrichtszwecken sei Sache der Schule, nicht
eines Vereins für Erwachsene. Ich war zwar mit diesen Rednern nicht
einverstanden, aber es imponierte mir, daß Arbeiter den gelehrten Herren
so kräftig zu Leibe rückten, und wünschte im stillen, auch so reden zu
können.

Der Verein wurde gegründet, und obgleich die Opposition ihren Zweck
nicht erreicht hatte, trat sie dem Verein bei. Ich wurde ebenfalls an
jenem Abend Mitglied. Der Verein wurde in seiner Art eine Musteranstalt.
Vortragende für wissenschaftliche Thematas waren in Menge vorhanden. So
neben Professor Roßmäßler, Professor Bock — der Gartenlaube-Bock und
Verfasser des Buches vom gesunden und kranken Menschen —, die
Professoren Wuttke, Wenck, Marbach, Dr. Lindner, Dr. Reyher, Dr.
Burckhardt und andere. Später folgten Professor Biedermann, Dr. Hans
Blum, von dem die Sage ging, daß er während seiner Studentenzeit sich
auf seiner Visitenkarte als Student der Menschenrechte bezeichnet habe,
Dr. Eras, Liebknecht, der im Sommer 1865 nach Leipzig kam, und Robert
Schweichel. Einer der fleißigsten Vortragenden im ersten Jahre war Dr.
Dammer, der später der erste von Lassalle eingesetzte Vizepräsident des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wurde. Unterricht wurde erteilt im
Englischen, Französischen, in Stenographie, gewerblicher Buchführung,
deutscher Sprache und Rechnen. Auch wurde eine Turn- und Gesangabteilung
gegründet. Ersterer trat Vahlteich bei, der ein großer Turner vor dem
Herrn war und blieb, der Gesangabteilung traten Fritzsche und ich bei.
Fritzsche sang vorzüglich zweiten Baß, ich ersten, den bekanntlich jeder
singt, der keine Singstimme hat.

An der Spitze des Vereins stand ein vierundzwanzigköpfiger Ausschuß, in
dem der Kampf um den Vorsitz entbrannte. Roßmäßler unterlag gegenüber
dem Architekten Mothes, aber die Opposition arbeitete planmäßig weiter.
Bei dem ersten Stiftungsfest Februar 1862 hielt Vahlteich die Festrede,
die ausgeprägt politisch war. Er forderte das allgemeine Stimmrecht. Bei
der Neuwahl des Ausschusses wurde auch ich in denselben gewählt. Meine
Sehnsucht, öffentlich reden zu können, war bei den häufigen Debatten im
Verein rasch befriedigt worden. Ein Freund erzählte mir später, daß, als
ich zum ersten Male einige Minuten sprach, um einen Antrag zu begründen,
man sich an meinem Tisch gegenseitig angesehen und gefragt habe: Wer ist
denn der, der so auftritt. Da im Ausschuß verschiedene Abteilungen für
die verschiedenen Verwaltungsfächer gebildet wurden, wurde ich in die
Bibliothekabteilung und die Abteilung für Vergnügungen gewählt. In
beiden wurde ich Vorsitzender. Die Wahl des Vereinsvorsitzenden, die
wieder der Ausschuß vorzunehmen hatte, rief dieses Mal einen heftigen
Kampf hervor. Viermal wurde gewählt, ohne für einen Kandidaten ein Mehr
erzielen zu können. Stets war Stimmengleichheit vorhanden. Schließlich
unterlag wieder Professor Roßmäßler gegen Architekt Mothes mit einer
Stimme, weil dieser sich selbst gewählt hatte. Die Opposition trug jetzt
den Kampf in die Generalversammlung, die am Karfreitag 1862 stattfand.
Der Verein hatte damals über fünfhundert Mitglieder. Die Opposition
stellte wieder ihre alte Forderung auf, den Verein zu einem rein
politischen zu machen und den Unterricht aus demselben auszuschließen.
Nach einem heftigen, vielstündigen Redekampfe, an dem auch ich mich
beteiligte, unterlag sie gegen eine Mehrheit von drei Viertel der
Stimmen. Hätte die Opposition geschickter operiert, hätte sie verlangt,
daß zeitweilig politische Vorträge über Zeitereignisse gehalten und
darüber Diskussionen veranstaltet werden sollten, sie hätte glänzend
gesiegt. Aber daß man den Unterricht aus dem Verein verbannen wollte,
der für die große Mehrheit der jüngeren Mitglieder das größte Interesse
hatte, reizte diese zum Widerstand. Ich selbst nahm an der Buchführung
und Stenographie teil. Einige Tage vor jener entscheidenden Versammlung
hatten sich Fritzsche und Vahlteich eifrig bemüht, mich zu ihnen
hinüberzuziehen. Ich konnte ihnen nicht folgen.

Die Opposition schied nunmehr aus und gründete den Verein Vorwärts, der
im Hotel de Saxe sein Hauptquartier aufschlug. Der Wirt in diesem Lokal
war der in den Reaktionsjahren gemaßregelte ehemalige Pfarrer Würkert.
Dieser hatte eine eigene Methode, Aufklärung zu verbreiten und dabei
auch sein Geschäft zu machen. Er veranstaltete allwöchentlich Vorträge,
die er selbst hielt, über alle möglichen Thematas, wie die Geburts- und
Todestage berühmter Männer, politische Tagesereignisse usw. An solchen
Abenden war sein Lokal gedrängt voll. Da machte es denn einen
eigenartigen Eindruck, wenn Würkert, der soeben noch unter den Gästen
sich bewegt und diesem und jenem ein Glas Bier verabreicht hatte, auf
dem Treppenpodest Platz nahm, der vom oberen in das untere Lokal führte,
und von dort allen sichtbar seinen Vortrag hielt. Nicht im Gegensatz,
sondern vielmehr in Ergänzung der Zusammenkünfte im Hotel de Saxe stand
die Restauration zur Guten Quelle auf dem Brühl, ein damals eben
gebautes großes Kellerlokal, dessen Wirt der Achtundvierziger Grun war.
In der einen Ecke jenes Lokals stand ein großer runder Tisch, der der
Verbrechertisch hieß. Das besagte, daß hier nur die ehrwürdigen Häupter
der Demokratie Platz nehmen durften, die zu Zuchthaus oder Gefängnis
verurteilt worden waren oder die man gemaßregelt hatte. Oefter traf
beides zu. Da saßen Roßmäßler, Dolge, der wegen seiner Beteiligung am
Maiaufstand zum Tode verurteilt worden war, nachher zu lebenslänglichem
Zuchthaus begnadigt wurde und dann acht Jahre in Waldheim gesessen
hatte. Zu den „Verbrechern“ gehörten weiter Dr. Albrecht, der in
unserem Verein Stenographie lehrte, Dr. Burckhardt, Dr. Peters,
Friedrich Oelkers, Dr. Fritz Hofmann, Gartenlaube-Hofmann genannt, usw.
Wir Jungen rechneten es uns zur besonderen Ehre an, wenn wir an diesem
Tisch in Gesellschaft der Alten ein Glas Bier trinken durften.

Die Leiter des Vereins Vorwärts begnügten sich aber nicht mit ihren
Vereinsversammlungen, sie trugen die Agitation in die Arbeiter- und
Volksversammlungen, die sie von Zeit zu Zeit einberiefen, in welchen
Arbeiterfragen und Tagesfragen erörtert wurden. Diese Erörterungen waren
noch sehr unklar. Man diskutierte über eine Invalidenversicherung der
Arbeiter, über die Veranstaltung einer Weltausstellung in Deutschland,
über den Eintritt in den Nationalverein, wobei man verlangte, daß dieser
den Jahresbeitrag von 3 Mark auch in Monatsraten erhebe, damit die
Arbeiter beitreten könnten. Weiter forderte man das allgemeine
Stimmrecht für die Landtagswahlen und ein deutsches Parlament, das sich
der Arbeiterfrage anzunehmen habe. Ferner wurde die Einberufung eines
allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses diskutiert, auf dem die
aufgetauchten Forderungen debattiert werden sollten. Die Frage der
Einberufung eines Arbeiterkongresses tauchte fast gleichzeitig auch in
den Berliner und Nürnberger Arbeiterkreisen auf.

Um die Vorbereitungen hierfür zu treffen und weiter nötig werdende
Arbeiterversammlungen einzuberufen, wurde ein Komitee niedergesetzt, in
das neben Fritzsche, Vahlteich und anderen weniger bekannt gewordenen
Arbeitern auch ich gewählt wurde. Neben den Arbeiterversammlungen, die
von unserer Seite ausgingen, berief die örtliche Leitung des Deutschen
Nationalvereins öfter Volksversammlungen, manchmal mit Rednern von
auswärts, Schulze-Delitzsch, Metz-Darmstadt usw., ein, in denen die
deutsche Frage, die Gründung einer deutschen Flotte, der mittlerweile
sehr akut gewordene preußische Verfassungskonflikt, die
schleswig-holsteinsche Frage usw. erörtert wurden. Man ersieht schon aus
der Aufzählung dieser Thematas, daß das politische Leben in Leipzig in
jener Zeit ein außerordentlich reges war und uns in Atem hielt. Ein
sehr beliebtes Thema in den von den Liberalen einberufenen
Volksversammlungen waren auch die Erörterungen über die
Verfassungszustände in den Einzelstaaten, ganz besonders in Sachsen,
Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt. In zweiter Linie folgten Mecklenburg
und Bayern. Die Herren v. Beust (Sachsen) und Dalwigk (Hessen-Darmstadt)
waren ganz besonders Gegenstand heftiger Angriffe. Zu diesen gesellte
sich Herr v. Bismarck, als dieser im September 1862 an die Spitze der
preußischen Regierung trat.

Es war richtig, in den erwähnten Klein- und Mittelstaaten waren nach der
Niederwerfung der Revolution Verfassungsbrüche und Oktroyierungen aller
Art vorgekommen, aber nicht minder in Preußen. Außerdem hatten diese
Klein- und Mittelstaaten ihre verbrecherische Tätigkeit nur unter dem
Schutze Preußens und Oesterreichs — die hierin ein Herz und eine Seele
waren — ausüben können. Gleichwohl behandelten die Liberalen der
verschiedenen Schattierungen in ihren öffentlichen Angriffen die Klein-
und Mittelstaaten viel schlechter als zum Beispiel Preußen. Und doch war
es Preußen gewesen, das die Revolution niedergeworfen und es neben den
Oktroyierungen im eigenen Lande an Gewalttaten gegen die Revolutionäre
nicht hatte fehlen lassen. Ich erinnere nur an die Verurteilung
Gottfried Kinkels zu lebenslänglichem Zuchthaus, an die Erschießung von
Adolf v. Trützschler in Mannheim und Max Dortü in Freiburg i.B., an die
Erschießungen in den Kasemattengräben in Rastatt, an die furchtbaren
Grausamkeiten, die das preußische Militär nach der Niederwerfung des
Maiaufstandes in Dresden an den gefangenen Revolutionären begangen
hatte. Auch waren die Zustände Preußens in den fünfziger Jahren unter
der Herrschaft des Systems Manteuffel so, daß sie jeden halbwegs
freidenkenden Mann zur Empörung aufstacheln mußten und Preußen in
Deutschland und im Ausland aufs schlimmste diskreditierten. Auch der im
Zuge befindliche Verfassungskonflikt suchte seinesgleichen in
Deutschland vergeblich. Mir, der ich damals als ein in der Politik noch
unerfahrener junger Mann gelten mußte, fiel dieses Messen mit zweierlei
Maß bald auf. Und dieses wurde namentlich von den sächsischen Liberalen
und Demokraten praktiziert. Allerdings war das System des Herrn v.
Beust, das dieser mit Zustimmung des Königs Johann in Sachsen inszeniert
hatte, wegen der volksfeindlichen Maßnahmen und Bedrückungen aller Art
und insbesondere durch die grausame Behandlung, die die politischen
Gefangenen im Zuchthaus zu Waldheim erlitten hatten, ganz besonders und
mit Recht verhaßt. Im Waldheimer Zuchthaus waren nicht weniger als 286
Maigefangene, darunter 148 Arbeiter untergebracht worden, von denen
schon bis zum Jahre 1854 34, also 12 Prozent, gestorben waren. Ueber 42
der Gefangenen war das Todesurteil ausgesprochen worden, die dann zu
lebenslänglichem Zuchthaus „begnadigt“ wurden. In der Strafanstalt
Zwickau waren 286 politische Gefangene, darunter 239 Arbeiter,
eingesperrt worden; das Landesgefängnis Hubertusburg hatte 70 politische
Gefangene beherbergt.

Im Zuchthaus zu Waldheim saß unter anderen auch August Röckel,
Musikdirektor in Dresden, ein Freund Richard Wagners und des berühmten
Baumeisters Semper, denen beiden die Flucht gelungen war. Röckel war
wegen seiner Beteiligung am Maiaufstand zu lebenslänglichem Zuchthaus
verurteilt worden. Nach seiner Begnadigung, Anfang 1862, nachdem er
11-1/2 Jahre im Zuchthaus zugebracht — er war mit dem Rechtsanwalt
Kirbach in Plauen der letzte der begnadigten Zuchthäusler, weil beide
sich weigerten, ein Gnadengesuch einzureichen —, veröffentlichte er
1865 über die Vorkommnisse im Waldheimer Zuchthaus ein Buch, betitelt:
Die Erhebung in Sachsen und das Zuchthaus zu Waldheim, dessen Inhalt in
Sachsen und Deutschland einen Schrei des Entsetzens hervorrief. Ich war
einer der eifrigsten Verbreiter von Röckels Buch, ich setzte über 300
Exemplare ab, selbstverständlich ohne persönlichen Vorteil, was nicht
hinderte, daß ich in der Koburger Arbeiterzeitung als Anhänger Beusts
verdächtigt wurde.

Unter den in Waldheim Mißhandelten war es Kirbach, den ich zwanzig Jahre
später als Kollege im sächsischen Landtag persönlich kennen lernte, wohl
mit am schlimmsten ergangen. Er war keiner von denen, die im Zuchthaus
zu Kreuze krochen; ihm ließ der Zuchthausdirektor Christ einen
sogenannten Springer zwischen den Füßen anbringen. Dieses war eine etwa
einen Fuß lange Eisenstange, die mit Fußschellen zwischen den Knöcheln
befestigt war. Wollte Kirbach gehen, so mußte er springen, daher der
Name Springer. Bei dieser Prozedur wurden Haut und Fleisch an den
Knöcheln zerrieben, und da Kirbach nicht nur furchtbare Schmerzen litt,
sondern auch gefährlich erkrankte, mußte ihm nach einiger Zeit der
Springer wieder abgenommen werden. Politisch entwickelte sich später der
ehemalige Revolutionär, wie so viele andere, zum Nationalliberalen, doch
hegte er in einem Winkel seines Herzens noch immer demokratische
Neigungen. Er war der einzige unter den Nationalliberalen, der im
sächsischen Landtag für unsere Anträge auf Einführung des allgemeinen,
gleichen und direkten Wahlrechts stimmte.

Eine ganz andere politische Entwicklung nahm Kirbachs Zuchthausgenosse
August Röckel. Als das Jahr 1866 die politische Krise über Deutschland
brachte, stellte sich Röckel auf die Seite seines früheren Feindes v.
Beust und ging, als Beust in Oesterreich Kanzler wurde, mit ihm nach
Wien, um ihm Preßdienste zu leisten.

Was aber immer für Zustände in Preußen herrschten, die Liberalen sahen
in ihm den Staat, der allein die deutsche Einheit, wie sie sich dieselbe
dachten, durchführen konnte und sie vor einer Herrschaft der Masse zu
schützen vermochte. Daher war es ihre Taktik, die Mittel- und
Kleinstaaten nach Kräften herunterzureißen, damit der Staat des
deutschen Berufs, was in ihren Augen Preußen war, in um so günstigerem
Lichte erschien. Die Aera Bismarck stand zwar dieser Mythe sehr im Wege,
aber man erklärte sie für eine vorübergehende Erscheinung, und dann
werde Preußen erst recht im liberalen Glanze erscheinen. Herr von
Bismarck war aber eine Realität ersten Ranges, und er kannte auch die
Liberalen, von denen er sagte: Mehr als sie mich hassen, fürchten sie
die Revolution, was durchaus richtig war. Indes gerieten die
Leidenschaften immer mehr in Glühhitze. Wer in den Versammlungen am
heftigsten auf Bismarck losschlug und die bedenklichsten Drohungen laut
werden ließ, der konnte auf den stürmischsten Beifall rechnen. Selbst in
manchem Liberalen erwachte die alte revolutionäre Leidenschaft, so in
Johannes Miquel, der zehn Jahre früher mit Karl Marx in Verbindung
gestanden war und selbst in den sechziger Jahren seine Beziehungen zu
ihm noch nicht ganz abgebrochen hatte, der sich als Kommunist und
Atheist bekannt und seine Hilfe zur Organisierung von Bauernaufständen
angeboten hatte. Jetzt drohte er dem König von Preußen mit dem Schicksal
der Bourbonen, man werde die Arbeiter gegen die Hohenzollern aufrufen,
wenn sie keine Vernunft annehmen wollten. Eine solche Aeußerung fiel von
ihm im privaten Kreise gelegentlich der Generalversammlung des Deutschen
Nationalvereins in Leipzig. Nahezu dreißig Jahre später war Johannes
Miquel, als Herr von Miquel, Finanzminister eines Hohenzollern und war
ihm selbst die mittlerweile sehr zahm gewordene nationalliberale Partei,
zu deren Gründern er gehörte, noch zu liberal.

Indes mochten auch an Bismarcks Ohren solche Drohungen gedrungen sein —
die blutigsten Drohungen durch anonyme Briefe sind wohl schon Mode
gewesen, ehe es sozialdemokratische Führer gab, die solche gelegentlich
dutzendweise empfangen haben —, denn er hat später öffentlich
zugestanden, daß er nicht für unmöglich gehalten, das Schicksal
Straffords zu teilen, der als Minister Karls I. von England hingerichtet
worden war. Er habe daher als sorgsamer pater familias auf alle Fälle
sein Haus bestellt.

Aber auch vom König ging in jener Zeit das Gerücht, daß er infolge der
fortgesetzten Aufregungen an Halluzinationen leide und fürchtete, daß
ihn das Schicksal der Bourbonen erreichen werde. Bestätigt wurden jene
Gerüchte durch eine spätere Veröffentlichung, die der verstorbene
preußische Landtagsabgeordnete von Eynern als persönliche Mitteilung
Bismarcks bezeichnete. Danach habe Bismarck ihm erzählt: Als er 1862 zum
Minister ernannt worden sei, wäre er dem König bis Jüterbog
entgegengefahren und habe denselben in größter Niedergeschlagenheit
angetroffen. Die badischen Herrschaften, von denen der König gekommen,
hätten den Konflikt mit dem Landtag für unlösbar gehalten und ihn zum
Einlenken zu bestimmen gesucht. Der König habe zu ihm gesagt: „Minister
sind Sie geworden, aber nur, um das Schafott zu besteigen, was auf dem
Opernplatz für Sie errichtet wird; ich selbst, der König, werde nach
Ihnen an die Reihe kommen.“ Der König hoffte zweifellos, ich würde ihm
diese Dinge ausreden, — sagte Bismarck —, ich tat aber das Gegenteil,
weil ich meinen ehrlichen und gegen jede erkennbare Gefahr mutigen Mann
kannte. Ich sagte ihm, die beiden Fälle hielte ich augenblicklich
vielleicht für nicht ganz ausgeschlossen — aber wenn sie eintreten
sollten, was sei dann Großes daran gelegen, sterben müßten wir alle
einmal, und es sei gleichgültig, ob ein bißchen früher oder später. Er
sterbe dann, wie es seine Pflicht sei, im Dienste seines Königs und
Herrn, und der König sterbe dann in Verteidigung seiner heiligen Rechte,
was auch seine Pflicht sei gegen sich selbst und gegen sein Volk. Man
brauche ja nicht gleich an Ludwig XVI. zu denken, der sei ja unangenehm
gestorben, aber Karl I. habe einen höchst anständigen Tod erlitten,
einen solchen, der ebenso ehrenvoll gewesen wie der auf dem
Schlachtfelde.

„Als ich“ — erzählte Bismarck weiter — „derart den König als Soldaten an
sein Portepee faßte, wurde er noch ernster und dann wurde er sicher, und
ich reiste mit einem vergnügten, kampfesfrohen Manne nach Berlin
hinein.“

Diese Vorgänge zeigen, was die Liberalen hätten erreichen können, wenn
sie die Lage auszunützen verstanden. Aber sie fürchteten bereits die
hinter ihnen stehenden Arbeiter. Bismarcks Wort: wenn man ihn zum
Aeußersten dränge, werde er den Acheron in Bewegung setzen, jagte ihnen
einen heillosen Schrecken ein.

In der Tat hat denn auch Bismarck alle Register gezogen, um Herr der
Situation zu werden; seine Werkzeuge nahm er, wo er sie fand. Er hätte
sich mit dem Teufel und seiner Großmutter verbunden, fand er einen
Vorteil dabei. So zog er August Braß, den Chefredakteur der damals
großdeutschen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“, in seine Dienste,
obgleich dieser früher roter Demokrat gewesen war und das hübsche Lied
gedichtet hatte:

  Wir färben rot, wir färben gut,
  Wir färben mit Tyrannenblut!

Er hatte auch nichts dagegen einzuwenden, daß Braß Liebknecht von London
und Robert Schweichel von Lausanne als Redakteure an die „Norddeutsche
Allgemeine Zeitung“ berief. Weiter gelang es Bismarck, neben Braß im
Jahre 1864 Lothar Bucher, den alten Demokraten und Steuerverweigerer, zu
gewinnen, dessen großes historisches Wissen und gewandte Feder er sich
dienstbar machte. Bucher war es auch, der im Auftrag Bismarcks 1865 den
Versuch machte, Karl Marx als Mitarbeiter für den preußischen
Staatsanzeiger zu gewinnen, wobei er die Freiheit haben sollte, ganz
nach Belieben zu schreiben, propagiere er selbst den Kommunismus.

Die Methoden, nach denen Bismarck jetzt zu regieren versuchte, hatte er
Louis Napoleon abgeguckt, der es meisterhaft verstanden hatte, die
bestehenden Klassengegensätze für sein System auszunutzen, und zwar
sogar unter der Herrschaft des allgemeinen Stimmrechts. Es zeigte sich
bald, daß auch Bismarck versuchte, die Arbeiterbewegung in seinem
Interesse gegen die liberale Bourgeoisie auszunutzen. Sein Helfer in
diesen Dingen war der Geheime Oberregierungsrat Hermann Wagener, dessen
Kenntnis der sozialen Fragen und seine Schlauheit ihn als den geeigneten
Mann erscheinen ließen.

Ende August 1862 hatte eine Arbeiterversammlung in Berlin ebenfalls
beschlossen, einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß, und zwar nach
Berlin einzuberufen. Das veranlaßte das Leipziger Komitee, sich mit den
leitenden Persönlichkeiten der Berliner Bewegung in Verbindung zu
setzen, um eine Vereinbarung wegen der Einberufung des Kongresses zu
erzielen. Man wünschte der besseren geographischen Lage wegen Leipzig
als Kongreßort. Anfangs Oktober kam als Berliner Vertreter der Maler und
Lackierer Eichler nach Leipzig zu einer Besprechung, der auch ich als
Mitglied des Komitees beiwohnte.

Diese Besprechung fand in der Restauration Zum Joachimstal in der
Hainstraße statt. Eichler ging gleich aufs Ganze. Er führte aus, daß die
Arbeiter von der Fortschrittspartei und dem Nationalverein nichts zu
erwarten hätten. Die Mehrzahl der Komiteemitglieder teilte auf Grund der
gemachten Erfahrungen diese Ansicht. Weiter fuhr Eichler fort: er habe
die Gewißheit — und damit entpuppte er sich nach unserer Ansicht als
Agent Bismarcks —, daß Bismarck für die Einführung des allgemeinen,
gleichen und direkten Wahlrechts zu haben sei und auch bereit wäre, die
nötigen Mittel (60000 bis 80000 Taler) zur Gründung einer
Produktivgenossenschaft der Maschinenbauer herzugeben.

Zu jener Zeit bildeten die Maschinenbauer die Elite der
Berliner Arbeiter und galten als die eigentliche Leibgarde der
Fortschrittspartei. Die Ausführungen Eichlers riefen eine stundenlange
Debatte hervor, deren Endergebnis war, daß das Komitee, mit Ausnahme
Fritzsches, sich gegen Eichler erklärte. Es fällt auf, daß Eichler Ideen
propagierte, wie sie sechs Monate später Lassalle in seinem
Antwortschreiben an das Leipziger Komitee entwickelte, nur daß Lassalle
einen demokratischen Staat als Begründer der Produktivassoziationen mit
Staatshilfe forderte.

In jenen Tagen war der Name Lassalles uns unbekannt, obgleich er schon
im April jenes Jahres öffentlich einen Vortrag „Ueber den besonderen
Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des
Arbeiterstandes“ gehalten hatte, der später und bis auf den heutigen Tag
unter dem Titel „Arbeiterprogramm“ erschienen ist. Auch hatte er in
demselben Jahre seine Vorträge über Verfassungswesen gehalten. Daß diese
Vorgänge uns unbekannt blieben, lag wohl daran, daß keiner von uns
Berliner Zeitungen las. Wir bezogen unsere Kenntnisse über die
Tagesereignisse aus der Leipziger Presse, namentlich der demokratischen
„Mitteldeutschen Volkszeitung“, und was diese nicht brachte, blieb uns
fremd. Es waren eben noch rückständige Zeiten.

Eichler hatte, als er mitteilte, Bismarck sei eventuell für die
Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu haben,
nur einem Gedanken Ausdruck gegeben, der damals schon namentlich von dem
Geheimen Oberregierungsrat Hermann Wagener öffentlich propagiert wurde.
Man dachte dabei an eine Oktroyierung desselben, von der Auffassung
ausgehend: ist das Dreiklassenwahlrecht im Mai 1849 oktroyiert worden,
so kann es auch durch eine königliche Verordnung wieder beseitigt und
ein neues Wahlrecht oktroyiert werden. Den Liberalen, die in ihrer sehr
großen Mehrzahl nicht für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime
Wahlrecht schwärmten, war diese Aussicht höchst fatal, und Herr v.
Unruh, einer ihrer Hauptführer, gab ihrer Besorgnis auch öffentlich
Ausdruck. Ihre Abneigung gegen das allgemeine, gleiche, direkte und
geheime Wahlrecht versteckten die Liberalen damals hinter der Erklärung,
diese Forderung sei während des Verfassungskampfes nicht opportun, erst
müsse der Kampf mit dem Ministerium Bismarck zu Ende sein, ehe man an
eine Aenderung des Wahlrechts denken könne. Daß zu jener Zeit die
konservativen Demagogen sich für Einführung des demokratischsten aller
Wahlrechte ins Zeug legten, wohingegen sie heute die entschiedensten
Gegner desselben sind, hatte seinen zulänglichen Grund. Napoleon III.,
der nach dem Staatsstreich das allgemeine, gleiche, direkte und geheime
Wahlrecht in Frankreich wieder einführte, das die honette Republik nach
der Junischlacht durch ein schlechteres Wahlrecht ersetzt hatte, war mit
demselben ausgezeichnet gefahren. Natürlich unter obligater Einwirkung
durch die Staatsgewalten auf die Wähler. Es gab anfangs unter
sechshundert Delegierten nur sieben Oppositionsmänner, alle übrigen
waren kaiserliche Mamelucken. Erst 1863 stieg die Opposition auf 38 und
1869 auf 110 Köpfe.

Umgekehrt hatte in Preußen das Dreiklassenwahlrecht, das man geschaffen
hatte, um eine gefügige Kammer zu besitzen, jetzt eine scharf
oppositionelle geliefert, so kam man auf den Gedanken, das Napoleonische
Beispiel nachzuahmen.

Eine andere Frage ist: Wie kam die Idee der Produktivgenossenschaften
mit Staatshilfe in die Kreise der Konservativen? Und da scheint es, daß
Lassalle schon im Jahre 1862 diesen Gedanken in seinem Kopfe bearbeitete
und seinen Gedanken seiner Freundin und Vertrauten, der Gräfin
Hatzfeldt mitteilte, von der dann die Idee in die konservativen Kreise
getragen wurde, noch ehe Lassalle sie öffentlich formuliert hatte.
Später, als Vahlteich Sekretär Lassalles geworden war, entdeckte dieser,
welch zweideutige Elemente Lassalle um sich hatte. Dasselbe nahm
Liebknecht wahr, der Lassalle vor seiner Umgebung und speziell vor
Bismarck warnte, worauf Lassalle antwortete: Pah, ich esse mit Herrn von
Bismarck Kirschen, aber er bekommt die Steine. Es ist höchst
wahrscheinlich, daß der Geheimrat Wagener Eichler den Plan mit den
Produktivgenossenschaften als Plan Bismarcks suggerierte, noch ehe
Bismarck selbst sich damit beschäftigt hatte.[1] Klarheit über die Rolle
Eichlers und die Beziehungen Bismarcks zu Lassalle erfolgte im September
1878 bei Beratung des Sozialistengesetzes, als ich auf jene Vorgänge zu
sprechen kam. Ich klagte damals Fürst Bismarck an, daß er jetzt die
Sozialdemokratie zu vernichten trachte, die er einstmals für seine
politischen Zwecke zu benutzen versucht habe. Ich wies zunächst auf den
Fall Eichler hin und die Angebote, die dieser in seinem Namen uns im
Leipziger Komitee gemacht habe; ich führte weiter an, daß durch
Vermittlung eines Hohenzollernprinzen (vermutlich Prinz Albrecht, Bruder
des Königs) und der Gräfin Hatzfeldt Lassalle mit ihm (Bismarck) in
Verbindung gekommen sei, daß seine Unterhaltungen mit Lassalle öfter
stundenlang gedauert und eines Tages sogar der bayerische Gesandte
abgewiesen worden wäre, der Bismarck sprechen wollte, als Lassalle bei
ihm war.

Fürst Bismarck nahm darauf am folgenden Tage, den 17. September, im
Reichstag das Wort. Ich hatte irrtümlich gesagt, daß die Verhandlungen
zwischen Eichler und dem Leipziger Komitee schon im September, statt
erst im Oktober stattgefunden hätten. Daran knüpfte Bismarck an, um
nachzuweisen, daß er solche Aufträge nicht könne gegeben haben, da er
erst am 23. September ins Ministerium eingetreten sei. Wohl sei ihm
erinnerlich, _daß Eichler späterhin Forderungen an ihn gestellt für
Dienste, die er ihm nicht geleistet habe. Im weiteren gab er zu, daß
Eichler im Dienste der Polizei gestanden_ und Berichte geliefert habe,
von denen einige zu seiner Kenntnis gekommen seien. Diese hätten sich
aber nicht auf die sozialdemokratische Partei bezogen, sondern auf
intime Verhandlungen der Fortschrittspartei und, wenn er nicht irre, des
Nationalvereins.

Damit war erwiesen, wie begründet unser Verdacht im Komitee gegen
Eichler gewesen war. Im übrigen bestritt Fürst Bismarck, daß er 60000
bis 80000 Taler für eine Produktivgenossenschaft habe hergeben wollen.
Er habe keine geheimen Fonds gehabt, und wo hätte er das Geld hernehmen
sollen? Das sagte derselbe Mann, der im April 1863 in der Kammer
geäußert hatte: die Regierung werde, wenn es ihr nötig erscheine, mit
oder ohne Bewilligung der Volksvertretung Krieg führen und das Geld dazu
nehmen, wo sie es finde — und jahrelang die Staatsausgaben ohne
Zustimmung der Kammer machte. Auf die ihm von mir vorgehaltenen
Beziehungen zu Lassalle äußerte er: Nicht er, sondern Lassalle habe den
Wunsch gehabt, mit ihm zu sprechen, und er habe ihm die Erfüllung dieses
Wunsches nicht schwer gemacht. Er habe das auch nicht bereut.
Verhandlungen hätten zwischen ihnen nicht stattgehabt, was hätte
Lassalle als armer Teufel ihm auch bieten können? Lassalle habe ihn aber
außerordentlich angezogen, er sei einer der geistreichsten und
liebenswürdigsten Menschen gewesen, mit denen er je verkehrt habe, er
sei auch kein Republikaner gewesen: die Idee, der er zustrebte, sei das
deutsche Kaisertum gewesen. Darin hätten sie Berührungspunkte gehabt.
Lassalle sei in hohem Grade ehrgeizig gewesen, und ob das deutsche
Kaisertum mit der Dynastie Hohenzollern oder mit der Dynastie Lassalle
abschließen solle, das sei ihm vielleicht zweifelhaft gewesen, aber
monarchisch sei er durch und durch gewesen. Dieser Erklärung folgte im
Reichstag große Heiterkeit.

Die burschikose Art, wie Bismarck Lassalle zum Monarchisten stempelte,
bedarf keiner Widerlegung, sie wird auch durch Lassalles Schriften und
Briefe widerlegt. Immerhin war die Rolle Lassalles Bismarck gegenüber
eine höchst eigenartige. Gestützt auf sein sehr hohes Selbstgefühl und
seine unabhängige soziale Stellung glaubte er, mit Bismarck wie von
Macht zu Macht verhandeln zu können, noch ehe er eine Macht hinter sich
hatte. Wie das Spiel schließlich ausgegangen wäre, darüber braucht man
sich den Kopf nicht zu zerbrechen, da der Tod Lassalles, Ende August
1864, ihn als Partner beseitigte.

Bismarck bestritt ferner in jener Rede, daß zwischen ihm und Lassalle
der Gedanke einer Oktroyierung des allgemeinen, gleichen, direkten und
geheimen Wahlrechts erörtert worden sei. Ich konnte ihm das Gegenteil
nicht beweisen, glaubte aber den Worten Bismarcks nicht. Hier ist mir
Lassalle maßgebend, der in seiner Verteidigungsrede vor dem
Staatsgerichtshof in Berlin, 12. März 1864, öffentlich sagte: „Und so
verkünde ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird vielleicht
kein Jahr mehr vergehen — und Herr v. Bismarck hat die Rolle Robert
Peels gespielt und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert.“
Lassalle konnte ganz unmöglich eine solche Sprache führen, wäre nicht in
seinen Unterhaltungen mit Bismarck die Oktroyierung des allgemeinen,
direkten Wahlrechts in Betracht gezogen worden. Wie schon angeführt,
wurde dieser Gedanke, und zwar immer wieder, in konservativen Kreisen
sehr ernst erörtert, und er fand im liberalen Lager vollen Glauben.
Außerdem war Bismarck, der gegen die Beschlüsse der Kammer
verfassungswidrig regierte und im Juni 1863 wider Recht und Gesetz die
berüchtigten Preßordonnanzen erließ, nicht der Mann, der vor einer
Oktroyierung eines Wahlsystems zurückgeschreckt wäre, wenn er sich
Nutzen davon versprach. Zudem wäre ihm eine solche Oktroyierung von den
bisher politisch entrechteten Massen in Preußen nicht übelgenommen
worden.

Welchen Charakter die Unterhandlungen Lassalles mit Bismarck angenommen
hatten, dafür sprechen zwei Briefe Lassalles, die erst viel später
veröffentlicht wurden, hier aber am besten ihren Platz finden.

Lassalle schrieb an Bismarck:

Exzellenz! Vor allem klage ich mich an, gestern vergessen zu haben,
Ihnen noch einmal ans Herz zu legen, daß die _Wählbarkeit
schlechterdings allen Deutschen erteilt_ werden muß. Ein immenses
Machtmittel! Die wirkliche „moralische“ Eroberung Deutschlands! Was die
Wahltechnik betrifft, so habe ich noch gestern nacht die gesamte
französische Gesetzgebungsgeschichte nachgelesen und da allerdings wenig
Zweckmäßiges gefunden. Aber ich habe auch nachgedacht und bin nunmehr
allerdings wohl in der Lage, Ew. Exzellenz die gewünschten Zauberrezepte
zur Verhütung der Wahlenthaltung wie der Stimmenzerbröckelung vorlegen
zu können. An der durchgreifenden Wirkung derselben wäre nicht im
geringsten zu zweifeln.

Ich erwarte demnach die _Fixierung eines Abends seitens Ew. Exzellenz_.
Ich bitte aber dringend, den Abend so zu wählen, daß wir nicht gestört
werden. Ich habe viel über die Wahltechnik und noch mehr über anderes
mit Ew. Exzellenz zu reden, und eine ungestörte und erschöpfende
Besprechung ist bei dem drängenden Charakter der Situation wirklich
unumgängliches Bedürfnis.

Der Bestimmung Ew. Exzellenz entgegensehend, mit ausgezeichneter
Hochachtung Ew. Exzellenz ergebenster

F. Lassalle.

Berlin, Mittwoch 13.1.64, Potsdamer Straße 13.

Und weiter:

Exzellenz! Ich würde nicht drängen, aber die äußeren Ereignisse drängen
gewaltig, und somit bitte ich, mein Drängen zu entschuldigen. Ich
schrieb Ihnen bereits Mittwoch, daß ich die gewünschten „Zauberrezepte“
— Zauberrezepte von der durchgreifendsten Wirkung — gefunden habe.
Unsere nächste Unterredung wird, wie ich glaube, endlich von
entscheidenden Beschlüssen gefolgt sein, und da, wie ich ebenso glaube,
diese entscheidenden Entschlüsse unmöglich länger zu verschieben sind,
so werde ich mir erlauben, morgen (Sonntag) abend 8-1/2 Uhr bei Ihnen
vorzusprechen. Sollten Ew. Exzellenz zu dieser Zeit verhindert sein, so
bitte ich, mir eine andere möglichst nahe Zeit bestimmen zu wollen. Mit
ausgezeichneter Hochachtung Ew. Exzellenz ergebenster

F. Lassalle.

Sonnabend abend (16.1.64), Potsdamer Straße 13.

       *       *       *       *       *

Herr v. Keudell, der um jene Zeit im Auswärtigen Amt beschäftigt wurde
und von dem Verkehr Bismarcks mit Lassalle wußte, behauptete, Bismarck
habe den Verkehr mit Lassalle abgebrochen, weil letzterer immer
zudringlicher geworden sei. Der letzte der vorstehend abgedruckten
Briefe spricht für eine solche Auffassung. Auf alle Fälle war dieser
Verkehr Lassalles mit Bismarck, wie so manche seiner anderen Handlungen
im Jahre 1864, sehr bedenklich und konnte nur gewagt werden von einem
Manne wie er. Leider hat er mit diesem Verkehr und seinem sonstigen
Auftreten gegen das Ende seines Lebens anderen, die keine Lassalles
waren, ein Beispiel gegeben, das zum Betreten von Abwegen ermunterte.
Darüber später.

Bezeichnend ist in Bismarcks Rede vom 17. September 1878 auch die Art,
wie er sich mit den Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe, zum
Entsetzen der Liberalen, abfand. Nachdem er zugestanden, daß er öfter
stundenlange Unterhaltungen mit Lassalle gehabt und immer bedauert habe,
wenn diese zu Ende gewesen seien, fuhr er fort: „Er gebe zu, daß
er mit Lassalle auch über die Gewährung von Staatsmitteln zu
Produktivgenossenschaften gesprochen, das sei eine Sache, von deren
Zweckmäßigkeit er noch heute überzeugt sei.“ Diesen Gedanken spann er
dann weiter aus. Die Bewilligung von 6000 Talern aus der Schatulle des
Königs an die Weberdeputation aus dem Reichenbach-Neuroder Kreis zwecks
Errichtung einer Produktivgenossenschaft spricht auch dafür, daß ihm
jedes Mittel recht war, einen Keil zwischen Arbeiterklasse und
Bourgeoisie zu treiben, um nach dem Grundsatz „teile und herrsche“ sich
in der Macht zu halten.

Ich bin in der Schilderung der Ereignisse dem Gange der Dinge etwas
vorausgeeilt.

Kurze Zeit nach Eichlers Anwesenheit in Leipzig reisten Fritzsche,
Vahlteich und Dolge als Delegierte nach Berlin, um sowohl mit den
Führern der Berliner Arbeiter wie mit denen der Fortschrittspartei und
des Nationalvereins über die obenerwähnten Punkte zu verhandeln. Daß der
deutsche Arbeiterkongreß erst Anfang 1863 und dann nach Leipzig berufen
werden sollte, darüber einigte man sich rasch. Ebenso über die
Tagesordnung des Kongresses, aus der der Punkt „Abhaltung einer
Weltausstellung in Berlin“ gestrichen wurde. Eichler war mit anderen
Arbeitern im Sommer 1862 Besucher der Londoner Weltausstellung gewesen,
zu der der Nationalverein und eine Anzahl Gemeindevertretungen Arbeiter
geschickt hatten. Im ganzen besuchten etwa fünfzig Arbeiter unter
Führung von Max Wirth die Londoner Ausstellung. So war die Idee der
Berliner Weltausstellung entstanden.

Die Verhandlungen mit den Führern der Liberalen befriedigten die
Leipziger Delegierten sehr wenig, wie sie das unverhohlen nach ihrer
Rückkunft bei ihrer Berichterstattung mitteilten. Anfang 1863 hielt der
Nationalverein seine Generalversammlung in Leipzig ab. In einer
preußischen Stadt sie abzuhalten, durfte er nicht wagen, trotzdem er für
die preußische Spitze arbeitete. Schulze-Delitzsch sprach am 3. Januar
in einer großen Versammlung im Tivoli, im jetzigen Volkshaus der
Leipziger Arbeiter, eine Umwandlung, die damals kein Mensch für möglich
gehalten hätte. Hier richtete Dr. Dammer an Schulze-Delitzsch das
Ersuchen, sich zu äußern über das Verhältnis des Nationalvereins zu den
Arbeitern. Schulze antwortete unter anderem, daß die Arbeiter sich
allerdings um Politik kümmern sollten, aber, fuhr er fort, der Arbeiter,
der so schlecht gestellt ist, daß er von der Hand in den Mund lebt, hat
der Zeit und Sinn, sich um öffentliche Angelegenheiten zu bekümmern?
Nein, wahrlich nicht! Die Befreiung aus dieser Armseligkeit des Daseins
sei für jeden Volksfreund und für Deutschland ganz besonders eine große
nationale Aufgabe. Und rechte Arbeiter, die ihre Ersparnisse dazu
verwendeten, ihre Lage zu verbessern, „die begrüße ich hiermit im Namen
des Ausschusses als geistige Mitglieder, als Ehrenmitglieder des
Nationalvereins“.

Diese Rede machte in den Kreisen der radikalen Arbeiter böses Blut, sie
zeigte, daß der Nationalverein sich die Arbeiter als Mitglieder
fernhalten wollte, darum lehnte er die Zahlung von Monatsbeiträgen ab.
Als dann kurz nach jener Versammlung eine neue Deputation nach Berlin
ging — Dr. Dammer, Fritzsche, Vahlteich —, blieb diese über die
Gesinnung der maßgebenden Persönlichkeiten gegenüber den Arbeitern nicht
mehr im Zweifel. Da war es der junge Ludwig Löwe, der Gründer der
bekannten Waffenfabrik Ludwig Löwe & Co., der die Deputation zu Lassalle
führte. Hier fanden die drei, was sie suchten: Verständnis für ihre
Forderungen und bereitwilliges Entgegenkommen. Mit Lassalle wurde
verabredet, daß der Arbeiterkongreß weiter hinausgeschoben werden solle,
bis er (Lassalle) seine Ansichten über die Stellung der Arbeiter in
Staat und Gesellschaft in einer besonderen Broschüre niedergelegt habe,
deren Verbreitung das Leipziger Zentralkomitee übernehmen solle.

Ich möchte hier bemerken, daß der Wandel bei den maßgebenden Personen in
der Leipziger Bewegung äußerlich sich ziemlich rasch vollzog, und man
ihnen deshalb gegnerischerseits den Vorwurf der Wankelmütigkeit und
Unklarheit machte. So war noch im November 1862 in einer großen
Arbeiterversammlung auf Antrag Fritzsches beschlossen worden, ein
Komitee für die Gründung eines Konsumvereins niederzusetzen. Und Anfang
Februar 1863, also zu einer Zeit, in der man bereits mit Lassalle in
Verbindung stand, berichtete Fritzsche über eine Reise nach Gotha und
Erfurt, über die dortigen Konsumvereine und beantragte die Gründung
eines solchen für Leipzig. Einen Beschluß hierüber verhinderte
Vahlteich, der erklärte, das Zentralkomitee habe die Frage bereits in
Erwägung gezogen. Das war von ihm sehr klug gehandelt, denn es hätte
sich merkwürdig ausgenommen, einen Konsumverein in Leipzig zu einer Zeit
zu gründen, in der Lassalle bereits über seinem Antwortschreiben saß, in
dem er bekanntlich die Konsumvereine als vollständig wertlos für die
Hebung der Lage der Arbeiter hinstellte.

Auch Vahlteich war um jene Zeit noch in vergleichsweise friedlicher
Stimmung. Ende 1862 veröffentlichte er in der Leipziger „Mitteldeutschen
Volkszeitung“ einen langen polemischen Artikel gegen Angriffe, die gegen
das Zentralkomitee erhoben worden waren, in dem er ausführte: daß die
Pflicht gegen die zu erstrebende Zukunft der Arbeiter gebiete, die
_höchste Mäßigung zu beobachten_. Dagegen ging Vahlteich in dieser
Erklärung schon über Lassalle, der noch von einem Arbeiterstand sprach,
hinaus, indem er den Satz aufstellte: Einen besonderen Stand bilden die
Arbeiter nicht, aber _eine durch die faktischen Verhältnisse geschaffene
Klasse_. Mit dem Erscheinen des Lassalleschen Antwortschreibens trat
allerdings eine vollständige Frontveränderung der Führer ein. Ihnen
daraus einen Vorwurf zu machen, wäre verfehlt. In gärenden Zeiten treten
Gesinnungswandlungen rasch ein. Der Denkprozeß wird beschleunigt. Drei
Jahre später, als Deutschland der Katastrophe von 1866 entgegeneilte,
erging es mir und vielen meiner damaligen Gesinnungsgenossen ganz
ähnlich. Die rasche Wandlung von einem Saulus zu einem Paulus vollzieht
sich auch ohne Wunder immer wieder.

Ich war Anfang November 1862 aus dem Zentralkomitee ausgeschieden. Meine
Stellung im Gewerblichen Bildungsverein nahm meine Zeit, meine Kraft und
mein Interesse im höchsten Maße in Anspruch. Da ich Abend für Abend,
falls nicht eine Arbeiterversammlung oder eine Komiteesitzung mich
abhielt, im Verein zubrachte, lernte ich die Wünsche und Bedürfnisse der
Mitglieder besser kennen als die Vorsitzenden des Vereins. So wurde ich
bald der fleißigste Antragsteller in den Ausschußsitzungen und
Monatsversammlungen. Meine Anträge konnten fast regelmäßig auf Annahme
rechnen. Dadurch wurde mein Einfluß ein großer. Zu jener Zeit war ich
aber noch Arbeiter, das heißt ich mußte von morgens 6 bis abends 7 Uhr
an der Drehbank stehen mit Unterbrechung von im ganzen zwei Stunden für
die Einnahme der Mahlzeiten. So wurde meine allzu große Tätigkeit nach
verschiedenen Richtungen auch zu einer Geldfrage. Außerdem erschienen
mir die im Komitee und in den Versammlungen gepflogenen Debatten sehr
unklar und zwecklos, dadurch wurde mir der Austritt aus dem Komitee
erleichtert.

Am 6. Februar 1863 hatte ich noch eine Auseinandersetzung mit Vahlteich.
Dieser war für den Vorwärts, ich für den Gewerblichen Bildungsverein
Delegierter beim Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungsvereins.
Bei dem gemeinschaftlichen Essen hielt Vahlteich eine provokatorische
Rede, in der er in alter Weise ausführte, daß die Arbeiter wohl
politische und humanitäre Bildung sich aneignen, nicht aber auch
Elementarbildung pflegen sollten. Diese letztere den Arbeitern zu
gewähren sei Sache des Staates. Er brachte auf die erstere ein Hoch aus.
Das rief mich auf den Plan. Ich polemisierte gegen ihn und brachte ein
Hoch auf die allgemeine Bildung aus. Unser Auftreten machte natürlich
keinen erfreulichen Eindruck, aber auf die Vahlteichsche Provokation
konnte ich nicht schweigen, um so weniger, da der Dresdener Verein die
gleichen Ziele verfolgte wie der unsere.

FUSSNOTEN:

[1] Nachträglich kommen mir die Memoiren des Geheimen Oberregierungsrats
Hermann Wagener (Erlebtes) zu Gesicht, in denen er mitteilt, daß er mit
Lassalle und der Gräfin Hatzfeldt und anderen Häuptern der Sozialisten
(Schweitzer?) in Beziehung gestanden habe. Danach hat er also höchst
wahrscheinlich von Lassalle selbst dessen Programmgedanken kennen
gelernt und bei Eichler verwendet.



Lassalles Auftreten und dessen Folgen.


Anfang März 1863 erschien Lassalles „Offenes Antwortschreiben an das
Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen
Arbeiterkongresses zu Leipzig“. Wenige Tage vor dieser Veröffentlichung
hatte ich auf dem zweiten Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins
die Festrede gehalten, in der ich mich gegen das allgemeine, gleiche,
geheime und direkte Wahlrecht aussprach, weil die Arbeiter dafür noch
nicht reif seien. Ich stieß mit dieser Anschauung selbst bei einigen
meiner Freunde im Verein an. Ausnehmend gut gefiel dagegen die Rede
meiner späteren Braut und Frau, die mit ihrem Bruder das Fest besuchte.
Ich habe aber die begründete Vermutung, daß es mehr die Person des
Redners war, die ihr gefiel, als der Inhalt seiner Rede, der ihr damals
ziemlich gleichgültig gewesen sein dürfte.

Das Antwortschreiben Lassalles machte auf die Arbeiterwelt nicht
entfernt den Eindruck, den in erster Linie Lassalle und nächst ihm der
kleine Kreis seiner Anhänger erwartet hatte. Ich selbst verbreitete die
Schrift in ungefähr zwei Dutzend Exemplaren im Gewerblichen
Bildungsverein, um auch die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. Daß die
Schrift auf die Mehrzahl der damals in der Bewegung stehenden Arbeiter
so wenig Eindruck machte, mag heute manchem unerklärlich erscheinen. Und
doch war es natürlich. Nicht nur die ökonomischen, auch die politischen
Zustände waren noch sehr rückständige. Gewerbefreiheit, Freizügigkeit,
Niederlassungsfreiheit, Paß- und Wanderfreiheit, Vereins- und
Versammlungsfreiheit waren Forderungen, die dem Arbeiter der damaligen
Zeit viel näher standen als Produktivassoziationen, gegründet mit
Staatshilfe, von denen er sich keine rechte Vorstellung machen konnte.
Der Assoziations- oder sagen wir der Genossenschaftsgedanke war erst im
Werden. Auch das allgemeine Stimmrecht schien den meisten kein
unentbehrliches Recht zu sein. Einmal war, wie mehrfach hervorgehoben,
die politische Bildung noch gering, dann aber erschien der großen
Mehrzahl der Kampf des preußischen Abgeordnetenhaus gegen das
Ministerium Bismarck als eine tapfere Tat, die Unterstützung und
Beifall, aber keinen Tadel und keine Herabsetzung verdiene. Wer
politisch regsam war wie ich, verschlang die Kammerverhandlungen und
betrachtete sie als Ausfluß politischer Weisheit. Die liberale Presse,
die damals die öffentliche Meinung weit mehr beherrschte als heute,
sorgte auch dafür, daß dieser Glaube erhalten blieb. Die liberale Presse
war es jetzt auch, die mit einem Wut- und Hohngeschrei über Lassalles
Auftreten herfiel, wie es bis dahin wohl unerhört war. Die persönlichen
Verdächtigungen und Herabsetzungen regneten auf ihn nieder, und daß es
vorzugsweise konservative Organe, zum Beispiel die „Kreuzzeitung“,
waren, die Lassalle objektiv behandelten — weil ihnen sein Kampf gegen
den Liberalismus ungemein gelegen kam —, erhöhte den Kredit Lassalles
und seiner Anhänger in unseren Augen nicht. Wenn wir uns endlich
vergegenwärtigen, daß es selbst heute, nach einer mehr als
fünfundvierzigjährigen intensiven Aufklärungsarbeit, noch Millionen
Arbeiter gibt, die den verschiedenen bürgerlichen Parteien nachlaufen,
wird man sich nicht wundern, daß die große Mehrheit der Arbeiter der
sechziger Jahre der neuen Bewegung skeptisch gegenüberstand. Und damals
lagen noch keine sozialpolitischen Erfolge vor, die erst viel später
dank der sozialistischen Bewegung erzielt wurden. Pioniere sind immer
nur wenige.

Im Leipziger Komitee hatte Lassalles Auftreten die Wirkung, daß dieses
sich spaltete und ebenso der Verein Vorwärts, der die Hauptstütze des
Komitees war. Professor Roßmäßler, Eisengießereibesitzer Götz, ein
Bruder des Turner-Götz in Lindenau-Leipzig, Dolge und eine größere
Anzahl Arbeiter im Verein erklärten sich gegen Lassalle. Fritzsche,
Vahlteich und Dr. Dammer mit einer Minderheit hinter sich wurden die
eigentlichen Träger der neuen Bewegung. In Leipzig fand dieselbe relativ
noch am meisten Anhang, Berlin versagte auf lange hinaus fast
vollständig. Boden fand sie allmählich in Hamburg-Altona, von wo aus sie
sich nach Schleswig-Holstein ausdehnte, dann in Hannover, Kassel,
Barmen-Elberfeld, Solingen, Ronsdorf, Düsseldorf, Frankfurt a.M., Mainz,
in einigen Städten Thüringens, wie Erfurt und Apolda, in Sachsen
außer Leipzig in Dresden, wo der Vorsitzende des Dresdener
Arbeiterbildungsvereins, Försterling, sich mit einer kleinen Schar
Anhänger Anfang 1864 Lassalle anschloß; ferner in Augsburg.

Aber diese Ausbreitung war, wie gesagt, eine allmähliche und schwache
und entsprach sehr wenig den Hoffnungen, die Lassalle und seine Anhänger
hegten. Die hunderttausend Mitglieder, die er im Antwortschreiben in dem
von ihm zur Gründung vorgeschlagenen Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein als eine große politische Macht ansah, hoffte er in nicht
ferner Zeit zu sehen. Es hat bekanntlich noch lange gedauert, ehe die
sozialistische Bewegung auf diese Zahl organisierter Anhänger rechnen
konnte.

Gegen Ende März legte das Leipziger Komitee in einer großen
Arbeiterversammlung sein Mandat nieder und beantragte, ein neues Komitee
zu wählen, das die Gründung des von Lassalle vorgeschlagenen Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins betreiben sollte. Nach einer sehr erregten
Debatte erklärte sich die Mehrheit der Versammlung für diesen Plan. Dr.
Dammer, Fritzsche und Vahlteich wurden mit der neuen Aufgabe betraut.

Am 16. April kam endlich Lassalle selbst nach Leipzig, um in einer
großen Versammlung zu sprechen, die wie die meisten großen Versammlungen
jener Zeit im Odeon in der Elsterstraße abgehalten wurde. Die Rede ist
unter dem Titel „Zur Arbeiterfrage“ erschienen. Die Versammlung war von
ungefähr 4000 Personen besucht, von denen aber ein erheblicher Teil noch
vor Schluß derselben das Lokal verließ. Die Liberalen waren unter
Führung eines Kaufmanns Kohner auf der der Rednertribüne
gegenüberliegenden Galerie postiert und unterbrachen den Redner öfter
durch Zwischenrufe. Die Vorbereitungen für den Redner waren etwas
eigenartige. Der Rand des Katheders, von dem Lassalle sprach, war mit
Büchern, darunter schwere Folianten, bepackt, als sollte es zu einer
Disputation à la Luther kontra Eck kommen.

Lassalle scheint geglaubt zu haben, daß er eine schwere Opposition
finden werde, die er widerlegen müsse, was nicht der Fall war. Sein
persönliches Auftreten war nicht jedem sympathisch. Von hoher,
schlanker, aber kräftiger Gestalt stand Lassalle sehr herausfordernd auf
dem Katheder, wobei er öfter bald eine, bald beide Hände in die
Armlöcher seiner Weste steckte. Er sprach fließend, manchmal pathetisch,
doch schien es mir, als stoße er leicht mit der Zunge an. Er endete
unter stürmischem Beifall eines großen Teiles der Versammlung, dem der
andere mit Zischen antwortete.

Nach Lassalle ergriff Professor Roßmäßler das Wort und verlas eine
längere Erklärung, in der er ausführte: er wisse, daß er keine Mehrheit
in diesem Saale für seine Ansichten habe, aber er hoffe, daß die
Einsicht noch kommen werde. Er protestiere gegen die Angriffe, die
Lassalle gegen die deutsche Fortschrittspartei erhoben habe, er
protestiere weiter gegen das Bestreben, die Arbeiter und die
Fortschrittspartei zu trennen und eine besondere Arbeiterpartei zu
bilden. Lassalle antwortete kurz und auffallend entgegenkommend. Er
meinte, ihm schienen die Differenzen zwischen Roßmäßler und ihm mehr
taktischer als prinzipieller Natur zu sein. Man hatte offenbar im
Lassalleschen Lager noch Hoffnung, Roßmäßler herüberziehen zu können.
Außerdem waren Fritzsche und Vahlteich warme Verehrer Roßmäßlers wegen
des Kampfes, den er gegen Kirche und Pfaffentum führte. Beide gehörten
mit Roßmäßler der deutsch-katholischen Gemeinde an, die in Leipzig
bestand, beiden tat die Trennung von Roßmäßler weh.

Lassalle genügte nicht der Beifall der Masse, er legte großes Gewicht
darauf, Männer von Ansehen und Einfluß aus dem bürgerlichen Lager auf
seiner Seite zu haben, und er gab sich große Mühe, solche zu gewinnen.
Wohl trat in Leipzig Professor Wuttke auf seine Seite, aber mit dessen
sonstiger politischer Stellung war das nicht leicht zu vereinbaren.
Wuttke war Großdeutscher, und zwar mit starker Neigung für Oesterreich.
Als solcher war er auch Mitglied des Parlaments in Frankfurt a.M.
gewesen. Er und Roßmäßler waren politische und persönliche Gegner.
Außerdem war Wuttke grimmiger Gegner der kleindeutschen
Fortschrittspartei und des Nationalvereins — zwei Organisationen, deren
Angehörige fast ein und denselben Personenkreis bildeten. Da nun
Lassalle gegen die Fortschrittspartei vorging, fand er Wuttkes
lebhaftesten Beifall. Ein tieferes soziales Verständnis besaß Wuttke
nicht, der nebenbei bemerkt ein glänzender Redner war und ein schönes
Organ besaß. Die kleine, gebückte, schwarzhaarige Gestalt hatte etwas
Gnomenhaftes. Der Brief Wuttkes an Lassalle, der in der erwähnten
Leipziger Versammlung zum Verlesen kam, bestätigt meine Auffassung von
Wuttkes Stellung. Zweifellos hat auch Lassalle Wuttke richtig
eingeschätzt, aber es genügte ihm, daß Wuttke scheinbar auf seiner Seite
stand.

Ich bemerke hier, ich schreibe keine Geschichte der Gesamtbewegung,
sondern schildere nur meine persönlichen Erlebnisse und Beziehungen in
derselben. Wer sich mit der Geschichte der Gesamtbewegung vertraut
machen will, den verweise ich auf Mehrings Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie und Bernsteins Geschichte der Berliner
Arbeiterbewegung.

       *       *       *       *       *

Mit dem Auftreten Lassalles und der Gründung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins, die am 23. Mai 1863 in Leipzig erfolgte, war das Signal
gegeben zu erbitterten Kämpfen innerhalb der Arbeiterwelt, die sich von
jetzt ab während einer ganzen Reihe Jahre abspielten und in denen oft
Szenen vorkamen, die jeder Beschreibung spotten. Die Erbitterung wuchs
mit den Jahren hüben und drüben, und da Arbeiter nicht an den Salonton
gewöhnt sind — der übrigens auch bei denen versagt, die stolz auf
denselben zu sein pflegen, sobald sie untereinander in starke
Meinungsverschiedenheiten geraten —, so flogen die derbsten Grobheiten
und Beschuldigungen herüber und hinüber. Nicht selten kam es aber auch
zu Raufereien und Gewaltszenen in den Versammlungen, in denen die beiden
Gegner aufeinanderplatzten, was zur Folge hatte, daß öfter die Wirte
ihre Säle für Versammlungen verweigerten. Ein Hauptstreben jeder Seite
war in den Versammlungen, die Leitung in die Hand zu bekommen; es begann
also in der Regel schon der Kampf um den Vorsitz. Als ich einmal in
einer Chemnitzer Arbeiterversammlung entdeckte, daß die Lassalleaner, um
eine Mehrheit zu erlangen, beide Hände in die Höhe hoben, forderte ich
auf: es sollten nunmehr beide Parteien beide Hände in die Höhe heben.
Unter großem Jubel wurde der Vorschlag angenommen. Jetzt unterlagen die
Lassalleaner.

Der einzige Vorteil dieser Meinungskämpfe war, daß beide Teile die
größten Anstrengungen machten, ihren Anhang zu vermehren. Das geschah
erst recht, als einige Jahre später die Seite, der ich angehörte, sich
ebenfalls zum Sozialismus bekehrte, aber ihre eigenen Organisationen
schuf und ihre Kämpfe gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein
führte, der sich von 1867 an in zwei ungleich starke Fraktionen
spaltete. Aber Kraft, Geld und Zeit wurden in jener, fast ein Jahrzehnt
dauernden gegenseitigen Bekämpfung in unerhörter Weise verschwendet, zur
Freude der Gegner.

In Leipzig hatte das Aufkommen des Lassalleanismus die Wirkung, daß die
alten Differenzen zwischen dem Gewerblichen Bildungsverein und dem
Verein Vorwärts verschwanden und endlich im Februar 1865 eine
Vereinigung unter dem Namen Arbeiterbildungsverein herbeigeführt wurde.
Die Polytechnische Gesellschaft hatte längst die Bevormundung des
Gewerblichen Bildungsvereins aufgegeben, die sich als eine
Sisyphusarbeit erwies. Außerdem erkannte auch die sächsische Regierung,
daß es mit dem alten Bundestagsbeschluß von 1856 nicht mehr gehe; sie
ließ wohl oder übel die Zügel schleifen. Hatte doch sogar der Allgemeine
Deutsche Arbeiterverein als Sitz Leipzig erkoren, obgleich dessen
Tendenz ganz offensichtlich mit dem Bundestagsbeschluß in Widerspruch
stand. Die Regierung zog schließlich die Konsequenzen und erklärte am
20. März 1864 jenen Bundestagsbeschluß für aufgehoben.

Es ist eine Erfahrung, die wir seitdem öfter machten, daß alle Gesetze
und Unterdrückungsmaßregeln, die eine Bewegung hintanhalten oder
unterdrücken sollen, versagen und ihre praktische Wirksamkeit
überwunden wird, sobald die Bewegung sich als naturnotwendig und deshalb
als unüberwindlich herausstellt. Die Behörden verlieren schließlich
selbst den Glauben an ihre Macht und stellen den hoffnungslos
gewordenen Kampf ein. So war es zu jener Zeit auch mit den
vereinsgesetzlichen Bestimmungen in Sachsen, so war es bald darauf mit
den Arbeiterkoalitionsverboten in Preußen und anderen Staaten, die
einfach nicht mehr beachtet wurden.

Die Lohnkämpfe durch Arbeitseinstellungen begannen, allen
Koalitionsverboten zum Trotz, noch während die weisen Herren in der
Regierung darüber berieten: ob man diese Verbote ganz aufheben oder wie
weit man sie aufheben solle. Dieselbe Erfahrung machte später die
deutsche Sozialdemokratie unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes,
unter dem die Behörden schließlich es auch als unmöglich ansehen mußten,
die Versammlungs- und Organisationsverbote und die Unterdrückung der
Blätter und Literatur in derselben Weise fortzuführen, wie das in den
ersten Jahren unter dem Sozialistengesetz geschehen war. Dieselbe
Erfahrung hat noch später auch die Frauenbewegung in denjenigen
deutschen Staaten gemacht, in denen es den Frauen verboten war, sich in
politischen Vereinen zu organisieren oder an politischen
Vereinsversammlungen teilzunehmen. Praktisch waren diese Verbote längst
überwunden, ehe man sich von seiten der Regierungen endlich entschloß,
durch Gesetz zu sanktionieren, was tatsächlich bereits, dem früheren
Verbot zum Trotze, bestand. Gesetze hinken stets hinter den Bedürfnissen
drein, sie kommen nie einem solchen zuvor.

Im Leipziger Arbeiterbildungsverein wurde ich bei der notwendig
gewordenen Neukonstituierung zum zweiten Vorsitzenden gewählt, eine
Stellung, die ich bereits in der letzten Zeit im Gewerblichen
Bildungsverein innehatte. Und als der erste Vorsitzende Dr. med. Reyher
— ein Schüler Professor Bocks — bald darauf sein Amt niederlegte, rückte
ich an dessen Stelle, eine Stellung, die ich bis zum Jahre 1872
innehatte, in welchem Jahre ich meine Festungshaft antreten mußte, die
mir wegen angeblicher Vorbereitung zum Hochverrat wider das Deutsche
Reich zuerkannt worden war.

Der Arbeiterbildungsverein erhielt vom Jahre 1865 ab eine jährliche
städtische Unterstützung von 500 Taler, die ihm hauptsächlich für
Ermietung besserer Lokalitäten und Aufrechterhaltung des Unterrichts
gewährt wurde. Als aber in den nächsten Jahren der Verein, der
politischen Mauserung seines Vorsitzenden folgend, ebenfalls immer mehr
nach links abschwenkte, wurde dieselbe von der städtischen Vertretung
zunächst auf 200 Taler herabgesetzt. Und als der Verein im
Jahre 1869 sich für das Programm der zu Eisenach neugegründeten
sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands erklärte, eine
Entscheidung, die nach einer Redeschlacht, die drei Abende in Anspruch
nahm, mit großer Mehrheit getroffen wurde, verlor er im nächsten Jahre
den Rest der Subvention. Der Liberalismus unterstützt nur politisch
brave und gehorsame Kinder, denn die Unterrichtszwecke des Vereins
hatten unter seiner politischen Wandlung nicht im geringsten gelitten.



Der Vereinstag der deutschen Arbeitervereine.


Die Zahl der Arbeitervereine war namentlich in Sachsen erheblich
geworden. Außer uns in Leipzig arbeiteten Julius Motteler, den ich 1863
auf dem Stiftungsfest des Gewerblichen Bildungsvereins in Leipzig kennen
lernte, und Wilhelm Stolle in Crimmitschau, Kupferschmied Försterling,
bevor er zu den Lassalleanern überging, und Schuhmacher A. Knöfel in
Dresden, Weber Pils in Frankenberg, die Weber Lippold und Franz in
Glauchau, Buchbinder Werner in Lichtenstein-Callnberg, Weber Bohne in
Hohenstein-Ernstthal usw. an der Gründung von Arbeitervereinen. Unsere
Wirksamkeit dehnten wir auch auf Thüringen aus. Im unteren Erzgebirge
waren unter der Wirker- und Weberbevölkerung Dutzende von
Arbeiterlesevereinen gegründet worden, in denen ein reges geistiges
Leben herrschte. Aehnliche Erscheinungen zeigten sich auch im übrigen
Deutschland. Namentlich wurden in Württemberg eine große Zahl
Arbeitervereine gegründet, die bereits 1865 sich zu einem Gauverband
zusammenschlossen und bald darauf ein eigenes Organ ins Leben riefen.
Auch in Baden und dem Königreich Hannover traten viele Arbeitervereine,
meist Bildungsvereine, ins Leben.

Die Rührigkeit und Geschlossenheit, mit der andererseits die
Lassalleaner arbeiteten, rief auch auf der Gegenseite das Bedürfnis nach
Zusammenschluß hervor. Dieser Zusammenschluß konnte aber nur ein loser
sein, denn ein gemeinsames festes Ziel, wie es die Lassalleaner hatten,
für das sie mit Begeisterung und Opfermut kämpften, fehlte den Vereinen.
Das einzige, in dem wir einig waren, war die Gegnerschaft gegen die
Lassalleaner, und daß man angeblich keine Politik in den Vereinen
treiben wolle. Tatsächlich aber suchten die Leiter der meisten dieser
Vereine oder ihre Hintermänner den Verein, auf den sie Einfluß hatten,
für ihre Parteipolitik zu gewinnen. Zu diesen Vereinen waren alle
Nuancen der bürgerlichen Parteien jener Zeit vertreten. Vom
republikanischen Demokraten bis zum rechtsstehenden Nationalvereinler,
aus deren Mitte später (1867) die nationalliberale Partei gebildet
wurde. Indes lösten sich schon 1865 die radikalen, großdeutsch gesinnten
Elemente vom Nationalverein los und bilden die demokratische
Volkspartei, deren Organ das in Mannheim erscheinende „Deutsche
Wochenblatt“ wurde.

Einstweilen vertrug man sich in den Vereinen so gut es ging. Die
politische Situation drängte noch zu keiner klaren Entscheidung, denn
der Verfassungskampf gegen das Ministerium Bismarck in Preußen machte
ein geschlossenes Zusammengehen nötig. Der Deutsche Reformverein, der
sich im Gegensatz zum Nationalverein gebildet hatte und für die
Beibehaltung von Gesamtösterreich zum Deutschen Reiche eintrat, war ein
Sammelsurium von süddeutsch-partikularistischen und österreichischen
Elementen mit stark ultramontanem Einschlag. Dieser hatte für die
Arbeiterbewegung keine Bedeutung. Sein Eintreten für die österreichische
Bundesreform, die in der Hauptsache in einem deutschen Parlament
bestand, das aus den Landtagen der einzelnen Staaten gewählt werden
sollte, erweckte nirgends Sympathien. Zu einer klaren Stellungnahme in
der deutschen Frage kam man übrigens in den Arbeitervereinen nicht,
ebensowenig in der schleswig-holsteinschen Frage, die mit dem Jahre 1864
anfing, sehr aktuell zu werden.

Die Arbeiterbewegung hatte auch im Westen Deutschlands, insbesondere im
Maingau, Boden gefaßt. In Frankfurt a.M. kam es gelegentlich eines
Arbeitervereinstags, den der Frankfurter Arbeiterbildungsverein, 29. Mai
1862, einberufen hatte, zu scharfen Auseinandersetzungen über die
politische Stellung der Arbeiter. Hier trat der Rechtsanwalt J.B.v.
Schweitzer — der später eine Hauptrolle in der Bewegung spielte — für
eine besondere politische Organisation der Arbeiter ein, offenbar unter
dem Einfluß von Lassalles Vortrag: Ueber den besonderen Zusammenhang der
gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes.
Seitdem hörten auch im Maingau die Meinungskämpfe nicht auf. Das
Erscheinen von Lassalles Antwortschreiben schürte das Feuer. In
Frankfurt machte sich jetzt auch Bernhard Becker bemerklich, in dem ich
eine Reihe Jahre später einen mäßig veranlagten und eitlen Menschen
kennen lernte, der auch ungelenk in der Rede war. Der Versuch, auf einem
Arbeitertag in Rödelheim — 19. April 1863 —, auf dem Professor Louis
Büchner einen Vortrag über Lassalles Programm hielt, eine Erklärung
gegen Lassalle durchzusetzen, mißglückte. Dagegen erschien Lassalle
selbst am 17. Mai in Frankfurt a.M., um seine Sache zu vertreten.
Schulze-Delitzsch, der ebenfalls eingeladen war, entschuldigte sein
Fernbleiben durch Ueberhäufung mit Geschäften. Er tat wohl daran. Wie
ich später Schulze-Delitzsch persönlich kennen lernte, wäre er Lassalle
gegenüber in jeder Beziehung unterlegen. Sonnemann, der vor Lassalle
sprach, hatte dieses Schicksal.

Die Antwort auf jene Vorgänge im Maingau war ein Ausruf, datiert vom 19.
Mai, durch den die deutschen Arbeitervereine zu einem Vereinstag nach
Frankfurt a.M. für den 7. Juni 1863 eingeladen wurden. Unterzeichnet war
der Aufruf vom Zentralkomitee der Arbeiter des Maingaus, von den
Arbeitervereinen Berlin, Kassel, Chemnitz und Nürnberg und dem
Handwerkerverein zu Düsseldorf.

In dem Aufruf wurde dem Leipziger Zentralkomitee die Schuld beigemessen,
die Einberufung eines Arbeiterkongresses auf lange hinaus unmöglich
gemacht zu haben. Der Bewegung selbst liege aber „ein so wichtiger und
fruchtbarer Gedanke von so weittragender Bedeutung für eine friedliche,
glückliche Entwicklung der Wohlfahrt unseres ganzen Volkes und
Vaterlandes zugrunde, daß sie durch den Mißgriff einzelner in ihrem
gesunden Verlauf nimmermehr gestört werden dürfe. Es sei die Pflicht
aller, denen die Sache selbst am Herzen liege, mit allen Kräften zu
verhüten, daß nicht das Ende eines durch Verschulden einzelner
verfehlten Versuchs der Anfang einer unheilvollen Spaltung und
Zersplitterung der ganzen Bewegung werde.“

Diese Spaltung war aber bereits vorhanden, und sie war, wie ich später
erkannte, eine historische Notwendigkeit. Auf dem Vereinstag in
Frankfurt a.M. waren 54 Vereine aus 48 Städten und einer freien
Arbeiterversammlung (Leipzig) durch 110 Delegierte vertreten. Wäre die
Einberufung des Vereinstags nicht Hals über Kopf erfolgt, so daß sie
einer Ueberrumplung ähnlich sah, was den Einberufern in der
Vorversammlung auch vorgehalten wurde, die Vertretung wäre eine
erheblich stärkere geworden. Der Leipziger Gewerbliche Bildungsverein
wählte mich mit 112 von 127 Stimmen zu seinem Vertreter. Außerdem waren
in einer Leipziger Arbeiterversammlung Professor Roßmäßler und der
Werkführer Bitter als Delegierte gewählt worden.

Als ich in Frankfurt in der Vorversammlung erschien, wurde ich August
Röckel, der Vorsitzender des Lokalkomitees war, vorgestellt, der mich
mit den Worten anredete: „Nun, ihr Sachsen, habt ihr endlich
ausgeschlafen? Es wird Zeit.“ Etwas geärgert antwortete ich: „Wir sind
früher aufgestanden als viele andere!“ Röckel lachte, er habe es nicht
bös gemeint.

Unter den Delegierten befanden sich unter anderen Hermann Becker, der
rote Becker, der seinerzeit im Kölner Kommunistenprozeß zu langer
Festungshaft verurteilt worden war, Eugen Richter, den man kurz zuvor
wegen seiner politischen Tätigkeit als Assessor gemaßregelt hatte,
ferner Julius Knorr aus München, der Besitzer der „Münchener Neuesten
Nachrichten“, die damals als ein kleines Blättchen erschienen, aber
ihrem Besitzer ein großes Vermögen einbrachten.

Ob der rote Becker seinen Beinamen seinem roten Haare, das nur noch
spärlich den mächtigen Kopf bedeckte, und seinem kurz geschnittenen
roten Schnurrbart oder seiner früheren roten Gesinnung verdankte, weiß
ich nicht. Becker war ein großer, stattlicher, sehr jovialer Herr, dem
man die Freude an einem guten Tropfen und einem guten Bissen vom Gesicht
ablesen konnte. Er war auch mitteilsam und gesprächig, im Gegensatz zu
Eugen Richter, dessen frostiges, zurückhaltendes Wesen mir schon damals
auffiel; Richter machte den Eindruck, als sähe er uns alle mit
souveräner Geringschätzung an. Der Zufall wollte, daß ich eines Tages in
der Mittagspause mit Becker, Eugen Richter und einigen anderen
Delegierten einen Spaziergang um die Stadtpromenade machte. Hierbei kam
die Unterhaltung auch auf Lassalle. Becker äußerte, Lassalle habe nur
aus verletzter Eitelkeit, weil die Fortschrittspartei ihn nicht auf den
Schild gehoben und ihm kein Landtagsmandat verschaffte, sein
Pronunziamento gegen sie unternommen. Wie Guido Weiß erzählte, hatte der
alte Waldeck geäußert, es sei ein Fehler, daß man Lassalle
zurückgestoßen habe. Ferner deutete Becker an, Lassalle habe auch
durch allerlei Frauengeschichten „sittliche Bedenken“ in der
Fortschrittspartei hervorgerufen, was in Anbetracht der „sittlichen
Verfehlungen“, die andere Führer der Fortschrittspartei jener Zeit sich
zuschulden kommen ließen, etwas nach Heuchelei aussah. Becker machte
seine Aeußerungen, wie ich bemerken will, ohne Animosität gegen
Lassalle, wie er sich denn überhaupt nie zu Angriffen gegen seine
ehemaligen Parteigenossen hinreißen ließ, im Gegensatz zu Miquel, der
später auch für das Sozialistengesetz stimmte.

Die Leitung des Vereinstags wurde Handelsschuldirektor Röhrich-Frankfurt
a.M. als erstem und Dittmann-Berlin als zweitem Vorsitzenden übertragen.
Als ersten Punkt der Tagesordnung hatte Roßmäßler einen Antrag
eingebracht, der fast einstimmige Annahme fand und lautete:

„Der erste Vereinstag deutscher Arbeiter- und Arbeiterbildungsvereine
stellt an die Spitze seiner Beratungen und Beschlüsse den Ausspruch, daß
er es für erste Pflicht der in ihm vertretenen und aller Arbeitervereine
sowohl als überhaupt des gesamten Arbeiterstandes hält, bei der
Verfolgung seines Strebens nach geistiger, politischer, bürgerlicher und
wirtschaftlicher Hebung des Arbeiterstandes einig unter sich, einig mit
allen nach des deutschen Vaterlandes Freiheit und Größe Strebenden,
einig und mithelfend zu sein mit allen, welche an der Veredlung der
Menschheit arbeiten.“

Diese Resolution drückt mehr als lange Reden den Standpunkt des
Vereinstags aus. Obgleich diese Resolution direkt gegen den
Lassalleanismus gerichtet war, wie die ganzen Verhandlungen des
Vereinstags, wurde, soweit ich mich erinnere, der Name Lassalle nur von
einem Redner erwähnt. Diese Ignorierung geschah nicht auf Verabredung;
es ist wohl anzunehmen, sie geschah, weil man an die Zukunft der von
Lassalle hervorgerufenen Bewegung noch nicht glaubte oder auch, weil
man ihm nicht die Ehre antun wollte, seinen Namen zu nennen.
Ueber den zweiten Punkt der Tagesordnung: Wesen und Zweck der
Arbeiterbildungsvereine, referierte Eichelsdörfer-Mannheim, der auf der
linken Seite der Versammlung stand. Ich beteiligte mich ebenfalls an der
Debatte. Bemerkenswert ist, daß ein Amendement Dittmanns, das
forderte, daß die Vereine auch Lehrkräfte für Ausbildung in der
Volkswirtschaftslehre und in der Kenntnis der Landesgesetzgebung zu
gewinnen suchen sollten, mit 25 gegen 25 Stimmen abgelehnt wurde. Dem
Arbeiter von heute ist diese Rückständigkeit kaum begreiflich.

Ein anderer Punkt der Tagesordnung bildete die Forderung nach
Beseitigung der Hemmnisse, die der Freiheit der Arbeit entgegenstünden,
über den Dittmann referierte. Seine Resolution forderte Gewerbefreiheit,
Freizügigkeit und Beseitigung der Erschwernisse der Eheschließung. Ein
weiterer Punkt der Tagesordnung betraf die Stellung der Arbeiter zu den
Spar- und Vorschußvereinen, den Konsum- und Produktivgenossenschaften,
deren Gründung der Vereinstag den Arbeitern empfahl. Desgleichen empfahl
er Gründung von Genossenschaften zur gemeinschaftlichen Benutzung von
Werkstätten mit Triebkräften, als das beste Mittel zur Förderung des
nationalen Wohles und der bürgerlichen Selbständigkeit der Arbeiter. In
dieser Resolution wurde besonders darauf hingewiesen, daß dieses alles
nach Schulze-Delitzschen Vorschlägen durchgeführt werden solle. Auch
sollten Arbeiter und Arbeitgeber gemeinsam das Zustandekommen solcher
Genossenschaften fördern, eine Auffassung, die nur in einer auf
kleinbürgerlichem Standpunkt stehenden Versammlung Zustimmung finden
konnte. Endlich sprach sich der Vereinstag für Schaffung von Alters- und
Invalidenversicherungskassen aus, die geeignet seien, „manche Sorge
wenigstens teilweise zu beseitigen“. Hier lag wenigstens keine
Ueberschätzung dieser Kassen vor. In der Organisationsfrage wurde die
Gründung von Gauverbänden mit monatlichen Zusammenkünften der
Delegierten befürwortet, um die Gründung neuer Vereine zu fördern und
unter den bestehenden Vereinen den Verkehr zu unterhalten. Ich nahm bei
diesem Punkte das zweitemal das Wort, um mich gegen die Zulassung von
Vertretern freier Arbeiterversammlungen auszusprechen. Gestützt auf
meine damaligen Erfahrungen führte ich aus, daß mir diese Versammlungen
bisher nicht imponiert hätten. Es fehle den Teilnehmern die
vorbereitende Aufklärung, die in den Vereinen erreicht würde, und so
folgten sie dem augenblicklichen Eindruck, den ein gewandter Redner
erziele. Die Fußangeln der Vereinsgesetze fürchtete ich einstweilen
nicht, bisher hätte man uns wenigstens in Sachsen gewähren lassen, doch
könne ein Rückschlag kommen. Gauverbände hielt ich für nützlich. Diese
Ausführungen riefen meinen Leipziger Widerpart Bitter auf die Tribüne,
der gegen mein Urteil über den Wert der Arbeiterversammlungen
protestierte. Diese seien viel besser, als ich sie schilderte, und mit
Rücksicht auf die Möglichkeit, daß man das Vereinsgesetz wieder scharf
gegen uns anwende, müßten wir uns die Vertretung durch freie
Arbeiterversammlungen als Rückendeckung sichern.

Die schließlich angenommene Organisation lautete:

       *       *       *       *       *

I. Es sollen periodisch, in der Regel alljährlich, freie Vereinigungen
von Vertretern der deutschen Arbeitervereine stattfinden, um durch einen
lebendigen persönlichen Austausch von Ansichten und Erfahrungen unter
den Arbeitern selbst das Verständnis ihrer wahren Interessen zu
erweitern und diese Erkenntnisse in immer ausgedehnteren Kreisen zur
Anerkennung zu bringen.

II. Gegenstand der Verhandlungen ist alles, was auf die Wohlfahrt der
arbeitenden Klassen von Einfluß sein kann.

III. Zutritt zu den Versammlungen haben die Vertreter von deutschen
Arbeitervereinen, welche sich als solche auf dem Vereinstag durch
schriftliche Vollmacht legitimieren. Ausnahmsweise können auch Vertreter
freier Arbeiterversammlungen zugelassen werden, wenn der ständige
Ausschuß, dem überhaupt die Prüfung der Vollmachten obliegt, sie zuläßt.
Verweigert der Ausschuß die Zulassung, so ist Appellation an den
Vereinstag gestattet. Jeder Verein kann einen oder mehrere bis zu fünf
Abgeordneten senden, hat aber bei Abstimmungen nur eine Stimme. Jeder
Abgeordnete kann nur einen Verein vertreten. Die Vereine, welche an
einem Vereinstag teilgenommen haben, werden jedesmal brieflich
eingeladen. Gleichzeitig wird die Einladung in möglichst vielen
Blättern, jedenfalls aber in der „Deutschen Arbeiterzeitung“ in Koburg
und in dem Frankfurter „Arbeitgeber“ veröffentlicht. Jeder Verein,
welcher sich auf dem Vereinstag vertreten läßt, hat einen Beitrag von
zwei Taler für jeden Vereinstag zu bezahlen. Denselben Beitrag haben
diejenigen Vereine zu leisten, welche zwar keinen Vertreter entsenden,
doch aber alle Berichte und Drucksachen zugesandt haben wollen.

IV. Jeder Vereinstag wählt einen ständigen Ausschuß von zwölf
Mitgliedern, welcher mit der Besorgung nachfolgender Geschäfte
beauftragt ist: 1. Der Ausschuß bestimmt Ort und Zeit des
nächstfolgenden Vereinstags, sofern darüber von der letzten Versammlung
nicht ausdrücklich beschlossen worden ist, und trifft die nötigen
Vorbereitungen an dem Orte der Zusammenkunft. 2. Er erläßt die
Einladungen und Bekanntmachungen, nimmt die Anmeldungen entgegen,
fertigt die Eintrittskarten aus, empfängt die Beiträge, bestreitet die
Ausgaben und führt die Rechnungen darüber. 3. Er stellt eine vorläufige
Tagesordnung auf und bestellt nach Maßgabe derselben die
Berichterstatter und bildet die vorberatenden Kommissionen vorbehaltlich
der Bestätigung oder Abänderung der Beschlüsse des Vereinstags. 4. Er
sorgt in der Zwischenzeit bis zum nächsten Vereinstag für die Förderung
der Zwecke und die Ausführung der Beschlüsse des Vereinstags. 5. Der
Ausschuß ernennt seinen Vorsitzenden und bestimmt über die Verteilung
der Geschäfte unter seine Mitglieder; er legt dem Vereinstag die
Rechnungen zur Prüfung und Genehmigung vor. Die Sitzungen des
Ausschusses finden immer am Wohnort des jeweiligen Vorsitzenden statt.
Zur Gültigkeit eines Beschlusses ist die Einladung sämtlicher, die
Mitwirkung von wenigstens sieben Mitgliedern und die einfache Majorität
der Abstimmenden erforderlich. Die Beschlußfassung kann auch auf
schriftlichem Wege erfolgen. Eintretende Lücken ergänzt der Ausschuß
und wenn die beschlußfähige Anzahl nicht zu erlangen sein sollte, der
Präsident.

V. Die Geschäftsordnung für die Verhandlungen des Vereinstags wird von
demselben festgesetzt.

VI. Der Vorsitzende des Ausschusses leitet bei den Vereinstagen die
Verhandlungen, bis die Versammlung ihren Präsidenten erwählt hat.

VII. Die Sitzungen des Vereinstags sind öffentlich.

       *       *       *       *       *

In den ständigen Ausschuß wurden unter anderen gewählt: Sonnemann, Max
Wirth aus Frankfurt a.M., Eichelsdörfer-Mannheim, Dittmann-Berlin usw.
Die Seele dieser neuen Organisation wurde Sonnemann, der die
Sekretärarbeiten und die eigentliche Leitung übernahm.

Die Mittel, die dem Ausschuß aus der Organisation zur Verfügung standen,
waren sehr unbedeutend, und selbst den geringen Beitrag von zwei Taler
pro Jahr zahlten viele Vereine nicht. Opfer für einen gemeinsamen Zweck
zu bringen, dafür waren damals die antisozialistischen Arbeitervereine
nicht zu haben, darin unterschieden sie sich sehr unvorteilhaft von den
Lassalleanern. Weil die Mittel fehlten, wandte sich der Ausschuß im
Laufe des Sommers an den Nationalverein und erhielt von diesem 500
Taler, die auch in den nächsten zwei Jahren gezahlt wurden. Ebenso
wandte sich Sonnemann persönlich an eine Reihe großer Unternehmer, um
von diesen Mittel zu erhalten. Aber die Abneigung gegen alles, was
Arbeiterverein heißt, war schon damals instinktiv bei unseren Bourgeois
vorhanden, und so flossen von dieser Seite die Beiträge sehr spärlich.

Hier möchte ich auf einen Vorfall zu sprechen kommen, der sich zwar erst
im übernächsten Jahre (Sommer 1865) abspielte, aber vierzig Jahre später
in der „Kölnischen Zeitung“ in einer für mich ungünstigen Weise
auszunutzen versucht wurde.

In Sachsen war der Kampf gegen die Anhänger Lassalles besonders heftig.
Die für jene Zeit hochentwickelten industriellen Verhältnisse in Sachsen
schienen für die sozialistischen Ideen einen besonders günstigen Boden
zu bieten. Um aber die Agitation betreiben zu können, fehlten uns die
Mittel. Was immer wir für Agitation aufbrachten, es langte nicht,
obgleich die Redner elend bezahlt wurden. So setzten sich eines Tages
Dr. Eras und Schriftsteller Weithmann — ein Württemberger, der eine
katilinarische Existenz führte — hin und verfaßten ein überschwenglich
gehaltenes Schreiben an den Vorstand des Nationalvereins, in dem sie um
Geld für die Agitation gegen die Lassalleaner baten. Ich wurde erst
nachträglich von dem Schreiben verständigt und gab auf ihr Ansuchen
meine Unterschrift, außerdem unterzeichneten Eras und Weithmann. Die
„Kölnische Zeitung“, die dieses Schreiben und mein Dankschreiben für die
empfangenen 200 Taler — nicht 300, wie sie behauptete — vor einigen
Jahren veröffentlichte, sprach die Vermutung aus, alle drei
Unterschriften rührten von mir. Gegen diese Verdächtigung muß ich mich
entschieden verwahren. In dem Dankschreiben führte ich aus, daß wir
namentlich Literatur für die Vereine zu beschaffen beabsichtigten, und
könnte der Vorstand des Nationalvereins in der Beziehung seinen Einfluß
bei den Buchhändlern geltend machen, daß sie uns diese billig
überließen. Daß er die Unterstützung gewährte, zeige, daß er mehr
Interesse für die Bewegung habe, als man ihm verschiedenseitig vorwerfe.
Das Geld wurde indes namentlich zu Agitationsreisen verwandt; es wurde
aber sehr sparsam ausgegeben, denn als Ende 1866 und Anfang 1867 die
Agitation für die Wahlen zum norddeutschen Reichstag einsetzte, waren
von den 200 Talern noch 120 vorhanden, die jetzt ihre Verwendung fanden.
Das war allerdings eine Verwendung, die nicht vorgesehen war. Aber von
1865 bis 1866 änderte sich eben die Situation, und trat hüben und drüben
eine so rasche Wandlung in den Ansichten ein, daß nur noch sehr wenige
auf dem alten Standpunkt stehen blieben. Der Nationalverein litt unter
dieser Wandlung am allermeisten, der von da ab in rascher Auflösung
begriffen und tatsächlich längst tot war, als er im Herbst 1867
offiziell seine Auflösung beschloß. Daß wir die 200 Taler erhalten
hatten, ärgerte viele. Es war namentlich Dr. Hans Blum, der das nicht
verwinden konnte. Er hielt sich ganz besonders verpflichtet, bei der
Wahlagitation mir entgegenzutreten und mir zum Vorwurf zu machen, daß
wir jenes Geld angenommen hätten. Er mußte aber die Entdeckung machen,
daß all seine Mühe, mir zu schaden, vergeblich war.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich feststellen, daß ich niemals Mitglied
des Nationalvereins war, wie mehrfach behauptet worden ist. Damit drücke
ich keine Gegnerschaft gegen denselben zu jener Zeit aus, aber neben all
den großen materiellen Opfern, die mir meine Stellung und Tätigkeit in
der Arbeiterbewegung auferlegten, auch noch einen Beitrag für den
Nationalverein zu zahlen, schien mir überflüssig, denn mein Einkommen
war ein sehr schmales. Ich begnügte mich, um mit Schulze-Delitzsch zu
reden, „geistiges Ehrenmitglied“ des Nationalvereins zu sein.

       *       *       *       *       *

In Leipzig empfand man das Bedürfnis, als Gegengewicht gegen das
Auftreten Lassalles und gegen die Agitation seiner Anhänger einen
Hauptschlag zu führen. Ich erhielt also den Auftrag, mich mit
Schulze-Delitzsch wegen einer Versammlung in Verbindung zu setzen.
Dieser erklärte sich dazu bereit. In seiner Antwort setzte er mir
auseinander, daß wir in Sachsen besonders aufpassen müßten, die
sächsischen Arbeiter hätten schon 1848 und 1849 Neigung für
kommunistische und sozialistische Ideen gehabt. Im Laufe des Januar 1864
kam Schulze-Delitzsch nach Leipzig.

Es war vereinbart worden, daß ich die Versammlung mit einer Begrüßung
Schulzes eröffnen und alsdann zum Vorsitzenden gewählt werden sollte.
Aber ich hatte Pech. Ich eröffnete die Versammlung, die von 4000 bis
5000 Personen besucht war, blieb aber mitten in der Eröffnungsrede — die
ich einstudiert hatte — elend stecken. Mein Temperament war mit meinen
Gedanken durchgegangen. Ich hätte vor Scham in den Boden sinken mögen.
Das Ende war, daß nicht ich, sondern Dolge zum Vorsitzenden gewählt
wurde. Ich gelobte mir jetzt, nie mehr eine Rede einzustudieren, und bin
gut damit gefahren. Schulze-Delitzsch besaß kein angenehmes Organ, auch
war sein Vortrag trocken und seinem Inhalt nach nicht geeignet,
Begeisterung zu erwecken. Er brachte für viele eine Enttäuschung. Die
Entwicklung nach links hielt er nicht auf.

Den Beschluß des Frankfurter Vereinstags, die Gründung von Gauverbänden
zu betreiben, versuchten wir in Sachsen zu verwirklichen. Da aber die
bestehende Gesetzgebung dem im Wege stand, suchten wir bei dem
Ministerium Beust um Genehmigung nach. Auf einer Landesversammlung, die
im Sommer 1864 unter meinem Vorsitz tagte, kam das Schreiben des Herrn
v. Beust zur Verlesung, wonach der Minister den Gauverband gestatten
werde, wenn die Vereine sich verpflichteten, sich weder mit politischen
und sozialen, noch überhaupt mit öffentlichen Angelegenheiten zu
beschäftigen. Darauf beantragte ich folgende Resolution, die einstimmig
angenommen wurde:

„Die sächsischen Arbeitervereine danken für das Gnadengeschenk des Herrn
v. Beust und ziehen es vor, von der Gründung eines Gauverbandes
abzusehen.“ Eine zweite Resolution, lautend: „Die versammelten
Deputierten fordern die sächsischen Arbeiter auf, mit aller Energie für
die Beseitigung des bestehenden Vereinsgesetzes einzutreten“, wollte der
überwachende Polizeibeamte nicht zur Abstimmung kommen lassen, weil
dieses eine politische Handlung sei. Ich geriet darüber mit ihm in eine
scharfe Auseinandersetzung, fügte mich aber unter Protest, als er mit
der Auflösung der Konferenz drohte.

       *       *       *       *       *

Am 31. August 1864 trug der Telegraph die Kunde durch die Welt, daß
Ferdinand Lassalle an den Folgen eines Duells in Genf verschieden sei.
Der Eindruck, den diese Nachricht hervorrief, war ein tiefer. Der
weitaus größte Teil seiner Gegner atmete auf, als wenn er von einem Alp
befreit sei; sie hofften, daß es nunmehr mit der von ihm hervorgerufenen
Bewegung zu Ende gehen werde. Und in der Tat schien dieses anfangs so.
Nicht nur zählte sein Verein bei seinem Tode trotz riesenhafter Arbeit
erst wenige tausend Mitglieder, diese gerieten sich auch alsbald
untereinander in die Haare. Dann hatte Lassalle unbegreiflicherweise in
dem Schriftsteller Bernhard Becker, den er als seinen Nachfolger im
Präsidium des Vereins empfohlen hatte, einen Mann gewählt, der in keiner
Richtung seiner Aufgabe gewachsen war.

Daß aber auch manche Gegner der Bedeutung Lassalles gerecht wurden,
dafür spricht ein Artikel in der Ende 1862 gegründeten Koburger
„Allgemeinen Arbeiterzeitung“, die von dem Rechtsanwalt Dr. Streit in
Koburg, dem Geschäftsführer des Nationalvereins, ins Leben gerufen
worden war. Dieselbe hatte bisher, wenn auch maßvoll, Lassalle bekämpft,
das hielt sie aber nicht ab, ihm einen ehrenvollen Nachruf zu widmen, an
dessen Schluß es hieß:

„Ein Teil der liberalen Partei und der liberalen Presse, derselbe Teil,
der ihn am bittersten und dennoch mit dem wenigsten Recht angefeindet,
eben diejenigen, welche seine Keulenschläge am meisten verdienten, mögen
jetzt im stillen seines Todes sich freuen. Wir beklagen den Tod eines
Gegners, den nur Ungerechtigkeit oder Beschränktheit sich erlauben mag,
mit dem gewöhnlichen Maße zu messen.“

Bekanntlich trieb die Gräfin Hatzfeldt, die langjährige intime Freundin
Lassalles, mit der Leiche des verstorbenen Freundes einen förmlichen
Kultus, indem sie dieselbe zwecks Abhaltung von Totenfeiern durch ganz
Deutschland führen wollte, ein Plan, der ihr, auf Intervention von
Lassalles Angehörigen, behördlicherseits durchkreuzt wurde. Auf die
Nachricht, daß die Leiche Lassalles Mannheim passieren werde, schrieb
Eichelsdörfer an Sonnemann einen Brief, dem ich die folgenden Stellen
entnehme, weil sie zeigen, wie bereits einzelne auf unserer Seite die
Situation ansahen.

Der Brief lautete:

       *       *       *       *       *

„Lieber Freund Sonnemann!

Die Leiche Lassalles wird am Freitag, wie mir Reusche aus Genf
telegraphiert, dahier eintreffen und auf das Dampfboot verbracht. Mögen
wir ihm im Leben gegenübergestanden haben, wir waren doch in der
Hauptsache einig, der großen Masse unseres Volkes zu helfen, und ich
glaube, wir haben inzwischen gelernt, daß ohne allgemeines Stimmrecht
und dadurch herbeigeführte Umgestaltung der jetzigen staatlichen
Zustände auf eine durchgreifende Hilfe nicht zu rechnen ist. Vielleicht
wäre der jetzige Moment ein günstiger, daß von unserer Seite etwas
geschähe, um eine Vereinigung der beiden Strömungen auf Grund eines
entsprechenden Programms herbeizuführen und damit dem dahingeschiedenen
Kämpen ein Denkmal zu setzen. Etwas mehr Mäßigung auf der anderen und
etwas mehr Entschlossenheit auf unserer Seite könnte dazu führen und der
Sache nur nützen, da die Philisterhaftigkeit des jetzigen tonangebenden
Liberalismus doch getrieben werden muß, wenn sie vorwärts dem Ziele
entgegengehen soll. Es ist dies eine Ansicht von mir, die ich nicht
ermangle, Dir mitzuteilen und Deine Ansicht zu hören, um sodann unsere
Freunde vielleicht zu einem Schritte zu veranlassen, der unter Umständen
von weittragenden Folgen sein — im gegenteiligen Sinne nichts schaden
kann.

Auch habe ich das unbestimmte Gefühl, daß wir in Leipzig[2] doch zu
energischen Beschlüssen geführt werden: da einmal alles auf die
Prinzipien drängt und wir uns wohl denselben nicht entgegenstellen.
Halbheit und Verschwommenheit nützen zu nichts; sie taugen nicht einmal
dazu, für die richtige Lösung vorzubereiten.... Ich werde mich der
Aufgabe nicht entziehen können, der Leiche Lassalles das Geleite zu
geben. Einige Freunde werden dasselbe tun. Ich weiß nicht, ob ich den
Verein dazu einladen soll, da es mißverstanden werden könnte, da viele
Leute nicht verstehen und noch mehrere nicht verstehen wollen, daß man
Lassalle anerkennen kann, ohne vollständig mit ihm einig zu gehen.“
Schließlich bittet er Sonnemann, ihm seine Ansicht mitzuteilen.

In einer Nachschrift heißt es: „Würde es Dir als Präsident der
Arbeitervereinigung nicht anstehen, hierher zu kommen und dem Gegner die
Ehre zu geben? Wenn Du dieses willst, telegraphiere, worauf ich Dir
alsdann die Zeit des Eintreffens der Leiche, sobald ich es weiß,
ebenfalls übermitteln werde.“

       *       *       *       *       *

Was Sonnemann auf diesen Brief antwortete, ist mir nicht bekannt,
jedenfalls wurde der Vorschlag Eichelsdörfers nicht berücksichtigt. Es
mußte noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen, ehe ähnliches, wie
Eichelsdörfer wollte, erfüllt wurde. Nachdem der ständige Ausschuß auf
den Antrag des Gewerblichen Bildungsvereins zu Leipzig beschlossen
hatte, dort den nächsten Vereinstag abzuhalten, machte die Koburger
Arbeiterzeitung dagegen Opposition. Es sei ausgeschlossen, daß in dem
von Herrn v. Beust regierten Sachsen die Abhaltung eines Vereinstag
möglich sei, und sie eröffnete über den Beschluß die Debatte. Die
einzigen Vereine, die sich der Koburger Arbeiterzeitung anschlossen,
waren die badischen, die auf ihrem Vereinstag in diesem Sinne votierten.
Gewisse Bedenken gegen die Abhaltung eines Vereinstags in Sachsen waren
berechtigt, denn die Abhaltung desselben lag auf Grund des sächsischen
Vereinsgesetzes ganz in den Händen des Herrn v. Beust, der Regen oder
Sonnenschein gewähren konnte.

Um es nicht zum Regnen kommen zu lassen, trugen wir der Situation
insoweit Rechnung, daß der ständige Ausschuß sich auf unser Ansuchen
bereit erklärte, die Wehrfrage, als eine eminent politische, nicht auf
die Tagesordnung des Vereinstags zu setzen. Das Lokalkomitee für die
Vorbereitungen wurde durch je zwei Mitglieder des Vereins Vorwärts, des
Gewerblichen Bildungsvereins und des Fortbildungsvereins für
Buchdrucker, außerdem durch Professor K. Biedermann und ein
Ausschußmitglied der Polytechnischen Gesellschaft gebildet. Der Vorsitz
wurde mir übertragen. Herr v. Beust ließ lange auf die nachgesuchte
Entscheidung warten, endlich erfolgte sie in zustimmendem Sinne. Der
Vereinstag wurde nunmehr auf den 23. und 24. Oktober einberufen und als
Tagesordnung festgesetzt: 1. Freizügigkeit. 2. Genossenschaftswesen, und
zwar a. Konsumvereine, b. Produktivgenossenschaften. 3. Ein gleicher
Lehrplan für die Bildungsvereine. 4. Wanderunterstützungskasse, deren
Gründung von den vielen jungen Arbeitern in den Vereinen verlangt wurde.
5. Altersversicherung. 6. Lebensversicherung. 7. Regulierung des
Arbeitsmarktes, also Arbeitsnachweis. 8. Arbeiterwohnungen. 9. Wahl des
ständigen Ausschusses.

Das war für zwei Tage Beratung eine sehr reiche Tagesordnung, deren
Erledigung nur dadurch möglich wurde, daß die Berichterstatter vorher
Gutachten und Resolutionen veröffentlichten und Berichte und Reden kurz
waren. Die Gründlichkeit beider ließ in der Regel viel zu wünschen
übrig.

Vertreten waren 47 Vereine, darunter allein 8 aus Leipzig, und 3
Gauverbände: badisches Oberland, Württemberg und Maingau. Es gab damals
in Leipzig neben dem Fachverein der Buchdrucker auch noch einen solchen
der Maurer und der Zimmerleute. Außerdem hatten die Lassalleaner unter
Leitung Fritzsches rasch drei weitere Fachvereine gegründet, und
zwar einen Zigarrenarbeiter-, einen Schneider- und einen
Schmiedegesellenverein. Unter den Delegierten befanden sich
zum erstenmal Dr. Friedrich Albert Lange, Vertreter des
Duisburger Konsumsvereins, und Dr. Max Hirsch für den Magdeburger
Arbeiterbildungsverein. Ferner war anwesend als Gast Professor V.A.
Huber, der konservative Vertreter der Genossenschaftsidee.

Die Versammlung wählte Bandow-Berlin zum ersten Vorsitzenden, Dolge und
mich zu seinen Stellvertretern. Im Namen der Stadt begrüßte der
Bürgermeister Dr. Koch die Versammlung. Gleich bei dem ersten Punkte der
Tagesordnung: Freizügigkeit, kam es zu einem Krach mit Fritzsche und zu
tumultuarischen Szenen durch seine Anhänger, die die Tribünen des Saales
(Schützenhaus) stark besetzt hatten. Fritzsche erklärte im Sinne
Lassalles, daß man über die Freizügigkeit nicht mehr debattiere, sondern
sie dekretiere, dagegen müsse man das allgemeine Wahlrecht verlangen. Er
sprach sehr provokatorisch und fand damit demonstrativen Beifall bei
seinen Anhängern. Gegen diese Methode erhoben die Delegierten lebhafte
Proteste. Bei dieser Gelegenheit bewunderte ich Friedrich Albert Langes
Vermittlertalent, womit er Erfolg hatte. Ein energisches Eingreifen von
meiner Seite, als Vorsitzender des Lokalkomitees, schaffte auch Ruhe auf
den Galerien. Am nächsten Tage kam es nochmals zu einer lebhaften Szene,
als Fritzsche verlangte, noch zum Worte zugelassen zu werden, nachdem
bereits der Schluß der Debatte angenommen worden war. Als ihm das Wort
verweigert wurde, protestierte er gegen den herrschenden Terrorismus und
legte sein Mandat nieder. Die Beschlüsse des Vereinstags waren von
keinem großen Belang. Fr. Albert Lange, der über Konsumvereine
referierte, zeigte sich als ein glänzender Redner. In den
ständigen Ausschuß wurden gewählt: Bandow, Bebel, Dr. M. Hirsch,
Lachmann-Offenbach, Lange, Martens-Hamburg (ein ehemaliger
Weitlingianer, von dessen Kommunismus aber nichts mehr zu spüren
war), Reinhard-Koburg, ehemaliges Parlamentsmitglied für
Mecklenburg, Sonnemann, Staudinger-Nürnberg, Stuttmann-Rüsselsheim,
Weithmann-Stuttgart und Max Wirth-Frankfurt a.M.

FUSSNOTEN:

[2] Leipzig war als Ort für den nächsten Vereinstag bestimmt.



Friedrich Albert Lange.


Infolge meiner Mitgliedschaft im ständigen Ausschuß kam ich mit
Friedrich Albert Lange in näheren persönlichen und schriftlichen
Verkehr. Lange, eine untersetzte und kräftige Figur, war eine äußerst
sympathische Erscheinung. Er hatte prächtige Augen und war einer der
liebenswürdigsten Menschen, die ich kennen gelernt habe, der auf den
ersten Blick die Herzen eroberte. Dabei war er ein Mann von festem
Charakter, der aufrecht durchs Leben ging, den Maßregelungen nicht
beugten. Und sie blieben ihm nicht erspart, als er offen für die
Arbeiter eintrat. Er war sehr bald einer der „Geächteten“ und
„Isolierten“ in der Industriestadt Duisburg. Zwischen uns und den
Lassalleanern nahm er eine vermittelnde Stellung ein, wie sein Januar
1865 erschienenes Buch „Arbeiterfrage“ zeigt. Wenn in der später
erschienenen Auflage desselben sein Standpunkt mehr nach rechts geht,
wie ihm auch von Kritikern seiner Geschichte des Materialismus
nachgesagt wird, daß er darin zum Metaphysischen neige, so betrachte ich
dieses als die Folgen eines langen und schweren körperlichen Leidens,
dem er leider zu früh erlag.

Lange stand im ständigen Ausschuß stets auf der linken Seite und drängte
nach links. Mir erwies er zu jener Zeit einen großen persönlichen Dienst
aus rein fachlichen Gründen. Wir in Leipzig waren, wie ich schon
andeutete, mit der „Allgemeinen Deutschen Arbeiterzeitung“ in Konflikt
gekommen. Die Stellungnahme des Blattes gegen die Abhaltung des
Vereinstags in Leipzig hatte begreiflicherweise bei uns verschnupft.

Bei der Redaktion der „Arbeiterzeitung“ war, wahrscheinlich auf
Einbläsereien aus Leipzig, der Glaube entstanden, wir wollten das Blatt
untergraben, und ich sei Beustianer. Das war ein starkes Stück. Ich war
im Gegenteil stets für das Blatt eingetreten und hatte seine Verbreitung
gefördert. Auch im ständigen Ausschuß, in dem Gegner der Koburger
Arbeiterzeitung saßen, trat ich für dieselbe ein und befürwortete ein
günstiges Abkommen mit dem Verleger. Als aber die Koburger
Arbeiterzeitung mit ihren Angriffen gegen mich fortfuhr, sandte ich ihr
eine gepfefferte Erklärung, aus der sie nur abdruckte, daß ich mich als
einen unerbittlichen Gegner der Beustschen Mißwirtschaft bekannt habe.

Dieser Streit veranlaßte den ständigen Ausschuß, Lange mit der Abfassung
eines Berichts zu betrauen, in dem er mich warm verteidigte und meine
Haltung rechtfertigte. Immerhin hatte die „Arbeiterzeitung“ erreicht,
daß, als wir am 30. Juli 1865 in Glauchau eine Landesversammlung
hielten, ich bei der Wahl zum Delegierten für den Stuttgarter Vereinstag
mit einer Stimme, die ich weniger hatte als mein Gegenkandidat,
unterlag. Als ich nachher meinen Standpunkt in bezug auf die
„Arbeiterzeitung“ darlegte, erklärte eine Anzahl Delegierte, daß sie
nunmehr die Sache anders ansähen. Die „Arbeiterzeitung“ hat denn auch
später mir volle Genugtuung gegeben, sie sei falsch berichtet gewesen.
Streit selbst entschuldigte sich auf dem Stuttgarter Vereinstag
persönlich bei mir.

Die Ereignisse des Jahres 1866 — auf die ich später zu sprechen komme —
und die Stellung, die Lange zu denselben einnahm, machten ihn in
Duisburg, wo er Handelskammersekretär war, unmöglich. Er ließ sein
Blättchen „Der Bote vom Niederrhein“ eingehen und folgte einer Einladung
seines Freundes Bleuler zur Uebersiedlung nach Winterthur in der
Schweiz. Dort trat er in die Redaktion von Bleulers Blatt „Der
Winterthurer Landbote“ ein. Bleuler war einer der Führer der radikalen
Demokratie im Kanton Zürich. Um jene Zeit begann die Agitation für eine
Reform der rückständigen Verfassung des Kantons. Bleuler, Lange und der
junge Reinhold Rüegg, der spätere Mitbegründer der „Züricher Post“,
traten mit Gleichgesinnten in eine umfassende Agitation für eine
demokratische Verfassungsreform ein und sahen im Jahre 1868 ihre Arbeit
mit Erfolg gekrönt. Langes Einfluß ist es geschuldet, daß in die neue
Verfassung folgender Artikel 23 aufgenommen wurde: Der Staat schützt und
fördert auf dem Wege der Gesetzgebung das geistige und leibliche Wohl
der arbeitenden Klassen und die Entwicklung des Genossenschaftswesens.

Mittlerweile war ich — wie ich vorgreifend bemerken möchte —
Vorsitzender im Vorortsvorstand der Arbeitervereine geworden. Es galt
nunmehr, die Vereine zum letzten Schritt ins sozialdemokratische Lager
zu bestimmen. Daß dieses nicht ohne eine Spaltung abgehen würde, war mir
klar. Ich hoffte Langes Hilfe zu diesem Schritte zu erlangen und schrieb
an ihn am 22. Juni 1868 einen langen Brief, den sein Biograph, Professor
O.A. Ellissen,[3] einen „sehr merkwürdigen Brief“ nennt, in dem ich ihn
bat, das Referat über die Wehrfrage für den Nürnberger Vereinstag zu
übernehmen. „Neben der Wehrfrage — so schrieb ich nach Ellissen weiter,
der fragliche Brief ist leider nicht in meiner Hand — steht noch so
mancher andere Punkt auf der Tagesordnung, für den Ihre Anwesenheit und
Ihre gewichtige Stimme von der größten Bedeutung ist.“ Ich sprach weiter
in dem Briefe von der Programmfrage und der Wahrscheinlichkeit einer
Spaltung, „es seien aber zehn sichere Vereine besser als dreißig
schwankende“.

Lange antwortete am 5. Juli:

       *       *       *       *       *

„Lieber Herr Bebel!

Ich bedaure sehr, Sie in Ungewißheit gelassen zu haben, allein meine
Existenz war in letzter Woche die, daß ich den Tag über in Zürich war,
um aus der Verfassungskommission zu referieren, und in der Nacht hier
eine tägliche Zeitung und ein Wochenblatt zu machen hatte. Mein Associé
und Kollege hat als Vizepräsident der Verfassungskommission und Mitglied
zahlreicher Spezialkommissionen augenblicklich so viel pro patria zu
tun, daß ich die Redaktionsarbeit und dabei noch die Sorge für ein
ziemlich großes Geschäft allein auf dem Halse habe. Dabei kann ich nur
Samstag nachmittag und Sonntag an Korrespondenz denken. Leider kann ich
vor Vollendung der neuen Verfassung — wir sind froh, wenn sie noch in
diesem Jahre fertig wird — nicht mit Sicherheit über meine Zeit
verfügen. Es wird zwar eine mehrmonatige Pause geben; allein ich kann
nicht sicher wissen, wann diese fällt, und daher auch zu meinem großen
Bedauern das Referat über die Wehrfrage nicht übernehmen. Wenn meine
Zeit es irgend erlaubt, komme ich dann noch nach Nürnberg, da ich
meinerseits ebenfalls mich danach sehne, so viele wackere Freunde —
leider zum Teil in getrennten Lagern — wiederzusehen.“

       *       *       *       *       *

Der Nürnberger Vereinstag fand ohne Lange statt. Ich sah ihn überhaupt
nicht mehr wieder, auch hörten meine brieflichen Beziehungen zu ihm auf.
Ende Oktober 1870 wurde Lange zum Professor an der Universität Zürich
ernannt. Als ihn dann 1872 der liberale Kultusminister Falk als
Professor nach Marburg berief, versuchte Zürich vergeblich, ihn
festzuhalten. Der Zug nach dem Heimatland, der namentlich bei seiner
Gattin sehr lebhaft war, siegte. Aber bereits am 23. November 1875 erlag
er, erst 47 Jahre alt, seinem langjährigen Leiden. Mit Lange hatte einer
der Besten aufgehört zu leben.

FUSSNOTEN:

[3] Friedrich Albert Lange. Eine Lebensbeschreibung von O.A. Ellissen.
Leipzig 1891. Ein empfehlenswertes Buch.



Neue soziale Erscheinungen.


Im Frühjahr 1865 trat in Leipzig der erste deutsche Frauenkongreß
zusammen unter Führung von Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt, der
die Gründung eines Allgemeinen Deutschen Frauenvereins zur Folge hatte.
Es war der erste Schritt aus der bürgerlichen Frauenwelt, welcher zu
einer Frauenorganisation führte. Die „Frauenzeitung“, die damals ein
Hauptmann a.D. Korn herausgab, wurde Organ des Vereins, und traten neben
Korn Frau Luise Otto-Peters und Fräulein Jenny Heinrichs in die
Redaktion ein. Ich wohnte den Verhandlungen als Gast bei. Als dann der
Leipziger Frauenbildungsverein, dessen Vorsitzende Luise Otto-Peters
war, sich an den Arbeiterbildungsverein wandte, damit dieser an
Sonntagen sein Lokal zur Errichtung einer Sonntagsschule für Mädchen
hergebe, gaben wir bereitwillig unsere Zustimmung.

       *       *       *       *       *

Das Jahr 1865, das ein Prosperitätsjahr war, sah eine Menge Lohnkämpfe,
die in den verschiedensten Städten ausbrachen. So gab es unter anderen
große Arbeitseinstellungen in Hamburg, den Streik der Tuchmacher in Burg
bei Magdeburg, die Arbeitseinstellung der Leipziger Buchdrucker, der
eine Arbeitseinstellung der Leipziger Schuhmacher und anderer Branchen
folgte. Der Leipziger Buchdruckerausstand war hervorgerufen durch die
niedrigen Löhne und durch die lange Arbeitszeit. Der höchste Wochenlohn
betrug 5-1/4 Taler. Für 1000 n wurden 25 Pfennig sächsisch bezahlt, die
Gehilfen verlangten 30 Pfennig und Herabsetzung der Arbeitszeit. Am 24.
März kündigten von 800 Mann 545 und traten acht Tage später in den
Ausstand. Eine Organisation für Streikunterstützungen bestand nicht. Der
Buchdrucker-Fortbildungsverein, dessen Vorsitzender Richard Härtel war,
mußte neutral bleiben, bei Strafe der Auflösung. Härtel selbst arbeitete
in einer Offizin, der Colditzschen, in der der neue Tarif anerkannt
war. Der Buchdruckerverband wurde erst 1866 gegründet, und gab der
Leipziger Ausstand die Anregung dazu. Ein Vermittlungsversuch, den der
Geheimrat Professor Dr. v. Wächter, einer der ersten Juristen
Deutschlands, machte, war erfolglos gewesen.

Sonnemann, der als Buchdruckereibesitzer mit besonderem Interesse die
Angelegenheit verfolgte, schrieb an mich, ich möchte beiden Seiten die
Vermittlung des ständigen Ausschusses anbieten, und gab mir für diesen
Versuch verschiedene Verhaltungsmaßregeln. Da der Briefwechsel, den ich
mit ihm über diese Angelegenheit hatte, auch noch heute von Interesse
sein dürfte, veröffentliche ich hier denselben.

       *       *       *       *       *

„Leipzig, den 11. Mai 1865.

Herrn Leopold Sonnemann, Frankfurt a.M.

Durch längeres Unwohlsein abgehalten, bin ich erst heute in der Lage,
auf Ihr Wertes vom Ersten dieses Monats zu antworten. Ihren Plan, eine
Vermittlerrolle in Sachen des hiesigen Buchdruckerstreiks zu versuchen,
muß ich vollkommen billigen. Ich wandte mich daher zunächst brieflich an
den Vorsitzenden des hiesigen Buchdruckervereins, um sein Urteil über
die Sache zu hören. Derselbe antwortete, daß er selbst in einer Offizin
arbeite, in der der Tarif genehmigt sei, er daher der ganzen
Angelegenheit ferner stehe. Er riet mir, mich an die Tarifkommission zu
wenden.

Am Dienstag nachmittag nahm ich mit dieser Rücksprache und war erfreut
über die Bereitwilligkeit, mit der man meinem Vorschlag entgegenkam. Man
nannte mir auch einige der Prinzipale, bei denen ich mich zunächst
erkundigen sollte, ob man auch von dieser Seite Geneigtheit zu einer
Vermittlung zeige. Es waren dies die Herren Giesecke & Devrient und
Ackermann (Firma Teubner). Gestern nun ging ich zu den Genannten.

Devrient war verreist, Giesecke nicht zugegen, und bei Ackermann wurde
mir der Bescheid, daß ich mich am besten an Stadtrat Härtel (Firma
Breitkopf & Härtel) oder an Brockhaus wende, da diese Vorsitzende der
Genossenschaft seien. Ich muß hierbei bemerken, daß ich mich absichtlich
nicht an die Letztgenannten gewendet hatte, und zwar aus dem Grunde,
weil dieselben als die heftigsten Gegner der Arbeiter bekannt sind.
Gleichwohl sah ich mich nach dieser Anweisung veranlaßt, dennoch zu
Härtel zu gehen. Ich traf beide Brüder zu Hause an und hatte eine
ziemlich eine Stunde dauernde Unterhaltung mit ihnen, deren Endresultat
war, daß die Prinzipale keinen Schritt zu einer Verständigung mehr tun
würden, nachdem die Tarifkommission der Schriftsetzer sich gegenüber den
Vermittlungsversuchen des Geheimrats Professor v. Wächter so
unnachgiebig gezeigt habe. Ich erwiderte darauf, daß seit jener Zeit
(vierzehn Tage) sich die Ansichten doch wohl geändert hätten und man von
jener Seite auf eine Verständigung bereitwilligst eingehen werde.

Aber diese und ähnliche Erklärungen von meiner Seite nützten nichts. Ich
merkte sehr deutlich aus den Aeußerungen dieser Herren, daß man auf die
Tarifkommission aufs äußerste erbittert sei, und eine Verständigung
einfach nicht wolle.

So stellte man unter anderem die Behauptung auf, daß diese Kommission
kein Mandat habe, namens der Schriftsetzer zu unterhandeln, sondern sie
habe sich dasselbe angemaßt. Eine Behauptung, die gegenüber den
Tatsachen sich ganz merkwürdig ausnimmt. Dann sagte man wieder: was es
denn nützte, wenn die Kommission auch eine Einigung mit den Prinzipalen
erzielte und nun die übrigen aber nicht wollten. Ueberhaupt habe man
keine Veranlassung, eine andere Vermittlung anzunehmen, da der genannte
Geheimrat Professor v. Wächter sich noch bei Abbruch der Verhandlungen
bereit erklärt habe, jederzeit dieselben wieder aufzunehmen, und wenn es
den Arbeitern mit dem Vorschlag wirklich Ernst sei, sie hierzu Schritte
tun möchten.

Nach dieser Erklärung sah ich allerdings ein, wie wenig Erfolg weitere
Verhandlungen haben müßten, und entfernte mich.

Den feiernden Schriftsetzern, welche mittlerweile eine Versammlung im
Kolosseum abhielten, ließ ich diese Nachricht sofort zukommen; was man
beschlossen hat, ist mir bis zu diesem Augenblick unbekannt.

Es tut mir leid, nicht ein besseres Resultat erzielt zu haben.

Gleichwohl werde ich die Sache genau verfolgen, und wenn sich irgendwie
die Sache für uns noch günstig gestalten sollte, Ihnen sofort Mitteilung
machen.

Ich bin überzeugt, daß man von seiten der Kommission mit einer
Verständigung es wirklich ernst meint, da man wohl nach und nach
einzusehen anfängt, wie gefährlich es ist, die Sache aufs Aeußerste zu
treiben, und ein ehrenvoller Vergleich das beste ist. Andernteils aber
bin ich ebensosehr überzeugt, daß der genannte Herr Härtel keineswegs im
Sinne aller Prinzipale mir gegenüber handelte, da es bekannt ist, wie
die meisten zu einem Vergleich gern die Hand böten. Indes läßt sich mit
den einzelnen nicht unterhandeln, da Härtel als Vorsitzender der
Genossenschaft alle derartige Anträge vorzubringen hat. Ich habe die
Absicht, die ganze Angelegenheit durch die Presse zu veröffentlichen und
abzuwarten, ob nicht darauf einzelne sich herbeilassen, über die Köpfe
der extremsten Führer wie Härtel, Brockhaus usw. hinweg die Hand zur
Verständigung zu bieten. Noch bemerke ich, daß sechs Druckereien in der
Hauptsache die Forderungen der Arbeiter bewilligt haben....“

       *       *       *       *       *

Auf diesen Brief antwortete postwendend Sonnemann am 12. Mai:

„Ich war erstaunt, so lange ohne alle Nachricht zu bleiben. Meine
Anfrage vom 1. ds. Mts. bezüglich der Buchdrucker war nur eine
vorläufige. Meine deutlich ausgesprochene Absicht war, daß Sie in der
Sache gemeinschaftlich mit Dr. Hirsch und Bandow operieren sollten, und
beide hatten sich auch schon mir gegenüber dazu bereit erklärt. Nicht
etwa, daß ich nicht zu Ihnen das volle Vertrauen hätte, daß Sie auch
allein imstande sind, die Sache zu führen; meine Absicht war, dem
Auftreten des Ausschusses dadurch, daß drei seiner Mitglieder als
Vertreter kommen, mehr Förmlichkeit und dadurch mehr Gewicht zu geben.
Ich rechnete in dieser Beziehung besonders auf Bandow, der als
Vorsitzender des Kongresses in Leipzig dort in gutem Andenken steht.
Indessen haben Sie ja alles mögliche aufgeboten, und es ist nur zu
bedauern, daß der Erfolg Ihrer vielen Bemühungen nicht günstiger war.
Ehe Sie etwas veröffentlichen, halte ich für passend, wenn ich nochmals
an Brockhaus und Härtel schreibe und diesen Herren wiederholt die
Absendung einer Deputation von seiten des Ausschusses anbiete. Als Motiv
würde ich angeben, daß die Arbeiter zu ihren gewählten Vertretern doch
das meiste Zutrauen haben würden. Vielleicht macht man die Sache so, daß
die Buchdrucker unserer Deputation Pleinpouvoir geben. Die Prinzipale
mögen ihren Geheimrat von Wächter und noch einige Herren ernennen und
diese Kommission dann einen für alle Teile bindenden Spruch fällen.
Schreiben Sie mir mit Postwendung, ob Sie damit einverstanden sind, daß
ich nochmals an die Herren schreiben soll. Einige Zeilen von Ihnen
genügen mir. Ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß ich der Ansicht bin:
die Buchdruckergehilfen sind in der Form und in der Sache zu weit
gegangen. Sie sind, wie ich vermute, von den Lassalleanern aufgehetzt
worden. Wäre das nicht der Fall, dann hätten sie ihre Forderungen
durchgesetzt, denn niemals war eine Zeit den Bestrebungen um
Lohnerhöhung günstiger als die jetzige; das zeigt sich daran, daß
allenthalben die in mäßigen Grenzen gehaltenen und anständig
vorgebrachten Forderungen durchgesetzt wurden....“

       *       *       *       *       *

Die Vermutung Sonnemanns, als hätten die Lassalleaner in diesem Streik
ihre Hände gehabt, war vollkommen falsch. Der „Sozialdemokrat“
Schweitzers zeigte zwar ein außerordentlich lebhaftes Interesse für die
Arbeitseinstellung der Leipziger Buchdrucker, aber Einfluß auf diese
erlangte er nicht.

Am nächsten Tage gab ich folgende Antwort:

„Auf Ihre geehrte Zuschrift vom 12. ds. Mts. habe ich zu erwidern, daß
ich Ihre Absicht in dem Schreiben vom 1. ds. Mts. vollständig richtig
aufgefaßt habe. Danach aber war es ganz natürlich, zuvor anzufragen und
zu hören, ob beide Parteien geneigt seien, eine Vermittlung des
ständigen Ausschusses anzunehmen. Daß ich nichts weiter getan habe,
werden Sie schon aus der Erklärung Härtels in der gestrigen „Deutschen
Allgemeinen Zeitung“ ersehen haben. Nur muß ich hier zu meiner
Rechtfertigung bemerken, daß es mir nach den persönlichen Erklärungen
dieses Herrn unmöglich war, offiziell einen derartigen Antrag zu
stellen.

Seine Erklärung scheint hauptsächlich hervorgerufen worden zu sein durch
verschiedene Anfragen der Prinzipalität auf die Notizen verschiedener
Zeitungen, die hiesige Buchdruckergenossenschaft habe die Vermittlung
abgelehnt, während man sie in corpore nicht darum gefragt hatte.

Ich bemerke hierüber ausdrücklich, daß die Nachrichten in öffentlichen
Blättern, die sich sogar vielfach widersprechen, nicht von mir
ausgegangen sind. Das Gute aber haben sie gehabt, daß die öffentliche
Meinung aufs neue angeregt wurde und mich unter anderen Geheimrat v.
Wächter gestern früh zu sich bescheiden ließ, um mit ihm über die Sache
zu konferieren. Er teilte mir mit, daß er bereit sei, jederzeit die
Vermittlung wieder zu übernehmen, und er sich hierzu meine Hilfe
erbitte. Er schlage mir vor, zunächst nochmals bei der Tarifkommission
anzufragen, ob man hierzu geneigt sei und auf welcher Grundlage. Wobei
er mir bemerkte, wie er es für unumgänglich notwendig erachte, daß man
sich von seiten der Gehilfen zu Konzessionen herbeilasse. Dieser
letzteren Ansicht muß ich vollkommen beistimmen, und haben auch Sie
vollkommen recht, daß die Form, in welcher man anfangs vorging, nicht
die rechte war.

Auf nochmalige Anfrage bei der Tarifkommission erklärte man sich bereit,
zu Wächter zu gehen und sich mit ihm zu vereinbaren. Ich erklärte dabei
nochmals, daß der ständige Ausschuß sofort bereit sein würde, in
Gemeinschaft mit Wächter die Vermittlung zu übernehmen. Man nahm dies
dankend an und versprach, nachdem man mit Wächter Rücksprache genommen,
mir Antwort zu sagen. Leider war ich gestern nachmittag nicht anwesend,
als die Deputation bei mir war. Heute morgen nach Empfang Ihres Briefes
begab ich mich sofort in das Sitzungslokal der Tarifkommission, traf
aber dort niemand an. Ich werde daher später nochmals hingehen. So weit
vormittags 1/2 10 Uhr.

Mittags 1 Uhr. Soeben verließ mich ein Mitglied der Tarifkommission, das
mir folgendes mitteilte. Der Vorsitzende der genannten Kommission habe
sich gestern auf meinen Wunsch zu Wächter begeben und ihm ihre
Bereitwilligkeit, unter Hinzuziehung des ständigen Ausschusses nochmals
zu unterhandeln, ausgesprochen. Auf die Frage, auf welcher Grundlage das
geschehen solle, habe man den Vorschlag gemacht, eine andere Art der
Berechnung aufzustellen, nämlich statt nach 1000 n nach dem Alphabet.
Wächter ist damit einverstanden gewesen und hat versprochen, mit einigen
Prinzipalen Rücksprache zu nehmen und über den Erfolg Antwort zukommen
zu lassen. Bis jetzt ist eine solche nicht erfolgt, und es bleibt uns
nach meiner Ansicht für jetzt nichts anderes übrig, als diese
abzuwarten; ich werde Ihnen alsdann sofort Nachricht zukommen lassen.

Ihrer Ansicht, an Brockhaus und Härtel zu schreiben, kann ich nicht
zustimmen, da diese gerade die größten Gegner der Arbeiter respektive
der Arbeitervereine sind und Sie sich durch ein Motiv, wie Sie es in
Ihrem Schreiben angeben, aufs schlimmste insinuieren würden. Sagt man
doch Härtel nach, daß er beim hiesigen Polizeidirektorium dahin zu
wirken versucht habe, daß man die hiesigen Vereine auflöse, weil sie die
feiernden Arbeiter zum Teil unterstützt haben, und mußte ich doch auch
aus seinem Munde hören, daß die Angelegenheit am besten zu Ende geführt
würde, wenn die Arbeiter und Vereine aufhörten, die Buchdrucker mit
Geldsammlungen zu unterstützen.

Schließlich muß ich mich gegen den Vorwurf in Ihrem Schreiben verwahren,
als wenn ich allein die Vermittlung hätte übernehmen wollen. Es ist mir
dies nicht im entferntesten eingefallen, und ich habe ausdrücklich,
sowohl bei der Tarifkommission wie bei Härtel, von einer Deputation des
ständigen Ausschusses gesprochen und auch ausdrücklich die Namen
genannt. Schon wegen einer Besprechung in unseren eigenen
Angelegenheiten wäre es mir lieb, Bandow und Hirsch hier zu haben.“

       *       *       *       *       *

Drei Tage später, den 16. Mai, folgte alsdann von mir ein neuer Brief an
Sonnemann, in dem es hieß:

„Ich bin nunmehr in der Lage, Ihnen endgültig über die
Buchdruckerangelegenheit zu berichten.

Wie ich Ihnen in meinem Schreiben mitteilte, war die Tarifkommission
auf meine Veranlassung mit Wächter in Unterhandlung getreten und hatte
diesem als Grundlage die neue Berechnungsart vorgeschlagen. Wächter ging
darauf ein und berief die frühere Vermittlungskommission der Prinzipale,
um ihr diese Proposition der Tarifkommission zu stellen. Man rechnete
und rechnete, fand aber schließlich, daß das Resultat dasselbe sei,
indem man allerdings oftmals nur 27 bis 28 Pfennig zu zahlen haben
würde, aber eben so oft auch 32 und 33 Pfennig. Mitglieder der
Tarifkommission versicherten mir selbst, der Preis bleibe nach dieser
Berechnung der gleiche und nur die Form sei eine andere. Die Prinzipale
lehnten nunmehr die Vermittlung ab, da sie nur im Falle einer Konzession
in den Bedingungen der Gehilfen sich zu einer Verständigung herbeilassen
wollten.

Als ich nun gestern früh Ihr wertes Schreiben erhielt,[4] trat ich
sofort wieder mit der Tarifkommission in Unterhandlung, legte ihr den
Frankfurter Tarif, sowie Ihre Berechnung als Basis für eine Vermittlung
mit den Prinzipalen vor, nochmals hervorhebend, wie ich es selbst für
notwendig hielt, nicht starr an den Forderungen festzuhalten und die
Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Der Betreffende erklärte sich mit
diesen Ansichten einverstanden, versprach, den Vorschlag seinen Kollegen
vorzulegen und mir Bericht zu erstatten.

Gestern abend erhielt ich Antwort. Diese lautete abschlägig. Man
motivierte diese Antwort damit, man habe verschiedenes in Aussicht,
weshalb man hoffe, dennoch die Forderungen durchzusetzen. Leipzig als
Hauptort des Buchdrucks habe vor allem darauf zu sehen, einen möglichst
hohen Lohn zu erzielen, da dieses für die anderen Städte von großem
Einfluß sei, auch enthalte der von Ihnen aufgestellte Entwurf eine ganze
Menge von Bestimmungen, in denen sie den Prinzipalen Konzessionen machen
könnten und wollten. Ich war durch diese Antwort überrascht. Ich hatte
sicher erwartet, daß man diesen Vorschlag annehmen würde. Nachdem er
abgelehnt wurde, habe ich keine Veranlassung, in dieser Angelegenheit
noch einen Schritt zu tun, es sei denn, man fordere mich von jener Seite
dazu auf.

Mir scheint, daß, wie die Prinzipale von Härtel und Brockhaus sich
beeinflussen lassen, auch einige in der Tarifkommission über alle
anderen gebieten. Man muß es nun schließlich darauf ankommen lassen,
welche von den beiden Parteien mit ihrer Starrköpfigkeit den Sieg
davonträgt.

Von seiten der Gehilfen erwartet man von der jetzt im Gange befindlichen
Buchhändlerbörse einen günstigen Einfluß für ihre Forderungen; wie weit
dies richtig ist, wird sich herausstellen. Tatsache ist auch, daß von
auswärts immer noch eine Masse von Zuschriften und Geldsendungen
einlaufen, die sie zur Ausdauer anfeuern.

Wie Ihnen bereits bekannt sein dürfte, geht man von seiten der Polizei
mit Maßregelungen gegen die feiernden Gehilfen vor, was ich durchaus
nicht billige. Es haben infolgedessen am Montag bereits neunzehn Mann
die Stadt verlassen. Einer hat wieder zu arbeiten angefangen. Jedenfalls
ein klägliches Resultat, wenn man zu diesem Zweck, wie zu vermuten, die
Maßregelungen ins Werk gesetzt hat.“

       *       *       *       *       *

In einem anderen Briefe von mir an Sonnemann vom 28. Mai heißt es in
einer Nachschrift lakonisch: In der Buchdruckerangelegenheit steht alles
beim alten.

Am 20. Juni schreibt Sonnemann wieder:

„Ich bin nicht wenig erstaunt, daß Sie mein Schreiben vom 17. ds. Mts.
gänzlich unbeachtet lassen (dasselbe ist aus dem schon oben angegebenen
Grunde nicht mehr zu entziffern, es bezog sich aber auch mit auf die
Buchdruckerangelegenheit). Wenn der Mechanismus bei uns nicht besser
ineinandergreift, dann wird mir wohl die Herausgabe der Flugblätter sehr
schwer werden.“

Hierzu sei bemerkt: Der ständige Ausschuß hatte, weil er mit dem
Verleger der „Allgemeinen Arbeiterzeitung“ in Koburg beständig in
Konflikt war, die Herausgabe von Flugblättern beschlossen, die womöglich
wöchentlich erscheinen sollten. Diese Flugblätter sollten alle auf die
Arbeiterbewegung bezüglichen Mitteilungen enthalten und sollten in
erster Linie die Mitglieder des ständigen Ausschusses daran mitarbeiten.
Meine Antwort auf Sonnemanns Brief ist vom 23. Juni datiert und lautete:

„Die Vorwürfe, die Sie mir in Ihrem letzten Schreiben vom 20. ds. Mts.
über meine angebliche Lauheit machen, muß ich zurückweisen. Sie würden
dieselben nicht gemacht haben, wenn Sie meine Verhältnisse kennten.
Diese aber sind derart, daß ich über meine Zeit nicht so verfügen kann,
wie ich möchte. Habe ich auch ein selbständiges Geschäft, so bin ich
durch meine Unbemitteltheit gezwungen, durch Arbeit den täglichen
Lebensunterhalt zu verdienen; dazu kommt, daß ein guter Teil der Last
der Geschäfte im (Arbeiterbildungs-)Verein ebenfalls auf mir liegt und
ich auch hier schon gezwungen bin, manche Stunde zu opfern, abgesehen
von den Abenden, die gänzlich durch Vereinsangelegenheiten in Anspruch
genommen sind. Gleichwohl werde ich, soweit es irgend geht, den an mich
gestellten Anforderungen nachzukommen suchen und würde auch auf Ihr
erstes Schreiben bereits geantwortet haben, wenn das, was ich zu
schreiben hatte, sich der Mühe verlohnte....

Namentlich ist in bezug auf Arbeiten und Lohnfragen eine förmliche
Windstille eingetreten, wie das nach der Aufregung und dem Lärm der
vorhergehenden Wochen nicht anders zu erwarten war.

Bezüglich der Buchdruckerangelegenheit war ich am Dienstag bei Heinke,
dem Redakteur des „Korrespondent“ (der 1863 gegründet worden war).
Heinke will Ihnen das Blatt vom 1. Juli ab regelmäßig unter Kreuzband
zukommen lassen gegen Eintausch der Flugblätter und von sonstigen
Mitteilungen.... Ferner versprach er, mir wichtige Nachrichten über
Buchdruckerangelegenheiten, sei es von hier oder auswärts, zukommen zu
lassen, und werde ich alsdann Ihnen möglichst schnell referieren.

Betreffs des hiesigen Buchdruckerstreiks teilte er mir mit, daß der
größte Teil der Tarifkommission, sowie des Vorstandes des
Buchdruckerfortbildungsvereins noch keine Kondition habe und so schnell
auch noch keine bekommen werde. Gleichwohl glaubte er, daß man eine
Unterstützung von unserer Seite nicht annehmen werde, indem erstens noch
Geld vorhanden sei, zweitens die in Arbeit getretenen Gehilfen für die
Arbeitslosen wöchentlich steuerten, endlich drittens sie alsdann in die
Lage kommen könnten, bei Arbeitseinstellungen anderer Branchen ebenfalls
zu steuern, was ihren schon jetzt sehr in Anspruch genommenen Geldbeutel
nur noch mehr belasten würde; man habe von allem Anfang an beschlossen,
Unterstützung von Nichtbuchdruckern gar nicht oder doch nur im
alleräußersten Falle anzunehmen.“[5]

       *       *       *       *       *

Die Befürchtung der Buchdrucker, daß sie auch für die Streiks anderer
Branchen herangezogen werden könnten, hatte insofern eine Berechtigung,
als in jenem Frühjahr sowohl die Schneider wie die Arbeiter an dem Bau
der städtischen Wasserleitung streikten und die Schuhmacher ebenfalls in
den Streik eintraten.

In bezug auf letzteren schrieb ich Sonnemann am 28. Juni:

„Gestern fand im Hotel de Saxe eine Versammlung der Schuhmacher zum
Zwecke der Lohnerhöhung statt. Da wir eine dringende Sitzung hatten,
konnte ich erst später hingehen. Einen vollständigen Bericht könnte ich
deshalb nicht liefern. Dr. Eras, welcher den Verhandlungen von Anfang
bis Ende beigewohnt hat, wird Ihnen einen solchen für die „Neue
Frankfurter Zeitung“ zugesandt haben, den Sie im Flugblatt mit verwenden
können.

Nach dem Geiste zu urteilen, der in jener Versammlung herrschte, werden
die Arbeiter mit ihren sehr gerechten Forderungen nicht durchkommen.
Unklarheit, Uneinigkeit unter ihnen lassen es nicht dazu kommen,
obgleich sie es mehr wie jeder andere Arbeiter bedürften, da ein guter
Arbeiter bei zwölfstündiger Arbeitszeit 2 Taler 20 Neugroschen bis 3
Taler die Woche verdient. Da wir als Unbeteiligte uns nicht in die
Debatten mischen durften, so haben Eras und ich es ihnen später im
Privatzirkel tüchtig gesagt, es wird nur nichts nützen.“

       *       *       *       *       *

Am 1. Juli antwortete Sonnemann folgendes:

„Ich habe Ihre werten Briefe vom 23. und 28. Juni vor mir. Meine Mahnung
an Sie war gewiß nicht so bös gemeint, wie Sie dieselbe vielleicht
aufgefaßt haben. Ich weiß sehr gut, wie sehr Sie in Anspruch genommen
sind, und wie schwer es Ihnen fällt, unserer Sache noch weiter Zeit zu
opfern; ich verlange auch keine langen Briefe; zwei Zeilen genügen
jederzeit, um eine Tatsache kurz mitzuteilen. Hätten Sie mir gleich
geschrieben, die Buchdrucker bedürfen von uns keiner Unterstützung, so
wäre es für den Augenblick genug gewesen.

Was nun den eben erwähnten Gegenstand betrifft, so freut es mich, daß es
den Leuten dort vorerst nicht an Geldmitteln fehlt. Ich bitte Sie nur,
ihnen wiederholt zu sagen, daß der Ausschuß nötigenfalls bereit sei, für
sie einzutreten, und habe mich auch demgemäß in unserem Flugblatt
ausgesprochen.“

       *       *       *       *       *

Damit war unsere Korrespondenz über den Buchdruckerstreik zu Ende. Die
Buchdrucker erlangten nur einen teilweisen Erfolg. Die Mehrzahl ihrer
Leiter wurde gemaßregelt. Im August beschloß der Buchdruckerverein, die
Steuer zu vervierfachen, einmal um die gewährten Darlehen
zurückzuzahlen, dann um die noch übriggebliebenen Gemaßregelten
entsprechend unterstützen zu können. Die Tarifkommission wurde zu
vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt wegen Verletzung des
Streikparagraphen der sächsischen Gewerbeordnung. Auf erhobenen Rekurs
wurde das Urteil aufgehoben. Glücklicher waren wider Erwarten die
Schuhmacher, die Lohnerhöhungen bis zu 25 Prozent durchsetzten. Was
ihnen zustatten kam, war, daß die Meister nicht organisiert und daß es
meist Kleinmeister waren, die keinen Widerstand leisten konnten.

Das Verhalten einer Anzahl bekannter Liberaler bei den Leipziger Streiks
veranlasste mich, in Nummer 8 der Flugblätter des ständigen Ausschusses
auszusprechen, es sei eine Tatsache, daß gerade von jener Seite, auf der
man mit dem Volke immerwährend geliebäugelt und sich als Arbeiterfreund
dargestellt habe, die Forderungen der Arbeiter den entschiedensten
Widerstand gefunden hätten. Es dürfe daher nicht wundernehmen, daß man
selbst in Arbeiterkreisen, die mit dem Lassalleanismus nichts zu tun
hätten, über das Gebaren eines Teiles der Fortschrittspartei nichts
weniger als schmeichelhafte Urteile fällen hörte. Das erhöhe die
Sympathie für diese nicht.

In demselben Sommer (Juli) beriefen wir Arbeiterversammlungen ein, um
gegen die Beschlüsse der Handels- und Gewerbekammern von Dresden und
Zittau zu protestieren, die beschlossen hatten, die neueingeführten
Arbeitsbücher sollten entgegen der Gewerbeordnung nicht die Arbeiter,
sondern die Arbeitgeber in Verwahrung haben, auch sollten sie ohne
Zustimmung des Arbeiters über dessen Verhalten Zeugnisse in das
Arbeitsbuch eintragen dürfen. Ein Aufruf, den wir an die sächsischen
Arbeiter veröffentlichten, sich unserem Protest anzuschließen, hatte
guten Erfolg. Die Lassalleaner machten in diesem Falle mit uns
gemeinsame Sache.

FUSSNOTEN:

[4] In diesem (Kopie) ist die Tinte so blaß geworden, daß dasselbe nicht
mehr zu entziffern ist.

[5] Gustav Jaeckh behauptet in seinem Buch „Die Internationale“ (Leipzig
1904), die deutschen Buchdrucker hätten sich durch ihren
Verbandsvorsitzenden an den Generalrat der Internationale gewandt, um
die Internationale, und in erster Linie die Buchdrucker-Union, für den
Streik ihrer Brüder in Leipzig zu interessieren. Diese Angaben können
unmöglich richtig sein. Erstens gab es zu jener Zeit noch keinen Verband
der Buchdrucker, folglich auch keinen Vorsitzenden des Verbandes;
zweitens weigerten sich die Buchdrucker, von politischen Organisationen
Geld anzunehmen, und nun gar von der Internationale. Wahr kann an der
Mitteilung höchstens sein, daß Leipziger Buchdrucker sich an den
Generalrat gewendet hatten um _Uebermittlung_ eines Schreibens an die
Londoner Buchdrucker-Union. Doch auch das ist mir etwas zweifelhaft.



Der Stuttgarter Vereinstag


Der dritte Vereinstag der Arbeitervereine war vom ständigen Ausschuß auf
den 3. bis 5. September 1865 nach Stuttgart berufen worden. Auf
demselben waren 60 Vereine und ein Gauverband durch 60 Delegierte
vertreten. Unter den Delegierten traten unter anderen hervor: Herm.
Greulich-Reutlingen, Professor Eckhardt-Mannheim, Bankier Eduard
Pfeiffer-Stuttgart, Julius Motteler-Crimmitschau, der schon 1864 in
Leipzig war, Streit-Koburg, Staudinger-Nürnberg, Professor
Wundt-Heidelberg, der sich nachmals einen großen Namen als Physiologe
erworben hat und gegenwärtig Professor an der Universität Leipzig ist.
Von den hier Genannten ging Hermann Greulich kurz nach dem Stuttgarter
Vereinstag von Reutlingen nach Zürich, woselbst er fast gleichzeitig mit
mir, und zwar als Schüler Karl Bürklis und Jean Philipp Beckers, zum
Sozialisten wurde. Julius Motteler machte um dieselbe Zeit die gleiche
Entwicklung durch. Professor Eckhardt war Redakteur des 1864 in Mannheim
gegründeten „Deutschen Wochenblatts“. Eckhardt stand auf dem äußersten
linken Flügel der Demokratie.

Im Lokalkomitee saß neben Bankier Pfeiffer Rechtsanwalt Hölder, später
Minister des Innern für Württemberg, der im Namen des Lokalkomitees und
der Stadt die Begrüßungsrede hielt. Bandow präsidierte. Die Tagesordnung
war wieder überreichlich belastet. Der Punkt „Altersversorgungskassen“
wurde auf Wunsch Sonnemanns abgesetzt; er wollte erst eine Broschüre
darüber herausgeben. Ich hatte ein Referat über Speisegenossenschaften,
wie solche damals mehrfach in den deutschen Arbeitervereinen der Schweiz
für Unverheiratete bestanden. Mein gedruckt erstatteter Bericht war
recht dürftig. Meine Rede darüber war die kürzeste von allen. Max Hirsch
hatte das Referat über die Eroberung des allgemeinen, gleichen und
direkten Wahlrechts. Er befürwortete in der von ihm vorgeschlagenen
Resolution, daß die Arbeitervereine sich mit aller Kraft für die
Eroberung desselben einsetzen sollten. Diese Resolution rief die
Opposition Professor Wundts hervor, der im Namen des Oldenburger und der
badischen Vereine, mit Ausnahme von Mannheim, Uebergang zur Tagesordnung
beantragte, was einen Sturm des Unwillens hervorrief. Schließlich
änderte Hirsch seine Resolution dahin, daß statt deutsche
Arbeitervereine deutsche Arbeiter gesetzt wurde, worauf sie einstimmig
angenommen wurde. Hirzel-Nürnberg referierte über das Koalitionsrecht;
er beantragte die Beseitigung aller Schranken, die der Ausübung dieses
Rechtes entgegenstünden, und wurde demgemäß einstimmig beschlossen.
Ebenso einstimmig wurde der Antrag Bandows auf Aufhebung der
Wanderbücher und des Legitimationszwanges angenommen.

Moritz Müller-Pforzheim, ein etwas eigentümlicher, aber eifriger und in
seiner Art wohlwollender Bijouteriefabrikant, hatte das Referat über die
Frauenfrage, eine Frage, die er als Spezialität behandelte. In seinem
schriftlichen Referat verlangte er die volle soziale Gleichheit der Frau
mit dem Manne, die Gründung von Fortbildungsanstalten für Arbeiterinnen
und die Gründung von Arbeiterinnenvereinen. Die Debatte über diese Frage
nahm die meiste Zeit in Anspruch. Professor Eckhardt erklärte
ausdrücklich, daß die soziale Befreiung der Frau auch die _Gewährung des
Stimmrechtes an die Frauen_, wie solches der Vereinstag für die Männer
fordere, einschließe. Mit dieser Auslegung wurden die Müllerschen
Resolutionen mit erheblicher Mehrheit angenommen.

Die Beschlüsse des Stuttgarter Vereinstags bedeuteten in ihrer
Gesamtheit einen entschiedenen Ruck nach links. In allen praktischen
Fragen der inneren Politik standen jetzt die sogenannten Selbsthilfler
und die Lassalleaner auf ein und demselben Boden. Auch die Organisation
erlitt eine kleine Verbesserung. Der Beitrag von 2 Talern pro Jahr von
jedem Verein bedeutete die finanzielle Ohnmacht des ständigen
Ausschusses. Ich machte also in den Flugblättern des ständigen
Ausschusses den Vorschlag, zunächst pro _Kopf_ der Vereinsmitglieder
einen Groschen Beitrag pro Jahr zu erheben und den Vorsitzenden des
ständigen Ausschusses mit 300 Taler zu remunerieren, damit auch
eventuell Personen, die finanziell abhängig waren, die Stellung eines
Vorsitzenden bekleiden könnten; auch solle der Vorsitzende vom
Vereinstag direkt gewählt werden. Endlich schlug ich vor, der großen
Kosten wegen den Vereinstag nur alle zwei Jahre zu berufen — was gerade
kein Meistervorschlag von mir war — und damit den Gauverbänden eine
bessere Entwicklung zu ermöglichen. Nach lebhafter Debatte wurde der
Groschenbeitrag, den auch die Organisationskommission vorschlug,
angenommen, die anderen Vorschläge wurden abgelehnt. Ebenso entschied
der Vereinstag mit 30 gegen 22 Stimmen, daß ein offizielles Vereinsorgan
nicht notwendig sei. Man ging durch diesen Beschluß einem Konflikt mit
dem Verleger der Koburger Arbeiterzeitung aus dem Wege, die einen
starken Anhang unter den Vereinen besaß. Bemerken möchte ich hier, daß
die vorhandenen Berichte über die Vereinstage ungemein kurz und sehr
lückenhaft sind. In den ständigen Ausschuß wurden gewählt Bandow, Bebel,
Eichelsdörfer, M. Hirsch, Hochberger-Eßlingen, König-Hanau, F.A. Lange,
Lippold-Glauchau, Richter-Hamburg, Sauerteig-Gotha, Sonnemann,
Staudinger-Nürnberg. Sonnemann, der wieder als Vorsitzender vom Ausschuß
gewählt worden war, lehnte die Wahl ab. An seine Stelle trat Staudinger,
der, wie die Erfahrung zeigte, seiner Aufgabe nicht gewachsen war.
Staudinger, ein älterer Mann, war seines Zeichens Schneidermeister, ihm
sollte Ingenieur Hirzel-Nürnberg als Sekretär an die Hand gehen.

Auf keinem Vereinstag trat das Bestreben der verschiedenen bürgerlichen
Parteiführer, entscheidenden Einfluß auf die Vereine zu erlangen, so
deutlich in die Erscheinung als in Stuttgart. Alle fühlten, daß man in
der deutschen Frage einer Entscheidung entgegengehe. Die
Auseinandersetzungen zwischen der Linken und der Rechten wurden immer
lebhafter und gereizter. Die Gegensätze zwischen Preußen auf der einen
und Oesterreich und der Mehrheit der Mittel- und Kleinstaaten auf der
anderen Seite wurden immer schroffer. Die gemeinsame Besetzung der
Herzogtümer Schleswig-Holstein durch österreichische und preußische
Truppen nach der Niederlage der Dänen und deren Abzug aus den beiden
Ländern, die jetzt in deutschen Besitz übergingen, zeitigte immer neue
Konfliktsfälle. Das deutsche Volk kam allmählich in einen Zustand
hochgradiger Erregung.

Diese Stimmung machte sich auch in den Toasten auf dem Bankett des
Vereinstags bemerkbar, das am Sonntag abend im Sitzungslokal des
Vereinstags, der Liederhalle, stattfand, in demselben Lokal, in dem 42
Jahre später, August 1907, der erste internationale Arbeiterkongreß auf
deutschem Boden tagte. Während die Hölder und Genossen in verblümter
Weise sich für die preußische Spitze begeisterten, traten die Demokraten
und speziell deren Wortführer Karl Mayer-Stuttgart für eine radikale
Lösung ein, die wir Jungen, ohne daß das Wort ausgesprochen wurde, als
ein Eintreten für die deutsche Republik ansahen. Karl Mayer, damals der
gefeiertste Volksredner Württembergs, dem die Natur eine Stentorstimme
verliehen hatte, saß an der Tafel mir schräg gegenüber. Er erhob sich,
um mit aller Kraft seiner Lungen und in packenden Bildern gegen den
reaktionären Bundestag in Frankfurt loszudonnern, der von seinem Platze
müsse, um eine demokratische Einheit Deutschlands zu ermöglichen. Im
Eifer der Rede streifte er Rock- und Hemdärmel in die Höhe und zeigte
ein paar muskulöse Arme, mit deren Gesten er seine Rede begleitete. Ab
und zu schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß Gläser und Teller
tanzten. Natürlich fand sein Hoch auf ein freies, demokratisches
Deutschland donnernden Beifall. Auch die Stadt Stuttgart hatte sich in
Unkosten gestürzt und spendete uns am Montag nachmittag bei einem
Spaziergang auf das damalige Schützenhaus einen Trunk schwäbischen
Weines mit Vesperbrot.

Bei Streit in Koburg erschien um jene Zeit eine Schrift, betitelt
„Deutschlands Befreiung aus tiefster Schmach“, in der offen für die
deutsche Republik Propaganda gemacht wurde, was selbstverständlich nicht
ohne Revolution möglich gewesen wäre. Aber der Revolutionsgedanke
schreckte damals nicht. Die Reminiszenzen aus den Revolutionsjahren
waren durch Reden und Schriften von Beteiligten und Unbeteiligten
wieder lebendig geworden. Daß eine siegreiche Revolution möglich sei,
daran glaubte mit Ausnahme von Ostelbien fast ganz Deutschland. Ich
führte schon an, wie Bismarck und Miquel mit dieser Möglichkeit sich
abfanden. Aber auch des letzteren Freund, Herr v. Bennigsen, schrieb
schon im Jahre 1850 an seine Mutter einen Brief, in dem er nach
Erörterung der damaligen Lage Schleswig-Holsteins also fortfuhr:

„Solange die nationale Partei nicht in Preußen regiert — und noch in
diesem Augenblick schwanken die Führer, ob sie der jetzigen Regierung
überhaupt eine ernsthafte, auf deren Sturz berechnete Opposition für den
nächsten Landtag machen sollen! —, ist der heldenmütige Kampf dieses
deutschen Landes vergebens. Ich fürchte nur zu bestimmt, daß wir, um das
Maß der Schande und Erbitterung übervoll zu machen, für einige Jahre
wenigstens die gänzliche Unterwerfung Schleswig-Holsteins erleben
werden. Die Ruhe unserer europäischen Königsgeschlechter über so viel
Gräbern soll aber nicht durch böse Erinnerungen und Träume allein
gestört werden. In höchstens einem Dutzend Jahren wird es ja wohl wieder
gewittern und dreinschlagen, und von _uns Jüngeren schwören täglich
mehrere im stillen, daß man, einerlei, ob Konstitutioneller oder
Radikaler, durch elende Versprechungen im Augenblick der Furcht sich
nicht wieder täuschen lassen will. Man wird die ganze Gesellschaft nach
Amerika schicken und nachher sich zu einigen suchen, ob man sich einen
König oder Präsidenten setzen will._ Und das werden die Anhänger v.
Gagern und Dahlmann schwerlich wieder hindern, noch auch zu lindern Luft
haben....“

Zwölf Jahre später gehörte der Schreiber dieses Briefes, als Präsident
des Deutschen Nationalvereins, zu den einflußreichsten Personen
Deutschlands, ja er war vielleicht die einflußreichste. Aber Herr v.
Bennigsen befolgte jetzt dieselbe Politik, die er einst an den Gagern
und Dahlmann verurteilt hatte. Der Gedanke an eine Revolution gegen das
Bismarcksche Preußen war ihm unfaßbar. Und wie er gegen Ende seines
Lebens über die Revolution von 1848 und 1849 dachte, ging aus der
aufregenden Debatte hervor, die ich zum fünfzigsten Jahrestag des 18.
März, am 18. März 1898, absichtlich im deutschen Reichstag hervorgerufen
hatte, und wobei Herr v. Bennigsen mein Hauptgegner war.

Wie Lassalle, Marx und Engels über eine kommende Revolution in
Deutschland dachten, geht aus dem Briefwechsel zwischen denselben
hervor, den Mehring im Verlag Dietz-Stuttgart erscheinen ließ. Auch der
siegreiche Zug Garibaldis nach Neapel und Sizilien (1860), der seinem
Urheber eine ungeheure Popularität in der ganzen Kulturwelt eintrug,
hatte den Glauben an die Macht revolutionärer Massen befestigt.

Daß man selbst in sehr hochstehenden Kreisen Süddeutschlands an die
Wahrscheinlichkeit einer Revolution für eine Einheit Deutschlands
dachte, zeigen die Memoiren des Fürsten Hohenlohe, der, nachdem er
ausgeführt, daß die Zersplitterung Deutschlands auf die Dauer
unerträglich sei, sagt: Hieraus erklärt es sich, daß auch die
friedlichen, konservativsten Leute in Deutschland dahin geführt werden,
zu erklären: wir müssen durch die Revolution zur Einheit kommen, weil
wir auf gesetzlichem Wege nicht das Ziel erreichen können. Und unter dem
23. März 1866 schrieb der Prinz Karl von Bayern an Hohenlohe: Mir dünkt,
eine günstigere Gelegenheit, _ohne Revolution_ (auch im Original
gesperrt) zu einer Bundesreform zu kommen usw.

Wenn man oben so dachte, warum nicht ebenso unten?

       *       *       *       *       *

Die Verhandlungen und Beschlüsse des Stuttgarter Vereinstags über die
Koalitionsfreiheit waren eine Antwort auf die gleichartigen
Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses. Schulze-Delitzsch und
Faucher — letzterer auch ein sogenannter Nationalökonom, der in einer
Leipziger Volksversammlung im Jahre 1864 ernsthaft nachzuweisen
versuchte, die soziale Frage könne am besten gelöst werden, wenn jeder
die doppelte Buchführung verstehe und eine richtig gehende Uhr habe, um
mit der Zeit zu rechnen — hatten beantragt, die §§ 181 und 182 der
Gewerbeordnung von 1845, betreffend die Koalitionsverbote, aufzuheben.
Seltsamerweise hatten sie aber unterlassen, auch die Aufhebung der §§
183 und 184 zu beantragen. Nach § 183 konnte die Bildung von
Verbindungen unter Fabrikarbeitern, Gesellen, Gehilfen oder Lehrlingen
ohne polizeiliche _Erlaubnis_ bestraft werden, an den Stiftern und
Vorstehern der Verbindung mit Geldstrafe bis zu 50 Talern oder Gefängnis
bis zu vier Wochen, an den Mitgliedern mit Geldstrafe bis zu 20 Talern
oder Gefängnis bis zu vierzehn Tagen. Nach § 184 war zu bestrafen das
eigenmächtige Verlassen der Arbeit oder die Entziehung zur Verrichtung
derselben, oder grober Ungehorsam, oder beharrliche Widerspenstigkeit
mit Geldstrafe bis zu 20 Talern oder Gefängnis bis zu vierzehn Tagen. Im
„Sozialdemokrat“ J.B.v. Schweitzers und in den Versammlungen zur Rede
gestellt, ließen die Antragsteller erklären, der § 183 sei bereits seit
fünfzehn Jahren durch die preußische Verfassung aufgehoben und der § 184
habe mit dem Koalitionsrecht nichts zu tun. Diese Auffassung machte auch
in unseren Reihen böses Blut, und die Koburger Arbeiterzeitung, die
immer entschiedener geworden war, griff darauf die Schulze-Delitzsch und
Genossen aufs schärfste an.

Das schwächliche Verhalten der Liberalen in dieser Frage suchte der
konservative Oberdemagoge Geheimrat Wagener geschickt auszunutzen, indem
er die Liberalen übertrumpfte. Er beantragte, den Kommissionsantrag über
den Antrag der Liberalen — weil seine Fassung Zweifel zuließen —
abzulehnen und die Regierung aufzufordern, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, durch welchen nicht allein sämtliche das Vereinsrecht der
Arbeiter beschränkenden Ausnahmebestimmungen der Gewerbeordnung
aufgehoben, sondern in Verbindung damit auch solche Organisationen
angebahnt respektive zur Ausführung gebracht würden, welche es
ermöglichten, daß der Arbeiterstand die ihm gebührende Stellung
innerhalb des Staates einnehmen und seine eigenen Interessen selbständig
zu handhaben und zu vertreten vermöge. Also Zwangsgewerkvereine,
begründet durch das Gesetz.

So die Konservativen zu jener Zeit, als es galt, der liberalen
Bourgeoisie das Wasser abzugraben.

Eine andere Angelegenheit, in der die beiden Arbeiterparteien Hand in
Hand gingen, war das Kölner Abgeordnetenfest und sein Verlauf. Die
Kölner Fortschrittler hatten die fortschrittlichen preußischen
Abgeordneten, das heißt also die sehr große Mehrheit der Zweiten Kammer
nach Köln zu einem Reformfest für den 22. Juli 1865 geladen, dessen
Glanzpunkt ein Bankett im Gürzenich sein sollte. Herr v. Bismarck ließ
die Abhaltung des Festes verbieten, und der Kölner Oberbürgermeister
Bachem war schwach genug, die Erlaubnis zur Benutzung des
Gürzenichsaales zurückzuziehen. Der Vorgang machte gewaltiges Aufsehen.
Als die Abgeordneten nach Köln kamen, ließ Herr v. Bismarck ihre
Zusammenkünfte durch Polizei und Militär auseinandertreiben. Man dampfte
darauf nach Oberlahnstein, um dort auf kleinstaatlich nassauischem Boden
zu tun, was im Staate des deutschen Berufs, in Preußen nicht möglich
war. Aber auch hier schritt Militär ein und machte eine Versammlung
unmöglich.

Gegen diesen Gewaltstreich Bismarcks erhoben sich überall Proteste. In
Berlin, in Leipzig und anderwärts gingen Lassalleaner und
Arbeitervereinler zusammen, um gegen die Kölner Vorgänge nachdrücklichst
zu protestieren und die volle Freiheit der Vereine und Versammlungen zu
verlangen. Gleich dem „Sozialdemokrat“ zog die Koburger
„Arbeiterzeitung“ gegen die fortschrittlichen Abgeordneten höhnend und
spottend zu Felde, die sich nichts weniger als tapfer in dieser Sache
benommen hatten.

Diese Vorgänge veranlaßten einen Briefwechsel zwischen Sonnemann und Fr.
Alb. Lange. Letzterer war anläßlich des Festes in Köln gewesen.
Sonnemann beklagte sich, daß er (Lange) ihm keinen Bericht über die
Kölner Vorgänge geschickt, und meinte, die Sozialdemokraten spielten va
banque, sie würden aber das Spiel verlieren. Er sende ihm beiliegend
einen Brief über die Kölner Vorgänge von Bandow, der leider in dieser
wichtigen Zeit krank sei, er möge denselben nach Kenntnisnahme an mich
senden, ich solle ihn dann an ihn (Sonnemann) zurückgelangen lassen. Was
der Brief enthielt, ist mir nicht mehr erinnerlich. Lange antwortete am
31. Juli 1865:

„Was die Versammlung bei Lantsch (Arbeiterversammlung in Köln)
betrifft, so hielt ich es nicht für zweckmäßig, viel davon zu sagen. Die
Stimmung an sich war vortrefflich. Ich will aber ebensowenig wie Sie die
Verantwortung übernehmen, in der jetzigen Zeit der Gärung auf eigene
Faust Parole auszugeben, und das wäre bei einem Bericht über diese
Versammlung mit ihren interessanten Folgen nötig gewesen....

Ich beurteile die Zeit ganz ähnlich wie Sie, als eine äußerst kritische.
Uebrigens glaube ich nicht, daß Schweitzer völlig va banque spielt. Dann
wäre das Spiel schon verloren. Es fällt den Arbeitern jetzt, namentlich
im Rheinland, gar nicht ein, sich für das Prinzip zu erheben. Ich
glaube, man geht darauf aus, den ‚Sozialdemokrat‘ ehrenvoll totschlagen
zu lassen und dann, gestützt auf die öffentlich angebahnte Organisation,
das System der geheimen Gesellschaften einzuführen. (?! A.B.) Durch den
Glanz des Abgeordnetenfestes lasse ich mich nicht blenden. Ich habe
niemals deutlicher gefühlt, daß es mit der bisherigen Fortschrittspartei
vorbei ist, aber unsere Zeit ist noch nicht gekommen.

Beobachten und die Fäden in der Hand behalten, Verbindungen erweitern,
Freunde sammeln; aber keine Parole ausgeben. _Ob_ wir, falls es Zeit
dazu ist, _zusammengehen können, wird sich finden_. Lassen Sie uns
einstweilen den Zusammenhang pflegen....

Zurückkommend auf die Haltung unseres Blattes (der Flugblätter) und die
politisch-soziale Krisis, empfehle ich nochmals, den sozialen Teil
ausführlich und interessant, aber objektiv zu halten; _den politischen
Teil aber scharf, so offen gegen die gesamten Fürsten als nur möglich.
Man kann in den Händeln dieser Menschen keine andere Partei ergreifen
als gegen alle, und zwar unveränderlich und gegen diejenigen, welche
momentan liberal flöten, erst recht_.“

In einer Nachschrift schreibt Lange: „Ich sehe soeben, daß der Anfang
meines Briefes unnütz mysteriös ist. Ueber die Versammlung bei Lantsch
sind die Berichte sämtlicher liberaler Blätter total aus der Luft
gegriffen. Es war außer W. Angerstein kein Berichterstatter da. Nach
der Versammlung organisierte sich ein freiwilliger Zug durch die Stadt
zur Begrüßung der Abgeordneten. Vor der Hauptwache Hochrufe auf das
Vereinsrecht usw. Die Bewegung war den Lassalleanern ebenso vollständig
aus der Hand genommen, wie sie den Liberalen quer ging. Das Volk suchte
nach Führern. Es hätte auf einen Wink von Angerstein und mir getan, was
wir wollten.... Die ganze Sache machte sich übrigens ganz von selbst.
Niemand leitete. Man sah aber, was kommen kann, wenn die Regierung so
fortfährt.“

       *       *       *       *       *

In dem zitierten Schreiben deutet Lange an, daß es später zu einer
Spaltung im ständigen Ausschuß und zwischen den Vereinen kommen dürfte.
Darüber sprach er sich noch deutlicher aus in einem Brief vom 10.
Februar 1865 an Sonnemann. Darin hieß es:

„Meine Stellung zur Arbeiterfrage anlangend, hatte ich anfangs den Plan,
mein Verbleiben im Ausschuß von der Aufnahme meines Schriftchens (Die
Arbeiterfrage) abhängig zu machen; es scheint mir jetzt jedoch in jeder
Beziehung zweckmäßiger, meine Stellung zu behaupten, auch falls ich mit
der Mehrheit in etwas schärfere Opposition geraten sollte. Die Geister
müssen ja aufeinanderplatzen.“

In den Jahren 1865 und Anfang 1866 schien es eine Zeitlang, als sollten
die streitenden Brüder in der Arbeiterbewegung sich zusammenfinden.
Abgesehen von den schon erwähnten Fällen, in denen Lassalleaner und
Arbeitervereinler gemeinsame Sache machten und gemeinsame Forderungen
erhoben, sprach sich am 17. Juli 1865 eine Versammlung des Maingaues, in
der als Redner vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Lauer und
Welcker aus Frankfurt a.M. auftraten, folgendermaßen aus:

Der Arbeitertag erklärt, daß er im Interesse der guten Sache des
Arbeiterstandes die Spaltung in der Arbeiterbewegung für schädlich und
nachteilig hält, und erklärt sich die aus Mitgliedern der
Arbeiterbildungsvereine des Maingaus und aus Mitgliedern des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins bestehende Versammlung bereit, allen
Schritten zur Vereinigung die Hand zu bieten.

Hauptredner in jener Versammlung war Professor Eckhardt, der seiner Rede
das Thema „Staatshilfe und Selbsthilfe“ zugrunde gelegt hatte. Ein
ähnlicher Versuch zur Einigung, der Mitte Januar 1866 in Leipzig gemacht
wurde, scheiterte; dagegen kam man überein, gemeinsam für die Eroberung
des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zu kämpfen.
Der Hauptredner in dieser Versammlung war Professor Wuttke.

Weiter forderte eine andere Volksversammlung kurz danach in Dresden, bei
deren Einberufung wieder beide Arbeiterparteien beteiligt waren, ein
konstituierendes Parlament auf Grund des allgemeinen Wahlrechts und zu
dessen Schutz und Unterstützung die Einführung der allgemeinen
Volksbewaffnung. Die gleichen Forderungen erhob in Berlin eine große
Volksversammlung unter Bandows Vorsitz.

Zu Weihnachten 1865 wurde infolge eines Aufrufs von Fritzsche ein
Allgemeiner Deutscher Zigarrenarbeiterkongreß nach Leipzig einberufen,
auf dem die Gründung eines Verbandes für ganz Deutschland beschlossen
wurde. Im folgenden Frühjahr erschien als Organ des Verbandes „Der
Botschafter“, dessen Redakteur Fritzsche wurde. Damit war die erste
zentralorganisierte Gewerkschaft Deutschlands gegründet. An der Spitze
stand ein dreiköpfiges Direktorium, dessen Vorsitzender Fritzsche war.
Lokale Gewerkschaften bestanden um diese Zeit bereits in erheblicher
Anzahl, sowohl in Leipzig wie anderwärts. Auch wurde bereits im Sommer
1864 in Zwickau ein Bergknappenverein gegründet, dessen Mitglieder sich
über das Zwickau-Lugau-Stollberger Kohlenrevier verbreiteten. Es war
dieses die erste deutsche moderne Bergarbeiterorganisation. Der Gründer
und Leiter derselben war ein gemaßregelter Bergmann mit Namen Dinter,
dessen Bestrebungen von Motteler, W. Stolle und mir, später auch von
Liebknecht, lebhaft unterstützt wurden.

Auf einer Landesversammlung im Juli in Glauchau hatte ich den Vorschlag
gemacht, dem Ministerium zum Trotz einen Gauverband zu gründen, und es
auf dessen Unterdrückung und unsere Bestrafung ankommen zu lassen. Für
diesen Vorschlag war aber keine Stimmung vorhanden. So zog ich meinen
Antrag zurück. Statt dessen wurde beschlossen, einen Verein zur
Förderung und Unterstützung der geistigen und materiellen Interessen der
Arbeitervereine zu gründen, dessen Vorsitzender ich wurde. Beschlossen
wurde weiter, daß jedes Mitglied pro Jahr einen Groschen Beitrag leisten
solle. Der neuen Verbindung traten 29 Vereine mit 4600 Mitgliedern bei.
Dieser Vereinigung legten die Behörden kein Hindernis in den Weg.

Als ich zwanzig Jahre später als Mitglied des sächsischen Landtags dem
Nachfolger des Herrn v. Beust, Herrn v. Nostitz-Wallwitz, in der
schärfsten Weise zu Leibe rückte wegen der schamlosen Auslegung, die das
sächsische Vereins- und Versammlungsgesetz unter ihm gegen uns fand, und
dabei erklärte, daß gegenüber seinem Regiment das Regiment des Herrn v.
Beust noch ein Ausbund von Liberalismus gewesen sei, beeilte sich Herr
v. Beust, diesen Ausspruch zu seiner Rechtfertigung in seine Memoiren
aufzunehmen. Er hatte in gewissen Grenzen ein Recht dazu. Was nachher in
Sachsen jahrzehntelang an Schikanen und kühnsten Auslegungen auf Grund
des Vereins- und Versammlungsgesetzes geleistet wurde, überstieg alle
Begriffe. Erklärten doch vom Ministertisch sowohl Herr v.
Nostitz-Wallwitz wie sein Nachfolger Herr v. Metzsch wiederholt, die
Sozialdemokratie müsse mit anderem Maße gemessen werden wie jede andere
Partei. Das hieß also, an Stelle des Rechts tritt die Willkür der
Beamten. Und diese haben denn auch an Willkür das Menschenmögliche
geleistet.

Im August 1865 hatte Bismarck die Koburger Arbeiterzeitung für Preußen
verboten. Unter den Personen, die seinem Regiment ebenfalls zum Opfer
fielen, weil sie seiner Politik Widerstand entgegensetzten und den
Arbeitern ihren wahren Charakter denunzierten, stand an erster Stelle
Liebknecht.



Wilhelm Liebknecht.


Liebknecht und ebenso Bernhard Becker wurden im Juli 1865 aus Preußen
ausgewiesen. Liebknecht war nach dreizehnjährigem Exil im Sommer 1862
nach Berlin zurückgekehrt. Die Amnestie von 1860 ermöglichte ihm dieses.
Er folgte dem Rufe des alten Revolutionärs August Braß, den er gleich
Engels in der Schweiz kennen gelernt, und der, wie bereits mitgeteilt,
im Sommer 1862 in Berlin ein großdeutsch demokratisches Blatt, die
„Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ gegründet hatte. Liebknecht war neben
Robert Schweichel für die Redaktion gewonnen worden, und zwar Liebknecht
für die auswärtige Politik. In den Charakter von Braß setzte keiner von
beiden den geringsten Zweifel, hatte er doch zu den radikalsten
Revolutionären gehört. Als aber Ende September 1862 Bismarck das
Ministerium übernahm, entdeckten beide bald nachher, daß etwas nicht
stimmte. Der Verdacht bestätigte sich, als eines Tages der Zufall
wollte, daß Schweichel von einem Boten des Ministeriums ein Schreiben
für Braß in Empfang nahm, dessen Inhalt, wie der Bote bemerkte, sofort
veröffentlicht werden sollte. Beide kündigten und traten aus der
Redaktion. Wie Liebknecht gelegentlich öffentlich erklärte, hat ihm
Lassalle noch ein Jahr nach seinem Austritt aus der „Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung“ einen Vorwurf daraus gemacht, daß er seine Stellung
aufgab. Liebknecht, der damals Frau und zwei Kinder besaß, die er von
London nach Berlin hatte kommen lassen, erwarb sich jetzt den Unterhalt
mit Korrespondenzen für verschiedene Zeitungen. Als ich ihn kennen
lernte, schrieb er unter anderen für den „Oberrheinischen Kurier“ in
Freiburg in Baden, für die Rechbauersche demokratische „Tagespost“ in
Graz und das „Deutsche Wochenblatt“ in Mannheim, von dem er aber wohl
kaum Honorar bezog. Später schrieb er auch einige Jahre für die
„Frankfurter Zeitung“. Oeffentliche Vorträge hielt er namentlich im
Berliner Buchdrucker- und im Schneiderverein, aber auch in Arbeiter-
und Volksversammlungen, in denen er die Bismarcksche Politik bekämpfte,
als deren Schildknappen er J.B.v. Schweitzer, den Redakteur des
„Sozialdemokrat“, ansah.

Nach seiner Ausweisung reiste er zunächst nach Hannover, wo Schweichel
am dortigen „Anzeiger“ eine Redakteurstelle gefunden hatte. Da aber hier
sich für ihn nichts fand, kam er nach Leipzig, woselbst er eines Tages,
Anfang August, durch Dr. Eras, der damals Redakteur der „Mitteldeutschen
Volkszeitung“ war, bei mir eingeführt wurde. Liebknecht, dessen Wirken
und Ausweisung ich durch die Zeitungen kannte, interessierte mich
natürlich sehr lebhaft. Er stand damals im vierzigsten Lebensjahr, besaß
aber das Feuer und die Lebendigkeit eines Zwanzigjährigen. Sofort nach
der Begrüßung kamen wir in ein politisches Gespräch, in dem er mit einer
Vehemenz und Rücksichtslosigkeit die Fortschrittspartei und namentlich
ihre Führer angriff und charakterisierte, daß ich, der ich damals doch
auch keine Heiligen mehr in denselben sah, ganz betroffen war. Indes er
war ein erstklassiger Mensch, und sein schroffes Wesen verhinderte
nicht, daß wir uns bald befreundeten.

Liebknecht kam uns in Sachsen wie gerufen. Im Juli hatten wir auf der
Landeskonferenz in Glauchau die Sendung von Reisepredigern beschlossen.
Das war aber leichter beschlossen als durchgeführt, denn es fehlten die
passenden Persönlichkeiten, deren Lebensstellung eine solche Tätigkeit
erlaubte. Liebknecht stellte sich für diese Vortragsreisen bereitwillig
zur Verfügung. Auch im Arbeiterbildungsverein war er als Vortragender
willkommen, und bald waren seine Vorträge die besuchtesten von allen.
Weiter übernahm er im Arbeiterbildungsverein den Unterricht in der
englischen und französischen Sprache. So erlangte er allmählich eine
allerdings sehr bescheidene Existenz. Dennoch war er gezwungen, was ich
später erfuhr, manches gute Buch zum Antiquar zu tragen. Seine Lage
wurde dadurch noch verschlimmert, daß seine (erste) Frau brustkrank war
und einer kräftigen Pflege bedurft hätte. Aeußerlich sah man Liebknecht
seine Sorgen nicht an, wer ihn sah und hörte, mußte glauben, er befinde
sich in zufriedenstellenden Verhältnissen.

Die erste Agitationstour unternahm er ins untere Erzgebirge, speziell
in die Arbeiterdörfer des Mülsengrundes, womit er sich den Weg zu seiner
späteren Kandidatur für den norddeutschen Reichstag bahnte. Da auch ich
öfter Agitationsreisen unternahm, und wir von da ab in allen politischen
Fragen meist gemeinsam handelten, wurden unsere Namen immer mehr in der
Oeffentlichkeit genannt, bis wir schließlich dieser gegenüber als zwei
Unzertrennliche erschienen. Das ging so weit, daß, als in der zweiten
Hälfte der siebziger Jahre sich ein Parteigenosse mit mir associerte, ab
und zu Geschäftsbriefe ankamen, die statt der Adresse Ißleib & Bebel die
Namen Liebknecht & Bebel trugen, ein Vorgang, der jedesmal unsere
Heiterkeit erregte.

Ich habe Liebknecht in diesen Blättern noch öfter zu erwähnen, aber eine
Beschreibung seines Lebenslaufs kann ich hier nicht geben. Wer sich für
denselben interessiert, findet das Nähere in dem Buch „Der Leipziger
Hochverratsprozeß gegen Liebknecht, Bebel und Hepner“ und in der Schrift
von Kurt Eisner „Wilhelm Liebknecht“. Beide Publikationen sind in der
Buchhandlung Vorwärts erschienen.

Liebknechts echte Kampfnatur wurde von einem unerschütterlichen
Optimismus getragen, ohne den sich kein großes Ziel erreichen läßt. Kein
noch so harter Schlag, ob er ihn persönlich oder die Partei traf, konnte
ihn nur einen Augenblick mutlos machen oder aus der Fassung bringen.
Nichts verblüffte ihn, stets wußte er einen Ausweg. Gegen die Angriffe
der Gegner war seine Losung: Auf einen Schelmen anderthalbe. Den Gegnern
gegenüber schroff und rücksichtslos, war er den Freunden und Genossen
gegenüber allezeit ein guter Kamerad, der vorhandene Gegensätze
auszugleichen suchte.

In seinem Privatleben war Liebknecht ein sorgender Ehemann und
Familienvater, der mit großer Liebe an den Seinen hing. Auch war er ein
großer Naturfreund. Ein paar schöne Bäume in einer sonst reizlosen
Gegend konnten ihn enthusiasmieren und verleiten, die Gegend schön zu
finden. In seinen Bedürfnissen war er einfach und anspruchslos. Eine
vorzügliche Suppe, die ihm meine junge Frau kurz nach unserer
Verheiratung, Frühjahr 1866, eines Tages vorsetzte, begeisterte ihn so,
daß er ihr diese sein Leben lang nicht vergaß. Ein gutes Glas Bier oder
ein gutes Glas Wein und eine gute Zigarre liebte er, aber größere
Aufwendungen machte er dafür nicht. Hatte er mal ein neues
Kleidungsstück an, was nicht häufig vorkam, und hatte ich das nicht
sofort wahrgenommen und meine Anerkennung darüber ausgesprochen, so
konnte ich sicher sein, daß er, ehe viele Minuten verflossen waren, mich
darauf aufmerksam machte und mein Urteil verlangte. Er war ein Mann von
Eisen mit einem Kindergemüt. Als Liebknecht am 7. August 1900 starb,
waren es auf den Tag fünfunddreißig Jahre, daß wir unsere erste
Bekanntschaft gemacht hatten.

In seiner Parteitätigkeit liebte es Liebknecht, fertige Tatsachen zu
schaffen, wenn er annahm, daß ein Plan von ihm Widerstand finden würde.
Unter dieser Eigenschaft litt ich anfangs schwer, denn ich bekam in der
Regel die Suppe auszuessen, die er eingebrockt hatte. Bei seinem Mangel
an praktischem Geschick mußten andere die Durchführung von ihm
getroffener Maßnahmen übernehmen. Endlich aber fand ich den Mut, mich
von dem Einfluß seines apodiktischen Wesens zu befreien, und nun
gerieten wir manchmal hart aneinander, ohne daß die Oeffentlichkeit es
merkte und ohne daß unser Verhältnis dadurch dauernd getrübt worden
wäre.

Man hat viel geschrieben über den Einfluß, den Liebknecht auf mich
gehabt habe; man behauptete zum Beispiel, daß nur seinem Einfluß es zu
danken gewesen sei, daß ich Sozialist wurde. In einer bei Langen in
München im Jahre 1908 erschienenen Broschüre wird weiter gesagt,
Liebknecht habe mich zum Marxisten gemacht, als welchen ich mich im
September 1868 auf dem Nürnberger Vereinstag bekannt habe. Liebknecht
hätte hiernach volle drei Jahre gebraucht, um aus dem Saulus einen
Paulus zu machen.

Liebknecht war vierzehn Jahre älter als ich, er hatte also, als wir uns
kennen lernten, eine lange politische Erfahrung vor mir voraus.
Liebknecht war ein wissenschaftlich gebildeter Mann, der fleißig
studiert hatte; diese wissenschaftliche Bildung fehlte mir. Liebknecht
war endlich in England zwölf Jahre lang mit Männern wie Marx und Engels
in intimem Verkehr gestanden und hatte dabei viel gelernt, ein Umgang,
der mir ebenfalls fehlte. Daß Liebknecht unter solchen Umständen
erheblichen Einfluß auf mich ausüben mußte, war ganz selbstverständlich.
Andernfalls wäre es eine Blamage für ihn gewesen, daß er diesen Einfluß
nicht auszuüben verstand, oder eine Blamage für mich, daß ich aus dem
Umgang mit ihm nichts zu profitieren wußte. Einer meiner Bekannten aus
jener Zeit schrieb vor einigen Jahren in der „Leipziger Volkszeitung“,
er habe (1865) gehört, wie ich im kleinen Kreise von meiner
Bekanntschaft mit Liebknecht erzählt und dazu bemerkt hätte:
„Donnerwetter, von dem kann man was lernen.“ Das dürfte stimmen. Aber
Sozialist wäre ich auch ohne ihn geworden, denn dazu war ich auf dem
Wege, als ich ihn kennen lernte. Im beständigen Kampfe mit den
Lassalleanern, mußte ich Lassalles Schriften lesen, um zu wissen, was
sie wollten, und damit vollzog sich in Bälde eine Wandlung in mir. Die
Haltung der liberalen Wortführer in und außerhalb des Parlamentes hatte
allmählich auch bei uns Unzufriedenheit erregt, und ihr Nimbus war im
Schwinden begriffen. Besonders war es die Haltung der liberalen
Wortführer in den Arbeiterfragen, die Mißstimmung erzeugte. Mein Umgang
mit Liebknecht hat meine Mauserung zum Sozialisten beschleunigt. Dieses
Verdienst hat er. Aehnlich ist es mit der Behauptung, Liebknecht habe
mich zum Marxisten gemacht. Ich habe in jenen Jahren viele sehr gute
Vorträge und Reden von ihm gehört. Er sprach über das englische
Gewerkvereinswesen, die englischen und französischen Revolutionen, die
deutschen Volksbewegungen, über politische Tagesfragen usw. Kam er auf
Marx und Lassalle zu sprechen, dann stets polemisch, längere
theoretische Auseinandersetzungen hörte ich meiner Erinnerung nach nicht
von ihm. Zu privaten Unterweisungen hatte aber weder er noch ich Zeit,
die Tageskämpfe und was damit zusammenhing ließen uns zu privaten
theoretischen Erörterungen nicht kommen. Auch war Liebknecht nach seiner
ganzen Veranlagung weit mehr großzügiger Politiker als Theoretiker. Die
große Politik war seine Lieblingsbeschäftigung.

Ich bin vielmehr, wie fast alle, die damals Sozialisten wurden, über
Lassalle zu Marx gekommen. Lassalles Schriften waren in unseren Händen,
noch ehe wir eine Schrift von Marx und Engels kannten. Wie ich von
Lassalle beeinflußt worden war, zeigt noch deutlich meine erste
Broschüre „Unsere Ziele“, die Ende 1869 erschien. Gegen Ende 1869 fand
ich aber auch erst auskömmlich die Zeit und Ruhe, den im Spätsommer 1867
erschienenen ersten Band „Das Kapital“ von Marx gründlich zu lesen, und
zwar im Gefängnis. Fünf Jahre früher hatte ich versucht, die 1859
erschienene Schrift von Marx „Zur politischen Oekonomie“ zu studieren,
aber es blieb bei dem Versuch. Ueberarbeit und der Kampf um die Existenz
gewährten mir nicht die nötige Muße, die schwere Schrift geistig zu
verdauen. Das Kommunistische Manifest und die anderen Schriften von Marx
und Engels wurden aber der Partei erst gegen Ende der sechziger und
Anfang der siebziger Jahre bekannt. Die erste Schrift, die mir von Marx
in die Hände kam und die ich mit Genuß las, war seine Inauguraladresse
für die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation. Diese Schrift
lernte ich Anfang 1865 kennen. Ende 1866 trat ich der Internationale
bei.



Zunehmende Verstimmung in den Arbeitervereinen.


Die unerquicklichen öffentlichen Zustände, die den Arbeitern immer mehr
zum Bewußtsein kamen, wirkten naturgemäß auch auf deren Stimmung. Alle
verlangten nach Aenderung. Aber da keine klare und zielbewußte Führung
vorhanden war, zu der man Vertrauen hatte, auch keine mächtige
Organisation bestand, die die Kräfte zusammenfaßte, verpuffte die
Stimmung. Nie verlief resultatloser eine im Kern vortreffliche Bewegung.
Alle Versammlungen waren überfüllt, und wer am schärfsten sprach, war
der Mann des Tages. Diese Stimmung herrschte vor allem im Leipziger
Arbeiterbildungsverein. Gegen Ende Oktober veranlaßte ich Professor
Eckhardt aus Mannheim — der einer der glänzendsten Redner jener Zeit
war —, nachdem er in einer Volksversammlung in Leipzig gesprochen hatte,
auch im Arbeiterbildungsverein einen Vortrag zu halten. In diesem
behandelte er die Stellung des Arbeiters in der damals gegebenen
Situation, namentlich in bezug auf seine sozialen Forderungen. In
letzterer Beziehung sprach er sich entschieden für das Eingreifen des
Staates aus. Er hatte auch gegen die Lassallesche Idee der Staatshilfe
nichts einzuwenden, wenn diese von einem demokratischen Staate ausgehe.
Der Redner erntete stürmischen Beifall und fand keinerlei Widerspruch.

Ungeachtet der wiederholten Abweisungen hatten wir uns Ende 1865
abermals an die sächsische Regierung um die Genehmigung eines
Gauverbandes gewendet. Häufiger Austausch der politischen Ansichten war
zum Bedürfnis geworden. Das Ministerium stellte wiederum Bedingungen,
die wir nicht annehmen konnten. Doch beschlossen wir im Vorstand des
Vereins für Förderung der geistigen und materiellen Interessen der
Arbeitervereine, den Vereinen die Entscheidung zu überlassen, und
beriefen eine Landesversammlung für den 28. Januar 1866 nach Zwickau,
deren Tagesordnung wir festsetzten, als gäbe es kein gesetzliches
Hindernis. Danach sollte nach dem Bericht über die Verwaltung die
Antwort des Ministeriums besprochen werden. Weiter sollten beraten
werden: Petitionen für volle Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, für die
Förderung eines freisinnigen Vereinsgesetzes, die Aufhebung der Arbeits-
und Dienstbücher und aller Paßbeschränkungen. Nach diesem sollten die
Anträge der Vereine beraten und die Wahl des Vorstandes vorgenommen
werden. Wegen Erlangung des allgemeinen Wahlrechtes wollten wir uns in
einer Privatbesprechung verständigen.

Unsere Tagesordnung ging dem Leipziger Polizeidirektorium zu weit. Unser
Schriftführer Germann und ich wurden vorgeladen und ersucht, dieselbe zu
ändern, widrigenfalls die Konferenz nicht stattfinden dürfe und die
Vereine für politische erklärt würden, was eine Verbindung unter
denselben unmöglich gemacht hätte. Polizeidirektor in Leipzig war damals
ein Dr. Rüder, ein ehemaliger demokratischer Achtundvierziger, der aber
das Vereins- und Versammlungsgesetz in einer Weise handhabte, daß es
kein Konservativer hätte strenger handhaben können. Wir setzten nunmehr
nur die Besprechung der Ministerialverordnung auf die Tagesordnung,
unterrichteten aber unter der Hand die Vereine, sie möchten sich gut
vertreten lassen, wir würden versuchen, auf der Konferenz durchzusetzen,
was möglich sei. Es waren von 24 Vereinen 31 Vertreter anwesend. Sonntag
vormittag begannen die Verhandlungen. Als ein Vertreter für Werdau den
Antrag stellte, die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit auf die
Tagesordnung zu setzen, widersprach dem der anwesende Polizeikommissar.
Ueber die Verordnung des Ministeriums (Beust) machte ich der Versammlung
den Vorschlag zu erklären:

„In Anbetracht, daß die Verordnung des Ministeriums des Innern den
Arbeitervereinen Sachsens die Gründung eines Gauverbandes nur unter der
Bedingung gestattet, daß dieselben sich nicht mit politischen, sozialen
oder öffentlichen Angelegenheiten befassen, durch diese Beschränkung
aber die Tätigkeit der Vereine auf Null reduziert wird, beschließt die
Versammlung, von der Gründung eines Gauverbandes abzusehen, und überläßt
es jedem Verein, wie er seiner Aufgabe nachkommen will.“

Die Folge jener Zwickauer Vorgänge war, daß das Leipziger
Polizeidirektorium den Arbeiterbildungsverein unter das Vereinsgesetz
stellte, das heißt, ihn von nun an als politischen Verein behandelte.

Große Mißstimmung hatte im Leipziger Arbeiterbildungsverein seit langem
die Haltung der „Berliner Volkszeitung“ erregt, die im Lesezimmer
auslag, und zwar sowohl wegen ihrer undemokratischen Haltung als auch
wegen der Feindseligkeit, mit der sie die weitergehenden
Arbeiterforderungen bekämpfte. In der Generalversammlung des Vereins
(März 1866) stellte ich im Auftrag des Vorstandes den Antrag, die
„Berliner Volkszeitung“ abzuschaffen und dafür die „Rheinische Zeitung“
in Köln zu abonnieren. Der Antrag gab Anlaß zu einer erregten Debatte,
er wurde aber schließlich mit 160 gegen 17 Stimmen angenommen. Dieser
Beschluß führte in der liberalen Presse zu heftigen Angriffen gegen den
Verein und mich persönlich. Man sah mich als den Urheber des Antrags an.

Die im Jahre 1863 in Sachsen eingeführte Gewerbefreiheit setzte voraus,
daß wer sich selbständig machen wollte, erst das Gemeindebürgerrecht
erlangen mußte. Das kostete aber namentlich in den größeren Städten viel
Geld. Es begann nunmehr im Winter von 1865 auf 1866 in Leipzig eine
Bewegung, die auf Beseitigung beziehungsweise Herabsetzung der
Bürgerrechtsgebühren und eine radikale Umgestaltung der sächsischen
Städteordnung abzielte. Liberale Führer standen damals an der Spitze
dieser Bewegung. Ich besuchte ebenfalls die betreffenden Versammlungen
und soll, so wurde mir mehrfach versichert, die besten Reden gehalten
haben. Nachdem ein Programm aufgestellt worden war, wurde ein Komitee
niedergesetzt, dem auch ich angehörte, das die Agitation über ganz
Sachsen in die Wege leiten sollte. Aber unsere Arbeit erwies sich bald
als zwecklos. Als wir im Frühjahr 1866 so weit waren, die Agitation
beginnen zu können, war die Zuspitzung der Gegensätze zwischen Preußen
und Oesterreich und die Erörterungen über die Lösung der deutschen Frage
so weit gediehen, daß sie jedes andere Interesse in den Hintergrund
drängten. Das gleiche Schicksal hatte unsere Agitation für eine
Umgestaltung der sächsischen Gewerbeordnung. Dagegen traten jetzt die
politischen Forderungen in den Vordergrund.

Den 25. und 26. März fanden hierfür mehrere Versammlungen in Dresden
statt, zu denen ich von Leipzig delegiert wurde, auf deren Tagesordnung
auch die Einigungsfrage stand. Ich sprach mich als Delegierter für
Leipzig für ein gemeinsames Zusammengehen aus, dagegen machte Vahlteich
den Fehler, daß er die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins scharf angriff und mit Vorwürfen überhäufte, was einen
Sturm der Entrüstung hervorrief. Vahlteich konnte die ihm als einstigem
Sekretär Lassalles im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein widerfahrene
Behandlung nicht vergessen — er war auf Antrag Lassalles, der keinen
Widerspruch vertragen konnte, ausgestoßen worden —, und so schlug er
auf den Verein los, wo er immer dazu Gelegenheit fand. Dennoch kam es
nach Schluß jener Versammlungen zu einer gemeinsamen Konferenz, an der
die Arbeiterbildungsvereine Leipzig, Dresden, Chemnitz, Glauchau und
Görlitz, die Mitgliedschaften des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
zu Dresden, Plauenscher Grund, Chemnitz und Glauchau, der
Altgesellenverein und die Typographia zu Dresden durch 20 Delegierte
teilnahmen. Man beschloß gemeinsame Agitation für das allgemeine
Wahlrecht, für ein demokratisches Vereins- und Versammlungsrecht, für
Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Aufhebung der Paßbeschränkungen,
Einführung einer Schulreform, Erhaltung der Schulen durch den Staat,
Regelung der Lohnfrage, der Kranken- und Unterstützungskassen- und der
Assoziationsfrage. Die Anwesenden konstituierten sich als Komitee.
Försterling wurde dessen Vorsitzender.

Bei der Einberufung von Versammlungen beteiligten sich jetzt alle in
Dresden bestehenden Arbeiterorganisationen, einschließlich des
Buchdruckergehilfenverbandes. Man handelte, als gäbe es kein sächsisches
Vereinsgesetz mehr, das die Verbindung von Vereinen für politische
Zwecke verbot. Auch wurde von allen Seiten ein dauerndes Zusammengehen
der Arbeiterorganisationen verlangt. Die Parlamentsfrage wurde von jetzt
ab Gegenstand lebhaftester Agitation in den Arbeiterkreisen. Wir
forderten ein konstituierendes Parlament für Gesamtdeutschland und die
Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung zum Schutze des Parlaments,
eine Forderung, die damals in den demokratischen Kreisen als
selbstverständlich galt, weil ohne einen solchen Schutz das Parlament
Gegenstand eines Staatsstreichs werden könne.

Dagegen faßte eine Versammlung, die am 7. Mai in Dresden tagte und von
2000 Personen besucht war, Beschlüsse, die teilweise recht seltsam
lauteten. Darin hieß es:

1. Wir verdammen jede Politik, welche die Kraft des Volkes lähmt und ihm
nicht die Garantien seiner Freiheit und seines Wohlstandes gibt. 2. Wir
erklären die Abtretung von nur einem Fußbreit deutschen Landes als
Verrat am Vaterland. 3. Wir verlangen, daß Seine Majestät der König und
die Regierung ihren Pflichten gegen das Vaterland und das Volk
nachkommen, und daß deshalb diejenigen Männer, welche diesen Pflichten
entgegen die Energie des Widerstandes lähmen, durch solche ersetzt
werden, welche energisch und im volkstümlichen Sinne handeln. 4. Wir
verlangen, daß die Interessenherrschaft, deren landesverderbliche
Resultate jetzt offen zutage treten, durch Wiederherstellung des
allgemeinen, gleichen und direkten Stimmrechtes mit geheimer Abstimmung
und unbeschränkter Wählbarkeit ersetzt wird. 5. Wir verlangen, daß die
Regierung Seiner Majestät den Entschluß kund gebe, auf Grund der
Bundesbeschlüsse vom 30. März und 9. April 1848 das Parlament
einzuberufen und in die Lösung der deutschen Verfassungsfrage im Sinne
der im Februar 1849 der deutschen Nationalversammlung ausgesprochenen
Geneigtheit einzutreten. 6. Wir verlangen sofortige Wiederherstellung
der deutschen Grundrechte und allgemeine Volksbewaffnung.

Es wurde alsdann eine Deputation gewählt, zu der Försterling, Knöfel und
Rechtsanwalt Schraps gehörten, die dem König die Wünsche der
Versammlung vortragen sollten. Selbstverständlich wurde der Empfang
dieser Deputation abgelehnt.

Schließlich mußte wohl oder übel auch die sächsische Regierung, gedrängt
durch die Stimmung im Lande und den mittlerweile einberufenen Landtag,
Stellung zur Bundesreformfrage nehmen. Herr v. Beust, der bisher
Anhänger des unmöglichen österreichischen Reformprojektes gewesen war
und auch der Triasidee warm das Wort geredet hatte, kam jetzt ins
Gedränge. Von der Deputation der Zweiten Kammer des Landtags befragt,
wie nunmehr die Regierung zu dem österreichischen Reformprojekt stehe,
erklärte er: es sei nicht ihre Absicht, auf das Delegiertenprojekt
zurückzukommen; sie sei bereit, für eine Bundesreform zu wirken und für
ein Parlament, das auf Grund des Wahlgesetzes von 1849 zu wählen sei.
Gegenüber dem preußischen Reformentwurf machte er allerlei unklare
Vorbehalte. Die Deputation der Zweiten Kammer beantragte im Verein mit
der Deputation der Ersten Kammer, an die Regierung den Antrag zu
richten:

„Die Regierung möge mit aller Energie dahin wirken, daß die Anordnung
der Wahlen zum deutschen Parlament auf Grund allgemeiner und direkter
Wahl, womöglich nach dem Reichswahlgesetz vom 27. März 1849, in ganz
Deutschland noch im Laufe dieses Monats (Juni) erfolge und die
Einberufung des Parlaments in möglichst kurzer Frist geschehe.“

Aber die Kugel war bereits im Rollen und lief nach einer anderen
Richtung, als man erwartete.



Die Katastrophe von 1866.


Es ist für die Beurteilung der kommenden Ereignisse und unsere Stellung
zu denselben notwendig, eine summarische Uebersicht der Vorgänge zu
geben, die schließlich die langen diplomatischen Kämpfe, die Oesterreich
und Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland führten, auf dem
Schlachtfeld zur Entscheidung brachten.

Durch den Tod des Dänenkönigs Friedrich VII., November 1863, tauchte von
neuem die schleswig-holsteinsche Frage auf, da mit dem Tode des Königs
die Oldenburger Linie erloschen war. Den neuen Dänenkönig Christian IX.
erkannten die Schleswig-Holsteiner als erbberechtigten Herzog nicht an,
sondern entschieden sich für den Prinzen Friedrich von Augustenburg, der
denn auch seinen Regierungsantritt als Herzog Friedrich VIII.
verkündete. Damit war die Zugehörigkeit der beiden Herzogtümer zu
Deutschland ausgesprochen, was allgemein große Genugtuung hervorrief.
Dänemark widerstand dieser Lösung. Der Bundestag mußte sich also für die
Bundesexekution gegen Dänemark entscheiden, deren Ausführung er Sachsen
und Hannover übertrug. Aber sie paßte nicht in Bismarcks Pläne. Er ließ
durch seine Kronjuristen nachweisen, daß der Augustenburger nicht
erbberechtigt sei, eine Entscheidung, die die öffentliche Meinung gegen
die Bismarcksche Politik aufs äußerste erregte. Man sah in Bismarck, dem
Manne des preußischen Verfassungsbruchs, nicht denjenigen, der die Frage
im Sinne der Bevölkerung von Schleswig-Holstein lösen würde, man
erinnerte sich auch wieder, daß es Preußen war, das an dem schmählichen
Ausgang des ersten Schleswig-Holsteinschen Krieges gegen Dänemark, 1851,
die Hauptschuld trug.

Der Vorstand des Nationalvereins fand daher lebhafte Zustimmung, als er
bereits im Spätherbst 1863 in einem Aufruf, unterzeichnet von Rudolf v.
Bennigsen als Präsident, das Volk zur Selbsthilfe aufrief. In dem
betreffenden Aufruf hieß es: „Der Nationalverein fordert alle
Gemeinden, Korporationen, Vereine, Genossenschaften, fordert alle
Vaterlandsfreunde, die sich mit ihm zu dem großen Werke verbinden
wollen, auf, ungesäumt Geld herbeizuschaffen — und Mannschaften, Waffen
und alle Mittel bereitzuhalten, die zur Befreiung unserer Brüder in
Schleswig-Holstein erforderlich sein werden.“

Dieser Aufruf verstieß zweifellos gegen eine Reihe Gesetze in den
Einzelstaaten, aber kein öffentlicher Ankläger rührte sich. Die
Volksstimmung sympathisierte mit diesem Vorgehen.

Kurz nachher veröffentlichte der Ausschuß des Nationalvereins für
Schleswig-Holstein einen Aufruf, in dem es hieß:

„Wohlan! rüsten wir uns, auf daß, wenn der Augenblick zum Handeln
gekommen ist, die deutsche Jugend kampfbereit zu den Waffen greifen
kann.... Die vielleicht nur sehr kurze Zwischenzeit möge sie benutzen
zur Uebung in den Waffen und zur taktischen Ausbildung.“

Man sieht, wie damals die liberalen Wortführer die Durchführung der
Volksbewaffnung in kurzer Zeit für möglich hielten. Wehe dem
Sozialdemokraten, der heute einen ähnlichen Aufruf erlassen wollte. Das
ist der Fortschritt seit jener Zeit! —

Hier möchte ich einfügen, daß mit Beginn der sechziger Jahre neben der
massenhaften Gründung von Arbeitervereinen auch die massenhafte Gründung
von Turn- und Schützenvereinen vorgenommen wurde, die in der nationalen
Bewegung jener Tage eine große Rolle spielten. Bismarck sah diesem
Treiben sehr mißmutig zu. Die großen Feste, die jene Vereinigungen für
ganz Deutschland abwechselnd veranstalteten, waren Massenvereinigungen,
die sich in der Hauptsache mit der deutschen Frage beschäftigten. In
Leipzig fand im August 1863 das allgemeine deutsche Turnfest statt, dem
selbst Herr v. Beust seine Reverenz machte. Aber während dieser eine
patriotische Rede auf dem Turnplatz hielt, verbot die Leipziger Polizei
den Verkauf der Reichsverfassungsurkunde von 1849 an öffentlichen Orten.
Ich nahm ebenfalls insofern an jenem Feste teil, als unsere
Sängerabteilung, deren Vorsitzender ich nach dem Austritt Fritzsches
geworden war, mit den übrigen Gesangvereinen Leipzigs die
Gesangsaufführungen in der Festhalle ausführte. Im Oktober desselben
Jahres fand auch die fünfzigjährige Feier der Schlacht bei Leipzig
statt. Dieses Fest war in seiner Art noch weit großartiger als das
Turnfest. Es wurde ebenfalls zu großen politischen Demonstrationen
benutzt. Ich wirkte hier gleichfalls als Angehöriger unserer Sängerschar
mit.

Es wurden von jetzt ab in ganz Deutschland Versammlungen zugunsten der
Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins veranstaltet. In Leipzig beschloß
eine Arbeiterversammlung, in der alle Richtungen vertreten waren: „sie
betrachte es als die Pflicht der deutschen Arbeiter, der Ehre, dem
Rechte und der Freiheit des Vaterlandes in allen Fällen, wo diese
bedroht seien, ihren Arm zur Verfügung zu stellen“. Im gleichen Sinne
wurde in anderen Städten resolviert. Der in Frankfurt a. M. Ende 1863
abgehaltene Abgeordnetentag, der von 500 Abgeordneten besucht war,
erklärte sich gegen die Annexion von Schleswig-Holstein an irgend einen
deutschen Staat. Der Beschluß zielte gegen Preußen und Bismarck, für
dessen Politik damals selbst diejenigen Liberalen nicht einzutreten
wagten, die innerlich für eine Annexion an Preußen waren.

Natürlich war Bismarck über diese seiner Politik bereiteten Hindernisse
aufs höchste aufgebracht. Er verlangte vom Frankfurter Senat die
Auflösung des Sechsunddreißiger-Ausschusses des Abgeordnetentags, dessen
Vorsitzender der Stadtrat Siegmund Müller in Frankfurt war. Ferner
verlangte er vom Senat das Verbot der Wehrübungen der Frankfurter
Jugend. Mit beiden Anträgen fiel er ab. Aber er vergaß dieses Frankfurt
nicht. 1866 mußte das „Demokratennest“ dafür büßen, indem er es erst
drangsalierte und dann annektierte. Schließlich fand die
schleswig-holsteinsche Frage doch die von Bismarck geplante Lösung. Es
gelang ihm, den Leiter der österreichischen Politik, Graf Rechberg,
gründlich einzuseifen und für seine nächsten Pläne zu gewinnen. Statt
der Bundestruppen, die mittlerweile in Schleswig-Holstein eingerückt
waren, führten jetzt Preußen und Oesterreich den Krieg gegen die Dänen,
die ihnen gegenüber bald unterlagen und genötigt wurden, im
Friedensschluß Schleswig-Holstein und Lauenburg an Preußen und
Oesterreich abzutreten. Oesterreich machte schließlich mit Preußen noch
ein Handelsgeschäft, indem es seinen Anteil an Lauenburg für 2-1/2
Millionen Taler an Preußen verkaufte. Der Krieg war von Bismarck gegen
den Willen der Abgeordnetenkammer geführt worden, die mit 275 gegen 80
Stimmen die geforderte Kriegsanleihe verweigert hatte. Man kann sich
vorstellen, daß diese Art zu regieren die Stimmung für Preußen nicht
stärkte, die im übrigen Deutschland noch verschlimmert wurde, als nach
langen Verhandlungen zwischen Preußen und Oesterreich der Vertrag von
Gastein, 14. August 1865, bekannt wurde, nach dem die Verwaltung von
Schleswig an Preußen und jene von Holstein an Oesterreich fiel. Das war
der zweite Meisterstreich Bismarcks, der damit den Keil zwischen
Oesterreich und dem Bunde immer tiefer trieb. Allerdings bot sich jetzt
der Welt das heitere Schauspiel, daß die Preußen unter Manteuffel alle
Demonstrationen zugunsten des Augustenburgers in Schleswig rücksichtslos
unterdrückten und überhaupt ein sehr strenges Regiment führten,
wohingegen die Oesterreicher unter dem General v. Gablenz in Holstein
allem freien Lauf ließen. Wie Gablenz seine Aufgabe auffaßte, zeigt
seine Aeußerung: „Ich werde die bestehenden Landesgesetze beachten,
damit kein Holsteiner bei meinem eventuellen Wegziehen von hier sagen
kann, ich habe rechtlos regiert. Ich will hier im Lande nicht als
türkischer Pascha regieren.“ Das war eine moralische Ohrfeige für Herrn
v. Manteuffel.

Daß die neue Ordnung in den Herzogtümern nur ein Provisorium sein
konnte, war klar. Diese Lösung war keine. Schließlich mußte die
Auseinandersetzung zwischen Preußen und Oesterreich kommen, und die
konnte, nachdem alle übrigen Faktoren ausgeschaltet waren, nach
Bismarcks Ansicht nur durch einen Krieg erfolgen. Auf diesen arbeitete
er nun systematisch hin. Auf der einen Seite suchte er sich durch
dilatorische Verhandlungen, wie er sie später nannte, Napoleons
Neutralität durch Versprechungen auf eventuelle Abtretung deutschen
Gebiets an Frankreich zu sichern — die Rheinpfalz und das preußische
Saarrevier standen bei den Unterhandlungen in Frage —, andererseits
schloß er mit Italien ein Abkommen, wonach es im gegebenen Falle
Oesterreich im Süden angreifen sollte, sobald Preußen von Norden
losschlagen würde. Bezeichnend für die Art, wie Bismarck seine
„nationale“ Politik durchzusetzen suchte, sind die Verhandlungen mit den
italienischen Staatsmännern, die später der italienische
Ministerpräsident La Marmora in seinem Buche „Mehr Licht“
veröffentlichte. Im März äußerte Bismarck gegen den italienischen
außerordentlichen Militärbevollmächtigten in Berlin: der König habe die
allzu ängstlichen legitimistischen Skrupel aufgegeben. Er hatte
Bedenken, sich mit dem durch Kronenraub und Annexionen groß gewordenen
Italien zu verbinden, auch wollte er aus legitimistischen Bedenken
keinen Krieg gegen Oesterreich führen. In einigen Monaten, so fuhr
Bismarck fort, werde er die Frage der deutschen Reform, verziert mit
einem Parlament, aufs Tapet bringen, mit diesem Vorschlag Wirren
hervorrufen, die dann Preußen in Gegnerschaft mit Oesterreich bringen
würden, worauf es zwischen beiden zum Kriege kommen werde.

Dieses Programm wurde prompt ausgeführt.

Am 3. Juni berichtete der italienische Gesandte in Berlin, Govone,
seiner Regierung, Bismarck habe ihm gegenüber geäußert: „Ich bin viel
weniger Deutscher als Preuße und würde kein Bedenken tragen, die
Abtretung des ganzen Landes zwischen dem Rheinufer und der Mosel an
Frankreich zu unterschreiben: Pfalz, Oldenburg, einen Teil des
preußischen Gebiets.“ ... „Sorge mache ihm der König, der das religiöse,
ja abergläubische Bedenken habe, er dürfe die Verantwortung für einen
europäischen Krieg nicht auf sich laden.“

Die Darlegung der Zettelungen, die Bismarck mit Italien führte, um durch
Anstiftung revolutionärer Erhebungen in Ungarn und Kroatien Oesterreich
zu schwächen und die Heeresteile aus den erwähnten Ländern zum Abfall
von der österreichischen Armee zu bringen, will ich im einzelnen nicht
schildern. Diese Vorgänge zeigen, daß hoch- und landesverräterische
Unternehmungen gerade gut genug waren, um Bismarck zum Ziele zu führen,
und Hoch- und Landesverrat nur dann Verbrechen sind, wenn sie von unten
ausgehen. Preußen und Italien verständigten sich, daß die Kosten für
diese revolutionären Erhebungen von ihnen gemeinsam getragen werden
sollten. Ueberflüssig zu sagen, daß Oesterreich nunmehr seine Lage
erkannt hatte und Gegenmaßregeln traf. Gegen Ende März begann das
diplomatische Spiel lebhaft zu werden. Man begann sich beiderseitig mit
Vorwürfen zu traktieren und — rüstete. Am 9. April stellte Preußen
seinen Bundesreformantrag in Frankfurt a.M. Es beantragte, die
Bundesversammlung wolle beschließen, eine aus direkten Wahlen und
allgemeinem Stimmrecht der ganzen Nation hervorgegangene Versammlung für
einen näher zu bestimmenden Tag einzuberufen, in der Zwischenzeit aber,
bis zum Zusammentritt derselben, sollten die Regierungen die Vorlagen
für eine Reform der Bundesverfassung untereinander feststellen.

Diesem Reformvorschlag wurde erklärlicherweise in weiten Kreisen mit
intensivem Mißtrauen begegnet. Man sagte sich: Wie kommt Bismarck dazu,
sich für ein deutsches Parlament auf Grund des allgemeinen, direkten
Wahlrechts zu erklären und sich als radikalen Reformator aufzuspielen,
er, der in Preußen im Widerspruch gegen die klaren Bestimmungen der
Verfassung regiert, der die berüchtigten Preßordonnanzen, die Führung
des Schleswig-Holsteinschen Krieges wider den Willen der Kammer, die
eben erst getroffene Entscheidung des Obertribunals über den Artikel 84
der Verfassung, betreffend die Redefreiheit der Abgeordneten, und vieles
andere auf dem Gewissen habe? Der Widerstand, den der preußische
Reformvorschlag fand, veranlaßte im April die „Kreuzzeitung“, zu
erklären, es bleibe nur eine Alternative: Bundesreform oder Revolution.
In Wahrheit war es Bismarck mit seinem Vorschlag eines gesamtdeutschen
Parlaments nicht Ernst, wie das sein späterer Parlamentsvorschlag an den
Bundestag zeigte. Aber er dachte auch nicht einmal daran, die
südwestdeutschen Staaten darin aufzunehmen, wie sich nachher
herausstellte, als es sich um die Gründung des Norddeutschen Bundes
handelte.

Zum Ueberfluß ist dieses durch die Denkwürdigkeiten des Fürsten
Hohenlohe bestätigt worden. Bismarck sah damals in der großen Mehrzahl
der Süddeutschen heterogene Elemente, die ihm seine Zirkel stören
könnten. Erst die Wahlen zum Zollparlament und die Aufnahme, die der
Krieg von 1870/71 in Süddeutschland fand, beseitigten seine
Befürchtungen.

Das Vorgehen Bismarcks in der schleswig-holsteinschen und der deutschen
Frage wirkte auf die Liberalen zersetzend; sie wurden in zwei Lager
getrennt. Die einen sympathisierten mit seinem Vorgehen, die anderen
konnten ihm seinen inneren Konflikt in Preußen nicht verzeihen und
opponierten. Twesten schrieb Anfang Oktober 1865 an den Vorsitzenden des
Sechsunddreißiger-Ausschusses: „Wir — er sprach also im Namen von
mehreren — ziehen _jede_ Alternative einer Niederlage des preußischen
Staates vor.“ Das hieß also: Siegt Preußen im Kampfe um die
Vorherrschaft in Deutschland selbst mit Hilfe des Auslandes und unter
Preisgabe deutschen Gebiets, wir stehen zu Preußen. Das war das
Bismarcksche: „Ich bin mehr Preuße als Deutscher!“ Mommsen meinte: Die
Differenzen in Freiheitsfragen seien kein Grund, daß man Bismarck nicht
in seiner auswärtigen Politik unterstütze. Und Ziegler, der
Steuerverweigerer von 1848, der des Hochverrats angeklagt, zu Festung
verurteilt und als Oberbürgermeister von Brandenburg gemaßregelt worden
war, erklärte kurz vor Ausbruch des Krieges vor seinen Breslauer
Wählern: Das Herz der preußischen Demokratie ist, wo die Landesfahnen
wehen. Ziegler war ein merkwürdiger Herr. So hatte er einige Monate
zuvor in einer Rede im preußischen Abgeordnetenhaus seinen
Parteigenossen ein drastisches Zitat aus einer Rede Marrasts, der im
Februar 1848 Mitglied der provisorischen Regierung in Paris wurde, an
den Kopf geworfen, indem er ihnen zurief: Die Perversität ist euch vom
Unterleib ins Gehirn gestiegen, ihr könnt nicht mehr denken.

Der Nationalverein suchte durch eine Generalversammlung, die er für Ende
Oktober 1865 nach Frankfurt a.M. berief, in seiner Art ebenfalls der
Bismarckschen Politik zu Hilfe zu kommen. Er erntete freilich keinen
Dank. Bismarck war über diese Absicht so aufgebracht, daß er die
österreichische Regierung veranlaßte, mit ihm eine Note an den
Frankfurter Senat zu schicken, in der beide das Verbot der
Generalversammlung forderten, ein Schritt, den nur ein Mann unternehmen
konnte, der nicht mehr Herr über seine Nerven war. Der Senat lehnte auch
diese Forderung ab, und die Generalversammlung fand statt. Die
Beschlüsse besagten: Der Nationalverein bestätige seine früheren
Beschlüsse, wonach er eine Zentralgewalt und ein Parlament mit der
Reichsverfassung von 1849 als Ziel erstrebe und die Zentralgewalt an
Preußen übertragen sehen wolle. Für Schleswig-Holstein fordere er das
Selbstbestimmungsrecht mit der Einschränkung, daß, solange keine
deutsche Zentralgewalt vorhanden sei, es die für eine Zentralgewalt
notwendigen Attribute an Preußen übertrage. Ferner solle eine
Landesvertretung der Herzogtümer einberufen werden. Nach heftigen
Debatten wurden diese Anträge mit großer Mehrheit angenommen. Jedenfalls
lag in diesen Beschlüssen ein großes Entgegenkommen gegen Preußen.
Weiter konnte vorerst der Nationalverein nicht gehen.

Als dann die Möglichkeit eines Krieges zwischen Oesterreich und Preußen
immer mehr in den Vordergrund rückte, ging das Bestreben der Liberalen
dahin, die Neutralität der Mittel- und Kleinstaaten durchzusetzen, denn
sie sagten sich, daß diese im Kriegsfall wohl in ihrer großen Mehrheit
auf österreichischer Seite stehen würden.

In Sachsen drehten die Liberalen sogar den Spieß um und machten die
sächsische Regierung für den eventuellen Ausbruch eines Krieges
verantwortlich; sie verlangten Abrüstung und Anschluß an Preußen. Die
Leipziger städtischen Behörden schlossen sich durch Beschluß vom 5. Mai
dieser Auffassung an. Dagegen protestierte eine von 5000 Personen
besuchte Volksversammlung, die Professor Wuttke und seine nächsten
politischen Freunde, unterstützt von den Lassalleanern Fritzsche usw.,
für den 8. Mai einberufen hatten, eine Einberufung, der wir uns
anschlossen. Der Lassalleaner Steinert präsidierte. Wuttke hielt die
erste Rede. Er protestierte gegen das Vorgehen von Stadtrat und
Stadtverordneten und forderte in einer Resolution die Regierung auf, die
Verteidigungsmaßregeln auszudehnen und allgemeine Volksbewaffnung zum
Schutze des Landes einzuführen; ferner solle die Regierung sich
schleunigst der Hilfe ihrer Bundesgenossen versichern und beharrlich
jeder Sonderstellung Preußens in Schleswig-Holstein wie im übrigen
Deutschland entgegentreten.

Diese Resolution war uns zu schwächlich. Ich nahm also das Wort und
begründete folgende von Liebknecht und mir vereinbarte Resolution:

1. Die gegenwärtige drohende Lage Deutschlands ist durch die Haltung und
das Vorgehen der preußischen Regierung in der schleswig-holsteinschen
Frage provoziert, zugleich aber auch die natürliche Konsequenz der
Politik des Nationalvereins und der Gothaer für die preußische Spitze.
2. Eine direkte oder indirekte Unterstützung dieser undeutschen Politik
betrachten wir als eine Schädigung der Interessen des deutschen Volkes.
3. Dieses Interesse kann nur gewahrt werden durch ein aus allgemeinen,
gleichen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervorgegangenes
Parlament, unterstützt durch allgemeine Volkswehr. 4. Wir erwarten, daß
das deutsche Volk nur solche Männer zu seinen Vertretern erwählt, die
jede erbliche Zentralgewalt verwerfen. 5. Wir erwarten, daß im Falle
eines deutschen Bruderkriegs, der nur dazu dienen kann, deutsches Gebiet
dem Ausland in die Hände zu spielen, das deutsche Volk wie ein Mann sich
erhebt, um mit den Waffen in der Hand sein Eigentum und seine Ehre zu
vertreten.

Der Stadtverordnetenvorsteher Dr. Joseph versuchte Stadtrat und
Stadtverordnete zu rechtfertigen, ihm antworteten scharf Liebknecht und
Fritzsche. Die Wuttkesche Resolution wurde gegen eine Minorität, die
meinige einstimmig angenommen.

Die Leipziger liberale Presse brachte die verlogensten Berichte über
jene Versammlung, was die Arbeiter der Offizin von Giesecke & Devrient
so empörte, daß sie die betreffende Nummer der „Mitteldeutschen
Volkszeitung“ feierlich verbrannten. Das Leipziger Beispiel fand
vielfach Nachfolge. So sprach sich unter anderem der Arbeitertag des
Maingauverbandes, der am 13. Mai unter Professor Louis Büchners Vorsitz
tagte, im gleichen Sinne aus.

In dieser Situation glaubte man im Sechsunddreißiger-Ausschuß des
Abgeordnetentages Preußen zu Hilfe kommen zu müssen. Derselbe berief auf
den ersten Pfingstfeiertag einen Abgeordnetentag nach Frankfurt a.M.
Die Frankfurter Demokratie beschloß, auf denselben Tag eine
Gegendemonstration zu veranstalten, zu der aus Sachsen Wuttke und ich
eingeladen wurden. Der Abgeordnetentag, von zirka 250 Abgeordneten
besucht, wurde vom Vorsitzenden des Sechsunddreißiger-Ausschusses
eröffnet. Herr v. Bennigsen wurde Präsident. Unter den Anwesenden war
auch Bluntschli, der durch sein Vorgehen in den vierziger Jahren in der
Schweiz gegen Weitling keinen guten Namen hatte. Ferner war anwesend der
alte Geheimrat Welcker, der, obgleich er für die preußische Spitze
schwärmte, über die Bismarcksche Politik so erbittert war, daß er, wie
damals die Zeitungen meldeten, die sonderbare Preisfrage gestellt hatte,
wie eine verderbliche Regierung ohne das Mittel der Revolution entfernt
werden könnte? Die bekannte Frage: Wie wäscht man den Pelz, ohne ihn naß
zu machen?

Unter den Zuhörern der Verhandlungen befanden sich unter anderen die
Achtundvierziger Amand Goegg, August Ladendorf und Gustav Struve.
Letzterer war eine hagere, hoch aufgeschossene Gestalt mit einer
Fistelstimme und einer merkwürdig roten Nase, obgleich er ein Gegner des
Alkohols war. Ich hatte mir den ehemaligen Führer aus der badischen
Revolution etwas anders vorgestellt, machte aber bald die Entdeckung,
daß wie es mir mit Struve, es anderen Leuten mit mir erging, die auch
ganz andere Vorstellungen von meiner Person hatten.

Dr. Völck-Augsburg, der später den Spitznamen die Frühlingslerche
erhielt, weil er im Zollparlament jubilierend verkündete: es will in
Deutschland Frühling werden, war Referent. Er begründete folgende
Resolution der Mehrheit des Sechsunddreißiger-Ausschusses:

       *       *       *       *       *

Der Sieg der Waffen hat uns unsere Nordmarken zurückgegeben. Ein solcher
Sieg würde in jedem wohlgeordneten Reiche zur Erhöhung des
Nationalgefühls gedient haben. In Deutschland führte er durch die
Mißachtung des Rechts der wiedergewonnenen Länder, durch das Streben der
preußischen Regierung nach gewaltsamer Annexion und infolge der
unheilvollen Eifersucht der beiden Großmächte zu einem Zwiespalt,
dessen Dimensionen weit über den ursprünglichen Gegenstand des Streites
hinausreichen.

Wir verdammen den drohenden Krieg als einen nur dynastischen Zwecken
dienenden Kabinettskrieg. Er ist einer zivilisierten Nation unwürdig,
gefährdet alle Güter, welche wir in fünfzig Jahren des Friedens errungen
haben, und nährt die Gelüste des Auslandes.

Fürsten und Minister, welche diesen unnatürlichen Krieg verschulden oder
aus Sonderinteressen die Gefahren desselben erweitern, machen sich eines
schweren Verbrechens an der Nation schuldig.

Mit ihrem Fluche und der Strafe des Landesverrats wird die Nation
diejenigen treffen, welche in Verhandlungen mit ausländischen Mächten
deutsches Gebiet preisgeben.

Sollte es nicht gelingen, den Krieg selbst durch den einmütig
ausgesprochenen Willen des Volkes noch in der letzten Stunde zu
verhindern, so ist wenigstens dahin zu trachten, daß er nicht ganz
Deutschland in zwei große Lager teile, sondern auf den engsten Raum
beschränkt werde.

Wir erblicken hierin das wirksamste Mittel, um die Wiederherstellung des
Friedens zu beschleunigen, die Einmischung des Auslandes abzuhalten,
durch die Heeresmacht der nichtbeteiligten Staaten die Grenzen zu decken
und, im Falle der Krieg einen europäischen Charakter annehmen sollte,
mit noch frischen Kräften dem äußeren Feind entgegenzutreten.

Diese Staaten haben also die Pflicht, solange ihre Stellung geachtet
wird, nicht ohne Not in den Krieg der beiden Großmächte sich zu stürzen.
Insbesondere liegt es den Staaten der südwestdeutschen Gruppe ob, ihre
Kraft ungeschwächt zu erhalten, um gegebenen Falles für die Integrität
des deutschen Gebiets einzustehen.

Es wird Sache der Landesvertretungen sein, wenn sie über Anforderungen
zu militärischen Zwecken zu entscheiden haben, diejenigen Garantien von
ihren Regierungen zu fordern, welche die Verwendung in der oben
ausgesprochenen Richtung und im wahren Interesse des Vaterlandes
sichern. Nur hierdurch wird sich die Gefahr abwenden lassen, aus den
jetzigen Verwicklungen eine neue Aera allgemeiner deutscher Reaktion
entspringen zu sehen.

Wie ein deutsches Parlament allein die Behörde ist, welche über die
deutschen Interessen in Schleswig-Holstein zu entscheiden vermag, so ist
auch die Erledigung der deutschen Verfassungsfrage durch eine
freigewählte deutsche Volksvertretung allein imstande, der Wiederkehr
solcher unheilvollen Zustände wirksam zu begegnen. Die schleunige
Einberufung eines nach dem Reichswahlgesetz vom 14. April 1849 gewählten
Parlaments muß daher von allen Landesvertretungen und von der ganzen
Nation gefordert werden.

       *       *       *       *       *

Der Schwerpunkt dieser Resolution lag in den Abschnitten 5, 6 und 7,
nach denen man die Mittel- und Kleinstaaten zur Neutralität in dem
Kampfe zwischen Oesterreich und Preußen verpflichten wollte. In einer
sehr wirkungsvollen Rede ging der preußische Abgeordnete Julius Freese
der Resolution des Ausschusses und den Rednern, die sie verteidigt
hatten, zu Leibe, häufig von stürmischem Beifall der Minorität und der
Zuhörerschaft im Saale unterbrochen. Ueber die den Mittel- und
Kleinstaaten zugemutete Rolle äußerte er:

„Und was würde die Folge sein, wenn die beiden Staaten sich nun gepackt
hätten? Wie zwei Hirsche um eine Hirschkuh kämpfen, und die Hirschkuh
waffenlos und ruhig dabeisteht, so sollen Oesterreich und Preußen
miteinander kämpfen, und das dritte Deutschland soll die milde, sanfte
Hirschkuh sein, die dann abwartet, welchem Sieger das Ende des Kampfes
sie überweist.... Und er schloß: _Nur dann wird Preußen frei, wenn es in
Deutschlands Dienste tritt; wenn Sie aber Deutschland in Großpreußen
aufgehen lassen, dann sei Gott denen gnädig, die das Regiment sehen,
welches dann über Preußen und Deutschland ergehen wird._“

Diese Worte lösten langanhaltenden Beifall aus.

Aber neben der Tragik kam auch die Komik zu ihrem Rechte. Mitten in der
Rede Völcks donnerten mehrere Kanonenschläge durch den Saal, so daß
alles entsetzt aufsprang und nach der Decke schaute, deren Einsturz man
befürchtete. Völck selbst schien zu glauben, es handle sich um ein
Attentat auf ihn. Mit einem mächtigen Satze sprang er rückwärts von der
Tribüne an die Wand, begleitet von einem lauten Gejohle und
Händeklatschen auf der obersten Galerie. Die Frankfurter und Offenbacher
Lassalleaner hatten unter Führung Oberwinders die Kanonenschläge gelegt,
um auf diese Weise ihre Visitenkarte beim Abgeordnetentag abzugeben. Dem
Schrecken folgte allgemeine Heiterkeit.

Selbstverständlich wurden die Resolutionen des Ausschusses mit großer
Mehrheit angenommen gegen einen Antrag Müller-Passavant.

Am Nachmittag desselben Tages fand dann im Zirkus die von demokratischer
Seite einberufene, von etwa 3000 Personen besuchte Volksversammlung
statt. Neben anderen Rednern nahm auch ich das Wort.

In der von uns vorgeschlagenen Resolution wurde gefordert:

1. Gegen die friedensbrecherische Politik Preußens den bewaffneten
Widerstand, Neutralität ist Feigheit oder Verrat. 2. Schleswig-Holstein
solle auf Grund des bestehenden Rechtes seine Selbständigkeit erlangen.
3. Der preußische Parlamentsvorschlag sei unbedingt zu verwerfen,
dagegen solle eine konstituierende, mit der nötigen Macht ausgestattete
Volksvertretung über die Verfassung Gesamtdeutschlands entscheiden. 4.
Einführung der Grundrechte und gesetzliche Einführung der allgemeinen
Volksbewaffnung. 5. Das Volk solle überall in Stadt und Land in
politischen Vereinen zusammentreten.

Nach Annahme dieser Vorschläge wurde ein Ausschuß niedergesetzt, der ein
Programm entwerfen und eine Delegiertenversammlung nach Frankfurt
einberufen solle, um endgültig das Programm zu beraten. In den Ausschuß
wurden auf Vorschlag von Haußmann-Stuttgart, dem Vater des
Reichstagsabgeordneten Konrad Haußmann, gewählt: Bebel,
Eichelsdörfer-Mannheim, Goegg-Offenburg, K. Grün-Heidelberg,
Kolb-Speier, K. Mayer-Stuttgart, Dr. Morgenstern-Fürth, v.
Neergardt-Kiel, Aug. Röckel und Gustav Struve-Frankfurt, Trabert-Hanau,
Krämer von Doos, Bayern. Von diesen zwölf bin ich der einzige noch
Lebende, allerdings war ich auch der Benjamin der Korona.

Der Ausschuß verfaßte folgendes Programm:

A. 1. Demokratische Grundlage der Verfassung und Verwaltung der
deutschen Staaten. 2. Föderative Verbindung derselben auf Grund der
Selbstbestimmung. 3. Herstellung einer über den Regierungen der
Einzelstaaten stehende Bundesgewalt und Volksvertretung. Keine
preußische, keine österreichische Spitze.

B. 1. Wir fordern die Erhaltung des Friedens in Deutschland. Die
Kriegsgefahr ist aus der schleswig-holsteinschen Sache entsprungen;
beseitigt kann sie nur werden durch die sofortige Konstituierung der
Herzogtümer als eines selbständigen Staates auf Grund des Rechtes und
des Volkswillens. Die Stimme Holsteins im Bunde muß ohne weiteres in
Kraft treten, seine Wehrkraft aufgeboten werden. Keine Verfügung über
die Herzogtümer wider den Willen der Bevölkerung; keine Teilung
Schleswigs. 2. Gegen die preußische Kriegspolitik ist der Widerstand
Deutschlands geboten. Neutralität wäre Feigheit oder Verrat. 3. Kein
Fußbreit deutscher Erde darf an das Ausland abgetreten werden. Die
Gefahr des Verlustes von deutschem Gebiet und die Schmach einer
Einmischung des Auslandes in deutsche Angelegenheiten werden nur dann
von uns abgewendet, der Widerstand wird nur dann erfolgreich, _die
Gefahr eines Sieges an der Seite Oesterreichs nur dann beseitigt sein_,
wenn die Bundesgenossen im Kampfe keine dynastische, sondern eine
nationale Politik verfolgen und ihren Bund auf die volle Wehrkraft,
sowie auf die parlamentarische Mitwirkung des Volkes stützen. Die
gesetzliche Einführung des Milizsystems ist vor allen Dingen zu
verlangen. 4. Der preußische Parlamentsvorschlag ist zu verwerfen; nur
eine aus dem Volke hervorgegangene, in voller Freiheit gewählte
Nationalversammlung mit entscheidender Stimme und ausgestattet mit der
nötigen Macht kann über die Verfassung des Vaterlandes endgültig
entscheiden.

Die Einberufung einer Delegiertenversammlung, der dieses Programm zur
Beratung unterbreitet werden sollte, mußte unterbleiben, weil
mittlerweile der Krieg ausbrach. Nunmehr erließ der Ausschuß folgende
Proklamation:

       *       *       *       *       *

An das deutsche Volk!

Der deutsche Bruderkrieg ist entbrannt. In die Zeit des rohen
Faustrechtes ist Deutschland zurückgeworfen. Dies schwerste Verbrechen
an der Nation fällt jener Partei in Preußen zur Last, die ruchlos
genug ist, den Bruch des preußischen Volksrechtes und des
schleswig-holsteinschen Landesrechtes mit der Vergewaltigung von ganz
Deutschland krönen zu wollen. In dem Augenblick, wo die staatliche
Zukunft Schleswig-Holsteins endlich auf dem friedlichen Wege deutschen
Rechtes und deutscher Ehre entschieden werden sollte, ist diese Partei
zum Aeußersten geschritten, den ewigen Bund deutscher Stämme zu sprengen
und an die Stelle des öffentlichen Rechtes und des Willens der
Gesamtheit das Machtgebot des einzelnen zu setzen. In die deutschen
Länder Hannover, Kurhessen, Sachsen ist sie eingebrochen wie in
Feindesland, und alle deutschen Staaten, die sich ihr nicht fügen,
bedroht sie mit gleicher Gewalt. In Preußen selbst stachelt sie das Volk
zum Haß gegen Deutschland und spricht ihm von erdichteten Gefahren, von
Demütigung, Erniedrigung, Zerstücklung, womit es von Deutschland bedroht
sei.

Noch drohte Preußen keine Gefahr der Erniedrigung, als die es in seinem
Innern birgt. Der Sturz der Kriegspartei wäre für Preußen selbst der
schönste Sieg. Die Gefahr der Zerstücklung ist gerade durch diese Partei
über ganz Deutschland gebracht. Im Süden ist durch ihr Bündnis mit
Italien deutsches Bundesland gefährdet. Im Westen hat sie die alte
Gefahr heraufbeschworen, die jedesmal droht, wenn Deutschland uneinig
ist.

Die deutschen Stämme, welche die Berliner Gewaltpolitik gegen sich in
Waffen gerufen hat, ziehen nicht gegen das Volk in Preußen, ziehen nicht
für habsburgische Hauspolitik ins Feld; die Nation will so wenig
Oesterreich wie Preußen dienen. Frei will sie sein, selbst Herr im
eigenen Hause. Gegen ihren Willen verstrickt in das jetzige Unglück,
darf und will sie nicht die Folgen desselben untätig abwarten. Wie sie
mit richtigem vaterländischen Gefühl die ihr angesonnene Neutralität im
Bruderkrieg von sich gewiesen hat, so ist es jetzt ihre Pflicht, mit
voller Kraft und einmütiger Entschlossenheit sich die Mitwirkung an der
Entscheidung ihrer Geschicke zu sichern durch _allgemeine
Volksbewaffnung und gemeinsame Volksvertretung_.

Auf diese beiden Forderungen ist sofort und allerorten die Tätigkeit des
deutschen Volkes zu richten; eine allgemeine Agitation in öffentlichen
Volksversammlungen muß schleunigst dafür organisiert werden. Das
deutsche Volk allein kann noch das deutsche Vaterland retten.

Frankfurt, 1. Juli 1866.

Der Ausschuß der Frankfurter Volksversammlung vom 20. Mai.

I.d.N.: G.F. Kolb. Aug. Röckel.

       *       *       *       *       *

Der Aufruf war gut gemeint, aber er kam zu spät. Und was ihm einzig
hätte Nachdruck geben können, eine große, geschlossene Organisation,
fehlte. —

Den Tag nach den erwähnten Frankfurter Vorgängen, am zweiten
Pfingstfeiertag, war ich mit einer Anzahl Herren bei Siegmund Müller zu
Tisch geladen. Nach beendetem Essen traten wir an die weit geöffneten
Fenster, um den herrlichen Maitag zu genießen. Wie auf Kommando erhoben
wir ein homerisches Gelächter. Aus Müllers Wohnung sah man auf den Main
und die alte Mainbrücke, auf der in ihren weißen Uniformen Scharen
österreichischer Soldaten herüber- und hinüberspazierten, fast ein jeder
ein Mädchen am Arme. Dieser Anblick hatte unsere Lachlust erregt. Unser
Gastgeber sah die Sache ernster an, in seinem Frankfurter Hochdeutsch
äußerte er: „Meine Herrn! Sie hawwe gut lache, die Mädercher krieche
alle Kinner, und die misse dann von der Stadt erhalte werrn!“ Eine
zweite Lachsalve war unsere Antwort. Kurze Zeit nachher, am 10. Juni,
verließen die Preußen, die zur Bundesgarnison in Frankfurt gehörten, mit
„klingendem Spiel“ die Stadt, am 11. folgten in gleicher Weise die
Oesterreicher. Diese auf Nimmerwiedersehen. Gar mancher der lustigen
Burschen, die an jenem Pfingstfeiertag fröhlich über die Mainbrücke
zogen, dürfte später mit seinem Blute das Schlachtfeld gedüngt haben. —

Den 10. Juni trat auch der ständige Ausschuß der Arbeitervereine zu
einer Sitzung in Mannheim zusammen, um Stellung zu dem vorhandenen
politischen Konflikt zu nehmen. Mit Ausnahme von M. Hirsch war der ganze
Ausschuß anwesend, ebenso auf besondere Einladung Streit-Koburg.

In der deutschen Frage kam es zu erregten Auseinandersetzungen. Ein
preußisches Mitglied bestritt, daß im preußischen Volke Sympathien für
Annexionen vorhanden seien, worin er sich, wie die Folge lehrte,
gründlich irrte. Die große Mehrheit des Ausschusses war gegen eine
Neutralität der Mittelstaaten. Von einer Seite wurde hervorgehoben, die
preußische Hegemonie werde der industriellen Entwicklung förderlich
sein, von anderer Seite wurde bestritten, daß die preußische Spitze dazu
nötig wäre. Schließlich wurde einstimmig beschlossen, sich der bereits
bestehenden Volkspartei und dem von dem Frankfurter Ausschuß
aufgestellten Programm anzuschließen. Auch wurde empfohlen, folgenden
Kompromißantrag in das Programm der Volkspartei aufzunehmen: Jede
volkstümliche Regierung muß die allmähliche Ausgleichung der
Klassengegensätze so weit zu fördern suchen, als es irgend mit der
Schonung der individuellen Freiheit und den volkswirtschaftlichen
Gesamtinteressen vereinbar ist. Die materielle und moralische Hebung des
Arbeiterstandes ist ein gemeinsames Interesse aller Klassen, ist eine
unentbehrliche Stütze der bürgerlichen Freiheit.

Da die politischen Wirren bereits große Arbeitslosigkeit zur Folge
hatten, kam man überein, die Unternehmer aufzufordern, während der Dauer
der Arbeitsstockung eine entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit
eintreten zu lassen, statt Arbeiter zu entlassen; ferner sollten die
Staats- und Gemeindebehörden die begonnenen Bauten weiterführen und
bereits geplante zur Ausführung bringen. Unerfreulich war der
Kassenbericht, nicht minder unerfreulich, was Streit über den Stand der
„Arbeiterzeitung“ zu berichten hatte. Das Verbot der Zeitung in Preußen,
die politischen Differenzen in vielen Vereinen, die Feindseligkeit und
die Hindernisse, die der Buchhändlerverband dem Blatte entgegenstellte,
hatten den Abonnentenstand sehr herabgedrückt, und der passive
Widerstand, den einzelne Mitglieder im Ausschuß Streit und seinem Blatte
entgegenstellten, verhinderte, von unserer Seite entsprechende Hilfe zu
bringen. Streit sah sich gezwungen, am 8. August das Weitererscheinen
des Blattes einzustellen.

Meine erneut eingebrachten Reorganisationsanträge wurden wiederum
abgelehnt, dagegen wurde beschlossen, dem Vorsitzenden ein Fixum von 200
Taler im Jahr als Vergütung für Arbeiten zu gewähren. Man verhandelte
auch über den Ort des nächsten Vereinstags, für den Chemnitz oder Gera
in Aussicht genommen wurde. Der Gang der Ereignisse zwang aber,
denselben für 1866 ausfallen zu lassen. Die Verhandlungen wurden alsdann
auf einige Stunden unterbrochen, um eine Volksversammlung abzuhalten,
die sich mit den alles Interesse beherrschenden politischen Vorgängen
beschäftigte.

Von jetzt ab überstürzten sich die Ereignisse und trieben zur
Katastrophe. Am 9. Mai hatte Bismarck den Landtag aufgelöst, um durch
dessen Opposition nicht in seinen politischen Maßnahmen gestört zu
werden. Im Gegensatz zu Preußen beriefen die Mittelstaaten ihre Landtage
ein. Am 1. Juni übergab Oesterreich die schleswig-holsteinsche Sache dem
Bundestag. Es hatte zu spät den Fehler eingesehen, den es gemacht, als
es sich in dieser Angelegenheit von Preußen ins Schlepptau nehmen ließ.
Zwei Tage später, am 3. Juni, erklärte Preußen, daß durch den Schritt
Oesterreichs der Gasteiner Vertrag hinfällig geworden sei. Am 11. Juni
sprengte Preußen mit Militärgewalt die Versammlung der nach Itzehoe
einberufenen holsteinschen Stände. Darauf räumten am 12. Juni die
Oesterreicher Holstein. Am gleichen Tage rief Oesterreich seinen
Gesandten von Berlin ab und stellte dem preußischen Gesandten in Wien
seine Pässe zu. Am 14. Juni entschied sich der Bundestag gegen Preußen,
worauf der preußische Gesandte den Verfassungsentwurf für einen neuen
Bund auf den Tisch des Bundestags niederlegte, dessen erster Artikel
lautete:

Das Bundesgebiet besteht aus den seitherigen Staaten, mit Ausnahme der
kaiserlich österreichischen und der königlich niederländischen
Landesteile (Luxemburg und Limburg).

Also Kleindeutschland. Der Krieg war erklärt. Dieser nahm wider Erwarten
vieler einen für Preußen ausnehmend günstigen Verlauf. Binnen wenig
Wochen war die österreichische Armee in Böhmen aus allen ihren
Positionen geworfen und standen die Preußen vor den Toren Wiens. Die
mittelstaatlichen Armeen, mit Ausnahme der sächsischen, die in Böhmen
focht, und der hannoverschen, die nach zähem Widerstand den Preußen bei
Langensalza erlag, spielten eine klägliche Rolle. Ihr Widerstand war
gebrochen, ohne daß es zu einer wirklichen Schlacht kam. In Italien
entwickelte sich der Krieg etwas anders. Bismarck war anfangs
mißtrauisch, daß Italien den Krieg gegen Oesterreich ernsthaft führen
werde. In einer Depesche vom 13. Juni an den preußischen Gesandten v.
Usedom empfahl er, energisch darauf zu bestehen, daß sich die
italienische Regierung mit dem ungarischen Komitee ins Einvernehmen
setze. Die Weigerung La Marmoras könnte bei Preußen den Verdacht
erregen, daß Italien nicht die Absicht habe, einen ernsten Krieg gegen
Oesterreich zu führen. Er solle mitteilen, daß Preußen nächste Woche die
Feindseligkeiten beginne. Aber ein fruchtloser Krieg Italiens im
Festungsviereck werde Argwohn erregen. Am 17. Juni sandte Usedom an La
Marmora eine lange Depesche, in der er diesem im Namen seiner Regierung
Vorschläge über die Kriegführung machte. Der Krieg müsse bis zur
Vernichtung des Gegners geführt werden. Ohne Rücksicht auf die
zukünftige Gestaltung der Territorien müßten beide Mächte den Krieg
endgültig, entscheidend, vollständig und unwiderruflich zu machen
suchen. Italien dürfe sich nicht damit begnügen, bis an die nördlichen
Grenzen Venetiens vorzudringen: es müsse sich mit Preußen an dem
Mittelpunkt der Monarchie selbst begegnen. Um sich den dauernden Besitz
Venetiens zu sichern, müsse es die österreichische Monarchie ins Herz
treffen.

Das war die berüchtigte Stoß-ins-Herz-Depesche, die, als sie 1868
bekannt wurde, große Aufregung hervorrief. Die Dinge liefen aber
anders. Nicht die Italiener, sondern die Oesterreicher siegten. Die
Italiener wurden zu Lande in der Schlacht von Custozza und zu Wasser in
der Seeschlacht von Lissa besiegt. Trotz dieser Siege trat jetzt
Oesterreich Venetien an Napoleon ab, also nicht an Italien, da die Dinge
im Norden der Monarchie höchst ungünstig standen. Es hoffte auf eine
Intervention Napoleons. Diese neue Situation veranlaßte nunmehr
Bismarck, trotz dem großen Unmut, der darüber im Hauptquartier entstand,
Oesterreich einen Waffenstillstand zu gewähren, der in Nikolsburg
abgeschlossen wurde und an dessen Schluß, 27. Juli, es zu
Friedenspräliminarien kam. Im definitiven Friedensvertrag, abgeschlossen
in Prag, erhielt Preußen Schleswig-Holstein, Hannover, Nassau, Kurhessen
und Frankfurt zugebilligt. Oesterreich selbst kam mit einer mäßigen
Kriegsentschädigung davon. Politische Gründe bestimmten Bismarck,
Oesterreich glimpflich zu behandeln. Die südwestdeutschen Staaten
sollten einen besonderen Bund bilden. Venetien wurde von Napoleon an
Italien abgetreten.

Daß Oesterreich Venetien an Napoleon abgetreten hatte, rief bei den
deutschen Liberalen einen Sturm der Entrüstung hervor. Das sei
Vaterlandsverrat. Eine Anklage, die Preußen mindestens ebenso traf wie
Oesterreich. Vertuscht wurde nach Möglichkeit, daß Preußen sich mit
Italien, also dem Ausland, zur Vernichtung eines deutschen Staates
verbunden hatte; vertuscht wurde, daß Bismarck mit Klapka in Verbindung
getreten war, um Ungarn zu insurgieren, der infolgedessen folgenden
Ausruf veröffentlicht hatte:

       *       *       *       *       *

An die ungarischen Soldaten!

Durch das Vertrauen meiner Mitbürger übernehme ich das Oberkommando der
gesamten ungarischen Streitkräfte; als Führer spreche ich also zu euch.

Preußens und Italiens mächtige Könige sind unsere Verbündeten. Aus
Italien eilt Garibaldi herbei, von der Donau her Türr, aus Siebenbürgen
Bethlen, um das Vaterland zu befreien; von hier führe ich die tapfere
ungarische Schar ins Land. Ludwig Kossuth wird mit uns sein; so vereint
jagen wir die Oesterreicher, die unseres Landes Gut und Blut rauben,
hinaus. Wir erobern zurück, was unser ist: den Boden Arpáds; in den
Jahren 1848 und 1849 ernteten wir ewigen Ruhm, nun wartet unser der
Lorbeer- und der Friedenskranz, wenn wir das Vaterland befreien.
Vorwärts also, folget dem ungarischen Banner. Unseres Vaterlandes
heilige Erde ist nur wenige Tage weit, dorthin führe ich euch; kommet
denn nach Hause, wo Mutter, Geschwister und Braut euch mit offenen Armen
erwarten.

Wählet. Wollt ihr erbärmliche Gefangene bleiben oder ruhmvolle
Vaterlandsverteidiger werden?

Es lebe hoch das Vaterland!

_Klapka_ m.p., ungarischer General.

       *       *       *       *       *

Auch daran wollte man nicht erinnern, daß aus dem preußischen
Hauptquartier beim Einrücken in Böhmen ein Ausruf „An die Einwohner des
glorreichen Königreichs Böhmen“ veröffentlicht worden war, der Stellen
enthielt wie die folgende:

„Sollte unsere gerechte Sache obsiegen, dann dürfte sich vielleicht auch
den Böhmen und Mähren der Augenblick darbieten, in dem sie ihre
nationalen Wünsche gleich den Ungarn verwirklichen können. Möge dann ein
günstiger Stern ihr Glück auf immerdar begründen!“

Es war das alte Lied von dem Messen mit zweierlei Maß. Wenn zwei
dasselben tun, ist es nicht dasselbe. Beging Preußen die größten
Niederträchtigkeiten — und als eine loyale Kriegführung konnte man doch
die Vorgänge in Böhmen und Ungarn nicht ansehen —, sie wurden
entschuldigt, ja gerechtfertigt. Aber wehe seinen Gegnern, die seine
Beispiele nachahmten. Was würde man zum Beispiel heute sagen, wenn eine
auswärtige Macht eines Tages in die Provinz Posen mit einer ähnlichen
Proklamation an die Polen einrückte wie die der Preußen in Böhmen?

Dem Landesverrat im großen, der in den österreichischen Ländern
begünstigt wurde, schloß sich der Landesverrat im kleinen in Deutschland
an. Anfang August 1866 beschlossen die sächsischen Liberalen unter
Führung von Professor Biedermann, Dr. Hans Blum usw. in einer
Landesversammlung in Leipzig eine Resolution, in der es hieß: Wir halten
die deutschen und sächsischen Interessen am besten gewahrt durch die
Einverleibung Sachsens in Preußen. Und noch nachdrücklicher sprach sich
Herr v. Treitschke, ein geborener Sachse, aus, der als Redakteur der
„Preußischen Jahrbücher“ Bismarck aufforderte, die oppositionellen
Staaten — Sachsen, Hannover, Kurhessen — zu vernichten:

„Jene drei Dynastien sind reif, überreif für die verdiente Vernichtung;
ihre Wiedereinsetzung wäre eine Gefahr für die Sicherheit des neuen
deutschen Bundes, eine Versündigung an der Sittlichkeit der Nation....
Nächst dem Hause Habsburg hat kein anderes Fürstengeschlecht die
Jahrhunderte hindurch sich schwerer versündigt an der deutschen Nation
als das Haus der Albertiner.... König Johann ist unzweifelhaft der
achtungswerteste Mann unter den vertriebenen deutschen Fürsten, doch mit
einer Fülle gelehrter Kenntnisse ist er ein gewöhnlicher Mensch
geblieben, engen Herzens, unfrei, philisterhaft in seinem Urteil über
Welt und Zeit. Der Kronprinz, ein Mann nicht ohne derbe Gutmütigkeit,
aber roh und jeder politischen Einsicht bar, war von jeher eine Stütze
der österreichischen Partei, und von dem Prinzen Georg, dessen Hochmut
und Bigotterie selbst in dem zahmen Dresden Anstoß erregen, ist noch
weniger zu erwarten.... Vor allem fürchten wir von einer Restauration
die Entsittlichung des Volkes durch den Geist der Lüge, durch die
Gleißnerei einer Loyalität, welche nach den Ereignissen des Sommers
mindestens von dem jüngeren Geschlecht gar nicht mehr gehegt werden
kann. Man male sich die Szene aus, wie König Johann einzieht in seine
Hauptstadt, wie der allezeit getreue Stadtrat von Dresden den
Landverderber mit Worten des Dankes und der Verehrung empfängt,
rautenbekränzte weiß und grüne Jungfrauen sich neigen vor der befleckten
und entweihten Krone — wahrhaftig, schon der Gedanke ist ekelerregend.“

Und er schloß: „In Tagen wie diesen soll man das Herz haben, die
_Paragraphen des Albertinischen Strafgesetzbuchs zu mißachten_.... Wir
wollen nicht, daß ein von Gott und den Menschen gerichtetes Haus
zurückkehrt auf den Thron.“

Bismarck sorgte dafür, daß seinen glühenden Verehrern kein Haar gekrümmt
wurde. Im Artikel 19 des Friedensvertrags mußte der König von Sachsen
zusichern, „daß keiner seiner Untertanen oder wer sonst den sächsischen
Gesetzen unterworfen ist, wegen eines in bezug auf die Verhältnisse
zwischen Preußen und Sachsen während der Dauer des Kriegszustandes
begangenen Vergehens oder Verbrechens gegen die Person Seiner Majestät
oder wegen Hochverrats, Staatsverrats oder endlich wegen seines
politischen Verhaltens während jener Zeit überhaupt strafrechtlich,
polizeilich oder disziplinarisch zur Verantwortung gezogen oder in
seinen Ehrenrechten beeinträchtigt werden soll“.

Man hat Liebknecht und mir später öfter die Frage gestellt, was geworden
wäre, wenn statt Preußen Oesterreich siegte. Traurig genug, daß nach den
damaligen Verhältnissen nur noch diese Alternative vorhanden war, und
eine Parteinahme _gegen_ den einen als Parteinahme _für_ den anderen
angesehen wurde. Aber die Dinge lagen so. Meine Ansicht ist, daß für ein
Volk, _das sich in einem unfreien Zustand befindet_, eine kriegerische
Niederlage seiner inneren Entwicklung eher förderlich als hinderlich
ist. Siege machen eine dem Volke gegenüberstehende Regierung hochmütig
und anspruchsvoll, Niederlagen zwingen sie, sich dem Volke zu nähern und
seine Sympathie zu gewinnen. Das lehrt uns 1806/07 für Preußen, 1866 für
Oesterreich, 1870 für Frankreich, die Niederlage Rußlands im Kriege mit
Japan 1904. Die russische Revolution wäre ohne jene Niederlage nicht
gekommen, ja sie wäre durch einen Sieg des Zarentums auf lange Jahre
unmöglich gewesen. Und ist die Revolution auch niederschlagen worden,
das alte Rußland ist nicht mehr, sowenig wie das alte Preußen von 1847
noch nach 1849 bestand. Umgekehrt zeigt uns die Geschichte, daß, als das
preußische Volk unter Darbringung gewaltiger Opfer an Gut und Blut
Napoleons Fremdherrschaft gestürzt und die Dynastie aus der Patsche
gerettet, letztere alle schönen Versprechungen vergessen hatte, die sie
in der Stunde der Gefahr dem Volke gemacht. Es mußte erst nach langer
Reaktionszeit das Jahr 1848 kommen, damit das Volk sich eroberte, was
man ihm jahrzehntelang vorenthalten hatte. Und wie hat Bismarck nachher
im norddeutschen Reichstag jede wirklich liberale Forderung
zurückgewiesen. Er trat als Diktator auf.

Einmal angenommen, Preußen wäre 1866 unterlegen, so wäre das Ministerium
Bismarck und die Junkerherrschaft, die noch bis heute wie ein Alp auf
Deutschland lastet, fortgefegt worden. Das wußte niemand besser als
Bismarck. Die österreichische Regierung wäre nach einem Siege nie so
stark geworden, wie das bei der preußischen der Fall war. Oesterreich
war und ist nach seiner ganzen Struktur ein innerlich schwacher Staat,
ganz anders Preußen. Aber die Regierung eines starken Staates ist für
dessen demokratische Entwicklung gefährlicher. In keinem demokratischen
Staate gibt es eine sogenannte starke Regierung. Dem Volke gegenüber ist
sie ohnmächtig. Höchstwahrscheinlich hätte die österreichische Regierung
nach einem Siege versucht, in Deutschland reaktionär zu regieren. Aber
sie hätte alsdann nicht nur das gesamte preußische Volk, sondern auch
den größten Teil der übrigen Nation, einschließlich eines guten Teiles
der österreichischen Bevölkerung, gegen sich gehabt. Wenn eine
Revolution sicher war und Aussicht auf Erfolg hatte, so gegen
Oesterreich. Die demokratische Einigung des Reiches wäre die Folge
gewesen. Der Sieg Preußens schloß das aus. Und noch ein anderes. Der
Ausschluß Deutsch-Oesterreichs aus der Reichsgemeinschaft — von der
Preisgabe Luxemburgs nicht zu reden — hat zehn Millionen Deutsche in
eine fast trostlose Lage versetzt. Unsere „Patrioten“ geraten in
nationale Raserei, wird irgendwo im Ausland ein Deutscher mißhandelt,
aber an dem Stück kulturellen Mords, der an den zehn Millionen Deutschen
in Oesterreich begangen wurde, nehmen sie keinen Anstoß.

Uebrigens hatten wenige Jahre vor 1866 ähnliche Erörterungen unter
unseren Großen stattgefunden, was erst später zu meiner Kenntnis kam.

In einem Briefe an Lassalle vom 19. Januar 1862 schrieb Lothar Bucher —
also zwei Jahre vor seinem Eintritt in Bismarcks Dienste — über den
Fall eines Krieges mit Frankreich, in dem Preußen siege: „Ein Sieg der
Militärs, das heißt der preußischen Regierung, wäre ein Uebel.“

Mitte Juni 1859 schrieb Lassalle an Marx: „Nur in dem _populären_ Krieg
gegen Frankreich ... sehe ich ein Unglück. In dem bei der Nation
_unpopulären Kriege aber ein immenses Glück für die Revolution_....“
Lassalle ging noch weiter und führte aus: „Eine Besiegung Frankreichs
wäre auf lange Zeit das konterrevolutionäre Ereignis par excellence.
Noch immer steht es so, daß Frankreich, trotz aller Napoleons, Europa
gegenüber die Revolution, Frankreichs Besiegung ihre Besiegung
darstellt.“ Und Ende März 1860 schrieb Lassalle an Engels: „Nur zur
Vermeidung von Mißverständnissen muß ich bemerken, daß ich übrigens auch
im _vorigen_ Jahre, als ich meine Broschüre schrieb (Der italienische
Krieg), _sehnlichst_ wünschte, daß Preußen den Krieg gegen Napoleon
mache. _Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung, daß die Regierung
ihn mache, er aber beim Volke unpopulär und so verhaßt wie möglich sei.
Dann freilich wäre er ein großes Glück gewesen_.“[6] (Zugunsten der
Revolution.)

Und in seinem Vortrag: Was nun?, den Lassalle im Oktober 1862 hielt,
sagt er in der ersten Auflage auf Seite 33 bis 34: „Endlich aber ist die
Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen _eine
Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die Existenz der
Nation in sich schlösse_. Wenn Sie, meine Herren, die Geschichte genau
und mit innerem Verständnis betrachten, so werden Sie sehen, daß die
Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so riesenhafte und
gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa vorleuchtende sind,
daß an der Notwendigkeit und Unveräußerlichkeit unserer nationalen
Existenz gar nicht gezweifelt werden kann. Geraten wir also in einen
großen äußeren Krieg, _so können in demselben wohl unsere einzelnen
Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische, zusammenbrechen,
aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche derselben unzerstörbar
erheben das, worauf es uns allein ankommen kann — das deutsche Volk_.“ —

Der Ausgang des Krieges schien uns einen unerwarteten Erfolg in den
Schoß werfen zu sollen. Eines Tages erschien Liebknecht freudestrahlend
in meiner Werkstatt und teilte mir mit, er habe die „Mitteldeutsche
Volkszeitung“ gekauft, die die Leipziger Liberalen preisgegeben hatten,
weil das Defizit der Zeitung täglich größer wurde. Der Abonnentenstand
des Blattes war in wenig Wochen von 2800 auf 1200 gefallen. Mich
erschreckte diese Nachricht, denn wir hatten keinen Pfennig Geld, und es
war ganz ausgeschlossen, daß wir unter den damaligen Verhältnissen das
Blatt in die Höhe bringen konnten. Außerdem hatten wir mit der
preußischen Okkupation zu rechnen. Liebknecht suchte mich zu trösten.
Geld verlange der Verleger zunächst nicht, und was sonst nötig sei,
würden wir schaffen. Er war glücklich, Besitzer eines Blattes zu sein,
in dem er seine Ansichten vertreten konnte. Und das tat er weidlich und
so gründlich, daß man glauben konnte, nicht die Preußen, sondern er sei
Herr in Sachsen. Natürlich dauerte die Freude nicht lange. Das Blatt
wurde unterdrückt. Ich war über diese Maßregel nicht erbost, obgleich
ich mich hütete, ihm das zu sagen. Wir waren aus einer großen
Verlegenheit gerettet worden, denn der kühne Plan, den wir gefaßt
hatten, 5000 Anteilscheine à 1 Taler in den deutschen Arbeitervereinen
unterzubringen, hätte ein großes Fiasko erlebt.

FUSSNOTEN:

[6] Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels.
Stuttgart 1902.



Nach dem Krieg.


Die Folge des Krieges war bekanntlich die Schaffung des Norddeutschen
Bundes, in dem der Riese Preußen neben lauter staatlichen Zwergen die
Führung hatte. Da nunmehr auch der Zusammentritt eines norddeutschen
Reichstags auf Grund des allgemeinen Wahlrechts in Aussicht stand, war
für uns eine festere politische Organisation geboten und ein Programm
nötig, um das die neue Partei sich scharte. Daß das Programm offen
sozialdemokratisch sein konnte, war angesichts der Stellung, die ein
Teil der führenden Elemente, Professor Roßmäßler und andere, einnahm,
ausgeschlossen, auch war noch ein Teil der Arbeitervereine politisch zu
rückständig, als daß wir einen solchen Schritt wagen konnten. Es wäre zu
einer Spaltung gekommen, und die mußte in diesem Stadium der Entwicklung
vermieden werden. Endlich war auch die Ansicht maßgebend, daß bei der
Stimmung, die damals noch erhebliche Teile des Bürgertums wegen der eben
stattgehabten kriegerischen Ereignisse und der Zerreißung Deutschlands
in drei Teile beherrschte, es nötig sei, alle Kräfte für eine
Demokratisierung Deutschlands zusammenzufassen.

Auf den 19. August beriefen wir nach Chemnitz eine Landesversammlung, an
der auch Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
(Fritzsche, Försterling, Röthing und andere) teilnahmen, um die neue
demokratische Partei zu gründen. Das angenommene Programm lautete:


Forderungen der Demokratie.

1. Unbeschränktes Selbstbestimmungsrecht des Volkes. Allgemeines,
gleiches und direktes Wahlrecht mit geheimer Abstimmung auf allen
Gebieten des staatlichen Lebens (das Parlament, die Kammern der
Einzelstaaten, die Gemeinden usf.). Volkswehr an Stelle der stehenden
Heere. Ein mit größter Machtvollkommenheit ausgestattetes Parlament,
welches namentlich auch über Krieg und Frieden zu entscheiden hat.

2. Einigung Deutschlands in einer demokratischen Staatsform. Keine
erbliche Zentralgewalt. — Kein Kleindeutschland unter preußischer
Führung, kein durch Annexion vergrößertes Preußen, kein Großdeutschland
unter österreichischer Führung, keine Trias. Diese und ähnliche
dynastisch-partikularistischen Bestrebungen, welche nur zur Unfreiheit,
Zersplitterung und Fremdherrschaft führen, sind von der demokratischen
Partei auf das entschiedenste zu bekämpfen.

3. Aufhebung aller Vorrechte des Standes, der Geburt und Konfession.

4. Hebung der leiblichen, geistigen und sittlichen Volksbildung.
Trennung der Schule von der Kirche, Trennung der Kirche vom Staat und
des Staates von der Kirche, Hebung der Lehrerbildungsanstalten und
würdige Stellung der Lehrer, Erhebung der Volksschule zu einer aus der
Staatskasse zu erhaltenden Staatsanstalt mit unentgeltlichem Unterricht.
Herbeischaffung von Mitteln und Gründung von Anstalten zur Weiterbildung
der der Volksschule Entwachsenen.

5. Förderung des allgemeinen Wohlstandes und Befreiung der Arbeit und
der Arbeiter von jeglichem Druck und jeglicher Fessel. Verbesserung der
Lage der arbeitenden Klasse. Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, allgemeines
deutsches Heimatsrecht, Förderung und Unterstützung des
Genossenschaftswesens, namentlich der Produktivgenossenschaften, damit
der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ausgeglichen werde.

6. Selbstverwaltung der Gemeinden.

7. Hebung des Rechtsbewußtseins im Volke. Durch Unabhängigkeit der
Gerichte, Geschworenengerichte, namentlich auch in politischen und
Preßprozessen; öffentliches und mündliches Gerichtsverfahren.

8. Förderung der politischen und sozialen Bildung des Volkes durch freie
Presse, freies Versammlungs- und Vereinsrecht, Koalitionsrecht.

Dieses Programm ließ an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig. Die
Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins hatten demselben
ebenfalls zugestimmt, sie wurden aber durch v. Schweitzer genötigt, sich
von der neuen Parteibildung fernzuhalten. Mißtrauisch und unzufrieden
war auch Roßmäßler, dem die sozialen Forderungen zu weit gingen und der
in dem Programm den sozialistischen Pferdefuß entdeckte. Als ich kurz
nach der Landesversammlung ihn besuchte, machte er aus seiner
Mißstimmung kein Hehl. Er glaubte mich nachdrücklich vor Liebknecht
warnen zu sollen, der ein gefährlicher Mensch, ein verkappter Kommunist
sei. Ich suchte ihn zu beruhigen, konnte aber nicht verhindern, daß er
bis zu seinem Tode im nächsten Frühjahr noch manche Enttäuschung
erlebte. So schmerzte es ihn, daß, als er es ablehnte, eine
Reichstagskandidatur für Leipzig zu übernehmen, sein persönlicher Gegner
Wuttke von uns aufgestellt wurde. Roßmäßler hatte die merkwürdige Idee,
das Parlament von 1849 bestehe noch zu Recht, und so müßte Löwe-Calbe,
der der letzte Präsident jenes Parlaments gewesen war — weshalb er sich
gern den letzten Präsidenten des ersten deutschen Parlaments nennen
hörte —, dasselbe einberufen. In der Tat hatte Löwe-Calbe einige Jahre
zuvor auf einem Abgeordnetentag erklärt, er betrachte sich als den
legitimen Erben des Parlaments von 1849 und werde gegebenenfalls
dasselbe wieder einberufen. Er hat sich aber nachher gehütet, sich
gründlich lächerlich zu machen.

       *       *       *       *       *

Unter dem 7. November 1866 veröffentlichte der Vorsitzende des ständigen
Ausschusses, Staudinger, ein Flugblatt, in dem er sich über die
mittlerweile in Deutschland eingetretenen Veränderungen aussprach. Das
Flugblatt unterzog die durch den Prager Frieden geschaffene Lage einer
absprechenden Kritik. Für die Volksfreiheit und die Volksrechte sei
wenig zu hoffen, dagegen sei das System der stehenden Heere, wenigstens
im Norden Deutschlands, auf lange Jahre festgelegt. An eine Verminderung
der Staatsausgaben und namentlich an eine Herabsetzung oder Aufhebung
der indirekten Steuern sei gegenwärtig weniger zu denken als je. Es
stehe vielmehr eine Vergrößerung dieser Lasten in sicherer Aussicht.

Weniger glücklich war das Flugblatt in der Kritik der herrschenden
sozialen Zustände, wobei es die in den Einzelstaaten noch vielfach
bestehenden rückständigen wirtschaftlichen Einrichtungen im Auge hatte,
deren Beseitigung gerade in erster Linie die neue Ordnung der Dinge
herbeiführen mußte, sollte sie überhaupt einen Sinn haben. Es galt vor
allem, die Bedürfnisse der Bourgeoisie nach freier Entfaltung ihrer
Kräfte zu befriedigen.

Neben den Schattenseiten, die nach Staudingers Ansicht die Katastrophe
der letzten Monate erzeugte, seien indes auch einzelne Lichtseiten,
wenigstens negativer Art, vorhanden. Zwei Erscheinungen seien
insbesondere für den Arbeiterstand von großer Bedeutung. Einmal, daß die
große Mehrheit der Fortschrittspartei sich als _vollständig unfähig_ zur
politischen und sozialen Neugestaltung des Vaterlandes gezeigt habe, was
der Verfasser näher ausführte. Die zweite erfreuliche Erscheinung sei,
daß die Arbeiter in ganz Deutschland sich für die allgemeine Einführung
des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes und eine freie
Sozialgesetzgebung ausgesprochen hätten.

Das Flugblatt meinte schließlich, die Erfahrungen des Jahres 1866 hätten
gezeigt, daß zur Spaltung innerhalb des Arbeiterstandes kein Anlaß
vorhanden sei, vielmehr sei gegenüber der durch die Fortschrittspartei
verstärkten Gegnerschaft Einigkeit und Einmütigkeit mehr als je not.

„Die wichtige Forderung des allgemeinen und direkten Stimmrechtes ist
gemeinsames Losungswort der beiden Richtungen. Beide verlangen ferner
gänzliche Umgestaltung der die Arbeit ausbeutenden Steuersysteme,
Aenderung des den Bürger zum Hörigen erniedrigenden Heerwesens. Die
große Bedeutung der Koalitionen und Genossenschaften und damit die
Notwendigkeit einer Umgestaltung der Produktionsverhältnisse wird von
keiner Seite in Abrede gestellt. Der Streit aber um den geringeren oder
höheren Grad _von Pflichten des Staates gegen den einzelnen_ (auch im
Original gesperrt) ist vorerst ein müßiger, solange die Staatsgewalt, an
den feudalen Traditionen festhaltend, über die Bürger wie über eine
willenlose Herde verfügt, und solange das Schwert die politische
Umgestaltung des Vaterlandes diktiert, das Schwert, das, wenn es statt
der Freiheit nur verhaßten Zwang schafft, uns allen Boden für unsere
Bestrebungen zu einer friedlichen Lösung der sozialen Fragen zu
entziehen droht.“

Zum Schlusse forderte der Aufruf die Arbeiter auf, frisch ans Werk zu
gehen und allen Hader schwinden zu lassen.

Dieser Aufruf war von Staudinger persönlich veröffentlicht worden. Der
ständige Ausschuß war um seine Meinung nicht befragt worden. Wir wurden
durch das Flugblatt überrascht. Ich, der ich Staudinger näher kannte,
war der Ansicht, daß es Staudingers Anschauungen nicht entsprechen
könne. Und meine Vermutung bestätigte sich. Von seinen fortschrittlichen
Nürnberger Freunden über das Flugblatt zur Rede gestellt, gestand er,
daß _Sonnemann_ der Verfasser desselben sei und er es nur unterschrieben
habe.

Die in greifbare Nähe gerückten Wahlen zum norddeutschen Reichstag
nötigten uns zu einer intensiven Agitations- und Organisationsarbeit,
die jedem von uns schwere Opfer auferlegte. In den Augen unserer
bürgerlichen Gegner sind die sozialdemokratischen Agitatoren Leute, die
sich von den Arbeitergroschen mästen. Hatte eine solche Anschuldigung
_nie_ Berechtigung, so am wenigsten in jener Zeit, von der ich eben
spreche. Es gehörte ein großes Maß von Begeisterung, Ausdauer und
Opfermut für die Sache dazu, um die Agitationsarbeit zu übernehmen. Der
Agitator mußte froh sein, wenn er seine baren Auslagen ersetzt erhielt,
und um diese möglichst herabzudrücken, betrachtete man es als
selbstverständlich, daß er jede Einladung, bei einem Parteigenossen zu
wohnen, annahm. Hier erlebte man aber manchmal merkwürdige Dinge. Mehr
als einmal geschah es, daß ich mit den Eheleuten in demselben Raume
schlafen mußte; ein andermal passierte es, daß unter dem Sofa, auf dem
ich meine Nachtruhe hielt, die Hauskatze ihre Jungen zur Welt brachte,
was nicht ohne Geräusch und Miauen abging. Wieder ein andermal wurde ich
mit meinem Freunde Motteler in später Nacht auf dem Boden eines Hauses
einquartiert, der mit Garnsträhnen angefüllt war, die der Faktor an die
Hausweber abzugeben hatte. Als ich früh am Morgen durch die Sonne, deren
Strahlen durch eine Dachluke mir ins Gesicht fielen, geweckt wurde,
entdeckte ich, daß ich in einem Quantum gelber Garne und Mottelers
schwarzlockiger Kopf in einem Haufen purpurroter Garne lagerte, ein
Anblick, der mich dermaßen zum Lachen reizte, daß Motteler erwachte und
verwundert fragte, was los sei! Aehnliche Erlebnisse hatte zu jener Zeit
und auch noch später jeder durchzumachen, der für die Partei
agitatorisch arbeitete. Liebknecht war damals in der Agitation besonders
tätig. Unerwarteterweise wurde er in dieser Tätigkeit auf Monate
lahmgelegt. In Preußen war nach dem Kriege eine umfassende Amnestie
erlassen worden. Liebknecht, im Glauben, seine Ausweisung aus Preußen
sei damit ebenfalls hinfällig geworden, ging Anfang Oktober nach Berlin
und hielt im Buchdruckerverein einen Vortrag. Er wurde noch an demselben
Abend festgenommen und nachher wegen Bannbruch zu drei Monaten Gefängnis
verurteilt, die er in der Stadtvogtei verbüßte, behandelt wie ein
gemeiner Verbrecher. So wurde ihm zum Beispiel bereits abends 6 Uhr das
Licht entzogen, was er besonders hart empfand. Seinem Widerpart J.B.v.
Schweitzer erging es darin weit besser. Diesem wurden in seiner Haft
Freiheiten und Annehmlichkeiten gestattet, die seitdem nie wieder ein
politischer Gefangener in einem preußischen Gefängnis genossen hat.

Die Wahlen zum konstituierenden norddeutschen Reichstag waren für Anfang
Februar 1867 angesetzt worden. Das veranlaßte uns, zu Weihnachten 1866
nach Glauchau eine Landesversammlung zu berufen, um die Kandidaten
aufzustellen. Die materiellen Mittel und die agitatorischen Kräfte
nötigten uns, auf solche Wahlkreise uns zu beschränken, in denen die
Organisation eine gute war. Das war in erster Linie der 17. Wahlkreis,
Glauchau-Meerane, in dem ich als Kandidat aufgestellt wurde, der 18.
Wahlkreis, Crimmitschau-Zwickau, in dem Rechtsanwalt Schraps
kandidierte, und der 19. Wahlkreis, Stollberg-Lugau-Schneeberg, den
Liebknecht zugewiesen erhielt. Da dieser aus seiner Haft in Berlin erst
in der zweiten Hälfte des Januar frei kam, konnte er seinen Wahlkreis
nur ungenügend bearbeiten, und so fiel er durch. Schraps und ich
siegten. Ich hatte vier Gegenkandidaten, darunter Fritzsche als Mitglied
des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der aber nur gegen 400
Stimmen erhielt. In einer großen Wählerversammlung in Glauchau trat er
mir gegenüber, zog aber entschieden den kürzeren. Politisch war ich ihm
voraus, und in sozialistischer Beziehung blieb ich nicht hinter ihm
zurück. Ich kam mit 4600 Stimmen erheblich in Vorsprung über meinen
nächsten Gegner und siegte in der engeren Wahl mit 7922 Stimmen. Auf
meinen Gegner fielen 4281 Stimmen.

Der Wahlkampf wurde schon damals oft in sehr unehrlicher Weise geführt.
So hörte ich eines Tages, als ich in den Wahlkreis reiste, in einem
Nebenabteil des Bahnwagens einen Herrn gewaltig über mich losziehen. Ich
hätte in Glauchau den Webern doppelten Lohn und achtstündige Arbeitszeit
in Aussicht gestellt, falls sie mich wählten. Diese Lügen wurmten mich.
Ich stand auf und frug den Ankläger, ob er das, was er soeben erzählt,
von Bebel selbst gehört habe. Das bejahte er. Darauf nannte ich ihn
einen unverschämten Lügner, und als er gegen mich auffahren wollte,
nannte ich meinen Namen. Nun wurde er sehr kleinlaut und erntete von den
Passagieren Hohn und Spott. Auf der nächsten Station verließ er eiligst
den Wagen.

Das Jahr 1867 brachte zwei allgemeine Reichstagswahlen. In der ersten
Wahl im Februar wurde die konstituierende Versammlung gewählt, die die
künftige Verfassung zu beraten hatte und nach Erledigung dieser Mission
aufhörte zu existieren. Die Wahlen für die erste Legislaturperiode, die
Ende August stattfanden, ergaben von unserer Seite die Wahl von
Liebknecht, Schraps, Dr. Götz-Lindenau — der Turnergötz, der damals ein
roter Republikaner war — und mir. Von den Lassalleanern wurde J.B.v.
Schweizer und Dr. Reincke — der, als er später sein Mandat niederlegte,
durch Fritzsche ersetzt wurde — und in einer Nachwahl Hasenclever
gewählt. Da mittlerweile vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sich
ein Teil unter der Patronage der Freundin Lassalles, der Gräfin v.
Hatzfeldt, losgelöst und einen Lassalleschen Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein gebildet hatte, erhielt auch diese Fraktion einen
Vertreter in der Person Försterlings und später einen zweiten in der
Person Mendes, der Försterlings Nachfolger im Präsidium wurde. Mende war
ein Hohlkopf, der sich in den Diensten der Gräfin physisch so
heruntergebracht hatte, daß er ohne eine Morphiuminjektion nicht zu
reden wagte und seine Reden in der Regel mit den Worten schloß: ich habe
gesprochen, was jedesmal große Heiterkeit im Reichstag erregte.

Ueber meine Stellung und Tätigkeit im Reichstag später.



Die Weiterentwicklung.


In der Sitzung des ständigen Ausschusses, die Ende März 1867 in Kassel
abgehalten wurde, aber nur von wenigen Mitgliedern besucht war, mußte
festgestellt werden, daß die politischen Ereignisse des letzten Jahres
eine geradezu verheerende Wirkung auf die Vereine ausgeübt hatten. Die
Kasse war leer, das Organ des Verbandes, die „Allgemeine
Arbeiterzeitung“, war, wie schon mitgeteilt, eingegangen, eine
Monatsschrift, „Die Arbeit“, die Dr. Pfeiffer-Stuttgart herausgegeben
und Sonnemann gedruckt hatte, war ebenfalls nach kurzer Lebensdauer
wieder verschwunden. Dazu kam, daß die Leitung des Verbandes nicht in
den rechten Händen war. Der Ausschuß beschloß, ein neues
Verbandsorgan herauszugeben, das unter dem Titel „Arbeiterhalle“ von
Eichelsdörfer-Mannheim redigiert werden und alle vierzehn Tage
erscheinen sollte. Ich wurde sein eifrigster Mitarbeiter. Das Blatt
erschien vom 1. Juni 1867 bis zum 4. Dezember 1868, an welchem Tage es
einging zugunsten des Anfang Januar 1868 von uns in Leipzig gegründeten
und von Liebknecht redigierten „Demokratischen Wochenblattes“. Endlich
wurde beschlossen, zum Herbst wieder einen Vereinstag einzuberufen.

Mit der Gründung des „Demokratischen Wochenblattes“ war einem von uns
allen tief empfundenen Bedürfnis Genüge geleistet. Wir hatten bis dahin
kein Organ zur Verfügung gehabt, in dem wir unsere Ansichten vertreten
konnten, damit war auch keine Möglichkeit gegeben, die politische und
soziale Aufklärung unserer Anhänger genügend zu betreiben, und das tat
vor allem not. Auch waren wir den Angriffen unserer Gegner gegenüber
waffenlos. Freilich legte uns das Blatt große Opfer auf, aber sie wurden
gern gebracht, denn es war das wichtigste Kampfmittel, das wir hatten.

Die Lauheit in der Leitung des Verbandes der Arbeitervereine veranlaßte
mich, in häufigen Briefen Staudinger vorwärts zu schieben. Ende Mai 1867
schrieb ich ihm, ich schätzte nach allem, was uns der Norddeutsche Bund
bis jetzt gebracht habe und noch bringen werde, als den größten Vorteil,
daß die Massen in einer Weise aufgeregt wurden wie seit dem Jahre 1848
nicht, und daß wir dadurch zu vielen neuen Verbindungen gekommen seien,
die wir im Interesse der Bewegung ausnutzen müßten. Er solle Verbindung
mit der Internationale anknüpfen. Ich protestierte dagegen, daß immer
noch Versuche gemacht würden, die Arbeitervereine von der Politik
fernzuhalten. Auch sei eine neue Organisation zu erwägen, die Luft im
Norddeutschen Bund lasse befürchten, daß man gegen die Arbeitervereine
losgehe.

In Sachsen war das politische Leben in den Vereinen besonders rege,
ununterbrochen agitierten wir, um die Massen zu gewinnen. Pfingsten 1867
hatten wir wieder einen Arbeitertag nach Frankenberg einberufen, dem ich
präsidierte, der sich in erster Linie mit einer Petition zur Reform des
sächsischen Gewerbegesetzes befaßte. Wir verlangten zehnstündigen
Normalarbeitstag, Abschaffung der Sonntagsarbeit, Abschaffung des
Koalitionsverbots, Abschaffung der Kinderarbeit in Fabriken und
Werkstätten, Vertretung der Arbeiter in den Gewerbekammern und
Gewerbegerichten, Selbstverwaltung der Arbeiterkassen, Vereinbarung der
Fabrik- und Werkstättenordnungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber.
Vahlteich als Referent über die Frage: Wie haben sich die
Arbeitervereine den politischen Parteien gegenüber zu verhalten und wie
gegenüber der sächsischen Regierung? schlug als Resolution vor: Die
Versammlung möge die von Schulze-Delitzsch zur Lösung der sozialen Frage
vorgeschlagenen Mittel als unzureichend verwerfen und erklären, daß
diese Frage nur in einem demokratischen Staat unter Intervention der
Gesamtheit gelöst werden könne. Weiter empfahl er das Lesen
sozialistischer Schriften und Zeitungen. Die Resolution rief ziemliche
Erregung bei einer Minderheit hervor, und so glaubte ich durch eine
vermittelnde Resolution die erregten Gemüter beschwichtigen zu sollen.
Darin hatte ich mich getäuscht. Die Vahlteichsche Resolution wurde gegen
7, die meine gegen 9 Stimmen angenommen. Als Ort für den nächsten
deutschen Vereinstag wählte die Versammlung Gera, für das sich auch der
ständige Ausschuß erklärte.

Dieser Vereinstag — der vierte — wurde am 6. und 7. Oktober abgehalten.
Vertreten waren 37 Vereine und 3 Gauverbände durch 36 Delegierte. Ein
Neuling unter den letzteren war der freireligiöse Prediger Uhlig aus
Magdeburg, ein über mittelgroßer Mann mit langem weißem Haar.
Unglücklicherweise hatte die Natur ihm in das nicht unsympathische
Gesicht eine ungeheure Nase gesetzt, die sehr störend wirkte. Zum
Vorsitzenden des Vereinstags wurde durch das Los unter den drei
Kandidaten, die gleiche Stimmenzahl hatten, der Schriftsteller
Wartenburg-Gera bestimmt. Im Laufe seiner Verhandlungen ehrte der
Vereinstag das Andenken Bandows-Berlin, der im Hochsommer 1866, und
Professor Roßmäßlers, der im April 1867 gestorben war. Ueber die
Schulfrage referierte Uhlig in einem etwas schwammigen Referat, das in
sechzehn Postulaten gipfelte. Der Vereinstag erledigte dasselbe, indem
er in einer Resolution erklärte, ihm „im allgemeinen“ seine Zustimmung
zu geben. In der Organisationsfrage, über die Hochberger und Motteler
referierten, gelang es endlich, im wesentlichen die Anschauungen zur
Geltung zu bringen, die ich seit Jahren vertreten hatte. Nach Artikel IV
wählte der Vereinstag einen Präsidenten, der an der Spitze eines weitere
sechs Mitglieder umfassenden Vorstandes stehen sollte. Letzterer wurde
von dem Verein gewählt, dem der Präsident angehörte. Der Sitz dieses
Vereins war der Vorort des Verbandes. Ferner wurde bestimmt, daß der
Vorortsvorstand für seine Mühewaltung jährlich 300 Taler beziehen solle.
Neben dem Vorstand sollten 16 Vertrauensmänner, die über Deutschland
verteilt sein sollten, gewählt werden, die die Geschäftsführung des
Vorstandes kontrollieren und in wichtigen Angelegenheiten zu Rate
gezogen werden sollten. Bei der Wahl des Präsidenten fielen von 33
Stimmen 19 auf mich, 13 auf Dr. Max Hirsch, 1 auf Krebs-Berlin. Damit
war Leipzig Vorort. Die neue Richtung hatte gesiegt. Es war erreicht,
was lange von mir erstrebt worden war. Der Verband wurde jetzt
einigermaßen aktionsfähig.

Einen anderen Punkt der Tagesordnung bildete ein Referat von mir über
die Lage der Bergarbeiter. Dasselbe war veranlaßt durch ein großes
Unglück im Lugauer Kohlenrevier im Sommer 1867, bei dem 101 Arbeiter
getötet wurden, die 50 Witwen und zirka 150 Kinder hinterließen. Ich
hatte im Auftrag des Arbeiterbildungsvereins eine Sammlung veranstaltet,
die an 1400 Taler ergab. Die vereinbarte und angenommene Resolution
besagte:

„Die in letzter Zeit im Bergbau vorgekommenen Unglücksfälle machen es
den Arbeitern zur Pflicht, die Landesregierungen zu veranlassen, daß
Gesetze geschaffen werden, wonach jeder Arbeitgeber oder Unternehmer
eines industriellen Etablissements die Verpflichtung hat, für jeden
Schaden, den der Arbeiter während der Verrichtung seiner Tätigkeit
erleidet und durch Fahrlässigkeit seitens des ersteren entstanden ist,
einzutreten. Insbesondere wird bezüglich der Bergarbeiter als
notwendig erkannt: 1. Strengste Kontrolle des Staates über
die Bergwerksgesellschaften. 2. Gesetzliche Einführung des
Zweischachtsystems, bestehend in einem Förder- und einem
Sicherheitsschacht. 3. Einführung des Entschädigungsprinzips an die
Verunglückten und deren Hinterlassenen auf Grund eines zu erlassenden
Gesetzes, sowie strengste Handhabung der Bestimmungen in bezug auf
Tötung oder Beschädigung aus Fahrlässigkeit. 4. Entschiedene Bekämpfung
der einseitigen Einführung sogenannter Knappschaftsordnungen
(Geldstrafen, Gedingwesen, Knappschaftskassen betreffend) durch
Werkbesitzer und Werkgenossenschaften ohne Vereinbarung und Zustimmung
der Arbeiter. 5. Verwaltung der Knappschaftskassen durch die Arbeiter.“

       *       *       *       *       *

Es war das erste Mal, daß ein deutscher Arbeitertag den Erlaß eines
Haftpflichtgesetzes forderte, ein Verlangen, das dann im Jahre 1872
durch die Reichsgesetzgebung, allerdings in ungenügender Weise, erfüllt
wurde.

In der Wehrfrage wurde von einem Referat wegen Mangel an Zeit Abstand
genommen, doch entschloß man sich zu einer Resolution, die bei den
vorhandenen widersprechenden Ansichten ein faules Kompromiß darstellte,
was veranlaßte, daß die Frage abermals auf dem nächsten Vereinstag in
Nürnberg verhandelt wurde.

Mit der neuen Organisation zog auch ein neuer Geist in den Verband ein.
Es galt vor allem, die Mehrzahl der Vereine aus ihrer bisherigen
Gleichgültigkeit zu reißen und sie zu tatkräftigem Handeln anzuregen.
Das konnte nur geschehen, indem man ihnen Aufgaben stellte und deren
Erfüllung von ihnen forderte. Von jetzt ab erschien fast keine Nummer
der „Arbeiterhalle“, an deren Spitze nicht ein von mir verfaßter Aufruf
des Vorortsvorstandes stand, der die Tätigkeit der Vereine für die
verschiedensten Angelegenheiten in Anspruch nahm. Der Erfolg blieb nicht
aus. Allmählich kam Leben in die Vereine. Nun wurden auch die mäßigen
Verbandssteuern mit bisher nicht gekannter Pünktlichkeit bezahlt. In der
Vorortsverwaltung gestalteten sich aber die Dinge so, daß fast die ganze
Last der Geschäfte auf mich fiel. Ich war Vorsitzender, Schriftführer
und Kassierer in einer Person. Nur die Protokolle der Sitzungen des
Vorortsvorstandes und die Ordnung der Akten führte der gewählte
Schriftführer. Im Vorortsvorstand saß unter anderen auch Rechtsanwalt
Otto Freytag, der aber bald seine Stelle niederlegte, ferner Chr.
Hadlich und P. Ulrich. Der Verkehr und die daraus entstehende
Korrespondenz mit den Vereinen wuchs allmählich ins Riesenhafte. Am
Schlusse des ersten Geschäftsjahres — Ende August 1868 — betrug die Zahl
der Eingänge nur 253, die der Ausgänge nur 543, immerhin erheblich mehr
als bisher. Aber vom Nürnberger Vereinstag, Anfang September 1868, bis
zum Eisenacher Kongreß, Anfang August 1869, erreichten die Eingänge die
Zahl 907, die Ausgänge die Zahl 4484, darunter die größere Hälfte
Streifbandsendungen, alles übrige waren Briefe und oft lange Briefe von
mir.

Zu dieser Arbeit kamen die Sitzungen der Vorortsverwaltung, die Leitung
des Arbeiterbildungsvereins, die Tätigkeit im norddeutschen Reichstag
und Zollparlament, zahlreiche Agitationsreisen und vom Herbst 1868 ab
die ständige Mitarbeiterschaft am „Demokratischen Wochenblatt“, dessen
ganzen Arbeiterteil ich schrieb. Daß ich bei einer solchen Tätigkeit
meine junge Frau und mein kleines Geschäft in unverantwortlicher Weise
vernachlässigte, ist naheliegend, und so war es nur erklärlich, daß mir
in finanzieller Beziehung öfter das Wasser bis an den Hals stand und ich
manchmal kaum ein und aus wußte.

Da ich eine ähnliche Tätigkeit, wie ich sie entfaltete, auch von anderen
forderte, hatte ich wiederholt an Vahlteich geschrieben und ihn
gedrängt, rühriger zu sein. Dafür wusch er mir in einem Briefe vom 25.
Mai 1869 den Kopf. Darin hieß es:

„Lieber Freund. Vor Monaten schriebst Du mir einen ähnlichen
aufmunternden Brief wie den vom vorgestrigen Tage. Meine Antwort darauf
machte aber auf Dich einen ‚kläglichen‘ Eindruck. Das glaube ich nun
wohl, ich will Dich aber doch bitten, dem, was ich Dir schreibe, den
Wert der Wahrheit beizulegen, indem ich daran erinnere, wie ich in
ähnlicher Situation wie Du, in ähnlicher Weise mit fieberhafter,
aufopfernder Ungeduld gearbeitet habe.

Wenn ich jetzt vom ‚Erzwingen wollen‘ abgekommen bin, so ist nicht die
Faulheit die Ursache, sondern die mühsam genug errungene Ueberzeugung,
daß sich gewisse Dinge mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln einfach
nicht erzwingen lassen; ich bin dafür, daß man immer für unsere
Grundsätze arbeitet, daß man sich aber nicht für diese aufreiben müsse.

Von diesem Gesichtspunkt muß ich offen aussprechen: Ich fürchte, Du
richtest Dich zugrunde nach mehr als einer Richtung hin. Irre ich mich,
so ist das im Interesse der Sache sehr gut, und mir soll es lieb sein;
soweit ich aber die Dinge beurteilen kann, begreife ich zurzeit nicht,
wie Du Deine agitatorische, überhaupt öffentliche Tätigkeit auf die
Dauer fortführen willst....“

Schließlich erklärte er, für ihn stehe die Sache so, daß er entweder
seine agitatorische Tätigkeit oder seine geschäftliche Stellung aufgeben
müsse.

Auf die letztere Bemerkung möchte ich anführen, daß in dieselbe Lage
wie Vahlteich im Laufe der Jahre eine große Zahl von Parteigenossen kam.
Wenn unsere Gegner noch heute gern darauf hinweisen, daß zum Beispiel in
der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion kein wirklicher Arbeiter
sitze, so aus dem einfachen Grunde, weil jeder Arbeiter, der für die
Sozialdemokratie öffentlich tätig ist, _sofort aufs Pflaster fliegt_.
Entweder er schweigt, oder die Partei, die Agitatoren, Redakteure,
Verwaltungsleute nötig hat, gibt ihm eine Stelle. Noch schlimmer erging
es von jeher den selbständigen Gewerbetreibenden in der Partei. Da
schreien unsere Gegner über den Terrorismus der Sozialdemokratie. O,
diese Heuchler. Niemand treibt schlimmeren Terrorismus als sie. Wieviel
brave Parteigenossen habe ich im Laufe der Jahrzehnte am Terrorismus der
Gegner verbluten sehen.

Da war zum Beispiel Jul. Motteler, ein Mann von hohem Idealismus, der,
als er sich 1867 an der Wahlagitation beteiligte, seine Stelle in einem
Fabrikkontor gekündigt bekam. Um den Gegnern nicht den Gefallen zu tun
und das Feld zu räumen, gründete er eine Spinn- und Webgenossenschaft
mit beschränkter Haftung in Crimmitschau. Dieselbe gedieh auch einige
Jahre. Als aber der Krieg von 1870/71 kam und die Liberalen über unsere
Haltung wütend waren, kündigte man der Genossenschaft den Bankkredit;
sie wurde zur Zahlungseinstellung gezwungen. Jetzt opferte Motteler sein
ganzes Vermögen, um die Gläubiger nach Möglichkeit zu befriedigen. Er
trat nunmehr in die Leitung der Leipziger Buchdruckereigenossenschaft
ein. Aus ähnlichen Vorkommnissen erklärt sich auch die Erscheinung, daß,
wenn es unter den sozialistischen Abgeordneten und der Führerschaft
überhaupt so viele Tabak- und Zigarrenhändler und Restaurateure gibt,
diese Berufe ergriffen werden mußten, weil sie fast die einzigen sind,
in denen die Gemaßregelten von der Parteigenossenschaft gehalten werden
können. Und was habe ich selbst in fünfundzwanzigjähriger gewerblicher
Tätigkeit unter Entziehung der Kundschaft und dem Widerstreit der
Interessen zwischen öffentlicher Tätigkeit und Geschäft zu leiden
gehabt.

Wiederholt meinten Freunde in bürgerlichen Stellungen, die meine
Tätigkeit in der Arbeiterbewegung nicht begreifen konnten, ich sei ein
dummer Kerl, daß ich mich für die Arbeiter opfere. Ich solle für das
Bürgertum tätig sein und mich um die Gemeindeangelegenheiten bekümmern,
ich machte ein glänzendes Geschäft und würde bald Stadtrat sein. Das
erschien ihnen das Höchste. Ich lachte sie aus, danach strebe mein
Ehrgeiz nicht.

Wie ich die Arbeitslast — und die Jahre 1867 bis 1872 waren die
arbeitsreichsten meines Lebens, obgleich es mir bis heute nie an Arbeit
fehlte — bewältigen konnte, mochte manchem als Rätsel erscheinen. In
gewissem Sinne mir selbst, denn ich hatte auch mehrere Male mit
Krankheit zu kämpfen. Ich war zu jener Zeit ein Mann von schmaler Statur
mit hohlen Wangen und bleicher Gesichtsfarbe, was Freundinnen meiner
Frau, die unserer Verehelichung beiwohnten, zu der Aeußerung veranlaßte:
„Die Arme, den wird sie nicht lange haben!“

Zum Glück kam es anders.



Persönliches.


Für einen Mann, der im öffentlichen Leben mit einer Welt von Gegnern im
Kampfe liegt, ist es nicht gleichgültig, wes Geistes Kind die Frau ist,
die an seiner Seite steht. Je nachdem kann sie eine Stütze und eine
Förderin seiner Bestrebungen oder ein Bleigewicht und ein Hemmnis für
denselben sein. Ich bin glücklich, sagen zu können, die meine gehörte zu
der ersteren Klasse. Meine Frau ist die Tochter eines Bodenarbeiters an
der Leipzig-Magdeburger Bahn, der schon gestorben war, als ich sie
kennen lernte. Meine Braut war Arbeiterin in einem Leipziger
Putzwarengeschäft. Wir verlobten uns im Herbst 1864, kurz vor dem Tode
ihrer braven Mutter, und heirateten im Frühjahr 1866. Ich habe meine Ehe
nie zu bereuen gehabt. Eine liebevollere, hingebendere, allezeit
opferbereitere Frau hätte ich nicht finden können. Leistete ich, was ich
geleistet habe, so war dieses in erster Linie nur durch ihre
unermüdliche Pflege und Hilfsbereitschaft möglich. Und sie hat viele
schwere Tage, Monate und Jahre zu durchkosten gehabt, bis ihr endlich
die Sonne ruhigerer Zeiten schien.

Eine Quelle des Glückes und ein Trost in ihren schweren Stunden wurde
ihr unsere im Januar 1869 geborene Tochter, mit deren Geburt ein
amüsanter Vorgang verknüpft ist. Am Vormittag des betreffenden Tages saß
ich in der Stube vor meinem Schreibtisch und wartete in großer Aufregung
auf das erhoffte Ereignis, als an die Tür geklopft wurde und auf meinen
Hereinruf ein Herr in die Stube trat, der sich als Rechtsanwalt Albert
Träger vorstellte. Trägers Name war mir bereits durch seine in der
Gartenlaube veröffentlichten Gedichte und seine öffentliche Tätigkeit
bekannt. Nach unserer Begrüßung äußerte Träger verwundert: „Sie sind ja
noch ein junger Mann, ich glaubte, Sie seien ein älterer, behäbiger
Herr, der sein Geschäft an den Nagel gehangen hat und die Politik zu
seinem Vergnügen treibt.“ Ich stand in der üblichen grünen
Drechslerschürze vor ihm und antwortete lächelnd: „Wie Sie sehen, sind
Sie im Irrtum!“ Wir unterhielten uns dann, bis ich in der Nebenstube den
erwarteten Kinderschrei hörte. Jetzt gab's für mich kein Halten mehr.
Mit wenigen Worten klärte ich Träger über die Situation auf, worauf er
mir herzlich gratulierte und sich entfernte. Einige Jahre später wurden
wir Kollegen im deutschen Reichstag und blieben bis heute, trotz unserer
prinzipiell verschiedenen Standpunkte, gute Freunde.

Meine Stellung in der Arbeiterbewegung wie meine Verlobung ließen mir
meine dauernde Niederlassung in Leipzig wünschbar erscheinen. Sachsen
hatte zwar im Jahre 1863 die Gewerbefreiheit eingeführt, aber wer als
„Ausländer“ sie benutzen wollte, und das war jeder Nichtsachse, mußte
die sächsische Naturalisation erwerben. Das kostete damals viel Geld,
denn gleichzeitig mußte man sich auch in einer Gemeinde einbürgern
lassen. Zur Selbständigmachung und zur Naturalisation fehlten mir aber
die Mittel. Die letztere erforderte mit dem Bürgerwerden in Leipzig
zirka 150 Taler, und was ich von Hause erwarten konnte, waren zirka 350
Taler. Unerwarteterweise wurde ich zur Selbständigmachung gezwungen,
indem mir mein Meister Ende 1863 unter der Vorgabe, er habe keine Arbeit
mehr für mich, kündigte. In Wahrheit kündigte er mir, weil er gehört,
ich wolle mich selbständig machen. Er wollte sich also einen
Konkurrenten vom Halse halten. Ich reiste darauf nach Wetzlar und holte,
was an Geld flüssig zu machen war. Ich mietete dann ein Werkstattlokal
mitten in der Stadt, im Hofe eines Kaufhauses, das eben aus einem
Pferdestall in einen Arbeitsraum umgewandelt worden war. Das Lokal war
so primitiv, daß es noch keine Kaminanlage hatte, und ich bis zur
Fertigstellung derselben, wider alle polizeiliche Vorschrift, mein
Ofenrohr durch das Fenster in den Hof leiten mußte. Dasselbe Lokal mußte
mir auch, da meine geringen Mittel wie Butter an der Sonne
zusammengeschmolzen waren, als Schlafraum dienen, wobei ich in den
kalten Winternächten jämmerlich fror. Um die Naturalisation einstweilen
zu umgehen, hatte ich mein Geschäft unter der Firma eines befreundeten
Bürgers eröffnet, bis ich im Frühjahr 1866, um heiraten zu können, auch
die Naturalisation mit Schuldenmachen unternahm. Zwei Jahre später wären
mir viele Kosten infolge der Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes
erspart geblieben.

Ich begann mein Geschäft im kleinsten Maßstab, mit Hilfe eines
Lehrlings. Nach einigen Monaten konnte ich einen Gehilfen einstellen.
Als ich aber im Februar 1867 in den Reichstag gewählt worden war und nun
während meiner Abwesenheit meinem Gehilfen Einblicke in das Geschäft
gewähren mußte, die er sonst nicht erlangte, kündigte er mir nach meiner
Rückkunft und machte sich selbständig. Als ich diesen Vorgang später
einem ehemaligen Kollegen erzählte, meinte dieser trocken: „Das
geschieht dir recht, warum zahltest du einen Lohn, bei dem er sich Geld
sparen konnte.“ Dieser „horrende Lohn“ betrug damals 4-1/2 Taler pro
Woche, er war um einen halben Taler höher als in jeder anderen
Werkstatt, auch währte bei mir die Arbeitszeit täglich zehn Stunden,
anderwärts elf.

Im übrigen lernte ich das Elend des Kleinmeisters gründlich kennen. Die
gelieferten Waren mußten auf längeren Kredit gegeben werden, Lohn für
das Personal, Spesen und der eigene Lebensunterhalt erforderten aber
täglich und wöchentlich Ausgaben. Woher das Geld nehmen? Ich lieferte
also einem Kaufmann meine Ware gegen Barzahlung zu einem Preis, der nur
wenig höher als die Selbstkosten war. Holte ich mir aber am Samstag mein
Geld, so erhielt ich lauter schmutzige Papierscheine, von denen damals
Leipzig durch seinen Verkehr mit den thüringischen Kleinstaaten
überflutet wurde. Jeder dieser kleinen Staaten nutzte sein Münzrecht
gründlich aus und überschwemmte mit Papiergeld den Markt. Aber dasselbe
wurde allgemein gegeben und genommen und galt als Verkehrsgeld. Daneben
erhielt ich aber auch öfter Coupons irgend eines industriellen
Unternehmens, die noch nicht fällig waren, oder Dukaten, die der
Manichäer derart beschnitten hatte, daß ich statt 3 Taler 5 Groschen,
wie sie mir angerechnet wurden, beim Bankier, bei dem ich sie wechseln
mußte, oft nur 3 Taler und weniger erhielt. Aehnlich ging es mit den
Coupons. Ich war über diese Zahlungsweise wütend, aber was wollte ich
machen? Ich ballte die Faust in der Tasche und lieferte die nächste
Woche wieder Ware und holte mir die gleiche Zahlung.

Meine öffentliche Tätigkeit brachte allmählich das Unternehmertum gegen
mich auf. Man verweigerte, mir Aufträge zu geben. Das war der Boykott.
Wäre es mir nicht gelungen, außerhalb Leipzigs in anderen Städten einen
kleinen Kundenkreis auf meine Artikel (Tür- und Fenstergriffe aus
Büffelhorn) zu erwerben, ich wäre Ende der sechziger Jahre zum Bankrott
gezwungen worden. Schlimm erging es mir während der Kriegszeit 1870/71,
in der an sich schon die Arbeit stockte. Als ich dann im Winter 1870/71
mit Liebknecht und Hepner in eine hundertzweitägige Untersuchungshaft
genommen wurde, mußte mir meine Frau eines Tages die Mitteilung zugehen
lassen, daß kein Stück Arbeit mehr verlangt werde, wohl aber mußten
wöchentlich Gehilfe und Lehrling bezahlt werden. Das war eine bitterböse
Situation. Doch sie wendete sich bald zum Besseren. Mit dem
Friedensschluß begann die Prosperitätsepoche, die bis zum Jahre 1874
währte. Die Bestellungen kamen jetzt ungerufen ins Haus, die Kunden
waren froh, wenn sie bedient wurden. Als ich daher im Frühjahr 1872 mit
Liebknecht meine zweiundzwanzigmonatige Festungshaft in Hubertusburg
antrat, der für mich noch neun Monate Gefängnis folgten, konnte ich das
Geschäft mit einem Werkführer, sechs Gehilfen und zwei Lehrlingen
zurücklassen. Seide gesponnen wurde freilich nicht, obgleich meine Frau
tüchtig auf dem Posten war. Die Geschäftskorrespondenz führte ich von
der Festung beziehungsweise aus dem Gefängnis. Schlimm wurde es wieder,
als 1874 mit dem Krach gleichzeitig mein Artikel durch Konkurrenten der
fabrikmäßigen Herstellung verfiel, und zwar zu Preisen, bei denen ich
mit dem Handbetrieb unmöglich mehr konkurrieren konnte. Ich dachte schon
daran, das Geschäft aufzugeben und in eine Parteistellung zu treten, da
wollte der Zufall, daß ich in der Person eines Parteigenossen, des
Kaufmanns Ferd. Ißleib in Berka a.W., einen Associé fand, der neben den
materiellen Mitteln die nötigen kaufmännischen Kenntnisse besaß und
sehr bald auch die nötigen technischen Kenntnisse in anerkennenswerter
Weise sich aneignete. Im Herbst 1876 bezogen wir eine kleine Fabrik mit
Dampfbetrieb, in der jetzt auch die Herstellung der betreffenden Artikel
aus Bronze vorgenommen wurde, in denen wir bald einen guten Ruf
erlangten. Anfangs hatten wir schwer zu kämpfen, denn noch wütete die
Krise. Meine Haupttätigkeit wurde nunmehr, die Kunden aufzusuchen und
die Geschäftsreisen zu unternehmen, durch die ich später, unter dem
Sozialistengesetz, der Partei die größten Dienste leisten konnte.
Nachdem ich dann 1881 auf Grund des sogenannten kleinen
Belagerungszustandes aus Leipzig ausgewiesen worden war, und diese
Ausweisung von Jahr zu Jahr erneuert wurde, ich auch zwischendurch
wieder Bekanntschaft mit den Gefängnissen gemacht hatte, löste ich im
Herbst 1884 das Associéverhältnis und trat in die Stellung eines
Reisenden für das Geschäft. Ich glaubte es meinem stets opferbereiten
Associé gegenüber nicht mehr verantworten zu können, an dem mäßigen
Nutzen eines Unternehmens teilzunehmen, für das er die Sorge und die
Hauptarbeit zu tragen hatte. Außerdem wurde ich durch meine dauernde
Entfernung von Leipzig dem inneren Gange des Geschäfts immer mehr
entfremdet. So legte ich 1889 auch die Stelle des Reisenden nieder und
widmete mich von jetzt ab ganz der Schriftstellerei, durch die ich in
dauernde geschäftliche Beziehungen zu meinem Freunde Heinrich Dietz in
Stuttgart kam.

Ich habe weiter oben bemerkt, daß man sich öfter ein ganz anderes Bild
von meiner Persönlichkeit machte. Darüber amüsierten wir — mein Associé
und ich — uns wiederholt. Jener entsprach im äußeren ganz der
Vorstellung, die man sich von mir machte. Er war ein großer, starker
Mann, der rotes Haar und einen roten Bart hatte, der bis auf die Brust
wallte. Da kam es denn vor, daß wenn jemand aufs Kontor kam, um mich zu
sprechen, mich aber nicht persönlich kannte, er sich an meinen Associé
wandte. Diese Verwechslung machte uns stets großes Vergnügen. Sehr
heiter stimmte mich auch, als ich eines Tages auf einer Geschäftsreise
in Tübingen war und ich mich in einer Weinwirtschaft von einigen
Bekannten verabschiedete, hinter mir ein Tübinger Bürger im reinsten
Schwäbisch verwundert äußerte: „Was? Der kloine Ma ischt d'r Bebel?“ —
Aehnliches erlebte ich öfter. Auch kam es in früheren Jahren nicht
selten vor, daß auf der Eisenbahn Reisegefährten sich über mich
unterhielten, ohne zu ahnen, daß ich mitten unter ihnen saß und still
zuhörte. Es waren manchmal rechte Räubergeschichten, die ich anzuhören
bekam.



Der Marsch nach Nürnberg


Im Juli 1867 war nach langen Verhandlungen zwischen Norddeutschland und
den süddeutschen Staaten ein Vertrag zustande gekommen, wonach die
Regelung der Zoll- und indirekten Steuerverhältnisse den Beratungen
eines sogenannten Zollparlaments unterworfen werden sollte, das aus den
Mitgliedern des norddeutschen Reichstags und eigens dazu gewählten
Vertretern der vier süddeutschen Staaten zusammengesetzt war. Bismarck
hatte es abgelehnt, den Wünschen der badischen Regierung wie der
süddeutschen Liberalen nach voller Aufnahme in den Norddeutschen Bund
nachzukommen. Die preußische Regierung werde durch den Eintritt von
achtzig süddeutschen Abgeordneten in den Reichstag nur in Verlegenheit
geraten. Das Wahlrecht für die Vertreter in dem Zollparlament war
dasselbe wie für den norddeutschen Reichstag. Gleichwohl lehnte ein
großer Teil der süddeutschen Volkspartei, namentlich in Württemberg, die
Wahlbeteiligung ab, obgleich Liebknecht und ich auf einer Konferenz in
Bamberg, Februar 1868, uns alle Mühe gaben, einen solch unsinnigen
Beschluß zu verhindern, der nichts anderes bedeutete als Fahnenflucht
vor dem Feinde. Auch ein größerer Teil der Arbeitervereine in
Württemberg folgte der Parole der Volkspartei. Ein anderer Teil wählte,
und da auch die Volkspartei gespalten war, gelang es, mehrere Demokraten
für das Zollparlament durchzubringen. Anders in Hessen, das in jener
Zeit politisch in zwei Hälften geteilt war. Oberhessen gehörte zum
Nordbund, Rheinhessen und Starkenburg waren selbständig und wählten
jetzt in das Zollparlament. Liebknecht und ich unterstützten die
demokratischen Kandidaten in Südhessen bei der Wahlagitation und hielten
Wahlversammlungen für dieselben ab. Bei einer dieser Versammlungen kamen
wir auch nach Darmstadt in das Haus von Louis Büchner (des Kraft- und
Stoff-Büchner), woselbst Liebknecht die Bekanntschaft seiner späteren
zweiten Frau machte. Die erste war das Jahr zuvor gestorben. Liebknecht
machte in diesem Wahlfeldzug die einzige Eroberung, eben seine zweite
Frau; im übrigen zogen wir als die Geschlagenen nach Hause. Die
demokratischen Kandidaten in Mainz und Darmstadt waren unterlegen.

In Bayern und Württemberg agitierten um jene Zeit ein großer Teil der
Arbeitervereine in Gemeinschaft mit der Volkspartei für die Einführung
des Milizsystems, da es sich in beiden Staaten um eine neue
Militärorganisation handelte. Es wurde insofern auch ein Erfolg erzielt,
als die württembergische Regierung sich mit der Kammer auf eine
siebzehnmonatige Dienstzeit verständigte. In Bayern hatte sich der
Militärgesetzausschuß der Kammer, unter dem Einfluß des bekannten
Statistikers Kolb, für eine gar nur neunmonatige Dienstzeit erklärt und
die Aufhebung von vier Kavallerieregimentern beschlossen. Diese
Errungenschaften wurden durch den Deutsch-Französischen Krieg und den
Eintritt der süddeutschen Staaten in das Reich zu Fall gebracht.

In Sachsen agitierten wir, da ein neues Wahlgesetz eingeführt werden
sollte, für das gleiche Wahlrecht wie zum Reichstag. Weiter animierte
der Vorort die Arbeitervereine zur Stellungnahme gegen den im
norddeutschen Reichstag von Schulze-Delitzsch eingebrachten
Gesetzentwurf, betreffend die privatrechtliche Stellung der
Genossenschaften, der weit hinter dem in Sachsen geltenden
Genossenschaftsgesetz zurückstand. Andere Agitationen richteten sich
gegen die im Zollparlament geplante Tabak- und Petroleumsteuer und gegen
eine ganze Reihe reaktionärer Bestimmungen in dem dem norddeutschen
Reichstag vorgelegten Gesetzentwurf einer Gewerbeordnung, die ich in
einem Artikel in der „Arbeiterhalle“ beleuchtete.

Daß die politische Zwieschlächtigkeit im Verband der Arbeitervereine auf
die Dauer nicht aufrechterhalten werden konnte, war uns im Vorort klar.
Nachdem wir in Gera das Heft in die Hand bekommen hatten, mußte die
Situation ausgenutzt werden. Es mußte ein festes Programm geschaffen
werden, mochten die Folgen für den Verband sein, welche sie wollten.
Unserer eigenen Auffassung kam der Arbeiterbildungsverein Dresden, in
dem seit September 1867 Vahlteich Vorsitzender geworden war, entgegen,
indem er einen dahingehenden Antrag stellte. Aus Süddeutschland regte
Eichelsdörfer den gleichen Gedanken an.

Diesem antwortete ich unter dem 18. April 1868, die Programmfrage sei
von uns diskutiert und zustimmend beschlossen worden, es werde aber
dabei zum Bruch im Verband kommen. Zunächst wurde bei Sonnemann
angefragt, ob er einen Programmentwurf vorlegen wolle; er lehnte ab.
Darauf ersuchten wir Robert Schweichel, der von Hannover nach Leipzig
übergesiedelt war und Liebknecht bei der Redaktion des „Demokratischen
Wochenblatts“ unterstützte, einen Entwurf auszuarbeiten und das Referat
über denselben auf dem nächsten Vereinstag zu übernehmen. Wir wählten
Schweichel im Einverständnis mit Liebknecht. Schweichels konziliantes
Wesen war für diesen Fall, in dem es galt, die noch zögernden
Vereinsvertreter zu gewinnen, besser als Liebknechts Draufgängernatur.

Sobald bekannt wurde, der Vorort wolle dem nächsten Vereinstag ein
Programm vorlegen, gab es in den von den Liberalen geleiteten Vereinen
eine gewaltige Aufregung. Die liberale Presse schlug in Nord und Süd
gegen uns los und suchte die Vereine gegen uns aufzuhetzen. Von den
verschiedensten Seiten kamen an mich Briefe mit Protesten und Warnungen.
Der Vorsitzende des Nürnberger Arbeitervereins, ein Oberlehrer Rögner,
unterstellte unserem Vorgehen alle möglichen Motive. Wir wollten unsere
„Mißerfolge“ im Reichstag und Zollparlament mit unserem Vorgehen auf dem
Vereinstag auszugleichen suchen, Preußenhaß leite unser Handeln usw. Wir
würden uns aber täuschen, wir würden eine Niederlage erleiden. Ich
antwortete, gerade die bisherigen Verhandlungen im norddeutschen
Reichstag und Zollparlament zeigten, welch großen Wert die Arbeiter auf
nachdrückliche Beteiligung an der Politik in einer ihren Interessen
entsprechenden Weise legen müßten. Soziales und Politisches ließe sich
nicht voneinander trennen, eines ergänze das andere.... Der Arbeiter
müsse vom Standpunkt seiner Interessen demokratisch sein.... Die
bisherige Unklarheit im Verband könne nicht mehr weitergehen.... Er
(Rögner) sage, es sei unrecht, jetzt, wo die scharfen Gegensätze
zwischen Staatshilfe und Selbsthilfe sich verlieren und eine Annäherung
beider Parteien stattgefunden habe, einen neuen Erisapfel dazwischen zu
werfen. Ich antworte, gerade dieser Annäherung Ausdruck zu geben, sei
der Zweck des Programms.... Die Gegensätze würden nicht durch
Totschweigen, sondern durch offene Aussprache ausgeglichen.... Möglich,
daß wir auf dem Parteitag eine Niederlage erleiden würden, aber das
könne mich nicht von dem geplanten Schritte abhalten. Es sei nicht das
erstemal, daß ich in der Minderheit geblieben sei und nach erneuten
Versuchen in die Mehrheit kam. Ich erinnere nur an meinen Antrag der
direkten Wahl des Präsidenten und eines Vororts, der seit 1865 bekämpft,
1867 siegte.... Auch mit dem Vorsitzenden des Oldenburger
Arbeiterbildungsvereins hatte ich eine lange Auseinandersetzung. Ich
erklärte ihm, wir hielten ein Programm für notwendig, damit jedermann
wisse, wo der Verband stehe, und namentlich Vorort und Redaktion wüßten,
wie die Mehrheit regiert sehen wollte. Wir hätten den Mangel eines
klaren Standpunktes häufig empfunden. Der einen Seite gingen wir zu
weit, der anderen nicht weit genug. Ich wolle allerdings bekennen, daß
wenn die Mehrheit der Vereine ein sozialdemokratisches Programm ablehne,
der Vorort und die Mehrheit der sächsischen Vereine sich alsdann fragen
würden, ob sie dem Verband noch angehören könnten.

Dazwischen befürwortete Moritz Müller in Pforzheim die Gründung von
Gewerkschaften und empfahl, dahin zu wirken, daß die Leitung der Vereine
durch Doktoren und Professoren beseitigt werde. Ich antwortete ihm am
16. Juli, daß ich mit seinen Ideen über Berufsorganisationen einig
ginge. Die Buchdrucker und Zigarrenarbeiter Deutschlands seien bereits
dem Beispiel der englischen Arbeiter gefolgt, jetzt folgten die
Schuhmacher in Leipzig und die Buchbinder in Dresden. Auch sei ich mit
ihm darin der gleichen Meinung, daß die Arbeitervereine ihre Leiter aus
ihren eigenen Reihen wählen müßten. Die Doktoren- und Professorenleitung
tauge in der Regel nichts, das wüßten wir aus eigener Erfahrung.

Wie zu erwarten, war der Vereinstag, für den die große Mehrheit der
Vereine Nürnberg als Verhandlungsort gewählt hatte, ungewöhnlich stark
besucht. Es waren 93 Organisationen durch 115 Delegierte vertreten.
Außerdem befanden sich unter den geladenen Gästen Eccarius-London als
Vertreter des Generalrats der Internationale,[7] Oberwinder und Hartung
als Vertreter des Wiener Arbeiterbildungsvereins, Quick und Greulich
als Vertreter der deutschen Arbeitervereine der Schweiz, Dr.
Ladendorf-Zürich, der ehemalige Berliner Zuchthäusler, als Vertreter des
deutsch-republikanischen Vereins in Zürich, Dr. Heger-Bamberg als
Vertreter der deutschen Abteilung der Internationale in Genf, Bütter als
Vertreter der französischen Abteilung der Internationale in Genf,
Brückmann und Niethammer-Stuttgart als Vertreter des Ausschusses der
deutschen Volkspartei. Unter den Vereinstagsdelegierten befand sich als
Vertreter eines badischen Vereins Jakob Venedey, der durch Heinrich
Heine als Kobes von Köln eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Auch war
ein Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Dr. Kirchner,
zugegen, der ein Mandat des Hildesheimer Webervereins zu vertreten
hatte. Kirchner war sozusagen die erste Schwalbe, die es wagte, aus dem
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zu uns herüberzufliegen. Das war in
den Augen J.B.v. Schweitzers ein Verbrechen. Kirchner wurde nachher auch
als Vertrauensmann gewählt. Die Hauptverhandlungen des Vereinstags
fanden im großen historischen Rathaussaal statt, den der Nürnberger
Magistrat in der Hoffnung hergegeben hatte, daß die liberale Richtung
siegen werde. Diese Hoffnung wurde zu Wasser. Mit einer Begrüßung der
fremden Vertreter eröffnete ich die Versammlung und ließ das Präsidium
wählen. Von 94 abgegebenen Stimmen fielen 69 auf mich und 21 auf
Rögner-Nürnberg, 4 Stimmen zersplitterten. Damit war die Entscheidung
über den Geist, der den Vereinstag beherrschen werde, gefallen. Als
erster Vizevorsitzender wurde Löwenstein-Fürth mit 62 Stimmen, als
zweiter Vizevorsitzender Bürger-Göppingen mit 59 Stimmen gewählt. Die
Gegenpartei unterlag auf der ganzen Linie. Letztere suchte nun bei
Feststellung der Tagesordnung zu retten, was zu retten möglich; sie
verlangte die Absetzung der Programmfrage von der Tagesordnung. Darüber
kam es zu scharfen Auseinandersetzungen. „Keine Kompromisse“ rief es von
den verschiedensten Seiten, und so wurde die _en bloc-_Annahme der
Tagesordnung mit großer Mehrheit beschlossen.

Die Verhandlungen des Vereinstags nahmen einen vorzüglichen Verlauf.
Die Nürnberger Tagung war eine der schönsten, denen ich beigewohnt. Als
Berichterstatter für die Vorortverwaltung konnte ich mitteilen, daß die
neue Organisation sich vortrefflich bewährt und der Verband im Vergleich
zu früher glanzvoll dastehe. Die zum Verband gehörigen Vereine zählten
zirka 13000 Mitglieder. Ein Versuch Venedeys, die Programmfrage durch
eine motivierte Tagesordnung zu beseitigen, mißlang. Die Programmdebatte
wurde vom allgemeinsten Interesse begleitet. Das Endresultat war, daß
das Programm mit 69 Stimmen, die 61 Vereine hinter sich hatten, gegen 46
Stimmen, die 32 Vereine vertraten, angenommen wurde. Gegen diesen
Beschluß erhob die Minderheit Protest, sie verließ den Saal und
beteiligte sich nicht mehr an den Debatten. Ihr Versuch, unter dem Namen
Deutscher Arbeiterbund eine neue Organisation zu schaffen, versagte. Die
betreffenden Vereine verloren jede politische Bedeutung und betätigten
sich von jetzt ab nur noch als Anhängsel der verschiedenen liberalen
Parteien.

       *       *       *       *       *

Das angenommene Programm lautete:

„Der zu Nürnberg versammelte fünfte Vereinstag deutscher Arbeitervereine
erklärt in nachstehenden Punkten seine Uebereinstimmung mit dem Programm
der Internationalen Arbeiterassoziation:

1. Die Emanzipation (Befreiung) der arbeitenden Klassen muß durch die
arbeitenden Klassen selbst erobert werden. Der Kampf für die
Emanzipation der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für
Klassenprivilegien und Monopole, sondern für _gleiche_ Rechte und
_gleiche_ Pflichten und für die _Abschaffung aller Klassenherrschaft_.

2. Die ökonomische Abhängigkeit des Mannes der Arbeit von dem
Monopolisten (dem ausschließlichen Besitzer) der Arbeitswerkzeuge bildet
die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, des sozialen Elends, der
geistigen Herabwürdigung und politischen Abhängigkeit.

3. Die politische Freiheit ist das unentbehrliche Hilfsmittel zur
ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist
mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt
und nur möglich im demokratischen Staat.

Ferner in Erwägung, daß alle auf die ökonomische Befreiung der Arbeiter
gerichteten Anstrengungen bisher an dem Mangel der Solidarität
zwischen den vielfachen Zweigen der Arbeit jeden Landes und dem
Nichtvorhandensein eines brüderlichen Bandes der Einheit zwischen den
arbeitenden Klassen der verschiedenen Länder gescheitert sind; daß die
Befreiung der Arbeit weder ein lokales noch nationales, sondern ein
soziales Problem (Aufgabe) ist, das alle Länder umfaßt, in denen es
moderne Gesellschaften gibt, und dessen Lösung von der praktischen und
theoretischen Mitwirkung der vorgeschrittensten Länder abhängt,
beschließt der fünfte deutsche Arbeitervereinstag seinen Anschluß an die
Bestrebungen der Internationalen Arbeiterassoziation.“

       *       *       *       *       *

Die Beschlüsse des Nürnberger Arbeitervereinstags über das Programm
ließen keinen Zweifel mehr zu, in welchem Lager die Vereine nunmehr
standen. Gleichwohl tat die Mehrheit auf der Generalversammlung der
Volkspartei am 19. und 20. September in Stuttgart, als sei eine
Aenderung in der gegenseitigen Stellung nicht eingetreten; sie erklärte
sich sogar mit den in Nürnberg gefaßten Beschlüssen über das Programm
einverstanden, indem erläuternd bemerkt wurde, daß die staatlichen und
gesellschaftlichen Fragen untrennbar seien und daß namentlich die
ökonomische Befreiung der arbeitenden Klassen und die Verwirklichung der
politischen Freiheit sich gegenseitig bedingten. Auch mit der von Johann
Jacoby am 24. Mai 1868 in Berlin gehaltenen Programmrede erklärte sie
sich einverstanden.

Das war ein Maß von Einsicht, das nachmals den Nachfolgern der
Volksparteiler von 1868 vollständig abhanden gekommen ist. Es war
insbesondere der in Nürnberg anwesend gewesene Rechtsanwalt
Niethammer-Stuttgart, der für ein weiteres Zusammengehen wirkte. Er
vertrat die Ansicht, die Demokratie müsse sich zur Sozialdemokratie
erheben, wolle sie ihre Aufgabe erfüllen. Er wäre wahrscheinlich später
ganz in unsere Reihen getreten, hätte nicht ein jäher Tod (Herzschlag)
frühzeitig seinem Leben ein Ende gemacht.

Neben Niethammer war es aber vorzugsweise Sonnemann, der für diese
Beschlüsse wirkte. Sonnemann, der um keinen Preis eine Lösung des
Verhältnisses zwischen Arbeitervereinen und Volkspartei wollte, hatte in
Nürnberg dem Programm zugestimmt, für das er nicht begeistert war. Es
mußte ihm jetzt alles daranliegen, daß die Generalversammlung der
Volkspartei seinen Schritt in Nürnberg sanktionierte.

Der Austritt der Minderheit hatte die Tagesordnung des Vereinstags
zerstört, denn für verschiedene Fragen waren mehrere Referenten unter
den Ausgeschiedenen. Ein Referat Sonnemanns über die Gründung einer
Altersversorgungskasse, die unter staatlicher Aufsicht stehen sollte,
fand insofern Widerspruch, als sämtliche Redner, insbesondere Vahlteich,
sich dahin aussprachen, daß das gesamte Arbeiterunterstützungswesen
durch die in zentralisierten Gewerkschaften vereinigten Arbeiter
verwaltet werden solle.

Die hierauf bezügliche Resolution, die Vahlteich und H. Greulich
vorschlugen und einstimmig angenommen wurde, lautete:

„In Erwägung, daß das Anheimgeben der Verwaltung einer allgemeinen
Altersversorgungskasse für Arbeiter an den bestehenden Staat den
Arbeiter unbewußt zu einem konservativen Interesse an den bestehenden
Staatsformen bringt, denen er keineswegs Vertrauen schenken kann;[8]

In Erwägung, daß Kranken- und Sterbeunterstützungs- sowie
Altersversorgungskassen erfahrungsgemäß am besten durch
_Gewerksgenossenschaften_ ins Leben gerufen und erhalten werden können,
beschließt der fünfte Vereinstag, den Mitgliedern des Verbandes und
speziell dem Vorort aufzugeben, für _Vereinigung der Arbeiter in
zentralisierten Gewerksgenossenschaften tatkräftig zu wirken_.“
Germann-Leipzig sprach über Krankenunterstützungskassen; sein Referat
faßte er in folgender Resolution zusammen: Der Vereinstag wolle den
Verbandsangehörigen empfehlen, durch Deputierte des Orts ein Kollegium
zu bilden, das erstens eine gute Organisation der Kassen, volle
Selbstverwaltung, _Vereinigung derselben nach Gewerken in Verbände und
Besprechung der Kasseninteressen in einem geeigneten Organ_; zweitens
_Freizügigkeit innerhalb der Gewerkskassen_ und bankmäßige
Bewirtschaftung des Krankenkassenkapitals anstrebt, außerdem aber auch
drittens die Gründung solcher Kassen veranlaßt, an denen bis jetzt noch
Mangel ist, für _Dienstboten und Arbeiterinnen_.

Im weiteren Verlauf der Verhandlungen referierte Schweichel über die
indirekten Steuern, Liebknecht über die Wehrfrage. Die Kommission, die
zur Prüfung der Geschäftsführung des Vororts niedergesetzt worden war,
zollte demselben hohes Lob. Bücher und Akten befanden sich in schönster
Ordnung, obgleich die Arbeitslast ganz bedeutend gestiegen sei, dem
Vorort gebühre wärmste Anerkennung. Die materielle Entschädigung für die
geleistete Arbeit betrug für das Geschäftsjahr 57 Taler 4 Neugroschen.
Bei der Wahl zum Vorsitzenden erhielt ich von 59 abgegebenen Stimmen 57.
Damit hatte Leipzig wieder die Leitung für das nächste Jahr in der Hand.

Als Vertrauensmänner wurden gewählt: Bürger-Göppingen, Notz-Stuttgart,
Eichelsdörfer-Mannheim, Günzel-Speier, Sonnemann-Frankfurt a.M.,
Stuttmann-Rüsselsheim, Dr. Kirchner-Hildesheim, Heymann-Koburg,
Motteler-Crimmitschau, Krause-Mülsen (St. Jakob), Bremer-Magdeburg,
Vahlteich-Maxen (bei Dresden), Kobitzsch-Dresden, Oberwinder-Wien,
Löwenstein-Fürth. Die geringe Vertretung Norddeutschlands unter den
Vertrauensmännern war dadurch verursacht, daß die Vertreter der
norddeutschen Vereine mit wenigen Ausnahmen zur Opposition gehörten und
den Austritt ihrer Vereine aus dem Verband erklärt hatten.

Der Arbeiterbund veröffentlichte nach seiner Konstituierung einen
Aufruf, worin er heftige Anklagen gegen den Nürnberger Vereinstag erhob
und es auch an Unwahrheiten und Entstellungen nicht fehlen ließ. Darauf
antwortete ich in Nr. 46 des „Demokratischen Wochenblatts“ unter dem 23.
September 1868 in einer langen Erklärung, in der ich die Angriffe
zurückwies. Unter anderem war in dem gegnerischen Aufruf gesagt worden,
wir wollten die Arbeiter auf einen „sozial-kommunistischen Standpunkt“
locken. Darauf bemerkte ich: Ein sonderbarer Standpunkt der
„sozial-kommunistische“; es sind nur zwei Worte, und doch enthalten
diese erstens eine Dummheit, zweitens eine Lüge, drittens eine
Denunziation. Die letztere sah ich darin, daß man durch das Wort
Kommunismus nicht bloß die Besitzenden, sondern auch die Arbeiter vor
uns kopfscheu machen wolle. Die Worte „Sozialist“ und „Sozialismus“
reichten nicht mehr aus, daran seien Arbeiter und Arbeitgeber bereits
gewöhnt. Diese fänden immer mehr, daß der Sozialismus gar nichts so
Schreckliches sei, da müsse das Wort Kommunismus herhalten, um dem
Philister Angst in die Glieder zu jagen.

Die Beschlüsse des Nürnberger Vereinstags schufen für die Bewegung eine
neue Lage. Jetzt konnte nicht mehr, wie das bisher Schweitzer in seinem
Moniteur, dem „Sozialdemokrat“, den Mitgliedern des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins immer wieder verkündet hatte, von einer
kleinbürgerlichen Bourgeoispartei, als die er namentlich die sächsische
Volkspartei zu bezeichnen beliebte, die Rede sein, obgleich er genau
wußte, daß die bürgerlichen Elemente in derselben in verschwindender
Minderheit waren. Jedenfalls waren sie nicht stärker als im Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein, wie Liebknecht ihm im nächsten Frühjahr auf
der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in
Elberfeld ins Gesicht sagte, was er durch zustimmendes Kopfnicken
bejahte. Das erfuhren auch die Agitatoren, die er uns einige Monate
später zu unserer Bekämpfung nach Sachsen schickte. Einer derselben — L.
Sch., der später zu den Zünftlern überging und heute wohlbestallter
Obermeister einer Schuhmacherinnung ist — äußerte nachher: „Schweitzer
hat uns bös hereingelegt, in den überfüllten Versammlungen, die wir
abhielten, haben wir nichts als Arbeiter und wieder Arbeiter gesehen.“
Er hätte hinzufügen können: und unser Erfolg war Null. Liebknecht und
ich folgten ihnen fast in alle Versammlungen, die sie abhielten, und
brachten ihnen eine Niederlage nach der anderen bei.

Nun konnte auch nicht mehr bestritten werden, daß in der sächsischen
Volkspartei und dem Verband der Arbeitervereine jetzt eine
sozialistische Partei vorhanden war, die auf dem Boden der
Internationale stand. Die Nürnberger Tagung und ihre Resultate machten
deshalb auch im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Eindruck, in dem
bereits gegen Schweitzer ein tiefes Mißtrauen vorhanden war. Die Wirkung
zeigte sich im Laufe des folgenden Jahres. Hätte damals an der Spitze
des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins der rechte Mann gestanden, die
Einigung der sozialistisch denkenden Arbeiter wäre jetzt eine Tatsache
geworden. Sieben Jahre schädigender gegenseitiger Bekämpfung wären der
Bewegung erspart geblieben.

Kurz nach dem Nürnberger Vereinstag kam es im Berliner Arbeiterverein,
dessen Vorsitzender Krebs in dem ganzen Streit im Verband
eine zweideutige Haltung eingenommen hatte, zu lebhaften
Auseinandersetzungen, die damit endeten, daß eine starke Minderheit aus
dem Verein austrat und einen demokratischen Arbeiterverein ins Leben
rief, der sich für das Nürnberger Programm erklärte. Unter den Gründern
des neuen Vereins befanden sich unter anderen G. Boas, Havenith, Karl
Hirsch, Jonas, Paul Singer, O. Wenzel. Später traten demselben Th.
Metzner, Milke und Heinrich Vogel bei, die aus dem Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein ausgetreten oder wie Vogel ausgeschlossen worden waren.
Der Verein hatte in Berlin gegen die Lassalleaner einen schweren Stand;
sie höhnten, es sei ein Verein von Offizieren ohne Armee, was nicht so
ganz falsch war. Aber die Offiziere leisteten etwas und schafften sich
allmählich die fehlende Armee.

Die Achillesferse des Arbeitervereinsverbandes waren die schwachen
Finanzen. Mit dem jährlichen Groschenbeitrag ließ sich nicht viel
anfangen, obgleich der Verband 10000 Mitglieder hatte. Neben den Steuern
für lokale Zwecke vergaß man, größere Opfer für den Verband zu bringen.
Hier war uns der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein weit über. Wir im
Vorort dachten daher ernstlich auf Abhilfe durch Aenderung der
Organisation. Die Lage wurde für uns noch unangenehmer, als Schweitzer
große Agitationstouren durch Sachsen und Süddeutschland ankündigte, für
die er eine Anzahl Agitatoren bestimmt hatte. Die Abwehr erforderte
unsererseits vor allem Geld, das wir nicht hatten. Erhebliche
Geldzuschüsse erforderte auch das „Demokratische Wochenblatt“, das vom
Dezember 1868 ab Verbandsorgan wurde. Wir hatten dasselbe mit ganzen 10
Talern in der Tasche gegründet, zu denen noch weitere kleine Beträge
kamen. Auf ähnlicher „finanzieller Grundlage“ wurden später öfter
Parteiorgane gegründet. Rechnerisch waren sie schon mit der ersten
Nummer bankrott. Aber die Opferwilligkeit und Begeisterung für ein Blatt
kannte kaum Grenzen. Die leitenden Persönlichkeiten mußten sich freilich
mit lächerlich geringen Summen für ihre Arbeitsleistung begnügen, und
sie taten es. Die heutige Generation in der Partei hat keine Vorstellung
von der Armseligkeit der damaligen Zustände und von den Ansprüchen an
Unentgeltlichkeit der Leistungen. So erhielt zum Beispiel Liebknecht als
Redakteur des „Demokratischen Wochenblatts“ monatlich nur 40 Taler,
später als Redakteur des „Volksstaat“ monatlich 65 Taler. Hepner wurde
1869 mit monatlich 25 Taler angestellt; den Arbeiterteil im
„Demokratischen Wochenblatt“ schrieb ich unentgeltlich, für die Leitung
der Expedition erhielt ich monatlich 12 Taler, dafür mußte ich auch die
Räume hergeben. Als 1870 der Krieg ausbrach, verzichtete ich auf dieses
horrende Gehalt. Gehaltserhöhungen kannte man damals nicht. Als zum
Beispiel 1878 der „Vorwärts“, der Nachfolger des „Volksstaat“, auf Grund
des Sozialistengesetzes totgeschlagen wurde, hatte Liebknecht noch
dasselbe Gehalt wie neun Jahre zuvor. Aber mittlerweile hatte er aus der
zweiten Ehe fünf Kinder mehr, von denen damals das älteste keine zehn
Jahre zählte. In finanzieller Beziehung sind wir im Vergleich zu früher
— denn was ich hier vom Verband der Arbeitervereine sage, galt auch für
den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein — eine Bourgeoispartei
geworden.

Doch die Partei hat immer „Schwein“ gehabt. Ich habe deshalb manchmal zu
meinen Freunden scherzhaft gesagt: Gibt es einen Gott, so muß er die
Sozialdemokratie sehr lieb haben, denn wenn die Not am größten, ist die
Hilfe am nächsten. Im vorliegenden Falle kam die Hilfe von einer Seite,
von der wir sie nicht erwarten konnten. Eben klagte ich einem unserer
auswärtigen Vertrauensmänner, der mich besuchte, unsere Verlegenheit,
als der Briefträger einen eingeschriebenen Brief brachte. Absender war
Dr. Ladendorf in Zürich, den ich 1866 in Frankfurt kennen gelernt und
mit dem ich auf dem Nürnberger Parteitag die Bekanntschaft erneuert
hatte. Er schrieb, daß er mir aus einem ihm und seinen Freunden zur
Verwaltung anvertrauten Fonds, dem sogenannten Revolutionsfonds, 3000
Franken zur Verfügung stelle, die ich in drei Raten in Empfang nehmen
und über deren Verwendung ich ihm Rechnung ablegen solle. Wer war
glücklicher als ich? Ich machte vor Freude einen Luftsprung und teilte
meinem verdutzt dreinschauenden Freunde die gute Botschaft mit. Der
Revolutionsfonds, der später auch im Leipziger Hochverratsprozeß eine
Rolle spielte, über dessen Entstehung in den Verhandlungen jenes
Prozesses das Nötige nachgelesen werden kann, half uns noch mehrmals aus
der Patsche. Aber als wir infolge unserer Stellungnahme zu den
Beschlüssen des Baseler internationalen Arbeiterkongresses über die
Grund- und Bodenfrage und zu den kriegerischen Ereignissen des Jahres
1870 mit Ladendorf und Genossen in Konflikt kamen, versiegte diese
Quelle.

Die von Schweitzer angeordnete Agitation gegen uns in Sachsen war
erfolglos; in Süddeutschland war sie nur von geringem Erfolg begleitet
gewesen. Wider Erwarten hatten sich auch in Süddeutschland aus unseren
Vereinen Kräfte gefunden, die seinen Agitatoren die Spitze boten. Es lag
aber auf der Hand, daß durch diese gegenseitige Bekämpfung die Stimmung
in beiden Parteien immer erbitterter wurde.

FUSSNOTEN:

[7] Mein Einladungsschreiben an den Generalrat lautete:

An den Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation zu London.

Geehrte Herren! Ein wichtiger Vorgang, der in einem großen Teil der
deutschen Arbeitervereine bevorsteht, veranlaßt mich, diese Zeilen an
Sie zu richten.

Am 5., 6. und 7. September hält der Verband Deutscher Arbeitervereine in
Nürnberg seinen Vereinstag ab. Unter den wichtigen Fragen, welche die
Tagesordnung enthält, steht als die wichtigste „Die Programmfrage“
obenan, das heißt, es soll sich entscheiden, ob der Verband noch ferner
in dem jetzigen prinzip- und planlosen Arbeiten beharren oder nach
festen Grundsätzen und bestimmter Richtung wirken soll.

Wir haben uns für das letztere entschieden und sind gesonnen, das
Programm der Internationalen Arbeiterassoziation, wie es die erste
Nummer des „Vorboten“ enthält, zur Annahme vorzuschlagen, respektive den
Anschluß an die Internationale Arbeiterassoziation zu beantragen. Die
Majorität für diesen Antrag ist bereits gesichert, der Erfolg also
zweifellos. Wir glauben aber, daß es einen sehr guten Eindruck machen
würde, wenn bei diesen Ihr Interesse auf das lebhafteste in Anspruch
nehmenden Verhandlungen die Internationale Arbeiterassoziation durch
einen Deputierten vertreten wäre, und beehren uns deshalb, an Sie den
Wunsch und die dringende Einladung auszusprechen, zum Vereinstag in
Nürnberg einen oder mehrere Deputierte als Vertreter der Internationalen
Arbeiterassoziation zu entsenden.

Wir geben uns der angenehmen Hoffnung hin, daß Sie unsere Bitte erfüllen
und uns bald geneigte Antwort zukommen lassen werden. Einer freundlichen
Aufnahme können Ihre Herren Deputierte sich versichert halten.

Mit Gruß und Handschlag

Der Vorort des Verbandes Deutscher Arbeitervereine. Aug. Bebel,
Vorsitzender.

Leipzig, den 23. Juli 1868.

[8] Viel später erklärte auch Bismarck, daß kleine Pensionen auch für
den Arbeiter das beste Mittel seien, ihn für die bestehende
Staatsordnung günstig zu stimmen, daher der Gedanke der Invaliden- und
Altersversicherung.



Die Gewerkschaftsbewegung.


Ich beschäftige mich mit der Gewerkschaftsbewegung nur insoweit, als ich
glaube, mich zu ihren Geburtshelfern zählen zu dürfen. Man könnte das
Jahr 1868 das Geburtsjahr der deutschen Gewerkschaften nennen, aber nur
mit Einschränkung. Ich habe schon oben mitgeteilt, daß das
Prosperitätsjahr 1865 eine große Anzahl Arbeitseinstellungen in den
verschiedensten Städten sah, die zu einem guten Teil versagten, weil die
Arbeiter nicht organisiert waren und keine Fonds besaßen. Daß beides
notwendig vorhanden sein müsse, darauf wurden sie jetzt sozusagen mit
der Nase gestoßen. Es wurden nunmehr eine Menge zumeist lokaler
Fachvereine gebildet, aber daß diese auch nicht genügten, erkannte man
sehr bald. Wie zu Weihnachten 1865 auf Fritzsches Anregung der
Allgemeine Deutsche Zigarrenarbeiterverein gegründet wurde, so folgten
im Jahre 1866 die Buchdrucker, die von vornherein sich den politischen
Arbeiterparteien gegenüber streng neutral verhielten, was indes Richard
Härtel im Oktober 1873 nicht abhielt, in einer Versammlung der Berliner
Buchdrucker zu erklären: In seiner Eigenschaft als Verbandspräsident
halte er es für das beste, sich formell keiner Partei anzuschließen, „im
Geiste gehören wir jedoch der sozialdemokratischen Arbeiterpartei
Eisenacher Programms an“. Streng genommen konnte er das nicht für alle
Buchdrucker erklären, viele gehörten auch dem Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein an. Weiter bestand schon vor 1868 der Goldarbeiterverband
mit einem eigenen Organ und der Allgemeine Deutsche Schneiderverein. Im
großen und ganzen war von den Führern der politischen Bewegung bis dahin
für die Organisation von Gewerkschaften sehr wenig geschehen. Es war
hauptsächlich Liebknecht, der durch seine Vorträge im Leipziger
Arbeiterbildungsverein und in Leipziger und auswärtigen
Volksversammlungen über den englischen Trades Unionismus für
gewerkschaftliche Organisation Verständnis schaffte. Im Mai 1868 hatten
wir auch bereits im Vorortsvorstand die Gründung von Gewerkschaften
erörtert, aber die Menge der laufenden Arbeiten und vor allen Dingen die
Notwendigkeit, erst einmal im Verband durch ein Programm Klarheit zu
schaffen, verhinderten, daß wir uns sofort mit der Ausführung des Planes
beschäftigten. Im Sommer 1868 war Max Hirsch nach England gereist zwecks
Studien über die dortigen Trades Unions, worüber er in der Berliner
„Volkszeitung“ berichtete. Dieses mochte Schweitzer und Fritzsche
veranlassen, Hirsch, der durch die Gründung von Gewerkvereinen die
Arbeiter an die Fortschrittspartei zu fesseln hoffte, zuvorzukommen.
Beide schritten jetzt rasch zur Tat, wie ich glaube annehmen zu sollen,
auf Anregung Fritzsches, der die Bedeutung der Gewerkschaften voll
erkannte, aber auch die Organisation der neuen Gründung wohl anders
gestaltet haben würde, hätte er Schweitzer gegenüber freie Hand gehabt.
Die Braunschweiger Mitglieder beantragten durch Fritzsche, der den
Antrag im Einverständnis mit Schweitzer angeregt hatte und auch Brackes
Zustimmung fand, auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins zu Hamburg am 25. August 1868:

Die Generalversammlung erklärt: 1. Die Streiks sind kein Mittel, die
Grundlagen der heutigen Produktion zu ändern und somit die Lage der
Arbeiterklasse durchgreifend zu verbessern; allein sie sind ein Mittel,
das Klassenbewußtsein der Arbeiter zu fördern, die Polizeibevormundung
zu durchbrechen und unter Voraussetzung richtiger Organisation einzelne
Mißstände drückender Art, wie zum Beispiel übermäßig lange Arbeitszeit,
Kinderarbeit und dergleichen, aus der heutigen Gesellschaft zu
entfernen. 2. Die Generalversammlung beauftragt den Vereinspräsidenten,
einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß zur Begründung von
allgemeinen Gewerkschaften zu berufen, die in diesem Sinne wirken.

Der erste Teil der Resolution wurde angenommen, der zweite
abgelehnt. Dagegen beschloß, wie bekannt, wenige Tage nachher der
Arbeitervereinstag zu Nürnberg ohne große Debatte, den Vorort mit der
Gründung von Gewerkschaften zu beauftragen. Das war die gegenteilige
Auffassung von jener, die bei der Mehrheit im Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein herrschte. Nach jener Abstimmung in Hamburg erklärten
Schweitzer und Fritzsche, sie würden als Reichstagsabgeordnete einen
Arbeiterkongreß für Gründung von Gewerkschaften einberufen. Als aber
auch hiergegen Opposition laut wurde, drohte Schweitzer, daß, wenn man
ihm dieses verbiete, er sofort sein Amt niederlegen und aus dem Verein
ausscheiden würde. Diese Drohung hatte die gewünschte Wirkung. Der
Kongreß fand denn auch am 27. September und folgende Tage in Berlin
statt. Es waren nicht weniger als 206 Delegierte anwesend, die meist in
Arbeiterversammlungen gewählt worden waren und 140000 Arbeiter
vertraten. Bemerkenswert sind folgende Aeußerungen Schweitzers aus der
Rede, mit der er den Kongreß eröffnete:

„England ist weitaus das kapitalreichste Land der Erde, und wenn dennoch
die ausländische Industrie über die englische Herr geworden ist, so ist
das geschehen, weil die englischen Arbeiter den dortigen Kapitalisten so
viel Schwierigkeiten machten. Dasselbe kann in Deutschland geschehen,
und leichter. _Die deutschen Arbeiter können geradezu die deutsche
Industrie ruinieren, wenn sie wollen, und sie haben kein Interesse
daran, sie zu halten, solange ihnen diese den erbärmlichsten Lohn
zukommen läßt...._ Die Arbeiter können, wenn sie fest organisiert sind,
_die deutsche Industrie konkurrenzunfähig_ machen, und wenn die Herren
Kapitalisten das nicht wollen, so mögen sie höhere Arbeitslöhne zahlen.“
Geschickt war diese Begründung nicht, aber vielleicht sollte sie es
nicht sein.

Der Kongreß gründete sogenannte Arbeiterschaften, die unter einer
Zentralleitung standen, die Schweitzer, Fritzsche und Karl
Klein-Elberfeld, Präsident und zwei Vizepräsidenten, bildeten. Die
Organisationsform war nicht besonders glücklich gewählt und nur
Schweitzer zu danken, der unter keinen Umständen auch nur einem Teile
der Bewegung, auf den er Einfluß hatte, Unabhängigkeit einräumen wollte.

Schweitzer hatte, da es ihm sehr darum zu tun war, von Marx eine
günstige Antwort für sein Unternehmen zu bekommen, diesem am 13.
September einen Brief geschrieben und seinen Statutenentwurf beigefügt.
Marx, der den Brief mißverstanden hatte, gab erst auf einen zweiten
Brief Schweitzers eine Antwort, in der die auf die Schweitzersche
Organisation bezüglichen Stellen lauten:

       *       *       *       *       *

„Was den Berliner Kongreß betrifft, so war d'abord (zunächst) die Zeit
nicht drängend, da das Koalitionsgesetz noch nicht votiert ist. Sie
mußten sich also mit den Führern außerhalb des Lassalleschen Kreises
verständigen, gemeinsam mit ihnen den Plan ausarbeiten und den Kongreß
berufen. Statt dessen ließen Sie nur die Alternative, sich Ihnen
anzuschließen oder Front gegen Sie zu machen. Der Kongreß erschien
selbst nur als erweiterte Auflage des Hamburger Kongresses (der
Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins). Was den
Statutenentwurf betrifft, so halte ich ihn für prinzipiell verfehlt, und
ich glaube so viel Erfahrung als irgend ein Zeitgenosse auf dem Gebiet
der Trades Unions zu haben. Ohne hier weiter auf Details einzugehen,
bemerke ich nur, daß die Organisation, so sehr sie für geheime
Gesellschaften und Sektenbewegungen taugt, dem Wesen der Trades Unions
widerspricht. Wäre sie möglich — ich erkläre sie tout bonnement
(aufrichtig gestanden) für unmöglich —, so wäre sie nicht
wünschenswert, am wenigsten in Deutschland. Hier, wo der Arbeiter von
Kindesbeinen an bureaukratisch gemaßregelt wird und an die Autorität, an
die vorgesetzte Behörde glaubt, gilt es vor allem, ihn _selbständig
gehen zu lehren_.

Ihr Plan ist auch sonst unpraktisch. Im Verband drei unabhängige Mächte
verschiedenen Ursprungs: 1. der Ausschuß, gewählt von den Gewerken; 2.
der Präsident — eine ganz überflüssige Person —, gewählt durch
allgemeines Stimmrecht;[9] 3. Kongreß, gewählt durch die Lokalitäten.
Also überall Kollisionen, und das soll rasche Aktion befördern.
Lassalle beging großen Mißgriff, als er den élu du suffrage universel
(den Gewählten des allgemeinen Stimmrechts) der französischen
Konstitution von 1852 entlehnte. Nun gar in einer Trades Unionsbewegung!
Diese dreht sich großenteils um Geldfragen, und Sie werden bald
entdecken, daß hier alles Diktatorentum aufhört.

Indes, welches immer die Fehler der Organisation, sie können vielleicht
durch rationelle Praxis mehr oder minder ausgemerzt werden. Ich bin
bereit, als Sekretär der Internationale den Vermittler zwischen Ihnen
und der Nürnberger Majorität, die sich direkt der Internationale
angeschlossen hat, zu spielen — auf rationeller Grundlage versteht sich.
Ich habe deshalb nach Leipzig geschrieben. Ich verkenne die
Schwierigkeiten Ihrer Stellung nicht und vergesse nie, daß jeder von uns
mehr von den Umständen als seinem Willen abhängt.

Ich verspreche Ihnen unter allen Umständen die Unparteilichkeit, die
meine Pflicht ist. Andererseits kann ich aber nicht versprechen, daß ich
eines Tages als Privatschriftsteller — sobald ich es für absolut durch
das Interesse der Arbeiterbewegung diktiert halte — offene Kritik an dem
Lassalleschen Aberglauben üben werde, wie ich es seinerzeit an dem
Proudhonschen getan habe.

Indem ich Sie persönlich meines besten Willens für Sie versichere

Ihr ergebener K. Marx.“

Die geschaffene Organisation paßte aber Schweitzer nicht
lange. Wie vorauszusehen war, machten sich bald gewisse
Selbständigkeitsbestrebungen in den Arbeiterfragen bemerkbar. Diesen
trat Schweitzer im „Sozialdemokrat“ vom 15. September 1869 entschieden
entgegen: man strebe den Arbeiterschaftsverband vom Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein zu trennen und unter eine selbständige Leitung
zu stellen; davor warne er. Drei Monate später ging er weiter. In Nr.
152 des „Sozialdemokrat“ kündigte er unter dem 29. Dezember an, daß von
den verschiedensten Seiten Wünsche laut geworden seien, die
verschiedenen Gewerkschaften in eine einzige allgemeine Gewerkschaft zu
verschmelzen. Er habe dementsprechend einen Entwurf ausgearbeitet, den
er in derselben Nummer veröffentlichte. Vorher schon hatte
Fritzsche sich vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und vom
Arbeiterschaftsverband losgesagt und sein Amt als erster Vizepräsident
niedergelegt. Ebenso hatten sich von Schweitzer losgesagt Louis
Schumann, Präsident des Allgemeinen Deutschen Schuhmachervereins, Bork,
Präsident des Allgemeinen Deutschen Holzarbeitervereins, und Schob,
Präsident des Allgemeinen Deutschen Schneidervereins.

Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, die
Anfang Januar 1870 in Berlin tagte, kam Schweitzers Wunsch entgegen und
beschloß, daß die Gewerkschaften bis zum 1. Juli zu verschmelzen seien
und ein neuer Verein gegründet werden solle unter dem Namen Allgemeiner
Deutscher Gewerkverein. Unmittelbar hinter der Generalversammlung des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins fand die des Allgemeinen Deutschen
Arbeiterschaftsverbandes statt. Die Mehrzahl der Delegierten erklärte
sich ebenfalls für Schweitzers Vorschlag. Lübkert, Präsident des
Allgemeinen Deutschen Zimmerervereins, meinte, die Gewerkschaften seien
doch im Grunde nichts weiter als eine Vorschule für die politische
Heranziehung der Arbeiter. Zilowsky war ebenfalls für die Verschmelzung,
damit werde der Präsidentenkitzel aus der Welt geschafft, der zumeist an
der Zersplitterung in viele Gewerkschaften schuld sei. Hartmann,
Schallmeyer und Vater aus Hamburg sprachen ebenfalls für die
Verschmelzung, aus ähnlichen Gründen wie die der vorhergehenden Redner.

Für die Verschmelzung stimmten Delegierte, die 12500 Stimmen, gegen
solche, die 9000 Stimmen hinter sich hatten. Obgleich damit die
statutenmäßige Zweidrittelmehrheit für die Auflösung des Verbandes nicht
vorhanden war, wurde dennoch beschlossen, einen neuen Verein, der den
Namen Allgemeiner Deutscher Arbeiterunterstützungsverband erhalten
sollte, am 1. Juli an Stelle der Arbeiterschaften ins Leben treten zu
lassen.

Diesem Beschluß wurde von einer Anzahl Arbeiterschaften keine Folge
geleistet. Immerhin blieb die Gegnerschaft gegen die gewerkschaftlichen
Organisationen unter einem Teil der einflußreichsten Mitglieder des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bestehen, so daß sogar noch 1872
auf dessen Generalversammlung Tölcke den Antrag stellte: Die Versammlung
solle beschließen, alle innerhalb der Partei neben dem Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein bestehenden Verbindungen, namentlich der
Allgemeine Deutsche Arbeiterunterstützungsverband, der Berliner
Arbeiterbund, der Allgemeine Deutsche Maurerverein, der Allgemeine
Deutsche Zimmererverein und sämtliche zu denselben gehörende
Mitgliedschaften seien aufzulösen, ihre Bestände dem Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein einzuverleiben und sollten deren Mitglieder dem
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein beitreten. Sein Antrag konnte aber
nicht angenommen werden, weil die Generalversammlung keine Macht hatte,
außerhalb des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bestehende
Organisationen aufzulösen.

Wie aber auch noch andere Führer als Tölcke dachten, zeigen zum Beispiel
die Aeußerungen von Hasenclever: „Wenn der Bund (Berliner Arbeiterbund)
seinen Zweck erfüllt hat, dann werden wir schon von selbst dafür sorgen,
daß er wieder verschwindet.“ Hasselmann äußerte: „Wir haben nur deshalb
den Bund gegründet, um diese Gewerke zu uns herüberzuziehen, was uns
auch ganz gut gelungen ist. Wir haben also mit dem Bunde nichts
Besonderes schaffen wollen, er war nur ein Mittel zum Zweck.“ Aehnlich
sprachen Grottkau und andere. Schließlich wurde noch folgender Antrag
angenommen: „Die Generalversammlung möge den Wunsch aussprechen, daß
sobald wie möglich die innerhalb unserer Partei bestehenden
gewerkschaftlichen Verbindungen aufgelöst und die Mitglieder dem
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zugeführt werden. Es ist Pflicht
der Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, in diesem
Sinne zu wirken.“

Kann man Mende trauen — und seine Angabe ist meines Wissens
unwidersprochen geblieben —, so hatte auch Schweitzer gegenüber Mende
und der Gräfin Hatzfeldt bei ihrem im Frühjahr 1869 abgeschlossenen Pakt
— ich komme später darauf — versprochen, die Gewerkschaftsorganisation
als im Widerspruch mit Lassalles Ansichten stehend mehr und mehr in den
Hintergrund treten zu lassen. Später änderten sich die Ansichten im
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zugunsten der Gewerkschaften.

       *       *       *       *       *

Der dem Vorort Leipzig vom Nürnberger Vereinstag zugeteilten
Aufgabe kamen wir nach und entwarfen ein Normalstatut für
Gewerksgenossenschaften, dessen Verfasserschaft mir zufiel.
Sobald dasselbe fertiggestellt war, ging es in Massen an die
Organisationen mit der Aufforderung, für die Gründung internationaler
Gewerksgenossenschaften — welchen Titel wir gewählt hatten — tätig zu
sein. Ich selbst legte Hand mit an. Der Titel ging eigentlich etwas
weit, denn wir konnten doch nur darauf rechnen, die Deutsch sprechenden
Länder in die Organisation zu ziehen. In der Hauptsache sollte mit dem
Namen die Tendenz ausgedrückt werden. Es kamen denn auch eine
Anzahl solcher Organisationen zustande, so die Internationale
Gewerksgenossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter, der
Maurer und Zimmerer, der Metallarbeiter, der Holzarbeiter, der
Schneider, Kürschner und Kappenmacher, der Schuhmacher, der Buchbinder,
der Berg- und Hüttenarbeiter.

Es war klar, daß, wenn schon die politische Bewegung unter der Spaltung
litt, die Gewerkschaftsbewegung in noch viel höherem Maße darunter
leiden mußte. Das bekam Fritzsche im folgenden Jahre am eigenen Leibe
zu spüren, in dem infolge der heftigen Parteikämpfe die Mitgliedschaft
seines Verbandes von ungefähr 9000 Mitgliedern auf etwas über 2000 sank.
Allerdings war an diesem Sturze teilweise der Bankrott der Berliner und
der Leipziger Produktivgenossenschaften der Tabakarbeiter schuld, die
nach einem verlorenen Streik gegründet worden waren.

Wir in Leipzig suchten den Zerwürfnissen in der Gewerkschaftsbewegung
möglichst vorzubeugen. Wir beriefen Ende Oktober 1868 im Verein mit
Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins eine stark
besuchte Arbeiterversammlung mit der Tagesordnung ein: Die
Gewerksgenossenschaften, in der Liebknecht referierte und folgende
Resolution empfahl:

„In Erwägung, daß die Gründung von Gewerksgenossenschaften nach dem
Muster der englischen Trades Unions behufs Organisierung der
Arbeiterklasse zur Wahrung und Förderung ihrer Interessen und zur
Stärkung ihres Klassenbewußtseins notwendig ist;

in Erwägung ferner, daß durch die Beschlüsse der verschiedenen
Arbeiterkongresse bereits die Anregung gegeben und der Anfang zur
Gründung von Gewerksgenossenschaften gemacht worden ist, beschließt die
heutige Arbeiterversammlung, energisch vorzugehen zur Bildung solcher
Genossenschaften, und beauftragt ein zu diesem Zwecke zu wählendes
Komitee, die dazu nötigen Schritte zu tun und namentlich mit den
Verwaltungen der Arbeiterkassen usw. in Verbindung zu treten.“

Es wurde alsdann ein Komitee gewählt, in dem vom Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein unter anderen Seyferth und Taute neben Liebknecht und mir
saßen. Das Komitee lud Angehörige aller Gewerke ein, um mit diesen die
Organisation von Gewerkschaften zu besprechen. Diese Zusammenkunft fand
unter meinem Vorsitz statt und wurde folgende von Liebknecht und mir
verfaßte Resolution einstimmig angenommen:

„Die Versammlung beschließt: Die von der Mehrheit des Nürnberger
Arbeitervereinstags und der Mehrheit des Berliner Arbeiterkongresses
gegründeten respektive zu gründenden Gewerksgenossenschaften haben
darauf hinzuwirken:

1. daß von beiden Seiten nach gegenseitiger Verabredung eine
gemeinschaftliche Generalversammlung zum Behuf der Einigung und
Verschmelzung berufen werde;

2. daß, bis eine Einigung und Verschmelzung zustande kommt, die
beiderseitigen Gewerksgenossenschaften in ein Vertragsverhältnis
zueinander treten, sich namentlich mit ihren Kassen gegenseitig
unterstützen und womöglich einen gemeinsamen provisorischen Ausschuß
wählen;

3. daß beide Teile unter allen Umständen jede Gemeinschaft mit den
Hirsch-Dunckerschen Gewerksgenossenschaften zurückweisen, die, von
Feinden der Arbeiter gestiftet, keinen anderen Zweck haben, als die
Organisation der Arbeiter zu hintertreiben und die Arbeiter zu
Werkzeugen der Bourgeoisie herabzuwürdigen.“

Dieses Verlangen fand auf der anderen Seite kein Entgegenkommen. In Nr.
141 des „Sozialdemokrat“ vom 2. Dezember 1868 veröffentlichte Schweitzer
eine Resolution, wonach das Präsidium und der Zentralausschuß des
Allgemeinen Deutschen Arbeiterschaftsverbandes unsere Anträge
zurückgewiesen hatten und aufforderten, „jedem Versuch, die Bewegung
zugunsten der persönlichen Zwecke einzelner zu zersplittern, mit allem
Nachdruck entgegenzuarbeiten“.

Damit war der Versuch, zu einer Verständigung zu gelangen, bis auf
weiteres hinfällig geworden.

Die Gewerkschaftsfrage kam unsererseits wieder auf dem Eisenacher
Kongreß im August 1869 zur Erörterung. Man mißbilligte namentlich, daß
die Aufnahme von Mitgliedern von einem politischen Glaubensbekenntnis
abhängig gemacht würde, wie das von Schweitzer verlangt wurde. Greulich
sprach sich für eine internationale Organisation aus, es gelte die
Massen in die Gewerkschaften zu bringen. Vor diesen habe der Kapitalist
Angst, nicht vor unseren paar elenden Pfennigen. Zuletzt wurde auf
Antrag Yorks eine Resolution zugunsten der Einigung der Gewerkschaften
angenommen. Ein Antrag Mottelers, der verlangte, daß die Gewerkschaften
den Abschluß von Rückversicherungen (Kartellen) betreiben sollen, fand
ebenfalls Zustimmung. Auf dem Parteikongreß zu Stuttgart — Juni 1870 —
stand abermals die Gewerkschaftsfrage auf der Tagesordnung. Die
Verhandlungen bewegten sich im alten Geleise. Die Frage der Einigung
spielte wieder die Hauptrolle. Von 1871 ab begannen die Gewerkschaften
unter der Gunst der Prosperitätsepoche sich besser zu entwickeln und
traten selbständiger auf. Die Prosperitätsepoche, die bis zu Beginn des
Jahres 1874 währte, hatte eine ungezählte Zahl Arbeitseinstellungen in
allen Branchen im Gefolge. Diese Erscheinung veranlaßte schon Ende Mai
1871 den sozialdemokratischen Arbeiterverein in Leipzig nach längerer
Diskussion, folgende Resolutionen zu beschließen und zu veröffentlichen:

„1. Daß Arbeitseinstellungen nur eines der Palliativmittel sind, die für
die _Dauer_ nicht helfen; 2. daß das Ziel der Sozialdemokratie nicht
bloß dahin geht, innerhalb der heutigen Produktionsweise höhere Löhne zu
erstreben, sondern die kapitalistische Produktionsweise überhaupt
abzuschaffen; 3. daß bei der heutigen bürgerlichen Produktionsweise die
Höhe der Löhne sich nach Angebot und Nachfrage richtet und auch durch
die erfolgreichsten Streiks über diese Höhe nicht dauernd emporgehoben
werden können; 4. daß in letzter Zeit mehrere Streiks nachweisbar von
den Fabrikanten veranstaltet worden sind, um einen plausiblen Grund für
die Erhöhung der Warenpreise während der Messe zu haben, und daß solche
Streiks nicht den Arbeitern, sondern nur den Fabrikanten zugute kommen,
die den Preis der Waren ungleich mehr erhöhen als den Arbeitslohn; 5.
daß verunglückte Streiks die Fabrikanten ermutigen und die Arbeiter
entmutigen — also unserer Partei doppelten Schaden verursachen; 6. daß
die großen Fabrikanten sogar bisweilen einen Extravorteil von den
Streiks haben, indem sie, während die kleinen Fabrikanten nicht arbeiten
lasen, ihre Vorräte mit erhöhtem Gewinn absetzen; 7. daß unsere Partei
augenblicklich nicht imstande ist, so viele Streiks materiell zu
unterstützen.

Aus allen diesen Gründen wird den Parteigenossen dringend empfohlen,
einen Streik nur dann zu beginnen, wenn eine gebieterische Notwendigkeit
vorliegt und man über die dazu erforderlichen Mittel verfügen kann;
ferner: nicht so planlos zu verfahren wie bisher, sondern nach einem
ganz Deutschland umfassenden Organisationsplan. Als bester Weg,
Geldmittel und Organisation zu beschaffen, wird die Gründung und Pflege
der Gewerksgenossenschaften empfohlen.“

In Wien erging sich das Zentralorgan der österreichischen
Parteigenossen, der „Volkswille“, in ähnlichen Betrachtungen und
Ratschlägen, da auch dort das Streikfieber immer mehr um sich griff. Die
Ratschläge waren gut, aber befolgt wurden sie in den seltensten Fällen.
Immerhin nahmen in jenen Jahren die Gewerkschaften eine erfreuliche
Entwicklung.

Mitte Juni 1872 trat in Erfurt ein Gewerkschaftskongreß zusammen, auf
dem namentlich die Frage nach einer zentralen Leitung für die
Gewerkschaften (Union) und die Gründung eines besonderen
Gewerkschaftsorgans erörtert wurde. In einem Artikel, den ich am 8. Juni
im „Volksstaat“ veröffentlichte, entwickelte ich mein Programm für den
Kongreß und verbreitete mich über die nach meiner Ansicht beste Art
einer Verbindung der Gewerkschaften unter sich. Ich führte unter anderem
aus: Es ließe sich nicht leugnen, daß die Gewerkschaftsbewegung in
Deutschland noch ziemlich im argen liege. Schuld sei die Spaltung der
Arbeiter in verschiedene Fraktionen, die sich aufs bitterste bekämpften.
Sei es schon schlimm, wenn sich die Arbeiter in verschiedenen
sozialpolitischen Organisationen gegenüberstünden, so sei es erst recht
schlimm, wenn die Arbeiter der einzelnen Gewerke in jeder Fabrik, ja in
jeder Werkstätte sich gespalten gegenüberstünden. Und zwar nicht wegen
des Prinzips, sondern wegen der Organisationsform, die doch veränderlich
sei und sich den Verhältnissen anpassen müsse. Das sei der Fluch, unter
dem die Bewegung leide. Traurig sei auch, daß die Massen sich von
gewissenlosen Menschen fanatisieren ließen, was beweise, daß ein Teil
der Arbeiter an Beschränktheit leide. Man spöttele über die
Verknöcherung des Christentums, das aber doch immerhin achtzehn
Jahrhunderte hinter sich habe, also ein Alter, das zum Verknöchern
angetan sei. Aber die neuere soziale Bewegung sei erst zehn Jahre alt,
und schon zeigten sich in ihr Verknöcherungssymptome. Diese würden zwar
überwunden, aber vorläufig hinderten sie die Entwicklung.... _In der
Gewerksgenossenschaft beruhe die Zukunft der Arbeiterklasse; sie sei es,
in der die Massen zum Klassenbewußtsein kämen, den Kampf mit der
Kapitalmacht führen lernten und so, naturgemäß, die Arbeiter zu
Sozialisten machten_. Dann setzte ich ausführlich meine
Organisationsvorschläge auseinander.

Auf dem Erfurter Gewerkschaftskongreß, auf dem sechs
Gewerkschaftsorganisationen, die der Manufaktur- und Fabrikarbeiter, der
Metallarbeiter, der Holzarbeiter, der Schneider, der Schuhmacher, der
Maurer und verschiedene Fachvereine vertreten waren, wurde eine
Gewerkschaftsunion und die Herausgabe eines Gewerkschaftsorgans, „Die
Union“, beschlossen. Auf Antrag Yorks wurde folgende Resolution
einstimmig angenommen:

„In Erwägung, daß die Kapitalmacht alle Arbeiter, gleichviel, ob sie
konservativ, fortschrittlich, liberal oder Sozialdemokraten sind, gleich
sehr bedrückt und ausbeutet, erklärt der Kongreß es für die heiligste
Pflicht der Arbeiter, allen Parteihader beiseite zu setzen, _um auf dem
neutralen Boden einer einheitlichen Gewerkschaftsorganisation_ die
Vorbedingung eines erfolgreichen kräftigen Widerstandes zu schaffen,
die bedrohte Existenz sicherzustellen und eine Verbesserung
ihrer Klassenlage zu erkämpfen. Insbesondere aber haben die
verschiedenen Fraktionen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei die
Gewerkschaftsbewegung nach Kräften zu fördern, und spricht der Kongreß
sein Bedauern darüber aus, daß die Generalversammlung des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins (in Berlin) einen gegenteiligen Beschluß
gefaßt hat.“

Als ich nach langer Festungs- und Gefängnishaft im Frühjahr 1875 wieder
frei war, machte mir August Geib den Vorschlag, an Stelle des braven
York, der leider in der Neujahrsnacht auf 1875 gestorben war, die
Redaktion des Zentral-Gewerkschaftsblattes „Die Union“ zu übernehmen. Er
stellte 50 Taler monatliches Gehalt in Aussicht. Partei und
Gewerkschaften waren mittlerweile finanziell stärker geworden. Geib
meinte, ich könne die Redaktion ganz gut neben meinem Geschäft
übernehmen. Ich lehnte ab. Ich konnte unmöglich neben meinem Geschäft
und meiner Tätigkeit für die Partei auch noch dauernd gewerkschaftlich
tätig sein.

Mittlerweile hatte die preußische Regierung sowohl gegen die
sozialdemokratischen Parteien wie gegen die Gewerkschaften die
Verfolgungen aufgenommen. Der Staatsanwalt Tessendorf, der sich auf
diesem Gebiet schon in Magdeburg die Sporen verdient hatte, war 1874
nach Berlin berufen worden, um hier auf größerer Stufenleiter die
Verfolgung fortzusetzen. Tessendorf entsprach den in ihn gesetzten
Erwartungen. Er erreichte durch seine Anklagen nicht nur die
Unterdrückung der Parteiorganisationen, auch verschiedene Gewerkschaften
fielen diesen zum Opfer. Dann kam das Attentatsjahr 1878 mit dem
Sozialistengesetz, und nun wurde mit einem Schlage zerstört, was in mehr
als zehnjähriger Arbeit unter unendlichen Opfern an Zeit, Geld, Kraft
und Gesundheit geschaffen worden war.

FUSSNOTEN:

[9] Hier machte Marx folgende Zwischenbemerkung: „In den Statuten der
Internationalen Arbeiterassoziation figuriert auch ein Präsident der
Assoziation. Er hatte jedoch in Wirklichkeit nie eine andere Funktion,
als den Sitzungen des Generalrats zu präsidieren. Auf meinen Vorschlag
schaffte man 1867 die Würde, die ich 1866 ausschlug, ganz ab und
ersetzte sie durch einen Vorsitzenden, der in jeder Wochensitzung des
Generalrats gewählt wird. Der Londoner Trades Council hat ebenfalls nur
einen Vorsitzenden. Sein stehender Beamter ist nur der Sekretär, weil
dieser eine kontinuierliche Geschäftsfunktion verrichtet.“

So der „Diktator“ der Internationale. Ich muß meinerseits konstatieren,
daß Marx und Engels auch in ihrem Briefwechsel mit mir sich nie anders
denn als Ratgebende gezeigt haben, und ihr Rat wurde in mehreren sehr
wichtigen Fällen nicht befolgt, weil ich mir aus der Lage der Dinge
heraus die bessere Einsicht zuschrieb. Ernste Differenzen habe ich
trotzdem nie mit ihnen gehabt.

A.B.



Meine erste Verurteilung.


Die Miß- und Günstlingswirtschaft, die unter der Regierung der Königin
Isabella von Spanien eingerissen war, vereinigte die Oppositionsparteien
zu einer gewaltsamen Erhebung, die die Flucht Isabellas — Ende September
1868 — zur Folge hatte. Die Unentschiedenheit, mit der die aus den
Führern der Oppositionsparteien zusammengesetzte provisorische Regierung
die Frage nach der neuen Staatsform behandelte, veranlaßte die
Demokratie der verschiedenen Länder, in Resolutionen und Adressen dem
spanischen Volke die Gründung der Republik zu empfehlen. Natürlich
glaubten wir noch ein übriges tun zu müssen und den Spaniern die
Gründung einer sozialdemokratischen Republik anraten zu sollen, wozu
nicht weniger als alle Bedingungen fehlten. Von den mehr als
sechzigtausend Mitgliedern, die nach Zeitungsnachrichten sich der
Internationale angeschlossen haben sollten, standen wohl mehr als
fünfzigtausend nicht einmal auf dem Papier, sie waren ein Produkt der
Phantasie. Es war damals die Periode der Uebertreibungen, die namentlich
der Internationale zugute kamen. Hörte man die bürgerlichen Zeitungen,
so besaß die Internationale in Europa Millionen Mitglieder, und
dementsprechend waren ihre Geldmittel ungeheure. Der gute Bürger geriet
in Angst und Schrecken, las er in seiner Zeitung, der Kassierer der
Internationale brauche nur den großen Geldschrank zu öffnen, um für
jeden Streik Millionen zur Verfügung zu haben. Ich selbst war eines
Abends Augen- und Ohrenzeuge, wie Prince Smith, der mir bei einer
geselligen Zusammenkunft im Verein der Berliner Presse gegenübersaß,
seinem Nachbar vertraulich erzählte: er habe heute einen Brief aus
Brüssel erhalten, wonach der Generalrat der Internationale für den
Streik der Kohlengräber in der Borinage (Belgien) zwei Millionen Franken
zur Verfügung gestellt habe. Ich hatte Mühe, das Lachen zu
unterdrücken. Der Generalrat wäre froh gewesen, wenn er zwei Millionen
Centimes gleich zwanzigtausend Franken in der Kasse gehabt hätte. Der
Generalrat hatte einen sehr großen moralischen Einfluß, aber Geld war
immer seine schwächste Seite.

Diesen Uebertreibungen von der Macht der Internationale fiel einige
Jahre später nach dem Aufstand der Kommune auch Bismarck zum Opfer. Er
wollte eine internationale Konferenz zur Bekämpfung der Internationale
veranstalten, wobei ihm der österreichische Kanzler, Herr v. Beust,
bereitwillig an die Hand ging, obwohl nach dessen eigenem Geständnis die
Internationale für Oesterreich nicht in Betracht kam. Die Durchführung
des schönen Planes durchkreuzte die englische Regierung. Und nicht bloß
Bismarck, auch ein so gewandter Diplomat und Unterhändler wie Oberst v.
Bernhardi ließ sich über die Internationale die größten Bären aufbinden.
So teilt er in „Aus dem Leben Theodors v. Bernhardi“ den Bericht eines
seiner Vertrauensleute mit, in dem es heißt:

„Vor allem werden die sozialistischen Wühlereien von London und Genf aus
eifrig fortgesetzt, um ganz Europa zu revolutionieren, und zwar, um
nicht bloß eine politische, sondern auch eine soziale Revolution
hervorzurufen. Sie werden von den beiden Comités internationaux in
London und in Genf geleitet. Das Komitee in London präsidiert Louis
Blanc, das Komitee in Genf Philipp Becker. Die Revolution soll zuerst in
Paris ausbrechen, und wenn sie dort siegreich ist, sich zunächst auf
Italien und dann auf das südliche Deutschland ausdehnen, wo viel
Zündstoff ist; sie soll dann aber auch das nördliche Deutschland
erfassen, wo man ebenfalls zahlreiche Verbindungen hat, und überhaupt
ganz Europa umgestalten. Zunächst ist man überall bemüht, das städtische
Proletariat vermittels des Koalitionsrechts militärisch zu
organisieren.“

Nach Bernhardi waren alle Hauptstädte Deutschlands bereits insurgiert.
Häupter der Bewegung seien namentlich Schweitzer und Bebel. Solcher
Unsinn wurde also von sehr ernst zu nehmenden Leuten verzapft.

Die erwähnte Adresse „An das spanische Volk“, die Liebknecht in einer
Versammlung begründete und ich, als Vorsitzender der Versammlung,
vorgelesen und zur Abstimmung gebracht hatte, führte uns vor den Kadi.
Wir wurden schließlich jeder zu drei Wochen Gefängnis wegen Verbreitung
staatsgefährlicher Lehren verurteilt, die wir gegen Ende 1869 — so lange
hatte der Instanzenzug gedauert — im Leipziger Bezirksgerichtsgefängnis
verbüßten.

Daß die spanische Revolution in ihrem weiteren Verlauf indirekt Anlaß
zum Kriege zwischen Frankreich und Deutschland geben würde, ahnte damals
niemand.



Vor Barmen-Elberfeld.


Die Kämpfe mit den Lassalleanern beider Linien wurden mit dem Jahre 1868
immer heftiger. Daran änderte auch nichts, daß wir für die Wahl
Hasenclevers im Wahlkreis Duisburg — Herbst 1868 — eine Geldsammlung
veranstalteten und die engere Wahl Yorks gegen den nationalliberalen
Professor Planck — der später Hauptmitarbeiter am Bürgerlichen
Gesetzbuch wurde, zu dem er einen Kommentar schrieb — im Wahlkreis Celle
unterstützten. Beide Schritte sollten beweisen, daß wir einen
Unterschied zwischen den Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins und ihrem Präsidenten machten. Für Anfang März 1869
hatten wir einen allgemeinen sächsischen Arbeitertag nach
Hohenstein-Ernstthal ausgeschrieben, mit der Tagesordnung: Reform des
sächsischen Vereinsrechts und Wahlrechts. Die Einladung hatten auch die
sächsischen Führer der beiden Richtungen der Lassalleaner unterzeichnet.
Den Tag vor dem Arbeitertag sollte unsere Partei eine Landesversammlung
abhalten, mit der Tagesordnung: die Gewerksgenossenschaften. Im Rate der
Mende-Hatzfeldt war es anders beschlossen.

Als ich Sonntag früh von einer Versammlung aus Mittweida nach Hohenstein
kam, sah ich, daß viele Arbeiter, die übernächtig und mit Schmutz
bedeckt waren, auf den Bahnhof eilten. Ich erfuhr jetzt, daß diese,
Anhänger der Mende-Hatzfeldt, den Abend zuvor 80 bis 100 Mann stark aus
Chemnitz in das Versammlungslokal gedrungen seien, um die
Landesversammlung zu sprengen. Es war zu einem großen Tumult und
schließlich zu Gewalttätigkeiten gekommen, worauf der Bürgermeister die
Feuerwehr requiriert hatte, weil die Polizei sich als machtlos erwies,
die Ruhe herzustellen. Vahlteich war verhaftet worden, weil er einen
Stockdegen gezogen hatte. Nach wenigen Tagen kam er wieder frei. Die
furchtbare Erregung, die diese Vorgänge in der ganzen Bevölkerung
hervorriefen, hatten weiter dazu geführt, daß man die Landesversammlung
absagte, was ich für einen Fehler hielt. Von verschiedenen Seiten wurde
mir gratuliert, daß ich bei jenem Tumult nicht zugegen gewesen sei; die
Tumultuanten hätten besonders nach mir verlangt und mich
niederzuschlagen gedroht.

Sechs Monate später — der Eisenacher Kongreß war vorüber — hielt ich in
Chemnitz mit durchschlagendem Erfolg eine Riesenversammlung ab. Nach der
Versammlung kamen eine Anzahl Arbeiter zu mir, die sich an jenem Tumult
in Hohenstein beteiligt hatten, und baten mich um Verzeihung; sie
begriffen selbst nicht mehr, wie sie damals der Verhetzung hätten Folge
leisten können.

Liebknechts und mein Wunsch war lange, mit J.B.v. Schweitzer eine
persönliche Begegnung und Auseinandersetzung zu haben. Der Wunsch wurde
rascher erfüllt, als wir hofften. Am 14. Februar beschloß eine von den
Lassalleanern einberufene Versammlung in Leipzig, in der weder
Liebknecht noch ich zugegen waren, Schweitzer und Liebknecht einzuladen,
sich in einer öffentlichen Versammlung gegenüberzutreten und gegenseitig
ihre Anschuldigungen vorzubringen. Liebknecht erklärte sofort im
„Demokratischen Wochenblatt“, daß er diesen Beschluß mit Freuden annehme
und bereit sei, in einer Volksversammlung Schweitzer entgegenzutreten
und zu beweisen, daß Schweitzer — sei es für Geld oder aus Neigung —
seit Ende des Jahres 1864 systematisch die Organisation der
Arbeiterpartei zu hintertreiben suchte und das Spiel des Bismarckschen
Cäsarismus spiele. Sollte Schweitzer, wie er schon einmal getan,
ihm ausweichen wollen, so sei er bereit — allein oder mit
mir —, in Gegenwart von Schweitzers Bevollmächtigten und der
Arbeiterschaftspräsidenten ihm entgegenzutreten, oder — allein oder mit
mir — auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins zu erscheinen und seine Anklagen zu begründen. Weiter
machte er den Vorschlag, den Generalrat der Internationale als
Schiedsrichter zwischen Schweitzer und sich anzurufen.

Nachdem der „Sozialdemokrat“ festgestellt, daß Schweitzer auf der
letzten Generalversammlung nahezu einstimmig zum Präsidenten gewählt
worden sei, also das volle Vertrauen des Vereins besitze, erwiderte er:
Nach der Organisation sei der Präsident über sein Tun und Lassen nur der
Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
verantwortlich. Schweitzer sei in Haft; seinen Entschließungen könne er,
der „Sozialdemokrat“, nicht vorgreifen, er glaube aber versichern zu
können, daß er jedem, also auch den Herren Liebknecht und Bebel, auf der
Generalversammlung in Barmen-Elberfeld Rede und Antwort stehen werde.
Liebknecht werde also beim Wort genommen. Auf ein Schiedsgericht in
Sachen seines Präsidenten könne sich der Allgemeine Deutsche
Arbeiterverein nicht einlassen.

Wir waren von dieser Antwort, die offenbar Schweitzer selbst verfaßt
hatte, sehr befriedigt. Bei dem Verlauf, den die Angelegenheit genommen,
und bei dem Aufsehen, das sie in beiden Lagern gemacht hatte, konnte
Schweitzer nicht ausweichen. Daß er sich für unsere Zulassung zur
Generalversammlung entschied, war uns recht, obgleich wir, streng
genommen, dorthin nicht gehörten, da wir nicht Mitglieder des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins waren. Offenbar nahm Schweitzer
an, daß er inmitten der Delegierten zur Generalversammlung am ehesten
Deckung finden würde und eine Verhandlung hinter verschlossenen Türen
ihn am wenigsten kompromittiere.

Merkwürdigerweise erklärte der „Sozialdemokrat“ drei Tage später,
Schweitzer werde sich uns nicht stellen, wir hätten kein Recht, auf der
Generalversammlung zu erscheinen. In der nächsten Nummer des
„Sozialdemokrat“ wurde aber diese Notiz widerrufen. Wir sollten kommen,
Schweitzer werde sogar auf der Generalversammlung seinen Einfluß
ausüben, daß wir zugelassen würden. In Barmen-Elberfeld las man's später
anders.

Nachdem wir die offizielle Einladung zur Generalversammlung erhalten
hatten, dampften wir ab. In Kassel stieg ein Herr in unser Abteil, den
wir für einen Delegierten zur Generalversammlung hielten. Unsere
Vermutung stellte sich als begründet heraus. In der Unterhaltung
erfuhren wir, daß unser Reisegefährte Wilhelm Pfannkuch war, der gleich
geahnt hatte, wer wir waren. Wir fuhren zusammen nach dem Wuppertal.

Die Vorgänge auf der Generalversammlung in Barmen-Elberfeld und was dann
weiter folgte zu schildern, behalte ich mir vor für den nächsten Teil
meiner Erinnerungen; vor allem sollen dann auch die Gründe dargelegt
werden, die J.B.v. Schweitzer und uns zu Gegnern gemacht hatten.

Zum Schluß möchte ich noch bemerken, daß das Jahr 1869 für die deutsche
Arbeiterbewegung von schwerwiegender Bedeutung geworden ist. Während
desselben wurden, wenn auch erst nach heftigen Kämpfen und Beseitigung
mancher Mißverständnisse, die Richtlinien festgelegt, die für die
weitere Entwicklung sich als ausschlaggebend erwiesen. Der Eisenacher
Kongreß, Anfang August, auf dem die sozialdemokratische Arbeiterpartei
Deutschlands gegründet wurde, bildete den Höhepunkt in dieser
Entwicklung. Auch politisch war die Situation eine gänzlich andere gegen
wenige Jahre früher. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes war dem
Schöpfer desselben, Bismarck, wie auf den Leib geschnitten, wobei
natürlich die liberalen Forderungen, von demokratischen zu schweigen,
sehr übel gefahren waren. Die Hoffnungen und Erwartungen, die nach
dieser Richtung in den Kreisen der Liberalen vorhanden waren, erwiesen
sich als eitel. Bismarck war nicht der Mann, der eine ihm günstige
Situation ungenutzt vorübergehen ließ. Vorgänge, wie er sie in der
Konfliktszeit erlebte, suchte er jetzt ein für allemal unmöglich zu
machen. Und der größte Teil der Liberalen kam ihm darin entgegen. Es war
ihnen vor ihrer eigenen Gottähnlichkeit, als Männer der starren
Opposition, bange geworden. Das preußische Militärsystem wurde in Bausch
und Bogen und unter entsprechender Erweiterung auf den Norddeutschen
Bund übertragen. Für die Marine wurden die ersten Keime gelegt.
Ministerverantwortlichkeit und Diäten für die Abgeordneten flogen ins
alte Eisen. Bismarck war unumschränkter Beherrscher der inneren
Situation.

Dafür, daß die liberale Bourgeoisie in allen wichtigen politischen
Fragen Bismarck das weiteste Entgegenkommen zeigte, ein Entgegenkommen,
das bis zur Entmannung ging, erlangte sie die volle Befriedigung ihrer
wirtschaftlichen Forderungen, die nach ihrer Natur auch eine Anzahl
Forderungen der Arbeiterklasse erfüllten. Freizügigkeit, Aufhebung der
Paßbeschränkungen, Erleichterung der Eheschließung und Niederlassung,
denen im Jahre 1869 der Entwurf einer Gewerbeordnung folgte, hatten
mittlerweile Gesetzeskraft erlangt. Mit der Schaffung des Zollparlaments
war unter Teilnahme der süddeutschen Staaten die Zoll-, Handels- und
indirekte Steuergesetzgebung ebenfalls in den Kreis der
parlamentarischen Beratungen gezogen. Damit war ein Tätigkeitsfeld
eröffnet, das ich nach meinen Kräften beackern half. Wie und mit welchem
Erfolg, soll mit Gegenstand der Darlegung im zweiten Teile werden.





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