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Title: Aus meinem Leben — Zweiter Teil
Author: Bebel, August, 1840-1913
Language: German
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Aus meinem Leben


Von August Bebel


Zweiter Teil



Stuttgart 1911

Verlag von J.H.W. Dietz Nachf. G.m.b.H.



Inhaltsverzeichnis.


Geleitwort
Die Periode des Herrn v. Schweitzer in der proletarischen Arbeiterbewegung
  Jean Baptist v. Schweitzer
  „Der Sozialdemokrat“
  Schweitzer und die Konservativen
  Schweitzer im norddeutschen Reichstag
  Schweitzers Diktatur
  Die Generalversammlung in Barmen-Elberfeld
  Die Rebellion im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein
  Der Eisenacher Kongreß
  Die Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und die Auflösung
  des Verbandes der deutschen Arbeitervereine
  Nach Eisenach
  Schweitzers Ende
Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit
  Im konstituierenden norddeutschen Reichstag
  Im norddeutschen Reichstag und dem Zollparlament
  Taktische Unstimmigkeiten
Der Deutsch-Französische Krieg
  Das Vorspiel zur Kriegserklärung
  Meinungsdifferenzen
  Erklärungen und Proklamationen
  Die Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses
  Annexionen und Kaiserkrone
  Unsere Verhaftung
Meine weitere parlamentarische Tätigkeit, der Leipziger Hochverratsprozeß
und anderes
  Die erste Session des deutschen Reichstags
  Der erste deutsche Webertag
  Weiteres aus Sachsen
  Der Dresdener Parteikongreß
Die zweite Session des deutschen Reichstags
  Der Leipziger Hochverratsprozeß
  Die dritte Session des ersten deutschen Reichstags
  Mein Majestätsbeleidigungsprozeß
Unsere Festungshaft und was zwischendurch passierte
  Hubertusburg
  Königstein
  Zwickau
Von 1871 bis zum Vereinigungskongreß zu Gotha
  Die Regierungen und die Sozialdemokratie
  Die Einigungsfrage vor den beiden Fraktionen
  Der Parteikongreß zu Eisenach 1873
  Die erste Session des neuen Reichstags 1874
  Tessendorf als Bahnbrecher der Einigung. Einigungsverhandlungen
Vom Vereinigungskongreß zu Gotha bis zum Vorabend des Sozialistengesetzes
  Das Einigungswerk
  Nachwehen
  Reichstagsarbeit
  Meine Stellung zur Kommune
  Neue Verfolgungen
  Der Parteikongreß zu Gotha 1876
  Der Wahlkampf 1876 bis 1877
  Der Reichstag 1877
  Der Kongreß zu Gotha 1877
  Landtagswahl in Sachsen. „Die Zukunft“
  Wieder reif fürs Gefängnis
  Innere Vorgänge
  Der Reichstag Frühjahr 1878
  Im Leipziger Gefängnis und was währenddem geschah
  Das Hödel-Attentat und seine Folgen
  Das erste Ausnahmegesetz
  Das Nobiling-Attentat und seine Wirkung
  Die Reichstagswahl von 1878



Geleitwort.


Früher, als ich selbst gehofft, ist es mir ermöglicht worden, den
vorliegenden zweiten Band „Aus meinem Leben“ fertigzustellen. Mein
Gesundheitszustand hat sich in den letzten anderthalb Jahren erheblich
gebessert und damit ist meine Leistungsfähigkeit gehoben worden. Leider
fiel in diese Zeit die lange, schwere Erkrankung meiner teuren,
unvergeßlichen Frau, mit deren Hinscheiden Ende November 1910 ihr Leiden
seinen Abschluß fand.

Der zweite Band ist weit stärker geworden, als ich anfangs geahnt; er
wuchs mir unter den Händen zu einer Art Geschichte der Partei, was
erklärlich ist bei der Stellung, die ich in der Partei erlangte. Auch
kamen mir noch Briefe und Aktenmaterial in die Hände, das ich verloren
glaubte. Während dem ruhelosen, überarbeiteten Leben, das ich länger als
ein Menschenalter führte, war vorsichtshalber manches beseitigt und
vergeben worden, das sich bei gründlichem Nachforschen wieder fand.
Außerdem gelangten, da ich als Miterbe des Friedrich Engelsschen
literarischen Nachlasses testamentarisch eingesetzt worden war, die
meisten meiner Briefe wieder in meinen Besitz, die ich im Laufe mehrerer
Jahrzehnte mit Friedrich Engels und Karl Marx gewechselt hatte. Den
Hauptinhalt dieser Briefe, die wesentlich in die Zeit des
Sozialistengesetzes fielen, werde ich im dritten Bande benutzen.

Dieser letztere wird, vorausgesetzt, daß mir überhaupt das Leben und die
nötigen Kräfte verbleiben, erst nach längerer Zeit erscheinen. Die
Vorarbeiten befinden sich noch in den Anfängen. Möglicherweise muß ich
diesen dritten Band in zwei Teile zerlegen. Sein Inhalt wird die zwölf
Jahre Sozialistengesetz, die „Heroenzeit“ der Partei, wie diese Periode
gern genannt wird, umfassen. Damit gedenke ich meine Veröffentlichungen
größeren Umfangs abzuschließen.

Dem Schlußband wird ein Namen- und Sachregister beigegeben werden.

Zürich, den 2. September 1911.

A. Bebel



Die Periode des Herrn v. Schweitzer in der proletarischen
Arbeiterbewegung.



Jean Baptist v. Schweitzer


Unter den Persönlichkeiten, die nach dem Tode Lassalles nacheinander die
Führung des von ihm gegründeten Vereins übernahmen, steht J.B. v.
Schweitzer allen weit voran. In Schweitzer erhielt der Verein einen
Führer, der in hohem Grade eine Reihe Eigenschaften besaß, die für seine
Stellung von großem Werte waren. Er besaß die nötige theoretische
Vorbildung, einen weiten politischen Blick und eine kühle Ueberlegung.
Als Journalist und Agitator hatte er die Fähigkeit, die schwierigsten
Fragen und Themen dem einfachsten Arbeiter klar zu machen; er verstand
es wie wenige, die Massen zu fanatisieren, ja zu faszinieren. Er
veröffentlichte im Laufe seiner journalistischen Tätigkeit in seinem
Blatte, dem „Sozialdemokrat“, eine Reihe populärwissenschaftlicher
Abhandlungen, die mit zu dem Besten gehören, was die sozialistische
Literatur besitzt. So beispielsweise seine Kritik des Marxschen
„Kapital“ und die später als Broschüre veröffentlichte Abhandlung „Der
tote Schulze gegen den lebenden Lassalle“, Arbeiten, die noch heute
ihren vollen Wert haben. Auch als Parlamentarier erwies er sich als sehr
geschickt und gewandt. Er erfaßte rasch eine gegebene Situation und
verstand sie auszunutzen. Endlich war er auch ein guter Redner von
großer Berechnung, der Eindruck auf die Massen und die Gegner machte.

Aber neben diesen guten, zum Teil glänzenden Eigenschaften besaß
Schweitzer eine Reihe Untugenden, die ihn als Führer einer
_Arbeiterpartei_, die in den ersten Anfängen ihrer Entwicklung begriffen
war, dieser gefährlich machten. Für ihn war die Bewegung, der er sich
nach mancherlei Irrfahrten anschloß, nicht Selbstzweck, sondern Mittel
zum Zweck. Er trat in die Bewegung ein, sobald er sah, daß ihm innerhalb
des Bürgertums keine Zukunft blühte, daß für ihn, den durch seine
Lebensweise früh Deklassierten, nur die Hoffnung bestand, in der
Arbeiterbewegung die Rolle zu spielen, zu der sein Ehrgeiz wie seine
Fähigkeiten ihn sozusagen prädestinierten. Er wollte auch nicht bloß der
Führer der Bewegung, sondern ihr Beherrscher sein, und trachtete sie für
seine egoistischen Zwecke auszunutzen. Während einer Reihe von Jahren in
einem von Jesuiten geleiteten Institut in Aschaffenburg erzogen, später
sich dem Studium der Jurisprudenz widmend, gewann er in der jesuitischen
Kasuistik und juristischen Rabulistik das geistige Rüstzeug, das ihn,
der von Natur schon listig und verschlagen war, zu einem Politiker
machte, der skrupellos seinen Zweck zu erreichen suchte, Befriedigung
seines Ehrgeizes um jeden Preis und Befriedigung seiner großen,
lebemännischen Bedürfnisse, was ohne auskömmliche materielle Mittel, die
er nicht besaß, nicht möglich war. Es ist aber eine alte geschichtliche
Erfahrung, die in allen Volksbewegungen sich bestätigt hat, daß führende
Persönlichkeiten, die sybaritische Gewohnheiten haben, aber wegen Mangel
an Mitteln sie nicht zu befriedigen vermögen, leicht an sie
herantretenden Versuchungen unterliegen, namentlich wenn sie dabei auch
glauben, außer der Befriedigung ihres Ehrgeizes Scheinerfolge erringen
zu können.

Die diktatorische Stellung, welche die Organisation des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins dem Leiter des Vereins einräumte, begünstigte
die Schweitzerschen Bestrebungen ungemein. Es war aber auch ebenso
natürlich, daß gegen die Gelüste des Diktators ein ständiger Kampf der
selbständiger denkenden Mitglieder im Verein entstand. Die Opposition,
zeitweilig durch seine brutale Rücksichtslosigkeit scheinbar
niedergeworfen und aus dem Verein hinausgedrängt, erhob sich in Kürze in
anderen Personen und an anderen Orten wieder, und es begann der Kampf
von neuem gegen ihn. Seine Herrschaftsbestrebungen wurden noch dadurch
ungemein begünstigt, daß das einzige Blatt, das der Verein besaß — und
ein zweites neben diesem duldete er nicht —, „Der Sozialdemokrat“, in
seinen Händen war und von ihm geleitet wurde. Damit hatte er das Mittel
in der Hand und wandte es ohne Skrupel an, die geistige Beherrschung
der Mitglieder zu einer absoluten zu machen, wobei er jeden Widerspruch
und jede ihm unbequeme Meinungsäußerung gewaltsam niederhielt. Die Art,
wie dabei wieder Schweitzer den Massen zu schmeicheln verstand, obgleich
er innerlich sie verachtete, ist mir nie mehr in ähnlichem Maße
begegnet. Sich selbst stellte er als ihr Werkzeug hin, das nur dem
Willen des „souveränen Volkes“ gehorche, dieses souveränen Volkes, das
nur seine Zeitung las und dem er seinen Willen suggerierte. Wer aber
wieder ihn zu lecken wagte, der wurde der niedersten Motive geziehen,
als eine Viertels- oder Achtelsintelligenz gebrandmarkt, die sich über
die braven, ehrlichen Arbeiter erheben wolle, um sie im Interesse ihrer
Gegner zu mißbrauchen.

Eine Rolle, wie Schweitzer sie allmählich spielte, war allerdings nur in
den Jugendjahren der Bewegung möglich, und darin liegt die
Entschuldigung für seine fanatisierten Anhänger. Wer heute die Rolle
eines Schweitzer in der Bewegung spielen wollte, wäre in kurzer Zeit
unmöglich, sei er wer er wolle.

Schweitzer war ein Demagog großen Stils, der an der Spitze eines Staates
sich als ein würdiger Schüler Machiavellis — für dessen grundsatzlose
Theorien er schwärmte — erwiesen haben würde. Die absolute Herrschaft,
die er durch die erwähnten Mittel sich auf Jahre in seinem Verein zu
sichern wußte, läßt sich nur vergleichen mit gewissen Erscheinungen in
der katholischen Kirche. Er hatte eben nicht umsonst bei den Jesuiten
Unterricht genommen.

Wessen wir — Liebknecht und ich — Schweitzer beschuldigten, war, daß er
den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein — natürlich wider Wissen und
Wollen des weitaus größten Teiles seiner Mitglieder — im Interesse der
Bismarckschen Politik leite, _die wir nicht als eine deutsche, sondern
als eine großpreußische Politik betrachteten,_ eine Politik, betrieben
im Interesse der Hohenzollernschen Hausmacht, die bestrebt war, die
Herrschaft über ganz Deutschland zu gewinnen und Deutschland mit
preußischem Geist und preußischen Regierungsgrundsätzen — _die der
Todfeind aller Demokratie sind_ — zu erfüllen.

Wie damals die Dinge im allgemeinen lagen und bei dem schweren Kampfe,
in dem sich Bismarck mit der liberalen Bourgeoisie befand, benutzte er
jedes Mittel, auch das unscheinbarste, das seinen Zwecken dienen konnte.
Ich habe bereits im ersten Teil dieser Arbeit dargelegt, wie Bismarck
noch vor dem Auftreten Lassalles in dem Lackierer Eichler einen
gewandten Agenten besaß, der für seine Politik in den Arbeiterkreisen
Propaganda machte. Lassalle, der nicht als Dienender, sondern als
Gleichberechtigter, als Macht zu Macht mit Bismarck in Unterhandlungen
sich einließ, unterstützte mehr als er wohl selbst wollte diese
Bismarckschen Bestrebungen. Seine Verhandlungen mit Bismarck wurden zwar
offenbar mit dem Februar 1864 abgebrochen und bis zu seinem (Lassalles)
Tode nicht wieder aufgenommen, aber das Streben, die Arbeiterbewegung
der Bismarckschen Politik dienstbar zu machen, blieb bestehen und hatte
einen gewissen Erfolg, woran die scharfe Absage, die Karl Marx dem alter
ego Bismarcks, Lothar Bucher, gab, als dieser ihn zur Mitarbeit am
preußischen „Staatsanzeiger“ einlud, nichts änderte.

Helene v. Rakowicza (Helene v. Dönniges), die ehemalige Geliebte
Lassalles, wegen der er in das Duell, das ihn das Leben kostete,
verwickelt wurde, erzählt in ihrem Buche: „Von anderen und mir“, Berlin
1909, daß sie in einer Nachtunterhaltung Lassalle die Frage vorgelegt:
Ist's nun wahr? Hast du mit Bismarck allerlei Geheimes zu tun? Worauf
dieser geantwortet habe: „Was Bismarck anbelangt und was er von mir
gewollt hat und ich von ihm? — laß dir's genügen, daß es nicht zustande
kam, nicht zustande kommen konnte. Wir waren beide zu schlau — wir sahen
unsere beiderseitige Schlauheit und hätten nur damit enden können, uns
(immer politisch gesprochen) ins Gesicht zu lachen. Dazu sind wir zu gut
erzogen — also blieb es bei den Besuchen und geistreichen Gesprächen.“

Diese Darstellung klingt wahrscheinlich. Es hieße Lassalles Scharfsinn
und seine Einsicht beleidigen, sollte er anders gedacht haben, als hier
seine ehemalige Geliebte erzählt. Ueberhaupt konnte kein scharfsinniger
und einsichtiger Mensch, und das war auch Schweitzer, sich täuschen
über das, was ein Sozialdemokrat von Bismarck erlangen konnte, was
nicht, und daß, wenn Bismarck auf irgendwelche Beziehungen mit
Sozialdemokraten sich einließ, es nur geschah, um sie in seinem
Interesse zu verwenden und nachher wie ausgepreßte Zitronen beiseite zu
werfen. Oder ein anderes, daß sie sich an ihn verkauften und ihm Dienste
leisteten, was bei Lassalle nicht in Frage kommen konnte.

Für meine Auffassung spricht zunächst die Tatsache, daß, als an des
Präsidenten Bernhardt Beckers Stelle F.W. Fritzsche Vizepräsident des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wurde, Dr. Dammer, der frühere
Vizepräsident des Vereins, Fritzsche empfahl, _er solle bei seinen
Agitationen im Königreich Sachsen neben den sozialistischen Forderungen
für die preußische Spitze eintreten und die über diese Versammlungen
veröffentlichten Zeitungsberichte direkt an Bismarck senden, auch diesem
über die abgehaltenen Versammlungen direkt berichten._ Fritzsche selbst
hat mir diese Mitteilungen gemacht, als es sich im Herbst 1878 um die
Bekämpfung des Entwurfs des Sozialistengesetzes handelte. Diese
Mitteilungen habe ich damals im Reichstag in einer Rede gegen Bismarck
auch verwendet.

Die Versuche, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein für die
Bismarcksche großpreußische Politik nutzbar zu machen, waren also sehr
frühzeitig vorhanden und dauernde. Es wird Sache meiner
Auseinandersetzungen sein, zu beweisen, daß Schweitzer diesen
Bestrebungen Bismarcks bewußt diente.

Wäre Schweitzer ein Mann gewesen, der der Sache, die er äußerlich
verfocht, innerlich ehrlich zugetan war, wäre er ein Mann gewesen, von
dem jeder Parteigenosse überzeugt sein mußte, daß nur die Begeisterung
und das reinste Streben, der Arbeiterklasse zu dienen, bei ihm vorhanden
war, hätte er die sehr bedenklichen Zweideutigkeiten, die in seinem
politischen Leben auftauchten, zu vermeiden gewußt, wäre mit einem Worte
sein ganzes Tun Vertrauen fordernd gewesen, er wäre bis an sein
Lebensende unbestritten der Führer der Partei geblieben. Jeder Versuch,
ihn zu diskreditieren, wäre an ihm abgeprallt, mochten solche Angriffe
ausgehen von welcher Seite immer. Statt dessen mußte er sein stetig
sinkendes Ansehen verteidigen und erlebte schließlich, daß nach der
Niederlegung seiner Präsidentschaft, als jeder wagen durfte, frei zu
sprechen, ohne Gefahr, von einem Bannstrahl getroffen zu werden, gerade
diejenigen die ehrenrührigsten Anklagen gegen ihn erhoben, die ihn
einstmals gegen die Angriffe von unserer Seite fanatisch verteidigt
hatten. So kam es, daß die Nachricht von seinem Tode jene kalt und
gleichgültig ließ, die im anderen Falle ihn bis zur letzten Stunde als
ihren Führer anerkannt und seinem Andenken alle Ehren erwiesen haben
würden.

       *       *       *       *       *

Jean Baptist v. Schweitzer wurde am 12. Juli 1834 zu Frankfurt am Main
geboren. Das Blut, das in seinen Adern floß, war, nach seinen Vorfahren
zu urteilen, eine Mischung von italienisch-französischem mit deutschem
Blute. Seine Familie, die im Jahre 1814 vom damaligen König von Bayern
geadelt wurde, gehörte zu den sogenannten Patrizierfamilien
Altfrankfurts.

Was der junge Schweitzer in seiner Familie sah und hörte, war nicht sehr
erhebend und von zweifelhaft erzieherischem Einfluß. Der Vater, einst
Kammerjunker bei dem berüchtigten Herzog Karl von Braunschweig, der 1830
eilig sein Land verlassen mußte, wollte er nicht der Volkswut zum Opfer
fallen, war ein Lüdrian, der als Verschwender lebte. Die Mutter, die
getrennt von ihrem Manne ein besonderes Haus führte, trieb es in der
gleichen Weise. Kein Wunder, daß der junge Jean Baptist bei solcher
Abstammung und bei solchem Vorbild in die elterlichen Fußtapfen trat,
nur daß ihm die Mittel fehlten, welche die Eltern verjubelt hatten,
worauf denn für ihn das Schuldenmachen die notwendige Konsequenz war.

Gegen die Mitte der fünfziger Jahre führte ihn sein Studium auch nach
Berlin, wo er unter anderem im Hause Krummachers, dessen Frau eine
Verwandte seiner Großmutter war, verkehrte, und die führenden Männer der
preußischen Reaktion, so zum Beispiel Friedrich Julius Stahl, kennen
lernte. Die später in seinen Schriften hervortretende scharfe und
treffende Kritik der Natur des preußischen Staates dürfte er bei seinem
Aufenthalt in Berlin und im Verkehr mit den maßgebenden
Gesellschaftskreisen gewonnen haben. Sein großdeutsch-österreichischer
Standpunkt, der nicht nur der herrschende in seiner Familie, sondern
auch in den Bürgerkreisen Altfrankfurts war, mochte seine
Beobachtungsgabe besonders schärfen. Er lernte jetzt den Staat in seinem
innersten Wesen kennen, der der Todfeind Oesterreichs war. Dieser sein
großdeutsch-österreichischer Standpunkt kam auch in den politischen
Schriften zum Ausdruck, deren erste Schweitzer 1859 veröffentlichte, und
zwar in Frankfurt, wo er sich 1857 als Rechtsanwalt niedergelassen
hatte, dem aber die Praxis fehlte. Diese Schrift, die während des
österreichisch-italienisch-französischen Krieges veröffentlicht wurde,
führte den bezeichnenden Titel „Oesterreichs Sache ist Deutschlands
Sache“ und forderte das Eintreten von Gesamtdeutschland für Oesterreich.
Die zweite Schrift mit gleicher Tendenz führte den Titel: „Widerlegung
von Karl Vogts Studien zur gegenwärtigen Lage Europas“. Dieselbe
schließt: Oesterreichs Sache ist die Sache des europäischen Rechtes und
der europäischen Ordnung, die Sache der Kultur und Humanität und vor
allem die _nationale Sache deutscher Ehre und deutscher Unabhängigkeit_.

In einer dritten Schrift, die 1860 erschien, betitelt „Der einzige Weg
zur nationalen Einheit“, rückt er erheblich nach links. Er bekennt sich
als Republikaner und sieht nur in einer demokratischen Einheit
Deutschlands, die durch eine Revolution von unten herbeizuführen sei,
das Heil Deutschlands. Indes verfiel er später wieder in seine
großdeutsch-österreichischen Sympathien, bis er endlich nach seiner
persönlichen Bekanntschaft mit Lassalle ins kleindeutsche Lager
abschwenkte und in der Politik eines Bismarck die einzige Möglichkeit
zur Lösung der deutschen Frage sah.

Der Beginn der Volksbewegung und die Gründung des Nationalvereins im
Jahre 1859 mit seinen kleindeutschen Bestrebungen konnten Schweitzer
nicht gleichgültig lassen. Er trat, entsprechend seinem damaligen
Standpunkt, gegen den Nationalverein auf. Er meinte (Januar 1861), nur
wenn der Nationalverein sich für die Republik, das hieß also für die
Revolution erkläre, könne er auf die Hilfe der _Arbeiter_ rechnen.
Preußen sei nicht besser als Oesterreich; _beide müßten zertrümmert
werden_, sollte die deutsche Einheit möglich sein.

Als dann im November 1861 in Frankfurt a.M. mit seiner Hilfe ein
Arbeiterbildungsverein gegründet wurde, wählte man Schweitzer zu dessen
Vorsitzenden. Hier vertrat er die gleichen radikalen Ideen. Anfang 1862
erschien wiederum eine Schrift von ihm, „Zur deutschen Frage“, in der er
sich abermals als unerbittlichen Gegner der hohenzollernschen
Hauspolitik und der preußischen Führerschaft in Deutschland bekannte und
die Jämmerlichkeit der Mittelparteien brandmarkte. Er trat jetzt als
Vielgeschäftiger in der Politik hervor. So wurde er auch Vorsitzender
des Frankfurter Turnvereins; Vereine, die damals samt und sonders eine
eifrige politische Tätigkeit entfalteten, obgleich sie angeblich
unpolitische Vereine sein sollten. Das gleiche war mit der
Schützenvereinsbewegung der Fall. Auch in dieser trat Schweitzer aktiv
hervor und wurde, als der deutsche Schützenbund gegründet wurde,
Mitglied des engeren Ausschusses desselben. Als dann Juli 1862 das erste
deutsche Schützenfest in Frankfurt abgehalten wurde, war Schweitzer
Schriftführer des Zentralausschusses und Redakteur der Festzeitung. Der
intime Umgang, den er damals mit dem Herzog von Koburg, dem
„Schützenherzog“, pflog, an dessen Seite er sich häufig auf dem
Festplatze zeigte, stand freilich in Widerspruch zu seinem bisherigen
radikalen Verhalten und auch zu der radikalen Rede, die er am 22. Mai
1862 auf dem Arbeitertag des Maingaus in durchaus sozialistischem Sinne
gehalten hatte, wie ich das bereits im ersten Teil dieser meiner Arbeit
erwähnte.

Schweitzer hatte um diese Zeit gleichzeitig mehrere Eisen im Feuer. Aber
da brach das Verhängnis über ihn herein. Er wurde kurz nach dem
Frankfurter Schützenfest zweier Verfehlungen öffentlich beschuldigt, die
einen schwarzen Schatten auf sein späteres Leben warfen und als Merkmale
seines Charakters von Bedeutung sind.

Zunächst wurde er beschuldigt, 2600 Gulden für die Kasse des
Frankfurter Schützenfestes unterschlagen zu haben. Klage wurde von
seiten des Ausschusses nicht erhoben, und das gab wohl Veranlassung, daß
die Tat überhaupt bestritten wurde. Demgegenüber möchte ich feststellen,
daß der Justizrat Sterzing in Gotha, der im Zentralausschuß des
Schützenfestes saß, mit seiner Namensunterschrift eine Erklärung in der
„Allgemeinen Deutschen Arbeiterzeitung“ in Koburg erließ, worin er die
Unterschlagung als Tatsache bestätigte. Als dann einige Jahre später im
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein die Opposition gegen Schweitzer
losbrach, schickte die Gothaer Mitgliedschaft einen ihrer Angehörigen zu
Justizrat Sterzing, um ihn zu fragen, ob die gegen Schweitzer erhobene
Beschuldigung der Unterschlagung wahr sei. Sterzing betätigte das.
Darauf wandte sich die Gothaer Mitgliedschaft an Schweitzer, teilte ihm
die Aeußerung Sterzings mit und ersuchte ihn, Sterzing zu verklagen.
Schweitzer lehnte ab. Er erklärte: das falle ihm nicht ein, da habe er
viel zu tun.

Ein anderer noch unliebsamerer Vorgang trug sich im August 1862 im
Schloßgarten zu Mannheim zu. Schweitzer wurde beschuldigt, am Vormittag
des betreffenden Tages ein Sittenvergehen an einem Knaben begangen zu
haben. Er wurde mit vierzehn Tagen Gefängnis bestraft. Die Handlung wäre
viel schwerer bestraft worden, hätte man den betreffenden Knaben
feststellen können. Dieses gelang nicht. Wohl aber wurden andere Knaben
gefunden, denen Schweitzer das gleiche Ansinnen gemacht hatte. Daraufhin
fand seine Verurteilung statt. Im Eifer, Schweitzer reinzuwaschen, hat
man die Unschuld Schweitzers, die er natürlich selbst behauptete, zu
beweisen versucht. Im Interesse der historischen Wahrheit sollten solche
Versuche unterbleiben. Man mag über die gleichgeschlechtliche Liebe noch
so frei denken, so war es unter allen Umständen eine Ehrlosigkeit, die
Befriedigung derselben am hellen Tage in einem öffentlichen Park und an
einem schulpflichtigen Knaben zu versuchen. Bemerkt sei auch, daß
Schweitzer sich hütete, gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung
einzulegen, was sicher geschehen wäre, wenn er sich unschuldig gefühlt
hätte.

Diese beiden Vorkommnisse zwangen Schweitzer, auf einige Zeit Frankfurt
zu verlassen. In den Arbeiterkreisen erweckten sie natürlich eine starke
Animosität gegen ihn. Als daher im nächsten Jahre, nach Gründung des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Schweitzer die persönliche
Bekanntschaft Lassalles gemacht hatte und Mitglied des Vereins geworden
war, stellten die Frankfurter Mitglieder an Lassalle das Ersuchen, er
solle Schweitzer angehen, den Versammlungen des Vereins nicht mehr
beizuwohnen. Lassalle lehnte dieses Ersuchen als philiströs ab, das
Schweitzer zugeschriebene Vergehen habe mit seinem politischen Charakter
nichts zu tun. Die Knabenliebe sei in Griechenland allgemein
herrschender Brauch gewesen, dem der Staatsmann und der Dichter
gehuldigt habe. Im übrigen zollte er den Fähigkeiten Schweitzers hohes
Lob. An Schweitzer selbst schrieb er, daß die gerügten Neigungen nicht
nach seinem Geschmack seien. Einen Zweifel, daß Schweitzer diese nicht
besitze, drückte er nicht aus; er wußte wohl warum.

Anfang 1863 veröffentlichte Schweitzer eine neue Schrift bei Otto Wigand
in Leipzig, betitelt „Die österreichische Spitze“. Die Schrift widmete
er seinem Freunde Herrn v. Hofstetten, einem ehemaligen bayerischen
Offizier, „in Verehrung und Freundschaft“; die Vorrede ist von einer
schwülen Ueberschwenglichkeit, als rede Alkibiades zu einem seiner
Lieblinge. Der Inhalt der Schrift ist in mehr als einer Beziehung
interessant. Er schildert darin den Charakter des preußischen Staates
durchaus richtig und erklärt Preußen für eine Einigung Deutschlands
durchaus _ungeeignet_. Im weiteren tritt er trotz aller demokratischen
Vorbehalte wieder für die _österreichische_ Spitze ein. Der preußische
Staat stehe der Gesamtheit Deutschlands gegenüber, so führt er aus, auf
Grund seiner historischen Entwicklung ..., die ihn zwinge, sich weiter
in demselben Lande und durch dieselbe Bereicherungsart zu vergrößern,
also auf Annexionen auszugehen. _Diese Mission Preußens sei aber keine
deutsche, sondern eine preußische._ Preußen müsse nach seiner inneren
Natur darauf sehen, _daß der alles einzelne mehr oder weniger
durchdringende Geist, der althistorische, spezifisch preußische,
wesentlich hohenzollernsche Charakter des Staates nicht verloren gehe_.

Gegen dieses Preußen macht er energisch Front, das mit einem _wirklichen
Gesamtdeutschland unverträglich sei_. Er spricht sich dabei in folgender
programmatischer Weise aus, eine Auffassung, der wir später in einer
anderen Situation wieder begegnen werden. Er sagt: „Wenn dem künftigen
Deutschen Reiche — sei es eine Republick oder ein Kaisertum — auch nur ein
einziges Dorf des jetzigen deutschen Bundesgebiets fehlt, _so ist dies
ein nationaler Skandal_. Die kleinste Hütte im fernsten Dorfe, wo
deutsche Zunge klingt, hat das heilige Recht auf den Schutz der
Gesamtheit.“

Diese feierliche Erklärung hielt ihn aber bald darauf nicht ab, die
Politik zu unterstützen, die den _nationalen Skandal_ herbeiführte und
herbeiführen wollte, und nach seiner eigenen Auffassung herbeiführen
mußte. Und es handelte sich dabei nicht bloß um ein einzelnes Dorf oder
eine Hütte, sondern um Ländergebiete mit zehn Millionen Deutscher, die
Jahrhundertelang früher zum Reiche gehörten als die Provinz Preußen,
deren Namen die Hohenzollern ihrem Königreich gaben. Schließlich
forderte er die _österreichische Spitze_ und den Eintritt
_Gesamtösterreichs_ in den Bund, wenn nicht anders, _so durch die
Zertrümmerung Preußens_. Demgemäß verlangte er, daß die großdeutsche
Partei _energisch für die österreichische Spitze_ eintrete und nicht der
kleindeutschen Partei das Feld in der Agitation für die preußische
Spitze überlasse.

So Schweitzer als schwarzgelber Großdeutscher noch Anfang 1863. In
wenigen Monaten war er ein anderer. Mittlerweile hatte er die
persönliche Bekanntschaft Lassalles gemacht. Er begriff rasch, daß sich
hier eine Gelegenheit zu einer Stellung für seine Zukunft bot, die
seinem Ehrgeiz entsprach, die ihm in der bürgerlichen Welt nach den oben
geschilderten Vorgängen für alle Zeit abgeschnitten war. In diesen
Kreisen galt er als ein Mensch, vor dem man die Tür schließen müsse.

Als im Frühjahr 1863 Lassalle nach Frankfurt kam, verständigten sich
beide offenbar sehr bald. Gelegenheit dazu bot auch ein gemeinsamer
Ausflug in die Rheinpfalz, auf dem sich ein amüsanter Vorgang mit
Lassalle zutrug. Außer Lassalle und Schweitzer nahmen an der Partie die
Gräfin Hatzfeldt, Hans v. Bülow und unser verstorbener Parteigenosse,
der damals jugendliche Wendelin _Weißheimer_ teil. Die Reise ging nach
Osthofen am Rhein, von wo aus der Ebernburg, bekanntlich einst der Sitz
Sickingens, ein Besuch gemacht werden sollte. Auf Betreiben Weißheimers
hatte sein Vater, der in Osthofen wohnte, die Gesellschaft zum
Mittagstisch geladen. Lassalle saß an der Tafel neben Frau Weißheimer.
Als diese im Laufe des Gesprächs, wißbegierig wie Frauen nun einmal
sind, die Frage an Lassalle richtete: ob er glaube, daß seine Pläne
durchführbar seien, umarmte Lassalle sie und drückte ihr mit den Worten:
„Sie sind eine köstliche Frau“ einen Kuß auf die Lippen. Er schloß ihr
also buchstäblich den Mund. Ueber diese Verhöhnung aller
gesellschaftlichen Etikette geriet der alte Weißheimer dermaßen in
Aufregung, daß er einige Sekunden nach Atem schnappte, wohingegen die
übrige Gesellschaft aus vollem Halse lachte.

Die Wandlung in der Gesinnung Schweitzers unter dem Einfluß Lassalles
zeigte sich sofort deutlich in der Rede, die er am 13. Oktober 1863 in
Leipzig unter dem Titel hielt: „Die Partei des Fortschritts als Trägerin
des Stillstandes“. Diese Rede bezeichnet eine vollständige Umwandlung
seiner bisherigen Stellung zu Preußen, zugleich war sie eine
Rechtfertigung der Politik Lassalles und eine klare Stellungnahme gegen
den Liberalismus, _was zu jener Zeit hieß_ eine Parteinahme für Bismarck
und die Feudalen. In jener Rede führt er unter anderem aus:

  „Allein, meine Herren, wenn Sie meinem Vortrag gefolgt sind, so werden
  Sie erkannt haben, daß zwar der moderne Absolutismus samt seinen
  Adels- und Priesterkoterien uns feindlich gegenübersteht, da er
  überhaupt von Neuerung nichts wissen will; allein, Sie werden zugleich
  erkannt haben, _daß unser eigentlicher, hartnäckiger und erbitterter
  Feind wo ganz anders steckt — nämlich in der Bourgeoispartei und ihren
  Vertretern_. Es muß durchaus einmal _offen und bestimmt ausgesprochen
  werden,_ daß in der weitaus höchsten und wichtigsten Frage der Zeit
  _der wahre Sitz des Stillstandes in der sogenannten liberalen Partei
  liegt, daß also unser, der sozialdemokratischen Partei Kampf in erster
  Linie gegen sie gerichtet sein muß_. Wenn Sie dies aber festhalten,
  meine Herren, dann werden Sie sich selbst sagen: _Warum hätte Lassalle
  sich nicht an Bismarck wenden sollen?“_

Nach dieser Theorie waren also nicht die Feudalen, denen jeder
politische und soziale Fortschritt ein Greuel war, die, um modern zu
reden, die heftigsten Verteidiger der gottgewollten Abhängigkeiten sind,
der Hauptfeind der Arbeiter, das waren vielmehr die Liberalen, von denen
selbst der am weitesten rechtsstehende Anhänger doch immer noch ein
Vertreter der modernen Entwicklung, ein Anhänger eines gewissen
Kulturfortschrittes ist, ohne den die kapitalistische Ordnung nicht
bestehen kann, die dem Proletarier erst die Möglichkeit schafft, sich
zum freien Menschen emporzuarbeiten, die Unterdrückung des Menschen
durch den Menschen zu beseitigen. Schweitzer _wußte_, daß die von ihm
gepredigte Auffassung eine _grundreaktionäre_ war, ein Verrat an den
Interessen des Arbeiters, aber er propagandierte sie, weil er glaubte,
sich dadurch nach oben zu empfehlen.

Es verstand sich von selbst, daß Bismarck und die Feudalen eine solche
Hilfe von der äußersten Linken mit Vergnügen sich gefallen ließen und
den Vertreter einer solchen Auffassung eventuell auch unterstützten. War
doch dieses Spielen mit Sozialismus und Kommunismus — und kein
vernünftiger Mensch konnte annehmen, daß es sich um mehr als um ein
Spielen handle — ein vortreffliches Mittel, die liberale Bourgeoisie, die
nie an einem Uebermaß von Mut und Einsicht litt, ins Bockshorn zu jagen
und _sie dem Bismarckschen Zäsarismus ins Garn zu treiben_. Je radikaler
dieser Sozialismus sich gegen die Bourgeoisie aufspielte, je mehr
erfüllte er seinen Zweck. Daher auch die Aufforderung Buchers an
Marx — man muß dieses immer wiederholen —, im „Staatsanzeiger“ selbst
kommunistisch zu schreiben.

Diese Politik war aber das gerade Gegenteil von Demokratie und
Sozialismus, was ich nicht erst zu beweisen nötig habe.



„Der Sozialdemokrat.“


Schweitzer siedelte im Juli 1864 nach Berlin über und ließ sich dort
naturalisieren. Sein Zweck war, die Herausgabe eines Parteiorgans „Der
Sozialdemokrat“ zu betreiben, wozu sein Freund v. Hofstetten, der mit
einer Gräfin Strachwitz verheiratet war und einiges Vermögen besaß, die
Mittel hergab. Auffallend ist, daß Lassalle in seinem Testament keinen
Pfennig für das von ihm gebilligte Unternehmen anwies.

Schweitzer war es gelungen, trotz des Mißtrauens, das ein Teil der hier
Genannten gegen ihn hegte, außer Liebknecht Karl Marx, Friedrich Engels,
Oberst Rüstow, Georg Herwegh, Jean Philipp Becker, Fr. Reusche, Moritz
Heß und Professor Wuttke als Mitarbeiter zu gewinnen, selbstverständlich
auf ein radikales Programm, das Schweitzer entworfen hatte, das sich
durch Klarheit, Bestimmtheit und Kürze auszeichnete. Dasselbe erschien
an der Spitze der Probenummer des „Sozialdemokrat“ vom 15. Dezember 1864
und lautete:

  _Unser Programm._

  Drei große Gesichtspunkte sind es, welche das Streben und die
  Tätigkeit unserer Partei bestimmen:

  Wir bekämpfen jene Gestaltungen des europäischen Staatensystems,
  welche, unnatürlich die Völker trennend und verbindend, aus dem
  feudalen Mittelalter in das neunzehnte Jahrhundert sich
  herübergeschleppt haben — wir wollen fördern die Solidarität der
  Völkerinteressen und der Volkssache durch die ganze Welt.

  Wir wollen nicht ein ohnmächtiges und zerrissenes Vaterland, machtlos
  nach außen und voll Willkür im Innern — _das ganze, gewaltige
  Deutschland wollen wir, den einen, freien Volksstaat_.

  Wir verwerfen die bisherige Beherrschung der Gesellschaft durch das
  Kapital — wir hoffen zu erkämpfen, daß die Arbeit den Staat regiere.

  Diese drei großen auf gemeinsamer Grundlage beruhenden Gesichtspunkte
  _weisen uns in jeder möglichen Frage mit zwingender Notwendigkeit auf
  die Bahnen, die wir zu wandeln haben_.

  Unsere Prinzipien sind einfach und klar — _ihre Konsequenzen zu ziehen
  werden wir uns niemals scheuen_.

Kein Zweifel, wäre dieses durchaus unanfechtbare, von allen maßgebenden
Personen in der Partei gebilligte Programm fortan die Richtschnur des
Blattes geblieben, eine Spaltung wäre unmöglich gewesen, eine Aera
gesunder Fortentwicklung wäre eingetreten und hätte eine ungeahnte
Ausbreitung der Partei schon in jungen Jahren höchst wahrscheinlich
gemacht.

Aber Schweitzer wollte es anders. Von Herrn v. Hofstetten, seinem
Associé und Miteigentümer des „Sozialdemokrat“, rede ich nicht.
Hofstetten war ein schwacher Mann ohne tiefere Einsicht in das Wesen der
Dinge, der sich von Schweitzer treiben und mißbrauchen ließ, und den
dann Schweitzer wie eine ausgequetschte Zitrone nach einigen Jahren
beiseite warf, nachdem Hofstetten sein Vermögen bis zum letzten Rest für
den „Sozialdemokrat“ und für Schweitzer, der über Jahr und Tag auch an
seinem Tische saß, geopfert hatte.

Die korrekte Haltung des „Sozialdemokrat“ währte nicht lange.

Bereits in Nr. 6 des „Sozialdemokrat“ waren in dem Artikel „Das
Ministerium Bismarck und die Regierungen der Mittel- und Kleinstaaten“
Wendungen enthalten, in denen Schweitzers Sympathie mit der Politik
Bismarcks, wenn auch noch sehr vorsichtig, zum Ausdruck kam. Mit der Nr.
14 des „Sozialdemokrat“ vom 27. Januar 1865 beginnt dann jene Serie
Artikel „Das Ministerium Bismarck“, in denen er die demokratische Maske
fallen läßt, was die öffentliche Absage der meisten der eben erst
gewonnenen Mitarbeiter zur Folge hatte.

In dem ersten dieser Artikel wurde ausgeführt:

  „Parlamentarismus heißt Regiment der _Mittelmäßigkeit_, heißt
  _machtloses Gerede_, während _Zäsarismus_ doch wenigstens _kühne
  Initiative, doch wenigstens bewältigende Tat heißt_. ‚Schmach den
  Renegaten, die jetzt der Reaktion dienen‘, rufe man. Sonderbar aber
  doch, daß diese radikalen Renegaten (deren rasche Abwirtschaftung wir
  erlebt haben. A.B.) nicht bei Pfordten und Beust (selbstverständlich
  nicht. A.B.), daß diese radikalen Renegaten gerade bei Bismarck sind.“

Die Renegaten, die er meinte, waren eben alles Leute, die keinen Beruf
zu einem revolutionären Vorgehen in sich verspürten, die sich mit der
kapitalistischen Ordnung der Dinge — vorausgesetzt, daß sie überhaupt je
deren Gegner waren — abgefunden hatten und sich sagten, daß der
Kapitalismus unter der Aegide des märkischen Junkers nicht zu kurz
kommen werde, worin sie sich nicht täuschten.

Im zweiten Artikel Schweitzers hieß es in Betrachtung der Entwicklung
Preußens:

  „Von dieser Grundlage aus (dem Kurfürstentum) hat sich sodann der
  vergleichungsweise junge Staat, vorzugsweise durch _das mächtige Genie
  eines großen Königs und gewaltigen Kriegshelden, eines in jeder
  Beziehung bewunderungswürdigen Mannes_, zu einem ausgedehnten und
  mächtigen Königreich erweitert.“

Nach dieser Verherrlichung Friedrichs des Großen, die ein Sybel oder
Treitschke tönender nicht betreiben konnte, spendet er auch der
Volkserhebung von 1813 ein Lob, die eine glänzende Ausnahme von der
Regel preußischer Geschichte sei. „Der Hauptsache nach und alles in
allem genommen, ist Preußen das, was es ist, durch die an seiner Spitze
stehende Dynastie geworden.“

Alsdann charakterisiert er das Wesen des preußischen Royalismus.

  „Während ein solcher Geist in den einen deutschen Staaten zwar nicht
  ohne alle Begründung sein mag, jedenfalls aber alles höheren
  politischen Ernstes und der tieferen Würde entbehrt, in den anderen
  Staaten aber geradezu als Karikatur dessen erscheint, was man
  Royalismus nennt, ist _der königliche Geist in Preußen eine
  wohlbegründete politische Anschauungsweise und Richtung_. Denn die
  Dynastie und in ihr _der jedesmalige Regent können mit innerer
  Berechtigung als der Kulminationspunkt der aufsteigenden Skala_ der
  herkömmlichen Elemente, als der Schwerpunkt der in hergebrachten
  Bahnen rotierenden Kräfte, als Herz und Gehirn des Organismus
  innerhalb eines Staatsganzen betrachtet werden, welches nur so und
  unter solcher Voraussetzung seine eigentümliche Wesenheit und seine
  dermalige Stellung erlangte und erlangen konnte.“

Des weiteren meinte er noch, daß der preußische Staat in seinem
dermaligen Zustand das offenbare Gepräge des Unfertigen, einer noch
nicht abgeschlossenen geschichtlichen Entwicklung auf sich trage. Ein
Zustand also, _der nach Annexionen schreie_. Diese Mission, die Preußen
in Deutschland habe, sei aber keine deutsche, wie man uns glauben machen
wolle, sondern eine _preußische_.

Schweitzer kannte also die Natur des preußischen Staates, wie keiner sie
besser kennen konnte, seine Schlüsse waren durchaus logisch. Aber um so
mehr drängt sich die Frage auf, wie konnte er dann eine Politik
unterstützen, die nach seinem eigenen Geständnis _undeutsch_, weil nur
_großpreußisch_ war, und wenn siegreich, die _Niederlage der Demokratie
bedeutete_? Eine solche Politik durfte vom demokratischen Standpunkt aus
nicht unterstützt, _sie mußte vielmehr auf Leben und Tod bekämpft
werden, denn es war der Todfeind der Demokratie, der diese Politik
betrieb._

Schweitzer schließt seinen zweiten Artikel also:

  „Ein _wahrhaft preußisches_ Ministerium, ein solches, welches die aus
  der Geschichte des preußischen Staates hervorgegangene Wesenheit
  desselben zu befestigen und weiterzuentwickeln strebt, kann weder in
  Gemäßheit bloßen Schablonenkonservatismus _lediglich die stupide
  Aufrechterhaltung des gerade Vorhandenen beabsichtigen_, wie dies
  konservative Ministerien in Preußen lange getan, noch auch kann es die
  dem Staate von seiner Geschichte indizierte äußere Politik _unter
  Aufhebung des inneren Charakters des Staates anstreben, wie dies die
  liberale Partei unter Verleugnung des Machtschwerpunktes von der Krone
  hinweg in das Abgeordnetenhaus beabsichtigte_.“

Das heißt also in klares Deutsch übersetzt: Die Eigenart des preußischen
Staates verbietet einer preußischen Regierung die Einführung eines
parlamentarischen Regimes, und wenn ihr Liberalen dennoch danach strebt,
so verlangt ihr etwas, was der Natur des preußischen Staates entgegen
ist. Begnügt euch also, ein Ornament am Staatswagen zu sein. In der
Situation, in der damals die Kammer sich der Regierung gegenüber befand,
bedeuteten solche Auslassungen einfach ein _In-den-Rücken-fallen_ der
Volksvertretung und eine _Unterstützung_ der Pläne Bismarcks.

In seinem dritten Artikel führt er zunächst aus: Die Schlußfolgerungen
seines zweiten Artikels und die Untersuchungen, die zu denselben
führten, seien _mehrfach mißverstanden_ (!) worden. Er wird also jetzt
noch deutlicher. Er sagt:

  „Indem Preußen eine Politik verfolge, die zur Annexion der Herzogtümer
  (Schleswig-Holstein) führen müsse, setze es, _die glorreichen
  Traditionen preußischer Geschichte aus langem Schlummer weckend, an
  den innersten Kern des preußischen Staatsgeistes seine Hebel an._

  Es ist eine bedeutende Politik, die jetzt in Preußen gemacht wird! ...
  Wer Annexion anfängt, muß sie durchsetzen. Mehr noch.

  Eine preußische Regierung, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten
  Jahrhunderts deutsches Land zu annektieren beginnt, eine preußische
  Regierung, die _angesichts der offenkundigen, von Kaiser, Königen und
  Fürsten feierlich proklamierten Unhaltbarkeit der politischen
  Verfassung Deutschlands die ‚friedericianische Politik‘_ (wie ein
  großdeutsches Blatt sich ausdrückte) _wieder aufnimmt, kann nicht
  stille stehen nach kleinem Sieg — weiter muß sie auf der betretenen
  Bahn — vorwärts, wenn nötig mit ‚Blut und Eisen‘._

  Denn anknüpfen an die stolzesten Traditionen eines historisch
  erwachsenen Staates und dann feige zurückbeben vor entscheidender Tat,
  hieße den innersten Lebensnerv eines solchen Staates ertöten.

  Man kann solche Traditionen ruhen lassen — _aber man kann sie nicht
  aufnehmen, um sie zu ruinieren!_

  Ein preußischer Minister, der _solche_ Politik für Preußen machte — er
  verfiele unrettbar _den zürnenden Manen des großen Friedrich und dem
  Gelächter seiner Zeitgenossen._“

Wie mußte bei dem Lesen solcher Artikel das Herz jedes guten Preußen
schlagen; war doch danach Preußen quasi von der Vorsehung vorher
bestimmt, der Beherrscher Deutschlands zu werden. Und wie mußten die
Herzen der Feudalen einem Manne zugetan sein, der besser als sie alle
die „historische Mission“ des preußischen Staates darzulegen und zu
verherrlichen verstand. Und das sollte unbeachtet und unbelohnt bleiben?

Was Schweitzer hier schrieb, war aber auch eine Verherrlichung der
weiteren Bismarckschen Politik, es war eine förmliche Anpeitschung
Bismarcks, auf dem betretenen Wege weiter zu gehen, wäre eine solche
noch notwendig gewesen.

Im vierten Artikel kam Schweitzer auf den Bundestag und Oesterreich zu
sprechen. Hier hatte er mit seiner Kritik leichtes Spiel, denn dümmer
und dem Zeitbedürfnis widersprechender konnte nicht gehandelt werden,
als diese beiden Faktoren in der deutschen Frage gehandelt hatten. Im
übrigen war die Haltung, die in diesem Artikel Schweitzer Oesterreich
gegenüber einnahm, wie in seiner ganzen späteren Politik, das direkte
Gegenteil von dem, was er noch im Jahre 1863 — also anderthalb Jahre
zuvor — in seiner Broschüre „Die österreichische Spitze“ zur
Verherrlichung Oesterreichs gesagt hatte, und was das Programm besagte,
das angeblich der „Sozialdemokrat“ vertreten sollte.

Der fünfte Artikel beschäftigte sich mit der Stellung der Nation und der
deutschen Frage. Er kommt zu dem Resultat:

  „_Aktionsfähig in Deutschland sind nur noch zwei Faktoren: Preußen und
  die Nation, preußische Bajonette oder deutsche Proletarierfäuste_ — wir
  sehen kein drittes.

  ... _Das Preußentum ist der Feind des Deutschtums, aber es ist auch
  der Feind der bestehenden Gewalten Deutschlands._

  Die Nation steht fest auf ewigem Fundament — die Fürstenstühle
  Deutschlands aber müssen wanken, _wenn Preußen sich erinnert, daß
  Friedrich der Große sein König war._“

Und wie stand's mit dem preußischen Thron?

Der Leser wird zugeben, daß raffinierter, demagogischer nicht zu
schreiben war. Wie ein Aal windet er sich vor einer klaren
Stellungnahme. Er läßt nur ahnen, spricht aber nicht aus, was er will.
Klar ist, daß das Lesepublikum, an das Schweitzer sich wandte, von
seinem Plädoyer für Preußen gefangen genommen wurde, und das war sein
Zweck. Dazu kam, daß der ganze politische Inhalt des „Sozialdemokrat“
von der Tendenz durchtränkt war, welche die fünf Artikel erfüllte.
Bismarck hatte in der ganzen deutschen Presse keine Feder, die
geschickter für seine Politik Propaganda machte.

Kein Zweifel, diese Bismarckartikel standen mit dem Programm des
„Sozialdemokrat“ in seiner ersten Nummer im schneidendsten Widerspruch.
Es ist auch ausgeschlossen, daß der äußerst scharfsinnige Schweitzer
nicht vorausgesehen habe, daß er mit diesen Artikeln der großen Mehrzahl
der eben erst gewonnenen Mitarbeiter in gröblichster Weise vor den Kopf
schlug. Es war eine Brüskierung sondergleichen. Es war also
selbstverständlich, daß darauf Karl Marx, Friedrich Engels, W.
Liebknecht, Herwegh, Joh. Ph. Becker und Friedrich Reusche von dem
Blatte sich lossagten.

Schweitzer quittierte in einem Artikel in der Nr. 31 seines Blattes über
die Rücktritte mit den Worten: Einige bornierte Köpfe hatten sich an
unseren Leitartikeln „Das Ministerium Bismarck“ gestoßen. Mit Genugtuung
konstatiere er, daß zwei Hauptorgane des österreichischen Liberalismus,
die „Presse“ und die „Ostdeutsche Post“, sich auf seine Seite gestellt
hätten und brachte längere Auszüge aus denselben. Weiter zitierte er die
„Neue Frankfurter Zeitung“, das Blatt Sonnemanns, die ausgeführt hatte,
daß die von Schweitzer befolgte Politik nichts als die Fortsetzung der
Lassalleschen Politik sei.

Das war richtig! Ohne Lassalles Verhalten wäre es Schweitzer sehr schwer
geworden, die von ihm beliebte Politik im Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein zur Geltung zu bringen. Aber doch war zwischen Lassalle
und ihm ein Unterschied. Lassalle, ökonomisch vollständig unabhängig,
stand zu Bismarck wie Macht zu Macht, davon konnte bei Schweitzer, der
tief in Schulden steckte und nach seiner sonstigen Qualität in alle Wege
keine Rede sein. Er erschien in seinem Auftreten als ein Werkzeug der
Bismarckschen Politik, als ein Mann, der den Vorteil des Lassalleschen
Scheins für sich hatte und ihn geschickt ausnutzte.

Im weiteren erklärte Schweitzer gegen Marx und Engels, daß sie sich vom
„Sozialdemokrat“ zurückgezogen, sobald sie eingesehen hätten, daß sie
nicht die erste Rolle bei der Partei spielen konnten. Im Gegensatz zu
ihnen sei Lassalle nicht der Mann der unfruchtbaren Abstraktion,
sondern ein Politiker im strengen Sinne des Wortes, nicht ein
schriftstellerischer Doktrinär, sondern ein Mann der praktischen Tat
gewesen.

Wobei wieder nicht vergessen werden darf, daß später Schweitzer den
Mann der „unfruchtbaren Abstraktion“, den „schriftstellerischen
Doktrinär“ Karl Marx, umschmeichelte und für sich zu gewinnen suchte.

Marx und Engels blieben die Antwort nicht schuldig. Unter dem 24.
Februar 1865 veröffentlichten sie folgende Erklärung:

  „Die Unterzeichneten versprachen ihre Mitarbeit am ‚Sozialdemokrat‘
  und gestatteten ihre Nennung als Mitarbeiter unter dem ausdrücklichen
  Vorbehalt, daß das Blatt im Geiste des ihnen _mitgeteilten_ kurzen
  Programms redigiert werde. Sie verkannten keinen Augenblick die
  schwierige Stellung des ‚Sozialdemokrat‘ und machten daher keine für
  den Meridian Berlin unpassenden Ansprüche. Sie forderten aber
  wiederholt, _daß dem Ministerium und der feudalabsolutistischen Partei
  gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde wie
  gegenüber den Fortschrittlern._ Die von dem ‚Sozialdemokrat‘ befolgte
  Taktik schließt unsere weitere Beteiligung an demselben aus. Die
  Ansicht der Unterzeichneten _vom königlich preußischen
  Regierungssozialismus_ und von der richtigen Stellung der
  Arbeiterpartei zu solchem Blendwerk findet sich bereits ausführlich
  entwickelt in Nr. 73 der ‚Deutschen Brüsseler Zeitung‘ vom 12.
  September 1847, in Antwort auf Nr. 206 des damals in Köln
  erscheinenden ‚Rheinischen Beobachters‘, worin die Allianz des
  Proletariats und der Regierung gegen die liberale Bourgeosie
  vorgeschlagen war. Jedes Wort unserer damaligen Erklärung
  unterschreiben wir noch heute.“

Die Erklärung in der „Deutschen Brüsseler Zeitung“, auf die hier Marx
und Engels sich bezogen, lautete:

  „Wenn eine gewisse Fraktion deutscher Sozialisten fortwährend gegen
  die liberale Bourgeoisie gepoltert hat, und zwar in einer Weise, die
  niemandem Vorteil brachte als den deutschen _Regierungen_, wenn jetzt
  Regierungsblätter wie der ‚Rheinische Beobachter‘, auf die Phrasen
  dieser Leute gestützt, behaupten, _nicht die liberale Bourgeoisie,
  sondern die Regierung repräsentiere die Interessen des Proletariats,
  so haben die Kommunisten weder mit der ersteren noch mit der letzteren
  etwas gemein...._

  Das Volk oder, um an die Stelle dieses weitsichtigen, schwankenden
  Ausdrucks den bestimmten zu setzen, das Proletariat räsoniert ganz
  anders, als man im geistlichen Ministerium sich träumen läßt. Das
  Proletariat fragt nicht, ob den Bourgeois das Volkswohl Nebensache
  oder Hauptsache sei, ob sie die Proletarier als Kanonenfutter
  gebrauchen werden oder nicht. Das Proletariat fragt nicht, was die
  Bourgeois bloß _wollen, sondern was sie müssen_. Es fragt, ob der
  jetzige politische Zustand, die Herrschaft der Bureaukratie, _oder der
  von den Liberalen erstrebte, die Herrschaft der Bourgeoisie, ihm mehr
  Mittel bieten wird, seine eigenen Zwecke zu erreichen._ Dazu hat es
  nur nötig, die politische Stellung des Proletariats in England,
  Frankreich und Amerika mit der in Deutschland zu vergleichen, um zu
  sehen, _daß die Herrschaft der Bourgeoisie dem Proletariat nicht nur
  ganz neue Waffen zum Kampfe gegen die Bourgeoisie in die Hand gibt,
  sondern ihm auch eine ganz andere Stellung, eine Stellung als
  anerkannte Partei verschafft._“

  Es heißt weiter: „Das Volk kann sich nicht für die _ständischen
  Rechte_ interessieren. Aber ein Landtag, der Geschworenengerichte,
  Gleichheit vor dem Gesetz, Aufhebung der Frondienste, Preßfreiheit,
  Assoziationsfreiheit und eine wirkliche Repräsentation verlangt, _ein
  Landtag, der ein für allemal mit der Vergangenheit gebrochen und seine
  Forderungen nach den Bedürfnissen der Zeit eingerichtet hat statt nach
  alten Gesetzen, solch ein Landtag kann auf die kräftigste
  Unterstützung des Proletariats rechnen._“

Am 4. März schlossen sich Georg Herwegh und Wilhelm Rüstow der Erklärung
von Marx und Engels ausdrücklich an. Am 5. März erklärte Fr. Reusche in
der „Rheinischen Zeitung“ seinen Rücktritt von der Mitarbeiterschaft am
„Sozialdemokrat“, wobei er unter anderem bemerkte, er habe wiederholt
die Redaktion aufgefordert, das Junkertum rücksichtslos zu bekämpfen.
Rüstow habe Anfang Februar eine eingehende Kritik der Militärfrage an
die Redaktion gesandt; aber trotz der wiederholten Anfragen von Rüstow
und ihm erschienen weder diese noch ein von ihm eingesandter Artikel
gegen den königlich preußischen Regierungssozialismus. Bald habe es
geheißen, es sei kein Raum vorhanden, bald, man wolle warten, bis die
Zeit geeignet wäre. Am 11. März erklärte Jean Philipp Becker in Genf im
Hamburger „Nordstern“, dem Vorgehen von Marx und Engels sich
anzuschließen. Liebknecht hatte sich gleichzeitig mit den letzteren von
Schweitzer und dem „Sozialdemokrat“ losgesagt. Professor Wuttke in
Leipzig gab zwar keine öffentliche Erklärung ab, stellte aber seine
Mitarbeiterschaft am „Sozialdemokrat“ ein. Der einzige, der von dem
ganzen Mitarbeiterstab einstweilen noch dem „Sozialdemokrat“ verblieb,
war Moritz Heß in Paris. Er schied Ende 1866 aus. Eine zweite Erklärung
von Marx und Engels, datiert London den 15. März und abgedruckt in der
Berliner „Reform“ vom 19. März 1865, richtete sich gegen einen Artikel,
den Schweitzer aus der „Neuen Frankfurter Zeitung“ im „Sozialdemokrat“
abgedruckt hatte, in dem nachgewiesen werden sollte, „wie inkonsequent
und innerlich haltlos das Verfahren der Herren Marx und Engels dem
‚Sozialdemokrat‘ gegenüber ist“. Marx konstatiert: Schweitzer habe am
11. November 1864 ihm das Erscheinen des „Sozialdemokrat“ angezeigt und
habe bei dieser Gelegenheit geschrieben:

  „Wir haben uns an etwa sechs bis acht bewährte Mitglieder der Partei
  oder derselben wenigstens nahestehende Männer gewandt, um sie für die
  Mitarbeiterschaft zu gewinnen.... Allein für ungleich wichtiger halten
  wir es, daß _Sie, der Begründer der deutschen Arbeiterpartei und ihr
  erster Verfechter_, uns Ihre Mitwirkung angedeihen lassen. Wir hegen
  die Hoffnung, daß Sie einem Verein, der, wenn auch nur indirekt, auf
  Ihre eigene Wirksamkeit zurückzuführen ist, nach dem großen Verlust,
  der ihn betroffen, in seinem schweren Kampfe zur Seite stehen werden.“

In dem Prospekt habe der Name Lassalle nirgends gestanden. Der Prospekt
habe nur drei Punkte enthalten: „Solidarität der Völkerinteressen“, „Das
ganze gewaltige Deutschland — ein freier Volksstaat“, „Abschaffung der
Kapitalherrschaft“. Daraufhin hätten er und Engels ihre Mitarbeit
zugesagt.... Am 28. November habe Schweitzer ihm geschrieben, daß seine
und Engels' Zusage in der Partei, soweit sie überhaupt eingeweiht sei,
die freudigste Sensation hervorgerufen.... Marx erzählt weiter, wie er
im Laufe des Januar gegen die Taktik Schweitzers im „Sozialdemokrat“
protestierte und daß, als trotz Schweitzers Beruhigungsschreiben die
Taktik im Blatte dieselbe geblieben, er aufs neue protestiert habe,
worauf Schweitzer ihm am 15. Februar folgendes geschrieben:

  „Wenn Sie mir wie im letzten Schreiben über theoretische Fragen
  Aufklärung geben wollen, so würde ich solche Belehrung von Ihrer Seite
  dankbar entgegennehmen. Was aber die praktischen Fragen momentaner
  Taktik betrifft, so bitte ich Sie, zu bedenken, daß, um diese Dinge zu
  beurteilen, man im Mittelpunkt der Bewegung stehen muß. Sie tun uns
  daher unrecht, _wenn Sie irgendwo und irgendwie Ihre Unzufriedenheit
  mit unserer Taktik aussprechen_. Dies dürfen Sie nur dann tun, wenn
  Sie die Verhältnisse genau kennen. Auch vergessen Sie nicht, daß der
  Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ein konsolidierter Körper ist und
  bis zu einem gewissen Grade an seine Tradition gebunden bleibt. (Der
  Verein war damals kaum 22 Monate alt und hatte nur einige tausend
  Mitglieder. A.B.) Die Dinge in concreto schleppen eben immer irgend
  ein Fußgewicht mit sich herum.“

Es war also selbstverständlich, daß Marx, Engels und Genossen handeln
mußten, wie sie gehandelt haben. Schweitzer scheint geglaubt zu haben,
daß er seinen Mitarbeitern eine ähnliche Rolle zumuten dürfe, wie sie
Lothar Bucher im Einverständnis mit Bismarck Marx im „Staatsanzeiger“
zugemutet hatte. Sie sollten Mitarbeiter sein, aber kein Recht haben,
über die Taktik mitzusprechen, die mit dem Programm, auf Grund dessen
sie ihre Mitarbeiterschaft zugesagt hatten, im _schneidendsten
Widerspruch stand_. Schreibt so radikal wie möglich für Sozialismus und
Kommunismus, je radikaler, desto besser; ihr seid dann die Flagge, unter
der ich meine Konterbande decke. So ungefähr mochte Schweitzer
räsonnieren. Es war daher eine Unverschämtheit, wenn er auf die
Beschwerde von Marx und Engels über die Haltung des Blattes erklärte:
sie im Ausland könnten die Dinge in Deutschland nicht beurteilen. Diese
konnten aber selbst Personen durchaus richtig beurteilen, die den Marx
und Engels nicht das Wasser reichten. Eines konnte man damals Bismarck
nicht vorwerfen, daß er seine Politik verschleierte und mit verdeckten
Karten spielte.

Bucher hat später, im Herbst 1878, als anläßlich des bevorstehenden
Sozialistengesetzes seine Einladung von Marx, für den „Staatsanzeiger“
zu schreiben, Gegenstand der öffentlichen Erörterung wurde, die Marxsche
Darlegung dieser Einladung bestritten. Darauf antwortete Marx in der
„Daily News“ unter anderem:

  Der Brief, worin mich Herr Bucher für den „Staatsanzeiger“ zu kirren
  suchte, datiert vom _8. Oktober 1865_. Es heißt darin unter anderem:
  „In betreff des Inhaltes versteht es sich von selbst, daß Sie nur
  Ihrer wissenschaftlichen Ueberzeugung folgen; jedoch wird die
  Rücksicht auf den Leserkreis — haute finance —, nicht auf die
  Redaktion, es ratsam machen, daß Sie den innersten Kern nur eben für
  den Sachverständigen durchscheinen lassen.“ Dagegen besagt die
  „Berichtigung“ des Herrn Bucher, daß er bei „Herrn Marx anfrug, ob er
  die gewünschten Artikel liefern wolle, indem es auf eine objektive
  Behandlung ankäme. Von des Herrn Marx ‚eigenem wissenschaftlichen
  Standpunkt‘ steht nichts in meinem Briefe.“

Ferner heißt's in dem Briefe Buchers:

  „Der ‚Staatsanzeiger‘ wünscht monatlich einen Bericht über die
  Bewegungen des Geldmarktes (und natürlich auch des Warenmarktes,
  soweit beide nicht zu trennen). Ich wurde gefragt, ob ich nicht
  jemanden empfehlen könnte, und erwiderte, niemand würde das besser
  machen als Sie. Ich bin infolgedessen ersucht worden, mich an Sie zu
  wenden.“

Klassisch ist der Schluß der Bucherschen Einladung, die Marx in jener
Erklärung ebenfalls abdruckt:

  „Der Fortschritt (er meinte die liberale oder Fortschrittsbourgeoisie)
  wird sich noch oft häuten, ehe er stirbt; wer also während seines
  Lebens noch innerhalb des Staates wirken will, der muß sich ralliieren
  um die Regierung.“

Das war also der Grund, der Bucher Bismarck in die Arme trieb und der
ihn veranlaßte, bei anderen das gleiche zu versuchen.

Nach einer Erklärung, die Liebknecht am 24. März in der „Rheinischen
Zeitung“ veröffentlichte, habe Schweitzer nach dem Tode Lassalles Marx
zum Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins vorgeschlagen.
Marx habe abgelehnt, sich mit einer Bewegung zu identifizieren, deren
Taktik er für grundverkehrt hielt, auch habe er keine Neigung gehabt,
unter den obwaltenden politischen Zuständen nach Deutschland
überzusiedeln. Schweitzer habe sich verpflichtet, daß das neue Blatt die
Lassallesche Taktik nicht befolgen, jedes Kokettieren mit der Reaktion
vermeiden sollte, unter dieser Bedingung, und nur unter dieser, habe er
sich zur Mitarbeiterschaft bereit erklärt, vorausgesetzt, daß auch Marx
und Engels sich beteiligen würden. Beide hätten sich schließlich nur mit
dem größten Widerstreben dazu verstanden, und nur auf seine wiederholte
Versicherung, daß er an die Loyalität Schweitzers — von dem er sehr
schlimme Dinge gehört — glaube.

Die Politik des „Sozialdemokrat“ trug rasch die gewünschten Früchte.
Bereits Anfang Februar 1865 hielt ein Mitglied des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins, Peter Rex, in Köln eine Rede, worin er sagte: _ihm sei
die jetzige Regierung lieber als ein Fortschrittsministerium_. Der
„Sozialdemokrat“ druckte ohne ein Wort der Kritik diese Aeußerungen ab.
Am 12. März erklärte der Rheinisch-Westfälische Arbeitertag zu Barmen
sich mit der Haltung des „Sozialdemokrat“ einverstanden, auch sei es
durchaus zu billigen, die Vorschläge der preußischen Regierung, die bei
verschiedenen Gelegenheiten die Verbesserung der Lage der arbeitenden
Klassen durch die Gesetzgebung _versprochen_ habe, abzuwarten, bevor man
über dieselbe aburteile, indem es keineswegs unmöglich sei, _daß
dieselbe das Dreiklassenwahlgesetz aufhebe und statt desselben das
allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht_, wie es das von
Lassalle, dem Begründer der deutschen Arbeiterpartei, vorgezeichnete
nächste Ziel der jetzigen deutschen Arbeiterbewegung sei, _einführe_.

Form und Inhalt dieser Resolution sprachen dafür, daß Schweitzer sie
verfaßt hatte, auch empfahl der „Sozialdemokrat“, überall dieselbe zur
Abstimmung zu bringen, ein Akt, der einem Vertrauensvotum für die
preußische Regierung gleichkam.

Bereits begann aber auch die Opposition im Verein sich bemerkbar zu
machen. In seiner Nr. 38 polemisierte der „Sozialdemokrat“ gegen die
offenen Feinde und falschen Freunde, die Zwietracht in die Partei zu
säen suchten. Und da die Opposition auch begann, gegen die
diktatorischen Organisationsbestimmungen im Vereinsstatut zu
polemisieren, so mußte die Organisation als das ureigenste Werk
Lassalles mit einer Art _Glorienschein_ umgeben werden. Der
Lassallekultus wurde von jetzt ab systematisch gefördert und jeder als
eine Art Schänder des Heiligsten gebrandmarkt, der andere Ansichten zu
hegen wagte. Es waren namentlich die Worte im Lassalleschen Testament:
„Dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein empfehle ich, den Frankfurter
Bevollmächtigten, Bernhard Becker, zu meinem Nachfolger zu wählen. _Er
soll an der Organisation festhalten; sie wird den Arbeiterstand zum
Siege führen_“, die das Schibolet wurden, das den echten von dem
falschen Lassalleaner unterschied. Und Schweitzer unterstützte diese
allmählich ans Idiotenhafte grenzenden Anschauungen, die schließlich
eine Art religiöser Glaubenssätze wurden. Kam es doch im Laufe der Jahre
dahin, daß das Thema „Christus und Lassalle“ das Thema für die
Tagesordnung zahlreicher Volksversammlungen wurde. F.W. Fritzsche
erhielt sogar 1868 in Berlin eine Anklage wegen eines Vortrags über
dieses Thema, in dem der Staatsanwalt eine Gotteslästerung erblickte.
Fritzsche wurde nur freigesprochen, weil ihm der Dolus nicht
nachgewiesen werden konnte.

Wie Schweitzer innerlich über dieses von ihm geförderte Treiben dachte,
bedarf keiner Auseinandersetzung.

In einem merkwürdigen Gegensatz zu den Bismarckartikeln veröffentlichte
der „Sozialdemokrat“ in seiner Nr. 43 vom 5. April 1865 eine
Schlußbetrachtung über die österreichischen Staatsverhältnisse, worin es
hieß:

  „Die Deutsche Volkspartei ist, wie in allem, so auch in der deutschen
  Einheitssache radikal, das heißt sie will die ganze und ausnahmslose
  Verwirklichung der als gut und richtig erkannten Idee.

  Die Deutsche Volkspartei also will das _ganze_ Deutschland zum freien
  Volksstaat vereinen.

  Das _ganze_ Deutschland! sagen wir. Nicht ein Dorf, nicht ein
  Meierhof, nicht die kleinste Hütte im fernsten Winkel darf uns fehlen!

  Der kleindeutsche Gedanke eines ‚einigen Deutschland‘ ohne die
  deutsch-österreichischen Provinzen ist _ein Hochverrat an der Nation
  und ihrer Zukunft_. (Auch im Text gesperrt gedruckt.)

  Ein einiges Deutschland — _bedingungslos, ausnahmslos!_“

Das war eine der Doppelzüngigkeiten, womit Schweitzer bezweckte, die
Opposition zum Schweigen zu bringen, die sich anläßlich der
Bismarckartikel innerhalb und außerhalb des Vereins geltend machte. Er
sah, daß er sich zu weit vorgewagt hatte. Ein solches Manöver
wiederholte er _regelmäßig_, sobald er wegen seines Verhaltens
öffentlich Angriffen ausgesetzt war. Alsdann warf er sich wieder auf die
linke Seite und schrieb mit einem Radikalismus, der nichts zu wünschen
übrig ließ. Er konnte so, aber auch anders.

Und er nicht allein, auch der eine und der andere seiner Anhänger. In
derselben Nummer des „Sozialdemokrat“, in der der oben zitierte Artikel
über Oesterreich stand, veröffentlichte Tölcke einen spaltenlangen
Bericht über eine _Königsgeburtstagsfeier, welche die Mitglieder des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Iserlohn veranstaltet hatten
und in der Tölcke ein Hoch auf den König von Preußen ausgebracht hatte_.
In diesem Toast führte Tölcke aus, der Wille, den Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein vernichten zu wollen — wie das der Iserlohner
Bürgermeister durch maßlos brutale Unterdrückungsmaßregeln versucht
hatte — sei vergeblich.

  „Das gelingt nimmermehr, weil das preußische Ministerium den
  Bestrebungen des Vereins, mehr aus volkswirtschaftlichen als aus
  politischen Beweggründen, augenscheinlich die große Aufmerksamkeit
  schenkt — es gelingt endlich nimmermehr, weil Seine Majestät unser
  allverehrter König der Freund der Arbeiter ist.“

Auf Tölckes Betreiben hatte man sogar den König durch eine
telegraphische Depesche zum Geburtstag beglückwünscht, worauf folgende
Antwort eingegangen war:

  „Dem Arbeiterverein Iserlohn. Seine Majestät dankt bestens für Ihre
  Glückwünsche. Im allerhöchsten Auftrag: Strubberg, Oberstleutnant und
  Flügeladjutant.“

Die Verlesung dieser Depesche wurde, wie Tölcke weiter berichtete, mit
einem gewaltigen Hoch auf Seine Majestät aufgenommen. Im Festsaal war
ein Transparent angebracht: der preußische Adler stehend auf
verschlungenen Eichen- und Lorbeerzweigen, und darüber die Inschrift:
Heil dem Könige, dem Beschützer der Bedrängten!... Weithin schallten
patriotische Lieder. Ein Kriegerverein konnte nicht patriotischer
handeln.

Schweitzer druckte den spaltenlangen Bericht Tölckes im „Sozialdemokrat“
ab, ohne ein Wort des Tadels oder der Unzufriedenheit hinzuzufügen.
Tölcke handelte eben in den Intentionen Schweitzers. Das hinderte ihn
aber nicht, im „Sozialdemokrat“ vom 20. September 1865 bei Besprechung
einer Depesche Lord Russells, worin dieser den Gasteiner Vertrag
zwischen Preußen und Oesterreich aufs schärfste verurteilte, zu sagen:
Was geht uns der Gasteiner Vertrag an?... Es ist nur eine Angelegenheit
der preußischen Regierung, deren Politik im offensten und
entschiedensten Widerspruch zum Willen des Volkes in Preußen steht. Und
gegen die „Kreuzzeitung“ gewendet, die dem Volke mit dem Ausland drohte,
das sich in deutsche Angelegenheiten mischen werde, antwortete er: Nicht
in Frankreich, in Deutschland sitzen die Erbfeinde deutscher Nation. Wen
er darunter meinte, das überließ er dem Leser, sich zurechtzulegen. Wie
konnte der Arbeiter von damals in dieser Zweideutigkeit und
Doppelzüngigkeit sich zurechtfinden? Er hatte nur das eine Gefühl, daß
der Mann, der alles das schrieb, geistig turmhoch über ihm stand und er
darum ihm folgen müsse.

Die Verbreitung, die damals der „Sozialdemokrat“ besaß, war eine sehr
geringe. Er hatte nur _einige hundert Abonnenten_. Das Blatt erforderte
also _sehr erhebliche_ Zuschüsse, und es konnte gar keine Rede davon
sein, daß es seinen Redakteuren auch nur einen Pfennig Gehalt abwarf,
obgleich beide darauf angewiesen waren. Um so mehr mußte auffallen, daß
bei einem solch elenden finanziellen Stand dasselbe vom 1. Juli 1865 ab
sogar _täglich_ erschien, also sein Defizit fast verdoppelte, ohne jede
Aussicht, in absehbarer Zeit einen Abonnentenzuwachs zu erlangen, der
auch nur einen nennenswerten Teil der Kosten deckte. Die Frage war also
sehr natürlich: wo kommt das Geld her? denn ohne daß erhebliche
Zuschüsse von irgend einer Seite in Aussicht standen, war der Plan, das
Blatt täglich erscheinen zu lassen, der Plan von Irrenhäuslern.

Der Verein hatte kein Bedürfnis nach einer solchen Vergrößerung des
Blattes, wohl aber die _konservative Presse_, welche die scharfen
Angriffe, die der „Sozialdemokrat“ unausgesetzt gegen die
Fortschrittspartei und ihre Politik führte, mit Behagen weiter
verbreitete und die liberale Presse zwang, dem „Sozialdemokrat“
ebenfalls größere Beachtung zu schenken. Auf diese Weise erlangte das
Blatt eine Bedeutung, die ganz außer Verhältnis zu seiner Verbreitung
stand. Die Frage: woher kommt das Geld? wurde auch für die liberale
Presse aktuell, und so sahen sich Schweitzer und Hofstetten genötigt, in
der Nr. 77 des „Sozialdemokrat“ vom 28. Juni 1865 eine Erklärung gegen
die „Rheinische Zeitung“ zu veröffentlichen, die in ihrer Nr. 139
erklärt hatte: _Der „Sozialdemokrat“ stehe in nahen Beziehungen zu
Bismarck, und in ihrer Nr. 139 weiter die Beschuldigung aussprach, dem
„Sozialdemokrat“ flössen aus hochkonservativen Kreisen die Mittel zu, um
statt dreimal wöchentlich täglich zu erscheinen_. Die Erklärung
Schweitzers und Hofstettens gegen die „Rheinische Zeitung“ lautete:

  „In diesen beiden Stellen hat die Redaktion der ‚Rheinischen Zeitung‘,
  obwohl mit einiger Vorsicht (? A.B.) und in etwas gewundenen Phrasen
  (? A.B.), so doch im ganzen ziemlich unzweideutig uns, die Redakteure
  des ‚Sozialdemokrat‘, der schmählichsten und erbärmlichsten Haltung
  beschuldigt, die überhaupt in der Politik möglich ist: daß nämlich
  wir, die berufen sind, die sozialdemokratische Partei in der Presse zu
  vertreten, uns an eine entgegenstehende Partei oder politische Macht
  verkauft hätten.

  Wenn die Redaktion der ‚Rheinischen Zeitung‘ nicht _sofort nach
  Kenntnisnahme dieser Erklärung ihre Verleumdung widerruft, werden wir
  gegen dieselbe, weiteres uns übrigens vorbehaltend, bei dem
  zuständigen Gericht Klage erheben._“

Darauf antwortete die Redaktion der „Rheinischen Zeitung“ bereits am
folgenden Tage, den 29. Juni:

  _„An die Redaktion des ‚Sozialdemokrat‘, zu Händen des Herrn v.
  Schweitzer, Berlin.

  Die Redaktion der ‚Rheinischen Zeitung‘ sieht sich angesichts der ihr
  zugesandten Erklärung nicht veranlaßt, irgend etwas zu widerrufen, und
  überläßt es der Redaktion des ‚Sozialdemokrat‘, die angedrohte Klage
  zu erheben.“_

Darauf antwortete Schweitzer:

  _„Demgemäß wird also die in Aussicht gestellte Klage stattfinden.“_

Diese Klage fand aber nicht statt, Schweitzer ließ die schweren
Beschuldigungen gleich anderen, die ihm schon gemacht worden waren, auf
sich sitzen. Das besagt genug.

Um diese Zeit und noch Jahre nachher machte sich ein Individuum in den
Berliner Arbeiterkreisen sehr bemerklich, das im Verdacht stand, im
Dienste der Regierung zu stehen. Es war dies der angebliche Arbeiter
Preuß. Tatsächlich war dieser für ein Gehalt von 50 Taler monatlich
angestellt, und zwar stand er im direkten Dienst des _Geheimen
Regierungsrats Wagener_. Nebenher lieferte Preuß für eine Anzahl Blätter
die Polizeinachrichten, die ihm eine Extraeinnahme brachten. Preuß war
es auch, der Liebknechts Anwesenheit in Berlin, Herbst 1866, wegen
Bannbruchs der Polizei denunzierte, worauf dieser, wie ich schon im
ersten Teil dieser Arbeit erzählte, zu drei Monaten Gefängnis verurteilt
wurde. Preuß besuchte mit Vorliebe die Versammlungen des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins, in denen er auch öfter sprach. Liebknecht und
andere unserer damaligen Berliner Parteifreunde behaupteten mit
Bestimmtheit, daß er den Mittelsmann zwischen Schweitzer und Wagener
abgebe, doch hatte Schweitzer wohl direktere Beziehungen zu Wagener.

Letzterer, der Geriebene, mit allen Wassern Gewaschene, war, wie
allbekannt, die rechte Hand Bismarcks in allen sozialpolitischen
Angelegenheiten, zugleich war er vortragender Rat und stand so in
engster täglicher Beziehung zu Bismarck und dem König. Die Kette
Schweitzer-Wagener-Bismarck war also ohne ein weiteres Verbindungsglied
geschlossen, was für alle Teile sehr wichtig war. Daß Schweitzer je mit
Bismarck persönlich verkehrte, betrachte ich als vollkommen
ausgeschlossen. Schweitzer war kein Lassalle. Unvergeßlich bleibt mir,
wie Bismarck eines Tages im Reichstag den Neugierigen spielte und mit
der Lorgnette vor den Augen den auf die Tribüne zuschreitenden
Schweitzer vom Scheitel bis zu den Zehen maß, als wollte er sagen: also
du bist der, der mir an den Rockschößen hängt?

Am Molkenmarkt mußte man die Beziehungen Schweitzers zu Wagener und
höher hinauf kennen. Daher kam es wohl, daß, wenn der „Doktor“, wie
Schweitzer dort kurz und vertraulich genannt wurde, seine öfteren
Besuche auf dem Präsidium machte, die Beamten und Offiziere ihn sehr
entgegenkommend behandelten, wie das der undankbare Tölcke nach einer
Reihe Jahre, als er mit Schweitzer gebrochen hatte, zugestand. Das
Berliner Polizeipräsidium hatte offenbar ein lebhaftes Interesse, auf
Grund seiner wenig sagenden Akten Schweitzer zu rehabilitieren und damit
auch Wagener und Bismarck weiß zu waschen. Aus diesem Grunde geschah es
wohl, daß, als Dr. Gustav Mayer sein Werk „Johann Baptist v. Schweitzer
und die Sozialdemokratie“ schrieb (bei Gustav Fischer in Jena
erschienen), ihm das Berliner Polizeipräsidium bereitwilligst Einsicht
in seine Geheimakten über Schweitzer nehmen ließ. Schon fünfzehn Jahre
früher wurde Genosse Franz Mehring, als er seine Geschichte der
deutschen Sozialdemokratie verfaßte, vom Polizeipräsidium dieselbe
Offerte gemacht, die Mehring aber ablehnte.

       *       *       *       *       *

Die Gräfin Hatzfeldt, der die Unterstützung der Bismarckschen Politik
durch Schweitzer noch nicht weit genug ging, hatte eine Rechtfertigung
dieser Politik schon gegen Ende 1864 in einem Briefe an die Frau
Herweghs versucht, in dem sie schrieb:

  „Es liegt ein förmlicher Abîme (Abgrund) zwischen folgenden zwei
  Sachen: sich an einen Gegner zu verkaufen, für ihn arbeiten, verdeckt
  oder unverdeckt, oder wie ein großer Politiker den Augenblick zu
  erfassen, um von den Fehlern des Gegners zu profitieren, einen Feind
  durch den anderen aufreiben zu lassen, ihn auf eine abschüssige Bahn
  zu drängen und die dem Zwecke günstige Konjunktur, sie möge
  hervorgebracht werden von wem sie wolle, zu benutzen. Die _bloßen_
  ehrlichen Gesinnungen, diejenigen, die sich immer nur auf den idealen,
  in der Luft schwebenden Standpunkt der zukünftigen Dinge stellen und
  darauf nur das momentane Handeln bestimmen, mögen privatim als recht
  brave Menschen gelten, aber sie sind zu nichts zu brauchen, zu
  Handlungen, die auf die Ereignisse wirklich einwirken, ganz unfähig,
  kurz, sie können nur in der großen Masse dem Führer folgen, der besser
  weiß.“

Die Frau Gräfin hatte sich hier ein Programm zurechtgelegt, das selbst
einen Lassalle zum Scheitern gebracht hätte, weil vor allen Dingen die
Macht, die dazu gehörte, in der von ihr geschilderten Weise zu
politisieren, fehlte. Lassalle wäre, das ist meine Ueberzeugung, wenn es
zum Kirschenessen mit Bismarck gekommen wäre, gehörig hereingefallen;
sein Spiel hätte mit einer gewaltigen Blamage geendet. Zu glauben, ein
Bismarck konnte oder wollte der Sozialdemokratie, also dem Todfeind der
bürgerlichen Gesellschaft, ernsthafte Konzessionen machen, er, dem doch
allein daran liegen mußte, mit der modernen Macht des Kapitalismus sich
zu verständigen und der zu diesem Zwecke die Sozialdemokratie allenfalls
als _Mittel_ benutzte, hätte von einer Verblendung gezeugt, die alles
andere, nur nicht Realpolitik gewesen wäre. Auch ist die
Sozialdemokratie keine Schafherde, die gedankenlos hinter dem Führer
trottet und sich beliebig führen und nasführen läßt. Das mochte die
Gräfin Hatzfeldt zu ihrer Zeit und in der Atmosphäre, in der sie lebte,
noch glauben, aber eine sozialdemokratische Politik ist auf die Dauer
nicht ohne die bewußte Mitwirkung der Massen und das Betreten ehrlicher,
gerader Wege möglich. Die Massen lassen sich auf diplomatische Finessen
nicht ein; der Führer, der anders rechnet, wird bald erkennen, daß er
sich verrechnet hat.

Der Sommer 1865 bot Schweitzer Gelegenheit, sich wieder als Radikaler
aufzuspielen, womit er die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in den
Hintergrund zu drängen hoffen durfte. Es war das ebenfalls schon von mir
im ersten Bande erwähnte Abgeordnetenfest in Köln, dem gegenüber
Bismarck den Gewaltmenschen spielte. Schweitzer mit seinem gewohnten
großen Geschick wendete sich in einer Reihe Artikel im „Sozialdemokrat“
gegen die Regierung. Und wenn er darin der Fortschrittspartei wegen
ihres feigen Verhaltens in der Kölner Angelegenheit übel mitspielte, so
forderte er auch mit Nachdruck ein völlig freies Vereins- und
Versammlungsrecht für Preußen. Trotz seiner eminenten journalistischen
Gewandtheit schrieb er jetzt mit einer Schärfe, daß der „Sozialdemokrat“
eine längere Reihe von Tagen _täglich konfisziert_ wurde. Diese
oppositionelle Haltung übertrug er auch auf die Kritik an der
auswärtigen Politik, als Bismarck im Oktober zu Napoleon nach Biarritz
reiste, um dessen Zustimmung zu seiner „nationalen“ Politik zu erlangen,
Verhandlungen, bei denen, wie sich nach 1866 erwies, Napoleon der
Geprellte war. Gegen Schweitzer erhob die Staatsanwaltschaft Anklage
wegen verschiedener Preßvergehen. Auch reizte die Opposition des
„Sozialdemokrat“ die Staatsanwaltschaft noch zu weiterer Verfolgung. So
wurden durch Gerichtsbeschluß in Berlin und Magdeburg die
Mitgliedschaften des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unterdrückt,
weil sie als selbständige politische Vereine anzusehen seien, die nach
dem § 8 des preußischen Vereins- und Versammlungsgesetzes nicht
miteinander in Verbindung stehen durften.

Diese Verfolgungen verhinderten aber nicht, daß im Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein Schweitzer mit einer starken Opposition zu kämpfen hatte,
wobei die Gräfin Hatzfeldt tapfer schürte, weil er dieser nicht den
verlangten Einfluß auf den Verein und seine Politik einräumte. Es begann
ein wahres Tohuwabohu im Verein, es war der Kampf um die Macht. Lassalle
hatte kurz vor seinem Tode Schweitzer zum Vorstandsmitglied des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ernannt. Die Generalversammlung in
Düsseldorf ließ ihn aber für diesen Posten durchfallen. Bernhard Becker
war ebenfalls mit Schweitzer zerfallen und versuchte einen Haupttrumpf
gegen ihn auszuspielen, indem er die Generalversammlung des Vereins nach
Frankfurt a.M. einberief, den Ort, der Schweitzer nach seiner
Vergangenheit der allerunangenehmste sein mußte. Indes war die
Opposition auch gegen den unfähigen Becker so stark, daß dieser kurz
vor der Frankfurter Generalversammlung sein Amt niederlegte, worauf
Tölcke als sein Nachfolger gewählt wurde. Bis aber dessen Wahl durch die
Urabstimmung in den Mitgliedschaften bestätigt war, sollte
Hillmann-Elberfeld, der wieder Fritzsche als Vizepräsident ersetzt
hatte, die Leitung des Vereins übernehmen. Hillmann, der zu den
entschiedensten Gegnern Schweitzers gehörte, benutzte jetzt seine
Stellung, um den zwischen Becker und Schweitzer abgeschlossenen Vertrag,
wonach der „Sozialdemokrat“ offizielles Vereinsorgan war, für null und
nichtig zu erklären und ihm das Recht, sich Vereinsorgan zu nennen, zu
entziehen. Schweitzer und Hofstetten bezeichneten von da ab das Blatt
als „Organ der sozialdemokratischen Partei“.

Mittlerweile war Schweitzer ins Gefängnis gewandert. Er war am 24.
November wegen verschiedener Preßvergehen, darunter Majestätsbeleidigung
und Schmähung obrigkeitlicher Anordnungen, zu einem Jahre Gefängnis
verurteilt worden. Später bekam er noch vier Monate dazu, auch wurden
ihm jetzt die Ehrenrechte aberkannt. Seine Verhaftung erfolgte kurz nach
seiner ersten Verurteilung. Schweitzers journalistische Tätigkeit wurde
aber durch die Haft in keiner Weise unterbrochen, wie er denn im
Gefängnis ein Maß von Freiheiten genoß, das weder bis dahin noch später
einem in Berlin zu Gefängnis verurteilten politischen Gefangenen zuteil
wurde. Er traf alle Anordnungen sowohl als Redakteur wie später als
Präsident des Vereins aus dem Gefängnis. Seine Korrespondenz war
unbeschränkt, Besuche empfing er häufig. Als er 1869 eine mehrmonatige
Gefängnisstrafe in Rummelsburg verbüßte, konnte er sich sogar dem
Vergnügen des Kahnfahrens auf dem Rummelsburger See widmen.
Selbstbeköstigung war ihm ebenfalls gestattet, die in den Berliner
Gefängnissen für politische Gefangene erst in sehr viel späterer Zeit,
zu Ende des vorigen Jahrhunderts, erlangt wurde.

Man hat geltend gemacht, daß die verschiedenen Gefängnisstrafen ein
Beweis gegen die Anklage seien, Schweitzer wäre Bismarckscher Agent
gewesen. Diese Auffassung ist durchaus _falsch_. Die Beziehungen, die
eine Regierung zu ihren politischen Agenten zu haben pflegt, bindet sie
nicht den Staatsanwälten und Richtern auf die Nase. Eine zeitweilige
Verurteilung eines politischen Agenten wegen oppositioneller Handlungen
ist auch sehr geeignet, Mißtrauen gegen den Betreffenden zu beseitigen
und das Vertrauen in ihn zu stärken. Bekanntlich haben auch die Berliner
Gerichte zu derselben Zeit, in der Lassalle mit Bismarck seine
stundenlangen politischen Unterhaltungen als „angenehmer Gutsnachbar“
hatte, sich nicht gescheut, ihn zu einer Reihe harter Gefängnisstrafen
zu verurteilen, obgleich man damals in weiten Kreisen wußte, wie
Bismarck und Lassalle zueinander standen. Lastete doch der Gedanke
schwer auf Lassalle, wie er bei seinem Gesundheitszustand die langen
Haftstrafen überstehen werde.

In den Monaten, welche der Kriegsentscheidung im Juni 1866 vorausgingen,
arbeitete der „Sozialdemokrat“ weiter zugunsten der Bismarckschen
Politik, und zwar wie auch früher mit raffiniertem Geschick. Es mußten
schon geübte Augen und ein scharfer Verstand sein, um aus all den
Verklausulierungen und Widersprüchen herauszuschälen, daß er eine
unehrliche Politik betrieb.

Gegen Ende März 1866, also während er im Gefängnis sitzt, wird er im
„Sozialdemokrat“ deutlicher: „Die Zerstörung der Bundesleiche zu
Frankfurt sollte die Auflösung der Nation bedeuten. Die Geburt der
Nation würde von diesem Tage an datieren.“ Einer seiner Hamburger
Anhänger, Schallmeier, erklärte im „Sozialdemokrat“, die Arbeiter würden
für den Krieg sein, gebe man denselben das allgemeine Wahlrecht.
Gleichzeitig erhebt der „Sozialdemokrat“ unausgesetzt heftige
Angriffe gegen die Fortschrittspartei, den Nationalverein, den
Sechsunddreißiger-Ausschuß. Daneben erschienen wieder einige Artikel,
worin ein Buch Rüstows über das Milizsystem günstig besprochen und das
Milizheer als eine Einrichtung gepriesen wird, die am billigten die
meisten Streiter liefere.

Im März noch hatte der „Sozialdemokrat“ den preußischen
Bundesreformentwurf mit Geringschätzung behandelt, er werde „schätzbares
Material“ bleiben. In der zweiten Hälfte April tritt er entschieden für
die preußische Bundesreform ein. Jetzt war keine Rede mehr von den
früheren Versicherungen, dem neuen Deutschen Reiche dürfe kein Dorf,
nicht der letzte Weiler fehlen. Er hatte auch vergessen, daß er noch in
der zweiten Hälfte September 1865 geschrieben: Unser köstliches Kleinod
ist, daß wir kein Oesterreich und kein Preußen, kein Bayern und kein
Hessen-Homburg, daß wir nur ein Deutschland kennen, ein deutsches Volk
und eine deutsche Sprache.

In einer Artikelserie: Habsburg, Hohenzollern und die deutsche
Demokratie, die Ende April erschien, spricht er sich schließlich für die
Vernichtung Oesterreichs aus; es müsse reduziert werden auf die 12900000
Einwohner, die zum Bunde gehörten. Dann sei Deutschland konstituiert,
das heißt dann hat Preußen das Feld.

Auf ein wiederholtes Gesuch wurde Schweitzer am 9. Mai 1866 angeblich
wegen gefährdeter Gesundheit aus dem Gefängnis beurlaubt. Dagegen wäre
nichts einzuwenden gewesen, entsprach der Grund des Urlaubs der
_Wahrheit_. Dieser Grund erwies sich aber als eine Lüge. _Kaum aus dem
Gefängnis beurlaubt, entwickelte Schweitzer eine umfassende politische
Tätigkeit_, die nicht nur bewies, daß die Ruhe des Gefängnisses ihm
wieder eine gute Gesundheit verschafft hatte, _sondern daß auch die
maßgebenden Behörden gegen seine politische Tätigkeit nichts einzuwenden
hatten, obgleich sonst die Behörden bei Beurlaubungen politischer
Gefangener die selbstverständliche Forderung stellen, daß der Beurlaubte
nicht eine Tätigkeit betreibe, wegen der er in Strafe genommen worden
ist_.

Am 21. Mai erscheint Schweitzer in Hamburg, um dort „Ordnung zu
schaffen“, am 11. Juni in Erfurt und am 18. Juni in Leipzig, woselbst er
in einer Rede für die Bismarcksche Bundesreform eintritt. Dieses
Eintreten hatte aber nicht verhindert, daß am 18. Mai der
„Sozialdemokrat“ in einem Leitartikel sagte: Von einem liberalen Preußen
sprechen die Gothaer, das an die Spitze Deutschlands zu treten habe,
aber das hieße in Wahrheit sprechen: _von einem Preußen, das nicht
existiert und nicht existieren kann_.

Und dieser positiven durchaus richtigen Auffassung über das Wesen
Preußens gegenüber sagt Schweitzer am 16. Juni in Leipzig in einem
Vortrag „Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der sozialdemokratischen
Partei Deutschlands“ am Schlusse:

  „Wenn es aber gelingt, die preußische Regierung weiterzutreiben auf
  dem _Wege der Konzessionen an uns_ (sic! A.B.)..., dann werden wir
  soviel wir können das _Unsere tun_, daß der Sieg nicht bei den Fahnen
  Oesterreichs, sondern bei den Fahnen Preußens, nicht bei den Fahnen
  Benedeks, sondern bei den Fahnen Bismarcks und Garibaldis sei.“

Kann man widerspruchsvoller handeln?

Diese Auslassungen sind als Programmsätze Schweitzers sehr
bemerkenswert, und sie fanden wohl an hoher Stelle in Berlin ihr Echo.
Was aber das Antreiben der preußischen Regierung zu Konzessionen an uns
(also an den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein) betraf, so war, ganz
abgesehen von dem Utopismus, auf Bismarcksche Konzessionen zu
hoffen — woran Schweitzer auch selbstverständlich nicht glaubte — das
ganze Gerede eine _Aufschneiderei_, denn Schweitzer selbst hatte zuletzt
noch am 3. Juni, vierzehn Tage vor seiner Leipziger Rede, im
„Sozialdemokrat“ geschrieben: _daß die Wirren im Verein bis auf weiteres
denselben unfähig machten, in sozialpolitischen Dingen irgend etwas zu
leisten_.

Diesem Gedanken hatte er auch schon wiederholt vor dem 3. Juni im
„Sozialdemokrat“ Ausdruck gegeben, wie denn in der Tat die Wirren im
Verein, an denen Schweitzer sein vollgerüttelt Maß der Schuld trug, bis
in das Jahr 1867 hinein denselben in Zerrüttung hielten.

In seltsamem Widerspruch zu diesen wiederholten Erklärungen Schweitzers
steht es, wenn noch in unseren Tagen die Behauptung aufgestellt wurde,
der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein habe zu jener Zeit einen
merkbaren Einfluß auf die Neugestaltung der Dinge ausgeübt, zum Beispiel
bei Erlangung des allgemeinen Wahlrechts. Bei dem Widerstand, den das
Bismarcksche Reformprojekt in den weitesten Kreisen fand, mußte Bismarck
allerdings jede Unterstützung, war sie auch noch so unbedeutend, für
sein Projekt willkommen sein. Daß er das allgemeine Wahlrecht gewährte,
geschah, weil er es gewähren mußte. Das war so selbstverständlich, daß
es dazu keiner Einflüsterungen und Anfeuerungen bedurfte. Hatte er doch
bereits Sommer 1863, also zu einer Zeit, in der der Allgemeine Deutsche
Arbeiterverein eben erst gegründet worden war, gegenüber dem
österreichischen Reformentwurf, der das deutsche Parlament aus
Delegationen der einzelstaatlichen Landtage zusammensetzen wollte, ein
Parlament gefordert, das auf Grund des in der Paulskirche 1849
beschlossenen allgemeinen Wahlrechtes gewählt werden sollte. Bismarck
hat die Gründe, weshalb er zu demselben griff und greifen mußte, nicht
bloß später im norddeutschen Reichstag auseinandergesetzt; er schrieb
auch in einer Zirkulardepesche am 24. März 1866, also drei Monate vor
dem Krieg:

  „Direkte Wahlen und allgemeines Stimmrecht halte ich für größere
  Bürgschaften einer konservativen Haltung als irgend ein künstliches,
  auf Erzielung gemachter Majoritäten berechnetes Wahlgesetz. Nach
  unseren Erfahrungen sind die Massen ehrlicher bei der Erhaltung
  staatlicher Ordnung interessiert als die Führer derjenigen Massen, die
  man durch die Einführung irgendeines Zensus in der aktiven
  Wahlberechtigung privilegieren möchte.“

Und an den Grafen Bernsdorf in London schrieb Bismarck unter dem 19.
April 1866:

  „Ich darf es wohl als eine auf langer Erfahrung begründete
  Ueberzeugung aussprechen, daß das künstliche System indirekter und
  Klassenwahlen ein viel gefährlicheres ist, indem es die Berührung der
  höchsten Gewalt mit den gesunden Elementen, die den Kern und die Masse
  des Volkes bilden, verhindert.... Die Träger der Revolution sind die
  Wahlmännerkollegien, die der Umsturzpartei ein über das Land
  verbreitetes und leicht zu handhabendes Netz gewähren, wie dies 1789
  die Pariser Elekteurs gezeigt haben. Ich stehe nicht an, indirekte
  Wahlen für eines der wesentlichsten Hilfsmittel der Revolution zu
  erklären, und ich glaube, in diesen Dingen praktisch einige
  Erfahrungen gesammelt zu haben.“

Zu diesen Gründen, die deutlich das Unbehagen verraten, das die
bisherigen Resultate der Wahlen nach dem Dreiklassenwahlsystem in
Preußen bei ihm erzeugten, kommen noch als besonders _entscheidende_,
daß in dem Staatenkonglomerat, das der später neugebackene Norddeutsche
Bund bildete, es keine gemeinsame Grundlage gab, auf der ein anderes
Wahlrecht als das allgemeine möglich war. Ferner gebot die Rücksicht auf
die Traditionen des ersten deutschen Parlaments in Frankfurt 1848/49,
daß er das allgemeine Wahlrecht einführte, das allein die starken
Antipathien, die gegen die Gründung des Norddeutschen Bundes selbst in
weiten Kreisen der norddeutschen Bevölkerung vorhanden waren,
einigermaßen überwinden konnte. Es muß weiter hinzugefügt und
_wiederholt_ daran erinnert werden, daß in jenen Jahren der Gedanke, das
allgemeine Wahlrecht einzuführen, selbst in konservativen Kreisen im
Hinblick auf die Resultate des Dreiklassenwahlsystems sympathisch
aufgenommen wurde und der Geheime Regierungsrat Wagener schon im
Spätsommer 1862, also _ehe_ noch Lassalle öffentlich diese Forderung
erhoben hatte, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts befürwortete.
Auch hatten schon zu Anfang 1862 die radikalen Leipziger Arbeiter diese
Forderung gestellt, und seit 1865 war es eine Programmforderung _der
gesamten deutschen Arbeiterklasse ohne Unterschied der Partei_. Im
Winter 1865/66 wurde diese Forderung in unzähligen Volksversammlungen
propagiert, noch ehe jemand an den Bismarckschen Reformentwurf denken
konnte, weil er für die Oeffentlichkeit noch nicht existierte. Es war
also nach Lage der Dinge unmöglich, daß der Allgemeine Deutsche
Arbeiterverein als solcher merkbaren Einfluß auf die Gewährung des
allgemeinen Stimmrechts ausgeübt hat.

Bismarck hatte am 9. Mai den Landtag nach Hause geschickt, weil er
fürchtete, daß er ihm, wie bei Gelegenheit der Schleswig-Holsteinschen
Frage, die Mittel zum Kriegführen verweigern werde. Bismarck brauchte
aber Geld, und so gab er auf dem Verordnungswege, also ohne alles
gesetzliche Recht, 40 Millionen Taler Kassenscheine aus und ordnete die
Errichtung von Darlehenskassen an. Die gesamte liberale und
demokratische Presse spie mit Recht Feuer und Flamme über diese
gesetzwidrige Handlung, aber _Schweitzer brachte es fertig, unter sehr
deplacierten Angriffen auf die Fortschrittspartei die Handlung
Bismarcks zu verteidigen_. Als dann Bismarck nach dem Kriege die
Gründung eines Staatsschatzes, der mit 20 Millionen Taler dotiert werden
sollte, verlangte, um ausgesprochenermaßen im Kriegsfall zunächst von
einer Geldbewilligung der Kammer unabhängig zu sein, _führte Schweitzer
wieder eine Menge Gründe zugunsten desselben an, wagte aber nicht_, sich
rückhaltlos für den Plan auszusprechen.

Der „Sozialdemokrat“ mußte mit dem 1. April 1866 sein sechsmaliges
Erscheinen einstellen; er erschien wieder nur dreimal wöchentlich. Es
mochte niemand mehr ein Bedürfnis haben, angesichts der kommenden
kriegerischen Ereignisse weiter schwere Opfer für ein sechsmaliges
Erscheinen zu tragen. _Denn er besaß noch keine 500 Abonnenten_. Am 17.
Juni fand eine Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins in Leipzig statt, die nur von 12 Delegierten besucht
war, was zeigt, wie gering damals die Leistungsfähigkeit des Vereins
war. Angeblich sollten diese 12 Delegierten, unter denen sich auch
Schweitzer befand, 9400 Mitglieder vertreten. Bei der Präsidentenwahl
unterlag Hillmann-Elberfeld gegenüber Perl-Hamburg, das war ein
indirekter Sieg Schweitzers. Im „Sozialdemokrat“ wiederholte sich jetzt
das Spiel, das man nach seiner Leipziger Rede erwarten mußte. Als
Oesterreich während der Waffenstillstandsverhandlungen Venetien an
Napoleon übergab, um es nicht an das verhaßte Italien abtreten zu
müssen, entdeckte Schweitzer hierin, gleich der liberalen Presse, einen
_Verrat_ Oesterreichs an Deutschland, und ging nun, diesen Vorwand
benutzend, mit fliegenden Fahnen in das Lager Preußens, dessen
„staunenswerte organisatorische Kraft“ gezeigt, daß Deutschland zu ihm
zu stehen habe. Von diesem seinem Standpunkt aus war es ihm
außerordentlich peinlich, als Ende August Johann Jacoby anläßlich der
Beratung einer Adresse an den König eine vorzügliche Rede im preußischen
Landtag hielt, in der er sich entschieden gegen das neue Gebilde,
den Norddeutschen Bund, aussprach, der die Ausschließung
Deutsch-Oesterreichs und der süddeutschen Staaten zur Voraussetzung
gehabt habe. Im weiteren erklärte sich Jacoby gegen die Indemnität, die
jetzt die Regierung für ihre gesetzwidrigen Maßnahmen vor und während
des Krieges von dem Landtag forderte. Schweitzer zollte zwar dem Mute
und dem Idealismus Jacobys volles Lob, rechtfertigte aber durch
gewundene Ausführungen den neuen Stand der Dinge. Als dann am 20.
September die allgemeine Amnestie erschien, war niemand vorhanden, der
dieselbe mehr verdient hätte als er für die Dienste, die er vom 9. Mai
ab für die Regierung geleistet hatte; sie brachte ihm den Nachlaß von
zehn Monaten seiner Haft.

Ende August 1866 machte der „Sozialdemokrat“ in der Anwandlung einer
melancholischen Stimmung das Geständnis: „So habe sich das deutsche Volk
die deutsche Einheit nicht vorgestellt.“ Was damals über den Entwurf zur
künftigen Nordbundsverfassung verlautete, war allerdings zum
Melancholischwerden. Bismarck, der wirkliche Realpolitiker, der jetzt im
Zenith seiner Macht stand, schmiedete das Eisen, solange es warm war,
und schuf einen Verfassungsentwurf, der noch ein gut Stück hinter der
preußischen Verfassung an konstitutionellen Rechten zurückstand. Es
hieße den Scharfsinn Schweitzers beleidigen, wollte man annehmen, daß er
ernstlich darüber enttäuscht war. Wer wie er das Wesen des jetzt alles
beherrschenden preußischen Staates und auch das Wesen und den Charakter
Bismarcks kannte, konnte nichts anderes erwarten. Aber wie wollte er
seine großpreußische Politik dem Verein gegenüber rechtfertigen und
mundgerecht machen? Jetzt zeigte sich, was es mit seiner Behauptung, der
Verein sei eine Macht, so „daß er ihm (Bismarck) Konzessionen abnötigen
könne“, auf sich hatte.

Wir waren nicht enttäuscht, denn wir hatten uns keinen Illusionen
hingegeben. Indes spann Schweitzer den alten Faden weiter. Vor allem
setzte er auf der Generalversammlung in Erfurt, die für den 27. Dezember
einberufen worden war, ein Wahlprogramm durch, dessen erster Punkt in
Berlin an maßgebender Stelle notwendig freundlich aufgenommen werden
mußte. Dieser Punkt lautete: „Gänzliche Beseitigung jeder Föderation,
jedes Staatenbundes, unter welcher Form es auch sei. Vereinigung aller
deutschen Stämme zu einer innerlich und organisch durchaus
verschmolzenen Staatseinheit, durch welche allein das deutsche Volk
einer glorreichen nationalen Zukunft fähig werden kann: durch Einheit
zur Freiheit.“ Also auf dem Wege der Bismarckschen Politik zur Freiheit.
Das war die _gleiche_ Parole, welche die nationalliberale Partei
aufgestellt hatte, und bedeutete weitere Annexionen, die nicht ohne
einen neuen Krieg ausführbar waren. Der zweite Punkt des Programms
handelte von der Forderung des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes mit
Diätenzahlung für Reichstag und Landtage. Sicherung der Volksrechte. Die
Forderung nach allgemeiner Volksbewaffnung, die in dem von der Gräfin
Hatzfeldt herrührenden Programmentwurf stand, strich Schweitzer, denn
nach dem „Sozialdemokrat“ hatte Preußen bewiesen, „daß es allein durch
seine staunenerregende organisatorische Kraft zur Führung der deutschen
Wehrkraft berufen sei“, und dem durfte man doch jetzt nicht mit der
allgemeinen Volksbewaffnung kommen. Der vierte Punkt verlangte Anbahnung
der Lösung der Arbeiterfrage durch freie Assoziationen mit Staatshilfe
nach den Prinzipien Ferdinand Lassalles. Also von Bismarcks Gnaden. Für
Moritz Heß gab das Erfurter Programm endlich den Anstoß, um als letzter
von den ersten Mitarbeitern dem „Sozialdemokrat“ die Mitarbeiterschaft
aufzusagen.

Man vergleiche dieses Verhalten Schweitzers mit seinem Verhalten im
Frühjahr 1865, als er, durch die Opposition in seinem Verein bedrängt,
im „Sozialdemokrat“ vom 5. April 1865 erklärte:

  „Die Deutsche Volkspartei _also will das ganze_ Deutschland zum freien
  Volksstaat vereinen. Das ganze Deutschland sagen wir. Nicht ein Dorf,
  nicht ein Meierhof, nicht die kleinste Hütte im entferntesten Winkel
  darf uns fehlen. Der kleindeutsche Gedanke eines einigen Deutschland
  _ohne die deutsch-österreichischen Provinzen ist ein Hochverrat an der
  Zukunft der Nation_.“

So hatte der Schweitzer von 1865 dem Schweitzer von 1866 das Urteil
gesprochen. Aber was er 1865 geschrieben und beteuert hatte, hatten
seine Anhänger vergessen. Blieb nach einer anderen seiner früheren
Ausführungen nur die Wahl zwischen deutschen Proletarierfäusten und
Preußen für die Lösung der deutschen Frage, und waren damals die
deutschen Proletarierfäuste zu schwach, die deutsche Frage im
demokratischen Sinne zu lösen, so war dies für den Führer einer
Arbeiterpartei kein Grund, sich zum Werkzeug der Lösung im cäsarischen
Sinne herzugeben. Einmal die Ehrlichkeit Schweitzers für einen
Augenblick vorausgesetzt, so wäre selbst dann seine Taktik ein Verrat an
der Demokratie gewesen, weil er die Politik ihres gewalttätigsten und
grimmigsten Feindes unterstützte.



Schweitzer und die Konservativen.


Mit der Agitation für die Wahlen zum konstituierenden norddeutschen
Reichstag, die auf den 12. Februar 1867 angesetzt waren, beginnt die
zweite Periode der Tätigkeit Schweitzers. Die Haltung des
„Sozialdemokrat“ ließ keinen Zweifel, daß Schweitzer es mit den
_Konservativen_ nicht verderben wollte. Er rechnete offenbar auf
Schachergeschäfte mit diesen gegen die Liberalen, was auch im Wunsche
Bismarcks liegen mußte. Schweitzer ging also wieder gegen die
Fortschrittspartei aufs schärfste ins Feuer, eine Taktik, die ihm der
alte Moritz Heß als Verrat anrechnete. Dieser meinte, es handle sich vor
allen Dingen doch darum, die _linke_ Seite des Parlamentes nach Kräften
zu stärken, um eine leidliche Verfassung zustande zu bringen, was ein
durchaus richtiger Standpunkt, aber nicht der Schweitzers war.

Schweitzer hatte unter den verschiedenen Kandidaturen, die ihm von
seinen Anhängern angeboten worden waren, sich für Barmen-Elberfeld
entschieden, ein Wahlkreis, der ihm die meiste Aussicht auf Sieg bot.
Die Leipziger Lassalleaner wollten in Leipzig Liebknecht aufstellen, den
wir im neunzehnten sächsischen Wahlkreis aufgestellt hatten, wo wir
hofften, ihn durchzubringen, was leider nicht gelang. Wir hatten in
Leipzig, nachdem Professor Roßmäßler abgelehnt hatte, Professor Wuttke
als Kandidat proklamiert. Schweitzer eiferte gegen Liebknechts
Kandidatur. Dieselbe gehe von einer Seite aus, der das Werk Lassalles
stets ein Dorn im Auge gewesen sei. Die Leute, die im Hintergrund von
Liebknechts Kandidatur stünden, seien im Zusammenhang mit
österreichischen reaktionären Kreisen. Liebknecht habe noch vor zwei
Jahren Lassalle in öffentlichen Blättern geschmäht. Wer Liebknecht
wähle, sage sich offen von Lassalle und seinem Werke los. So spekulierte
er auf die blinde Voreingenommenheit seiner Anhänger für Lassalles Werk.
Liebknecht zu wählen, war also ein Verbrechen an Lassalle. Wie
Schweitzer überhaupt die Dinge ansah, zeigt ein Ausruf „An meine Freunde
und Parteigenossen in Schlesien und im Rheinland“, in dem es pathetisch
hieß: „_Eine mildere Zeit, eine weisere Regierung ist gekommen!_“ In
Barmen-Elberfeld, woselbst Schweitzer Ende Januar wieder eine seiner
geschickten Reden hielt, sprach er _mit keinem Worte über seine Stellung
in der Politik und gegebenenfalls im Parlament_. Im „Sozialdemokrat“
wurden ungeschickterweise maßlose Hoffnungen über den Ausfall der Wahlen
genährt. So wurde zum Beispiel in der Nr. 15 vom 3. Februar angekündigt,
die gewählten Vertreter würden in Berlin einen gemeinsamen Haushalt
führen. Man sprach von Diätenkommunismus usw. Schweitzer wurde sogar im
„Sozialdemokrat“ als Sieger angesungen, noch ehe er gewählt war. Er
hatte als Gegenkandidaten in Barmen-Elberfeld von konservativer Seite
Bismarck, von liberaler Herrn v. Forckenbeck. Der Wahltag brachte eine
schwere Enttäuschung. Bismarck erhielt 6523, Forckenbeck 6123,
Schweitzer nur 4688 Stimmen. Er war nicht einmal in die engere Wahl
gekommen. Auch im übrigen Deutschland war der Wahlausfall für den
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein eine Enttäuschung. In der engeren
Wahl in Barmen-Elberfeld hatten also die Sozialdemokraten den Ausschlag
zu geben. In einer großen Wählerversammlung am 26. Februar nimmt
Schweitzer zunächst das Wort, erklärt aber, keine Parole für die engere
Wahl auszugeben, bevor er nicht die Meinung der Versammlung gehört.
Schließlich ergreift er wieder das Wort, wobei er äußerte:

  „Das vielfache Rufen des Namens Bismarck aus der Versammlung hätte ihn
  erkennen lassen, _nach welcher Seite sich die Stimmung im allgemeinen
  gelenkt habe. Er könne dem einzelnen keine Vorschriften machen, für
  wessen Wahl sich derselbe entscheiden solle, ein jeder solle dem Zuge
  seines Herzens folgen._“

Damit wußte jeder, woran er war. Um aber das Komödienspiel zu vollenden,
ließ er im Widerspruch mit seiner eigenen Rede eine Resolution annehmen,
in der sich die Versammlung für _Stimmenthaltung_ aussprach. In der Tat
erhielt Bismarck bei der engeren Wahl _fast die gesamten Schweitzerschen
Stimmen. Er wurde mit 10196 gegen 6944, die Forckenbeck erhielt,
gewählt._

Schweitzer suchte in einer Erklärung diese Abstimmung damit zu
rechtfertigen, daß er ausführte:

  Man habe der liberalen Bourgeoisie eine Lehre geben wollen für die
  gemeine Kampfweise, die sie im Wahlkampf geübt habe. „_Vielleicht
  auch, Arbeiter_,“ fuhr er fort, „_war eure Abstimmung eine Huldigung
  nicht zwar für den Kandidaten der konservativen Partei, wohl aber für
  den Minister, der aus eigenem Antrieb ein Volksrecht euch
  zurückgegeben, welch es die liberale Opposition für euch zu fordern so
  hartnäckig vergessen hatte._“

Der gute, volksfreundliche Bismarck!

Wenige Tage nach jener Elberfelder Bismarckwahl stand ich in engerer
Wahl im 17. sächsischen Wahlkreis (Glauchau, Meerane usw.) gegen einen
nationalliberalen Kandidaten. Hier erklärte der Führer der
Lassalleaner — den Bericht veröffentlichte der „Sozialdemokrat“ —, _ein
reiner Lassalleaner dürfe Bebel nicht wählen, der nach dem Standpunkte,
den sie, die Lassalleaner, einnähmen, ein Verräter an der Sache sei_.

_Bismarck der Wohltäter der Arbeiter, Liebknecht und Bebel ihre
Verräter._ Das war das Resultat der Schweitzerschen Erziehungsmethode.
Wie schon früher gemeldet, wurde ich trotzdem gewählt, die wenigen
hundert Stimmen der Lassalleaner gaben nicht den Ausschlag.

In Barmen-Elberfeld mußte kurz darauf eine Neuwahl stattfinden, da
Bismarck, der doppelt gewählt worden war, das Mandat für
Barmen-Elberfeld niederlegte. Bei der darauf folgenden Neuwahl erhielt
Schweitzer 4919, der liberale Professor Gneist 4291, der konservative
von der Heidt 2594, Oberbürgermeister Bredt 1497 Stimmen. Es mußte also
wieder engere Wahl stattfinden, und zwar diesmal zwischen Schweitzer und
Gneist. Der „Sozialdemokrat“ buhlte jetzt offen um die Stimmen der
konservative — Arbeiter. _Noch charakterloser und würdeloser trieb
Schweitzer die Buhlerei in einer Versammlung am 17. März, in der er die
Konservativen aufforderte, von zwei Uebeln das kleinere oder entferntere
zu wählen, und das sei er. Auf dem sozialen Boden könnte sich die
Arbeiterpartei mit den Konservativen über manches die Hände reichen._ Er
bezieht sich dafür auf _Reden des Geheimen Oberregierungsrats Wagener,_
auf Bischof Kettelers Buch, _auf Aeußerungen Bismarcks_.

  _„Die Konservativen möchten mitwirken, damit die Arbeiter durch ihn im
  Parlament zum Wort kämen. Als die Konservativen die Arbeiter
  riefen — einerlei aus welchem Grunde —, kamen diese mit ihrer ganzen
  Armee. Jetzt rufen die Arbeiter, und die Konservativen würden eine
  moralische Verpflichtung nicht lösen, wenn nicht auch sie nun dem Rufe
  folgten. Sie müßten kommen, wenn sie nicht die gerechtere Entrüstung
  über sich heraufbeschwören wollten.“_

Dann stößt er Drohungen gegen die Fortschrittspartei aus.

Aber für diese Charakterlosigkeit und Würdelosigkeit sondergleichen
blieb dennoch der Lohn aus. Schweitzer unterlag abermals, und zwar mit
7923 gegen 8019 Stimmen, die auf Gneist fielen.



Schweitzer im norddeutschen Reichstag.


Nachdem der konstituierende norddeutsche Reichstag die Verfassung des
Norddeutschen Bundes beraten hatte und diese verkündet worden war,
wurden die Wahlen für die erste Legislaturperiode auf Ende August 1867
angesetzt. Schweitzer kandidierte wieder in Barmen-Elberfeld, diesmal
mit Erfolg. Schweitzer erhielt im ersten Wahlgang 6110, Dr. Löwe-Calbe
(Fortschritt) 3588, Professor v. Sybel-Düsseldorf 3478 Stimmen, es war
also engere Wahl zwischen Schweitzer und Löwe-Calbe nötig, in der
Schweitzer mit 8915 Stimmen gegen 6690 Stimmen, die auf Löwe-Calbe
fielen, siegte. _Diesmal hatte wieder der größte Teil der Konservativen
für Schweitzer gestimmt._ Wie er in seiner Danksagung glaubte
hervorheben zu müssen, waren es die konservativen Arbeiter, die in
richtiger Erkenntnis der Sachlage dem Arbeiterkandidaten ihre Stimme
gegeben hätten. Inwieweit das richtig war, zeigt die später bekannt
gewordene Tatsache, _daß der Führer der Konservativen, Herr v. Kusserow,
Schweitzer für seine Wahl 400 Taler eingehändigt hatte._ Auf der
Berliner Generalversammlung stellte man, als diese Tatsache bekannt
wurde, das grausame Verlangen, Schweitzer solle das Geld zurückgeben.
Wie konnte man nur so naiv sein.

Aber Schweitzer glaubte noch ein übriges tun zu müssen und den
Konservativen Zusicherungen für sein Wohlverhalten im Reichstag geben zu
sollen, und so äußerte er in seiner Erklärung vom 11. September weiter:

  „Mein sozialer Standpunkt wird von niemand in Zweifel gezogen; ich
  brauche daher in dieser Beziehung nichts zu sagen. In politischer
  Beziehung bemerke ich, daß ich gemäß den Grundsätzen der Partei, der
  ich angehöre und die mich zu ihrem Führer erkoren, in Fragen der
  Freiheit und _des Volkswohls_ unwandelbar mit der äußersten Linken
  (der Fortschrittspartei) stimmen werde. Sollten ernstliche Gefahren
  vom Ausland her das deutsche Vaterland bedrohen, so werde ich den
  König von Preußen, in dem jetzt die nationale Machtstellung
  Deutschlands gipfelt, und seine Regierung mit aller Kraft, die einem
  einzelnen zu Gebote stehen kann, in dem Parlament wie außerhalb
  desselben zu unterstützen bestrebt sein.“

Schweitzers Wahl hatte begreiflicherweise unter seinen Anhängern große
Begeisterung hervorgerufen, und er nutzte diese nun aus, indem er in
einem mit vier Schimmeln bespannten Wagen einen Triumphzug durch die
beiden Städte Barmen-Elberfeld unternahm. Solche Triumphzüge, die,
wollte sie heute ein Arbeiterführer arrangieren, ihn zum toten Manne
machten, liebte er. Solche Triumphzüge, wobei stets die Schimmel eine
Rolle spielten, kamen wiederholt auch später vor, so zum Beispiel in
Hamburg-Altona, nochmals in Barmen-Elberfeld und in Kassel. Damit aber
auch das nötige Volk auf der Straße war, unterbrach zum Beispiel
Schweitzer seine Reise von Berlin nach Kassel in Minden und fuhr von
dort mit einem Zug, der erst abends nach 7 Uhr in Kassel eintraf. Hier
benutzte er die mit Schimmeln bespannte Equipage auch während der
mehrtägigen Dauer der Generalversammlung des Arbeiterverbandes,
verlangte aber, daß seine Anhänger die hohen Kosten dafür tragen
sollten. Dessen weigerten sie sich. Die Kosten des Triumphzugs vom
Bahnhof nach der Stadt wollten sie bezahlen, das andere müsse Schweitzer
tragen. Dabei blieb es.

Mit Schweitzers Eintritt in den norddeutschen Reichstag, dem außer mir
nunmehr auch Liebknecht angehörte, kam es zeitweilig zwischen uns und
Schweitzer zu Auseinandersetzungen. Eine solche von besonderem Interesse
spielte sich in der Sitzung vom 17. Oktober 1867 ab, in der der
Gesetzentwurf betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst auf der
Tagesordnung stand. Liebknecht sprach zunächst, und zwar in
außerordentlich scharfer Form unter häufigen heftigen Unterbrechungen
der Mehrheit und des Präsidenten. Namentlich griff er die Politik
Bismarcks schonungslos an und schloß seine Rede mit den Worten: „Die
Weltgeschichte wird hinwegschreiten über diesen norddeutschen Reichstag,
der nichts ist als das Feigenblatt des Absolutismus.“ Nachher kam ich
zum Wort. Ich begründete in aller Ruhe unseren Standpunkt als Vertreter
des Milizsystems. Mittlerweile hatte sich auch Schweitzer gemeldet, um
seinen entgegengesetzten Standpunkt zu markieren. Bei Einbringung eines
Schlußantrags verlas der Präsident, wie es damals Vorschrift war, die
Namen der eingeschriebenen Redner für und wider den Gesetzentwurf,
darunter Schweitzer als Gegner. _Dieser erklärte darauf zur
Geschäftsordnung, er habe sich nicht wider, sondern für den
Gesetzentwurf einschreiben lassen._

Schweitzer ergriff alsdann bei der Spezialdebatte das Wort und führte
aus: Nach dem Standpunkt, den Herr Liebknecht einnehme, müßte auch die
allgemeine Wehrpflicht verworfen werden. Dabei hatten wir beide eine
Resolution einzubringen versucht, für die wir aber nicht die nötigen
Unterschriften erhielten, in der die Einführung des Milizsystems, also
die Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht nach dem Muster
Scharnhorsts und Gneisenaus gefordert wurde. Liebknecht wünsche, daß der
Norddeutsche Bund überhaupt nicht existiere. Er und seine Freunde
wollten den Norddeutschen Bund freiheitlich gestalten, darin ständen sie
mit der _Fortschrittspartei_ auf einem Boden. Er berief sich also wieder
auf dieselbe Partei, die er seit 1863 als Trägerin des Rückschritts
bekämpft und fortgesetzt angegriffen hatte. Er, Schweitzer, wolle nicht
mit Herrn Liebknecht und seinen Freunden, den depossedierten Fürsten und
dem Ausland, dahin trachten, Preußen und den Norddeutschen Bund zu
ruinieren und zu zerstören:

  „Wir haben erkannt, daß der preußische Machtkern unser deutsches
  Vaterland, das so lange mißachtet war, dem Ausland gegenüber endlich
  zur Geltung und zu Ehren gebracht hat und dies auch künftig tun wird,
  und es liegt uns fern, mit jenen selbst diejenigen Eigenschaften an
  Preußen leugnen und bemäkeln zu wollen, die im vorigen Jahre eine
  feindliche Welt bewundernd anerkennen mußte.“

Sie stünden innerhalb, wir außerhalb des neu sich bildenden Vaterlandes,
wollten außerhalb desselben stehen.

Liebknecht antwortete in einer persönlichen Bemerkung:

  „Der Abgeordnete v. Schweitzer hat mir einen großen Gefallen getan,
  denn er hat mir die Gelegenheit gegeben, die ich bis jetzt vergebens
  gesucht habe, zu erklären, _daß ich allerdings mit dem Doppelgänger
  des Herrn Wagener nichts zu tun habe_.“

Schweitzer schwieg und Wagener schwieg. Vor der Abstimmung über den
entscheidenden § 1 verließ Schweitzer den Saal. Er wagte nicht dafür zu
stimmen und wollte nicht dagegen stimmen.

Diese Vorgänge im Reichstag beschäftigten kurz darauf zwei Versammlungen
der Berliner Mitgliedschaft des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.
Schweitzer beantragte hier folgende Resolution:

  „Die Versammlung erkennt an, daß die von Preußen geschaffene Macht die
  Möglichkeit der Herstellung der deutschen Einheit in sich trägt;
  zweitens ist sie _mit der Fortschrittspartei damit einverstanden_
  (weiter nach links wagte Schweitzer nicht mehr zu gehen. A.B.), daß
  mit äußerstem Nachdruck und ohne daß man sich um Drohungen der
  preußischen Regierung kümmere, auf eine freiheitliche Gestaltung
  Preußens und des Norddeutschen Bundes gedrungen werden muß, da nur
  hierdurch eine ersprießliche endgültige Lösung der deutschen Sache
  möglich ist; drittens erklärt sie es für verfehlt, in Gemeinschaft mit
  der Auffassung des mißgünstigen Auslandes das Vorgehen Preußens im
  vorigen Jahre zu beurteilen und demgemäß eine Zertrümmerung Preußens
  und des Norddeutschen Bundes zu erstreben und zu erhoffen.“

Rückhaltloser konnte man für die Bismarcksche Schöpfung nicht eintreten.
Dieser Resolution gegenüber beantragten nun _Theodor Metzner_ und
_Reimann_, zwei Opponenten von Schweitzer:

  „Die Versammlung beschließt, daß Herr v. Schweitzer sowohl im
  Reichstag als durch seine Verdächtigung der radikalen Partei in der
  heutigen Versammlung _das wenige Vertrauen, das derselbe bisher bei
  den Berliner Arbeitern genossen, vollständig verloren hat_.“

Eine dritte Resolution brachte der fortschrittliche Maschinenbauer
Andreack ein, die forderte:

  _„Die Versammlung möge beschließen, daß sie in der deutschen Frage
  sich nur mit dem Standpunkt der Deutschen Fortschrittspartei
  einverstanden erklären kann.“_

Und was geschah jetzt? Als Schweitzer merkte, daß die scharfe
Opposition, die er fand, seine Resolution zu Fall bringen könnte, zog
er, feig wie er immer war, wenn ihm eine Niederlage drohte, _dieselbe
zurück und erklärte sich für die fortschrittliche Resolution, die
dasselbe besage wie die seine_. Hofstetten, der den Vorsitz hatte, tat
Schweitzer den Gefallen, über die Andreacksche Resolution zuerst
abzustimmen und sie für angenommen zu erklären, was seitens der
Opposition einen Sturm der Entrüstung hervorrief.



Schweitzers Diktatur.


Schweitzer hatte das dringendste Interesse, den Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein ganz in die Hand zu bekommen, also dessen Präsident zu
werden. Dieses Sehnen verwirklichte sich, als Perl-Hamburg, der
Präsidentschaft müde, erklärte, dieselbe niederlegen zu wollen. Es wurde
eine außerordentliche Generalversammlung auf den 19. und 20. Mai 1867
nach Braunschweig einberufen, die von 18 Delegierten, die 2500 Stimmen
hinter sich hatten, besucht war. Schweitzer vertrat Apolda mit 22 und
Limbach in Sachsen mit 30 Stimmen. Der Verein war sehr heruntergekommen.
Die beständigen Zerwürfnisse, das Mißtrauen gegen Schweitzer wegen
seiner Politik, der ungünstige Ausfall der Wahlen zum norddeutschen
Reichstag, trotz aller großsprecherischen Worte Schweitzers, die Krise
waren die Hauptursachen dieser Erscheinung. Die Eröffnungsrede Perls war
der Ausdruck der vorhandenen Mutlosigkeit. Die Hoffnung, die man noch in
Leipzig gehegt, Ordnung in den Verein zu bringen, hätte sich nicht
erfüllt; die finanziellen Verhältnisse des Vereins seien sehr ungünstig,
nur wenige Orte zahlten Beiträge usw. Im weiteren Verlauf der
Verhandlungen bat Perl, von seiner Wiederwahl als Präsident abzustehen;
er könne die Opfer nicht mehr tragen, die ihm diese Stellung auferlege.
Schweitzer kritisierte Perls Geschäftsführung, doch wolle er, wie er
sagte, ihm nicht persönlich zu nahe treten. Er erklärte, die
Generalversammlung sei entscheidend für den Verein, nach Tölcke sollte
er sogar die Präsidentschaft _gefordert_ und gedroht haben, falls er
nicht gewählt werde, ließe er mit der nächsten Nummer den
„Sozialdemokrat“ eingehen. Er versprach Garantien zu geben, daß die
_Verwaltungsgeschäfte_ korrekt erledigt würden, da er wisse, daß man ihm
mißtraue. Die Versammlung war unschlüssig, was sie tun sollte; so ließ
man auf Vorschlag Brackes eine Pause eintreten, um sich zu verständigen.
Nach dieser schlug Tölcke Schweitzer als Präsidenten vor. Es wurde
darauf mehrseitig wieder geltend gemacht, daß gegen Schweitzer Mißtrauen
vorhanden sei; auch sei es ein Unding, daß der Präsident des Vereins und
der Redakteur des Vereinsorgans ein und dieselbe Person sei. Tölcke
suchte die Bedenken zu beschwichtigen. Schweitzer erklärte, er wisse,
daß man Mißtrauen gegen ihn habe; er werde das Amt nur annehmen, wenn
man ihm Vertrauen entgegenbringe. Er beantragte eine zweite Pause zur
Verständigung. Nach dieser erklärten mehrere Delegierte, ihr Mißtrauen
gegen Schweitzer fallen zu lassen. Er wurde alsdann, nachdem er auf
einen Vorhalt Tölckes noch mitgeteilt, _er werde sich selber wählen_,
mit 2385 gegen 97 Stimmen und 41 Enthaltungen Präsident des Vereins. Er
hatte, um sich Vertrauen zu erwerben, auf dieser Generalversammlung ein
radikales Programm vorgelegt und annehmen lassen. Jetzt gab er auch die
sogenannten Garantien für sein ferneres Wohlverhalten, indem er durch
Handschlag sämtlichen Delegierten gegenüber sich feierlich
verpflichtete, alles zu tun, was in seinen Kräften stehe, den Verein
vorwärtszubringen. Umgekehrt verpflichteten sich die Delegierten
ebenfalls durch Handschlag Schweitzer gegenüber, treu zur Organisation
und zum Präsidenten zu stehen. Also eine Art Ballhausschwur, wie ihn die
französische Nationalversammlung 1789 leistete, nur mit dem Unterschied,
daß der Regisseur der Schwurszene in Braunschweig, Schweitzer, wußte,
daß es sich um eine Posse handelte. —

Auf der Generalversammlung des Vereins in Berlin — 23. bis 25. September
1867 — wiederholte Schweitzer: _daß in politischen Fragen der Verein mit
der Fortschrittspartei gehen könne_. Das verhinderte allerdings nicht,
daß, als um dieselbe Zeit in Düsseldorf eine Nachwahl für den Reichstag
stattzufinden hatte, bei der in der engeren Wahl der fortschrittliche
Kandidat, Redakteur der „Rheinischen Zeitung“, Bürgers, und ein
konservativ-nationalliberaler Kandidat sich gegenüberstanden, Schweitzer
im „Sozialdemokrat“ die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins aufforderte, für den letzteren zu stimmen, worauf
Bürgers durchfiel. Neben dem, daß er damit Bismarck einen Gefallen
erwies, kühlte er seine Rache wegen der Anklage der „Rheinischen
Zeitung“, er habe aus hochkonservativen Kreisen Geld für den
„Sozialdemokrat“ genommen.

Ein anderer für Schweitzer wenig ehrenvoller und seinen Charakter
beleuchtender Vorgang war die Auseinandersetzung mit seinem bisherigen
Freunde Hofstetten. Hofstetten hatte seine Mittel für die Gründung des
„Sozialdemokrat“ hergegeben. Diese Mittel waren Mitte 1867 verbraucht
und Hofstetten ein armer Mann. Anfang 1868 versuchte Schweitzer
Hofstetten nach Wien zu schieben, woselbst er ein sozialdemokratisches
Blatt gründen sollte. Hofstetten kam aber in Wien übel an und eilte nach
Berlin zurück. Jetzt verschloß Schweitzer ihm den Wiedereintritt in die
Redaktion des Blattes, er bestritt auch, daß Hofstetten noch
irgendwelche Ansprüche habe, und setzte ihn vor die Tür, wobei er sich
auf einen Vertrag stützte, den er dem gutmütigen und nicht gerade
scharfsinnigen Hofstetten abgedrungen hatte. Als Hofstetten im Frühjahr
1869 auf der Generalversammlung des Vereins in Barmen-Elberfeld eine
lange Anklagerede gegen Schweitzers Verhalten ihm gegenüber hielt,
entrüsteten die mitgeteilten Tatsachen den Delegierten Heinrich
Vogel — der gegenwärtig noch in Charlottenburg lebt — so, daß er erklärte,
Schweitzer habe Hofstetten gegenüber wie ein ordinärer Bourgeois
gehandelt, eine Charakterisierung, die bei Schweitzers Anhängern einen
Sturm der Entrüstung hervorrief und nachher Vogels Ausschluß aus dem
Verein zur Folge hatte. Hofstetten klagte auch Schweitzer an, daß er das
Geld mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen habe; woher er es
erhielt, wisse er nicht. Als er Schweitzer wegen seiner
verschwenderischen Lebensweise Vorhalt gemacht, habe dieser geantwortet:
Darüber sei er ihm keine Rechenschaft schuldig, er habe seine Schulden
nicht zu bezahlen. Darin hatte Schweitzer sicher recht, aber die
Tatsache an sich ist sehr beachtlich. Ende 1867 hatte das Blatt erst
1200 Abonnenten, deckte also bei weitem noch immer nicht seine Kosten;
es war also die Frage sehr wohl gerechtfertigt: Woher kommt das Geld für
das Blatt und die verschwenderische Lebensweise Schweitzers? Das ewige
Schuldenmachen hatte doch seine Grenze. Auch wollten die Gläubiger ab
und zu Geld sehen. Eine Erbschaft, die er nach dem Tode seines Vaters
Ende 1868 machte, war so geringfügig, daß sie einen Tropfen auf einen
heißen Stein bedeutete. Dabei hielt Schweitzer sich während des
Reichstags eine Equipage mit galonierten Dienern.

Gustav Mayer, dessen Buch über Schweitzer ich oben erwähnte, hielt es
für zweckdienlich, sich bei Paul Lindau, der nach Schweitzers Rücktritt
häufigen Verkehr mit ihm hatte, zu befragen, ob er Extravaganzen
Schweitzers wahrgenommen habe. Lindau habe das verneint. Mir ist Paul
Lindaus Urteil nicht maßgebend. Die lebemännischen Gewohnheiten des
alten, heute noch lebenden Herrn waren immer große und da legt er wohl
einen anderen Maßstab an „Extravaganzen“ als andere Menschenkinder. Auch
war Schweitzer, als er zu Lindau in Beziehungen trat, bereits krank und
hatte geheiratet, zwei Umstände, die Extravaganzen erschwerten. Die
Informationen, die wir seinerzeit in Berlin über Schweitzers Lebensweise
einzogen, lauteten anders. Danach war er ein Lebemann ersten Ranges, der
namentlich auch häufig bei Kroll und in den Berliner Nachtlokalen mit
der Demimonde verkehrte, womit er wahrscheinlich die „Treue“ gegen seine
langjährige Braut betätigte, die man ihm als Tugend nachrühmte. Auch
veranstaltete er zeitweilig Champagnergelage mit seinen intimsten
Anhängern. Schweitzer gehörte zu den Naturen, die stets mindestens
doppelt so viel Geld verbrauchen als sie einnehmen, deren Parole ist:
Die Bedürfnisse haben sich nicht nach den Einnahmen, sondern die
Einnahmen haben sich nach den Bedürfnissen zu richten, was bedingt, daß
sie dann skrupellos das Geld nehmen, wo sie es finden. Hatte Schweitzer
1862 2600 Gulden aus der Schützenfestkasse entnommen, so unterschlug er
später, als er Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war
und als solcher über die Kassengelder verfügte, von schlecht gelohnten
Arbeitern gesammelte Groschen, um seine Gelüste zu befriedigen. Es
handelte sich hier nicht um große Summen, aber das lag nicht an
Schweitzer, sondern an dem mageren Inhalt der Kasse. Diese Mißwirtschaft
ist ihm auf verschiedenen Generalversammlungen des Vereins vorgeworfen
und nachgewiesen worden, und _Bracke_, der jahrelang Kassierer des
Vereins war und auf Schweitzers Anweisung die Gelder auszahlen mußte,
hat ihn öffentlich dieser Schandtat bezichtigt, ohne daß Schweitzer ein
Wort der Verteidigung wagte. Wer aber dergleichen fähig ist, von dem
soll man nicht behaupten, daß er unfähig gewesen sei, sich politisch zu
verkaufen, was doch das einzige halbwegs lukrative Geschäft für ihn sein
konnte. Den Nachweis, wieviel gezahlt wurde, kann niemand erbringen,
denn dergleichen Geschäfte werden nicht auf offenem Markte
abgeschlossen. Es kann sich hier nur um den Nachweis durch Indizien und
zahlreiche Tatsachen handeln, die sich anders nicht erklären lassen.
Hervorheben möchte ich hier, daß Bismarck nach 1866 die Zinsen aus dem
48 Millionen Mark betragenden Privatvermögen des Königs von Hannover zur
Verfügung standen, die er skrupellos für ihm gutdünkende politische
Zwecke benutzte. Diesen Fonds, der unter dem Namen „Reptilienfonds“
berüchtigt geworden ist, konnte Bismarck verwenden, ohne jemand darüber
Rechenschaft abzulegen. Da ist's nun charakteristisch, daß, während die
ganze Oppositionspresse gegen diesen Korruptionsfonds ankämpfte, der
„Sozialdemokrat“ den Fonds niemals erwähnte.

Charakteristisch für den Mann ist ferner, daß, als wir Anfang 1868 das
„Demokratische Wochenblatt“ herausgaben, er systematisch den Namen
desselben totschwieg und, wenn er nicht umhin konnte, gegen dasselbe zu
polemisieren, er immer nur von dem Blatte des Herrn Liebknecht sprach.
Er wollte mit dieser Taktik verhindern, daß einer seiner Anhänger durch
Nennung des Namens des Blattes auf den Gedanken kommen könnte, das
„Demokratische Wochenblatt“ zu abonnieren, wodurch der Leser vieles
erfahren konnte, was ihm, Schweitzer, unangenehm war. Das war eine
kleinliche und lächerliche Kampfesweise, aber er übte sie.

       *       *       *       *       *

Eine merkwürdige Wandlung stellte sich bei Schweitzer wieder im Frühjahr
1868 ein. Gleich dem „Demokratischen Wochenblatt“ druckte jetzt der
„Sozialdemokrat“, wenn er vom norddeutschen Reichstag sprach, diese
Worte in Gänsefüßchen ab. Auch hielt er im Reichstag — Mitte Juni
1868 — eine Rede, in der er in einer Polemik gegen v. Kirchmann eine ganz
andere Auffassung als bisher vom Wert des allgemeinen Wahlrechts
entwickelte. Bisher hatte er damit eine Art Kultus getrieben und die
Wahl Bismarcks durch seine Anhänger in Barmen-Elberfeld bekanntlich
damit zu rechtfertigen gesucht, daß sie dem Geber des allgemeinen
Stimmrechts ihre Dankbarkeit beweisen wollten, als sie ihn wählten.
Jetzt erklärte er:

„Ich muß im Interesse derjenigen, die mich gewählt haben, und im
Interesse der demokratischen Sache konstatieren, daß dieses Haus nur
scheinbar und nicht in Wirklichkeit aus allgemeinen Wahlen
hervorgegangen ist.“

Er motivierte dieses damit, daß Preßfreiheit und volle Vereins-und
Versammlungsfreiheit fehlten. Diese fehlten aber von Anfang an, und doch
klang damals sein Urteil anders. Das Urteil, das er jetzt über das
geltende Wahlrecht fällte, deckte sich mit dem, das das „Demokratische
Wochenblatt“ längst und wiederholt abgegeben hatte. Diese plötzliche
auffällige Meinungsänderung wurde offenbar wieder durch die zunehmende
Opposition in seinem Verein verursacht.

In Nr. 80 des „Sozialdemokrat“ vom 19. Juli kündigt Schweitzer an, daß
er eine _dreiwöchige_ Haft in der Stadtvogtei antrete, die ihm wegen
eines Flugblattes vom Landgericht Elberfeld zuerkannt worden war. Er
ernannte W. Real in Düsseldorf zum Vizepräsidenten und Hasselmann zum
Leiter des Vereinsorgans, mit dessen Eintritt die Rüpelhaftigkeit im Ton
des Blattes einkehrte. Der pathetische Schluß der Ansprache lautete:

„Indem ich meine Haft antrete, richte ich an alle Parteigenossen meinen
herzlichsten Abschiedsgruß. Ich hoffe, den Verein in derselben Blüte, in
der ich ihn verlasse, oder in noch gesteigertem Maße (nach ganzen _drei_
Wochen) wiederzufinden.“

Im Sommer 1868 hatte Johann Jacoby eine Rede über „Die soziale Frage“
gehalten, in der er stark nach links und weit ab von der
Fortschrittspartei rückte. Auf einem großen Volksfest, das auf der Asse
bei Braunschweig abgehalten wurde, hatte sich Bracke über dieses
Auftreten Jacobys sehr günstig ausgesprochen und es begrüßt. Bracke
stellte hier über die Rede folgende Thesen auf: Erstens, das
demokratische Programm von Johann Jacoby verdient im höchsten Maße die
Beachtung des deutschen Volkes; zweitens, nach demselben gibt es in den
Zielen keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der entschiedenen
demokratischen Partei und der eigentlichen Arbeiterpartei; drittens,
beide Parteien müssen in dem von Jacoby aufgestellten Ziel: Umgestaltung
der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Zustände im Sinne der
Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen was Menschengesicht
trägt, übereinstimmen. Darauf antwortete der „Sozialdemokrat“ in einem
„Verwirrung“ überschriebenen Artikel:

„Der von Jacoby aufgestellte Satz einer gerechten Verteilung des
Arbeitslohnes zwischen Kapital und Arbeit, die zu erstreben wäre, ist
eine über alle Maßen verfehlte, alberne und hohle Phrase; es ist
traurig, daß es Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
gibt, die an diesen elenden Brocken herumkauen. ... Wenn einer
behauptet, es seien beachtenswerte Gedanken in Jacobys Rede, wird es
hoffentlich von allen Seiten tönen: Nein! es ist albernes, hohles
Geschwätz eines wichtigtuenden Bourgeois.“

Diese erregte, grobe Sprache zeigte, welche Aufregung es Schweitzer
verursachte, sobald Mitglieder des Vereins den Anschein erweckten, als
wollten sie mit Vertretern nahestehender Parteien Fühlung nehmen. Der
Verein mußte nach außen mit einer Art chinesischer Mauer umgeben sein,
damit er ihn absolut beherrschen und nach seinem Willen lenken konnte.

Die nächste Generalversammlung des Vereins war auf den 22. bis 26.
August nach Hamburg einberufen. Waren auf der Braunschweiger
Generalversammlung nur 2508 Mitglieder vertreten, auf der Berliner 3102,
so jetzt 8192 durch 36 Delegierte. Der Verein war also wesentlich
stärker geworden. Man hat diese Entwicklung ausschließlich der Tätigkeit
und der Leitung Schweitzers zugeschrieben. Mit Unrecht. Der Druck der
Krise, die sich als Folge des sechsundsechziger Krieges eingestellt
hatte, war gewichen, an deren Stelle brachte das Jahr 1868 eine
Prosperitätsperiode. Damit hatte die Hoffnungsfreudigkeit und das
politische Leben in den Arbeiterkreisen von neuem eingesetzt, wovon
nicht nur der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, sondern auch der
Verband der Arbeitervereine profitierte, an dessen Spitze ich stand und
der damals über 13000 Mitglieder zählte, die freilich keine
programmatische Geschlossenheit wie der Allgemeine Deutsche
Arbeiterverein besaßen. Schweitzer suchte jetzt Karl Marx für sich zu
gewinnen. Er hatte Marx den Dank des Vorstandes für sein Werk „Das
Kapital“ votieren lassen, auch hatte er ihn zur Generalversammlung nach
Hamburg eingeladen, eine Einladung, die Marx wegen Ueberbürdung mit
Arbeit ablehnte. Auch erlaubte er, daß Geib folgenden Antrag stellte:

  „Die Generalversammlung erklärt, da der Druck des Kapitals und der
  Reaktion in allen Kulturländern aus im wesentlichen gleichen Ursachen
  auf der Arbeiterklasse lastet und da die Bestrebungen der Arbeiter nur
  dann erfolgreich sein können, wenn sie einheitlich zusammenhängend in
  allen Kulturländern auftreten, ist es die Pflicht der deutschen
  Arbeiterpartei und der Arbeiterparteien aller Kulturländer, die von
  denselben Prinzipien geleitet werden, gemeinsam vorzugehen.“

Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen. Aber wie radikal sich
Schweitzer auch gebärdete, die Unzufriedenheit mit seiner Diktatur nahm
zu. So beantragten die Erfurter Mitglieder: Schweitzer solle
spezifizierte Rechnung ablegen über die Gelder, die er seit dem 1.
Januar 1868 der Kasse entnommen habe. Der Vorstand solle die Abrechnung
prüfen. Düsseldorf verlangte, daß Präsidium und Redaktion des
Vereinsorgans getrennt würden, die Einrichtung könne leicht zu
Despotismus führen; sie hätte bereits dazu geführt. Weiter waren
lebhafte Klagen auf den vermiedenen Generalversammlungen laut geworden,
daß die Redaktion des „Sozialdemokrat“ ihr mißfallende Korrespondenzen
unterdrücke, andere willkürlich ändere, ja fälsche. Ein Antrag, das
Organ von seiten des Vereins zu übernehmen, wurde auf der
Generalversammlung für untunlich, die Trennung der Redaktion vom
Präsidium als unzweckmäßig erklärt. Dagegen wurde beschlossen, daß der
vierundzwanzigköpfige Vorstand des Vereins, der in vielen Orten verteilt
wohnte, konzentriert werden solle. Er wurde nach Hamburg verlegt. Das
war der erste harte Schlag, der die Diktatur Schweitzers traf. Bei den
Erörterungen hierüber machte er eine Mitteilung, durch die er sich wider
Willen denunzierte. Er äußerte: _„Dies wird unsere letzte
Generalversammlung sein. Die Feindseligkeit der preußischen Regierung
wird immer mehr hervortreten. Der Verein wird aufgelöst werden.“_ Und
siehe da, kaum drei Wochen später löste die Leipziger Polizeibehörde, da
der Verein in Leipzig seinen Sitz hatte, den Verein wegen der örtlichen
Kassenverwaltungen auf, einer Einrichtung, die von Anfang an im Verein
bestanden hatte.

_Es ist ganz zweifellos, daß Schweitzer vorher von dieser Auflösung
wußte, ja daß sie zwischen ihm und dem Berliner Polizeipräsidium
verabredet war und die Leipziger Polizei auf Wunsch von Berlin den
Verein auflöste._ Natürlich unterließ unter so bewandten Umständen
Schweitzer jede Beschwerde gegen das Vorgehen der Leipziger Polizei bei
Kreishauptmannschaft und Ministerium. Schweitzer schloß seinen
bezüglichen Artikel, worin er die Auflösung besprach, mit den Worten:

  „Wir fügen uns einfach darum, weil es nach Lage der Dinge das
  Vernünftigste ist, was wir tun können. Daher erkläre auch ich andurch:

  ‚Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hat sich aufzulösen...‘
  Arbeiter in ganz Deutschland! Wir stehen heute am Grabe des
  Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.

  Aber der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein lebt unter uns fort.

  _So stehen wir auch am Grabe Lassalles; er selbst aber weilt noch
  unter uns._

  Daß unser Verein aufgelöst wurde, gereicht ihm, gereicht uns zur Ehre.
  Der Verein hat seine Schuldigkeit getan für die Arbeitersache — darum
  wurde er aufgelöst.

  Die alte Form ist gefallen — wir werden neue Formen für die Betätigung
  unseres Strebens zu finden wissen.“

Dann dankt er für das ihm geschenkte Vertrauen.

  „Wir haben gemeinsam gekämpft und gelitten — wir werden auch in Zukunft
  gemeinsam kämpfen und leiden.“

So auf die Rührseligkeit spekulierend, rührte er die Mitglieder zu
Tränen, und sie vertrauten ihm weiter.

Wäre es die Feindseligkeit der preußischen Regierung gegen den Verein
gewesen, wie Schweitzer _wider besseres Wissen_ schrieb, dann war es
jetzt seine Pflicht und Schuldigkeit, den Verein dem Einfluß der
preußischen Regierung nach Möglichkeit zu entziehen, zum Beispiel dessen
Sitz nach Hamburg zu verlegen, dessen Vereins- und Versammlungsgesetz
kein Verbindungsverbot kannte. Außerdem hatte der Verein in
Hamburg-Altona seine stärkste Mitgliedschaft, die für die Finanzen des
Vereins wie für das Blatt das eigentliche Rückgrat bildete. Auch fehlte
es in Hamburg nicht an geistigen Kräften. Statt dessen gründete
Schweitzer den neuen Verein _unter den Augen der Berliner Polizei_, und
_Berlin wurde dessen Sitz. In Preußen bestand aber das Verbindungsverbot
so gut wie in Sachsen, und außerdem verlangte das damalige preußische
Vereins- und Versammlungsgesetz, daß die Mitgliederlisten des Vereins
aus ganz Deutschland bei dem Polizeipräsidium eingereicht werden
mußten._ Und wiederum verriet er seine Beziehungen zum Berliner
Polizeipräsidium und sein Einverständnis mit der Auflösung, indem er in
Nr. 119 des „Sozialdemokrat“ sagte:

  _„Man habe Berlin als Sitz der Partei gewählt, damit die Polizei
  fortwährend Gelegenheit habe, sich davon zu überzeugen, daß die Partei
  ihre Agitation auf Grund und in Gemäßheit der bestehenden Gesetze
  betreibe.“_

Wie rührend folgsam gegen die liebe Polizei von der Leitung einer
demokratischen Partei!

_Wenn je die innige Verbindung zwischen Schweitzer und dem Berliner
Polizeipräsidium nachgewiesen werden konnte, so jetzt._ Aber nicht
allein, daß der Verein nunmehr unter die Kontrolle des Berliner
Polizeipräsidiums kam, Schweitzer benutzte auch die Neugründung, _um die
ihm unbequemen Beschlüsse der Hamburger Generalversammlung aus der Welt
zu schaffen und durch die neue Organisation seine Diktatur
unumschränkter denn je zuvor zu befestigen._ Er verkündete den neuen
Plan mit den Worten:

  „Jedenfalls wird dafür gesorgt werden, daß die Einheitlichkeit der
  Partei durch ganz Deutschland gewahrt werde. Denn diese
  Einheitlichkeit ist unser bestes Kleinod — sie ist der Grundgedanke der
  Lassalleschen Organisation, und von dieser werden wir niemals
  abgehen.“

So mußte also die beständige Berufung auf Lassalle dazu dienen, seine
Autorität aufrecht zu erhalten und den Mitgliedern Sand in die Augen zu
streuen.

Die neue Vereinsgründung fand _unter Ausschluß der Öffentlichkeit_ statt
in einem kleinen Kreise Auserwählter, die mit ihm durch dick und dünn
gingen. Das neue Statut enthielt geradezu _ungeheuerliche_ Bestimmungen.
So sollte der Präsident _sechs Wochen vor der ordentlichen
Generalversammlung in Urabstimmung durch die Mitglieder des Vereins
gewählt werden_, also ehe noch die Generalversammlung gesprochen und
dessen Geschäftsführung geprüft hatte. Ein Mißtrauensvotum auf der
Generalversammlung war dann wirkungslos, ebenso eine unliebsame Kritik
seiner Tätigkeit. Ferner besagte §5 der Statuten:

  _„Wenn der Präsident es für dringlich hält, so kann er, vorbehaltlich
  der in drei Monaten einzuholenden Genehmigung des Vorstandes, alle
  Anordnungen treffen.“_

Der Vorstand selbst sollte, im Gegensatz zu den Beschlüssen der
Hamburger Generalversammlung, wieder über ganz Deutschland verteilt
wohnen. Die Generalversammlung sollte eine Statutenänderung nur dann
vornehmen können (§7), wenn ein solcher Antrag von 60 Mitgliedern
unterzeichnet _und drei Monate vor der Generalversammlung beim Vorstand
eingereicht worden war_. Wo und wie der Verein aufs neue gegründet
wurde, darüber hat man nie Sicheres erfahren. Aber die Polizei mußte
davon unterrichtet sein, sonst hätte sie den Verein nicht anerkannt. Der
organisierte Arbeiter unserer Zeit wird sich bei dem Lesen solcher
Vorgänge fragen, wie denn dergleichen möglich gewesen sei und ob denn
nicht die ungeheure Mehrheit der Mitglieder des Vereins sich wie ein
Mann erhob und gegen solche Ungeheuerlichkeiten protestierte, den
Urheber derselben aber sofort von seinem Posten entfernte? Von alledem
keine Spur. Mit seinem Blatte beherrschte Schweitzer absolut den Verein;
jeder, der wagte aufzumucken, dessen Beschwerde flog in den Papierkorb,
und wer in einer Versammlung austrat, der wurde als Verräter an dem
Kleinod der Lassalleschen Organisation gebrandmarkt und mit dem Bann
belegt. Im Verein war er tot. Ließ aber jemand sich merken, daß er mit
Liebknecht und mir sympathisiere, so galt dieses selbst in den Augen der
meisten Mitglieder als ein Verbrechen, womöglich größer als Blutschande
oder Mord. Das war die Folge der systematisch von ihm betriebenen
Verhetzung.

Doch die Umwandlung in den Anschauungen vollzog sich bei einem Teil der
Vereinsmitglieder rascher, als wir damals selbst für wahrscheinlich
hielten.

Unter dem 26. November 1868 veröffentlichte Schweitzer einen langen
Aufruf in dem mittlerweile seit dem 10. Oktober vergrößerten
„Sozialdemokrat“, der damals 3400 Abonnenten hatte, in welchem er seine
Ansicht über die Finanzlage des Vereins darlegte, die durch das Wachstum
desselben eine wesentlich günstigere geworden war. Zum Schluß kündigte
er an, daß er auf drei Monate „in die Einsamkeit des Gefängnisses
wandere“, die er wegen Veröffentlichung einer Broschüre, „Der
Arbeitslohn und der Kapitalgewinn“, anzutreten hatte. Er schließt den
Artikel mit den Worten:

  „Lassalle sagt in betreff der Organisation, daß alle Einzelkräfte
  zusammengeschmiedet werden müßten zu einem einzigen Hammer. Die Partei
  war, als sie mich zu ihrem Führer erkor, der Meinung, daß mein Arm
  kräftig genug sei, diesen Hammer zu schwingen. Ich will hoffen, daß
  mir diese Kraft niemals erlahmt.“

An Selbstgefühl ließen diese Ausführungen nichts zu wünschen übrig.

Anfang Dezember trat er seine Haft an, er wurde aber bereits gegen Ende
Dezember wieder aus dieser entlassen, weil sein Vater schwer erkrankte,
der noch vor Ende des Jahres starb. Schweitzer erhielt darauf eine Woche
Urlaub zur Ordnung von Familienangelegenheiten. Jetzt spielte sich aber
dasselbe ab, was sich 1866 abgespielt hatte, als er auf Urlaub
entlassen wurde. Aus der einen Woche wurden viele Wochen Urlaub, und nun
begann _Schweitzer abermals eine umfassende politische Tätigkeit, als
sei der Urlaub ihm nur zu diesem Zweck gewährt worden_.

Am 1. Januar 1869 kündigte der „Sozialdemokrat“ an, _der Präsident sei
noch auf Tage den Geschäften der Parteileitung entzogen. Am 14. Januar
veröffentlichte Schweitzer unter den Augen der Polizei im
„Sozialdemokrat“ eine lange Ansprache an die Mitglieder des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins und berief die Generalversammlung des Vereins
auf den 27. bis 30. März nach Barmen-Elberfeld._

Nach normalem Gang hätte Schweitzer dieser Generalversammlung gar nicht
beiwohnen können, da um diese Zeit seine Haft noch nicht zu Ende war.
_Aber er wußte bereits, daß er die Freiheit dazu haben würde._ Weiter
ordnete er an, daß die Präsidentenwahl sechs Wochen vor der
Generalversammlung, zwischen dem 24. Januar und dem 7. Februar
stattzufinden habe, wie es die neue, von ihm oktroyierte Organisation
vorschrieb.

Ferner kündigte er die Einberufung einer Konferenz des Vorstandes in
einer Stadt Mitteldeutschlands an, in der über die Agitation in
Süddeutschland und Sachsen beschlossen werden sollte. Gegen uns nahm der
„Sozialdemokrat“ jetzt eine noch schärfere Stellung ein, da wir bewußt
oder unbewußt im Schlepptau der österreichischen Politik uns befänden.
Bemerkt sei hier, daß um diese Zeit Liebknecht wiederholt im
„Demokratischen Wochenblatt“ Oesterreich gegenüber eine Taktik
eingeschlagen hatte, die ich für durchaus verfehlt hielt, was wiederholt
zwischen uns zu Meinungsverschiedenheiten führte. Liebknecht war eben
ein Mann des Extrems. Wie sein Haß gegen Bismarck und den Nordbund oft
die Grenze überschritt, so auch wieder seine Zuneigung zu Oesterreich,
dessen liberalem Bürgerministerium er übermäßige Leistungen zutraute. Es
war nur natürlich, daß Schweitzer diese Schwäche Liebknechts ausnutzte,
wobei ich bemerken will, daß es im Jahre 1867 auch für Schweitzer eine
Periode gab, in der er dem Bürgerministerium seine Unterstützung in
Aussicht stellte. Er wollte offenbar Hofstetten die Wege in Wien ebnen.

Im Januar 1869 setzten wir unseren schon früher gegen Schweitzer im
„Demokratischen Wochenblatt“ und in Volksversammlungen aufgenommenen
Kampf mit aller Vehemenz und mit schwerstem Geschütz fort, dessen
vorläufiger Abschluß war, daß wir zur Generalversammlung des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins nach Elberfeld-Barmen eingeladen wurden, um
unsere Anklagen gegen Schweitzer zu erheben. Ich habe das Vorspiel zu
diesem Ereignis bereits im ersten Teil dieser Arbeit ausführlicher
geschildert.

       *       *       *       *       *

Sozusagen zwischenaktlich sei hier erwähnt, daß Hasenclever infolge
einer Stichwahl in Duisburg Anfang 1869 ebenfalls in den Reichstag
gewählt worden war. Da ich glaubte annehmen zu dürfen, daß Hasenclever
das Treiben Schweitzers mißbillige und ehrlich eine Vereinigung wolle,
hatte ich 12 Taler gesammelt, die ich ihm zur Unterstützung seiner Wahl
schickte. Damals rechneten wir hüben und drüben bei Wahlen noch nicht
mit Tausenden und Zehntausenden Mark wie heute. Jeder Taler galt als
namhafter Beitrag. Ich machte darauf unter dem 13. Februar 1869 im
„Demokratischen Wochenblatt“ bekannt, daß Hasenclever seine große Freude
und Genugtuung über die Sympathie und Unterstützung, die ihm zuteil
geworden, ausspreche. Er bedauere die Spaltung, die unter den
verschiedenen Fraktionen der Arbeiterpartei ausgebrochen sei, und hoffe,
daß die Differenzen, die wir mit anderen Führern seiner eigenen Partei
hätten oder gehabt hätten, und die doch nur persönlichen Ursprunges
seien, bald verschwinden würden. Er lebe der vollsten Ueberzeugung, daß
die Zeit nicht fern sei, wo sämtliche Sozialdemokraten Deutschlands in
festgeschlossenen Reihen unter einem Banner kämpften.

An dieser Erklärung Hasenclevers ist bemerkenswert, daß er von uns als
Sozialdemokraten spricht, ein Zugeständnis, das Schweitzer und der
„Sozialdemokrat“ bis ans Ende der Wirksamkeit Schweitzers uns
versagten. Freilich hat es nachher, als Hasenclever Nachfolger
Schweitzers im Präsidium wurde, auch noch Jahre gedauert, ehe die
Einigung sich vollzog. Es scheint, daß auch sozialdemokratische
Kronprinzen, wo solche vorhanden, liberaler sind, denn später als
regierende Herren.

       *       *       *       *       *

Am 14. Februar verkündete Schweitzer das Wahlresultat; er war wieder mit
rund 5000 Stimmen gegen 54 zum Präsidenten gewählt. Die Wahl war ein
moralisches Mißtrauensvotum, wenn man bedenkt, daß einige Wochen später
auf der Generalversammlung in Barmen-Elberfeld 12000 Mitglieder
vertreten waren; 40 Orte hatten gar keine Stimme abgegeben. Nachdem so
der politische Urlaub Schweitzers seinen Zweck erreicht hatte, ging er
am 18. Februar wieder ins Gefängnis, er wurde aber bereits am 4. März,
_dem Tage vor dem Zusammentritt des Reichstags, aus der Haft entlassen._

_Diese Haftentlassung bewies aufs neue die intimen Beziehungen
Schweitzers zur Regierung._ Solange ein Reichstag besteht, also von 1867
bis heute, ist es nie vorgekommen, daß ein Reichstagsabgeordneter, _auch
kein bürgerlicher, während des Reichstags aus der Strafhaft entlassen
wurde_, um an den Verhandlungen desselben teilzunehmen. Sogar mitten in
der Session von 1909 bis 1910 mußte ein elsässischer Abgeordneter seine
zweimonatige Strafhaft antreten. Die Regierungen, die preußische voran,
wie die Mehrheit des Reichstags, haben stets die Ansicht vertreten, daß
der Artikel 31 der Verfassung, der von der Immunität der Abgeordneten
handelt, die _Strafhaft nicht umfaßt_. Im Gegensatz zu dieser
jahrzehntelangen Uebung, die Preußen auch schon früher handhabte, _wurde
jetzt Schweitzer aus der Strafhaft beurlaubt, was nicht ohne
Einwilligung des zuständigen Ministers geschehen konnte, der dieses
nicht ohne die Zustimmung Bismarcks gewagt hätte._

Wie letzterer im übrigen in diesen Dingen dachte, zeigte plastisch die
Verhandlung, die der Reichstag am 28. April — also wenige Wochen nach
Schweitzers Beurlaubung aus der Strafhaft — hatte. Mende hatte in
München-Gladbach eine Versammlung abgehalten, nach der es zu
tumultuarischen Auftritten gekommen war, wobei er verhaftet wurde, weil
er angeblich diese Auftritte verursacht habe, was nicht der Fall war.
_Schweitzer_ stellte einen Antrag auf Haftentlassung Mendes. In der
Debatte nahm auch Bismarck das Wort und erklärte sich in seiner
peremptorischen Art _gegen_ die Haftentlassung. Der Reichstag mußte aber
auf Grund der vorliegenden Tatsachen gegen Bismarck entscheiden. Darauf
rächte sich dieser dadurch, daß er den Beamten, die die Verhaftung
Mendes angeordnet und vorgenommen hatten, Ordensauszeichnungen
zustellte. Und im Falle Mende handelte es sich um keine rechtskräftig
gewordene Strafhaft wie im Falle Schweitzer, sondern um eine
Untersuchungshaft.

Kurze Zeit vor jenem Vorgang war ich unfreiwilliger Zeuge einer
Begegnung zwischen Schweitzer und dem Prinzen Albrecht, Bruder des
Königs, der Mitglied des Reichstags war. Ich kam einen Korridor entlang
und sah am Ende desselben den Prinzen Albrecht in Gesellschaft einiger
konservativer Abgeordneter stehen. Aus einem Seitenkorridor trat
Schweitzer. Sobald der Prinz seiner ansichtig wurde, winkte er
Schweitzer heran, reichte ihm die Hand, die er kräftig schüttelte und
fragte sehr leutselig: Mein lieber Schweitzer, wie geht es Ihnen?
Schweitzer: Danke, Königliche Hoheit! Der Prinz: Warum waren Sie gestern
nicht in der Sitzung? Schweitzer: Doch, Königliche Hoheit, ich war
zugegen! Der Prinz: Warum haben Sie denn nicht das Wort ergriffen? Man
hatte dieses erwartet.... Ich trat rasch in den Sitzungssaal, um nicht
als Horcher zu erscheinen. Die Unterhaltung zeigte, daß Schweitzer mit
dem Prinzen schon öfter verkehrt hatte, und sie zeigte weiter, daß „man“
auf der rechten Seite des Reichstags genau wußte, was selbst die
radikalsten Reden Schweitzers bedeuteten.



Die Generalversammlung in Barmen-Elberfeld.


Als wir am 27. März gegen Abend in Barmen-Elberfeld ankamen, empfingen
uns eine Anzahl Gesinnungsgenossen, die sämtlich der Internationale
angehörten. Ueber unsere Verhandlungen an jenem Abend schrieb ich noch
in der Nacht an Marx:

  „Liebknecht und ich sitzen eben hier in Elberfeld in einem kleinen
  Kreise von Gesinnungsgenossen, um den Feldzugsplan für die morgige
  Schlacht vorzubereiten. Wir haben hier eine solche Fülle von
  Schuftereien Schweitzers zu hören bekommen, daß uns die Haare zu Berge
  stehen. Ebenso stellt sich zur Evidenz heraus, daß Schweitzer das
  Programm der Internationale nur zu dem Zwecke vorschlägt, um einen
  Hauptcoup gegen uns zu führen und ein gut Teil oppositioneller
  Elemente niederzuschlagen respektive zu sich herüberzuziehen. Ich
  bitte Sie deshalb, zugleich im Namen Liebknechts und sämtlicher
  hiesiger Freunde, eine etwaige Ratifikation des betreffenden
  Beschlusses der Generalversammlung durch Schweitzer vorläufig
  unberücksichtigt zu lassen oder wenigstens nur sehr vorsichtig zu
  beantworten.

  Nähere Mitteilungen folgen bald nach.

  Ueber den Ausgang der morgigen Disputation läßt sich noch gar nichts
  sagen, nur das eine kann ich mitteilen, daß Schweitzer mit allen
  Mitteln der Perfidie und Intrige gegen uns wühlt, auf einen
  durchschlagenden Erfolg hoffen wir auf keinen Fall. Die Organisation,
  um jede Opposition aus der Mitte seines eigenen Vereins totzuschlagen,
  ist hier schon seit Wochen mit großem Geschick getroffen worden.
  Gestern abend beispielsweise hat Schweitzer bei seiner Ankunft einen
  wahren Triumphzug durch Elberfeld-Barmen gehabt. (In einer mit
  Schimmeln bespannten Equipage.) Damit schließe ich für heute.“

Schweitzer hatte im „Sozialdemokrat“ angekündigt, daß die Feinde schon
bis in die Nähe des Präsidenten (also der allerhöchsten Person)
gedrungen seien und die Generalversammlung wohl strenger und
entschiedener als bisher alle Angriffe auf die Organisation, das heißt
auf die von ihm oktroyierte, zurückweisen müsse.

In der Vorversammlung war gegen die Ansicht Schweitzers — der die
Begegnung mit uns hinausschieben, wenn nicht ganz verhindern wollte — mit
30 gegen 27 Stimmen unsere sofortige Zulassung beschlossen worden. Am
nächsten Nachmittag traten wir in den überfüllten Saal, von wütenden
Blicken der fanatisierten Anhänger Schweitzers empfangen. Liebknecht
sprach zuerst, etwa anderthalb Stunden, ich folgte und sprach wesentlich
kürzer. Unsere Anklagen enthielten zusammengedrängt, was ich bisher
hier gegen Schweitzer vorgebracht habe. Mehrere Male erfolgten heftige
Unterbrechungen, namentlich als ich Schweitzer als Regierungsagent
bezeichnete. Ich solle das Wort zurücknehmen. Dessen weigerte ich mich.
Ich glaubte, das Recht zu haben, meine Meinung frei aussprechen zu
dürfen, sie, die Zuhörer, brauchten mir ja nicht zu glauben.

Der „Sozialdemokrat“ brachte einen sehr verstümmelten, zum Teil
gefälschten Bericht unserer Reden, der irreführend wirkte. Liebknecht
übertrieb die Loyalität. Er unterließ jede Berichterstattung und
begnügte sich, im „Demokratischen Wochenblatt“ mitzuteilen, daß wir auf
der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gewesen
und unsere Anklagen gegen Schweitzer vorgebracht hätten. Schweitzer habe
mit 6500 Stimmen gegen 4500, deren Vertreter sich der Abstimmung
enthalten hätten, ein Vertrauensvotum erhalten. Doch da wir begründete
Aussicht auf Verständigung, wenn auch nicht auf Vereinigung der
vermiedenen sozialdemokratischen Fraktionen hätten, werde das
„Demokratische Wochenblatt“ keine Angriffe auf Schweitzer mehr
veröffentlichen, wobei wir voraussetzten, daß von der Gegenseite
dieselbe Taktik innegehalten werde. Das geschah aber nicht, vielmehr
setzte der „Sozialdemokrat“ seine Angriffe auf uns fort.

Schweitzer, der während unserer Reden auf dem Podium hinter uns saß,
erwiderte kein Wort. So verließen wir den Saal, wobei einige Delegierte
vor und hinter uns gingen, um uns vor Tätlichkeiten der fanatisierten
Anhänger Schweitzers zu schützen. Aber Schmeichelworte wie Schufte,
Verräter, Lumpe, euch sollte man die Knochen im Leibe zerschlagen usw.,
bekamen wir bei dem Gange durch das lebende Spalier in Menge zu hören.
Auch machte einer der Anwesenden den Versuch, mich beim Heruntersteigen
vom Podium durch einen Stoß in die Kniekehle zu Fall zu bringen. Vor der
Tür nahmen uns unsere Freunde in Empfang, um uns als Schutzgarde nach
unserem Hotel zu geleiten.

Schweitzer verlangte von den Delegierten ein Vertrauensvotum. Nach
erregter Debatte wurde ihm dasselbe mit der oben mitgeteilten
Stimmenzahl erteilt. Die Delegierten, die sich der Abstimmung
enthielten, waren: Bracke, Bräuer, Rudolph-Hannover, v. Daake, Geib,
Hirsch, Perl, Raspe-Essen, Schrader, Louis Schumann-Berlin, Spier,
Heinrich Vogel, Wilke und York.

Die Genannten mußten schwer büßen, daß sie das Vertrauensvotum
verweigert hatten; im „Sozialdemokrat“ fielen die Angriffe hageldicht
auf sie nieder. Das beschlossene Vertrauensvotum lautete:

„In Erwägung, daß in den Ausführungen der Herren Bebel und Liebknecht
nichts Neues und Erhebliches enthalten ist, erklärt die
Generalversammlung, daß der Vereinspräsident nach wie vor das volle
Vertrauen der deutschen Arbeiterpartei besitzt.“

Die Elberfelder Generalversammlung bedeutete für Schweitzer eine Reihe
schwarzer Tage. Was er im Herbste nach der Auflösung des Vereins durch
die Leipziger Polizei an diktatorischen Bestimmungen in die neue
Organisation gebracht hatte, fiel jetzt den Beschlüssen der
Generalversammlung zum Opfer. Zunächst wurde beschlossen, daß die
Leitung des Vereins aus einem Vorstand von 15 Personen statt wie bisher
von 25 bestehen solle. Außer dem Präsidenten, Kassierer und Sekretär
mußten die übrigen 12 Mitglieder an einem Orte wohnen, damit sie in
beständiger Fühlung miteinander waren und jeden Augenblick eine Sitzung
einberufen konnten. Die Sitzungen des Vorstandes sollte dessen
Vorsitzender berufen, nicht wie bisher der Präsident. Der letztere
sollte auch nicht sechs Wochen _vor_ der Generalversammlung, sondern
erst _nach_ derselben durch direkte Wahl seitens der Vereinsmitglieder
gewählt werden, nachdem das Protokoll veröffentlicht worden sei, damit
die Mitglieder wußten, was auf der Generalversammlung geschehen sei. Die
Befugnis des Präsidenten, für von ihm getroffene Anordnungen erst binnen
drei Monaten die Genehmigung des Vorstandes einzuholen, wurde auf acht
Tage beschränkt, machte also die Befugnis gegenstandslos. Außerdem
sollte der Vorstand mit einfacher Mehrheit über die innere Organisation,
den Geschäftsgang, die Förderungsmittel des Vereins, das Schreib- und
Kassenwesen beschließen. Ferner sollte der Vorstand auch das Recht
haben, in Fällen einer _politischen Unredlichkeit oder grober
Kassenvergehen ihn vom Amte zu suspendieren und die endgültige
Entscheidung durch eine sofort zu berufende Generalversammlung oder
durch Urabstimmung herbeiführen._ Durch diese und noch eine Reihe
anderer Bestimmungen wurden die Machtbefugnisse Schweitzers sehr
bedeutend eingeschränkt. Die Beschlüsse legten Zeugnis ab _von einem
sehr intensiven Mißtrauen, das gegen ihn herrschte,_ und bemerkenswert
ist, daß die wichtigsten Bestimmungen angenommen wurden, obgleich er
opponierte. Weiter wurde eine Ueberwachungs- und Beschwerdekommission
von drei Berliner Mitgliedern eingesetzt, die alle Beschwerden gegen die
Redaktion entgegennehmen und darüber entscheiden sollte. Durch diese
Beschlüsse war der Verein auf eine durchaus _demokratische Basis_
gestellt. Schweitzer war durch die Einschränkung seiner Allmacht so
deprimiert, daß er, nach Berlin zurückgekehrt, Annäherungsversuche an
uns machte. Unter dem 8. April sandte ich meiner Frau einen Brief, in
dem es hieß:

„Schweitzer hatte, obgleich ich ihn anfangs ignorierte, sich an mich
herangeschlängelt, als ich mit einem anderen Kollegen eine Unterhaltung
hatte. Beim Schluß der Sitzung hat er mich eingeladen, mit ihm,
Fritzsche und Hasenclever zu speisen. Diese Einladung auszuschlagen war
unmöglich, ohne grob zu erscheinen. Schweitzer ließ darauf seine
elegante Equipage mit Livreebedienten vorfahren und fuhr mit uns nach
dem Lokal, in dem wir speisten. (Wir aßen bei Olbrich, damals ein
bayerisches Bierlokal, auf der Leipzigerstraße in der Nähe der Linden.)
Nach dem Essen ließ er es sich nicht nehmen, mich mit der Equipage nach
dem Anhalter Bahnhof zu fahren, woselbst ich Liebknecht abholen wollte.“
Nebenbei bemerkt, sein Essen zahlte jeder selbst.

Während des Essens wurde über Waffenstillstandsbedingungen verhandelt.
Ich erklärte mich zu solchen bereit, könnte mich aber auf nichts
Bestimmtes einlassen, bevor nicht Liebknecht mit dabei sei. Mit dreien
gegen mich allein zu verhandeln, war mir bedenklich. Die folgenden Tage
setzten wir die Verhandlungen im Reichstag fort. Schweitzer verlangte,
daß nicht nur die gegenseitigen Angriffe in den Blättern und
Versammlungen eingestellt würden, sondern daß auch die Mitglieder der
beiden Parteien nicht miteinander politisch verkehren oder gemeinsame
Aktionen unternehmen dürften. Das letztere lehnten wir ab, wie wir denn
überhaupt wiederholt sehr heftig aneinander gerieten und Schweitzer
nichts schenkten. Es sei eine Beleidigung für uns und auch eine solche
für die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, sich
gegenseitig wie Feinde anzusehen. Daß weder die Personen noch die
Organisationen gegenseitig angegriffen werden dürften, sei
selbstverständlich. Auch kamen wir überein, künftig im Reichstag die von
der einen oder anderen Partei gestellten Anträge gegenseitig zu
unterstützen. Darauf veröffentlichte der „Sozialdemokrat“ in der Nummer
45 vom 16. April die Ankündigung, wonach er von jetzt ab weder Angriffe
gegen Liebknecht und mich, noch gegen unsere Partei bringen würde, und
forderte die Vereinsmitglieder auf, im gleichen Sinne zu handeln.
Umgekehrt veröffentlichten wir im „Demokratischen Wochenblatt“ eine
ähnlich lautende Erklärung.

So schien alles in schönster Harmonie zu sein. Aber Schweitzer konnte
sich der neuen Ordnung nicht fügen; eine demokratische Organisation, wie
sie die Barmen-Elberfelder Generalversammlung geschaffen hatte, war für
ihn der politische Tod. Dieselbe legte ihm in einer Weise Fesseln an,
daß die bisher geübte politische Zweideutigkeit für künftig unmöglich
wurde. Außerordentlich bezeichnend für sein damaliges Verhalten ist
auch, daß er das ausführliche Protokoll, das über die Elberfelder
Verhandlungen erschienen war, unterschlug und verschwinden ließ, wie er
das gleichfalls mit dem Protokoll der Hamburger Generalversammlung aus
dem vorhergehenden Sommer getan hatte. Es sollte nichts, was ihn
kompromittierte, den Vereinsmitgliedern bekannt werden und in die
Oeffentlichkeit dringen.

Da erschien wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine Proklamation in
Nummer 70 des „Sozialdemokrat“ vom 18. Juni, überschrieben:
_Wiederherstellung der Einheit der Lassalleschen Partei_, und
unterzeichnet von Schweitzer und Mende. Wiederholt sei hier, daß seit
Anfang 1867 sich ein Teil der Mitglieder vom Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein unter dem Einfluß der Gräfin Hatzfeldt losgelöst und
unter dem Namen „Lassallescher Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein“
organisiert hatte, dessen Präsident Mende war. Das Organ des letzteren
Vereins war die „Freie Zeitung“. Die beiden Vereine lagen sich seitdem
gegenseitig in den Haaren. Jetzt hatten sich die feindlichen Brüder,
soweit ihre Präsidenten und die Gräfin Hatzfeldt in Frage kamen, auf
einmal gefunden und traten Hand in Hand vor ihre Anhänger.

Der veröffentlichte Aufruf war ein ungemein phrasenreiches Schriftstück,
das mit einer Verherrlichung Lassalles begann. Wieder wurde das Wort
Lassalles: „Ihr sollt die Organisation aufrechterhalten, sie wird euch
zum Siege führen“, zitiert. Weiter hieß es in hochtrabenden Worten:

  „Die erwählten Führer der beiden Vereine sind von dieser Erkenntnis
  durchdrungen; mit gehobenem Gefühl treten sie heute vor die Mitglieder
  der beiden Vereine und fordern sie auf, ein stolzes Werk ihnen bauen
  zu helfen, ... einen wahrhaft Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein,
  mächtig über ganz Deutschland.... Unseren Vorschlag unterbreiten wir
  den gesamten Mitgliedschaften beider Vereine, das heißt dem
  _souveränen Volk selbst unmittelbar zur sofortigen Entscheidung_.
  (Auch im Original gesperrt.)

  _Das alte Lassallesche Statut ist es_, unter dem wir dereinst einig
  waren und zu dem wir zurückkehren müssen, _um diesmal in einheitlicher
  Entwicklung_, von diesem Boden aus gemeinsam voranzuschreiten....“

Dann wurde gefordert, daß bis zum 22. ds. Mts. — der Ausruf, vom 16.
datiert, erschien am 18. Juni im „Sozialdemokrat“ und gelangte erst am
19. oder 20. in die Hände der meisten Mitglieder — über ihren Vorschlag
abgestimmt werden solle und am 23. _das Abstimmungsresultat in Berlin
angelangt sein müsse_.

Des weiteren wurde erklärt, daß, wenn die Abstimmung zugunsten des
Mende-Schweitzerschen Vorschlags ausfalle — in berechnender
Bescheidenheit trat Schweitzer hinter den stupiden Mende zurück —,
sollten am 24. Juni beide Vereine _aufgelöst_ werden, worauf noch _an
demselben Tage einige Parteifreunde zusammentreten und die
Wiederherstellung des ursprünglichen Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins unter dem alten Lassalleschen Statut beschließen
sollten_. Die Präsidentenwahl sollte am 30. Juni stattfinden und am 3.
Juli das Resultat verkündet werden. Bis zur Wahl des Präsidenten sollte
Mende als Präsident, Tölcke als Sekretär, Bracke als Kassierer
fungieren. Der Aufruf schloß:

  „Macht es möglich, Parteigenossen, daß, wenn der Todestag Lassalles
  wiederkehrt, wir alle, alle über seinem Grabe uns die Hände reichen
  und uns sagen können: _Wir haben uns des Meisters würdig gezeigt._“

Dieses Vorgehen der beiden Präsidenten war der _Staatsstreich_. Damit
war die demokratische Organisation, welche die Elberfelder
Generalversammlung dem Schweitzerschen Verein gegeben hatte, mit einem
Schlage vernichtet. Schweitzer hatte die ihm angelegten Fesseln mit
einem Ruck zerrissen und war wieder unumschränkter Herr und Diktator. Um
den befürchteten Widerstand des in Hamburg domizilierten Vorstandes zu
brechen, schickte Schweitzer seinen Vertrauensmann Tölcke nach dort, dem
die Ueberredung des Vorstandes gelang. Geib telegraphierte: „Vorstand
befürwortet einstimmig nach Erwägung der ihm von Tölcke vorgetragenen
Gründe Wiedervereinigung. Mitgliederversammlung stimmte zu.“

Aber nun galt es auch die zwischen Schweitzer, Fritzsche, Hasenclever
und uns getroffenen Vereinbarungen aufzuheben. Zu diesem Zwecke erklärte
Schweitzer in der Nummer 72 des „Sozialdemokrat“ vom 22. Juni: Wir
hätten diese Abmachungen gebrochen, _indem wir erneut wissentlich und in
böswilliger Weise einen Eingriff in die von uns gehaßte Organisation des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins versuchten_. Damit hätten wir die
getroffenen Vereinbarungen gelöst, und nun hielten auch sie sich nicht
mehr daran gebunden.

Das begangene „Verbrechen“ fiel zunächst auf mein Haupt. Ich hatte im
Laufe des Juni in zwölf thüringischen Städten Versammlungen abgehalten,
darunter auch in Apolda, Erfurt und Gotha. Hier hatten die Mitglieder
des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, indem sie mich dazu einluden,
Versammlungen einberufen, und deren Bevollmächtigte führten darin den
Vorsitz. Alle Versammlungen waren überfüllt und verliefen ausgezeichnet.
In jenen Versammlungen war eine Resolution angenommen worden, dahin
lautend, daß nur die sozialdemokratischen Prinzipien es seien, welche
die Lage der arbeitenden Klassen verbessern könnten, und daß eine
Einigung der sozialdemokratischen Arbeiterfraktionen herbeigeführt
werden müsse.

Den Schluß meiner Agitationsreise bildete eine Konferenz in Eisenach, an
der außer unseren Anhängern auch Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins und Mitglieder der Demokratischen Partei teilnahmen. Es
sei hier erläuternd bemerkt, daß zu jener Zeit eine Anzahl bürgerlicher
Demokraten in Thüringen vorhanden waren, die sämtlich auf dem Standpunkt
Jacobys standen, so Professor Abbe und sein Schwiegervater Professor
Snell, weiter Dr. Sy in Jena, der später der Partei sich anschloß,
Rechtsanwalt Creuznacher in Eisenach usw. Ferner zählte diese Partei
Anhänger in Weimar, Gotha und Altenburg. In Eisenach war in einer
Resolution erklärt worden:

  „Zur gemeinsamen Arbeit für die Lösung der sozialen Frage ist es nicht
  nur erforderlich, daß die Spaltung unter den verschiedenen Fraktionen
  der Demokratischen Arbeiterpartei aufhört, sondern auch, daß die
  demokratischen Arbeitervereine mit der gesamten demokratischen Partei
  geeint seien, daß namentlich bei gemeinsamen politischen
  Angelegenheiten, insbesondere bei Wahlen, die demokratische Partei und
  die sozialdemokratischen Arbeitervereine zusammengehen.“

Das war also das Verbrechen, das Schweitzer zu seinem Vorgehen gegen uns
veranlaßte.

Das Agitieren machte mir übrigens trotz aller Erfolge und
Beifallsbezeigungen wenig Vergnügen. Am 7. Juni hatte ich meiner Frau
von Ronneburg aus geschrieben: „Bei aller Liebe und Freundschaft, die
einem die Leute erweisen, ist das Agitieren kein angenehmes Geschäft.“
Und wie lange habe ich es nachher noch betrieben. Die Pflicht gebot es,
das genügte.



Die Rebellion im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein.


Schweitzers und Mendes Staatsstreich machte in weiten Kreisen des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins böses Blut. Ein Teil der
intelligenteren Mitglieder sah ein, daß es kein Auskommen mehr mit
Schweitzer gebe und er das Hindernis einer Einigung sei. Bracke ließ
durch Vermittlung von Bremer-Magdeburg Liebknecht und mich wissen: sie
wünschten eine Zusammenkunft mit uns. Auf diesen Wunsch gingen wir
bereitwillig ein. Am 22. Juni abends trafen wir uns — Bracke, Bremer,
Spier-Wolfenbüttel, York-Harburg, Liebknecht und ich — in einem Gasthaus
dritter Güte in Magdeburg. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge.
Bracke und Bremer waren für sofortiges Losschlagen gegen Schweitzer und
Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Spier und York
hatten große Bedenken. Man müsse versuchen, den Verein von „innen
heraus“ zu reformieren, meinten sie; worauf wir antworteten, daß gerade
die Vorgänge von Barmen-Elberfeld zeigten, wie es mit einer Reformierung
von innen heraus aussehe. Solange Schweitzer Präsident sei und den
„Sozialdemokrat“ in der Hand habe, sei es unmöglich. Schließlich wurden
wir einig. Es war Mitternacht, als der prächtige Bracke sich über das in
der Wirtsstube stehende Billard streckte, um auf demselben den Aufruf
niederzuschreiben, für den alsdann Unterschriften für die Einberufung
eines Kongresses gesammelt werden sollten. Nachdem wir den Aufruf
nochmals gründlich durchberaten, gingen wir gegen 3 Uhr zu Bette. Aber,
o weh! Wir waren in ein Wanzennest geraten. Keiner von uns konnte
schlafen. Bereits um 4 Uhr erhoben wir uns und fuhren mit den ersten
Frühzügen nach unseren Heimatorten zurück. Beschlossen war worden, einen
Kongreß nach einer mitteldeutschen Stadt — Gotha oder Eisenach — zu
berufen und zur Beschickung desselben auch die deutsch-österreichischen
und die deutschen Arbeitervereine der Schweiz einzuladen, ebenso die
deutsche Abteilung der Internationale um eine Vertretung zu ersuchen.

Wegen seiner historischen Bedeutung bringe ich den Aufruf von Bracke
und Genossen wörtlich zum Abdruck:

  _An die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins._

  Parteigenossen! Unter einer Menge von heuchlerischen Redensarten hat
  der Präsident unseres Vereins eine Maßregel getroffen, welche jedes
  denkende Mitglied mit Entrüstung erfüllen muß. In derjenigen Eile,
  welche diese Vorgänge geboten — weshalb denn auch niemand sich über
  Zurücksetzung beklagen wolle —, sind die Unterzeichneten
  zusammengetreten und haben sich über einen Schritt geeinigt, der von
  den weittragendsten Folgen für die Partei sein wird. Wir bitten Euch,
  Parteigenossen, aufmerksam und vorurteilsfrei unsere Meinung zu
  prüfen.

  Während noch vor kurzem die Herren Schweitzer und Mende, die sich in
  der heftigsten Weise gegenseitig beschuldigten, Söldlinge der Reaktion
  zu sein, von einer Verschmelzung der verschiedenen Fraktionen der
  Arbeiterpartei nichts wissen wollten, treten sie plötzlich heute (im
  Einverständnis mit der Gräfin Hatzfeldt) mit rührenden Worten vor die
  Mitglieder ihrer Vereine, um dieselben aufzufordern, eine Einheit
  lediglich dieser beiden Fraktionen der Partei herbeizuführen — wobei
  denn von der Einigung der gesamten sozialdemokratischen Partei keine
  Rede ist —, und dies alles unter Bedingungen, welche ein Hohn sind auf
  die Rechte des sogenannten „souveränen Volkes“. Nicht allein ist die
  Frist der Abstimmung so kurz, daß es unmöglich erscheinen muß, daß die
  Mitglieder sich über die Frage wirklich ein Urteil bilden können, so
  daß alles wie die reinste Ueberrumpelung erscheint; nicht allein ist
  die Form der Abstimmung, bei der man den Mitgliedern einfach die
  Pistole auf die Brust setzt mit der Aufforderung, ja oder nein zu
  sagen, also entweder sich in die schmachvollsten Bedingungen zu fügen
  oder auf die sehnlichst gewünschte, wenn auch nur stückweise Einigung
  zu verzichten; nicht allein ist diese Form der Abstimmung eine
  demokratisch gesinnter Männer unwürdige, sondern es ist auch der
  Präsident so eigenmächtig bei dem allen vorgegangen, wie es fast ohne
  Beispiel ist. Nie ist über amerikanische Sklaven in willkürlicherer
  Weise verfügt worden, als hier über die Mitglieder des Allgemeinen
  Deutschen Arbeitervereins. Wozu auch vorher, ehe man solche im
  höchsten Grade wichtige Schritte tut, die Mitglieder oder den Vorstand
  um ihre Meinung fragen?! Wenn die Tatsachen fertig sind, wird die
  „freie“ Zustimmung der Mitglieder durch einige Redensarten erpreßt.
  Wenn Herr v. Schweitzer diktiert, haben die Mitglieder einfach zu
  gehorchen, und dann nennt man dieselben noch das „souveräne Volk“. Ein
  größerer Hohn war nie einem Menschen geboten. Wenn Herr v. Schweitzer
  es für gut hält, wird den Mitgliedern zugemutet, mit eigener Hand und
  mit einem Schlage das mühsam in einer Reihe von Jahren aufgebaute
  Reformwerk zu vernichten und ohne weiteres ein Statut anzunehmen, das
  früher zu dem erbittertsten Zwiespalt Veranlassung gegeben hat; ein
  Statut, nach welchem der Präsident die unumschränkteste Gewalt in
  seinen Händen und der Vorstand nicht den allergeringsten Einfluß hat,
  und das zu alledem dahin ausgelegt werden kann, daß auf volle drei
  Jahre hinaus jede Aenderung an demselben unmöglich ist! Das Vorgehen
  des Präsidenten in diesem Falle — ein Staatsstreich im kleinen — erhebt
  den schon seit langer Zeit von vielen Mitgliedern des Vereins gehegten
  Argwohn zur Gewißheit, daß Herr v. Schweitzer den Verein lediglich zur
  Befriedigung seines Ehrgeizes benutzt und ihn zum Werkzeug einer
  arbeiterfeindlichen reaktionären Politik herabwürdigen will; sonst
  würde derselbe jetzt die Einigung der gesamten sozialdemokratischen
  Arbeiter Deutschlands suchen. Wer die Einigung eines Teils der
  sozialdemokratischen Arbeiter empfiehlt, ohne dabei mit aller Energie
  auf die Einigung der gesamten Partei zu wirken, welche ihr allein
  Macht und Einfluß verschaffen kann, wer durch Einigung eines Teiles in
  diesen Formen die Einigung aller Teile unmöglich macht, und wer dies
  tut mit rührenden, von Bruderliebe überfließenden Worten, der ist ein
  elender Heuchler; und wer dann diejenigen, welche sich den gestellten
  schmachvollen Bedingungen nicht fügen, sondern etwas Größeres, etwas
  Erhabeneres erstreben, als Gegner der Einigung überhaupt brandmarken
  will, ist ein Jesuit ohnegleichen.

  Die Einigung der gesamten sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands
  herbeizuführen, muß das Streben jedes ehrlichen Sozialdemokraten sein.
  Angesichts der immer mächtiger sich ausbreitenden Wogen der Bewegung,
  angesichts der Vorzeichen, welche in allen Kulturstaaten der Welt auf
  eine baldige mächtige Umgestaltung der politischen und sozialen
  Verhältnisse hindeuten, ist ein Verschleppen dieser Einigung Verrat.

  Diese Einigung kann aber nur das Werk sein des wirklich souveränen
  Volkes selbst, und Ihr, Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
  Arbeitervereins, werdet Euch nicht verschachern lassen nach der Laune
  einiger Führer wie eine Herde Schafe, sondern Ihr werdet wie Männer
  Eures eigenen Geschickes Schmiede sein!

  Wir haben eingesehen, daß eine Organisation, in welcher der Wille
  eines Einzelnen sich hinwegsetzen kann über alle Errungenschaften des
  Vereins, ja den Verein selber in jedem Augenblicke in Frage stellen,
  denselben jeden Augenblick auflösen und in anderer ihm passenderer
  Form wieder ins Leben rufen kann, in welcher dieser Einzelne die
  Pfennige der Arbeiter gebraucht, um elende Lumpen zu bestechen, daß
  eine solche Organisation keine Faser von demokratischem Geiste in sich
  hat. In einer solchen Organisation ferner zu wirken, wäre schmähliche
  Verschwendung unserer besten Kräfte; wir verzichten darauf!

  Geleitet von dem Gedanken, daß nur von der Partei selbst über ihre
  Organisation beschlossen werden kann, und ferner geleitet von dem
  Gedanken, die Einigung der sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands,
  auch was die Gewerkschaften betrifft, herbeizuführen, haben wir den
  Entschluß gefaßt, in kürzester Zeit einen allgemeinen Kongreß der
  gesamten sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands zu berufen, auf
  welchem der Grund einer wirklich demokratischen Organisation der
  Partei, im Anschluß an die internationale Bewegung, gelegt werden
  kann. Parteigenossen, wir rechnen auf Eure Unterstützung! Die
  sozialdemokratischen Arbeiter, welche nie anders als von einem
  künstlich erregten Haß gegeneinander erfüllt gewesen sind, werden sich
  zu einigen und sich eine Organisation zu geben wissen, welche den
  Geist ihrer Prinzipien mit der Zusammenfassung aller ihrer Kräfte
  vereint.

  Parteigenossen, Ihr werdet Euch nicht verblenden lassen von den
  heuchlerischen Redensarten von Leuten, denen die Einigung der Partei
  nie am Herzen gelegen hat; Ihr werdet Euch eine Behandlung nicht
  gefallen lassen, welche man nur ehrlosen oder gedankenlosen Menschen
  zu bieten wagen kann; Ihr werdet Euch als das zeigen, was Ihr
  seid — nicht als die willenlosen Sklaven eines launischen Herrschers —,
  sondern als das wirklich und wahrhaft souveräne Volk, das allein über
  die Gestaltung seiner Geschicke zu entscheiden hat. Wagt einmal im
  Interesse unserer Prinzipien, im Interesse der Demokratie und des
  Sozialismus eine kühne Tat! Laßt uns die Fahne, auf welcher die
  Einigung der gesamten Partei geschrieben steht, nicht vergebens
  erhoben haben! Einig nur sind die Arbeiter eine Macht! Zersplittert
  sind wir ewig das Gespött unserer Gegner, aber einheitlich und
  wahrhaft demokratisch organisiert sind wir unüberwindlich.

  Wenn Ihr uns zustimmt — und wir hoffen sehr, daß Ihr dies tun
  werdet —, so sendet Eure Zustimmung an einen der Unterzeichneten ein,
  damit wir gemeinsam die Einberufung des Kongreß betreiben können.

  Aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein werden wir — es ist uns
  schwer geworden, den Entschluß zu fassen — austreten. Der Allgemeine
  Deutsche Arbeiterverein war uns ans Herz gewachsen, aber im Interesse
  der Sache muß man das schwerste Opfer zu bringen verstehen; und anders
  ist keine Rettung!

  Vorwärts denn, Parteigenossen, auf der neuen Bahn in heiligem Kampfe
  für unsere große und erhabene Sache! Begeisterung und Ausdauer
  verbürgen den Sieg.

  Den 22. Juni 1869.

  I. Bremer in Magdeburg. Hoffmann in Neustadt-Magdeburg. W. Klees in
  Buckau bei Magdeburg. Th. Borck in Harburg. C. Müller, S. Spier und A.
  Viewieg in Wolfenbüttel. W. Bracke junior, H. Ehlers, E. Lüdecke und
  A. Schrader in Braunschweig. Friedrich Ellner in Frankfurt a.M.

In derselben Nummer des „Demokratischen Wochenblatts“ vom 26. Juni, in
der wir den vorstehenden Ausruf veröffentlichten, erschien auch eine
Erklärung von uns an die Parteigenossen, in der die Beschuldigung
Schweitzers, wir hätten die mit ihm getroffenen Abmachungen gebrochen,
zurückgewiesen wurde. Alsdann unterzogen wir die Einigungskomödie der
Mende-Hatzfeldt-Schweitzer einer scharfen Kritik. Wir erklärten: „Wir
werden den Kampf aufnehmen und mit aller Kraft und Zuversicht ihn
führen, Hand in Hand mit den klarblickenden Mitgliedern des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins.“ Wir schlossen:

  „Es wird sich zeigen, ob die Korruption, die Gemeinheit, die
  Bestechlichkeit auf jener Seite, oder die Ehrlichkeit und die Reinheit
  der Absichten auf unserer den Sieg davonträgt.

  Unsere Losung sei: Nieder mit der Sektiererei! Nieder mit dem
  Personenkultus! Nieder mit den Jesuiten, die unser Prinzip in Worten
  anerkennen, in Handlungen es verraten! Hoch lebe die Sozialdemokratie,
  hoch die Internationale Arbeiterassoziation!“

Daß wir in dieser Erklärung und später wiederholt die Ehrlichkeit
unserer Absichten gegen die unehrlichen Schweitzers ins Feld führten,
brachte nachher der neu gegründeten Partei von der Gegenseite den
Spitznamen „Die Ehrlichen“ ein.

Auf meinen Antrag beschloß der Vorortsvorstand einstimmig, sich dem
Aufruf von Bracke und Genossen zur Einberufung eines allgemeinen
deutschen sozialdemokratischen Arbeiterkongresses anzuschließen und die
Vorstände der Arbeitervereine aufzufordern, ein gleiches zu tun. Ein am
28. Juni von mir hinausgesandtes Zirkular verlangte Antwort bis
spätestens den 1. Juli mittags, eventuell telegraphisch. Auch schrieb
ich an Joh. Phil. Becker in Genf, der Zentralrat der deutschen Sektion
der Internationale möge ebenfalls eine zustimmende Erklärung zu dem
Einigungswerk einsenden. Ich hoffte, diesesmal gelinge uns ein
Hauptschlag. Am 26. Juni hatten auch Geib, Praast und Ockelmann-Hamburg
ihren Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein erklärt und
sich Bracke und Genossen angeschlossen.

Der „Sozialdemokrat“ beobachtete jetzt die Taktik, ständig zu verkünden,
unser Anhang bestehe nicht aus Arbeitern, sondern aus Literaten,
Schulmeistern und sonstigen Bourgeois.

Schweitzer suchte weiter mit dem Geschick, das er besaß, die Mitglieder
des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins an der von ihm systematisch
gepflegten schwachen Seite zu fassen. In einem Artikel schrieb er mit
Bezug auf die Opposition:

  „Ein einziger Punkt entscheidet alles. Seid ihr Demokraten oder nicht?
  Ihr behauptet: Ja? Wißt ihr oder wißt ihr nicht, daß der Demokrat sich
  der Mehrheit zu fügen hat — doppelt zu fügen hat, wenn diese Mehrheit
  an Einstimmigkeit grenzt? Nun denn! Der Allgemeine Deutsche
  Arbeiterverein-beide bisherigen Vereine — habe nahezu einstimmig mit Ja
  gestimmt. Unterwerft ihr euch jetzt dem Volkswillen? O nein! In eurer
  Eitelkeit, ihr ‚Demokraten‘, erklärt ihr das Volk für eine Herde
  Schafe und eure Meinung für unfehlbar. Geht doch, ihr aufgeblasenen
  Heuchler, _die ihr euch weiser dünkt als das ganze Volk und als
  Ferdinand Lassalle!_

  Weiser als Ferdinand Lassalle, euer riesenhafter Lehrer und
  Meister — ja ja. Denn der Stein des Anstoßes liegt euch darin, daß die
  Lassallesche Organisation in ihrem ganzen Umfang wieder hergestellt
  wurde ...“

Das Spiel mit der Lassalleschen Organisation ging spaltenlang und fast
Nummer um Nummer weiter.

Auf der anderen Seite brachte das „Demokratische Wochenblatt“ Nummer für
Nummer Erklärungen gegen Schweitzer aus der Mitte des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins. So aus Gotha, Hamburg, Hildesheim, Erfurt,
Hannover, Solingen, Wiesbaden, Elberfeld, Chemnitz (letztere gegen
Mende). Auch H. Roller, der bisherige Sekretär des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins, erklärte sich ebenfalls gegen Schweitzer.

Von den Gewerkschaftsführern sagten sich Fritzsche, Präsident des
Zigarren- und Tabakarbeitervereins, L. Schumann, Präsident des
Allgemeinen Deutschen Schuhmachervereins, Th. Bork, Präsident des
Gewerkvereins deutscher Holzarbeiter, und Schob, Präsident des
Allgemeinen Deutschen Schneidervereins, von Schweitzer los.

Unter dem 5. Juli teilte Mende im „Sozialdemokrat“ mit, daß Schweitzer
mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt sei. Eine starke
Minorität sei auf ihn (Mende) gefallen, trotzdem er wiederholt erklärt
habe, er nehme eine Wahl nicht an. Zahlen wurden nicht mitgeteilt. Die
Beteiligung an der Wahl war weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben.
In der schwülstigen Ansprache, mit der Mende die Wahl Schweitzers zum
Präsidenten verkündete, hieß es:

  „Wie Marat, der größte Revolutionär seiner Zeit, es so treffend
  bezeichnet: Als Diktator mit der Kugel am Bein soll der Präsident den
  Verein leiten, und diese Kugel soll sein: _Prinzip und Organisation_.“

Bekanntlich erwies sich diese Kugel als Attrappe. Und wiederum zitierte
Mende:

  „Haltet treu und fest an der Organisation, sie muß uns zum Siege
  führen“, und schloß: „Es lebe Ferdinand Lassalle! Es lebe der von ihm
  gestiftete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein! Es lebe die
  Organisation!“

Schweitzer dankte für seine Wahl in einer Ansprache, die ebenso
schwülstig und emphatisch war wie jene Mendes. Der Schluß lautet:

  „Wohlan denn! Namens des hingegangenen Meisters, der euch alle, ihr
  Arbeiter, aus dem Schlummer geweckt — namens des _souveränen Volkes
  unserer Partei_, das mich zum Führer erkoren — _namens_ eurer leidenden
  _Brüder auf der ganzen Erde, entfalte ich die Fahne und trage sie
  voran_. Festgeschlossen in Reih' und Glied, ihr Arbeiterbataillone,
  folget dem erwählten Führer.

  Hoch die Manen Lassalles! Hoch die sozialdemokratische Agitation!“

So die beiden Auguren, beide, wie sich nachher sehr bald herausstellte,
betrogene Betrüger. Darauf ordnete unter dem 10. Juli Schweitzer die
Wahl der vierundzwanzig Vorstandsmitglieder an, für die er die
Kandidatenliste vorschlug. Der Vorstand wurde wieder in früherer Weise,
über Deutschland verteilt wohnend, gewählt.

Im „Sozialdemokrat“ vom 14. Juli machte Schweitzer bekannt, der
Allgemeine Deutsche Arbeiterverein werde sich auf dem von uns berufenen
sozialdemokratischen Kongreß vertreten lassen und veröffentlichte eine
Reihe von Resolutionen, die seine Anhänger auf dem Kongreß zur Annahme
vorschlagen sollten. Hinter unserem Kongreß, hieß es in der betreffenden
Nummer, stehe die ganze liberale Bourgeoisie in allen ihren
Schattierungen. Von straffer, einheitlicher Organisation könne natürlich
bei uns unter einem Regiment von Literaten, Schulmeistern, Kaufleuten
usw. keine Rede sein. Jeder dieser Leute müsse Gelegenheit haben, sich
recht wichtig zu machen. Die gesamte Bourgeoispresse stehe uns zu Gebot,
log er weiter. Er werde dafür sorgen, daß eine entsprechende Anzahl
Delegierter auf den Eisenacher Kongreß komme, aber keine Literaten und
Bourgeois, sondern wirkliche Arbeiter.

Von den Literaten, Schulmeistern, Kaufleuten usw., aus denen allein
unsere Partei bestehen sollte, sprach er von jetzt ab nicht anders als
von Achtels- und Viertelsintelligenzen.

Unter dem 17. Juli forderte das _„Demokratische Wochenblatt“ Schweitzer
auf, nicht nur seine Werkzeuge nach Eisenach zu schicken, sondern selbst
zu kommen_. Ein Wort bei der Berliner Polizei, und der Urlaub werde ihm
bewilligt, falls Herr v. Schweitzer sich überhaupt noch anstandshalber
sollte einsperren lassen.

Das letztere zog Schweitzer vor. Er veröffentlichte, datiert vom 17.
Juli, einen langen Aufruf „An die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins“, worin er noch einmal einen Ueberblick über die
vorhandenen Wirren gab und eine Anzahl Versprechungen machte, die er
nach seiner Freilassung aus der Haft erfüllen wolle. Er schloß den
Aufruf mit den Worten:

„Behaltet mich in gutem Andenken, wie auch ich _inmitten meiner
Kerkermauern eurer gern gedenken werde_. Ich scheide von euch mit dem
Rufe: Auf frohes Wiedersehen bei der alten Fahne! Es lebe der Allgemeine
Deutsche Arbeiterverein!“

Der Rest der Haft, den er jetzt „hinter Kerkermauern“ verbüßen sollte,
betrug noch acht Wochen, die er in Rummelsburg mit Kahnfahrten auf dem
See und anderen Annehmlichkeiten verbrachte.

Man vergegenwärtige sich jetzt folgendes. Ende November ging Schweitzer
zur Verbüßung einer dreimonatigen Haft ins Gefängnis. Gegen Ende
Dezember wird er wegen Ordnung von Familienverhältnissen infolge seines
Vaters Tod auf acht Tage beurlaubt; er bleibt aber _sieben Wochen frei,
betreibt in dieser Zeit unter den Augen der Polizei und der Behörden
eine intensive politische Agitation und tritt erst am 18. Februar wieder
die Haft an_. Am 4. März erweist ihm die Regierung abermals den Dienst,
ihn wegen Eröffnung der Reichstagssession aus der Haft zu beurlauben.
Die Session wird am 22. Juni geschlossen, aber Schweitzer bleibt wieder
frei und betreibt abermals bis zum 19. Juli unter den Augen von Polizei
und Behörden eine intensive politische Agitation. Alsdann beliebt es
ihm, die Haft wieder anzutreten.

Dergleichen war weder vor noch nach Schweitzer in Preußen je möglich.
Als zum Beispiel 1868 Dr. _Guido Weiß_ wegen Preßvergehen zu 14 Tagen
Gefängnis verurteilt wurde, überfielen ihn einige Polizisten morgens 6
Uhr im Bett und transportierten ihn ins Gefängnis. Diese brutale
Methode, politisch Verurteilte in frühester Stunde aus dem Bette zu
holen und ins Gefängnis zu schleppen, war _jahrzehntelang Sitte bei der
Berliner Polizei_. Es sind noch nicht viele Jahre her, daß diese Sitte
verlassen wurde. Schweitzer hatte sich _nie_ über solche oder ähnliche
Mißhandlungen zu beklagen. Er ging ins Gefängnis und verließ dasselbe,
als wenn er ins Hotel ging und dasselbe verließ. Und jeden gewünschten
Besuch konnte er empfangen. Das Mißtrauen gegen ihn war also zehnfach
gerechtfertigt.

       *       *       *       *       *

Kurz vor dem Eisenacher Kongreß glaubte Tölcke mir eine Stinkbombe an
den Kopf werfen zu müssen, in der Hoffnung, mir politisch zu schaden. Er
erklärte in Nummer 87 des „Sozialdemokrat“ vom 28. Juli, ich beziehe vom
Exkönig von Hannover eine jährliche Besoldung von 600 Talern. Die
Beschuldigung war blöde, aber es gab Leute im Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein, die daran glaubten. So beschloß ich, Tölcke wegen
verleumderischer Beleidigung zu verklagen. Ich bat den Parteigenossen
Wilhelm Eichhoff in Berlin, mit Rechtsanwalt Hirsemenzel, damals der
erste Rechtsanwalt Berlins, zu reden und ihn zu fragen, ob er den Prozeß
annehmen werde. Hirsemenzel lehnte ab, und zwar weil bei dem Prozeß
nichts herauskomme. Der Richter werde in der Behauptung, daß ich im
Solde eines Fürsten stehen solle, nichts Ehrenkränkendes finden und eine
Beweiserhebung darüber ablehnen. Tölcke würde also höchstens wegen
Beleidigung verurteilt, womit mir nicht gedient sein könne. Weiter
machte Hirsemenzel geltend, ließe ich den Grafen Platen, den
Hausminister des Exkönigs von Hannover, als Zeugen darüber vernehmen, ob
die Behauptung Tölckes wahr sei, so werde dieser _schon der Konsequenzen
halber_ das Zeugnis verweigern und dadurch erhalte die Behauptung
Tölckes einen Schein von Berechtigung. Eichhoff richtete darauf zweimal
ein Schreiben an Tölcke mit der Aufforderung, im „Sozialdemokrat“ die
Beweise zu veröffentlichen, da er behauptete, ich stünde
„erwiesenermaßen“ im Dienste des Exkönigs. Tölcke schwieg; ich richtete
darauf ebenfalls eine Aufforderung an ihn, die Beweise zu
veröffentlichen. Statt dessen wiederholte er seine Beschuldigung und
forderte mich auf, ihn zu verklagen. Ich nannte ihn darauf einen
gemeinen Verleumder und ersuchte ihn, mich vor dem Leipziger Gericht zu
belangen, da der Ausgang des Prozesses in Berlin kein Resultat
verspreche. Die Sache ging aus wie das Hornberger Schießen. Bracke
gegenüber erklärte Tölcke, er selbst habe keine Beweise für seine
Behauptung, aber ein Regierungsrat(!) habe die Behauptung aufgestellt
und den könne er nur bei einer gerichtlichen Klage meinerseits als
Zeugen zum Beweis seiner Angaben zwingen. —



Der Eisenacher Kongreß.



Die Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und die Auflösung
des Verbandes der deutschen Arbeitervereine.


Nachdem wir uns verständigt hatten, den Kongreß auf den 7. August nach
Eisenach einzuberufen, erschien im „Demokratischen Wochenblatt“ vom 17.
Juli der Ausruf, der unterzeichnet war von 66 ehemaligen Mitgliedern des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins aus verschiedenen Orten, 114
Mitgliedern des Verbandes der deutschen Arbeitervereine — worunter
ebenfalls eine Anzahl ehemaliger Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins waren —, einer Anzahl ehemaliger Mitglieder des
Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, vom Zentralkomitee
der deutschen Arbeitervereine der Schweiz, vom Deutsch-Republikanischen
Verein in Zürich; für die Arbeiter Oesterreichs von H. Oberwinder, H.
Hartung, B. Beschan, A. Macher, A. Straßer-Graz, und für die deutsche
Abteilung der Internationale in Genf von Joh. Phil. Becker. Der Ausruf
lautete:

  _An die deutschen Sozialdemokraten!_

  Parteigenossen! In der jüngsten Zeit haben sich im Schoße unserer
  Partei Ereignisse vollzogen, die jeden ehrlichen Sozialdemokraten mit
  Freude erfüllen müssen. Der Bann, welcher bisher auf der
  sozialdemokratischen Arbeiterbewegung lastete, ist gebrochen; die
  Selbstsucht einzelner, welche sich wie ein spaltender Keil in das
  Mark, in das Herz unserer Partei geschoben, ist entlarvt und
  niedergeschmettert, und es gilt nun, rasch zu handeln, damit die
  Früchte des Sieges uns nicht wieder entrissen werden und damit aus der
  heilsamen Revolution, welche sich soeben vollzogen hat, die
  Prinzipienreinheit und die einheitliche Organisation hervorgehen
  mögen, ohne die unsere Partei den ihr gebührenden Einfluß nicht
  ausüben, die ihr innewohnende Kraft nicht entfalten kann.

  Lange, leider zu lange, war es dem Egoismus und der Bosheit einzelner
  möglich, die Partei in sich zu verfeinden. Doch eine neue Zeit ist
  angebrochen; mit ehernem Finger zeigt sie uns auf die Notwendigkeit
  hin, die Partei der gesamten sozialdemokratischen Arbeiter
  Deutschlands in sich zu einigen und dieselbe in die richtige, einzig
  zum Siege führende Bahn der auf internationaler Grundlage beruhenden,
  großen Arbeiterbewegung hinüberzuleiten.

  Wer, der ein aufrichtig denkender Sozialdemokrat ist, sollte sich
  dieser Notwendigkeit verschließen können? Wer sollte die
  unberechenbaren Vorteile für unsere Partei nicht ahnen, die sich aus
  einer derartigen Einigung auf Grund einer gemeinsamen Organisation,
  eines gemeinsamen Programms, eines gemeinsamen Auftretens in der
  politisch-sozialen Welt ergeben? — Wir zweifeln keinen Augenblick
  daran, daß die große, die überwältigende Mehrheit unserer
  Parteigenossen der besseren Erkenntnis huldigt, daß sie gern und
  freudig die Hand zu dem stolzen Werke bietet, das endlich unsere
  Partei zur großartigen und wirksamen Machtentfaltung befähigt!

  Von dieser Ueberzeugung durchdrungen, haben wir uns auf einer in
  Braunschweig am 6. Juli dieses Jahres stattgehabten Konferenz über die
  hierzu zunächst erforderlichen Schritte völlig verständigt und berufen
  hiermit in Gemäßheit des dort gefaßten Beschlusses einen _allgemeinen
  deutschen sozialdemokratischen Arbeiterkongreß_ auf Sonnabend den 7.
  August, Sonntag den 8. August und Montag den 9. August nach Eisenach.

  Auf die Tagesordnung des Kongresses sind, unbeschadet weiterer
  Anträge, folgende Punkte gesetzt: l. Die Organisation der Partei. 2.
  Das Parteiprogramm. 3. Das Verhältnis zur Internationalen
  Arbeiterassoziation. 4. Das Parteiorgan (Blatt). 5. Die Vereinigung
  der Gewerkschaften (Gewerksgenossenschaften).

  Die auf diese fünf Punkte der Tagesordnung sich beziehenden
  spezielleren Anträge, zum Beispiel Vorlage betreffs der
  Parteiorganisation usw., werden ihrem Wortlaut nach spätestens Ende
  dieses Monats gedruckt versandt werden.

  Die Delegierten (Abgeordneten) zum Arbeiterkongreß haben sich durch
  ein Mandat (Vollmacht), worin der Ort, für den sie abgeordnet sind,
  sowie die Zahl ihrer Wähler, die sie vertreten, angegeben sein muß, zu
  legitimieren. Es kann solche Legitimation erfolgen entweder durch
  Mandate, welche im Namen von Vereinen oder deren Mitgliedschaften,
  oder welche auch im Auftrag von zum Zwecke der Beschickung des
  Kongresses stattgehabten Volksversammlungen ausgestellt sind, oder
  endlich auch Mandate, welche mit den Unterschriften der an einem Orte
  anwesenden Parteigenossen versehen sind. Mehrere Orte, denen es zu
  schwer wird, je einen Delegierten zu senden, mögen zusammentreten, um
  mindestens gemeinsam einen Delegierten abzuordnen.

  Es ist dringend notwendig, daß der Kongreß schon am Sonnabend den 7.
  August, abends 8 Uhr, eröffnet wird, damit die Wahl des Bureaus und
  die Feststellung der Geschäftsordnung erfolgen kann, weshalb denn auch
  die Delegierten noch an diesem Tage (7. August) in Eisenach eintreffen
  wollen.

  Wir geben uns der frohen Hoffnung hin, daß von allen Orten des großen
  Gesamtdeutschlands, wo die Arbeit im Kampfe mit der Kapitalmacht, wo
  der Volkswille gegen die staatliche Reaktion tagtäglich im Ringen nach
  Freiheit begriffen ist, Vertreter zum Kongreß abgeordnet werden — wir
  hoffen es zum Wohle und Wachstum der Partei, welche die politischen
  und sozialen Rechte des gedrückten Volkes mit Flammenschrift auf ihre
  Fahne schrieb.

  Auf, Parteigenossen, zu wirken für den allgemeinen deutschen
  Arbeiterkongreß, zu wirken durch ihn für die Größe und Einheit der
  Partei!

Im weiteren berief ich im Auftrag des Vorortsvorstandes als Vorsitzender
desselben für Montag den 9. August einen Vereinstag der deutschen
Arbeitervereine nach Eisenach mit der Tagesordnung: 1. Bericht des
Vorstandes. 2. Beratung über die Frage: Welche Stellung soll der Verband
zu der neuen Organisation der sozialdemokratischen Partei einnehmen?
Eventuell Auflösung des Verbandes.

Von den Einberufern des Kongresses erhielt ich den Auftrag, die nötigen
Vorkehrungen für den Kongreß in Eisenach zu treffen, ferner einen
Programm- und einen Organisationsentwurf auszuarbeiten und zur
gemeinsamen Beratung vorzulegen. Bracke und Geib meinten, es sei an uns,
die für passend erachteten Vorschläge zu machen. Liebknecht war mit der
Redaktion des „Demokratischen Wochenblattes“ und der Polemik gegen den
„Sozialdemokrat“ beschäftigt, so fiel mir die erwähnte Arbeit zu.

Ich betrachte noch heute mit einiger Heiterkeit die Schriftstücke, worin
sowohl die königlich sächsische Staatsbahnverwaltung wie das Direktorium
der damals privaten Thüringischen Eisenbahngesellschaft auf meine
Gesuche mir anzeigten, daß sie die üblichen Fahrpreisermäßigungen für
Besucher von Kongressen auch den Besuchern des in Eisenach
stattfindenden sozialdemokratischen Kongresses gewährten. Heute geschähe
dergleichen nicht mehr.

       *       *       *       *       *

In eine kleine Verlegenheit brachte mich ein Artikel, in dem Joh. Phil.
Becker im „Vorboten“ seine Ansichten über die Organisation der neuen
Partei entwickelte. Der alte Jean Philipp war ein prächtiger Kerl,
opferbereit, hingebend, unermüdlich bei Tag und Nacht, ein Haudegen, der
wie 1848 und 1849 in der badischen Revolution als Oberst eines
Freischarenregiments jetzt wieder bereit gewesen wäre, zu Pferde zu
steigen. Auch wußte er aus seinem sehr bewegten Leben eine Menge
Geschichten, Schnurren und Anekdoten zu erzählen, die er in äußerst
lebendiger Weise zum Vortrag brachte. Ich habe mich öfter stundenlang
über seine Erzählungen amüsiert. Aber von einer Parteiorganisation
verstand er nicht allzuviel, und seine lange Abwesenheit aus Deutschland
hatten ihn den deutschen Verhältnissen entfremdet. Statt einer
geschlossenen, möglichst zentralisierten, aber demokratisch
organisierten Partei, die fähig zu kräftigem Handeln war, wollte Becker
eine Verbindung, die wohl die Propagierung der sozialdemokratischen
Grundsätze betreibe, aber keine feste Parteiorganisation habe; sie müsse
sich, wie er es nannte, einen stets wandelbaren und entwicklungsfähigen
Charakter bewahren, und diese Verbindung sollte von Genf abhängen. Einen
bezüglichen Entwurf hatte er im „Vorboten“ veröffentlicht und hoffte,
daß der Eisenacher Kongreß ihm zustimmen werde. Dieser Artikel Beckers
veranlaßte Marx, mir zu schreiben, daß sie mit demselben nichts zu tun
hätten und die Ansichten desselben nicht teilten. Darauf antwortete ich
Marx unter dem 30. Juli:

  „Ihr werter Brief, den ich soeben empfangen, hat mir viel Freude
  gemacht. Ich habe die Vorschläge Beckers im ‚Vorboten‘ ebenfalls
  gelesen und muß gestehen, daß sie mich etwas unbehaglich stimmten,
  weil ich daraus zu ersehen glaubte, daß es Becker darum zu tun sei,
  die Leitung für Deutschland in bezug auf die Internationale in die
  Hände zu bekommen. Mein Entschluß war denn auch, auf dem Kongreß das
  unpraktische, ja unausführbare, Zeit und Geld kostende Projekt zu
  bekämpfen. Es freut mich nun, an dem Generalrat der Internationale
  selbst eine Stütze gefunden zu haben. Fürchten Sie deshalb nicht, daß
  ich Sie oder den Generalrat irgendwie nutzloser Weise in die Debatte
  hereinziehen werde; ich werde sogar versuchen, wenn Becker selbst oder
  ein anderer Vertreter aus Genf kommt, ihm privatim die Gründe
  auseinanderzusetzen. Auch können Sie im voraus versichert sein, daß
  Beckers Vorschlag weder von unserer Seite, noch von seiten der
  Opposition des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, noch von den
  schweizer oder österreichischen Vertretern unterstützt wird, ich müßte
  denn die Stimmung sehr schlecht kennen. Wie wir uns unser Verhältnis
  zur Internationale gedacht, werden Sie aus dem von mir entworfenen und
  von Braunschweig und Hamburg mitberatenen Organisationsentwurf, den
  das „Demokratische Wochenblatt“ diese Woche bringt, ersehen. Ich
  glaube, es ist die einzig richtige und mögliche Form.“

An I. Ph. Becker schrieb ich einen Brief im gleichen Sinne, in dem ich
unter anderem auch ein Urteil über Schweitzer abgab, und zwar schrieb
ich Becker mit Bezugnahme auf Schweitzers Plan, Delegierte zum
Eisenacher Kongreß senden zu wollen:

  „Es ist bei aller Pfiffigkeit Schweitzers doch eine große Dummheit,
  daß er seinen Coup selber verrät. Ich habe überhaupt im Zusammensein
  mit ihm, sowohl in Barmen-Elberfeld wie in Berlin, die Beobachtung
  gemacht, daß er, namentlich wenn man ihm persönlich gegenübertritt,
  sehr leicht den Kopf verliert und Dummheiten macht. Das böse Gewissen
  ist's, das ihm jederzeit die Besinnung raubt, sobald ihn einer an der
  Kehle packt.“

Ich möchte hier auch einige Worte über Schweitzers Aeußere verlieren.
Schweitzer war von hoher, schlanker Gestalt und hatte bleiche, verlebte
Gesichtszüge. Das braune Haar war dünn, ebenso die Bartkoteletten und
der verzwirbelte Schnurrbart. Die Nase war ziemlich lang und gegen ihr
Ende gebogen und spitz; hinter der Brille sahen ein paar kalte,
glitzernde Augen hervor. Wenn er stand oder ging, legte er stets die
Hände auf den Rücken und zog den Kopf zwischen die Schultern. Er mußte
sehr blutarm sein, denn als ich ihm nach der Barmen-Elberfelder Affäre
einmal in Berlin die Hand reichte, schauerte ich ein wenig zusammen. Es
war, als hätte ich die kalte, feuchte Hand einer Leiche erfaßt.

       *       *       *       *       *

Der Kongreß war von einer stattlichen Zahl von Delegierten besucht. Es
waren 262 Abgeordnete anwesend, die 193 Orte vertraten. Darunter Johann
Philipp Becker-Genf, Greulich und Dr. Ladendorf-Zürich, Oberwinder und
Andreas Scheu-Wien, Hofstetten-Berlin. Sonnemann-Frankfurt war ebenfalls
zugegen, er beteiligte sich auch einigemal an der Debatte. Von jetzt ab
besuchte er aber keinen Arbeiterkongreß mehr; seine Hoffnungen, es könne
noch zwischen der Arbeiterpartei und der Volkspartei zu einer
Verständigung kommen, erfüllten sich nicht. Der Klassencharakter der
Partei stieß ihn ab. Die „Schweitzerianer“, wie wir die Delegierten des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins jetzt nannten, waren ganz
bedeutend schwächer vertreten, nicht halb so stark. Dieselben
versammelten sich im „Schiff“, unsere Delegierten im „Goldenen Bären“.
Da von den verschiedensten Seiten Mitteilungen gemacht wurden, daß die
Schweitzerianer den Kongreß mit Gewalt sprengen wollten, begab ich mich
zum Oberbürgermeister und zur Polizei, um zu hören, wie diese die
Situation betrachteten, denn es lag uns selbstverständlich alles daran,
den Kongreß abhalten zu können, sollten nicht die enormen Opfer umsonst
gebracht worden sein. Die Erklärung lautete, daß wir die Versammlungen
ganz nach Belieben wo und wie abhalten könnten. In Sachsen-Weimar gebe
es kein Vereins- und Versammlungsgesetz, die Versammlungsfreiheit war
also eine absolute. Weiter wurde mir versichert, daß die Polizei, falls
die von uns getroffenen Anordnungen mit Gewalt gestört werden sollten,
bereit sei, einzugreifen. Eine Aufforderung an die Schweitzerianer im
„Schiff“, ihre Mandate abzugeben und dieselben gegen rote
Legitimationskarten einzutauschen, verweigerten sie. Abends gegen 7 Uhr
rückten sie dann über hundert Mann stark, unter Führung des Riesen
Tölcke, in den „Goldenen Bären“. Ueber seine damalige Mission schrieb
Tölcke später in seiner Schrift „Zweck, Mittel und Organisation des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“:

  „Es war überhaupt eine beliebte Manier des Herrn v. Schweitzer,
  _überallhin, wo es galt, in heißem Kampfe einen Strauß anzufechten,
  andere zu senden_ und diesen die Verantwortlichkeit der Partei
  gegenüber für ein etwaiges Mißlingen aufzubürden.“

Das war vollkommen zutreffend; Tapferkeit war nicht die Stärke
Schweitzers, dagegen ließ sich damals Tölcke zu allem gebrauchen, wozu
Schweitzer ihn benutzen wollte.

Als die Schweitzerianer in den „Goldenen Bären“ einrückten, fanden sie
die Treppe von uns so stark besetzt, daß sie es vorzogen, ihre Mandate
abzugeben. Am Nachmittag waren in einer Vorversammlung Geib und ich zu
Vorsitzenden, Oberwinder und Quick-Genf zu Stellvertretern in Aussicht
genommen worden. Es war weiter auf meinen Vorschlag zwischen uns
vereinbart worden, daß, falls die Versammlung am Abend tumultuarisch
verlaufe, Geib den Kongreß schließen solle. Alsdann solle ein neuer
Kongreß auf Sonntag vormittag einberufen werden, zu dem nur Delegierte
mit gelben Eintrittskarten Zutritt hätten.

Wie vorausgesehen, so kam es. Bei der Bureauwahl entstanden bereits die
stürmischsten Szenen. Wir hatten, da die Beleuchtung eine elende war, am
Bureautisch ein halbes Dutzend Flaschen, in deren Hälse wir
Stearinlichter gesteckt, aufgestellt. Diese waren in beständiger Gefahr,
umzufallen, und mußten mit den Händen gehalten werden. Schließlich nahm
der Tumult so zu, daß Geib den Kongreß schloß und anzeigte, daß er einen
neuen Kongreß für nächsten Vormittag 10 Uhr in den „Mohren“ berufe, an
dem nur Delegierte mit gelben Legitimationskarten teilnehmen könnten.

Unser Coup war gelungen. Während der Nacht sichteten wir (Bracke, Geib
und ich) die Mandate, suchten die der Schweitzerianer heraus, und Geib
übersandte sie am frühen Morgen an Tölcke mit dem Ersuchen, er möge sie
den betreffenden Delegierten aushändigen. Der Kongreß verlief alsdann
ohne jede Störung.

Zu Berichterstattern über Programm und Organisation waren ich und Bracke
bestimmt. J.Ph. Becker hatte es sich trotz all meiner Gegengründe nicht
nehmen lassen, einen langen Antrag einzubringen, wonach die Partei sich
„Allgemeiner deutscher sozialistisch-demokratischer Arbeiterverein,
Bestandteil der internationalen Arbeiterassoziation“ nennen solle. Der
Antrag fand keine Zustimmung. Programm und Organisation wurden mit
geringen Aenderungen in der von den Einberufern vorgeschlagenen Fassung
angenommen. Die neue Partei erhielt den Namen „_Sozialdemokratische
Arbeiterpartei_“. Das angenommene Programm lautete:

  _Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei._

  I. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt die Errichtung des
  freien Volksstaats.

  II. Jedes Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei
  verpflichtet sich, mit ganzer Kraft einzutreten für folgende
  Grundsätze:

  1. Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten
  Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen.

  2. Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein
  Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte
  und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.

  3. Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten
  bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, und es erstrebt
  deshalb die sozialdemokratische Partei unter Abschaffung der jetzigen
  Produktionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit den
  vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter.

  4. Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur
  ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist
  mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt
  und nur möglich im demokratischen Staat.

  5. In Erwägung, daß die politische und ökonomische Befreiung der
  Arbeiterklasse nur möglich ist, wenn diese gemeinsam und einheitlich
  den Kampf führt, gibt sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei eine
  einheitliche Organisation, welche es aber auch jedem einzelnen
  ermöglicht, seinen Einfluß für das Wohl der Gesamtheit geltend zu
  machen.

  6. In Erwägung, daß die Befreiung der Arbeit weder eine lokale noch
  nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder, in
  denen es moderne Gesellschaft gibt, umfaßt, betrachtet sich die
  sozialdemokratische Arbeiterpartei, soweit es die Vereinsgesetze
  gestatten, als Zweig der Internationalen Arbeiterassoziation, sich
  deren Bestrebungen anschließend.

  III. Als die nächsten Forderungen in der Agitation der
  sozialdemokratischen Arbeiterpartei sind geltend zu machen:

  1. Erteilung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
  Wahlrechtes an alle Männer vom 20. Lebensjahr an zur Wahl für das
  Parlament, die Landtage der Einzelstaaten, die Provinzial- und
  Gemeindevertretungen wie alle übrigen Vertretungskörper. Den gewählten
  Vertretern sind genügende Diäten zu gewähren.

  2. Einführung der direkten Gesetzgebung (das heißt Vorschlags- und
  Verwerfungsrecht) durch das Volk.

  3. Aufhebung aller Vorrechte des Standes, des Besitzes, der Geburt und
  Konfession.

  4. Errichtung der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.

  5. Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der
  Kirche.

  6. Obligatorischer Unterricht in Volksschulen und unentgeltlicher
  Unterricht in allen öffentlichen Bildungsanstalten.

  7. Unabhängigkeit der Gerichte, Einführung der Geschworenen- und
  Fachgewerbegerichte, Einführung des öffentlichen und mündlichen
  Gerichtsverfahrens und unentgeltliche Rechtspflege.

  8. Abschaffung aller Preß-, Vereins- und Koalitionsgesetze; Einführung
  des Normalarbeitstags; Einschränkung der Frauen- und Verbot der
  Kinderarbeit.

  9. Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer einzigen
  direkten progressiven Einkommensteuer und Erbschaftssteuer.

  10. Staatliche Förderung des Genossenschaftswesens und Staatskredit
  für freie Produktivgenossenschaften unter demokratischen Garantien.

  IV. Jedes Mitglied der Partei hat einen monatlichen Beitrag von 1
  Groschen (3-1/2 Kreuzer süddeutsch, 5 Kreuzer österreichisch, 12
  Centimes) für Parteizwecke zu entrichten. Die Parteigenossen, welche
  auf das Parteiorgan abonnieren und dies glaubhaft nachweisen, sind
  während der Dauer des Abonnements ihrer Beitragspflicht enthoben.
  Sache des Ausschusses ist es, einzelnen Orten den Beitrag zu
  ermäßigen.

  V. Der Beitrag ist monatlich franko an den Parteiausschuß abzuliefern.

  VI. Wer drei Monate lang seine Pflichten gegen die Partei nicht
  erfüllt, wird als Parteimitglied nicht mehr betrachtet.

  VII. Mindestens einmal im Jahre findet ein Parteikongreß statt, auf
  dem über alle die Partei berührende Fragen beraten und beschlossen,
  der Vorort der Partei sowie der Sitz der Kontrollkommission und der
  Ort für den nächsten Parteikongreß bestimmt wird. — Die Entschädigung
  für den Ausschuß respektive einzelne seiner Mitglieder setzt der
  Kongreß fest.

  VIII. Außerordentliche Kongresse finden statt, wenn der Ausschuß oder
  die Kontrollkommission mit absoluter Majorität dies beschließt oder
  wenn ein Sechstel sämtlicher Parteimitglieder darauf anträgt.

  IX. Zu jedem Kongreß ist die vorläufige Tagesordnung mindestens sechs
  Wochen vorher durch den Ausschuß im Parteiorgan bekanntzumachen. Die
  innerhalb der nächsten zehn Tage nach erfolgter Bekanntmachung von
  seiten der Parteigenossen einlaufenden Anträge sind alsdann mindestens
  vierzehn Tage vor dem Kongreß als definitive Tagesordnung zu
  veröffentlichen. Auf dem Kongreß gestellte selbständige Anträge kommen
  nur dann zur Verhandlung, wenn sich mindestens ein Drittel der
  Delegierten dafür erklärt.

  X. Jeder Delegierte hat eine Stimme. Die Parteimitglieder, welche sich
  an einem Orte an den Wahlen der Delegierten beteiligen, dürfen nicht
  mehr als fünf stimmberechtigte Abgeordnete zum Kongreß senden.
  Parteimitglieder, welche nicht Delegierte sind, haben nur beratende
  Stimme.

  XI. Spätestens drei Wochen nach dem Kongreß muß das Kongreßprotokoll
  allen Mitgliedern zum Kostenpreise zugänglich gemacht werden. Alle
  Kongreßbeschlüsse, welche eine Abänderung des Statuts, die Grundsätze
  und die politische Stellung der Partei oder die Besteuerung derselben
  betreffen, müssen innerhalb sechs Wochen nach dem Kongreß der
  Urabstimmung aller Parteimitglieder unterbreitet werden. Einfache
  Majorität der Abstimmenden entscheidet. Das Resultat der Abstimmung
  wird im Parteiorgan veröffentlicht.

  XII. Die Leitung der Parteigeschäfte ist einem Ausschuß von fünf
  Personen, als einem Vorsitzenden und dessen Stellvertreter, einem
  Schriftführer, einem Kassierer, der eine entsprechende Kaution zu
  leisten hat, und einem Beisitzer übertragen. Sämtliche
  Ausschußmitglieder müssen an _einem_ Orte oder in dessen einmeiligem
  Umkreis wohnhaft sein und werden von den am Vorort der Partei
  wohnhaften Parteimitgliedern in besonderen Wahlgängen durch
  Stimmzettel mit absoluter Majorität gewählt. Weder ein Mitglied der
  Redaktion noch der Expedition des Parteiorgans darf im Ausschuß sein.
  Treten im Laufe des Jahres im Ausschuß Vakanzen ein, so hat der
  Vorort — mit Ausnahme des in § VII erwähnten Falles — nach demselben
  Wahlmodus die Ergänzungswahlen vorzunehmen.

  XIII. Der Ausschuß muß innerhalb vierzehn Tagen nach stattgehabtem
  Kongreß gewählt sein; bis zu dieser Wahl verbleibt dem bisherigen
  Ausschuß, falls der Kongreß nicht anders verfügt, die
  Geschäftsführung.

  XIV. Der Ausschuß faßt alle Beschlüsse gemeinsam und ist nur dann
  beschlußfähig, wenn in einer ordentlich einberufenen Sitzung
  wenigstens drei Mitglieder anwesend sind; derselbe gibt sich, soweit
  nicht der Kongreß darüber bestimmt, selbst eine Geschäftsordnung.

  Der Ausschuß ist dem Parteikongreß für alle seine Handlungen
  verantwortlich.

  XV. Um Eigenmächtigkeiten des Ausschusses möglichst zu vermeiden,
  konstituiert die Partei eine Kontrollkommission von elf Personen, an
  die alle von dem Ausschuß unberücksichtigt gelassenen Beschwerden zu
  richten sind, und die zugleich die Geschäftsführung des Ausschusses zu
  kontrollieren hat.

  XVI. Die Kontrollkommission wählen die Parteimitglieder desjenigen
  Ortes und seines einmeiligen Umkreises, welcher von dem Parteikongreß
  als Sitz der Kontrollkommission bestimmt worden ist. Die Wahl erfolgt
  durch Stimmzettel und hat spätestens vierzehn Tage nach dem Kongreß
  stattzufinden.

  XVII. Die Kontrollkommission ist verpflichtet, die Geschäftsführung,
  Akten, Bücher, Kasse usw. des Ausschusses mindestens einmal
  vierteljährlich zu prüfen und zu untersuchen, und ist berechtigt,
  falls sie begründete Ursache hat und der Ausschuß die Abhilfe der
  Unregelmäßigkeiten verweigert, einzelne Mitglieder wie den gesamten
  Ausschuß zu suspendieren sowie die nötigen Schritte für provisorische
  Weiterführung der Geschäfte zu tun. Es müssen solche Beschlüsse mit
  Zweidrittelmajorität der Kontrollkommission gefaßt werden und ist,
  wenn mehr als die Hälfte der Ausschußmitglieder suspendiert wird,
  innerhalb vier Wochen ein Parteikongreß einzuberufen, der endgültig in
  der Sache entscheidet.

  XVIII. Die Partei gründet eine Zeitung als Organ unter dem Namen „Der
  Volksstaat“, Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Das Organ
  erscheint in Leipzig und ist Eigentum der Partei. Personen und Gehalt
  des Redaktions- und Expeditionspersonals, des Druckers, Preis des
  Blattes wird durch den Ausschuß bestimmt. Streitigkeiten hierüber
  entscheidet die Kontrollkommission, in letzter Instanz der
  Parteikongreß. Die Haltung des Blattes ist streng dem Parteiprogramm
  anzupassen. Einsendungen von Parteigenossen, welche demselben
  entsprechen, sind — soweit der Raum des Blattes
  ausreicht — unentgeltlich aufzunehmen. Beschwerden über Nichtaufnahme
  oder tendenziöse Färbung der Einsendungen sind bei dem Ausschuß, in
  zweiter Instanz bei der Kontrollkommission anzubringen, welcher die
  endgültige Entscheidung zusteht.

  XIX. Die Parteimitglieder verpflichten sich, überall auf Grund des
  Parteiprogramms die Gründung sozialdemokratischer Arbeitervereine in
  die Hand zu nehmen.

Im Laufe der Verhandlungen teilte ich mit, daß mir aus dem
Revolutionsfonds in Zürich von den Verwaltern desselben, Dr. Ladendorf
und Genossen, 900 Taler zur Agitation bewilligt worden seien. Das sei
die Geldquelle, die Tölcke und Genossen soviel Schmerzen verursachte,
und die sie dem Hitzinger, dem König von Hannover, zuschrieben.

Zum Parteiorgan wurde das „Demokratische Wochenblatt“ bestimmt, das
nunmehr vom 1. Oktober ab wöchentlich zweimal unter dem Titel „Der
Volksstaat“, Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der
internationalen Gewerkschaftsgenossenschaften, erschien. Als Sitz des
Ausschusses wurde _Braunschweig-Wolfenbüttel_, als Sitz der
Kontrollkommission _Wien_ gewählt. Man hatte anfangs die Absicht,
Leipzig zum Sitze des Ausschusses zu bestimmen. Ich riet entschieden ab.
Unsere Propaganda im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sei weit
leichter, wenn ein Ort wie Braunschweig Sitz der Parteileitung werde,
woselbst ausschließlich frühere Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins in Frage kämen. Unser Einfluß in der neuen Partei bleibe
uns gesichert, wir würden uns mit dem Ausschuß zu stellen wissen. So
geschah es. Als nächster Kongreßort wurde Stuttgart bestimmt. Die
Vertretung auf dem Kongreß der Internationale, der Anfang September in
Basel stattfand, wurde Liebknecht übertragen, dem sich später
Spier-Wolfenbüttel als Delegierter des Ausschusses anschloß.

Der glänzende Verlauf des Kongresses hatte im Schweitzerschen Lager
einen sehr unangenehmen Eindruck erzeugt. Nachdem wir die nach Eisenach
entsandten Delegierten Schweitzers von unserem Kongreß ausgeschlossen
hatten, tagten diese im „Schiff“, woselbst sie eine Reihe Resolutionen
gegen uns faßten. So lautete eine derselben, die sich gegen Liebknecht
und mich persönlich richtete: „In Erwägung der gehörten Tatsachen
beschließt der Kongreß, daß die Herren Liebknecht und Bebel unwürdig
sind, daß der Kongreß sich weiter mit ihnen befaßt.“ Tölcke
veröffentlichte im „Sozialdemokrat“ vom 15. August einen „Aufruf an die
Parteigenossen“, der mit den Worten begann: „Der Kongreß zu Eisenach ist
vorüber. Mit Stolz und mit voller Zuversicht auf die Zukunft der Partei
können wir auf den Verlauf und das Resultat desselben zurückblicken.“

       *       *       *       *       *

Nach dem Schlusse des Kongresses hielt der Verband der deutschen
Arbeitervereine seinen Vereinstag ab. Zum Vorsitzenden wurde ich,
Bürger-Göppingen zum Stellvertreter, Motteler zum Schriftführer gewählt.
Crimmitschau erhielt den Auftrag, die Geschäftsführung des Vorortes zu
prüfen und im Parteiorgan Bericht zu erstatten. Aus dem von mir
erstatteten Bericht ging hervor, daß infolge der Spaltung in Nürnberg
der Verband auf 72 Vereine gesunken war, daß im Laufe des Jahres weitere
5 ausschieden, aber 42 Vereine sich neu anschlossen, so daß schließlich
zum Verband 109 Vereine mit rund 10000 Mitgliedern gehörten. Die
Einnahmen betrugen 470 Taler, die Ausgaben 457 Taler, der
Revolutionsfonds hatte 934 Taler gesteuert, von denen 800 Taler für
Unterstützung des „Demokratischen Wochenblatts“ und für Agitation
ausgegeben worden waren. Alsdann beschloß die Versammlung einstimmig die
Auslösung des Verbandes nach sechsjährigem Bestehen und Anschluß an die
Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Der vorhandene Kassenbestand wurde
der letzteren überwiesen, das vorhandene Inventar (Akten, Briefe,
Protokolle) wurde mir zur Aufbewahrung überlassen. Nach einem warmen
Danke an den Vorortsvorstand für dessen Mühewaltung trennte man sich mit
dem Wunsche auf Wiedersehen in Stuttgart.



Nach Eisenach.


Wie man sich leicht vorstellen kann, entbrannte nunmehr heftiger als je
der Kampf zwischen den beiden sozialistischen Fraktionen. Erklärungen
flogen herüber und hinüber, und die Szenen, die sich in zahlreichen
Versammlungen abspielten, spotteten jeder Beschreibung. Insbesondere
waren es die Gewerkschaften, die unter der gegenseitigen Zerfleischung
schwer litten. So kam zum Beispiel in der Metallarbeiterschaft die Wahl
eines Präsidenten nicht zustande, weil eine vollständige Zersplitterung
der Stimmen eintrat, außerdem wurde die Wahl nur bei 23 Abstimmungen
anerkannt, bei 17 wurde sie verworfen.

Von jetzt ab schlug der „Sozialdemokrat“ einen Ton an, wie er bisher nur
selten vorkam, und fälschte Tatsachen und Berichte in einer Weise, daß
die Leser derselben ein vollständig falsches Bild von der Bewegung auf
unserer Seite bekommen mußten.

Am 10. September verließ Schweitzer das Gefängnis. Am 12. September
kündigte er in einem längeren Ausruf eine Rundreise durch Deutschland
an, wobei er hinter verschlossenen Türen vor seinen Anhängern erschien,
„um überall Ordnung und strenges Recht zu schaffen“.... „Fürchten werden
meine Gegenwart,“ hieß es in dem Ausruf, „alle diejenigen, welche sich
einer bösen Absicht oder einer Verletzung der Arbeitersache schuldig
wissen; mit Freuden begrüßen werden mich diejenigen, welche als
Bevollmächtigte, Agitatoren oder in sonstiger Eigenschaft treu zur Fahne
gehalten haben.“

Glaubt man nicht einen gewissen Jesu zu hören, der ein Gericht über die
Guten und die Bösen ankündigt, wobei die Böcke von den Schafen gesondert
werden sollen?

Auf dieser Tour beobachtete Schweitzer die alte Taktik, daß überall, wo
er über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen interpelliert wurde, er
entweder schwieg oder mit spöttischen Bemerkungen darüber hinwegging.

Dem „Volksstaat“ gegenüber nahm er dieselbe Taktik ein wie gegenüber dem
„Demokratischen Wochenblatt“. Niemals wurde der Name des „Volksstaat“
genannt, und von der Partei sprach er nicht anders als von der
Eisenacher Volkspartei.

In Augsburg, wohin er ebenfalls auf seiner Rundreise kam, verlangte er
von den dortigen Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
das Eingehen des von ihnen gegründeten Wochenblatts „Der Proletarier“.
Als diese sich weigerten, seinem Verlangen nachzukommen, drohte er, daß
er alles aufbieten werde, das Blatt zugrunde zu richten, sollte darüber
die Bewegung in Bayern um fünf Jahre zurückgeworfen werden. Ein kleines
Blättchen, „Der Agitator“, den Schweitzer dann zu Neujahr 1871 ins Leben
rief, das vierteljährlich nur 15 Pfennig kostete, sollte in erster Linie
bestimmt sein, massenhaft in Bayern verbreitet zu werden, um dort die
obstinaten Elemente im Zaume zu halten.

Von seiner Rundreise zurückgekehrt, erklärte er, „daß die Partei niemals
stärker, niemals einiger und zahlreicher gewesen sei als in diesem
Augenblick“. Die Unwahrheit dieser Behauptung wurde dadurch bewiesen,
daß zwischen ihm und Mende-Hatzfeldt von neuem der Zank ausbrach. Mende
berief eine Generalversammlung nach Halle, die sich gegen Schweitzer
erklärte, und veröffentlichte eine Broschüre, in der er Schweitzer aller
möglichen Schandtaten zieh. Daß es so kommen würde, war vorauszusehen.
Während aber Schweitzer ankündigte, daß mit dem 1. Januar 1870 der
„Sozialdemokrat“ in vergrößertem Format erscheinen werde — es waren die
Anstrengungen eines Schwindsüchtigen, der sich den Anschein von Kraft
gibt —, mußte Mende ankündigen, daß, falls nicht bis zum 15. Januar für
sein Organ, die „Freie Zeitung“, 1000 neue Abonnenten herbeigeschafft
würden, er dasselbe werde eingehen lassen. Die größere Macht war also
auf Schweitzers Seite. Die Generalversammlung seines Vereins berief
Schweitzer auf den 5. Januar 1870 und die folgenden Tage nach Berlin.

Vorher, am 7. November, war es in Berlin zu einer großen
Auseinandersetzung zwischen der Fortschrittspartei und den Lassalleanern
gekommen. Der Abgeordnete Professor Virchow hatte im preußischen
Abgeordnetenhaus einen Abrüstungsantrag gestellt, der nachher von der
Mehrheit des Abgeordnetenhauses verworfen worden war. Die
Fortschrittspartei wollte diesen Antrag durch das moralische Gewicht
einer Volksversammlung unterstützen lassen, die auf den erwähnten Tag
einberufen worden war. Eine Verhandlung wurde aber unmöglich gemacht
durch die Lassalleaner, die massenhaft erschienen waren und den Vorsitz
in der Versammlung beanspruchten. Als nun ein großer Tumult ausbrach,
schloß der Abgeordnete Löwe-Galbe die Versammlung. Darauf eröffnete
Tölcke sofort dieselbe aufs neue. Er hatte in der Voraussicht, daß die
fortschrittliche Versammlung gesprengt werde, eine zweite Versammlung in
dasselbe Lokal polizeilich angemeldet, und die Polizei hatte diese
gleichzeitige doppelte Anmeldung zu einer Versammlung in ein und
dasselbe Lokal angenommen. Wider alle bisherige Gepflogenheit waren auch
die Versammlungen polizeilich nicht überwacht. Tölcke präsidierte,
Schweitzer sprach. In der vorgeschlagenen Resolution war kein Wort gegen
die Regierung enthalten, dagegen wurde die Fortschrittspartei als
Gegnerin des allgemeinen, gleichen Wahlrechts und Gegnerin des
Normalarbeitstags verurteilt und die Abschaffung der stehenden Heere und
die Einführung der Volkswehr, gegründet auf militärische
Jugenderziehung, verlangt.

Schweitzer suchte also wieder einmal den Standpunkt vergessen zu machen,
den er in Militärfragen vorher wiederholt eingenommen hatte.

Nebenbei bemerkt: In der sächsischen Zweiten Kammer wurde um jene Zeit
ein Abrüstungsantrag mit 55 gegen 21 Stimmen angenommen.

Auf dem am 9. September begonnenen _Internationalen Arbeiterkongreß in
Basel_ bildete den Hauptpunkt der Verhandlungen die Haltung der
Sozialisten zur Grund- und Bodenfrage. Die Debatte hierüber füllte
mehrere Sitzungen. Schließlich stimmten von 75 Delegierten 54, darunter
Liebknecht und Spier, für folgende Resolution:

  „Der Kongreß erklärt, daß die Gesellschaft das Recht hat, das
  individuelle Eigentum an Grund und Boden abzuschaffen und _den Grund
  und Boden in Gemeineigentum zu verwandeln_.“

Ebenso stimmten die beiden dem zweiten Teil der Resolution zu, der
lautete:

  „Der Kongreß erklärt auch, daß es _notwendig_ ist, den Grund und Boden
  zum Kollektiveigentum zu machen.“

Diese Beschlüsse riefen in Deutschland großes Aufsehen hervor,
insbesondere fiel die volksparteilich-demokratische Presse über diese
Beschlüsse her, die sie als eine Ungeheuerlichkeit bezeichnete. Statt
daß nun Liebknecht den Beschluß des Kongresses gegen die Angriffe
verteidigte, erklärte er in der letzten Nummer des „Demokratischen
Wochenblatts“, die erschien:

  „Man hat gefragt: Welche Stellung nimmt die Sozialdemokratische
  Arbeiterpartei zu dem Beschluß über das Grundeigentum?

  Antwort: Gar keine! Jedes einzelne Parteimitglied kann und soll
  Stellung nehmen, der Partei als solcher steht das nicht zu, weil sie
  nach keiner Seite an den Beschluß gebunden ist — ebensowenig _wie die
  Internationale Arbeiterassoziation selbst_.“

Dieses salomonische Urteil wurde in der Partei mit sehr gemischten
Gefühlen aufgenommen. Es brachte der Partei keine Verbesserung, sondern
eine Verschlimmerung ihrer Lage, denn nunmehr nutzte Schweitzer die
Situation aus, indem er triumphierend auf die Halbheit der Eisenacher
hinwies, die in einer Haupt- und Kardinalfrage des Sozialismus versagten
und von Rücksichten auf die Bourgeois in ihren Reihen sich bestimmen
ließen; das sei der beste Beweis, daß wir keine sozialdemokratische
Partei seien. Unsere Stellung als Partei zu dem Baseler Beschluß wurde
nicht klarer, als es in Nr. 4 des mittlerweile erschienenen
„_Volksstaat_“ auf einmal hieß: „Ueber die Zweckmäßigkeit oder
Unzweckmäßigkeit des Baseler Beschlusses, betreffend das Grundeigentum,
mögen innerhalb unserer Partei verschiedene Meinungen obwalten. _Nachdem
er aber einmal gefaßt ist, kann die Partei als solche ihn nicht
verleugnen, ohne ihre Grundprinzipien zu verleugnen._“ Diese Erklärung
war korrekter als die erste, sie stand aber im _Widerspruch_ zu jener.
Es war deshalb notwendig, daß die Partei klare Stellung nahm, und so
schlug ich vor, die Frage auf dem nächstjährigen Parteikongreß zu
erörtern, ein Vorschlag, dem auch der Ausschuß zustimmte. Und da ich für
Anfang November eine große Agitationsreise nach Süddeutschland geplant
hatte, nahm ich mir vor, den Baseler Beschluß zu verteidigen, wo die
Gelegenheit dieses notwendig mache. Ich trat meine Reise am 8. November
an und beendete sie am 28. Ich hielt in dieser Zeit achtzehn
Volksversammlungen und an zwei Orten, Erlangen und München, private
Besprechungen ab. Ich besuchte nacheinander: Koburg, Bamberg, Nürnberg,
Fürth, Erlangen, Regensburg, München, Augsburg, Ravensburg, Tuttlingen,
Reutlingen, Metzingen, Stuttgart, Eßlingen, Göppingen, Aalen,
Heidenheim, Giengen, Schwäbisch Hall und Heilbronn. Opposition fand ich
in nur vier Versammlungen. Der Erfolg war in allen Versammlungen ein
sehr zufriedenstellender.

In Stuttgart, woselbst in der Versammlung der ganze Stab der Volkspartei
und der Herausgeber der „Demokratischen Korrespondenz“, Julius Freese,
anwesend waren, kam es zwischen mir und dem Mitglied der Volkspartei
Hausmeister zu prinzipiellen Auseinandersetzungen, bei denen
selbstverständlich mein Gegner den kürzeren zog. Den Abend vorher hatte
ich in einer geselligen Zusammenkunft, bei welcher der damalige Führer
der Volkspartei, Karl Maier, mich fragte, wie die Partei zu dem Baseler
Beschluß stehe, erklärt: Die Partei werde auf dem nächsten Kongreß in
Stuttgart Stellung nehmen und zweifellos sich im Sinne der Baseler
Beschlüsse aussprechen. Tröstend hatte ich hinzugesetzt: Aber man
brauche deshalb nicht aus der Haut zu fahren, denn die Ausführung des
Beschlusses sei doch erst möglich, wenn die öffentliche Meinung dafür
gewonnen sei. Mit dieser Verzuckerung schluckte man die Pille. In der
Versammlung am nächsten Tage trat mir auch der Lassalleaner Leickhardt
entgegen, der mich wegen unserer Stellung zu Schweitzer interpellierte,
worauf ich gründlich antwortete. Alles in allem hatte ich an drei
Stunden sprechen müssen.

Freese und einem größeren Teil der Volkspartei waren aber meine
Auseinandersetzungen in die Glieder gefahren, und so sah Freese sich
veranlaßt, in vier Artikeln in der „Demokratischen Korrespondenz“ gegen
mich zu polemisieren. Ich beantwortete dieselben durch eine Reihe
Artikel im „Volksstaat“, die zusammengestellt als Broschüre unter dem
Titel „Unsere Ziele“ bis heute erschienen sind. In diesen Aufsätzen
verteidigte ich natürlich auch den Baseler Beschluß. Freese, dem, wie
wohl allen Schwelgern (Sybariten), es keine allzu großen
Gewissensskrupel bereitete, seine Grundsätze zu opfern, sobald er seine
lebemännischen Bedürfnisse durch die Vertretung seiner Grundsätze nicht
mehr befriedigen konnte, ging später in die Dienste des österreichischen
Reichskanzlers, des Herrn v. Beust.

Nach meiner Rückkehr aus Süddeutschland trat ich meine mittlerweile
rechtskräftig gewordene dreiwöchige Gefängnisstrafe an, die, wie schon
erwähnt, Liebknecht und mir wegen Verbreitung staatsgefährlicher Lehren
aus Anlaß der Adresse „An das spanische Volk“ zuerkannt worden war.

       *       *       *       *       *

Wir mußten nunmehr dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegenüber
große Anstrengungen machen, um neue Mitglieder zu gewinnen. Was immer an
Kräften und Mitteln aufgebracht werden konnte, wurde für diesen Zweck
benützt. In erster Linie kam hier York als Agitator in Frage. Der Erfolg
seiner Reisen war nicht immer ein zufriedenstellender. So klagte er mir
Ende 1869 über die Erfolglosigkeit einer Agitationsreise, die er nach
dem Rheinland unternommen hatte. Er war darüber in recht pessimistischer
Stimmung. Agitator zu sein, schrieb er mir, sei eine traurige Existenz,
was um so richtiger war, als die finanzielle Entschädigung, die der
Agitator zu jener Zeit erhielt, eine geradezu erbärmliche genannt
werden mußte. Er denke wieder daran, als Arbeiter bei einem Meister
Stellung zu nehmen. York war Tischler. Hätte er keine Familie, läge die
Sache anders, allein könnte er sich durchschlagen. Indes war sein
Opfermut und seine Hingabe an die Sache doch zu groß, als daß er die
Drohung ausgeführt hätte.

Liebknecht und ich benutzten unsere Anwesenheit während des Reichstags
in Berlin, um dort immer mehr Anhänger zu gewinnen. Wir sprachen
namentlich öfter in einer Reihe Branchenversammlungen mit bestem Erfolg.

Eine beständige Klage des Braunschweiger Ausschusses war der schlechte
Eingang der Mitgliederbeiträge. Diese Klage war vollauf berechtigt. An
eine regelmäßige monatliche Zahlung an den Ausschuß nach Braunschweig
gewöhnten sich namentlich schwer die ehemaligen Mitglieder des
Arbeitervereinsverbandes, die das Hauptgewicht auf die Verwendung ihrer
Mittel für die lokalen Bedürfnisse zu legen gewohnt waren.

Zwischen dem Ausschuß in Braunschweig und uns in Leipzig entwickelte
sich ein außerordentlich lebhafter Briefverkehr, in den auch August Geib
in Hamburg, der dort als Buchhändler etabliert war, hereingezogen wurde,
als die Kontrollkommission durch Beschluß des Stuttgarter Kongresses von
Wien nach Hamburg verlegt worden war. Lebhafte Beschwerde führten Bracke
und der Ausschuß über die Redaktion des „Volksstaat“, die zu viel
Politik und zu wenig Sozialismus bringe. Eine Beschwerde, die vielfach
in der Partei laut wurde.

Sehr aufgebracht war ich darüber, daß wir in der Person Rüdts, der seine
Universitätsstudien unterbrochen hatte und in die Partei als Agitator
eingetreten war, durch den Beschluß des Eisenacher Kongresses einen
Redakteur erhalten hatten, der seine Pflichten stark vernachlässigte,
aber mit dem Honorar, das freilich nicht hoch war, beständig im Vorschuß
sich befand. Das ging gegen meine Auffassung von Leistung und
Gegenleistung. Ich habe es allezeit, und zwar bis auf den heutigen Tag,
als schlimmste Schädigung der Partei und als eine unverzeihliche
Gewissenlosigkeit angesehen, die in einer Arbeiterpartei doppelt gerügt
werden müsse, wenn Personen ein Amt übernehmen, aber vergessen, die
damit übernommenen Pflichten gewissenhaft zu erfüllen, das Gehalt
einstreichen, aber nicht entsprechend dafür leisten. Ein Sozialdemokrat,
der eine Brotstellung in der Partei annimmt, hat damit nach meiner
Auffassung eine Art Ideal erreicht. Er kann nach seiner Ueberzeugung
tätig sein, er hat Maßregelung nicht zu fürchten und findet die volle
Anerkennung seiner Parteigenossen, wenn er seine Schuldigkeit tut.

Als ich eines Tages mich bei Bracke bitter über Rüdt beschwerte — der
betreffende Brief spielte nachher im Leipziger Hochverratsprozeß eine
Rolle und ist im Bericht darüber abgedruckt —, antwortete mir Bracke
unter dem 17. Oktober:

  „Rüdt ist nicht schlecht, wenigstens glaube ich es nicht. Ich habe
  einen intimen Freund, der ebenso ist wie Rüdt, und er ist ein braver
  Kerl. Diese Art Menschen sind das Gegenteil eines Philisters, aber in
  ihrer Einseitigkeit verfahren sie sich oft, bis sie durch längere,
  meist bittere Erfahrungen klug werden. Je weniger ich selbst solchem
  Charakter ähnele (ich komme mir oft selbst wie ein Philister vor, wenn
  ich meinen ‚Lebenswandel‘ betrachte), um so mehr liebe ich diesen
  Charakter bei anderen. Ich will allerdings gestehen, daß ich Rüdt zu
  wenig kenne, um behaupten zu können, er sei so wie mein Freund. Aber
  ich vermute es. Hast Du die Biographie von Lessing gelesen? Was war
  der eine längere Zeit leichtsinnig! Ich habe oft Sehnsucht, auch
  einmal leichtsinnig zu sein, aber werde es wohl schwerlich werden. Die
  Verhältnisse fesseln mich an mein arbeitsames, ernstes, ja
  philiströses Dasein! Von Natur heiteren Temperamentes, bin ich es in
  Wirklichkeit so selten.“

Ich weiß heute nicht mehr, was ich Bracke auf diesen Brief antwortete,
aber eine Zustimmung zu seinem Urteil über Rüdt war die Antwort sicher
nicht.

Bracke, der einer wohlhabenden Familie angehörte und aus dem höchsten
Idealismus sich der Partei der Enterbten angeschlossen hatte, war damals
in großen Nöten. Er hatte sich durch Fritzsche bestimmen lassen, für die
Produktivgenossenschaft der Tabak- und Zigarrenarbeiter Bürgschaften zu
übernehmen, und kam nach dem Konkurs der Genossenschaft in die höchst
fatale Lage, sehr erhebliche Summen bezahlen zu müssen. Bracke klagte
mir in zahlreichen Briefen sein Leid, wie wir denn beide kurz nach
unserer Bekanntschaft uns eng aneinandergeschlossen und keine
Geheimnisse voreinander hatten. Der Aermste hat viele Jahre zu kämpfen
gehabt, um aus den Verlegenheiten herauszukommen, in die er sich durch
seine Gutherzigkeit und Opferwilligkeit gestürzt hatte. Als ihn der Tod
ereilte — er starb allzu jung im Jahre 1879, kaum 38 Jahre alt —, wurde
sein Verlust in der ganzen Partei als ein unersetzlicher angesehen.

Im Oktober 1869 war Karl Marx mehrere Wochen bei seinem Freunde Dr.
Kugelmann in Hannover auf Besuch. Bracke und Bonhorst, der Sekretär des
Ausschusses, fuhren hinüber nach Hannover, um Marx kennen zu lernen und
zu begrüßen. Bracke war von der Begegnung mit Marx aufs höchste
entzückt; er sei, schrieb er mir, „ein lieber Mensch“, sie hätten sich
beide sehr gut verständigt. Ich lernte Marx und zugleich auch Engels
persönlich erst 1880 in London kennen anläßlich eines „Kanossaganges“,
den ich mit Bernstein unternahm. Darüber später.

Im Dezember 1869 spielte uns die österreichische Regierung einen
unangenehmen Streich; sie entzog dem „Volksstaat“ den Postdebit. Der
„Volksstaat“ stand damals so, daß er keinen Abonnenten entbehren konnte.
Der Akt war aber der beste Beweis, was es mit der Verleumdung des
„Sozialdemokrat“ auf sich hatte, Liebknecht stehe im Dienste der
österreichischen Regierung.

       *       *       *       *       *

Gegen Ende des Jahres brach in Waldenburg in Schlesien ein großer
Bergarbeiterstreik aus, der größte Streik, den Deutschland bis dahin
gesehen hatte. Das Bemerkenswerteste an diesem war, daß er in einem
Gebiet und unter Arbeitern ausbrach, die, soweit sie organisiert waren,
den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen angehörten, und zwar verlangten
die Bergherren den Austritt der Arbeiter aus dem Gewerkverein. Die Lehre
der Hirsch-Duncker von der Harmonie der Interessen zwischen Kapital und
Arbeit erhielt damit einen argen Stoß. Beide sozialdemokratische
Fraktionen traten energisch für die Bergarbeiter ein und unterstützten
sie. Ich wollte in Leipzig ein Plakat anschlagen lassen, in dem ich zu
Sammlungen für die Streikenden aufforderte, aber die Polizei verbot den
Anschlag des Plakats und die Sammlung, die die Genehmigung der Polizei
erfordere, weil auf Grund der Armenordnung von 1842 Sammlungen für
„Notleidende“ dieser Genehmigung bedürften. Ich appellierte wegen dieser
sonderbaren Auslegung der Armenordnung bis an das Ministerium, aber Herr
v. Nostitz-Wallwitz, der damals bereits Minister des Innern war,
billigte die Entscheidung der Leipziger Polizei.

Mangels genügender Mittel ging der Waldenburger Streik verloren.

       *       *       *       *       *

Im Frühjahr 1870 fiel mir eine Aufgabe zu, die zu erfüllen Pflicht eines
Fortschrittsmannes oder bürgerlichen Demokraten gewesen wäre. In Leipzig
starb Rechtsanwalt Tzschirner, der während des Dresdener Maiaufstandes
1849 mit Heubner und Tod Mitglied der provisorischen Regierung gewesen
war. Nach Niederwerfung des Aufstandes floh Tzschirner nach der Schweiz,
kehrte aber infolge der sächsischen Amnestie von 1865 als gebrochener
Mann nach Leipzig zurück. Er mußte unterstützt werden, und ich selbst
veranlagte eine Sammlung zu seinen Gunsten, deren Ertrag ich an
Tzschirners Parteigenossen Rechtsanwalt Schaffrat in Dresden gelangen
ließ.

Als nun Tzschirner im Frühjahr 1870 in Leipzig starb, war kein einziger
seiner alten Parteigenossen, auch Schaffrat nicht, bereit, dem Manne die
Grabrede zu halten; man schämte oder scheute sich offenbar, öffentlich
als ehemaliger Parteigenosse des Revolutionärs zu erscheinen. So mußte
ich die Rede übernehmen, obgleich ich den Mann persönlich nicht gekannt
hatte und von seiner Tätigkeit nur vom Hörensagen wußte. Die deutsche
Demokratie hat frühzeitig aufgehört, Mannesmut zu zeigen.

       *       *       *       *       *

Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins für
1870 begann am 5. Januar. Schweitzer war nicht in rosiger Stimmung.
Nachdem man ihn darüber interpelliert, ob er seinerzeit einen geheimen
Vertrag mit Mende bei der sogenannten Vereinigung abgeschlossen habe,
was er bestritt, stellte man ihn wegen der Kassenführung zur Rede. Er
habe Gelder des Vereins für den „Sozialdemokrat“ verwendet, wozu er kein
Recht habe, da das Blatt sein Privateigentum sei. Es wurde sogar ein
Beschluß herbeigeführt, wodurch ihm dieses ausdrücklich verboten wurde.
Schweitzer war durch diesen Beschluß und die an der Redaktion des
„Sozialdemokrat“ geübte Kritik sehr aufgebracht. Er antwortete: Was das
Vertrauen anlange, _so müsse er nach den in der Generalversammlung
gefallenen Aeußerungen annehmen, daß er das Vertrauen der
Generalversammlung nicht besitze_; jedenfalls habe er großenteils das
Vertrauen auf die Delegierten verloren.... Man scheine nicht zu wissen,
was der „Sozialdemokrat“ sei. _Nicht die Partei habe den
„Sozialdemokrat“ gemacht, sondern der „Sozialdemokrat“ die Partei._...
Zu verlangen, daß ein Redakteur für den Inhalt des Blattes eintreten
müsse, sei leicht, wenn man selbst den Rücken frei habe und nicht einmal
die Strafgelder bewilligte. Er habe es satt, sich in dieser Weise erst
mit den Vereinsgegnern und dann mit den Vereinsmitgliedern
herumzuärgern. Gegenüber dem Verlangen, daß in Geldangelegenheiten der
Vorstand beschließen solle und nicht wie bisher der Präsident, erklärte
er, dann sei es gleich besser, einen Ausschuß zu wählen, aber keinen
Präsidenten. Die Generalversammlung nahm alsdann eine genaue Prüfung der
Kassenausgaben vor. Ein Antrag: Die Generalversammlung erklärt sich mit
der diesjährigen Kassenabrechnung vollständig zufrieden und weist alle
Angriffe der Gegner unserer Partei als ungerechtfertigt zurück und
spricht den Wunsch aus, daß die Kassenangelegenheit für alle Zeiten so
bleiben möge, wurde mit 5097 gegen 3409 Stimmen angenommen.

Eine Aeußerung Schweitzers, daß es die Aristokratie des Vereins sei, die
Agitatoren und Delegierten, von denen immer die Wirren im Verein
ausgingen, führte zu gereizten Auseinandersetzungen. Ein Antrag
Richter-Wandsbeck, dem Präsidenten die _Mißbilligung_ auszusprechen,
weil er auf Antrag von Hamburger Mitgliedern wider alles Recht die
Mitglieder, die gleichzeitig dem Allgemeinen Tabak- und
Zigarrenarbeiterverein angehörten, bis zur Berliner Generalversammlung
ihrer Mitgliedsrechte für verlustig erklärt hatte, wurde mit 24 gegen 12
Stimmen bei zwei Enthaltungen abgelehnt. Diese Vorgänge ließen es
Schweitzer wieder einmal geraten erscheinen, den radikalen Demokraten
hervorzukehren. Am 9. Januar fand eine von 2000 Personen besuchte
öffentliche Sitzung statt, in der das Thema „Der Militarismus“ auf der
Tagesordnung stand. Hatte Schweitzer am 17. Oktober 1867 im deutschen
Reichstag sich für die Militärgesetzvorlage einschreiben lassen und
hatte er damals in seiner Rede ausgeführt, daß es ihm fernliege, jene
Eigenschaften an Preußen leugnen und bemäkeln zu wollen, welche im
vorigen Jahre eine feindliche Welt bewundernd anerkennen mußte, so ließ
er jetzt folgende Resolution zur Annahme vorschlagen:

  „Die Generalversammlung erklärt: Die stehenden Heere sind die
  Hauptstützen der heutigen reaktionären Regierungen und zugleich der
  gesellschaftlichen Ausbeutung; das demokratische Prinzip verlangt, daß
  überall an Stelle der stehenden Heere die allgemeine Volksbewaffnung
  trete.“

Also ganz wie in unserem ehemaligen Chemnitzer und jetzt im Eisenacher
Programm. Nach längerer Debatte, an der Schweitzer sich nicht
beteiligte, wurde die Resolution einstimmig angenommen. Im weiteren
erklärte sich die Generalversammlung für den Uebergang des Grund und
Bodens in Gemeineigentum der Gesellschaft. Mit einer sehr radikalen Rede
schloß Schweitzer diese Sitzung.

Im weiteren Verlauf der Verhandlungen wurde ein Antrag, den
„Sozialdemokrat“ als Parteieigentum zu erwerben, mit 6492 gegen 2585
Stimmen abgelehnt. Schweitzer hatte im Laufe der Debatte geäußert: Der
„Sozialdemokrat“ habe während der sieben Jahre seines Bestehens enorme
Summen verschlungen _und erfordere auch jetzt noch Opfer_. Woher diese
enormen Summen kamen, erfuhr man nicht. Er sei bereit, das
Eigentumsrecht abzutreten, wenn die Partei einen geringen Teil der auf
das Blatt verwendeten Summen zurückzahle. Ein Redner äußerte die
Besorgnis, Schweitzer werde ein neues Blatt gründen, falls es zu
Differenzen komme. Die Mehrheit sah nach dieser Erklärung die Uebernahme
des Blattes als ein Danaergeschenk an. Schweitzer teilte weiter mit, daß
vom 1. Januar ab Hasenclever neben Hasselmann in die Redaktion
eingetreten sei. Eine ganze Reihe Mitgliedschaften beantragte
ausführliche und _wahrheitsgemäße_ Abfassung der Protokolle der
Generalversammlungen.

Eine längere und heftige Debatte entspann sich über verschiedene
Anträge; zum Beispiel der Präsident solle, wie es im Statut stehe, durch
die Generalversammlung gewählt werden, wohingegen namentlich Schweitzer
mit aller Entschiedenheit für die Wahl durch „das Volk“ eintrat, das er
durch sein Blatt in der Hand hatte. Er drang mit seiner Ansicht durch.
Das mehrfache Verlangen, die Redaktion durch eine Beschwerdekommission
zu kontrollieren, wurde durch den Beschluß erledigt, daß alle
Beschwerden über die Redaktion des Vereinsorgans an den Präsidenten zu
richten seien. Die oberste Kontrolle über die Wirksamkeit der Redaktion
und die des Präsidenten in seiner Eigenschaft als Kontrolleur habe der
Vorstand zu vollführen und könne derselbe etwa nötige Anordnungen
treffen. In der betreffenden Debatte äußerte Pfannkuch, daß durch die
bisherige Handhabung der Redaktion viele brave Mitglieder aus dem Verein
hinausgestoßen worden seien.

Bei der Wahl zum Präsidenten, die am 12. Februar stattfand, wurde
Schweitzer wieder mit 4744 gegen 249 Stimmen gewählt, eine Stimmenzahl,
die man auch nicht als besonderes Vertrauensvotum gegenüber den 9000
Mitgliedern, die auf der Berliner Generalversammlung vertreten waren,
ansehen kann.

       *       *       *       *       *

Zu den drei vorhandenen sozialdemokratischen Organisationen trat Anfang
1870 eine vierte, die allerdings nur unbedeutend war und eine kurze
Lebensdauer hatte. Die hartnäckige Gegnerschaft, die Schweitzer dem in
Augsburg erscheinenden „Proletarier“ und seinen Hintermännern erwies,
erregte diese aufs äußerste. Und als nunmehr auch die Berliner
Generalversammlung sich gegen die Bayern erklärte, beschlossen diese
den Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und beriefen
auf Ende Januar einen sozialdemokratischen Kongreß nach Augsburg. An der
Spitze dieser Separatbildung standen Franz, Neff und Tauscher; alle drei
Schriftsetzer. Franz hat später eine vorzügliche Broschüre geschrieben:
„Herr Böhmert und seine Fälschungen der Wissenschaft. Von einem
Arbeiter. 1873.“ Franz starb vor wenig Jahren in Amerika. Neff starb
weit früher, Tauscher lebt noch heute als Parteigenosse in Stuttgart.
Von seiten des Braunschweiger Ausschusses wurde ich nach Augsburg
delegiert, um den Anschluß der bayerischen Genossen an unsere Partei
herbeizuführen und die Gründung einer vierten Fraktion zu verhüten. Auf
dem Kongreß waren nur neun Delegierte anwesend. Der Standpunkt, den ich
vertrat, war folgender:

  Die Bildung einer neuen Fraktion werde nur den Gegnern der
  Arbeitersache nützen. Dieselben würden aufs neue über diese Spaltung
  jubeln und darauf hinweisen, daß die Arbeiter zur Leitung ihrer
  Angelegenheiten unfähig, als Partei ungefährlich seien, da sie trotz
  aller prinzipiellen Uebereinstimmung sich nicht einigen könnten,
  sondern rein formeller und persönlicher Bedenken wegen sich
  gegenseitig zerfleischten. Ein weiterer zwingender Grund für die
  Einigung sei die Verhütung der Zersplitterung der geistigen und
  materiellen Kräfte der Arbeiter. An beiden litten die Arbeiter keinen
  Ueberfluß. Je mehr Fraktionen, je mehr Verwaltungen müßten geschaffen
  werden. Diese kosteten Geld, und so würden die sauer erworbenen
  Groschen der Arbeiter allein durch diesen Verwaltungsapparat
  aufgezehrt. Statt die Gelder zur Bekämpfung der Bourgeoisie und der
  Reaktion zu verwenden, bekämpfe man sich gegenseitig, die nicht im
  Ueberfluß vorhandenen geistigen Kräfte würden in diesem selben Kampfe
  verbraucht und aufgerieben, ohne Nutzen für die Gesamtheit. Wohl sei
  mir bewußt, daß man hauptsächlich zwei Bedenken gegen die
  Verschmelzung habe. Das eine sei unser angebliches Bündnis, wohl gar
  Verquickung mit der Volkspartei, das andere unsere Organisation, die
  man als eine zu wenig einheitliche ansehe. Beide Einwände beruhten auf
  Vorurteilen, durch diejenigen geschickt verbreitet und in die Massen
  eingepflanzt, welche aus einer Berührung der Arbeiter mit dem
  demokratischen Bürgertum für ihre eigene Stellung fürchteten
  (Schweitzer, Mende) und unter der Firma: „Kampf gegen die radikale
  Bourgeoisie“, ihr Einverständnis mit der Reaktion verbergen wollten.
  Volkspartei und sozialdemokratische Arbeiterpartei seien zwei
  vollständig getrennte Parteien, jede habe ihr eigenes Programm und
  ihre eigene Organisation. Was das Programm unserer Partei betreffe, so
  brauchte ich es nicht weiter zu entwickeln, da man es ja nahezu
  wörtlich auch diesem Kongreß zugrunde gelegt, unser Programm gehe aber
  in seinem ersten Teile noch weiter, indem es das internationale
  Programm in schärfster Fassung enthalte und klar und scharf seine
  Stellung auch zum bestehenden Staate formuliere. Die „Volkspartei“ sei
  insofern mit uns einverstanden, als sie unsere politischen Forderungen
  und auch einige unserer sozialen (Normalarbeitstag, Verbot der
  Kinderarbeit) in ihrem Programm habe, also ein gewisses Stück Weg
  neben uns hergehe. Sie in den Punkten zu bekämpfen, in denen sie
  gleicher Meinung mit uns sei, sei Torheit; selbstverständlich würden
  wir ihr aber überall da entgegentreten, wo Differenzen zwischen ihr
  und uns beständen, also vorzugsweise auf dem sozialen Gebiet. Die
  Volkspartei sei, das wüßten wir genauer als jeder andere, eine Partei,
  die aus vermiedenen Elementen zusammengesetzt sei. Sie bestehe aus
  großdeutschen konstitutionellen Monarchisten, bürgerlichen
  Republikanern und einer kleinen Zahl von Leuten, welche im
  wesentlichen auch unser soziales Programm anerkennten, letztere seien
  indes sehr in der Minderheit. Einig sei die Volkspartei in dem Kampfe
  gegen die großpreußischen Tendenzen, den Militarismus und Zäsarismus
  und bekämpfe von diesem Standpunkt aus mit uns auch die uns feindlich
  gesinnte Fortschritts- und nationalliberale Partei. Wir ständen also
  zur Volkspartei in keinem anderen Verhältnis, als es sich aus der
  Natur der beiderseitigen Standpunkte von selbst ergebe. Habe doch
  Lassalle dasselbe der Arbeiterpartei gegenüber der Fortschrittspartei
  im Jahre 1863 angeraten, ja Lassalle habe sogar an mehreren Stellen
  seiner Schriften über „Verfassungswesen“ sich selbst als Mann der
  Volkspartei bezeichnet. Ebenso haltlos wie die beständigen Vorwürfe
  über unser Verhalten zur Volkspartei seien die Einwendungen gegen
  unsere Organisation. Lebten wir in Deutschland in einem freien Staat,
  dann verstünde sich von selbst, daß wir nur praktische Gründe bei
  Entwerfung einer Organisation im Auge zu behalten hätten. Deutschland
  sei aber kein Freistaat, sondern bestehe aus Staaten, die zum größten
  Teil sehr reaktionär seien, und in denen die Macht der Gesetze sich
  unliebsamen Volksorganisationen sehr fühlbar mache. Die Auflösung des
  Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Sachsen, die Schließung der
  vielen Gemeinden in Preußen, der Beschluß des preußischen
  Obertribunals gegen den schleswig-holsteinischen Wahlverein, der eine
  ähnliche Organisation gehabt habe wie der Allgemeine Deutsche
  Arbeiterverein, die neuesten Vorgänge in Bayern bewiesen, wie das
  Gesetz jederzeit die Organisation vernichten könne. Hätte Schweitzer
  die Urteile der Untergerichte über seinen Verein durch alle
  Appellinstanzen verfolgt, das Obertribunal hätte zweifellos die
  Organisation als ungesetzlich anerkannt und wäre damit das Verbot des
  Vereins für Preußen ausgesprochen worden. Schweitzer habe sich davor
  gehütet, und wenn sein Verein dennoch existiere, dann habe er dies
  einzig und allein der Gunst zu verdanken, deren er sich notorisch von
  seiten des Berliner Polizeipräsidiums und der Regierung zu erfreuen
  habe. Wir müßten eine Organisation schaffen, die mit der
  Einheitlichkeit zugleich die formelle Unabhängigkeit der
  Parteimitglieder an den einzelnen Orten vor dem Gesetz möglich mache.
  Die Einheitlichkeit der Partei sei gewahrt in dem von der Partei
  gewählten und in seinen Machtbefugnissen scharf begrenzten und
  zugleich kontrollierbaren Parteiausschuß, wodurch jede „Führerschaft“
  beseitigt und der Herrschaft einer einzelnen Person ein für alle Mal
  ein Ende gemacht sei; ferner in regelmäßigen Steuern, die monatlich
  jedes Parteimitglied leistet; und endlich in dem Parteiorgan, das
  Eigentum der Partei sei, zu Privatzwecken also nicht benutzt werden
  könne. Durch diese Einrichtungen sei also die Möglichkeit einer
  kräftigen Agitation zur Verbreitung der Partei und die Geltendmachung
  des Parteiwillens in allen Fragen gegeben. In den Lokalvereinen
  könnten die Parteigenossen die Parteiangelegenheiten in der
  ungehindertsten Weise besprechen und die lokale Agitation betreiben,
  ohne daß das Gesetz eingreifen könne. Daß die von uns angenommene
  Organisation wirklich und nicht bloß in der Einbildung gut sei,
  beweise, daß trotz aller Verfolgungen, welche die Partei vom ersten
  Tage ihres Bestehens zu erdulden gehabt habe, die Organisation noch
  nicht angetastet worden sei, weil man es einfach nicht könne. Mit
  einer Organisation, wie sie der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein
  habe, würden wir längst zugrunde gerichtet worden sein.

  Habe die Polizei das Urteil des Obertribunals auf den Allgemeinen
  Deutschen Arbeiterverein nicht angewandt, so kennzeichne das mehr als
  alles andere das gute Einvernehmen des Chefs des Allgemeinen
  Deutschen Arbeitervereins mit der preußischen Polizei. Wir hätten uns
  einer solchen Gönnerschaft nicht zu erfreuen, wollten sie auch nicht
  haben, müßten also unsere Organisation so einrichten, daß sie gegen
  polizeiliche Uebergriffe sicher sei. Die Form sei übrigens für uns
  Nebensache, die Hauptsache sei das Prinzip und seine Anwendung. Wir
  gehörten nicht zu denen, die als Orthodoxe die äußere Form über die
  Sache setzten, wir hielten die Organisation keineswegs für
  unverbesserlich. Jedes Mitglied der Partei könne seinen Einfluß für
  Aenderung derselben geltend machen, und gelänge es ihm, die Majorität
  hierfür zu gewinnen, dann sei der Wille derselben entscheidend; die
  ganze Verfassung der Partei sei mit einem Worte demokratisch.

Ich hatte mit meinen Ausführungen kein Glück. Die Einberufer stießen
sich an unserer Stellung zur Volkspartei, die man, gerade weil sie ein
radikales Programm habe, als gefährlich am schärfsten bekämpfen müsse.
Auch passe ihnen unsere Organisation nicht.

In dem Bericht, den ich in Nr. 10 des „Volksstaat“ von 1870
veröffentlichte, führte ich noch aus:

  Ich ergriff wiederholt das Wort und widerlegte die aufgestellten
  Bedenken, sah aber sehr bald ein, daß alles Reden unnütz sei, da man
  einmal fest entschlossen war, eine vierte Arbeiterfraktion mit dem
  ganzen bureaukratischen Apparat einer solchen zu konstituieren. Ich
  erklärte darauf, daß ich mein Mandat als erledigt betrachte und an den
  öffentlichen Verhandlungen nur insofern noch teilnehmen würde, um eine
  Erklärung über meine Stellung zu dem Kongreß abzugeben.

  Als kurz darauf die öffentliche Versammlung wieder aufgenommen wurde,
  legte ich die Gründe dar, die mich verhinderten, weiter an den
  Verhandlungen mich zu beteiligen. Zugleich benutzte ich diese
  Gelegenheit, um nochmals öffentlich die Vorurteile entschieden
  zurückzuweisen, die noch als Erbstück Schweitzerscher Erziehung gegen
  unsere Partei in der Versammlung vorhanden sein möchten. Nachdem ich
  geendet, zog ich mein Mandat zurück und verließ mit unseren
  Parteigenossen den Saal.

  War die mir offiziell übertragene Mission auch als gescheitert zu
  betrachten, so habe ich dennoch die moralische Ueberzeugung von
  Augsburg mitgenommen, daß die Masse der Arbeiter es müde ist, sich
  kleinlicher persönlicher oder formeller Bedenken wegen gegenseitig in
  die Haare zu geraten. Die Arbeiter begreifen, daß nur in festem
  Zusammenhalten, in der Vereinigung aller Kräfte die Gewähr des Sieges
  für sie liegt, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn nicht trotz der
  jetzt konstituierten vierten sozialdemokratischen Fraktion der
  Zeitpunkt sehr nahe herangekommen wäre, wo der vollständige Eintritt
  in die sozialdemokratische Arbeiterpartei stattfinden wird.

Die hier ausgesprochene Hoffnung erfüllte sich rasch. Bereits im Juni
fand auf dem Stuttgarter Kongreß eine Verständigung und der Uebertritt
der bayerischen Fraktion in unsere Partei statt. Auf meiner Rückreise
von Augsburg hielt ich in München eine Volksversammlung ab, in der als
Zuhörer der damals zwanzigjährige Georg v. Vollmar anwesend war, wie er
mir gelegentlich erzählte.

Der Monat Januar 1870 war für mich noch insofern von besonderem
Interesse, als der Rat der Stadt Leipzig beschloß, dem
Arbeiterbildungsverein den Rest der städtischen Unterstützung von 200
Taler jährlich zu entziehen, weil der Verein sich für das Eisenacher
Programm erklärt hatte. Die Stadtverordneten beschlossen wenige Tage
darauf nach einer heftigen Debatte mit 27 gegen 16 Stimmen, dem Beschluß
des Rats beizutreten. An demselben Abend wählte mich der Verein wieder
mit 121 gegen 20 Stimmen zu seinem Vorsitzenden.

       *       *       *       *       *

Die Agitation zur Ausbreitung der Partei wurde seit Eisenach von uns in
ganz Deutschland mit allen Kräften betrieben. Unter den zahlreichen
Versammlungen, die auch ich abhielt, waren zwei in Plauen im Vogtland
gegen Dr. Max Hirsch dadurch von besonderem Interesse, daß der Inhalt
meiner Reden zu einer neuen Anklage gegen mich wegen Verbreitung
staatsgefährlicher Lehren Veranlassung gab. Als dann noch vor Erledigung
dieser Anklage das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund Geltung
erlangte, das diese Bestimmung des sächsischen Strafgesetzes nicht
enthielt, wurde das Material in dem nachher eingeleiteten
Hochverratsprozeß wider mich verwertet. Diese Versammlungen, die an zwei
Abenden hintereinander stattfanden, weil in der ersten die Debatte nicht
zu Ende kam, endeten mit einer vollständigen Niederlage Dr. Max
Hirschs, der damals Vertreter für den Plauener Wahlkreis im
norddeutschen Reichstag war. Zwei Jahre zuvor war ich Dr. Max Hirsch
auch in seiner Vaterstadt Magdeburg entgegengetreten und hatte ihm hier
ebenfalls eine große Niederlage beigebracht. In einer späteren
Magdeburger Versammlung, in der ich Schweitzers Treiben scharf
kritisierte, warf ein fanatischer Zimmerer ein Bierglas nach mir, das
hart an meinem Kopf vorbeiflog und an der Wand zerschellte. Wäre ich
getroffen worden, so würde ich höchst wahrscheinlich einen Schädelbruch
davongetragen haben. Diese Zeilen wären dann wohl nicht geschrieben
worden. Das waren eben Liebenswürdigkeiten, mit denen sich damals die
feindlichen Brüder traktierten.

       *       *       *       *       *

Der Stuttgarter Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war von
uns auf den 4. bis 7. Juni einberufen worden. Anwesend waren 74
Delegierte. Unter den Gästen befand sich auch Eduard Vaillant mit seinem
Freunde Dr. Mülberger, deren Bekanntschaft ich damals machte. Nach den
Bestimmungen der norddeutschen Bundesverfassung mußten Ende August 1870
die Neuwahlen zum Reichstag stattfinden — die nachher der Ausbruch des
Deutsch-Französischen Krieges verhinderte — und so war die Frage der
Taktik bei den Wahlen ein Hauptthema in den Verhandlungen. Liebknecht
und ich, die wir über die praktische Beteiligung im Parlament in
Meinungsverschiedenheiten geraten waren, worüber ich noch an anderer
Stelle berichte, hatten uns auf folgende Resolution verständigt:

  „Die sozialdemokratische Arbeiterpartei beteiligt sich an den Reichs-
  und Zollparlamentswahlen lediglich aus agitatorischen Gründen. Die
  Vertreter der Partei im Reichstag und Zollparlament haben, soweit es
  möglich, im Interesse der arbeitenden Klasse zu wirken, im großen und
  ganzen aber sich negierend zu verhalten und jede Gelegenheit zu
  benutzen, die Verhandlungen beider Körperschaften in ihrer ganzen
  Nichtigkeit zu zeigen und als Komödienspiel zu entlarven.

  Die sozialdemokratische Arbeiterpartei geht mit keiner anderen Partei
  Allianzen oder Kompromisse ein, dagegen empfiehlt der Kongreß bei den
  Wahlen zum Reichstag und Zollparlament da, wo die Partei einen eigenen
  Kandidaten nicht aufstellt, solchen Kandidaten ihre Stimmen zu geben,
  die wenigstens in politischer Hinsicht wesentlich unseren Standpunkt
  einnehmen. Namentlich empfiehlt der Kongreß in den Bezirken, wo die
  Partei von Aufstellung eigener Kandidaten absieht, von anderen
  Parteien aufgestellte wirkliche Arbeiterkandidaten zu unterstützen.“

Werth-Barmen beantragte, die Nichtbeteiligung an den Wahlen
auszusprechen; die Resolution sei inkonsequent. Dieser Antrag wurde
abgelehnt und unsere Resolution angenommen.

Darauf kam die Grund- und Bodenfrage zur Verhandlung, für die ich
Berichterstatter war. Die von mir vorgeschlagene Resolution lautete:

  „In Erwägung, daß die Erfordernisse der Produktion wie die Anwendung
  der Gesetze der Agronomie — wissenschaftlichen Bewirtschaftung des
  Bodens — den Großbetrieb beim Ackerbau erheischen und, ähnlich wie in
  der modernen Industrie, die Einführung von Maschinen und die
  Organisation der ländlichen Arbeitskraft notwendig machen, und daß im
  allgemeinen die moderne ökonomische Entwicklung den Großbetrieb im
  Ackerbau erstrebt; — in Erwägung, daß demgemäß bei dem Ackerbau wie bei
  der Großindustrie die allmähliche Verdrängung der kleinen und
  mittleren Eigentümer durch die Großbesitzer vor sich geht, das Elend
  und das Abhängigkeitsverhältnis der weitaus größten Mehrzahl der
  Ackerbaubevölkerung zugunsten einer kleinen Minorität stetig zunimmt
  und dies den Gesetzen der Humanität und Gerechtigkeit
  zuwiderläuft; — in Erwägung, daß die produktiven Eigenschaften des
  Bodens, die keine Arbeit erheischen, das Material aller Produkte und
  aller brauchbaren Dinge bilden: spricht der Kongreß die Ansicht aus,
  daß die ökonomische Entwicklung der modernen Gesellschaft es zu einer
  gesellschaftlichen Notwendigkeit machen wird, das Ackerland in
  gemeinschaftliches Eigentum zu verwandeln und den Boden von Staats
  wegen an Ackerbaugenossenschaften zu verpachten, welche verpflichtet
  sind, das Land in wissenschaftlicher Weise auszubeuten und den Ertrag
  der Arbeit nach kontraktlich geregelter Uebereinkunft unter die
  Genossenschafter zu verteilen. Um die vernünftige und
  wissenschaftliche Ausbeutung des Grund und Bodens zu ermöglichen, hat
  der Staat die Pflicht, durch Einrichtung entsprechender
  Bildungsanstalten die nötigen Kenntnisse unter der ackerbautreibenden
  Bevölkerung zu verbreiten.

  Als Uebergangsstadium von der Privatbewirtschaftung des Ackerlandes
  zur genossenschaftlichen Bewirtschaftung fordert der Kongreß, mit den
  Staatsdomänen, Schatullengütern, Fideikommissen, Kirchengütern,
  Gemeindeländereien, Bergwerken, Eisenbahnen usw. zu beginnen, und
  erklärt sich deshalb gegen jede Verwandlung des oben angeführten
  Staats- und Gemeinbesitzes in Privatbesitz.“

Der Schlußsatz der Resolution wurde mehrfach angefochten, man solle
nicht ins Detail gehen. Schließlich aber wurde der Resolution
zugestimmt.

Da um jene Zeit in Wien der Hochverratsprozeß gegen die Führer der
österreichischen Arbeiter, Oberwinder, Andreas Scheu, Johann Most usw.
bevorstand, ferner die österreichische Regierung die Führer der
Arbeiterbewegung mit fanatischem Haß verfolgte und der „Sozialdemokrat“
fortfuhr, Liebknecht als Agenten der österreichischen Regierung
anzugreifen, schlug folgende Resolution vor:

  „Der Kongreß erklärt, daß die österreichische Regierung durch ihre
  Haltung gegenüber der Arbeiterbewegung und durch die aller
  Menschlichkeit hohnsprechende Behandlung der eingekerkerten Arbeiter
  sich den Haß und die Verachtung der Arbeiter aller Nationen erworben
  hat.“

Die Resolution wurde unter stürmischem Beifall des Kongresses
angenommen.

Als Kongreßort für das Jahr 1871 wurde Dresden gewählt.



Schweitzers Ende.


Während die geschilderten Vorgänge sich zutrugen, setzte der
„Sozialdemokrat“ seine Angriffe mit ungeschwächten Kräften und ohne
Bedenken über die Wahl der Kampfmittel gegen uns fort. So war es zum
Beispiel jetzt bei ihm Sitte geworden, daß er beständig Artikel aus dem
nationalliberalen _„Frankfurter Journal“_, das ein Organ unserer Partei
sei, abdruckte und gegen uns verwertete. Die Verlogenheit konnte kaum
weitergetrieben werden. Aber es kam noch besser.

Unter dem Datum des 3. Juli veröffentlichte der „Volksstaat“ einen
Aufruf des Braunschweiger Ausschusses, worin dieser aufforderte, die
Vorbereitungen zu den Reichstags- und Zollparlamentswahlen zu treffen,
wobei er entsprechend den Beschlüssen des Stuttgarter Kongresses darauf
hinwies, daß in Wahlkreisen, in denen wir selbst keinen Kandidaten
aufstellten, zu erwägen sei, ob nicht dem Kandidaten einer anderen
Arbeiterpartei mit unseren Stimmen zum Siege verholfen werden könne. Der
Braunschweiger Ausschuß ahnte damals nicht, daß schon am Tage vorher,
den 2. Juli, in einer Vorstandssitzung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins in Hannover Schweitzer Anträge eingebracht hatte, denen
der Vorstand seine Zustimmung erteilt hatte, die folgendermaßen
lauteten:

  „1. Bei der engeren Wahl zwischen einem Reaktionär (Konservativen) und
  einem Liberalen: Stimmabgabe für den Liberalen.

  2. Bei der engeren Wahl zwischen einem Reaktionär und einem
  Volksparteiler (Ehrlichen, womit er uns meinte): _Stimmenthaltung_.

  3. Bei der engeren Wahl zwischen zwei Liberalen: Stimmabgabe für den
  weitergehenden Kandidaten.

  4. Bei der engeren Wahl zwischen einem Liberalen und einem
  _Volksparteiler (Ehrlichen): Stimmabgabe für den Liberalen_.“

Die ersten drei Punkte waren einstimmig, der vierte gegen vier Stimmen
angenommen worden.

Man kann sich die Empörung vorstellen, die uns ergriff, als wir diesen
Beschluß lasen, den wir als eine _Infamie ersten Ranges_ ansahen. Es war
klar, daß Schweitzer und Tölcke den fanatischen Haß der
Vorstandsmitglieder gegen uns benutzt hatten, um diesen infamen
Beschluß, der die der Bismarckschen Politik am feindlichsten
gegenüberstehende Partei traf, durchzusetzen. Richter-Wandsbeck hat
später erklärt, _er habe gegen den Antrag gestimmt, weil er gewußt, daß
Schweitzer ihn im Auftrag der Regierung gestellt habe_. Ich lasse das
dahingestellt sein. Zweifellos entsprach aber dieser Beschluß _den
Wünschen Bismarcks_, und das genügte.

Sobald der Beschluß in unseren Reihen bekannt wurde, erließ der
Braunschweiger Parteiausschuß unterm 11. Juli einen Aufruf, in dem es
hieß: „daß ungeachtet jenes Beschlusses unsere Parteigenossen, wo dies
im Interesse der Arbeitersache liege, _den Kandidaten des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins unterstützen sollten, treu dem Gedanken, daß
die Organisation dazu da sein solle, die Einigung aller
sozialdemokratischen Arbeiter zu ermöglichen“._ Im weiteren hieß es
alsdann:

  „Dem Herrn v. Schweitzer aber, der in der gehässigsten und
  verwerflichsten Weise Arbeiter gegen Arbeiter, Sozialdemokraten gegen
  Sozialdemokraten zu hetzen sucht, sind wir um der Arbeitersache
  verpflichtet, mit aller Energie entgegenzutreten. Daher fordern wir
  die _Parteigenossen in Barmen-Elberfeld_, dem klassischen Boden für
  diesen Kampf, auf, die nötigen Schritte in dieser Richtung ohne Säumen
  zu tun; _die Partei ist schuldig und verbunden, die allgemeine
  Bewegung von einem Menschen zu säubern, der, unter dem Deckmantel
  einer radikalen Gesinnung, bisher im Interesse der preußischen
  Staatsregierung alles getan hat, dieser Bewegung zu schaden._ Die
  Partei wird den Genossen in Barmen-Elberfeld zur Seite stehen. Nun
  kräftig vorwärts!“

Am 13. Juli mußte der „Sozialdemokrat“ bekanntmachen, daß sein Format
verkleinert werden müsse, weil die verlangten 500 neuen Abonnenten nicht
gekommen seien. Das war die Antwort auf die prahlerische Ankündigung am
Schlusse des Vorjahres, das Format des Blattes zu vergrößern. Die Zahl
habe sich kaum um 100 vermehrt. Bald darauf mußte aber sowohl der
„Sozialdemokrat“ wie der „Volksstaat“, der Ende März 1870 2000
Abonnenten hatte, weitere Raumbeschränkungen eintreten lassen. Es brach
plötzlich der Deutsch-Französische Krieg aus, der von beiden Fraktionen
zahlreiche Parteigenossen unter die Waffen rief, andere durch
hereinbrechende Arbeitslosigkeit brotlos machte.

Auf die Ursachen und die Entwicklung dieses Krieges komme ich in anderem
Zusammenhang zu sprechen. Liebknecht und ich betrachteten denselben als
einen solchen, an dem Napoleon und Bismarck gleichmäßig schuldig seien,
und enthielten uns bei der verlangten Kriegsanleihe der Abstimmung, was
wir durch eine Erklärung zu den Akten des Reichstags motivierten. Anders
Schweitzer und Genossen. Nach Schweitzer war der Krieg nicht nur ein
Krieg gegen das deutsche Volk, _sondern gegen den Sozialismus._ Und
jeder Deutsche, der sich dem Friedensbrecher entgegenwerfe, kämpfe nicht
nur fürs Vaterland, _sondern auch gegen den Hauptfeind der Ideen der
Zukunft, für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit._

Den Sozialismus mit dem Kriege in Verbindung zu bringen, war zwar
grandioser Blödsinn, aber in jener aufgeregten Zeit, in der der größte
Unsinn geglaubt wurde, wenn er sich gegen uns richtete, lag Methode in
diesem Verhalten.

Mitten in die Kriegswirren traf die Nachricht aus Wien ein, daß
Oberwinder, Andreas Scheu, Most und Papst wegen Hochverrats, ersterer zu
sechs Jahren, die anderen zu fünf bis drei Jahren Zuchthaus, verschärft
für jeden durch einen Fasttag im Monat, verurteilt worden seien.
Außerdem wurde für Oberwinder und Most die Ausweisung aus den
österreichischen Ländern nach verbüßter Strafe ausgesprochen. Die
übrigen Angeklagten wurden zu geringeren Strafen verurteilt. Ein
Hauptanklagepunkt war die Beteiligung am Eisenacher Kongreß (Oberwinder
und Scheu) und die Anerkennung des Eisenacher Programms, das nur durch
Gewalt durchgesetzt werden könne.

An der Hatz, die jetzt gegen uns seitens fast der gesamten Presse wegen
unseres Verhaltens im Reichstag inszeniert wurde, beteiligte sich der
„Sozialdemokrat“ in hervorragendem Maße, der uns „Landesverräter“ und
ähnliche schöne Titel anhängte. Damit nicht genug, sandte Schweitzer
verschiedene seiner Agitatoren nach Leipzig, die dort die Massen gegen
uns aufhetzen sollten. Zunächst kam Hasenclever, dessen Versammlung
durch ein Plakat angekündigt wurde, in dem es hieß: „Sämtliche Arbeiter,
Bürger und Bewohner der Stadt werden zu dieser Versammlung freundlichst
eingeladen. Während unsere Truppen im Felde stehen, scheint eine
öffentliche Kundgebung des echt deutschen Sinnes unserer Einwohnerschaft
einzelnen undeutschen Elementen gegenüber, die sich auch hier bemerklich
machen, dringend geboten. Der Bevollmächtigte des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins.“

Hasenclever machte aber schlechte Geschäfte; wir hatten die Mehrheit in
der Versammlung, und so wurde die von uns vorgeschlagene Resolution
angenommen. Weit schlimmer ging es in der Versammlung zu, in der nach
ihm Wolf-Hamburg und Armborst-Stettin sprechen sollten. Hier kam es
sofort zu tumultuarischen Szenen, die bald in ein Handgemenge
ausarteten, dem der erschreckte Wirt durch Ausdrehen der Gasflammen ein
Ende bereitete. Als wir nach der Versammlung in unserem Vereinslokal uns
zusammenfanden, kam die Kunde, die Schweitzerianer seien nach
Liebknechts Wohnung gezogen, um diesem die Fenster einzuwerfen. Im
Sturmschritt eilten wir auf dem kürzesten Wege nach Liebknechts Wohnung,
kamen aber leider einige Minuten zu spät. In der Tat waren Liebknecht
eine Anzahl Fensterscheiben eingeworfen worden, und war dadurch Frau
Liebknecht, die ahnungslos in der Stube saß und ihrem ersten Sprößling
die Brust reichte, aufs tiefste erschreckt worden. Voll Zorn eilten wir
den Attentätern nach und erreichten sie in der Nähe der inneren Stadt,
worauf sie regelrecht verprügelt wurden. Kurz darauf meldete der
„Sozialdemokrat“ die Heldentat seiner Anhänger mit den Worten:

  „Der Volkszorn gegen das landesverräterische Treiben der Volkspartei
  hat einen Ausbruch gefunden. Liebknecht sind die Fenster eingeworfen
  worden.“

Einige Tage später hatten mir eine Anzahl Studenten eine ähnliche
Ovation zugedacht. Zu dem Fenstereinwurf sollte noch eine Katzenmusik
kommen. Zum Glück wohnte ich hinten im Hofe im Hause eines
Großkaufmanns. Sobald der Hauswart erfuhr, was die eines Abends
heranziehenden Studenten beabsichtigten, schloß er rasch das Tor; so
mußten sie unverrichteter Sache abziehen.

Alle diese Hetzereien, die weiter aufzuzählen sich nicht lohnt, erregten
derart meine Wähler, daß diese, meist arme Teufel, sich veranlaßt sahen,
mir einen silbernen Lorbeerkranz, begleitet von einem Uhlandschen
Sinngedicht, zu überreichen. Würde ich von dieser Absicht eine Ahnung
gehabt haben, ich hätte ihre Ausführung verhindert.

Ende August 1870 machte Tölcke im „Iserlohner Kreisblatt“ bekannt, daß
er vorläufig die Politik an den Nagel gehangen und sich als Volksanwalt
niedergelassen habe. Damit war eine der festesten Säulen Schweitzers
geborsten. Aber jetzt trat auch im „Sozialdemokrat“ plötzlich eine
Schwenkung ein, der Draht nach oben war offenbar zerrissen. Der Krieg
mit seinen ununterbrochenen Siegen der deutschen Waffen führte
Süddeutschland und fast das gesamte Bürgertum Norddeutschlands zu den
Füßen Bismarcks. Selbst in den Kreisen der süddeutschen Volkspartei
feierte der Chauvinismus wahre Orgien. Jetzt konnte ein Schweitzer
Bismarck mehr schaden als nützen; es hatte keinen Zweck mehr, ihn zu
halten.

Am 31. August wendete sich der „Sozialdemokrat“ gegen eine gewaltsame
Annexion von Elsaß-Lothringen. Anfang September, nach der Gefangennahme
Napoleons, sprach er sich für Abschluß eines Waffenstillstandes und
gegen den Gedanken einer Wiedereinsetzung Napoleons aus. Genau also wie
wir im „Volksstaat“. Am 14. September veröffentlichte der
„Sozialdemokrat“ einen Leitartikel, in dem er sich gegen die stehenden
Heere aussprach und sich dabei auf Gneisenau berief.

Als er die Verhaftung August Geibs in Hamburg meldete, der das Schicksal
des Braunschweiger Ausschusses teilte, dessen Mitglieder man mit Ketten
gefesselt nach der Festung Lötzen geschleppt hatte, bemerkte er
ingrimmig: Liebknecht und Bebel, die andere für sich die Kastanien aus
dem Feuer holen ließen, befänden sich als Haupthetzer in Sicherheit. Er
brauchte nicht allzulange zu warten, und seine Sehnsucht nach unserer
Verhaftung wurde gestillt. Als dann auch Johann Jacoby und
Herbig-Königsberg verhaftet und ebenfalls nach Lötzen geschleppt wurden,
wendete sich jetzt der „Sozialdemokrat“ gegen diese Verhaftung. Anfang
November 1870 meldete das Blatt, daß Petzold-Leipzig, einer seiner
fanatischsten Anhänger, aus dem Vorstand des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins ausgetreten sei. Er wollte von Schweitzer nichts mehr
wissen.

Für den 24. November war der Reichstag wieder einberufen worden, um
unter anderem über eine neue Geldbewilligung für Fortsetzung des Krieges
zu beschließen. Jetzt kündigte der „Sozialdemokrat“ an, daß diesmal die
Abgeordneten der Partei gegen die Geldbewilligung stimmen würden. Der
Krieg, der anfangs ein Verteidigungskrieg gewesen, sei jetzt zu einem
Eroberungskrieg geworden. Er war also nunmehr auch hierin auf unserem
Standpunkt. Bei den außerordentlich heftigen Debatten, die Liebknecht
und ich beständig im Reichstag provozierten, verhielten sich Schweitzer
und Genossen vollkommen schweigsam, sie griffen mit keinem Worte in die
Debatte ein. Nur als Liebknecht in einer Rede sich gegen die
Unterstellung wandte, wir seien mehr die Freunde Frankreichs als
Deutschlands, und bemerkte: Ich will lieber der gute Bruder des
französischen Volkes als der gute Bruder des Schurken Napoleon sein,
rief Schweitzer ein lautes Bravo! Bravo! dazwischen. Das war die einzige
Aeußerung, die er in den Kriegsdebatten machte.

Am 17. Dezember wurden Liebknecht, Hepner (der Mitredakteur des
„Volksstaat“) und ich in unseren Wohnungen polizeilich überfallen, und
nachdem eine Durchsuchung unserer Wohnungen stattgefunden hatte, wurden
wir für verhaftet erklärt und in Untersuchungshaft abgeführt. Wir waren
also, da die Untersuchungshaft bis Ende März 1871 dauerte, während des
Wahlkampfes, der nach Neujahr einsetzte, vollständig lahmgelegt, das
verhinderte aber Herrn v. Schweitzer nicht, am 8. Januar im
„Sozialdemokrat“ nochmals die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins darauf hinzuweisen, daß der Beschluß des
Vereinsvorstandes vom 2. Juli des verflossenen Jahres betreffend ihr
Verhalten bei engeren Wahlen sich gegen uns, die Eisenacher Ehrlichen,
richte. Das brachte dieser Mensch fertig, während wir in strengster
Einzelhaft hinter Schloß und Riegel saßen und Staatsanwalt und Richter
einen Hochverratsprozeß gegen uns zusammenbrauten.

Aber die Leipziger Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
besaßen zuviel Ehrgefühl und Klassenbewußtsein, um diesem Winke zu
folgen; sie machten mit unseren Parteigenossen gemeinsame Sache, indem
sie mich als Kandidaten für Leipzig aufstellten. Auch weigerte sich eine
Anzahl Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, eine
Erklärung zu unterschreiben, worin sie sich in ihrer Taktik bei einer
engeren Wahl gegen uns festlegen sollten. Herr v. Schweitzer hatte
wieder einmal den Bogen überspannt.

Am 3. März 1871, dem Tage des Friedensschlusses, der mit Berechnung als
Wahltag gewählt worden war, veröffentlichte der „Sozialdemokrat“ einen
Leitartikel, der die größte Siegeszuversicht atmete. Aber am Abend jenes
Tages wurde gemeldet, daß nirgends ein Sieg erfochten worden war und
Schweitzer in Barmen-Elberfeld mit dem Kandidaten der Konservativen,
Herrn v. Kusserow, in engere Wahl komme. Es war dieses derselbe Herr v.
Kusserow, der im Herbst 1867 an Schweitzer 400 Taler zahlte als
Wahlkostenbeitrag der Konservativen für seine Wahl. In der engeren Wahl
unterlag Schweitzer mit 8477 gegen 9540 Stimmen. _Diese Niederlage
brachte bei ihm den Entschluß zur Reife, sich vom öffentlichen Leben
zurückzuziehen,_ was wohl am deutlichsten für seinen Charakter spricht.
In einer langen Ansprache im „Sozialdemokrat“ vom 26. März „An die
Partei“ kündigt er an: _er könne die Leitung fortan nicht beibehalten,_
sein Entschluß sei unwiderruflich. Indem er auf das Wahlergebnis
hinweist, bemerkt er, daß dasselbe zwar nicht die Ursache seines
Rücktritts sei, aber es gebe ihm allerdings Gelegenheit, den längst
beabsichtigten Rücktritt zu verwirklichen. Zahlreiche Parteigenossen in
seiner Umgebung könnten bezeugen, daß er schon seit einem Jahre hierzu
entschlossen sei. Er werde sein Amt bis zur nächsten Generalversammlung
beibehalten, und nachdem die Partei ihn von seiner Geschäftsgebarung
entlastet habe, die Gewalt in die Hände der höchsten Behörde der Partei
niederlegen.

Der eigentliche Grund seines Rücktritts sei: er habe lange Jahre
hindurch Zeit, Arbeitskraft, Seelenruhe und Geld für die Arbeiterpartei
geopfert. Niemand könne ihm zumuten, diese Opfer weiter fortzusetzen....
Er habe das Seinige getan, habe lange genug auf dem Posten gestanden, um
verlangen zu dürfen, daß Ablösung stattfinde.

Diese Ankündigung war für den Verein wie für die Gegner Schweitzers eine
Ueberraschung. Bisher hatte sein Gebaren nicht gezeigt, daß er es satt
habe, auf dem Posten weiter zu stehen, auf den der Verein ihn gestellt.
Alle seine Maßnahmen bewiesen das Gegenteil. Es mag zugegeben werden,
daß er sich seit einem Jahre mit dem Gedanken eines eventuellen
Rücktritts trug und ihn auch diesem oder jenem aus seiner Umgebung
gegenüber äußerte. Aber ernsthaft daran geglaubt hat wohl niemand. Was
seinen Entschluß zunächst hervorgerufen haben mochte, waren wohl die
Erfahrungen in Barmen-Elberfeld und der Verlauf der Berliner
Generalversammlung im Januar 1870, die ihm beweisen mußten, daß es ihm
nie gelingen werde, das volle Vertrauen des Vereins zu erwerben, ja daß
im Gegenteil das Mißtrauen und die Unzufriedenheit mit seiner Leitung
und seinem Verhalten wuchs. Er hatte doch zu viel Anklagematerial
geliefert, zu sehr durch zahlreiche Handlungen Kopfschütteln und
Mißfallen erregt, als daß man schließlich es noch fertig brachte, wegen
der glänzenden Eigenschaften, die er als Parteiführer besaß, über das
Vorgekommene hinwegzusehen, wie das bisher geschehen war. Diesen
Eigenschaften zuliebe hatte man ihm vieles verziehen, was der Verein
unter anderen Umständen sich niemals würde haben bieten lassen. Aber
dieses Maß von Nachsicht ging auf die Neige. Andererseits erkannte er,
_daß er auf die Dauer den Krieg gegen uns mit Aussicht auf Erfolg nicht
fortführen konnte_. Trotz aller Mängel, die damals unsere Partei noch
aufwies in ihrer Organisation und im festen Zusammenschluß ihrer
Glieder, die Partei wuchs beständig, und ihr moralisches Ansehen war in
den Augen ihrer Gegner unbestritten. Es konnte also bald der Tag für ihn
kommen, an dem er einen Friedensschluß mit uns suchen mußte, was einer
Verurteilung seines ganzen bisherigen Verhaltens gleichkam. Diesem Gang
unter das kaudinische Joch, als das er ihm erschien, wollte er sich
nicht unterwerfen. Dieser Möglichkeit zog er die Preisgabe seiner
Stellung im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein vor, die auch nach oben
hin haltlos geworden war.

Schweitzer hatte auch bereits die Fühler für die Gewinnung einer
bürgerlichen Stellung ausgestreckt. Im Januar 1871 war ein dreiaktiges
Drama von ihm, betitelt „Kanossa“, über eine der Berliner Bühnen
gegangen, wodurch er zeigte, daß bei ihm dramatisches Geschick vorhanden
war. Auf diesem Gebiet arbeitete er nunmehr weiter.

       *       *       *       *       *

Am 30. April hatte ein Teil des _Lassalle_schen Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins seine Auflösung und seinen Uebertritt in unsere Partei
beschlossen. Auch August Kühn, damals in Bremen, trat in einem „Offenen
Brief“ für eine Einigung der verschiedenen Fraktionen ein, die
namentlich hinsichtlich der gewerkschaftlichen Bewegung eine absolute
Notwendigkeit sei.

Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war vom
30. April auf den 19. Mai vertagt worden. Aber Ende April ließ
Schweitzer den „Sozialdemokrat“ eingehen, so daß nunmehr der Verein ohne
Organ war.

Auf dieser Generalversammlung nahmen namentlich die Verhandlungen über
die Kassenzustände einen sehr weiten Raum ein; sie endeten damit, daß
ein Antrag Frohmes einstimmig angenommen wurde, lautend, „_dem
Präsidenten eine Rüge zu erteilen_ wegen der teilweise höchst
unzweckmäßigen Verwendung der Gelder für die Agitation“. Im Laufe der
weiteren Verhandlungen setzte Schweitzer auseinander, daß finanzielle
Gründe ihn gezwungen hätten, den „Sozialdemokrat“ Ende April eingehen zu
lassen. Er hob dabei hervor, _daß der „Sozialdemokrat“ zu keiner Zeit
seine Kosten gedeckt habe,_ also auch kein Redaktionsgehalt ihm
einbringen konnte. Ein Delegierter gab an, daß vom 1. Oktober 1870 bis
1. Januar 1871 der „Sozialdemokrat“ zirka 1700 Abonnenten verlor. Der
„Volksstaat“ verlor in der gleichen Zeit 300. Die Generalversammlung
beschloß, den „Sozialdemokrat“ in der alten Form wieder erscheinen zu
lassen, und zwar als Vereinseigentum. Das Blatt erschien unter dem Titel
„Neuer Sozialdemokrat“ vom 1. Juli ab. Ferner wurde beschlossen, eine
Verwaltungs-und Beschwerdekommission von drei Mitgliedern einzusetzen.
An Stelle Schweitzers wurde Hasenclever zum Vereinspräsidenten gewählt,
Hasselmann wurde erster Redakteur, Derossi Sekretär. Der Präsident wurde
von jetzt ab mit 50 Talern monatlich honoriert.

Schließlich sprach die Generalversammlung _einstimmig Schweitzer ihren
herzlichen Dank aus für seine tatkräftige Leitung der Partei und
bedauerte, ihn nicht länger auf diesem Posten und an ihrer Spitze zu
haben._ Offenbar wollte man ihm eine goldene Brücke bauen und die
Genugtuung verbergen, die sein Rücktritt bei vielen seiner früheren
Anhänger hervorrief.

Zu diesem einstimmigen Vertrauensvotum standen die Verhandlungen im
_grellen Widerspruch_, die im nächsten Jahr auf der Generalversammlung
des Vereins zu Berlin vom 22. bis 25. Mai 1872 gepflogen wurden. Auf
dieser wurde das Protokoll der Vorstandssitzung in Hannover vom 3. März
1872 verlesen, auf der Tölcke, der frühere Vertrauensmann Schweitzers,
ausgeführt hatte:

  _„Wenn man die Geschichte des Vereins betrachte, so falle es einem in
  die Augen, daß jedesmal, wenn derselbe in die Höhe ging, irgend ein
  Experimentchen gemacht wurde, das ihn wieder herunterbrachte.“_

Worauf ihm mit Recht geantwortet wurde, daß er diese Experimente
mitgemacht, aber bisher geschwiegen habe. Weiter äußerte Tölcke:

  „Schweitzer habe keine Vereinskarten drucken lassen, weil er das
  einkommende Geld sofort selbst konsumierte. Er (Tölcke) habe den
  Agitatoren das doch nicht schreiben können, dann wären immer neue
  Risse in der Partei entstanden. Aurin habe damals gesagt, die
  _Verbandskasse_ sei nicht in Ordnung; das sei richtig gewesen, _da
  Schweitzer 500 Taler aus der Verbandskasse genommen_ und zu seinem
  Bankier getragen habe. Man habe in Rücksicht auf die Partei darüber
  geschwiegen.“

Weiter erzählte Tölcke:

  _„Schweitzer stehe mit dem Polizeipräsidium in Verbindung und
  hinterbringe demselben alles, was passiere. Schweitzer habe ihm kurz
  vor dem Antritt seiner Haft in Rummelsburg gesagt, daß er (Redner)
  sich zu jeder Zeit, wenn etwas passiere, an das Polizeipräsidium
  wenden könne; er sei auch mit ihm dorthin gegangen und habe ihn
  daselbst vorgestellt, wobei Schweitzer eine große Kenntnis der
  Räumlichkeiten dort entwickelte. Nachher sei er mit ihm um den ganzen
  Hof herum gegangen, wo sämtliche Hauptleute usw. aufgepflanzt waren
  und den Doktor freundlich grüßten. Dann sagte ihm Schweitzer auch, daß
  er (Redner) jederzeit zum Minister des Innern kommen könne.“_

Hierauf wurde Tölcke abermals mit Recht erwidert, _er_ habe die Partei
immer im Dunkeln tappen lassen, noch auf der vorigen Generalversammlung
habe er Schweitzer verteidigt. Ein anderer Redner meinte: Nach seinen
eigenen Angaben sei Tölcke ein weit _schlimmerer Verräter_ als
Schweitzer. Ein dritter Redner äußerte:

  „_Er bemerke die Anwesenheit Doktor Schweitzers und frage an, ob auch
  Nichtmitglieder anwesend sein dürfen. Könne sich Schweitzer weder als
  Mitglied noch als überwachender Polizeibeamter ausweisen, so habe er
  ohne weiteres das Lokal zu verlassen._“

Es wird konstatiert, daß Schweitzer seit seinem Rücktritt vom Präsidium
keine Beiträge mehr bezahlte, also kein Mitglied des Vereins mehr sei.
Schweitzer verließ hierauf das Lokal.

_Lingner beantragte alsdann, einen Beschluß zu fassen, daß Schweitzer
nicht mehr in den Verein aufgenommen werden dürfe, er wolle ihn
ausgeschlossen wissen._

Bei der Abstimmung wurde der Antrag, _daß Schweitzer nicht mehr in den
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein aufgenommen werden könne, mit 5595
gegen 1177 Stimmen bei 1209 Enthaltungen angenommen._

So endete Schweitzers politische Laufbahn. Er war preisgegeben und
verurteilt selbst von denen, die ihm viele Jahre ein fast unbegrenztes
Vertrauen schenkten oder wie Tölcke seine Helfershelfer waren. Mayer
meint in seinem von mir mehrfach zitierten Buche über Schweitzer, es
wären die literarischen Gefälligkeiten gegen den konservativen
Sozialpolitiker Rudolf Meyer gewesen, die Schweitzers Ausschluß aus dem
Verein herbeigeführt hätten. Das ist ein Irrtum, _so_ empfindlich war
man in jener Zeit im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein nicht. Auch
hätte alsdann _Hasenclever_ ausgeschlossen werden müssen, der, wie
_allbekannt_ war, damals ebenfalls mit Rudolf Meyer im Verkehr stand.
Dieser Verkehr wäre aber auch kein Grund zu einem Ausschluß aus der
Partei gewesen. Haben doch auch Fr. Engels und ich später zu Rudolf
Meyer in persönlichen Beziehungen gestanden, der 1893 in Prag unser
Führer durch die Stadt war. Ich meine, an den gewichtigsten Gründen für
den betreffenden Beschluß gegen Schweitzer mangelte es dem Verein nicht,
man brauchte nicht nach anderen zu suchen.

Mit Schweitzer schied eine Persönlichkeit aus dem politischen Leben,
die, wenn sie zu ihren sonstigen Eigenschaften auch die Eigenschaften
gehabt hätte, _die der Führer einer Arbeiterpartei unbedingt haben muß,_
Selbstlosigkeit, Ehrlichkeit und volle Hingabe an die zu vertretende
Sache, unbestreitbar der erste Führer der Partei bis an sein Lebensende
geblieben wäre, wie ich das schon hervorhob. Man mag diese großen Fehler
seiner Persönlichkeit bedauern, übersehen durfte man sie nicht. Unter
den damaligen Verhältnissen wäre er der gegebene Mann gewesen. Viele
Jahre erbitterter Kämpfe, in denen Zeit, Kraft, Gesundheit und Geld zur
Freude der gemeinsamen Gegner verschwendet und verpufft wurden, was
wieder ungezählte Kräfte abhielt, sich der Bewegung anzuschließen, wären
unmöglich gewesen. Die Saat, die Schweitzer gesät, trug auch weiter ihre
Früchte. Wohl hatte er die Ideen des Sozialismus in seltener Klarheit
und Lebendigkeit den Massen beizubringen verstanden — das war sein
Verdienst, und diese Tätigkeit stand mit der zweideutigen politischen
Rolle, die er spielte, durchaus nicht im Widerspruch —, aber politisch
hatte er Unheil gesät, den Fanatismus großgezogen und durch den Apfel
der Zwietracht eine dauernde Spaltung und damit die Schwächung der
Arbeiterbewegung aufrecht zu erhalten versucht.

Dieses war nach meiner Ueberzeugung seine eigentliche Aufgabe. Die
Richtigkeit derselben wird bestätigt durch die bereits zitierte
Aeußerung Tölckes auf der Berliner Generalversammlung, „daß bei einem
Blick auf die Geschichte des Vereins es in die Augen falle, daß, sobald
derselbe in die Höhe ging, irgend ein Experiment gemacht worden sei, das
ihn wieder herunterbrachte“. Dafür liefert die Geschichte des Vereins
zahlreiche Beispiele. Genau so ging es mit den Gewerkschaften. Nachdem
ihre Gründung, weil im Zuge der Zeit liegend, unumgänglich war, mußte
eine möglichst widersinnige Organisation ihre Entwicklung hemmen. Wenn
hier Schweitzer seinen Zweck nicht erreichte, so, weil die Bewegung viel
zu gesund war, um sich in spanische Stiefel schnüren zu lassen, sie
wuchs ihm über den Kopf.

Der eigentliche Zweck seiner Tätigkeit, und in Bismarcks Augen ihr
Hauptzweck, war, _eine der Regierung politisch gefügige Arbeiterbewegung
zu schaffen._ Darum wurde als Grenzlinie für ihre Opposition der
Standpunkt der Fortschrittspartei festgehalten, jener Partei, die nach
Schweitzers Diktum in sozialen Dingen die Partei des Rückschritts war.
Daß Schweitzer nach alledem, was ich hier an Tatsachen zusammengestellt
habe, im Dienste Bismarcks stand, kann nicht dem geringsten Zweifel mehr
unterliegen. Daß man die Summen nicht kennt, die er für seine Rolle
bezog, beweist nichts. Dergleichen wird nicht, wie ich wiederhole, auf
offenem Markte abgemacht, und daß bei einem Manne wie Schweitzer auch
nicht subalterne Beamte damit zu tun hatten, ist sicher. Nach meiner
Ueberzeugung wußte nicht einmal der Berliner Polizeipräsident darüber
Genaueres.

Gegen seine Bestechung spricht auch nicht, daß er beständig und bis an
sein Lebensende sich mit Gläubigern herumschlagen mußte. In der ersten
Zeit des Bismarckschen Preußen waren die Summen nicht allzu hoch, die
man für Dienste zahlte, wie Schweitzer sie leistete. Später stand
Bismarck der Reptilienfonds zur absoluten Verfügung. Ueber diesen, der
von der ganzen Oppositionspresse angegriffen wurde, schrieb und sprach
bezeichnenderweise Schweitzer nie ein Wort. Er gehörte andererseits mit
seinen sybaritischen Neigungen zu den Leuten, die selbst mit einem
Bankdirektoreneinkommen leicht fertig werden. Möglich ist auch, daß er
hoffte, und sein Ehrgeiz sprach dafür, zu gelegener Zeit mit einer
entsprechenden Stellung in einem der Ministerien oder Reichsämter etwa
als Geheimrat für Sozialpolitik angestellt zu werden, von der nach
Bismarcks Geständnis seine damaligen Geheimräte nichts verstanden.

Für die Rolle, die Schweitzer spielte, war aber auch unumgänglich
notwendig, daß er frei und unabhängig nach eigenem Gutdünken mit dem
Verein schalten und walten konnte, an dessen Spitze er stand. _Dazu
gehörte die Diktatur._ Die Diktatur, die ihn jeder Kontrolle entzog, die
ihm erlaubte, ganz nach eigenem Gutdünken zu handeln, ohne daß er nötig
hatte, andere in seine Machenschaften einzuweihen oder gar ihre
Zustimmung einholen zu müssen. Das wäre der Tod der Diktatur gewesen und
hätte ihm seine Rolle _unmöglich_ gemacht. Daher die beständigen kleinen
und großen Staatsstreiche, durch die er die Fesseln wieder abstreifte,
die eben eine Generalversammlung ihm angelegt hatte. Und da Lassalle
infolge seines eigenen Diktatorengelüstes eine Organisation geschaffen
hatte, die dem Führer eine diktatorische Gewalt einräumte, mußte _diese
Organisation zu einer Pflanze Rührmichnichtan gemacht und Angriffe auf
sie zu einer Art Staatsverbrechen gestempelt werden. Die absolute Gewalt
des Präsidenten mußte unangetastet bleiben._ Dazu mußte weiter der
beständige Kultus mit Lassalle und der von ihm geschaffenen Organisation
dienen, ein Kultus, über den der Zyniker heimlich lachte und seine
Verachtung gegen diejenigen steigerte, die sich von ihm führen ließen.

Schweitzer hat wie an anderer Stelle so auch Rudolf Meyer gegenüber
geklagt über die „Undankbarkeit“ der Arbeiter. Diese Klage paßt ganz zu
dem Bilde, das er uns zeigt. Er kam eben mit einer ganz falschen
Auffassung von seiner Stellung in die Bewegung. Der Führer einer Partei
wird wirklicher Führer nur durch das, was er nach seinen Kräften und
Fähigkeiten der Partei als ehrlicher Mann leistet. Das Höchste zu
leisten, was er vermag, ist die Pflicht und Schuldigkeit eines jeden,
der in einer demokratischen Bewegung steht und zu ihr gehört. Durch
seine Leistung erwirbt er sich das Vertrauen der Masse, und diese stellt
ihn deshalb als Führer an ihre Spitze. Aber nur _als ihren ersten
Vertrauensmann, nicht als ihren Herrn, dem sie blindlings zu gehorchen
habe. Er ist der erwählte Verfechter ihrer Forderungen, der Dolmetsch
ihrer Sehnsucht, ihrer Hoffnungen und Wünsche. Solange der Führer dieser
Aufgabe gerecht wird, ist er der Vertrauensmann einer Partei; sieht
diese aber, daß getäuscht und betrogen und auf Irrwege geführt werden
soll, dann ist es nicht nur ihr Recht, sondern ihre Pflicht, dem Führer
die Führerschaft zu entreißen und ihm ihr Vertrauen zu nehmen._ Eine
Partei ist nicht der Führer wegen da, sondern die Führer der Partei
wegen. _Und da jede Machtstellung in sich die Gefahr des Mißbrauchs
enthält, hat die Partei die Pflicht, die Handlungen ihrer Führer unter
scharfe Kontrolle zu nehmen._

_Schweitzer sah aber die Dinge umgekehrt an, als er sie ansehen mußte._
Er fühlte sich als eine Art _Wohltäter_, er sah in der Partei nur das
Fußgestell, auf dem er emporstieg, das Mittel, seinen Ehrgeiz, und die
Möglichkeit, seine Genußsucht zu befriedigen. Und als ihm dieses Spiel
mißlang, klagte er über Undankbarkeit. Die Massen sind aber nie
undankbar, vorausgesetzt, solange sie an die Ehrlichkeit ihrer Führer
glauben. Und sie sind schwer zu überzeugen, daß sie betrogen werden,
wenn sie erst jemand ihr Vertrauen schenkten. Dafür gibt es eine Menge
Beispiele. Wer über Undankbarkeit der Massen klagt, klage sich selber
an. Die Schuld liegt an ihm.

Nachdem Schweitzer das Spiel verloren geben mußte, glaubte er auf einmal
seinen Anhängern empfehlen zu sollen, was er, solange er im Besitz
seiner Stellung war, aus Leibeskräften verhindert hatte. In einem
Flugblatt, betitelt: „An meine persönlichen Freunde im Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein“, das er unter dem 2. November 1872
veröffentlichte, trat er mit aller Entschiedenheit _für eine Vereinigung
der beiden Parteien_ ein. Natürlich konnte er dieses nicht, ohne zuvor
zu versuchen, sein früheres Verhalten gegen uns zu rechtfertigen. Nach
ihm war jetzt gar kein Zweifel mehr, daß wir eine sozialdemokratische
Partei seien, wozu uns aber erst der Uebertritt zahlreicher rühriger
Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gemacht, die er
aber vordem mit uns in einen Topf geworfen und als Literaten,
Schulmeister, Kaufleute, Viertels- und Achtelsintelligenzen bezeichnet
hatte. Weiter wandte er sich gegen den Beschluß der letzten
Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, wonach er
nicht mehr Mitglied des Vereins werden dürfe, dessen gefeierter
Präsident er jahrelang gewesen sei. Er sah in diesem Beschluß einen
unlösbaren Widerspruch zu dem das Jahr vorher ihm von der
Generalversammlung erteilten Vertrauensvotum. Er versicherte pathetisch
seinen redlichen Willen, mit dem er der Partei gedient habe. Er setzte
dann die Nachteile auseinander, die für beide Teile die Spaltung und
gegenseitige Bekämpfung mit sich bringe, und forderte zu einem
gemeinsamen Kongreß auf, der eine zentralistische Organisation, die nach
seiner jetzigen Auffassung das eigentliche Wesen der Lassalleschen
Organisation sei, zu schaffen habe. Er fordert, die Einigung zu schaffen
„mit den Führern, wenn diese wollen, _ohne sie,_ wenn sie untätig
bleiben, _trotz_ ihnen, wenn sie widerstreben“. Man sieht, er konnte
auch so.

Schweitzer hatte anfangs den Versuch gemacht, sein Flugblatt im
„Volksstaat“ zu veröffentlichen. Dieses wurde abgelehnt, nicht weil der
Gedanke der Einigung unseren Widerspruch fand, sondern weil namentlich
Liebknecht Schweitzer nicht traute. Er sah in dem Flugblatt eine Falle.
Mir machte der Vorschlag den Eindruck, daß Schweitzer seine Nachfolger
damit ärgern und in Verlegenheit bringen wollte. Im Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein versagte die Schweitzersche Aufforderung zur
Vereinigung vollständig. Er bekam jetzt in gewissem Sinne am eigenen
Leibe zu spüren, was er durch jahrelange Verhetzung gegen uns gesät. Es
mußten erst weitere Jahre ins Land gehen, bis unter dem Zwange innerer
und äußerer Umstände die Einigung der deutschen Sozialdemokratie
verwirklicht wurde.

Schließlich muß ich noch einige Handlungen Schweitzers erwähnen, die
weiter dazu dienen, seinen Charakter in das richtige Licht zu stellen.
Die Vorgänge, die sich auf der Generalversammlung des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins zugetragen, wurden natürlich auch der
bürgerlichen Presse bekannt, und diese erging sich nunmehr in allerlei
Glossen über die Schweitzer bewiesene Undankbarkeit. Darauf
veröffentlichte er in der „Berliner Börsenzeitung“ eine Erklärung, an
deren Schluß es hieß:

  „Ich stimme Ihnen daher vollständig zu, wenn Sie sagen, daß der
  Vorgang bezeichnend sei. Die Formfrage war diesen versammelten
  ‚Führern‘ und ‚Agitatoren‘ nur Vorwand. Derartige immer wiederkehrende
  Beweise von Undankbarkeit sind jedoch sehr erklärlich bei Leuten, von
  denen leider nur ein sehr kleiner Teil durch die Begeisterung für eine
  neue Idee bewegt wird, _während weitaus die meisten, wie ich zu meiner
  Betrübnis beobachten mußte, nur durch den Neid gegen die höheren
  Gesellschaftsklassen_ (den niemand heftiger als er geschürt hatte.
  A.B.) _oder durch andere unschöne Motive angetrieben werden. Nimmt man
  dazu den beschränkten Horizont und man wird sich über Erscheinungen
  des Undankes oder des Blödsinnes nicht weiter wundern.“_

Der „Berliner Volkszeitung“ schrieb er auf einen Artikel hin, daß er
sich seit seinem Rücktritt von der Präsidentur des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins in keiner Weise aktiv um sozialdemokratische
Angelegenheiten gekümmert habe und auch in Zukunft nichts damit zu
schaffen haben wolle. Er habe es gründlich satt bekommen. Gründlicher
konnte sich Schweitzer selbst nicht bloßstellen, als es durch solche
Erklärungen geschah.

Damit hatte er aber seiner Feindseligkeit gegen die Träger der von ihm
so viele Jahre geleiteten Bewegung noch nicht genug getan. Fast zu der
gleichen Zeit, in der er sein Flugblatt „An meine Freunde im Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein“ veröffentlichte, erschien auf einer Berliner
Bühne ein von ihm verfaßtes Stück, betitelt „Unser großer Mitbürger“,
Originalposse mit Gesang in drei Akten und sieben Bildern. In diesem
verhöhnte und verspottete er aufs blutigste die Agitatoren des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, deren Erzieher doch er war.
Selbst in der bürgerlichen Presse wurde diese Handlung als
Charakterlosigkeit gerügt und verurteilt.

Schweitzer litt jahrelang an Tuberkulose, schließlich suchte er in der
Schweiz Heilung seines Leidens. Vergeblich. Am 28. Juli 1875 verschied
er an einer Lungenentzündung im zweiundvierzigsten Lebensjahr. Am 7.
Oktober desselben Jahres wurde seine Leiche, wie Gustav Mayer erzählt,
in der Familiengruft in Frankfurt a.M. beigesetzt. Das Geleite bildeten
ausschließlich seine Familienangehörigen und ein katholischer
Geistlicher. Von seinen einstigen Anhängern und Bewunderern im
Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein folgte keiner dem Sarge. Für die
Sozialdemokratie war er tot, noch ehe er gestorben war. Eine Grabrede
von ihrer Seite hätte keine Lobrede sein können. Auch war dazu die
Leichengruft der Familie nicht der Ort. Auch kein Nachruf zeugt davon,
daß man des ehemaligen Führers gedachte. So endete einer der
bedeutendsten Führer der deutschen Arbeiterbewegung, der sein Schicksal
selbst verschuldet hatte.



Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit.



Im konstituierenden norddeutschen Reichstag.


Sobald ich die offizielle Anzeige meiner Wahl zum Reichstag in der
Tasche hatte, reiste ich mit einigem Herzklopfen am 5. März 1867 nach
Berlin. Der Reichstag war bereits am 24. Februar eröffnet worden. Ich
ging einer ganz neuen politischen Tätigkeit entgegen. Bis jetzt war mir
das parlamentarische Leben noch gänzlich fremd; jemand, der mich hätte
über dasselbe unterrichten können, kannte ich nicht. Rechtsanwalt
Schraps, der mit mir von der gleichen Partei gewählt worden war, wußte
davon so viel wie ich. Doch hinein ins Wasser. Als ich eben die Tür zum
alten Herrenhaus in der Leipzigerstraße, in dem der Reichstag tagte,
öffnen wollte, wurde dieselbe von innen geöffnet und heraus trat der
Prinz Friedrich Karl, der ebenfalls Mitglied des Reichstags war. Da
begegnet der auf der sozialen Stufenleiter Höchste dem Niedersten,
dachte ich. Nachdem ich mich auf dem Bureau angemeldet hatte, begab ich
mich in die Wohnung von Rechtsanwalt Schaffrath und Professor Wigard, an
die ich ein Empfehlungsschreiben Professor Roßmäßlers hatte, die ich
aber beide persönlich noch nicht kannte, um zu hören, wie es im
Reichstag stehe. Beide klagten über ihre preußischen Gesinnungsgenossen,
die Fortschrittler, unter denen auch der Beste sich nicht auf einen
wirklich freien, demokratischen Standpunkt erheben könne. Auch die
partikularistischen Sachsen, Geheimrat v. Wächter und Genossen, hätten
sich bereits durch Bismarck ins Bockshorn jagen lassen und wagten nicht
mehr ihren konstitutionellen Standpunkt zu vertreten.

Bemerken will ich, daß _damals_ die konservativen Sachsen, Hannoveraner
usw., die schon ein weit längeres Verfassungsleben hinter sich hatten
als die Preußen, konstitutionellen Anschauungen huldigten und in ihrem
Lande verwirklicht hatten, die selbst liberale Preußen nicht zu
vertreten wagten.

Ich war der ersten Abteilung zugewiesen worden. Für Laien sei bemerkt,
daß die Mitglieder des Reichstags durch das Los sieben Abteilungen
zugewiesen werden, welche damals noch die Wahlprüfungen endgültig
vorzunehmen hatten und wie heute die Fachkommissionen wählen. Aus diesem
Grunde muß die Zahl der Kommissionsmitglieder stets durch sieben teilbar
sein.

Meiner Frau schrieb ich unter dem 8. März: Schraps und ich bildeten die
äußerste Linke und wir säßen dementsprechend. Weiter nach links zu
rücken, verhindere uns die Wand, die wollten wir aber doch nicht mit dem
Kopfe einrennen.

Unter den Abgeordneten befand sich damals die Elite der
norddeutschen Politiker und parlamentarischen Koryphäen. Da sah ich
wieder v. Bennigsen, der im Vorjahr dem Abgeordnetentag in
Frankfurt a.M. präsidiert hatte; weiter Dr. Karl Braun-Wiesbaden, der
Parlamentsspaßmacher wurde und die beste Weinzunge im Reichstag gehabt
haben soll; den roten Becker, dessen Bekanntschaft aus dem Jahre 1863
ich erneuerte; Max Duncker, der auf seine Löwenmähne stolz war; v.
Forckenbeck, der später Nachfolger Simsons und der parteiischste
Präsident wurde, den den Reichstag je hatte; Gustav Freytag, der
bekannte Romanschriftsteller; Rudolf Gneist, dem nachher eines Tages der
Kriegsminister v. Roon vor dem ganzen Hause das Kompliment machte, er
sei ein Mann, der alles beweisen könnte; den kleinen Lasker, der mit
seinen kurzen Beinchen wie ein Wiesel lief, wenn er zur Tribüne eilte,
was häufig vorkam; das ehemalige Mitglied des Kommunistenbundes Miguel,
ein feiner Kopf und Redner; Dr. Planck, nachmals Hauptmitarbeiter am
Bürgerlichen Gesetzbuch und Kommentator desselben; Eugen Richter, der
noch ebenso frostig dreinsah wie 1863, als ich ihn in Frankfurt a.M.
kennen lernte; Dr. Simson, einst einer der Präsidenten des Frankfurter
Parlaments, dem man jetzt dieses Amt im Reichstag übertragen hatte;
wegen der würdevollen Art, mit der er präsidierte und die Glocke
schwang, wurde er scherzweise Jupiter Tonans genannt; Schwerin-Putzar,
früher Minister in der „liberalen Aera“, setzte später durch, daß der
Reichstag für die Beratung der Initiativanträge seiner Mitglieder einen
bestimmten Tag in der Woche, in der Regel den Mittwoch, bestimmte;
daher werden diese Tage noch heute im Parlamentsjargon Schwerinstage
genannt. Schulze-Delitzsch, Twesten, besonders bekannt geworden durch
sein Duell mit Herrn v. Manteuffel; v. Unruh, ein liberaler Reaktionär;
Waldeck, der eigentliche Führer der Fortschrittspartei; die beiden
Mecklenburger Gebrüder Wiggers, beide ehemalige Revolutionäre, von denen
der eine zu den Nationalliberalen, der andere zur Fortschrittspartei
gehörte. In der bundesstaatlich-konstitutionellen Fraktion ragte vor
allen neben Windthorst Malinckrodt hervor, der mit der feinste Kopf des
späteren Zentrums war. In der Fraktion des Zentrums, das damals aus
Altliberalen bestand, saß Georg v. Vincke, der Schrecken der
Stenographen. Er war der schnellste Redner des Reichstags. Endlich
befand sich auf der äußersten Rechten und als ihr eigentlicher Führer
der Geheime Oberregierungsrat Hermann Wagener, eine hohe, hagere
Bureaukratengestalt, mit einem knochigen, unsympathischen Gesicht und
einem unangenehmen Organ.

Eine gewichtige Person war Karl Mayer v. Rothschild, den das annektierte
Frankfurt mit Unterstützung der „Frankfurter Zeitung“ in den Reichstag
geschickt hatte. Rothschild war eine untersetzte, breitschulterige
Persönlichkeit mit wohlgepflegtem pechschwarzen Haar und Bart; er trug
eine schwere goldene Kette über dem ziemlich stattlichen Bauch und war
immer höchst elegant gekleidet. Ich erkannte ihn auf den ersten Blick,
ohne je ein Bild von ihm gesehen zu haben. Aehnlich erging es mir im
nächsten Reichstag mit Schweitzer. Auch gehörten dem Reichstag die
Generale Vogel v. Falckenstein und v. Steinmetz an; sie waren gewählt
worden wegen ihrer Kriegstaten im vorhergehenden Jahre.

Mehr aber als alle die Genannten interessierte mich Bismarck, den ich
vordem noch nicht gesehen hatte. Er erschien damals im Reichstag fast
immer im schwarzen Gehrock, schwarzer Weste und hoher schwarzer
Geheimratskrawatte, aus der die weißen Spitzen der Vatermörder
hervorfahen. Das Haar, soweit er solches noch besaß, war dunkel, ebenso
der kurzgeschnittene Schnurrbart. Nach den drei Haaren, die nach Angabe
aller seiner Karikaturenzeichner auf dem im übrigen kahlen Schädel
stehen sollten, wie drei Pappeln auf weiter Flur, hielt ich vergebens
Ausschau. Entweder waren sie nur in der Phantasie der Zeichner vorhanden
gewesen, oder er hatte sie im Verfassungskampf als Trophäe in den Händen
seiner Gegner lassen müssen. Ich war sehr begierig, ihn sprechen zu
hören, aber nicht wenig enttäuscht, als der Hüne sich erhob und, statt
mit einer Löwen- oder Stentorstimme, mit einer Diskantstimme zum Hause
sprach. Er prägte lange, sehr verwickelte Sätze, stockte auch zeitweilig
ein wenig, sprach aber stets interessant. Was er sagte, hatte Hand und
Fuß.

Bismarck hatte sich zwar mit der großen Mehrheit der Liberalen,
namentlich den Nationalliberalen ausgesöhnt, aber er war immer noch
mißtrauisch gegen sie und fürchtete, daß sie in die alten Fehler der
Sucht nach parlamentarischer Macht verfallen und ihm das Leben wieder
sauer machen möchten. Den Verfassungsentwurf hatte er deshalb auf seinen
eigenen Leib zugeschnitten, aber diesen Entwurf konnten die Liberalen,
so sehr sie auch sich zu bescheiden bereit waren, doch nicht ohne einige
nicht unerhebliche Aenderungen akzeptieren. Schließlich machte er ihnen
eine Anzahl Konzessionen, aber in zwei Hauptpunkten, dem eisernen
Militäretat und der Verweigerung der Diäten, gaben sie ihm nach.
Letztere hätte er sicher auch gewährt, wie er später einmal zugestand,
wären die Liberalen, die in der ersten Abstimmung mit erheblichem Mehr
die Diäten durchgesetzt hatten, festgeblieben. Aber schon damals wurde
das Umfallen, namentlich den Nationalliberalen, zur süßen Gewohnheit. Es
wäre undenkbar gewesen, daß Bismarck, wie er drohte, die Verfassung ins
Wasser fallen ließ, falls die Diäten in derselben blieben. Diese Blamage
konnte er sich vor der Welt nicht zufügen. Im konstituierenden Reichstag
bezogen übrigens die Abgeordneten sämtlicher Staaten, mit Ausnahme jener
von Preußen, Mecklenburg und Reuß jüngerer Linie, Diäten, so zum
Beispiel wir sächsischen Abgeordneten vier Taler pro Tag, die aus der
Landesstaatskasse gezahlt wurden.

Dagegen mußte Bismarck in der Sitzung am 28. März, in der der Artikel
über das künftige Wahlrecht für den Reichstag zur Beratung stand,
dieses verteidigen. Die rechtsnationalliberalen Abgeordneten v. Sybel,
Grumbrecht-Harburg und Dr. Meier-Thorn und verschiedene Redner der
Rechten hatten Bedenken gegen dasselbe geäußert. Sybel sah in ihm „die
Diktatur der Demokratie“. Darauf erklärte Bismarck: Das allgemeine
Wahlrecht ist uns gewissermaßen als ein Erbteil der deutschen
Einheitsbestrebungen überkommen; wir haben es in der Reichsverfassung
gehabt, wie sie in Frankfurt entworfen wurde; wir haben es im Jahre 1863
den damaligen Bestrebungen Oesterreichs in Frankfurt entgegengesetzt,
und ich kann nur sagen: _Ich kenne wenigstens kein besseres Wahlgesetz._

Er setzte dann auseinander, wie es ganz unmöglich gewesen sei, in dem zu
gründenden Bunde von einundzwanzig Staaten eine andere gemeinsame
Basis für ein Wahlrecht zu finden. Oder wolle man etwa das
Dreiklassenwahlsystem? „Ja, wer dessen Wirkung und Konstellationen, die
es im Lande schafft, etwas in der Nähe beobachtet hat, muß sagen, _ein
elenderes, ein widersinnigeres Wahlgesetz ist nicht in irgend einem
Staate ausgedacht worden_.“ Er warf diesem Gesetz Willkür und Härte vor.
Der Erfinder desselben würde es nie gemacht haben, hätte er sich die
praktische Wirkung desselben vergegenwärtigt. Er finde es natürlich,
_daß jeder sich als Helot, als politisch tot ansehe, der durch dieses
Gesetz in eine untere Wählerklasse gestellt werde._

Meine erste parlamentarische Handlung bestand darin, daß ich den
Reichstag zu einer Ungesetzlichkeit verleitete. Da diese Tat noch nicht
in die Tafeln der Geschichte eingegraben worden ist, sei sie hier in
Kürze erzählt. Als ich der ersten Abteilungssitzung beiwohnte, stand
zufällig die Wahl des Abgeordneten Professor v. Wächter für Leipzig auf
der Tagesordnung. Wächter war in engerer Wahl mit 5434 gegen 4403
Stimmen gewählt worden. Der Leipziger Magistrat hatte aber den groben
Fehler begangen, daß er nicht, wie §7 des Wahlreglements vorschreibt,
den Wahlkreis in Wahlbezirke, von denen keiner über 3500 Einwohner haben
darf, einteilte, sondern daß er die Namen der gesamten Wählerschaft der
Stadt, nach dem _Alphabet geordnet_, auf acht Wahlorte verteilte, die
im Mittelpunkt der Stadt lagen. Es entschied also nicht der Wahlbezirk,
sondern die alphabetische Ordnung der Namen der Wähler, wo ein solcher
zu wählen hatte. Der Berichterstatter Graf Bethusy-Hue trug den Fall
vor, der nach seinem eigenen Geständnis sehr kritisch lag. In der
Debatte, die über die Gültigkeit der Wahl entstand, ergriff auch ich das
Wort und führte aus: Ich wohnte seit sechs Jahren in Leipzig, wäre mit
den politischen Verhältnissen der Stadt genau bekannt und könnte danach
bestimmt behaupten, wenn der Wahlkreis nach der gesetzlichen Vorschrift
eingeteilt worden wäre, würde das Wahlresultat auch kein anderes gewesen
sein. Diese Auffassung, nach der ich die gesetzliche Vorschrift
vollständig ignorierte, schlug durch. Die Kommission beschloß mit 14
gegen 11 Stimmen die Gültigkeit der Wahl, und das Plenum schloß sich dem
Antrag _ohne Debatte_ einstimmig an.

Ich hatte also den Leipziger Magistrat vor einer großen Blamage bewahrt,
der er verfallen wäre, wenn die Wahl für ungültig erklärt worden wäre.
Ich hatte aber auch der Stadt die Vertretung gerettet, denn da der
Reichstag bereits am 17. April geschlossen wurde, hätte eine Nachwahl,
für die eine neue Wählerliste aufgestellt werden mußte, nicht mehr
rechtzeitig stattfinden können. Daß so beschlossen wurde, war allerdings
nur in ungefestigten Verhältnissen möglich, wie sie in der ersten
Session dieses neuen Reichstags vorhanden waren.

Ich habe oben den Namen des Grafen Bethusy-Hue genannt. Dieser Herr war
einer der oberflächlichen Vielredner jener Zeit und liebte es besonders,
in gewagten Bildern zu sprechen. So äußerte er zum Beispiel eines Tages:
„man müsse den Strom der Zeit an der Stirnlocke fassen“; ein andermal
sagte er mit Beziehung auf die Abgeordneten: „sie seien von der
Sehnsucht erfüllt, heimzukommen zu ihren väterlichen Ochsen“, ein Satz,
der die stürmische Heiterkeit des ganzen Hauses hervorrief.

Einmal Mitglied des Reichstags, hatte ich das Bedürfnis, eine größere
Rede im Plenum zu halten. In meinem Wahlkreis wartete man sehnlichst
darauf und richtete dementsprechende Anfragen an mich. Aber die
Schlußanträge waren sehr häufig, und in der Generaldebatte über den
Verfassungsentwurf war mir das Wort abgeschnitten worden. Endlich
gelangte ich bei Artikel 14, Verhältnis der süddeutschen Staaten zum
Norddeutschen Bund, zum Worte. Ich führte aus:

  Ich sei überzeugt, daß es Preußen bei der Gründung des Norddeutschen
  Bundes keineswegs um eine Einigung Deutschlands zu tun gewesen sei
  (lebhafter Widerspruch rechts), man habe im Gegenteil ein spezifisch
  preußisches Interesse, die Stärkung der hohenzollernschen Hausmacht,
  im Auge gehabt. (Lebhafter Widerspruch rechts. Der Präsident forderte
  zur Ruhe auf, man solle mich nachher widerlegen.) Betrachte man den
  Bund näher, so ergebe sich ein ganz abnormes Verhältnis der übrigen
  Staaten zu Preußen. Der Bund sei nur ein Groß-Preußen, umgeben von
  Vasallenstaaten, deren Regierungen nichts weiter als
  Generalgouverneure der Krone Preußen seien. (Lebhafter Widerspruch
  rechts.)

Ich führte weiter aus:

  Wenn Preußen die süddeutschen Staaten in das Bundesbündnis hätte mit
  aufnehmen wollen, hätte es das gekonnt. Die Behauptung, daß Frankreich
  dem entgegengetreten sein würde, ließe ich nicht gelten, denn durch
  die Militärkonventionen mit den süddeutschen Staaten sei die
  militärische Macht Deutschlands im Falle eines Krieges in der Hand
  Preußens vereinigt. Frankreich würde sich also gehütet haben, sich
  gegen die Aufnahme Süddeutschlands in den Nordbund zu erklären. Eine
  Einmischung von seiner Seite in die inneren Angelegenheiten
  Deutschlands würde zur Folge gehabt haben, daß ganz Deutschland sich
  wie Ein Mann gegen Frankreich erhoben hätte.

  Wenn der Prager Friedensvertrag nur eine _international_ geregelte
  Einigung zwischen Nord- und Süddeutschland zulasse, dann sei damit
  bewiesen, wie Preußen in der Frage denke, denn Preußen habe den Prager
  Friedensvertrag diktiert, und würde die preußische Regierung finden,
  daß dieser Vertrag ihr schädlich sei, so werde sie nicht anstehen,
  denselben zu zerreißen. (Oh! Oh! rechts.) Ich sei auch überzeugt, daß
  Oesterreich dasselbe tun werde, sobald es die Niederlage und Blamage
  des vorigen Jahres auswetzen könne. Die preußische Regierung wolle die
  süddeutschen Staaten nicht in den Nordbund aufnehmen, weil alsdann
  Preußen eine Majorisierung fürchten müsse. Preußen werde sich also
  begnügen, daß es durch die Militärkonventionen die militärische
  Gewalt in die Hände bekommen habe, im übrigen werde man durch
  Zollverträge die vorhandene Kluft zu überbrücken trachten, aber
  ausfüllen werde man sie nicht. Eine solche Politik unterstützten wir
  nicht. Ich protestierte dagegen, daß man eine solche Politik eine
  deutsche nenne, und ich protestierte gegen einen Bund, der nicht die
  Einheit, sondern die _Zerreißung_ Deutschlands proklamiere, gegen
  einen Bund, der Deutschland _zu einer großen Kaserne mache_ (lebhafter
  Widerspruch) und den letzten Rest von Freiheit und Volksrecht
  vernichte.

Der nationalliberale Abgeordnete Weber-Stade fand, daß durch meine Rede
ein Mißton in die Versammlung geworfen worden sei, er hoffe aber, daß
mit dem Aussprechen solcher Mißtöne die Gelegenheit zur Auflösung
derselben in Harmonie gegeben sei.

Der Abgeordnete _Miquel_ polemisierte ebenfalls gegen mich. Ich hätte
bedauert, daß der Norddeutsche Bund den Rechten der kleinen Fürsten
einen _so_ gewaltigen Abbruch tue, daß sie sich in der beklagenswerten
Stellung von Generalgouverneuren befänden. Das war eine Verdrehung
meiner Worte, da ich mit dem Gleichnis nur dartun wollte, was für ein
sonderbares Gebilde dieser Norddeutsche Bund sei. Wären damals sämtliche
Klein- und Mittelstaaten annektiert worden, ich hätte keinen Finger
dagegen gerührt. Ein weiteres Diktum von Miquel war: Der preußische
Staat ist _kein_ Militärstaat, sondern ein Staat der Kultur.... Es sei
wunderbar, welche Koalition von Gegnern dem neuen Staatsgebilde
entgegentrete. Auf der einen Seite die _entschiedensten Demokraten,_
deren Tendenzen doch nicht darauf hinausliefen, sich besonders für die
Machtvollkommenheit der kleinen Fürsten zu interessieren, und verbunden
mit ihnen sei die ultramontane Partei, die, wenn man offen sein wolle,
unser Vaterland nirgends anderswo als in Rom sehe.

Man sieht, daß vom ersten Augenblick unseres parlamentarischen Lebens
bereits die Denunziation auftauchte, wir seien Verbündete der
ultramontanen Partei, die damals im norddeutschen Reichstag noch keine
organisierte Vertretung hatte. Miquel ist also der Vater dieser
Denunziation, die bis heute von seinen Gesinnungsgenossen uns gegenüber
praktiziert wird. Im weiteren sprach er die Hoffnung aus, der König von
Preußen werde mit Gegnern wie Bebel fertig werden. Bis heute hat sich
diese Hoffnung nicht erfüllt, so wenig wie die andere, die drei
Jahrzehnte später geäußert wurde: die Sozialdemokratie sei nur eine
vorübergehende Erscheinung.

Natürlich konnte auch Lasker, die parlamentarische Anstandsdame, auf
meine Rede nicht schweigen. Er sei nicht wenig erstaunt gewesen, daß der
erste Redner (ich) mit so heftigen Angriffen gegen den Leiter unserer
Politik auftrat. So viel er wüßte, gehörte ich zu einer Partei, die in
Elberfeld-Barmen die Wahl des Herrn Ministerpräsidenten sehr kräftig
unterstützt habe. (Er meinte die Wahl Bismarcks.) Im übrigen müsse er
mir allerdings das Zugeständnis machen, daß ich die Gespräche, die man
in Bierstuben zu führen pflege, hier klar abgespiegelt habe. Hier
unterbrach ihn der Präsident mit dem Bemerken, daß es ihm (Lasker) nicht
zustehe, eine solche Kritik an der Rede eines Kollegen zu üben. In einer
persönlichen Bemerkung antwortete ich Lasker: Es sei mir sehr angenehm,
durch seine Angriffe auf meine Parteistellung eine Erklärung abgeben zu
können. Ich gehörte nicht zu der Partei, die in Barmen-Elberfeld
geholfen habe, den Grafen v. Bismarck durchzubringen, das heiße der
Lassalleschen Partei. Er (Lasker) hätte dies schon aus der Tatsache
entnehmen können, daß ich hier gegen die Politik des Grafen v. Bismarck
aufgetreten sei. Ich gehörte nicht der Lassalleschen, sondern der
radikaldemokratischen, oder wenn man wolle, der Volkspartei an. Auf
seine persönlichen Angriffe hätte ich keine Veranlassung mehr
zurückzukommen, nachdem der Präsident ihm eine Rüge erteilt habe.

Meine Rede hatte erhebliches Aufsehen auch außerhalb des Hauses und
namentlich bei meinen Wählern große Befriedigung hervorgerufen. Dagegen
gab das liberale „Glauchauer Tageblatt“ seinem Aerger dadurch Ausdruck,
daß es schrieb: „Der jugendliche Drechslermeister Bebel aus Leipzig hat
seine wohleinstudierte Jungfernrede glücklich vom Stapel gelassen,
infolgedessen schlägt das Schweinefleisch um drei Pfennig ab.“ Darauf
antwortete nächsten Tages eine Annonce im „Schönburger Anzeiger“, der
ebenfalls in Glauchau erschien: „Der erwartete Abschlag des
Schweinefleisches ist nicht erfolgt, wohl aber steht infolge großen
Andranges von ostpreußischem Rindvieh (Anspielung auf den Verfasser) ein
bedeutender Abschlag des Ochsenfleisches bevor.“

Meine Jungfernrede hatte noch zwei weitere Nachspiele. Die „Gartenlaube“
veröffentlichte zu jener Zeit eine Reihe Artikel, in der das Auftreten
markanter Persönlichkeiten im Reichstag besprochen wurde. Mir wurde die
Ehre zuteil, ebenfalls in diesen Artikeln genannt zu werden. Der
Verfasser führte aus, als ich meine Rede gehalten, sei es gewesen, als
rausche der Sturmvogel der Revolution durch das Haus. Das schien dem
Verleger der „Gartenlaube“, Ernst Keil, mit dem ich früher persönlich
wiederholt wegen politischer Dinge Verkehr gehabt hatte, ein zu großes
Lob zu sein. Der Druck der betreffenden Nummer wurde unterbrochen und
der Satz geändert.

Einige Wochen später, als ich wieder zu Hause war, traten eines Tages
zwei aristokratisch aussehende Herren in meine Werkstatt, in der ich
eben am Schraubstock stand und Büffelhörner zersägte. Der eine der
Herren fragte nach dem Drechslermeister Bebel. Der bin ich, gab ich zur
Antwort. Darauf sah mich der Frager etwas betroffen an und äußerte: Ich
meine den Reichstagsabgeordneten Bebel. Etwas pikiert antwortete ich: Ja
ja, der bin ich! Erstaunt sah er an mir vom Kopf bis zu den Füßen
herunter und stellte sich als Freiherr v. Friesen auf Rötha vor. Er war
der Bruder des Ministers. Er habe meine Reichstagsrede gelesen und sich
über eine Anzahl Stellen in derselben gefreut. Ich verneigte mich für
das Kompliment. Dann fragte er, wer der Dr. Johann Jacoby sei, der im
preußischen Landtag eine so gute Rede gegen die Annexionen und die von
Bismarck geforderte Indemnität gehalten habe. Ich gab ihm die gewünschte
Aufklärung. Dann entfernten sich die beiden.

Unsere Partikularisten waren zu jener Zeit von einem unbändigen Haß
gegen Bismarck beseelt; sie hätten mit dem Teufel ein Bündnis
geschlossen, um ihn zu vernichten. Während des Reichstags saß der größte
Teil der sächsischen Abgeordneten im Leipziger Garten, der vis-à-vis dem
Herrenhaus sich befand. Wir hatten mit dem Wirt ein Abkommen getroffen,
wonach er für uns jeden Tag nach Schluß der Sitzung ein gemeinsames
Mittagessen bereit hielt. Eines Tages saß ich neben dem Abgeordneten
Haberkorn, der Bürgermeister von Zittau und Präsident der Zweiten
sächsischen Kammer war. Im Laufe der Unterhaltung kam das Gespräch auch
auf Bismarck, der in der Sitzung am Vormittag wieder eine seiner
heftigen Reden gehalten hatte. Haberkorn war darüber so erregt, daß er
sich in den denkbar stärksten Ausdrücken wider ihn erging.

Gegen Ende der Session hatte der König den gesamten Reichstag zu Tisch
ins Schloß geladen. Ich und einige andere Abgeordnete nahmen an diesem
Essen nicht teil. Am nächsten Vormittag nach jenem Tage stieß ich im
Reichstag auf den roten Becker, mit dem ich gut Freund geworden war.
Becker war noch in weinseliger Stimmung und trug auf dem breit
ausgelegten Chemisette Spuren des genossenen Weines. Becker war damals
Junggeselle. „Nun Becker,“ fragte ich ihn, „wie war es denn gestern bei
Wilhelms?“ Darauf stellte er sich breit vor mich hin, legte beide Hände
auf meine Schultern, schüttelte mich ein wenig und antwortete:
„Bebelchen, es war großartig, Wilhelm hat deliziöse Weinchen,“ dabei
schnalzte er mit der Zunge, „und hinter mir stand so'n Kerl, der immer
einschenkte, wenn mein Glas leer war.“ Ich lachte und fragte: „Da werden
Sie wohl auch künftigen Einladungen ins Schloß folgen?“ worauf er
ebenfalls lachend erwiderte: „Mein Lieber, das können Sie sich denken.“

In Becker und Miquel besaß der norddeutsche Reichstag zwei Mitglieder
des ehemaligen Kommunistenbundes, von denen jeder in seiner Art Karriere
machte. Becker wurde Oberbürgermeister von Dortmund und später von Köln,
in welcher Eigenschaft er auch Mitglied des Herrenhauses wurde. Miquel
stieg noch einige Stufen höher. Er wurde zunächst Oberbürgermeister von
Osnabrück, dann von Frankfurt a.M. und starb bekanntlich als geadelter
pensionierter preußischer Finanzminister und Liebling der Agrarier.

Eine Anzahl Mitglieder des ehemaligen Kommunistenbundes hatte überhaupt
eine besondere Entwicklung genommen. So neben Becker und Miquel der
ehemalige Schriftsetzer Wallau, der als Oberbürgermeister von Mainz
starb, ferner Bürgers, der längere Zeit Chefredakteur der „Rheinischen
Zeitung“ war und während einer Legislaturperiode Mitglied des Deutschen
Reichstags wurde. Er gehörte wie damals Becker zur Fortschrittspartei.

Am 16. April fand die namentliche Abstimmung über die Verfassung des
Norddeutschen Bundes statt. Von 283 anwesenden Mitgliedern — der
Reichstag zählte 297 — stimmten 230 dafür und 53 dagegen. Außer Schraps
und mir _die gesamte Fortschrittspartei,_ die Polen, Windthorst,
Wächter, Haberkorn und mehrere Hannoveraner. Nach Ansicht der damaligen
Fortschrittspartei war die norddeutsche Bundesverfassung ein Werk, das
nicht die Rechte enthielt, auf deren Gewährung eine konstitutionelle
Volksvertretung bestehen mußte. Keine Grundrechte, kein
Steuerbewilligungsrecht, keine Ministerverantwortlichkeit, keine Diäten.
Dafür den eisernen Militäretat und eine große Machtstellung des
Bundeskanzlers. Reichskanzler heißt er von 1871 ab. Am 17. April wurde
der Reichstag geschlossen; er hatte fünfunddreißig Sitzungen abgehalten.

       *       *       *       *       *

Ich hatte gegen Schluß der Session meine Frau nach Berlin kommen lassen,
um ihr die Stadt zu zeigen. Das damalige Berlin kann sich mit dem
heutigen in nichts vergleichen. Die schmucklosen Fassaden der Häuser an
den langen geraden Straßen ließen es langweilig und eintönig erscheinen.
Die Häuser standen gleichmäßig nebeneinander wie ein Regiment Soldaten,
aber ohne anregende Farbe. Der Verkehr war im Vergleich zu heute gering.
Ab und zu humpelte ein Omnibus mit zwei müden Gäulen über das Pflaster.
Droschken sah man selten, deren Benutzung war dem Berliner jener Zeit zu
teuer. Das einzige moderne Verkehrsmittel war die Pferdebahn, die vom
Kupfergraben nach Charlottenburg führte. Mit den hygienischen Zuständen
war es übel bestellt. Eine Kanalisation war noch nicht vorhanden. In den
Rinnsteinen, die längs der Bürgersteige hinliefen, sammelten sich die
Abwässer der Häuser und verbreiteten an warmen Tagen mephitische
Gerüche. Bedürfnisanstalten auf den Straßen oder Plätzen gab es nicht.
Fremde und namentlich Frauen gerieten in Verzweiflung, bedurften sie
einer solchen. In den Häusern selbst waren diese Einrichtungen meist
unglaublich primitiv. Eines Abends besuchte ich mit meiner Frau das
Königliche Schauspielhaus. Ich war entsetzt, als ich in einem
Zwischenakt in den Raum trat, der für die Befriedigung kleiner
Bedürfnisse der Männer bestimmt war. Mitten in dem Raum stand ein
Riesenbottich, längs den Wänden standen einige Dutzend Pots de Chambre,
von denen man den benutzten höchst eigenhändig in den großen
Kommunebottich zu entleeren hatte. Es war recht gemütlich und ganz
demokratisch. Berlin als Großstadt ist wirklich erst nach dem Jahre 1870
aus dem Zustand der Barbarei in den der Zivilisation getreten.

       *       *       *       *       *

Ich hatte die Gewohnheit angenommen, nach jeder Session des Reichstags
in meinen Wahlkreis zu reisen und in den Hauptorten eine Anzahl
Wählerversammlungen abzuhalten, in denen ich über die Verhandlungen des
Reichstags und meine Tätigkeit Bericht erstattete. Da wir überall große
Säle zur Verfügung hatten, konnte ich auf Massenbesuch rechnen, und es
war mir besonders interessant, daß von Anfang meiner Agitation an die
Frauen ein nicht unerhebliches Kontingent zu den Versammlungsbesuchern
stellten, die nachher eifrige Agitatorinnen für uns wurden. Da wir keine
Presse besaßen und die paar im Kreise verbreiteten Parteiblätter nur von
wenigen gelesen wurden, die gegnerische Presse aber unausgesetzt sich
namentlich mit mir beschäftigte, waren diese Versammlungen nötig. Es
bildete sich allmählich zwischen mir und meinen Wählern ein
Vertrauensverhältnis heraus, das nichts zu wünschen übrig ließ. Die
Gegner machten bei den verschiedenen Wahlen vergebliche Anstrengungen,
mich aus dem Sattel zu heben. Es fiel mir sehr schwer, als ich nach zehn
Jahren (1877) doppelt gewählt wurde, den Wahlkreis aufzugeben;
andernfalls wäre der neugewonnene Wahlkreis (Altstadt-Dresden) der
Partei wieder verloren gegangen.



Im norddeutschen Reichstag und dem Zollparlament.


Die erste Session der ersten Legislaturperiode des norddeutschen
Reichstags wurde am 10. September 1867 eröffnet. Unter den
Abgeordneten, die neugewählt waren, ragten besonders hervor Freiherr
v. Hoverbeck, Franz Ziegler und v. Kirchmann. Alle drei gehörten zur
Fortschrittspartei! Kirchmann hatte wie Ziegler eine längere
demokratische Vergangenheit hinter sich. So gehörte er in der
preußischen Nationalversammlung im Jahre 1848 zu den Steuerverweigerern.
Er war aber auch einer der am meisten verfolgten preußischen Richter,
gegen den sich die Reaktion die nichtswürdigsten Mittel erlaubte.
Schließlich wurde er seines Amtes als Vizepräsident des
Appellationsgerichts in Ratibor ohne Pension entsetzt, weil er einen
Vortrag gehalten hatte über den Kommunismus in der Natur, in dem er für
eine Einschränkung der Bevölkerungsvermehrung eintrat, und zwar im
Interesse einer höheren Kulturentwicklung und der Beseitigung der
wirtschaftlichen Ungleichheit. Er hatte darin vor seinen Zuhörern
ausgeführt: „Das Ideal einer fortschreitenden Gleichheit aller Menschen
im Glück und Wohlbefinden liegt so tief in der Brust eines jeden, daß
man nicht zu verzagen braucht. Die Bewegung, die Annäherung zu diesem
Ziele wird vorschreiten, des seien Sie gewiß. Wenn viertausend Jahre
dazu gehörten, um nur die Gleichheit des Rechts in einem hohen Grade zu
gewinnen, so dürfen wir nicht den Mut verlieren, weil die Gleichheit der
Glücksgüter, diese viel schwerere Aufgabe, innerhalb zweier Generationen
nicht hat erreicht werden können.“ Dieser Vortrag sollte „unsittlich“
sein und einen so unsittlichen höheren Richter konnte der allezeit so
fromme und sittliche preußische Staat nicht gebrauchen. Kirchmann war
wohl der philosophisch gebildetste Kopf im Reichstag, jedenfalls stand
er an Bildung und Wissen hoch über den Mitgliedern des Gerichtshofs, die
ihm seine Stellung aberkannten. Außer den drei Genannten war auch
Feldmarschall v. Moltke Mitglied des Hauses geworden. Ferner gehörte dem
Hause der später berüchtigt gewordene Strousberg an, der es meisterhaft
verstand, zahlreiche Vertreter des preußischen Hochadels als Lockvögel
für seine Gründungen zu gewinnen, deren Unterschriften denn auch unter
seinen Prospekten prangten. Das schien um so unbegreiflicher, als
Strousbergs Aeußeres schon den Eindruck eines höchst unsympathischen
Emporkömmlings machte. Sein Auftreten war protzenhaft. Die Feste, die er
veranstaltete, machten in dem Berlin jener Zeit großes Aufsehen. Die
Berliner Presse veröffentlichte lange Berichte über dieselben. So
verschwenderisch wie er hatte bis dahin in Berlin kein Privatmann
gewirtschaftet. Es war die Aera des Großkapitalismus, die Strousberg
einläutete. Aristokratie und Plutokratie verschwägerten sich.

Meine erste Rede in der neuen Session hielt ich anläßlich einer
Adreßdebatte am 24. September. Ich legte Verwahrung dagegen ein, daß in
der Adresse an das Bundesoberhaupt — den König von Preußen — sich der
Reichstag als die Vertretung der deutschen Nation bezeichne. Der
Präsident unterbrach mich, es gebe keine andere Vertretung der Nation.
Darauf antwortete ich, der Reichstag vertrete nur einen Teil der Nation.
Man habe 18 Millionen Deutsche preisgegeben — 10 Millionen
Deutsch-Oesterreicher, 8 Millionen Süddeutsche — und Luxemburg, das
ebenfalls aus dem Bunde geschieden sei. Außerdem bestehe auf Grund
Artikel 4 des Prager Friedensvertrags die Gefahr, daß wir eines Tages
die nordschleswigschen Distrikte an Dänemark abtreten müßten. Das sei
keine nationale Politik.

Darauf nahm Bismarck das Wort. Er wolle mir nicht persönlich
entgegnen — bemerkte er etwas maliziös —, sondern weil ich mich zum
Mundstück eines weitverbreiteten Irrtums gemacht hätte. Luxemburg sei
nicht preisgegeben, was er durch eine Reihe Sophismen zu beweisen
versuchte. Oder ob ich etwa wünschte, daß man wegen Luxemburg habe einen
Krieg machen sollen? Das fiel mir selbstverständlich nicht ein, ich
wollte nur konstatieren, daß die alten Beziehungen des Landes zu
Deutschland infolge Bismarcks „nationaler“ Politik gelöst werden mußten,
und zwar auf Verlangen _Napoleons_. Luxemburg war vordem deutscher
Bundesstaat, es hatte Sitz und Stimme im Bundestag in Frankfurt, und die
Stadt Luxemburg war deutsche Bundesfestung, und da der Großherzog von
Luxemburg der König von Holland war, so waren Hollands Interessen in
hohem Grade an die Deutschlands gekettet, was bei internationalen
Verwicklungen ein Vorteil war.

Am 17. Oktober hielt ich meine zweite Rede bei der Beratung des
Entwurfes betreffend die Wehrpflicht. Der Gesetzentwurf fordere nur
scheinbar die allgemeine Wehrpflicht, denn alle Wehrfähigen
wehrpflichtig zu machen, sei bei der langen Dienstzeit unmöglich. Alle
Wehrfähigen militärisch auszubilden, sei aber ein Akt der Gerechtigkeit
und eine Wohltat für das Land. Das sei nur bei einem Wehrsystem möglich,
wie es infolge der Militärreorganisation von Scharnhorst und Gneisenau
in Preußen von 1809 bis 1813 bestanden habe. Daß man mit kürzerer
Dienstzeit ebenfalls kriegstüchtige Mannschaften liefern könne, habe
1866 auch Sachsen gezeigt, dessen weitaus größte Zahl der Mannschaften
nicht über neun Monate bei den Fahnen gewesen sei. Auch das in Preußen
bestehende Einjährig-Freiwilligensystem beweise es.

In großer Erregung trat mir Hans Blum entgegen, der sehr ausfallend
gegen mich wurde. Woher ich die Stirne zu einer solchen Rede nehme?
(Rüge des Präsidenten.) In persönlicher Bemerkung antwortete ich Blum,
ich hätte die Stirne hergenommen, wo sein Vater sie 1848 hergenommen
habe, als er für ähnliche Forderungen wie ich im Frankfurter Parlament
eintrat. Liebknechts und meine Reden bei diesem Gesetzentwurf
hatten nach außen Aufsehen erregt. Wir erhielten über dreißig
Zustimmungsadressen, fast alle aus preußischen Städten. Die Leipziger
Parteigenossen schickten uns als Anerkennung einen neun Pfund schweren
Schinken, der uns als diätenlosen Abgeordneten, die wir jetzt waren,
willkommen war.

Bei der Beratung des Paßgesetzes stellten Liebknecht und ich einen
Antrag, wonach die Polizei kein Recht zu Ausweisungen haben solle. Zum
Freizügigkeitsgesetz stellten wir Anträge, wonach die Polizei niemand
Aufenthaltsbeschränkungen unterwerfen dürfe, solche sollten nur infolge
eines richterlichen Urteils ausgesprochen werden können. Alle bisher
erfolgten Ausweisungen sollten mit Inkrafttreten des Gesetzes aufgehoben
sein. In der Rede, mit der Liebknecht den Antrag begründete, kam er auf
die Vorgänge zu sprechen, die 1865 zu seiner Ausweisung aus Preußen und
Herbst 1866 zu seiner Verurteilung wegen Bannbruch führten. Natürlich
wurden die Anträge abgelehnt.

Die Session ging bereits am 26. November zu Ende.

       *       *       *       *       *

Im Frühjahr 1868 wurde die Session des Reichstags, die am 23. März
eröffnet worden war, unterbrochen; es sollte nach den Osterferien das
Zollparlament zusammentreten, das für den 27. April nach Berlin berufen
worden war. Dessen Sitzungen wurden im Sitzungssaal des preußischen
Landtags — damals am Dönhofsplatz — abgehalten, weil für die um rund
hundert größere Abgeordnetenzahl der Saal des Herrenhauses nicht
reichte. Die Arrangeure für die Verteilung der Plätze begingen dabei die
kleine Bosheit, daß sie Rothschild neben Liebknecht placierten. Alles
lachte. Der Frankfurter Weltbankier hielt es aber in der gefährlichen
Nachbarschaft nicht lange aus, er ließ sich einen anderen Platz
anweisen.

Unter den süddeutschen Zollparlamentsmitgliedern befanden sich eine
Anzahl, die bereits eine politische Rolle hinter sich hatten, so Ludwig
Bamberger, der Staatsrechtslehrer Professor Bluntschli, der katholische
Sozialpolitiker Jörg, der Statistiker Dr. Kolb, Fürst zu
Hohenlohe-Schillingsfürst, der spätere Reichskanzler, Professor
Marquardsen, Rechtsanwalt Metz-Darmstadt, Moritz v. Mohl, Rechtsanwalt
Oesterlen-Stuttgart, der gewesene Minister v. Roggenbach, Professor
Schäffle, Professor Sepp, Freiherr v. Stauffenberg, Dr. Tafel-Stuttgart,
Minister v. Varnbühler, Rechtsanwalt Völck — die Frühlingslerche — und
andere.

Da ich bei der Eröffnungssitzung des Zollparlaments zugegen war, wurde
ich neben den Abgeordneten Hans Blum, v. Watzdorf und Tobias
Jugendschriftführer. Damals bestand noch in der Geschäftsordnung des
Reichstags die Bestimmung, daß die bei der Eröffnungssitzung anwesenden
vier jüngsten Mitglieder neben dem Alterspräsidenten das provisorische
Bureau bildeten. Aus Aerger, daß auf diese Weise Sozialdemokraten in
das Bureau kommen konnten, änderte man später die Geschäftsordnung.
Jetzt wählt der Alterspräsident die vier Schriftführer des
provisorischen Bureaus. An Kleinlichkeit der Auffassung der Opposition
gegenüber hat es dem Reichstag nie gefehlt.

Unter den süddeutschen Abgeordneten befanden sich eine Anzahl, mit denen
Liebknecht und ich in nähere Beziehungen traten: Ammermüller,
Freiesleben, Kolb, Oesterlen, Schäffle, Tafel usw. Mehrere derselben,
wie Kolb und Tafel, gehörten zur Demokratie. Der größte Teil der
süddeutschen Abgeordneten fand sich nur sehr schwer in die neue Ordnung
der Dinge. Das Zollparlament war eine der Früchte des zwei Jahre vorher
stattgehabten Bruderkriegs, dessen Wunden in Süddeutschland noch nicht
vernarbt waren. Man fühlte sich immer noch als Besiegte. Zudem war das
Zollparlament eine politische Zangengeburt, ein Verlegenheitsprodukt,
nicht Fisch, noch Fleisch. Die Liberalen, als Vertreter der modernen
kapitalistischen Entwicklung, wollten aus dem Zollparlament ein
Vollparlament machen; dem widerstrebte nicht nur Bismarck, aus
politischen Rücksichten auf Frankreich und die Stimmung in
Süddeutschland, dem widerstrebten auch die Vertreter aller anderen
Parteien in Süddeutschland, die in dem Nordbund, seiner Verfassung und
seinen Einrichtungen kein politisches Ideal sahen. Nimmt man hinzu, daß
zu jener Zeit noch ein besonders scharfer Gegensatz in der
Volksgesinnung zwischen Süd und Nord bestand, auf Grund dessen man in
Süddeutschland besser Wien und Paris als Berlin kannte, das Süddeutsche
zu jener Zeit selten besuchten, so begreift man, daß die Geister scharf
aufeinanderplatzten, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Doch
zeigte sich auch hier, daß die Süddeutschen an Zähigkeit hinter den
Norddeutschen zurückstanden. Liebknecht und ich hatten manchmal Mühe,
dem uns näher stehenden Teil der süddeutschen Abgeordneten den Rücken zu
steifen.

Der Versuch der Nationalliberalen, eine Adresse an den König von Preußen
durchzusetzen, fiel nach heftiger Debatte mit 186 gegen 150 Stimmen, ein
Resultat, das die Antragsteller ganz perplex machte. Ich nahm in dieser
Session zu zwei längeren Ausführungen das Wort. Das erstemal sprach ich
gegen den Entwurf eines Gesetzes, wonach der Tabak besteuert werden
sollte, das zweitemal zu dem Zollvertrag zwischen dem Zollverein und
Oesterreich. Ich stieß bei dieser Debatte scharf mit dem Abgeordneten
Lasker zusammen. Derselbe hatte sich wieder einmal allerlei
schulmeisterliche Bemerkungen gegen uns erlaubt und die Zustände in den
Kleinstaaten in übertriebenster Weise angegriffen. Ich wies seine
schulmeisterlichen Bemerkungen energisch zurück und äußerte wegen seiner
Angriffe auf die Kleinstaaten, daß mich diese aus seinem Munde um so
mehr wunderten, da er einem Kleinstaat (Meiningen) sein Mandat verdanke,
eine Bemerkung, durch die ich die Lacher auf meiner Seite hatte.

       *       *       *       *       *

Auf den 14. Mai war eine Volksversammlung von Berliner Demokraten und
Parteigenossen nach dem Konzerthaus berufen worden, und zwar saßen unter
anderem im Komitee: Buchhändler Jonas, der nachher wegen geschäftlicher
Misere nach den Vereinigten Staaten auswanderte und dort die New Yorker
Volkszeitung mitbegründete, deren Chefredakteur er wurde, Ludwig Löwe,
Paul Singer, Fr. Stephani, Tölde usw. Von den süddeutschen Abgeordneten
waren Freiesleben, Kolb, Oesterlen, Schäffle und Tafel, ferner
Liebknecht, Dr. Reinke, der vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in
Lennep-Mettmann gewählt worden war, und ich anwesend. Liebknecht griff
die Politik der Fortschrittspartei und speziell Waldeck und Genossen
heftig an, auch sprach er so scharf gegen den Nordbund, daß es einem
Teil der Komiteemitglieder angst und bange wurde. Ich führte aus: Was
jetzt unter den Formen der deutschen Einheit vorgenommen werde, sei nie
und nimmer das einige Deutschland. Wir hegten die Erwartung, daß in
einem Deutschland, das durch den Gesamtwillen der Bevölkerung getragen
werde und an dessen Spitze eine Regierung stehe, die aus dem freien
Willen des Volkes hervorgegangen sei, allein das wirkliche Heil für die
Bevölkerung, insbesondere für die arbeitende Bevölkerung zu erwarten
sei. Ich kritisierte weiter die Zustände im Norddeutschen Bund mit Bezug
auf die Entwicklung des Militarismus: nicht Verminderung, sondern
Vergrößerung der Lasten werde die Folge sein.

Dr. Max Hirsch, der mit seinem Anhang erschienen war, versuchte Lärm
hervorzurufen; das Tischtuch sei zwischen uns zerschnitten. Das war es
längst; sein lärmender Anhang wurde zur Ruhe verwiesen.

       *       *       *       *       *

An einem Maisonntag waren Liebknecht und ich zu einem Fest des Berliner
Schneidervereins geladen. Wir nahmen auf ihren Wunsch die Abgeordneten
Oesterlen, Schäffle und Tafel zu demselben mit. Bei dem Ball kam es zu
einem sogenannten Damenengagement. Die Damen stürzten sich auf uns fünf.
Jede wollte mit einem von uns tanzen. Die vier Kollegen erklärten aber,
nicht tanzen zu können. Nun fielen die Damen über mich Unglücklichen
her. Vier Engagements hatte ich glücklich hinter mir, beim fünften
versagten mir Kopf und Magen. Mir wurde übel, ich mußte in den Garten
flüchten. Nächsten Vormittag kam eine Damendeputation zu mir in meine
Wohnung, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ich konnte ihr die
beruhigende Versicherung geben, daß ich die Strapazen glücklich
überwunden hätte. Als wir in jener Nacht nach Hause gingen, äußerte sich
Schäffle höchst überrascht über den guten Ton und die ganze Haltung der
Ballgesellschaft, die nicht besser hätte sein können. Er glaube, in
Süddeutschland sei dergleichen auf einem Ballfest der Arbeiter
unmöglich, dort würde es zu Prügeleien kommen. Ich protestierte gegen
diese Auffassung. Ich sei zwar noch auf keinem Ballfest süddeutscher
Arbeiter gewesen, sei aber fest überzeugt, daß dergleichen auf einem
Fest organisierter Arbeiter nicht vorkomme.

Für den 20. Mai hatte die Berliner Kaufmannschaft die Mitglieder des
Zollparlaments zu einem Festessen geladen, bei dem das Kuvert 25 Taler
kostete. Ich nahm an demselben nicht teil. Kollegen, die daran
teilgenommen hatten, versicherten mir nächsten Tages, die Arrangements
seien so mangelhaft gewesen, daß eine Anzahl Gäste sich nicht einmal
habe satt essen können.

Die meisten Süddeutschen waren froh, als sie nach vierwöchiger
diätenloser Anwesenheit in Berlin wieder zu ihren Penaten zurückkehren
konnten. Im übrigen waren die Sitzungen meist so schlecht besucht, daß
die Berliner den Witz machten: Zollparlament bedeutet Leerparlament. An
den Schlußberatungen der unterbrochenen Reichstagssession beteiligte ich
mich nicht.

       *       *       *       *       *

Die nächste Session des norddeutschen Reichstags begann den 4. März
1869. Hauptgegenstand seiner Beratung war der Gesetzentwurf für eine
Gewerbeordnung. Ich trat erst in der 10. Sitzung in das Haus und nahm
gleich zur Generaldebatte über den Gesetzentwurf das Wort. Ich
polemisierte unter anderem gegen den Geheimen Regierungsrat Wagener, den
ich wegen seines Auftretens in der Debatte als königlich preußischen
Hofsozialisten bezeichnete. Im weiteren wandte ich mich gegen den
Freiherrn v. Stumm, der uns heftig angegriffen hatte. Ich rechtfertigte
unsere Agitation und Organisation. Organisierten die Arbeiter sich
international, was er ihnen zum Vorwurf gemacht hatte, so sei dieses die
notwendige Konsequenz gegenüber der Internationalität des Kapitalismus.
Gegen den Abgeordneten Miquel trat ich ebenfalls polemisch in die
Schranken, der behauptet hatte, wir in Deutschland seien in sozialen
Dingen weiter als England und Frankreich. Ich antwortete: Jedenfalls
streite man sich in England und Frankreich nicht mehr wochenlang wie wir
um Gewerbefreiheit und Freizügigkeit. Ich führte ferner aus: Der
Abgeordnete Wagener habe dem Abgeordneten Schulze-Delitzsch gegenüber
gesagt: was er (Schulze) fordere, sei ihm (Wagener) insofern angenehm,
als es gelte, die letzten Konsequenzen des Wirtschaftssystems zu ziehen,
das führe dann zur Reaktion. Ich sei der Meinung, er (Wagener) habe sich
in der Schlußfolgerung geirrt, nicht die Reaktion, sondern die
Revolution werde schließlich kommen und kommen müssen.

Ich hatte mich in meiner Rede gegen eine Kommissionsberatung des
Gesetzentwurfes erklärt, da das Haus doch keinen von uns in die
Kommission wähle. Das hatte die Wirkung, daß man mich in die Kommission
schickte.

Ich möchte hier die Bemerkung einschalten, daß die Teilnahme an den
Reichstags- und Zollparlamentsverhandlungen für Liebknecht und mich ein
großes Opfer war. Zwar taten unsere Wahlkreise, und namentlich der
meine, was sie konnten, um uns finanziell zu unterstützen. Es war aber
doch ein peinliches Gefühl für uns beide, von einer Wählerschaft
finanzielle Hilfe annehmen zu sollen, die mit zur ärmsten in Deutschland
gehörte. Eine Parteiunterstützung gab es damals noch nicht, für Diäten
war kein Geld vorhanden. Die Diätenzahlung durch die Partei trat erst
vom Jahre 1874 ab ein, die mager genug ausfiel. Auch mußten wir die
Reisen nach und von Berlin aus eigener Tasche bezahlen. So fehlten wir
häufig in den Sitzungen, manchmal sogar, wenn unser Parteiinteresse
gebot anwesend zu sein. Schweitzer und Genossen hatten es darin besser.
Sie wohnten in Berlin, mit Ausnahme von Reinke, der aber bereits 1868
sein Mandat niederlegte, worauf Fritzsche an seine Stelle trat; sie
konnten ohne Mühe und größere Opfer jeder wichtigen Sitzung beiwohnen.
Doch waren wir bei weitem nicht die einzigen, die schwänzten. Die große
Mehrzahl der Gesetze wurde von beschlußunfähigen Häusern angenommen. So
blieb es bekanntlich bis zur Einführung der Diäten im Frühjahr 1906.

       *       *       *       *       *

Bei der zweiten Beratung der Gewerbeordnung stellten wir eine Anzahl
Anträge, mit denen wir aber nur vereinzelt Glück hatten. Wir beantragten
Bestimmungen, nach denen die Streitigkeiten betreffend Kündigungsfristen
usw. Gewerbegerichten überwiesen werden sollten; wir forderten ferner
das Verbot des Trucksystems; obligatorische Fabrikordnungen für alle
Betriebe mit mehr als zehn Arbeitern, wobei die Arbeiter gutachtlich zu
hören seien; weiter beantragten wir Bestimmungen über den Lehrvertrag,
Aufhebung der Arbeitsbücher, Verbot der Kinderarbeit für Kinder unter
vierzehn Jahren in Fabriken. Weiter verlangten wir das Verbot der
Sonntagsarbeit, einen zehnstündigen Normalarbeitstag für Betriebe mit
mehr als zehn Lohnarbeitern, volle Vereinigungsfreiheit für die
Gewerkschaftsorganisationen, Einführung von Fabrikinspektoren. Meist
hatten Schweitzer und Genossen dasselbe beantragt.

Einen unerwarteten Erfolg hatte ich mit meinem Antrag, die Arbeitsbücher
abzuschaffen. Das kam so. Das Leipziger Polizeiamt hatte eine
Verordnung erlassen, in der es hieß: Wirte, bei denen einwandernde
Gewerbsgehilfen einkehrten, seien verbunden, ihnen sogleich nach ihrer
Ankunft ihre Wanderlegitimationen abzufordern und solche an das
Fremdenbureau abzugeben. Diejenigen Gesellen aber, welche eine
Wanderlegitimation vorzuzeigen nicht vermöchten, ohne Verzug dem
Fremdenbureau zuzuführen. Ueberdies sollten die Wirte darauf sehen, daß
zugewanderte oder arbeitslos gewordene Gewerbsgehilfen ohne polizeiliche
Erlaubnis nicht über vierundzwanzig Stunden in Leipzig verweilten.

Diese Verordnung stand in schneidendem Widerspruch mit dem Paßgesetz,
das den Legitimationszwang für das Inland aufgehoben hatte. Die
bezüglichen Bestimmungen der sächsischen Gewerbeordnung, die die
Arbeitsbücher vorschrieben, seien, so führte ich aus, durch das
Paßgesetz gegenstandslos geworden. Lasker unterstützte meinen Antrag,
und so wurde derselbe angenommen. Zehn Jahre später wurden bei einer
Revision der Gewerbeordnung von der konservativ-ultramontanen Mehrheit
die Arbeitsbücher für Personen unter 21 Jahren wieder eingeführt.

Die Annahme meines Antrags auf Beseitigung der Arbeitsbücher
verschnupfte in den Kreisen der selbständigen Handwerker. Das ganze
Raffinement, mit dem ich bei Stellung dieses Antrags zu Werke gegangen
sein sollte, beschrieb Dr. C. Roscher, der Sohn des bekannten
verstorbenen Nationalökonomen W. Roscher — dem Marx und Lassalle übel
mitspielten —, in einem Artikel überschrieben: Wie der deutsche
Gewerbsstand die Arbeitsbücher verlor. Fragment aus einem sozialen
Roman. Nach C. Roscher, der heute noch in einem hohen Amt in der
sächsischen Regierung sitzt, hatte ich meinen schlau erdachten Plan
meinem „Freund Tübicke“ — der Mann hat wohl nie gelebt — entwickelt, als
er mich eines Abends „in meinem öden Zimmer“ aufsucht, wo ich eben
meine — nebenbei bemerkt — sehr kurze Rede zu meinem Antrag entwarf. Ich
lasse mich nun — immer nach Roscher — mit Tübicke in ein Gespräch ein,
wobei ich ihm auseinandersetze, wie ich morgen den Reichstag düpieren
würde, damit er für meinen Antrag stimme. Ich war nicht wenig stolz, zu
lesen, welche Schlauheit mir Roscher zuschrieb, um meine verehrten
Kollegen über den Löffel zu barbieren. Natürlich gelang der Streich
genau so, wie ich den Plan entworfen haben sollte. Als der Präsident
verkündete, der Antrag habe die Mehrheit, hörte man auf der Tribüne ein
unterdrücktes Kichern. Es war mein Freund Tübicke, der sich über das
Gelingen meines Planes diebisch freute. Ich bin überzeugt, mancher, der
diese Schilderung las, nahm sie ernst und sagte sich: Der Bebel ist doch
ein verfluchter Kerl! Aber geschichtliche Wahrheit enthielt die
Schilderung nicht. So wird aber oft Geschichte gemacht.

Ein zweiter, minder wertvoller Antrag, den ich durchsetzte, war, daß
überall, wo es im Gesetz „Muße“ hieß, „Pause“ gesetzt wurde. Die
Regierung sah selbst ein, daß das Wort „Muße“ unpassend sei, und
akzeptierte meinen Vorschlag. Dagegen wurden alle unsere anderen Anträge
abgelehnt.

In derselben Session wurde auch das Wahlgesetz für den Reichstag
festgestellt. Schweitzer und Hasenclever beantragten, statt
fünfundzwanzig Jahre zwanzig zu setzen, und der Wahltag müsse ein
Sonntag sein. Ich beantragte, daß die Wahlen am gleichen Tage im ganzen
Bundesgebiet stattfinden und der Wahltag ein Sonn- oder Feiertag sein
müsse. Ferner verlangte ich, die Bestimmung zu streichen, wonach
Personen das Wahlrecht verlieren sollten, die eine Armenunterstützung
aus öffentlichen oder Gemeindemitteln beziehen oder im letzten Jahre vor
der Wahl bezogen haben.

Es ist überflüssig zu sagen, daß trotz aller unserer Reden diese Anträge
ebenfalls abgelehnt wurden. Auch verloren jetzt die _unter der Fahne
stehenden Militärpersonen das aktive Wahlrecht_. Es waren die
Nationalliberalen, die hierfür eifrig eintraten. Die Regierungen hatten
diese Forderung _nicht_ gestellt.

Bei der Debatte über den Haushaltsetat — 24. April — hatte sich der
Abgeordnete v. Hoverbeck für eine Entwaffnung ausgesprochen. Darauf
antwortete ich: Ich sei der Ansicht, daß, wie gegenwärtig die Dinge in
Europa stünden, wo der Zäsarismus hüben und der Zäsarismus drüben das
Ruder führe, ernstlich eine Entwaffnung für möglich zu halten eine
Torheit sei. Ich hielte es für unmöglich, daß unsere Zäsaren, von denen
jeder nach der Gelegenheit hasche, über den anderen herzufallen und ihn
niederzuschlagen, sich einfallen ließen, eine noch so mäßige Entwaffnung
eintreten zu lassen. Es geschehe eben hier, was von den beiden Löwen der
Fabel erzählt werde, sie fielen über sich her und fraßen sich bis auf
die Schwänze auf. Dabei könnten wir nur profitieren.

Am 13. Mai hielt ich eine Rede gegen das Privileg der Portofreiheit der
Fürsten. Ich wurde wiederholt heftig unterbrochen. Meine Ausführungen
hatten die „loyalen Gefühle“ eines Teils der Mitglieder verletzt. Dafür
erhielt ich aus der Wählerschaft viele Zustimmungen.

Am 3. Juni wurde das Zollparlament wieder eröffnet, aber bereits am 22.
Juni geschlossen. Ich beteiligte mich nicht an den Debatten, die für
mich keine besondere Bedeutung hatten; außerdem erforderte mein Geschäft
meine Anwesenheit in Leipzig.

       *       *       *       *       *

In der Frühjahrssession des norddeutschen Reichstags von 1870 war der
Hauptberatungsgegenstand der Strafgesetzentwurf für den Norddeutschen
Bund. Ich nahm bei dessen Beratung nur einmal das Wort, und zwar in
dritter Lesung bei Beratung der Todesstrafe. Der Reichstag, der in der
zweiten Lesung mit erheblicher Mehrheit sich gegen die Todesstrafe
ausgesprochen hatte — das im Jahre 1868 erlassene sächsische
Strafgesetzbuch hatte sie abgeschafft, ebenso war sie in Baden
abgeschafft worden —, stimmte jetzt auf Drängen und Drohen Bismarcks
_für_ dieselbe, und zwar mit 127 gegen 110 Stimmen. Der _einzige_
sächsische Abgeordnete, der _für_ die Todesstrafe eintrat, war Dr. Hans
Blum, der Sohn des im Herbst 1848 in der Brigittenau bei Wien
erschossenen Robert Blum. Als Blum sein Ja für die Todesstrafe abgab,
antworteten wir auf der äußersten Linken mit einem kräftigen Pfui!

Hans Blum gehörte zu den schmutzigsten und perfidesten Gegnern der
Sozialdemokratie; um uns zu bekämpfen, war ihm _jedes_ Mittel recht.
Selbstverständlich war er ein begeisterter Verehrer Bismarcks, und
dieser wollte ihm wohl. Aber er konnte ihn vor schimpflichem Untergang
nicht retten. Blum wurde wegen ehrloser Handlungen die Advokatur
entzogen. Er ging alsdann nach der Schweiz, woselbst er eine
Zigarrenfabrik betrieb. Er starb 1909 als wohlhabender Mann.

In einer zweiten Rede in der Frühjahrssession 1870 trat ich für einen
Antrag Lasker ein, der eine Revision des Militärstrafrechtes verlangte.
Der Antrag wurde mit 117 gegen 73 Stimmen angenommen.

Die Zollparlamentssession von 1870 war wiederum sehr kurz, sie währte
nur gegen drei Wochen. Vor Beginn derselben hatte der Abgeordnete Dr.
Kolb-Bayern sein Mandat für das Zollparlament niedergelegt. Das
Zollparlament sei ein Werk der Täuschung und des Truges, das nur für die
Machtstellung Preußens zu arbeiten habe. Es ist bemerkenswert, wie
kampfunlustig die bürgerliche Demokratie wurde. Damit erhält man aber
keine Partei am Leben, geschweige, daß man sie stärker macht. Die
Klügeren sahen eben schon damals, daß bei der Entwicklung, die die
Sozialdemokratie nahm, die bürgerliche Demokratie keine Zukunft mehr
habe. Die wachsenden Klassengegensätze schieden immer mehr die Geister.

Die Frühjahrssession 1870 war die letzte des Zollparlaments, denn wenige
Monate nachher begann die große Tragödie, die auch die politischen
Verhältnisse Deutschlands sehr wesentlich änderte und das Zollparlament
überflüssig machte.



Taktische Unstimmigkeiten.


Bevor ich auf die Tragödie des Deutsch-Französischen Krieges eingehe,
muß ich in Kürze auf die taktischen Unstimmigkeiten zu sprechen kommen,
die sich zwischen Liebknecht und mir wegen unserer parlamentarischen
Stellung herausgebildet hatten.

Liebknecht hatte schon zur Zeit, als der Bismarcksche Bundesreformantrag
zur Diskussion stand — Frühjahr 1866 —, sich gegen das Wählen zu einem
solchen Parlament ausgesprochen, und zwar im Mannheimer „Deutschen
Wochenblatt“. Dieses wurde aber in unseren Kreisen fast nicht gelesen,
und da Liebknecht, soweit ich mich dessen entsinne, weder im Leipziger
Arbeiterbildungsverein, noch im Demokratischen Verein, noch in einer
anderen Versammlung seinen negierenden Standpunkt zur Geltung zu
bringen suchte, kam es infolgedessen zu keiner Diskussion. Als wir dann
Weihnachten 1866 auf unserer Landesversammlung zu Glauchau ohne jeden
Widerspruch die Wahlbeteiligung als selbstverständlich beschlossen und
Liebknecht, der damals drei Monate Gefängnis in der Berliner
Stadtpolizei verbüßte, mit als Kandidaten für den 19. sächsischen
Wahlkreis aufstellten, akzeptierte er diese Aufstellung ohne jeden
Vorbehalt. Bei seiner zweiten Kandidatur, Hochsommer 1867, wurde er auch
gewählt. Anfangs stellte er selbst Anträge zu Gesetzentwürfen, aber bald
kam die alte Abneigung gegen den Parlamentarismus wieder bei ihm zum
Durchbruch und äußerte sich in lebhaften Auseinandersetzungen zwischen
uns über die Taktik, die wir im Reichstag einnahmen sollten.

Liebknecht sah in dem Norddeutschen Bunde ein Gebilde, das mit allen
Mitteln bis zur Vernichtung bekämpft werden müsse. An dessen Parlament
sich anders als negierend und protestierend zu beteiligen, war nach
seiner Meinung eine Preisgabe des revolutionären Standpunktes. Daher
kein Paktieren, kein Kompromisseln, das heißt kein Versuch, die
Gesetzgebung in unserem Sinne zu beeinflussen.

Zu dieser Auffassung unseres revolutionären Standpunktes konnte ich mich
nicht bekennen. Protestieren und negieren, wo es am Platze war, also vor
allen Dingen gegen alles Schlechte und Verderbliche, aber zugleich auch
agitieren in positivem Sinne, indem wir überall unsere Anträge zu den
einzelnen Gesetzentwürfen stellten und damit zeigten, wie wir uns die
Gestaltung der Dinge dachten. Indem wir diese Anträge stellten und Reden
zu ihren Gunsten hielten, die, wenn auch noch so verstümmelt, in den
Berichten der Zeitungen von Millionen gelesen wurden, würden wir im
höchsten Grade agitatorisch und propagandistisch wirken.

Diese Meinungsverschiedenheiten kamen zwischen uns am lebhaftesten zum
Ausdruck, als ich zahlreiche Anträge zur Gewerbeordnung und anderen
Gesetzentwürfen stellte, zu denen Liebknecht seine Stimme nur ungern
hergab. Er hielt es schließlich für zweckmäßig, seinen abweichenden
Standpunkt in einem Vortrag darzulegen, den er am 31. Mai 1869 im
Berliner Demokratischen Arbeiterverein hielt. Der Vortrag ist nachher in
einer Broschüre erschienen, betitelt: Die politische Stellung der
Sozialdemokratie, insbesondere mit bezug auf den Reichstag.

Liebknecht äußerte darin: Die soziale Bewegung ist ein revolutionärer
Umgestaltungsprozeß, der sich nicht über Nacht vollziehen kann ... Aber
die neue Gesellschaft steht in unversöhnlichem Gegensatz mit dem alten
Staat ... Was die neue Gesellschaft will, hat daher vor allem auf
Vernichtung des alten Staates hinzuwirken ... Für die soziale Praxis muß
sich die Sozialdemokratie erst den staatlichen Boden schaffen ... Der
Kampf im Reichstag sei bloß ein Scheinkampf, bloß eine Komödie ...
Verhandeln könne man nur, wo eine gemeinsame Grundlage bestehe ...
Prinzipien seien unteilbar, man müsse sie ganz bewahren oder ganz opfern
... Den im Reichstag fast ausschließlich vertretenen herrschenden
Klassen gegenüber sei der Sozialismus keine Frage der Theorie mehr,
sondern einfach eine Machtfrage, die in keinem Parlament, die nur auf
der Straße, auf dem Schlachtfeld zu lösen sei, gleich jeder anderen
Machtfrage ... Alles, was von dem Werte der Reden im Reichstag gesagt
werde, sei hinfällig. Ob man glaube, den Reichstag durch Reden bekehren
zu können? Dieses Reden sei zwecklos, und zwecklos zu reden, sei ein
Vergnügen der Toren.

Er wendete sich dann gegen die Ueberschätzung des Wahlrechts im
absolutistischen Staat; losgelöst von staatsbürgerlicher Freiheit, ohne
Preßfreiheit, ohne Vereinsrecht könne das allgemeine Stimmrecht nur
Spiel und Werkzeug des Absolutismus sein.

Der Reichstag habe auch keine Macht; eine Kompagnie Soldaten jage,
selbst wenn wir die Mehrheit darin hätten, diese Mehrheit zum Tempel
hinaus ... Revolutionen würden nicht mit hoher obrigkeitlicher
Bewilligung gemacht; die sozialistische Idee könne nicht innerhalb des
heutigen Staates verwirklicht werden; sie müsse ihn stürzen, um ins
Leben treten zu können. „Kein Friede mit dem heutigen Staat.“

Diese rein negierende Stellung Liebknechts ist für die Partei nie
maßgebend geworden, so oft er auch dafür kämpfte. Als aber in den
achtziger Jahren unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes der
Anarchismus in Deutschland hier und da Boden fand, benutzten
selbstverständlich die Anarchisten die Broschüre Liebknechts, um gegen
uns als „parlamentarische Partei“ zu kämpfen. Es war ein unhaltbarer
Zustand, daß eine Rede des ersten Führers der Partei ständig gegen die
Wirksamkeit der Partei ausgenutzt wurde. Darauf machte ich ihn in einer
Fraktionssitzung Mitte der achtziger Jahre aufmerksam. Liebknecht gab
die Berechtigung meiner Auffassung ohne weiteres zu, und so erschien die
neue Auflage mit einem Vorwort, in dem er darauf hinwies, daß sein in
der Broschüre vertretener Standpunkt sich nur auf die Periode vor
Gründung des Reiches beziehe. Im weiteren hat dann auch Liebknecht auf
dem St. Galler Kongreß — Oktober 1887 — offen und rückhaltlos erklärt, er
sei nunmehr zu der Ansicht gekommen, daß die praktische Tätigkeit in den
Parlamenten eine Notwendigkeit und von großem Vorteil für die Partei
sei. Damit waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen uns über die
parlamentarische Taktik beseitigt.

Die Liebknechtsche Rede hatte ein gerichtliches Nachspiel. Das Berliner
Stadtgericht verurteilte ihn in contumaciam, da er auf Vorladung nicht
erschienen war, wegen Schmähung obrigkeitlicher Anordnungen zu drei
Monaten Gefängnis. Das Berliner Stadtgericht forderte darauf die
Auslieferung Liebknechts — man halte fest, daß es damals noch kein
gemeinsames Strafrecht und kein gemeinsames Prozeßverfahren gab — auf
Grund des Gesetzes über die gegenseitige Rechtshilfe. Diese Auslieferung
wurde von den sächsischen Gerichten _verweigert_, weil es nach dem neuen
sächsischen Strafrecht kein Vergehen gab wie jenes, auf das hin
Liebknecht in Berlin verurteilt worden war. Nun verlangte die preußische
Regierung bei der sächsischen die Verfolgung Liebknechts wegen Schmähung
von Bundesinstitutionen. Die sächsische Regierung machte auch Miene, dem
Verlangen stattzugeben. Die Sache zog sich aber in die Länge, und
schließlich erging es Liebknecht mit seiner Berliner wie mir mit meinen
Plauener Reden, sie wanderten als schätzbares Anklagematerial in die
Akten unseres kommenden Hochverratsprozesses.



Der Deutsch-Französische Krieg.



Das Vorspiel zur Kriegserklärung.


Die Haltung, die Liebknecht und ich bei Ausbruch und während der Dauer
jenes Krieges in und außerhalb des Reichstags einnahmen, ist
jahrzehntelang Gegenstand der Erörterung und heftiger Angriffe gewesen.
Anfangs auch in der Partei. Aber nur kurze Zeit, dann gab man uns recht.
Ich bekenne, daß ich unsere damalige Haltung in keiner Weise bedaure und
daß, wenn wir bei Ausbruch des Krieges bereits gewußt hätten, was wir im
Laufe der nächsten Jahre auf Grund amtlicher und außeramtlicher
Veröffentlichungen kennen lernten, unsere Haltung vom ersten Augenblick
an eine noch schroffere gewesen sein würde. Wir hätten uns nicht, wie es
geschah, bei der ersten Geldforderung für den Krieg der Abstimmung
enthalten, wir hätten direkt gegen dieselbe stimmen müssen.

Heute kann es keinem Zweifel mehr unterliegen, daß der Krieg von 1870
von _Bismarck gewollt_ und durch ihn von langer Hand vorbereitet worden
ist. Wenn er mit seinen Versuchen, anläßlich der Kriege von 1864 und
1866 sich als den Unschuldigen und dazu Gereizten hinzustellen, wenig
Glück hatte, so ist ihm dieses in bezug auf den Krieg von 1870/71
glänzend gelungen. Mit Ausnahme eines kleinen Kreises Eingeweihter, der
wußte, daß Bismarck mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln auf den
Krieg mit Frankreich hinarbeitete — zu dem der damalige König und spätere
Kaiser Wilhelm I. nicht gehörte —, hat Bismarck alle Welt düpiert und
den Glauben zu erwecken verstanden, daß Napoleon den Krieg provozierte
und er, der friedliebende Bismarck, sich mit seiner Politik in der Rolle
des Angegriffenen befand. Und die offizielle und offiziöse
Geschichtschreibung hat diesen Glauben, wonach Frankreich der Angreifer,
Deutschland der Angegriffene war, bis heute in der großen Masse der
Bevölkerung aufrechtzuerhalten verstanden.

Allerdings hat Napoleon formell den Krieg erklärt, aber das
Bewundernswerte in der Bismarckschen Politik lag darin, daß er die
Karten so geschickt gemischt hatte, daß Napoleon mit der Kriegserklärung
austrumpfen _mußte_, er mochte wollen oder nicht, und so als der
Friedensbrecher erschien.

Haben doch kurze Zeit selbst Männer wie Marx und Engels die Anschauung
gehabt und öffentlich zum Ausdruck gebracht, Napoleon sei der
Friedensbrecher gewesen, obgleich die Warte, auf der sie standen, für
die Beurteilung der europäischen Politik eine weit höhere war als die
unsere. Die Vorgänge bis zur Kriegserklärung waren so irreführend und
verblüffend, daß man ganz die Tatsache übersah, daß Frankreich, das den
Krieg erklärte, mit seiner Armee auf keinen Krieg vorbereitet war,
wohingegen in Deutschland, das als der zum Kriege provozierte Teil
erschien, die Kriegsvorbereitungen _bis auf den letzten Lafettennagel
fertig waren_ und die Mobilmachung wie am Schnürchen sich vollzog.

Die öffentliche Anklage, daß Bismarck der Urheber des
Deutsch-Französischen Krieges sei, habe ich meines Erinnerns in der
Partei zuerst in zwei Artikeln des „Volksstaat“, und zwar in den Nummern
73 und 74 vom Jahre 1873 erhoben, die die Ueberschrift trugen: „Zum
zweiten September.“ Liebknecht, dem ich die beiden Artikel vorlegte, hat
nur einige kleine formale Aenderungen daran vorgenommen und hat sie
beide an der Spitze seiner später erschienenen Broschüre: „Die Emser
Depesche oder wie Kriege gemacht werden“, abgedruckt.

Der Krieg mit Frankreich lag lange in der Luft. Sobald die Lösung der
deutschen Frage durch die Kabinette und nicht durch die Volksmassen in
die Hand genommen wurde, war bei der Situation in Deutschland und
Europa, die der Wiener Kongreß von 1815 geschaffen hatte, auch die
Einmischung des Auslandes zu befürchten, in erster Linie die
Frankreichs, dessen damaliger Herrscher Napoleon sich eine Art
Schiedsrichterrolle in Europa anzumaßen verstanden hatte. Der
Antagonismus zwischen Oesterreich und Preußen, wie das ganze Gebilde des
damaligen deutschen Bundes, erleichterte ihm diese Rolle. Bismarck trug
dieser Rolle ebenfalls Rechnung, indem er von 1864 bis 1866 sich auf
allerlei bedenkliche Unterhandlungen mit Napoleon einließ, bei denen die
Abtretung gewisser Teile Deutschlands als Kompensation für Annexionen
deutscher Staaten durch Preußen in Frage kam. Ich habe schon im ersten
Teil meiner Arbeit darauf Bezug genommen.

Bismarck war es gelungen, sowohl 1864 wie 1866 Napoleon zu prellen; er
ging bei der Umgestaltung der deutschen Verhältnisse zugunsten Preußens
leer aus. Aber seine Einmischung in die Friedensverhandlungen des
Krieges von 1866 hatte doch genügt, um Preußen die geplante Annexion
Sachsens unmöglich zu machen; auch war Napoleons Einfluß die Bestimmung
des Artikel 4 des Prager Friedensvertrags zu verdanken, wonach eine
Abtretung des dänisch sprechenden Teiles Nordschleswigs an Dänemark in
Aussicht genommen wurde; ferner mußte Preußen auf Annexionen südlich der
Mainlinie verzichten. Napoleons Einfluß war weiter geschuldet die Lösung
der Luxemburger Frage im folgenden Jahre zuungunsten Deutschlands.

Es liegt auf der Hand, daß diese Störung von Bismarcks Zirkeln durch
Napoleon bei Bismarck Rache- und Vergeltungsgedanken aufkommen ließen
und er danach gierte, die überragende Stellung Napoleons und Frankreichs
in Europa zu brechen. Einen Krieg gegen Frankreich zu beginnen, sobald
eine günstige Gelegenheit sich dazu biete, war von 1866 ab das Ziel der
neupreußisch-deutschen Politik. Auf dieses Ziel wurde die militärische
Reorganisation und Armeeerweiterung mit fieberhafter Eile betrieben; es
wurden alle Maßnahmen bis ins kleinste getroffen, um, wenn der Moment
komme, mit Frankreich anbinden zu können.

Daß der nächste Krieg ein Krieg mit Frankreich sein werde, war seit 1866
die Ueberzeugung aller Politiker. Auch in der Armee sah man dieses als
selbstverständlich an und sehnte sich nach demselben. Wir klagten
deshalb die Bismarcksche Politik an, daß sie einen Zustand für
Deutschland geschaffen hatte, wie er seit 1815 nicht vorhanden gewesen
sei. Das gespannte Verhältnis zu Oesterreich, das der Ausgang des
Krieges von 1866 zur Folge hatte, mache die Frage für Deutschland
doppelt gefährlich, weil befürchtet werden müsse, daß Oesterreich zu
einer Revanche für 1866 mit Frankreich im Bunde bereit sein werde.
Tatsächlich wurden auch bezügliche Verhandlungen zwischen Frankreich und
Oesterreich gepflogen, die aber keinen Erfolg hatten, weil der
unerwartet rasche Ausbruch des Krieges und die siegreichen Schläge, mit
der die französische Armee von der deutschen niedergeworfen wurde, es
Oesterreich klüger erscheinen ließen, von einer Einmischung abzusehen.
Aus dieser Situation heraus sah man im Volke einem Kriege zwischen
Deutschland und Frankreich mit großem Unbehagen entgegen, um so mehr, da
man in weiten Volkskreisen noch an eine Unbesiegbarkeit Frankreichs
glaubte. Andererseits stand allerdings fest, daß der Mangel an positivem
Gewinn, den Napoleon aus seiner Einmischungsrolle heimgebracht, sein
Ansehen im eigenen Lande tief heruntergesetzt und der bürgerlichen
Opposition großen Anhang verschafft hatte. Diese Stimmung kam deutlich
zum Ausdruck bei den Wahlen im Mai 1869, bei welchen auf die Kandidaten
der Regierung nur rund 4469000 Stimmen, auf die der Opposition 3259000
Stimmen fielen. Ueber diesen Wahlausfall schrieb man damals der
„Frankfurter Zeitung“ aus Paris: „Nicht allein die moralischen, auch die
materiellen Interessen Europas lassen die republikanische Staatsform als
unerläßlich für die Regeneration unserer Verhältnisse erscheinen.“

Die Opposition in der Kammer war auf 116 Köpfe gestiegen. Das veranlaßte
Napoleon Anfang Januar 1870, das Mitglied der Opposition, Olivier, zum
Präsidenten eines gemäßigt liberalen Kabinetts zu ernennen und zur
Unterstützung seiner Politik am 8. Mai ein sogenanntes Plebiszit
(allgemeine Volksabstimmung) vorzunehmen, wobei er für sein Regiment
zwar 7350000 Ja gegen 1500000 Nein erzielte, aber was sehr bedenklich
war, die Armee und Marine hatten 50000 Nein in die Urne geworfen.
Außerdem hatten zahlreiche Städte, voran Paris, ein erhebliches Mehr
gegen ihn ergeben.

Die feindselige Stimmung gegen Napoleon war in Paris schon im Januar
zutage getreten bei der Beerdigung des Schriftstellers Victor Noir, den
der Prinz Pierre Napoleon bei einem persönlichen Streit meuchlings
niedergeschossen hatte. Eine ungeheure Menschenmenge begleitete
demonstrativ die Leiche Victor Noirs. Es fehlte nicht viel, und es wäre
dabei zu einem revolutionären Ausbruch gekommen.

Alle diese Vorgänge wirkten niederdrückend auf Napoleon, der damals
schon an einem schmerzhaften Blasensteinleiden litt, dem er schließlich
auch erlag. Dieses Leiden raubte ihm Energie und Tatkraft.

Aber auch die militärischen Verhältnisse Frankreichs waren solche, die
einen Krieg mit einer starken Macht für gefährlich erscheinen ließen.
Wenn Preußen-Deutschland seit 1866 mit aller Kraft und Energie an der
Vermehrung und Ausbildung der Armee arbeitete, so geschah gleiches nicht
in Frankreich. Napoleon harte zwar in dem Oberst Stoffel einen
Militärattaché in Berlin, der offene Augen und Ohren hatte und
fortgesetzt Berichte einschickte, worin er über die gewaltigen
Fortschritte in der militärischen Entwicklung Preußens Bericht
erstattete und zu ähnlichem Vorgehen antrieb, aber alles war vergebens.
Oberst Stoffel predigte tauben Ohren. Einige Urteile Stoffels, weil von
historischer Bedeutung, mögen hier Platz finden. So schrieb er unter dem
22. Juli 1868: „Nach meiner Meinung lebt man in Frankreich in der
tiefsten Unwissenheit von alledem, was Preußen angeht, sowohl die
preußische Nation als die preußische Armee.“ Am 12. August 1869 schrieb
er prophetisch: „Preußen hat Scharfblick genug, um zu erkennen, daß der
Krieg, den es nicht wünscht, doch ausbrechen wird, und es hat alle
Anstrengungen gemacht, um vorbereitet zu sein für diese Eventualität,
daß irgend ein Zwischenfall den Krieg herbeiführt.“ Ein andermal bemerkt
er: „Das ist der Hauptgegenstand meiner Befürchtung, dieser schlagende
Kontrast zwischen der Voraussicht Preußens und der Verblendung
Frankreichs.“ Wütend ist er über Thiers, der 1848 verhindert habe, daß
die allgemeine Wehrpflicht in Frankreich eingeführt wurde. _„Dieser
Mensch war für unser Land ein schlimmeres Verhängnis als zwanzig
Niederlagen.“_ Und bei Ausbruch des Kriegs bezeichnet er denselben von
französischer Seite als den Krieg der Voraussehungslosigkeit, der
Unwissenheit und der Albernheit gegenüber der Voraussicht, Bildung und
Intelligenz. Napoleon sei krank, _die Revolution stehe vor der Tür_, und
dazu komme die Dummheit der Kaiserin.

In Paris glaubte kein Mensch an einen Krieg mit Deutschland. _Noch
Anfang Juli 1870, also vierzehn Tage vor Ausbruch des Kriegs, beschloß
die französische Deputiertenkammer die Herabsetzung des
Rekrutenkontingents von 100000 auf 90000 Mann._ Der Kriegsminister
Leboeuf erklärte, daß, _wenn er der Herabsetzung zustimme, es geschehe,
weil er einen Beweis der Friedfertigkeit des Ministeriums geben wolle_.
Und der Ministerpräsident Olivier erklärte auf eine Anfrage des
Abgeordneten Jules Favre, _daß zu keiner Zeit die Erhaltung des Friedens
mehr gesichert sei als gegenwärtig. Nirgends gebe es eine aufregende
Frage._

Und doch kam über Nacht der Krieg.

„Fern im Süd das schöne Spanien“ gab ungewollt die Gelegenheit dazu.
Seit Herbst 1868 war Spanien Republik, aber die herrschenden Klassen
sehnten sich nach der Monarchie. So gingen sie auf die Königsuche. Wie
nachträglich bekannt geworden ist, wurde bereits im September 1869 der
Fürst Karl Anton von Hohenzollern davon unterrichtet, daß man seinen
Sohn Leopold, der damals als Leutnant in einem preußischen Garderegiment
stand, zum König von Spanien wünsche. Der preußische Gesandte in
München, Freiherr v. Werthern, hatte dabei seine Hand im Spiele. Ob mit
oder ohne Wissen Bismarcks? Bismarck leugnete, daß er davon etwas gewußt
habe, aber wer glaubt es ihm? Ein Hohenzollernprinz als Kandidat für den
spanischen Königsthron war eine Sache von größter politischer Bedeutung,
sowohl für die Hohenzollern wie für Napoleon. Napoleon und Frankreich
fühlten sich in ihren Interessen aufs stärkste gefährdet, wenn neben dem
Hohenzollern an der Ostgrenze ein Hohenzoller auf der Südgrenze als
Regent eines großen Staates hinzukam. Im Fall eines Kriegs mit
Deutschland mußte alsdann Frankreich sich gegen einen Ueberfall von
Süden schützen, was eine starke militärische Schwächung bedeutete.

König Wilhelm hatte bezeichnenderweise von einem ernsthaften Plan,
einen Hohenzollernprinzen auf den spanischen Königsthron zu erheben,
_keine Ahnung_. Er erhielt die Nachricht darüber erst Ende Februar 1870
und schrieb darauf unter dem 26. an Bismarck:

  „Die Einlage fällt mir wie ein Blitz aus heiterer Luft auf den Leib!
  Wieder ein hohenzollerischer Thronkandidat, und zwar für Spanien. Ich
  ahndete kein Wort und spaßte neulich mit dem Erbprinzen über die
  frühere Nennung seines Namens und beide verwarfen die Idee unter
  gleichem Spaß! Da Sie vom Fürsten Details erhalten haben, so müssen
  wir konferieren, obgleich ich von Haus gegen die Sache bin. Ihr W.“

Bismarck ließ sich aber durch diese Ansicht des Königs nicht irre
machen, er verfolgte konsequent seinen Plan und erreichte schließlich
doch, daß in einer Beratung unter dem Vorsitz des Königs, an welcher der
Kronprinz, der Fürst von Hohenzollern, er und Moltke teilnahmen, der
Kandidatur des Prinzen Leopold zugestimmt wurde.

Napoleon soll anfangs die Nachricht von der Kandidatur des
Hohenzollernprinzen ohne besonderen Widerspruch hingenommen haben, was
für seine Apathie und sein Ruhebedürfnis spräche. Als aber Anfang Juli
die provisorische Regierung Spaniens sich für die Kandidatur des
Hohenzollern aussprach und dieser Beschluß in Frankreich bekannt wurde,
begann der größte Teil der französischen Presse zu toben wegen der
Gefahr, die ein Hohenzoller auf dem spanischen Königsthron für
Frankreich bedeute. Jetzt mußte auch Napoleon sich rühren. Er sandte
seinen Botschafter Benedetti um Aufklärung zu Bismarck. Dieser gab zur
Antwort, das _Ministerium_ wisse nichts von der Sache. So stellt er
selbst in „Gedanken und Erinnerungen“ die Sache dar. Dort erklärt er im
zweiten Bande auf Seite 80: Politisch habe er der Frage ziemlich
gleichgültig gegenüber gestanden. Auf der folgenden Seite aber äußert er
bereits: „Wenn der Herzog von Gramont (in einer 1872 erschienenen
Broschüre) sich bemüht, den Beweis zu führen, daß ich der spanischen
Anregung gegenüber mich nicht ablehnend verhalten hätte, so finde ich
keinen Grund, dem zu widersprechen.“

Einer seiner Verehrer hat recht, wenn er schreibt: „Indem Bismarck
Geschichte schreibt, macht er Geschichte“, das heißt er dreht die Dinge
so, wie sie ihm passen.

Dem Lärm in der französischen Presse folgte der Lärm in der deutschen.
Aber zunächst nicht überall. Noch am 12. Juli sprach die „Kölnische
Zeitung“ sich sehr entschieden gegen die Hohenzollern-Kandidatur aus im
Interesse der Ruhe Europas. Und wie man in jenen Tagen in Bürgerkreisen
über den Militarismus dachte, darüber legt Zeugnis ab ein Beschluß einer
Vertrauensmännerversammlung der Fortschrittspartei für Rheinpreußen am
10. Juli in Köln. Jene Versammlung resolvierte:

  „Wir erwarten und fordern von den zu wählenden Abgeordneten zum
  Reichstag, daß sie in der nächsten Session des Reichstags insbesondere
  für die Verminderung der Militärlast durch Verminderung der
  Friedensarmee und Verkürzung der Dienstzeit eintreten und für den
  Fall, _daß diese Forderung abgelehnt wird, in Ausübung ihres
  verfassungsmäßigen Rechtes jedwede Bewilligung von Geldmitteln für das
  Militär dem Bundespräsidium verweigern_.“

Wer denkt in den bürgerlichen Parteien heute noch an dergleichen
Schritte, obgleich mittlerweile die militärischen Rüstungen zu Wasser
und zu Lande einen Umfang angenommen haben, den zu jener Zeit _niemand
für möglich_ hielt.

Da kam der 13. Juli, der die Entscheidung brachte. Nach der offiziellen
und offiziösen Darstellung der Begegnung des Grafen Benedetti mit König
Wilhelm in Ems sollte Benedetti in brüsker Weise vom König gefordert
haben, zu erklären, daß er nie wieder eine Hohenzollernkandidatur für
den spanischen Thron zulassen werde, nachdem an demselben Tage auf
Betreiben des Königs Wilhelm der Hohenzollernprinz seine Kandidatur
_zurückgezogen_ hatte. Der König hatte durch einen Adjutanten an
Benedetti diesem mitgeteilt, daß er die Verzichtleistung approbiert
habe. Auf einen nochmaligen Wunsch Benedettis, den König zu sprechen,
ließ dieser, wie sein Generaladjutant Prinz Radziwill nachher in einer
Erklärung mitteilte, „dem Grafen Benedetti durch mich zum dritten Male
nach Tisch, etwa um 6 Uhr, erwidern, Seine Majestät müsse es entschieden
ablehnen, in betreff der bindenden Erklärungen für die Zukunft sich in
weitere Diskussionen einzulassen. Was er heute morgen gesagt, wäre sein
letztes Wort in dieser Sache, und er könne sich lediglich darauf
berufen. Hierauf erklärte Benedetti, sich seinerseits bei dieser
Erklärung beruhigen zu wollen.“ Damit war tatsächlich der Zwischenfall
erledigt. Aber nicht für Bismarck, dessen Pläne auf einen Konflikt mit
Frankreich durch die Erklärung des Königs durchkreuzt waren. Er erzählt
selbst in „Gedanken und Erinnerungen“, daß, als er an jenem Tage mit
Moltke und Roon gemeinsam speiste, diese über die Nachricht von der
Verzichtleistung des Prinzen von Hohenzollern auf den spanischen Thron
im höchsten Grade deprimiert waren. Bismarck selbst war so aufgebracht,
daß er seine Demission geben wollte. Bald darauf lief aus Ems eine lange
Depesche ein, in der Abeken im Auftrag des Königs den Verlauf der
letzten Zusammenkunft desselben mit Benedetti schilderte, deren Inhalt
die letzte Hoffnung auf einen Konflikt mit Frankreich zerstörte. Roon
und Moltke legten tief betroffen Gabel und Messer hin, erzählt Bismarck;
daß die Aussicht auf Krieg geschwunden war, hatte ihnen den Appetit
verdorben. Darauf setzte sich Bismarck — immer nach seiner eigenen
Darstellung — an einen Nebentisch, nahm den Stift und strich die Depesche
so zusammen, daß dieselbe einen völlig veränderten Charakter bekam. Als
er sie in seiner Fassung Moltke und Roon vorlas, leuchteten beider
Augen, und Moltke, der Schweiger, rief: „So, das hat einen anderen
Klang, vorher war es eine Schamade, jetzt ist es eine Fanfare.“ Alsdann
setzten sich alle drei fröhlich zu Tisch und aßen mit bestem Appetit
weiter. Der Krieg war gesichert.

Die Depesche ging in die Welt und wurde offiziell an alle fremden
Kabinette mit Ausnahme des Pariser verschickt, was die schwerste
Beleidigung für die französische Regierung war. In der redigierten
Fassung lautete die Depesche:

  „Ems, 13. Juli 1870. Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des
  Erbprinzen von Hohenzollern der kaiserlich französischen Regierung von
  der königlich spanischen amtlich mitgeteilt worden sind, hat der
  französische Botschafter in Ems an Seine Majestät noch die Forderung
  gestellt, ihn zu autorisieren, daß Seine Majestät der König für alle
  Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn
  die Hohenzollern auf ihre Kandidatur wieder zurückkommen sollten.
  _Seine Majestät der König hat es darauf abgelehnt, den französischen
  Botschafter zu empfangen und demselben durch den Adjutanten vom Dienst
  sagen lassen, daß Seine Majestät dem Botschafter nichts weiter
  mitzuteilen habe.“_

Diese Bismarcksche Depesche hatte die gewünschte Wirkung. Sobald sie
bekannt wurde, war die Aufregung in Frankreich und Deutschland und weit
über diese Länder hinaus eine ungeheure. Ich bekam Kenntnis von
derselben, als ich am Nachmittag des 14. Juli im Vorderhause bei meinem
Friseur war und die damals von Professor Dr. Karl Biedermann redigierte
„Allgemeine Deutsche Zeitung“ hereingebracht wurde, die jene Depesche
enthielt. Als ich sie gelesen, warf ich das Blatt mit den Worten auf den
Tisch: Da haben wir den Krieg! Der Friseur erschrak über diese Aeußerung
aufs höchste, ich mußte ihm auseinandersetzen, warum die Depesche diese
Bedeutung habe.

Wie vorauszusehen, erfolgte am 19. Juli die Kriegserklärung Frankreichs
an Deutschland, nachdem die französische Kammer bereits am 15. Juli eine
Kriegsanleihe in Höhe von 700 Millionen Franken gegen eine kleine
Minorität bewilligt hatte.



Meinungsdifferenzen.


Die geschilderten Vorgänge hatten zwischen Liebknecht und mir abermals
eine Meinungsverschiedenheit hervorgerufen. Liebknecht hatte die
Ansicht, Napoleon wolle den Krieg, Bismarck habe aber nicht den Mut, den
hingeworfenen Fehdehandschuh aufzunehmen. So schrieb er am 13. Juli im
„Volksstaat“: „Das Frankreich des Bonaparte hat dem Preußen des Bismarck
die Kriegsfrage gestellt, und wenn letzteres sich nicht zu einem
schimpflichen Rückzug entschließt, ist der Krieg unvermeidlich.“ Am 16.
Juli schrieb er: „Der Mutige weicht zurück — vor dem Stärkeren. Die
Hohenzollernkandidatur ist gegenüber der drohenden Haltung Bonapartes
zurückgezogen worden; es bleibt Friede, und der großmächtige
Norddeutsche Bund, der Deutschland Achtung im Ausland verschaffen
sollte, hat mit derselben Demut, wie weiland in der Luxemburger Affäre,
vor dem französischen Kaiserreich die Segel gestrichen.“

Ich vertrat den entgegengesetzten Standpunkt. Wohl habe Napoleon den
Krieg erklärt, aber er sei nach meinem Gefühl in eine Falle getappt, die
Bismarck ihm gestellt; _letzterer_ wolle den Krieg, und er habe sein
Ziel erreicht. Ich war über die Auffassung des „Volksstaat“ im höchsten
Grade erregt, es kam zu lebhaften Erörterungen zwischen Liebknecht und
mir, und erst auf eine Intervention Geibs kam es zu einer Verständigung
zwischen uns. Vom 20. Juli ab vertrat der „Volksstaat“ eine Auffassung,
die auch ich durchaus teilte.

Ohne Ahnung, daß ein Krieg ausbrechen werde, hatten wir zum 17. Juli
eine Landesversammlung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei nach
Chemnitz einberufen. Natürlich mußten wir nunmehr zur Kriegsfrage
Stellung nehmen. Dieses geschah durch folgende Resolution, die
Liebknecht und ich vorschlugen und die einstimmig angenommen wurde.

  „Die Landesversammlung protestiert gegen jeden nicht im Interesse der
  Freiheit und Humanität geführten Krieg, als einen Hohn auf die moderne
  Kultur. Die Landesversammlung protestiert gegen einen Krieg, der nur
  im dynastischen Interesse geführt wird und das Leben von
  Hunderttausenden, den Wohlstand von Millionen auf das Spiel setzt, um
  den Ehrgeiz einiger Machthaber zu befriedigen. Die Versammlung begrüßt
  mit Freuden die Haltung der französischen Demokratie und insbesondere
  der sozialistischen Arbeiter, sie erklärt sich mit deren Bestrebungen
  gegen den Krieg vollständig einverstanden und erwartet, daß auch die
  deutsche Demokratie und die deutschen Arbeiter in diesem Sinne ihre
  Stimme erheben.“

Die Pariser Arbeiter hatten schon vor uns sich gegen den Krieg
ausgesprochen. In ähnlichem Sinne wie wir erklärten sich die Arbeiter
vieler Städte in öffentlichen Versammlungen, so unter anderen in Barmen,
Berlin, Nürnberg, München, Königsberg, Fürth, Krefeld.

Anders dachte der Braunschweiger Parteiausschuß, der zum 16. Juli eine
Volksversammlung einberufen hatte, in der er eine Resolution annehmen
ließ, in der die Versammelten sich auf den Standpunkt stellten, daß
Napoleon und die Majorität der Volksvertreter Frankreichs die frivolen
Friedensbrecher und Ruhestörer Europas seien. Die deutsche Nation
dagegen sei die beschimpfte, die angegriffene, deshalb müsse die
Versammlung den Verteidigungskrieg als unvermeidliches Uebel anerkennen,
sie fordere jedoch das gesamte Volk auf, mit allen Mitteln dahin zu
wirken, daß dem Volke selbst die Entscheidung zwischen Krieg und
Frieden, wie überhaupt die vollste Selbstbestimmung werde. Dieser
Auffassung des Parteiausschusses schlossen sich eine große Zahl
Parteiorte, namentlich in Norddeutschland, an. Es war also eine starke
Meinungsverschiedenheit in der Partei vorhanden.

       *       *       *       *       *

Der Reichstag war zum 19. Juli einberufen worden. Als Liebknecht und ich
am 18. von Chemnitz abreisten, waren bereits die Bahnen durch die
Militärtransporte so in Anspruch genommen, daß wir auf dem Gößnitzer
Bahnhof mehrere Stunden warten mußten, ehe wir weiterfahren konnten.
Hier besprachen wir unsere im Reichstag zu beobachtende Taktik.
Liebknecht war der Ansicht, wir müßten die Geldforderung strikte
ablehnen, da beide Teile am Kriege schuld seien und wir für keinen Teil
Partei ergreifen dürften. Ich erklärte dieses für einen Fehler. Nach
Lage der Sache könnten wir allerdings für keinen der streitenden Teile
Partei ergreifen. Dieser Eindruck würde aber gerade dann, und zwar
zugunsten Napoleons, hervorgerufen, wenn wir gegen die Anleihe stimmten;
es bliebe uns kein anderer Weg, als uns der Abstimmung zu enthalten.
Schließlich ersuchte mich Liebknecht, den Entwurf einer Erklärung
auszuarbeiten und am nächsten Tage mit nach Berlin zu bringen. Dies
geschah. Nach einigen kleinen Aenderungen stimmte Liebknecht meinem
Entwurf zu, auch sollte ich die Erklärung im Reichstag abgeben. In der
Sitzung vom 21. Juli nahm ich das Wort: „Da, wie wir vernommen, es der
Wunsch ist, die Tagesordnung ohne Debatte zu erledigen, so sind wir
übereingekommen, keine Debatte zu provozieren, obgleich wir mit der
Ansicht des Hauses in keiner Weise einverstanden sind. Wir sind
entschlossen, in der vorliegenden Frage uns der Abstimmung zu
enthalten, und werden unsere Motive in einer schriftlichen Erklärung zu
den Akten des Hauses niederlegen.“

Simson als Präsident meinte: Das zu tun, könne er uns nicht hindern. Die
Motivierung unseres Standpunktes lautete:

  „Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unternommen im
  Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866 im Interesse
  der Dynastie Hohenzollern.

  Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel
  können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die
  preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den
  gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat.

  Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern; denn es
  könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen
  Politik Bonapartes aufgefaßt werden.

  Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als
  Sozialrepublikaner und Mitglieder der Internationalen
  Arbeiterassoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle
  Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbund
  zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den
  gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung,
  indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker
  Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles
  aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und
  die heutige Säbel- und Klassenherrschaft, als die Ursache aller
  staatlichen und gesellschaftlichen Uebel, zu beseitigen.“

Die geforderten 120 Millionen Taler Kriegsanleihe wurden vom Reichstag
bewilligt. Fritzsche, Hasenclever, Mende und Schweitzer stimmten dafür,
Försterling hatte im Frühjahr sein Mandat für Chemnitz niedergelegt. In
der Nachwahl war der Kreis den Hatzfeldtianern verloren gegangen. Als
aber die Anleihe zur Zeichnung aufgelegt wurde, gab die deutsche
Kapitalistenklasse der Welt ein trauriges Schauspiel. Obgleich das Geld
mit 5 Prozent verzinst werden sollte und der Gläubiger für 100 Taler nur
88 zu geben brauchte, für die er aber nachher 100 Taler erhielt, wurden
nur 68 Millionen Taler gezeichnet. Das war eine ungeheure Blamage.
Anders in Frankreich. Dort wurden die geforderten 700 Millionen Franken
voll gezeichnet, und zwar zu dem gleichen Zins, den Deutschland bot.

       *       *       *       *       *

Unser Verhalten im Reichstag hatte die Differenzen zwischen uns und dem
Parteiausschuß erweitert. Es kam zu sehr gereizten brieflichen
Auseinandersetzungen, namentlich zwischen Liebknecht und dem Ausschuß,
da Liebknecht nicht im Sinne des Ausschusses den „Volksstaat“ redigieren
wollte. Vergebens mahnte Liebknecht zur Vernunft. Unter dem 26. Juli
schrieb er an Bracke unter anderem: „Ich nehme Euch Euren patriotischen
Eifer nicht übel. Aber seid auch Eurerseits tolerant. Wenn Ihr mit
Bebels und meinem Verhalten auf dem Reichstag nicht einverstanden seid,
so muß dieser Zwist jetzt um jeden Preis beigelegt oder wenigstens ein
offener Ausbruch vermieden werden. Es darf in einem Moment, wie dem
jetzigen, in der Partei nichts vorkommen, was wie Uneinigkeit aussähe,
und ich beschwöre Euch, alles zu unterlassen, was die Differenzen
verschärfen könnte.“

Diese Bitte war vergeblich. Schließlich war Liebknecht so verärgert, daß
er drohte auszuwandern, die Wirtschaft und der nationale Paroxismus ekle
ihn an. Auch mir wurden die Nörgeleien der Braunschweiger zu arg. Am 13.
August schrieb ich nach dort: „Wenn der Ausschuß gegen Liebknecht
vorgeht, verzichten wir auf jede fernere Mitarbeit am ‚Volksstaat‘. Nach
Eurem Briefe (der an Liebknecht gerichtet war und Drohungen gegen ihn
enthielt) scheint Ihr in eine Art von nationalem Paroxismus verfallen zu
sein, scheint Ihr den Skandal und den Bruch in der Partei um jeden Preis
zu wollen. Einen Verstoß gegen die Parteiprinzipien könnt Ihr in unserem
Verhalten auf dem Reichstag nicht nachweisen. Statt Euch damit zu
begnügen, daß keine Verschärfung des Konflikts eintritt, verlangt Ihr
von Leuten, die eine feste Meinung haben, die Aenderung, die Verleugnung
dieser Ansicht. Der ‚Volksstaat‘ hat sich gerade in den letzten Wochen
streng als Parteiorgan gezeigt. Beweis: das einstimmige Wutgeheul
unserer Gegner. Wollt Ihr auch in dieses nationalliberale Geheul mit
einstimmen? Ihr sprecht von sächsischem Partikularismus. Und doch sind
wir gerade in Sachsen gut _sozialrepublikanisch_, und wir betrachten
alle den Krieg als einen dynastischen. Marx hat sich auch für uns
erklärt.“

Am 1. September schrieb Liebknecht auf einen Brief von Bracke: „Nicht
aus Furcht vor den Strebern habe ich Lust, wegzugehen, sondern aus Ekel
vor dem patriotischen Dusel. Diese Krankheit muß ihren Verlauf nehmen,
und während derselben bin ich hier sehr überflüssig, kann aber
anderwärts sehr nützlich sein, zum Beispiel in Amerika. Doch es wird
nicht so schlimm kommen, und ich werde nicht zu gehen brauchen.“

August Geib-Hamburg suchte abermals zu vermitteln. Aber erfolgreicher
als alle Vermittlung wirkte der Gang der Ereignisse, der uns bald wieder
in die gleiche Schlachtlinie trieb.



Erklärungen und Proklamationen.


Am 17. Juli fand in Berlin ein großer Kriegsrat statt. Wie es mit den
Kriegsaussichten für Preußen-Deutschland stand, zeigt eine Erklärung
Moltkes, die dieser zugleich im Namen Roons abgab: „_Preußen sei noch
nie in der Lage gewesen, hinsichtlich seiner Heeresverfassung,
Ausrüstung, Hilfsmittel usw. mit solchen Aussichten auf Erfolg einen
Krieg anzunehmen wie gegenwärtig_. Er sei _sehr genau_ über den
Fortschritt (er hätte sagen können die Zurückgebliebenheit. A.B.) der
französischen Rüstungen informiert, und _danach sei eine militärische
Ueberrumpelung seitens Frankreichs nicht zu fürchten_.“ Die Richtigkeit
dieser Ansicht bestätigte sich sofort. In Deutschland glaubte man
allgemein, der Kriegserklärung Napoleons werde ohne Verzug ein Einbruch
der französischen Armee in deutsches Gebiet folgen. Man wartete
vergebens. In Frankreich hatte die Kriegserklärung ein vollständiges
Durcheinander hervorgerufen, kein einziges Armeekorps war auf Kriegsfuß,
die Kopflosigkeit herrschte von oben bis unten. Anfang August standen
bereits 380000 Deutsche 250000 Franzosen gegenüber. Und wie man in
deutschliberalen Kreisen die Situation ansah, bewies ein Toast des
Professor Biedermann in Leipzig auf einem studentischen Fest, in dem er
bereits _Ende Juli_ ausführte: Wir werden die französische Nation
daniederwerfen, daß sie in einem Menschenalter nicht mehr an Krieg
denken kann. Wir werden das tun, indem wir dafür Sorge tragen, _daß der
Leib Frankreichs etwas schmäler wird_.

Hier wurde also bereits auf eine Annexion angespielt, noch ehe eine
Schlacht geschlagen war. Man rechnete also absolut sicher mit dem Siege.
In den offiziellen Aktenstücken lautete es um diese Zeit ganz anders! So
wurde in der Thronrede, mit der der Reichstag am 19. Juli eröffnet
worden war, gesagt, „daß man die Volkskraft zum Schutze unserer
Unabhängigkeit aufrufe“, „Deutschland trage in sich selbst den Willen
und die Kraft der Abwehr erneuter französischer Gewalttat“, man wende
sich getrosten Mutes „an die Vaterlandsliebe und Opferfreudigkeit des
deutschen Volkes mit dem Aufruf _zur Verteidigung seiner Ehre und seiner
Unabhängigkeit_“. „Wir werden nach dem Beispiel unserer Väter“ — so
lautete der Schluß — „_für unsere Freiheit und für unser Recht gegen die
Gewalttat fremder Eroberer kämpfen_, und in diesem Kampfe, _in dem wir
kein anderes Ziel verfolgen, als den Frieden Europas dauernd zu sichern,
wird Gott mit uns sein, wie er mit unseren Vätern war_.“

Nach dieser feierlichen Erklärung — deren Verfasser Lothar Bucher
war — handelte es sich also um einen _Verteidigungs-_, nicht um einen
_Eroberungskrieg_, mit dem Zweck, für künftig den Frieden zu sichern.

Einen interessanten Satz enthielt aber noch die Thronrede; der Satz
lautete:

  „Das deutsche wie das französische Volk, beide die Segnungen
  christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes genießend und
  begehrend, sind zu einem heilsameren Wettkampf berufen als zu dem
  blutigen der Waffen.“

Bezeichnend für die Stimmung in den offiziellen Kreisen war auch die
Proklamation des Königs von Preußen vom 11. August 1870, worin er
anzeigte, daß er in Frankreich eingerückt sei und den Oberbefehl
übernommen habe: „Ich führe Krieg mit den französischen _Soldaten_ und
nicht mit den _Bürgern Frankreichs_.“

Eine sehr günstige Beurteilung in unseren Kreisen fand die Proklamation
des Prinzen Friedrich Karl:

  „An die Soldaten der zweiten Armee!

  Ihr betretet französischen Boden. Der Kaiser Napoleon hat ohne allen
  Grund an Deutschland den Krieg erklärt, er und seine Armee sind unsere
  Feinde. Das französische Volk ist nicht gefragt worden, ob es mit
  seinen deutschen Nachbarn einen blutigen Krieg führen wolle, ein Grund
  zur Feindschaft ist nicht vorhanden. Seid dessen eingedenk den
  friedlichen Bewohnern Frankreichs gegenüber, zeigt ihnen, daß in
  unserem Jahrhundert zwei Kulturvölker selbst im Kriege untereinander
  die Gebote der Menschlichkeit nicht vergessen, denkt stets daran, wie
  eure Eltern in der Heimat es empfinden würden, wenn ein Feind, was
  Gott verhüte, unsere Provinzen überschwemmte. Zeigt den Franzosen, daß
  das deutsche Volk nicht nur groß und tapfer, sondern auch gesittet und
  edelmütig dem Feinde gegenübersteht.“

Und bereits am 25. Juli hatte der König auf die laut gewordenen
Kundgebungen ein Dankschreiben veröffentlicht, in dem es hieß:

  „Die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, die einmütige Erhebung der
  deutschen Stämme und ihrer Fürsten hat alle Unterschiede und
  Gegensätze in sich beschlossen und versöhnt, und einig, wie kaum
  jemals zuvor, darf Deutschland in seiner Einmütigkeit, in seinem Recht
  die Bürgschaft finden, daß der Krieg ihm den dauernden Frieden bringen
  und daß aus der blutigen Saat eine von Gott gesegnete Ernte deutscher
  Freiheit und Einheit sprießen werde.“

Es ist zu beachten, wie in diesem Dankschreiben am Schluß die Freiheit
vor die Einheit gesetzt ist. Das sollte mir später verhängnisvoll
werden, als ich an dieses Versprechen in mehreren öffentlichen
Versammlungen erinnerte.



Die Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses.


Im „Volksstaat“ vom 30. Juli veröffentlichte der Parteiausschuß einen
Aufruf, in dem der abweichende Standpunkt, der ihn damals von uns noch
trennte, zum Ausdruck kam. Nachdem er die Partei zu energischer
Tätigkeit aufgefordert, fuhr er fort: „Unsere Aufgabe ist es, bei der
Geburt dieses, wie wir hoffen, ganz Deutschland umfassenden Staates
_bestimmend mitzuwirken_, damit, wenn es möglich ist, _nicht der
dynastische Staat_, sondern der _sozialdemokratische Volksstaat_ (!!!
A.B.) ins Dasein tritt; unsere Aufgabe ist es — mag der gewordene neue
Staat bei der Geburt noch dynastische Färbung tragen —, ihm in ernstem,
schwerem Kampfe den Stempel _unserer_ Ideen aufzudrücken.“ Er hoffe, daß
unsere Brüder mit Begeisterung und Mut uns bald zum Siege in Frankreich
führten, doch solle man sich nicht vom Siegestaumel beherrschen lassen.
Man müsse den Bruderkampf zwischen zwei Völkern bedauern, aber
Deutschland sei unschuldig an dem Kriege; den Schuldigen werde die
Strafe ereilen, dann aber gelte es, uns kräftig zu erhalten für den
glorreicheren gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten der Erde. Sei
Napoleon besiegt, werde das französische Volk freier aufatmen, und wir
hätten alsdann unsere Machthaber daran zu erinnern, was dem Volke von
Gottes und Rechts wegen gebühre und was zu fordern die unendlichen Opfer
und Qualen des Krieges es doppelt und dreifach berechtigten.

Der Ausschuß ahnte in seinem Optimismus damals nicht, daß er das erste
Opfer sein werde, das die Herrlichkeit des Sieges zu kosten bekommen
werde. Die Armeen des Kaiserreichs wurden in rasch aufeinanderfolgenden
Schlägen zu Boden geworfen, Deutschland sah ganze Armeen französischer
Gefangener in seinen Gauen, deren Unterbringung und Verpflegung bald
eine unbequeme Last wurde. Es kam die Schlacht bei Sedan, die Napoleon
unter Umständen annahm, daß man fast glauben sollte, er habe absichtlich
so manövriert, um als Gefangener nach Deutschland, nicht als
geschlagener Kaiser nach Frankreich zu kommen. Als die Nachricht von
seiner Gefangenschaft nach Deutschland kam, jubelte alles, wir mit. Alle
Welt erhoffte das Ende des Krieges, dessen Schlachten mit ihren
ungeheuren Verlusten an Menschenleben schon den Ueberdruß am Kriege
erzeugt hatten. „Ich scheue mich, nach den Verlusten zu fragen“, schrieb
der König von Preußen nach den Schlachten um Metz an die Königin. An den
König von Württemberg telegraphierte er: „Die Verluste der letzten
Schlacht (am 19. August) wie der vorhergehenden sind so bedeutend, daß
die Siegesfreude sehr getrübt wird.“ Und die von Guido Weiß redigierte
Berliner „Zukunft“ schrieb: „Vor dem bleichen Purpur des Todes beugen
sich auch die im Purpur Geborenen. Eine Furcht überkommt selbst die
Furchtlosen: Zu weit ausgegriffen hat die Sichel, zu reichlich gedüngt
ist das Blachfeld.“

Doch der Krieg wütete weiter. Die Gefangennahme Napoleons bei Sedan
beantwortete Paris mit der Erklärung der Republik, ein Ereignis, das
namentlich im deutschen Hauptquartier sehr unangenehm berührte. Um
Frankreich zu einer Republik zu machen, dafür hatte man den Krieg nicht
begonnen. Man fürchtete das böse Beispiel, wie sich gezeigt hat, ohne
Grund. Als die Nachricht von der Verkündung der Republik nach
Deutschland kam, stürzte Liebknecht in größter Aufregung und mit Tränen
in den Augen zu mir in meine Werkstatt, um mir das Ereignis zu
verkünden. Er war frappiert über die Kühle, mit der ich die Nachricht
aufnahm. Aber auch im Braunschweiger Ausschuß hatte die Nachricht wie
eine Bombe eingeschlagen und einen starken Gesinnungswechsel
hervorgerufen. Jetzt waren mit einem Schlage alle Differenzen zwischen
uns beseitigt. Sofortiger Friedensschluß mit der französischen Republik,
Ersatz aller Kriegskosten, aber Verzicht auf jede Annexion waren die
Forderungen, die wir jetzt gemeinsam erhoben. Aus dem Verteidigungskrieg
war mittlerweile der Eroberungskrieg geworden. Was Biedermann schon Ende
Juli angedeutet, wurde nach den vielen und raschen Siegen allgemeine
Forderung der liberalen und konservativen Presse.

In einem Manifest, das der Generalrat der Internationalen
Arbeiterassoziation mit Bezug auf den Krieg erließ und der „Volksstaat“
am 7. August veröffentlichte, hieß es: „Das Kriegskomplott vom Juli 1870
ist nur eine verbesserte Auflage des Staatsstreichs vom Dezember 1851.“
Der Krieg habe so aberwitzig geschienen, daß Frankreich nicht daran
glauben wollte, selbst die bürgerliche Opposition habe die Geldmittel
verweigert. Die der Internationale angehörenden französischen Arbeiter
hätten den Krieg als einen _dynastischen_ Krieg verurteilt. „Welchen
Verlauf auch immer der Krieg Louis Bonapartes mit Preußen nimmt, die
Totenglocke des zweiten Kaiserreichs hat bereits in Paris geläutet. Es
wird enden, wie es begonnen, mit einer Parodie.“ Auf deutscher Seite
sei der Krieg ein Verteidigungskrieg, „aber welche Politik habe
verschuldet, daß Deutschland in diese Lage komme?“ Die Kritik der
Bismarckschen Politik, die hier folgte, mußte der „Volksstaat“
unterdrücken. „Wenn die deutschen Arbeiter es erlauben, daß der
gegenwärtige Krieg seinen streng defensiven Charakter verliert und in
einen Krieg gegen das französische Volk ausartet, wird Sieg oder
Niederlage sich gleich verhängnisvoll erweisen.“ Der Generalrat weist
alsdann darauf hin, daß in einem solchen Falle Rußland den Vorteil habe.

Im Sinne des Manifestes des Generalrats handelte jetzt der
Braunschweiger Ausschuß, als er, datiert vom 5. September, einen Aufruf
„An alle deutschen Arbeiter“ erließ. Mit Hinweis auf die neuesten
Ereignisse in Frankreich erwarte er, daß die neue republikanische
Regierung den Frieden mit Deutschland zu erreichen suche. Darin müßten
die deutschen Arbeiter die Absichten der republikanischen Regierung
unterstützen und einen ehrenvollen Frieden mit dem französischen Volke
fordern, für den sie in Masse ihre Stimmen erheben sollten.

Der Ausschuß zitiert dann aus einem Briefe von Karl Marx — dessen Name
aber nicht genannt wurde —, was folgen werde und folgen müsse, wenn man
auf der Annexion von Elsaß-Lothringen bestehen bleibe. Das Zitat lautet:

  „Wer nicht ganz vom Geschrei des Augenblicks übertäubt ist oder ein
  Interesse daran hat, das deutsche Volk zu übertäuben, muß einsehen,
  daß der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen Krieg zwischen
  Deutschland und Rußland im Schoße trägt, wie der Krieg von 1866 den
  von 1870.... Durch den Verlauf des jetzigen Krieges _sei der
  Schwerpunkt der kontinentalen Arbeiterbewegung von Frankreich nach
  Deutschland verlegt_. Damit hafte größere Verantwortlichkeit auf der
  deutschen Arbeiterklasse.“

Der Ausschuß akzeptierte diese Auffassung, forderte zu Kundgebungen auf
gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen und für einen ehrenvollen
Frieden mit der französischen Republik. Der Aufruf schloß:

  „Wenn wir jetzt sehen, wie wieder ein großes Volk seine Geschicke in
  seine Hände genommen, wenn wir heute die Republik nicht allein mehr
  sehen in der Schweiz und jenseits der Meere, sondern auch faktisch
  Republik in Spanien, Republik in Frankreich, so lasset uns ausbrechen
  in den Ruf, der, wenn es auch heute noch nicht sein kann, auch für
  Deutschland einst die Morgenröte der Freiheit verkünden wird, in den
  Jubelruf: Es lebe die Republik!“

Am 11. September hatte der „Volksstaat“ den hier erwähnten Ausruf
abgedruckt, in der nächsten Nummer am 14. mußten bereits Liebknecht und
ich eine Ansprache an die Parteigenossen veröffentlichen, in der wir
anzeigten, daß der General Vogel v. Falckenstein in Hannover — wie sich
herausstellte wider Recht und Gesetz — Befehl gegeben hatte, den
Parteiausschuß, und zwar Bracke, Bonhorst, Spier, Kühn und den
Buchdruckereibesitzer Sievers, mit Ketten gefesselt und unter starker
militärischer Bedeckung nach der Festung Lötzen in Ostpreußen zu
transportieren und dort zu internieren. Die den Verhafteten widerfahrene
Behandlung war eine höchst brutale, um nicht zu sagen grausame; sie
brauchten allein 36 Stunden, um nach Königsberg zu gelangen. Auf der
Reise hielt man sie überall von seiten des Publikums für gefangene
Landesverräter und behandelte sie danach. Wir forderten auf, daß bis auf
weitere Anordnung der Kontrollkommission Briefe und Gelder an
Geib-Hamburg gesandt werden sollten. Der Schluß lautete:

  „Parteigenossen! Es ist ein schwerer Schlag, der die Partei getroffen,
  und es werden ihm vielleicht andere folgen.

  Steht fest und unverzagt; in der Gefahr zeigt sich die echte
  Ueberzeugung, bewährt sich der rechte Mann.

  Arbeitet kräftig für die Ausbreitung der Partei und unserer
  Prinzipien, aber seid vorsichtig im Reden, vorsichtig auch im
  Schreiben — die uns feindliche Gewalt sucht alles gegen uns zu
  benutzen.

  Wirkt kräftig für Verbreitung des Parteiorgans, denn in ihm liegt in
  diesem Moment des geistigen Kampfes unsere Macht und unsere Stärke.

  Es lebe der internationale Kampf des Proletariats! Hoch die
  sozialdemokratische Organisation!“

Die Nennung von Geibs Namen in unserer Ansprache genügte für Vogel v.
Falckenstein, um auch diesen nach Lötzen schaffen zu lassen. Dasselbe
Schicksal traf Johann Jacoby wegen einer Rede in Königsberg gegen die
Annexion, und Gutsbesitzer Herbig, der Vorsitzender jener Versammlung
gewesen war. Vogel v. Falckenstein handelte als Oberstkommandierender in
Norddeutschland, das er gegen eine eventuelle Landung der Franzosen an
den Nordküsten verteidigen sollte. In Ermanglung kriegerischer Taten
verfiel er auf Polizeimaßregeln.

Die Verhaftung Jacobys und Herbigs machte in der liberalen Presse einen
unangenehmen Eindruck. Ein linksliberales Blatt meinte: „Diese
Handlungen paßten schlecht zu den großen Siegen und veranlaßten die
Frage aufzuwerfen: _ob nicht dem deutschen Volk an innerer Freiheit
verloren gehe, was es an äußerem Ruhm gewonnen.“_

Wir sahen das Tun und Treiben der Machthaber als selbstverständlich an.
Es war eben eine Illusion des Parteiausschusses, daß er an eine
freiheitliche Gestaltung in der neuen Ordnung glaubte, die derselbe Mann
gewähren sollte, der sich bis dahin als der größte Feind jeder
freiheitlichen, ich sage nicht einmal demokratischen Entwicklung gezeigt
hatte, und der jetzt als Sieger dem neuen Reich den Kürassierstiefel in
den Nacken setzte.

In Harburg wurden auch Bock und mehrere Genossen und in Halberstadt
Naters verhaftet und ins Gefängnis gesetzt, um ihnen einen Prozeß wegen
Verbreitung des Manifestes des Parteiausschusses zu machen. In Sachsen
erließ das Generalgouvernement für das 12. Armeekorps Ende September
eine Verordnung, wonach alle Volksversammlungen mit Rücksicht auf die
Endziele des Kriegs verboten wurden. Ein Lichtblick in dieser Zeit war,
daß in Kirchberg und in Mittweida (beide in Sachsen) die
Stadtverordnetenwahlen für unsere Partei glänzend ausfielen. Auch war
trotz des Krieges am 1. August in Crimmitschau ein täglich erscheinendes
Parteiblatt, „Der Bürger- und Bauernfreund“, den Karl Hirsch redigierte,
erschienen, und am nächsten 1. Februar folgte die „Chemnitzer Freie
Presse“, die ebenfalls täglich herauskam. Der Unterschied zwischen uns
und dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein bestand auch darin, daß wir
Neugründungen von Parteiblättern kein Hindernis in den Weg legten.

Anfang Oktober bedauerte die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine
Zeitung“, daß man Liebknecht und mich nicht ebenfalls in Haft genommen
habe wie den Braunschweiger Ausschuß, Johann Jacoby usw. Ihr Wunsch fand
bald Erfüllung.

Die Kontrollkommission hatte den provisorischen neuen Ausschuß nach
Dresden verlegt. Er wurde von den Genossen Knieling, Köhler und Otto
Walster gebildet. Da wir wußten, daß bei der Verhaftung des
Braunschweiger Ausschusses eine große Menge Briefschaften beschlagnahmt
worden waren, schrieb ich an Walster, der Sekretär im neuen Ausschuß
war, er möge sich den Braunschweiger Vorgang als Warnung dienen lassen
und keinen der Briefe aufheben. Aber wer diesen guten Rat _nicht_
befolgte, war Walster. Als später — wie vorauszusehen war — auch bei ihm
Durchsuchung stattfand, fiel sogar mein Warnungsbrief der Polizei in die
Hände, der dann in die Akten des bevorstehenden Hochverratsprozesses
wanderte.

       *       *       *       *       *

Ein eigenartiges Intermezzo erlebten Liebknecht und ich Ende Oktober.
Der 31. Oktober, der Reformationstag, an dem Luther seine 95 Thesen an
die Tür der Wittenberger Schloßkirche schlug, ist in Sachsen ein
Feiertag. Zwei Tage vor demselben erhielt ich einen eingeschriebenen
Brief, worin Liebknecht und ich dringend ersucht wurden, in einer
hochwichtigen Sache am 31. Oktober nach Mittweida zu kommen. Wir folgten
der Einladung. Am Bahnhof wurden wir geheimnisvoll in Empfang genommen
und um die halbe Stadt nach einer Restauration geführt, woselbst wir zu
unserer Ueberraschung die gesamten Vertrauensmänner des oberen und
unteren Erzgebirges versammelt fanden. Darauf wurde von einem Redner an
uns die Frage gestellt, warum wir die Hände in den Schoß legten und
nicht zum Losschlagen aufforderten, die Armee sei doch außerhalb des
Landes, was im Lande sei, könne leicht überwältigt werden. Wir
schüttelten über diese Naivität den Kopf. Ich nahm zunächst das Wort und
bewies dem Redner das Unsinnige seines Verlangens. Liebknecht sprach
sich selbstverständlich im gleichen Sinne aus. Es kostete uns keine
Mühe, den Anwesenden die Richtigkeit unseres Standpunktes zu machen.
Die Anwesenden waren gleich uns auf Einladung von zwei Parteigenossen
nach Mittweida gekommen ohne Ahnung dessen, was man hier wollte.

Um dieselbe Zeit hielten die Züricher Parteigenossen eine öffentliche
Versammlung ab, in der der damalige _Staatsanwalt_ Parteigenosse
_Forrer_ eine Rede hielt, in der er folgende Resolutionen begründete:

  „1. Unsere Sympathien gehören der französischen Republik! Möge es
  derselben gelingen, durch energischen Widerstand die Militärmacht
  Hohenzollern so zu schwächen, daß ihr ein baldiger Friede angeboten
  werden muß.

  2. Wir sprechen unseren Parteigenossen in Deutschland und England
  (Marx und Engels) die wärmste Anerkennung aus.

  Namentlich seid Ihr, Brüder in Deutschland, trotz Verfolgung und
  Unterdrückung, trotz Kerker und Ketten als Männer für Eure Prinzipien
  eingestanden, und wir haben das feste Vertrauen auf Euch, Ihr werdet
  Eure Schuldigkeit tun und Euch der weltgeschichtlichen Aufgabe der
  Sozialdemokratie würdig erzeigen.“

Uns bereitete damals diese Anerkennung unserer Züricher Genossen eine
große Genugtuung, und ich empfinde sie noch heute. Gegenwärtig ist der
damalige Redner und Parteigenosse _Forrer_ Mitglied des schweizerischen
Bundesrats in Bern und war zeitweilig dessen Präsident.
Selbstverständlich konnte er zu dieser Würde nicht als Sozialdemokrat
gelangen. So weit ist man auch in der Schweiz noch nicht. Er rückte eben
mit der Zeit, wie so mancher andere, von links nach rechts und kam
dadurch zu Würden und Ehren.



Annexionen und Kaiserkrone.


Der Krieg mit Frankreich wurde nach Sedan mit ungeschwächten Kräften
weitergeführt. Die kaiserliche Armee war zwar vernichtet oder gefangen,
aber jetzt hatte die Regierung der nationalen Verteidigung, an deren
Spitze Gambetta und Freycinet standen, die Organisation neuer Armeen in
die Hand genommen. Diese wurden mitten im Kriege sozusagen aus dem Boden
gestampft. Ein interessantes Buch über diese großartige Leistung ist
„Léon Gambetta und seine Armee“ von Freiherrn von der Goltz, Berlin
1877. Das Hauptverdienst fiel aber nicht Gambetta, sondern Freycinet,
dem ehemaligen Ingenieur, zu. Hatte der Krieg gegen das Kaiserreich
keine sechs Wochen gedauert, so jetzt gegen die Republik noch nahezu
sechs Monate. Die neue Regierung hatte zwar Versuche gemacht, Frieden zu
schließen, allein diese scheiterten an dem Verlangen Bismarcks nach
Annexionen. Auch erklärte Bismarck, der immer noch an die
Wiedereinsetzung Napoleons dachte, die Regierung der Landesverteidigung
sei keine stabile Regierung, mit der man unterhandeln könne. Schließlich
mußte man aber dennoch mit dieser Frieden schließen.

Ende Oktober übergab Bazaine Metz mit 150000 Mann Besatzung und enormen
Kriegsvorräten, was ein Glück für die deutsche Armeeleitung war, die
alle Kräfte gegen die neugebildete französische Loire- und Nordarmee
brauchte.

Am 26. Oktober wurden Jacoby, Bonhorst und Herbig aus Lötzen entlassen.
Es standen die preußischen Landtagswahlen bevor, und da konnte man die
wider Recht und Gesetz verhafteten Landesangehörigen nicht in Haft
behalten. Einige Wochen später, am 14. November, wurden die Mitglieder
des Braunschweiger Ausschusses wiederum in Ketten gefesselt von Lötzen
nach Braunschweig zurücktransportiert. Es sollte hier ein
Hochverratsprozeß gegen sie inszeniert werden. Endlich wurde Anfang
Dezember auch Geib aus Lötzen entlassen, und zwar auf Betreiben des
Hamburger Senats. Anklagematerial lag gegen ihn nicht vor.

       *       *       *       *       *

Auf den 24. November war der norddeutsche Reichstag zu einer
außerordentlichen Session einberufen worden, die zwar kurz, aber sehr
erregt war. Es handelte sich um eine weitere Bewilligung von Geldmitteln
für die Fortführung des Krieges und um die Beratung der Versailler
Verträge mit den süddeutschen Staaten und die neue Reichsverfassung.

Was bis dahin über die Versailler Verträge bekannt geworden war, hatte
in den liberalen Kreisen große Verstimmung hervorgerufen. Danach waren
den süddeutschen Staaten, insbesondere Bayern, sogenannte Reservatrechte
eingeräumt worden, die die Reichseinheit nur komplizierten. Die
norddeutsche Bundesverfassung sollte mit den unumgänglich nötigen
Aenderungen, die die Versailler Verträge bedingten, Reichsverfassung
werden. Die Freiheit, die Ende Juli in seinem Dankschreiben der König in
Aussicht gestellt hatte, blieb wo sie war, in der Kaserne. Nicht einmal
die Diäten wurden bewilligt. War schon durch diese Vorgänge die Stimmung
eine gedrückte, so noch mehr durch die Tatsache, daß der Krieg sich in
die Länge zog, ungeheure Opfer aller Art kostete und sich ein Ende nicht
absehen ließ. Anfang September hatte Moltke an seinen Bruder
geschrieben, er hoffe Ende Oktober in Creisau (seinem Gute in Schlesien)
zu sein und Hasen zu schießen. Diese blieben aber unbehelligt von der
Moltkeschen Flinte.

Im Reichstag herrschte über die Nachrichten vom Kriegsschauplatz eine
sehr gedrückte Stimmung. So hatte man sich den Gang der Dinge nicht
vorgestellt. Der Kriegsberichterstatter der „Kölnischen Zeitung“, ein
Herr v. Wickede, schrieb noch Ende Dezember:

  „Dieser entsetzliche Krieg, der mit Streitermassen geführt wird, wie
  solche die Geschichte aller Zeiten und Völker noch niemals in dem
  Umfang gehabt hat, spottet in der Tat aller und jeglicher Berechnung.
  Man glaubte endlich am Ende desselben zu sein, und nun stellt sich
  heraus, daß man am Ende des Monats genau so weit ist wie am Anfang
  desselben. Wir schlagen fort und fort die Franzosen, töten und
  verwunden ihnen Tausende von Soldaten ... und immer von neuem und
  wieder von neuem sammeln sich ihre geschlagenen Scharen ... und werfen
  sich uns sehr häufig mit dem wilden Mut der äußersten Verzweiflung
  entgegen.... Es herrscht jetzt schon in manchen von unseren Gruppen
  besonders ausgesogenen Gegenden eine entsetzliche Hungersnot, die
  Leute fallen wie die Fliegen im Hochsommer zu Dutzenden um, und dieser
  Zustand wird sich im Laufe des strengen Winters in noch furchtbarerer
  Weise steigern.“

Die Thronrede, mit welcher der Reichstag eröffnet wurde, verlas der
Präsident des Bundeskanzleramts, Delbrück; es hieß darin, die jetzigen
Machthaber Frankreichs zögen es vor, die Kräfte einer edlen Nation einem
aussichtslosen Kampfe zu opfern. In einem gewissen Widerspruch hiermit
wurde bemerkt: Frankreich habe keine Regierung, mit der man
unterhandeln könne; es seien auch durch die Haltung der Bevölkerung die
Hoffnungen auf dauernden Frieden vernichtet worden. Sobald Frankreich
sich erholt oder durch Bündnisse sich stark genug fühle, sei eine
Wiederaufnahme des Krieges zu erwarten. Man sah also ein, wohin das
Verlangen nach Annexionen die künftige Entwicklung treiben werde.

Am 26. November stand die Forderung der weiteren Geldbewilligung (100
Millionen Taler) auf der Tagesordnung. Ich nahm zu dieser Forderung das
Wort. Vor mir hatte der Abgeordnete Reichensperger sich für die
Bewilligung ausgesprochen. Meine Rede war nicht lang, aber sie erweckte
einen Sturm, wie ich ihn seitdem nie wieder mit einer Rede hervorrief.
Ich führte aus: Ich glaubte ein so guter Deutscher zu sein wie der
Vorredner, trotzdem käme ich bei Prüfung der Sache zu dem
entgegengesetzten Resultat. Ich gab eine kurze historische Uebersicht
bis zum Sturze des Kaiserreichs und wies nach, daß mit der Gefangennahme
Napoleons die eigentliche Kriegsursache beseitigt sei. Dabei stützte ich
mich auf die Thronrede vom 19. Juli und die Proklamation des Königs von
Preußen vom 11. August. Meine Ausführungen riefen große Unruhe und
heftigen Widerspruch hervor. Die Behauptung, Frankreich besitze keine
Regierung, mit der man unterhandeln könne, sei falsch. Ich wies dieses
in meinen Ausführungen nach. Was den Friedensschluß unmöglich mache, sei
die Forderung der Annexionen. Ich verurteilte dann scharf, daß man uns
verbiete, in öffentlichen Versammlungen unseren Standpunkt über die
Annexionen darzulegen. Diesen unseren Standpunkt begründete ich näher.
Wiederum regnete es Unterbrechungen. Als ich dann auf die traurige Rolle
hinwies, die die deutsche Kapitalistenklasse bei der ersten
Kriegsanleihe gespielt und wie ganz anders sich dagegen die französische
Bourgeoisie im gleichen Falle benommen habe, brach vollends der Sturm
los. Ein großer Teil des Hauses hatte einen förmlichen Tobsuchtsanfall;
man überschüttete uns mit Schimpfworten der gröbsten Art, Dutzende von
Mitgliedern drangen mit erhobenen Fäusten auf uns ein und drohten uns
hinauszuwerfen. Viele Minuten lang konnte ich nicht zum Worte kommen;
zum Schluß empfahl ich die Annahme des Antrags, den Liebknecht und ich
gestellt hatten. Dieser Antrag lautete:

  „Der Reichstag wolle beschließen:

  Den Gesetzentwurf betreffend _den ferneren Geldbedarf für die
  Kriegführung abzulehnen_ und folgendem Antrag seine Zustimmung zu
  geben:

  In Erwägung, daß der am 19. Juli von Louis Bonaparte, damals Kaiser
  der Franzosen, erklärte Krieg durch die Gefangennahme Louis Bonapartes
  und die Niederwerfung des französischen Kaiserreichs tatsächlich sein
  Ende erreicht hat;

  in Erwägung, daß nach den eigenen Erklärungen des Königs von Preußen
  in der Thronrede am 19. Juli und der Proklamation an das französische
  Volk vom 11. August der Krieg deutscherseits nur ein
  Verteidigungskrieg und kein Krieg gegen das französische Volk sei;

  in Erwägung, daß der Krieg, welcher trotzdem seit dem 4. September
  geführt wird, in schroffstem Widerspruch mit dem königlichen Wort,
  nicht ein Krieg gegen die kaiserliche Regierung und die kaiserliche
  Armee, welche nicht mehr existieren, sondern ein Krieg gegen das
  französische Volk ist, nicht ein Verteidigungskrieg, sondern ein
  Eroberungskrieg, nicht ein Krieg für die Unabhängigkeit Deutschlands,
  sondern ein Krieg für die Unterdrückung der edlen französischen
  Nation, die nach den Worten der Thronrede vom 19. Juli berufen ist,
  ‚die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes
  gleichmäßig zu genießen und zu begehren und zu einem heilsameren
  Wettkampf als zu dem blutigen der Waffen‘,

  beschließt der Reichstag, die verlangte Geldbewilligung für die
  Kriegführung _abzulehnen,_ und fordert den Bundeskanzler auf, dahin zu
  wirken, _daß unter Verzichtleistung auf jede Annexion französischen
  Gebiets mit der französischen Republik schleunigst Frieden geschlossen
  werde_.“

Nach mir kam der Abgeordnete Lasker zum Wort, der sich in den Tönen
höchster sittlicher Entrüstung über uns und das französische Volk
erging. Köstlich war, wie er die Finanzwelt gegen meine Vorwürfe in
Schutz nahm. „Es ist wahr,“ führte er aus, „daß die große Finanzwelt
sich nicht erheblich beteiligt hat; es stand kein Gewinn in Aussicht (im
Falle des Sieges sogar ein recht großer. A.B.), und es ist die Weise
der Geschäftsleute, wie dies in der Natur des Geschäftslebens liegt,
sich nicht als Geschäftsleute zu beteiligen, wenn eben ein Gewinn nicht
sichtbar ist. Nun, auch dort die Männer — auf uns zeigend —, die über den
Gewinn und die Belohnung lachen, üben doch ihre ideale Tätigkeit gegen
Entgelt aus (Heiterkeit), und ihre Leitungen, welche sie als
apostolische bezeichnen, erfolgen gegen Diäten. (Heiterkeit. Sehr gut!)
Welche Verwirrung der Begriffe, wenn diese Herren, welche nach der Natur
ihrer Leistungen vielleicht mit geringeren Summen sich begnügen müssen
(das Haus schüttelt sich vor Lachen), über die Lust am Gewinn die Nase
rümpfen. Also, die höhere Finanzwelt hat die Gelegenheit nicht für
geeignet gehalten, gewinnbringende Geschäfte zu machen.“

Oeder und widerspruchsvoller konnte wirklich nicht die deutsche
Kapitalistenklasse zu rechtfertigen versucht werden. (In einer zweiten
Rede antwortete ich gebührend Lasker.) Nach Lasker folgte
Braun-Wiesbaden, diesem Liebknecht. Dieser ging den liberalen Vorrednern
kräftigst zu Leibe. Wiederum heftige Unterbrechungen, Ordnungsruf des
Präsidenten.

Liebknecht führte unter anderem aus:

  „Die Regierung, die im Juli den Krieg erklärt hat, ist beseitigt und
  ihr Führer sitzt auf Wilhelmshöhe und ist der gute Bruder des Königs
  von Preußen; er schwelgt in kaiserlichem Luxus, während die deutschen
  Krieger draußen ihr Blut vergießen und die furchtbarsten Strapazen
  erdulden müssen im Kampfe gegen das französische Volk, welches unser
  Brudervolk trotz alledem und alledem ist, und welches den Frieden mit
  uns will. (Unruhe, Zurufe) Es ist wahrlich ehrenhafter, der Bruder des
  französischen Volkes und der französischen Arbeiter zu sein, als der
  liebe Bruder des Schurken auf Wilhelmshöhe. (Abgeordneter Dr. v.
  Schweitzer: Bravo, bravo!)“

Liebknecht schloß:

  „Die Anleihe, die man von uns fordert, ist für die Durchführung der
  Annexion bestimmt, wie das ja auch aus dem Wortlaut der Thronrede
  hervorgeht. Die Annexion aber bringt uns nicht den Frieden, sondern
  den Krieg. Indem sie auch nach dem Frieden eine beständige
  Kriegsgefahr schafft, befestigt sie in Deutschland die
  Militärdiktatur.... Aus diesen Gründen bin ich natürlich gegen die
  Kriegsbeile und habe mit meinem Freunde Bebel den Antrag auf
  Verweigerung derselben gestellt.“

Dieser Antrag wurde gegen fünf Stimmen abgelehnt.

In der Sitzung vom 28. November, in der die dritte Lesung der
Kriegsanleihe auf der Tagesordnung stand, nahm der von unserer Partei
gewählte Dr. Götz-Lindenau, der im März desselben Jahres noch die
Kandidatur Johann Jacobys für den Reichstag befürwortet hatte, das Wort,
um sich für die Kriegsanleihe auszusprechen, obgleich ihm dieses, wie er
versicherte, „blutessigsauer“ werde, und obgleich er aus der Thronrede
entnommen, daß der Krieg nicht den Frieden bringe und auch keine
Verminderung der Militärlasten zu hoffen sei. Die Rede war ungemein
konfus. Bezeichnend war, daß, als wir in dieser Sitzung gegen Angriffe
durch Zwischenrufe uns wehrten, Lasker die Frage an den Präsidenten
richtete, ob nicht durch sofortige Aenderung der Geschäftsordnung diesem
„Unfug“ ein Ende gemacht werden könne. Liebknecht antwortete, indem er
auf die beleidigenden Zurufe und Reden hinwies, die wir in der Sitzung
am 26. November zu hören bekommen hatten. Als Liebknecht dann bei dem §1
des Gesetzentwurfes über die Kriegsanleihe auf die gehörten Angriffe
antworten wollte, unterbrach ihn der Präsident, er könne nicht auf die
allgemeine Debatte zurückgreifen. Als Liebknecht mit vollem Recht diesen
Standpunkt nicht anerkannte, denn der §1 enthielt die Geldforderung für
Fortsetzung des Krieges, entzog ihm das Haus auf Anfrage des Präsidenten
das Wort. Gegen die Kriegsanleihe stimmten in dritter Lesung Dr. Ewald
(Hannoveraner), Fritzsche, Hasenclever, Liebknecht, Mende, Schraps,
Schweitzer und ich.

Einige Tage später stand eine Interpellation des Abgeordneten Duncker
und Genossen, betreffend die Handhabung der Verfassungsbestimmungen
während des Kriegszustandes, auf der Tagesordnung. Dieselbe richtete
sich gegen die Maßnahmen des Generals Vogel v. Falckenstein. Uns war
eine solche Interpellation einzubringen nicht möglich, weil wir nicht
die nötigen dreißig Unterschriften bekamen. Wenn man in bürgerlichen
Kreisen den Gewaltakt gegen unseren Parteiausschuß sich gefallen ließ,
so hatte die Verhaftung Johann Jacobys viel böses Blut gemacht; sie
paßte schlecht zu dem, was man von der neuen Reichsgründung erwartete.
Jacoby harte sich nach seiner Verhaftung direkt beschwerdeführend an
Bismarck im Versailler Hauptquartier gewandt und dessen Intervention für
seine Freilassung verlangt, da seine Verhaftung ungesetzlicherweise
erfolgt sei. Bismarck gab in seiner Antwort an Jacoby indirekt diesem
recht, er tat aber nichts zu seiner Freilassung, offenbar wollte er es
mit den Militärs im Hauptquartier, mit denen er auf sehr gespanntem Fuße
stand, nicht noch mehr verderben. Aber nach der Niederschrift
seines Leibjournalisten Moritz Busch, der über die Herd- und
Tischunterhaltungen Bismarcks getreulich Bericht erstattete, äußerte er
am 20. Oktober, als das Gespräch auf die Verhaftung Jacobys kam: „Ich
freue mich darüber ganz und gar nicht; der Parteimann mag das tun, weil
seine Rachegefühle dadurch befriedigt werden; der politische Mann, die
Politik kennt solche Gefühle nicht; die fragt nur, ob es nützt, wenn
politische Gegner mißhandelt werden.“ Und als am 24. November, also
wenige Tage vor der Interpellation im Reichstag, das Gespräch wieder auf
das Thema kam, äußerte Bismarck — nach derselben Quelle —, die Militärs
befragten ihn zu selten um seine Meinung. „So war's auch mit der
Ernennung Vogel v. Falckensteins, der jetzt den Jacoby gemaßregelt hat.
Wenn ich mich vor dem Reichstag darüber aussprechen müßte, würde ich
meine Hände in Unschuld waschen; man hätte mir nichts Unangenehmeres
einbrocken können. Ich bin militärfromm in den Krieg gekommen, künftig
gehe ich mit den Parlamentarischen, und wenn sie mich weiter ärgern,
lasse ich mir einen Stuhl auf die äußerste Linke stellen.“

Schade, daß er diese Drohung nicht wahr machte, ich würde mich sehr
gefreut haben, wenn ich ihn in der nächsten Session, in der ich allein
die äußerste Linke markierte, als Kampfgenossen an meiner Seite gehabt
hätte.

Die Verhandlung, die am 3. Dezember stattfand, war sehr erregt. Duncker
wies nach, daß Jacoby und Herbig zu unrecht verhaftet worden seien,
dasselbe gestand er auch unseren nach Lötzen geschleppten
Braunschweiger Genossen zu. Er verlangte — da mittlerweile, wie schon
bemerkt, die gefangenen preußischen Staatsangehörigen in Rücksicht auf
die bevorstehenden preußischen Landtagswahlen freigekommen waren —, daß
Aehnliches künftig unterbleibe. Der Präsident des Bundeskanzleramtes,
Delbrück, nahm als Vertreter Bismarcks das Wort und versuchte die
Maßregeln zu rechtfertigen. Ihm antwortete Windthorst, der ihm scharf zu
Leibe ging und unter anderem bissig bemerkte, daß nach dem, was er heute
vom Präsidenten des Bundeskanzleramtes gehört, er nicht recht daran
glaube, daß es nunmehr gelingen werde, was zu Anfang des Krieges
versprochen worden war, „daß der deutsche Staat ein Staat der
Gottesfurcht, der guten Sitten und der wahren Freiheit werde“. Er
empfahl höhnisch, in die Friedensbedingungen mit Frankreich die
Bestimmung aufzunehmen, daß es uns auch Cayenne und Lambessa abtrete,
damit man geeignete Orte habe, um unbequeme Persönlichkeiten
unterzubringen. Im weiteren beschwerte sich Windthorst bitter über die
Mißhandlungen, die Vogel v. Falckenstein gefangen gesetzten
Hannoveranern habe zuteil werden lassen. Im Laufe der Debatte nahm auch
ich das Wort, um die Behandlung zu schildern, die unseren gefangen
gesetzten Genossen auf der Reise nach und von Lötzen und während ihrer
Haft in Lötzen widerfahren sei. Auch beschwerte ich mich über das
generelle Versammlungsverbot in Sachsen. Die Maßregeln seien ein Hohn
auf Recht und Gesetz. Miquel billigte, wie nicht anders von ihm zu
erwarten war, nicht nur die Maßregeln Vogel v. Falckensteins, er
behauptete sogar, daß durch unsere Haltung in Deutschland Frankreich in
seinem Widerstand bestärkt worden sei, eine Behauptung, deren Unwahrheit
ich ihm sofort nachwies. Bekanntlich gehen in der Regel Interpellationen
aus wie das berühmte Hornberger Schießen, so auch diesmal.

In einer der folgenden Sitzungen standen die Verträge mit Baden, Hessen,
Württemberg und Bayern zur Beratung. Ich erklärte mich sowohl gegen
diese wie gegen die neue Verfassung überhaupt. Das Volk werde in Bälde
zur Einsicht darüber kommen, wie es mit der deutschen Freiheit und
Einheit aussehe. Die drei Kriege, die Deutschland seit zehn Jahren
durchzuführen gehabt habe, hätten es in freiheitlicher Beziehung nur
zurückgebracht. Doch das Volk werde einst sein Selbstbestimmungsrecht
fordern und erlangen und dann eine Verfassung sich selber schaffen, die
nur die Republik zum Ziele haben könne.

Nach mir nahm der Geheime Regierungsrat Wagener das Wort und erzählte zu
Liebknechts und meiner großen Ueberraschung, daß wir, wie er aus der ihm
soeben übermittelten „Börsenzeitung“ ersehen habe, von dem
_französischen Konsul_ in Wien, Lefaivre, den Dank der französischen
Republik für unser Auftreten im Reichstag empfangen hätten. (Lebhafte
Zurufe: Hört! Hört! und Pfui!) Ich konnte darauf in einer persönlichen
Bemerkung nur antworten, daß bis zu diesem Augenblick weder Liebknecht
noch mir ein solcher Brief zugegangen sei, was mir um so unbegreiflicher
wäre, da, wie ich eben gehört, auch die „Norddeutsche Allgemeine
Zeitung“ den Brief abgedruckt habe. Ich sei der Meinung, daß der Brief
eine elende Modifikation sei, die vom preußischen Pressebureau ausgehe,
um mich und Liebknecht zu diskreditieren. In der folgenden Sitzung hielt
Wagener seine Behauptung aufrecht. Der Brief, der an meine Adresse
geschickt worden, sei echt. Ich antwortete am Schlusse der Sitzung, daß
ich bis zu diesem Augenblick den fraglichen Brief nicht erhalten habe,
also bei meiner ersten _Erklärung verbleiben_ müsse. Schließlich erhielt
ich ihn aber dennoch; er war an Liebknecht und mich gerichtet. Der Brief
existierte also, er war vom 2. Dezember datiert und hatte sechs Tage
gebraucht, bis er in meine Hände gelangte. Er lautete:

  „Meine Herren! Im Namen der französischen Republik, deren Regierung
  mich zu ihrem speziellen Vertreter bei der Demokratie Deutschlands
  bestellt hat, erachte ich es für meine Pflicht, Ihnen für die edlen
  Worte, die Sie im Berliner Parlament inmitten einer durch den Geist
  der Eroberung und der Trunkenheit des Militarismus fanatisierten
  Versammlung gesprochen haben, meinen Dank auszudrucken. Der Mut, den
  Sie bei dieser Gelegenheit bewiesen, hat die Aufmerksamkeit von ganz
  Europa auf Sie gelenkt und Ihnen einen ruhmvollen Platz in der Reihe
  der Streiter für Freiheit erobert. Der freisinnige und humanitäre
  Geist Deutschlands erleidet in diesem Augenblick, wie Sie, meine
  Herren, es so beredt dargetan haben, eine jener Verfinsterungen, die
  wir selbst während der Periode unseres ersten Kaiserreichs
  durchgemacht haben, und geht denselben Enttäuschungen entgegen. Eine
  Sucht nach brutaler Herrschaft hat sich der erleuchteten Geister
  bemächtigt. Jene Denker, die noch vor kurzem solche Lichtstrahlen über
  die Welt aussandten, sind heute unter der Eingebung des Herrn v.
  Bismarck zu Aposteln des Mordes und der Vernichtung einer ganzen
  Nation geworden. Sie, meine Herren, sind es und Ihre Partei, welche
  bei diesem allgemeinen Abfall die große deutsche Tradition aufrecht
  erhalten. — In unseren Augen sind Sie die großen Vertreter einer
  deutschen Nation, die wir mit einer wahrhaft brüderlichen Liebe
  umfassen und die wir zu lieben nicht aufgehört haben. Frankreich
  begrüßt Sie, meine Herren, und dankt Ihnen, denn es erblickt in Ihnen
  die Zukunft Deutschlands und die Hoffnung auf eine Versöhnung zwischen
  den beiden Völkern.“

Der Brief mochte gut gemeint sein, aber in jenem Augenblick bedeutete er
eine große Taktlosigkeit. Wer ihn veröffentlichte, haben wir nie
erfahren. Ich vermute, der Konsul wurde zu dem Briefe von einer Seite
animiert, die ein Interesse daran hatte, uns zu schaden. —

Während der Verfassungsberatung kam es zu einer heiteren Szene. Es war
bekannt geworden, daß der König Ludwig II. von Bayern nach langem
Drängen und Unterhandeln sich bereit erklärt hatte, die deutschen
Bundesfürsten und freien Städte zu ersuchen, dem König von Preußen die
deutsche Kaiserkrone anzutragen. Die Mitteilung dieses Ereignisses
sollte mit einer gewissen feierlichen Ueberraschung im Reichstag
erfolgen. In der betreffenden Sitzung erhob sich der Abgeordnete
Friedenthal und stellte eine diesbezügliche Anfrage. Darauf erhob sich
feierlich der Präsident des Bundeskanzleramtes, Delbrück, um das
betreffende Schriftstück vorzulesen. Aber er wußte nicht, in welche
Tasche er es gesteckt hatte. In höchster Aufregung durchsuchte er
krampfhaft alle Taschen, ein Schauspiel, das im Hause ungeheure
Heiterkeit hervorrief. Schließlich fand er den Brief, aber die Wirkung
war verpufft. Delbrück war ein sehr tüchtiger Beamter, aber die
trockenste Bureaukratennatur, die man sich vorstellen konnte. Eine
feierliche Manifestation zu inszenieren, dazu war er ganz und gar nicht
der Mann. Bismarck brauste auf, als er in Versailles von der
mißlungenen Manifestation hörte.

In dieser Debatte erregte eine Rede Liebknechts über die neue Verfassung
und das neue Kaisertum Stürme der Entrüstung. Er warf einen Rückblick
auf die deutschen Einheitsbestrebungen, die eine ganz andere Einheit
Deutschlands als Ziel gehabt hätten, als jene, die jetzt geschaffen
werde. Diese sei ein Gewaltwerk von oben, über die sich die Fürsten
verständigt hätten und zu dem der Reichstag einfach Ja sagen solle und
müsse. Die Verfassung zeige, daß sie im Heerlager zu Versailles ihren
Ursprung habe. Die dort abgeschlossenen Verträge mit den süddeutschen
Staaten zeigten aber auch, daß es sich nicht einmal um eine äußere
Einheit handle. Das Hindernis einer wirklichen Einheit Deutschlands
bilde das Haus Hohenzollern, dessen Interessen im Gegensatz zu denen des
deutschen Volkes stünden. Die Krönung des neuen Kaisers solle man auf
dem (Berliner) Gendarmenmarkt vornehmen, der das geeignete Symbol
hierfür sei. Denn dieses Kaisertum könne nur durch den Gendarmen
aufrecht erhalten werden. Mehrere Ordnungsrufe und eine Reihe von
Zurechtweisungen durch den Präsidenten gaben der Rede die Weihe.

Am 10. Dezember wurde eine Deputation gewählt, die dem König die
beschlossene Adresse mit den Glückwünschen des Reichstags zur
Kaiserwürde nach Versailles überbringen sollte. Die Fortschrittspartei,
die mit uns zum größeren Teil gegen das Verfassungswerk stimmte, hatte
dem Bureau mitgeteilt, daß sie auf Beteiligung an der Deputation
verzichte. Die Mitglieder sollten durch das Los bestimmt werden. Wir
schwiegen und ließen es darauf ankommen, ob einer von uns durch das Los
für die Deputation bestimmt würde. Selbstverständlich hätte er nicht
angenommen. Aber das Glück blieb uns fern. Als der Name Rothschilds aus
der Urne gezogen wurde, ging Windthorst feierlich auf diesen zu,
schüttelte ihm kräftig die Hand und gratulierte ihm zur Wahl. Das ganze
Haus brach in stürmische Heiterkeit aus.

Die Deputation war von ihrer von vielen Hindernissen begleiteten Reise
und von dem Empfang im Versailler Hauptquartier nicht entzückt. Der
Empfang stand so gar nicht im Einklang mit den Vorstellungen, die sich
die Deputation von ihrer „hehren Mission“ gemacht hatte. Der König
selbst stand der Kaisermache so gleichgültig gegenüber, daß er ganz
überrascht war, als der Kronprinz ihm mitteilte, die anwesenden Fürsten
und Generale hätten den Wunsch, bei Ueberreichung der Reichstagsadresse
durch die Deputation anwesend zu sein. Die trockene Antwort des Königs
lautete: Wenn wirklich jemand von den Genannten dabei zu sein Lust habe,
habe er nichts dawider. Seine Stimmung wäre wohl eine der neuen Würde
günstigere gewesen, hätte die Deputation ihm in Aussicht stellen können,
daß im Falle der Annexion von Elsaß-Lothringen dieses Preußen
angegliedert werden solle. Es war der erste große Krieg, den ein
Hohenzoller siegreich führte, der ohne Landeserwerb für Preußen endete.
Das konnte ein Hohenzoller nur schwer verwinden.

Es ist also wie so vieles andere eine Geschichtslegende, zu behaupten,
der damalige König habe die deutsche Kaiserwürde als das Ziel seines
Sehnens angesehen. Daher entspricht auch die Darstellung, die der Kaiser
Wilhelm II. am 26. Februar 1894 in einer Rede bei dem Festessen des
Provinziallandtags der Provinz Brandenburg gab, nicht den gerichtlichen
Tatsachen. Damals führte Wilhelm II. mit Hinweis auf die Einigung
Deutschlands aus:

  „Das alte Deutsche Reich wurde verfolgt von außen, von seinen
  Nachbarn, und von innen, durch seine Parteiungen. Der einzige, dem es
  gelang, gewissermaßen das Land einmal zusammenzufassen, das war der
  Kaiser Friedrich Barbarossa. Ihm dankt das deutsche Volk noch heute
  dafür. Seit der Zeit verfiel unser Vaterland, und es schien, als ob
  niemals der Mann kommen sollte, der imstande wäre, dasselbe wieder
  zusammenzufügen. Die Vorsehung schuf sich dieses Instrument und suchte
  sich aus den Herrn, den wir als den ersten großen Kaiser des neuen
  Deutschen Reiches begrüßen konnten. Wir können ihn verfolgen, wie er
  langsam heranreifte von der schweren Zeit der Prüfung bis zu dem
  Zeitpunkt, wo er als fertiger Mann, dem Greisenalter nahe, zur Arbeit
  berufen wurde, sich jahrelang auf seinen Beruf vorbereitend, die
  großen Gedanken bereits in seinem Haupte fertig, die es ihm
  ermöglichen sollten, das Reich wieder erstehen zu lassen. Wir sehen,
  wie er zuerst sein Heer stellt und aus dinghaften Bauernsöhnen seiner
  Provinzen sie zusammenreiht zu einer kräftigen, waffenglänzenden
  Schar; wir sehen, wie es ihm gelingt, mit dem Heer allmählich eine
  Vormacht in Deutschland zu werden und Brandenburg-Preußen an die
  führende Stelle zu setzen. Und als dies erreicht war, kam der Moment,
  wo er das gesamte Vaterland aufrief und auf dem Schlachtfeld der
  Gegner Einigung herbeiführte.“

In Wahrheit lagen die Dinge so, daß nicht der alte Wilhelm, sondern sein
Sohn, der Kronprinz — der spätere Kaiser Friedrich —, Sehnsucht nach der
Kaiserwürde empfand und damals in Versailles alles aufbot, um dieselbe
durchzusetzen. Sein Freund, der bekannte Schriftsteller Gustav Freitag,
behauptete sogar, daß dem Kronprinzen allein die Erlangung der
Kaiserwürde für die Hohenzollern zu danken sei. Sicher ist, daß neben
dem Kronprinzen auch Bismarck alles aufbot, um die Kaiserwürde für die
Hohenzollern zu erlangen. Bismarck, der sicher hier der kompetenteste
Beurteiler ist, schreibt über die Stellung des Königs zur Kaiserwürde in
seinen „Gedanken und Erinnerungen“:

  Die Kaiserkrone erschien ihm im Lichte eines übertragenen modernen
  Amtes, dessen Autorität von Friedrich dem Großen bekämpft war, den
  großen Kurfürsten bedrückt hatte. Bei den ersten Erörterungen sagte
  er: „Was soll mir der Charakter-Major?“ worauf ich unter anderem
  erwiderte: „Euer Majestät wollen doch nicht ewig ein Neutrum
  bleiben, ‚das Präsidium‘? In dem Ausdruck ‚Präsidium‘ liegt eine
  Abstraktion, in dem Worte ‚Kaiser‘ eine große Schwungkraft.“

Ausführlich und sehr lehrreich wird die Kaiserfrage in des Kronprinzen
Friedrich Tagebuch erörtert, das der Geheimrat Geffken nach dem Tode
Friedrichs in der „Deutschen Rundschau“, Oktoberheft 1888, zum größten
Aerger Bismarcks veröffentlichte. Dort schreibt Friedrich unter dem 30.
September 1870:

  „Ich rede Seine Majestät auf die Kaiserfrage an, die im Anrücken
  begriffen; er betrachtet sie als gar nicht in Aussicht stehend; beruft
  sich auf du Bois-Reymonds Aeußerung, der Imperialismus liege zu Boden,
  so daß es in Deutschland künftig nur einen König von Preußen, Herzog
  der Deutschen, geben könne. Ich zeige dagegen, daß die drei Könige
  uns nötigen, den Supremat durch den Kaiser zu ergreifen, daß die
  tausendjährige Kaiser- oder Königskrone nichts mit dem modernen
  Imperialismus zu tun habe, schließlich wird sein Widerspruch
  schwächer.“

Und am 17. Januar, dem Tage vor der Ausrufung des Königs zum deutschen
Kaiser, schreibt Friedrich:

  „Die Reichsfarben machen wenig Bedenken, _die, wie der König sagt,
  sind nicht aus dem Straßenschmutz gestiegen; doch werde er die Kokarde
  nur neben der preußischen dulden, er verbat sich die Zumutung, von
  einem kaiserlichen Heere zu hören,_ die Marine aber möge kaiserlich
  genannt werden; _man sah, wie schwer es ihm wurde, morgen von dem
  alten Preußen, an dem er so festhält, Abschied nehmen zu müssen._ Als
  ich auf die Hausgeschichte hinwies, wie wir vom Burggrafen zum
  Kurfürsten und dann zum König gestiegen seien, wie auch Friedrich I.
  ein Scheinkönigtum geübt und dasselbe doch so mächtig geworden, daß
  uns jetzt die Kaiserwürde zufalle, erwiderte er: Mein Sohn ist mit
  ganzer Seele bei dem neuen Stand der Dinge, während ich mir nicht ein
  Haar breit daraus mache und nur zu Preußen halte.“

Am 11. Dezember, nach Schluß des Reichstags, reisten Liebknecht und ich
nach Leipzig zurück. Am 15. referierten wir in einer öffentlichen
Versammlung des sozialdemokratischen Arbeitervereins über die
Verhandlungen des Reichstags. Die Versammlung war so massenhaft besucht,
daß sie zur Volksversammlung wurde. Unter den Zuhörern befanden sich
eine Menge französischer Offiziere in Zivil, die als Kriegsgefangene in
Leipzig interniert waren. Die Versammlung verlief ausgezeichnet;
dieselbe nahm mit großer Begeisterung eine Resolution an, in der uns für
unsere Haltung im Reichstag gedankt wurde. Zustimmungen zu unserer
Haltung waren uns auch aus einer Reihe anderer Orte zugegangen. Es war
auf längere Zeit die letzte Versammlung, die wir abhalten sollten. Am
17. traf uns der Schlag, den wir längst erwartet hatten. Ich hatte
bereits in einem Briefe vom 1. Dezember an den Parteigenossen F.A. Sorge
in Hoboken geschrieben: Die Wut der „patriotischen“ Kreise gegen uns ist
grenzenlos; wenn man uns nächstens packen kann, dann geschieht's sicher
und fest.



Unsere Verhaftung.


An der Spitze des „Volksstaat“ vom 7. September hatten wir mitgeteilt,
wir hätten aus sicherster Quelle in Erfahrung gebracht, daß auf
entschiedenes Verlangen im deutschen Hauptquartier, speziell des Grafen
v. Bismarck, die sächsische Regierung entschlossen sei, gegen unsere
Partei mit allem Nachdruck vorzugehen. Haussuchungen und Verhaftungen
sollten bevorstehen. Wie auf Kommando ging fast die gesamte Presse, die
liberale voran, in Hetzartikeln gegen uns los. Man trieb die
Unverschämtheit so weit, daß man uns des Landesverrats zugunsten
Frankreichs bezichtigte. Als dann im Dezember die damals erscheinende
offiziöse „Zeidlersche Korrespondenz“ aus den bei dem Braunschweiger
Parteiausschuß beschlagnahmten Briefen von Liebknecht und mir tendenziös
herausgerissene Bruchstücke veröffentlichte, um ihre Denunziationen
gegen uns gerechtfertigt erscheinen zu lassen, schickte ich der Berliner
„Zukunft“ folgende Erklärung zur Veröffentlichung:

  „Die unter der Mitwirkung des Herrn Wagener auf Dummerwitz
  erscheinende ‚Zeidlersche Korrespondenz‘ hat, wie ich aus hiesigen
  Lokalblättern ersehe, Bruchstücke aus Briefen von Liebknecht und mir,
  die bei Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses gefunden wurden,
  abgedruckt, um ihre Denunziantenmission daran zu üben. Obgleich ich
  der Meinung bin, daß nur _durch Bruch des Amtseids eines Beamten_ die
  ‚Zeidlersche Korrespondenz‘ in der Lage ist, jene Bruchstücke zu
  veröffentlichen, muß ich dennoch den Wunsch aussprechen, daß sie statt
  der Bruchstücke den ganzen Inhalt meiner Briefe der Öffentlichkeit
  übergebe.

  Ich habe alle Ursache zu glauben, daß durch eine _solche_
  Veröffentlichung klar und zweifellos festgestellt wird, wie Herr
  Zeidler und Konsorten die bruchstückweise Veröffentlichung von
  Privatbriefen, die ihnen nur _von einem gewissenlosen Beamten_
  zugesteckt sein können, deshalb betreiben, weil sie dadurch ihr
  schwarzes Handwerk mit größerer Wirkung auf das leichtgläubige
  Publikum ausüben können.

  Mich wundert dieses Treiben nicht. Die offiziöse Preßmeute tut eben,
  was Natur und Amt ihr vorschreiben.

  Leipzig, den 16. Dezember 1870. A. Bebel.“

Am 17. Dezember morgens arbeitete ich in meiner Werkstatt, als
plötzlich meine Frau totenbleich hereinstürzte und mir mitteilte, daß
oben in unserer Wohnung ein Polizeibeamter sei, der mich zu sprechen
wünsche. Ich wußte woran ich war. Ich eile die Hintertreppe hinauf und
treffe in unserer Wohnstube den mir bekannten Beamten, zugleich aber
auch einen Soldaten in kriegsmäßiger Ausrüstung. Auf meine Frage, was
das bedeute, antwortete mir meine Frau, der Mann sei soeben als
Einquartierung eingetroffen. Alsdann teilte mir der Beamte mit, er habe
Auftrag, meine Papiere zu beschlagnahmen. Das war rasch geschehen, ich
hatte für reinen Tisch gesorgt. Der Beamte erklärte weiter, er habe auch
Auftrag, mich zu verhaften. Ich kleidete mich rasch um, nahm Abschied
von Frau und Kind, mit der Vertröstung, ich würde bald zurückkommen, und
stieg in die vor dem Hause wartende Droschke, die mich zunächst nach dem
Polizeiamt, von dort nach dem Bezirksgericht führte. Hier wurde mir im
Bezirksgerichtsgefängnis eine Zelle angewiesen. Ich mache kein Hehl
daraus, daß, nachdem der Beamte das große Schloß und die beiden eisernen
Riegel, womit nach alter Väter Weise die Tür versehen war, hinter mir
abgeschlossen hatte, ich wütend in der Zelle auf und ab lief und meinen
Feinden fluchte. Aber was half es? Der Kluge gibt nach. Am
nächsten Morgen (Sonntag) traten der Staatsanwalt und der
Bezirksgerichtsdirektor, der die Oberaufsicht über das Gefängnis hatte,
herein und fragten: ob ich Wünsche hätte. Ich bat, daß ich mir Bücher
dürfe kommen lassen und um Licht bis abends 10 Uhr. Der Direktor sagte
beides zu, Licht aber nur bis abends 8 Uhr. Der Staatsanwalt teilte mir
mit, daß es sich bei der Untersuchung um meine gesamte agitatorische
Tätigkeit handeln werde, die man als staatsgefährlich und
hochverräterisch ansehe. Die Untersuchung werde längere Zeit währen, da
auch Recherchen nach auswärts nötig seien. Ich würde morgen vor dem
Untersuchungsrichter mein erstes Verhör haben. Meine Spannung war groß.
Der Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Ahnert, dem ich vorgeführt
wurde, empfing mich mit strenger Miene und großer Zurückhaltung. Es
werde gegen mich, Liebknecht und Hepner, die beide ebenfalls verhaftet
seien, was ich erst jetzt erfuhr, die Anklage auf Versuch und
Vorbereitung zum Hochverrat erhoben werden. Daß Liebknecht mit mir
gepackt war, fand ich natürlich, aber auch der Unglückswurm Hepner, der
erst kurze Zeit zweiter Redakteur am „Volksstaat“ war? Der war doch so
unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Weiter teilte mir zu meiner nicht
geringen Ueberraschung und Enttäuschung der Richter mit, daß er die
Untersuchung noch nicht weiter führen könne, _weil der Hauptteil des
Untersuchungsmaterials noch in Braunschweig sei_. Er hoffe aber, daß
dasselbe noch vor Neujahr eintreffe, worauf er alsdann mit allem Fleiß
an die Arbeit gehen werde. Man hatte uns also, streng genommen, ohne
gesetzlichen Grund verhaftet, denn weder der Richter noch der
Staatsanwalt kannten das Anklagematerial, auf Grund dessen wir angeklagt
werden sollten. Es war also offenbar der Wunsch des Hauptquartiers, uns
möglichst rasch unschädlich zu machen, für unsere Verhaftung maßgebend
gewesen.

Ich war sehr ärgerlich, als ich in meine Zelle zurückkehrte; ich hatte
jetzt reichlich Zeit, mich zunächst mit dieser zu beschäftigen. Die
Zelle hatte genügend Raum, denn sie war fast leer. In einer Ecke an der
Tür stand ein großer, verdeckter hölzerner Kübel, über dessen Zweck ich
kein Wort zu verlieren nötig habe. An der einen Wand war ein kleines
Regal angebracht, auf dem ein Wasserkrug stand und ein Gesangbuch und
das Neue Testament lagen. An der anderen Wand war eine drei Fuß lange
schmale Bank befestigt, so daß man sie nicht wegrücken konnte, und vor
derselben hatte man mir, als besondere Vergünstigung, ein kleines
Tischchen aufgestellt, so groß, daß wenn ich einen Band Gartenlaube
darauf ausbreitete, die Tischplatte bedeckt war; ein Bett war nicht
vorhanden, die Matratze, die abends auf den Fußboden gelegt wurde,
wanderte am nächsten Morgen auf den Korridor auf einen Berg anderer
Matratzen. Unten vor meinem Fenster, das fest vergittert war und nur
durch Besteigen des Tischchens erreicht werden konnte, hörte ich Tag und
Nacht ein eigentümliches Geräusch. Als ich an das Fenster stieg, sah
ich, daß unten in einem Garten sechs große Kaffeeröstmaschinen
aufgestellt waren, in denen große Quantitäten Kaffee für die im Felde
stehenden Truppen geröstet wurden. Der Winter 1870/71 war wohl der
strengste, den wir in vielen Jahrzehnten hatten. Die armen Teufel im
Felde — Deutsche wie Franzosen — litten fürchterlich unter Kälte, Eis und
Schnee. Das Unwetter hatte früh eingesetzt und hörte erst spät auf. Aber
auch in meiner Zelle war es scheußlich kalt. Der alte vorsintflutliche
eiserne Ofen, der morgens um 5 Uhr mit einer Handvoll Kohlen geheizt
wurde, gab keine besondere Wärme ab. Außerdem mußte ich doch frische
Luft haben. Oeffnete ich also morgens die Fensterklappe, so war das
bißchen Wärme im Nu verflogen. Ich fror hundemäßig. Um mich zu erwärmen,
setzte ich mich auf das Tischchen, stützte die Füße auf die Bank und
umwickelte die Beine mit einer weißen wollenen Decke, die ich als
Bettdecke erhalten hatte. Trotzdem bekam ich einen Blasenkatarrh. Zum
Unglück lag meine Zelle auch noch nach Norden. Liebknecht, als dem
ältesten unter uns, hatte man ein Zimmer, das damals für sogenannte
Wechselgefangene reserviert war, eingeräumt. Dies erfuhr ich bei einem
Besuche meiner Frau, die wöchentlich einmal in Gegenwart des
Untersuchungsrichters mich kurze Zeit sprechen durfte. Auch wurde mir
die Korrespondenz mit ihr unter Kontrolle des Richters gestattet.

Sehr rasch entdeckte ich aber zu meinem großen Unbehagen, daß ich die
Zelle nicht allein bewohnte; dieselbe wimmelte von Ungeziefer. Nun, ich
hatte Zeit zur Jagd, und ich war dabei erfolgreicher als Moltke mit
seiner Hoffnung auf die Greisauer Hasen. Die weiße Wolldecke wurde zur
Falle. Ich hatte bald eine Rekordziffer erreicht. Ich tötete an einem
Tage, meine Leserinnen mögen nicht erschrecken, einundachtzig der
braunen Kerle, die man Flöhe nennt. Allmählich brachte ich die Zelle
rein, auch ohne Insektenpulver, das mir meine Frau auf mein Verlangen
ein paarmal sandte, das ich aber nie erhielt, weil es die Aufseher für
sich verbrauchten. Ich hatte auch durchgesetzt, daß meine Matratze in
der Zelle blieb, die vordem jedesmal am Abend voll Ungeziefer wieder zu
mir hereingebracht wurde. Kaum hatte ich aber mein „Heim“ rein, so wurde
ich auf Anordnung des Arztes nach der Westseite umquartiert. Ich erhielt
jetzt eine Zelle, in der vor mir eine Kindsmörderin zugebracht hatte,
wie mir mein Aufseher in liebenswürdiger Weise mitteilte. Nun hatte ich
die Arbeit des Reinigens von neuem vorzunehmen.

Eine Untersuchungshaft wie die unsere ist die scheußlichste aller
Haftarten. In strenger Einzelhaft hinter Schloß und Riegel sitzen
müssen, ohne zu wissen, wie lange die Haft währt und welches
Anklagematerial vorliegt, wirkt ungemein aufregend und nervenzerrüttend.
Endlich wurde ich Anfang Januar wieder dem Untersuchungsrichter
vorgeführt. Als ich in das Zimmer des Richters trat, fiel mein Blick auf
ein stattliches Bündel blauer Papiere, die auf der breiten Fensterbank
lagen. Es waren meine Briefe an den Parteiausschuß, die dieser mit den
Briefen von Liebknecht, Marx und Engels ganz besonders sorgfältig und
liebevoll aufbewahrt hatte. Ich weiß nicht, was ich getan, hätte ich in
diesem Augenblick unseren Parteisekretär Bonhorst zwischen den Fingern
gehabt. Bald ergab sich aber, daß ich keine Ursache hatte, mich über die
beschlagnahmten Briefe zu ärgern. Der Untersuchungsrichter teilte mir
mit, daß er erst vor ein paar Tagen das Anklagematerial erhalten habe,
daß er aber gewillt sei, nach Möglichkeit die Untersuchung zu
beschleunigen. Und er hielt Wort. Mit jedem neuen Verhör wurde der
Richter zugänglicher. Selbstverständlich waren unsere Briefe das erste
Material, was er durchstudierte. Und da nun diese fast alle streng
vertraulicher Natur waren, so hatten wir darin uns gegenseitig nicht nur
unsere Parteischmerzen, sondern auch unsere großen und kleinen
Privatschmerzen mitgeteilt, und dabei stellte sich heraus, daß keiner
von uns auf Rosen gebettet war. Wohl zu seiner eigenen Ueberraschung
entdeckte der Untersuchungsrichter, daß wir keine Landesverräter und
Königsmörder seien, sondern Menschen, die von den besten Absichten
beseelt waren und warmes Herzblut in den Adern hatten. Ende Februar
hatte der Untersuchungsrichter das Riesenmaterial, das quantativ sehr
groß war — es waren allein gegen 2000 Briefe vorhanden —, durchgearbeitet
und die Untersuchung geschlossen. Der Untersuchungsrichter hatte, und er
war ein sehr intelligenter und gewissenhafter Mann, wie wir später durch
unseren Rechtsanwalt Otto Freytag erfuhren, die Ueberzeugung gewonnen,
daß wir nicht nur nicht wegen Versuchs, sondern auch nicht wegen
Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt werden könnten. Er stellte
demgemäß den Antrag auf unsere Haftentlassung, dem aber die
Staatsanwaltschaft widersprach.

Als Ende Februar 1871 in Oesterreich das Ministerium Graf
Hohenwart-Schäffle ans Ruder kam und durch eine Amnestie die Wiener
Hochverräter Oberwinder, A. Scheu, Most usw. aus dem Zuchthaus entlassen
wurden, legte mir eines Abends gelegentlich eines Verhörs der
Untersuchungsrichter schweigend die „Leipziger Zeitung“ vor, in der die
Depesche über die Amnestie enthalten war. Ich konnte mich nicht
enthalten zu bemerken, dergleichen würde uns nicht blühen; und ich
behielt recht. Ich hatte die feste Ueberzeugung, daß wir verurteilt
würden, nicht weil ich mich schuldig fühlte, sondern weil ich wegen der
Hatz, die namentlich auch während unserer Haft gegen uns fortgesetzt
betrieben wurde, der Stimmung der Geschworenen nicht traute. Außerdem
sagte ich mir auch, daß die Regierung alles aufbieten werde, unsere
Verurteilung herbeizuführen. Andernfalls wäre der Prozeß eine Blamage
für sie geworden. Ich hatte sogar in einem Brief an einen Freund, den
ich meiner Frau zur Uebermittlung schickte, ausgesprochen, wir würden
wohl mit zwei Jahren Festung hängen bleiben. Darüber war namentlich Frau
Liebknecht, der meine Frau meine Ansicht mitgeteilt hatte, ganz
entsetzt. Aber meine Prophezeiung traf wieder einmal ein.

       *       *       *       *       *

Nachdem wir in Haft genommen waren, beriefen die Leipziger
Parteigenossen Karl Hirsch, der damals Redakteur am „Crimmitschauer
Bürger- und Bauernfreund“ war, nach Leipzig, um die Redaktion des
„Volksstaat“ zu übernehmen. Karl Hirsch sprang bereitwillig ein und
verdiente sich durch die Art, wie er das Blatt in schwerster Zeit
redigierte, den Dank der Partei. In der Nummer 102 des „Volksstaat“ vom
21. Dezember kündigte er an, daß er die Redaktion auf unseren Wunsch
übernommen habe, und fuhr dann fort:

  „Die gegen unsere Freunde eingeleitete Untersuchung wird, wie ich
  hoffe, nicht von langer Dauer sein und, wie ich überzeugt bin, die
  Schuldlosigkeit derselben zum Ergebnis haben. _Einstweilen werde ich
  mir die edle, kühne und nicht ‚landesverräterische‘, sondern im
  Gegenteil wahrhaft patriotische Haltung, die der ‚Volksstaat‘ unter
  seiner bisherigen Leitung eingenommen hat, bei meiner Redaktion zum
  Vorbild nehmen._

  An der Tendenz und am Erscheinen des Blattes wird nichts geändert, die
  gegnerischerseits gehegte Hoffnung, der Schlag, der unser Organ
  betroffen, werde die Partei mundtot machen, wird zuschanden werden.“

Kaum war Hirsch in die Redaktion des „Volksstaat“ eingetreten, so begann
Professor Biedermann in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ auch gegen
ihn zu denunzieren. Im gleichen Sinne arbeitete die „Zeidlersche
Korrespondenz“, die, wie sie von uns Briefe tendenziös stückweise
veröffentlichte, dasselbe mit Briefen von Hirsch machte, die in
Braunschweig beschlagnahmt worden waren. Hirsch schüttelte die
Denunzianten kräftig ab. Weiter antwortete Hirsch damit, daß er an der
Spitze des „Volksstaat“ vom 1. Januar 1871 Freiligraths Gedicht „Die
Schlacht am Birkenbaum“ zum Abdruck brachte.

Im Januar wurden die Wahlen zum Reichstag ausgeschrieben; sie sollten am
3. März vorgenommen werden. Eine Landesversammlung der Partei hatte uns
wieder in unseren alten Wahlkreisen aufgestellt. In Leipzig vereinigten
sich die Lassalleaner mit unseren Genossen auf meine Kandidatur. Ich
ließ das Komitee wissen, daß ich im Interesse der Konzentration der
Mittel und Kräfte auf die aussichtsreichen Wahlkreise eine Kandidatur
für Leipzig nicht annehmen könne. Es blieb aber dabei. In bürgerlichen
Kreisen veranstaltete man Geldsammlungen, um Liebknechts und meine Wahl
zu verhindern. In meinem Wahlkreis — Glauchau-Meerane-Hohenstein — hatten
die Gegner sich auf die Kandidatur von _Schulze-Delitzsch_ gegen mich
vereinigt. Schulze nahm die Kandidatur an, er weigerte sich aber,
Wählerversammlungen abzuhalten, da ich an der Abhaltung solcher
verhindert sei; dieselben wären ihm wahrscheinlich schlecht bekommen.
Ende Januar legte der provisorische Parteiausschuß in Dresden sein
Mandat nieder; es galt, die Kräfte zu konzentrieren, und so wurde auf
Anordnung der Kontrollkommission in Hamburg Leipzig Sitz des
provisorischen Ausschusses. Die Geldmittel waren natürlich sehr knapp.
Die Parteigenossen von heute ahnen nicht, mit wie wenig Geld damals die
Wahlen betrieben wurden. Ueber 500 bis 600 Mark gingen die Wahlkosten
kaum irgendwo hinaus.

Die Wahlen verliefen ungünstig; sie fanden statt unter Glockengeläute
und Kanonendonner, da am 3. März der Präliminarfriede in Versailles
unterzeichnet wurde. Die einzigen Sieger waren Schraps und ich im 17.
und 18. sächsischen Wahlkreis. Ich hatte mit 7344 Stimmen gegen
Schulze-Delitzsch mit 4679 Stimmen gesiegt. Schraps, der streng genommen
nicht mehr zur Partei gehörte und an dessen Stelle von Rechts wegen
Julius Motteler hätte aufgestellt werden sollen, siegte mit 5875 gegen
5706 Stimmen. Liebknecht unterlag im 19. sächsischen Wahlkreis mit 3981
gegen 5134 Stimmen. Spier war in Mittweida-Frankenberg in engere Wahl
gekommen, er unterlag aber mit 4017 gegen 5430 Stimmen, die auf
Professor Biedermann fielen. In Leipzig hatte ich 2576, mein
Gegenkandidat Bürgermeister Dr. Stephani 7312 Stimmen erhalten. Das
Resultat galt als sehr günstig; im Herbst 1867 erhielten wir nur 900
Stimmen. In Leipzig-Land war Johann Jacoby aufgestellt worden, der mit
2877 gegen 5718 Stimmen seinem Gegner unterlag. Bracke wurde in Chemnitz
und im 22. sächsischen Wahlkreis aufgestellt und erhielt 2972 bezw. 3477
Stimmen. Wir hatten in Sachsen über 39000 Stimmen auf unsere Kandidaten
vereinigt. In manchen Wahlkreisen, wie Bielefeld, hatten unsere
Parteigenossen den Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
(Pfannkuch) unterstützt, in Mittel- und Süddeutschland hatten sie fast
überall von der Aufstellung eigener Kandidaten abgesehen. Der Allgemeine
Deutsche Arbeiterverein hatte im ganzen 63000 Stimmen auf seine
Kandidaten vereinigt.

Wie die angeführten Zahlen zeigen, war die Beteiligung an der Wahl eine
schwache, nirgends herrschte Begeisterung für das neue Reich. Der
schwere Druck, der auf Handel und Wandel lastete, die Arbeitslosigkeit,
alles Folgen des Krieges, dazu der lange und harte Winter, der den
Massen ebenfalls schwere Opfer auferlegte, schufen eine sehr gedrückte
Stimmung.

Sobald ich die offizielle Nachricht von meiner Wahl erhalten hatte,
schickte ich aus dem Gefängnis meinem Wahlkomitee folgende Danksagung
zur Veröffentlichung:

  „An meine Wähler! Parteigenossen! Ihr habt mir aufs neue einen
  glänzenden Beweis Eures Vertrauens gegeben, indem Ihr mich nunmehr zum
  dritten Male zum Vertreter des 17. Wahlkreises in den Reichstag
  erwähltet.

  Ihr habt mir Euer Vertrauen erhalten, obgleich ich nicht in Eurer
  Mitte erscheinen konnte, um meinen Standpunkt gegenüber der neuen
  Sachlage der Dinge darzutun. Ebensowenig habt Ihr Euch auch beirren
  lassen durch die heftige und niedrige Kampfweise, womit die Gegner den
  Wahlkampf führten.

  Dies, verbunden mit der Tatsache, daß der unterlegene Gegner als die
  gefeiertste Größe des Liberalismus und Kapitalismus gilt, macht die
  diesmalige Wahl für mich doppelt ehrenvoll. Nehmt dafür meinen
  wärmsten und innigsten Dank entgegen und das Versprechen, daß ich tun
  werde, was in meinen Kräften steht, Euer Vertrauen zu rechtfertigen.

  Es lebe die Sozialdemokratie! Das sei der Ruf, mit dem wir neuen
  Kämpfen entgegengehen.

  Leipzig, Bezirksgerichtsgefängnis, den 13. März 1871.

  Mit sozialdemokratischem Gruß

  Euer A. Bebel.“

Ich habe in meinem Leben oft das Glück gehabt, angesungen zu werden, und
zwar im guten wie im schlimmen Sinne. Auch in dem jetzt verflossenen
Wahlkampf spielte die Poesie eine, wenn auch zweifelhafte Rolle. So
veröffentlichte der Bürgermeister Hohensteins, natürlich anonym,
folgendes Gedicht:

  _Napoleon und Bebel._

  Er sitzt auf Wilhelmshöhe,
  Er im Bezirksgericht.
  Er hat sie in der Zehe
  Und er im Kopf die Gicht.

Im „Meeraner Wochenblatt“ höhnte ein anderer Anonymus über mich:

  „_Der Wilhelmshöher an Bebel_.

  Mein lieber Bebel!

  Lassen Sie uns ein vernünftiges Wort miteinander reden! Sehen Sie, ich
  bin ein alter Praktikus und habe das alles schon durchgemacht, was Sie
  noch vor sich haben. Ach, Bebel, wenn mir auch der Schlummerkopf vom
  „New-York-Herald“ neulich wieder einige Hoffnung gemacht hat — ich
  fürcht', ich fürchte doch sehr, es wird mit mir nichts mehr werden.
  Mir fehlen die Mittel, noch einmal von vorn wieder anzufangen.

  Aber Sie, Bebel, Sie haben ohne Frage eine Zukunft. Sie sind noch
  jung, haben ein gewinnendes Aeußeres, einen guten Appetit, eine edle
  Dreistigkeit, eine formidable Sprache und ein harmloses Wesen. Kommt
  dazu noch die Gunst der Weiber und die Freundschaft der Kirche, so
  haben wir alle Eigenschaften beisammen, deren ein junger Mann bedarf,
  um en gros sein Glück zu machen.

  Jetzt, Bebel, will ich Ihnen ein wichtiges Wort über die Republik
  sagen. Die Republik ist eine sehr gute Einrichtung, wenn
  man — Präsident derselben ist. Ist man es nicht, so ist die Republik
  eine ebenso mangelhafte Staatsform wie alle anderen, das Papsttum mit
  einbegriffen. Wie man Präsident wird, Bebel, das will ich Ihnen einmal
  unter vier Augen sagen. Das aber kann ich Ihnen gleich ganz offen
  sagen, daß von der Präsidentschaft bis zur Kaiserkrone nur ein Schritt
  ist.“ Und so weiter.

In Leipzig hatte man, und das ist von einem gewissen kulturhistorischen
Interesse, die Verhöhnung unserer Personen während unserer Haft noch
weiter getrieben. So wurde in einem Tingeltangel eine Posse aufgeführt,
betitelt: „Nebel und Piepknecht“; in einem anderen größeren Lokal der
Stadt wurde eine Posse aufgeführt, betitelt: „Bebel oder der erleuchtete
Schuster mit seinem Jungen.“ In dieser Weise machten die „Patrioten“
ihrem Zorn wider uns Luft.

Ein Teil der liberalen Presse war über meine Wahl höchlich aufgebracht
und agitierte dafür, daß der Reichstag bei seinem Zusammentritt sich
gegen meine Freilassung aus der Untersuchungshaft aussprechen sollte.
Die „Magdeburger Zeitung“ war von Leipzig aus im gleichen Sinne
inspiriert worden. Darauf veröffentlichte unser Anwalt Otto Freytag eine
Erklärung, in der er ausführte, die Behauptung, wir würden wegen
Landesverrat oder Vorbereitung zum Landesverrat angeklagt, sei eine
Unwahrheit. Wir würden wegen _Vorbereitung zum Hochverrat_, begangen
durch unsere Agitation, angeklagt. _Liebknechts und mein Verhalten in
der Kriegsfrage spiele auch nicht einmal nebensächlich eine Rolle._ Es
sei auch eine dreiste Unwahrheit, wenn behauptet werde, Staatsanwalt und
Untersuchungsrichter würden sich einer Haftentlassung widersetzen. Im
Gegenteil, ihm habe der Untersuchungsrichter erklärt, daß gegen eine
Haftentlassung, nachdem die Untersuchung beendet sei, nicht das
geringste Bedenken vorliege. Ebenso werde der Staatsanwalt _keine_
Bedenken gegen die Freilassung erheben.

Am 27. März stellte Schraps, unterstützt von den Mitgliedern der
Fortschrittspartei, im Reichstag den Antrag auf meine Freilassung. Im
Gegensatz hierzu beantragten die Abgeordneten Dr. Stephani-Leipzig und
Professor Biedermann, den Reichskanzler um Auskunft über den Stand der
Sache zu ersuchen. In ihrem blinden Haß fühlten sie nicht das Kleinliche
und Verächtliche ihrer Handlungsweise. Am 29. März wollte der Präsident
die beiden Anträge auf die Tagesordnung der Sitzung vom 30. März setzen.
Darauf erklärte der Abgeordnete Schraps zur Geschäftsordnung: _Er habe
die Nachricht erhalten, daß wir am gestrigen Tage aus der Haft entlassen
worden seien._

So war es in der Tat. Die sächsische Regierung wollte die Debatte im
Reichstag umgehen, so ordnete sie unsere Freilassung an. Am Nachmittag
des 28. März gegen 4 Uhr wurden plötzlich mit besonderer Hast Schloß und
Riegel an meiner Tür geöffnet, und herein stürzte der Aufseher mit dem
Ruf: Ich glaube, Sie kommen frei! Als ich aus der Zelle trat, standen
Liebknecht und Hepner bereits auf dem Korridor. Ohne ein Wort zu sagen,
stürzten wir uns alle drei in die Arme. Wir hatten uns seit jener
ominösen Versammlung am 15. Dezember mit keinem Auge gesehen. Vor den
Untersuchungsrichter geführt, erklärte dieser, wir seien aus der Haft
entlassen, doch müßten wir durch Handschlag versichern, keinen
Fluchtversuch zu unternehmen und den Bezirk, Stadt- und
Amtshauptmannschaft Leipzig, nicht ohne seine Zustimmung zu
überschreiten. Nachdem wir unsere Siebensachen zur Abholung bereit
gestellt, eilten wir fort nach Hause, wo es ein frohes Wiedersehen gab.
Mein Töchterchen sprang mir mit einem Freudenschrei an den Hals.

Zwei Tage danach, am 30. März, wurde auch der Braunschweiger Ausschuß
aus der Haft entlassen. Das Obergericht zu Wolfenbüttel hatte die
Erhebung einer Anklage wegen _Hoch-und Landesverrat abgelehnt_. Die
Braunschweiger hatten 200, wir 101 Tage in der Haft zugebracht.
Optimisten nahmen an, daß nunmehr auch wider uns die Anklage auf
Hochverrat fallen würde.

Der Braunschweiger Ausschuß wurde darauf im Herbst 1871 von dem
Kreisgericht in Braunschweig wegen einer Reihe Verstöße wider
verschiedene Paragraphen des Strafgesetzes verurteilt, und zwar Bracke
und Bonhorst zu 16 Monaten, Spier zu 14 Monaten, Kühn zu 5 Monaten
Gefängnis. Auf erhobene Nichtigkeitsbeschwerde hob das Obergericht zu
Wolfenbüttel das erste Urteil auf und verurteilte die Genannten wegen
Verstoßes gegen das Vereinsgesetz: Bracke und Bonhorst zu 3 Monaten,
Spier zu 2 Monaten Gefängnis und Kühn zu einer 6wöchigen Haft. Die
Strafen wurden durch die Untersuchungshaft als verbüßt erachtet.



Meine weitere parlamentarische Tätigkeit, der Leipziger
Hochverratsprozeß und anderes.



Die erste Session des deutschen Reichstags.


Am 2. April 1871 fuhr ich zur Ausübung meines Mandats nach Berlin. Der
Reichstag, der diesmal in besonders feierlicher Weise durch den Kaiser
unter Anwesenheit der gesamten deutschen Fürsten und Vertreter der
freien Städte am 23. März eröffnet worden war, tagte im preußischen
Abgeordnetenhaus am Dönhofplatz.

Zunächst besuchte ich meine frühere Wirtin, um zu hören, ob ich wieder
Wohnung bei ihr bekommen könne. Sie erklärte, daß sie zu ihrem großen
Bedauern mich nicht in Wohnung nehmen dürfe. Nachdem Liebknecht und ich
im Dezember abgereist seien, _sei die Polizei zu ihr gekommen und habe
ihr heftige Vorwürfe gemacht, daß sie uns Wohnung gegeben habe_. Wir
waren in jener Session auf Schritt und Tritt durch Geheimpolizisten
überwacht worden, als seien wir Verbrecher. Wie uns erging es den Polen.
Kleinlichkeit und Gehässigkeit, mit einem Wort Unanständigkeit ist das
Charakteristikum der politischen Polizei, sobald es sich um die
Verfolgung von Gegnern der Staatsgewalt handelt. Das lernten wir später
auch als sächsische Landtagsabgeordnete in Dresden kennen.

Als ich in den Reichstag trat, waren die Plätze auf der Linken besetzt,
nur auf der äußersten Rechten waren noch solche frei. Dorthin begab ich
mich, obgleich mir die Nachbarschaft der ehrenwerten Herren der
äußersten Rechten nicht sehr sympathisch war. Aber sie begriffen mein
Unglück und ließen mich nicht entgelten, daß ich als Saul unter die
Propheten geraten war. Sie benahmen sich durchaus als Gentlemen,
obgleich auch ihnen meine Nachbarschaft sicher unangenehm war. Manchmal
entstand im Hause Heiterkeit, wenn die Linke gegen die Rechte stimmte
und ich auf der äußersten Rechten mich mit der Linken erhob. Unter
Larven die einzig fühlende Brust.

Die Generaldebatte über die Reichsverfassung, die nunmehr nach den
nötigen redaktionellen Aenderungen auch der deutsche Reichstag
gutzuheißen hatte, wurde bereits zu einer Kulturkampfdebatte. Die
Unfehlbarkeitserklärung des Papstes auf dem vatikanischen Konzil zum Rom
im Jahre 1870 hatte die Geister wach gerufen, und namentlich brannten
die Liberalen darauf, das, was sie an bürgerlicher Freiheit preiszugeben
bereit waren, durch hochtönende Kulturkampfpauken (die Bezeichnung
Kulturkampf hatte der Abgeordnete Professor Virchow erfunden) vergessen
zu machen. Die katholische Partei hatte sich als Zentrum konstituiert
unter Führung von Windthorst und Malinckrodt. Unter den Kulturkämpfern
ragte namentlich Kiefer-Baden hervor, der eine hohe Richterstelle
bekleidete. Als ich am 3. April zum Wort kam, sprach ich meine
Verwunderung aus über den religiösen Charakter, den die Debatten
angenommen hätten. Es scheine, daß im neuen Deutschen Reich die
religiösen Debatten alles andere verdrängen sollten. Jemanden, der wie
ich in den zwei Sitzungen, denen ich bis jetzt beigewohnt, außer
Religion kaum etwas anderes zu hören bekommen und mit den religiösen
Dogmen vollständig gebrochen habe, koste es eine gewisse
Selbstüberwindung, diesen Verhandlungen länger zuzuhören. (Heiterkeit.)
Ich griff darauf die Nationalliberalen an, deren Redner, Professor v.
Treitschke, erklärt hatte, Grundrechte für eine Verfassung zu fordern,
gehöre in die Zeit der politischen Kinderjahre. Ich stimmte ihm zu, denn
politische Kinderei sei es gewesen, wenn man 1849 dem König von Preußen
zugemutet habe, eine Verfassung anzunehmen, die volle Preßfreiheit,
volle Vereins- und Versammlungsfreiheit, Trennung der Kirche vom Staate,
Gewährleistung der persönlichen Freiheit und andere schöne Dinge
verlangte. Es sei allerdings kindlich, das einem Hohenzollern zuzumuten.
Ich kritisierte weiter die Liberalen, die lieber alle Freiheiten
preisgäben, als sich mit einer Partei, die als revolutionär gelte,
einzulassen. Indessen hoffte ich, daß, ehe das neunzehnte Jahrhundert zu
Ende gegangen sei, wir alle unsere Forderungen verwirklicht hätten.
(Große Unruhe.) Diese Ansicht war, wie sich inzwischen gezeigt hat, sehr
optimistisch.

Nach mir sprach Miguel, der meinte, er werde nicht mit mir diskutieren,
vorläufig sei mein Partei noch keine Gefahr. Das sei anders mit den
Herren vor ihm (dem Zentrum), gegen die er losdonnerte. Zum Schluß der
Sitzung nahm ich das Wort zu einer persönlichen Bemerkung gegen Miguel.
Er habe sich etwas wegwerfend über meine Partei ausgelassen. Ich
wunderte mich darüber nicht, ich wolle aber doch konstatieren, daß der
Abgeordnete Miguel — allerdings zu einer Zeit, wo er weder Bankdirektor
noch Oberbürgermeister gewesen sei — zu derselben Partei gehört hätte,
die er heute bekämpfte, _nämlich zur kommunistischen_. Das Haus war über
diese Enthüllung verdutzt. Miguel schwieg. Nach der Sitzung traten eine
ganze Anzahl Abgeordnete an mich heran, um zu hören, inwiefern der
erhobene Vorwurf wahr sei! Der Abgeordnete Miguel behandelte mich von
jetzt ab mit einer gewissen Hochachtung.

Kaum hatte man die Verfassungsberatung hinter sich, so kamen
Schulze-Delitzsch und Genossen und beantragten die Aenderung des
Artikels 32 der Verfassung zwecks Einführung der Diäten. Bei der
Verfassungsberatung hatte man diesen Antrag nicht gestellt, obgleich er
dort am Platze war. In einer Rede, die ich dazu hielt, führte ich aus,
daß nur die Angst vor der Sozialdemokratie die Herren abhielt, die
Diäten durchzusetzen, die in allen anderen Vertretungskörpern eingeführt
seien. Bismarck verhöhnte die Antragsteller. Er wolle nicht mit voller
Sicherheit entscheiden, ob die Versammlung in ihrer Zusammensetzung nach
der Einführung der Diäten noch dieselbe sei. Aber er wolle den Versuch
nicht machen, es wäre ihm zu schmerzlich, wenn er sich vergeblich nach
der liebgewonnenen Versammlung zurücksehnen solle. (Große Heiterkeit.)
Das Herrenhaus, das keine Diäten erhalte, habe immer die Neigung, die
Sitzungen abzukürzen, bei dem Abgeordnetenhaus, das Diäten erhalte, sei
das Gegenteil der Fall.

Am 24. April stand die Beschaffung weiterer Geldmittel zur Bestreitung
der durch den Krieg veranlaßten außerordentlichen Ausgaben auf der
Tagesordnung. Die französische Nationalversammlung hatte zwar am 26.
Februar dem Präliminar-Friedensvertrag ihre Zustimmung gegeben, aber die
Frage der Kriegskostenzahlung war noch nicht endgültig erledigt. Man
brauchte für die große Armee in Frankreich weiter Geld. Bismarck nahm
zunächst das Wort, um die Notwendigkeit der Vorlage zu begründen. Bis
jetzt habe Frankreich seine Zahlungsverpflichtungen nicht einhalten
können. Man könne ja in die inneren Verhältnisse Frankreichs eingreifen,
aber das wolle man nicht, es sei daher wünschbar, Frankreich Zeit zu
lassen, sich zu rangieren. Ich nahm nach Bismarck das Wort. Seine
Erklärung zeige, daß er mit seiner Politik in der Klemme sei. Ich legte
dann noch einmal unseren Standpunkt in der Kriegsfrage dar. Hätte man
nicht auf der Annexion bestanden, so wäre der Friede schon seit vielen
Monaten geschlossen worden. Ungeheure Verluste an Menschen und Geld
wären uns erspart geblieben, und die Lage Deutschlands wäre eine viel
günstigere geworden, als sie jetzt sei. Zwei Milliarden damals seien
mehr wert gewesen, als heute fünf. Außerdem werde keine Regierung in
Frankreich, heiße sie wie sie wolle, den Verlust von Elsaß-Lothringen
vergessen dürfen. Frankreich werde nach Bündnissen suchen, und Rußland
werde künftig anders zu der Frage stehen. Daß es dem Reichskanzler
gelingen werde, Rußland ebenso über den Löffel zu barbieren, wie ihm das
mit Napoleon gelungen sei, bezweifelte ich sehr. (Stürmische
Heiterkeit.) _Sicher sei, daß wir künftig ein viel höheres Militärbudget
aufzubringen haben würden, als dieses bei einer vernünftigen
Verständigung mit Frankreich unter Verzicht auf die Annexionen der Fall
wäre._ Wie Napoleon in Frankreich, so werde der Reichskanzler in
Deutschland in seiner Politik durch die Bourgeoisie unterstützt. Es
seien nur die Arbeiter hüben und drüben gewesen, die allein für den
Frieden eingetreten seien. Man sehe jetzt wieder, wie die so viel
angegriffene und verleumdete Kommune mit der größten Mäßigung vorgehe.
(Große, anhaltende Heiterkeit.) — Die Kommune war seit dem 18. März in
Paris proklamiert worden. — Ich sei durchaus nicht mit allen Maßregeln,
die die Kommune ergriffen, einverstanden, aber sie sei zum Beispiel der
großen Finanz gegenüber mit einer Mäßigung verfahren, die wir vielleicht
in einem ähnlichen Falle in Deutschland schwerlich anwenden würden.
(Heiterkeit.) Herr v. Kardorff nahm mir gegenüber das Wort, um
festzustellen, daß ganz Deutschland _ohne_ Annexion den Frieden nicht
gewollt habe, was ich durch heftigen Widerspruch bestritt.

In dieser Session wurde auch der Gesetzentwurf betreffend die
Verpflichtung zum Schadenersatz (Haftpflichtgesetzentwurf) bei Unfällen
beraten. Ich nahm bei der dritten Lesung das Wort und hob hervor, daß
die Hoffnungen, die man in Arbeiterkreisen an das Gesetz geknüpft,
einmal schon durch den Regierungsentwurf, nachher aber noch mehr durch
die Beschlüsse des Reichstags zunichte gemacht worden seien. Ich wies
dieses in längeren Ausführungen nach. Insbesondere kritisierte ich
scharf den §4, den Lasker in den Entwurf gebracht hatte, wonach der
ganze Betrag der Leitungen aus Versicherungsanstalten, Knappschafts-,
Unterstützungs-, Kranken-oder ähnlichen Kassen, wenn zu der
Versicherungssumme der Unternehmer mindestens ein Drittel zahle, auf die
Gesamtentschädigung einzurechnen sei. Der Unternehmer, der den Nutzen
aus der Arbeit des Arbeiters ziehe, sei auch allein verpflichtet, ihn im
Falle des Unfalls voll zu entschädigen.

Schließlich verlangte ich, daß bei Feststellung der Entschädigungen aus
den Kreisen der beiden beteiligten Parteien Sachverständige in der Form
von Geschworenen oder Schöffen hinzugezogen würden, und zwar Unternehmer
und Arbeiter in gleicher Stärke. So wie der Gesetzentwurf jetzt
vorliege, vermöchte ich nicht für denselben zu stimmen.

Da ich im Reichstag allein stand, Schraps zählte ernsthaft nicht mit,
war ich gezwungen, häufiger als sonst in Berlin zu sein, um den
Sitzungen beizuwohnen. Nun verlangte aber auch mein Geschäft dringend
meine Anwesenheit. Das Unbehagliche dieser Zwitterstellung lastete
schwer auf mir und kam in einem Briefe vom 10. Mai an meine Frau zum
Ausdruck, der ich schrieb:

  „Es ist eine unsäglich langweilige Wirtschaft hier und meine Stellung
  mir deshalb im höchsten Grade unangenehm. Dieser Widerspruch zwischen
  meiner Stellung und der Notwendigkeit, im Geschäft auf dem Platze sein
  zu müssen und zu wollen, ist es, was die schlimme Stimmung erzeugt,
  die Du und andere an mir bemerkt haben.“

Diejenigen, die mich damals wegen meiner Tätigkeit im Reichstag
bejubelten, ahnten nicht, wie mir zumute war.

Am 25. Mai mußte ich wieder ins Feuer. Auf der Tagesordnung stand der
Gesetzentwurf betreffend die Vereinigung von Elsaß-Lothringen mit dem
Reiche; zugleich sollte, zunächst bis zum 1. Januar 1873, die Diktatur
in Elsaß-Lothringen aufrechterhalten werden. Wiederum ging ich auf den
Verlauf des Krieges ein und auf die Versicherung des Königs von Preußen,
daß der Krieg ein Verteidigungskrieg sei. Die Annexion widerspreche
dieser Versicherung. Die Annexion bedeute nur eine Stärkung der
Hohenzollernschen Hausmacht. In Elsaß-Lothringen werde nur so regiert
werden, wie der Kaiser es wolle. Was aber die Diktatur bedeute, hätten
wir seinerzeit nach der Annexion von Hannover erlebt, wie ich an
Beispielen nachwies. Man habe hier von der französischen
Präfektenwirtschaft gesprochen, von der angeblich die Elsaß-Lothringer
erlöst werden sollten; die preußische Landratswirtschaft sei aber um
kein Haar besser, eher schlimmer. Habe man doch kürzlich einem in
Solingen zum Bürgermeister Gewählten die Betätigung versagt, weil er als
Beamter die Aktenschwänze nicht in Ordnung gehalten habe. (Große
Heiterkeit.) Der Reichskanzler habe neulich in einer Sitzung, der ich
nicht beiwohnen konnte, davon gesprochen, man müsse Elsaß-Lothringen die
preußische Städtefreiheit bringen. Ja, er habe sogar gesagt, daß die
Bestrebungen der Kommune im Grunde darauf hinausliefen, die preußische
Städteordnung in Paris einzuführen. Dafür aber zu kämpfen, lohnte nicht
die Mühe, denn diese sei keinen Schuß Pulver wert. Habe aber der
Reichskanzler recht, dann begriffe ich nicht, wie er in dem
Friedensvertrag — der am 10. Mai in Frankfurt beiderseitig ratifiziert
worden war — die Bestimmung aufnehmen konnte, wonach der französischen
Regierung die gefangenen Armeen zur Niederwerfung der Kommune zur
Verfügung gestellt werden sollten. Auch habe er in demselben
Friedensvertrag festgesetzt, daß dreißig Tage nach dem Falle der Kommune
Frankreich die ersten 500 Millionen Franken Kriegsentschädigung zu
zahlen habe. Das sei doch eine seltsame Art, wie er die Kämpfer für die
preußische Städteordnung in Paris behandle. Werde aber so von deutscher
Seite die Kommune bekämpft, so wolle ich meinerseits erklären, daß das
europäische Proletariat hoffnungsvoll auf Paris sehe. Der Kampf in Paris
sei nur ein kleines Vorpostengefecht, und ehe wenige Jahrzehnte ins Land
gegangen seien, werde der Schlachtruf des Pariser Proletariats: Krieg
den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggang! der
Schlachtruf des europäischen Proletariats sein. Ich schloß meine Rede,
indem ich der Hoffnung Ausdruck gab, die elsaß-lothringische Bevölkerung
werde, ihrer freiheitlichen Mission bewußt, den freiheitlichen Kampf mit
uns in Deutschland aufnehmen, damit endlich die Zeit komme, wo die
europäischen Bevölkerungen ihr volles Selbstbestimmungsrecht erlangten,
das sie aber nur erreichen könnten, wenn die Völker Europas in der
republikanischen Staatsform das Ziel ihrer Begebungen erblicken würden.
(Unruhe.)

Fürst Bismarck äußerte im Herbst 1878 bei der Beratung des
Sozialistengesetzes, es sei diese meine Rede gewesen, die ihm die
Gefährlichkeit des Sozialismus vor Augen führte. Davon war an jenem
Tage, an dem ich diese Rede hielt, nichts zu bemerken. Fürst Bismarck
nahm unmittelbar nach mir das Wort und begann: Befürchten Sie nicht, daß
ich dem Herrn Vorredner antworte; Sie werden alle mit mir das Gefühl
teilen, daß seine Rede in diesem Saale einer Antwort nicht bedarf.
(Zustimmung.) Das war alles, was er gegen mich äußerte. Auch die
folgenden Redner machten es sehr gnädig mit mir, sie erwähnten mich
kaum. Dafür ging draußen in der Presse der Lärm um so ärger gegen mich
los. Darauf erklärte Liebknecht im „Volksstaat“ kategorisch: Was Bebel
gesagt, hat er sagen müssen; es war seine Pflicht, für die Kommune
einzutreten! Mitten in dem Toben gegen mich erschien eine
Sonntagsplauderei in der „Berliner Börsen-Zeitung“, die in einem ganz
anderen, und zwar viel harmloseren Ton gehalten war. Offenbar rührte sie
von Stettenheim her, der damals Redakteur der „Berliner Wespen“ war. Ich
hatte Stettenheim im Verein „Berliner Presse“ kennen gelernt, den ich
manchmal auf Einladung von Robert Schweichel besuchte. Dieses ist auch
der Verein, von dem Stettenheim in der Plauderei spricht. Darin hieß es,
soweit sie sich auf mich bezieht:

  „Berlin ist ruhig!

  Die Schüsse, welche man dann und wann hört, bedeuten nicht die
  Hinrichtung von Insurgenten, es sind Aeußerungen des artilleristischen
  Examens in Tegel, und der Qualm, welcher den Horizont einhüllt, ist
  nicht der Rauch flammender Paläste, es ist der Kongreß der
  verschiedenen Sorten Staubes, welcher aus allen Ecken unserer
  geliebten Stadt aufsteigt und die Luft von Tauben, Spatzen und anderem
  Gefieder reinigt.

  Wir teilen dies in aller Eile und aus bester Quelle mit, um ängstliche
  Gemüter, deren Berlin sehr viele zählt, zu beruhigen....

  ... In der ‚Kreuzzeitung‘ taucht sogar eine Mutter von acht Söhnen
  auf, welche alle Mitmütter Berlins auffordert, den Kaiser zu bitten,
  zur Verhütung eines gleich schrecklichen Strafgerichts wie des Pariser
  alles vernichten und zerstören zu lassen, was Berlin an Anstalten,
  Aufführungen, Bildern, Büchern usw. besitzt, welche der Moralität
  unserer Kinder schädlich sein könnten....

  ... So hat die Rede Bebels gewirkt!

  Wir halten es für unsere Pflicht, Oel in die aufgeregten Wogen der
  Phantasie zu gießen, welche eine Mutter von acht Söhnen an die
  Inseratengestade der ‚Kreuzzeitung‘ schleudert.

  Die Rede Bebels war allerdings etwas heftiger Art. Sie unterscheidet
  sich von gewöhnlichen Tischreden durch Drohungen und Betrachtungen,
  welche furchtsame Ohren erzittern machen. ‚Krieg den Palästen!‘ klingt
  etwas ungewöhnlich. Bei einem solchen Ausruf wird bekanntlich
  vorzugsweise jeder unruhig, der kein Palais besitzt, sondern zur Miete
  wohnt. Der Palastbewohner von Berlin pflegt sich auf seinen Portier zu
  verlassen, der sich im Falle mit verdächtigen Besuchern herumbalgt,
  bis der Schutzmann erscheint und die Uebelwollenden zur Wache führt.

  Bebel rief: Krieg den Palästen! Er setzte allerdings hinzu: Friede den
  Hütten! Das aber ist kein Balsam für das blutende Herz einer Mutter
  von acht Söhnen.... Friede den Hütten! Was will das sagen?

  Es gibt vor allen Dingen gar keine Hütten mehr. Man baut nur noch
  drei-, vierstöckige Häuser. Wo steht in Berlin eine Hütte? Mit
  Hüttenfrieden ist wenigen gedient, und Bebel kann ihn versprechen,
  wie er auch allen, welche Sandalen tragen, Steuerfreiheit versprechen
  könnte. Steuerfreiheit ist nicht übel, aber wer trägt heute Sandalen?

  Mittags hatte Bebel seine Brandfackel zu Protokoll gegeben, abends
  trafen wir ihn in einem Verein.

  Dieser Verein treibt keine Politik, sondern anderen Unsinn. Man kürzt
  sich die Zeit mit allerlei Gesprächen und Bieren.

  Man denke sich einen robusten Mann mit rötlichem Haar und
  energieträchtiger Nase — das ist Bebel nicht!

  Bebel ist eine zierliche Erscheinung. Aus einem hübschen Gesicht
  strahlen Augen, welche gewiß schon viele Frauenherzen auf dem Gewissen
  haben. Aber Bebel ist kein Don Juan. Er ist solide, sogar philiströs,
  am allerwenigsten kokett, hauptsächlich bescheiden. Wir haben bemerkt,
  daß er das Feuerzeug weit wegschob, weil ihn der Schwefelgeruch
  augenscheinlich belästigte.

  Und nun fragen wir jede Mutter, ohne von jeder acht Söhne zu
  beanspruchen, wir fragen jeden Berliner Junggesellen, Verlobte, Väter,
  Großväter: Sieht Bebel, welchen man nach seiner Rede für den deutschen
  Haus- und Gebäude-Nero halten möchte, wie seine Rede aus? Wir boten
  Bebel eine Zigarre an.

  Ich rauche nicht! sagte Bebel elegant abwehrend.

  Sollen wir noch etwas zur Beruhigung der Haupt- und Residenzstadt
  anführen? Bebel raucht nicht. Bebel zündet keine Zigarre an — und er
  sollte Paläste anzünden?

  Wir haben leider vergessen, ihn zu fragen, ob er abends Oel oder Gas
  brennt. Wir sind überzeugt davon, daß Bebel kein Petroleum im Hause
  hat. Und ein solcher Mann sollte — —?

  Nein! Bebels Seele ist frei von Petroleum!

  Zum Ueberfluß verwickelten wir ihn noch in ein Gespräch über die
  Paläste und ähnliche Gebäude in Berlin, die er nicht einmal alle
  kannte, und wiesen vorsichtshalber darauf hin, daß Berlin recht arm an
  Palästen sei, so daß es gar nicht die Mühe lohnte, einen Krieg gegen
  sie zu unternehmen. Bebel fiel es augenscheinlich nicht einmal ein,
  daß wir mit Bezug auf seine Rede also sprachen, das ‚Krieg den
  Palästen‘ war ihm ohne Zweifel nur so herausgefahren. ‚Was nun die
  Berliner Hütten betrifft,‘ fuhren wir fort, ‚so ist in erster Linie
  der Eisbock zu nennen, hinter welchem reichlich unschönen Bauwerk alle
  anderen Hütten zurückstehen. Würde er verschwinden, so dürfte Berlin
  kaum bestürzt sein.‘ Bebel hatte höflich zugehört, aber er begriff
  kaum unsere Andeutung, daß ein ‚Krieg den Hütten‘ uns am Ende, und
  zwar auf eine einzige beschränkt, viel willkommener wäre als irgend
  eine andere Demolierung, worin er uns recht zu geben schien, denn ihm
  gefiel der Eisbock ebensowenig wie irgend einem anderen Sterblichen.

  So haben wir also Bebel von seiner Rede zu trennen. In unseren
  Parlamenten wird manches gesprochen, was sich besser, respektive
  schrecklicher liest, als es sich einfach ausgeführt denken läßt.
  Erinnern sich unsere geehrten Leser gefälligst der Dreizackrede des
  Abgeordneten Ziegler: ‚Der Kultusminister muß fort von seinem Platz!‘
  Herr v. Mühler saß dabei und zuckte die Achsel. Heute noch sitzt er
  ‚aufrecht auf der Matte‘.

  Bebel ist der Ziegler der Paläste!

  Ziegler ist der Bebel des Kultusministers.“

Die Ausführungen, die ich in den hier von mir zitierten Reden über die
Pariser Kommune machte, werden einem sehr erheblichen Teile meiner Leser
unverständlich sein. Ein Teil derselben weiß überhaupt nicht, was die
Kommune war, ein anderer Teil ist in Vorurteilen befangen durch das, was
er gegen die Kommune las, nur der kleinste Teil kennt die Geschichte der
Kommune. Unsere Stellung zu derselben spielte aber in den
Kämpfen — insbesondere in den Wahlkämpfen der siebziger und achtziger
Jahre — eine große Rolle. Ich mußte sogar noch in den neunziger Jahren
unsere Stellung zur Kommune im Reichstag verteidigen.

Im März 1876 hatte ich in Leipzig eine große Disputation mit dem
Hauptagitator der Leipziger Nationalliberalen Bruno Sparig, auf die ich
an geeigneter Stelle zurückkommen und meine damaligen Ausführungen über
die Kommune zum Abdruck bringen werde.

       *       *       *       *       *

Der Reichstag wurde gegen Ende Mai 1871 geschlossen. Zu Hause
angekommen, machte ich die Bekanntschaft von _Johann Most_, der nach
seiner Amnestierung aus Oesterreich ausgewiesen worden und nach Leipzig
gekommen war. Nach seiner Haftentlassung wurde sein Brief bekannt, den
er an seinen Vater geschrieben hatte, der in Augsburg, irre ich nicht,
Beamter bei einer Kirchenstiftung war. Der Vater hatte versucht, den
Sohn von seinen „Irrwegen“ abzubringen.

Most hatte darauf am 13. Januar 1871 unter anderem geantwortet:

  „Ich versichere es Ihnen: Wenn Sie mir eine Stelle mit einem
  Monatsgehalt von 1000 Gulden offerierten und ich einer mir
  gesinnungsfeindlichen Partei dienen sollte, und wenn mir andererseits
  von seiten meiner Parteigenossen nur trockenes Brot entgegengehalten
  würde, so würde ich, ohne mich zu besinnen, nach dem trockenen Brote
  greifen.“

Dieser Brief spricht sehr zugunsten von Mosts Charakter. Was er schrieb,
war seine ehrliche Ueberzeugung, denn Most war im Grunde eine
vortrefflich angelegte Natur. Wenn er später unter dem Sozialistengesetz
immer mehr auf Abwege geriet, Anarchist und Vertreter der Propaganda der
Tat wurde, ja schließlich sogar, er, der immer ein Muster von
Enthaltsamkeit war, als Trunkenbold in den Vereinigten Staaten
endete, so legte den Grund zu dieser schlimmen Entwicklung das
Sozialistengesetz, das ihn wie so viele andere außer Landes trieb. Wäre
Most unter dem Einfluß von Männern geblieben, die ihn zu leiten und
seine Leidenschaftlichkeit zu zügeln verbanden, die Partei hätte in ihm
einen ihrer eifrigsten, opferwilligsten und unermüdlichen Kämpfer
behalten. Er hat später als Redakteur der von ihm gegründeten
„Freiheit“ — die erst in London, nachher in New York erschien — mich oft
heftig angegriffen. Noch schlimmer als mich behandelte er Ignaz Auer und
Liebknecht. Aber dennoch ist mir leid, daß er, der gut Veranlagte, so
elend zugrunde ging.

Most wurde in Leipzig nach wenigen Tagen seiner Anwesenheit ebenfalls
ausgewiesen. Er ging nach Chemnitz, woselbst er Redakteur der
„Chemnitzer Freie Presse“ wurde und den großen Metallarbeiterstreik
leitete, der im Hochsommer 1871 zum Ausbruch kam.

       *       *       *       *       *

Die Partei hatte sich von den Wirkungen der Kriegszeit rasch erholt. Die
glänzende industrielle Prosperitätsperiode, die jetzt begann, kam der
Bewegung zustatten. Daß die deutsche Frage einen Abschluß erlangt hatte,
der, wenn er auch uns nicht gefiel, zunächst keine Aussicht auf
Aenderung bot, beseitigte verschiedene Differenzpunkte, die bisher
zwischen den streitenden Arbeiterparteien bestanden. Das Schlachtfeld
wurde übersichtlicher und vereinfachter. In der Eisenacher Partei, wie
unsere Partei kurz genannt wurde, erschienen in Bälde eine Anzahl
Parteiorgane. So neben den Blättern in Crimmitschau und Chemnitz solche
in Braunschweig, wo der unermüdliche, immer opferbereite Bracke den
„Volksfreund“ ins Leben rief und eine eigene Druckerei gründete, ferner
in Hamburg-Altona, Dresden, Nürnberg, Hof, später in München und Mainz.
Dagegen ging der „Proletarier“ in Augsburg Mitte Juni ein.



Der erste deutsche Webertag.


Die Prosperitätsepoche, die nach dem Deutsch-Französischen Krieg
einsetzte, stimulierte die Arbeiterkreise zur Gründung neuer und
Ausdehnung der vorhandenen gewerkschaftlichen Organisationen. Ein
solches Bedürfnis machte sich auch unter der Weberbevölkerung geltend,
deren Lage eine besonders gedrückte war. Aus meinem Wahlkreis wurde die
Anregung zu einem deutschen Webertag gegeben, der vom 28. bis 30. Mai
1871 in Glauchau tagte. Derselbe war von 147 Delegierten besucht, die
134 Mandate aus 85 Orten zu vertreten hatten. Unter den Delegierten
befand sich auch der spätere Reichstagsabgeordnete Harm-Elberfeld, der
damals im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein stand. An Stelle von
Motteler, der eine notwendige Geschäftsreise zu unternehmen hatte, war
mir das Referat über die drei Fragen übertragen worden: 1. Wie ist es
gekommen, daß in der Weberei die Löhne so gedrückt sind? 2. Wie sind sie
zu heben? 3. Wie sind sie den Zeitverhältnissen entsprechend zu
erhalten? Im Laufe des Vortrags wies ich darauf hin, daß durch die
Annexion von Elsaß-Lothringen mit seiner hochentwickelten
Baumwollspinnerei und -weberei den gleichen deutschen Industriezweigen
eine gewaltige Konkurrenz erwachsen dürfte, die zweifellos auch eine
revolutionierende Wirkung auf die Art der bisherigen Produktionsweise in
Deutschland (weite Verbreitung der Hausweberei) ausüben werde.
Glauchauer Kaufleute, die als Zuhörer anwesend waren und damals durch
ihre Faktoren in der Hausweberei arbeiten ließen, hörten diese
Ausführungen mit Kopfschütteln an. Als ich aber nach langer Haft im
Jahre 1875 in meinen Wahlkreis zurückkehrte, wurde mir allseitig die
Richtigkeit meiner Ausführungen bestätigt. Davon überzeugte mich auch
der Anblick der Städte in meinem Wahlkreis, in denen in wenig Jahren die
Fabriken wie Pilze aus dem Boden gewachsen waren. Ich empfahl, mit den
elsaß-lothringischen Webereiarbeitern Fühlung zu nehmen. Weiter
beantragte ich Resolutionen, die ein Verbot der Kinderarbeit in den
Fabriken und die gesetzliche Einführung eines zehnstündigen
Normalarbeitstags verlangten, die einstimmig angenommen wurden. Ferner
wurde gegen zwei Stimmen die Abschaffung der Sonntagsarbeit zu fordern
beschlossen. Eine andere von mir eingebrachte Resolution, die nach
lebhaften Erörterungen ebenfalls Zustimmung fand, betraf die
Arbeitseinstellungen, und lautete:

  „Der allgemeine deutsche Webertag empfiehlt allen Fachgenossen, bei
  Organisierung von Streiks mit der größten Vorsicht vorzugehen und
  unter keinen Umständen eine Arbeitseinstellung vorzunehmen, wenn nicht
  die Gewißheit vorhanden ist, daß durch genügende Mittel und
  Unterstützung der Erfolg gesichert ist.“

Bezüglich der Schiedsgerichte schlug ich folgende Resolution vor:

  „Der erste allgemeine deutsche Webertag erachtet es für wünschenswert,
  daß sich Schiedsgerichte bilden, die zu gleichen Teilen aus Arbeitern
  und Arbeitgebern bestehen, um Differenzen, durch die ein Streik droht,
  auf gütlichem Wege auszugleichen.“

Schließlich wurde ein Komitee von fünf Personen niedergesetzt (Sitz
Glauchau), das die Agitation und Organisation der Fachgenossen in die
Hand nehmen und regelmäßig Zirkulare herausgeben sollte mit
fachgenössischen Mitteilungen. Es fand auch ein zweiter Webertag in
Berlin statt, und eine Anzahl Zirkulare wurden ebenfalls herausgegeben,
dann aber brach die Bewegung wieder zusammen.



Weiteres aus Sachsen.


Zum 14. Juni 1871 hatten wir in Leipzig eine Volksversammlung einberufen
mit der Tagesordnung: „Die hohen Kommunalsteuern und die städtische
Verwaltung“. Leipzig hatte seit 1848 keine solche Beteiligung gesehen
wie bei dieser Versammlung. Eine wahre Völkerwanderung begann nach dem
Versammlungslokal, das, obgleich es 5000 Köpfe faßte, kaum den dritten
Teil der Besucher aufnehmen konnte. Die Versammlung war eine Antwort auf
die heftigen Angriffe, welche die Leipziger Presse gegen unsere Partei
und speziell gegen mich wegen meines Auftretens im Reichstag inszeniert
hatte. Ich ging mit der Stadtverwaltung streng ins Gericht. Die von mir
vorgeschlagenen Resolutionen tadelten das _Steuersystem_, das die
kleinen Leute zugunsten der Wohlhabenden ungerecht belaste, sie tadelten
ferner die _Verwendung_ der Gemeindesteuern, die hauptsächlich im
Interesse der besitzenden Klasse erfolge, und forderten, da diese
Wirtschaftsweise nur durch das begehende Klassenwahlgesetz möglich sei,
die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten
Wahlrechts. Die Versammlung nahm unter stürmischem Beifall meine
Vorschläge gegen drei Stimmen an. Die liberale Presse tobte.

Jetzt begann auch die Aera der Verfolgungen in Sachsen. Im Juli wurde
Vahlteich, der als Stellvertreter für Hirsch am „Crimmitschauer Bürger-
und Bauernfreund“ eingetreten war, als letzterer die Redaktion des
„Volksstaat“ übernahm, wegen Majestätsbeleidigung durch die Presse zu
drei Monaten Festungshaft verurteilt. Kurz darauf erhielt Karl Hirsch
wegen desselben Deliktes vier Monate Festungshaft.

Den 3. August eröffnete die Staatsanwaltschaft Liebknecht, Hepner und
mir, daß sie gegen uns die Anklage auf Vorbereitung zum Hochverrat
erheben werde, außerdem gegen Liebknecht wegen Majestätsbeleidigung. Am
27. September beschloß die Anklagekammer, dem Antrag der
Staatsanwaltschaft stattzugeben. Die von uns hiergegen eingelegte
Nichtigkeitsbeschwerde bei dem Oberappellationsgericht in Dresden wurde
am 10. November _verworfen_.



Der Dresdener Parteikongreß.


Derselbe war auf den 12. bis 14. August 1871 berufen worden. Er war von
56 Delegierten besucht, die 6220 Parteigenossen aus 75 Orten zu
vertreten hatten. Ich wurde erster, Bracke zweiter Vorsitzender. Die
Tagesordnung war interessant und die Verhandlungen wurden sehr lebhafte.
In der Eröffnungsrede konstatierte ich mit Genugtuung, daß der Kongreß
in der Hauptstadt desjenigen Landes tage, in dem die Sozialdemokratie am
heftigsten verfolgt würde, was ihr keinen Schaden tun werde. Die
„Berliner Volkszeitung“, die zu jener Zeit unter ihrem Redakteur
Bernstein der Partei besonders feindlich gesinnt war, führte Klage
darüber, daß der Leipziger Untersuchungsrichter uns (Liebknecht, Hepner
und mir) die Beteiligung am Kongreß nicht verboten habe, was er nicht
konnte. Bork war Referent über den gesetzlichen Normalarbeitstag. Er
hielt eine gute Rede und befürwortete eine Resolution, in der ein
gesetzlicher Normalarbeitstag von höchstens zehn Stunden gefordert
wurde. Ich referierte über die Forderung der Einführung des allgemeinen,
gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Landtags- und
Gemeindewahlen, Bracke über das neue Haftpflichtgesetz. Er schlug eine
Resolution vor, durch die der Reichstag getadelt wurde, der das Gesetz
in durchaus unbefriedigender Weise verabschiedet habe. Ueber die
politische Stellung der Sozialdemokratie referierte an Liebknechts
Stelle, der vorläufig abgehalten war zu kommen, Most. Die Verhandlungen
hierüber führten zu heftigen Szenen. Der überwachende Polizeikommissar
verlangte im Namen seiner vorgesetzten Behörde, ich solle dem Referenten
mitteilen, daß er sich aller und jeder Abschweifung auf die Pariser
Kommune zu enthalten habe. Das lehnte ich ab. Für Most war dieser
Zwischenfall Wasser auf die Mühle. Er sprach zwar kurz, dafür aber um so
schärfer. Man mache den Versuch, äußerte er, ihm einen moralischen
Maulkorb vorzuhängen. Dinge, die in der ganzen Welt, selbst bei den
Chinesen, diskutiert würden, wolle man uns verbieten zu erörtern. Dabei
seien wir fortgesetzt wegen unserer Haltung Gegenstand der heftigsten
Angriffe und der niedrigsten Verleumdungen. Und nachdem wir so von allen
Seiten mit Schmutz besudelt und mit Steinen beworfen würden, wolle man
uns verwehren, unseren Standpunkt darzulegen. (Stürmischer Beifall.) Der
Kommissar suchte geltend zu machen, daß sich das Verbot nur auf
Aeußerungen über die Kommune beziehe. Das war aber für uns der Punkt,
auf den es uns ankam, wir wollten unseren Standpunkt gegenüber der
Kommune darlegen.

Nach Most nahm ich das Wort. Mir scheine, daß die Art, wie die Behörden
sich in unsere Verhandlungen einmischten und sie zu beeinflussen
suchten, eines sozialdemokratischen Kongresses unwürdig sei.
(Stürmischer, minutenlanger Beifall.) Mir sei nicht bewußt, daß Urteile
über die Pariser Kommune abzugeben ungesetzlich sein sollte. Indes
wüßten ja die Anwesenden alle, wie wir zur Kommune stünden. Wir seien
leider dem Vorgehen der Behörden gegenüber machtlos, wir könnten nur
dagegen protestieren. Ich schlage vor, da es unserer unwürdig sei, unter
den uns auferlegten Beschränkungen zu debattieren, daß der Referent auf
das Wort verzichte und wir ohne Debatte über die vorgelegte Resolution
abstimmten. Es sei ein trauriges Zeichen der Zeit, daß jetzt, nachdem
die offiziellen Aktenstücke über die Kommune bekannt geworden und
festgestellt sei, daß das seit Monaten gegen die Kommune Gesagte Lüge,
Verleumdung, Unwahrheit sei (Stürmischer Beifall), man uns verbieten
wolle, diese Kampfweise an den Pranger zu stellen.

Most erklärte, er wäre um so mehr mit meinem Vorschlag einverstanden, da
die Zeit schon weit vorgeschritten sei. Er nehme an, daß alle mit ihm
einverstanden seien, wenn er erkläre: _Wenn die Reaktion sich
international verbindet, dann muß sich selbstverständlich die Revolution
ebenfalls international verbinden_. (Stürmischer Beifall.) Er schloß:

  „Seht wie von Osten hin nach West
  So hell die Flamme loht;
  Wir halten treu, wir halten fest,
  Denn unsre Fahn' ist rot.“

Stürmischer, langanhaltender Beifall folgte seinen Worten. Dann ließ ich
über die Resolution abstimmen, die lautete:

  „Der Kongreß erklärt seine volle Zustimmung zu der Haltung des
  Parteiorgans ‚Volksstaat‘ gegenüber den politischen und sozialen
  Fragen des vergangenen Jahres. Insbesondere billigt der Kongreß den
  durch den ‚Volksstaat‘ unterhaltenen geistigen Zusammenhang der
  deutschen Sozialdemokratie mit der Internationalen
  Arbeiterassoziation.“

Die Resolution fand einmütige Zustimmung. Die weiteren Verhandlungen des
Kongresses beschäftigten sich mit den inneren Angelegenheiten der
Partei: Bericht des provisorischen Parteiausschusses und der
Kontrollkommission, Anträge über Statutenänderung usw. Der Bericht über
den „Volksstaat“ ergab, daß derselbe 4020 Abonnenten und eine Schuld von
1675 Taler hatte. Hierbei ist zu beachten, daß die Gründung der
Lokalblätter an den Orten mit der besten Parteiorganisation notwendig
der Verbreitung des „Volksstaat“ sehr hinderlich war. Von diesem
Gesichtspunkt aus betrachtet war der Stand des Blattes ein erfreulicher.
Heinrich Scheu, der in Stuttgart seinen Wohnsitz genommen hatte, dann
aber aus ganz Württemberg ausgewiesen worden war, tadelte scharf die
Liebäugelei unserer Parteigenossen in Württemberg mit der Volkspartei,
was den schlechten Ausfall der Reichstagswahlen für unsere Partei dort
verschuldet habe und überhaupt die Unklarheit in der Partei fördere. Es
wurde ein Antrag der Ronsdorfer Parteigenossen angenommen, lautend: „Bei
den Reichstagswahlen sind nur solche Kandidaten zu unterstützen, die als
Mitglieder unserer Partei eventuell den anderen sozialdemokratischen
Parteien angehören.“ Weiter wurde auf Antrag Metzner und Josewicz
beschlossen: Der Pariser Kommune unsere Anerkennung ohne Debatte durch
Erheben von den Plätzen auszusprechen. Schließlich beschäftigte man sich
mit der Frage, wie am zweckmäßigsten die Agitation und Organisation
unter den Landarbeitern betrieben werden könne. Auf meinen Antrag
beschloß der Kongreß die Gründung einer Genossenschaftsdruckerei in
Leipzig auf Grund des sächsischen Genossenschaftsgesetzes, das die
beschränkte Hast zuließ. Als Sitz des Parteiausschusses wurde Hamburg,
als Sitz der Kontrollkommission Berlin, als nächster Kongreßort Mainz
gewählt. Nach einem Dank an das Bureau des Kongresses und das Dresdner
Lokalkomitee wurde der in höchst befriedigender Weise verlaufene Kongreß
geschlossen.

Kurz nach dem Dresdener Kongreß wurden die ersten Frauenversammlungen
in Leipzig, Chemnitz usw. abgehalten und bildete sich in Chemnitz die
erste Frauenorganisation. In Berlin gingen Anhänger des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins in der gleichen Richtung vor.



Die zweite Session des deutschen Reichstags.


Die Session begann im Oktober 1871. Ende desselben stand die erste
Lesung über den Etat für 1872 auf der Tagesordnung. Das Etatsjahr begann
damals mit dem 1. Januar. Die Abgeordneten Lasker und Richter hatten vor
mir gesprochen. Ich polemisierte gegen beide. Der Abgeordnete Lasker
habe früher einmal gegen mich ausgeführt, eine starke Regierung brauche
nicht notwendig reaktionär zu sein. Der Beweis dafür sei aber in
Deutschland geliefert, wo die Regierung stark, das Parlament aber
schwach sei. Alle Beschlüsse des Reichstags, die dem Reichskanzler nicht
paßten, wanderten in den Papierkorb, und seien diese Beschlüsse auch
noch so berechtigt. So werde es auch mit dem Verlangen des Abgeordneten
Richter gehen, der die Abschaffung der Salzsteuer fordere, sobald
Frankreich seine letzte halbe Milliarde Kriegskosten bezahlt habe. Das
werde nach dem Friedensvertrag in zwei Jahren der Fall sein.
Mittlerweile werde aber der Reichskanzler wieder aufs neue dilatorische
Verhandlungen begonnen haben und wir stünden vor einem neuen
Kriege. — Tatsächlich standen wir 1875 nahe vor einem solchen. — Die
Salzsteuer werde nicht abgeschafft werden, weder jetzt noch in zwei
Jahren. Auch werde die gewünschte Ermäßigung des Militäretats nicht
eintreten. Der Abgeordnete Lasker habe unrecht, dem Abgeordneten Greil
vorzuwerfen, es sei eine falsche Auffassung seinerseits, daß man im
Volke geglaubt habe, nach der Gründung des Reiches würden die
Militärlasten vermindert werden. Dieser Glaube sei allerdings vorhanden
gewesen und er sei durch die Liberalen vertreten worden. Diesen
Glauben hätte ich allerdings nie geteilt. Schon die wachsenden
Klassengegensätze, die aus der zunehmenden kapitalistischen Entwicklung
resultierten, würden es verhindern, die stehende Armee zu vermindern,
und darüber hätten auch die Ausführungen des Abgeordneten Lasker keinen
Zweifel gelassen. Es sei aber irrig, wenn Lasker glaube, die stehende
Armee unter allen Umständen als Stütze der bestehenden Ordnung der Dinge
ansehen zu können. Frankreich habe auch eine große Armee gehabt, aber
die Entstehung der Kommune habe diese nicht verhindert. Außerdem
vermehre sich das Proletariat weit rascher, als die stehende Armee
vermehrt werden könne, und außerdem steige mit der Vermehrung der Armee
auch das sozialistische Element in derselben, da das industrielle
Proletariat einen immer größeren Bruchteil derselben bilde. Trotz
alledem würden die Liberalen ihre Hoffnung auf die Armee setzen und jede
Forderung für dieselbe bewilligen.

Am 8. November wurde über einen Antrag Büsing in dritter Lesung
verhandelt, der verlangte, daß in jedem Bundesstaat eine aus Wahlen
hervorgegangene Volksvertretung bestehen müsse. Dieser Antrag war in
zweiter Lesung angenommen worden. Ich erklärte zu demselben, daß ich
heute mit den Konservativen und dem Zentrum gegen den Antrag stimmen
würde, auf die Gefahr hin, daß man wieder von einer Kooperation der
Schwarzen mit den Roten spreche. Früher hätten wir uns gegen
Kompetenzerweiterungen des Bundes ausgesprochen, in der Hoffnung, in den
Mittel- und Kleinstaaten werde man sich etwas freier bewegen können. Das
sei eine Täuschung gewesen, was man zum Beispiel gegen uns in Sachsen
leiste, könnte nicht leicht überboten werden. Wenn daher der
Reichskanzler die gesamten Mittel- und Kleinstaaten in die Tasche
stecken wollte, hätten wir nichts dagegen, mit dem einen würden wir
nachher auch fertig. (Gelächter.) Ich stimmte gegen den Antrag, weil er
inhaltlos sei. Was heiße das: in jedem Bundesstaat müsse eine aus Wahlen
hervorgegangene Vertretung bestehen. Aus welchen Wahlen? Etwa nach dem
Dreiklassenwahlsystem in Preußen? Von den heutigen einzelstaatlichen
Vertretungen als _Volksvertretungen_ zu reden, sei Schwindel. (Gelächter
und große Unruhe.) Man habe davon gesprochen, der Reichskanzler sei seit
1866 konstitutioneller geworden. Das sei nicht wahr. Die liberalen
Parteien seien _nachgiebiger_ geworden, das sei des Pudels Kern. (Große
Unruhe.) Man habe eine Reichsverfassung geschaffen, wie sie reaktionärer
nicht sein könne. (Gelächter.) Das sei Scheinkonstitutionalismus,
nackter Cäsarismus. Der Präsident Simson, der schon lange nervös
geworden war, unterbrach mich und drohte, wenn ich so fortfahren würde,
sich vom Hause autorisieren zu lassen, daß er mir die Fortsetzung der
Rede untersage. (Lebhafte Zustimmung.) Dazu hatte er nach der
Geschäftsordnung keinen Funken Recht. Ich protestierte also gegen seine
Drohung und fuhr fort, auszuführen, daß wenn die mecklenburgische
Verfassung etwa ebenso schlecht sein sollte.... Abermalige Unterbrechung
durch den Präsidenten. Er habe die Grenzen der Redefreiheit weit
gezogen, aber gegen eine Verfassung, unter der wir lebten, so zu reden
wie ich, überschreite alle Grenzen. Er drohte abermals mit der
Wortentziehung. Ich protestierte aufs neue und berief mich darauf, daß
die Opposition — zu der damals auch Simson gehörte — in der preußischen
Konfliktszeit viel schärfer geredet habe als ich heute. Der Präsident
erwiderte, was damals geschehen sei, gehe ihn nichts an, was jetzt
gesagt werden dürfe, bestimme er.

Abermaliger Protest von meiner Seite. Ich charakterisierte dann den
Humbug des Scheinkonstitutionalismus, was eine solche Verfassung für
einen Wert habe? Ich hätte keine Neigung, den paar Dutzend Verfassungen
in Deutschland, die nicht das Papier wert wären, auf dem sie geschrieben
ständen, noch eine neue hinzuzufügen.

Der Präsident geriet abermals in Aufregung. Ob ich mit dieser
Charakterisierung auch die Reichsverfassung gemeint habe? Ich hätte
nicht nötig gehabt, auf diese Frage zu antworten, dennoch erklärte ich,
daß ich allerdings auch die Reichsverfassung mit darunter verstanden
habe. (Große Unruhe.) Darauf erbat sich der Präsident die Ermächtigung
vom Hause, mir das Wort zu entziehen. Die Mehrheit stimmte zu.

Nach mir kam die Parlamentsanstandsdame, der Abgeordnete Lasker, zum
Worte. Ihm zufolge hatten wir im Reichstag und im Reiche das denkbar
höchste Maß von Rede- und Preßfreiheit. Das sei uns alles nicht genug,
wir wollten mit roher Gewalt alles durchsetzen und uns über die Gesetze
stellen. (Ich unterbrach den Redner durch Zurufe, der Präsident verwies
mich zur Ordnung.) Ich sollte nur nicht glauben, daß man eine Armee von
400000 Mann hielte, um meine Bestrebungen zurückzuweisen. Das würden die
Bürger allein besorgen. Er hatte hier hinzugefügt: indem sie uns mit
Knüppeln totschlügen. Diesen Satz hatte er nachher im Stenogramm
gestrichen. Der deutsche Bürger sei weit mutiger als der französische,
ich sei ein Phantast, zu glauben, daß wir unser Ziel erreichen könnten.

Ich nahm am Schlusse der Sitzung zu einer persönlichen Bemerkung das
Wort, um darauf hinzuweisen, daß der Präsident die Beleidigung, ich sei
ein Phantast, nicht gerügt habe. Ich glaubte, der Abgeordnete Lasker sei
mehr Phantast als ich. Geprahlt hätte ich auch nicht, daß das deutsche
Volk hinter uns stehe. Ich wüßte, daß wir noch eine kleine Minderheit
seien, stünde das Volk hinter uns, dann säßen der Abgeordnete Lasker und
seine Freunde nicht in diesem Hause. (Große Heiterkeit.) Des weiteren
habe der Abgeordnete Lasker sich gegen meine Partei Denunziationen
erlaubt. Was er über die Kommune gesagt, darüber würde ich mich mit ihm
ein anderes Mal auseinandersetzen. Der Abgeordnete Wiggers hatte
ebenfalls gegen mich polemisiert. Mit meiner Ablehnung ihres Antrags
spräche ich mich für den bestehenden Zustand in Mecklenburg aus. Ich
antwortete, das sei ein Irrtum, er habe überhört, daß ich mich für die
Annexion von Mecklenburg an Preußen ausgesprochen habe, da sei doch ihm
und seinen Mecklenburger Parteigenossen auf einmal geholfen.
(Heiterkeit.)

Am folgenden Tage nahm ich vor Eintritt in die Tagesordnung zu einer
Erklärung das Wort. Das Haus habe mir gestern auf Verlangen des
Präsidenten im Namen der Ordnung das Wort entzogen. Das Haus habe aber
selbst die Ordnung aufs schwerste verletzt. Ich wies dieses an dem
Wortlaut der Geschäftsordnung nach. Mir hätte nur das Wort entzogen
werden können, nachdem der Präsident mich ausdrücklich zweimal zur
Ordnung gerufen habe. Das sei nicht geschehen. Die vorgekommenen
Unterbrechungen meiner Rede durch den Präsidenten seien keine
Ordnungsrufe gewesen. Er hätte mir deutlich sagen müssen: Ich rufe Sie
zur Ordnung! Nachdem der Präsident die vorgeschriebene Regel nicht
beobachtet habe, sei auch der Beschluß des Hauses vollständig
unberechtigt und deshalb nichtig.

Den Präsidenten brachte mein Einspruch aus dem Gleichgewicht, er wußte
genau, daß er und das Haus ein Unrecht an mir begangen hatten. Er
spitzte jetzt die Frage darauf zu, ob er bei einem Ordnungsruf die
Formel gebrauchen müsse: Ich rufe den Redner zur Ordnung. Er sei nicht
dieser Meinung; sei ich anderer Ansicht, so wolle er den Fall der
Geschäftsordnungskommission überweisen.

Darauf erklärte ich, daß ich meine Auffassung über das Verfahren des
Präsidenten und des Hauses aufrechterhalten müsse. Es läge kein
Ordnungsruf vor, da eine bloße Unterbrechung des Redners durch den
Präsidenten nie als Ordnungsruf gegolten habe. Er möchte die Frage der
Geschäftsordnungskommission überweisen. Dazu erklärte sich Simson
bereit.

Diese Vorgänge hatten großes Aufsehen hervorgerufen und fast die gesamte
Presse trat auf meine Seite. Der Präsident und der Reichstag hätten mir
unrecht getan. Der Reichstag werde nervös und verliere die sachliche
Urteilsfähigkeit, sobald ich spräche, äußerte ein liberales Blatt. Die
„Elberfelder Zeitung“ hatte einige Tage vorher geschrieben: Der
Vertretungskörper des deutschen Volks habe bei all seinen Vorzügen doch
die Schwäche, den fremden Tropfen Blut in seinen Adern mit allzu wenig
Geduld zu ertragen. Man solle die Spektakelsucht einzelner
Reichstagsmitglieder durch die engsten gesetzlichen Schranken eindämmen,
aber über die Grenzlinie des gesetzlich Erlaubten soll man nicht ein
Haar breit gehen.... Am Mittwoch seien aber die gesetzlichen Formen ohne
allen Zweifel vom Präsidenten und vom Hause selbst verletzt worden, und
auch heute sei Lasker im Unrecht gewesen.

Als dann der stenographische Bericht über die Sitzung vom 8. November
vorlag, nahm ich abermals vor der Tagesordnung das Wort. Der Abgeordnete
Lasker wollte laut stenographischem Bericht in jener Sitzung gesagt
haben, so würde der redliche und besitzende Bürger mit eigener Macht
sie (uns) niederschlagen. Diese Stelle sei eine Fälschung der Rede; er
habe gesagt: _mit Knüppeln sie totschlagen._ Er, Lasker, werde sich zwar
sehr hüten, an die Spitze der redlichen Bürger, mit einem Knüppel
bewaffnet, sich zu stellen, aber die Aeußerung sei gerade für ihn
interessant, der sich mir gegenüber stets, und auch wieder in der
erwähnten Sitzung, als Vertreter von Anstand und Sitte hingestellt und
im Namen der Zivilisation gegen mich gesprochen habe. Da der
Vizepräsident, der Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst — der spätere
Reichskanzler —, mich unterbrach und mich nicht weiterreden lassen
wollte, kam ich auch mit diesem in Konflikt.

Lasker nahm alsdann das Wort, um in einer Rede voll sittlicher
Entrüstung mich als Ausbund alles Schlechten hinzustellen, gab aber zu,
daß es ihm darum zu tun gewesen sei, seine Worte abzuschwächen. Ich
antwortete, es komme nicht darauf an, was er (Lasker) habe sagen
_wollen,_ sondern was er gesagt _habe,_ und das müsse unter allen
Umständen in den stenographischen Bericht. Ich wandte mich dann gegen
seine Ausführungen über die Kommune, auf die er wieder zu sprechen
gekommen war. Ich verteidigte die Kommune und wies darauf hin, daß jetzt
selbst die liberale Presse eine ganze Reihe angeblicher Schandtaten habe
richtig stellen müssen, deren sie vorher die Kommune beschuldigt habe.
Das Haus wurde wieder nervös, man unterbrach mich und gebrauchte die
stärksten Schimpfworte gegen mich, ohne daß der Präsident ein Wort des
Tadels hatte.

Am 22. November war endlich der große Tag, an dem die Streitfrage
zwischen dem Präsidenten und mir ihre Erledigung finden sollte. Die
Geschäftsordnungskommission hatte sich ihre Aufgabe sehr leicht gemacht.
Der Präsident hatte ihr die Frage unterbreitet, ob er bei einem
Ordnungsruf sagen müsse: ich rufe den Redner zur Ordnung. Der Präsident
hatte auch mich für diese Formel einfangen wollen, indem er mir seinen
Antrag zur Mitunterschrift unterbreiten ließ. Ich verweigerte die
Unterschrift. Die Fragestellung war eine total falsche und ebenso die
Antwort der Kommission, denn der Präsident brauchte nicht gerade die
erwähnte Formel zu gebrauchen, um einen Redner zur Ordnung zu rufen.
Das Mitglied der Fortschrittspartei Klotz-Berlin war Berichterstatter
der Kommission. Gegen die grundfalsche Stellung derselben nahm zunächst
der Zentrumsabgeordnete Greil-Passau das Wort und stellte sich auf meine
Seite. Nach ihm kam der sächsische Generalstaatsanwalt Dr. v. Schwarze
und verteidigte den Beschluß der Kommission. Alsdann kam ich zum Wort.
Ich zerpflückte unbarmherzig den Kommissionsbeschluß. Ich hätte nicht
behauptet, der Präsident müsse unter allen Umständen bei einem
Ordnungsruf die Worte gebrauchen: Ich rufe den Redner zur Ordnung! Er
könne auch sagen: Ich sehe mich genötigt, den Abgeordneten Soundso zur
Ordnung zu rufen! Und so gebe es noch viele Formen. Entscheidend sei,
_daß der Redner und das Haus wisse,_ daß der Ordnungsruf erteilt wurde.
Das sei bei mir nicht der Fall gewesen. Dann zitierte ich aus einer Rede
Simsons vom 10. Februar 1866. Er habe damals geäußert: daß die Freiheit
der Rede gemißbraucht werden könne und häufig gemißbraucht werde, _daß
vielleicht nicht viele unter uns seien, die sich von einem solchen
Vorwurf freisprechen könnten — was ändere das?_ Habe nicht Niebuhr die
Wahrheit ausgesprochen: _Was nicht gemißbraucht werden kann, das taugt
nichts?_ Simson habe in jener Rede die Regierung also angeklagt: _Die
Regierung sei schlechterdings unverträglich mit allem, was der Freiheit
auch nur entfernt ähnlich sehe; sie könnte nicht mit einer freien Presse
regieren; sie könnte nicht regieren ohne Einfluß auf die Zusammensetzung
der Gerichte und sollte dadurch das Ansehen der Justiz im Lande
untergraben werden; sie könnte nicht regieren ohne Beeinflussung der
Wahlen und sollte das Wahlresultat das Gegenteil von dem sein, was im
Volke an Ueberzeugungen lebe; sie könnte nicht regieren mit einer freien
Kommunalverwaltung; sie könnte schließlich nicht regieren mit einem
Hause, in dem durch den Artikel 84 die Redefreiheit walte!_

Ich fragte, wie der Präsident sein Verhalten mir gegenüber mit seiner
Rede vom 10. Februar 1866 in Einklang bringen wolle. Bismarck habe
einmal geäußert: Man muß den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus
tot machen. Das Haus sei auf dem besten Wege, durch sein Verhalten mir
gegenüber dieses Wort wahr zu machen. Nach mir kam der Diplomat
Windthorst zum Wort, der einen seiner berühmten Eiertänze aufführte. Die
Geschäftsordnung sei angeblich nicht klar genug; schließlich beantragte
er die Zurückweisung der Angelegenheit an die Kommission, um die
betreffenden Vorschriften einer Revision zu unterziehen. Er schloß: Ich
stimme weder für noch gegen Simson, noch für oder gegen Bebel. Auch die
Redner der Fortschrittspartei, Freiherr v. Hoverbeck und Franz Duncker,
waren weder warm noch kalt. Duncker sprach sich für den Windthorstschen
Antrag aus, Hoverbeck dagegen; er glaubte nichts Besseres tun zu können,
als Steine auf mich zu werfen. Der Antrag Windthorst wurde schließlich
angenommen. Der alte Ziegler war tief ergrimmt über das Schauspiel, das
der Reichstag und speziell seine Partei bot. Sobald der Beschluß gefaßt
worden war, kam Ziegler bebend vor Zorn zu mir an meinen Platz und
sagte: _„Hören Sie, Bebel, wir sind allesamt Sch——, bekommen Sie die
Gewalt in die Hand, so hängen Sie uns samt und sonders an die Laterne.“_
Ich versprach ihm mit lachendem Munde, gegebenen Falles seinen
freundlichen Rat zu befolgen. Den Beschluß des Reichstags faßte Simson
als ein Mißtrauensvotum auf. Er legte das Präsidium nieder. Natürlich
wurde er wiedergewählt.

Diese Vorgänge wie überhaupt mein Verhalten in den letzten drei
Sessionen hatten mir eine große Popularität in den Arbeiter- und den
demokratischen Bürgerkreisen verschafft. Letztere gab es damals noch. Es
war zum Beispiel in Berlin eine ziemlich starke Gruppe meist gut
gestellter Bürger, die in Johann Jacoby ihr Ideal sahen und mit uns
sympathisierten. Sie gruppierten sich um Dr. Guido Weiß, den Redakteur
der von ihm vorzüglich geleiteten „Zukunft“, eines großen demokratischen
Tageblatts, das die vermögenden Jakobyten — wie wir die speziellen
Anhänger Jacobys kurz nannten — im Jahre 1867 gegründet hatten, aber
wegen zu großer Opfer, die das Blatt erforderte, im Frühjahr 1871
eingehen lassen mußten. Zugehörige dieser Gruppe waren William
Spindler, der Sohn des Gründers des großen Färbereigeschäfts W.
Spindler, van der Leeden, Dr. G. Friedländer, Morten Levy, Dr.
Meierstein, Boas, Dr. Stephani, später Chefredakteur der „Vossischen
Zeitung“, und andere. Auch der damals noch sehr junge Franz Mehring, den
ich durch Robert Schweichel hatte kennen gelernt, gehörte zu diesem
Kreis. Blieben Liebknecht und ich über Sonntag in Berlin, so trafen wir
in der Regel mit mehreren der Genannten, unter denen sich auch öfter
Paul Singer befand, in einer Weinstube zusammen. Nach stillschweigender
Uebereinkunft tranken alle einen billigen Moselwein, sogenannten
Kutscher, den Schoppen zu 50 Pfennig. Nachher ging es nicht selten noch
in ein Bierhaus. Meine Leistung im Trinken war allezeit eine minimale,
aber Schweichel, Liebknecht, Guido Weiß, Mehring waren trinkfeste
Mannen. Mehr als einmal gingen wir, doch stets aufrechten Hauptes, nach
Hause, als schon die Sonne hell leuchtend am Himmel stand.

Eine Folge meiner Popularität war, daß ich hofiert und fetiert wurde und
öfter Einladungen zu solennen Mittag- oder Abendessen bei Familien der
Bekannten erhielt. Aber ich war kein großer Freund solcher Einladungen
und ging ihnen so viel als möglich aus dem Wege. So schrieb ich unter
dem 19. November 1871 an meine Frau:

  „Für heute Sonntag habe ich mir alle Einladungen vom Halse geschafft,
  indem ich rund heraus erklärte, ich sei schon eingeladen, obgleich es
  nicht wahr war. Man ist froh, ein paar Stunden wieder Mensch sein zu
  können, indem man sich selbst angehört.... Uebrigens hoffe ich, hier
  bald loskommen zu können, ich habe das Leben hier sehr satt und sehne
  mich zu Euch und nach meiner Häuslichkeit.... Wenn vom Essen und
  Trinken das menschliche Glück abhinge, müßte ich hier sehr glücklich
  sein, aber ich bin es  nicht.“ —

Die Vorgänge im Reichstag schlugen noch längere Zeit in der Presse ihre
Wellen. So veröffentlichte die „Augsburger Allgemeine Zeitung“
Uebersichten über die Verhandlungen, in denen es in bezug auf meine
Stellung zum Antrag Büsing sehr wohlwollend hieß:

  „Bebel gab wieder Proben seines glänzenden Rednertalents und davon,
  daß er ein ganzer Mann ist. Schon weil es wenig bekannt ist, verdient
  hervorgehoben zu werden, daß der junge Drechslermeister von Leipzig
  sich, obgleich er völlig allein steht, und seine weitgehenden
  Ansichten fast einstimmig verdammt und bedauert werden, im Reichstag
  eine ganz exzeptionelle Stellung, und bei der Mehrzahl, namentlich
  auch bei den Hochkonservativen, achtungsvolle Anerkennung erworben
  hat, welche dadurch, daß er seine Mußestunden in Berlin dazu benutzt,
  durch Arbeit bei einem Handwerksgenossen den Unterhalt für seine
  Familie zu verdienen, nur vermehrt und durch die teilweise ungerechten
  Angriffe Laskers nicht beeinträchtigt werden konnte. Bebel bietet
  zugleich ein Beispiel der wunderbaren Fügungen der Vorsehung. Wäre er
  nicht als Knabe überaus schwächlich gewesen, so würde er als Sohn
  eines preußischen Unteroffiziers unzweifelhaft in einem preußischen
  Militärwaisenhause erzogen worden und jetzt voraussichtlich
  wohldisziplinierter Wachtmeister sein. Nun aber erhielt er seine
  Erziehung durch die Wincklersche Stiftung in Wetzlar, und seine
  angeborene Begabung und eigener Fleiß machten ihn zum Führer einer,
  trotz ihrer beschränkten Zahl nicht ungefährlichen Volkspartei und zu
  einem hervorragenden Redner im deutschen Parlament.“

Es war selbstverständlich eine _Legende,_ wenn der Berichterstatter mich
in Berlin bei einem Handwerksgenossen den Unterhalt für meine Familie
verdienen ließ. Das war denn doch ein Ding der Unmöglichkeit. Aber diese
Legende machte Schule; ich begegnete ihr eine Reihe Jahre später wieder
in einem Buche über die Sozialdemokratie. So wird oft Geschichte
gemacht. Ich erhielt später noch ähnliche Proben.

       *       *       *       *       *

In der Partei ging in dieser Periode die Entwicklung ganz nach Wunsch.
Die gegen die Partei inszenierten Verfolgungen, die schon kräftig
eingesetzt hatten, schadeten ihr nicht, sie nützten ihr. Für jeden, der
im Kampfe unfähig gemacht wurde, traten drei andere an seine Stelle. Zu
den Wundern jener Zeit muß es gerechnet werden, daß die Leipziger
Kreishauptmannschaft die Ausweisung Mosts durch die Leipziger Polizei
aufhob, weil die Begründung für diese Maßregel nicht genüge. Keine
angenehme Sache war es für mich, in den Versammlungen, die ich während
meiner Anwesenheit in Berlin abhielt, in der Regel mich mit einer Anzahl
Agitatoren des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins herumzuschlagen.
Das Verhältnis zwischen uns war trotz des Rücktritts Schweitzers vom
Präsidium unter dessen Nachfolger Hasenclever nicht besser geworden.
Namentlich schlug Hasselmann im „Neuen Sozialdemokrat“ einen sehr rohen
Ton an. Als ich im November im Streikverein der Sattler einen Vortrag
hielt, wobei ich zum erstenmal Ignaz Auer kennen lernte, trat unter
Führung Hasselmanns eine ganze Kolonne Redner gegen mich auf, um mich
moralisch zu vernichten. Der Versuch bekam ihnen übel. Als ich dann nach
Schluß der Versammlung mehreren meiner Gegner im Privatgespräch Vorwürfe
machte wegen ihrer perfiden Kampfweise, gaben zwei derselben, Zielowsky
und Finn, wie aus einem Munde zur Antwort: _Sie müßten uns bekämpfen;
denn werde heute eine Einigung der Sozialdemokratie hergestellt,
schreite morgen die Regierung mit aller Macht ein, um die Partei zu
unterdrücken!_ Die beiden waren ahnungsvolle Engel, denn so ungefähr kam
es nachher, als die Einigung verwirklicht wurde. Hasenclever gefiel sich
anfangs als Präsident auch in der Pose Schweitzers. So ließ er sich in
Altona in einer mit zwei Schimmeln bespannten Kutsche eine Ovation
bringen. Er fand aber bald, daß er kein Schweitzer war und zu einer
solchen Rolle nicht paßte.

Im Dezember löste der Polizeidirektor Rüder den sozialdemokratischen
Arbeiterverein in Leipzig wegen Verletzung des Verbindungsverbots auf.
Das Verbot fand anderwärts Nachahmung. Um dieselbe Zeit veröffentlichten
unsere Nürnberger Parteigenossen unter Führung Anton Memmingers einen
Aufruf zur Unterstützung des Philosophen _Feuerbach_, der in großer
Notlage in der Nähe Nürnbergs lebte. Memminger, der infolge lokaler
Streitigkeiten in Nürnberg unmöglich wurde, ist später ganz nach rechts
marschiert; er wurde eine Leuchte des bayerischen Bauernbundes und einer
seiner fanatischsten und geschicktesten Vertreter in der Presse und im
bayerischen Landtag. —

In Sachsen hatten die polizeilichen und gerichtlichen Verfolgungen, die
mit der Gründung bes Deutschen Reiches eine nie vorher gekannte Schärfe
erlangte, eine ganz vortreffliche Stimmung in der Partei hervorgerufen.
Als wir am 9. Januar 1872 in Chemnitz in einer Landesversammlung
zusammentraten, musterten wir 120 Delegierte. Das ganze Land war bis in
die letzten Bezirke vertreten. Ich führte den Vorsitz, Most war
Schriftführer. Beschlossen wurde, für eine gründliche Umgestaltung des
Vereins- und Versammlungsrechtes zu wirken; das allgemeine, gleiche,
direkte und geheime Wahlrecht solle für die Landtags- und Gemeindewahlen
gefordert werden; die Armenunterstützung solle reichsgesetzlich geordnet
und die Kosten durch eine progressive Einkommensteuer aufgebracht
werden. Den gemaßregelten Vereinen und Gewerkschaften wurde empfohlen,
ihre Beschwerden bis in die letzte Instanz zu verfolgen und, falls diese
resultatlos seien, Lokalvereine zu gründen. Ferner wurde die Aufhebung
der Dienstbotenordnung verlangt und den Parteigenossen, die mit
religiösen Ueberzeugungen gebrochen hätten, der Austritt aus der
Landeskirche empfohlen. —

Am 1. Februar 1872 trat Vahlteich seine Festungshaft in Hubertusburg an;
später folgte ihm Karl Hirsch. Mittlerweile wurden aber auch die übrigen
Gefängnisse mit verurteilten Sozialdemokraten besetzt. Einzelne Genossen
waren mit sehr harten Gefängnisstrafen bedacht worden.



Der Leipziger Hochverratsprozeß.


Bei der Eröffnungsfeier des ersten deutschen Reichstags am 23. März 1871
im sogenannten Weißen Saale des königlichen Schlosses zu Berlin trat
Fürst Bismarck an den Abgeordneten v. Schwarze heran mit den Worten:
„Nun, Herr Generalstaatsanwalt, was wird denn aus dem Prozeß Bebel und
Genossen?“ Der Angeredete zuckte die Achseln und erwiderte: „Gar nichts
wird.“, worauf Bismarck unwillig antwortete: „Dann hätte man die Leute
auch nicht einstecken sollen; jetzt fällt das Odium des Prozesses auf
uns.“ Wenige Augenblicke nach jenem Vorgang wandte sich der sächsische
Finanzminister v. Friesen, der die Unterhaltung zwischen Bismarck und
Schwarze angehört hatte, an den Abgeordneten Professor Birnbaum,
Vertreter für Leipzig-Land, mit den Worten: „Da hat unser Schwarze eine
große Dummheit gemacht!“

Herr v. Schwarze hatte aber keine Dummheit gemacht, er hatte nur gesagt,
was er als Jurist nach genauer Kenntnis des Inhaltes der Akten sagen
mußte. Schwarze hielt ebenso wie unser Untersuchungsrichter eine
Verurteilung für unmöglich, und Bismarck hatte ganz vergessen, daß
unsere Verhaftung am 17. Dezember 1870 nicht erfolgt war, weil man
irgendwelche Beweise für unsere angebliche Vorbereitung zum Hochverrat
hatte, sondern weil man die Tatsache der Beschlagnahme unserer Briefe
bei dem Braunschweiger Ausschuß benutzen wollte, uns hinter Schloß und
Riegel zu bringen. Uns war sogar mitgeteilt worden, daß Bismarck selbst
vom Hauptquartier aus die Anregung zu unserer Verhaftung gegeben habe.

Die Frühjahrssession des Leipziger Schwurgerichtes war für unsere
Aburteilung bestimmt worden. Der Prozeß sollte Montag den 11. März
seinen Anfang nehmen. Die Aufregung in Leipzig war groß. Seitens der
Behörden rechnete man mit Unruhen. Das veranlaßte uns, an der Spitze des
„Volksstaat“ vom 6. und 9. März folgende Aufforderung zu
veröffentlichen:

  „_An unsere Parteigenossen!_

  Wie Ihr wißt, beginnen Montag den 11. März die
  Schwurgerichtsverhandlungen in dem Hochverratsprozeß gegen uns. Viele
  von Euch werden denselben beiwohnen wollen. Dies veranlaßt uns, die
  dringende Aufforderung an Euch zu richten, weder durch Zeichen des
  Beifalls noch des Mißfallens die Verhandlungen zu unterbrechen.
  Geschehe was da wolle, verhaltet Euch ruhig. Mag unsere Gegnerschaft
  durch bübische Hetzartikel oder durch bezahlte Agents provocateurs
  Euch zu reizen suchen, macht diese perfiden Machinationen zuschanden.
  Die Abrechnung wird nicht ausbleiben.

  Leipzig, den 3. März 1872.

  Bebel, Liebknecht, Hepner.“

Diese Mahnung war nicht überflüssig. In der Furcht, es werde unsere
Verurteilung mißlingen, hielten es die Brockhaussche „Deutsche
Allgemeine Zeitung“, das „Leipziger Tageblatt“ und die von Dr. Hans Blum
redigierten „Grenzboten“ für ihre vornehmste Aufgabe, durch Hetzartikel,
die man den Geschworenen zustellte, diese gegen uns einzunehmen. Ebenso
wurde in den verschiedensten Formen persönlich auf diese eingewirkt.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, den Verlauf des Prozesses, der
vierzehn Verhandlungstage in Anspruch nahm, in seinen Einzelheiten
darzulegen. Das Anklagematerial bildete unsere gesamte agitatorische
Tätigkeit in Vereinen, Versammlungen, Artikeln und Broschüren nebst
einer Anzahl Briefe, die bei dem Braunschweiger Ausschuß gefunden worden
waren. Außerdem wurde aber auch fast die ganze bis dahin in deutscher
Sprache erschienene sozialistische Broschürenliteratur als belastend
herangezogen, auch wenn wir an deren Verfasserschaft und Verbreitung gar
nicht beteiligt waren, wie zum Beispiel bei dem Kommunistischen
Manifest. Auch eine Broschüre des bürgerlichen Republikaners Karl
Heinzen, betitelt: „Ein europäischer Soldat an seine Kameraden“, mußte
als Belastungsmaterial dienen, obgleich bis zur Prozeßverhandlung keiner
von uns von der Existenz der Broschüre etwas wußte. Dieselbe war im
Archiv des Parteiausschusses in einem Exemplar gefunden worden. Das
Belastungsmaterial ließ also an _Quantität_ nichts zu wünschen übrig, um
so schlimmer stand es mit der _Qualität,_ wie wir das wiederholt während
der Verhandlungen hervorhoben.

Unsere Reichstagsreden konnten auf Grund der Verfassung nicht unter
Anklage gestellt werden, es sorgte aber die Leipziger liberale Presse
dafür, daß die schärfsten Stellen aus denselben den Geschworenen bekannt
wurden.

Als Belastungszeugen hatte die Staatsanwaltschaft eine Anzahl Herren aus
Plauen im Vogtland geladen, die in den beiden Versammlungen anwesend
gewesen waren, die ich Frühjahr 1870 dort gegen Dr. Max Hirsch
abgehalten hatte. Der Inhalt jener Reden, die damals wegen Inkrafttreten
des deutschen Strafgesetzbuchs nicht mehr verfolgt werden konnten, und
ebenso die Liebknechtsche Rede „Ueber die politische Stellung der
Sozialdemokratie“, wegen deren er 1869 in Berlin _in contumaciam_ zu
mehreren Monaten Gefängnis verurteilt worden war, wurden jetzt ebenfalls
als Material für den Hochverratsprozeß verwendet. Die Belastungszeugen
waren der Obergendarm aus Plauen, der meine Versammlungen überwacht
hatte, ferner der Vorsitzende einer derselben, Rechtsanwalt Kirbach, ein
Redakteur, ein Oberlehrer und der Einberufer der Versammlungen. Als
Entlastungszeugen hatten wir Bracke und Spier laden lassen, die alsdann
dem Prozeß bis zu seinem Schlußakt beiwohnten.

Präsident des Schwurgerichts war ein Herr v. Mücke,
Bezirksgerichtsdirektor in Bautzen. Herr v. Mücke war im Gegensatz zu
seinem Namen ein herkulisch gebauter Mann, der Hände wie ein Fleischer
und eine so niedere Stirne besaß, daß man sich erstaunt fragte, wo in
jenem Kopf das Gehirn sitze. Offenbar hatte der Justizminister Abeken
sich als Präsident des Schwurgerichts den beschränktesten Kopf
ausgesucht, den es unter den Gerichtsdirektoren in Sachsen gab. Will man
in einem politischen Prozeß um jeden Preis eine Verurteilung
herbeiführen, so empfiehlt sich, als Leiter eines solchen entweder einen
gewissenlosen Streber — ein solcher scheint zu jener Zeit in Sachsen
nicht vorhanden gewesen zu sein — oder einen beschränkten Kopf
auszuwählen, der sich leicht beeinflussen läßt. Herr v. Mücke war seiner
Aufgabe in keiner Weise gewachsen, weder beherrschte er das sehr
umfängliche Aktenmaterial, noch besaß er das Maß von Unparteilichkeit
und Ruhe, das erste Voraussetzung für den Leiter einer solchen
Verhandlung ist. Auch war ihm bis dahin offenbar der Sozialismus ein mit
sieben Siegeln verschlossenes Buch. Es stimmte oft sehr heiter und
blamierte ihn gründlich, wenn er über unsere Ausführungen ganz aufgeregt
wurde, Sinn und Tragweite derselben nicht verstehen konnte und dann in
die Rolle fiel, uns widerlegen zu wollen, wozu er ganz und gar unfähig
war und auch kein Recht hatte. Man konnte ihn naiv bis zur
Bewußtlosigkeit nennen.

Unsere Verteidigung hatten die Rechtsanwälte Otto und Bernhard Freytag
übernommen, die bei ihnen in den besten Händen lag. Beide machten durch
ihre Kreuz- und Querfragen dem Präsidenten, der diese Fragen oft nicht
verstand oder ihre Tragweite nicht übersah, das Leben sauer.

Unter den Geschworenen waren sechs Kaufleute, davon drei aus Leipzig,
ein Rittergutsbesitzer, ein Oberförster und einige Gutsbesitzer. Die
Verhandlungen waren für Leipzig eine Sensation. Tag für Tag war der
geräumige Verhandlungssaal überfüllt mit Zuhörern aus allen Ständen.
Mehrere Male waren auch der Justizminister und der Generalstaatsanwalt
anwesend. Und da alle größeren Blätter Deutschlands ausführliche
Berichte brachten und ihre Leser jetzt zum erstenmal zu hören bekamen,
was der Sozialismus sei und was die Sozialisten erstrebten — soweit dies
bei Zeitungsberichten möglich ist —, wirkten die Verhandlungen eminent
agitatorisch. Dafür sorgten natürlich auch wir durch unsere Haltung,
namentlich Liebknecht, der der eigentliche Führer des Prozesses wurde.
An allerlei kleinen dramatischen Szenen fehlte es auch nicht. So wenn
der Präsident durch ungeschickte Fragen und Bemerkungen von Liebknecht
gehörig auf den Sand gesetzt wurde, oder ich bei der Frage, was ich zu
dem Kommunistischen Manifest zu sagen habe, antwortete: ich sei damals,
als dasselbe erschienen sei, kaum acht Jahre alt gewesen, oder Hepner
wiederholt antworten mußte: er sei überhaupt noch nicht geboren gewesen,
als dieses oder jenes Aktenstück erschien.

Die Beeinflussung der Geschworenen wurde Tag für Tag von unseren Gegnern
dadurch versucht, daß sie dieselben in der Restauration aufsuchten, in
der die meisten von ihnen allabendlich zusammenkamen. Alsdann wurden die
Vorgänge des Tages besprochen und entsprechend auszunutzen versucht. So
äußerte zum Beispiel eines Abends ein Appellationsgerichtsrat Müller:
„Denken Sie sich, meine Herren, mir träumte verflossene Nacht, Bebel sei
freigesprochen worden, da habe ich mich aber geärgert.“ Er schien
anzunehmen, man wolle nur Liebknecht verurteilen. Für die Qualität
einzelner Geschworener war auch folgender Vorgang bezeichnend: Eines
Tages trifft einer unserer Rechtsanwälte einen der Geschworenen auf der
Straße und fragt ihn, ob er sich wohl ein klares Bild von dem Inhalt
der vorgetragenen Aktenstücke machen könne? Worauf dieser antwortete:
„Herr Advokat, offen gesagt, wenn ich nicht zeitweilig eine Prise nähm',
schlief' ich ein.“ Nun wurden wir schließlich mit acht gegen vier
Stimmen verurteilt, mehr als sieben Stimmen verlangte das Gesetz für
einen Schuldigspruch, und es war die Stimme dieses Herrn, die das
Schuldig bewirkte.

Am dreizehnten Verhandlungstag begannen unter enormem Zudrang des
Publikums die Plädoyers, nachdem die Fragen für die Geschworenen
formuliert worden waren. Der öffentliche Ankläger schloß seine Rede mit
den Worten: Wenn Sie die beiden Angeklagten nicht verurteilen — von
Hepner sprach er nicht, er gab ihn preis —, dann sanktionieren Sie für
immer den Hochverrat!

Zunächst antwortete Rechtsanwalt Otto Freytag, der damit begann, zu
erklären, er habe trotz einer dreiviertelstündigen Pause, die zwischen
der Anklagerede des Staatsanwaltes und seiner Rede lag, sich noch immer
nicht von dem Erstaunen erholt, das bei ihm die Begründung der Anklage
hervorgerufen habe. Nach einer mehrstündigen vorzüglichen Rede, in der
er die Anklage gründlich zerzauste, beantragte er unsere Freisprechung.
Am nächsten Morgen nahm Rechtsanwalt Bernhard Freytag das Wort. Auch er
blieb an oratorischer und juristischer Gewandtheit nicht hinter seinem
Bruder zurück. Nach zirka drei Stunden schloß er mit den Worten an die
Geschworenen: Bejahen Sie die Fragen, so schaffen und sanktionieren Sie
in Sachsen einen rechtlosen Zustand. Wegen dieser Worte kam es zwischen
ihm und dem Präsidenten zu einer heftigen Auseinandersetzung. Der
Präsident hatte diese Worte gerügt.

Nach dem Schlußwort des Staatsanwaltes nahm noch einmal Otto Freytag das
Wort, dagegen erklärte sein Bruder, daß, nachdem der Staatsanwalt auf
seine Frage: worin „das bestimmte Unternehmen“ bestehe, dessen er uns
anklage, nicht geantwortet habe, er bei der eigentümlichen Disziplin,
die in diesem Saale herrsche, auf weitere Auseinandersetzungen
verzichte. Eine Erklärung, der wir uns anschlossen. So ging die
Verhandlung einen Tag früher zu Ende, als erwartet worden war. Bei der
„Rechtsbelehrung“ der Geschworenen durch den Präsidenten kam es
abermals zwischen diesem und unseren Verteidigern zu lebhaften
Auseinandersetzungen; sie wollten die „Rechtsbelehrung“ desselben, weil
von falschen Voraussetzungen ausgehend, nicht gelten lassen. Beide
meldeten schon im voraus die Nichtigkeitsbeschwerde an.

Nach mehr als zweieinhalbstündiger Beratung verkündeten die
Geschworenen, daß sie Liebknecht und mich der Vorbereitung zum
Hochverrat schuldig befunden, Hepner freigesprochen hätten. Der
Staatsanwalt beantragte hierauf gegen uns eine Höchststrafe von zwei
Jahren Festung, weil die Vorbereitungshandlungen noch entfernte gewesen
seien, gegen Hepner beantragte er Freisprechung. Der Gerichtshof
erkannte demgemäß gegen Liebknecht und mich unter Anrechnung von zwei
Monaten Untersuchungshaft.

Unsere Parteigenossen waren über das Urteil höchst aufgebracht. Mich
packte der Galgenhumor: „Wißt ihr was“, äußerte ich zu den Verteidigern
und Mitangeklagten nach Schluß der Verhandlung, „wir gehen heute abend
dem Urteil zum Trotz in Auerbachs Keller (berühmt geworden durch die
Kellerszene in Goethes Faust) und trinken eine Flasche Wein.“ „Das tun
wir“, erklärte Otto Freytag, „und wir (er und sein Bruder) bezahlen die
Zeche.“

Unsere Frauen, die uns mit lautem Weinen empfingen, waren freilich von
diesem Vorschlag sehr wenig erbaut. Es sei eine Frivolität, dergleichen
zu tun, wir seien schreckliche Männer. Aber sie waren tapfer und gingen
schließlich mit. Auch Bracke mit seiner jungen, liebenswürdigen Frau,
die ihn nach Leipzig begleitet hatte, und Spier waren bei der Partie.
Meine Frau war noch vor der Verurteilung durch unseren Hausarzt in etwas
eigentümlicher Weise getröstet worden. „Frau Bebel“, hatte er zu ihr
gesagt, „wird Ihr Mann zu einem Jahre Festung verurteilt, so seien Sie
froh, er braucht sehr dringend Ruhe.“

Am 27. März, dem Tage, an dem wir die Entscheidungsgründe des
Gerichtshofs erhalten hatten, erließen Liebknecht und ich im
„Volksstaat“ eine kurze Ansprache „An die Parteigenossen“, in der wir
sie aufforderten, tapfer zur Sache zu stehen und namentlich für die
Verbreitung des „Volksstaat“ zu sorgen, der jetzt 5500 Abonnenten hatte.
An demselben Tage veröffentlichten wir eine zweite Erklärung im
„Volksstaat“ „Zu unserer Verurteilung“, in der es hieß:

  „Der Wahrspruch der Herren Geschworenen ist _nicht wahr_. Was wir
  gewollt und getan, haben wir ohne Hehl bekannt; ein hochverräterisches
  Unternehmen im Sinne des Strafgesetzbuchs haben wir _nicht
  vorbereitet_. Wenn wir schuldig sind, ist jede Partei schuldig, die
  nicht gerade am Ruder ist. Indem man uns verurteilt, ächtet man die
  freie Meinungsäußerung.

  Durch Ihren Wahrspruch, meine Herren Geschworenen, haben Sie im Namen
  der besitzenden Klasse die Gewalttat von Lötzen sanktioniert und der
  Reaktion einen Freibrief in blanco ausgestellt. Uns persönlich ist das
  Resultat gleichgültig. Dieser Prozeß hat so unendlich viel für die
  Verbreitung unserer Prinzipien gewirkt, daß wir gern die paar Jahre
  Gefängnis hinnehmen, die — falls Rechtskraft eintritt — über uns
  verhängt werden können. _Die Sozialdemokratie steht über dem Bereich
  eines Schwurgerichtes_. Unsere Partei wird leben, wachsen und siegen.
  Wohl aber haben Sie, meine Herren Geschworenen, durch Ihr Verdikt das
  Todesurteil gefällt über das Institut der heutigen Schwurgerichte,
  die, ausschließlich aus der besitzenden Klasse gebildet, nichts sind
  als Mittel der Klassenherrschaft und Klassenunterdrückung.“

Die ganze demokratische und linksliberale Presse, die damals noch
Bedeutung hatte, stand auf unserer Seite, mit Ausnahme der „Berliner
Volkszeitung“. Diese folgerte: Das Schwurgericht ist Volkesstimme,
Volkesstimme ist Gottesstimme, ergo, ... Auch der frühere
Appellationsgerichtspräsident Temme, einer der aufrechtesten Männer, die
der preußische Richterstand je gehabt hat, der aber der Reaktion im
Anfang der fünfziger Jahre zum Opfer gefallen war, veröffentlichte in
einem Wiener Blatte einen scharfen Artikel wegen unserer Verurteilung.
Ich hatte das Glück, Temme noch kurz vor seinem Ableben 1882 in Zürich
kennen zu lernen, wohin er sich zurückgezogen hatte; er war eine äußerst
sympathische Persönlichkeit.

Herr v. Mücke und der Staatsanwalt Hoffmann wurden für
ihre staatsretterische Tätigkeit durch Orden belohnt.
Der Generalstaatsanwalt v. Schwarze, der bei der Anklage
Geburtshelferdienste geleistet hatte, war schon zuvor belohnt worden.
Als Antwort auf das Urteil erklärte Johann Jacoby am 2. April seinen
Beitritt zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Dem Vorgehen desselben
schloß sich der Berliner Demokratische Verein — nicht zu verwechseln mit
dem Demokratischen Arbeiterverein — insofern an, als er mit großer
Mehrheit dem Eisenacher Programm zustimmte.

Unsere Parteigenossen legten in der Parteipresse und in zahlreichen
Volksversammlungen schärfsten Protest gegen das Urteil ein, was freilich
zur Folge hatte, daß eine ganze Anzahl derselben gerichtlich verurteilt
wurde.

Kurz nach Schluß des Prozesses befiel mich eine sehr schmerzhafte
Brustfellentzündung, die mich mehrere Wochen ans Bett fesselte. Auch
hatten Agitation, parlamentarische Tätigkeit, Untersuchungshaft und
Prozeß, wozu noch angestrengte Tätigkeit in meinem Geschäft kam, das
meine Kräfte ebenfalls in hohem Grade in Anspruch nahm und mich zu
Erweiterungen meines kleinen Betriebs nötigte, meine Nerven zerrüttet.
Ich litt neben heftigen Schmerzen an großer Schlaflosigkeit. In den
Nächten, in denen ich mich schlaflos im Bette wälzte, dachte ich öfter
an Bismarck, der damals insofern mein Leidensgefährte war, als er nach
den Berichten der Zeitungen ebenfalls an Schlaflosigkeit und
neuralgischen Schmerzen litt. Geteilter Schmerz ist halber Schmerz.



Die dritte Generation des ersten deutschen Reichstags.


Ende April 1872 war der Reichstag wieder zusammengetreten. Eben genesen,
reiste ich nach Berlin und hielt am 1. Mai eine Rede zu dem Antrag
Hoverbeck und Genossen, betreffend die Abschaffung der Salzsteuer. Ich
wendete mich in der Rede gegen die gesamten indirekten Steuern auf
notwendige Lebensbedürfnisse. Die besitzenden Klassen suchten in ihrem
Klasseninteresse dieses System aufrechtzuerhalten und weiter auszubauen;
sie suchten sich den Staatslasten, wo sie könnten, zu entziehen, aber
sie machten die direkten Steuern zum Maßstab der politischen Rechte. Ob
das Haus glaube, daß solche Zustände die Versöhnung der verschiedenen
Klassen herbeiführten? Das Gegenteil werde erreicht; da dürfe sich die
Bourgeoisie nicht wundern, wenn ihr alsdann von uns gesagt werde, was
Tell über Geßler sagte: Mach' deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt, fort
mußt du, deine Uhr ist abgelaufen. (Stürmisches Gelächter.) Eugen
Richter erklärte: Er wolle mir nicht antworten, das hieße meiner Person
und meiner Doktrin eine Bedeutung beimessen, die sie nicht habe. Ich
polemisierte darauf gegen Richter in einer persönlichen Bemerkung; seine
geringschätzende Bemerkung gegen mich solle nur verdecken, daß ihm die
Gründe zu meiner Widerlegung fehlten. Richter antwortete: Er hielt mich
durchaus nicht für so unbedeutend, daß es sich nicht lohne, mir zu
antworten, aber er hielt mich, wenigstens zurzeit noch nicht, für so
bedeutend wie den Reichskanzler (Heiterkeit), darum habe er keine Zeit
gehabt, mir zu antworten. —

Im Jahre 1872 ging der „Kulturkampf“ seinem Höhepunkt entgegen, jener
„Kulturkampf“, der der größte politische Fehler war, den Bismarck in der
inneren Politik machte, und der der innerpolitischen Entwicklung
Deutschlands eine höchst verderbliche Richtung gab. Bismarck hatte das
Jesuitenausweisungsgesetz dem Reichstag vorgelegt, um das ein heftiger
Kampf entbrannte. Bei der dritten Lesung am 19. Juni kam ich zum Worte.
Ich führte aus: Der englische Kulturhistoriker Buckle bemesse den
Kulturgrad eines Volkes nach der Bedeutung, die religiöse Streitigkeiten
bei demselben fänden. An diesem Maßstab gemessen, müßten wir in
Deutschland auf einem tiefen Kulturgrad stehen. Keiner Frage werde seit
längerer Zeit so viel Aufmerksamkeit geschenkt als der religiösen Frage.
Freilich, die religiösen Auffassungen stünden in inniger Verbindung mit
dem sozialen und politischen Zustand eines Volkes. Sei das Zentrum im
Hause so stark vertreten, so nicht etwa bloß seiner religiösen
Anschauungen wegen, sondern namentlich auch wegen der sozialen und
politischen Interessen, die es vertrete. Die rückständigen ökonomischen
Schichten im katholischen Volke schlössen sich mit Vorliebe dem Zentrum
an, die anderen kapitalistischen Schichten den Liberalen. Der
Protestantismus, einfach, schlicht, hausbacken, gewissermaßen die
Religion in Schlafrock und Pantoffeln, sei die Religion des modernen
Bürgertums. Der ganze Kampf sei, soweit die Religion in Frage komme, nur
ein Scheinkampf, in Wahrheit bedeute er den Kampf um die Herrschaft im
Staate. Wolle die liberale Bourgeoisie ehrlich den Fortschritt, müsse
sie mit der Kirche brechen, denn die Bourgeoisie habe in Wahrheit keine
Religion. Für sie sei die Religion nur Mittel zum Zweck, um die
Autorität zu stützen, die sie brauche, und um in den Arbeitern willige
Ausbeutungsobjekte zu erziehen.

Man sage, der Jesuitismus habe mit dem Katholizismus nichts zu tun. Das
sei falsch. Der Jesuitismus sei die festeste Stütze des Katholizismus,
und insofern habe das Zentrum recht, wenn es sage, der Kampf gegen den
Jesuitismus sei ein Kampf gegen den Katholizismus. Die Verteidiger der
Vorlage behaupteten, sie wollten durch dieselbe den Frieden herstellen;
das Gegenteil werde erreicht; sie würden nicht den Frieden bekommen,
sondern den Krieg.

Man sage ferner, das Dogma von der Unfehlbarkeit sei staatsgefährlich.
Das könnte ich nicht einsehen. Schließlich ständen alle Dogmen mit der
Wissenschaft und der gesunden Vernunft in Widerspruch und seien von
diesem Gesichtspunkt aus ebenfalls staatsgefährlich. (Heiterkeit.) Je
ungeheuerlicher ein Dogma ist, und das sei das von der Unfehlbarkeit des
Papstes, um so mehr Widerspruch finde es bei allen Denkenden. Man
behaupte auch, der Jesuitismus sei unmoralisch. Der Staat habe aber
allezeit verdammt wenig nach der Moral gefragt, und der Reichskanzler
sei der letzte, dem diese Sorge mache. Was den Reichskanzler ärgere,
sei, daß man ihn in seiner Politik nicht für unfehlbar halte.
(Heiterkeit.) Würden die Jesuiten und die Herren im Zentrum sich bereit
erklären, seine Politik zu unterstützen, so könnten sie auf kirchlichem
Gebiete tun, was sie wollten. (Sehr richtig.) Je reaktionärer dann der
Jesuitismus sei, um so lieber würde es dem Reichskanzler sein. Er wolle
nichts weiter, als daß die ultramontane Partei sein Werkzeug werde. Daß
man es wage, dem Reichstag einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen, sei
ein Zeichen dafür, wie tief man ihn einschätze. (Unruhe.) Die Liberalen
suchten durch den Kampf gegen den Jesuitismus nur wieder zu gewinnen,
was sie an Kredit bei dem Volk durch Preisgabe aller Volksrechte
eingebüßt hätten. Man bekämpfe den Jesuitismus mit einem Ausnahmegesetz,
_und die Folge werde sein, daß sein Anhang größer werde, als er je
gewesen._ Die Masse der Menschen sympathisiere mit dem Verfolgten. Es
gehe nicht an, ein Gesetz zu erlassen, wonach man einen Menschen
heimatlos machen und wie ein wildes Tier von einem Orte zum andern jagen
könne. Wir hätten Unterdrückungsgesetze in Deutschland genug, wofür ich
Beispiele anführte; wir brauchten keine neuen. Wer habe denn den
Jesuitismus gezüchtet? Der Staat. Statt jährlich viele hundert Millionen
für Mordwerkzeuge auszugeben, verwende man diese Mittel _auf die Bildung
des Volkes,_ das werde dem Jesuitismus mehr schaden als alle
Ausnahmegesetze. Man errichte ein auf der Höhe der Zeit stehendes
Bildungssystem, man trenne den Staat von der Kirche, man verweise die
Kirche aus der Schule, und ehe zehn Jahre vergingen, würde es mit den
pfäffischen Wühlereien zu Ende sein. Die Herren könnten dann in Gottes
Namen in der Kirche predigen, hin gehe niemand mehr. (Heiterkeit.) Doch
das wolle man nicht, sie alle brauchten Autoritäten, deren Hauptstütze
die Kirche sei. Man wisse, höre die himmlische Autorität auf, dann falle
auch die irdische. Man fürchte, es würde alsdann auf dem politischen
Gebiet die Republik, auf dem sozialen der Sozialismus und auf dem
religiösen der Atheismus zur Geltung kommen. Ich würde gegen das Gesetz
stimmen, müßte aber die Behauptung, Ultramontanismus und Sozialismus
seien Verbündete, als eine infame Verleumdung zurückweisen. Es würde dem
Ultramontanismus und dem Liberalismus gleich schlecht gehen, wenn wir am
Ruder wären. (Unruhe.)

Im Verlauf der Debatte sprach auch Graf Ballestrem, der spätere
Präsident des Reichstags. Mit Hinweis auf meine Ausführungen meinte er,
wohin man mit Annahme des Gesetzentwurfes steuere, habe meine Rede
gezeigt. Verliere das Volk erst den Glauben an das Paradies im Himmel,
dann werde es das Paradies auf der Erde verlangen, und das verspreche
ihm die Internationale. Ich unterstrich diese Worte, indem ich kräftig
„sehr richtig“ rief.

Kurze Zeit danach erzählte man sich im Reichstag einen amüsanten
Vorgang. Einige Herren vom Zentrum unterhielten sich in einer
Restauration über den katholischen Kirchengelehrten Döllinger und das
neue Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Döllinger war heftiger
Gegner der Unfehlbarkeitserklärung. Darauf äußerte ein geistlicher Herr,
Abgeordneter für München: Glaubt der alte Esel an so viel Unsinn, konnte
er auch an diesen glauben. Diese Aeußerung wurde im Reichstag bekannt
und viel belacht.



Mein Majestätsbeleidigungsprozeß.


Die Anklage gegen Liebknecht auf Majestätsbeleidigung war auf Beschluß
der Anklagekammer von der Anklage wegen Vorbereitung auf Hochverrat
getrennt und vor das Leipziger Bezirksgericht verwiesen worden. Hier
wurde Liebknecht Anfang April freigesprochen. Ende Mai 1872 verwarf das
Oberappellationsgericht in Dresden unsere Nichtigkeitsbeschwerde, es war
somit das Urteil des Schwurgerichtes rechtskräftig geworden. Liebknecht
trat Mitte Juni seine Haft in Hubertusburg an. Ich hatte nach Schluß des
Reichstags auch noch eine Anklage zu erledigen. Ich war ebenfalls auf
Majestätsbeleidigung, begangen durch Reden in zwei Volksversammlungen im
Bezirk der Leipziger Amtshauptmannschaft, angeklagt worden. Ich hatte
anknüpfend an das Dankschreiben des Königs von Preußen vom 25. Juli
1870, das mit den Worten schloß: er hoffe, daß die _Freiheit_ und
Einheit Deutschlands das Ergebnis des Krieges sein werde, allerlei
kritische Bemerkungen gemacht. Ich hatte ausgeführt, daß wir zwar die
Einheit bekommen hätten, die Freiheit sei aber ausgeblieben; es sei in
dieser Beziehung sogar schlimmer als früher, was ich durch Tatsachen
bewies. Es sei eben die alte Geschichte. Seien die Könige in der
Verlegenheit, so fehle es nicht an schönen Versprechungen, habe aber das
Volk die Opfer gebracht und die Könige gerettet, dann würden die
gemachten Versprechen vergessen und nicht eingelöst. In diesen
Ausführungen sah die Staatsanwaltschaft eine Majestätsbeleidigung, und
der Gerichtshof schloß sich ihr in der Verhandlung am 6. Juli 1872 an,
in der ich mich selbst verteidigte. Der Staatsanwalt hatte eine
Zusatzstrafe zu der bereits erkannten Festungshaft beantragt. Das
Gericht ging über diesen Antrag hinaus und verurteilte mich zu _neun
Monaten Gefängnis_. Da es sich um eine andere Strafart als die mir
bereits zuerkannte handelte, fiel die Zusatzstrafe; sonst würden, wenn
es bei neun Monaten Festung geblieben wäre, diese mit der schon
erkannten Festungshaft wahrscheinlich auf achtundzwanzig Monate
zusammengezogen worden sein. Außerdem ging der Gerichtshof noch in einem
zweiten Punkte über den Antrag des Staatsanwaltes hinaus, _er erkannte
mir das Reichstagsmandat ab_.

Dieser letztere Beschluß war ein großer politischer Fehler von seiner
Seite, denn da er mir nicht auch die Wählbarkeit aberkennen konnte,
mußte er sich sagen, sein Beschluß werde wirkungslos bleiben, indem
meine Parteigenossen mich in meinem bisherigen Wahlkreis wieder
aufstellen und mich sicher wählen würden. So geschah es. Meine
Wiederwahl wurde für den Gerichtshof eine schallende Ohrfeige. Darüber
später.



Unsere Festungshaft und was zwischenzeitlich passierte.



Hubertusburg.


Am 1. Juli 1872 schrieb mir Bracke einen Abschiedsbrief, dem er äußerte:
„Wenn Eure Familien nicht wären, könnte ich fast triumphieren über die
Einfalt unserer Feinde! Du zum Beispiel wirst Dich körperlich erholen
und viel lernen; dann bist Du ein verdammt gefährlicher Kerl, und
schließlich wird Deine liebe Frau auch, trotz des harten Loses der
Trennung, zufrieden sein, wenn Du auf diese Weise eine Kurzeit
durchmachst, die Dich wieder kräftigt fürs ganze Leben.“ Am 8. Juli, dem
Tage meines Haftantritts, veröffentlichte ich folgende Erklärung:

  „_An meine Wähler im 17. sächsischen Wahlkreis!_

  Freunde und Gesinnungsgenossen! Das Königliche Bezirksgericht zu
  Leipzig hat die Gewogenheit gehabt, mir wegen ‚Majestätsbeleidigung‘
  neben einer neunmonatigen Gefängnisstrafe auch ‚den Verlust der
  bekleideten öffentlichen Aemter sowie der aus Wahlen hervorgegangenen
  Rechte‘ abzuerkennen.

  Durch dieses Erkenntnis bin ich des mir von euch verliehenen Mandats
  _verlustig_ geworden.

  Freunde und Gesinnungsgenossen! Der Schlag soll nicht nur mich, er
  soll auch euch, deren _Vertreter_ ich bisher war, er soll die _Partei_
  treffen, der wir angehören. _Zeigen wir, daß der geführte Schlag ein
  Schlag ins Wasser ist_. Ihr seid vor die Alternative einer Neuwahl
  gestellt. _Ich biete mich euch für dieselbe aufs neue als Kandidat
  an_. Habe ich nach eurer Meinung das in mich gesetzte Vertrauen
  gerechtfertigt, _dann wählt mich wieder_.

  Seid versichert, die erhaltenen ‚Strafen‘ machen mich nicht mürbe.
  Festung und Gefängnis sind nicht die Mittel, mir bessere Begriffe über
  unsere faulen Gesellschaftszustände beizubringen. Die Gesellschaft,
  die zu solchen Mitteln der Belehrung greifen muß, verdient, daß sie
  aufhört zu existieren.

  Führen wir also den Krieg fort mit aller uns zu Gebote stehenden
  Kraft und mit aller Fähigkeit; gebt mir durch die _Neuwahl_ das Mittel
  in die Hand, daß ich auch für die nächsten Jahre mich an diesem Kampfe
  beteiligen kann. Der Tag kommt, wo auch _unsere_ Stunde schlägt.

  Lebt wohl! Auf Wiedersehen zu neuem Kampf und Sieg!“

Am Nachmittag desselben Tages reiste ich nach Hubertusburg. Am Bahnhof
hatten sich eine große Zahl Männer und Frauen eingefunden, um sich von
mir zu verabschieden. Meine Frau hatte ich gebeten, mit unserem
Töchterchen zu Hause zu bleiben. Unter dem Gepäck, das ich mitnahm,
befand sich auch ein großer Vogelbauer mit einem prächtigen
Kanarienhahn, den mir ein Dresdener Freund als Gesellschafter für meine
Zelle geschickt hatte. Er wurde, nachdem ich ihm zu einem Weibchen
verholfen, der Stammvater einer Kinder- und Enkelschar, die ich in
Hubertusburg züchtete. An der Station Dahlen, an der ich ansteigen
mußte, um von dort zu Wagen nach Hubertusburg zu fahren, brachte man mir
eine eigenartige Ovation. Als ich ausstieg, standen sämtliche Schaffner
an dem langen Personenzug vor ihren Wagen und salutierten, indem sie die
Hand an die Mütze legten. Der Lokomotivführer schwenkte die Mütze,
ebenso schwenkte ein großer Teil der Passagiere, der in den Fenstern
lag, Hüte und Mützen und rief mir Lebewohl zu. Ich war sehr gerührt über
diese Zeichen der Sympathie.

Als ich in Hubertusburg ankam und mit Liebknecht zusammentraf, lachte er
mich aus, daß ich mir noch neun Monate Gefängnis geholt. Da sei er doch
klüger gewesen. Er hatte gut lachen. Er hat nachher für die Artikel, die
er heimlich aus Hubertusburg an den „Volksstaat“ schrieb, weit mehr als
neun Monate Gefängnis den verantwortlichen Redakteuren aufbrummen
helfen. Und wie vorsichtig glaubte er zu sein. Hatte er einen solchen
Artikel auf der Pfanne und hegte er Bedenken gegen seine Fassung, so zog
er mich zu Rate. Er las mir alsdann die betreffende Stelle vor. Warnte
ich ihn, eine mir bedenklich scheinende Stelle im Artikel zu lassen, so
versuchte er mir nachzuweisen, daß und warum sie nicht gefährlich sei.
Er erhielt alsdann regelmäßig von mir die Antwort: Du würdest recht
haben, dächten Staatsanwalt und Richter so wie du. Er kaute alsdann an
einem Fingernagel und überlegte sich die neue Fassung. Manchmal war
diese aber noch schärfer als die frühere. Er trennte sich sehr ungern
von einem Gedanken, mit dessen Veröffentlichung er den Gegner ärgern
konnte.

Außer Liebknecht war noch Karl Hirsch und ein Chemnitzer Parteigenosse
in der Festungshaft. Vahlteichs Haft war bereits zu Ende, doch sorgten
die Gerichte stets für Ersatz. Wir waren meist fünf bis sechs Genossen,
darunter zeitweilig auch irgend ein Student, der wegen Duellgeschichten
zu kurzer Festungshaft verurteilt worden war. Erst als meine Haft zu
Ende ging, war ich der letzte der Mohikaner, den Hubertusburg beherbergt
hatte.

Es fiel uns auf, daß wir unsere Haft auf Hubertusburg statt auf der
sächsischen Festung Königstein zu verbüßen hatten. Der Grund war, daß
auf Königstein sich keine Räume für Zivilgefangene befanden, diese
mußten erst erstellt werden.

Hubertusburg ist weiteren Kreisen bekannt geworden durch den 1763 hier
abgeschlossenen Friedensvertrag, der den siebenjährigen Krieg beendete.
Das Schloß ist ein stattlicher Bau im Zopfstil. Vor demselben dehnt sich
ein großer Hof aus, der durch pavillonartige ein- und zweistockige
Gebäude eingeschlossen ist, die früher den Hofbeamten und Bediensteten
zur Wohnung dienten. Zu unserer Zeit wohnten dort die Beamten der in
Hubertusburg vereinigten Anstalten und hatten daselbst ihre Bureaus.
Längere Zeit waren Teile der Gebäude als Landesgefängnis benutzt worden.
Für uns Festungsgefangene war ein Flügel dieser Bauten reserviert, in
dem man sieben oder acht Zellen eingerichtet hatte. Mit Hubertusburg
verbunden war ein Siechenhaus und eine Irrenanstalt für Frauen, und eine
Pflegeanstalt für blinde und blödsinnige Kinder. Die Insassen dieser
Anstalten bekamen wir aber nicht zu sehen. Unsere Zellen besaßen hohe
Fenster, die mit Eisenstäben versehen waren. Wir blickten aus den
Fenstern in den großen Wirtschaftsgarten, in dem wir unsere Spaziergänge
zu machen hatten, und über dessen Mauern hinaus auf Wald und Flur und
das in der Ferne liegende kleine Städtchen Mutzschen.

Die Reinigung unserer Zellen besorgte ein sogenannter Kalfakter. Für
deren Reinigung und Miete — der Staat gibt auch den Gefängnisraum nicht
umsonst — hatten wir monatlich fünf Taler zu zahlen. Unser Essen bezogen
wir aus einem Gasthaus des an Hubertusburg grenzenden Wermsdorf. Unsere
Tagesordnung war folgende: Morgens 7 Uhr mußten wir angekleidet sein,
alsdann wurden die Zellen zwecks der Reinigung geöffnet. Während dieser
Zeit frühstückten wir auf dem breiten Korridor, der vor den Zellen
hinlief. Diese Pause benutzte Karl Hirsch, um mit einem Zivilgefangenen
eine Partie Schach zu spielen, wobei sich die beiden zu unserem größten
Ergötzen regelmäßig in die Haare gerieten. Um 8 Uhr wurden wir wieder
eingeschlossen bis 10 Uhr, zu welcher Zeit wir unseren Spaziermarsch im
Garten unternahmen. Um 12 Uhr wieder Einschließung bis 3 Uhr im Winter,
4 Uhr im Sommer, dann zweiter Spaziergang, von 5 beziehungsweise 6 Uhr
ab wieder Einschließung bis nächsten Morgen. Da wir das Recht hatten,
bis 10 Uhr abends Licht brennen zu dürfen, waren diese Stunden meine
Hauptarbeitszeit. Nach einigen Monaten erlangte ich, daß Liebknecht den
Vormittag von 8 bis 10 Uhr in meine Zelle mit eingeschlossen wurde, um
mir englischen und französischen Unterricht zu geben. Bei dieser
Gelegenheit wurden dann auch die Interna der Partei und die politischen
Vorgänge erörtert. Die Korrespondenz für mein Geschäft erledigte ich auf
Grund der Unterlagen, die mir täglich meine Frau sandte.

Liebknecht und ich waren passionierte Teetrinker. Tee konnten wir aber
nicht erhalten, und das Selbstkochen war der Feuersgefahr wegen
verboten. Aber Verbote sind da, um übertreten zu werden. Ich verschaffte
mir also heimlich eine Teemaschine und die nötigen Ingredienzien. Sobald
am Abend der Aufseher die Zelle abgeschlossen und sich entfernt hatte,
begann ich Tee zu brauen. Um aber auch Liebknecht den Genuß desselben zu
ermöglichen, hatte ich mir im Garten einen etwa zwei Meter langen Stock
zurechtgeschnitten. An dessen Ende befestigte ich eine Schnur, die mit
einem von mir geflochtenen Netz versehen war, in das ich das gefüllte
Glas stellen konnte. War der Tee fertig, klopfte ich Liebknecht, dessen
Zelle neben der meinen lag, damit er ans Fenster trete. Alsdann
streckte ich den Stock mit dem Teeglas zum Fenster hinaus, beschrieb mit
demselben einen Bogen nach Liebknechts Fenster, worauf dieser, sobald er
das Glas in Händen hatte, mit einem: „Ich hab's, danke!“ den Empfang
anzeigte. Aehnlich machten wir's mit dem Austausch der Zeitungen, die
jeder sobald als möglich lesen wollte. Wir hatten vor den Fenstern der
Zellen, längs der Eisenstäbe, eine Schnur ohne Ende angebracht. Wer mit
dem Lesen seiner Zeitung fertig war, befestigte diese mit einem Haken an
die Schnur, darauf klopfte er dem Nachbar, der alsdann ans Fenster trat
und das Zeitungspäckchen zu sich heranlotste.

Kaum hatte ich mich in meiner Zelle häuslich eingerichtet, als ich wie
ein Taschenmesser zusammenklappte. Die großen Anstrengungen und
Aufregungen der letzten Jahre hatten mir nicht zum Bewußtsein kommen
lassen, wie sehr meine Kräfte heruntergekommen waren. Jetzt, wo ich
gewaltsam zur Ruhe verwiesen worden war und die Spannung nachließ, brach
ich zusammen. Die Erschöpfung war so groß, daß ich wochenlang keine
ernste Arbeit vornehmen konnte. Aber absolute Ruhe und frische Luft
brachten mich allmählich wieder auf die Füße. Mein Hausarzt hatte recht,
als er meine Frau tröstete, ein Jahr Festung werde meiner Gesundheit
nützlich sein. Später stellte sich bei einer genauen ärztlichen
Untersuchung auch heraus, daß mein linker Lungenflügel stark tuberkulös
angegriffen war und eine Kaverne aufwies, die auf der Festung ausheilte.
Freunde, die das erfuhren, meinten lachend, da sei ich ja dem Staate
Dank schuldig, daß er mich auf die Festung geschickt. Ich antwortete:
Dank würde ich ihm schulden, hätte er mich zu meiner Gesundung zu
Festung verurteilen lassen. Ich hatte wieder einmal, wie so oft im
Leben, „Schwein“ gehabt. Was mein Verderben sein konnte, schlug zum
Guten aus.

Nachdem unabänderlich feststand, daß ich für einunddreißig Monate meine
Freiheit eingebüßt hatte, entschloß ich mich, diese Zeit mit aller Kraft
zu verwenden, um die Lücken meines Wissens einigermaßen auszufüllen.
Sobald ich also wieder arbeitsfähig war, stürzte ich mich mit aller
Energie in die Arbeit, das beste Mittel, über eine unangenehme Situation
hinwegzukommen. Ich studierte hauptsächlich Nationalökonomie und
Geschichte. Zum zweitenmal studierte ich Marx' „Kapital“, dessen erster
Band damals nur vorlag, Engels' „Lage der arbeitenden Klassen in
England“, Lassalles „System der erworbenen Rechte“, Stuart Mills
„Politische Oekonomie“, Dührings und Careys Werke, Lavelayes
„Ureigentum“, Lorenz Steins „Geschichte des französischen Sozialismus
und Kommunismus“, Platos „Staat“, Aristoteles' „Politik“, Machiavellis
„Der Fürst“, Thomas Morus' „Utopia“, v. Thünens „Der isolierte Staat“.
Von den Geschichtswerken, die ich las, fesselten mich besonders Buckles
„Geschichte der englischen Zivilisation“ und Wilhelm Zimmermanns
„Geschichte des Deutschen Bauernkriegs“. Letztere gab mir die Anregung,
eine populäre Abhandlung zu schreiben unter dem Titel „Der Deutsche
Bauernkrieg mit Berücksichtigung der hauptsächlichsten sozialen
Bewegungen des Mittelalters“. Das Buch erschien bei W. Bracke in
Braunschweig; später, unter dem Sozialistengesetz, wurde seine
Verbreitung verboten. Eine zweite Auflage, die eine Neubearbeitung
erforderte, gab ich wegen Zeitmangel nicht mehr heraus. Auch die
Naturwissenschaften vernachlässigte ich nicht. Ich las Darwins „Die
Entstehung der Arten“, Häckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte“, L.
Büchners „Kraft und Stoff“ und „Die Stellung des Menschen in der Natur“,
Liebigs „Chemische Briefe“ usw. Ebenso widmete ich dem Lesen der
Klassiker einen Teil meiner Zeit. Ich war von einer wahren Lern- und
Arbeitsgier befallen.

Ferner übersetzte ich während der Haft _„Etude sur le doctrines sociales
du Christianisme“_ von Ives Guyot und Sigismond Lacroix, eine
Uebersetzung, die unter dem Titel „Die wahre Gestalt des Christentums“
bis heute erscheint. Dazu verfaßte ich eine Gegenschrift unter dem Titel
„Glossen zu Ives Guyots und Sigismond Lacroix' Die wahre Gestalt des
Christentums, nebst einem Anhang über die gegenwärtige und zukünftige
Stellung der Frau“. Der letztere Aufsatz war, glaube ich, die erste
parteigenössische Abhandlung über die Stellung der Frau vom
sozialistischen Standpunkt aus. Die Anregung zu dieser Abhandlung hatte
mir das Studium der französischen sozialistischen und kommunistischen
Utopisten gegeben. Auch machte ich während dieser Haft die Vorstudien zu
meinem Buche „Die Frau“, das zuerst im Jahre 1879 unter dem Titel „Die
Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ erschien und trotz des
Verbreitungsverbots unter dem Sozialistengesetz acht Auflagen erlebte.
Im Jahre 1910 erschien die 50. und 51. Auflage.

Es war schön und nützlich, daß ich die Zeit meiner Gefangenschaft zu
meinem eigenen Besten verwenden konnte, nichtsdestoweniger atmete ich
auf und begrüßte den Tag, an dem ich meine Freiheit wieder erlangte. Da
aber jeder Gefangene, der seiner baldigen Befreiung entgegensieht, von
großer Unruhe und Ungeduld gepackt wird und Tage und Stunden zählt,
suchte ich dieselbe dadurch zu meistern, daß ich mir vornahm, noch ein
Pensum Arbeit zu erledigen, das nur unter äußerster Aufbietung der
Kräfte bewältigt werden konnte. Nach dieser Methode verfuhr ich auch bei
späteren Freiheitsentziehungen; ich fand sie probat.

Unsere Familien besuchten uns alle drei bis vier Wochen einmal.
Wir setzten schließlich durch, daß sie die Gültigkeit der
Rückfahrkarten — drei Tage — ausnutzen durften. Sie wohnten während der
Zeit im Dorfe. Jede der Frauen brachte ein Kind mit; Frau Liebknecht
ihren Aeltesten, der etwas jünger war als meine Tochter. Die Reise war
beschwerlich, namentlich in der ungünstigen Jahreszeit. Die Frauen und
Kinder mußten schon früh vor 7 Uhr von Hause fort; Geld für eine
Droschke auszugeben, hätte jede der Frauen als ein Verbrechen angesehen.
Von vormittags ½10 bis abends 7 Uhr durften sie in unserer Zelle
bleiben, auch den Spaziergang im Garten mitmachen. Das war für uns eine
große Erleichterung der Haft.

Ich hatte ein großes Bedürfnis zu körperlicher Arbeit. So kam ich auch
auf den Gedanken, wir sollten uns zu diesem Zweck im Garten einige Beete
anlegen. Unser Gesuch, uns dazu ein Stückchen Land zu überweisen, wurde
abgelehnt, wir könnten aber von dem mehrere Meter breiten Rain, der sich
längs der Gartenmauer hinziehe, in Betrieb nehmen, so viel wir wollten.
So geschah es. Mit dem nötigen Werkzeug ausgerüstet, gingen wir an die
Arbeit. Liebknecht, der damals seine Abhandlung über die Grund- und
Bodenfrage schrieb, betrachtete sich als agrarischen Sachverständigen.
Er versicherte, wir hätten an dem Rain einen vorzüglichen Humusboden zu
bearbeiten. Als wir aber die Spaten in den Boden stießen, antwortete ein
Mark und Bein durchdringendes Aechzen. Wir stießen bei jedem Spatenstich
auf Steine. Liebknecht machte bei diesem Resultat ein langes Gesicht,
wir lachten unbändig. Statt aus Humus bestand der Boden aus magerem
Lehm, den wir, wie unser Aufseher versicherte, düngen müßten, wenn wir
ernten wollten. Liebknecht und ich nahmen also einen großen Korb und
zogen nach einem Komposthaufen, der in einer Ecke des Gartens angelegt
war. Wer einen solchen Komposthaufen kennt, weiß, daß, wenn man ihn
ansticht, ihm Düfte entströmen, die alle Wohlgerüche Indiens und
Arabiens nicht überwinden können. Aber wir gingen mit wahrer
Todesverachtung ans Werk, und nachdem wir den Korb gefüllt, steckten wir
durch die Henkel zwei Stangen und trabten, Liebknecht vorn, ich hinten,
nach unserem Beet. Die im Garten arbeitenden Frauen lachten aus vollem
Halse, als sie unser Tun sahen. Ich habe damals und später öfter
geäußert: Mutete der Staat uns eine solche Arbeit zu, wir hätten sie mit
höchster Empörung zurückgewiesen. Das ist der Unterschied zwischen Zwang
und freiem Willen.

Wir hatten unser Beet mit Radieschensamen bestellt und warteten
sehnsüchtig auf die Ernte. Der Same ging prachtvoll auf, das Kraut schoß
mächtig in die Höhe, aber die ersehnten Radieschen zeigten sich nicht.
Jeden Vormittag, sobald wir unseren Spaziergang antraten, veranstalteten
wir ein Wettrennen nach dem Radieschenbeet, denn jeder wollte die ersten
Früchte ernten. Vergebens. Als wir nun eines Tages kopfschüttelnd um
unser Beet standen und tiefsinnige Betrachtungen über die
fehlgeschlagene Ernte anstellten, lachte unser Aufseher, der in einiger
Entfernung unserer Unterhaltung zugehört hatte, und sagte: „Warum Sie
keine Radieschen bekommen, meine Herren, das will ich Ihnen sagen, Sie
haben zu fett gedüngt.“ Tableau! So war also alle unsere Mühe vergeblich
gewesen.

       *       *       *       *       *

In den ersten Monaten des Jahres 1873 sollte wieder der Reichstag
zusammentreten, und so mußte die sächsische Regierung wohl oder übel
eine Neuwahl für den von mir innegehabten Wahlkreis anordnen. Der
Wahltag wurde auf den 20. Januar festgesetzt. Die ganze Partei
betrachtete es als eine Ehrensache, nicht bloß das Mandat für mich
wiederzuerobern, sondern auch mit höherer Stimmenzahl. Was an
agitatorischen Kräften zur Verfügung stand, eilte in den Wahlkreis.
Auer, Motteler, Vahlteich, Wilhelm Stolle, Walster, York usw.
gingen an die Arbeit. Als Gegenkandidat hatten die Gegner den
Bezirksgerichtsdirektor Petzoldt in Glauchau aufgestellt, ein wegen
seines leutseligen Wesens im Wahlkreis sehr beliebter Herr. Aber das
half ihnen nichts. Am Abend des Wahltags wurden für mich 10740, für
meinen Gegner 4240 Stimmen gezählt. Ich brauche nicht zu versichern, daß
dieses Wahlresultat im Wahlkreis wie in der ganzen Partei stürmischen
Jubel hervorrief. Das Resultat war eine klatschende Ohrfeige für den
Gerichtshof, der mir das Mandat aberkannt hatte. Ich hatte fast 4000
Stimmen mehr erhalten als am 3. März 1871. Und damit nicht genug. Einige
Tage nach der Wahl veröffentlichte mein besiegter Gegner in der Presse
des Wahlkreises seinen Dank an die Partei, die den Wahlkampf gegen ihn
in so anständiger Weise geführt habe.

Auer und York kamen nach der Wahl, nachdem sie zuvor meine Frau in
Leipzig besucht und sie beglückwünscht hatten, zu mir nach Hubertusburg,
um mir ebenfalls zu gratulieren. Es war ein fröhliches Wiedersehen.

Als dann die Session des Reichstags begann, machte ich den Versuch, von
der sächsischen Regierung für die Teilnahme an dessen Sitzungen Urlaub
zu erhalten. Wie ich vorausgesehen, ohne Erfolg. Nunmehr stellte
Schraps, unterstützt von einer Anzahl liberaler Abgeordneter, den
Antrag, mich für die Dauer der Session aus der Strafhaft zu entlassen.
Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Der Abgeordnete v.
Mallinckrodt erklärte, er bedauere, daß ich an den Sitzungen des
Reichstags nicht teilnehmen könne, aber der § 31 der Reichsverfassung
erstrecke die Immunität der Abgeordneten nicht auf die Strafhaft.

Ich bekenne, daß ich diesen Beschluß nicht bedauerte. Wäre ich
freigekommen, so mußte ich um die Urlaubszeit länger im Gefängnis
zubringen. Und da mich dieses Schicksal während drei bis vier Sessionen
getroffen haben würde, wäre statt im Frühjahr 1875 frühestens Sommer
1876 meine Haft zu Ende gewesen.

In einem konstitutionellen Staate sollte es eine selbstverständliche
Sache sein, daß ein Abgeordneter, der in Strafhaft sich befindet, bei
Beginn einer Session sofort aus der Haft entlassen wird, um seine
Pflichten als Abgeordneter erfüllen zu können. Davon will man in
Deutschland nichts wissen. Und doch ist für einen Abgeordneten, der wie
ich mehrere Jahre Strafhaft zu verbüßen hatte, die regelmäßige
Beurlaubung während einer Session keineswegs eine Annehmlichkeit, wie
irrtümlicherweise allgemein angenommen wird. Ich wenigstens würde sie
als eine _Verschärfung_ meiner Haft angesehen haben, weil sie vor allem
meine wirtschaftliche Existenz noch schwerer geschädigt haben würde.

Liebknecht und ich hatten selbstverständlich das Bedürfnis, wenigstens
mit den führenden Genossen draußen in möglichster Fühlung zu bleiben.
Das war allerdings nur in beschränktem Maße möglich. Konnten wir auch
öfter Briefe heimlich hinausbringen, die Gefahr bestand, daß durch eine
ungeschickte Antwort dieser Verkehr dem Anstaltsdirektor verraten wurde,
und das hätte für uns unangenehme Folgen gehabt. Es galt also,
vorsichtig zu sein. So schrieben wir nach Möglichkeit direkt, obgleich
diese Korrespondenz der amtlichen Kontrolle unterlag. Ab und zu nahm
dieselbe auch einen humoristischen Charakter an. Einen Brief, den ich
von Most als Antwort auf einen solchen von mir aus dem Zwickauer
Landesgefängnis erhielt, woselbst er wegen verschiedener Preß- und
Redevergehen über ein Jahr zu verbüßen hatte, bringe ich hier zum
Abdruck, weil er zugleich die Persönlichkeit Mosts am besten
charakterisiert. Most antwortete mir:

  Zwickau, den 21.4.73.

  Mein lieber Bebel!

  Aus Deinem Schreiben, das wie ein lichter Blitzstrahl aus düsterem
  Himmel in meine Einsiedelei fuhr, ersehe ich und freue mich darüber,
  daß es Euch ruchlosen Bösewichtern, die Ihr mittels Stahlfedern und
  Tintentöpfen den Staat in Gefahr gebracht hattet, ganz vortrefflich
  ergeht. — Ihr wollt nun auch wissen, wie es mit mir steht; glaub's
  gern, da ich mir denken kann, daß es Euch gerade so ergehen wird, wie
  es mir erging, ehe ich hier meinen Einzug hielt, daß Ihr nämlich bei
  dem Namen Zwickau stets an ein Zwicken denkt und ein „Au“schreien zu
  vernehmen wähnt. Ich muß gestehen, daß es mir trotz meiner zähen
  Katzennatur und meines Galgenhumors — ohne mich gerade einer
  Angstmichelei hinzugeben — nicht ganz so wohl war, wie den bekannten
  500 Säuen, wenn ich vor meiner Hieherkunft an dieselbe dachte, jetzt
  aber, wo ich da bin, hat die Sache ein ganz anderes
  Gesicht. — Natürlich solch ein Jagdschloßleben wie Ihr führe ich nicht,
  sondern eher ein Karthäusermönchsdasein, allein Langeweile habe ich
  desungeachtet auch nicht, da ich ja noch gar vieles nachzuholen habe
  und jetzt daher die Gelegenheit zu fleißigem Studieren benütze. Zur
  Zerstreuung dienen mir die Zeitungen, welche ich erhalte, und alle
  meine leiblichen Bedürfnisse befriedige ich _in gewohnheitsmäßiger
  Weise_ (Kost, Kleidung usw.). Ueberhaupt erdulde ich nur eine
  Freiheits-, nicht aber auch eine Leibesstrafe, wofür ich alles halte,
  was dem Gefangenen außer der Entziehung seiner Freiheit angetan wird.
  Bequemlichkeiten habe ich, von einem zu schriftlichen Arbeiten
  geeigneten Tische abgesehen, nicht. Nach einem eigenen Bette empfinde
  ich kein Bedürfnis, während ich aber mein eigenes Kopfkissen benütze.
  Die Zelle ist eben eine solche, wie sie Vahlteich schilderte (der
  ebenfalls längere Zeit im Landesgefängnis zu Zwickau war); andere gibt
  es hier nicht; man gewöhnt sich indes bald daran, zumal diese Zellen
  trotz des hochgelegenen Fensters sehr hell sind. Spazieren gehe ich
  pro Tag 2 Stunden in einem Raume, welcher ein Mittelding zwischen Hof
  und Garten ist, und zwar allein. Besuche macht mir niemand, weshalb
  ich natürlich auch keine annehmen kann. Dir wird es seinerzeit nicht
  verwehrt werden, daß Du mit Deinen Familiengliedern verkehrst. Ebenso
  wird man Dir so wenig wie mir den Bart abnehmen wollen. Licht brenne
  ich bis 10 Uhr. So, das wäre das Wesentlichste, was ich Dir von meiner
  Sozialistenklause aus berichten kann. Betreffs der Studien seid Ihr
  freilich schön heraus, da Ihr gleich Euren Professor bei Euch habt.
  Ich fühle es besonders bei Sprachstudien, wie sehr da ein Lehrer
  mangelt, zumal ja die Konversation ohne einen solchen gar nicht
  gepflogen werden kann. Apropos! Was für ein Lehrbuch benütztest Du
  fürs Französische? Mir hat Vahlteich auf meinen Wunsch nach einer
  französischen Grammatik einen ganz antiken, unbrauchbaren,
  unausstehlich-umständlichen und verkehrten Schunken (Hirzel)
  übermittelt, den ich schon manchmal vor Zorn am liebsten mitten
  entzwei gerissen hätte. — Was Du von Thiers schreibst, ist klar. Dieser
  Knirps ist der größte Intrigant Frankreichs, der lebendig gewordene
  Geldsack und zugleich die einzige Person, welche die Sache der
  Monarchie zu fördern verstand, freilich ohne Erfolg, allein der Plan
  war wenigstens nicht schlecht angelegt: den Status quo so lange wie
  möglich aufrecht zu erhalten und so schön langsam, gleichsam
  unmerklich die Republik erblassen und die Monarchie erscheinen zu
  lassen. Jeder andere Monarchist würde an seiner Stelle längst einen
  Staatsstreich gemacht haben und — dabei das Genick gebrochen, wie
  überhaupt der Monarchie den letzten Rest gegeben haben. In
  Spanien — ist man zu glauben versucht — haben die regierenden
  Tratschweiber vor lauter Schwätzen ihr bißchen Verstand verloren,
  sonst könnte es doch wahrhaftig nicht möglich sein, daß sie mit der
  Handvoll karlistischer Mordbrenner nicht fertig werden. Nun,
  hoffentlich wird da, wie in Frankreich, bald energisch
  ausgemistet. — Du staunst über die Fortschritte, die unsere Sache in
  der jüngsten Zeit gemacht hat; nun, die Ursachen sind zahlreich genug,
  um solche Wirkungen zu erzeugen. Ich sage Dir: nur 1000 Mann wie Du,
  oder selbst nur wie ich (ohne Selbstüberhebung) — und Europa, nicht
  bloß Deutschland, ist binnen 5 Jahren sozialistisch. Es erstehen zwar
  neue Kräfte genug, und wenn die Feigheit nicht so groß wäre, zeigte
  sich noch mancher, aber es sind viel zu wenig. Man sollte glauben, die
  meisten Menschen fallen bei der Geburt auf den Kopf oder gar auf den
  Mund, weil sie nicht imstande sind, den letzteren ordentlich
  aufzumachen. Und wir brauchen weiter nichts, als bloß Leute, die Mund
  und Herz am rechten Flecke haben. — Wenn ich mich schon in keinen
  großen Hoffnungen wiege, so freue ich mich immerhin gewaltig auf die
  nächste Wahlkampagne. Wenigstens wird agitatorisch gefletscht werden,
  daß die Funken sprühen. Die Situation ist für uns wie geschaffen.
  Fortschritts-Bankrott, Siegestaumel-Katzenjammer, Invalidenfrage,
  Wohnungsfrage, Schulfrage, Milliardenfrage, Friedensfrage,
  Gründerfrage, „Kulturkampf“-Angelegenheit, Fabrikantenbünde,
  Maßregelungen, Verfolgungen, Schubsereien usw. werden ihr Schärflein
  zu unsern Gunsten beitragen. Somit konserviere ich meine Lungenflügel
  und wetze meinen Schnabel, um dereinst mit wahrer Wollust, wenn die
  Wahlschlacht tobt, so manchen politischen Sumpfpiraten in den Grund
  bohren zu können. — In Sachsen freilich werde ich direkt nicht
  lospauken können, allein es gibt anderwärts auch viele Leute, denen
  man die Bretter loslösen muß, welche vor ihre Hirnkästen genagelt
  sind. Aus Sachsen wurde ich nämlich polizeilich ausgewiesen, wiewohl
  sich die höheren Instanzen noch nicht darüber ausgelassen haben, ob
  dieses Ding der gesetzlichen Unmöglichkeit auch durchgeführt werden
  soll, allein ich erwarte nichts Gutes, es ist mir aber auch ganz
  „schnuppe“, wie die Sache abläuft. Weniger „schnuppe“, ja geradezu
  unbegreiflich ist es mir, daß zu diesem Akt ...[1] der sanfte
  Julius[2] bisher nicht zu bewegen war, einen Kommentar zu liefern.
  Richtig, das Schönste hätte ich bald vergeben: im Falle ich trotz
  Ausweisung wieder in Sachsen mich zeigen sollte, wurde mir aktenmäßig
  bedeutet, _steckt man mich in ein Korrektionshaus!!_ — Und auch darüber
  wird geschwiegen. — Nun, wenn ich wieder frei bin, ist auch noch
  Gelegenheit zum — — —.

  Im allgemeinen befinde ich mich sehr wohl und bin bei ausgezeichnetem
  Humor. Jetzt lebe wohl, grüße alle Insassen des Sozialistenseminars
  und sei auch Du bestens gegrüßt von Deinem

  Joh. Most.

Einen anderen Charakter wie der Mostsche Brief hatte ein solcher von
Kokosky an uns. Dieser, der 1871 in Königsberg die „Demokratischen
Blätter“ herausgab, mußte diese bald eingehen lassen und trat Ende 1872
auf Einladung von Bracke in die Redaktion des „Braunschweiger
Volksfreund“. Kokosky hatte eine sehr humoristische Ader, wovon die
Kneipabende der damaligen Parteitage zu erzählen wissen. Auch er verfiel
dem Schicksal der Parteiredakteure jener Zeit. Es währte nicht lange,
und er hatte so und so viele Monate Haft auf dem Rücken. Diese verdarben
ihm aber nicht den Humor, wie folgender Brief zeigt:

  Braunschweig, den 14. Mai 1873

  Werte Freunde! Sie haben es gut; vorsorglich hat der väterliche Staat
  Sie in sein Gewahrsam genommen, damit Sie in beschaulicher Stille die
  Segnungen einer guten Regierung kennen lernen. Haben die drei Männer
  im feurigen Ofen Loblieder singen können, warum sollt Ihr es nicht,
  wenn es anders die Festungsordnung nicht verbietet, hinter den Mauern
  von Hubertusburg können?

  Auch mir hat eine gütige Vorsehung drei Monate Festungshaft gewährt,
  damit ich wenigstens für einige Zeit den Schreckruf nicht zu hören
  brauche: Herr Kokosky, es fehlt Manuskript! Schon der Gedanke hat
  etwas Beruhigendes, daß etwaige Briefe, die man empfängt, erst vorher
  die Zensur passieren müssen, so daß unangenehme und aufregende
  Mitteilungen fern gehalten werden. So enthalte ich mich auch aller
  revolutionären Mitteilungen, so gern ich Euch auch über den Stand der
  Rüstungen, über die äußerst gelungene Anfertigung der Handgranaten und
  Nitroglyzerinbomben, die wahrhaft Wunder verrichten, aufklären möchte.
  Nur das eine:

  Hamburg, 27. Mai. Petroleum fester; loco R.-M. 16,20-80, per Mai
  16,20, Aug.-Dez. 17 B., 16,90 G.

  Die Bourgeoisie fängt bereits an, Sie zu beneiden. Als neulich in
  einer Bourgeois-Gesellschaft auf die Sozialdemokraten losgezogen
  wurde, meinte ein für sehr fein, ja für oberfein gehaltener Börsier:
  „Bei den heutigen Börsennachrichten geht mir der Kopf so mit Grundeis,
  daß ich Bebel beneiden möchte, daß er ruhig kann sitzen in
  Hubertusburg und braucht sich nicht zu kümmern um die Schwankungen der
  Kurse. Man gebe so einem Sozialdemokraten so für 30000 Taler
  Wechslerbank zu 130 und lasse sie dann fallen auf 85, oder Louise
  Tiefbau mit 15 Prozent über Pari, und ich kann Ihnen sagen, sie sind
  gestraft genug.“ So, von dieser Seite müßt Ihr die Sache betrachten
  lernen, dann wird das gärende Drachengift sich wieder in die Milch der
  frommen Denkungsart verwandeln, mit welcher und mit den herzlichsten
  Grüßen — ich schließe, da der Brief zur Post gebracht werden soll — ich
  bleibe

  Euer treuer Freund und Parteigenosse

  S. Kokosky.

       *       *       *       *       *

Am 29. Oktober 1873 starb der König Johann von Sachsen, und sein Sohn
Albert trat an seine Stelle. Da in der Regel ein solcher Thronwechsel
mit einer Amnestie verbunden ist, hofften auch unsere Frauen auf eine
solche. Man konnte ihnen das nicht verargen, denn sie litten am
härtesten unter unserer Verurteilung und Haft, die wir als eine nicht zu
vermeidende Konsequenz unserer Tätigkeit ansahen. Sobald wir aber von
den erweckten Hoffnungen erfuhren, schrieben wir ihnen, sie möchten
sich nicht mit falschen Hoffnungen tragen. Eine Amnestie werde kommen,
aber nicht für uns. In dem Briefe an meine Frau bemerkte ich: der neue
König werde eher alle Zuchthäusler Sachsens begnadigen als uns. Die
Amnestie fiel sehr mäßig aus, von den zahlreichen gefangenen
Parteigenossen in den verschiedenen sächsischen Gefängnissen wurde nach
meiner Erinnerung nicht einer getroffen. Und das war gut so. Die
allgemeinen Reichstagswahlen, die Anfang 1874 stattfanden, weil damals
der Reichstag nur eine dreijährige Legislaturperiode hatte, zeigten eine
Stimmung, die durch Amnestien nicht hätte verdorben werden dürfen.

Mir kam der Gedanke, daß ich mich auch als Gefangener in sehr nützlicher
Weise an der Wahlagitation beteiligen könnte durch Abfassung einer
Broschüre über die bisherige Tätigkeit des Reichstags, die den
Kandidaten und Agitatoren der Partei das nötige Material liefere.
Gedacht, getan. Die Broschüre erschien rechtzeitig unter dem Titel: Die
parlamentarische Tätigkeit des Reichstags und der Landtage und die
Sozialdemokratie von 1871 bis 1873. Als Anhang hatte ich derselben
die wichtigsten Bestimmungen des Reichswahlgesetzes, der
Wahlgesetzverordnung, der einschlägigen Bestimmungen des
Reichsstrafgesetzbuchs, der Vereinsgesetze und Winke für die Agitation
angefügt. Die Broschüre, die anonym erscheinen mußte, wurde von der
Partei mit großer Genugtuung begrüßt. Zwei Jahrzehnte später machte mir
sogar der Abgeordnete Eugen Richter ein Kompliment darüber, als wir uns
eines Tages auf einer Reise nach Hamburg in einem Wagenabteil
begegneten. Wir hatten bis dahin, obgleich wir damals bereits über
fünfundzwanzig Jahre Kollegen im Reichstag gewesen waren, nie
miteinander eine Privatunterhaltung gepflogen. Diese kam jetzt in Fluß.
Im Laufe der Unterhaltung erzählte mir Richter, er habe in den siebziger
Jahren in einer thüringischen Stadt einen Vortrag in einer
Volksversammlung gehalten, wobei in der darauf stattgefundenen Debatte
ihm ein Parteigenosse von mir eine Reihe Sünden vorgehalten, die er zum
Teil längst vergessen gehabt habe. Da er bemerkte, daß der Redner die
Vorwürfe aus einer Broschüre zitierte, habe er einen seiner
Parteigenossen gebeten, sich an den Redner heranzuschlängeln, um
festzustellen, was für eine Broschüre es sei, aus der er zitiere. Er
habe alsdann sich dieselbe beschafft und aus dem Inhalt ersehen, daß die
der Broschüre zugrunde liegende Idee eine sehr gute sei. Darauf habe er
sich entschlossen, den Gedanken, wenn auch in anderer Form, ebenfalls
für seine Partei zur Durchführung zu bringen. So sei sein bekanntes
politisches Abcbuch entstanden. Ich war in diesem Augenblick ein wenig
stolz, meinem vielgerühmten politischen Gegner als Lehrmeister gegenüber
zusitzen. Später haben bekanntlich auch die anderen Parteien, unserem
Beispiel folgend, derartige politische Leitfäden herausgegeben.

Eine andere Wirkung meiner Broschüre war, daß ein Kaplan Hohoff aus
Hüffe in Westfalen sich veranlaßt sah, in mehreren Artikeln, die der
„Volksstaat“ veröffentlichte, gegen meine Auffassung des Christentums
und des Kulturkampfes zu polemisieren. Ich antwortete in einer Reihe
Artikel, die nachher als Broschüre unter dem Titel „Christentum und
Sozialismus“ erschienen sind und bis heute eine größere Zahl Auflagen
erlebten.

Die Wahlen waren auf den 10. Januar 1874 angesetzt worden. Das
Wahlresultat war für uns sehr befriedigend. Wir hatten auf den
ersten Hieb sechs Abgeordnete durchgebracht — Seib-Freiberg,
Liebknecht-Stollberg-Schneeberg, Most-Chemnitz,
Vahlteich-Mittweida-Burgstädt, Motteler-Crimmitschau-Zwickau und mich in
meinem alten Kreise Glauchau-Meerane. Im 13. Wahlkreis Leipzig-Land war
Johann Jacoby in Stichwahl gekommen. Der Allgemeine Deutsche
Arbeiterverein hatte zwei seiner Kandidaten durchgebracht. Hasenclever
in Altona und Reimer im schleswig-holsteinschen Wahlkreis Seegeberg.
Hasselmann kam in Barmen-Elberfeld zur Stichwahl und siegte. Auch Johann
Jacoby siegte mit 7577 gegen 6674 Stimmen, aber zur allgemeinen und
unangenehmen Ueberraschung der Partei lehnte er das Mandat ab. Es war
richtig, er hatte bei der Befragung, ob er eine Kandidatur annehme,
nicht auch die Zusage gemacht, daß er eine Wahl annehmen werde. Er hatte
in seinem Briefe ausgeführt: Den Parteigenossen sei seine Ansicht über
das preußisch-deutsche Kaisertum bekannt; sie möchten hiernach
ermessen, wie wenig Verlangen er trage, an den unersprießlichen
Reichstagsverhandlungen sich zu beteiligen. Sollte — aus taktischen
Gründen — die Partei für gut befinden, ihn als Kandidaten aufzustellen,
so habe er nichts dagegen, er müsse jedoch im voraus bemerken, daß
er — im Falle der Wahl — die freie Entscheidung über Annahme oder
Ablehnung des Mandats sich vorbehalte. In dem Ablehnungsbrief bemerkte
er, er habe seine Kandidatur nur als Protestkandidatur aufgefaßt, denn
wie er über die neue Ordnung der Dinge in Deutschland denke, habe er
schon am 6. Mai 1867 im preußischen Abgeordnetenhaus ausgesprochen. Er
glaube nicht daran, daß man auf parlamentarischem Wege einen
Militärstaat in einen Volksstaat verwandeln könne.

Der Fehler lag beim Wahlkomitee, das auf seinen ersten Brief keine klipp
und klare Antwort verlangte. Die Aufregung über den Schritt Jacobys
wurde in der Partei noch größer, als bei der Nachwahl unser Kandidat
Wilhelm Bracke mit 5676 gegen nahe an 8000 Stimmen, die auf den Gegner
fielen, unterlag. Ich selbst war über den Vorgang so aufgebracht, daß
ich einen heftigen Brief an Dr. Guido Weiß, den Freund Jacobys, schrieb,
worin ich die Ablehnung der Wahl tadelte.

Die beiden Fraktionen der Sozialdemokratie waren also nunmehr durch 9
Abgeordnete im Reichstag vertreten. Die Stimmenzahl, die auf ihre
Kandidaten fiel, betrug 351670, davon kamen auf die Kandidaten des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 180319, auf die Kandidaten der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 171351. Beide Fraktionen musterten
also eine fast gleich starke Anhängerzahl; die Gesamtstimmenzahl war
gegen 1871 um 200 Prozent, im ganzen um 236000 Stimmen gestiegen.

Dieser glänzende Wahlausfall hatte in den höheren Regionen wie in den
bürgerlichen Kreisen stark verschnupft. Ein solches Resultat hatte man
nicht erwartet. Es zeigte sich, daß allen Verfolgungen und Schikanen zum
Trotz die Partei ständig wuchs, und so verdichteten sich die schon
vorhandenen Gedanken in den maßgebenden Kreisen mehr und mehr, der
Partei mit Ausnahmemaßregeln auf den Leib zu rücken.

       *       *       *       *       *

Das tägliche Einerlei unserer Haft wurde Ende Februar 1874 durch einen
Besuch von Gustav Rasch in amüsanter Weise unterbrochen. Rasch war ein
wenig Sensationsschriftsteller, er liebte es, in seinen Arbeiten die
Farben etwas dick aufzutragen. Er hatte sich dadurch einen Namen
gemacht, daß er Ende der fünfziger und in der ersten Hälfte der
sechziger Jahre in der „Gartenlaube“ und mehreren großen liberalen
Zeitungen zahlreiche Artikel veröffentlichte über die Schandwirtschaft
der Oesterreicher in Venetien und die „Tyrannenherrschaft“ der Dänen in
Schleswig-Holstein, die großes Aufsehen erregten. Liebknecht und ich
hatten ihn in Berlin kennen gelernt. Jetzt kam er hauptsächlich wohl zu
einem Besuch, weil er hoffte, Material für einen Artikel zu erhalten.
Solche Besuche fanden auf dem Bureau in Gegenwart eines Beamten statt
und sollten nicht über eine Stunde währen. Das paßte aber Rasch nicht.
Er verlangte vom Direktor, mit uns unter vier Augen sprechen zu dürfen,
auch wünschte er unsere Zellen zu sehen. Der Direktor lehnte dieses
Ansinnen mit den Worten ab: Er (Rasch) solle sich doch in seine Lage
denken, um einzusehen, daß das nicht gehe; wäre er (Rasch) Direktor,
könnte er auch nicht anders handeln, worauf Rasch mit seiner göttlichen
Unverfrorenheit antwortete: O, wenn er Direktor wäre, er erlaubte es
sicher! Eine Antwort, die uns alle zu schallendem Gelächter veranlaßte.


FUSSNOTEN:

[1] Die Stelle wurde durch den Kontrollbeamten gestrichen.

[2] Vahlteich. Most beschuldigte Vahlteich, daß er seine Kandidatur für
den Reichstag unmöglich zu machen suche und die Veröffentlichung
verschiedener Mitteilungen für die „Chemnitzer Freie Presse“
unterdrückte.



Königstein.


Im Laufe des März wurde uns offiziell mitgeteilt, wir würden am 1. April
nach der Festung Königstein überführt werden. Die Nachricht war uns
nicht angenehm. Liebknechts Haft ging Mitte April, die meine Mitte Mai
zu Ende und da kam uns ein Umzug mit unseren Büchern und Skripturen und
verschiedenen Möbelstücken sehr ungelegen. Im letzten Moment wurde aber
die Uebersiedlung verschoben, und so konnte Liebknecht am 15. April von
Hubertusburg nach Leipzig reisen. Ich aber mußte am 23. April 1874 die
Reise nach dem Königstein in Begleitung eines Beamten in Zivil
unternehmen. Als ich mich am Tage vor der Abreise vom Direktor
verabschiedete und ihm für sein Entgegenkommen in so mancher
Angelegenheit dankte, war er sehr gerührt. Er drückte mir zum Abschied
warm die Hand und entließ mich mit den Worten: Gehen Sie mit Gott! Der
beste Wunsch, den er von seinem Standpunkt aus wohl glaubte mir mitgeben
zu können. Als ich dann am nächsten Morgen 5 Uhr die Reise antrat, war
auch die ganze Familie des Aufsehers versammelt, um sich von mir zu
verabschieden. Dieser wurde nunmehr nach dem Waldheimer Zuchthaus
versetzt; ich glaube, die Zeit, in der er uns unter seiner Obhut hatte,
war die schönste seines Lebens. Er starb bald nachher.

Der 23. April war ein herrlicher Tag, das ganze Elbtal grünte und blühte
in voller Frühlingspracht. Beim Aufstieg auf die Festung begegneten wir
dem Gouverneur der Festung, Generalleutnant v. Leonhardti, dem ich durch
meinen Begleiter vorgestellt wurde. Während wir nun selbander den Weg
nach oben zurücklegten, ließ sich der General in eine Unterhaltung mit
mir ein. Er wünschte zu wissen, wie die Tagesordnung und die Behandlung
in Hubertusburg gewesen sei. Nachdem ich ihm die gewünschte Auskunft
gegeben, meinte er: Na, schlechter sollen Sie es bei mir nicht haben.

Als Aufenthalt wurde mir ein altes, nach früheren Begriffen bombenfestes
Gebäude angewiesen, das vordem Zeughaus war. Auf dem Korridor standen
zur Stütze des Daches Balken von einer Dicke, wie man sie nur noch auf
den Böden alter Kirchendächer sieht. Die Stube war geräumig und hatte
zwei schießschartenartige Fenster, die mit dicken Eisenstäben versehen
waren, als gelte es, Mörder und Mordbrenner in Gewahrsam zu halten. An
der einen Wand stand ein riesiger Kachelofen, in dem die fünf Pfund
Kohlen, die mir als tägliches Deputat der Staat gewährte — denn es war
trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit und dem prächtigen Frühlingswetter
in dem Raum bitter kalt —, verschwanden. Ich mußte mir auf eigene Kosten
noch Feuerungsmaterial beschaffen, wollte ich nicht frieren. Hätten wir
unsere ganze Haft dort oben verbringen müssen, wir hätten ein kleines
Vermögen für Feuerungsmaterial zugesetzt.

Eine interessante Persönlichkeit war mein Wärter. Dieser, ein
siebzigjähriger Mann, leistete schon seit 36 Jahren auf der Festung
Dienst und hatte 1849 zwei Mitglieder der provisorischen Regierung
Sachsens, Tod und Heubner, ferner August Röckel und einen der Leiter des
Dresdener Maiaufstandes, Michael Bakunin, den später nach den einen
berühmt, nach den anderen berüchtigt gewordenen Führer der Anarchisten,
in seiner Obhut. Die Genannten befanden sich auf der Festung in
Untersuchungshaft.

Sehr beschränkt war der Raum für meinen Spaziergang, der sich auf einen
einzigen kurzen Weg in dem kleinen Park der Festung erstreckte und bei
dem regelmäßig ein Posten Wache stand, um die zahlreichen Besucher des
Königsteins mir fern zu halten. Das einzig Zufriedenstellende war die
Kost, die ich aus einer kleinen Wirtschaft auf der Festung bezog. Der
Wirt schien mich in sein Herz geschlossen zu haben; das Essen war nicht
nur sehr gut und billig, sondern auch sehr reichlich. Ich war
verwundert, als ich am ersten Tage die für mich bestimmte Portion sah,
war aber höchlich überrascht, als ich sie ganz verzehrte. Die Höhenluft
tat ihre Wirkung. Die Soldaten der kleinen Besatzung klagten, daß sie
hier oben nie satt würden und froh seien, wenn sie abgelöst würden, was
alle drei Monate geschah.

Endlich kam der 14. Mai, der Tag der vorläufigen Befreiung. Unter denen,
die mich zu Hause begrüßten, befand sich auch Eduard Bernstein, der
extra zu diesem Zweck von Berlin nach Leipzig gekommen war. Ich hatte
Bernstein bereits 1871 in Berlin kennen gelernt. Durch Vermittlung
meines Rechtsanwalts Otto Freytag hatte sich das Ministerium
herbeigelassen, mir bis zum Antritt der neunmonatigen Haft im
Landesgefängnis in Zwickau eine sechswöchige Frist zu gewähren. Da in
diese Pause Pfingsten fiel, machte ich mit meiner Frau und Tochter und
einigen Freunden einen Ausflug nach der sächsischen Schweiz und dem
Königstein. Hier machte es mir großes Vergnügen, daß die Zelle, in der
ich drei Wochen kampiert hatte, mittlerweile zu den Sehenswürdigkeiten
der Festung avanciert war. Der Fremdenführer machte auf die Fenster der
Zelle, die mich damals beherbergte, aufmerksam. Später ist ihm das
verboten worden. Für die Dresdener Parteigenossen hieß der Königstein
längere Zeit scherzweise die Bebelburg.



Zwickau.


Nachdem ich vor meinem Haftantritt dem Direktor des Landesgefängnisses
einen Besuch abgestattet, um zu erfahren, welche Erleichterungen er mir
als politischer Gefangener während der Haft gewähren wollte, rückte ich
am 1. Juli 1874 dort ein. Die Einrichtungen des Gefängnisses und die
Erleichterungen, die den meisten politischen Gefangenen gewährt wurden,
sind bereits in dem Mostschen Brief an mich erwähnt. Ich kann hier
darauf Bezug nehmen. Den Besuch der Familie sollte ich monatlich einmal
auf eine Stunde unter Aufsicht eines Beamten genießen können. Nachdem
meine Frau einen solchen im dritten Monat meiner Haft gemacht hatte,
verzichteten wir beiderseitig darauf, den Besuch zu erneuern. Zu den
Kosten der Reise auch noch die Beamtenkontrolle über jedes Wort, das man
miteinander sprach, in den Kauf nehmen zu sollen, das war ein zu großes
Opfer. Anderweite Besuche empfing ich auch nur vereinzelt, ich sehnte
mich nicht danach.

Ich stürzte mich nunmehr wieder mit allem Eifer in die Arbeit. Sehr
aufregend wirkte auf mich, als von meiner Frau Berichte einliefen über
den schweren Stand, den wir geschäftlich hatten, denn mittlerweile war
die große Industriekrise mit aller Wucht hereingebrochen und machte sich
obendrein für uns die ruinöse Konkurrenz eines neu errichteten
Fabrikbetriebs geltend. Wer eine solche Situation nie durchgemacht hat,
ahnt nicht, wie niederdrückend das Bewußtsein vollständiger
Hilflosigkeit auf den Gefangenen wirkt. Meine Hauptgefängnisarbeit war
die schon erwähnte Geschichte des deutschen Bauernkriegs — die längst
vergriffen ist —, die aber schon aus dem Grunde kein Meisterwerk werden
konnte, weil mir die nötigen Hilfsmittel fehlten. Ich schrieb das Buch,
weil mir der große deutsche Bauernkrieg von 1525 und die ihm unmittelbar
vorhergehenden revolutionären Bauernaufstände mit das wichtigste
Ereignis der neueren deutschen Geschichte zu sein dünkt, das die
offizielle Geschichtschreibung zu schildern schmählich vernachlässigte.

Am 1. Januar 1875 erhielt ich durch Motteler eine Depesche, daß am
Vorabend York gestorben sei. York war ein knorriger und eigenwilliger
Charakter, aber auch ein Mann von unermüdlicher Tätigkeit und höchster
Opferwilligkeit. Dabei war er äußerst bescheiden. Er begnügte sich in
den ersten Jahren als Parteisekretär mit einem Gehalt, das ihm nicht
einmal erlaubte, wie er mir mal schrieb, sich eine neue Hose
anzuschaffen. Er starb arm wie eine Kirchenmaus, die Partei dankte ihm
dadurch, daß sie die Sorge für seine Frau und Kinder übernahm. An Yorks
Stelle war schon den Herbst zuvor Auer als Parteisekretär eingetreten.

Endlich waren auch die neun Monate Zwickau überstanden. Am 1. April
1875 — dem 60. Geburtstag Bismarcks — wurde ich entlassen. Der Abschied
zwischen dem Direktor und mir war auch hier ein warmer. Ich habe
allezeit den Grundsatz befolgt, sich in Unvermeidliches, das man nicht
zu ändern vermag, nach Möglichkeit zu fügen und den Dingen die beste
Seite abzugewinnen. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, bin ich, ohne
mir dabei das geringste zu vergeben, den Gefängnisbeamten bei Ausübung
ihres schweren Amtes möglichst entgegengekommen, indem ich mich in die
vorgeschriebene Ordnung fügte. Dafür waren sie stets dankbar. In den
größeren Gefängnissen haben es die Beamten mit so viel sozial
bedenklichen und verkommenen Elementen zu tun — den traurigen Produkten
unserer famosen sozialen Ordnung —, daß ihr Dienst einer der schwersten
ist, den es gibt; sie sind glücklich, wenn sie Leute unter ihre Obhut
bekommen, mit denen sie menschlich verkehren können.

Die Zwickauer Genossen hatten sich am Tage meiner Entlassung zu einer
Ovation vereinigt; sie überreichten mir und meiner Frau ein paar feine,
mit einer Widmung versehene Kaffeetassen. Wir sollten das sächsische
Nationalgetränk künftig noch recht lange in voller Ruhe und Muße und
ungetrennt genießen. Der Wunsch war gut gemeint, aber in Erfüllung ging
er nicht.

Unter den zahlreichen Gratulanten, die mir ihre Glückwünsche zu meiner
Befreiung übermittelten, befand sich auch die damals noch demokratische
„Frankfurter Zeitung“, die unter anderem mit Hinweis auf Bismarcks
Geburtstag schrieb:

  „... Unser Glückwunsch sucht an einem anderen Orte einen anderen Mann.
  Er gilt dem schlichten Bürger und Arbeiter, der morgen nach fast
  ununterbrochener dreijähriger Haft das Gefängnis verläßt mit demselben
  fleckenlosen Rufe, mit dem er es nach einem Richterspruch, über den,
  soweit es von der Mitwelt noch nicht geschehen ist, die Nachwelt
  richten wird, betreten hat, geliebt von seinen Parteigenossen,
  gefürchtet und geachtet von seinen Gegnern. Wir zählen nicht zu diesen
  noch zu jenen, aber wir schätzen, wo wir sie finden,
  Ueberzeugungstreue und ehrliches, uneigennütziges Streben, und es
  erfüllt uns die stärkste Sympathie für jeden, der um ihrer willen
  leiden muß.... Gruß und Glückwunsch darum dem Reichstagsabgeordneten
  August Bebel.“

Einige Monate zuvor hatte mir der Hauptbesitzer der „Frankfurter
Zeitung“, Leopold Sonnemann, zwanzig Flaschen Wein ins Gefängnis
geschickt; ich ließ sie nach Hause wandern, da im Gefängnis solche
Genüsse nicht gestattet werden. Ich trank sie nachher in Gemeinschaft
mit meiner Frau und Freunden. Zu meiner Freilassung am 1. April sandte
mir dann Sonnemann noch einen brieflichen Glückwunsch, worin er
bemerkte: „Ich hoffe, daß nunmehr Dein Martyrium auf längere Zeit ein
Ende hat.“ Wir duzten uns seit 1866.

       *       *       *       *       *

Kurze Zeit nach meiner Entladung aus Zwickau erhielt ich einen Brief von
Professor Schäffle aus Stuttgart. Schäffle hatte nach seinem Rücktritt
aus dem Ministerium Hohenwart in Wien sich nach Stuttgart zurückgezogen,
woselbst er seinen Studien lebte. 1874 war von ihm eine Broschüre,
betitelt „Die Quintessenz des Sozialismus“, erschienen, die durch die
objektive Beurteilung, die er darin dem Sozialismus zuteil werden ließ,
großes Aufsehen machte. Jetzt sandte er mir den ersten Band seines
dreibändigen Werkes „Bau und Leben des sozialen Körpers“ nebst einem
Brief mit folgendem Inhalt:

Er wisse nicht, ob ich mich seiner noch vom Zollparlament her erinnere.
Gesehen hätten wir uns seitdem nicht mehr, aber wohl öfter voneinander
gehört. Gingen wir auch in vielem in unseren Lebensauffassungen
auseinander, so sei doch wohl das Interesse an den sozialen Fragen bei
uns gleich stark geblieben. Er sei daher so frei, mir ein Exemplar
seines neuen Buches, in dem mich wohl manche Ausführung interessieren
dürfte, zu übersenden. Es würde ihn freuen, wenn ich das Buch, das ihm
viel Gedankenarbeit verursacht habe, als ein Zeichen der Erinnerung
entgegennehmen wolle.

Ich antwortete entsprechend und dankte ihm nachträglich noch besonders
dafür, daß er bei seinem Eintritt ins Ministerium Hohenwart die Amnestie
für die verurteilten „Hochverräter“ Scheu, Most, Oberwinder usw. erlangt
habe.

Im Sommer 1877 besuchte mich Schäffle in Leipzig. Wir unterhielten uns
längere Zeit. Hauptthema unserer Unterhaltung bildete die Entwicklung
der sozialdemokratischen Partei und der Zeitpunkt, wann der Sozialismus
zum Siege kommen werde. Ich als Optimist sah diesen Zeitpunkt sehr nahe,
er dagegen meinte, das werde mindestens noch zweihundert Jahre dauern.
Darüber stritten wir uns. 1880 machte ich ihm einen Gegenbesuch in
Stuttgart, wo wir ebenfalls wieder eine längere Unterhaltung hatten, die
zeigte, daß er uns nach wie vor freundlich gegenüberstand. In den
nächsten Jahren vollzog sich aber bei ihm eine vollständige Wandlung.
Nachdem Bismarck die soziale Versicherungsgesetzgebung inaugurierte, von
der, wie er meinte, seine Geheimräte zu wenig verständen, wurde seine
Aufmerksamkeit auf Schäffle gelenkt. Schäffle war geneigt, eine Stellung
im deutschen Reichsdienst anzunehmen. Damit aber keinerlei ungünstiges
Vorurteil gegen ihn bestehen bleibe, verfaßte er jetzt eine Schrift,
betitelt „Die Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie“, die das
Gegenteil von seinen früheren Auffassungen bekundete. Hermann Bahr, der
in seinen jungen Jahren ebenfalls sozialistische Hosen trug wie so viele
unserer Intellektuellen, verfaßte darauf eine Broschüre, betitelt „Die
Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle“, in der er in geschickter und
humoristischer Weise Schäffle und seine Schrift verspottete. Meine
Beziehungen zu Schäffle hörten mit dem Jahre achtzig auf. Bekanntlich
erfüllte sich seine Hoffnung, in den Reichsdienst gezogen zu werden,
nicht.



Von 1871 bis zum Vereinigungskongreß zu Gotha.



Die Regierungen und die Sozialdemokratie.


Die Pariser Kommune hatte in den regierenden Kreisen große Besorgnisse
vor der sozialistischen Bewegung hervorgerufen. Die Sympathien, die die
Kommune in allen Ländern mit sozialistischer Bewegung bei den Arbeitern
fand, wurden auf das unangenehmste vermerkt und steigerten das
Mißbehagen. Dazu kamen die übertriebenen, um nicht zu sagen lächerlichen
Vorstellungen, die sich Bourgeoisie und Regierungen von der Macht der
Internationale machten. So sollte zum Beispiel die Internationale der
Pariser Kommune zwei Millionen Franken, viele tausend Gewehre, Munition
usw. geliefert haben, obgleich der Kommune sowohl die Mittel der Bank
von Frankreich zur Verfügung standen wie die Arsenale von Paris mit
ihren Munitions- und Waffenvorräten. Ueberdies war die allgemeine
Volksbewaffnung bereits seit Beginn September, seit der drohenden
Einschließung von Paris durch die Deutschen, also noch unter der
bürgerlichen Regierung, durchgeführt worden. In Deutschland wurden
ebenfalls zahlreiche Stimmen laut, die ein scharfes Vorgehen gegen die
sozialistische Bewegung forderten, ein Verlangen, dem Polizei,
Staatsanwälte und Gerichte bereitwillig entgegenkamen. In dieser
Situation benahm sich Garibaldi sehr anständig, der in einem Briefe an
den Redakteur der „Romagnole“ — Caprera, August 1871 — schrieb: Die
Internationale vertrete einen zahlreichen Teil der Gesellschaft, welcher
um weniger Privilegierter willen leide. Folglich müßten sie für die
Internationale sein, und wenn in ihren Einrichtungen Fehler seien, müßte
man sie verbessern.

Obgleich um diese Zeit die sozialistische Bewegung in Oesterreich von
geringer Bedeutung war und das Ministerium Hohenwart-Schäffle nicht die
geringste Neigung zu Verfolgungsmaßregeln zeigte, folgte dennoch der
Reichskanzler Graf v. Beust einer Einladung Bismarcks zu einer Konferenz
der beiden Kaiser und ihrer Kanzler in Gastein, um dort über Maßregeln
gegen die Internationale zu beraten. Schäffle hatte von dieser Konferenz
abgeraten, aber er und Beust standen auf gespanntem Fuße, auch mochte es
Beust darum zu tun sein, mit seinem langjährigen intimen Feinde einmal
zusammenzukommen, wohingegen Bismarck von einer Zusammenkunft mit seinem
Gegner von 1866 eine Annäherung erhoffte für seine spätere äußere
Politik. Soweit bekannt wurde, kam man bezüglich der Internationale
überein, zunächst die soziale Lage zu „studieren“.

Dagegen sah sich Anfang Februar 1872 die _spanische_ Regierung
veranlaßt — Spanien hatte mittlerweile in der Person des Prinzen Amadeo
von Italien einen König erhalten —, in einer Zirkulardepesche an die
Mächte einen Notschrei über die Internationale auszustoßen, die mit
ihren Bestrebungen allen Ueberlieferungen der Menschheit ins Gesicht
schlage, Gott aus dem Geiste auslösche, Familie und Erbnachfolge aus dem
Leben streiche und durch ihre furchtbare Organisation eine Gefahr bilde,
deren Größe nicht überschätzt werden könne. Die spanische Regierung
wünsche deshalb, daß eine der Großmächte die Angelegenheit gegen die
Internationale in die Hand nehme. Mit diesem Verlangen kam sie bei der
englischen Regierung übel an. Der Leiter der englischen auswärtigen
Politik, Lord Granville, antwortete ihr in einer Note, die ihr jedes
weitere Vorgehen verleidete. Er erklärte: obgleich die Internationale
ein Mittelpunkt für die Verbindung von Arbeitern und Gewerkschaften in
den verschiedenen Teilen der Welt geworden sei, beschränke sie sich in
Großbritannien darauf, hauptsächlich Ratschläge in Sachen von
Arbeitseinstellungen zu geben. _Auch habe sie sehr wenig Geld_. Nach den
bestehenden Gesetzen Großbritanniens hätten alle Ausländer das
unumschränkte Recht, dieses Land zu betreten und sich hier aufzuhalten,
und während sie in diesem Lande seien, _ständen sie im gleichen Grade
wie die britischen Untertanen unter dem Schutz der Gesetze. Auch könnten
sie nicht anders bestraft werden als für einen Verstoß gegen das Gesetz
und kraft des Urteilsspruchs der ordentlichen Gerichtstribunale nach
einer öffentlichen Prozedur und nach einem Erkenntnis, das sich auf die
in offenem Gerichtsverfahren beigebrachten Beweise stütze._ Kein
Ausländer könne als solcher des Landes verwiesen werden, mit Ausnahme
derer, die auf Verträge mit anderen Staaten hin behufs wechselseitiger
Auslieferung von Kriminalverbrechern weggeschafft würden. Schließlich
äußerte Granville, es liege bis jetzt kein Grund vor, Aenderungen der
bestehenden Gesetzgebung über den Aufenthalt von Ausländern in
Großbritannien vorzunehmen.

Durch diese Haltung der englischen Regierung war jede Möglichkeit zu
internationalen Vereinbarungen gegen die Internationale ausgeschlossen.
Endlich zeigte auch der Ausgang des Kongresses der Internationale im
Haag im September 1872, der mit einer Spaltung zwischen Sozialisten und
Anarchisten — dort Marx, hier Bakunin — endete, auch der ängstlichsten
Regierung, daß vorläufig die befürchteten Gefahren nicht eintreten
würden. Und indem die Internationale den Sitz des Generalrats von London
nach Newyork verlegte, war der Beweis geliefert, daß sie selbst ihre
Reorganisation für eine Notwendigkeit hielt.

War so die Aussicht auf eine internationale Verfolgung der Sozialisten
geschwunden, so hielt Bismarck um so nachdrücklicher an der Verfolgung
der Arbeiterbewegung durch Ausnahmemaßregeln in Deutschland fest. Dieses
zeigte seine Rede, die er Ende April 1873 im Herrenhaus hielt, worin er
die Notwendigkeit scharfer Gesetze gegen die Partei der
Internationale — wie er uns nannte — für ebenso notwendig erklärte wie
gegen die Partei der weltlichen Priesterherrschaft, das Zentrum.

Dieser Ankündigung folgte die Tat auf dem Fuße. Anfang Juni 1873 ließ er
dem Reichstag einen Preßgesetzentwurf zugehen, in dem der § 20 also
lautete: Wer in einer Druckschrift die Familie, das Eigentum, die
allgemeine Wehrpflicht oder sonstige Grundlagen der staatlichen Ordnung
in einer die Sittlichkeit, den Rechtssinn oder die Vaterlandsliebe
_untergrabenden_ Weise angreift, oder Handlungen, welche das Gesetz als
strafbar bezeichnet, als nachahmungswert, verdienstlich oder
pflichtmäßig darstellt, oder Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft
in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise erörtert, wird mit
Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft. Wer die im §
166 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich (Vergehen wider die
Religion) vorgesehenen Handlungen mittels der Presse verübt, wird mit
Gefängnis nicht unter drei Monaten _bis vier Jahren_ bestraft. Nach § 21
sollte der verantwortliche Redakteur einer periodischen Druckschrift mit
der Strafe des Täters belegt werden.

Diese diabolischen Bestimmungen, die eine Aenderung des Strafgesetzes in
wichtigen Materien enthielten, die jede wissenschaftliche Erörterung der
mit Strafe bedrohten Fragen unmöglich machten und außerdem gegen alle
Parteien Anwendung finden konnten, waren denn doch nebst anderen
Bestimmungen der Mehrheit des Reichstags zu bedenklich. Der Entwurf
fiel.

Mit seinem Preßgesetzentwurf hatte aber Bismarck nicht genug. Er
beantragte in derselben Session auch eine Abänderung und Verschärfung
des § 153 der Gewerbeordnung, wonach unter Umständen statt der
bisherigen Maximalstrafe von drei Monaten Gefängnis eine solche bis zu
sechs Monaten, eventuell bis zu einem Jahre erkannt werden konnte.
Ferner schlug er eine Aenderung des § 108 der Gewerbeordnung vor, wonach
die Streitigkeiten zwischen Unternehmern und den von ihnen beschäftigten
Arbeitern durch Gewerbegerichte entschieden werden sollten, deren
Vorsitzender von der obersten Justizaufsichtsbehörde des betreffenden
Bundesstaats, deren Beisitzer durch die _Gemeindevertretungen_ gewählt
werden sollten. Wegen Schluß der Session blieben die Gesetzentwürfe
unerledigt.

Im folgenden Jahre folgte der Entwurf eines Kontraktbruchgesetzes und
ein neuer Preßgesetzentwurf, und in der Session von 1875/76 ein Entwurf
für die Abänderung des Strafgesetzbuches, und endlich nach den
Attentaten des Frühjahres 1878 das Ausnahmegesetz gegen die
Sozialdemokratie. Da vom Jahre 1874 ab die Sozialdemokratie wieder durch
ihre Vertreter im Reichstag zum Worte kam, komme ich noch auf die
Behandlung dieser Vorlagen ausführlicher zu sprechen.



Die Einigungsfrage vor den beiden Fraktionen.


Der Charakter, den die Verfolgungen seit 1872 gegen beide Fraktionen der
Sozialdemokratie annahmen, hätte bei ihnen das Bedürfnis nach festem
Zusammenhalten und nach Vereinigung hervorrufen sollen. Davon war aber
vorläufig wenig zu merken. In den Jahren 1872 und 1873 waren sogar die
gegenseitigen Angriffe in der Presse der beiden Fraktionen heftiger als
je zuvor, und der Ton in der Presse übertrug sich auf die Versammlungen.
Da um jene Zeit _Auer_ neben York unser eifrigster und sehr wirksamer
Agitator war, bekamen sie die Folgen dieser Kampfmethode besonders zu
genießen, _Auer_ noch speziell in seiner Agitation in Berlin, worüber
sich beide öfter in Briefen, die sie an mich nach Hubertusburg
richteten, beschwerten. Auer sprach nur noch von den Schülern Tölckes
und von Tölckianern. Aus diesen Vorgängen erklärt sich der bittere Ton,
den Auer einige Male auf den Parteikongressen anschlug, sobald die
Einigungsfrage zur Erörterung kam, und sein Verhalten auf dem
Einigungskongreß in Gotha. Das schloß aber nicht aus, daß er ehrlich die
Vereinigung wollte, und als sie endlich unter seiner Mithilfe kam,
keiner mehr als er bemüht war, die mancherlei persönlichen Gegensätze,
deren Vorhandensein nach jahrelanger erbitterter Bekämpfung nur
natürlich war, auszugleichen.

Die Frage der Vereinigung wurde zum ersten Male offiziell auf der
Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu Berlin
(22. bis 25. Mai 1872) erörtert, auf der das Mitglied Harm, der sich
schon auf dem allgemeinen deutschen Webertag sehr versöhnlich gezeigt
hatte, im Namen seiner Elberfelder Genossen den Antrag stellte: „Die
Generalversammlung möge Mittel und Wege suchen, um die verschiedenen
Fraktionen der deutschen Arbeiterpartei zu vereinigen.“ Dieser Antrag
wurde heftig bekämpft unter starken Ausfällen gegen unsere Partei und
schließlich Uebergang zur Tagesordnung beschlossen.

       *       *       *       *       *

Vom 7. bis 11. September 1872 hielt die sozialdemokratische
Arbeiterpartei ihren vierten Kongreß in Mainz ab. Den Vorsitz führten
Motteler und Vahlteich. Unter den Gästen befand sich Hartung-Wien, der
jetzt die schweizer Gewerkschaften vertrat. Hartung war es 1869
gelungen, sich der Verhaftung zur Einleitung des Wiener
Hochverratsprozesses auch wider ihn durch die Flucht zu entziehen. Er
war eine Reihe von Jahren in Zürich und der schweizer Bewegung tätig,
zog sich aber dann zurück und wurde als Inhaber einer großen Schreinerei
in Zürich ein wohlhabender Mann. Der mit Hartung eng befreundete
Oberwinder verblieb in Oesterreich und war Redakteur des „Volkswille“.
Die gegen ihn ausgesprochene Ausweisung war zurückgenommen worden. Die
Rolle, die er aber jetzt in der österreichischen Arbeiterbewegung
spielte, wurde immer mehr eine zweideutige und führte schließlich zur
Spaltung. Aber auch seines Bleibens war auf die Dauer nicht in
Oesterreich. In der Zeit des Sozialistengesetzes lebte er in Paris und
kam hier bei unseren Parteigenossen in den Verdacht, im Dienste der
preußischen Polizei zu stehen. Der Partei hatte er Valet gesagt. Später
kehrte er nach Deutschland zurück und übernahm die Chefredaktion des
„Dresdener Anzeigers“, eines magistratlichen Amtsblattes. Oberwinder
setzte sich im Jahre 1911 in seiner Heimat Weilburg an der Lahn zur
Ruhe.

Ich erwähne dieses hier im Anschluß an meine Bemerkungen über Hartung,
nachdem ich in dieser meiner Arbeit Oberwinders wiederholt gedachte.
Andreas Scheu, auch einer der Führer der damaligen österreichischen
Bewegung, der mit Oberwinder in Konflikt geriet, ging nach schweren
Verfolgungen außer Landes, und zwar nach England.

Unter den 51 Delegierten auf dem Mainzer Kongreß befand sich zum ersten
Male der junge Karl Grillenberger, der sich um jene Zeit die ersten
Sporen in der Nürnberger Arbeiterbewegung erworben hatte und deshalb in
der Cramer-Klettschen Fabrik, in der er als Schlosser arbeitete,
gemaßregelt worden war.

In den Verhandlungen des Kongresses kam auch die Vereinigungsfrage zur
Erörterung. Es lag zunächst ein langer Antrag von Bruno Geiser vor, der
die Redaktion des „Volksstaat“ scharf tadelte wegen ihrer Polemik gegen
den „Neuen Sozialdemokrat“. Er verlangte, daß die Redaktion des
„Volksstaat“ unverzüglich die Polemik einstelle und eine solche nur
dann aufnehme, wenn der Parteiausschuß eine solche billige. Dieser
Antrag wurde abgelehnt. Es standen dann weiter drei Anträge zur
Verhandlung, die sämtlich die Vereinigung befürworteten. Schließlich
fand folgender Antrag Annahme, wodurch die anderen Anträge erledigt
waren:

  „Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ist seinen sozialistischen
  Prinzipien gemäß der einzige natürliche Bundesgenosse der
  sozialdemokratischen Arbeiterpartei; der Kongreß beauftragt demgemäß
  den Ausschuß, ein prinzipielles Zusammengehen mit dem Allgemeinen
  Deutschen Arbeiterverein immer von neuem zu versuchen; ferner dafür
  Sorge zu tragen, daß die Haltung aller dem Allgemeinen Deutschen
  Arbeiterverein abgeneigten Mitgliedschaften eine versöhnliche werde
  und die Redaktion des ‚Volksstaat‘ unverzüglich jede Polemik gegen den
  Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und seine Leiter einzustellen,
  sowie etwa neu eintretenden Anfeindungen von seiten des letzteren mit
  Schweigen zu beantworten, falls der Ausschuß nicht ausnahmsweise eine
  sachgemäße Erwiderung für unbedingt geboten erachtet.“

Kurze Zeit darauf, am 20. September 1872, veröffentlichte der „Neue
Sozialdemokrat“ einen Artikel mit der Ueberschrift: „Ein ernstes Wort an
die Arbeiter der Eisenacher Partei“, eine Anrede, in der er seiner
ständigen Taktik uns gegenüber den Namen der Partei verschwieg und einen
Gegensatz zwischen den Arbeitern und Nichtarbeitern in der Partei
konstruierte. In dieser Ansprache, die der „Volksstaat“ wörtlich
abdruckte, führte er bittere Beschwerde über angebliche Angriffe, die
der „Volksstaat“ und einzelne Mitglieder der Partei trotz jener in Mainz
beschlossenen Resolution gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein
richteten. Auf seiner Seite habe man stets nur in der Verteidigung
gestanden, wohingegen der „Volksstaat“ der Angreifer gewesen sei.
Daraufhin erwiderte der „Volksstaat“ unter dem 28. September in einem
Artikel mit der Ueberschrift „Eine Antwort“ und unterzeichnet „Die
Redaktion“, in der jene Angriffe zurückgewiesen wurden. Am Schlusse des
Artikels, den Liebknecht und ich auf Hubertusburg verfaßt und der
Redaktion zugesandt hatten, hieß es: „Wir wollen von nun an alle Polemik
gegen den ‚Neuen Sozialdemokrat‘ einstellen unter der Bedingung, daß er
1. unsere Partei ausdrücklich und unzweideutig als eine
sozialdemokratische anerkennt und sie, wenn er von ihr spricht, stets
bei ihrem richtigen Namen nennt, und 2. daß er die Angriffe gegen die
Internationale Arbeiterassoziation unterläßt.

Wir unsererseits erklären, wie wir das schon des öfteren getan haben, 1.
daß wir die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins als
unsere Parteigenossen ansehen, was nicht ausschließt, daß wir gegen
gewisse Persönlichkeiten im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein so
lange ein entschiedenes Mißtrauen hegen werden, bis die von unserer
Seite geltend gemachten Verdachtsgründe konklusiv widerlegt sind; 2.
erklären wir uns bereit, einen Vorschlag zu unterstützen, der dahin
ginge, einen gemeinschaftlichen Kongreß der beiden Fraktionen
einzuberufen, auf welchem die Differenzpunkte behufs einer Einigung
besprochen werden. Sollte eine Einigung respektive Verschmelzung nicht
möglich sein, dann müßte wenigstens ein gemeinsames Programm aufgestellt
und die Formen festgesetzt werden, innerhalb denen eine gemeinsame
Aktion (bei Wahlen, der Agitation usw.) sich zu bewegen hätte. Ein von
beiden Teilen gleichmäßig zu wählender Ausschuß hätte die Ausführung der
vereinbarten Punkte zu überwachen. Ferner möchten wir noch die
Niedersetzung eines aus beiden Fraktionen gleichmäßig zu wählenden
Schiedsgerichts befürworten, das die gegen verschiedene Mitglieder einer
der beiden Fraktionen von der anderen Seite erhobenen Anklagen zu
untersuchen und zu richten hat. Bemerken wollen wir, daß ähnliche
Vorschläge, wie die soeben angedeuteten, privatim schon wiederholentlich
Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins von uns
unterbreitet und von diesen auch gebilligt worden sind.“

Auf dem Mainzer Kongreß habe die sozialdemokratische Arbeiterpartei
offiziell in feierlichster Form ihrer versöhnlichen Stimmung Ausdruck
gegeben; am Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sei es jetzt, die
dargebotene Hand zu ergreifen und der deutschen Arbeiterwelt den Frieden
zu geben.

Auf diesen Vorschlag antwortete der „Neue Sozialdemokrat“ durch
nichtssagende Ausflüchte. Als dann kurze Zeit darauf die Lassalleaner
eine Versammlung unserer Parteigenossen in Berlin gewaltsam sprengten,
veröffentlichte der „Volksstaat“ eine Art Kriegserklärung gegen den
„Neuen Sozialdemokrat“, die mit den Worten schloß: „Die offenbaren
Verräter der Arbeitersache müssen unschädlich gemacht werden.“

Damit war der Kampf zwischen den beiden Fraktionen aufs neue entbrannt,
man schoß in den beiden führenden Blättern herüber und hinüber und
klagte sich gegenseitig mit einer Heftigkeit an, daß es schien, als
stehe eine Vereinigung weiter denn je im Felde. Schließlich mußte es als
ein Fortschritt in der Stellung der beiden Fraktionen zueinander
angesehen werden, als der „Neue Sozialdemokrat“ anläßlich der Wahl am
20. Januar 1873 im 17. sächsischen Wahlkreis seine Parteigenossen dort
aufforderte, nichts gegen meine Wiederwahl zu unternehmen.

Einen sehr unangenehmen Eindruck machte es auf unserer Seite, daß F.W.
Fritzsche, der 1869 die sozialdemokratische Arbeiterpartei in Eisenach
mit gegründet hatte, jetzt plötzlich wieder auf die andere Seite
schwenkte und Stellung gegen uns nahm.

In diesem gegenseitigen Kampfe glaubte die Kontrollkommission, die in
Breslau ihren Sitz hatte, unter Führung Geisers einen Rüffel der
Redaktion des „Volksstaat“ erteilen zu sollen, daß sie auf eigene Faust
Versöhnungsvorschläge gemacht und dabei den Kampf wider den „Neuen
Sozialdemokrat“ abermals aufgenommen habe.

Die Antwort gab der Kontrollkommission die nächste Generalversammlung
des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.

       *       *       *       *       *

Bei den polizeilichen Verfolgungen, die in jener Zeit in Betracht kamen,
suchte der Leipziger Polizeidirektor seine Kollegen im übrigen
Deutschland in den Schatten zu stellen. Der Auflösungs- und
Ausweisungswut fügte er ein Verbot des Besuchs des Internationalen
Arbeiterkongresses im Haag hinzu mit Androhung von vier Wochen Gefängnis
im Falle der Zuwiderhandlung. Ebenso verbot er die Mitgliedschaft, die
Anwerbung von Mitgliedern und die Geldsammlung für die Internationale.
Als dann Hepner trotz des Erlasses eines Verbots den Haager Kongreß
besuchte, erreichte ihn das angedrohte Geschick. Er bekam seine vier
Wochen Gefängnis und wurde im nächsten Frühjahr auf Grund dieser
Bestrafung aus Leipzig ausgewiesen, eine Maßregelung, die ihm nachher in
der Umgebung Leipzigs wiederholt widerfuhr. Da er aber auch mit dem
Parteiausschuß in Konflikt gekommen war, entschloß er sich, nach Breslau
zu übersiedeln und dort einen Buchverlag zu gründen.

Die Animosität, die Hepner gegen den Parteiausschuß und speziell gegen
York als Parteisekretär empfand, in dem er nur den verbissenen
Lassalleaner, den bösen Geist in der Partei sah, veranlaßten ihn, an
Marx und Engels Mitteilungen gelangen zu lassen, wonach es in der Partei
sehr trübe aussehen sollte. Bei dem übertriebenen Mißtrauen, das Marx
und Engels gegen alles Lassallesche empfanden, genügten diese
Hepnerschen Schilderungen, um Engels zugleich im Namen von Marx zu einem
Warnungsbrief an Liebknecht zu veranlassen. Da mir Liebknecht den Inhalt
dieses Briefes mitteilte, nahm ich Veranlassung, an Marx folgendes zu
schreiben:

  „Hubertusburg, den 19. Mai 1873.

  Geehrter Freund!

  ... Es sind mehr als 5 Jahre, daß ich Ihnen zum letztenmal geschrieben
  und jener Brief betraf Schweitzer. Dieser ist nun glücklich gestürzt
  und vieles andere seit jener Zeit ebenfalls. Unsere Partei hingegen
  hat einen mächtigen Aufschwung genommen und ich hoffe in weiteren 5
  Jahren ist sie so weit, daß sie ein ernsthaftes Wörtchen mitreden
  kann. Hepner hat allem Anschein nach Ihnen und Freund Engels unsere
  Parteiverhältnisse sehr düster gemalt, sehr mit Unrecht. Ich habe
  darüber Freund Engels ausführlicher geschrieben, der Ihnen Mitteilung
  davon machen wird. Im großen und ganzen halte ich die
  Parteiverhältnisse für durchaus zufriedenstellend; was noch mangelhaft
  ist, wird in nicht allzulanger Zeit sich beseitigen lassen, allerdings
  ist da auch notwendig, daß man sich leidlich verträglich hält und
  nicht mit Gewalt Krakeel haben will. Was mich zu dieser
  Verträglichkeit bestimmt, ist, daß ich genau weiß, daß der beste und
  ehrlichste Wille für das Wohl der Partei auch bei den Andersmeinenden
  vorhanden ist. In einem solchen Falle halte ich es für unrecht,
  Meinungsverschiedenheiten schroff zu behandeln und zum Bruch zu
  reizen. Glauben Sie aber nicht, daß wir deshalb die Verträglichkeit
  zur Schwäche treiben, es gibt eine Grenze, wo sie aufhört; die Mittel
  und die Macht fehlen dann auch nicht, um unseren Willen durchzusetzen
  ...

  Dem Wunsche Liebknechts, daß Sie Lassalles Schriften mal zum
  Gegenstand einer kritischen Abhandlung machen möchten, schließe ich
  mich vollkommen an. Eine solche ist durchaus notwendig, und damit sie
  die nötige Wirkung erzielt, müßten Sie und kein anderer sie
  veröffentlichen. Eine solche Kritik würde der Partei in Deutschland
  nach verschiedenen Seiten hin den Boden ebnen.

  Mit Liebknecht habe ich schon mehrere Male gesprochen wegen neuer
  Herausgabe des Kommunistischen Manifestes; wir können es aber in
  Rücksicht auf den Schluß nicht riskieren. Dieser würde uns sofort
  einen Hochverratsprozeß auf den Hals laden. Das Manifest ist zwar in
  einem Heft des Leipziger Hochverratsprozesses als Aktenstück
  abgedruckt, es sind auch einige Separatabzüge gemacht worden, aber das
  genügt nicht, es müßte nachdrücklich empfohlen und öffentlich verkauft
  werden können. Diese Schrift, mit einem passenden Vorwort verbunden,
  würde vielen die Augen öffnen, sie würde beweisen, wie unendlich
  schwächlich die Lassalleschen Vorschläge sind. Ueberlegen Sie sich die
  Sache einmal.

  Mit freundlichem Gruß        Ihr       Bebel.“

In meinem Brief an Engels lauteten die entscheidenden Stellen:

  „Ihr Brief, den Sie am 17. v. M. an Liebknecht sandten und von dessen
  Inhalt ich Kenntnis genommen, gibt mir Veranlassung, ebenfalls einige
  Zeilen an Sie zu richten. Hepner hat augenscheinlich die Farben über
  den Stand unserer Parteiverhältnisse sehr dick aufgetragen und
  namentlich den Einfluß und die Absichten Yorks recht schwarz gemalt.
  Wundern tut mich das von Hepner nicht, er ist ein durchaus braver und
  treuer Genosse, aber leicht verbissen, und gegen den Ausschuß und
  speziell gegen York hat er infolge einer ganzen Reihe von
  Streitigkeiten einen solchen Zorn, daß er das Schlechteste von ihnen
  glaubt und jedes Wort aufs strengste auslegt.“

Ich setzte dann im Detail auseinander, warum Hepner und York verbissene
Gegner seien, und fuhr fort:

  „Neben den schlimmen hat York auch entschieden gute Eigenschaften,
  dahin gehört, daß er mit großem Eifer die Agitation und regelmäßige
  Steuerzahlung betreibt, zwei Dinge, die sehr notwendig sind und die
  seit den Wirren des Jahres 1870 — Verhaftung des Braunschweiger
  Ausschusses — im argen gelegen haben. Hier ist sein Feld und hier hat
  er allerdings auch Verdienste aufzuweisen.

  Ein zweiter Punkt ist unsere Stellung zu Lassalle und dem
  Lassalleanismus. Da sind Sie wie Hepner entschieden im _Unrecht_, wenn
  sie meinen, wir könnten rücksichtslos vorgehen, ohne erheblichen
  Schaden in der Partei zu haben. Der Lassallekultus muß ausgerottet
  werden, damit bin ich ganz einverstanden, auch die falschen Ansichten
  Lassalles müssen bekämpft werden, aber mit Vorsicht. Sie können von
  dort aus unmöglich unsere Verhältnisse genau beurteilen, und Hepner
  ist zu wenig praktisch.

  Sie dürfen nicht vergessen, daß die Lassalleschen Schriften
  tatsächlich — das läßt sich nicht wegdiskutieren — durch ihre populäre
  Sprache die Grundlage der sozialistischen Anschauung der Massen
  bilden. Sie sind zehnfach, zwanzigfach mehr wie irgend eine andere
  sozialistische Schrift in Deutschland verbreitet, Lassalle genießt so
  eine bedeutende Popularität. Diese Popularität ist durch die Ihnen
  hinlänglich bekannten Mittel der Gräfin Hatzfeldt, Schweitzers und
  anderer zum _Kultus_ potenziert worden, und wenn letzterer auch, dank
  dem gesunden Gefühl der Massen und unserer eigenen Tätigkeit, schon
  _bedeutend_ abgenommen hat und täglich mehr abnimmt, so wäre es doch
  unklug, durch rücksichtsloses Vorgehen diese Gefühle zu verletzen.

  In unserer eigenen Partei ist der Lassallekultus so gut wie
  verschwunden, aber immerhin gibt es einige Gegenden, wie das Rheinland
  und Schlesien, in denen er Anhänger zählt, und, was uns namentlich
  veranlassen muß, nicht allzu schroff vorzugehen, ist, daß sehr viele
  Arbeiter im früheren Hatzfeldtschen Lager und im Allgemeinen Deutschen
  Arbeiterverein sich mehr und mehr uns nähern und teilweise schon
  angeschlossen haben. Daß je der Lassalleanismus in Deutschland wieder
  Oberwasser bekommt, daran ist nicht entfernt zu denken; lassen wir
  also den Dingen ruhig ihren Lauf und wo sich Gelegenheit bietet, dem
  spezifischen Lassalleanismus einen Klaps zu versetzen, da wird es
  geschehen. Das hat, glaube ich, auch der „Volksstaat“ bisher getan,
  und wenn darüber York und einige andere sich ereifern, so läßt man sie
  eben gewähren.

  Ein vernichtender Schlag für den Lassallekultus würde es sein, wenn
  Freund Marx dem Wunsche Liebknechts — den ich vollständig
  teile — nachkäme und in einigen objektiv gehaltenen Artikeln im
  „Volksstaat“ wissenschaftlich die Fehler und Mängel der Lassalleschen
  Theorien nachwies. Marx' wissenschaftliche Autorität auf ökonomischem
  Gebiet ist so unbestritten, daß die Wirkung einer solchen Arbeit eine
  kolossale sein würde. Helfen Sie uns, daß Freund Marx diesen Dienst
  der Partei leistet.

  Das oben Gesagte kurz resumiert, steht die Sache also so: Yorks
  Einfluß ist unbedeutend, er selbst nichts weniger als gefährlich, der
  Lassalleanismus in der Partei ist ebenfalls wenig verbreitet, Schonung
  nur in Rücksicht auf zahlreiche ehrliche, aber mißleitete Arbeiter,
  die bei geschickter Behandlung uns sicher sind, geboten.

  Ich hoffe, daß nach diesen Auseinandersetzungen Sie nicht anstehen
  werden, Ihre Mitarbeiterschaft dem „Volksstaat“ zu erhalten. Eine
  Zurückziehung (womit Engels gedroht) wäre das Allerverkehrteste, was
  Sie tun könnten, dadurch würden Sie dem oppositionellen Element eine
  Bedeutung beilegen, die es absolut nicht hat, und die Partei
  schädigen....

  Mit freundlichem Gruß         Ihr          Bebel.“

An Hepners Stelle trat Wilhelm Blos als leitender Redakteur. Blos war
zuvor an mehreren süddeutschen demokratischen Blättern Redakteur
gewesen, dann wurde er Mitarbeiter an unserem Parteiblatt, dem „Fürther
demokratischen Wochenblatt“, dessen Hauptleserkreis aber in Nürnberg
war. Blos war 1872 der Partei wie der Internationale beigetreten und
wurde an Stelle des verhafteten Kokosky Redakteur des „Braunschweiger
Volksfreund“, alsdann des „Volksstaat“, den er, nachdem Liebknecht
freigekommen war, Herbst 1874 verließ, um auf dessen Wunsch die
Redaktion der Mainzer „Süddeutschen Volksstimme“ zu übernehmen.

In jenen Jahren waren die gerichtlichen Verfolgungen gegen den
„Volksstaat“ so nachdrücklich, daß beständig zwei, manchmal drei seiner
verantwortlichen Redakteure im Gefängnis zubrachten. Aehnlich erging es
den meisten anderen unserer Parteiorgane, zu denen damals außer dem
„Volksstaat“ der „Braunschweiger Volksfreund“, der „Dresdener
Volksbote“, die „Chemnitzer freie Presse“, der „Crimmitschauer Bürger-
und Bauernfreund“, das „Fürther demokratische Wochenblatt“, der
„Münchner Zeitgeist“, die „Hofer Zeitung“, die Mainzer „Süddeutsche
Volksstimme“ und der „Thüringer Volksbote“ zählten.

Die führenden Persönlichkeiten jener Zeit hatten mit wenigen Ausnahmen
alle mehr oder weniger oft mit dem Gefängnis Bekanntschaft gemacht. In
Sachsen fügte man hierzu noch die Ausweisungen aus Orten und ganzen
Bezirken, von der neben Most und Hepner unter anderem Auer, Daschner,
Lyser, Muth, Rüdt, Ufert, später auch Max Kayser betroffen wurden.



Der Parteikongreß zu Eisenach 1873.


Zu jener Zeit marschierte auch Bayern in den Reihen der Reaktion. Der
Parteiausschuß hatte für den 24. August 1873 und die folgenden Tage den
Parteikongreß nach Nürnberg einberufen. Am 31. Juli erfolgte durch den
königlichen Kommissar der Stadt Nürnberg das Verbot des Kongresses
mit Hinweis auf Artikel 17 des bayerischen Vereins- und
Versammlungsgesetzes. Auch sei zu befürchten, daß die §§ 110, 130, 131
und 360 Ziffer 11 des Reichsstrafgesetzbuches durch die Abhaltung des
Kongresses verletzt würden. Eine Beschwerde gegen dieses merkwürdige
Verbot wurde nicht erhoben, weil der Ausschuß sofort den Kongreß nach
_Eisenach_ einberief. Nun glaubte der Leipziger Polizeidirektor Rüder
hinter dem Nürnberger Kommissar nicht zurückgehen zu sollen. Er verbot
nunmehr auch den Besuch des Eisenacher Kongresses bei Strafe von vier
Wochen Gefängnis im Falle der Zuwiderhandlung. In der Tat blieb infolge
dieses Verbots Leipzig auf dem Eisenacher Kongreß unvertreten.

Auf diesem waren 71 Delegierte anwesend, die 9224 Mitglieder aus 132
Orten hinter sich hatten. Demselben präsidierten Geib und Motteler. Im
Laufe der Verhandlungen kam auch die leidige Angelegenheit _Memminger,_
die schon jahrelang die Nürnberg-Fürther Parteigenossen zerklüftet
hatte, zur Sprache. Auf der Seite Memmingers stand _Grillenberger,_
gegen ihn _Auer_ und _Löwenstein_. Mit großem Mehr beschloß der Kongreß,
daß Memminger sich ein parteischädigendes Verhalten habe zuschulden
kommen lassen und durch eine Reihe von Handlungen sich _außerhalb_ der
Partei gestellt habe.

Die Verhandlungen über die Einigungsfrage, die ebenfalls auf der
Tagesordnung stand, wurden sehr ungünstig beeinflußt durch die Haltung,
die der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein auf seiner Generalversammlung
im vorhergehenden Mai in Berlin eingenommen hatte. Auf dieser hatten
sich Frohme, Hasenclever, Hasselmann und andere Redner sehr
entschieden _gegen_ einen Antrag, der die Vereinigung forderte,
ausgesprochen. Schließlich war mit allen gegen 3 Stimmen ein Antrag
_Richter_-Wandsbeck, den _Tölcke,_ Harm-Elberfeld, Dasbach-Hanau usw.
unterzeichnet hatten, angenommen worden, der lautete:

  „In Erwägung: 1. daß die sogenannte ‚Sozialdemokratische
  Arbeiterpartei‘ ursprünglich auf dem Verbandstag der
  Schulze-Delitzschen Arbeiterbildungsvereine zu Nürnberg im Jahre 1868,
  beziehentlich auf dem Kongreß zu Eisenach im Jahre 1869, _lediglich in
  der Absicht gegründet worden ist, die Arbeiterbewegung in Deutschland
  zu schädigen_ dadurch, daß neben dem _Allgemeinen Deutschen
  Arbeiterverein eine zweite_ angeblich sozialdemokratische Fraktion
  geschaffen wurde, welche nur deshalb ein anscheinend mehr
  politisch-revolutionäres Programm aufstellte, um durch dasselbe die
  Arbeiter anzuziehen und so die Spaltung der deutschen Arbeiter
  herbeizuführen;

  in Erwägung: 2. daß das jetzige _Zusammenwirken des Herrn v.
  Schweitzer_ mit den Führern der sogenannten ‚Sozialdemokratischen
  Arbeiterpartei‘ zum gemeinsamen Unterwühlen und zur Beseitigung der
  Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins den
  schlagendsten Beweis liefert, daß die Vernichtung des Allgemeinen
  Deutschen Arbeitervereins der Hauptzweck der Führer der
  Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ist, die sich nicht scheuen, sich
  zur Erreichung dieses Zweckes mit unstreitig reaktionären Elementen zu
  verbinden;

  in Erwägung: 3. daß das Programm, die Organisation und die Taktik der
  Sozialdemokratischen Arbeiterpartei durchaus unvereinbar sind mit dem
  Programm und der Organisation des Allgemeinen Deutschen
  Arbeitervereins,

  tritt die Generalversammlung dem Beschluß des Vorstandes des
  Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins vom 5. Januar d.J. bei, welcher
  also lautet:

  In Erwägung, daß für die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
  Arbeitervereins in prinzipieller und formeller Beziehung durchaus
  keine Veranlagung vorliegt, an der Organisation des Allgemeinen
  Deutschen Arbeitervereins zum Zwecke einer Vereinigung mit der
  Eisenacher Partei eine Aenderung vorzunehmen, in fernerer Erwägung,
  daß es den Mitgliedern jener Partei freisteht, in Gemäßheit des
  Statuts des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in diesen
  einzutreten, welcher eben durch seine starke Organisation sowie durch
  seine viel bedeutendere Mitgliederzahl die beste Grundlage zur
  Einigkeit der Arbeiter bietet,

  geht der Vorstand über die sogenannten Einigungsvorschläge der
  Eisenacher Partei zur Tagesordnung über.“

Dem Kongreß lagen eine Anzahl Anträge, die Vereinigungsfrage betreffend,
vor, die sich teils für, teils gegen eine solche aussprachen, teils
unter bestimmten Bedingungen Kandidaten des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins bei den bevorstehenden Reichstagswahlen unterstützen
wollten.

In der Debatte nahm auch _Auer_ das Wort. Er führte aus: Nach den
gemachten Erfahrungen wäre es unserer Partei unwürdig, noch Kompromisse
mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein einzugehen. In demselben
Sinne sprach sich _Blos_ aus, der weiter verlangte, daß man auch mit der
Volkspartei sich auf kein Kompromiß einlassen solle, von der im
umgekehrten Falle kein Mitglied für einen Arbeiterkandidaten stimme.
Schließlich zog Auer einen Berliner Antrag zugunsten eines Antrags
Albert-Glauchau zurück, der lautete:

  „Die Sozialdemokratische Partei betrachtet die Reichstagswahl nur als
  Agitationsmittel und als Prüfung für die Verbreitung ihrer Prinzipien,
  jeden Kompromiß mit anderen Parteien ablehnend.“

Dieser Antrag wurde nebst einem Antrag der Ronsdorfer Genossen
angenommen, der aussprach:

  „Da von seiten unserer Partei bereits Schritte zur Einigung der
  gesamten deutschen Sozialdemokratie gemacht wurden, von der
  diesjährigen Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen
  Arbeitervereins aber fast einstimmig zurückgewiesen worden sind,
  erklärt der Kongreß, jedweden Versuch mit obiger Fraktion, sei er auf
  die Einigung der Partei oder auf Wahlen gerichtet, einzustellen.“

Als dann infolge dieses Beschlusses unsere Parteigenossen mich in Altona
gegenüber Hasenclever als Kandidat zur Reichstagswahl aufstellten und
der „Neue Sozialdemokrat“ sich darüber beschwerte, verhöhnte ihn _Auer_
in einer Korrespondenz aus Dresden in Nr. 123 des „Volksstaat“, die mit
den Worten endete: „Ich schließe, indem ich dem Herrn Hasselmarat und
Strohpuppe Hasenclever das Sprüchlein zu bedenken gebe: Vorgetan und
nachbedacht, hat manchen in groß' Leid gebracht.“ Das ist zugleich eine
Probe, wie damals zeitweilig polemisiert wurde.

Ueber den Ausfall der Wahlen vom 10. Januar 1874 habe ich schon
berichtet. Von Interesse dürfte sein, mit welch finanziellen Mitteln zu
jener Zeit eine Reichstagswahl von unserer Seite gemacht wurde. Die
Ausgaben der Parteikasse für ganz Deutschland betrugen 1300 Taler. Das
sächsische Landeskomitee hatte für die 91000 Stimmen, die in Sachsen auf
unsere Kandidaten fielen, eine Ausgabe von 780 Taler. Die Wahlen in
Leipzig Stadt und Land, einschließlich der Nachwahl in Leipzig Land,
erforderten 733 Taler, die Chemnitzer Wahl 345 Taler, Freiburg-Oederan
(Geibs Wahlkreis) 165 Taler, Stollberg-Schneeberg (Liebknechts
Wahlkreis) 350 Taler. Das sind Beträge, die im Vergleich zu den heutigen
Ausgaben für die gleichen Zwecke winzig genannt werden müssen. Zwischen
damals und jetzt besteht aber ein Unterschied. Jetzt opfern die
Parteigenossen mehr Geld und bezahlen die Wahlarbeit. Damals opferten
die Parteigenossen weniger Geld — weil sie weniger hatten und auch gegen
heute gering an Zahl waren —, aber sie leisteten die Wahlarbeit meist
umsonst. Der einzelne mußte damals durchschnittlich weit größere
persönliche Opfer bringen als heute, sollten Resultate erzielt werden.
Uebersehen darf allerdings nicht werden, daß gegenwärtig die
Wahlagitation in Deutschland namentlich auch seitens der Gegner in ganz
anderem Maße betrieben wird wie früher und schon deshalb unsererseits
weit größere Anstrengungen und Aufwendungen erfordert.



Die erste Session des neuen Reichstags 1874.


Diese wurde im Februar 1874 eröffnet. Seitens unserer Vertreter wurde
den Vertretern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins der Vorschlag
gemacht, eine Fraktion zu bilden. Das lehnten diese ab. Dagegen kam man
überein, sich gegenseitig bei Stellung von Anträgen zu unterstützen,
auch wolle man dahin wirken, daß in der Presse und in den Versammlungen
die gegenseitigen Angriffe unterblieben. Das war nicht viel, aber das
andere mußte folgen. Eine große Anzahl Parteigenossen auf beiden Seiten
hatte allmählich die gegenseitige Bekämpfung, die nur den Gegnern
zustatten kam, satt und wünschte, wenn eine Vereinigung noch nicht
möglich sein sollte, eine Verständigung zu gemeinsamem Vorgehen.

In unserer Partei war man mit der Haltung der gewählten Vertreter
unzufrieden. Man fand, daß sie zu selten das Wort ergriffen und dann
nicht scharf genug geredet hatten. Der Unmut darüber kam auch mehrfach
in der Parteipresse zum Ausdruck. Liebknecht wohnte keiner Sitzung mehr
bei, da die Session kurz nach seiner Freilassung geschlossen wurde. Ich
erhielt von den verschiedensten Seiten Zuschriften, worin die Verfasser
sich über die Haltung der Parlamentsgenossen beklagten. So schrieb mir
nach Schluß der Session Robert Schweichel, der seit seiner Uebersiedlung
nach Berlin die Redaktion der „Romanzeitung“ übernommen hatte und daher
öffentlich politisch nicht tätig sein konnte: die Haltung der
sozialdemokratischen Abgeordneten habe allgemein enttäuscht. Nach dem
glänzenden Ausfall der Wahlen habe man eine andere Haltung erwartet.
Diese fördere die Partei nicht. Rübner, der Expedient der „Chemnitzer
Freien Presse“, schrieb mir: „Die Vertreter des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins haben unseren Genossen im Reichstag geschickt den Rang
abgelaufen. Darüber sind unsere Leute wütend.“ Die Abgeordneten selbst
beschwerten sich lebhaft darüber, daß der Präsident bei Wortmeldungen
die Vertreter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bevorzugt habe.
An dieser Behauptung war etwas Wahres. An Simsons Stelle war Forckenbeck
getreten, der, wie ich schon einmal erwähnte, der parteiischste
Präsident war, den der Reichstag je gehabt hat. Erleichtert wurde ihm
diese Parteilichkeit durch die Abschaffung der Rednerliste, die erfolgt
war, um die sozialdemokratischen Abgeordneten möglichst am Redenhalten
hindern zu können. Die Abgeordneten mußten von jetzt ab durch ein
Zeichen dem Präsidenten bekunden, daß sie das Wort zu haben wünschten,
ungefähr so wie die Kinder in der Schule, wenn sie dem Lehrer
bemerklich machen wollen, daß sie eine Antwort auf eine Frage geben
können. Damit lag es in der Willkür des Präsidenten, ob er eine solche
Wortmeldung sehen und ob und wann er sie berücksichtigen wollte. Und
Forckenbeck machte von seiner Vollmacht rücksichtslos Gebrauch. Das
veranlaßte später Windthorst und seine Freunde, den Antrag zu stellen,
die Rednerliste wieder einzuführen. Der Antrag, zu dem von unserer Seite
Vahlteich sprach, wurde abgelehnt. Darauf sah sich Most veranlaßt, noch
kurz vor Schluß der Session die Parteilichkeit des Präsidenten
öffentlich im Reichstag zu denunzieren. Er habe trotz zahlreicher
Meldungen das Wort nur einmal erhalten. Ihm gegenüber lag allem Anschein
nach ein Racheakt vor. Most hatte sich verleiten lassen, bei Beginn der
Session, bevor er nach Berlin reiste, in der „Chemnitzer Freien Presse“,
deren Redakteur er war, eine Art Kriegserklärung an den Reichstag zu
veröffentlichen, in der er demselben den Kampf bis aufs Messer ansagte.
Dafür mußte er offenbar jetzt büßen. Die einzige Rede, die er halten
konnte, betraf den Entwurf zum Impfgesetz, und diese mißglückte ihm. Er
schloß die kurze Rede mit den Worten: „Vorläufig verlangen wir die
öffentlichen Badeanstalten, und wenn wir diese haben, werden wir auch
mit dem Normalarbeitstag kommen.“ Kein Wunder, daß dieser Schluß in
Mosts Munde die Heiterkeit der Gegner hervorrief.

Aber es machte sich von dieser Session ab noch ein anderer Unfug mit
Forckenbecks Unterstützung breit, der später immer schlimmer wurde. Es
fand sich in einem Mitglied der nationalliberalen Partei, dem
Abgeordneten für Hildburghausen, Valentin, der seines Zeichens
Rechtsanwalt gewesen war, ein stets bereiter Schlußantragsteller. Sobald
Forckenbeck den Schluß der Debatte wünschte, gab er Valentin das
verabredete Zeichen, worauf dieser gehorsam den Schlußantrag stellte,
dem alsdann wie auf Kommando die Mehrheit — Nationalliberale und
Konservative — Folge leistete. Für diese Methode der Wortabschneidung
bildete sich im Reichstag die Bezeichnung: der redenwollende Abgeordnete
sei valentiniert, das heißt geistig guillotiniert worden. Dieser Unfug
ging schließlich so weit, daß auf dem Bureau Valentinsche Schlußanträge
_auf Vorrat_ lagen, deren sich der Präsident nach Belieben bediente.
Valentin wurde für seine Tätigkeit von seiner Fraktion dadurch geehrt,
daß diese ihm, wie im Reichstag erzählt wurde, zu seinem Geburtstag ein
Kistchen mit gedruckten Schlußanträgen schenkte.

Bezeichnend für die damalige Situation im Reichstag war auch, daß der
Abgeordnete Bamberger es wagen konnte, die sozialistischen Abgeordneten
als geduldete Gäste zu bezeichnen, denen man das Hausrecht verweigern
könne. Kleinlich war auch, daß man Liebknecht und mich während unserer
Haft bei namentlichen Abstimmungen stets als „unentschuldigt“ in den
Listen geführt, ein Unfug, der erst auf eine energische Beschwerde
Vahlteichs in öffentlicher Sitzung ein Ende nahm.

Unter den Vorlagen, die den Reichstag beschäftigten, befanden sich
mehrere von besonderer Wichtigkeit. So eine neue Militärvorlage, die
eine erhebliche Erhöhung der Präsenzziffer, auf über 401000 Mann,
ausschließlich der Einjährig-Freiwilligen, forderte, und zwar für die
Dauer von sieben Jahren. Damals hatten die Liberalen einschließlich der
Nationalliberalen noch konstitutionelle Bedenken gegen eine derartige
Festlegung auf viele Jahre. Es kam zu scharfen Debatten, aber
schließlich fügten sich die Nationalliberalen und nahmen an, nachdem
Bismarck mit Niederlegung seines Amtes drohte. In der ersten Lesung nahm
Hasenclever, in der Generaldebatte der dritten Lesung Motteler das Wort.
Beide forderten die Miliz. In diesen Debatten äußerte Moltke zur
Verteidigung der Vorlage die später oft zitierten Worte:

  „Was wir in einem halben Jahre mit den Waffen in der Hand errungen
  haben, das mögen wir ein halbes Jahrhundert mit den Waffen schützen,
  damit es uns nicht wieder entrissen wird. Darüber, meine Herren,
  dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben: wir haben seit unseren
  glücklichen Kriegen an Achtung überall, an Liebe nirgends gewonnen.“

Damit wurde bestätigt, was wir wiederholt in den Jahren 1870/71
vorausgesagt hatten. Nicht der Krieg an sich, aber seine Folgen, die
Annexion von Elsaß-Lothringen, hatte in Europa eine Situation
geschaffen, die die Lage immer gespannter machte, Rußland eine
dominierende Stellung verschaffte und immer neue Rüstungen hervorrief.
Zu unseren Milizvorschlägen äußerte Moltke: Meine Herren! Die Gewehre
sind bald ausgeteilt, aber schwer wieder zurückzubekommen! (Heiterkeit.)

Der Abgeordnete Malinckrodt hatte den Antrag auf zweijährige Dienstzeit
gestellt, dafür stimmte Vahlteich, dagegen Geib, der Abstimmung
enthielten sich Most und Motteler. Hasenclever, Hasselmann und Reimer
hatten den Antrag gestellt, 540000 Mann für zwei Monate und 18000 Mann
für die weiteren zehn Monate zu bewilligen, ferner sollte die
militärische Jugenderziehung vom 14. bis 20. Jahre eingeführt werden.
Für diesen Antrag stimmten nur die Antragsteller. Diese Abstimmungen
gaben kein erhebendes Bild von der Tätigkeit der sozialdemokratischen
Abgeordneten.

Eine zweite für die Arbeiterklasse wichtige Vorlage war eine Novelle zur
Gewerbeordnung, die in etwas abgeänderter Form die Vorlage aus der
vorigen Session wiederbrachte. Man begnügte sich diesmal, den § 153
dahin zu verschärfen, daß Verletzung desselben statt wie bisher mit
höchstens drei Monaten künftig mit bis zu sechs Monaten Gefängnis
bestraft werden sollte. Dagegen hatte man in einem neuen § 153a die
Bestrafung des Kontraktbruchs vorgeschlagen, dieser sollte mit
Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder Haft geahndet werden. Die Streiks,
die in den Gründerjahren häufig unter Kontraktbruch vorkamen
und nach ausgebrochener Krise wegen Lohnherabsetzungen und
Arbeitszeitverlängerungen Abwehrstreiks unter Nichtbeachtung der
Kündigungsfristen hervorriefen, hatten das Unternehmertum in die höchste
Aufregung versetzt. Es inszenierte einen Petitionssturm an die
verbündeten Regierungen und den Reichstag, um die kriminelle Bestrafung
des Kontraktbruchs zu erlangen. Diesem Verlangen waren die verbündeten
Regierungen durch den Vorschlag des § 153a nachgekommen. Im weiteren
wurden die früher schon vorgeschlagenen Bestimmungen betreffend die
gewerblichen Schiedsgerichte wieder in Vorschlag gebracht mit der
kleinen Abänderung, daß die höhere Verwaltungsbehörde bestimmen könne,
ob eine Wahl der Beisitzer durch die beteiligten Arbeiter und
Arbeitgeber erfolgen solle. Zu dem Gesetzentwurf hielt Hasselmann eine
gute Rede. In die Kommission wurde von unserer Seite Motteler gesandt,
der sich aber an den Verhandlungen nicht beteiligte, sondern stummer
Zuhörer blieb, was ihm von verschiedenen Seiten verdacht wurde. Die
Kommission strich den Kontraktbruchparagraphen, ebenso wurde die
Verschärfung des § 153 abgelehnt; sie beschloß ferner, daß die Wahl der
Beisitzer in den Gewerbegerichten nur durch allgemeine Wahlen der
Interessenten zu erfolgen habe. Der Entwurf wurde indes im Plenum nicht
zu Ende beraten. Man war vorläufig seitens der Mehrheit des Reichstags
zu Ausnahmebestimmungen oder Verschärfung der bestehenden Gesetze noch
nicht geneigt.

Die dritte wichtige Vorlage war der Entwurf eines Preßgesetzes. In
diesem hatte der vorjährige § 20 folgenden Wortlaut erhalten:

  „Wer mittels der Presse den Ungehorsam gegen die Gesetze oder die
  Verletzung von Gesetzen als etwas Erlaubtes oder Verdienstliches
  darstellt, wird mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren
  bestraft. Wer die im § 166 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich
  vorgesehenen Handlungen mittels der Presse verübt, wird mit Gefängnis
  nicht unter drei Monaten und bis zu vier Jahren bestraft.“

Auch zu diesem Gesetzentwurf hielt _Hasselmann_ eine gute Rede, außer
ihm sprach _Geib_. Der § 20 fiel in der Kommission und im Plenum. Im
übrigen beseitigte das Gesetz die Kautionen und verbot die
Zeitungsstempel und die Inseratenabgaben, wo solche noch bestanden.
Wirkliche Verbesserungen gegen den bisherigen Zustand brachte das Gesetz
nur Preußen, Braunschweig und den beiden Mecklenburg, für Sachsen, die
mitteldeutschen und süddeutschen Staaten schuf es hingegen verschiedene
zum Teil erhebliche Verschlechterungen, so daß seine Annahme anfangs
zweifelhaft war. Es ging hier wie bei allen wichtigen Gesetzen des
Reichs, den Verbesserungen standen _stets_ Verschlechterungen gegenüber;
zu einem politischen Gesetz, das für alle eine wesentliche Besserung
bedeutete, konnte sich der Reichstag nicht erheben, stets gab er dem
Druck der Regierungen, das heißt Preußen nach, dem Stimmführer für alles
Rückschrittliche.

Erwähnt sei, daß bei Beginn der Session auch wieder der Antrag auf
meine Freilassung für die Dauer der Session gestellt worden war, jedoch
mit demselben negativen Erfolg wie früher. Redner für den Antrag waren
Vahlteich und Hasenclever. Die Fortschrittspartei verweigerte die
Unterstützung des Antrags, weil es zwecklos sei, ihn zu stellen.

       *       *       *       *       *

Die Tatsache, daß die Vertreter der beiden sozialdemokratischen
Fraktionen im Reichstag genötigt wurden, öfter gemeinsame Sache bei den
Beratungen zu machen, war für alle jene, die eine Vereinigung wünschten,
ein neuer Anstoß zum Handeln. Der erste Schritt hierzu wurde auf der
Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
unternommen, die vom 26. Mai bis 5. Juni 1874 in Hannover tagte. F.W.
Fritzsche, Hartmann-Hamburg, Meister-Hannover und andere stellten den
Antrag, zu erklären: Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins hält die Vereinigung aller sozialdemokratischen Arbeiter
Deutschlands für erforderlich, um die Endziele der Sozialdemokratie zu
erreichen, und empfiehlt, um eine solche Vereinigung anzubahnen, daß
dieselben in allen öffentlichen Versammlungen sowie in der Parteipresse
sich nicht mehr bekämpfen und anfeinden. Bestimmte Vorschläge zur
Vereinigung können nicht eher gemacht und diskutiert werden, bevor der
Kongreß der Eisenacher konstatiert, daß auch er eine Einigung aufrichtig
anstrebt.

Der Antrag wurde zwar nach längerer Debatte mit 50 gegen 19 Stimmen
_abgelehnt_, aber die Debatte wurde in einem merklich anderen Tone als
bei früheren ähnlichen Gelegenheiten geführt.

Die Sozialdemokratie Arbeiterpartei hielt ihren Kongreß im folgenden
Monat, vom 18. bis 21. Juli, in Koburg ab, auf dem seit 1871 zum
erstenmal Liebknecht wieder auf einem Parteikongreß erschien. Die
Vereinigungsfrage kam hier ebenfalls zur Verhandlung, zu der
verschiedene Anträge gestellt worden waren. In dem Bericht, den _Geib_
im Namen des Ausschusses erstattete, hatte dieser bereits ausgeführt:
„Wenn wir schließlich noch unsere Stellung zum Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein erwähnen, so geschieht es nur, um zu konstatieren, daß
seit der Reichstagswahl der alte Hader im Wanken begriffen ist. Viel
trägt dazu die Tatsache bei, daß der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein
jetzt von oben herab mit gleichem Maße gemessen wird wie unsere Partei.
Daß die Stellung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins tatsächlich
doch noch eine zurückhaltende ist, geht aus der Abstimmung über den auf
der Generalversammlung dieses Vereins gestellten Einigungsantrag, für
welchen unter 69 Delegierten nur 19 stimmten, deutlich hervor. Wir haben
uns demgemäß zu reservieren und vor allem auf die prinzipielle Haltung
des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu achten, da hierin ein
wesentliches, wenn nicht das wesentlichste Moment zur Richtschnur
unserer Einigungstaktik zu suchen ist.“ In der später folgenden Debatte
über die Einigungsanträge nahm auch _Auer_ das Wort, der noch immer der
Frage kühl gegenüberstand und pessimistisch äußerte: Im großen und
ganzen sind wir alle mit der Einigung einverstanden, aber solange auf
beiden Seiten die prinzipiellen Unterschiede ins Gewicht fallen, kann an
eine wirkliche Einigung nicht gedacht werden. Die Aussichten, die uns in
dieser Hinsicht der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein eröffnet, sind
gering, dies zeigt schon sein neuester Entschluß, sich sektenmäßig
„_Lassalleaner_“ zu nennen. Unser Versöhnungsdusel hat bis jetzt wenig
geholfen. Das einzige Mittel zur Einigung heißt: die Lassalleaner unsere
Macht fühlen lassen und uns stärken. Stellen wir uns auf den Standpunkt
der Einigungsvorschläge, die vor zwei Jahren im „Volksstaat“
veröffentlicht wurden. (Siehe Seite 289 und 290.) Mag ein allgemeiner
Kongreß zur Beratung der Einigungsfrage berufen werden. _Bernstein_
stand der Frage optimistischer gegenüber als Auer. Im Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein seien bereits viele Mitglieder für eine
Vereinigung. Der Verlauf der Generalversammlung des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins bestätige seine Auffassung. Er erklärte sich
ebenfalls für einen Kongreß behufs Verständigung. _Liebknecht_ sprach
sich in längerer Rede dafür aus, daß, wenn zunächst die Vereinigung
nicht möglich sei, die Einigung erstrebt werden müsse, die Vereinigung
werde nachher von selbst kommen, dafür sorge Herr Tessendorf und die
Logik der Tatsachen, wenn nicht mit, dann den Führern zum Trotz.
_Motteler_ berichtete über Besprechungen, die in Berlin zwischen
Hasenclever und Hasselmann auf der einen und unseren Vertretern auf der
anderen Seite stattgefunden hatten. Hasenclever und Hasselmann hätten
erklärt: _an eine Vereinigung sei nicht zu denken_, da der Allgemeine
Deutsche Arbeiterverein unbedingt die bessere Organisation habe. Ein
friedliches Nebeneinandergehen in Presse und Versammlungen sei ja
vereinbart. Zum Schlusse wurde mit großer Mehrheit ein Antrag Geibs
angenommen, lautend:

  „Der Kongreß erklärt, der Einigung der beiden deutschen
  Arbeiterfraktionen geneigt zu sein. Ueber den Modus einer solchen
  Einigung werden zum nächsten Kongreß seitens des Ausschusses und den
  der Partei angehörigen Reichstagsmitgliedern Vorschläge erwartet. Im
  übrigen geht der Kongreß zur Tagesordnung über.“

       *       *       *       *       *

Auf dem Koburger Kongreß kam es auch zu lebhaften Debatten über den oft
unzeitigen Eifer der Parteigenossen, in den größeren Orten Lokalblätter
zu gründen, die ungenügend finanziell fundiert, alsdann der Partei große
Verlegenheiten bereiteten, weil sie nunmehr um jeden Preis am Leben
erhalten werden sollten. Klagen, die sich bekanntlich bis in die Neuzeit
wiederholten. Nicht wenige dieser Blätter führten eine prekäre Existenz
und machten der Parteileitung schwere Sorge. Es war fast für das eine
und das andere eine Wohltat, unter dem Sozialistengesetz totgeschlagen
zu werden; sie starben wenigstens auf dem Felde der Ehre, im Kampfe mit
einem übermächtigen Gegner.

Auch die Frage der Programmänderung beschäftigte den Koburger Kongreß.
Es lagen für dieselbe, unter anderen auch von Bracke, eine Anzahl
Anträge vor. Nach längerer Debatte fand alsdann ein Antrag
Kokosky-Grillenberger und Genossen Annahme, wonach der Kongreß die
Reformbedürftigkeit des Programms anerkannte, jedoch in der Erwägung,
daß die Frage im Augenblick noch nicht spruchreif sei, die Aenderung
des Programms bis zum nächsten Kongreß vertage. Die Programmänderung
solle in der Presse zur Diskussion gestellt werden.

Des weiteren wurden öffentliche Vorträge veranstaltet, wobei Liebknecht
und Motteler über die politische Stellung der Sozialdemokratie, York und
Grillenberger über die industrielle und ländliche Arbeiterfrage
sprachen. Grillenberger, der über das letztere Thema sprach, hielt zu
dieser Frage eine gute instruktive Rede.



Tessendorf als Bahnbrecher der Einigung.



Einigungsverhandlungen.


Geib und Liebknecht hatten recht, als sie ausführten, die Neigung zu
einer Vereinigung mit uns werde im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein
gefördert werden durch die Behandlung, die ihm jetzt gleich uns von oben
zuteil wurde. Als vornehmster Träger dieser Verfolgungen erwies sich
Staatsanwalt Tessendorf, der im Sommer 1873 von Magdeburg an das
Berliner Stadtgericht berufen wurde. Er fand in der siebenten Deputation
des Berliner Stadtgerichtes in den Herren Reich als Vorsitzender, v.
Ossowsky und Giersch als Beisitzer drei kongeniale Geister, die seinen
staatsretterischen Eifer nach jeder Richtung unterstützten und in einer
längeren Reihe von Jahren in den Prozessen gegen eine große Anzahl
Parteigenossen als wahre Blutrichter sich erwiesen.

Tessendorf hatte sich seinen Ruf als Sozialistentöter schon in Magdeburg
erworben, allerdings mit der Wirkung, daß die von ihm verfolgte und
gehaßte Partei nach jedem Schlage, den er gegen sie führte, immer
stärker und kräftiger wurde. Er war einer der schlimmsten Streber in
unserer an Strebern so reichen Zeit. Tessendorf zeigte schon im Jahre
1871, wie unglücklich er darüber war, daß er in unseren
Hochverratsprozeß nichts hineinzureden hatte. Dafür zeugt folgender
Vorfall, den ich etwas ausführlicher erwähne, weil er diesen
fanatischsten aller Sozialistenfresser im rechten Lichte zeigt. Die
„Magdeburger Zeitung“ hatte damals wiederholt in Leipziger
Korrespondenzen uns, die wir hinter Schloß und Riegel saßen und uns
nicht wehren konnten, in unqualifizierbarer Weise beschimpft. Als es
dann in Zürich im März 1871 zu einem großen Krawall gekommen war
anläßlich einer Siegesfeier, welche die in Zürich lebenden Deutschen in
der dortigen Tonhalle veranstaltet hatten, sollten wir nach der
Leipziger Korrespondenz in der „Magdeburger Zeitung“ die Urheber jenes
Krawalls sein und unsere Züricher Parteigenossen die Täter. Nebenbei
bemerkt, wurde später gerichtlich festgestellt, daß unsere Züricher
Parteigenossen zu jenem Krawall in gar keiner Beziehung standen. Unser
Anwalt Otto Freytag sah sich darauf veranlaßt, bei dem Magdeburger
Stadt- und Kreisgericht einen Strafantrag gegen die „Magdeburger
Zeitung“ zu stellen. Zu seiner nicht geringen Verwunderung meldete sich
in einem langen Schreiben der Staatsanwalt Tessendorf, der es ablehnte,
gegen die „Magdeburger Zeitung“ vom Amts wegen einzuschreiten. Dabei
erging er sich in langen und gehässigen politischen Betrachtungen über
unser Tun und Lassen. Freytag antwortete: es sei ihm nicht eingefallen,
die Hilfe einer königlich preußischen Staatsanwaltschaft für uns
anzurufen, wie der Wortlaut seines Strafantrags beweise. Im übrigen
müsse er seine, Tessendorfs, Einmischung in politische Angelegenheiten,
_die ihn nichts angingen_, als eine Anmaßung zurückweisen. Nach Verlauf
eines Monats kam Tessendorf abermals in einem Schreiben an Freytag auf
den Vorgang zurück, worin er das taktlose Geständnis machte, _daß er bis
jetzt vergeblich auf die Veröffentlichung seines Schreibens im
„Volksstaat“ gewartet habe. Sollte die Veröffentlichung in Rücksicht auf
seine Person unterblieben sein, so wolle er mitteilen, daß man diese
Rücksicht nicht zu nehmen brauche._ Freytag erteilte ihm unter dem 28.
April eine gepfefferte Antwort, deren Schlußsätze lauteten:

  „Ihr ganzes Verhalten in der vorliegenden Sache gibt mir den Beweis,
  daß _Sie Ihre Karriere als königlich preußischer Staatsanwalt und
  Polizeimann machen werden, auch wenn Ihr strammes Auftreten gegen die
  Herren Bebel und Liebknecht nicht an die Glocke der Oeffentlichkeit
  gehängt wird. Vielleicht finden Sie noch einen anderen Weg, Ihre
  Zufertigung gedruckt zu sehen._“

Und Tessendorf machte Karriere. Er wurde schließlich Oberreichsanwalt
bei dem Reichsgericht zu Leipzig. Er starb aber, ohne seine Hoffnung und
seine Sehnsucht, preußischer Justizminister zu werden, erfüllt zu sehen.
Ein anderer streberischer Staatsanwalt lebte zu jener Zeit in Bielefeld,
der unter dem 26. April 1871 sogar eine öffentliche Warnung an die
Bevölkerung ergehen ließ, auf den „Volksstaat“ zu abonnieren. Eine
Unverschämtheit sondergleichen.

Tessendorf entsprach in vollem Maße den Erwartungen, die seine
Vorgesetzten und speziell Bismarck auf ihn gesetzt hatten. Die Zahl der
Verurteilungen, die in den nächsten Jahren in Berlin auf seinen Antrag
durch die berüchtigte siebente Deputation vorkamen, ist Legion, und die
Urteile wurden immer härter und grausamer. Aber mit der Verfolgung wuchs
auch der Widerstand der Parteigenossen, und wenn Tessendorf und die
Richter der siebenten Deputation am Ende ihres Lebens sich ehrlich
Rechenschaft über ihr Tun und Treiben abgelegt haben, mußten sie sich
sagen: _wir arbeiteten ohne Erfolg;_ wir haben viele Existenzen
vernichtet, viel Familienglück zerstört und manchen durch harte
Verurteilung in ein frühzeitiges Grab gebracht, aber die Bewegung, die
wir meistern wollten, meisterte uns. Wir sind die Unterlegenen. Die wir
vernichten wollten, blieben Sieger.

Im Jahre 1874 wurde von der erwähnten Deputation Most in Berlin wegen
einer Rede über die Pariser Kommune mit anderthalb Jahren Gefängnis
bedacht. Der Schriftsetzer Genosse Heinsch, einer der besten
Organisatoren Berlins, wurde wegen Abdrucks eines Gedichtes zu einem
Jahre Gefängnis verurteilt. A. Kapell vom Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein erhielt neun Monate, die das Kammergericht auf drei
Monate reduzierte, Frohme erhielt ebenfalls neun Monate, die das
Kammergericht auf sechs herabsetzte. Eine ganze Reihe anderer
Parteigenossen wurde mit gleich hohen und zum Teil noch höheren Strafen
belegt, und in fast allen diesen Prozessen handelte es sich um
Nichtigkeiten, die vor einem anderen Gericht mit wenigen Wochen
Gefängnis oder einer Geldstrafe bedacht worden wären. Die Nervosität
nahm in gewissen Kreisen immer mehr zu. In ganz Preußen wurden im Jahre
1874 in 104 Prozessen 87 Lassalleaner zu 211 Monaten und 3 Wochen
Gefängnis verurteilt. Aehnlich war es in Sachsen, in dem ebenfalls die
Urteile immer härter wurden. Wo sonst Monate genügten, wurden jetzt
Jahre verhängt. Das Hauptkontingent der Verurteilten stellte unsere
Partei.

Mit den gerichtlichen Verurteilungen gingen die polizeilichen
Maßregelungen und Auflösungen Hand in Hand. In Berlin wurde Ende Juni
der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein polizeilich geschlossen. Als dann
Hasenclever, als Präsident des Vereins, den Sitz desselben nach Bremen
verlegte, wurde er wegen Verletzung des Vereinsgesetzes zu zwei Monaten
Gefängnis verurteilt. Weiter verfielen in Berlin der Auslösung die
Mitgliedschaft der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der
Arbeitermädchen- und -frauenverein, der Allgemeine Deutsche
Schuhmacherverein, der Allgemeine Deutsche Tischlerverein und der
Allgemeine Deutsche Maurerverein. In Frankfurt a.M. folgte die Polizei
ihrer Berliner Kollegin und löste gleichfalls die meisten der dort
bestehenden Arbeiterorganisationen auf. Auch in Hannover, Königsberg i.
Pr. und an anderen Orten verfielen sowohl der Allgemeine Deutsche
Arbeiterverein wie die Mitgliedschaften der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei der polizeilichen Auflösung. Sachsen und Bayern blieben
hinter dem preußischen Beispiel nicht zurück. So fielen die
Arbeiterorganisationen in München, Nürnberg, Erlangen, Hof. In München
wurde gleichzeitig eine Reihe gewerkschaftlicher Organisationen
aufgelöst, so der Allgemeine Deutsche Schneiderverein, die Gewerkschaft
der Maler, Lackierer und Vergolder, der Allgemeine Deutsche
Metallarbeiter- und der Allgemeine Deutsche Holzarbeiterverein.

Alle diese Vorgänge trugen sehr wesentlich dazu bei, selbst den
widerstrebendsten Elementen klarzumachen, daß diesen Gewaltmaßregeln
gegenüber, die beide Fraktionen ohne Unterschied trafen, erhöhter
Widerstand nur in der Vereinigung gefunden werden könne.

Da, am 11. Oktober 1874, schrieb mir Liebknecht nach dem Zwickauer
Landesgefängnis einen Brief, in dem es hieß:

  „Gestern war Tölcke hier; er will Vereinigung mit uns. Im selben Sinne
  schrieb mir heute Fritzsche. Auch Reimer und Hasselmann wollen, so
  schreibt Fritzsche, mindestens Verbündung; Verschmelzung sei noch
  unmöglich. Mehr mündlich — acht Tage vor Eröffnung des Reichstags
  besuche ich Dich. Nur so viel! Feststeht, daß die Deutschen
  Allgemeinen vollständig _en deroute_ (in Auflösung) sind; Tölcke — das
  Zusammentreffen mit ihm war zum Malen — gab zerknirscht zu, daß die
  heilige Organisation sich nicht bewährt habe.... Daß wir nicht gleich
  einen Einigungskongreß auf den 15. November berufen wollten, war ihm
  eine bittere Enttäuschung und noch mehr meine Erklärung, daß wir
  unmöglich den Rückschritt zu dem Lassalleschen Programm, auch einem
  reformierten, machen könnten. Tölcke meinte, man brauche ja Lassalle
  gar nicht zu nennen, überhaupt sei der Lassallekultus rein aus
  taktischen Gründen getrieben worden usw. usw. Tölcke kam im Auftrag
  Hasenclevers — der in Zeitz sitzt — und im Einverständnis mit Wode. Das
  ist die eine Clique — die andere ist Hasselmann-Reimer. Dazwischen als
  _would be_ (sogenannter) Schiedsrichter Fritzsche. Tölcke hat eine
  furchtbare Wut auf Hasselmann. Auf meine Frage, ob Hasselmann mit
  seinem, Tölckes, Schritt einverstanden sei, erwiderte er: Nein, aber
  er muß! Und auf meinen Einwurf: Wenn Ihr gegen Hasselmann, der den
  ‚Neuen Sozialdemokrat‘ hat, vorgeht, werdet Ihr einfach in die Luft
  gesprengt, ähnlich wie Schweitzer es seinerzeit mit der Opposition
  tat, antwortete Tölcke: Hasselmann könne nichts machen, juristischer
  Eigentümer des Blattes sei Hasenclever.“

Liebknecht schrieb weiter, er habe Tölcke erklärt, Definitives könnten
wir in Leipzig nicht abmachen, er solle zunächst nach Hamburg, dem Sitz
des Parteivorstandes, reisen und dort mit Geib, Auer usw. Rücksprache
nehmen. Vor Weihnachten sei ein Kongreß unmöglich, auch müsse vorher
erst eine Konferenz stattfinden, doch müsse man vorsichtig sein. „An
Verschmelzung ist nicht zu denken,“ schrieb Liebknecht zum Schlusse;
aber einmal A gesagt, treiben die Dinge weiter.

In Hamburg kam man überein, vorzuschlagen, zu gleichen Teilen eine
Kommission aus beiden Fraktionen zusammenzusetzen, die die Bedingungen
einer Einigung beraten und formulierte Vorschläge machen sollte. In
unserer Partei wurden diese Einigungsversuche, sobald sie bekannt
wurden, allgemein begrüßt. Als der Genosse Dotzauer-Zwickau mir am 15.
Oktober ins Gefängnis schrieb, er habe gehört, es seien
Vereinigungsverhandlungen im Gange, antwortete ich: Das sei mir bekannt.
Es freue mich, daß jetzt die Leute vom Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein an uns herankämen und die Hand zur Versöhnung reichten.
Er (Dotzauer) sei falsch unterrichtet, wenn er angebe, Liebknecht solle
den Antrag „kurzerhand“ abgelehnt haben, seine Schritte in Hamburg
bewiesen das Gegenteil. Dieses Friedensanerbieten hätten Liebknecht und
ich mit Genugtuung begrüßt. „Der Kampf, der acht Jahre gedauert, hat
mich ein gut Teil meiner besten Kräfte, sehr viel Zeit und andere Opfer
gekostet. Gut, daß er ein für allemal und siegreich zu Ende ist.“

Ueber die Treibereien von Hasselmann und Reimer schrieb Tölcke an das
Vorstandsmitglied Wode — der während der Haft Hasenclevers Vizepräsident
des Vereins war — unter dem 22. Oktober 1874 aus Iserlohn einen Brief, in
dem es hieß:

  „Nach Annoncen im ‚Volksstaat‘ gehen die ‚Eisenacher‘ mit der
  Besprechung des Einigungsprojekts flott vorwärts. Wenn wir nicht von
  ihnen überflügelt werden wollen, dann ist auch bei uns — zumal mit
  Rücksicht _auf die Abneigung der Herren Hasselmann und Reimer_ — die
  rastloseste Tätigkeit erforderlich. Ich mache Dich darauf besonders
  aufmerksam, daß Hasselmann und Reimer durch ihre Ansprache in Nr. 119
  des ‚Neuen Sozialdemokrat‘ offenbar die Absicht kundgeben, in betreff
  der Agitation durchaus selbständig vorgehen zu wollen, ohne sich um
  die Vereinsleitung irgendwie zu kümmern; für die Herren scheint der
  Vizepräsident gar nicht zu existieren.

  Es ist also nach allen Seiten hin ein rasches Handeln unerläßlich und
  halte ich es deshalb für notwendig, daß wir in folgender Weise
  vorgehen:

  1. Weil nach der Ansicht Hasenclevers weder von ihm, noch von Dir oder
  von Vorstandsmitgliedern in der Angelegenheit _amtlich_ Schritte getan
  werden können, und weil man allerwärts _von mir_ Benachrichtigung über
  den Erfolg meiner Reise erwartet, wird es zweckmäßig sein, daß ich auf
  unserer Seite die Korrespondenz wegen des Zusammentritts der
  gemischten Kommission und bis zu deren Zusammenkunft führe....

  2. Um gewisse Gegenagitationen unschädlich zu machen, muß ich
  schleunigst eine Konferenz sämtlicher Bevollmächtigter in Rheinland
  und Westfalen ins Wuppertal einberufen....“

Tölcke schlug dann eine solche auch für den Süden einschließlich Kassel
vor und erbot sich, die Reisen nach Frankfurt, Offenbach, Hanau und
Kassel zu übernehmen. Er fuhr dann fort in seinem Briefe:

  „Mit dem Leitartikel in der gestrigen Nummer des ‚Neuen
  Sozialdemokrat‘, besonders am Schluß desselben, hat Hasselmann seine
  Agitation _gegen_ den Kongreß bereits begonnen.“

Tölcke schloß seinen Brief mit dem Ersuchen um sofortiges und rastloses
Handeln.

Hasenclever war mit dem Vorgehen Tölckes einverstanden, doch wurde in
einer Besprechung, die er mit Liebknecht und einigen anderen bei sich im
Gefängnis zu Zeitz hatte, vereinbart, mit weiterem Vorgehen bis zu
seiner Entlassung, die anfangs Dezember erfolgte, zu warten. Alsdann
traten Vertreter der beiden Fraktionen in Berlin zusammen, um weitere
Schritte zu beraten. Dort beschloß man, daß jede Fraktion eine gleiche
Zahl Mitglieder wähle, und jede Fraktion ihrerseits einen Programm-und
Organisationsvorschlag ausarbeiten sollte. Nachher sollten die Vertreter
der beiden Fraktionen zusammentreten und auf Grund der beiden Entwürfe
einen solchen ausarbeiten, der dann dem Kongreß als Grundlage der
Beratung zu unterbreiten sei.

Die erste Kunde von den im Gange befindlichen Vereinigungsbestrebungen
erhielt die weitere Oeffentlichkeit durch eine Bekanntmachung
Hasenclevers an die Mitglieder seines Vereins, die er unter dem 11.
Dezember 1874 im „Neuen Sozialdemokrat“ veröffentlichte und die der
„Volksstaat“ abdruckte. Er teilte darin mit, daß, nachdem er wisse, daß
die große Mehrheit der Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins für die Vereinigung sei, die Unterhandlungen mit der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die ebenfalls den Wunsch einer
Vereinigung hege, aufgenommen worden seien. Der Wunsch der Lassalleaner,
daß die Anschauungen und Forderungen Lassalles in das gemeinsame
Programm aufgenommen werden sollten und eine einheitliche straffe
Organisation geschaffen werde, würden Berechtigung finden, doch solle
keine Ueberstürzung der Beratungen stattfinden, darin seien die
Vertreter der beiden Parteien einig.

Die erste Massenkundgebung für die Vereinigung sah Berlin. In der
betreffenden Versammlung waren die sieben auf freiem Fuße befindlichen
Reichstagsabgeordneten anwesend. Eine Einigungsresolution wurde
einstimmig angenommen, auch beschlossen, Most in Plötzensee und mich in
Zwickau von dem Vorgang zu unterrichten.

Zu einer zweiten Einigungsdemonstration wurde die Leichenfeier Borks in
Hamburg, der, wie ich schon berichtete, in der Nacht auf den 1. Januar
1875 gestorben war. Fünftausend Arbeiter beider Fraktionen folgten mit
zwanzig Fahnen dem Sarge des Mannes, der sowohl einer der Gründer
des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, wie später der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war und mit Leib und Seele der
Bewegung gedient hatte.

Am 19. Januar schrieb mir Eduard Bernstein einen Brief, worin er sich
entschuldigte, daß er als Schriftführer der großen Volksversammlung, die
in Berlin tagte und ihn beauftragte, Most und mir die herzlichste
Sympathie der Versammlung zu übermitteln, erst jetzt nachkomme:

  „Ich weiß nicht, wie Sie über die Einigung denken, doch glaube ich,
  daß wir insoweit einverstanden sind, daß die Idee einer solchen so
  lange als möglich festzuhalten ist. Illusionen mache ich mir gar
  nicht, doch weiß ich, daß das Einigungsbedürfnis auch unter den
  Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins groß ist. Leider
  sind die Leute so verstockte Lassalleaner, daß wir in dieser Hinsicht
  Konzessionen machen müssen.“

Die niedergesetzte Kommission bestand aus je acht Mitgliedern jeder
Fraktion. Die Lassalleaner hatten Hasenclever, Hasselmann, R. und O.
Kapell, Wode, Reinders, Hartmann und Walther, die Eisenacher Auer,
Bernstein, Bock-Gotha, Geib, Liebknecht, Motteler, Ramm und Vahlteich
delegiert. Am 14. und 15. Februar 1875 trat alsdann die Kommission in
Gotha zusammen, um aus den beiden stark abweichenden Programm- und
Organisationsentwürfen einen einzigen zu schmieden. Die Arbeit war keine
leichte, schließlich wurden Geib, Hasenclever, Hasselmann und Liebknecht
als Redaktionskommission niedergesetzt. Die Kommission konnte alsdann
verkünden, daß das Werk zur vollständigen Zufriedenheit der Teilnehmer
ausgefallen sei. Das war in der Partei nicht überall der Fall. Als
Liebknecht mir am 5. März den Programmentwurf ins Gefängnis sandte mit
dem Bemerken, mehr sei nicht zu erreichen gewesen, war ich wie aus den
Wolken gefallen. Bemerken muß ich, daß ich bereits wochenlang in großer
Aufregung und ärgerlicher Stimmung darüber war, daß weder Liebknecht,
wie er versprochen, sich bei mir hatte sehen lassen, noch weder er noch
Motteler es der Mühe wert erachtet hatten, mir irgendwelche Mitteilungen
über den Gang der Verhandlungen zu machen. Das glaubte ich erwarten zu
dürfen. Ich setzte mich nunmehr hin, schrieb einen mehrere Bogen langen,
sehr gereizten Brief, in dem ich das Programm scharf kritisierte und
einen Gegenentwurf machte, der allerdings übermäßig lang und detailliert
ausfiel. Ich hatte wieder einmal eine Probe geliefert, wie die
Abgeschlossenheit von der Außenwelt das Spintisieren begünstigt.
Liebknecht entschuldigte sich, daß er mich nicht besucht und Rücksprache
mit mir genommen habe. Aber er sei mit Arbeit überlastet, außerdem habe
er sich gesagt, daß eine Unterhaltung über heikle Dinge in Gegenwart
eines Beamten keine angenehme Sache sei. Das war richtig. Aber der
Gefangene, der weiß, daß draußen über Dinge verhandelt wird, die sein
ganzes Denken und Fühlen umfassen, sehnt sich nach einer Aussprache und
sei sie noch so beengt. Liebknecht hatte meinen Brief an den
Parteiausschuß nach Hamburg gesandt, wo er natürlich ebenfalls eine
ablehnende Aufnahme fand. Wenn ich schließlich meine eigenen Vorschläge
preisgab, so war damit meine Unzufriedenheit mit dem Programmentwurf
nicht beseitigt. Außer mir befand sich auch Bracke in heftiger
Opposition gegen den Entwurf. Als er mich zu meiner endlichen Befreiung
am 1. April beglückwünschte, sprach er sich in der erregtesten Weise
gegen das Programm aus. Bracke war in den letzten Jahren gezwungen
worden, sich eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen. Er kränkelte
unausgesetzt und mußte wiederholt Erholungsreisen unternehmen.
Andererseits zwangen ihn geschäftliche Rücksichten — er war der Leiter
des väterlichen Geschäfts und hatte mit der Gründung eines Druckerei-
und Verlagsunternehmens sich so schwere finanzielle Lasten auferlegt,
daß nur die umsichtigste Tätigkeit ihn vor schweren Verlusten schützen
konnte —, manchem wichtigen Vorgang in der Partei fern zu bleiben. So
war es gekommen, daß Bracke nicht zu der Vereinigungskommission gehörte,
was lebhaft zu bedauern war. Er teilte mir mit, er habe unter anderem
Geib geschrieben, das Programm sei in III geradezu unsinnig. Es sei ein
Skandal, die Parteigenossen mit diesem Blödsinn zu infizieren, den
Widerspruch dagegen aus den Parteikreisen zu verbannen und die
Parteimitgliedschaft von der Zustimmung zu demselben abhängig zu machen
usw. Es entspann sich zwischen uns eine Korrespondenz, in der Bracke mir
am 19. April schrieb:

  „Diesmal ist das Entschuldigen auf meiner Seite. Aber auch ich habe
  eben so wenig Zeit und muß gestehen, daß dieser ... Entwurf mir alle
  Freudigkeit genommen hat, für den Gegenstand einmal mit Gewalt eine
  Stunde herauszureißen.

  Ich bin ganz Deiner Meinung, daß dieser Entwurf gar nicht verbessert
  werden kann, sondern ein ganz neuer Entwurf gemacht werden müßte; ich
  bin nun gern bereit, mit Dir in Magdeburg zusammenzutreffen, werde
  aber schwerlich einen Entwurf machen können, denn woher die Zeit
  nehmen?“

Schließlich meinte er, da wir keine Zeit zu gründlicher Beratung hätten
und keiner auch die Zeit, einen Entwurf zu machen, es sich empfehle, den
Kommissionsentwurf als provisorisches Programm anzunehmen, nachdem man
durch Kritik denselben möglichst erschüttert habe. Mit der Detailmalerei
in meinem Entwurf könne er sich auch nicht einverstanden erklären, das
gehöre in eine Broschüre. Außer mit mir stand Bracke mit Marx und Engels
wegen des Programm-Entwurfs in Korrespondenz und veranlaßte Marx, seine
bekannte Kritik zu schreiben, die im Band IX, Seite 385 der „Neuen Zeit“
veröffentlicht wurde.

Ich hatte Veranlassung genommen, in einem Privatbrief an Engels unter
dem 23. Februar 1875 zu fragen: Was sagen Sie und Marx zu der
Einigungsfrage? Ich habe kein vollgültiges Urteil, denn ich bin außer
aller Kenntnis, ich weiß nur, was die Zeitungen berichteten. Ich bin
gespannt, zu hören und zu sehen, wie die Dinge liegen, wenn ich den 1.
April frei komme. Darauf antwortete mir Engels folgendes:

  „London, 18./28. März 1875.

  Lieber Bebel!

  Ich habe Ihren Brief vom 23. Februar erhalten und freue mich, daß es
  Ihnen körperlich so gut geht.

  Sie fragen mich, was wir von der Einigungsgeschichte halten? Leider
  ist es uns ganz gegangen wie Ihnen. Weder Liebknecht noch sonst jemand
  hat uns irgendwelche Mitteilung gemacht, und auch wir wissen daher
  nur, was in den Blättern steht, und da stand nichts, bis vor zirka
  acht Tagen der Programmentwurf kam. Der hat uns allerdings nicht wenig
  in Erstaunen gesetzt.

  Unsere Partei hatte so oft den Lassalleanern die Hand zur Versöhnung
  oder doch wenigstens zum Kartell geboten und war von den Hasenclever,
  Hasselmann und Tölckes so oft und so schnöde zurückgewiesen worden,
  daß daraus jedes Kind den Schluß ziehen mußte: wenn diese Herren jetzt
  selbst kommen und Versöhnung bieten, so müssen sie in einer verdammten
  Klemme sein. Bei dem wohlbekannten Charakter dieser Leute ist es aber
  unsere Schuldigkeit, diese Klemme zu benutzen, um uns alle und jede
  mögliche Garantien auszubedingen, damit nicht jene Leute auf Kosten
  unserer Partei in der öffentlichen Arbeitermeinung ihre erschütterte
  Stellung wieder befestigen. Man mußte sie äußerst kühl und mißtrauisch
  empfangen, die Vereinigung abhängig machen von dem Grade ihrer
  Bereitwilligkeit, ihre Sektenstichworte und ihre Staatshilfe fallen zu
  laufen und im wesentlichen das Eisenacher Programm von 1869 oder eine
  für den heutigen Zeitpunkt angemessene verbesserte Ausgabe desselben
  anzunehmen. Unsere Partei hätte von den Lassalleanern in theoretischer
  Beziehung, also in dem, was fürs Programm entscheidend ist, _absolut
  nichts zu lernen,_ die Lassalleaner aber wohl von ihr; die erste
  Bedingung der Vereinigung war, daß sie aufhörten, Sektierer,
  Lassalleaner zu sein, daß sie also vor allem das Allerweltsheilmittel
  der Staatshilfe wo nicht ganz aufgaben, doch als eine untergeordnete
  Uebergangsmaßregel unter und neben vielen möglichen anderen
  anerkannten. Der Programmentwurf beweist, daß unsere Leute theoretisch
  den Lassalleanerführern hundertmal überlegen — ihnen an politischer
  Schlauheit ebensowenig gewachsen sind; die „Ehrlichen“ sind einmal
  wieder von den Nichtehrlichen grausam über den Löffel barbiert.

  Zuerst nimmt man die großtönende, aber historisch falsche Lassallesche
  Phrase an: gegenüber der Arbeiterklasse seien alle anderen Klassen nur
  eine reaktionäre Masse. Dieser Satz ist nur in einzelnen
  Ausnahmefällen wahr, zum Beispiel in einer Revolution des
  Proletariats, wie die Kommune, oder in einem Land, wo nicht nur die
  Bourgeoisie Staat und Gesellschaft nach ihrem Bilde gestaltet hat,
  sondern auch schon nach ihr das demokratische Kleinbürgertum diese
  Umbildung bis auf ihre letzten Konsequenzen durchgeführt hat. Wenn zum
  Beispiel in Deutschland das demokratische Kleinbürgertum zu dieser
  reaktionären Masse gehörte, wie konnte da die sozialdemokratische
  Arbeiterpartei jahrelang mit ihm, mit der Volkspartei Hand in Hand
  gehen? Wie kann der „Volksstaat“ fast seinen ganzen politischen Inhalt
  aus der kleinbürgerlich-demokratischen „Frankfurter Zeitung“ nehmen?
  Und wie kann man nicht weniger als sieben Forderungen in dies selbe
  Programm aufnehmen, die direkt und wörtlich übereinstimmen mit dem
  Programm der Volkspartei und kleinbürgerlichen Demokratie? Ich meine,
  die sieben politischen Forderungen 1 bis 5 und 1 bis 2, von denen
  keine einzige, die nicht _bürgerlich_-demokratisch.

  Zweitens wird das Prinzip der Internationalität der Arbeiterbewegung
  praktisch für die Gegenwart vollständig verleugnet, und das von den
  Leuten, die fünf Jahre lang und unter den schwierigsten Umständen dies
  Prinzip auf die ruhmvollste Weise hochgehalten. Die Stellung der
  deutschen Arbeiter an der Spitze der europäischen Bewegung beruht
  _wesentlich_ auf ihrer echt internationalen Haltung während des
  Kriegs; kein anderes Proletariat hätte sich so gut benommen. Und jetzt
  soll dies Prinzip von ihnen verleugnet werden im Moment, wo überall im
  Ausland die Arbeiter es in demselben Maß betonen, in dem die
  Regierungen jeden Versuch seiner Betätigung in einer Organisation zu
  unterdrücken streben. Und was bleibt allein von Internationalismus der
  Arbeiterbewegung übrig? Die blasse Aussicht — nicht einmal auf ein
  späteres Zusammenwirken der europäischen Arbeiter zu ihrer
  Befreiung — nein, auf eine künftige „internationale
  Völkerverbrüderung“ — auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ der
  Bourgeois von der Friedensliga!

  Es war natürlich gar nicht nötig, von der Internationale als solche zu
  sprechen. Aber das mindeste war doch, keinen Rückschritt gegen das
  Programm von 1869 zu tun und etwa zu sagen: obgleich die deutsche
  Arbeiterpartei _zunächst_ innerhalb der ihr gesetzten Staatsgrenzen
  wirkt (sie hat kein Recht, im Namen des europäischen Proletariats zu
  sprechen, besonders nicht etwas Falsches zu sagen), so ist sie sich
  ihrer Solidarität bewußt mit den Arbeitern aller Länder, und wird
  stets bereit sein, wie bisher auch fernerhin die ihr durch diese
  Solidarität aufgelegten Verpflichtungen zu erfüllen. Derartige
  Verpflichtungen bestehen auch ohne daß man gerade sich als Teil der
  „Internationale“ proklamiert oder ansieht, zum Beispiel Hilfe,
  Abhalten von Zuzug bei Streiks, Sorge dafür, daß die Parteiorgane die
  deutschen Arbeiter von der ausländischen Bewegung unterrichtet halten,
  Agitation gegen drohende oder ausbrechende Kabinettskriege, Verhalten
  während solcher wie 1870 und 1871 mustergültig durchgeführt usw.

  Drittens haben sich unsere Leute das Lassallesche „eherne Lohngesetz“
  aufoktroyieren lassen, das auf einer ganz veralteten ökonomischen
  Ansicht beruht, nämlich daß der Arbeiter im Durchschnitt nur das
  _Minimum_ des Arbeitslohnes erhält, und zwar deshalb, weil nach
  Malthusscher Bevölkerungstheorie immer zuviel Arbeiter da sind (dies
  war Lassalles Beweisführung). Nun hat Marx im „Kapital“ ausführlich
  nachgewiesen, daß die Gesetze, die den Arbeitslohn regulieren, sehr
  kompliziert sind, daß je nach den Verhältnissen bald dieses, bald
  jenes vorwiegt, daß sie also keineswegs ehern, sondern im Gegenteil
  sehr elastisch sind, und daß die Sache gar nicht so mit ein paar
  Worten abzumachen ist, wie Lassalle sich einbildete. Die Malthussche
  Begründung des von Lassalle ihm und Ricardo (unter Verfälschung des
  letzteren) abgeschriebenen Gesetzes, wie sie sich zum Beispiel
  „Arbeiterlesebuch“ Seite 5 aus einer anderen Broschüre Lassalles
  zitiert findet, ist von Marx in dem Abschnitt über
  „Akkumulationsprozeß des Kapitals“ ausführlich widerlegt. Man bekennt
  sich also durch Adoptierung des Lassalleschen „ehernen Gesetzes“ zu
  einem falschen Satz und einer falschen Begründung desselben.

  Viertens stellt das Programm als _einzige soziale_ Forderung auf — die
  Lassallesche Staatshilfe in ihrer nacktesten Gestalt, wie Lassalle sie
  von Buchez gestohlen hatte. Und das, nachdem Bracke diese Forderung
  sehr gut in ihrer ganzen Nichtigkeit aufgewiesen; nachdem fast alle,
  wo nicht alle Redner unserer Partei im Kampf mit den Lassalleanern
  genötigt gewesen sind, gegen diese „Staatshilfe“ aufzutreten! Tiefer
  konnte unsere Partei sich nicht demütigen. Der Internationalismus
  heruntergekommen auf Amand Gögg, der Sozialismus auf den
  Bourgeoisrepublikaner Buchez, der diese Forderung _gegenüber den
  Sozialisten_ stellte, um sie auszustechen!

  Im besten Fall aber ist die „Staatshilfe“ im Lassalleschen Sinne doch
  nur eine einzige Maßregel unter vielen anderen, um das Ziel zu
  erreichen, was hier mit den lahmen Worten bezeichnet wird: „um die
  Lösung der sozialen Frage anzubahnen“, als ob es für uns noch eine
  theoretisch _ungelöste_ soziale _Frage_ gäbe! Wenn man also sagt: Die
  deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und
  damit der Klassenunterschiede vermittels der Durchführung der
  genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau und auf
  nationalem Maßstab; sie tritt ein für jede Maßregel, welche geeignet
  ist, dieses Ziel zu erreichen! — so kann kein Lassalleaner etwas
  dagegen haben.

  Fünftens ist von der Organisation der Arbeiterklasse als Klasse
  vermittels der Gewerksgenossenschaften gar keine Rede. Und das ist ein
  sehr wesentlicher Punkt, denn dies ist die eigentliche
  Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe
  mit dem Kapital durchficht, in der es sich schult, und die heutzutage
  bei der schlimmsten Reaktion (wie jetzt in Paris) platterdings nicht
  mehr kaput zu machen ist. Bei der Wichtigkeit, die diese Organisation
  auch in Deutschland erreicht, wäre es unserer Ansicht nach unbedingt
  notwendig, ihrer im Programm zu gedenken und ihr womöglich einen Platz
  in der Organisation der Partei offen zu lassen.

  Das alles haben unsere Leute den Lassalleanern zu Gefallen getan. Und
  was haben die anderen nachgegeben? Daß ein Haufen ziemlich verworrener
  _rein demokratischer Forderungen_ im Programm figurieren, von denen
  manche reine Modesache sind, wie zum Beispiel die „Gesetzgebung durch
  das Volk“, die in der Schweiz besteht und mehr Schaden als Nutzen
  anrichtet, wenn sie überhaupt was anrichtet. Verwaltung durch das
  Volk, das wäre noch etwas. Ebenso fehlt die erste Bedingung aller
  Freiheit: daß alle Beamte für alle ihre Amtshandlungen jedem Bürger
  gegenüber vor den gewöhnlichen Gerichten und nach gemeinem Recht
  verantwortlich sind. Davon, daß solche Forderungen wie: Freiheit der
  Wissenschaft — Gewissensfreiheit, in jedem liberalen Bourgeoisprogramm
  figurieren und sich hier etwas befremdend ausnehmen, davon will ich
  weiter nicht sprechen.

  Der freie Volksstaat ist in den freien Staat verwandelt.
  Grammatikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, wo der
  Staat frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mit
  despotischer Regierung. Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallen
  lassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im
  eigentlichen Sinne mehr war. Der „_Volksstaat_“ ist uns von den
  Anarchisten bis zum Ueberdruß in die Zähne geworfen worden, obwohl
  schon die Schrift Marx' gegen Proudhon und nachher das Kommunistische
  Manifest direkt sagen, daß mit Einführung der sozialistischen
  Gesellschaftsordnung der Staat sich von selbst auflöst und
  verschwindet. Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende
  Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient,
  um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist ist es purer Unsinn,
  von freiem Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat
  noch _gebraucht_, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit,
  sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die
  Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf, zu bestehen. Wir
  würden daher vorschlagen, überall statt _Staat_ „Gemeinwesen“ zu
  setzen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische „Kommune“
  sehr gut vertreten kann.

  „Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit“ ist auch
  eine sehr bedenkliche Phrase statt: „Aufhebung aller
  Klassenunterschiede“. Von Land zu Land, von Provinz zu Provinz, von
  Ort zu Ort sogar wird immer eine _gewisse_ Ungleichheit der
  Lebensbedingungen bestehen, die man auf ein Minimum reduzieren, aber
  nie ganz beseitigen können wird. Alpenbewohner werden immer andere
  Lebensbedingungen haben als Leute des flachen Landes. Die Vorstellung
  der sozialistischen Gesellschaft als des Reiches der _Gleichheit_ ist
  eine einseitige französische Vorstellung, anlehnend an das alte
  „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, eine Vorstellung, die _als
  Entwicklungsstufe_ ihrer Zeit und ihres Ortes berechtigt war, die
  aber, wie alle die Einseitigkeiten der früheren sozialistischen
  Schulen, jetzt überwunden sein sollten, da sie nur Verwirrung in den
  Köpfen anrichten, und präzisere Darstellungsweisen der Sache gefunden
  sind.

  Ich höre auf, obwohl fast jedes Wort in diesem dabei saft- und
  kraftlos redigierten Programm zu kritisieren wäre. Es ist der Art,
  daß, falls es angenommen wird, Marx und ich uns _nie_ zu der auf
  dieser Grundlage errichteten _neuen_ Partei bekennen können und uns
  sehr ernstlich werden überlegen müssen, welche Stellung wir — auch
  öffentlich — ihr gegenüber zu nehmen haben. Bedenken Sie, daß man _uns_
  im Auslande für alle und jede Aeußerungen und Handlungen der deutschen
  sozialdemokratischen Arbeiterpartei verantwortlich macht. So Bakunin
  in seiner Schrift „Politik und Anarchie“, wo wir einstehen müssen für
  jedes unüberlegte Wort, das Liebknecht seit Stiftung des
  „Demokratischen Wochenblattes“ gesagt und geschrieben. Die Leute
  bilden sich eben ein, wir kommandierten von hier aus die ganze
  Geschichte, während Sie so gut wie ich wissen, daß wir uns fast nie im
  geringsten in die inneren Parteiangelegenheiten gemischt, und auch
  dann nur, um Böcke, die nach unserer Ansicht geschossen worden, und
  zwar _nur theoretische_, wieder nach Möglichkeit gutzumachen. Sie
  werden aber selbst einsehen, daß dies Programm einen Wendepunkt
  bildet, der uns sehr leicht zwingen könnte, alle und jede
  Verantwortlichkeit mit der Partei, die es anerkennt, abzulehnen.

  Im allgemeinen kommt es weniger auf das offizielle Programm einer
  Partei an, als auf das, was sie tut. Aber ein _neues_ Programm ist
  doch immer eine öffentlich aufgepflanzte Fahne, und die Außenwelt
  beurteilt danach die Partei. Es sollte daher keinenfalls einen
  Rückschritt enthalten, wie dies gegenüber dem Eisenacher. Man sollte
  doch auch bedenken, was die Arbeiter anderer Länder zu diesem Programm
  sagen werden; welchen Eindruck diese Kniebeugung des gesamten
  deutschen sozialen Proletariats vor dem Lassalleanismus machen wird.

  Dabei bin ich überzeugt, daß eine Einigung auf _dieser_ Basis kein
  Jahr dauern wird. Die besten Köpfe unserer Partei sollten sich dazu
  hergeben, auswendig gelernte Lassallesche Sätze vom ehernen Lohngesetz
  und der Staatshilfe abzuleiern? Ich möchte zum Beispiel Sie dabei
  sehen! Und täten sie es, ihre Zuhörer würden sie auszischen. Und ich
  bin sicher, die Lassalleaner bestehen gerade auf _diesen_ Stücken des
  Programms wie der Jude Shylock auf seinem Pfund Fleisch. Die Trennung
  wird kommen; aber wir werden Hasselmann, Hasenclever und Tölcke und
  Konsorten wieder „ehrlich gemacht“ haben; wir werden schwächer und die
  Lassalleaner stärker aus der Trennung hervorgehen; unsere Partei wird
  ihre politische Jungferschaft verloren haben und wird nie wieder gegen
  Lassallephrasen, die sie eine Zeitlang selbst auf die Fahne
  geschrieben, herzhaft auftreten können; und wenn die Lassalleaner dann
  wieder sagen: sie seien die eigentlichste und einzige Arbeiterpartei,
  unsere Leute seien Bourgeois, so ist das Programm da, um es zu
  beweisen. Alle sozialistischen Maßregeln darin sind _ihre_, und
  _unsere_ Partei hat nichts hineingesetzt als Forderungen der
  kleinbürgerlichen Demokratie, die doch _auch von ihr_ in denselben
  Programm als Teil der „reaktionären Masse“ bezeichnet ist!

  Ich hatte diesen Brief liegen lassen, da Sie doch erst am 1. April zu
  Ehren von Bismarcks Geburtstag frei kommen und ich ihn nicht der
  Chance des Abfassens bei einem Schmuggelversuch aussetzen wollte. Da
  kommt nun gerade ein Brief von Bracke, der auch wegen des Programms
  seine schweren Bedenken hat und unsere Meinung wissen will. Ich
  schicke ihn daher zur Beförderung an ihn, damit er ihn lese und ich
  den ganzen Kram nicht noch einmal zu schreiben brauche. Uebrigens habe
  ich Ramm ebenfalls klaren Wein eingeschenkt, an Liebknecht schrieb ich
  nur kurz. Ich verzeihe ihm nicht, daß er uns von der ganzen Sache kein
  Wort mitgeteilt (während Ramm und andere glaubten, er habe uns genau
  unterrichtet), bis es sozusagen zu spät war. Das hat er zwar von jeher
  so gemacht — und daher die viele unangenehme Korrespondenz, die wir,
  Marx sowohl wie ich, mit ihm hatten — aber diesmal ist es doch zu arg,
  und _wir gehen entschieden nicht mit_.

  Sehen Sie, daß Sie es einrichten, im Sommer herzukommen, Sie wohnen
  natürlich bei mir, und wenn das Wetter gut, können wir ein paar Tage
  seebaden gehen, das wird Ihnen nach dem langen Brummen recht nützlich
  sein.

  Freundlichst Ihr

  F.E.

  Marx ist eben ausgezogen, er wohnt 41 Maitland Park Crescent NW,
  London.“

Unter dem 10. Mai schrieb alsdann Bracke an Marx mit Bezug auf meine
nunmehrige Stellung:

  „Ich hatte erst geglaubt, Bebel würde zu einem entschiedenen Vorgehen
  geneigt sein, aber einesteils seine angegriffene Gesundheit und die
  notwendige geschäftliche Rehabilitierungsarbeit, anderenteils
  dringende Bitten von Liebknecht scheinen ihn abgehalten zu haben.“

Es waren nicht allein Liebknechts Bitten, die mich veranlaßten, meiner
Unzufriedenheit über den Programmentwurf keinen öffentlichen Ausdruck zu
geben, es war das Drängen von allen Seiten: ich möge durch mein
Auftreten es nicht zu einem Eklat treiben und damit vielleicht die
Vereinigung unmöglich machen.

Diesem Verlangen gab ich nach, denn die Vereinigung lag auch mir am
Herzen. Ueberdies war das Drängen nach Vereinigung in der Partei so
stark, daß alle Rücksichten auf programmatische Bedenken schweigen
mußten. Schließlich konnten die gemachten Fehler später repariert
werden.

       *       *       *       *       *

Die Einigungsbestrebungen unter der Führerschaft wurden wesentlich
gefördert durch den Wiederzusammentritt des Reichstags, der die längere
Anwesenheit der Abgeordneten in Berlin gebot. Die Session wurde am 29.
Oktober 1874 eröffnet, aber schon am 30. Januar geschlossen. Die
Beteiligung unserer Vertreter an den Verhandlungen war keine lebhafte.
Die Verhandlungen über die Einigung der Partei nahmen das Interesse der
Abgeordneten mehr in Anspruch als die Beratungen des Reichstags,
obgleich denselben wichtige Vorlagen beschäftigten. So war unter anderen
der Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzes, einer Straf- und einer
Zivilprozeßordnung vorgelegt worden und ein Gesetzentwurf über den
Landsturm, zu dem später Liebknecht und Hasselmann das Wort nahmen.

Selbstverständlich wurde wieder der Antrag auf unsere Beurlaubung aus
der Haft während der Dauer der Session eingebracht, der diesmal
Hasenclever, Most und mich umfaßte. Zu der Begründung des Antrags nahm
Liebknecht das Wort, der sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, die
Prozesse, die unsere Verurteilung herbeigeführt, unter die Lupe zu
nehmen und die Urteile gründlich zu zerzausen. Besonders nachdrücklich
sprach er sich über die unwürdige Behandlung aus, die damals Most in
Plötzensee zuteil wurde.

Nach Liebknecht nahm Windthorst das Wort, der sich ebenfalls lebhaft
über die Behandlung politischer Gefangener aus dem Lager der
Althannoveraner beklagte. Dem Antrag auf unsere Freilassung könne er
aber in Rücksicht auf den Inhalt des Artikel 31 der Verfassung nicht
zustimmen, er wünsche aber, daß, wenn ein in Gefangenschaft befindlicher
Abgeordneter einen Antrag auf seine Beurlaubung stelle, die Regierungen
auf einen solchen Antrag bereitwillig eingingen und der Herr
Reichskanzler dafür eintrete. Bismarck nahm darauf das Wort und bemerkte
spöttisch, der „Herr Reichskanzler“ werde im vorliegen den Falle dafür
eintreten, daß der Verhaftete beurlaubt werde, wenn er darum bitte, denn
Reden wie die der beiden Vorredner habe man lange nicht im Reichstag
gehört, sie seien außerordentlich lehrreich und fehlten uns seit langem.
(Heiterkeit.) Der Reichstag ahnte nicht, daß er auf Grund des
ablehnenden Beschlusses, den er, ähnlich wie früher, faßte, in Bälde in
eine unangenehme Situation gebracht wurde. Die Verhandlungen über den
Antrag Liebknecht und Genossen waren am 21. November gewesen, aber
bereits am 12. Dezember sah sich der Abgeordnete Lasker, unterstützt
durch die Abgeordneten v. Bennigsen, Schenk v. Stauffenberg, v.
Forckenbeck, Dr. Hänel, Windthorst, v. Denzin, Dr. Schwarze und Fürst
Hohenlohe-Langenburg — also den Vertretern sämtlicher bürgerlichen
Parteien —, genötigt, den Antrag zu stellen:

  „Mit Rücksicht darauf, daß die am gestrigen Tage erfolgte Verhaftung
  des Reichstagsmitglieds Herrn Majunke infolge eines rechtskräftigen
  Strafurteils glaubhaft berichtet wird, die Geschäftsordnungskommission
  mit schleuniger Berichterstattung darüber zu beauftragen: 1. Ob nach
  Artikel 31 der deutschen Reichsverfassung die Verhaftung eines
  Reichstagsmitglieds _während der Session des Reichstags ohne
  Zustimmung_ des letzteren verfassungsmäßig zulässig ist; 2. ob und
  welche Schritte zu veranlassen sind, um einer Verhaftung von
  Mitgliedern des Reichstags infolge eines rechtskräftigen Strafurteils
  _während der Session_ des Reichstags ohne Zustimmung desselben
  vorzubeugen.“

Der Antrag, in dessen Beratung das Haus sofort eintrat, war lächerlich.
War, wie das Haus wiederholt und zuletzt erst am 21. November
entschieden hatte, der Artikel 31 der Verfassung auf die _Strafhaft_ von
Abgeordneten nicht anwendbar, dann hatten die zuständigen Behörden auch
das unbestreitbare Recht, einen Abgeordneten _während der Session_ in
Strafhaft zu nehmen. Nun hatte der Fall des Abgeordneten Majunke, der
als Redakteur der „Germania“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden
war, ungeheures Aufsehen erregt. Es war auch unzweifelhaft, daß seine
Verhaftung kurz vor Beginn einer Reichstagssitzung nicht ohne Bismarcks
Zustimmung erfolgte. Denn tatsächlich war das Urteil schon seit dem 23.
September rechtskräftig, man konnte also mit der Verhaftung Majunkes
ohne Schaden für die Rechtspflege auch bis zum Schluß der Session, Ende
Januar, warten, nachdem man es unterlassen, ihn vor Beginn der Session
in Haft zu nehmen. Aber das wollte Bismarck nicht. Er wollte offenbar
dem Zentrum für die Debatte am 4. Dezember einen Denkzettel geben; daß
damit auch der Reichstag moralisch geohrfeigt wurde, der sich diesen
Streich auf Grund seiner eigenen Beschlüsse gefallen lassen mußte, war
ihm sehr gleichgültig. Er fand es auch nicht einmal der Mühe wert, sich
zur Verhandlung einzustellen. Der Antrag Lasker wurde also der
Geschäftsordnungskommission überwiesen, die aber, wie vorauszusehen war,
sich über keinen Antrag zu einigen vermochte und in einigen Tagen mit
leeren Händen vor das Haus trat. Hier nahm die Debatte denselben
kläglichen Verlauf. Eine Reihe Anträge, die gestellt wurden, lehnte
stets irgend eine Mehrheit ab. Der Ausgang der Sache war für den
Reichstag so blamabel wie möglich.

Ich erwähnte die Debatte vom 4. Dezember als Grund für den Racheakt
Bismarcks gegen Majunke. In jener Sitzung hielt der katholische
Sozialpolitiker Jörg eine Rede über Bismarcks auswärtige Politik und die
Nichteinberufung des Bundesratsausschusses für die Kontrolle dieser
Politik. Bismarck, erbittert über einen Hirtenbrief der französischen
Bischöfe, von denen mehrere zu jener Zeit auch elsaß-lothringische
Reichsangehörige zu ihren Diözesanen zählten, worin die Bischöfe sich
über die deutschen Kulturkampfmaßregeln mißbilligend äußerten, hatte
eine Zirkulardepesche an die Gesandten des Reiches versendet, in der er
ausführte: Sollte sich herausstellen, daß es für das Deutsche Reich
nicht möglich sei, mit dem westlichen Nachbarn in einem dauernden
Frieden zu leben, dann werde man nicht abwarten, bis die Franzosen
vollkommen zum Losschlagen gerüstet seien, sondern werde den geeigneten
Moment selbst wählen und die Initiative ergreifen. Das war eine Drohung
mit Krieg, die große Beunruhigung hervorrief. Nach einem Bismarckschen
Wort in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ erhielt die Depesche die
historische Bezeichnung: die Kaltwasserstrahldepesche. Jörg sah in
diesem Vorgehen Bismarcks eine unverantwortliche Handlungsweise, die
leichtherzig das Reich großen Gefahren aussetzte. Auch beschwerte er
sich darüber, daß man das Zentrum für das Attentat Kullmanns, das dieser
an Bismarck im verflossenen Sommer in Kissingen begangen hatte,
verantwortlich mache. Jörg bezeichnete Kullmann als einen
Halbverrückten, für den das Zentrum keine Verantwortung übernehme.
Bismarck ging darauf in einer sehr aggressiven Rede gegen das Zentrum
los. Mit Hinweis auf das Geständnis, das Kullmann ihm, Bismarck, im
Gefängnis gemacht, daß er durch Lesen der Zentrumspresse zu dem Attentat
bestimmt worden sei, erhob er die Beschuldigung, das Zentrum trage an
dem Attentat die Mitschuld, Kullmann hänge ihm an den Rockschößen. Diese
Worte riefen einen ungeheuren Lärm hervor, aus dem wiederholte
Pfuis ertönten, die man aus der Mitte des Zentrums Bismarck
entgegenschleuderte. Der Hauptrufer im Streit war der spätere Präsident
des Reichstags, Graf Ballestrem.

Diesen Vorgang hatte Bismarck nicht vergessen, denn eine
Haupteigenschaft seiner Berserkernatur war, ein guter Hasser zu sein.
Mit seinem Hasse hat er mir immer imponiert, dagegen mißfiel mir im
höchsten Grade die kleinliche und gehässige Art, wie er seinem Hasse
Befriedigung verschaffte. Hier war ihm jedes Mittel recht.

In dieser Session trugen wir unerwartet einen Erfolg davon. Most hatte
sich in einer Petition beschwerdeführend über seine Behandlung in
Plötzensee an den Reichstag gewendet und eine gesetzliche Regelung der
Strafhaft beantragt. Die Petitionskommission, die darüber Bericht zu
erstatten hatte, konnte sich der Berechtigung der Mostschen Klagen nicht
entziehen. Bei der Verhandlung im Plenum, in der Liebknecht ebenfalls
das Wort nahm, wurde der folgende Antrag der Kommission mit großer
Mehrheit angenommen:

  „Die Petition dem Herrn Reichskanzler mit der Aufforderung zu
  überweisen, dahin zu wirken, daß in denjenigen Bundesstaaten, in
  welchen die Strafvollstreckung bislang nicht durch Gesetz geregelt
  ist, insbesondere im Königreich Preußen, von den Bundesregierungen
  schleunigst der Strafvollzug und das Gefängniswesen in einer Weise
  geordnet wird, daß dadurch der Vollzug der Strafen, namentlich der
  Gefängnisstrafen, im Sinne des Strafgesetzbuchs, insbesondere des § 16
  desselben, sichergestellt wird;

  den Herrn Reichskanzler ferner zu ersuchen, bei der königlich
  preußischen Regierung dahin zu wirken, daß der § 23 der Instruktion
  vom 24. Oktober 1837, der Justizministerialerlaß vom 24. November
  1851 (5c) und § 37 der Hausordnung für das Strafgefängnis bei Berlin,
  als mit dem § 16, Alinea 2, des Strafgesetzbuchs in Widerspruch
  stehend beseitigt werden.“

Meine Freilassung am 1. April 1875 — dem Geburtstag Bismarcks — nach
einunddreißigmonatiger Haft, war nicht nur ein Freudentag für meine
Familie und mich. Es gingen mir von allen Seiten aus der Partei eine
solche Menge Glückwünsche in Briefen und Depeschen zu, daß ich sagen
darf, auch ein großer Teil der Partei betrachtete den Tag als einen
Freudentag.

Für den 11. April hatte mein Wahlkreis eine große Empfangsfeier in
Glauchau veranstaltet, die ich mit meiner Familie besuchte. In der Rede,
die ich hielt, sagte ich mit Bezug auf die bevorstehende Vereinigung:
„Ich begrüße mit voller Freude die Mitglieder der anderen Fraktion, die
uns oft von dieser Stelle aus als Gegner gegenüberstanden; wir gehen
fortan nicht nur friedlich nebeneinander, wir kämpfen jetzt schon
gemeinsam miteinander für das hohe Ziel, dem wir zustreben. In Bälde
werden wir aber vereinigt sein in einem gemeinsamen Verband. So heftig
wir uns früher bekämpft, nunmehr werden wir um so gestärkter, mutiger
und furchtloser gegen den gemeinsamen Feind vorgehen. Der Erfolg wird
nicht ausbleiben.“ Die Stimmung auf dem Feste war die denkbar beste,
alle waren im Hinblick auf die stattgehabte Versöhnung wie von einem Alp
befreit. Im Juli folgten die Meeraner Genossen ebenfalls mit einem
großen Feste und später Hohenstein-Ernstthal.

Moritz Heß erlebte die Vereinigung nicht mehr. Er starb im April in
Paris. Karl Hirsch hielt die Leichenrede. In demselben Monat starb auch
Georg Herwegh, der sich seit Lassalles Tod der Partei ferngehalten
hatte, und zwar in Baden-Baden. In demselben Jahre sah sich die
„Frankfurter Zeitung“ veranlaßt, eine Sammlung für den ehemaligen
„Zuchthäusler“ August Röckel zu veranstalten, der in größter Not in Wien
lebte.



Vom Vereinigungskongreß zu Gotha bis zum Vorabend des
Sozialistengesetzes.



Das Einigungswerk


Der Vereinigungskongreß war auf den 25. Mai 1875 und die folgenden Tage
von dem vorberatenden Komitee einberufen worden. Nach jahrelangen
gegenseitigen erbitterten Kämpfen standen sich jetzt die bisher
feindlichen Brüder zu gemeinsamem Werke Auge in Auge gegenüber. Daß man
sich nicht gleich brüderlich umarmte, sondern zum Teil noch immer
mißtrauisch betrachtete, wer wird sich darüber wundern? Es bedurfte noch
großer gegenseitiger Rücksichtnahme und gegenseitig einer Behandlung,
als habe man es mit rohen Eiern zu tun, sollte es nicht zum
Aufeinanderplatzen der noch vorhandenen persönlichen und sachlichen
Gegensätze kommen. Neugierig und gespannt blickten unsere gemeinsamen
Gegner in jenen Tagen nach Gotha, ob das Vereinigungswerk gelinge. Und
es gelang nach einigen kleinen Reibereien über Erwarten und trug seine
Früchte.

Auf dem Kongreß waren 25659 Parteigenossen durch 127 Delegierte
vertreten. Davon entfielen auf den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein
16538 Mitglieder mit 71 Delegierten, auf die Sozialdemokratische
Arbeiterpartei 9121 Mitglieder mit 56 Delegierten.

Die Versammlung eröffnete W. Bock-Gotha im Namen des Lokalkomitees und
begrüßte die Anwesenden. Bock war einer der Mitbegründer der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach, und nun legte er zum
zweiten Male mit Hand ans Werk zur Gründung der neuen, größeren Partei.

Zu Vorsitzenden des Kongresses wurden Geib und Hasenclever gewählt. Bei
der Mandatprüfung erklärte ich mich für die Zulassung einer kleinen
Vereinigung von Lassalleanern in Leipzig, die sich vom Hauptverein
abgesplittert hatte. Solle Vereinigung sein, so ganze. Auer
widersprach. Mein Antrag fiel, doch ließ man den Vertreter der Sekte mit
beratender Stimme zu. Ich hatte also halb gesiegt. Weiter war von
Breslau der Antrag gestellt, die beiden Fraktionen sollten vor Eintritt
des Gesamtkongresses in die Beratung ihre Separatkongresse abhalten, um
ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen. Dagegen erklärte sich Auer.
Diese könnten ebensogut nach dem allgemeinen Kongreß abgehalten werden.
Die Eisenacher brauchten dazu einen Tag. Deren Abrechnungen stimmten,
wie die anwesenden Delegierten bezeugen würden. Der Kongreß finde nach
getroffenen Vereinbarungen der Vertreter der beiden Parteien statt.
Hintergedanken habe niemand gehabt. Bei den Eisenachern gelte die
Parole: Wir sind arm, aber ehrlich. Wir könnten den Kongreß nicht in die
Länge ziehen, daher seien wir gegen den Breslauer Antrag. Diese
Ausführungen Auers verletzten erklärlicherweise die andere Seite, und so
nahm _Fritzsche_ am folgenden Tage das Wort, um sich über die Aeußerung
Auers: „Wir sind arm, aber ehrlich“, zu beschweren. Diese Worte
erweckten den Verdacht, als gehe es im Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein unehrlich zu. _Geib_ beruhigte Fritzsche. Auer erklärte:
Er halte die Aeußerung unter den gegebenen Verhältnissen für
gerechtfertigt. Die Lassalleaner hätten selbst solche Angriffe erhoben
und dabei von „beiden Seiten“ gesprochen.

Dieses war der einzige ernstliche Mißton, der in den Verhandlungen zum
Vorschein kam.

In der Programmfrage war _Liebknecht_ Referent. Im Programm war der Satz
enthalten: Die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbeiterklasse
sein, „der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse
sind“. Ich beantragte, an Stelle des letzten Satzes zu sagen: Der
gegenüber alle anderen Klagen reaktionär sind. Vahlteich ging weiter und
beantragte die Streichung des ganzen Abschnittes. Sein Antrag wurde mit
12 gegen 111 Stimmen, der meine mit 58 gegen 50 Stimmen abgelehnt. Bei
der Spezialberatung der nächsten Forderungen beantragte ich, das
Wahlrecht für Staatsangehörige beiderlei Geschlechts zu fordern.
_Hasselmann_ erklärte sich gegen, _Auer_ für meinen Antrag. Derselbe
wurde mit 55 gegen 62 Stimmen abgelehnt. Nachträglich gab _Hasenclever_
die Erklärung ab: Viele Delegierte hätten gegen meinen Antrag gestimmt,
weil sie die Forderung durch den Ausdruck Staatsangehörigen gedeckt
hielten; ähnlich äußerte sich Liebknecht, er habe aus stilistischen
Gründen (beiderlei Geschlechts) gegen meinen Antrag gestimmt, in der
Sache selbst sei er mit mir einverstanden. Es wurden alsdann noch eine
Reihe kleinerer Verbesserungsanträge, die wir gestellt, angenommen. In
der Endabstimmung fand das Programm einstimmig Annahme. In seinen
prinzipiellen Sätzen lautete nunmehr dasselbe:

  1. Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da
  allgemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist,
  so gehört der Gesellschaft, das heißt allen ihren Gliedern, das
  gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem
  Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen.

  In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der
  Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der
  Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in
  allen Formen.

  Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel
  in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der
  Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung
  des Arbeitsertrags.

  Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der
  gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind.

  2. Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die Sozialistische
  Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den freien
  Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen
  Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die
  Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller
  sozialen und politischen Ungleichheit.

  Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im
  nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der
  Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, alle Pflichten, welche
  dieselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen, um die Verbrüderung
  aller Menschen zur Wahrheit zu machen.

  3. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die
  Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von
  sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der
  demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. Die
  Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem
  Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische
  Organisation der Gesamtarbeit entsteht.
Im weiteren folgten die Forderungen für die Demokratisierung des Staates
und die nächsten sozialen Forderungen.

Wie aus dem Programm hervorgeht, war der Name der vereinigten Partei:
„Sozialistische Arbeiterpartei.“ Ueber die vorgeschlagene Organisation
berichtete _Hasenclever_, die mit einigen Aenderungen ebenfalls nach der
Vorlage einstimmig angenommen wurde. Danach stand an der Spitze der
Partei ein Vorstand aus fünf Personen, die der Kongreß wählte. Für die
Kontrolle der Geschäftsführung des Vorstandes wurde eine
Kontrollkommission aus sieben Personen eingesetzt, deren Sitz der
Kongreß bestimmte und deren Wahl durch die Mitglieder der Partei an dem
Sitz der Kontrollkommission vorgenommen wurde. Außerdem wurde ein
Ausschuß von achtzehn Personen, über Deutschland verteilt wohnend,
gewählt, der als vorläufig richtende Instanz über den Parteivorstand zu
entscheiden hatte und bei besonders wichtigen Vorgängen zur Beratung von
seiten des Vorstandes eingeladen werden sollte. Die Leitung der
örtlichen Geschäfte wurde einem Agenten übertragen, den auf Vorschlag
der Mitglieder eines Ortes der Parteivorstand einsetzte. Man hoffte
damit einer Anklage wegen gesetzwidriger Verbindung von Vereinen aus dem
Wege zu gehen. Wie sich bald ergab, vergeblich.

Als Sitz des Parteivorstandes wurde auf meinen Vorschlag Hamburg
bestimmt. Weiter wurden die von mir vorgeschlagenen Gehälter für die
fünf Vorstandsmitglieder angenommen, wonach der geschäftsführende
Vorsitzende monatlich 65 Taler, sein Stellvertreter 15 Taler, die beiden
Schriftführer je 50 Taler, der Kassierer 35 Taler erhalten sollten.
Diese Sätze waren vorher unter uns vereinbart worden; ebenso schlug ich
im Namen der Eisenacher vor, in den neuen Vorstand drei Lassalleaner und
zwei Eisenacher zu wählen, was ebenfalls Annahme fand. Darauf wurden
_Hasenclever_ als erster, _Hartmann_-Hamburg als zweiter Vorsitzender,
_Auer_ und _Derossi_ als Schriftführer, _Geib_ als Kassierer gewählt.
Sitz der Kontrollkommission wurde Leipzig und ich deren Vorsitzender.

Offizielle Organe der Partei wurden der „Neue Sozialdemokrat“ in Berlin
und der Leipziger „Volksstaat“. Beide Blätter gingen in Parteieigentum
über.

Am 27. Mai abends halb 12 Uhr waren die Beratungen zu Ende und wurde der
Kongreß mit einem Hoch auf die Arbeiter aller Kulturstaaten und
nachfolgendem Gesang der Arbeitermarseillaise geschlossen.

       *       *       *       *       *

Bracke, der dem Kongreß aus Gesundheitsrücksichten fernbleiben mußte,
war am Schlusse desselben durch die erzielten Resultate in günstigerer
Stimmung. So schrieb er am 27. Mai an Engels:

  „Ich persönlich kann Ihnen noch keine Mitteilung sagen, da man das,
  was beschlossen ist, erst vor sich haben muß, ehe man urteilt. Sind
  diese Beschlüsse nicht unsinnig, werden wir auch keinen Unsinn machen.
  (Anspielung auf einen Brief Liebknechts an Bracke.) Jedenfalls war bei
  Liebknecht, Geib usw. der ernste Wille vorhanden, den begangenen
  Fehler wieder gutzumachen. Der Verlauf des Kongresses hat gezeigt, daß
  die Konzessionen des Entwurfes weit weniger wegen der Arbeiter nötig
  waren als aus persönlicher Rücksicht gegen Hasenclever usw. _Soweit
  bis jetzt ein Urteil möglich ist, bin ich mit dem Kongreß zufrieden,_
  denn derselbe hat gezeigt, daß die Arbeiter tatsächlich viel weiter
  sind als ich glaubte.“

Ich kam erst im Herbst dazu, Engels auf seinen Brief von Ende März zu
antworten. Ich schrieb:

  „Leipzig, den 21. Sept. 1875.

  Lieber Engels!

  Ich muß recht sehr um Entschuldigung bitten, daß ich Sie auf Ihren
  Brief von Ende März ohne alle Antwort gelassen. Ich kann Ihnen aber
  versichern, daß ich in den ersten drei bis vier Monaten nach meiner
  Freilassung keine ruhige Stunde gehabt, in der ich den Brief hätte
  beantworten können, und selbst heute fällt es mir schwer, die nötige
  Muße aufzutreiben.

  Mit dem Urteil, das Sie über die Programmvorlage fällten, stimme ich,
  wie das auch Briefe von mir an Bracke beweisen, vollkommen überein.
  Ich habe auch Liebknecht über seine Nachgiebigkeit heftige Vorwürfe
  gemacht, aber nachdem einmal das Malheur geschehen war, galt es, sich
  so gut als möglich herauszuziehen. Was der Kongreß beschlossen, war
  das Aeußerste, was zu erreichen war. Es zeigte sich auf der anderen
  Seite eine entsetzliche Borniertheit und teilweise Verbissenheit, man
  mußte mit den Leuten wie mit Porzellanpüppchen umgehen, wollte man
  nicht, daß der mit soviel Lärm in Szene gesetzte Einigungskongreß zum
  Jubel der Gegner und zur größten Blamage der Partei resultatlos
  auseinanderging. Schließlich gelang es aber dennoch, namentlich in der
  Personenfrage, derart zu operieren, daß _wir mit dem Resultat
  zufrieden sein konnten._ Es wird allerdings noch manchen Kampf gegen
  die Borniertheit und den persönlichen Egoismus zu kämpfen geben, aber
  ich zweifle nicht, daß auch diese Kämpfe, wenn wir geschickt
  operieren, ohne Schaden für das Ganze ausgefochten werden, und daß in
  zwei Jahren ein ganz anderer Geist die jetzt teilweise noch
  widerhaarigen Elemente durchdringt.

  Das Ganze ist eine Erziehungsfrage. Nachdem die Leute acht bis neun
  Jahre in Lassalle-Schweitzerschem Geiste erzogen worden sind, wollen
  sie sich nicht _sofort_ an die andere Methode gewöhnen, hier gilt's,
  Geduld haben.

  Die von mir bezeichnete Erziehungsmethode würde sich vielleicht
  erheblich abkürzen lassen, wenn wir hier den von allen Seiten
  herbeiströmenden Einladungen zu Versammlungen und Festreden genügen
  könnten. Im persönlichen Verkehr mit den Leuten ließen sich Vorurteile
  und Voreingenommenheiten rascher beseitigen, aber wir können nicht
  entfernt leisten, was verlangt wird.

  Ich speziell bin durch mein Geschäft ganz bedeutend lahm gelegt, und
  der Durchkrach bei der Landtagswahl hat niemand mehr gefreut als mich.
  Liebknecht und Motteler geht es, trotzdem sie in der Partei ihre ganze
  Stellung haben, nicht viel besser; denn ihre laufende Arbeit verträgt
  sich schlecht mit dem vagabundierenden Agitatorenleben, und dann haben
  wir in diesem Punkte auch schon zuviel geleistet, um noch große
  Sehnsucht danach zu empfinden. Lunge und Stimmorgane sprechen ja auch
  ein Wörtchen mit.

  _Im allgemeinen können wir mit dem Gang der Partei sehr zufrieden
  sein,_ jetzt sieht man erst, wie die frühere Bekämpfung die Kräfte
  zersplitterte, die Partei ist jetzt finanziell so gestellt, wie nie
  zuvor, und die Steuern gehen, trotz der schlechten Geschäftszeit, sehr
  pünktlich und regelmäßig ein.

  Ihrer freundlichen Einladung nach London konnte ich natürlich unter
  den oben geschilderten Umständen nicht nachkommen; ich möchte gerne
  einmal hinüber nach Old-England, aber vorläufig ist nicht daran zu
  denken. Vielleicht muß ich nächstes Jahr nach dem Rheinland, eventuell
  nach Holland in Geschäften, und dann ist der Weg zu Ihnen nicht mehr
  allzuweit.

  Wie ich gehört, ist Marx in Karlsbad, wahrscheinlich werde ich ihn
  aber nicht zu sehen bekommen; wie mir Liebknecht sagte, will er durch
  Bayern zurück. In ungefähr 14 Tagen werde ich nach Karlsbad kommen,
  ich will eine Geschäftstour nach Böhmen machen, dann wird er aber
  nicht mehr dort sein. Grüßen Sie Marx, wenn er zurückkehrt. Wollen Sie
  denn nicht Deutschland mal heimsuchen? Sie sitzen in England wie
  eingerostet.

  Freundschaftlichst grüßt Ihr ergebener

  Bebel.“

Die Antwort, die ich von Engels erhielt, bewies, daß er und Marx meinen
Brief in einem Sinne aufgefaßt hatten, der mit dem Inhalt desselben
nicht recht in Einklang zu bringen war. Engels schrieb:

  „London, 12. Oktober 1875.

  Lieber Bebel!

  Ihr Brief bestätigt ganz unsere Ansicht, daß die Einigung unsererseits
  überstürzt ist und den Keim künftigen Zwiespalts in sich trägt. Wenn
  es gelingt, diesen Zwiespalt bis über die nächsten Reichstagswahlen
  hinauszuschieben, wäre es schon gut....

  Das Programm, wie es jetzt ist, besteht aus drei Teilen:

  1. Den Lassalleschen Sätzen und Stichworten, die aufgenommen zu haben
  eine Schmach unserer Partei bleibt. Wenn zwei Fraktionen sich über ein
  gemeinsames Programm einigen, so setzen sie das hinein, worüber sie
  einig und berühren nicht das, worüber sie uneinig sind. Die
  Lassallesche Staatshilfe stand zwar im Eisenacher Programm, aber als
  eine aus vielen _Uebergangsmaßregeln,_ und nach allem, was ich gehört
  habe, war sie, ohne die Einigung, ziemlich sicher, im diesjährigen
  Kongreß auf Brackes Antrag an die Luft gesetzt zu werden. Jetzt
  figuriert sie als das eine unfehlbare und ausschließliche Heilmittel
  für alle sozialen Gebrechen. Das „eherne Lohngesetz“ und andere
  Lassallesche Phrasen sich aufoktroyieren zu lassen, war für unsere
  Partei eine kolossale moralische Niederlage. Sie bekehrte sich zum
  Lassalleschen Glaubensbekenntnis. Das ist nun einmal nicht
  wegzuleugnen. Dieser Teil des Programms ist das kaudinische Joch,
  unter dem unsere Partei zum größeren Ruhm des heiligen Lassalle
  durchgekrochen ist;

  2. aus demokratischen Forderungen, die ganz im Sinn und im Stil der
  Volkspartei ausgesetzt sind;

  3. aus Forderungen an den „_heutigen_ Staat“ (wobei man nicht weiß, an
  wen denn die übrigen „Forderungen“ gestellt werden), die sehr konfus
  und unlogisch sind;

  4. aus allgemeinen Sätzen, meist dem Kommunistischen Manifeste und den
  Statuten der Internationale entlehnt, die aber so umredigiert sind,
  daß sie entweder total _Falsches_ enthalten oder aber _reinen
  Blödsinn_, wie Marx das in dem Ihnen bekannten Aufsatz im einzelnen
  nachgewiesen.

  Das Ganze ist im höchsten Grad unordentlich, konfus,
  unzusammenhängend, unlogisch und blamabel. Wenn unter der
  Bourgeoispresse ein einziger kritischer Kopf wäre, er hätte dies
  Programm Satz für Satz durchgenommen, jeden Satz auf seinen wirklichen
  Inhalt hin untersucht, den Unsinn recht handgreiflich
  auseinandergelegt, die Widersprüche und ökonomischen Schnitzer (zum
  Beispiel: daß die Arbeitsmittel heute „Monopol der Kapitalistenklasse“
  sind, als ob es keine Grundbesitzer gäbe, das Gerede von „Befreiung
  der _Arbeit_“ statt der Arbeiterklasse, die Arbeit selbst ist
  heutzutage ja gerade _viel zu frei_!) entwickelt und unsere ganze
  Partei greulich lächerlich gemacht. Statt dessen haben die Esel von
  Bourgeoisblättern dies Programm ganz ernsthaft genommen,
  hineingelesen, was nicht darin steht und es kommunistisch gedeutet.
  Die Arbeiter scheinen dasselbe zu tun. Es ist _dieser Umstand allein_,
  der es Marx und mir möglich gemacht hat, uns nicht öffentlich von
  einem solchen Programm loszusagen. Solange unsere Gegner und ebenso
  die Arbeiter diesem Programm unsere Ansichten unterschieben, ist es
  uns erlaubt, darüber zu schweigen.

  Wenn Sie mit dem Resultat in der Personenfrage zufrieden sind, so
  müssen die Ansprüche auf unserer Seite ziemlich tief gesunken sein.
  Zwei von den Unseren und drei Lassalleaner! Also auch hier die Unseren
  nicht gleichberechtigte Alliierte, sondern Besiegte und von vornherein
  überstimmt. Die Aktion des Ausschusses, soweit wir sie kennen, ist
  auch nicht erbaulich: 1. Beschluß, Brackes und B. Beckers zwei
  Schriften über Lassallesches nicht auf die Parteischriftenliste zu
  setzen; wenn dies zurückgenommen, so ist es nicht die Schuld des
  Ausschusses und auch nicht Liebknechts; 2. Verbot an Vahlteich, die
  ihm von Sonnemann angetragene Korrespondenz für die Frankfurter
  Zeitung anzunehmen. Dies hat Sonnemann dem durchreisenden Marx selbst
  erzählt. Was mich noch mehr dabei wundert als die Arroganz des
  Ausschusses und die Bereitwilligkeit, womit Vahlteich sich gefügt hat,
  statt dem Ausschuß etwas zu pfeifen, ist die kolossale Dummheit dieses
  Beschlusses. Der Ausschuß sollte doch lieber dafür sorgen, daß ein
  Blatt, wie die Frankfurter, von allen Orten aus _nur_ durch unsere
  Leute bedient wird. —

  ... Daß die ganze Sache ein Erziehungsexperiment ist, das auch unter
  diesen Umständen einen sehr günstigen Erfolg verspricht, darin haben
  Sie ganz recht. Die Einigung als solche ist ein großer Erfolg, wenn
  sie sich zwei Jahre hält. Aber sie war unzweifelhaft weit billiger zu
  haben.“

Man sieht, es war kein leichtes Stück, mit den beiden Alten in London
sich zu verständigen. Was bei uns kluge Berechnung, geschickte Taktik
war, das sahen sie als Schwäche und unverantwortliche Nachgiebigkeit an,
schließlich war doch die Tatsache der Einigung die Hauptsache. Diese
trug logisch die Weiterentwicklung in sich selbst, dafür sorgten auch
nach wie vor unsere Freunde, die Feinde. Daran konnten auch
Beschränktheiten und Engherzigkeiten, wie sie der Parteivorstand in den
von Engels gerügten Fällen sich zuschulden kommen ließ, nichts ändern.
Erwähnt muß werden, daß damals die „Frankfurter Zeitung“ der von uns
vertretenen Richtung freundlich gegenüberstand, dagegen hatte der
Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit Sonnemann manchen Span
auszufechten gehabt. Daher war auf dieser Seite die Animosität gegen ihn
und seine Zeitung erklärlicherweise eine sehr starke.



Nachwehen.


So glatt, wie ich in meinem Briefe an Engels die Sachlage dargestellt
hatte, verlief indes die Einigung nicht überall. Namentlich platzten in
Hamburg, wo Hasselmann und Richter-Wandsbeck und ihr Anhang schürten,
die Geister oft heftig aufeinander. Auer, der als Parteisekretär in
Hamburg wohnte, sah diese Vorgänge als ziemlich bedenklich an. So
schrieb er mir am 15. September 1875: In der Parteimitgliedschaft sei
nach wie vor große Uneinigkeit, es sei fraglich, ob aus all dem
Teufelsquark nicht noch eine Spaltung hervorgehe. Und in einem Briefe
vom 25. September an mich wiederholte er seine Klagen. Auf dem
Parteikongreß 1876 wurde dann Richter-Wandsbeck wegen seines
parteischädigenden Treibens aus der Partei ausgestoßen.

       *       *       *       *       *

In Leipzig hatte der zum Reichstag gewählte Abgeordnete Dr. Stephani im
Frühjahr 1875 sein Mandat niedergelegt. Es kam zu einer Nachwahl, bei
der ich wieder als Kandidat der Partei aufgestellt worden war. Bei der
Wahl am 11. Mai erhielt ich 4018 Stimmen, 367 mehr als das Jahr zuvor
bei den allgemeinen Wahlen, mein nationalliberaler Gegner erhielt über
1000 Stimmen weniger, die auf einen Konservativen fielen. Ich war auch
als Landtagskandidat für den sächsischen Landtagswahlkreis
Meerane-Hohenstein-Ernstthal aufgestellt worden. Ich unterlag hier
gleichfalls, und zwar mit 694 gegen 899 Stimmen, die mein
nationalliberaler Gegner erhielt. Ich war über diese Niederlage, wie ich
in meinem oben abgedruckten Briefe an Engels bereits andeutete, sehr
zufrieden. Die Partei hatte sich um jene Zeit noch wenig mit den
Landtagswahlen befaßt. Das Wahlgesetz war zwar im Vergleich zu dem heute
bestehenden ein sehr günstiges, es forderte für den Wähler einen Zensus
von 3 Mark direkter Staatssteuer, die sächsische Staatsangehörigkeit und
ein Alter von 25 Jahren. Für das Recht, als Abgeordneter gewählt zu
werden, das sogenannte passive Wahlrecht, wurde ein Zensus direkter
Staatssteuer von mindestens 30 Mark, ein Alter von 30 Jahren und
dreijährige Staatsangehörigkeit verlangt. Trotzdem war die Zahl unserer
Wähler gering, da zu jener Zeit viele Arbeiter die Staatssteuer von 3
Mark, die mit einem Jahreseinkommen von 600 Mark verknüpft war, nicht
bezahlten. Erst mit der Einführung eines neuen Einkommensteuergesetzes
im Jahre 1876 änderte sich dieses zu unseren Gunsten infolge der höheren
Einkommeneinschätzung. Von jetzt ab begannen wir mit Erfolg uns an den
Wahlen zum Landtag zu beteiligen.

Um die stattgehabte Vereinigung immer mehr in Fleisch und Blut der
früher feindlichen Brüder überzuleiten, kamen wir überein, daß die
bekanntesten Persönlichkeiten aus den ehemaligen beiden Lagern
hauptsächlich in den Bezirken Versammlungen abhalten sollten, die ihnen
früher mehr oder weniger unzugänglich waren. So gingen Liebknecht und
Motteler nach Norden und Westen, Hasenclever, Dreesbach und andere nach
dem Süden und nach Sachsen, ich nach Altona-Hamburg, woselbst meine
Versammlungen ungemein stark besucht wurden, ebenso in Berlin, woselbst
ich im Tivoli eine Riesenversammlung abhielt. In Hamburg, Altona und
Umgegend erhielt die Bewegung einen neuen Stützpunkt in der Gründung des
„Hamburg-Altonaer Volksblattes“, das mit dem 1. Oktober 1875 ins Leben
trat. Hasenclever zog es jetzt vor, aus dem Vorstand aus-und in die
Redaktion des „Hamburg-Altonaer Volksblattes“ einzutreten.

       *       *       *       *       *

Für mich persönlich war damals die Situation keine angenehme. Unter dem
Widerspruch der Interessen zwischen Geschäft und Partei litt ich schwer,
darüber klagte auch Bracke in einem Briefe an mich Ende August. Es sei
schrecklich, Sklave eines Geschäftes zu sein. Aber wie loskommen? Er
trage sich mit dem Gedanken, sein Druck- und Verlagsgeschäft an die
Leipziger Genossenschaftsdruckerei zu verkaufen, aber andererseits habe
er wieder Bedenken. Er habe erdrückende Arbeit und ein schweres Defizit
zu tragen, das ihm Verlag und Druckerei verursache. Ich bewunderte bei
ihm die Heiterkeit des Gemüts, die er trotz aller Sorgen behielt. Da ich
um jene Zeit meinen späteren Associé gewonnen hatte, eine Verbindung,
die erst im nächsten Herbste durchgeführt werden konnte, wovon aber
Nachricht sich blitzschnell in Leipzig verbreitet hatte, entstand das
von den Gegnern genährte Gerücht, ich werde mich alsdann aus dem
Parteileben zurückziehen. Die erste Nachricht von diesem Geschwätz
erhielt ich durch einen Altenburger Genossen, der mir am 30. August
schrieb: Er habe bei seiner kürzlichen Anwesenheit in Leipzig von
verschiedenen Seiten gehört, daß ich einen Kompagnon erhielte,
Großindustrieller würde und dann mich langsam aus der Partei
zurückziehen wolle. Das habe er bei einem Arbeiterfest in Schmölln auch
Meeraner und Gößnitzer Genossen mitgeteilt und ihnen gesagt, sie müßten
diesen schmerzlichen Schlag, den sie von mir erhielten, überwinden. Da
sei es aber rührend gewesen, mit welch felsenfestem Vertrauen die
betreffenden Genossen geantwortet, das glaubten sie nicht, das hielten
sie für unmöglich. Mittlerweile habe er auch vernommen, daß es nicht
wahr sei. Er habe ihnen aber versprechen müssen, an mich wegen der Sache
zu schreiben, er bitte wegen seiner Zudringlichkeit um Verzeihung, ich
möchte aber dem Gerücht _öffentlich_ entgegentreten, ein Verlangen, das
zu erfüllen ich meiner unwürdig hielt.

Um diese Zeit — September 1875 — befand sich Most noch immer im Gefängnis
zu Plötzensee. Ich schrieb ihm zur Tröstung einen längeren Brief und
erkundigte mich, wie es ihm gehe. Daß seine Behandlung gegen früher eine
anständigere geworden war, hatte ich vernommen. Darauf schrieb er mir am
27. September:

  „Lieber Bebel! Wenn ich Dir sage, daß ich oft monatelang weder von der
  Partei noch von Parteigenossen ein Sterbenswörtchen höre, so kannst Du
  Dir denken, daß mich Dein Brief freute. Du mußt Dir meinethalben keine
  Sorge machen, es steht zwar (_lediglich_ wegen meiner kärglichen
  Lebensweise) faul genug mit mir, aber flöten gehe ich deshalb doch
  nicht. Mir geht es von Kindheit an, namentlich aber seit den letzten
  sieben Jahren, so nichtswürdig, daß ich immerhin ungemein viel
  aushalten kann.... Alle Nachrichten, die Du mir betreffend unsere
  Partei übermittelst, beweisen mir aufs neue, daß alle gegen uns
  inszenierten Verfolgungen fruchtlos waren und sind. Komme ich erst
  heraus, hoffe ich meine Freude zu haben. Und was meine Stimmbänder
  betrifft, so werden sie wohl noch ein Weilchen aushalten.... Was ich
  tue? Nun, ich ochse! Erstens schreibe ich für Geib, zweitens büffle
  ich französische Uebersetzungen und drittens löffle ich tüchtig
  Materialismus.... Man muß ja heutzutage entsetzlich viel gelesen
  haben, will man nicht als Schafskopf gelten.... Die Zeit vergeht mir
  verhältnismäßig sehr rasch. Geib meint, ich solle beantragen, daß man
  mich vorläufig entlasse, aber dieses habe ich nun schon dreimal
  abgelehnt, da solche Betteleien prinzip- und zwecklos sind.“



Reichstagsarbeit.


Ende Oktober 1875 wurde die neue Session des Reichstags eröffnet. Nach
einer Pause von fast dreieinhalb Jahren nahm ich zum erstenmal wieder an
dessen Beratungen teil. Es war auch die erste Session, in der die
Vertretung der Partei als die der geeinigten Partei vor die
Oeffentlichkeit trat. Das Auftreten der Fraktion war denn auch sofort
lebhafter, selbstbewußter und energischer als in irgend einer früheren
Session. Die Natur des Beratungsstoffs trug ebenfalls zu einem
lebhafteren Eingreifen bei.

Dem Reichstag war ein Gesetzentwurf zugegangen betreffend die Abänderung
des Titels 8 der Gewerbeordnung in Verbindung mit einem Gesetzentwurf
über die gegenseitigen Hilfskassen. Die Debatte über den Gesetzentwurf
in den verschiedenen Stadien seiner Beratung wurde von uns mit allem
Nachdruck geführt. Fast die gesamten Mitglieder der Fraktion beteiligten
sich zum Teil wiederholt an den Debatten und begründeten auch eine
größere Zahl Anträge zu den verschiedenen Paragraphen. In der
Arbeiterwelt hatte der Entwurf lebhafte Mißstimmung erzeugt und eine
Anzahl Petitionen hervorgerufen, unter denen namentlich die Petition der
Kommission der Krankenkassenvorstände _Berlins_ sehr ausführlich auf die
einzelnen Bestimmungen des Gesetzentwurfes einging.

Seitens der Fraktion war ich zum Redner in der Generaldebatte bestimmt
worden. Die Verhandlungen begannen am 6. November und wurden noch an
demselben Tage zu Ende geführt. Die Mehrheit liebte es, möglichst wenig
zu diskutieren und raschen Schluß zu machen. Ich nahm gegen den Entwurf
in der vorliegenden Fassung entschieden Stellung. Fraktion und Partei
standen damals auf dem Standpunkt, daß die Krankenkassen
_ausschließlich_ den Arbeitern gehörten, daß sie allein die Beiträge
zahlen und die _volle_ Selbstverwaltung besitzen sollten. Die
Haftpflicht beziehungsweise Unfallpflicht in allen ihren Konsequenzen
sei _ausschließlich_ den Unternehmern zu übertragen. Die Invaliditäts-
und Altersversicherung sei auf die Beiträge _beider_ Teile zu begründen.
Ich führte aus: Der Entwurf stelle die Arbeiter unter die Vormundschaft
der Behörden und der Unternehmer. Er verweigere den Arbeitern das Recht,
das jede andere Klasse für die Verwaltung ihres eigenen Vermögens
besitze, das Recht der unumschränkten Selbstverwaltung. Was
würde der Reichstag sagen, machten wir in einem Aktien- oder
Genossenschaftsgesetz solche bevormundende Vorschriften! Statt von
großen des Reiches würdigen Gesichtspunkten sei man von kleinlichen und
kleinlichsten Gesichtspunkten ausgegangen. Namentlich in Verbindung mit
dem § 4 des Haftpflichtgesetzes sei der Entwurf sehr bedenklich, da er
den Arbeitern in den Hilfskassen Lasten auferlege, die die
Haftpflichtversicherung der Unternehmer zu tragen habe. Behalte der
Gesetzentwurf im wesentlichen seinen jetzigen Charakter, werde er statt
Zufriedenheit große Unzufriedenheit in der Arbeiterwelt hervorrufen,
also das Gegenteil von dem, was er bezwecken solle. Der Entwurf wurde an
eine Kommission von 21 Mitgliedern verwiesen. Nachdem dieser Beschluß
gefaßt war, trat der Abgeordnete Miguel an mich heran und stellte die
Frage, ob ich bereit wäre, Mitglied der Kommission zu werden. Nach
erfolgter Umfrage bei den Fraktionsgenossen erklärte ich mich dazu
bereit. Als aber die Wahl erfolgen sollte, kam Miguel abermals zu mir:
er müsse zu seinem Bedauern mir mitteilen, daß die große Mehrheit seiner
Fraktion meine Wahl nicht wünsche. Er riet mir, mich mit dem Zentrum zu
verständigen. Ich lehnte dieses ab; es sei unserer unwürdig, bei einer
anderen Fraktion um einen Sitz in einer Kommission zu petitionieren. Der
Seniorenkonvent bestand damals schon, der die Verteilung der Mitglieder
der Kommissionen nach der Stärke der Fraktionen vornahm. Wir mit unseren
neun Mitgliedern wurden aber als Fraktion nicht anerkannt, dazu waren
mindestens fünfzehn erforderlich. So unterblieb meine Teilnahme an der
Kommission. Wir stimmten schließlich gegen das Gesetz, da wir mit
unseren Verbesserungsanträgen kein Glück hatten; sie wurden sämtlich
abgelehnt.

Eine zweite Vorlage, die unsere Beteiligung an den Verhandlungen
herausforderte, war die Strafgesetznovelle, durch die nicht weniger als
53 Paragraphen des Strafgesetzes, das erst fünf Jahre in Wirksamkeit
war, geändert oder neu eingeführt werden sollten. Die verbündeten
Regierungen wollten mit der Vorlage 14 neuen Vergehen die
strafrechtliche Verfolgung sichern. Bismarck war allezeit ein
Gewaltmensch; jede ihm unbequeme oder unangenehme Zeitströmung glaubte
er durch Anwendung von staatlichen Gewaltmitteln aus der Welt schaffen
zu können. So die katholische, die Polen-, die sozialistische Bewegung.
Und er ist von dieser Auffassung auch nicht bekehrt worden, obgleich am
Ende seines Lebens das gründliche Fiasko dieser Politik auf der flachen
Hand lag und er der Besiegte und nicht der Sieger war. Die
Strafgesetznovelle sollte im großen zuwege bringen, was bisher durch
Polizei und Richter mißlungen war. Es waren also insbesondere die
sogenannten politischen Paragraphen des Strafgesetzbuches, zum Beispiel
die §§ 95, 103, 110, 111, 113, 114, 117, 128, 130, 130a, 131 usw., die
entsprechend verschärft werden sollten. So sollte der § 130 folgende
Fassung erhalten: Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden
Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung gegen einander öffentlich
aufreizt, oder wer in gleicher Weise die Institute der Ehe, der Familie,
des Eigentums öffentlich durch Rede oder Schrift angreift, wird mit
Gefängnis bestraft. Aehnlich erweitert wurde der § 131. Es wurde an
seine Stelle etwas modifiziert der berüchtigte ehemalige preußische Haß-
und Verachtungsparagraph vorgeschlagen. Wir beobachteten die Taktik, uns
zunächst zurückzuhalten und den Liberalen, die mit dem Regierungsentwurf
sehr unzufrieden waren, den Vortritt zu lassen. Diese Taktik erwies sich
als richtig. Nicht nur Dr. _Hänel_ von der Fortschrittspartei, sondern
selbst die Nationalliberalen _Bamberger_ und _Lasker_ entwickelten
Anschauungen über die Freiheit der öffentlichen Meinung, denen wir
nichts hinzuzusetzen brauchten, die aber sehr abstachen
gegen die Haltung, die sie einige Jahre später dem zweiten
Sozialistengesetzentwurf gegenüber einnahmen. Ein Teil der Vorlage ging
an eine Kommission, der andere sollte im Plenum beraten werden. Unsere
eigentliche Beteiligung begann mit der Beratung des § 130, der am 27.
Januar 1876 auf der Tagesordnung stand. Graf Eulenburg, der Minister des
Innern für Preußen, begann seine Rede mit den Worten: Meine Herren, der
§ 130 ist gegen die Sozialdemokratie gerichtet. Der übrige Inhalt seiner
Rede bestand vorzugsweise in langen Zitaten aus dem „Sozialdemokrat“ und
„Volksstaat“ und aus einer Lassalleschen Rede aus dem Jahre 1863,
wodurch er unsere Staatsgefährlichkeit nachzuweisen suchte. Schließlich
bat er, den verbündeten Regierungen die geforderten Machtmittel gegen
uns zu bewilligen, sonst müsse man sich mit den jetzigen unzulänglichen
Gesetzesparagraphen begnügen, „_bis die Flinte schießt und der Säbel
haut_“. Die Rede verlief vollständig eindruckslos, und so hatte es
_Hasselmann_, der nach Eulenburg sprach, leicht, ihn zu widerlegen. Die
Regierung stehe verständnislos der sozialdemokratischen Bewegung
gegenüber, die doch nur die naturgemäße Frucht der bestehenden
wirtschaftlichen Mißstände sei. Die Forderungen im sozialdemokratischen
Programm seien die Heilmittel, die wir gegen die vorhandenen Uebel in
Vorschlag brächten. Auf die Anklage, wir reizten die Arbeiter in den
Volksversammlungen auf, stellte er die Frage, warum man nicht in diese
Versammlungen komme, um uns zu widerlegen? Den Klassenkampf hätten die
Gegner begonnen, und wie grausam und blutig sie ihn eventuell führten,
habe die Pariser Kommune gezeigt. Er erklärte schließlich, wir würden
den Kampf auf gesetzlichem Boden weiterführen, möge er noch so schwere
Opfer kosten. Das Ende der Debatte war, daß, nachdem ein Amendement der
Konservativen abgelehnt worden war, sich _keine_ Stimme für den Antrag
der Regierung erklärte, was große Heiterkeit hervorrief.

Die Parteipresse beantwortete die Rede Eulenburgs durch Abstattung ihres
Dankes für die agitatorische Wirkung derselben zugunsten der Partei, und
der Parteivorstand beschloß ihre Massenverbreitung. Auch der § 131 fand
in der neuen vorgeschlagenen Fassung im Reichstag keine Gegenliebe und
flog ebenfalls sang- und klanglos in den Orkus. Zum sogenannten
Arnimparagraph (§ 353a) hielt _Liebknecht_ eine kurze, aber sehr
wirkungsvolle Rede, die den lebhaften Widerspruch der Mehrheit des
Reichstags hervorrief.

Bei der dritten Lesung der Novelle empfand Bismarck das Bedürfnis, noch
einmal zum § 130 der Vorlage zu sprechen. Da dieser aber nicht mehr
existierte, nahm der Abgeordnete Freiherr von Nordeck zur Rabenau den
Antrag wieder auf. Bismarck ging darauf sofort aufs schärfste gegen uns
los. Er verlange, daß man den sozialistischen Agitationen auch im
Reichstag gebührend entgegentrete. Spreche im Hause ein sozialistischer
Abgeordneter, so sei es hergebracht, ihm zuzuhören, als spreche er aus
einer anderen Welt, mit der sich der Reichstag nicht zu befassen habe.
Man müsse den Gegengründen gegen den utopistischen Unsinn der
Sozialisten die weiteste Verbreitung geben; sei es doch so weit
gekommen, daß die Mörder und Mordbrenner der Pariser Kommune hier im
Reichstag eine öffentliche Lobeserhebung bekommen hätten, ohne daß eine
entgegengesetzte Ansicht ausgesprochen worden sei. Es seien das Gebilde,
die von den Verführten nur im Dunkel der Blendlaterne der Verführer
gesehen würden; wenn sie aber hinreichend an die Luft und Sonne gebracht
würden, so müßten sie in ihrer Unausführbarkeit und verbrecherischen
Torheit erkannt werden.

Diese Bismarckschen Anklagen richteten sich zweifellos gegen meine Rede
in der Session von 1871 zur Verteidigung der Kommune, denn seitdem waren
Reden über die Kommune im Reichstag nicht gehalten worden, und so
meldete ich mich zum Wort. Nachdem dann Windthorst und Bismarck noch
einmal gesprochen, zog der Freiherr v. Nordeck zur Rabenau seinen Antrag
mit der Motivierung zurück, Fürst Bismarck, der bei der zweiten Lesung
habe fehlen müssen, sei jetzt zum Worte gekommen, damit sei der Zweck
seines Antrags erreicht. Als Windthorst auf der Fortsetzung der Debatte
bestand, bestritt Simson, der kurze Zeit als Präsident den verhinderten
Forckenbeck vertrat, daß dieses möglich sei, und als nunmehr Sonnemann,
um mich zu Worte kommen zu lassen, den Antrag v. Nordecks zur Rabenau
wieder aufnahm, erklärte Simson, alsdann habe der Abgeordnete Valentin
den Schluß der Debatte beantragt. Ein Schlußantrag Valentins lag also
bereits wieder einmal auf dem Bureau zu geeigneter Verwendung vorrätig
vor. So schnitt man mir das Wort zur Entgegnung auf die Angriffe
Bismarcks ab. Ich versuchte nunmehr, in einer persönlichen Bemerkung
mich zu verteidigen. Ich tadelte, daß man mir nach den heftigen
Angriffen des Reichskanzlers auf meine Person das Wort zur Entgegnung
verweigert habe. (Wiederholte Zwischenrufe.) Es sei kein Zweifel, daß
die Angriffe des Reichskanzlers sich gegen mich persönlich richteten,
wie ich das mit Hinweis auf meine Reden im Jahre 1871 nachwies. Der
Reichskanzler habe sich über die häufigen Beleidigungen seiner Person
beschwert, da hätte er den guten Rat, den er dem Hause gab, zunächst mir
und meiner Partei gegenüber befolgen sollen. Seine Anklage, ich hätte
Mörder und Mordbrenner verteidigt, wies ich als eine mir zugefügte
Beleidigung zurück. Ich hätte die Männer der Kommune verteidigt, weil
sie nicht als Mörder und Mordbrenner angesehen werden könnten, sondern
als Männer, denen man bitter unrecht getan habe. Daß sie keine Mörder
und Mordbrenner gewesen seien, dafür spreche, daß drei hochangesehene
Regierungen, der Schweizer Bundesrat, die belgische und die englische
Regierung, verweigert hätten, die Flüchtlinge der Pariser Kommune, weil
sie keine Verbrecher seien, auszuliefern. Hier unterbrach mich der
Präsident: Meine Ausführungen seien nicht mehr persönlich, ich machte
sachliche Ausführungen, und da stünde Ansicht gegen Ansicht, das gehe
aber nicht innerhalb des Rahmens einer persönlichen Bemerkung. So mußte
ich auf weitere Ausführungen verzichten. Ich revanchierte mich aber in
einer Versammlung in Leipzig, in der ich meinem Herzen Luft machte.

Auch die Verhaftungsfrage der Abgeordneten kam durch einen
fortschrittlichen Antrag wieder zur Verhandlung, dem wir, da er eine
Halbheit war, einen weitergehenden korrekten Antrag gegenüberstellten.
Unser Antrag, den ich motivierte, fiel, aber auch der fortschrittliche
Antrag wurde mit 142 gegen 127 Stimmen abgelehnt. _Lasker_, der nach
seiner Haltung in der vorigen Session für den Antrag hätte stimmen
_müssen_, enthielt sich der Abstimmung, _v. Bennigsen_ fehlte als
entschuldigt.

Ein Vorgang, der auf dem nächsten Parteikongreß zur Sprache kam und
angegriffen wurde, betraf unsere Abstimmung über den Antrag von
Schulze-Delitzsch und Genossen, betreffend Zahlung von Diäten.
Liebknecht und ich hatten uns bei der zweiten Lesung über diesen Antrag
der Abstimmung enthalten, Hasenclever hatte dafür gestimmt und die
übrigen Kollegen, von denen Most in Hast war, waren bei der Abstimmung
nicht anwesend. Bei der dritten Lesung nahm ich im Namen der
_Gesamtheit_ das Wort und erklärte, daß wir uns sämtlich der Abstimmung
enthalten würden. Wir hätten es satt, beständig für den Papierkorb des
Bundesrats zu arbeiten, der Reichstag nehme jede Session mit stets
steigender Mehrheit den Antrag auf Diätenzahlung an, der Bundesrat werfe
ihn ebenso regelmäßig in den Papierkorb. Meine es der Reichstag ernst
mit der Diätenzahlung, dann solle er auch die ihm zu Gebote stehenden
Machtmittel anwenden, um sie zu erlangen. Er solle alsdann zunächst dem
Reichskanzler das Gehalt verweigern. Es sei eine Schande, dem Reichstag
zu verweigern, was alle anderen Parlamente in Deutschland erhielten. Wir
wollten dieses Spiel nicht weiter mitmachen und würden uns der
Abstimmung enthalten, da wir gegen den Antrag nicht stimmen könnten. Die
kurze Rede brachte mir zwei Ordnungsrufe ein. Den 10. Februar wurde die
Session geschlossen.



Meine Stellung zur Kommune.


Am 10. März 1876 hatte ich in Leipzig eine Disputation mit Bruno Sparig,
einem Hauptagitator der Leipziger Nationalliberalen, der in seiner Rede
über meine Stellung zur Kommune alle die Angriffe vorbrachte, die man
damals gegen die Kommune machte. Jene Versammlung war von beiden
Parteien gemeinsam einberufen, jede Partei bekam gleichviel
Eintrittskarten zur Verteilung, jede Partei wählte auch einen
Vorsitzenden, der den Vorsitz führte, während der Gegner redete. Von
unserer Seite war Julius Motteler dieser Vorsitzende, von seiten der
Gegner ein Direktor Peucker.

Ich erweise manchem meiner Leser einen Dienst, wenn ich meine damalige
Leipziger Rede, wenn auch gekürzt, hier zum Abdruck bringe:

  Direktor _Peucker_: Herr Bebel hat jetzt das Wort. (Der Redner wird
  beim Betreten der Tribüne mit stürmischem Beifall empfangen.)

  _Bebel_: Ich knüpfe an die letzten Worte des Herrn Sparig an.
  (Unruhe.) Herr Sparig erklärte, er habe noch so viel Tatsachen gegen
  die Kommune anzuführen, daß er noch zehn Abende damit zubringen
  könnte. (Unruhe.) Meine Herren, ich habe Herrn Sparig gleich anfangs
  die Offerte gemacht, daß, wenn die Disputation an einem Abende nicht
  beendigt sei, sie am nächsten oder an einem späteren Tage fortgesetzt
  werden solle. Wir könnten also morgen oder nächsten Montag die Debatte
  fortsetzen, wozu ich bereit bin. (Große Unruhe, Zischen.) Herr Sparig
  hat aber erklärt, es sei an einem Abende genug, die Sache würde dabei
  zum Austrag gebracht werden. (Bravo! Zischen.)

  Meine Herren, zunächst eine persönliche Erklärung meinen
  Parteigenossen gegenüber, die mir zum Teil heftige Vorwürfe gemacht
  haben, daß ich auf die Bedingung eingegangen bin, daß zu dieser
  Versammlung Karten ausgegeben wurden, weil dies gegen das Prinzip der
  Volksversammlungen verstößt. Meine Herren, ich würde nimmer auf diesen
  Vorschlag eingegangen sein, wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, daß
  im anderen Falle die Versammlung gar nicht stattgefunden hätte. Ich
  bin einzig und allein aus diesem Grunde darauf eingegangen, ich werde
  aber ein zweites Mal nicht darauf eingehen, weil, obgleich bei unserer
  Abmachung Herr Sparig sagte, man wolle, um nicht „unanständig“ zu
  erscheinen, bei dem Eingang nicht sammeln, um kein Geldgeschäft daraus
  werden zu lassen, dennoch von seiten des Herrn Sparig das Versprechen
  nicht gehalten, sondern der Vertrag verletzt und die Karten gegen Geld
  ausgeboten wurden. (Große Unruhe. Rufe: Das ist nicht wahr!) _Bebel_:
  Wie können Sie da rufen, das ist nicht wahr? (Bravo! Zurufe.)

  Meine Herren! Zunächst bitte ich vor allem meine Parteigenossen, mich
  nicht durch Beifallsbezeigungen zu unterbrechen, aus dem einfachen
  Grunde, weil mir diese zu viel Zeit wegnehmen. Ich habe nur anderthalb
  Stunden Zeit. (Unterbrechung, Zischen.)

  Vorsitzender Direktor _Peucker_: Meine Herren, ich muß Sie ersuchen,
  alle derartigen Ausrufe wie „Das ist nicht wahr“ usw. zu unterlassen.
  Herr Bebel hat laut eingegangenem Kontrakt das Wort. Ich ersuche beide
  Parteien, Herrn Bebel ruhig reden zu lassen.

  _Bebel_: Meine Parteigenossen haben Herrn Sparig mit der größten Ruhe
  angehört, obgleich sie häufig Ursache gehabt hatten, ihr Mißfallen
  kund zu geben. (Fortgesetzte Unruhe seitens der Liberalen.)

  Ich glaube, meine Herren, wir haben der liberalen Partei heute den
  Beweis geliefert, daß ihre Behauptung unwahr ist, daß ein Gegner in
  einer sozialdemokratischen Versammlung nicht sprechen könne; Herr
  Sparig hat im Gegenteil ganz ruhig sprechen können, während
  Sie — (Große Unruhe. Rufe: Raus! Lärm seitens der Liberalen.)

  _Bebel_: Meine Herren! Ich hoffe, daß die Herren Gegner nicht
  provozieren wollen, daß die Versammlung polizeilich aufgelöst werde.
  Fast komme ich zu dieser Ueberzeugung. Herr Sparig hat ausgeführt, daß
  wir uns über die Mundtotmachung im Reichstag beschwert hätten, und er
  hat weiter erklärt, er nähme es den Reichsboten nicht übel, wenn sie
  nicht immer wieder die sozialdemokratischen Phrasen anhören wollten.

  Wir sind im Reichstage Volksvertreter so gut wie jeder andere, der
  dort sitzt, und wir haben nicht bloß das Recht, sondern auch die
  Pflicht, unsere Parteianschauungen dort zu vertreten, wo sich die
  Gelegenheit bietet. Sind wir einmal in einer Sitzung des Reichstags
  nicht zugegen, dann führt die liberale Presse und besonders das
  „Leipziger Tageblatt“ gewissenhaft Buch und man liest am nächsten
  Tage: Bei der und der Abstimmung haben die und die
  sozialdemokratischen Abgeordneten gefehlt. Reden die
  sozialdemokratischen Abgeordneten, dann heißt es: Sie sind
  unverschämt! Und schneidet man uns das Wort ab, auch wenn wir zum
  Reden herausgefordert wurden, so heißt die liberale Presse und Herr
  Sparig ein solch nichtswürdiges Verfahren gut....

  Herr Sparig ist dann auf die Verhandlungen des deutschen Reichstags im
  Jahre 1871 eingegangen und erwähnte dabei zuerst die Sitzung vom 25.
  Mai, in der es sich um die Annexion von Elsaß und Lothringen handelte.
  Hier hat nun Herr Sparig einen chronologischen Schnitzer begangen: er
  läßt meine Rede vom 10. April hinter der Rede vom 25. Mai kommen. In
  der Rede vom 10. April war es, wo ich erklärte, daß ich die Handlungen
  der Kommune zwar nicht in allen Stücken billige, und zwar aus
  Zweckmäßigkeitsgründen, daß ich aber nichtsdestoweniger die Kommune
  verteidige, und daß ich mich dazu um so mehr für verpflichtet halte,
  als selbst die liberale Presse, nachdem sie zuvor gewisse Handlungen
  der Kommune als Gewalttaten gebrandmarkt harte, nach wenig Tagen ihre
  Beschuldigungen als unwahr zurücknehmen mußte....

  ... Herr Sparig hat die Tätigkeit der Kommune als eine lange,
  ununterbrochene Kette von Verbrechen und Scheußlichkeiten hinzustellen
  versucht. Als Hauptschandtaten führte Herr Sparig die Erschießung der
  Generale Klement Thomas und Lecomte an, ferner die Erschießung der
  Geiseln und den Befehl zur Inbrandsetzung des Finanzministeriums, den
  er Ferré imputiert. Sonstige „Schandtaten“ hat er nicht anzugeben
  vermocht.

  Wie steht es aber nun mit diesen angeblichen Schandtaten? Am 18. März,
  dem Tag der Erschießung der Generale Klement Thomas und Lecomte, hat
  die Kommune, nach dem eigenen Geständnis des Herrn Sparig, noch nicht
  bestanden. Man kann sie also dafür unmöglich verantwortlich machen.

  An dem Tage, an dem die Geiseln erschossen worden sind — als welchen
  Tag Herr Sparig selbst den 24. Mai angibt —, hat die Kommune offiziell
  nicht mehr bestanden; der Kommunerat hat am 22. Mai die letzte sehr
  schwach besuchte Versammlung abgehalten, was Herr Sparig gleichfalls
  bestätigte. Wenn wirklich, wie Herr Sparig behauptet, was aber nicht
  erwiesen ist, Ferré und Raoul Rigault am 24. den Befehl zur
  Erschießung der Geiseln gegeben hätten, so würde es sich also nur um
  zwei Personen von 90 handeln, welche den Kommunerat bildeten, und
  diese zwei, nicht aber die Kommune, könnten verantwortlich gemacht
  werden.

  (Redner gibt hierauf einen kurzen geschichtlichen Abriß des Entstehens
  der Kommune, der Belagerung von Paris, des Mißtrauens der Bevölkerung
  gegen Trochu, der Uebergabe von Paris, des Ausschreibens der Wahlen
  zur Nationalversammlung, welche den Frieden ratifizieren sollte.)

  Die Wahlen wurden ausgeschrieben in einem Moment, wo zwei Drittel von
  Frankreich von den Deutschen besetzt waren, wo ein großer Teil des
  Landes im Belagerungszustand war, wo bei der Kürze der Frist von einer
  Verständigung über die zu Wählenden keine Rede sein konnte, wo endlich
  der größte Teil der bonapartistischen Präfekten und Beamten, die
  mehrere Jahrzehnte die niederträchtigste Wahlkorruption betrieben
  hatten und darauf eingeübt waren, noch im Amte saß. Unter solchen
  Umständen konnte unmöglich von freien Wahlen die Rede sein.

  Die Wahlen fielen auch danach aus. War auch die Majorität nicht
  bonapartistisch gesinnt, so war sie doch royalistisch und der Republik
  feindlich. Die Folge war, daß Gambetta zurücktrat und Herr Thiers an
  die Spitze der Regierung kam. Die Nationalversammlung, die damals
  bekanntlich in Bordeaux tagte und die ausdrücklich nur zu dem Zweck
  gewählt worden war, über die Friedensbedingungen zu beschließen, maßte
  sich jetzt an, über das Geschick Frankreichs zu entscheiden, und
  beging damit eine schwere Verletzung ihres Mandats. Die Regierung war
  jämmerlich genug, auf solche Anmaßungen einzugehen. Ja es kam in
  kurzer Zeit so weit, daß selbst die blauen Republikaner wie Jules
  Favre und Konsorten gänzlich aus der Regierung verdrängt wurden.

  Mit dieser Haltung der Versammlung in Bordeaux gingen weitere Schritte
  der Regierung gegen Paris Hand in Hand. Die Regierung verlangte von
  der Pariser Nationalgarde, und zwar im Widerspruch mit den
  Stipulationen des Friedensvertrags, daß sie die Waffen ausliefere. Der
  Belagerungszustand, der seit der Revolution vom 4. September in Paris
  aufgehoben war, wurde wieder eingeführt. Der als ein Feind der
  Republik bekannte Jesuiten-General d'Aurelles de Paladine wurde zum
  Oberkommandanten der Nationalgarde, der verhaßte bonapartistische
  General Vinoy zum Gouverneur von Paris ernannt. Diesen gegen Paris
  feindseligen Schritten schlossen sich eine Reihe anderer an. Infolge
  der Belagerung von Paris und des vollständigen Daniederliegens von
  Geschäften und Verkehr war früher eine Aufschiebung der fälligen
  Wechselzahlungen ausgesprochen worden. Die Regierung, die mittlerweile
  von Bordeaux nach Versailles übergesiedelt war, bestimmte jetzt, daß,
  obgleich Handel und Wandel noch gleich sehr daniederlagen, alle
  fälligen Wechselzahlungen sofort bezahlt werden müßten. Es wurde
  ferner befohlen, daß die fälligen Mieten — die bis dahin ebenfalls
  gestundet worden waren — sofort bezahlt werden müßten. Gleichzeitig
  wurde eine Stempelsteuer von 2 Centimes auf jedes Zeitungsblatt
  eingeführt. Die Folge von allem diesem war, daß nicht nur die
  Sozialisten, sondern daß der größte Teil der Pariser Bevölkerung, die
  kleinen Kaufleute, die Krämer, die Handwerker mit den revolutionären
  Elementen gemeinsame Sache machten. Sie erklärten, unter keinen
  Umständen auf die Bedingungen und Zumutungen eingehen zu können,
  welche die gegenwärtige Regierung stelle. Als die Regierung die
  Stimmung in Paris sah, wurde ein Handstreich von ihr versucht. Man
  wollte sich Paris mit Gewalt bemächtigen. In der Nacht vom 17. auf den
  18. März rückte der General Lecomte auf Befehl des Generals d'Aurelles
  de Paladine mit einer Anzahl Linienbataillone gegen den Montmartre, um
  sich der dorthin gebrachten mehreren hundert Geschütze, welche sich
  die Nationalgarde aus eigenen Mitteln während der Belagerung beschafft
  hatte, zu bemächtigen. Die Nationalgarde hatte tags zuvor von diesem
  Plane Kunde erhalten, sie war infolgedessen auf dem Posten. Als die
  Truppen heranrückten, fanden sie alle Zugänge sorgfältig besetzt.
  Lecomte sah die Unmöglichkeit ein, die Kanonen, wie er gehofft, ohne
  Schwertstreich wegzunehmen; er kommandierte Feuer. Wie es bei solchen
  Gelegenheiten geht, hatten sich neben der Nationalgarde auch eine
  Menge Volks, Männer, Frauen und Kinder, eingefunden, die bei dem
  Feuern notwendig wären mitgetroffen worden. Da erklärte die Linie: Wir
  schießen nicht. Statt das Gewehr auf die Nationalgarde zu richten,
  wandte sie die Gewehrkolben nach oben und fraternisierte mit dem Volk.
  Viermal forderte der General zum Feuern auf und viermal verweigerten
  die Soldaten den Gehorsam.

  Jetzt begann der General wütend zu schimpfen. Dies erbitterte seine
  Soldaten, und darauf wurde er von seinen eigenen Leuten verhaftet und
  im Laufe des Nachmittags erschossen. Dabei war kein Mitglied des
  Zentralkomitees der Nationalgarde zugegen, und die Kommune wurde erst
  wenige Tage später proklamiert.

  In diese Affäre mengte sich nun der General Klement Thomas, der in
  Zivilkleidern als Spion sich unter das Volk gemischt hatte und, als er
  auf das Benehmen der Soldaten schimpfte, erkannt wurde. Herr Sparig
  sagt, Klement Thomas sei ein Republikaner gewesen.

  Meine Herren! Es gibt in Frankreich eine Menge Leute, die sich
  Republikaner nennen, im Grunde aber nichts anderes sind wie bei uns
  die Nationalliberalen. Klement Thomas war einer von dieser
  verwässerten republikanischen Richtung. Früher Offizier, der den
  Dienst quittiert hatte, war er anfangs 1848 bei dem Journal „National“
  als Sitzredakteur beschäftigt, dem zugleich die Stelle des Duellanten
  bei den Streitigkeiten mit den Redakteuren anderer Blätter zufiel. Von
  der Februarregierung wieder in die Armee eingereiht und zum General
  erhoben, spielte er vor und während der Junischlacht 1848 die infamste
  Henkerrolle und setzte sich durch seine Barbarei gegen die Arbeiter
  ein trauriges Denkmal.

  Dieser selbe General wurde von Trochu zum Kommandanten der Pariser
  Nationalgarde ernannt, als der General Tamisier im November 1870 wegen
  des nicht gehaltenen Versprechens, daß Paris seine Kommuneregierung
  wählen solle, das Kommando niederlegte. Das war eine direkte
  Provokation. Klement Thomas hatte nach Antritt seines Kommandos nichts
  Eiligeres zu tun, als in allen seinen Handlungen die offenbarste
  Feindschaft gegen die Nationalgarden aus den Arbeiterquartieren zu
  zeigen. Und in dem Moment, wo die Aufregung über das Benehmen des
  Generals Lecomte aufs Höchste gestiegen war, erschien der verhaßte
  Mann auf der Bühne und nahm für Lecomte Partei. Er wurde festgenommen
  und gleich Lecomte von den ergrimmten Soldaten erschossen.

  Meine Herren! Das war eine Gewalttat, und ich bin weit entfernt, sie
  gut zu heißen; aber man muß sich die Lage vergegenwärtigen, und wenn
  man dies tut, wird man diese Handlungen entschieden entschuldigen
  müssen. Es sind von seiten der Reaktion ganz andere und größere
  Grausamkeiten begangen worden, und zwar nicht in einer Zeit der
  Aufregung und Leidenschaft, unter welcher die Kommune existierte,
  sondern man hat sie in ruhiger Zeit und mit kaltem Blute begangen. Man
  denke nur an die entsetzliche Behandlung der Kommunedeportierten in
  Neukaledonien, welche alles bisher Dagewesene an Grausamkeit
  übertrifft, und Jahre lang nach dem Kampfe fortgesetzt wurde. Solche
  Greuel fordern die Empörung und Verurteilung jedes Menschenfreundes
  heraus.

  Als die in Paris anwesenden Regierungsbehörden am 18. März sahen, wie
  die Stimmung der Stadt und der Soldaten war, fanden sie es für gut,
  sich eiligst aus dem Staube zu machen. Das Zentralkomitee der
  Nationalgarde nahm jetzt die Leitung der Verwaltung in die Hand.

  Herr Sparig glaubt der Versailler Regierung den Vorwurf machen zu
  müssen, daß sie am 18. März nicht zuverlässige Truppen nach Paris
  gesandt. Es gab aber für die Regierung überhaupt keine zuverlässigen
  Truppen. Die ganze französische Armee, soweit sie im Lande war, war
  empört über die Haltung der Regierung und sympathisierte mit dem Volk.
  Die einzig zuverlässigen Truppen: die Garden Napoleons, die Zuaven und
  Turkos und die ultramontanen bretonischen Regimenter, befanden sich in
  der deutschen Gefangenschaft. Und erst als Herr Thiers und Herr von
  Bismarck sich verständigt hatten, erwies der letztere dem ersteren die
  Gefälligkeit, ihm mehr als 80000 Mann der bezeichneten Truppen zur
  Verfügung zu stellen, welche jetzt wie Bestien und als wollten sie die
  Niederlage, die sie von den Deutschen erlitten, an ihren Landsleuten
  rächen, über Paris herfielen und in ihrer schauerlichen Blutarbeit
  über 30000 Menschen niedermetzelten. Diese Truppen haben sich für ewig
  gebrandmarkt, und sie haben später von ihren Kameraden in der Armee
  häufig es anhören müssen, daß es eine Schande und eine Schmach für sie
  sei, sich zu Würgern und Henkern des Pariser Volks hergegeben zu
  haben.

  Veranlaßt durch das Zentralwahlkomitee der Nationalgarde, wählte das
  Pariser Volk am 25. März die Kommune. Herr Sparig erklärte, es habe
  dabei eine große Wahlenthaltung stattgefunden, und scheint daraus
  schließen zu dürfen, daß alle, die nicht gewählt, Gegner der Kommune
  gewesen seien.

  In bezug auf die Wahl der Kommune kann ich mich auf einen Gewährsmann
  berufen, der ein wütender Sozialistenfeind ist, nämlich auf Herrn
  Johannes Scherr, der gegenwärtig in der „Gartenlaube“ eine Reihe von
  Artikeln veröffentlicht, die an Schimpfereien gegen die Kommune
  wahrhaftig nichts zu wünschen übrig lassen.

  Nun, in diesen Artikeln teilt Herr Scherr mit, daß von 490000 Wählern
  am 25. März 277300 zur Urne kamen und für die Kommune stimmten. Das
  sind 57 Prozent. Haben wir etwa eine solche Wahlbeteiligung in Leipzig
  einmal bei der Reichstagswahl oder gar bei der Stadtverordnetenwahl
  gehabt? Bei der letzteren haben bei der neuesten Wahl kaum 33 Prozent
  gewählt. Und was würde Herr Sparig sagen, wenn wir seine Logik
  akzeptieren wollten und erklärten, die übrigen 67 Prozent, die sich
  der Wahl enthielten, sind Sozialdemokraten? Er würde uns auslachen und
  mit vollem Recht. Dasselbe aber gebührt ihm mit seinem Urteil über die
  Kommune.

  Es ist eine Tatsache, daß die große Mehrheit der Bevölkerung von Paris
  sich für die Kommune erklärt hat; ja Herr Scherr geht sogar so weit,
  zu erklären, daß die Kommunewahl am 25. März mit einer Einmütigkeit,
  mit einer Freudigkeit ohne gleichen seitens der Bevölkerung begangen
  wurde, daß der Tag zu den schönsten gerechnet werden müsse, die Paris
  gesehen. Das Volk von Paris habe sich an diesem Tage in seinem vollen
  Glanze und von seiner besten Seite gezeigt, wie kaum bei einem anderen
  historischen Ereignis. So muß ein Gegner der Sozialdemokratie über die
  Kommune urteilen!

  Herr Sparig hat weiterhin die „Gesetzesmacherei“ der Kommune
  kritisiert. Er sagte, daß ein Dekret das andere gejagt, das eine das
  andere wieder aufgehoben oder verschärft habe.

  Aber war denn das anders möglich, wenn man einen solchen Augiasstall
  auszumisten hatte, wie es das kaiserliche Paris war? (Heiterkeit.) Da
  hatte man allerdings sehr viel zu dekretieren. Und es versteht sich
  von selbst, daß in einer solchen Situation nicht alles wie am
  Schnürchen geht. Der Krieg von 1870 war seitens der Deutschen sicher
  sehr gut vorbereitet, fragen Sie aber einmal den Generalstäbler
  Moltke, ob alles so glatt gegangen ist, und er wird Ihnen sagen, daß
  es da und dort gehapert hat. Wie viel mehr muß dies der Fall sein,
  wenn es sich um eine revolutionäre Bewegung handelt, wenn an Stelle
  des alten ein neuer Staat geschaffen werden soll, inmitten von
  Hunderttausenden von Feinden — der deutschen Armee und der Versailler,
  die mit aller Kraft und all ihren Mitteln darauf hinarbeiteten, der
  neuen Institution den Garaus zu machen.

  Die Dekrete aber, die Herr Sparig anführte, war er selber nicht
  imstande, als solche zu qualifizieren, die geeignet wären, die Kommune
  zu kompromittieren. Wenn er beispielsweise bezüglich des Dekrets der
  Kommune, betreffend die Nachtarbeit der Bäcker, sagt: er glaube nicht,
  daß auch die Sozialisten geneigt wären, morgens zum Kaffee mit einem
  altbackenen Dreierbrötchen vorlieb zu nehmen, so ist das ein so
  flacher Witz, daß ich es unterlasse, näher darauf einzugehen. Es
  handelte sich bei dieser Maßregel nicht darum, ob der verwöhnte Gaumen
  der Bourgeoisie ein Bedürfnis befriedigen konnte oder nicht, sondern
  darum, ob eine zahlreiche Klasse von Arbeitern permanent der
  aufreibenden und ruinierenden Nachtarbeit ausgesetzt sein sollte oder
  nicht. Jeder, der sich mit diesen Dingen einigermaßen beschäftigt hat,
  weiß, daß die Bäckergesellen infolge der Nachtarbeit und der ungemein
  langen Arbeitszeit überhaupt, die häufig 16, ja 18 Stunden beträgt,
  meist einem frühen Tode entgegengehen.

  Die Kommune hat nun allerdings auf solche Zustände ihr Augenmerk
  gerichtet, und das gereicht ihr zur Ehre. (Zustimmung.)

  Weiter führt Herr Sparig an, daß die Kommune zwar die Todesstrafe
  abgeschafft habe, aber das Erschießen eingeführt, und er bezog sich
  dabei auf ein Dekret, welches die Strafe des Erschießens allen denen
  androhte, die sich dem Dienste in der Nationalgarde, also der
  Verteidigung der Stadt entzögen.

  Die Kommune, von der Anschauung ausgehend, daß jedes stehende Heer ein
  Werkzeug in den Händen der Regierung sei, um das Volk zu unterdrücken,
  verlangte die Abschaffung des stehenden Heeres und führte die
  allgemeine Volksbewaffnung ein. Es war demgemäß jeder waffenfähige
  Mann verpflichtet zur Verteidigung der Stadt.

  Das benachteiligte keinen und war für alle gerecht, was von unserem
  Wehrsystem, das trotz der Phrasen von allgemeiner Wehrpflicht nur
  einen Teil des Volkes bewaffnet, allerdings nicht gesagt werden kann.
  Nun gab es freilich einen Teil, der für die Kommune nicht eintreten
  wollte, obgleich sie ringsum von Feinden umgeben war, die mit allen
  ihr zu Gebote stehenden Mitteln sie vernichten wollten.

  Die Kommune, von allen Seiten angegriffen und zum Kriegführen
  gezwungen, mußte in dieser Lage diejenigen Mittel anwenden, die in
  einem solchen Falle jeder kriegführenden Partei zu Gebote stehen und
  stehen müssen. Sie bedrohte jeden mit dem Tod durch Erschießen, der
  sich weigerte, die Waffen zur Verteidigung zu tragen.

  Es hat Tausende meiner Parteigenossen 1870 gegeben, die mit dem Kriege
  nicht einverstanden waren und die man nicht frug, ob sie mitgehen
  wollten. Sie mußten mitgehen und sie würden, im Falle der Weigerung,
  vor ein Kriegsgericht gestellt und ohne Gnade erschossen worden sein.

  Herr Sparig verwechselt also die Abschaffung der Todesstrafe in
  Zivilstrafrechtsfällen mit der militärischen Todesstrafe im Falle
  eines Krieges, was doch ein himmelweiter Unterschied ist. Die
  Todesstrafe zur Aufrechterhaltung der Disziplin im Kriege wird es
  geben, solange es Krieg gibt.

  Herr Sparig hat weiter ein Kommunedekret hervorgehoben, wonach
  diejenigen Werkstätten und Fabriken, die seitens der Arbeitgeber
  verlassen worden waren, von der Kommune in Beschlag genommen und
  denjenigen Arbeitern, welche bisher darin gearbeitet, zum Betrieb
  übergeben werden sollten. Ferner, daß eine Kommission gewählt werden
  sollte, um die Werkstätten abzuschätzen, damit die früheren Besitzer
  entschädigt werden könnten. Er hat sehr richtig hervorgehoben, daß die
  Kommune dies allgemein durchgesetzt haben würde, wenn sie die Macht
  dazu gehabt hätte. Ja, er hat auch recht, wenn er vermutet, daß wir
  allerwärts ähnlich vorgehen würden, wenn wir könnten. Wir wollen den
  Gegensatz zwischen Arbeitern und Arbeitgebern ausgleichen, da die
  Interessen von Arbeitern und Arbeitgebern sich heute feindlich
  gegenüberstehen. Die Arbeitgeber wollen möglichst geringen Lohn zahlen
  und möglichst lange arbeiten lassen; der Arbeiter will möglichst hohen
  Lohn bei möglichst geringer Arbeitszeit. Mit jeder Maschine, die
  erfunden wird, mit jeder neuen Fabrik wird dieser Klassengegensatz
  schärfer. Jede Bahn, die gebaut, jeder Telegraphendraht, der gelegt
  wird, trägt die Erkenntnis in weitere Kreise, verschafft uns neue
  Anhänger. Jeder Schritt zur Konzentration des Kapitals, zur
  Vernichtung der kleinen Unternehmer vermehrt die Spaltung und drängt
  zur Lösung, indem Produktion und Distribution assoziativ betrieben
  werden, das heißt alle Werkstätten, alle Fabriken, alle Arbeitsmittel
  müssen in den Händen der Gesellschaft sein und von dieser im Interesse
  und bei Gleichberechtigung aller Staatsbürger verwaltet werden. Jeder
  muß arbeiten und jeder hat seinen vollen Anteil am Gewinn, wie
  selbstverständlich auch am Verlust. An Stelle der Privatindustrie, an
  Stelle der wilden, unorganisierten Produktionsweise — die uns die
  gegenwärtige Krise auf den Hals gebracht hat — soll eine sozialistisch,
  das heißt gesellschaftlich organisierte Produktionsweise treten, wo
  einer für alle und alle für einen einstehen. Dazu hat die Kommune den
  ersten Schritt getan, und er war ein solcher, wobei die in Frage
  kommenden Arbeitgeber durchaus reinen Nachteil hatten, denn sie
  sollten den vollen Wert für ihre Werkstätten und Fabriken vergütet
  erhalten.

  Nach unserer Auffassung hat die Gesellschaft die Pflicht, sich so zu
  organisieren, daß für das Wohl aller ihrer Mitglieder gleichmäßig
  gesorgt ist, daß jedes ihrer Mitglieder in immer höherem Grade an den
  Errungenschaften der Kultur und Zivilisation auf allen Gebieten des
  menschlichen Lebens teilnehmen kann. Die Gegner behaupten zwar, dem
  Fortschritt zu huldigen, aber sobald es sich um eine Besserstellung
  der Gesamtheit handelt, schreien die, die im Fette sitzen und die
  Macht in Händen haben: Wir leben in der besten der Welten, es ist ein
  Verbrechen, wenn diese umgestaltet werden soll.

  Mit allen Mitteln verteidigen sie die Vorrechtsstellung, die sie inne
  haben, und dies geht so weit, daß Männer, die bei einem ganz
  untergeordneten Gesetz, das mit dem Sozialismus gar nichts zu tun hat,
  wie zum Beispiel das Hilfskassengesetz, sich herausnehmen zu sagen,
  daß das Gesetz gegen die Arbeitgeber ein Unrecht sei, und wer dafür
  ist, sich den Vorwurf entgegenschleudern lassen muß — denn als Vorwurf
  betrachtet man es —, du bist Sozialist. Wir haben das erst heute im
  „Tageblatt“ gelesen. Damit wird aufs deutlichste ausgesprochen: Wir
  sind nicht geneigt, den Unterdrückten auch nur die geringsten
  Konzessionen zu machen.

  Wenn überall, im kleinen wie im großen, in der Gesetzgebung wie im
  sozialen Leben dieser Klassengegensatz hervortritt, so versteht es
  sich von selbst, daß Revolutionen entstehen, wie in Paris. Und es ist
  meine feste Ueberzeugung — wie ich dieses auch in der hier angezogenen
  Reichstagsrede ausgesprochen habe —, daß, ehe wenig Jahrzehnte
  vergehen, alles was in Paris geschah, sich in ganz Europa wiederholt.
  An der Gesellschaft ist es, zur Einsicht zu kommen und sich zu
  bemühen, auf dem Wege der Gesetzgebung die vorhandenen
  Klassengegensätze auszugleichen.

  Was hat nun die Kommune weiter getan? Sie hat eine alte liberale
  Forderung, die seit Jahrzehnten im Programm der liberalen Partei
  gestanden, aber seitdem sie zur Herrschaft gelangt ist, in die
  Rumpelkammer geworfen wurde, verwirklicht. Die Kommune hat die
  Trennung der Kirche von Schule und Staat beschlossen und
  durchgeführt, und sie hat weiter beschlossen, das Kircheneigentum zu
  konfiszieren.

  Mich wundert nur, daß Herr Sparig dieses nicht erwähnt und eine
  Anklage auf Verletzung des Eigentums erhoben hat. Zum Vorwurf hat man
  es der Kommune vielfach gemacht. Da es Herr Sparig nicht erwähnte, so
  erwähne ich's, um ihn zu ergänzen. (Heiterkeit.)

  Schade nur, daß das, was die Kommune getan, andere längst vor ihr
  getan haben. Wenn in der Reformation, die 1517 begann, viele Fürsten
  auf die Seite Luthers traten, so geschah das nicht aus idealem
  Interesse, sondern weil sie sich mit dem reichen Kircheneigentum ihre
  großen Taschen füllen konnten. (Heiterkeit, Beifall.)

  Und als in den Vereinigten Staaten von Nordamerika vor 15 Jahren der
  große Krieg zwischen dem Süden und dem Norden ausbrach und schließlich
  der Norden die Sklaverei abschaffte, so war das ein solcher Eingriff
  in das Eigentum der Sklavenhalter, wie man sich ihn ärger nicht denken
  kann. Unsere Gegner finden, das, was ihnen nützt, sei recht und
  billig; tut es aber das Volk zu seinen Gunsten, dann ist es Verbrechen
  und Diebstahl.

  Dieselbe Partei, welche gegen die Kommune wegen Antastung des
  Eigentums die Anklage erhebt, hat noch zu Anfang der 60er Jahre, als
  sie auf Oesterreich noch gut zu sprechen war, ihm den Rat gegeben, die
  Kirchengüter zu konfiszieren, um seine kolossale Schuldenlast zu
  decken, und sie hat jubelnd Beifall geklatscht, als Italien in dieser
  Richtung vorging. Nun, die kirchlichen Korporationen haben ihr
  Eigentum auf Grund derselben Rechtstitel erworben, wie irgend ein
  Bourgeois sein Haus oder sein Grundstück. Wo bleibt da die Konsequenz?
  Nachdem die Kommune die Trennung der Kirche vom Staat und von der
  Schule ausgesprochen, dekretierte sie den obligatorischen und
  unentgeltlichen Unterricht, und nicht bloß in bezug auf das Schulgeld,
  sondern auch in bezug auf die Lehrmittel. Arme und Reiche sollten
  gleiche Erziehung genießen, und dadurch, daß der Staat für alle in
  gleicher Weise eintrat, sollte vermieden werden, daß der Neid und der
  Haß zwischen arm und reich schon in die jugendlichen Herzen gepflanzt
  werde. Zeigen Sie mir doch einen liberalen Staat, der auch nur
  entfernt etwas Aehnliches geleistet. (Beifall.)

  Herr Sparig hat sich weiter hämische Bemerkungen darüber erlaubt, daß
  die Kommune erklärt, ihre Politik und ihre Bestrebungen beruhten auf
  Wissenschaft. Die Kommune hat damit sagen wollen, daß sie alle
  Errungenschaften der modernen Wissenschaft in bezug auf
  Nationalökonomie, in bezug auf Rechtspflege und Volkswohlfahrt
  überhaupt für die Gesetzgebung möglichst allgemein nützlich zu
  verwenden gedenke und sich nicht an bestimmte Theorien und Axiome
  binde. Sie hat sich damit allerdings auf den Standpunkt der modernen
  Wissenschaft gestellt, auf jenen Standpunkt, der nicht von bestimmten
  Voraussetzungen und vorgefaßten Meinungen ausgeht, sondern an der Hand
  der Prüfung und Erfahrung das Beste ausfindig zu machen sucht.

  Wenn die Kommune nur Stückwerk geleistet hat, so erklärt sich das aus
  der Lage und aus den Verhältnissen, in denen sie sich befand. Bedenken
  Sie, daß die Kommune während ihrer ganzen Dauer nicht einen ruhigen
  Augenblick gehabt, daß sie fortwährend im Kriegszustand und Kampf sich
  befand — wie konnte es anders sein?

  Herr Sparig hat der Kommune einen besonderen Vorwurf daraus gemacht,
  daß sie, die angeblich die vollste Preßfreiheit gewollt habe, die
  Preßfreiheit aufhob, indem sie gegnerische Journale unterdrückte. Auch
  diese Handlungsweise erklärt sich sehr leicht aus der Zwangslage, in
  welcher sich die Kommune befand. Von allen Seiten angegriffen, mitten
  im Kampfe und in der Revolution, gebot ihr die Not, neben dem vor den
  Toren stehenden Feind nicht auch noch den Feind in den eigenen Mauern
  zu dulden. Sie mußte Journale unterdrücken, die Tag für Tag die
  heftigsten Angriffe und Verleumdungen gegen sie schleuderten, die mit
  dem vor den Toren stehenden Feind in Verbindung standen und auf ihren
  Sturz hinarbeiteten.

  Als 1870 der Krieg ausbrach, wurde in Deutschland in allen Provinzen,
  die man für gefährdet hielt, der Kriegszustand proklamiert. Die
  oppositionellen Blätter wurden unterdrückt und alle Persönlichkeiten,
  von denen man glaubte, daß sie dem Kriege feindlich seien, gefangen
  gesetzt. Wohlan, dasselbe Recht nehmen wir auch für die Kommune in
  Anspruch.

  Auch findet es Herr Sparig absurd, daß sich die Kommune über die
  Wegnahme des Oktrois seitens des Herrn Thiers beschwerte, sie, die
  doch eine Feindin der indirekten Steuern hätte sein wollen. Zu dieser
  Beschwerde hatte sie ein Recht. Das Oktroi gehörte der Stadt, und die
  Kommune war nicht in der Lage, mitten im Kampf ein neues Steuersystem
  einzuführen. Das Oktroi bildete die einzige regelmäßig fließende
  Steuerquelle, und sie mußte diese benutzen, wenn sie die Verteidigung
  und die Verwaltung im Gang erhalten wollte.

  Da Herr Thiers der Kommune die Steuern wegnahm, mußte sie zu Anleihen
  bei der Bank von Frankreich und bei Rothschild ihre Zuflucht nehmen,
  um ihre Bedürfnisse zu decken, und diese Anleihen wurden
  unbeanstandet, und zwar mit Zustimmung des Herrn Thiers, gewährt. Eins
  aber ist bei der Finanzverwaltung der Kommune zutage getreten, was
  auch Herr Sparig nicht anzugreifen vermochte. Das ist die große
  Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit der Kommune, der selbst aus
  gegnerischem Munde die größte Anerkennung gezollt worden ist.

  Mit vollem Recht konnte der Finanzminister der Kommune, Jourde, vor
  seinen Versailler Richtern sagen. „Ich habe ärmer das
  Finanzministerium verlassen, als ich es betreten habe!“ (Hört!) Man
  zeige mir doch die monarchischen Finanzminister, die gleiches von sich
  sagen können! (Heiterkeit, Zustimmung.) Herr Thiers, der 1830 als
  armer Advokat und Schriftsteller unter Louis Philippe ins Ministerium
  trat, verließ es 1836 als Millionär.

  Der erste Schritt der Kommune war, die hohen Gehälter abzuschaffen,
  ihre Mitglieder sollten für gute Arbeitslöhne arbeiten. Der erste
  Beamte sollte nicht mehr als jährlich 6000 Franken, das sind 4800
  Mark, erhalten. Der erste Bürgermeister von Leipzig bekommt jährlich
  15000 Mark. (Heiterkeit, hört!) Der erste General der Kommune erhielt
  ebenfalls nur 6000 Franken, aber als Herr Thiers kaum Präsident
  geworden war, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich eine
  Zivilliste von 3 Millionen Franken auswerfen zu lassen. (Hört!)

  Die Kommune hat ein Beispiel von Sparsamkeit gegeben, das allen
  Regierungen als Muster dienen könnte. Das hat sogar der
  Sozialistenfeind Herr Scherr anerkannt. Herr Sparig hat das freilich
  nicht erwähnt, drum erwähne ich's. (Heiterkeit.)

  Ich komme nun auf die Erschießung der Geiseln und die Brandstiftungen.
  Herr Sparig bemerkte in bezug auf letztere, er sei vierzehn Tage nach
  dem Fall der Kommune in Paris gewesen und habe die Verwüstungen mit
  eigenen Augen gesehen. Er hat uns sogar von einem Privathaus erzählt,
  das man habe anzünden wollen und das nicht in der Verteidigungslinie
  gelegen. Er hat uns nun freilich nicht gesagt, daß man das Haus
  wirklich angezündet hat. Und wie kann er, der während des Kampfes
  nicht dort war, überhaupt beurteilen, was zur Verteidigung nötig war
  oder nicht? Er beruft sich auf mündliche Versicherungen, die ihm
  geworden. Diese gelten in meinen Augen gar nichts. Die Verfolgungswut
  der Versailler und ihr bestialisches Wüten war so groß, daß nicht
  bloß Wochen, sondern noch Monate und Jahre lang nach dem Fall der
  Kommune jeder verfolgt wurde, der ein Wort der Sympathie für sie
  hatte. Die Furcht war so groß, daß nicht nur niemand sie in Schutz zu
  nehmen wagte, sondern viele auf sie schimpften, um jeden Verdacht von
  sich abzulenken. Und dabei zeigte sich die Erbärmlichkeit der
  Bourgeoisie im vollsten Lichte. Binnen wenig Tagen nach dem Fall der
  Kommune sind bei den Versaillern nicht weniger als 370000
  Denunziationen eingereicht worden. Die Pariser Bourgeoisie hat sich
  damals gerade so nichtswürdig benommen, wie 1866 die Leipziger
  Bourgeoisie, die damals bei dem preußischen General so viele
  Denunziationen vorbrachte, daß dieser voll Ekel erklärte, er wolle
  davon nichts mehr wissen.

  Und wenn Herr Sparig hier nun kommt mit einem angeblich von Ferré
  unterzeichneten Brandbriefe, der das Siegel des Kriegsministers trägt,
  das ebensogut der Kriegsminister des Herrn Thiers darauf gesetzt haben
  kann, so ist dies in meinen Augen ein Wisch, der verdient, daß ich ihn
  zerreiße. (Redner zerreißt das Papier. Bravo. Unruhe.) Meine Herren,
  es sind eine Menge von Aktenstücken, betreffend die Brandstiftungen,
  die Erschießung von Geiseln, die angebliche Wegnahme von Eigentum usw.
  als Fälschungen vor Gericht konstatiert worden.

  Ferré, der Inbrandlegung des Finanzministeriums auf Grund des hier
  vorgezeigten Aktenstücks angeklagt, hat die Echtheit desselben bis zum
  letzten Augenblick bestritten; er hat an gewissen Buchstaben
  nachzuweisen gesucht, daß dasselbe gefälscht sei; aber da der seitens
  der Versailler angestellte Handschriftenvergleicher die Echtheit
  behauptete, wurde Ferré verurteilt. Ebenso wurde Ferré der Erschießung
  der Geiseln angeklagt. Er selbst sagt aus, daß er nicht den Befehl zu
  deren Erschießung, sondern zu deren _Freilassung_ gegeben habe. Damit
  stimmen auch andere Berichte, namentlich der eines englischen Arztes,
  überein, und ebenso ist festgestellt, daß Geistliche, die als Geiseln
  verhaftet waren, später vor Gericht zeugten, also nicht erschossen
  sein konnten. Wohl ist ein Teil der 60 Geiseln erschossen worden, aber
  es wird behauptet, erst in dem Moment, wo dieselben das Gefängnis
  verließen und, von den Barrikadenmännern zur Unterstützung der
  Verteidigung aufgefordert, sich dessen weigerten. Da habe man sie mit
  Flintenschüssen verfolgt. Auch Raoul Rigault ist der Erschießung der
  Geiseln angeklagt worden. Nun, Raoul Rigault ist tot, er hat wie ein
  Mann gekämpft und ist mitten im Kampfe wie ein Mann gestorben; ihn
  kann man leicht anklagen, er ist tot und kann nicht antworten.

  Was haben die Geiseln für einen Zweck? Die Deutschen haben 1870 in
  Frankreich viele Geiseln genommen, und zwar weil die Franktireurs oder
  sonstige Bewohner Frankreichs den Deutschen auf Weg und Steg Abbruch
  zu tun bestrebt waren, indem sie die Proviantkolonnen überfielen, die
  Eisenbahnen, Brücken und Straßen zerstörten, einzelne Posten
  überfielen und niedermachten, kurz, schadeten, wo sie konnten. Die
  Franktireurs taten damit, was 1813 der preußische Landsturm gegenüber
  den Franzosen tat, und zwar bin ich in der Lage, Ihnen die damaligen
  Landsturmverordnungen vorlesen zu können, die vorschrieben, dem Feinde
  zu schaden und ihn zu vernichten, wie und wo sich die Gelegenheit
  biete.

  Die Deutschen wollten diese Kriegführung nicht als kriegsrechtlich
  anerkennen und alle Offiziere bekamen den Befehl, wo Soldaten auf die
  bezeichnete Weise geschädigt würden, Geiseln zu nehmen und diese ohne
  Gnade zu erschießen, wenn man die Schuldigen nicht ausfindig machen
  könne. Es sollten ferner von den Bewohnern der Dorfschaften
  Kontributionen erhoben, die Häuser oder die Dörfer, aus denen Schüsse
  auf die Gruppen gefallen, ohne Rücksicht auf Schuldige oder
  Unschuldige niedergebrannt werden. Diese Befehle sind oft vollzogen
  worden. Hunderte und aber Hunderte sind so ums Leben gekommen, Häuser
  und ganze Ortschaften wurden angezündet, ich habe darüber in der
  liberalen Presse keinen Tadel, sondern nur Billigung gefunden.

  Die Kommune befand sich den Versaillern gegenüber in einer ähnlichen
  Lage, und mindestens ebenso im Recht, wie die Deutschen gegenüber der
  irregulären Kriegführung der Franktireurs. Die Versailler haben
  während des wochenlangen Kampfes gegen Paris die ihnen in die Hände
  fallenden Gefangenen wider alles Kriegsrecht niedergemetzelt. Auf
  solche Weise sind die Kommune-Generale Duval und Flourens und viele
  andere Offiziere ums Leben gekommen. Ja, die Versailler haben sich
  nicht entblödet, auf die Verbandplätze zu schießen und die gefangenen
  Krankenpflegerinnen, nachdem sie dieselben geschändet, zu füsilieren.
  Das konnten nur Bestien tun, wie sie Herrn Thiers durch die Hilfe der
  Deutschen in den gefangenen Soldaten zur Verfügung gestellt wurden.

  Auf diese Schandtaten hin beschloß die Kommune, Geiseln zu nehmen und
  für jeden Nationalgardisten, der niedergemacht würde, drei Geiseln zu
  erschießen. Aber es blieb bei dem Beschluß, und als die Geiseln zum
  Teil schließlich erschossen wurden, da bestand, wie Herr Sparig selber
  zugegeben hat, die Kommune nicht mehr, sie kann also dafür auch nicht
  verantwortlich sein.

  Als nun die Versailler durch die Unterstützung der Deutschen, die
  ihnen den Weg dazu frei gaben, in Paris eindrangen — was ihnen ohne
  diese Hilfe kaum gelungen wäre —, da begannen sie in den Straßen der
  Stadt ein Gemetzel und ein Blutbad, wie es in der Geschichte fast
  unerhört ist. Alles, was den Versaillern in die Hände fiel, Männer,
  Weiber und Kinder, wurde niedergemacht, die Gefangenen wurden zu
  Hunderten, wie auf dem Kirchhof Père Lachaise, in Reihen aufgestellt,
  mit Mitrailleusen niederschmettert und die noch zuckenden Leichname,
  mit Kalk und Petroleum begossen, in die Gruben geworfen.

  Wie die Versailler gewütet, beweist die Tatsache, daß keine
  Verwundeten vorhanden waren. So kamen in wenig Tagen nach
  übereinstimmenden Aussagen 15-20000 Menschen ums Leben.

  In einer solchen Lage gab es für die Kommune kein Mittel, als sich auf
  jede mögliche Art ihrer Haut zu wehren; daß man durchaus berechtigte
  Handlungen der Besiegten als Schandtaten hinstellt, daran sind wir
  gewöhnt. Lesen Sie einmal das Buch Röckels über seine Gefangenschaft
  in Waldheim, worin er auch den Dresdener Maiaufstand von 1849
  schildert, dort werden Sie finden, daß man den Maikämpfern genau
  dieselben Verleumdungen seitens der Reaktion nachsagte, die man heute
  der Kommune nachsagt, nur war die Mairevolution in Dresden eine
  _bürgerliche_ Revolution. Und lesen Sie weiter die Geschichte des
  Wiener Oktoberaufstands von 1848, nach dessen Niederwerfung Robert
  Blum erschossen wurde; die Proklamation, die damals Fürst
  Windischgrätz über die Zustände in Wien in die Welt sandte, sie
  gleicht auf ein Haar jener, welche die Versailler über die Zustände in
  Paris während der Kommune der Welt vekündeten.

  Ich habe hier aus Blums Feder einen Aufsatz, worin er sich in der
  entschiedensten Weise über jene Proklamation des Windischgrätz
  ausspricht und entrüstet ausruft. „Was muß die Welt über Wien denken,
  von dem sie nichts erfahren kann, wenn man uns, die wir die Dinge
  kennen, solches zu sagen wagt!“

  Hierbei will ich aber auch erwähnen, wie Blum zu jener Zeit die
  Revolution auffaßte und wie er in einer Rede in der Aula erklärte:
  „Bleiben wir nicht auf halbem Wege stehen, führen wir den Kampf gegen
  unsere Gegner bis zu Ende und ohne Erbarmen.“ Und heute noch wird das
  Andenken Robert Blums von den Liberalen gefeiert, und mit Recht.

  Ganz wie damals in Wien Bürgertum und Reaktion, so standen sich in
  Paris die Kommune und die Versailler gegenüber. Die Kommune mußte bis
  zum letzten Atemzuge kämpfen, und sie hat heldenmütig gekämpft. Das
  können ihre grimmigsten Gegner nicht bestreiten. Und wie man 1848 und
  49 unsere besten Männer in Wien, Rastatt und Mannheim standrechtlich
  erschossen hat, so fielen auch die Männer der Kommune, die meisten mit
  dem Rufe: „Es lebe die Republik! Es lebe die Kommune!“

  Jetzt komme ich zu den Brandlegungen.

  Die Versailler haben den Kampf gegen Paris viele Wochen lang geführt
  und sie haben nicht mit Zuckererbsen geschossen; daß es dabei
  Verwüstungen absetzt, ist selbstverständlich. Aber während der letzten
  8 Tage, als sie mit Hilfe der Deutschen den Montmartre mit 50 schweren
  Geschützen besetzen konnten, haben sie mit glühenden Kugeln und selbst
  mit Petroleumbomben auf die Häuser geschossen und, wie nicht anders zu
  erwarten, viele davon in Brand gesteckt. So sind die meisten Brände
  durch die Versailler entstanden, die sie der Kommune in die Schuhe
  schieben. Als nun der Kampf in den Straßen entbrannte und seitens der
  Versailler mit wilder Grausamkeit geführt wurde, war die Kommune
  genötigt, einzelne Gebäude zu Verteidigungszwecken anzuzünden, um die
  Versailler für eine Weile zurückzuhalten. Ist denn diese
  Handlungsweise so ungerecht und unerhört, daß man sie als
  Mordbrennerei bezeichnen darf? Die Deutschen haben bei der Belagerung
  von Straßburg 500 bis 600 Häuser demoliert, nur um die Stadt zur
  Uebergabe zu zwingen, obgleich sie mit der Zivilbevölkerung keinen
  Krieg führten. Als die Festung Soissons übergeben wurde, betätigten
  die verschiedensten Berichterstatter, daß fast kein Haus in der Stadt
  unversehrt sei, daß ganze Straßen vernichtet, fast alle Dächer
  zerschossen, aber die Wälle der Festung intakt seien. Man beschoß die
  Privathäuser und verwundete und tötete die Bevölkerung, damit diese in
  ihrer Not die Offiziere zur Uebergabe zwang. Ich habe nicht gelesen,
  daß die liberale Presse diese Art der Kriegführung mißbilligt hätte.
  Und wie die Deutschen gegen die Festungen, so handelte Thiers gegen
  Paris, und da will man es der Kommune als Verbrechen anrechnen, wenn
  sie sich, so gut es ging, wehrte! Bei dem Aufstand 1849 in Dresden
  verlangte Herr von Beust von den zu Hilfe gerufenen Preußen, sie
  sollten die Stadt in Brand schießen, und das wäre geschehen, wenn
  nicht der kommandierende Graf von Waldersee erklärte, er hoffe auch
  ohne das mit den Insurgenten fertig zu werden. Allerdings hat man es
  aber dann an anderen Barbareien nicht fehlen lassen. So hat man zum
  Beispiel eine Anzahl Gefangene von der großen Elbbrücke in das Wasser
  gestürzt, und wenn sie versuchten, sich an dem Geländer festzuhalten,
  hackte man ihnen mit Säbeln die Finger ab. Aehnliche und schlimmere
  Grausamkeiten begingen die Versailler Ordnungsbanditen wochenlang in
  Paris.

  Der größte Teil der Brände entstand also durch die Beschießung von
  Paris seitens der Versailler, wie das auch ein Augenzeuge, der eben in
  jener Zeit in Paris war und sich schon seit 20 Jahren dort aufhielt,
  der italienische Abgeordnete Patrucelli della Gattinea, in der
  „Gazetta d'Italia“ öffentlich erklärt hat. Derselbe schrieb, man müsse
  annehmen, daß von zehn in Brand geratenen Häusern sicher neun durch
  die Versailler Bomben in Brand geschossen worden seien. Die
  Brandstiftungen der Kommune seien zu Verteidigungszwecken geschehen.
  Da nun die Zahl der angezündeten und niedergebrannten Häuser sich auf
  zirka zweihundert belief, so träfe hiernach die Kommune ein
  verhältnismäßig geringer Teil.

  Meine Herren, die Zeit, die mir gewährt ist, ist bereits weit
  vorgeschritten, ich habe nur noch wenige Minuten, ich werde aber die
  Belege für das von mir Angeführte entweder in der Duplik oder in einer
  zweiten Versammlung, die abzuhalten nötig sein wird, beibringen. Ich
  kann alles, was ich gesagt, durch gegnerische Aussagen als wahr
  beweisen....

Ich kam dann nochmals auf die Erschießung der Geiseln, die angeblich
Ferré veranlaßt habe, zu sprechen und fuhr fort:

  Die Kommune hat gehandelt, wie sie nach Lage der Dinge handeln mußte,
  und wer ihr Verfahren nicht billigt, wird es wenigstens erklärlich
  finden und entschuldigen.

  Mit der Anklage gegen Ferré schloß Herr Sparig, ich muß jetzt
  ebenfalls schließen. Sicher steht fest, daß die Kommune nichts getan
  hat — und ich hoffe, noch Gelegenheit zu haben, dies weiter zu
  beweisen —, dessen sie sich zu schämen brauchte, und daß sie an
  Gewalttaten nichts begangen hat, was nicht in Europa die monarchischen
  Regierungen in ähnlichen Momenten hundert- und tausendmal ärger getan
  haben. (Stürmischer, lang anhaltender Beifall.)

  Vorsitzender _Motteler:_ Meine Herren, wir müssen die Sache kurz
  machen; soeben hat mir der Herr Polizeidirektor mitgeteilt, daß er nur
  bis 12 Uhr die Versammlung tagen lassen könne.

Nachdem dann Sparig kurz, aber völlig belanglos geantwortet, nahm ich
nochmals das Wort:

  Meine Herren, Herr Sparig hat auf meine Rede nicht geantwortet, er hat
  sich auch nicht bereit erklärt, eine zweite Versammlung abzuhalten,
  obgleich wir bei der vorgeschrittenen Zeit heute nicht fertig werden
  können. Ich bin nun genötigt, auf einige der letzten Bemerkungen des
  Herrn Sparig kurz einzugehen. Herr Sparig hat seinen eigenen Mut
  gepriesen, daß er uns entgegen getreten ist. Ob ein großer Mut
  dazugehört, einer Partei entgegenzutreten, von der man behauptet, daß
  sie nur aus einem Häuflein phantastischer Köpfe besteht, will ich
  dahingestellt sein lassen.

  Herr Sparig hat dann die Hoffnung ausgesprochen, daß die heutige
  Versammlung zu einer lebhafteren Beteiligung bei den Wahlen beitragen
  werde; das hoffen auch wir. (Heiterkeit.) Wir werden dabei keinen
  Schaden haben. (Zustimmung.) Bisher hat jeder Wahlkampf gezeigt, daß
  wir einige hundert Stimmen mehr erhielten als vorher, und ich hoffe,
  die heutige Versammlung hat dazu beigetragen, daß dies bei der
  nächsten Reichstagswahl erst recht der Fall sein wird. (Heiterkeit,
  Bravo!)

  Herr Sparig hat sich auch für verpflichtet erachtet, im Namen der
  Nachkommen Blums dagegen zu protestieren, daß ich denselben in
  Verbindung mit der Kommune gebracht. Ich weiß nicht, woher Herr Sparig
  die Vollmacht hat, gegen etwas zu protestieren, was nicht geschehen
  ist. (Heiterkeit.) Ich weiß so gut wie irgend jemand, daß Robert Blum
  kein Sozialist war, aber er war ein guter Demokrat und ein echter
  Republikaner, und das ist mehr, als Herr Sparig ist. (Beifall. Herr
  Sparig verneigt sich. Stürmische Heiterkeit.) Ich habe nur erklärt,
  daß die Kommune sich in einer ähnlichen Lage befand, wie 1848 in den
  Oktobertagen Wien. Und daß Robert Blum, der damals in Wien war, sich
  mit einer Entschiedenheit für die Fortsetzung der Revolution
  ausgesprochen, wie das seitens der Kommune nicht entschiedener
  geschehen konnte. Und da ich vorhin auf eine Rede von Robert Blum aus
  jenen Tagen Bezug nahm, so will ich hier bemerken, daß dieselbe sich
  in einem Buche befindet, das ein Herr Artur Frey zu Ehren Blums
  herausgegeben hat und in welchem er sich bemüht, Robert Blum als
  Mensch, Schriftsteller und Politiker darzustellen. Die betreffende
  Stelle der Rede lautet:

  „Keine halbe Revolution! Fortschreiten, wenn auch blutiges, auf der
  eingeschlagenen Bahn, vor allem — keine Schonung gegen die Anhänger des
  alten Systems, die Ruhe aus selbstsüchtigen Absichten begehren; gegen
  diese werde ein Vernichtungskrieg geführt.“

  Kann der entschiedenste Sozialist sich entschiedener ausdrücken, als
  es hier von Robert Blum gegen die Gegner der Revolution geschah?
  (Beifall.)

  Und nun hören Sie auch eine Stelle aus der Proklamation, welche
  Windischgrätz an die Wiener erließ:

  „Die Stadt ist befleckt worden durch Greueltaten, welche die Brust
  jedes Ehrenmannes mit Entsetzen erfüllen! ... Wien befindet sich in
  der Gewalt einer kleinen, aber verwegenen, vor keiner Schandtat
  zurückschaudernden Faktion; Leben und Eigentum sind einer Handvoll
  Verbrecher preisgegeben!“

Stimmt das nicht bis aufs Wort mit den Erklärungen überein, die Herr
Thiers über Paris und die Kommune erließ? (Zustimmung)

Herr Sparig hat weiter gesagt: solange die Sozialdemokratie der
Phantasie des Internationalismus huldige, könne sie seitens seiner
Partei keine Beachtung finden. Auf das letztere verzichten wir.
(Heiterkeit.) Aber ist denn die Idee der Internationalität wirklich
etwas Phantastisches? Aus der Familie wurde der Stamm, aus mehreren
Stämmmen der Staat und die Nation, und schließlich entwickelt sich aus
der engen Verbindung der Nationen die Internationalität. Das ist der
historische Verlauf. Und indem der Sozialismus sich auf den Standpunkt
der allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit stellt, indem er dafür
kämpft, daß die nationalen Kriege und Verhetzungen aufhören, daß die
Nationen in friedlicher Arbeit und Kulturförderung zusammengehen,
vertritt die Sozialdemokratie die höchste Kulturidee, die überhaupt
denkbar ist. (Beifall.)

Indem man nun unsere Partei, weil sie den engherzigen nationalen
Standpunkt bekämpft, weil sie gegen die Rassenkämpfe Front macht und die
Idee der Völkerverbrüderung vertritt, beschimpft, verleumdet und
verfolgt, geschieht ihr nur, was zu allen Zeiten den Vorankämpfenden
geschah. Meine Herren! Gehen Sie beispielsweise heute noch in ein gut
katholisches Land und hören Sie einmal, mit welcher Unkenntnis über
Luther geurteilt wird! So ist es allen Parteien in der Welt gegangen,
die den Fortschritt vertraten, und so erging es auch der liberalen.
Heute, wo die liberale Partei am Ruder ist und die Herrschaft hat,
betrachtet sie ihre Welt für die beste der Welten, und wir, die wir dies
nicht anerkennen wollen, wir werden von ihr heute behandelt, wie sie
selbst von der feudalen Partei vor kaum zwanzig Jahren behandelt wurde.
Ganz natürlich das!

Wir lassen uns durch solche Anschuldigungen nicht beirren, wir wissen,
daß unsere Zeit kommt, daß die Verhältnisse uns in die Hände arbeiten,
daß mit der Zunahme des Klassengegensatzes, mit dem Verschwinden der
Mittelschicht, des Kleinbürgertums, das in die Reihen der Lohnarbeiter
geschleudert wird, die Sozialdemokratie immer stärker wird, bis sie
endlich die Macht in Händen hat. (Lebhafter Beifall.)

Herr Sparig hat sich gefreut, daß bei der letzten Landtagswahl in
Chemnitz kein Sozialdemokrat in den Landtag gekommen ist. Die Freude
dürfte ihm bald zu Wasser werden. (Heiterkeit.) Es ist aber bezeichnend
für ihn, daß er damit sein Wohlgefallen an einem Wahlgesetz kundgibt,
das nur durch seine reaktionären Bestimmungen eine Volkswahl verhindert.
(Beifall.) Indes der Sozialdemokrat wird doch in den Landtag kommen,
wenn auch dieses Jahr nicht, so im nächsten Jahre gewiß (Bravo,
Heiterkeit), und hätte der Chemnitzer Stadtrat die Wahlliste ebenso
geführt, wie er die Steuerliste führt — zwei Dinge, die bekanntlich auch
in Leipzig nicht harmonieren —, so wäre er schon drinnen. (Große
Heiterkeit und Beifall.)

Endlich hat Herr Sparig, indem er sich an die hier anwesenden Vertreter
der konservativen Presse wandte, gemeint, die konservative Presse werde
jetzt wohl einsehen, daß die Nationalliberalen mit der Sozialdemokratie
nichts zu schaffen haben. Das hat sicherlich noch kein Mensch wirklich
geglaubt, und die, welche es geschrieben haben, am allerwenigsten.
(Heiterkeit.)

Tatsache ist, daß der Streit zwischen Konservativen und
Nationalliberalen nur als ein Streit wie zwischen zwei unzufriedenen
Eheleuten betrachtet werden kann. Mischt sich ein dritter hinein, so
sind sie einig. (Heiterkeit.) ... Vor einigen Wochen stand im „Leipziger
Tageblatt“ ein Artikel, in dem allen Gegnern der Sozialdemokratie
zugerufen wurde: „Bilden wir allesamt eine einzige große
Ordnungspartei.“ Nun, wir gratulieren Ihnen dazu, Sie werden's nötig
haben. (Heiterkeit.) Wir haben es auch kürzlich in Chemnitz gesehen.
Anfangs lagen sich dort Konservative und Nationalliberale in den Haaren
und beide Parteien wollten einen Kandidaten aufstellen, weil keine der
anderen das Feld gönnte, doch als es hieß, ein Sozialist würde
aufgestellt, da hörte der Streit auf, da hieß es. „Alle gegen Bebel.“
(Große Heiterkeit und Beifall.)

Mit meinen Ausführungen schloß die glänzend verlaufene Versammlung.



Neue Verfolgungen.


Anfang Januar 1876 hielten die sächsischen Parteigenossen eine sehr gut
besuchte Landesversammlung in Chemnitz ab, in der man sich bereits mit
der Aufstellung der Kandidaten für die nächste Reichstagswahl
beschäftigte, die man Januar 1877 erwartete. Die Stimmung war trotz
aller Verfolgungen vorzüglich. Mit Beginn des Jahres hatten die Berliner
Genossen in der „Berliner freien Presse“ sich ein Lokalblatt geschaffen,
das sich allmählich eine bei Freund und Feind angesehene Stellung
eroberte. Jetzt wurden auch die ersten Zeichen einer Wandlung der
gesamten Politik des Reiches bemerkbar. Mit der Entlassung des
Präsidenten des Reichskanzleramtes Delbrück, die Ende April erfolgte,
wurde die offizielle Schwenkung nach der schutzzöllnerischen Seite
eingeleitet. Der preußische Handelsminister v. Camphausen, der noch kurz
zuvor im Reichstag die Lohnherabsetzungen durch die Unternehmer als
Mittel, aus der Krise herauszukommen, gerechtfertigt hatte und dafür von
Eugen Richter das Lob erntete: Alle Hochachtung vor einem Minister, der
es wagt, so unpopuläre Wahrheiten auszusprechen, folgte ihm später in
die Wüste nach. Unterdessen nahmen die Verfolgungen gegen die
Parteigenossen ununterbrochen ihren Fortgang, ganz besonders wegen
Beleidigungen des Reichskanzlers. Bismarck hatte die Gewohnheit
angenommen, daß er seine Strafanträge _en masse_ hektographieren ließ
und denjenigen Staatsanwälten zur Anklageerhebung zusandte, die ihm
einen Beleidiger namhaft gemacht hatten.

Diese Strafanträge wurden von ihm unausgesetzt bis zum Ende seines
Amtes — Februar 1890 — gestellt. Dieselben gingen in die Tausende, und die
Verurteilten halfen die Gefängnisse bevölkern. Von Charaktergröße legte
dieses Verfahren kein Zeugnis ab, es wurde selbst von vielen seiner
Verehrer mißbilligt.

Getreu den Intentionen Bismarcks setzte ferner Tessendorf seine
Verfolgungen der Arbeiterorganisationen fort. Hatte er bei seiner
Anklage gegen die Leiter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wegen
Vergehens gegen das preußische Vereinsgesetz März 1875 den Antrag auf
dessen Unterdrückung mit den Worten begründet: „Zerstören wir die
sozialistische Organisation, und es existiert keine sozialistische
Partei mehr“, Worte, die sein ganzes Unverständnis der Bewegung
bewiesen, so sah er sich jetzt zu weiteren ähnlichen Maßregeln
veranlaßt. Die Unterdrückung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
war durch die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei in Gotha
wettgemacht worden. Diese sollte jetzt an die Reihe kommen. Es gelang
ihm auch, bei der Ratskammer des Berliner Stadtgerichtes einen Beschluß
zu erlangen, wonach sowohl die Berliner Mitgliedschaft der Partei wie
die Partei selbst für ganz Preußen für vorläufig geschlossen erklärt
wurden. Der Parteivorstand antwortete auf diesen Beschluß mit einer
Ansprache an die Parteigenossen, sie sollten unbekümmert um denselben in
die Agitation für die nächsten Reichstagswahlen eintreten. Die Partei
solle zeigen, daß sie sich durch Beschlüsse, wie jenen der Ratskammer
des Berliner Stadtgerichtes, nicht einschüchtern lasse. Es sei nunmehr
erst recht notwendig, daß jeder einzelne Genosse seine volle
Schuldigkeit für die Partei tue. Dem Trumpf Tessendorfs „Vernichtung der
Sozialdemokratie“ müsse durch den Gegentrumpf „Es lebe die
Sozialdemokratie“ geantwortet werden. Nunmehr wurden überall in Preußen
an Stelle der aufgelösten Parteiorganisation lokale Organisationen ins
Leben gerufen, die allerdings jeden Schein einer Verbindung mit der für
das übrige Deutschland fortbestehenden Zentralorganisation vermeiden
mußten. Das Vorgehen Tessendorfs erwies sich buchstäblich als ein Schlag
ins Wasser, denn für die Anwerbung von Parteigenossen, die Verbreitung
der Parteipresse und die Sammlung von Geldmitteln leisteten diese
Lokalorganisationen mindestens so viel wie die aufgelöste
Zentralorganisation.

Freilich war unter diesen Verhältnissen ein Parteikongreß im früheren
Sinne nicht mehr möglich. Da wir aber einen solchen nicht entbehren
wollten und konnten, traten Reichstagsfraktion und Parteivorstand
zusammen, um zu beraten, was geschehen solle. Man einigte sich sehr
rasch auf den von mir gemachten Vorschlag, daß die Reichstagsfraktion
einen allgemeinen Sozialistenkongreß einberufen solle, und zwar für die
Tage vom 20. bis 23. August nach Gotha, wozu die Delegierten in
öffentlichen Versammlungen gewählt werden sollten. Um andererseits den
preußischen Parteigenossen die Leistung von Parteibeiträgen in
unanfechtbarer Form zu ermöglichen, wurde beschlossen, monatlich ein
ungefähr handgroßes Blättchen unter dem Titel „Der Wähler“
herauszugeben, das zum Preise von 20 Pfennig sich eines guten Absatzes
erfreute.

Tessendorfs Verfolgungseifer begnügte sich aber nicht mit der Auflösung
der Parteiorganisation in Preußen. Er ging alsbald auch gegen eine
Anzahl Zentralverbände der Gewerkschaften vor, um diesen als
„politischen Organisationen“ das Schicksal der Partei zu bereiten. Das
gelang ihm auch bei vier derselben. Die aufgelösten Zentralleitungen
siedelten nunmehr nach Hamburg über, dessen Vereinsgesetz ein
Verbindungsverbot für politische Vereine nicht kannte.

       *       *       *       *       *

Am 28. Juni war Most endlich nach 26 Monaten Haft aus Plötzensee
entlassen worden. An demselben Tage kündigte Bracke öffentlich das
Erscheinen einer von Most verfaßten Broschüre an, betitelt: „Die
Bastille am Plötzensee“, in der er seine Erlebnisse erzählte und die Art
und Weise schilderte, wie er und andere hinter dem Rücken der Beamten
sich allerlei Vorteile beschafft und die Beamten hinter das Licht
geführt hatten. Diese Veröffentlichung war eine Unklugheit. Kaum war die
Schrift erschienen, so verlangte der Minister des Innern von dem nichts
ahnenden Direktor des Gefängnisses Plötzensee Auskunft über die
geschilderten Vorgänge. Das Resultat war, daß mehrere Beamte bestraft
und entlassen wurden und von jetzt ab eine weit strengere Handhabung der
Gefängnisordnung Platz griff. Auch wurden von jetzt ab — mit mir machte
man, als ich ebenfalls in Plötzensee Quartier beziehen mußte, worüber
weiter unten mehr, noch eine Ausnahme — die meisten politischen
Gefangenen im sogenannten Maskenflügel interniert. Als Most im Jahre
1878 abermals auf sechs Monate in Plötzensee seinen Einzug halten mußte,
vergalt man ihm seine Indiskretionen. Er wurde jetzt in strenge
Isolierhaft genommen, und so oft er die Zelle verließ, mußte er, wie
die anderen Insassen des Zellenhauses, eine schwarze Maske vorlegen,
damit ihn niemand erkenne.

Entsprechend den um jene Zeit einen immer aggressiveren Charakter
annehmenden Verfolgungen der Partei wurden auch die verhängten Strafen
bemessen. Wo man vordem Wochen oder wenige Monate verhängte, erhielt
jetzt der Verurteilte eine drei- und vierfach höhere Strafe zuerkannt.
Urteile, die zwölf, fünfzehn, achtzehn und mehr Monate diktierten,
wurden Regel. Einzelne Parteiblätter, wie der „Vorwärts“ und die
„Berliner Freie Presse“, hatten ständig mehrere Redakteure in Haft. So
erhielt zum Beispiel Saeweke-Chemnitz wegen Majestätsbeleidigung und was
man als Gotteslästerung ansah zwei Jahre Gefängnis; vom Augsburger
Schwurgericht wurden wegen verschiedener Preßvergehen R. Franz zu drei,
E. Rottmanner und E. Köber zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt, eine
Verurteilung, die in der ganzen Partei einen Sturm der Entrüstung
hervorrief. In anderen Prozessen wurde Thomas-Augsburg zu zwei Jahren,
Loof-Chemnitz zu einem Jahre vier Monaten verurteilt. Vahlteich erhielt
im folgenden Jahre wegen verschiedener Preßvergehen achtzehn Monate
Gefängnis, und zu der gleichen Strafe wurde im nächstfolgenden Jahre
G.v.Vollmar, der Redakteur der „Dresdener Volkszeitung“ war, verurteilt.
Diese Verurteilungen erregten schließlich in der Partei kaum noch
Aufsehen; wer Redakteur oder Agitator war, mußte mit dem Gefängnis als
einem unumgänglichen Attribut seiner Stellung rechnen. Mit Vollmar war
ich infolge seiner Stellung als Redakteur der „Dresdener Volkszeitung“
in lebhafteren brieflichen Verkehr gekommen. Die verschiedenen
Preßvergehen, in die er verwickelt war, legten ihm die Frage nahe, ob
bei einer Verurteilung ihm die Pension, die er als schwer verwundeter
Teilnehmer im Deutsch-Französischen Kriege bezog, nicht entzogen werden
könne, und er ersuchte mich darüber um meine Meinung. Darauf antwortete
ich ihm unter dem 17. Juni 1877 unter anderem:

  „...Bezüglich Ihrer Pensionsangelegenheit habe ich mit Freytag noch
  nicht sprechen können, glaube auch kaum, daß er Ihnen mehr als ich
  wird sagen können.

  Ich habe mir die Reichstagsverhandlungen angesehen. § 32 des
  Gesetzes, die Pensionierung und Versorgung der Militärpersonen,
  bestimmt unter b), daß durch rechtskräftige gerichtliche Verurteilung
  der Pensionsverlust herbeigeführt werden könne, und bestimmt dann
  weiter:

  Die Pensionserhöhungen können jedoch durch gerichtliches Erkenntnis
  nicht entzogen werden.

  Aus den Verhandlungen ergibt sich nun mit keinem Wort, in welchem
  Falle ein solches Aberkenntnis eintreten dürfe. Es wurde bei der
  Beratung darauf aufmerksam gemacht, daß im Reichsstrafgesetzbuch, das
  ja auch für Bayern gilt, alle Bestimmungen gestrichen wurden, wonach
  die Pension aberkannt werden könne. Im Gegensatz hierzu besteht aber
  das alte preußische Militärstrafgesetzbuch aus dem Jahre 1845, das
  solche Bestimmungen enthält. Da dieses aber meines Wissens für Bayern
  nicht gilt, so fragt es sich, welche bezüglichen Bestimmungen das
  bayerische Militärstrafgesetz enthält, diese kommen alsdann in
  Betracht und dieses Gesetz werden Sie sich wohl leicht verschaffen
  können.

  Ich empfehle Ihnen äußerste Vorsicht in der Schreibweise, ich fürchte,
  man läßt Sie tüchtig hereinfallen. Da aber die Verurteilung auf keinen
  Fall den Verlust der Ehrenrechte nach sich ziehen kann, so fragt es
  sich, ob diese Entziehung nicht eine Bedingung für die Aberkennung der
  Pension ist, in welchem Falle Sie gedeckt wären. Daß gegen Sie als
  einen „Apostaten“ die herrschende Gewalt eine besondere Animosität
  besitzt, ist sicher...“

Große Genugtuung rief es hervor, als um jene Zeit in der Partei bekannt
wurde, daß der oberste Gerichtshof im Herzogtum Braunschweig den General
Vogel v. Falckenstein wegen der Lötzener Affäre verurteilt habe, an die
Herbst 1870 von ihm gefangen gesetzten Genossen Entschädigung zu zahlen,
und zwar an Bracke 2100 Mark, an Gralle 108 Mark, an Bonhorst 105 Mark,
an Ehlers als selbständigen Gewerbetreibenden pro Tag 7,50 Mark, an Kühn
als Arbeiter pro Tag 3 Mark.



Der Parteikongreß in Gotha 1876.


Für den Parteikongreß in Gotha — 19. bis 23. August — hatten wir als
Tagesordnung festgesetzt:

  „1. Die Tätigkeit der sozialistischen Abgeordneten; 2. Gang und Stand
  der sozialistischen Organisation in Deutschland; 3. die
  bevorstehenden Reichstagswahlen; 4. Feststellung der sozialistischen
  Kandidaturen; 5. die sozialistische Organisation in Deutschland; 6.
  die Parteipresse.“

Die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ lärmte gewaltig über
diese Veranstaltung und drohte, man werde festzustellen suchen, ob
dieser Kongreß nicht eine Gesetzesumgehung mit Hinblick auf die
erfolgten Schließungen und Auflösungen sei. Indes an diese Drohungen
kehrten wir uns nicht. Wir mußten zeigen, daß wir uns nicht
einschüchtern ließen und entschlossen waren, jedes Mittel zu benutzen,
das die Umstände uns zu ergreifen ermöglichten, um die gegen uns
gerichteten Schläge zu parieren.

_Geib_ und _Hasenclever_ führten auf dem Kongreß wieder den Vorsitz.
Anwesend waren 98 Delegierte, die aus 291 Orten 38254 Mandanten zu
vertreten hatten. Liebknecht und ich konnten aus privaten Gründen erst
am zweiten Tage der Verhandlungen erscheinen. Aus dem von _Auer_
vorgetragenen Bericht ging hervor, daß die Einnahmen der Parteileitung
vom 8. Juni 1875 bis 19. August 1876 sich auf 53973 Mark beliefen, denen
eine Ausgabe von 54432 Mark gegenüberstand. Es war also ein kleines
Defizit vorhanden, das durch den Ueberschuß des „Wähler“ in Höhe von
4330 Mark gedeckt wurde. Die Partei besaß zu jener Zeit 23 politische
Organe und das neu gegründete Unterhaltungsblatt „Die Neue Welt“. Von
den Organen erschienen acht sechsmal, acht drei-, vier zwei- und drei
einmal wöchentlich. Zum erstenmal liefen auf einem deutschen
Parteikongreß eine Reihe Zuschriften von sozialistischen Organisationen
des Auslandes ein, in denen die Partei wegen ihrer tapferen Haltung
beglückwünscht wurde. Ich war in der Lage, die Grüße einer
internationalen Konferenz in Bern zu überbringen, der ich gelegentlich
einer Geschäftsreise in der Schweiz beigewohnt hatte. Zum Zeichen
brüderlicher internationaler Solidarität wurde beschlossen, für die in
großer Not befindlichen Kommunards in geeigneter Weise Geld
aufzubringen. Karl Hirsch erschien als Delegierter Pariser Arbeiter auf
dem Kongreß. Ueber die Tätigkeit der Fraktion im Reichstag berichtete
_Hasenclever_. Ich ergriff die Gelegenheit, um unsere Stimmenthaltung
in der Diätenfrage zu rechtfertigen, die mehrfach angegriffen worden
war. _Molkenbuhr_, der namens der Gegner unserer Abstimmung das Wort
ergriff, behauptete, die Abstimmung habe uns in der Agitation geschadet,
diese Taktik habe bei den Parteigenossen befremdend gewirkt. Die
Fraktion müsse stets klare Stellung nehmen für oder gegen eine Vorlage
und geschlossen stimmen. Nach längerer Debatte brachten A. Kapell und
Dreesbach einen Antrag ein, wonach unsere Abstimmung in der Diätenfrage
als unpraktisch erklärt werden sollte. Dieser Antrag wurde abgelehnt.
Dagegen wurde ein Antrag Löwenstein angenommen, der vorschlug, über die
Frage zur Tagesordnung überzugehen, denn es sei selbstverständlich, daß
die sozialistischen Abgeordneten für Diätenzahlung seien und in
vorliegendem Falle mit der Stimmenthaltung nur der Schwindel hätte
konstatiert werden sollen, dessen sich ein Teil der liberalen
Abgeordneten schuldig machte.

Die weiteren Verhandlungen zeigten, daß noch starke persönliche und
sachliche Gegensätze in der neu geeinten Partei vorhanden waren, die
jetzt zum Ausbruch kamen. So rief Frohme dadurch eine heftige Diskussion
hervor, daß er die Anschuldigung erhob, verschiedene Parteiblätter und
ebenso Liebknecht und ich hätten von Sonnemann-Frankfurt
Geldunterstützungen bezogen. Es wurde festgestellt, daß kein Blatt
genannt werden konnte, das von Sonnemann Geldunterstützung erhalten
hatte, das gleiche galt von Liebknecht. Ich teilte mit, daß Sonnemann,
der während meiner Haft sich wiederholt bereit erklärt habe, mir mit
einem Darlehen zu helfen, falls ich solches für die Rehabilitierung
meines Geschäfts nach meiner Haftentlassung bedürfe, mir ein solches in
Höhe von 600 Taler gewährt habe, das ich mit 5 Prozent verzinste und in
Raten zurückzahlte. Das sei um so unbedenklicher, da ich seit 1865 mit
Sonnemann befreundet und die ganze Angelegenheit eine rein private sei.
Sonnemann selbst hatte durch eine Indiskretion gegen einen Frankfurter
Genossen den Fall in weitere Kreise getragen. Das Endresultat der
Debatte war, daß ein Antrag von Bracke — der zum erstenmal seit Jahren
wieder einen Kongreß besuchte — mit allen gegen sieben Stimmen angenommen
wurde, der das gegen mich beliebte Vorgehen tadelte. Ich nahm
Veranlassung, noch im Laufe des Jahres das Darlehen an Sonnemann
zurückzuzahlen.

Eine weitere Debatte, die zeitweilig ebenfalls einen heftigen Charakter
annahm, wurde durch die Frage herbeigeführt, ob fernerweit zwei
offizielle Organe („Der Neue Sozialdemokrat“ in Berlin und „Der
Volksstaat“ in Leipzig) bestehen sollten oder eines und welches dazu
ernannt werden sollte. Schließlich wurden 49 Stimmen für Leipzig und 38
Stimmen für Berlin abgegeben, 6 Delegierte enthielten sich der
Abstimmung. Darauf wurde weiter beschlossen, das Zentralorgan solle vom
1. Oktober ab unter dem Namen „Vorwärts“ erscheinen, und zwar dreimal
wöchentlich. Lebhafte Erörterung rief alsdann die Wahl der beiden
Redakteure hervor. _Hasselmann_, der der Vereinigung nie grün war,
erklärte, unter keinen Umständen nach Leipzig überzusiedeln und
verzichtete auf eine Redakteurstelle. Auf Vorschlag _Geibs_ erklärte
sich _Hasenclever_ bereit, neben _Liebknecht_ die Redaktion zu
übernehmen. Des weiteren kam man überein, nachdem die Partei in Preußen
aufgelöst war, an Stelle des Parteivorstandes in Hamburg ein
Zentralkomitee zu setzen, in das _Auer, Brasch, Derossi, Geib_ und
_Hartmann_ eintraten. Auf meinen Antrag wurde das Gehalt des Sekretärs
auf 150 Mark, des Kassiers auf 105 Mark und der beiden Beisitzer auf je
45 Mark monatlich festgesetzt.

Im weiteren beschäftigte sich zum erstenmal ein Parteikongreß mit der
Stellungnahme zu wirtschaftlichen Tagesfragen. Die industrielle Krise,
die mit dem Jahre 1874 einsetzte und sich mit jedem Jahre mehr
verschärfte, hatte einen vollständigen Umschwung in den Kreisen der
Industriellen über die Frage: Schutzzoll oder Freihandel? herbeigeführt
und schließlich auch in den landwirtschaftlichen Kreisen, die seit
Jahrzehnten die Hauptstützen des Freihandelssystems bildeten, Anhang
gefunden. In erster Linie waren es die Eisenindustriellen, die über die
beschlossene Aufhebung der Eisenzölle, die vom 1. Januar 1877 ab
eintreten sollte, schon Jahre zuvor in Aufregung gerieten und dagegen
kämpften. Ihnen schlossen sich andere Industrielle, namentlich die
Baumwollindustriellen an. Und da durch die jetzt sich immer bemerkbarer
machende amerikanische Getreidekonkurrenz auch die Getreidepreise nicht
die erwünschte Höhe behielten, sondern sanken, schwenkten die
ostelbischen Getreideproduzenten, die ihren Absatz nach dem Ausland
unter der amerikanischen Konkurrenz immer mehr einbüßten und diese
Konkurrenz selbst im eigenen Lande verspürten, ins schutzzöllnerische
Lager ab. Diese Umwandlung in den Anschauungen weiter Kreise über
Freihandel und Schutzzoll mußte notwendig auch in den Parteikreisen
Beachtung finden. So erklärten sich im Laufe der Jahre namentlich
_Auer_, _Fritzsche_ und _Max Kayser_ für eine mehr oder weniger
ausgeprägte Schutzzollpolitik. Der Kongreß konnte also nicht umhin, zu
der veränderten Strömung Stellung zu nehmen; er tat dies allerdings in
einer Weise, die unbefriedigend war und eine gewisse Unklarheit verriet.
Auf Antrag von Bracke, Frick, Fritzsche, Grillenberger, Hasselmann,
Liebknecht und Most nahm der Kongreß ohne jede Debatte eine Resolution
an, in der es hieß: Die Sozialisten Deutschlands stehen dem innerhalb
der besitzenden Klassen ausgebrochenen Kampfe zwischen Schutzzoll und
Freihandel _fremd gegenüber_; die Frage, ob Schutzzoll oder nicht, ist
nur eine praktische Frage, die in jedem einzelnen Falle entschieden
werden muß; die Not der arbeitenden Klassen wurzelt in den allgemeinen
wirtschaftlichen Zuständen, doch sind die bestehenden Handelsverträge
seitens der Reichsregierung ungünstig für die deutsche Industrie
abgeschlossen und erheischen eine Aenderung. Die Parteipresse wurde
aufgefordert, die Arbeiter davor zu warnen, für die unter dem Verlangen
nach Schutzzoll eine Staatshilfe erstrebende Bourgeoisie die Kastanien
aus dem Feuer zu holen. Und da zu jener Zeit auch die Frage aufgetaucht
war, ob Privat- oder Staatseisenbahnen, und Bismarck die Monopolisierung
der Bahnen durch das Reich erstrebte, nahmen die beantragten
Resolutionen auch zu dieser Frage Stellung. Der Kongreß sprach sich für
die Verstaatlichung der Eisenbahnen aus, aber _gegen_ das
Reichseisenbahnprojekt, weil dieses letztere bestimmt sei, die
Interessen des Klassen- und Militärstaats zu fördern, und die Einnahmen
zu unproduktiven Zwecken verwendet werden sollten, wodurch das Reich
ein neues Gewicht im volksfeindlichen Sinne erlangte und den
Börsenjobbern große Summen vom Volkseigentum zugespielt würden.

Ueber den Verlauf des Kongresses schrieb der weiche und gemütvolle
_Bracke_, der die mancherlei Unbill, die man ihm nach seinem Austritt
aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein von jener Seite hatte
angetan, noch nicht vergessen konnte, in einem Briefe vom 31. August an
Friedrich Engels:

  „Die Verhandlungen waren famos, die Angelegenheit Frohme-Sonnemann,
  dann die Abstimmung über die Diäten, dann die Frage, ob das
  Zentralorgan nach Berlin oder Leipzig kommen solle, das waren die drei
  Hauptpositionen; die Lassalleaner hatten ernstlich geglaubt, die
  Bewegung in ihre Hände zu bekommen, jedenfalls waren sie ihres Sieges
  in der Organisation sicher. Und dazu hatten sie allen Grund. Auf einer
  in Berlin stattgehabten Konferenz hatte _Ramm_-Leipzig (der Leiter der
  Leipziger Parteibuchdruckerei. A.B.) der Verlegung nach Berlin
  zugestimmt, und _Geib_, der sich allein sah, machte dann keine
  Opposition mehr. _Bebel_ aber und ich, sowie _Auer_ erklärten die
  Verlegung für ganz unmöglich, wir fanden auch viele Zustimmung und
  erweckten _Liebknecht_ und _Geib_ und andere zu neuem Leben. Die
  Schlacht wurde dann auch glorreich geschlagen. Nachdem in der
  Angelegenheit Sonnemann und in der bezüglich der Diäten der Sieg auf
  unserer Seite gewesen, setzten die Lassalleaner, denen nun doch das
  wirtschaftliche Interesse des Berliner Unternehmens zu Hilfe kam,
  alles daran. Die Erregung auf beiden Seiten war groß; es wurde eine
  regelmäßige parlamentarische Schlacht geschlagen. Zuerst waren 42
  Redner eingezeichnet, voran außer Bebel lauter Berliner. Wir brachten
  durch passende Anträge diese Liste zu Fall, kamen, da die Gegner das
  nicht erwartet, dann unsererseits zuerst auf die Liste und konnten nun
  großmütig sein, wobei uns schließlich Richter-Wandsbeck noch einen
  großen Dienst leistete. Die Erregung war außerordentlich, jedes Mittel
  wurde von beiden Seiten benutzt. Die Gegner aber ließen sich von ihrer
  Erregung hinreißen, polterten hitzig hervor, um die fünfminutige
  Redezeit auszunutzen, während wir ruhig blieben und durchweg langsam
  und gemessen sprachen. Das Resultat ist Ihnen begannt. Liebknecht und
  Bebel waren famos.

  Daß Hasenclever sich schließlich von Geib breitschlagen ließ, ans
  Zentralblatt nach Leipzig zu gehen, vollendete den Sieg, da man sonst
  mit Frick-Bremen gesagt habe würde: Das neue Blatt ist nur das Organ
  der Herren Bebel und Liebknecht. Damit ist die Einheit besiegelt....“

_Hasselmann_ gab zum 1. Oktober 1876 seine Stellung an der „Berliner
Freien Presse“ auf und zog sich nach Barmen-Elberfeld zurück, woselbst
er die Redaktion der „Bergischen Volksstimme“ übernahm und ein neues
Organ, „Die rote Fahne“, das angeblich nur als Flugblatt erscheinen
sollte, ins Leben rief. Es zeigte sich aber bald, daß _Hasselmann_ mit
der Gründung dieses Blattes separatistische Ziele verfolgte, was ihn in
eine schiefe Stellung zur Partei und zum Zentralwahlkomitee brachte und
auf dem nächstjährigen Parteikongreß wieder zu unerquicklichen Debatten
führte.



Der Wahlkampf 1876 bis 1877


Mit einem Aufruf, datiert vom 12. Oktober 1876, eröffnete das
Zentralwahlkomitee den Wahlkampf. Auf seinen und vieler Genossen Wunsch
hatte ich wiederum eine Broschüre, betitelt: „Die parlamentarische
Tätigkeit des deutschen Reichstags und der Landtage von 1874 bis 1876“,
verfaßt. Die Schrift erschien diesmal unter meinem Namen in der
Genossenschaftsbuchdruckerei zu Berlin, also unter den Augen
Tessendorfs, der diesen Umstand, wie ich bald genug zu meinem Schaden
erfuhr, gebührend ausnützte.

Am 30. Oktober trat der Reichstag zu seiner letzten Session zusammen.
Diese konnte aber nur kurz sein, und da Gesetzentwürfe von besonderem
Interesse für uns nicht vorlagen, befaßten wir uns mit den
parlamentarischen Verhandlungen nur wenig, aber um so mehr mit der
Wahlagitation, die mich in jenen Wochen von Leipzig nach Köln, von dort
nach Königsberg i.Pr. und von hier nach Breslau usw. führte. In
Königsberg mußte ich an zwei Abenden in überfüllten Versammlungen
sprechen, weil die Diskussion, die mein Vortrag hervorgerufen hatte,
erst am zweiten Abend zu Ende geführt werden konnte. In der ersten
Versammlung war auch Johann Jacoby anwesend, den man zum
Ehrenvorsitzenden der Versammlung ernannt hatte. Ich lernte erst jetzt
Jacoby persönlich kennen. Der kaum mittelgroße Mann, der offensichtlich
in seinem ganzen Wesen zurückhaltender Natur war und nur durch die
Verhältnisse gezwungen sich zu einem demonstrativen Eingreifen in die
öffentlichen Angelegenheiten herbeiließ, machte auf mich einen ungemein
günstigen Eindruck. Ich hatte ihn vor der ersten Versammlung in seiner
Wohnung besucht, wobei er mich in seinem sehr geräumigen Arbeitszimmer
empfing, dessen Regale und Schränke bis an die Decke mit Büchern
vollgepfropft waren. Ich beneidete ihn um diesen ideal ausgestatteten
Raum, der in seiner behaglichen Einrichtung zum Arbeiten geradezu
einlud. Jacoby starb im nächsten Frühjahr infolge einer Steinoperation;
im Oktober des vorhergehenden Jahres war ihm Franz Ziegler im Tode
vorausgegangen.

       *       *       *       *       *

Nach Leipzig zurückgekehrt, ließ ich eine Volksversammlung einberufen
mit der Tagesordnung: „Die Stellung der Frau im heutigen Staat und zum
Sozialismus.“ Obgleich wir den größten Saal Leipzigs zur Verfügung
hatten, faßte er nicht die Masse der herbeiströmenden Zuhörer, von denen
viele wieder wegen Mangel an Raum umkehren mußten. Die Frauen waren sehr
zahlreich vertreten. Ich setzte ihnen unter anderem auseinander, welch
lebhaftes Interesse auch sie an den bevorstehenden Reichstagswahlen
nehmen müßten; da sie aber vorläufig kein Wahlrecht besäßen, sei es ihre
Aufgabe, agitatorisch in den Wahlkampf einzugreifen und ihre Männer und
wahlberechtigten männlichen Verwandten für die Beteiligung an der Wahl
anzutreiben, und zwar zugunsten der Sozialdemokratie, die für ihre volle
politische und soziale Gleichberechtigung eintrete. Die Versammlung
verlief nach Wunsch; es war die erste Versammlung, in der die Frauen zur
politischen Beteiligung bei einer Wahl aufgefordert wurden.

Von Leipzig eilte ich nach Dresden zur Agitation, woselbst ich als
Kandidat der Partei aufgestellt worden war. Die organisierten Genossen
im 17. sächsischen Wahlkreis Glauchau-Meerane, in dem ich ebenfalls
wieder kandidierte, hatten bereits im voraus erklärt, sollte ich auch in
einem zweiten Wahlkreis gewählt werden, so seien sie zu einer Neuwahl
an meiner Stelle bereit, denn daß sie im 17. Wahlkreis wieder siegen
würden, sah alle Welt als selbstverständlich an. Und so geschah es.

In Dresden erhielt ich zunächst die relative Mehrheit unter den
aufgestellten drei Kandidaten. Ich kam mit dem Kandidaten der Liberalen,
Professor Maihoff, in engere Wahl und siegte über diesen mit 10837 gegen
9920 Stimmen. Als mir am Tage nach der Wahl die Depesche, die meinen
Sieg meldete, zuging — ich hatte gebeten, am Wahltagabend mir das
Wahlresultat nicht zu telegraphieren —, fragte ich meine Frau, ob wir
noch eine Flasche Wein im Keller hätten, und als sie dies bejahte,
äußerte ich: Gut, dann wollen wir sie heute mittag auf das Wohl meiner
Dresdener Wähler trinken. Darauf meinte mein Töchterchen, das dieser
Unterhaltung beigewohnt hatte: Papa, wird Herr Professor Maihoff heute
mittag auch eine Flasche Wein trinken? Ich gab lachend zur Antwort: Das
wüßte ich nicht, ich kennte nicht den Geschmack des Herrn Professors. An
meine Stelle im 17. Wahlkreis wurde nunmehr Wilhelm Bracke gewählt.

Der Ausfall der Wahlen war für uns ein sehr günstiger. _Hasselmann_ war
zwar in Barmen-Elberfeld mit 14245 gegen 14485 Stimmen unterlegen, aber
der benachbarte Solinger Kreis schickte _Rittinghausen_ mit 10636 gegen
7453 Stimmen in den Reichstag, und beinahe wäre auch _Grillenberger_ in
Nürnberg gewählt worden, der mit 12089 gegen 12625 Stimmen seinem Gegner
unterlag. Die Partei war bei 24 Stichwahlen beteiligt. Gewählt wurden 12
Abgeordnete: Auer, Blos, Bracke, der Hofbaurat Demmler-Schwerin im 13.
sächsischen Wahlkreis Leipzig-Land, Fritzsche, Hasenclever, A. Kapell,
Liebknecht, Most, Motteler, Rittinghausen und ich.

Wie der alte Demmler uns gelegentlich erzählte, hatte er die
Gepflogenheit, wenn er auf längere Zeit Schwerin verließ, sich bei dem
Großherzog von Mecklenburg, als dessen ehemaliger Hofbaumeister er das
prachtvolle Schweriner Schloß gebaut hatte, zu verabschieden. So auch
dieses Mal, als er die Reise nach Berlin zum Reichstag antrat. Bei
dieser Gelegenheit hatte der Großherzog geäußert: „Ich wünsche Ihnen
glückliche Reise, aber lieber Demmler — und dabei erhob er lächelnd
drohend den Finger —, machen Sie es in Berlin nur nicht zu arg.“ Hier
sei bemerkt: Demmler hatte den Schweriner Schloßbau ohne Meister allein
durch Vertrag mit den Arbeitern gebaut und war mit dem erzielten
Resultat sehr zufrieden.

Am 2. Februar schrieb ich an den Parteigenossen Schlüter in Dresden, der
Expedient unseres dortigen Parteiorgans war, daß ich dem Wahlkommissar
die Annahme der Dresdener Wahl mitgeteilt hätte, und bemerkte dazu:

  „Es amüsiert mich, daß es gerade neunzehn Jahre waren, seitdem ich als
  Handwerksbursche in die Fremde ging, natürlich ohne eine Ahnung, daß
  ich neunzehn Jahre später auf denselben Tag an einen Wahlkommissar
  meine Erklärung für die Annahme des Reichstagsmandats für die
  sächsische Residenz abschicken würde. Der alte Napoleon äußerte
  einmal, jeder Soldat hat den Marschallstab im Tornister, heute könnte
  man sagen: jeder Handwerksbursche trägt ein Reichstagsmandat im
  Berliner. Es geht vorwärts. Unsere Freunde, die Feinde, sollen leben.“

Und die letzteren machten zu dem Wahlausfall böse Gesichter, denn weit
mehr als die paar gewonnenen Mandate lag ihnen das starke Wachstum der
gewonnenen Stimmen in den Gliedern. Die Stimmenzahl der Partei war von
351670 im Jahre 1874 auf 493447 gestiegen, die wir jetzt im Januar 1877
auf unsere Kandidaten vereinigten. Das war ein Mehr von 141777 Stimmen
gleich 36 Prozent. In Sachsen hatten wir die relative Mehrheit der
Stimmen erhalten, 124600 von 318740.

Das System Tessendorf, das allmählich über die Grenzen Preußens hinaus
in den meisten Mittel- und Kleinstaaten Schule gemacht hatte, war also,
wie der Wahlausfall zeigte, elend zusammengebrochen. Und wenn nunmehr
auch das Wüten gegen die sozialdemokratische Presse und die
sozialdemokratischen Organisationen von neuem losging und gegen die
Vertreter der Partei Urteile gefällt wurden eins drakonischer als das
andere, auch das half nicht. Es half auch nichts, als Bismarck, vom
Glück begünstigt, endlich erhielt, wonach er lange gelechzt, ein
schneidiges Ausnahmegesetz gegen die ihm verhaßte und doch so
gefürchtete Partei.



Der Reichstag 1877.


In der am 22. Februar eröffneten Reichstagssession spielten die sozialen
Fragen eine hervorragende Rolle. Das ständige Steigen der
sozialdemokratischen Stimmen hatte namentlich das Zentrum beunruhigt,
das jetzt zum ersten Male unter der Firma des Grafen Galen und Genossen
einen Gesetzentwurf einbrachte, der ganz dem sozialpolitischen Eiertanz
entsprach, dem von jetzt ab das Zentrum in immer stärkerem Maße
huldigte. _Bisher hatte sich das Zentrum den sozialen Fragen gegenüber
durchaus zurückhaltend benommen._ Der Gesetzentwurf sollte sowohl den
Kleingewerbetreibenden wie den Arbeitern eine Verbesserung ihrer Lage
bringen. Fritzsche und ich hatten diesem gegenüber einen Gesetzentwurf
ausgearbeitet, der eine Aenderung wichtiger Bestimmungen in den Titeln
1, 2, 7, 9 und 10 der Gewerbeordnung zugunsten der Arbeiter verlangte,
dem die Fraktion ihre Zustimmung erteilte. Der Gesetzentwurf forderte
eine Regelung der Gefängnisarbeit, wonach diese auf Arbeiten für den
Staat beschränkt werden sollte. Weiter wurde gefordert: Verbot der
industriellen Sonntagsarbeit; wo ein solches Verbot unmöglich sei,
sollte dem Arbeitspersonal ein freier Tag in der Woche gewährt werden
müssen; ein Normalarbeitstag von neun Stunden; für Arbeiterinnen,
Arbeiter unter achtzehn Jahren und Lehrlinge ein solcher von acht
Stunden; Verbot der Nachtarbeit; wo solches durch die Natur des Betriebs
unmöglich sei, solle ein achtstündiger Schichtwechsel eingeführt werden.
Die Schonzeit der Schwangeren und der Wöchnerinnen sollte entsprechend
verlängert werden. Für jede Arbeitsstätte sollte eine Arbeitsordnung
eingeführt werden, deren Bestimmungen zwischen Unternehmern und
Arbeitern zu vereinbaren seien. Ferner wurde gefordert: die Aufhebung
der Arbeitsbücher auch für die Bergarbeiter; die Ausfüllung von
Zeugnissen sollte nur auf Verlangen des Arbeiters erfolgen können;
Festsetzung gleicher Kündigungsfristen für beide Teile, Truckverbot,
strengere Schutzmaßregeln für Arbeiterinnen und Lehrlinge; die
Einführung von Gewerbekammern und Gewerbegerichten; eine
Reichsarbeitsinspektion sollte unter Leitung und Kontrolle des
Reichsgesundheitsamts eingeführt werden. Endlich verlangten wir
Sicherung und Erweiterung des Koalitionsrechts.

Die Debatte über die gleichzeitig zur Beratung gestellten Gesetzentwürfe
des Zentrums und unserer Partei leitete von seiten der Fraktion
Fritzsche ein. Die Debatte wuchs sich zu einer Sozialistendebatte aus,
die mir Gelegenheit gab, die erhobenen Vorwürfe mit aller Schärfe
zurückzuweisen und die von den Zentrumsrednern vertretene sogenannte
christliche Weltanschauung gebührend zu kritisieren. Meine Rede machte
großen Eindruck. Der Leipziger Buchdruckergehilfenverein ließ mir in
einem besonderen Abdruck ein Exemplar derselben in einem feinen Einband
überreichen.

Ein praktisches Resultat hatte die Beratung der Anträge nicht.

In der Sitzung vom 24. April erklärte der Reichstag Hasenclevers Wahl im
sechsten Berliner Wahlkreis, die mit dreißig Stimmen Mehrheit erfolgt
war, für ungültig, weil seltsamerweise eine Wählerliste aus Versehen in
einem Wahlbezirk verheftet gewesen sei, so daß eine Anzahl Wähler nicht
hätten wählen können. Die Fortschrittspartei hoffte bei einer Nachwahl
den sechsten Wahlkreis wieder erobern zu können; sie täuschte sich. Wir
warfen uns mit aller Energie in die Wahlagitation, und so siegte jetzt
Hasenclever mit einem Mehr von über tausend Stimmen.

Bei einer Verhandlung über die Eisenzollfrage hielt Bracke eine gute
Rede über Schutzzoll und Freihandel, als es aber zur Abstimmung kam,
stimmte die Fraktion geteilt, eine Minorität stimmte für den Zoll.

Der Versuch, eine andere Fassung des § 46 der Geschäftsordnung
herbeizuführen, um der fortdauernden Willkür bei der Stellung von
Schlußanträgen ein Ende zu machen, mißlang. Der Antrag kam nicht mehr
zur Verhandlung. Dagegen genehmigte der Reichstag den Antrag auf
Einstellung _eines Strafverfahrens_ gegen mich. Tessendorf hatte bei dem
Berliner Stadtgericht wegen meiner Reichstagsbroschüre die Erhebung der
Anklage gegen mich beantragt, und zwar wegen mehrfacher Beleidigung des
Reichskanzlers und Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuches. Dieser
Paragraph lautet: „Wer erdichtete oder entstellte Tatsachen, wissend,
daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder
verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder Anordnungen der
Obrigkeit verächtlich zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu 600 Mark
oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.“ Bei einer Haussuchung,
die auf Antrag Tessendorfs am 12. Januar in der Expedition der „Berliner
freien Presse“ vorgenommen wurde, waren nur noch 12 Exemplare meiner
Schrift gefunden worden, die beschlagnahmt wurden.



Der Kongreß in Gotha 1877.


Wie schon im vorhergehenden Jahre, so berief auch für das Jahr 1877 die
Reichstagsfraktion einen allgemeinen deutschen Sozialistenkongreß für
den 27. bis 30. Mai nach Gotha. Auf der Tagesordnung stand: 1. Bericht
der Reichstagsabgeordneten über ihre Tätigkeit; 2. Bericht über Gang und
Stand der sozialistischen Bewegung in Deutschland; 3. Die sozialistische
Organisation in Deutschland; 4. Die Parteipresse; 5. Das Parteiprogramm.

Aus dem wieder von Auer erstatteten Bericht ging hervor, daß die Partei
in 175 Wahlkreisen von 397 eigene Kandidaten aufgestellt hatte. Die Zahl
der Parteiblätter war auf 41 gestiegen. Es bestanden weiter vierzehn
Parteidruckereien. Die Parteieinnahmen ergaben 54217 Mark, die Ausgaben
betrugen 50635 Mark.

Den Bericht über die Tätigkeit der Fraktion erstattete an Stelle von
Liebknecht, der wegen Krankheit in der Familie noch nicht eingetroffen
war, Fritzsche. Ich traf wegen geschäftlicher Behinderung mit Liebknecht
erst am 28. Mai in Gotha ein.

Ueber die Organisationsfrage berichtete Tölcke, der im Namen der
gewählten Organisationskommission beantragte, folgender Resolution die
Zustimmung zu geben:

  „Mit Rücksicht auf die von preußischen Behörden mit unerhörter
  Dreistigkeit förmlich proklamierte völlige Rechtlosigkeit
  sozialistischer Vereine in Preußen nimmt der Kongreß von der
  Herstellung einer Organisation der Partei Abstand, auf welche die in
  Deutschland, besonders in Preußen bestehenden Vereinsgesetze
  angewendet werden können; der Kongreß überläßt es den Parteigenossen
  in den einzelnen Orten, sich je nach den örtlichen Verhältnissen und
  Bedürfnissen zu organisieren.“

Diese Resolution wurde ohne Diskussion einstimmig angenommen.
Hervorgehoben zu werden verdient, daß damals fast die gesamte liberale
Presse, die fortschrittliche nicht ausgenommen, den Scherereien,
Plackereien und Gewalttätigkeiten der Behörden gegen die sozialistischen
Organisationen mit stoischem Gleichmut zusah und selten ein Wort der
Kritik hören ließ. Darin sahen natürlich die Behörden nur eine
Ermutigung ihres ungesetzlichen und gewalttätigen Vorgehens.

Eine unerquickliche Debatte rief wieder das Verhalten _Hasselmanns_
hervor. Hasselmann hatte das von ihm mit Zustimmung des
Zentralwahlkomitees Januar 1877 herausgegebene Blatt unter dem Titel
„Die Rote Fahne“ nur als Flugblatt für die Unterstützung der Wahlen
erscheinen lassen wollen. Dagegen war nichts einzuwenden. Er hatte aber
dasselbe förmlich hinter dem Rücken des Zentralwahlkomitees als
regelrecht erscheinendes Wochenblatt behördlich angemeldet, und nun
benutzten seine Anhänger dasselbe überall, um den „Vorwärts“ zu
verdrängen. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß _Hasselmann_ auf
Spaltung der Partei hinarbeitete. Das kam auch in der Debatte durch die
Mehrzahl der Redner zum Ausdruck. Schließlich wurde ein Antrag von mir
gegen fünf Stimmen angenommen, dahin lautend: Der Kongreß ersucht den
Genossen Hasselmann, die „Rote Fahne“ eingehen zu lassen, sobald die
„Bergisch-Märkische Volksstimme“ — deren Redakteur er war — sich deckt.
Aber er mußte bereits Anfang Oktober das Eingehen der „Roten Fahne“
ankündigen. Das Blatt deckte nicht seine Kosten, und so war ihm seine
Fortführung unmöglich.

Nicht minder unerquicklich wie die Debatte über Hasselmann war die
Debatte, die Most über Friedrich Engels' Artikelserie im „Vorwärts“ über
Professor Dühring hervorrief. Dühring war es gelungen, fast die gesamten
Führer der Berliner Bewegung für seine Theorien einzunehmen. Auch ich
war der Ansicht, daß jede schriftstellerische Leistung, die, wie die
Dühringschen Arbeiten, dem bestehenden Sozialzustand scharf zu Leibe
ging und sich für den Kommunismus erklärte, aus agitatorischen Gründen
unterstützt und für uns ausgenutzt werden müsse. Von diesem Standpunkt
aus hatte ich schon 1874 von der Festung aus zwei Artikel unter der
Ueberschrift „Ein neuer Kommunist“ im „Volksstaat“ veröffentlicht, in
denen ich Dührings Arbeiten besprach. Die betreffenden Bücher hatte mir
Eduard Bernstein zugesandt, der damals mit Most, Fritzsche und anderen
zu Dührings begeisterten Anhängern gehörte. Daß Dühring bald darauf
wegen seiner Lehren mit den Staats- und Universitätsbehörden in Konflikt
kam, ein Konflikt, der im Juni 1877 zu seiner Maßregelung an der
Berliner Universität führte, erhöhte noch sein Ansehen in den Augen
seiner Anhänger. Das alles veranlaßte Most, auf dem Kongreß eine
Resolution einzubringen, lautend:

  „Der Kongreß erklärt, Artikel, wie beispielsweise die in den letzten
  Monaten von Engels gegen Dühring veröffentlichten Kritiken, die für
  die weitaus größte Mehrheit der Leser des ‚Vorwärts‘ völlig ohne
  Interesse oder gar höchst anstoßerregend sind, haben künftighin aus
  dem Zentralorgan fernzubleiben.“

Das Ansehen Dührings erlitt allerdings nicht lange nachher in den Augen
seiner sozialistischen Anhänger gründlich Schiffbruch. Das Benehmen des
Mannes wurde so autokratisch und an Größenwahn grenzend, daß sich einer
nach dem anderen von ihm zurückzog.

Auf demselben Kongreß wurde von Vollmar — der damals zum erstenmal auf
einem Parteikongreß erschien — der Antrag gestellt und angenommen:

  „Um der Solidarität der Sozialisten aller Länder Ausdruck zu geben,
  beschließt der Kongreß, den diesjährigen internationalen
  Sozialistenkongreß zu Gent durch einen Delegierten zu beschicken. Das
  Zentral-Wahlkomitee bestimmt den Delegierten.“

Grillenberger unterstützte den Antrag, dagegen mahnte Liebknecht
zur Vorsicht im Hinblick auf die in Belgien vorhandene
bakunistisch-anarchistische Strömung, die versuchen werde, den Kongreß
zu beherrschen.

Ob der Kongreß zustande kam, ist mir nicht erinnerlich, jedenfalls
wurde er von uns nicht beschickt; der Partei erwuchsen mittlerweile im
Innern ernstere und kostspieligere Aufgaben.



Landtagswahl in Sachsen. — „Die Zukunft.“


Im September 1877 gelang es uns in einem der Landtagswahlkreise
Leipzig-Land — 36. ländlicher Wahlkreis —, Liebknecht zum Abgeordneten zu
wählen. Die Parteigenossen hatten zunächst mir die Kandidatur angeboten,
ich lehnte aber ab, da ich unmöglich meinem Associé und meinem Geschäft
zumuten konnte, neben dem Reichstagsmandat auch ein Landtagsmandat zu
übernehmen. Bei der Prüfung der Wahl durch den Wahlkommissar stellte
sich heraus, daß Liebknecht noch nicht drei Jahre sächsischer
Staatsangehöriger war und somit zum Abgeordneten nicht gewählt werden
konnte. Die Wahl wurde für ungültig erklärt. Darauf stellten die
Parteigenossen des Wahlkreises den Parteigenossen Rechtsanwalt Otto
Freytag in Leipzig auf, der auch gewählt wurde. —

Den 1. September trat Vahlteich seine achtzehnmonatige Haft in Zwickau
an, dem im nächsten Jahre Vollmar folgte. Am 1. Oktober erschien in
Berlin eine Monatschrift unter dem Titel „Die Zukunft“, zu deren
Erscheinen _Karl Höchberg_, der Sohn eines Frankfurter Bankiers, die
Mittel hergab. Höchberg hatte sich, ich möchte sagen aus
gefühlsphilosophischen Beweggründen der Bewegung angeschlossen; sein
Privatsekretär wurde Eduard Bernstein, der infolgedessen seine Stellung
in einem Berliner Bankgeschäft aufgab. Die unklare Stellung, die die
Zeitschrift sowohl in Anbetracht der Anschauungen ihres Gründers und des
Kreises ihrer Mitarbeiter, in dem alle Richtungen in der Bewegung
vertreten waren, zum wissenschaftlichen Sozialismus, wie ihn Marx und
Engels begründet hatten, einnahm, hatten von vornherein das Mißtrauen
der beiden Alten in London geweckt, ein Mißtrauen, das um so lebhafter
wurde, als der Gang der Ereignisse und die finanzielle Not, in die dabei
die Partei geriet, die finanzielle Opferwilligkeit Höchbergs nach
vermiedenen Richtungen in hohem Grade in Anspruch nahm. Marx und
Engels, die die Dinge nur aus der Ferne sahen, Personen und Verhältnisse
nicht näher kannten, sahen in dieser Opferwilligkeit Höchbergs schlaue
Berechnung, einen kaltblütig ausgeheckten Plan, die Partei auf Abwege zu
bringen, sie ihrer Aufgabe zu entfremden.

Das war eine durchaus irrige Auffassung. Höchberg hat nie den Versuch
gemacht, seine finanziellen Mittel im Sinne der befürchteten
Bestrebungen anzuwenden oder die Unterstützung derselben zur Bedingung
seiner Hilfsleistungen zu machen. Er gab aus gutem Herzen und aus
Interesse für die Sache, und nie, ohne mich oder andere Freunde, Geib,
Liebknecht usw., zu Rate zu ziehen. Aber der Versuch, das Mißtrauen
gegen Höchberg bei den Londonern zu beseitigen, gelang erst, als ich
mich entschloß, mit Bernstein nachmals den in der Partei berühmt
gewordenen „Kanossagang“ im Spätherbst 1880 anzutreten, um Marx und
Engels klaren Wein einzuschenken. Darüber im nächsten Bande.

Ich selbst schrieb mehrere Artikel für die „Zukunft“, so einen über das
Proportionalwahlrecht, eine Frage, die damals in der Partei noch wenig
erörtert worden war. Die für mich selbstverständliche Art, wie dieses
Wahlsystem ausgeführt werden müsse und tatsächlich auch nachher in der
Praxis angewendet wurde, fand anfangs bei dem Hauptvertreter dieses
Wahlsystems in der Schweiz, unserem altbewährten Genossen Karl Bürkli,
einigen Widerspruch. Aber als ich mich im Herbst 1901 nach einem
Mittagessen bei Professor Dodel in Zürich von ihm verabschiedete,
äußerte Bürkli: Bebel, wir werden uns nicht mehr wiedersehen — er ging
ins 79. Lebensjahr —, aber eins will ich Ihnen noch sagen, Ihr
Vorschlag, den Sie seinerzeit in der „Zukunft“ machten über die
Ausführung des Proportionalwahlrechts, ist der richtige. Wenige Monate
später starb Bürkli; er hatte sein baldiges Ende richtig vorausgesehen.



Wieder reif fürs Gefängnis.


Am 12. Juni 1877 stand endlich auch ich vor der berüchtigten siebenten
Deputation des Stadtgerichts in Berlin als Angeklagter. Tessendorf hatte
in meiner Broschüre nicht weniger als drei Bismarckbeleidigungen
entdeckt, außerdem, wie ich schon erwähnte, eine Verletzung des § 131
des Strafgesetzbuchs gefunden. Bismarck hatte bereitwillig den
Strafantrag gestellt. Es war richtig, ich hatte den Reichskanzler etwas
unsanft angefaßt. Als ich die Broschüre schrieb, wurmte mich noch immer
die beleidigende Rede, die er mir Anfang 1876 im Reichstag ins Gesicht
geschleudert hatte, auf die zu antworten mich die Mehrheit durch
Annahme eines Schlußantrags verhindert hatte. Wäre ich damals
ausführlich zum Wort gekommen, höchst wahrscheinlich wäre mir die
Reichskanzlerbeleidigung erspart geblieben, denn es waren die Vorgänge
im Reichstag, auf die ich in den Angriffen auf Bismarck in meiner
Broschüre Bezug nahm. Außerdem hatte ich in einem Angriff auf die
Nationalliberalen diese gehöhnt, daß sie sich vom Reichskanzler
hausknechtmäßig behandeln ließen, und dachte gar nicht daran, damit eine
Beleidigung Bismarcks begehen zu wollen. Es war eben die Zeit, in der
der Abgeordnete Bamberger in einem Augenblick anerkennenswerter
Selbsterkenntnis wegen seiner und seiner Freunde Behandlung durch den
Reichskanzler das Wort geprägt hatte: _Hunde sind wir ja doch_!

Die Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs wurde in der scharfen
Kritik gefunden, die ich dem Militarismus hatte angedeihen lassen, die
aber ganz den von uns vertretenen Anschauungen entsprach. Ich empfand es
als eine persönliche Beleidigung, daß man mich anklagte, erdichtete oder
entstellte Tatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind,
öffentlich behauptet und verbreitet zu haben, um damit die Einrichtungen
des Militarismus verächtlich zu machen; denn was ich geschrieben hatte,
entsprach meinem Standpunkt und meiner Ueberzeugung.

Tessendorf als öffentlicher Ankläger machte sich sein Amt sehr leicht,
er kannte ja genügend die siebente Deputation. Nonchalant, als pflege er
eine private Unterhaltung, stand er vor dem Gerichtshof, die eine Hand
in der Tasche einer hellgestreiften Sommerhose — die heute übliche
Amtskleidung wurde erst später eingeführt —, angetan mit einem schäbigen
schwarzen Frack, und beantragte nach einer kaum fünf Minuten langen Rede
9 Monate wegen Beleidigung des Reichskanzlers und 5 Monate wegen der
Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs, also 14 Monate Gefängnis, die
er auf ein Jahr Gefängnis zusammenzuziehen vorschlug.

Die Art, wie Tessendorf die Sache behandelte, brachte mich noch mehr in
Erregung, als es ohnedem schon der Fall war. Ich verteidigte mich
selbst. In anderthalbstündiger Rede suchte ich die Anklage Punkt für
Punkt zu widerlegen. Wolle man aus meiner Broschüre eine Beleidigung des
Reichskanzlers herauslesen, dann müßten die Umstände berücksichtigt
werden, unter denen ich zu meinen Ausführungen gekommen sei, und in
Anbetracht dieser sei das beantragte Strafmaß viel zu hoch. Eine
Verletzung des § 131 liege aber in allewege nicht vor. Ich betrachtete
es als unerhört, mich auf diesen Paragraphen hin anzuklagen, da es doch
gerichtsnotorisch sein müsse, daß die obendrein mit Tatsachen und
Zitaten wissenschaftlicher und militärischer Autoritäten begründeten
Ausführungen nur meinem Parteistandpunkt und meiner Ueberzeugung
entsprächen.

Ich glaube, ich hielt eine sehr gute Rede, aber sie würde auch keinen
Eindruck auf die Richter gemacht haben, wenn deren Aufmerksamkeit nicht
durch ein ausgebrochenes Hagelwetter, dessen Körner gegen die
Fensterscheiben trommelten, in Anspruch genommen gewesen wäre. Die
Frage, in welchem Augenblick wohl die Fensterscheiben durch die
Hagelkörner zertrümmert würden, war den Richtern offenbar wichtiger als
meine schönen Ausführungen. Der Gerichtshof zog sich zurück, da
Tessendorf es nicht der Mühe wert fand, mir zu antworten, und verkündete
nach kurzer Beratung in allen Fällen meine Verurteilung zu neun Monaten
Gefängnis.

Ich appellierte, und die Sache kam am 28. Oktober vor dem Kammergericht
zur Verhandlung. Hier führte Staatsanwalt Groschuff die Anklage. Im
Laufe seiner Rede machte er geltend, daß ich schon wegen meiner
Vorstrafen keine milde Verurteilung verdiente; er beantragte Bestätigung
des Urteils der ersten Instanz.

Ich verteidigte mich wiederum selbst. In einstündiger Rede wendete ich
mich gegen die Ausführungen des Staatsanwalts. Seine Bemerkung, daß ich
quasi wegen Rückfälligkeit härter bestraft werden müßte, hatte mich
besonders gereizt. Ich protestierte, daß man einen Angeklagten, der im
Kampfe für seine Ueberzeugungen wiederholt mit dem Strafrichter
Bekanntschaft gemacht habe, mit einem gemeinen Verbrecher — einem Diebe
oder Betrüger im Rückfalle — auf gleiche Stufe stelle. Der gemeine
Verbrecher handle gegen das Gesetz, um einen persönlichen Vorteil zu
erlangen, also aus _Eigennutz_, der politische „Verbrecher“, der,
geschehe es in Verteidigung oder Propagierung seiner Ansichten, gegen
das Gesetz verstoße, handle aus _Idealismus_. Ihm gebühre für die
unentwegte Vertretung seiner Anschauungen nicht verschärfte Strafe,
sondern Anerkennung. Kein politischer „Verbrecher“ werde wegen der
Vertretung seiner Ueberzeugungen, die ihn mit dem Strafgesetz in
Konflikt brächten, gesellschaftlich mißachtet, wie das mit dem gemeinen
Verbrecher wohl die Regel sei. Der politische Verbrecher gewinne sogar
an Ansehen in den Augen seiner Gesinnungsgenossen.

In meiner weiteren Rede legte ich den Schwerpunkt auf die Anklage wegen
Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs. Ich erreichte damit, daß der
Vorsitzende des Gerichtshof sieben Seiten meiner Schrift, die Urteile
über den Militarismus enthielten, vorlesen ließ. Das Endresultat war:
ich wurde von der Anklage, den § 131 verletzt zu haben, freigesprochen,
aber wegen Beleidigung Bismarcks zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Hinzufügen möchte ich hier, daß, als einige Monate später, im Dezember,
der konservative Sozialpolitiker Dr. Rudolf Meier ebenfalls wegen
Bismarckbeleidigung von dem Kammergericht zu einem Jahre Gefängnis
verurteilt wurde, derselbe Staatsanwalt Groschuff, der die Anklage auch
gegen mich geführt hatte, jetzt äußerte: _er hege den Wunsch, dieses
möge der letzte Bismarckbeleidigungsprozeß sein_. Diese hörten aber erst
auf, als Bismarck aufhörte, Reichskanzler zu sein, das heißt dreizehn
Jahre später.

Da es mir sehr darum zu tun war, in Rücksicht auf meine Familie und mein
Geschäft, meine Haft in Leipzig zu verbüßen, hier aber nach den
ministeriellen Vorschriften nur Haftstrafen bis zum Höchstmaß von fünf
Monaten erledigt werden konnten, wandte ich mich an die zuständige
Stelle mit der Frage: ob ich eventuell für die Verbüßung einer
fünfmonatigen Haft im Leipziger Gefängnis zugelassen würde. Nachdem
dieses bejaht worden war, begab ich mich nach Berlin zu dem Vorsitzenden
der siebenten Deputation, Reich, und ersuchte diesen, zu gestatten, daß
ich nach Verbüßung einer einmonatigen Haft in Plötzensee die restlichen
fünf Monate im Leipziger Bezirksgerichtsgefängnis verbringen könne. Zu
meiner nicht geringen Verwunderung empfing er mich mit ausgesuchter
Höflichkeit und erklärte seine Zustimmung zu meinem Antrag.

Darauf trat ich am 23. November meine Haft in Plötzensee an. Die
Prozedur der Aufnahme war eine sehr umständliche und widerwärtige. Als
ich dem Arbeitsinspektor vorgeführt wurde, empfing mich dieser mit den
Worten: Nun, Herr Bebel, wie es in der Bastille am Plötzensee aussieht,
werden Sie aus Mosts Schrift ersehen haben. Ich antwortete: Ich hätte
zwar die Schrift gelesen, aber das sei schon längere Zeit her, ich bäte
ihn, mich zu informieren. Nun brach bei ihm der offenbar schon lange
verhaltene Grimm gegen Most los. Er verstehe, daß der Gefangene in den
Beamten seine Feinde sehe und sich hinter deren Rücken an Vorteilen zu
verschaffen suche, was ihm möglich sei, aber dann sich nachher auf den
Markt zu stellen und auszuschreien, wie man die Beamten hintergangen
oder diese zu Konzessionen verleitet habe, sei eine Gemeinheit und eine
Dummheit. Er erzählte alsdann, welche Wirkung und welche Folgen die
Mostsche Schrift nach ihrer Veröffentlichung unter den Beamten in
Plötzensee hervorgerufen habe. Er schloß seine erregten
Auseinandersetzungen mit den Worten: Most soll uns nur mal wieder
zwischen die Finger kommen, dem wollen wir seine Indiskretionen
eintränken.

Und er kam ihnen bald genug wieder zwischen die Finger, und sie habend
ihm tüchtig eingetränkt. Einen Vorgeschmack bekam Most von dem, was ihn
gegebenenfalls erwartete, daß, als er mir in Plötzensee einen Besuch
machen wollte, er kurzerhand abgewiesen wurde.

Ich erlangte das Recht, mich literarisch beschäftigen zu dürfen und bis
abends 10 Uhr Licht zu brennen. Marx' „Kapital“ und verschiedene andere
sozialistische Schriften wurden mir fortgenommen, als wenn an mir noch
etwas zu verderben gewesen wäre. Und da der Arbeitsinspektor absolut
verlangte, daß ich mich nicht bloß mit dem Studium von Büchern abgeben
dürfe, sondern auch irgendeine literarische Arbeit vorzeigen müsse,
setzte ich mich hin und schrieb ein kleines Broschürchen, das unter dem
Titel erschien: „Frankreich im achtzehnten Jahrhundert.“

Selbstbeköstigung gab es nicht, die war Börsenjobbern, die wegen
Gaunereien in Plötzensee Quartier bezogen hatten, gewährt worden,
politischen Gefangenen nicht. Was aber dem Gefangenen die magere Kost
noch besonders verleidete, um nicht zu sagen verekelte, war der
feststehende Küchenzettel, das heißt die in einer Woche morgens, mittags
und abends verabreichte Kost kehrte fast in derselben Reihenfolge Woche
für Woche, Tag für Tag wieder. Ich verlor in den nahezu zwei Monaten,
die ich in Plötzensee verbrachte, erheblich an Gewicht. Ich begriff
nicht, wie Anstaltsärzte eine solche Verpflegungsordnung zulassen
konnten. Auf meinen Antrag bewilligte mir der Arzt die sogenannte
Krankenkost. Danach erhielt ich dreimal in der Woche zu Mittag einen
Teller wirklich gute Fleischbrühsuppe, einen Sperling Fleisch, das auf
ein spitzes Holzstäbchen gespießt war, da man Messer und Gabel dem
Gefangenen nicht anvertraut, und Kartoffeln und Gemüse. Die Bezeichnung
Sperling rührte daher, daß das Stückchen Fleisch nach Form und Größe
einem gerupften Sperling ähnlich sah.

Ich hatte darauf gerechnet, unmittelbar vor Weihnachten von Plötzensee
nach Leipzig übersiedeln und alsdann die Weihnachtsfeiertage bei meiner
Familie verbringen zu können. Von den acht Weihnachtsfesten, die bis
dahin mein Töchterchen erlebt hatte, hatte ich vier in den Gefängnissen
zugebracht. Ich hoffte, nicht das fünfte Mal die Weihnachtsfeier im
Gefängnis verbringen zu müssen. Es kam aber doch so. Auf meine
Anfrage bei der Leipziger Gefängnisverwaltung, ob ich nach den
Weihnachtsfeiertagen die Haft dort antreten könne, kam die Antwort, daß
dieses vorläufig nicht möglich sei, die Räume seien alle besetzt. Erst
am 18. Januar 1878 konnte ich nach Leipzig übersiedeln.

Während meiner Haft in Plötzensee besuchte mich wiederholt der
Gefängnisgeistliche, um sich mit mir über die politischen Vorgänge zu
unterhalten. Mir war das Halten der „Vossischen Zeitung“ bewilligt
worden, deren sämtliche Tagesnummern ich aber regelmäßig erst am Ende
der Woche, am Sonntag, zugestellt erhielt. Most hatte um jene Zeit mit
der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Temperaments eine öffentliche
Agitation für den Austritt aus der Landeskirche begonnen. Die von
ihm veranlaßten Volksversammlungen waren überfüllt und von
leidenschaftlicher Erregung getragen. Diese wuchs, als jetzt die neu
erstandene christlich-soziale Partei unter Führung des Hofpredigers
_Stöcker_ ebenfalls Versammlungen abhielt und Redner dieser Partei auch
in den Mostschen Versammlungen erschienen, dort aber, wie vorauszusehen
war, unter dem Jubel der Massen den kürzeren zogen. Diese Agitation rief
bei den Frommen im Lande eine ungeheure Aufregung hervor, die auch den
Gefängnisgeistlichen ergriffen hatte. Selbst der alte Kaiser sah sich
veranlaßt, als ihm zu seinem Geburtstag im März 1878 das Präsidium des
Landtags gratulierte, in seiner Antwort zu betonen: Die Religion muß dem
_Volke_ erhalten werden.



Innere Vorgänge.


Während ich hinter den Gefängnismauern Zeit zu allerlei Betrachtungen
hatte, spielten sich in und außerhalb der Partei eine Reihe Vorgänge ab,
die von besonderer Bedeutung waren. Im November hatten die Berliner
Genossen an Stelle der aufgelösten Organisationen einen Verein zur
Wahrung der Interessen der werktätigen Bevölkerung gegründet. Die
christlich-konservativen Staatssozialisten gründeten eine Wochenschrift,
„Der Staatssozialist“, an der als Mitarbeiter Professor Schäffle,
Professor v. Scheel, Bankier Samter, Professor Ad. Wagner, Pastor Tod,
Dr. Petermann-Dresden und andere tätig sein sollten. Die evangelischen
Sozialpolitiker wollten den katholischen nicht allein das Feld
überlassen, sondern unter den evangelischen Arbeitern vor der
Sozialdemokratie retten, was noch zu retten war.

Auch in der großen Politik schienen Veränderungen bevorzustehen. Die
fortgesetzt steigenden Ausgaben des Reiches erforderten neue Einnahmen.
Die wachsenden Matrikularumlagen, durch die die Einzelstaaten das
Reichsdefizit zu decken hatten, wurde diesen angesichts des eigenen
steigenden Geldbedarfes für ihre innere Verwaltung immer lästiger. Die
gesteigerten Ausgaben aber auf dem Wege direkter Besteuerung zu decken,
davon wollte Bismarck am wenigsten wissen. Er haßte die direkten Steuern
und suchte sich persönlich nach Möglichkeit der Zahlung derselben zu
entziehen. Er hatte schon am 22. November 1876 im Reichstag sein
_Steuerideal_ entwickelt, wobei er ausführte:

  „Ich erkläre mich von Hause aus wesentlich für Aufbringung _aller_
  Mittel nach Möglichkeit für _indirekte_ Steuern, und halte die
  direkten Steuern für einen harten und plumpen _Notbehelf_, nach
  Aehnlichkeit der Matrikularumlagen, mit alleiniger Ausnahme, ich
  möchte sagen einer _Anstandssteuer_, die ich von der direkten Steuer
  immer aufrecht erhalten würde; das ist die Einkommensteuer der reichen
  Leute ... wohlverstanden, der wirklich reichen Leute.... Ich kann die
  Zeit kaum erwarten, daß der Tabak höhere Summen steuere, so sehr ich
  jedem Raucher das Vergnügen gönne. Analog steht es auch mit dem Bier,
  dem Branntwein, dem Zucker, dem Petroleum und allen diesen großen
  Verzehrungsgegenständen, gewissermaßen den _Luxusgegenständen_ der
  großen Masse.“

Ein großer Teil der Liberalen war geneigt, auf dem gleichen Wege die
Deckung der Mehrausgaben zu suchen. Da Bismarck um jene Zeit mit einem
Teil der konservativen Partei ein starkes Zerwürfnis hatte, andererseits
mit dem Zentrum noch immer in Fehde lebte, kam er auf den Gedanken, die
Nationalliberalen, die damals noch mit ihren nächsten Affiliierten die
stärkste Partei im Reichstag bildeten, dadurch an seine Politik zu
ketten, daß er mit ihrem Führer Herrn v. Bennigsen wegen dessen Eintritt
in das preußische Ministerium in Unterhandlungen trat. Bennigsen war
dazu geneigt, aber er hielt die Zustimmung der führenden Parteigenossen
zu diesem Schritt für notwendig. Unter dem Einfluß Laskers kam man
überein, dem Eintritt Bennigsens in das Ministerium nur zuzustimmen,
wenn neben Bennigsen auch der Bayer Freiherr v. Stauffenberg und Herr
v. Forckenbeck in das Ministerium Aufnahme fänden. Bennigsen allein
würde der wachsenden reaktionären und schutzzöllnerischen Strömung
gegenüber nicht gewachsen sein. Bismarck brachten diese Bedingungen
namentlich gegen Lasker in hellen Zorn, dem er vorwarf, ihm einmal
wieder in die Suppe gespuckt zu haben. Als dann der alte Kaiser von der
Kombination mit Bennigsen hörte, in dem er wegen seiner Haltung im Jahre
1866 gegen das hannoversche Herrscherhaus einen halben Hochverräter sah
und sich entschieden gegen Bennigsen als preußischen Minister erklärte,
fiel der ganze Plan ins Wasser. Bismarck vergaß den Nationalliberalen
nicht, was sie nach seiner Meinung gegen ihn gesündigt hatten, er nahm
bald darauf Rache an ihnen.

       *       *       *       *       *

Ende des Jahres 1877 siedelte _Auer_ von Hamburg nach Berlin über, um
neben Most und anderen in die Redaktion der „Berliner Freien Presse“
einzutreten. August Geib bemühte sich, an Auers Stelle Julius _Motteler_
zum Eintritt als Sekretär in das Zentralwahlkomitee zu gewinnen.
Motteler, der aus privaten Gründen 1876 aus der Leitung der Leipziger
Genossenschaftsbuchdruckerei ausgetreten war, lehnte aber ab.

Bald darauf erlebte Berlin zwei Vorgänge, die die gesamte
Oeffentlichkeit in Spannung versetzten. Am 7. März 1878 starb der Faktor
der Berliner Assoziationsbuchdruckerei August Heinsch und wurde am 10.
März beerdigt. Heinsch war kein Redner, aber er war ein vorzüglicher
Organisator, in dessen Händen alle Fäden der Berliner Bewegung
zusammenliefen, und er hatte sich wegen seiner Unermüdlichkeit, trotz
seines leidenden Zustandes — er starb an der Schwindsucht — zu helfen und
zu raten, wo er konnte, die allgemeinste Sympathie der Berliner Arbeiter
erworben. Das Leichenbegängnis gestaltete sich zu einer großen
sozialdemokratischen Demonstration, wie sie bis dahin Berlin noch nicht
gesehen hatte. Der Polizeipräsident bewies sein Verständnis für die
Bewegung dadurch, daß er die Mitnahme von Fahnen im Zuge, auch wenn sie
verhüllt waren, verbot.

Die Demonstration hatte durch die Ruhe und Ordnung, mit der sie
verlief, den Gegnern so imponiert, daß der „Kladderadatsch“ sich zu
folgendem Gedicht verstieg.

  „_Für die Sozialdemokratie._
  Daß neulich Zucht und Ordnung sie gehalten
  Bei ihrem Aufzug, laßt es uns gestehn.
  Ein gleicher Geist der Ordnung möge walten
  Bei uns, wenn wir in solchen Massen gehn!
  Wir wollen gern den Beifall ihnen zollen,
  Der ungerecht nur scheint den Toren.
    Es sind verloren,
  Die nicht vom Gegner lernen wollen.“

Wenige Wochen später sah Berlin ein zweites, womöglich noch größeres
Leichenbegängnis. Paul Dentler, der verantwortliche Redakteur der
„Berliner Freien Presse“, war ebenfalls an der Schwindsucht, aber unter
so empörenden Umständen gestorben, daß ein Sturm der Entrüstung die
Partei in Berlin und in ganz Deutschland ergriff. Dentler war wie
Heinsch ein noch junger Mann, der mir in meiner Prozeßangelegenheit
bereitwilligst eine Reihe kleiner Dienste erwiesen hatte. Eine hoch
aufgeschossene schlanke Gestalt mit der bleichen Gesichtsfarbe und der
zarten durchsichtigen Haut, wie sie Schwindsüchtige öfter zu haben
pflegen, war er in seinem ganzen Wesen die personifizierte
Liebenswürdigkeit und Gefälligkeit.

Dentler war am 18. Januar unter der Anklage, mehrere
Majestätsbeleidigungen und sonstige Vergehen in der „Berliner Freien
Presse“ begangen zu haben, in schwer krankem Zustand in
Untersuchungshaft genommen und am 7. Februar von der siebten Deputation
zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt worden, wogegen er die Berufung
anmeldete. Dentler beantragte alsdann mit Hinweis auf seinen schwer
kranken Zustand seine Entlassung aus der Untersuchungshaft, die infolge
der Berufung fortdauerte. Das Gericht forderte den Gefängnisarzt zur
Begutachtung des Falles auf. Woche um Woche verging; Dr. Lewin, so hieß
der Ehrenmann, ließ sich ab und zu einmal in der Zelle sehen, fragte
Dentler, wie es ihm gehe, und verschwand wieder. Alles, was Dentler
schließlich erreichte, war, daß er kurz vor seinem Tode aus der
Stadtvogtei in die Gefangenenabteilung der Charité gebracht wurde.

Von hier schrieb _Dentler_ der Redaktion der „Berliner Freien Presse“:

  „Mein Zustand verschlimmert sich jeden Tag, nach Verlauf einer Woche
  erinnere ich (an den Antrag auf Entlassung) — vergebens. Eine zweite
  Woche bricht an, geht zu Ende und am letzten Tage derselben — vierzehn
  Tage nach meinem Antrage — erscheint der Medizinalrat Wolff.... Nach
  einer sehr sorgfältigen Untersuchung geht Herr Wolff, nachdem er sich
  sehr bedenklich über meinen Zustand ausgesprochen hat. — Seit jener
  Untersuchung sind wiederum volle acht Tage verflossen, ich bin nach
  wie vor im unklaren über mein Schicksal, die siebte Deputation hat
  seitdem drei Sitzungen gehalten und ich — nun ich habe heute nachmittag
  in der Spazierstunde Blut gespien, nach meinen bisherigen Erfahrungen
  ein Vorbote starker, in kurzer Zeit darauf folgender Lungenblutungen.
  Daß ich jetzt eine Lungenblutung vom Schlage der beiden erlebten
  überstehen würde, halte ich einfach für unmöglich.“

Und der vorausgesagte Blutsturz kam. Am 24. April war _Dentler_ eine
Leiche. Am 28. April fand seine Bestattung unter immenser Beteiligung
statt; sie war ein flammender Protest gegen die ihm widerfahrene
Behandlung. Wiederum war das Bürgertum erstaunt und erschreckt über die
Massen, die Dentler zu Grabe geleiteten. Dieser Ueberraschung gab jetzt
die „Magdeburger Zeitung“ mit den Worten Ausdruck:

  „Wer spricht noch von Arbeiterbataillonen Berlins angesichts dieses
  Leichenaufgebots? Das sind Regimenter, Brigaden, Divisionen, ja mehr,
  das sind ganze Armeekorps, welche ihrem sicherlich um die Sache
  hochverdienten Toten die letzte Ehre erwiesen.“

Seitdem hat Berlin noch manchen sozialdemokratischen Leichenzug gesehen,
größer als jenen der Heinsch und Dentler, die der bürgerlichen Welt ein
_mene tekel upharsin_ zuriefen.



Der Reichstag Frühjahr 1878.


Mittlerweile war der Reichstag zum 6. April 1878 einberufen worden. Ich
war durch meine Haft wieder von seinen Beratungen ausgeschlossen. Ein
Antrag auf meine Beurlaubung hatte wie früher einen negativen Erfolg.

Die Fraktion war sehr fleißig in der Stellung von Anträgen. Sie
beantragte die Abänderung des Artikels 31 der Verfassung — Freilassung
der Abgeordneten auch aus der Strafhaft —, Aenderung des
Reichstagswahlgesetzes: Einführung der Kuverts, Wahltag am Sonntag,
gesetzliche Festlegung der Zahl und des Umfanges der Wahlkreise nach
jeder Volkszählung, Aenderung der Bestimmungen des Strafgesetzbuchs in
bezug auf Wahlbeeinflussungen; einen Gesetzentwurf betreffend das
Vereins- und Versammlungsrecht, Antrag auf Aenderung des
Freizügigkeitsgesetzes — Einschränkung der Ausweisungen —, Anträge zu dem
Bericht der Kommission über die Einführung der Gewerbegerichte, Anträge
zu dem von den Regierungen eingebrachten Gesetzentwurf betreffend
Aenderung der Gewerbeordnung.

Bei einer der in jener Zeit öfter vorkommenden Sozialistendebatten
erlaubte sich Bismarck den Scherz: er wolle mir einen polnischen Bezirk
zum Musterversuch für sozialistische Experimente überlassen. Da ich
hinter Schloß und Riegel saß, konnte ich ihm auf diesen Scherz nicht
gebührend antworten.

Als ich vernahm, daß Motteler zur Frage der Fabrikarbeit der Kinder
sprechen wolle, schrieb ich ihm am 12. Februar:

  „Gestern sagte mir Dr. Glattstern, daß Du ihn wegen Beschaffung von
  Material in bezug auf Kindersterblichkeit angegangen habest. Wenn Du
  dies in Rücksicht auf die Einschränkung der Kinderarbeit durch die
  Gewerbeordnungsnovelle getan, dürfte es sich empfehlen, von
  Zahlenmaterial, da es meines Wissens in brauchbarer Weise nicht
  vorhanden ist, abzusehen. Die große Kindersterblichkeit ist notorisch,
  auch in den späteren Jahren, aber es muß beachtet werden, daß neben
  der Fabrikarbeit auch elende Wohnung, elende Nahrung und elende Pflege
  während der Krankheiten sehr ins Gewicht fallende Faktoren sind.
  Willst Du dagegen die große Kindersterblichkeit in den ersten
  Lebensjahren auf die Beschäftigung der Mütter in den Fabriken mit
  zurückführen, so ist das unzweifelhaft gut und hierfür kein besseres
  Beispiel anzuführen als die Zeit der Baumwollenkrise in England,
  während des amerikanischen Bürgerkriegs, in der die Kinder bedeutend
  weniger starben, weil sie jetzt infolge der mangelnden Arbeit für die
  Mütter die Mutterbrust erhalten konnten (siehe Marx' Kapital).

  Ich glaube, Du tust am besten, hier einfach auf die physischen und
  moralischen Nachteile dieser Arbeit an und für sich und in Verbindung
  damit auf die Zerrüttung des Familienlebens hinzuweisen, das die
  Fabrikarbeit der Mütter hervorruft, und appellierst an das Gefühl der
  Gegner, was sie sagen würden, wenn ihren Frauen und Kindern solche
  Zumutungen gemacht würden. Daneben wäre die perfide Art, wie die
  Reichsregierung im Interesse der Fabrikanten die größere Ausbeutung
  ermöglicht, gebührend zu brandmarken.

  Hierbei wäre aber ein neuer guter Gedanke in aller Form zum Austrag zu
  bringen. Mache das gänzliche Verbot der Kinder- und eine wesentliche
  Einschränkung der Frauenarbeit den Fabrikanten die Konkurrenz des
  Auslandes schwer, so solle das Mittel ergriffen werden, das die
  Regierung auch schon auf anderen Gebieten mit Erfolg ergriffen hat,
  _der Abschluß bezüglicher internationaler Verträge_. Sie würde hierbei
  nicht nur die öffentliche Meinung Deutschlands wie in kaum einer
  anderen Frage auf ihrer Seite haben, sondern auch die Sympathien der
  arbeitenden Klassen des Auslandes. Der moralische Druck eines solchen
  Vorgehens würde so groß, daß jede Regierung gezwungen würde, auf
  solche Vorschläge einzugehen.

  Ich glaube, mit diesem Trumpf könnten wir sehr viel gewinnen.

  Ihr könntet zu dem Antrag von Schulze-Delitzsch, Nr. 11 der
  Drucksachen, betreffend das Genossenschaftsgesetz, einige weitere
  Anträge bringen, zum Beispiel auf Einführung der beschränkten
  Haftpflicht, analog dem früheren sächsischen Genossenschaftsgesetz.
  Auch müssen einige Schulzesche Anträge entschieden bekämpft werden.
  Ich stelle mein Exemplar des Berichts zur Verfügung, worin ich zu den
  Materien die Bemerkungen, die weiter ausgesponnen werden könnten,
  angebracht habe. _Auer_ oder wer sonst Lust hat, könnte dieses Kapitel
  übernehmen.

  Ich werde gelegentlich den Bericht (Aktenstück Nr. 11) hinausgeben,
  bitte aber mir ihn aufzubewahren und zurückzugeben.“



Im Leipziger Gefängnis und was währenddem geschah.


Die Muße im Gefängnis benutzte ich, um unter anderem im „Vorwärts“ einen
Artikel für die Gründung einer allgemeinen Parteibibliothek (Archiv)
Stimmung zu machen. Die Ereignisse der nächsten Monate verhinderten, den
Plan weiter zu verfolgen. Ich habe dann den Gedanken später im Züricher
„Sozialdemokrat“ aufs neue angeregt und jetzt nahm sich der
Parteigenosse Schlüter, der in der Buchhandlung des „Sozialdemokrat“
beschäftigt war, der Ausführung des Gedankens an. Die Gründung des
Parteiarchivs erfolgte.

Des weiteren arbeitete ich an der Vollendung meines Buches „Die Frau und
der Sozialismus“, das im folgenden Jahre in der ersten Auflage
erscheinen konnte. Auch schrieb ich ein Broschürchen „Das
Reichsgesundheitsamt und sein Programm“, in dem ich die
sozialhygienischen Aufgaben erörterte, die nach meiner Ansicht das
Reichsgesundheitsamt lösen müsse, wolle es seinem Namen und seiner
Stellung gerecht werden.

Meine diesmalige Leipziger Haft gab mir auch die Gelegenheit, einem Teil
meiner Mitgefangenen zu einer kleinen Verbesserung ihrer Lage zu
verhelfen. Zu jener Zeit hatte noch die Oberleitung im Gefängnis ein
alter Inspektor, von dem die Sage ging, daß er in seiner Stellung ein
reicher Mann geworden sei dadurch, daß er den Gefangenen, die im Besitz
von Geld waren, Eßwaren und Getränke zu einem Preise verkaufte, der ihm
einen hohen Nutzen abwarf. Weiter erfuhr ich in der Privatunterhaltung
mit meinem Aufseher, der froh war, wenn ich mit ihm eine Weile
plauderte, daß der Inspektor auch nach anderer Richtung sich an den
Gefangenen verging. So sparte er an Handtüchern und Seife, mit denen die
Gefangenen doppelt so lange aushalten mußten, als vorgeschrieben war.
Die Gefangenen erhielten ihr Mittagessen in Steinkrügen. Daß ab und zu
einer derselben zerbrach, war selbstverständlich. Der Inspektor sorgte
aber nicht für Ersatz, sondern ein Teil der Gefangenen mußte warten bis
der andere Teil gegessen hatte, und dann wurde die mittlerweile kalt
gewordene Speise in den unausgewaschenen Krügen dem anderen Teil
überreicht.

Diese Mitteilungen erregten meinen Zorn. Ich faßte nunmehr einen Plan,
um dem Inspektor sein Treiben zu legen. Ich setzte mich hin und schrieb
eine Beschwerde an den Direktor des Gerichts, dem damals die
Oberaufsicht über das Gefängnis oblag, worin ich die ganzen ungehörigen
Vorgänge schilderte, aber in der Rolle eines Mannes, der eben als
Gefangener das Gefängnis verlassen und die Ungehörigkeiten des
Inspektors am eigenen Leibe zu spüren bekommen habe, denn ich wurde ja
davon nicht betroffen. Natürlich mußte dieses Schreiben anonym abgehen.

Als meine Frau mir ihren nächsten Besuch machte, der nur in Gegenwart
des Inspektors stattfinden konnte, drückte ich ihr heimlich einen Zettel
in die Hand, in der ich sie bat, an einem bestimmten Abend Punkt 1/2-10
Uhr durch die Straße zu gehen, nach der mein Zellenfenster mündete, ich
würde ihr alsdann einen Brief hinunterwerfen, den sie von unbekannter
Hand solle abschreiben lassen und an den Gerichtsdirektor senden. So
geschah es. Als meine Frau mit ihrem Töchterchen auf der Straße
erschien, warf ich ihr aus dem dritten Stock das ziemlich stark
gewordene Briefpaket hinunter, das bei der Stille in der Straße mit
großem Geräusch auf das Pflaster klatschte. Meine Frau hob eilig das
Paket auf und eilte fluchtartig mit ihrem Töchterchen von dannen, sie
glaubten einen Mann hinter sich kommen zu hören und befürchteten, sie
würden verfolgt. Einige Tage später stürzte der Aufseher in großer
Aufregung in meine Zelle und erzählte: den Vormittag habe es zwischen
dem Direktor und dem Inspektor einen heftigen Auftritt gegeben. Der
Alte — wie er den Inspektor bezeichnete — sei zum Direktor befohlen worden
und dieser habe ihm aus einem Briefe, den ein entlassener Gefangener
geschrieben habe, alle seine Sünden vorgerückt und ihm furchtbar den
Marsch geblasen. Der Alte sei ganz aufgeregt zu ihnen, den Aufsehern,
gekommen und habe sofort Order für Abstellung der Uebelstände gegeben.
Der Aufseher erzählte mir das mit großer Genugtuung, selbstverständlich
hütete ich mich, ihn merken zu lassen, wer der Briefschreiber gewesen
war.

       *       *       *       *       *

Anfang Mai veröffentlichte das Zentralwahlkomitee einen Ausruf für die
Abhaltung eines Sozialistenkongresses, der in der Zeit vom 15. bis 18.
Juni abermals in Gotha stattfinden sollte. Unter den Punkten der
Tagesordnung befand sich als Punkt 3: Beratung über die Stellung der
Sozialdemokratie zum Staats- und Gemeindebetrieb, für den ich mit
Rittinghausen als Berichterstatter angemeldet wurde. Den Anstoß zu
diesem Beratungspunkt gab der Bismarcksche Plan, die Eisenbahnen in
Reichsbesitz zu bringen, ferner das Tabakmonopol einzuführen, ein Plan,
der damals zwar noch nicht öffentlich erörtert worden war, aber es war
durchgesickert, daß in den Verhandlungen Bismarcks mit Herrn v.
Bennigsen das Tabakmonopol eine Rolle gespielt habe. Auch hatte unser
Parteigenosse Rittinghausen sich für die Verstaatlichung des
Versicherungswesens öffentlich ausgesprochen und damit in der Partei
nicht überall Zustimmung gefunden.

Der geplante Kongreß kam aber nicht mehr zur Ausführung, die
eintretenden Ereignisse machten ihn unmöglich.



Das Hödel-Attentat und seine Folgen.


Am 12. Mai wurde mir in meine Zelle die Nachricht, die mich im höchsten
Grad überraschte, überbracht, daß am Tage zuvor, nachmittags 3 Uhr, ein
gewisser Hödel aus Leipzig, der Sozialdemokrat wäre, ein Attentat auf
den alten Kaiser gemacht habe, der aber unverwundet geblieben sei. Mir
erschien der Vorgang zunächst unerklärlich. Der Name Hödel _alias_
Lehmann war mir bekannt. Hödel war das Jahr zuvor in Leipzig in der
Partei aufgetaucht. Persönlich kannte ich ihn nicht. Da er keine Arbeit
hatte, vielleicht auch keine nehmen wollte — er hatte als Klempner
gelernt —, hatte er sich mit der Verbreitung unseres Leipziger
Lokalorgans, „Die Fackel“, und mit dem Verkauf sozialistischer Schriften
beschäftigt. Aber er erwies sich bald als Schwindler. Er unterschlug die
eingenommenen Gelder, was die Expedition der „Fackel“ schon am 5. April
veranlaßte, bekannt zu machen, daß Hödel der Vertrieb des Blattes
entzogen worden sei. Ferner hatte einige Tage später die Leipziger
Parteimitgliedschaft beschlossen, Hödels Ausschließung aus der Partei zu
beantragen, und in der Tat hatte das Zentralwahlkomitee den Ausschluß
Hödels aus der Partei am 9. Mai, also zwei Tage vor seinem Attentat,
öffentlich im „Vorwärts“ bekannt gemacht.

Hödel hatte sich alsdann, nachdem er bei uns unmöglich geworden war, an
den nationalliberalen Agitator Sparig und die Redaktion des
nationalliberalen „Leipziger Tageblatts“ gewendet und lieferte diesen
für Geld eine Reihe unwahrer und übertriebener Anklagen gegen die
Partei, die das „Leipziger Tageblatt“ gegen uns ausschlachten versuchte.
Nachdem er in Leipzig seine Mission gegen die Partei erfüllt hatte,
suchten ihn Sparig und Konsorten los zu werden; sie gaben ihm das Geld
zur Reise nach Berlin. Hier angekommen, hielt er es mit beiden Lagern.
Er trat in einen sozialdemokratischen Verein und gleichzeitig in die
christlichsoziale Partei des Hofpredigers Stöcker ein, um den sich
damals eine große Zahl katilinarischer Existenzen aus den
verschiedensten Schichten gesammelt hatte. So auch der Schneider
Grüneberg, der zwei Jahre zuvor in Stuttgart und München von der
sozialdemokratischen Partei wegen Betrügereien ausgeschlossen worden
war. Grüneberg, der später auch von Stöcker gegangen wurde, verriet, daß
neben Hödel auch Dr. Nobiling, der spätere zweite Attentäter auf den
Kaiser, Mitglied der christlichsozialen Partei gewesen war. Er,
Grüneberg, habe auf Geheiß des Hofpredigers eine neue Mitgliederliste
anfertigen müssen, in der der Name Nobilings fehlte. In Berlin hatte
Hödel sowohl sozialdemokratische wie christlichsoziale Blätter und
Schriften, so den „Staatssozialist“ und ein Flugblatt „Ueber die Liebe
zu König und Vaterland“ verbreitet. Als er verhaftet wurde, fand man
auch Photographien von Liebknecht, Most und mir bei ihm, mit denen er
handelte. Ueber die moralische Qualifikation dieses Menschen konnte wohl
kein Zweifel bestehen.

Sobald Bismarck die Nachricht von dem Hödelattentat in Friedrichsruh
erhielt, telegraphierte er nach Berlin: _Ausnahmegesetz gegen die
Sozialdemokratie_, woraus ersichtlich war, wie gierig er auf irgend eine
Gelegenheit wartete, der verhaßten Partei womöglich den Todesstoß zu
versetzen. Anfangs nahmen die Oeffentlichkeit und die Presse die
Nachricht von dem Attentat ziemlich kühl auf. Als einzelne Blätter den
Versuch machten, die Sozialdemokratie für das Attentat verantwortlich zu
machen, wies der offiziöse Hamburger Korrespondent in einem Artikel
nach, daß binnen 78 Jahren 35 Meuchelmorde und Meuchelmordversuche gegen
hervorragende politische Peinlichkeiten vorgekommen seien, und zwar von
Angehörigen der verschiedensten Parteien. Die Anklage, der politische
Meuchelmord sei am Holze der Sozialdemokratie gewachsen, sei unhaltbar.
Auch im Reichstag faßte man den Vorgang zunächst noch so kühl auf, daß
ein Antrag von uns auf Einstellung eines Strafverfahrens gegen Most am
14. Mai ohne jede Debatte angenommen wurde.

Bei seiner ersten Vernehmung bestritt Hödel, daß er auf den Kaiser habe
schießen wollen, er habe vielmehr die Absicht gehabt, Selbstmord zu
begehen als Zeichen der Erbärmlichkeit unserer Zustände, die ihn dazu
genötigt hätten. Dafür sprach, daß, als er verhaftet wurde, er keinen
Pfennig in der Tasche hatte und daß der Revolver, den er benutzte, ein
elendes Ding war, der, wie der Büchsenmacher, der ihn untersuchte,
feststellte, auf wenige Schritte sein Ziel verfehlen mußte. Es wurde
weiter festgestellt, daß Hödel als uneheliches Kind seiner Mutter, die
einen Lehmann geheiratet hatte, weshalb er sich auch zeitweilig Lehmann
nannte, eine schlechte Erziehung genossen hatte. Man hatte ihm zwar das
Hirn mit Katechismus- und Bibelsprüchen vollgepfropft, aber er konnte
keinen Satz richtig schreiben. Außerdem wurde eine venerische
Verseuchung bei ihm festgestellt. Als er zur Gerichtsverhandlung geführt
wurde, betrat er blöde lachend den Gerichtssaal, und mit demselben
Lachen verließ er ihn nach seiner Verurteilung. Einen Brief, den er an
seine Eltern schrieb, unterzeichnete er: Max Hödel, Attentäter Sr.
Majestät des Deutschen Kaisers. Festgestellt war auch worden, daß er von
Jugend auf ein Lügner und Dieb war. Das ganze Benehmen des Mannes war,
wie der Gerichtshof, der ihn nichtsdestoweniger zum Tode verurteilte,
feststellte, das eines _geistig und körperlich zerrütteten Menschen_.
Und wegen der Tat eines solchen Menschen sollte die deutsche
Sozialdemokratie ans Kreuz geschlagen werden.

Hödel hatte den Rechtsanwalt Otto Freitag in Leipzig als Verteidiger
gewünscht. Freitag erklärte sich auch bereit, die Verteidigung zu
übernehmen, er verlangte aber die Zusendung der Akten und eine
achttägige Frist zum Studium derselben und zur Vorbereitung der
Verteidigung. Bezeichnenderweise wurde ihm beides _abgeschlagen_. Man
hatte es sehr eilig mit Hödels Prozeß und Hinrichtung. Hödel erhielt
jetzt einen Offizialverteidiger, der nichts Besseres zu tun wußte, als
sich vor Gericht zu entschuldigen, daß ihn das Los getroffen habe, die
Verteidigung eines Hochverräters übernehmen zu müssen. Hödels Kopf fiel
unter dem Beil des Henkers. Als Professor Virchow bat, ihm den Kopf
Hödels zur anatomischen Untersuchung zu überlassen, _wurde ihm dieses
verweigert_.

Die Hinrichtungsurkunde mußte der Kronprinz Friedrich unterzeichnen, der
die Stellvertretung des Kaisers übernommen hatte, nachdem dieser
mittlerweile durch das am 2. Juni erfolgte Nobilingsche Attentat schwer
verwundet worden war. Der Kronprinz hat dann während seiner Regentschaft
kein einziges Todesurteil mehr unterzeichnet, obgleich sich unter den
Verurteilten ein Doppelmörder befand. Auch noch andere Symptome sprachen
dafür, wie anders er die ganzen Vorgänge auffaßte.



Das erste Ausnahmegesetz.


Das Verlangen Bismarcks nach einem Ausnahmegesetzentwurf gegen die
Sozialdemokratie wurde bald erfüllt. Bereits am 12. Mai traf Bismarcks
_Entwurf_ für ein Ausnahmegesetz in Berlin ein, den 14. Mai war derselbe
von seiner Kanzlei fertig gestellt worden und fand seine Zustimmung.
Bereits am 16. wurde derselbe vom Bundesrat genehmigt — am eifrigsten
plädierte die sächsische Regierung dafür — und am 20. Mai kam er mit den
Motiven an den Reichstag, der ihn schon am 23. auf seine Tagesordnung
setzte.

Den Nationalliberalen war bei diesen ganzen Vorgängen nicht wohl zumute;
sie fühlten instinktiv, daß Bismarck noch andere Pläne im Hintergrund
habe, die sich gegen sie selbst richteten. In der preußischen Regierung
waren Wandlungen vor sich gegangen, die nichts Gutes ahnen ließen. Statt
des Eintritts von Bennigsen und Forckenbeck in das Ministerium, waren
zwei Hochkonservative, der Graf Botho zu Eulenburg und der Graf Udo zu
Stolberg-Wernigerode, derselbe, der 1909 als Präsident des Reichstags
starb, berufen worden. Der freihändlerische liberale Finanzminister v.
Camphausen hatte ebenfalls seinen Abschied nehmen müssen und kam an
seine Stelle der charakterschwache nationalliberale Hobrecht. Ebenso
mußte der liberale Kultusminister Falk, der Verfasser der Maigesetze
gegen das Zentrum und des einzig liberalen Gesetzes aus dem Kulturkampf,
des Gesetzes über die Einführung der Zivilstandsregister, das Feld
räumen, was eine große Konzession an das Zentrum bedeutete. Die
Nationalliberalen hatten also alle Ursache zum Mißtrauen.

Nach der sechs Paragraphen umfassenden Sozialistengesetzvorlage konnten
Drucksachen und Vereine, welche die Ziele der Sozialdemokratie
verfolgten, vom Bundesrat verboten werden. Dem Reichstag mußte, sobald
derselbe versammelt war, Mitteilung von den Verboten gemacht werden. Ein
Verbot mußte außer Kraft gesetzt werden, wenn der Reichstag dies
verlangte. Die Polizeibehörden konnten die Verbreitung von
Druckschriften auf öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder anderen
öffentlichen Orten vorläufig verbieten. Das Verbot sollte erlöschen,
wenn nicht innerhalb vier Wochen die Druckschrift seitens des Bundesrats
verboten wurde. Das Verbot und die Auflösung von Versammlungen war ganz
und gar in die Hände der Polizei gelegt. Berufung sollte es hiergegen
nicht geben. Die Zuwiderhandlungen gegen die Verbote sollten mit
Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft werden. Die Beschlagnahme einer
Druckschrift sollte ohne richterliche Anordnung vorgenommen werden
können. Vorsteher von verbotenen Vereinen, Unternehmer und Leiter von
verbotenen Versammlungen und diejenigen, die ein Lokal für einen
verbotenen Verein oder eine verbotene Versammlung hergaben, sollten mit
einer Mindeststrafe von nicht unter drei Monaten belegt werden. Das
Gesetz sollte für einen Zeitraum von drei Jahren Gültigkeit haben.

In der Annahme, die Fraktion werde bei Beratung der Vorlage durch einen
ihrer Redner gegen dieselbe scharf ins Zeug gehen, schrieb ich Motteler
unter dem 20. Mai aus dem Gefängnis:

  „Da die Einbringung der Ausnahmemaßregel Tatsache ist, so mag
  derjenige, der von unserer Seite dazu zum Wort kommt, nicht vergessen,
  daß seine Rede in einigen hunderttausend Exemplaren verbreitet werden
  muß. Auch ist zu beachten, daß im Falle der Ablehnung der Vorlage der
  Reichstag ausgelöst wird, wir also vor einer Wahlkampagne stehen und
  dann diese Rede ihre Dienste leisten muß. Also vor allen Dingen alles,
  was auf den Täter Bezügliches in unseren Händen ist, Punkt für Punkt
  erörtert.

  Das Sonntag-Morgenblatt der Frankfurter Zeitung bringt einen guten
  Leitartikel, den ich Euch zur Beachtung empfehle. Der Gesetzentwurf
  grenzt an Wahnsinn.“

Die Fraktion hatte aber nach längerer Beratung beschlossen, durch
Liebknecht eine Erklärung abgeben zu lassen und sich an den weiteren
Verhandlungen nicht zu beteiligen.

Die Beratung im Reichstag wurde eingeleitet mit einer kurzen Rede des
Grafen zu Eulenburg. Dann erhielt Liebknecht das Wort zu folgender
Erklärung:

  „Der Versuch, die Tat eines Wahnwitzigen, noch ehe die gerichtliche
  Untersuchung geschlossen ist, zur Ausführung eines lang vorbereiteten
  Reaktionsstreichs zu benutzen und die „moralische Urheberschaft“ des
  noch unerwiesenen Mordattentats auf den deutschen Kaiser einer Partei
  aufzuwalzen, welche den Mord in jeder Form verurteilt und die
  wirtschaftliche und politische Entwicklung als von dem Willen
  einzelner Personen ganz unabhängig auffaßt, richtet sich selbst so
  vollständig in den Augen jedes vorurteilslosen Menschen, daß wir, die
  Vertreter der sozialdemokratischen Wähler Deutschlands, uns zu der
  Erklärung gedrungen fühlen:

  Wir erachten es mit unserer Würde nicht vereinbar, an der Diskussion
  des dem Reichstage heute vorliegenden Ausnahmegesetzes teilzunehmen
  und werden uns durch keine Provokationen, von welcher Seite sie auch
  kommen mögen, in diesem Beschluß erschüttern lassen. Wohl aber werden
  wir uns an der Abstimmung beteiligen, weil wir es für unsere Pflicht
  halten, zur Verhütung eines beispiellosen Attentats auf die
  Volksfreiheit das Unserige beizutragen, indem wir unsere Stimmen in
  die Wagschale werfen.

  Falle die Entscheidung des Reichstags aus wie sie wolle — die deutsche
  Sozialdemokratie, an Kampf und Verfolgungen gewöhnt, blickt weiteren
  Kämpfen und Verfolgungen mit jener zuversichtlichen Ruhe entgegen, die
  das Bewußtsein einer guten und unbesiegbaren Sache verleiht.“

Nach Liebknecht nahm Bennigsen das Wort. Er hielt eine Rede, die ich für
die beste ansehe, die er bis dahin gehalten hatte; sie zeigte, daß er
auch anders konnte und daß er vermochte, die Dinge auch von einem
höheren Standpunkt, als er bisher bei den nationalliberalen Rednern zur
Geltung kam, zu beurteilen. Es sei die Ansicht laut geworden, führte er
unter anderem aus, die Regierung habe die Vorlage eingebracht, obgleich
sie wisse, daß sie abgelehnt werde. Er erwarte, daß diese Ansicht
dementiert werde. Er wies auf die Unsicherheit und die schwankenden
Verhältnisse in der Regierung hin, die niemals so schlimm gewesen seien
wie jetzt. _In Preußen sei die Ministerkrise in Permanenz._ Wolle man
diktatorische Gewalt, müsse man vor allen Dingen wissen: wer übt sie
aus? Seine Partei könne kein Ausnahmegesetz wie das verlangte
bewilligen, die Geschichte zeige, wohin diese führten und daß sie nichts
nützten. Er machte darüber längere historische Betrachtungen. Weiter
sprach er sich im Laufe der Rede für das Aufhören des Kulturkampfes aus.
Das war der müde Mann, der einen Kampf beendigt zu sehen wünschte, bei
dem bisher die sogenannten Kulturkämpfer keine Seide gesponnen hatten,
obgleich einstmals er und seine Freunde diesen Kampf unter Führung
Bismarcks mit Jubel begrüßt und durchgefochten hatten. Schließlich erbot
er sich, auf dem Boden des gemeinen Rechtes im nächsten Jahre eine
Vorlage durchbringen zu helfen, die die bürgerliche Freiheit mit
gesetzlicher Ordnung und fester Autorität im öffentlichen Leben für alle
Klassen vereinige.

Er erbot sich also jetzt zu dem, was er und seine Freunde zwei Jahre
früher mit guten Gründen abgelehnt hatten. Das war wieder ganz
nationalliberal. Aber die Ereignisse schritten über diese Vorsätze
hinweg und zwangen Bennigsen und seine Freunde, doch zu tun, was sie
augenblicklich ablehnten.

Nach zweitägiger Verhandlung wurde § 1 der Vorlage mit 243 gegen 60
Stimmen bei 6 Enthaltungen abgelehnt. Noch stimmte das Zentrum
geschlossen gegen die Vorlage; von den Nationalliberalen erklärten sich
die Professoren Beseler, Gneist und v. Treitschke dafür. Nach diesem
Resultat zog die Regierung die Vorlage zurück.

War das Ausnahmegesetz einstweilen gefallen, so veranlaßte nunmehr Graf
zu Eulenburg durch einen Erlaß vom 1. Juni an die Polizeibehörden diese
zu scharfem Einschreiten gegen die Partei. „Es sei Pflicht, der
sozialdemokratischen Agitation entschieden entgegenzutreten und zu
diesem Zwecke von den zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln, unter
sorgfältiger Einhaltung der durch die Gesetze gezogenen Schranken,
innerhalb derselben aber bis an die Grenze des Zulässigen Gebrauch zu
machen.“

Einer solchen Aufforderung bedurfte es nicht erst. Die Polizei zeigte
überall den größten Eifer für ihre staatsretterische Tätigkeit und
Staatsanwälte und Richter nicht minder.



Das Nobiling-Attentat und seine Wirkung.


Ich war Ende Mai aus der Haft entlassen worden. Am 2. Juni, einem
Sonntag, machte ich mit Frau und Kind einen Spaziergang, von dem wir
nach 7 Uhr abends zurückkehrten. Kaum waren wir zu Hause angekommen, so
trat die Schwester des Rechtsanwalts Freytag in großer Eile in unsere
Wohnung und fragte aufgeregt, ob wir nicht wüßten, was passiert sei? Wir
wohnten in der äußeren Stadt, wohin Nachrichten, namentlich am Sonntag,
nicht rasch drangen. Ich verneinte die Frage. Darauf stellte Fräulein
Freytag weiter die Frage: „Kennen Sie einen Dr. Nobiling? Derselbe hat
heute nachmittag auf den Kaiser geschossen und ihn schwer verwundet.“
Ich war sprachlos, wie vom Blitz getroffen. Ich antwortete, der Name
Nobiling sei mir nicht bekannt, ich hielt für ausgeschlossen, daß er zur
Partei gehöre. Beruhigt entfernte sich die junge Dame.

Am nächsten Morgen eilte ich auf die Redaktion des „Vorwärts“, um zu
hören, was man dort wisse und wie man den Fall beurteile. Ein öffentlich
angeschlagenes Telegramm enthielt kein Wort davon, daß Nobiling der
Sozialdemokratie angehöre. Erleichtert atmete ich auf und trat in die
Redaktion mit den Worten ein: „Na, den können sie uns nicht an die
Rockschöße hängen.“ Liebknecht, Hasenclever und alle übrigen Anwesenden
waren mit mir der gleichen Ansicht, niemand kannte den Attentäter,
keiner hatte vorher auch nur seinen Namen gehört. In beruhigter Stimmung
verließ ich die Redaktion, mußte aber nach wenigen Minuten wieder
umkehren, weil mittlerweile ein zweites Telegramm veröffentlicht worden
war, in dem es hieß: Nobiling habe in seiner ersten Vernehmung bekannt,
er sei Sozialdemokrat und habe Mitschuldige. Wir alle waren sprachlos.

Diese Angaben des Wolffschen Telegraphenbureaus erwiesen sich nachher,
wie viele andere Nachrichten gleicher Art, die damals mit größter
Geflissentlichkeit verbreitet wurden, als grobe Unwahrheiten und
Fälschungen. Aber sie erreichten im vollsten Maße ihren Zweck. Die
öffentliche Meinung, die schon durch die am 1. Juni eingetroffene
Nachricht aufs höchste erregt worden war, daß der „Große Kurfürst“,
eines der größten Schiffe der damaligen deutschen Flotte, bei hellem
Tage infolge einer Kollision mit einem anderen Schiffe mit fast
fünfhundert Köpfen Besatzung angesichts der englischen Küste
untergegangen sei, geriet über das zweite Attentat in Siedehitze.

Als bei Bismarck die Nachricht eintraf, rief er frohlockend: Jetzt habe
ich die Kerle — die Nationalliberalen —, jetzt drücke ich sie an die
Wand, daß sie quietschen; dann erst erkundigte er sich nach dem Befinden
des durch die Nobilingsche Schrotflinte schwer verwundeten Kaisers. Die
Auflösung des Reichstags und infolgedessen Neuwahlen standen nunmehr in
sicherer Aussicht, durch die er eine Mehrheit zusammenzubekommen hoffen
durfte, die ihm sowohl ein Ausnahmegesetz gegen uns wie neue Einnahmen
durch die einzuführende Schutzzollpolitik gewährte.

Nobiling hatte den Schuß auf den Kaiser aus dem Fenster eines Hauses
Unter den Linden, woselbst er sich eingemietet hatte, abgegeben. Er
selbst hatte danach durch zwei Fehlschüsse einen Selbstmordversuch
gemacht. Ein Offizier, der sich unter den Personen befand, die nach dem
Schuß auf den Kaiser in Nobilings Wohnung eindrangen, hatte ihm mit
einem Säbelhieb eine schwere Kopfwunde beigebracht. Nobiling war
zunächst besinnungslos und vollkommen vernehmungsunfähig. Festgestellt
wurde, daß er vor Jahren Landwirtschaft in Leipzig studiert hatte und
dort im Seminar des Professors Birnbaum, eines unserer schlimmsten
Gegner, sich bei den Debatten als heftiger Widersacher unserer Partei
gezeigt hatte. Von Leipzig war er nach Dresden gegangen, wo er das
Seminar des Professors Böhmert besuchte, der gleichfalls ein eifriger
Gegner der Sozialdemokratie war. In Dresden zeigte sich Nobiling
wiederholt in Versammlungen, in denen er als Gegner unserer Partei Reden
hielt, wodurch ihn unsere Parteigenossen dort, wie Vollmar, Schlüter,
Paschky usw., kennen lernten. Diese machten nachher in der Untersuchung
wider Nobiling Zeugenaussagen, nach denen er ein unbedeutender Mensch
und großer Wirrkopf war. Er hatte mit der Partei noch weniger zu tun
gehabt als Hödel. Mehrfach wurden Stimmen laut, die die Ansicht
vertraten, daß Nobiling zu seiner Tat erst angeregt worden sei durch die
Art, wie ein großer Teil der Presse sich mit der Person Hödels
beschäftigte, dessen Porträt zum Beispiel von einem Familienblatt in
einem Prachtholzschnitt dargestellt wurde. Die Meinung, daß man es auch
in Nobiling mit einem geistig kranken Menschen zu tun habe, war weit
verbreitet. So schrieb selbst die freikonservative „Post“, allezeit eine
der gehässigsten Gegnerinnen der Sozialdemokratie: Bei allen Antworten,
die Nobiling gebe, umspiele ein eigentümliches Lächeln seine Lippen, das
auf Geistesstörung schließen ließe. Und dem Redakteur der „Germania“,
Majunke, gegenüber hatte der Untersuchungsrichter Nobilings geäußert:
„Das Bild, das die Zeitungen über Nobiling ausmalen, ist ganz und gar
unzutreffend, er ist nichts weniger als intelligent, er ist noch dümmer
als Hödel.“ Als Nobiling am 10. September im Gefängnis starb, war nicht
der geringste Beweis erbracht, daß die Sozialdemokratie direkt oder
indirekt mit dem Attentäter in Verbindung gestanden oder sein Handeln
beeinflußt hatte.

Für die Hetzer, die um jeden Preis die beiden Attentate für ein
Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie ausnutzen wollten, waren alle
diese Feststellungen nicht vorhanden. Bismarck mißbrauchte den
gewaltigen Einfluß, den er mit Hilfe des Reptilienfonds auf einen großen
Teil der Presse ausübte, um die Bevölkerung zum fanatischsten Hasse
gegen die Sozialdemokratie aufzupeitschen. Und dieser Presse schlossen
sich alle an, die an einer Niederlage der Sozialdemokratie ein Interesse
hatten, insbesondere ein großer Teil der Unternehmerschaft. Die Partei
hieß im gegnerischen Lager nur noch die Partei der Meuchelmörder, der
Allesruinierer, die der Masse den Glauben an Gott, Königtum, Familie,
Ehe und Eigentum raube. Diese Partei zu bekämpfen und sie, wenn möglich,
zu vernichten, erschien diesen Gegnern als die glorreichste Tat.
Tausende und aber Tausende von Arbeitern, die als Sozialdemokraten
bekannt waren, wurden auf die Straße geworfen. In den Annoncenteilen der
Zeitungen erschienen Erklärungen, wodurch die Arbeiter sich
verpflichteten, fernerweit weder einer sozialdemokratischen Organisation
anzugehören, noch sozialdemokratische Blätter zu halten und zu lesen,
noch Geld für sozialdemokratische Bestrebungen zu opfern. Dieser
Unternehmerterrorismus war so stark, daß unsere Parteizeitungen die
Anhänger der Partei aufforderten, sie sollten jede gewünschte Erklärung
unterzeichnen, sie könnten nachher doch tun, was sie wollten, einem
solchen Terrorismus gegenüber gebe es kein Worthalten. Der Terrorismus
und der damit verbundene Boykott gingen noch weiter: Patriotische
Hausherren kündigten ihren sozialdemokratischen Mietern, Wirte, die
jahrelang froh waren, Sozialdemokraten zu ihren Kunden zu zählen,
forderten jetzt diese auf, ihre Lokalitäten zu meiden. In Leipzig hatten
die Redakteure des „Vorwärts“ und der „Neuen Welt“ — Liebknecht,
Hasenclever, Geiser — die Gewohnheit, nach Schluß der Redaktion am
Nachmittag in einem bestimmten Lokal einen „Frühschoppen“ zu trinken.
Der Wirt ließ ihnen nunmehr sagen, daß er auf ihren Besuch gern
verzichte. Aehnliche Vorgänge wiederholten sich auch gegenüber den
Redakteuren der „Berliner Freien Presse“ und anderwärts.

In Schwerin warf man dem alten Demmler an zwei Nächten hintereinander
die Fenster ein, was den vierundsiebzigjährigen Mann so aufregte, daß er
auf einige Zeit Schwerin verließ und die weitere Annahme einer
Kandidatur für den Reichstag ablehnte. Alle diese Ausbrüche fanatischer
Roheit und politischen Wahnsinns genügten aber den „Patrioten“ noch
nicht, um ihre Verfolgungswut zu befriedigen. Es entstand eine
Sintflut von Denunziationen wegen wirklichen und angeblichen
Majestätsbeleidigungen. In zahlreichen Fällen wurde gerichtlich
konstatiert, daß gemeine Rachsucht wegen verletzter Privatinteressen die
Denunzianten zu ihrem Vorgehen leitete. Das hinderte aber nicht, daß die
härtesten Bestrafungen ausgesprochen wurden. Ein großer Teil der Richter
war ebenfalls vom Verfolgungsparoxysmus befallen, und so verkündeten sie
Strafen von ein, zwei, drei bis zu fünf Jahren Gefängnis, der
Maximalstrafe, die das Gesetz zuließ. Aeußerungen, die vordem keinen
Staatsanwalt auch nur einen Augenblick aus seiner Ruhe aufgescheucht
haben würden, wurden jetzt als Kardinalverbrechen angesehen und aufs
härteste bestraft.

Anfang Juli schrieb die fortschrittliche „Vossische Zeitung“: „Nachdem
wir über die auswärtigen Verurteilungen (wegen Majestätsbeleidigung) in
einer Gesamthöhe der erkannten Strafen von 500 bis 600 Jahren berichtet
haben, _widerstrebt es uns, die traurige Liste weiterzuführen_.“ Was
sollte man aber zu Richtern sagen, die ganz und gar vergessen hatten,
was sie ihrem Amte schuldig waren? _In zwei Monaten wurden 521 Personen
zu rund 812 Jahren Gefängnis verurteilt._ Nur ein kleiner Teil der
Verurteilten war sozialdemokratisch gesinnt. Auch die Polizeibehörden
waren, wie immer bei solchen Gelegenheiten, wie von Sinnen und
veranstalteten Haussuchungen und veranlaßten Verhaftungen auf jede vage
Vermutung hin. Die allermeisten der Verhafteten mußten nach kurzer Zeit
wieder entlassen werden.

Hatte bereits im Mai der Senat zu Hamburg die Abhaltung eines
allgemeinen deutschen Gewerkschaftskongresses untersagt, so verbot
Anfang Juni der Stadtrat zu Gotha die Abhaltung des deutschen
Sozialistenkongresses, und ähnlich verfuhren die Behörden vielfach gegen
Vereine und Versammlungen. Wiederholt wurden uns Aeußerungen aus
maßgebenden Kreisen zugetragen, wie die: Die Sozialdemokratie müsse so
geknebelt und an die Wand gedrückt werden, daß sie aufmucke und man
schießen könne. Das veranlaßte die „Berliner Freie Presse“ zu der
Ankündigung: „Seid vorsichtig und habt acht, man will schießen.“ Trotz
alledem kündigten eine Anzahl Parteiblätter ihre Vergrößerung mit dem 1.
Juli an. Die Zahl der Abonnenten der „Berliner Freien Presse“ war seit
Neujahr von 10000 auf 14000 gewachsen. Ende September 1878 hatte aber
auch die „Berliner Freie Presse“ sechs Redakteure hinter Schloß und
Riegel, darunter Richard Fischer, der als junges Kerlchen die Aufnahme
in den Bund der Geächteten mit sieben Monaten Gefängnis zu bezahlen
hatte.

       *       *       *       *       *

Für mich und unser Geschäft hatte die allgemeine Hetze ganz besonders
mißliche Folgen. Ich war genötigt, nach meiner längeren Haft endlich
eine Geschäftsreise zu unternehmen. Dieselbe sollte nach
Nordwestdeutschland und dem Unterrhein vor sich gehen, Länderstrecken,
die ich bisher zum größten Teil geschäftlich noch nicht besucht hatte.
Das war im gewissen Sinne mein Glück. Ich war in jenen Gegenden
persönlich nur sehr wenig bekannt und konnte es so riskieren, in den
Hotels unter angenommenem Namen zu wohnen, da ich unter meinem eigenen
Namen _nirgends_ als Gast geduldet worden wäre. Tag für Tag war ich an
der Wirtstafel Augen- und Ohrenzeuge, wie die Gäste in Ausdrücken
grenzenlosen Hasses sich gegen die Partei und speziell auch gegen meine
Person ergingen. Wäre ich erkannt worden, es wäre zu den schlimmsten
Szenen gekommen. Aehnlich erging es mir aber auch bei dem Besuch der
Geschäftsleute, denen ich unsere Fabrikate zum Kauf anbot. Den ersten
Besuch machte ich bei einem Kaufmann in Halle a.S. Demselben gefielen
unsere Artikel und er gab mir einen namhaften Auftrag. Sobald ich ihm
aber unsere Geschäftskarte überreichte und er den Namen der Firma las,
erklärte er schroff: Mit dieser Firma arbeite ich nicht, annullieren Sie
meine Bestellung. Und so erging es mir häufig. Andere wieder lehnten,
ohne irgendeine Bemerkung zu machen, eine Bestellung zu geben ab. Ich
machte so schlechte Geschäfte, daß, als ich nach sechs Wochen nach Hause
zurückkehrte, froh war, das Erlebte hinter mir zu haben, da ich aus den
Verkäufen unserer Artikel nicht einmal die Reisespesen gedeckt hatte,
obgleich ich diese aufs niedrigste zu halten suchte und zu diesem Zwecke
in den einzelnen Orten selbst meinen neun Kilo schweren Musterkoffer
Straße auf, Straße ab bei Regen und glühendem Sonnenschein trug, um
keinen Trägerlohn ausgeben zu müssen.



Die Reichstagswahl von 1878.


Wieder nach Hause gekommen, stürzte ich mich in die Wahlagitation.
Bismarck, der es auch hier wieder verstand, das Eisen zu rechter Zeit zu
schmieden, und den die Attentate aus allerlei inneren Wirrnissen befreit
hatten, hatte im Bundesrat den Antrag auf Auflösung des Reichstags
gestellt, dem der Bundesrat am 12. Juni Folge leistete. Die Wahlen
wurden auf den 30. Juli 1878 angesetzt.

Wenn es Bismarck nur um ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie zu
tun gewesen wäre, so hätte er dieses auch ohne Auflösung des Reichstags
bekommen. Nach dem Nobilingattentat versicherte die gesamte
nationalliberale Presse und bei den verschiedensten Gelegenheiten auch
die Abgeordneten der Partei, daß sie jetzt bereit seien, ein scharfes
Ausnahmegesetz gegen uns zu bewilligen.

Damit war aber Bismarck allein nicht mehr gedient. Er war entschlossen,
die Macht der Nationalliberalen zu brechen; ihren Ansprüchen, erklärte
er, könne keine Regierung gerecht werden. Und wie bescheiden waren diese
Ansprüche doch immer gewesen. Er veranlaßte die Veröffentlichung einer
förmlichen Programmerklärung, in der er mit der herrschenden, angeblich
dem Freihandel dienenden Wirtschaftsordnung vollständig brach. Das
bisherige Vorherrschen von Juristen, Beamten und Gelehrten, von Leuten
ohne produktive Beschäftigung hätten dem Parlament eine unpraktische
Richtung gegeben. Der Parteihaß, der Machtstreit der Fraktionen, der
Ehrgeiz ihrer Führer veranlasse, daß die Zeit mit oratorischen
Schaustellungen vergeudet werde. Die Mehrzahl habe keinen produktiven
Beruf, sie treibe weder ein Gewerbe noch Handel, weder Industrie noch
Landwirtschaft. Die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen läge in
den Händen solcher, die von Gehalt, Honorar, von Diäten (die damals der
Reichstag noch nicht erhielt. A.B.), vom Preßgewerbe oder von
zinstragenden Papieren lebe. Usw.

Die Philippika ließ an Deutlichkeit, aber auch an Grobheit nichts zu
wünschen übrig. Die Beamten, die den Wahlkampf beeinflussen konnten,
wußten nun, woran sie waren, und handelten danach.

Der Wahlkampf entbrannte mit einer bisher nicht gekannten Heftigkeit.
Die Bismarcksche Wahlparole verhinderte nicht, daß alle bürgerlichen
Parteien den Kampf gegen uns als ihre vornehmste Pflicht ansahen. „Die
Sozialdemokratie muß aus dem Reichstag hinaus. Kein Sozialdemokrat darf
mehr gewählt werden“, wurde die Losung auch in der fortschrittlichen
Presse. Und obgleich für jeden sichtbar war, was Bismarck im Schilde
führte, und er nicht bloß unsere Vernichtung, sondern auch die
Schwächung der Liberalen erstrebte, brachte es der Führer der
Fortschrittspartei, _Eugen Richter_, fertig, als im Erfurter Wahlkreis
der sozialdemokratische mit dem konservativen Kandidaten in engerer Wahl
stand, seinen Parteigenossen die Wahlparole zu telegraphieren: Lieber
Lucius (konservativ) als Kapell (der Sozialdemokrat). Sein Haß gegen uns
machte ihn gegen die selbstverständlichsten Regeln der Wahltaktik blind,
denn der Sozialdemokrat war so gut wie die Liberalen Gegner der
Bismarckschen Wirtschaftspolitik, und der Zukunftsstaat stand nicht in
Frage.

Ich kandidierte wieder in Dresden und in Leipzig. Mir gegenüber standen
in Dresden der Freiherr v. Friesen, Minister a.D., und ein
fortschrittlicher Kandidat. Ich erhielt im ersten Wahlgang 9855, v.
Friesen 7266, Walther (Fortschrittler) 5410 Stimmen. Es kam zur engeren
Wahl zwischen mir und v. Friesen, die der Wahlkommissär auf den 9.
August, an welchem v. Friesen seinen siebzigsten Geburtstag feierte,
ansetzte. Offenbar rechnete man mit meiner sicheren Niederlage. Aber ich
siegte, und zwar mit 11616 über 10702 Stimmen. In Leipzig erhielt ich
5822 Stimmen, 600 mehr als bei der vorhergehenden Wahl. Außer mir waren
schließlich von der Partei gewählt: Bracke-Glauchau-Meerane,
Fritzsche-Berlin, Hasselmann-Barmen-Elberfeld, Kayser-Oederan-Freiberg
(Sachsen), Liebknecht-Stollberg-Lugau, Reinders-Breslau,
Vahlteich-Mittweida-Limbach, Wiemer-Annaberg-Zschopau (Sachsen). Also
neun Abgeordnete, von denen nur zwei, Bracke und Liebknecht, in der
Hauptwahl gewählt worden waren.

Mit dem Hinauswurf der Sozialdemokratie aus dem Reichstag war es also
nichts. Aber auch in bezug auf die Stimmenzahl schnitten wir günstiger
ab, als wir nach der furchtbaren Hetze gegen uns hoffen durften, denn in
einer Anzahl Wahlkreise war der gegnerische Terrorismus so stark, daß
wir keine Agitation betreiben konnten. Es wurden bei der Hauptwahl für
die Partei 437158 Stimmen abgegeben, gegen 493447 bei der Wahl im
Januar 1877. Das war ein Verlust von 56389 Stimmen und drei Mandaten.
Die Gegner waren sehr unzufrieden mit diesem Resultat.

Das Gesamtresultat der Wahlen war, wie vorauszusehen, ein Sieg
Bismarcks. Die Nationalliberalen sanken von 137 auf 106 Mandate, die
Fortschrittspartei von 39 auf 26. Die Konservativen hatten ihre Mandate
entsprechend vermehrt, das Zentrum erhielt ebenfalls einige Mandate
mehr.

Bismarck hatte jetzt für seine Politik zwei Mehrheiten zur Verfügung.
Eine nationalliberal-konservative Mehrheit für ein Ausnahmegesetz gegen
uns und eine Mehrheit aus Konservativen und Zentrum, der sich der rechte
Flügel der Nationalliberalen anschloß, für seine Zollpolitik. Die neue
Aera mit der politischen Entrechtung der klassenbewußten Arbeiter und
der Belastung der Massen durch die Zollpolitik konnte nunmehr in Szene
gesetzt werden. Der neue Reichstag wurde zur Beschlußfassung über das
Sozialistengesetz auf den 9. September nach Berlin berufen.

Das Spiel konnte seinen Anfang nehmen. Es sollte eine Tragödie werden,
in der die Sozialdemokratie für die monarchisch-kapitalistischen
Interessen als Opferstier bestimmt war, um den todsicheren Keulenschlag
zu erhalten. Aber es kam auch diesmal, wie so oft schon, anders. Der
Herkules, der uns mit seiner Keule erschlagen sollte, fiel selbst nach
zwölf Jahren eines für ihn ruhmlosen Kampfes mit dem verhaßten Gegner
und deckte mit seiner Leiche das Blachfeld.





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