Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Die Kurtisane Jamaica
Author: Bethge, Hans, 1876-1946
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Kurtisane Jamaica" ***


Hans Bethge


DIE KURTISANE JAMAICA

Novellen


1922
Gyldendalscher Verlag Berlin



Zweites bis viertes Tausend

Copyright by Gyldendalscher Verlag Berlin 1922
Alle Rechte vorbehalten



Inhalt


  Die Kurtisane Jamaica                          7
  Schloß Carnin                                 29
  Das Bildnis der Geliebten                     71
  Nebelnacht                                    89
  Ebeth                                        107
  Die Hochzeit des Freundes                    131



Wilibald Hachfeld gewidmet



Die Kurtisane Jamaica


Sie wurde Jamaica genannt, des holden, südlichen Ovales wegen, das ihr
Gesicht zeigte, und wegen der bräunlich hingehauchten Farbe ihres Teints,
der an eine eben angerauchte Meerschaumpfeife gemahnte.

Jamaica hatte seelenvolle Hände, ihr Mund war wie ein Schwertstich, ihre
großen Augen hatten einen perlenhaften Glanz. Sie war schlank,
schmalschulterig und biegsam, ihr Wesen war stolz und konnte unnahbar
sein. Gewiß, sie war eine Kurtisane, wie man hören wird, aber sie hätte
auch für eine Fürstin aus irgend einem exotischen Lande gelten können.

Als ich sie das erstemal sah, war ein Frühsommertag. Sie ging langsam und
aufrecht über die Straße, mit etwas gerafftem Kleid, von einem großen,
schwarzen Hut überdacht. Eine vollendete Dame, dachte ich, ein
märchenhaftes Geschöpf.

Ich folgte ihr straßenweit. Wie eine holde Verlockung schritt die schlanke
Gestalt vor mir her, mit dem vollen braunen Haar und dem schwarzen Hut,
dessen Federn sich schwankend bewegten wie die dunkeln Segel eines
Schiffes auf dem Ozean. Dann stieg sie unvermutet in einen Wagen, fuhr
fort, -- und ich hatte das Nachsehen.

Nach einiger Zeit sah ich sie wieder, -- ich folgte ihr von neuem, lebhaft
erregt, da trat ein Freund an mich heran, klopfte mir auf die Schulter und
fragte:

»Wohin?«

»Einer Frau nach«, entgegnete ich. »Sie geht dort vorn, wie eine Fürstin
aus dem Süden.«

»Schwärmer«, sagte der Freund, dann lugte er aus. Ein Lächeln ging über
sein Gesicht.

»Das ist Jamaica«, sagte er.

»Jamaica?«

»Ja, -- eine Kurtisane. Sie hatte ein Verhältnis mit einem Prinzen aus dem
Hause Hohenzollern. Später war es ein Künstler, jetzt ist es ein
schwedischer Graf, wenn ich nicht irre.«

»Wie gut Du unterrichtet bist«, sagte ich, mit einer kleinen Bitterkeit in
der Stimme. »Kennst Du sie übrigens?«

Er nickte.

»Stelle mich doch vor«, sagte ich.

Wir gingen schneller, erreichten sie bald, mein Freund begrüßte sie und
stellte mich vor. Dann schlenderten wir alle drei durch den Frühsommertag,
Jamaica in der Mitte. Sie plauderte reizend, etwas bestrickend Graziöses
war in der Art, wie sie sich gab. Ich war hingerissen.

Plötzlich sagte mein Freund, der sehr geschickt in solchen Dingen war:
»Ah, Irene!« Er tat, als sähe er eine Bekannte in einem Omnibus,
verabschiedete sich schnell, lief fort und sprang auf das Vehikel. Ich war
mit Jamaica allein. Plaudernd schritten wir weiter.

Ich sah sie mitunter von der Seite an; ein feines Profil, zart und
kapriziös, lange, dunkle Augenwimpern und eine ziemlich sinnliche Nase.
Sie hatte so etwas Unbefangenes, wie sie sprach, so etwas Natürliches in
Gang und Haltung, daß man sich wohl und froh an ihrer Seite fühlte. Wir
setzten uns vor ein Café und tranken etwas Kühlendes, während das bunte
Leben der Großstadt an uns vorüberflutete. Von einem Blumenmädchen kaufte
ich einen Strauß roter Nelken, sie steckte ihn sich vor die Brust und sog
aus dem Strohhalm die braune Flüssigkeit der Eisschokolade in ihren
schlanken Hals.

Nachher trennten wir uns, da sie, wie sie sagte, zur Schneiderin mußte.
Wir bestimmten einen der nächsten Abende, um in den Zirkus zu gehen. Sie
gab mir die dünne Hand und sagte: »Auf Wiedersehen!«, wobei sie zwischen
den roten Lippen die Perlenreihe ihrer Zähne sehen ließ. Dann stieg sie in
eine Droschke, die Nelken auf der Brust.

Ich schlenderte durch die Menschen hin und hatte immer noch Jamaica in
meinen Augen und in meinem Hirn, ihre Gestalt, ihr Lächeln, ihr Profil,
die Meerschaumfarbe ihrer Haut, ihre reizend rieselnde Stimme. Mir wurde
die Zeit lang bis zum Wiedersehen, ich saß zu Haus, und statt zu arbeiten,
malte ich den Namen Jamaica aufs Papier, -- und dann kam der Abend, aber
Jamaica kam nicht.

Ich wartete auf dem kleinen Platz in der Nähe des Zirkus, wo wir uns
verabredet hatten, ging auf und nieder, ein paar Rosen in der Hand, sah
nach der Uhr, war ungehalten, wartete weiter, sah mich, ironisch lächelnd,
selbst, wie ich als ein genarrter Liebhaber hier wartend auf und nieder
ging, dann, als schließlich eine öde Stunde verronnen war, stampfte ich
unwillig mit dem Fuß auf, schenkte die Rosen einem vorübergehenden
Ladenmädchen und ging allein in den Zirkus.

In einer Loge mir schräg gegenüber saß Jamaica. Sie schob gerade ein Stück
Konfekt in den roten Mund, an ihrer Seite saß ein blonder Herr, vermutlich
der schwedische Graf.

Ich merkte bald, sie hatte mich gesehen, hin und wieder schweifte ihr Auge
über mich hin. Nachher in der Pause begegneten wir uns im Marstall, sie
tat, als kannte sie mich nicht. Als wir einmal betrachtend nebeneinander
bei demselben Pferde standen, sie zwischen mir und dem Grafen, nahm sie
flugs meine Hand und drückte sie ein wenig, ohne mich anzusehen, und
während sie im Gespräch mit ihrem Freunde blieb.

Es war doch etwas, es war doch ein Händedruck! Nachher saß sie mir wieder
gegenüber, hoheitsvoll, und schob Konfekt in ihren Mund. Nach Schluß der
Vorstellung sah ich sie mit dem Grafen in einem Automobil fortfahren,
Blicke der Bewunderung folgten ihr. Ich fühlte mich ausgestoßen, ich war
voll Neid, voll quälender Eifersucht, voll trotziger, aufrührerischer
Gefühle. Ich wollte an ihrer Seite sein, -- was scherte mich dieser
schwedische Graf!

Mürrisch, ein angeführter Liebhaber, ging ich allein durch die nächtlichen
Straßen und dann in eine Weinstube, um zu Abend zu essen. Ein
vermaledeiter Zufall wollte, daß dort schon Jamaica saß, mit ihrem
Freunde, bei Austern und Wein. Sie sah mich erstaunt an und lächelte. Sie
mußte denken, daß ich ihr nachgefahren sei. Ich verließ also das
Restaurant, ging in ein anderes und ertrank meinen Groll in Burgunder.

Am nächsten Morgen traf ein Briefchen ein, in dem sie sich entschuldigte,
höhere Pflichten hätten sie verhindert usw. Der Ausdruck »höhere
Pflichten« amüsierte mich nicht etwa, sondern ärgerte mich.

Sie kam eines Nachmittags zum Tee. Schlank, in brauner Seide, diskret und
musterhaft angezogen. Sie rauchte von meinen türkischen Zigaretten,
plauderte von Theater und Rennplatz und fühlte sich offenbar sehr wohl in
meinen weichen Sesseln und auf dem Lamafell meines Diwans. Es war mir eine
Lust, ihr zuzusehen. Weiß Gott, sie hatte zuweilen Bewegungen, bei denen
man zu fühlen meinte, daß sie von einem unsichtbaren Hermelin umflossen
sei. Mitunter saß sie plötzlich schweigend da, mit einem klugen, etwas
schwermütigen Glanz im Auge, als dächte sie an etwas ungeheuer Ernstes.
Sie war ein wenig nervös, besonders ihre Hände, im übrigen machte sie den
Eindruck einer weltlichen, aber vornehmen jungen Frau. Nur wie sie küßte
und wie sie mitunter saugend die Arme um mich legte, das war
Kurtisanen-Art.

Sie kam öfter. Wir sprachen nicht von Liebe, obwohl ich sie von mal zu mal
heftiger liebte, aber ich wollte ihr meine Gefühle nicht zeigen. Da, eines
Nachmittags, als ich plaudernd auf dem Diwan ausgestreckt lag und sie bei
mir saß, warf sie plötzlich die Arme um mich, starrte mich an, mit den
Augen eines schönen Tieres, und während sich die Farbe ihres Gesichts
verdunkelte, quoll es ihr wie Lava zwischen den Lippen durch: »Ich liebe
Dich!« Darauf folgte ein Ausbruch so ungezügelter Leidenschaft, daß ich
glaubte, sie wollte mich ersticken.

Von diesem Tage an war eine Nuance der Demut in ihrem Wesen zu mir, die
ich liebte und die mich entzückte. Wir verlebten glückliche Stunden, nur
der Gedanke an den schwedischen Grafen marterte mich und verursachte mir
schlaflose Nächte. Immer, wenn ich zu ihr davon anfangen wollte, drückte
sie mir schweigend ihre kleine Hand vor den Mund, so daß ich nicht
sprechen durfte. Ja, ich war eifersüchtig, aber ich merkte, sie hatte
nicht die mindeste Absicht, sich von dem Grafen zu trennen. Ich hatte
keine besonderen Mittel, und sie war sehr verwöhnt.

Eines Tages sagte sie mir lachend, sie wolle auf einige Wochen in ein
Seebad reisen, der Schwede ginge auf einen Monat zu Verwandten in seine
Heimat. Sie bat, ich möge mit ihr reisen. Ich sagte sogleich zu, worauf
sie ausgelassen durch das Zimmer tanzte.

Ein paar Tage später trafen wir in einem reizend gelegenen Ostseebade ein,
das ganz von Buchen- und Nadelholzwäldern umgeben ist. Wir mieteten in
einer schön gelegenen Villa auf der Höhe, von der Veranda aus übersahen
wir den Strand und die weite Fläche des Meeres.

Entzückend waren die Tage, welche folgten. Wir ritten viel, es gab ganz
brauchbare Pferde zu mieten, und Jamaica fühlte sich im Sattel sehr
glücklich. Wir trabten häufig in erster Frühe am Meere entlang, wenn die
Sonne noch mit den silbernen Morgenwolken kämpfte und der Frühwind kräftig
über das Wasser wehte.

Am Strand hatten wir eine Burg geschaufelt und mit zahllosen bunten
Wimpeln geschmückt. Jamaica trug gewöhnlich einen dunkelblauen Tuchrock,
eine helle Seidenbluse und Panama. Sie lag am liebsten faul im Sande,
indem sie die rinnenden Körnchen behaglich durch die Finger gleiten ließ
und in den blauen Himmel starrte; oder sie las Maupassant und rauchte
Zigaretten. Ich sah sie immer mit einem feinen, wohligen Empfinden des
Verliebtseins vor mir liegen: den schlanken Körper, das dunkle Haar auf
dem hellen Sande, die blutlosen Hände, die zierlichen Fesseln der Füße
unter den durchbrochenen Seidenstrümpfen.

Das Essen nahmen wir auf der Veranda unseres Zimmers. Nebenan aß ein
Ehepaar mit seinen zwei halbwüchsigen Buben, auf der anderen Seite ein
Engländer. Diesen sahen wir öfter, wie er über die Balustrade seiner
Veranda hinauslehnte und eine Shagpfeife rauchte. Er hatte ein
scharfgeschnittenes Gesicht und klare, wasserfarbene Augen. Jamaica ahmte
ihn mitunter nach, indem sie sich grotesk auf die Balustrade stützte, mit
steifem Nacken und etwas vorgeschobener Unterlippe hinausstarrte, ein paar
Tabakswolken vor sich hinpaffte und ein langgezogenes »=o yes=« hören
ließ. Eines Morgens begegneten wir ihm zu Pferde. Das Pferd war zu klein
für ihn, seine Beine hingen lang herab, und aus der Ferne sah er aus wie
Don Quichotte. Er grüßte uns, als er vorüberritt. Jamaica sah sich
mehrmals lachend nach ihm um, was ich überflüssig fand.

Ja, erst lachte sie über ihn und machte sich über ihn lustig, aber ich
merkte bald, daß er sie näher zu interessieren begann, mehr als sie selber
vielleicht noch ahnte. Als ich eines Mittags nach Hause kam und auf die
Veranda trat, sah ich, daß sich Jamaica über die Balustrade lehnte, ebenso
der Engländer nebenan, und daß sie miteinander plauderten. Ich gestehe
offen, es durchfuhr mich heiß vor Eifersucht. Jamaica hatte ein so
strahlendes und, wie ich fand, beinahe hingebendes Gesicht, während sie
mit ihm sprach, daß ich innerlich empört war über diesen Verrat und wie in
einem Blitz schon jählings alles voraussah, wie es kommen mußte. Als sie
mich erblickte, war sie ganz unbefangen und stellte mich als ihren Gatten
vor. Nachher bei Tisch sagte sie: »Er ist wirklich sehr nett.« »So?«
fragte ich.

Sie war auch fürderhin zutraulich und liebevoll zu mir, wie ich es gewohnt
war, aber jene Nuance der Demut, von der ich vorhin sprach und die ich so
liebte, meinte ich nicht mehr zu empfinden. Ich wurde wohl etwas
verschlossener in meinem Wesen, ich lachte nicht mehr so unbefangen, und
dann kamen bald Tage, wo ich deutlich merkte, daß Jamaicas Gefühle lauer
wurden. Sie hatte noch immer etwas Anschmiegsames, aber ich fühlte, sie
zwang sich dazu, sie gab sich Mühe, liebevoll zu mir zu sein, da sie mich
nicht betrüben wollte. Mit Schmerzen nahm ich dies alles wahr und konnte
es nicht hindern. Ihr verändertes Wesen hatte zur Folge, daß meine Liebe
nur noch wuchs. Sie merkte diese sich steigernde Leidenschaft, und ich
fühlte, wie peinlich sie ihr war. Die gegenseitige untergründige Quälerei,
die zwei Menschen so nervös machen kann, fing schon an, in mir strudelte
es schon wie in einem aufgeregten Gewässer, aber ich beherrschte mich noch
völlig. In diesem Zustand trat ein unsinniger Gedanke an mich heran,
nämlich der Gedanke, Jamaica zu heiraten, damit sie mir nicht entrinnen
könne, und dieser Gedanke nahm bald ganz von mir Besitz.

Eines Morgens besuchte uns der Engländer in unserer Burg am Strande.
Jamaica las gerade, sie sah auf und ein schnelles Glänzen ging über ihr
Gesicht. Er zeigte uns eine kleine Versteinerung, die er gefunden hatte,
und da Jamaica so begeistert davon war, schenkte er sie ihr. Sein Betragen
war im übrigen völlig korrekt, nur verdroß mich die übermäßige Ruhe in
seinem Wesen, die etwas Überhebliches hatte. Er bat, gelegentlich in der
Frühe mit uns ausreiten zu dürfen; Jamaica zeigte sich sehr erfreut über
diesen Vorschlag. Dann reichte er uns beiden die Hand und ging.

»Du hättest freundlicher zu ihm sein können«, sagte Jamaica, als er fort
war.

»Findest Du?« fragte ich nur; sonst nichts.

Sie las weiter und hielt dabei, ich sah es wohl, die kleine Versteinerung
fest umschlossen in ihrer seelenvollen Hand.

Für den Nachmittag hatten wir Pferde bestellt. Wir ritten den Strand
entlang, es war ein heißer, erschlaffender Tag. Wir sprachen wenig, es war
etwas zwischen uns, das uns die Lust zum Sprechen nahm.

Wir ritten einen kleinen Galopp; ich sah Jamaica scharf von der Seite an,
dann sagte ich:

»Jamaica, ich will etwas von Dir wissen.«

»Was?« fragte sie tiefatmend und sah mich erstaunt an.

»Liebst Du den Engländer?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Doch«, sagte ich, »denkst Du, ich merke es nicht? Ich halte es nicht
aus.«

Sie reichte mir die Hand herüber, mit einem freundlichen, teilnahmsvollen
Lächeln. So gibt man die Hand einem guten Kinde zum Abschied, dachte ich.
Ich nahm sie nicht.

»Jamaica, ich liebe Dich!« sagte ich nun. »Ich wüßte nicht, wie ich meine
Tage in Zukunft ohne Dich verbringen sollte. Ich will, daß Du von jetzt ab
nur mir gehörst -- verstehst Du? -- nur mir und keinem andern. Sag, willst
Du meine Frau werden?«

Sie entgegnete nichts und sah nur mit gedecktem Blick auf die Mähne ihrer
Stute.

»Ich möchte, daß wir uns heiraten. Jamaica, sag doch etwas!«

Meine Worte klangen, als ob sie vor ihr auf den Knien lägen, -- aber sie
lächelte.

»Nein, nie!« sagte sie bestimmt.

»Du willst nicht?« rief ich gekränkt und hart.

»Nie!«

Die Wut packte mich. Sie widersetzte sich diesem Wunsch, sie sträubte sich
gegen dieses Geschenk, durch das ich mich ihr ganz zu eigen geben wollte?

»Ich _will_ es!« rief ich noch einmal. »Ich werde Dich zwingen!«

»Ich hasse Dich!« schrie sie mir nun entgegen, während ihre Augen vor Zorn
erglühten. »Ich verachte Dich! Ich liebe den Engländer!«

Da hob ich die Reitpeitsche und ließ sie mit Wucht auf ihren schönen
Rücken niedersausen. Sie stieß einen verängsteten Schrei aus, wobei sie
wie ein Kind in sich zusammensank, und ihr Pferd ging durch.

Ich sah, wie sie rasend fortjagte, und konnte nichts dagegen tun. Hallo,
dachte ich, was wird das werden? Sie hielt sich eine Weile, dann merkte
ich, die Kräfte verließen sie, sie taumelte hin und her und fiel
schließlich zu Boden. Glücklicherweise blieb sie nicht im Bügel hängen,
ich atmete auf. Das Pferd machte kurz darauf halt, sah sich verwundert um
und sprang in kleinen Sätzen verlegen hin und her.

Ich eilte herzu, stieg ab und hob Jamaica auf. Sie war kreideblaß und halb
ohnmächtig.

»Verzeih«, sagte ich; sie entgegnete nichts und sah mich nicht an. Sie
atmete hastig und lehnte sich ein ganz klein wenig an mich, sehr ermattet.

»Verzeih«, sagte ich nochmals. Schließlich gab ich ihr die Zügel meines
Pferdes und ging hin, um das ihrige einzufangen. Es ließ sich ganz willig
festnehmen; es war durchnäßt und dampfte wie ein Schornstein. Ich führte
es zu Jamaica, diese hatte sich vor Schwäche in den Sand gekauert; da
hockte sie, schön und blaß wie eine Perle, es sah rührend aus. Jetzt erhob
sie sich, ich merkte, sie wollte das Pferd wieder besteigen.

»Hilf mir«, sagte sie.

Ich half ihr in den Sattel und sprang dann selbst auf.

»Ich reite allein nach Haus«, sagte sie tonlos. Ich wagte nichts zu
erwidern. Im Schritt, ganz gebrochen, ritt sie am Meere entlang heimwärts,
ein trauriges Bild.

Ich trabte in die entgegengesetzte Richtung. Noch oft sah ich mich um, --
es war immer derselbe melancholische Anblick: in müdem Schritt trottete
der dampfende Gaul dahin, die müde Jamaica über sich. Ich bog in die
Wälder ein, kam an einem See, an Forsthäusern, an mehreren Dörfern vorüber
und zögerte stundenlang, ehe ich heimritt.

Als ich abends heimkam, war Jamaica fort, ohne ein Wort hinterlassen zu
haben. Durch den Wirt erfuhr ich, daß auch der Engländer abgereist sei.
Ich mußte lächeln, obwohl mir übel zumute war. Ich zündete mir eine
Zigarre an, setzte mich auf die Balustrade der Veranda und sah lange aufs
Meer, trotzig, allein, mit wirren, durcheinander stürmenden Gefühlen.

Am nächsten Tage reiste ich auch, nicht nach Haus, sondern zu einem
Freunde aufs Land. Wir saßen stundenlang, während die Sonne brannte, in
einem Boot und angelten, schossen nach Raubvögeln, schwammen, ritten,
sahen den Pfauen zu, wie sie auf der Wiese Rad schlugen und schrieen: Päo!
Päo! -- und abends kamen der Förster und der Pastor des nächsten Dorfes,
um mit uns zu zechen.

Als ich nach Wochen braungebrannt wieder in der Stadt eintraf und in einer
Droschke vom Bahnhof aus meiner Wohnung zustrebte, sah ich Jamaica an mir
vorüberfahren, in einem reizenden Sommerkleid, das ich noch nicht kannte.
Sie saß an der Seite des Engländers, ihr Gesicht war von unaussprechlicher
Heiterkeit. Wie eine biegsame Blume des Südens saß sie da, aufrecht und
stolz den schönen Rücken, den ich schlug.

Lebwohl, Jamaica. Lebwohl.



Schloß Carnin


Ich, Konrad Tedrahn, Kunstmaler von Beruf, erzähle eine Geschichte. Ich
spiele eine traurige Rolle darin, dennoch erzähle ich sie.

Ich war zu Gast bei dem Grafen Lockwitz auf Schloß Carnin. Das Schloß ist
ein altes Herrenhaus mit hohen Fenstern und einer Terrasse vor der
Auffahrt. Auf dieser Terrasse saßen wir oft. Sie war das Zentrum, wo man
sich traf, -- hier nahmen wir den Kaffee nach Tisch, hier saßen wir an den
Abenden, in leichte Mäntel gehüllt, plauderten und pafften blauen Rauch in
die Luft, während aus den Wiesen das Gebrüll weidender Kühe herüberdrang
oder vom Dorfe her ein Lied der jungen Mädchen, die durch den Abend
gingen.

Ein runder Rasenplatz, von Kieswegen eingefaßt, lag vor der Terrasse. Dann
ging der Blick in eine Allee gekappter Linden, welche die Zufahrt zum
Schlosse bildete. Hinter der Allee sah man Felder und in ihnen eine Mühle
mit Sparrenflügeln. Der Raps blühte in den Feldern, zitronengelb, und
Wolken seines Duftes quollen herüber, wenn ein Luftzug kam. Zu beiden
Seiten des Schlosses lag der Park. Er hatte köstliche alte Bäume, die weit
in das Land ragten, und war von einem Gewässer durchflossen, das sich an
manchen Stellen teichartig erweiterte, und in dessen versteckten Winkeln
giftgrüne Algen und unentwirrbarer Froschlöffel wucherten. Hatte man den
Park durchwandert, so kam man an den Deich. Und war man den Deich
hinangestiegen, so blickte man in die Niederung der Elbe, in der Weiden an
schmalen Wasserprielen wuchsen und wilde Enten flogen. Ganz hinten, ein
silbergraues Band, sah man den Fluß. Große Schiffe fuhren auf ihm zu Tal,
gespenstisch wie Phantome, und in der Ferne, meilenweit, ahnte man das
Meer.

Pfingsten stand bevor; es fiel in die zweite Juniwoche. Ich wollte das
Fest noch auf Carnin verleben, dann wollte ich Abschied nehmen von diesem
einsamen Haus, von diesem Park und diesen Menschen, die mir teuer waren.
Ich hatte mancherlei auf Carnin gemalt. Der Graf war kunstliebend und
zeichnete mit Geschmack. Wir saßen oft vor den gleichen Motiven, ich malte
und er zeichnete. Die Gräfin, scheinbar jünger als ihre Jahre, war
musikalisch. Nicht selten, wenn ich im Park saß, drangen ihre Melodien
herüber: sie spielte Klavier und sang mit einer seelisch bewegten Stimme.
Zuweilen sang sie auch kleine Lieder zur Laute, abends, wenn wir auf der
Terrasse saßen. Tagsüber widmete sie sich ihren Kindern. Die älteste
Tochter, Komteß Anna, war siebzehn Jahre alt und schien eher die Schwester
der Gräfin zu sein. Auch äußerlich ähnelte sie der Mutter, nur daß sie
größer war. Ja, wenn die beiden schlanken Gestalten Arm in Arm durch den
Garten gingen, und man sah sie von weitem, so hätte man schwören mögen,
daß sie Schwestern seien.

Dann kam ein dreizehnjähriges Komteßlein namens Charlotte, ein ernstes
Kind mit zarten Gliedern und einem regen Geist. Sie machte Verse und
schrieb sie in ein rosaseidenes Buch, sie ging oft allein und nachdenklich
unter den Bäumen des Parkes oder fuhr in der Gondel, Blumen im Schoß, und
man hörte dann, wenn man in der Nähe vorüberging, wie sie sang. Sie war
ein reich und fast zu frühe entwickeltes Kind, und ihre träumerischen
Augen waren oft weit entfernt, in heimlichen Regionen der Wünsche und der
Gedanken. Sie hatte Tage, an denen sie sich müde fühlte und bleich aussah,
und gerade an solchen Tagen trieb es sie, ihre Verslein zu dichten und
sich einsamen Gedanken hinzugeben. Wir hatten Freundschaft geschlossen und
wandelten häufig zusammen die Lindenallee hinunter in die Felder,
pflückten Feldblumen und sahen den Flügeln der Mühle zu, die, wenn man
näher kam, unheimlich durch die Luft rauschten und knarrten, so daß man,
wenn es gerade dämmerte, Angst verspürte und am liebsten schnell
davongelaufen wäre.

Ferner gab es zwei Buben von acht und zehn Jahren, Fred und Klaus, zu
allen tollen Streichen aufgelegt, zu denen sie nicht selten auch mich zu
verführen suchten. Sie wurden von einem Hauslehrer unterrichtet, einem
jungen blauäugigen Theologen aus Husum. Außerdem war eine Gouvernante da,
ein gescheites Wesen, das mehr zu beobachten als mitzuerleben liebte. Das
waren die Menschen auf Schloß Carnin.

Ich hatte die blonde Charlotte gemalt, wie sie auf einer Bank unter einer
blühenden Kastanie saß, dicht neben dem Schloßgraben, über den eine weiße
Brücke führte. Ich hatte die beiden Jungen gemalt, wie sie im Grase lagen.
Und in der Dämmerung hatte ich das Schloß gemalt, als ein graues,
mystisches, weltentlegenes Haus, mit den weißen, geheimnisvollen Gestalten
der Gräfin und der Komteß Anna auf der Terrasse. Dies Bild schien mir das
beste zu sein, das ich auf Carnin gemacht hatte. Es hatte etwas
Mystisches, die Luft der Dämmerung war weich und lau, man spürte den
Frühling darin.

Nun kam Pfingsten. Komteß Anna erwartete den Besuch einer Freundin, der
Graf den eines jungen Freundes, eines Assessors aus der Kreisstadt. Zwei
Tage vor dem Fest kamen die beiden an. Die Komteß war ihrer Freundin bis
zur Eisenbahnstation entgegengefahren. Es war gegen Abend, ich hatte bei
Tag im Sonnenlicht gemalt, nun schlenderte ich mit Charlotte durch den
Park, dann durch die Felder, wo wir im Westen die Glut des Himmels
anstaunten, in der ungeheure goldene Wolken schwammen. Charlotte hatte ein
leichtes Sommerkleid an, das die dünnen Ärmchen freiließ. Die Luft war
schwül und windstill, und der gelbe Raps duftete verschwenderisch. Wir
gingen schweigend. Da fuhr die Kleine plötzlich auf, wies zur Landstraße
hinüber und rief: »Sie kommen!«

Man sah den Jagdwagen mit den Schimmeln, eine Staubwolke schwebte hinter
ihm. Charlotte und ich faßten uns bei der Hand und liefen zur Landstraße
hinüber. Dort pflanzten wir uns auf und winkten mit den Taschentüchern,
während der Wagen vorüberfuhr. Auch Komteß Anna winkte und die Freundin
und der Assessor. Die Freundin war schwarzhaarig, sie hatte schöne, freie
Augen und einen ernsten Mund. Es war etwas Sicheres und Feines an ihr,
eine bezaubernde Anmut. Ich sah sie gleich als Bild in meiner Vorstellung.
Ein feines Kind, dachte ich, das wäre etwas für deinen Pinsel, Tedrahn!

Ich schlenderte mit Charlotte zum Schloß zurück. Wir hatten den Wagen so
lange vor uns, bis er in die Lindenallee einbog. Charlotte hatte unterwegs
Blumen gepflückt, sie gab mir davon ab, als ich auf mein Zimmer ging, um
mich zum Essen umzukleiden. Ich wohnte nicht im Schlosse selbst, sondern
in einem alten weißen Hause, das quer daneben lag, und das man das
»Kavalierhaus« nannte.

Als ich dann zum Schloß hinüberschritt, stand Komteß Anna mit ihrer
Freundin auf der Terrasse. Die Komteß hatte ein weißes Tuch um die
Schultern und rote Monatsrosen auf der Brust. Die Freundin war kleiner von
Gestalt. Ich wußte, daß sie auch siebzehnjährig war. Sie hatte ein
bordeauxrotes Tuchkleid an, das Haar lag ihr üppig im Nacken. Ich schritt
die Stufen zur Terrasse hinauf, Komteß Anna stellte vor: »Herr Konrad
Tedrahn, Kunstmaler von Beruf, Fräulein Leonore Helfinger aus Lübeck.«

»Ah, Lübeck!« sagte ich sofort, »ich kenne die Stadt und liebe sie. Wie
lebt man dort eigentlich? Haben Sie viel Verkehr? Gehen Sie viel aus?«

In dieser Weise fragte ich sie. Es geschah etwas lässig, sie war ja
siebzehn Jahre alt, also ein Kind.

»Nein«, entgegnete sie in gleichgültigem Ton, »ich gehe nicht viel aus.«

Sie wendete sich wieder an die Komteß und plauderte mit ihr, als ob ich
nicht vorhanden sei.

'Etwas eigensinnig', dachte ich, -- 'aber schön, mit allen Reizen der
Jugend, feingliedrig und stolz, vielleicht etwas hochmütig. Hier ist etwas
zu tun, Tedrahn, etwas zu schaffen ist hier! Diesen ernsten Kopf mit dem
schwarzen Haar und den Augen des erwachenden Mai, -- wo bringe ich ihn
hin? Vor einen Rosenbusch am Morgen oder direkt vor den blauen Himmel, der
von dünnen, weißen, wehenden Wolken bewegt ist? Ich möchte sie tanzen
sehen, ich möchte auch sehen, wie sie läuft. Ich möchte die Bewegungen
ihres Körpers sehen, die Art ihrer Schritte, und wie sie die Arme wirft,
beim Tennisspiel oder beim Reifenschlagen.'

Durch meinen Kopf schwirrten zahllose lockende Malereien. Ich verwünschte
es im stillen, daß Leonore Helfinger nach Carnin gekommen war, denn ich
fühlte, sie würde mich malerisch beschäftigen, ich würde Bilder der
Phantasie komponieren, während ich mit meinen wirklichen Bildern während
dieser letzten Tage noch gerade genug zu tun hatte. Denn in drei Tagen
mußte ich reisen, also wozu diese unnütze Verwirrung in meiner Arbeit.

Ein Diener erschien in der Glastür und bat zu Tisch. Wir gingen hinein,
die andern waren schon in dem blauen Vorsaal versammelt. Der Graf machte
mich mit dem Assessor bekannt. Man begab sich in das schöne Eßzimmer, in
dem schon die Lichter brannten und die Gardinen gegen den Park zu
herabgelassen waren. Ich hatte meinen alten Platz neben der Gräfin,
Leonore Helfinger saß mir schräg gegenüber. Der Graf begrüßte sie und den
Assessor, indem er sein Glas erhob. Es wurde Champagner getrunken, wie
immer, wenn ein neuer Gast aus Carnin einzog.

Ich sagte leise zur Gräfin: »Die kleine Helfinger ist ja wundervoll. Durch
meinen Kopf schwirren Bilder auf Bilder, wie ich sie malen möchte.«

»Ich kenne sie kaum«, sagte die Gräfin, »nur aus Annas Erzählungen. Die
Mädchen haben die Pensionszeit zusammen verlebt. Ich finde, sie ist schön
zu nennen.«

Nach Tisch warfen wir die Mäntel über und gingen auf die Terrasse. Die
Herren rauchten englische Zigaretten. Auch Komteß Anna zündete sich eine
Zigarette an, lehnte sich in einen Korbstuhl zurück und stieß kleine
Wölkchen in die Luft. Leonore stand am weißen Geländer der Terrasse und
sah in den Abend. Es war ein schöner Abend, im Dorf Carnin sangen die
Mädchen wieder, der Mond stand am Himmel. Der Graf und der Assessor kamen
in ein Gespräch über Brahms. Sie begaben sich in das Musikzimmer, und man
hörte, wie zuweilen auf dem Klavier ein Thema angeschlagen wurde.
Charlotte stand neben mir und hatte ihren Arm vertraulich unter meinen
geschoben.

»Heute steht der Mond schon über dem Kavalierhaus«, sagte sie, »gestern
stand er noch über den gescheckten Ulmen.«

Jetzt sah alles den Mond an. Leonore sah mit fast strengem Mund hinauf, --
aber so streng dieser Mund erschien, es lag etwas Schwärmerisches um ihn
her. Es war wunderbar zu sehen, wie sich das Mondlicht auf den feuchten
jungen Lippen brach. Der Mond stand über dem Dach des Kavalierhauses und
wandelte dem riesigen Wipfel einer Kastanie zu. Nicht die mindeste
Bewegung lag in der Luft. Der Hauslehrer, der an der geöffneten Glastür
lehnte, sagte etwas von allzu lauen Frühlingsnächten, es würde einen
regnerischen Sommer geben.

»Wir sollten eine Gondelfahrt machen«, schlug die Gräfin vor.

Alles stimmte ein, Charlotte war ganz entflammt, aber gerade sie mußte
zurückbleiben, da ihre Mutter meinte, es sei auf dem Wasser zu kühl für
sie. Wir verließen die Terrasse: die Gräfin, Komteß Anna, Leonore und ich.
Wir schritten um das Schloß herum und durch den dunklen Park hinab zum
Teich.

Die Gräfin setzte sich an das Steuer des Bootes, ich nahm die Ruder. Wir
trieben sacht dahin. Mitunter hörten wir am Ufer ein Plumpsen, es waren
aufgeschreckte Frösche, die in das Wasser sprangen. Leonore und Komteß
Anna saßen dicht vor mir, der Mond schien in ihre Gesichter. Ich spürte
den Duft dieser frischen, jugendlichen Gestalten. Leonore hatte ein grünes
Jäckchen an, ihr Kopf war unbedeckt. Sie sah herrlich aus. Einmal merkte
ich, wie sie zusammenschauerte. Es war die Abendluft über dem Wasser. Ich
lenkte zum Bootssteg zurück.

Plaudernd schritten wir über den Rasen zum Schloß hinan. Leonore lachte
ein paarmal hell auf, ich weiß nicht mehr worüber. Das Lachen höre ich
noch, es war wie das Plätschern eines Brunnens. Ich fühlte immer
deutlicher, daß ich sie malen müßte. Als ich ihr Gutenacht wünschte, sagte
sie: »Morgen zeigen Sie mir Ihre Bilder.«

»Gewiß!« sagte ich. Meine Augen umfingen ihren Kopf mit dem schwarzen Haar
wie ein Gemälde.

In meinem Zimmer brannte die Lampe schon. Ich setzte mich hin, nahm Kreide
und Papier und suchte den Umriß von Leonores Kopf zu zeichnen. Dann machte
ich einen Umriß von ihrer ganzen Figur. Dann wieder nur die Stirn mit dem
Haar. Dann strich ich alles aus, da alles Unsinn war.

Ich zündete eine Zigarette an und schritt im Zimmer auf und ab. Ein
schöner Kopf, ein süßer Kopf. Am schönsten so: halbes Profil und ein klein
wenig nach unten geneigt. Bei Tisch hatte ich sie so gesehen und dicht vor
mir im Kahn. So, dachte ich, müßte sie mir einmal sitzen, mit dieser
geneigten Nase, mit dieser großen Linie des Haares. Ich ging wieder an den
Tisch und machte von neuem ein paar Zeichnungen aus der Erinnerung. Warum
war dieses Mädchen jetzt nach Carnin gekommen! Sie nahm mir beinahe das
Interesse an meinen großen Bildern fort, an denen ich noch zu arbeiten
hatte. Wäre sie doch geblieben, wo sie war! Unwillig warf ich die Kreide
fort, entkleidete mich und legte mich schlafen. Draußen schrie eine Eule
in den Ulmen. Durch die Dunkelheit sah ich noch immer ein junges, holdes
Profil, Züge von einer verhaltenen Leidenschaft, zartrosige Wangen und
schwarzes Haar ... Pastell, dachte ich, in Pastell muß man es machen.
Lockere, leichte Farben, das Ganze nur wie ein Hauch. Mit diesen Gedanken
schlief ich ein.

Der nächste Tag war der Sonnabend vor dem Fest. Ich stand früh auf und
nahm das Frühstück auf meinem Zimmer. Dann schleppte ich eins der Bilder
in den Park, um es im Frühlicht fertig zu machen. Es stellte ein Rosenbeet
dar, rechts und links hohe Taxusbäume, hinten ein altes Gartenhäuschen mit
hohem Dach. Ich malte also. Während ich malte, dachte ich: das Bild ist
leer, es ist unvollständig. Vor dem Hause fehlt etwas. Die Gestalt der
Leonore Helfinger müßte vor dem Gartenhaus stehen, rechts von der Tür, und
sich neigen, um eine Blume zu pflücken. Ich kniff die Augen zu und stellte
mir vor, wie das Bild dann aussehen würde. Gut, gut. Aber es war ja zu
spät! Schade um dich, du leeres Bild. Ich seufzte und malte weiter,
unlustig und unzufrieden.

Ich hörte Lachen, blickte mich um und sah die beiden Freundinnen im
Sonnenlicht daherschlendern. Sie waren beide in Weiß und hatten gelbe,
großkrempige Strohhüte auf.

»Guten Morgen, Herr Maler!« rief Leonore lachend. »Schon so früh bei der
Arbeit?«

»Ja, aber es fleckt nicht«, erwiderte ich, »ich bin unzufrieden.«

»Wie schade!« sagte sie, indem sie meine Malerei betrachtete. »Ihr Bild
gefällt mir, das ist wirklich der tauige Morgen, der da webt. Ich fände es
freilich schöner, wenn eine Figur vor dem Häuschen stünde. Das Bild würde
voller dadurch. Finden Sie nicht?«

Ich mußte lächeln.

»Gewiß finde ich das«, entgegnete ich. »Vielleicht haben Sie die
Freundlichkeit, sich einmal dort vor dem Hause aufzustellen, damit ich die
Wirkung sehe.«

Sie lief hinüber.

Komteß Anna sprach: »Leonore hat recht, -- sehen Sie, wie reizend sie dort
zwischen den Blumen steht?«

»Ja«, sagte ich, »schade, daß ich nicht eher darauf gekommen bin! Schade!
Wenn Sie wüßten, Komteß, wie Ihre Freundin mich malerisch entzückt!« Zu
Leonore rief ich hinüber: »Kommen Sie, ich werde sonst traurig, wenn ich
Sie noch länger so stehen sehe. Warum sind Sie nicht eher nach Carnin
gekommen? Wie gern würde ich Sie malen! Ich möchte eine Skizze von Ihnen
machen, heute nachmittag, darf ich?«

»Gern.«

»Hier im Park, in der Sonne, ich freue mich darauf.«

Komteß Anna drängte, zu gehen. Die Mädchen wollten eine Morgenwanderung in
die Marsch unternehmen. Sie verabschiedeten sich und verschwanden zwischen
den Bäumen. Ich sah die hellen Kleider sich verlieren im Dunkelgrün. Dann
arbeitete ich weiter, voll Mißmut. Ich sehnte mich nach andrer Arbeit,
aber ich mußte doch meine armen Bilder fertig machen ...

Gegen Mittag kam ich, eine Leinwand unter dem Arm, vom Park her über den
Rasenplatz vor dem Schloß. Ich hörte schon aus der Ferne Lachen und Rufe.
Die Mädchen spielten Tennis, mit Charlotte und dem Assessor. Fred und
Klaus hoben die Bälle auf. Ich blieb, um die Ecke des Schlosses biegend,
stehen und sah gerade, wie Leonore, den Schläger mit allen Kräften
schwingend, sich hoch auf den Zehen erhob und den Ball durch die Lüfte
jagte. Sie stieß einen kleinen Schrei dabei aus, ihr Kleid hatte einen
wirbelnden Schwung um die Fesseln der Füße.

Schön, schön, schön! dachte ich. Wundervoll! Sie hat eine Hingabe in der
Bewegung ...

Oben von meinem Fenster aus sah ich dem Spiel noch eine Weile zu. Ich
setzte mich ans Fenster, hinter die Gardine, so daß mich keiner sah, und
skizzierte einige Bewegungsstudien. Dann mußte ich wieder in den Park
hinab zum Malen. Nach Tisch kamen die Freundinnen samt Charlotte auf mein
Arbeitszimmer, um die Bilder anzusehen. Leonore sah auch die Studien vom
Tennisspiel auf einem Stuhle liegen.

»Stammt das von heute?« fragte sie.

»Ja«, entgegnete ich, »erkennen Sie sich nicht? Das sind Sie. Sie hatten
ein paar Bewegungen, die mich begeisterten.«

Sie sah mich an, etwas fragend. Ihr Blick war sehr schön. Ein seelenvolles
Auge, dachte ich, beinahe kobaltblau, eigentümlich.

Dann gingen wir in den Park. Ich setzte Leonore in die Sonne vor eine
grünumsponnene Laube und skizzierte sie. Komteß Anna und Charlotte gingen
ans Wasser hinab. Sie schritten singend über eine Brücke. Singend
entschwanden sie.

Ich skizzierte Leonore von vorn. Das Licht lag spielend in ihrem Haar. Es
flirrte über die weiße Stirn und die rosigen Wangen, und das Grün der
Laube gab der Haut und dem weißen Kleid einen eigentümlichen Ton; dies
alles war schwierig zu malen.

Leonore plauderte. Erst antwortete ich, wenn auch zerstreut, dann hörte
ich nicht mehr hin. Schließlich sagte sie nichts mehr. Es kam etwas Mattes
in ihre Züge, ich merkte es wohl. »Verzeihen Sie«, sagte ich, »wenn ich
schlecht darauf achte, was Sie sagen. Ich bin zu sehr beschäftigt mit
dieser Studie. Wenn mich etwas malerisch in Anspruch nimmt, empfinde ich
nichts andres. Verzeihen Sie.«

»Aber bitte«, entgegnete sie. Es klang müde, es klang ein wenig trotzig,
es klang herb. Damals achtete ich nicht darauf, ich malte sie ja, das war
mir genug. Ich hatte keinen andern Wunsch, als Bilder nach ihr zu malen,
ich alberner Geselle!

Die Skizze wurde gut. Ich hörte zur richtigen Zeit auf, so daß sie das
Unmittelbare, im Moment Empfundene behielt. Es war Leben darauf, das
Gesicht lebte und das Licht der Junisonne auch.

»So habe ich doch wenigstens einen Begriff, einen Anhaltspunkt«, sagte
ich. »Ich danke Ihnen.«

Auch ihr gefiel die Studie. Wir schritten zusammen zum Schloß hinüber, ich
sprach vom Malen im Freien im allgemeinen. Unterwegs pflückte sie eine
rosa Rose und reichte sie mir. Dann ging sie ins Schloß und ich ins
Kavalierhaus, um mir eine andre Leinwand zu holen. Die Rose legte ich oben
auf den Tisch, ich vergaß, sie ins Wasser zu stellen. Es war ja auch nur
eine Rose, es gab deren viele im Park von Carnin.

Dann kam wieder einer der schönen Abende. Wir saßen wie meist auf der
Terrasse, der Mond stand am Himmel, die Sterne hatten einen metallisch
blanken Glanz. Die Gräfin, ein weißseidenes Tuch um die Schultern, griff
Akkorde auf der Gitarre und sang ein französisches Lied. Dann spielte sie
deutsche Volkslieder, und wir sangen mit. In den Pausen hörten wir ein
süßes Tönen aus der Ferne, das waren die wandernden Mädchen in Carnin.
Einmal hörten wir ein unterdrücktes Kichern ganz in der Nähe. Der Graf
wußte sofort, was es zu bedeuten hatte. Er sah zu den Fenstern hinauf,
hinter denen Fred und Klaus jetzt eigentlich schlafen sollten. Die Jungen
lugten in ihren Hemden zum Fenster hinaus und hörten unserm Singen zu.
Jetzt, da der Graf sie energisch zu Bett schickte, riefen sie noch einmal
»Gute Nacht!«, man hörte, wie sie lachten, dann schlossen sie die Fenster,
und es war wieder still.

Man begab sich in den Salon, um noch eine Tasse Tee zu trinken. Vorher
verabschiedete sich Charlotte, da ihre Schlafenszeit gekommen war.
»Charlotte«, sagte ich, »morgen ist Pfingsten, da kommen ganz früh die
Elben von der Geest herunter, um die Maien zu bringen, du weißt. Ich
möchte die Elben gern zu Gesicht bekommen, hoffentlich finde ich früh
genug aus dem Bett. Ich werde sie für Dich um eine kleine Maie extra
bitten, -- ja?«

»Das wäre reizend«, sagte sie, »aber Sie müssen auch für Fräulein Leonore
eine Maie zu bekommen suchen, sie hat doch heute so fein stillgehalten
beim Malen.«

»Das ist wahr«, sagte ich.

»Fräulein Leonore liebe ich sehr«, flüsterte Charlotte, als verkünde sie
mir ein Geheimnis, »ihr Mund ist doch bezaubernd, und auch ihre Augen, --
nicht wahr?«

Dann ging sie, ich sah dem Schreiten ihrer Kinderfüße nach. Darauf sah ich
zu Leonore hinüber. Sie saß in einem großen geblümten Polsterstuhl und
führte gerade eine Schale Tee an die Lippen. Das rote Licht einer Lampe,
auf der ein karmoisinfarbener Schirm lag, fiel auf sie. Natürlich sah ich
sofort wieder ein Bild. Es war mein Verhängnis, daß ich immer Bilder,
Bilder, Bilder sah, wenn meine Augen auf dies Mädchen fielen. Das rötliche
Licht war magisch um sie her. Der zwanglos gehobene Arm, das schimmernde
Haar, -- ich war schon wieder ganz mit einem malerischen Problem
beschäftigt. Da brachte mir ein Diener Tee. Und kurz darauf trat der
Assessor auf mich zu und verstrickte mich in ein Gespräch.

Der Graf machte, ehe er sich zurückzog, einen Vorschlag, der von allen
freudig begrüßt wurde. Er schlug nämlich vor, daß man am folgenden Tage in
den seidenen Kostümen des achtzehnten Jahrhunderts, deren es in der
Kleiderkammer des Schlosses eine Menge gab, zum Diner kommen sollte. Auch
er und die Gräfin versprachen, sich zu kostümieren.

Man trennte sich. Der Assessor und ich saßen noch eine Weile in den alten
Lederstühlen der Bibliothek bei Tabak und Bier.

Endlich fingen wir an zu gähnen, erhoben uns und schlenderten zum
Kavalierhaus hinüber. Es war eine laue, windstille Nacht, der Jasmin
duftete betäubend. Unsere Schritte klangen einsam hallend auf dem hellen
Kies, sonst hörte man nichts.

»Übrigens, dies Fräulein Helfinger«, sagte der Assessor, ehe wir in das
Kavalierhaus eintraten, »ein entzückendes Geschöpf. Man möchte sie immer
ansehen, finden Sie nicht?«

»Ein Bild«, entgegnete ich, »ein wirkliches Bild, ich versichere Sie, ich
kann es beurteilen, ich bin ein Maler! Sie kann sich bewegen, wie sie
will, es ist immer ein Bild. Es macht mich rasend, daß ich keine Zeit
habe, sie zu malen. Was ist eine Skizze?«

»Ja, ja, ich glaube Ihnen«, sagte der Assessor.

Pfingstsonntag. Früh hatte ich zu arbeiten, nachher läuteten die Glocken
zum Kirchgang; müde ließ ich meine Hände ruhen. Ich sah, wie das gräfliche
Paar, der Hauslehrer, Charlotte und die Jungen gemeinsam zur Kirche
schritten. Der Assessor streifte durch den Park, in weißen Beinkleidern
und blauer Jacke. Als er mich sah, kam er auf mich zu und fragte, ob ich
mit Tennis spielen wolle; die jungen Damen warteten schon auf der
Terrasse. »Jawohl«, sagte ich, »mit Vergnügen.« Der Assessor half mir die
Malsachen schleppen, dann spielten wir Tennis.

Die Mädchen hatten dunkelblaue, fußfreie Kleider und weiße Blusen an.
Komteß Anna hatte einen roten Filzhut über das Haar gestülpt, Leonore trug
das Haar frei. Ich spielte mit Komteß Anna, der Assessor mit Leonore. Ein
Diener suchte die Bälle. Ich verwünschte es im stillen, daß ich an diesem
Spiel teilnahm, ich hätte viel lieber daneben gesessen und Studien nach
Leonores Bewegungen gemacht, die so sicher waren, so ruhig und doch von so
starkem Temperament.

»Warum sehen Sie mich immer so an?« fragte sie einmal, nicht unwillig,
sondern mit einem Lächeln.

»Sie wissen ja, Sie interessieren mich malerisch«, entgegnete ich,
»verzeihen Sie, wenn ich Sie so oft ansehe.«

Ich machte eine Verbeugung wie vor einer Dame, wobei ich dachte: Diese
Verbeugung ist unnötig, sie ist ja ein Kind. Ich bemühte mich, sie in
Zukunft weniger anzusehen. Eine Weile gelang es mir. Dann fiel ich in
meinen alten Fehler zurück.

Ich nahm mir vor, nachher neue Skizzen nach ihr zu machen. Sie hatte
Bewegungen beim Spiel, die sie wie eine Blüte erscheinen ließen; das war,
wenn sie den Hals streckte und den Kopf etwas zurückwarf. Einmal gab sie
mir einen Ball in die Hand. Wie seltsam funkelnd waren ihre Augen, als sie
mir den Ball gab. Das sind süße, leidenschaftliche Augen, dachte ich, und
dieses sonderbare Blau. Ich dachte wieder daran, wie ich das malen könnte.
Ich dachte immer nur ans Malen, ich Trottel, ich kindischer Geselle!

Nachmittags probte alles alte Kostüme. Ich hatte mir einen Rock aus
hellgrauer Seide hervorgesucht, der mit Rosengirlanden bestickt war; dazu
einen Kavalierdegen und Eskarpins. In diesem Kostüm saß ich noch eine
Weile am Tisch meines Zimmers und machte aus der Erinnerung
Bewegungsskizzen nach der tennisspielenden Leonore. Dann tönte das Gong,
ich ging zum Diner hinüber ins Schloß.

In dem blauen Salon traf ich die beiden Freundinnen. Ich blieb wie
angewurzelt stehen. Die Mädchen sahen so überraschend echt in ihren
Kostümen aus, daß ich meinte, ich sähe eine Vision aus der Zeit des
=ancien régime=. Leonore trug ein langes, silberbesticktes Gewand aus
blaugrauem Brokat, das hinten schleppte. Hals und Schultern waren frei.
Sie trug eine hohe bepuderte Coiffüre, in der eine mattrote Rose steckte.
Auf der einen Wange, nahe der Schläfe, lag ein schwarzes Pflästerchen. Ich
sah sie zuerst im Profil, sie blickte gegen das Licht zum Fenster hin und
hielt spielend einen alten Fächer in der Hand.

Komteß Anna war in Grünblau. Auch sie hatte bepudertes Haar, ihr Gewand
war glockenförmig. Sie trat mir lachend entgegen und fragte:

»Wie gefallen wir Ihnen, Marquis?«

»Ich bin hingerissen«, sagte ich, »Sie sollten immer solche Kleider
tragen. Auch Sie, Fräulein Helfinger.«

Leonore sah mich an, mit einem Lächeln. Wie wundervoll war die blaßrote
Rose in ihrem bepuderten Haar! Wie mädchenhaft hold die Linie von dem
feinen Hals zu den Schultern.

»Wahrhaftig, man sollte das malen«, sagte ich, »ganz in Silber und Grau.«
Ich kniff die Augen ein wenig zu und betrachtete sie.

Da verschwand das Lächeln von ihrem Mund.

Sie wendete sich ab, fast verdrossen, und sah wieder zum Fenster hinaus,
mit verhangenem Blick, als dächte sie an Fernes. Ich sah hinüber zu ihr
und dachte: Wie reizend wäre es, wenn ich sie jetzt skizzieren könnte! ...

Nun kamen die andern. Die Gräfin kam in schwarzer Seide, mit grauer
Perücke. Der Graf hatte eine Uniform aus der Zeit der Freiheitskriege
angelegt. Charlotte trug ein geblümtes Kleidchen von 1830. Auf ihrem
offenen Haar, das zu langen Locken gedreht war, lag ein dünner Kranz aus
Tausendschönchen. Dieses zarte Kind war wie ein schwebendes Lied, wie eine
verwehende Melodie.

Der Assessor trug ein Kostüm vom Schnitt des meinigen, aber in Hellblau.
Die Gouvernante hatte ein Gewand aus der Schwedenzeit angelegt. Der
Hauslehrer ging in einem altväterlichen Rock mit breiten Aufschlägen aus
Samt. Fred und Klaus kamen in ihren Matrosenkitteln und machten bösartige
Glossen über die andern.

Wir gingen paarweis zu Tisch. Ich hatte Leonore zu führen. Leicht und
ernst hing sie an meinem Arm, ein Traum.

Bei Tisch war ich mir immer bewußt, daß ein Profil von seltener
Kostbarkeit an meiner Seite war; daß ich jammervoll die Zeit versäumte, da
ich es nicht skizzieren konnte. Ich kam auf Marie Grubbe zu sprechen, den
Roman von Jens Peter Jacobsen. Ich fragte Leonore, ob sie das Buch gelesen
habe.

»Ja«, sagte sie, »ich habe es gelesen, aber ich habe es zerrissen und
verbrannt.«

Oho! dachte ich, sie hat Marie Grubbe verbrannt!

»Später werden Sie das Buch wieder lesen«, sagte ich, »dann werden Sie es
nicht verbrennen, sondern Sie werden es lieben.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Wissen Sie, wie ich Sie malen möchte?« sagte ich. »Wie Marie Grubbe
möchte ich Sie malen, als sie noch Kind war, ich meine die Szene, wo sie
in der Laube sitzt und mit den nackten Armen in den Rosen wühlt.«

Sie sah mich an, es war etwas Schmerzliches in ihren Augen. Ich nahm das
Glas, in dem der Sekt perlte, hob es ihr entgegen und trank auf ihr Wohl.
Auch sie nahm ihr Glas, wir stießen an. Ich sehe noch die holde Neigung
ihres Kopfes, da wir anstießen. Auf ihren rosigen Wangen waren Spuren
weißen Puders zu bemerken, der aus dem Haar herabgeglitten war.

Ich betrachtete sie lebhaft. Ich studierte sie, ich suchte alles Wichtige
der Form und der Farbe in mich hineinzusaugen. War es nicht beleidigend,
daß ich immer nur ihr Äußeres betrachtete?

»Sie ahnen nicht«, sagte ich, »wie die mattrote Rose zum Grau Ihres Haares
steht. Es ist eine Harmonie, die mich begeistert.«

»Darf ich Ihnen die Rose schenken?« fragte sie demütig.

»Nein, nein«, entgegnete ich, »lassen Sie die Blüte in Ihrem Haar, es gibt
keinen besseren Platz für sie!«

Ich nahm die Rose nicht, die sie mir anbot.

Sie sah müde vor sich hin. »Ich werde sie Ihnen heute Abend schenken, ehe
wir uns trennen«, sagte sie leise.

»Oh, ich danke Ihnen«, erwiderte ich, »ich danke Ihnen.«

Nach Tisch ging alles in den Park. Ich lief hinüber auf mein Zimmer,
ergriff ein Skizzenbuch und steckte es in die Brust. Es war gegen
Sonnenuntergang. Es war die Stunde, wo die Bäume des Parks in einer
stillen Verklärung in die Lüfte ragen, wo alle Umrisse größer und
feierlicher zu werden beginnen. Die Abendsonne hing goldig in den Wipfeln
der Kastanien. Wir schritten paarweis die gewundenen Kieswege hin, Leonore
und ich zuletzt. Es war ein traumhaftes Bild, die bunten, in Seide
gekleideten Menschen zwischen den Bäumen und blühenden Bosketts des alten
Gartens, der solche bepuderten Menschen schon früher gesehen hatte und
sehr erstaunt sein mochte, sie plötzlich noch einmal auftauchen zu sehen.

Wir kamen über eine weiße Brücke und spiegelten uns in dem dunkeln Wasser.
Leonore und ich verweilten einige Zeit auf der Brücke, die andern
entschwanden. Es war nicht genau zu erkennen, wohin sie gegangen waren.
Wir schlenderten durch den Eichenhain, jenseits des Wassers, Leonore und
ich allein. Wir kamen an den Deich, ein schräger Pfad führte empor. Ich
mußte Leonores Arm freilassen, sie schritt langsam vor mir hinan. Ich sehe
noch den schönen Umriß der schlanken, aufwärtsschreitenden Gestalt, den
bloßen Nacken und das graue Haar ...

Auf dem Deich umflammte uns die Abendsonne. Zu unsern Füßen lagen die
Wiesen der Marsch, ganz mit rotblühendem Sauerampfer bestanden und
übergossen von den purpurnen Strahlen des vergehenden Lichts. Es war ein
so ungeheures Rot in den Wiesen eingefangen, daß man glaubte, man sähe
über ein blutiges, loderndes Meer. Wir blickten hinaus, Leonore hatte ein
kleines süßes Staunen im Gesicht, ihr Mund war ein wenig geöffnet. Etwas
Wehes war um ihre Gestalt. Ich holte schnell das Skizzenbuch hervor, um
die Linien ihres Profils festzuhalten. Da sah sie, was ich tat, -- und es
geschah etwas ...

Sie starrte mich an, mit flammendem, zornigem Blick, aus dem eine
ersterbende Leidenschaft grüßte. Dann hob sie die Arme empor und dehnte
sie mir entgegen, sehnsüchtig, mit einer Gebärde des Überschwangs! Dann
ließ sie die Arme sinken, ermüdet, mit einem Zittern.

Ich stand da wie ein geschlagener Knabe. Mir war, als sei auf einmal eine
Binde von meinen Augen gerissen. Ja, plötzlich sah ich klar. Dieser junge
stolze Mensch da vor mir war erfüllt gewesen von einem strahlenden Gefühl
der Liebe, -- ich aber hatte sie immer nur malen wollen, meine blöden
Augen hatten nichts weiter als das Malerische an ihr gesehen! Jetzt merkte
ich, wie sehr ich sie durch mein Betragen verletzt hatte. Ich hatte sie ja
mit Füßen getreten! In ihr war eine schöne Welle aufgestiegen, die ihr
Gefühl mit Macht zu mir hinübertrug, -- ich aber hatte kalt nur ihr
Äußeres betrachtet, um es für meine Malereien zu verwenden!

Für einen Augenblick kam etwas Unruhiges in sie. Dann hatte sie ihre
Fassung wiedergewonnen.

»Kommen Sie«, sagte sie kühl, »wir wollen zu den andern gehen.« Damit war
sie schon auf dem Wege den Deich hinab. In mir siedete es. Was sollte ich
tun, um diesen tiefgekränkten Menschen zu versöhnen? Es kreiste und
schwankte vor meinen Augen.

»Fräulein Leonore --«, sagte ich, wie um Verzeihung bittend.

Aber sie hörte nicht. Etwas Abweisendes lag um ihren Mund, auch ihre Augen
waren streng und herbe. Wir hörten Lachen, die Kleider der andern
schimmerten vor uns durch das Laub.

»Hallo!« rief Leonore.

Begrüßung. Dann stieg alles hinauf auf den Deich. Man plauderte, lachte,
staunte laut über das purpurne Lichtmeer in den Wiesen. Leonore sprach
unbefangen mit Komteß Anna und dem Assessor. Ich wagte mich nicht an ihre
Seite, ich war innerlich zerschmettert. Mir war elend zu Sinn wie in einer
Krankheit.

Leonore lachte, scherzte, und auf dem Rückweg nach dem Schloß hängte sie
sich plaudernd in Charlottes Arm. Sie schien sehr fröhlich zu sein, aber
mich sah sie nicht. In mir wallte es auf und nieder, es fiel mir schwer,
an der Unterhaltung teilzunehmen, in die mich der Graf und die Gräfin
verstrickten. Ich tappte wie ein Traumwandler hin.

Nachher Tanz im Schloß. Die Gräfin drehte einen kleinen Leierkasten. Ich
tanzte zuerst mit Leonore; sie bat bald, aufzuhören. Ich sprach ein paar
Worte in demütigem Ton zu ihr, sie antwortete nicht. Mit den andern war
sie froh und unbefangen, mitunter beinahe ausgelassen, so daß ich
erstaunte. Ihre Mienen wurden streng und abweisend, sobald sie in meine
Nähe kam. Einmal stand sie in der Nische eines Fensters allein und sah in
den dunkelnden Park. Ich trat neben sie, voll Demut, bittende Worte
stammelnd, und suchte ihre Hand zu küssen. Sie verhinderte es, sie
schüttelte abwehrend das Haupt und winkte Charlotte zu uns herüber, damit
wir nicht allein in der Nische ständen.

Der ganze Abend war eine Qual. Es sah elend in mir aus. Ich dachte daran,
wie ich sie mit kühlem Auge und ruhigem Blut gemalt und skizziert hatte --
und hätte mich züchtigen mögen. Du verdientest, daß man dich an den
Pranger stellte und öffentlich auspeitschte, dachte ich. Ich begriff mich
selbst nicht, mir graute vor meinem albernen Künstlertum, ich haßte mich
wie einen Feind.

Leonore wußte es einzurichten, daß wir während des Abends nur in die
flüchtigste Berührung kamen. Hin und wieder warb ich voll Demut um einen
freundlichen Blick von ihr, aber umsonst. Es war zum Verzweifeln.

Beim Gutenachtwünschen trat sie vor mich hin und sagte: »Ich versprach,
Ihnen die Rose aus meinem Haar zu schenken. Sehen Sie doch, sie ist
verloren gegangen, ich kann Ihnen die Rose nicht schenken. Verzeihen Sie.«

Ich verneigte mich, sie wendete sich zu den andern. Sie hatte die Rose
fortgeworfen, das ist klar. Ich biß mich auf die Lippen, in mir stieg es
auf vor Weh und Gram. Ich sah ihr nach, wie sie mit Komteß Anna und
Charlotte das Zimmer verließ. Das schleppende Gewand sah ich und die
blassen, jugendlich schönen Schultern und die Haltung der Arme im
Kerzenlicht ... Aber diesmal dachte ich nicht ans Malen, ich war erfüllt
von Qual und Sehnsucht.

Der folgende Tag war entsetzlich. Es war mein letzter Tag auf Carnin, er
machte mich krank und matt. Leonore wich mir aus, sie vermied es, auch nur
einen Augenblick mit mir allein zu sein. Wir spielten Tennis, sie lachte
und schwang den Schläger mit Obacht und Grazie, sie plauderte harmlos mit
den andern, aber zu mir sprach sie niemals. Ich merkte: Es ist alles
hoffnungslos; du hast ihr Gefühl zu heftig mit Füßen getreten; hier ist
nichts mehr gutzumachen; es geschieht dir recht, Kunstmaler Tedrahn!

Wie warb ich um einen Blick, um ein freundliches Wort von ihr, wie habe
ich mich gedemütigt! Aber sie blieb hart und kalt, sie beachtete mich
nicht, sie war nicht zu erweichen, sie strafte mich mit Verachtung.

Ich litt, ich dachte: wenn doch dieser Tag erst zu Ende wäre, du erträgst
es ja nicht! Aber ich wußte auch, daß nach diesem Tage alles vorüber sein
würde, daß ich sie nicht wiedersehen würde, daß ich ruhelos sein würde und
voll Kasteiung gegen mich selbst, im Bewußtsein meines verrückten
Benehmens, das mir dieses Glück für immer verscherzt hatte.

Und der Tag ging hin, dieser qualvolle, zermürbende Tag. Abends saßen wir
das letztemal auf der Terrasse. Der Graf ließ Sekt reichen, als
Abschiedstrunk. Wir stießen an, mein Glas stieß klirrend an Leonores, sie
lachte Charlotte dabei an, mich sah sie nicht. Sie sah schön aus, sie
hatte ein blaues Tüchlein über dem schwarzen Haar. Ich hielt es nicht aus,
ich verabschiedete mich, da ich noch zu packen hätte. In aller Frühe des
folgenden Tages mußte ich fahren, ich sagte allen Lebewohl. Leonore gab
mir die Hand, sie war ruhig und kühl.

Dann schritt ich in meinem Zimmer auf und ab, wie ein gemartertes Tier im
Käfig, stundenlang. Ich hörte die Stimmen von der Terrasse her. Mitunter
hielt ich an und lauschte, -- wenn ich Leonores Stimme zu hören meinte.
Ich war voll wirrer, qualvoller Empfindungen, und ein Gefühl
unbeschreiblichen Ekels quoll in mir auf, wenn ich die Bilder sah, die
gegen die Wand lehnten. Einmal erhob ich den Fuß und rannte ihn blindlings
in eins der Bilder hinein, voll Wut auf diese verfluchte Kunst, die mich
um das schönste menschliche Erleben gebracht hatte. Mit diesem Fußtritt
des Hasses hatte ich mein bestes Bild zerstört, das Bild des abendlichen
Schlosses mit den Gestalten der Gräfin und der Komteß Anna auf der
Terrasse. Es war hinüber, ich stieß ein Gelächter aus.

Ich verbrachte die Nacht schlaflos. Ich packte, ich suchte zu lesen, ich
sah lange Zeit, Zigaretten rauchend, aus dem Fenster in die warme,
duftende Nachtluft, zum Schloß hinüber, wo ich das Fenster erkennen
konnte, hinter dem Leonore schlief. Dann wanderte ich wieder hin und her.
Ich begann einen Brief an Leonore zu schreiben und zerriß ihn wieder. Ich
legte mich aufs Bett, ohne mich auszukleiden, und erwartete den Morgen.

In aller Frühe klopfte der Diener und brachte Tee. Dann hörte ich den
Wagen auf dem Kies vorfahren, mein Gepäck wurde aufgeladen, ich warf den
Mantel um, ging hinunter, und die tauige Luft tat meinen erhitzten Wangen
wohl. Das Handpferd wieherte in die Frühe, voll Übermut. Ich blickte noch
einmal zu dem Fenster hinauf, hinter dem Leonore lag. Ich fühlte mich
elend, ausgestoßen und krank. Mich fröstelte, als hätte ich Fieber. Die
Schimmel zogen an, es ging die Lindenallee hinunter, dann durch die gelben
Rapsfelder, aus denen schwere Wolken von Duft aufstiegen.

Die Sonne lag golden über den Feldern, die Lerchen sangen. Mich marterten
die Lerchen und die Sonne. Ach, könnte ich doch schlafen, dachte ich.



Das Bildnis der Geliebten


Gregor, ein Student der Medizin, war ein hübscher Bursche. Er war schlank
gewachsen, hatte eine schöne Stirn, und seine Augen waren groß und klug.
Aber der Arme war brustkrank. Man sah es ihm zwar kaum an, nur wenn er
hüstelte und seine schlechten Tage hatte, merkte man es.

Seit kurzer Zeit hatte er eine Geliebte mit Namen Mimi, eine kleine
Verkäuferin in einem Weißwarengeschäft. Dort hatte er sie das erstemal
gesehen, als er sich einige Taschentücher gekauft hatte. Er hatte dabei,
während sie ihm die Tücher vorzeigte, besonders ihre Hände bewundert, die
schmal und rosig waren und deren Finger sich so auffallend vornehm und
ruhig bewegten. Dann hatte er, ganz erstaunt über die schwermütige
Schönheit der Hände, in das Gesicht des Mädchens hinaufgeblickt und hatte
ein Paar Augen darin gesehen, die noch viel schöner waren: silbergraue
Augen, mit einem zärtlichen Glanz und von langen, braunen Wimpern
eingefaßt. Gregor starrte so lange in diese Sterne hinein, bis das Mädchen
unwillig wurde. Sie fing an mit Nachdruck von den Taschentüchern zu
sprechen. Er entschloß sich für irgendwelche, ließ sie sich einpacken und
stolperte hinaus.

Er kam bald wieder, sah sich von neuem Taschentücher an und benahm sich
diesmal besonnener und gesitteter. Sie war freundlich zu ihm und dachte
bei sich: 'Ein hübscher Mensch; nur etwas kränklich sieht er aus; aber
eine so schöne Stirn habe ich selten gesehen.'

Er empfand es wohl, daß sie liebenswürdig war, und bemerkte mit innerem
Jubel die Gefälligkeit ihrer Hände. Er ging, nachdem er sich wieder von
den Tüchern hatte geben lassen, wie ein Trunkener heim, öffnete zu Haus
das Paketchen und befühlte lächelnd den weißen Stoff, den auch ihre Hände
berührt hatten.

Als er dann das drittemal kam, fand er schon den Mut zu einem scherzenden
Wort. Sie ging darauf ein und dachte wieder: 'Wie hübsch und schlank er
ist.' Zum Schluß reichte er ihr die Hand, und sie zögerte nicht, die
ihrige hineinzulegen. Dies war das letztemal, daß er Taschentücher bei ihr
gekauft hatte.

Am Abend des folgenden Tages nämlich, um die Stunde, da man die Läden
schließt, tat er so, als ginge er zufällig an ihrem Geschäft vorüber,
irgendeinem andern Ziele zu. Als sie den Laden verließ, stellte er sich,
als sei er ganz erstaunt, plötzlich ihr Gesicht auftauchen zu sehen,
grüßte, richtete ein paar Worte an sie, und auf einmal waren sie im
Gespräch. Sie gingen zusammen durch die Straßen, plauderten, und wenn ihre
Augen sich trafen, erkannte ein jeder von ihnen die sehnsüchtigen Gefühle
des andern. So schritten sie durch den sanften Herbstabend und kamen in
einen öffentlichen Garten, wo gerade das erste Laub von den Bäumen fiel.
Sie fanden eine stille Bank, legten die Arme umeinander und küßten sich.
Er griff glücklich in ihr braunes Haar und entzückte sich an der sanften
Linie ihrer Schultern.

So hatte der Student Gregor eine Geliebte bekommen, die Mimi hieß.

Sie waren viel zusammen. Er holte sie des Abends vom Geschäft ab, dann
gingen sie zu ihm und aßen etwas. Danach nahmen sie sich bei der Hand und
wanderten durch die Straßen oder in einen Park, bis sie müde wurden.

So lebten sie dahin, jung und glücklich. Nur die Stunden, in denen er sich
elend fühlte, warfen graue Schatten in ihr Dasein. Er suchte zwar diese
Zustände und Stimmungen zu verbergen, aber es gelang ihm nicht. Sie fühlte
wohl, wie es mit ihm stand.

       *       *       *       *       *

Eines Abends, als Gregor seine Geliebte nach Haus begleitete, klagte sie
über Schmerzen im Halse. Am nächsten Morgen hatte sich der Zustand so
verschlimmert, daß sie nicht fähig war, das Geschäft zu besuchen. Sie
fieberte und mußte das Bett hüten. Gregor ahnte etwas und ging schon im
Laufe des Vormittags zu ihr, um nachzusehen. Er fand Mimi blaß und müde in
den Kissen. Sie freute sich wie ein Kind, als sie ihn kommen sah, und
küßte lächelnd seine Hände. Gregor ließ sich an ihrem Lager nieder, fühlte
ihren Puls und sah in den Hals. Dann schrieb er ein Rezept und gab es der
Wirtin, die forteilte, um die Medizin zu besorgen. Gregor nahm Mimis Hand,
neigte sich auf ihr Bett und sprach freundliche Worte zu ihr nieder.

Allmählich schlossen sich ihre Augen, und ihre Brust begann ruhiger zu
gehen. Sie schlief ein. Gregor betrachtete die Ruhe ihres weißen
Gesichtchens und dachte: 'Nun ist sie auch krank.' Mit diesem Gefühl
mischte sich ein anderes, merkwürdiges. Es war beinahe wie ein Triumph.
Ihm war, als empfände er es als eine Befriedigung, daß er nun nicht mehr
allein von ihnen beiden der Bemitleidenswerte sei. Aber dieses Empfinden,
kaum entstanden, verdroß ihn aufs tiefste, und er schalt sich niedrig und
gemein. Er mußte husten. Er wußte ja, daß er unendlich kränker war als
sie. Sie war nur erkältet, das ging vorüber. Bei ihm saß es tiefer.

Es klopfte. Die Wirtin kam und brachte die Medizin. Er nahm sie ab,
entkorkte die kleine Flasche und stellte sie auf das Nachttischchen. Er
wollte Mimi nicht wecken, der Schlaf tat ihr besser als alle Medizin. Er
blieb an ihrem Bette sitzen, horchte auf ihren Atem, und tausend
Vorstellungen zogen durch sein Gehirn. Sein Auge wanderte in dem Zimmer
umher, das er noch nicht sehr oft betreten hatte. Es war ursprünglich ein
Mietszimmer nach der Schablone gewesen, aber jetzt konnte man überall die
Spuren sorgender Hände entdecken. So war das Zimmer wohnlich und
freundlich geworden, es hatte ein Gesicht bekommen, es war das Zimmer der
kleinen Mimi mit dem beweglichen Sinn für das Bunte und Heitere.

An der dem Bett gegenüber gelegenen Wand stand ein schmaler Schreibtisch,
der den Eindruck machte, als würde er selten oder nie benutzt. Allerhand
Sächelchen standen darauf herum, kleine Tiere aus Porzellan, chinesische
Figürchen und ein paar Flacons und bunte Kästen. In der Mitte von dem
allen prunkte eine flache silberne Schale, angefüllt mit Photographien.
Gregor ging auf leisen Füßen hinüber, holte sich die Schale an das Bett
und stöberte in den Bildern herum. Es waren Freundinnen und Verwandte
Mimis, die Kinder ihrer Wirtin und dergleichen mehr. Ganz zuunterst lag
ein kleines Bildnis, das den Studenten, sobald er es sah, auf das
sonderbarste berührte. Es stellte Mimi dar. Auf der Rückseite war
vermerkt: sechzehn Jahre alt.

Sie stand in einem weißen Kleidchen da, und die ganze Figur war zu sehen.
Ihre schönen Augen blickten geradeaus, die Hände hielt sie auf dem Rücken
verschränkt. Es war das Bildnis eines reinen, unberührten Kindes, das noch
von dem Brausen der Welt und von sich selbst nichts weiß. Wie eine weiße
Blüte im Frühling stand sie da.

Gregor staunte das Bild an wie ein enthülltes Geheimnis. Er vergaß darüber
ganz, daß die lebende Geliebte da neben ihm lag und atmete. Er empfand
nichts weiter als die Schönheit dieses lieblichen Bildes. Seine Augen
sogen sich förmlich fest daran.

Mimi bewegte sich und sprach einige zusammenhanglose Worte. Gregor steckte
die gefundene Photographie in die Brusttasche und trug die silberne Schale
auf den Schreibtisch zurück. Dann trat er wieder an das Bett, gerade als
Mimi erwachte. Sie sah ihn aus fieberigen Augen an. Er wagte kaum in diese
Augen hineinzusehen, wie in dem Bewußtsein einer Schuld. Er goß einige
Tropfen Medizin in einen Löffel und reichte sie ihr. Sie nahm den Trank
und ließ den matten Kopf schnell wieder zurück in die Kissen sinken.

Nachher, als sie wieder schlief, nahm er das Bild von neuem vor. Er
meinte, nie so glücklich gewesen zu sein wie jetzt, da er sich im Besitz
dieses Schatzes wußte. Er führte das Bild an die Lippen und küßte es mit
geschlossenen Augen. Es wollte ihm scheinen, daß er erst jetzt gefunden
habe, was er bisher noch immer unbewußt entbehrt hatte. Ja, ihm war, als
müßte die Zukunft nun hell und freundlich sein. Er drückte das Bild an die
Brust, voll leidenschaftlichen Fühlens, und sprach zu ihm in erregten
Gedanken. Aber wenn seine Augen dann neben sich auf die ahnungslos
Schlafende niederfielen, trübten sie sich und verloren den Ausdruck der
Freude.

       *       *       *       *       *

Nach einer Woche ungefähr war Mimi leidlich wiederhergestellt. Als er sie
das erstemal ausführte, lenkten sie ihre Schritte in jenen Park, in dem
sie sich das erstemal geküßt hatten. Sie fanden auch die Bank wieder, auf
der sie damals gesessen hatten, und da gerade ein schöner
sonnendurchwobener Tag war, ließen sie sich für ein Weilchen auf dem
vertrauten Sitze nieder. Mimi sah noch bleich aus, aber sie wurde von
einem unsagbar wohligen Gefühl durchströmt, wie es die Genesenden zu
empfinden pflegen. Er hatte seinen Arm in den ihrigen gelegt, und ihre
Hände ruhten vereint in Mimis Schoß. Das Mädchen sprach mit sanfter
Stimme:

»Jetzt sind die Bäume leer. Damals hing noch fast alles Laub zu unseren
Häupten. Weißt Du noch?«

»Ich weiß.«

»Damals küßtest Du mich in großer Liebe. Hast Du mich noch so lieb?«

»Ja, ja, ja, ich habe Dich noch so lieb. Immer.«

Er mußte, indem er es sagte, an das Bild denken, das auf seinem Herzen
lag. Daher kam die Innigkeit in seine Stimme. Aber er vergaß, Mimi zu
küssen.

»Warum küßt Du mich nicht?« fragte sie.

»Mimi, warst Du sehr schön, als Du sechzehn warst? Schön wie ein Engel
warst Du, glaube ich.«

»Ich verstehe Deine Worte nicht. Hast Du mich nicht mehr lieb?«

»Doch, doch. Aber ich gäbe meine Seligkeit hin, wenn ich Dich hätte sehen
können, als Du sechzehn warst.«

Dann legte er schnell sein Gesicht auf ihres und küßte ihre Augen, ihre
Stirn, ihre Wangen, ihren Mund, mit wilder Leidenschaft. Es war, weil
seine Gedanken meinten, ein süßes, vielgeliebtes Bild zu küssen.

       *       *       *       *       *

Mimi merkte, daß eine Veränderung in Gregor vorgegangen war. Er zeigte
sich über die Maßen zerstreut, hustete mehr als früher und wurde immer
spärlicher in den Äußerungen seiner Liebe. Das bekümmerte Mädchen dachte
nach, worin diese Veränderung ihren Grund haben könnte. Sie meinte zuerst,
daß sie eine Folge der offenbaren Verschlechterung seines körperlichen
Zustandes sei. Gregor war zweifellos sehr krank. Er sprach gar nicht mehr
über sein Leiden, desto schwerer mußte es ihn innerlich bedrücken. Aber
dann kamen auch gute Tage, an denen er sich leicht fühlte wie ein Vogel in
der Luft: sein Benehmen aber blieb das gleiche. Er griff ihr nicht mehr
mit der Hand übers Haar, und aus seinen Küssen schlug kein Feuer.

Mimi fühlte: seine Krankheit ist es nicht. Zumindest ist es seine
Krankheit nicht allein. Es ist ein anderes Mädchen, das seine Gedanken
beschäftigt und ihn zu mir so lau sein läßt. Er liebt eine andere und will
es nicht gestehen, mir nicht und vielleicht sich selber nicht. Aber er
soll es mir sagen, das ist er mir schuldig, denn ich kann diese grauen,
schleppenden Tage nicht länger ertragen.

Eines Abends, es war in seiner Wohnung, sprach sie dann ganz ruhig zu ihm,
-- freilich, es kostete sie große Mühe, daß sie diese Ruhe erzwang --:

»Gregor, Du liebst mich nicht mehr. Ich fühle es an allem, Du trägst das
Bild einer andern in Dir. Lüge nicht. Erlöse mich, gestehe es ein.«

Gregor sah bleich und mit verlorenen Augen an dem Mädchen vorüber, wie in
eine Ferne. Dann rang es sich tropfenweise von seinen Lippen:

»Das Bild einer andern? Das ist nicht wahr! Dein Bild und kein anderes
trage ich in mir, bei meiner Seele!«

Er senkte den Kopf zu Boden und starrte vor sich hin, dumpf und
schweigend. Mimi wagte nichts zu erwidern. Sie sah ihn an, verängstigt und
in großem Mitleid. Sie wußte nicht, was sie tun oder sagen sollte. Da
bemerkte sie, daß sich ein paar Tränen aus seinen Augen stahlen und zu
Boden stürzten. Ein unendlicher Jammer ergriff sie, daß sie selbst laut
hätte weinen mögen. Aber das tat sie nicht. Sie stand auf und setzte sich
neben ihn, ergriff sein Haupt, lehnte es an ihre Brust und sprach:

»Armer Gregor.«

Da schlang er seine Arme um ihren Leib, fest, als übermanne ihn die
Furcht, daß er die Geliebte verlieren könne. Er schluchzte zum
Herzzerbrechen, es war, als ob eine wilde innere Zerrüttung ihn wahnsinnig
machen wolle.

Aber als er sich beruhigt hatte und Mimi ihn mit Vorsicht zu fragen wagte,
was ihm sei? was ihn quäle? er solle sich doch durch eine Aussprache
erleichtern, schüttelte er abwehrend den Kopf und sagte nur:

»Es ist nichts. Du kannst mir nicht helfen. Es wird alles vorübergehen.«

Damit mußte sie sich begnügen. Es schmerzte sie freilich, daß er es
verschmähte, sich ihr anzuvertrauen. Früher hatte er ihr nie etwas
verschwiegen. Aber sie dachte bei sich: Ich werde es dennoch erfahren. Es
ist eine andere, ich weiß es gewiß. Es wird alles offenbar werden.

       *       *       *       *       *

Für einen Sonntagnachmittag hatte man sich derart verabredet, daß Mimi um
drei Uhr zu Gregor kommen sollte, um ihn abzuholen; bis dahin hatte er in
der Klinik zu tun. Mimi verfrühte sich und traf schon vor der
festgesetzten Stunde in Gregors Wohnung ein. Sie wartete, und als sie ihn
endlich die Treppe heraufkommen hörte, schlüpfte sie schnell in das
anstoßende Schlafzimmer, um sich zu verbergen und dem Geliebten eine
Überraschung zu bereiten. Gregor trat in sein Zimmer, legte Hut und Mantel
ab, hustete heftig und legte sich auf den Diwan. Mimi beobachtete ihn
durch die Portière, ohne daß er eine Ahnung von ihrer Anwesenheit hatte.
Er fühlte eine Weile seinen Puls und neigte bedenklich den Kopf hin und
her, als ob er einen fremden Patienten vor sich habe. Dann griff er in die
Brusttasche und holte eine Photographie hervor. Er sah sie lange an, mit
verzückten Augen. Darauf führte er sie an den Mund und küßte sie mit
Leidenschaft. Er drückte sie an sein Herz, an seine Stirn, auf seine Augen
und küßte sie wieder, unablässig, aufgeregt wie ein Wahnsinniger.

Mimi traute ihren Augen nicht. Es schwirrte ihr durch den Kopf wie ein
Schwarm nächtiger Vögel. Ein Gedanke jagte den andern. Dann stand es ihr
klar im Bewußtsein: das Bild da ist es, das Bild!

Sie wußte kaum, was sie tat. Sie stürzte aus ihrem Versteck zu Gregor
hinein, vor den Diwan. Gregor schrie laut auf, dann starrte er sie an, mit
verglasten Augen, unwissend was das zu bedeuten habe. Sie riß ihm mit
Windesschnelle das Bild aus den Händen. Es berührte sie fast lächerlich,
als sie dann sah, wen es darstellte. Sie zerriß das Bild, ehe er es
hindern konnte, in kleine Fetzen und warf sie verächtlich beiseite. Gregor
stand auf und reckte seine Arme hoch über den Kopf, mit einer
verzweifelten Gebärde. Dann brach er zusammen und fiel rücklings über den
Diwan. Ein kleiner Streifen hellroten Blutes war ihm auf die Lippen
getreten. Auch aus der Nase quollen einige rote Tropfen.

Als Mimi ihn so sah, rief sie um Hilfe. Sie warf sich über ihn und nannte
seinen Namen. Erst laut, als wollte sie ihn wecken, dann flüsternd und
schmeichelnd, wie ein Kind. Es war fruchtlos, Gregor rührte sich nicht.

Die Wirtin hatte die Schreie gehört und trat in das Zimmer. Sie erkannte,
was not tat, und lief zum Arzt. Als dieser kam und die bewußtlose Mimi mit
Mühe von dem Körper Gregors losgelöst hatte, sagte er:

»Ein Blutsturz. Er ist tot.«



Nebelnacht


Einmal brachte ich im Sommer einige Wochen in dem kleinen norddeutschen
Dorfe Silben zu. Es ist anmutig gelegen, in einer fruchtbaren, an Bäumen
reichen Gegend, durch die sich ein helles Flüßchen schlängelt. Dieses ist
auf beiden Ufern mit Weiden bestanden, die ihre trauernden Zweige in das
Wasser niederhängen lassen; und in größeren Abständen mit hochragenden
Silberpappeln, die wispernd auf ihre heroischen Spiegelbilder
niederschauen. Ich streifte damals viel im Freien herum und kam während
des Tages mit Menschen wenig in Berührung. Nur an einigen Abenden der
Woche ging ich ins Wirtshaus, um ein paar Stunden mit dem Arzt, dem
Förster, mitunter auch dem Pfarrer, zu verplaudern.

Es war ein besonders heißer Sommer. Wir hatten nichts als Tage voll Sonne.
Alle Menschen sahen kupfern aus, wie Zulus.

Am Abend stellten sich zuweilen unvermutet Nebel ein und verhüllten das
Land. Es waren gewöhnlich feine, weiße Strichnebel, die über die Felder
und Wiesen zogen, gleich durchsichtigen, seidenen Geweben oder wie
verfitztes Garn. Sie verschoben sich unablässig, zerstoben hier und
tauchten dort wieder auf, geisterhaft schön. Wenn dann über ihnen die
Sterne zu scheinen anfingen oder der Mond seine blassen Strahlen in sie
hineinwarf, daß sie funkelten gleich Silbersträhnen oder perlenbesetzten
Gewändern, so schien diese Landschaft ganz unwirklich, als ob sie einem
Traum entstiegen wäre.

Eines Tages kam ich bei anbrechender Dunkelheit und klarstem Wetter, von
allerlei Streifereien ermüdet, ins Dorf zurück, begab mich in meine
einfache Behausung, lieferte der Bauersfrau, deren Dach mich beherbergte,
einige Vögel aus, die ich geschossen hatte, und fiel über das ländliche
Abendessen her. Ich weiß noch, daß es rosenroten Schinken gab, kerniges
Schwarzbrot, Eier und Bier. Dann las ich bei der Lampe in einem Buch und
machte mich schließlich, als es draußen an der Kirchuhr zehn schlug, auf,
um in das Gasthaus zu gehen und dort den Rest des Abends mit den
Stammgästen zu verbringen. Als ich zur Haustür hinaustrat, lag das Dorf im
Nebel. Er stand dick, wie eine Mauer, nach allen Seiten hin und regte sich
nicht. Ich war überrascht. So massig und leblos hatte ich ihn noch nicht
gesehen. Aus den einzelnen Häusern in der Nähe schimmerten die abendlichen
Lichter, blutrot und trübe, von einem Dunstkreis umgeben. Ich tappte, halb
aufs Geratewohl, vorwärts und langte endlich bei dem Wirtshaus an. Als ich
aber die Tür öffnete und eintreten wollte, bemerkte ich, daß es das
Wirtshaus gar nicht war. Der Nebel hatte mir einen Streich gespielt, ich
war fehlgegangen. Und ich hätte doch, als ich das Haus so vor mir hatte
liegen sehen, wetten mögen, daß es der Gasthof gewesen sei. Ein Kind des
betreffenden Hauses brachte mich in die Wirtschaft hinüber, wo der Arzt
und der Förster schon auf mich warteten. Es war noch ein dritter Mensch
bei ihnen, ein Geschäftsreisender, der das Dorf gerade passierte. Die
Männer rauchten Zigarren, nur der Förster Tabak aus einer Handpfeife mit
grünem Porzellankopf, tranken Bier und spielten Skat. Als ich mich zu
ihnen setzte, ließen sie die Karten ruhen, begrüßten mich, man stellte
mich dem Geschäftsreisenden vor, und dann ließ ich mir einen Schnaps geben
und erzählte, was mir soeben in dem Nebel zugestoßen sei, d. h. daß ich
das Wirtshaus nicht habe finden können und in die Irre gegangen sei.

»Seien Sie froh, daß Ihnen nichts Schlimmeres zugestoßen ist«, sagte der
Arzt. »Wer diesen Nebel nicht kennt, soll sich vorsehen. Ich kann Ihnen
eine Geschichte erzählen.«

»Erzählen Sie doch«, sagte ich.

       *       *       *       *       *

Der Arzt erzählte:

Es ist schon eine Weile her. Ich wohnte erst ein halbes Jahr in diesem
Nest. Sie wissen, ich habe Pferd und Wagen, wegen der Patienten in den
umliegenden Dörfern. Eines Tages wurde mir der Gaul krank und durfte den
Stall nicht verlassen. In einer der folgenden Nächte kommt man und ruft
mich dringend zu einem Kranken nach Riebach, einem Ort etwa eine Meile
östlich. Ich fluche und wettere, und am Ende muß ich den Mann zu Fuß zu
seinem schwerkranken Vater nach Riebach begleiten. Es war eine helle,
sternklare Frühherbstnacht, weich und duftig, und eigentlich war es eine
Lust, so durch die mondbeschienenen Felder zu schreiten. Die unbequeme
Müdigkeit war mir bald aus den Gliedern gewichen, mit ihr die schlechte
Laune, und ich empfand eine wahre Freude an diesem nächtlichen
Spaziergang. Ich sah und hörte allerhand Heimliches, Ungewohntes, das mir
reizvoll war. So das Piepsen mancher Vögel im Traum, von denen man nicht
wußte, wo sie schliefen. Das merkwürdige Säuseln mancher Baumkronen, von
Luftzügen bewegt, die man sich in der stillen Nacht nicht zu erklären
wußte. Das unvermutete Rascheln und Rennen im Feld, das von
aufgescheuchten Tieren herkam.

Auf einer alten Steinbrücke hatten wir den Fluß zu überschreiten. Das
lautlose Wasser blitzte und strahlte in unzähligen feinen Silberstrichen,
durch die eine rastlose flimmernde Bewegung ging. Gleich jenseits der
Brücke duckte sich eine kleine Schenke an den Weg. Auf dem Dach lag der
Mond wie Schnee. Aus einem der niedrigen Fenster schien ein Licht in die
Nacht. Wir gingen daran vorüber und hörten von drinnen einige lachende
Stimmen. Mein Begleiter sagte mir, daß es italienische Arbeiter seien, die
eine Straße in der Nähe ausbesserten und in der Schenke wohnten. Bald war
wieder die große Stille um uns her.

Schließlich gelangten wir an unser Ziel, in das von ziemlich baumarmen
Feldern umgebene Dorf, dessen Turm wir schon vorher gegen den hellen
Himmel hatten aufragen sehen. Bei dem Kranken war nicht viel zu tun. Es
handelte sich um einen der Fälle, die man allein sich zu Ende kämpfen
lassen muß. Es war vorauszusehen, daß der Alte spätestens am Abend des
folgenden Tages sich für immer ausstrecken werde. Ich konnte mich nur
bemühen, ihm das Letzte möglichst leicht zu machen. Ich blieb etwa eine
halbe Stunde am Krankenbett und wandte mich dann zum Gehen. Da ich das
Wohnzimmer der Leute durchschritt, fragte mich der junge Bauer, ob ich
nicht, ehe ich wieder heimwandere, irgendeine Stärkung zu mir nehmen
wolle. Dieses Anerbieten kam mir sehr erwünscht, denn die nächtliche
Wanderung hatte mir Hunger verursacht. Ich setzte mich also und
befriedigte mit Genuß meinen gesunden Appetit, während sich einige
Schritte von mir entfernt ein Mensch unter gelinden Schmerzen langsam
auflöste. Endlich erhob ich mich, schärfte dem jungen Bauer noch einmal
die Verhaltungsmaßregeln ein und ging davon. Als ich ins Freie trat, sah
ich, daß sich vielfache silberne Nebelstriche über die Felder gelagert
hatten. Sie schweiften und wehten leise hin und her. Der Himmel war noch
klar und voller Sterne, und der Weg war gut zu erkennen. Ich schritt zu
und merkte nun auch, daß es kühler geworden war. Mitunter, wenn die Nebel
an mir vorbeistrichen, wehte mich ein eiskalter Hauch an. Nach und nach
bezog sich das Firmament, die Gestirne erloschen, und die Nebel wurden
dichter und zahlreicher. Weiß der Himmel, woher sie kamen, sie schienen
aus der Erde zu wachsen, sie türmten sich wie Wolken übereinander, sie
schoben und drängten sich, bis sie schließlich feststanden und sich nicht
mehr rührten. Ich kam wieder an der Wegschenke vorbei, die jetzt ohne
Licht, schlafend und lautlos, an dem Flußufer hockte. Sie hob sich im
Nebel wie eine dunkle, klobige Masse ab, wie etwas unheimlich Lebloses, in
dem aber das Leben doch wohnte und nur darauf lauerte, daß man es weckte.
Dann passierte ich die Brücke. Ich schritt an dem linken Geländer entlang
und konnte das rechte nur noch wie einen Schatten wahrnehmen. Jenseits des
Flusses wurde es noch schlimmer. Es kam mir vor, daß kleine Wirbel von
Nebeln um mich her tanzten, zuweilen eröffnete sich einmal ein Ausblick,
einige Bäume, ein Stück Feld oder Gebüsch wurden sichtbar, dann schnürte
sich wieder alles zu, es wehte trügerisch durcheinander, jetzt schob sich
von da, jetzt von dort eine Nebelwand gegen mich vor, und ich bereute es
durchaus, diesen nichtswürdigen Weg unternommen zu haben. Angst überfiel
mich. Zur Umkehr war es zu spät. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich
befand, ob ich überhaupt auf dem richtigen Wege war und in welcher
Richtung unser Dorf lag. Ich hatte gar keine Anhaltspunkte mehr und
tastete einfach auf gut Glück in die Finsternis hinein. Dabei traten
allerhand scheußliche Vorstellungen vor mich hin. So: wenn jetzt einige
von den italienischen Arbeitern betrunken irgendwoher auf mich zuwankten
und mich niederschlügen. Oder: wenn ich jetzt mit dem Kopf gegen den Stamm
eines Baumes stieße und besinnungslos hinstürzte. Oder: wenn ich jetzt an
den Fluß käme und sähe ihn nicht.

Zuweilen machte ich kopfschüttelnd halt. Ich sagte mir, daß eigentlich
jeder Schritt, den ich tat, eine Torheit sei. Vielleicht ging ich in einer
Richtung, die mich von Silben immer mehr entfernte. Vielleicht war ich
auch schon längst an dem Dorf vorbeigegangen, denn der Zeit nach hätte ich
wohl schon zu Haus sein müssen. Es war eine Lage zum Verzweifeln, und ich
machte mich auf das Schlimmste gefaßt. Dabei merkte ich zum Überfluß, daß
ich von dem Fußweg abgekommen war und mich auf einem Stoppelfeld befand.
Es war, um die Fassung zu verlieren. Ich schimpfte wütend vor mich hin,
aber das war zu nichts nütze. Ich tastete weiter, wie ein Blinder, den
sein Führer im Stich gelassen hat. Plötzlich mußte ich denken: wenn ich
jetzt stürzte, in eine Sandgrube oder irgendwohin, und müßte da die Nacht
durch liegen bleiben und vielleicht auch noch den kommenden Tag und immer
so fort, -- es war ein abscheulicher Gedanke. Während ich ihm noch
nachhing, merkte ich, daß ich den Boden unter den Füßen verlor, ich fiel,
schlug mit den Armen in die Luft, fühlte ein Krachen im Kopf, ein
Schwindel folgte, und dann war alles still.

Als ich zur Erkenntnis der Dinge kam, spürte ich ein dumpfes Gefühl im
Kopf und einen feinen Schmerz im Knöchel des linken Fußes. Ich betastete
mich vorsichtig, fühlte nasse Erde an den Kleidern, und als ich mich
rühren wollte, tat der Fuß heftiger weh. Ich riß die Augen auf. Es war
stockdunkel und nicht die Hand vor dem Gesicht zu erkennen. Ich versuchte
mich zu erheben, aber der Fuß ließ es nicht zu. Sobald ich ihn bewegte,
hatte ich einen Schmerz, als ob mir einer mit einem stumpfen Messer die
Sehne durchschneide. Ich wußte, daß das zum mindesten eine heftige
Verstauchung, vermutlich aber ein Knochenbruch war.

Da lag ich nun, krank, hilflos in einer schauerlichen Nacht. Ich
überlegte, was ich tun könnte, aber ich kam auf nichts. Ich fühlte mit den
Händen nach allen Seiten und stieß überall auf Erde. Es war allem Anschein
nach eine leere Kalkgrube, in die ich gefallen war. Ich befand mich also
sicher in der Nähe des Dorfes. Ich dachte daran, daß man mich vielleicht
hören würde, wenn ich tüchtig schrie. Und nun schrie ich, laut und lauter,
immer von neuem, in immer anderen Tönen, und dann brüllte ich wie ein
Tier. Meine eigene Stimme begann mir unheimlich zu werden. Ich hörte auf.
Es war ja doch alles vergebens. Eine Antwort erfolgte nicht. Überhaupt war
ringsum nicht der leiseste Laut zu vernehmen.

Nun kam mir in den Sinn, was wohl aus mir geworden wäre, wenn die Grube
schon mit dem gelöschten weißen Kalk angefüllt gewesen wäre. Ich sah mich
in Gedanken hineinsinken, langsam, ohne daß ich die Glieder regen konnte,
und dann kam mir der schwammige Brei an die Kehle, ich schrie noch einmal,
der Schrei erstickte im Kalk, und dieser drang mir ätzend in Mund und
Nase. Die Sinne vergingen mir.

Meine Lage war gewiß nicht beneidenswert; aber wenn ich an den Kalk
dachte, -- das war noch teuflischer.

Andere Bilder traten vor mich hin. Wenn sich jetzt zum Beispiel -- so
dachte ich -- die Erde oben durch irgendeinen Zufall lockern würde, und
die Grube bräche in sich zusammen und verschüttete mich. Ich würde es mir
ruhig gefallen lassen müssen, denn ich konnte mich ja kaum bewegen, viel
weniger mich erheben. Ich würde eben einfach nach einigen Minuten in der
Finsternis ersticken. Unwillkürlich richtete ich das Auge nach oben, an
die Ränder der Grube. Sie hoben sich kaum gegen das graue Einerlei des
Nebels ab, der über ihnen hinzog. Ich sah noch eine ganze Weile nach oben,
voll Furcht. Mein Herz schlug, daß ich es hörte. Es stand mir ganz außer
Zweifel, daß die Grube einfallen _müßte_, ich wollte nur den Augenblick
abwarten und dann die Augen schließen ...

Der Augenblick kam nicht, und ich wurde wieder ruhiger. Ich begann zu
frieren. Es schien mir, als stelle sich Fieber ein. Ich hüllte mich, so
fest es ging, in meine Kleider und zog den Hut über die Ohren. So lag ich,
dösend, mit durcheinanderschwirrenden Gedanken, und jede Minute wurde mir
zur Ewigkeit. Was sollte aus mir werden?!

Ich brüllte noch einmal, mit Aufbietung aller Kräfte, wild, wahnsinnig. Es
verhallte ungehört. Alles blieb still. Nun gab ich es endgültig auf.

Einmal war mir, als ob ein Knistern über mir am Rande der Grube hinhusche.
Zuerst wagte ich nicht aufzuschauen. Die Angst packte mich schon wieder,
dann schielte ich doch hinauf, und nun schien mir, daß dort oben in dem
ziehenden Nebel sich eine Gestalt über den Rand der Grube zu mir
niederneige, eine vage, zerfließende, schweigende Gestalt, nur wie ein
Schatten. Ich strengte meine Augen an und verhielt mich still. Als ich
ganz fest hinschaute, sah ich schließlich gar nichts mehr, und nun hätte
ich über meine dummen Einbildungen beinahe gelacht. Es war nichts als ein
Nebelstreifen gewesen, natürlich, was sollte es denn sonst gewesen sein?
Ja, und was war mir Narren denn überhaupt Schlimmes geschehen? War nicht
diese ganze Angst verrückt und meine Lage im Grunde recht harmlos? Ich lag
da in einer Kalkgrube, mit verletztem Fuß und übrigens vollem Magen, fror
etwas und hatte einfach dem Morgen entgegenzusehen, wo die Arbeiter kommen
und mich finden würden. Man würde mich hinaufholen, auf einen Wagen
bringen und nach Hause fahren. Da, das war das ganze. War das nun so etwas
Gräßliches, wovor man ein Grauen haben konnte? Ich war doch recht
kindisch.

Ich fing an, ganz ruhig und geduldig zu werden und fügte mich in meine
Lage mit Gleichmut. Bald spürte ich, daß ich müde wurde. Ich lehnte den
Kopf an die Wand der Grube und schloß die Augen. Es war mir alles
gleichgültig, ich wußte nur, daß ich sehr müde war und schlafen mußte. Ab
und zu fühlte ich noch kalte Schauer mich überfallen. Zuweilen war mir
auch, als ob mein Herz stillstände. Dann trat mir endlich nichts mehr in
das Bewußtsein, und ich begann hinüberzudämmern.

Als ich erwachte und die Augen aufschlug, war es heller Tag. Ich hustete,
fror und fühlte mich schlecht. Mein Fuß brannte wie Feuer. Ich sah ein, es
war höchste Zeit, daß etwas mit mir geschah, es konnte sonst leicht zu
spät werden. Der Nebel war völlig verschwunden, ein hellblauer,
strahlender Himmel leuchtete durch die viereckige Grube zu mir herab.
Plötzlich hörte ich ganz in der Nähe Stimmen. Hallo! Ich rief, rief. Dann
lauschte ich. Die Stimmen brachen ab; mir schien, sie flüsterten. Einige
Augenblicke später neigte sich der Körper eines Menschen über die Grube.
Es war unser Pfarrer im Amtsornat. Ich sehe noch seine großen,
verwunderten Augen und das mächtige Sammetbarett auf dem blonden Kopf.
Dann drängten sich andere Köpfe vor, alle erschreckt und erstaunt. Man
holte schnell eine Leiter und schob sie zu mir hinunter. Es kam jemand
herabgeklettert und half mir behutsam an der Leiter auf. Nun sah ich, daß
ich mich auf dem neuangelegten Teil des Kirchhofs befand. Ich hatte die
Nacht in einem frisch geschaufelten Grab gelegen. Man trug mich vorsichtig
in das Leichenhäuschen hinüber, damit ich dort warte, bis ein Wagen käme.
Während des Wartens sah ich durch die Fenster des Häuschens, wie man einen
Sarg vom Leichenwagen lud und auf jene Stelle hinabließ, wo ich die
vergangene Nacht zugebracht hatte.



Ebeth


An einem Herbsttag, als die Ahornblätter in der Sonne wie Kupfer waren,
sah ich Ebeth das erstemal. Es war in einem Vergnügungsgarten vor den
Toren der Stadt. Sie fuhr mit einer Freundin auf einem von Glasbehängen
überglitzerten Karussell, zu dem eine Drehorgel spielte, in den Akkorden
der Melancholie. Die Mädchen aßen Schokolade, sie saßen lachend quer über
glotzäugigen Holzpferden da, und an Ebeth floß ein weißes, welliges Kleid
herunter. Sie wiegte sich sacht in den Hüften, zur Melodie des klagenden
Walzers. Wie hell und lustig war ihr Lachen, wie weich war dieses Wiegen
der Hüften, wie wallte das Kleid an ihren schlanken Gliedern hin! Nachher
tanzten wir. Ich fühlte sie kaum beim Tanz, sie tanzte nicht hüpfend,
sondern schwebend, und man hatte das Empfinden, daß sie einem zwischen den
Armen zerrinnen könne wie ein Gebilde aus Nebel.

Als Ebeth das erstemal zu mir kam, hatte sie weiße Schuhe an den Füßen,
und unter dem Kinn trug sie eine blaue Schleife aus Seide, -- aber das
Blau ihrer Augen war seidiger, zarter und schimmernder. Wie sie die Arme
um mich warf! Mir war, ich sollte in einer Wolke duftender Rosen
untergehen. Wie sie dann sprach, gleich einem zwitschernden Vogel, der
Lieder singt, von denen er nichts weiß. Ihre Lippen waren rot wie
Blutstropfen und hatten einen sanften rhythmischen Schwung. Sie waren es
besonders, die dem Gesicht jenen schwer zu beschreibenden Reiz verliehen,
dem man nicht widerstehen konnte.

Ebeth! Wenn ich an das Jahr zurückdenke, das wir zusammen durchlebten, so
ist mir, ich sähe in einen Sommergarten mit unzähligen Blüten und Düften
und mit Sonne, in der die Flügel schillernder Schmetterlinge gaukeln. Wenn
ich an Dich denke, so ist mir, als höre ich den warmen Sommerwind leise
wehend über die Felder treiben, die rot sind von wucherndem Mohn, und ich
vernehme das geheimnisvolle Schlürfen kleiner, lange vergangener Schritte.

Wenn Ebeth kam, war Jugend, Glück und Licht in meinem Zimmer. Bis in die
Stunden des Nachmittags arbeitete sie in einem Bureau. Dann kam sie. Meist
brachte sie Blumen mit, zumal gelbe Rosen, die sie abgöttisch liebte. In
gewissen übermütigen Launen war sie fähig, ihr ganzes Vermögen für diese
Blüten hinzugeben. Sie hatte gar keinen Begriff von der Bedeutung des
Geldes. Was sie hatte, gab sie ohne Bedenken aus, auch für Fremde und
selbst auf die Gefahr hin, daß sie selber dadurch in Verlegenheit kam. Zu
Hause hatte sie Berge von Schokolade liegen, die sie an Kinder zu
verteilen pflegte. Ihr Herz litt es nicht, daß ein armer Blinder oder
Lahmer an ihr vorüberging, ohne daß sie ihm eine Gabe zusteckte.

Geradezu eine Leidenschaft aber waren die Käufe in den Blumenläden. Sie
war unverbesserlich darin, und alles Ermahnen blieb fruchtlos. Wenn ich
ihr Vorstellungen über ihren Leichtsinn machte, stand sie mit ihrem
Kindergesicht da, sah mich schweigend an, und wenn ich geendet hatte,
wußte ich, daß alles an ihr vorübergerauscht war wie an einer Wand.
Einmal, es war im Februar, schleppte sie ein Rosenbukett von der Größe
eines Wagenrades ins Haus. Sie sei so glücklich, sagte sie, sie möchte am
liebsten allen Menschen etwas Freundliches sagen, denn die Sonne sei so
goldig um alles draußen, und man merke deutlich, daß der Frühling in Kürze
kommen müsse. Da habe sie sich nicht bezwingen können, sie habe den
wundervollen Strauß, der ihr aus dem Schaufenster so verlockend
entgegengelacht habe, ohne Besinnen gekauft. Sie rankte sich an mir auf
wie eine Rebe und wühlte in meinem Haar. Als sie sich beruhigt hatte,
sagte ich ihr wieder, wie lieb, aber wie unvernünftig sie sei. Meine Rede
wurde sehr inständig, und als ich am Schlusse sicher glaubte, diesmal
Eindruck auf sie gemacht zu haben, sprach sie kein Wort, sondern nahm nur
meinen Kopf in beide Hände und lachte.

So war Ebeth.

Ganz aus dem Häuschen geriet sie, wenn sie schöne Kinder zu Gesicht bekam.
Hier fand ihre Zärtlichkeit keine Grenzen, und nicht selten machte sie auf
der Straße halt, um sich in den reizendsten Liebkosungen zu ergehen, wenn
sie einem solchen anmutigen Wesen begegnete. Sie verstand es, so vertraut
mit Kindern zu verkehren, als hätte sie nie in ihrem Leben etwas anderes
getan. Sie hat mir auch oft gestanden, daß es ihr sehnlichstes Wünschen
sei, solch ein Geschöpfchen ihr eigen zu nennen, und ich weiß, daß ihr
nicht selten vor stillem Neid die Tränen nahe waren, wenn sie eine junge
Mutter mit ihrem Kinde an sich vorübergehen sah.

Für gewöhnlich freilich erinnerte sie nicht an eine Mutter. Sie war
vielmehr wie ein Kind: unbedacht in allem, was sie tat, immer nur dem
Andrang des Gefühls nachgebend und unfähig, über den Tag hinaus zu denken,
an dem sie lebte. Sie war von einer Offenherzigkeit, die erstaunlich war;
von einer Ehrlichkeit im Gebrauch der Worte, die ich bewunderte. Nie hat
sie mich belogen, nie ein Gefühl geheuchelt, das sie nicht hatte, nie hat
sie mir etwas verborgen, was in ihr vorging. Wenn wir zusammen durch die
Stadt gingen und einem Manne begegneten, dessen Gesicht ihr gefiel, sagte
sie einfach, wenn er vorüber war: »Der war schön, findest Du nicht?« Sie
sagte es in einer Weise, daß es mich nicht verletzen konnte. Freilich, ich
war immer erstaunt, so oft sie es sagte. Ich verstand ihren Geschmack
nicht. Die Gesichter, die ihr gefielen, auch die weiblichen, hatten immer
etwas Stumpfes, Geistloses, und zuweilen fand ich sie von einer
bedenklichen sinnlichen Roheit, so daß ich mich nicht enthalten konnte,
Ebeth gelegentlich zu fragen: »Sehe ich denn auch so aus?« »Nein«, sagte
sie und schmiegte sich an mich, »das ist ja gerade das Gute, daß Du nicht
so aussiehst.«

Sie kleidete sich immer nett, sauber und geschmackvoll, meist in heiteren
Farben. Sie bevorzugte weiß und blau. Einmal, im Frühling, hatte sie sich
einen kostbaren großkrempigen Hut in diesen Farben hergestellt, der lange
mein Entzücken war. Unter diesem Hute sah sie aus, als wäre sie ein
verirrtes Prinzeßchen aus dem Märchenland. Ich fühlte, daß die Leute auf
der Straße still standen und ihr nachsahen, wenn sie plaudernd an meinem
Arme hing.

Ihr Körper war so geschmeidig und wohlgeformt, daß die Kleider immer als
etwas Herabrieselndes bei ihr erschienen. Als bade sie sich in den dünnen,
gleitenden Wellen dieser Stoffe, welche die schwebende Leichtigkeit ihres
Ganges und den Liebreiz ihrer Bewegungen nur wenig behinderten.

Wenn wir ausgingen, gab es etwas, was wir aufs peinlichste vermeiden
mußten: nämlich einem Fuhrwerk zu begegnen, dessen Kutscher auf die Pferde
einhieb. Wenn Ebeth sah, daß man ein Tier quälte, geriet sie in eine
heftige nervöse Aufregung, daß sie kaum mehr zu besänftigen war. Ich habe
eine ganze Reihe von Szenen mit ihr durchgemacht, wo sie Fuhrleute
zitternd mit den liebevollsten Worten zu bewegen suchte, von dem
Auspeitschen auf die Pferde abzulassen, und sie konnte so rührend bitten,
daß ihr Bemühen zuweilen von Erfolg gekrönt war. Brutalere Burschen suchte
sie durch Geld zu bestechen, und wenn alles nichts fruchten wollte, die
rohen Gemüter zu erweichen, so hatte sie in der schmerzlichen, zuweilen
wahnsinnig gesteigerten Erregung, in der sie nichts mehr von sich selber
wußte, Worte der Beleidigung für jene Gesellen bereit, die, wenn sie ihr
gerichtlich zur Last gelegt worden wären, was natürlich nie geschah, ihr
obendrein noch ärgerliche Strafen zugezogen hätten.

Das Ende solcher Szenen war immer, daß Ebeth körperlich auf das
Jammervollste ermattet war, quälende Atemnot bekam und mitunter noch
stundenlang nachher von Schüttelfrösten heimgesucht wurde. Sie sah dann
bleich aus wie eine Wand, und ich ängstigte mich um sie, denn ich wußte,
daß ihre Gesundheit nur zart und besonders das Herz nicht in Ordnung war.
Darum gab ich mir alle Mühe, sie vor jenen Erregungen zu bewahren. Ich lag
auf der Straße eigentlich immer auf der Lauer. Sobald ich bemerkte, daß
man irgendwo in der Ferne auf ein Pferd einschlug, machte ich unter
irgendeinem Vorwand kehrt oder bog mit ihr in die nächste Seitenstraße
ein. In den meisten Fällen freilich hatte sie die Quälerei schon eher als
ich bemerkt, denn ihr Instinkt war nach dieser Richtung erstaunlich
entwickelt.

Ebeths Kränklichkeiten machten mir Sorge. Ich wußte, sie tanzte zuviel.
Aber sie tanzte so leidenschaftlich gern, daß es unmöglich war, es ihr
ganz zu verbieten. Es war ihr fast notwendig wie Brot und Atmen. Ich
wehrte so viel es ging. Nicht selten hörte sie auch auf mich. Einmal aber
übernahm sie sich so, daß sie gezwungen wurde, das geliebte Vergnügen auf
lange hinaus ganz zu meiden.

Es war ein Frühlingsabend, lau, müde machend und verworrene Wünsche
bringend, die man nicht zu nennen weiß. Wir saßen, es war ein Sonntag, mit
einer kleinen Gesellschaft Bekannter im Tanzsaal eines Vergnügungsgartens,
nachdem wir nachmittags in den Wäldern gewesen waren. Ebeth sprudelte über
von Laune und Lustigkeit. Aber sie sah blasser aus als sonst. Unter ihren
viel zu glänzenden Augen lagen dunkle Schatten. Sie hatte ein paar gelbe
Rosen auf der Brust, zu denen sie sich öfter niederneigte, um den Duft
einzusaugen. Sie tanzte unbändig und trällerte obendrein die Melodien mit.
Ich bat sie, sich mehr zu schonen, aber sie lachte nur. Ich sah sie
hinschweben durch die Reihen der Tanzenden, verlor mich in die heitere
Grazie ihrer Bewegungen und dachte: Kind. Da sah ich, wie sie erschlaffte,
taumelte und umfiel. Ich sprang auf, eilte hinüber, nahm sie auf den Arm
und trug sie in ein Nebenzimmer. Sie war bewußtlos und bleich wie der Tod.
Ihr Atem röchelte. Ich knöpfte ihr die Brust auf und besprengte sie mit
kaltem Wasser. Allmählich kam sie wieder zu sich. Als sie die Augen
aufschlug, sah sie mich groß an und erkannte mich.

»... zuviel getanzt ...«, murmelte sie und schloß die Augen wieder.

»Ja«, sagte ich.

»... nicht böse sein ...«, flüsterte sie, lächelte und griff nach meiner
Hand.

Wie hätte man ihr böse sein können? --

Zuweilen gingen wir ins Theater. Auch Konzerte besuchten wir, und hier
bewies sie ein auffallend feines Verständnis. Die Musik wirkte am
nachdrücklichsten auf sie. Es konnte geschehen, daß sie nach einem
Konzert, von dem sie besonders heftig bewegt worden war, noch im Traum die
Melodien zu singen versuchte, die sie am Abend gehört hatte. Wir sangen
auch allerlei Lieder in den Wäldern. Denn wir gingen viel in die dunkeln,
leise rauschenden Kiefern, die sich um die Stadt hinziehen. Wir ließen uns
auf dem hohen Ufer des Flusses nieder, wo die wilden Enten fliegen, sahen
über den Fluß in die Ebene, ließen unsere Augen den großen Kähnen folgen,
die langsam stromabwärts trieben, und Ebeths Hand ruhte auf meiner
Schulter. Traumhafte Stunden des Sonnenunterganges, wo seid ihr?

Es war an einem Regentage im Herbst. Wir waren in meinem Zimmer, Ebeth lag
müde und blaß auf dem Diwan, und der Regen sickerte sanft an das Fenster,
in eintöniger Melodie. Ich saß neben ihr, wir schwiegen beide. Plötzlich
schlang sie die Arme um mich, zog mich an sich und drückte meinen Kopf
unsinnig heftig an die Brust. Ich sagte nichts. Allmählich wurde sie
ruhiger. Dann nahm sie auf einmal meine Hand, biß mit aller Kraft hinein,
daß das Blut kam, und wollte sich totlachen. Die Narbe dieser Wunde ist
eine der wenigen Erinnerungen an Ebeth, die ich habe.

Einige Tage später war ein Sonnentag; dennoch sieht dieser Tag grau aus in
meiner Erinnerung.

Sie kam des Nachmittags, Blumen in der Hand, und war wie immer. Nur etwas
hutsamer schien sie und ein klein wenig ernster als sonst. Wir tranken
Kaffee, plauderten, und Ebeth nähte etwas. Als dann das rötliche Licht der
Abendsonne in den Gardinen hing, setzten wir uns ans Fenster und sahen den
feinen, schnell dunkelnden Wolken über den Dächern zu. Ebeths Augen
blickten schimmernd in die Ferne. Als ich genau in sie hineinsah, fand
ich, daß etwas darin war, was ich noch nicht kannte. Wir schwiegen. Ein
paarmal war mir, als wolle sie etwas sagen. Endlich sprach sie, ohne mich
anzusehen, während sie ein Haar von mir zwischen die Zähne nahm:

»Weißt Du, daß wir uns trennen werden?«

Ich fühlte einen Stich in der Brust, bezwang mich jedoch und fragte:

»Wie meinst Du das?«

»Frage nicht«, sagte sie, »bist Du mir böse?«

»Nein«, sagte ich, »Du darfst doch tun, was Du willst.«

Wir waren wieder still. Die Zeit rann, als habe sie bleierne Gewichte an
den Füßen. Endlich sagte Ebeth:

»Ich werde Dir öfter schreiben, -- darf ich?«

»Gewiß«, sagte ich und lächelte, »ich werde es immer gern sehen.«

»Du bist gut«, sagte sie. Und dann:

»Komm, wir wollen in den Stadtpark gehen. Die Abendstunde ist so schön
unter den Bäumen.«

Ich nickte. Sie stand auf. Ich half ihr in das Jackett. Sie setzte den Hut
auf, ich band ihr den Schleier fest.

Dann gingen wir in den Park, und sie hing an meinem Arme wie sonst. Sie
plauderte vom Meer, wo ich im Sommer einige Tage mit ihr gewesen war, und
ich merkte, wie sie sich Mühe gab, ungezwungen und heiter zu sein. Die
gleiche Mühe gab auch ich mir. So unterhielten wir uns recht gut, lachten
sogar, und die Leute, die uns sahen, mußten meinen, daß wir ein
jungverliebtes Pärchen seien.

Wir traten in ein Kaffeehaus und tranken etwas. Mitunter mußte ich Ebeth
ansehen, verwirrt, staunend und gewillt, mir jeden Zug ihres Wesens
deutlich einzuprägen. Als wir das Kaffee verließen, brannten draußen die
Laternen schon.

»Jetzt gehe ich«, sagte sie, sah an mir vorüber und reichte mir die Hand.

»Leb wohl, Ebeth«, sagte ich.

Sie wollte noch irgend etwas sprechen, aber ich wandte mich und ging.

Der Lärm der Menschen quoll um mich her. Der Himmel war ganz dunkel
geworden. Ich schlenderte langsam durch die Straßen, dösig und beklommen.
Als ich nachher in mein Zimmer trat, setzte ich mich einsam in die
Dunkelheit, in der noch der feine Duft ihrer Kleider war.

Hin und wieder kamen Kartengrüße. Grüße in der feinen, langgezogenen
Kinderhandschrift mit den kapriziösen Schnörkeln. Dann blieben auch die
aus, und ich hörte nichts mehr von ihr. Mein Leben lief weiter, auch ohne
sie, aber ich gedachte ihrer oft, ihrer schwebenden Füße, ihres
Leichtsinns, ihres Lachens. An einem Wintertag, um Weihnachten, als weiße
Flocken vom Himmel trieben, sah ich sie unvermutet wieder. Sie sah
schlecht aus, sehr blaß, müde und ein wenig verwahrlost, was mich am
meisten wunder nahm. Als ich den Burschen sah, an dessen Arm sie hing,
erschrak ich. Es war, wie ich befürchtet hatte, eins jener stumpfen, dabei
stark sinnlichen und rohen Gesichter, an denen sie zu meinem Unwillen
schon früher Geschmack gefunden hatte. Diesen Menschen also liebte sie?

Wieder sah ich sie lange nicht. Mir war immer, als ob sie mir eines Tages
schreiben müßte, einen armen, elenden Brief, und es gab Stunden, in denen
ich darauf geschworen hätte, daß sie mir einen Brief von Ebeth bringen
müßten, -- aber ich irrte mich.

Dann freilich kam dennoch ein Brief. Nicht von ihr zwar, sondern von ihrer
Vermieterin, aus einem der ärmlichsten Teile der Stadt. Die Person schrieb
in kaum zu entziffernden Buchstaben, daß das Fräulein schwer krank liege
und öfter von mir spreche. Das Fräulein würde sich gewiß sehr freuen, wenn
ich sie einmal besuchen würde. Sie sei sehr hinfällig.

Ich ging hin. Es war eine armselige Kammer, in die ich geführt wurde. Dort
lag Ebeth in einer Ecke auf schmutzigem Bett, abgemagert, mit müde
flackernden Augen, ein Bild des Jammers. Als sie mich kommen sah, zog ein
Schimmer der Freude über ihr Gesicht. Sie streckte mir die Hand entgegen
und lächelte, indem sie meinen Namen nannte.

Dann erzählte sie. Der andere hatte sie verlassen, gerade zu der Zeit, als
sie sich Mutter werden fühlte, was sie sich immer so innig gewünscht
hatte. Gleichzeitig habe sich ihr Herzleiden verschlimmert, wozu wohl
besonders die vielen erregten Szenen mit jenem Manne beigetragen hätten,
den sie so liebe. Denn sie liebe ihn noch immer unbeschreiblich und werde
niemals von dieser Liebe lassen, da er ihr das Teuerste auf der Erde sei.
Sie habe ihre Arbeit aufgeben müssen und liege nun hier bei einer
herzlosen Frau, die ewig mißgelaunt sei, ihr schlechtes Essen gebe und nur
darauf ausgehe, sich an ihr zu bereichern. Jetzt sei sie so weit, daß sie
nichts mehr bezahlen könne, und um das kommende Kindchen, daß doch nur
neue Kosten verursachen werde, trage sie die größte Sorge. Sie sei von
allen verlassen, fühle sich krank wie nie und glaube, daß sie sterben
müsse.

Sie weinte.

Ich gab mir Mühe, ihren Mut wieder aufzurichten, machte ihr Vorwürfe, daß
sie sich nicht längst an mich gewendet habe und versprach ihr, daß sie aus
diesen Verhältnissen herausgenommen und vor allem der sorgfältigen
Behandlung eines Arztes unterstellt werden solle. Dann werde alles wieder
gut werden.

Ihre Dankbarkeit war rührend. Sie suchte meine Hände zu küssen, was ich
verhinderte. Ja, sagte sie, nun hoffe sie auch noch einmal, sie werde
bestimmt wieder gesund werden, sie wolle sich dazu zwingen mit allen
Kräften, die ihr noch zu Gebote ständen, und wenn es erst erreicht sei,
werde sie auch den Andern wiedersehen, und wenn sie wieder hübsch wäre,
werde er sie auch wieder lieben. Dieser Gedanke schien der Gipfel aller
ihrer Hoffnungen zu sein.

»Kannst Du ihn nicht vergessen?« fragte ich.

»Nein«, erwiderte sie, mit einem seligen Glanz im Auge, »ich weiß zwar,
daß er schlechter ist als irgendeiner und tausendmal schlechter als Du, --
aber für mich ist er das Liebste und Schönste in der Welt.«

Ich ließ sie in eine saubere Wohnung schaffen, sie erhielt eine
Diakonissin zur Pflege, der Arzt ging täglich zu ihr. Gleich nach seinem
ersten Besuch hatte ich eine Unterredung mit ihm, in der er mir mitteilte,
daß sie sterben müsse, da das Leiden schon zu weit vorgerückt sei.

Es wurde auch nicht wieder besser mit ihr. Sie wurde zwar zufrieden und in
gewisser Hinsicht glücklich, aus Freude an der Reinlichkeit um sich her,
an der liebreichen Pflege und meinen täglichen Besuchen. Aber das Bett hat
sie nicht mehr verlassen. Sie glaubte selbst noch an Genesung. Doch war
von Tag zu Tag zu beobachten, wie ihre Kräfte verfielen.

Eines Tages, als sie sehr verzagt war, eröffnete sie mir mit leise
flehender Stimme einen Wunsch, den zu erfüllen mir nicht leicht wurde. Sie
bat mich nämlich, zu dem Manne zu gehen, den sie liebte, und ihn zu
bitten, daß er noch einmal zu ihr kommen möge, sie könne es vor Sehnsucht
nach ihm nicht ertragen. Sie habe auch das untrügliche Gefühl, daß, wenn
sie ihn wiedergesehen habe, sie schneller genesen werde.

Ich ging zu ihm. Von seinem Benehmen zu mir, den Gebärden, die er hatte,
den Worten, die er in den Mund nahm, erzähle ich nichts. Nachdem ich alle
Mühen aufgeboten hatte, versprach der Mann, daß er am nächsten Tage zu
einer festgesetzten Stunde zu Ebeth kommen werde.

Ich war zu der betreffenden Zeit bei ihr. Sie ordnete sich mit zitternden
Händen das Haar, glühte vor Erwartung und sah ihm entgegen wie eine Braut
dem Bräutigam. Als es klingelte, öffnete ich und ließ ihn in Ebeths
Zimmer. Ich blieb draußen im Korridor. Ich hörte einen kleinen,
erleichterten Aufschrei, als er eintrat. Nach fünf Minuten ungefähr kam er
wieder heraus, schritt stumpf an mir vorüber und verließ die Wohnung. Ich
ging zu Ebeth hinein. Sie lag mit dem Kopf nach der Wand zu, wie eine
Tote. Nie ist mir ein Mensch bejammernswerter erschienen als sie in diesem
Augenblick. Ich trat an das Fenster und sah in den Frühsommertag, durch
den das freudlose Treiben der Großstadt flutete. Dann hörte ich, wie Ebeth
sich bewegte. Ich trat zu ihr, setzte mich neben sie und ergriff ihre
Hand. Schüttelfröste wallten über sie hin, während sie das Gesicht in den
Kissen verbarg. Als sie ruhiger wurde, merkte ich, wie der Schlaf kam, sie
zu umfangen. Ich blieb bei ihr, ihre magere Hand in meiner, bis sie
erwachte, als es dunkel war.

Drei Tage später, am Vormittag, wurde ihr Zustand so schlimm, daß man mich
holen ließ. Der Arzt war schon da. Er gab mir ein Zeichen, daß es zu Ende
gehe. Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante, sah in ihre großen,
brennenden Augen, küßte noch einmal die Stirn der Lebenden und ihre Hand.
Sie war auffallend unruhig, in einer dunklen Vorahnung des Kommenden. Aus
ihren armen hastigen Bewegungen waren tausend letzte Wünsche zu erkennen.
Ich fragte, ob ich ihr irgend etwas zuliebe tun könne. Sie schüttelte den
Kopf. Ob sie noch irgendeinen Menschen zu sehen wünsche, den sie gern
habe, eine Freundin oder einen Freund.

»Nein«, flüsterte sie.

Dann hauchte sie nur noch ein einziges Wort, das ich nicht verstand,
während ihre Augen schon geschlossen waren. Zwei Stunden später starb sie
in meinen Armen, bewußtlos, das Kind unter dem Herzen.

Zweimal im Jahre besuche ich ihr Grab, im Mai und im Herbst. Im Mai höre
ich dort die Nachtigall schlagen, im Herbst sehe ich die Blätter von den
Linden treiben, sehe die letzte gelbe Rose über Ebeth welken und denke an
den fernen Oktobertag, da ich sie zum ersten Male sah, lachend, in weißem
Kleid.

Auf ihrem Grabstein steht nur »Ebeth«, mit großen Buchstaben in Gold.



Die Hochzeit des Freundes


Fridolin war jung, lang und hellblond. Etwas Ruhiges war in seinem Wesen.
Er war zu besonnen, um sich von einer Leidenschaft knechten zu lassen, und
zu leichten Sinnes, um sich über eine Torheit zu erregen, die er begangen
hatte.

Auf das engste vertraut fühlte er sich mit der Schönheit des Meeres. Er
meinte, daß es nichts Größeres, Rätselvolleres und doch dem Fühlen des
Menschen Vertrauteres gäbe als diese in ewigem Wechsel sich erneuende
Bewegung, und daß es nichts gäbe, was einen tieferen Frieden und zugleich
eine so herrliche Lust an der Fülle des Daseins verliehe. Am Meere trieb
er sich oft herum. Hier schien ihm alles verklärt von einem
unbeschreiblichen Glanz: der spritzende Gischt wie das wehende Dünengras
und die unheimlichen Vögel, die den Strand bevölkern; der scharfe Geruch
von Salz und trocknenden Fischen, der Strandhafer und die Disteln, mit
denen der Westwind spielt; das Mondlicht, das über das dunkle Wasser
hinschillert, mit unzähligen blitzenden Klecksen; und jene göttlich faulen
Stunden, da man, die brennende Pfeife im Munde, in einsamen Booten liegt,
ziellos dahintreibt und mit wunschlosen Augen in den Himmel schaut.

Was die Liebe anlangt, so ist zu sagen, daß ihn am ehesten jene Mädchen
entzündeten, aus deren gerade erwachenden Augen das blaue
Frühlingsleuchten strahlt, das von den Blüten des Sommers noch nichts
weiß; jene, deren zaghaft gegebene Hand ein reicheres Geschenk bedeutet
als das Glühen der Wissenden, und die, wenn sie tanzen, wie junge, im Wind
bewegte Zweige sind. Das Ende seiner Neigungen freilich war immer bitter,
denn es war die Entsagung. Er hatte noch keinen Sinn dafür, daß es hold
sei, das eigene Leben mit einem andern dauernd zu verketten. Er war zu
sehr in seine Jugend verstrickt, und sein Freiheitsgefühl war viel zu
groß, als daß er sich schon hätte entschließen können, einen mit Obacht
vorgeschriebenen Weg zu gehen.

       *       *       *       *       *

Er hatte einen Jugendfreund mit Namen Wilibald. Dieser war jetzt Leutnant
in einem pommerschen Infanterieregiment und hatte sich mit der Tochter
eines hinterpommerschen Gutsbesitzers verlobt. Die Hochzeit stand nahe
bevor. Fridolin erinnerte sich einer hübschen Szene aus der Kindheit, wo
er mit dem Freunde in einem blühenden Holunderbusch gesessen hatte, in
dem sie, mit ernster Miene Zigaretten aus Kartoffelkraut rauchend und
unendlich wichtige Gespräche über die Zukunft führend, sich das Wort
gegeben hatten, daß einst der eine auf der Hochzeit des andern zugegen
sein werde. Nun machte sich Fridolin auf, um an der Hochzeitsfeier seines
Freundes teilzunehmen.

Er reiste mit einem andern Jugendgenossen, Paul, der auch geladen war. Es
war im März, und nach langen Regentagen waltete der Vorfrühling in seiner
ganzen Schönheit. Die Luft war erfüllt von Sonne und tausend seltsamen
süßen Ahnungen. Die werdende Natur schien mit Schleiern von Gold behangen
zu sein, nachdem das Auge sie wochenlang nur in Grau gesehen hatte. Paul
und Fridolin saßen plaudernd im Zuge, der sie nach Norden trug. Sie
ergingen sich in bunten Erinnerungen, und die Tage ihrer Kindheit standen
so klar vor ihnen auf, als hätten sie sie gestern erst preisgegeben.

Fridolin blickte durch das geöffnete Fenster des Zuges, durch das die
Sonne hereinkam, in die vorüberfliegende Landschaft. Er war überrascht von
dem, was er sah. Er hatte gemeint, auf dieser Reise in die ödesten Bezirke
zu geraten, und nun sah er sich unvermutet von einer Natur umgeben, die
mit seinem landschaftlichen Fühlen im schönsten Einklang stand. Ein
wundervoll blauer Himmel lag über der Erde, und die Strahlen der lange
entbehrten Sonne umwoben jedes Ding mit einem goldhaltigen Schimmer.
Braune Heideflächen, aus denen einzelne Birken, von dem ersten Glanz des
kommenden Laubes verklärt, hervorragten, wechselten mit kleinen
Nadelwäldern, Ackerstreifen und fetten Wiesen ab. Dann flog der Zug an
Mooren vorbei, in deren schwarzen Lachen die Sonne wie bleiches Silber
lag. Aufgeschichtete Torfhaufen sah man, und die vereinzelten Bäume, die
sich aus dem Moor aufreckten, waren verkrüppelte Wesen von spukhafter
Form, die, so dachte Fridolin, wenn man sie im Mondlicht sähe, etwas
Furchterregendes haben müßten. Hier und da stand ein bemooster, grünlich
schimmernder Windbock und ließ seine Flügel treiben. Über die Wiesen
schritt der Storch. Einzelne Gehöfte, von Linden oder Eschen umgeben, die
sie gegen die Winde schützten, lagen malerisch durch das Land verstreut.
Verblüffend waren die kleinen Seen, die zuweilen auftauchten. Ihr Wasser
war so märchenhaft blau, daß es schien, ein Stück des Himmels sei in sie
hineingefallen.

Blau und Gold waren die herrschenden Farben in der Landschaft. Die Höhen,
die in der Ferne auftauchten, waren ultramarin. Fridolin war es, er schaue
in eine Wunderwelt.

Am späten Nachmittag, als die Farben matter wurden und sich ein feines,
langsam zunehmendes Grau überall einzumischen begann, kam die kleine
Station, auf der man aussteigen mußte. Fridolin lehnte, als der Zug
einlief, aus dem Fenster, um Auslug zu halten. Der Bräutigam, in Uniform
mit Pelzkragen, stand auf dem Bahnsteig und winkte. Die beiden Freunde
waren nicht die einzigen, die den Zug verließen. Noch etwa fünf, sechs
andre Wagentüren öffneten sich, und Herren mit Hut- und Helmschachteln,
auch mehrere Damen stiegen aus. Wilibald begrüßte die einzelnen, stellte
vor und überwies das Gepäck an die Diener. Dann ordnete sich die kleine,
bunt zusammengewürfelte Kolonne in einer Reihe draußen wartender Landauer,
die sie dem ungefähr eine Stunde entfernt liegenden Gutshof zuführen
sollte.

Die Führung übernahm eine Jagdkalesche. Ein Paar schwarzbrauner Traber zog
sie. Wilibald saß auf dem Bock und hatte die Zügel in Händen. Neben ihm
saß Fridolin. Hinter ihnen ein Bruder der Braut, Paul und eine Reihe
Leutnants.

Erst kam eine Pappelchaussee. Rechts und links, auf hügeligem Gelände,
dehnte sich Feld und Heide. Ein kräftiger Wind strich von den Feldern her.
Wilibalds Augen glänzten. Er knallte die Peitsche über die Gäule hin, sah
zwischen den nickenden Köpfen durch und schien an etwas Fernes zu denken.
Plötzlich kehrte er das Gesicht zu dem neben ihm sitzenden Freunde und
blitzte ihn mit goldenen Augen an.

Da sprach Fridolin:

»Sie hat blaue Augen, und in ihrem Haar ist ein Ton wie Bernstein. Habe
ich recht?«

Wilibald nickte.

»Das Schönste ist ihr Lachen«, erwiderte er, »Es ist wie ein Quell unter
Blumen. In einer halben Stunde sind wir bei ihr.«

Der Wagen bog in einen sandigen Feldweg ein, um einen Hügel herum, und nun
fuhr man auf einmal mitten in die untergehende Sonne hinein. Sie ging ganz
ohne Strahlen hinüber, gleich einem riesigen Blutstropfen, der in einer
bläulich dunstigen Atmosphäre hing. Auf einer Höhe rechts von dem roten
Gestirn türmte sich ein armseliges Dorf empor, in wilden Linien. Weiße
Häuser und hochragende Dächer aus Stroh. Eine alte, dickköpfige Kirche
krönte das Ganze.

»Das ist Garzigar«, erklärte Wilibald, indem er mit der Peitsche
hinüberwies. »In der Kirche findet morgen die Trauung statt. Heute machen
wir noch einen Bogen darum.«

Fridolin war entzückt von diesem alten, hochgebauten Nest, das, die
mächtige Sonne zur Linken, wie eine trotzige Faust aus der Einsamkeit der
Heide ragte.

»Ich bin starr«, sagte er, »Ihr habt Punkte in diesem Lande, die
unbeschreiblich sind. Wenn ich Maler wäre, hier ließe ich mich nieder.«

Wilibald nickte. »Das Land ist schöner als man ahnt. Sind Dir die blauen
Töne der Ferne aufgefallen? Sie verschwinden fast nie.«

»Wie Ultramarin«, sagte Fridolin.

»Die Farbe kommt von der Feuchtigkeit der Moore und von der Nähe des
Meeres. 'Das blaue Ländchen' heißt die Gegend im Munde der Leute. An
manchen Tagen ist das Blau so fabelhaft, daß man mit dem Finger
hineintauchen möchte, in der Meinung, daß es abfärben müßte.«

»Sieh jetzt die Sonne hinter den Birken. Wundervoll.«

»Gleich ist sie hinüber. Jetzt taucht auch Obliwitz auf, unser einsamer
Gutshof. Dort neben dem Wäldchen die weißlichen Häuser. Auf dem höchsten
weht eine Fahne.«

Ein Hohlweg kam. Hinter ihm tat sich ein Moor auf, mit verkrüppelten
Kiefernbeständen und halb verfallenen Hütten. In den schwarzen Pfützen
blänkerte die Abendröte.

Ein Volk Avosetten fuhr auf und stürmte über das Moor in die Dämmerung.
Ein Hund schlug an und hörte nicht mehr auf mit Belfern. Man fuhr an
kleinen, strohgedeckten Arbeiterhäusern vorüber, die etwas abseits von dem
Gutshof lagen. Die feiernden Leute standen vor den Türen und zogen die
Mützen. Eine mit Tannengrün und Feldblumen umwundene Ehrenpforte wölbte
sich über den Weg. In großen bunten Lettern trug sie die Inschrift:
»Willkommen«. Mit Hurrarufen fuhr man darunter hinweg. Wenige Minuten
später bog man rasselnd in den weitläufigen Gutshof ein.

Im Herrenhause brannten schon die Lichter. Der Vater der Braut stand vor
der Tür und begrüßte die Ankommenden. Sein Verwalter, ein junger, blonder
Mensch, stand neben ihm. Im Hause wimmelte es schon von Gästen. Während
Paul und Fridolin den Korridor des Seitenflügels passierten, rauschte eine
Wolke junger Mädchen in hellen Kleidern an ihnen vorüber. Die Freunde
nahmen ein gemeinsames Zimmer in Beschlag, säuberten sich und zogen sich
um.

Während Paul sich rasierte, klopfte es.

Fridolin öffnete, der Bräutigam trat herein, im Überrock.

»Ihr müßt so fürlieb nehmen«, sagte er, »Es sind der Gäste zuviel. Wenn
Ihr Wünsche habt, wendet Euch an meinen Burschen. Morgen spielt Ihr
Brautführer. Paul ist für diesen Zweck ein Fräulein Gleiß zugefallen,
braunhaarig und lustig, mit hübschen Augen. Du, Fridolin, führst eine
große, blonde. Heute erkennst Du sie an einem blauen Kleid. Asta von
Sebnitz heißt sie.«

»Oho!« machte Fridolin, »das klingt ja ganz feudal.«

»Ist es auch«, entgegnete Wilibald. »Ostpreußischer Adel, kühl und
hochmütig. Du wirst ja sehen. Jetzt muß ich weiter. Macht schnell und
erscheint bald. Adio!«

Er stieß ein übermütiges Gejubel aus und verschwand.

Bald darauf begaben sich Paul und Fridolin in die Gesellschaftsräume.
Wilibald führte sie erst zu seiner Braut hinüber, die ein taubengraues,
mit rosa Seide durchsetztes Kleid angelegt hatte und, indem sie sich
sicher, aber durchaus mädchenhaft bewegte, ungemein reizend aussah.

Dann wurde weiter vorgestellt. Den Verwandten, den älteren Herrschaften,
den jungen Mädchen. Als alles vorüber war, zog sich Fridolin in eine
Fensternische zurück. Er sah durch die unverhüllten Scheiben auf den
dunkelnden Hof, wo ein Knecht ein paar Pferde in den Stall führte und zwei
Frauen blanke Eimer mit Milch trugen. Dann hielt er im Zimmer Umschau. Von
den Namen hatte er so viel wie nichts verstanden. Gern hätte er gewußt, wo
die Dame sei, die er morgen zu Tisch führen sollte. Ein blaues Kleid
sollte sie tragen. Er sah keins.

Paul trat zu ihm, nahm seinen Arm, und sie gingen ins Nebenzimmer. Hier
schien der Tummelplatz der Jugend zu sein. Man lachte, plauderte, und
kleine Gläser mit Sherry wurden herumgereicht. Die Freunde nahmen an dem
Tischchen Platz, an dem die Braut und der Bräutigam saßen. Ein Diener bot
Zigaretten an. Fridolin nahm eine zwischen die Lippen, beugte sich zu
Wilibald hinüber und fragte:

»Du, wo ist eigentlich dies Fräulein Asta?«

Wilibald sah sich um, dann sagte er:

»Dort drüben. Die Schlanke in Blau.«

Fridolin sah hinüber. In demselben Augenblick berührten sich Astas Augen
mit den seinigen. Aber nur flüchtig und offenbar zufällig. Sie blieb dabei
im Gespräch mit den andern.

Sie saß auf einem niedrigen englischen Lehnstuhl, in etwas lässiger
Haltung. Ihr Haar, von einem eigentümlich silberigen Aschblond, hing ihr,
zu einem dicken Knoten geordnet, im Nacken. Sie trug ein einfaches blaues
Kleid, ohne Schmuck. Die Bewegungen ihrer Glieder zeigten eine vornehme
Ruhe, und um den feinen Mund, dem man es ansah, daß er viel und gern zu
schweigen pflegte, lag ein stiller Ausdruck des Stolzes und eine süße,
seltsame Herbheit.

Fridolin sah sie im Profil, und zwar fast die ganze Gestalt. Sie schien
schlank zu sein wie eine Gerte und zerbrechlich wie Glas. In der einen
Hand, die schmal und matt über die Lehne des Stuhles hing, hielt sie eine
Rose von dunkler Glut. Sie paßte nicht zu ihr. Fridolin hatte das Gefühl,
als hätte diese Blüte von dem zartesten Gelb sein müssen.

Er folgte jeder Linie ihres Körpers mit Obacht und bemühte sich, jede
Einzelheit ihres äußeren Wesens in den Schatz seiner Erinnerung
aufzunehmen. Plötzlich wurde er verwirrt. Es war ihm auf einmal ganz
deutlich, als schöbe sich etwas in die Luft, das seine Fäden zwischen ihm
und jenem Mädchen zu spinnen begann. Er machte eine kleine, verlegene
Bewegung, errötete ein wenig, sah schnell fort und wandte sich plaudernd
an den Bräutigam. Dann mußte er doch wieder hinüberblicken. Sie hörte mit
Lächeln einem älteren Herrn zu und roch zuweilen vergnüglich an der Rose.
Fridolin wollte durchaus, daß sie ihn ansah. Sie tat ihm den Willen nicht.
Er versuchte es mit aller Gewalt durch die Energie seines Blickes zu
erzwingen. Sie dachte gar nicht daran, zu ihm hinüberzusehen.

Ein Diener meldete, daß serviert sei. Alles erhob sich. Zwei große, mit
Blumen überschüttete Tafeln waren gedeckt, eine für die Jugend, eine für
das Alter. Man setzte sich. Fridolin kam an die Seite eines älteren
Mädchens. Er suchte nach Asta und fand sie am andern Ende des Tisches. Sie
streifte ihn während der Dauer des Mahles mit keinem Blick. Er hatte das
Gefühl, daß es Absicht sei. Sie hatte hin und wieder ein reizendes Lächeln
über die Dinge des Gesprächs, wobei der eigentümlich herbe Zug um ihre
Lippen nicht verschwand. Sonst war ihr Wesen Ruhe und Gelassenheit. »Du
sollst mich noch ansehen«, dachte Fridolin voll Trotz, »Du sollst es noch
spüren, wie der Stolz und die Ruhe in Deiner Brust zerbrechen gleich einem
Gebäude aus Glas.«

Nach Tisch verteilte man sich wieder in den verschiedenen Zimmern. Als
Kaffee herumgereicht wurde, trat Fridolin kurz entschlossen auf Asta zu
und sprach:

»Ich werde das Vergnügen haben, Sie morgen zu Tisch zu führen.«

Sie maß ihn etwas verwundert mit den Augen.

»Ah --« machte sie, ohne daß sie Lust zu haben schien, sich in eine
Unterhaltung mit ihm einzulassen. Sie roch an der Rose in ihrer Hand,
blickte an ihm vorüber und nickte dem Bräutchen zu, das drüben in einem
Ring junger Mädchen saß.

Fridolin schwieg absichtlich. Da sah sie ihn wieder mit ihren ruhigen
Augen an, und in diesem Blick lag die Frage: Weißt Du sonst nichts zu
sagen?

Fridolin dachte: Das ist doch stark. Dann fing er mit Absicht vom Wetter
zu sprechen an, was sie mit Gleichgültigkeit über sich ergehen ließ.

Während der kleinen szenischen Aufführungen, wie sie an Polterabenden
üblich sind, stand er im Hintergrund, kaute nervös an seinem Schnurrbart
und hatte ungleich mehr auf die Schönheit eines blassen Profiles acht als
auf die dargestellten Dinge, welche die andern belachten. Astas fein
geäderte Schläfen fielen ihm auf. Es war ihm ein wohliges Gefühl, zu
verfolgen, wie sich ihr matter Glanz langsam in das üppige Haar verlor.

Nachher kam er noch einmal in ihre Nähe. Ein kleiner Kreis hatte sich auf
niedrigen Polsterstühlen zusammen getan, und einige Mädchen pafften
Zigaretten in die Luft. Die Braut hatte einen braunen Jagdhund
hereingelassen, ihren Liebling, den jeder zu verhätscheln bestrebt war. Am
meisten schien er sich zu Asta hingezogen zu fühlen, die auch am besten
mit ihm umzugehen wußte. Während sie ihm freundlich über Kopf und Rücken
fuhr, griff auch Fridolin nach ihm. Er tat es zu lebhaft, und das Tier
stieß einen Kleffer aus. Asta sah den Ungeschickten strafend an, stieß
seine Hand fort und sagte barsch:

»Lassen Sie den Hund.«

Fridolin richtete sich auf und maß sie mit kühlem Auge. Er fühlte sich
nicht veranlaßt, irgend etwas zu entgegnen. Es reizte ihn und wurde ihm
bald eine heimliche Freude, sie ebenso rauh und abweisend zu behandeln,
wie sie ihn.

Die Damen zogen sich zur Ruhe zurück. Die Herren gruppierten sich noch um
eine gemeinsame Tafel, rauchten und tranken Bier, russischen Kümmel und
Danziger Goldwasser. Als es eins schlug, gingen auch sie auseinander, um
sich für den folgenden Tag ihre Frische zu bewahren.

Fridolin wurde, während er zu Bett lag, das Gefühl von Astas heftig
stoßender Hand nicht los. Es war klar, sie hatte es mit Absicht vermieden,
freundlich zu ihm zu sein. Er sah nachdenklich einem viereckigen silbernen
Flecken zu, der langsam über die Tapete wanderte, ein Stück von dem
Mondlicht, das durch die unverhangenen Scheiben fiel. Dann lächelte er,
schloß die Augen und schlief langsam ein.

Nicht weit von ihm war das Zimmer, in dem Asta schlief. Sie war voll
Unruhe, wachte mehrmals auf, sah immer dieselbe lange, biegsame Gestalt
mit den ruhigen Augen, wollte sie nicht sehen, biß sich die Lippen wund
und lauschte auf den Frühjahrswind, der draußen in kurzen Stößen durch den
Garten fuhr.

       *       *       *       *       *

Für den Mittag des nächsten Tages war die Trauung angesagt. Asta erschien
in rosa Seide. Sie sah blasser aus als gestern. Um den Ausschnitt der
Brust zog sich ein feiner Gazeschleier, und ein Hals kam zum Vorschein,
schlank und zart wie der Stengel einer Blüte. Fridolin trat zu ihr und
reichte ihr einen Strauß aus weißen Rosen. Sie drückte ihn wohlig an ihr
Gesicht und warf Fridolin einen Blick entgegen, über den er erschrak. So
hatte sie ihn noch nicht angesehen.

»Welch schöne Blumen«, sagte sie. Sie vergrub sich ganz hinein und sog den
Duft auf.

Fridolin schwieg. Sie warf einen Pelz über, und er half ihr in einen der
Landauer, die zur Kirche fuhren. Noch ein andres Paar saß mit in dem
Wagen. Sie waren ziemlich die letzten, die in der kleinen Kirche
anlangten. Bald kam das Brautpaar, man ordnete sich, und während die Orgel
einsetzte und die Kinder auf dem Chore sangen, schritt man langsam nach
vorn an den Altar. Asta hing am Arme Fridolins. Er fühlte sie kaum. Sie
ging gerade aufgerichtet, sehr stolz und sehr ruhig. Er sah mit flüchtigem
Blick ihr Profil, das feine Kinn, die süßen Schläfen, den Hals. Da
erlaubte er sich, ihren Arm ein wenig fester an sich zu drücken. Sofort
fühlte er, daß der Zug um ihre Lippen noch herber wurde.

Dann standen sie am Altar nebeneinander. Das Gefühl, sie so dicht an
seiner Seite zu haben, beglückte ihn. Nach einer Weile flüsterte sie:
»Mich friert.« Fridolin sah sich um, bemerkte einen Offiziersmantel über
einem Stuhl, nahm ihn und legte ihn um Astas Schultern. Nun war es reizend
zu sehen, wie sie in diesem Mantel, der sie so gut kleidete, dastand,
gerade und schlank, blauen Auges, jung, schön, einer spröden Knospe
vergleichbar.

»Schöner als jetzt«, sagte Fridolin leise, »können Sie niemals sein.«

Sie tat, als höre sie ihn nicht. Doch rieselte etwas durch sie hin, lau
und wohlig, und sie fühlte, es drohte etwas umzukippen in ihr. Für einen
Augenblick freilich nur.

Der Prediger sprach und die Orgel klang, und die Kinder sangen mit hellen
Stimmen, und die goldne Sonne fiel durch die bunten Scheiben auf die
Fliesen um den Altar her, und dann fuhr man lachend, von jagenden Pferden
gezogen, nach Hause zurück, und durch dies alles hindurch brauste es in
Fridolin: Asta, Asta, Asta!

In ihr war alles wieder aufgerichtet, stolz und still.

       *       *       *       *       *

Als sie nachher bei Tisch nebeneinander saßen, quälten sie sich mit Worten
ab, von denen sie beide fühlten, daß sie klanglos, leer und nur gesprochen
waren, um ein gänzliches Schweigen zu verhindern. Er beobachtete ihre
feinen, zerbrechlichen Handgelenke und dachte dabei an Porzellan. Auch an
den Vorfrühling mußte er denken, der draußen sein Wesen trieb. Dann nahm
er sein Glas und hob es ihr entgegen.

»Auf unsere Jugend!« sagte er.

»Ja, Jugend«, erwiderte Asta, »es klingt wie Reichtum und Sehnsucht. Heut
sind wir traurig und voll unklarer Wünsche, und morgen möchten wir mit den
Lerchen in den Himmel steigen, möchten umarmen und zerdrücken, was um uns
ist, -- und unser Übermut ist grenzenlos.«

»Ich kenne diese Stimmung«, sprach Fridolin, »wenn ich sie habe, laufe ich
zu meinem Freund, rüttle ihn und brülle ihn an, daß er meint, ich sei
irrsinnig. Es ist wie eine Befreiung.«

»Und dann die Stunden des Hochmuts ...«

»So waren Sie gestern abend.«

»Das ist nicht wahr«, sagte sie ernst. Dann, nach einer Pause: »Ich wollte
Ihnen nur die Richtung geben, wie Sie sich zu mir verhalten sollten.«

»Sie waren schrecklich. Habe ich das verdient?«

»Ja. Vielleicht sollte ich auch jetzt nicht anders zu Ihnen sein.«

»Warum?«

»Weil ich zu wissen glaube, wer Sie sind. Ich glaube, es sind Mauern, die
sich zwischen meinem und Ihrem Gefühl erheben. Sie verstehen die Mädchen
vielleicht zu lieben, -- ihre Liebe zu achten verstehen Sie nicht.«

Fridolin war erstaunt. So offen hatte man noch nicht zu ihm gesprochen.
Eine Pause trat in der Unterhaltung ein. Sie sah ihn an und mußte lächeln.

Der Jagdhund war wieder im Zimmer, strich zu Asta hin und schmiegte sich
an ihre Füße. Sie neigte sich und fuhr mit der Hand liebkosend über sein
Fell. Auch Fridolin tat, als streichle er das Tier. In Wirklichkeit aber
griff er nach Astas Hand, löste sie energisch von dem Fell des Tieres los
und hielt sie fest. Sie ließ es geschehen, ihr war, als müßte sie ihm
wehren, aber ein schlaffes, willenloses Gefühl beherrschte sie. So saßen
sie eine Weile, schweigend, Hand in Hand, während die andern meinten, daß
sie mit dem Hunde beschäftigt seien. Fridolin sprach leise durch die Zähne
hin: »Asta«. Da war es, als besänne sie sich wieder; als bäume sich etwas
in ihr auf. »Lassen Sie mich los!« flüsterte sie energisch, indem sie sich
aufreckte. Und als Fridolin sich nicht bequemte, ihrem Verlangen
nachzukommen, noch einmal und heftiger: »Lassen Sie mich los!«

Fridolin gab die Hand frei. Sie sahen sich nicht an, und eine Weile
sprachen sie nichts. Dann kamen wieder die gleichgültigen Worte. Hinter
diesen aber brannte es rot in Fridolin: Ich liebe Dich! -- und sein Gefühl
war wirr und dunkel. Er wußte, hier war etwas seltsam Hohes und Keusches,
etwas, von dem er fühlte, daß man es lieben könnte sein Leben lang; dann
aber sah er blitzschnell Fesseln und enge Wege vor sich, und »Freiheit!
Freiheit!« sang sein Herz. Und auch in Asta sah es wirr aus. Wie ein Bach
im Frühling rauschte es in ihr; aber machtvoll trotzte sie dagegen auf:
»Ich will nicht!«

Den Kaffee nahm man im Gartenzimmer, jetzt einer Art Wintergarten, in dem
Palmen und Oleanderbäume standen. Es war fast dunkel geworden. Für eine
Weile öffnete man die Glasflügeltür, und nun konnte man über dem Garten
das Licht der ersten Sterne funkeln sehen. Der kühle Geruch taugenäßter
Wiesen drang herein. Eine Wiesenschnarre lärmte in der Ferne, in harten,
unmelodischen Lauten. Dann lauschte man einem Schwarm unsichtbarer,
schnellfliegender Kraniche, die aus der dunkeln Luft herunterschrien.

»Welch schöner Abend«, sagte Asta, »später werden wir Mondschein haben.«

Fridolin saß neben ihr, an einem Tischchen, hielt eine Tasse Kaffee in der
Hand und sah hinaus.

»Ja«, sagte er, scheinbar abwesend.

Dann, als man in der Nähe lauter wurde und lachte, neigte er sich
plötzlich zu dem Mädchen und sprach leis, aber heftig:

»Sie sind hart zu mir --«

»Wie können Sie das sagen --«

»Asta --«

»Nennen Sie mich nicht so. Sie haben kein Recht dazu. Was wünschen Sie?«

»Ich will --«, er schwieg und biß sich auf die Lippen.

Sie lächelte und zuckte die Achseln. Dann schüttelte sie nachdenklich das
Haupt. Dann sah sie ihn an, mit dem Ausdruck stiller Innigkeit. Ein Wort
sagte sie nicht. Aber Fridolin war es, als sollte er jetzt niederknien, um
ihre Hände zu küssen und seinen Kopf in ihren Schoß zu legen. Doch er
beherrschte sich, und schon eine Sekunde später hatten die dunkeln, sich
widersprechenden Gefühle wieder Raum in seiner Brust.

Gerade während diese stummen Wogen zwischen den beiden jungen Menschen hin
und wieder fluteten, trat der Brautvater in den Türrahmen, klatschte in
die Hände und rief: »Bitte tanzen!«

Man hörte schon den Flügel und einige Geigen herüberklingen. Alles stand
auf und begab sich in die größeren Zimmer zurück, wo die Tafeln
fortgeräumt waren. Einige Paare tanzten schon. Bald entfaltete sich ein
buntes Gewirbel. Fridolin lehnte dumpf an einem Türpfosten und sah dem
Treiben zu. Er sah Asta am Arm eines Leutnants vorüberschweben, blaß, mit
niedergeschlagenen Wimpern. Dann tanzte sie mit andern. Später, als sie
einmal ruhte, trat er vor sie hin, verbeugte sich und gab ihr den Arm. Sie
umschritten den kleinen Saal ein paarmal, darauf tanzten sie. Sie tanzte
leicht und lässig. Fridolin meinte, tausend blaue Blumen blühten unter
seinen Füßen. Nun war er in den matten Duft ihrer Haare eingehüllt und
hörte ihr weiches Atmen und fühlte die kleine schlanke Hand in seiner
liegen.

Er drückte sie an sich, mit Macht. Sie fühlte, daß ihr Stolz nahe daran
war, jämmerlich zu zerschellen, wie ein Kahn in der Brandung der See.
Zugleich aber lohte wieder die Empörung in ihr auf, und wieder siegte
dieses Gefühl, und sie sagte mit hartem Klang:

»Sie sind kühn, ich wünsche, daß wir aufhören mit tanzen.«

»Nein.«

»Sofort.«

»Ich will nicht.«

»Ich schreie, wenn Sie nicht aufhören.«

Er ließ ab, führte sie auf ihren Platz, verneigte sich und verließ dann,
ohne daß es auffiel, das Zimmer. Er warf sich einen Pelz über und ging
hinaus in die Mondnacht.

Die Gebäude des Gutshofes lagen weiß wie Milch in der kühlen Luft. Aus der
Ferne konnte man, wenn gerade ein Windhauch herüberwehte, die Musik hören,
zu der die Knechte und Mägde tanzten, denen dieser Tag auch ein Festtag
war. Fridolin schritt über den leeren, gepflasterten Hof und sah seinen
Schatten neben sich wandern. Er ging durch eine Pforte in das Feld und auf
ein kleines Gehölz von ragenden Kiefern zu, die sich wie drohende Recken
gegen den hellen Himmel abhoben. Unter diesen Kiefern lag ein kleiner
Friedhof, den verstorbenen Mitgliedern der Gutsfamilie als Ruhestätte
dienend. Das letzte der Gräber, das einige frische Kränze trug, war noch
ziemlich jung, hier hatte man die Mutter der Braut vor nicht viel mehr als
einem Jahre eingegraben. Hohe Eisenkreuze mit gepreßten Goldlettern
standen auf den Gräbern, überall wucherte Epheu, und auch an manchen
Kreuzen strebte er mit wilder Umarmung empor.

Fridolin schritt den schmalen Weg zwischen den Gräbern hin. Er empfand den
wundersamen Frieden dieser Stätte und sah vertraulich zum Mond auf, der
mit ihm langsam durch die Kronen der Kiefern schlenderte. Dann blieb er am
Rande des Gehölzes vor einem der Hügel stehen, und nun waren es die
Schatten ringsum, die ihn seltsam erfüllten. Welche Schatten! Da waren
zunächst, von übertriebener Länge und Geradheit, die Schatten der
Kiefernstämme, die sich fest und sicher weit über das Feld hinlegten, wie
Mastbäume oder wie schwarze Furchen; endlich verloren sie sich in einem
eigentümlichen Gewirr von Dunkelheit: das waren die Schatten der Kronen.
Viel unheimlicher als diese langen, toten Kiefernschatten aber waren die
Schatten der Kreuze. In ihnen nämlich schien ein verstecktes Leben zu
schlummern und nur darauf zu warten, daß es in einer geheimnisvollen
Stunde auferstünde, doch nicht ein frohes Leben, sondern ein Leben voll
düsteren Ernstes und gewaltsamer Entbehrung, ohne Lachen und ohne Licht.
Und dann glitt sein Auge auf seinen eigenen, kleinen, harmlosen Schatten
über, und er dachte daran, daß dieser Schatten ihm im Grunde ebenso fremd
sei wie die Schatten der Kiefern und Kreuze um ihn her, denn er hatte
nicht den geringsten lebendigen Teil an ihm. Und doch vermochte nur er ihm
Bewegung zu verleihen, wenn auch kein Leben, und wäre dieser Schatten
nicht, so wäre er nicht. Und wenn man jetzt, so dachte er, dorthin, wo er
selbst gerade stand, einen andern Menschen stellen würde, einen von ihm
gänzlich verschiedenen, der nur ungefähr die gleichen Formen des Körpers
hatte (oder auch eine leblose Puppe dieser Art), so würde der Schatten,
der dort läge, dem seinen zum Verwechseln ähnlich sein, so wie die
Schatten der Kreuze einander glichen, ohne daß man den einen vom andern
hätte unterscheiden können. Während Fridolin dies bedachte, wurde ihm auf
einmal siedend heiß. Gleich darauf breitete er beide Arme aus, so daß auch
sein eigener Schatten dem eines Kreuzes glich. Wenn jetzt hier jemand
käme, dachte er, dessen Auge nicht die Dinge, sondern nur die Schatten der
Dinge zu sehen vermöchte, so würde er nicht ahnen können, daß hier ein
Mensch stünde, sondern er würde wähnen, zwischen lauter Kreuzen zu
wandern.

Er ließ die Arme wieder sinken, sah sein Abbild mit einem heimlichen
Mißtrauen an und wurde unwillig über die Unruhe und das törichte Spiel
dieses Bildes, während ihn die unveränderliche Hoheit der übrigen
Schattenbilder mit Neid und Sehnsucht erfüllte. Er nahm sie noch einmal
alle in sich auf, dann aber hatte er der Schatten genug. Er schritt in das
freie Feld hinüber, das so hell vom Mondlicht übergossen war, als stünde
es voll weißer Blüten, und wanderte auf einem Rain entlang, indem seine
Füße den Tau von unzähligen Gräsern streiften. Die Felder und Wiesen
schliefen, nicht eine Grille war wach. Der Mond hing zwischen großen,
silberumrandeten Wolken. Jetzt tauchte eine die Wiesen durchquerende,
endlose Schlangenlinie niedriger Bäume auf, in deren Zweigen das Mondlicht
wie ein silberner Schleier hing. Fridolin unterschied, daß es Weiden
waren, und als er sie erreicht hatte, sah er, daß sie den Ufern eines
lautlos gleitenden Flüßchens folgten. Eine Holzbrücke führte über dieses
hinweg; Fridolin lehnte an das Geländer und sah in das Wasser, das schwarz
wie Tinte erschien, während es ein Ende weiter abwärts von einem
weißlichen Glanz überleuchtet war. Er suchte erst die kaum hörbar
flüsternden Weiden und dann das geheimnisvoll fließende Wasser mit den
Augen zu durchdringen, fühlte das lautlose Leben und die unaufhörlich
ziehende Veränderung, die unter ihm war, und der unbeschreibliche Zauber,
der über nächtlichen Flüssen liegt, trat auf einmal mit solcher Gewalt vor
ihn hin, daß ihm sein eigenes klopfendes Herz inmitten dieses großen,
unbegreiflichen Webens nur wie ein nichtiger Spuk erschien.

Als er jenseits über die Felder weiterschritt, tauchten ein paar
Arbeiterhäuser, hingeduckt wie schlafende Tiere, vor ihm auf; aber ehe er
sie erreichte, kam er an einen kleinen, etwas tiefer gelegenen, eirunden
Teich. Er schritt an seinen Rand hinab und streckte sich in das
Heidekraut. In der Mitte des Teiches lag der Mond, eine silberne Kugel.
Wenn ein Windhauch kräuselnd über die Wasserfläche fuhr, wurde aus der
Kugel ein breites Gitter von endlosen Silberstrichen. Drüben, nicht weit
vom anderen Ufer entfernt, reckte sich ein Ziehbrunnen schräg und schwarz
gegen den Himmel und schien die Einsamkeit dieser Stätte noch zu erhöhen.
Fridolin nahm ein Zweiglein Heidekraut zwischen die Lippen, sah in den
Teich und nach dem Ziehbrunnen hinüber und dachte an Asta.

Es war eine sinnlose Quälerei für sie beide, und es schien ihm klar, daß
es seine Pflicht war, ein Ende zu machen. Aber wie? Er fing an, seinen
Gefühlen mit Sorgfalt nachzugehen, und glaubte zu finden, daß er dieses
stolze Mädchen heftiger liebe als irgendein anderes zuvor. Dann aber
dachte er über die vergangenen Erlebnisse nach, dachte an die
Unzuverlässigkeit menschlicher Gefühle und besonders der seinigen, dachte
vor allem an die unerschütterte Freude am Erleben, die noch in ihm war und
die er als einen köstlichen Besitz empfand, und schließlich sagte er sich
mit aller Bestimmtheit: Preisgeben, preisgeben, Fridolin, es ist die
einzige Möglichkeit. Sei klug, du kennst dich ja, bleib einsam, das Leben
ist weit, und es blühen der Rosen viele; geh fort, sei traurig und klage;
aber bleibe einsam, unbeständiger Fridolin!

Er sprang auf, riß einen kleinen Kieselstein mit hoch und warf ihn
ärgerlich in den Teich, daß es plumpste und eine Garbe silberner Tropfen
aufsprang.

»Preisgeben«, murmelte er, -- und dann fing er an, sich selber gröblich zu
belügen, indem er sich vormachte, daß er vollkommen ausgesöhnt mit diesem
klugen Entschlusse sei, indem er ihn vor sich selber als den einzig
sinngemäßen pries und so tat, als wäre diese ganze Angelegenheit in ihm
klipp und klar.

Er schritt den Uferrand hinauf, blickte noch einmal auf den Teich zurück,
ging an den Ziehbrunnen, betastete ihn, machte einen Bogen um die
Arbeiterhäuser herum und sah, wie drüben auf dem Hauptweg ein sich
umarmendes Paar hinschritt, das sich wahrscheinlich aus der Schenke
fortgestohlen hatte, um einen heimlicheren Winkel für seine Liebe
aufzusuchen.

Auf mehreren Umwegen gelangte er in den Gutspark, blieb einen Augenblick
vor dem verödeten Sandsteinbecken des großen Springbrunnens stehen,
blickte zum Mond und den phantastischen Wolkenformen des Himmels auf und
sah dann die rötlich erleuchteten Fenster des Herrenhauses wieder vor sich
liegen. Er trat ganz dicht unter eins der Fenster und lauschte. Ein
unbestimmtes Surren von Stimmen schlug an sein Ohr, die Musik schwieg. Man
hatte aufgehört zu tanzen und vergnügte sich offenbar mit allerlei
zeitvertreibenden Spielen. Er schritt um das Haus herum, kam an das dunkle
Fenster seines Zimmers, stieß den Fensterflügel zurück und schwang sich
über das Gesims in die Stube. Er entkleidete sich im Dunkeln und legte
sich hin. Schlafen konnte er nicht; sein Blut wallte ruhelos hin und her.
Mitunter wurde ihm so heiß, daß er am liebsten aufgesprungen und ans
offene Fenster getreten wäre, um sich zu kühlen. Er sah Asta, hörte ihre
Stimme, fühlte ihre kleine weiße Hand, sah sich selber neben ihr, heftig
bewegt und unfähig, die Worte zu finden, die er suchte, fühlte den Stolz
ihres Auges, und einmal war er nahe daran, laut loszubrüllen wie ein
verzogenes Kind.

Lange lag er so. Endlich hörte er ein schnell anschwellendes Getümmel auf
den Korridoren und wußte, daß die Gäste sich jetzt zur Ruhe begaben. Hier
und da klappte eine Tür, Geträller war zu hören, ein feines Lachen, ein
Zuruf, ein Gähnen, dann wurde es wieder still. Eine Stunde später öffnete
man ungeschickt laut die Tür zu seinem Zimmer. Fridolin tat, als schliefe
er, aber durch die Wimpern hindurch beobachtete er genau, was vorging.
Zwei Leutnants, lachend und mit geröteten Gesichtern, schleppten Paul
herein, der völlig betrunken war. Der eine Leutnant, auffallend durch
abstehende Ohren und einen riesigen blonden Schnurrbart, trug einen
brennenden Leuchter in der Hand, den er schief hielt und von dem
infolgedessen das Wachs fortwährend auf die Dielen tropfte. Paul, der
nicht das geringste mehr von sich wußte, ließ alles mit sich geschehen.
Die Leutnants setzten ihn aufs Bett, zogen ihm allmählich sämtliche
Kleidungsstücke aus, nannten ihn eigentümlicher Weise immer »Majestät« und
lachten unmäßig dabei. Als ihr Opfer bis auf das Hemd entkleidet war,
schleppten sie es an den Waschtisch und gossen ihm eine Kanne Wasser über
den Kopf. Paul gab nicht einen Mucks von sich und hielt auch meistens die
Augen geschlossen, die so klein schienen wie die eines Ferkelchens. Die
Leutnants packten ihn ins Bett, deckten ihn zu, legten mit eigentümlich
pathetischen Gebärden einen Rosenstrauß auf seine Bettdecke, warfen einen
scheuen Blick auf Fridolin, nahmen den Leuchter und verließen dann,
nachdem sie erst so unnötig laut gewesen waren, merkwürdigerweise auf
Zehenspitzen und mit leisem Flüstern das Zimmer.

Paul schlief sofort und fing an zu schnarchen. Fridolin war erst belustigt
durch die groteske Szene, deren Zeuge er gewesen war, dann gewannen die
tieferen Bilder des verflossenen Tages wieder Raum in ihm, und er hörte
Asta immer von neuem mit der ganzen Energie ihrer Stimme zu ihm sprechen:
»Ich wünsche, daß wir aufhören mit tanzen. Sofort.«

Es währte lange, ehe er Schlaf fand. Er schlief leis und unruhig.

       *       *       *       *       *

Am nächsten Vormittag sollte Asta reisen. Sie sahen sich noch beim
Frühstück, doch saßen sie so weit voneinander ab, daß sie kein Wort
miteinander wechseln konnten. Fridolin empfand es eigentlich als eine
Wohltat. Ihre Augen berührten sich mitunter. Asta schien ganz lustig zu
sein; die Bewegungen ihrer Hände und ihres Kopfes waren viel lebhafter als
gestern. Der Leutnant an ihrer Seite, es war der mit den abstehenden
Ohren, zog sie in eine Unterhaltung, die ihr volles Interesse zu haben
schien. Aber einmal bemerkte Fridolin, daß sie auf einen Augenblick die
Augen schloß, wie in einem starken nervösen Gefühl oder von einer heftigen
Ermattung ergriffen. Nach dem Frühstück trat er zu ihr, sah sie an, nahm
lächelnd ihre Hand und sagte leise: »Leben Sie wohl«. Dann führte er die
Hand an den Mund und biß hinein. Aber die Hand schien fühllos zu sein,
denn sie zuckte nicht einmal. »Leben Sie wohl!« sagte Asta und lachte.
Fridolin merkte trotz alledem, daß dieses Lachen nicht ehrlich war.

Er wollte den Abschied am Reisewagen nicht miterleben. Er ließ sich ein
Pferd aus dem Stall ziehen, einen jungen Rappen, und stieg in den Sattel.
Als er eben den Hof verlassen hatte, bemerkte er an seinem Ärmel einen
goldigen Blitz. Er sah nach und fand, daß es ein langes, aschblondes Haar
war, das nur von Asta stammen konnte. Die ganze Schönheit des blassen
Mädchens trat mit einem so wehmütigen Schimmer und so überwältigend vor
ihn hin, daß ihm war, er müsse liebkosend ihren Namen nennen und für alles
um Verzeihung bitten. Er gab das Haar dem Winde preis, biß die Lippen
zusammen, stach die Sporen mit unsinniger Heftigkeit in die Seiten des
Pferdes, so daß es sich bäumte, und jagte über Feld und Gräben, gleich
einem Besessenen.

Nachdem er auch die Heide durchquert hatte, wurde der Boden moorig, und er
mußte abbiegen. Er ritt in ein Wäldchen junger Birken ein, deren weiße
Stämme in der blauen, sonnigen Luft wie reines Silber glänzten, während
das Zweigwerk, braunrot und voll keimenden Saftes, von einem violetten
Duft durchwoben war. Dunkelgrüne Wacholderbüsche waren über den Waldboden
hin verstreut. Fridolin machte einigemal halt, um schöne Durchblicke durch
die hellen Stämme auf das Moor und die roten Dächer eines fernen Dorfes zu
genießen.

Draußen kam er auf eine sandige Höhe. Nahe dem Horizont erkannte er das
Dunkelblau eines kommenden Regens. Plötzlich drang ein Lärmen aus der
Luft. Er sah empor. Zwei große, weiße Vögel, blendend von der Sonne
beschienen, stürmten mit vorgereckten Hälsen durch die Luft und schrieen.
Als er weiter Umschau hielt, auf das Wäldchen zu seinen Füßen, auf das
rote Dorf, auf ein paar blaue, moorige Teiche und die Wege ringsher, sah
er in der Richtung nach Garzigar den Reisewagen mit den beiden Braunen.
Und wieder spornte er den Gaul und flog über Moor und Heide und Feld, und
als er dann endlich in Obliwitz einritt, ermattet und triefend gleich dem
Tier, auf dem er saß, rief ihm der Brautvater, der gerade aus dem
Schafstall kam, mit deutlicher Stimme entgegen:

»Wenn Sie glauben, junger Mann, daß ich noch einmal die Dummheit begehe,
Ihnen ein Pferd aus meinem Stall zu geben, irren Sie sich!«

       *       *       *       *       *

Fridolin fuhr von Obliwitz direkt ans Meer. Er kletterte auf den Dünen
herum, legte sich an den Strand, trieb in Booten durch das sonnige Wasser,
das er selten so blau gesehen zu haben meinte, pflückte sich Sträuße von
Leberblümchen, die auf einigen Hügeln in blauen Mengen standen, und
fühlte, daß er an der See noch niemals so unruhig und verstört gewesen
war. Aus jedem Raunen des Wassers hörte er die Stimme eines Mädchens, das
blonde Haare hatte; wo er einen wehenden Halm sah, dachte er an dünne
Handgelenke, und die Bläue des Himmels sah er nur als Vergleich mit dem
Blau zweier jugendlicher Augen. Endlich hielt er es nicht mehr aus. Er
setzte sich hin und schrieb an Asta, daß er am nächsten Tage auf der
Heimreise um eine bestimmte Zeit mit dem Schnellzuge durch S. kommen
werde, der Stadt, wo sie bei Verwandten zu Besuch war. Er schrieb, der
sehnlichste Wunsch, den er habe, sei, sie am Bahnhof noch einmal
wiederzusehen.

Er fuhr, und als er sich S. näherte, stürmte sein Blut vor Erregung. Er
stand, als der Zug einlief, am Fenster und erkannte sie sogleich. Sie trug
ein schwarzes Kleid, einen schwarzen Federhut und an den Händen gelbe
dänische Handschuhe. Merkwürdig, sobald er sie sah, hatte er seine Ruhe
wiedergefunden. Sie winkte ihm zu, er sprang, als der Zug hielt, herab,
ging ihr entgegen, nahm ihre Hand und küßte sie.

Was sie hierauf miteinander sprachen, war sehr einfach: Erkundigungen nach
ihrem Befinden, wie es ihm am Meere gefallen habe, wie ihr die
Hochzeitsfeier bekommen sei, wie lange sie noch bei ihren Verwandten zu
bleiben gedenke. Sie sagte, daß sie noch etwa vierzehn Tage in S. zu
bleiben gedenke, und er, daß er die See nie so schön gesehen habe, daß er
aber nicht in der richtigen Stimmung gewesen sei, sie zu genießen. Dann
hieß es »Einsteigen!«, sie gab ihm schnell die Hand, er küßte sie, indem
er den Handschuh zurückstreifte, auf den Puls. Dann bestieg er den Wagen,
der Zug setzte sich in Bewegung, und langsam verschwand ihre dunkle
Gestalt, während er winkte und noch bis zuletzt den herben Zug um ihre
Lippen sah.

Sie hatten nichts mehr gemein in ihrem späteren Leben. Wenn sie einst
sterben werden, wird keiner ahnen, daß sie in den Tagen ihrer Jugend
voneinander wußten.



Der Druck des Buches erfolgte in der Druckerei von Gebr. Mann zu Berlin.
Die Einbandzeichnung ist von Walter Tiemann.



[Anmerkungen zur Transkription:

Im Original gesperrt gesetzter Text ist mit _ gekennzeichnet.
Im Original in Antiqua gesetzter Text ist mit = gekennzeichnet.

Das im Original am Ende des Buches befindliche Inhaltsverzeichnis wurde
zur besseren Übersicht an den Buchanfang verschoben.

Offensichtliche Druckfehler und Inkonsistenzen wurden korrigiert.]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die Kurtisane Jamaica" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home