Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Gesammelte Werke in fünf Bänden — 1. Band
Author: Bjørnson, Bjørnstjerne, 1832-1910
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Gesammelte Werke in fünf Bänden — 1. Band" ***

This book is indexed by ISYS Web Indexing system to allow the reader find any word or number within the document.

WERKE IN FüNF BäNDEN; ERSTER BAND***


BJÖRNSTJERNE BJÖRNSON GESAMMELTE WERKE IN FÜNF BÄNDEN

EINZIGE AUTORISIERTE DEUTSCHE VOLKSAUSGABE

ERSTER BAND

GEDICHTE UND ERZÄHLUNGEN

HERAUSGEGEBEN VON JULIUS ELIAS

1911



INHALT


VORWORT

GEDICHTE[1]:

     [1] Die Gedichte mit B sind von _Max Bamberger_, die mit F sind von
     _Ludwig Fulda_, die mit Mj sind von _Cläre Mjöen_, die mit Mo sind
     von _Christian Morgenstern_ und die Gedichte ohne Zeichen sind von
     _Roman Woerner_ übersetzt.

  Nils Finn
  Lied der Jungfrauen (B)
  Die Taube (B)
  Vaterlandsweise (Mo)
  Ein Lied für Norwegen (Mo)
  Norwegens Antwort auf die Reden im schwedischen Ritterhaus
  Johan Ludvig Heiberg (B)
  Das Meer
  Allein und in Reue
  Die Prinzessin
  Vom Monte Pincio (F)
  Ach, wüßtest du nur! (F)
  Die Engel des Schlafes (B)
  Das Mädchen am Strand (F)
  Heimliche Liebe (Mo)
  Olav Trygvason (Mo)
  Seufzer (F)
  An ein Patenkind
  Bergliot (Mj)
  An meine Frau (Mo)
  In einer schweren Stunde (F)
  Frida (Mo)
  An Bergen (Mo)
  P.A. Munch (Mj)
  König Friedrich der Siebente (B)
  Als Norwegen nicht helfen wollte (B)
  An den Danebrog (Mj)
  Der Norrönastamm (F)
  Gesang der Puritaner
  Jagdlied (B)
  Taylors Lied
  Hochzeitslied I. (F)
  Lektor Thåsen
  Auf einer Reise durch Schweden (Mo)
  Stelldichein (F)
  Lied des Studentengesangvereins (Mj)
  An den Buchhändler Johann Dahl (Mj)
  Die Spinnerin (B)
  Die weiße und die rote Rose
  In der Jugend (Mj)
  Das blonde Mädchen (Mo)
  Mein Monat (Mo)
  Hochzeitslied II. (F)
  Norwegisches Seemannslied (Mo)
  Halfdan Kjerulf (Mj)
  Vorwärts (Mo)
  Wie man sich fand (Mj)
  Norwegische Natur (F)
  Ich reiste vorüber
  Mein Geleit (F)
  An meinen Vater (F)
  An Erika Lie (Mj)
  An Johan Sverdrup (Mj)
  Das Kind in unsrer Seele (F)
  Der alte Heltberg
  Für die Verwundeten (Mj)
  Land in Sicht
  An H.C. Andersen
  Bei einer Ehefrau Tode (Mo)
  An der Bahre des Kirchensängers A. Reitan (Mj)
  Das Lied (F)
  Auf N.F.S. Grundtvigs Tod
  Aus der Kantate für N.F.S. Grundtvig (Mj)
  Bei einem Fest für Ludv. Kr. Daa (B)
  Nein, wo bleibst du doch?
  Weckruf an das Freiheitsvolk im Norden--Der "vereinigten Linken"
  Offne Wasser
  Freiheitslied--An "die vereinigte Linke" (B)
  An Molde (Mj)
  Die reine norwegische Flagge (Mj)
  An den Missionar Skrefsrud in Santalistan
  Post festum (B)
  Romsdalen (Mj)
  Holger Drachmann (F)
  Wiedersehen
  Des Dichters Sendung (B)
  Psalmen (F)
  Frage und Antwort
  Wecklied an die norwegische Schützengilde (Mj)
  Arbeitermarsch (B)
  Der Zukunft Land (Mj)
  Ein junges Völkchen kerngesund (Mj)
  Norge, Norge (F)
  Meistern oder gemeistert werden
  Im Walde (F)
  Der siebzehnte Mai (Mj)
  Frederik Hegel (Mj)
  Unsere Sprache (Mo)

In die Sammlung seiner "Gedichte" hat Björnson aus den Erzählungen und
Dramen eine Reihe von Liedern übernommen, die hier mit den Stellen, wo
sie in der vorliegenden Ausgabe zu finden sind, verzeichnet werden
sollen:

  Synnöves Lied (Mo)
  Der Fuchs und der Hase (F)
  Lied der Mutter (Mo)
  Das Böcklein (Mo)
  Das Lied vom Schneider Nils (Mo)
  Venevil (Mo)
  Über die hohen Berge (Mo)
  Der sonnige Tag (Mo)
  Ingerid Sletten (Mo)
  Der Baum (Mo)
  Der Ton (Mo)
  Lockruf (B)
  Abendstimmung (Mo)
  Marits Lied (B)
  Lieb' deinen Nächsten
  Öyvinds Lied (B)
  Liebeslied (F)
  Berglied (F)
  Die erste Begegnung (F)
  Morgengruß
  Vaterlandsweise (Mo)
  Frederik Hegel (F), Band III.
  Wann wird es Morgen (Mj), Band III.
  Kåres Lied (Mo) ("Sigurd Slembe"'2, A. III, 1. Sz.), Band IV.
  Ivar Ingemundsens Lied (ebda.'3 A. II, 1. Sz.), Band IV.
  Magnus der Blinde (B) (ebda.'3 A. III, 1. Sz.), Band IV.
  Sünde, Tod (Mo) (ebda.'3 A. III, 4. Sz.), Band IV.
  Sie haben einander gefunden (F) (D. König, 3. Zwischenspiel), Band IV.

ERZÄHLUNGEN:

  Thrond (1856)
  Die gefährliche Freite (1856)
  Synnöve Solbakken (1857)
  Arne (1858)
  Ein fröhlicher Bursch (1859)
  Der Vater (1859)
  Das Fischermädel (1868)

        *       *       *       *       *



VORWORT


Nicht erst Björnstjerne Björnsons Heimgang hat den Plan geformt und
gereift, sein Werk in gedrungener Ausgabe dem deutschen Volke
vorzulegen: vielmehr ist das Unternehmen einem seiner letzten und
eigensten Wünsche entsprungen. Am Entwurf noch hat er so eifrig und
entschieden mitgearbeitet, wie er alles ergriff, was der Bestätigung
seiner feurigen Persönlichkeit dienen konnte. Björnsons Todestag (26.
April 1910) jährt sich, da dieses Gegenstück der volksmäßigen
Ibsenausgabe ans Licht tritt, und der Herausgeber kann ein Gefühl der
Wehmut nicht unterdrücken, daß der Dichter die Verwirklichung dessen
nicht mehr gesehen hat, was wir gemeinsam ersonnen haben.

Die "Gesammelten Werke" sollen nichts anderes als eine Auswahl,
allerdings im weitesten Wortsinne, bieten, eine Auswahl, die Björnsons
Lebensarbeit in ihren wesentlichen und bleibenden Bestandteilen
erschöpfend zusammenfaßt. Hierdurch unterscheidet sie sich von der
bekannten Unternehmung des Langenschen Verlages, die, ohne sich als eine
eigentliche Gesamtausgabe zu charakterisieren, Dichtung an Dichtung,
Buch an Buch in Einzelbänden reiht. Der von Björnson befürwortete
Gesichtspunkt war: in eine Volksausgabe aus dem gewaltigen Korpus seiner
literarischen Wirksamkeit das aufzunehmen, was im künstlerischen und
geistigen Dasein seiner Nation wie der modernen Völker überhaupt Epoche
gemacht hat, mit besonderer Berücksichtigung der Arbeiten, die in seinem
eigenen Leben Epoche machten, d.h. als Dokumente seiner menschlichen und
dichterischen Entwicklung gelten können. Ein zwiefacher Maßstab also:
der kulturgeschichtliche und der autobiographische. So ergaben sich auf
natürliche Art drei Gruppen: die Sammlung der "Gedichte", die aus seinem
Gesamtwirken geschöpften, unmittelbaren lyrischen Zeugnisse eines
Persönlichkeitswachstums; die großen und kleinen Erzählungen, sowie die
beiden weltumspannenden Romane; zehn Schauspiele, die als die
wichtigsten Leistungen sowohl seiner romantisch-nationalen Dichtung als
auch seiner Gesellschaftsdramatik gelten können: sie füllen zwei Bände
aus, während die Gedichte und Prosastücke in drei Bänden vereinigt
werden. Innerhalb dieser einzelnen Abteilungen herrscht eine
chronologische Ordnung, die nur einmal unterbrochen wird, um den dritten
Band, durch die Verkoppelung der voluminösen Romane, zum Schaden des
stofflichen Gleichgewichts, nicht allzusehr anschwellen zu lassen.

Die künstlerische Aufgabe, die dieses Werk darbot, hätte ohne das
verständnisvolle Entgegenkommen des Verlages A. Langen kaum erfüllt
werden können; wir schulden seinen Vertretern nicht geringen Dank: sie
haben uns alles zur Verfügung gestellt, was den Wert und die Fülle
dieser Ausgabe steigern konnte. Die Texte selbst waren den Grundsätzen
der Interpretation unterworfen, die das Ibsenwerk als Maßstab gesetzt
hat: einen ebenso formkräftigen, wie sprachlich reinen und alles
Charakteristische treu und doch frei wiedergebenden deutschen Ausdruck
anzustreben. Ob dies Ziel erreicht ist, unterliegt nicht unserer
Entscheidung. Die "Gedichte" gingen ohne wesentliche Änderungen aus der
Langenschen Sammlung in unsere Ausgabe über, nur mit dem Unterschied,
daß einerseits eine, übrigens kurze Reihe von Poesien ausgelassen ist,
die in engstem Sinne "Gelegenheitsdichtungen" sind, und andrerseits--um
doppelten Abdruck zu vermeiden--28 Lieder in der Sammlung selbst
unterdrückt wurden, weil sie später in den Prosastücken und Dramen als
lyrische Intermezzi wiederkehren: nach dem übersichtlichen Tableau des
Inhaltsverzeichnisses zum ersten Bande sind sie unschwer aufzufinden.

Als maßgebender Originaltext wurde die elfbändige Volksausgabe "Samlede
Vaerker" (Kopenhagen, Gyldendal) bestimmt. Die Übersetzungen der
Prosawerke sind durch eine grundlegende Revision und vielfache
stilistische Umformung der älteren Ausgaben entstanden; hier ist, unter
der rührigen Mitwirkung von _Elsa Glawe_, _Gertrud J. Klett_ und _Max
Bamberger_ eine Arbeit geleistet worden, die als neu und selbständig
anzusprechen ist. Damit wird das Verdienst zumal Cläre Mjöens, unserer
lyrischen Mitarbeiterin, die besonders für die vier reichen Bände der
"Gesammelten Erzählungen" auf der ersten Etappe der deutschen
Björnsonpropaganda Wesentliches geleistet hat, durchaus nicht
beeinträchtigt. Von besonderer Bedeutung wurde es für die Neugestaltung
der Texte, daß _Ludwig Fulda_ seine feine und starke Verskunst in den
Dienst unserer Sache stellte. Von ihm stammen die lyrischen
Nachdichtungen in den Erzählungen "Arne" und "Das Fischermädel", soweit
die Fassungen nicht durch die Sammlung der "Gedichte" vorgeschrieben
waren. Er hat hier und in vielen anderen Winkeln unseres verzweigten
Baus ein Interesse bezeugt, so hilfreich und tatkräftig, daß wir uns ihm
zu dauernder Dankbarkeit verpflichtet fühlen.

Von _Ludwig Fulda_ stammt ebenfalls die deutsche Form der lyrischen
Zwischenspiele und eingestreuten Lieder im Drama "Der König", während
man _Roman Woerner_ für die nachschaffende Übertragung des Versstücks
"Sigurds erste Flucht" ("Sigurd Slembe", 1. Teil) verbunden ist.

Die neue und von allen Vorbildern unabhängige Übersetzung der zehn
Prosadramen hat sich _der Herausgeber_ allein vorbehalten. Er trägt auch
die zusammenfassende Studie über Björnson--das Werk und den
Menschen--bei, die im fünften Bande die Ausgabe abschließt.

Die "Gesammelten Werke" Björnsons sollen nicht in die Welt ziehen, ohne
daß in dankbarer Gesinnung der wertvollen Unterstützung gedacht wäre,
mit der _Halvdan Koht_, _Kr. Collin_, _W.P. Sommerfeldt_, _Max
Bernstein_, _Max Dreyer_ und die Universitätsbibliothek zu Kristiania in
so mancherlei Beziehungen das Werk gefördert haben. In der Frage des
Korrekturlesens erwies sich, wie so oft schon, _Theodor Poppe_ als
tätiger Freund.

Berlin, 13. März 1911.

Julius Elias.

       *       *       *       *       *



GEDICHTE

       *       *       *       *       *



NILS FINN

(Aus dem Drama "Hinke-Hulda")


Und der kleine Nils Finn wollte flugs über Land;
Doch sein Schneeschuh, der hielt nicht, so oft er ihn band.
--"Das ist schlimm!" sagt' es drunten.

Nils stieß mit dem Fuße: "Wo bist du denn--du?
Verdammter Kobold! nun laß mich in Ruh'!"
--"Hi--ho--ha!" sagt' es drunten.

"Da siehst du ein Hexenstück!" schrie Nils und hob
Seinen Stab und schlug in den Schnee, daß es stob.
--"Hit--li--hu!" sagt' es drunten.

Ein Fuß stak im Schnee; mit kräftigem Zug
Riß Nils daran, bis er hintüber schlug.
--"Zieh doch fest!" sagt' es drunten.

Nils weinte und stampfte und stach und hieb--
Und sank immer tiefer, je toller er's trieb.
--"Das ging gut!" sagt' es drunten.

Und die Birken, die tanzten, es bogen sich krumm
Vor Lachen wohl hundert Tannen ringsum.
--"So bekannt?!" sagt' es drunten.

Und es lachte der Berg, daß der Schnee nur so flog;
Nils ballte die Faust und schwor, daß er log.
--"Nun gib acht!" sagt' es drunten.

Und der Schneehang gähnte, der Himmel fiel ein;
Nils dachte: nun schluckt er mich auch mit hinein.
--"Ist er weg?" sagt' es drunten.

Zwei Schneeschuhe ragten und sahen umher,
Aber sahen nicht viel; denn da war nichts mehr.
--"Wo ist Nils?" sagt' es drunten.



LIED DER JUNGFRAU

(Aus dem Drama "Hinke-Hulda")


Guten Morgen, Sonne in grünem Laub!
Jugend strahlst du dem Schluchtengrunde,
Lächeln seinem finstern Munde,
Himmelsgold dem Allweltenstaub!

Guten Morgen, Sonne auf ragendem Schloß!
Lockst seine Jungfraun aus den Hallen;
Leuchtsternlein zünde den Herzen allen,--
Kläre das Leid, das der Nacht entsproß.

Guten Morgen, Sonne am Felsengrat!
Licht gib den Fluren, soweit sie sich strecken;
Laß deine Wärme sie baden, sich recken
Dem Tage entgegen, der dort naht!



DIE TAUBE

(Aus dem Drama "Hinke-Hulda")


Eine Taube sah ich zittern
In eines Sturmwirbels Toben;
Sie ward von Ungewittern
Jäh über die Hochflut gehoben.
Ich hörte sie nicht klagen,
Nicht stöhnen und nicht flehen,--
Die Schwingen fühlt' sie versagen,
Da mußte sie untergehen.



VATERLANDSWEISE

(1859)


Es reckt sich ein Land in den ewigen Schnee,
Von Sagen umrauscht wie vom Donner der See.
Wohl trägt es dem Landmann nur kärglichen Lohn,
Doch ist es geliebt, wie die Mutter vom Sohn.

Sie nahm auf den Schoß uns, dieweil wir noch klein,
Und weihte uns fromm in ihr Sagabuch ein.
Wir lasen--. Das Auge ward feucht und groß.
Die Alte saß lächelnd und nickte bloß.

Wir sprangen zum Fjorde, wir schauten gebannt
Den Bautastein, der da seit Urzeiten stand;
Sie stand da, noch älter, und träumte stumm,
Und Steingräber lagen im Kreis ringsum.

Sie nahm bei der Hand uns und führt' uns gemach
Zum Steinkirchlein schlicht unters niedrige Dach,
Wo demütig beugten die Väter ihr Knie,
Und mütterlich sprach sie: tut ihr wie sie!

Sie deckte die bergschroffen Hänge mit Schnee,
Sie krauste mit Sturmfaust den Spiegel der See,
Sie gab ihren Söhnen des Schneeschuhes Hast
Und rief ihre Söhne zu Ruder und Mast.

Sie rief ihre Töchter in Reih' und in Glied
Und hieß sie uns spornen mit Lächeln und Lied.
Sie selber hielt auf dem Sagathron Wacht
In ihrem Mantel aus Nordlichtpracht.

Da scholl ein Vorwärts durch Norwegen hin
In Väterzunge, mit Vätersinn!
Für Freiheit und nordische Art hurra!
Und rings von den Bergen kam's wieder: hurra!

Da ging der Begeistrung Lawine zu Tal,
Da straffte sich jegliche Sehne zu Stahl,
Da stand über Gipfeln ein flammendes Haupt,
Des Blick uns nun ewig die Ruhe raubt.



EIN LIED FÜR NORWEGEN

(1859)


Ja, wir lieben diese Feste,
Wie sie, flutbedräut,
Ihrer Berge Stamm und Äste
Wind und Wolken beut.
Lieben ihre tausend Hütten,
Ihres Meeres Zorn,
Und, den kein Meer kann verschütten,
Ihrer Saga Born.

Harald hat ihr Volk verflochten,
Daß kein Feind sie zwang,
Håkon hat für sie gefochten,
Während Öjvind sang.
Olav malt' auf ihre harte
Stirn ein Kreuz von Blut,
Sverre brach von ihrer Warte
Romas Übermut.

Bauern ihre Äxte schliffen,
Wo ein Feind sich wies;
Tordenskjold mit seinen Schiffen
Ihn wie Spreu zerblies.
Weiber sah man kühn sich einen
Mit der Männer Hauf;
Andre konnten nichts als weinen;
Doch die Saat ging auf!

Waren unser auch nicht viele,
Waren doch genug,
Als das Land stand auf dem Spiele,
Da die Stunde schlug.
Lieber mocht's in Flammen stehen,
Eh' es kam zu Fall;
Denkt nur dessen, was geschehen
Einst in Fredrikshall!

Tragen galt es Not und Plage,
Gott verstieß uns ganz;
Doch in schlimmster Drangsal Tage
Glomm der Freiheit Glanz.
Das gab Kraft für alles Schwere,
Hunger, Krieg und Pest,
Gab dem Tod selbst seine Ehre--
Und dem Zwist den Rest.

Unser Feind zerbrach den Degen,
Auf fuhr das Visier:
Brüder flogen sich entgegen;
Denn das waren wir!
Schamrot eilten wir hernieder
Übern Öresund:
Und da schlossen wir, _drei Brüder_,
Einen ewigen Bund.

Volk Norwegens, deinem Gotte
Dank' in Hütt' und Haus!
Ließ dich werden nicht zum Spotte,
Sah's auch düster aus.
Müttersorgen, Väterstreiten,
Durch Geschlechter hin,
Wußt' Er still zum Ziel zu leiten:
Unsres Rechts Gewinn.

Ja, wir lieben diese Feste,
Wie sie, flutbedräut,
Ihrer Berge Stamm und Äste
Wind und Wolken beut.
Und wie Väterkampf beschieden,
Freiheit ihr und Macht,
Ziehn auch wir für ihren Frieden,
Wenn es gilt, auf Wacht.



NORWEGENS ANTWORT

(auf die Reden im schwedischen Ritterhaus 1860)


Hörst, jung Norge, du mit Schweigen,
Was der Schwede sagt?
Siehst du's aus der Tiefe steigen,
Wo der Grenzfels ragt?
Schatten sind's gefallner Ahnen,
Die da winken, die da mahnen,
Wenn der Hohn den Streit entfacht,
Die da fordern treue Wacht.

Hör' den Schweden, hör' ihn grollen:
Norges Flaggenrot,
Das aus Wunden reich gequollen
Einst bei Magnus' Tod;
Das ob Haldens Zinnen schwebte,
Adlers Kraft zum Sieg belebte,--
Durch dies Rot im Flaggenfeld
Sei sein Blau und Gelb entstellt.

Hör' den Schweden: nichtig seien
Norges Ruhm und Glanz;
Ehre sollten wir entleihen
Seinem Strahlenkranz.
Ruhmlos, eignen Herd zu schützen!
Ziehn wir denn hinab nach Lützen,
Schleppen auch im Wanderschritt
Urahns alten Armstuhl mit.

Laßt ihn stehn. Der "dürftige Krempel"
Wird von uns verehrt;
Seines Alters würdiger Stempel
Macht ihn doppelt wert.
Drinnen saß durch lange Zeiten
Mancher, groß in Rat und Streiten,--
Sverre und sein Heldenschlag,--
Der wohl hier noch spuken mag.

Hört den Schweden: nur _sein_ Ringen
Hätte uns befreit,
Beißen könnten Schwedenklingen
Noch in heutiger Zeit!
Dünkt uns das wohl sehr gefährlich?
Vorsicht raten wir ihm ehrlich;
Will er sprengen unser Tor,
Fallen einige zuvor.

Hört doch nur: wir waren Knaben,
Ihm gehorsam-still
Mit der Schleppe nachzutraben
Stets, wohin er will.
Hei, was sagten wohl dem Kecken
Christie und die alten Recken,
Stünden die, das Schwert gewetzt,
Noch beim Werk auf Ejdsvold jetzt?

Groß war Schweden oft im Prahlen,
Wir, wir waren klein;
Galt's mit Eisen zu bezahlen--
Nun, wir hieben drein.
Wessel und Norwegens Knaben,
In dem Kutter nur, die haben
Schwedens Flaggschiff unverzagt
Übers Kattegatt gejagt.

Laßt den Schwedenadel schwingen
Karls des Zwölften Hut!
Mit ihm raten, mit ihm ringen
Wir, ihm gleich an Mut.
  Will er Streit vom Zaune brechen,
  Wird ein Torgny für uns sprechen--:
  Einst dann überm Norden loht
  Unsrer Flagge Freiheitsrot.



JOHAN LUDVIG HEIBERG

(1860)


Nun geleiten sie zum Grabe
Ihn, den alten, muntren Gärtner;
Nun gehn Kinder mit der Gabe,
Die sein eigen Beet ihm zog.

Nun steht jener Garten offen,
Drin er unterm Baum gesessen;
Nun sucht unser Blick betroffen,
Ob er dort nicht fürder sitzt.

Leer der Platz. Im schwarzen Kleide
Wandelt eine Frau jetzt einsam
Dort umher in stillem Leide,
Wo sein helles Lachen klang.

Die als Kind erstaunt, voll Sehnen
Durch das Gitter draußen blickte,
Dankt mit großen, schweren Tränen
Nun, daß ihr der Einlaß ward:

Märchen-, Saga-, Geistesflammen
Rauschten um ihn her im Laube;
Leise schwebt sie, sucht zusammen
Jeden Funken für ihr Weh.

Einstmals drang er fern zur Weite,
Dieser alte Herr, der muntre;
Wer gelauscht an seiner Seite,
Hat so manches wohl gelernt.

Denn ihn führten Leben, Schriften
Auf zu dem, was wenige schauen;
Kaum ein Platz in Geistestriften,
Der nicht seine Spuren weist.

Schutz war er in Mannesjahren
Allem Großen, allem Schönen,
Und den stillen Sternenscharen
Folgt' er dann im Gang zu Gott.

Denkt ihr noch, die alt nun worden,
Wie die "Neujahrs"-Glocken dröhnten?
Wie sie Kämpfer rings im Norden
Sammelten der großen Zeit?

Denkt ihr noch an ihn, der sprengte
Frisch voraus mit hellem Hornruf
Und das Niedre abseits drängte,
Daß dem Großen frei die Bahn?

Kinder, Faunen als Begleiter,--
Lachen, Geistesspiel und Tränen,--
Hinter ihm der Freiheit Scheiter,
Langsam aus sich selbst entflammt.

Worten kam der Ruhe Segen,
Tönen kam der Herzensfrieden;
Mächtig fuhr es allerwegen
Durch das Land wie Ahnungschor.

Schutz war er in Mannesjahren
Allem Großen, allem Schönen,
Und den stillen Sternenscharen
Folgt' er dann im Gang zu Gott,

Oder ging in Nordens Garten,
Wie ein alter, muntrer Gärtner,
Saat der Ewigkeit zu warten,
Die des Volkes Lenz ihm gab.

Bald voll Ernst und bald voll Laune,
Pflanzte er und rückte höher,--
Saß dann abends, wo die braune
Buche gab der Seele Licht.

Nun steht jener Garten offen,
Drin er unterm Baum gesessen,
Nun sucht unser Blick betroffen,
Ob er dort nicht fürder sitzt.



DAS MEER

(Aus "Arnljot Gelline")


Meerwärts verlangt es mich, ja zum Meere,
Das fern dort ruhsam rollet in Hoheit.
Nebelgebirge, lastende, tragend,
Wandert es ewig sich selbst entgegen.
Lind senkt sich der Himmel, hell ruft die Küste,
Es kann nicht weilen, es kann nicht weichen.
Klagend wälzet es seine Sehnsucht
In Sommernächten, in Winterstürmen.

Zum Meere verlangt mich, ja zum Meere,
Das fern dort erhebet die kalte Stirne.
Siehe, die Welt wirft darauf ihren Schatten
Und spiegelt flüsternd hinab ihren Jammer.
Aber warm und lichtsanft streichelt's die Sonne
Und spricht ihm munter von Lebensfreuden.
Eisig, schwermütig-ruhig doch immer
Versenkt es den Trost und versenkt es die Trauer.

Der Vollmond saugt--, der Sturm reißt es an sich,
Doch kein Griff packt, und die Wasser strömen.
Hinabwirbelt Tiefland, Berge hinschmelzen:
Zeitlos bespült es der Ewigkeit Ufer.
Was es erfaßt, geht mit ihm die Wege;
Was einmal sinket, das steiget nimmer.

Kein Bote naht, kein Schrei wird vernommen,
Und der Wogen Sprache kann niemand deuten.
Zum Meer hinaus, weit hinaus zum Meere,
Das Versöhnung nicht kennt eines Wellenschlags Dauer!

Allem, was seufzet, ist es Erlöser,
Doch weiter schleppt es das eigne Rätsel.
Fühl' seinen seltsamen Pakt mit dem Tode:
Ihm alles zu geben--sich selbst nur nimmer.

Mich führt, o Meer, deine große Schwermut
Und streift zu Boden die matten Pläne
Und läßt entfliegen die bangen Wünsche:
Dein kalter Atem kühle die Brust mir!
Und der Tod mag folgen, auf Beute lauern:
Wir würfeln ums Leben noch ein Weilchen!
Noch reiß' ich Stunden weg deiner Raublust,
Unterm Drohblick des Zornes die Flut durchschneidend,
Du sollst nur bauschig füllen mein Segel
Mit deinen sausenden Todesorkanen,
Nur eilender trage der Woge Rasen
Mein kleines Fahrzeug zu stillen Wassern.
Ob einsam und düster auch am Steuer,
Verlassen von allen, gestundet vom Tode,
Wenn fremde Segel von ferne winken
Und andere nächtens vorbei mir streichen:
Den Unterton zu belauschen der Strömung
--Des Meeres Seufzer, wenn Atem es holet--
Und der Welle Kleingang gen das Gebälke
--Des Meeres Zeitvertreib in der Schwermut.
Da spülen die Wünsche langsam hinüber
In der Allnatur meerestiefe Schmerzen,
Und der Nacht und des Wassers rauher Anhauch
Rüstet fürs Reich des Todes die Seele.

Dann kommt der Tag! Und in weiten Bogen
Aufspringt der Mut zum Lichte, zur Wölbung
Das Schifflein schnauft und legt seine Seite
Mit Wollust hinab in die kalten Wogen,
Und der Bursch erklettert den Mast mit Singen,
Das Segel zu richten, auf daß es schwelle,
Und die Gedanken, wie müde Vögel,
Doch ruhlosen Fluges, umschwärmen die Raaen...

Ja, ja, zum Meere! Dahin zog Vikar!
Gleich ihm zu segeln, gleich ihm zu sinken
Im Vordersteven für König Olav!
Mit dem Kiel zerteilen das kalte Bedenken,
Doch Hoffnung haschen vom leisesten Lüftchen.
Mit des Todes Finger hinten am Steuer,
Mit des Himmels Klarheit vorn über den Bahnen!

Und dann einmal, in der letzten Stunde,
Zu fühlen, die Nägel lösen sich langsam,
Und es drückt der Tod auf das Plankengefüge,
Daß vom Kiel die erlösende Flut heraufschwillt!
Dann hingestreckt in den feuchten Segeln
Und still hinüber ins ewige Schweigen.--
In großen, mondscheinklaren Nächten
Strandwärts roll' meinen Namen die Woge!



ALLEIN UND IN REUE

(An einen abgeschiedenen Freund)


Ich hab' einen Freund, im Grauen der Nacht
Hör' ich oft seinen Gruß: Gott mit dir!
Wenn die Lichter sterben, mein Sinn nur wacht,
Dann tritt er am liebsten zu mir.

Er hat kein Wort, das mich kränken will,
Denn er selbst kennt Sünde und Leid.
Er heilt mit Blicken und wartet still,
Bis ich ausgekämpft meinen Streit.

Und schafft mir Kummer, was ich getan,
So bekennt er sich selbst dazu.
Er faßt meinen Glauben so handweich an,
Und bringt den Schmerz zur Ruh.

Stieg jubelnd die Hoffnung--er folgte ihr,
Und verzagte nicht, wenn sie sank.
Jetzt wieder--mild steht er neben mir--:
Mein Aufschwung werde sein Dank!



DIE PRINZESSIN


Prinzeßchen saß hoch in der Jungfernbastei,
Ein Bürschlein ging unten und blies die Schalmei.
"Du Kleiner, was bläst du am Abend?--sei still!
Das hält meine Seele, die fortfliegen will
Mit der Sonne dort."

Prinzeßchen saß hoch in der Jungfernbastei,
Das Bürschlein blies länger nicht auf der Schalmei.
"Du Kleiner, so blase, was schweigst du denn still?
Das trägt meine Seele, die fortfliegen will
Mit der Sonne dort."

Prinzeßchen saß hoch in der Jungfernbastei,
Das Bürschlein nun wiederum blies die Schalmei.
Sie weint in den Abend und seufzet vor Qual:
"O sagt doch, was fehlt mir?--Mit einem Mal
Ist die Sonne fort."



VOM MONTE PINCIO


Der Abend bricht an, die Sonne steht rot,
Von Strahlen entlodert der Himmelsbogen;
Lichtsehnender Glanz in unendlichen Wogen
Verklärt das Gebirg' wie ein Antlitz im Tod.
Es flammen die Kuppeln; doch mehr im weiten
Die Nebel, die schwarzblaue Felder umbreiten,
Ruhn drüber gleichwie das Vergessen zuvor:
Dies Tal deckt tausendjähriger Flor.
  Abend so rot und warm,
  Lärmenden Volkes Schwarm,
  Glutende Hornmusik,
  Blumen und Feuerblick!--
Rings stehen in stummen Marmor gebannte
Heroen der Vorzeit, kaum gekannte.

Wie Opferdampf in errötender Luft
Hat Vespergeläut' die Schwingen entfaltet;
Die heilige Dämmrung der Kirchen waltet,
Gebete zittern in Wort und in Duft.
Hell glühn die Sabiner, die lichtumflirrten,
Es blitzt die Campagna von Feuern der Hirten,
Und Romas Lichter, sie glitzern sacht
Wie Sagen durch der Geschichte Nacht.
  In den Dämmerschein
  Steigen Raketen hinein;--
  Fröhlicher Menschen viel
  Lachen beim Morraspiel,
Und jeder Gedanke versucht in Tönen
Und Farben sich mit dem All zu versöhnen.

Das Licht unterlag in lautlosem Kampf;
Es wölbt sich der Himmel in stahlblauem Dunkel,
Entlockt seinen Tiefen der Sterne Gefunkel,
Die Erde versinkt in Nebel und Dampf.
Nun wendet sich stadtwärts der Augen Flug:
Dort naht mit Fackeln ein Leichenzug;
Er sucht die Nacht; doch der Lichtglanz mag
Ihm Hoffnungen zuwehn vom ewigen Tag.
  Zechen und Mönchsgesang,
  Tanz, Mandolinenklang
  Werden betäubt zugleich
  Kräftig vom Zapfenstreich;--
Durch pochender Träume lebendiges Schwanken
Mitschimmert das Taglicht im Gedanken.

Still wird es; der Himmel, noch dunkeler blau,
Läßt unter seinen unendlichen Räumen
Sowohl von Vergangnem wie Künftigem träumen--
Unsicheres Blinken im brütenden Grau.
Doch geben wird Roma das Flammenzeichen,
Weit sichtbar rings in Italiens Reichen:
Mit Glockengeläut' und Kanonengedröhn
Aufschwebt die Erinnrung zu neuen Höhn!--
  Köstlich tut Sängermund
  Hoffnung und Glauben kund,
  Bringt einem jungen Paar
  Ständchen zur Laute dar.
Die stärkere Sehnsucht ruht süß im Hafen;--
Die mindere lächelt und will nicht schlafen.



ACH, WÜSSTEST DU NUR!


Ich darf dich zu sprechen mich nimmer getraun,
Du wagst nicht, zu mir herunterzuschaun;
Doch seh' ich dich immer am Fenster stehen,
Muß immer dort auf und nieder gehen.
Dann schleicht mein Denken auf heimlicher Flur
Und wagt nicht zu folgen der eigenen Spur!
  Ach, wüßtest du nur!

Als festgewurzelt ich Wache hier stand,
Hast oft du spröde dich abgewandt;
Doch seit ich seltner den Weg genommen,
Nun dünkt mich, du wartest auf mein Kommen.
Zwei Augen, sie flechten die Angelschnur;
Weh dem, der ihren Zauber erfuhr!
  Ach, wüßtest du nur!

Ja, wenn du ahntest, du Engelsgesicht,
Daß ich hier unten ersann ein Gedicht,
Das just auf Flügeln wollte gelangen
Dorthin, wo du stehst in lieblichem Prangen!
Doch hörst du ihn nie, den verstohlenen Schwur.
Leb' wohl; dir lächle des Glückes Azur!
  Ach, wüßtest du nur!



DIE ENGEL DES SCHLAFES


  Als rosig das Kind
  In Schlummer fiel,
  Nahten ihm Engel
  Mit Lachen und Spiel.
Und die Mutter stand vor ihm, als es erwachte:
"Wie schön mein Kleines im Schlafe lachte!".

Zu Gott ging sie bald,
  Weg gab man das Kind;
  Einschlief's in der Fremde,
  Vom Weinen schier blind;
Doch Kosen und Mutterwort hellten die Räume:
Denn die Engel lachten ihm kindliche Träume.

  Heran wächst das Kind,
  Die Träne erstarrt;
  Einschläft's mit Gedanken;
  Die lasten so hart!
Doch nicht weichen die Engel, sie scheuchen die Sorgen:
"Schlafe! Im Frieden des Schlafs geborgen!"



DAS MÄDCHEN AM STRAND


Sie ging am Strande so jung dahin,
Sie dachte an nichts in ihrem Sinn.
Da kam ein Maler geschritten heran,
  Der im Schatten sodann,
  In des Meeres Bann,
Den Strand und sie zu malen begann.

Langsamer im Kreise ging sie dahin;
Ein einziger Gedanke, der lag ihr im Sinn:
Sie dacht' an das Bild auf der Leinewand,
  Wo sie selber stand,
  Sie selber am Strand,
Und im Meer mit dem Himmel gespiegelt sich fand.

Es trieb, es zog ein Traum sie dahin;
Sie dachte an vieles in ihrem Sinn:
Weit, weit übers Meer und doch so nah
  Zum Strand, den sie sah,
  Zum Mann allda--
Ei, was für ein sonniges Wunder geschah!



HEIMLICHE LIEBE


Er saß im Winkel allein;
Sie schwang sich lustig im Reihn.
Sie scherzte, sie lachte
Mit einem, mit zwein...
O, daß sie ihm das tun mußte!
Doch niemand war, der davon wußte.

Sie hofft' auf den Abend ein Wort.
Er sagte Lebwohl und--ging fort.
Sie weinten, ein jedes,
Sie hier und er dort,
Ob eines Lebens Verluste.
Doch niemand war, der davon wußte.

Er sah von der Erde ein Stück.
Doch Heimweh trieb ihn zurück.--
Sein Bild war geblieben
Ihr einziges Glück,
Bis daß sie zu Gott gehen mußte.
Doch niemand war, der davon wußte.



OLAV TRYGVASON


Weiß von Segeln die Nordsee blitzt;
Hoch am Steuer im Morgen sitzt
Erling Skjalgsson von Sole,--
Späht übers Meer gen Dänemark:
Wo bleibt Olav Trygvason?

Sechsundfünfzig füllten den Plan,
Harrende Drachen; gen Dänemark sahn
Sonnbraune Mannen;--da scholl es:
"Wollte der Orm nicht kommen?
Wo bleibt Olav Trygvason?"

Doch als beim nahenden Morgengraun
Noch kein Mast am Himmel zu schaun,
Schwoll der Ruf wie ein Sturm an:
"Wollte der Orm nicht kommen?
Wo bleibt Olav Trygvason?"

Stille, stille zur selben Stund
Alle standen: von Meeres Grund
Stieg's empor wie ein Seufzen:
"Längst ist der Orm genommen,
Tot liegt Olav Trygvason."

Alle hundert Jahre seither
Raunt um Norwegens Schiffe das Meer
Dumpf in mondigen Nächten:
"Längst ist der Orm genommen,
Tot liegt Olav Trygvason."



SEUFZER


Abendsonnenfunkeln
Nie durch meine Scheiben bricht,
Auch die Morgensonne nicht;--
Stets bin ich im Dunkeln.

Sonne, sprich, wann gleitet
In die Kammer mir dein Schein?
Fällt kein Strahl ins Herz hinein,
Das im Finstern streitet?

Meinem Kindersehnen,
Morgensonne, bist du gleich;
Wenn du spielst so rein und weich,
Quellen mir die Tränen.

Abendsonnenfrieden,
Ach, du gleichst des Weisen Ruh;
Meinem Fensterlein wirst du
Künftig sein beschieden.

Morgensonnenklingen,
Ach, du bist die Phantasie,
Die der Welt Verklärung lieh.
Könnt' ich dich erringen!

Abendsonnenmilde,
Du bist mehr als Weisheitsruh',
Christenglaube bist mir du:
Leucht' auf mein Gefilde!



AN EIN PATENKIND

(1861)

Mit einem Album von Bildnissen aller derer, die in seiner Geburtsstunde
die Gedanken formten in der Welt des Geistes und der Politik.


Hier beschau' dir die Konstellation im Bilde--
Unter ihr ist dein Lichtlein erglüht!--
Die Sternenschar, die im Himmelsgefilde
Des Gedankens nun strahlet und sprüht.
Was künden sie dir? Wir wissen es nicht.
Deinem Weg, dem noch dunklen, vorleuchtet ihr Licht,
Deiner harrend, ihr Geistesglanz nimmt dich in Pflicht.--

  Erst laß sie dich führen,
  Doch trenne dich dann,--
  Mußt tasten und spüren
  Dich selber voran.



BERGLIOT


(In der Herberge)

Nun wird König Harald
Wohl Tingfrieden geben;
Denn Ejnar sammelte
Fünfhundert Bauern.

Die Burg umschließet
Ejndride, der Jüngling,
Dieweil sein Vater
Redet zum König.

Nun hoffe ich, Harald
Bedenkt, daß Ejnar
Zween Könige schon
Für Norge geküret--

Und schenkt uns Versöhnung
Auf Grund der Gesetze;
So war sein Gelübde,
Heiß wünscht es das Volk.

Wie auf den Wegen
Sandwolken stieben,
Und Lärm wacht auf!--
Schau' nach, mein Knappe.

--Es war wohl der Wind nur!
Denn unwirtlich ist's hier
Am offnen Fjord
In den niedren Bergen.

Seit früher Kindheit
Kenn' ich die Stätte;
Der Wind hetzt die grimmen
Hunde hierher.

--Doch tausendstimmig
Entfacht sich Getöse,
Durch Stahlklang wachsend
Zu kampfroter Flamme.

Ja, das ist Schildlärm!
Und sieh, welch Staubmeer,
Speerwogen turmhoch
Um Tambarskelve.

In Not ist Ejnar!--
Treuloser Harald.
Deinem Tingfried entsteigen
Die Totenvögel.

Fahrt zu mit dem Wagen.
Ich muß zum Kampfe,--
Jetzt müßig sitzen,--
Nicht um das Leben!

(Auf dem Wege)

O Bauern, bergt ihn
In schirmendem Kreise!
Ejndride, nun schütze
Den alten Vater!

Baut ihm eine Schildburg
Und reicht ihm den Bogen;
Mit Ejnars Pfeilen
Pflügt ja der Tod!

Und du, Sankt Olav!
O denk deines Sohnes,
Und bitte für Ejnar
In Gimles Hallen.

(Näher)

Kampflose Mengen-- ...
In wirrem Drängen...
Gleich Wellen,
Den schnellen,
Zum Strande nun fliehn
Mit bebenden Knien
Und starren zurück.
Verließ uns das Glück?
Mit trauernden Zeichen
Halten die Scharen;
Sie pflanzen die Lanzen
Im Kreis um zwei Leichen.
Und Harald darf fahren?
Welch dumpfes Gedränge
Beim Tinghause dort!
Stumm wendet die Menge
Sich schaudernd fort.
_Wo ist Ejndride!_----
Angstvolle Blicke,
Wohin ich sehe,
Wollen mich meiden...
Nun weiß ich's, wehe,
Tot sind die beiden.
----Platz. Ich muß sehen.
Weh mir, sie sind es.
Konnt' es geschehen?
Ja, sie sind es.

Gefallen ist Nordens
Herrlichster Helde,
Norriges bester
Bogen zerbarst.

Gefallen ist Ejnar
Tambarskelve,
Der Sohn ihm zur Seite,--
Ejndride.

Ermordet im Finstern,
Er, der dem Magnus
Mehr als ein Vater,
Knuds, des Reichen,
Söhnen ein Freund.

Meuchlings ermordet
Der Schütze von Svolder,
Der springende Löwe
Der Lyrskogheide.

Tückisch geschlachtet
Der Bauern Häuptling,
Der Trönder Heide
Tambarskelve.

Mit weißen Haaren
Den Hunden zur Beute,--
Der Sohn ihm zur Seite,
Ejndride!

Auf, auf, ihr Bauern, er ist gefallen.
Doch er, der ihn fällte, er lebt.
Kennt ihr mich nicht? Bergliot,
Tochter des Håkon von Hjörungavaag:
Nun bin ich Tambarskelves Witwe.

Euch rufe ich an, Heerbauern,
Mein greiser Mann ist gefallen.
Seht, seht, hier ist Blut auf dem bleichen Haar.
Auf euer Haupt mög' es kommen,
Wenn es erkaltet, eh' ihr es rächt.

Auf, auf, Kriegsheer, es fiel euer Feldherr,
Euer Stolz, euer Vater, eurer Kinder Wonne,
Eurer Kinder Märchen, eures Landes Held,--
Hier liegt er, gefallen. Und ihr wolltet ihn nicht rächen?

Meuchlings ermordet, im Königshause,
Im Tinghaus, dem Hause des Rechtes ermordet,
Ermordet vom obersten Manne des Rechts!
Des Himmels Blitz zermalme das Land,
Läutert sich's nicht in der Lohe der Rache!

Stoßt die Langschiffe ab!
Ejnars neun Langschiffe liegen ja hier,
Laßt sie die Rache zu Harald tragen.

O stündest du hier, Håkon Ivarson,
Stündest hier auf der Höhe, mein Blutsfreund,
Nicht erreichte den Fjord dann Ejnars Mörder,--
Nicht müßt' zu euch, Feigen, ich flehn!

O Bauern, hört mich, mein Mann ist gefallen,
Meines Denkens Hochsitz durch fünfzig Jahre!
Zermalmt, zerbrochen, und ihm zur Seite
Der einzige Sohn, ach! all unser Hoffen!

Leer ist es nun zwischen diesen zwei Armen--
Kann ich betend sie je noch erheben?
Wohin auf Erden soll ich mich wenden?
Zieh' ich von hinnen zu fremden Stätten,--
Sehn' ich mich heim, wo wir beide gewandelt.
Aber wende ich mich heimwärts,--
Ach! sie selbst vermisse ich dann.

Odin in Walhall darf ich nicht suchen;
Den verließ ich ja schon in der Kindheit.
Und der neue Gott in Gimle?----
Der hat mir ja alles genommen!

Rache?--Wer spricht von Rache?--
Kann Rache meine Toten erwecken?
Kann sie mich wärmen, wenn fröstelnd ich bebe?
Gibt sie mir traulichen Witwensitz,
Trost einer Mutter ohne Kind?

Geht mit eurer Rache! Laßt mich in Frieden!
Legt ihn auf den Wagen, ihn und den Sohn,
Kommt, wir geleiten sie heim.
Der neue Gott in Gimle, der fürchterliche, der alles nahm,
Laßt ihn auch Rache nehmen; denn die versteht er,
Fahrt langsam! Denn so fuhr auch Ejnar immer,--
Und wir kommen früh genug heim.

Nicht springen die Hunde heut freudig herbei,--
Sie winseln und heulen mit hängendem Schwanz.
Im Stalle spitzen die Pferde die Ohren,
Froh der Stalltür entgegenwiehernd,
Lauschend auf Ejndrides Stimme.

Doch nimmer ertönt sie mehr,--
Und nimmermehr Ejnars Schritt im Flur,
Der allen kündet: steht auf, ihr Leute,
Jetzt kommt euer Häuptling!

Die großen Stuben will ich schließen,
Fortschicken all unsre Leute;
Vieh und Pferde will ich verkaufen,
Von hinnen ziehn und einsam leben.
  Fahrt langsam!
Denn wir kommen früh genug heim.



AN MEINE FRAU

(Mit einem Satz römischer Perlen)


Nimm diese Perlen!--als späten Reim
Auf die, so geschmückt einst mein Jugendheim!
Der tausend Stunden stilles Glück,
Da du drin geatmet, es blieb zurück
Ein Haufe Perlen schimmernd hell,
Die der junge Gesell
Um die Brust sich hing
Und ums Haupt sich band--
Daß aller Welt zu lesen stand,
Von wem sein Herz und Geist erst rechte Zier empfing:
Von ihr, die ihre Liebe um sein Leben wand!



IN EINER SCHWEREN STUNDE


Wohl dem, der ernster Fährnis
Dankt seiner Kraft Bewährnis:
  Je ferner das Ziel,
  Desto schwerer das Spiel,
Doch herrlicher auch das Gelingen!
Zerbricht dein Stab in Stücke,
Und wird aus Freundschaft Tücke,
  Ei, das geschieht,
  Damit man sieht,
Du brauchest keine Krücke.
  Wen Gott auf Erden
  Allein gestellt,
Dem wird er selbst zur Stütze werden.



FRIDA [Symbol: gestorben]


Frida, ich wußte, du wolltest nicht leben.
Bloßen Gedanken schon war es gegeben,
Dich zu entgeistern, als wären in ihnen
Engel erschienen.

Wie deine Augen, die staunenden, klaren,
Fern dann und fremd allem Irdischen waren:
Da wuchs die Schwinge, die nach deinen Tagen
Fort dich getragen.

Sprachest du, fragtest du, ward mir oft bange;
War's doch, als ob Blick und Stimme verlange,
Dir einen Schatz der Erkenntnis zu zeigen,
Der mir nicht eigen.

Sprangst du, wie eben der Schulbank entronnen,
Flog dein Gelock wie ein wehender Bronnen;
Lachtest du, tat sich der Himmel auf, strahlend
Über dein Strahlen.

Oder wie konntest du bitter dich grämen!
Alles zerfloß gleich zu Schatten und Schemen,
Chaos ward, wie vor des Ewigen Werde,
Himmel und Erde.

Da, o, da sah ich: dein Glück, deine Schmerzen
Fanden nicht Raum mehr im irdischen Herzen.
_Dort_ winkte Weite!--Doch _hier_ blieb ein Schweigen
Wunderlich eigen.



AN BERGEN


Wie du dasitzt stumm,
Hochgebirg ringsum,
Meer um deinen Fuß und vor dir deine Schären,
Sinnest du wohl auf
Saga, deren Lauf
Noch einmal die Welt erstaunen soll!

Stadt, dir selber treu,
Bergen, "niemals neu",
Unverwüstlich, echt, wie deines _Holberg_ Laune.
Vormals Königswacht,
Später Handelsmacht,
Sitz sodann des ersten Freiheittings!

Wie die Sonne oft
Hell und unverhofft
Deinen Dunst durchbrach und deine Regenschleier,
Kamst du uns mit Rat
Oder rascher Tat,
Wann uns Nacht am dunkelsten umfing.

Tief aus Volkesgrund,
Witzig, kerngesund,
Sproßten da Gedanken, stand uns eine Kunst auf,
Trotzig, blaugeäugt,
An der Brust gesäugt
Deiner düstern, mächtigen Natur.

Deine Berge kahl
Malte unser _Dahl_,
Träumend wandelte an deinem Strand _Welhaven_,
Und auf deiner Flut
Kreuzte hochgemut
_Ole Bull_ vor Flaggen aller Welt.

Deine Nordsee wacht
Treulich deiner Macht,
Und durch deine blauen Fjorde, wie durch Adern,
Strömst du Glück in dein
Nordisch Land hinein,--
Stadt durch Vorzeit reich, an Zukunft reich!



P.A. MUNCH [Symbol: gestorben]

(1863)


Viele Formen hat das Große.
Er, der von uns ging, er trug es,
Wie wir einen Zweifel tragen,
Der den Schlaf uns raubt, doch endlich
Offenbarung uns gewähret,--
Wie ein höheres Sehvermögen
Leidend über Unsichtbares,--
Einen Flug durch schwere Arbeit
Vom Gedachten zum Gewissen,
Vom Gewissen zum Geahnten,
Der in ruhelosem Drängen,
Gotterfüllt und ewig wechselnd
Unsre Welt im Sturm durchkreuzet,
Ihrer Zweifel und Gedanken
Last ihr von den Schultern nehmend,
Und sie abwirft, und sie aufhebt,
Nimmer matt--doch ewig rastlos.

  Still! Nur ein einziger Zufluchtsort
  Wußte ihn sanft zu versöhnen:
  Seiner Familie lichtmilder Hort,
  Schmeichelnd in Farben und Tönen.

  Spann ihn sein Weib mit dem Zauberspiel
  Unter der Birken Schleier
  Mitten in duftender Blumen Gewühl
  Ein in des Walddomes Feier,--

  Kamen die Töchter dann lieblich und leis
  In ihrer Unschuld Klarheit,
  Fächelten Kühlung der Stirne heiß,
  Sprachen von kindlicher Wahrheit,--

  War er bald mitten in Spiel und Lied
  Zärtlich von Tönen umfangen,
  Wolken zerrannen, und hoch im Zenit
  Jubelnd Millionen sangen.

Doch wie in des Herbstes stiller,
Traumhaft schwerer Abenddämmrung
Wetterleuchten die Gedanken
Schreckhaft auf Gewitter lenket,--
Oder wie ein Schlag im Boote,
Das in stiller zarter Mainacht
Schläfrig zwischen Felsen gleitet,--
Nur ein einziges leises Plätschern,--
Doch das Echo jagt es weiter,
Jagt's von Fels zu Fels, die Drossel
Flattert auf, es kreischt das Birkhuhn,
Lauschend hebt das Reh sein Köpfchen,
Steine rollen, wach wird alles:
Hunde heulen, Glocken gellen,
Weckend all des Tages Lärmen,--
Also könnt' ihm ein Erinnern,
Daunweich nur im Spiel gefallen,
Wecken der Gedanken Heerschar.

Und dann jagte es durchs Weltall,
Und dann flammt's in seiner Seele,
Doch es ward zu Licht für andre.

Rassenursprung, Wortverzweigung,
Namenquell, Gesetzverwandtschaft,
Groß und Klein in gleichen Qualen,
Gleichen Zweifeln jagt zum Ziele.
Wo nur Steine andre sahen,
Sah er's glitzern, sah er's funkeln,
Sprengte er den Schacht zum Bergwerk.
Und wo andre vor dem sichern
Funde des Jahrhunderts standen,
Griff ihn Zweifel, und er wühlte
Tag und Nächte bis zum Grunde,
Grub--und sah den Fund versinken.

Doch es ließ sein rastlos Wollen,
Das so vielen Kraft gespendet,
Oftmals übers Ziel ihn schießen.
Klarheit, die er ändern schenkte,
Trog ihn selbst als neue Ahnung.

Darum: wo er schon gewesen,
Kehrte er nur ungern wieder.
Stoff so oft wie Arbeit wechselnd,
Floh er vor dem eignen Denken.
Das Gedachte aber hielt ihn,
Folgte, wuchs gleich einem Brande,
In Brasiliens Wald geschleudert,
Prasselnd vor der Windsbraut fliehend.
Wo kein Menschenfuß gegangen,
Fraß sich's Weg für Millionen.

Nordens Reich streckt seinen Busen
In des Eismeers frostige Nebel,
Finsternis der Wintermonde
Lastet schwer auf Meer und Bergen.
Und den Landen gleich, erstreckt sich
Auch des Volkes tiefste Wurzel
Weit hinein in Nacht und Nebel.
Doch wie durch die Nacht ein Leuchtturm,
Doch wie Nordlicht durch Polarnacht
Blinkte leuchtend sein Gedanke.
Zärtlich wie nach seines Vaters
Angedenken frug er eifrig,
Forschend nach des Volkes Wegen.
Namen, Gräber, rostige Waffen,
Steine brachten ihm die Antwort.
Über Asiens Urwaldberge,
Wüstensand und öde Steppen
Sah er Karawanenspuren
Unterm Moder von Äonen
Heimatsuchend nordwärts deuten.
Wie einst sie den Flüssen folgten,
Folgte ihnen all sein Denken,
Das so reich ins Weltall strömte.--

Sieh, es war ja nur Versöhnung,
Was sein rastlos Schaffen wollte,
Doch die fand er nicht;--statt dessen
Fand er neue Wunderdinge,
--Ganz wie jene Alchymisten,
Die im Suchen nach dem Golde
Zwar nicht Gold, doch Kräfte fanden,
Die noch heut die Welt bewegen.

Tief im Grunde barg sein Wesen
Eine Kraft des Gegensatzes,
So daß Töne, angeschlagen
Von des Nordens hehrer Saga,
Mild harmonisch weiterklangen
In der Sehnsucht nach dem _Süden_.
Und es war des Auges Flamme,
Des Gedankens Blitz verwandt dem
Feuer des Improvisators
In dem heißen Land der Trauben.
Und sein leichter Stimmungswechsel
Und der Feuergeist, der Frondienst
Tat den lieben langen Winter,
Doch die Frucht oft spielend wegwarf,--
Jener unermessene Reichtum,
Drin Gedanken, Launen, Töne,
Leid und Wonne, Ernst und Frohsinn
Unaufhörlich glitzernd spielten,--
Das war wie ein Tag im Süden.

Eine Reise war sein Leben
Unaufhaltsam drum gen Süden,
Durch das Nebelland des Ahnens,
Aus dem Dunkeln in das Klare,
Aus dem Kalten in das Warme,--
Und sein Wirken war die Brücke
Über Berg und Meeresströmung.

----O, und dann des Glückes Stunde,
Da mit Weib und Spielgefährten,
Seinen kindlich frischen Töchtern,
Er dort stand, wo Abendsonne
Kapitol und Forum grüßte,--
Wo aus tiefem Grund der Weltstadt
Weisheit und Erkenntnis sprudeln;---
Wo jetzt Klarheit, ätherreine,
Die Jahrtausende erleuchtet,
Die zur Ruhe hier gegangen;--
Wo dem Forscher aus dem Norden
War, als sei er allzulange
Irr im Nebel nur gerudert
Auf den tiefen, breiten Fjorden;--
Stand, wo Tote ihre Gräber
Sprengen und als Zeugen schreiten
In der schweren Marmortoga;
Wo die Göttinnen von Delos
In die Freskensäle tanzen
Wie einst vor zweitausend Jahren;--
Wo der Erde wachsend Werden
Pantheon und Kolosseum
Stolz in ihrem Schoße bargen;--
Wo ein Hermes dort am Eckstein
Cato würdig schreiten sah als
Pontifex im Priesterzuge,--
Nero als Apollon schaute,
Opferrauchumhüllten Wahnes,--
Gregor schaute, zornig reitend
Als der Geisterscharen Herrscher
Über alle Erdenreiche,--
Cola di Rienzi schaute,
Huldigend der Freiheitsgöttin
Bei des Römervolkes Jauchzen,--
Sah der Kirche Geistesfürsten,
Leo, sich statt Christus wählen
Aristoteles und Plato;--
Sah dann die katholische Kirche
Stärkre Zeiten neu errichten,
Bis der Franzmann sie zertrümmert,
Und _Natur_ zur Gottheit wurde,--
Sah aufs neu' die alten Frommen
Dann in Prozessionen wallen
Mit dem Lamm als Weltbeherrscher!--
All das sah der kleine Hermes
Dort am Eckstein hinterm Tempel,
Und es sah der nordische Weise
Ihn und seine Visionen.--

--Ja, als er in der Geschichte
Hehrer Klarheit Rom erblickte,
Und sein Auge sinnend streifte
Abendsonnumflammte Höhen,--
Flossen seiner Sehnsucht Strahlen
Über in entzückte Ahnung.
Und--er sah in eine Kirche,
Größer als der Dom des Weltalls,
Und ein Friede sank hernieder,
Über alles Jetzt erhaben.--

Und als er zum zweiten Male
Dorthin kam, durch langer Tage
Müh' und Fleiß--als gält's Erlösung,--
Da ging Gott ihm selbst entgegen,
Führte ihn hinauf und sagte:
"_Friede mit dir, du bist Sieger!_"

Doch zu uns, die klagen wollten,
Wandte Gott sich um und sagte:
"_Wenn ich rufe, wer darf sagen,_
_Der Berufne sei nicht fertig?_"

_Er, der stirbt, er war hier fertig!_
Sieh, das glauben wir im Schmerze.
Und daß Er, der allen Forschern
Jene Ruhelosigkeit gegeben
(Die Kolumbus trieb und Newton),
Weiß, wann Ruhe kommen soll.

Aber jenen Geistesscharen,
Die verklärt zur Heimat wallen,
Blicken starr wir nach und fragen:
Wer soll abermals sie sammeln?

Denn, wenn er den Kriegspfeil schnitzte,
Strömten sie von allen Ländern:
Schweden, Dänemark und England
Und von Frankreich her zusammen;
Übers Meer die Schiffe flogen
Seinem Banner rasch entgegen.

Die gewaltige Königsflotte
Lag vor Anker hier am Strande,
Und es ward uns zur Gewohnheit,
Sie zu sehn und zu befragen
Nach Eroberung und Fahrten.

Was sie uns gewann, bleibt ewig.
Doch sie selbst darf nun zur Heimat.
Fest vereint, sehn wir entschwinden
Überm Meer das letzte Segel,
Wenden uns und fragen leise:
Wer wird abermals sie sammeln?



KOENIG FRIEDRICH DER SIEBENTE [Symbol: gestorben]

(1863)


Nun schied unserm König ein wahrer Freund!
    Und es senkt bei dem Schlag
Sein Banner der Norden und folgt vereint
    Am Begräbnistag.
Doch, Dänemark! dein sind die tiefsten Schmerzen:
Nun brach dir das wärmste, das größte der Herzen,
    Nun brach deine beste
    Landesfeste,
Nun dehnt sich ein Schrei ob des Königs Tod
    Wie aus tiefster Not!

Ihn, der geboren zu Dänemarks Glück,
    Traf des Todes Los.
Jung stießen sie ihn vom Hofe zurück--
    In des Volkes Schoß.
Da gedieh er gut und ward eins mit den Scharen
Der Bauern, Matrosen in Lust und Gefahren.
    Selbst hat ihm das Leben
    Die Schule gegeben--:
Als fertig die Schlinge für Dänemark,--
    War er lebensstark.

Schnell zeigte sein Geist sich bauerndumm,
    Wo ein Kniff sich fand;
Der Verräter feinste List schlug um
    Vor dem schlichten Verstand.
Er kannte ja nur des Volkes Gedanken,
Drum gab er ihm Freiheit sonder Schranken;
    Dem Ganzen war hold er--
    Nicht teilen wollt' er,
Und hielt eine Rede, nur kurz, die hieß:
    "Nicht geschehn wird dies!"

Ein Matrose am Steuer beim Ansturm vom Meer
    Standfest und klar!
Größeres Lob war nicht sein Begehr.
    Wir bringen's ihm dar!
Stracks dreht' er das Schiff gen Nordensrunde,
Dem wahren, sicheren Ankergrunde;--
    Rings sprach im Reiche
    Bald jeder das gleiche:
"So dumm ist der wohl nimmer; seht,
    Wie trefflich es geht."

Auf Deck rief er eben die Männer all:
    Sturmsegel gesetzt!
"Land", klang es vom Mast beim Wogenprall
    _Jetzt, eben jetzt_,--
Da entglitt das Steuer den treuen Händen,
Tot sank er hin--das Schiff will wenden...
    Wenden? Nimmer!
    Sein Kurs bleibt immer;
Ihr kennt ihn, Dänen, Mann für Mann,--
    Sein Kurs heißt: Voran!

In Reih' und Glied allzeit bereit,
    Als Wahlspruch er kor.
Wie ragt' er in ehrlicher Tatkraft weit
    Den andern vor.
Sie ernten die Frucht: _geübte Soldaten_,
Stehn alle, so treu, so erprobt in Taten!
    Das Schiff _kann nicht_ schlingern:
    In vielen Fingern
Liegt fest das Steuer geborgen an Bord;
    Hurra gen Nord!

Nichts andres bleibt jetzt in der Zeiten Drang:
    Ausharren voll Pflicht,
Wachthalten im Dunkel, nicht blaß, nicht bang,--
    Gott ist unser Licht!
Hier ist's dumpf, ist es still, drückt die Sehnsucht nieder,
Lauscht jeder halb atemlos wieder und wieder,--
    Hier sind Wartezeiten,----
    Bis die Himmelsweiten
Rosig erhellt uns künden: es naht
    Der Tag zur Tat!



ALS NORWEGEN NICHT HELFEN WOLLTE

(Osterabend 1864)


Und segelst im Kattegatt du umher
    Und durch den Belt,
Du findest die Dänenfregatte nicht mehr
    Mit rotweißem Feld;
Hörst nicht mehr Wessels Stimme beim Klang
    Vom Kommandowort,
Nicht hinter dem Danebrog mehr den Sang,
    Den frischen, an Bord,
Du hörst kein Lachen, du siehst keinen Tanz
    Unterm Segelweiß,
Um Spiegel und Mast nicht den leuchtenden Kranz,
    Der Künste Preis.
Denn alles, was unser war, ertrank
    Auf dem Meeresgrund,
Jedwedes Erinnerungsbild versank
    Im nächtlichen Schlund,--
In der Winternacht, da bei Sturmeswut
    Unter Norwegens Strand
Notschüsse krachten und brandende Flut
    Tang anwarf und Sand;
Ein Boot fuhr vom Hafen zur Hilfe aus,
    Doch wandt' es in Hast,--
Da trieb die Fregatte gen Deutschland hinaus
    Mit zertrümmertem Mast!
Da flog unsre Blutsverwandtschaft vom Bord,
    Mit Stumpf und Stiel,--
Gepackt, gewirbelt, trieb fluchend sie fort,
    Ein Wellenspiel!
Der nordische Leu am Gallion, durch Sturm,
    Durch Alter so grau,--
Er ward zerstückt; ein zerschossener Turm,
    Lag das Schiff zur Schau.

Sie flickten es wieder, sie machten es klar
    Am deutschen Strand;
Schwarzgelb war die Flagge, es spreizt sich ein Aar,
    Wo der Löwe stand.
Wir segeln im Kattegatt; wie leer,
    Wie still ist es nun!
Nur ein deutsches Schlachtschiff sahn wir im Meer
    Vor Schonen ruhn.



AN DEN DANEBROG

(als Düppel fiel)


Danebrog, in alten Tagen,
_Schneeweiß, rosenrot_
Sah man, Sohn des Lichts, dich ragen
Über Nacht und Not,
Reif wie schwere Fruchtgehänge,
Hehr wie Heldengrabgesänge,
Frei, mit Geistes Wandervögeln
Durch die Welt dich segeln.

Danebrog, ach, heute steigst du
_Todbleich, blutigrot_,
Wund wie eine Möwe neigst du
Dich, verletzt zu Tod.
Heiligen Blutes Purpurlache
Zeugt für die gerechte Sache.
Fallend Volk, nun trag die schwere
Kreuzeslast der Ehre!



DER NORRÖNASTAMM

(4. November 1864)


Es zog Norrönas Söhne
Zum freien Meergestad';
Ihr Ziel war Kampfgedröhne
Und hehre Mannestat.
Ihr Geist, in Surtrs Feuer
Sich senkend wurzelfest,
Trieb Schossen ungeheuer
Zu Ygdrasils Geäst.

Ging zu der Brüder Schaden
Oft jeder eigne Spur,
Gab's auf getrennten Pfaden
Doch _eine_ Ehre nur.
Die Zeit schuf Platz für jeden:
Erst Norge, Dänemark;
Kam auch danach erst Schweden,
So wuchs es doppelt stark.

Vom Stern des dänischen Drachen
War Ost und West entbrannt;
Normannengeists Erwachen
Drang bis zum heiligen Land.
Sowie von Sveas Stamme
Die Polnacht ward erhellt,
Gibt Lützens Siegesflamme
Noch Licht der halben Welt.

Es schweißten harte Tage
Norges und Dänmarks Band;
Den größern Sinn der Saga
Hat kleine Zeit verkannt.
Dann trat, sich zu verbinden,
Norge zu Schweden hin,
Und nie mehr soll verschwinden
Der Saga größrer Sinn.

Der Volksgeist birgt im Schoße
Weissagung wundersam:
Die Zukunftstat, die große,
Eint den Norrönastamm.
Ein jedes Fest entfache
Des heiligen Schwures Klang:
Für unsres Blutes Sache
Sieg und nicht Niedergang.



GESANG DER PURITANER

(Aus dem Drama "Maria Stuart")


Gib mir Stärke, reich' mir Waffen,
Halt meinem Notschrei den Himmel offen!
Herre, ist sie dein, mein' Sach',
Schenk' ihr du den Siegestag!
Stürz' deine Feinde!
  Stürz' deine Feinde!
Roll' vor dein Zorngewölk, schmettre hinab sie,
In ihrer Sünden Abgrund begrab' sie,
  Seng' ihre Saat,
  Zertritt ohne Gnad'!
Dann laß auf schneeweißen Taubenschwingen
Dem Gläubigen Tröstung herniederbringen,
Das Ölblatt des Friedens, der deinem Frommen
Nach der Strafen Sündflut dereinst wird kommen!



JAGDLIED

(Aus dem Drama "Maria Stuart")


Hinter uns steigt Heidedampf,
  Heidedampf,
Vor uns fliegt der Falk zum Kampf,
  Vor zum Kampf.

Birkenduft erfüllt den Hang,
  Füllt den Hang,
Felswärts stürmt der Hörnerklang,
  Hörnerklang.

Durch die klare Luft dahin!
  Durch! Dahin!
Voran eilt sie! Die Königin!
  Königin!

Jagt ihr nach! Hei, Jagd voll Glut!
  Jagd voll Glut!
Nach--bis in die Todesflut!
  Todesflut!



TAYLORS LIED

(Aus dem Drama "Maria Stuart")


Auf Erden jede Freudenstund
Bezahlest du mit Sorg',
Und wird dir mehr als eine, glaub',
Du hast sie nur auf Borg.
Bald fordert eine Schmerzenszeit
In Seufzern streng zurück
Für jedes Lächeln Zinseszins,
Abschlag für jedes Glück.
  Mary Anne, Mary Anne,
  Mary Anne, Mary Anne,
Du, hätt' ich dich nicht lächeln sehn,
Müßt' ich nicht weinend stehn.

Gott helfe dem, der's nicht vermag,
Zu geben halb sein Herz;
Es kommt die Zeit, sie kommt, da ganz
Er nehmen muß den Schmerz.
Gott helfe dem, der nicht vergißt,
Daß er so froh einst war;
Gott helfe dem, dem alles bricht,
Dem nur der Geist blieb klar.
  Mary Anne, Mary Anne,
  Mary Anne, Mary Anne,
All, was ich je gepflanzt, erfror,
Nun, da ich dich verlor.



HOCHZEITSLIED


Du standest vorm Altar in weißem Kleide,
Und Ewigkeiten lauschten deinem Eide;
  Dein banges Denken schwebte
  Um ihren tiefen Grund,
  Und was dein Herz durchbebte,
  Das betete dein Mund.
Da ward dein Blick von hellem Glanz umwoben,
Denn deine Mutter betete dort oben
  Mit dir zugleich.

Nun fühltest du, die Hand, die dir gegeben,
Festhalten werde sie fürs ganze Leben;
  Dir wurde leichter, freier,
  Dein Herz schlug nicht mehr bang;
  Du sahst durch Tränenschleier
  Die Zukunft hell und lang!
Betaut von milden Liebestränen deuchte
Das Leben dir ein Lenz, der ewig leuchte;
  Du faßtest Mut.

Ihm, der die Eltern deinen Kindertagen
Ersetzte, galt es Lebewohl zu sagen.
  Sein Werk war nun geschehen:
  Du standest froh verklärt
  Und, wie's ersehnt sein Flehen,
  Warst deiner Mutter wert.
Er sah dein Aug' voll Dank emporgehoben,
Und Dank schien ihm zu tönen von dort oben,
  Dank für sein Werk.

Von den Geschwistern, denen Kinderpflege,
Selbst Kind, du gönntest, scheiden deine Wege.
  Den besten Lohn von allen,
  Sie geben heut ihn drein;
  Einst in die Wage fallen
  Wird er am Tag der Pein!
Dank und Gebet ist deines Glücks Geleite,
Dank und Gebet sei stetig ihm zur Seite,
  Dank und Gebet!



LEKTOR THÅSEN [Symbol: gestorben]


Von einer Blume las ich einst, die stand,
Bebend und bleich, abseits vom Wegesrand;
Denn der Gebirgsnatur geringe Kraft
  Gab sparsam Saft
  Und kaum noch Farbe.

Ein Blumenfreund sah sie im Schatten stehn;
Froh brach er aus: du sollst nicht so vergehn!
In sonnenwarmem Grund sollst du hinfort
  Ein fruchtbar Lebenswort
  Für viele werden!

Als er sie samt dem Erdreich hebt und hält,
Blinkt's seltsam ihm entgegen,--denn ihm fällt
Goldstaub von ihrer Wurzel in die Hand:
  Die Blume stand
  Auf reichen Gruben.

Von ringsher eilt der Jugend rasche Schar
Zur Wunderstätte--und sie wird gewahr:
Hier liegt des Landes Zukunftsschacht;
  Ein Blick in Nacht
  Von Gott war die Blume.

Ach, daran dacht' ich, als die Kunde kam--
Als ihn der Herr des Lebens sänftlich nahm
Aus kaltem Felsgrund und des Winters Wehn,
  Dort aufzugehn
  In ewiger Wärme.

Denn wo sein Sehnen sich hinabgesenkt,
Da blinkt es! Diese Lebenswurzel lenkt
Dem Weisheitshort entgegen, der da reich,
  Goldadern gleich,
  Ruht in den Tiefen.

Nun, da er fort ist, wird ans Licht gebracht
Die Herrlichkeit, von ihm so treu bewacht.
Gedankenschatz der Vorzeit glänzt herauf,
  Und es blitzt auf
  Der Zukunft Reichtum.

Nach dem Metall, ihr Jungen, grabet jetzt,
Des Staub die Blume trug, von Gott versetzt.
--Euch gilt die Botschaft! Schürft es aus dem Grund!
  Ihm ward's nur kund
  In Sehnsuchtsträumen.



AUF EINER REISE DURCH SCHWEDEN


Von Kind auf war ich dir verschrieben,
Denn Größe lehrtest du mich lieben,--
Und rufe laut als Mann dir zu:
_Des Nordens Sache führe du!_

So reich an Land und Gaben bist du,
Doch deines großen Ziels vergißt du.
Eh' du den Norden nicht geeint,
_Bleibst du dir selber fremd und feind!_

Es webt ein Sehnen und ein Singen
Durch all dein Volk, doch ohne Schwingen.
Wohl stehst du da, vor vielen stark,
Doch deinen Taten fehlt das Mark.

Zu vieles wird von dir begonnen,
Zu viele Kraft zu Wind versponnen;--
An Herzensfülle mangelt's nicht,
Doch Treue fehlt und Ernst der Pflicht.

Du kannst nicht ohne Kampf gedeihen,
Ein Sinn muß deine Tage weihen,
Ein heldisch Wollen, daß die Welt
Vor Schwedens Namen inne hält.

Aus Eignem wirst kein Glied du rühren,
Der Ehre Stern muß dich verführen,
Aus Taten wird dir erst und Mühn
Die rechte Freudigkeit erblühn.

Denn deines großen Einst Versprechen
Sind allzu strahlend, sie zu brechen.
_So schmiede denn des Nordens Glück!_
_Er gibt es doppelt dir zurück!_

Du kannst kein größer Werk beginnen,
Kein heiliger Gebot ersinnen:
Dies Werk schließt deine Zukunft ein
Und macht dich aller Sünden rein!

Du Volk von Schwärmern und Propheten,
Du Volk von Träumern und Poeten!
Der Unkraft lähmend Joch zerbrich!
_Des Nordens Fahne harrt auf dich!_



STELLDICHEIN


Still ist der Abend;
Selbst sich begrabend,
Rollen die Stunden und scheidet das Licht.
Nur die Gedanken
Lauschen und schwanken:
Ob sie heut kommt oder nicht?

Frostiges Dämmern;
Wolken gleich Lämmern
Ziehen vorüber; der Sterne Heer
Zaubert im Glänzen
Liebe und Lenzen;
Kennt sie den Weg denn nicht mehr?

Sehnsuchtsleise
Unter dem Eise
Seufzt das Meer in wegmüder Ruh.
Schiffe vor Anker--
Ach, und ein Kranker
Fragt: wo verweilest du?

Schneeflocken stieben,
Bergwärts getrieben,
Märchenhaft wirbelnd zum dunkelen Hain;
Nachtvögel schwirren,
Schlagschatten irren;
War das ihr Schritt?--Ach nein!

Bist du so feige?
Sehnende Zweige
Starren von Reif; du wurdest verhext.
Doch ich bin stärker,
Sprenge den Kerker,
Wo du dich träumend versteckst.



LIED DES STUDENTENGESANGVEREINS


Auf, Brüder, stimmt an ein Lied!
Im Lichtgeleit dahin es zieht,
  Hell flammt es in Liebessonne,
  Voran eilt des Sieges Wonne,
Und ringsum träufelt Blütensaat
Auf junger Willenskräfte Pfad!

Weithin unser Sang schon fuhr,
Und ruhmreich leuchtet seine Spur
  In Fahnen und Freundschaftsspenden,
  In Kränzen aus Frauenhänden,
In Festen voller Jugendschaum,
In Volkes Vorzeit, Volkes Traum.

Nach _Halden_ ging unser Zug,
Die Fahne hing zerfetzt genug;
  Sie wehte durch unsre Sänge,
  Sie mahnte durch Liederklänge,
Erglühend in dem mächtigen Brand
Des Heldentods fürs Vaterland.

Gen _Arendal_ die Sommerfahrt
Zu "Macht und Ruhm", sei treu bewahrt.
  Inmitten der Flotte zogen
  Wir Sänger auf blauen Wogen
Zu Norges Schiffs- und Handelsflor,--
Da sangen wir den Jubelchor.

In _Bergen_, am Meeresstrand,
Wo Altes sich mit Neuem band,
Von Lurklang die Berge hallen;
  Held _Sverre_ lebt noch bei allen;
Doch frisch und voll von Lebenslust
Entstieg das Lied der Volkesbrust.

_Upsala, Kopenhagen, Lund_,
Wie zündend klingt's aus Herz und Mund!
  Da banden wir in Akkorden
  Im Dreiklang den ganzen Norden.
In vollem Chor zum Himmel klang
_Norrönastammes Einheitssang_.

Frischauf in die Welt hinaus!
Wo's Echo gibt, sind wir zu Haus.
  Im Lied unsre Zukunft winket,
  Im Lied die Vorzeit nicht versinket,--
Wir wandern weiter Hand in Hand,
Und singen Sommer unserm Land.



AN DEN BUCHHÄNDLER JOHAN DAHL

(Zu seinem sechzigsten Geburtstag)


Herr Wirt, dir sei dies Hoch gebracht!
    --"Hurra!"
Doch während wir singen, so gebt fein acht!
    --"Ja ja!"
Zuerst müßt von schrecklichen Leiden ihr wissen,
Als in unsern Wirrwarr sein Los ihn gerissen
  Zu Adlern und Schären,
  Zu Wergelands Bären,
    --Au ja!

Er kam als ein unschuldig Lämmelein,
    --O je,
So niedlich, appetitlich und sauber und rein
    Wie Schnee.
Das köstliche Fleisch ließ zu Füllsel man hacken
Und später in Teig von Herrn Wergeland backen
  Und munter zerbeißen,
  Die Knochen verschleißen
    Im Ramsch.

Doch hei! wie ein Böcklein des göttlichen Tor
    Er sprang,
Und stieß ihnen kräftiglich hinter das Ohr,--
    Das klang!
Da schmunzeln die Kerle in vollem Behagen:
"Jetzt hat der Gesell sich zum Bruder geschlagen,"
  Und balde war keiner
  Beliebter und feiner
    Als Dahl.

Das Licht aus der Bude dort konnt' wohl erhellen
    Das Land.
Dort hat sich gar mancher zum Spießgesellen
    Bekannt;
Dort machte man Mode und kritische Normen,
Und wollt' ein gut Stückchen Norwegen formen.
  Das wird die Geschichte
  Schon bringen zum Lichte
    Dereinst!

Für das, was du littest, entflammtest und strebtest,
    Hab' Dank!
Für alle die Kraft, die du freudig belebtest,
    Hab' Dank!
Für all dein gutmütig Eifern und Zanken,
Dein goldnes Gemüt, deine Freundschaft, wir danken,
  Du seltsamer Falter,
  Du Lieber, du Alter,
    Hab' Dank!



DIE SPINNERIN


Ach, was fragte er mich,
Eh' er jetzt vom Fenster schlich?
    "Du, ein Band, das knüpf' ich still,
An den Tag soll's im April.
    Traust du dich?--dann gib mir dein
Gespinst hinein."

Wie soll ich's wohl verstehn?
Wer hat je ihn weben sehn?
    Und mein Gespinst so rein,
Will er in sein Band hinein?
    Und so eilig webt er's hin,--
Bis--Lenzbeginn?

Und wie lacht' er dabei!
Ach! Stets treibt er Narretei.
  Gebe mein Gespinst ich hin,
Ihm, der also leicht von Sinn?--
  Füge du es, Gottes Hand,
Fest zum Band!



DIE WEISSE UND DIE ROTE ROSE


Die weiße und die rote Rose,
So hießen der Schwestern zwei--ja, so!
Die weiße, die war stumm und still,
Die rote allzeit froh.
Doch umgekehrt ging's seither, ja,
Da kamen die Freier weit her, ja.
Die weiße ward so rot, so rot,
Die rote ward so weiß.

Der, den die rote liebte,
Den wollt' der Vater nicht han, nicht han.
Doch den die weiße liebte,
Den nahm er glattweg an.
Die rote, ach, bleicht in Tränen, ja,
Vor Seufzen, Sorgen und Sehnen, ja.
Die weiße ward so rot, so rot,
Die rote ward so weiß.

Da, Wetter, wird dem Alten bang,
Er rückt heraus mit: ja doch--ja!
Und Hochzeit gab's mit Sang und Klang
Und Böllerschuß, hurra!
Bald kamen auch Röschen nun, o ja,--
Röschen in Strümpfen und Schuhn, o ja.
Die der roten waren weiß, doch--hm!--
Die der weißen alle rot.



IN DER JUGEND


    Jugendmut,
    Jugendmut,
Wie der Falke kühn und leicht
Hebt er sich im Blau und steigt,
Bis er alle Höhn erreicht.
    Jugendblut,
    Jugendblut,
Braust wie Dampf durch Meer und Nacht,
Sprengt das Stromeis, daß es kracht,
Trotzt dem Sturm und jauchzt und lacht.
    Jugendtraum,
    Jugendtraum,
Schleicht sich wie ein Schelm hinein
In schön Mägdleins Kämmerlein;
Aller Duft und Glanz des Lenzen
Seine leichten Wellen kränzen.
    Jugendlust,
    Jugendlust,
Sprudelt aus der Felsenbrust,
Schleudert noch im Sturz zum Grabe
Lachend seine Strahlengabe.
    Jugendlust,
    Jugendtraum,
    Jugendblut,
    Jugendmut
Streun auf unsern Erdenwegen
Singend ihren goldnen Segen.



DAS BLONDE MÄDCHEN


Ich weiß, sie wird sich von mir wenden,
So scheu, wie je ein Traum entwich--:
Und doch, ich kann nur immer enden:
Du blondes Kind, ich liebe dich!
  Ich liebe deiner Augen Träume:
  So weilt auf Schnee der Mondnacht Ruh
  Und tastet sich durch steile Bäume
  Nur ihr verschlossnen Tiefen zu.

Ich liebe diese Stirn: ein Siegel
Der Reinheit, blickt sie sternenklar
In der Gedankenfluten Spiegel,
Der eignen Fülle kaum gewahr.
  Ich liebe dieses Haar, sich drängend
  Aus seines Netzes strengem Band:
  Voll kleiner Liebesgötter hängend,
  Verlockt es Auge mir und Hand.

Ich liebe diese schlanken Glieder
Mit ihrem Rhythmus wie Gesang.
Hell klingt des Lebens Wonne wieder
Aus ihrer Pulse dunklem Drang.
  Ich liebe diesen Fuß, dich tragend
  In deiner Herrlichkeit und Kraft,
  Durchs muntre Land der Jugend wagend
  Den Weg zur ersten Leidenschaft.

Ich liebe diese Lippen, Hände,
In Amors eifersüchtiger Pacht;
Des Würdigsten als Siegesspende
Gewärtig und für ihn bewacht.
  Ja, schürze nur die schönen Brauen
  Und wende dich zur Flucht und sprich:
  Kein Mädchen dürfe Dichtern trauen.
  Ich liebe dich! Ich liebe dich!



MEIN MONAT


Ich lobe mir April,
In dem das Alte fällt,
Das Neue Kraft erhält;
Wohl liebt er Friede selten,--
Doch soll wohl Friede gelten?
Nein: daß man etwas will.
Ich lobe mir April,
Weil er, der Stürmer, Feger,
Der Eis- und Herzbeweger,
Weil er, der Kräftereger,
_Des Sommers Kommen will!_



HOCHZEITSLIED

(Zu Ditmar Meidells Hochzeit, den 21. Juli 1868)


Blick' auf, o Braut, er naht
An Freundeshand zum Buchtgestad',
Ein wenig kahl und träg',
Doch frisch und herzensreg'.
Hier kommt er treu und grad'--
Der alte braune Kreuzeraar,
Erprobt in Sturmgefahr,
Mit Augen kindlich klar.

Er war ein Bursch so keck,
Lag gern auf seines Boots Verdeck
Und ließ vom Wogenschaum
Sich wiegen in den Traum.
Der Segel breite Last
Schlug sonnbeschienen an den Mast,
Und ohne Ruder glitt
Der Kiel im Strome mit.

Doch als er müßig da
Sein Bild im tiefen Blau besah,
Getrieben ward sein Kahn
Zum offnen Ozean.

Hei, wie er munter sprang
Zum Steuer unter Flutgesang;
Die erste harte Not
War ihm wie Morgenrot.

Er kehrte nicht nach Haus,--
Fuhr in der Freiheit Reich hinaus,
Wo alles ringsumher
Unendlich wie das Meer.
Hinaus ins Flutgetos,--
Und ward das Boot auch steuerlos,
Hat kühne Manneskraft
Ihm doch den Sieg verschafft!

Da draußen stand er frisch;
Ihm wuchs der Mut im Sturmgezisch.
Sein Deck zerbarst; doch ihn
Konnt' es nicht niederziehn.
Nach oben kam er leicht,
Wie übers Meer ein Vogel streicht,
Dieweil manch stolzes Schiff
Zertrümmert ward am Riff.

Sein Kahn schwamm flott dahin,
Weil ihn gebaut ein freudiger Sinn,--
Der Sturm blieb ohne Macht:
Denn Jugend war die Fracht.
Und ein unbändiger Klang
Von Schüssen, Feuerwerk und Sang
War immerzu an Bord
Mit Echo über Nord.

Ein wenig müd' zuletzt,
Dacht' er der Kindheit sehnend jetzt,
Lag wieder friedlich-mild
Und sah sein Spiegelbild.
Er sah, der Schelm, er sah--
Sein eignes nicht, nein _ihres_ da,
Als seiner Sehnsucht Fund
Lächelnd im Wellengrund.

Zum zweiten Mal zieht aus
Sein Leben in den Wogenbraus,
Und Sturm soll seinem Kahn
Zum zweiten Male nahn!
Zum zweiten, zweiten Mal hinfort
Soll tönen Schuß und Sang an Bord;
Denn diesmal mit ihm fährt
Der Glaub' an Weibes Wert!



NORWEGISCHES SEEMANNSLIED

(Zu einem Fest norwegischer Seeleute in Stavanger 1868)


Norwegisch Seevolk ist
Ein derber Schlag voll Kraft und List;
Wo Schiffszeug schwimmen kann,
Da ist es vorne dran.
Auf Meerfahrt und zu Haus,
Im Sund und bei den Schären draus,
Vertraut es Gottes Schutz
Und beut den Wogen Trutz.

Hier müht ein Volk sich ab
Fürs Leben ruhlos bis zum Grab,--
Des Todes Sense mäht
Sich Opfer früh und spät.
Was Tag um Tag geschieht,
Bewahrt nur selten Wort und Lied,
Und von so manchem Stück
Kehrt keiner mehr zurück.

Ja, schlichter Fischer Kiel,
Von Mut und Witz geführt zum Ziel,
Hat Werke viel erschaut,
Die niemals wurden laut.
Und manches Seemanns Haupt
Ward feucht mit Schilf und Tang umlaubt,
Statt daß ihn goldnes Reis
Gekränzt im Heldenkreis.

Des Olavkreuzes Ruhm
Hätt' manches Lotsen Heldentum
Verdient, der Schar um Schar
Gerettet aus Gefahr.
Und manchem Bürschchen auch,
Das heimritt auf der Jolle Bauch,
Stand Vater hoch an Bord,
Gebührte wohl ein Wort.

Doch Norges Küste ist
Des Landes Mutterbrust und mißt
Ihm Nahrung zu, wenngleich
Oft Nahrung tränenreich.
Sie hütet und bewacht,
Was ihre Söhne je vollbracht,
Vom großen Hafurstag
Bis auf das letzte Wrack.

Das fühlte, wer sein Land
Nach langem Fernsein wiederfand;
Das fühlte, wer es ließ,
Wann er vom Ufer stieß.
Das fühlten, die weit fort:
Der Heimat Glück war mit an Bord:
_Der weißen Segel Fleiß_
_Gewann uns Macht und Preis._

       *       *       *

Hurra, wer immer heut
Zur See sich unsrer Flagge freut!
Hurra, der Lotse brav,
Der sie zuerst heut traf!
Hurra, der Fischer, der
Sich rudernd wagt auf Fjord und Meer!
Hurra, im Schärenkranz
Die Küste unsres Lands!



HALFDAN KJERULF [Symbol: gestorben]

(1868)


Hart griff der Winter die jungfrohe Kraft,
Doch er griff fehl. Der lenzfrische Saft
Rettete sich in dem leidenden Stamme.
Hochsommer bracht' ihm der Blütezeit Flamme,
Spätherbst gab reifender Früchte Prangen,--
Wenige, doch süß und mit rosigen Wangen.

Sein ward die Frucht--und wird ewig gesät,
Da, wo man ewig im Sommer steht.
Er allein fand
Leidengebeugt sich an Todesstroms Rand.
Weiter kämpft' er mit Winter und Eis,
Kämpft' um den Sommer, des Sängers Preis,
Kämpfte im Sinken, noch demütig schön
In brünstigem Flehn.

Hat ihn der Sommer auch wirklich gefällt,--
Jetzt, da man's erntet, das goldene Korn,
Hat er gesiegt; unter Jagdruf und Horn,
Einzugsfeier er hält.

Er ist der Dichtkunst mächtiges Bild.
Winterlich herb und doch sommerlich mild.
Gleichwie die Lüfte in zitterndem Schein,
Rosige Gipfel und laubfrischer Hain,
Bäche, die blumige Wiesen durchgleiten,
Klingen und spielen in Sonnenlichts Saiten,
So soll die Dichtkunst erstehen aufs neu',--
Bleibt sie, selbst fallend, der Sache nur treu,--
Mächtig sich dehnen,
_Bald ist hier Sommer mit Sommers Sehnen._



VORWÄRTS


    "Vorwärts! vorwärts!"
  Scholl der Ahnen Losungswort.
    "Vorwärts! vorwärts!"
  Pflanzen wir den Schlachtruf fort!
Was die Sinne flammen, die Herzen glauben heißt,
  Auch uns, die Enkel, vorwärts reißt
    In ihrem Geist.

    "Vorwärts! vorwärts!"
  Wer gern haust als freier Mann.
    "Vorwärts! vorwärts!"
  Freiheit ewiglich voran!
Was sie auch an Leiden und Opfern kosten mag,
  Wer weiß noch vom empfangnen Schlag
    Am Siegestag?

    "Vorwärts! vorwärts!"
  Wer da traut des Volkes Kraft.
    "Vorwärts! vorwärts!"
  Wer am Werk der Väter schafft.
Schätze schlafen tief noch in nordischer Berge Schoß:
  Die lege treuer Spatenstoß
    Von neuem bloß!



WIE MAN SICH FAND

(Zum Studententag 1869)


Träume, die zu Träumen drängen,
Finden bald ihr Reich;
Herzen, die sich suchen, sprengen
Alles lenzstrahlgleich.
Und je tiefre Leiden binden
Ihren jungen Drang,
Desto heller beim Sichfinden
Braust der Jubelsang.

Jeder von den Hochgemuten
Spornt zwar hundert an,
Doch wenn tausend auch verbluten,
Wär's doch nicht getan.
Nein, erst wenn der Volkslenz brausend
Stürmt durch Wald und Land,
Weckend all die Hunderttausend,--
Dann erst man sich fand.

Heil nun Norges jungem Tage,
Fern in Dunst versteckt.
Mit dem Dämmergrauen jage
Weg, was uns erschreckt.
Und des Schlachthorns hohle Lieder,
Tränen, Schmach und Blut,
Die beseelten immer wieder
Uns erst recht mit Mut.

Aus des Volkes Geist und Werken
Wächst er Tag für Tag,
Niederlagen ihn nur stärken
Zum Entscheidungsschlag.
Frühlingsahnen ist entglommen,
Spricht das Jubelwort
Von dem Lenz, der einst wird kommen,
Heil dir, Volk im Nord!



NORWEGISCHE NATUR

(Auf Ringerike während des Studententages 1869)


Wohlauf, ihr Wanderer, singt,
Von Norges Herrlichkeit umringt!
  Laßt stille den Ton sich ranken,
  Wie Farben vorüberschwanken
Zu Fjord und Strand, Gebirg und Flur
Und Wald im Borne der Natur.

Die Glut in des Volkes Drang,
Die tiefe Kraft in seinem Sang,
  Hier hebt sie zu dir die Augen,
  Um deine Schönheit zu saugen,
Und daß du dich vor ihr enthüllt,
Dankt dir ein Blick, von Lieb' erfüllt.

Hier kam die Geschichte zur Welt,
Hier träumte Halvdan als ein Held.
  Er sah in Nebelgestalten
  Das ganze Reich sich entfalten,
Und _Nore_ stand und gab ihm Mut,
Und in die Weite wies die Flut.

Hier führe des Liedes Chor
Der Heimat ganzes Bild uns vor!
  Es brause der Sturm in der Stille;
  Ins Milde soll dringen der Wille:
Wenn sich das Land zusammenschart,
Erkennt ein jeder unsre Art.

Was immer als erstes sie will,
Sind hundert Häfen im April.
  Da hebt sich das Herz zum Gotte,
  Wenn Anker lichtet die Flotte;
Norges Gebete segeln fort
Mit sechzigtausend Mann an Bord.

Schau'  felsigen Küstenhang
Mit Möwen, Walen, Platz zum Fang,
  Fahrzeugen im Inselschutze,
  Doch Boten im Wogentrutze
Und Garn im Fjord, Schleppnetz im Sund--
Von Rogen weiß den ganzen Grund.

Im wilden Lofotenschwarm
Umschlingt den Fels der Meeresarm;
  Die Höhen hält Nebel umzogen,
  Doch am Fuße keuchen die Wogen,
Und alles dunkelt, schreckt und droht;
Jedoch im Strudel Boot an Boot.

Den Eismeerfahrer dort schau'
Hinziehn durch Schnee und Dämmergrau.
  Laut schallen Kommandoworte;
  Durchs Eis wird gebrochen die Pforte,
Und Schuß auf Schuß die Seehundsjagd,
Doch Leib und Seele unverzagt.

Dann kommen wird abends zu Gast,
Wo das Gebirgsvolk weilt zur Rast,
  Wo Kühe man melkt auf den Matten
  In des dräuenden Felshangs Schatten,
Wo sehnsuchtsbangem Fragelaut
Natur die Antwort anvertraut.

Doch müssen wir weiter im Flug;
Denn unser wartet noch genug,--
  Das Bergwerk, drin Erze wuchten,
  Die Renntierjagd in den Schluchten,
Der schäumend weiße Strom, der stolz
Zu Tale trägt des Flößers Holz.

Und weilen wir wieder hier,
Die breiten Dörfer lieben wir,
  Wo Bauern in treuem Walten
  Hoch unsere Ehre halten;
Von ihrer Ahnen Glanz umloht
War unsres Aufgangs Morgenrot.

Wohlauf, ihr Wanderer, singt,
Von Norges Herrlichkeit umringt!
  Uns leiht unser Wirken Flügel,
  Es grüßt uns die Vorzeit vom Hügel,
Und unsre Zukunft werd' erbaut
So stark wie Gott, dem sie vertraut.



ICH REISTE VORÜBER


--Ich reiste vorüber im Morgenrot:
Lautlos ein Hof noch im Lichte ruht,
Und wie die Scheiben brennen in Blut,
Loht auf in der Seele erloschene Glut:--
  In Frühjahrsstunden
  Dort war ich gebunden
  Von lächelnden Lippen und feinen Händen,
  Und das Lächeln mußte in Tränen enden.

Lang, bis der Hof meinem Blicke entschwand,
Schaut' ich hinüber, unverwandt.
Alles Vergangne erglänzte rein,
Alles Vergessne ward wieder mein:--
  Gedanken wandern
  Nun auch zu andern
  Frühlingstagen, und Wonnen und Fehle
  Wogen vor und zurück in der Seele.

Freudvoll damals und freudvoll nun,
Schmerzen damals und Schmerzen nun.
Sonne im Tau: wie das funkelt und weint--
Tränen und Lächeln verklärt und vereint.
  Wenn Erinnerungswellen
  Flutend erst schwellen
  Über die Seele und ebben dann wieder,
  Grünt sie und sprengt die Knospen der Lieder.



MEIN GELEIT


Durch strahlende Wonnen fahr' ich heut
In Sonntagsstille mit Glockengeläut.
Die Sonne, vom Saatfeld bis zu den Mücken,
Will alles alliebend, allsegnend beglücken.
Ich sehe das Volk in die Kirche wallen,
Hör' Psalmen aus offener Pforte hallen.--
Sei fröhlich! Nicht mir nur galt dein Gruß,
Wenngleich du's nicht merktest mit eiligem Fuß.

Ich habe das herrlichste Reisegeleit--
Zwar birgt es sich listig von Zeit zu Zeit;
Doch sahst du mich Sonntagsfreude bekunden,
So war's, weil mehrere mit mir verbunden,
Und hörtest du meinen gedämpften Gesang,
Sie saßen schaukelnd in jedem Klang.

Mir folgt eine Seele von solcher Macht,
Daß alles sie mir zum Opfer gebracht;
Ja, sie, die lachte, wenn umschlug mein Nachen,
Die nicht gebebt vorm Gewitterkrachen,
In deren weißen Arm ich geruht,
Erwärmt von des Lebens und Glaubens Glut.

Seht, hierin bin ich von Schneckenart:
Ich nehme das Haus mit auf die Fahrt,
Und wer da glaubt, daß die Bürde mich drücke,
Der sollte nur wissen, wie hold es beglücke,
Ein Obdach zu finden, wo himmlisch klar
Sie steht unter lachender Kinderschar.

Kein Denken, kein Dichten hat je ersonnen
So hohe Wölbung, so tiefen Bronnen,
Wie von der himmlischen Liebe der Schein
Hinabdringt bis in die Wiege hinein.
Nie leuchtet und taut dir die Seele so lind,
Wie wenn mit Gebeten du wiegst dein Kind.

Wer nimmer die Liebe gekannt für das Kleine,
Dem winkt nicht die große, die allgemeine.
Wer nicht sein eigenes Haus kann baun,
Wird auch seine Türme zertrümmert einst schaun;
Und zwingt er ganz Europa ins Joch,
Stirbt einsam er auf Sankt Helena doch.

Erbau' dir nur selbst eine Zufluchtsstätte;
Dann weiß auch dein Nächster, wohin er sich rette.
Obwohl von Kindern und Frauen geschaffen,
Birgt diese Festung so starke Waffen,
Daß heil sie bleibt in Kampf und Gefahr
Und Mut verleiht einer ganzen Schar.

Ein einzelnes Heim trug oft ein Land,
Wenn dessen Retter es ausgesandt,
Und wieder viel tausend Heime trug
Das Land erlöst aus dem Kriegeszug;
So trägt es auch auf des Friedens Wegen
Den Pulsschlag des Heims in emsigem Regen.

Trotz all dem Feinen im fremden Duft,
Ganz lauter allein ist die Heimatluft.
Nur dort stellt kindliche Wahrheit sich ein
Und wird von der Stirn dir geküßt der Schein.
Zur Heimat dort oben stehn offen die Türen;
Denn von dorten kam's, und dahin wird es führen.

Du Kirchenpilger, drum freue dich;
Du betest für deine, für meine ich;
Denn das Gebet läßt uns aufwärts wandern
Ein Stück von dem einen Heim zum andern.--
Ihr bieget hinein; im Weiterwallen
Hör' ich den Psalm aus der Pforte hallen.--
Sei fröhlich! Nicht mir nur gilt dein Gruß,
Wenngleich du's nicht merktest mit eiligem Fuß.



AN MEINEN VATER

(Als er Abschied nahm)


Unser Geschlecht sah einstmals stolze Tage.
Noch in geräumigen Weilern und auf breiten
Gehöften sitzt es; doch in harten Zeiten
Ward _unser_ Zweig gebeugt in andre Lage.
Nun reckt er wieder sich zum Licht empor,
Und frische Knospen sprießen draus hervor:
Du stärktest ihn; dein Abend sieht aufs neue
Ihn blühn, gelabt vom Quickborn deiner Treue.

Wie das Geschlecht sich ausruht, um zu steigen
In seines Wesens Tiefe, still geschäftig
Dort einzusaugen, was erlösungskräftig
Die reichen Gaben aufweckt, die sein eigen--
So konnt' ich fühlen noch in dir die Spur
Der dumpfen, ungezügelten Natur;
Sie war so stark, daß ihre dunklen Mächte
Fortwirken bis zum spätesten Geschlechte.

Ein Funke fiel hinein vom warmen Herzen
Der Mutter, und der Bund, der euch beglückte,
Wird, wie er segnend euer Alter schmückte,
Noch leuchten nach dem Tod mit hellen Kerzen.
Wenn unser Volk einst recht versteht das Bild
Der Heimat, der mein ganzes Dichten gilt,
Des Glaubens und der Liebe stilles Walten,
Dann soll's auch euch für immer lieb behalten.

Wird Norges Bauer, wie ich ihn beschrieben
Aus Sagas oder bei des Pfluges Lenken,
Genannt,--muß, Vater, man auch dein gedenken:
Ich ahnt' ihn nur, weil dich ich lieben durfte.
Und wenn das treue Weib, das ich gemalt,
Mit wackrem Mut, von Glaubensglanz umstrahlt,
Von Fraun genannt wird, mag es leicht geschehen,
Daß meine gute Mutter sie erspähen.

Und nun in Abendrast mögt ihr verweilen
Nach schwerem Tagwerk und nach manchen Plagen,
Mögt euch erzählen von entschwundnen Tagen,
Von manchem müden Schritt die tausend Meilen--
Wie über Winterschnee der Sonnenschein
Blickt euch ins Fenster freudiger Dank herein,
Umwebend einstiges Leid mit goldner Hülle,
Und Leben quillt euch aus des Glaubens Fülle.

Doch niemand ist, der wärmer für euch betet
Als euer Sohn, den ihr in Angst und Beben
Gehegt vom ersten leisen Flügelheben,
Für dessen Wohl zu Gott ihr täglich flehtet.
Wißt, wenn das Blut zu wild mir schoß durchs Hirn,
War mir, als rührten Hände meine Stirn;
Und pochte Reue still an meine Schläfen,
War mir, als ob wir uns beim Höchsten träfen.

Seht, deshalb bitt' ich Gott, mir Kraft zu senden
(Fürs Leben werden wir uns neu begegnen,
Und Scherz wird Hoffnung und Erinnrung segnen),
Um einen heitern Abend euch zu spenden!
O laß die Enkel, wenn dein Arm sie hält,
Im Abend schaun die morgendliche Welt!
So wird einst tröstlich ihnen noch im Sterben
Das Morgenrot die blassen Häupter färben.



AN ERIKA LIE


    Wer in Töne bände
    Nordische Gelände,
Zeigte nicht nur rauhe Bergeswände,
    Nein, auch ebne Auen,
    Die gen Morgengrauen
Glitzerperlen frisch betauen.

    Wälder, traumumflogen,
    Die in schweren Bogen
Wie ein Meer das Glommental durchwogen,--
    Lieblich grüne Weiten,
    Die von allen Seiten
Leicht und licht zusammengleiten.

    All den feinen, klaren
    Reiz uns offenbaren
--Nordlands sonnbeglänzte Vogelscharen.
    Und die Purpurspende
    Ferner Nordlichtbrände--
Sieh, das müssen Mädchenhände.

Deine Hände schlagen
    Töne an und jagen
Bilder auf aus langentschwundnen Tagen,
    Die in Sehnsuchtstiefen
    Unsrer Dichtkunst schliefen,
Bis dann deine Hände wach sie riefen.

    Bald in leichten Ringen
    Sehn wir blinkend schwingen
Funken, die aus Vaters Frohsinn springen;
    Bald erhabnes Schauern,
    Heiliges Bedauern
Aus der Mutter Wehmutsauge trauern.

    Kinderseele, klinge
    Reingestimmt und dringe
Gläubig durch das Sein und alle Dinge,
    Rein wie Melodien,
    Festsaalharmonien
Dich, du Kind des Glommentals, umziehen.



AN JOHAN SVERDRUP


Nicht war's zu rauhem Kriegeswerke,
Daß deines Namens Wunderstärke
Ich mir zum Losungswort erkor.
Kein Gassenkampf kränkt unser Ohr!
Soll denn der Dichtkunst Opferhain
Gefeit vor Meuchelmord nicht bleiben,--
Ist das das Neue, was sie treiben,
Dann mag ich nicht der ihre sein.
Dann sage ich, wie Ejnar sagte,
Als er um seinen König klagte
Und Harald mit Verheerung droht':
"Ich folge eher Magnus tot
Als Harald lebend;--" ja fürwahr,
Dann mache ich mein Langschiff klar.
Auch darum senkte nicht vor dir
Mein Lied sein flatterndes Panier,
Weil ich bei dir Erlösung wähnte
Für alles, was mein Herz ersehnte.
Nein, wo die _größten_ Fragen brennen,
Da eben ist's, wo wir uns trennen--
Von des Gedankens Ursprung an,
Bis er sich formt zu Ziel und Plan.
Ich steh' auf Kinderglaubens Grund--
Er muß dem Volk die Freiheit geben,
Durch ihn kann es nach Gleichheit streben,
Nach freier Brüdervölker Bund.
Wohl heißest du gleich mir ein _Christ_,
Doch ist die Kluft so tief geblieben,
So tief, wie wir _verschieden_ lieben
Dies Land, das uns _gleich_ teuer ist.
Heut mögen wir am Sieg uns freun,--
Das Morgen wird uns neu entzwein.
  Doch darum dich mein Sang erkor,
Weil eben das, was uns _jetzt_ gilt,
Von allen dich am stärksten füllt,
Du hältst im Kampf es hoch empor.
Wenn graue Nebel uns umschlingen,
Nach Licht das trübe Auge lechzt,
Die Erde schlummermüde ächzt,
Und ängstlich wir nach Atem ringen,--
Dann weicht von dir die Erdenschwere,
Dann regt dein Geist die Donnerflügel,
Dann packt dein Blitz die Wolkenheere,
Und sonnenklar stehn Berg und Hügel.
Du bist der frische Regenguß
In unsres Alltags trägem Muß;
Du bist die Salzflut, die so wild
In unsre schwülen Fjorde quillt.
Dein Wort bricht durch wie Bergmannsgänge,
Wo Erz erglänzt in Felsenenge;
In deines Seherauges Flammen
Schmilzt Einst und Jetzt in eins zusammen.
Solang' du Sverres Klinge schlägst,
Macht sie dein Schlachtenhorn erzittern;
Solang' wir dich als Führer wittern,
Du Sieg auf Sieg von hinnen trägst.
Sie weichen unter deinen Hieben,
Verkriechen sich in scheuer Kluft,
Doch frei in des Gedankens Luft
Ist unversehrt dein Haupt geblieben.
Wir lieben deinen Löwenmut,
Der vor der Fahne kämpft voll Glut,
Die Fähigkeit, die unverzagt
Den eignen Stahl zu schmieden wagt,
Die wachsame Verwegenheit
In Not, Verachtung, Krankheit, Leid.
Wir lieben dich, weil alles du
Hingabst für uns--Ruhm, Zukunft, Ruh;
Wir lieben dich trotz Haß und Groll:
Du glaubtest an uns allezeit.
  Wer wagt's, noch rückwärts jetzt zu zeigen?
Nein, aufwärts Jahr für Jahr wir steigen,
Aufwärts in Freiheit und in Sang
Und froh-norwegischem Eigenleben;
Wer wagt es noch, zu widerstreben
Befreitem hundertjährigen Drang?
Kein Zwiespalt mehr um Recht und Macht;
Ob Kriegstumult, ob Friedensstille,
Nur _einer_ Freiheit Ehrenwacht,
_Ein Volk nur und ein einziger Wille._
  Der Geist, dem unsres Morgens Graun
Den Traum von freien Göttern brachte,
Der groß von allem Großen dachte,
Wird nimmer dem Unechten traun.
Der Geist, der Wikingschiffe baute,
Als er dem Königswort mißtraute,--
Der sich, bedroht, gen Island schwang
Auf Heldenruf und Heldensang,
Im Sturm dann Land und Zeiten nahm,--
_Den_ macht ihr nicht so leicht mehr zahm.
Der Geist, dem einst am Hjörungsunde
Schlug langersehnter Freiheit Stunde,
Der keines Königs Macht gescheut,
Der selbst dem Papstspruch Trotz noch beut,
Der selbst in seiner Schwachheit Stunde
Frei saß auf freier Väter Grunde,
Und sich gewehrt mit Mund und Hand,
Wo fremdes Herrentum ihn band,--
Der Wessel führte Hand und Degen,
Der Holbergs Witz zu wetzen wagte
Und der Gedanken Funkenregen
Aus stillem Schlot gen Ejdsvold jagte,--
Der durch des Glaubens Machtgebot
Die Brücke _über_ Odin spannte
Im Baldurmythus auf zu Gott,--
Der Geist, der sich aus tiefem Dunkel
Zu Gimles Klarheit durchgerungen,
Als Papstesspruch wie Mönchsgemunkel
Ihm allerwärts den Weg verrannte,--
Und abermals dann Brückenbogen
Zu sonnigen Freiheitshöhn gezogen,
So daß, als rings für Luthers Lehre
Des Schlachtfelds Opfer blutig rauchte,
Im Norden, an der Freiheit Wehre,
Nur eine Wand zu fallen brauchte,--
Der Geist, der auch die finstern Stunden,
Da man den Glauben abgeschafft,
Durch Brun und Hauge überwunden,
Und der mit unbeirrter Kraft
In pietistischer Nebelnacht
Bei Kerzenschein am Altar wacht,----
Glaubt ihr, den bringt man in die Mode
Durch die neumodische Synode?
Der ließe sich in Stücke feilen
Und in politische "Kammern" teilen,
Der ließe sich wie Schmugglerwaren
Über die Grenze heimlich fahren?
  Und _eben jetzt_, da auf den Höhen
Die Feuerzeichen flammend rauchen,
Da Schulen für das Volk erstehen
Und nicht um Platz zu kämpfen brauchen,
Wo Mut und Sinne sich verjüngen,
Dieweil wir hören, glauben, singen;--
Jetzt, da mit dumpfen Wetters Macht
Sich Wellen aus der Tiefe heben,
Und drüber hell wie Nordlichtpracht
Der Jugend Sehnsuchtrufe schweben,--
Jetzt, da der Geist allüberall
Die alte, starre Form verschmähte,
Wo schmetternd mit der Kriegsdrommete
Der junge Wille stürmt den Wall!

Kampfgroße Zeit! Und wir mittinnen!
Der Erde Größtes ist's: zu sein,
Wo Kräfte gärend sich befrein
Und Formen und Gestalt gewinnen;
Von eignen Feuers Überfluß
Zu opfern für den großen Guß,
Den Abdruck seiner eignen Form
Zu sehn als der Geschlechter Norm,--
Zu hauchen in den Mund der Zeit
Den Geist, den Gott in uns geweiht.

       *       *       *

Das war's, was ich dir sagen mußte,--
Just dir, der wach zu jeder Frist
Die Werkstatt seiner Zeit durchmißt
Und stets, was kommen würde, wußte;
Dir, der des Volkes Herz geweiht
Zu diesem neuen Freiheitsleben,--
Und dem dies Volk dafür gegeben
Sein Schöpfertum samt seinem Leid.



DAS KIND IN UNSRER SEELE


Zum Herrn im Himmelsraume
Blickt auf ein Knabe unschuldstraut,
Wie wenn zum Weihnachtsbaume,
Ins Mutteraug' er schaut.
Doch schon im Sturm der Jünglingsbahn
Trifft ihn der Edenschlange Zahn,
Und seines Glaubens Schranken,
Sie wanken.

Da winkt voll Sonnenschimmer
Sein Kindertraum im Myrtenkranz;
Im Liebesblick malt immer
Sich frommer Himmelsglanz.
Wie einst im Mutterarm so gern,
Preist wieder stammelnd er den Herrn
Und löst sein betend Sehnen
In Tränen.

Wenn dann zum Lebensstreite
Er zweifelnd eilt in jähem Lauf,
Steht lächelnd ihm zur Seite
Sein Kind und weist hinauf.
Mit Kindern wird er wieder Kind;
Wohin sein Herz auch trägt der Wind,
Gebet wird ihn vereinen
Den Seinen.

Der größte Mann auf Erden,
Das Kind in sich verlier' er nicht,
Und selbst in Sturmbeschwerden
Erlausch' er, was es spricht!
Oft, wenn ein Kämpe fiel mit Scham,
Das Kind war's, das als Retter kam;
Es läßt von allen Wunden
Gesunden.

Was Großes ward ersonnen,
Ist Werk des Kinderfreudenstrahls;
Was Starkes ward gesponnen,
Das Kind in uns befahl's.
Was schönheitsvoll in Herzen fiel,
Lebt in des Kindes Unschuldspiel,
Und Klugheit vollgewichtig
Wird nichtig.

Wohl dem, der sich hienieden
Wert zeigt, im eignen Heim zu ruhn;
Denn dieses nur gibt Frieden
Des Kindes mildem Tun.
Uns alle, die des Lebens Schlacht
Verhärtet hat und müd' gemacht,
Wird Kinderlachens Tönen
Versöhnen.



DER ALTE HELTBERG


Ich besucht' eine Schule--klein, doch geziert
Mit allem, was Kirche und Staat approbiert.
Sie drehte sich fügsam und honett
In der Staatsmaschine, freilich mit Knarren,
Denn geschmiert wurde selten mit Geistesfett.
Jedoch eine andre gab's dort mit nichten:
Und so mußten wir denn ins Geschirr vor den Karren,
Aber statt zu ziehn--las ich Snorres Geschichten.
Dieselben Bücher, dieselben Gedanken,
Die der Lehrer pflichtschuldigst jahraus, jahrein
In die Köpfe paukt ohne Wanken und Schwanken,
--Denn dies befohlne System allein
Bringt das Amt, nach dem Lehrer wie Schüler nur zielen!--
Dieselben Bücher, dieselben Gedanken,
Die einen machen aus noch so vielen,
Der auf einem Bein seine Lektion absurrt,
Der Tausendsassa, wie ein Ankertau schnurrt!--
Dieselben Bücher, dieselben Gedanken
Von Mandal bis Hammerfest--(ja, wie mit Planken
Umschließt uns der Staatspferch, darin alle feinen,
Korrekten Leute dasselbe stets meinen!)Die
nämlichen Bücher, die gleichen Gedanken
Sollt' ich schlucken; doch mir widert' der Brei,
Ich trotzt' mit der Schüssel und machte mich frei,
Froh überhüpfend der Heimat Schranken.
Was mir draußen begegnet und was ich dachte,
Was die neue Stätte mir Neues brachte,
Wo die Zukunft lag,--darauf will ich verzichten,
Um von der "Studentenfabrik" zu berichten.

Bärtige Gesellen, oft über die Dreißig,
Auf jedes Wort hungrig, büffelten fleißig
Neben mausigen Bürschlein von siebzehn Jahren,
Die sorglos närrisch wie Spatzen waren;--
Teerjacken, einst ins Abenteuerland
Keck aus der Schule durchgebrannt,
Dann reuig wieder und sehr erpicht,
Die Welt nun zu sehen im Weisheitslicht;--
Fallierte Kaufleute, die hinterm Pult
Mit den Büchern liebelten, bis die Geduld
Ihrer Gläubiger riß, und auf Pump jetzt studierten;--
Salonlöwen, faule, die hier noch sich zierten!--
Junge, halb ausgebackne Juristen
Und predigtlüsterne Seminaristen;--
Kadetten mit Schäden an Arm oder Bein,
Bauern, denen 's Lernen fiel allzuspät ein:--
Was andre in fünf Jahren nicht verschlingen
An Latein, in knapp zweien wollten sie's zwingen.--
Sie hingen über die Bänke, lehnten gegen die Wand,
Ein Paar hockt' in jedem Fenster, einer prüfte just am Rand
Eines tintenklecksigen Pultes, ob denn sein Messer schneide.
So füllten sie die zwei Stuben, zum Brechen voll beide.

Lang und hager, im Halbtraum, auf der äußersten Linie
Saß vor sich hinbrütend A.O. Vinje.
Angespannt und mager, die Gesichtsfarbe gipsen,
Hinterm kohlschwarz-unmenschlichen Bart Henrik Ibsen.
Ich, der jüngste, war damals noch nicht von der Partie,
Bis ein neuer Schub einrückte mit Jonas Lie.

Doch der Alte, der wackre Chef in dem Loch,
Heltberg war von allen der schnurrigste doch!
In Pelzstiefeln stand er, in Hundefell dicht
Vermummt (denn es beugten ihn Asthma und Gicht,
Den Riesen), doch barg uns die Pelzmütze nicht
Seine Stirne, das klassische Adlergesicht.
Nun schmerzgekrümmt, nun besiegend, was widrig,
Warf er starke Gedanken--und er warf sie nicht niedrig.
Kam der Schmerz unbändig und stieß zusammen
Mit dem starken Willen, der Sturm dann lief
Gen den Anfall, sahn wir sein Auge flammen
Und die Hände sich ballen, als schämt' er sich tief
Jeder Schwachheit. Wie uns da entgegenschlug
Das Große im Kampfe! Und jeder trug
Ein Bild mit sich fort jener stürmischen Zeiten,
Da durchs Land gebraust Wergelands wilde Jagd,
Welch ein Spiel der Kräfte im Toben und Streiten.
In der Kraft welch ein Wille unverzagt!
Nun stand er verlassen, der einzige noch,
Vergessen in seinem Winkel--und war ein Häuptling doch!
Los sprengt' er den Gedanken aus der Schule Zwang und Zucht,
Sein Eigen war die Lehre, seine Führung Geistesflucht,
Persönlich all sein Wesen: höchst ungeniert-anarchisch
Risch rasch! ging's in den Text; doch absolut monarchisch
War sein Grimm über Fehler;--zwar legte er sich bald
Oder stieg zu einem Pathos von edelster Gestalt,
Das in Selbstverhöhnung sich löste wieder
Und als Spottregen prasselt' auf uns hernieder.--
So führt' er seine "Horde", so ward im Flug durchbraust
Das klassisch schöne Land,--wo wir verdammt gehaust!
Entsetzt standen Cicero, Virgil und Sallust
Auf dem Forum und im Tempel, rasten wir Wilden just
Vorüber: Hie Tor, hie Odin! ein zweiter Gotenzug,
Der Jupiters Lateiner und die ewige Roma schlug.
Und es war des Alten Grammatik ein Hammer von Zwergen geschweißt,
Wenn er ihn schwang, da sprühte Flammen der nordische Geist.
Doch die neue Barbarenhorde, die hinter ihm jagte dahin,
In Rom sich niederzulassen, hatten sie nicht im Sinn.
Sie wurden nicht "Lateiner", nicht fremden Denkens Knecht,
Sie lernten sich selber kennen auf der Fahrt als Herrengeschlecht.
Des Denkens hohe Gesetze erwies er uns am Worte,
Zu Wundern und zu Taten erschloß er uns die Pforte
Und schärft' uns, zu erobern, zu stürmen, den Mut,
Was unberührt gestanden in altersheiliger Hut.
Als schauten wir Gesichte, in atemloser Haft
Hielt uns des Alten Lehre und mehrte unsre Kraft.
Seine Bilder gaben Nahrung dem jungen Schöpferdrang,
Sein Witz war Stärkeprobe und stählte zum Waffengang;
Seine Macht war uns die Wage, die Kleines von Großem schied,
Sein Pathos zeugte vom Kampfe, der im Verborgnen glüht!
Wie sehnte der kranke Kämpe sich aus dem Winkel vor,
Nur einmal der Welt zu zeigen, was sie an ihm verlor,
Wenn er von seinem Besten nur wenigen Schülern gab.
Tagtäglich hißt' er die Segel, doch niemals stieß er ab.

Seine Grammatik erschien nicht! Er selbst ging in das Land,
Wo man des Denkens Gesetze nicht mehr in Bücher bannt.
Seine Grammatik erschien nicht! Aber ein Lebenswort,
Bedurft' es der Druckerschwärze? Es dauerte schaffend fort!
Aus seiner Seele strömt' es so mächtig, so warm,
Das Leben von tausend Büchern, wie scheint es dagegen arm!
In einer Schar von Männern, selbständig und stark,
Lebt weiter, was ihrem Denken Halt verliehn und Mark.
In der Schule und in der Kirche entfalten sie ihr Wirken,
Im Tingsaal und vor den Schranken, in allen Geistesbezirken,--
Und immer behält ihr Walten einen freien, starken Zug,
Seit Heltberg ihre Jugend in reinere Höhen trug.



FÜR DIE VERWUNDETEN

(1871)


Ein stiller Zug bewegt
Sich durch des Kampfs Getöse,
Das Kreuz am Arm er trägt.
Sein Flehn in tausend Zungen klingt,
Und den gefallnen Kriegern
Er Friedenskunde bringt.

Nicht nur auf blutigem Feld
Des Kriegs ist er zu Hause,--
Nein, in der ganzen Welt.
Was in der Welt an Liebe glüht
Aus edlen, guten Herzen,
Andächtig-still hier kniet.

Es ist der Arbeit Scheu
Vor Kriegesmord, die betet
Um Schutz vor Barbarei,
's sind alle, die das Leid durchwühlt,
Die ihrer Brüder Qualen
Je seufzend mitgefühlt.

Es ist das Schmerzgestöhn
Der Kranken und der Wunden,
Der Christen frommes Flehn,
Ist der Verlassnen bleiche Qual,
Ist der Bedrückten Klage,
Der Toten Hoffnungsstrahl;--

Der Wolken Nacht durchbricht
Als Friedensregenbogen
Des Heilands Glaubenslicht:
Daß über Leidenschaft und Streit
Die Liebe triumphiere,
So wie Er prophezeit.



LAND IN SICHT


Und das war Olav Trygvason,
  Den sein Kiel durch die Nordsee trug
  Heimwärts zu seinem jungen Reiche,
  Wo noch kein Herz für ihn schlug.
  Scharf späht' er aus nach dem Lande:
  Dort--sind das Mauern am Meeresrande?

Und das war Olav Trygvason;
  Wallgleich hob es sich himmelan;
  All seine jungen Königswünsche
  Wollten zerschellen daran,--
  Bis ein Skald, wo der Nebel braute,
  Türme und blasse Zinnen erschaute.

Und das war Olav Trygvason,
  Deucht' ihn nun selbst, dort stiegen auf
  Altersgrau ragende Tempelmauern,
  Schneeweiße Kuppeln darauf.
  Sehnt' er sich, wie sie herüber sehen,
  Mit seinem jungen Glauben darinnen zu stehen.



AN H.C. ANDERSEN

(Bei einem Sommerfeste zu seinen Ehren, Kristiania 1871)


Willkommen hier am lichten Sommertag,
Da Kinderträume heimisch uns geworden
Und blühen, singen, spiegeln, schweben, fliehn;
  Den sie umziehn,
Ein Märchen ist nun unser hoher Norden
Und nimmt dich an sein Herz zum Weihebund,
Und danket, jubelt, flüstert Mund zu Mund.
  Und Engelslaut
  Von Kinderherzen traut
Trägt dich empor für kurze Frist,
Wo unsrer Träume Born und Ursprung ist.

Willkommen! Unser ganzes Volk ist jung
Und steht im Märchenalter noch, dem schönen,
Das träumend eine Zukunft wirken kann.
  Der geht voran,
Der fügsam hört den Ruf des Herrn ertönen.
Wer Kindes Sehnsucht so wie du verstand,
Botschaft vom Größten bringt er unserm Land:
  Der Zauberstab,
  Den Phantasie dir gab,
Hat spielend uns den Weg befreit,
Den wir entgegenwandeln großer Zeit.



BEI EINER EHEFRAU TODE


Sie kannte des Todes Auge seit jenem dunklen Tag,
Da ihr der Erstgeborne entseelt zu Füßen lag;
Und als sie's rief zur Mutter, zur fernen, die verschied,
Da folgte ihr dies Auge mit unbewegtem Lid;
Ihr ahnte, als am Grabe sie stand im Trauerflor:
Jetzt trifft es mehr als Einen, jetzt, Leben, sieh dich vor!
Und als ihr Gatte umsank, der starke Mann, da sprach
Sie schmerzlich: O, ich wußte, das Schwerste käme noch nach.
Sie dachte, ihn, ihn hätte gewählt des Schöpfers Grimm,
Und stemmte ihre Hände wider den Boten schlimm
Und wollte mit ihrem Leibe, schwach wie ein Birkenreis,
Ihn schirmen, ihren Helden--und gab sich selbst so preis.
Sie lächelte so selig: ihr Urteil war gefällt,
Ihr Opfer angenommen,--gerettet war ihr Held.
Bewundrung, Liebe wölbten ein strahlend Sternenzelt
Von Glück zu ihren Häupten in ihrer letzten Stund,
Bis schneeweiß sie entschwebte fort in der Engel Rund.
Es zieht solch eine Liebe wohl bis an Gottes Brust
Die Seelen mit sich, die sie umfängt voll Opferlust.



AN DER BAHRE DES KIRCHENSÄNGERS A. REITAN

(1872)


Sein lachend Auge durfte sich
An Land und Himmel weiden;
Denn beider Bildnis in ihm glich
Den ewigen Jubelfreuden.
  Als "Quellchen" sprang
  Sein Wort, sein Sang
Durch Täler grün und eng und lang,
Und fruchtbar sprießt's am Rande.

Beim armen Volk im Winter dann
Da litt er und da fror er.
Und doch stieg als der frohste Mann
Zur Orgel dann empor er.
  "Die Achse, seht,
  Um die sich's dreht,
Auch durch das ärmste Dörflein geht."
So sang vom hohen Chor er.

Ach, und als Krankheit jahrelang
Kam, um sein Lied zu prüfen,
Und all die Kleinen hilflos bang
Zutraulich nach ihm riefen,
  Mit leisem Klang
  Dem Staub entrang
Sich Äolsharfen gleich sein Sang
Den dumpfen Erdentiefen.

Sein Leben sagte uns voraus:
Wenn wir uns Gott ergeben,
Dann wird in Kirche, Schule, Haus
Das Volk im Liede leben:
  In Volksgesang,
  In Lustgesang,
Im Abglanz von des Herrn Gesang
Hoch überm Weltenweben.

Mein Land, o denk der Kleinen auch,
Die er ans Herz dir legte,
Und ärmer, als ein Rosenstrauch,
Selbst noch im Sterben pflegte.--
  Ein Herz wie er
  Darf nimmermehr
Dies Land verlassen freudenleer,
Das er so treulich hegte.



DAS LIED


Das Lied hat Leuchtkraft; drum über die grauen
Werktage gießt es Verklärung hin.
Das Lied hat Wärme; drum läßt es tauen
Den Frost und die Starrheit in deinem Sinn.
Das Lied hat Dauer; drum was vergangen
Und was zukünftig, es flicht's dir zum Kranz,
Entzündet in dir unendlich Verlangen
Und bildet ein Lichtmeer von Sehnsucht und Glanz.

Das Lied vereint; denn es läßt entschwinden
Den Mißton und Zweifel in strahlendem Gang;
Das Lied vereint; denn es weiß zu verbinden
Kampflustige Kräfte in friedlichem Drang:
Im Drang zur Schönheit, zur Tat, zum Reinen!
Es lädt uns, zu schreiten auf schimmerndem Steg
Stets höher und höher, empor zu dem Einen,
Das nur für den Gläubigen öffnet den Weg.

Die Sehnsucht der Vorzeit im Vorzeitsgesange
Glänzt wehmutsvoll wie der Abendflor;
Die Sehnsucht der Gegenwart halten im Klange
Wir fest für der Zukunft lauschendes Ohr.
Es trifft sich im Liede der Lenz der Geschlechter
Und tummelt sein Leben im tönenden Wort;
Die Geister der Ahnen wie mahnende Wächter,
Sie rauschen heut festlich in jedem Akkord.



AUF N.F.S. GRUNDTVIGS TOD

(1872)


Gleichwie der Urzeit Wala hehr
Aufstieg über den Wassern der Sagen,
Kündend, was Himmel verbarg und Meer,
Dann, wieder sinkend hinabgetragen,
Ließ die Kunde zu Lehr' und Ehr'
Spätesten Tagen:

Also ließ uns, der unser war,
Schwindend Gesichte, die nicht entschwanden,
Die noch schweben, leuchtend und klar,
Sonnenwolken ob Meer und Landen,
Unsern Ausblick auf tausend Jahr'
Hell zu umranden.



AUS DER KANTATE FÜR N.F.S. GRUNDTVIG

(1872)


Sein Lebenstag, der größte, den Norden je gekannt,
Der mitternächtigen Sonne war wunderbar verwandt.
Das Licht, in dem er wirkte, von "Gottes Frieden" war,
Das nimmer untersinket, nie neuen Tag gebar.

Im Licht von Gottes Frieden Geschichte er uns gab,
Als Geistesschritt auf Erden, hoch über Zeit und Grab.
Im Licht von Gottes Frieden hat er der Väter Bahn,
Zur Warnung und als Beispiel, klar vor euch aufgetan.

Im Licht von Gottes Frieden folgt' er mit Wachsamkeit
Dem Volke, wo es baute, der großen Geister Streit.
Im Licht von Gottes Frieden Aufklärungsmacht er sah,--
Wo seinem Wort man glaubte, Volksschulen blühten da.

Im Licht von Gottes Frieden stand für ganz Dänemark
Sein Trost, wie eine Schildburg hellschimmernd, trutzig-stark.
Im Licht von Gottes Frieden erobert werden soll
Verlornes und was brach liegt, mit tausendfachem Zoll.

Im Licht von Gottes Frieden steht heut sein Greisentum
Als Amen seines Lebens voll Manneskraft und Ruhm.
Im Licht von Gottes Frieden, wie strahlte er so rein,
Wenn am Altar er schenkte des Herrn Versöhnungswein.

Im Licht von Gottes Frieden gehn über Meer und Land
Die Worte und die Psalmen, die er uns hat gesandt.
Das Licht von Gottes Frieden, sein Sonnenstrahlenhort,
Umglänzte still sein Leben--: so lebt er in uns fort.



BEI EINEM FEST FÜR LUDV. KR. DAA


Junge Freunde im innigen Kreis,
Alte Feinde kommen;
Fühle dich sicher, denn freundschaftsheiß
Sind dir die Herzen entglommen.
Wieder gab's hier einen ernsten Tag,
Wieder schlugst du mit Reckenschlag:
Jeder bekam wie stets seinen Hieb,
Doch jetzt sei lieb!

Nicht mit Hallo und mit Handschuhen nicht,
Noch mit Sektglasklingen,--
"Alter Forscher", herzenschlicht
Wollen wir Dank dir bringen.
Ziehen die Wasser in stillem Lauf,
Steigt unser Lotse selten hinauf,
Türmt sie zu Wellen des Sturmes Braus,
Segelt er aus!

--Segelt er aus als Bergungspilot,
(Gekannt ist das Auge des Alten),
Lacht in den Bart, wenn ein Wetter droht
Und zagend die anderen halten.
Dank trug er nicht, das weiß ich, nach Haus;
Denn er schimpfte die Schiffer aus,
Wandte den Rücken, ging heim voll Kraft,
Das Werk war geschafft!

Er hat erprobt, was es heißt, zu gehn
Gehaßt, bis die Wahrheit am Tage;
Er hat erprobt, was es heißt, zu stehn
Nach beiden Seiten dem Schlage.
Er hat erprobt, was es kostet an Leid,
Voranzuschreiten seiner Zeit,
Er, den so Hohes wir wirken sahn,
Ward in Bann getan!

Wirst du nicht, Norge, endlich ihr Recht
Jenen Helden gewähren,
Die mehr vollbrachten, als beim Gefecht
Nachzuhinken den Heeren?
Soll es denn immer so kläglich gehn,
Wollen wir stets um das Kleine uns drehn,
Stilliegen, spähn, bis ein Fehler erkannt?--
Nein, Segel gespannt!

Segel zu größrer Fahrt gespannt,
Wozu uns die Kräfte gegeben--
Leben, dem Alltag nur zugewandt,
Das ist nicht wert, es zu leben;
Leben, dem höheren Kampf geweiht,
In Gottvertrauen und Einigkeit,
Von Ehren und Sangesflagge umweht,--
Seht: das besteht!



NEIN, WO BLEIBST DU DOCH?

(1872)


Nein, wo bleibst du doch, du, der besitzet die Macht,
Zu zertreten dies Lügengezwerg,
Das mein Haus mir umlagert und tückisch bewacht
Jeden Weg, den zum Ziel ich mir ausgedacht,
Und bricht mir nun ein,
Zu belauern voll Haß
Meinen Sinn, zu entweihn
Mir jedes Gelaß
Meines traulichen Heims, wo so harmlos ich saß.

Nein, wo bleibst du doch! Jahrelang hat mich der Troß
Besudelt, dem Volk mich entstellt;
Lügennebel umhüllt meiner Dichtung Schloß,
Als lag' da ein Sumpf, dem der Brodem entfloß,
Und ein Halbtier, ein Faun
Bin ich selbst, den mit Graus
Die "Gebildeten" schaun--
Oder ziehn weidlich aus
Zur Hatz auf den Keiler, zum lustigen Strauß.

Wenn ein Buch ich schreibe, "just sieht es mir gleich";
Wenn ich spreche--ist's Eitelkeit.
Wenn ich zimmre und baue fürs Bühnenreich,
Mein Dünkel nur führt jeden Hammerstreich.
Und schlag' ich mich treu
Für altheimische Art
Auf der Väter Bastei,
Umtobt und umschart,--
Kämpf' ich nur, weil mit Orden zu sehr man gespart.

Nein, wo bleibst du doch, du, der mit eins kann zerhaun
Dies umstrickende Lügengewirr--
Der verjagt aus den Köpfen dies krankhafte Graun
Vor enschlossenem Wollen, begeistertem Schaun--
Und hat Trost für den Mut,
Der in Frost und in Nacht
Seine Waffenpflicht tut
Und die Runde macht,
Bis das Heer sich erhebt, wenn der Tag erwacht.

Komm, Volksgeist, du, gottgeboren--entstammt
Dem riesenbezwingenden Tor.
Fahr auf Donnern einher und von Blitzen umflammt,
Daß die Furcht dies Gezüchte zum Schweigen verdammt;
Du kannst wecken im Land
Die schlummernde Kraft,
Du kannst stärken das Band,
Das in Blutsbrüderschaft
Uns eint, wo dein Banner je flattert am Schaft.

Hab' Dank, unser Volksgeist!--denk' ich nur dein,
Wird alles zum Nichts, was ich litt.
Deinem Kommen nur weih' ich mich, dir allein,
Deinem Angesicht beug' ich mich, dein, nur dein,
Und erfleh' einen Sang,
Du liedreicher Mund,
Daß in Not und Drang,
In entscheidender Stund'
Ich dir Kämpen erweck' auf der Väter Grund.



WECKRUF AN DAS FREIHEITSVOLK IM NORDEN

Der "vereinigten Linken"

(Tirol 1874)


Verachtet von den Großen, nur von den Kleinen geliebt,
Den Weg geht alles Neue,--sag', ob's einen andern gibt?
Von denen, die schützen sollten, verraten und gehetzt,--
Sag', ob je eine Wahrheit sich anders durchgesetzt?

Anhebt es wie ein Sausen im Korn am Sommertag
Und wächst zu einem Brausen hin über Wald und Hag,--
Bis es, vom Meer empfangen, in Donnern rollet fort
Und alles überdröhnet, dies Wort, dies Losungswort.

Im Gotenkampfe nordwärts verschlagen wurden wir;
"Leben in Freiheit und Glauben!" ist unser Volkspanier.
Der Gott, der Land und Sprache und alles hat verliehn:
In Werken, die er uns heischet, in Taten finden wir ihn!

Der Vielen und der Kleinen Pflichteifer soll er sehn,
Kampf gilt es gegen alle, die da nicht wollen verstehn.--
Anhebt es wie ein Sausen im Korn am Sommertag
Und geht nun schon als Brausen hin über Wald und Hag.

Es wird zum Sturme wachsen, eh's einer noch erkannt,
Mit Donner in seiner Stimme weit über Meer und Land.
Ein Volk, dem Ruf gehorsam, ist der Erde größte Kraft,
Hat je noch Hoch und Nieder geworfen und hingerafft.



OFFNE WASSER


Offne Wasser, offne Wasser!
Sehnsucht,--bange, winterlange,--
Wird nun gar zum heftigen Drange.
Blaut ein Streifchen kaum im Sunde,
Dehnt zum Monat sich die Stunde.

Offne Wasser, offne Wasser!
Sonne lächelt, nascht vom Eise
Schamlos bald nach Prasserweise.
Läßt sie ab: zur Nacht geschwinde
Trotzig härtet's neu die Rinde.

Offne Wasser, offne Wasser!
Sturm muß her!--er kommt, der Wandrer,
Bringt herauf vom Sommer andrer
Freie Wogen, starke Wellen,--
Krach folgt nach und Sturz und Schnellen.

Offne Wasser, offne Wasser!
Wieder Luft und Berg sich spiegelt,
Schiffen ist die Bahn entriegelt:
Botschaft braust herein von draußen--
Kampffroh steuern wir nach außen.

Offne Wasser, offne Wasser!
Sonnengluten, kühlem Regen
Jauchzt die Erde nun entgegen:
Seele tönet mit und zittert--
Neugeschaffen, kraftumwittert.



FREIHEITSLIED

An "die vereinigte Linke"

(1877)


Freiheit! bist der Volkskraft Kind,
Zorn und Sang dir Mutter sind!
Kämpenstark als Junge schon
Rangst du früh um Kampfeslohn;
Warst umkreist allermeist
Von Gesang und Witz und Geist;
Freudig ist dein Tun, voll Macht
So beim Pflug wie in der Schlacht.

Feinde stets und überall
Lauerten auf deinen Fall;
Fanden dich zu grob bei Tag,
Führten, als du schliefst, den Schlag;
Banden sacht dich bei Nacht.
Du sprangst auf,--die Fessel kracht...
Weiter schrittst du froh und stark,
Du hast Schwung und du hast Mark!

Wo du wandelst, blüht der Pfad,
Schwillt aus deinem Mut die Tat,
Facht Gedanken deine Glut:
Doppelst Kraft in Hirn und Blut.
Landesrecht ist dein Knecht;
Selber schufst du's, wahrst es echt.
Nicht durch "wenn" und "ach" beschränkt,
Fällst du jeden, der es kränkt.

Freiheitsgott, bist Lichtesgott,--
Nicht der Knechte Schreckensgott,--
Liebe, Gleichheit, Vorwärtsdrang,
Frühlingsbotschaft sät dein Sang.
Freiheitshort! Friedensport
Winkt den Völkern durch dein Wort:
"Einer nur ist Herre hier;
Keine Götter neben mir!"



AN MOLDE


  Molde, Molde,
  Treu wie ein Sang,
Wogende Rhythmen mit lieben Gedanken,
Farbige Bilder, die spielend sich ranken
Um meines Lebens Gang.
Nichts ist so schwarz, wie dein Fjord, wenn er fauchend
An dir vorbeifegt, meersalzig rauchend,
Nichts ist so sanft, wie dein Strand, deine Inseln,
Ja, deine Inseln!
Nichts ist so stark wie dein bergiger Kranz,
Nichts ist so zart wie der Sommernacht Glanz.
  Molde, Molde,
  Treu wie ein Sang
  Summst du auf meinem Gang.

  Molde, Molde,
  Blumiger Ort,
Häuslein im Gärtchen, Freunde dort weilen!
Bin ich auch ferne wohl hundert Meilen,
Steh' ich im Rosenschutz dort.
Heiß brennt die Sonne auf Berglands Weite,
Fort muß der Mann zum ernsten Streite.
Sanft nur die Freunde entgegen mir gehen
Und mich verstehen--
Kampf schlichtet einzig der Tod allein,--
Hier sei dem Denken ein heiliger Hain!
  Molde, Molde,
  Blumiger Ort,
  Kindheiterinnerungs-Hort.

Und wenn einmal
Im letzten Kampf ich liege,
Mein Heimattal,
In deinem tiefen Abendrot
Lag meiner Gedanken Wiege,--
Dort nahe ihnen der Tod.



DIE REINE NORWEGISCHE FLAGGE


I


Dreifarbig reines Panier,
Norwegens schwer errungne Zier!
Tors Eisenhammer hält
Im Bann das christlich weiße Feld.
Und unser Herzensblut
Strömt hin als rote Flut.

Hoch über der Erdenschwere
Du jubelst, in Sehnsucht, zum Meere;
Der Freiheit Lenzkraft gewähre
Dir Kraft, uns zu speisen Seele und Mund
Fahr hin übers Erdenrund!


II


"Die reine Flagge ist Torheit",
So raunen die "Weisen" allhier.
Nein, Poesie ist die Flagge,
Und die Toren, ihr Guten, seid ihr.
Es schwingt in der Poesie sich
Der Volksgeist himmelan,
Als Führer geht die Fahne
Ihm unsichtbar lenkend voran.
Und was er erkämpft und errungen,
Und was ihn an Sorgen bewegt,
Das tönt jetzt in ewigen Liedern,
Die Flagge den Takt dazu schlägt.
Wir halten sie hoch, umbrauset
Von Sehnsucht, meersturmgleich,
Von vollen Erinnerungschören,
Von Worten, so flüsternd weich.
Sie kann nicht schwedisch plappern,
Wie ein zierlicher Schwadroneur,
Sie kann sich nicht sperren und spreizen,
Drum weg mit der fremden Couleur.


III


Die Sünden, die wir begangen,
Die gab's in der Flagge nicht,
Denn die Flagge das Ideal ist
In ewig harmonischem Licht.
Die besten Taten der Vorzeit,
Der Gegenwart bestes Gebet
Umhüllt sie und trägt sie weiter,
Daß vom Vater zum Sohn es geht.
Trägt es rein und ehrlich
Und nicht mit Versuchers List,
Denn unserem jungen Willen
Sie Führer und Schirmer ist.


IV


"Den Brautring nehmt nicht aus der Flagge",
So rufen sie allerwärts,
Doch Norge hat nimmer versprochen
Einer andern Braut sein Herz.
Es teilt mit keinem sein Wohnhaus,
Sein Bett, seinen Tisch, seine Ehr',
Sein Bräutigam ist sein Willen,
Selbst herrscht es auf Feld und Meer.

  Es ehrt unser Bruder im Osten
Die Kraft, die nach Freiheit ringt,
Er weiß, daß sie alleine
Uns Ruhmeskränze erzwingt.
Er weiß, warum unsrer Flagge
Der Pomp seiner Farben nicht steht:
Weil unsre eigene Ehre
Uns über die seine geht.
Und niemand, der Ehre im Leib hat,
Nennt andre Freundschaft ein Glück.
Wir opfern ihm gern unser Leben,
Doch von unsrer Flagge kein Stück.


V

_An Schweden_

    Voll Ehrerbietung ich nahe,--
    Ich weiß, du trägst hohen Sinn,--
    Und lege in schlichten Worten
    Vor dich meine Sache hin.


Wärst _du_ der Kleinere, Schweden,
Und jüngst erst durch Freiheit beglückt,
Und trüg' deine Flagge ein Zeichen,
Das dich tiefer und tiefer drückt,
Und behauptete, du seist der Kleine,
An des Größeren Tisch gesetzt,
(Denn also deuten die Völker
Dies Flaggenzeichen jetzt)--
Und wäre deine Freiheit
Nicht alt,--nein--wie unsre jung,
Und hundertjährige Ohnmacht
In deine Erinnerung
Mit frischen Furchen gegraben
Von altem Unrecht und Blut,
Von ziellosen Sehnsuchtsklagen,
--Ja wüßtest du, wie das tut,
Und solltest dein Volk erziehen
Zu neuer Freiheit Ehr',
Zu neuen Freiheitsgedanken,
Und die Flagge dein Dolmetsch wär',
Ob du dir wohl ließest rauben
Aus der Flagge das eine Feld?
Ob du wohl ertrügst das Zeichen,
Das die Freiheit dir vorenthält?
Ob du dir nicht selber sagtest:
"Je älter des ändern Rang,
Je größer der Ruhm seiner Farben,
Um so lockender ist sein Sang.
Versuche nicht den, der gefallen
Und der jüngst sich erst wieder befreit.
Mit reinen Zeichen deute.
Empor zur Unsterblichkeit."

So sprächest du, alter Recke,
Wenn du wohntest in _unserm_ Land,
Denn dir sind die Pfade der Ehre
Von altersher wohlbekannt.
Seit achtzehnhundertvierzehn
Und bis auf den heutigen Tag,
So oft unsre Freiheitssehnsucht
Qualvoll in Fesseln lag.
Gab es Männer in deiner Mitte,
Die trotz deiner Halsstarrigkeit
Für unsere Sache sprachen,
Wie Torgny in alter Zeit.


VI

_Antwort an den alten Ridderstad_


Im Kampf um die reine Flagge
Schwatzt du von "Ritterpflicht"?
Mein Bester, ich achte dich höchlich,
Doch wisse, _die_ schert dich nicht.
Denn grade weil uns Verleumdung
Bewirft mit Ruß und Dreck,
Ist's "Ritterpflicht", aus unsrer Flagge
Zu wischen den Anfechtungsfleck.
Die _Gleichheit_, die dieser predigt,
Die lügt er mit frechem Gesicht;
Ein großskandinavisches Schweden,
Das nämlich mögen wir nicht.
Nein, "Ritterpflicht" ist's für den Kleinen,
Zu sagen: "ich bin kein Teil,
Ich will das Selbständigkeitszeichen
Ganz haben zu eignem Heil."
Und "Ritterpflicht" ist's für den Großen,
Zu sagen: "der falsche Schein
Gereicht mir ja doch nicht zur Ehre,
Der soll meine Waffe nicht sein."
Und "Ritterpflicht" ist's für beide,
In streitender Völker Gemisch,
Zu sein mit gereinigtem Banner
Ein Beispiel, stolz, wacker und frisch.



AN DEN MISSIONAR SKREFSRUD IN SANTALISTAN


Ich ehre dich, weil du, verschmäht, geschändet,
Der Stimme lauschend, doch den Sieg errafft,
Und neuer Lästrung Antwort nur gesendet
Mit Wundern deines Glaubens, deiner Kraft.

Ich ehre dich, weil du nur stets gedürstet
Nach Gottes Taten unter Not und Streit;
Du Sohn des Gudbrandstales, geistgefürstet,
Der Heimat bester Mann in deiner Zeit.

Ich teile nicht dein glaubensstarkes Träumen,
Das scheidet nicht, wo Geist zum Geist sich kehrt;
Was groß und edel strebt zu höhern Räumen,
Verehrt mein Sinn, dieweil er Gott verehrt.



POST FESTUM


Ein Mann, bedeckt mit Schnee und Eis,
Stand einstmals auf am Eismeerstrande,
Da schallte laut durch alle Lande
Des Riesenrecken Lob und Preis.

Ein König klomm zu ihm hinan
Und reicht' ihm gnädig seinen Orden:
"Den tragen die, die groß geworden!"
"Stopp!" knurrte ihn der Recke an.

Der König wich verblüfft, entsetzt
Zurück mit bänglichem Gesichte:
"Mein Orden wird nach der Geschichte
Verschmäht von just den Größten jetzt.

"Nimm, nimm, mein Lieber; bitte schön,
Laß mich nicht in der Patsche stecken;
Du wirst mehr Größe ihm erwecken,
Uns, die ihn tragen, miterhöhn!"

Zu gut war unser Eismeerheld,
Wie oftmals Recken, will mir scheinen;
Die Narren werden sie der Kleinen,--
Er nahm ihn,--Hohngelächter gellt.

Da krochen alle Könige hin
Mit ihren Orden, sie zu heben
Und ihnen neuen Glanz zu geben:
Für arme Ritter zum Gewinn.

Honny soit ... et caetera--
Bespickt mit Orden stand er da;
Doch größer ward der Orden keiner,
Der Recke nur verteufelt kleiner.



ROMSDALEN


Komm auf das Deck, der Morgen bricht an,--
Ob ich das Land wohl erkennen kann?
Sieh, wie die Inseln die Köpfe recken,
Frischgrün und felsig; Salzfluten lecken,
Mutwillig plätschernd, den steinernen Fuß.
Seevögel flattern mit kreischendem Gruß,
Heben sich, senken sich, geistergleich.
Hier ist ein Reich
Voll Sturmeserinnrung,--ganz für sich.

Wir sind auf Fischers gefahrvoller Bahn!
Draußen--erzählt der Kapitän--am Riffe
Drängt sich der Heringsschwarm. Segelschiffe
Schwärmen just eben von dort herein;--
Der Fang war fein!

Wahrlich,--ich habe euch gleich erkannt,
Knorrige Leute von Romsdalland,--
Ja, ihr könnt segeln, wenn es gilt.

Doch halt! Fast entschwand mir das herrliche Bild!
------Beim ersten Blick
Wirft's Blitze zurück,
So mächtig war's in der Erinnerung nicht.

Wohin auch meine Augen wandern,
Ein Bergesriese über dem andern,
Des einen Brust an des andern Lende,
Bis an des Himmels äußerste Säume.
Wir harren auf Donner und Weltenende;
Die ewige Stille weitet die Räume.

Blau sind die einen, andere weiß,
Mit ragenden, hitzigen, eifernden Zacken,
Andere packen
Fest sich beim Arm zu geschlossenem Kreis.
Den riesigen Berg dort heißt man das "Hemd",
Ein Prediger ist er, in hehrer Gemeinde,
Von Größen der Urzeit, erhaben und fremd.
Was predigt er wohl? Dem Kindheitsfreunde
Tat oft ich die Frage, und immer wieder
Lauscht' ich, in Andacht versunken ganz.
Auf meine Lieder
Fällt majestätisch sein weißer Glanz.

----Wie groß das ist! Ich werde nicht fertig.
Die größten Gedanken aus Leben und Sage
Strömen herbei, meines Winks gewärtig,
Mit all dem Großen sich eifrig zu messen,--
Dantes Hölle, indische Sagen,
Shakespearesche Dramen zum Himmel ragen,
Äschylos' Donnerwolken ziehen,
Beethovens mächtige Symphonien,--
Weiten sich, heben sich, dampfen, strahlen:
--Und schrumpfen zusammen zu Spatzengeschnack
Und Ameisenfleiß;--umsonst euer Plagen!
Es ist, als wollte ein Ballherr im Frack
Die Berge zum Tanze zu bitten wagen.
Versuche sie nicht! Nein, gib dich hin,
Dann wirst du spüren,
Wie all die Großen zum Größern dich führen.

Beug' dich in Demut; denn wer sie fragt,
Dem sagen sie: _eines_ ist doch das Größte.
Sieh, wie der Bach durch den Spalt sich nagt;
Und denke, wie einst er vom Urfels sich löste
Und sich durch Eis und Klippen biß,
Um den Riesenleib zu durchfeilen.
Anfangs ein Ganzes, mußt' er sich teilen,
Als sich die Lenzfluten auf ihn ergossen;--
Doch Jahrmillionen verflossen,
Eh' der Gigant zerriß.

Jetzt stampft der Fjord in die Bande hinein,
Lüpft den Südwester mit keckem Gruße.
Wenn sie benebelt vom Kopf bis zum Fuße,
Zwickt sie der Bursch an der Nase gar gern,--
Der Fjord gehört nicht zu den höflichsten Herrn.

Ihm entgegen mit schaumweißem Kuß
Eilen Quelle, Gießbach und Fluß,
Das Lärmen der Sippe will nicht enden.
Oftmals treibt's ihm die Bande zu bunt,
Sperrt ihm den Weg, daß er halten muß.
Wie eine Muschel mit nassen Händen
Nimmt er den ganzen zudringlichen Schwarm
Frisch an den Mund und bläst darauf
Mit Westwindlungen--juchhei, pass' auf!
Dann heult es und tutet's, daß Gott erbarm'.

--Schwarzgrau ein Fjord die Küste jetzt teilt,
Schnell unser Boot ihn durcheilt;
Gießbäche donnern zu beiden Seiten.
Am Bergeskamm
Dampfende Regenwolken gleiten,
Voll wie ein Schwamm.
Ob Sonne, ob Sturm--das urewige Streiten.

Das ist des Romsdals trutzig Land!
Jetzt bin ich daheim.

Hier liegt des Volkes tiefster Keim.
Hier hat es Stimme und Herz und Verstand.
Jedweden Mann ich _hier_ richtig deute:
Kennst du den Fjord, so kennst du die Leute.

Wild ist der Fjord in Sturm und Schlacht;
Ein _anderer_ ist er in Sommerpracht,
In Mittsommersonne,
Wenn still er träumt in seliger Wonne,--
Was er nur sieht,
Innig und warm an sein Herz er zieht,
Spiegelt es, schaukelt es,--
War' es so arm wie das Moos am Fels,
Flüchtig wie Schaumesperlen des Quells.

Sieh, welch ein Glanz! So offen und minnig
Bittet er, bis man ihm gerne entschuldigt,
Was er verbrach und bereute so innig!
Allen den Bergen in Demut er huldigt,
Spiegelt so kosend
Wider im Spiel ihr erhabenes Bild.

--Denken die Alten: er ist doch nicht schlecht;
Frohsinn und Zorn sind sein altes Recht;
Ist reicher als andre, ist nimmer falsch,
Nur rücksichtslos, launisch und--eben "romsdalsch".
Berge! Ihr wißt das. Ihr kennt das Geschlecht,
Ihr saht sich's plagen,
Kriechend am Felshang, das Wildheu zu schlagen.

Ihr saht es ringen
Beim Fischfang, in Sturmnot, mit wenig Gelingen,
Roden und hauen und pflügen und pflanzen,
In Moor und Geröll mit den Gäulen schanzen;
Maßlos zu Zeiten,
Trunkene Flegel,
Sich raufen und streiten,
Doch nimmer weichen,--zu Topp die Segel!

Weiler wechseln; doch tief gekerbt
In euch liegt Sehnsucht, die quellenreiche,
Singende Tiefe--die wellengleiche:
Windboenfjord hat den Sinn euch gefärbt.

Wikinggeschlecht, ich grüße dein Nest!
Tief liegt dein Grundstein, die Wölbung ist fest,
Sonnennebel erfüllt deine Halle,
Gischtschaum vom brausenden Wasserfalle.
Wikinggeschlecht, so sei mir gegrüßt!

Wo uns so hohe Wölbung umschließt,
Kostet's zwar Kampf, sich den Thron zu erringen--
Nicht allen wollte das leider gelingen--
Kampf kostet's, das Erbgut des Fjords zu heben
Aus wollüstigem Nichtstun zu fruchtbarem Streben,
Kampf kostet's;--doch der, der es wagt, wird Mann.
Ich weiß, daß er's kann.



HOLGER DRACHMANN


Lenzbote, sei gegrüßt! Kommst du vom Walde?
Denn du bist naß im Haar, belaubt, bestaubt...
Hast an deine Kraft geglaubt?
Schlugst dich auf der Halde?
Der Lärm um dich von fesselloser Flut,
Die deiner Ferse folgt--sei auf der Hut:
Sie spritzt nach dir!--schlugst du dich seinetwegen?
Du warst da drinnen zwischen Stumpf und Knorren,
Wo diese Wintergreise längst verdorren.
Sie geizten? Wollten dir den Weg verlegen?
Doch dir ward Kraft verliehn vom alten Pan!
Sie schrien wohl unheilkündend, wie besessen?
Sie nannten es wohl Raub, was du getan?
In jedem Lenz geschieht's, wird bald vergessen.

Du wirfst dich hin am Salzmeer; dir zur Labe
Hat sich's gelöst, sucht kräuselnd deine Gunst.
Du kennst den Takt; Pan wies dir seine Kunst
Zur Dämmerzeit an einem Wikinggrabe.

Doch von dem Arme der Natur umschlungen
Hörst du den feuchten Grund vom Kampftritt beben,
Siehst Dampfer mit der Freiheitsflagge streben
Nach Norden hin;--dein Name ist erklungen.

So zwischen zweien dich erschöpfest du:
Den Freiheitskämpfern, stolz geschart zum Streite,
Der Sagenwelt in ihrer Traumesruh';
Die ersten mahnen, und es lockt die zweite.

Bald tönt dein Lied wie Hörnerklang vorm Feind,
Bald zärtlich wie durch Schilfrohr schwebt's heran.
Du bist Naturmacht halb und halb ein Mann,
Und noch hast du die Hälften nicht vereint.

Jedoch wie du auch spielst und selber seist
(Faunartige Liebe mit dem Kraftakkord
Des Wikings wechselnd), heil dir, Feuergeist--
Trägst du die Tür auch mit der Angel fort.

Das eben war's, wonach wir uns gesehnt:
Auf, auf, es gilt dem Lenz! Der üble Duft
Von Königsweihrauch und von Mönchstabak,
Ja, diese Schwindsucht in romantischem Lack
Preßt wie Moral die Lungen: frische Luft!

Weit lieber venetianischen Gesang,
Des Südens Üppigkeit und Farbenwunder,
Lieber "zwei Schüsse" (machen sie auch bang),
Als all den marklos faden Bildungsplunder!

Gegrüßt, Lenzbote von dem schlanken Wald,
Vom Meeresrauschen und von Kampfgefahren!
Wenn oft dein Lied ein wenig lässig hallt--
Wo Reichtum ist, da braucht man nicht zu sparen.
Des Riesen Art weckt aller Zwerge Tadel,
Ich liebe dich; du bist von eignem Adel.



WIEDERSEHEN [Symbol: gestorben]


  ... Bergfrisch die Luft, Schneeflocken drin;
Gewundnen Weg rasch fuhr ich hin
Zwischen zarten Birken und Tannen.
Die Tannen grübelten einzeln; weiß
Und fröhlich lachte das Birkenreis:--
Ein Erinnern, ein Bild will mich bannen.

  Und die Luft so harsch und frei und leicht,
Weil alles Schwere aus ihr weicht,
Das fächelt der Schnee von hinnen;
Und lebhaft hinterm dünnen Flor
Schimmert die Landschaft, drüber empor
Steigen beschneite Zinnen.

  Doch:--wie unter braunweißem Mützenrand--
Wohin ich blicke--: unverwandt----
Wer ist's nur--wer schaut mir entgegen?
Flink starr' ich unter den Haubenschild--
In ein Schneegeflimmer, toll und wild;--
Ist jemand auf meinen Wegen?

  Ein Sternchen fiel auf den Handschuh ... da
Und da wieder ... jedes verschieden ja,...
Wollen die Rätsel spielen?
Und wie Lächeln durchglänzt es die Luft ringsum
Von guten Blicken ... ich seh' mich um...
Sind's Erinnrungen, die nach mir zielen?

  Dies Sterngespinst, dies Filigran--
Ob sich wohl ein Geist drin bergen kann?
Ich fühl's nach mir tasten und greifen...
Du feine Birke, du Luft so rein,
Du muntrer Schnee,--wer haucht euch ein
Sein Wesen, wer sammelt im Schweifen

  Sein Bild in den Zügen der Natur,
In diesem Behagen auf schneeiger Flur,
Im Flockenspiel, daß er mich necke,--
In diesem weißen, sanften Glanz,
In diesem schweigenden Rhythmentanz?
Nein, das bist du, Hans Brecke!



DES DICHTERS SENDUNG


Dem Dichter ward Prophetenamt;
Zumal in Not und Gärungszeiten,
Wenn alle, die da leiden, streiten,
Sein Glauben stärkt, erhebt, entflammt.
Ein auferstandner Vorzeitheld,
Führt neuen Heerbann er ins Feld,
  Und ihn umzieht
  In weitem Raum
  Mit Seherlied
  Der Zukunft Traum;
Des Volkes ewige Frühlingssäfte
Macht frei das Lied durch seine Kräfte.

Er straft das Volk um eitlen Wahn
Und Heidentum und Molochschrecken,
Sieht unter herbstlich grauen Decken
Der Gotterkenntnis Triebe nahn.
Befreit pflanzt sich ihr Blütenschoß,
Gleich lichtem Kraft- und Liebessproß,
  Dem Volke ein,
  Erwärmt sein Herz,
  Trägt Heil hinein
  Und Zorn und Schmerz,
Läßt Mut und Klarheit kund ihm geben:
Wißt, Gott ist offenbart im _Leben_!

Den Königsmantel reißt er fort,
Um Volkesschultern ihn zu breiten,
Daß blind sich dies nicht lasse leiten
Von fremder Hoheit Wink und Wort,
Daß es als eigne Majestät
In eignen Amt und Würden steht,
  Von Sagaruhm,
  Von Mut entflammt,
  Mit Heldentum
  Ihm selbst entstammt,
Mit ungebrochner Willensstärke,
Mannhaft beim Worte, wie beim Werke.

Er zwingt das Volk zur Buße hin,
Ein grimmer Lug- und Trugverhöhner,
(Kein Sonntagsheld, ein Tagelöhner,
Dem seine Kühnheit kein Gewinn).
Aus trägem Frieden, Geistesnacht,
Aus Feigheit zwingt er's auf voll Macht;
  Nicht Volkessinn,
  Nicht Königsdank
  Lenkt seinen Gang:
  Frei zieht er hin;
Und wankt er, Schmerzen fühlt er gären,
Sein Herz durch läuternd Leid zu klären.

Er ist der Schwachen Hort und Held,
Kein Ritter dient den Frauen treuer.
Er führt des zagen Neulings Steuer,
Bis rechter Wind sein Segel schwellt.
Er wächst, halb wollend, halb verdammt,
Durch sein ihm auferlegtes Amt
  Und fleht am Ziel:
  "O Herr vergib!
  Ich war nicht viel.
  Ein bessrer Trieb
Aus reicherm Seelenfrühling mehre
Nach mir des Volks wie deine Ehre!"



PSALMEN


I


  Ich fühl' in mir
  Den Drang nach dir,
Du Harmonie, im All entfaltet.
  Bin ich verbannt?
  Hast du erkannt,
Daß ich mein Eigen schlecht verwaltet?
  Denn ohne Kraft,
  Bald feig erschlafft,
Bald in Verzweiflung sieh mich beten,
  Daß Trost und Gnad',
  Ein Ruf, ein Rat
Mich aufhebt, wo du mich zertreten.
  Gott, hör' mein Wort!
  Stoß mich nicht fort
Vom Hoffen auf mein Ziel und Streben!
  Mein Stern lischt aus;--
  Von nächtigem Graus
Sind meine Schritte nun umgeben.
  Im öden Sinn
  Wogt her und hin
Ein Schwarm von schreckensvollen Geistern.
  Ihr, oft verjagt,
  Was wollt ihr, sagt?
Nur heut kann ich sie nicht bemeistern.
  Ach, Friede, komm!
  Laß glaubensfromm
Des Lebens starkes Band mich tragen!
  Laß nicht nach mir
  Vergebens hier
Mich zweifelnd suchen, rufen, fragen!


II


Ehre dem ewigen Frühling im Leben,
  Der alles durchweht!
Kleinstem wird Auferstehung gegeben,
Die Form nur vergeht.
  Geschlecht auf Geschlecht
Müht sich empor zu schreiten;
  Art bringt Art hervor
In unendlichen Zeiten;
Welten gehn unter und steigen empor.

Nichts ist so klein, daß nicht Kleinres bestünde
  Unsichtbar.
Nichts ist so groß, daß nichts Größres bestünde
  Ferne von ihm.
  In der Erde der Wurm
Ist Berge zu bauen imstand'.
  Der Staub im Sturm
Oder der rinnende Sand,
Reiche hat er gegründet einst.

Unendlich das All, und Großes und Kleines
  Verschmelzen darin.
Kein Auge wird schauen das Ende--keines
  Sah den Beginn.
  Der Ordnung Gebot
Hat lebenerhaltend das All beseelt;
  Furcht und Not
Zeugen einander; was uns quält,
Wird zum Born, der die Menschheit stählt.

Ewigkeitssamen sind wir, die leben.
  Im Schöpfungstage
Wurzeln unsre Gedanken; sie schweben,
  Antwort wie Frage,
  Saatenvoll,
Über dem ewigen Grunde;
  Frohlocken drum soll,
Wer in einer schwindenden Stunde
Mehrte die Erbschaft der Ewigkeit.

Tauch' in die Wonnen des Lebens, du Blüte
  Im Frühlingsrain;
Genieße, preisend des Ewigen Güte,
Dein kurzes Sein.
  Füg' auch du
Schaffend dein Scherflein hinzu;
  Klein und zag,
Atme, soviel deine Kraft vermag,
Einen Zug in den ewigen Tag!


III


Chor

Wer bist du, von tausend Zeiten und Zungen
Mit tausend Namen genannt?
Du hieltst unsre Sehnsucht mit Armen umschlungen,
Warst Hoffnung den Vätern ins Joch gebannt;
Warst Ängsten des Todes der nachtdunkle Gast,
Warst Lebensfesten der Sonnenglast.
Noch bilden wir alle verschieden dein Bild,
Noch nennen wir jedes Offenbarung,
Und jedem seins für das wahre gilt--
Bis daß es zerbricht in bittrer Erfahrung.


Solo

  Ach, wer du auch seist,
  In mir ist dein Geist;
Meiner Seele ewiger Ruf--das bist du!--
  Nach Licht und nach Recht,
  Nach Sieg im Gefecht
Für den kommenden Tag, das bist du, das bist du!--
  Ein jedes Gebot,
  Das ins Aug' uns loht,
Oder das nie uns bewußt, das bist du!--
  Mein Leben ruht
  In schirmender Hut,
Und es jubelt in mir: das bist du, das bist du!


Chor

Da nimmer wir können dein Wesen erreichen,
Erdachten wir uns Vermittler von dir;
Sie alle ließ ein Jahrtausend erbleichen,
Und wieder stehen wir weglos hier.
Sind krank wir geworden und klammern uns an?
Wo winkt uns ein Trost für den Traum, der zerrann?
Der Ewigkeitshoffnungen leuchtend Verlangen,
Das hoch uns erhob aus des Lebens Jammer,
Soll's weichen in schauderndem Todesbangen,
Sich wandeln zum Wurm in unserer Kammer?


Solo

  Er, der mich durchhaucht,
  Nein, nimmer er braucht
Den Mittler; ich hab' ihn in mir: das bist du!
  Ist mein Ewigkeitsflug
  Sein Wille, und trug
Mich zur Taufe sein Geist--bist es du, bist es du.--
  Werd' ich teilhaft, ich Nichts,
  Des ewigen Lichts?
In Demut mich beug' ich; denn ich weiß, das bist du!
  Still wart' ich und fromm:
  Erwecker, o komm,
Wenn du willst, wie du willst--das bist du, das bist du!



FRAGE UND ANTWORT


_Das Kind_

Du, Vater! Ich sah mich im Walde um,
War alles stumm,
Kein einziger Vogel sang ringsum.


_Der Vater_

Er flog gen Süd übers Meer hinab,
Der Lieder uns gab;
Kann sein, er findet dort sein Grab.


_Das Kind_

Der Arme; warum denn blieb er nicht?


_Der Vater_

Er suchte mehr Wärme und mehr Licht.


_Das Kind_

Du, Vater, ist das auch recht getan?
Er denkt nicht dran,
Daß wir andern hier bleiben und frieren dann.


_Der Vater_

Ein neuer Frühling will neuen Sang
Aus Herzensdrang;
Den bringt er uns mit, es währt nicht lang.


_Das Kind_

Aber wenn er stirbt in den kalten Wellen?


_Der Vater_

So kommen wohl seine Weggesellen.



WECKLIED AN DIE NORWEGISCHE SCHÜTZENGILDE

(1881)


Zu den Fahnen, zu den Fahnen,
Junger Freiheit Chor!
Eure Fahnen, eure Fahnen,
Schützen, hebt empor!
Hinterm Stutzenringe
Unsrer jungen Schar
Soll der Greis im Tinge
Reden fest und klar.
  In dem frischen
  Kugelzischen
Liegt ein muntrer Klang;
  Freiheitkündend,
  Führt er zündend
Uns zum Königsrang.

In die Tingesrunde
Klingt aus Talesgrunde
Hell und freudig "ja" auf "ja",
Daß aus Stutzenröhren
Wir das Echo hören
Als ein tausendfältiges Hurra.
  Hurra,
Hurra, hurra, hurra, hurra.

Mutter Norge lauscht so heiter
Auf des Widerhalles Töne,
Und durch ihre jungen Söhne
Erbt das Freiheitsgut sich weiter.



ARBEITERMARSCH


Takt! Takt! Auf Takt habt acht!
Der ist mehr als halbe Macht.
Formt aus vielen, vielen Einen,
Hebt den Mut der bangen Kleinen,
Läßt das Schwerste leicht erscheinen,
Zeigt die Ziele uns, die reinen,
Näher, schärfer ohne Schatten,
Als wir auf dem Korn sie hatten.

Takt! Takt! Auf Takt habt acht!
Das ist mehr als halbe Macht.
Nahn im Takt wir einige hundert,
Ist da keiner, der sich wundert;
Nahn im Takt wir einige tausend,
Wird sein Ohr schon mancher recken;
Nahn im Takt wir hunderttausend,--
Ja, dies Dröhnen wird sie wecken!

Takt! Takt! Auf Takt habt acht!
Der ist mehr als halbe Macht.
Wenn in solchem Takt wir schreiten
Fest von Norges Uferweiten
Bis zum höchsten Katarakte,--
Kommen alle wir im Takte,--
Schwinden Herren, schwinden Knechte,
Helfen jedem wir zum Rechte!



DER ZUKUNFT LAND

(Herman und M. Anker zu ihrer silbernen Hochzeit. 15. September 1888,
zugeeignet)


  Zukunftsland!
Dahin sich all unsre Sehnsucht schwingt,--
All unser Seufzen, das ziellos verklingt,
Formt sich zu Bildern in Wolkenrot
  Jenseits der Not,--
Alles, was aus unserm Glauben sprießt,
  Selig uns grüßt
  Im Zukunftsland.

  Zukunftsland!
All unsre Arbeit zu Nutzen und Frommen
Wächst in Geschlechtern, die nach uns kommen.
Sammelt für sie in verjüngendem Drang,
  Was _uns_ gelang;
Trägt voller Kraft unser Werk hinein,
  Unfehlbar hinein
  Ins Zukunftsland.

  Zukunftsland!
Tränen, vergossen um all das Schlechte,
Blutschweiß vom Kampfe für höhere Rechte
Salben die Kraft, die den Sieg verspricht.
  Uns es zwar bricht,
Schlechtes doch hindert es, Gutes es sät,
  Das aufersteht
  Im Zukunftsland.

Zukunftsland!
Dämmert in Farben und Melodien,
Die uns wie Sonnengold glitzernd umziehen,
Schimmert im Auge des Kindes und weht
  Durch dein Gebet.
Siegen wir--und ist der Sieg gesund,
  Stehn wir zur Stund
  Im Zukunftsland.



EIN JUNGES VÖLKCHEN KERNGESUND


Ein junges Völkchen kerngesund
Wächst überquellend frisch empor
In Spiel und Sang und Blumenflor
Auf unsres Vätererbes Grund;
Es träumt von dem, was schon errungen,
Sehnt sich nach dem, was nicht bezwungen.

Ein junges Völkchen kerngesund,
Des ganzes Volkes Ehrenpreis,
Des Lebensfrühlings Edelreis,
Ein Osterfest auf Vätergrund
Für alle Alter. Neu entfalten
Im Lenz der Jungen sich die Alten.

Ein junges Völkchen kerngesund
Ist unser Können, doppelt stark,
Ist unsrer Hoffnung Lebensmark,--
Aus des Charakters tiefem Grund
Wächst unsrer Väter Geist auf Erden
Empor zu immer höherm Werden.



NORGE, NORGE


  Norge, Norge,
Blauend empor aus dem graugrünen Meer,
Inseln ringsum gleich Vogeljungen,
Fjorde in Zungen
Dorthin, wo Stille sich breitet umher.
Ströme, Täler;
Felsen begleiten sie; Waldgipfel fern
Ragen dahinter. Wo Tore sie brechen,
Seen und Flächen,
Feiertagsfrieden und Tempel des Herrn.
  Norge, Norge,
Hütten und Häuser und keine Burgen,
  Hart oder weich,
Du bist unser, bist unser Reich,
Du bist der Zukunft Land.

  Norge, Norge,
Schneeschuhlaufes leuchtendes Land,
Teerjackenhafen und Fischgehege,
Des Flößers Wege,
Bergecho der Hirten und Gletscherbrand.
  Äcker, Wiesen,
Runen im Waldboden, Klüfte versprengt,
Städte wie Blumen, Flüsse verschäumend,
Wo sich bäumend
Aufblitzt das Meer, wo der Schwarm sich drängt!
  Norge, Norge,
Hütten und Häuser und keine Burgen,
  Hart oder weich,
Du bist unser, bist unser Reich,
Du bist der Zukunft Land.



MEISTERN ODER GEMEISTERT WERDEN


Dieses Land, das trotzig schaut,
Meerumbrandet, bergumbaut,
Winterkalt und sommerbleich,
Kurzes Lächeln, niemals weich,--
Ist der Riese, der, gemeistert,
Fördern soll, was uns begeistert.
Er soll hämmern, er soll tragen,
Er soll singen, er soll sagen,
Er soll malen Glanz und Gischt:--
Was da donnert, tost und zischt
Zwischen Fjord und Bergeswacht,
Schaff' uns eine Schönheitsmacht.



IM WALDE


Der Wald gibt sausenden sachten Bescheid;
Was immer er sah in den einsamen Stunden,
Was immer er litt, als man doch ihn gefunden,
Das klagt er dem Winde; der trägt es weit.



DER SIEBZEHNTE MAI

(1883)


Wergelands Denkmal am siebzehnten Mai
Grüßte der Festzug. Und als die letzten,
Männer im Takt,
Frauen mit Blumen in ihrer Mitten,
Schritten die Bauern, die Bauern schritten.

Österdalswaldes mächtiger Häuptling
Trug ihre Fahne. Als wir sie sahen,
Über dem Purpur
Sich ein Gedanke in Tausenden malte:
Das ist die Alte, das ist die Alte!

Noch trug nicht fremden Volks Krone der Löwe,
Danebrog hat noch das Tuch nicht gespalten,
Zukunft erschien mir,
Sah dort um Wergelands Denkmal in Mengen
Bauern sich drängen, Bauern sich drängen.

Von den vergangnen Verlusten das Meiste,
Von dem Errungenen, von dem Ersehnten,
Ja, meist von allem:
Pflichten der Vorzeit, der Zukunft Ehre
Tragen der Bauern, der Bauern Heere.

Bitter sie sühnten, was einst gesündigt.
Doch sie erheben sich. Jüngst erst im Tinge
Kämpften sie mannhaft.
Von Süd, West und Norden, aus Trondhjemer Landen
Alle die Bauern, die Bauern erstanden.

Halten die Beute, da weiter sie wollen;
Ganz sei uns eigen der Freiheitsgedanke!
Alle wir wissen's:
Wenn einstmals Wergelands Sommer entglommen,
Mit ihm die Bauern, die Bauern kommen.



FREDERIK HEGEL


Die Lüfte liebe ich, die kühlen,
  Erhaben rein,
  Im Hoheitsschein,
Die mich wie Freiheitsflut umspülen.

Im Walde mich's am liebsten leidet,
  Wenn Phantasie
  Mit Herbsts Genie
Ihn malt, nicht wenn ihn Grünschmuck kleidet.

Ich kannte einen: seine Reinheit
  War herbstlich mild,
  Sein Ebenbild
War Herbsteshimmels Farbenfeinheit.

Sein Bild ist wie--wenn in frostigem Tanz
  Des Winters Graus
  Umstürmt das Haus,--
Meines Herdes erster erwärmender Glanz.

Und wenn das Sehnen nimmt ein Ende,
  Wenn Sommers Lied
  Nach innen zieht,
Hat Freundschaft Tempelsonnenwende.



UNSERE SPRACHE

(1900)


Nordischer Berge Widerhall,
Wiegengesang am dänischen Sunde,
Feuerglocke bei Fredrikshall,
Lerchenjubel aus Kindermunde,--
  Du Herz der Herzen,
  Mein norwegisch Wort,
  Für Freuden und Schmerzen
  Als Burg uns gebautes,
  Du Gott vertrautes,--
    Wir lieben dich!

Holbergs flüsternder Geisterchor,
Heim den Dichter und morgenwärts ladend,
Schärfend das Schwert ihm, hebend empor
Schätze, in klingendem Lachen sie badend,--
  Du Heim der Bedrohten,
  Mein norwegisch Wort!
  Hier grüßen die Toten
  Die Lebensroten,
  Die Zukunftsboten,--
    Wir lieben dich!

Kierkegaard warst du ein tiefes Meer,
Da er die Segel nach Gott hin spannte.
Wergeland warst du ein Adler hehr,
Der sich vor vielen zur Sonne wandte.
  Du Herz der Herzen,
  Mein norwegisch Wort,
  Für Freuden und Schmerzen
  Als Burg uns gebautes,
  Du Gott vertrautes,--
    Wir lieben dich!

Warst wie ein Maitag voll strahlender Zier
Für den Frühling der Freiheit im Norden.
Durch deine Lieder ist unser Panier
Weit auf Erden Sieger geworden.
  Du Heim der Bedrohten,
  Mein norwegisch Wort!
  Hier grüßen die Toten
  Die Lebensroten,
  Die Zukunftsboten,--
    Wir lieben dich!

Über die Wogen rollst du als Weg
Deinen Blumenteppich, es schreiten
Freunde zu Freunden auf diesem Steg,
Fühlen Himmel und Glaube sich weiten.
  Du Herz der Herzen,
  Mein norwegisch Wort,
  Für Freuden und Schmerzen
  Als Burg uns gebautes,
  Du Gott vertrautes,--
    Wir lieben dich!

Der beste Freund, den ich fand, warst du;
Im Aug' der Mutter harrtest du meiner.
Und wer mich am letzten verläßt, bist du;
Denn du nur sahst mir ins Herz, sonst keiner!
  Du Heim der Bedrohten,
  Mein norwegisch Wort!
  Hier grüßen die Toten
  Die Lebensroten,
  Die Zukunftsboten,--
    Wir lieben dich!

       *       *       *       *       *



ERZÄHLUNGEN

       *       *       *       *       *



THROND


Es war ein Mann mit Namen Alf, in den seine Mitbürger große Hoffnungen
setzten; denn er war den meisten an Klugheit und Tatkraft überlegen.
Doch als dieser Mann dreißig Jahr alt war, zog er hinauf ins Gebirge und
machte sich dort, zwei Meilen von allen Menschen entfernt, ein Stück
Land urbar. Manche wunderten sich, daß er diese Nachbarschaft mit sich
selbst aushielt, aber sie wunderten sich noch mehr, als nach einigen
Jahren ein junges Mädchen aus dem Tal sie mit ihm teilen wollte, und
zwar gerade das Mädchen, das bei allen Festen und bei jedem Tanz die
Fröhlichste gewesen war.

Man nannte sie die "Waldmenschen", und er war unter dem Namen "Alf vom
Walde" bekannt; die Leute drehten sich lange nach ihm um, wenn er sich
in der Kirche oder bei der Arbeit einfand; denn sie konnten nicht aus
ihm klug werden, und er schien kein Interesse daran zu haben, sich
auszusprechen. Die Frau war nur selten im Dorf gewesen, einmal aber, um
ein Kind über die Taufe zu halten.

Dies Kind war ein Sohn, der Thrond getauft wurde. Als er heranwuchs,
sprachen sie des öfteren davon, sie müßten eine Hilfe haben, und da sie
nicht die Mittel hatten, sich eine erwachsene Magd zu halten, so nahmen
sie eine halbwüchsige, wie sie sich ausdrückten, ins Haus: ein
vierzehnjähriges Mädchen, das auf den Jungen zu achten hatte, wenn die
Eltern auf dem Felde waren.

Sie war freilich ein bißchen einfältig, und der Junge merkte bald, daß
alles, was die Mutter ihm sagte, leicht zu begreifen war, während das,
was Ragnhild ihn lehrte, schwer war. Mit dem Vater sprach er nicht viel,
und er hatte auch Angst vor ihm, denn wenn er in der Stube war, mußte
alles mäuschenstill sein.

Einmal an einem Weihnachtsabend--auf dem Tisch brannten zwei Lichte, und
der Vater trank aus einer weißen Flasche--packte der Vater den Jungen,
nahm ihn auf den Schoß, sah ihm streng in die Augen und rief: "Buh,
Junge!" Dann fügte er milder hinzu: "Du bist gar nicht so'n Angsthase;
möchtest Du ein Märchen?" Der Junge antwortete nicht, sondern sah den
Vater groß an. Der aber erzählte ihm von einem Mann aus Vaage, welcher
"der Blessommer" hieß. Er war in Kopenhagen, dieser Mann, um des Königs
Schiedsspruch einzuholen in einem Prozeß, den er führte, und das zog
sich so in die Länge, daß ihm der Weihnachtsabend über den Hals kam; das
gefiel aber dem Blessommer durchaus nicht, und wie er so durch die
Straßen schlenderte und nach Hause dachte, da sah er einen wuchtigen
Kerl in einem weißen Mantel vor sich hergehen. "Du gehst ja so schnell",
sagte der Blessommer.--"Hab's weit bis nach Haus heut abend", sagte der
Mann.--"Wo willst Du hin?"--"Nach Vaage", sagte der Mann und schritt
aus.--"Das trifft sich aber fein," sagte der Blessommer, "dahin möchte
ich auch."--"Dann kannst Du hinten bei mir auf den Kufen stehen",
antwortete der Mann und bog in eine Querstraße ein, wo sein Schlitten
stand. Er schwang sich hinauf und sah sich nach dem Blessommer um, der
sich auf die Kufen stellte. "Du mußt Dich festhalten", sagte er. Der
Blessommer tat es, und es war auch nötig; denn es ging nicht etwa immer
auf der glatten Erde hin. "Mir scheint, Du fährst übers Wasser", sagte
der Blessommer.--"Das tu' ich", sagte der Mann, und der Gischt umstob
sie. Aber nach einer Weile kam es dem Blessommer vor, als führen sie
nicht mehr übers Wasser. "Mir scheint, es geht durch die Luft", sagte
er.--"Ja, das tut es", antwortete der Mann. Aber als sie noch weiter
gefahren waren, kam dem Blessommer die Gegend, durch die sie fuhren, so
bekannt vor. "Mir scheint, das ist Vaage", sagte er.--"Ja, jetzt sind
wir da", antwortete der Mann, und der Blessommer fand, es sei recht
schnell gegangen. "Schönen Dank für die Fahrt", sagte er.--"Gleichfalls!"
sagte der Mann und fügte hinzu, während er auf das Pferd einschlug:
"Jetzt sieh Dich lieber nicht weiter nach mir um!"--"Nein, nein", dachte
der Blessommer und trollte sich über die Höhen heimwärts. Aber da erhob
sich hinter ihm ein Dröhnen und Getöse, als wolle der ganze Berg
einstürzen, und ein Leuchten ging über das Land hin; er sah sich um, und
da sah er den Mann in dem weißen Mantel durch krachende Feuersäulen
hindurch in den offnen Berg einfahren, der sich wie ein Tor über ihm
wölbte. Dem Blessommer wurde es etwas unbehaglich zumute bei der
Reisegesellschaft, die er gehabt hatte, und er wollte den Kopf wieder
umwenden; aber wie der Kopf saß, so blieb er sitzen, und der Blessommer
hat in seinem ganzen Leben den Kopf nicht mehr umdrehen können.

So etwas hatte der Bursch sein Lebtag nicht gehört. Er getraute sich
nicht den Vater weiter zu fragen, aber am andern Morgen in aller Frühe
fragte er die Mutter, ob sie keine Märchen wisse. Doch, sie wußte
welche, aber die handelten meistens von Prinzessinnen, die sieben Jahre
lang gefangen saßen, bis der rechte Prinz kam. Der Bursch dachte, alles,
was er hörte und las, lebe in seiner nächsten Nähe.

Er war etwa acht Jahr alt, als an einem Winterabend der erste fremde
Mensch bei ihnen durch die Tür trat. Er hatte schwarzes Haar, und das
hatte Thrond noch nie gesehen. Er sagte kurz "Guten Abend" und kam
herein; Thrond wurde die Sache ängstlich, und er setzte sich auf einen
Schemel am Herd. Die Mutter nötigte den Mann zum Sitzen; er tat es, und
da faßte sie ihn genauer ins Auge: "Herrjeh, ist das nicht der
Fiedel-Knut?" sagte sie.--"Ja, freilich ist er das. Es ist lange her,
daß ich auf Deiner Hochzeit spielte."--"Ach ja, das ist schon eine ganze
Weile. Kommst Du weit her?"--"Ich habe Weihnachten auf der andern Seite
des Berges gespielt. Aber mitten im Gebirge wurde mir schlecht; ich
mußte hier einkehren, um mich auszuruhen."

Die Mutter brachte ihm Essen herein; er setzte sich an den Tisch, sagte
aber nicht "in Jesu Namen", wie der Junge es doch immer gehört hatte.
Als er fertig war, stand er auf: "Nun ist mir wieder ganz gut", sagte
er; "laßt mich jetzt ein klein bißchen ruhen." Und er wurde zum
Ausruhen in Thronds Bett gesteckt.

Für Thrond wurde eins auf dem Fußboden gemacht. Wie er so dalag, fror
ihn an der Seite, die dem Herd abgekehrt war, und das war die linke. Ihm
fiel ein, das komme daher, daß die eine Seite in der nächtlichen Kälte
bloß lag; denn er lag ja mitten im Walde. Wie war er nur in den Wald
gekommen? Er richtete sich auf und blickte sich um, und das Feuer
brannte in weiter Ferne, und er lag wirklich allein im Walde; er wollte
nach Hause gehen zum Feuer, kam aber nicht von der Stelle. Da überfiel
ihn große Angst; denn hier konnten Ungeheuer hausen und Hexen und
Gespenster; heim mußte er zum Feuer, aber er kam nicht von der Stelle.
Da wuchs seine Furcht, er raffte seine ganze Kraft zusammen, schrie
"Mutter"--und wachte auf. "Mein Junge, Du träumst so schwer", sagte sie
und nahm ihn auf den Arm.

Ihn überlief ein Schauder, und er sah sich um. Der Fremde war fort, und
er wagte nicht nach ihm zu fragen. Die Mutter kam in ihrem schwarzen
Kleid herein und ging ins Dorf. Zurück kam sie mit zwei andern Fremden,
die auch schwarzes Haar und flache Hüte hatten. Sie sagten auch nicht
"in Jesu Namen" vorm Essen, und sie sprachen leise mit dem Vater.
Nachher ging er mit ihnen in die Scheune und kam mit einem großen Kasten
wieder heraus, den sie zwischen sich trugen. Den setzten sie auf einen
Schlitten und verabschiedeten sich. Da sagte die Mutter: "Wartet einen
Augenblick und nehmt den kleinen Kasten mit, den er bei sich hatte." Und
sie ging ins Haus, um ihn zu holen. Einer der Männer aber sagte: "Den
kann der kriegen", und zeigte auf Thrond. Der andere fügte hinzu:
"Brauch' sie ebensogut wie der Mann, der jetzt hier liegt", und er
deutete auf den großen Kasten. Da lachten beide und zogen von dannen.
Thrond besah sich den kleinen Kasten, den er auf diese Weise bekommen
hatte. "Was ist da drin?" fragte er. "Trag ihn hinein und sieh nach",
sagte die Mutter. Er tat es, und sie half ihm beim Öffnen. Da strahlte
sein Gesicht vor Freude, denn er sah etwas Leichtes, Feines darin
liegen.--"Hol' es heraus!" sagte die Mutter. Er tippte nur mit einem
Finger darauf, aber voll Entsetzen zog er ihn wieder zurück. "Es weint!"
sagte er. "Nur Mut!" sagte die Mutter, sie griff mit der ganzen Hand zu
und nahm das Ding heraus. Er wog es und drehte es hin und her, er lachte
und streichelte es: "Mutter, was ist das?" fragte er, es war so leicht
wie ein Spielzeug. "Das ist eine Fiedel."

Auf die Art bekam Thrond Alfson seine erste Geige.

Der Vater konnte ein wenig spielen, und er brachte dem Jungen die ersten
Griffe bei. Die Mutter konnte Tanzweisen trällern von ihrer Tanzzeit
her, und die lernte er, machte aber bald selbst neue. Er spielte immer,
wenn er nicht lernte; er spielte so viel, daß der Vater einmal sagte, er
werde ganz blaß dabei. Alles, was der Knabe bis dahin gelesen und gehört
hatte, ging in die Fiedel über. Die weiche, feine Saite war die Mutter;
die Saite dicht daneben, die beständig der Mutter folgte, war Ragnhild.
Die grobe Saite, die er seltener anrührte, war der Vater. Die letzte,
feierliche Saite aber, vor der hatte er beinah Angst, und der gab er
keinen Namen. Wenn er auf der Quinte einen Fehlgriff tat, war es die
Katze, wenn er aber auf des Vaters Saite fehlgriff, so war das der
Ochse. Der Bogen war der Blessommer, der in einer Nacht von Kopenhagen
nach Vaage gefahren war. Auch jedes Lied war ein bestimmter Gegenstand.
Das Lied mit den langen, feierlichen Tönen war die Mutter in ihrem
schwarzen Kleide. Das zaghafte und hüpfende war Moses, als er stammelte
und mit seinem Stab an den Felsen schlug. Das Lied mit der leisen
Melodie, wo der Bogen so leicht auf den Saiten lag, war die Hexe, die
die Herde im Nebel an sich lockt, wenn kein anderer es sieht.

Das Spiel aber trug ihn über die Berge hinaus, und in ihm erwachte die
Sehnsucht. Als der Vater eines Tages erzählte, auf dem Jahrmarkt habe
ein kleiner Junge gespielt und viel Geld verdient, lauerte er in der
Küche der Mutter auf und fragte sie leise, ob er nicht auch auf den
Jahrmarkt dürfe und den Leuten etwas vorspielen. "Wie kommst Du auf so
was!" sagte die Mutter, sprach aber doch gleich mit dem Vater darüber.
"Er kommt noch früh genug in die Welt", antwortete der Vater, und er
sagte es so entschieden, daß die Mutter nicht weiter bat.

Bald darauf sprachen Vater und Mutter bei Tisch von einigen neuen
Landsassen, die kürzlich ins Gebirge gekommen waren und sich verheiraten
wollten. Sie hätten keinen Spielmann zur Hochzeit, sagte der Vater.
"Könnte ich nicht den Spielmann machen?" flüsterte der Bursch, als die
Mutter wieder in der Küche stand.--"So klein, wie Du bist!" sagte sie;
aber sie ging doch hinaus in die Scheune, wo der Vater war, und sagte es
ihm. "Er ist noch nie im Dorf gewesen," fügte sie hinzu, "er hat nie
eine Kirche gesehen".--"Was bittest Du mich eigentlich", sagte Alf; aber
weiter sagte er auch nichts, und da nahm die Mutter an, sie dürfe.
Deshalb ging sie hinüber zu den neuen Landsassen und bot den Jungen an.
"So wie der spielt," sagte sie, "hat noch kein Kind gespielt", und--der
Bursch wurde angenommen.

Das gab aber eine Freude zu Hause! Von morgens bis abends spielte er und
übte neue Weisen ein, nachts träumte er von ihnen; sie trugen ihn über
die Höhen in fremde Lande, als reite er auf segelnden Wolken. Die Mutter
nähte ihm einen neuen Anzug, der Vater aber wollte von der ganzen
Geschichte nichts wissen.

Die letzte Nacht schlief Thrond nicht, sondern ersann ein neues Lied
über die Kirche, die er noch nicht gesehen hatte. Am Morgen war er früh
auf und die Mutter auch, um ihm Frühstück zu geben, aber er konnte
nichts essen. Er zog den neuen Anzug an und nahm die Fiedel in die Hand,
und da war's ihm, als flimmere es ihm vor den Augen. Die Mutter
begleitete ihn bis vor die Tür und sah ihm nach, wie er über die Hänge
dahinschritt; es war das erstemal, daß er von Hause fortzog.

Der Vater stieg leise aus dem Bett und ging ans Fenster; da stand er
und blickte dem Knaben nach, bis man die Mutter auf den Steinfliesen
hörte; da ging er wieder zu Bett und lag schon drin, als sie hereinkam.
Sie ging ruhelos in der Stube umher, als habe sie etwas auf dem Herzen.
Und schließlich kam sie mit der Sprache heraus: "Ich finde eigentlich,
ich müßte hinunter in die Kirche und sehen, wie es geht." Er gab keine
Antwort, deshalb hielt sie die Sache für abgemacht, zog sich an und
ging.

Es war ein herrlicher Sonnentag, an dem der Bursch über die Hänge
dahinzog; er hörte den Vögeln zu und sah die Sonne auf den Blättern
glitzern, während er rasch vorwärtsschritt, die Fiedel unterm Arm. Und
als er an das Hochzeitshaus kam, sah er noch immer nichts anderes, als
was ihn vorher beschäftigt hatte, sah weder Brautstaat noch
Hochzeitszug; er fragte nur, ob sie bald aufbrechen wollten; das wollten
sie. Er ging mit der Fiedel voran, jetzt spielte er die himmlische
Morgenstimmung ihnen in die Seele hinein, und es hallte zwischen den
Bäumen. "Sehen wir die Kirche bald?" fragte er die hinter ihm
Schreitenden. Lange hieß es nein; aber schließlich sagte einer: "Jetzt
bloß noch um diese eine Felswand herum, dann siehst Du sie!" Er spielte
sein neuestes Lied auf der Fiedel, der Bogen tanzte, und er spähte nach
vorn. Da lag das Dorf dicht vor ihm!

Das erste, was er sah, war ein zarter, leichter Nebel, der wie ein Rauch
vor der jenseitigen Bergwand lag. Er ließ das Auge zurückschweifen über
grüne Wiesen und große Häuser mit Fenstern, in denen die Sonne brannte;
das glitzerte fast wie ein Eisgletscher am Wintertag. Die Häuser wurden
immer größer und immer mehr Fenster kamen zum Vorschein, und hier an der
einen Seite lagen ungeheuer große, rote Häuser, vor denen Pferde
angebunden standen; geputzte kleine Kinder spielten auf einem Hügel,
Hunde saßen dabei und sahen zu. Aber über allen den Menschen und Dingen
schwebte ein langer, dunkler Ton, der ihn erschütterte, daß alles, was
er sah, sich im Takt nach diesem Ton zu bewegen schien. Da sah er
plötzlich ein großes, schlankes Haus, das geradenwegs in den Himmel
hinein strebte mit einer hohen blinkenden Stange. Und weiter unten
funkelten hundert Fenster in der Sonne, daß das Haus wie in einer Lohe
stand. Das muß die Kirche sein, dachte der Bursch, und daher muß der Ton
kommen! Rings um die Kirche stand eine ungeheure Menge Menschen, und
alle sahen sie ganz gleich aus! Er brachte sie sofort mit der Kirche in
Verbindung und fühlte daher vor dem kleinsten Kinde eine mit Furcht
gemischte Achtung. Jetzt muß ich spielen, dachte Thrond und setzte den
Bogen an. Aber was war das? Die Fiedel tönte ja nicht mehr.--Da muß an
den Saiten etwas entzwei sein; er untersuchte sie, fand aber nichts.
"Dann muß es daran liegen, daß ich nicht fest genug aufdrücke", und er
drückte auf, aber die Fiedel war wie zersprungen. Er nahm für das Lied,
das die Kirche bedeuten sollte, ein anderes, aber es ging ganz ebenso
schief. Kein Ton, nur ein Gequietsch und Gejammer. Er fühlte, wie ihm
der kalte Schweiß übers Gesicht perlte; er dachte an die vielen klugen
Menschen, die hier standen und ihn vielleicht auslachten, ihn, der doch
zu Hause so schön spielen konnte, hier aber keinen einzigen Ton
hervorbrachte. "Gott sei Dank, daß Mutter nicht hier ist und meine
Schande mit ansieht", sagte er vor sich hin, während er mitten unter den
Menschen zu spielen versuchte,--aber da--da stand sie ja in dem
schwarzen Kleid und zog sich mehr und mehr zurück. Im selben Augenblick
sah er hoch oben auf der Turmspitze den schwarzhaarigen Mann sitzen, der
ihm die Fiedel geschenkt hatte. "Gib wieder her!" rief er, lachte und
streckte die Arme aus, und die Turmspitze ging auf und nieder mit ihm,
auf und nieder. Der Bursch aber nahm die Fiedel unter den Arm: "Du
kriegst sie nicht!" rief er, drehte sich um und lief davon, weg von der
Menschenschar, von den Häusern fort, über Wiesen und Felder hin, bis er
nicht mehr konnte und umsank.

Da lag er lange, das Gesicht auf der Erde; und als er sich endlich
umdrehte, hörte und sah er bloß Gottes unendlichen Himmel, der über ihm
stand mit seinem ewigen Gebraus. Das war ihm so entsetzlich, daß er sich
wieder zur Erde umdrehen mußte. Als er abermals den Kopf hob, fiel sein
Blick auf die Fiedel, die neben ihm lag. "Du hast die ganze Schuld!"
rief der Bursch und hob sie auf, um sie zu zerschlagen, hielt aber inne
und sah sie an.--"Wir haben viel frohe Stunden zusammen gehabt", sagte
er zu sich selbst und schwieg. Aber gleich darauf meinte er: "Die Saiten
müssen herunter, die taugen nichts." Und er holte ein Messer aus der
Tasche und schnitt zu. "Au!" sagte die Quinte kurz und schmerzlich. Der
Bursch schnitt weiter. "Au!" sagte die nächste Saite; der Bursch aber
schnitt weiter. "Au!" sagte die dritte düster,--und nun kam die vierte
an die Reihe. Ein tiefes Weh faßte ihn; die vierte Saite,--die Saite,
der er nie einen Namen zu geben gewagt hatte, die schnitt er nicht
durch. Jetzt hatte er auch die Empfindung, es sei nicht allein die
Schuld der Saiten, wenn er nicht hatte spielen können. Da kam die Mutter
langsam zu ihm hinaufgestiegen, um ihn mit nach Hause zu nehmen. Aber
nur noch größere Furcht packte ihn. Er hielt die Fiedel an den
zerschnittenen Saiten in die Höhe, stand auf und rief zu ihr hinunter:
"Nein, Mutter! nach Hause komme ich nicht eher wieder, als bis ich das
spielen kann, was ich heut gesehen habe."

       *       *       *       *       *



DIE GEFÄHRLICHE FREITE


Seit Aslaug erwachsen war, hatte man auf Huseby nicht mehr viel Frieden:
denn dort rauften und prügelten sich Nacht für Nacht die stattlichsten
Burschen des Dorfs. Am schlimmsten war's in der Samstagnacht; aber dann
legte sich der alte Knut Huseby auch nie ins Bett ohne seine Lederhosen
und ohne einen Birkenknüttel.--"Hab' ich nun schon mal eine Tochter, so
will ich sie auch behüten", sagte der Husebyer.

Tore Naesset war nur ein Häuslersohn; und doch gab es Leute, die
behaupteten, er komme am häufigsten zu der Bauerntochter von Huseby. Dem
alten Knut paßte das nicht; er sagte auch, es sei nicht wahr, "denn er
habe ihn noch nie dort gesehen". Aber die andern lachten sich ins
Fäustchen und meinten, hätte er nur alle Ecken gut abgesucht, statt sich
mit den Kerlen zu beschäftigen, die auf dem Hof und auf der Diele
herumkrakeelten, so hätte er Tore schon gefunden.

Der Frühling ging ins Land, und Aslaug zog mit dem Vieh auf die Alm.
Wenn dann der Tag heiß auf dem Tal lastete, und die Berge sich kühl über
dem Sonnendunst erhoben, wenn die Glocken klangen und der Schäferhund
bellte, und Aslaug oben auf den Halden jodelte und das Alphorn
blies,--dann wurde den Burschen, die unten auf den Feldern arbeiteten,
das Herz schwer. Und den nächsten Samstagabend liefen sie um die Wette
hinauf. Aber noch schneller kamen sie wieder herunter; denn oben auf der
Alm stand ein Bursch hinter der Tür und nahm alle Besucher in Empfang
und verwichste sie so gründlich, daß sie nachher immer an die Worte
dachten, womit er sie begrüßt hatte: "Wenn Du 'n andermal
wiederkommst--kriegst Du noch mehr."

Soviel sie wußten, war im ganzen Gau nur einer, der solche Fäuste hatte,
und das mußte Tore Naesset sein. Und die reichen Bauernsöhne fanden, es
gehe doch über den Spaß, daß solch ein Häuslerbock dort oben auf der
Huseby-Alm so um sich stoßen dürfe.

Dasselbe fand auch der alte Knut, als er hiervon hörte, und er fügte
hinzu: wenn kein anderer den Kerl unterkriegen könnte, dann wollten er
und seine Söhne es versuchen. Knut kam freilich schon in die Jahre, aber
trotz seiner sechzig wagte er doch mit seinem ältesten Sohn bisweilen
eine kleine Boxerei, wenn es bei einem fröhlichen Gelage gar zu still
wurde.

Zur Huseby-Alm hinauf führte nur ein Weg, und der ging direkt über den
Hof. Am nächsten Samstagabend wollte Tore zur Alm hinauf und schlich
über den Hof; leichten Fußes und ahnungslos war er schon glücklich bis
zur Scheune gekommen, als ihm ein Kerl an die Gurgel fuhr. "Was willst
Du von mir?" sagte Tore und schlug ihn zu Boden, daß es nur so krachte.
"Das wirst Du schon merken", sagte ein anderer hinter ihm und packte ihn
am Nacken, das war der Bruder. "Hier kommt der dritte", sagte Knut und
ging ihm zu Leibe.

Tores Kraft wuchs in der Gefahr; er war geschmeidig wie eine Weidengerte
und teilte Hiebe aus, daß es nur so sauste; er duckte sich und wand
sich; wo die Schläge fielen, war er nicht; wenn sie keine erwarteten,
kriegten sie welche. Seine Prügel freilich bekam er schließlich auch,
und das gründlich, aber der alte Knut sagte später oft, mit einem
handfesteren Kerl sei er nie aneinandergeraten. Sie hielten stand, bis
Blut floß; da aber sagte der Husebyer: "Halt!" und fügte hinzu: "Kommst
Du nächsten Samstag dem Husebyer Wolf und seinen Jungens aus, dann soll
das Mädchen Dein sein!"

Tore schleppte sich, so gut er konnte, heimwärts, und als er zu Hause
war, legte er sich zu Bett. Es wurde viel über die Prügelei auf Huseby
gesprochen, aber jeder fragte: "Was wollte er da?"--Eine gab's, die das
nicht sagte, das war Aslaug. Sie hatte jenen Samstagabend ihn so
sehnlich erwartet, und als sie jetzt erfuhr, was für eine Geschichte
sich zwischen ihm und ihrem Vater zugetragen hatte, da setzte sie sich
hin und weinte und sprach zu sich selbst: "Kriege ich Tore nicht, dann
habe ich keinen frohen Tag mehr auf der Welt."

Tore blieb den Sonntag über liegen, und am Montag merkte er, daß er noch
länger liegen müsse. Der Dienstag kam, und das war ein gar herrlicher
Tag. Es hatte in der Nacht geregnet, die Berge waren feucht und grün,
das Fenster stand offen, Laubduft zog herein, die Glocken klangen von
den Bergen hernieder und irgendwer jodelte dort oben;--hätte die Mutter
nicht in der Stube gesessen, er hätte heulen können vor Ungeduld.

Der Mittwoch kam, und noch immer lag er zu Bett; Donnerstag war er
wirklich neugierig, ob er nicht doch Samstag wieder gesund sein werde;
am Freitag stand er auf. Er hatte die Worte, die der Vater gesagt hatte,
gut in Erinnerung: "Kommst Du nächsten Samstag dem Husebyer Wolf und
seinen Jungens aus, so ist das Mädel Dein." Er schaute einmal ums andere
nach Huseby hinüber.--"Ich bekomme da doch bloß meine Prügel", dachte
Tore.

Zur Huseby-Alm hinauf führte, wie schon gesagt, nur ein Weg; aber ein
tüchtiger Kerl mußte doch da hinaufkommen, wenn er auch nicht gerade den
richtigen Weg ging. Wenn er hinausruderte, um die Landzunge herum, und
dann an der andern Seite des Bergs anlegte, konnte er auf jeden Fall
hinaufkraxeln; freilich war es dort so steil, daß die Geiß nur mit
knapper Not weiden konnte, und die pflegt doch im Gebirge nicht gerade
ängstlich zu sein.

Der Samstag erschien, und Tore lief den ganzen Tag draußen herum;--die
Sonne lachte, daß es in den Büschen sproßte, und in einem fort jodelte
und lockte es von den Bergen her. Er saß noch vor der Tür, als es auf
den Abend ging und ein dampfender Nebel an den Hängen emporkroch. Er
blickte nach oben,--dort war es still; er blickte nach Huseby
hinüber,--und dann stieß er sein Boot ab und ruderte um die Landzunge
herum.

Auf der Alm saß Aslaug, fertig mit ihrem Tagewerk. Sie dachte, Tore
könne diesen Abend gewiß nicht kommen; statt seiner werde aber wohl
manch anderer sich einfinden. Da machte sie den Schäferhund los und
sagte niemand, wohin sie gehe. Sie setzte sich so, daß sie das Tal
überschauen konnte, doch da stieg der Nebel auf; und sie getraute sich
auch nicht, hinunterzusehen; denn alles rief Erinnerungen in ihr wach.
Sie ging also weiter, und ehe sie sich's versah, war sie auf der andern
Seite des Bergs. Dort setzte sie sich nieder und blickte auf die See
hinaus. Der senkte ihr Frieden ins Herz, dieser weite Blick auf die See
hinaus. Da kam ihr die Lust, zu singen; sie wählte ein Lied mit lang
schwingenden Tönen, und der Klang ging weit in die stille Nacht hinaus.
Es machte ihr selbst Vergnügen, und deshalb sang sie noch einen Vers.
Aber da war's ihr, als antworte jemand aus der Tiefe her. "Herrjeh, was
kann das sein?" dachte Aslaug; sie ging bis an den Abhang und schlang
die Arme um eine schwanke Birke, die sich zitternd nach unten neigte.
Sie blickte hinunter, aber sie sah nichts. Der Fjord lag still da und
ruhte; kein Vogel strich darüber hin. Aslaug setzte sich wieder und sang
weiter; da kam wirklich eine Antwort, in demselben Ton, näher als das
erstemal. "Da muß doch was los sein"! Aslaug sprang auf und beugte sich
hinüber. Und da sah sie unten an der Bergwand ein Boot, das hier
angelegt hatte; und so tief unten lag es, daß es aussah wie eine kleine
Muschel. Ihre Augen suchten die Stelle ab und erspähten eine rote Mütze
und darunter einen Burschen, der die fast senkrechte Bergwand
hinaufklomm. "Herrjeh, wer kann das sein?" dachte Aslaug, ließ die Birke
los und lief weit nach hinten. Sie wagte nicht, die eigene Frage zu
beantworten, denn sie wußte ja, wer es war. Sie warf sich nieder auf die
Halde und packte das Gras mit beiden Händen, als sei sie Tore und dürfe
nicht loslassen. Aber die Graswurzeln lösten sich aus dem Erdboden,--sie
schrie laut auf und flehte zu Gott dem Allmächtigen, Tore zu helfen.
Aber da schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, Tore versuche Gott mit
seinem Tun, und deshalb könne er keine Hilfe erwarten. "Nur dies eine
Mal", betete sie, und sie faßte den Hund um, als sei es Tore, den sie
festhalten müsse; sie rollte mit ihm über die Halde hin, und die Zeit
schien ihr endlos. Aber da riß sich der Hund los. "Wau, wau!" kläffte er
den Berg hinunter und wedelte mit dem Schwanz. "Wau, wau!" sagte er zu
Aslaug und sprang mit den Vorderpfoten an ihr hinauf. "Wau, wau!" wieder
den Berg hinunter--und da tauchte eine rote Mütze über dem Bergrand auf,
und Tore lag an ihrer Brust. Da blieb er viele Minuten liegen, ohne ein
Wort über seine Lippen zu bringen, und das, was er schließlich sagte,
hatte nicht Sinn noch Verstand.

Doch als der alte Knut Huseby dies hörte, da sagte er etwas, das Sinn
und Verstand hatte; er sagte nämlich: "Der Bursch hat sie verdient; der
soll das Mädel haben."

       *       *       *       *       *



SYNNÖVE SOLBAKKEN



Erstes Kapitel


In unsern weiten Tälern ragt wohl manchmal eine größere Anhöhe empor,
die nach allen Seiten freiliegt und von der Sonne den lieben langen Tag
über bestrahlt wird. Leute, die dichter am Fuß der Felsen und auf
sonnenärmeren Plätzen wohnen, nennen solche Anhöhe: Solbakken, d.h.
Sonnenhügel. Das Mädel, von dem hier die Rede sein soll, wohnte auf
solchem Sonnenhügel, und von ihm hatte ihr Heimatshof den Namen; dort
blieb der Schnee im Herbst am spätesten liegen und schmolz im Frühling
am zeitigsten.

Die Besitzer des Hofes waren Haugianer und wurden "Leser" genannt, weil
sie sich mehr als alle ihre Nachbarn befleißigten, die Bibel zu lesen.
Der Mann hieß Guttorm, die Frau Karen. Sie hatten einen Sohn, aber der
starb ihnen, und nun gingen sie drei Jahre lang nicht auf die Ostseite
der Kirche. Als die drei Jahre um waren, bekamen sie eine Tochter, die
sie gern nach dem toten Knaben nennen wollten. Er hatte Syvert geheißen,
und sie wurde Synnöv getauft, weil sie nichts ähnlicher Klingendes
finden konnten. Aber die Mutter sagte immer "Synnöve": sie hatte
nämlich, als das Kind noch klein war, die Gewohnheit, seinem Namen am
Ende ein "mein" hinzuzufügen, und das ging ihr nach dem "e" leichter von
der Zunge, gleichviel--als das Mädchen größer wurde, hieß sie bei allen
so wie bei ihrer Mutter: Synnöve. Und es gab nur _eine_ Stimme; seit
Menschengedenken war im ganzen Kreise kein so anmutiges Mädchen
aufgewachsen, wie Synnöve Solbakken. Schon in ihrem zartesten Alter
nahmen die Eltern sie an jedem Sonntag, an dem eine Predigt war, mit in
die Kirche, obgleich Synnöve zunächst nicht mehr verstand, als daß der
Pastor auf den Zuchthaus-Bent schimpfte, den sie unten vor der Kanzel
sitzen sah. Doch der Vater wollte sie mit haben,--"damit sie sich daran
gewöhne", sagte er; und die Mutter wollte es, "weil keiner wissen könne,
wie auf das Kind unterdessen zu Hause aufgepaßt würde". Fing auf dem
Hofe ein Lamm, eine kleine Ziege oder ein Ferkel zu verkümmern an,
erkrankte eine Kuh, dann wurde das Tier sofort Synnöve geschenkt, und
von der Stunde an, meinte die Mutter, erholte es sich. Der Vater glaubte
nicht recht daran, aber, "jedenfalls war es ja gleichgültig, wem es
gehörte wenn es nur gedieh".

Auf der anderen Seite des Tales, dicht an den hohen Felsen, lag ein Hof,
der Granliden, d.i. Tannwald, hieß, weil er mitten in einem großen
Tannenforst, dem einzigen in weitem Umkreis, lag. Der Urgroßvater des
jetzigen Besitzers hatte sich seinerzeit mit unter der Mannschaft
befunden, die nach Holstein gezogen war, um dort den Russen zu erwarten,
und hatte von dieser Kriegsfahrt eine Menge fremder und merkwürdiger
Samensorten mitgebracht. Die pflanzte er rings um sein Haus; aber im
Lauf der Zeit war ein Keim nach dem anderen eingegangen; nur aus den
Tannäpfeln, die wunderlicherweise zwischen den Samen geraten waren,
erstand ein dichter Wald, der das Haus jetzt von allen Seiten
beschattete. "Der Holsteinfahrer" hatte Thorbjörn nach seinem Großvater
geheißen, und sein ältester Sohn wieder nach seinem Großvater: Sämund,
und in der Folge trugen die Hofbesitzer immer abwechselnd die Namen:
Thorbjörn und Sämund--seit schier undenklichen Zeiten. Aber es ging die
Sage, nur immer der in der Reihenfolge zweite Mann habe auf Granliden
Glück, und zwar kein "Thorbjörn". Als dem jetzigen Besitzer Sämund ein
Sohn geboren wurde, kam ihm das wohl in den Sinn; er hatte aber nicht
den Mut, sich gegen den Familienbrauch aufzulehnen, und nannte das Kind
wieder Thorbjörn. Er sann, ob der Junge nicht so erzogen werden könne,
daß er um den Stein des Anstoßes, den ihm das Gerede in den Weg gelegt
hatte, glatt herumkomme. Ganz sicher war er nicht, aber er glaubte zu
bemerken, daß der Bengel ein Hitzkopf sei. "Das wollen wir ihm schon
austreiben", sagte Sämund zu seiner Frau, und als Thorbjörn drei Jahr
alt war, saß sein Vater manchmal mit der Rute in der Hand bei ihm und
zwang ihn, die zerstreuten Holzspäne auf ihren richtigen Platz zu
tragen, den Tassenkopf, den er heruntergeworfen, aufzuheben, die Katze,
die er gekniffen hatte, zu streicheln. Währenddessen ging die Mutter
meistens aus der Stube.

Sämund wunderte sich sehr, daß er immer mehr an dem Jungen zu verbessern
fand, je größer der Bengel wurde. Er hielt ihn zeitig zum Lesen an und
nahm ihn mit auf das Feld, um ein Auge auf ihn zu haben. Die Mutter
hatte ein großes Hauswesen und kleine Kinder zu besorgen; sie konnte
nicht mehr tun, als den Jungen jeden Morgen beim Anziehen zu streicheln
und zu ermahnen und seinetwegen mit dem Vater an den Feiertagen, da sie
Zeit für einander hatten, eindringlich zu reden. Thorbjörn aber dachte
sich, wenn er Prügel kriegte, weil a-b ab und nicht ba lautet, oder wenn
ihm nicht erlaubt wurde, die kleine Ingrid mit derselben Rute zu hauen,
womit ihn sein Vater schlug: "Es ist doch merkwürdig, daß ich es so
schlecht haben soll und meine kleinen Geschwister so gut!"

Da er meistens mit seinem Vater zusammen war und nicht viel mit ihm
reden durfte, wurde er wortkarg, doch er dachte sich sein Teil. Einmal,
als sie gerade mit dem nassen Heu beschäftigt waren, entfuhr ihm doch
eine Frage: "Warum ist in Solbakken das ganze Heu schon trocken und
eingebracht, wenn es bei uns noch naß draußen liegt?"--"Weil sie dort
mehr Sonne haben als wir."--Da merkte er zum ersten Male, daß der
Sonnenglanz, an dem er sich oft erfreut hatte, für die drüben sei, und
er eigentlich benachteiligt war. Fortan sah er häufiger als früher nach
Solbakken hinüber. "Sitz nicht so da und reiße den Mund auf," sagte der
Vater und versetzte ihm einen Puff; "hier müssen alle rackern, die
Großen wie die Kleinen, um etwas ins Haus zu kriegen."

Als Thorbjörn sieben oder acht Jahr alt war, nahm Sämund einen neuen
Jungknecht an; er hieß Aslak und hatte sich, trotz seiner Jugend, schon
weit in der Welt herumgetrieben. Am Abend, da er zuzog, lagen die Kinder
schon im Bett, aber wie Thorbjörn am nächsten Morgen am Tisch vor seinem
Lesebuch saß, schlug einer die Stubentür mit einem Fußtritt auf, wie ihn
Thorbjörn noch nie gehört hatte--und das war Aslak, der nun mit einem
großen Haufen Brennholz hereintrampelte und die Scheitern mit einem
Schwung auf die Diele warf, daß sie nur so herumflogen. Dann hopste er
in die Höhe, um den Schnee abzuschütteln, und rief bei jedem Hopser:
"Kalt ist es, sagte die Trollbraut, als sie bis zum Gürtel im Eis
steckte!" Der Vater war nicht da, die Mutter fegte den Schnee zusammen
und trug ihn, ohne ein Wort zu sagen, hinaus.--"Nach was glotzt Du
denn?" fragte Aslak den Thorbjörn. "Nach nichts", sagte der Junge, denn
er hatte Angst. "Hast Du schon den Hahn dahinten in Deinem Lesebuch
gesehen?"--"Ja."--"Wenn's Buch zu ist, sind auch 'ne Menge Hühner um ihn
herum,--hast Du das auch schon gesehen?"--"Nein."--"Na, dann sieh mal
nach."--Der Junge tat's.--"Schafskopf!" sagte Aslak zu ihm.--Aber von
dieser Stunde an hatte keiner soviel Macht über ihn wie Aslak.

"Du kannst gar nichts", sagte eines Tages Aslak zu Thorbjörn, als der
wie gewöhnlich hinter ihm herstapfte.--"Ja, ich kann schon alles bis zur
vierten Seite."--"Das ist was Rechtes! Du hast noch nicht mal was vom
Troll gehört, der mit dem Mädchen solange tanzte, bis die Sonne aufging,
und dann platzte, wie ein Kalb, das saure Milch gesoffen hat!" So große
Kenntnisse hatte Thorbjörn noch nie auf einmal gehört. "Wo war das?"
fragte er.--"Wo das war? Das war dort drüben in Solbakken."--"Hast Du
denn schon von dem Mann gehört, der sich dem Teufel für ein paar alte
Stiefel verschrieben hat?"--Thorbjörn erstaunte dermaßen, daß er vergaß
zu antworten.--"Du denkst wohl wieder, wo das war? Das war auch in
Solbakken, dort dicht neben dem Bach, siehst Du? Herrgott, mit der
Christenlehre hapert's noch recht sehr bei Dir. Du hast wohl noch nicht
mal von Kari Baumrock gehört?"--"Nein"; von der hatte er noch nicht
gehört. Und während Aslak nun arbeitete, erzählte er immer schneller von
Kari Baumrock, von der Mühle, die Salz auf dem Meeresgrunde mahlte, vom
Teufel mit den Holzpantinen, vom Troll, der mit dem Bart im Baumstamm
festsaß, von den sieben grünen Jungfrauen, die aus Schützenpeters Wade
die Haare zupften, während er schlief und gar nicht aufwachen
konnte,--und das war alles in Solbakken passiert.--"Lieber Gott, was ist
denn heute in den Jungen gefahren?" sagte die Mutter am nächsten Tage,
"er kniet schon seit heute morgen dort auf der Bank und sieht nach
Solbakken 'rüber."--"Ja, heute strengt er sich an", sagte der Vater, der
seine Glieder reckte und sich den ganzen Sonntag über ausruhte. "Er hat
sich mit Synnöve Solbakken versprochen, erzählen die Leute," meinte
Aslak,--"die Leute erzählen ja soviel", setzte er hinzu. Thorbjörn
verstand das nicht recht, bekam aber doch einen feuerroten Kopf. Als
Aslak darauf aufmerksam machte, kroch der Junge herunter von der Bank,
nahm seinen Katechismus vor und fing an, darin zu lesen. "Tröste Dich
nur mit Gottes Wort," sagte Aslak, "Du kriegst sie ja doch nicht."

Gegen Ende der Woche dachte Thorbjörn: nun haben die anderen die Sache
vergessen,--und so fragte er seine Mutter ganz leise (denn er schämte
sich ein bißchen): "Du, wer ist denn Synnöve Solbakken?"--"Ein kleines
Mädchen, dem mal Solbakken gehören wird."--"Hat sie auch einen Baumrock
an?" Die Mutter sah erstaunt auf den Jungen. "Was sagst Du da?" Er
merkte, daß er eine Dummheit gesagt hatte, und schwieg. "Ein hübscheres
Kind hat noch keiner gesehen," fügte die Mutter hinzu, "und die
Hübschheit hat ihr unser Herrgott zum Lohn beschert, weil sie immer
artig und brav ist und sehr fleißig beim Lernen." Nun wußte er's und
konnt' es beherzigen.

Sämund hatte einmal mit Aslak im Feld zusammen gearbeitet; am Abend
desselben Tages sagte er zu Thorbjörn: "Daß Du mir nicht mehr mit dem
Knecht zusammensteckst!" Aber Thorbjörn achtete nicht darauf. Einige
Zeit darauf hieß es wieder: "Find' ich Dich noch mal bei ihm, dann
geht's Dir schlecht!"--Da schlich der Junge Aslak nach, wenn es der
Vater nicht sah. Der überraschte sie, als sie wieder beisammensaßen und
plauderten; Thorbjörn bekam Prügel und wurde in die Stube gejagt. Später
wartete er auf die Gelegenheit, wenn sein Vater im Felde zu tun hatte.

An einem Sonntag, da der Vater in der Kirche war, machte Thorbjörn zu
Hause dumme Streiche. Aslak und er warfen sich mit Schneebällen. "Nein,
Du tust mir weh,--wir wollen nach was anderem werfen", bat Thorbjörn.
Aslak war sofort bereit, und so warfen sie zuerst nach der dünnen Tanne
beim Vorratsschuppen, dann nach dem Schuppentor und endlich nach dem
Fenster.--"Nicht nach den Scheiben, sondern nach dem Rahmen", sagte
Aslak. Aber Thorbjörn traf eine Scheibe; er wurde ganz blaß. "Schadet
nichts, wer hat's denn gesehen? wirf nochmal und besser!" Thorbjörn traf
wieder eine Scheibe. "Jetzt will ich nicht mehr." Im selben Augenblick
trat seine älteste Schwester, die kleine Ingrid aus dem Hause. "Du, wirf
nach der mal!" Und Thorbjörn tat, wie ihm geheißen; das Mädchen weinte,
die Mutter kam heraus und sagte dem Jungen, er solle aufhören. "Wirf,
wirf", flüsterte Aslak. Thorbjörn--aufgeregt und in Hitze--warf.--"Du
bist wohl nicht mehr richtig im Kopf", sagte die Mutter und lief auf ihn
zu. Da rannte er fort, sie hinterdrein; Aslak lachte, die Mutter drohte;
endlich faßte sie den Jungen vor einem Schneehaufen und hob schon die
Hände, um ihn ordentlich durchzubläuen.--"Ich haue wieder," rief er,
"das ist hier so Sitte." Die Mutter ließ ganz betroffen die Hände sinken
und sah ihn an. "Das hast Du von einem andern", sagte sie darauf, nahm
ihn still bei der Hand und führte ihn in die Stube. Sie sprach kein Wort
mehr mit ihm, beschäftigte sich mit seinen kleinen Geschwistern und
erzählte ihnen, Vater komme bald aus der Kirche nach Hause. Da begann es
tüchtig heiß in der Stube zu werden. Aslak bat um Erlaubnis, einen
Verwandten zu besuchen, und durfte gleich gehen; aber Thorbjörn wurde
viel kleiner, als Aslak gegangen war. Er hatte schauderhaftes
Magendrücken und so feuchte Hände, daß er damit Flecke in sein Buch
machte. Wenn Mutter nur Vater nichts sagen wollte, wenn er käme; aber
sie darum zu bitten, das kriegte er nicht fertig. Es wurde ihm ganz grün
vor den Augen--und die Uhr an der Wand sagte: "Klaps, klaps". Er mußte
zum Fenster hin und nach Solbakken sehen. Das lag still wie immer und
verschneit da und glänzte wie perlenbedeckt in der Sonne: das Haus
lachte aus allen Fensterscheiben, und von denen war gewiß keine entzwei;
der Rauch zog höchst vergnügt aus dem Schornstein und sagte Thorbjörn,
daß auch dort für die Kirchgänger gekocht wurde; Synnöve sah bestimmt
nach ihrem Vater aus und würde nicht ein bißchen Prügel kriegen. Der
Junge wußte nicht mehr recht, was er anfangen sollte, und wurde mit
einemmal schrecklich zärtlich mit seinen Schwestern. Gegen Ingrid war er
besonders gut und schenkte ihr sogar einen blanken Knopf, den er von
Aslak bekommen hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, und er
umarmte sie auch. "Liebes Ingridchen, bist Du mir böse?"--"Nein, liebes
Thorbjörnchen, Du kannst mich soviel schneeballen, wie Du willst." Aber
da schüttelte sich jemand mit Auftrampeln draußen auf dem Flur den
Schnee ab. Und richtig,--das war Vater. Er schien in sanfter und guter
Stimmung zu sein; und das war noch schlimmer. "Na", sagte er und sah
sich um;--es war merkwürdig, daß die Wanduhr nicht auf die Diele
rasselte. Die Mutter brachte das Essen. "Wie geht's, wie steht's?"
fragte der Vater, setzte sich hin und nahm seinen Löffel. Thorbjörn sah
seine Mutter an; die Tränen kamen ihm dabei in die Augen. "So lala",
sagte sie unglaublich langsam, und er merkte wohl, daß sie noch mehr
sagen wollte. "Ich habe Aslak erlaubt, auszugehen", sagte sie.--"Für
diesmal bin ich durch", dachte Thorbjörn--und fing mit Ingrid zu spielen
an, als ob nichts andres seine Gedanken beschäftige. So lange hatte
Vater sich noch nie beim Essen aufgehalten, und Thorbjörn suchte ihm
jeden Bissen nachzuzählen, aber als er bis zum vierten gekommen war,
wollte er ausprobieren, wie weit er zwischen dem vierten und fünften
zählen könne, und da geriet er ganz aus der Ordnung. Endlich stand der
Vater auf und ging hinaus. Die Scheiben, die Scheiben klirrten in des
Jungen Ohren, und er sah nach, ob sie ganz seien, die in der Stube. Ja,
die waren alle ganz. Aber jetzt ging Mutter dem Vater nach. Thorbjörn
nahm die kleine Ingrid auf den Schoß und sagte so sanft, daß sie ihn
ganz erstaunt ansah: "Wollen wir nicht beide 'Goldkönigin auf der Wiese'
spielen, Du und ich?" Ja, das wollte sie gern. Und nun sang er, während
die Beine unter ihm zitterten:

    Feine Blume,
    Wiesenblume,
    Höre mir jetzt zu!
    Und willst Du meine Liebste sein,
    Dann kriegst Du einen Mantel fein,
    Mit Gold in Hauf
    Und Perlen darauf;
    Bimmel, Bammel, Bimmel,
    Wie lacht die Sonne vom Himmel!

Da antwortete sie:

    Goldkönigin,
    Perlenkönigin,
    Höre mir jetzt zu:
    Mag nicht Deine Liebste sein,
    Mag nicht Deinen Mantel fein,
    Mit Gold in Hauf
    Und Perlen darauf;
    Bimmel, Bammel, Bimmel,
    Wie lacht die Sonne vom Himmel!

Doch als das Spiel im besten Gange war, trat der Vater wieder in die
Stube und sah Thorbjörn groß an. Der drückte sich fester an Ingrid und
fiel nicht mal vom Stuhl herunter. Der Vater drehte sich um und sagte
nichts; eine halbe Stunde verging, und er hatte immer noch nichts
gesagt,--und der Junge war schon fast beruhigt und wäre beinahe vergnügt
geworden; aber das traute er sich doch nicht. Er wußte gar nicht mehr,
was er denken sollte, als ihm der Vater selbst beim Ausziehen half; er
fing wieder an, etwas zu zittern; da tätschelte ihm der Vater den Kopf
und streichelte ihm die Backen; das war Thorbjörn nicht passiert, so
lange er denken konnte, und deshalb wurde ihm so warm um das Herz und im
ganzen Körper, daß seine Furcht zerrann, wie Eis im Sonnenstrahl. Er
wußte nicht, wie er in das Bett kam, und da er weder singen noch laut
reden durfte, faltete er still die Hände, betete ganz leise sechsmal das
Vaterunser vorwärts und rückwärts und fühlte, während er einschlief, daß
er doch niemand auf Gottes grüner Erde so lieb habe wie seinen Vater.

Als er am nächsten Morgen im Halbschlaf dalag, empfand er einen
schrecklichen Angstdruck: er sollte Prügel kriegen, wollte schreien,
konnte aber nicht. Da er die Augen aufschlug, merkte er zu seiner großen
Erleichterung, daß er nur geträumt, aber er merkte auch bald, daß ein
anderer Prügel kriegen sollte, nämlich Aslak. Sämund ging in der Stube
auf und ab--und was solcher Gang zu bedeuten hatte, das wußte Thorbjörn
genau. Der etwas kleine, doch stämmige Mann sah unter den buschigen
Augenbrauen manchmal derart Aslak an, daß der hinlänglich spürte, was in
der Luft lag; Aslak selbst saß auf dem Bodenrand einer umgekippten
großen Tonne und ließ seine Beine herunterbaumeln oder zog sie über
Kreuz in die Höhe. Er hatte wie gewöhnlich die Hände in die Hosentaschen
gesteckt und die Mütze auf dem Kopf leicht hintenüber gedrückt, so daß
das schwarze Haar in vollen Büscheln unter dem Schirm hervorquoll. Sein
etwas schiefer Mund war noch schiefer gezogen, den Kopf hielt er halb
schräg und blickte durch seine halbgeschlossenen Augenlider von der
Seite nach Sämund hin. "Ja, Dein Junge ist verrückt," sagte er, "aber
schlimmer ist, daß Dein Pferd den Teufel im Leibe hat." Sämund blieb
stehen: "Du bist ein Flaps", sagte er so, daß die Stube dröhnte, und
Aslak die Lider noch dichter schloß. Sämund nahm seinen Gang wieder auf;
Aslak saß eine Weile still da. "Ja, richtig den Teufel im Leibe",
wiederholte er und schielte nach seinem Herrn, um zu sehen, was für eine
Wirkung seine Worte hätten. "Waldscheu ist der Gaul", rief Sämund im
Gehen, "einen Baum hast Du über ihm gefällt und jetzt will er nicht mehr
ruhig an den Bäumen vorbei." Aslak hörte das mit an und erwiderte nach
einer kurzen Pause: "Du kannst ja glauben, was Du willst; Glauben macht
selig; aber daß Du damit Dein Pferd wieder gesund machst, das glaube ich
nicht"--im selben Augenblick jedoch drückte er sich tiefer in die
Tonne und deckte sein Gesicht mit der Hand. Sämund war fest auf ihn
zugegangen und sagte halblaut, aber in recht unheimlichem Ton: "Du
niederträchtiger..." "Sämund", erklang eine Stimme vom Herde. Ingebjörg,
seine Frau war es, die rief und ihn beruhigen wollte, wie sie ihr
Jüngstes beruhigte, das auf ihrem Schoß saß, bange war und schreien
wollte. Zuerst wurde das Kind still, dann schwieg auch Sämund, aber er
hielt die für einen so stämmigen Mann etwas kleine Faust Aslak dicht
unter die Nase, während er sich vor ihm aufpflanzte und ihm mit
lodernden Blicken förmlich das Gesicht zu versengen suchte. Dann ging
er, wie vorher, auf und ab, sah ihn aber wiederholt hastig an. Aslak
war ganz blaß, lachte jedoch mit dem halben Gesicht Thorbjörn zu,
während die andere, Sämund zugewandte Hälfte ganz stramm blieb. "Schenk'
uns Geduld, lieber Gott im Himmel", sagte er nach kurzer Stille, machte
aber flugs den Ellbogen krumm, wie, um einen Schlag abzuwehren. Sämund
war ihm gegenüber stehen geblieben, stampfte nun mit dem Fuß auf den
Boden und schrie dabei mit aller Kraft: "Lästre seinen Namen nicht,
Du--" Ingebjörg sprang auf, kam mit dem Säugling heran und legte sanft
die eine Hand auf den erhobenen Arm ihres Mannes. Er sah sie nicht an,
ließ aber den Arm sinken. Sie setzte sich, er ging wieder auf und ab;
keiner sprach ein Wort. Nach einiger Zeit ließ es Aslak keine Ruhe: "Ja,
der dort oben hat 'ne Menge zu tun in Granliden." "Sämund, Sämund", rief
Ingebjörg leise und ängstlich, aber bevor er es noch gehört hatte, war
er zu Aslak hingerast. Der streckte seinen Fuß vor; diesen beiseite
schlagen, am Fuß und am Kragen den Burschen packen, ihn hochheben und
gegen die geschlossene Tür schleudern, daß die Füllung in Stücke ging
und der ganze Kerl kopfüber hinausflog, war für Sämund das Werk weniger
Augenblicke. Seine Frau, Thorbjörn, alle Kinder, schrien und baten; das
ganze Haus war ein Jammer. Aber Sämund dem Aslak nach; ohne die Tür
richtig aufzumachen, nur die Holzstücke und Splitter fortstoßend, packte
er den Knecht zum zweiten Male, trug ihn durch den Flur, hinaus in den
Hof, hob ihn wieder hoch und warf ihn mit aller Macht zu Boden. Und als
er merkte, daß zu viel Schnee dalag, um den Fall wuchtig genug zu
machen, kniete er auf die Brust Aslaks hin, schlug ihm in das Gesicht,
hob ihn zum dritten Male hoch, trug ihn zu einer schneefreieren Stelle
wie der Wolf einen erjagten, zerfleischten Hund, warf ihn wieder hin,
kniete wieder auf ihm--und, wer weiß, welches Ende es genommen hätte,
wenn sich nicht Ingebjörg, den Säugling auf dem Arm, zwischen die beiden
geworfen hätte.--"Mach' uns nicht unglücklich!" schrie sie.

Eine Weile darauf saß Ingebjörg in der Stube; Thorbjörn zog sich an,
der Vater ging auf und ab und trank hin und wieder einen Schluck Wasser;
aber die Hand zitterte ihm so dabei, daß das Wasser manchmal über den
Tassenrand auf die Diele spritzte. Aslak kam nicht herein, und Ingebjörg
machte kurz darauf Miene, hinauszugehen. "Bleib", sagte Sämund, mit
einem Ton, als wenn er gar nicht zu ihr spräche; und sie blieb. Bald
jedoch ging er selbst. Er kam nicht wieder. Thorbjörn las fortwährend,
ohne aufzublicken, obgleich er nicht imstande war, den kleinsten Satz
zusammenzubringen.

Weiterhin am Vormittag war das Haus in gewohnter Ordnung, obgleich allen
zumute war, wie nach dem Besuche eines noch nie dagewesenen Fremden.
Thorbjörn wagte endlich auf den Hof zu gehen, und der erste, den er dort
traf, war Aslak, der alle seine Habseligkeiten auf einen
Schlitten--Thorbjörns Schlitten--geladen hatte. Thorbjörn starrte ihn
an, er sah gräßlich aus. Sein Gesicht war mit Blut beklebt und
beschmiert; er hustete und faßte sich oft an seine Brust. Erst blickte
er den Jungen stumm an und stieß darauf hart die Worte hervor: "Ich kann
Deine Augen nicht leiden, Bengel"; dann setzte er sich mit gespreizten
Beinen auf den Schlitten und fuhr bergab. "Du kannst zusehen, wie Du
Deinen Schlitten wiederkriegst", rief er, während er sich noch einmal
umdrehte und lang die Zunge herausstreckte. Dann zog er weiter. In der
nächsten Woche kam der Gerichtsdiener nach Granliden; der Vater ging
öfter fort; die Mutter weinte und war auch ein paarmal fort. "Wo geht
Ihr denn immer hin?" "Ach, Aslak hat uns was Tüchtiges eingebrockt."

Einige Tage darauf wurde die kleine Ingrid ertappt, wie sie sang:

    "O Du holdselige Erden
    Kannst mir gestohlen werden;
    Das Mädel reckt und streckt sich weit;
    Der Junge ist nicht recht gescheit;
    Die Wirtin kocht nur Sudelbrei,
    Der Wirt ist faul und sauft dabei;
    Die Katze ist die einzig kluge,
    Sie leckt den Milchrahm aus dem Kruge."

Da fragten die Eltern, von wem sie das schöne Lied gelernt habe. "Ja,
von Thorbjörn." Der Junge bekam einen großen Schreck und stotterte, daß
er es von Aslak habe. Nun wurde ihm unter Androhung gehöriger Prügel
verboten, je wieder solche Lieder zu singen oder sie Ingrid zu lehren.
Kurz darauf fluchte die kleine Ingrid. Thorbjörn mußte wieder vor das
Gericht, und Sämund meinte, das beste sei, wenn er als Anstifter gleich
die Rute kriege; aber er weinte und gab das hochheilige Versprechen, es
nie wieder tun zu wollen; so kam er für diesmal noch davon.

Am Sonntag darauf sagte der Vater zu ihm: "Damit Du zu Hause keine
dummen Streiche machst, sollst Du heute mit mir in die Kirche."



Zweites Kapitel


Die Kirche stellt der Bauer in seinen Gedanken auf einen hohen Platz,
auf einen Platz für sie allein; er sieht sie in Heiligkeit, umgeben vom
feierlichen Ernst der Gräber, erfüllt von der frischen Lebenskraft des
Gottesdienstes. Sie ist das einzige Haus, bei dessen Bau er Pracht
entfaltet hat, und deshalb ragt ihre Turmspitze für seine Anschauung
weit höher, als sie in der Tat ist. Ihre Glocken grüßen ihn am klaren
Sonntagsmorgen den ganzen Weg entlang auf dem Gange zu ihr, und er zieht
immer den Hut vor ihnen ab, als wollte er sagen: "Dank für das vorige
Mal!" Es ist ein geheimes Band zwischen ihm und den Glocken. In den
frühesten Lebensjahren stand er wohl im offenen Haustor und lauschte
ihrem Klang, während unten auf dem Wege die Kirchgänger still
vorbeizogen; Vater schloß sich an, er selbst war noch zu klein. Damals
verband er so manche verschiedenartige Vorstellungen mit diesem
schweren, starken Schall, der ein oder zwei Stunden zwischen den Felsen
dröhnte und sich von einem zum andern schwang; aber eine Vorstellung war
ihm unzertrennbar davon: saubere Röcke und Hosen, Frauen in ihrem besten
Schmuck und Staat, geputzte Pferde mit blankem Geschirr.

Und wenn dann die Glocken sein eigenes Glück einläuten, wenn er selbst
im funkelnagelneuen, aber etwas für ihn zu großen Anzug wichtig an
Vaters Seite zur Kirche geht,--welcher Jubel tönt da aus ihrem Klang! Da
können sie wohl alle Tore sprengen zu dem, was er schauen soll! Und wenn
sie dann auf dem Rückweg über seinem Kopf lärmen, der noch schwer, noch
von den Gesängen, Gebeten, Pastorsworten, die sich darin wiegen und
kreuzen, wirr ist, wenn alle die früher nie gesehenen Bilder:
Altargemälde, Trachten, Personen, vor seinen Augen auf- und
abjagen--dann wölbt auch ihr Geläute für immer das Dach über die
gesammelten Eindrücke und weiht die kleine Kirche ein, die er fortan im
Herzen trägt.

Ist er etwas älter geworden, dann muß er zu Berg und das Vieh hüten;
aber wenn er an einem schönen, taufrischen Sonntagsmorgen auf einem
Stein zwischen seiner Herde sitzt, und die Kirchenglocken die Schellen
der Tiere übertönen, dann wird er schwermütig. Denn aus den Glockentönen
klingt etwas Lustiges, Leichtes, Lockendes von dort unten herauf; sie
wecken die Erinnerung an Bekannte vor und in der Kirche, an die Freude,
dort zu sein, an die vielleicht noch größere, dort gewesen zu sein, zu
Hause gutes Essen, die Eltern, die Geschwister zu finden,--sie erzählen
vom Spiel auf den Grasflecken am vergnüglichen Sonntagsabend,--und dann
gerät das kleine Herz des Jungen in Aufruhr. Aber schließlich: es sind
doch die Kirchenglocken, die erklingen; und so sucht und findet er doch
in seinem Kopf das Bruchstück eines Gesangbuchliedes, das er zur Not
auswendig weiß, und er singt es mit gefalteten Händen und blickt weit
dabei ins Tal hinunter, spricht ein kurzes Gebet, springt auf und stößt
in sein Hirtenhorn, daß die Töne gegen die Bergwände schmettern.

Hier in den stillen Felsentälern hat die Kirche noch für jedes
Lebensalter ihre besondere Sprache, für jedes Auge ihr besonderes
Aussehen. Erwachsen und fertig steht sie vor dem Konfirmanden,--mit
aufwärts gerecktem Finger, halb drohend, halb winkend, vor dem Jüngling,
der seine Wahl getroffen hat,--breitschultrig und stark vor dem
sorgenden Mann,--geräumig und mild vor dem müden Greise. Mitten im
Gottesdienst werden die jüngst geborenen Kinder hereingetragen und
getauft und, wie bekannt, ist während dieser Feier die Andacht am
größten.

Man kann deshalb nie ein richtiges Bild von den norwegischen Bauern, von
verderbten oder unverdorbenen, wiedergeben, ohne an irgendeiner Stelle
die Kirche als Hintergrund heranzuziehen. Dadurch entsteht eine gewisse
Einförmigkeit; aber das ist nicht das Schlimmste. Dies sei hier ein für
allemal hervorgehoben, und nicht nur mit Bezug auf den Kirchgang, von
dem jetzt berichtet werden soll.

Thorbjörn war sehr vergnügt über den Gang und alles Neue; merkwürdig
viele Farben spielten in sein Auge draußen vor der Kirche; in ihrem
Inneren fühlte er den Druck der Stille, der auf allen und allem schon
vor Beginn des Gottesdienstes lag; und obgleich er beim Vorlesen des
Gebetes vergessen hatte, den Kopf zu senken, war es ihm doch, als beuge
der Anblick von den mehreren hundert gesenkten Köpfen auch den seinen.
Der Gesang setzte ein; alle um ihn her sangen mit einemmal; ihm wurde
fast ängstlich zumute. So versunken saß er da, daß er wie aus einem
Traum auffuhr, als die Tür sacht geöffnet wurde und ein Mann neben
Vaters Sitz trat. Wie das Lied zu Ende war, gab Vater dem
Hereingekommenen die Hand und fragte: "Wie geht's in Solbakken?"

Thorbjörn schlug die Augen auf, aber so genau er hinsah und suchte,
eine Verbindung zwischen dem Mann und Trollen oder irgend welcher
Hexerei konnte er nicht finden. Der Mann hatte ein sanftes Gesicht,
blondes Haar, große blaue Augen unter einer hohen Stirn und eine
stattliche Figur; er lächelte, wenn jemand mit ihm sprach, und sagte auf
alle Worte Sämunds "Ja", sonst redete er wenig.--"Jetzt will ich Dir
auch Synnöve zeigen", meinte der Vater und wies nach dem Frauenplatz
gerade gegenüber. Dort kniete ein kleines Mädchen oben auf der Bank und
sah über den Rand der Brüstung; es war noch blonder als der Mann, so
blond, wie er noch keins gesehen hatte. Rote Bänder flatterten von ihrem
Hut über dem Flachshaar, und sie lachte ihm zu, so daß er eine ganze
Weile auf nichts anderes blicken konnte als auf ihre weißen Zähne. In
der einen Hand hielt sie ein blinkendes Gesangbuch, in der anderen ein
zusammengefaltetes, rotgelbes seidnes Taschentuch, und sie machte sich
den Spaß, mit dem Taschentuch auf das Gesangbuch zu schlagen. Je mehr er
sie anstarrte, desto mehr lachte sie; und nun wollte er auch auf die
Bank hinauf, ebenso hoch wie sie. Da nickte sie ihm zu. Er sah sie ein
paar Minuten ernst an, dann nickte er. Sie lachte und nickte wieder, und
noch einmal, und noch einmal. Dann lachte sie; nickte aber nicht
mehr,--nach kurzer Zeit, als er nicht mehr daran dachte, nickte sie.

"Ich will auch sehen", hörte er eine Stimme hinter sich, und im selben
Augenblick wurde er am Bein gepackt und heruntergezerrt, so daß er
beinahe hingefallen wäre. Das hatte ein kleiner Bengel zuwege gebracht,
der sich jetzt tapfer auf Thorbjörns Platz hinaufarbeitete. Aslak hatte
Thorbjörn gründlich belehrt, wie er mit bösen Buben in der Schule oder
Kirche verfahren sollte, deshalb kniff er den Jungen in sein Hinterteil,
so daß der fast geschrien hätte; aber er nahm sich zusammen, krabbelte
schnell herunter und faßte Thorbjörn bei beiden Ohren. Thorbjörn packte
ihn beim Schopf und warf ihn hin; noch schrie der kleine Kerl nicht,
aber er biß seinen Gegner ins Bein. Thorbjörn zog es zurück und drückte
das Gesicht des andern fest auf den Boden, da wurde er selbst beim
Kragen genommen und wie ein Strohsack hochgehoben,--von seinem Vater,
der ihn vor sich auf das Knie setzte. "Wenn wir jetzt nicht in der
Kirche wären, dann kriegtest Du gleich Deine Prügel", flüsterte er ihm
ins Ohr und packte ihn so fest bei der Hand, daß es Thorbjörn bis zu den
Sohlen prickelte und stach. Dann erinnerte Thorbjörn sich wieder an
Synnöve und sah zu ihr hinüber; sie war noch auf ihrem früheren Platz;
aber starrte ganz betroffen und ängstlich vor sich hin. Da fing es in
ihm zu dämmern an; was er getan hatte, mußte wohl ganz toll und schlimm
gewesen sein! Sowie sie merkte, daß er sie ansah, kroch sie von der Bank
herunter und ließ sich nicht wieder blicken.

Der Küster, der Pastor trat vor; wohl hörte er und sah er hin auf
beide--und wieder kam der Küster und wieder der Pastor--aber er saß
immer noch auf dem Knie seines Vaters und hatte eigentlich nur den einen
Gedanken: wird sie bald wieder hersehen? Der Bengel, der ihn von der
Bank heruntergezogen hatte, hockte weiter hinten auf einem Schemel und
bekam jedesmal, wenn er aufstehen wollte, einen Puff in den Rücken von
der Hand eines Alten, der auf seinem Stuhl im Halbschlaf nickte, aber
regelmäßig aufwachte, wenn der Junge Miene machte, hochzukommen. "Wird
sie nicht bald wieder hersehen?" dachte Thorbjörn; und jedes rote Band,
das sich in seiner Umgebung bewegte, erinnerte ihn an Synnöves; und
jedes alte Bild an der Kirchenwand war ebenso groß oder kleiner als sie.
Ja, jetzt streckte sie den Kopf hoch; aber sobald sie Thorbjörn sah,
duckte sie sich wieder.--Der Küster trat noch einmal vor, und auch der
Pastor; dann läutete es, und die Gemeinde stand auf. Der Vater sprach
wieder mit dem blonden Mann; sie gingen zusammen zu den Frauenplätzen
hinüber, wo auch schon alles aufgestanden war. Die erste, die herauskam,
war eine blonde Frau; sie lächelte, aber nicht so ausgesprochen, wie
der Mann, war sehr klein und blaß und hielt Synnöve an der Hand.
Thorbjörn ging gleich auf das Kind zu, aber es lief weg und versteckte
sich hinter seiner Mutter: "Ich will nicht", rief es. "Er ist wohl noch
nie in der Kirche gewesen", sagte die Frau und legte die Hand auf des
Knaben Schulter. "Nein," antwortete Sämund, "sonst hätte er sich heute
nicht geprügelt." Thorbjörn sah ganz beschämt sie und dann Synnöve an,
die ihm noch viel ernster schien. Sie gingen alle aus der Kirche--die
älteren im Gespräch, Thorbjörn hinter Synnöve; die drängte sich immer
dicht an ihre Mutter, sobald er ihr näherkam. Den anderen Jungen sah er
nicht mehr. Draußen blieb die ganze Gesellschaft stehen und fing eine
längere Unterhaltung an. Thorbjörn hörte mehrmals den Namen "Aslak"
heraus, und da er bange war, daß sie auch über ihn selbst reden könnten,
blieb er einige Schritte zurück. "Du brauchst das nicht mit anzuhören,"
sagte die Mutter zu Synnöve, "geh ein bißchen weiter, mein liebes Kind;
geh, sag' ich." Synnöve trat widerwillig zurück. Thorbjörn ging auf sie
zu und sah sie an; und sie sah ihn an; und so standen sie ein Weilchen
und sahen sich an. Endlich sagte sie: "Pfui!"--"Warum sagst Du Pfui!"
fragte er.--"Pfui!" sagte sie noch einmal, "Pfui, Du solltest Dich
lieber was schämen", setzte sie hinzu.--"Was habe ich denn
getan?"--"Geprügelt hast Du Dich, während der Pastor dastand und
Gottesdienst hielt,--Pfui!"--"Ja, das ist doch aber schon so lange
her."--Das leuchtete ihr ein, und sie fragte kurz darauf: "Bist Du
Thorbjörn Granliden?"--"Ja, und bist Du Synnöve Solbakken?"--"Ja, ich
habe immer gehört, daß Du so'n artiger Junge bist."--"Nein, das ist
nicht wahr; ich bin zu Hause der allerschlimmste", sagte
Thorbjörn.--"Hör' mal einer an!" sagte Synnöve und schlug ihre beiden
kleinen Hände zusammen: "Mutter, Mutter, er sagt--"--"Sei still und geh
fort", rief die Mutter und die Kleine machte Halt, ging wieder langsam
und rückwärtsschreitend nach hinten, heftete aber dabei die großen,
blauen Augen stetig auf ihre Mutter.--"Ich habe immer gedacht, Du bist
so artig!"--"Ja, manchmal, wenn ich in der Bibel gelesen habe",
antwortete sie.--"Sag' mal, ist es wahr, dass da drüben bei Euch alles
dick voll von Kobolden und Trollen und anderen Hexenkram steckt?" fragte
er und stemmte die eine Hand in die Seite, setzte den einen Fuß vor und
stützte sich auf den andern--genau wie Aslak.--"Mutter, Mutter, weißt
Du, was er gesagt hat..."--"Laß mich doch zufrieden, hörst Du nicht!
Und komm nicht her, wenn Du nicht gerufen wirst!"--Synnöve musste wieder
langsam nach hinten; sie steckte dabei einen Zipfel vom Taschentuch
zwischen die Zähne, biss ihn fest und zog daran.--"Ist das also nicht
wahr, dass bei Euch das Hügelvolk jede Nacht unten Musik
macht?"--"Nein!"--"Dann hast Du wohl noch nie bei Euch einen Troll
gesehen?"--"Nein!"--"Aber Jesus soll mir bei..."--"Pfui, so was
darfst Du nicht sagen!"--"Ach was, das schadet nichts", sagte er und
spuckte durch die Zähne, um ihr zu zeigen, wie weit er spucken
könne.--"Doch," sagte sie, "dann kommst Du in die Hölle."--"Meinst Du?"
fragte er bedeutend kleinlauter; denn er dachte, er könne höchstens
Prügel dafür kriegen, und sein Vater stand ja jetzt weit weg.--"Wer ist
denn bei Euch zu Hause der Stärkste?" fuhr er nach einer Weile fort und
rückte seine Mütze mehr nach einer Seite.--"Das weiß ich nicht."--"Bei
uns ist es Vater; ja, der ist so stark, daß er Aslak verhauen hat, und
Aslak ist stark, das kannst Du glauben."--"Na ja--"--"Er hat mal ein
Pferd hochgehoben."--"Ein wirkliches Pferd?"--"Ja, das ist wahr, ganz
gewiss wahr--er hat's mir selber erzählt."--Daraufhin durfte sie nicht
länger daran zweifeln.--"Wer ist denn Aslak?" fragte sie.--"Du, das ist
ein ganz Schlimmer, weißt Du; aber Vater hat ihn verhauen; ich sage Dir,
noch nie hat einer soviel Prügel gekriegt."--"Prügelt Ihr Euch denn zu
Hause?"--"Ja, manchmal, Ihr nicht?"--"Nein, nie."--"Na, was macht Ihr
denn eigentlich?"--"Mutter sorgt fürs Essen und strickt und näht. Das
tut Kari auch, aber lange nicht so gut wie Mutter, weil sie faul ist;
Randi besorgt die Kühe; und Vater und die Knechte arbeiten auf dem Feld
oder auch zu Hause."--Diese Erklärung befriedigte ihn.--"Abends lesen
wir in der Bibel und singen," fuhr sie fort, "und Sonntags auch."--"Du,
das muß aber langweilig sein."--"Langweilig? Mutter, er sagt..." aber
dann erinnerte sie sich, daß sie das Gespräch der Alten nicht stören
durfte.--"Ich habe eine Menge Schafe", sagte sie.--"So?"--"Ja, drei
gehen mit Winterlämmern und das eine, glaube ich, wirft bestimmt
zweie."--"Schafe hast Du?"--"Ja, auch Kühe und Ferkel, hast Du
keine?"--"Nein."--"Wenn Du zu uns kommst, dann gebe ich Dir ein Lamm ab;
und, paß mal auf, davon bekommst Du wieder Kleine."--"Das wär' aber ein
Spaß!"--Ein Weilchen blieben sie still.--"Kann Ingrid nicht auch ein
Lamm kriegen?" fragte er.--"Wer ist denn Ingrid?"--"Na, Ingrid,
Ingridchen."--Sie kannte doch aber Ingrid gar nicht.--"Ist sie kleiner
als wie Du?"--"Gewiß doch, ungefähr so groß wie Du."--"Ach, die mußt Du
mitbringen, hörst Du?"--Ja, das wollte er.--"Aber", sagte sie, "wenn Du
ein Lamm bekommst, kann sie ein Ferkel bekommen."--Das fand er auch viel
netter, und nun erzählten sie sich etwas von gemeinschaftlichen
Bekannten, von denen sie nicht arg viel hatten. Dann war die
Unterhaltung der Eltern zu Ende, und sie mußten nach Hause gehen.

Nachts träumte er von Solbakken; er meinte dort lauter weiße Lämmer zu
sehen und zwischen ihnen ein kleines Mädchen mit blondem Haar und roten
Bändern;--Ingrid und er sprachen alle Tage davon. Sie hatten schon im
voraus soviel Lämmer und Ferkel zu besorgen, daß sie es gar nicht
schaffen konnten; aber sie wunderten sich sehr, daß sie nicht sofort zu
Synnöve durften. "Auf die Einladung von dem Kind?" sagte die Mutter,
"nein, das paßt sich nicht."--"Warte bis Sonntag," sagte Thorbjörn,
"dann werden wir ja sehen."

Der Sonntag kam. "Du sollst so sehr prahlen und lügen und fluchen,"
sagte Synnöve zu ihm, "und da darfst Du nicht zu uns kommen, bis Du das
nie wieder tust."--"Wer hat das gesagt?" fragte Thorbjörn
erstaunt.--"Mutter."

Ingrid erwartete ihn schon sehr gespannt zu Hause. Als er wiederkam,
erzählte er, wie es ihm ergangen war. "Da hast Du's", sagte die Mutter.
Aber von dieser Stunde erinnerten sie ihn jedesmal daran, wenn er
fluchte oder prahlte. Dabei kam es einmal zwischen ihm und Ingrid bis
zur Prügelei, weil sie nicht einig darüber wurden, ob "mich soll gleich
der Hund beißen" als Fluch gelten dürfe oder nicht. Ingrid bekam Schläge
von ihm, und nun gebrauchte er die Redensart den ganzen Tag. Doch abends
hörte sie der Vater. "Gleich wird er Dich beißen", sagte er, und nahm
sich Thorbjörn so vor, daß dieser hinpurzelte. Da schämte er sich, und
am meisten vor Ingrid; aber kurz darauf ging sie zu ihm und streichelte
ihn.

Endlich, nach ein paar Monaten, durften sie hinüber nach Solbakken; dann
kam Synnöve zu ihnen, sie beide wieder zu ihr, und so verkehrten sie die
ganzen folgenden Jahre zusammen. Thorbjörn und Synnöve wetteiferten beim
Lernen miteinander; sie gingen in dieselbe Klasse, und zuletzt überholte
er sie; er wurde ein so tüchtiger Schüler, daß der Pastor sich seiner
ganz besonders annahm. Ingrid kam nicht recht mit, und die beiden halfen
ihr; sie und Synnöve wurden unzertrennlich, die Leute nannten sie
"Schneehühner", weil sie beide immer zusammen ausflogen und so hell
aussahen.

Aber mitten drin wurde Synnöve oft mit Thorbjörn böse, weil er so wild
war und immer in Händel geriet. Dann versöhnte Ingrid sie, und sie
lebten wieder als gute Freunde wie zuvor. Doch hörte Synnöves Mutter von
einer seiner Schlägereien, so erlaubte sie nicht, daß er in derselben
Woche, kaum in der nächsten, nach Solbakken kam. Sämund durfte nichts
davon erfahren; er geht so hart mit dem Jungen um, sagte seine Frau und
verbot, davon zu reden.

Als sie heranwuchsen, waren alle drei fein anzusehen; jedes hatte seinen
besonderen Vorzug. Synnöve wurde groß und schlank, bekam goldblondes
Haar und ein zartes, leuchtendes Gesicht mit stillen, blauen Augen. Beim
Sprechen lächelte sie, und bald hieß es bei den Leuten: "Zum Segen wird
es jedem, den Synnöves Lächeln trifft." Ingrid war untersetzter und
dicker; sie hatte noch blonderes Haar als Synnöve und ein ganz kleines
rundes Gesicht mit weichen Zügen. Thorbjörn war mittelgroß, besonders
gut gewachsen, hatte schwarze Haare, dunkelblaue Augen, einen
scharfgeschnittenen Kopf und starke Gliedmaßen. Geriet er in Hitze, dann
sagte er gewöhnlich, er könnte ebenso gut lesen und schreiben wie der
Lehrer und fürchte keinen Menschen im ganzen Tal;--bis auf seinen Vater,
dachte er, aber das sprach er nicht aus.

Er wollte schon früh konfirmiert werden; aber daraus wurde nichts.
"Solange Du noch nicht konfirmiert bist, giltst Du noch als Junge, und
ich habe Dich mehr in meiner Gewalt", sagte sein Vater; infolgedessen
ging er erst zur selben Zeit wie Synnöve und Ingrid zum Pastor. Auch
Synnöve hatte lange warten müssen, fast bis zu ihrem sechzehnten
Lebensjahr. "Man kann nie genug wissen, wenn man sein Bekenntnis vor
Gott ablegen soll", hatte die Mutter gesagt, und der Vater, Guttorm
Solbakken, hatte zugestimmt. Daher war es nicht eben unerklärlich, daß
sich schon zwei Freier meldeten: der eine der Sohn eines besseren
Mannes, der andere ein reicher Nachbar. "Da hört doch alles auf,--sie
ist ja noch nicht mal konfirmiert."--"Dann wollen wir sie konfirmieren
lassen", sagte der Vater. Aber davon erfuhr Synnöve nichts.

Der Frau und den Töchtern des Pastors gefiel sie so gut, daß sie von
ihnen zu einem Gespräch in das Haus gerufen wurde. Ingrid und Thorbjörn
standen unterdessen mit den anderen Konfirmanden draußen, und als einer
von den Burschen zu ihm sagte: "Du darfst nicht mit 'rein? Paß' auf, die
schnappen sie Dir bestimmt fort", da brachten ihm diese Worte ein blaues
Auge ein. Seitdem machten sich seine Kameraden immer ein Vergnügen
daraus, Thorbjörn mit Synnöve zu necken, weil sie genau wußten, daß
nichts anderes ihn so ärgern und in Wut versetzen konnte. Schließlich
kam es, nach vorheriger Verabredung, in einem Walde beim Pfarrhof
deswegen zu einer tüchtigen Rauferei, die sich so zuspitzte, daß
Thorbjörn es mit einem ganzen Haufen Angreifer auf einmal zu tun
kriegte. Die Mädchen waren schon vorausgegangen, und daher niemand da,
der dazwischen treten und die Burschen trennen konnte; immer hitziger
und hitziger wurden die Gemüter. Thorbjörn wollte auch der Übermacht
gegenüber nicht klein beigeben und war nicht wählerisch in der Art
seiner Verteidigung; dabei hagelte es Hiebe, die später selber den
Vorfall kundtaten. Nun kam auch die Veranlassung heraus und wurde
überall viel besprochen.

Am nächsten Sonntag wollte Thorbjörn nicht in die Kirche, und als er am
folgenden Tage in die Pastorstunde sollte, stellte er sich krank;
deshalb ging Ingrid allein. Bei ihrer Rückkehr fragte er sie, was
Synnöve gesagt habe. "Nichts."

Als er nun wieder mitging, glaubte er zu bemerken, daß alle Leute ihn
ansähen und die Konfirmanden grinsten und kicherten. Synnöve kam später
als die andern und war nachher viel im Pastorhause. Er fürchtete vom
Pastor ausgescholten zu werden, aber er entdeckte schnell, daß nur zwei
nichts von der Rauferei wußten, sein Vater und der Pastor. Das war ja
soweit ganz gut; aber wie er mit Synnöve wieder in ein Gespräch kommen
könne, das wußte er nicht; denn es genierte ihn zum erstenmal, Ingrid um
Hilfe zu bitten. Nach Schluß des Unterrichts ging Synnöve wieder zu
Pastors; er wartete, solange noch andere dablieben, mußte aber dann auch
fort. Ingrid war schon weit voraus.

Das nächste Mal war Synnöve früher als alle übrigen gekommen und
spazierte mit einer der Pastorstöchter und einem jungen Herrn im Garten
umher. Das Fräulein zog Blumen mit der Wurzel heraus und gab sie
Synnöve; der Herr half dabei; und Thorbjörn stand mit den andern draußen
und sah zu. Da drin sehr laut gesprochen wurde, hörten sie, wie man
Synnöve erklärte, in welcher Weise diese Blumen eingesetzt werden
müßten, und wie sie versprach, das selbst zu tun, damit es sorgfältig
gemacht würde. "Das kannst Du ja gar nicht allein," sagte der Herr; und
das gab Thorbjörn zu denken.--Als Synnöve zu den andern herauskam, wurde
sie von ihnen mit noch größerer Achtung wie gewöhnlich begrüßt; sie
schritt aber direkt auf Ingrid zu, sagte ihr guten Tag und bat sie, mit
ihr auf die Wiese zu gehen. Dort setzten sie sich hin; sie hatten sich
ja lange nicht richtig ausgesprochen. Thorbjörn stand wieder bei den
andern und sah nach Synnöves feinen, ausländischen Blumen.

An diesem Tage ging Synnöve zu derselben Zeit wie die übrigen nach
Hause. "Darf ich Dir vielleicht die Blumen tragen?" fragte
Thorbjörn.--"Bitte", antwortete sie sanft, doch ohne ihn anzusehen,
faßte Ingrid bei der Hand und schritt mit ihr voran. Am Wege nach
Solbakken blieb sie stehen und nahm von Ingrid Abschied. "Das Stückchen
kann ich sie schon selbst tragen", sagte sie und hob den Korb auf, den
Thorbjörn hingesetzt hatte. Bei jedem Schritt bis hierher war es
eigentlich seine Absicht gewesen, ihr anzubieten, die Blumen für sie
einzupflanzen, aber nun brachte er es nicht mehr übers Herz, weil sie
sich zu schnell umdrehte. Doch konnte er an nichts anderes denken, als
daß er ihr eigentlich dabei helfen müßte. "Wovon sprecht Ihr denn?"
fragte er Ingrid. "Von nichts."

Als er alle im Bett wußte, zog er sich wieder an und verließ den Hof.
Der Abend war schön, war mild und still, der Himmel von dünnen,
blaugrauen Wolken überzogen; ihr Flor hatte sich hier und dort gelöst,
und nun sah es aus, als ob blaue Augen von oben Umschau hielten. Keine
Menschenseele ließ sich bei den Höfen und weiter draußen blicken, doch
überall im Grase zirpten die Heuschrecken; rechts lockte eine Wachtel,
links antwortete eine zweite, und nun erhob sich auf allen Seiten ein
Singen, so daß ihm, dem Dahinschreitenden, zumute war, als ob er in
großer Begleitschaft ginge, wenngleich er nicht das Geringste davon
sehen konnte. Der Wald zog sich blau, dann dunkler und dunkler die
Böschungen entlang und nahm sich zuletzt wie ein großes Nebelmeer aus;
aber durch den wogenden Schleier hörte er den Auerhahn sich melden und
laut werden, eine einzelne Eule schrie und der Wasserfall sang seine
alten, harten Reime stärker als je;--jetzt, da sich alles niedergelassen
hatte, um sie anzuhören. Thorbjörn sah nach Solbakken hinüber und
schritt weiter. Er bog vom gewöhnlichen Wege ab, kam schnell vorwärts
und bald stand er in dem kleinen Garten, der Synnöve gehörte und
unterhalb eines Bodenfensters lag, gerade des Fensters, hinter dem sie
schlief. Er lauschte und lugte, alles war leer und still, dann sah er
sich im Garten nach Arbeitsgeräten um und fand richtig sowohl Spaten wie
Harke. Der Anfang zu einem Beet war schon versucht worden; aber nur ein
kleiner Streifen fertig; zwei Blumen hatte jemand bereits eingesetzt,
vermutlich um zu probieren, wie es aussehe. "Die Ärmste ist müde
geworden und wieder weggegangen", dachte er; "hier muß ein Mann 'ran",
dachte er weiter, und machte sich an das Werk. Er verspürte nicht die
geringste Lust zum Schlaf; ja, nie schien ihm eine Arbeit leichter von
der Hand gegangen zu sein. Er erinnerte sich, wie die Blumen eingesetzt
werden müßten, erinnerte sich, wie sie im Pfarrhof standen, und
beachtete beides gewissenhaft dabei. So verging die Nacht, er merkte
nichts davon; er gönnte sich kaum ein Weilchen zum Ausruhen, grub das
ganze Beet um, pflanzte die Blumen ein, versetzte eine oder die andere,
damit es noch schöner aussehe, und guckte ab und zu nach dem
Bodenfenster, ob er doch vielleicht bemerkt wurde. Weder dort noch
anderswo war jemand zu sehen; er hörte nicht einmal einen Hund bellen,
bevor der Hahn krähte und die Vögel im Walde erwachten, sich,--jetzt
dieser, jetzt jener,--aufsetzten, um "Guten Morgen" zu singen. Während
er rings um das Beet die Erde mit dem Spaten festschlug, fielen ihm die
Märchen von Aslak ein, und er erinnerte sich, wie er damals geglaubt
hatte, in Solbakken wüchsen Trolle und Kobolde aus der Erde. Da sah er
zum Bodenfenster hinauf und lächelte: Was wird sich wohl Synnöve denken,
wenn sie herunterkommt? Es wurde ganz hell; die Vögel vollführten schon
einen schauderhaften Spektakel; schnell sprang er über den Zaun und
machte, daß er nach Hause kam. So! Nun sollte mal einer beweisen, daß er
Synnöves Blumen eingepflanzt habe.



Drittes Kapitel


Bald wurde ringsum im ganzen Kirchspiel allerhand über die beiden
geredet; aber etwas Sicheres wußte keiner zu sagen. Nie wurde Thorbjörn
nach der Konfirmation in Solbakken gesehen; und das konnten die Leute
gar nicht begreifen. Ingrid kam oft hinunter, und dann machten sie und
Synnöve gern einen Spaziergang in den Wald.--"Bleib nicht zu lange",
rief Synnöves Mutter der Tochter nach.--"Nein", antwortete sie--und kam
erst abends nach Hause. Die beiden Freier stellten sich wieder ein. "Sie
soll selbst darüber bestimmen", sagte die Mutter, und der Vater meinte
dasselbe; als sie nun Synnöve beiseite nahmen, gab sie ihnen für die
Bewerber einen Korb. Es meldeten sich mehr; aber niemand hörte, daß
einer mit seinem Antrag in Solbakken Glück gehabt hatte. Eines Tages
scheuerten Mutter und Tochter zusammen Milchkübel, und da fragte die
Mutter, wer ihr eigentlich in Gedanken liege; das kam dem Mädchen so
unerwartet, daß es ganz rot wurde. "Hast Du Dich schon einem
versprochen?" fragte die Mutter weiter und sah sie fest dabei an.
"Nein", antwortete Synnöve schnell. Seitdem wurde von dergleichen nicht
mehr geredet.

Da sie weit und breit für die beste Partie galt, folgten ihr lange
Blicke, wenn sie zur Kirche ging, der einzigen Stätte, wo sie außer dem
Hause zu sehen war; sie beteiligte sich nämlich nicht am Tanz oder
sonstigen lauten Festlichkeiten, weil ihre Eltern zu den Haugianern
gehörten. Thorbjörn saß ihr im Kirchstuhl gerade gegenüber; aber sie
sprachen, soweit es zu bemerken war, nie zusammen. Soviel meinten alle
zu wissen, daß etwas mit den beiden sein mußte, und da sie nicht in
derselben Weise wie andere Liebespärchen miteinander verkehrten, wurde
desto mehr über sie gesprochen. Thorbjörn war nicht sehr beliebt. Das
empfand er selbst; denn er stellte sich besonders ungeschlacht an, wenn
er unter die Leute kam, wie beim Tanz oder auf Hochzeiten, und dadurch
passierte es ihm wiederholt, daß er in eine Rauferei verwickelt wurde.
Das ließ aber nach, als er einigen beigebracht hatte, wie stark er war;
und dadurch wieder gewöhnte er sich, auf seinem Weg keinen andern zu
dulden.--"Nun hast Du freie Hand über Dich," sagte sein Vater Sämund,
"aber denke dran, daß meine vielleicht doch noch stärker ist als Deine."

Der Herbst, der Winter verging, der Frühling kam heran, und noch immer
hatten die Leute nichts Gewisses heraus. Die Körbe, die Synnöve
ausgeteilt hatte, und das Gerede darüber bewirkten, daß sie sich fast
allein überlassen blieb. Nur Ingrid leistete ihr Gesellschaft; sie
sollten auch zusammen auf die Alm in diesem Jahr, da die Solbakkener
einen Anteil an der Granlidener Weide oben gekauft hatten. Thorbjörn
richtete mancherlei für sie, und man hörte ihn dabei laut von der Höhe
heruntersingen.

Einmal als er kurz vor der Abenddämmerung mit seiner Arbeit fertig war,
setzte er sich hin und dachte über alles mögliche nach; doch
hauptsächlich über die Redereien der Leute. Er streckte sich in das
rotbraune Heidekraut, legte die Hände unter den Kopf und starrte zum
Himmel, der sich über den dichten Baumkronen blau und leuchtend hinzog;
die grünen Blätter und Nadeln flossen wie ein zitternder Strom hinein
und die dunklen Zweige zeichneten seltsame, wilde Figuren darauf. Der
Himmel selbst war nur dann genau dort zu sehen, wenn ein Blatt beiseite
flatterte; weiter oben zwischen den Kronen, die einander nicht nahe
kamen, brach er wie eine breite Bergflut hervor und lief in lustigen
Schwingungen über ihnen hin. Dadurch kam Thorbjörn in eine eigene
Stimmung, und seine Gedanken beschäftigten sich weiter mit dem, was er
sah.----

----Die Birke lachte wieder mit tausend Augen zur Tanne auf; die Kiefer
starrte voll stummer Verachtung mit ihren Nadeln nach allen Seiten; denn
jedesmal, wenn die Lüfte weicher wurden, schossen mehr und mehr
Siechlinge auf, rannten ihr in den Weg und steckten ihr das frische Laub
gerade unter die Nase. "Ihr Bande, wo wart Ihr denn im Winter?" fragte
die Kiefer, fächelte sich und schwitzte Harz bei der unerträglichen
Hitze. "Das ist beinah zu toll--so hoch im Norden--pfui!"

Aber da war noch eine,--eine alte, kahle Kiefer, die über alle übrigen
Bäume hinwegsah, und doch einen fingerreichen Zweig fast lotrecht
niederbeugen und einen dreisten Ahorn ganz oben am Schopf nehmen konnte,
so daß ihm die Knie zitterten. Dieser klafterdicken Kiefer hatten die
Menschen nach der Spitze zu immer mehr und mehr Zweige abgeholzt, bis
ihr einmal die Geschichte zu bunt wurde und sie derart seitwärts schoß,
daß die dünne Fichte neben ihr einen Schreck kriegte und sie fragte, ob
sie nicht an die Winterstürme denke. "Na und ob!" sagte die Kiefer und
klatschte ihr mit Hilfe des Nordwinds so heftig eins um die Ohren, daß
sie fast ihre Haltung und Würde dabei verlor; und das war recht schlimm.
Die gliederstarke, finstere Kiefer hatte nun mit einem mächtigen Fuß
Boden gefaßt; sechs Ellen hoch ragten die Zehen aus der Erde; und daß
sie dicker waren als an ihrer dicksten Stelle die Weide, hatte die Weide
selbst eines Abends verschämt dem Hopfen zugeflüstert, als er sie
verliebt umspannte. Ihrer Kraft war sich die bärtige Kiefer voll bewußt;
Zweig an Zweig jagte sie hoch über der Menschen Machtbereich in die
wilde Luft, und rief dabei den Menschen zu: "Nun, holt sie Euch!"

"Nein, die können sie Dir nicht fortholen", sagte der Adler, ließ sich
gnädig auf der Kiefer nieder, schlug die Flügel mit Anstand zusammen und
wischte sich einige häßliche Flecke Viehblut vom Gefieder.--"Ich meine,
ich könnte die Königin bitten, hier ihren Aufenthalt zu wählen;--sie ist
trächtig mit mehreren Eiern; sie wird bald legen", fügte er leiser hinzu
und senkte den Blick auf seine kahlen Füße; er schämte sich, daß ihn
holde Erinnerungen an jene frühesten Lenztage überkamen, da die erste
Sonnenwärme halbtoll macht. Bald hob er die Augen wieder und sah starr
unter den buschigen Brauen auf zu den schwarzen Felsrücken, ob nicht die
eierschwere, kränkelnde Königin von dort herniedersegele. Er flog auf,
und schon konnte die Kiefer das Paar in der klaren, blauen Luft
erkennen, wie es in gleicher Linie mit dem höchsten Felsgipfel
dahinstrich und über seine häuslichen Angelegenheiten verhandelte. Sie
war nicht frei von einer gewissen Unruhe; denn so vornehm sie sich auch
schon dünkte, so mußte sie doch noch vornehmer werden, wenn sie ein
Adlerpaar wiegte. Es kam herab, kam direkt auf sie zu; ohne einen Ton
von sich zu geben, begann es eifrig Reisig heranzuschaffen. Die Kiefer
machte sich, wenn möglich, noch breiter,--daran konnte sie keiner
hindern.

Aber im ganzen Wald erhob sich ein eifriges Geraune, als alles sah, was
für eine Ehre der Riesenkiefer erwiesen wurde. Da war unter anderen auch
eine kleine, nette Birke, die sich in einem Weiher spiegelte und sich
ein gewisses Anrecht auf die Liebe eines Hänflings einredete, der auf
ihr gewöhnlich seinen Mittagsschlaf hielt. Sie hatte ihm ihren Duft in
den Schnabel gehaucht, Fliegen und Mücken auf ihre Blätter festgeklebt,
so daß sie leicht genug zu fangen waren, ja, zuletzt hatte sie in der
Hitze ein dichtes Häuschen von Zweigen gebaut und mit Blättern gedeckt,
so daß der Hänfling wirklich im Begriff war, es als Sommerwohnung zu
benutzen. Jetzt aber: der Adler hatte sich in der Riesenkiefer
festgesetzt, und fort mußte der Hänfling. Ach, die Trauer! Er trillerte
noch ein Abschiedslied; aber nur ganz leise, damit es der Adler nicht
höre.

Nicht besser erging es einigen kleinen Sperlingen im Elsenstrauch. Sie
hatten dort ein so sündiges Leben geführt, daß die Drossel, nebenan in
der Esche, nie zur gehörigen Zeit schlafen konnte, oft ganz außer sich
wurde und schimpfte. Das hatte einen ernsten Schwarzspecht derart zum
Lachen gebracht, daß er beinah vom Ast gepurzelt wäre. Nun sahen sie den
Adler auf der Riesenkiefer; und Drossel, Sperlinge, Schwarzspecht und
alles, was fliegen konnte, mußte über Hals und Kopf fort, über und unter
die Zweige. Die Drossel versicherte auffliegend mit einem Fluch, daß sie
nie mehr eine Wohnung nehmen werde, in deren Nachbarschaft Sperlinge
hausten.

So stand der Wald in weitem Umkreis verlassen und nachdenklich im
heiteren Sonnenschein. Er sollte Freude an der Kiefer haben; aber die
Freude war recht mäßig. Kam der Nordwind, dann bog er sich bange, dann
peitschte die Riesenkiefer mit ihren mächtigen Zweigen die Lüfte,--ruhig
und bedachtsam umflog sie der Adler, als ob ihn nur ein schwacher
Windstoß streifte und etwas kümmerlichen Weihrauch vom Wald zu ihm
hinauftrüge. Aber die ganze Kiefernfamilie war froh und stolz. Keins
ihrer Mitglieder dachte daran, daß es selbst in diesem Jahr gar nichts
wiegte. "Weg damit", sagten sie, "wir gehören zu einem vornehmen Stamm."

"------Woran denkst Du denn?" fragte Ingrid, die plötzlich lächelnd
hinter ihm zwischen Strauchwerk stand, das sie zur Seite gebogen hatte.
Nun trat sie vor. Thorbjörn stand auf. "Na, es kann einem wohl manches
durch den Kopf gehen", sagte er und sah mit trotzigem Gesichtsausdruck
über die Bäume hin.--"Das Gerede und Geklatsche da unten wird mir
schließlich zu arg", fügte er hinzu und klopfte sich etwas Erde
ab.--"Warum bekümmerst Du Dich immer darum; laß doch die Leute
reden."--"Ich weiß nicht recht;--aber--sie haben noch nie etwas gesagt,
was ich nicht dachte, wenn ich's auch nicht getan habe."--"Du, das
klingt häßlich."--"Das tut's auch", sagte er und fuhr nach kurzer Pause
fort: "Aber wahr ist's." Sie setzte sich in das Gras; er blieb stehen
und blickte zu Boden. "Ich könnte leicht so werden, wie sie mich haben
wollen; sie sollten mich so lassen, wie ich bin."--"Am Ende ist es aber
doch Deine Schuld."--"Wohl möglich, aber die andern haben auch Schuld;
sie sollen mich zufrieden lassen", schrie er fast und sah zu dem Adler
hinauf. "Aber, Thorbjörn", flüsterte Ingrid. Er drehte sich zu ihr hin
und lachte: "Schon gut, schon gut, wie gesagt, es kann einem wohl
manches durch den Kopf gehen--hast Du heute mit Synnöve
gesprochen?"--"Ja, sie ist schon auf die Alm
gezogen."--"Heute?"--"Ja."--"Mit dem Solbakkener
Vieh?"--"Ja."--"Trallala!"

    Auf den Baum die Sonne herniedersah:
    Trallalirum!
    Mein Schatz, wie stehst Du so leuchtend da?
    Trallali, trallala!
    Der Vogel erwachte, er piept:
    Was gibts? Was ist los? Was gibts?--

"Morgen ziehen wir auch hinauf", sagte Ingrid, um ihn auf andere Gedanken
zu bringen. "Ich gehe mit als Treiber", sagte Thorbjörn.--"Nein",
antwortete sie, "Vater will selbst mit."--"Ja so", meinte er und
schwieg. "Er hat heute nach Dir gefragt", fuhr sie fort. "Wirklich?"
sagte Thorbjörn, schnitt mit seinem Taschenmesser einen Zweig ab und
begann ihn abzuschälen. "Du mußt öfter mit Vater reden," sagte sie
sanft, "er hat Dich sehr lieb," setzte sie hinzu. "Wohl möglich",
meinte er. "Er spricht oft von Dir, wenn Du fort bist!"--"Desto
seltener, wenn ich zu Hause bin."--"Das ist Deine Schuld."--"Wohl
möglich."--"Rede nicht so, Thorbjörn, Du weißt, was zwischen Euch
liegt."--"Was denn?"--"Brauche ich Dir das erst zu sagen?"--"Das kommt
auf eins 'raus, Ingrid; Du weißt ja, was ich weiß."--"Jawohl, Du gehst
zu sehr auf eigene Faust los, und Du weißt, das kann er nicht
leiden."--"Natürlich, er will mich noch beim Arm halten."--"Ja,
besonders wenn Du raufst."--"Dürfen denn die Leute alles sagen und tun,
was sie wollen?"--"Nein, aber Du kannst ihnen auch mehr aus dem Wege
gehen; das hat Vater immer getan und ist dabei ein geachteter Mann
geworden."--"Sie haben ihn auch nicht soviel wie mich gereizt und
geärgert."--Ingrid schwieg eine Weile, sah sich um und sagte dann: "Das
nützt ja nichts, wenn wir immer wieder davon reden; aber trotzdem--wenn
Du weißt, daß die Leute irgendwo etwas gegen Dich haben, brauchst Du
nicht gerade dorthin zu gehen."--"Ja, gerade dorthin! Ich heiße nicht
umsonst Thorbjörn Granliden!"--Er hatte den Bast vom Zweige abgeschält
und schnitt nun den Zweig mitten durch. Ingrid sah ihn an und fragte
etwas gedehnt: "Willst Du Sonntag nach Nordhoug?"--"Ja."--Sie blieb eine
Weile stumm, dann fragte sie, ohne ihn anzusehen: "Weißt Du, daß Knud
Nordhoug zur Hochzeit seiner Schwester nach Hause gekommen
ist?"--"Ja."--Nun sah sie ihn an: "Thorbjörn! Thorbjörn!"--"Darf er
jetzt mehr als früher wagen, sich zwischen mich und andere zu
stellen?"--"Das tut er nicht; nicht mehr, als die anderen
wollen."--"Keiner weiß, was sie wollen!"--"Du weißt es ganz gut."--"Sie
selber sagt keinesfalls was."--"Ach, was redest Du da zusammen!" sagte
Ingrid und warf einen Blick rückwärts. Er schmiß die Zweigstücke fort,
steckte sein Messer in die Scheide und wandte sich der Schwester zu.
"Hör' mal, ich habe es oft recht satt. Die Leute schneiden mir und ihr
die Ehre ab, weil nichts offenkundig zugeht; und andererseits--ich komme
ja nicht einmal nach Solbakken hinüber, die Eltern können mich nicht
leiden, sagt sie. Ich darf sie nicht besuchen, wie andere Burschen ihre
Mädchen, weil sie eine Heilige ist--na, Du weißt ja."--"Thorbjörn",
sagte Ingrid und wurde immer unruhiger, als er fortfuhr: "Vater will
kein gutes Wort für mich einlegen; verdienst Du sie, dann kriegst Du
sie, sagt er. Geschwätz, Geschwätz auf der einen Seite und nichts, was
dafür entschädigt auf der andern--ja, ich weiß noch nicht mal recht, ob
sie--" Ingrid sprang auf, schloß ihm mit der einen Hand den Mund und
blickte dabei rückwärts. Da wurde das Strauchwerk wieder beiseite
gebogen, ein hohes, schlankes Mädchen mit errötendem Gesicht trat daraus
hervor; es war Synnöve.

"Guten Abend", sagte sie. Ingrid sah Thorbjörn an, als wollte sie sagen:
"Jetzt sieh mal!"--Thorbjörn sah Ingrid an, als wollte er sagen: "Das
hättest Du lieber nicht tun sollen." Keines von beiden sah Synnöve an.
"Ich darf mich wohl etwas hinsetzen; ich bin heut schon soviel
gegangen." Und sie setzte sich, Thorbjörn beugte den Kopf, um zu
untersuchen, ob ihr Sitzplatz auch nicht feucht sei. Ingrid hatte
schnell fort und nach Granliden hinuntergeblickt; nun rief sie
plötzlich: "Ach nein! Ach nein! Fagerlin hat sich losgerissen und
trampelt auf der jungen Saat herum! Das Scheusal! Und Kelleros auch! Das
ist ja nicht mehr auszuhalten! Höchste Zeit, daß wir auf die Alm
kommen!" und weg war sie, ohne auch nur Adieu gesagt zu haben. Synnöve
stand sofort auf. "Gehst Du schon?" fragte Thorbjörn. "Ja", sagte sie,
blieb aber stehen.

"Möchtest Du nicht noch ein bißchen bleiben?" brachte er hervor, ohne
sie anzusehen. "Ein andermal", lautete die Antwort. "Das könnte lange
dauern." Sie blickte auf; er blickte jetzt auch sie an; aber es verging
eine Weile, bis sie wieder sprachen. "Setz' Dich doch wieder", sagte er
etwas verlegen. "Nein", antwortete sie und blieb stehen. Er fühlte, wie
in ihm der Trotz aufstieg; aber da passierte etwas, was er nicht
erwartet hatte; sie tat einen Schritt vorwärts, beugte sich zu ihm hin,
sah ihm in die Augen und sagte lächelnd: "Bist Du mir böse?" Und als er
sie anblickte, sah er, daß sie weinte. "Nein", entgegnete er und wurde
feuerrot.

Er streckte ihr die Hand hin; aber da ihre Augen voll Tränen waren,
bemerkte sie es nicht, und so zog er die Hand wieder zurück. Endlich
sagte er: "Du hast alles mit angehört?"--"Ja", antwortete sie, sah auf
und lachte, aber da ihr immer noch mehr Tränen in die Augen traten,
wußte er gar nicht, was er tun oder sagen sollte. Da entfuhren ihm die
Worte: "Ich habe es doch vielleicht zu arg getrieben." Das kam sehr
sanft heraus; sie blickte zu Boden und wandte sich halb ab: "Du sollst
nicht richten über Dinge, so Du nicht kennst." Das wurde mit gepreßter
Stimme gesagt, und ihm wurde ganz schlimm dabei; er kam sich wie ein
kleiner Junge vor und wußte deshalb auch im Augenblick nichts anderes zu
sagen als: "Ich bitte Dich um Verzeihung." Aber nun strömten ihre Tränen
heftig und heftiger. Das konnte er nicht mit ansehen, er ging hin zu
ihr, umfaßte sie und beugte sich über sie: "Liebst Du mich wirklich,
Synnöve?"--"Ja", schluchzte sie. "Aber macht Dich das auch glücklich?"
Sie antwortete nicht. "Macht Dich das auch glücklich?" wiederholte er.
Sie weinte heißer als zuvor und wollte sich ihm entziehen.

"Synnöve, wir wollen ein bißchen miteinander reden", sagte er und half
ihr sich in das Heidekraut setzen; er setzte sich neben sie. Sie wischte
sich die Tränen ab und machte einen Versuch zu lächeln; aber es gelang
nicht. Er hielt die eine von ihren Händen fest und blickte ihr in das
Gesicht. "Liebste, warum darf ich nicht nach Solbakken kommen?" Sie
schwieg. "Hast Du Deine Eltern nie darum gebeten?" Sie schwieg. "Warum
nicht?" fragte er und zog ihre Hand näher an sich. "Ich habe mich nicht
getraut", sagte sie ganz leise.

Seine Miene wurde finster; er hob und bog den einen Fuß leicht, lehnte
den Ellbogen auf das Knie und stützte seinen Kopf auf die Hand. "Auf die
Art werde ich wohl nie hinüberkommen", sagte er. Statt zu antworten,
rupfte sie Heidekraut aus. "Nun ja, ich habe wohl manches getan, was ich
lieber hätte sollen bleiben lassen,----aber etwas Nachsicht hätten sie
doch haben können. Ich bin nicht schlecht," (hier hielt er einen
Augenblick inne) "bin auch noch jung--etwas über zwanzig Jahre bin
ich"--er konnte nicht gleich weiter reden. "Aber wer mich richtig
liebt," sagte er wieder, "der mußte doch----" und nun verstummte er
ganz. Da klang es gedämpft von der Seite her ihm ins Ohr: "Rede nicht
so,----Du weißt nicht, wie schwer,--ich darf es ja nicht einmal Ingrid
sagen--(und nun unter starken Tränen): ich habe so schwer--zu leiden."
Er umschlang sie und zog sie dichter an sich. "Sprich mit Deinen
Eltern," flüsterte er, "und Du wirst sehen, alles wird gut."--"Es wird,
wie Du willst", flüsterte sie. "Wie ich will?" Da neigte sich Synnöve zu
ihm und legte den Arm um seinen Hals. "Liebst Du mich, so wie ich Dich?"
sagte sie sehr herzlich und mit einem Versuch zu lächeln. "Etwa nicht?"
entgegnete er sanft und leise. "Nein, nein, Du nimmst auf mich keine
Rücksicht; Du weißt, was uns zusammenbringen kann, tust es aber nicht.
Warum tust Du es nicht?" Und da sie gerade im besten Zuge war, fuhr sie
eifrig fort: "Lieber Gott, wenn Du wüßtest, wie ich auf den Tag geharrt
und gehofft habe, da ich Dich in Solbakken sehen könnte. Aber wenn man
immer von etwas hören muß, was nicht ist, wie es sein soll, und wenn es
die eigenen Eltern sind, die einem damit in den Ohren liegen." Da kam es
wie eine Erleuchtung über ihn; er sah sie in Solbakken herumgehen und
auf eine kurze friedliche Stunde warten, in der sie ihn sanft ihren
Eltern zuführen könnte; aber nie bescherte er ihr eine solche Stunde.

"Das hättest Du mir früher sagen sollen, Synnöve."--"Hab' ich das nicht
getan?"--"Nein, nicht so."--Er dachte ein Weilchen nach, dann sagte
sie, während sie ihre Schürzenzipfel in kleine Falten legte: "Dann habe
ich es nicht getan, weil--ich mich nicht traute." Da wurde er bei dem
Gedanken, sie habe Furcht vor ihm, so gerührt, daß er ihr zum erstenmal
in seinem Leben einen Kuß gab.

Vor Verwunderung hielt sie plötzlich mit ihrem Weinen inne; ihre Augen
flackerten, sie versuchte zu lächeln, sah zu Boden, sah endlich
Thorbjörn an, und nun lächelte sie wirklich. Sie sprachen nicht mehr;
aber ihre Hände fanden sich wieder, doch die des andern zu drücken, das
traute sich keins von beiden. Dann entzog sie sich ihm sacht, trocknete
Augen und Gesicht und strich ihr in Unordnung geratenes Haar wieder
glatt. Er saß da, sah sie an und dachte mit beruhigter Seele: "Hat sie
mehr Schamhaftigkeit als die andern Mädchen hier, und will danach
behandelt werden, so soll keiner was dagegen sagen."

Er begleitete sie zu ihrer Alm, die nicht weit entfernt lag. Er wollte
gern Hand in Hand mit ihr gehen, aber er fühlte eine gewisse Scheu, die
ihm kaum erlaubte, sie zu berühren; es kam ihm schon merkwürdig vor, daß
er neben ihr gehen durfte. Beim Abschied sagte er daher auch:

"Das soll lange dauern, bis Du wieder einen tollen Streich von mir zu
hören bekommst."

Im Hause fand er seinen Vater bei der Arbeit, Korn vom Schuppen zur
Mühle zu tragen, denn alle Besitzer ringsum mahlten auf der Granlidener
Mühle, wenn ihre Bäche kein Wasser mehr hatten; der Granlidener Bach
bekam immer neuen Zufluß von den Bergen. Viele Säcke waren
hinunterzutragen, manche recht große, manche riesig große darunter. Die
Frauen standen unweit davon, hielten Wäsche und wrangen aus. Thorbjörn
ging zu seinem Vater hin und packte einen Sack. "Kann ich Dir vielleicht
helfen?"--"Das schaffe ich schon allein", sagte Sämund, nahm schnell
einen Sack auf seinen Rücken und trug ihn zur Mühle. "Hier sind noch
eine ganze Menge", sagte Thorbjörn, packte zwei große, stemmte den
Rücken dagegen, griff über die Schultern, faßte mit jeder Hand einen und
stützte ihn seitlich mit dem Ellbogen. Auf halbem Wege traf er Sämund,
der zurückkam, um mehr zu holen; rasch sah er Thorbjörn an, sagte aber
nichts. Als Thorbjörn zum Schuppen zurückging, traf er Sämund mit noch
zwei größeren Säcken auf dem Rücken. Diesmal nahm Thorbjörn einen ganz
kleinen und zog damit ab; als Sämund ihn traf, sah er ihn an, aber
länger als das vorige Mal. Da geschah es, daß sie einmal zu gleicher
Zeit vor dem Schuppen waren. "Eine Einladung von Nordhoug ist gekommen,"
sagte Sämund, "Du sollst Sonntag hin zur Hochzeit." Ingrid sah ihren
Bruder bittend an; auch die Mutter sah hin. "Ja so", sagte er trocken,
nahm aber diesmal die zwei größten Säcke, die er finden konnte. "Gehst
Du hin?" fragte Sämund und runzelte die Stirn.--"Nein."



Viertes Kapitel


Die Granlidener Alm war schön gelegen; von ihr konnte man das ganze
Kirchspiel überschauen--zuerst und am deutlichsten Solbakken inmitten
seines vielfarbigen Waldes; dann die andern Höfe in ihrem Ring von
Wäldern; wie Friedensstätten, die mit aller Macht und Kraft dem wilden
Boden abgewonnen waren, erschienen die grünen Grasflächen mit den
Häusern darauf. Vierzehn Höfe konnten von der Alm aus gezählt werden;
von dem Granlidener waren nur die Dächer sichtbar; und auch sie nur vom
höchsten Punkt aus. Nichtsdestoweniger setzten sich die Mädchen öfter
hin, um nach dem Rauch zu blicken, der dort unten aus den Schornsteinen
aufstieg. "Jetzt kocht Mutter das Mittagessen," sagte Ingrid, "heute
gibt's Pökelfleisch und Speck."--"Hörst Du, jetzt werden die Männer
gerufen," sagte Synnöve, "wo arbeiten sie denn heut?" und die Augen der
beiden verfolgten den Rauch, der wild und wirbelnd in die klare,
sonnenheitre Luft emportrieb, aber bald langsamer wurde, sich's
überlegte--und dann breit über den Wald hinfloß, immer dünner und
dünner, zuletzt nur wie ein fächelnder Flor und dann kaum mehr zu
erkennen. So mancher Gedanke wurde bei diesem Anblick in ihnen wach und
umkreiste das Kirchspiel. Heute waren sie in Nordhoug beisammen. Die
eigentliche Hochzeit war schon ein paar Tage vorbei; aber da die
Nachfeier eine Woche dauerte, klangen noch immer Schüsse und allerlei
derbe Rufe zu ihnen herauf. "Die sind aber vergnügt", sagte
Ingrid.--"Ich beneide sie nicht darum", sagte Synnöve und nahm ihr
Strickzeug. "Da möchte man mit dabei sein", sagte Ingrid, die sich
hingekauert hatte, um nach dem Hofe zu blicken, wo die Menschen zwischen
den Häusern hin- und hergingen--einige zum Schuppen, vor dem wohl die
gedeckten Tische standen, andere paarweise in vertraulichem Gespräch
etwas weiter. "Ich weiß nicht recht, was einen dahin ziehen sollte",
sagte Synnöve. "Ich weiß das auch kaum," antwortete Ingrid, die immer
noch dasaß; "vielleicht der Tanz." Synnöve entgegnete nichts. "Hast Du
noch nie getanzt?" fragte Ingrid. "Nein!"--"Hältst Du Tanzen für eine
Sünde?"--"Das weiß ich nicht recht." Ingrid mochte im Augenblick nicht
weiter davon reden; denn es fiel ihr ein, daß der Tanz bei den
Haugianern streng verboten war, und sie wollte Synnöves Verhältnis zu
ihren Eltern in diesem Fall nicht näher berühren. Aber da ihr nun mal
der Gedanke kam, sagte sie nach einer Weile: "Einen bessern Tänzer als
Thorbjörn habe ich noch nie gesehen." Synnöve blieb ein Weilchen still,
dann sagte sie: "Ja, er soll gut tanzen."--"Du müßtest ihn einmal tanzen
sehen", rief Ingrid lebhaft und wandte sich ihr zu. Aber schnell
entgegnete Synnöve: "Nein, das möchte ich nicht."

Ingrid war einigermaßen betroffen; Synnöve beugte sich über ihr
Strickzeug und zählte die Maschen; plötzlich ließ sie die Arbeit in den
Schoß fallen, sah vor sich hin und sagte: "So herzlich vergnügt wie
heute bin ich lange nicht gewesen."--"Warum?" fragte Ingrid. "Weil er
heute nicht in Nordhoug mittanzt." Ingrid hing ihren eigenen Gedanken
nach. "Ja, es sollen Mädchen dort sein, die ihn gern haben möchten",
sagte sie. Synnöve öffnete den Mund, als ob sie reden wollte, schwieg
aber und zog eine Nadel heraus und eine andere ein. "Thorbjörn möchte
wohl selbst gern dort sein, ja, das glaube ich gewiß", fuhr Ingrid fort.
Aber kaum hatte sie das ausgesprochen, da fiel ihr ein, was sie damit
gesagt hatte; sie sah Synnöve an; die war feuerrot geworden und strickte
eifrig. Nun wurde Ingrid mit einem Male alles in ihrem Zwiegespräch
klar; sie klatschte in die Hände, kam schnell angelaufen, kniete im
Heidekraut dicht vor Synnöve nieder und sah ihr fest in die
Augen--Synnöve strickte eifrig. "So, jetzt weiß ich, daß Du mir manchen
lieben Tag etwas verheimlicht hast", sagte Ingrid. "Was meinst Du denn?"
fragte Synnöve und warf ihr einen unsicheren Blick zu. "Du bist nicht
böse, weil Thorbjörn tanzt", antwortete Ingrid--die Freundin entgegnete
nichts. Ingrid lachte mit dem ganzen Gesicht, schlang die Arme um
Synnöves Hals und flüsterte ihr in das Ohr: "Nein, Du bist böse, weil er
mit einer andern tanzt."

"Wie kannst Du nur solchen Unsinn reden", sagte Synnöve, riß sich los
und stand auf. Ingrid stand gleichfalls auf und ging ihr nach. "Sünde
ist es, daß Du nicht tanzen kannst," sagte sie und lachte, "eine wahre
Sünde! Komm her, ich will's Dir gleich beibringen", und sie legte ihren
Arm um Synnöves Hüfte. "Was willst Du?" fragte Synnöve. "Dir's Tanzen
beibringen, Dir den Kummer vertreiben, daß er mit einer andern als mit
Dir tanzt!" Nun mußte Synnöve auch lachen, oder wenigstens so tun. "Hier
können wir gesehen werden", sagte sie. "Gott segne Dich für die Antwort,
wenn sie auch herzlich dumm war", rief Ingrid, fing darauf an zu
trällern und Synnöve im Takt herumzuführen. "Nein, nein, das geht ja
nicht!"--"Du hast ja selbst vorhin gesagt, Du bist lange nicht so
vergnügt gewesen wie heute."--"Ach, wenn es nur ginge!"--"Probier' es
nur, dann wirst Du schon sehen, daß es geht."--"Du bist außer Rand und
Band, Ingrid."--"Ja, so sagte auch die Katze zum Sperling, als er nicht
stillhalten und sich fangen lassen wollte; komm nur."--"Ich hätte schon
Lust; aber--"--"Jetzt bin ich Thorbjörn und Du bist seine junge Frau,
die nicht will, daß er mit einer andern als mit ihr tanzen
soll."--"Aber--" Ingrid trällerte, "aber", entgegnete Synnöve noch; doch
sie tanzte schon. Es war ein Springtanz. Ingrid ging mit großen
Schritten und Armbewegungen wie ein Mann voraus; Synnöve folgte mit
kleinen Schritten und niedergeschlagenen Augen. Ingrid sang:

    Und der Fuchs unter Wurzeln der Birke lag,
    Abseits vom Heidekraut,
    Und der Hase sprang lustig im grünen Hag,
    Über das Heidekraut.
    Die Sonne gießt Licht aus üppigem Born,
    Und glitzert hinten und glitzert vorn,
    Über dem Heidekraut.

    Und es lacht der Fuchs im Wurzelversteck,
    Abseits vom Heidekraut,
    Und der Hase sprang unbändig keck
    Über das Heidekraut.
    Mir ist heut gar so fröhlich zumut,
    Juchhei, mein Häslein, wie springst Du gut
    Über das Heidekraut.

    Und es lauert der Fuchs im Wurzelversteck,
    Abseits vom Heidekraut,
    Und der Hase hüpft just zum gleichen Fleck,
    Über das Heidekraut.
    Daß Gott sich erbarme, Du bist hier?
    Ei, Freundchen, wer heißt Dich tanzen vor mir,
    Über dem Heidekraut?

"Na, ging's nicht schön?" fragte Ingrid, als sie stehen blieben, um
Atem zu schöpfen.

Synnöve lachte und sagte, sie möchte lieber Walzer tanzen. "Ja, warum
denn nicht?" meinte Ingrid, und sie setzten sich gleich in Positur;
Ingrid erklärte ihr, wie sie die Füße stellen müsse. "Pass' auf, der
Walzer ist schwer, sehr schwer ist er."--"Ach, es wird schon gehen, wenn
wir erst in Takt kommen." Nun sollte gleich die Probe gemacht werden.
Ingrid sang und Synnöve sang mit, anfangs leise vor sich hin, dann
lauter und lauter. Aber plötzlich hielt Ingrid inne, ließ ihre Gefährtin
los, klatschte erstaunt in die Hände: "Du kannst ja schon Walzer
tanzen!" rief sie.

"Still, nicht sprechen!" sagte Synnöve und faßte Ingrid um die Taille,
"wir wollen weitertanzen."--"Aber wo hast Du das gelernt--?"--"Tralla,
tralla"--und Synnöve schwang Ingrid im Kreis; die tanzte jetzt nach
Herzenslust und sang dabei:

    Schau', die Sonne tanzt auf dem Hankelidfjell,
    Tanz', meine Liebste, der Abend naht schnell;
    Schau', der Bergbach hüpft zum Meere fort,
    Hopp, wilder Gesell, dein Grab wartet dort,
    Schau', die Birke schwingt sich beim Windesspiel,
    Schwing dich, Dirnlein!--Was brach dort, was fiel?
    Schau',----

"Was singst Du immer für merkwürdige Lieder?" sagte Synnöve und hörte
auf zu tanzen. "Ich weiß gar nicht, was ich singe", antwortete Ingrid,
"Thorbjörn hat's mal gesungen."--"Das ist eins von Zuchthaus-Bents
Liedern; die kenn' ich."--"Zuchthaus-Bent?" fragte Ingrid und genierte
sich etwas. Sie sprach nicht mehr und blickte vor sich hin in die Ferne;
plötzlich gewahrte sie ein Gespann unten auf dem Wege. "Du, dort fährt
einer von Granliden herunter und lenkt in die Gemeindestraße
ein."--Synnöve sah auch hin. "Ist er es?" fragte sie. "Ja, das ist
Thorbjörn, er will in die Stadt."----

----Es war Thorbjörn und er fuhr in die Stadt. Sie lag ziemlich
entfernt, die Last war schwer und er fuhr deshalb langsam den staubigen
Weg hin. Von oben konnte man ein Stück der Fahrstraße übersehen, und als
er nun von den Bergen herunter jodeln hörte, dachte er sich gleich, von
wem das wohl käme, kletterte auf die Ladung und jodelte wieder, so daß
es zwischen den Felsen schallte. Nun wurde oben auf dem Horn geblasen;
er lauschte, und als die Töne verklangen, richtete er sich wieder auf
und jodelte. Dann fuhr er wohlgemut weiter; er sah nach Solbakken
hinüber und meinte es bisher niemals in so hellem Sonnenglanz gesehen zu
haben. Aber währenddessen hatte er gar nicht mehr an sein Pferd gedacht;
das ging, wie es wollte. Da fuhr er plötzlich auf, der Gaul hatte einen
scharfen Seitensprung gemacht, so daß die eine Deichselstange brach, und
nun raste das Tier in wildem Trab vom Weg herunter über das Nordhouger
Feld. Thorbjörn sprang auf und suchte es zu halten; es kam zu einem
richtigen Kampf zwischen beiden; das Pferd wollte über einen Abhang, er
riß es mit den Zügeln zurück; endlich zwang er es, sich zu bäumen,
sprang ab, schlang die Leine um einen Baum, und nun mußte es stehen. Die
Ladung war teilweise herausgeschleudert, die eine Deichselstange
zerbrochen und der Gaul stand da und zitterte. Thorbjörn ging hin, faßte
ihn am Zaum und redete ihm gut zu; dann wendete er das Pferd, daß es mit
dem Rücken gegen den Abhang stand und nicht über ihn hinunter konnte;
aber das Tier war zu scheu, um still stehen zu bleiben,--er mußte ihm
sprungweise folgen, und so kam er wieder bis zur Straße. Dabei fuhr er
an der heruntergefallenen Ladung vorbei; Töpfe und Krüge waren entzwei,
der Inhalt größtenteils verdorben. Bisher waren Thorbjörns Gedanken nur
auf die Fahrt gerichtet gewesen; jetzt dachte er an die Folgen und wurde
wütend; soviel stand fest: zur Stadt konnte er nicht; und je klarer ihm
das wurde, um so wütender war er. Als er auf den Weg gekommen, scheute
das Pferd noch einmal, und versuchte wieder einen Seitensprung, um sich
loszureißen, und nun brach Thorbjörns Wut los. Mit der linken Hand hielt
er es an Zaum und Gebiß fest, mit der rechten versetzte er ihm
Peitschenhieb auf Peitschenhieb über die Lenden, so daß es rasend wurde
und mit den Vorderhufen nach Thorbjörns Brust schlug. Aber Thorbjörn
wich ihm aus und hieb nun ärger als zuvor--aus Leibeskräften--mit dem
Peitschenstiel. "Ich werde Dir's schon beibringen, Du niederträchtiges
Vieh", und er hieb zu. Das Pferd wieherte, schrie,--er hieb zu. "Jetzt
sollst Du einen kennen lernen, der stärker ist als Du", und er hieb. Das
Pferd schnaubte, so daß der Schaum Thorbjörns ganze Hand bespritzte;
aber er schlug weiter: "Das soll das erste und letzte Mal sein, Du
Schinder; da! da! und noch einen! Du sollst parieren lernen, Du Luder!"
und er hieb. Inzwischen hatten sie sich völlig umgedreht; das Pferd
wagte keinen Widerstand mehr, zitterte und bebte bei jedem Hieb und bog
sich wiehernd zur Seite, sobald die Peitsche durch die Luft schwirrte.
Da schämte sich Thorbjörn ein bißchen; er hielt inne. Im selben
Augenblick bemerkte er einen Mann, der auf dem Grabenrand saß, sich auf
den Ellbogen stützte und ihn anlachte; er wußte nicht warum, aber ihm
wurde fast schwarz vor den Augen und, das Pferd am Zaum haltend, ging er
auf den Mann mit erhobener Peitsche zu: "Jetzt sollst Du mal lachen!"
Der Schlag fiel, traf aber nur halb, da sich der Mann mit einem
Aufschrei in den Graben hinunterwälzte; dort blieb er auf allen Vieren
liegen, richtete jedoch den Kopf hoch und schielte nach Thorbjörn. Dabei
zog er den Mund schief zum Lachen, aber zu hören war kein Lachen.
Thorbjörn wurde betroffen; eine Erinnerung durchzuckte ihn. Jawohl, es
war Aslak.

Thorbjörn überlief es kalt.

"Du hast gewiß beidemal das Pferd scheu gemacht", sagte er. "Ich habe ja
nur hier gelegen und geschlafen," antwortete Aslak, "und Du hast mich
geweckt, wie Du Dein Pferd verrückt gemacht hast."--"Du bist es
gewesen,--vor Dir haben alle Tiere Angst." Und er streichelte den Gaul,
von dem der Schweiß herabrann. "Dein Tier hat wohl mehr Angst vor Dir
als vor mir;--so bin ich noch mit keinem Pferd umgegangen", sagte Aslak,
jetzt kniete er im Graben. "Halt Dein großes Maul", erwiderte Thorbjörn,
und drohte mit der Peitsche. Da stand Aslak auf und krabbelte aus dem
Graben. "Ich ein großes Maul!? Fällt mir ja gar nicht ein--wo willst Du
denn so schnell hin?" sagte er freundlich und kam näher; aber er wankte
beim Gehen--er war betrunken. "Mit dem Weiterwollen ist es heut nichts",
meinte Thorbjörn und spannte das Pferd aus. "Das ist aber recht
ärgerlich", sagte der andere, kam noch näher und nahm den Hut ab.

"Herrjeh, was bist Du für ein großer und hübscher Bursche geworden,
seitdem ich Dich nicht gesehen habe." Er hatte beide Hände in die
Taschen gesteckt, stand so fest, wie er konnte, auf den Beinen und
betrachtete Thorbjörn, der das Pferd nicht von den Wagentrümmern
losbekommen konnte. Thorbjörn brauchte Hilfe; aber Aslak darum zu
bitten, das mochte er denn doch nicht. Der sah zu eklig aus. Auf seinem
Anzug lag der Grabenschmutz, sein Haar hing wirr unter einem blanken,
beträchtlich alten Hut hervor; sein Gesicht war zwar noch teilweise das
frühere, wohlbekannte; aber jetzt immer zum Lachen verzogen, die Augen
schienen noch geschlossener, so daß er sich hintenüber beugen mußte und
der Mund etwas offen stand, wenn er jemand ansah; alle Züge waren
schlaff, der ganze Ausdruck stier--denn Aslak trank. Thorbjörn hatte ihn
schon vorher ein paarmal gesehen, aber Aslak tat, als wüßte er das
nicht, er hatte sich im ganzen Kreis als Hausierer herumgetrieben und
war am liebsten dort eingekehrt, wo es laut und lustig zuging. Dort trug
er seine Lieder vor, erzählte seine Schnurren und bekam zum Lohn
Branntwein. Darum war er auch auf der Hochzeit in Nordhoug gewesen;
jetzt aber für einige Zeit wohlweislich verduftet, weil er, wie
Thorbjörn später erfuhr, nach seiner gewohnten Art die Leute solange
zusammengehetzt hatte, bis, eine Rauferei entstanden war, und da hatte
er Angst bekommen, selbst verprügelt zu werden. "Binde das Pferd lieber
an, das ist besser, als wenn Du's ausspannst," sagte er, "Du mußt doch
nach Nordhoug und Dir Hilfe holen." Thorbjörn hatte schon selbst daran
gedacht, aber der Gedanke war ihm unangenehm. "Dort ist ja heut eine
große Hochzeit", meinte er. "Auch eine große Menge Leute, die helfen
können", antwortete Aslak. Thorbjörn überlegte; aber ohne Hilfe konnte
er weder vorwärts noch zurück, und so war es doch schließlich das beste,
nach dem Hof zu gehen. Er band also das Pferd am Wagen fest und ging.
Aslak folgte, Thorbjörn sah sich nicht nach ihm um. "Jetzt habe ich eine
gute Begleitung für den Rückweg", sagte Aslak und lachte. Thorbjörn
antwortete nicht, sondern schritt schnell aus. Aslak sang hinter ihm
her. "Da ziehen zwei Bauern zum Hochzeitshaus" usw., ein altes, überall
bekanntes Lied. "Du gehst schnell," sagte er nach einer Weile, "Du
kommst noch früh genug hin." Thorbjörn antwortete nicht. Bald hörten sie
den Lärm von Tanz und das Geigenspiel; Köpfe erschienen in den offenen
Fenstern des großen, zweistöckigen Hauses; Gruppen versammelten sich im
Garten. Thorbjörn merkte, daß die Leute dort besprachen, wer wohl käme,
zugleich, daß mancher ihn erkannte, auch wie kurz nachher das Pferd und
die verstreute Ladung entdeckt wurden. Der Tanz brach ab und ein ganzer
Menschenstrom wälzte sich aus dem Hause und ihnen entgegen. "Hier kommen
Hochzeitsgäste wider Willen", rief Aslak, als sie sich beide der
Gesellschaft näherten. Thorbjörn wurde begrüßt, und ein Kreis von
Menschen umringte ihn. "Gott segne das Fest, das gute Bier auf dem
Tisch, die hübschen Frauensleute auf dem Tanzboden und den wackern
Spielmann auf dem Schemel!" rief Aslak und drängte sich schnell in die
Menge. Einige lachten, andere blieben ernst, einer sagte:
"Hausierer-Aslak ist immer gut aufgelegt." Thorbjörn traf gleich
Bekannte, denen er von seiner verunglückten Fahrt erzählen mußte; sie
litten nicht, daß er selbst zu dem Pferd und den Sachen zurückging, und
schickten andere hin. Der Bräutigam, ein junger Mann und früherer
Schulkamerad von Thorbjörn, lud ihn ein, das Hochzeitsbräu zu kosten,
und nun zog der ganze Haufen wieder in die Stube. Ein Teil, besonders
Frauen und Mädchen, wollte wieder tanzen, ein anderer lieber ein
Stündchen trinken, und Aslak, da er nun doch mal wieder da war, sollte
etwas erzählen. "Aber sei vorsichtiger als vorhin", fügte einer hinzu.
Thorbjörn fragte, wo die übrigen Gäste seien. "Es ging ein bißchen laut
und derb hier zu," wurde ihm geantwortet, "da haben sich ein paar
hingelegt und ruhen sich aus; wieder welche sitzen in der Scheune und
spielen Karten, und welche sitzen mit Knud Nordhoug zusammen". Thorbjörn
erkundigte sich nicht, wo Knud zu finden sei.

Der Vater des Bräutigams, ein alter Mann, der auf einer Bank saß, aus
einer Pfeife rauchte und trank, sagte jetzt: "'raus mit Deiner
Geschichte, Aslak, einmal kann man sich sowas schon gefallen lassen."

"Bitten noch mehr darum?" fragte Aslak, der sich auf einen Schemel
gesetzt hatte, etwas abseits von dem Tisch, um den die andern saßen.
"Jawohl," sagte der Bräutigam und gab ihm ein Glas Branntwein, "ich
bitte Dich auch darum."--"Bitten mich noch mehr auf die Art?" fragte
Aslak wieder. "Ja, das tun sie", sagte eine junge Frau auf einer
Seitenbank und reichte einen Becher Wein hin; es war die Braut, ein
Frauenzimmer von zwanzig Jahren, blond, mager, mit großen, schwarzen
Augen und einem strengen Zug um den Mund.--"Ich höre Deine Geschichten
gern", setzte sie hinzu. Der Bräutigam sah sie, sein Vater sah ihn an.
"Ja, die Nordhouger haben immer gern meine Geschichten gehört,"
antwortete Aslak, "auf Ihr Wohl!" und er leerte sein Glas, das ihm ein
Brautführer gebracht hatte. "Vorwärts, los!" riefen mehrere. "Von
Sigrid, der Herumtreiberin", schrie einer. "Nein, das ist eine zu
eklige Geschichte", entgegneten andere, hauptsächlich Frauen. "Von der
Lierer Schlacht", bat Svend Tambour. "Lieber was Lustiges", sagte ein
schlanker Bursche, der die Jacke ausgezogen hatte, sich an die Wand
lehnte, und dabei immer mit der rechten Hand ein paar jungen Mädchen,
die vor ihm saßen, in die Haare fuhr. Die Mädchen schimpften, aber
dachten nicht daran, fortzulaufen.

"Jetzt erzähle ich, was mir paßt", sagte Aslak. "Schwerenot", murmelte
ein älterer Mann, der auf dem Bette lag, rauchte, sein eines Bein
herunterbaumeln ließ und mit dem andern wiederholt gegen eine
Sonntagsjacke stieß, die über dem Bettpfosten hing. "Weg mit Deinem Bein
von meiner Jacke!" rief der Bursche an der Wand. "Weg mit Deiner Hand
von meinen Töchtern", rief der Alte. Da liefen die Mädchen fort. "Ja,
ich erzähle, was mir paßt," sagte Aslak wieder, "Branntwein ist gut, der
schießt ins Blut!" Und er schlug klatschend die flachen Hände zusammen.

"Du sollst erzählen, was uns paßt," wiederholte der Mann im Bett; "der
Branntwein kommt von uns."--"Was meinst Du damit?" fragte Aslak und riß
die Augen weit auf. "Das Jungschwein, das wir fett machen, schlachten
wir auch," sagte der Mann und baumelte mit dem Bein. Aslak schloß die
Augen wieder; aber hielt den Kopf noch hoch; dann ließ er ihn sinken und
antwortete nichts. Verschiedene redeten ihn an; aber er hörte es gar
nicht. "Der Branntwein hat ihn untergekriegt", sagte der Mann im Bett.
Da sah Aslak auf und fing wieder an, das Gesicht zum Lachen zu
verziehen. "Ja, jetzt sollt Ihr ein lustiges Stückchen hören," sagte er,
"Herrgott, ist das lustig!" setzte er hinzu und lachte mit weit
geöffnetem Munde, aber hören konnte keiner irgend welches Lachen. "Er
hat heute seinen guten Tag", sagte der Vater des Bräutigams. "Hat er
auch," entgegnete Aslak, "doch erst einen Schluck auf den Weg!" und er
streckte die Hand hin. Er bekam ein Glas Branntwein, trank es langsam
hinunter, bog den Kopf zurück, kostete den letzten Tropfen aus und
wandte sich zu dem Mann im Bett: "So, jetzt bin ich Euer Schwein", und
er lachte wieder unhörbar wie vorher. Dann legte er seine Hände um das
eine Knie, hob den Fuß auf und nieder, schaukelte den Oberkörper dabei
hin und her--und dann fing er an:

"Ja, es war einmal ein Mädchen da drüben in einem Tal. Wie das Tal hieß,
geht Euch nichts an, und auch nicht, wie das Mädchen hieß. Aber hübsch
war die Dirne, und das fand auch der Besitzer des Hofs--psst, keinen
Namen!--und bei dem diente sie. Sie kriegte guten Lohn, und sie kriegte
mehr als sie kriegen sollte, nämlich ein Kind. Die Leute sagten, es sei
von ihrem Herrn, aber er sagte das nicht; denn er war ein verheirateter
Mann; und sie sagte es auch nicht; denn sie war stolz, die arme Trude.
So logen sie denn was bei der Taufe zusammen--es war ja ein Elend für
den Jungen, daß sie ihn geboren hatte,--da war's auch gleich, ob er mit
'ner Lüge getauft wurde. Sie kriegte einen Unterschlupf dicht beim Hof,
und das paßte der Besitzersfrau natürlich nicht. Kam das Mädchen ihr mal
nahe, dann spuckte sie es an, und kam der kleine Junge auf den Hof und
wollte mit ihrem Jungen spielen, dann ließ die den Hurenbengel
fortjagen: 'Besseres ist er nicht wert', sagte sie.

Tag und Nacht lag sie ihrem Mann in den Ohren, er solle das Bettelvolk
hinausschmeißen. Der Mann sträubte sich dagegen, solange er Mann war--;
aber dann verlegte er sich aufs Saufen, und da kriegte das Weib die
Oberhand. Das war ein Elend für die arme Person. Von Jahr zu Jahr ging
es mit ihr zurück, und zuletzt war sie mit ihrem Jungen dicht am
Verhungern; aber der wollte nicht fort von seiner Mutter, der kleine
Junge.

So vergingen allmählich acht Jahre; sie waren vergangen, und noch immer
saß sie auf ihrer Stelle, obgleich sie immer weg sollte.------Und
schließlich kam sie weg!----Vorher aber stand der Hof in lustigen,
hellen Flammen und der Mann verbrannte, weil er besoffen war--das Weib
rettete sich mit ihren Kindern und sagte aus, die Dirne, die dicht beim
Hofe wohnte, habe den Brand angelegt. Das war wohl möglich.----Aber es
war auch was anderes möglich.----Sie hatte so 'nen wunderlichen kleinen
Kerl von Jungen. Acht Jahre mußte der sehen, wie sich seine Mutter
abrackerte, und er wußte auch, wer schuld daran war; denn seine Mutter
sagte es ihm oft, wenn er fragte, warum sie immerzu weine. Das tat sie
auch an dem Tage, bevor sie ausziehen sollten, und darum war er fort in
der Nacht.--Aber sie mußte auf Lebenszeit ins Zuchthaus, denn sie hatte
selbst vor dem Gerichtsschreiber gesagt, daß sie das lustige Feuer auf
dem Hofe angesteckt habe. Der Junge zog im Kirchspiel herum und alle
unterstützten ihn, weil er so 'ne schlechte Mutter hatte.--Dann zog er
weiter, weiter in eine ganz andere Gegend, da wurde er nicht mehr
unterstützt; da wußte ja keiner, wie schlecht seine Mutter war. Ich
glaube nicht, daß er selbst darüber sprach.--Zuletzt hörte ich, daß er
besoffen war, und die Leute sagen, er sei zuletzt gar nicht mehr aus dem
Suff herausgekommen; ob das wirklich richtig ist, soll ungesagt bleiben;
aber richtig ist, daß ich nicht weiß, was er Besseres hätte tun können.
Er ist ein schlechter, gemeiner Kerl; er kann die Menschen nicht leiden,
besonders nicht die, die gut zueinander sind; und die gut zu ihm sind,
die erst recht nicht. Und er möchte, daß die andern gerade so sind wie
er selbst; das sagt er aber bloß, wenn er besoffen ist; und dann weint
er, weint er, daß es Tränen hagelt, und über rein nichts;--denn worüber
hätte er denn zu weinen? Er hat keinem einen Pfennig gestohlen oder, wie
andere, was Böses angestellt,--also warum weint er? Und doch weint er,
weint er, daß es Tränen hagelt. Und wenn Ihr das mal sehen solltet, dann
glaubt ihm nicht, denn er tut's bloß, wenn er besoffen ist, und da ist
er nicht zurechnungsfähig."--Und mit dem letzten Worte fiel Aslak
rückwärts vom Schemel und weinte heftig los; aber das ging schnell
vorüber; denn er schlief ein.--"Jetzt ist das Schwein voll," sagte der
Mann im Bett, "dann heult er sich immer in den Schlaf."--"Das war eine
häßliche Geschichte", sagten die Frauen und standen auf, um aus der
Stube zu kommen. "Ich habe ihn noch nie eine andere erzählen hören, wenn
er sie selbst aussuchen durfte", sagte ein alter Mann, der von seinem
Platz an der Tür aufgestanden war: "Gott weiß, warum ihm die Leute so
gern zuhören", fügte er hinzu und sah dabei die Braut an.



Fünftes Kapitel


Einige gingen heraus, andere suchten den Spielmann, um wieder zu tanzen;
aber der war in einem Winkel des Flurs eingeschlafen, und da baten
einige, man möge ihn in Ruhe lassen: "seitdem sein Kamerad Lars hier
zuschanden geschlagen worden ist, hat Ole die ganze Zeit über aushalten
müssen." Unterdes war Thorbjörns Pferd angelangt; es wurde vor einen
andern Wagen gespannt, da er trotz allen Zuredens weiter wollte.
Besonders der Bräutigam gab sich alle Mühe, ihn zurückzuhalten: "Hier
ist nicht soviel Freude für mich, wie mancher glaubt", meinte er; und
das brachte Thorbjörn auf eigene Gedanken; aber fort wollte er doch noch
vor Abend. Als die anderen sahen, daß er darauf bestand, ließen sie ihn
nach und nach allein; es waren viele Menschen da; aber es ging recht
still zu, und das Ganze machte gar nicht den Eindruck einer richtigen
Hochzeit. Thorbjörn brauchte einen Pflock für sein Pferdegeschirr, und
suchte danach; auf dem Hof war nichts Rechtes zu finden, so ging er
weiter, kam zu einem Holzschuppen und trat dort ein--langsam und
nachdenklich; die Worte des Bräutigams klangen ihm noch immer in den
Ohren. Er fand, was er suchte, und setzte sich ganz zufällig, mit Messer
und Pflock in Händen, an die Wand. Da hörte er neben sich ein Stöhnen;
das mußte von der Innenseite der dünnen Wand kommen, hinter der die
Wagen standen; Thorbjörn lauschte. "Du bist es?--Du?" brachte mit langen
Zwischenräumen und mühsam eine Stimme heraus; eine Männerstimme. Darauf
vernahm er, wie jemand weinte; aber das konnte kein Mann sein.--"Warum
mußtest Du auch noch herkommen?" wurde gefragt; und jedenfalls von der
Person, die weinte; denn Tränen klangen aus den Worten.--"Hm--zu welcher
Hochzeit sollte ich denn aufspielen, wenn nicht zu Deiner?" sprach die
erste Stimme. Das kann kein andrer wie Lars, der Spielmann, sein, dachte
Thorbjörn.--Lars war ein ansehnlicher, hübscher Gesell, dessen alte
Mutter in einer Kate unweit vom Gutshof zur Miete wohnte. Aber die
andere Stimme, das mußte die Braut sein!--"Warum hast Du nie
gesprochen?" sagte sie gedämpft, aber so gedehnt, als ob sie sehr bewegt
sei. "Ich glaubte, das sei zwischen uns beiden nicht nötig", lautete die
kurze Antwort. Einige Augenblicke blieb es still, dann sagte sie wieder:
"Du wußtest aber doch, daß er meinetwegen herkam,"--"Ich habe Dich für
stärker gehalten."--Dann hörte Thorbjörn nur, daß sie weinte; endlich
stieß sie die Worte hervor: "Warum hast Du nicht gesprochen?"

"Es hätte wohl dem Sohn der alten Birthe viel genützt, wenn er mit der
Tochter von Nordhoug gesprochen hätte", erwiderte er nach einer Pause,
in der er schwer Atem geholt und oft gestöhnt hatte. Die Antwort ließ
auf sich warten;--"wir haben doch so manches Jahr ein Auge aufeinander
gehabt", klang es endlich.

--"Du warst so stolz, man konnte gar nicht richtig mit Dir
reden."----"Es war doch nichts auf der Welt, was ich lieber gewollt
hätte.--Ich wartete jeden Tag darauf;--wo wir uns trafen--mir kam es
fast vor, als drängte ich mich Dir auf. Da dachte ich, Du machtest Dir
nichts aus mir."--Es wurde wieder ganz still; Thorbjörn hörte weder eine
Antwort, noch weinen; er hörte nicht einmal den Kranken Atem holen.

Thorbjörn dachte an den Bräutigam; er hielt ihn für einen braven Mann,
und er tat ihm leid; und im selben Augenblick sagte auch sie:

"Ich fürchte, er wird wenig Freude an mir haben,--er, der--"

"Er ist ein braver Mann", erwiderte der Kranke, und dann fing er an,
unruhig zu werden, da ihm die Brust schmerzte. Es war, als ob sie die
Schmerzen mitfühlte, denn sie sagte: "Mir ist schwer ums Herz
Deinetwegen,--aber--wir hätten uns wohl nie ausgesprochen, wenn das
nicht dazwischen gekommen wäre. Erst als Du Dich mit Knud gerauft hast,
habe ich alles begriffen."--"Ich konnte es nicht länger ertragen",
antwortete er, und einen Augenblick darauf: "Knud ist ein schlechter
Kerl."--"Ja, gut ist er nicht", sagte sie, Knuds Schwester.

Sie blieben eine Weile stumm, dann sprach er: "Ich bin gespannt, ob ich
wieder mal aufkomme; ach, das ist auch jetzt ganz einerlei."--"Geht's
Dir schlecht, so geht's mir schlechter," darauf lautes Weinen. "Willst
Du fort?" fragte er.--"Ja, ach, Du lieber Gott,--Du lieber Gott, was
wird das für ein Leben werden!"--"Weine nicht so," sagte er, "unser
Herrgott macht hoffentlich bald ein Ende mit mir, und dann, wirst Du
sehen, geht es auch Dir besser."--"Jesus, Jesus, wenn Du nur gesprochen
hättest!" rief sie mit verhaltener Stimme und schien die Hände zu
ringen; Thorbjörn meinte, sie sei fortgegangen, oder nicht mehr
imstande, weiter zu sprechen; er hörte eine ganze Zeitlang nichts mehr,
und ging dann selber.

Den ersten, besten, den er im Garten traf, fragte er: "Warum sind denn
Spielmann Lars und Knud Nordhoug aneinander geraten?"--"Warum, ja--"
sagte Per Hausmann und zog sein Gesicht in Falten, als ob er was drin
verstecken wollte; "danach kannst Du wohl fragen, denn es war nur um
eine Kleinigkeit; Knud fragte Lars, ob seine Fiedel bei der Hochzeit
hier auch gut gestimmt sei." In demselben Augenblick ging die Braut
vorbei; sie hatte erst ihr Gesicht seitwärts gewendet; aber als sie den
Namen Lars hörte, drehte sie es ihnen zu, und da zeigte es sich, daß
ihre großen Augen ganz rot waren und flackerten; aber ihre Züge
erschienen kalt, so kalt, daß Thorbjörn nichts von ihren früheren Worten
mehr herauslesen konnte; da wurde ihm manches noch klarer.

Weiter vorn im Hof stand sein Pferd fertig zur Abfahrt; er schlug den
Pflock ein und schaute nach dem Bräutigam, um Abschied zu nehmen. Er
hatte keine Lust, ihn aufzusuchen; es war ihm fast lieber, daß der
Bräutigam unsichtbar blieb, und so setzte er sich auf den Wagen. Da
entstand mit einem Mal ein großer Lärm links von ihm, bei der Scheune;
er hörte rufen, ein Menschenhaufen kam herangezogen, ein großer Mann,
der voranging, schrie: "Wo ist er?--Hat er sich versteckt?--Wo ist er
denn?"--"Dort, dort", riefen ein paar Stimmen. "Laßt ihn nicht hin,"
riefen wieder andere, "sonst gibt's ein Unglück."--"Ist das Knud?"
fragte Thorbjörn einen kleinen Jungen neben seinem Wagen. "Ja, er ist
betrunken, und dann will er immer raufen." Thorbjörn hatte sich schon
zurechtgesetzt und trieb sein Pferd an.--"Halt! Halt! Kamerad!" rief es
hinter ihm; er zog die Leine an, aber da das Pferd im Trab blieb, ließ
er es gehen. "Hast Du Angst, Thorbjörn Granliden?" schrie es unweit; da
hielt er an, sah aber nicht hinter sich.

"Steig ab, hier triffst Du gute Gesellschaft!" rief einer. Thorbjörn
drehte sich um. "Danke, ich muß nach Hause", sagte er. Wie sie ein
bißchen hin- und herredeten, war der ganze Haufen herangekommen; Knud
ging auf das Pferd zu, streichelte es und faßte es beim Zaum, um es
anzusehen. Er war groß, hatte blondes, aber struppiges Haar und eine
Stumpfnase, breite, dicke Lippen und milchblaue Augen, doch einen
frechen Blick. Seiner Schwester ähnelte er wenig, nur etwas in einem Zug
um den Mund; er hatte auch die gleiche gerade Stirn, aber nicht so eine
hohe wie sie; alle ihre feinen Züge waren bei ihm vergröbert. "Was
willst Du für Deine Schindmähre haben?" fragte Knud. "Mein Pferd ist
nicht zu verkaufen", antwortete Thorbjörn. "Du meinst wohl, ich kann's
nicht bezahlen?" sagte Knud.--"Ich weiß nicht, was Du kannst oder nicht
kannst."--"So,--also Du meinst: nein,--Du! Nimm Dich in acht", sagte
Knud. Der Bursche, der vorhin in der Stube an der Wand gestanden hatte
und den Mädchen ins Haar gefahren war, äußerte jetzt zu einem Nachbar:
"Diesmal hat Knud keine rechte Schneid."

Das hörte Knud.

"Keine Schneid? Wer sagt das? Ich keine Schneid?" schrie er. Mehr und
mehr Menschen kamen heran.

"Aus dem Weg! Achtung, das Pferd", rief Thorbjörn und trieb seinen Gaul
an; er wollte fort.--"Hast Du zu mir aus dem Weg gesagt?" fragte Knud.
"Ich habe nur zum Pferd gesprochen, ich muß fort", antwortete Thorbjörn,
bog aber nicht aus. "Warum fährst Du gerade auf mich los?" fragte Knud.
"Weg da!"--und das Pferd reckte sich in die Höhe, sonst hätte es mit dem
Kopf Knud vor die Brust gestoßen. Da packte Knud es am Zaum und Gebiß,
und das Pferd, das diesen Griff noch frisch im Gedächtnis hatte, fing an
zu zittern. Das wirkte auf Thorbjörn; das mahnte ihn daran, was er
selbst dem Pferde angetan hatte; den Ärger über sich übertrug er auf
Knud. Nun sprang er auf und zog mit der Peitsche diesem eins über den
Kopf. "Du schlägst?" schrie Knud und kam auf ihn zu. Thorbjörn sprang
ab. "Du bist ein schlechter Kerl", sagte er und wurde dabei totenblaß;
die Zügel gab er dem Barschen aus der Stube, der herangetreten war und
sich angeboten hatte. Aber der alte Mann, der nach Aslaks Erzählung von
seinem Platz an der Tür aufgestanden war, ging nun auf Thorbjörn zu und
zog ihn am Arm. "Sämund Granliden ist ein zu braver Mann, als daß sich
sein Sohn mit solchem Raufbold abgeben sollte." Das besänftigte
Thorbjörn; Knud aber schrie: "Ich ein Raufbold? Das ist er gerade so gut
wie ich, und mein Vater ist gerade so gut wie seiner. Komm 'ran! Dumm
genug, daß die Leute nicht wissen, wer von uns der Stärkere ist", fügte
er hinzu und legte sein Halstuch ab. "Die Probe darauf machen wir noch
immer früh genug", sagte Thorbjörn. Da meinte der Mann, der vorhin im
Bette gelegen hatte: "Sie sind wie zwei Katzen, erst müssen sie sich
anprusten beide." Thorbjörn hörte das wohl, aber antwortete nicht.
Einige lachten; andere sagten wiederum, das sei doch zu toll mit den
vielen Raufereien auf dieser Hochzeit; sie sollten doch einen Fremden in
Frieden lassen, der ruhig seiner Wege ziehen wollte. Thorbjörn sah sich
nach seinem Pferd um, es war seine feste Absicht, weiter zu fahren; aber
der Bursche, der es ihm abgenommen, hatte es eine ganze Strecke beiseite
geführt und stand selbst wieder dicht bei Thorbjörn. "Was siehst Du Dich
um?" fragte Knud, "Synnöve ist weit fort."--"Was geht Dich Synnöve
an?"--"Nein, so'ne scheinheiligen Frauenzimmer gehen mich gar nichts
an," sagte Knud, "aber vielleicht benimmt sie Dir den Mut!" Das war für
Thorbjörn denn doch zu viel; die Umstehenden merkten, daß er das Terrain
für den Kampf untersuchte. Nun traten wieder ältere Männer dazwischen
und meinten, Knud habe bei dem Fest schon genug auf dem Gewissen. "Mir
soll er nichts anhaben!" sagte Thorbjörn und darauf verstummten sie.
"Laßt sie doch raufen," sagten andere, "dann werden sie gute Freunde;
sie haben sich lange genug mit bösen Blicken verfolgt."--"Ja," setzte
einer hinzu, "jeder von beiden will der Stärkere sein; jetzt wird sich's
ja zeigen."--"Habt Ihr nicht das Bürschchen Thorbjörn Granliden irgendwo
gesehen?" fragte Knud laut, "eben war er doch noch hier."--"Hier ist
er", sagte Thorbjörn, und in demselben Augenblick bekam Knud einen Hieb
über das rechte Ohr, daß er nahestehenden Männern in die Arme purzelte.
Nun wurde es still in der Runde. Knud sprang auf--und vorwärts, ohne
einen Laut von sich zu geben; Thorbjörn setzte sich zur Gegenwehr. Ein
langer Faustkampf entspann sich; beide wollten einander zu Leibe; aber
beide waren geübt und jeder hielt sich den andern vom Leibe. Thorbjörns
Hiebe fielen dicht und, wie einige sagten, auch recht wuchtig. "Da ist
Knud mal an den Richtigen gekommen," sagte der Bursche, der sich des
Pferdes angenommen hatte, "macht Platz!" Die Frauen rissen aus, nur eine
blieb oben auf der Treppe stehen, um besser sehen zu können; das war die
Braut. Zufällig streifte Thorbjörns Blick sie; er zauderte einen Moment,
da sah er ein Messer in Knuds Hand, erinnerte sich ihrer Worte: "Gut ist
er nicht", und traf mit einem wohlgezielten Hieb Knuds Arm so über dem
Handgelenk, daß das Messer auf die Erde fiel, und der Arm kraftlos sank.
"Au--das war ein Hieb!" rief Knud. "Spürst Du's?", fragte Thorbjörn und
stürzte auf ihn los. Knud war durch den gelähmten Arm in starkem
Nachteil; er wurde hochgehoben, weitergeschleppt, aber es dauerte eine
ganze Weile, bis er geworfen war. Mehrmals wurde er so hingeschleudert,
daß jeder andere mehr wie genug gehabt hätte; aber sein Rückgrat vertrug
viel; Thorbjörn zog mit ihm herum, überall wichen die Leute
zurück,--aber Thorbjörn schritt immer weiter mit ihm--er trug ihn um den
ganzen Hof herum, bis sie vor die Treppe gelangten, dort schwang er ihn
noch einmal hoch in die Luft und drückte ihn dann zu Boden; da gaben
Knuds Knie nach, und er stürzte auf die Steinfließen, so lang wie er
war, und es sang ihm und es klang ihm in den Ohren. Regungslos blieb er
liegen, stöhnte tief und schloß die Augen. Thorbjörn richtete sich auf,
sein Blick fiel gerade auf die Braut, die noch immer starr dastand und
zusah. "Legt ihm etwas unter den Kopf", sagte sie, drehte sich um und
ging ins Haus.

Zwei alte Frauen kamen vorbei; die eine sagte zu der andern: "Herrgott!
Da liegt schon wieder einer; wer ist denn das?" Ein Mann antwortete:
"Er--der Knud Nordhoug." Da meinte die zweite Frau: "Dann werden wohl
die ewigen Raufereien mal ein Ende nehmen--die Menschen können doch ihre
Kräfte zu was Besserem brauchen."--"Da hast Du ein wahres Wort
gesprochen, Randi," meinte die erste; "unser Herrgott helfe ihnen, daß
sie lernen, weniger an sich als an Besseres zu denken."

Das traf Thorbjörn und ergriff ihn tief; bisher hatte er kein Wort
hervorgebracht; er stand nur da und sah den Leuten zu, die für Knud
sorgten; einige sprachen ihn an, doch er antwortete nicht. Er wandte
sich fort und überließ sich seinen Gedanken. Synnöve kam ihm vor allem
in den Sinn, und er schämte sich fürchterlich; er überlegte, wie er ihr
die Sache erklären könne, und es fiel ihm aufs Herz, daß er doch sein
Leben nicht so leicht zu ändern vermochte, wie er geglaubt hatte. Im
selben Nu rief es hinter ihm: "Paß auf, Thorbjörn!" und noch ehe er sich
umdrehen konnte, wurde er von hinten an den Schultern gepackt und zu
Boden geworfen; dann fühlte er nur noch einen stechenden Schmerz; aber
er wußte nicht, an welcher Stelle. Er hörte Stimmen rings um sich her;
es war ihm, als ob er weggefahren würde, manchmal glaubte er selbst die
Zügel zu führen; aber bestimmt wußte er das nicht.

So ging es eine lange Zeit fort; ihm wurde kalt, dann wieder warm, und
dann mit einem Male ganz leicht; so leicht, daß er zu schweben meinte,
und nun begriff er: Baumkronen trugen ihn, eine zur andern, endlich
hinauf zum Hügel; und wieder höher--zur Alm, und noch höher--hoch auf
die höchste Felsenspitze, und Synnöve beugte sich über ihn und weinte
und fragte: warum er nicht gesprochen habe? Sie weinte heftig und sagte
dann, er habe doch gesehen, wie ihm Knud in den Weg getreten sei, und
jetzt habe sie doch Knud nehmen müssen. Und dann streichelte sie ihn
sanft auf der einen Seite, so daß er dort ganz warm wurde, und weinte
so, daß sein Hemde ganz feucht wurde. Aber Aslak kauerte hoch oben auf
einem großen, spitzen Stein und zündete die Baumkronen ringsum an; sie
zuckten, sie zischten, Zweige flogen um ihn her, Aslak aber lachte mit
weit aufgerissenem Mund: "Ich bin's nicht gewesen, meine Mutter hat's
getan!" Und auf der andern Seite stand Vater Sämund und warf Kornsäcke
hoch, so hoch, daß die Wolken sie auffingen und das Korn wie Nebel
verstreuten, und Thorbjörn wunderte sich, daß das Korn über den ganzen
Himmel hinfliegen konnte. Und wie er wieder herunterblickte, war Sämund
mit einem Male ganz klein geworden, so klein wie ein Punkt; aber er warf
noch immer die Säcke, höher und höher und rief: Das mach' mir mal nach!
Hoch, hoch oben in den Wolken stand die Kirche, und auf ihrer Turmspitze
die blonde Frau aus Solbakken, die schwenkte in der einen Hand ein rotes
Taschentuch, in der anderen ein Gesangbuch und sagte: "Hierher kommst Du
mir nicht, solange Du noch raufst und fluchst!"--und als er schärfer
hinsah, war es gar nicht die Kirche,--nein, es war Solbakken, und die
Sonne strahlte so hell auf all die hundert Fensterscheiben, daß ihm die
Augen davon weh taten und er sie schließen mußte.

"Vorsichtig, vorsichtig, Sämund!" hörte er mit einem Male rufen; er
erwachte wie aus dem Schlummer, wie wenn er fortgetragen würde, und er
sah sich um. Er war zu Hause in der Stube von Granliden; ein tüchtiges
Feuer brannte im Herde; er erblickte neben sich die Mutter; sie weinte,
der Vater wollte ihn eben aufnehmen--um ihn in eine Seitenkammer zu
bringen, da ließ er ihn sacht wieder nieder: "Es ist noch Leben in ihm",
sagte er mit bebender Stimme und wandte sich zur Mutter; die schrie:
"Lieber, lieber Gott, er schlägt die Augen auf! Thorbjörn, Thorbjörn,
barmherziger Himmel, was haben sie mit Dir gemacht!" und sie beugte sich
über ihn, streichelte ihm die Backen, und ihre Tränen fielen dabei warm
auf sein Gesicht. Sämund wischte sich mit dem einen Ärmel die Augen,
schob die Mutter sacht beiseite: "Ich möchte ihn doch jetzt gleich
'rübertragen", sagte er, und legte die eine Hand vorsichtig unter
Thorbjörns Schultern, die andere unter das Rückgrat. "Stütz' ihm den
Kopf, Mutter, wenn er ihn nicht hochhalten kann." Sie ging voran und
stützte den Kopf, Sämund suchte gleichen Schritt mit ihr zu halten, und
bald war Thorbjörn umquartiert. Nachdem sie ihn gut gebettet und
ordentlich zugedeckt hatten, fragte Sämund, ob der Knecht schon
fortgefahren sei. "Da kannst Du ihn noch sehen", sagte die Mutter und
zeigte nach dem Hof hinaus; Sämund machte das Fenster auf und rief:
"Wenn Du es in einer Stunde schaffst, kriegst Du doppelten
Jahreslohn--und sollte das Pferd auch dabei drauf gehen!"

Er trat wieder ans Bett; Thorbjörn sah ihn mit großen, klaren Augen an;
des Vaters Augen waren immer wieder auf den Sohn gerichtet und wurden
feucht. "Ich wußte, es würde solches Ende mit ihm nehmen", sagte er,
drehte sich um und ging hinaus. Die Mutter setzte sich auf einen Schemel
zu Füßen Thorbjörns und weinte, sprach aber nicht. Thorbjörn wollte
sprechen, fühlte jedoch, daß es ihm zu schwer fiel, und schwieg darum.
Aber beständig sah er seine Mutter an, und sie hatte früher nie einen
solchen Glanz in seinen Augen bemerkt, noch empfunden, daß sie so schön
wie jetzt waren, und das nahm sie für ein schlechtes Zeichen. "Gott der
Herr steh' Dir bei," stieß sie hervor, "ich weiß, es ist Sämunds Tod,
wenn Du von uns gehst." Thorbjörn sah sie an; seine Augen, sein Gesicht
waren starr. Sein Blick drang ihr tief in die Seele, und sie begann das
Vaterunser für ihn zu beten; denn sie hielt seine Stunden für gezählt.
Und als sie so bei ihm saß, ging es ihr durch den Sinn, wie überaus lieb
sie alle gerade ihn hatten; und jetzt war nicht eins von seinen
Geschwistern zu Hause. Da schickte sie zur Alm, um Ingrid und den
jüngern Bruder zu holen; dann setzte sie sich wieder an das Bett. Er sah
sie unverwandt an; und sein Blick wirkte auf sie wie ein Gesangbuchlied,
das sie sanft auf zu Höherem führte; und die alte Ingebjörg wurde
andächtiglich ergriffen, nahm die Bibel und sagte: "Jetzt will ich laut
zu Deinem Frommen lesen, auf daß es Dir gut ergehe." Da sie ihre Brille
nicht bei der Hand hatte, schlug sie eine Stelle auf, die sie von ihrer
Kinderzeit noch so ungefähr auswendig konnte, und die Stelle war aus
dem Evangelium Johannis. Sie konnte nicht wissen, ob er es höre, denn er
lag nach wie vor starr da,--aber sie las,--wenn nicht für ihn, so für
sich selbst.

Bald kam Ingrid nach Hause, um die Mutter abzulösen; aber da schlief
Thorbjörn gerade. Sie weinte unaufhörlich; sie hatte schon geweint, ehe
sie von der Alm fortging; denn sie dachte an Synnöve, die ohne Nachricht
blieb.--Dann kam der Doktor und untersuchte. Thorbjörn hatte einen
Messerstich in die Seite bekommen und noch andere Verletzungen, aber der
Doktor sagte nichts, und es fragte ihn keiner. Sämund begleitete ihn in
die Krankenstube, stellte sich neben ihn und blickte ihm beständig ins
Gesicht, ging mit hinaus, da der Doktor ging, half ihm hinauf auf seinen
zweirädrigen Wagen und nahm den Hut ab, als der Doktor sagte, er werde
am nächsten Tage wiederkommen. Dann drehte er sich zu seiner Frau um,
die neben ihm stand: "Wenn der Mann nichts sagt, steht es schlecht",
seine Lippen zitterten, er drehte sich auf den Hacken um und ging
querfeldein.

Niemand wußte, wo er steckte, er kam weder am selben Abend, noch in der
Nacht, sondern erst den nächsten Morgen nach Hause, und da sah er so
finster aus, daß sich keiner zu fragen getraute. Er selbst sagte nur:
"Na?"--"Er hat geschlafen," sagte Ingrid, "aber er ist so von Kräften,
daß er nicht die Hand heben kann." Sämund wollte in die Krankenstube,
aber dicht vor der Tür machte er Kehrt.

Der Doktor kam am nächsten Tage wieder und auch die folgenden Tage.
Thorbjörn konnte sprechen, aber er durfte sich nicht bewegen. Ingrid saß
am meisten bei ihm, auch die Mutter oft und sein jüngerer Bruder; aber
er richtete keine Frage an sie und sie nicht an ihn. Der Vater war
niemals in der Stube. Die anderen sahen, daß der Kranke das merkte; er
blickte gespannt hin, sobald die Tür aufging; jedenfalls doch, weil er
den Vater erwartete. Schließlich fragte ihn Ingrid, wen er wohl
außerdem noch gern sehen möchte? "Ach, mich will ja keiner sehen",
antwortete er. Das wurde Sämund wiedererzählt; der entgegnete im
Augenblick nichts, und als an diesem Tage der Doktor kam, war er nicht
zu Hause. Aber ein Stück Weges vom Hofe erwartete er ihn bei der
Rückfahrt; er hatte auf dem Grabenrand gesessen, stand auf, als der
Wagen vorbeifuhr, grüßte und fragte nach dem Zustand seines Sohnes. "Sie
haben ihm böse mitgespielt", lautete kurz die Antwort. "Wird er
durchkommen?" fragte Sämund und bastelte am Bauchgurt des Pferdes.
"Danke, der Gurt sitzt ja gut", sagte der Doktor. "Nicht stramm genug",
antwortete Sämund. Dann waren beide eine Zeitlang stumm; der Doktor sah
ihn an; Sämund arbeitete eifrig an dem Gurt herum, blickte aber nicht
auf. "Du hast gefragt, ob er durchkommen wird; ja, das glaube ich wohl",
sagte der Doktor langsam; Sämund blickte schnell auf. "Dann ist keine
Lebensgefahr mehr?" fragte er. "Seit ein paar Tagen nicht mehr",
antwortete der Doktor. Da rollten Tränen aus Sämunds Augen; er wischte
sie ab, aber sie kamen wieder, "'s ist 'ne reine Schande, wie lieb ich
den Jungen habe," schluchzte er, "aber einen prächtigem Burschen hat's
im ganzen Gau noch nicht gegeben." Der Doktor wurde gerührt: "Warum hast
Du nicht schon früher gefragt?"--"Ich hätt' es nicht hören können",
antwortete Sämund und wollte die Tränen herunterschlucken; aber es
gelang ihm nicht; "und dann waren die Frauensleute dabei," fuhr er fort,
"die sahen immer hin, ob ich Dich nicht fragen wolle, und da kriegte
ich's nicht fertig." Der Doktor ließ ihm Zeit, wieder ordentlich zu sich
zu kommen, und nun blickte Sämund ihn fest an: "Wird er wieder ganz
gesund?" fragte er plötzlich. "Soweit es möglich ist; übrigens läßt sich
darüber mit Sicherheit nichts sagen." Da wurde Sämund ruhig und
nachdenklich. "Soweit es möglich ist", murmelte er und blickte zu Boden.
Der Doktor wollte ihn nicht stören; es war etwas in dem Mann vor ihm,
das es ihm verbot. Plötzlich hob Sämund den Kopf: "Ich danke für die
Auskunft", sagte er, reichte dem Doktor die Hand und ging nach Hause.

Währenddessen saß Ingrid bei dem Kranken. "Wenn Du es hören kannst, will
ich Dir etwas vom Vater erzählen", sagte sie. "Erzähle", antwortete er.
"An dem Abend, als der Doktor zum ersten Male hier war, war Vater
plötzlich weg, und niemand wußte, wo er war. Da war er zum
Hochzeitshause gegangen; den Leuten wurde schlecht zumute, als er
eintrat. Er setzte sich an den Tisch und trank mit den andern; und der
Bräutigam hat später erzählt, er habe geglaubt, Vater sei ins Taumeln
gekommen. Aber dann erst hub er an, nach der Rauferei zu fragen, und
erhielt auch genauen Bericht. Nun kam Knud; Vater wünschte, Knud solle
erzählen, und ging auf den Hof zu der Stelle hin, wo Ihr gerauft hattet.
Die ganze Gesellschaft ging mit. Knud erzählte, wie Du mit ihm
umgesprungen seist, nachdem Du ihm die Hand lahm geschlagen hattest;
aber als er nun nicht weiter mit der Sprache heraus wollte, richtete
Vater sich hoch auf und fragte: ob das vielleicht dann so zugegangen
wäre--und im selben Augenblick hatte er schon Knud vorn an der Brust
gepackt, dann hob er ihn hoch und warf ihn auf die Steinfließen, wo noch
Blut von Dir klebte; mit der linken Hand drückte er ihn nieder, mit der
Rechten zog er sein Messer; Knud wechselte die Farbe und alle Gäste
standen stumm dabei. Einige hatten gesehen, daß Vater geweint hat; aber
getan hat er Knud nichts. Der lag da und rührte sich nicht. Vater riß
ihn wieder hoch, warf ihn eine Weile darauf wieder zu Boden. 'Es fällt
einem recht schwer, Dich entwischen zu lassen', sagte er und nahm ihn
scharf aufs Korn, indem er ihn festhielt.

Zwei alte Frauen gingen vorbei und die eine sagte: 'Denk an Deine
Kinder, Sämund Granliden', und sofort, so erzählen die Leute, hat Vater
den Knud losgelassen, und bald darauf war er herunter vom Hof; aber
Knud drückte sich zwischen den Häusern fort von der Hochzeit und wurde
nicht mehr gesehen."

Kaum war Ingrid mit ihrer Erzählung fertig, da öffnete sich die Tür;
jemand sah hinein, und das war der Vater. Sie ging gleich aus der Stube;
Sämund trat ein. Wovon Vater und Sohn miteinander gesprochen haben, das
hat niemand erfahren; die Mutter, die an der Tür stand und lauschte,
glaubte doch einmal verstanden zu haben, daß sie darüber redeten, ob
Thorbjörn wieder ganz gesund werden könne oder nicht. Aber sie war ihrer
Sache nicht sicher, und hineingehen wollte sie nicht, solange Sämund
drin war. Als er herauskam, waren seine Züge sehr sanft, seine Augen
etwas gerötet. "Wir werden ihn wohl behalten," sagte er im Vorbeigehen
zu Ingebjörg, "aber unser Herrgott weiß, ob er wieder ganz gesund wird."
Ingebjörg fing zu weinen an und ging ihrem Manne nach; auf der Treppe
zum Schuppen setzten sie sich nebeneinander, und sie besprachen
mancherlei.

Als aber Ingrid leise wieder zu Thorbjörn hineinkam, lag er da mit einem
Zettel in der Hand und sagte ruhig und langsam: "Den Zettel gib Synnöve,
sobald Du sie triffst." Als Ingrid gelesen hatte, was darauf stand,
wandte sie sich ab und weinte, denn auf dem Zettel stand:

"An die hochgeschätzte Jungfrau Synnöve, Tochter des Guttorm Solbakken.

Wenn Du diese Zeilen gelesen hast, so soll es aus sein zwischen uns
beiden. Denn ich bin nicht der Mann, der für Dich bestimmt ist. Unser
Herrgott sei mit uns beiden.

Thorbjörn, Sohn des Sämund Granliden."



Sechstes Kapitel


Synnöve hatte an dem Tage, nachdem Thorbjörn auf der Hochzeit gewesen,
von dem Vorfall erfahren. Sein jüngerer Bruder war mit der Nachricht
auf die Alm gekommen; aber Ingrid hatte ihn auf dem Flur abgefaßt und
ihm eingeschärft, wie weit er erzählen solle. Synnöve wußte also nicht
mehr, als daß Thorbjörn mit Wagen und Ladung umgekippt, dann nach
Nordhoug um Hilfe gegangen und dabei mit Knud in Streit geraten war; er
habe etwas abgekriegt, liege auch zu Bett; aber es sei nicht gefährlich.
Eine Geschichte, die Synnöve mehr böse als traurig stimmte; und je mehr
sie darüber nachdachte, desto mutloser wurde sie. Wie fest hatte er ihr
versprochen, sich so zu benehmen, daß ihre Eltern nichts gegen ihn sagen
konnten! Aber auseinanderbringen sollte das ihn und sie doch nicht!

Die Verbindung zwischen Tal und Alm war spärlich, und die Zeit dehnte
sich, bis Synnöve weitere Nachricht bekam. Die Ungewißheit drückte sie
schwer; Ingrid wollte auch nicht wiederkommen,--es mußte also etwas
besonderes vorgehen. Sie war abends nicht mehr in der Stimmung zu
singen, um das Vieh nach Hause zu locken, und schlief nachts nicht gut,
weil ihr Ingrid fehlte. Dadurch war sie am Tage müde, und somit wieder
ihr Herz nicht gerade leichter. Sie ging umher und wirtschaftete,
scheuerte Kübel und Töpfe, machte Käse, setzte Milch an, aber ohne
rechte Freude an der Arbeit, und Thorbjörns jüngerer Bruder, sowie der
andere Junge, die zusammen hüteten, hielten es nun für ausgemacht, daß
mit ihr und Thorbjörn etwas los sein müsse, und das gab ihnen oben auf
der Weide Stoff für vieles Gerede.

Am Nachmittag des achten Tages, seit Ingrid nach Hause gerufen worden,
verspürte Synnöve stärkere Herzbeklemmung denn je. Nun war schon soviel
Zeit vergangen, und sie hatte noch immer keine genaue Nachricht. Sie
ließ ihre Arbeit liegen und setzte sich hin, um auf das Kirchspiel
hinunterzuschauen; das gab ihr etwas wie einen Zusammenhang mit denen
unten, und ganz allein mit sich mochte sie nicht sein. Dabei wurde sie
müde, legte den Kopf auf den Arm und schlief sofort ein; aber die Sonne
stach und ihr Schlaf war sehr unruhig. Sie glaubte sich zu Solbakken in
der Bodenkammer, wo ihre Sachen standen und sie gewöhnlich schlief; die
Blumen dufteten so schön zu ihr hinauf; aber nicht mit dem Duft wie
sonst; mehr wie Heidekraut. Woher mag das wohl kommen? dachte sie und
sah durch das offene Fenster. Ja, da stand Thorbjörn unten im Garten und
pflanzte Heidekraut ein. "Aber, Liebster, warum tust Du das?" fragte
sie. "Die Blumen wollen nicht wachsen", sagte er und ließ sich nicht
stören. Da tat es ihr um die Blumen leid, und sie bat ihn schließlich,
sie ihr herauf zubringen. "Ja, gern", antwortete er, sammelte die
herausgezogenen Blumen und machte sich auf den Weg; aber nun saß sie gar
nicht mehr in der Bodenkammer, denn er konnte sofort zu ihr. In
demselben Augenblick kam ihre Mutter dazu. "In Jesu Namen, will der Ekel
von Junge zu Dir?" rief sie, sprang dazwischen und stellte sich vor ihn
hin. Das wollte er sich nicht gefallen lassen, und nun fingen die beiden
an, zu ringen. "Mutter, Mutter, er will mir ja nur meine Blumen
bringen", bat Synnöve und weinte. "Das hilft nichts", sagte die Mutter
und ging ihm stärker zuleibe. Synnöve wurde ängstlich, so ängstlich; sie
wußte nicht, wem von den beiden sie den glücklichen Ausgang des Ringens
wünschen sollte; verlieren aber sollte keiner. "Seht Euch mit den Blumen
vor", rief sie; doch sie rangen immer heftiger und heftiger, und die
schönen Blumen wurden dabei überall umhergestreut, von der Mutter
zertreten, von Thorbjörn zertreten; Synnöve weinte. Als Thorbjörn aber
die Blumen hingeworfen hatte, wurde er mit einem Male furchtbar häßlich,
ganz widerlich; das Haar auf seinem Kopfe wuchs, sein Gesicht
verlängerte sich, die Augen bekamen einen wilden Ausdruck und mit
spitzen Klauen griff er nach der Mutter. "Nimm Dich in acht, Mutter;
siehst Du nicht, das ist nicht er, das ist ein andrer--nimm Dich in
acht!" schrie sie und wollte hin und der Mutter helfen, konnte sich aber
nicht vom Fleck rühren.--Da hörte sie ihren Namen rufen; dann noch
einmal. Und im Nu verschwand Thorbjörn und auch die Mutter. "Ja",
antwortete Synnöve und erwachte. "Synnöve!" klang es von neuem. "Ja",
rief sie und blickte auf. "Wo bist Du denn?" Das ist Mutter, dachte
Synnöve, stand auf und ging auf den Platz zu, wo die Mutter mit einem
Eßkorb in der Hand stand, sich mit der anderen die Augen beschattete und
nach ihr ausschaute.

"Hier liegst Du und schläfst auf der kalten Erde?" sagte die
Mutter. "Ich war so müde," antwortete Synnöve, "und hatte mich nur
einen Augenblick hingelegt, und da bin ich mit einemmal fest
eingeschlafen."--"Davor mußt Du Dich hüten, mein Kind----Hier in dem
Korb habe ich Dir etwas mitgebracht; ich habe gestern gebacken, weil
Vater eine längere Reise machen will." Aber Synnöve fühlte, etwas
anderes müsse die Mutter hergeführt haben, und sie meinte nicht ohne
Grund von ihr geträumt zu haben. Karen--so hieß ihre Mutter--war, wie
gesagt, klein und schmächtig von Gestalt, hatte blondes Haar, und blaue
Augen, die rastlos umherblickten. Sie lächelte ein wenig, wenn sie
sprach; aber nur wenn sie mit Fremden sprach. Ihr Gesichtsausdruck war
sehr scharf geworden; sie war hastig in ihren Bewegungen und machte sich
immer etwas zu tun.--Synnöve bedankte sich für das Mitgebrachte, nahm
den Deckel vom Korb und wollte nachsehen, was darin war. "Das kannst Du
später tun", sagte die Mutter; "ich habe wohl bemerkt, daß Du Töpfe und
Kübel noch nicht abgewaschen hast; das mußt Du immer besorgen, mein
Kind, ehe Du schlafen gehst."--"Ja, das war auch nur heute."--"Komm
jetzt, ich will Dir helfen, da ich doch nun mal hier bin," fuhr Karen
fort, und schürzte sich auf. "Du mußt Dich an Ordnung gewöhnen, ob ich
Dich nun unter Augen habe oder nicht." Sie ging in die Milchkammer, und
Synnöve folgte ihr langsam. Nun nahmen sie die Gefäße herunter und
wuschen auf; die Mutter untersuchte, wie die Wirtschaft imstande sei,
fand es nicht schlecht, gab eifrig Anweisungen und half auch Synnöve
beim Ausfegen. Und damit vergingen ein oder zwei Stunden. Während der
Arbeit hatte sie der Tochter erzählt, was sie zu Hause gemacht hatten
und wie sie durch die Vorbereitungen für Vaters Reise in Anspruch
genommen war. Dann fragte sie Synnöve, ob sie auch nicht vergessen habe
jeden Abend, vor dem Schlafengehen, in Gottes Wort zu lesen. "Denn das
darf man niemals unterlassen, sonst ist es mit der Arbeit am anderen
Tage schlecht bestellt."

Als sie nun fertig waren, gingen sie hinaus und setzten sich, um auf die
Kühe zu warten; und als sie dasaßen, fragte die Mutter nach Ingrid; sie
wollte wissen, ob sie nicht bald wieder heraufkomme. Synnöve wußte nicht
mehr darüber als die Mutter. "Ja, so kann es einem Menschen ergehen",
sagte die Mutter und Synnöve begriff sofort, daß sich das nicht auf
Ingrid bezog; sie wollte gern einem weiteren Gespräch über diesen
Gegenstand vorbeugen, fand aber nicht den Mut. "Wer unseren Herrgott
nicht im Herzen trägt, der wird an ihn erinnert, wenn er's am wenigsten
erwartet", sagte die Mutter. Synnöve erwiderte kein Wort. "Ich habe
immer gesagt: aus dem Burschen wird nichts.--Ist das ein Benehmen?
Pfui!"--Sie hatten sich beide hingekauert und blickten vor sich hin;
aber keine sah die andere an. "Hast Du gehört, wie es ihm geht?" fragte
die Mutter, und warf ihr einen kurzen Blick zu. "Nein", antwortete
Synnöve.--"Es soll schlecht um ihn stehen", sagte die Mutter. Ein Druck
legte sich auf Synnöves Brust. "Ist es gefährlich?" fragte sie. "Ja, der
Messerstich in der Seite;--und dann soll er noch am ganzen Leibe
zerschlagen sein." Synnöve fühlte, wie ihr das Blut in das Gesicht
schoß; schnell drehte sie sich zur Seite, damit die Mutter es nicht
sehen sollte. "Ja, aber es hat wohl im ganzen nicht viel zu sagen?"
fragte sie so ruhig, wie sie vermochte; doch der Mutter war es
aufgefallen, daß Synnöves Atem heftig ging, und darum entgegnete sie:
"Ach nein, das wohl nicht." Da dämmerte es Synnöve auf, daß etwas sehr
Schlimmes passiert war. "Liegt er zu Bett?" fragte sie.--"Ja, natürlich.
Wie muß das seine Eltern treffen,--solch brave Leute. Gut erzogen haben
sie ihn ja auch, so daß unser Herrgott nicht mit ihnen darüber in das
Gericht gehen kann." Synnöve wurde so beklommen zumut, daß sie sich kaum
noch fassen konnte. Da fuhr die Mutter fort: "Nun zeigt es sich, wie gut
es war, daß sich niemand an ihn gebunden hat. Unser Herrgott lenkt alles
zum besten." Vor Synnöves Augen schien sich alles zu drehen; sie glaubte
vom Berg herunterzustürzen.

"Ich habe immer zu Vater gesagt: Gott schütze uns; wir haben nur die
eine Tochter, und für die müssen wir sorgen. Vater ist ja etwas weich,
so brav er sonst ist; aber da ist es gut, daß er sich dort Rat holt, wo
er ihn findet; und das ist in Gottes Wort." Als nun Synnöve noch bei all
ihrem Kummer daran denken mußte, wie liebevoll ihr Vater immer gegen sie
war, da wurde es ihr immer schwerer, die Tränen hinunterzuwürgen; aber
es nützte nichts--sie fing zu weinen an.--"Du weinst?" fragte die Mutter
und sah sie an; aber Synnöve ließ sich nicht richtig ansehen. "Ja, ich
mußte an ihn denken, an Vater, und da----", und nun strömten die
Tränen.--"Was hast Du denn nur, mein liebes Kind?"--"Ach, ich weiß
selbst nicht recht ... das ist so plötzlich über mich gekommen ...
vielleicht hat er Unglück auf der Reise", schluchzte Synnöve.--"Wie
kannst Du solchen Unsinn reden," sagte die Mutter, "warum soll nicht
alles gut abgehen?--Nach der Stadt und auf ebenen, breiten
Fahrwegen."--"Ja, denke nur ... wie es ihm gegangen ist ... dem andern",
schluchzte Synnöve.--"Ja, dem!--Aber Dein Vater fährt doch nicht wie
toll darauf los, sollt' ich meinen. Der kommt sicher ohne Unfall nach
Hause,--sofern unser Herrgott seine Hand über ihn hält."

Die Mutter machte sich über Synnöves Tränen, die gar nicht aufhören
wollten, allmählich Gedanken. "Es gibt vieles auf der Welt, das schwer
genug zu ertragen ist; aber da muß man sich damit trösten, daß noch
Schwereres hätte kommen können", meinte sie. "Der Trost ist recht
schwach", sagte Synnöve und weinte heftig. Die Mutter konnte es nicht
über das Herz bringen, ihr das zu antworten, was sie dachte; sie sagte
nur: "Unser Herrgott verhängt so manches über uns auf sichtbare
Weise,--das hat er wohl auch diesmal getan"; dann stand sie auf, denn
die Kühe brüllten schon auf dem Hang; das Geläut erklang, die Jungen
jodelten, und langsam kam der Zug heran, weil das Vieh satt und ruhig
war. Da bat die Mutter Synnöve, ihm mit ihr entgegen zu gehen; Synnöve
stand auf und folgte ihrer Mutter; aber sehr langsam.

Karen begrüßte nun eifrig die Herde;--da kam eine Kuh nach der andern;
die Kühe erkannten sie wieder und brüllten;--sie streichelte Tier für
Tier, und freute sich, daß sie sich so herausgemacht hatten. "Ja", sagte
sie, "unser Herrgott ist dem nahe, der ihm nah ist." Sie half nun die
Kühe hineinbringen; denn es wollte heut mit Synnöve gar nicht flecken;
Karen sagte weiter nichts und half ihr auch noch beim Melken, obgleich
sie nun länger oben bleiben mußte, als sie sich vorgenommen hatte. Als
dann noch die Milch durchgeseiht war, machte sie sich fertig, nach Hause
zu gehen; Synnöve wollte sie begleiten. "Nein," sagte die Mutter, "Du
bist müde, die Ruhe wird Dir gut tun." Dann ergriff sie den leeren Korb,
gab ihrer Tochter die Hand, blickte sie fest an und sagte dabei: "Ich
komme bald wieder, um zu sehen, wie es Dir geht----halt Dich zu uns und
denke nicht an andere."

Kaum war die Mutter außer Sehweite, da überlegte Synnöve, woher sie am
schnellsten einen Boten nach Granliden bekommen könne; sie rief
Thorbjörns jüngeren Bruder, um ihn hinunterzuschicken; aber als er kam,
meinte sie, daß es doch zu heikel sei, sich ihm anzuvertrauen, und
sagte: "Laß nur, Du kannst wieder gehen." Sie wollte selbst hinunter;
Gewißheit mußte sie haben; es war eine Sünde von Ingrid, daß sie ihr
gar keine Nachricht zukommen ließ. Die Nacht war hell, der Granlidener
Hof nicht so entfernt, daß sie den Weg nicht machen konnte, wenn ihr
Herz sie trieb. Während sie nun noch dasaß und darüber nachsann, faßte
sie in Gedanken alles zusammen, was ihr die Mutter gesagt hatte, und
fing wieder an zu weinen; aber jetzt zauderte sie nicht mehr, wie sie es
den ganzen Tag über getan hatte, band sich ein Tuch um und stahl sich
über einen Schleichweg hinunter, damit es die Jungen nicht merkten.

Je weiter sie kam, desto mehr eilte sie; zuletzt sprang sie den Fußsteig
hinab; dabei lösten sich kleine Steine und rollten hinunter. Sie
erschrak. Obgleich sie wußte, daß das Geräusch nur von den rollenden
Steinen kam, war es ihr doch, als befinde irgendein Wesen sich in der
Nähe; sie mußte stehen bleiben und lauschen. Es war aber nichts;
schneller sprang sie talwärts; ihr Fuß stieß nun gegen einen großen
Stein, der mit dem einen Ende aus dem Wege hervorstak, herausgedrängt
wurde und hinunterflog. Das gab ein Getöse, es prasselte in den Büschen;
ihr wurde bange, und um so mehr, als sie nun genau wahrnahm, daß etwas
unten auf dem Wege sich aufrichtete und bewegte. Zuerst glaubte sie an
ein Raubtier; sie blieb mit verhaltenem Atem stehen; die Gestalt dort
unten stand gleichfalls still. "Hoi--ho!" hörte sie rufen. Ihre Mutter!
Das erste, was Synnöve tat, war, sich schleunigst zu verstecken. Sie
wartete dann eine ganze Zeit, um sich zu vergewissern, ob die Mutter sie
auch nicht erkannt habe und zurückkomme; aber das war nicht der Fall.
Dann wartete sie noch länger, um die Mutter recht weit voraus zu lassen;
als sie sich nun wieder auf den Weg machte, ging sie vorsichtig, und
bald näherte sie sich dem Hof.

Ihr wurde wieder etwas beklommen ums Herz, als sie ihn erblickte, und
das nahm mehr und mehr zu, je näher sie kam. Der Hof lag in tiefer
Stille; die Arbeitsgeräte standen an die Wände gelehnt, Holz lag
gehauen und aufgestapelt, und die Axt war in den Hackeklotz getrieben.
Sie ging vorbei und hin bis zur Tür; dort machte sie noch einmal Halt,
sah sich um und lauschte; nichts rührte sich. Und als sie noch dastand
und sich überlegte, ob sie in die Bodenkammer zu Ingrid hinaufgehen
solle oder nicht, da mußte sie daran denken, daß in ebensolcher Nacht
Thorbjörn vor einigen Jahren in Solbakken gewesen war und ihr die Blumen
eingepflanzt hatte. Hastig zog sie die Schuhe aus und schlich die Treppe
hinauf.

Ingrid bekam einen großen Schreck, als sie erwachte und sah, daß es
Synnöve war, die sie geweckt hatte.--"Wie geht es ihm?" flüsterte
Synnöve. Da wurde Ingrid ganz wach, erinnerte sich an alles und wollte
sich erst anziehen, um nicht sofort antworten zu müssen. Aber Synnöve
setzte sich auf die Bettkante, bat liegen zu bleiben und wiederholte
ihre Frage.

"Jetzt geht's besser," antwortete Ingrid im Flüsterton, "ich komme bald
nach oben zu Dir."--"Liebe Ingrid, Du mußt mir nichts verhehlen; Du
kannst mir nichts so Schlimmes erzählen, das ich mir nicht schon
schlimmer vorgestellt habe." Ingrid versuchte noch sie zu schonen; aber
die Furcht ihrer Freundin zwang ihr die Worte heraus und ließ keine Zeit
zu Ausflüchten. Geflüsterte Fragen, geflüsterte Antworten; die tiefe
Stille ringsumher machte beides noch ernster; die Zeit der Unterredung
wurde zu einer feierlichen, zu einer Weihestunde, in der man auch der
herbsten Wirklichkeit gerade in das Auge zu sehen wagt. Doch beide waren
überzeugt, daß Thorbjörns Schuld diesmal gering war, und daß er nichts
begangen hatte, das sich zwischen ihn und ihr Mitgefühl stellen konnte.
Da weinten sich beide frei aus, aber leise,--und Synnöve weinte am
stärksten; sie saß ganz zusammengekauert auf der Bettkante. Ingrid
suchte sie durch Erinnerungen aufzuheitern: wie froh und vergnügt waren
sie alle drei so manchesmal gewesen! Aber nun passierte es wie so oft,
daß jede winzige Erinnerung an Tage voll Sonnenschein in Kummer und
Tränen zerrann.

"Hat er nach mir gefragt?" flüsterte Synnöve.--"Er hat fast gar nicht
gesprochen."--Plötzlich erinnerte sich Ingrid des Zettels, und das fiel
ihr arg auf die Seele.--"Fällt's ihm zu schwer, zu sprechen?"--"Das weiß
ich nicht--er denkt wohl desto mehr."--"Liest er in der Bibel?"--"Mutter
liest ihm vor; jetzt muß sie es alle Tage tun."--"Was sagt er
dann?"--"Er spricht fast gar nicht, hab' ich Dir ja gesagt; er liegt
still da und sieht vor sich hin."--"Liegt er in der bunten
Stube?"--"Ja."--"Mit dem Kopf zum Fenster?"--"Ja." Sie blieben eine
Weile stumm; dann sagte Ingrid: "Das kleine Sankthans-Spiel, das Du ihm
geschenkt hast, hängt am Fenster und dreht sich."

"Jetzt ist mir alles ganz gleich," sagte Synnöve plötzlich und
entschieden; "nichts auf der Welt soll mich von ihm trennen; es mag
kommen, wie es will." Ingrid war sehr befangen. "Der Doktor weiß noch
nicht, ob er wieder ganz gesund wird", flüsterte sie.

Da hob Synnöve ihren Kopf und sah Ingrid mit verhaltenem Weinen und
stumm an; dann ließ sie ihn wieder sinken und saß in tiefen Gedanken da;
die letzten Tränen rannen über ihr Gesicht; es folgten keine mehr, sie
faltete die Hände, verharrte aber sonst regungslos; sie schien einen
großen Entschluß zu fassen. Mit einemmal stand sie auf, lächelte, beugte
sich über Ingrid und gab ihr einen langen, heißen Kuß. "Bleibt er siech,
so werde ich ihn pflegen. Jetzt rede ich mit meinen Eltern."

Das rührte Ingrid tief, aber bevor sie sprechen konnte, fühlte sie, wie
ihre Hand erfaßt wurde: "Leb' wohl, Ingrid, ich gehe nun wieder allein
zurück."--Und Synnöve wandte sich schnell der Tür zu.

"Der Zettel!" flüsterte Ingrid ihr nach.--"Was für ein Zettel?" fragte
Synnöve. Ingrid war schon aufgestanden, suchte ihn hervor und brachte
ihn der Freundin; aber während sie ihn mit der linken Hand ihr unter
das Brusttuch schob, umschlang sie den Hals Synnöves mit der rechten,
gab ihr den Kuß wieder, und ihre großen warmen Tränen fielen auf das
Gesicht der Wartenden. Dann drängte Ingrid sie sanft hinaus und schloß
die Tür; sie hatte nicht den Mut, das weitere zu sehen.

Synnöve ging langsam die Treppen hinunter, aber da sie zu sehr mit ihren
Gedanken beschäftigt war, machte sie unvorsichtigerweise ein lautes
Geräusch dabei, erschrak, lief durch den Flur, griff nach ihren Schuhen
und eilte, den Zettel in der Hand, an den Häusern vorbei, über den
Hofraum und direkt zum Gitter; dort blieb sie stehen, begann den Hang
hinan zu steigen schnell und schneller, denn ihr Blut war in Wallung
geraten. So schritt sie aus, sang leise vor sich hin, lief immer
ungestümer, bis sie zuletzt müde war und sich hinsetzen mußte. Da
erinnerte sie sich des Zettels.----

Als die Schäferhunde am nächsten Morgen laut wurden, die Hirtenjungen
erwachten und die Kühe gemolken und dann herausgelassen werden sollten,
war Synnöve noch nicht zurück.

Als die Jungen sich darüber wunderten und einander fragten, wo sie wohl
sein könne, und entdeckten, daß sie nachts gar nicht in ihrem Bett
gewesen war,--da kam Synnöve. Sie war sehr bleich und still. Ohne ein
Wort zu reden, schickte sie sich an, das Frühstück für die Jungen zu
bereiten, legte ihnen den Vorrat zurecht, den sie für den Tag mitnehmen
sollten, und half später beim Melken.

Der Nebel drückte noch auf die niedriger liegenden Hänge, der Tau
glitzerte vom Heidekraut über die braunrote Felsfläche; es war etwas
kalt, und wenn der Hund bellte, erklang ringsherum Antwort. Die Herde
wurde hinausgelassen; die Kühe brüllten in die frische Luft und Tier auf
Tier zog den Viehsteig hinab; aber dort saß schon der Hund, erwartete
sie und hielt sie solange zurück, bis alle zur Stelle waren; dann ließ
er sie weiter ziehen; die Herdenschellen läuteten über die Hänge, der
Hund kläffte, so daß es widerhallte, und die Jungen wetteiferten im
Jodeln. Aus all diesem Wirrwarr von Tönen ging Synnöve fort und hin zu
dem Platz, wo sie und Ingrid früher immer gesessen hatten. Sie weinte
nicht, sondern saß still da, blickte starr vor sich hin und verspürte
nur ab und zu etwas von dem vergnüglichen Lärm, der sich weit und weiter
entfernte und mit der größeren Entfernung besser ineinanderfloß. Dabei
fing sie an leise zu singen, dann immer lauter und zuletzt sang sie mit
klarer voller Stimme ein Lied, das sie nach einem anderen, ihr aus der
Kinderzeit bekannten, umgedichtet hatte:

    Hab Dank für alles, was da geschehn,
    Seit wir als Kinder im Walde spielten.
    Ich dachte, das Spiel sollte weiter gehn,
    Bis wir am Himmelstor hielten.

    Ich dachte das Spiel sollte weitergehn
    Von dort, wo die Birken uns Obdach boten,
    Bis hin, wo die Solbakkenhäuser stehn
    Und zu dem Kirchlein, dem roten.

    Ich harrte so manchen Abend hell
    Und ließ den Blick an den Tannen hangen;
    Doch Schatten warf das dunkelnde Fjell,
    Und Du, Du kamst nicht gegangen.

    Ich harrte, harrte------die Welt entschlief.
    Ich lauschte, spähte, wieder und wieder,
    Doch die Leuchte schwelte und brannte tief
    Und die Sonne ging auf--und ging nieder.

    Die armen Augen spähten zu viel,
    Sie taten nur immer nach einem schauen,
    Nun wissen sie längst kein ander Ziel,
    Und brennen unter den Brauen.

    Sie sagen, mir könnte viel Trost geschehen
    Im Kirchlein hinter der Fagerleite;
    Doch bittet mich nicht dorthin zu gehen!
    Er säße mir dort zur Seite.

    Doch gut, so weiß ich doch, wer es war,
    Der die Höfe tat geneinander legen
    Und junge Augen schuf warm und klar
    Und Wälder durchzog mit Wegen.

    Doch gut, so weiß ich doch, wer es war,
    Der jene Kirche dort schuf zum Beten
    Und machte, daß sie dort Paar um Paar
    Vor seinen Altar treten.



Siebentes Kapitel


Gute Zeit darauf saßen Guttorm und Karen in der großen, hellen Stube in
Solbakken zusammen und lasen sich aus neuen Büchern vor, die sie aus der
Stadt bekommen hatten. Vormittags waren sie in der Kirche gewesen; denn
es war Sonntag,--dann hatten sie einen kleinen Rundgang durch die Felder
gemacht, um zu sehen, wie Saaten und Früchte standen, und um zu
überlegen, was Acker und was Brache im nächsten Jahr werden solle. So
waren sie langsam von einem Stück Land zum andern gewandert, und sie
fanden, daß in ihrer Zeit das Gut sich recht gehoben habe. "Gott weiß,
was einmal draus wird, wenn wir nicht mehr sind", hatte Karen gesagt;
darauf hatte Guttorm sie aufgefordert, mit ihm nach Hause zu gehen, um
in den neuen Büchern zu lesen: "Denn man tut gut, sich Gedanken, wie Du
sie ausgesprochen hast, fernzuhalten."

Nun hatten sie ein Buch beendet, und Karen war der Ansicht, daß die
alten besser seien: "Die neuen sind ja nur aus den alten
abgeschrieben."--"Daran mag etwas Wahres sein; Sämund hat heut in der
Kirche zu mir gesagt, daß die Kinder auch nur wieder wie die Eltern
sind."--"Ja, Du und Sämund, Ihr habt lange genug heute miteinander
geredet."--"Sämund ist ein verständiger Mann."--"Aber ich fürchte, er
ist wenig unserm Herrn und Heiland ergeben."--Hierauf antwortete
Guttorm nichts.----"Wo mag denn Synnöve jetzt sein?" fragte die
Mutter.--"Oben in ihrer Kammer", antwortete er.--"Du hast ja selbst
vorhin bei ihr gesessen; wie war sie denn?"--"Ach--"--"Du solltest sie
nicht soviel allein lassen."--"Da kam jemand."--Die Frau blieb einen
Augenblick still.--"Wer war's?"--"Ingrid Granliden."--"Ich dachte, sie
ist noch auf der Alm."--"Sie ist heute nach Hause gekommen, weil ihre
Mutter in die Kirche wollte."--"Ja, die hat sich ja auch heute dort mal
sehen lassen."--"Sie hat viel zu tun."--"Das haben andre auch, aber
wohin es einen zieht, dahin kommt er doch."--Guttorm antwortete nicht.
Nach einer Weile sagte Karen: "Außer Ingrid waren heute alle Granlidener
in der Kirche."--"Ja, wohl, um Thorbjörn wieder zum erstenmal
hinzubegleiten."--"Er sah schlecht aus."--"Nicht besser, als zu erwarten
war. Ich habe mich gewundert, daß er sich schon soweit erholt
hat."--"Ja, er hat sich mit seiner Torheit viel zugezogen."--Guttorm
blickte vor sich hin: "Er ist doch noch jung."--"Es ist kein fester Kern
in ihm, kein Verlaß."

Guttorm hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, drehte ein Buch in
der Hand, öffnete es, tat, als wenn er darin lese, und ließ die Worte
dabei fallen: "Er soll bestimmt wieder ganz gesund werden."--Die Mutter
nahm auch ein Buch zur Hand: "Das wäre dem hübschen Burschen wirklich zu
wünschen," sagte sie; "unser Herrgott stehe ihm bei, daß er dann bessern
Gebrauch davon macht."--Nun lasen alle beide, dann sprach Guttorm beim
Umblättern: "Er hat sie heut den ganzen Tag nicht angesehen."--"Ja, das
hab' ich auch bemerkt; er blieb still auf seinem Platz, bis sie fort
war." Eine Weile darauf äußerte Guttorm: "Glaubst Du, daß er sie
vergessen wird?"--"Das wäre jedenfalls das Beste."

Guttorm las weiter, seine Frau blätterte.

"Es ist mir weiter nicht angenehm, daß Ingrid immer bei ihr sitzt",
sagte sie.--"Synnöve hat ja fast keine Menschenseele, mit der sie reden
kann."--"Sie hat uns."--Da blickte Vater Guttorm sie an: "Wir wollen
doch nicht zu streng sein." Seine Frau schwieg; nach einer Weile
erwiderte sie: "Ich habe es ja auch nicht verboten." Der Vater legte das
Buch fort, stand auf und sah aus dem Fenster. "Dort geht Ingrid", sagte
er. Kaum hatte die Mutter das gehört, so stand sie gleichfalls auf und
lief schnell aus der Stube. Der Vater blieb noch lange am Fenster, dann
drehte er sich um und ging auf und ab; bald kam Karen wieder und stellte
sich vor ihn hin: "Ja, das hab' ich mir gleich gedacht", sagte sie,
"Synnöve sitzt oben und weint; aber sowie ich komme, dann kramt sie
unten in ihrer Truhe"; und sie fuhr fort und schüttelte den Kopf: "Nein,
es tut nicht gut, daß Ingrid bei ihr sitzt."--Dann machte sie sich mit
dem Abendessen zu schaffen und ging häufig durch die Tür aus und ein.
Einmal, als sie gerade draußen war, kam Synnöve still und mit etwas
geröteten Augen in die Stube; sie schlüpfte leicht an ihrem Vater, dem
sie in das Gesicht sah, vorüber und hin zum Tisch, setzte sich und nahm
ein Buch vor. Nach einem Weilchen legte sie es wieder fort und fragte
ihre Mutter, ob sie ihr helfen könne. "Ja, das tu nur," antwortete
Karen, "Arbeit ist für alles gut."

Synnöve übernahm den Tisch zu decken; der stand unweit vom Fenster. Der
Vater, der bisher auf- und abgegangen war, kam nun dorthin und sah
hinaus. "Die Gerste, die der Regen 'runtergedrückt hat, kommt, glaub'
ich, wieder hoch", sagte er. Da stellte sich Synnöve neben ihn und sah
mit hinaus. Er wandte sich zu ihr,--seine Frau war gerade in der
Stube--und so strich er nur mit der einen Hand über Synnöves Hinterkopf;
dann nahm er seinen Gang wieder auf.

Sie aßen; aber in tiefer Stille; die Mutter sprach an diesem Tage das
Gebet sowohl vor wie nach Tisch; und als alle aufgestanden waren,
wünschte sie, sie sollten nun in der Bibel lesen und zusammen singen:
"Gottes Wort gibt Frieden, und das ist doch im Hause der größte Segen."
Dabei sah sie Synnöve an, die mit niedergeschlagenen Augen dastand.
"Jetzt will ich Euch eine Geschichte erzählen," sprach die Mutter
weiter, "von der jedes Wort wahr ist, und ganz gut für den, der darüber
nachdenken will."----

Und sie erzählte: "In meiner Jugend lebte in Houg ein Mädchen, die
Enkeltochter eines alten, schriftgelehrten Amtmanns. Er hatte sie, als
sie ganz jung war, zu sich genommen, um in seinem Alter Freude an ihr zu
haben, und so lernte sie natürlich Gottes Wort und gutes Benehmen und
Sitte. Sie faßte schnell auf, kam gut vorwärts und überholte im Lauf der
Zeit uns alle; sie konnte schreiben, konnte rechnen, konnte ihre
Schulbücher und fünfundzwanzig Kapitel der Bibel auswendig, als sie
fünfzehn Jahr alt war; dessen erinnere ich mich, als wenn es heute wäre.
Sie hielt mehr vom Lernen als vom Tanzen, und war darum selten bei
lauten Festlichkeiten, doch häufiger oben in ihres Großvaters Stube bei
den vielen Büchern zu sehen. Jedesmal, wenn wir mit ihr zusammenkamen,
stand sie da, als wenn sie mit ihren Gedanken gar nicht zu uns gehörte,
und wir sagten uns: 'Wenn wir doch nur so klug wären, wie Karen Hougen!'
Sie sollte den Alten später beerben, und viele gute Burschen boten sich
an, mit ihr mal auf Teilung zu gehen; aber alle bekamen Körbe. Zur
selben Zeit kam der Pastorssohn aus dem Seminar nach Hause; er hatte
dort nicht gut getan, immer nur Sinn für wilde Streiche gehabt und mehr
böse Geschichten wie gute im Kopf; jetzt trank er sogar. 'Nimm Dich vor
ihm in acht', sagte der Großvater, 'ich bin viel mit den Vornehmen
zusammen gewesen, und nach meiner Erfahrung ist ihnen weniger zu trauen
als den Bauern.'--Karen hörte immer mehr auf ihn als auf alle
andern--und als sie später den Pastorssohn traf, ging sie ihm aus dem
Wege; denn er hatte es auf sie abgesehen. Nirgends konnte sie mehr hin,
ohne ihm zu begegnen. 'Geh weg,' sagte sie, 'es hilft Dir doch nichts.'
Aber er lief ihr immer wieder nach, und so geschah es, daß sie zuletzt
doch mal stillstehn und ihn anhören mußte. Hübsch genug war er; als er
aber zu ihr sagte, daß er nicht ohne sie leben könne, da trieb er sie
damit weg. Nun lauerte er ihr auf; fortwährend umkreiste er ihr Haus,
aber sie kam nicht vor die Tür; nachts stand er unter ihrem Fenster;
aber sie ließ sich nicht blicken; er sagte, er werde sich ein Leid
antun; aber Karen wußte, was sie wußte. Da fing er wieder an, mehr zu
trinken.--'Nimm Dich in acht,' sagte der Alte, 'das ist alles
Teufelslist.'

Eines Tages, als Karen in ihrer Stube war, stand plötzlich, ohne daß
man wußte, wie er hereingekommen war, der Pastorssohn vor ihr. 'Jetzt
töte ich Dich', sagte er. 'Ja, wenn Du Dich getraust!' antwortete sie.
Da fing er zu weinen an und sagte, daß es in ihrer Macht stehe, einen
ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. 'Kannst Du ein halbes Jahr das
Trinken lassen?' sagte sie. Und er ließ es ein halbes Jahr. 'Glaubst Du
mir jetzt?' fragte er. 'Nicht bis Du Dich ein halbes Jahr allen lauten
Vergnügungen fern gehalten hast.' Das tat er. 'Glaubst Du mir jetzt?'
fragte er. 'Nicht, wenn Du jetzt nicht fortreist und Dein Examen
machst.' Auch das tat er, und nach einem Jahr kam er als richtiger
Pastor zurück. 'Glaubst Du mir jetzt?' fragte er und hatte noch dabei
Pastorenmantel und Kragen angelegt. Jetzt will ich Dich ein paarmal
Gottes Wort verkündigen hören.'

Und das tat er klar und rein, wie es einem Pastor ziemt; er redete
über seine eigene Niedrigkeit, und wie leicht der Sieg sei, wenn man
ernstlich kämpfe, und von der Bedeutung der Worte Gottes, wenn man erst
hin zu ihnen gefunden habe. Dann ging er wieder zu Karen. 'Ja, jetzt
glaube ich, daß Du nach der wahren Erkenntnis lebst,' sagte Karen, 'und
nun will ich Dir erzählen, daß ich schon drei Jahre mit meinem Vetter
Andreas Hougen verlobt bin, und am nächsten Sonntag sollst Du uns in der
Kirche aufbieten.'----"

Damit schloß die Mutter. Synnöve hatte anfangs gar nicht auf die
Geschichte geachtet; dann aber stärker und stärker und zuletzt hing sie
förmlich an jedem Wort. "Folgt nichts weiter?" fragte sie sehr bange.
"Nein," antwortete die Mutter. Der Vater sah die Mutter an; da blickte
die Mutter etwas unsicher zur Seite, dann sagte sie nach kurzem
Nachdenken, und fuhr dabei mit den Fingern über die Tischplatte: "Es mag
wohl noch etwas folgen;----aber das ist ja gleich."--"Folgt noch etwas?"
fragte Synnöve und wandte sich zu ihrem Vater, der ihr davon zu wissen
schien.--"Oh--ja; aber wie Mutter sagt: das ist ja gleich."--"Wie erging
es ihm?" fragte Synnöve. "Ja, darum handelt sich's ja gerade",
antwortete der Vater und sah die Mutter an; die hatte sich mit ihren
Schultern an die Wand gelehnt und sah beide an.--"Wurde er unglücklich?"
fragte Synnöve leise. "Wir machen den Schluß dort, wo er gemacht werden
soll", sagte die Mutter und stand auf; der Vater ebenfalls; Synnöve
etwas später.



Achtes Kapitel


Wieder vergingen einige Wochen, da schickte sich eines Morgens zu früher
Stunde alles in Solbakken zum Kirchgang an; es sollte heute Konfirmation
sein,--in diesem Jahre etwas zeitiger als gewöhnlich,--und wie immer bei
solcher Gelegenheit wurden die Häuser zugeschlossen; denn alle gingen
mit. Fahren wollten sie nicht; das Wetter war klar, wenn auch in der
Frühe etwas winterlich kalt und rauh; der Tag schien recht schön zu
werden. Der Weg zog sich rund um das Kirchspiel und an Granliden vorbei,
ließ den Hof links in kurzer Entfernung liegen und erreichte nach einer
Viertelmeile die Kirche. Das meiste Korn war schon geschnitten und in
Haufen geschichtet; die meisten Kühe waren von der Alm getrieben und
gingen kauend an Stricken auf Stoppeln und Gras; die Felder hatten sich
zum zweitenmal begrünt oder schimmerten weißgrau; ringsherum dehnte
sich der Wald in seiner Farbenbuntheit; die Birke schon kahler, die Espe
blaßgoldig, die Eberesche mit vertrockneten, runzligen Blättern, doch
voll roter Beeren. Es hatte einige Tage stark geregnet; das niedre
Gestrüpp, das sich an den Wegkanten hoch arbeitete oder im Wegsande
stand und nieste, erschien reingewaschen und frisch. Aber die Felsen
fingen an sich schwerer über das Land zu neigen, je ärger sie der
beutegierige Herbst entkleidete und ihnen ein ernstes Aussehen gab;
wogegen die Felsbäche, die im Sommer manchmal nur ein Scheindasein
führten, sich wild tummelten und mit großem Lärm herunterfuhren;
besonders wuchtig und prasselnd tat das der Granlidener, und namentlich
unten im Geröll, wo der Fels nicht länger mit wollte, sondern sich nach
innen zurückzog. Dort nahm der Bach auf dem Gestein einen tüchtigen
Anlauf und sprang mit derartigem Jauchzen herunter, daß der Fels
erbebte. Gewaschen wurde der für seine Verräterei, denn der Wasserfall
schickte ihm seine kribblichsten Strahlen gerade ins Gesicht. Einige
neugierige Eisenbüsche, die sich dem Abhang genähert hatten und beinahe
fortgeschwemmt wären, schlucksten jetzt krampfhaft im Wassersbade, denn
der Gießbach war heut nicht eben sparsam.

Thorbjörn ging mit seinen Eltern, seinen beiden Geschwistern und den
übrigen Hausleuten gerade daran vorbei und sah es sich mit ihnen an; er
war wieder ganz zu Kräften gekommen und hatte sich schon ebenso tüchtig
wie früher an der Arbeit seines Vaters beteiligt; die zwei waren fast
unzertrennlich; so auch heut.--"Ich glaube, hinter uns kommen die
Solbakkener", sagte der Vater. Thorbjörn blickte sich nicht um; aber die
Mutter setzte hinzu: "Jawohl, das sind sie;----aber ich sehe
nicht------sie sind ja auch noch so weit." Entweder gingen nun die
Granlidener schneller, oder die Solbakkener langsamer, denn der Abstand
wurde immer größer und größer; zuletzt verloren sie sich ganz aus den
Augen. Es schienen heut viele Menschen zur Kirche zu wollen; der lange
Weg war ganz schwarz von Fußgängern, Fahrenden und Reitern; die Pferde
waren jetzt im Herbst mutig und wenig daran gewöhnt, mit anderen
zusammen zu sein; sie wieherten unaufhörlich, und es steckte eine Unruhe
in ihnen, die das Fahren gefährlich, aber sehr vergnüglich machte.

Je mehr sie sich der Kirche näherten, desto größeren Lärm machten die
Pferde; jedes, das ankam, wieherte zu den schon dort stehenden hinüber;
und diese zerrten am Halfter, trampelten mit den Hinterbeinen und
antworteten den Ankömmlingen. Alle Hunde aus dem Kirchspiel, die in der
Woche aus weiter Ferne auf einander gelauscht, sich gereizt und
angekläfft hatten, trafen sich jetzt vor der Kirche und stürzten sich
paarweise oder rudelweise Hals über Kopf auf die Felder zu einer
gehörigen Balgerei. Die Menschen standen längs der Kirchenmauer und den
Häusern, führten Gespräche im Flüsterton und sahen sich nur von der
Seite an. Der Weg vor der Mauer war nicht breit, die Häuser lagen unweit
von ihr auf der Seite gegenüber; und gern standen die Frauen und Mädchen
an der Mauer, die Männer und Burschen vor den Häusern. Erst später
fanden sie den Mut, zueinander hinüberzugehen. Sahen sich Bekannte auf
geringen Abstand, dann taten sie, als sähen sie sich nicht, bis nach
altem Brauch die Zeit gekommen war;--es konnte ja passieren, daß ein
Ausweichen nicht möglich gewesen, daß sie sich begrüßen mußten; aber
dann geschah es mit halb abgewandtem Gesicht und knappen Worten; worauf
sich beide Teile mit Vorliebe nach ihren verschiedenen Richtungen
zurückzogen. Als die Granlidener herankamen, wurde es fast noch stiller
wie bisher; Sämund hatte nicht viele zu begrüßen, und so ging es schnell
durch die Reihen; aber die Frauen blieben gleich bei den Vordersten
stehen. Deshalb mußten die Männer, als sie zur Kirche wollten, erst
wieder den Weg zurück und zu den Frauen hinüber; in demselben Augenblick
fuhren drei Wagen hintereinander, schärfer als alle früher gekommenen,
heran und verlangsamten nicht einmal ihre und Fahrt, als sie in die
Menge einbogen. Sämund und Thorbjörn, die beinahe überfahren wurden,
blickten zu gleicher Zeit auf; im ersten Wagen saßen Knud Nordhoug und
ein alter Mann; im zweiten seine Schwester und ihr Mann; im dritten die
Eltern, die sich des Hofes begeben hatten. Vater und Sohn sahen sich an.
In Sämunds Gesicht veränderte sich kein Zug; Thorbjörn wurde ganz blaß;
schnell blickten beide wieder weg und geradeaus; dabei wurden sie die
Solbakkener gewahr, die direkt vor ihnen Halt gemacht hatten, um
Ingebjörg und Ingrid zu begrüßen. Die Ankunft der Wagen hatte ihr
Gespräch abgeschnitten, sie verfolgten mit den Augen die Fahrenden, und
es verging eine Weile, bis sie von ihnen ablassen konnten. Als sie
allmählich die Überraschung verschmerzt hatten und nach einem Übergang
suchten, stießen ihre Blicke auf Sämund und Thorbjörn, die dastanden und
hinstarrten. Guttorm drehte sich um; aber seine Frau richtete sofort
ihre Augen auf Thorbjörn; Synnöve, die fühlte, daß er sie ansah, wendete
sich Ingrid zu und nahm sie bei der Hand, um sie zu begrüßen, obgleich
sie es schon einmal getan hatte. Aber alle merkten zu gleicher Zeit, daß
ihre Dienstboten und ihre Bekannten ohne Ausnahme sie beobachteten, und
nun schritt Sämund direkt hinüber und gab Guttorm mit abgewandtem
Gesicht die Hand: "Dank für das vorige Mal!"--"Dir selber Dank für das
vorige Mal."--Ebenso sagte seine Frau: "Dank für das vorige Mal!"--"Dir
selber Dank für das vorige Mal"; aber sie blickte gar nicht dabei auf.
Thorbjörn ging seinem Vater nach und tat wie er; Sämund kam zu Synnöve;
sie war die erste, die er ansah; sie sah auch ihn an, vergaß aber dabei
zu sagen: "Dank für das vorige Mal"; nun kam Thorbjörn; er sagte nichts;
sie sagte nichts; sie gaben sich die Hand; aber nur ganz lose; keins von
beiden schlug die Augen auf, keins konnte den Fuß von der Stelle
bewegen.--"Das wird sicher prächtiges Wetter heut", sagte Karen
Solbakken und behielt rastlos die beiden im Auge. Sämund war der erste,
der ihr antwortete: "Jawohl, der Wind treibt die Regenwolken weg."--"Das
ist gut fürs Getreide, das noch draußen steht und trockenes Wetter
braucht", sagte Ingrid Granliden und fing an mit den Fingern auf Sämunds
Rock herumzubürsten, vermutlich, weil sie glaubte, daß er staubig
sei.--"Unser Herrgott hat uns ein gutes Jahr beschert; aber ob alles
richtig unter Dach kommt, das ist noch ungewiß", sagte Karen Solbakken
wieder und sah beständig auf die beiden, die noch immer regungslos
dastanden. "Das kommt auf die Zahl der Arbeitskräfte an", sagte Sämund
und stellte sich vor sie hin, daß sie nicht dorthin sehen konnte, wohin
sie gern wollte, "ich habe mir gedacht, wenn sich ein paar Höfe
zusammentäten, würd' es besser gehen."--"Sie wollen aber vielleicht das
trockene Wetter zu derselben Zeit ausnutzen", sagte Karen und trat einen
Schritt zur Seite.--"Na ja," sagte Ingebjörg und stellte sich neben
ihren Mann, so daß Karen gar nicht dorthin sehen konnte, wohin sie gern
wollte; "aber auf manchen Feldern ist das Korn früher reif als auf
anderen; Solbakken ist uns oft vierzehn Tage voraus."--"Da könnten wir
einander ja gut aushelfen", sagte Guttorm langsam, und näherte sich
einen Schritt. Karen warf ihm einen schnellen Blick zu.--"Es könnte
jedoch auch vielerlei dazwischen kommen", fügte er hinzu.--"So ist es",
sagte Karen und machte einen Schritt nach der einen, dann einen Schritt
nach der anderen Seite, dann noch einen und endlich einen zurück.--"Ja,
oft steht einem vielerlei im Wege", sagte Guttorm nicht ohne seinen Mund
ein klein wenig zum Lachen zu verziehen.--"Wenn das so ist...", sagte
Guttorm; aber seine Frau warf schnell dazwischen: "Menschenkraft reicht
nicht weit; Gottes Kraft ist die größte, sollte ich glauben, und auf ihn
kommt es an."--"Er wird wohl nichts besonderes einzuwenden haben, wenn
wir uns in Solbakken und Granliden bei der Ernte helfen?" sagte Sämund.
"Nein," versetzte Guttorm, "dagegen kann er nichts einwenden"; und er
blickte ernst seine Frau an. Die suchte dem Gespräch eine andere Wendung
zu geben. "Heut ist lebhafter Kirchgang," sagte sie; "es tut einem wohl,
die Menschen zu sehen, die zum Gotteshause streben." Keiner schien ihr
antworten zu wollen,--da sprach Guttorm: "Ich glaube wohl, die
Gottesfurcht nimmt zu; jetzt kommen mehr in die Kirche als in der Zeit,
da ich jung war."--"Ja, ja,--das Volk vermehrt sich", sagte Sämund.--"Es
sind wohl viele darunter--vielleicht der größte Teil,--die nur die
Gewohnheit hertreibt", erwiderte Karen Solbakken.--"Vielleicht die
jüngeren", sagte Ingebjörg; und Sämund darauf: "Die wollen sich wohl
gern hier treffen."--"Habt Ihr gehört, daß sich der Pastor um eine
andere Pfarre beworben hat?" sagte Karen und suchte dem Gespräch
abermals eine Wendung zu geben. "Das wäre schlimm," versetzte Ingebjörg,
"er hat alle meine Kinder getauft und auch konfirmiert."--"Nun soll er
sie wohl auch noch erst trauen?" fragte Sämund und biß auf einen Span,
den er gefunden hatte.--"Ich wundere mich,--der Gottesdienst muß doch
bald anfangen", sagte Karen und sah nach der Kirchentür.--"Ja, hier
draußen ist es heut heiß", antwortete Sämund.--"Komm, Synnöve, wir
wollen jetzt hineingehen."--Synnöve fuhr zusammen; denn sie hatte gerade
mit Thorbjörn gesprochen.--"Willst Du nicht warten, bis es läutet?"
sagte Ingrid und schielte verstohlen nach Synnöve; "dann können wir alle
zusammengehen", setzte sie zu. Synnöve wußte nicht, was sie antworten
sollte. Sämund drehte sich um und sah sie an. "Wart's ab, dann läutet es
bald--für Dich", sagte er. Synnöve wurde ganz rot; ihre Mutter sandte
Sämund einen bösen Blick; aber der lächelte ihr zu: "Das wird so, wie
unser Herrgott will; hast Du das nicht vorhin selbst gesagt?"--Und dann
schlenderte er voraus, auf die Kirche zu; die anderen folgten ihm.

Vor der Kirchentür entstand ein Gedränge und bei näherer Untersuchung
fand es sich, daß sie noch gar nicht offen war. Gerade als einige
fortgingen, um nach dem Grund zu fragen, wurde sie aufgemacht, und die
Menschen strömten hinein; aber etliche gingen wieder zurück, wodurch die
Herankommenden voneinander getrennt wurden. Oben an der äußeren Wand der
Kirche standen zwei Männer im Gespräch; der eine von ihnen,--groß und
derb, mit blondem, aber struppigem Haar und einer Stumpfnase,--das war
Knud Nordhoug; als er die Granlidener unweit vor sich sah, brach er das
Gespräch ab; es wurde ihm etwas wunderlich zumut,--aber er blieb stehen.
Sämund mußte gerade an ihm vorbei, und tat's nicht, ohne ihm einige
Blicke zuzuwerfen; Knud schlug die Augen nicht nieder; aber sie
flackerten doch etwas. Dann kam Synnöve; und sobald sie unerwartet Knud
vor sich sah, wurde sie leichenblaß. Da schlug Knud die Augen nieder und
trat von der Wand zurück, um fortzugehen. Er hatte kaum ein paar
Schritte gemacht, da sah er vier Gesichter, deren Augen auf ihn
gerichtet waren; Guttorm und seine Frau, Ingrid und Thorbjörn. Verwirrt
wie er war, ging er direkt auf sie zu, so daß er bald wider Wissen und
Willen fast Kopf an Kopf mit Thorbjörn stand; erst schien er sich
beiseite drücken zu wollen; aber der Menschen wegen, die kamen und
gingen, machte sich das nicht so leicht. Ihre Begegnung erfolgte gerade
auf den Steinfließen vor dem Kircheneingang; oben auf der Schwelle der
Vorhalle war Synnöve stehen geblieben; Sämund etwas hinter ihr; sie
konnten von ihrem höheren Platz aus deutlich von allen draußen gesehen
werden und alle sehen. Für Synnöve war alles andere versunken; sie
starrte nur auf Thorbjörn; ebenso Sämund, seine Frau, das Ehepaar aus
Solbakken und Ingrid. Das merkte und fühlte Thorbjörn; er stand wie
festgenagelt; aber Knud dachte, daß er jetzt etwas tun müsse, und darum
streckte er die eine Hand etwas vor, aber er sagte nichts. Auch
Thorbjörn streckte eine Hand vor; aber nicht soweit, daß sich die Hände
beider fassen konnten. "Dank für..." fing Knud an, besann sich jedoch
schnell, daß dieser Gruß nicht recht hierher paßte, und trat einen
Schritt zurück. Thorbjörn sah hoch, sein Blick traf Synnöve, die weiß
wie Schnee war. Er tat einen tüchtigen Schritt vorwärts, ergriff kräftig
Knuds Hand und sagte, sodaß es die Nächsten hören konnten: "Dank für das
vorige Mal--das kann uns beiden eine gute Lehre gewesen sein."

Knud gab einen Laut, ungefähr wie einen Schluckser, von sich und
versuchte zwei- oder dreimal etwas zu sagen; aber es gelang ihm nicht.
Thorbjörn hatte nichts mehr zu sagen und wartete--er sah nicht auf; er
wartete nur. So fiel kein Wort mehr zwischen beiden, doch wie Thorbjörn
noch immer dastand und dabei sein Gesangbuch in den Händen herumdrehte,
fiel es zur Erde. Sofort bückte sich Knud, hob es auf und reichte es
ihm. "Ich danke Dir", sagte Thorbjörn, der sich gleichfalls gebückt
hatte; er blickte auf, aber da Knud wieder zu Boden schaute, dachte
Thorbjörn: das beste ist, ich gehe jetzt. Und dann ging er.

Die anderen gingen ebenfalls, und als sich Thorbjörn hingesetzt hatte
und eine Weile darauf zu den Frauen hinübersah, traf sein Blick
Ingebjörg, die ihm mütterlich zulächelte, und Karen Solbakken, die
sicher darauf gewartet hatte, er möge hinübersehen; denn sobald er sie
ansah, nickte sie ihm dreimal zu; und als ihn dies stutzig machte,
nickte sie wieder dreimal, und noch freundlicher als zuvor.--Vater
Sämund flüsterte ihm in das Ohr: "Das habe ich mir gleich gedacht." Das
Einleitungsgebet war gesprochen, das erste Lied aus dem Gesangbuch
gesungen, schon stellten sich die Konfirmanden auf, da erst flüsterte
Sämund wieder: "Aber dem Knud wird's nicht leicht, gut zu sein; lasse es
immer recht weit von Granliden nach Nordhoug bleiben."

Die Konfirmation begann; der Pastor trat hervor, und die Kinder stimmten
das Einsegnungslied von Kingo an. Wenn nun dieser Kinderchor und nur
dieser Kinderchor so voll Vertrauen und so hell singt, dann werden die
älteren Leute sehr gerührt, und besonders diejenigen, die ihre eigene
Konfirmation noch frischer im Gedächtnis haben. Wenn dann tiefe Stille
eintritt, und der Pastor, seit mehr als zwanzig Jahren derselbe, der für
jeden einzelnen immer eine schöne Stunde übrig gehabt hatte, da er ihn
auf ein Höheres hingewiesen,--wenn dieser Pastor die Hände faltet und zu
reden anhebt, dann wächst die Rührung in der Gemeinde. Und den Kindern
kommen die Tränen, wenn er sich an die Eltern wendet und sie auffordert,
für ihre Kinder zum lieben Gott zu beten. Thorbjörn, der vor kurzem dem
Tode nahe gewesen und unlängst noch geglaubt hatte, er werde sein
Lebenlang siech bleiben, weinte heftig, besonders als die Kinder ihr
Gelübde ablegten, und alle in der tiefsten Überzeugung, daß sie es auch
halten könnten. Er sah nicht ein einzigesmal zu den Frauen hinüber; aber
nach dem Gottesdienst ging er zu Ingrid und flüsterte ihr etwas ins Ohr;
dann ging er schnell durch das Gedränge hinaus. Einige wollten wissen,
daß er über den Hügel dem Walde zu statt auf der Fahrstraße geschritten
sei; aber sicher wußten sie es auch nicht. Sämund suchte ihn, gab es
aber auf, als er entdeckte, daß Ingrid ebenfalls fort war; dann suchte
er die Solbakkener; Guttorm und Karen liefen überall herum und fragten
jeden nach Synnöve; aber zufällig hatte keiner sie gesehen. Da zogen sie
nach Hause, jedes Ehepaar für sich, doch ohne ihre Kinder.

Doch weit vorn auf der Straße gingen Synnöve wie auch Ingrid. "Fast tut
es mir leid, daß ich mitgekommen bin", sagte jene.--"Jetzt ist es nicht
mehr so gefährlich; Vater weiß es ja", antwortete die andere.--"Aber er
ist doch nicht mein Vater", sagte Synnöve. "Wer weiß?" entgegnete
Ingrid--und dann sprachen sie nicht mehr darüber.--"Hier sollten wir ja
warten", sagte Ingrid, als sie bei einer scharfen Wegkante an einen
dichten Wald kamen.--"Er hat einen weiten Umweg zu machen", versetzte
Synnöve.--"Er ist aber schon da", fügte Thorbjörn hinzu, der hinter
einem großen Stein gestanden hatte und nun hervortrat.

Er hatte sich alles, was er sagen wollte, fix und fertig im Kopf zurecht
gelegt, und er hatte nicht wenig zu sagen. Aber heut sollte es auch
frisch heraus, weil sein Vater es wußte und damit einverstanden war; das
glaubte Thorbjörn nach den Vorgängen heute bei und in der Kirche
bestimmt annehmen zu können. Den ganzen Sommer hatte er sich nach einer
Aussprache gesehnt, und da mußte er doch heute freier reden können als
früher!

"Am besten gehen wir wohl auf dem Waldweg," sagte er, "da kommen wir
rascher vorwärts." Die beiden Mädchen sagten nichts, aber folgten ihm.
Eigentlich hatte er sofort mit Synnöve reden wollen; aber dann wollte er
doch lieber bis jenseits des Hügels warten, und dann, bis sie den Sumpf
hinter sich hatten; dort aber meinte er, sie müßten erst weiter in den
Wald hineinkommen. Ingrid, die recht gut merkte, daß die entscheidenden
Worte zwischen den beiden nicht flott in Fluß gerieten, verlangsamte
ihre Schritte, und blieb mehr und mehr zurück, bis sie schließlich nicht
mehr zu sehen war. Synnöve tat, als merke sie das nicht, bückte sich
hier und da nach einer Beere am Wegsaum, und pflückte sie.

"Das müßte doch merkwürdig zugehen, wenn ich nicht mit der Sprache
heraus könnte," dachte Thorbjörn, und so sagte er: "Schönes Wetter
heute."--"Recht schönes Wetter", antwortete Synnöve. Sie schritten ein
Stückchen weiter, sie suchte Beeren--und er, er ging daneben.--"Das war
hübsch von Dir, daß Du mitgekommen bist", sagte er dann; sie entgegnete
nichts.--"Wir haben einen sehr langen Sommer gehabt", fing er wieder an;
aber darauf antwortete sie gar nichts.--Nein, solange wir gehen, dachte
Thorbjörn, kommen wir nicht ordentlich zum Reden. "Wollen wir nicht auf
Ingrid warten?" fragte er.--"Ja, das wollen wir", entgegnete Synnöve und
blieb stehen. Hier gab es keine Beeren, und so konnte sie sich auch
nicht danach bücken; das hatte Thorbjörn ganz gut gesehen; aber Synnöve
pflückte einen langen Grashalm, und nun stand sie da und zog die Beeren
auf dem Halm auf.

"Heute mußte ich immer an die Zeit denken, wie wir zusammen zur
Konfirmation gegangen sind", sagte er. "Daran mußte ich auch immer
denken", erwiderte sie.--"Seitdem ist eine Menge passiert"--und da sie
still blieb, fuhr er fort: "aber meistens Geschichten, die wir nicht
erwartet haben." Synnöve hatte viel mit Halm und Beeren zu tun und mußte
den Kopf dabei senken; er trat einen Schritt vor sie hin, um ihr in das
Gesicht zu sehen; doch als ob sie's merke, veränderte sie ihre Stellung
so, daß er gezwungen wurde, sich wieder anders zu drehen. Da bekam er
fast Angst, daß er seine Angelegenheit nicht vorwärts bringe. "Synnöve,
Du hast mir doch etwas zu sagen?" Sie sah auf und lachte. "Was soll ich
Dir zu sagen haben?" Er gewann seinen alten Mut wieder und wollte sie
umfassen; aber als er ihr nahe kam, traute er sich nicht recht und
fragte nur ganz geduckt: "Ingrid hat doch mit Dir geredet?"--"Ja",
antwortete sie. "Dann mußt Du auch etwas wissen", sprach er weiter. Sie
schwieg. "Dann mußt Du auch etwas wissen", wiederholte er, und trat noch
einmal auf sie zu. "Du mußt wohl auch etwas wissen", entgegnete
sie;--ihr Gesicht konnte er nicht sehen. "Ja", sagte er, und wollte ihre
eine Hand fassen; aber sie war gerade zu sehr mit dem Halm beschäftigt.
"Dumme Geschichte das," sagte er, "Du machst mich immer
kleinmütig."--Weil er nicht bemerken konnte, daß sie darüber lächelte,
wußte er nicht, wie er fortfahren sollte. "Kurz und gut," stieß er
plötzlich mit starker, aber doch etwas unsicherer Stimme vor: "Was hast
Du mit dem Zettel gemacht?" Sie antwortete nicht; wandte sich aber ab.
Er folgte ihrer Bewegung, legte die eine Hand auf ihre Schulter und
neigte sich ihr zu: "Antworte mir", flüsterte er.----"Ich hab' ihn
verbrannt."----

Er nahm sie und drehte sie zu sich hin, aber als er sah, daß ihr die
Tränen in die Augen traten, da blieb ihm nichts anderes übrig als sie
loszulassen;--das ist doch ärgerlich, daß ihr die Tränen so locker
sitzen, dachte er. Mit einem Mal sagte sie;--jedoch ganz leise: "Warum
hast Du den Zettel geschrieben?"--"Das hat Ingrid Dir ja gesagt."--"Ja
wohl; aber--sehr böse und hart war's von Dir."--"Vater hat's
gewollt."--"Trotzdem--"--"Er hat geglaubt, ich würde mein ganzes Leben
lang ein kranker Mensch bleiben; aber jetzt bin ich soweit, daß ich für
Dich sorgen kann", sagte er.

Ingrid erschien unten am Hügel, und da machten sich die beiden wieder
auf den Weg.

"Damals, als ich glaubte, ich könnte Dich nicht mehr kriegen, warst Du
mir am nächsten", sprach er.--"Wenn man allein ist, geht man prüfend in
sich", erwiderte sie.--"Ja, da zeigt sich's am besten, wer die größte
Macht über uns hat", sagte Thorbjörn und schritt ernst neben ihr her.

Jetzt pflückte sie keine Beeren mehr. "Willst Du ein paar haben?" fragte
sie und reichte ihm den Halm hin. "Danke", antwortete er und hielt ihre
Hand fest. "Dann ist es wohl besser, es bleibt beim alten", brachte er
mit etwas schwankender Stimme hervor.--"Ja", flüsterte sie unhörbar, und
wandte den Kopf ab; nun gingen sie weiter, und solange sie schwieg,
traute er sich nicht, sie zu berühren oder mit ihr zu sprechen; aber
sein ganzer Körper wurde mit einemmal so leicht, so leicht--und beinahe
wäre er hingepurzelt. Vor seinen Augen flimmerte und brannte es; und da
Synnöve und er nun auf einen Hügel kamen, von dem sie Solbakken gut
übersehen konnten, war es ihm, als sei er sein ganzes Leben dort drüben
zu Hause gewesen, und habe Heimweh dahin gehabt. "Ich gehe gleich mit
ihr hinüber," dachte er, schritt aus, und schöpfte sich aus dem Bilde,
das sich ihm bot, immer neuen Mut, so daß sein Vorsatz sich mit jedem
Schritt befestigte. "Vater hilft mir," dachte er; "ich ertrag's nicht
länger", und er ging schnell und schneller, immer geradeaus. Kirchspiel
und Hof lagen in hellem Licht. "Ja, heute! Nicht eine Stunde wart' ich
länger," und er fühlte sich so stark, daß er im Augenblick nicht wußte,
wie er das betätigen solle.

"Du reißt mir ja beinah aus," hörte er eine sanfte Stimme hinter sich
rufen. Es war Synnöve; vergebens hatte sie versucht, ihm nachzukommen,
und mußte es jetzt aufgeben. Er schämte sich recht, kehrte um, ging mit
ausgestreckten Armen auf sie zu und dachte: jetzt will ich sie mal
gleich hoch in die Luft schwenken; aber als er bei ihr war, ließ er es
lieber bleiben. "Ich gehe zu schnell", sagte er. "Ja, viel zu schnell",
antwortete sie.

Nun waren sie der Landstraße nahe; Ingrid, die in der ganzen Zeit
unsichtbar geblieben, war auf einmal dicht hinter ihnen. "Nun dürft Ihr
nicht länger zusammengehen", sagte sie. Das war Thorbjörn etwas zu früh,
er erschrak; auch Synnöve wurde etwas beklommen. "Ich habe Dir noch so
viel zu sagen", flüsterte er. Sie konnte ein leichtes Lächeln nicht
unterdrücken. "Ja, ja," sagte er, "das nächste Mal"--und ergriff ihre
Hand.

Mit klarem, vollem Blick sah sie zu ihm auf; ihm wurde ganz warm, und
wieder schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: "Ich gehe gleich mit ihr."
Da zog sie behutsam ihre Hand zurück, wandte sich ruhig zu Ingrid, sagte
ihr Lebewohl und schritt langsam zur Straße hin. Und er, er blieb, wo er
war.

Die Geschwister gingen durch den Wald nach Hause. "Habt Ihr Euch
ausgesprochen?" fragte Ingrid.--"Nein, der Weg war zu kurz", antwortete
er; aber ging so schnell, als ob er nichts mehr hören wolle.

"Na?" sagte Sämund und sah vom Mittagessen auf, als die Geschwister in
die Stube traten. Thorbjörn antwortete nicht; er ging zu der Bank der
gegenüberliegenden Wand, vermutlich, um seinen Rock auszuziehen; Ingrid
ging ihm nach und kicherte. Sämund fing wieder an zu essen, blickte
dann und wann auf Thorbjörn, tat dabei, als sei er mit dem Essen sehr
beschäftigt, lachte leise vor sich hin und aß weiter. "Komm her und iß,"
rief er, "sonst wird das Essen kalt."--"Danke, ich habe keinen Hunger",
antwortete Thorbjörn und setzte sich. "So?"--und Sämund aß. Nach einem
Weilchen sagte er: "Ihr wart ja heut mit einemmal aus der Kirche."--"Wir
hatten mit jemand zu reden", erwiderte Thorbjörn und hockte mit krummem
Buckel.--"Na, habt Ihr denn mit ihm geredet?"--"Das weiß ich fast selber
nicht", versetzte Thorbjörn.--"Den Teufel auch", brummte Sämund und aß.
Es dauerte nicht lange mehr, da war er fertig und stand auf; er ging zum
Fenster, blieb stehen und sah hinaus; bald darauf drehte er sich um:
"Du, komm, wir wollen ein bißchen aus und uns die Felder besehen."
Thorbjörn stand auf. "Nein, zieh Dir erst den Rock an." Thorbjörn, der
in Hemdsärmeln dagesessen hatte, nahm einen alten Arbeitsrock, der
hinter ihm hing.--"Siehst Du nicht, daß ich den guten anhabe?" rief
Sämund. Nun zog Thorbjörn auch seinen Sonntagsrock an. Dann gingen sie
fort; Sämund voran, Thorbjörn hinterher.

Sie nahmen die Richtung der Fahrstraße. "Wollen wir nicht zur Gerste?"
fragte Thorbjörn. "Nein, zum Weizen", antwortete Sämund. Gerade als sie
auf die Straße kamen, fuhr ein Wagen langsam auf sie zu. "Der Wagen ist
aus Nordhoug", sagte Sämund.--"Das Jungvolk von Nordhoug sitzt drin",
fügte Thorbjörn hinzu; Jungvolk bedeutet nämlich das junge Paar.

Der Wagen hielt, als die Granlidener herankamen. "Wirklich ein Staat von
Frauenzimmer ist die Marit Nordhoug", flüsterte Sämund, und wandte kein
Auge von ihr; sie saß etwas zurückgelehnt im Wagen und hatte ein Tuch
lose um den Kopf, ein andres um den Nacken und die Brust geschlungen;
sie blickte steif vor sich hin und auf die beiden Fußgänger. Der Mann
sah sehr blaß und mager und noch sanfter als früher aus, etwa wie
einer, der Kummer hat und sich ihn nicht vom Herzen reden kann.

"Ihr seid wohl aus, um nach dem Korn zu sehen?" fragte er.--"Das will
ich meinen", antwortete Sämund.--"Gut steht's dies Jahr."--"Hat schon
schlechter gestanden."--"Ihr kommt heute spät zurück", sagte
Thorbjörn.--"Hatte zu vielen Adieu zu sagen."--"Was?--willst Du denn
verreisen?" fragte Sämund.--"Ja, das will ich, ja."--"Weit?"--"Ach,
ja."--"Wie weit denn?"--"Nach Amerika."--"Nach Amerika?" riefen die
beiden Granlidener auf einmal. "Ein Mann, der sich eben erst verheiratet
hat!" setzte Sämund hinzu. Der Mann lächelte. "Ich glaube, ich bleibe
von wegen meinem Fuß hier, sprach der Fuchs, da saß er im Eisen fest."
Marit sah ihn und darauf die anderen an; eine leichte Röte flog über ihr
Gesicht; aber kein Zug veränderte sich.--"Die Frau geht wohl mit?"
fragte Sämund.--"Nein, das tut sie nicht."--"In Amerika soll man's
leicht zu was bringen", sagte Thorbjörn,--er hatte die Empfindung, das
Gespräch dürfe nicht stocken.--"Na, ja", sagte der Mann.--"Aber Nordhoug
hat doch guten Boden und ist groß", versetzte Sämund.--"Es sind zu viele
drauf", antwortete der Mann; seine Frau sah ihn wieder an. "Der eine
steht dem andern im Wege", fügte er hinzu.

"Glückliche Reise!" sagte Sämund und gab ihm die Hand. "Gott lasse Dich
finden, was Du suchst."

Thorbjörn blickte seinem Schulkameraden lange und fest in die Augen:
"Ich möchte später noch mit Dir reden", sagte er.--"Es tut einem gut,
wenn man mit jemand reden kann", antwortete der Mann und schrapte mit
dem Peitschenstiel auf dem Boden des Wagens.

"Komm doch mal zu uns", sagte Marit; und Thorbjörn und Sämund sahen fast
verdutzt die Frau an; es war ihnen immer wieder etwas Neues, daß sie
eine so sanfte Stimme hatte.

Das Paar fuhr weiter; langsam rollte der Wagen dahin; eine kleine
Staubwolke umkreiste ihn, die Abendsonne senkte ihre Strahlen gerade
auf ihn herunter; vom dunklen Friesrock des Mannes hoben sich flimmernd
und schimmernd die seidenen Tücher der Frau ab;--ein Hügel kam; der
Wagen verschwand.

----Lange schritten Vater und Sohn nebeneinander her, bis einer ein Wort
sprach. "Ich glaube, ich irre mich nicht; es wird lange dauern, bis der
wiederkommt", meinte Thorbjörn, und Sämund antwortete: "Ist auch das
beste, wenn einer sein Glück nicht im Lande gefunden hat."--Und sie
schritten wieder stumm weiter. "Du gehst ja am Weizen vorbei", rief
Thorbjörn. "Den besehen wir uns auf dem Rückweg";--und sie schritten
weiter. Thorbjörn mochte nicht recht fragen wohin; denn die Granlidener
Feldmark ließen sie hinter sich.



Neuntes Kapitel


Als Synnöve rot im Gesicht und atemlos eintrat, waren Guttorm und Karen
Solbakken schon mit dem Essen fertig. "Aber liebes Kind, wo bist Du denn
gewesen?" fragte die Mutter.--"Ich bin mit Ingrid etwas
zurückgeblieben", antwortete Synnöve, und knüpfte sich gemach ein paar
Tücher ab; der Vater suchte im Schrank nach einem Buch. "Was habt Ihr
denn solange zu reden gehabt?"--"Ach, nichts besonderes."--"Dann war' es
besser gewesen, Du hättest auf dem Kirchgang keinen Umweg gemacht."--Sie
stand auf und stellte der Tochter zu essen hin. Nachdem Synnöve sich an
den Tisch gesetzt hatte, fragte die Mutter, die ihren Platz ihr
gegenüber wieder eingenommen hatte: "Hast Du vielleicht noch mit andern
geredet?"--"Ja, noch mit manchem", antwortete Synnöve.--"Das Kind muß
doch mit Leuten reden", sagte Guttorm. "Gewiß muß sie das," versetzte
die Mutter etwas sanfter; "aber sie hätte doch mit ihren Eltern gehen
können."--Darauf bekam sie keine Antwort.

"Das war ein herrlicher Kirchgang heut," fing sie wieder an, "die
Jugend in der Kirche tut einem gut."--"Man denkt an seine eignen
Kinder", setzte Guttorm hinzu.--"Da hast Du recht," sagte die Mutter,
und seufzte; "keiner weiß, wie es ihnen mal gehen wird." Guttorm sprach
lange kein Wort. "Wir haben Gott herzlich dafür zu danken," sagte er
endlich, "daß er uns eines gelassen hat." Die Mutter wischte mit den
Fingern über den Tisch und blickte nicht auf; "sie ist doch unsere
größte Freude", sprach sie leise; "sie ist auch nicht aus der Art
geschlagen", fügte sie noch leiser hinzu. Es entstand eine lange Pause.
"Ja, sie hat uns immer große Freude gemacht," sagte Guttorm, und etwas
später mit weicher Stimme: "Gott schenke ihr Glück!"--Die Mutter wischte
mit den Fingern über den Tisch; eine Träne fiel darauf, und sie wischte
sie weg.--"Warum ißt Du denn nicht?" fragte Guttorm, als er nach einem
Weilchen aufblickte.--"Danke, ich bin satt", antwortete Synnöve. "Aber
Du hast ja noch gar nichts gegessen," sagte nun auch die Mutter, "und Du
hast einen so weiten Weg gemacht."--"Ich kann nicht", entgegnete Synnöve
und zupfte eifrig am Zipfel ihres Brusttuchs.--"Iß, mein Kind",
wiederholte der Vater.--"Ich kann nicht", sagte Synnöve abermals und
fing zu weinen an.--"Aber, liebes Kind, warum weinst Du denn?"--"Ich
weiß nicht", und sie schluchzte. "Sie weint so leicht", sagte die
Mutter, der Vater stand auf und ging an das Fenster. "Dort kommen zwei
Männer auf den Hof zu", sagte er. "Was? jetzt am späten Nachmittag?"
fragte die Mutter und ging auch an das Fenster. Sie sahen lange hinaus.
"Wer kann denn das bloß sein?" sprach sie, aber nicht gerade, als ob sie
fragen wollte. "Ich weiß nicht", versetzte Guttorm, und sie sahen und
sahen. "Das verstehe ich nicht recht", sagte sie.--"Ich auch nicht",
sagte er.--"Aber sie müssen es doch sein", sagte sie endlich.
"Allerdings", bekräftigte Guttorm. Die Männer kamen näher und näher; der
ältere blieb stehen und blickte zurück; der jüngere gleichfalls; dann
schritten sie weiter.

"Verstehst Du, was sie wollen?" fing Karen wieder an, in demselben Ton
wie vorhin. "Nein, das versteh' ich nicht", versetzte Guttorm. Die
Mutter drehte sich um, ging zum Tisch, nahm das Geschirr ab und räumte
etwas auf. "Du mußt Deine Tücher wieder umbinden," sprach sie zu
Synnöve; "es kommt Besuch."

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da öffnete Sämund die Tür und trat
ein; Thorbjörn hinter ihm. "Gesegnete Mahlzeit", sagte Sämund, blieb
einen Augenblick an der Tür stehen und trat dann langsam ein, um jeden
einzelnen zu begrüßen; Thorbjörn folgte. Sie kamen zuletzt zu Synnöve,
die noch in einer Ecke mit dem Tuch in der Hand stand, nicht wußte, ob
sie es umbinden sollte, ja, kaum wußte, ob sie es in der Hand hielt.
"Nehmt Platz, wo Ihr wollt", sagte die Frau. "Danke, der Weg hier
herüber ist nicht weit gewesen", antwortete Sämund, setzte sich aber
doch; Thorbjörn neben ihn. "Ihr wart ja heut nach der Kirche mit
einemmal fort", sagte Karen. "Wir haben Euch gesucht", antwortete
Sämund. "Heut waren viele Menschen da", sagte Guttorm. "Sehr viele
Menschen," wiederholte Sämund, "es war ein schöner Kirchtag."--"Ja, wir
haben eben davon gesprochen", sagte Karen.--"Es ist einem bei solcher
Konfirmation so wunderlich zumute, wenn man selber Kinder hat", fügte
Guttorm hinzu. Seine Frau rückte auf der Bank etwas ab. "Ja, freilich,"
sagte Sämund, "da denkt man ernstlich über sie nach,--und deshalb habe
ich mich hierher auf den Weg gemacht", sprach er weiter, sah sich fest
und sicher um, nahm den Kautabak aus dem Mund, schob ein anderes Stück
hinein, und legte das alte behutsam in eine Messingdose. Guttorm, Karen
und Thorbjörn sahen unruhig hierhin und dorthin.--"Ich dachte mir, ich
müßte mit Thorbjörn mal hergehen," begann Sämund langsam; "allein hätte
er es wohl sobald nicht fertig gekriegt und hätte sich auch allein nicht
gut Bescheid holen können", dabei blinzelte er zu Synnöve hinüber, die
das merkte. "Die Sache liegt nun so, daß er seinen Sinn auf sie
gerichtet hat, auf sie, die Synnöve, seit der Zeit, da er Verstand
genug für so etwas hatte; und es liegt wohl ebenfalls einigermaßen so,
daß sie auch ihren Sinn auf ihn gerichtet hat. Und da meine ich, ist es
das beste, wenn die beiden für immer zusammenkommen. Damals, als ich
sah, daß er sich selber nicht im Zaum halten konnte, geschweige denn
andere, da war ich wenig dafür. Aber jetzt glaube ich, ich kann für ihn
bürgen; und kann ich's nicht, so kann sie's; denn sie hat die größte
Macht über ihn.--Was meint Ihr also dazu? Wollen wir sie zusammentun?
Das hat ja weiter keine große Eile, aber ich weiß auch nicht, warum wir
noch damit warten wollen. Du, Guttorm, bist ein Mann mit Vermögen; meins
ist kleiner und geht mal später in mehrere Teile; aber ich denke, die
Sache läßt sich doch machen. Jetzt sagt also Eure Meinung frei heraus;
das Mädchen frage ich zuletzt, denn ich glaube, ich weiß, was sie will!"

Also sprach Sämund. Guttorm saß krumm auf der Bank, legte abwechselnd
eine Hand über die andere und machte mehrmals Miene, sich aufzurichten,
indem er jedesmal stärker Atem holte; aber erst nach dem vierten- und
fünftenmal bekam er den Rücken gerade, strich mit der Hand über das
Knie, und sah seine Frau an, streifte aber gleichzeitig Synnöve mit den
Blicken. Karen saß am Tisch und wischte mit den Fingern darüber hin.
"Nun ja--das ist ein schöner Antrag", sagte sie. "Ja, ich meine, wir
sollen ihn mit Dank annehmen", sagte Guttorm laut, und seiner Stimme war
eine beträchtliche Erleichterung anzuhören; dann sah er von seiner Frau
fort und auf Sämund, der die Arme gekreuzt und den Rücken an die Wand
gelehnt hatte. "Wir haben nur die eine Tochter," sagte Karen, "wir
müssen's uns erst überlegen."--"Dem steht weiter nichts im Wege,"
erwiderte Sämund, "aber ich weiß nicht, warum Ihr nicht gleich antworten
könnt, brummte der Bär, als er den Bauern gefragt hatte, ob er nicht
seine Kuh kriegen könne."--"Gewiß können wir gleich antworten",
versetzte Guttorm und sah seine Frau an. "Thorbjörn kann aber manchmal
so wild sein", sagte sie, blickte jedoch nicht auf. "Das hat sich
gebessert," erwiderte Guttorm; "Du weißt, was Du heut selber gesagt
hast!"----Das Ehepaar sah sich abwechselnd an; das dauerte eine volle
Minute. "Könnten wir uns auf ihn verlassen", sagte die Frau. "Ja,"
ergriff nun Sämund wieder das Wort, "was das betrifft, kann ich nur
sagen, was ich vorhin gesagt habe; mit der Fahrt geht's gut, wenn sie
die Zügel hält. Sie hat eine Macht über ihn, wie man sich's kaum
vorstellen kann. Das ist mir damals klar geworden, als er zu Hause bei
mir krank lag und noch nicht wußte, was mit ihm würde, ob er wieder
aufkomme oder nicht."--"Du mußt nicht so hartnäckig sein," sagte
Guttorm, "Du weißt doch, was sie selber will, und wir leben doch nur für
sie." Da blickte Synnöve zum erstenmal auf und sah ihren Vater groß und
dankbar an. "Ach ja," begann Karen, nachdem es eine Weile still gewesen,
und wischte mit den Fingern über den Tisch; "wenn ich solange dagegen
war, dann habe ich's nicht schlecht gemeint.--Ich war wohl nicht so
hart, wie sich's anhörte"; sie blickte auf und lachte; aber es wollten
ihr Tränen kommen. Da stand Guttorm auf. "So ist denn in Gottes Namen
das eingetroffen, was ich am meisten auf der Welt gewünscht habe", sagte
er und ging auf Synnöve zu. "Ich habe gar keine Angst deswegen gehabt,"
sagte Sämund und stand ebenfalls auf; "was zusammen soll, das kommt
zusammen." Und er ging auf Synnöve zu. "Na, was meinst Du dazu, mein
Kind?" sagte die Mutter, und ging nun auch auf Synnöve zu.

Die saß immer noch da; alle umstanden sie mit Ausnahme von Thorbjörn,
der dort saß, wo er sich zuerst hingesetzt hatte. "Du mußt aufstehen,
mein Kind", flüsterte die Mutter ihr zu; sie stand auf und lächelte,
wandte sich ab und weinte.--"Unser Herrgott sei Dein Geleit jetzt wie
alle Zeit", sagte die Mutter, umarmte sie und weinte mit ihr zusammen.
Die beiden Männer traten zurück; jeder ging zu seinem alten Platz.

"Du mußt zu ihm hingehen", sagte die Mutter immer noch unter Tränen,
ließ sie los und schob sie sanft vorwärts. Synnöve tat einen Schritt;
aber blieb stehen, weil sie nicht weiter konnte; Thorbjörn sprang auf,
ging auf sie zu, ergriff ihre Hand, wußte nicht, wie er sich benehmen
sollte, und blieb Hand in Hand mit ihr stehen, bis sie ihre sacht
zurückzog. Dann standen sie schweigend nebeneinander.

Lautlos öffnete sich die Tür, und ein Kopf erschien im Rahmen. "Ist
Synnöve hier?" fragte jemand bedächtig. Es war Ingrid Granliden.
"Jawohl, hier ist sie, komm nur herein", antwortete ihr Vater. Ingrid
zauderte. "Komm nur; hier steht alles ganz gut", fügte er hinzu. Alle
sahen sie an. Sie schien etwas verlegen; "ich bin aber nicht allein
hier", sagte sie. "Wer ist denn noch da?" fragte Guttorm. "Mutter!"
erwiderte sie leise. "Immer herein mit ihr!" riefen alle vier in der
Stube auf einmal. Und die Hausfrau ging ihr entgegen, während die
anderen sich freudestrahlend ansahen.--"Komm nur, Mutter, Du kannst gern
herein", hörten sie Ingrid sagen.--Und herein kam Ingebjörg mit ihrer
weißen Haube. "Ich hab's wohl gemerkt," sagte sie, "wenn Sämund seinen
Mund auch nicht auftun kann; und da hielten die Ingrid und ich es nicht
länger aus--wir mußten her."--"Und hier stehen die Dinge so, wie Du's
wünschst", sagte Sämund und machte Platz, damit sie besser
herankönne.--"Gott segne Dich, mein Kind, dafür, daß Du ihn an Dich
geknüpft hast," sprach sie zu Synnöve, und umarmte und streichelte sie;
"Du hast solange, solange fest zu ihm gehalten, und jetzt ist alles
gekommen, wie Du es gewollt hast." Und sie streichelte ihr die Backen
und das Haar, und über ihr eigenes Gesicht rannen Tränen, aber sie
beachtete sie nicht; sie trocknete nur Synnöve die Tränen ab. "Ja, er
ist ein lieber, ein tüchtiger Junge," sagte sie, "und jetzt bin ich auch
seinetwegen ganz sicher"; und sie zog die neue Tochter inniger in ihre
Arme. "Mutter weiß mehr in ihrer Küche," sagte Sämund, "als wir, die in
der Sache drinstehen."

Die Tränen und die Rührung ließen allmählich nach; die Hausfrau begann
an das Abendessen zu denken, und forderte Ingridchen auf, ihr zu helfen,
"denn Synnöve ist heute abend zu nichts zu gebrauchen." Und so gingen
die beiden an die Arbeit und kochten Rahmgrütze. Die Männer gerieten in
ein Gespräch über die Ernte und dergleichen. Thorbjörn hatte sich an das
Fenster gesetzt; Synnöve schlich zu ihm hin und legte die Hand auf seine
Schulter. "Wonach siehst Du?" fragte sie.

Da wendete er ihr seinen Kopf zu, sah sie lange und mit sanfter
Zärtlichkeit an, dann blickte er wieder hinaus: "Ich sehe nach Granliden
hinüber," sagte er, "es ist so wunderlich, Granliden von hier aus zu
sehen."

       *       *       *       *       *



ARNE



Erstes Kapitel


Dort unten zwischen zwei Felsen war eine tiefe Schlucht; durch diese
Schlucht wand sich schwerfällig über Geröll und Steine ein wasserreicher
Fluß. Hoch und steil stieg es zu beiden Seiten an, und die eine Felswand
war ganz nackt; unten aber, so nahe am Fluß, daß im Frühling und im
Herbst das Wasser ihn benetzte, drängte sich ein prächtiger Wald
zusammen, schaute in die Höhe und schaute vor sich und konnte weder
hierhin, noch dahin.

"Wie wär's, wenn wir den Felsen bekleideten?" sagte eines Tages der
Wacholder zu einer fremdländischen Eiche, der er näher stand als allen
andern. Die Eiche blickte nach unten, um dahinterzukommen, wer da
eigentlich spreche; dann sah sie wieder empor und schwieg. Der Fluß ging
so schwer, daß er schäumte; der Nordwind fegte durch die Schlucht und
heulte in den Klüften; der nackte Felsen neigte sich schwer nach vorn
und fror;--"wie wär's, wenn wir den Felsen bekleideten?" sagte der
Wacholder zu der Fichte an seiner andern Seite. "Wenn einer es tun soll,
müßten wir es wohl sein", sagte die Fichte; sie faßte sich in den Bart
und sah zu der Birke hinüber; "was meinst Du dazu?"--Die Birke aber
lugte bedächtig zu dem Felsen empor; so schwer neigte er sich über sie,
daß sie kaum atmen zu können meinte; "wir wollen uns in Gottes Namen ans
Werk machen", sagte die Birke, und wenn sie auch nicht mehr als drei
waren, so übernahmen sie doch die Aufgabe, den Felsen zu bekleiden. Der
Wacholder ging voran.

Als sie ein Stück gegangen waren, begegneten sie dem Heidekraut. Der
Wacholder wollte gerade dran vorbei. "Nein, laß das Heidekraut
mitgehen", sagte die Fichte. Und das Heidekraut voran. Bald fing der
Wacholder an abzurutschen. "Halt Dich an mir fest", sagte das
Heidekraut. Das tat der Wacholder, und wo nur ein winziger Riß war,
steckte das Heidekraut den Finger hinein, und wo es erst den Finger fest
hatte, bekam der Wacholder die ganze Hand hinein. So krochen und
krabbelten sie hinan, die Fichte mühselig hinterher, und die Birke auch.
"Es ist ein herrliches Werk", sagte die Birke.

Der Felsen aber begann zu überlegen, was das wohl für Kruppzeug sein
mochte, das an ihm in die Höhe kletterte. Und als er ein paar hundert
Jahre darüber nachgedacht hatte, schickte er einen kleinen Bach
hinunter, der es sich ansehen sollte. Es war noch im Vorfrühling und der
Bach noch schmal, als er an das Heidekraut kam. "Liebes gutes
Heidekraut, willst Du mich nicht durchlassen; ich bin so klein", sagte
der Bach. Das Heidekraut hatte es sehr eilig, hob sich nur ein bißchen
und arbeitete weiter. Der Bach drunter durch und vorwärts. "Lieber guter
Wacholder, willst Du mich nicht durchlassen? Ich bin so klein." Der
Wacholder sah ihn scharf an, aber wenn das Heidekraut ihn durchgelassen
hatte, konnte er es ja auch tun. Der Bach drunter durch und vorwärts; er
kam jetzt an die Stelle, wo die Fichte schnaufend die Höhe hinanstieg.
"Liebe gute Fichte, willst Du mich nicht durchlassen? Ich bin so klein",
sagte der Bach, küßte der Fichte die Füße und schmeichelte sich bei ihr
ein. Da wurde die Fichte verlegen und ließ ihn durch. Die Birke aber
machte Platz, noch ehe der Bach etwas sagte. "Hihihi", kicherte der Bach
und schwoll an. "Hahaha", lachte der Bach und schwoll noch mehr an.
"Hohoho", brüllte der Bach und warf Heidekraut und Wacholder und Fichte
und Birke auf die Nase und trug sie auf seinem Rücken durch die hohen
Berge. Der Felsen stand viel hundert Jahre und dachte nach, ob er an
diesem Tage wohl gelächelt hatte.

Es war klar: der Felsen wollte nicht bekleidet sein. Das Heidekraut
ärgerte sich so, daß es ganz grün wurde, und dann zog es von dannen.
"Nur guten Mut!" sagte das Heidekraut.

Der Wacholder kauerte an der Erde und sah auf das Heidekraut; und er
kauerte so lange da, bis er ganz aufrecht saß. Er kraute sich die Haare,
machte sich auf den Weg und biß sich so fest, daß er meinte, der Felsen
müsse es fühlen. "Willst Du mich nicht, so will ich Dich." Die Fichte
krümmte ihre Zehen, um zu fühlen, ob sie wohl heil seien, dann hob sie
den einen Fuß hoch, der war heil, besah dann den andern, der war auch
heil, dann alle beide. Sie untersuchte erst, wo sie gegangen war, dann
wo sie gelegen hatte, und schließlich wo sie jetzt gehen mußte. Dann
schlenderte sie los und tat, als wäre sie ihr Lebtag nicht gefallen. Die
Birke hatte sich gräßlich schmutzig gemacht; sie stand jetzt auf und
putzte sich. Und dann ging's weiter, schneller und schneller, vorwärts
und seitwärts, in Sonnenschein und Regenwetter. "Was ist denn da nur
los?" sagte der Felsen, wenn die Sommersonne ihn beschien, wenn der Tau
glitzerte und die Vögel sangen, wenn die Waldmaus piepte und der Hase
sprang und das Wiesel sich kreischend versteckte.

Dann kam der Tag, da das Heidekraut mit einem Auge über den Bergrand
sehen konnte. "Aber nein, nein, nein!" sagte das Heidekraut,--und weg
war es. "Meine Güte, was mag das Heidekraut bloß sehen?" sagte der
Wacholder und kam so weit heran, daß er hinüberschauen konnte. "Aber
nein, nein!" rief er und war weg. "Was hat denn der Wacholder heute?"
sagte die Fichte und machte ganz lange Schritte in der Sonnenhitze. Bald
konnte sie sich denn auch auf die Zehen stellen und hinüberlugen. "Nein,
so was!" Zweige und Nadeln sträubten sich ihr vor Verwunderung. Sie
kletterte weiter, kam oben an und weg war sie. "Was mögen all die andern
da sehen, bloß ich nicht?" sagte die Birke, hob ihr Kleid sorglich hoch
und trippelte hinterher. Sie tauchte gleich mit dem ganzen Kopf über dem
Bergrand auf. "A--a--ah!--da steht ja wohl ein ganzer Wald von Fichten
und Heidekraut und Wacholder und Birken oben auf der Höhe und wartet
auf uns", sagte die Birke, und ihre Blätter zitterten im Sonnenschein,
daß der Tau sprühte. "Ja, so geht's, wenn man ans Ziel kommt", sagte der
Wacholder.



Zweites Kapitel


Oben in Kampen wurde Arne geboren. Seine Mutter hieß Margit und war das
einzige Kind auf dem Pachthof Kampen. In ihrem achtzehnten Jahr blieb
sie einmal auf einem Tanz zurück; ihre Begleiter waren schon fort, und
da dachte Margit, der Nachhauseweg würde nicht länger werden, wenn sie
noch einen Tanz abwarte. Und so geschah es, daß Margit so lange dablieb,
bis der Spielmann, Schneider Nils, plötzlich die Geige weglegte, wie er
immer tat, wenn er betrunken war, die andern trällern ließ, sich das
schönste Mädel holte, die Füße so sicher aufsetzte wie die Takte in
einem Lied, und mit dem Stiefelabsatz dem Längsten, der da war, den Hut
vom Kopf herunterholte.--"Ho!" schrie er dabei.--

Als Margit an diesem Abend nach Hause ging, spielte der Mond so
wunderbar schön auf dem Schnee. Als sie in die Kammer kam, wo sie
schlief, mußte sie noch einmal aus dem Fenster sehen. Sie zog das Mieder
aus und blieb noch eine Weile so stehen. Da merkte sie, daß sie fror,
zog sich schnell aus und kroch tief unter ihre Felldecke. In dieser
Nacht träumte Margit von einer großen roten Kuh, die sich auf ihr Feld
verlaufen hatte. Sie sollte sie hinausjagen, aber wie sie sich auch
abmühte, sie konnte nicht vom Fleck kommen. Die Kuh stand ganz ruhig da
und fraß so lange, bis sie satt und rund war, und inzwischen schaute sie
immer einmal aus großen, schweren Augen zu ihr hin.

Als das nächste Mal wieder Tanz im Dorf war, war auch Margit wieder da.
Sie mochte den Abend nicht tanzen; sie saß also und lauschte dem Spiel,
und es schien ihr ganz merkwürdig, daß auch die andern nicht mehr Lust
dazu hatten. Aber als es später wurde, stand der Spielmann auf, um zu
tanzen. Er ging plötzlich geradenwegs auf Margit Kampen zu. Sie wußte
kaum, wie ihr geschah, aber sie tanzte mit Schneider Nils.

Bald wurde das Wetter wärmer, und man tanzte nicht mehr. In diesem
Frühjahr nahm Margit sich so sehr eines kleinen Lammes an, das ihnen
krank geworden war, daß die Mutter es beinahe übertrieben fand. "Es ist
doch bloß ein Lamm", sagte die Mutter. "Ja, aber es ist krank", sagte
Margit.

Sie war lange nicht in der Kirche gewesen; sie gönne es lieber der
Mutter, sagte sie, und einer müsse doch zu Hause bleiben. Eines Sonntags
im Sommer, als das Wetter so schön war, daß das Heu sehr gut einen Tag
draußen bleiben konnte, sagte die Mutter, jetzt könnten sie ruhig beide
gehen. Margit konnte nicht viel darauf sagen und zog sich an, aber als
sie so weit kamen, daß sie die Kirchenglocken hören konnten, fing sie zu
weinen an. Die Mutter wurde leichenblaß; sie gingen weiter, die Mutter
voran, sie hinterher, hörten die Predigt, sangen die Choräle bis zu Ende
mit, hörten das Gebet mit an und ließen es ausläuten, bis sie gingen.
Aber als sie wieder zu Hause waren, nahm die Mutter Margits Kopf
zwischen beide Hände und sagte: "Verbirg mir nichts, mein Kind!"

Wieder kam der Winter, und Margit tanzte nicht. Aber Schneider Nils
spielte auf, trank mehr als je und schwenkte immer zum Schluß das
schönste Mädel in der Runde. Es wurde als Tatsache erzählt, daß er
kriegen könne, welche er wolle von den stattlichsten Bauerntöchtern im
Kirchspiel; einige fügten hinzu, Eli Böen habe selbst den Freiwerber für
ihre Tochter Birgit gemacht, die sich in Liebe zu ihm verzehrte.

Eben zu dieser Zeit war's, als die Hausmannstochter von Kampen ein Kind
über die Taufe hob; es bekam den Namen Arne, Schneider Nils aber sollte
der Vater sein.

Am Abend dieses selben Tages war Nils auf einer großen Hochzeit; da
trank er sich voll. Er weigerte sich, zu spielen, und tanzte immerzu
und litt beinahe keinen andern auf dem Tanzboden. Als er aber zu Birgit
Böen trat und sie aufforderte, schlug sie es ihm ab. Er lachte kurz auf,
drehte sich auf dem Absatz herum und bekam die erste beste zu packen.
Sie sträubte sich. Er blickte zu ihr hinunter; es war eine kleine
Dunkle, die lange dagesessen und zu ihm hingeglotzt hatte und jetzt ganz
blaß war. Er bog sich ein wenig zu ihr hinunter und flüsterte: "Magst Du
mit mir nicht tanzen, Karen?" Sie antwortete nicht. Er fragte noch
einmal. Da antwortete sie ebenso leise, wie er fragte: "Der Tanz könnte
weiter gehen, als mir lieb wäre."--Er trat langsam von ihr zurück, aber
als er mitten im Saal stand, machte er einen Luftsprung und tanzte
allein den Halling. Keiner außer ihm tanzte; alle standen schweigend da
und sahen zu.

Dann ging er hinaus auf die Scheunendiele, warf sich auf die Erde und
weinte.

Margit saß mit ihrem kleinen Jungen zu Hause. Sie hörte von Nils, er
jage von Tanz zu Tanz, schaute den Jungen an und weinte, schaute ihn
wieder an und war froh. Das erste, was sie dem Knaben beibrachte, war
Papa zu sagen; aber das sagte sie nur, wenn die Mutter, oder vielmehr
die Großmutter, wie sie fortan hieß, nicht in der Nähe war. Die Folge
davon war, daß das Kind zu seiner Großmutter Papa sagte. Es kostete
Margit viel Mühe, ihm das wieder abzugewöhnen, und sie trug hierdurch
dazu bei, frühzeitig sein Begriffsvermögen zu bilden. Er war noch
ziemlich klein, als er schon wußte, daß Schneider Nils sein Vater
sei,--und als er in das Alter kam, wo alles Abenteuerliche einen Reiz
hat, erfuhr er auch, was für ein Kerl Schneider Nils eigentlich sei. Die
Großmutter hatte streng verboten, auch nur seinen Namen zu nennen; ihr
Hauptehrgeiz war, aus Kampen einen Bauernhof zu machen, damit die
Tochter und der Junge keine Sorgen hätten. Sie nutzte die bedrängte Lage
des Besitzers aus, erwarb die Wirtschaft, bezahlte jedes Jahr ab und
stand der Arbeit wie ein Mann vor, war sie doch seit vierzehn Jahren
Witwe. Kampen war ein großer Hof und wurde noch immer erweitert, so daß
er jetzt schon vier Kühe und sechzehn Schafe ernährte und halben Anteil
an einem Pferd hatte.

Schneider Nils trieb sich unterdes in der Gegend herum; seine Einnahmen
hatten abgenommen, teils weil er weniger darauf ausging, teils auch,
weil er nicht mehr so war wie früher. Er legte sich immer mehr aufs
Geigenspiel, und die Gelage und damit die Schlägereien und schlimmen
Tage wurden häufiger. Es gab Leute, die ihn klagen gehört haben wollten.

Arne war vielleicht sechs Jahr alt, als er eines Tags im Winter im Bett
herumrutschte; die Bettdecke war das Segel, und er steuerte mit einer
großen Kelle. Die Großmutter saß in der Stube und spann, hatte so ihre
Gedanken und nickte manchmal vor sich hin, als stünde das fest, was sie
dachte. Da merkte der Junge, daß er unbeobachtet war, und da sang er die
Weise vom Schneider Nils, so wie er sie gelernt hatte, in ihrer ganzen
Roheit und Wildheit:

    So du nicht gestern erst kommen bist,
    Hast du vom Schneider Nils wohl gehört, und wie stark er ist.

    So du nicht bloß über Nacht her verschlagen,
    Ward dir wohl kund, wie er warf den Knut Storedragen.

    Den Ola-Per hat er auf sein Scheundach gehoben,--
    "'s nächste Mal bleibst du drei Wochen droben!"

    Hans Bugge war ein Mann, von Ansehn nicht gering,
    Land und Strand war nicht sicher, wo sein Fuß ging.

    "Hallo, Schneider Nils, wo pflögst du gern der Ruh?
    So spuck' ich auf den Fleck und leg' dich selber dazu!"

    "Du komm nur erst heran, so werd' ich dir's sagen!
    Meinst, es langt schon dein Maul, einen Mann zu erschlagen!"

    Beim ersten Gang war noch nichts gebrochen.
    Beide Kerle standen noch fest in den Knochen.

    Beim zweiten Gang strauchelte Bugge-Hans.
    "Wirst müd', Bugge? He, 's ist ein harter Tanz!"

    Beim dritten Gang stürzt' er, spie Blut auf die Diel'--
    "Hast wacker gespuckt, Kerl!"--"Verdammt! Wie ich fiel!"

Weiter sang der Junge nicht; es gab noch zwei Verse, die die Mutter ihn
wohl nicht gelehrt hatte:

    Sahst du je eines Baums Schatten auf jungem Schnee?
    Sahst du je, wie Nils eine Jungfrau anlacht, he?

    Hast du je Schneider Nils den Halling tanzen sehn?
    Bist du ein Mädel, so geh;--sonst ist's um dich geschehn.

Diese beiden Verse kannte aber die Großmutter und sie fielen ihr ein,
zumal weil sie nicht gesungen wurden. Zu dem Knaben sagte sie nichts,
zur Mutter aber sagte sie: "Bringe dem Jungen Deine eigene Schande nur
gut bei,--vergiß die beiden letzten Verse nicht!"--

Schneider Nils war durch das Trinken so heruntergekommen, daß er nicht
mehr der alte war. Die Leute meinten, es gehe mit ihm zu Ende.

Da geschah es, daß zwei Amerikaner ins Dorf kamen, und als sie hörten,
in der Nähe sei eine Hochzeit, da wollten sie gleich hin, um Sitten und
Gebräuche kennen zu lernen. Hier spielte Nils. Sie gaben jeder einen
Taler für die Spielkasse und baten um den Halling. Niemand wollte den
tanzen, so sehr auch darum gebeten wurde. Jeder einzelne bat Nils, ihn
selbst zu tanzen; "er könne es doch am besten." Er weigerte sich, aber
nur um so hartnäckiger wurde die Aufforderung, zuletzt wurde sie
einstimmig, und das gerade hatte er gewollt. Er gab die Fiedel einem
andern, zog den Rock aus, nahm die Mütze ab, trat in den Kreis und
lächelte. Jetzt folgte ihm die alte Aufmerksamkeit, und das gab ihm auch
die alte Kraft. Die Zuschauer drängten sich so dicht wie möglich
zusammen, die hintersten kletterten auf Tische und Bänke, ein paar
Mädchen standen höher als alle andern,--und die vorderste von
ihnen,--die Große mit dem hellen, bräunlichschimmernden Haar und den
blauen, tiefliegenden Augen unter der kräftigen Stirn und mit einem
breiten Munde, der oft lächelte und sich dann immer nach einer Seite
verzog,--war Birgit Böen. Nils gewahrte sie, als er zu den Deckenbalken
emporsah. Die Geige setzte ein, tiefe Stille entstand, und er trat zum
Tanz an. Er warf sich auf den Boden, schob sich im Takt der Musik halb
auf der Seite an der Erde hin, schlenkerte mit den Beinen, warf sie ab
und zu kreuzweis unter sich, sprang wieder auf, stellte sich wie zum
Wurf bereit und ging dann wieder schräg wie vorhin. Die Fiedel wurde von
tüchtiger Hand gestrichen. Die Weise wurde immer feuriger. Nils bog den
Kopf immer weiter zurück, und plötzlich lag der Stiefelabsatz am
Deckenbalken, daß der Staub herunterrieselte. Alle lachten und
kreischten um ihn herum, die Mädchen hielten den Atem an. Die Melodie
jauchzte dazwischen und trieb zu immer tolleren Sprüngen an. Er
widerstand ihr auch nicht, bog den Körper vornüber, hüpfte im Takt,
richtete sich wie zum Wurf auf, hielt sie aber nur zum Narren, kam
wieder ins Schlendern, und wie es aussah, als denke er gar nicht an
Springen, da donnerte sein Stiefelabsatz gegen den Deckenbalken, und
noch einmal, dann ein Purzelbaum vornüber, hintenüber--und immer stand
er wieder kerzengrade auf den Füßen. Jetzt mochte er nicht mehr. Die
Fiedel machte ein paar kecke Läufe, ging in einen tieferen Ton über, in
dem sie zitternd verhallte, und erstarb in einem einzelnen langen Strich
auf der Baßsaite. Die Gruppen zerstreuten sich; lebhaftes Gespräch, in
das sich Rufe und Gekreisch mischten, löste die Stille ab. Nils lehnte
sich gegen die Wand; da kamen die Amerikaner mit ihrem Dolmetscher hin
zu ihm und gaben ihm jeder fünf Taler. Wieder Stille.

Die Amerikaner sprachen ein paar Worte mit ihrem Dolmetscher; darauf
fragte dieser, ob Nils als ihr Diener mit ihnen gehen wolle; er solle
bekommen, was er verlange. "Wohin?" fragte Nils; die andern drängten
sich so nahe wie möglich heran. "Hinaus in die Welt", war die Antwort.
"Wann?" fragte Nils, blickte mit strahlendem Gesicht umher, begegnete
Birgit Böens Augen und ließ sie nicht mehr los.--"In einer Woche, wenn
wir zurückkommen", war die Antwort.--"Es kann schon sein, daß ich bis
dahin bereit bin", sagte Nils und wog seine beiden Fünftalerstücke in
der Hand.--Er hatte einen Arm auf die Schulter eines Mannes gestützt,
der neben ihm stand, und er zitterte so, daß der Mann ihn auf die Bank
setzen wollte.

"Es hat nichts auf sich", sagte Nils, machte ein paar unsichere Schritte
über die Diele, trat dann fest auf, drehte sich um und bestellte einen
Hoppser.

Die Mädchen standen vorn, er schaute sich lange und prüfend um, und ging
dann geradenwegs auf Eine im dunklen Rock zu, und das war Birgit Böen.
Er streckte ihr die Hand hin und sie gab ihm beide; da lachte er, wich
zurück, nahm Eine neben ihr und tanzte übermütig mit der davon. Das Blut
schoß Birgit in Hals und Gesicht. Ein großer Mann mit einem gütigen
Gesicht stand hinter ihr; er nahm sie bei der Hand und tanzte mit
ihr--dicht hinter Nils her. Der sah es, und es geschah vielleicht aus
Versehen, daß er so heftig gegen sie antanzte, daß der Mann und Birgit
mit großem Gepolter zu Fall kamen. Gelächter und Gejohle erhob sich
ringsum. Birgit stand mühsam auf, ging beiseite und weinte bitterlich.

Der Mann mit dem gutmütigen Gesicht kam langsamer in die Höhe, ging aber
dann gleich auf Nils zu, der immer noch tanzte. "Hör' mal einen
Augenblick auf", sagte der Mann. Nils achtete dessen nicht, und da
packte ihn der Mann am Arm. Nils riß sich los und sah ihn groß an. "Ich
kenne Dich nicht", sagte er lächelnd. "Nein, aber jetzt wirst Du mich
kennen lernen", sagte der Mann mit dem gütigen Gesicht und versetzte
ihm einen Schlag gegen das eine Auge. Nils, der darauf nicht gefaßt
gewesen war, stürzte mit hartem, schwerem Fall gerade auf die scharfe
Kante vom Feuerherd; er wollte sich gleich wieder aufrichten, vermochte
es aber nicht; ihm war das Rückgrat gebrochen.

Auf Kampen war eine große Veränderung vor sich gegangen. Die Großmutter
hatte in der letzten Zeit gekränkelt; als das anfing, hatte sie emsiger
als je gespart, um den Hof von Schulden frei zu machen. "Dann hast Du
und der Junge soviel, wie Ihr braucht. Und läßt Du einen herein, der es
Euch durchbringt, dann drehe ich mich im Grabe um." Gegen den Herbst zu
hatte sie auch die Freude, daß sie mit dem letzten Rest der Schuld zum
ehemaligen Haupthof hinaufhumpeln konnte, und froh war sie, als sie
wieder daheim auf der Bank saß und sagen konnte: "Jetzt hab' ich's
erreicht." Aber in der gleichen Stunde kam auch die Krankheit bei ihr
zum Ausbruch; sie mußte ins Bett und stand nicht mehr auf. Ihre Tochter
ließ sie an einem freien Platz auf dem Kirchhof begraben; sie bekam
einen schönen Grabstein, auf dem ihr Name und ihr Alter standen und ein
Gesangbuchvers aus dem Kingo. Zwei Wochen, nachdem sie unter der Erde
lag, war aus ihrem schwarzen Sonntagskleid ein Anzug für den Knaben
gemacht, und als er den anhatte, wurde ihm so feierlich zumut, als wäre
die Großmutter wiedergekommen. Aus eigenem Antrieb setzte er sich vor
das großgedruckte Gesangbuch, aus dem die Großmutter jeden Sonntag
vorgelesen und gesungen hatte; er schlug es auf; ihre Brille lag darin.
Die hatte der Junge zu ihren Lebzeiten nie anrühren dürfen; jetzt nahm
er sie ängstlich in die Hand, setzte sie sich auf die Nase und sah
wieder ins Buch. Es war ihm wie Nebel vor den Augen. Das ist doch
merkwürdig, dachte der Junge; damit konnte die Großmutter Gottes Wort
lesen. Er hielt sie hoch gegen das Licht, um zu sehen, woran es liegen
könne, und--da lag die Brille in Scherben auf der Erde!

Ihm wurde angst und bange, und als im selben Augenblick die Tür
aufging, meinte er, nun werde die Großmutter hereinkommen; es war aber
seine Mutter, und hinter ihr her kamen sechs Männer, die unter großem
Lärm und Getrampel eine Tragbahre trugen und sie mitten im Zimmer auf
den Boden hinsetzten. Die Tür blieb weit hinter ihnen offen stehen, so
daß es kalt in der Stube wurde.

Auf der Bahre lag ein Mann mit dunklem Haar und bleichem Gesicht; die
Mutter ging weinend umher. "Legt ihn behutsam aufs Bett", bat sie und
griff selbst mit zu. Wie aber die Männer ihn hineintrugen, knirschte
etwas unter ihren Füßen. "Ach, das ist bloß Großmutters Brille", dachte
der Junge, sagte es aber nicht.



Drittes Kapitel


Das war, wie gesagt, im Herbst. Acht Tage, nachdem Schneider Nils zu
Margit Kampen gebracht war, kam von den Amerikanern die Nachricht, er
möge sich bereit halten. Er wand sich gerade in furchtbaren Schmerzen
und schrie, indem er die Zähne zusammenbiß: "Laß sie zur Hölle fahren!"
Margit stand, als habe sie keine Antwort bekommen. Er bemerkte das, und
nach einer Weile wiederholte er langsam und matt: "Laß sie--reisen!"

Zum Winter war er so weit, daß er aufrecht sitzen konnte, wenn auch
seine Gesundheit für immer zerrüttet war. Als er das erstemal auf war,
holte er seine Geige hervor und stimmte sie, wurde aber so aufgeregt,
daß er wieder ins Bett mußte. Er war sehr wortkarg, doch umgänglich, und
nach einiger Zeit fing er an, den Knaben zu unterrichten und Arbeit ins
Haus zu nehmen. Hinaus kam er nicht, und mit denen, die ihn besuchten,
sprach er nicht. In der ersten Zeit trug Margit ihm die Dorfneuigkeiten
zu, aber er war immer verstimmt hinterher; da ließ sie es sein.

Gegen den Frühling saßen er und Margit länger als gewöhnlich nach dem
Abendbrot zusammen und besprachen etwas. Der Junge wurde ins Bett
geschickt. Anfang des Frühlings wurden sie von der Kanzel aufgeboten und
dann in aller Stille getraut.

Er arbeitete auf dem Felde mit und machte alles verständig und
ordentlich. Margit sagte zu dem Jungen: "Wir haben Nutzen von ihm und
Freude. Nun mußt Du aber auch artig und gehorsam sein und ihm alles zu
Liebe tun."

Margit war bei ihrem Kummer doch immer recht blühend gewesen; sie hatte
ein rosiges Gesicht und sehr große Augen, die noch größer aussahen, weil
sie in einem dunklen Ringe lagen. Sie hatte volle Lippen, ein rundliches
Gesicht und sah frisch und stark aus, obwohl sie gar nicht so große
Kräfte hatte. In dieser Zeit sah sie hübscher aus als je und sang nach
ihrer Art in einemfort bei der Arbeit.

Da kam ein Sonntagnachmittag, an dem Vater und Sohn fortgingen, um zu
sehen, wie dies Jahr die Äcker ständen. Arne sprang um seinen Vater
herum und schoß mit einem Flitzbogen; Nils hatte ihn dem Jungen selbst
gemacht. So ging es bergan auf den Weg zu, der von Kirche und Pfarrhaus
in das sogenannte Breite Dorf hinunterführte. Nils setzte sich auf einen
Stein am Wegrand und versank in Gedanken, sein Junge schoß den Weg
entlang und sprang dem Pfeil nach, in der Richtung auf die Kirche zu.
"Nicht zu weit", sagte der Vater. Wie der Knabe mitten im besten Spiel
war, blieb er lauschend stehen. "Vater, ich höre Musik." Der lauschte
auch; man hörte Geigenklänge, zuweilen übertönt von Rufen und wildem
Lärm, dabei beständig Wagengerassel und Hufschlag; es war ein Brautzug,
der von der Kirche heimkehrte. "Komm her, Junge", rief der Vater, und
Arne hörte am Ton, daß er schnell kommen müsse. Der Vater war eilig
aufgestanden und versteckte sich hinter einem dicken Baum. Der Junge
hinterher;--"nicht hierher, dahin!" Der Junge hinter einen
Erlenbusch.--Schon bog die Wagenreihe um den Birkenwald, sie kamen in
rasender Fahrt, die Pferde schäumten, die betrunkenen Menschen
kreischten und johlten. Vater und Sohn zählten die Wagen; es waren im
ganzen vierzehn. Im ersten saßen zwei Spielleute, und der Brautmarsch
klang durch die klare Luft; ein Bursch stand hinten und lenkte die
Pferde. Dann kam die Braut mit der hohen Krone, die in der Sonne
schimmerte; sie lächelte, und dabei verzog sich der Mund nach der einen
Seite; neben ihr saß ein Mann im blauen Anzug mit einem gütigen Gesicht.
Dann kam das Gefolge, die Männer saßen den Frauen auf dem Schoß,
hintenauf saßen Kinder, Betrunkene fuhren zu Sechsen in einem
Einspänner, der Marketender saß im letzten Wagen und hatte ein Faß mit
Branntwein auf dem Schoß. Sie zogen unter Gesang und Gejohle vorbei und
jagten in gewaltiger Eile die Anhöhe hinunter; das Geigenspiel, das
Gekreisch und das Wagengerassel klang aus der Staubwolke hinter ihnen
heraus; dann trug der Wind einen vereinzelten Aufschrei herüber, dann
nur noch ein dumpfes Dröhnen und dann nichts mehr. Nils stand noch immer
unbeweglich; der Junge kam zuerst wieder zum Vorschein.

"Wer war das, Vater?" Aber der Junge fuhr zusammen, denn sein Vater
machte ein so böses Gesicht. Arne stand ganz still und wartete auf die
Antwort; dann stand er immer noch still, weil er keine bekam.
Schließlich, schließlich wurde ihm die Zeit lang, und er wagte ein:
"Wollen wir jetzt gehen?" Nils stand noch immer, als blicke er dem
Brautzuge nach, raffte sich jetzt zusammen und ging; Arne hinterher. Er
legte einen Pfeil auf den Bogen, schoß ihn ab und lief hinterdrein.
"Tritt das Gras nicht 'runter", sagte Nils kurz. Der Junge ließ den
Pfeil liegen und kehrte um. Nach einer Weile hatte er das wieder
vergessen, und als sein Vater einmal still stand, legte er sich hin und
schlug Rad. "Tritt mir das Gras nicht 'runter, hab' ich gesagt"; dabei
wurde er am Arm gepackt und in die Höhe gerissen, als solle der Arm aus
dem Gelenk gehen. Fortan ging er ganz still hinterher.

In der Tür wartete Margit auf sie; sie kam gerade aus dem Kuhstall, wo
sie tüchtige Arbeit gehabt haben mußte, denn ihr Haar war zerzaust, ihr
Hemd nicht sauber und ihr Kleid auch nicht; aber sie stand in der Tür
und lachte: "Ein paar Kühe hatten sich losgerissen und trieben allerhand
Unfug; jetzt sind sie wieder fest."--"Du könntest Dich Sonntags auch
wohl ein bißchen ordentlich anziehen", sagte Nils, indem er an ihr
vorbei in die Stube ging. "Ja, jetzt habe ich Zeit, mich anzuziehen, wo
meine Arbeit getan ist", sagte Margit und ging hinterher. Sie fing auch
gleich damit an und sang, während sie sich putzte. Nun sang Margit recht
hübsch, aber bisweilen war ihre Stimme ein bißchen hart. "Hör' mit dem
Gegröhle auf", sagte Nils; er hatte sich der Länge nach aufs Bett
geworfen. Margit hielt inne. Da kam der Junge hereingestürmt: "Hier ist
ein großer schwarzer Hund auf dem Hof, ein häßlicher Köter--!"--"Halt's
Maul, Junge", sagte Nils vom Bett her und streckte einen Fuß hervor, um
damit auf den Boden zu stampfen: "Den Bengel muß der Teufel reiten",
brummte er dann und zog den Fuß wieder in die Höhe. Die Mutter drohte
dem Knaben. "Du siehst doch, daß Vater nicht gut aufgelegt ist", meinte
sie. "Möchtest Du etwas starken Kaffee mit Sirup haben?" fragte sie; sie
wollte ihn gern wieder versöhnen. Das war ein Getränk, das die
Großmutter sehr geliebt hatte und die andern auch. Nils mochte es gar
nicht, aber er hatte es doch getrunken, weil die andern es auch taten.
"Möchtest Du nicht etwas starken Kaffee mit Sirup haben?" wiederholte
Margit, weil er das erstemal nicht geantwortet hatte. Nils stützte sich
auf die Ellbogen und brüllte: "Meinst Du, ich will dies Gemantsch
hinunterwürgen?"--Margit war höchlichst erstaunt, nahm ihren Jungen mit
und ging hinaus.

Sie hatten verschiedenes draußen zu tun und kamen erst zum Abendbrot
wieder hinein. Da war Nils verschwunden. Arne wurde aufs Feld geschickt,
um ihn zu rufen, fand ihn aber nirgends. Sie warteten, bis das Essen
beinahe kalt geworden war, aßen dann, und noch immer war Nils nicht da.
Margit wurde unruhig, schickte den Jungen ins Bett und wartete. Kurz
nach Mitternacht kam Nils. "Wo bist Du denn gewesen, Schatz?" fragte
sie. "Was geht Dich das an?" antwortete er und ließ sich langsam auf der
Bank nieder. Er war betrunken.

In der nächsten Zeit war Nils oft im Dorf, und beständig kam er bezecht
heim. "Ich halt' es hier zu Hause bei Dir nicht aus", sagte er einmal,
als er kam. Sie versuchte, sich mit Sanftheit zu verteidigen; da
stampfte er mit den Füßen auf und hieß sie schweigen; wenn er betrunken
sei, so sei es ihre Schuld; wenn er schlecht sei, so sei es auch ihre
Schuld; wenn er für sein ganzes Leben ein Krüppel und ein unglücklicher
Mensch sei, so sei auch das ihre Schuld, ihre und ihres verfluchten
Bengels Schuld. "Warum bist Du mir beständig nachgelaufen?" sagte er
schluchzend. "Was hatte ich Dir getan, daß Du mich nicht in Frieden
lassen konntest?"--"Gott soll mich behüten und bewahren," sagte Margit,
"ich wäre Dir nachgelaufen?"--"Ja, das bist Du!" schrie er und stand
auf, und weinend fuhr er fort: "Jetzt hast Du es ja, wie Du es haben
wolltest. Ich wanke jetzt hier von Baum zu Baum und sehe Tag für Tag
mein eigen Grab vor Augen. Aber ich hätte in Herrlichkeit und Freuden
mit der schönsten Bauerntochter im ganzen Dorf leben können; ich hätte
reisen können, soweit die Sonne reicht,--hättest Du mit Deinem
verdammten Bengel mir nicht den Weg versperrt." Sie versuchte wieder,
sich zu verteidigen; "es sei doch auf keinen Fall die Schuld des
Jungen." "Bist Du nicht still, dann kriegst Du eins!" und er schlug sie.

Wenn er am andern Tage seinen Rausch ausgeschlafen hatte, schämte er
sich und war, besonders zu dem Jungen, sehr freundlich. Aber bald war er
von neuem betrunken, und dann schlug er sie wieder; schließlich schlug
er die Mutter beinahe jedesmal, wenn er betrunken war; der Junge weinte
und jammerte, da schlug er ihn auch. Zuweilen wurde seine Reue so groß,
daß er aus dem Hause mußte. In dieser Zeit lockte ihn das Tanzen wieder;
wie früher spielte er dazu auf und nahm den Jungen mit, daß er ihm den
Kasten trage. Da sah der Junge mancherlei. Die Mutter weinte, daß er mit
mußte, wagte es aber nicht zum Vater zu sagen. "Denk an den lieben Gott
und lerne nichts Schlechtes", flehte sie und liebkoste ihn. Beim Tanz
aber war es sehr lustig, und zu Haus bei der Mutter war es gar nicht
lustig. Er wandte sich immer mehr von ihr ab und dem Vater zu. Sie sah
es und schwieg. Beim Tanz lernte er manche Weise, und die sang er
nachher dem Vater vor. Dem machte es Spaß, und zuweilen brachte der
Junge ihn zum Lachen. Das schmeichelte dem Jungen so, daß er sich fortan
Mühe gab, soviele Lieder wie möglich zu lernen; bald merkte er sich
auch, welche Art von Liedern der Vater am liebsten mochte, und bei
welchen Stellen er lachte. Wenn so etwas nicht in den Liedern war, dann
legte der Junge es, so gut er konnte, hinein; das gab ihm frühzeitig
Übung, Worte nach einer Melodie zusammenzusetzen. Spottlieder und
häßliche Dinge über Leute, die zu Ansehen und Wohlstand gekommen, waren
dem Vater die liebsten, und der Junge sang sie.

Die Mutter wollte ihn abends immer gern mit in den Kuhstall nehmen;
allerhand Vorwände fand er, um dem zu entgehen; wenn aber alles nichts
nützte und er mit mußte, dann sprach sie gar erbaulich mit ihm von Gott
und allem Guten und schloß meistens damit, daß sie ihn unter heißen
Tränen in die Arme nahm und ihn bat, ihn anflehte, kein schlechter
Mensch zu werden.

Die Mutter unterrichtete ihn, und der Junge war außerordentlich
gelehrig. Sein Vater war ungeheuer stolz darauf und sagte ihm--besonders
wenn er betrunken war--, er habe seinen Kopf.

Beim Tanz pflegte nun der Vater, wenn der Rausch ihn unterkriegte, Arne
aufzufordern, den Leuten etwas vorzusingen. Er tat es und sang, unter
Gelächter und Beifall, ein Lied nach dem andern; der Beifall machte dem
Sohn beinahe noch mehr Spaß als dem Vater, und schließlich wollten die
Lieder, die er singen konnte, gar kein Ende mehr nehmen. Besorgte
Mütter, die es mitanhörten, gingen selbst zu seiner Mutter und sprachen
mit ihr darüber, weil der Inhalt der Lieder nicht so war, wie er sein
sollte. Die Mutter nahm sich ihren Jungen vor und verbot ihm bei Gott
und allem Guten, solche Lieder zu singen, und da war es dem Jungen, als
ob alles, was ihm Spaß mache, der Mutter nicht recht sei. Er erzählte
zum erstenmal seinem Vater, was die Mutter gesagt hatte. Das mußte sie
schwer büßen, als der Vater wieder einmal betrunken war; er sparte immer
alles bis dahin auf. Da aber wurde es dem Knaben klar, was er getan
hatte, und in seiner Seele bat er Gott und sie um Verzeihung, da er sich
nicht überwinden konnte, es offenkundig zu tun. Die Mutter war gütig wie
immer gegen ihn, und das schnitt ihm ins Herz.

Einmal vergaß er es aber. Er hatte die Gabe, alle Leute nachmachen zu
können; besonders konnte er ihre Sprache und ihren Gesang nachmachen.
Die Mutter kam eines Abends in die Stube, als der Junge seinen Vater
damit unterhielt, und als sie wieder draußen war, kam der Vater auf
den Einfall, er solle den Gesang der Mutter nachmachen. Er weigerte sich
anfangs; sein Vater aber, der im Bett lag und sich vor Lachen
schüttelte, bestand darauf, daß er auch nachmachen sollte, wie die
Mutter sang. "Sie ist ja nicht da," dachte der Junge, "und kann es nicht
hören", und er machte ihr nach, wie ihre Stimme manchmal klang, wenn sie
heiser und tränenerstickt war. Der Vater lachte, daß es dem Jungen fast
unheimlich wurde, und er hörte von selbst auf. Da kam die Mutter von der
Küche herein, sah den Jungen lange und traurig an, holte eine
Milchschüssel vom Brett und trug sie hinaus.

Ihn überlief es siedend heiß; sie hatte alles gehört. Er sprang vom
Tisch, auf dem er gesessen hatte, herunter, ging hinaus, warf sich auf
die Erde und hätte sich am liebsten darin begraben. Es ließ ihm keine
Ruh, er stand auf und wollte weiter fort. Er ging an der Scheune vorbei,
und dahinter saß die Mutter und nähte gerade an einem schönen neuen Hemd
für ihn. Sie pflegte sonst, wenn sie so dasaß, ein Kirchenlied bei der
Arbeit zu singen; jetzt aber sang sie nicht. Sie weinte auch nicht, sie
saß nur und nähte. Da konnte Arne es nicht länger aushalten; er warf
sich vor ihr ins Gras nieder, blickte zu ihr auf und schluchzte, daß er
am ganzen Körper bebte. Die Mutter ließ die Arbeit sinken und nahm
seinen Kopf zwischen ihre Hände. "Armer Arne", sagte sie und legte ihren
Kopf an seinen. Er machte nicht den Versuch, ein Wort zu sagen, sondern
weinte, wie er nie zuvor geweint hatte. "Ich wußte ja, Du bist im Grunde
gut", sagte seine Mutter und strich ihm übers Haar. "Mutter, Du darfst
nicht nein sagen, wenn ich Dich um etwas bitte", war das erste, was er
sagen konnte. "Du weißt, das tue ich auch nicht", antwortete sie. Er
versuchte, seiner Tränen Herr zu werden und dann stieß er, den Kopf in
ihrem Schoß, heraus: "Mutter--sing mir etwas vor!"--"Ich kann ja nicht,
mein Junge", sagte sie leise.--"Mutter, sing' mir etwas vor," flehte der
Junge, "oder ich glaube, ich darf Dir nie mehr in die Augen sehen." Sie
strich ihm übers Haar, schwieg aber. "Mutter, sing doch, sing, hörst Du!
Sing doch!" bettelte er, "oder ich gehe so weit weg, daß ich nie mehr
nach Hause kommen kann." Und während der große vierzehnjährige Junge so
dalag, den Kopf in der Mutter Schoß, fing sie, über ihn gebeugt, zu
singen an:

    Der du, Herr, um mein Sorgen weißt,
    Schütze mir meinen Jungen!
    Schick ihm deinen Heiligen Geist,
    Kommt er zum Strande gesprungen!
    Glatt ist der Sand, das Wasser bewegt;
    Aber wenn er den Arm um ihn legt,
    Tut ihm die Welle nicht Schaden,
    Bis du ihn rettest voll Gnaden.
    Bange sitzt die Mutter zu Haus:
    Ob ihm ein Unglück geschehen?
    Tritt in die Türe, ruft hinaus...
    Nichts ist zu hören, zu sehen.
    Tröstet sich endlich: ob hier, ob da
    Du und er, ihr seid ihm ja nah;
    Jesulein, ihm zur Seiten,
    Wird ihn nach Haus geleiten.

Sie sang mehrere Verse; Arne lag ganz still; ein wohltuender Frieden kam
über ihn, und er fühlte eine erquickende Müdigkeit. Das letzte, was er
deutlich hörte, war von Jesus; da tat sich eine helle Welt vor ihm auf,
und ihm war, als singe da ein Chor von zwölf oder dreizehn Stimmen; die
Stimme seiner Mutter hörte er aber aus allen heraus. Schönere Töne hatte
er nie gehört; er bat, man solle ihn so singen lehren. Er meinte es zu
können, wenn er ganz leise singe, und so sang er denn ganz leise, sang
noch einmal ganz leise und immer noch leiser, und es klang schon ganz
holdselig, als er vor Freude darüber mit kräftiger Stimme einsetzte, und
weg war es. Er wachte auf, sah sich um und lauschte, hörte aber nichts
als das ewige Rauschen des Wassers und den kleinen Bach, der mit leisem
stetigen Plätschern dicht an der Scheune vorbeifloß. Die Mutter war
fort; sie hatte das halbfertige Hemd und ihre Jacke ihm unter den Kopf
geschoben.



Viertes Kapitel


Als nun die Zeit gekommen war, da das Vieh in den Wald auf die Weide
getrieben werden sollte, wollte er es hüten. Sein Vater war dagegen; er
habe bis jetzt doch noch nie das Vieh gehütet und sei jetzt schon im
fünfzehnten Jahr. Er wußte aber so schön zu bitten, daß er zuletzt
seinen Willen bekam, und den ganzen Frühling, Sommer und Herbst über war
er nur zum Schlafen zu Hause, sonst aber den lieben langen Tag allein im
Walde.

In seine Einsamkeit da oben nahm er seine Bücher mit; er las und
schnitt Buchstaben in die Baumrinden; er ging sinnend und sehnsüchtig
einher und sang; aber wenn er abends nach Hause kam, war der Vater
häufig betrunken, mißhandelte die Mutter, verwünschte sie und das ganze
Dorf, und sprach davon, daß er einmal die weite, weite Welt hätte sehen
können. Da kam auch über den Jungen die Sehnsucht, in die Welt zu
ziehen. Zu Hause war es schrecklich, und seine Bücher lockten ihn
hinaus, und manchmal war's ihm, als locke ihn auch die Luft über den
hohen Bergen.

Da geschah es, daß er im Mittsommer mit Kristian, dem ältesten Sohn des
Kapitäns zusammentraf, der mit dem Knecht in den Wald gekommen war, um
die Pferde nach Hause zu reiten. Er war ein paar Jahr älter als Arne,
leichtherzig und lustig, unbeständig in seinen Gedanken, aber trotz
allem stark an Willen. Er sprach hastig und abgerissen, am liebsten von
zwei Dingen zu gleicher Zeit, ritt ungesattelte Pferde, schoß die Vögel
im Fluge, fischte mit Fliegen und kam Arne wie der Inbegriff aller
Vollkommenheit vor. Er hatte auch die Wanderlust und erzählte Arne von
fremden Ländern, daß ringsum alles Glanz war; er bemerkte Arnes Freude
am Lesen, und da brachte er ihm die Bücher mit, die er selbst gelesen
hatte; wenn Arne sie aus hatte, bekam er neue; des Sonntags saß er
selbst neben ihm und zeigte ihm, wie er Erdkunde und Landkarten zu
studieren habe, und den ganzen Sommer und Herbst lernte Arne soviel, daß
er ganz blaß und mager wurde.

Im Winter durfte er zu Hause weiter lernen, weil er im nächsten Jahr
konfirmiert werden sollte, außerdem aber auch mit dem Vater gut
umzugehen verstand. Er ging jetzt wohl in die Schule, aber in der Schule
machte er am liebsten die Augen zu und träumte sich nach Hause zu seinen
Büchern; er hatte ja auch unter den Bauernjungen keinen Kameraden mehr.

Mit den Jahren schlug der Vater die Mutter immer mehr, und auch seine
Trunksucht und seine körperlichen Schmerzen nahmen zu. Und weil Arne
trotzdem bei ihm sitzen und ihn unterhalten mußte, um der Mutter für
eine Stunde Frieden zu schaffen, und oft Dinge sagen mußte, die er jetzt
aus tiefstem Herzen verabscheute, so bekam er einen Haß auf seinen
Vater. Den verschloß er ebenso tief in sich wie die Liebe zu seiner
Mutter. Kam er mit Kristian zusammen, so war viel von großen Reisen und
von den Büchern die Rede; selbst dem Freunde verschwieg er, wie es bei
ihm zu Hause zuging. Aber manches Mal, wenn er von diesen weitgreifenden
Gesprächen allein heimwärts zog und daran dachte, was ihm nun wieder
bevorstehen mochte, weinte er und betete zu dem Gott über den Sternen,
er möge es fügen, daß er bald in die Ferne ziehen dürfe.

Im Sommer wurden Kristian und er konfirmiert. Kurz darauf setzte
Kristian seinen Plan durch. Sein Vater mußte ihn fortlassen, damit er
Seemann werden konnte; er schenkte Arne seine Bücher, versprach fleißig
zu schreiben--und reiste ab.

Nun stand Arne allein.

In dieser Zeit bekam er wieder Lust, Verse zu machen. Er flickte nicht
mehr an alten herum, er machte neue und legte all sein Leid hinein.

Aber ihm war schließlich das Herz zu schwer, und der Kummer verleidete
ihm die Lieder. In langen schlaflosen Nächten wurde es ihm jetzt zur
Gewißheit, daß er es nicht länger ertragen konnte, sondern weit, weit
fort wandern wollte und Kristian suchen--und keinem Menschen ein Wort
davon sagen. Er dachte an die Mutter und was aus ihr werden würde, und
er konnte ihr kaum in die Augen sehen.

Da saß er eines Abends spät auf und las. Wenn es ihm wie ein Alb auf der
Brust lag, nahm er seine Zuflucht zu den Büchern und merkte nicht, daß
sie das Gift noch schärfer machten. Der Vater war auf einer Hochzeit,
wurde aber noch diesen Abend zurückerwartet; die Mutter war müde und
hatte Angst vor ihm, deshalb hatte sie sich schlafen gelegt. Arne fuhr
bei einem schweren Fall auf der Diele und bei dem Gepolter von etwas
Hartem an der Tür zusammen. Da kam sein Vater nach Hause.

Arne machte die Tür auf und sah ihn an. "Du bist es, mein kluger Junge!
Komm, hilf Deinem Vater auf!" Arne hob ihn auf und führte ihn zur Bank.
Er nahm den Geigenkasten, trug ihn auch hinein und machte die Tür zu.
"Ja, schau' mich nur an, Du kluger Junge; schön sehe ich jetzt nicht
aus; das ist Schneider Nils nicht mehr. Das sag'--ich Dir,--damit
Du--nie Schnaps trinkst; das ist--der Satan, die Welt und unser eigen
Fleisch----, er widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber schenkt
er Gnade.----O je, o je!--Wie weit ist es mit mir gekommen!"

Er saß eine Weile ganz still, dann sang er schluchzend:

    "Herr, mein Erlöser, Jesus Christ,
    Hilf mir, wenn mir zu helfen ist;
    Lieg' ich auch tief im Sündenschlamm,
    Bin ich Dein Kind doch, Du Gotteslamm!"

"Herr, ich bin nicht wert, daß Du unter mein Dach kommst, aber sprich
nur ein Wort."--Er warf sich vornüber, verbarg das Gesicht in den Händen
und weinte wie im Krampf. Lange lag er so, und dann sagte er wortgetreu
aus der Bibel her, wie er es vor mehr als zwanzig Jahren gelernt hatte:
"Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!--Er
aber antwortete und sprach: 'Es ist nicht recht, daß man den Kindern das
Brot nehme und werfe es vor die Hunde.'--Sie aber sprach: 'Ja Herr,
essen doch aber die Hündlein von den Brosamen, die von ihres Herrn
Tische fallen.'"

Er schwieg, doch sein Weinen war jetzt befreiter und ruhiger.

Die Mutter war schon lange wach geworden, hatte aber nicht hinzusehen
gewagt. Jetzt, da er wie ein Erlöster weinte, stützte sie sich auf die
Ellbogen und sah ihn an.

Kaum aber wurde Nils sie gewahr, als er ihr zubrüllte: "Na, was guckst
Du?--Du willst wohl sehen, was Du aus mir gemacht hast. Ja, so sehe ich
jetzt aus, so und nicht anders!"--Er stand auf, und sie kroch unter die
Decke. "Na, kriech nur nicht weg, ich finde Dich doch", sagte er und
hielt die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger tastend vor
sich.--"Kille, kille!" sagte er, zog ihr die Decke weg und drückte ihr
den Zeigefinger auf die Gurgel.

"Vater!" sagte Arne.

"Nein, wie verschrumpft und klapprig Du geworden bist. Da ist nicht viel
dran. Kille, kille!" Die Mutter umspannte mit ihren beiden Händen
krampfhaft seine, konnte sich nicht losmachen und krümmte sich in einen
Knäuel zusammen.

"Vater!" sagte Arne.

"Na, jetzt kommt Leben in Dich. Wie sie sich windet, das alte Gespenst!
Kille, kille!"

"Vater!" sagte Arne, und die Stube fing an, sich um ihn zu drehen.

"Kille, kille, sag' ich!"--Sie ließ seine Hände los und ergab sich.

"Vater!" rief Arne. Er rannte in die Ecke, wo eine Axt stand.

"Du schreist wohl aus Trotz nicht? Nimm Dich aber in acht; ich hab'
solche schreckliche Lust bekommen. Kille, kille!"

"Vater!" schrie Arne und packte die Axt, blieb aber wie angewurzelt
stehen; denn in demselben Augenblick richtete der Vater sich auf, stieß
einen gellenden Schrei aus, griff sich nach der Brust und sank um;
"Jesus Christus!" sagte er und lag ganz still.

Arne wußte nicht mehr, wo er eigentlich war; er erwartete, die Stube
müsse auseinanderbersten und ein helles Licht irgendwo hineinfallen. Die
Mutter atmete schwer, als wälzte sie eine Last von sich ab. Schließlich
richtete sie sich halb auf und sah den Vater lang ausgestreckt auf dem
Fußboden liegen und den Sohn mit einer Axt daneben stehen.

"Gott Du Barmherziger, was hast Du getan?"--schrie sie und sprang aus
dem Bett, warf sich einen Rock über und kam heran. Da war ihm, als löste
sich seine Zunge. "Er ist von selbst umgefallen", sagte er
leise.--"Arne, Arne, das glaube ich Dir nicht," sagte die Mutter laut
und strafend, "jetzt sei Gott mit Dir!" und sie warf sich jammernd über
die Leiche. Der Junge aber erwachte aus seiner Betäubung und fiel auch
auf die Knie: "So wahr ich der Gnade Gottes teilhaftig werden will, er
ist auf der Stelle umgefallen."----"So ist Gott der Herr selbst hier
gewesen", sagte sie leise, kauerte sich zusammen und starrte vor sich
hin.

Nils lag noch unverändert und steif da; Mund und Augen waren offen. Die
Hände hatten sich einander genähert, als wollten sie sich falten, waren
aber dazu nicht mehr imstande gewesen. "Faß Deinen Vater an, Du bist
kräftig; hilf mir ihn aufs Bett legen." Und sie nahmen ihn und betteten
ihn; sie drückte ihm Augen und Mund zu, streckte ihn aus und faltete ihm
die Hände.

Dann standen sie beide da und schauten ihn an. Nichts von dem, was sie
bis jetzt erlebt hatten, war so bedeutungsvoll und so inhaltsschwer wie
diese Stunde. Wenn der Böse leibhaftig da gewesen war, so hatte doch
auch Gott der Herr hier gestanden; es war nur eine kurze Begegnung
gewesen. Alles Vorangegangene war nun abgetan.

Es war kurz nach Mitternacht, und sie wollten bei dem Toten wachen, bis
der Tag kam. Arne zündete auf dem Herde ein helles Feuer an, die Mutter
setzte sich daneben. Und wie sie so dasaß, ging ihr durch den Sinn,
wieviele böse Tage sie mit Nils gehabt hatte, und da dankte sie Gott in
heißem, inbrünstigem Gebet für das, was er getan. "Ich habe doch aber
auch manchen guten Tag gehabt", sagte sie und weinte, als bereue sie ihr
Dankgebet, und schließlich war sie so weit, die größte Schuld auf sich
zu nehmen, die sie aus Liebe zu dem Toten gegen Gottes Gebot gehandelt
hatte, ihrer Mutter ungehorsam gewesen und deshalb durch diese ihre
sündige Liebe gestraft worden war.

Arne setzte sich ihr gegenüber. Die Mutter blickte zum Bett
hinüber:--"Arne, Du darfst nicht vergessen, daß ich um Deinetwillen das
alles erduldet habe", schluchzte sie und hungerte nach einem lieben
Wort, das ihr in ihren Selbstanklagen Stütze und ein Trost in der
kommenden Zeit sein sollte. Der Junge bebte und konnte nicht antworten.
"Du darfst mich nie verlassen", schluchzte sie.--Da wurde ihm mit einem
Male klar, was sie in dieser ganzen Zeit des Jammers gewesen war, und
wie grenzenlos verlassen sie wäre, wenn er zum Lohn für ihre große Treue
jetzt von ihr ginge. "Nie, nie", flüsterte er und wollte hin zu ihr,
hatte aber nicht die Kraft dazu. So saßen sie, und ihr heftiges Weinen
floß ineinander. Sie betete laut, bald für den Toten, bald für sich und
den Jungen, und sie weinten, und sie betete wieder, und dann weinten sie
wieder. Dann sagte sie: "Arne, Du hast solch schöne Stimme; setz' Dich
zu Deinem Vater und sing ihm was vor."

Und es war, als komme neue Kraft über ihn. Er stand auf und holte das
Gesangbuch, zündete einen Kienspan an und setzte sich, den Span in der
einen Hand, das Gesangbuch in der andern, ans Kopfende des Bettes und
sang mit klarer Stimme den 127. Choral des Kingo:

    "Herr, o laß deinen Zorn jetzt fahren,
    Wolle die blutige Zuchtrute sparen,
    Die deines Grimmes Wucht uns kündigt,
    Weil wir gesündigt!"



Fünftes Kapitel


Arne wurde wortkarg und menschenscheu; er hütete das Vieh und machte
Verse. Er ging ins zwanzigste Jahr, und noch immer hütete er das Vieh.
Er lieh sich vom Pfarrer Bücher und las; aber das war auch das einzige,
was er tat.

Der Pfarrer ließ ihn auffordern, die Lehrerstelle anzunehmen, "denn das
Kirchspiel müsse Nutzen aus seinen Fähigkeiten und Kenntnissen ziehen".
Arne antwortete nicht; am andern Tage aber, während er die Schafherde
vor sich her trieb, machte er ein Lied:

    Böcklein junges, Lämmlein mein,
    Geht's auch oft über Stock und Stein
    Hoch auf schroffe Fjelle,--
    Folg' du nur brav deiner Schelle!

    Böcklein junges, Lämmlein mein,
    Halt dein Fell mir hell und rein!
    Mutter will vom Böcklein,
    Wenn es schneit, sein Röcklein.

    Böcklein junges, Lämmlein mein,
    Pfleg' mir auch dein Bäuchlein fein!
    Siehst nicht, kleiner Töffel,
    Mutters Suppenlöffel?

In seinem zwanzigsten Jahr wurde er eines Tages zufällig Zeuge eines
Gesprächs zwischen seiner Mutter und der Frau des früheren Hofbesitzers;
sie waren im Streit über das Pferd, das ihnen gemeinsam gehörte. "Ich
will abwarten, was Arne dazu sagt", meinte seine Mutter. "Ach, der
Faulpelz," antwortete die andre, "der möchte wohl, das Pferd triebe sich
im Walde 'rum, gerade wie er." Da schwieg die Mutter, so beredt sie
vorhin gewesen war.

Arne wurde feuerrot. Daß die Mutter um seinetwillen spöttische Worte
hören mußte, hatte er noch nie bedacht, und vielleicht hatte sie schon
gar viele hören müssen. Warum hatte sie ihm das nicht gesagt?

Er dachte lange darüber nach, und da fiel ihm ein, daß die Mutter fast
nie mit ihm sprach; er aber auch nicht mit ihr. Mit wem sprach er
überhaupt?

An manchem Sonntag, wenn er still zu Hause saß, hätte er gern seiner
Mutter die Predigt vorgelesen, weil ihre Augen nicht mehr gut waren; sie
hatte all ihr Lebtag zu viel geweint. Aber es war nichts draus geworden.
Manch liebes Mal hatte er ihr aus seinen eigenen Büchern vorlesen
wollen, wenn es so still im Hause war, und er dachte, sie müsse sich
langweilen. Aber es war nichts draus geworden.

"Ja, dann ist's nicht anders. Ich lasse das Hüten sein und gehe zu
Mutter hinunter." Er wartete ein paar Tage und befestigte sich in seinem
Entschluß; die Herde ließ er weit in den Wald hineingehen und dichtete
ein Lied:

    Im Dorfe, da ist Unruh, im Walde läßt sich's ruhn,
    Es pfändet hier kein Amtmann, dort pfänden zweie nun.
    Hier dreht nicht um die Kirche wie dort sich steter Zwist;
    Doch kommt's vielleicht daher, daß hier noch keine Kirche ist.

    Wie ruhig ist's im Walde; nur gründlich rupft allhier
    Der Habicht einen Spatzen aus reiner Wißbegier,
    Und nur der Adler würgt hier ein arm Geschöpf zu Tod,
    Weil arge Langeweile sonst ihn umzubringen droht.

    Ein Baum wird umgehauen, beim andern fault der Stamm;
    Dem Rotfuchs fiel gen Abend anheim das weiße Lamm.
    Der ward vom Wolf zerrissen, und beide wurden zahm;
    Denn Arne schoß das Wölflein tot, bevor der Morgen kam.

    Soviel kann sich ereignen im Wald und auf der Au;
    Da gilt's nur aufzupassen, daß man nichts Falsches schau'.
    'nen Burschen, der den Vater erschlug, sah ich im Traum;
    Ich weiß nicht wo, doch denk' ich mir, es war im Höllenraum.

Er kam nach Hause und sagte seiner Mutter, sie möge sich im Dorf nach
einem andern Hütejungen umsehn; er selbst wolle sich jetzt lieber um
den Hof bekümmern. So geschah es; aber seine Mutter kam immer mit
Ermahnungen; er solle sich nicht bei der Arbeit überanstrengen. Sie
setzte ihm in dieser Zeit auch so gutes Essen vor, daß er oft ganz
beschämt war; aber er sagte nichts.

Er trug sich mit einem Liede, dessen Kehrreim war: "Über die hohen
Berge." Er wurde aber nie damit fertig, und das lag hauptsächlich daran,
daß er den Kehrreim in jeder zweiten Zeile haben wollte; zuletzt gab er
es auf.

Mehrere der Lieder aber, die er gedichtet hatte, kamen unter die Leute
und fanden Beifall; manche hätten gern mit ihm geredet, zumal sie ihn
noch als Knaben gekannt hatten. Arne aber hatte Angst vor allen, die er
nicht kannte, und dachte schlecht von ihnen, vor allem weil er glaubte,
sie dächten schlecht von ihm.

Bei allen Feldarbeiten stand ihm ein Mann in mittleren Jahren zur Seite,
Knut vom Oberland, der die Angewohnheit hatte, mitunter zu singen, aber
immer dasselbe Lied. Als das ein paar Monate so fortgegangen war, dachte
Arne, er müsse ihn doch mal fragen, ob er nicht noch andere Weisen
könne. "Nein", sagte der Mann. So gingen einige Tage hin, und als der
Mann wieder einmal sein Lied sang, fragte Arne: "Wie ist es gekommen,
daß Du dies eine gelernt hast?"--"Ach, das kam so", sagte der Mann.

Gleich darauf ging Arne ins Haus; da aber saß die Mutter und weinte, was
er seit des Vaters Tode nicht mehr gesehen hatte. Er tat, als bemerke
er's nicht, und ging wieder auf die Tür zu; aber er fühlte, wie die
Mutter ihm schwermütig nachsah, und mußte stehen bleiben.--"Warum weinst
Du, Mutter?"--für eine Weile blieben seine Worte der einzige Laut in der
Stube, und deshalb stellte sich die Frage ihm immer wieder, so daß er
schließlich fühlte, sie habe nicht zart genug geklungen. Er fragte also
noch einmal: "Warum weinst Du, Mutter?"

"Ach, ich weiß auch nicht"; aber nun weinte sie noch mehr. Er stand
eine ganze Zeit da, und dann sagte er so mutig, wie er konnte: "Du
weinst über was Bestimmtes." Wieder blieb es still. Er fühlte sich sehr
schuldig, obwohl sie nichts gesagt hatte und er nichts Bestimmtes wußte.
"Es kam so über mich", sagte die Mutter. Nach einer Weile fügte sie
hinzu: "Ich bin ja im Grunde so glücklich", und dann weinte sie wieder.

Arne aber ging schnell hinaus; es zog ihn zu der Felswand hin. Er setzte
sich so, daß er hinunterschauen konnte, und wie er dasaß, kamen ihm auch
die Tränen. "Wenn ich nur wüßte, worüber ich weine", sagte Arne.

Über ihm auf dem umgepflügten Acker aber saß Knut und sang sein Lied:

    "Ingerid Sletten von Sillegjord
    Hatte weder Silber noch Gold,
    Nur ein bunt Häubchen, drin bräutlich hold
    Einst Mutter zur Kirche fuhr.

    Nur dies Vermächtnis von Elternhand,--
    Hatte sonst nichts in Keller noch Schrein;
    Doch ihr arm Häubchen vom Mütterlein
    Wog schwerer als aller Tand.

    Sie barg es zwanzig Jahre fromm
    Vor Licht und Tageslaut.
    --Ich trag' es wohl noch einmal als Braut
    Wann ich zum Herrgott komm'!

    Sie barg es dreißig Jahre lang
    Im Truhendämmer traut.
    --Ich trag' es doch noch als frohe Braut,
    Auf meinem Ehrengang.

    Und vierzig Jahre gingen ins Land,
    Sie hat noch der Mutter gedacht.
    --Mein Häubchen alt, nun glaub' ich sacht,
    Die Zeit für uns entschwand.

    Sie geht es holen, dem Tode nah,
    Ihr Herz schlug so stark dazu;
    Sie hastet sich hin nach der alten Truh',--
    Da war kein Fädchen mehr da."

Arne saß, als kämen die Töne fern von den Halden her. Er stieg zu Knut
hinauf. "Hast Du noch eine Mutter?" fragte er.--"Nein."--"Hast Du noch
einen Vater?"--"Ach nein, keinen Vater."--"Sind sie schon lange
tot?"--"O ja, schon lange."

"Du hast wohl nicht viele, die Dich lieb haben?"--"O nein, nicht
viele."--"Hast Du hier jemand?"--"Nein, hier nicht."--"Aber fern in
Deiner Heimat?"--"O nein, dort auch nicht."--"Hast Du denn gar keinen,
der Dich lieb hat?"--"Nein, keinen."

Aber Arne verließ ihn, und so lieb hatte er seine Mutter, als solle ihm
das Herz springen, und er hatte das Gefühl, als werde es hell über ihm.
Himmlischer Vater, dachte er, Du hast mir sie gegeben und durch sie so
unsäglich viel Liebe, und ich gehe achtlos an ihr vorüber--und wenn ich
sie einmal haben möchte, dann ist sie vielleicht nicht mehr da. Er
wollte hin zu ihr, bloß um sie zu sehen. Unterwegs aber fiel ihm
plötzlich ein: "Weil Du sie gering geachtet hast, wirst Du vielleicht
bald damit gestraft weiden, daß Du sie verlierst!"--Er blieb auf dem
Fleck stehen. "Allmächtiger Gott, was soll dann aus mir werden?"

Ihm war's, als geschehe jetzt ein Unglück zu Haus; er setzte in großen
Sprüngen auf das Haus zu, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, und
die Füße berührten kaum die Erde. Er riß die Stubentür auf. Die Mutter
hatte sich schlafen gelegt, der Mond fiel ihr gerade auf das Gesicht;
sie lag und schlummerte wie ein Kind.



Sechstes Kapitel


Einige Tage darauf beschlossen Mutter und Sohn, die sich seitdem inniger
aneinander angeschlossen hatten, bei Verwandten auf einem Nachbarhof
eine Hochzeit mitzumachen. Die Mutter war seit ihrer Mädchenzeit auf
keinem Fest mehr gewesen.

Die beiden kannten fast alle Gäste nur dem Namen nach, und Arne kam es
besonders sehr merkwürdig vor, daß ihn alle ansahen, wo er sich blicken
ließ.

Auf der Diele fiel hinter ihm ein Wort,--bestimmt wußte er es nicht,
aber er glaubte es gehört zu haben, und jeder Blutstropfen siedete in
ihm, wenn er daran dachte.

Dem Mann, der es gesagt hatte, ging er nun unaufhörlich nach und
schließlich setzte er sich neben ihn. Aber als er an den Tisch trat,
schien es ihm, als nehme das Gespräch schnell eine andere Wendung.

"Na, jetzt will ich mal 'ne Geschichte erzählen, an der man sieht, daß
nichts so fein gesponnen ist, es kommt schließlich doch an die Sonnen",
sagte der Mann, und Arne hatte das Gefühl, er sehe ihn dabei an. Es war
ein häßlicher Mensch mit dünnem roten Haar über einer hohen runden
Stirn. Darunter lagen ein Paar sehr kleine Augen und eine kleine
Kartoffelnase; der Mund aber war sehr groß und hatte wulstige Lippen von
weißlicher Farbe. Wenn er lachte, sah man die beiden Gaumen. Seine Hände
lagen auf dem Tisch: sie waren sehr grob und plump, das Handgelenk aber
war dünn. Er hatte einen stechenden Blick und sprach schnell, aber es
kostete ihn Anstrengung. Man nannte ihn den Maulhelden, und Arne wußte,
daß Schneider Nils ihm in alten Tagen übel mitgespielt hatte.

"Ja, es gibt viel Sünde in dieser Welt; sie ist uns näher, als wir
glauben----. Aber das ist gleich. Jetzt sollt Ihr etwas sehr Häßliches
hören. Die Älteren unter Euch werden sich wohl noch an Alf, an den
Ranzen-Alf erinnern. 'Werd' schon wiederkommen!' sagt Alf; die Redensart
stammt von ihm; denn wenn er einen Handel abgeschlossen hatte--und
handeln konnte der Kerl!--dann schwang er seinen Ranzen auf den Rücken;
'werd' schon wiederkommen!' sagt Alf. Teufel, war das ein Kerl, ein
Prachtkerl, ein Hauptkerl war der Alf, der Ranzen-Alf!----Ja, und dann
kam die Sache mit ihm und dem großen Faulpelz. Der Faulpelz,--ja, Ihr
kennt den Faulpelz doch?--groß war er, und faul war er auch. Er
vergaffte sich in ein rabenschwarzes Pferd, mit dem der Ranzen-Alf
einherkam und das wie ein Frosch hüpfte. Und eh' es dem Faulpelz noch
recht zum Bewußtsein kam, hatte er fünfzig Taler für die Mähre bezahlt.
Der Faulpelz, so lang wie er war, auf einen Wagen 'rauf, um mit dem
Fünfzigtalerpferd Parade zu fahren; aber er mochte peitschen und
fluchen, daß der Hof in einer Staubwolke lag,--das Pferd lief
seelenruhig auf jede Tür und jede Mauer los, die irgend da war;--denn es
hatte den Star.--Von Stund an lagen sich diese beiden überall in den
Haaren wie zwei Kampfhähne. Der Faulpelz wollte sein Geld wieder haben;
aber keinen roten Heller bekam er. Der Ranzen-Alf prügelte ihn durch,
daß die Borsten stoben. 'Werd' schon wiederkommen', sagte Alf. Teufel,
war das ein Kerl, ein Prachtkerl, ein Hauptkerl war der Alf, der
Ranzen-Alf.--Na, dann gingen ein paar Jahre hin, wo er sich nicht mehr
sehen ließ.--Es mochte wohl so zehn Jahre später sein, als er auf dem
Kirchberg ausgerufen wurde, weil ihm eine große Erbschaft zugefallen
war. Der Faulpelz hörte es mit an. 'Das konnte ich mir denken,' sagte
er, 'daß das Geld den Ranzen-Alf suche und nicht die Leute.'--Nun sprach
man hin und her über Alf; und soviel wurde geschwatzt, daß man
schließlich heraus hatte, er wäre zuletzt diesseits des Rörenbergs
gewesen, aber nicht drüben. Ja, Ihr kennt doch den Weg über den Rören
noch, den alten Weg?

"Der Faulpelz aber war seit einiger Zeit zu großer Macht und
Herrlichkeit gelangt sowohl was seinen Hof betraf, wie überhaupt.
Außerdem hatte er sich auf die Frömmigkeit verlegt, und alle waren
überzeugt, er werde nicht auf einmal um nichts und wieder nichts
fromm,--frommer als die andern. Man fing an, allerlei über ihn zu
munkeln.--Es war zu der Zeit, als die Straße über den Rören verlegt
werden sollte; die Alten hatten immer geradeaus gewollt, deshalb führte
der Weg direkt über den Rören; wir dagegen wollen alles hübsch eben
haben, und deshalb geht jetzt der Weg unten am Fluß entlang. Da gab es
eine Sprengerei und eine Wirtschaft, daß man meinte, der ganze Rören
fiele herunter. Allerhand Wegebaumeister kamen, am häufigsten aber der
Amtmann, weil er ja doppelte Freifahrt hat. Und als sie nun eines Tages
da in dem Geröll schaufelten, wollte einer einen Stein wegnehmen, bekam
aber statt dessen eine Hand zu fassen, die aus dem Steinhaufen
heraussah, und so stark war diese Hand, daß der, der sie gefaßt hatte,
mit ihr zurücktaumelte. Der sie aber gefaßt hatte, war der
Faulpelz.--Der Amtsvorsteher war in der Nähe; er wurde geholt, und dann
grub man die ganzen Gebeine eines Menschen aus. Ein Arzt wurde auch
geholt! Der setzte alles so kunstgerecht zusammen, daß bloß noch das
Fleisch fehlte. Die Leute behaupteten aber, das Gerippe müsse genau so
groß sein wie der Ranzen-Alf. 'Ich werd' schon wiederkommen', sagt Alf.
Jedwedem einzelnen kam es merkwürdig vor, daß eine tote Hand einen Kerl
wie den Faulpelz so einfach umwerfen konnte, wo sie gar nicht einmal
ausschlug. Der Amts Vorsteher sagte ihm das auf den Kopf zu,--natürlich
daß keiner es hörte. Da fing aber der Faulpelz zu fluchen an, daß es dem
Amtsvorsteher ganz schwarz vor den Augen wurde. 'Ja, ja', sagte der
Amtsvorsteher, 'wenn Du es nicht gewesen bist, so bist Du wohl der
rechte Mann, heute nacht bei dem Gerippe zu schlafen, ja?'--'Das will
ich meinen', antwortete der Faulpelz. Und nun band der Doktor das
Gerippe in den Gelenken zusammen und legte es auf das eine Bett in der
Baracke. In das andere sollte sich der Faulpelz legen; der Amtsvorsteher
aber lag, in seinen Mantel gehüllt, draußen dicht an der Wand.--Als es
dunkel wurde und der Faulpelz zu seinem Schlafkameraden hineinmußte, war
es gerade, als wenn die Tür sich von selbst hinter ihm schlösse, und er
stand im Dunkeln. Da fing der Faulpelz an, Choräle zu singen, denn er
hatte eine mächtige Stimme. 'Warum singst Du Choräle?' fragte der
Amtsvorsteher draußen an der Wand. 'Wer weiß, ob für ihn geläutet worden
ist, antwortete der Faulpelz. Dann fing er zu beten an, so laut er
konnte. 'Warum betest Du?' fragte der Amtsvorsteher draußen an der Wand.
'Er ist doch sicher ein großer Sünder gewesen', antwortete der Faulpelz.
Dann blieb es eine lange Zeit still, und der Amtsvorsteher war nahe am
Einschlafen. Da brüllte es drinnen, daß die Hütte bebte: 'Ich werd'
schon wiederkommen!'--Ein Höllenlärm erhob sich; 'her mit meinen fünfzig
Talern', brüllte der Faulpelz, dann ein Aufschrei und ein Gekrach; der
Amtsvorsteher hin zur Tür, die Leute kamen mit Stangen und Fackeln, und
da lag der Faulpelz mitten auf dem Boden, und das Gerippe lag über
ihm--."

Es war totenstill am Tisch. Schließlich sagte einer, indem er sich seine
Wasserpfeife ansteckte: "Er ist ja wohl an dem Tage verrückt
geworden."--"Ja, das stimmt."

Arne fühlte, daß alle ihn ansahen, und deshalb konnte er die Augen nicht
aufschlagen. "Wie ich gesagt habe," warf der erste hin, "es ist nichts
so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen."--"Na, jetzt will ich
mal von einem erzählen, der seinen eignen Vater schlug", sagte ein
blonder, dicker Mann mit einem runden Gesicht. Arne wußte kaum noch, wo
er hinsollte.

"Es war einmal in einer angesehenen Familie in Hardanger ein Raufbold;
der hatte schon manchen untergekriegt. Sein Vater und er waren uneins
über das Altenteil, und es kam so weit, daß der Mann in seinem Hause und
außerhalb keinen Frieden mehr hatte.--Dadurch wurde er immer schlimmer,
und sein Vater überwachte ihn. 'Ich lasse mir von keinem was sagen',
sagte der Sohn. 'Aber von mir, so lange ich lebe', sagte der
Vater.--'Bist Du nicht gleich still, dann schlag' ich Dich', sagte der
Sohn und stand auf.--'Ja, wag' es nur, und es wird Dir nie gut gehen in
der Welt', antwortete der Vater und stand auch auf.--'Meinst Du?'--und
der Sohn drang auf ihn ein und schlug ihn nieder. Der Vater aber wehrte
sich nicht, verschränkte die Arme und ließ ihn machen, was er
wollte.--Der Sohn mißhandelte ihn, packte ihn und schleppte ihn zur Tür:
'Ich will Frieden im Hause haben!'--Aber als sie an die Tür kamen,
richtete der Vater sich auf. 'Nicht weiter als bis zur Tür,' sagte er,
'so weit habe ich meinen Vater auch geschleppt.' Der Sohn achtete nicht
darauf, sondern zerrte den Kopf über die Türschwelle. 'Nicht weiter als
bis zur Tür, sag' ich!' Der Alte sprang auf, warf den Sohn vor seine
Füße und züchtigte ihn wie ein Kind."--"Das war häßlich", sagten
Verschiedene. "Seinen eignen Vater schlägt man doch nicht!" glaubte Arne
einen sagen zu hören, aber er wußte es nicht genau.

"Jetzt will ich Euch etwas erzählen", sagte Arne; er stand mit
leichenblassem Gesicht auf und wußte noch nicht, was er sagen wollte. Er
sah nur die Worte wie große Schneeflocken um sich herum stieben; "es
geht aufs Geratewohl!" und er fing an.

"Ein Zwerg begegnete einmal einem Burschen, der weinend seines Weges
ging. 'Vor wem hast Du am meisten Angst,' fragte der Zwerg, 'vor Dir
selbst oder vor andern?' Der Bursch aber weinte, weil ihm in der Nacht
geträumt hatte, er habe seinen bösen Vater erschlagen müssen, und
deshalb antwortete er: 'Ich habe am meisten Angst vor mir selbst.'--'So
sollst Du vor Dir selbst Ruhe haben und nie mehr weinen, denn fortan
sollst Du nur mit den andern im Krieg liegen.' Und der Zwerg ging seines
Weges. Der erste aber, den der Bursch traf, lachte ihn aus, und deshalb
mußte der Bursch ihn wieder auslachen. Der zweite, den er traf, schlug
ihn; der Bursch mußte sich verteidigen und schlug ihn wieder. Der
dritte, den er traf, wollte ihn töten, und deshalb mußte er ihn selbst
umbringen. Alle Leute aber redeten Böses von ihm, darum konnte er von
allen Menschen auch nur Böses reden. Sie riegelten Schränke und Türen
vor ihm zu, so daß er sich stehlen mußte, was er brauchte, sogar seine
Nachtruhe mußte er sich stehlen. Weil er nun nie etwas Gutes tun konnte,
mußte er eben Böses tun. Da sagte das ganze Dorf: 'Den Burschen müssen
wir uns vom Halse schaffen; er ist zu schlecht', und eines schönen Tags
schafften sie ihn aus dem Wege. Der Bursch wußte aber gar nicht, daß er
etwas Böses getan hatte; deshalb kam er nach seinem Tode geradenwegs zum
lieben Gott. Da saß auf einer Bank sein Vater, den er gar nicht
totgeschlagen hatte, und gegenüber auf einer andern Bank saßen alle, die
ihn gezwungen hatten, Böses zu tun. 'Vor welcher Bank hast Du Angst?'
fragte der liebe Gott, und der Bursch zeigte auf die lange. 'So setz'
Dich neben Deinen Vater', sagte der liebe Gott, und der Bursch wollte es
tun. Da stürzte sein Vater von der Bank herunter und hatte eine
klaffende Wunde im Nacken. Auf seinem Platz aber stand ein Phantom des
Burschen selbst, nur mit leichenblassem Gesicht und von Reue verzerrten
Mienen; und ein anderes mit dem Gesicht eines Säufers und schlotternden
Gliedern, und noch eins mit irren Augen, zerrissenen Kleidern und einem
grauenvollen Lachen. 'So hätte es Dir auch gehen können', sagte der
liebe Gott.--'Ja, wäre das möglich?' sagte der Bursch und griff nach dem
Saum von Gottes Gewand. Da fielen beide Bänke vom Himmel hinunter, und
der Bursch stand vor dem lieben Gott und lachte. 'Denke dran, wenn Du
aufwachst', sagte der liebe Gott,--und im selben Augenblick wachte der
Bursch auf. Der Bursch aber, der all das geträumt hat, bin ich, und die
ihn in Versuchung führen, weil sie schlecht von ihm denken, seid Ihr.
Vor mir selbst habe ich keine Angst mehr; aber ich habe vor Euch Angst.
Hetzt nicht das Böse in meine Seele, denn ich weiß nicht, ob auch ich
einst den Saum von Gottes Gewand fassen kann."

Er stürzte hinaus, und die Männer blickten einander an.



Siebentes Kapitel


Es war am nächsten Tag auf demselben Hof in der Scheune; Arne hatte sich
zum erstenmal in seinem Leben betrunken, war krank davon geworden und
hatte nun bald vierundzwanzig Stunden in der Scheune gelegen. Jetzt
richtete er sich empor, stützte sich auf die Ellbogen und hielt ein
Selbstgespräch: "----Alles, was ich anfasse, wird Feigheit. Daß ich als
Junge nicht davonlief, war Feigheit; daß ich auf den Vater mehr hörte
als auf die Mutter, war Feigheit; daß ich ihm die häßlichen Lieder
vorsang, war Feigheit. Ich fing das Viehhüten an; aus Feigheit;--und das
Lesen--nun ja, auch aus Feigheit: ich wollte mich nur vor mir selber
verstecken. Als erwachsener Bursch stand ich der Mutter nicht gegen den
Vater bei--Feigheit; daß ich ihn in jener Nacht nicht--hu!--Feigheit!
Ich hätte wohl gewartet, bis sie tot gewesen wäre;----ich konnte es
hinterher zu Hause nicht aushalten--Feigheit; ich zog aber auch nicht
meiner Wege--Feigheit; ich tat nichts, ich hütete das Vieh,--Feigheit.
Ich hatte freilich der Mutter versprochen, zu bleiben, aber ich wäre
schon feig genug gewesen, den Schwur zu brechen, wenn ich nicht Angst
gehabt hätte, unter fremde Menschen zu müssen. Denn ich habe Angst vor
den Menschen, hauptsächlich wohl, weil ich glaube, sie sehen, wie
garstig ich bin. Weil ich aber Angst vor ihnen habe, rede ich Böses von
ihnen--verfluchte Feigheit! Ich mache Verse aus Feigheit. Ich wage nicht
über meine eigenen Angelegenheiten nachzudenken und mische mich deshalb
in die Sachen andrer Leute,--und das nennt man Dichten!--Ich hätte mich
hinsetzen sollen und weinen, daß die Berge zu Wasser werden, ja, das
hätte ich; aber ich sage nur: Seht, seht! und wiege mich in Nichtstun
ein. Und selbst meine Lieder sind feig; denn wären sie mutig, so würden
sie besser sein. Ich habe Angst vor starken Gedanken wie vor allem
Starken überhaupt; schwinge ich mich einmal dazu auf, so ist es aus
Wut, und Wut ist Feigheit. Ich bin klüger, tüchtiger, belesener, als ich
aussehe; ich bin besser als mein Geschwätz; aber aus Feigheit wage ich
mich nicht so zu geben wie ich bin. Pfui, sogar Schnaps habe ich aus
Feigheit getrunken; ich wollte den Schmerz betäuben! Pfui, es schmeckte
schrecklich, aber ich trank doch, trank doch; trank meines Vaters
Herzblut, und doch trank ich! Meine Feigheit hat keine Grenzen; das
allerfeigste aber ist doch, daß ich hier sitze und mir selbst das alles
sagen kann.-- ... Mich töten? Prost Mahlzeit! Dazu bin ich zu feig. Und
dann glaube ich doch auch an Gott,--ja, ich glaube an Gott. Ich möchte
gern hin zu ihm; aber die Feigheit hält mich von ihm zurück. Eine große
Veränderung, die scheut ein Feigling. Aber wenn ich's versuchte, so gut
ich's vermag? Allmächtiger Gott! Wenn ich's versuchte? Müßte mich
kurieren, so gut mein Milchsuppenleben es vertrüge; denn Knochen habe
ich ja nicht mehr im Leibe, nicht mal Knorpeln, bloß etwas Flüssiges,
Weichliches.--Wenn ich es versuchte--mit guten, milden Büchern,--hab'
Angst vor den starken--; mit schönen Märchen und Sagen und allem, was
sanft ist,--und dann jeden Sonntag eine Predigt und jeden Abend ein
Gebet. Und tüchtige Arbeit, damit die Religion Ackerland hat; in die
Trägheit kann man nichts säen. Wenn ich's versuchte; Du lieber, guter
Gott meiner Kindheit, wenn ich's versuchte!"

Da öffnete jemand die Scheunentür, stürzte auf die Diele mit
leichenblassem Gesicht, obwohl ihr der Schweiß heruntertropfte,--es war
seine Mutter. Schon den zweiten Tag suchte sie ihren Sohn. Sie rief
seinen Namen, stand aber nicht still um zu lauschen, sondern rief nur
und lief in alle Ecken, bis er hinten von dem Heuschober her, wo er lag,
Antwort gab. Da stieß sie einen lauten Schrei aus, sprang leichtfüßiger
als ein Junge in den Heuhaufen hinein und beugte sich über ihn:--"Arne,
Arne, bist Du hier! So hab' ich Dich doch gefunden; ich hab' seit
gestern gesucht; ich hab' die ganze Nacht durch gesucht! Armer lieber
Arne! Ich hab' gesehen, daß sie Dir weh getan haben! Ich hätte so gern
mit Dir gesprochen und Dich getröstet; aber ich darf ja nie mit Dir
sprechen!----Arne, ich sah, daß Du trankst! Ach, Du allmächtiger Gott!
Laß mich das nie wieder sehen!"--Es dauerte eine ganze Weile, bis sie
weiterreden konnte. "Gott schütze Dich, mein Kind, ich habe gesehen, daß
Du getrunken hast!--Plötzlich warst Du mir weg, betrunken und so
vernichtet vom Schmerz,--und ich rannte in alle Häuser; ich war weit
draußen auf dem Felde; ich fand Dich nicht; ich habe in jedem Gebüsch
gesucht; ich habe alle Leute gefragt; hier bin ich auch gewesen, aber Du
hast mir nicht geantwortet----Arne, Arne! Ich ging am Fluß entlang, aber
er schien mir nirgends tief genug--" sie schmiegte sich enger an
ihn.--"Da wurde es mir so leicht ums Herz: Du wärest sicher nach Hause
gegangen, und ich brauchte kaum eine Viertelstunde zu dem Weg; ich
machte die Tür auf und suchte in jedem Raum, und dann erst fiel mir ein,
daß ich ja selbst den Schlüssel hatte; Du konntest ja nicht
hineingeschlüpft sein.--Arne! heut nacht habe ich den ganzen Weg an
beiden Seiten abgesucht; bis zur Kampenschlucht wagte ich gar nicht zu
gehen!--Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich nicht; keiner hat mir's
gesagt, aber der liebe Gott hat mir eingegeben, Du müßtest hier sein!"

Er versuchte sie zu beruhigen. "Arne, Du wirst doch nie wieder Schnaps
trinken?"--"Nein, da kannst Du ganz ruhig sein."--"Sie sind wohl
schlecht zu Dir gewesen? Waren sie schlecht zu Dir?"--"Ach nein,
nur--ich war so feig." Er legte einen Nachdruck auf dies Wort.--"Ich
kann das gar nicht verstehen, daß sie schlecht zu Dir waren. Aber was
haben sie Dir denn getan? Du sagst mir nie etwas", und sie fing wieder
zu weinen an.--"Du sagst mir ja auch nie etwas", sagte Arne
sanft.--"Daran bist Du schuld, Arne. Ich bin von Deinem Vater das
Stillschweigen so gewohnt gewesen,--Du hättest mir ein bißchen auf den
Weg helfen müssen!--Herrgott, wir haben doch weiter nichts als uns; und
wir haben soviel zusammen ausgestanden."--"Wir wollen versuchen, ob es
nicht besser werden kann", flüsterte der Bursch.------"Nächsten Sonntag
will ich Dir die Predigt vorlesen."--"Da segne Dich Gott für!"

"Du, Arne!"--"Ja?"--"Ich muß Dir etwas sagen."--"Sag' es, Mutter."--"Ich
habe gesündigt an Dir; ich habe etwas Unrechtes getan."--"Du, Mutter?"
und es rührte ihn so, daß seine seelensgute, geduldige Mutter sich
anklagte, sie habe gesündigt an ihm, der nie etwas wirklich Gutes für
sie getan hatte, daß er den Arm um sie legte, sie streichelte und in
Tränen ausbrach.--"Ja, ganz bestimmt, aber ich konnte eben nicht
anders."--"Ach, Du hast mir nie ein Unrecht getan."--"O doch;--aber Gott
weiß: ich tat es nur aus Liebe zu Dir. Aber Du wirst es mir verzeihen,
ja?"--"Ja, ich werde es Dir verzeihen."--"So will ich es Dir ein
andermal erzählen;--aber Du mußt es mir verzeihen!"--"Ja, ja,
Mutter!"--"Siehst Du, daher kam es wohl, daß es mir so schwer wurde, mit
Dir zu reden; ich hatte gesündigt an Dir."--"Herrgott, sprich nicht so,
Mutter!"--"Ich bin froh, daß ich wenigstens soviel gesagt habe."--"Wir
beiden wollen mehr zusammen reden, Mutter!"--"Ja, das wollen wir,--und
dann liest Du mir doch auch die Predigt vor?"--"Ja, das tue
ich."--"Armer Arne! Gott segne Dich!"--"Ich glaube, das beste ist, wir
gehen nach Hause."--"Ja, gehen wir nach Hause."--"Du siehst Dich ja so
um, Mutter."--"Ja, in dieser selben Scheune hat Dein Vater auch gelegen
und hat geweint."--"Der Vater?" fragte Arne und wurde ganz blaß.--"Der
arme Nils! Es war an dem Tage, als Deine Taufe war.----

Du siehst Dich ja so um, Arne."



Achtes Kapitel


Von dem Tag an, da Arne sich aufrichtigen Herzens bemühte, inniger mit
seiner Mutter zu verkehren, wurde auch sein Verhältnis zu den andern
Menschen besser. Er sah sie mehr mit den sanften Augen seiner Mutter an.
Aber es wurde ihm oft schwer, seinem Vorsatz treu zu bleiben; denn seine
tiefsten Gedanken verstand die Mutter nicht immer,--hier ist ein Lied
aus jener Zeit:

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nicht länger drinnen;
    Ich schlenderte waldwärts und lag und lag
    Und ließ die Gedanken spinnen.
    Doch die Emse kroch und die Mücke stach
    Und die Brems' und die Wespe taten's ihr nach."

"Lieber Junge, willst Du denn bei dem Prachtwetter nicht draußen
bleiben?"--sagte Mutter, saß dabei auf dem Altan und sang:

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nicht lange drinnen;
    Ich ging auf die Wiese und lag und lag
    Und summte so recht in Sinnen.
    Da kamen Nattern, drei Ellen lang,
    Und wollten sich sonnen--doch ich entsprang."

"Bei solch einem Gotteswetter können wir barfuß laufen",--sagte Mutter
und zog die Socken aus.

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nicht lange drinnen;
    Ich sprang in ein Boot und lag und lag
    Und lauschte dem Raunen und Rinnen.
    Da hat mir die Sonne die Nase zerbrannt.
    Immer alles mit Maß! Und ich ging an Land."

"Jetzt werden wir 's Heu wohl trocken hereinbringen",--sagte Mutter und
warf's mit dem Rechen durcheinander.

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nicht lange drinnen;
    Ich klomm auf 'nen Baum; potz Donnerschlag,
    Hier treibt ihr mich nicht von hinnen!
    Da rutscht' eine Raupe mir vorn in die Brust,--
    Ich hüpfte und schrie; das war eine Lust!"

"Na, wenn die Kuh heut den Koller nicht kriegt, so kriegt sie ihn nie",
sagte Mutter und blinzelte hinauf in die Glut.

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nun einmal nicht drinnen;
    So ruht' ich nicht, bis ich im Wasserfall lag:
    Da war wohl nun Ruh zu gewinnen.
    Die Sonne schien weiter, indes ich versank,--
    Und ist dies Lied deines,--bist du's, der ertrank."

"Bloß drei solche sonnige Tage, und alles ist unter Dach",--sagte Mutter
und ging mein Bett machen.

Trotzdem wurde das Zusammenleben mit der Mutter mit jedem Tage ein
größeres Glück für ihn. Was sie nicht verstand, schlug ebensogut eine
Brücke zu ihm wie das, was sie verstand. Denn über alles, was sie nicht
verstand, dachte er nur um so eingehender nach, und sie wurde ihm nur
lieber dadurch, daß er nach allen Seiten die Grenzen in ihr erkannte.
Ja, sie wurde ihm unendlich teuer!

Arne hatte sich als Kind nichts aus Märchen gemacht. Jetzt als
erwachsener Mensch bekam er Sehnsucht nach Märchen, und sie hatten
Volkssagen und Heldenlieder im Gefolge. In sein Herz kam eine seltsame
Sehnsucht; er ging viel allein, und manches, worauf er zuvor gar nicht
geachtet hatte, erschien ihm wunderbar schön. Zu der Zeit, als er mit
seinen Altersgenossen zum Konfirmandenunterricht gegangen war, hatten
sie häufig an einem großen See vor dem Pfarrhaus gespielt, dem
sogenannten schwarzen See, weil er gar so tief und schwarz dalag. Dieser
See kam ihm jetzt in den Sinn, und eines Abends stieg er da hinauf.

Er setzte sich unter einen Busch dicht neben dem Pfarrhof; der lag an
einem sehr steilen Abhang, der schließlich zu einer hohen Felswand
anstieg; genau so war es am andern Ufer, so daß von beiden Seiten lange
Schlagschatten über den See fielen: in der Mitte aber war ein schöner
silbriger Wasserstreifen geblieben. Alles lag in tiefer Ruhe; die Sonne
war im Sinken; leises Glockenläuten klang vom andern Ufer
herüber,--sonst aber war es ganz still. Arne schaute nicht geradeaus,
sondern hinunter auf den Grund des Sees, weil die Sonne vorm Untergehen
eine zittrige Röte drüber hinausgesandt hatte. Unten traten die Felsen
etwas zur Seite, so daß ein langgestrecktes, niederes Tal entstand,
gegen das das Wasser schlug. Aber es sah aus, als neigten sich die
Felsen langsam zueinander, um das zwischen ihnen liegende Tal
gewissermaßen zu schaukeln. Ein Gehöft lag in dem Tal neben dem andern;
Rauchwölkchen stiegen empor und verteilten sich; die grünen Felder
dampften; Boote, mit Heu beladen, kamen an Land. Er sah viele Menschen
hin und her gehen, hörte aber kein Geräusch. Seine Augen wandten sich
von diesem Bilde zum Strand hinüber, wo nur Gottes düsterer Wald sich
erhob. Durch den Wald und am See entlang hatten die Menschen sich wie
mit einem Finger einen Weg gemacht, denn man sah einen Staubstreifen
sich gleichmäßig hindurchschlängeln. Den verfolgte er mit den Augen bis
genau der Stelle gegenüber, wo er saß; da hörte der Wald auf; die Felsen
traten mehr zurück, und gleich lag wieder ein Gehöft neben dem andern.
Da standen noch größere Häuser als unten im Grunde, rot angestrichen,
mit größeren Fenstern, die in der Sonne brannten. Helles Sonnenlicht lag
auf den Höhen; auch das kleinste Kind, das da spielte, war deutlich zu
sehen; blendend weißer Sand lag hart am See; da sprangen Kinder mit ein
paar Hunden herum. Aber auf einmal war alles sonnenverlassen und schwer,
die Häuser waren dunkelrot, die Wiese schwarzgrün, der Sand grauweiß,
die Kinder wie kleine Klümpchen; eine Nebelwand war über den Bergen
aufgestiegen und hatte die Sonne verdeckt. Arnes Auge flüchtete aufs
neue zum Wasser hinunter; da aber fand er das Ganze wieder. Die Felder
wogten, der Wald zog sich schweigend hin, hoch oben lagen die Häuser und
schauten hernieder, die Türen standen offen, und die Kinder liefen aus
und ein. Märchen und Kinderträume kamen wie kleine Fische nach der
Angel, stoben auseinander, kamen wieder, spielten herum, bissen aber
nicht an.

"Wir wollen uns hier hinsetzen, bis Deine Mutter nachkommt; die Frau
Pfarrer wird ja auch mal fertig werden."--Arne schrak zusammen; es hatte
sich jemand dicht hinter ihn gesetzt. "Aber ich könnte doch ganz gut
bloß noch diese eine Nacht hier bleiben", sagte flehend eine
tränenerstickte Stimme; sie mochte einem nicht ganz erwachsenen Mädchen
gehören. "Hör' jetzt auf zu weinen; es ist recht häßlich, daß Du weinst,
weil Du nach Hause zu Deiner Mutter sollst." Es war eine sanfte Stimme,
die langsam sprach und einem Manne gehörte. "Darüber weine ich ja
nicht."--"Worüber weinst Du denn sonst?"--"Weil ich nicht mehr mit
Mathilde zusammen sein kann."

So hieß die einzige Tochter des Pfarrers, und es fiel Arne ein, daß ein
Bauernmädchen mit ihr zusammen erzogen war. "Das konnte ja doch nicht
ewig dauern."--"Ja, aber einen Tag doch noch, Vater!" und sie schluchzte
bitterlich.--"Es ist das beste, Du fährst gleich mit nach
Hause;--vielleicht ist es schon zu spät."--"Zu spät? Warum? Wie meinst
Du das?"--"Du bist als Bauernmädchen geboren, und ein Bauernmädchen
sollst Du bleiben; 'ne Zierpuppe können wir uns nicht leisten."--"Ich
könnte doch auch ein Bauernmädchen sein, wenn ich hier bliebe."--"Das
verstehst Du nicht."--"Ich habe doch immer Bauerntracht angehabt."--"Das
allein macht's nicht."--"Ich habe doch auch gesponnen und gewebt und
kochen gelernt."--"Das ist es auch nicht."--"Ich kann doch genau so
sprechen wie Du und die Mutter."--"Auch das ist's nicht."--"Ja, dann
weiß ich nicht, was es sein kann", sagte das Mädchen und lachte.--"Das
wird sich ja herausstellen;--ich habe bloß Angst, Du denkst jetzt schon
zuviel."--"Denkst, denkst! Das sagst Du immer; ich denke überhaupt
nicht", sie fing wieder zu weinen an.--"Ach, Du bist ein
Windbeutel!"--"Das hat der Herr Pfarrer nie zu mir gesagt."--"Nein, aber
ich sage es jetzt."--"Windbeutel? Ist so was erhört? Ich will aber kein
Windbeutel sein!"--"Was willst Du denn sonst sein?"--"Was ich sein
möchte? Ist so 'was erhört? Nichts möchte ich sein."--"Nun, so sei doch
ein Nichts!" Da lachte das Mädchen. Nach einer Weile sagte sie
ernsthaft: "Es ist gräßlich von Dir, daß Du sagst, ich bin ein
Nichts."--"Herrgott, wenn Du es doch selbst sein möchtest!"--"Nein, ich
möchte kein Nichts sein."--"Gut, so sei alles!"--Das Mädchen lachte.
Nach einer Weile sagte sie mit betrübter Stimme: "So hat mich der Herr
Pfarrer nie zum Narren gehabt."--"Nein, er hat bloß einen Narren aus Dir
gemacht."--"Der Herr Pfarrer? So nett bist Du nie zu mir gewesen wie der
Herr Pfarrer."--"Das wäre ja auch noch schöner."--"Saure Milch kann nie
süß werden."--"Doch, wenn man Käse davon macht."--Da lachte das Mädchen
laut auf. "Da kommt Deine Mutter!" Gleich wurde sie wieder ernst.

"So ein redseliges Frauenzimmer wie die Frau Pfarrer hab' ich mein
Lebtag nicht gesehen", gellte jetzt eine scharfe, hastige Stimme
dazwischen. "Schnell, Baard, steh auf und mach' das Boot klar! Wir
kommen sonst heut abend nicht mehr nach Hause.--Die Frau hat gesagt, ich
soll aufpassen, daß Eli immer trockne Füße hat. Mußt schon selbst drauf
passen! Und jeden Morgen spazieren laufen wegen der Bleichsucht!
Bleichsucht hin, Bleichsucht her!--Steh doch auf, Baard, und mach' das
Boot klar; ich muß heut abend noch den Teig anrühren!"--"Der Koffer ist
noch nicht da", sagte er und blieb ruhig liegen. "Der Koffer soll auch
gar nicht mit; der soll bis zum nächsten Sonntag hier bleiben. Hörst
Du, Eli, steh auf; nimm Dein Bündel und komm! Steh doch auf,
Baard!"--Sie fort, das Mädchen hinter ihr her. "Komm doch; aber so komm
doch!" klang es von unten herauf. "Hast Du nachgesehen, ob der Zapfen im
Boot steckt?" fragte Baard und blieb ruhig liegen. "Ja, der steckt
drin", und Arne hörte, wie sie ihn mit einer Schöpfkelle festklopfte.
"Aber so steh doch auf, Baard! Wir können doch nicht die Nacht über hier
liegen bleiben?"--"Ich warte auf den Koffer."--"Aber Du meine Güte, ich
habe Dir doch gesagt, er soll bis zum nächsten Sonntag hier
bleiben."--"Da kommt er schon", sagte Baard. Und sie hörten
Wagengerassel. "Aber ich habe doch gesagt, er soll bis zum nächsten
Sonntag hier bleiben."--"Ich habe aber gesagt, er soll gleich
mit."--Ohne weiteres lief die Frau nun zum Wagen und trug Bündel, Korb
und sonst ein paar Kleinigkeiten ins Boot hinunter. Da erhob Baard sich
auch, stieg hinauf und lud sich den Koffer auf.

Hinter dem Wagen aber kam ein Mädel hergelaufen im Strohhut und mit
flatternden Haaren; das war das Pfarrerstöchterlein. "Eli, Eli!" rief
sie schon von weitem. "Mathilde, Mathilde!" antwortete ihr die andere,
lief hinauf und ihr entgegen. Sie trafen oben auf dem Hügel zusammen,
fielen sich in die Arme und weinten. Dann nahm Mathilde etwas auf, was
sie so lange ins Gras gesetzt hatte; es war ein Vogelbauer. "Du sollst
den Narrifas haben, wirklich, Mutter will's auch. Du sollst jetzt den
Narrifas haben, ja, wirklich--und: denk auch mal an mich--und komm ...
komm ... komm oft herübergerudert zu mir"; und sie weinten beide
bitterlich. "Eli! komm doch, Eli! Du kannst da doch nicht stehen
bleiben!" klang es von unten herauf.--"Aber ich will mit," sagte
Mathilde, "ich will mit Dir hinüber und heut nacht bei Dir
schlafen!"--"Ja, ja, ja!"--und eng umschlungen liefen sie an die
Landungsstelle hinunter. Nach einer Weile gewahrte Arne das Boot auf dem
See; Eli stand mit dem Vogelbauer aufrecht hinten am Steuer und winkte;
Mathilde saß am Steg und weinte.

Da blieb sie sitzen, solange das Boot auf dem Wasser war; bis zu den
roten Häusern war's, wie gesagt, nicht weit, und Arne blieb auch sitzen.
Auch er verfolgte das Boot mit den Augen. Es kam bald in den Schatten
hinein, und er wartete, bis es anlegte; dann sah er sie im Wasser, und
hier folgte er ihnen zu den Häusern hin, bis zu dem allerschönsten. Er
sah die Mutter zuerst hineingehen, sah den Vater mit dem Koffer und
schließlich die Tochter, soweit er sie an der Größe unterscheiden
konnte. Nach einer Weile kam die Tochter wieder heraus und setzte sich
vor die Tür, wahrscheinlich um in dem letzten Sonnenstrahl noch einmal
herüberzuschauen. Das Pfarrerstöchterlein aber war schon fort, und nur
er saß noch und sah ihr Bild im Wasser. "Ob sie mich wohl sieht?"----

Er stand auf und ging; die Sonne war hinunter, der Himmel aber war so
hell und klarblau, wie er in Sommernächten ist. Von Wasser und Land
stieg der Dunst zu beiden Seiten an den Felsen hoch; die Gipfel aber
blieben frei und schauten zueinander hinüber. Er klomm höher hinauf; das
Wasser wurde schwärzer und tiefer und gewissermaßen dichter. Das Tal
unten im Grunde wurde kürzer und schob sich weiter ans Wasser heran; die
Felsen rückten dem Auge näher und verschwammen in einen Klumpen, denn
das Sonnenlicht zieht Grenzen. Selbst der Himmel kam tiefer hernieder,
und alles wurde freundlich und traulich.



Neuntes Kapitel


Liebe und Frauen begannen in seinen Gedanken eine Rolle zu spielen; die
Heldenlieder und die alten Geschichten ließen sie ihm in einem
Zauberspiegel sehen--wie das Bild des Mädchens im Wasser. Er starrte
beständig hinein, und nach jenem Abend kam die Lust über ihn, es zu
besingen; denn es war ihm näher gerückt. Aber der Gedanke entschlüpfte
ihm und kam zurück mit einem Liede, von dem er selbst nichts wußte; es
war, als habe ein anderer es für ihn gedichtet:

    Jung Venevil hüpfte auf leichtem Schuh
      Ihrem Liebsten zu.
    Da klang's ihr entgegen wie Lerchenschlag:
      "Guten Tag! guten Tag!"

    Und all die kleinen Vöglein sangen lustig mit im Hag:
      "Zum Fest Sankt Johanns
      Da gibt's Lachen und Tanz;
    Doch nicht aus jedem Kränzlein wird ein hochzeitlicher Kranz!"

    Sie flocht ihm eins aus den Veiglein der Au:
      "Meine Äuglein blau!"
    Hoch warf er's empor in den Lenzsonnenschein:
      "Leb' wohl, Freundin mein!"
    Und jubelte und stürmte wie ein Füllen feldein:
      "Zum Fest Sankt Johanns..."

    Sie flocht ihm eines aus ihrem hellen Haar:
      "Du nimmst es, nicht wahr?"
    Sie flocht, sie bot ihm zum seligen Bund
      Ihren roten Mund:
    Er nahm und bekam ihn--und ihr Herz in Flammen stund.

    Sie flocht eines weiß in ein Lilienband:
      "Meine rechte Hand."
    Und eines, zu dem sie Blutrosen schnitt:
      "Meine linke mit."
    Er nahm sie alle beide,--doch sein Blick zur Seite glitt.

    Sie flocht eins aus Blumen überallher:
      "Ich fand nicht mehr!"
    Sank weinend zu Boden, flocht weiter ohne Ruh:
      "Nimm die, alle, du!"
    Er sagte nichts und nahm sie nur--und floh den Bergen zu.

    Sie flocht ihm eins ohne Farben ganz:
      "Meinen Hochzeitskranz!"
    Sie flocht, bis sie nichts mehr vor Tränen sah:
      "Setz' dir den auf, ja?"
    Doch da sie sich tat wenden, stand niemand mehr da.

    Und weiter flocht sie, versunken ganz
      An dem Hochzeitskranz.
    Doch jetzt war es längst übers Fest Sankt Johanns,
      Weit der Lenz und sein Glanz:
    Noch aus Eisblumen flocht sie--doch im Flechten zerrann's...
      "Zum Fest Sankt Johanns--
      Da gibt's Lachen und Tanz;
    Doch nicht aus jedem Kränzlein wird ein hochzeitlicher Kranz!"

Es war die Wehmut in ihm, die auf das erste Liebesbild, das durch seine
Seele zog, ihre tiefen Schatten warf. Eine doppelte Sehnsucht: jemanden
lieb zu haben und etwas Großes zu werden, die beiden Wünsche
verschmolzen in eins. In dieser Zeit arbeitete er wieder an dem Gedicht
"Über die hohen Berge", änderte dran herum, sang und dachte bei sich
selbst: "Es wird schon noch glücken; ich singe solange, bis ich den Mut
finde." Er vergaß die Mutter in diesen seinen Wandergedanken nicht; er
tröstete sich nämlich mit dem Vorsatz: sobald er festen Fuß in der
Fremde gefaßt habe, würde er sie holen und ihr ein Los bereiten, wie er
es daheim nimmermehr sich oder ihr schaffen könne. Mitten in diese große
Sehnsucht hinein aber stahl sich etwas Stilles, Frisches, Feines,
huschte weg und kam wieder, tauchte auf und verschwand, und da er zum
Träumer geworden war, hatten diese unwillkürlichen Gedanken weit mehr
Macht über ihn, als ihm selber bewußt war.

Im Dorf lebte ein vergnüglicher alter Mann, Ejnar Aasen mit Namen. Als
Zwanzigjähriger hatte er sich das Bein gebrochen; seit der Zeit ging er
am Stock; aber wo er mit seinem Stock angehumpelt kam, ging es lustig
zu. Der Mann war reich; ein großes Gehölz von Nußsträuchern lag auf
seinem Grund und Boden, und an einem recht schönen, sonnigen Tag im
Herbst pflegte eine ganze Schar fröhlicher Mädchen bei ihm zum
Nußpflücken versammelt zu sein. Tags war große Bewirtung und abends
Tanz. Bei den meisten Mädchen hatte er Gevatter gestanden; denn er stand
beim halben Dorf Gevatter; alle Kinder nannten ihn Pate, und alt und
jung sprach es nach.

Der Pate war mit Arne sehr gut bekannt und mochte ihn um seiner Lieder
willen gern leiden. Jetzt lud er ihn zur Nußernte ein. Arne errötete und
machte Ausflüchte; er sei es nicht gewöhnt, mit Frauenzimmern zusammen
zu sein, sagte er. "So mußt Du Dich dran gewöhnen", antwortete der Pate.

Arne konnte nachts bei dem Gedanken nicht schlafen; Furcht und Sehnsucht
stritten in ihm: aber das Ende vom Lied war: er ging hin und war der
einzige Bursch unter all den Frauenzimmern. Er konnte sich eine
Enttäuschung nicht verhehlen; das waren nicht solche, wie er sie
besungen hatte, auch nicht solche, vor denen er Angst gehabt hatte. Sie
machten eine Wirtschaft, wie er sein Lebtag nicht gesehen hatte, und am
meisten wunderte er sich darüber, daß sie über nichts und wieder nichts
lachen konnten; und wenn drei lachten, dann lachten die andern fünf
auch, bloß weil die drei lachten. Alle benahmen sich, als lebten sie Tag
für Tag zusammen, und viele hatten sich bis jetzt noch nie gesehen. Wenn
sie den Zweig erhaschten, nach dem sie in die Höhe sprangen, lachten sie
drüber, und wenn sie ihn nicht erhaschten, lachten sie auch. Sie balgten
sich um den Nußhaken; die ihn eroberten, lachten, und die ihn nicht
eroberten, lachten auch. Der Pate humpelte am Stock hinter ihnen her und
trieb allen möglichen Schabernack mit ihnen. Die er haschte, lachten,
weil er sie haschte; und die er nicht haschte, lachten, weil er sie
nicht haschte. Alle miteinander aber lachten sie über Arne, weil er
solch ein ernstes Gesicht machte, und als er dann lachen mußte, lachten
sie, weil er endlich lachte.

Schließlich setzten sie sich auf eine Anhöhe, der Pate in die Mitte und
die Mädchen alle um ihn herum. Da hatte man einen weiten Blick; die
Sonne stach, aber sie kümmerten sich nicht drum, bewarfen sich mit den
Nußschalen und den Hülsen und gaben dem Paten die Kerne. Der Pate
versuchte sie zum Schweigen zu bringen und schlug mit seinem Stock um
sich, soweit er reichte, denn er wünschte, jetzt solle etwas erzählt
werden, etwas recht Lustiges. Aber sie zum Geschichtenerzählen zu
bewegen, schien schwieriger zu sein, als einen bergab sausenden Wagen
aufzuhalten. Der Pate fing an; manche wollten nichts hören, denn seine
Geschichten kannten sie schon; aber schließlich hörte doch alles zu. Und
ehe sie sich's versahen, waren sie mitten drin im besten Erzählen. Da
wunderte sich Arne wieder über eins: so lebhaft sie vorhin gewesen
waren, so ernst waren jetzt ihre Geschichten. Sie handelten meistens von
Liebe.

"Aber Du, Aase, kennst eine hübsche; das weiß ich noch vom vorigen
Jahr", sagte der Pate und wandte sich an ein stattliches Mädel mit einem
gutmütigen, rundlichen Gesicht; sie saß und flocht ihrer jüngeren
Schwester, die den Kopf in ihren Schoß gelegt hatte, das Haar. "Die
kennen aber wohl viele", antwortete sie. "Erzähl' sie doch", baten alle.
"Ich will mich nicht lange nötigen lassen", sagte sie und erzählte und
sang, während sie immer weiter flocht:

"Es war einmal ein Bursch, der hütete das Vieh, und er trieb die Herde
am liebsten an einem breiten Fluß entlang. Wenn er höher hinaufkam, war
da ein Felsen, der soweit in den Fluß hinausragte, daß der Bursch nach
der andern Seite hinüberrufen konnte. Denn drüben auf der andern Seite
war ein Hirtenmädchen, das er den ganzen Tag über vor Augen hatte, ohne
zu ihr kommen zu können.

    Dei' Blas'n, des geht mir
    Ganz sakrisch in's Bluet.
    Geh, Deandl, wie hoaßt denn?
    Du g'fallst mer so guet!

Ein paar Tage lang wiederholte er dieselbe Frage und schließlich bekam
er Antwort:

    Mit der Liab' in dein' Herz'n
    Und dein' Bockshuet a'm Kopf--
    Schwimm 'rüber, wenns d'Schneid hast,
    Du damischer Tropf!

Da war der Bursch so klug wie vorher und nahm sich vor, sich nicht
weiter um sie zu kümmern. Das ging aber nicht so einfach; denn er mochte
die Herde treiben, wohin er wollte, immer zog es ihn wieder zum Felsen
hin. Da wurde dem Burschen bange, und er rief:

    Wo hat denn dei' Vota
    Sei' Hütt'n hi'baut,
    Daß koaner am Kirchgang
    Di nie net derschaut?

Der Bursch glaubte nämlich halb und halb, sie müsse eine Waldhexe sein.

    Mei' Vota is tot
    Und die Hütt'n verbrennt--
    I hab' no' mei' Lebtag
    Koan' Pfarrer net 'kennt.

Hieraus wurde der Bursch ebensowenig klug. Den Tag über war er auf dem
Felsen; des Nachts träumte er, sie tanze um ihn herum, und jedes Mal,
wenn er sie haschen wollte, schlage sie mit einem langen Kuhschweif nach
ihm. Er fand kaum noch Schlaf; arbeiten konnte er auch nicht mehr, und
es war um den Burschen übel bestellt.

    Wenns d'a Trud bist, na mog i
    Nix wissn vo' dir,
    Aber bist nur a Deandl,
    Na ko'st red'n mit mir.

Aber es kam keine Antwort, und da stand es bei ihm fest, sie müsse eine
Waldhexe sein. Er gab das Viehhüten auf, aber da wurde es auch nicht
besser; denn wo er ging und stand, und was er auch tat, immer dachte er
an die schöne Waldhexe, die das Horn blies.

Als er eines Tages stand und Holz hackte, kam ein Mädchen über den Hof
gegangen, das leibhaftig wie die Waldhexe aussah. Aber als sie näher
herankam, war sie es doch nicht. Das ging ihm im Kopf herum; da kam das
Mädchen zurück, und von weitem war es die Waldhexe, und er lief ihr
entgegen. Aber sowie sie näher herankam, war sie es doch nicht.

Fortan mochte der Bursch sein, wo er wollte, in der Kirche, beim Tanz
oder bei andrer Geselligkeit,--das Mädchen war auch da; von weitem sah
sie aus wie die Waldhexe, in der Nähe war sie eine andere; er fragte sie
dann, ob sie es sei oder ob sie es nicht sei; sie aber lachte ihn aus.
Man kann gerade so gut hineinspringen wie hineinkriechen, dachte der
Bursch, und also heiratete er das Mädchen.

Als das aber geschehen war, mochte er das Mädel nicht mehr leiden. War
er fern von ihr, so sehnte er sich nach ihr; war er bei ihr, so sehnte
er sich nach einer, die er nicht sah. Deshalb behandelte der Bursch
seine Frau schlecht; sie ertrug es und schwieg.

Eines Tages aber, als er die Pferde holen wollte, kam der Bursch an den
Felsen, setzte sich nieder und rief:

    Der Mond und die Sterndln
    Und 's Wasser derzua--
    Es rihrt si weitum nix--
    Nur i hob koan Ruah.

Es tat dem Burschen wohl, da zu sitzen, und von nun an ging er immer
hin, wenn es ihm zu Haus nicht gefiel. Seine Frau weinte, wenn er fort
war.

Eines Tages aber, als er so dasaß, da saß auch die Waldhexe leibhaftig
am andern Ufer und blies ihr Horn!

    Da bist ja, da hockst ja
    Und blas't wie net g'scheit!
    Und i mueß grod woana--
    Tuet jed's, wos eahm g'freit.

Da antwortete sie:

    Deine Äugerln mach zue,
    Über d' Ohr'n ziag dein' Huet!
    Schau mi net an, hör' mi net an--
    'S tuet d'r net guet!

Da wurde aber dem Burschen bange, und er ging wieder nach Hause. Doch es
dauerte nicht lange, da war er seiner Frau so überdrüssig, daß er wieder
in den Wald zu seinem Platz am Felsen mußte. Da klang es ihm entgegen:

    Mir hat's alleweil traamt:
    Es fangt mi no wer!--
    Ja, Gernhab'n is leicht,
    Aber Fanga is schwer...

Der Bursch fuhr in die Höhe und schaute sich um, und da schlüpfte ein
grüner Rock zwischen den Büschen hin. Er hinterher. Nun ging die Jagd
durch den ganzen Wald. So leichtfüßig, wie die Waldhexe war, konnte kein
Menschenkind sein; er warf einmal ums andere die Schlinge nach ihr; sie
lief immer gleich schnell weiter. Aber endlich begann sie müde zu
werden, das sah der Bursch an den Fußspuren; doch er sah auch an ihrer
ganzen Gestalt, daß sie wirklich die Waldhexe war und keine andere.
Jetzt hab' ich Dich', dachte der Bursch, und stürzte mit einem Mal so
ungestüm auf sie zu, daß er und die Waldhexe ein ganzes Stück den Abhang
hinunterkugelten, bis sie liegen blieben. Da lachte die Waldhexe, daß es
in den Bergen klang, wie dem Burschen schien; er nahm sie auf den Schoß,
und sie war genau so schön, wie er sich seine eigne Frau gewünscht
hatte. 'O sag', wer bist Du nur, Du Süße?' fragte der Bursch und
streichelte sie, und ihr glühten die Backen. 'Aber mein Gott, ich bin
doch Deine eigene Frau', sagte sie."

Die Mädchen lachten und machten sich über den Burschen lustig. Der Pate
aber fragte Arne, ob er auch gut zugehört habe.

----"Na, jetzt will ich mal was erzählen", sagte eine Kleine mit einem
runden Gesichtchen und einer winzig kleinen Nase.

"Es war einmal ein sehr kleiner Bursch; der wollte gern ein kleines
Mädel heiraten. Erwachsen waren sie alle beide, aber sie waren gar klein
von Gestalt. Und der Bursch konnte mit der Werbung nicht ins reine
kommen. Er war in der Kirche an ihrer Seite, aber dann wurde immer vom
Wetter gesprochen; er war beim Tanz mit ihr zusammen und tanzte sie fast
kaputt; aber sagen tat er nichts. 'Du mußt schreiben lernen, dann geht's
leichter', sagte er sich,--und der Bursch machte sich ans Schreiben; er
dachte immer, es sei nicht schön genug, und deshalb übte er ein halbes
Jahr, bis er an einen Brief denken konnte. Nun galt es, ihn ihr so
zuzustecken, daß keiner es sah, und einmal hinter der Kirche traf es
sich so, daß sie allein standen. 'Ich hab' einen Brief für Dich', sagte
der Bursch. 'Aber ich kann kein Geschriebenes lesen', antwortete das
Mädchen.--Na, da stand der Bursch da.--Er zog nun bei dem Vater des
Mädchens in Dienst und wich ihr den lieben langen Tag nicht von der
Seite. Einmal war er nahe daran zu reden; er tat schon den Mund auf,
aber da flog ihm eine große Fliege hinein.--'Wenn bloß keiner kommt und
sie mir wegschnappt', dachte der Bursch. Aber es kam keiner und
schnappte sie ihm weg, denn sie war gar so klein.--Aber schließlich kam
doch einer; denn der war auch nur so klein. Der Bursch merkte recht gut,
was er wollte, und als die beiden zusammen auf die Altane gingen, setzte
der Bursch sich vors Schlüsselloch. Jetzt warb der da drinnen um sie.
'Herrjeh, ich Dummkopf, daß ich mich nicht beeilt habe!' dachte der
Bursch. Der da drinnen küßte das Mädel mitten auf den Mund.--'Das
schmeckt gewiß gut', dachte der Bursch. Der da drinnen aber nahm das
Mädel auf den Schoß. 'Ist das 'ne Welt!' sagte der Bursch und fing zu
weinen an. Das hörte das Mädchen und ging an die Tür: 'Was willst Du
eigentlich von mir, Du dummer Bengel; kannst Du mich nicht in Ruh
lassen'--'Ich?--ich möchte bloß bitten, daß ich Dein Brautführer sein
darf.'--'Nein, das sollen meine Brüder sein', antwortete das Mädchen und
warf die Tür zu.--Na, da hatte der Bursch das Nachsehen"

Die Mädchen lachten sehr über diese Geschichte und warfen sich dann
wieder mit Nußschalen.

Der Pate wünschte, Eli Böen solle etwas erzählen. Was denn aber?! Ja,
sie solle erzählen, was sie ihm auf der Anhöhe erzählt hatte, als er das
letztemal bei ihnen war, damals als sie ihm die neuen Strumpfbänder
geschenkt hatte. Es dauerte eine Weile, bis Eli sich entschloß, denn sie
lachte fürchterlich; aber dann erzählte sie:

"Ein Mädchen und ein Bursch gingen zusammen spazieren. 'O sieh bloß die
Drossel, die hinter uns herfliegt', sagte das Mädchen. 'Die fliegt
hinter mir her', sagte der Bursch.--'Kann ebensogut hinter mir sein',
antwortete das Mädchen.--'Das werden wir bald sehen', meinte der Bursch;
Jetzt gehst Du den unteren Weg und ich den oberen, und da hinten treffen
wir wieder zusammen.' Das taten sie. 'Ist sie etwa nicht mit mir
geflogen?' fragte der Bursch, als sie wieder zusammenkamen. 'Nein, sie
ist ja hinter mir hergeflogen', antwortete das Mädchen.--'Dann müssen
hier zwei sein.' Sie gingen zusammen ein Stück weiter; aber es war doch
bloß eine; der Bursch behauptete, sie fliege auf seiner Seite, das
Mädchen dagegen behauptete, sie fliege auf ihrer. 'Ich schere mich den
Teufel um die Drossel', sagte der Bursch. 'Na, ich auch', antwortete das
Mädchen.--Sowie sie das aber gesagt hatten, war auch die Drossel
verschwunden. 'Das war auf Deiner Seite', sagte der Bursch. 'Na, ich
danke schön! ich hab' genau gesehen, daß es auf Deiner war.----Aber
da!--da ist sie ja wieder!' rief das Mädchen. 'Ja, auf meiner Seite!'
rief der Bursch. Nun wurde aber das Mädchen böse. 'Ich verdiente ja den
Strick, wenn ich noch weiter mit Dir ginge!' und damit ging sie ihren
eignen Weg.--Da verließ die Drossel den Burschen, und es wurde ihm so
langweilig, daß er zu rufen anfing. Sie antwortete. 'Ist die Drossel bei
Dir?' rief der Bursch. 'Nein, aber ist sie bei Dir?'--'Ach nein! Du mußt
wieder herkommen, dann fliegt sie vielleicht auch wieder mit,' Und das
Mädchen kam. Sie faßten sich an der Hand und gingen zusammen weiter.
'Kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt!' klang es neben dem Mädchen. 'Kiwitt,
kiwitt, kiwitt, kiwitt!' klang es neben dem Burschen. 'Kiwitt, kiwitt,
kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt', rief es an allen
Seiten, und als sie hinsahen, flogen hunderttausend Millionen Drosseln
um sie herum. 'Nein, wie seltsam!' sagte das Mädchen und blickte zu dem
Burschen auf. 'Gott schütze Dich!' sagte der Bursch und strich dem
Mädchen über die Wange."

Diese Geschichte fanden alle Mädchen sehr schön.

Dann schlug der Pate vor, sie sollten erzählen, was sie diese Nacht
geträumt hätten, und dann wollte er entscheiden, wer den schönsten Traum
gehabt habe. Nein, erzählen zu sollen, was sie geträumt hatten! Nein, so
was! Und es entstand ein Gelächter und Getuschle ohne Ende. Dann aber
sagte eine nach der andern, sie habe solchen schönen Traum heut nacht
gehabt; so schön wie der, den sie gehabt hätten, könnt' er aber auf
keinen Fall gewesen sein, sagten wieder andere. Und schließlich wollten
sie alle gern ihre Träume erzählen. Aber es durfte nicht laut sein; nur
einer sollte es hören, aber nicht der Pate. Arne saß still ein Stückchen
abseits,--dem konnte man sie erzählen.

Arne setzte sich unter eine Hasel, und dann kam die zu ihm hin, die
zuerst erzählt hatte. Sie besann sich eine ganze Zeit, dann aber
erzählte sie: "Mir träumte, ich stände an einem großen Wasser. Da sah
ich einen über das Wasser gehen; wer's war, sag' ich nicht. Er setzte
sich in eine große Seerose hinein und sang. Ich aber stieg auf eins der
großen Blätter, die die Seerose hat, und die auf dem Wasser schwimmen;
auf dem wollte ich zu ihm hinüberrudern. Aber kaum stand ich auf dem
Blatt, als es mit mir zu sinken begann, so daß ich Angst bekam und
weinte. Da ruderte er in der Seerose heran, zog mich zu sich in die
Blume hinein und fuhr mit mir über das ganze Wasser.--War das nicht ein
schöner Traum?"

Nun kam die Kleine, die vorhin die Geschichte von den Kleinen erzählt
hatte: "Mir träumte, ich hätte einen kleinen Vogel gefangen, und ich
freute mich so, und wollte ihn auch nicht loslassen, bis ich zu Haus in
der Stube sei. Aber da konnte ich ihn nicht los lassen, weil sonst die
Eltern mir gesagt hätten, ich solle ihn wieder hinausbringen. So ging
ich mit ihm auf den Boden; aber da schlich lauernd die Katze umher, und
so konnte ich ihn hier doch auch nicht loslassen. Da wußte ich meiner
Seele keinen Rat und ging in die Scheune. Gott, da waren so viele
Ritzen, wie leicht hätte er durchschlüpfen können. Na, da ging ich
wieder auf den Hof hinunter, und da stand einer, wer, sag' ich nicht. Er
spielte mit einem ganz großen Hund. 'Ich möchte lieber mit Deinem Vogel
spielen', sagte er und kam ganz nahe heran. Ich lief fort, und er und
der große Hund hinterher, und ich lief über den ganzen Hof; da aber
machte Mutter die Tür auf, zog mich hinein und warf die Tür zu. Draußen
aber stand der Bursch mit dem Gesicht an den Scheiben und lachte.
'Guck', hier ist der Vogel!' sagte er--und denk nur, da hatte er den
Vogel.--War das nicht ein hübscher Traum?"

Dann kam die, die von den Drosseln erzählt hatte. Eli hatten sie zu ihr
gesagt. Das war dieselbe Eli, die er an jenem Abend im Boot und im
Wasser gesehen hatte. Es war dieselbe und auch wieder nicht dieselbe; so
groß und schön saß sie da mit dem feinen Gesicht und der schlanken
Gestalt. Sie wollte sich halb totlachen, und so dauerte es eine ganze
Zeit, bis sie soweit war; dann aber erzählte sie: "Ich hatte mich so
sehr drauf gefreut, heute ins Nußholz zu kommen, und da träumte mir heut
nacht, ich säße hier auf dem Hügel. Die Sonne schien, und ich hatte den
ganzen Schoß voll Nüsse. Aber da war auf einmal ein kleines Eichhörnchen
mitten unter den Nüssen; es hockte auf meinem Schoß und aß die ganzen
Nüsse auf.--War das nicht ein komischer Traum?"

Und noch mehr Träume wurden ihm erzählt; dann aber sollte er sagen,
welcher der schönste sei. Er bat sich Bedenkzeit aus, und unterdes zog
der Pate mit der ganzen Schar zum Gehöft hinunter, und Arne sollte
nachkommen. Sie sprangen die Anhöhe hinab, stellten sich, als sie in die
Ebene gekommen waren, in Reihen auf und wanderten singend heimwärts.

Er saß allein und lauschte dem Gesang; die Sonne fiel gerade auf die
Mädchenschar, so daß ihre weißen Hemdärmel schimmerten. Dann und wann
faßte die eine die andre um; sie tanzten über die Wiese hin, der Pate
mit dem Stock hinterher, weil sie ihm das Grummet niedertraten. Arne
dachte nicht mehr an die Träume; er sah bald überhaupt nicht mehr zu den
Mädchen hin; seine Gedanken zogen sich wie feine Sonnenfäden über das
Tal, und er saß allein auf dem Hügel und spann. Ehe er's recht wußte,
war er mitten in einem dichten Gewebe von Schwermut; er sehnte sich
hinaus in die Welt, wie noch nie. Er nahm sich das feste Versprechen ab,
sowie er nach Hause komme, mit der Mutter drüber zu reden; es mochte
gehen, wie es wolle.

Seine Gedanken wurden immer mächtiger und strömten in das Lied aus:
"Über die hohen Berge." So schnell waren ihm nie die Worte gekommen und
nie hatten sie sich so sicher aneinandergefügt; sie waren fast wie die
Mädchen, die im Kreise auf dem Hügel saßen. Er hatte ein Stück Papier
bei sich und schrieb auf seinen Knien, und als er das Lied zu Ende
geschrieben hatte, stand er wie erlöst auf, mochte nicht unter Menschen,
sondern ging den Waldweg heimwärts, obschon er wußte, er werde dann die
Nacht mit zu Hilfe nehmen müssen. Als er unterwegs zum erstenmal Rast
machte, wollte er das Lied herausholen und es weithin schmettern; aber
da hatte er es liegen lassen, wo er es gemacht hatte.

--Eins der Mädchen suchte ihn auf dem Hügel und fand ihn nicht, wohl
aber das Lied.



Zehntes Kapitel


Mit der Mutter zu reden, war leichter gedacht als getan. Er machte
Anspielungen auf Kristian und die Briefe, die nicht kamen; aber die
Mutter wandte ihm den Rücken, und tagelang hinterher war ihm, als habe
sie rotgeweinte Augen. Er hatte auch noch ein anderes Merkmal dafür, wie
es stand,--nämlich, daß er besonders gutes Essen bekam.

Eines Tages mußte er hinauf in den Wald und Holz holen. Der Weg führte
mitten durch den Forst, und gerade an der Stelle, wo er Holz fällen
wollte, wurden im Herbst immer Preißelbeeren gepflückt. Arne hatte die
Axt aus der Hand gelegt, um die Jacke auszuziehen, und wollte gerade an
die Arbeit gehen, als zwei Mädchen mit ihren Beerentöpfen des Wegs
kamen. Er versteckte sich lieber, als mit Mädchen zusammenzutreffen, und
das tat er jetzt auch.

"Nein, aber nein, die vielen Beeren! Eli, Eli!"--"Ja, ja, ich
sehe schon!"--"Aber so geh doch nicht weiter! hier sind ja
Eimervoll!"--"Raschelt es da nicht im Busch?"--"Ach, wirklich!" und die
Mädchen drängten sich aneinander und faßten sich um. Sie standen eine
lange Zeit so still, daß sie kaum atmeten. "Es ist doch wohl nichts; wir
wollen ruhig pflücken."--"Ja, ich glaub' auch, wir pflücken ruhig."--Und
nun pflückten sie.--"Es war nett von Dir, Eli, daß Du heut ins Pfarrhaus
kamst.--Hast Du mir denn auch was zu erzählen?"--"Ich bin bei dem Paten
gewesen."----"Ja, das hast Du mir gesagt;--aber hast Du mir nichts von
dem Bewußten zu erzählen?"--"O doch!"--"Ach wirklich? Eli, ist das wahr?
Schnell, so erzähl' doch!"--"Er ist wieder bei uns gewesen!"--"Ist nicht
möglich!"--"Doch, ganz gewiß; die Eltern taten, als sähen sie es nicht;
ich aber lief auf den Boden und versteckte mich."--"Weiter, weiter! Kam
er dann nach?"--"Ich glaube, Vater hatte ihm gesagt, wo ich war; Vater
ist doch immer so!"--"Und dann kam er? Setz' Dich, setz' Dich hier zu
mir!--Also, dann kam er?"--"Ja, aber gesagt hat er nicht viel; er war so
schüchtern."--"Jedes Wort muß ich wissen, hörst Du, jedes Wort!"--"Hast
Du Angst vor mir?" sagte er. "Warum sollt' ich Angst haben?" sagte ich.
"Du weißt, was ich von Dir will", sagte er und setzte sich neben mich
auf die Truhe.--"Neben Dich!"--"Und dann faßte er mich um die
Taille."--"Um die Taille, ist's möglich?"--"Ich wollte mich gern wieder
frei machen, aber er wollte mich nicht loslassen. Liebe Eli, sagte
er--", sie lachte und die andere lachte auch.--"Nun? Nun?"--"Willst Du
meine Frau sein?"--"Ha, ha, ha!"--"Ha, ha, ha."--Und dann beide: "Ha,
ha, ha, ha, ha, ha, ha!--"

Endlich mußte das Lachen doch ein Ende nehmen, und dann blieb es lange
still; da fragte die erste ganz leise: "Du,--war das nicht komisch, als
er Dich um die Taille faßte?"

Entweder antwortete die andere hierauf nicht oder doch so leise, daß man
es nicht hören konnte, vielleicht auch nur mit einem Lächeln. Nach einer
Weile fragte die erste: "Haben Deine Eltern nachher was gesagt?"--"Vater
kam herauf und sah mich an, aber ich verkroch mich immer; denn er
lachte, wenn er mich ansah."--"Aber Deine Mutter?"--"Nein, die sagte
nichts; aber sie war nicht so streng wie sonst."--"Ja, Du hast ihn also
ausgeschlagen?"--"Natürlich."--Dann blieb es wieder lange still.

"Du?"--"Ja--?"--"Glaubst Du, zu mir kommt auch mal so einer?"--"Ja,
natürlich!"--"Wär's möglich!--Haha!--Du, Eli!--Und wenn der mich nun um
die Taille faßte?"--Sie steckte den Kopf weg.

Da gab es ein Lachen und Flüstern und Tuscheln.

Bald brachen die Mädchen auf; sie hatten weder Arne, noch die Axt, noch
die Jacke gesehen, und er war recht froh darüber.

Einige Tage darauf nahm er Knut als Pächter zu sich nach Kampen. "Du
sollst nicht mehr so allein sein", sagte Arne.

Arne selbst hatte seinen festen Plan. Er hatte früh mit der Säge
umgehen gelernt; denn er hatte manches bei sich zu Hause gezimmert. Nun
wollte er dies Handwerk betreiben; denn er hatte das Gefühl, es sei gut,
eine bestimmte Arbeit zu haben. Es war auch gut für ihn, daß er unter
Leute kam, und er veränderte sich allmählich so, daß ihn Sehnsucht
danach faßte, wenn er einmal eine Stunde allein war. Es machte sich, daß
er den Winter über in der Pfarre zu tischlern bekam, und dort waren die
beiden Mädchen oft zusammen. Wenn er sie sah, überlegte Arne, wer es
wohl sein möge, der um Eli Böen warb.

Es traf sich, daß er einmal die Pfarrerstochter und Eli spazieren fahren
mußte; er hatte gute Ohren, konnte aber doch nicht hören, worüber sie
sprachen; ab und zu redete Mathilde mit ihm; dann lachte Eli und steckte
den Kopf weg. Schließlich fragte Mathilde, ob es wahr sei, daß er
dichten könne. "Nein", sagte er schnell; da lachten die beiden,
schwatzten und lachten wieder. Fortan war er nicht mehr gut auf sie zu
sprechen und tat, als seien sie Luft.

Einmal saß er in der Gesindestube, wo die Leute tanzten; Mathilde und
Eli kamen beide, um zuzusehen. In ihrer Ecke, wo sie standen, stritten
sie sich über irgend etwas; Eli wollte nicht, Mathilde wollte aber, und
sie siegte. Da kamen sie beide auf ihn zu, verbeugten sich und fragten,
ob er tanzen könne. Er sagte nein, und da drehten sie sich um, lachten
und liefen weg. Dies ewige Gelache, dachte Arne und wurde ganz ernst.
Aber der Pfarrer hatte einen kleinen Pflegesohn von zehn, zwölf Jahren,
den Arne sehr gern hatte; bei dem Jungen lernte Arne tanzen, wenn's
keiner sah.

Eli hatte einen kleinen Bruder im selben Alter wie der Pflegesohn des
Pfarrers. Die beiden waren Spielkameraden, und Arne machte ihnen
Schlitten und Schneeschuhe und Schlingen, und sprach viel mit ihnen von
ihren Schwestern, besonders von Eli. Eines Tages richtete ihm Elis
Bruder aus, er solle sein Haar nicht so lottrig tragen. "Wer hat das
gesagt?"--"Das hat Eli gesagt; aber ich soll nicht sagen, daß sie's
gesagt hat."--Kurze Zeit drauf ließ er bestellen, Eli möge ein bißchen
weniger lachen. Der Junge kam zurück mit der Bestellung, Arne möge
endlich ein bißchen mehr lachen.

Einmal wollte der Junge etwas haben, was Arne geschrieben hatte. Arne
ließ es ihm und dachte nicht weiter an die Sache. Nach einiger Zeit
wollte der Junge Arne mit der Nachricht erfreuen, die beiden Mädchen
fänden seine Schrift sehr schön. "Haben sie sie denn gesehen?"--"Ja, ich
habe doch für sie drum gebeten."--Arne ersuchte die Jungens, ihm etwas
zu bringen, was ihre Schwestern geschrieben hatten; sie taten es auch;
Arne strich alle Schreibfehler mit einem Zimmermannsbleistift an und bat
die Jungens, es so hinzulegen, daß es leicht zu finden sei. Nachher fand
er das Papier in seiner Rocktasche wieder; darunter aber stand:
"Verbessert von einem eingebildeten Gecken."

Tags drauf war Arnes Arbeit in der Pfarre zu Ende, und er begab sich
nach Hause. So sanft wie diesen Winter hatte die Mutter ihn seit jener
traurigen Zeit kurz nach dem Tode des Vaters nicht mehr gesehen. Er las
ihr die Predigt vor, ging mit ihr in die Kirche und war sehr gut gegen
sie. Aber sie wußte recht wohl, es geschah hauptsächlich, um ihre
Zustimmung zu erlangen, daß er im Frühling auf Reisen gehen dürfe. Da
kam eines Tages von Böen ein Bote mit der Anfrage, ob er nicht zum
Tischlern hinkommen könne.

Arne wurde ganz beklommen zumut, und er sagte ja, als ob er sich es
nicht weiter überlege. Sowie der Bote fort war, sagte die Mutter: "Du
kannst Dich freilich wundern! Von Böen!"--"Ist denn das so merkwürdig?"
fragte Arne, sah sie aber nicht an. "Von Böen!" rief die Mutter noch
einmal.--"Na, warum nicht daher gerade so gut wie von einem andern Hof?"
Er blickte ein wenig auf.--"Von Böen und Birgit Böen!--Wo doch Baard um
Birgits willen Deinen Vater zum Krüppel geschlagen hat!"---"Was sagst
Du?" rief jetzt der Bursch. "Das war Baard Böen?"

Mutter und Sohn standen da und sahen sich an. Ein ganzes Leben zog an
ihnen vorüber, und einen Augenblick lang sahen sie den schwarzen Faden,
der sich durch alle Ereignisse hindurchzog. Nachher erzählten sie sich
von jener Glanzzeit des Vaters, da die alte Eli Böen selbst um ihn für
ihre Tochter Birgit geworben und einen Korb bekommen hatte; sie
vergegenwärtigten sich alles bis zu dem Augenblick, da Nils
zusammenbrach, und sie fanden beide, Baards Schuld sei die kleinere
gewesen. Aber der den Vater zum Krüppel geschlagen hatte, war eben doch
er gewesen.

"Bin ich noch immer mit dem Vater nicht fertig?" dachte Arne da und
beschloß, sofort hinzugehen.

Als Arne mit der Handsäge auf der Schulter über das Eis auf Böen zuging,
fand er das Gehöft sehr schön. Das Haus sah immer aus, als sei es
neugestrichen; ihn fror ein bißchen, und deshalb kam das Haus ihm wohl
so traulich vor. Er trat nicht gleich ein, sondern ging oben herum, wo
der Kuhstall lag; da stand eine Schar langhaariger Ziegen im Schnee und
knabberte die Rinde von Tannenzweigen; ein Schäferhund lief auf der
Scheunenbrücke hin und her und bellte, als käme der Böse auf den Hof,
aber sowie Arne stillstand, wedelte er mit dem Schwanz und ließ sich
streicheln. Die Küchentür an der hinteren Seite des Hauses ging häufig
auf, und Arne schaute jedesmal hin; aber entweder war es die Kuhmagd mit
ihren Eimern oder die Schaffnerin, die den Ziegen etwas hinwarf. Drinnen
in der Scheune wurde emsig gedroschen, und vorm Holzschauer zur Linken
stand ein Knecht und hackte Holz; hinter ihm waren viele Haufen
aufgeschichtet.--Arne stellte seine Säge hin und ging in die Küche;
weißer Sand lag auf dem Fußboden und feinzerpflückter Wacholder war
darüber gestreut; an den Wänden blitzten die Kupferkessel, und allerhand
Krüge standen in Reih und Glied. Das Mittagessen wurde gekocht, und er
fragte, ob Baard zu sprechen sei. "Geh nur in die Stube!" sagte eine
Magd und wies nach der Tür; er ging; an der Tür war keine Klinke,
sondern ein Messinggriff; drinnen war es hell und freundlich, die Decke
mit vielen Rosen bemalt, die Schränke rot, mit dem Namen des Besitzers
in schwarz darauf, das Bett genau so, nur mit blauen Streifen am Rande.
Hinten am Ofen saß ein breitschultriger Mann mit einem gütigen Gesicht
und langem gelben Haar und legte Reifen um einige Eimer; an dem langen
Tisch saß eine Frau mit einer Haube auf dem Kopf, in einem
enganschließenden Kleid, hoch und schlank. Sie teilte einen Haufen Korn
in zwei Hälften. Sonst war weiter niemand in der Stube.

"Guten Tag und gute Verrichtung!" sagte Arne und nahm die Mütze ab.
Beide blickten auf; der Mann lächelte und fragte, wer er sei. "Der hier
tischlern soll."--Der Mann lächelte weiter und sagte, indem er den Kopf
senkte und seine Arbeit wieder aufnahm: "Ach, Arne Kampen."--"Arne
Kampen?" rief die Frau und starrte ihn an. Der Mann blickte kurz auf und
lächelte wieder: "Der Sohn von Schneider Nils"; damit machte er sich
wieder an die Arbeit.

Eine Weile drauf stand die Frau auf, ging an das Gesims, drehte sich um,
ging an den Schrank, kehrte wieder um, und während sie im Tischkasten
kramte, fragte sie ohne aufzusehen: "Soll der hier arbeiten?"--"Ja, das
soll er", sagte der Mann, auch ohne aufzusehen. "Dir bietet wohl keiner
einen Stuhl an", wandte er sich zu Arne. Der setzte sich dicht an die
Tür; die Frau ging hinaus, der Mann arbeitete; deshalb fragte Arne, ob
er auch anfangen könne. "Wir wollen erst Mittag essen."

Die Frau kam nicht wieder herein; aber als wieder die Küchentür aufging,
kam Eli. Sie tat erst, als sähe sie ihn nicht; als er aufstand und auf
sie zugehen wollte, blieb sie stehen und drehte sich um, um ihm die Hand
zu geben; aber sie sah ihn dabei nicht an. Sie wechselten ein paar
Worte; der Vater arbeitete.--Sie trug das Haar in Flechten, hatte ein
Kleid mit engen Ärmeln an, war zierlich und schlank mit runden
Handgelenken und kleinen Händen. Sie deckte den Tisch; das Gesinde aß in
der andern Stube, Arne mit der Familie in dieser Stube; zufällig wurde
heute getrennt gegessen, sonst aßen alle in der großen hellen Küche am
selben Tisch.--"Kommt Mutter nicht?" fragte der Mann.--"Nein, sie ist
auf dem Boden und wiegt Wolle."--"Hast Du sie gerufen?"--"Ja, aber sie
sagt, sie mag nicht essen."--Eine Weile war's still. "Es ist doch kalt
auf dem Boden."--"Sie wollte nicht, daß ich einheize."

Nach dem Mittagessen arbeitete Arne; am Abend war er wieder bei ihnen in
der Stube. Jetzt war die Frau auch da. Die Frauen nähten; der Mann
bastelte an allerlei kleineren Sachen herum; Arne half ihm; es blieb
stundenlang still, denn Eli, die sonst wohl das Wort führte, sagte jetzt
auch nichts. Mit Entsetzen dachte Arne, so sei es auch wohl oft zu Hause
bei ihm; aber es war, als komme ihm das jetzt erst zum Bewußtsein. Eli
seufzte einmal tief auf, als habe sie es jetzt lange genug ausgehalten,
und dann fing sie zu lachen an. Da lachte der Vater auch, und Arne fand
es ebenfalls komisch und stimmte mit ein; fortan sprachen sie allerhand;
schließlich bloß er und Eli, und der Vater warf ab und zu ein Wort
dazwischen. Als aber Arne einmal eine ganze Zeitlang geredet hatte,
blickte er zufällig auf; da begegnete er Mutter Birgits Augen; sie hatte
die Arbeit sinken lassen und saß und stierte ihn an. Jetzt nahm sie die
Arbeit schnell auf, aber beim ersten Wort, das er sagte, blickte sie
wieder in die Luft.

Es wurde Schlafenszeit, und jeder begab sich in seine Kammer. Arne
wollte sich den Traum merken, den er die erste Nacht auf einer neuen
Stelle hätte; aber es war kein Sinn darin. Tagsüber hatte er wenig oder
nichts mit dem Bauer selbst gesprochen; in der Nacht aber träumte er
einzig und allein von ihm. Das letzte war, daß Baard am Tisch saß und
mit Schneider Nils Karten spielte. Der machte ein wütendes Gesicht und
war ganz blaß; Baard aber lächelte und zog die Karten zu sich herüber.

Arne war nun mehrere Tage da, während deren so gut wie nichts
gesprochen, wohl aber sehr viel gearbeitet wurde. Nicht bloß in der
Wohnstube war es still, auch das Gesinde und die Tagelöhner, sogar die
Mägde sagten nichts. Auf dem Hof war ein alter Hund, der bellte
jedesmal, wenn Fremde kamen; nie aber hörten die Leute den Hund bellen,
ohne daß einer sagte: "Kusch!" und dann schlich er knurrend beiseite und
legte sich wieder hin. Daheim in Kampen war eine große Wetterfahne auf
dem Dach, die sich im Winde drehte; hier war eine noch größere Fahne,
die Arne auffiel, weil sie sich nicht drehte. Wenn nun der Wind heftig
wehte, mühte sich die Fahne loszukommen, und Arne sah solange hin, bis
es ihn aufs Dach trieb, die Fahne loszumachen. Sie war nicht
festgefroren, wie er dachte, aber ein Pflock war eingeschlagen, daß die
Fahne stillstehen sollte; den zog Arne heraus und warf ihn hinunter. Der
Pflock traf Baard, der gerade des Wegs kam. Er blickte nach oben. "Was
machst Du da?"--"Ich mache die Fahne los."--"Tu's nicht; sie kreischt,
wenn sie geht." Arne saß rittlings auf dem Dachfirst: "Das ist doch
besser, als wenn sie stillschweigt." Baard sah zu Arne hinauf und Arne
zu Baard hinunter; da lächelte Baard: "Wer kreischen muß, wenn er
sprechen will, tut doch wohl besser zu schweigen, mein' ich."

Nun kann es vorkommen, daß irgend ein Wort lange, nachdem es gesprochen
ist, noch nachhallt, zumal wenn es das letzte war. Dies Wort folgte
Arne, wie er in der Kälte vom Dach herunterkletterte, und es war ihm
noch gegenwärtig, als er abends in die Stube trat. Da stand Eli im
Abenddämmer am Fenster und schaute über das Eis hin, das im Mondschein
blinkte. Er ging an das andre Fenster und schaute gleich ihr hinaus.
Drinnen war es warm und still, draußen war es kalt; ein scharfer
Abendwind strich durch das Tal und rüttelte an den Bäumen, daß die
Schatten, die sie im Mondschein warfen, nicht still lagen, sondern auf
dem Schnee hin- und herhuschten und schlichen. Vom Pfarrhaus herüber
drang ein Lichtschein, glomm auf und verwehte oder nahm mancherlei
Gestalten und Farben an, wie es einem immer vorkommt, wenn man zu lange
hinstarrt. Darüber stand der Felsen, an seinem Grunde finster und
geheimnisvoll, mondhell aber auf den höheren Schneefeldern. Der Himmel
oben war ausgestirnt und fern an einer Seite ein zittriges Nordlicht,
das sich aber nicht vorwagte. Ein Stück vom Fenster entfernt, unten am
Wasser, standen Bäume, und ihre Schatten stahlen sich zueinander hin;
eine große Esche aber stand einsam und zeichnete Figuren auf den Schnee.

Es war sehr still; nur manchmal inzwischen kreischte und heulte es in
langgezogenen klagenden Lauten. "Was ist das?" fragte Arne.--"Das ist
die Wetterfahne", sagte Eli, und dann fügte sie leise wie für sich
selbst hinzu: "Sie muß losgegangen sein." Arne aber war wie einer, der
etwas sagen wollte und es doch nicht konnte. Jetzt sagte er: "Weißt Du
noch das Märchen von den Drosseln, die sangen?"--"Ja."--"Ach,
richtig--Du hast es ja selbst erzählt.----Es war ein schönes
Märchen."--Sie sagte mit so sanfter Stimme, daß er sie gewissermaßen zum
erstenmal zu hören meinte: "Mir ist so oft, als singt etwas, wenn es
ganz still ist."--"Das ist das Gute in uns." Sie blickte ihn an, als
liege ein Zuviel in der Antwort; sie schwiegen hinterher auch beide.
Dann fragte sie, während sie mit dem Finger auf den Scheiben malte:
"Hast Du kürzlich ein Gedicht gemacht?" Da wurde er rot, das sah sie
aber nicht. Deshalb fragte sie noch einmal: "Wie machst Du es, wenn Du
dichtest?"--"Möchtest Du es gern wissen?"--"O ja."--"Ich achte auf die
Gedanken, die die andern sich entschlüpfen lassen", antwortete er
ausweichend.--Sie schwieg lange, denn sie machte wohl die Probe auf
dieses Lied oder jenes, ob sie den Gedanken gehabt und sich hatte
entschlüpfen lassen.--"Das ist doch seltsam", sagte sie wie zu sich
selbst und fing wieder an, auf den Scheiben zu malen.--"Ich habe ein
Gedicht gemacht, als ich Dich zum erstenmal sah".--"Wo war
das?"--"Drüben beim Pfarrhof an dem Abend, als Du den Hof
verließest;--ich hab' Dich im Wasser gesehen."--Sie lachte und stand
eine Weile still: "Laß mich das Lied hören."--Arne hatte nie zuvor so
etwas getan; jetzt aber versuchte er, ihr das Lied vorzusingen.

    "Jung Venevil hüpfte auf leichtem Schuh
    Ihrem Liebsten zu" usw.

Eli war ganz Ohr; sie stand noch so, als es schon lange zu Ende war.
Schließlich rief sie: "Nein, wie schade um sie!"--"Mir ist beinahe, als
hätt' ich es gar nicht selbst gemacht", sagte er: denn er war nun
verlegen, weil er es hergesagt hatte. Er konnte auch nicht begreifen,
wie er auf den Gedanken gekommen war. Er stand und sann dem Liede nach.
Da sagte sie: "Aber mir soll's doch wohl nicht so gehen?"--"Nein, nein,
nein;--ich habe eigentlich an mich selbst dabei gedacht."--"Soll es Dir
denn so ergehen?"--"Ich weiß nicht;--aber damals empfand ich so;--ja,
ich begreife es gar nicht; aber mir war damals so schwer ums
Herz."--"Das ist doch seltsam"; sie malte wieder auf den Scheiben.

Das nächste Mal, als Arne zum Mittagessen erschien, ging er zuerst ans
Fenster. Draußen war es grau und trüb, drinnen warm und gut; an die
Scheibe aber war mit dem Finger geschrieben: "Arne, Arne, Arne" und
immerzu "Arne"; das war das Fenster, wo Eli am Abend vorher gestanden
hatte.

Am Tage darauf aber kam Eli nicht hinunter; sie war krank. Sie war
überhaupt die ganze Zeit über nicht recht munter; sie sagte es selbst,
und man konnte es ihr auch ansehen.



Elftes Kapitel


Den nächsten Tag kam Arne herein und erzählte, was er eben auf dem Hof
erfahren hatte: nämlich daß Mathilde, die Tochter des Pfarrers, in die
Stadt gefahren sei; sie selbst glaube, nur für ein paar
Tage,--tatsächlich aber solle sie ein Jahr oder zwei dort bleiben. Eli
hatte bis jetzt keine Ahnung davon; sie wurde ohnmächtig und sank um.

Arne hatte so etwas nie vorher gesehen, und geriet in große Angst; er
rannte nach den Mägden, die nach den Eltern, und die aus dem Hause; der
ganze Hof geriet in Aufregung; der Schäferhund kläffte auf der
Scheunenbrücke. Als Arne später wieder hineinkam, lag die Mutter vorm
Bett auf den Knien; der Vater stützte der Kranken den Kopf. Die Mägde
liefen hin und her, eine nach Wasser, eine andere nach Tropfen, die im
Schrank standen, eine dritte knöpfte der Kranken die Jacke am Hals auf.
"Gott sei Dir gnädig!" sagte die Mutter; "es war doch nicht richtig, daß
wir nichts gesagt haben Du wolltest es ja so haben, Baard. O, Gott sei
Dir gnädig!" Baard antwortete nicht. "Ich hab' es ja gleich gesagt, aber
nichts geschieht nach meinem Willen. Gott helfe Dir! Immer bist Du so
häßlich zu ihr, Baard. Du weißt eben nicht, wie ihr zumut ist; Du weißt
ja nicht, wie's ist, wenn man einen lieb hat!" Baard antwortete nicht.
"Sie ist nicht so wie die andern, die einen Kummer schon vertragen
können; sie wirft er um, die Ärmste, so schmächtig wie sie ist. Und
überhaupt jetzt, da sie sowieso schon nicht ganz gesund ist. Wach' doch
auf, mein Kind, wir wollen auch immer gut zu Dir sein! Wach' doch auf,
Eli, mein Kind und mach uns nicht solche Sorge!" Da sagte Baard:
"Entweder schweigst Du zuviel oder Du redest zuviel"; er sah zu Arne
hin, als möchte er nicht, daß der alles mitanhöre, und als solle er
lieber gehen. Weil aber die Mägde in der Stube blieben, so blieb Arne
auch da, doch er ging ans Fenster. Jetzt kam die Kranke soweit zu sich,
daß sie um sich schauen konnte und die Anwesenden erkannte; aber da kam
ihr auch die Erinnerung wieder, und sie schrie auf: "Mathilde!" und
brach in ein krampfhaftes Weinen und Schluchzen aus, daß es schrecklich
mitanzuhören war. Da suchte die Mutter sie zu beruhigen; der Vater
stellte sich so, daß sie ihn sehen konnte, aber die Kranke stieß sie
weg. "Weg!" rief sie; "ich habe Euch nicht lieb, weg!"--"Jesus Christus,
Du hast Deine Eltern nicht lieb?" sagte die Mutter.--"Nein! Ihr seid
hart gegen mich und nehmt mir die einzige Freude, die ich habe!"--"Eli,
Eli! sei nicht so heftig", bat die Mutter herzlich.--"Doch, Mutter!"
schrie sie, "einmal muß ich es sagen! Doch, Mutter! Ihr wollt mich mit
dem schrecklichen Menschen verheiraten, und ich will ihn nicht. Ihr
sperrt mich hier ein, wo ich jedes Mal froh bin, wenn ich herauskann.
Und Ihr nehmt mir Mathilde, die einzige auf der Welt, die ich lieb habe,
und nach der ich mich sehne. O Gott, was soll aus mir werden, wenn
Mathilde nicht mehr hier ist,--besonders jetzt, da ich soviel, soviel
auf dem Herzen habe, daß ich mir keinen Rat weiß, wenn ich nicht mit
einem darüber reden kann!"--"Aber Du warst ja doch jetzt seltner bei
ihr", sagte Baard.--"Was tut das, wenn ich sie drüben am Fenster weiß!"
erwiderte die Kranke und weinte wie ein Kind, so daß es Arne war, als
habe er bis zu diesem Tage noch keinen Menschen weinen hören.--"Du
konntest sie aber doch von hier aus nicht sehen", sagte Baard.--"Ich sah
aber das Haus", sagte sie, und die Mutter fügte erregt hinzu: "So was
verstehst Du eben nicht." Da sagte Baard nichts mehr. "Jetzt kann ich
nie mehr ans Fenster!" sagte Eli. "Morgens, wenn ich aufstand, ging ich
hin; abends saß ich da im Mondschein, und dahin ging ich, wenn ich
weiter keinen hatte, zu dem ich gehen konnte. Mathilde, Mathilde!" Sie
wand sich im Bett und bekam wieder einen Weinkrampf. Baard setzte sich
auf einen Schemel und blickte sie an.

Eli wurde aber nicht so schnell besser, wie man wohl angenommen hatte.
Gegen Abend gewahrten sie erst, daß eine langwierige Krankheit im Anzug
war, die ihr sicher schon lange in den Gliedern gelegen hatte, und Arne
wurde hereingerufen, um sie in ihre Kammer tragen zu helfen. Sie war
ohne Bewußtsein, war sehr bleich und lag ganz still; die Mutter setzte
sich zu ihr, der Vater stand am Fußende des Bettes und sah sie lange an;
nachher ging er hinunter an seine Arbeit. Arne ging auch; aber abends
beim Schlafengehen betete er für sie, betete, daß sie, die so jung und
schön war, es gut im Leben haben, und daß keiner sie um ihr Glück
bringen möge.

Tags drauf saßen die Eltern beisammen und besprachen etwas, als Arne
hineinkam; die Mutter hatte geweint. Arne fragte, wie es gehe; beide
dachten, der andere werde antworten, und deshalb dauerte es eine ganze
Zeit, bis Antwort kam; schließlich aber sagte der Vater: "Es geht recht
schlecht."--Später erfuhr Arne, Eli sei die ganze Nacht ohne Bewußtsein
gewesen oder habe dummes Zeug geredet, wie der Vater sagte. Jetzt lag
sie in heftigem Fieber, erkannte niemand, wollte keine Speise zu sich
nehmen und die Eltern saßen eben und berieten, ob sie den Doktor holen
sollten. Als sie nachher nach oben gingen und bei der Kranken blieben
und Arne wieder allein war, hatte er die Empfindung, da oben sei Leben
und Tod zugleich; er aber sei ausgeschlossen.

Nach einigen Tagen wurde es etwas besser. Als der Vater einmal bei ihr
wachte, hatte sie den Einfall: Narrifas, der Vogel, den Mathilde ihr
geschenkt hatte, solle bei ihr vorm Bett stehen. Da sagte Baard der
Wahrheit gemäß, in all dem Wirrwarr habe man den Vogel vergessen, und er
sei gestorben. Die Mutter kam gerade in die Tür, als Baard das erzählte,
und sie schrie auf: "Herrjeh, was bist Du für ein rücksichtsloser
Mensch, Baard, dem kranken Kind so was zu erzählen! Siehst Du, da wird
sie uns wieder ohnmächtig; Gott verzeih Dir die Sünde!" Immer, wenn die
Kranke zu sich kam, rief sie nach dem Vogel, sagte, es könne Mathilde
unmöglich gut gehen, da der Vogel gestorben sei, wollte hin zu ihr und
fiel von neuem in Ohnmacht. Baard stand da und sah es mit an, bis es ihm
zu bunt wurde. Da wollte er auch helfen; die Mutter aber schob ihn
beiseite und sagte, sie werde schon allein auf die Kranke acht geben. Da
sah Baard sie beide lang an, schob dann mit beiden Händen seine Mütze
zurecht, drehte sich um und ging.

Später kamen der Pfarrer und seine Frau herüber, denn die Krankheit
hatte Eli mit neuer Macht gepackt, und es wurde so schlimm, daß keiner
wußte, ob es zum Leben oder zum Tode gehe.

Der Pfarrer wie auch seine Frau machten Baard Vorwürfe, er sei zu hart
gegen das Kind; sie erfuhren die Geschichte mit dem Vogel, und da sagte
ihm der Pfarrer rund heraus, das sei eine Roheit; er wolle das Kind zu
sich ins Haus nehmen, sagte er, sobald sie hinübergeschafft werden
könne; die Frau Pfarrer wollte ihn zuletzt gar nicht mehr sehen, sie
weinte und saß bei der Kranken, ließ den Doktor holen, nahm selbst seine
Anordnungen entgegen und kam dann täglich einigemal herüber, um Eli
vorschriftsgemäß zu pflegen. Baard ging draußen auf dem Hof von einer
Stelle zur andern, am liebsten so, daß er allein war, stand oft lange,
lange auf einem Fleck, schob dann mit beiden Händen seine Mütze zurecht
und nahm irgend eine Arbeit vor.

Die Mutter sprach nicht mehr mit ihm. Sie sahen sich kaum. Ein paarmal
am Tage ging er zu der Kranken hinauf; dann zog er unten auf der Treppe
die Schuhe aus, legte die Mütze draußen hin und öffnete behutsam die
Tür. Sowie er hereinkam, drehte Birgit sich um, als habe sie ihn nicht
gesehen, saß zusammengekauert da, den Kopf in die Hände gestützt und
starrte vor sich hin auf die Kranke. Die lag still und bleich und wußte
nicht, was um sie her vorging. Baard stand eine Weile am Fußende des
Bettes, sah sie beide an und sagte nichts. Wenn die Kranke sich einmal
bewegte, als wolle sie aufwachen, dann stahl er sich ebenso leise,
wieder aus der Stube, wie er gekommen war.

Oft dachte Arne, wie jetzt zwischen Mann und Frau und zwischen Kind und
Eltern Worte gefallen seien, die lange sich angesammelt hatten und
schwer wieder vergessen werden konnten. Er sehnte sich fort von hier,
obwohl er gern vorher gewußt hätte, wie es Eli gehe. Das werde er ja
aber auch wohl erfahren, dachte er, ging also zu Baard und sagte, er
wolle nach Hause. Die Arbeit, um derentwillen er gekommen war, sei
fertig. Baard saß draußen auf dem Hauklotz, als Arne kam und ihm das
sagte. Er saß da, ganz gebückt, und scharrte mit einem Pflock im Schnee;
den Pflock kannte Arne; es war derselbe, der die Wetterfahne gehemmt
hatte. Baard blickte nicht auf; er sagte: "Es ist hier wohl
augenblicklich nicht gut sein,--aber mir ist, als möcht' ich Dich nicht
fortlassen." Weiter sagte Baard nichts, und Arne auch nicht. Er blieb
eine Weile stehen, ging dann weg und nahm eine Arbeit vor, als sei es
abgemacht, daß er bleiben solle.

Später, als Arne zum Essen hineingerufen wurde, saß Baard noch immer auf
dem Hauklotz. Da ging Arne zu ihm und fragte, wie es Eli heut gehe. "Es
ist wohl heute sehr schlimm," sagte Baard, "ich sah, daß ihre Mutter
weint." Arne war's, als heiße ihn einer sich hinsetzen, und er setzte
sich Baard gegenüber auf einen Baumstamm. "Ich habe in diesen Tagen viel
an Deinen Vater gedacht", sagte Baard so unvermittelt, daß Arne nichts
darauf erwidern konnte. "Du weißt wohl, was zwischen uns vorgefallen
ist?"--"Ich weiß es."--"Ja, Du weißt aber vermutlich nur die eine Hälfte
und schreibst mir die ganze Schuld zu." Arne antwortete nach einer
Weile: "Du hast doch gewiß Deinem Gott Rechenschaft darüber gegeben, wie
mein Vater jetzt auch."--"Ach ja, wie man's nehmen will", versetzte
Baard. "Als ich vorhin diesen Pflock wiederfand, kam es mir so
merkwürdig vor, daß Du hierherkommen mußtest und die Fahne losmachen. Je
eher, je besser, dachte ich." Er hatte die Mütze abgenommen und saß und
sah in sie hinein.

Arne begriff noch nicht, daß er hiermit meinte, er wolle jetzt mit ihm
über seinen Vater reden. Ja, er begriff es auch noch nicht, als Baard
schon im besten Zuge war, so wenig sah das Baard ähnlich. Aber was in
seinem Herzen voraufgegangen sein mochte, merkte er, je weiter die
Erzählung vorschritt, und hatte er vorher vor diesem schwerfälligen,
aber grundehrlichen Menschen Achtung gehabt, so wurde sie nicht kleiner
hierdurch.

"Ich mochte wohl so vierzehn Jahr sein", sagte Baard und hielt inne, wie
bei der ganzen Erzählung ab und zu, sagte ein paar Worte, hielt wieder
inne, aber so, daß seine Erzählung ein Gepräge bekam, als sei jedes Wort
wohlerwogen. "Ich mochte wohl so vierzehn Jahr sein, als ich Deinen
Vater, der im selben Alter war, kennen lernte.--Er war sehr wild und
duldete keinen über sich. Und er hat es mir nie vergessen können, daß
ich bei der Konfirmation der erste war und er der zweite.--Oft wollte er
mit mir anbinden, aber es kam nie soweit, wahrscheinlich war keiner von
uns seiner selbst sicher.--Aber merkwürdig ist, daß er jeden Tag eine
Prügelei hatte und nie ein Unglück daraus entstand; nur das eine Mal, wo
ich dazwischen kommen mußte, ging es so schlimm ab, wie es nur gehen
konnte;--aber freilich: ich hatte auch sehr lange gewartet.----

Nils lief allen Mädchen nach und sie ihm. Eine bloß wollte ich haben,
aber die nahm er mir bei jedem Tanz weg, bei jeder Hochzeit, bei jedem
Fest; das war die, mit der ich jetzt verheiratet bin.------Mich packte
oft die Lust, wenn ich so dasaß, mich um dieser Sache willen mit ihm zu
messen; aber ich hatte Angst, ich könne verlieren, und wußte, daß ich
damit auch sie verlieren würde. Wenn alle andern fort waren, machte ich
dieselben Kraftproben, die er gemacht hatte, schnellte gegen den Balken,
gegen den er geschnellt war; aber wenn er das nächste Mal mir das
Mädchen wieder vor der Nase wegschnappte, wagte ich mich doch nicht mit
ihm einzulassen,--obgleich--einmal geschah es doch, als er nämlich
gerade vor meinen Augen mit dem Mädchen schön tat--da nahm ich einen
ausgewachsenen Burschen und legte ihn, als sei's Kinderspiel, über den
Dachbalken. Damals ist er auch ganz blaß geworden------

Wenn er noch gut zu ihr gewesen wäre; aber er betrog sie, und das Abend
für Abend. Ich glaube, sie hatte ihn nach jedem Mal bloß noch
lieber.--So stand es, als das letzte geschah. Ich dachte, jetzt mag es
biegen oder brechen. Unser Herrgott hat wohl nicht gewollt, daß er es so
weitertreiben sollte, deshalb fiel er härter, als ich gewollt
hatte.--Ich habe ihn nachher nie wiedergesehen."

Sie schwiegen eine ganze Zeit, schließlich fuhr Baard fort:

"Ich warb wieder um sie. Sie sagte nicht ja, nicht nein, und da dachte
ich, es würde später besser werden. Wir heirateten uns; die Hochzeit war
unten im Tal bei einer Base, die sie beerbte. Wir fingen groß an, und
unser Hab und Gut hat sich noch weiter vermehrt. Unsere Höfe lagen
nebeneinander, und nun wurden sie vereinigt, wie es von klein auf mein
Wunsch gewesen war.--Aber vieles andere ging nicht nach meinem
Wunsch."--Er saß lange wortlos da; Arne dachte eine Weile, er weine; das
war aber nicht der Fall. Nur seine Stimme war noch sanfter denn
gewöhnlich, als er nun fortfuhr:

"Anfangs war sie still und sehr traurig. Ich konnte ihr nichts zum
Troste sagen, und so schwieg ich. Später nahm sie manchmal dies unstete
Wesen an, das Du vielleicht auch bemerkt hast; es war doch wenigstens
eine Veränderung, und so schwieg ich auch dazu.--Aber einen wirklich
frohen Tag habe ich nicht gehabt, seit ich verheiratet bin, und das sind
jetzt an die zwanzig Jahre."------

Hier brach er den Pflock in zwei Stücke; dann saß er eine ganze Zeit und
sah die Stücke an.

"----Als Eli heranwuchs, dachte ich, sie habe mehr Freude als hier, wenn
sie unter Fremden wäre. Ich habe nur selten etwas gewollt; das meiste
ist aber schief gegangen,--und dies auch. Die Mutter saß und sehnte sich
nach dem Kinde, wenn auch nur das bißchen Wasser zwischen ihnen lag,
und schließlich merkte ich: da drüben die Pfarre ist auch nicht das
richtige, denn die Pfarrersleute sind so recht gutmütige Hanswurste;
aber ich merkte es zu spät. Sie ist jetzt wohl weder Vater noch Mutter
zugetan!"

Die Mütze hatte er wieder abgenommen; jetzt fielen ihm die langen Haare
in die Augen; er strich sie weg und setzte sich mit beiden Händen die
Mütze auf, als wolle er gehen; aber als er sich zum Haus umwandte, um
aufzustehen, blieb er noch und fügte mit einem Blick nach dem Fenster
der Bodenkammer hinzu:

"Ich hielt es für das beste, Mathilde und sie nähmen nicht Abschied
voneinander;--aber das war verkehrt. Ich sagte ihr, der kleine Vogel sei
tot, denn meine Schuld war es doch, und da hielt ich es für richtiger,
es einzugestehen; aber das war auch verkehrt. Und so ist es mit allem.
Ich habe immer das beste gewollt, aber immer ist es zum Unsegen
geworden, und jetzt ist es soweit gekommen, daß Frau und Tochter
schlecht von mir reden und ich hier allein und verlassen herumlaufe."

Eine Magd rief zu ihnen hinauf, das Essen werde kalt. Baard stand auf.
"Ich höre die Pferde wiehern", sagte er; "sie müssen wohl vergessen
sein"; damit ging er in den Stall, um ihnen Heu zu geben.



Zwölftes Kapitel


Eli war sehr schwach nach ihrer Krankheit; die Mutter saß Tag und Nacht
bei ihr und kam niemals nach unten; der Vater machte oben seine
gewohnten Besuche auf Socken und legte die Mütze draußen vor der Tür ab.
Arne war noch immer auf dem Hof; er und der Vater saßen abends zusammen;
er hatte Baard sehr liebgewonnen; Baard war ein belesener, scharf
denkender Mensch, hatte aber sozusagen Angst vor dem, was er wußte. Wenn
nun Arne ihm zurechthalf und ihm manches erzählte, was er noch nicht
gewußt hatte, dann war Baard sehr dankbar.

Eli durfte nun schon zuweilen auf sein, und je mehr es mit ihr vorwärts
ging, desto mehr Einfalle hatte sie. So auch eines Abends, als Arne in
der Stube unter Elis Kammer saß und mit lauter Stimme sang: da kam die
Mutter hinunter und bestellte von Eli, er möge doch hinauf kommen und
singen, damit sie die Worte besser verstehen könne. Arne hatte
vielleicht schon hier unten Eli zuliebe gesungen, denn als die Mutter
dies sagte, wurde er rot und stand auf, als wolle er sein Tun ableugnen,
wiewohl keiner es behauptet hatte. Er faßte sich aber schnell und sagte
ausweichend, er könne nur so wenig singen. Die Mutter aber meinte, wenn
er allein sei, schiene das gar nicht der Fall zu sein.

Arne gab nach und ging. Er hatte Eli seit dem Tage nicht gesehen, da er
sie hatte hinauftragen helfen; er dachte, sie müsse sich jetzt sehr
verändert haben, und das machte ihn ein bißchen ängstlich. Aber als er
leise die Tür öffnete und eintrat, war es stockfinster im Zimmer, und er
konnte nichts sehen. Er blieb an der Tür stehen. "Wer ist da?" fragte
Eli leise und deutlich. "Arne Kampen", entgegnete er behutsam, damit die
Worte recht weich klängen.--"Es ist nett, daß Du kommst."--"Wie geht es
Dir, Eli?"--"Danke, jetzt geht es besser."

"Setz' Dich doch, Arne", sagte sie eine Weile drauf, und Arne tastete
sich zu einem Stuhl hin, der am Fußende des Bettes stand. "Es tat mir
wohl, Dich singen zu hören, Du mußt mir hier oben etwas
vorsingen."--"Wenn ich nur etwas könnte, was hierherpaßte."--Es blieb
eine Zeitlang still; dann sagte sie: "Sing einen Choral!" und das tat
er, und zwar ein Stück aus einem Konfirmationslied. Als er zu Ende war,
hörte er sie weinen, und deshalb wagte er nicht weiter zu singen; nach
einer Weile aber sagte sie: "Sing' noch so eins", und er sang noch eins,
diesmal ein sehr bekanntes Kirchenlied. "Über wievieles hab' ich nicht
nachgedacht, als ich hier so lag", sagte Eli. Er wußte nicht, was er
darauf sagen solle, und hörte ihr leises Weinen in der Dunkelheit. Eine
Uhr tickte hinten an der Wand, holte zum Schlage aus und schlug dann.
Eli atmete ein paarmal tief auf, als wolle sie ihre Brust erleichtern,
und dann sagte sie: "Man weiß so wenig, kennt weder Vater noch
Mutter.--Ich bin nicht lieb zu ihnen gewesen,--und deshalb war's mir so
eigen, jetzt das Konfirmationslied zu hören."

Wenn man im Dunkeln miteinander redet, ist man viel aufrichtiger, als
wenn einer des andern Gesicht sieht; man sagt auch wohl mehr.

"Das war ein gutes Wort", sagte Arne; er mußte daran denken, was sie
damals gesagt hatte, als sie krank wurde. Das wußte sie, und deshalb
sagte sie: "Wäre dies alles mir nun nicht geschehen, so hätt' es Gott weiß
wie lange gedauert, bis ich mich zu Mutter hingefunden hätte."--"Sie
hat jetzt mit Dir gesprochen?"--"Jeden Tag; weiter hat sie nichts
getan."--"Da hast Du wohl manches gehört."--"Das kannst Du glauben."--"Sie
hat wohl auch von meinem Vater gesprochen."--"Ja."----"Denkt sie noch an
ihn?"--"Sie denkt an ihn."--"Er ist nicht gut zu ihr gewesen."--"Arme
Mutter!"--"Aber am schlechtesten war er gegen sich selbst."

Jeder dachte etwas, was er dem andern nicht sagen mochte. Eli fand
zuerst Worte: "Du sollst Deinem Vater gleichen."--"Man sagt es",
antwortete er ausweichend; ihr fiel der Ton nicht auf, und deshalb fing
sie nach einer Weile wieder an: "Konnte er auch dichten?"--"Nein."

"Sing mir ein Lied,----eins, das Du selbst gemacht hast." Aber Arne
pflegte nicht gern zuzugeben, daß die Lieder, die er sang, von ihm
selbst waren. "Ich habe keins", sagte er. "Doch hast Du das, und Du
singst mir auch eins vor, wenn ich Dich drum bitte."--Was er für keinen
andern je getan hätte, das tat er nun für sie. Er sang nämlich folgendes
Lied:

    Mit Blatt und Knospen stand fertig der Baum.
    "Soll ich--?" blies der Frühfrost aus dem eisigen Raum.
      "Nein, Liebster, sei lind,
      Bis wir Blüten worden sind!"
    So baten die Knospen tief in ihrem Traum.

    Der Baum trug Blüten, die Nachtigall sang,
    "Soll ich--?" rief der Wind und schüttelte sie lang'.
      "Nein, laß, lieber Wind,
      Bis wir Früchte worden sind!"
    So baten all die Blüten und zitterten bang.

    Und der Baum reifte Früchte in der Sommersonnenglut.
    "Soll ich----?" fragte lächelnd das junge schöne Blut.
      "Ja, du darfst, lieb Kind!
      Nimm so viele, wie da sind!"
    Sprach der Baum und beugte sein schwellendes Gut.

Das Lied benahm ihr fast den Atem. Er saß nachher auch da, als habe er
mehr gesungen, als er eigentlich wahr haben wollte.

Das Dunkel liegt schwer über denen, die beisammen sitzen und nicht
sprechen mögen; sie sind sich niemals näher als gerade dann. Er hörte
es, wenn sie sich nur regte, wenn sie nur mit der Hand über die Decke
strich, wenn sie nur einmal etwas tiefer atmete als gewöhnlich.

"Arne--, könntest Du mich nicht dichten lehren?"--"Hast Du es nie
versucht?"--"Doch, jetzt in den letzten Tagen; aber ich bringe kein Lied
zustande."--"Was hast Du denn darin sagen wollen?"--"Etwas von Mutter,
die Deinen Vater so lieb hatte."--"Das ist ein schwieriger Stoff."--"Mir
sind auch darüber die Tränen gekommen."--"Du mußt nicht nach Stoffen
suchen; sie kommen von selbst."--"Wie denn?"--"Wie alles Liebe: wenn Du
es am wenigsten erwartest."--Sie schwiegen beide. "Mich wundert, Arne,
daß Du Dich von hier fortsehnst, wo Du doch soviel Schönes in Dir
hast."--"Weißt Du denn, daß ich mich fortsehne?"--Sie antwortete nicht;
sie lag ganz still wie in Gedanken. "Arne, Du darfst nicht fort!" sagte
sie, und das ging ihm warm zu Herzen.--"Manchmal hab' ich auch weniger
Lust dazu."--"Deine Mutter muß Dich sehr lieb haben. Ich möchte Deine
Mutter einmal sehen!"--"Komm doch mal nach Kampen, wenn Du erst wieder
gesund bist." Und da stellte er sie sich auf einmal vor, wie sie in
Kampen in der hellen Stube saß und auf die Berge schaute; sein Herz fing
zu klopfen an, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. "Es ist warm hier
drinnen", sagte er und stand auf.

Sie hörte es. "Willst Du schon gehen?" sagte sie, und er setzte sich
wieder.

"----Du mußt öfter zu uns kommen;--Mutter hat Dich so lieb."--"Ich
selbst möchte auch gern;--aber ich muß doch ein Gewerbe treiben."--Eli
schwieg eine Weile, als denke sie nach. "Ich glaube," sagte sie, "Mutter
wollte Dich um etwas bitten----"

Er hörte, wie sie sich im Bett aufrichtete. Kein Laut war in der Kammer
zu hören und auch unten nicht, außer der Uhr, die an der Wand tickte. Da
stieß sie heraus:

"Wollte Gott, es wäre Sommer!"

"Es wäre Sommer!" Und vor seiner Phantasie erstanden Bilder von feuchtem
Laub und Herdengeläut, von Jodeln auf Bergeshöhen und Gesang in den
Tälern. Der Schwarze See lag und schimmerte in der Sonne und die Gehöfte
wiegten sich drin. Eli kam heraus und setzte sich draußen hin wie an
jenem Abend. "Wenn es Sommer wäre," sagte sie, "und ich auf dem Hügel
säße, glaube ich ganz bestimmt, ich könnte ein Lied dichten!"

Er lachte und fragte: "Wovon sollte es denn handeln?"--"Von etwas
Leichtem, von--ja, ich weiß selbst nicht."

"Sag' es, Eli!" er stand vor Freude auf, überlegte aber und setzte sich
wieder.

"Das sag' ich Dir um keinen Preis der Welt!"--lachte sie.--"Ich habe Dir
doch was vorgesungen, als Du mich drum batest."--"Das ist wahr;--aber
nein, nein!"--"Eli, glaubst Du, ich mache mich über den kleinen Vers
lustig, den Du gedichtet hast?"--"Nein, das glaube ich nicht, Arne;
aber ich hab' ihn nicht selbst gemacht."--"Ist er von einem
andern?"--"Ja, es ist mir so zugeweht."--"So kannst Du es mir doch
sagen."--"Nein, nein, so ist es ja auch nicht, Arne; quäl' mich nicht
länger." Sie barg wohl den Kopf im Kissen, denn das letzte war kaum zu
hören. "Eli, jetzt bist Du nicht so nett zu mir, wie ich zu Dir gewesen
bin!" er stand auf. "Arne, das ist doch etwas ganz anderes!--Du
verstehst mich nicht!--aber es war--ich weiß selbst nicht--ein
andermal--sei mir nicht böse, Arne! geh nicht fort!" sie fing zu weinen
an.

"Eli, was ist Dir?" er lauschte. "Bist Du krank?" das glaubte er selbst
nicht. Sie weinte noch immer; ihm war, er müsse jetzt entweder vorwärts
oder zurück. "Eli!"--"Ja"; sie flüsterten beide. "Gib mir die Hand!" Sie
antwortete nicht; er lauschte angestrengt, gespannt,--tastete über die
Decke und faßte eine kleine, warme Hand, die frei lag.

Da knarrte die Treppe, und sie ließen sich los. Es war die Mutter mit
Licht. "Ihr sitzt auch zu lange im Dunkeln", sagte sie und stellte den
Leuchter auf den Tisch. Aber weder Eli noch er konnten das Licht
vertragen; sie vergrub das Gesicht in den Kissen, er hielt sich die Hand
vor die Augen. "Ach ja, es tut zuerst ein bißchen weh", sagte die
Mutter, "aber das geht vorüber."

Arne suchte auf dem Fußboden nach seiner Mütze, die er gar nicht bei
sich gehabt hatte, und dann ging er.

Tags darauf hörte er, Eli werde am Nachmittag ein bißchen
herunterkommen. Er packte sein Handwerkszeug zusammen und verabschiedete
sich. Als sie nach unten kam, war er fort.



Dreizehntes Kapitel


Spät kommt der Frühling in die Berge. Die Post, die den Winter dreimal
in der Woche den Königsweg entlang fährt, geht schon im April nur noch
einmal, und dann fühlen die Bergbewohner, daß draußen der Schnee fort
und das Eis gebrochen ist, daß die Dampfer verkehren und der Pflug die
Erde aufwühlt. Hier liegt der Schnee noch drei Ellen hoch; das Vieh
brüllt in den Ställen, und die Vögel kommen geflogen, verkriechen sich
aber und frieren. Ab und zu erzählt ein Wanderer, er habe seinen Wagen
unten im Tal gelassen, und er hat Blumen mit und zeigt sie; die hat er
am Wegrand gepflückt. Da fährt eine Unruhe in die Leute dort oben; sie
gehen umher und plaudern, schauen nach der Sonne aus und über das Land
hin, wieviel sie wohl täglich schaffe. Sie streuen Asche auf den Schnee
und denken an die Menschen, die jetzt Blumen pflücken.

In solcher Zeit war's, als die alte Margit Kampen zur Pfarre gegangen
kam und den Herrn Pfarrer sprechen wollte. Und sie wurde in sein
Arbeitszimmer hinaufgeführt, wo der Pfarrer, ein schmächtiger,
hellblonder Mann, die großen Augen hinter einer Brille, sie freundlich
empfing, sie gleich erkannte und sie bat, Platz zu nehmen. "Ist es
wieder was mit Arne?" fragte er, als hätten sie schon häufiger über
diesen Fall gesprochen. "Ja, Gott helfe mir," sagte Margit, "ich kann ja
nie was andres als gutes von ihm sagen, und doch ist es so schwer"; sie
sah sehr sorgenvoll aus. "Ist denn wieder die alte Sehnsucht über ihn
gekommen?" fragte der Pfarrer. "Schlimmer als je", sagte die Mutter.
"Ich glaube nimmer, daß er bei mir bleibt, wenn der Frühling
kommt."--"Er hat doch versprochen, Dich nie zu verlassen."--"Freilich;
aber Herrgott,--er weiß sich ja selbst keinen Rat; wenn ihm der Sinn in
die Welt steht, muß er eben gehen. Was soll dann aber aus mir werden?"

"Ich glaube, schließlich wird er Dich doch nicht allein lassen", sagte
der Pfarrer. "Nein, natürlich; aber wenn er es nun zu Hause nicht
aushalten kann? Soll ich es da auf mein Gewissen laden, ihm im Wege zu
stehen; manchmal denke ich, ich müsse ihn selbst bitten zu reisen."

"Woher weißt Du, daß er jetzt noch größere Sehnsucht hat als
früher?"--"Ach,--aus vielen Dingen. Seit dem Mittwinter hat er keinen
einzigen Tag mehr im Dorf gearbeitet. Dagegen ist er dreimal nach der
Stadt gefahren und jedesmal lange weggeblieben. Er spricht fast nie,
wenn er arbeitet, und das hat er doch sonst oft getan. Er kann
stundenlang allein oben an dem kleinen Bodenfenster sitzen und nach den
Bergen schauen, dorthin, wo die Kampenschlucht ist; da kann er Sonntags
den ganzen Nachmittag sitzen, und oft, wenn es mondhell ist, bleibt er
dort bis tief in die Nacht hinein."--"Liest er Dir nie etwas
vor?"--"Natürlich, jeden Sonntag liest er mir vor und singt, aber immer
so ein bißchen in Eile, außer wenn er beinahe zu viel des Guten
tut."--"Spricht er dann nie mit Dir?"--"Oft macht er so lange Pausen,
daß ich heimlich vor mich hinweine. Das sieht er dann und fängt zu reden
an, aber immer von den leichten Dingen, nie von den schwereren." Der
Pfarrer ging auf und ab, dann blieb er stehen und fragte: "Warum sagst
Du ihm das nicht?"--Es dauerte lange, bis sie hierauf etwas antwortete;
sie seufzte ein paarmal, schaute zu Boden und zur Seite und faltete ihr
Taschentuch zusammen. "Ich bin heute hergekommen, um mit dem Herrn
Pfarrer über etwas zu reden, was mir schwer auf der Seele
liegt."--"Sprich frei heraus; es wird Dich erleichtern."--"Ja, es wird
mich erleichtern; denn ich habe es jetzt viele Jahre lang allein mit mir
herumgeschleppt, und es wird mit jedem Jahre schwerer."--"Was ist es,
liebe Frau?"--Sie zögerte eine Weile, dann sagte sie: "Ich habe eine
große Sünde an meinem Sohn begangen", sie fing zu weinen an. Der Pfarrer
trat dicht vor sie hin: "Gesteh' sie mir, dann wollen wir zusammen zu
Gott beten, daß sie Dir vergeben werde."

Margit schluchzte und wischte sich die Tränen ab, sie fing aber wieder
zu weinen an, als sie sprechen wollte, und so geschah es noch ein
paarmal. Der Pfarrer tröstete sie und sagte, es könne doch gewiß keine
so große Schuld sein, sie sei wohl zu streng gegen sich usw. Margit
aber weinte und hatte nicht den Mut, zu beginnen, bis der Pfarrer sich
neben sie setzte und ihr gut zuredete. Da kam es denn allmählich aus ihr
heraus: "Der Junge hat es als Kind schlecht gehabt, und da hat er die
Wanderlust bekommen. Dann kam er mit Kristian zusammen, mit dem, der
jetzt drüben beim Goldgraben schwer reich geworden ist. Kristian gab
Arne so viele Bücher, daß er anders wurde als wir; sie saßen nächtelang
zusammen, und als Kristian fortging, wollte der Junge ihm nach. Zu der
Zeit aber kam sein Vater ums Leben, und der Junge versprach, mich nie zu
verlassen. Mir war zumut wie einer Henne, die ein Entenei ausgebrütet
hat; als das Junge Luft gekriegt hatte, wollte es fort aufs große
Wasser, und ich lief schreiend am Ufer hin und her. Konnte er auch
selbst nicht fort, so konnten es doch seine Lieder, so daß ich jeden
Morgen glaubte, sein Bett müsse leer sein.

Da geschah es, daß ein Brief aus sehr weiter Ferne für ihn eintraf, und
der mußte von Kristian sein. Gott verzeihe mir, daß ich ihn an mich nahm
und ihn versteckte. Ich dachte, hiermit habe es sein Bewenden, aber da
kam noch einer, und hatte ich den ersten versteckt, so mußte ich auch
den andern verstecken. Aber war es nicht, als wollten die Briefe ein
Loch in die Truhe brennen, in der sie lagen,--denn denken mußte ich
dran, sowie ich die Augen aufschlug, bis ich sie wieder zumachte. Was
Verkehrteres gab es auf der Welt nicht wieder,--es kam noch ein dritter!
Den habe ich wohl eine Viertelstunde in der Hand gehalten; ich trug ihn
drei Tage lang auf der Brust und überlegte hin und her, ob ich ihm wohl
den Brief geben oder ob ich ihn zu den andern legen solle; aber
vielleicht war er mächtig genug, den Jungen von mir fortzulocken,----ich
konnte nichts dafür, aber ich legte ihn zu den andern. Jetzt ging ich
täglich angstvoll um die Truhe herum und dachte an die Briefe, die noch
kommen konnten. Vor jedem Menschen, der auf den Hof kam, hatte ich
Angst; saßen wir in der Stube, und einer faßte an die Türklinke, dann
zitterte ich; denn es konnte doch ein Brief sein, und dann würde er ihn
bekommen. Wenn er im Dorf war, lief ich zu Hause herum und dachte, jetzt
kriegt er da draußen vielleicht einen Brief, und darin steht von denen,
die schon vorher angelangt sind! Wenn er nach Hause kam, forschte ich
schon von weitem in seinem Gesicht, und Herrgott, wie war ich froh, wenn
er lächelte, weil er ja dann nichts bekommen hatte! Er war jetzt auch so
hübsch geworden wie sein Vater, nur blonder und sanfter. Und dann hatte
er eine so schöne Stimme;--wenn er draußen vor der Tür in der Abendsonne
saß, zu den Halden hinaufsang und auf die Antwort lauschte, dann fühlte
ich, daß ich ihn nicht entbehren konnte!--Wenn ich ihn bloß sah oder
doch wußte, er war irgendwo in der Nähe und freute sich über irgend
etwas, und er hatte nur manchmal inzwischen ein gutes Wort für mich,
dann wünschte ich mir nichts mehr auf der Welt und ich bereute keine
Träne, die ich geweint hatte.

Aber gerade als es schien, er fühlte sich wohler und ginge lieber unter
Menschen, da kam ein Bote von der Posthalterei, jetzt sei der vierte
Brief gekommen, und darin seien zweihundert Taler!--Ich dachte, ich
sollte auf der Stelle umsinken: Was sollte ich jetzt tun? Den Brief
konnte ich ja beiseite schaffen, aber das Geld? Ich fand ein paar Nächte
keinen Schlaf wegen dieses Geldes; ich hatte es manchmal auf dem Boden,
manchmal im Keller hinter einer Tonne, und einmal war ich so
verzweifelt, daß ich es vors Fenster legte, wo er es finden konnte. Als
ich ihn kommen hörte, nahm ich es doch wieder fort. Schließlich aber
fand ich einen Ausweg: ich gab ihm das Geld und sagte, es habe von
Mutters Lebzeiten her noch ausgestanden. Er vergrub es in die Erde, wie
ich mir gedacht hatte, und da kam es nicht weg. Aber dann mußte es
geschehen, daß er gerade in dem Herbst eines Abends dasaß und sich
wunderte, daß Kristian ihn so ganz vergessen habe!

Da brach die Wunde wieder auf, und das Geld brannte mir auf der Seele;
Sünde war es, und genützt hatte die Sünde nichts!

Eine Mutter, die sich an ihrem Kind versündigt, ist die unglücklichste
aller Mütter;--und doch hab' ich es nur aus Liebe getan.--So soll ich
wohl auch damit gestraft werden, daß ich mein Liebstes verliere. Denn
seit dem Mittwinter hat er die Weise wiedergefunden, die er singt, wenn
er sich hinaussehnt; die hat er von Kind an gesungen, und ich kann sie
nicht hören, ohne zu erbleichen. Dann bin ich zu allem möglichen
imstande, und hier sollst Du sehen,"--sie holte ein Stück Papier aus
ihrem Mieder, faltete es auseinander und gab es dem Pfarrer, "hier ist
etwas, woran er zuweilen schreibt; das geht gewiß nach der Melodie. Ich
habe es mitgebracht, weil ich solch feine Schrift nicht lesen kann; sieh
doch zu, ob da etwas vom Wandern drin steht.--"

Es stand nur eine Strophe auf dem Papier. Von der zweiten Strophe hier
eine ganze und dort eine halbe Zeile, als sei es eine Weise, die er
vergessen hatte, und die ihm jetzt Vers für Vers wieder einfiel. Der
erste Vers aber lautete:

    Könnt', o könnt' ich hinüber schaun
      Über die hohen Berge!
    Seh' nur immer den Gletscher blaun,
    Rings die Wälder empor sich baun.
      Ob sie die Gipfel stürmen,
      Die sich wie Burgen türmen?

"Steht was vom Wandern drin?" fragte Margit und hing an den Augen des
Pfarrers. "Ja, vom Wandern ist es", antwortete er und ließ das Blatt
sinken. "Wußt' ich's doch! O Gott, ich kannte die Melodie ja!" Mit
gefalteten Händen saß sie da und schaute den Pfarrer an, bang und
gespannt, während eine Träne nach der andern ihr über die Backen lief.

Aber hier wußte der Pfarrer ebensowenig Rat wie sie. "Das muß der
Bursch mit sich allein abmachen", sagte er. "Das Leben wird um
seinetwillen nicht anders; es kommt nur darauf an, ob er selbst einmal
mehr darin sehen kann. Jetzt scheint er es draußen erjagen zu
wollen."--"Aber, Herr Pfarrer, das ist ja gerade wie mit der Frau",
sagte Margit.--"Mit welcher Frau?" fragte der Pfarrer.--"Ja, die sich
den Sonnenschein einfangen wollte, statt sich ein Fenster in die Wand zu
machen."--Der Pfarrer war erstaunt über ihren Scharfsinn; aber es war
nicht das erstemal, wenn sie auf diesen Gegenstand kam. Margit hatte ja
sieben, acht Jahre lang an weiter nichts gedacht. "Meinst Du, daß er
fortgeht? Was soll ich tun? Und das Geld? Und die Briefe?" Das alles
stürmte zu gleicher Zeit auf sie ein. "Ja, die Sache mit den Briefen war
nicht recht. Daß Du ihm etwas vorenthalten hast, was ihm gehört, ist
schwer zu entschuldigen. Schlimmer aber ist noch, daß Du einen
Mitchristen Deinem Sohn gegenüber in ein schlechtes Licht gesetzt hast,
einen, der es nicht verdient hat, und besonders einen, den er sehr lieb
hatte, und der ihm auch herzlich zugetan war. Wir wollen Gott bitten,
daß er Dir verzeiht; wir wollen ihn beide bitten." Margit senkte den
Kopf; sie hatte noch immer die Hände gefaltet: "Wie wollte ich ihn um
Verzeihung bitten, wenn ich nur erst wüßte, ob er bleibt!"--Sie
verwechselte wohl den lieben Gott mit Arne. Der Pfarrer tat, als merke
er es nicht. "Möchtest Du es ihm jetzt gleich eingestehen?" fragte er.
Sie schaute unverwandt zu Boden und sagte leise: "Wenn ich noch ein
wenig warten könnte, täte ich es gern." Sie sah nicht, wie der Pfarrer
lächelte; er fragte: "Glaubst Du nicht, Deine Sünde wird größer, je
länger Du mit dem Eingeständnis zögerst?"--Sie hatte mit beiden Händen
an ihrem Taschentuch zu tun, legte es in ein ganz kleines Viereck
zusammen und versuchte, es noch kleiner zu machen; aber es wollte nicht
gehen: "Ich habe Angst, wenn ich die Geschichte mit den Briefen
eingestehe, dann zieht er fort."--"Du vertraust also nicht auf
Gott?"--"Doch, natürlich", sagte sie schnell; dann fügte sie leise
hinzu: "Aber wenn er mich nun doch verließe?"--"Du hast also mehr Angst
davor, daß er fortgeht, als davor, in Deiner Sünde zu verharren?" Margit
hatte ihr Taschentuch wieder auseinandergenommen; sie führte es jetzt an
die Augen, denn ihr kamen die Tränen. Der Pfarrer aber saß eine Weile
und betrachtete sie; dann sprach er weiter: "Warum hast Du mir denn die
ganze Geschichte erzählt, wenn Du nicht irgendeinen Zweck damit
verbinden wolltest?" Er wartete eine ziemliche Weile, aber sie
antwortete nicht. "Hattest Du vielleicht geglaubt, Deine Sünde würde
kleiner, nachdem Du sie gebeichtet?"--"Das glaubte ich", sagte sie
leise, den Kopf noch tiefer auf die Brust gesenkt. Der Pfarrer lächelte
und stand auf. "Ja, ja, meine gute Margit, Du mußt so handeln, daß Du
auf Deine alten Tage Freude davon hast."--"Könnte ich nur die Freude
behalten, die ich habe", sagte sie, und der Pfarrer dachte, sie könne
sich kein größeres Glück denken, als in dieser beständigen Angst zu
leben. Er lächelte, während er sich seine Pfeife stopfte. "Wenn hier
doch ein kleines Mädchen wäre, das sich ihn eroberte; dann solltest Du
sehen, er bliebe!"--Sie sah rasch auf und folgte dem Pfarrer mit den
Augen, bis er vor ihr stehen blieb: "Eli Böen--? Was?" Sie wurde rot und
blickte wieder zu Boden; aber sie antwortete nicht. Der Pfarrer stand da
und wartete und sagte schließlich, diesmal aber ganz leise: "Wenn wir es
so einrichteten, daß sie öfter hier im Pfarrhaus zusammenkämen?" Sie
blinzelte zu dem Pfarrer hinauf, um zu sehen, ob es ihm auch voller
Ernst sei. Aber sie wagte nicht so recht, daran zu glauben. Der Pfarrer
setzte sich wieder in Bewegung, stand dann aber still: "Hör' mal,
Margit! Wenn man's bei Licht besieht, war das am Ende Dein ganzes
Anliegen heute?"--Sie sah zu Boden, steckte ein paar Finger in das
zusammengefaltete Taschentuch und holte einen Zipfel hervor: "Nun ja,
Gott verzeih mir's: das wollte ich ja gerade."--Der Pfarrer brach in ein
herzliches Lachen aus und rieb sich die Hände: "Vielleicht wolltest Du
das schon, als Du das letztemal hier warst?"--Sie zog den Zipfel weiter
heraus, zerrte und zupfte daran: "Da Du es nun doch mal sagst,--ja, das
war es."--"Haha, haha! O Margit, Margit!----Na, wir wollen sehen, was
sich machen läßt; denn, daß ich's nur gestehe, meine Frau und meine
Tochter haben schon längst denselben Gedanken gehabt wie Du."--"Ist es
möglich?" Sie blickte so glücklich und so verschämt zugleich auf, daß
der Pfarrer so recht seine Freude an ihrem offnen, hübschen Gesicht
hatte, auf dem sich in allem Leid und aller Angst das Kind erhalten
hatte. "Ja, ja, Margit, Dir, die soviel Liebe in sich hat, wird auch von
Deinem Gott und Deinem Sohn um Deiner Liebe willen vergeben werden, was
Du getan hast. Du bist ja auch genug gestraft durch die ständige große
Angst, in der Du gelebt hast; wir werden jetzt sehen, ob Gott ihr ein
schnelles Ende bereiten will, denn will er das, dann hilft er uns jetzt
auch ein wenig." Sie stieß einen langen Seufzer aus und noch einen und
noch einen, bedankte sich, knixte und ging und knixte an der Tür noch
einmal. Aber sie war kaum draußen, als sie ganz verändert war. Sie sah
mit einem schnellen, vor Dankbarkeit strahlenden Blick zum Himmel auf
und stieg eilig die Treppe hinunter; immer mehr beeilte sie sich, je
weiter sie sich von den Menschen entfernte, und so leichtfüßig, wie sie
an diesem Tage auf Kampen zuschritt, war sie seit vielen, vielen Jahren
den Weg nicht mehr gegangen. Als sie so nahe gekommen war, daß sie sehen
konnte, wie der Rauch dicht und lustig aus dem Schornstein aufstieg,
segnete sie das Haus und den ganzen Hof und den Pfarrer und Arne, und
dann fiel ihr ein, daß es ja Rauchfleisch zu Mittag gab, ihr
Lieblingsessen.



Vierzehntes Kapitel


Kampen war ein schöner Hof; er lag mitten in der Ebene, die unten von
der Kampenschlucht, oben von der Dorfstraße begrenzt wurde; jenseits vom
Wege war dichter Wald, weiter oben erhob sich die Bergwand, und
dahinter standen schneebedeckt die blauen Höhen. Auf der andern Seite
der Kampenschlucht war ebenfalls ein breiter Höhenzug, der im Anfang
sich um den ganzen Schwarzen See an der Seite hinzog, wo Böen lag, nach
Kampen zu höher wurde, aber gleichzeitig beiseite trat vor der breiten
Talsenkung, dem Niederdorf, das hier unten anfing; denn Kampen war der
letzte Hof im Oberdorf.

Die Haupttür des Wohnhauses ging auf den Weg hinaus; von ihr bis zur
Straße mochten ein paar tausend Schritt sein; ein Fußsteig mit dichten
Birken zu beiden Seiten führte hinauf. Rechts und links von dem Rodeland
lag Wald; Äcker und Wiesen des Hofes konnten nach Belieben vergrößert
werden; es war in jeder Hinsicht eine vorzügliche Ackerwirtschaft. Vorm
Hause lag ein kleiner Garten. Arne bestellte ihn nach der Anleitung
seiner Bücher; links vom Hause befanden sich die Viehställe und die
andern Wirtschaftsgebäude; sie waren fast alle neu errichtet und
bildeten mit dem Wohnhaus ein Viereck. Das Wohnhaus war rotgestrichen,
mit weißen Fensterrahmen und Türen, hatte zwei Stockwerke, war mit Torf
gedeckt, und auf dem Dach wuchs allerlei Buschwerk; der eine Giebel trug
eine Stange, auf der sich ein eiserner Hahn mit hohem Schweif drehte.

Der Frühling war in die Gebirgsdörfer gekommen; es war ein
Sonntagmorgen, die Luft etwas trüb, aber ruhig und nicht kalt; der Nebel
hing dicht über dem Walde, aber Margit meinte, er werde sich im Lauf des
Tages lichten. Arne hatte seiner Mutter die Predigt vorgelesen und
Choräle gesungen, und das hatte ihm gut getan; jetzt war er in vollem
Staat, um nach dem Pfarrhaus hinaufzugehen. Er machte die Tür auf, der
frische Laubgeruch schlug ihm entgegen, der Garten war taufrisch und
beugte sich unter dem Morgennebel, von der Kampenschlucht her aber
brauste es mit starkem, stoßweisem Donnern, daß einem Hören und Sehen
verging.

Arne schritt bergan. Je weiter er sich vom Wasserfall entfernte, desto
mehr verlor das Gedröhn alles Grauen und legte sich zuletzt wie ein
tiefer Orgelton über die ganze Landschaft.

"Gott sei mit ihm auf allen Wegen!" sagte die Mutter, sie öffnete das
Fenster und sah ihm nach, bis die Büsche ihn verdeckten. Der Nebel
lichtete sich immer mehr, die Sonne brach durch, auf den Feldern und im
Garten wurde es lebendig; dort sproßte Arnes Werk in frischem Wachstum
und trug der Mutter Duft und Freude zu. Der Frühling ist schön für
einen, der einen langen Winter gehabt hat.

Arne hatte nichts Bestimmtes in der Pfarre zu tun; er wollte nur nach
den Zeitungen fragen, die er mit dem Pfarrer zusammen hielt. Kürzlich
hatte er die Namen einiger Norweger gelesen, die es durch Goldgraben in
Amerika zu etwas gebracht hatten, und unter diesen war auch Kristian
gewesen. Jetzt war zu Arne das Gerücht gedrungen, Kristian werde zu
Hause erwartet. Hierüber würde er auch wohl oben in der Pfarre Sicheres
erfahren,--und verhielt es sich wirklich so, daß Kristian schon jetzt in
der Stadt war, dann wollte Arne in der Zeit zwischen der
Frühjahrsbestellung und der Heuernte zu ihm hin. Daran mußte er denken,
bis er an die Stelle gekommen war, wo er den Schwarzen See und drüben am
andern Ufer Böen überblicken konnte. Auch da lichtete sich der Nebel,
die Sonne spielte auf den Hängen, die Berge hatten helle Spitzen, trugen
aber den Nebel noch in ihrem Schoß; an der rechten Seite verdunkelte der
Wald das Wasser, vor den Häusern aber war es etwas seichter, und da
schimmerte der weiße Sand in der Sonne. Mit einem Schlage waren seine
Gedanken in dem rotgetünchten Hause mit den weißen Türen und
Fensterrahmen, wonach er sein eigenes gestrichen hatte. Er dachte nicht
an die ersten schweren Tage, die er dort gehabt, er dachte bloß an den
Sommer, den sie beide vor sich gesehen hatten, er und Eli, dort oben an
ihrem Krankenbett. Seitdem war er nicht wieder dagewesen seitdem wollte
er auch nicht mehr hin, um alles in der Welt nicht. Wenn seine Gedanken
nur dran rührten, wurde er rot und verlegen, und doch geschah das jeden
einzigen Tag und viele Male am Tage, und wenn ihn etwas aus dem Dorf
vertreiben konnte, so war es gerade dies.

Er ging sehr schnell, als wolle er die Stätte weit hinter sich lassen;
aber je weiter er ging, desto näher hatte er Böen vor sich, und desto
häufiger sah er auch hinüber. Der Nebel war ganz verschwunden, der
Himmel klar von einer Bergkette zur andern, Vögel schwebten in der
sonnenfrohen Luft und riefen sich zu, die Felder antworteten mit
Millionen von Blumen; kein Wasserfall zwang die Freude aufs Knie wie zu
andächtiger Unterwerfung, nein, lebensfroh, hingerissen sang, blinkte
und jubelte sie himmelwärts ohn' Ende!

Arne hatte sich glühendheiß gelaufen; er warf sich am Fuß einer Anhöhe
ins Gras, blickte nach Böen hinüber und drehte sich auf die Seite, um
nicht länger dahinzusehen. Da hörte er über sich singen, so rein, wie er
nie zuvor hatte singen hören; es jauchzte hin über die Wiese durch das
Vogelgezwitscher, und ehe er noch die Melodie recht erkannte, verstand
er schon die Worte; denn das war die Melodie, die ihm die liebste war,
und auch die Worte waren es, die er von Kind an in sich getragen
hatte,--und die er am selben Tage vergaß, als er sie endlich geformt
hatte! Er sprang auf, als wolle er sie haschen, blieb aber stehen und
lauschte; der erste Vers, der zweite, der dritte, der vierte von seinem
eigenen vergessenen Liede schwebte zu ihm hernieder:

    Könnt', o könnt' ich hinüber schaun
      Über die hohen Berge!
    Seh' nur immer den Gletscher blaun,
    Rings die Wälder empor sich baun.
      Ob sie die Gipfel stürmen,
      Die sich wie Burgen türmen?

    Adler schweben mit starkem Schlag
      Über die hohen Berge,
    Rudern im jungen, kraftvollen Tag,
    Senken zu Tal sich, wo jeder mag,
      Stillen ihr schweifend Gelüste,
      Spähn nach der fremdesten Küste.

    Laubschwerer Apfelbaum, den nichts zieht
      Über die hohen Berge,--
    Der da blüht, wenn der Winter flieht,
    Der es trägt, wenn der Sommer schied;--
      Was deine Vögel singen,
      Bleibt dir ein taubes Klingen.

    Wer sich seit zwanzig Jahren gesehnt
      Über die hohen Berge,
    Wer die Arme sich wund gedehnt,
    Fruchtlos immer sich aufgelehnt,
      Hört, was die Vögel singen,
      Die deine Zweige tragen.

    Törichte Schwätzer, was kamt ihr hierher
      Über die hohen Berge,
    Ließt eure Nester da draußen leer,
    Flöhet von Sonne, Menschen, Meer,--
      Nur daß ihr einen verlachtet,
      Der hier schwingenlos schmachtet?

    Soll ich denn niemals, niemals fort
      Über die hohen Berge,--
    Bis mich entseelt dieser Schreckensort,
    Bis er vereist mir mein letztes Wort?
      Bis sie nach Hangen und Harren
      Mich hier im Keller verscharren!

    Laßt mich hinaus! o weit, weit, weit
      Über die hohen Berge!
    Hier tropft träge wie Blei die Zeit,
    Und mein Mut so nach Leben schreit,--
      Laßt ihn zur Sonne, zum Hellen,
      Nicht an der Felswand zerschellen!

    _Einmal_, das weiß ich, da reicht es hinaus
      Über die hohen Berge.
    Wartest du, Herr, schon im Himmelshaus?
    Hast schon dein Wort für mein Trachten kraus?
      Doch--wenn das Tor noch nicht offen,
      Laß mich ein Weilchen noch hoffen!

Arne stand, bis der letzte Vers, das letzte Wort verklungen war. Wieder
hörte er die Vögel schäkern und lachen, doch er wagte sich nicht zu
rühren. Wissen, wer es war, mußte er aber; er hob den Fuß und schlich so
behutsam, daß nicht einmal das Gras raschelte. Ein kleiner Schmetterling
setzte sich gerade vor seinem Fuß auf eine Blume, flatterte in die Höhe,
flog ein kleines Stück weiter, flatterte wieder in die Höhe, flog wieder
ein kleines Stück und flatterte wieder hoch und so ging es den ganzen
Abhang, den er hinaufklomm. Dann kam ein dichtes Gebüsch, und er wollte
nicht weiter, denn jetzt konnte er alles sehen; ein Vogel flog
aufgeschreckt aus dem Busch auf, kreischte und schwebte über den Abhang
weg; da blickte das Mädchen auf, das dort saß; er duckte sich tief zur
Erde und hielt den Atem an, das Herz klopfte ihm, er hörte jeden Schlag,
er lauschte und wagte kein Blatt anzurühren; denn das war sie ja,--war
Eli!--Nach langer, langer Zeit sah er ein klein wenig in die Höhe und
wäre gar zu gern einen Schritt näher gegangen; aber der Vogel konnte
unter dem Busch sein Nest haben, und das durfte er nicht zertreten. Er
lugte also durch die Blätter, je nachdem sie zur Seite wehten oder sich
zusammenschlossen. Die Sonne fiel voll auf Eli; sie saß da in einem
schwarzen, ärmellosen Kleid und hatte einen Strohhut auf dem Kopf, der
einem Jungen gehören mußte; er saß nicht fest und rutschte immer nach
einer Seite. Auf dem Schoß hatte sie ein Buch, außerdem aber einen
großen Haufen Feldblumen; ihre rechte Hand spielte wie in Gedanken
damit, die linke hatte sie aufs Knie gestützt, und ihr Kopf ruhte darin.
Sie blickte nach der Richtung, wohin der Vogel geflogen war, und es war
ungewiß, ob sie geweint hatte.

Etwas Schöneres hatte Arne sein Lebtag weder gesehen, noch erträumt; die
Sonne warf aber auch all ihr Gold über sie und über die Stätte, wo sie
saß, und das Lied umschwebte sie, wiewohl es längst ausgesungen war, so
daß seine Gedanken und sein Atem, ja, sogar sein Herzschlag im Takte
danach gingen.

Sie nahm das Buch und schlug es auf, machte es aber schnell wieder zu
und saß wie zuvor, während sie anfing, leise vor sich hinzusummen. Es
war das Lied: "Mit Blatt und Knospen stand fertig der Baum"--er hörte
es, obwohl sie weder die Worte, noch die Melodie genau behalten hatte
und sich oftmals irrte. Den letzten Vers konnte sie noch am besten,
deshalb fing sie ihn immer wieder von vorn an; aber sie sang ihn so:

    Und der Baum trug Früchte, reif schimmernd wie Gold.
    Sie seufzte: "Die möcht' ich!" Sie war just so hold.
      "Die alle, o ja,
      Für dich sind sie da!"
    Sprach der Baum--trala, la, la, hold!--

Und dann plötzlich sprang sie auf, schüttete alle Blumen hin, juchzte,
daß der Klang durch die Luft schmetterte und bis Böen dringen mochte.
Und dann lief sie davon!----Sollte er rufen? Nein!--Da sprang sie schon
singend und trällernd den Hügel hinunter; ihr fiel der Hut ab, sie nahm
ihn wieder auf, jetzt stand sie mitten im hohen Grase.--"Soll ich rufen?
Sie sieht sich um!"----Er duckte sich tiefer. Lange dauerte es, bis er
wieder hinzuschauen wagte, und dann hob er auch bloß den Kopf, sah sie
aber nicht,--richtete sich auf den Knien auf, sah sie noch
nicht;----stand ganz auf,--ja, sie war verschwunden!----

Er mochte nicht mehr ins Pfarrhaus. Er mochte überhaupt nichts
mehr!--Darauf setzte er sich hin, wo sie gesessen hatte, und saß noch
da, als die Sonne gegen Mittag stand. Auf dem See regte sich keine
einzige Welle, über den Höfen zitterte schon der Rauch in der Luft, die
Wachteln verstummten eine nach der andern, die kleinen Vögel schäkerten
wohl noch, zogen sich aber doch allmählich in den Wald zurück, der Tau
war fort, so daß das Gras gar würdig dastand, kein Lüftchen bewegte
sich, und die Blätter hingen still herab, die Sonne mußte in einer
Stunde auf der Mittagshöhe sein. Er wußte gar nicht, wie es kam, daß er
da plötzlich saß und über ein kleines Gedicht nachsann; ein holder Ton
kam und bot sich ihm dar für sein Lied; das Herz war ihm wunderlich von
Weichheit voll, und der Ton kam und ging so lange, bis er ein ganzes
Bild erschuf.

In der Stille, wie er es gemacht hatte, sang Arne es auch:

    Im Walde klang es den ganzen Tag,
      Den ganzen Tag.
    Klein Knabe, hörst du das Tönen, sag',
      Das Tönen, sag'?

    Der Knabe schnitt sich eine Schalmei,
      Eine Schalmei,
    Und blies,--ob der Ton wohl darinnen sei,
      Darinnen sei.

    Der Ton, der meldete sich wie ein Hauch,
      Wie ein Hauch,
    Doch wie er gekommen, entschwand er auch,
      Entschwand er auch.

    Oft, wenn er schlief, er zu ihm schlich,
      Er zu ihm schlich,
    Und über die Stirn ihm voll Liebe strich,
      Voll Liebe strich.

    Doch wollt' er ihn greifen, jählings erwacht,
      Jählings erwacht,
    Versank der Ton in der bleichen Nacht,
      Der bleichen Nacht.

    "Herr, mein Gott, nimm mich dahin,
      Nimm mich dahin!
    Der Ton nahm ein meinen ganzen Sinn,
      Meinen ganzen Sinn."

    Der Herr gab zur Antwort: "Dein Freund ist er,
      Dein Freund ist er!
    Doch freilich--dein eigen,--das nimmermehr,
      Das nimmermehr."

    Was sind all die andern wohl gegen sie,
      Wohl gegen sie,
    Die immer du suchst und findest sie nie,
      Findest sie nie!



Fünfzehntes Kapitel


Es war ein Sonntagabend Anfang des Sommers; der Pfarrer war aus der
Kirche nach Hause gekommen, und Margit hatte bis gegen sieben Uhr bei
ihm gesessen. Da verabschiedete sie sich und eilte die Treppe hinunter
auf den Hof hinaus, denn dort war eben Eli Böen in Sicht gekommen, die
solange mit dem Sohn des Pfarrers und ihrem eignen Bruder gespielt
hatte.

"Guten Abend!" sagte Margit, indem sie stehen blieb, "und Grüß
Gott!"--"Guten Abend!" sagte Eli, sie war feuerrot und wollte das Spiel
einstellen, obwohl die Jungens sie bestürmten; aber sie bat sehr
herzlich und war für diesen Abend entlassen.--"Mir ist, ich müßte Dich
kennen", sagte Margit.--"Das ist wohl möglich", sagte die andre.--"Du
kannst doch nicht die Eli Böen sein?"--Doch, die sei sie.--"Nein, aber
so was!--Also die Eli Böen bist Du! Ja, jetzt sehe ich es auch,--Du bist
Deiner Mutter ähnlich." Elis rötlichbraunes Haar war aufgegangen, daß es
lang und lose herunterhing; ihr Gesicht war so heiß und rot wie eine
Erdbeere, ihre Brust hob und senkte sich, sie konnte kaum sprechen und
lachte, weil sie so außer Atem war.--"Ach ja, das gehört zur
Jugend",--Margit freute sich an ihr. "Du kennst mich wohl nicht?" Eli
hatte schon fragen wollen, hatte sich aber nicht getraut, weil die
andere älter war; jetzt sagte sie, sie könne sich nicht erinnern, sie
schon gesehen zu haben.----"O nein, das ist auch sehr unwahrscheinlich;
alte Leute kommen selten aus ihrem Bau.--Vielleicht kennst Du aber
meinen Sohn, den Arne Kampen; ich bin seine Mutter", sie schaute Eli an,
die auf einmal ganz verändert war.--"Ich glaub' beinah, er hat einmal in
Böen gearbeitet?"--Ja, das habe er.--"Es ist solch schönes Wetter heut
abend; wir haben den Tag über geheut und eingefahren, bis ich
weggegangen bin; es ist ein gottgesegnetes Wetter."--"Es gibt sicher ein
gutes Heujahr", meinte Eli.--"Ja, das darf man wohl sagen;--in Böen ist
es auch wohl gut?"--"Da ist schon alles fertig."--"Natürlich, ja; viel
Hilfe und tüchtige Leute.--Mußt Du heut abend nach Hause?"--Nein, sie
brauche nicht. Sie sprachen über dies und jenes und wurden schließlich
so bekannt, daß Margit die Frage wagen konnte, ob Eli ein Stück mitgehen
wolle. "Könntest Du mich wohl ein paar Schritte begleiten?" sagte sie;
"ich treffe so selten jemand, mit dem ich ein Wort reden kann, und Dir
geht es wohl ebenso?"--Eli entschuldigte sich, sie habe keine Jacke
an.--"Na ja, ich sollte mich auch schämen, einen Menschen drum zu
bitten, den ich zum erstenmal sehe; aber mit alten Leuten muß man es
nicht so genau nehmen."--Eli sagte, sie würde gern mitkommen, aber sie
müsse sich erst ihre Jacke holen. Es war eine enganschließende Jacke.
Wenn sie zugehakt war, sah sie wie ein Leibchen aus; jetzt machte sie
aber bloß die beiden untersten Haken zu; ihr war so warm. Das feine
Leinenhemd hatte einen kleinen, überfallenden Kragen, der am Halse von
einem silbernen Knopf in Gestalt eines Vogels mit ausgebreiteten
Schwingen zusammengehalten wurde. So einen hatte Schneider Nils
getragen, als Margit zum erstenmal mit ihm getanzt hatte.--"Ein schöner
Knopf", sagte sie und besah ihn.--"Ich habe ihn von Mutter", sagte
Eli.--"Das hast Du wohl", und sie half ihr beim Anziehen.

Jetzt schritten sie den Weg entlang. Das Heu war gemäht und stand in
Hocken, Margit griff in die Hocken hinein, roch dran und fand, es sei
schönes Heu. Sie fragte nach dem Vieh hier auf dem Hof, dann nach dem in
Böen und erzählte schließlich, wieviel sie auf Kampen hätten. "Die
Wirtschaft ist in den letzten Jahren tüchtig vorwärts gekommen, und sie
läßt sich vergrößern, soviel man will. Sie ernährt jetzt zwölf Milchkühe
und könnte noch mehr ernähren; aber Arne hat soviel Bücher, in denen er
liest, und nach denen er alles einrichtet, darum will er sie so
großartig gefüttert haben." Eli sagte, wie zu erwarten war, zu all dem
nichts; Margit aber fragte sie, wie alt sie sei. Sie sei neunzehn Jahr.
"Legst Du manchmal im Hause mit Hand an? Du siehst so fein aus, damit
ist's wohl nicht viel geworden."--O doch, sie habe bei mancherlei
geholfen, besonders in letzter Zeit.--"Ja, es ist gut, wenn einer an
alles gewöhnt ist; wenn man selbst mal eine große Wirtschaft bekommt,
tut's not. Aber natürlich, wenn einer tüchtige Hilfe hat, ist's nicht so
schlimm."--Eli wollte umkehren, denn sie waren längst am Pfarracker
vorbei. "Es ist noch lange hin, bis die Sonne untergeht;--es wäre nett
von Dir, wenn Du noch ein bißchen mit mir plaudern wolltest",--und Eli
ging mit.

Nun fing Margit von Arne zu reden an. "Ich weiß nicht, ob Du ihn genauer
kennst. Der kann Dir über alles Bescheid sagen; Herrgott, was hat der
nicht alles gelesen!" Eli gab zu, sie wisse, daß er viel gelesen habe.
"Na ja, aber das ist noch das wenigste; doch wie er sein ganzes Leben
lang zu seiner Mutter gewesen ist, das ist mehr. Wenn es wahr ist, was
das Sprichwort sagt, daß einer, der gut zu seiner Mutter war, auch gut
zu seiner Frau ist, dann wird die, die er erwählt, sich nicht zu
beklagen haben.--Wonach siehst Du, Kind?"--"Mir ist bloß ein kleiner
Zweig weg, den ich in der Hand hatte."--Sie verstummten beide und
gingen weiter, ohne sich anzusehen. "Er ist so eigentümlich", sagte die
Mutter wieder; "er ist als Kind so eingeschüchtert worden, und da hat er
sich dran gewöhnt, alles mit sich allein abzumachen, und die Art Leute
können sich nicht so frei geben."--Jetzt wollte Eli wirklich umkehren,
aber Margit meinte, es sei nur noch ein kleines Stück bis Kampen, und
Kampen müsse sie sehen, wo sie nun doch einmal hier sei. Eli aber sagte,
es sei heute schon zu spät. "Es ist immer jemand da, der Dich nach Hause
begleitet", sagte Margit. "Nein, nein", antwortete Eli rasch und wollte
weg. "Der Arne freilich ist nicht zu Hause," sagte Margit, "er kann's
also nicht; aber es sind genug andere da", und Eli hatte jetzt weniger
dagegen; sie wollte doch Kampen gern sehen, "wenn es bloß nicht zu spät
wird."--"Ja, wenn wir hier lange stehen und drüber reden, dann mag es
wohl zu spät werden",--und sie gingen. "Du hast auch wohl viel gelernt,
wo Du doch beim Herrn Pfarrer aufgewachsen bist?" Ja, das habe sie. "Das
wird Dir gut zustatten kommen," meinte Margit, "wenn Du mal einen
bekommst, der weniger kann."--Nein, meinte Eli, solchen möchte sie
nicht. "Nun ja, es ist ja auch vielleicht nicht das beste, aber hier im
Dorf haben die Leute wenig Bildung."--Eli fragte, was da hinten im Walde
rauche. "Das kommt von dem neuen Pächterhaus, das zu Kampen gehört. Da
wohnt der Knut vom Oberland. Er war immer so allein, und da hat Arne ihm
den Platz gegeben, daß er ihn urbar mache. Er weiß, was es heißt, allein
zu sein, der arme Arne." Nach einer Weile waren sie hoch genug, um das
Gehöft sehen zu können. Die Sonne schien ihnen gerade ins Gesicht; sie
beschatteten die Augen und schauten hin. Mitten drin lag das
rotgestrichene Haus mit den weißen Fensterrahmen; ringsum die Wiesen
waren gemäht, hier und da stand das Heu noch in Hocken; die Äcker
standen grün und üppig mitten in der hellen Wiese; bei den Ställen war
großes Leben: Kühe, Schafe und Ziegen kamen gerade nach Hause, ihre
Glocken bimmelten, die Hunde bellten, die Kuhmagd rief; alles aber
übertönte mit seinem furchtbaren Getöse der Wasserfall am Kampenschlund.
Je länger Eli hinschaute, desto mehr hörte sie bloß diesen Ton, und er
wurde ihr schließlich so grauenvoll, daß sie Herzklopfen bekam; in ihrem
Kopf sauste und brauste es,--es wurde ihr ganz wirr und doch wieder so
weich und warm, daß sie unwillkürlich behutsam auftrat und kleine
Schritte machte; Margit mußte sie bitten, ein bißchen schneller zu
gehen. Sie schrak zusammen; "ich habe noch nie etwas Ähnliches gehört
wie diesen Wasserfall", sagte sie; "ich bekomme beinah Angst."--"Daran
gewöhnst Du Dich schnell," sagte die Mutter, "schließlich würde er Dir
sogar fehlen."--"Meinst Du wirklich?" fragte Eli.--"Ja, das sollst Du
sehen", sagte Margit und lächelte.

"Komm, jetzt wollen wir uns erst das Vieh ansehen", sagte sie, während
sie vom Weg abbog; "diese Bäume hier zu beiden Seiten hat Nils
gepflanzt.--Nils wollte gern alles recht schön haben;--Arne auch; Du
sollst mal den Garten sehen, den er angelegt hat."--"Nein, wie schön!"
rief Eli und lief an den Zaun. Sie hatte Kampen schon öfter gesehen,
aber nie so in der Nähe, und daher auch noch nie den Garten.--"Den
wollen wir uns nachher ansehen", sagte Margit.--Eli blickte flüchtig
durch die Scheiben, als sie am Hause vorbeigingen; es war niemand drin.

Sie stellten sich nun beide auf die Scheunenbrücke und besahen die Kühe,
wie sie brüllend an ihnen vorbei in den Stall zogen. Margit nannte Eli
die Namen alle, erzählte ihr, wieviel Milch jede gebe, welche trächtig
seien und welche nicht. Die Schafe wurden gezählt und in den Stall
gelassen; es war eine große fremde Rasse; Arne hatte sich zwei Lämmer
aus dem Süden kommen lassen. "Mit all so was beschäftigt er sich, wenn
man es ihm auch gar nicht zutraut."--Sie gingen jetzt in die Scheune,
besahen das eingefahrene Heu, und Eli mußte daran riechen,--"denn
solches Heu gibt es nicht überall". Sie zeigte durch die Scheunenluke
hinaus auf die Äcker und erklärte, was auf jedem stand, und wieviel von
jeder Sorte gesät war.--Sie gingen hinaus und auf das Haus zu; aber Eli,
die auf all das andre nicht geantwortet hatte, bat jetzt, als sie an dem
Garten vorbeigingen, ob sie nicht hinein dürfe. Und als ihr das erlaubt
war, bat sie, eine Blume oder zwei pflücken zu dürfen. Hinten in der
Ecke stand eine kleine Bank: auf die setzte sie sich, wie um sie
auszuprobieren, denn sie stand gleich wieder auf.

"Wir müssen uns jetzt beeilen, wenn es nicht zu spät werden soll", sagte
Margit, die in der Pforte stand. Und nun gingen sie ins Haus. Margit
fragte, ob sie ihr nicht etwas anbieten dürfe, wo sie zum erstenmal da
sei; Eli aber wurde rot und sagte kurz: danke. Sie schaute sich nun nach
allen Seiten um; die Fenster gingen auf den Weg hinaus; hier hielten sie
sich den Tag über auf; die Stube war nicht groß, aber gemütlich, mit
Wanduhr und Kachelofen. Dort hing Nils' Geige, alt und dunkel, aber mit
neuen Saiten. Hier hingen ein paar Flinten, die Arne gehörten, englische
Angelruten und andre seltsame Sachen, die die Mutter herunterholte und
zeigte; Eli besah und befühlte sie. Die Stube war nicht gemalt, denn das
mochte Arne nicht, auch die andere Stube nicht, die auf die
Kampenschlucht mit den frischgrünen Bergen geradeüber und den blauen
Höhen im Hintergrunde hinausging; diese Stube, die wie die eine ganze
Hälfte des Hauses später angebaut war, war größer und schöner; die
beiden kleineren Stuben in dem Flügel aber hatten Malerei, denn da
sollte die Mutter wohnen, wenn sie alt würde,--und er eine Frau im Hause
habe. Sie gingen in die Küche, in die Vorratskammer, in den
Holzschuppen; Eli sagte kein Wort,--sie besah sich alles gewissermaßen
aus der Entfernung; nur wenn Margit ihr irgend etwas hinhielt, faßte sie
es an, aber auch nur ganz zaghaft. Margit, die in einemfort schwatzte,
führte sie jetzt wieder auf die Diele; sie wollten nach oben und den
Boden besichtigen.

Auch hier waren gut eingerichtete Zimmer, die den Stuben im unteren
Stockwerk entsprachen, aber sie waren neu und noch nicht in Benutzung
genommen außer einem, das auf die Kampenschlucht hinausging. In diesen
Zimmern hing und stand aller möglicher Hausrat, der in der täglichen
Wirtschaft nicht gebraucht wurde. Hier hingen ein gut Teil fertig
genähter Felldecken sowie anderes Bettzeug; die Mutter befühlte sie und
hob sie hoch, Eli mußte es manchmal auch tun; es war aber, als habe sie
jetzt etwas mehr Mut bekommen, vielleicht hatte sie auch mehr Freude an
diesen Dingen; denn auf einzelne Sachen kam sie zurück, fragte und wurde
immer vergnügter. Da sagte die Mutter: "Jetzt, zuletzt wollen wir in
Arnes Zimmer", und sie gingen in das Zimmer, das nach der Kampenschlucht
hinauslag. Das fürchterliche Getöse des Wasserfalls schlug ihnen wieder
entgegen, denn das Fenster war offen. Hier stand man höher, hier konnte
man den Gischt des Wasserfalls zwischen den Felsen aufsprühen sehen,
nicht aber den Wasserfall selbst, oder doch nur weiter oben, wo ein
Felsblock abgestürzt war, gerade an der Stelle, wo er mit aller Macht
sich zu dem letzten Sprung in die Tiefe anschickte. Frischer Rasen
deckte die obere Fläche des Felsblockes, ein paar Kieferzapfen hatten
sich hineingebohrt und in den Felsritzen Wurzel gefaßt. Der Wind hatte
die Bäume gerüttelt und geschüttelt, der Wasserfall hatte sie bespült,
so daß vier Ellen hoch von der Wurzel keine Zweige waren, sie waren aufs
Knie gesunken, und ihre Äste krümmten sich, aber sie standen fest und
schossen hoch auf zwischen den Felswänden. Das war das erste, was Eli
vom Fenster aus sah, und dann die blendend weißen Schneefirnen hoch über
dem Grün. Ihre Augen schweiften hinunter: auf den Feldern war Frieden
und Fruchtbarkeit, und jetzt endlich sah sie sich in dem Zimmer um, wo
sie stand; der Wasserfall hatte es bisher nicht zugelassen.

Wie war es hier still und fein gegen draußen! Sie sah keine
Einzelheiten, weil eins sich in das andere einfügte und das meiste ihr
neu war; denn Arne hatte seine ganze Liebe auf dieses Zimmer verwandt,
und so dürftig es war, auch in den kleinsten Dingen zeigte sich
Kunstverständnis. Ihr war's, als klängen seine Lieder um sie her oder
als lächele er selbst sie aus jedem Gegenstand an. Das erste, was sie
fesselte, war ein großes, breites, schön geschnitztes Bücherbrett. Da
standen soviele Bücher, daß der Herr Pfarrer selbst ja wohl nicht mehr
haben konnte. Das nächste war ein schöner Schrank. Darin habe er viele
schöne Sachen, sagte die Mutter; da habe er auch sein Geld drin, fügte
sie flüsternd hinzu. Zweimal hätten sie geerbt, sagte sie nachher; sie
würden noch einmal etwas erben, wenn alles nach Wunsch ginge. "Aber Geld
ist nicht das beste auf der Welt; er kann etwas kriegen, was noch besser
ist."--Es waren gar manche Kleinigkeiten in dem Zimmer, die ergötzlich
anzuschauen waren, und Eli besah sie sich alle wie ein fröhliches Kind.
Margit klopfte ihr auf die Schulter: "Ich sehe Dich heute zum erstenmal,
Kind, aber ich habe Dich schon so liebgewonnen", sagte sie und sah ihr
treuherzig in die Augen. Ehe Eli noch Zeit hatte, verlegen zu werden,
zupfte Margit sie am Kleid und sagte ganz leise: "Siehst Du die kleine
rote Truhe da?--da ist was Feines drin, kannst Du glauben."----Eli sah
hin, es war eine kleine, viereckige Truhe, die sie für ihr Leben gern
hätte haben mögen. "Ich darf eigentlich nicht wissen, was in der Truhe
ist," flüsterte die Mutter, "und er zieht jedesmal den Schlüssel ab";
sie ging nach der Wand, wo einige Kleidungsstücke hingen, nahm eine
Samtweste herunter, suchte in der Uhrtasche und fand wirklich den
Schlüssel. "Jetzt sollst Du mal sehen", flüsterte sie. Eli fand es nicht
ganz recht, was die Mutter da tat; aber Frauen sind Frauen, und beide
gingen ganz leise auf die Truhe zu und knieten davor nieder. Als die
Mutter den Deckel aufklappte, schlug ihnen ein Duft daraus entgegen, daß
Eli die Hände zusammenschlug, noch ehe sie ein Stück gesehen hatte. Oben
drüber war ein Taschentuch gebreitet, das nahm die Mutter weg; "nun
sollst Du mal sehen!" flüsterte sie und holte ein schönes,
schwarzseidenes Tuch heraus, so eins, wie Männer nicht tragen. "Das ist
wie für ein Mädchen gemacht", sagte die Mutter. "Hier ist noch eins",
sagte sie dann; Eli befühlte es, sie konnte es nicht lassen; die Mutter
wollte es ihr aber auch noch umlegen, obwohl Eli es nicht mochte und den
Kopf abwandte. Die Mutter legte es sorglich wieder zusammen. "Jetzt
sollst Du mal sehen", sagte sie dann und holte ein paar schöne
Atlasbänder heraus; "alles ist doch wie für ein Mädchen." Eli wurde
feuerrot, gab aber keinen Laut von sich; ihr Busen wogte, und ihre Augen
gingen scheu zur Seite; sonst rührte sie sich nicht. "Hier ist noch
mehr!" Die Mutter holte schönen schwarzen Kleiderstoff heraus;--"der ist
aber fein", sagte sie und hielt ihn gegen das Licht. Eli zitterte die
Hand ein bißchen, als die Mutter sie bat, ihn mal anzufühlen; sie
merkte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg, sie hätte sich gern abgewandt,
aber es ging nicht an. "Er hat jedesmal in der Stadt etwas gekauft",
sagte die Mutter. Eli konnte sich kaum noch halten; ihre Augen
schweiften von einem Stück in der Truhe zum andern und dann wieder
zurück auf den Kleiderstoff; im Grunde sah sie überhaupt nichts mehr.
Die Mutter aber ließ nicht nach, und der letzte Gegenstand, den sie
herausholte, war in Papier gewickelt; sie wickelte einen Bogen nach dem
andern aus; das war nun wieder spannend; und Eli wurde sehr neugierig;
es waren ein Paar kleine Schuhe. Etwas so Hübsches hatten sie beide ihr
Lebtag nicht gesehen; die Mutter meinte, so etwas könne doch gar nicht
gemacht werden, Eli sagte kein Wort; aber als sie die Schuhe anfaßte,
drückten sich ihre fünf Finger darauf ab; sie wurde so verlegen, daß sie
dem Weinen nahe war; sie wäre am liebsten gegangen; aber sie wagte nicht
zu sprechen, wagte auch nicht die Mutter anzusehen. Die hatte aber genug
mit sich zu tun. "Sieht es nicht genau aus, als habe er das alles nach
und nach für eine gekauft, der er sich's nicht zu geben getraut hat?"
sagte sie und packte alles genau so wieder ein, wie es gelegen hatte;
sie mußte schon Übung darin haben. "Jetzt wollen wir mal sehen, was hier
in der Schublade ist!" Sie öffnete sie so behutsam, als würden sie etwas
besonders Schönes zu sehen bekommen. Da lag eine breite Schnalle wie für
einen Gürtel; die zeigte sie Eli zuerst; dann zeigte sie ihr ein paar
zusammengebundene goldene Ringe, und dann sah sie ein Gesangbuch mit
silberbeschlagenem Samtdeckel, aber dann sah sie auch gar nichts mehr,
denn auf dem Silberbeschlag des Gesangbuchs war mit feiner Schrift
eingraviert: "Eli, Tochter von Baard Böen."----Die Mutter wollte gern,
daß sie es sähe, bekam aber keine Antwort und sah nur eine Träne nach
der andern auf das Seidenzeug fallen und darüber hinrinnen. Schnell
legte die Mutter die Brosche hin, die sie in der Hand hatte, machte die
Schublade zu und zog Eli in ihre Arme. Da weinte die Tochter an ihrem
Herzen, und die Mutter weinte mit ihr, ohne daß einer von ihnen noch ein
Wort gesprochen hätte.

       *       *       *       *       *

Eine Weile drauf ging Eli allein in den Garten; die Mutter mußte in die
Küche, um etwas Gutes herzurichten, denn jetzt kam Arne bald. Später
ging sie hinaus und sah sich im Garten nach Eli um; die kauerte da am
Boden und schrieb in den Sand. Sie wischte es aus, als Margit kam,
blickte auf und lächelte; sie hatte geweint.--"Dabei ist nichts zu
weinen, Kind", sagte Margit und streichelte sie. Sie sahen oben am Wege
etwas Schwarzes hinter den Büschen. Eli schlich sich ins Haus, die
Mutter hinterher. Drinnen war gewaltig aufgetischt: Rahmbrei,
Rauchfleisch und Kringel; Eli sah aber gar nicht hin; sie setzte sich
dicht an die Wand auf einen Stuhl in der Ecke neben der Uhr und
zitterte, sowie sich nur eine Katze rührte. Die Mutter stand am Tisch.
Feste Schritte ertönten auf den Steinfliesen, ein kurzer, leichter auf
der Diele, leise wurde die Tür aufgemacht und Arne trat ein. Das erste,
was er sah, war Eli in der Ecke neben der Uhr; er ließ die Tür los und
blieb stehen. Das machte Eli noch verlegener; sie stand auf, bereute es
aber gleich und drehte sich nach der Wand um.--"Du bist hier?" sagte
Arne leise und wurde glühend rot bei dieser Frage.--Sie hob die Hand
hoch und hielt sie sich vor die Augen, als wenn die Sonne zu grell
hineinfällt. "Wie--?" er sprach nicht zu Ende, sondern trat einen
Schritt oder auch zwei auf sie zu; da ließ sie die Hand wieder sinken
und wandte sich ihm zu, neigte aber den Kopf und brach in Tränen
aus.--"Gott segne Dich, Eli!" sagte er und umschlang sie; sie lehnte
sich an ihn. Er flüsterte etwas zu ihr hinunter, sie antwortete nicht,
legte aber beide Arme um seinen Hals.

Lange standen sie so; kein Laut war zu hören außer der ewigen Mahnung
des Wasserfalls. Da klang ein Schluchzen vom Tisch her, Arne blickte
auf, es war die Mutter; er hatte sie bis dahin nicht gesehen. "Jetzt bin
ich unbesorgt, daß Du mich nicht verläßt, Arne", sagte sie und kam auf
ihn zu. Sie weinte sehr, aber es tue ihr gut, sagte sie.

       *       *       *       *       *

Als sie in der hellen Sommernacht nach Hause gingen, konnten sie in
ihrer jungen Seligkeit nicht viel sprechen. Sie ließen die Natur für
sich reden, wie sie still und licht und groß vor ihnen lag. Auf dem
Heimweg aber von dieser ersten Sommernachtwanderung, der erwachenden
Sonne entgegen, ging er und legte den Grund zu einem Liede, das zu
formen er jetzt freilich nicht die Muße hatte, das aber später, als es
fertig war, auf lange Zeit sein Lieblingslied wurde. Es lautete so:

    Ich dachte, was Großes würd' ich einmal;
    Ich dachte, das kam', wenn ich fort aus dem Tal.
    Hab' mich und alles vergessen,--
    Aufs Wandern nur war ich versessen.
      Da sah mir ein Mädchen ins Auge hinein,
      Und ließ mir die Ferne verschwinden:
      Jetzt schien mir des Lebens Krone zu sein,
      Mit ihr den Frieden zu finden.

    Ich dachte, was Großes würd' ich einmal;
    Ich dachte, das kam', wenn ich fort aus dem Tal.
    Mich trieb's, in der Geister Sphären
    Die junge Kraft zu bewähren.
      Sie lehrte mich, eh noch ein Wort ihr entfiel,
      Es sei das Höchste auf Erden,
      Nicht Ruhm und Größe zu suchen als Ziel,
      Nein, richtig ein Mensch zu werden.

    Ich dachte, was Großes würd' ich einmal;
    Ich dachte, das käm', wenn ich fort aus dem Tal.
    Ich fror in der Heimat, ich dachte,
    Daß man mich verkenn' und verachte.
      Als _sie_ mir genaht, da schien mir, es ward
      Mir rings mit Liebe begegnet;
      Ich war es allein, auf den sie geharrt,
      Und neu war das Leben gesegnet.

Noch manche Sommernachtwanderung folgte und manches Lied hinterher. Eins
davon mag noch aufgezeichnet werden:

    Wie all das gekommen, mir sagt's kein Vermuten;
    Es war kein Stürmen, kein Überfluten,
    Im Innern ein spielender, blinkender Bach
    Ergoß in den Strom sich allgemach,
    Der mächtig, so mächtig wallet zum Meere.

    Mich dünkt, ein Etwas in diesem Leben
    Dringt rufend ans Herz, dem die Sehnsucht gegeben,
    Die lockende Macht, die zärtliche Brust,
    Den Leid und Scheu und Wanderlust
    In Frieden als Brautgabe können umfangen.

    Entsandt das Leben mir solch einen frommen
    Glücksboten wie den, dessen Ruf ich vernommen,
    So fühl' ich das Walten der Gottheit bezeugt,
    Die alles lebendigen Ordnungen beugt,--
    Still werd' ich zum ewig Guten getragen.

Aber keins gab wohl sein Dankgefühl so wieder wie das folgende:

    Die Macht, die mir gab mein schlichter Gesang,
    Bewirkte, daß Lebens Leid und Wonne
    Glückselig fielen wie Tau und Sonne
    Auf der Seele wogenden Frühlingsdrang,
      Daß kein Geschehen
      Sie niederbricht,--
      Im Lied erstehen
      Ihr Liebe und Licht.

    Die Macht, die mir gab mein schlichter Gesang,
    Verbündet mich allen, die Sehnsucht empfinden;
    Drum konnte mir nichts die Seele binden,
    Nie dauernd mich hemmen ein selbstischer Zwang;
      Fortstürmend bangt' ich
      Vor Mühsal nicht,---
      Und heimwärts gelangt' ich
      Zu Liebe und Licht.

    Die Macht, die mir gab mein schlichter Gesang,
    Die gibt mir vielleicht auch Macht über andre,
    So daß ich vom Weg aus, den ich wandre,
    Sie manchmal erfreue durch freundlichen Klang.
      Dies will mir erscheinen
      Als schönstes Gedicht,
      Wenn Lieder uns einen
      In Liebe und Licht.



Sechzehntes Kapitel


Es ging auf den Herbst, die Bauern waren beim Einfahren. Ein klarer Tag
war es; in der Nacht und am Morgen hatte es geregnet, daher war die Luft
milde wie im Sommer. Es war ein Sonnabend, trotzdem aber steuerten
viele Boote über den Schwarzen See auf die Kirche zu, die Männer saßen
in Hemdsärmeln und ruderten, die Frauen mit hellen Kopftüchern saßen
vorn im Boot. Aber noch mehr Boote steuerten nach Böen hinüber, um
nachher von dort aus in langem Zuge abzufahren, denn heut richtete Baard
Böen für seine Tochter Eli und Arne Nilsson Kampen die Hochzeit aus.

Alle Türen waren offen, viele Leute gingen aus und ein, die Kinder
standen, Kuchen in den Händen, draußen auf dem Hof, voll Angst um ihre
neuen Kleider und blickten sich fremd an; eine alte Frau saß ganz allein
oben auf der Treppe zum Vorratsschuppen: das war Margit Kampen. Sie trug
einen breiten, silbernen Ring, an dessen oberer Platte mehrere kleine
Ringe befestigt waren; zuweilen schaute sie ihn an; sie hatte ihn von
Nils bekommen, an dem Tag, als sie mit ihm vor dem Altar stand, und
hatte ihn seitdem nie wieder getragen.

In den zwei, drei Stuben liefen der Tafelmeister und die beiden jungen
Brautführer, der Sohn des Pfarrers und Elis Bruder, hin und her und
schenkten den Gästen ein, die sich nach und nach zu der großen Hochzeit
einfanden. Oben in Elis Gemach saß die Braut mit der Frau Pfarrer und
Mathilde, die eigens aus der Stadt gekommen war, um die Braut schmücken
zu helfen: das hatten sie sich von klein auf versprochen.--Arne im
Tuchanzug mit rundgeschnittener, enganschließender Jacke und einem
Kragen, den Eli ihm genäht hatte, stand unten in einer Stube an dem
Fenster, an das Eli damals "Arne" geschrieben hatte. Es stand offen, er
lehnte im Rahmen und schaute über den stillen See nach der Kirche neben
dem Pfarrhof hinüber.

Draußen auf der Diele trafen sich zwei, die beide von ihrer Hantierung
kamen, der eine vom Landungssteg, wo er die Boote zur Fahrt in die
Kirche hatte ordnen helfen; er hatte eine schwarze, rundgeschnittene
Tuchjacke an, aber Hosen aus blauem Fries, die abfärben mußten, denn er
hatte ganz blaue Hände; der weiße Kragen stand gut zu seinem blassen
Gesicht und dem langen blonden Haar; glatt war die hohe Stirn, und um
den Mund lag ein Lächeln. Es war Baard; er traf im Flur auf eine Frau,
die gerade aus der Küche kam. Sie hatte sich schon für die Fahrt zur
Kirche geschmückt, trat hoch und schlank und sicher aus der Tür und
hatte es sehr eilig. Als sie Baard begegnete, blieb sie stehen, und ihr
Mund verzog sich ein wenig nach der Seite. Das war Birgit, seine Frau.
Beide hatten etwas auf dem Herzen, aber es kam nur darin zum Ausdruck,
daß sie stehen blieben. Baard war noch befangener als sie; er lächelte
mehr und mehr, aber gerade seine große Verlegenheit kam ihm zu Hilfe,
indem er nämlich ohne weiteres sich anschickte, die Treppe
hinaufzusteigen. "Du kommst wohl nach", sagte er. Und sie ging
hinterdrein. Oben auf dem Boden waren sie ganz allein; aber Baard machte
doch die Tür hinter ihnen zu und ließ sich gute Zeit dabei. Als er sich
endlich umdrehte, stand Birgit am Fenster und schaute hinaus, weil sie
hinein nicht sehen mochte. Baard holte eine kleine Flasche aus der
Brusttasche und einen kleinen silbernen Becher. Er wollte seiner Frau
einschenken. Aber sie mochte nicht, obwohl er beteuerte, der Wein sei
von der Pfarre herübergeschickt. Da trank er ihn selbst aus, bot ihr
aber noch ein paarmal an, während er trank. Dann korkte er die Flasche
zu, steckte sie mit dem silbernen Becher zusammen wieder in die
Brusttasche und setzte sich auf eine Truhe. Es tat ihm sichtlich wehe,
daß seine Frau nicht mittrinken wollte.

Ein paarmal holte er tief Atem. Birgit stützte sich mit einer Hand aufs
Fensterbrett; Baard hatte etwas auf dem Herzen, aber jetzt ging es noch
schwerer. "Birgit", sagte er, "Du denkst heute wohl an dasselbe wie
ich."--Nun hörte er sie, denn sie ging von der einen Seite des Fensters
zur andern und stützte sich wieder auf ihren Arm. "Na--Du weißt ja, wen
ich meine.----Der hat zwischen uns beiden gestanden;------ich dachte,
das würde nur bis zur Hochzeit dauern, aber es hat länger gewährt." Er
hörte, wie sie atmete, sah, wie sie wieder ihre Stellung veränderte,
aber ihr Gesicht konnte er nicht sehen. Ihm selbst wurde es so sauer,
daß er sich mit dem Jackenärmel den Schweiß abwischen mußte. Nach langem
Kampf fing er wieder an: "Heute wird sein Sohn, schmuck und gescheit,
bei uns aufgenommen, und wir haben ihm unsere einzige Tochter
gegeben.------Was meinst Du, Birgit,--wollen wir beide nicht auch heut
Hochzeit halten?"--Seine Stimme bebte, und er räusperte sich. Birgit,
die sich bewegt hatte, legte den Kopf wieder auf den Arm, sagte aber
nichts. Baard wartete lange, aber er bekam keine Antwort,--und er selbst
hatte auch nichts mehr zu sagen. Er blickte auf und wurde sehr blaß,
denn sie hatte nicht einmal den Kopf umgewandt. Da stand er auf. Im
selben Augenblick klopfte es leise an die Tür, und eine weiche Stimme
fragte: "Kommst Du jetzt, Mutter?"--es war Eli. Es lag ein etwas in der
Stimme, so daß Baard unwillkürlich stehen blieb und ebenso unwillkürlich
Birgit ansehen mußte. Auch Birgit hob den Kopf; sie sah nach der Tür und
begegnete Baards blassem Gesicht. "Kommst Du jetzt, Mutter?" fragte es
draußen noch einmal. "Ja, jetzt komme ich!" sagte Birgit mit gebrochener
Stimme, indem sie fest und stolz auf Baard zuging, ihm die Hand gab und
in heftiges Weinen ausbrach. Ihre Hände umklammerten sich; wohl waren
sie jetzt abgenutzt, aber sie hielten sich so fest, als hätten sie
zwanzig Jahre lang einander gesucht. Beide hielten sich noch an der
Hand, als sie auf die Tür zugingen; und als nach einer Weile der
Brautzug sich zum Landungssteg begab und Arne seiner Eli die Hand
reichte, um mit ihr voranzugehen, und Baard das sah, da nahm er gegen
alle Sitte und Gewohnheit seine Frau bei der Hand und ging strahlend
hinterher, dann aber kam Margit Kampen, allein, wie sie es gewohnt war.
Baard war ganz ausgelassen den Tag: er saß und schwatzte mit den
Bootsknechten. Einer davon blickte die Bergwand hinter ihnen hinauf und
sagte, es sei doch seltsam, daß selbst so steile Felsen sich mit Grün
bekleiden könnten. "Was kommen soll, kommt doch,--es mag wollen oder
nicht", sagte Baard und sah über den ganzen Zug hin, bis seine Augen an
dem Brautpaar und seiner Frau hängen blieben: "Das hätte mal einer vor
zwanzig Jahren sagen sollen", meinte er.

       *       *       *       *       *



EIN FRÖHLICHER BURSCH



Erstes Kapitel


Öyvind hieß er, und als er geboren wurde, schrie er. Aber als er erst
aufrecht auf Mutters Schoß saß, lachte er, und wenn abends Licht
angesteckt wurde, lachte er, daß es schallte; doch wenn er nicht
herandurfte, weinte er. "Aus dem Jungen wird sicher was Besonderes",
sagte seine Mutter.

Über das Haus, worin er geboren wurde, neigte sich die kahle Bergwand;
aber sie war nicht sehr hoch. Fichten und Birken schauten hernieder, und
die Vogelkirsche streute ihre Blüten aufs Dach. Oben auf dem Dache aber
sprang ein Böckchen, das Öyvind gehörte; es mußte da oben weiden, wo es
sich nicht verlaufen konnte, und Öyvind brachte ihm Laub und Gras. Eines
schönen Tages sprang das Böckchen zur Bergwand hinüber; es kletterte
hinauf, weit hinauf, wo es noch nie gewesen war. Öyvind sah das Böckchen
nicht, als er nach der Vesper hinauskam, und gleich dachte er an den
Fuchs. Ihm wurde ganz heiß bei dem Gedanken; er sah sich um und
lauschte: "Meck--meck--meck--mecke--Böckchen!"--"Mä-ä-ä-äh", schrie der
Bock oben auf der Bergwand, bog den Kopf zur Seite und guckte herunter.

Neben dem Bock aber lag ein kleines Mädchen auf den Knien. "Ist das Dein
Bock?" fragte sie. Öyvind riß Mund und Augen auf und steckte beide Hände
in die Hosentaschen. "Wer bist Du?" fragte er.--"Ich bin doch die
Margit, Mutters Kleine und Vaters Fiedel, der Kobold im Haus, das
Großkind von Ola Nordistuen auf dem Heidehof; im Herbst werde ich vier
Jahre, zwei Tage nach den Frostnächten--ja!"--"Also die bist Du", sagte
er und holte Luft, denn er hatte, während sie sprach, nicht zu atmen
gewagt.

"Ist der Bock Dein?" fragte das Mädchen noch einmal.--"Jaha", sagte er
und sah hinauf. "Mir gefällt der Bock so gut;--Du, willst ihn mir nicht
schenken?"--"Nein, das will ich nicht."

Sie lag und strampelte mit den Beinen und sah zu ihm hinunter, und
schließlich sagte sie: "Und wenn ich Dir einen Butterkringel dafür gebe,
kann ich den Bock dann kriegen?" Öyvind war armer Leute Kind; er hatte
Butterkringel erst einmal in seinem Leben gegessen; damals, als sein
Großvater zu Besuch gekommen war. So was Schönes hatte er sein Lebtag
nicht gegessen. Er sah zu dem Mädchen hinauf; "zeig' mir den Kringel
erst", sagte er. Sie bedachte sich nicht lang und hielt ihm den großen
Kringel hin, den sie in der Hand hatte. "Da hast ihn", sagte sie und
warf ihm den Kringel zu. "Au, er ist kaputt gegangen", sagte der Junge
und sammelte sorglich jedes Stückchen auf; das allerkleinste mußte er
doch mal kosten, und das schmeckte so gut, daß er noch eins kosten
mußte, und ehe er sich's versah, hatte er den ganzen Kringel
aufgegessen.

"Jetzt ist der Bock mein", rief das Mädchen. Dem Jungen blieb der letzte
Bissen im Munde stecken; das Mädel lag und lachte, und der Bock mit der
weißen Brust und dem bräunlich-schwarzen Fell stand daneben und guckte
mit schiefem Kopf hinunter.

"Kannst Du ihn mir nicht noch ein bißchen lassen?" bettelte der Bub, und
sein Herz fing zu klopfen an. Da lachte das Mädel noch mehr und richtete
sich schnell auf. "Nein, der Bock ist mein", sagte sie, schlang die Arme
dem Tier um den Hals, machte ihr Strumpfband los und band es ihm um.
Öyvind sah zu. Nun stand sie auf und versuchte den Bock mit wegzuzerren.
Der wollte aber nicht und reckte den Hals nach Öyvind hinunter.
"Mä-ä-ä-äh!" schrie er. Sie aber faßte mit einer Hand seine Mähne, mit
der andern das Band und sagte liebkosend: "Komm, Böckchen, Du kommst
auch mit in die Stube und darfst aus Mutters Schüssel essen und aus
meiner Schürze", und dann sang sie:

    Komm, Bock, zu dem Knaben.
    Komm, Kalb, zu der Kuh,
    Kommt, miauende Katzen,
    Auf schneeweißem Schuh;
    Komm, Entengehecke,
    Aus deinem Verstecke,
    Kommt, Küchlein, ihr kleinen,
    Fällt's schwer auch den Beinen.
    Mit feinen Hauben
    Kommt, ihr meine Tauben!
    Ist's feucht noch, wie gut
    Die Sonne doch tut.
    Ja, Sommer, Sommer ist uns schon nah,
    Doch rufst du den Herbst, ist er da!

       *       *       *       *       *

Da stand der Junge nun.

Mit dem Bock hatte er seit dem Winter, wo er geboren war, gespielt und
hatte nie gedacht, er müsse ihn einmal hergeben; und nun war es so ganz
plötzlich geschehen, und er würde den Bock nie mehr wiedersehen.

Die Mutter kam, ein Liedchen summend, vom Strande herauf mit ihren
hölzernen Kübeln, die sie gescheuert hatte. Sie sah ihren Jungen mit
gekreuzten Beinen im Grase sitzen und weinen und ging hin zu ihm. "Warum
weinst Du?"--"Ach, der Bock, der Bock!"--"Ja, wo ist denn der Bock?"
fragte seine Mutter und sah zum Dach hinauf.--"Der kommt nie mehr
wieder", sagte der Junge.--"Aber Kind, wie sollte das wohl zugehen?"--Er
mochte es nicht gleich sagen. "Hat der Fuchs ihn geholt?"--"Ach, ich
wollt', es war' der Fuchs gewesen!"--"Bist Du nicht bei Trost," sagte
die Mutter, "was ist mit dem Bock geschehen?"--"A-a-ach, ich hab'
ihn--verkauft für einen--Kringel."

Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da begriff er erst, was es heißt,
den Bock für einen Kringel zu verkaufen; daran hatte er vorher gar nicht
gedacht. Seine Mutter sagte: "Was, meinst Du wohl, mag der Bock von Dir
denken, daß Du ihn für einen Kringel verkaufen konntest?"

Daran dachte der Junge ja schon selber, und ihm wurde klar, daß er hier
in dieser Welt nie wieder fröhlich werden könne,--"und im Himmel auch
wohl nicht mehr", fiel ihm hinterher ein.

Sein Kummer war so groß, daß er sich fest vornahm, nie wieder einen
dummen Streich zu machen, nie mehr den Faden vom Spinnrocken
abzuschneiden oder die Schafe herauszulassen oder allein ans Wasser zu
gehen. Dabei schlief er ein, und er träumte, der Bock sei ins
Himmelreich gekommen; der liebe Gott saß da mit einem langen Bart genau
wie im Katechismus, und der Bock fraß von einem schimmernden Busch die
Blätter ab. Öyvind aber saß ganz allein auf dem Dach und konnte nicht
hinauf.

Da kam ihm etwas Feuchtes ans Ohr, und er fuhr in die Höhe. "Mä-ä-ä-äh!"
sagte es, und sein Bock war wieder da!

"Herrjeh, Du bist wieder da?" Er sprang auf, faßte den Bock an beiden
Vorderbeinen und tanzte mit ihm, als sei's sein Bruder, und zupfte ihn
am Bart und wollte gerade mit ihm zur Mutter laufen, da hörte er ein
Geräusch und sah das kleine Mädchen dicht hinter sich auf der grünen
Wiese sitzen. Nun wurde ihm alles klar; er ließ den Bock los. "Bist Du
mit ihm hergekommen?" Sie saß da und riß mit den Händen Grasbüschel aus
und sagte: "Ich darf ihn nicht behalten. Großvater sitzt oben und
wartet." Wie der Junge noch da stand und sie ansah, hörte er eine
scharfe Stimme oben vom Wege her: "Na, wird's bald?"--Da wußte sie, was
sie zu tun hatte. Sie stand auf, ging auf Öyvind zu, schob ihre erdige
kleine Hand in seine, blickte zur Seite und sagte: "Sei nicht bös!"
Damit war es aber auch mit ihrem Mut zu Ende, sie warf sich über den
Bock und fing zu weinen an.

"Meinetwegen kannst Du den Bock behalten", sagte Öyvind und sah weg.

"Beeil' Dich 'n bißchen!" rief der Großvater von der Höhe. Und Margit
stand auf und stieg langsam den Berg hinan. "Du hast ja Dein Strumpfband
verloren!" rief Öyvind ihr nach. Da drehte sie sich um und sah erst das
Band und dann den Jungen an. Schließlich faßte sie einen großen
Entschluß und sagte mit erstickter Stimme: "Das kannst Du behalten." Er
lief ihr nach und gab ihr die Hand: "Ich dank' auch schön!" sagte er.
"Ach, wofür denn?" sagte sie, stieß einen unendlich langen Seufzer aus
und ging weiter.

Er setzte sich wieder ins Gras, der Bock weidete neben ihm; aber der
Junge hatte nicht mehr soviel Freude dran wie sonst.



Zweites Kapitel


Der Bock war am Haus angebunden, Öyvind aber schaute zu den Bergen
hinauf. Die Mutter kam heraus zu ihm und setzte sich neben ihn; er
wollte Märchen aus ferner Zeit hören, denn jetzt genügte ihm der Bock
nicht mehr. Und da erfuhr er denn, daß früher einmal alle Dinge reden
konnten; der Berg sprach mit dem Bach und der Bach mit dem Fluß und der
Fluß mit dem Meer und das Meer mit dem Himmel; und dann fragte er, ob
denn der Himmel mit niemand spreche. Doch, der Himmel sprach mit den
Wolken, die Wolken aber mit den Bäumen, die Bäume aber mit dem Grase,
das Gras aber mit den Fliegen, die Fliegen aber mit den Tieren, die
Tiere aber mit den Kindern, die Kinder aber mit den Großen. Und so ging
es immer weiter, bis die Reihe herum war, und keiner wußte, wer
eigentlich den Anfang gemacht hatte. Öyvind schaute Berge und Bäume und
Meer und Himmel an; er hatte das alles eigentlich noch nie richtig
gesehen. Da kam gerade die Katze aus dem Hause und legte sich auf die
Steinfliesen in die Sonne. "Was sagt denn die Katze?" fragte Öyvind und
zeigte auf sie. Die Mutter sang:

    Die Abendsonne liegt auf den Wiesen,
    Die Katze dehnt sich faul auf den Fliesen.
      "Zwei Mäuslein fett,
      Rahm vom Küchenbrett,
      Vier Stück Fisch
      Stahl ich hinterm Tisch,
      Und bin so wonnig satt
      Und bin so wohlig matt!"
      Sagt die Katze.

Und nun kam der Hahn mit all den Hennen. "Was sagt denn der Hahn?"
fragte Öyvind und klatschte in die Hände. Die Mutter sang:

    Die Henne gluckt ihrer kleinen Gemeine,
    Der Hahn steht würdig auf einem Beine.
      "Die Gans da, ei seht,
      Wie wichtig sie geht!
      Doch sie weiß nicht, gebt acht,
      Wie man Kratzfüße macht!
    Hühner, Hühner, ins Haus hinein,
    Der Tag mag für heute beurlaubt sein!"
    Sagt der Hahn.

Zwei kleine Vögel aber saßen oben auf dem Dachfirst und sangen. "Was
sagen denn die Vögel?" fragte Öyvind und lachte.

    "Das ist ein Leben, muß ich sagen,
    Braucht man um nichts sich zu plagen!"
    Sagt der Vogel.

Und er erfuhr, was ein jedes sagte bis hinunter zu der Ameise, die im
Moose krabbelte, und dem Wurm, der in der Borke nagte.

In diesem Sommer unterwies ihn seine Mutter auch im Lesen. Bücher hatte
er schon längst gehabt und oft drüber nachgedacht, wie das wohl zugehen
möge, wenn auch die zu sprechen anfingen. Da wurden die Buchstaben zu
Tieren, zu Vögeln und zu allem Möglichen; aber es dauerte nicht lange,
da gingen sie immer zu zweien miteinander; das A blieb stehen und machte
unter einem Baume Rast, der B hieß, dann kam das C und machte es auch
so. Als sie aber zu dreien und vieren beisammen waren, da schien es, als
könnten sie sich nicht vertragen; es wollte nicht recht gehen. Und je
weiter er kam, desto mehr vergaß er, was sie bedeuteten; am längsten
blieb das A in seinem Gedächtnis haften; das A gefiel ihm am besten. Das
war ein kleines schwarzes Lamm und war mit allen gut Freund. Aber bald
vergaß er auch das A, denn in dem Buche standen keine Märchen, da
standen nur Aufgaben.

Da eines Tages kam die Mutter herein und sagte: "Morgen fängt die Schule
wieder an, Du sollst mit mir hin." Öyvind hatte gehört, die Schule sei
ein Ort, wo viele Knaben zusammen spielten, und dagegen hatte er
durchaus nichts. Er freute sich sehr darauf; auf dem Gehöft war er schon
oft gewesen, aber nie zur Schulzeit, und er lief schneller als seine
Mutter die Hügel hinauf, denn er konnte es kaum erwarten. Sie kamen an
das Altenteilhäuschen; ein fürchterliches Gesumme wie in der Mühle zu
Haus schlug ihnen entgegen, und er fragte seine Mutter, was das sei. "Da
lesen die Kinder", sagte sie, und das freute ihn sehr, denn so hatte er
auch lesen können, als er die Buchstaben noch nicht gekannt hatte. Als
er hineinkam, sah er um einen Tisch soviele Kinder sitzen, daß sicher in
der Kirche auch nicht mehr sein konnten; andere saßen auf ihren Eßkobern
an der Wand, wieder andere standen in kleinen Gruppen um eine Tafel
herum; der Schulmeister, ein alter grauhaariger Mann, saß am Herd auf
einem Schemel und stopfte seine Pfeife. Als Öyvind und seine Mutter
hereinkamen, blickten alle auf, und die summende Mühle stand still, als
sei die Schleuse gesperrt. Alle blickten auf die Eintretenden; die
Mutter begrüßte den Schulmeister und er sie.

"Hier bringe ich einen kleinen Jungen, der lesen lernen möchte", sagte
die Mutter. "Wie heißt das Kerlchen?" fragte der Schulmeister und wühlte
in seinem Lederbeutel nach Tabak.

"Öyvind", sagte die Mutter; "er kann schon die Buchstaben und kann auch
rechnen." "Sieh einer an," sagte der Schulmeister, "komm mal her, Du
Weißkopf!" Öyvind ging zu ihm hin; der Schulmeister setzte ihn auf
seinen Schoß und nahm ihm die Mütze ab. "'n hübscher kleiner Bursch",
sagte er und strich ihm übers Haar. Öyvind sah ihm in die Augen und
lachte. "Lachst Du etwa über mich?" Er runzelte die Brauen. "Ja,
natürlich", sagte Öyvind und lachte aus Leibeskräften. Da mußte der
Schulmeister auch lachen, die Mutter lachte, und als die Kinder merkten,
daß sie es durften, lachten sie alle zusammen.

Somit war Öyvind in die Schule aufgenommen.

Als er sich setzen mußte, wollten ihm alle Platz machen. Er sah sich
auch lange um; sie tuschelten und zeigten auf ihn. Er drehte sich nach
allen Seiten, die Mütze in der Hand und das Buch unterm Arm. "Na, was
wird das werden?" fragte der Schulmeister, der schon wieder mit seiner
Pfeife zu tun hatte. Als der Junge sich eben nach dem Schulmeister
umwenden will, sieht er dicht neben dem Herd auf einem rotbemalten
Eßkober Margit mit den vielen Namen sitzen; sie hatte das Gesicht in den
Händen versteckt und lugte zu ihm hin. "Hier will ich sitzen", sagte
Öyvind schnell, nahm sich einen Kober und setzte sich neben sie. Jetzt
hob sie den einen Arm ein bißchen und sah ihn unterm Ellbogen an; da
versteckte er auch schnell sein Gesicht in beiden Händen und sah unterm
Ellbogen zu ihr hin. So saßen sie beide da und neckten sich, bis sie
lachte; nun lachte er auch, und die andern Kinder hatten es gesehen und
lachten mit. Da fuhr eine entsetzlich laute Stimme, die aber bei jedem
Worte milder wurde, dazwischen. "Ruhe, Ihr Bande, Ihr Kroppzeug, Ihr
Nichtsnutze! Ruhe! Und seid mal hübsch artig, Ihr Zuckerschweinchen!"
Das war der Schulmeister; er hatte es so an sich, leicht aufzubrausen,
aber ehe er noch zu Ende geredet hatte, pflegte er schon wieder gut zu
sein. Es wurde augenblicklich still in der Klasse, bis die Pfeffermühlen
wieder in Gang kamen; jedes las laut aus seinem Buch, manche im
feinsten Diskant, die gröberen Stimmen trompeteten lauter und lauter, um
die andern zu überschreien, und ab und zu johlte einer dazwischen.
Öyvind hatte sein Lebtag noch nicht solchen Spaß gehabt.

"Ist das hier immer so?" flüsterte er Margit zu. "Ja immer", sagte sie.

Nachher mußten sie vortreten und lesen; dann wurde ein anderer Junge
beauftragt, sie lesen zu lassen, und schließlich waren sie erlöst,
konnten sich wieder auf ihren Platz setzen und brauchten nichts zu tun.

"Jetzt habe ich auch ein Böckchen", sagte Margit.--"Wirklich?"--"Ja,
aber es ist nicht so schön wie Deins!"--"Warum bist Du nicht
öfter auf den Berg gekommen?"--"Großvater hat Angst, ich könnte
hinunterfallen."--"Es ist doch gar nicht so hoch."--"Großvater will's
aber nicht."

"Meine Mutter weiß soviele Lieder", sagte er.--"Na, mein Großvater
auch--das kannst Du glauben."--"Ja, aber nicht solche wie meine
Mutter."--"Aber mein Großvater kann eins vom Tanzen.--Soll ich's mal
sagen?"--"Ja, bitte."--"Aber dann mußt Du näher herankommen, sonst
merkt's der Schulmeister." Er rückte näher, und dann sagte sie ihm ein
paar Strophen vor,--vier, fünfmal, bis er sie konnte, und das war das
erste, was er in der Schule lernte.

    "Tanz!" rief die Fiedel
    Mit schnarrender Saite,
    Der Bauer, der Breite,
    Spreizte sich: "Ha!"
    "Holla", rief Ola
    Und bracht' ihn zu Falle,--
    Wie lachten alle
    Die Jüngferchen da!

    "Hopp", sagte Erik,
    Und klomm zur Decke,--
    Da krachten Ecke
    Und Wände im Haus.
    "Stopp", sagte Elling,
    Und trug ihn am Kragen
    Hinaus ohne Zagen:
    "Hier tobe dich aus!"

    "Hei", sagte Rasmus,
    "Her mit dem Munde,
    Randi, du runde!
    Schnell, mach' dich bereit."
    "Ei", sagte Randi;
    Gab ihm eine Schelle,--
    Wie rieb er die Stelle,--
    "Da hast du Bescheid!"

"Aufstehn, Kinder!" rief der Schulmeister. "Heut am ersten Tag sollt Ihr
früh nach Hause gehen; aber erst wollen wir noch beten und singen." Da
gab es ein Leben in der Schulstube; sie sprangen von den Bänken auf,
rannten durch die Stube und schwatzten durcheinander. "Ruhe, Ihr
Strolche, Ihr Hallunken, Ihr Banditen!--Ruhe! Und hübsch leise
auftreten, Kinderchen!" sagte der Schulmeister, und sie stellten sich
ruhig in Reih und Glied, worauf der Schulmeister vor sie hintrat und ein
kurzes Gebet sprach. Dann sangen sie. Der Schulmeister stimmte mit
seinem kräftigen Baß an, alle Kinder standen mit gefalteten Händen da
und sangen mit. Öyvind stand mit Margit dicht an der Tür und sah zu; sie
hatten auch die Hände gefaltet, aber mitsingen konnten sie nicht.

Das war der erste Schultag.



Drittes Kapitel


Öyvind wuchs heran und wurde ein prächtiger Bursche; in der Schule saß
er immer oben und zu Hause war er anstellig bei jeder Arbeit. Das kam
daher, daß er daheim seine Mutter lieb hatte und in der Schule seinen
Lehrer. Den Vater sah er nur selten; der war entweder auf Fischfang,
oder er hatte in der Mühle zu tun, wo das halbe Dorf mahlen ließ.

Was in diesen Jahren auf sein Gemüt am meisten wirkte, das war die
Geschichte des Schulmeisters, die Mutter ihm eines Abends, als sie am
Herde saßen, erzählte. Sie wob sich in seine Bücher hinein, sie legte
sich in jedes Wort, das der Schulmeister sagte, und huschte durch die
Schulstube, wenn alles still war. Sie machte ihn gehorsam und demütig
und ließ ihn gewissermaßen alles leichter verstehen, was gelehrt wurde.
Diese Geschichte war folgendermaßen:

Baard hieß der Schulmeister, und er hatte einen Bruder, der hieß Anders.
Sie hatten sich beide gern, ließen sich miteinander anwerben, lebten
zusammen in der Stadt, machten den Krieg mit, wobei sie beide zu
Korporalen befördert wurden, und standen bei derselben Kompagnie. Als
sie nach dem Kriege wieder nach Hause kamen, fanden alle, es seien zwei
Staatskerle. Da starb ihr Vater; er hatte viele Besitztümer gehabt, die
schwer zu teilen waren, deshalb vereinbarten sie, sie wollten sich
lieber nicht deswegen veruneinigen, sondern wollten alles versteigern
lassen, so daß jeder kaufen könne, was er wolle; der Erlös aber solle
geteilt werden. Gesagt, getan. Nun hatte aber der Vater eine große
goldene Uhr besessen, die weit und breit berühmt war; denn es war die
einzige goldene Uhr, die die Leute in dieser Gegend je gesehen hatten,
und als diese Uhr zur Versteigerung kam, wollten viele reiche Männer sie
haben; als aber auch die beiden Brüder zu bieten begannen, traten die
andern zurück. Nun erwartete Baard von Anders, er werde ihm die Uhr
lassen, und Anders erwartete das gleiche von Baard. Jeder gab sein Gebot
ab, um den andern auf die Probe zu stellen, und beim Bieten blickte
einer auf den andern. Als die Uhr bis auf zwanzig Taler gekommen war,
fand Baard, das sei gar nicht nett von seinem Bruder gehandelt, und er
bot weiter, bis dreißig Taler; als Anders auch da noch nicht nachgab,
dachte Baard, Anders habe wohl ganz vergessen, wie gut er immer zu ihm
gewesen sei, und außerdem war er doch der ältere, und er bot mehr als
dreißig Taler. Anders tat immer noch mit. Da brachte Baard mit einem
Schlage die Uhr auf vierzig Taler und sah seinen Bruder nicht mehr dabei
an; es war sehr still in dem Zimmer, wo die Auktion stattfand, nur der
Vogt wiederholte ruhig den Preis. Anders stand da und dachte sich: könne
Baard vierzig Taler geben, so könne er es auch, und wenn ihm Baard die
Uhr nicht gönne, so würde er sie sich eben nehmen; er bot also mehr. Das
erschien Baard als die größte Schmach, die ihm je widerfahren war; er
bot ganz leise fünfzig Taler. Viele Leute standen ringsum, und Anders
dachte, so dürfe sein Bruder ihn doch nicht vor aller Ohren verspotten,
und bot mehr. Da lachte Baard: "Hundert Taler und meine Bruderliebe in
Kauf", sagte er, drehte sich um und ging aus der Stube. Nach einer Weile
kam ihm einer nach, als er schon im Begriff war, sein Pferd zu satteln,
das er kurz zuvor gekauft hatte. "Du kriegst die Uhr," sagte der Mann,
"Anders hat's aufgegeben." Als Baard das hörte, durchfuhr es ihn wie
Reue; er dachte an seinen Bruder und nicht an die Uhr. Der Sattel war
aufgelegt, aber er hatte die Hand noch auf dem Rücken des Pferdes und
wußte nicht, ob er reiten solle. Da kam eine Menge Menschen heraus,
Anders war auch darunter, und als er seinen Bruder neben dem gesattelten
Pferd stehen sah, wußte er nicht, was für Gedanken Baard in diesem
Augenblick bewegten, sondern schrie ihm zu: "Schönen Dank für die Uhr,
Baard! Die Stunde, da Dein Bruder wieder Deinen Weg kreuzt, wird sie Dir
nicht anzeigen."--"Und auch nicht die Stunde, da ich auf diesen Hof
zurückreite!" erwiderte Baard mit bleichem Gesicht und schwang sich auf
sein Pferd. Das Haus, in dem sie beide zusammen mit ihrem Vater gelebt
hatten, betrat keiner von ihnen mehr.

Bald darauf heiratete Anders in eine Kätnerwirtschaft ein, lud aber
Baard nicht zur Hochzeit; Baard war auch nicht mal in der Kirche. Im
ersten Jahr, als Anders verheiratet war, fand man die einzige Kuh, die
er besaß, tot an der nördlichen Seite des Hauses, wo sie angebunden war,
und keiner konnte begreifen, woran sie gestorben war; anderes
Mißgeschick kam hinzu, und es ging abwärts mit ihm; am schlimmsten aber
wurde es, als mitten im Winter seine Scheune abbrannte mit allem, was
darin war; keiner wußte, wie das Feuer aufgekommen war. "Das hat einer
angelegt, der mir nichts Gutes gönnt", sagte Anders, und in dieser Nacht
weinte er. Er war ein armer Mann geworden und hatte keine Lust zur
Arbeit mehr.

Da stand am andern Abend plötzlich Baard in seiner Stube. Anders lag auf
dem Bett, als der andere eintrat, aber er sprang auf. "Was willst Du
hier?" fragte er, schwieg dann aber und sah seinen Bruder unverwandt an.
Baard zögerte einen Augenblick, bis er antwortete: "Ich möchte Dir
helfen, Anders, Dir geht es nicht gut."--"Mir geht es so, wie Du es mir
gönnst, Baard! Geh lieber, denn ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen
kann!"--"Du irrst, Anders; es tut mir leid--"--"Geh, Baard, oder Gott
gnade uns beiden!"--Baard trat ein paar Schritte zurück; mit zitternder
Stimme sagte er: "Wenn Du die Uhr haben willst, so kannst Du sie
bekommen!"--"Geh, Baard!" schrie der andere; da mochte Baard nicht
länger bleiben und ging.

Mit Baard war das aber so zugegangen: als er hörte, daß es seinem Bruder
schlecht gehe, taute sein Herz auf, aber sein Stolz hielt ihn zurück. Er
fühlte das Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, und dort faßte er allerlei
gute Vorsätze, doch er konnte sie nicht ausführen. Manchmal ging er so
weit, bis er das Haus sehen konnte, aber dann kam gerade einer aus der
Tür, oder es war Besuch da, oder Anders stand draußen und hackte
Holz,--kurz, es kam immer etwas dazwischen. Eines Sonntags aber gegen
Ende des Winters war er wieder in der Kirche, und Anders war auch da.
Baard sah, wie bleich und mager er geworden war, und er trug noch
dieselben Kleider wie damals, als sie zusammen waren, doch jetzt waren
sie alt und geflickt. Während der Predigt blickte er zum Pfarrer auf,
und es kam Baard vor, als sehe sein Bruder gut und mild aus; er dachte
an ihre Kinderjahre, und was für ein gutes Kind er gewesen war. Baard
ging an diesem Tage zum Abendmahl, und gelobte Gott feierlich, er wolle
sich mit seinem Bruder versöhnen, komme, was da wolle. Dieser Vorsatz
erfüllte seine Seele, als er aus dem Kelche trank, und als er sich
erhob, wollte er gleich auf ihn zugehen und sich neben ihn setzen; aber
der Platz war besetzt, und sein Bruder sah nicht auf. Nach der Predigt
kam auch wieder etwas dazwischen; es waren soviele Leute da, seine Frau
ging neben ihm, und die kannte er doch nicht; er dachte, das beste sei,
er gehe hin zu ihm und rede vernünftig mit ihm. Als es Abend wurde,
führte er das aus. Er ging bis an die Stubentür und lauschte; und da
hörte er seinen eigenen Namen; es war die Stimme der Frau. "Er ist heut
zum Abendmahl gegangen," sagte sie, "da hat er gewiß an Dich
gedacht."--"Nein, der hat nicht an mich gedacht," sagte Anders, "der
denkt bloß an sich selbst."

Dann sagte lange Zeit keiner etwas; Baard stand der Schweiß auf der
Stirn, obschon es ein kalter Abend war. Die Frau drinnen klapperte mit
den Töpfen, auf dem Herde knisterte und knackte es, ein kleines Kind
schrie dazwischen, und Anders wiegte es in Schlaf. Schließlich sagte die
Frau: "Ich glaube, Ihr denkt beide aneinander und wollt es nur nicht
zugeben."--"Wir wollen von was anderm reden", sagte Anders. Nach einer
Weile stand er auf und näherte sich der Tür. Baard mußte sich im
Holzschuppen verstecken; gerade dahin kam aber Anders, um sich einen Arm
voll Holz zu holen. Baard stand in der Ecke und sah ihn ganz genau; er
hatte seinen schäbigen Sonntagsrock ausgezogen und war in der Uniform,
die er, gerade wie Baard auch, aus dem Kriege mit heimgebracht hatte,
und er hatte dem Bruder versprochen, sie nie zu tragen, sondern sie auf
die Nachkommen zu vererben, und Baard hatte ihm das gleiche Versprechen
gegeben. Die von Anders war jetzt geflickt und schäbig, seine kräftige,
gutgewachsene Gestalt steckte wie in einem Bündel Lumpen, und dabei
hörte Baard, wie bei ihm selber die goldene Uhr in der Tasche tickte.
Anders ging auf den Reisighaufen zu, aber statt sich zu bücken und einen
Arm voll aufzuraffen, blieb er stehen, lehnte sich an einen Holzstoß und
sah zu dem leuchtend klaren Sternenhimmel auf. Dann seufzte er tief und
sagte: "Ach--ja--ja--ja; o mein Gott, mein Gott!"

Solange Baard lebte, klang ihm das in den Ohren. Er wollte vor ihn
hintreten, aber da hustete sein Bruder, und das klang so furchtbar
trocken; das genügte schon, um ihn wieder zurückzuhalten. Anders nahm
seine Tracht Holz und ging so dicht an Baard vorbei, daß die Zweige ihm
ins Gesicht schlugen.

Wohl zehn Minuten stand Baard auf demselben Fleck, und wer weiß, wann er
gegangen wäre, wenn er nicht von der großen Aufregung einen
Schüttelfrost bekommen hätte, daß er am ganzen Leibe zitterte. Da ging
er hinaus; er gestand sich offen ein, daß er zu feige war,
hineinzugehen, deshalb hatte er sich jetzt einen andern Plan ausgedacht.
Aus einem Ascheimer, der in der Ecke neben ihm stand, nahm er ein paar
Kohlenstücke, suchte sich einen Kienspan, ging in die Scheune, machte
die Tür hinter sich zu und schlug Feuer. Als er den Span in Brand hatte,
leuchtete er damit nach dem Haken, an den Anders seine Laterne hängte,
wenn er früh morgens zum Dreschen kam. Baard holte seine goldene Uhr
heraus und hängte sie an den Haken, löschte dann seinen Span aus und
ging, und jetzt war ihm so leicht ums Herz, daß er wie ein Jüngling
durch den Schnee lief.

Tags darauf hörte er, die Scheune sei in der Nacht niedergebrannt.
Vermutlich waren von dem Span, mit dem er sich geleuchtet hatte, als er
die Uhr aufhing, Funken heruntergefallen.

Das erschütterte ihn so, daß er den ganzen Tag wie ein Kranker dasaß;
er nahm sein Gesangbuch und sang, und die Leute bei ihm im Hause
dachten, irgend was müßte da nicht seine Richtigkeit haben. Abends aber
ging er fort; es war heller Mondschein; er ging nach dem Gehöft seines
Bruders, grub auf der Brandstätte nach und fand wirklich ein
zusammengeschmolzenes Klümpchen Gold; das war die Uhr.

Mit dem Gold in der Hand war er am selben Abend zu seinem Bruder
hineingegangen, hatte um Frieden gebeten und alles aufklären wollen.
Aber wie es ihm da erging, ist ja schon erzählt.

Ein kleines Mädchen hatte ihn an der Brandstelle graben sehen, ein paar
Burschen, die zum Tanz gegangen waren, hatten ihn am Sonntagabend auf
das Gehöft zuschreiten sehen, die Leute bei ihm im Hause erzählten, wie
wunderlich er am Montag gewesen war, und weil ja alle wußten, daß er mit
seinem Bruder verfeindet war, so wurde Anzeige erstattet und eine
Untersuchung angeordnet.

Keiner konnte ihm etwas beweisen, aber der Verdacht blieb an ihm hängen;
weniger als je konnte er sich jetzt seinem Bruder nähern.

Anders hatte sofort an Baard gedacht, als die Scheune in Flammen stand,
aber er hatte es keinem gesagt. Als er ihn am Abend darauf bleich und
verstört in seine Stube kommen sah, durchzuckte ihn der Gedanke: jetzt
hat ihn die Reue gepackt, aber eine so schändliche Handlungsweise dem
eigenen Bruder gegenüber ist unverzeihlich. Später hörte er dann von den
Leuten, daß sie ihn an dem Abend, da das Feuer auskam, auf das Haus
hatten zugehen sehen, und obwohl durch das Verhör nichts Gewisses
festgestellt wurde, glaubte er steif und fest, Baard sei der Täter. Sie
trafen sich beim Verhör, Baard in seinen guten Kleidern, Anders in
seinen geflickten; Baard sah, als er hereinkam, mit einem so flehenden
Blick zu ihm hin, daß es Anders durch und durch ging. Er will, ich soll
nichts sagen, dachte Anders, und als er gefragt wurde, ob er seinem
Bruder die Tat zutraue, sagte er laut und bestimmt: "Nein."

Doch von diesem Tage an ergab sich Anders dem Trunk, und es ging ihm
erbärmlich schlecht. Noch viel schlimmer aber stand es um Baard, obschon
der nicht trank; aber er war kaum wiederzuerkennen.

Da kam eines Abends spät eine ärmliche Frau in die kleine Kammer, die
Baard sich gemietet hatte, und bat ihn, mitzukommen. Er kannte sie; es
war die Frau seines Bruders. Baard ahnte gleich, was für ein Anliegen
sie hatte; er wurde leichenblaß, zog sich an und ging mit ihr, ohne ein
Wort zu sagen. Ein schwacher Lichtschein kam aus Anders' Fenster,
blitzte auf und verschwand wieder, und sie gingen dem Scheine nach, denn
durch den Schnee führte kein Pfad. Als Baard wieder auf der Diele stand,
schlug ihm ein eigentümlicher Geruch entgegen, daß ihm ganz übel wurde.
Sie gingen hinein. Ein kleines Kind saß am Herd und knabberte an den
Kohlen, es war ganz schwarz im Gesicht, aber es blickte auf und lachte
mit weißen Zähnchen; das war das Kind seines Bruders. Im Bett aber, mit
allen möglichen Kleidungsstücken zugedeckt, lag Anders, abgemagert, mit
klarer, hoher Stirn und schaute seinen Bruder aus hohlen Augen an. Baard
zitterten die Knie, er setzte sich ans Fußende des Bettes und brach in
heftiges Weinen aus. Der Kranke sah ihn unverwandt an und schwieg.
Schließlich bat er seine Frau, hinauszugehen; aber Baard winkte ihr, sie
möge bleiben,--und dann sprachen sich die Brüder aus. Sie sprachen über
alles von dem Tage an, da sie auf die Uhr geboten hatten, bis zu der
Stunde, da sie hier zusammentrafen. Baard holte schließlich den
Goldklumpen heraus, den er immer bei sich trug, und nun sahen die Brüder
ein, daß sie sich in all den Jahren nicht einen einzigen Tag glücklich
gefühlt hatten.

Anders sagte nicht viel, dazu war er zu schwach; aber Baard blieb am
Bett sitzen, solange Anders krank war. "Jetzt bin ich wieder ganz
gesund," sagte Anders eines Morgens, als er aufwachte, "jetzt wollen
wir noch lange zusammenleben, mein Herzensbruder, und nie mehr
auseinandergehen, ganz wie damals." An dem Tage aber starb er.

Frau und Kind nahm Baard zu sich, und sie hatten es fortan gut. Was aber
die Brüder am Krankenbett zusammen gesprochen hatten, das drang hinaus
durch die Wände und durch die Nacht und alle Leute im Dorf erfuhren es,
und Baard kam hoch zu Ansehen. Alle grüßten ihn wie einen Mann, der
schweres Leid gehabt hat, und dem dann ein Glück widerfahren ist, oder
wie einen, der sehr lange fortgewesen ist. Baard richtete sich an dieser
allgemeinen Freundlichkeit auf, er wurde ein frommer Mensch, und da er
etwas schaffen wollte, wie er sagte, so machte der alte Korporal einen
Schulmeister aus sich. Was er den Kindern als erstes und letztes
einprägte, war Liebe, und auch sich selbst wünschte er, daß ihn die
Kinder wie einen guten Kameraden und wie einen Vater lieb haben sollten.

Das war die Geschichte, die von dem alten Schulmeister erzählt wurde,
und in Öyvinds Herzen schlug sie so fest Wurzel, daß sie für ihn
Religion und Erzieher zugleich wurde. Der Schulmeister war für ihn fast
ein übermenschliches Wesen geworden, obgleich er so umgänglich zwischen
ihnen saß und so gemütlich vor sich hinbrummte. Daß er je seine Aufgaben
nicht hätte wissen sollen, war ganz undenkbar, und lächelte ihm der
Schulmeister zu oder strich er ihm gar übers Haar, wenn er seine Lektion
hergesagt hatte, so war ihm den ganzen Tag lang froh und warm ums Herz.

Den größten Eindruck auf die Kinder machte es immer, wenn der
Schulmeister vor dem Singen eine kleine Ansprache an sie hielt und
ihnen, mindestens einmal jede Woche, ein paar Strophen vorlas, die von
der Nächstenliebe handelten. Wenn er den ersten Vers vorlas, bebte seine
Stimme, ob er ihn nun auch schon an die dreißig Jahre gelesen hatte; der
Vers lautete:

    Lieb' deinen Nächsten nach Christenpflicht,
    Unter dem Absatz zertritt ihn nicht,
    Liegt er auch schon im Staube;
    Alles, was lebet, ist Untertan--
    Alles der Liebe, die neuschaffen kann:
    Trau' du ihr nur und glaube!

Wenn aber das Lied zu Ende war, und er noch eine Weile schweigend
dagestanden hatte, dann sah er sie an und zwinkerte mit den Augen:
"Vorwärts, kleines Gesindel, geht hübsch brav nach Hause und macht nicht
solchen Lärm,--seid hübsch artig, daß ich immer bloß Gutes von Euch
höre, Ihr kleinen Dachse!" Und wenn sie dann beim Zusammenpacken der
Bücher und Eßkober einen Höllenspektakel machten, dann klang seine
Stimme durch das Getöse: "Kommt morgen wieder, sowie es Tag wird, sonst
sollt Ihr mich kennen lernen!--Kommt ja rechtzeitig, Kinderchen, dann
wollen wir sehr fleißig sein."



Viertes Kapitel


Von Öyvinds Weiterentwicklung bis zu dem Jahr vor seiner Konfirmation
ist nicht viel zu erzählen. Morgens lernte er, tags arbeitete er, und
abends spielte er.

Weil er gar so einen fröhlichen Sinn hatte, dauerte es nicht lange, bis
die Kinder aus der Nachbarschaft sich in den Freistunden dort einfanden,
wo er war. Von seinem Hause fiel ein hoher Abhang zur Bucht ab, der, wie
schon erwähnt, an einer Seite von der Bergwand, an der andern vom Wald
begrenzt war, und hier veranstaltete die Dorfjugend an jedem schönen
Abend und auch Sonntags Schlittenfahrten. Öyvind konnte es am besten; er
hatte zwei Schlitten, "Scharftraber" und "Kratzer" hießen sie; diesen
lieh er den andern Kindern, jenen aber steuerte er selbst und hatte
Margit auf dem Schoß.

Wenn Öyvind aufwachte, war in dieser Zeit sein erstes, aus dem Fenster
zu schauen, ob's Tauwetter sei, und sah er, daß es grau über den Büschen
jenseits der Bucht hing, oder hörte er es vom Dach tropfen, so ging es
so langsam mit dem Anziehen, als sei mit dem Tag rein gar nichts
anzufangen. Wachte er aber zu knisternder Kälte und klarem Himmel auf
und war's noch dazu Sonntag, wo es den guten Anzug und keine Arbeit gab,
bloß Überhören und vormittags Kirchgang und dann den ganzen Nachmittag
und Abend frei,--hei! da war der Bursch mit einem Satz aus dem Bett, zog
sich an, als brenne es, und konnte vor Aufregung kaum essen. Sowie es
Nachmittag war, und der erste Junge auf Schneeschuhen den Weg entlang
kam, den Stab über dem Kopf schwang und juchzte, daß es von den Höhen
wiedertönte,--und dann einer auf dem Schlitten daherkam und noch einer
und noch einer,--dann stürmte der Bursch mit seinem "Scharftraber" auf
und davon, rannte den Hügel hinauf und machte bei den Zuletztgekommenen
halt mit einem langen schmetternden Jodler, der an der Bucht von Berg zu
Berg klang und weit, weit hinten erstarb.

Er schaute dann wohl nach Margit aus, aber wenn sie erst da war,
kümmerte er sich nicht mehr recht um sie.

Dann aber kam Weihnachten, wo der Bursch und das Mädel beide ins
siebzehnte Jahr gingen und im Frühjahr konfirmiert werden sollten. Am
vierten Weihnachtstage sollte auf dem oberen Heidehof bei Margits
Großeltern, bei denen sie aufgewachsen war, eine große Festlichkeit
stattfinden; sie hatten ihr das schon seit drei Jahren versprochen und
mußten es jetzt endlich wahr machen. Hierzu wurde Öyvind eingeladen.

Es war ein halbklarer, nicht kalter Abend; Sterne waren nicht zu sehen,
und am andern Tage würde es wohl Regen geben. Ein schläfriger Wind
strich über den Schnee, der hier und da von der weißen Heide fortgeweht
war und sich an anderen Stellen zu Schneewehen angesammelt hatte. Wo
nicht gerade Schnee lag, war der ganze Weg mit Eis bedeckt, das
blauschwarz zwischen dem Schnee und dem nackten Felde schimmerte und
sich in blanken Streifen hinzog, soweit das Auge reichte. Die Berge
herab waren Schneestürze gekommen; düster und kahl war ihr Bett, und nur
zu beiden Seiten lag noch der helle Schnee, wo nicht gerade der
Birkenwald sich zusammenschob und Dunkelheit schuf. Wasser war nicht zu
sehen, nur halbnackte Sandflächen und Moore umsäumten schwer und
strichweise die Berge. Die Gehöfte lagen in dichten Gruppen mitten im
Felde; sie sahen im Dunkel des Winterabends wie schwarze Klumpen aus,
aus denen Licht über das Land hinstrahlt, bald aus diesem Fenster, bald
aus jenem; an dem Lichtschein sah man, daß es drinnen geschäftig
herging. Die ganze Jugend, Große und Halberwachsene strömten von
verschiedenen Seiten zusammen; die wenigsten blieben auf dem Wege; zum
mindesten verließen sie ihn und stahlen sich beiseite, sobald sie an das
Gehöft kamen; einer kroch hinter den Kuhstall, ein paar unter den
Vorratschuppen, andere jagten um die Scheune und heulten wie Füchse,
wieder andere antworteten aus der Ferne mit Katzenstimmen, einer stand
hinterm Backofen und bellte wie ein alter bissiger Köter, dem die Stimme
eingerostet ist, bis von allen Seiten Jagd auf ihn gemacht wurde. Die
Mädchen kamen scharenweise und hatten ein paar Burschen, meistens
halbwüchsige, bei sich, die sich unterwegs in einemfort prügelten, weil
sie ein bißchen erwachsener aussehen wollten. Wenn ein solcher
Mädchenschwarm in den Hof kam, und einer oder der andere von den
Burschen ihn gewahrte, dann stoben die Mädchen auseinander, liefen auf
den Hausflur oder in den Garten und mußten eine nach der andern wieder
hervor und in die Stube hineingezogen werden. Ein paar waren so blöde,
daß Margit erst kommen und sie hineinkomplimentieren mußte. Zuweilen war
auch eine dabei, die eigentlich gar nicht eingeladen war und deshalb
auch beileibe nicht hineinwollte, bloß ein bißchen zusehen, bis es sich
dann doch so fügte, daß sie wenigstens _einen_ Tanz mittanzen mußte. Wen
Margit gut leiden konnte, den nötigte sie zu den Großeltern hinein in
eine kleine Stube, wo der Alte saß und rauchte und die Großmutter
geschäftig hin und her ging. Da wurden sie bewirtet und freundlich
begrüßt. Öyvind war nicht darunter, und das kam ihm ein bißchen
sonderbar vor.

Der Hauptmusikant des Gaus konnte erst später kommen; bis dahin mußten
sie sich mit dem alten begnügen, einem Häusler; Grauknut hieß er. Er
konnte vier Tänze, zwei Hoppser, einen Halling und den alten sogenannten
Napoleonwalzer; allein im Laufe der Zeit hatte er den Halling in einen
Schottischen umgewandelt, indem er den Takt veränderte, und ein Hoppser
war auf dieselbe Weise zu einer Polka-Mazurka geworden. Er spielte also
los, und der Tanz begann. Öyvind wagte nicht gleich mit anzufangen, weil
hier so viele Große waren; aber die Halbwüchsigen taten sich flink
zusammen, pufften sich gegenseitig vorwärts, tranken sich in starkem
Bier ein bißchen Mut an, und da tat denn auch Öyvind mit. Heiß war es in
der Stube; die Fröhlichkeit und das Bier stiegen ihnen zu Kopf. Margit
tanzte am meisten den Abend, wohl weil ihre Großeltern das Fest gaben,
und deshalb sah sich auch Öyvind oft nach ihr um; aber immer tanzte sie
mit andern. Er wollte auch gern mal mit ihr tanzen; deshalb saß er einen
Tanz über, um, sowie er zu Ende war, gleich auf sie zustürmen zu können,
und das tat er auch, aber ein großer, sonngebräunter Mensch mit vollem
Haar schob ihn beiseite. "Weg da, Bengel!" rief er und gab Öyvind einen
Puff, daß er fast der Länge nach über Margit gefallen wäre. So etwas war
ihm noch nie passiert, nie waren die Leute anders als nett zu ihm
gewesen, und nie hatte ihn einer "Bengel" genannt, wenn er mittun
wollte; er wurde feuerrot, sagte aber kein Wort und zog sich zurück,
dahin, wo der neue Musikant, der eben gekommen war, saß und sein
Instrument stimmte. Alle waren still geworden und warteten auf den
ersten, kräftigen Ton von "dem Richtigen". Er probierte und stimmte, es
dauerte lange, aber endlich legte er mit einem Hoppser los; die Burschen
kreischten auf und schwenkten ihre Mädel im Kreise. Öyvind blickte
Margit nach, wie sie mit dem haarbuschigen Menschen tanzte; sie lachte
über seine Schulter hinweg, daß man ihre weißen Zähne sah, und Öyvind
fühlte zum erstenmal in seinem Leben einen wunderlich stechenden Schmerz
in der Brust.

Er sah immer eifriger zu ihr hin, und je mehr er sie betrachtete, desto
mehr kam es ihm vor, als sei Margit schon ganz erwachsen; das kann ja
nicht sein, dachte er, denn sie fährt doch immer noch mit Schlitten.
Aber erwachsen war sie doch, und der haarbuschige Mann zog sie, als der
Tanz zu Ende war, auf seinen Schoß; sie machte sich los, blieb aber doch
neben ihm sitzen.

Öyvind sah sich den Mann an; er hatte einen feinen blauen Tuchanzug an,
ein blaukariertes Hemd und ein seidenes Halstuch; dazu ein schmales
Gesicht, blaue, energische Augen, und einen lachenden, trotzigen Mund.
Es war ein hübscher Mensch. Öyvind sah ihn sich ganz genau an, und dann
beschaute er sich selbst; er hatte ein Paar neue Hosen zu Weihnachten
bekommen und hatte sich sehr darüber gefreut; jetzt sah er aber, daß sie
bloß aus grauem Fries waren; die Jacke war aus demselben Stoff, aber sie
war alt und schäbig, und die Weste, aus gewürfeltem, durchgewebtem
Stoff, war auch alt und hatte zwei blanke Knöpfe und einen schwarzen. Er
sah umher und fand, wenige nur seien so dürftig gekleidet wie er. Margit
hatte ein schwarzes Kleid aus feinem Stoff an, im Brusttuch steckte eine
Brosche und in der Hand hatte sie ein seidenes Taschentuch. Auf dem Kopf
trug sie ein kleines schwarzseidenes Häubchen, das mit breitem
gestreiftem Atlasband unterm Kinn zusammengebunden war. Sie hatte rote
Backen und lachte; der Mann plauderte mit ihr und lachte auch. Wieder
wurde aufgespielt, und der Tanz fing von neuem an. Ein Schulkamerad kam
und setzte sich neben ihn. "Warum tanzst Du nicht, Öyvind?" fragte er
freundlich.--"Ach nein," sagte Öyvind, "ich sehe nicht danach
aus."--"Siehst nicht danach aus?" fragte der andere; aber ehe er
weitersprechen konnte, sagte Öyvind: "Wer ist das mit dem blauen
Tuchanzug, der mit Margit tanzt?"--"Das ist doch Jon Hatlen; er ist auf
der Ackerbauschule gewesen und will jetzt den Hof übernehmen."--Im
selben Augenblick setzten Margit und Jon sich hin. "Was ist das für ein
Junge mit dem hellen Haar, der da neben dem Musikanten sitzt und mich
fortwährend anglotzt?" fragte Jon. Da lachte Margit und sagte: "Das ist
der Häuslerjunge von Pladsen."

Öyvind hatte freilich immer gewußt, daß er ein Häuslerjunge war, aber
bis jetzt hatte er das nie weiter empfunden. Er kam sich mit einem Mal
so klein vor, kleiner als alle andern; um sich einen Halt zu geben,
versuchte er, an all das zu denken, was ihn bis zu dieser Stunde froh
und stolz gemacht hatte--vom Schlittenfahren angefangen bis zu den
einzelnen Äußerungen. Als er auch an Vater und Mutter dachte, die zu
Haus saßen und sich vorstellten, wie gut er es jetzt haben mochte,
konnte er die Tränen kaum zurückhalten. Um ihn lachten und scherzten die
andern, die Fiedel schrillte ihm gerade in die Ohren, und einen
Augenblick war's, als wolle etwas Finsteres in ihm aufsteigen, dann aber
fiel ihm die Schule ein und die Kameraden und der Schulmeister, wie er
ihn streichelte, und der Herr Pfarrer, der ihm bei der letzten Prüfung
ein Buch geschenkt und gesagt hatte, er sei ein fleißiger Junge; sein
Vater hatte dabei gesessen und es mitangehört und ihm zugenickt. "Sei
brav, Öyvind", meinte er den Schulmeister sagen zu hören, indem er ihn
auf den Schoß nahm wie damals, als er klein war. "Du lieber Gott, das
alles hat ja so wenig zu sagen, und im Grunde sind alle Menschen gut; es
sieht bloß manchmal so aus, als seien sie es nicht. Aus uns beiden soll
schon was Tüchtiges werden, Öyvind, ebensoviel wie aus Jon Hatlen;
werden schon auch feine Kleider kriegen und mit Margit in der hellen
Stube tanzen, wo Hunderte von Menschen dabei sind, und wir lachen und
plaudern zusammen; Brautpaar und Pfarrer, und ich auf dem Chor lächle
Dir zu, und die Mutter daheim, und ein großer Hof mit zwanzig Kühen und
drei Pferden, und Margit ist so lieb und gut wie einst in der
Schule----"

Der Tanz war zu Ende; Öyvind sah Margit vor sich auf der Bank sitzen
und Jon daneben, den Kopf dicht an ihrem; wieder fuhr ihm ein scharfer,
stechender Schmerz durch die Brust, und es war, als sage er zu sich
selbst: Ach, stimmt ja, ich hab's ja so schlecht.

Im selben Augenblick stand Margit auf und kam gerade auf ihn zu. Sie
beugte sich zu ihm hinunter. "Du darfst nicht so dasitzen und mich
immerfort anstarren", sagte sie; "Du kannst Dir doch denken, daß es
auffällt; hol' Dir doch eine und tanz' mit ihr."

Er antwortete nicht, er sah nur auf zu ihr, und--er konnte nicht dafür:
seine Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte sich schon aufgerichtet
und wollte gehen, da sah sie es und stand still; sie wurde plötzlich
feuerrot, drehte sich um und ging auf ihren Platz zurück; da aber machte
sie wieder Kehrt und setzte sich anderswohin. Jon ging schnell ihr nach.

Öyvind stand von der Bank auf, drängte sich zwischen die Menschen
hindurch, ging auf den Hof hinaus, setzte sich in eine der Außengalerien
und wußte doch nicht, was er da eigentlich wollte; er stand also auf,
setzte sich aber wieder hin, denn er saß hier ja ebensogut wie irgendwo
anders. Nach Haus gehen mochte er nicht, wieder hinein erst recht nicht;
das kam alles auf eins heraus. Er war nicht imstande, sich klar
vorzustellen, was eigentlich geschehen war; er wollte gar nicht daran
denken; an die Zukunft wollte er auch lieber nicht denken, denn es gab
ja nichts, wonach er sich hätte sehnen können.

"Aber woran denke ich denn bloß?" fragte er sich halblaut, und als er
seine eigene Stimme hörte, dachte er: sprechen kannst Du also noch.
Kannst Du auch noch lachen? Und er probierte es: ja, er konnte noch
lachen, und so lachte er denn ganz laut, immer lauter, und plötzlich kam
es ihm sehr drollig vor, daß er da saß und so ganz für seinen eigenen
Schatten lachte,--und da mußte er noch mehr lachen. Hans aber, sein
Schulkamerad, der neben ihm gesessen hatte, kam ihm nach. "Um
Gotteswillen, worüber lachst Du?" fragte er und blieb am Eingang
stehen. Da hielt Öyvind inne.

Hans stand und wartete ab, was sich nun begeben würde. Öyvind erhob
sich, sah sich vorsichtig um und sagte dann leise: "Jetzt will ich Dir
sagen, Hans, warum ich immer so vergnügt gewesen bin; darum, weil ich
niemand so richtig lieb gehabt habe; von dem Augenblick an, da man einen
Menschen lieb hat, kann man nicht mehr fröhlich sein", und er brach in
Tränen aus.

"Öyvind!" flüsterte es draußen auf dem Hof; "Öyvind!" Er hielt inne und
lauschte. Das mußte die sein, an die er dachte. "Ja", antwortete er
ebenfalls flüsternd, trocknete schnell seine Tränen ab und trat heraus.
Da huschte eine Mädchengestalt über den Hof. "Bist Du da?" fragte sie.
"Ja", antwortete er und stand still.--"Wer ist noch da?"--"Nur
Hans."--Hans wollte gehen. "Nein, nein!" bat Öyvind. Sie kam jetzt
langsam dicht an die beiden heran; es war wirklich Margit. "Du warst ja
plötzlich weg!" sagte sie zu Öyvind. Er wußte nicht, was er darauf
antworten solle. Da wurde sie auch verlegen, und alle drei schwiegen.
Hans aber stahl sich allmählich bei Seite. Die beiden standen einander
gegenüber, sahen sich nicht an und rührten sich auch nicht. Schließlich
sagte sie flüsternd: "Ich hab' schon den ganzen Abend ein bißchen
Weihnachtliches für Dich in der Tasche, Öyvind, aber ich konnte es Dir
nicht eher geben." Sie holte ein paar Äpfel heraus, ein Stück Kuchen und
ein Fläschchen, steckte es ihm zu und sagte, das könne er behalten.

Öyvind nahm es, sagte "danke" und gab ihr die Hand; ihre war warm, und
er ließ sie schnell los, als habe er sich verbrannt. "Du hast heut abend
viel getanzt."--"Das habe ich," sagte sie, "aber Du gerade nicht", fügte
sie hinzu.--"Nein, ich nicht", antwortete er.--"Warum denn
nicht?"--"Ach--"

"Öyvind!"--"Ja?"--"Warum hast Du mich immerzu so angesehen?"--"Ach--"

"Margit!"--"Ja?"--"Warum wolltest Du nicht angesehen sein?"--"Es waren
doch soviele Menschen da."

"Du hast heut abend viel mit Jon Hatlen getanzt."--"Ach ja."--"Er kann
gut tanzen."--"Findest Du?"--"Findest Du nicht?"--"Ach ja."

"Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich kann es heut abend nicht sehen,
daß Du mit ihm tanzst." Er wandte sich ab; es hatte ihn Überwindung
gekostet, das zu sagen. "Ich versteh' Dich nicht, Öyvind."--"Ich
versteh' es ja auch nicht; es ist so dumm von mir.--Adieu, Margit, jetzt
will ich gehen." Er tat einen Schritt, ohne sich umzusehen. Da rief sie
ihm nach: "Das ist ganz falsch, was Du gesehen hast, Öyvind." Er blieb
stehen. "Daß Du ein erwachsenes Mädchen bist, ist nicht falsch."--Er
sagte nicht das, was sie erwartet hatte, deshalb schwieg sie; aber mit
einem Mal sah sie nicht weit von sich eine Pfeife aufglimmen; das war
ihr Großvater, der gerade um die Ecke bog und vorüberkam. Er blieb
stehen. "Hier bist Du, Margit?"--"Ja."--"Mit wem sprichst Du denn
da?"--"Mit Öyvind."--"Mit wem, sagst Du?"--"Mit Öyvind Pladsen!"--"So,
mit dem Häuslerjungen von Pladsen;--gleich kommst Du mit hinein."



Fünftes Kapitel


Als Öyvind am andern Morgen die Augen aufmachte, hatte er fest und
erquickend geschlafen und wunderschön geträumt Margit hatte oben auf dem
Berg gelegen und ihn mit Blättern beworfen; er hatte sie aufgefangen und
wieder hinauf geworfen. Tausendfarbig und -gestaltig war es hinauf und
hinabgeflattert. Die Sonne schien hell, und der ganze Berg leuchtete vom
Gipfel bis zum Fuß. Als er aufwachte, sah er um sich und suchte das, was
er geträumt; da fiel ihm der gestrige Abend ein, und gleich war der
stechende, wehe Schmerz in der Brust wieder da. "Den werde ich wohl nie
mehr los", dachte er und fühlte sich so schlaff, als sei ihm seine ganze
Zukunft entwichen.

"Du hast aber lange geschlafen", sagte seine Mutter, die am Bett saß
und spann. "Jetzt flink auf und iß! Dein Vater ist schon im Wald und
haut Holz."--Es war, als tue diese Stimme ihm gut. Er stand mit ein
bißchen mehr Mut auf. Die Mutter dachte wohl an ihre eigenen Tanzjahre,
denn sie trällerte ein Lied vor sich hin, wie sie am Rocken saß, während
er sich anzog und aß. Deshalb mußte er vom Tisch aufstehen und ans
Fenster treten; wieder befiel ihn diese Bangigkeit und Unlust; er mußte
sich zusammennehmen und an die Arbeit denken. Das Wetter war
umgeschlagen, die Luft war etwas kälter geworden, so daß statt des
Regens, der gestern gedroht hatte, heute ein feuchter Schnee fiel. Er
zog sich Gamaschen an, holte seine Pelzmütze, die Seemannsjacke und die
Fausthandschuhe hervor, sagte adieu und ging mit der Axt über die
Schulter fort.

Der Schnee fiel langsam in großen, nassen Flocken. Öyvind klomm mühsam
die Schlittenbahn hinauf, um zur Linken in den Wald einzubiegen;
nie--weder im Winter, noch im Sommer--war er sonst hier entlang
gegangen, ohne an irgend etwas zu denken, was ihn fröhlich gemacht
hatte, oder was er sich wünschte. Jetzt war es ein toter, beschwerlicher
Weg für ihn; er glitt in dem feuchten Schnee aus, und die Knie waren ihm
steif, vielleicht vom Tanzen gestern, vielleicht auch von der Unlust.
Jetzt fühlte er: es war vorbei mit dem Schlittenfahren für dieses Jahr
und damit für immer. Etwas anderes war's, wonach er sich sehnte, wie er
durch den lautlos fallenden Schnee zwischen den Stämmen dahinschritt.
Ein aufgescheuchtes Schneehuhn kreischte und flatterte ein Stückchen
weiter; sonst stand alles da, als sei es eines Worts gewärtig, das nie
gesprochen wurde. Was es war, wonach er sich sehnte, das wußte er selbst
nicht recht; nur nach der Heimat nicht und auch nicht nach der Fremde,
nach Fröhlichkeit nicht und auch nicht nach Arbeit; es stieg hoch in die
Lüfte empor wie ein Lied, allmählich aber verdichtete es sich zu einem
ganz bestimmten Wunsch,--dem Wunsch, zu Ostern konfirmiert zu werden
und dabei Nummer Eins zu sein. Er bekam Herzklopfen, wie er daran
dachte, und ehe er noch die Axtschläge seines Vaters in den schwachen
Bäumchen hören konnte, hatte dieser Wunsch stärkere Gewalt über ihn als
irgend etwas bisher in seinem Leben.

Wie gewöhnlich redete sein Vater nicht viel; sie hieben beide drauf los
und schichteten die Stämmchen auf. Ab und zu kamen sie dabei zusammen,
und bei einer solchen Begegnung sagte Öyvind schwermütig: "Ein Häusler
muß sich doch recht plagen!"--"Wie jeder andere auch!" sagte sein Vater,
spuckte in seine Hand und faßte die Axt. Als der Baum gefällt war und
sein Vater ihn auf den Haufen schleppte, sagte Öyvind: "Wenn Du Bauer
wärst, brauchtest Du nicht so zu schleppen!"--"Na, dann würde mich eben
was anderes drücken!" und dabei packte er mit beiden Händen zu. Die
Mutter brachte ihnen das Mittagessen herauf, und sie setzten sich hin.
Sie war sehr lustig, trällerte ein Lied und schlug die Füße im Takt
aneinander. "Was willst Du denn eigentlich werden, wenn Du groß bist,
Öyvind?" fragte sie plötzlich.--"Für einen Häuslerjungen gibt es nicht
viele Möglichkeiten", sagte er.--"Der Schulmeister meint, Du müßtest
aufs Seminar", sagte sie. "Kann man da umsonst hin?" fragte Öyvind. "Das
bezahlt die Schulkasse", antwortete sein Vater und aß weiter.--"Hast Du
denn Lust?" fragte seine Mutter.--"Ich habe Lust, was zu lernen, aber
nicht Schulmeister zu werden."--Die drei schwiegen eine Zeitlang; die
Frau summte vor sich hin und sah geradeaus. Öyvind aber stand auf und
setzte sich etwas abseits.

"Wir haben's doch eigentlich nicht nötig, uns an die Schule zu wenden",
sagte seine Mutter, als er fort war. Der Mann sah sie an: "Arme Leute
wie wir?"--"Ich mag nicht, Tore, daß Du Dich immer für arm ausgibst, wo
Du es nicht bist."--Sie sahen beide verstohlen nach dem Jungen hin, ob
er es auch nicht hören konnte. Dann sagte der Vater barsch zu seiner
Frau: "Du red'st, wie Du's verstehst." Sie lachte; "auf die Weise soll
man auch gerade nicht Gott dafür danken, daß es einem gut gegangen ist",
sagte sie und machte ein ernstes Gesicht. "Man kann ihm auch wohl ohne
silberne Knöpfe danken", sagte der Vater.--"Ja, aber Öyvind zum Tanz
gehen lassen wie gestern, das ist auch kein Dank."--"Öyvind ist ein
Häuslerjunge."--"Deshalb kann er doch ordentlich gekleidet gehen, wenn
wir es dazu haben."--"Nu schrei noch so, daß er's hört!"--"Er hört's
schon nicht, übrigens schadete das ja auch nicht", sagte sie und sah
tapfer ihren Mann an, der mit finsterem Gesicht den Löffel beiseite
legte und seine Pfeife herausholte. "Wo wir solche elende Wirtschaft
haben", sagte er. "Ich finde es lächerlich, daß Du immer von der
Wirtschaft redest; warum sprichst Du nie von der Mühle?"--"Ach, Du und
Deine Mühle! Du kannst wohl nicht vertragen, wenn sie geht?"--"Oh ja,
Gott sei Dank! Wenn sie nur Tag und Nacht gehen wollte."--"Jetzt steht
sie schon seit vor Weihnachten."--"In den Weihnachtstagen mahlen die
Leute doch nicht."--"Sie mahlen, wenn Wasser da ist; aber seit in
Nyström die neue Mühle steht, geht's mit unsrer recht jämmerlich."

"Der Schulmeister hat heute was andres gesagt."--"Ich muß wohl unser
Geld lieber von einem weniger schwatzhaften Kerl verwalten lassen, als
der Schulmeister ist."--"Ja, vor allem darf er mit Deiner eigenen Frau
nicht drüber reden."--Tore antwortete hierauf nicht; er hatte gerade
seine Pfeife in Brand gesetzt und lehnte sich gegen einen Reisighaufen;
seine Augen wichen dem Blick seiner Frau und dann seinem Sohn aus und
blieben schließlich an einem alten Krähennest haften, das halb zerfetzt
von einem Fichtenzweige herunterhing.

Öyvind saß allein und sah seine Zukunft vor sich wie eine weite, blanke
Eisfläche, und er sauste zum erstenmal von einem Ufer zum andern über
sie hin. Daß die Armut bei jedem Schritt hemmte, fühlte er, aber gerade
deshalb war das Ziel aller seiner Gedanken, sie zu überwinden. Von
Margit hatte sie ihn wohl für immer getrennt; sie sah er schon halbwegs
als Jon Hatlens Braut, aber wenigstens wollte er sein Leben lang mit den
beiden gleichen Schritt halten. Beiseite stoßen wie gestern würde er
sich nicht mehr lassen, sondern sich fernhalten, bis er etwas geworden
war, und daß er mit Gottes gütiger Hilfe etwas werden würde, das war
sein Wunsch, und er zweifelte keinen Augenblick, daß ihm das gelingen
würde. Er hatte das unbestimmte Gefühl, durch Lernen werde es ihm am
besten glücken; zu welchem Ziel das führen könne, das mußte er sich
überlegen.

Abends war Schlittenbahn, die Kinder kamen alle auf den Hügel, nur
Öyvind nicht. Am Herde saß er und lernte und hatte keine Zeit zum
Spielen. Die Kinder warteten lange auf ihn, schließlich wurde einigen
die Zeit zu lang, sie kamen herauf, drückten das Gesicht an die Scheiben
und riefen ihn. Aber er tat, als höre er nicht. Es kamen mehr Kinder,
und Abend für Abend; sie liefen in heller Verwunderung draußen auf und
ab, er aber drehte ihnen den Rücken zu und las und mühte sich redlich,
den Sinn zu erfassen. Später hörte er, Margit komme auch nicht mehr. Er
lernte mit einem Eifer, den selbst sein Vater übertrieben fand. Er wurde
sehr still; sein Gesicht, das so rund und weich gewesen war, wurde
magerer und schärfer, und die Augen wurden härter; selten nur noch sang
er, nie spielte er, es schien, als reiche die Zeit nicht mehr dazu. Wenn
die Versuchung an ihn herantrat, war's ihm, als flüstere einer: "Später,
später!" und immer wieder: "Später."--Die Kinder sprangen, jauchzten und
lachten eine Zeitlang wie sonst, aber weil sie ihn weder durch ihre
helle Lust, noch durch die Rufe am Fenster zu sich herauslocken konnten,
blieben sie schließlich fort; sie fanden andere Plätze zum Spielen, und
der Hügel blieb leer.

Der Schulmeister merkte bald, daß das nicht der alte Öyvind war, der
lernte, weil es doch mal so sein mußte, und spielte, weil das nötig war.
Er sprach oft mit ihm und forschte und drang in ihn, aber es wollte ihm
nicht gelingen, das Vertrauen des Knaben so schnell zu gewinnen wie in
alten Tagen. Er sprach auch mit den Eltern über ihn, und in
Übereinstimmung mit ihnen kam er Ende des Winters an einem Sonntag abend
zu ihnen und sagte, als er eine Zeitlang gesessen hatte: "Komm mit,
Öyvind, wir wollen ein Stück gehen, ich habe mit Dir zu reden."--Öyvind
machte sich fertig und kam mit. Sie wanderten in der Richtung der
Heidehöfe und sprachen lebhaft miteinander, wenn auch über nichts
Wichtiges. Als sie sich den Gehöften näherten, bog der Schulmeister nach
dem mittleren ab, und als sie weitergingen, hörten sie drinnen fröhliche
Stimmen. "Was ist hier los?" fragte Öyvind. "Hier wird getanzt", sagte
der Schulmeister; "wollen wir nicht hineingehen?"--"Nein."--"Magst Du
denn nicht tanzen, Junge?"--"Nein, noch nicht."--"Noch nicht? Wann
denn?"--Er antwortete nicht.--"Was meinst Du mit dem noch nicht?"--Als
der Bursch nicht antwortete, sagte der Schulmeister: "Komm, mach' keine
Redensarten."--"Nein, ich gehe nicht mit!"--Er sprach sehr bestimmt und
schien aufgeregt zu sein. "Soll denn Dein eigener Lehrer hier stehen und
Dich bitten, zum Tanz zu gehen!"--Ein langes Schweigen entstand. "Ist da
drin jemand, vor dem Du Angst hast?"--"Ich kann doch nicht wissen, wer
hier ist."--"Aber könnte denn einer da sein?"--Öyvind schwieg. Da trat
der Schulmeister auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Fürchtest Du, Margit zu treffen?" Öyvind sah zu Boden, sein Atem ging
schwer und stoßweise. "Sag's mir, Öyvind."--Öyvind schwieg. "Du schämst
Dich vielleicht, es einzugestehen, weil Du noch nicht mal konfirmiert
bist; aber mir kannst Du es sagen, Öyvind, es soll Dich nicht
gereuen,"--Öyvind blickte auf, aber er konnte kein Wort herausbringen
und wandte die Augen zur Seite. "Du bist in letzter Zeit auch gar nicht
mehr fröhlich; hat sie andere lieber als Dich?" Öyvind schwieg
beharrlich, der Schulmeister fühlte sich etwas verletzt und ließ ihn
stehen; sie gingen zurück.

Als sie eine lange Strecke gegangen waren, wartete der Schulmeister,
bis Öyvind ihn eingeholt hatte. "Du sehnst Dich wohl danach, konfirmiert
zu werden?" fragte er.--"Ja."--"Was willst Du denn nachher
anfangen?"--"Ich möchte gern aufs Seminar."--"Und Schulmeister
werden?"--"Nein."--"Das ist Dir wohl nicht fein genug?"--Öyvind schwieg.
Wieder gingen sie eine lange Strecke. "Wenn Du mit dem Seminar fertig
bist, was willst Du dann?"--"Das habe ich mir noch nicht ordentlich
überlegt."--"Wenn Du Geld hättest, würdest Du Dir wohl einen Hof kaufen,
nicht?"--"Ja, aber die Mühle behalten."--"Dann ist's am besten, Du gehst
auf die Ackerbauschule."--"Lernt man da ebensoviel wie auf dem
Seminar?"--"Ach nein, aber man lernt das, was man später
braucht."--"Bekommt man da auch Nummern?"--"Warum fragst Du
danach?"--"Ich möchte gern sehr tüchtig werden."--"Das kannst Du auch
ohne Nummern."--Sie gingen schweigend weiter, bis Pladsen in Sicht kam;
ein heller Lichtschein drang aus dem Hause, der Berg neigte sich an
diesem Winterabend schwarz darüber, drunten lag der Fjord mit der
blanken, schimmernden Eisdecke. Der Wald rahmte die stille Bucht ein, es
lag kein Schnee, der Mond stand am Himmel und spiegelte den Wald im
Eise. "Es ist schön hier in Pladsen", sagte der Schulmeister. Öyvind
konnte zu Zeiten die Gegend noch mit denselben Augen anschauen wie
damals, als seine Mutter ihm Märchen erzählte, und mit dem Gesicht,
womit er so oft auf den Hügel gelaufen war; jetzt hatte er dies Gesicht:
alles lag so klar und erhaben vor ihm. "Ja, hier ist es schön", sagte
er, aber er seufzte dabei.--"Dein Vater hat sein gutes Brot hier gehabt;
Du könntest hier auch wohl zufrieden sein."--Mit einem Schlage hatte die
Gegend ihr frohes Gesicht verloren. Der Schulmeister blieb stehen, als
erwarte er eine Antwort; als keine kam, schüttelte er den Kopf und ging
mit hinein. Eine Weile noch blieb er bei ihnen, aber er schwieg mehr,
als er sprach, so daß auch die andern verstummten. Als er sich
verabschiedete, begleiteten ihn Mann und Frau vor die Tür; sie schienen
beide darauf zu warten, daß er etwas sage. Inzwischen standen sie und
sahen in den Abend hinaus. "Hier ist es so merkwürdig still geworden,"
sagte die Mutter, "seit die Kinder hier nicht mehr spielen."--"Ihr habt
eben jetzt keine Kinder mehr im Hause", sagte der Schulmeister; die
Mutter verstand, was er damit sagen wollte. "Öyvind ist in der letzten
Zeit gar nicht mehr recht fröhlich."--"Nein, nein, wer ehrgeizig ist,
der ist nie fröhlich"; und er blickte mit der Ruhe des Greises zu Gottes
stillem Himmel auf.



Sechstes Kapitel


Ein halbes Jahr später, im Herbst (die Konfirmation war bis dahin
verschoben worden), saßen die Konfirmanden der Gemeinde bei dem Pfarrer
in der Leutestube und sollten ihre Nummern bekommen; Öyvind Pladsen und
Margit vom Heidehof waren auch dabei. Margit war gerade vom Herrn
Pfarrer heruntergekommen, der ihr ein schönes Buch geschenkt und sie
sehr gelobt hatte. Sie lachte und schwatzte mit ihren Freundinnen und
spähte zu den Burschen hinüber. Margit war jetzt erwachsen, hatte ein
gefälliges, sicheres Benehmen, und Burschen und Mädchen wußten, daß der
stattlichste Junggesell im ganzen Gau, Jon Hatlen, um sie freie. Ja, die
konnte sich freuen! Dicht an der Tür standen ein paar Knaben und
Mädchen, die bei der Prüfung durchgefallen waren; sie weinten, während
Margit und ihre Freundinnen lachten; bei ihnen stand auch ein kleiner
Bursch, der hatte seines Vaters Stiefeln an und das Sonntagstaschentuch
von seiner Mutter in der Hand. "O Gott, o Gott," schluchzte er, "ich
darf ja nicht nach Hause kommen." Da ergriff alle, die noch nicht oben
gewesen waren, die Macht des Zusammengehörigkeitsgefühls; eine
allgemeine Stille entstand. Die Angst saß ihnen im Hals und in den
Augen, sie konnten nicht ordentlich sehen und nicht schlucken, wozu sie
fortwährend das Bedürfnis hatten. Einer saß da und überlegte sich, was
er alles konnte, und obwohl er vor ein paar Stunden noch gedacht hatte,
er wisse alles, wurde ihm nun ohne Zweifel klar, daß er gar nichts
konnte, nicht einmal lesen. Ein anderer stellte sein Sündenregister
zusammen von dem Tag, seit er denken konnte bis zu dem Augenblick, wo er
hier saß, und er fand es gar nicht merkwürdig, wenn der liebe Gott ihn
noch nicht haben wollte. Ein dritter saß und legte sich alle möglichen
äußerlichen Zeichen zurecht; wenn die Uhr, die gleich schlagen mußte,
erst anfing, wenn er bis zwanzig gezählt habe, dann würde er
durchkommen. Wenn der, der draußen über die Diele ging, Lars, der
Hofknecht sei, dann komme er durch; wenn der große Regentropfen, der
sich an der Fensterscheibe hinunterarbeitete, bis zur Holzleiste
gelange, dann würde er durchkommen. Die letzte und entscheidende Probe
sollte sein, ob er den rechten Fuß um den linken schlagen könne, und das
wollte ihm durchaus nicht gelingen. Ein Vierter war fest überzeugt: wenn
er in der Biblischen Geschichte nach Joseph gefragt würde, im
Katechismus nach der Heiligen Taufe, oder nach Saul oder nach der
Haustafel, oder nach Jesus, oder nach den zehn Geboten, oder--er war
noch mitten im Aufzählen, als er aufgerufen wurde. Ein Fünfter hatte
eine seltsame Vorliebe für die Bergpredigt gefaßt; ihm hatte von der
Bergpredigt geträumt, und er glaubte steif und fest, er würde nach der
Bergpredigt gefragt werden, und er sagte fortwährend die Bergpredigt
auf; er ging sogar vor die Haustür, um sie schnell noch einmal
durchzulesen,--da wurde er hineingerufen und wurde in den großen und
kleinen Propheten geprüft. Ein Sechster dachte, der Herr Pfarrer sei ein
so seelensguter Mann und kenne seinen Vater so gut, und er dachte auch
an den Schulmeister mit dem freundlichen Gesicht, und an Gott, der so
gut war und schon so vielen geholfen hatte, Jacob und Joseph zum
Beispiel, und dann fiel ihm ein, daß Mutter und Geschwister zu Haus
saßen und für ihn beteten, und das würde wohl helfen. Der Siebente saß
da und schloß mit allem ab, was er hier in dieser Welt hatte werden
wollen. Zuerst hatte er geglaubt, er werde es bis zum König bringen,
dann bis zum General oder zum Pfarrer; das war lange vorbei; aber noch
als er hergekommen war, hatte er bei sich gedacht, er wollte zur See
gehen und Kapitän werden oder auch Seeräuber und ungeheure Reichtümer
erwerben; jetzt verzichtete er auf Reichtum, auf Seeraub, auf Kapitän,
auf Steuermann,--er wollte sich mit dem Matrosen begnügen, und
vielleicht wurde er dann gar Bootsmann, aber es war auch möglich, daß er
überhaupt nicht zur See ging, sondern bei seinem Vater auf dem Hof
blieb. Der Achte war seiner Sache etwas sicherer, wenn auch nicht ganz;
auch der fleißigste war nicht ganz sicher. Er dachte an seinen
Konfirmationsanzug, und wozu der wohl gebraucht würde, wenn er nicht
durchkomme. Kam er aber durch, dann ginge er in die Stadt und trüge nur
noch Tuchanzüge, und wenn er wiederkomme, dann würde er in der
Weihnachtszeit tanzen, daß die Burschen sich ärgerten und die Mädels
staunten. Der Neunte rechnete anders: er hatte für unsern Herrgott ein
kleines Kontobuch angelegt; auf der einen Seite stand als Debet "Wenn er
mich durchkommen läßt," und auf der andern als Kredit "so will ich auch
nie wieder lügen, nie wieder petzen, jeden Sonntag in die Kirche gehen,
die Mädchen in Ruh lassen und mir das Fluchen abgewöhnen." Der Zehnte
aber dachte, wenn Ole Hansen voriges Jahr durchgekommen sei, so wäre es
mehr als ungerecht, wenn er dies Jahr nicht durchkomme, denn er war in
der Schule viel besser gewesen und war auch besserer Leute Kind. Neben
ihm saß der Elfte, der sich mit den fürchterlichsten Racheplänen trug,
falls er nicht durchkommen sollte: er wollte die Schule in Brand stecken
oder ausreißen und wiederkommen zu furchtbarem Gericht über Pfarrer und
Schulkommission; aber großmütig würde er schließlich Gnade für Recht
ergehen lassen. Zunächst wollte er im benachbarten Kirchspiel zu dem
Pfarrer in Dienst ziehen, und im nächsten Jahr da zu oberst stehen und
Antworten geben, daß die ganze Kirche staunen sollte. Der Zwölfte aber
saß ganz allein unter der Klingel, hatte die Hände in die Taschen
gesteckt und sah wehmütig über die andern hin. Keiner von denen da
wußte, was für eine Last auf ihm lag, was für eine Verantwortung er
hatte. Zu Hause war eine, die wußte es; das war seine Braut. Eine große,
langbeinige Spinne kroch über den Fußboden und kam an seinen Fuß heran;
sonst pflegte er das ekelhafte Gewürm tot zu treten, heute aber hob er
sorglich den Fuß hoch, damit sie ungestört ihres Wegs gehen konnte. Er
sprach so mild wie ein Kollektensammler; in seinen Augen stand der
unerschütterliche Glaube, daß alle Menschen gut sind; seine Hand führte
er mit einer demütigen Bewegung aus der Tasche zum Haar, um es glatter
zu streichen. Wenn er bloß glimpflich durch dies gefährliche Nadelöhr
hindurchkomme, dann wollte er schon wieder anders werden und Tabak
kauen, und seine Verlobung öffentlich machen. Auf einem niederen Schemel
aber saß mit eingezogenen Beinen unruhig der Dreizehnte. Seine kleinen
blanken Augen wanderten dreimal in der Sekunde durch die ganze Stube,
und unter dem dichten, struppigen Haar wälzten sich die Gedanken der
andern Zwölf in bunter Unordnung, von den stolzesten Hoffnungen zum
niederschmetterndsten Zweifel, von den demütigsten Vorsätzen zu den
vernichtendsten Racheplänen gegen das ganze Dorf, und währenddessen
hatte er von seinem rechten Daumen schon alles überflüssige Fleisch
abgeknabbert, machte sich jetzt an die Nägel und spuckte sie in großen
Stücken auf den Fußboden.

Öyvind saß am Fenster; er war schon oben gewesen und hatte alles gewußt,
was er gefragt worden war; und doch hatte der Herr Pfarrer kein Wort
gesagt, und der Schulmeister auch nicht; über ein halbes Jahr hatte er
sich ausgemalt, was die beiden sagen würden, wenn sie merkten, wie er
gearbeitet hatte, und er war jetzt sehr enttäuscht und gekränkt. Da saß
Margit und hatte für viel weniger Mühe und weniger Wissen Lob und eine
Belohnung bekommen; gerade, um vor ihr groß dazustehen, hatte er
gearbeitet, und jetzt hatte sie lachend erreicht, was er unter so viel
Entsagung sich hatte erarbeiten wollen. Ihr Lachen und Scherzen schnitt
ihm in die Seele; die Freiheit, mit der sie sich gab, tat ihm weh. Er
hatte seit jenem Abend peinlich vermieden, mit ihr zu sprechen; es
müssen erst Jahre darüber hingehen, dachte er; aber ihr Anblick, wie sie
so fröhlich und überlegen dasaß, drückte ihn zu Boden, und all seine
stolzen Vorsätze hingen wie welkes Laub im Winde.

Er versuchte jedoch nach und nach dieser Niedergeschlagenheit Herr zu
werden; es kam darauf an, ob er heute Nummer eins würde, und das wollte
er abwarten. Der Schulmeister pflegte immer noch eine Weile beim Herrn
Pfarrer zu bleiben, um die Rangordnung festzustellen, und dann
herunterzukommen und den Kindern das Ergebnis mitzuteilen. Es war ja
noch nicht die endgültige Entscheidung, aber doch der Beschluß, zu dem
der Herr Pfarrer und er einstweilen gelangt waren. Die Unterhaltung in
der Stube wurde lebhafter, je mehr geprüft und durchgekommen waren;
jetzt aber sonderten sich die Ehrgeizigen von den Fröhlichen; diese
gingen, sobald sie Gesellschaft fanden, fort, um den Eltern ihr Glück zu
verkünden, oder sie warteten auf andere, die noch nicht fertig waren.
Jene dagegen wurden immer stiller, und die Augen blickten gespannt nach
der Tür.

Endlich war die Prüfung zu Ende, der letzte war heruntergekommen, und
jetzt sprach der Schulmeister also mit dem Herrn Pfarrer, Öyvind sah
Margit an; sie war so vergnügt, und doch blieb sie hier--ob in ihrem
eigenen oder in anderer Interesse, wußte er nicht. Wie schön Margit
geworden war! Blendend weiß die Haut, wie er es noch nie gesehen hatte;
die Nase strebte ein bißchen nach oben, der Mund lächelte. Die Augen
waren halbgeschlossen, wenn sie nicht gerade jemanden ansah; hob sie
aber den Blick, so hatte er eine überraschende Macht,--und als wolle sie
selbst betonen, daß sie sich gar nichts dabei denke, lächelte sie
zugleich ein bißchen. Ihr Haar war eher dunkel als hell, aber es war
kraus und lag in tiefen Scheiteln um das Gesicht, so daß es ihr,
zusammen mit den halbgeschlossenen Augen, etwas Geheimnisvolles gab, das
man nie enträtseln konnte. Man wußte nie ganz genau, wen sie eigentlich
ansah, wenn sie allein oder im Kreise der andern saß, auch nicht, was
sie eigentlich dachte, wenn sie sich irgendeinem zuwandte und mit ihm
sprach, denn sie nahm gewissermaßen sofort alles wieder zurück, was sie
gab. "Und hinter all dem steckt wohl eigentlich Jon Hatlen", dachte
Öyvind,--trotzdem sah er fortwährend zu ihr hinüber. Da kam der
Schulmeister. Alle stürmten von ihren Plätzen und umringten ihn. "Welche
Nummer habe ich?"--"Und ich?"--"Und ich? Ich?"--"Schscht! Ihr Bande,
keinen Spektakel!--Ruhig, Ihr sollt's erfahren, Kinder!" Er sah sich
bedächtig um. "Du bist Nummer 2", sagte er zu einem Jungen mit blauen
Augen, der ihn bittend ansah, und der Junge tanzte aus dem Kreise
heraus. "Du bist Nummer 3",--er schlug einem rothaarigen flinken Knirps,
der ihn am Rockschoß zupfte, auf die Finger. "Du bist Nummer 5, Du
Nummer 8", und so weiter. Da fiel sein Blick auf Margit: "Du bist Nummer
1 von den Mädchen"; sie wurde glühend rot übers ganze Gesicht und
versuchte zu lächeln. "Du Nummer 12, bist 'n Faulpelz gewesen und ein
rechter Herumtreiber; Du Nummer 11, war nicht anders zu erwarten, mein
Junge; Du Nummer 13, mußt tüchtig lesen und recht oft zum Überhören
kommen, sonst geht's Dir schlecht!"--Öyvind konnte es nicht länger
aushalten; Nummer 1 war freilich noch nicht genannt, aber er hatte die
ganze Zeit über so gestanden, daß der Schulmeister ihn hatte sehen
können. "Herr Lehrer!"--er hörte nicht. "Herr Lehrer!" Dreimal mußte er
rufen, bis er hörte. Da endlich sah der Schulmeister ihn an; "Nummer 9
oder 10, ich weiß nicht genau", sagte er und wandte sich zu einem
andern. "Wer ist denn Nummer 1?" fragte Hans, Öyvinds bester Freund. "Du
nicht, Du Krauskopf!" sagte der Schulmeister und schlug ihm mit einer
Papierrolle auf die Hand. "Wer denn?" fragten ein paar andere. "Ja, wer?
wer ist das?"--"Das wird der erfahren, der die Nummer hat", antwortete
der Schulmeister streng, weil er keine weiteren Fragen haben
wollte.--"Geht jetzt hübsch nach Hause, Kinder, dankt dem lieben Gott
und macht Euren Eltern Freude. Bedankt Euch auch bei Eurem alten Lehrer;
Ihr wäret gewiß so dumm wie Bohnenstroh geblieben, wenn er nicht gewesen
wäre."--Sie bedankten sich bei ihm und lachten und zogen jubelnd von
dannen, denn in diesem Augenblick, wo es nach Haus zu den Eltern ging,
waren alle vergnügt. Bloß einer konnte seine Bücher nicht gleich finden,
und als er sie zusammengesucht hatte, da setzte er sich hin, als wolle
er wieder von vorn zu lernen anfangen.

Der Schulmeister trat zu ihm hin: "Nun, Öyvind, willst Du nicht mit den
andern gehen?"--Keine Antwort. "Weshalb schlägst Du Deine Bücher
auf?"--"Ich will nachsehen, was ich heute falsch geantwortet habe."--"Du
hast nicht die kleinste falsche Antwort gegeben."--Da blickte Öyvind
auf, die Tränen stiegen ihm in die Augen, er sah ihn unverwandt an, eine
Träne nach der andern rann hinunter, aber er sagte kein Wort. Der
Schulmeister setzte sich ihm gegenüber. "Freust Du Dich denn nicht, daß
Du durchgekommen bist?"--Es bebte um seinen Mund, aber er antwortete
nicht. "Deine Eltern werden sich sehr freuen", sagte der Schulmeister
und sah ihn an.--Öyvind kämpfte lange, um ein Wort herauszubringen,
schließlich fragte er leise und abgebrochen: "Wohl deshalb..., weil
ich ... ein Häuslerjunge bin ... bekomm' ich den neunten oder zehnten
Platz?"--"Natürlich deshalb", antwortete der Schulmeister.--"Dann hat es
ja gar keinen Zweck zu arbeiten", sagte er klanglos und brach über all
seinen Träumen zusammen. Plötzlich richtete er den Kopf in die Höhe,
hob die rechte Hand, schlug mit aller Macht auf den Tisch, warf sich
über den Tisch und brach in heftiges Weinen aus.

Der Schulmeister ließ ihn liegen und weinen, so recht sich ausweinen. Es
dauerte lange, aber der Schulmeister wartete, bis das Weinen kindlicher
wurde. Da faßte er seinen Kopf mit beiden Händen, richtete ihn in die
Höhe und sah in das verweinte Gesicht. "Glaubst Du, daß jetzt eben
Gott bei Dir gewesen ist?" fragte er freundlich und hielt ihn fest,
Öyvind schluchzte noch, aber leiser, und die Tränen flossen schon
sachter, aber er konnte den Frager noch nicht ansehen und auch nicht
antworten.--"Öyvind, dies ist Dein wohlverdienter Lohn gewesen. Du hast
nicht gelernt aus Liebe zum Christentum und zu Deinen Eltern, Du hast
aus Eitelkeit gelernt."--Es blieb still in der Stube, wenn der
Schulmeister eine Pause machte; Öyvind fühlte seinen Blick auf sich
ruhen, und unter diesem Blick taute in ihm etwas auf, und er wurde ganz
demütig.--"Mit solchem Hochmut in Deinem Herzen konntest Du doch den
Bund mit Deinem Gott nicht schließen, nicht wahr, Öyvind?"--"Nein",
stammelte der, so gut er konnte.--"Und wenn Du dagestanden hättest mit
der eitlen Freude, daß Du Nummer Eins bist, wäre das nicht eine Sünde
gewesen?"--"Ja", flüsterte er, und seine Mundwinkel zitterten.--"Hast Du
mich noch lieb, Öyvind?"--"Ja"; zum erstenmal blickte er auf.--"So will
ich Dir sagen: ich war es, der den niedrigeren Platz Dir ausgewirkt hat,
denn Du bist mir lieb, Öyvind."--Der andere sah ihn an, blinzelte ein
paarmal mit den Augen, und die Tränen rannen wieder heftiger.--"Du bist
mir deshalb doch nicht böse?"--"Nein"; er sah groß und klar zu ihm auf,
wenn seine Stimme auch gequält klang.--"Mein liebes Kind! ich will um
Dich sein, solang ich lebe."

Er wartete, bis Öyvind sich beruhigt hatte und seine Bücher
zusammenpackte, dann sagte er, er wolle mit ihm nach Hause gehen. Sie
gingen langsam ihres Weges. Anfangs war Öyvind noch sehr still und
kämpfte mit sich, nach und nach aber überwand er sich. Er war fest davon
überzeugt, so wie es gekommen war, war es das beste für ihn, und ehe er
noch zu Hause war, hatte dieser Gedanke sich so in ihm befestigt, daß er
seinem Gott dankte und das auch dem Schulmeister sagte. "Ja, jetzt
können wir dann ja überlegen, wie wir etwas erreichen im Leben," sagte
der Schulmeister, "und nicht blind drauflos rennen. Was meinst Du zum
Seminar?"--"Ja, dahin möchte ich sehr gern."--"Du meinst auf die
Ackerbauschule?"--"Ja."--"Das ist auch wohl das beste; da gibt es andre
Aussichten als eine Schulmeisterstelle."--"Aber wie komme ich dahin? Ich
habe große Lust, aber ich weiß mir keinen Rat."--"Sei nur fleißig und
brav, dann wird schon Rat werden."

Öyvind war ganz überwältigt von Dankbarkeit. Vor seinen Augen leuchtete
es, der Atem ging so leicht, und er fühlte das Feuer unendlicher Liebe
in sich, wie es uns geschieht, wenn wir von andern unerwartet Güte
erfahren. Es ist uns, als könnten wir immer fortan in frischer Bergluft
wandern; wir fliegen mehr, als wir gehen.

Als sie nach Hause kamen, waren beide Eltern in der Stube und hatten
dort in stiller Erwartung gesessen, wiewohl es Arbeitszeit und viel zu
tun war. Der Schulmeister trat zuerst ein, Öyvind kam hinterher und
beide lächelten. "Nun?" fragte der Vater und legte das Gesangbuch fort,
in dem er gerade das "Gebet eines Konfirmanden" gelesen hatte. Die
Mutter stand am Herd und wagte nichts zu sagen; sie lachte, aber die
Hände zitterten ihr; sie erwartete augenscheinlich etwas Gutes, wollte
sich aber nicht verraten. "Ich bin bloß hergekommen, um Euch die
freudige Nachricht zu bringen, daß er alles gewußt hat, was er gefragt
worden ist, und daß der Herr Pfarrer, als Öyvind fort war, gesagt hat,
er habe nie einen besseren Konfirmanden gehabt."--"Ach, nein!" sagte die
Mutter und war sehr gerührt.--"Das ist ja nett", sagte der Vater und
räusperte sich unsicher.

Nach langem Schweigen fragte die Mutter leise: "Was für eine Nummer
bekommt er?"--"9 oder 10", sagte der Schulmeister ruhig.--Die Mutter
blickte den Vater an, der Vater erst sie, dann Öyvind; "mehr kann ein
Häuslerjunge nicht erwarten", sagte er. Öyvind sah ihn auch an; es war,
als steige ihm wieder etwas im Halse hoch, aber er zwang sich, an
allerlei Liebes zu denken, immerfort, bis er's wieder herunter hatte.

"Jetzt muß ich wohl gehen", sagte der Schulmeister, nickte ihnen zu und
wandte sich zur Tür. Die Eltern begleiteten ihn wie gewöhnlich hinaus;
draußen nahm der Schulmeister einen Priem und sagte schmunzelnd: "Er
wird natürlich der erste, aber es ist besser, er erfährt es erst, wenn
der Tag da ist."--"Ja, ja", sagte der Vater und nickte. "Ja, ja", sagte
die Mutter und nickte auch; dann griff sie nach der Hand des
Schulmeisters; "schönen Dank auch für alles, was Du an ihm tust", sagte
sie. "Ja, schönen Dank", sagte der Vater, und der Schulmeister ging; die
beiden aber standen noch lange und sahen ihm nach.



Siebentes Kapitel


Der Schulmeister hatte das rechte getroffen, als er den Pfarrer gebeten
hatte, erst zu prüfen, ob Öyvind es auch vertragen könne, der erste zu
sein. In den drei Wochen, die noch bis zur Konfirmation hingingen, war
er jeden Tag bei dem Knaben; eine junge, weiche Seele kann wohl einem
Eindruck nachgeben, ein andres ist es, ob sie ihn auch treulich
festhält. Manch dunkle Stunde kam über den Knaben, bis er lernte, sein
Ziel auf bessere Dinge als auf Ehre und Trotz zu stecken. Mitten in der
besten Arbeit verlor er plötzlich die Lust daran: Wozu? Was gewinne
ich?--und dann nach einer Weile fiel ihm der Schulmeister ein, seine
Worte und seine Güte; aber dies Mittel mußte er haben, wenn er wieder
einmal von der rechten Auffassung seiner höheren Pflicht
heruntergesunken war.

In den Tagen, da man in Pladsen zur Konfirmation rüstete, wurde auch
seine Reise auf die Ackerbauschule vorbereitet; denn schon am Tage
darauf sollte er sie antreten. Schneider und Schuster saßen in der
Stube, die Mutter buk in der Küche, der Vater arbeitete an einer Truhe.
Viel wurde davon gesprochen, was er sie in den zwei Jahren kosten würde,
auch davon, daß er das erste Jahr Weihnachten nicht nach Hause kommen
könne, vielleicht auch im nächsten nicht, und wie schwer es sein würde,
sich so lange trennen zu müssen. Sie redeten auch davon, wie lieb er
seine Eltern haben müßte, die für ihr Kind so große Opfer brächten.
Öyvind saß da wie einer, der draußen sein Glück auf eigene Faust
versucht hat, dabei kenterte und nun von freundlichen Menschen
aufgenommen ist.

So ein Gefühl macht demütig und mit der Demut kommt auch noch manches
andere. Als der große Tag anbrach, war Öyvind gut ausgerüstet und konnte
der Zukunft mit zuversichtlicher Ergebenheit entgegensehen. So oft
Margits Bild dazwischentreten wollte, drängte er es vorsichtig zurück,
aber es tat ihm weh, das zu tun. Er suchte sich darin zu üben, aber in
diesem Punkt wurde er nicht stärker, im Gegenteil, das Wehgefühl wuchs.
Er war so verzagt am letzten Abend, daß er nach einer langen
Selbstprüfung betete, Gott der Herr möge ihn in diesem einen Stück nicht
auf die Probe stellen.

Gegen Abend kam der Schulmeister. Sie setzten sich in die Stube, nachdem
sich alle gewaschen und zurecht gemacht hatten, wie immer, wenn man am
Tage darauf zum Abendmahl oder zum Hochamt geht. Die Mutter war sehr
bewegt und der Vater wortkarg; nach dem Feiertage morgen kam der
Abschied, und keiner wußte, wann man wieder so beisammen sitzen würde.
Der Schulmeister nahm die Gesangbücher, sie hielten eine Andacht und
sangen, und dann sprach er ein kurzes Gebet, so wie es ihm aus dem
Herzen kam.

Die vier Menschen saßen bis spät am Abend bei einander, und jeder hing
seinen Gedanken nach. Dann trennten sie sich mit den besten Wünschen
für den kommenden Tag, und für das, was er knüpfen sollte. Öyvind
gestand sich ein, als er zu Bett ging, daß er nie so glücklich schlafen
gegangen sei; er verband damit einen besonderen Sinn; er meinte: nie bin
ich so ergeben in Gottes Willen und so freudig in Gott schlafen
gegangen.--Margits Gesicht wollte vor ihm auftauchen, und im Halbschlaf
noch übte er eine Art Selbstversuchung: nicht ganz glücklich, nicht
ganz,--und er antwortete: doch ganz--; und noch einmal: nicht
ganz,--doch, ganz;--nein, nicht ganz--.

Als er aufwachte, kam ihm die Bedeutung des Tages gleich zu Bewußtsein;
er betete und fühlte sich so kräftig, wie man wohl des Morgens tut. Er
hatte seit dem Sommer allein in einem Bodenkämmerchen geschlafen; jetzt
stand er auf und zog behutsam die neuen, schönen Kleider an; solche
hatte er bis jetzt noch nicht gehabt. Besonders die rundgeschnittene
Tuchjacke mußte er immerzu befühlen, bis er sich an sie gewöhnte. Er
holte einen kleinen Spiegel heraus, als er sich den Kragen umgebunden
und auch den Tuchrock--zum viertenmal--angezogen hatte. Als ihm jetzt
sein eigenes vergnügtes Gesicht mit dem merkwürdig hellen Haar aus dem
Spiegel entgegenlachte, fiel ihm ein, auch das sei wieder Eitelkeit. Ja,
aber gut angezogen und rein müssen die Leute doch aussehen, warf er ein,
während er das Gesicht vom Spiegel fortwandte, als sei es Sünde,
hineinzusehen.--Freilich, aber man darf nicht ganz so selbstzufrieden
deswegen sein.--Nein, natürlich nicht, aber dem lieben Gott muß es doch
auch gefallen, wenn man sich darüber freut, daß man hübsch
aussieht.--Kann schon sein, aber ihm wäre es vielleicht doch lieber, Du
freutest Dich darüber, ohne so großes Gewicht darauf zu legen.--Das ist
wahr, aber das kommt auch bloß daher, daß alles so neu ist.--Ja, dann
mußt Du es aber auch nach und nach ablegen.--Er ertappte sich dabei, daß
er sich bald über diesen, bald über jenen Gegenstand in solchen
Gesprächen der Selbstprüfung erging: es sollte keine Sünde auf diesen
Tag fallen und ihn beflecken; aber er wußte auch, daß da noch vieles
fehle.

Als er hinunterkam, waren die Eltern schon fertig angezogen und warteten
mit dem Frühstück auf ihn. Er ging auf sie zu, gab ihnen die Hand und
bedankte sich für die Kleider; "trag' sie in Gesundheit", wurde ihm
erwidert. Sie setzten sich an den Tisch, beteten still und aßen. Die
Mutter deckte den Tisch ab und brachte den Korb mit Eßwaren für den
Kirchgang herein. Der Vater zog sich den Rock an, die Mutter steckte
sich ihr Tuch fest, sie nahmen die Gesangbücher, riegelten das Haus zu
und stiegen bergan. Als sie auf den oberen Weg kamen, trafen sie schon
Kirchgänger, zu Fuß und zu Wagen, auch Konfirmanden, und ab und zu auch
die weißhaarigen Großeltern, die dies eine Mal doch gern mitwollten.

Es war ein Herbsttag ohne Sonnenschein, wie wenn das Wetter umschlagen
will. Gewölk zog sich zusammen und zerteilte sich wieder. Bisweilen
lösten sich aus einer großen Ansammlung von Wolken wohl zwanzig kleinere
und jagten mit dem Befehl zum Unwetter dahin; aber unten auf der Erde
war es noch still; die Blätter hingen entseelt an den Bäumen und regten
sich nicht; die Luft war etwas schwül; die Leute hatten Mäntel mit, aber
sie brauchten sie gar nicht. Ungewöhnlich viel Menschen sammelten sich
vor der freistehenden Kirche an; die Konfirmationskinder aber gingen
gleich in die Kirche hinein, weil sie aufgestellt werden sollten, bis
der Gottesdienst begann. Da kam der Schulmeister an im blauen Anzug, mit
Frack und Kniehosen, Stulpstiefeln und steifer Halsbinde, und seine
Pfeife guckte hinten aus der Rocktasche; er nickte und lachte, schlug
diesem auf die Schulter und ermahnte jenen, recht laut und deutlich zu
antworten, und kam mittlerweile bis an die Armenbüchse, wo Öyvind mit
seinem Freunde Hans stand, dem er über die Reise Auskunft gab. "Guten
Morgen, Öyvind, ist das ein schöner Tag!"--er faßte ihn am Rockkragen,
als wolle er mit ihm reden,--"hör' mal, ich glaub' das beste von Dir.
Eben habe ich mit dem Herrn Pfarrer gesprochen; Du darfst Deinen Platz
behalten; stell Dich obenan und antworte recht deutlich!"

Öyvind sah ihn maßlos erstaunt an, der Schulmeister nickte ihm zu, der
Junge tat ein paar Schritte, stand still, ging wieder ein paar Schritte,
stand wieder still; ja, das hängt sicher so zusammen, daß er bei dem
Herrn Pfarrer ein gutes Wort für mich eingelegt hat, und schnell ging er
an seinen Platz. "Du bist also doch Nummer Eins", flüsterte ihm einer
zu. "Ja", sagte Öyvind leise, aber er wußte noch immer nicht recht, ob
er es glauben durfte.

Die Aufstellung war fertig, der Pfarrer kam, die Glocken fingen zu
läuten an, und die Menschen strömten in die Kirche. Da sah Öyvind Margit
vom Heidehof dicht vor sich stehen, sie sah ihn auch an, aber beide
waren so gebannt von der Heiligkeit der Stätte, daß sie sich nicht zu
grüßen wagten. Er sah nur, daß sie wunderschön war und mit bloßem Haar
ging, mehr sah er nicht. Öyvind, der länger als ein halbes Jahr so große
Pläne darauf gebaut hatte, ihr gleichberechtigt gegenüberzustehen,
Öyvind vergaß, als es wirklich so weit gediehen war, seinen Platz und
sie, und daß er je an so etwas gedacht hatte.

Als alles zu Ende war, kamen die Verwandten und Bekannten um ihre
Glückwünsche anzubringen, dann kamen auch seine Kameraden und wollten
ihm Adieu sagen, denn sie hatten gehört, daß er am andern Tage reisen
würde; es kamen auch viele von den Kleineren, mit denen er Schlitten
gefahren war, und denen er so oft in der Schule geholfen hatte, und da
ging der Abschied nicht ohne Tränen ab. Zuletzt kam der Schulmeister,
drückte ihm und den Eltern stumm die Hand und bedeutete ihnen, sie
wollten gehen; er wollte sie begleiten. Die Vier waren wieder beisammen,
und dies sollte nun der letzte Nachmittag sein. Unterwegs trafen sie
noch viele, die ihm Adieu sagten und ihm Glück wünschten, sonst aber
sprachen sie nicht zusammen, bis sie daheim in der Stube saßen.

Der Schulmeister versuchte sie bei gutem Mut zu erhalten; denn jetzt, da
es soweit war, bangten alle drei vor der zweijährigen Trennung, weil sie
bis jetzt keinen Tag fern voneinander gewesen waren; aber keiner wollte
es wahrhaben. Je weiter der Tag vorrückte, desto gedrückter wurde
Öyvind; er mußte ins Freie gehen, um sich ein bißchen zu beruhigen.

Es war schon halbdunkel, und in der Luft brauste es seltsam; er blieb
auf den Steinfliesen stehen und blickte empor. Da hörte er vom Bergrande
her seinen Namen rufen, ganz leise; es war keine Täuschung, denn es
wurde zweimal gerufen. Er sah hinauf und gewahrte, daß eine weibliche
Gestalt zwischen den Bäumen kauerte und herabschaute. "Wer ist da oben?"
fragte er.--"Ich habe gehört, Du willst fort," sagte sie leise, "da
mußte ich doch zu Dir kommen und Dir Adieu sagen, wenn Du nicht zu mir
kommst."--"Margit, liebe Margit, bist Du es wirklich? Wart', ich komme
gleich hinauf."--"Nicht doch. Ich habe schon so lange gewartet, und da
müßte ich ja noch länger warten; keiner weiß, wo ich bin, und ich muß
schnell wieder nach Hause."--"Es ist nett von Dir, daß Du gekommen
bist", sagte er.--"Ich konnte es nicht ertragen, daß Du so abreistest,
Öyvind, wo wir uns von klein auf gekannt haben."--"Das stimmt."--"Und
jetzt haben wir ein halbes Jahr lang kein Wort miteinander
gewechselt."--"Nein, das stimmt."--"Wir sind das letzte Mal so komisch
auseinandergekommen."--"Ja;--aber ich glaube, ich komme doch lieber
hinauf zu Dir."--"Ach nein, bitte nicht! Aber sag' mal: Du bist mir doch
nicht böse?"--"Liebe Margit, wie kannst Du so was denken?"--"Na, dann
Adieu, Öyvind, und Dank für alles Schöne, was wir zusammen erlebt
haben!"--"Nein, Margit!"--"Ja, jetzt muß ich fort; sie werden mich wohl
schon vermissen."--"Margit, Margit!"--"Nein, ich kann nicht länger
fortbleiben, Öyvind. Lebwohl!"--"Lebwohl!"

Nachher ging er wie im Traum umher und antwortete wie geistig abwesend,
wenn er gefragt wurde; sie erklärten sich das mit der Abreise, und diese
nahm auch sein ganzes Interesse in Anspruch in dem Augenblick, als sich
der Schulmeister abends von ihm verabschiedete und ihm etwas in die Hand
drückte, was sich nachher als ein Fünftalerschein herausstellte. Aber
später, als er im Bett lag, dachte er nicht an die Abreise, sondern an
die Worte, die an der Bergwand getauscht waren. Als Kind hatte sie nicht
zur Bergwand hingedurft, weil der Großvater Angst hatte, Margit könne
hinunterfallen. Wer weiß, ob sie nicht doch noch mal herunterkäme.



Achtes Kapitel


  Liebe Eltern!

Jetzt haben wir viel mehr zu arbeiten bekommen, aber jetzt habe ich die
andern auch schon mehr eingeholt, so daß es mir nicht mehr so schwer
wird. Und jetzt werde ich sehr viel in Vaters Wirtschaft verändern, wenn
ich wieder nach Hause komme; denn da ist manches verkehrt angefangen,
und es ist merkwürdig genug, daß es überhaupt bis jetzt gegangen ist.
Aber ich will schon Zug hineinbringen, denn ich habe jetzt viel gelernt.
Ich möchte wohl irgendwohin, wo ich alles verwerten kann, was ich jetzt
weiß; deshalb muß ich mir eine große Stellung suchen, wenn ich fertig
bin. Hier sagen alle, Jon Hatlen ist gar nicht so tüchtig, wie man bei
uns zu Haus denkt; aber er hat ja einen eigenen Hof, so daß es keinen
außer ihn selbst was angeht. Viele, die von hier abgehen, bekommen sehr
hohen Lohn; aber sie werden so gut bezahlt, weil wir die beste
Ackerbauschule im ganzen Lande sind. Manche sagen, im Nachbaramt ist
noch eine bessere, aber das ist wohl nicht wahr. Hier hört man immerzu
zwei Worte: das eine heißt Theorie und das andere Praxis, und es ist
gut, wenn man alle beide hat, und das eine ist ohne das andere nichts
wert, aber das zweite ist doch das beste. Und das erste Wort bedeutet,
daß man von einer Arbeit die Ursache und den Grund kennt, aber das
andere Wort bedeutet, daß man die Arbeit auch ausführen kann, wie zum
Beispiel jetzt mit dem Sumpf. Denn es gibt viele, die wissen, was man
mit einem Sumpf macht, aber verkehrt machen sie es doch, denn sie können
es nicht. Aber viele könnten es und sie wissen es nicht, und dann wird's
auch verkehrt, denn es gibt viele Arten Sümpfe. Doch hier auf der
Ackerbauschule lernen wir beides. Der Direktor ist so tüchtig, daß sich
keiner mit ihm messen kann. Auf der letzten landwirtschaftlichen
Landesversammlung hatte er zwei Fragen zu behandeln, und die Direktoren
von den andern Ackerbauschulen jeder bloß eine, und es wurde immer das
beschlossen, was er beantragte, wenn die andern es sich erst überlegt
hatten. Auf der Versammlung vorher aber, wo er nicht war, da haben die
andern bloß gequatscht. Den Leutnant, der uns im Feldmessen
unterrichtet, hat der Direktor auch bloß wegen seiner eigenen
Tüchtigkeit bekommen, denn die andern Schulen haben keinen Leutnant.
Unserer aber ist sehr tüchtig und soll auf der Offiziersschule der
allerbeste gewesen sein.

Der Herr Lehrer fragt, ob ich auch in die Kirche gehe. Natürlich gehe
ich in die Kirche, denn jetzt hat der Pfarrer hier einen Hilfsprediger
erhalten, und der predigt, daß den Leuten in der Kirche angst und bange
wird, und es ist eine Freude, ihn zu hören. Er ist von der neuen
Religion, die sie in Kristiania haben, und die Leute behaupten, er sei
zu streng, aber das ist ihnen ganz gesund.

Augenblicklich lernen wir viel Geschichte, die wir vorher noch nicht
gehabt haben, und es ist seltsam, was alles in der Welt geschehen ist
und besonders bei uns. Denn wir haben immer und immer gesiegt, außer
wenn wir geschlagen wurden, aber dann sind wir immer viel, viel kleiner
gewesen. Jetzt sind wir frei, so frei wie kein andres Volk außer
Amerika, aber da sind sie nicht glücklich. Und unsere Freiheit sollen
wir über alles lieben.

Jetzt will ich für diesmal schließen, denn ich habe sehr viel
geschrieben. Der Herr Lehrer liest Euch wohl den Brief vor, und wenn er
für Euch antwortet, soll er mir auch von allerlei Leuten was Neues
erzählen; denn das tut er nie. Nun seid vielmals gegrüßt von Eurem
dankbaren Sohn

  Ö. Thoresen.



  Liebe Eltern!

Jetzt muß ich Euch mitteilen, daß hier Examen gewesen ist, und ich habe
mit vorzüglich in vielen Fächern bestanden, mit sehr gut im Schreiben
und Feldmessen, und mit ziemlich gut im norwegischen Aufsatz. Das kommt
daher, sagt der Direktor, daß ich nicht genug gelesen habe, und er hat
mir ein paar Bücher von Ole Vig geschenkt, die ganz wundervoll sind,
denn ich verstehe alles. Der Direktor ist sehr gut zu mir; er erzählt
uns so vieles. Alles hierzulande ist so klein im Vergleich zum Ausland;
wir können fast gar nichts und müssen alles von Schottland und der
Schweiz lernen; und von den Holländern lernen wir den Gartenbau. Viele
gehen in diese Länder, und auch in Schweden ist man viel tüchtiger als
bei uns, und da ist der Direktor selbst auch gewesen. Jetzt bin ich
schon bald ein Jahr hier, und ich dachte, ich hätte schon viel gelernt,
aber als ich hörte, was die Schüler können, die die Abschlußprüfung
bestanden haben, und dann denke, daß die auch noch rein gar nichts
können, wenn sie sich mit den Ausländern messen, dann werde ich ganz
traurig. Und dann ist der Boden hier in Norwegen so schlecht gegen den
im Auslande; es lohnt sich gar nicht, etwas damit anzufangen. Außerdem
mag unser Volk sich auch nichts zeigen lassen. Wenn das Volk aber auch
wollte, und wenn der Boden auch besser wäre, so hätten sie ja doch kein
Geld, um ihn richtig zu bebauen. Es ist merkwürdig, daß alles noch so
gegangen ist, wie es ging.

Jetzt bin ich in der obersten Klasse, und da bleibe ich ein Jahr, bis
ich fertig bin; aber die meisten von meinen Kameraden sind fort, und
ich habe Heimweh. Mir ist zu Mut, als wenn ich ganz allein in der Welt
stände, wenn es auch durchaus nicht wahr ist; aber es ist so merkwürdig,
wenn man lange fortgewesen ist. Ich dachte früher, ich würde hier sehr
tüchtig werden, aber damit sieht es schlecht aus.

Was soll ich wohl anfangen, wenn ich hier fortkomme? Zuerst will ich
natürlich nach Hause, und später muß ich mir dann wohl eine Stelle
suchen, aber zu weit weg darf's nicht sein.

Lebt nun wohl, liebe Eltern! Grüßt alle, die nach mir fragen, und sagt
ihnen, es ginge mir gut, aber ich hätte Heimweh.

  Euer dankbarer Sohn
  Öyvind Thoresen Pladsen.



  Lieber Herr Lehrer!

Hierdurch bitte ich Dich, den beigelegten Brief abzugeben und keinem
Menschen davon zu sagen. Und wenn Du nicht willst, so verbrenne ihn
bitte.

  Öyvind Thoresen Pladsen.



  An die
  ehrsame Jungfrau Margit, Nordistuen, Tochter des Knut
  auf dem Oberen Heidehof.

Du wirst Dich gewiß sehr wundern, einen Brief von mir zu bekommen. Das
brauchst Du aber nicht, denn ich wollte nur fragen, wie es Dir geht.
Darüber mußt Du mich möglichst bald und in jeder Hinsicht unterrichten.
Von mir selbst kann ich melden, daß ich in einem Jahr hier fertig bin.

  Ergeben
  Öyvind Pladsen.



  An Herrn Öyvind Pladsen
  auf der Ackerbauschule.

Deinen Brief habe ich richtig vom Schulmeister bekommen, und ich will
antworten, weil Du mich darum bittest. Aber ich habe Angst davor, weil
Du so gelehrt bist, und ich habe einen Briefsteller, aber der will nicht
passen. So muß ich's denn selbst versuchen, und Du mußt den guten Willen
für die Tat nehmen, aber Du darfst ihn niemandem zeigen, denn dann bist
Du nicht der, für den ich Dich halte. Du sollst ihn auch nicht aufheben,
weil ihn dann doch leicht einer finden kann, sondern Du sollst ihn
verbrennen, und das mußt Du mir versprechen. Ich wollte Dir über so
vieles schreiben, aber ich wage das nicht so. Wir haben eine gute Ernte
gehabt, die Kartoffeln stehen hoch im Preis, und hier auf den Heidehöfen
sind reichlich gewachsen. Aber ein Bär hat im Sommer bös im Viehstand
gehaust; bei Ole auf dem Niederhof hat er zwei Rinder zerrissen, und
unserm Häusler hat er eins so zugerichtet, daß es geschlachtet werden
mußte. Ich webe an einem sehr großen Tuch; es ist ähnlich wie das
schottische Zeug, und das ist sehr schwierig. Und jetzt will ich Dir
erzählen, daß ich noch immer zu Hause bin, und daß manchen Leuten das
gar nicht recht ist. Jetzt weiß ich für diesmal nichts mehr zu
schreiben, und deshalb leb' wohl.

  Margit, Tochter des Knut.

Nachschrift.

Du mußt diesen Brief sofort verbrennen.



  An den
  Ackerbauschüler Öyvind Thoresen Pladsen!

Ich habe Dir immer gesagt, Öyvind, wer mit Gott wandert, hat das beste
Teil erwählt. Jetzt aber sollst Du meinen Rat hören, den nämlich: daß Du
Dir Dein Leben nicht mit Sehnsucht und allerlei Ungemach ausfüllst,
sondern auf Gott vertraust und Dein Herz sich nicht in Sehnsucht
verzehren läßt; denn dann hast Du einen anderen Gott neben ihm. Ferner
will ich Dir mitteilen, daß es Deinem Vater und Deiner Mutter gut geht;
ich selbst habe Schmerzen in der Hüfte; da meldet sich der Krieg wieder
und alles, was man dabei durchgemacht hat. Was die Jugend sät, wird das
Alter ernten, am Geist wie am Körper, der mir brennt und schmerzt und
mich zum Wehklagen bringen will. Aber klagen soll das Alter nicht, denn
aus Wunden rinnt Weisheit, und die Schmerzen predigen Geduld, auf daß
der Mensch stark werde zu seiner letzten Reise. Heute habe ich aus
mancherlei Gründen zur Feder gegriffen, zuerst und zunächst um Margits
willen, die ein gottesfürchtiges Mädchen geworden ist, aber leichtfüßig
wie ein Renntier und voll mancherlei Pläne. Denn sie möchte sich wohl
gern an eins halten, kann es aber ihrer Natur wegen nicht; doch ich habe
oft erlebt, daß unser Herrgott mit so schwachen kleinen Herzen
glimpflich und langmütig umgeht und sie nicht über Vermögen in
Versuchung führt, auf daß sie nicht in Stücke brechen; denn die sind
sehr zerbrechlich. Den Brief habe ich ihr richtig gegeben, und sie
verbarg ihn vor allen, außer vor ihrem eigenen Herzen. Und wenn der
liebe Gott dieser Sache gnädig ist, so habe ich nichts dagegen; denn
Margit gefällt den jungen Burschen wohl, wie man deutlich sieht, und sie
ist reich an irdischen Gütern, wie auch trotz aller Unbeständigkeit an
himmlischen. Denn die Gottesfurcht in ihrem Herzen ist wie Wasser in
einem seichten Teich; es ist da, wenn's regnet, aber es verschwindet,
wenn die Sonne scheint. Jetzt wollen meine Augen nicht mehr, denn sie
sehen zwar gut in die Ferne, aber in der Nähe schmerzen sie und tränen.
Zum Schluß will ich Dir noch sagen, Öyvind: was Du auch erstrebst und
was Du anfängst, Deinen Gott nimm mit; denn es steht geschrieben: Es ist
besser eine Hand voll mit Ruhe, denn beide Fäuste voll mit Mühe und
Jammer. (Pred. Sal. 4, 6.)

  Dein alter Lehrer
  Baard Andersen Opdal.



  An die
  ehrsame Jungfrau Margit, Tochter des Knut vom Heidehof.

Schönen Dank für Deinen Brief; ich habe ihn gelesen und verbrannt, wie
Du gewollt hast. Du schreibst von vielem, aber gar nichts von dem, was
ich gern wissen wollte. Eher darf ich auch von etwas Gewissem nicht
schreiben, bis ich nicht weiß, wie es Dir in allen Stücken geht. In dem
Brief vom Schulmeister steht nichts, worauf man bauen könnte, aber er
lobt Dich, und doch sagt er, Du bist unbeständig. Das warst Du schon
immer. Jetzt weiß ich nicht, was ich denken soll, und deshalb mußt Du
mir schreiben; denn ich habe keine Ruhe, bis Du nicht geschrieben hast.
In dieser Zeit denke ich immer dran, wie Du am letzten Abend auf den
Berg kamst, und was Du da sagtest. Mehr will ich diesmal nicht
schreiben, und deshalb leb' wohl.

  Ergeben
  Öyvind Pladsen.



  An
  Herrn Öyvind Thoresen Pladsen.

Der Schulmeister hat mir wieder einen Brief von Dir übergeben, und ich
habe ihn jetzt gelesen. Aber ich verstehe ihn nicht recht, und das kommt
wohl daher, daß ich nicht gelehrt genug bin. Du willst wissen, wie es
mir in allen Stücken geht. Nun, ich bin gesund und munter, und mir fehlt
nicht das geringste. Ich mag gern essen, besonders wenn es Milchreis
gibt. Nachts schlafe ich, und zuweilen tags auch noch. Ich habe viel
getanzt in diesem Winter, denn hier ist viel los gewesen, und es ging
immer sehr lustig zu. Ich gehe in die Kirche, wenn nicht zuviel Schnee
liegt; aber im Winter lag er sehr hoch. Jetzt weißt Du doch wohl alles,
und wenn nicht, so bleibt nichts weiter übrig, als daß Du mir noch
einmal schreibst.

  Margit, Tochter des Knut.



  An die
  ehrsame Jungfrau Margit, Tochter des Knut vom Heidehof.

Deinen Brief habe ich bekommen, aber mir scheint, Du willst mich nicht
klüger werden lassen. Vielleicht ist das ja auch eine Antwort, ich weiß
es nicht. Ich darf von dem, was ich schreiben möchte, kein Wort sagen,
denn ich kenne Dich ja nicht. Aber vielleicht kennst Du mich auch
nicht.

Du mußt nicht glauben, daß ich noch der weiche Käse bin, aus dem Du das
Wasser herausdrücktest, als ich dasaß und Dich tanzen sah. Ich habe seit
der Zeit auf manchem Brett zum Trocknen gelegen. Ich bin auch nicht mehr
wie die langhaarigen Hunde, die gleich die Ohren hängen lassen und den
Schwanz einziehen, wie ich es früher getan; jetzt lasse ich es an mich
herankommen.

Dein Brief war sehr spaßig; aber er spaßte, wo er lieber nicht hätte
spaßen sollen; denn Du verstandest mich recht gut, und da hättest Du
wissen müssen, daß ich nicht zum Spaß fragte, sondern weil ich in der
letzten Zeit nur an das gedacht habe, wonach ich fragte. Ich war in
großer Not und wartete, und da bekam ich als Antwort bloß Albernheiten
und Gelache.

Leb' wohl, Margit vom Heidehof, ich will nicht mehr, wie bei jenem Tanz,
zuviel nach Dir schauen. Mögest Du gut essen und schön schlafen und Dein
neues Tuch fertig weben, und schaufle vor allen Dingen den Schnee weg,
der vor der Kirchtür liegt.

  Ergeben
  Öyvind Thoresen Pladsen.



  An den
  Ackerbauschüler Öyvind Thoresen,
  Ackerbauschule.

Trotz meines hohen Alters und meiner schwachen Augen und der Schmerzen
in meiner rechten Hüfte muß ich doch dem Drängen der Jugend nachgeben;
denn sie braucht uns Alten, wenn sie sich festgerannt hat. Sie bittet
und jammert, bis sie wieder flott ist, aber dann rennt sie gleich wieder
davon und hört nicht mehr auf uns.

Also die Margit; sie schmeichelt mit vielen süßen Worten, ich möge zur
Gesellschaft mitschreiben, denn sie traut sich nicht allein zu
schreiben. Ich habe Deinen Brief gelesen; sie dachte eben, sie habe Jon
Hatlen oder sonst einen Waschlappen vor sich, aber nicht einen, den
Schulmeister Baard erzogen hat; und nun drückt sie der Schuh. Aber Du
bist zu streng gewesen; denn es gibt Mädchen, die scherzen, um nicht
weinen zu müssen, und zwischen beidem ist kein Unterschied. Aber es
gefällt mir, daß Du das Ernste ernst nimmst, denn sonst könntest Du über
das, was Scherz ist, nicht lachen.

Daß Euer Sinnen aufeinander gerichtet ist, scheint mir jetzt aus vielem
ersichtlich. An ihr habe ich oft gezweifelt, denn sie war wie eine
Wetterfahne; aber jetzt weiß ich, daß sie Jon Hatlen doch abgewiesen
hat, worüber ihr Großvater in hellen Zorn geraten ist. Sie war
glücklich, als Dein Schreiben kam, und wenn sie scherzte, so tat sie es
nicht aus böser Absicht, sondern aus lauter Freude. Sie hat viel
erdulden müssen, und das hat sie getan, um auf den zu warten, nach dem
ihr Sinn stand. Und jetzt willst Du nichts von ihr wissen und stößt sie
zurück wie ein unartiges Kind.

Das mußte ich Dir sagen, und den Rat möchte ich Dir noch geben, daß Du
Dich mit ihr wieder aussöhnst, denn Streit gibt es auch doch genug in
der Welt. Ich bin wie jener Greis, der drei Geschlechter gesehen hat.
Ich kenne die Torheiten und ihren Lauf.

Von Vater und Mutter soll ich Dich grüßen, sie warten sehnlichst auf
Dich. Aber davon habe ich Dir nicht eher schreiben wollen, damit Du kein
Herzweh bekämst. Deinen Vater kennst Du noch gar nicht; denn er ist wie
ein Baum, der keinen Laut von sich gibt, bis er gefällt wird. Aber wenn
Dir einmal etwas zustößt, dann wirst Du ihn kennen lernen, und Du wirst
staunen wie einer, der einen Schatz findet. Er ist gedrückt und wortkarg
in weltlichen Dingen gewesen, Deine Mutter aber hat sein Gemüt von der
weltlichen Angst frei' gemacht, und jetzt klärt sich sein Lebenstag auf.

Nun werden meine Augen trüb, und die Hand will nicht mehr. Also befehle
ich Dich dem, dessen Auge immerdar wacht und dessen Hände nimmer müde
werden.

  Baard Andersen Opdal.



  An Öyvind Pladsen.

Du bist wohl böse auf mich, und das tut mir sehr weh. Denn so habe ich
es nicht gemeint; ich meinte es gut. Ich weiß, daß ich oft nicht so
gegen Dich gewesen bin, wie ich hätte sein sollen, und deshalb will ich
jetzt an Dich schreiben, aber Du darfst es keinem Menschen zeigen.
Einmal ist mir's ergangen, wie ich's wünschte, und da war ich nicht
nett; aber jetzt will keiner mehr was von mir wissen, und mir geht es
recht schlecht. Jon Hatlen hat ein Spottlied auf mich gemacht, und das
singen alle Burschen, und ich kann mich auf keinem Tanz mehr blicken
lassen. Die beiden Alten wissen davon, und ich bekomme böse Worte zu
hören. Ich aber sitze allein und schreibe, und Du darfst es keinem
zeigen.

Du hast viel gelernt und könntest mir einen Rat geben, aber Du bist so
weit fort. Ich bin oft unten bei Deinen Eltern gewesen und habe mit
Deiner Mutter geplaudert, und wir sind gute Freunde geworden; aber ich
darf nichts sagen, denn Du hast so sonderbar geschrieben. Der
Schulmeister macht sich jetzt über mich lustig, und er weiß nichts von
dem Spottlied, denn kein einziger im ganzen Dorf wagt ihm so etwas
vorzusingen. Jetzt bin ich allein und habe keinen, mit dem ich sprechen
kann; ich denke daran, als wir noch Kinder waren, und Du so nett zu mir
warst, und ich immer auf Deinem Schlitten sitzen durfte. Und da möchte
ich wünschen, daß ich wieder ein Kind wäre.

Ich darf Dich nicht mehr bitten, mir zu antworten; ich darf es nicht.
Aber wenn Du mir nur noch ein einziges Mal schreiben wolltest, so würde
ich Dir das nie vergessen, Öyvind.

  Margit, Tochter des Knut.

Lieber Öyvind, verbrenne diesen Brief; ich weiß gar nicht, ob ich ihn
überhaupt abschicken darf.



  Liebe Margit!

Dank für Deinen Brief; den hast Du in einer guten Stunde geschrieben.
Jetzt will ich Dir auch sagen, Margit, daß ich Dich so lieb habe, daß
ich es beinahe hier nicht mehr aushalten kann, und wenn Du mich ebenso
lieb hast, dann sollen Jons Spottlieder und alle bösen Worte bloß
Blätter sein, wie sie an jedem Baum hängen. Seit ich Deinen Brief
bekommen habe, bin ich ein neuer Mensch, denn es ist doppelte Kraft in
mich gekommen, und ich fürchte mich vor nichts in der Welt. Als ich den
vorigen Brief abgeschickt hatte, tat es mir so leid, daß ich fast krank
davon geworden bin. Und nun sollst Du hören, was das für eine Folge
hatte. Der Direktor nahm mich beiseite und fragte mich, was mir fehle;
er glaubte, ich arbeitete zu viel. Da sagte er mir, wenn mein Jahr hier
zu Ende sei, sollte ich noch eins hier bleiben und ganz umsonst; ich
solle ihm hier und da an die Hand gehen, er aber wollte mich noch in
vielem unterrichten. Da dachte ich, Arbeit sei das einzige, das mich
aufrecht halten könne, und ich bedankte mich vielmals; und ich bereue es
auch nicht, wenn ich jetzt auch Sehnsucht nach Dir habe; denn je länger
ich hier bin, desto mehr Recht habe ich später, um Dich zu werben. Wie
froh bin ich jetzt! Ich arbeite für drei, und ich will nie in irgend
etwas zurückstehen. Ich will Dir aber ein Buch schicken, das ich jetzt
lese, denn da steht viel von Liebe drin. Ich lese immer abends darin,
wenn die andern schlafen, und dann lese ich auch Deinen Brief immer
wieder durch. Hast Du Dir vorgestellt, wenn wir uns wiedersehen? Das
male ich mir so oft aus, und das mußt Du auch versuchen und sollst
sehen, wie schön es ist. Ich freue mich, daß ich soviel geschrieben und
gearbeitet habe, trotzdem es oft schwer war; aber jetzt kann ich Dir
alles sagen, was ich mag, und lache dabei in meinem Sinn.

Ich will Dir viele Bücher zu lesen geben, damit Du sehen sollst, wieviel
Widerwärtigkeiten alle gehabt haben, die sich innig lieb hatten, und daß
sie lieber aus Kummer gestorben sind, als daß sie voneinander gelassen
haben. Und so wollen wir es auch halten, und zwar freudigen Herzens.
Wohl dauert es fast zwei Jahre, bis wir uns sehen, und noch länger, bis
wir uns kriegen; aber mit jedem Tag, der vergeht, ist es doch ein Tag
weniger; daran wollen wir bei unserer Arbeit denken.

Nächstes Mal muß ich Dir über vieles schreiben, heut abend aber habe ich
kein Papier mehr, und die andern schlafen alle. Darum will ich auch zu
Bett gehen und an Dich denken, bis ich einschlafe.

  Dein Freund
  Öyvind Pladsen.



Neuntes Kapitel


Eines Sonntags im Hochsommer ruderte Tore Pladsen über den Fjord, um
seinen Sohn zu holen, der am Nachmittage von der Ackerbauschule
heimkommen sollte, denn jetzt war er fertig. Die Mutter hatte ein paar
Tage lang eine Scheuerfrau gehabt, alles war geputzt und gesäubert, die
Kammer war nach langer Zeit wieder in Stand gesetzt, es war ein Ofen
hineingestellt; da sollte Öyvind wohnen. Heute brachte die Mutter
frisches Grün hinein, holte reines Leinzeug heraus, machte das Bett
zurecht und schaute zwischendurch immer einmal aus, ob noch kein Boot
dahergerudert komme. Unten in der Stube war der Tisch gedeckt, aber
immer fehlte noch etwas, oder die Fliegen waren wegzujagen, und oben in
der Kammer lag noch Staub, und immer wieder Staub. Noch war kein Boot zu
sehen. Sie lehnte sich aufs Fensterbrett und sah hinaus; da hörte sie
dicht neben sich Schritte vom Wege her und wandte den Kopf; es war der
Schulmeister, der langsam, auf einen Stock gestützt, herunterkam, denn
mit seiner Hüfte ging es schlecht. Die klugen Augen blickten ruhig
umher; er blieb stehen und ruhte sich aus und nickte ihr zu: "Na, noch
nicht da?"--"Nein, sie müssen aber jeden Augenblick kommen."--"Schönes
Wetter zum Heuen heut!"--"Aber zu heiß für alte Leute zum Gehen."--Der
Schulmeister sah sie schmunzelnd an. "Sind junge Leute heut schon hier
gewesen?"--"Freilich, sind aber wieder fortgegangen."--"Ja, gewiß, ja;
die treffen sich wohl heut abend irgendwo."--"Kann schon sein, ja; Tore
sagt, sie sollen sich nicht bei ihm im Hause treffen, bis die Alten ihre
Zustimmung gegeben haben."--"Sehr richtig, sehr richtig."--Nach einer
Weile rief die Mutter: "Jetzt glaub' ich beinahe, sie kommen." Der
Schulmeister spähte lange in die Ferne. "Ja, das sind sie"; sie trat vom
Fenster zurück, und er ging ins Haus. Als er sich ein bißchen ausgeruht
und erfrischt hatte, gingen sie langsam an die See hinunter, während das
Boot in voller Fahrt heranschoß, denn Vater und Sohn ruderten beide. Die
Ruderer hatten die Jacken ausgezogen, es sprühte weiß unter den Rudern,
und bald war das Boot dicht bei ihnen, Öyvind wandte den Kopf und
blickte hinauf; er gewahrte die beiden an der Landungsstelle, zog die
Ruder ein und rief: "Guten Tag, Mutter,--guten Tag, Schulmeister!"--"Hat
der 'ne Mannsstimme bekommen!" sagte die Mutter mit strahlendem Gesicht.
"So was, so was! er ist noch gerade so hellblond", fügte sie hinzu. Der
Schulmeister holte das Boot heran, der Vater zog die Ruder ein, Öyvind
sprang an ihm vorbei an Land, gab erst der Mutter die Hand und dann dem
Schulmeister, lachte und lachte und fing, ganz gegen Bauernart, gleich
in einem reißenden Strom an zu erzählen vom Examen, von der Reise, von
dem Empfehlungsschreiben des Direktors und günstigen Anerbietungen. Er
fragte nach der Ernte und nach allen Bekannten, außer nach einer; der
Vater wollte das Gepäck aus dem Boot tragen, aber weil er auch etwas
hören wollte, dachte er, das habe ja auch noch Zeit, und ging mit. Und
so zogen sie ihres Wegs; Öyvind lachte und erzählte, und seine Mutter
lachte auch, denn sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Der
Schulmeister schlenderte langsam daneben und sah ihn verständnisvoll an;
der Vater ging bescheiden in etwas größerer Entfernung. Und so kamen sie
heim. Er freute sich über alles, was er sah; zuerst darüber, daß das
Haus frisch gestrichen, und daß die Mühle ausgebaut war, dann darüber,
daß die Butzenscheiben in Stube und Kammer herausgenommen waren, weißes
Glas an Stelle des grünen eingesetzt und der Fensterrahmen vergrößert
war. Als er hineintrat, kam ihm alles so merkwürdig klein vor, wie er
sich es gar nicht vorgestellt hatte, aber so lustig. Die Uhr gackerte
wie eine fette Henne, die geschnitzten Stühle sahen aus, als wollten sie
jeden Augenblick zu reden anfangen; jede Tasse auf dem gedeckten Tisch
kannte er; der weißgetünchte Herd lächelte ihm ein Willkommen zu; grünes
Laub hing duftend an den Wänden, Wacholderbüschel waren auf den Fußboden
gestreut und verkündeten den Festtag. Sie setzten sich zum Essen, aber
es wurde nicht viel daraus, denn er schwatzte unaufhörlich. Sie
betrachteten ihn sich jetzt mit mehr Muße, sahen die Veränderungen und
die Ähnlichkeiten, sie achteten auf alles, was neu an ihm war, bis hin
zu dem blauen Tuchanzug, den er trug. Einmal, als er gerade eine lange
Geschichte von einem seiner Kameraden erzählt hatte und endlich
aufhörte, so daß eine kleine Pause entstand, sagte der Vater: "Ich
verstehe beinahe kein Wort von dem, was Du sagst, Junge, Du sprichst so
übermäßig schnell."--Alle lachten herzlich, und Öyvind nicht am
wenigsten; er wußte recht gut, daß es sich so verhielt, aber es war ihm
nicht möglich, langsamer zu sprechen. Alles Neue, was er während seiner
langen Abwesenheit gesehen und gelernt hatte, hatte seine Phantasie und
seinen Verstand gepackt und ihn aus der gewohnten Haltung aufgerüttelt,
so daß die Kräfte, die lange geruht hatten, aufgescheucht wurden, und
der Kopf in unablässiger Arbeit war. Weiter fiel ihnen auf, daß er sich
angewöhnt hatte, ganz willkürlich zwei, drei Worte zu wiederholen vor
lauter Geschäftigkeit, fast, als stolpere er über sich selbst. Manchmal
klang's geradezu komisch, aber dann lachte er, und vergessen war es. Der
Schulmeister und der Vater saßen da und lauerten, ob er wohl seine alte
Umsicht verloren habe, aber es schien nicht so: er dachte an alles und
er erinnerte auch daran, daß sie wohl das Boot ausladen müßten; er
packte gleich seine Sachen aus und hängte sie hin, zeigte seine Bücher,
seine Uhr und alles Neue, und alles sei gut imstande, sagte seine
Mutter. Über sein kleines Gemach freute er sich unbändig; er wolle fürs
erste zu Hause bleiben, sagte er, beim Heuen helfen und lernen. Wo er
nachher hinwollte, wußte er noch nicht, aber das war ja auch noch
gleich. Sein Denken hatte eine erfrischende Kraft und Raschheit
bekommen, und seine Ausdrucksweise eine Lebendigkeit, die jedem wohltut,
der Jahr für Jahr bestrebt ist, sich zurückzuhalten. Der Schulmeister
fühlte sich um zehn Jahre verjüngt.

"So weit wären wir jetzt glücklich", sagte er strahlend, als er
aufbrach.

Als die Mutter ihn wie gewöhnlich hinausbegleitet hatte, rief sie Öyvind
in seine Kammer. "Es wartet jemand auf Dich um neun", flüsterte
sie.--"Wo?"--"Auf dem Berge."

Öyvind sah nach der Uhr; es ging auf neun. Drinnen konnte er es nicht
abwarten, sondern er ging hinaus, klomm den Berg empor, blieb oben
stehen und hielt Umschau. Das Hausdach lag dicht unter ihm; die Büsche
auf dem Dach waren groß geworden, all die jungen Bäume um ihn herum
waren auch gewachsen, und er kannte jeden einzigen. Er sah den Weg
hinunter, der am Berg entlang führte und an der andern Seite vom Walde
begrenzt war. Der Weg lag grau und eintönig da, der Wald aber trug Laub
mancherlei Art; die Bäume waren hoch und gerade gewachsen, in der
kleinen Bucht lag ein Fahrzeug mit schlaffen Segeln; es war mit Brettern
beladen und wartete auf Wind. Er sah aufs Wasser hinaus, auf dem er
fortgezogen und jetzt wieder heimgekehrt war; es lag still und blank da,
ein paar Seevögel schwebten drüber hin, lautlos, denn es war spät. Der
Vater kam von der Mühle her, blieb vor der Haustür stehen und blickte
gerade wie sein Sohn ins Land, dann ging er zum Strand hinunter, um das
Boot für die Nacht zu bergen. Die Mutter kam aus der Seitentür heraus,
sie war in der Küche gewesen, und sie sah zum Berge hinauf, als sie über
den Hof ging, um den Hühnern Futter zu bringen; sie sah noch einmal
hinauf und summte vor sich hin. Er setzte sich und wartete; das Gestrüpp
um ihn war so dicht geworden, daß er nicht drüber wegsehen konnte, aber
er lauschte auf das kleinste Geräusch. Erst waren es nur Vögel, die
aufflatterten und ihn neckten, dann ein Eichkätzchen, das von Baum zu
Baum sprang. Schließlich knackte es weiter hinten, und nach einem
Weilchen knackte es wieder. Er stand auf, das Herz klopfte ihm, und das
Blut schoß ihm ins Gesicht. Da raschelte es in den Büschen dicht neben
ihm, aber es war nur ein großer zottiger Hund, der ihn anblickte, auf
drei Beinen stehen blieb und sich nicht rührte. Das war der Hund vom
Oberen Heidehof, und dicht hinter ihm knackte es wieder; der Hund drehte
den Kopf und wedelte mit dem Schwanz; da kam Margit.

Ein Busch hakte sich in ihrem Kleide fest, sie drehte sich um und machte
ihn los, und dann erst konnte er sie sehen. Ihr Kopf war unbedeckt und
das Haar aufgesteckt, wie es die Mädchen an Werktagen tragen; sie hatte
ein grobes kariertes Kleid an ohne Ärmel und um den Hals nur einen
umgelegten Leinenkragen; sie hatte sich geradenwegs von der Feldarbeit
fortgeschlichen und hatte sich nicht erst putzen können. Jetzt sah sie
schräg in die Höhe und lächelte; die weißen Zähne und die
halbgeschlossenen Augen blitzten. So stand sie ein Weilchen da und
zupfte an ihrem Kleide, dann aber kam sie auf ihn zu und wurde röter bei
jedem Schritt. Er ging ihr entgegen und nahm ihre Hand in seine beiden.
Sie sah zu Boden, und so standen sie einander gegenüber.

"Ich dank' Dir für all Deine Briefe", war das erste, was er sagte, und
als sie da ein klein bißchen aufsah und lachte, merkte er, daß sie das
lustigste Hexlein war, dem man je im Walde begegnen konnte; aber doch
war er befangen, und sie war es nicht minder. "Wie groß Du geworden
bist!" sagte sie und meinte eigentlich etwas ganz anderes. Sie wagte
allmählich, ihn genauer anzusehen und lachte immer mehr, und er lachte
auch, aber sie sagten kein Wort. Der Hund hatte sich an den Abhang
gesetzt und schaute auf das Gehöft hinunter. Tore sah den Hundekopf vom
Wasser aus und konnte sich absolut nicht denken, was das da oben auf dem
Berge wohl sein könnte.

Die beiden aber hatten sich jetzt losgelassen und fingen bei kleinem zu
erzählen an. Und als er erst angefangen hatte, kam er bald so ins
Fahrwasser, daß sie über ihn lachen mußte. "Ja, siehst Du, das ist immer
so, wenn ich mich so freue, so richtig freue, siehst Du; und als
zwischen uns beiden alles gut wurde, da war's, als wenn ein Schloß in
mir aufsprang, aufsprang, siehst Du." Sie lachte. Nach einer Weile sagte
sie: "Die Briefe, die Du mir geschrieben hast, kann ich alle beinah
auswendig."--"Ich Deine auch! Aber Du hast immer nur so kurz
geschrieben."--"Weil Du immer so lange Briefe haben wolltest."--"Und
wenn ich wollte, wir sollten mehr von dem einen schreiben, dann rücktest
Du immer aus."--"Ich bin am hübschesten, wenn man bloß den Schwanz
sieht", sagt die Waldhexe.--"Aber Du hast mir nie geschrieben, wie Du
Jon Hatlen losgeworden bist."--"Ich hab' gelacht."--"Was?"--"Gelacht;
weißt Du nicht, was lachen ist?"--"Doch, lachen kann ich."--"Mach' mal
vor!"--"Na, so was! Ich muß doch erst was zum Lachen haben."--"Das
brauche ich nicht, wenn ich glücklich bin."--"Bist Du jetzt glücklich,
Margit?"--"Lache ich denn etwa?"--"Ja, das tust Du!"--Er faßte ihre
beiden Hände und schlug sie ineinander, klatsch, klatsch, und sah sie
dabei an. Da fing der Hund zu knurren an, seine Borsten sträubten sich,
und er bellte nach unten, lauter und lauter, zuletzt ganz wütend. Margit
lief erschrocken weg, Öyvind aber trat vor und sah hinunter. Das Bellen
galt seinem Vater; er stand unten dicht am Berge, die Hände in den
Taschen und sah zu dem Hund hinauf. "Du bist auch da oben? Was hast Du
denn da für einen verrückten Köter?"--"Das ist ein Hund vom Heidehof",
antwortete Öyvind etwas verlegen. "Wie zum Teufel kommt der da
hin?"--Die Mutter aber sah aus dem Küchenfenster, denn sie hatte den
fürchterlichen Lärm gehört; sie ahnte den Zusammenhang, lachte und
sagte: "Der Hund treibt sich immer hier herum; das ist weiter nichts
Besonderes."--"Das ist aber ein ganz gefährlicher Hund."--"Er ist nicht
so schlimm, wenn man ihn streichelt", sagte Öyvind und liebkoste den
Hund; da wurde er still,--er knurrte nur noch. Der Vater kehrte arglos
um, und die beiden waren vor Entdeckung sicher.

"Das ging noch gut ab", sagte Margit, als sie wieder zusammen
waren.--"Es kommt noch schlimmer, meinst Du?"--"Ich weiß, daß uns jemand
belauern wird."--"Dein Großvater?"--"Natürlich."--"Aber er soll uns
nichts anhaben!"--"Nicht so viel."--"Versprichst Du mir das?"--"Ja, das
verspreche ich, Öyvind."--"Wie hübsch Du bist, Margit!"--"Das sagte der
Fuchs auch zum Raben und stahl ihm den Käse."--"Ich will eben den Käse
auch gern haben."--"Du kriegst ihn aber nicht."--"Ich nehme ihn mir
aber." Sie drehte den Kopf weg, und er bekam den Käse nicht. "Jetzt will
ich Dir mal was sagen, Öyvind!" sie sah ihn von der Seite an.
"Nun?"--"Wie häßlich Du geworden bist!"--"Du wirst mir den Käse trotzdem
geben."--"Nein, das werde ich nicht", und sie wandte sich wieder ab.

"Ich muß jetzt gehen, Öyvind."--"Ich begleite Dich."--"Aber nur durch
den Wald; nachher kann Großvater Dich sehen."--"Ja, nur durch den Wald.
Aber warum läufst Du denn so?"--"Wir können hier doch nicht
nebeneinander gehen."--"Aber dann ist es doch keine Begleitung!"--"So
fang mich doch!"--Sie lief davon, er hinterher, bald blieb sie hängen,
und er fing sie.--"Habe ich Dich jetzt für immer gefangen, Margit?" er
hatte den Arm um sie gelegt.--"Ich glaube", sagte sie leise und lachte,
aber dann errötete sie und wurde ernst. "Jetzt muß es aber gehen",
dachte er, und er zog sie an sich und wollte sie küssen; doch sie
steckte den Kopf unter seinen Arm, lachte und lief ihm davon. Zwischen
den letzten Bäumen blieb sie aber stehen. "Wann treffen wir uns wieder?"
fragte sie leise. "Morgen, morgen", rief er ebenso zurück. "Ja,
morgen!"--"Leb' wohl!" sie lief weiter. "Margit!" sie stand still.--"Du,
das war fein, daß wir uns zuerst oben auf dem Berge trafen."--"Ja, das
war's!" und sie lief wieder weiter. Er sah ihr lange nach; der Hund lief
ihr voran und bellte, sie hinterher und beschwichtigte ihn. Er kehrte
um, nahm seine Mütze und warf sie in die Luft, fing sie und warf sie
noch einmal in die Höhe. "Jetzt, glaube ich, wirklich, ich fange an,
froh zu werden", sagte der Bursch und ging singend heimwärts.



Zehntes Kapitel


Eines Nachmittags gegen Ende des Sommers, als die Mutter mit einer Magd
Heu zusammenrechte, und der Vater und Öyvind es einbrachten, kam ein
barfüßiges, barhäuptiges Bürschchen den Hügel hinuntergesprungen, lief
über die Wiese auf Öyvind zu und gab ihm einen Zettel. "Du kannst fein
laufen", sagte Öyvind. "Ich krieg's auch bezahlt", antwortete der Junge.
Auf die Frage, ob er Antwort haben wolle, sagte er nein und trat
schleunigst den Rückzug über den Berg an, denn es komme einer hinter ihm
her, sagte er. Öyvind machte mit vieler Mühe das Zettelchen auf; es war
in einen Streifen zusammengefaltet, dann geknifft und dann zugesiegelt,
und auf dem Zettel stand:

"Jetzt ist er im Anmarsch; aber es geht langsam. Lauf in den Wald und
versteck' Dich!

Die Bewußte."

"Nein, das tu' ich nicht", dachte Öyvind und sah trotzig nach dem Hügel
hinauf. Es dauerte auch nicht lange, da kam ein alter Mann dort oben zum
Vorschein, verpustete sich, ging ein paar Schritte und verpustete sich
wieder. Tore und seine Frau hielten mit der Arbeit inne und blickten
hinauf. Tore lächelte, seine Frau aber wechselte die Farbe. "Kennst Du
den?"--"Ja, den soll man wohl kennen."

Vater und Sohn fingen wieder an, ihr Heu einzutragen, und Öyvind wußte
es so einzurichten, daß sie immer hintereinander hergingen. Der Alte
oben auf dem Hügel kam langsam heran wie ein schwerer Wolkenschauer von
Westen. Er war sehr groß und stark; weil er schlimme Füße hatte, mußte
er mühsam Schritt für Schritt am Stock gehen. Er war jetzt schon so
dicht dabei, daß sie ihn deutlich sehen konnten; er stand still, nahm
die Mütze vom Kopf und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß
ab. Sein Kopf war ganz kahl; er hatte ein rundes, runzliges Gesicht,
kleine lebhafte, zwinkernde Augen, buschige Brauen und noch alle Zähne
im Mund. Seine Stimme war scharf und kreischend, als gehe sie über Stock
und Stein; doch ab und zu verweilte sie so recht behaglich auf dem r,
schnarrte es ein paar Ellen lang und machte zugleich einen mächtigen
Sprung. Er hatte in seiner Jugend für einen lustigen, etwas heißblütigen
Menschen gegolten; auf seine alten Tage war er durch mancherlei
Unannehmlichkeiten mißtrauisch und jähzornig geworden.

Tore und sein Sohn mußten noch verschiedene Male hin und her pendeln,
bis Ole herangestelzt kam; sie wußten beide, daß er nichts Gutes im
Schilde führte, aber um so drolliger war es, daß er nur so langsam
herankam. Sie mußten beide ganz ernste Gesichter machen und ganz leise
sprechen; doch auf die Dauer wirkte das komisch. Ein einziges zündendes
Wort kann unter solchen Umständen zum Lachen reizen, zumal wenn mit dem
Lachen eine Gefahr verbunden ist. Als er schließlich bloß noch ein paar
Klafter weit fort war, die aber kein Ende nehmen wollten, sagte Öyvind
trocken und leise: "Der Mann muß schwere Ladung haben", und mehr war
nicht nötig. "Ich glaube, Du bist nicht recht klug", flüsterte der
Vater, dem das Lachen nahe war.--"Hm, hm", räusperte sich Ole auf der
Höhe. "Er bringt schon seine Kehle in Ordnung", flüsterte Tore. Öyvind
kniete vor dem Heuhaufen hin, grub das Gesicht hinein und lachte; auch
sein Vater bückte sich hinunter. "Komm in die Scheune", flüsterte er,
lud sein Heu auf und trabte davon; Öyvind bog sich vor Lachen, nahm auch
ein kleines Bündel, lief hinterher und warf sich auf die Tenne nieder.
Der Vater war ein ernster Mann; aber brachte ihn einer zum Lachen, dann
gluckste es erst ein bißchen in ihm, und dann kamen lange, abgebrochene
Triller, bis sie sich zu einem einzigen langen Brüllton vereinigten,
worauf dann Welle auf Welle mit immer längerem Schnaufen hervorbrach.
Jetzt war er ins Fahrwasser gekommen; der Sohn lag auf dem Boden, der
Vater stand dabei, und beide lachten, daß es schallte. Sie hatten immer
mal zwischendurch solchen Lachtag; aber "diesmal kommt es sehr
ungelegen", sagte der Vater. Schließlich wußten sie gar nicht, was
werden sollte, denn der Alte mußte ja inzwischen da sein. "Ich gehe
nicht 'raus," sagte der Vater, "ich habe nichts mit ihm zu
schaffen."--"Ja, dann geh' ich auch nicht", sagte Öyvind.--"Hm--hm",
hörten sie es draußen vor der Scheune. Der Vater drohte dem Burschen mit
der Faust: "Du machst, daß Du 'rauskommst!"--"Ja, geh Du
voran!"--"Willst Du gleich hingehen!"--"Ja, geh voran!" und sie klopften
sich gegenseitig die Röcke ab und gingen mit ernsten Mienen hinaus. Als
sie unten an die Scheunenbrücke kamen, sahen sie Ole an der Küchentür
stehen, als besinne er sich; er hatte Mütze und Stock in einer Hand und
trocknete sich mit dem Taschentuch den Schweiß von dem kahlen Schädel
und zupfte auch die Borsten hinter den Ohren und im Nacken zurecht, daß
sie wie Stacheln abstanden. Öyvind hielt sich dicht hinter dem Vater;
dieser mußte also stehen bleiben, und um endlich ein Ende zu machen,
sagte er mit sehr ernstem Gesicht: "Na, alte Leute noch auf den Beinen?"
Ole drehte sich um, sah ihn scharf an und setzte die Mütze zurecht, bis
er antwortete: "Ja, scheint so!"--"Du bist gewiß müde; willst Du nicht
hereinkommen?"--"Ach, ich ruhe mich hier im Stehen aus; mein Geschäft
dauert nicht lange."--Da klinkte jemand die Küchentür auf, zwischen der
Frau in der Tür und Tore stand der alte Ole, den Mützenschirm tief über
die Augen gezogen; denn seit er kein Haar mehr hatte, war ihm die Mütze
zu groß geworden. Um sehen zu können, bog er den Kopf ganz hintenüber;
den Stock hielt er in der rechten Hand, die linke stemmte er in die
Seite, wenn er nicht damit gestikulierte; aber auch dann streckte er sie
nur halb von sich und ließ sie in dieser Stellung, um gewissermaßen
seiner Würde nichts zu vergeben. "Ist das Dein Sohn, der da hinter Dir
steht?" fragte er mit rauher Stimme. "Ich denke."--"Öyvind heißt er,
nicht?"--"Ja, er heißt Öyvind."--"Er ist auf einer Ackerbauschule da
unten im Süden gewesen?"--"So was war's ja wohl."--"Na, das Mädel, meine
Großtochter, die Margit, ja, die ist jetzt ganz verrückt
geworden."--"Das wär' schlimm."--"Sie will nicht heiraten."--"Na
nu?"--"Sie will keinen von den Bauernsöhnen, die sich um sie
bemühen."--"Ach so!"--"Aber der da ist schuld dran."--"Soo?"--"Er hat
ihr den Kopf verdreht; ja, der da, Dein Sohn Öyvind."--"Teufel
auch!"--"Siehst Du, ich mag nicht, daß mir einer meine Pferde stiehlt,
wenn ich sie in die Koppel bringe, und ich mag auch nicht, daß mir einer
meine Töchter nimmt, wenn ich sie zum Tanz lasse, das mag ich ganz und
gar nicht."--"Nein, das versteht sich!"--"Ich kann nicht
hinterherlaufen; ich bin alt, ich kann nicht immerzu aufpassen."--"Nein,
nein!"--"Siehst Du, bei mir muß alles seine Art haben; hier muß der
Hauklotz stehen, und da die Axt liegen, und da das Messer, und da soll
gekehrt werden, und da sollen sie das Holz hinwerfen, nicht vor die Tür,
da in die Ecke, ja gerade dahin und nirgends anders. Ebenso: wenn ich zu
ihr sage: nicht der, sondern jener,--dann soll es eben auch der
sein--und nicht jener!"--"Ganz richtig."--"Aber so ist das nicht; drei
Jahre lang hat sie nein gesagt, und seit drei Jahren können wir uns
nicht mehr vertragen. Das ist schlimm; und wenn der da schuld dran ist,
so kann ich ihm sagen, daß Du, sein Vater, es hörst: es nützt ihm alles
nichts; es ist Schluß."--"Ja, ja." Ole sah Tore eine Weile an, dann
sagte er: "Du bist ja so kurz angebunden."--"Länger ist die Wurst eben
nicht!"

Da mußte Öyvind lachen, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumut war.
Aber bei freudigen Menschen liegt die Furcht immer an der Grenze des
Lachens, und jetzt neigte er zum Lachen. "Worüber lachst Du?" fragte Ole
kurz und scharf.--"Ich?"--"Lachst Du über mich?"--"Gott bewahre!" aber
seine eigene Antwort reizte seine Lachlust noch mehr. Das sah Ole, und
er wurde ganz wütend. Tore und Öyvind wollten es wieder gut machen durch
ein ernstes Gesicht, und sie baten ihn, mit hineinzukommen; aber ein
dreijahrelanger Ärger mußte sich Luft machen, und der ließ sich nicht
eindämmen. "Du brauchst mich nicht zum Narren zu halten," fing er an,
"ich bin in meinem Recht; ich sorge für das Glück meiner Enkelin, so gut
ich es verstehe, und das Gefeixe eines Lümmels soll mich nicht hindern.
Man zieht keine Mädels groß, um sie in die erste beste Kate, die sich
auftut, hinzugeben, und man steht nicht vierzig Jahre lang einem Hof
vor, um das alles dem ersten besten an den Hals zu werfen, der dem Mädel
den Kopf verdreht. Meine Tochter jammerte und wehklagte so lange, bis
sie an einen Landstreicher verheiratet war, der sie alle beide zu Tode
soff, und ich mußte das Kind zu mir nehmen und den Spaß bezahlen; aber
gnade Gott, wenn es mit meiner Großtochter ebenso gehen sollte, jetzt
weißt Du's.--Ich will Dir sagen, so wahr ich Ole Nordistuen vom Heidehof
bin, eher wird der Pfarrer das Hexenvolk im Walde von Norddal trauen,
ehe er Margit und Dich, Du Scheusal, aufbieten soll.--Du willst wohl
alle anständigen Freier vom Hof weggraulen? Versuch's nur und komm, dann
fliegst Du den Berg 'runter, daß Dir die Schuhe um die Ohren schlagen.
Du Affenkerl! Du glaubst wohl, ich weiß nicht, was Ihr denkt, Du und
das Mädel,--Ihr denkt, der alte Ole Nordistuen wird bald die Nase in die
Luft strecken da draußen auf dem Kirchhof--und dann--hast du nicht
gesehen--wollt Ihr vor den Altar. Ich habe jetzt sechsundsechzig Jahre
gelebt und ich will Dir zeigen, Bengel, daß ich lebe, bis Ihr alle beide
die Gelbsucht darüber kriegt! Meinetwegen kannst Du Dich wie Neuschnee
ums Haus legen, aber nicht mal ihre Fußsohlen wirst Du zu sehen
bekommen, denn ich schick' sie weg; ich schicke sie wohin, wo sie sicher
ist; dann kannst Du hier ja wie 'ne Lachmöve 'rum flattern und Dich mit
Regen und Nordwind verheiraten. Und weiter habe ich Dir nichts zu sagen;
aber jetzt kennst Du, sein Vater, meine Ansicht, und wenn Du sein Bestes
willst, das hier auf dem Spiel steht, dann sorg' dafür, daß er den Fluß
so gräbt, wie das Wasser laufen kann; über mein Eigentum geht kein
Weg."--Er ging mit kleinen, raschen Schritten zurück, wobei er den
rechten Fuß etwas höher hob als den linken und leise vor sich
hinschimpfte.

Die Zurückbleibenden waren plötzlich sehr ernst geworden; eine böse
Ahnung hatte sich in ihr Lachen und Scherzen gemischt, und still war's
einen Augenblick im Hause wie nach einem großen Schrecken. Die Mutter,
die in der Küchentür alles mitangehört hatte, sah Öyvind bekümmert an;
die Tränen waren ihr nahe, aber sie wollte ihm das Herz nicht durch
irgend ein Wort noch schwerer machen. Als sie alle schweigend
hineingegangen waren, setzte sich der Vater ans Fenster und sah Ole mit
tiefernsten Blicken nach. Öyvinds Augen hingen an jeder seiner Mienen,
denn mit dem ersten Wort, das er sprechen würde, mußte sich die Zukunft
der beiden jungen Menschen entscheiden. Setzte Tore sein Nein gegen das
Oles, so war kaum daran vorbeizukommen. Seine Gedanken liefen geängstigt
von einem Hindernis zum andern; er sah einen Augenblick nichts als
Armut, Widrigkeiten, Mißverständnisse und gekränktes Ehrgefühl, und
alles wankte und wich vor seinen Augen. Seine Unruhe wuchs, weil die
Mutter so dastand, die Hand an der Klinke der Küchentür, ungewiß, ob sie
den Mut finden würde, dazubleiben und die Aussprache abzuwarten, bis sie
zuletzt alle Courage verlor und hinausschlich. Öyvind sah unverwandt
seinen Vater an, dessen Auge scheinbar nicht wieder in die Stube
zurückfinden konnte; der Sohn wagte nichts zu sagen, denn der andere
mußte erst mit seinen Gedanken zu Ende sein. Aber gerade jetzt hatte
seine Seele den Kreis der Angst durchlaufen und raffte sich wieder auf:
"niemand als Gott allein vermag uns schließlich zu trennen", dachte er
bei sich selbst und blickte auf die gerunzelten Brauen seines
Vaters;--jetzt kam's wohl bald. Tore seufzte schwer, erhob sich, sah auf
und begegnete dem Blick seines Sohnes. Er blieb stehen und sah ihn lange
an.--"Mein Wille wäre, daß Du von ihr ließest, denn man soll sich nie
etwas erbetteln oder ertrotzen. Willst Du aber nicht von ihr lassen, so
kannst Du mir's gelegentlich sagen; vielleicht kann ich Dir dann
helfen." Er ging an seine Arbeit, und sein Sohn folgte ihm.

Am Abend aber war Öyvind mit seinem Plan im reinen; er wollte sich um
die Stelle des Amtsagronomen bewerben und den Direktor und den
Schulmeister bitten, ihm dabei behilflich zu sein. "Bleibt sie fest,
dann werde ich sie mir mit Gottes Hilfe durch meine Arbeit erringen."

Er wartete diesen Abend vergebens auf Margit, aber er sang, während er
dort auf- und abging, sein Lieblingslied:

    Hoch den Kopf, du frischer Gesell!
    Schwand eine Hoffnung, wird dir schnell
    Vor Augen die neue glühen
    Und flugs entflammen und sprühen.

    Hoch den Kopf, blicke weit und frei!
    Etwas ist da, das ruft: "komm herbei!"
    Mit tausend Zungen, die preisen
    Den Frohmut in sieghaften Weisen.

    Hoch den Kopf; denn im Herzensgrund
    Blauet auch dir ein Himmelsrund,
    Drin Jubelchöre und Schwingen
    Bei Harfenakkorden klingen.

    Hoch den Kopf und sing es heraus!
    Nie erstickst du des Frühlings Braus;
    Doch, wo die Kräfte gären,
    Da treiben die Halme bald Ähren.

    Hoch den Kopf, laß Paten dir fein
    Droben die Hoffnungsstrahlen sein,
    Die Welten umwölben, die beben
    In jedem Fünklein Leben.



Elftes Kapitel


In der Mittagspause war's; auf den großen Heidehöfen schliefen die
Leute. Das Heu lag auf den Wiesen aufgeworfen und die Rechen staken in
der Erde. Vor dem Scheunentor standen die Heuwagen, das abgezäumte
Sattelzeug lag daneben, und die Pferde waren eine Strecke weiter
angebunden. Außer ihnen und ein paar Hühnern, die auf die Äcker
hinausgelaufen waren, war weit und breit kein lebendes Wesen zu sehen.

In dem Felsen jenseits der Höfe war eine Kluft; von da führte der Weg zu
den Heidehofalmen, großen, grasreichen Hochebenen. Oben in der Kluft
stand heut ein Mann und hielt Umschau, als warte er auf jemand. Hinter
ihm war ein kleiner Bergsee, wo der Bach entsprang, der die Kluft in den
Felsen gegraben hatte; um diesen See herum führten zu beiden Seiten die
Viehsteige nach den Almen hinüber, die man in der Ferne sehen konnte.
Jodeln und Gekläff klang zu ihm hin, die Kuhglocken läuteten auf den
Höhen; denn die Kühe rasten umher und wollten Wasser, und Hunde und
Hirten versuchten vergeblich, sie zusammenzutreiben. Die Kühe machten
die wunderlichsten Grimassen und Sprünge und liefen mit kurzem,
wütendem Gebrüll und hocherhobenem Schweif gerade in den See hinein; da
blieben sie stehen; ihre Glocken läuteten bei jeder Kopfbewegung über
den See hin. Die Hunde tranken auch, aber sie blieben am Lande stehen,
und die Hirten kamen hinterdrein und setzten sich auf den warmen glatten
Felsen. Da holten sie ihr Vesperbrot heraus, tauschten es gegenseitig
aus, prahlten mit ihren Hunden, ihren Ochsen und ihrer Herrschaft, zogen
sich dann aus und sprangen zu den Kühen ins Wasser. Die Hunde wollten
nicht mit; sie schlichen träge umher mit hängendem Kopf und brennenden
Augen, und die Zunge hing ihnen aus der Schnauze. Rings auf den Hängen
war kein Vogel zu sehen, kein Laut zu hören außer dem Geplauder der
Mägde und dem Läuten der Glocken; das Gras war verdorrt und versengt;
die Sonne brannte auf die Halden, daß alles in der Hitze erstickte.

Öyvind war's, der da oben in der Mittagssonne saß und wartete. Er saß in
Hemdärmeln dicht am Bach, der aus dem See herauskam. Noch immer war auf
dem ganzen Heidehof keiner zu sehen, und allmählich wurde ihm ängstlich
zumute; da kam plötzlich ein großer Hund schwerfällig auf Nordistuen aus
einer Tür, und hinter ihm ein Mädchen in Hemdärmeln. Sie lief über die
Wiesen den Berg hinan; er hatte große Lust, ihr zuzujauchzen, aber er
wagte es nicht. Er behielt aufmerksam den Hof im Auge, ob auch keiner
komme und sie sehe, aber schon war sie in Sicherheit, und er sprang ein
paarmal ungeduldig auf.

Dann war sie endlich mühsam am Bach heraufgeklommen, der Hund dicht vor
ihr schnupperte in der Luft; sie hielt sich am Gebüsch fest, aber ihre
Schritte wurden immer müder. Öyvind lief ihr entgegen, der Hund knurrte,
wurde aber gleich zum Schweigen gebracht; als Margit ihn kommen sah,
setzte sie sich rot wie Blut, müde und abgespannt von der Hitze auf
einen großen Stein. Er schwang sich auf den Stein neben sie. "Ich danke
Dir, daß Du kommst."--"Aber die Hitze und dieser Weg! Hast Du lange
gewartet?"--"Nein! Wenn man uns abends aufpaßt, müssen wir eben die
Mittagsstunde ausnutzen. Aber ich denke, fortan brauchen wir nicht mehr
so heimlich und umständlich zu verfahren; ich wollte mit Dir darüber
reden."--"Nicht heimlich?"--"Ich weiß ja, Dir gefällt gerade das
Heimliche am besten; aber Mut magst Du doch auch zeigen. Ich habe heute
viel mit Dir zu besprechen, und Du mußt gut zuhören."--"Ist es wahr, daß
Du Amtsagronom werden willst?"--"Ja, und ich werde es auch erreichen.
Ich habe dabei eine doppelte Absicht, erstens die, eine Stellung zu
bekommen, außerdem aber und vor allen Dingen, etwas zu erreichen, was
Deinem Großvater auffallen muß. Es trifft sich so glücklich, daß die
meisten Bauern hier auf den Heidehöfen junge Leute sind, die
Verbesserungen einführen möchten und dazu Hilfe brauchen; Geld haben sie
auch. Da fange ich an; ich bringe alles in Ordnung, von ihren Kuhställen
an bis zu ihren Wasserleitungen; ich werde Vorträge halten und arbeiten
und den Alten sozusagen durch gute Taten bekehren."--"Das ist fein;
weiter, Öyvind!"--"Ja, das andere betrifft uns beide. Du darfst nicht
fort."--"Wenn er es aber befiehlt?"--"Und nichts mehr verheimlichen was
uns beide angeht."--"Und wenn er mich quält?"--"Wir erreichen nämlich
mehr und können uns besser schützen, wenn wir alles öffentlich tun. Wir
wollen gerade vor aller Leute Augen zusammen sein, damit sie davon
reden, wie lieb wir uns haben; um so eher wünschen sie, daß es uns gut
geht. Du darfst nicht fort. Es ist immer eine Gefahr in der Trennung,
und es kann allerhand Klatsch dazwischen kommen. Im ersten Jahr glaubt
man's nicht, aber nachher im zweiten leuchtet es einem so allmählich
ein. Wir beide wollen uns einmal in der Woche treffen und alles Böse
hinweglachen, das man zwischen uns säen will; wir treffen uns auch beim
Tanz und treten den Takt, daß es nur so klappt, während alle unsere
Verleumder um uns herumsitzen. Wir treffen uns in der Kirche und nicken
uns zu, daß auch die es sehen, die uns hundert Meilen auseinander haben
möchten. Macht einer einen Vers auf uns, dann setzen wir uns hin und
versuchen, eine Antwort drauf zu machen; das wird schon gehen, wenn wir
uns gegenseitig helfen. Keiner kann uns was anhaben, wenn wir
zusammenhalten und den Leuten auch zeigen, daß wir es tun. Unglücklich
in der Liebe können bloß die furchtsamen Leute sein oder die Schwachen
und Kranken und die Berechnenden, die immer auf eine bestimmte
Gelegenheit warten, oder die Schlauen, die schließlich sich an ihrer
eigenen Schlauheit verbrennen, oder die Sinnlichen, die sich nicht so
lieb haben, daß sie Stand oder Unterschied darüber vergessen,--die
verkriechen sich, schreiben Briefe, beben bei jedem Wort und am Ende
halten sie diese Angst, diese beständige Unruhe und das Prickeln im Blut
für Liebe, fühlen sich unglücklich und zergehen wie Zucker. Pah, wenn
die sich richtig lieb hätten, so hätten sie eben keine Angst; dann
würden sie lachen und, offen in jedem Lächeln und jedem Wort,
geradenwegs auf die Kirchtür zugehen. Ich habe darüber in den Büchern
gelesen und habe es selbst mit angesehen: mit der Liebe, die auf
Schleichwegen geht, ist's jämmerlich bestellt. Die Liebe muß in
Heimlichkeit beginnen, weil sie in Scheu beginnt,--aber leben muß sie in
Offenheit, weil sie in Freude lebt. Das ist wie beim jungen Laub. Was
wachsen will, das kann sich auch nicht verbergen, und immer wirst Du
bemerken, daß alles Dürre am Baum in derselben Stunde abfällt, da das
Laub knospen und keimen will. Einer, über den die Liebe kommt, wirft
alles hin, was er an altem toten Kram noch festhielt; die Säfte
schwellen und treiben, und das sollte man nicht merken? Hei, Mädel, die
sollen sich mitfreuen, wenn sie uns fröhlich sehen. Zwei Brautleute, die
sich treu bleiben, sind eine Wohltat für das Volk, denn sie schenken ihm
ein Gedicht, das ihre Kinder zur Schande der ungläubigen Eltern
auswendig lernen. Ich habe von vielen solchen Gedichten gelesen; auch
hier im Gau leben welche im Volksmund, und eben die Kinder derer, die
einst alles Schlimme verschuldet haben, erzählen jetzt davon und weinen
darüber. Ja, Margit, jetzt wollen wir uns die Hand geben,--so, ja, und
dann wollen wir uns versprechen, zusammenzuhalten,--so, ja, und dann
wird's schon gehen, hurra!--" Er wollte sie beim Kopf fassen, aber sie
drehte den Kopf zur Seite und ließ sich vom Stein heruntergleiten.

Er blieb sitzen; sie kam zurück, stützte die Arme auf seine Knie und sah
zu ihm auf, während sie mit ihm sprach. "Hör' mal, Öyvind, wenn er nun
will, ich soll fort, was dann?"--"Dann sagst Du nein, frei
heraus."--"Geht denn das, Schatz?"--"Er kann Dich doch nicht selbst auf
den Wagen setzen!"--"Wenn er das auch nicht gerade tut, so hat er doch
viele andere Mittel, wodurch er mich zwingen kann."--"Das glaube ich
nicht; Gehorsam bist Du ihm freilich schuldig, solange er keine Sünde
von Dir verlangt; aber Du hast auch die Pflicht, ihm frei heraus zu
sagen, wie schwer es diesmal für Dich ist, gehorsam zu sein. Ich meine,
er kommt zur Vernunft, wenn er das sieht; jetzt glaubt er eben noch wie
die meisten, es ist bloß Kinderei. Zeige ihm, daß es mehr ist."--"Mit
ihm ist ja nicht zu spaßen. Er bewacht mich wie 'ne angebundene
Ziege."--"Du reißt Dich aber ein paarmal am Tage los."--"Das ist nicht
wahr."--"Doch, immer wenn Du heimlich an mich denkst, reißt Du Dich
los."--"Ja dann. Aber weißt Du denn bestimmt, daß ich so oft an Dich
denke?"--"Sonst wärst Du ja nicht hier."--"Aber Du hast mir doch sagen
lassen, ich solle kommen."--"Du gingst aber doch, weil Deine Gedanken
Dich dazu trieben!"--"Nein, bloß weil das Wetter so schön war."--"Du
sagtest vorhin, es sei zu heiß."--"Zum Bergauf gehen, ja; aber bergab
nicht."--"Warum gingst Du denn hinauf?"--"Um wieder hinunterlaufen zu
können!"--"Warum hast Du das nicht schon lange getan?"--"Weil ich mich
erst ausruhen mußte."--"Und mit mir von Liebe reden?"--"Ich konnte Dir
doch die Freude machen, zuzuhören."--"Beim Vogelsang."--"Wo alles
ruht."--"Und beim Glockenklang."--"In Waldeshut."

In diesem Augenblick sahen die beiden Margits Großvater auf den Hof
gehumpelt kommen und nach der Glocke gehen, um die Leute
zusammenzurufen. Die Leute kamen aus Scheunen, Schuppen und Häusern
heraus, gingen schläfrig hin zu den Pferden oder den Rechen, verteilten
sich über das Feld, und nach einer Weile war alles wieder Leben und
Arbeit. Nur der Großvater ging von einem Haus ins andere und zuletzt auf
die höchste Scheunenbrücke hinauf und hielt Umschau. Ein kleiner Junge
kam auf ihn zugesprungen, wahrscheinlich hatte er ihn gerufen. Der Junge
lief dann wahrhaftig nach der Richtung hin, wo Pladsen lag, der
Großvater ging inzwischen rund ums Gehöft und blickte dabei häufig in
die Höhe; ihm dämmerte wohl, daß das Schwarze da oben auf dem "Großen
Stein" Margit und Öyvind seien. Und wieder war Margits großer Hund
hinderlich. Er sah ein fremdes Pferd auf den Heidehof einbiegen, und da
er dachte, es gehöre zu seinem Geschäft als Hofhund, fing er aus
Leibeskräften zu bellen an. Sie suchten den Hund zu beschwichtigen, aber
er war wütend geworden und wollte nicht aufhören, unten stand der
Großvater und starrte in die Luft. Aber es wurde noch schlimmer, denn
die Hunde von der Alm hörten mit Verwunderung die fremde Stimme und
kamen herzugelaufen. Als sie sahen, daß es ein großer, wolfähnlicher
Riese war, verbündeten sich die zottigen Finnenhunde gegen diesen einen;
Margit bekam solche Angst, daß sie ohne Adieu davonlief; mitten auf dem
Schlachtfeld stand Öyvind und trat und schlug um sich, aber sie
flüchteten nur vom Kampfplatz, um sich unter grausigem Geheul und
Gekläff ein Stück weiter wieder zusammenzurotten; er wieder hinter ihnen
her, und so zogen sie allmählich zum Bachabhang hin; da lief er schnell
hinzu, und die Folge war, daß sie alle miteinander ins Wasser purzelten,
gerade an einer Stelle, wo es ordentlich tief war; da rannten sie
beschämt auseinander, und so endete diese Schlacht am Walde. Öyvind ging
quer durch den Forst, bis er auf die Dorfstraße kam, Margit aber lief
ihrem Großvater unten am Zaun in die Arme; das hatte der Hund ihr
eingebrockt.

"Wo kommst Du her?"--"Aus dem Wald!"--"Was hast Du da gemacht?"--"Beeren
gepflückt."--"Das ist nicht wahr!"--"Nein, das ist es auch nicht!"--"Was
hast Du denn gemacht?"--"Ich habe mit einem geredet."--"Mit dem
Pladsenbengel?"--"Ja."--"Hör' mal, Margit, morgen reist
Du--"--"Nein."--"Hör' mal, Margit, ich will Dir bloß eins sagen, bloß
das eine: Du wirst reisen."--"Du kannst mich doch nicht selbst in den
Wagen setzen?"--"So? Kann ich das nicht?"--"Nein, denn das willst Du
nicht,"--"Will ich nicht? Hör' mal, Margit, bloß zum Spaß, siehst Du,
bloß zum Spaß will ich Dir sagen, daß ich dem Lausbuben die Knochen im
Leibe entzwei schlagen werde."--"Das wagst Du aber doch nicht."--"Das
wage ich nicht? Du sagst, das wage ich nicht? Wer sollte mir wohl was
tun?"--"Der Schulmeister."--"Der Schu-Schu-Schulmeister? Denkst Du, der
kümmert sich um den?"--"Ja, der hat ihn doch auf die Ackerbauschule
geschickt."--"Der Schulmeister?"--"Der Schulmeister!"

"Hör', Margit, ich will von dem Gelaufe nichts wissen; Du sollst hier
weg. Du machst mir bloß Sorge und Kummer, gerade wie Deine Mutter, bloß
Sorge und Kummer. Ich bin ein alter Mann, ich will Dich gut versorgt
sehen, ich will nicht von den Leuten deswegen für einen Narren gehalten
werden; ich will bloß Dein Bestes; das mußt Du doch zugeben, Margit.
Wenn es mit mir zu Ende ist, stehst Du allein da; wie wäre es Deiner
Mutter ergangen, wenn ich nicht gewesen wäre? Hör', Margit, sei
vernünftig--hör', was ich sage; ich will bloß Dein Bestes."--"Nein, das
willst Du nicht."--"So? Was will ich denn?"--"Deinen Willen durchsetzen,
das willst Du; aber nach meinem fragst Du nicht."--"Du willst auch
schon 'nen Willen haben, Du Kiekindiewelt? Du solltest schon wissen, was
zu Deinem Besten ist, Du dummes Mädel? Ich werd' Dir mal den Stock zu
schmecken geben, ja, das werd' ich, so groß und lang Du bist. Hör',
Margit, ich will noch mal im Guten mit Dir reden. Du bist im Grunde gar
nicht so dumm--das ist bloß 'ne fixe Idee von Dir. Du solltest auf mich
hören, ich bin ein alter, vernünftiger Mann. Wir wollen noch mal im
Guten drüber reden; mit mir' ist gar nicht soviel los, wie die Leute
denken; ein armer lockerer Vogel hat bald mit dem bißchen aufgeräumt,
was ich habe; Dein Vater hat schon den Anfang damit gemacht. Man muß in
dieser Welt für sich selbst sorgen; besser verdient es keiner. Der
Schulmeister hat gut schwatzen, der hat Geld, und der Pfarrer auch; da
ist gut predigen. Aber bei uns, die sich ums tägliche Brot quälen
müssen, ist das ganz was andres. Ich bin alt und habe viel erfahren und
gesehen. Liebe, siehst Du, ist ja ganz schön, wenn man davon redet, aber
sonst ist sie nichts wert; das ist bloß was für die Geistlichen und für
solche Leute--die Bauern müssen die Sache anders anpacken. Erst das
Essen, siehst Du, dann Gotteswort, und dann ein bißchen Schreiben und
Rechnen und dann noch ein bißchen Liebe, wenn es sich gerade so macht.
Aber es nützt blutwenig, wenn man zu oberst die Liebe stellt und ans
Ende das Essen. Was sagst Du dazu, Margit?"--"Ich weiß nicht."--"Du
weißt nicht, was Du sagen sollst?"--"Doch, das weiß ich."--"Nun,
und?"--"Soll ich es sagen?"--"Ja, natürlich sollst Du es sagen!"--"Ich
bin sehr für die Liebe." Er stand einen Augenblick verdutzt da, dann
fielen ihm hundert ähnliche Gespräche mit ganz ähnlichem Ausgang ein,
und er schüttelte den Kopf, drehte ihr den Rücken und ging.

Er ließ seinen Zorn an den Taglöhnern aus, schnauzte die Mägde an,
prügelte den großen Hund und brachte beinahe ein Hühnchen um, das aufs
Feld hinausgelaufen war; zu ihr aber sagte er nichts.

An dem Abend war Margit so fröhlich, als sie zu Bett ging, daß sie das
Fenster aufmachte, sich hinauslehnte, lange hinausschaute und sang. Sie
hatte ein kleines, feines Liebeslied bekommen, und das sang sie:

    Hältst du treu zu mir,
    Halt' ich treu zu dir
    Alle Tage, die mein eigen.
    Sommerzeit ging fort;
    Grün, das nun verdorrt,
    Kehrt zurück mit unserm Reigen.

    Was dein Mund einst sprach,
    Laut klingt's in mir nach.
    Wie ein Vöglein auf dem Aste
    Singt und was verbricht,
    So mein Lied verspricht
    Glück in warmem Sonnenglaste.

    Litli--litli--lu!
    Kannst mich hören du,
    Deinen Liebsten hinterm Hügel?
    Menschenwort verhallt,--
    Dunkel wird's im Wald;
    Doch vielleicht gibst du mir Flügel.

    Bussi--bissi--buß!
    Klang im Lied ein Kuß?
    Nein, davon ist nicht die Rede.
    Wie, du hast's gehört?
    Bist du so betört,
    Dann geraten wir in Fehde.

    Gute, gute Nacht!
    Träumen werd' ich sacht
    Von zwei milder Augen Strahlen,
    Von den Worten traut,
    Die sich ohne Laut
    Töricht aus der Seele stahlen.

    Kind, nun schließ ich ab;
    War es dir zu knapp?
    Kehrt mein Lied im Echo wieder
    Lockend zu mir her?
    Wolltest du noch mehr?--
    Laue Nacht sinkt still hernieder.



Zwölftes Kapitel


Ein paar Jahre sind seit dem letzten Auftritt dahingegangen.

Es ist spät im Herbste; der Schulmeister ist nach Nordistuen
hinaufgewandert, macht die Haustür auf, findet keinen, macht die nächste
Tür auf, findet wieder keinen und geht so immer weiter bis in die
hinterste Kammer des langen Gebäudes. Da sitzt Ole Nordistuen ganz
allein vorm Bett und schaut auf seine Hände.

Der Schulmeister begrüßt ihn, zieht sich einen Holzstuhl heran und setzt
sich Ole gegenüber. "Du hast nach mir geschickt", sagt er. "Das habe
ich."

Der Schulmeister nimmt sich einen neuen Priem, sieht sich in der Kammer
um, holt sich ein Buch, das auf der Bank liegt, und blättert darin. "Was
wolltest Du denn von mir?"--"Das überlege ich mir gerade."

Der Schulmeister läßt sich Zeit, holt seine Brille heraus, um den Titel
des Buches zu lesen, wischt sie ab und setzt sie auf. "Du wirst alt,
Ole."--"Ja, darüber wollte ich ja gerade mit Dir reden. Es geht
rückwärts mit mir; bald liege ich flach."--"Dann sorge dafür, daß Du gut
liegst, Ole."--Er macht das Buch zu und sieht aus dem Fenster.

"Das ist ein gutes Buch, was Du da in der Hand hast."--"Es ist nicht
schlecht; bist Du oft über den Einband hinausgekommen?"--"Jetzt in der
letzten Zeit, ja--".

Der Schulmeister legt das Buch fort und steckt die Brille wieder ein.
"Dir geht es wohl nicht nach Wunsch, Ole?"--"So lang ich denken kann,
nicht."--"Ja, so ist's mir auch gegangen. Ich lebte mit einem guten
Freund in Unfrieden und dachte, er müsse zu mir kommen, und solange war
ich unglücklich. Schließlich kam ich auf den Einfall, zu ihm zu gehen,
und seit der Zeit war alles gut."--Ole sieht auf und schweigt.

Der Schulmeister: "Wie findest Du denn, daß es mit Deinem Hof geht,
Ole?"--"Rückwärts wie mit mir selbst."--"Wer soll ihn haben, wenn Du
nicht mehr bist?"--"Das weiß ich ja eben nicht; das quält mich ja
gerade!"

"Bei Deinen Nachbarn steht es jetzt sehr gut, Ole."--"Ja, die haben ja
auch den Agronomen als Hilfe."

Der Schulmeister, der sich gleichgültig nach dem Fenster umwendet: "Du
müßtest auch Hilfe haben, Ole. Sehen kannst Du nicht mehr ordentlich,
und von der neuen Landwirtschaft verstehst Du nicht viel."

Ole: "Wer sollte mir wohl helfen?"--"Hast Du schon einen darum gebeten?"
Ole schweigt.

Der Schulmeister: "Ich habe mich auch lange so mit dem lieben Gott
gestanden.--Du bist gar nicht gut gegen mich, sagte ich zu ihm.--Hast Du
mich darum gebeten? fragte er. Nein, das hatte ich nicht getan; da bat
ich denn, und seit der Zeit ist es mir recht gut gegangen."--Ole
schweigt, und da schweigt auch der Schulmeister.

Schließlich sagt Ole: "Ich habe ein Großkind; sie weiß, womit sie mir
eine Freude machen könnte, ehe sie mich forttragen, aber sie tut es
nicht."--Der Schulmeister lächelt: "Vielleicht wäre das für sie keine
Freude." Ole schweigt.

Der Schulmeister: "Dich drückt allerhand, aber soweit ich es beurteilen
kann, dreht sich doch alles schließlich um den Hof."--Ole sagt leise:
"Er ist schon so lange in der Familie, und es ist guter Boden. Alles,
was Vater und Großväter zusammengerackert haben, liegt in ihm, aber
jetzt will nichts mehr gedeihen. Wenn sie mich hinausfahren, weiß ich ja
nicht einmal, wer nach mir hineinfährt. In der Familie bleibt er
nicht."--"Aber Deine Großtochter ist doch noch da."--"Wie wird aber der
Mann, der sie bekommt, mit dem Hof umgehen? Das möchte ich wissen, ehe
ich mich zur Ruhe lege. Es ist nicht mehr viel Zeit zu verlieren,
Baard,--nicht für mich noch für den Hof."

Sie schweigen beide; da sagt der Schulmeister: "Wollen wir nicht bei dem
schönen Wetter ein bißchen an die Luft gehen?"--"Ja, das können wir. Auf
den Halden draußen sind Arbeiter; sie sollen Laub holen, aber sie tun
bloß was, wenn ich dabeistehe." Er stolpert nach der großen Mütze und
dem Stock und sagt: "Sie mögen bei mir nicht arbeiten; ich kann das
nicht begreifen." Als sie draußen waren und ums Haus bogen, blieb er
stehen: "Hier, siehst Du? Keine Ordnung! Da ist das Holz
durcheinandergeworfen und die Axt nicht in den Block gehauen", er bückte
sich mühsam, hob sie auf und schlug sie ein. "Hier ist ein Fell
heruntergefallen; aber hat ein Mensch es wieder aufgehängt?" Er tat es
selbst. "Hier ist die Vorratsscheuer; meinst Du, sie haben die Treppe
weggenommen?" Er trug sie beiseite. Dann blieb er stehen, sah den
Schulmeister an und sagte: "So geht es einen Tag wie alle Tage."

Als sie weiter gingen, hörten sie von den Halden her fröhliches Singen.
"Ach, da wird ja bei der Arbeit gesungen", sagte der Schulmeister.--"Das
ist der kleine Knut Östistuen, der da singt; der holt Laub für seinen
Vater; meine Leute arbeiten dahinten, die singen nicht."--"Das ist doch
keine von unsern Weisen?"--"Nein, das höre ich auch."--"Öyvind Pladsen
ist sehr viel auf Östistuen gewesen; es ist wohl eins von den Liedern,
die er im Dorf eingeführt hat--der steckt immer voll Lieder." Hierauf
kam keine Antwort.

Das Feld, über das sie gingen, stand nicht gut; ihm fehlte die rechte
Pflege. Der Schulmeister äußerte das; da blieb Ole stehen. "Ich kann das
nicht mehr machen", sagte er beinahe wehmütig. "Ohne Aufsicht werden
fremde Arbeiter zu teuer. Aber es tut weh, über so ein Feld zu gehen,
das kannst Du mir glauben."

Als sie dann davon sprachen, wie groß der Hof sei, und wo Hilfe am
nötigsten täte, beschlossen sie, zu den Halden hinaufzugehen, von wo sie
das Ganze überblicken konnten. Als sie nach geraumer Zeit einen hohen
Punkt erreicht hatten, und das Ganze in Augenschein nahmen, wurde der
Alte wehmütig: "Ich möchte nicht gerne so abgehen; ich und meine
Vorfahren haben da unten redlich gearbeitet, aber viel ist nicht mehr
davon zu sehen."

Da klang ein Lied über ihren Köpfen hin mit der eigentümlichen Herbheit,
die eine Knabenstimme hat, wenn sie so recht forsch drauflos singt. Sie
standen nicht weit von dem Baum, in dessen Wipfel der kleine Knut
Östistuen saß und Laub für seinen Vater pflückte, und sie lauschten:

    Willst du dich zu hohem Ziel
    Ins Gebirge wagen,
    Pack' ins Ränzlein nur so viel,
    Als sich leicht läßt tragen!
    Nimm nicht mit des Tales Zwang
    In die reinen Lüfte;
    Schüttle ihn mit keckem Sang
    Abwärts in die Klüfte!

    Vögel grüßen dich im Chor,
    Fern dem giftigen Brodem,
    Und mit jedem Schritt empor
    Freier wird dein Odem.
    Frohen Herzens jauchze laut;
    Kindheit, längst vergangen,
    Nickt dir aus Gebüsch und Kraut
    Zu mit roten Wangen.

    Stehst du still von Zeit zu Zeit,
    Andachtsvoll zu lauschen,
    Wird ins Ohr der Einsamkeit
    Hohes Lied dir rauschen.
    Wo ein Bach den Fels durchbricht,
    Wo ein Stein im Rollen,
    Hörst du der versäumten Pflicht
    Mächtiges Donnergrollen.

    Zittre, bete, banges Herz,
    Sei zur Buße fertig!
    Heb den Blick dann gipfelwärts,
    Deines Heils gewärtig.
    Dort wie einst geht Jesus Christ,
    Wandeln die Propheten;
    Wohl dir, wenn du würdig bist,
    Ihnen nachzutreten.

Ole hatte sich niedergesetzt und das Gesicht in den Händen vergraben.
"Nun will ich mit Dir reden", sagte der Schulmeister und setzte sich
neben ihn.

       *       *       *       *       *

In Pladsen war Öyvind gerade von einer längeren Reise nach Hause
gekommen; die Postkutsche stand noch vor der Tür, weil die Pferde
ausruhen mußten. Wenn auch Öyvind jetzt als Amtsagronom gute Einnahmen
hatte, bewohnte er doch noch seine kleine Kammer in Pladsen und half in
seiner freien Zeit in der Wirtschaft. Auf Pladsen war eine ganz neue
Bewirtschaftung eingeführt, aber der Hof war so klein, daß Öyvind das
Ganze Mutters Spielzeug nannte; denn sie war es, die hauptsächlich die
Landwirtschaft betrieb.

Er hatte sich gerade umgezogen, der Vater war mehlbestaubt von der Mühle
hereingekommen und hatte sich auch umgezogen. So standen sie und
überlegten, ob sie vor dem Abendbrot noch ein bißchen ins Freie gehen
sollten, da kam die Mutter mit ganz blassem Gesicht herein: "Es kommt
seltener Besuch; seht doch!"--Die beiden Männer eilten ans Fenster, und
Öyvind sagte gleich: "Das ist der Schulmeister und--ja, ich glaube
beinahe,--ja natürlich ist er es!"--"Ja, das ist der alte Ole
Nordistuen", sagte auch Tore und trat vom Fenster zurück, um nicht
gesehen zu werden, denn die beiden waren schon dicht vorm Hause.

Öyvind fing einen Blick des Schulmeisters auf, als er gerade vom Fenster
zurücktreten wollte; Baard lächelte und sah sich nach dem alten Ole um,
der auf den Stock gestützt, mit kleinen kurzen Schritten heranstelzte,
wobei er den einen Fuß immer etwas höher hob als den andern. Draußen
hörten sie den Schulmeister sagen: "Er ist wohl eben nach Hause
gekommen", worauf Ole zweimal "So--so" antwortete.

Es blieb lange still auf der Diele; die Mutter war in die Ecke hinterm
Milchschrank gekrochen. Öyvind stand in seiner Lieblingsstellung, mit
dem Rücken gegen den großen Tisch und dem Gesicht nach der Tür, der
Vater saß daneben. Schließlich wurde an die Tür geklopft, und herein kam
der Schulmeister und nahm seinen Hut ab, hinter ihm Ole und nahm auch
seine Mütze ab, dann drehte er sich nach der Tür um und klinkte sie ein;
er brauchte sehr lange dazu; offenbar war er verlegen. Tore stand auf
und lud die Eintretenden zum Sitzen ein; sie setzten sich nebeneinander
auf die Fensterbank, und Tore setzte sich auch wieder nieder.

Und jetzt werden wir hören, wie es bei der Werbung zuging.

Der Schulmeister: "Wir haben doch noch recht schönes Herbstwetter
bekommen."--Tore: "Ja, es hat sich die letzte Zeit gebessert."--"Jetzt
wird es sich wohl noch eine Zeitlang halten, wo der Wind umgeschlagen
ist."--"Seid Ihr da oben schon mit der Ernte fertig?"--"Noch nicht. Hier
der Ole Nordistuen--Du kennst ihn wohl--möchte, Du sollst ihm helfen,
Öyvind, wenn es Dir recht ist."--Öyvind: "Wenn es gewünscht wird, will
ich tun, was ich kann."--"Ja, er meinte aber nicht bloß so
vorübergehend. Es geht mit dem Hof nicht vorwärts, findet er, und er
glaubt, es fehlt so die richtige Leitung und Aufsicht."--Öyvind: "Ich
bin aber so wenig zu Hause."--Der Schulmeister sieht Ole an. Der merkt,
daß er jetzt ins Feuer muß; er räuspert sich ein paarmal und legt los:
"Das heißt, das soll,--ja--ich meine, Du solltest fest--Du solltest, ja,
gewissermaßen Deine Wohnung bei uns haben,--das heißt, wenn Du nicht auf
Reisen bist."--"Schönen Dank für das Anerbieten, aber ich bleibe lieber
hier wohnen."--Ole sieht den Schulmeister an, und der sagt: "Mit Ole
geht das heute ein bißchen kraus. Die Sache ist: er ist früher schon mal
hier gewesen, und die Erinnerung daran bringt ihm die Worte ein bißchen
durcheinander."--Ole rasch: "So ist es, ja; ich war damals nicht recht
gescheit; ich hab' mich solange mit dem Mädel geplagt, bis das Holz in
Splitter ging. Aber das mag vergessen sein; der Sturm knickt das Korn
um, doch ein kaltes Lüftchen nicht; Regenbäche können die großen Steine
nicht unterwühlen; Maischnee liegt nicht lange; der Donner hat noch
keinen Menschen erschlagen." Alle lachen; der Schulmeister sagt: "Ole
meint, Du sollst nicht mehr dran denken, und Du auch nicht, Tore." Ole
sieht sie an und weiß nicht recht, ob er weiterreden darf. Da sagt Tore:
"Der Rosenstrauch packt mit vielen Zähnen zu und reißt doch keine
Wunden. In mir wenigstens ist kein Stachel zurückgeblieben."--Ole: "Ich
kannte den Burschen damals nicht. Jetzt sehe ich: was er säet, das
gedeiht; wie die Saat, so die Ernte; in seinen Fingerspitzen sitzt Gold,
und ich möchte mir ihn sichern."

Öyvind sieht den Vater an, der die Mutter, die von ihm zum Schulmeister
blickt, und dann schauten alle Ole an. "Ole meint, er hat einen großen
Hof--" Ole unterbricht: "Groß ist er, aber schlecht imstande; ich kann
nicht mehr recht, ich bin alt, und die Beine wollen nicht mehr mit. Aber
es lohnt sich, da oben anzupacken."--"Gut und gern der größte Hof im
ganzen Kreise", fällt der Schulmeister ein.--"Der größte Hof im ganzen
Kreise; das ist aber gerade das Elend; wenn die Schuhe zu groß sind,
verliert man sie; es ist recht schön, wenn das Gewehr gut ist, aber man
muß auch damit umzugehen wissen. (Mit einer raschen Wendung zu Öyvind:)
Möchtest Du es mal damit versuchen?"--"Ich soll also Verwalter
sein?"--"Ganz recht, ja, Du sollst den Hof haben."--"Ich soll den Hof
haben?"--"Natürlich, ja, und sollst ihn verwalten."--"Aber--" "Willst Du
nicht?"--"Doch, selbstverständlich."--"Ja, ja, dann ist es also
abgemacht, sagte die Henne und flog aufs Wasser."--"Aber--" Ole sieht
verwundert den Schulmeister an.--"Öyvind will wohl bloß fragen, ob er
Margit auch mitbekommt?"--Ole energisch: "Margit ist mit drin, Margit
ist mit drin!"--Da fing Öyvind laut zu lachen an und machte einen
Luftsprung; die andern drei lachten auch, und Öyvind rieb sich die
Hände, lief in der Stube auf und ab und wiederholte unaufhörlich:
"Margit ist mit drin, Margit ist mit drin!" Tore lachte und gluckste,
die Mutter hinten in der Ecke sah ihren Jungen unverwandt an, bis ihr
Tränen in die Augen traten.

Nach einer Weile fragte Ole sehr gespannt: "Was hältst Du von dem
Hof?"--"Feiner Boden!"--"Feiner Boden, nicht wahr?"--"Wundervolle
Weiden!"--"Wundervolle Weiden! Wird es gehen?"--"Das soll weit und breit
der beste Hof werden!"--"Weit und breit der beste Hof? Glaubst Du?
Meinst Du das wirklich?"--"So wahr ich hier stehe!"--"Ja, hab' ich das
nicht immer gesagt?!" Sie sprachen beide gleich schnell und griffen wie
zwei Räder ineinander. "Aber mit dem Geld, siehst Du mit dem Geld! Ich
habe keins."--"Ohne Geld geht es langsam, aber es geht!"--"Es geht, ja,
natürlich geht es! Aber wenn wir Geld hätten, ginge es schneller, meinst
Du?"--"Viel schneller."--"Viel? Wenn wir bloß Geld hätten! Ja, ja! na,
einer, der nicht alle Zähne hat, kann auch kauen, und einer, der mit
Ochsen fährt, kommt auch vorwärts."

Die Mutter stand da und zwinkerte Tore zu, der sie ein paarmal schnell
von der Seite ansah, während er den Oberkörper hin- und herwiegte und
mit den Händen über die Knie strich; der Schulmeister blinzelte mit den
Augen, Tore machte den Mund auf und wollte etwas sagen, aber Ole und
Öyvind sprachen unaufhörlich durcheinander, lachten und machten solchen
Lärm, daß kein andrer zu Wort kommen konnte.

"Seid jetzt mal still; Tore möchte was sagen", fällt der Schulmeister
ein; sie verstummen und sehen Tore an. Der fängt denn ganz leise an: "Es
ist auf dieser Stätte immer so gewesen, daß wir eine Mühle gehabt haben;
in letzter Zeit ist es so gewesen, daß wir zwei gehabt haben. Diese
Mühlen haben in Jahr und Tag doch ein paar Groschen abgeworfen; weder
mein Vater noch ich haben von dem Geld genommen, außer damals, als
Öyvind fort mußte. Der Schulmeister hat es verwaltet, und er sagt, daß
es sich da, wo es stand, gut verzinst hat; aber jetzt ist ja das beste,
Öyvind nimmt es für Nordistuen." Die Mutter stand hinten in der Ecke und
machte sich ganz klein, während sie mit leuchtenden Augen zu Tore
hinsah, der jetzt sehr gewichtig dahockte und beinahe dumm aussah; Ole
Nordistuen saß ihm mit weit offnem Mund gegenüber; Öyvind war der erste,
der sich von der Überraschung erholte. "Ist das nicht, als wenn das
Glück mich verfolgt?" rief er, ging auf seinen Vater zu und schlug ihm
auf die Schulter, daß es dröhnte. "Du Prachtvater!" sagte er, rieb sich
die Hände und ging auf und ab.

"Wieviel mag das wohl sein?" fragte schließlich Ole ganz zaghaft den
Schulmeister. "Es ist gar nicht so wenig."--"Ein paar hundert
Taler?"--"Noch ein bißchen mehr."--"Noch ein bißchen mehr? Öyvind, noch
ein bißchen mehr! Herrgott, das soll ein Hof werden!" Er stand auf und
lachte hell heraus.

"Ich will mit Dir zu Margit", sagte Öyvind. "Die Postkutsche steht ja
noch draußen, da geht es schnell."--"Ja, schnell, schnell! Magst Du auch
gern alles schnell haben?"--"Ja, schnell und forsch!"--"Schnell und
forsch! Akkrat so, wie als ich jung war,--akkrat so!"--"Hier ist Mütze
und Stock; jetzt jage ich Dich 'raus!"--"Du jagst mich 'raus, haha! aber
Du kommst mit, nicht, Du kommst mit? Ihr andern kommt wohl nach? Heut
abend wollen wir solange zusammensitzen, wie noch ein Funken auf dem
Herd ist; kommt nur hin!"--Sie versprachen es, Öyvind half ihm in den
Wagen und sie fuhren nach Nordistuen hinauf. Da oben war der große Hund
nicht der einzige, der sich wunderte, als Ole Nordistuen mit Öyvind
Pladsen in den Hof einfuhr. Während Öyvind ihm aus dem Wagen half und
die Knechte und Mägde sie neugierig angafften, kam Margit aus dem Hause
und wollte sehen, was denn der Hund fortwährend zu bellen hatte, aber
sie blieb wie angewurzelt stehen, wurde glühend rot und lief wieder
hinein. Der alte Ole rief aber so fürchterlich laut nach ihr, als er in
die Stube kam, daß sie wohl oder übel wieder zum Vorschein kommen mußte.
"Geh hin und mach' Dich fein, Mädel, hier steht der Mann, der den Hof
haben soll."

"Ist es wahr?" rief sie, ohne es selbst zu wissen, und so laut, daß es
schallte. "Ja, es ist wahr", sagte Öyvind und klatschte in die Hände; da
drehte sie sich auf den Fußspitzen herum, schleuderte das, was sie
gerade in der Hand hatte, weit weg und lief aus der Stube; und Öyvind
hinterher.

Nach kurzer Zeit kamen auch der Schulmeister, Tore und seine Frau. Der
Alte hatte Lichter auf den weißgedeckten Tisch gestellt; es gab Wein und
Bier, und er selbst war immerzu auf den Beinen und hob den Fuß noch
höher als gewöhnlich, aber immer bloß den rechten.

       *       *       *       *       *

Ehe diese kleine Erzählung zu Ende geht, soll noch berichtet werden, daß
fünf Wochen später Öyvind und Margit in der Dorfkirche getraut wurden.
Der Schulmeister leitete an diesem Tage selbst den Gesang, weil der
Hilfsküster krank war. Seine Stimme war brüchig, denn er war alt; aber
Öyvind fand doch, es höre sich wunderschön an. Und als er Margit die
Hand gereicht und sie vor den Altar geführt hatte, da nickte ihm der
Schulmeister vom Chor herunter zu, genau so, wie Öyvind es damals
gesehen hatte, als er so wehleidig beim Tanz saß: er nickte ihm auch
zu, und die Tränen wollten ihm in die Augen treten.

Die Tränen bei jenem Tanz waren das Tor zu diesen Tränen gewesen, und
zwischen ihnen lag seine Arbeit und seine Treue.

Und hier ist die Geschichte von dem fröhlichen Burschen zu Ende.

       *       *       *       *       *



DER VATER


Der Mann, von dem hier erzählt werden soll, war der mächtigste im ganzen
Gau; er hieß Thord Oeveraas. Eines Tages stand er kerzengrade und mit
gewichtiger Miene vor dem Pfarrer in der Studierstube. "Mir ist ein Sohn
geboren, und ich möchte ihn taufen lassen."--"Wie soll er
heißen?"--"Finn, nach meinem Vater."--"Und die Paten?"--Er zählte sie
auf; es waren Verwandte von ihm, die angesehensten Männer und Frauen des
Gaus. "Ist sonst noch etwas?" fragte der Pfarrer und sah auf. Der Bauer
zögerte. "Ich möchte gern, daß er allein getauft würde", sagte er dann.
"Also an einem Werktag?"--"Nächsten Sonnabend mittag um zwölf."--"Ist
sonst noch etwas?" fragte der Pfarrer.--"Weiter nichts." Der Bauer
drehte seinen Hut, als wollte er gehen. Da erhob sich der Pfarrer, ging
auf Thord zu, nahm seine Hand und sah ihm in die Augen; "gebe Gott, daß
das Kind Dir zum Segen werde!"

Sechzehn Jahre nach diesem Tag stand Thord wieder vor dem Pfarrer in der
Stube. "Du hast Dich gut gehalten, Thord", sagte der Pfarrer, weil er
ihn ganz unverändert fand. "Ich habe ja auch keine Sorgen", antwortete
Thord. Da schwieg der Pfarrer; nach einer Weile aber fragte er: "Was
hast Du denn heut für ein Anliegen?"--"Ich komme wegen meines Sohnes,
der morgen konfirmiert wird."--"Es ist ein braver Junge."--"Ich möchte
den Herrn Pfarrer erst bezahlen, wenn ich weiß, der wievielte der Junge
in der Kirche ist."--"Er wird Nummer eins sein."--"Schön,--hier sind
auch zehn Taler für den Herrn Pfarrer."--"Ist sonst noch etwas?" fragte
der Pfarrer und sah Thord an.--"Sonst nichts."--Thord entfernte sich.

Wieder gingen acht Jahre dahin; da war eines Tages vor dem Arbeitszimmer
des Pfarrers großer Lärm, und herein kamen viele Männer, an ihrer Spitze
Thord. Der Pfarrer sah auf und erkannte ihn gleich. "Du hast heut abend
ja so viele bei Dir."--"Ich wollte das Aufgebot für meinen Sohn
bestellen; er soll die Karen Storliden heiraten, die Tochter von
Gudmund, von diesem hier."--"Das ist ja das reichste Mädchen im ganzen
Gau."--"Es heißt so", antwortete der Bauer und strich sich mit einer
Hand das Haar in die Höhe, Der Pfarrer saß eine Zeitlang wie in Gedanken
und sagte kein Wort; er trug nur die Namen in seine Bücher ein, und die
Männer unterschrieben. Thord legte drei Taler auf den Tisch.--"Ich
bekomme nur einen", sagte der Pfarrer.--"Weiß wohl, aber er ist mein
Einziger,--möcht's gern recht gut machen." Der Pfarrer nahm das Geld an.
"Dies ist das dritte Mal, daß Du um Deines Sohnes willen hier stehst,
Thord."--"Jetzt bin ich aber auch fertig damit", sagte Thord, klappte
sein Taschenbuch zu, sagte adieu und ging,--die Männer folgten ihm
langsam.

Vierzehn Tage später ruderten Vater und Sohn bei stillem Wetter über das
Wasser nach Storliden hinüber, um dort die Hochzeit zu besprechen. "Die
Bank ist nicht ordentlich fest", sagte der Sohn und stand auf, um sie in
Ordnung zu bringen. Da rutscht das Brett aus, auf dem er steht, er
schlägt mit den Armen um sich, stößt einen Schrei aus und stürzt ins
Wasser.--"Halt Dich am Ruder fest", rief sein Vater, sprang auf und
hielt es ihm hin. Doch als der Sohn ein paarmal danach gegriffen hatte,
bekam er einen Krampf. "Wart' mal", rief sein Vater und ruderte näher.
Da schlägt der Sohn nach hinten über, sieht seinen Vater mit einem
langen Blick an und sinkt unter.

Thord konnte es kaum fassen; er stoppte das Boot und starrte auf den
Fleck, wo sein Sohn verschwunden war, als müsse er wieder emportauchen.
Ein paar Blasen stiegen auf und noch ein paar, und dann noch eine ganz
große; sie zerbarst--und die See lag wieder spiegelblank da.

Und die Leute sahen, wie drei Tage und drei Nächte lang der Vater um
die Stelle herumruderte, ohne zu essen oder zu schlafen; er fischte nach
seinem Sohn. Und am dritten Tage morgens fand er ihn und trug ihn über
die Hügel nach seinem Hofe.

Es mochte ein Jahr seit jenem Tage vergangen sein. Da hört der Pfarrer
an einem Herbstabend spät noch etwas an der Flurtür rascheln und
behutsam nach der Klinke tasten. Der Pfarrer machte die Tür auf, und
herein kam ein großer, gebeugter Mann, hager und weißhaarig. Der Pfarrer
sah ihn lang an, bis er ihn erkannte; es war Thord. "Du kommst so spät?"
sagte der Pfarrer und blieb vor ihm stehen. "Ja, ja, ich komme spät",
sagte Thord und setzte sich. Der Pfarrer setzte sich auch und wartete;
es blieb lange still. Da sagte Thord: "Ich habe etwas mitgebracht, was
ich den Armen geben möchte; es soll eine Stiftung werden, die den Namen
meines Sohnes trägt";--er stand auf, legte das Geld auf den Tisch und
setzte sich wieder. Der Pfarrer zählte es auf; "es ist viel Geld", sagte
er.--"Es ist mein halber Hof; ich habe ihn heut verkauft." Der Pfarrer
saß lange schweigend da. Endlich fragte er mild: "Was willst Du denn
jetzt anfangen, Thord?"--"Etwas Besseres."--So saßen sie eine Zeitlang,
Thord mit gesenkten Blicken, während die Augen des Pfarrers auf ihm
ruhten. Schließlich sagte der Pfarrer leise und langsam: "Ich glaube,
jetzt ist Dein Sohn Dir doch noch zum Segen geworden."--"Ja, das glaube
ich jetzt auch", sagte Thord; er sah auf, und zwei schwere Tränen rannen
ihm über das Gesicht.

       *       *       *       *       *



DAS FISCHERMÄDEL



Erstes Kapitel


Wo der Hering längere Zeit regelmäßig Einkehr hält, da bildet sich so
allmählich, wenn die Bedingungen im übrigen günstig sind, eine kleine
Stadt. Von solchen Städten kann man nicht nur sagen, das Meer habe sie
ausgespien; sondern sie sehen auch von weitem tatsächlich wie ans Land
geschwemmte Balken und Wrackstücke aus, oder wie ein Häuflein
umgekippter Boote, die die Fischer in einer Sturmnacht über sich gezogen
haben. Kommt man näher, so sieht man, wie zufällig das Ganze sich
aufgebaut hat; da liegt ein Block Klippen mitten im Ort, oder der ganze
Flecken ist durch das Wasser in drei, vier Teile gespalten,--Straßen,
die sich krümmen und winden. Nur eine Bedingung ist allen diesen
Ansiedlungen gemeinsam: sie haben einen Hafen, der den größten Schiffen
Schutz gewährt, indem es dort still ist wie in einer Blechbüchse. Und
darum sind diese Schlupfwinkel den Schiffen, die mit zerfetzten Segeln
und zertrümmertem Plankenwerk aus hoher See angetrieben kommen, um Atem
zu schöpfen, auch gar viel wert.

In solch einem kleinen Städtchen ist es still. Alles, was etwa Lärm
verursacht, ist auf die Landungsbrücken verwiesen, wo die Boote der
Bauern sich festgebissen haben, und wo die Schiffe laden und löschen.
Längs den Landungsbrücken läuft die einzige Straße unseres Städtchens;
an ihrer andern Seite liegen die weiß- und rotgestrichenen, ein- und
zweistöckigen Häuschen; aber nicht Wand an Wand, sondern getrennt durch
schmucke Gärten; das gibt auf diese Weise eine lange und breite Straße,
wo es übrigens bei Seewind nach allem zu duften pflegt, was auf den
Brücken herumliegt. Still ist es hier--nicht etwa aus Furcht vor der
Polizei: denn in der Regel ist gar keine da--sondern aus Angst vor dem
Gerede der Leute; denn hier kennt sich alles untereinander. Geht man
die Straße hinunter, so muß man in jedes Fenster hineingrüßen und hinter
jedem sitzt auch meist ein altes Frauchen und grüßt wieder. Ferner muß
man jeden grüßen, der einem auf der Straße begegnet. Denn all diese
stillen Menschen denken an nichts anderes, als was sich im allgemeinen
und im besonderen für sie selber schickt. Wer die Grenzlinie, die seinem
Stande oder seiner Stellung gezogen ist, überschreitet, der büßt seinen
guten Ruf ein. Denn man kennt nicht allein ihn, sondern auch seinen
Vater und Großvater, und man stöbert flugs auf, wo sich schon früher in
der Familie ein Hang zum "Ungehörigen" gezeigt hat.

In dieses stille Städtchen zog vor vielen Jahren ein gewisser
wohlehrbarer Mann namens Per Olsen. Er kam vom Lande, wo er sich mit
Hausieren und Fiedelspielen sein Brot verdient hatte. In der Stadt
eröffnete er für seine alten Kunden einen Kramladen, in dem er außer
allerhand Waren Brot und Schnaps verkaufte. Man hörte ihn hinten in der
"Ladenstube" auf- und abgehen und Springtänze und Brautmärsche spielen;
jedesmal, wenn er an der Tür vorbeikam, spähte er durch das Guckloch,
und wenn ein Kunde erschien, schloß er sein Spiel mit einem Triller und
kam in den Laden. Das Geschäft gedieh flott; er heiratete und bekam
einen Sohn, den er nach sich benannte, jedoch nicht "Per", sondern
Peter. Der kleine Peter sollte dereinst werden, was Vater Per, wie er
sehr wohl fühlte, selber nicht war: nämlich ein Mann von Bildung. Also
kam der Junge auf die Lateinschule. Wenn dann die andern, die seine
Kameraden sein sollten, ihn von ihren Spielen weg heimprügelten, weil er
Per Olsens Sohn war, so prügelte Per Olsen ihn wieder zu ihnen hinaus;
denn auf andere Weise konnte ja der Junge nie Bildung erwerben.
Infolgedessen fühlte der kleine Peter sich in der Schule sehr verlassen,
wurde stumpf und faul und nach und nach so gleichgültig gegen alles, daß
alle Hiebe des Vaters ihm weder Tränen noch Lachen mehr entlockten. Nun
gab Per das Prügeln auf und steckte ihn hinter den Ladentisch. Wie groß
war sein Erstaunen, als er sah, daß der Junge jedem Kunden genau
verabreichte, was der forderte, nie auch nur ein Körnchen zu viel gab,
nie auch nur eine Pflaume naschte, stets genau abwog, zählte und
eintrug, ohne eine Miene zu verziehen, meist ohne ein Wort zu reden,
äußerst langsam, aber mit unverbrüchlicher Genauigkeit. Der Vater
schöpfte neue Hoffnung und schickte ihn mit einem Heringsboot nach
Hamburg, wo er ein Handelsinstitut besuchen und feine Manieren lernen
sollte. Acht Monate war er dort; das mußte doch wohl genügen! Als er
heimkam, war er mit sechs neuen Anzügen ausgestattet, die er bei der
Landung sämtlich übereinander trug; "denn was man auf dem Leib hat,
braucht man nicht zu verzollen." Aber abgesehen von diesem Umfang machte
er, als er sich am folgenden Tag auf der Straße zeigte, noch ungefähr
dieselbe Figur wie früher. Er bewegte sich steif und langsam, mit grad
herunterbaumelnden Armen; er grüßte mit einem plötzlichen Ruck, und
verbeugte sich, als habe er keine Gelenke, um sofort wieder steif wie
vorher zu werden. Er war die verkörperte Höflichkeit; aber er tat alles,
ohne ein Wort zu sprechen, hastig, mit einer gewissen Scheu. Er schrieb
sich jetzt nicht mehr Olsen, sondern Ohlsen, was den Witzbolden des
Städtchens Anlaß zu folgender Scherzfrage gab: "Wie weit ist Peter Olsen
in Hamburg gekommen?" Antwort: "Bis zum ersten Buchstaben!" Er trug sich
sogar mit dem Gedanken, sich "Pedro" zu nennen. Weil er aber des
verdammten "h's" wegen schon mehr als genug Ärger schlucken mußte, ließ
er das und schrieb sich einfach: "P. Ohlsen." Er erweiterte das Geschäft
des Vaters und heiratete mit knapp zweiundzwanzig eine rothändige
Ladenmamsell, damit sie die Wirtschaft führe; denn der Vater war gerade
Witwer geworden, und eine Frau war immerhin sicherer als eine
Haushälterin. Pünktlich übers Jahr langte ein Sohn an, der acht Tage
darauf den Namen Pedro trug. Nachdem der wackere Per Olsen Großvater
geworden war, empfand er es als unabweisbare Pflicht, alt zu werden. Er
überließ also seinen Handel dem Sohn, saß von Stund an auf der Bank vorm
Haus und rauchte. Und als es eines Tags anfing, ihm da draußen
langweilig zu werden, wünschte er sich, daß er bald sterben möge. Und
wie alle seine Wünsche sänftiglich in Erfüllung gegangen waren, so
erfüllte sich auch dieser.

Hatte Peter der Sohn ausschließlich die eine Seite der väterlichen
Begabung, die kaufmännische Schlauheit, geerbt, so schien Pedro, der
Enkel, ausschließlich die andere, die Lust an der Musik, geerbt zu
haben. Er lernte sehr spät lesen, aber sehr früh singen; er blies die
Flöte so hübsch, daß es jedem auffallen mußte. Er war fein von Aussehen
und weich von Gemüt. Aber dem Vater kam das nur ungelegen; er wollte in
dem Knaben seinen eigenen unermüdlichen Geschäftsgeist großziehen. Wenn
Pedro etwas vergaß, so wurde er nicht gescholten oder geprügelt, wie
seinerzeit der Vater, sondern er wurde gekniffen. Das geschah ganz in
aller Stille, mit einer Freundlichkeit, die man fast höflich nennen
konnte; aber es geschah bei der geringsten Veranlassung. Jeden Abend,
wenn die Mutter ihn auskleidete, zählte sie die blauen und gelben
Flecken und küßte sie; aber Widerstand leistete sie nicht; denn sie
selber wurde ebenfalls gezwickt. Jeder Riß in seinen Kleidern, die aus
des Vaters alten Hamburger Anzügen gemacht waren, jeder Fleck in seinen
Schulbüchern wurde ihr angerechnet. Darum hieß es in einem fort: "Laß
das, Pedro!--Nimm dich in acht, Pedro!--Vergiß nicht, Pedro!" Den Vater
fürchtete er, die Mutter war ihm lästig. Seine Kameraden taten ihm
nichts zuleide, weil er gleich zu heulen anfing und flehte, man möge
seine Kleider schonen; aber sie nannten ihn bloß den Schmachtlappen und
verachteten ihn ganz unverhohlen. Er war wie ein krankes, federloses
Entlein, das überall hinterdrein hinkt, und mit jedem kleinen Bissen,
den es erwischen kann, weit abseits watschelt. Keiner teilte mit ihm,
deshalb teilte auch er mit keinem.

Aber bald machte er die Entdeckung, daß dies bei den ärmeren Kindern
der Stadt anders sei; die hatten Nachsicht mit ihm, weil er etwas
Feineres war als sie selber. Besonders ein großes, kräftiges Mädchen,
das die ganze Schar kommandierte, nahm sich seiner an. Er wurde nicht
müde, sie zu betrachten; sie hatte einen Kopf voll rabenschwarzer
Locken, die nie anders als mit den Fingern gekämmt wurden, strahlende
blaue Augen und eine niedere Stirn; das ganze Gesicht war wie in eins
gesammelt und flog förmlich geradaus. Immer war sie in rastloser
Bewegung und Tätigkeit; im Sommer barfuß, mit nackten Armen,
braungebrannt; im Winter angezogen wie andere im Sommer. Ihr Vater war
Lotse und Fischer; sie rannte bei den Leuten herum und verkaufte seine
Fische; sie hielt sein Boot gegen Wind und Strömung, und wenn er lotste,
trieb sie die Fischerei allein. Wer ihr begegnete, wandte sich um und
sah ihr nach; sie war die verkörperte Selbstsicherheit. Sie hieß
Gunlaug, aber man nannte sie "das Fischermädel"--ein Titel, den sie als
den ihr zukommenden Rang hinnahm. Beim Spielen half sie stets den
Schwächeren; sie hatte das Bedürfnis, sich anderer anzunehmen, und so
nahm sie sich des zarten Jungen an.

In ihrem Boot durfte er Flöte blasen, was zu Hause untersagt war, weil
man fürchtete, seine Gedanken möchten von den Schularbeiten abgelenkt
werden. Sie ruderte ihn hinaus auf den Fjord, sie nahm ihn mit auf ihre
ausgedehnteren Fischzüge; bald begleitete er sie auch auf ihren
nächtlichen Ausflügen. Dann ruderten sie bei Sonnenuntergang hinaus in
das lichte Sommerschweigen. Er blies die Flöte oder hörte zu, wie sie
ihm von allem erzählte, was sie wußte; vom Meermann, von Gespenstern,
von Schiffbrüchen, von fremden Ländern und schwarzen Völkern, von allem,
was die Seeleute erzählt hatten. Sie teilte ihr Essen mit ihm, wie sie
all ihr Wissen mit ihm teilte, und er nahm alles hin, ohne das Geringste
wiederzugeben; denn er brachte von Hause kein Essen und aus der Schule
keine Phantasie mit. Sie ruderten, bis die Sonne über den Schneebergen
unterging; dann legten sie an einer Insel an und machten Feuer, das
heißt, sie sammelte und schichtete Holz und Reisig auf, und er sah zu.
Eine von ihres Vaters Schifferjacken und eine Decke hatte sie für ihn
mitgebracht; in die wurde er hineingewickelt. Sie paßte aufs Feuer auf,
und er schlief ein. Um sich wach zu halten, sang sie Verse aus Liedern
und Chorälen; bis er eingeschlafen war, sang sie mit starker, heller
Stimme; dann sang sie leiser. Wenn die Sonne auf der andern Seite wieder
emporstieg und als Vorboten ein gelb-kaltes Licht über die Berggipfel
vor sich herschoß, weckte sie ihn. Der Wald stand noch schwarz, und die
Wiese dunkel; bald aber begannen sie sich braunrot zu färben, zu
blinken, bis der ganze Gebirgskamm glühte und alle Farben darüber
rauschten. Dann zogen sie das Boot wieder ins Wasser, ein Schaumstreifen
lief durch die schwarze Morgenbrise, und bald lagen sie am Strand, neben
den anderen Fischern.

Als der Winter kam und die Fahrten aufhörten, suchte er sie in ihrem
Hause auf; er kam regelmäßig und sah ihr zu, während sie arbeitete; aber
weder er noch sie redeten viel; es war, als säßen sie nur beisammen und
warteten auf den Sommer. Doch als der Sommer kam, wurde dem Knaben
leider auch diese neue Lebensaussicht genommen; Gunlaugs Vater starb,
und sie verließ die Stadt, während Pedro auf den Rat seiner Lehrer in
den Laden gesteckt wurde. Da stand er nun, neben der Mutter; denn der
Vater, der nach und nach die Farbe all der Graupen und Grützen, die er
abwog, angenommen hatte, mußte in der Ladenstube das Bett hüten. Aber
auch von dort aus wollte er immer noch mit dabei sein, wollte genau
wissen, was jedes von den Zweien verkauft hatte, tat, als höre er nicht,
bis er sie glücklich so dicht neben sich hatte, daß er sie kneifen
konnte. Und endlich als der Docht in dieser kleinen Lampe gänzlich
ausgetrocknet war, erlosch er eines Nachts. Die Frau weinte, ohne daß
sie recht wußte, warum; aber der Sohn vermochte nicht eine einzige
Träne hervorzupressen. Da sie Geld genug hatten, um davon leben zu
können, gaben sie das Geschäft auf, rotteten jegliche Erinnerung aus und
wandelten den Laden zur Wohnstube um. Darin saß die Mutter am Fenster
und strickte Strümpfe; Pedro saß im Zimmer auf der andern Seite des
Flurs und blies die Flöte. Aber sobald der Sommer kam, kaufte er sich
ein kleines, leichtes Segelboot, fuhr hinüber nach der Insel und suchte
die Stelle, wo Gunlaug gelegen hatte.

Und eines Tags, als er dort im Heidekraut lag, sah er ein Boot gerade
auf sich zusteuern und neben dem seinen anlegen,--Gunlaug stieg
heraus.--Sie war noch ganz dieselbe, nur daß sie jetzt völlig erwachsen
war und größer als andere Mädchen. Doch sobald sie seiner ansichtig
wurde, wich sie langsam zurück; es war ihr gar nicht der Gedanke
gekommen, daß auch er inzwischen ein erwachsener Mensch geworden war.

Dieses blasse, magere Gesicht--das kannte sie nicht; das war nicht mehr
kränklich und zart--es war schlaff. Aber in die Augen kam, als er sie
sah, ein stilles Leuchten wie von entschwundenen Träumen. Sie trat
wieder näher; und mit jedem Schritt, den sie auf ihn zukam, war es, als
fiele ein Jahr von ihm ab, und als sie vor ihm stand, da war er
aufgesprungen, da lachte er wie ein Kind, da redete er wie ein Kind; das
alte Gesicht lag nur über einem heimlich versteckten Kindesantlitz;
älter war er geworden--gewachsen war er nicht.

Und doch--gerade dies Kind hatte sie gesucht. Und nun, da sie es
wiedergefunden hatte, wußte sie nicht, was weiter... Sie lachte und
wurde rot. Unwillkürlich fühlte er in sich etwas wie eine Macht; und zum
erstenmal in seinem Leben wurde er plötzlich schön; es währte vielleicht
bloß einen Augenblick; aber mit diesem Augenblick wurde sie sein.

Sie war eine von den Naturen, die nur lieben können, was schwach ist,
was sie auf Händen getragen haben. Sie hatte zwei Tage bleiben wollen in
der kleinen Stadt; sie blieb zwei Monate. In diesen zwei Monaten wuchs
er mehr als in seiner ganzen übrigen Jugend; er schwang sich so weit
empor aus Traum und Schlaffheit, daß er sogar Pläne entwarf; er wollte
fort--er wollte Musiker werden. Aber als er das eines Tages wiederum
aussprach, wurde sie blaß und sagte: "Ja--aber dann müssen wir doch erst
heiraten!" Er sah sie an, sie sah ihn an, fest und klar, beide wurden
sie feuerrot; dann sagte er: "Was würden die Leute dazu sagen?"

Gunlaug war nie der Gedanke gekommen, daß er etwas anderes wollen könne
als sie, weil sie selber nie etwas anderes wollen konnte, als was er
wollte. Aber jetzt las sie es in seiner Seele--unverhüllt: keinen
Augenblick hatte er daran gedacht, etwas anderes mit ihr zu teilen, als
was sie gab. In einer Sekunde sah sie es vor sich: ihr ganzes Leben lang
war das so gewesen. Zum Anfang ihr Mitleid--zum Schluß ihre Liebe--für
das, was sie aus Güte umfaßt hatte. Hätte sie bloß noch einen Moment
lang Besonnenheit gehabt! Denn er sah ihren auflodernden Zorn--er
erschrak und rief: "Ich will ja!" Sie hörte es; aber der Zorn über ihre
eigene Dummheit und seine Erbärmlichkeit, über die eigene Scham und
seine Feigheit kochte in so glühender Hast in ihr auf bis zum Sprengen
aller Bande, daß wohl nie eine Liebe, begonnen in Kindheit und
Abendsonne, gewiegt von Wellen und Mondlicht, begleitet von Flöte und
leisem Gesang, ein traurigeres Ende genommen hat! Sie packte ihn mit
ihren beiden Händen, hob ihn hoch, verprügelte ihn recht nach
Herzenslust, ruderte dann zur Stadt zurück und ging noch in derselbigen
Stunde über die Berge--auf und davon.

Er war ausgesegelt als ein verliebter Jüngling, der im Begriff ist, sich
sein Mannestum zu erobern; er ruderte heim als ein Greis, der nie ein
Mannestum gehabt hat. Nur eine Erinnerung besaß sein Leben; und die
hatte er töricht aufs Spiel gesetzt; nur einen Fleck Erde hatte er, wo
er sich hinflüchten konnte; und nun durfte er nimmermehr dorthin zurück.
Vor lauter Grübelei ob seiner eigenen Jämmerlichkeit und wie das
eigentlich alles so gekommen war, versank sein bißchen Unternehmungsgeist
wie in einen Sumpf, um nie wieder emporzutauchen. Die Gassenjungen der
Stadt, die schon früher auf sein wunderliches Wesen aufmerksam geworden
waren, fingen an, ihn zu necken und zu foppen, und weil er überhaupt für
die Stadt eine etwas unklare Persönlichkeit war, da niemand so recht
wußte, wovon er lebte und was er trieb, so fiel es auch keinem ein, ihn
zu verteidigen. Bald traute er sich überhaupt nicht mehr aus dem Hause,
wenigstens nicht auf die Straße. Sein ganzes Dasein wurde ein Kampf mit
den Straßenjungens; mag sein, daß sie immerhin doch zu etwas gut waren,
wie etwa Mücken an einem heißen Sommertag: denn ohne sie wäre er in
unaufhaltsamen Stumpfsinn versunken.

Neun Jahre später kam Gunlaug wieder in die Stadt, ebenso unerwartet,
wie sie verschwunden war. Sie hatte ein kleines Mädchen von acht Jahren
bei sich, ganz ihr Ebenbild aus früherer Zeit, nur daß alles an dem Kind
feiner und wie von einem Traum überschleiert war. Es hieß, Gunlaug sei
verheiratet gewesen, habe jetzt eine kleine Erbschaft gemacht, und nun
kam sie zurück, um eine Matrosenkneipe zu eröffnen. Diese betrieb sie
auf eine Art, daß bald Kaufleute und Schiffer zu ihr kamen, um bei ihr
ihre Leute zu dingen, und die Matrosen bei ihr einkehrten, um sich zu
verheuern. Für diesen Zwischenhandel nahm sie nie einen Pfennig, aber
sie machte einen despotischen Gebrauch von der Macht, die er ihr
verlieh. Sie war ganz ohne Zweifel der mächtigste Mann in der ganzen
Stadt, trotzdem sie ein Weib war und nie einen Fuß aus dem Haus setzte.
"Fischer-Gunlaug" nannten die Leute sie, oder "Gunlaug vom Berge"; der
Titel "das Fischermädel" ging auf die Tochter über, die die
Rädelsführerin der gesamten städtischen Bubenschar war.

Und ihre Geschichte berichtet diese Erzählung; sie hatte etwas von der
Elementarkraft der Mutter, und ihr wurde die Gelegenheit, sie zu
gebrauchen.



Zweites Kapitel


Die vielen anmutigen Gärten der Stadt dufteten nach dem Regen in ihrer
zweiten und dritten Blüte. Die Sonne ging über den ewigen Schneefeldern
zur Rüste; der ganze Himmel war Feuer und Flamme, und die Schneefirne
warfen den gedämpften Widerschein zurück. Die näher gelegenen Berge
standen im Schatten, aber sie leuchteten doch von vielfarbigem
Herbstwald; auf den Holmen, die in der Mitte des Fjords in Reih und
Glied dem Lande zustrebten, als kämen sie geradenwegs dahergerudert,
stand--weil sie dem Lande näher lagen--der dichte Wald in noch stärkerem
Farbenspiel als auf den Bergen. Die See war spiegelblank; ein großes
Schiff wurde langsam herangewerpt. Die Leute saßen vor ihren Häusern auf
der Holztreppe, die zu beiden Seiten halb verdeckt war von Rosengebüsch;
von Treppe zu Treppe plauderte man miteinander, stattete sich auch wohl
einen kurzen Besuch ab, oder man tauschte einen Gruß mit den
Spaziergängern aus, die den langen Alleen draußen vor der Stadt
zueilten. Aus einem offenen Fenster tönte hier und dort Klavierspiel;
sonst unterbrach kaum ein Laut das Geplauder; der letzte Sonnenschimmer
auf dem Wasser erhöhte noch das Gefühl der Stille.

Da plötzlich erhob sich mitten in der Stadt ein Getöse, als werde die
ganze Stadt gestürmt. Jungens schrien, Mädchen kreischten, alte Weiber
schimpften und kommandierten, der große Hund des Polizeidieners bellte
und sämtliche Köter der Stadt stimmten ein. Alles, was drin war, drängte
hinaus--hinaus. Der Spektakel wurde so ungeheuerlich, daß sogar der
Amtmann sich auf seiner Treppe umdrehte und die Worte fallen ließ: "Da
muß was los sein."

"Was ist los?" fielen die von den Alleen Herbeistürzenden über die auf
den Treppen Sitzenden her.--"Ja, was ist los?" antworteten die auf den
Treppen.--"Herrgott, was ist los?" fragten alle, wenn einer aus der
Mitte der Stadt kam. Aber da die Stadt sich so recht gemütlich in
Halbmondform um die Bucht schmiegt, so dauerte es recht lange, bis
sämtliche Bewohner an beiden Enden die Antwort vernommen hatten: "Bloß
das Fischermädel!"

Dies unternehmende Wesen, das von einer höchst gefürchteten Mutter
beschirmt und des Schutzes sämtlicher Matrosen sicher war (denn für so
was gab's immer einen Freischnaps bei der Mutter!) hatte an der Spitze
ihrer Gassenjungenarmee einen großen Apfelbaum in Pedro Ohlsens
Obstgarten überfallen. Der Schlachtplan war folgender: ein paar Jungens
sollten Pedro nach der Vorderseite des Hauses locken, indem sie seine
Rosenbüsche gegen die Fenster klatschten; gleichzeitig sollte ein
anderer den Baum schütteln, der mitten im Garten stand, und die übrigen
sollten die Äpfel nach allen Himmelsrichtungen über den Zaun werfen;
nicht etwa, um sie zu stehlen--Gott bewahre!--einfach zum Spaß! Dieser
sinnige Plan war gerade an diesem Abend hinter Pedros Garten ausgeheckt
worden. Aber das Unglück wollte, daß Pedro hinter seinem Zaun saß und
Wort für Wort mit anhörte. Kurz vor der festgesetzten Stunde holte er
sich daher den versoffenen Polizeidiener des Orts samt seinem großen
Hund in die Hinterstube, woselbst die beiden reichlich bewirtet wurden.
Als der Lockenwirbel des Fischermädels über den Planken auftauchte und
gleichzeitig von allen Seiten eine Unmenge kleiner Spitzbubenfratzen
hereinguckten, ließ Pedro die jungen Strolche vorn am Haus mit den
Rosenbüschen klatschen--aus Leibeskräften; er selber wartete ruhig im
Hinterzimmer. Und als die ganze Gesellschaft in tiefster Stille sich um
den Baum geschart hatte, und das Fischermädel, barfuß und zerkratzt, im
Wipfel saß, um zu schütteln, sprang die Hintertür auf und Pedro und der
Polizeidiener, hinter sich den großen Hund, stürzten hervor. Ein Schrei
des Entsetzens erhob sich unter den Buben; ein Haufen kleiner Mädchen,
die in aller Unschuld draußen vor dem Zaun "Haschen" gespielt hatten,
glaubten, da drin werde jemand umgebracht, und fingen ganz fürchterlich
zu kreischen an; die Jungens, die entwischt waren, schrien hurrah; die,
die noch über dem Zaun hingen, heulten unterm Tanz des Stocks, und um
den Tumult vollständig zu machen, tauchten, wie überall, wo
Bubengeschrei ist, noch ein paar alte Weiber auf und zeterten mit. Pedro
und der Polizeidiener waren selbst ganz erschrocken und sahen sich
genötigt, mit den alten Weibern zu unterhandeln; mittlerweile aber
nahmen die Buben Reißaus. Der Hund, vor dem sich die Jungens am meisten
fürchteten, setzte über den Zaun--ihnen nach--das war so recht was für
ihn!--und jetzt jagte es wie Wildentenschwärme durch die ganze
Stadt--Buben, Mädchen, Hund und Geschrei!

Mittlerweile saß das Fischermädel mäuschenstill im Apfelbaum und
dachte, niemand habe sie bemerkt. Im obersten Wipfel zusammengekauert,
verfolgte sie durch das Laub den Verlauf des Kampfes. Als aber der
Polizeidiener in heller Wut zu den alten Weibern hinaus gestürzt war,
und nur Pedro Ohlsen noch im Garten war, stellte er sich dicht unter
den Apfelbaum, guckte hinauf und rief: "Na, 'runter mit Dir, Du
infames Frauenzimmer, und zwar auf der Stelle!"--Aus dem Baum kam
kein Laut.--"'runter mit Dir, sag' ich! Ich weiß, daß Du dort oben
bist!"--Tiefstes Schweigen.--"So hol' ich meine Büchse und schieß Dich
'runter--wahrhaftigen Gott!" Und er machte Miene zu gehen.--"Hu-hu-hu!"
tönte es jetzt droben im Baum.--"Ja wohl, heul' Du nur wie ein
Schloßhund! Eine volle Ladung Schrot schick' ich Dir hinauf, gib nur
acht!"--"Uhu-hu-hu!" tönte es wieder, als ob ein Käuzchen droben säße.
"Ich fürcht' mich so!"--"Teufelsfratz, der Du bist! Du bist der ärgste
Galgenstrick von der ganzen Bande; aber wart' nur, jetzt hab' ich
Dich!"--"Ach liebster, bester, goldigster Herr Ohlsen! Ich will's auch
nie und nie und nie wieder tun!" Und im selben Augenblick schleuderte
sie ihm einen faulen Apfel mitten auf die Nase und ein helles
Jubelgelächter trillerte hinterher. Der Apfel klatschte ihm ins Gesicht
wie weicher Teig, und während er sich abwischte, sprang sie herunter;
noch eh er sie einholen konnte, hing sie schon überm Zaun und wäre auch
glücklich hinübergekommen, wenn sie nicht aus plötzlicher Angst, daß er
ihr auf den Fersen war, statt ruhig weiter zu klettern, losgelassen
hätte. Aber als er sie nun packte, kreischte sie laut auf--ein so
gellendes, wildes, schmetterndes Gekreisch, daß er sie entsetzt fahren
ließ. Auf ihr Schreckenssignal lief draußen vor dem Zaun eine Volksmenge
zusammen; sie hörte es; sogleich kehrte ihr Mut zurück. "Laß mich los
oder ich sag's meiner Mutter!" drohte sie, plötzlich wieder ganz Feuer
und Flamme! Da kam ihm dies Gesicht auf einmal bekannt vor: "Deine
Mutter?" rief er laut. "Wer ist denn Deine Mutter?"--"Die Gunlaug am
Berg--die Fischer-Gunlaug!" wiederholte triumphierend die Range; sie
merkte, daß er Angst bekam. Er hatte bei seiner Kurzsichtigkeit das
Mädchen bisher noch gar nicht gesehen; er war der einzige in der Stadt,
der nicht wußte, wer sie war; er wußte nicht einmal, daß Gunlaug in der
Stadt war. Wie besessen schrie er: "Wie heißt Du?"--"Petra!" schrie sie
noch lauter. "Petra!" wimmerte Pedro, drehte sich um und rannte ins
Haus, als habe er mit dem leibhaftigen Satan geredet. Aber weil der
bleichste Schreck und der bleichste Zorn sich ähnlich sehen, so dachte
sie, er sei davongelaufen, um sein Gewehr zu holen; die Angst packte
sie, sie fühlte bereits das Schrot im Rücken, und da in demselben
Augenblick die Gartenpforte von außen aufgebrochen wurde, fuhr sie
hinaus wie der Blitz; ihr schwarzes Haar flatterte hinter ihr her wie
das Entsetzen selbst, die Augen sprühten Feuer, der Hund, der ihr gerade
in den Weg lief, machte Kehrt und setzte bellend hinter ihr drein und so
fiel sie ins Haus und über die Mutter, die just mit der Suppenschüssel
aus der Küche kam; das Mädchen mitten in die Suppe hinein, die Suppe
auf den Boden, und ein "hol' Euch der Teufel!" hinter beiden drein.
Aber während sie noch mitten in der Suppe lag, kreischte sie: "Er will
mich totschießen, Mutter! Er will mich totschießen!"--"Wer will Dich
totschießen, Du Kobold?"--"Der Pedro Ohlsen!"--"Wer?" schrie die
Mutter.--"Der Pedro Ohlsen. Wir haben Äpfel bei ihm gestohlen"--sie
wagte nie etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.--"Von wem sprichst
Du, Mädchen?"--"Von Pedro Ohlsen. Er ist hinter mir her mit einem großen
Gewehr--er will mich totschießen!"--"Pedro Ohlsen!" tobte die Mutter und
dann fing sie zu lachen an. Sie schien plötzlich seltsam gewachsen. Dem
Kinde kamen die Tränen, und es wollte davonlaufen. Aber die Mutter
sprang auf sie zu, die weißen Raubtierzähne funkelten; sie packte das
Mädchen bei den Schultern und zerrte es in die Höhe. "Hast Du ihm
gesagt, wer Du bist?"--"Ja, ja, ja, ja!" Und das Kind streckte flehend
die Hände in die Luft. Da reckte sich die Mutter zu ihrer vollen Höhe
auf: "So! Also weiß er's jetzt! Was hat er gesagt?"--"Ins Haus ist er
gelaufen, nach seinem Gewehr; er wollt' mich totschießen."--"Der Dich
totschießen!" lachte sie in schneidendem Hohn. Petra hatte sich,
erschrocken und über und über mit Suppe bespritzt, in eine Ecke
geschlichen, wischte sich ab und weinte, als die Mutter wieder auf sie
zukam. "Wenn Du Dich je wieder unterstehst, zu dem hinzugehen," sagte
Gunlaug, indem sie das Kind bei den Schultern packte und schüttelte,
"oder mit ihm zu reden, oder auf ihn zu hören, dann gnade Gott euch
beiden!--Das sag' ihm von mir!" fügte sie mit drohender Stimme hinzu,
als das Kind nicht gleich antwortete.--"Ja, ja, ja, ja!"--"Sag' ihm das
von mir!" wiederholte sie noch einmal, aber leiser und bei jedem Wort
mit dem Kopf nickend, indem sie hinausging.

Das Kind wusch sich, zog seine Sonntagskleider an und setzte sich vors
Haus auf die Treppe. Aber bei dem Gedanken an den ausgestandenen
Schrecken stieg ihr immer wieder das Schluchzen in die Kehle.--"Warum
weinst Du, Kind?" fragte eine Stimme, so freundlich, wie noch nie jemand
zu ihr gesprochen hatte. Petra blickte auf. Vor ihr stand ein schlanker
Mann mit einem edlen Gesicht und einer Brille. Sie stand sofort auf;
denn sie erkannte Hans Ödegaard, einen jungen Menschen aus dem Ort, vor
dem alles sich ehrerbietig erhob. "Warum weinst Du, Kind?" Sie sah ihn
an und erzählte ihm, sie habe "mit ein paar andern Jungens" in Pedro
Ohlsens Garten Äpfel stehlen wollen; aber Pedro und der Polizeidiener
seien gekommen und da--, ihr fiel ein, daß die Mutter ihr die Sache mit
dem Totschießen doch ein bißchen zweifelhaft gemacht hatte, und so wagte
sie davon nichts zu erzählen; statt dessen stieß sie nur einen tiefen
Seufzer aus. "Ist es möglich," sagte er, "daß ein Kind in Deinem Alter
eine so große Sünde begehen kann!" Petra sah ihn an. Wohl hatte sie
gewußt, daß es eine Sünde war; aber bisher war ihr das immer etwa
folgenderweise vorgepredigt worden: "Satansrange, Du! Du schwarzhaarige
Teufelsbrut!" Jetzt auf einmal schämte sie sich.--"Warum gehst Du nicht
in die Schule und lernst Gottes Gebot von dem, was gut und böse ist?"
Sie strich sich über den Rock und antwortete, Mutter wolle nicht, daß
sie zur Schule gehe.--"Da kannst Du am Ende nicht einmal lesen?"
Doch, lesen könne sie. Er zog ein kleines Buch aus der Tasche und
gab es ihr. Sie guckte hinein, drehte es um und besah es sich von
außen. "Solche feine Schrift kann ich nicht lesen!" sagte sie. Aber
sie mußte heran, und nun kam sie sich auf einmal fürchterlich dumm vor.
Mund und Augen wurden ihr schlaff, und alle ihre Glieder lösten sich.
"G-o-t--Gott--d-e-r H-e-r-r--Herr, Gott der Herr--s-a-g-t-e Gott der
Herr sagte zu M-M--"--"Mein Gott, Du kannst also wirklich noch nicht
einmal lesen! Ein Kind von zehn oder zwölf Jahren! Möchtest Du nicht
gern lesen lernen?" Langsam kam es aus ihr heraus: ja, sie möchte schon
gern. "Dann komm mit, wir fangen gleich an!" Jetzt rührte sie sich,
aber nur, um ins Haus zu sehen. "Ja, sag' es nur Deiner Mutter!" meinte
er. Die Mutter ging eben vorbei, und als sie das Kind mit einem fremden
Herrn sprechen sah, trat sie auf die Schwelle. "Er will mich lesen
lehren!" sagte das Kind zweifelnd, die Augen auf die Mutter gerichtet.
Sie antwortete nicht, stemmte nur beide Hände in die Hüften und sah
Ödegaard an. "Ihr Kind ist ja total unwissend!" sagte er. "Sie können es
vor Gott und Menschen nicht verantworten, wenn Sie es so heranwachsen
lassen!"--"Wer bist denn Du?" fragte Gunlaug scharf.--"Hans Ödegaard,
der Sohn des Pastors." Ihr Gesicht klärte sich leicht auf; von dem hatte
sie immer nur Gutes gehört. "Wenn ich dann und wann einmal im Lande
war", begann er wieder, "ist mir das Kind hier immer aufgefallen. Heute
bin ich von neuem an sie erinnert worden. Sie darf sich nicht länger nur
mit Dingen abgeben, die böse sind." Auf dem Gesicht der Mutter stand
deutlich zu lesen: Was geht das Dich an? Aber ruhig fragte er: "Das Kind
soll doch etwas lernen, nicht wahr?"--"Nein!"--Eine leichte Röte flog
über sein Gesicht. "Weshalb nicht?"--"Sind die Menschen, die was gelernt
haben, etwa besser?"--Sie hatte nur eine einzige Erfahrung gemacht in
ihrem Leben; aber an die klammerte sie sich.--"Es wundert mich, daß ein
Mensch das fragen kann!"--"Kann sein! Ich weiß, daß sie nicht besser
sind!" Und sie kam die Stufen herunter, um dem Gerede ein Ende zu
machen. Aber er vertrat ihr den Weg. "Es handelt sich hier um eine
Pflicht, der Sie sich einfach nicht entziehen dürfen. Sie sind eine
unvernünftige Mutter!" Gunlaug maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen. "Wer
sagt Dir denn, was ich bin?" versetzte sie, an ihm vorübergehend.--"Sie
selber, und zwar in diesem Augenblick; denn sonst müßten Sie doch
gesehen haben, daß das Kind zugrunde geht!" Gunlaug wandte sich um. Auge
ruhte in Auge. Sie sah, daß ihm das, was er gesagt hatte, wirklich Ernst
war, und ihr wurde bange. Sie hatte immer nur mit Matrosen und
Geschäftsleuten verkehrt; eine solche Sprache hatte sie noch nie
vernommen. "Was willst Du denn mit meinem Kind?" fragte sie. "Sie
lehren, was ihrem Seelenheile dient, und dann abwarten, was aus ihr
wird!"--"Mein Kind soll nichts anderes werden, als was ich
will!"--"Doch--es soll aus ihr werden, was Gott will!" Gunlaug war wie
vor den Kopf geschlagen. "Was soll das heißen?" fragte sie und trat
näher. "Das soll heißen, daß sie das lernen muß, wozu Gott ihr die Gaben
geschenkt hat; denn deswegen hat er ihr sie gegeben." Jetzt trat Gunlaug
ganz nahe an ihn heran: "Und ich, ihre Mutter--soll ich nicht etwa
bestimmen dürfen über sie?" fragte sie, als möchte sie sich wirklich
belehren lassen. "Doch! Gewiß!" erwiderte er. "Aber Sie müssen auch auf
den Rat anderer hören, die das besser verstehen. Sie müssen auf den
Willen des Herrn hören!"----Gunlaug war eine Weile still. "Und wenn sie
zu viel lernt?" sagte sie. "Armer Leute Kind", setzte sie hinzu und
blickte zärtlich auf die Tochter.--"Wenn sie für ihren Stand zu viel
lernt, so hat sie eben dadurch einen anderen Stand erreicht."--Sie
erfaßte sofort den Sinn seiner Worte, doch, indem sie mit immer
schwermütigeren Augen das Kind ansah, sagte sie leise, wie zu sich
selber: "Das ist gefährlich!"--"Darum handelt es sich nicht", versetzte
er sanft, "sondern um das, was recht ist." In ihre kraftvollen Augen kam
ein seltsamer Ausdruck; wieder blickte sie ihn durchdringend an; aber es
lag so viel Wahrheit in seiner Stimme, seinen Worten, seinen Mienen, daß
Gunlaug sich besiegt fühlte. Sie ging auf Petra zu, nahm ihren Kopf
zwischen beide Hände; zu reden vermochte sie nicht mehr.

"Ich werde die Kleine von heut an bis zur Einsegnung unterrichten,"
sagte er, wie um ihr zu Hilfe zu kommen. "Ich habe immer den Wunsch
gehabt, mich dieses Kindes anzunehmen!"--"Und darum willst Du es mir
wegnehmen?" Er stutzte und sah sie fragend an. "Freilich, Du verstehst
das ja besser als ich," stieß sie mühsam heraus, "aber es ist nur, weil
Du den Namen unseres Herrgotts genannt hast,"--sie verstummte. Sie hatte
währenddessen das Haar des Kindes glattgestrichen; jetzt nahm sie ihr
eigenes Tuch ab und band es ihm um den Hals. Auf andere Weise sprach sie
es nicht aus, daß Petra mitgehen dürfe; aber sie lief hastig davon, und
verschwand hinter dem Haus, als wolle sie es nicht mit ansehen.

Bei diesem Gebaren der Mutter ergriff ihn eine plötzliche Angst vor der
Aufgabe, die er da in jugendlichem Eifer auf sich genommen hatte. Das
Kind aber empfand Angst vor ihm, der zum erstenmal die Mutter besiegt
hatte; und mit dieser wechselseitigen Angst gingen sie an ihre erste
Unterrichtsstunde.

Von Tag zu Tag indessen fand er, daß sie an Klugheit und Wissen wuchs,
und seine Gespräche mit ihr nahmen zuweilen eine ganz eigentümliche
Richtung. Oft führte er ihr Persönlichkeiten aus der biblischen Historie
und der Weltgeschichte in der Weise vor, daß er auf den Beruf hinwies,
den Gott ihnen zuerteilt hatte. Er verweilte bei dem Manne Saul, der in
zügellosem Irren umherschweifte, und bei dem Knaben David, der seines
Vaters Herde weidete, bis Samuel kam und auf beide die Hand des Herrn
legte. Doch am herrlichsten offenbarte sich solches Berufensein, als der
Herr selbst auf Erden wandelte und unter den Fischern seine Stimme
erhob. Und der arme Fischer stand auf und folgte ihm nach--zu Not und
Tod--immer aber voll Freudigkeit; denn das Gefühl des Berufenseins trägt
uns über alle Widerwärtigkeiten hinweg.

Dieser Gedanke verfolgte sie, bis sie schließlich nicht mehr an sich
halten konnte,--sie mußte ihn fragen, wozu sie berufen sei. Er sah sie
an, bis sie über und über rot wurde; dann antwortete er, zu seinem Beruf
gelange ein Mensch nur durch Arbeit. Bescheiden und klein könne dieser
Beruf sein--da sei er für jeden. Und jetzt kam ein mächtiger Eifer über
sie; er trieb ihr Arbeiten an mit der Kraft eines Erwachsenen, er glühte
in ihren Kinderspielen und machte sie mager und dünn. Allerlei
abenteuerliches Sehnen stieg in ihr auf: sie wollte sich das Haar
abschneiden, sich als Knabe verkleiden, in die Welt hinausziehen und
kämpfen! Aber als ihr Lehrer eines Tages sagte, ihr Haar sei so hübsch,
wenn sie es nur ordentlich flechten wolle--da wurde das Haar ihr lieb,
und um ihres langen Haares willen opferte sie den Heldenruhm.

Seitdem war es ihr mehr wert, ein Mädchen zu sein, als früher, und
ruhiger schritt ihre Arbeit weiter, umschwebt von wechselnden Träumen.



Drittes Kapitel


Hans Ödegaards Vater war als junger Mensch aus dem Kirchdorf Ödegaard in
Stift Bergen ausgewandert; die Menschen hatten sich seiner angenommen,
und er war jetzt ein Gelehrter und sehr gestrenger Prediger. Auch ein
äußerst herrischer Mann war er, weniger in Worten als in Taten. Er hatte
ein "gutes Gedächtnis", wie man zu sagen pflegt. Dieser Mann, der mit
seiner Zähigkeit stets durchgesetzt hatte, was er wollte, sollte jedoch
an einem Punkte scheitern, wo er es am wenigsten erwartete, und wo es
ihn am schmerzlichsten traf.

Er hatte drei Töchter und einen Sohn. Dieser Sohn Hans war die Leuchte
der Schule; der Vater selbst leitete seine Studien und hatte seine helle
Freude an ihm. Hans hatte einen Freund; er setzte alles dran, ihn zu
seinem Nebenmann zu machen, und dieser Freund liebte ihn deshalb, nächst
seiner Mutter, über alles in der Welt. Zusammen gingen sie zur Schule;
zusammen kamen sie auf die Universität; zusammen machten sie die ersten
zwei Examina, und zusammen sollten sie nun dasselbe Amtsstudium
beginnen. Eines Tages, als sie nach einem just entworfenen Kollegienplan
übermütig die Treppe hinunterstürmten, wollte Hans im Gefühl fröhlichen
Jugendübermuts dem Freund auf den Rücken springen; der Freund fiel, und
zwar so unglücklich, daß er wenige Tage darauf starb. Der Sterbende bat
seine Mutter, die Witwe war und in ihm ihr einziges Kind verlor, ihm
zuliebe Hans an Sohnesstatt anzunehmen. Die Mutter starb fast
gleichzeitig mit dem Sohn; und kraft ihres Testaments fiel ihr sehr
beträchtliches Vermögen Hans Ödegaard zu.

Es dauerte Jahr und Tag, bis Hans sich von diesem Schlag erholte. Eine
lange Reise im Ausland tat ihm wenigstens soweit gut, daß er sein
theologisches Studium zu Ende zu führen vermochte; aber ein Amt
anzunehmen--dazu konnte niemand ihn bewegen.

Seines Vaters sehnlichster Wunsch war gewesen, ihn neben sich als Vikar
zu haben; aber Hans war nicht zu bereden, auch nur die Kanzel zu
betreten. Immer hatte er dieselbe Erwiderung: er fühle nicht den Beruf
in sich. Für den Vater war das eine bittere Enttäuschung, die ihn um
Jahre älter machte. Er selber hatte erst spät angefangen zu studieren,
war schon ein alter Mann, und hatte sich hart--und immer dieses Ziel vor
Augen--durchgearbeitet. Jetzt saß sein Sohn über ihm--im selben
Haus--bewohnte eine Reihe eleganter Zimmer; und unten, in der kleinen
Studierstube, bei seiner Lampe, die ihm hinüberleuchtete in die Nacht
des Alters, saß in nie ermüdender Arbeit der alte Pastor. Er hatte--nach
jener Enttäuschung--fremde Hilfe weder annehmen können noch wollen;
darum gab es für ihn--Sommer oder Winter--keine Ruhe. Der Sohn aber
machte alljährlich eine längere Reise ins Ausland. Wenn er zu Hause war,
verkehrte er mit niemand; nur daß er--mehr oder weniger
schweigsam--mittags an des Vaters Tisch aß. Wer sich in ein Gespräch mit
ihm einließ, stieß auf solch überlegene Klarheit, auf solchen
Wahrheitseifer, daß die Unterhaltung meist bald gefährdet wurde. In der
Kirche sah man ihn nie; aber er gab mehr als die Hälfte seiner Einnahmen
zu wohltätigen Zwecken hin, wobei er stets die genauesten Vorschriften
über die Verwendung machte.

Diese Wohltätigkeit war in ihrer Großartigkeit so verschieden von den
beschränkten Gewohnheiten der kleinen Stadt, daß sie alle Herzen gewann.
Wenn man dazu seine ganze zurückgezogene Lebensführung, seine häufigen
langen Reisen und die Scheu nimmt, die irgendwie alle vor ihm hatten, so
wird man wohl begreifen, daß er in den Augen der Leute zu einer Art
Original wurde, dem man allerhand geheimnisvolle Dinge zutraute, hinter
dem man alles mögliche suchte, und dem man fast übernatürliche
Eigenschaften beilegte. Als dieser Mann sich herabließ, das Fischermädel
in seine tägliche Fürsorge zu nehmen, war sie von Stund an geadelt.

Plötzlich wollte jeder sich ihrer annehmen; besonders die Frauen. Eines
Tages erschien sie, in alle Farben des Regenbogens gekleidet; sie hatte
einfach alles angezogen, was man ihr geschenkt hatte, im Glauben, so
müsse sie ihm gefallen; denn er wollte sie gern immer nett und zierlich
haben. Aber kaum hatte er sie erblickt, so schalt er sie schon aus: sie
dürfe sich nichts schenken lassen; eitel sei sie und albern; sie stecke
in lauter Tand und Narretei! Als sie dann am nächsten Morgen mit
verweinten Augen anrückte, nahm er sie auf einen Spaziergang mit--zur
Stadt hinaus. Da erzählte er ihr von David, so wie er ihr überhaupt
immer eine oder die andere Persönlichkeit darstellte--indem er ihr alles
Wohlbekannte in immer neuem Licht vorführte. Erst schilderte er David
als Jüngling, wie er schön und kraftvoll in sorglosem Glauben
dahinlebte. Darum durfte er, noch ehe er Mann geworden war, am
Triumphzug teilnehmen. Als Hirte wurde er zum König berufen; in Höhlen
hatte er gewohnt--und erbaute zuletzt Jerusalem! In schönen Gewändern
saß er vor dem kranken Saul und spielte die Harfe; aber als er selber
König war--und krank--da schlug er die Harfe für sich allein--, in
Lumpen der Reue gehüllt. Nachdem er sein Lebenswerk vollendet hatte,
ergab er sich der Ruhe--in Sünde. Und der Prophet kam, und die Strafe
Gottes; und er wurde wieder zum Kinde. David, er, der das ganze Volk
des Herrn zu erheben vermochte zu Lobgesang, lag selber, zerknirscht, zu
den Füßen des Herrn. Wann war er schöner? Als er siegesgekrönt--nach
eigenen Sängen--einhertanzte vor der Bundeslade--oder wenn er im
verschwiegenen Kämmerlein um Gnade flehte vor Gottes strafender Hand?

In der Nacht nach diesem Gespräch hatte sie einen Traum, den sie ihr
ganzes Leben lang nicht vergessen konnte. Sie saß auf einem weißen
Zelter--in einem Siegeszug--und zugleich tanzte sie in Lumpen vor dem
Pferde her.

Eine gute Weile darauf kam eines Abends, als sie am Waldessaum oberhalb
der Stadt saß und ihre Aufgaben lernte, Pedro Ohlsen ganz dicht an ihr
vorüber und flüsterte mit einem sonderbaren Lächeln: "Guten Abend!"
Obgleich Jahre vergangen, war der Mutter Verbot, mit ihm zu reden, noch
so mächtig in ihr, daß sie seinen Gruß nicht erwiderte. Aber Tag für Tag
kam er jetzt auf dieselbe Weise und stets mit demselben Gruß an ihr
vorüber; zuletzt wartete sie auf ihn, wenn er nicht kam. Bald richtete
er im Vorbeigehen eine kurze Frage an sie, nach einer kleinen Weile
wurden daraus zwei, und schließlich wurden es ganze Gespräche. Eines
Tages ließ er nach einer solchen Unterhaltung einen Silbertaler in ihren
Schoß gleiten, worauf er seelenvergnügt und eiligst davonlief. Nun war
es gegen den Befehl der Mutter, nicht mit ihm zu reden, und gegen das
Verbot Ödegaards, Geschenke von irgend jemand anzunehmen. Das erste
Verbot hatte sie ganz allmählich übertreten--jetzt, da auch die
Übertretung des zweiten Tatsache war, fiel es ihr wieder ein. Um das
Geld los zu werden, nahm sie den ersten besten, der ihr begegnete, mit
und traktierte ihn; aber beim besten Willen war es ihnen nicht möglich,
für mehr als zehn Groschen zu verzehren. Und hinterher bereute sie auch,
daß sie den Taler vernascht hatte, statt ihn zurückzugeben. Das letzte
Zweigroschenstück brannte ihr in der Tasche, als müsse es ein Loch
durchs Kleid sengen. Sie zog es heraus und warf es ins Meer. Aber damit
war sie doch den Taler nicht los--auch ihre Gedanken hatte er angesengt.
Wenn sie es gestand, so würde es vorübergehen, das fühlte sie; aber der
schreckliche Zorn der Mutter damals und Ödegaards festes Zutrauen zu ihr
standen, jedes in seiner Art, als Schrecknisse im Wege. Während die
Mutter nichts merkte, entdeckte Ödegaard bald, daß sie etwas mit sich
herumschleppe, das sie unglücklich mache. Liebevoll fragte er sie eines
Tages, was es sei, und als sie statt aller Antwort in Tränen ausbrach,
dachte er, zu Hause bei ihr sei vielleicht Not, und gab ihr zehn
Speziestaler. Daß sie--trotz ihrer Sünde gegen ihn--noch Geld von ihm
bekam, machte einen tiefen Eindruck auf sie; und da sie nun obendrein
noch Geld hatte--ehrliches Geld, das sie der Mutter ganz offen geben
konnte,--empfand sie das als eine Freisprechung von ihrem Verbrechen und
gab sich der ausgelassensten Freude hin. Sie nahm seine Hand zwischen
ihre beiden Hände und bedankte sich, sie lachte und tanzte in der Stube
herum, sie strahlte vor Entzücken durch ihre Tränen hindurch, während
sie ihn ansah mit dem Blick eines Hundes, der seinen Herrn begleiten
darf. Er kannte sie gar nicht wieder. Sie, die er sonst ganz in der
Gewalt seiner Worte hatte, nahm ihm heute die Herrschaft aus den Händen.
Zum erstenmal fühlte er eine starke und wilde Natur sich entladen, zum
erstenmal überflutete ihn des Lebens Quelle mit ihrem roten Strom, und
er wich purpurheiß zurück. Petra aber stürzte zur Tür hinaus und den
Berg hinauf, nach Hause. Dort legte sie das Geld vor die Mutter auf die
Herdplatte und fiel ihr selber um den Hals. "Wer hat Dir das Geld
gegeben?" fragte die Mutter, in der schon der Zorn aufstieg.--"Ödegaard,
Mutter! Er ist der herrlichste Mensch auf Erden!"--"Was soll ich
damit?"--"Ich weiß nicht! O Gott, Mutter, wenn Du wüßtest--" sie fiel
ihr wieder um den Hals--jetzt konnte und wollte sie ihr alles sagen.
Aber die Mutter machte sich ungeduldig los. "Soll ich vielleicht Almosen
annehmen? Augenblicklich gibst Du ihm das Geld zurück! Wenn Du ihm
vorgeschwatzt hast, ich hätt's nötig, so hast Du gelogen!"--"Aber
Mutter!"--"Sofort bringst Du ihm das Geld zurück, sag' ich Dir, oder ich
gehe selber hin und werf es ihm ins Gesicht, dem--dem..., der mir mein
Kind genommen hat!" Die Lippen der Mutter zitterten bei den letzten
Worten; Petra war immer blasser geworden, sie wich zurück, langsam
öffnete sie die Tür, langsam ging sie aus dem Hause. Eh sie wußte, was
sie tat, war der Zehntalerschein zwischen ihren Finger in Fetzen
zerrissen. Die Entdeckung dieser Tatsache löste sich in einem Ausbruch
der Empörung gegen die Mutter. Aber Ödegaard durfte nichts davon
erfahren--doch, alles sollte er erfahren... Ihm durfte sie nichts
vorlügen!--Und einen Augenblick darauf stand sie in seinem Zimmer und
erzählte ihm, die Mutter habe das Geld nicht nehmen wollen und vor
Ärger, daß sie es ihm zurückbringen mußte, habe sie den Schein
zerrissen. Sie wollte noch mehr sagen, aber er hörte sie merkwürdig kalt
an, hieß sie nach Hause gehen und gab ihr die Ermahnung mit auf den Weg,
der Mutter stets gehorsam zu sein, auch wenn es ihr sauer fiele. Das kam
ihr doch recht sonderbar vor; denn so viel wußte sie auch--er selber tat
nicht, was sein Vater von ihm wollte. Auf dem Heimweg brach es in ihr
los, und gerade da begegnete ihr Pedro Ohlsen. Sie hatte ihn die ganze
Zeit über gemieden und wollte das auch jetzt tun; denn er war ja an dem
ganzen Unglück schuld. "Wo bist Du gewesen?" fragte er, neben ihr
hergehend. "Ist Dir etwas geschehen?" Die Wogen in ihr gingen so hoch,
daß sie sich einfach von ihnen schleudern ließ, einerlei wohin. Und
überhaupt begriff sie auch gar nicht, weshalb ihr die Mutter verboten
hatte, mit ihm umzugehen; es war natürlich nur eine von ihren Launen.
"Weißt Du, was ich getan habe?" sagte er fast demütig, als sie stehen
blieb. "Ich habe Dir ein Segelboot gekauft;--ich dachte, Du habest
vielleicht Lust, ein bißchen zu segeln!" Und er lachte. Seine Güte, die
etwas von der Bitte eines Bettlers hatte, rührte sie gerade jetzt; sie
nickte, und nun wurde er lebendig, er flüsterte hastig, sie solle durch
die Allee rechts draußen vor der Stadt bis an das große gelbe Bootshaus
gehen; dort wolle er sie abholen: kein Mensch könne sie dort sehen. Sie
ging hin und er kam, strahlend, aber ehrerbietig wie ein altes Kind, und
nahm sie zu sich ins Boot. Sie segelten eine Weile in der leichten Brise
und legten dann an einer Insel an, machten das Boot fest und stiegen ans
Land. Er hatte allerlei Leckereien für sie mitgebracht, die er ihr mit
ängstlicher Freude anbot; dann zog er seine Flöte heraus und spielte.
Seine Seligkeit ließ sie eine Zeitlang ihren eigenen Kummer vergessen;
und weil die Fröhlichkeit schwacher Wesen wehmütig stimmt, gewann sie
ihn plötzlich lieb.

Fortan hatte sie ein neues und dauerndes Geheimnis vor der Mutter, und
bald war es dahin gekommen, daß sie der Mutter überhaupt nichts mehr
sagte. Und Gunlaug fragte nicht; sie vertraute ganz, bis zu dem
Augenblick, da sie ganz mißtraute.

Aber auch vor Ödegaard hatte Petra fortan Geheimnisse; denn sie nahm
allerhand Geschenke von Pedro Ohlsen an. Auch Ödegaard fragte nicht; der
ganze Unterricht führte von Tag zu Tag mehr auf ein unpersönliches
Gebiet.

Petra war jetzt also zwischen Dreien geteilt. Bei keinem sprach sie von
den andern, und vor jedem hatte sie etwas Besonderes zu verheimlichen.

Doch unterdessen war sie, ohne es selbst zu wissen, ein erwachsenes
Mädchen geworden, und eines Tages teilte Ödegaard ihr mit, daß sie
eingesegnet werden solle.

Diese Nachricht erfüllte sie mit großer Unruhe; denn sie wußte, mit der
Einsegnung hatte der Unterricht ein Ende, und was sollte dann werden?
Die Mutter ließ ein Giebelstübchen ans Haus anbauen; Petra sollte nach
ihrer Einsegnung ein eigenes Zimmer haben. Das unablässige Hämmern und
Klopfen war ihr eine schmerzliche Mahnung. Ödegaard sah, wie sie immer
stiller und stiller wurde; zuweilen merkte er sogar, daß sie geweint
hatte. Der Religionsunterricht machte in dieser Stimmung einen starken
Eindruck auf sie, obgleich Ödegaard mit großer Sorgfalt alles vermied,
was sie hätte aufregen können. Aus eben diesem Grunde schloß er auch
vierzehn Tage vor der Einsegnung den Unterricht mit der kurzen
Mitteilung ab, heute sei die letzte Stunde gewesen. Er meinte damit die
letzte Stunde bei ihm; denn er wollte natürlich noch weiter für sie
sorgen, wenn auch durch andere. Aber wie festgenagelt blieb sie sitzen;
alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, die Augen hingen starr an ihm, so
daß er, unwillkürlich gerührt, sich beeilte, einen Grund anzugeben:
"Nicht alle jungen Mädchen sind ja bei ihrer Einsegnung schon
erwachsen;--aber bei Dir ist es so. Das fühlst Du wohl selbst." Hätte
sie im Schein eines flammenden Feuers gestanden--sie hätte nicht
glühender rot werden können, als sie bei diesen Worten wurde. Ihr Busen
wogte, die Augen flackerten unruhig und füllten sich mit Tränen, und wie
gehetzt fügte er hinzu: "Oder wollen wir vielleicht doch noch
weitermachen?" Erst hinterher wurde ihm klar, was er ihr da
vorgeschlagen hatte; es war unrecht von ihm--er wollte es wieder
zurücknehmen, aber schon erhob sie ihre Augen zu ihm; sie sagte nicht
mit den Lippen "ja"; aber besser hätte sie es nicht sagen können. Um
sich vor seinem eigenen Gewissen zu entschuldigen, suchte er nach einem
Vorwand und fragte: "Du möchtest jedenfalls jetzt gern irgend etwas
Bestimmtes ergreifen ... etwas, wozu Du"--er beugte sich zu ihr
herüber--"den Beruf in Dir fühlst?" "Nein!" erwiderte sie so rasch, daß
er errötete und, abgekühlt, in die eigenen, jahrelangen Grübeleien
zurücksank, die ihre unerwartete Antwort wieder wachgerufen hatte.

Daß etwas Eigenartiges sich in ihr regte, daran hatte er nie gezweifelt,
seit er sie als Kind singend an der Spitze der Straßenjugend des
Städtchens hatte marschieren sehen. Aber je länger er sie unterrichtet
hatte, desto weniger vermochte er aus ihrer Begabung klug zu werden.
Vorhanden war sie in jeder Bewegung; alles, was sie dachte, was sie
wünschte, verkündeten Geist und Körper zu gleicher Zeit, aus einer Fülle
von Kraft heraus, umzittert von einen Glanz der Schönheit. Aber in Worte
gefaßt oder gar zu Papier gebracht, waren es einfach lauter Kindereien.
Sie sah aus wie die verkörperte Phantasie--er freilich empfand es vor
allem als Unruhe. Sie war sehr fleißig; aber ihr Fleiß hatte weniger den
Zweck, etwas zu lernen, als weiterzukommen; was auf der _nächsten_ Seite
stand, beschäftigte sie immer am meisten. Sie hatte Sinn für Religion,
doch, wie der Propst sich ausdrückte, "keine Anlage zu einem religiösen
Leben"; und Ödegaard machte sich oft schwere Sorgen um sie. Jetzt stand
er an einem Wendepunkt; unwillkürlich fühlte er sich im Geist
zurückversetzt vor die steinerne Treppe, wo er sie in sein Leben
aufgenommen hatte; er hörte die scharfe Stimme der Mutter, die ihm die
Verantwortung aufbürdete, weil er den Namen des Herrn genannt hatte.

Nachdem er mehrmals im Zimmer auf und ab gegangen war, raffte er sich
zusammen. "Ich mache jetzt eine Reise ins Ausland", sagte er mit einer
gewissen Scheu. "Ich habe meine Schwestern gebeten, sich inzwischen
Deiner anzunehmen, und wenn ich wiederkomme, wollen wir weiter sehen.
Leb' wohl... Wir sehen uns wohl noch, bis ich reise!" Damit ging er ins
Nebenzimmer, so rasch, daß sie ihm nicht einmal mehr die Hand geben
konnte.

Sie sah ihn wieder, wo sie es am wenigsten erwartet hatte--im Pfarrstuhl
neben dem Chor, ihr gerade gegenüber, als sie in der Schar der Mädchen
vor dem Altar stand, um eingesegnet zu werden. Das regte sie so auf, daß
ihre Gedanken lange von der heiligen Handlung, auf die sie sich in Demut
und Gebet vorbereitet hatte, abgelenkt wurden. Ja, sogar Ödegaards alter
Vater stutzte und blickte lange auf den Sohn, als er vor den Altar
trat, um zu beginnen. Gleich darauf sollte Petra noch einen zweiten
Schrecken erleben in der Kirche; denn etwas weiter hinten saß Pedro
Ohlsen in einem neuen, steifen Anzug. Er reckte gerade den Hals, um über
die Köpfe der Jungens hinweg zu der Mädchenschar, zu ihr herüberzusehen!
Er tauchte sogleich wieder unter; aber immer wieder sah sie seinen dünn
behaarten Kopf sich emporstrecken, um gleich darauf wieder
unterzutauchen. Das zog ihre Gedanken ab; sie wollte nicht hinsehen, und
sah doch hin, und da--gerade als alle die andern tief ergriffen waren,
manche in Tränen aufgelöst--sah Petra zu ihrem Entsetzen, wie Pedro sich
erhob, starr, mit offenem Mund und stieren Augen, versteinert, unfähig,
sich wieder zu setzen oder sich zu rühren; denn ihm gegenüber stand
Gunlaug, hoch aufgerichtet, in ihrer vollen Größe. Ein Schauder
durchrann Petra beim Anblick der Mutter; denn sie war so weiß wie das
Altartuch. Ihr schwarzes krauses Haar schien sich zu sträuben, während
in ihre Augen plötzlich eine Kraft der Abwehr kam, als wollten sie
sagen: "Laß sie in Ruh'! Was hast Du mit ihr zu schaffen?" Wirklich sank
er auch unter dem Eindruck dieses Blickes auf der Bank zusammen und eine
Weile darauf schlich er zur Kirche hinaus.

Nun legte sich Petras Unruhe, und je weiter die heilige Handlung
fortschritt, desto mächtiger fühlte sie sich mitgerissen. Und als sie
ihr Gelübde abgelegt hatte und wieder zurücktrat und, durch Tränen,
hinüber blickte zu Ödegaard als zu dem Manne, der allen ihren guten
Vorsätzen am nächsten stand, da gelobte sie in ihrem Herzen, daß sie
seinen Glauben nicht zu schanden machen wolle. Sein treues Auge, das so
leuchtend zu ihr herüberschaute, schien dasselbe zu erbitten; aber als
sie wieder auf ihrem Platz stand und ihn noch einmal mit dem Blick
suchte, war er verschwunden. Bald darauf ging sie heim mit der Mutter,
die unterwegs nur sagte: "Jetzt hab' ich das meinige getan;--nun mag
unser Herrgott das seine tun!"

Als sie dann, allein, miteinander zu Mittag gegessen hatten, sagte sie
wieder, indem sie vom Tisch aufstand: "Dann werden wir jetzt wohl zu ihm
hinübergehen müssen--zu dem Pfarrerssohn. Wenn ich auch nicht weiß, wozu
das taugen soll, was er treibt,--gut gemeint hat er's jedenfalls. Mach'
Dich fertig, Kind!"

Der Weg zur Kirche, den die beiden so oft miteinander gegangen waren,
führte oben über der Stadt herum; auf der Straße hatten sie sich bis
jetzt noch nie zusammen sehen lassen; die Mutter war seit ihrer Rückkehr
überhaupt kaum in der Stadt gewesen. Heute jedoch bog sie nach der
Straße zu ab; heute wollte sie die ganze Straße hinuntergehen, die ganze
Straße, an der Seite ihrer erwachsenen Tochter!

Am Nachmittag des Einsegnungstages ist so eine kleine Stadt auf der
Wanderung, entweder von Haus zu Haus, zum Gratulieren, oder Straßen auf
und ab, um zu gucken und sich begucken zu lassen. Auf Schritt und Tritt
bleibt man stehen und grüßt, tauscht Händedrücke aus und sagt einander
ein paar freundliche Worte. Die Kinder der Armen präsentieren sich in
den abgelegten Kleidern der Reichen und werden vorgeführt, um sich zu
bedanken. Die Seeleute in fremdländischem Staat, die Mütze schief auf
dem Ohr, die Stutzer des Städtchens, die Handlungsgehilfen, zogen, nach
allen Seiten grüßend, in Scharen vorüber; die halbwüchsigen
Lateinschüler, jeder seinen Busenfreund am Arm, schlenderten voll
altkluger Kritik hinterdrein; aber alle fühlten sie sich heute im
stillen ausgestochen von dem Löwen der Stadt, dem reichsten Mann der
Stadt, dem jungen Kaufherrn Yngve Vold, der soeben aus Spanien
heimgekehrt war, fix und fertig, von morgen ab das große Fischgeschäft
seiner Mutter zu übernehmen. Mit seinem hellen Hut auf dem hellen Haar,
glänzte er in allen Gassen, so daß die jungen Konfirmanden fast in
Vergessenheit gerieten; alle hießen ihn willkommen, mit allen unterhielt
er sich, allen lachte er zu--an allen Ecken und Enden sah man den hellen
Hut auf dem hellen Haar und hörte das helle Lachen. Als Petra und ihre
Mutter die Straße herabkamen, war er der erste, auf den sie stießen; und
wie wenn sie tatsächlich "auf ihn gestoßen" hätten, so fuhr er zurück,
als er Petra sah. Er erkannte sie nicht wieder.

Sie war groß, nicht so groß wie die Mutter, aber doch größer als die
meisten andern Mädchen--anmutig, fein und keck, die Mutter und doch auch
wieder nicht die Mutter, in ständigem Farbenspiel. Selbst der junge
Kaufmann, der ihnen folgte, vermochte die Blicke der Vorübergehenden
nicht mehr auf sich zu ziehen; die beiden, Mutter und Tochter zusammen,
waren doch noch ein fremdartigerer Anblick. Sie gingen rasch, ohne zu
grüßen, da sie selbst kaum von andern als von Seeleuten gegrüßt wurden.
Aber noch eiliger kamen sie die Straße wieder zurück; denn sie hatten
gehört, Ödegaard habe soeben das Haus verlassen und sei zum Dampfer
hinuntergegangen, der in wenigen Minuten abgehen sollte. Besonders Petra
drängte mehr und mehr; sie mußte--mußte ihn noch einmal sehen, mußte ihm
danken, eh er aufbrach. Unrecht war es von ihm, so von ihr zu gehen! Sie
sah niemand von all denen, die sie ansahen--sie sah nichts als den
Dampferrauch über den Dächern,--ihr war, als entferne der Rauch sich.
Als sie zur Landungsbrücke kamen, stieß der Dampfer gerade vom Lande ab,
und--die Kehle zugeschnürt von Tränen--eilte sie weiter, hinaus in die
Allee; sie sprang mehr als daß sie ging, und die Mutter stapfte hinter
ihr her. Da der Dampfer Zeit gebraucht hatte, um im Hafen zu wenden, kam
sie noch eben zurecht, um hinunter zu springen auf den Strand, auf einen
Stein zu klettern und mit dem Taschentuch zu winken. Die Mutter blieb
oben in der Allee stehen. Petra winkte--immer höher und höher schwenkte
sie ihr Tuch; aber--keiner winkte zurück.

Da konnte sie sich nicht mehr halten; vor lauter Tränen mußte sie
den oberen Weg nach Hause gehen. Die Mutter folgte stumm.--Ihr
Giebelstübchen, das die Mutter ihr geschenkt hatte, in dem sie
diese Nacht zum erstenmal geschlafen und heut morgen so voller
Freude ihr neues Kleid angezogen hatte, betrat sie jetzt, am Abend,
aufgelöst in Tränen, ohne einen Blick um sich zu werfen. Hinunter
wollte sie nicht--da saßen Matrosen und andere Gäste; sie zog ihr
Konfirmationskleid aus und saß auf ihrem Bett bis tief in die Nacht
hinein. Erwachsensein--das schien ihr das Unglückseligste auf der ganzen
Welt!



Viertes Kapitel


Eines schönen Tages, bald nach der Konfirmation, ging Petra zu Ödegaards
Schwestern hinüber; aber sie merkte gleich, daß das ein Fehlgriff von
ihm gewesen war. Der Propst tat, als sei sie Luft, und die Töchter,
beide älter als Ödegaard, waren mehr als steif. Sie begnügten sich
damit, ihr kurz und knapp mitzuteilen, was der Bruder über sie bestimmt
habe. Sie solle den ganzen Vormittag in einem Haus außerhalb der Stadt
die Haushaltung erlernen, und nachmittags in die Nähschule gehen;
schlafen, frühstücken und Abendbrot essen solle sie zu Hause. Sie tat,
wie ihr befohlen war, und schickte sich ganz gut darein, solang ihr die
Sache neu war, aber nach und nach, und besonders als es Sommer wurde,
fing das Ding sie zu langweilen an. Sonst um diese Zeit hatte sie ganze
Tage lang droben im Walde gesessen und in ihren Büchern gelesen, den
Büchern, die sie jetzt schmerzlich vermißte, wie sie Ödegaard selbst und
den Verkehr mit ihm vermißte. Die Folge war, daß sie sich ihren Verkehr
suchte, wo sie ihn eben fand. Um diese Zeit nämlich trat in die
Nähschule ein junges Mädchen ein, das Lise Let hieß; das heißt Lise hieß
sie--aber nicht Let; Let hieß ein junger Seekadett, der in den
Weihnachtsferien zu Hause gewesen war und sich beim Schlittschuhlaufen
mit ihr verlobt hatte, als sie noch ein Schulmädel war. Lise wollte Gift
drauf nehmen, daß das nicht wahr sei, und fing zu weinen an, sobald man
überhaupt darauf anspielte; aber trotzdem blieb der Name an ihr hängen:
Lise Let. Die kleine zierliche Lise Let weinte oft und lachte oft; doch
ob sie weinte oder lachte--immer ging ihr Liebe im Kopf herum. Ein
Bienenschwarm von Gedanken, neuen, seltsamen Gedanken, füllte bald die
Nähschule. Streckte eine Hand sich nach der Zwirnrolle aus--gleich war
es ein Heiratsantrag und die Rolle sagte entweder ja oder gab einen
Korb; die Nadel verlobte sich mit dem Faden, und der Faden opferte sich,
Stich um Stich, für die Grausame; wer sich stach, vergoß sein Herzblut;
wer die Nadel wechselte, war treulos. Flüsterten zwei Mädchen
miteinander, so hatten sie sich immer etwas ganz Besonderes zu sagen;
bald flüsterten noch zwei und noch zwei; jede hatte ihre
Vertraute,--tausend Heimlichkeiten schwebten in der Luft; es war nicht
auszuhalten.

Eines Nachmittags in der Dämmerung, in einem ganz feinen
Regen,--Rieselregen nennt man ihn--war Petra mit einem großen
Umschlagtuch überm Kopf vor der Tür ihres Hauses und lugte in den Flur
hinein, wo ein junger Matrose stand und einen Walzer pfiff.
"Du--Gunnar--wollen wir einen Spaziergang machen?"--"Es regnet
doch!"--"Bah, das bißchen Regen!"--Sie gingen bis zu einem kleinen Haus
oben am Berge. "Kauf' mir ein paar Kuchen--von denen mit Schlagsahne
drauf--ja?"--"Immer willst Du auch Kuchen!"--"Mit Schlagsahne
drauf!"--Er ging und holte ihr ein paar. Sie streckte die eine Hand
unter dem Tuch hervor, nahm die Kuchen und ging schmausend weiter. Als
sie hoch oben über der Stadt standen, bot sie ihm ein Stück Kuchen an
und sagte: "Du, Gunnar, wir zwei haben uns doch immer so gern leiden
mögen; immer hab' ich Dich am liebsten mögen von all den Jungens.
Glaubst es nicht? Doch, ganz sicher, Gunnar! Und jetzt bist Du zweiter
Steuermann und führst vielleicht schon bald ein eigenes Schiff. Ich
finde, Du müßtest Dich jetzt verloben... Nanu? Magst Du keinen
Kuchen?"--"Danke! Ich kaue lieber Tabak."--"Also--was sagst Du
dazu?"--"Oh, das hat keine Eile!"--"Keine Eile? Übermorgen gehst Du doch
wieder fort!"--"Na ja ... ich komm' doch wieder!"--"Aber ob ich dann
Zeit hab', ist ziemlich zweifelhaft; wer weiß, wo ich dann bin!"--"Also
mit Dir soll ich mich verloben?"--"Aber natürlich, Gunnar. Mit wem denn
sonst? Du bist wirklich zu dumm, darum bist Du auch nichts als ein
Matrose!"--"Tut mir gar nicht leid! Matrose sein, das ist
famos!"--"Freilich--Deine Mutter hat ja ein Schiff. Na, was sagst Du
also? Schrecklich, wie schwerfällig Du bist!"--"Was soll ich denn
sagen?"--"Was Du sagen sollst? Hahaha!... Willst mich am Ende gar nicht?
Was?"--"Ach, Petra! das weißt Du ja nur zu gut! Aber ich glaube--man
kann sich nicht auf Dich verlassen!"--"Doch, doch, Gunnar! Ich bin Dir
ganz, ganz gewiß treu!"--Er blieb einen Augenblick stehen: "Laß Dich mal
ansehen, Petra!"--"Warum?"--"Ich will sehen, ob Du es auch wirklich
meinst."--"Denkst Du etwa, ich mache Unsinn?" Sie schlug erzürnt ihr
Tuch zurück.--"Ja, Petra--wenn es also ganz im vollen Ernst gelten soll,
dann gib mir einen Kuß drauf. Da weiß man doch, was man hat."--"Bist Du
verrückt?" sie schlug das Tuch wieder zusammen und ging weiter.--"So
warte doch, Petra! Das verstehst Du nur nicht. Wenn wir wirklich
Liebesleute sind--"--"Ach, Blödsinn!"--"Na, hör' mal, da muß _ich_ doch
wohl wissen, was der Brauch ist, scheint mir; denn was Lebenserfahrung
anbelangt--da bin ich Dir zwanzigmal über. Wenn Du bloß bedenkst, was
ich alles gesehen habe--"--"Bah, Du hast gesehen wie ein Schafskopf
sieht, und schwatzt, wie Du gesehen hast!"--"So? Und was verstehst denn
Du unter Liebesleuten, wenn man fragen darf? Was? Bergauf und bergab
hintereinander herrennen, darin besteht's doch wahrhaftig
nicht!"--"Nein, das stimmt!" lachte sie und blieb stehen. "Also hör' mal
zu, Du! Während wir uns ein bißchen verschnaufen--puh!--will ich Dir
sagen, wie Liebesleute sich benehmen. Solang Du hier bist in der Stadt,
mußt Du jeden Abend vor der Nähschule auf mich warten und mich
heimbegleiten bis zur Haustür, und wenn ich sonst irgendwo bin, mußt Du
auf der Straße warten, bis ich komme. Wenn Du wieder fort bist, mußt Du
mir schreiben und mir hübsche Sachen kaufen und schicken. Und--ja,
richtig: ein paar Ringe, der eine mit meinem und der andere mit Deinem
Namen und mit Jahreszahl und Datum müssen wir uns schenken; aber ich
habe kein Geld, also mußt Du sie alle beide kaufen."--"Das will ich
schon, aber--"--"Was gibt's denn nun wieder für ein Aber?"--"Herrgott,
ich meine ja nur--dazu muß ich doch das Maß von Deinen Fingern
haben."--"Schön! Das sollst Du gleich haben." Sie riß einen Grashalm ab,
maß und biß ab. "Da! wirf ihn aber nicht weg!"--Er legte den Halm in ein
Stückchen Papier und das Papier in sein Notizbuch; sie sah zu, bis das
Buch wieder sicher eingesteckt war.--"So, jetzt wollen wir gehen; das
Herumgestehe hier hab' ich satt!"--"Hör' mal, Petra, ich finde wirklich,
die Geschichte ist ein bißchen--dürftig!"--"Gut, wenn Du nicht willst,
mein Junge, mir soll's egal sein!"--"Natürlich will ich! So hab' ich's
nicht gemeint;--aber darf ich denn nicht einmal wenigstens Deine Hand
nehmen?"--"Wozu denn?"--"Damit es gewiß ist, daß wir nun wirklich
verlobt sind."--"Solch ein Blödsinn! Ist es denn darum gewisser, wenn
man einander bei der Hand faßt?--Übrigens--Du kannst meine Hand schon
haben! Da ist sie! Nein, mein Junge--nicht drücken--das bitt' ich mir
aus!"--Sie versteckte ihre Hand wieder unter dem Tuch; aber dann hob sie
plötzlich das Tuch mit beiden Händen, so daß das Gesicht ganz zum
Vorschein kam: "Wenn Du's einer Menschenseele erzählst, Gunnar, so sag'
ich, es ist nicht wahr! Daß Du's nur weißt!" Und sie lachte und lief den
Berg hinunter. Nach einer Weile blieb sie stehen und sagte: "Morgen ist
die Nähstunde erst um neun Uhr aus. Dann kannst Du mich hinterm Garten
erwarten, hörst Du?"--"Schön."--"So, und jetzt mußt Du gehen."--"Willst
Du mir nicht einmal zum Abschied die Hand geben?"--"Ich weiß gar nicht,
was Du nur immer mit der dummen Hand willst! Nein, jetzt kriegst Du sie
erst recht nicht.--Adieu!" und sie lief davon.

Am nächsten Abend wußte sie es so einzurichten, daß sie als die letzte
die Schule verließ. Es war fast zehn Uhr, als sie ging; wie sie jedoch
vor den Garten kam,----kein Gunnar! Auf alles mögliche Pech hatte sie
sich gefaßt gemacht; nur nicht darauf. Sie war so beleidigt, daß sie
jetzt selber wartete, bloß damit sie's ihm ordentlich "geben" konnte,
wenn er endlich kam. Übrigens hatte sie Unterhaltung genug, während sie
hinter dem Garten auf und ab spazierte. Der kaufmännische Gesangverein
hatte nämlich soeben in einem benachbarten Haus bei offenen Fenstern
seine Probe begonnen. Die Klänge eines spanischen Liedes lockten in der
milden Abendluft ihre Gedanken so lange, bis sie selbst in Spanien war
und von offenem Altan herab ihr Lob singen hörte. Spanien war ihre ganze
Sehnsucht; Sommer für Sommer lagen im Hafen die dunklen spanischen
Schiffe, klangen auf den Gassen spanische Lieder, und in Ödegaards
Zimmer hingen an der Wand viele schöne Bilder von Spanien. Wer
weiß--vielleicht war er jetzt gerade dort, und sie war bei ihm! Aber sie
wurde sehr plötzlich wieder heimgerufen; denn dort hinter dem Apfelbaum
kam endlich Gunnar hervorgestürzt; sie eilte auf ihn zu--und da war es
gar nicht Gunnar, sondern der von Spanien zurückgekehrte helle Hut auf
dem hellen Haar. "Hahaha!" lachte das helle Lachen. "Sie haben mich wohl
für jemand anders gehalten?" Sie leugnete hastig, voll Eifer, und rannte
wütend davon. Aber er lief ihr nach, wobei er während des Laufens
unausgesetzt auf sie einredete, und zwar ungemein schnell und mit der
halb verwischten Aussprache, wie sie Leuten, die gewöhnt sind, mehrere
Sprachen zu sprechen, eigen ist. "Oh, ich komme schon mit! Ich bin ein
ausgezeichneter Läufer! Es hilft Ihnen gar nichts,--ich _muß_ mit Ihnen
reden. Heut ist's der achte Abend, daß ich hier auf Sie warte!"--"Der
achte Abend!"--"Ja, der achte Abend... Hahaha!... Und ich würde mit
Freuden noch acht Abende hier warten: denn wir beide sind wie für
einander geschaffen, nicht wahr? Es hilft Ihnen nichts. Ich lasse Sie
nicht fort, denn jetzt sind Sie müde, das sehe ich!"--"Nein, ich bin
nicht müde!"--"O doch!"--"Nein!"--"Doch!"-- ... "So sagen Sie doch was,
wenn Sie nicht müde sind!"--"Hahaha!"--"Hahaha! Das nenn' ich nicht:
etwas sagen!"--Und dann blieben sie stehen. Ein paar rasche Worte flogen
hin und her--halb im Scherz, halb im Ernst; darauf stimmte er ein
Loblied auf Spanien an, ein Bild jagte das andere. Zuletzt schimpfte er
auf das elende Nest hier. Dem ersten folgte Petra mit leuchtenden Augen,
das zweite sauste an ihren Ohren vorüber, während ihre Blicke an einer
goldenen Kette auf- und abglitten, die er doppelt um den Hals
geschlungen trug. "Ja, die," sagte er rasch und zog das Ende der Kette,
an dem ein Kreuz befestigt war, hervor. "Sehen Sie, die hab' ich heut
Abend umgetan, um sie im Gesangverein zu zeigen; die ist aus Spanien.
Ich muß Ihnen ihre Geschichte erzählen." Und er erzählte: "Als ich in
Südspanien war, besuchte ich einmal ein Schützenfest und gewann die
Kette als Preis. Überreicht wurde sie mir mit folgenden Worten: Nehmen
Sie diese Kette mit nach Norwegen und übergeben Sie sie als ehrerbietige
Huldigung spanischer Kavaliere der schönsten Frau ihrer Heimat!
Beifallsrufe und Fanfaren, Fahnen schwenken--, die Kavaliere klatschen
und ich empfange den Preis!"--"Gott, wie entzückend!" rief Petra. Vor
ihren Augen erstrahlte sofort das spanische Fest mit seinen spanischen
Farben und Liedern; braun standen die Spanier in der Abendsonne unter
den Weinlauben und sandten ihre Gedanken aus zur schönsten Frau der
Schneelande. Trotz seiner Einbildung und wunderlichen Wichtigtuerei war
er ein gutmütiger junger Kerl; er blieb neben ihr stehen und fuhr fort,
zu erzählen. Jedes neue Bild steigerte ihre Sehnsucht; ganz entrückt in
jenes Land der Wunder, begann sie, das spanische Lied zu summen, das sie
vorhin gehört hatte, und ganz allmählich die Füße im Takt dazu zu
bewegen. "Wie! Sie können spanische Tänze tanzen?" rief er aus. "Ja!"
summte sie im Rhythmus des Tanzes und knipste mit den Fingern, um die
Kastagnetten nachzuahmen; so hatte sie die spanischen Matrosen tanzen
sehen. "Ihnen gebührt der Preis der spanischen Kavaliere!" rief er, wie
von einem lichten Gedanken entflammt. "Sie sind das schönste Weib, das
ich je gesehen habe!" Und eh sie noch begriff, was er meinte, hatte er
die goldene Kette vom Hals genommen und sie leichthändig mehrere Male um
den ihren gewunden. Als sie dann zur Besinnung kam, war ihr Gesicht von
tiefer Schamröte übergossen und die Tränen wollten hervorstürzen, so daß
jetzt ihn, der von einem Staunen ins andere gefallen war, die größte
Beschämung ergriff über das, was er getan hatte. Er wußte nicht, was er
eigentlich wollte, er fühlte nur, daß er gehen mußte, und er ging.

Noch um Mitternacht stand sie am offenen Fenster ihres Dachstübchens,
die Kette in der Hand. Weich lag die Spätsommernacht über Stadt und
Fjord und den fernen Bergen. Von der Straße herauf tönte wieder das
spanische Lied; der Verein hatte Yngve Vold nach Hause begleitet. Wort
für Wort war zu hören; es handelte von einem schönen Kranz. Nur zwei
Stimmen sangen die Worte, die andern summten mit dem Mund die
Guitarrebegleitung dazu:

    Nimm hin den Kranz, er ist für dich,
    Nimm hin den Kranz und denk an mich!
      Hier ist das innigste
      Grün für die Minnigste,
      Knospe, die zärteste,
      Für die Begehrteste,
      Blüte, die prächtigste,
    Hier für die Mächtigste,
      Seltene Stengelein
      Hier für das Engelein.
    Nimm hin den Kranz, er ist für dich,
    Nimm hin den Kranz und denk an mich!

Als sie am andern Morgen die Augen aufschlug, kam sie aus einem über und
über von Sonne durchleuchteten Wald, alle Bäume waren ein Goldregen, und
überall hingen die langen, lichten Dolden herab, und berührten sie fast,
wenn sie vorüberstrich. Sofort fiel ihr die Kette ein; sie nahm die
Kette und hing sie sich übers Hemd. Dann legte sie ein schwarzes Tuch
über das Hemd und die Kette darüber; denn von Schwarz hob sie sich
besser ab. Aufrecht im Bett sitzend, spiegelte sie sich in einem kleinen
Handspiegel: ob sie wirklich so schön war? Sie stand auf, um ihr Haar zu
flechten und dann wieder in den Spiegel zu sehen, aber da fiel ihr die
Mutter ein, die von allem noch nichts wußte, und sie beeilte sich,
fertig zu werden; sie mußte doch schnell hinunter und erzählen. Doch als
sie fertig war und sich eben die Kette um den Hals hängen wollte, fuhr
ihr der Gedanke durch den Kopf, was wohl die Mutter sagen würde, was
überhaupt die Leute sagen würden, und was sie antworten solle, wenn man
sie frage, woher sie die kostbare Kette habe. Die Frage war das
natürlichste Ding von der Welt, und sie fiel ihr darum schwer und immer
schwerer aufs Herz, schließlich holte sie eine kleine Schachtel hervor,
legte die Kette hinein, steckte die Schachtel in die Tasche--und fühlte
sich zum erstenmal in ihrem Leben arm.

An diesem Vormittag ging sie nicht in die Nähstunde. Oberhalb der Stadt,
an der Stelle, wo sie die Kette bekommen hatte, setzte sie sich hin, die
Kette in der Hand und mit einem Gefühl, als habe sie die Kette
gestohlen.

Am Abend wartete sie hinterm Garten noch länger auf Yngve Vold, als sie
am Abend vorher auf Gunnar gewartet hatte; sie wollte ihm die Kette
zurückgeben. Aber wie das Schiff, mit dem Gunnar fuhr, am Tage vorher
unerwartet die Anker gelichtet hatte, weil ihm in der Nachbarstadt eine
besonders gute Fracht angeboten war, so hatte auch Yngve Vold, dem das
Schiff gehörte, in derselben Angelegenheit heute verreisen müssen. Da er
gleichzeitig noch ein paar andere Geschäfte abzuwickeln hatte, blieb er
drei Wochen fort.

Während dieser drei Wochen war die Kette nach und nach aus der Tasche in
die Kommodenschieblade, von dort in einen Briefumschlag und der
Briefumschlag in ein geheimes Fach gewandert. Und Petra selbst war von
einer demütigenden Entdeckung zur andern gelangt. Zum ersten Male war
sie sich in vollem Umfang des Abstandes bewußt, der sie von den
vornehmen Damen der Stadt trennte. Die hätten die Kette tragen können,
ohne daß irgendeiner sie nach dem Warum und Woher gefragt hätte. Aber
einer solchen Dame hätte Yngve Vold die Kette gar nicht anzubieten
gewagt, ohne ihr zugleich seine Hand anzubieten; so etwas wagte er eben
nur dem Fischermädel gegenüber. Wenn er ihr etwas schenken wollte, warum
da nicht etwas, das sie gebrauchen konnte? Aber er hatte sie nur um so
bitterer verhöhnen wollen, indem er ihr etwas gab, das sie überhaupt
nicht tragen konnte. Die Geschichte mit der "Schönsten" war natürlich
erdichtet; denn hätte er ihr die Kette aus diesem Grunde zuerkannt, so
wäre er nicht heimlich, bei Nacht und Nebel, gekommen.--Zorn und Scham
bohrten sich um so tiefer in ihr fest, als sie es sich längst abgewöhnt
hatte, sich einem Menschen anzuvertrauen. Kein Wunder daher, daß sie
beim erstenmal, als sie den Menschen wieder traf, diesen Menschen, um
den diese empörten und beschämenden Gedanken kreisten, so heftig
errötete, daß er es mißdeuten _mußte_, und dann--eben _weil_ sie das
fühlte--noch tiefer errötete. Sie lief eiligst wieder nach Hause, riß
die Kette aus dem Versteck und setzte sich, obgleich es noch helllichter
Tag war, oben über der Stadt hin, um ihn zu erwarten. Jawohl, jetzt
sollte er sie wiederhaben!

Sie war ganz sicher, daß er kommen werde; denn auch er war, als er sie
sah, rot geworden, und dabei war er die ganze Zeit über fort gewesen.
Aber bald begannen gerade diese Gedanken zu seinen Gunsten zu reden.
Wenn sie ihm gleichgültig gewesen wäre, wäre er nicht so rot geworden.
Wenn er früher nach Hause gekommen wäre, so wäre er auch schon eher
dagewesen.

Es begann sachte zu dämmern; in diesen letzten drei Wochen waren die
Tage schnell kürzer geworden. Mit der Dunkelheit aber wandeln sich oft
unsere Gedanken. Sie saß dicht überm Weg, zwischen den Bäumen; sie
konnte sehen, ohne daß man sie sah. Als das eine Weile so fortgegangen
war, und er immer noch nicht kam, wollten widerstreitende Empfindungen
in ihr auflodern; bald zornig, bald angstvoll lauschte sie. Sie hörte
jeden, der vorüberging, hörte ihn lang, eh sie ihn sah. Er war es nie.
Jeder Vogel, der im Halbschlummer zwischen den Blättern hin- und
herschlüpfte, erschreckte sie--so voll Spannung lauschte sie. Jeder Laut
von der Stadt her, jeder Ruf lockte sie. Ein großes Schiff lichtete,
beim Klang eines Matrosenliedes, die Anker; noch zur Nacht sollte es
hinausbugsiert werden, um die erste Morgenbrise zu benützen. Oh, wenn
sie hätte mit hinaus können, aufs weite Meer, wohin ihr Sehnen stand!
Das Matrosenlied wurde ihr eigenes Lied--die klingenden Rucke am Spill
hoben sie empor--wozu? wohin?--Da stand der helle Hut mitten im Weg,
gerade vor ihr! Sie sprang auf und lief ohne weiteres davon, und während
sie lief, fiel ihr ein, sie hätte nicht davonlaufen sollen. Fehler auf
Fehler! Sie blieb stehen. Als er zwischen den Bäumen, wo sie stand, auf
sie zukam, atmete sie heftig, so daß er jeden Atemzug hören konnte, und
durch dieselbe Macht, die sie das erstemal in ihrer Ausgelassenheit über
ihn gehabt hatte, beherrschte sie ihn jetzt in ihrer Furcht. Er sah sehr
verlegen, ja verwirrt aus und flüsterte: "Haben Sie keine Angst!"

Aber er sah, wie sie zitterte. Da wollte er sie zutraulich machen, indem
er sie fest bei der Hand ergriff; aber bei der ersten Berührung seiner
Hand sprang sie auf wie von einer Flamme verbrannt,--und wieder war sie
fort, während er stehen blieb.

Weit lief sie nicht; die Luft ging ihr aus. In ihren Schläfen hämmerte
und brannte es, die Brust wollte ihr zerspringen--sie preßte die Hände
dagegen und lauschte. Sie hörte Tritte im Gras, ein Rascheln im
Laub,--er kam, kam gerade auf sie zu--er sah sie--nein, er sah sie
nicht!--Doch, er sah sie!... Nein, er ging vorüber! Sie hatte keine
Angst,--das war es nicht; aber alles an ihr war in Aufruhr, und als sie
sich in Sicherheit fühlte, verlor sie mit der Spannung auch ihre Kraft
und sank erschöpft und todesmatt um.

Erst nach geraumer Zeit erhob sie sich wieder und schritt langsam den
Berg hinab, bald stehenbleibend, bald weiter gehend, als habe sie kein
Ziel. Als sie den Weg wieder erreicht hatte, saß er da und wartete
geduldig. Jetzt stand er auf, sie hatte ihn nicht gesehen; sie ging wie
im Nebel, nicht ein Wort entschlüpfte ihr, sie regte sich auch nicht;
sie tat bloß die Hände vor die Augen und weinte. Das überwältigte Yngve
Vold derart, daß seine sonst so rührige Zunge stillstand. Und dann sagte
er mit eigentümlicher Bestimmtheit: "Heut noch spreche ich mit meiner
Mutter; morgen muß alles in Ordnung sein. In ein paar Tagen gehst Du ins
Ausland, und nachher wirst Du meine Frau." Er wartete auf eine Antwort,
er wartete wenigstens, sie werde aufblicken; aber sie blickte nicht auf.
Er deutete das auf seine Weise: "Du antwortest nicht? Kannst nicht? Gut!
Verlaß Dich auf mich; denn fortan bist Du mein! Gute Nacht!" Und er
ging.

Sie blieb zurück, wie in einem Nebel; eine leise Angst wollte sich
dazwischen drängen und den Nebel zerteilen; aber wieder schloß er sich.

So stark Yngve Vold diese drei Wochen hindurch ihre Gedanken beschäftigt
hatte, so bereit war sie jetzt, in plötzlicher Wandlung dieses neue
Wunder in eine neue Phantasiekette einzureihen. Er war der reichste
Mann der Stadt, aus der ältesten Familie, und er wollte sie über alle
Rücksichten hinweg zu sich emporheben! Das war etwas, so überraschend
verschieden von dem, was sie sich in einer langen Zeit des Leidens und
der Empörung gedacht hatte, daß schon allein das sie glückselig machen
mußte! Aber immer strahlender wurde ihr Glück, je mehr sie sich die
neuen, in jeder Beziehung fabelhaften Verhältnisse klar machte. Sie sah
sich allen andern gleichgestellt und am Ziel ihres unklaren Sehnens. Und
als Höchstes sah sie Yngve Volds größtes Schiff an ihrem Hochzeitstage
als Flaggschiff im Hafen liegen; sie sah, wie es unter Ehrensalven und
Feuerwerk das junge Paar an Bord nahm und es nach Spanien trug, wo die
Hochzeitssonne glühte.

       *       *       *       *       *

Als sie am andern Morgen erwachte, kam das Mädchen herein und sagte, es
sei halb Zwölf. Petra empfand einen gewaltigen Hunger; sie aß, aß immer
noch mehr, der Kopf tat ihr weh, sie war todmüde und schlief wieder ein.
Als sie gegen drei Uhr nachmittags aufs neue erwachte, fühlte sie sich
wohler. Die Mutter kam herauf und meinte, sie habe sich wahrscheinlich
eine Krankheit weggeschlafen; so sei auch sie selbst immer gewesen. Aber
jetzt müsse sie aufstehen, es sei Zeit für die Nähstunde. Petra setzte
sich im Bett auf und stützte den Kopf auf den Arm; ohne aufzublicken,
antwortete sie, sie gehe nicht mehr in die Nähstunde. Sie wird noch ein
bißchen fiebrig sein! dachte die Mutter und ging hinunter, um ein Paket
und einen Brief heraufzuholen, die ein Schiffsjunge soeben gebracht
hatte. Also schon Geschenke! Petra, die sich wieder hingelegt hatte,
fuhr hastig in die Höhe und öffnete, sobald sie allein war, mit einer
gewissen Feierlichkeit zuerst das Paket. Es enthielt--ein Paar Pariser
Damenstiefelchen! Ein bißchen enttäuscht wollte sie die Dinger gerade
wegstellen, als sie merkte, daß sie sich vorn an den Zehen schwer
anfühlten. Sie fuhr mit der Hand hinein und zog aus dem einen ein
kleines, in Seidenpapier gewickeltes Päckchen:--ein goldenes
Armband!--aus dem andern ebenfalls ein sorgfältig umhülltes
Päckchen--ein Paar Pariser Handschuhe! Und aus dem rechten Handschuh zog
sie wiederum ein Papierknäuel, das zwei glatte goldene Ringe barg.
"Schon!" dachte Petra. Ihr Herz klopfte; sie sah nach der Inschrift der
Ringe und las auch wirklich in dem einen: "Petra", samt Jahreszahl und
Datum, und in dem andern--"Gunnar". Sie erbleichte, warf die Ringe und
das ganze Paket zu Boden, als habe sie sich daran verbrannt, und riß den
Brief auf. Er war aus Calais datiert und lautete:



  "Liebe Petra!

Nachdem wir hier angekommen sind, vom 51. bis zum 54. Breitegrad mit
günstigem Wind, und später die ganze Fahrt über bis hierher in den Hafen
mit heftigem Beißwind, was ungewöhnlich ist sogar für bessere Schiffe
als das unsere, das ein stolzer Segler ist. Aber jetzt sollst Du hören,
daß ich den ganzen Weg über an Dich gedacht habe und an das, was
zwischen uns beiden vorgefallen ist, und ist recht ärgerlich, daß ich
nicht ordentlich Abschied nehmen konnte von Dir, weshalb ich vor Ärger
an Bord ging, habe Dich aber seitdem nie vergessen, außer ab und zu
einmal; denn ein Seemann hat es schwer. Aber jetzt sind wir hier und ich
habe meine ganze Heuer für Geschenke für Dich ausgegeben, wie Du mir
gesagt hast, und auch das Geld, das Mutter mir gegeben hat; jetzt habe
ich also nichts mehr. Aber wenn ich Urlaub bekomme, bin ich ebenso
schnell bei Dir wie die Geschenke; denn so lang es heimlich ist, ist man
nie sicher vor anderen, besonders vor den jungen Burschen, von denen
sich viele rumtreiben. Aber ich will meiner Sache sicher sein, daß
keiner eine Entschuldigung hat, sondern weiß, daß er sich vor mir in
acht nehmen muß. Du könntest freilich was Besseres kriegen als mich;
denn Du kannst jeden kriegen, den Du willst; aber einen treueren kriegst
Du nie; und das bin ich. Jetzt will ich schließen, denn ich habe schon
zwei Bogen voll geschrieben, und meine Buchstaben werden so groß;
Briefschreiben ist mir das Schrecklichste, was ich weiß, aber ich
schreibe trotzdem, wenn Du es willst. Und nun will ich Dir zum Schluß
nur sagen, daß es mir Ernst war; denn wenn es nicht Ernst ist, so war es
eine große Sünde, und kann viele Menschen ins Unglück stürzen.

  Gunnar Ask,

  Untersteuermann auf der Brigg
  'Die norwegische Verfassung.'"



Eine heftige Angst packte sie; im Handumdrehen war sie aus dem Bett und
angezogen. Es trieb sie ins Freie, als ließe sich draußen irgendwo Rat
finden; alles war plötzlich unklar, ungewiß, gefahrdrohend geworden. Je
mehr sie grübelte, desto mehr verwirrten sich ihre Gedanken; irgend
jemand mußte sie entwirren, sonst wurde sie nicht damit fertig. Aber wem
sollte sie sich anvertrauen? Da gab es nur einen Menschen--die Mutter.
Als sie nach langem inneren Kampf vor ihr in der Küche stand, angstvoll,
dem Weinen nah, aber fest in ihrem Entschluß, volles Vertrauen zu
zeigen, um volle Hilfe zu empfangen, sagte die Mutter, ohne sich
umzudrehen und daher auch ohne Petras Gesichtsausdruck zu bemerken:
"Eben ist er hier gewesen;--er ist wieder da."--"Wer?"--flüsterte Petra
und griff nach einer Stütze; war Gunnar wirklich schon wieder da, so war
es mit aller Hoffnung vorbei. Sie kannte Gunnar; er war schwerfällig und
gutmütig; wenn er aber einmal in Wut geriet, war er wie rasend. "Du
sollst gleich hinkommen, hat er gesagt."--"Hinkommen?" wiederholte Petra
zitternd; sie dachte sich sofort, daß er seiner Mutter alles gesagt
habe; und was sollte nun werden?--"Ja, ins Pfarrhaus!" sagte die
Mutter.--"Ins Pfarrhaus? Ödegaard ist wieder da?"--Jetzt drehte sich die
Mutter um. "Freilich--wer denn sonst?"--"Ödegaard!" jubelte Petra, und
ein Sturm der Freude blies in einem Nu die Luft rein. "Ödegaard ist
wieder da, Ödegaard! O Gott im Himmel, er ist wieder da!" Und schon war
sie zur Tür hinaus und über alle Berge. Sie stürmte davon, sie lachte,
sie schrie. Er war es, er allein, der ihr not tat! Wäre er daheim
gewesen, das ganze Unheil wäre nicht geschehen! Bei ihm war sie
geborgen. Beim bloßen Gedanken an seine edlen, klaren Züge, seine milde
Stimme, oder auch nur an die stillen, bilderreichen Zimmer, Räume, die
er bewohnte, kam sie in friedlicheren Takt und fühlte sich wieder
sicher. Sie ließ sich Zeit und sammelte sich. Stadt und Land erstrahlten
im sinkenden Herbstabend; zumal der Fjord lag in wunderbarem Glanz;
draußen im Sund wirbelte der letzte ferne Rauch des Dampfers, der
Ödegaard gebracht hatte. Ach, nur die Gewißheit, daß er wieder da sei,
machte sie gut, gesund, stark! Sie betete zu Gott, ihr zu helfen, daß
Ödegaard sie nie mehr verlassen möge! Und gerade als sie sich in dieser
Hoffnung gehoben fühlte, sieht sie ihn lächelnd auf sich zukommen. Er
hatte gewußt, welchen Weg sie kommen würde, und war ihr
entgegengegangen! Das rührte sie; sie sprang auf ihn zu, faßte seine
beiden Hände und küßte sie. Er wurde verlegen. Als er weiter hinten
jemand schreiten sah, zog er sie vom Weg hinauf unter die Bäume. Er
hielt ihre Hände zwischen den seinen, und sie sagte nur immerzu: "Wie
herrlich, daß Sie wieder da sind! Ich kann's gar nicht glauben, daß
Sie's wirklich sind! Oh, Sie dürfen nie, nie wieder fort! Verlassen Sie
mich nicht wieder, ach bitte, verlassen Sie mich nicht!" Dabei stürzten
ihr die Tränen aus den Augen. Er zog sanft ihren Kopf an sich, wie um
ihre Tränen zu verdecken und sie zu beruhigen; ihm selber war es eine
Notwendigkeit, daß sie ruhiger wurde. Sie aber schmiegte sich an ihn wie
der Vogel unter den Flügel, der sich über ihn breitet, und wollte gar
nicht wieder heraus. Überwältigt von diesem Vertrauen, legte er den Arm
um sie, wie um ihr den Schutz, den sie suchte, zu gewähren; kaum jedoch
fühlte sie das, so hob sie ihr verweintes Gesicht zu ihm empor, ihre
Augen begegneten den seinen, und was in einem Blick wechseln kann, wenn
Reue begegnet der Liebe, Dankbarkeit begegnet der Freude des Gebers und
das Ja dem Ja,--das blitzte in rascher Reihenfolge auf. Er nahm ihren
Kopf zwischen seine beiden Hände und drückte seine Lippen auf die ihren.
Er hatte früh seine Mutter verloren; er küßte zum erstenmal in seinem
Leben, und auch bei ihr war es so. Keins vermochte sich vom andern zu
lösen, und als es dennoch geschah, war es nur, um wieder einander
entgegenzusinken. Er bebte, sie aber strahlte und glühte, sie warf die
Arme um seinen Hals und hing sich an ihn wie ein Kind. Und als sie sich
setzten, und sie seine Hände, sein Haar, seine Brustnadel, sein
Halstuch, alles was sie sonst nur ehrfurchtsvoll aus der Ferne
betrachtet hatte, anrühren durfte, und als er sie bat, "Du" zu sagen und
nicht "Sie", und sie das nicht konnte, und als er ihr erzählen wollte,
wie reich sie sein armes Leben vom ersten Augenblick an gemacht habe,
wie lange er dagegen angekämpft habe, um sie nicht zu hemmen, um sich
nicht auf diese Weise bezahlt zu machen, und als er entdeckte, daß sie
nicht imstande sei, auch nur ein Wort von dem, was er sagte, zu fassen
oder zu begreifen, und er selbst auch keinen Sinn und Verstand mehr
darin fand; als sie dann auf der Stelle mit ihm gehen wollte, und er sie
lachend bitten mußte, noch ein paar Tage zu warten, dann wollten sie
zusammen weit fort ziehen, weg von allem hier--da fühlten sie, wie sie
so zwischen den Bäumen saßen, vor sich Fjord und Berg im
Abendsonnenglanz, während fern ein Waldhorn sang und klang--da fühlten
sie, da sprachen sie es aus: das ist das Glück.

    Der ersten Begegnung Süßigkeit,
    Sie ist wie ein Sang auf den Fluten,
    Sie ist wie ein Sang auf grüner Heid',
    Wie der Sonne letztes Gluten,--
    Sie sind wie ein Waldhorn auf öder Flur,
    Die tönenden Augenblicke,
    In denen ein Wunder die Natur
    Verschmelzt mit unserm Geschicke.



Fünftes Kapitel


Am nächsten Morgen saß Petra halb angekleidet in ihrem Stübchen; weiter
kam sie den ganzen Tag über nicht. So oft sie auch den Versuch machte,
immer wieder sanken ihr die Arme in den Schoß. Wie vollreife Ähren, wie
schwere Glockenblumen auf dem Feld beugten sich ihre Gedanken. Stille,
Sicherheit und wogende Luftgebilde schwebten über den lichten
Schlössern, in denen sie hauste. Wieder durchlebte sie die gestrige
Begegnung, jedes Wort, jeden Blick, jeden Händedruck, jeden Kuß. Sie
wollte sich den ganzen Verlauf, von der ersten Begegnung bis zum
Abschied, wieder vergegenwärtigen, aber sie kam nie damit zu Ende. Denn
jede einzelne Erinnerung verdämmerte in blauen Traum, und alle Träume
kamen mit neuer Verheißung zurück. Und so süß diese Verheißung auch war,
Petra mußte sie zurückdrängen, um den Faden der Erinnerung da wieder
aufzunehmen, wo er ihr entglitten war; aber kaum hatte sie ihn, verlor
sie sich wieder ins Wunderbare.

Da sie nicht herunterkam, dachte die Mutter, sie habe, nun Ödegaard
zurückgekehrt war, ihre Studien wieder aufgenommen. Sie schickte ihr das
Essen hinauf, damit sie den ganzen Tag in Ruhe oben bleiben konnte. Erst
gegen Abend stand Petra auf, um sich fertig zu machen. Jetzt ging es
ihrer Liebe entgegen! Sie schmückte sich mit dem Besten, was sie hatte,
ihrem ganzen Konfirmationsstaat. Glänzend war er nicht; aber das empfand
sie erst heute; das eine Stück machte das andere häßlich, bis sie die
passenden Stücke zusammengefunden hatte; und dann war das Ganze trotzdem
nicht hübsch! Was hätte sie heute nicht darum gegeben, die schönste zu
sein. Mit diesem Wort stieg eine Erinnerung in ihr auf, die sie mit
einer Handbewegung von sich wies; nichts, nichts durfte ihr heute nahen,
was sie beunruhigen konnte! Sie selbst bewegte sich ganz still; leise
ordnete sie dies und jenes in ihrem Stübchen; denn noch war die Stunde
nicht da. Sie öffnete das Fenster und sah hinaus; rote, warme Wolken
lagerten auf den Bergen, aber ein kühlender Luftstrom zog herein und
brachte Botschaft vom nahen Wald. "Ich komme, ich komme!" Noch einmal
trat sie vor den Spiegel, um ihr bräutliches Glück zu grüßen.

Da hörte sie drunten bei der Mutter Ödegaards Stimme, hörte, wie man ihn
nach ihrem Zimmer wies. Er kam, sie zu holen! Eine schamhafte Freude
umglühte sie; sie sah sich um, ob auch alles in Ordnung sei, für ihn!
Dann ging sie auf die Tür zu.

"Herein!" antwortete sie leise auf das leise Klopfen und trat ein paar
Schritte zurück.

Am selben Morgen hatte man Ödegaard, als er um den Kaffee klingelte,
gemeldet, der Kaufmann Yngve Vold habe heute früh schon zweimal nach ihm
gefragt. Daß seine Gedanken sich gerade jetzt mit den Ansprüchen eines
Fremden befassen sollten, verstimmte ihn; aber ein Mensch, der ihn so
früh aufsuchte, mußte wohl ein wichtiges Anliegen haben. Er war auch
wirklich kaum angekleidet, als Yngve Vold eintrat. "Sie werden sich wohl
wundern, was? Tu' ich selber. Guten Morgen!" Die beiden begrüßten sich,
und er legte seinen hellen Hut hin. "Schlafen Sie aber lang! Zweimal bin
ich schon hier gewesen. Ich habe etwas Wichtiges auf dem Herzen; ich muß
mit Ihnen reden."--"Bitte, nehmen Sie Platz!" Und Ödegaard setzte sich
selbst in einen Lehnstuhl. "Danke, danke! Ich gehe lieber auf und ab.
Ich kann nicht sitzen--bin zu aufgeregt. Seit vorgestern bin ich rein
wie von Sinnen--rein verrückt, nicht mehr und nicht weniger! Und daran
sind Sie schuld!"--"Ich?"--"Ja, Sie! Sie haben das Mädchen ausgegraben.
Kein Mensch hätte an das Mädel gedacht, kein Mensch hätte es beachtet,
wenn Sie nicht gewesen wären. Aber so--in meinem ganzen Leben hab? ich
so was--so was Unvergleichliches nicht gesehen,--nie, so wahr ich hier
stehe--so was--Sie wissen schon! So was verflixt Kraushaariges,
Wunderbares--was? Keine Ruhe hat's mir gelassen! Ich war rein
verhext! Wo ich ging und stand--immer war sie da. Ich bin auf Reisen
gegangen und bin wiedergekommen--es war mir unmöglich--was? Wußte
erst überhaupt nicht, wer sie war--'das Fischermädel', hieß sie.
Spanierin, Zigeunerin,--Hexe wäre richtiger gewesen--! Einfach
Feuer--Augen, Busen, Haar--was? Funkelt, sprüht, tanzt, lacht, trällert,
errötet--Teufelsweib!... Renne ihr nach, verstehen Sie, oben im Wald
zwischen den Bäumen--stiller Abend--sie steht da, ich steh' da--dann ein
paar Worte, Gesang, Tanz--und da, na ja, da gab ich ihr meine Kette.
Hatte, so wahr ich lebe, eine Minute vorher noch mit keinem Gedanken
daran gedacht! Das nächste Mal wieder an derselben Stelle, wieder
dasselbe Gerenne; sie hatte Angst, und ich,--ja, wollen Sie's
glauben?... ich brachte kein Sterbenswörtchen heraus, traute mich nicht,
sie anzurühren! Aber als sie dann wiederkam--können Sie sich denken,
Mensch?--da macht' ich ihr einen Heiratsantrag! Und eine Sekunde vorher
hatt' ich mit keinem Gedanken daran gedacht! Gestern hab' ich mich dann
selbst geprüft,--wollte von ihr wegbleiben--aber auf Ehr' und Seligkeit,
ich bin verrückt! Ich _kann_ einfach nicht, ich _muß_ bei ihr sein! Wenn
ich das Mädel nicht krieg', so schieß' ich mir ohne weiteres eine Kugel
vor den Kopf! Sehen Sie, so steht's mit mir. Um meine Mutter scher' ich
mich den Teufel, um die Stadt auch--ein Lumpennest, ein elendes
Krähwinkel! Sie muß heraus, sehen Sie, heraus, hoch über dies
Nest hinaus! _Comme il faut_ soll sie werden, ins Ausland soll
sie--Frankreich--Paris--! Ich bezahl's und Sie arrangieren die Sache.
Ich könnte ja auch selber mit fort, mich irgendwo draußen festsetzen,
weg aus diesem Loch. Aber--der Fisch! Ich möchte was machen aus der
Stadt,--das liegt ja und schläft, denkt nicht, spekuliert nicht;
aber--der Fisch! Man versteht den Fisch nicht zu behandeln; Spanien, das
ganze Ausland beklagt sich; die Sache muß anders angefaßt werden--andere
Trocknung, andere Verpackung, alles anders,--das Nest soll in
die Höhe--Zug muß ins Geschäft kommen--Millionen soll der Fisch
schaffen!--Wo bin ich stehen geblieben? Richtig--Fisch--Fischermädel--das
paßt zusammen: Fisch--Fischermädel--hahaha! Also ich zahle,--Sie
arrangieren's! Sie wird meine Frau, und dann----"

Weiter kam er nicht. Er hatte während seiner langen Rede gar nicht auf
Ödegaard geachtet, der jetzt totenblaß aufsprang und sich mit einem
biegsamen spanischen Rohr in der Hand über ihn warf. Das Erstaunen des
andern war nicht zu beschreiben; den ersten Schlägen wich er aus.
"Nehmen Sie sich in acht! Sie könnten mich treffen!" sagte er.--"Jawohl!
Ich treffe! Sehen Sie: spanisch, spanisches Rohr--das paßt auch
zusammen!" und die Hiebe regneten auf Schultern, Arme, Hände, das
Gesicht herab, wo sie gerade hintrafen. Der andere schoß umher: "Sind
Sie verrückt? Mensch, sind Sie toll?" rief er. "Ich will sie ja
heiraten! Hören Sie? heiraten!"--"Hinaus!" schrie Ödegaard, als sei er
mit seiner Kraft am Rande. Und der Blondkopf stürzte zur Tür hinaus, die
Treppe hinunter, fort von diesem Wahnsinnigen;--gleich darauf stand er
unten auf der Straße und brüllte hinauf nach seinem hellen Hut. Der
wurde ihm durchs Fenster nachgeworfen. Dann war alles still.

"Herein!" antwortete Petra am Abend auf das leise Klopfen und trat ein
paar Schritte zurück, um den Geliebten besser sehen zu können, während
er eintrat. Wie wenn ein eisiger Wasserstrahl sich über sie ergösse, wie
wenn die Erde unter ihren Füßen wiche, so wirkte auf sie das Gesicht,
das da in der Tür erschien. Sie taumelte zurück und tastete nach dem
Bettpfosten; aber ihr Denken, von Abgrund zu Abgrund gestürzt, versagte;
in weniger als einer Sekunde war sie von der Höhe der glückseligsten
Braut zur Tiefe der größten Sünderin auf Erden herabgestürzt. Sie hörte
es donnern aus diesem Antlitz: in alle Ewigkeit konnte er ihr nicht
vergeben!--

"Ich seh' es--Du bist schuldig!" flüsterte er kaum hörbar. Er lehnte
sich gegen die Tür und hielt sich an der Klinke fest, als müsse er sonst
umsinken. Seine Stimme bebte, und die Tränen rannen ihm übers Gesicht,
obwohl sein Antlitz ganz ruhig war.

"Weißt Du auch, was Du getan hast?" Und seine Augen schmetterten sie zu
Boden. Sie antwortete nicht--nicht einmal mit Tränen, Ohnmacht--völlige,
hoffnungslose Ohnmacht lähmte sie. "Einmal in meinem Leben habe ich
meine Seele hingegeben, und er, dem ich sie gab, starb durch meine
Schuld. Aus diesem Schmerz konnte nichts mich wieder aufrichten als ein
Menschenkind, das mir ganz gehörte und mir eine ganze Seele zurückgab.
Das hast Du getan,--und hast es zum Schein getan!" Er hielt inne. Ein
paarmal versuchte er vergebens wieder anzusetzen; dann fuhr er mit
plötzlichem Ausdruck des Schmerzes fort: "Und Du konntest es übers Herz
bringen, alles, was ich in diesen langen Jahren, Gedanken für Gedanken,
aufgebaut habe, niederzureißen, als sei es ein Bild von Ton! Kind, Kind!
konntest Du nicht verstehen, daß ich in Dir mich selbst wieder
aufrichtete? Jetzt ist es vorbei!" Er versuchte seinen Schmerz zu
beherrschen.

"Nein, Du bist zu jung, um es zu fassen," begann er wieder. "Du weißt
nicht, was Du getan hast.--Aber daß Du mich _betrogen_ hast, das mußt Du
doch verstehen.--Sag' mir, was hab' ich Dir getan, daß Du etwas so
Grausames fertig bringen konntest? Kind, Kind! Hättest Du es mir
wenigstens gestern gesagt! Warum--warum hast Du mich so fürchterlich
belogen?"

Sie hörte alles, und alles, was er sagte, war Wahrheit.--Er war nach
einem Stuhl am Fenster geschwankt, um seinen Kopf auf den Tisch daneben
stützen zu können. Dann stand er wieder auf; es schluchzte in ihm vor
Schmerz, und wieder setzte er sich nieder, ganz still. "Und ich, der
nicht einmal dazu gut ist, seinem alten Vater zu helfen!" flüsterte er
vor sich hin. "Ich kann nicht, ich fühle in mir nicht den Beruf dazu!
Darum soll auch mir niemand helfen. Alles soll mir unter den Händen
zerbrechen, alles."--Er konnte nicht mehr; sein Haupt sank in seine
rechte Hand; die linke hing schlaff herab; er sah aus, als könne er sich
überhaupt nicht mehr rühren. Und so blieb er sitzen, ohne ein Wort zu
sagen. Da fühlte er etwas Warmes auf seiner herabhängenden Hand.
Erschrocken fuhr er zusammen; es war Petras Atem. Sie lag mit gesenktem
Kopf neben ihm auf den Knien; jetzt faltete sie die Hände und sah mit
einer unbeschreiblichen Gebärde, die um Barmherzigkeit flehte, zu ihm
empor. Er blickte zu ihr nieder; keins wandte den Blick ab. Da hob er
wie abwehrend die Hand gegen sie, als fühle er bei diesem Blick in
seinem Innern eine Stimme der Überzeugung, der er nicht Gehör schenken
wollte, und jäh, heftig bückte er sich nach seinem Hut, der zu Boden
gefallen war, und eilte zur Tür. Aber noch schneller vertrat sie ihm den
Weg, warf sich nieder, umklammerte seine Knie und bohrte ihre Augen in
seine--alles ohne einen Laut; aber er sah und fühlte, sie kämpfe um ihr
Leben. Da wurde die alte Liebe zu mächtig in ihm; noch einmal sah er sie
an mit einem vollen, schmerzlichen Blick, noch einmal umfaßte er mit
beiden Händen ihr Haupt. Aber in seiner Brust schluchzte und sang es wie
in der Orgel nach dem letzten Zug der Register, wenn nur noch Luft, aber
kein Ton mehr in ihr ist. Dann zog er seine Hände zurück und zwar in
einer Weise, daß sie fühlen mußte, was er dabei dachte: es war für
immer. "Nein, nein!--Du kannst Dich hingeben; aber Du kannst nicht
lieben!" Es überwältigte ihn. "Unglückliches Kind, Deine Zukunft kann
ich nicht schützen! Gott verzeih Dir, daß Du meine vernichtet hast!" Er
ging an ihr vorbei, sie rührte sich nicht. Er öffnete die Tür und schloß
sie; sie blieb stumm,--sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen, sie hörte
seine letzten Schritte auf der Haustreppe, auf dem Wege--da brach der
Bann. Sie stieß einen Schrei aus, einen einzigen;--aber darauf eilte die
Mutter herbei.

Als Petra wieder zu sich kam, fand sie sich in ihrem Bett, entkleidet
und wohl verwahrt; und vor ihr saß die Mutter, die Arme auf die Knie
gestemmt, den Kopf in beide Hände gestützt und die Glutaugen fest auf
die Tochter gerichtet. "Hast Du jetzt genug bei ihm studiert?" fragte
sie. "Hast Du jetzt was gelernt... Was soll denn nun aus Dir werden,
he?"--Petras Antwort war ein Strom von Tränen. Lange, sehr lange saß die
Mutter da und hörte das Weinen mit an; dann sagte sie--seltsam
feierlich: "Gott der Herr verdamme ihn!"--Petra fuhr auf. "Mutter,
Mutter! Nicht ihn, nicht ihn! _Mich_, mich--nicht ihn!"--"Oh, ich kenn'
das Pack! Ich weiß schon, wer's verdient!"--"Nein, Mutter! er ist
betrogen--betrogen durch mich--_ich_, _ich_ hab' _ihn_ betrogen!" Und
hastig und schluchzend erzählte sie alles. Keinen Augenblick durfte ein
Verdacht auf ihm ruhen! Sie erzählte von Gunnar, was sie von ihm
verlangt hatte, ohne es zu verstehen, von Yngve Volds Unglückskette, in
der sie sich verfangen hatte, zuletzt von Ödegaard, und wie sie bei
seinem Anblick alles andere vergessen hatte. Sie begriff auch jetzt noch
nicht, wie es zugegangen war; aber daß sie eine ungeheure Sünde begangen
habe an allen dreien, und vor allem an ihm, der sie zu sich emporgezogen
und ihr alles gegeben hatte, was ein Mensch dem andern geben kann, das
begriff sie. Nachdem die Mutter lange schweigend dagesessen hatte, sagte
sie: "Und an mir hast Du Dich nicht versündigt? Wo bin denn ich die
ganze Zeit gewesen, daß Du mir kein Sterbenswort von alledem gesagt
hast?"--"Oh, Mutter, hilf mir! Sei nicht hart gegen mich jetzt! Ich
fühle ja, daß ich mein ganzes Leben lang dafür büßen muß; aber ich will
Gott auch bitten, daß er mich bald sterben läßt!--Lieber, lieber Gott!"
fing sie sofort an und hob die gefalteten Hände zum Himmel, "lieber,
lieber Gott, erhöre mich! Ich hab' mein Leben zerstört; es hat für mich
keinen Reiz mehr,--ich bin nicht fürs Leben geschaffen--ich versteh' das
Leben nicht. Lieber Gott, darum laß mich sterben!" Es lag eine so
ergreifende Innigkeit in diesem Gebet, daß Gunlaug die harten Worte, die
ihr schon auf der Zunge lagen, hinunterschluckte. Sie legte ihre Hand
auf den zum Gebet erhobenen Arm des Mädchens und drückte ihn hernieder.
"Mäßige Dich, Kind! Man soll Gott nicht versuchen. Wir müssen leben,
vielleicht gerade weil's uns hart ankommt!"--Dann stand sie auf, und von
Stund an setzte sie ihren Fuß nicht mehr in die Giebelstube.

Ödegaard war schwer erkrankt, und die Krankheit drohte eine gefährliche
Wendung zu nehmen. Während dieser Zeit zog der alte Vater zu seinem Sohn
hinauf und richtete sich sein Studierzimmer unmittelbar neben dem
Krankenzimmer ein. Wer ihn bat, sich zu schonen, erhielt immer dieselbe
Antwort; er könne nicht; seine Pflicht sei, über seinen Sohn zu wachen,
so oft dieser Sohn einen verloren habe, den er mehr geliebt habe als den
Vater.

So standen die Dinge, als Gunnar zurückkehrte.

Seiner Mutter jagte er einen Todschrecken ein, als sie ihn plötzlich vor
sich sah, lange eh das Schiff, auf dem er fuhr, angekommen war; sie
glaubte, es sei sein Geist. Und nicht viel anders erging es seinen
Bekannten. Auf alle verwunderten Fragen gab er nur kurzen Bescheid. Bald
jedoch wußte man mehr als genug. Denn noch am selben Tag, an dem er
zurückgekehrt war, wurde er bei Gunlaug zum Haus hinausgeworfen, und
zwar von ihr eigenhändig. Von der Treppe aus schrie sie ihm nach, daß es
durch den ganzen Hohlweg dröhnte: "Daß Du Dich hier nicht wieder blicken
läßt! Von der Sorte haben wir genug!" Er war noch nicht weit gegangen,
als ein Mädchen mit einem Paket hinter ihm drein gerannt kam. Das
Mädchen hatte noch ein zweites Paket mit und gab ihm das falsche; und so
kam es, daß Gunnar im Paket eine dicke goldene Kette fand. Er blieb
stehen, wog die Kette in der Hand und betrachtete sie. War ihm Gunlaugs
Wut schon vorhin rätselhaft erschienen--daß sie ihm jetzt eine goldene
Kette nachschickte, das war ihm noch unbegreiflicher. Er rief das
Mädchen zurück; sie müsse sich geirrt haben. Jetzt gab sie ihm das
andere Paket und fragte, ob _das_ vielleicht das richtige sei. Und
wirklich--das Paket enthielt seine Geschenke für Petra.----Ja, das sei
das richtige. Aber wem sie denn das andere, das mit der goldenen Kette,
bringen solle? "Dem jungen Herrn Vold!" erwiderte das Mädchen und ging.
Gunnar blieb zurück und dachte nach. "Der junge Vold? Macht _der_ ihr
Geschenke? Also _der_ hat sie mir gestohlen,--Yngve Vold,--na, dem will
ich--!" Seine Spannung, seine Erbitterung _mußte_ sich Luft
machen,--irgend etwas _mußte_ er zerschlagen.--Also--Yngve Vold.

Und zum zweitenmal wurde der unglückselige Fischhändler höchst
unerwartet attakiert, und zwar auf seiner eigenen Haustreppe. Er
flüchtete vor dem Wahnwitzigen ins Kontor, aber Gunnar setzte ihm nach.
Sämtliche Kontoristen fielen über den Ruhestörer her; der schlug und
wehrte sich nach allen Seiten. Stühle, Tische, Pulte wurden über den
Haufen geworfen; Briefe, Rechnungen, Zeitungen stoben nur so durch die
Luft. Schließlich rückten--von Yngve Volds Warenschuppen
her--Hilfstruppen an, und Gunnar wurde, nach heißem Kampf, auf die
Straße befördert. Aber da ging es erst recht los. Im Hafen lagen gerade
zwei Schiffe--ein ausländisches und ein einheimisches. Es war gerade
Mittagspause, und die Matrosen nahmen diesen Jux nur zu gern mit. Sofort
war die Rauferei in schönstem Gange, Mannschaft gegen Mannschaft,
Ausländer gegen Einheimische. Neue Truppen wurden herbeibeordert und
zogen in Sturmschritt heran; Arbeiter schlenderten herbei, alte Weiber,
Gassenjugend; schließlich wußte kein Mensch mehr, weshalb oder mit wem
man raufte. Vergebens fluchten die Schiffer, vergebens befahlen ehrsame
Bürger, den einzigen Polizeidiener des Städtchens herbeizuholen; der lag
just in aller Gemütsruhe draußen auf dem Fjord und fischte. Man lief zum
Stadtschultheiß; aber der war zugleich Postmeister, hatte sich gerade
mit der neuesten Briefpost in seinem Bureau eingeschlossen und rief zum
Fenster heraus, er könne nicht fort, sein Gehilfe sei bei einem
Begräbnis; sie müßten warten. Da man aber mit dem gegenseitigen
Totschlagen unmöglich warten konnte, bis die Post sortiert war, so
schrien einige, vor allem ein paar geängstigte Weiber, man solle den
Grobschmied Arne holen. Dem stimmten die ehrsamen Bürger zu, und seine
eigene Frau lief, ihn zu holen, "weil die Polizei nicht daheim sei." Er
kam--zum Jubel der Schuljugend--, fuhr ein paarmal in den Knäuel hinein,
langte sich einen gelenkigen Spanier heraus und hämmerte mit dem nach
rechts und links auf die andern los.

Als alles vorbei war, kam der Stadtschultheiß mit seinem Spazierstock.
Er fand noch ein paar alte Weiber und Kinder auf der Walstatt. Diesen
gebot er mit gestrenger Miene, nach Hause zu gehen zum Mittagessen--was
er selbst ebenfalls tat.

Am Tag darauf begann er ein Verhör anzustellen; das dauerte eine geraume
Zeit, obwohl kein Mensch auch nur eine Ahnung davon hatte, wer
eigentlich gerauft hatte. Bloß darin stimmten alle Aussagen
überein--Arne, der Grobschmied, war dabei gewesen; alle hatten sie ihn
mit dem Spanier auf die andern loshauen sehen. Also wurde über diesen
Arne eine Strafe von einem Speziestaler verhängt, wofür seine Frau, die
ihn in den Handel verwickelt hatte, die Prügel einheimste. Am elften
Sonntag nach Trinitatis. Sie hatte Ursache, an den Tag zu denken! Das
war die einzige gerichtliche Folge, die die Rauferei hatte.

Aber sie hatte andere. Die kleine Stadt war keine stille Stadt mehr; das
Fischermädel hatte sie in Aufruhr versetzt. Die seltsamsten Gerüchte
liefen um. Zunächst war es eifersüchtiger Groll, daß sie den klügsten
Kopf der Stadt und die beiden besten Partien an sich gelockt und
außerdem noch "mehrere" in petto hatte; denn aus Gunnar wurden im
Handumdrehen "mehrere junge Männer". Bald aber erhob sich ein
allgemeiner Sturm sittlicher Entrüstung. Die ganze Schande, an einer
großen Straßenrauferei schuld zu sein und über drei der besten Familien
der Stadt Kummer gebracht zu haben, lastete auf dem jungen Mädchen, das
vor kaum einem halben Jahr eingesegnet worden war. Drei Verlobungen auf
einmal,--und die eine obendrein mit ihrem Lehrer, ihrem Wohltäter, dem
sie alles verdankte--nein! Das brachte die Empörung zum Überlaufen! War
sie nicht von kindauf ein Ärgernis gewesen für die Stadt? Hatte man
nicht trotzdem,--als Ödegaard sich ihrer angenommen hatte, die schönsten
Erwartungen auf sie gesetzt? Und hatte sie nicht alle Leute zum Besten
gehabt, ihn zugrunde gerichtet und sich, ihrer zügellosen Natur folgend,
rückhaltlos einem Leben in die Arme geworfen, das sie zu einem Abschaum
der Menschheit machen und am Ende ins Zuchthaus bringen mußte? Die
Mutter war selbstverständlich mitschuldig--in _ihrer_ Matrosenkneipe
hatte das Kind den Leichtsinn gelernt! Aber man werde das Joch, das
Gunlaug der Stadt aufbürdete, nicht länger tragen, man werde sie nicht
länger unter sich dulden, weder Mutter, noch Tochter. Und so kam man
überein--sie aus der Stadt zu jagen.

Eines schönen Abends versammelten sich Matrosen, die Gunlaug Geld
schuldig waren, versoffene Arbeiter, denen sie keinen Dienst verschaffen
wollte, junge Bursche, denen sie nichts borgen mochte, oben vor ihrem
Hause--angeführt von Bürgern der "besseren" Stände. Sie pfiffen, sie
heulten, sie brüllten nach dem "Fischermädel", nach der
"Fischer-Gunlaug". Bald flog ein Stein gegen die Haustür; dann ein
zweiter oben durchs Giebelfenster. Erst nach Mitternacht verlief sich
die Rotte. Hinter den Fenstern war alles dunkel und still.

Am nächsten Tag ließ sich bei Gunlaug kein Mensch blicken. Nicht einmal
ein Kind ging mehr am Berghang vorbei. Doch abends derselbe Auflauf; nur
daß heute alle mittaten, ohne Unterschied. Sie trampelten alles nieder,
sie zertrümmerten die Fenster, sie rissen den Gartenzaun um und
knickten die jungen Obstbäume ab, und dabei sangen sie:

    Mutter, ich hab' einen Seemann gefischt!
      "So, hast du das?"
    Mutter, ich hab' einen Kaufmann erwischt!
      "Ja, hast du das?"
    Mutter, ein Geistlicher sitzt an der Schnur.
      "Lang' ihn dir nur!"--
      O kling und klang,
      Die Nase wird lang!
    Die großen Fische beißen fruchtlos an,
    Wenn in das Boot man sie nicht ziehen kann.

    Mutter, der Seemann, der hat sich gedrückt!
      "Ja, hat er das?"
    Mutter, der Kaufmann ist ausgerückt!
      "So, ist er das?"
    Mutter, nun will auch der Geistliche fliehn!
      "Lange dir ihn!"
      O kling und klang,
      Die Nase wird lang!
    Die großen Fische beißen fruchtlos an,
    Wenn in das Boot man sie nicht ziehen kann.

Besonders laut schrien sie nach Gunlaug. Gar zu sehr hätte man sich
gefreut, sie toben zu hören in ihrer ohnmächtigen Wut.

Gunlaug saß drinnen und hörte jedes Wort; aber sie blieb stumm. Man muß
schon etwas dulden können für sein Kind.



Sechstes Kapitel


Den ersten Abend, als das Schreien, Pfeifen und Johlen anfing, war Petra
auf ihrem Zimmer. Sie flog auf, als stände das Haus in Flammen, oder als
wolle alles über ihr zusammenbrechen. Wie von glühenden Ruten
gepeitscht, lief sie in ihrem Zimmer umher. In ihrer Seele schmerzte
und brannte es, ihre Gedanken jagten nach einem Ausweg. Aber zur Mutter
hinunter traute sie sich nicht, und draußen, vor ihrem Fenster, standen
_sie_! Ein Stein kam durchs Fenster gesaust und fiel auf ihr Bett. Sie
stieß einen Schrei aus, lief in den Winkel hinter die Gardine und
verkroch sich zwischen ihren alten Kleidern. Da hockte sie,
zusammengekauert, flammend vor Scham, zitternd vor Furcht. Bilder voll
unerhörten Entsetzens jagten an ihr vorüber, die Luft war voll
wimmelnder Gesichter--gaffender, grinsender Gesichter! Ganz nah kamen
sie;--Feuer regnete es rings um sie--Hu! es war gar kein Feuer, Augen
waren es--überall regnete es Augen, große glühende, kleine sprühende
Augen, die reglos glotzten, Augen, die unablässig rollten,--Herr Jesus,
Herr Jesus, erbarme Dich!--

Oh, welch ein Aufatmen, als die letzten Schreie in der Nacht erstarben
und alles ganz still wurde und ganz dunkel. Sie wagte sich hervor; sie
warf sich auf ihr Bett und vergrub den Kopf in die Kissen; doch die
Gedanken wollten nicht weichen. Sie sah die Mutter drohend,
ungeheuerlich, wie ein Sturmgewölk, das sich über den Bergen
zusammenballt;--denn, was mußte die Mutter nicht erdulden--um
ihretwillen! Kein Schlaf kam in ihre Augen, kein Friede in ihre Seele.
Der Tag dämmerte herauf. Linderung brachte er ihr nicht. Auf und ab
wanderte sie, auf und ab, und dachte bloß daran, wie sie fliehen könne.
Aber sie traute sich der Mutter nicht unter die Augen; hinaus traute sie
sich auch nicht, solang es Tag war, und mit dem Abend kamen sie
jedenfalls wieder! Trotzdem mußte sie warten; denn vor Mitternacht zu
fliehen, war noch gefährlicher. Und überhaupt--wohin? Sie hatte kein
Geld, sie wußte keinen Weg.--Aber irgendwo mußte es doch barmherzige
Menschen geben, wie es einen barmherzigen Gott gab! Er wußte--was sie
auch verbrochen hatte--Schlechtigkeit war es nicht gewesen. Er kannte
ihre Reue, er kannte auch ihre Hilflosigkeit! Sie horchte auf den
Schritt der Mutter drunten; aber sie hörte nichts; sie zitterte, daß
sie die Treppe heraufkommen könne; aber sie kam nicht. Das Dienstmädchen
mußte wohl davongelaufen sein; denn niemand brachte ihr das Essen
herauf. Sie selbst wagte sich nicht hinunter, nicht einmal ans Fenster;
draußen konnte ja einer stehen und ihr auflauern. Durch das zertrümmerte
Fenster zog es kalt herein, besonders als es wieder Abend wurde. Sie
hatte sich ein kleines Bündel mit Kleidungsstücken zusammengeschnürt und
sich warm angezogen, um bereit zu sein. Aber erst mußte sie den wütenden
Haufen abwarten und über sich ergehen lassen, was kommen mochte.

Richtig, da waren sie wieder! Pfeifen, Gejohle, Steinewerfen--schlimmer,
viel schlimmer als am Abend vorher! Sie verkroch sich in ihren Winkel,
faltete die Hände und betete, betete! Wenn bloß die Mutter nicht zu
ihnen hinausginge! Wenn sie bloß nicht das Haus stürmten! Jetzt fingen
sie zu singen an; es war ein Schmählied; und obwohl jedes Wort ihr wie
ein Messer ins Herz schnitt, mußte sie doch zuhören, lauschen! Aber als
sie hörte, daß sie die schamlose Ungerechtigkeit hatten, auch die Mutter
mit zu beschimpfen, da sprang sie auf, da stürzte sie hervor; sie wollte
zu dem feigen Gesindel reden, wollte sich auf sie herabstürzen; aber da
kam ein Stein und noch einer und dann ein ganzer Hagel von Steinen
durchs Fenster geflogen; die Glassplitter stoben, die Steine sausten im
Zimmer herum, und sie kroch wieder in ihren Winkel. Der Schweiß brach
ihr aus, als säße sie in der glühendsten Sonne; aber sie weinte nicht,
sie fürchtete sich auch nicht mehr.

Allmählich legte sich der Lärm. Sie wagte sich hervor, und als sie
nichts mehr hörte, wollte sie ans Fenster und nachsehen. Aber sie trat
überall auf Glasscherben, und ging deshalb wieder zurück. Dabei trat sie
wieder auf Steine; so blieb sie stehen, um nicht gehört zu werden; denn
nun galt es, sich fortzuschleichen. Nachdem sie noch eine gute halbe
Stunde gewartet hatte, zog sie ihre Schuhe aus, ergriff ihr Bündel und
öffnete leise die Tür. Wieder wartete sie etwa fünf Minuten und schlich
dann still die Treppe hinunter. Es tat ihr weh, die Mutter, der sie
solchen Kummer bereitet hatte, nun auch noch ohne Abschied verlassen zu
müssen; aber das Entsetzen peitschte sie vorwärts. "Leb' wohl, Mutter!
Leb' wohl, Mutter!" flüsterte sie bei jedem Schritt, den sie auf der
Treppe machte, vor sich hin. "Leb' wohl, Mutter!" Jetzt war sie unten.
Sie holte ein paarmal schwer Atem und nun--zur Haustür! Da packte jemand
sie von hinten am Arm. Sie stieß einen leichten Schrei aus und drehte
sich um. Es war die Mutter. Gunlaug hatte oben die Tür gehen hören;
augenblicklich begriff sie, was Petra vorhatte, und erwartete sie nun
hier unten. Petra fühlte, sie werde ohne Kampf nicht an ihr
vorüberkommen. Erklärungen nützten hier nichts; was für Worte sie auch
finden werde, die Mutter würde ihr doch nicht glauben. Nun, so hieß es
eben kämpfen! Schlimmer als das Schlimmste konnte ja in der Welt nichts
sein, und das Schlimmste hatte sie hinter sich. "Wo willst Du hin?"
fragte leise die Mutter. "Fort!" antwortete sie ebenso leise, mit
klopfendem Herzen.--"Und wohin?"--"Ich weiß nicht--nur fort von hier!"
Und sie drückte ihr Bündel fest an sich und tat einen Schritt vorwärts.
"Komm mit!" versetzte die Mutter, die ihren Arm nicht losgelassen hatte;
"ich habe schon für alles gesorgt."--Augenblicklich gab Petra nach, wie
ein Mensch, der eine allzu schwere Last fallen läßt, und überließ sich
der Mutter. Diese ging voran in ein kleines, fensterloses Kämmerchen
hinter der Küche, wo Licht brannte; hier hatte sie versteckt gesessen,
während die draußen lärmten. Der Verschlag war so eng, daß sie sich kaum
darin umdrehen konnten. Die Mutter zog ein Bündel hervor, etwas kleiner
als Petras, öffnete es und zog einen Matrosenanzug heraus. "Zieh das
an!" flüsterte sie. Petra wußte sofort, weshalb sie das sollte; aber daß
die Mutter es nicht in Worten aussprach, das rührte sie. Sie zog sich
aus und legte den Matrosenanzug an, die Mutter half ihr, und als sie
dabei dem Lichtkreis nahe genug kam, um ihr Gesicht deutlich sehen zu
können, da sah Petra, daß Gunlaug alt war. War sie's in diesen letzten
Tagen geworden, oder hatte Petra es nur vorher nicht gesehen? Die Tränen
des Kindes flossen auf die Mutter hernieder, aber die Mutter blickte
nicht auf, so daß sie kein Wort herausbrachte. Als letztes reichte die
Mutter ihr einen Südwester, und als Petra ihn aufgesetzt hatte, nahm ihr
die Mutter ihr Bündel ab, blies das Licht aus und flüsterte: "Jetzt
komm!"

Wieder gingen sie durch den Flur, aber nicht zur Haustür; Gunlaug
riegelte die Hoftür auf und schloß sie nachher wieder ab. Sie gingen
durch den zerstampften Garten, über die ausgerissenen Bäume, den
zertrümmerten Zaun. "Sieh Dich noch einmal um!" sagte die Mutter, "Du
wirst schwerlich jemals wieder hierherkommen!"--Petra zuckte zusammen;
sie sah sich nicht um. Sie gingen den oberen Weg, am Walde hin, da, wo
sich ihr halbes Leben abgespielt, wo sie jenen Abend mit Gunnar, die
Abende mit Yngve Vold und jenen letzten Abend mit Ödegaard verlebt
hatte. Sie gingen durch fahles Laub, das der Herbst von den Bäumen
gefegt hatte; die Nacht war kalt, und Petra fror in ihrer ungewohnten
Kleidung. Jetzt bog die Mutter ab, auf einen Garten zu; Petra erkannte
ihn augenblicklich, obwohl sie hier an seiner oberen Seite nicht wieder
gewesen war seit jenem Tage, da sie ihn als Kind gestürmt hatte; es war
Pedro Ohlsens Garten. Die Mutter hatte den Schlüssel dazu und schloß
auf.

Es war Gunlaug nicht leicht gefallen, Ohlsen am Vormittag aufzusuchen;
es fiel ihr auch jetzt nicht leicht, mit der unglücklichen Tochter zu
ihm zu kommen, der sie selbst keine Heimat mehr zu bieten vermochte.
Aber es mußte sein, und was sein mußte, das konnte Gunlaug. Sie klopfte
an die Verandatür, und fast im selben Augenblick hörten sie Tritte und
sahen Licht. Gleich darauf wurde geöffnet, und Pedro, blaß und
angstvoll, stand im Reiseanzug und hohen Stiefeln vor ihnen. Er hielt
ein Talglicht in der Hand; und als er Petras vom Weinen geschwollenes
Gesicht erblickte, seufzte er. Sie sah zu ihm auf; aber da er sie nicht
zu kennen wagte, so wagte auch sie nicht ihn zu kennen. "Der Mann da hat
versprochen, Dir von hier fortzuhelfen", sagte die Mutter, wobei sie
weder Petra noch Ohlsen ansah, sondern den beiden voran durch den Flur
und in Pedros Zimmer auf der andern Seite des Hauses ging. Das Zimmer
war klein und niedrig; eine eigentümlich dumpfe Luft schlug ihnen
entgegen, die Petra ganz übel machte--seit mehr als vierundzwanzig
Stunden hatte sie weder geschlafen noch gegessen. Von der Mitte der
Decke hing ein Bauer mit einem Kanarienvogel. Man mußte im Bogen drum
herumgehen, wollte man nicht daran stoßen. Die alten schweren Stühle,
ein mächtiger Tisch, ein paar große Bauernschränke, die bis an die Decke
reichten, drückten so auf das Zimmer, daß es noch niedriger erschien.
Auf dem Tisch lagen Noten und eine Flöte. Pedro Ohlsen schlurfte in
seinen großen Stiefeln geschäftig hin und her. Aus dem Hinterzimmer
erklang eine schwache Stimme: "Wer ist da? Wer ist in der Stube?" worauf
er noch eiliger umhertrappte und dabei murmelte: "Oh, es ist--hm, hm--es
ist nur ... hm, hm..." Darauf verschwand er in der Stube, aus der die
Stimme gekommen war.

Gunlaug saß am Fenster, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, den Kopf in
die Hände gestützt, und starrte vor sich hin auf den Sand, mit dem der
Fußboden bestreut war. Sie sprach kein Wort; aber von Zeit zu Zeit
entrang sich ihrer Brust ein schwerer Seufzer. Petra lehnte an der Tür,
die Beine dicht zusammengepreßt, beide Hände auf die Brust gedrückt; sie
fühlte sich ganz krank. Eine alte Wanduhr hackte die Zeit in Stücke; das
Talglicht auf dem Tisch tropfte mit langer Schnuppe. Die Mutter fühlte,
sie müsse einen Grund für ihre Anwesenheit in diesem Haus angeben, und
sagte: "Ich hab' diesen Mann mal früher gekannt."

Kein Wort weiter. Es kam auch keine Antwort. Pedro blieb noch immer
fort. Das Talglicht tropfte, und die Uhr hackte. Die Übelkeit übermannte
Petra mehr und mehr--und dazwischendurch summten unablässig die Worte
der Mutter: "Ich hab' diesen Mann früher mal gekannt." Die Uhr griff es
auf und fing an zu ticken: "Ich hab'--diesen Mann--mal früher--gekannt."
So oft ihr später in ihrem Leben einmal eingeschlossene Luft
entgegenschlug, stand ihr die Stube und ihre eigene Übelkeit und
die Uhr mit ihrem: "Ich hab'--diesen Mann--mal früher--gekannt--"
vor Augen. So oft ihr an Bord eines Dampfers der Ölgeruch, der Gestank
des fauligen Meerwassers unter der Kajüte, der Dunst des Essens
entgegendrang,--augenblicklich wurde sie seekrank, und durch die
Seekrankheit hindurch hörte sie bei Tag und bei Nacht ticken: "Ich
hab'--diesen Mann--mal früher--gekannt."

Als Pedro wieder eintrat, hatte er eine wollene Mütze auf und einen
altmodischen steifen Mantel um, der ihm bis über die Ohren reichte. "Ja,
also ich wär' fertig," sagte er und streifte sich Fäustlinge über, als
solle er in den dicksten Winter hinaus. "Jetzt dürfen wir nicht
vergessen, den Mantel für--für--" er wandte sich um--"den Mantel für--"
Er blickte zu Petra hinüber und von ihr zu Gunlaug, die jetzt nach einem
blauen Umhang griff, der über einem Stuhl hing, und ihn Petra umlegte.
Petra jedoch--als sie ihn von nahem roch, empfand den eigentümlichen
Dunst der Stube so heftig, daß sie bat, man möge sie an die frische Luft
lassen. Die Mutter sah, daß ihr schlecht wurde, machte schnell die Tür
auf und führte sie in den Garten hinaus. Hier sog sie in der kühlen
Nacht die klare Herbstluft in langen, vollen Zügen ein.--"Wo soll ich
hin?" fragte sie, als sie sich wieder etwas erholt hatte. "Nach Bergen!"
erwiderte die Mutter und half ihr den Mantel zuknöpfen. "Das ist eine
große Stadt, wo keiner Dich kennt." Als sie fertig war, stellte sie sich
vor die Haustür. "Du kriegst hundert Taler mit," fuhr die Mutter fort;
"so hast Du, wenn es irgendwie schief geht, einen Notpfennig. Der--der
hier--borgt Dir das Geld," "--schenkt--schenkt--" flüsterte Pedro, der
eben an ihnen vorbei auf die Straße heraustrat. "Borgt Dir das Geld,"
wiederholte die Mutter, als habe er nichts gesagt; "ich werd' es ihm
zurückzahlen." Sie nahm ihr Halstuch ab, band es Petra um und sagte:
"Sobald es Dir gut geht, schreibst Du. Eher nicht."--"Mutter!"--"Und
jetzt bringt er Dich an Bord; das Schiff liegt draußen vor Anker."--"O
Gott, Mutter!"--"So, das wäre wohl alles. Weiter gehe ich nicht
mit."--"Mutter! Mutter!"--"Gott behüte Dich! Leb' wohl!"--"Mutter!
Verzeih mir, Mutter!"--"Und erkälte Dich nicht auf dem Wasser!" Damit
hatte sie Petra behutsam zur Gartenpforte hinausgeschoben und schloß
jetzt hinter ihr zu.

Petra stand draußen und blickte auf die verschlossene Pforte. Sie fühlte
sich so elend, so ausgestoßen, wie nur je ein Menschenkind sich fühlen
kann. Und doch--gerade aus diesem Gefühl des Verstoßenseins, aus all dem
Unrecht, den Tränen stieg eine Ahnung auf, ein Glaube; wie ein
Flammenschein war es--, der aufglüht und wieder erlischt,
hochaufsprühend in alle Lüfte und wieder in Asche gesunken; und
doch--einen Augenblick lang alles sieghaft überstrahlend--. Sie hob die
Augen. Und stand wieder im tiefen Dunkel.

Still--langsam--durch die öden Gassen der kleinen Stadt, vorbei an den
ungastlichen, entblätterten Gärten, vorbei an den verschlossenen,
erloschenen Häusern glitt sie dahin, hinter dem Mann, der in seinen
großen Stiefeln und dem Mantel, vornübergeneigt, gewissermaßen ohne
Kopf, voranstapfte. Sie kamen in die Allee, wieder schritten sie durch
raschelndes Laub und sahen gespenstisch emporgereckte und verlangende
Äste, die nach ihnen haschten. Sie krochen den Berg hinunter, zum gelben
Schuppen, wo das Boot lag; er machte sich sofort daran, es
auszuschöpfen; dann ruderte er sie hinaus, am Land entlang, das jetzt
dalag zu einem schwarzen Klumpen geballt, auf den sich schwer der
Himmel niedergesenkt hatte. Feld und Wald, Häuser und Hügel, alles war
ausgelöscht. Nichts mehr erblickte sie von alledem, was sie von Kindheit
an bis gestern Tag für Tag vor Augen gehabt hatte; alles hatte sich
verschlossen--wie die Stadt; wie die Menschen sich vor ihr verschlossen,
in der Nacht, da sie hinausgestoßen wurde; und kein Lebwohl begleitete
sie.

Auf dem Schiff, das dicht am Strand vor Anker lag und auf die
Morgenbrise wartete, ging ein Mann auf und ab. Sobald er die zwei unter
den Dillen sah, ließ er die Schiffstreppe hinab, half ihnen an Bord und
benachrichtigte den Kapitän, der sofort auf Deck kam. Petra kannte
beide, und beide kannten sie; aber ohne eine Frage, ohne Mitleid, nur
wie eine ganz alltägliche Sache wurde ihr gesagt, was gesagt werden
mußte--wo ihre Koje sei, und was sie zu tun habe, wenn sie irgendetwas
wünsche oder seekrank würde. Letzteres wurde sie auch fast
augenblicklich, als sie in ihre Kabine trat, und sie ging darum, sobald
sie sich umgekleidet hatte, wieder auf Deck. Da oben roch
es--jawohl--nach Schokolade! Sie verspürte einen entsetzlichen Hunger;
es bohrte, es zerrte geradezu in ihrem Magen, und da kam auch schon der
Mann, der ihr an Bord geholfen hatte, mit einer großen Kanne aus der
Schiffsküche; und dazu Kuchen! Ihre Mutter schicke ihr das, sagte er.
Während sie aß und trank, berichtete er, die Mutter habe auch eine Kiste
mit ihren besten Kleidern und mit leinenem und wollenem Unterzeug an
Bord geschickt, auch Eßwaren und allerhand Leckereien. Und in diesem
Augenblick stieg plötzlich die Erinnerung an die Mutter gewaltig in ihr
auf--ein Bild, großzügig, wie sie es bisher noch nie empfunden hatte,
das ihr aber von Stund an ihr Leben lang blieb. Und vor dem Bild, sicher
und doch wehmutsvoll, eine Verheißung, ein Gebet, daß sie dereinst der
Mutter all das Leid, das sie über sie gebracht hatte, mit ein klein
bißchen Freude vergelten dürfe.

Pedro Ohlsen saß neben ihr, wo sie saß, und ging neben ihr, wo sie
ging--stets eifrig darauf bedacht, ihr nie und nirgends im Weg zu sein,
und darum fortwährend und überall im Weg auf dem mit Frachtstücken
überfüllten Deck. Sie sah nichts von seinem Gesicht als die große Nase
und die Augen, und nicht einmal diese deutlich; doch immer merkte man
ihm an, daß er bedrückt wurde von etwas, das er gern sagen wollte, und
doch nicht sagen konnte. Er seufzte, er setzte sich, stand auf, ging um
sie herum und setzte sich wieder; aber kein Wort kam aus seinem Munde,
und auch sie blieb stumm. Zuletzt konnte er es nicht länger aushaken;
linkisch zog er ein Ungeheuer von einer ledernen Brieftasche hervor und
flüsterte ihr zu: da seien die hundert Taler--und noch ein bißchen
drüber. Sie streckte die Hand aus und bedankte sich; und dabei kam sie
seinem Gesicht so nahe, daß sie bemerkte, wie seine Augen in feuchtem
Glanz an den ihren hingen. Denn mit ihr schwand ja der letzte Rest von
Leben, der seinem dahinsiechenden Dasein noch geblieben war. Er hätte
ihr so gern noch etwas gesagt, das ihm eine freundliche Erinnerung
gesichert hätte, wenn er nun bald nicht mehr da sei; aber das war ihm
verboten; und obwohl er es trotzdem gern getan hätte, wagte er es doch
nicht; sie kam ihm so gar nicht zu Hilfe! Petra war müde, so müde. Und
der Gedanke, er sei der Anlaß gewesen, daß sie damals die erste Sünde an
ihrer Mutter begangen habe, wollte gerade jetzt nicht von ihr weichen.
Sie konnte ihn nicht mehr gern haben; und je länger er da saß, desto
schlimmer wurde es; denn wenn man müde ist, wird man leicht ungeduldig.
Der Ärmste fühlte das; es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich
zu verabschieden; und während er seine dürre Hand aus dem Fausthandschuh
zog, brachte er schließlich ein geflüstertes Lebewohl heraus. Sie legte
ihre warme Hand in die seine, und beide standen auf. "Vielen Dank,--und
grüß' Mutter!" sagte sie. Er stieß einen Seufzer aus oder eine Art
Glucksen--einmal und noch ein paarmal; dann ließ er ihre Hand los,
wandte sich ab und kletterte rücklings, still, die Schiffstreppe
hinunter. Sie trat an die Reling; er sah noch immer herauf, grüßte,
setzte sich und ruderte langsam davon. Sie blieb stehen, bis er im
Dunkel verschwunden war. Dann aber ging auch sie gleich nach unten; sie
war so müde, daß sie sich kaum mehr auf den Füßen halten konnte; und
obwohl sie sofort seekrank wurde, so hatte sie doch kaum den Kopf aufs
Kissen gelegt und die zwei oder drei ersten Bitten des Vaterunsers
gebetet, als sie auch schon schlief.

       *       *       *       *       *

Droben neben dem gelben Bootschuppen saß zu derselben Stunde die Mutter.
Sie war ihnen langsam den ganzen Weg gefolgt, und hatte sich, gerade als
die beiden vom Lande stießen, hinter den Schuppen gesetzt. Von derselben
Stelle aus war Pedro Ohlsen in alten Zeiten oft mit ihr hinausgerudert;
es war lange, lange her; aber als er jetzt mit ihrem Kinde davonruderte,
mußte sie daran denken.

Sobald sie ihn allein zurückkehren sah, stand sie auf und ging; sie
wußte jetzt, daß die Tochter wohlbehalten an Bord war. Sie ging nicht
nach Hause, sondern ins Land hinaus. Dort fand sie im Dunkeln den Pfad,
der in die Berge führte; den schlug sie ein. Über einen Monat blieb ihr
Haus in der Stadt leer und halb zertrümmert stehen; sie wollte nicht
eher wieder heim, als bis sie gute Nachricht von der Tochter hatte.

Aber inzwischen hatte sich auch die feindliche Stimmung geklärt. Alle
niedrigen Naturen finden eine aufreizende Freude darin, sich zur
Verfolgung eines Stärkeren zusammenzutun; aber nur, solange dieser
Widerstand leistet. Sobald sie sehen, daß er sich ruhig mißhandeln läßt,
beschleicht sie ein Gefühl der Scham, und ihre ganze Wut wendet sich nun
gegen den, der es wagt, noch einen Stein zu werfen. Man hatte sich
darauf gefreut, Gunlaugs mächtige Stimme durch den Hohlweg dröhnen zu
hören; man hatte gedacht, sie werde ihre Matrosen zu Hilfe rufen und zum
Straßenkampf aufbieten. Als der dritte Abend kam, und sie sich noch
immer nicht sehen ließ, war der Haufen kaum zu bändigen; man wollte
hinein, wollte die beiden Weibsbilder herauszerren, sie auf die Straße
werfen, sie zur Stadt hinausjagen! Die Scheiben waren seit dem vorigen
Abend noch nicht wieder eingesetzt; unter dem Halloh der Menge krochen
zwei Männer durchs Fenster, um die Tür zu öffnen, und hinein stürmte die
ganze Bande! Sie durchsuchten alle Räume, oben und unten; sie sprengten
Türen, sie zerschlugen alles, was im Wege stand; sie durchstöberten
jeden Winkel, bis hinab zum Keller, nach Mutter und Tochter; keine
Menschenseele war zu finden! Die Verfolger wurden plötzlich ganz
mäuschenstill, als ihnen diese Entdeckung zum Bewußtsein kam. Einer nach
dem andern kamen sie alle, die drinnen waren, wieder heraus und
versteckten sich hinter den übrigen. Nicht lange, und der Platz vor dem
Hause war leer.

Bald wurden in der Stadt Stimmen laut, die erklärten, ein derartiges
Vorgehen zwei wehrlosen Frauen gegenüber sei einfach unwürdig gewesen.

Man besprach das Ereignis, den Vorfall so lange, bis man zu dem Schluß
kam--was auch das _Fischermädel_ verbrochen hatte--Gunlaug hatte keine
Schuld, und ihr war also schweres Unrecht geschehen. Die Stadt vermißte
sie schmerzlich. Schlägereien und Straßenhändel zwischen Betrunkenen
waren bald an der Tagesordnung: die Stadt hatte ihre Polizei verloren.
Auch ihre mächtige Gestalt unter der Tür vermißte man, wenn man am Hause
vorüberging. Besonders aber vermißten die Matrosen sie. Nirgends sei es
so wie bei ihr, behaupteten sie. Bei ihr war jeder nach Verdienst
behandelt worden, jeder hatte seine bestimmte Rangordnung in ihrem
Vertrauen inne gehabt und bei ihr Hilfe gefunden in allen Lebenslagen.
Weder Matrosen noch Schiffer, weder Arbeitsherren noch Hausmütter hatten
gewußt, was sie allen war, bis sie auf einmal nicht mehr da war.

Darum lief es wie eine einzige Freudenbotschaft durch die ganze Stadt,
als jemand sie wieder in ihrem Hause sitzen und kochen und braten
gesehen wie zuvor. Jeder einzelne mußte hinauf und sich selbst davon
überzeugen, daß die Tür wieder ganz war und neue Scheiben hatte, und der
Rauch aus dem Schornstein stieg. Ja, wirklich, es war so! Da war sie
wieder! Man kletterte an der andern Seite des Hohlwegs hinauf, um besser
sehen zu können. Da saß sie--vor dem Backofen; sie blickte weder auf
noch hinaus--die Augen folgten der Hand, und die Hand arbeitete. Denn
sie war zurückgekehrt, um wieder zu verdienen, was sie verloren hatte,
vor allem die hundert Taler, die sie Pedro Ohlsen schuldete. Anfangs
begnügte man sich damit, zu ihr hineinzugucken; man getraute sich nicht
ins Haus--des bösen Gewissens wegen! Aber so nach und nach kamen sie
doch wieder; zuerst die Hausmütter, die lieben, guten! Aber sie fanden
keinerlei Gelegenheit, von anderem zu reden als von Geschäften; Gunlaug
hörte einfach auf nichts anderes. Dann kamen die Fischer, dann die
Kaufleute und Schiffer, die Leute dingen und sich bei ihr Auskunft holen
wollten, und endlich, am nächsten Sonntag, auch die Matrosen. Die mußten
sich verabredet haben; denn gegen Abend war das Haus mit einem Male so
überfüllt, daß nicht nur die beiden Stuben besetzt waren, sondern daß
man auch noch die Tische und Stühle, die im Sommer im Garten standen,
hervorholen und im Flur, in der Küche, im Hinterzimmer aufstellen mußte.
Niemand, der diese Versammlung gesehen, hätte ahnen können, mit welchen
Gefühlen diese Leute hier saßen; denn mit dem Augenblick, da sie
Gunlaugs Schwelle wieder überschritten, hatte diese Frau stillschweigend
wieder das Kommando übernommen, und die breite Sicherheit, mit der sie
jedem das seine verabfolgte, unterdrückte jeden Willkommgruß, jede
Frage. Sie war ganz wie sonst, nur daß ihr Haar nicht mehr schwarz und
ihr Wesen ein bißchen stiller war. Aber als die Matrosen anfingen,
lustig zu werden, konnten sie sich nicht länger halten; so oft Gunlaug
und das Mädchen draußen waren, schrien sie dem Bootsmann Knud zu, der
immer ihr Liebling gewesen war: er möge doch ein Hoch auf sie
ausbringen, wenn sie wieder hereinkomme. Doch selbst er fand nicht eher
den Mut dazu, als bis ihm die Hitze ein bißchen zu Kopf gestiegen war.
Da endlich, als sie hereinkam, um leere Gläser und Flaschen abzuräumen,
stand er auf und sagte: "Es sei man schön, daß sie wieder da sei.
Denn--wahrhaft'gen Gott--es--es sei man schön, daß sie wieder da sei!"
und alle fanden das gut gesprochen und erhoben sich und riefen: "Ja, das
is man schön! Das is man schön!" Und die im Flur und in der Küche und in
den andern Stuben standen ebenfalls auf, und drängten herein und
stimmten mit ein, und der Bootsmann gab Gunlaug ein Glas in die Hand und
schrie Hurra! Und nun ließen sie alle ein paar Hurras los, als ob das
Dach auffliegen und in die Wolken fahren sollte. Bald hörte man einen
laut verkünden: sie hätten ihr schmählich unrecht getan, dann schwur ein
anderer dasselbe, und schließlich schwur und fluchte die ganze
Gesellschaft: ihr sei das schmählichste Unrecht widerfahren. Als endlich
Stille eintrat, weil es alle nach einem Wort Gunlaugs verlangte, dankte
sie ihnen: "aber", fügte sie hinzu und sammelte ihre Gläser und Flaschen
ruhig weiter ein, "solange _ich_ nicht davon rede, braucht Ihr's auch
nicht. Verstanden?" Dann, nachdem sie so viele Gläser und Flaschen
beisammen hatte, als sie tragen konnte, ging sie hinaus, um gleich
darauf die übrigen zu holen. Von diesem Augenblick an war ihre Macht
unerschütterlich.



Siebentes Kapitel


Es war Abend und dunkel, als das Schiff im Hafen von Bergen Anker warf.
Noch halb taumelnd von der Seekrankheit wurde Petra im Kapitänsboot
durch das Gewimmel von großen und kleinen Schiffen und dann weiter durch
das Lärmen und Toben der Bootsleute auf den Brücken und der Bauern und
Straßenjungen in den engen Winkelgassen geführt, durch die der Weg
ging. Vor einem kleinen hübschen Haus machten sie Halt, und dort nahm
auf die Bitte des Kapitäns eine ältere Dame sich Petras liebevoll an.
Sie fühlte Hunger und Müdigkeit, und beide Bedürfnisse konnte sie hier
befriedigen. Gegen Mittag des folgenden Tages wachte sie frisch und
munter auf, zu neuen Lauten, neuem Sprachklang und--als sie die Gardine
aufzog, zu einer neuen Natur, zu einer neuen Stadt mit neuen Menschen.
Ja, sie selbst war wie neugeboren, fand sie, als sie vor den Spiegel
trat. Dies Gesicht war nicht das alte mehr; worin die Veränderung
bestand, darüber konnte sie sich freilich selbst nicht Rechenschaft
geben; sie wußte nicht, daß in ihrem Alter Leid und Gemütsbewegung die
Züge verfeinern und vergeistigen; aber sie mußte doch, als sie sich im
Spiegel sah, wieder an die letzten Nächte denken, und sie bebte noch bei
diesem Nachhall. Darum beeilte sie sich, fertig zu werden, damit sie
hinunter konnte zu all dem Neuen, das ihrer wartete. Unten traf sie ihre
Wirtin und einige Damen, die sie zunächst einmal gründlich von allen
Seiten betrachteten und ihr dann versprachen, sich ihrer anzunehmen. Als
erstes wollten sie ihr die Stadt zeigen. Da sie allerlei einzukaufen
hatte, lief sie hinauf zu ihrer Brieftasche. Weil sie sich jedoch
schämte, das plumpe dicke Ding mit hinunterzunehmen, öffnete sie es, um
Geld herauszunehmen. Sie fand nicht hundert, sondern dreihundert Taler
darin! Also wieder Pedro Ohlsen, der gegen der Mutter Wissen und Willen
Geld schenken wollte! So wenig verstand sie vom Wert des Geldes, daß sie
sich über die Größe der Summe nicht einmal wunderte; es kam ihr darum
auch gar nicht in den Sinn, über den Grund dieser großen Freigebigkeit
weiter nachzudenken. Statt eines freudestrahlenden Dankbriefes voll
ahnungsvoller Fragen überbrachte Gunlaug Pedro Ohlsen ein Schreiben von
Petra an sie selbst, worin die Tochter mit schlecht verhehltem Ärger
ihren Wohltäter verriet und fragte, was sie mit dem eingeschmuggelten
Geschenk anfangen solle.

Der erste Eindruck, den Petra von der Stadt empfing, war ein starker
Natureindruck. Sie konnte das Gefühl nicht los werden, als umdrängten
die Berge sie so dicht, daß sie sich vor ihnen in acht nehmen müsse. So
oft sie das Auge erhob, fühlte sie sich bedrückt, und dann wieder trieb
es sie, die Hand auszustrecken und an den Stein zu pochen. Bisweilen war
ihr, als gebe es hier keinen Ausgang mehr. Sonnenverlassen und finster
standen die Berge, die Wolken hingen schwer darauf nieder oder jagten
darüber weg; Wind und Regen in unaufhörlichem Wechsel; von den Bergen
kam es, die Berge sandten es hernieder auf die Stadt. Aber die Menge
Menschen rings um sie her hatte gar nichts Bedrücktes. Sie wurde bald
froh unter ihnen; denn in ihrer Geschäftigkeit lag eine Freiheit, eine
Leichtigkeit, eine Heiterkeit, wie sie sie gar nicht kannte, und die ihr
nach allem, was sie erlebt hatte, wie ein Lächeln, ein Willkommgruß
erschien.

Als sie am nächsten Tag beim Mittagessen äußerte, sie möchte am liebsten
irgendwohin, wo recht viele Leute seien, schlug man ihr vor, ins Theater
zu gehen; da könne sie Hunderte von Menschen in einem einzigen Haus
beieinander sehen.--Jawohl, da wollte sie hin! Man besorgte ihr ein
Billet, das Theater lag ganz in der Nähe, und zur bestimmten Zeit
begleitete man sie hin und wies ihr einen Platz in der ersten Reihe des
Balkons an. Da saß sie, in strahlender Beleuchtung, unter Hunderten
fröhlicher Menschen, ringsum leuchtende Farben und Geplauder, das von
allen Seiten über sie hereinbrauste wie das Rauschen des offenen Meeres.

Was es hier eigentlich zu sehen gab, davon hatte Petra keine Ahnung. Ihr
Wissen beschränkte sich auf das, was Ödegaard ihr gesagt, und was ihr
zufälliger Verkehr sie gelehrt hatte. Aber das Theater hatte Ödegaard
mit keinem Worte je erwähnt.

Die Matrosen hatten von einem Theater gesprochen, wo es wilde Tiere gab
und Kunstreiter; und die jungen Burschen der Stadt kamen gar nicht auf
den Gedanken, vom Schauspiel zu reden, wenn sie auch von der Schule her
ein bißchen davon wußten; denn das Städtchen selbst hatte kein Theater,
nicht einmal ein Gebäude, das den Namen führte. Reisende Tierbändiger,
Seiltänzer und Clowns trieben ihre Künste entweder in einer Strandbude
oder auf freiem Feld. Ihre Unwissenheit war so groß, daß sie nicht
einmal imstande war, zu fragen; sie saß da und erwartete naiv irgend
etwas Merkwürdiges, etwa Kamele oder Affen. Allmählich beherrschte diese
Vorstellung sie so, daß sie anfing, in jedem Gesicht um sich her ein
Tier zu sehen--Pferde, Hunde, Füchse, Katzen, Mäuse; das machte ihr
Spaß. Und so kam es, daß sich das Orchester versammelte, ohne daß sie es
merkte. Erschrocken schnellte sie auf; denn mit einem kurzen, scharfen
Gedröhne von Pauken, Trommeln, Posaunen und Hörnern setzte die Ouvertüre
ein. Sie hatte ihrer Lebtag noch niemals mehr als ein paar Geigen und
vielleicht eine Flöte zusammen gehört. Vor dieser brausenden
Herrlichkeit erbleichte sie; die hatte etwas von einer kalten, schwarzen
Sturzwelle; sie zitterte vor der nächsten; vielleicht würde die noch
schlimmer werden--und doch, sie wünschte sich, daß es nicht aufhören
möge. Bald strömten sanftere Harmonien Licht aus, bald öffneten sich
Ausblicke, wie sie sie nie geträumt hatte. Melodien wiegten sie hinaus,
empor, Spiel und Leben schwirrten rings durch die Luft, mit langem
Flügelschlag schwang sich der ganze Zug aufwärts, senkte sich leise,
sammelte sich wuchtig, teilte sich voll Übermut, in sprühendem Gewimmel,
bis ein großes Dunkel sich niedersenkte und alles deckte; es war, als ob
alles hinwegwirbele im Braus eines tosenden Sturzbachs. Dann wieder ein
vereinzelter Ton, wie ein Vogel auf nassem Zweig über der Tiefe:
wehmutvoll, furchtsam stimmte er an, aber während seines Sangs klärte
sich über ihm die Luft, ein Sonnenschimmer brach hervor, und wieder
lagen die weiten, blauenden Fernen voll jenes seltsamen Wogens und
Flatterns hinter den Sonnenstrahlen. Eine Weile währte das fort--dann--o
Wunder! verklang es in mildem Frieden. Die jubelnden Scharen zogen
ferner und immer ferner, nichts mehr war da als die Strahlen, die durch
die Luft sickerten und schmolzen; über der ganzen unendlichen Fläche
nichts als Sonne, still, lichtdurchwoben alles--und in dieser Seligkeit
träumte das Ganze aus. Sie erhob sich unwillkürlich, als es zu Ende war;
denn sie selbst war auch am Ende. O Wunder--da ging die schöne gemalte
Wand gerade vor ihr in die Höhe, bis an die Decke. Sie war in einer
Kirche, einer Kirche mit Bogen und Pfeilern, einer Kirche voll
Orgelbraus und Festesglanz, und Menschen in Gewändern, wie sie sie nie
gesehen hatte, schritten herein, auf sie zu und redeten,--ja, wirklich,
sie redeten in der Kirche! Und in einer Sprache, die sie nicht verstand.
Wie? Hinter ihr redeten sie auch? "Setzen!" sagte jemand. Aber da war
doch gar nichts zum Hinsitzen; und die beiden in der Kirche blieben auch
ganz ruhig stehen; und je länger sie hinsah, desto klarer wurde es ihr,
daß diese Trachten dieselben waren, die sie auf einem Bild von Olaf dem
Heiligen gesehen hatte. Und da,--da nannten sie ja auch den Namen des
heiligen Olaf!--"Setzen!" tönte es wieder hinter ihr. "Setzen!" riefen
jetzt mehrere Stimmen. Vielleicht ist dahinten auch irgend etwas, dachte
Petra und drehte sich hastig um. Ein Haufen zorniger Gesichter, manche
darunter geradezu drohend, starrte ihr entgegen. Alles das geht nicht
mit rechten Dingen zu! dachte sie und wollte gehen. Da zupfte eine alte
Dame, die neben ihr saß, sie sachte am Rock. "So setzen Sie sich doch,
Kindchen!" flüsterte sie. "Die hinter Ihnen können ja nichts sehen." Im
Nu war sie wieder auf ihrem Platz. Natürlich--das da vorn ist das
Theater, und wir sind die Zuschauer,--natürlich, das Theater! Und sie
wiederholte das Wort, wie um es sich selbst ins Gedächtnis
zurückzurufen. Und wieder blickte sie in die Kirche. Aber so viel Mühe
sie sich auch gab, sie konnte den Menschen, der da redete, nicht
verstehen. Erst als sie so nach und nach dahinter kam, daß es ein Mann
war, jung und hübsch, fing sie ab und zu ein Wort auf. Und als sie
begriff, daß er von Liebe redete, daß er verliebt war, da verstand sie
so ziemlich alles. Jetzt kam ein Dritter hinzu, der sofort ihre ganze
Aufmerksamkeit auf sich lenkte; denn von Abbildungen her wußte sie, daß
das ein Mönch sein mußte; und einen Mönch zu sehen, das war schon immer
ihr sehnlichster Wunsch gewesen. Der Mönch ging auf so leisen Sohlen,
bewegte sich so still, zeigte ein so frommes Gebaren; er redete so
treuherzig, sprach so langsam, daß sie jedem seiner Worte folgen konnte.
Da auf einmal drehte er sich um und sagte just das Gegenteil von dem,
was er vorher gesagt hatte.--Herrgott! Das ist ja ein Bösewicht! Hört
Ihr nicht? Ein Bösewicht ist er! Man sieht es ihm ja auch an! Daß der
junge hübsche Mann das nicht merkt! Aber hören könnt' er's doch
wenigstens! "Er hintergeht Sie!" flüsterte sie halblaut. "Psst!" sagte
die alte Dame. Aber nein, der junge Mann hört nichts. Er geht fort, ganz
vertrauensvoll; alle gehen sie fort. Ein alter Mann kommt jetzt herein.
Ja, was ist denn das? Wenn der Alte spricht, so ist es, als spräche der
Jüngling. Und dabei ist es doch ein alter Mann. Und plötzlich,--o Gott,
o Gott! Ein leuchtender Zug von weißgekleideten Jungfrauen, die zwei und
zwei langsam durch die Kirche ziehen. Noch lange, nachdem sie
verschwunden waren, blickte sie ihnen nach, und in ihrer Erinnerung
stieg eine ähnliche Erscheinung aus ihrer Kindheit auf. An einem
Wintertag war sie mit ihrer Mutter übers Gebirge gegangen; und wie sie
durch den frischgefallenen Schnee gewatet waren, hatten sie unversehens
einen Schwarm junger Schneehühner aufgescheucht, die mit einem Schlag
die Luft vor ihnen gefüllt hatten; weiß waren sie gewesen, und weiß der
Schnee, weiß der Wald,--noch lange nachher streiften alle Gedanken weiß
an ihr vorüber... Und in diesem Augenblick hatte sie dasselbe Gefühl.

Aber eine der weißgekleideten Jungfrauen tritt allein vor, mit einem
Kranz in der Hand, und kniet nieder. Der Alte ist ebenfalls auf die Knie
gesunken; und sie redet mit ihm; er hat Botschaft für sie und einen
Brief,--aus fremden Landen. Er zieht den Brief heraus,--ha, man sieht es
ihr an, der Brief ist von einem, den sie lieb hat. Wie himmlisch! Alle
lieben sie einander hier! Sie macht den Brief auf,--aber es ist gar kein
Brief--es ist alles lauter Musik,--und sieh doch, sieh! Der Brief ist ja
er selber! Der Greis ist der Jüngling, der Jüngling, den sie liebt! Sie
sinken einander in die Arme,--Himmel! Sie küssen sich! Petra fühlte, wie
sie feuerrot wurde; sie barg ihr Gesicht in den Händen, während sie
weiter zuhörte. Horch',--da erzählt er ihr, daß sie auf der Stelle
Hochzeit halten wollen, und sie zupft ihn lächelnd am Bart und sagt, er
sei ein Barbar geworden; und er sagt, sie sei ganz wunderschön geworden,
und gibt ihr einen Ring und verspricht ihr Scharlach und Sammet, goldene
Schuhe und einen goldenen Gürtel. Dann nimmt er fröhlich Abschied und
geht zum König, um die Hochzeit auszurichten. Die Braut sieht ihm nach,
leuchtend, strahlend; doch wie sie sich wieder umwendet, da ist es
leer--leer.

Jetzt gleitet ganz schnell die Wand wieder herab. Wie? Schon zu Ende?
Nachdem es eben erst angefangen hat? Glühend wendet sie sich der alten
Dame zu: "Ist es aus?"--"Nein, nein, Kindchen! Das war ja nur der erste
Akt. Fünf sind es.--Fünf Akte", wiederholte sie seufzend, "fünf
Akte!"--"Immer das Gleiche?" fragte Petra.--"Wie denn?"--"Ich meine,
kommen immer die gleichen Leute wieder, und geht es immer weiter?"--"Sie
sind wohl noch nie im Theater gewesen, was?"--"Nein."--"Freilich; ein
Theater gibt's nicht überall; es ist ja auch so teuer."--"Aber was ist
denn das eigentlich alles?" fragte Petra erregt, atemlos, als könne sie
die Antwort kaum erwarten. "Was sind denn das für Menschen?"--"Das ist
die Truppe des Direktor Naso, eine ganz ausgezeichnete Truppe; er ist
wirklich ein tüchtiger Kerl."--"Hat er denn das alles erfunden? Ja? Ach
Gott! So sagen Sie mir's doch!"--"Aber Kindchen, wissen Sie denn gar
nicht, was ein Schauspiel ist? Wo kommen Sie denn her?"---Doch als Petra
an ihre Vaterstadt dachte, fiel ihr auch gleich ihre ganze Schande, ihre
Flucht wieder ein; sie schwieg und getraute sich nicht, weiter zu
fragen.

Der zweite Akt kam, und mit ihm der König. Wirklich, der König! Jetzt
sah sie endlich einmal den König! Sie hörte nicht, was er sagte, sie sah
nicht, mit wem er sprach, sie sah nur des Königs Kleider, des Königs
Gebaren, des Königs Mienen. Sie wachte erst wieder auf, als der Jüngling
auftrat. Und jetzt zogen sie alle davon, um die Braut einzuholen.--Also
hieß es wieder warten.

In der Pause beugte die alte Dame sich zu ihr hinüber. "Sie spielen doch
wundervoll, nicht?" sagte sie. Petra blickte sie voll Erstaunen an.
"Spielen? Wie denn?" Sie merkte gar nicht, daß alle, die in ihrer Nähe
saßen, sie beobachteten; daß die alte Dame sie nur ausfragen wollte. Sie
merkte nicht, daß man sich über sie lustig machte.--"Aber sie reden ja
ganz anders wie wir?" fragte sie, als sie keine Antwort erhielt.--"Es
sind doch Dänen!" antwortete die Dame und fing zu lachen an. Jetzt
begriff sie, daß die Gute über ihr vieles Fragen lachte, und fortan
schwieg sie; sie sah nur unverwandt nach dem Vorhang hin.

Als der wieder aufging, wurde ihr die große Freude zuteil, einen
Erzbischof zu sehen. Wieder erging es ihr wie vorhin: sie verlor sich so
gänzlich in seinen Anblick, daß sie von dem, was er sagte, überhaupt
kein Wort hörte. Aber jetzt erklang Musik--leise, leise--aus weiter
Ferne. Sie kam näher--Gesang von Frauenstimmen--ein Spiel von Flöten und
Geigen und einem Instrument, das nicht Guitarre war und doch wie viele
Guitarren, bloß weicher, voller, mit schwingenden Tönen--die ganze
Harmonie flutete zu langen, schwebenden Wellen zusammen. Und als alles
zu wogenden Farben geworden war, da kam der Zug,--Soldaten mit
Hellebarden, Chorknaben mit Weihrauchfässern, Mönche mit brennenden
Kerzen, der König mit der Krone auf dem Haupt und an seiner Seite der
Bräutigam, im weißen Gewand--hinter ihnen wieder die weißen Jungfrauen;
singend streuten sie Rosen vor der Braut, die in weißer Seide, mit einem
roten Rosenkranz im Haar, einherschritt. An ihrer Seite ging eine hohe
Frauengestalt in golddurchwirktem, langschleppendem Purpurgewand, auf
dem Haupt eine schmale, funkelnde Krone; das mußte die Königin sein. Die
ganze Kirche war voll Musik und Farben, und alles, was nun geschah, vom
Augenblick an, da der Bräutigam die Braut zum Brautschemel führte, auf
dem sie niederkniete, während das ganze Brautgefolge im Kreis um sie
kniete, bis der Erzbischof an der Spitze der Klosterbrüder
erschien,--das alles waren bloß Verschlingungen in der bunten
Harmonienkette.

Aber als nun die Trauung vor sich gehen sollte, da erhob der Erzbischof
plötzlich seinen Stab und gebot Einhalt. Ihre Vermählung sei wider die
heiligen Vorschriften, nie und nimmer dürften sie einander angehören. O
himmlischer Vater, erbarme dich! Die Braut sank in Ohnmacht; und Petra
fiel mit einem durchdringenden Schrei auf ihren Platz zurück; denn sie
hatte zuletzt wieder gestanden.

"Wasser! Wasser!" rief es um sie her. "Nicht nötig!" erwiderte die alte
Dame. "Sie ist ja gar nicht bewußtlos." "Still!" rief es vom Parkett
herauf. "Ruhe da oben!" "Ruhe da unten!" tönte es vom Balkon
zurück.--"Sie müssen sich's nicht so zu Herzen nehmen", flüsterte die
alte Dame. "Es ist doch alles bloß erdichtet und erfunden! Aber Frau
Naso spielt wirklich brillant!"

"Still!" rief nun auch Petra. Sie war schon wieder ganz in der Handlung.
Der diabolische Mönch war wieder da, mit einem Schwert in der Hand. Die
beiden Liebenden mußten ein Tuch zwischen sich halten, und er schnitt
es in der Mitte durch, wie die Kirche schneidet, wie der Schmerz
schneidet, wie das Schwert über der Pforte des Paradieses schnitt an
jenem ersten Tag. Weinende Frauen nahmen der Braut den roten Kranz vom
Haar und setzten ihr einen weißen auf; damit war sie fürs Leben dem
Kloster geweiht. Und er, dem sie angehörte für Zeit und Ewigkeit, er
sollte sie am Leben wissen und sie dennoch nimmermehr sein eigen nennen,
sollte sie hinter Klostermauern wissen und sie nimmer wiedersehen. Wie
herzzerreißend war dies letzte Lebewohl! Keine größere Not gab es auf
Erden als ihre!--

"Du lieber Gott!" flüsterte die alte Dame, als der Vorhang fiel, "so
seien Sie doch nicht so närrisch! Es ist doch bloß Frau Naso, dem
Direktor seine Frau!" Petra riß die Augen auf und starrte die brave Frau
an. Die muß verrückt sein! dachte sie. Und da die alte Dame von Petra
schon längst dasselbe gedacht hatte, redeten sie nun überhaupt nicht
mehr miteinander, sondern warfen sich nur von Zeit zu Zeit scheue Blicke
zu.

Als der Vorhang wieder aufging, kam Petra nicht mehr so recht mit. Sie
sah nur noch die Braut hinter den Klostermauern und den Bräutigam, der
Tag und Nacht voller Verzweiflung draußen umherirrte; sie litt ihre
Qualen mit, sie betete mit ihnen ihre Gebete; das, was sich vor ihren
Augen abspielte, glitt farblos an ihr vorüber. Da plötzlich wurde sie
durch eine mahnende Stille in die Gegenwart zurückgerufen. Der leere
Kirchenraum wird weit und groß, die zwölf Schläge der Mitternachtsstunde
hallen durch den Raum. Das Gewölbe erdröhnt, die Mauern erbeben; der
heilige Olaf, im Totengewand, erhebt sich aus seinem Sarge, hoch und
dräuend; den Speer in der Hand, kommt er geschritten; die Wache
flieht,--ein Donnerschlag--und der Mönch sinkt, vom Speer durchbohrt,
nieder. Dann wird alles dunkel, die Erscheinung ist verschwunden. Nur
der Mönch liegt noch da wie ein Haufen Asche auf der Stelle, wo der
Blitz niederfuhr.

Petra hatte sich unwillkürlich an die alte Dame angeklammert, der es
unter diesem krampfhaften Griff höchst unbehaglich zumute war, und die
nun, als sie das Mädchen immer blasser werden sah, rasch sagte: "Du
meine Güte, Kind, es ist doch nur Knutsen; es ist die einzige Rolle, die
er spielen kann, mit seiner heiseren Stimme!"--"Nein, nein, nein, nein!
Ich hab' Flammen rings um ihn gesehen!" sagte Petra, "und die Kirche hat
gezittert unter seinen Tritten!"--"Ruhe!" ertönte es von verschiedenen
Seiten. "Wer nicht still sitzen kann,--'raus!"--"Heda! Ruhe da oben!"
klang es vom Parkett. "Ruhe!" klang es vom Balkon zurück. Petra war ganz
in sich zusammengekrochen, als wolle sie sich verstecken; aber gleich
darauf hatte sie alles um sich her vergessen. Denn plötzlich waren die
beiden Liebenden wieder da,--der Blitz hat ihnen den Weg gebahnt,--sie
wollen fliehen. Sie haben sich wieder,--sie sinken sich in die Arme,--o
Gott im Himmel, beschütze sie!

Da erhebt sich ein Lärm--Geschrei und Hörnerklang--der Bräutigam wird
von ihrer Seite gerissen,--es gilt den Kampf--den Kampf fürs Vaterland.
Er wird verwundet, und sterbend sendet er der Geliebten seinen letzten
Gruß!----Petra faßt erst, was geschehen ist, als die Braut still
hereintritt und--seine Leiche erblickt. Und da ist es, als sammelten
alle Wolken des Schmerzes sich über einem einzigen Punkt; aber ein Blick
zerteilt sie: die Braut blickt auf von des Toten Brust und fleht zum
Himmel, daß er auch sie sterben lasse. Und der Himmel öffnet sich diesem
Blick, ein Leuchten senkt sich nieder, droben wartet der
Hochzeitssaal--lasset die Braut ein! Schon sieht sie den Himmel offen;
von ihren Augen strahlt ein Friede gleich dem Frieden hoher Gipfel. Ihre
Augenlider schließen sich, dem Kampf erblüht eine erhaben-edlere
Lösung, ihrer Treue eine herrlichere Krone; sie sind vereint.

Lange saß Petra regungslos da; ihr Herz war im Glauben erhoben, die
Macht des Großen erfüllte sie. Sie schwang sich empor über alles Kleine;
sie schwang sich empor über Furcht und Schmerz; sie schwang sich empor,
mit einem Lächeln für alle: denn alle waren Brüder und Schwestern. Das
Böse, das da trennt, war nicht mehr,--es war zerschmettert vom Donner.
Die Leute lachten sie an,--das war ja das Mädel, das sich während der
Vorstellung so verrückt benommen hatte. Sie aber sah in ihrem Lächeln
nichts anderes als den Wiederschein des Sieges Jubels, der in ihr selber
war. Und in dem Glauben, daß die anderen mit ihr lächelten, lächelte sie
so strahlend zur Antwort, daß die anderen alle lächeln mußten mit ihrem
Lächeln. Sie schritt die breite Treppe hinab zwischen zwei
auseinanderweichenden Reihen von Menschen, die ihr Freude von ihrer
Freude, Schönheit von der Schönheit zurückgaben, die über ihr leuchtete.
Der Glanz unseres Innern kann oft so mächtig werden, daß wir alles um
uns her in Klarheit tauchen, ob wir es selbst auch nicht sehen. Das ist
der größte Triumphzug der Welt, angekündigt, getragen und geleitet zu
werden von unseren eigenen leuchtenden Gedanken.

Als sie, ohne zu wissen wie, zu Hause angelangt war, fragte sie, was das
alles denn eigentlich gewesen sei. Einige der Anwesenden verstanden sie
auch und gaben ihr hilfreich Auskunft. Und als sie nun genau Bescheid
wußte, was ein Schauspiel ist, und was große Schauspieler vermögen, da
stand sie auf und sagte: "Das ist das Größte auf Erden; das will ich
werden."

Zur Verwunderung aller zog sie ihren Mantel wieder an und ging noch
einmal aus; sie mußte allein sein und im Freien. Sie ließ die Stadt
hinter sich und wanderte im heftigen Wind hinaus auf die nächste
Landzunge. Unter ihr brauste das Meer; die Stadt aber lag zu beiden
Seiten der Bucht, in einem Lichtnebel, hinter dem die zahllosen
einzelnen Flammen mit vereinigten Kräften arbeiteten, ohne doch mehr zu
erreichen, als den Flor zu durchleuchten, den sie nicht heben konnten.
Das wurde ihr zum Bild ihrer eigenen Seele. Das große Dunkel zu ihren
Füßen gab mit seinem dumpfen Tosen Kunde von einer undurchdringlichen
Tiefe; es galt, entweder hinabzusinken oder sich emporzuheben und zu
versuchen, mitzuleuchten. Sie fragte sich, warum ihr früher nie solche
Gedanken gekommen waren, und sie antwortete sich selbst: weil immer nur
der Augenblick über sie Macht gehabt hatte. Jetzt aber fühlte sie: auch
sie hatte Macht über den Augenblick. Jetzt sah sie es: so viele Lichter
dort drüben funkelten, so viele Augenblicke würden ihr gegeben werden,
und sie bat Gott um die Kraft, sie alle voll auszunützen, damit er
keinen vergebens entzündet hätte. Sie stand auf; denn es wehte ein
eisiger Wind. Sie war nicht lange draußen gewesen; aber als sie wieder
nach Hause ging, da wußte sie, wohin sie ging.

       *       *       *       *       *

Am nächsten Tage stand sie vor der Tür des Direktors. Heftiges Schelten
tönte ihr von drinnen entgegen. Die eine Stimme schien ihr Ähnlichkeit
mit der Stimme der Liebhaberin von gestern Abend zu haben. Freilich ging
sie jetzt aus einer andern Tonart, aber Petra erbebte doch bei ihrem
Klang. Sie wartete lange; als es immer noch kein Ende nehmen wollte,
klopfte sie an. "Herein!" schrie eine wütende Männerstimme. "Oh!"
kreischte eine Frauenstimme, und als Petra öffnete, sah sie das
fliehende Entsetzen eines Nachtgewandes und aufgelösten Haares durch
eine Seitentür verschwinden. Der Direktor, ein langer Mensch mit
unfreundlichen Augen, die er eiligst hinter einer goldenen Brille
versteckte, lief aufgeregt im Zimmer hin und her. Seine lange Nase
beherrschte das Gesicht so gänzlich, daß alles übrige nur ihretwegen da
zu sein schien; die Augen guckten wie zwei Gewehrläufe hinter diesem
Wall hervor, der Mund war der Graben und die Stirn eine leichte Brücke
vom Wall hinüber zu dem Wald oder dem "Verhau".--"Was wünschen Sie?" Er
blieb mit einem Ruck stehen. "Sind Sie die Dame, die gern Choristin
werden möchte?" setzte er eilfertig hinzu.--"Choristin? Was ist
das?"--"Nanu--das wissen Sie gar nicht? So, so! Na, was wollen Sie denn
sonst?"--"Ich will Schauspielerin werden."--"So, Schauspielerin wollen
Sie werden--und wissen nicht, was eine Choristin ist. Hm, hm. Aber Sie
reden ja Dialekt!"--"Dialekt? Was ist das?"--"So, also das wissen Sie
auch nicht. Und dabei wollen Sie Schauspielerin werden. Hm, hm. Ja, das
ist wieder mal echt Norwegisch. Dialekt--das will sagen, daß Sie nicht
so sprechen wie wir."--"Ja, aber ich hab' mich den ganzen Morgen darin
geübt."--"So, wirklich? Schau', schau'! Also schießen Sie mal
los!"--Und Petra stellte sich auf und deklamierte wie die Liebhaberin
gestern Abend: "Un so wist Deine Valborg Du verlaten!"[2] "Na,
aber,--Himmelkreuzdonnerwetter! Sind Sie etwa hergekommen, um sich über
meine Frau lustig zu machen?" Aus dem Nebenzimmer ertönte schallendes
Gelächter. Der Direktor öffnete die Tür und rief, augenscheinlich ohne
die leiseste Erinnerung daran, daß sie sich den Augenblick vorher noch
auf Leben und Tod gezankt hatten: "Da ist eine kleine Norwegerin, die
Dich karikieren will! Komm doch mal und sieh sie Dir an!" Ein Damenkopf
mit ungekämmtem, trotzig schwarzem Haar, dunkeln Augen und einem großen
Mund schaute herein und lachte. Petra aber eilte augenblicklich auf sie
zu; das _mußte_ die Heldin sein von gestern Abend--oder nein, ihre
Mutter, dachte sie, als die Dame näher kam. Petra sah sie an und sagte:
"Ich weiß nicht--sind Sie's ... oder sind Sie ihre Mutter?" Jetzt lachte
auch der Direktor. Der Frauenkopf hatte sich wieder zurückgezogen, aber
aus dem Nebenzimmer tönte noch immer das Lachen. Petras Verlegenheit
malte sich so lebhaft in Stellung, Gesicht, Mienenspiel, daß der
Direktor aufmerksam wurde. Er betrachtete sie eine Weile; dann griff er
nach einem Buch und sagte so ganz beiläufig: "Kommen Sie mal her, Kind,
und lesen Sie. Aber lesen Sie einfach so, wie Sie für gewöhnlich
sprechen." Petra las.--"Nein, nein--das ist ja Unsinn! Hören Sie zu!"
Und er las ihr vor, und sie las ihm nach, genau so, wie er gelesen
hatte. "Nein doch, nein! So lesen Sie doch norwegisch--den Teufel noch
mal--norwegisch!" Und Petra las wieder wie vorhin. "Nein doch, sag' ich!
Das ist ja der helle Blödsinn! Begreifen Sie denn nicht, was ich meine?
Sind Sie dumm!"--Er versuchte es wieder und wieder; dann gab er ihr ein
anderes Buch. "Da,--hier haben Sie was anderes: etwas Komisches. Also
los!" Und Petra las. Aber wieder war es dieselbe Geschichte, bis er
endlich gelangweilt ausrief: "Ach was, nein doch, nein! So hören
Sie endlich einmal auf! Was, Teufel, wollen Sie denn eigentlich
beim Theater? Was wollen Sie denn spielen zum Kuckuck?"--"Das,
was ich gestern gesehen hab', will ich spielen."--"Aha! Na ja,
selbstverständlich! natürlich! Na--und...?"--"Ja," sagte sie ein
bißchen verlegen, "es war ja auch wirklich so wunderschön gestern; aber
ich hab' mir heut doch gedacht,--noch viel schöner wäre es, wenn es gut
ausginge. Das möcht' ich gern machen."--"So, also das möchten Sie.--Hm,
na ja, genieren Sie sich nur nicht! Der Dichter ist tot. Der steht
natürlich heutzutage nicht mehr auf der Höhe; und darum wollen
Sie, die weder lesen noch schreiben kann, ihn umdichten;--echt
Norwegisch!"--Petra begriff kein Wort; nur das begriff sie--ihre Sache
stand schlecht. Und ihr wurde ängstlich zumute. "Also ich darf nicht?"
fragte sie leise. "I, aber natürlich! Durchaus nichts im Wege! Bitte!
Hören Sie!" sagte er in ganz verändertem Ton, während er dicht an sie
herantrat, "vom Komödienspielen verstehen Sie so wenig wie eine Katze.
Und Talent haben Sie keins, weder fürs Komische, noch fürs Tragische;
ich hab' Sie jetzt in beidem geprüft. Weil Sie ein hübsches Frätzchen
haben und eine hübsche Figur, haben die Leute Ihnen in den Kopf gesetzt,
Sie seien die geborene Schauspielerin, natürlich eine viel bessere als
meine Frau! Und dazu suchen Sie sich auch gleich die größte Rolle im
ganzen Repertoir aus und dichten sie noch obendrein um. Jawohl! Echt
Norwegisch! Die können ja alles!"--Petras Atem ging schneller und
schneller; sie schluckte und schluckte und endlich wagte sie zu
flüstern: "Also ich darf wirklich nicht?"--Der Direktor stand am Fenster
und sah hinaus. Er hatte gedacht, sie sei schon längst fort. Erstaunt
wandte er sich um. Aber als er ihre Erregung sah und die wunderbare
Kraft, die sich dadurch ihrem ganzen Wesen aufprägte, stand er einen
Augenblick still, griff dann plötzlich aufs neue nach dem Buch und sagte
mit einer Stimme und einem Gesichtsausdruck, in denen alles
Vorhergegangene wie weggeblasen war: "Da, lesen Sie mal das da, ganz
langsam,--damit ich einmal Ihr Organ höre. Na, los!" Aber sie konnte
nicht lesen. Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen. "Na, nur nicht so
verzagt!" Endlich fing sie an, aber kalt, farblos. Er ließ sie die
Stelle wiederholen--"mit mehr Gefühl". Es wurde nur noch schlechter. Da
nahm er ihr das Buch ruhig aus der Hand und sagte: "Ich habe Sie jetzt
nach jeder Richtung hin geprüft; mehr kann ich nicht tun. Ich versichere
Ihnen, mein bestes Fräulein, ob ich meinen Stiefel auf die Bühne schicke
oder Sie--es würde genau denselben Eindruck machen, nämlich einen höchst
sonderbaren. Und damit wollen wir's genug sein lassen!" Mit letzter
Aufbietung ihrer Kräfte stotterte Petra flehend: "Ich glaube, ich
versteh' es doch, wenn ich bloß--" "Natürlich! Selbstredend! Jedes
lumpige Fischernest versteht ja mehr davon als wir. Das norwegische
Publikum ist das gebildetste der ganzen Welt. Na, wenn Sie nicht gehen
wollen, so geh' ich!" Sie wandte sich zur Tür und brach in Tränen aus.
"Sagen Sie mal--" rief er; denn bei ihrer heftigen Erregung ging ihm
plötzlich ein Licht auf. "Sie sind doch nicht etwa die Person, die
gestern abend solchen Skandal im Theater gemacht hat?"--Sie wandte sich
feuerrot um und sah ihn an. "Natürlich sind Sie's! Jetzt weiß ich, wer
Sie sind! Das 'Fischermädel'! Ich war nach dem Theater mit einem Herrn
aus Ihrem Heimatort zusammen; mit einem, der Sie 'gut kannte!' So, also
darum möchten Sie so gern zum Theater! Sie möchten Ihre Künste dort
probieren--aha! Wissen Sie was: mein Theater ist ein anständiges
Institut, und ich verbitte mir jeglichen Versuch, es zu reformieren.
Machen Sie, daß Sie fortkommen! Aber etwas plötzlich, wenn ich bitten
darf!"--Und laut aufschluchzend rannte Petra zur Tür hinaus, die Treppe
hinunter und auf die Straße. Schluchzend, weinend lief sie so, mitten
unter allen Menschen. Eine Dame, die am hellichten Tag weinend durch die
Straßen läuft, mußte, wie man sich denken kann, großes Aufsehen erregen.
Leute blieben stehen, Gassenjungen rannten hinter ihr drein, erst
einige, dann mehrere. Und in diesem Lärm hinter sich her hörte Petra
wieder das Toben und Branden jener Nächte in ihrem Giebelstübchen--sah
wieder all die Gesichter in der Luft--und rannte, rannte! Aber wie
hinter ihr der Lärm, so wuchs mit jedem Schritt auch die Erinnerung, und
als sie das Haus erreicht, die Haustür hinter sich zugeschlagen, sich
auf ihr Zimmer geflüchtet und den Schlüssel umgedreht hatte, da mußte
sie sich niederwerfen in einen Winkel und die Gesichter abwehren; mit
den Händen schlug sie danach--stieß Drohungen aus.--Schließlich sank sie
erschöpft zusammen,--ihre Tränen flossen ruhiger,--sie war gerettet.

     [2] Aus Adam Oehlenschlägers Schauspiel "Axel und Valborg."

       *       *       *       *       *

Noch am Abend desselben Tages verließ sie Bergen und fuhr landeinwärts.
Sie wußte selbst nicht wohin. Sie wollte nur irgendwohin, wo man sie
nicht kannte. Sie saß im Karriol, ihr Koffer war hinten aufgeschnallt,
und obendrauf saß der Postbub. Es regnete in Strömen; sie saß
zusammengekauert unter einem großen Regendach und blickte voll Bangen
bald an der Bergwand empor, bald in den Abgrund auf der andern Seite
hinab. Der Wald vor ihr war eine einzige brütende Nebelmasse, voll
Gespenster. Im nächsten Augenblick mußte sie mitten drin sein. Aber
immer wieder wich der Nebel zurück, mit jedem Schritt, den sie in den
Wald hineintat. Ein mächtiges Dröhnen, das immer gewaltiger wurde,
verstärkte in ihr das Gefühl, als bewege sie sich in einem
geheimnisvollen Kreis, in dem alles seine eigene Bedeutung, seinen
dunkeln Zusammenhang hatte und in dem der Mensch nichts war als ein
furchtsamer Wandersmann, der eben sehen mußte, wie er weiter kam. Das
Dröhnen rührte von den Sturzbächen her, die durch die Regengüsse zu
Riesen angeschwollen waren und nun unter Brüllen und Tosen stoßweise von
Fels zu Fels in die Tiefe sprangen. Wo der Weg ging, führten schmale
Brücken hinüber; sie sah es unter sich brodeln in den hohlen Kesseln.
Bald ging es in Krümmungen und Windungen abwärts; da und dort ein
vereinzeltes Stück Ackerland, ein paar torfbedeckte Hütten auf einem
Klumpen. Dann wieder aufwärts, dem Wald und dem Rauschen entgegen. Sie
war durchnäßt, sie fror. Aber sie wollte weiter, solang es Tag war,
weiter auch am nächsten Tag,--immer tiefer ins Land hinein, bis sie eine
Stätte fand, wo sie geborgen war. Und dazu würde er ihr helfen, er, der
Allmächtige, der sie jetzt leitete durch Dunkel und Sturm.



Achtes Kapitel


Ein mildes Spätjähr kann manchmal gerade in den fruchtbaren und
geschützten Gebirgstälern des Stiftes Bergen noch tief im Herbst die
reinsten Sommertage bringen. Da läßt man über Mittag das Vieh wieder auf
die Weide, auch wenn es schon zur Winterfütterung eingebracht ist. Und
die Tiere sind wohlgenährt und übermütig um diese Zeit und bringen, wenn
sie am Abend heimgetrieben werden, Leben genug auf den Hof.

So kamen sie gerade den Viehsteig herunter, auf ein großes Gehöft
zu--Kühe, Schafe und Ziegen, brüllend, blökend und tanzend ... als Petra
vorüberfuhr. Der Tag war hell; das lange weiße Gutshaus leuchtete mit
seinen Fenstern in der Sonne, und über dem Haus stieg das Gebirge auf,
so vollgepackt von Föhren, Birken, Faulbäumen und Ebereschen, von
Heckenrosen und allen Ausläufern, daß die Gebäude darunter wie
eingebettet lagen. Vor dem Hauptgebäude, am Weg, war ein Garten; darin
standen üppige Äpfel-, Kirsch- und Morellenbäume; und an den Wegen und
am Zaun wuchsen Stachelbeer-, Johannisbeer- und Himbeerbüsche. Über
alles hin ragten ein paar große alte Eschen mit breiten Kronen. Das Haus
sah wie ein verstecktes Nest zwischen den Ästen hervor, ein Nest, in das
niemand drang, als die Sonne. Aber gerade dieses Versteckte erregte
Petras Sehnsucht. Und weil die Sonne aus den Scheiben funkelte, und die
Herdenglocken so fröhlich lockten, und sie hörte, daß das ein Pfarrhof
sei, griff sie hurtig in die Zügel: "Halt! Hier muß ich hinein!" Und bog
seitwärts ab, am Garten entlang.

Ein paar Wolfshunde stürzten ihr wütend entgegen, als sie in den Hof
fuhr. Der Hof war ein großes, eingebautes Viereck. Dem Wohnhaus
gegenüber der Kuhstall, rechts ein Flügel des Wohnhauses, links
Waschhaus und Gesindewohnung. Der ganze Hof war gerade voll von Vieh.
Mitten unter den Tieren stand eine Dame, ziemlich groß und sehr schlank.
Sie trug ein eng anschließendes Kleid und über dem Kopf ein kleines
seidenes Tuch. Rings um sie herum und an ihr hinauf sprangen Ziegen,
weiße, braune, scheckige, schwarze, alle mit kleinen Glocken, die im
Dreiklang abgestimmt waren. Und für jede Ziege hatte sie einen
Kosenamen und einen Leckerbissen in einer Schüssel, die die Milchmagd
immer wieder füllte. Auf der niedrigen Treppe, die vom Wohnhaus auf den
Hof führte, stand der Propst mit einer Schüssel Salz, und vor der
Staffel standen die Kühe und leckten ihm das Salz aus der Hand und von
den Steinfließen, auf die er es streute, Der Propst war kein großer,
aber gedrungener Mann, mit kurzem Hals und niederer Stirn. Die buschigen
Brauen beschatteten ein Paar Augen, die nicht gern geradeaus, sondern
nur ab und zu seltsam funkelnd von der Seite blickten. Das
kurzgeschnittene dichte Haar war grau und sträubte sich nach allen
Seiten; es wuchs den Nacken hinab fast ebenso stark wie auf dem Kopf; er
trug keine Krawatte, das Hemd war mit mit einem Knopf zusammengehalten
und stand vorn offen, so daß die behaarte Brust sichtbar war; auch die
Hemdärmel waren nicht zugeknöpft und hingen lose über den kleinen
kräftigen, augenblicklich klebrigen Händen, mit denen er das Salz
austeilte. Hände und Arme waren dicht behaart. Er warf von der Seite her
einen scharfen Blick auf die fremde Dame, die da ausgestiegen war und
sich durch die Ziegen den Weg zu seiner Tochter gebahnt hatte. Was die
beiden miteinander redeten, konnte er vor dem Lärm, den Kühe, Hunde und
Schellen machten, nicht hören; aber jetzt blickten die beiden zu ihm
herüber und kamen, umringt von den Ziegen, auf die Treppe zu. Ein
Hirtenjunge trieb auf einen Wink des Propstes die Kühe fort. Und Signe,
die Tochter, rief jetzt... Petra empfand voll Behagen den Wohllaut der
Stimme: "Vater, da ist eine fremde Dame, die gern einen Tag bei uns
ausruhen möchte!"--"Sie ist mir herzlich willkommen!" rief der Propst
zurück; dann gab er das Salzfaß einer Magd und ging in sein
Studierzimmer rechts vom Hausflur, um sich zu waschen und
zurechtzumachen. Petra folgte dem Fräulein in den Hausflur, der
eigentlich ein Vorzimmer war, so hell und so geräumig war er. Der
Postjunge wurde abgelohnt, ihr Gepäck wurde ins Haus geschafft, in
einem der Studierstube gegenüberliegenden Nebenzimmer machte sie sich
ein bißchen zurecht und trat dann wieder hinaus in den Flur, um sich von
dort ins Wohnzimmer führen zu lassen.

Was für ein helles großes Zimmer! Fast die ganze Wand nach dem Garten zu
bestand aus Fenstern; das mittlere war zugleich eine Gartentür. Die
Fenster waren breit und hoch und reichten beinah bis auf den Fußboden;
aber sie standen ganz voll Blumen. Blumen auf Ständern bis tief ins
Zimmer herein, Blumen auf den Fensterbrettern, und statt der Gardinen
schlangen sich Efeuranken aus zwei kleinen Blumenhecken hoch oben am
Fensterrahmen bis auf die Erde. Und da auch draußen Sträucher und Blumen
standen, unter dem Fenster, an beiden Seiten, um die Scheiben
herumgerankt und auf dem Rasenplatz davor, so glaubte man in ein
Treibhaus zu treten, das mitten in einem Garten lag. Und doch,--kaum war
man einige Augenblicke im Zimmer, so sah man die Blumen gar nicht mehr;
man sah nur noch die Kirche, die frei auf einer Anhöhe zur Rechten lag,
und das blauschimmernde Wasser, das ihr Bild aufnahm und flimmernd
dahinströmte, bis tief in die Berge hinein, so tief, daß man nicht
wußte, war es ein Binnensee oder ein Meeresarm, der sich
hereinschlängelte. Und dann die Berge selbst! Kein einzelner Berg, nein,
ganze Ketten von Bergen, ein Bergrücken immer gewaltiger hinter dem
andern emporragend, als sei hier die Grenze der bewohnten Welt!

Als Petras Blicke sich endlich von diesem Bilde lösten, war alles im
Zimmer wie geweiht durch den Anblick da draußen; rein und anmutig
schlang es sich als ein Blumenrahmen um das großzügige Gemälde. Ihr war,
als umgebe sie ein Unsichtbares, das auf ihr Tun, auf ihr Denken Acht
hatte; ohne sich dessen bewußt zu sein, ging sie prüfend im Zimmer umher
und berührte die einzelnen Gegenstände. Da sah sie über dem Sofa an der
langen Wand dem Licht gegenüber das lebensgroße Bild einer Frau, die
auf sie herablächelte. Sie saß mit leicht geneigtem Haupt und gefalteten
Händen da; der rechte Arm ruhte auf einem Buch, dessen Rücken in
deutlichen Lettern die Inschrift: "Sonntagsbuch", trug. Blond von Haar
und licht von Farbe, strahlte sie hernieder und verlieh Sonntagsruhe
allem, was sie bestrahlte. Ihr Lächeln war Ernst, aber der Ernst war
Hingebung; es war, als ziehe sie alles und alle in Liebe an sich; denn
es war, als verstehe sie alles, weil sie in allem nur das Gute sah. Ihr
Antlitz trug das Gepräge krankhafter Zartheit; aber diese Schwäche mußte
ihre Stärke sein; denn den Menschen, der dieser Schwäche hatte wehtun
können, den gab es sicherlich nicht. Um den Rahmen hing ein
Immortellenkranz; sie war also tot.

"Das war meine Mutter!"--hörte Petra hinter sich eine sanfte Stimme
sagen; sie wandte sich um und sah die Tochter des Hauses vor sich
stehen, die vorhin hinausgegangen und jetzt wieder eingetreten war. Aber
das ganze Zimmer war fortan ausgefüllt von dem Bilde; alles leitete zu
ihm hinan, alles erhielt von ihm sein Licht, alles war nur des Bildes
wegen da, und die Tochter war sein stiller Abglanz. Ein bißchen
schweigsamer erschien die Tochter, ein bißchen zurückhaltender. Die
Mutter zog den Blick auf sich und gab ihn voll zurück; die Tochter hielt
den ihren gesenkt. Aber dabei dieselbe Klarheit, dieselbe Milde. Auch
die Gestalt der Mutter hatte sie; doch ohne eine Spur von Kränklichkeit.
Die lebhaften Farben ihres festanliegenden Kleides, ihrer Schürze, der
kleinen Krawatte, die von einer römischen Nadel zusammengehalten war,
gaben im Gegenteil ihrem Gesicht etwas Frisches und ließen eine Anmut
und einen Sinn für Anmut ahnen, die sie zur Tochter des Bildes dort oben
und zum guten Genius des Hauses stempelten. Und wie sie das Mädchen so
zwischen den Blumen der Mutter umhergehen sah, stieg eine große
Sehnsucht nach ihr in Petra auf. Im Umgang mit dieser Frau, in diesem
Hause mußte alles Gute gedeihen. Wenn sie nur Einlaß fände! Sie empfand
ihre Verlassenheit doppelt. Unverwandt folgten ihre Blicke Signe, wo
diese ging und stand; Signe fühlte es und suchte auszuweichen;
vergebens. Zuletzt wurde sie ganz verlegen und beugte sich über ihre
Blumen. Endlich wurde Petra sich ihrer Aufdringlichkeit bewußt; sie
schämte sich und hätte gern um Verzeihung gebeten. Aber etwas an diesem
sorgfältig geordneten Haar, der feinen Stirn, dem eng anliegenden Kleid
mahnte sie zur Vorsicht. Sie blickte auf zur Mutter; oh, die hätte sie
auf der Stelle umarmen können! War es nicht, als ob sie sie willkommen
hieße? Durfte sie wirklich hoffen? So hatte noch kein Mensch sie
angesehen! In diesem Blick stand geschrieben: alles weiß ich; ich kenne
dich, du Verirrte,--und ich verzeihe dir! Und sie brauchte diese
Nachsicht,--sie konnte den Blick nicht abwenden von diesen gütigen
Augen. Sie neigte das Haupt, wie die Frau auf dem Bilde, sie faltete die
Hände,--und fast ohne es selber zu wissen, wandte sie sich um: "Lassen
Sie mich hier bleiben!" Signe richtete sich auf und sah sie an; sie war
so erstaunt, daß sie gar nicht antworten konnte. "Lassen Sie mich hier
bleiben!" bat Petra wieder und ging auf sie zu. "Hier ist es schön!" Und
ihre Augen füllten sich mit Tränen.

"Ich will meinen Vater holen!" sagte das junge Mädchen. Petra folgte ihr
mit den Augen, bis sie hinter der Tür des Studierzimmers verschwunden
war. Aber sobald sie wieder allein war, überfiel sie eine Angst vor dem,
was sie getan hatte; und als sie in der Tür das erstaunte Gesicht des
Propstes sah, zitterte sie. Er trat ein, etwas sorgfältiger gekleidet
als vorhin, im Munde die Pfeife, die er mit festem Griff umklammert
hielt. So oft er den Rauch einsog, ließ er sie aus den Lippen gleiten,
und stieß dann den Rauch in drei Absätzen wieder heraus, wobei er
jedesmal leise paffte. Das wiederholte er einige Male, während er mitten
im Zimmer gerade vor Petra stehen blieb, ohne sie anzusehen, aber als
erwarte er, daß sie etwas sagen solle. Sie getraute sich nicht, diesem
Mann gegenüber ihre Bitte zu wiederholen; er sah so streng aus. "Sie
möchten hier bleiben?" fragte er und streifte sie mit einem langen,
leuchtenden Seitenblick. Die Angst verlieh ihrer Stimme etwas Bebendes.
"Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll." "Wo sind Sie her?" Petra nannte
leise ihren Geburtsort und ihren Namen. "Wie kommen Sie denn hierher?"

"Ich weiß nicht--ich möchte--ich will gern bezahlen--ich--ich weiß
nicht--" Sie wandte sich ab; eine Weile konnte sie überhaupt nicht mehr
sprechen, dann faßte sie wieder Mut und sagte: "Ich will ja alles tun,
was Sie von mir verlangen,--wenn ich bloß hier bleiben darf und nicht
weiter muß,--und nicht noch einmal ein zweites Mal bitten--" Die Tochter
war mit dem Vater wieder hereingekommen, war aber beim Kamin stehen
geblieben und fingerte dort, ohne aufzublicken, in den gedörrten
Rosenblättern herum. Der Propst erwiderte nichts. Man hörte nur sein
Pfeifenpaffen, während er abwechselnd bald Petra, bald die Tochter, bald
das Bild ansah. Nun kann ein und derselbe Gegenstand einen ganz
verschiedenen Eindruck hervorrufen. Während Petra innerlich flehte, das
Bild möge ihn günstig stimmen, schien es dem Propst, als flüstere es ihm
zu: "Schütze unser Kind! Nimm niemand Fremdes zu ihr ins Haus!" Mit
einem scharfen Seitenblick wandte er sich zu Petra und sagte: "Nein! Sie
können nicht bleiben."

Petra erblaßte, seufzte tief auf, blickte sich unsicher um und stürzte
ins Nebenzimmer, dessen Tür halb offen stand. Dort warf sie sich
kopfüber auf einen Tisch und überließ sich haltlos ihrem Schmerz und
ihrer Enttäuschung!--Vater und Tochter sahen einander an.

Solch ein Mangel an Lebensart--ohne weiteres in ein fremdes Zimmer zu
stürmen und sich einfach gehen zu lassen--das hatte wirklich nur
seinesgleichen in der Art, wie sie von der Landstraße hereingeschneit
war, gebeten hatte, hier bleiben zu dürfen, und dann, als man ihr das
abschlug, laut zu heulen anfing. Der Propst ging ihr nach, nicht um mit
ihr zu reden, sondern um die Tür hinter ihr zuzumachen. Mit feuerrotem
Gesicht kam er zurück und sagte leise zur Tochter, die noch am Ofen
stand: "Hast Du jemals so was von Frauenzimmer gesehen? Wer ist sie
denn? Was will sie?" Die Tochter antwortete nicht gleich; aber als sie
endlich antwortete, sprach sie noch leiser als der Vater: "Sie führt
sich ja freilich verdreht auf. Aber etwas Besonderes hat sie doch an
sich." Der Propst ging im Zimmer auf und ab und blickte immer wieder zur
Tür. Zuletzt blieb er stehen und flüsterte: "Sie muß nicht ganz richtig
im Kopf sein!" Und als Signe nichts erwiderte, trat er näher auf sie zu
und wiederholte bestimmter: "Sie ist verrückt, Signe. Einfach verrückt.
Das ist das Besondere an ihr!" Wieder fing er an, auf und ab zu gehen;
schließlich kam er auf andere Gedanken; und fast hatte er schon
vergessen, was er eben gesagt hatte, als die Tochter flüsternd
antwortete: "Das glaub' ich nicht. Aber sehr unglücklich muß sie sein!"
Und sie beugte sich über die welken Rosenblätter, mit denen ihre Finger
noch immer spielten. Der Klang der Stimme sowie dies Spielen hätte für
einen Fremden nichts Auffallendes gehabt; aber der Vater wurde sofort
aufmerksam. Er ging, das Bild an der Wand betrachtend, ein paarmal
durchs Zimmer und sagte endlich sehr leise: "Meinst Du, weil sie
unglücklich aussieht--würde--Mutter ihr erlaubt haben, zu
bleiben?"--"Mutter hätte mit ihrer Antwort überhaupt ein paar Tage
gewartet!" flüsterte die Tochter und beugte sich noch tiefer über die
Rosen. Die leiseste Erinnerung an sie da droben konnte, wenn die Tochter
sie ihm zu Gemüte führte, den buschigen Löwenkopf zahm machen wie ein
Lamm. Er fühlte sogleich die Wahrheit ihrer Worte und stand da wie ein
Schuljunge, der beim Lügen ertappt wird; er vergaß seine Pfeife, er
dachte nicht mehr ans Gehen, und erst nach einer langen Weile flüsterte
er: "Soll ich sie bitten, ein paar Tage bei uns zu bleiben?" "Du hast
ihr ja schon geantwortet."

"Nun ja,--aber sie ganz bei uns aufnehmen oder sie ein paar Tage
behalten,--das ist zweierlei." Auch Signe schien zu überlegen. Endlich
sagte sie: "Tu, was Du für das Beste hältst!"

Der Propst schien sich diesen Vorschlag doch noch näher zu überlegen. Er
ging wieder verschiedene Male im Zimmer auf und ab und stieß dicke
Rauchwolken aus. Endlich blieb er stehen. "Willst Du zu ihr hinein--oder
soll ich--?" "Es wird schon das beste sein, Du gehst zu ihr!" sagte die
Tochter mit einem weichen Blick.

Der Propst hatte schon die Hand an der Türklinke, als von drinnen ein
schallendes Gelächter ertönte. Dann wieder Stille--und aufs neue eine
wahre Lachsalve. Der Propst war zurückgeprallt; jetzt ging er wieder auf
die Tür los; die Tochter hinter ihm her. Das Mädchen da drin mußte krank
geworden sein.

Als die Tür aufging, sahen sie Petra noch an derselben Stelle sitzen, wo
sie sich vorhin hingeworfen hatte. Vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch,
über das sie sich, ohne zu wissen, was sie tat, hergemacht hatte. Ihre
Tränen waren auf die Blätter des Buchs gefallen und sie hatte sie
abwischen wollen. Da war ihr Blick auf einen der saftigen Ausdrücke
gefallen, deren sie sich aus den Tagen ihres Straßenjungenlebens her
noch so gut erinnerte, und die sie nie im Leben für druckfähig gehalten
hatte. Vor lauter Entsetzen vergaß sie zu weinen; saß nur und starrte in
das Buch! Um Gotteswillen ... was war denn das? Sie las weiter, mit
offenem Mund. Es wurde immer ärger, furchtbar derb, aber so
unwiderstehlich komisch, daß sie gar nicht anders konnte: sie mußte
immer weiter lesen. Und sie las, bis sie überhaupt nichts mehr wußte,
las über Kummer und Tränen, über Zeit und Raum hinweg--mit dem alten
Vater Holberg. Denn kein anderer war es als er! Sie lachte, sie
schüttelte sich vor Lachen. Und noch als der Propst und seine Tochter
schon vor ihr standen, merkte sie gar nicht, wie ernst sie waren, dachte
gar nicht mehr an ihr eigenes Anliegen, sondern lachte nur und lachte
und fragte: "Was ist denn das? Was in aller Welt ist denn das?" Und
dabei schlug sie das Titelblatt auf...

Plötzlich wurde sie blaß; sie sah zu den beiden auf, sah wieder in das
Buch, auf die wohlbekannten Schriftzüge. Es gibt Dinge, die einen ins
Herz treffen, wie eine Kugel, Dinge, von denen man sich hunderte von
Meilen entflohen wähnt, und die man auf einmal dicht vor sich sieht.
Da--auf dem ersten Blatt--stand geschrieben: "Hans Ödegaard."
Flammendrot rief sie: "Gehört _ihm_ das Buch?--Kommt _er_ hierher?" Und
sie stand auf. "Ja, versprochen hat er's", erwiderte Signe. Und Petra
entsann sich, daß er im Ausland mit einer Pastorenfamilie aus dem Stift
Bergen zusammengewesen war. Sie selbst war nur im Ring herumgefahren,
sie war geradenwegs auf ihn zugereist. "Kommt er bald? Ist er etwa gar
hier?" Sie schickte sich auf der Stelle an, davonzulaufen.--"Nein, er
ist ja doch krank", sagte Signe.--"Ach, richtig, er ist ja krank!"
wiederholte Petra schmerzlich und sank zusammen.

"Sagen Sie mal," rief Signe, "Sie sind doch nicht etwa--?" "Das
Fischermädel?" vollendete der Propst. Petra sah flehend zu ihnen auf.
"Ja, ich bin das Fischermädel", sagte sie.

Die war ihnen gar wohl bekannt; Ödegaard hatte ja von nichts anderem
gesprochen. "Das ändert freilich die Sache!" sagte der Propst; er
fühlte, hier war etwas Zerbrochenes--hier tat die Hilfe von Freunden
not. "Bleiben Sie einstweilen hier!" sagte er.

Petra sah auf; sie bemerkte den Blick, mit dem Signe ihm dankte, und das
tat ihr so wohl, daß sie zu Signe hinging, ihre beiden Hände faßte--mehr
getraute sie sich nicht--und, allerdings in Verlegenheit, sagte: "Ich
will Ihnen alles erzählen, sobald wir allein sind."

Eine Stunde später kannte Signe Petras ganze Geschichte, die sie sofort
ihrem Vater mitteilte. Auf seinen Rat schrieb sie noch am selben Tag an
Ödegaard, und damit fuhr sie fort, solange Petra bei ihnen im Hause war.

Petra aber, als sie sich an diesem Abend in den mächtigen Daunenkissen
zur Ruhe legte, in einem gemütlichen Zimmer, wo im Ofen die
Birkenscheiter knisterten und wo auf dem weißen Nachttisch zwischen den
zwei Kerzen das Neue Testament lag, griff nach dem Buch und dankte ihrem
Gott für alles, Gutes und auch Böses...

       *       *       *       *       *

Der Propst hatte als junger Mann von feuriger Seele und großer
Rednergabe den Wunsch gehabt, Geistlicher zu werden. Seine wohlhabenden
Eltern waren dagegen gewesen; sie hätten es lieber gesehen, wenn er das
gewählt hätte, was sie eine "_unabhängige_ Lebensstellung" nannten. Aber
ihr Widerstand spornte seinen Eifer noch mehr an, und als er fertig war,
ging er ins Ausland, um dort weiter zu studieren. Auf der Durchreise
lernte er in Dänemark eine Dame kennen; sie gehörte einer
Glaubensrichtung an, die ihm nicht streng genug und darum verwerflich
erschien. Er suchte ununterbrochen auf sie einzuwirken; aber die Art,
wie sie ihn dabei ansah und ihn zum Schweigen brachte, konnte er später
während seines ganzen Aufenthaltes im Ausland nicht vergessen. Als er
zurückkam, suchte er sie sogleich auf. Sie verkehrten viel zusammen und
gewannen einander immer mehr lieb, bis sie sich schließlich verlobten
und gleich darauf heirateten. Nun aber stellte es sich heraus, daß jedes
von ihnen dabei einen Nebengedanken gehabt hatte. Er hatte sich
vorgenommen, sie mit all ihrer Lieblichkeit zu sich hinüberzuziehen in
seine düstere Lehre, und sie hatte sich wie ein Kind in der Sicherheit
gewiegt, seine Kraft und Beredsamkeit für den Dienst ihrer
Glaubensgemeinschaft gewinnen zu können. Sein erster, ganz leiser
Versuch stieß auf _ihren_ ersten, ganz leisen. Enttäuscht, mißtrauisch
zog er sich zurück. Sie war klug genug, das sofort zu merken, und von
diesem Tag an lauerte er nun immer auf einen weiteren Versuch
_ihrerseits_ und sie auf einen zweiten Versuch _seinerseits_. Aber keins
von ihnen machte einen zweiten; denn beiden war angst geworden. Er hatte
Angst vor seiner eigenen leidenschaftlichen Natur, und sie hatte Furcht,
sie würde sich durch einen verfehlten Versuch jede Aussicht verscherzen,
ihn zu sich herüberzuziehen. Denn diese Hoffnung gab sie nie auf; die
war ihr zur Lebensaufgabe geworden. Nie aber kam es zum Kampf; denn wo
sie war, da gab es keinen Kampf. Irgendwie jedoch mußte er seinem
arbeitenden Willen, seiner zurückgedrängten Leidenschaft Luft machen;
und das geschah jedesmal, wenn er auf der Kanzel stand und sie unter
sich sitzen sah. Wie in einem Wirbel riß er dann die Gemeinde mit sich
fort; bald erhitzte er seine Zuhörer, bald erhitzten sie ihn. Sie sah es
mit an und ließ ihr geängstigtes Herz ausruhen in Wohltätigkeit, und
später, als sie Mutter wurde, bei ihrem Kinde, das sie in körperlichem
und geistigem innigsten Umfangen an ihren stillen Stunden teilnehmen
ließ. Da gab sie, da empfing sie, da wiegte sie ihr eigenes großes Kind
in der Unschuld des Kindes, da feierte sie ein Fest der Liebe, von dem
sie zu ihm, dem Strengen, zurückkehrte mit aller vereinten Milde des
Weibes und des Christentums; und ihm war es dann natürlich nicht
möglich,--etwas zu sagen, was nicht liebreich gewesen wäre. Er _mußte_
sie ja lieben, über alles auf der Welt, aber um so schmerzlicher war es
ihm, um so heftiger blutete ihm das Herz, daß er ihr nicht helfen konnte
bei ihrer Seele Seligkeit. Mit dem stillschweigenden Recht der Mutter
entzog sie auch das Kind seiner religiösen Unterweisung. Die Liedchen
des Kindes, die Fragen des Kindes wurden ihm bald eine neue und tiefe
Quelle des Schmerzes. Und hatte ihn dann auf der Kanzel seine
leidenschaftliche Gemütsbewegung bis zur Härte aufgestachelt, so
begegnete ihm, wenn sie miteinander heimgingen, sein Weib nur mit um so
größerer Milde; die Augen redeten; der Mund redete nie ein Wort. Und die
Tochter nahm seine Hand und sah zu ihm auf mit Augen, die die Augen der
Mutter waren.

Über alles wurde gesprochen in diesem Hause, nur über das eine nicht,
das die Wurzel ihres ganzen Denkens war. Aber eine so aufreibende
Spannung war auf die Dauer nicht zu ertragen. Wohl lächelte die Frau
noch; aber nur, weil sie nicht wagte, zu weinen. Als die Zeit
herannahte, wo die Tochter zur Einsegnung vorbereitet werden sollte, und
er sie also kraft seines Amtes jetzt ebenso stillschweigend in seine
Richtung hätte hinüberziehen können, wie die Mutter sie seither in der
ihren gehalten hatte, da stieg die Spannung bis aufs äußerste. Und nach
dem Sonntag, an dem die Namen der Konfirmanden von der Kanzel verlesen
waren, wurde die Mutter krank; etwa so, wie man sonst müde wird.
Lächelnd sagte sie, sie könne nicht mehr gehen; und ein paar Tage
darauf--noch immer lächelnd--sie könne nicht mehr sitzen. Die Tochter
wollte sie immer um sich haben, obgleich sie nicht mehr mit ihr reden
konnte; sehen konnte sie ihr Kind doch wenigstens. Und die Tochter
wußte, was die Mutter am liebsten mochte. Sie las ihr vor aus dem Buch
des Lebens, sie sang ihr die Choräle ihrer Kinderzeit, die neuen,
lebenswarmen ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft vor. Der Propst konnte
lange nicht fassen, was sich hier vorbereitete; aber als er es endlich
begriff, da verlor er jede Richtschnur; nur ein Wunsch beherrschte ihn
noch: sie noch einmal zu sich reden, sie nur ein paar Worte noch sagen
zu hören. Aber sie hatte nicht mehr die Kraft; sprechen konnte sie nicht
mehr. Er stand am Fußende des Bettes und sah sie an und flehte. Und sie
lächelte ihm zu, bis er auf die Knie fiel und die Hand der Tochter nahm
und sie in die Hand der Mutter legte, als wollte er sagen: "Da, behalte
sie! Bei Dir soll sie bleiben in alle Ewigkeit!" Und da lächelte sie,
wie sie noch nie gelächelt hatte; und in diesem Lächeln verschied sie.

Lange Zeit schloß sich der Propst von allem Umgang ab. Ein anderer
übernahm die Sorge für die Gemeinde; er selber wanderte von Zimmer zu
Zimmer, von Ort zu Ort, als suche er etwas. Er trat leise auf; wenn er
sprach, sprach er mit gedämpfter Stimme; und nur dadurch, daß sie ganz
auf diese stille Art einging, vermochte die Tochter allmählich wieder
einen Verkehr mit ihm herzustellen. Jetzt half sie ihm suchen. Jedes
Wort der Mutter wurde wieder hervorgeholt; alles, was sie gewollt hatte,
wurde zur Richtschnur, nach der sie fortan lebten. Das Zusammenleben der
Mutter mit der Tochter, bei dem der Vater bisher außen gestanden hatte,
wurde jetzt erst so recht durchlebt. Vom ersten Augenblick an, dessen
sie sich als Kind entsinnen konnte, wurde alles wieder vorgenommen; ihre
Lieder wurden gesungen, ihre Gebete gebetet; die Predigten, die sie am
liebsten gehört hatte, wurden eine nach der anderen vorgelesen, und alle
ihre Worte und Auflegungen treulich ins Gedächtnis zurückgerufen. Also
in Wirksamkeit gesetzt, empfand er bald das Verlangen, das Land
wiederzusehen, wo er sie gefunden hatte, um auch dort auf dieselbe Weise
ihren Spuren nachzugehen. Sie gingen auf Reisen. Und dadurch, daß er so
ihr ganzes Leben ungeteilt in sich aufnahm, gesundete er wieder. Ihm,
der selbst wieder Anfänger wurde, ging der Sinn auf für alles um ihn
her, was da in seinen Anfängen lag,--für die großen nationalen, für die
kleineren politischen Ideen: und das gab ihm ein Stück seiner eigenen
Jugend wieder. Seine Kräfte kamen zurückgeströmt, und mit ihnen all die
heißen Hoffnungen von ehedem. Jetzt wollte er das Wort Gottes verkünden,
und zwar so, daß es zum Leben vorbereitete und nicht nur zum Tode!

Doch bis er sich wieder mit dieser seiner neuen geliebten Tätigkeit in
seiner Bergheimat einschloß, wünschte er noch einen weiteren, tieferen
Blick in das zu tun, was draußen sich regte. So waren sie also noch
weiter in der Welt herumgefahren, und lebten jetzt ihren großen
Erinnerungen.

Unter diesen Menschen lebte Petra.



Neuntes Kapitel


Drei Jahre später, an einem Freitag kurz vor Weihnachten, saßen die
beiden jungen Mädchen in der Dämmerstunde beisammen. Eben war der
Propst mit seiner Pfeife eingetreten. Der Tag war verflossen, wie so
ziemlich jeder Tag dieser letzten zwei Jahre--morgens ein Spaziergang,
nach dem Frühstück eine Stunde Musizieren, Klavierspiel und Gesang,
darauf Sprach- und anderer Unterricht und zuletzt ein bißchen
Haushaltungsarbeit. Nachmittags beschäftigte jeder sich auf seinem
Zimmer; Signe heute gerade wieder mit einem Brief an Ödegaard, nach dem
Petra übrigens niemals fragte, wie sie überhaupt niemals von der
Vergangenheit hören mochte. In der Dämmerung waren sie Schlitten
gefahren, und jetzt saß man zusammen, um zu plaudern oder zu singen oder
später vorzulesen. Dazu fand sich der Propst stets ein. Er las
ausgezeichnet, und ebenso Signe. Petra lauschte beiden ihre Art und
Weise und besonders ihre Aussprache ab. Signes Aussprache und Tonfall
hatten für ihr Ohr einen solchen Wohllaut, daß es noch, wenn sie allein
war, in ihr nachklang. Überhaupt schwärmte Petra so für Signe, daß ein
Mann schon den vierten Teil für die glühendste Liebe gehalten hätte;
Signe wurde auch oft ganz rot dabei. Bei diesen abendlichen
Vorlesungen--Petra selbst war nie zum Lesen zu bewegen--hatte man die
Hauptdichter der norwegischen Literatur durchgenommen und war nach und
nach weiter in die große Weltliteratur geraten. Am liebsten lasen sie
dramatische Werke. Eben als man die Lampen anzünden und anfangen wollte,
kam die Köchin herein und sagte, draußen sei jemand, der Petra einen
Gruß ausrichten wolle. Es stellte sich heraus, daß es ein Matrose aus
ihrer Vaterstadt war, den ihre Mutter beauftragt hatte, Petra
aufzusuchen, da er zufällig in die Gegend kam. Er war über eine Meile zu
Fuß gewandert und mußte schleunigst wieder umkehren, weil sein Schiff
gleich darauf unter Segel ging. Petra begleitete ihn ein Stück, um ein
bißchen länger mit ihm zu plaudern; er war ein ehrlicher Mensch, den sie
von früher her kannte. Der Abend war ziemlich finster; auch auf dem
Pfarrhof waren alle Fenster dunkel, außer im Waschhaus, wo große Wäsche
war. Auf der Landstraße war kein einziges Licht zu sehen, kaum daß man
den Weg selbst sah; denn der Mond hatte sich noch nicht über die Berge
emporgeschlängelt. Trotzdem ging Petra tapfer mit, sogar bis in den Wald
hinein, obwohl es zwischen den Bäumen unheimlich düster war. Besonders
eine Nachricht hatte sie interessiert. Der Matrose hatte ihr nämlich
erzählt, Pedro Ohlsens Mutter sei gestorben, und er habe sein Haus
verkauft und sei hinaufgezogen zu Gunlaug, wo er in Petras Giebelstube
hause. Das war nun schon fast zwei Jahre her, und dabei hatte die Mutter
dies mit keinem Wort erwähnt. Jetzt endlich ging Petra ein Licht auf,
wer die Briefe für die Mutter schrieb; vergebens hatte sie sie immer
wieder danach gefragt; denn in jedem Brief stand am Schluß: "Auch einen
Gruß von dem, der den Brief geschrieben hat." Der Matrose war von der
Mutter beauftragt, zu fragen, wie lange Petra noch im Pfarrhause bleiben
wolle und was für Absichten sie für später habe. Auf die erste Frage
antwortete Petra, das wisse sie nicht, und als Erwiderung auf die zweite
Frage ließ sie der Mutter sagen, es gäbe in der Welt nur eins, was sie
gern möchte, und wenn sie das nicht werden könne, so sei sie unglücklich
fürs ganze Leben; sie könne aber vorläufig noch nicht sagen, was es sei.

Während Petra mit dem Matrosen schwatzte, saßen der Propst und Signe im
Wohnzimmer und sprachen von Petra, an der sie beide ihre Herzensfreude
hatten. Da kam der Großknecht herein, und nachdem er den Tagesbericht
erstattet hatte, fragte er, ob die Herrschaft eigentlich wisse, daß die
fremde Jungfer nachts an einer Strickleiter aus ihrem Fenster und wieder
hinauf klettere. Er mußte es dreimal wiederholen, bis einer von den
beiden begriff, was er da sagte; er hatte ebensogut erzählen können, sie
klettere an den Mondstrahlen auf und ab. Es war dunkel im Zimmer, und
jetzt wurde es ganz still; nicht einmal des Propstes Pfeife war zu
hören. Endlich fragte der Propst mit einem gewissen dumpfen Klang in der
Stimme: "Wer hat das gesehen?"--"Ich hab's gesehen. Ich war gerade auf
und fütterte die Pferde; es mag wohl so um eins 'rum gewesen sein."--"An
einer Strickleiter ist sie hinuntergeklettert?"--"Und wieder
hinauf."--Abermals lange Pause. Petras Zimmer lag im Oberstock,--das
Eckzimmer, das auf die Einfahrt hinausging. Sie war die einzige, die
oben schlief; niemand außer ihr wohnte nach dieser Seite zu. Ein
Mißverständnis konnte also nicht obwalten. "Sie wird's im Schlaf getan
haben", sagte der Knecht und wollte sich davonmachen.--"Aber die
Strickleiter--die kann sie doch nicht im Schlaf gemacht haben", sagte
der Propst. "Das dacht' ich mir eben auch; und darum sagt' ich mir: es
wird schon das beste sein, ich sag's dem Hausvater; sonst hab' ich
keinem davon gesagt."--"Hat es außer Dir noch jemand gesehen?"--"Nein;
aber wenn der Hausvater mir nicht glaubt, so muß die Strickleiter mein
Zeuge sein; wenn sie die nicht oben liegen hat, dann werd' ich ja wohl
falsch gesehen haben."--Der Propst stand sogleich auf. "Vater!" bat
Signe. "Mach' Licht!" antwortete der Propst in einem Ton, der keinen
Widerspruch zuließ. Signe zündete selbst das Licht an. "Vater!" bat sie
noch einmal, als sie es ihm reichte. "Solange sie in meinem Hause ist,
bin ich auch ihr Vater. Es ist meine Pflicht, die Sache zu untersuchen."
Der Propst ging mit dem Licht voran. Signe und der Großknecht
hinterdrein. In dem kleinen Zimmer war alles in Ordnung; nur auf dem
Nachttisch lag ein ganzer Stapel von Büchern, das eine aufgeschlagen
über dem andern. "Liest sie des Nachts?"--"Ich weiß nicht; aber vor eins
macht sie nie das Licht aus." Der Propst und Signe sahen einander an. Um
zehn, halb elf abends ging man im Pfarrhaus auseinander, und um sechs,
sieben Uhr versammelte man sich morgens. "Weißt Du davon?" Signe
antwortete nicht. Aber der Großknecht, der in einer Ecke kniete und
kramte, sagte: "Sie ist doch nicht allein."--"Was sagst Du da?"
"Freilich, es ist immer einer bei ihr, mit dem sie redet; manchmal
machen sie einen Heidenlärm; ich hab' oft gehört, wie sie gebettelt und
gedroht hat. Wahrscheinlich hat irgendein Kerl sie in seiner Gewalt, das
arme Wurm!" Signe wandte sich ab; der Propst war totenblaß geworden.

"Und da ist auch die Leiter", fuhr der Großknecht fort. Er zog sie
hervor und stand auf. Zwei Wäscheleinen, zusammengehalten durch eine
dritte, die an die eine geknotet war, dann quer zur anderen hinüberlief,
dort ebenfalls festgeknotet war und so, in der Breite von etwa einer
halben Elle, stufenweise fort, bis die Leiter fertig war. Alle
betrachteten sie aufmerksam. "War sie lange fort?" fragte der Propst.
Der Großknecht sah ihn an. "Wie denn fort?"--"Ich meine, ob sie lange
fortblieb, nachdem sie die Leiter hinuntergeklettert war?" Signe
zitterte vor Angst und Kälte. "Sie ist doch gar nicht weggegangen; sie
ist gleich wieder hinaufgeklettert."--"Wieder hinauf? Wer ist denn
weggegangen?"--Signe machte eine Bewegung und brach in Tränen aus. "Den
Abend war keiner da; das ist gestern gewesen."--"Also war sonst keiner
auf der Strickleiter? Bloß sie?"--"Ja, sonst keiner."--"Und sie ist
hinuntergeklettert und gleich wieder hinauf?"--"Ja."--

"Sie hat sie also nur probieren wollen", sagte der Propst und es war,
als atme er ein bißchen erleichtert auf. "Jawohl, bis sie jemand anders
dran 'raufklettern läßt", fügte der Knecht hinzu. Der Propst sah ihn an.
"Du meinst, dies wäre nicht die erste, die sie gemacht hat?"--"Nein. Wie
sollte denn sonst jemand zu ihr herauf kommen?"--"Hast Du schon lange
gewußt, daß jemand zu ihr kommt?"--"Erst seit diesem Winter, als sie
immer so spät in die Nacht hinein Licht hatte; vorher ist mir's nie
eingefallen, nachzusehen." Der Propst fragte streng: "Also den ganzen
Winter hast Du es schon gewußt? Weshalb hast Du mir's nicht schon eher
gesagt?"--"Ich hab' geglaubt, es wär' jemand vom Haus, der bei ihr sei.
Aber wie ich sie gestern Nacht auf der Leiter sah, da kam ich erst
drauf, daß es jemand anders sein müsse."--"Ja, es ist leider kein
Zweifel--sie hat uns alle getäuscht." Signe blickte flehend auf. "Sie
müßte vielleicht nicht so weit weg von den andern schlafen", meinte der
Großknecht, während er die Strickleiter zusammenwickelte. "Sie sollte
eigentlich überhaupt nicht mehr in diesem Hause schlafen!" sagte der
Propst und ging. Die anderen folgten ihm. Aber als sie wieder unten
waren, und er das Licht hingestellt hatte, warf Signe sich an seine
Brust. "Ja, mein Kind, das ist eine arge Enttäuschung!"

Eine Weile darauf saß Signe in der Sofaecke, ihr Taschentuch vor die
Augen gepreßt; der Propst hatte seine Pfeife angesteckt und ging unruhig
auf und ab. Da hörten sie aus der Küche ein Geschrei, ein hastiges
Laufen auf der Treppe und Getrappel oben im Flur. Sie eilten beide
hinaus. In Petras Zimmer brannte es. Von der Kerze war ein Funken in die
Ecke gefallen--denn dort war das Feuer entstanden--hatte sich im Nu die
Tapete entlang gefressen, das Holzwerk am Fenster erreicht, und dort
hatte ein Vorübergehender es bemerkt und war sofort ins Waschhaus
gerannt, wo die Mägde bei der Wäsche waren. Das Feuer war bald gelöscht.
Aber auf dem Lande, wo alles jahraus, jahrein seinen gleichmäßigen Gang
geht, bringt die geringste Störung die Gemüter in Aufruhr. Das Feuer ist
ihr schlimmster und gefährlichster Feind, an den sie beständig denken,
und wenn er wirklich eines Nachts kommt, sein Haupt aus dem Abgrund
emporreckt und mit gierigen Zungen zischend nach Beute leckt, da erbebt
alles und findet wochenlang keine Ruhe mehr, ja, manche ihr ganzes Leben
lang nicht mehr.

Als der Propst und seine Tochter wieder im Wohnzimmer waren, wo jetzt
die Lampen brannten, da war es beiden ganz unheimlich zumute, daß
Petras Zimmer so rasch geräumt und jede Erinnerung an sie verbrannt war.
Im selben Augenblick hörten sie Petras klare Stimme fragen und rufen;
sie sprang die Treppe hinauf und wieder herunter, lief vom Boden in den
Hausflur, vom Flur in die Küche und kam dann, noch in Hut und Mantel, in
die Wohnstube gestürmt. "Gott, es hat ja in meinem Zimmer gebrannt!"
Niemand antwortete; aber sie fuhr in einem Atem fort: "Wer ist oben
gewesen? Wann ist es denn geschehen? Wie ist das Feuer ausgekommen?" Er
selbst sei oben gewesen, antwortete jetzt der Propst, er habe etwas
gesucht; dabei sah er sie scharf an. Aber Petra verriet nicht durch das
mindeste Zeichen, daß sie dabei etwas Auffallendes finde, zeigte auch
keinerlei Besorgnis, daß man irgend etwas gefunden haben könne. Sie
schöpfte nicht einmal Verdacht, als Signe gar nicht von ihrer Sofaecke
aufblicken wollte. Sie glaubte, es sei noch der Schreck vom Brande her,
und fragte in einem fort, wie es entdeckt und gelöscht worden sei, wer
es zuerst gesehen habe, und als ihr nicht rasch genug Bescheid wurde,
stürzte sie wieder hinaus, wie sie hereingekommen war. Bald kam sie
wieder dahergestürmt, diesmal ohne Hut und Mantel, und erzählte dem
Propst und Signe, wie alles zugegangen und daß sie selber den
Feuerschein gesehen und furchtbar schnell gelaufen sei; aber jetzt sei
sie nur froh, daß es nicht schlimmer sei. Währenddem legte sie vollends
ab, trug die Sachen hinaus, kam wieder herein und setzte sich auf ihren
Platz am Tisch, ununterbrochen berichtend, was der gesagt und jener
getan hatte; das ganze Haus stand ja auf dem Kopf, und das machte ihr
den größten Spaß. Als die andern immer noch stumm blieben, klagte sie,
daß ihnen nun der ganze Abend verdorben sei; sie hätte sich doch so
schrecklich auf "Romeo und Julia" gefreut, was sie eben lasen; gerade
heut abend habe sie Signe bitten wollen, die Szene, die ihr am besten
gefiele vom ganzen Stück, nämlich Romeos Abschied von Julia auf dem
Balkon, noch einmal zu lesen. Mitten in ihrem Redestrom erschien ein
Mädchen aus der Waschküche, um zu sagen, es fehlten Wäscheleinen; ein
ganzes Bund sei fortgekommen. Petra wurde puterrot und sprang auf: "Ich
weiß, wo sie sind; ich hole sie." Sie machte ein paar Schritte auf die
Tür zu; da fiel ihr der Brand ein; sie blieb stehen und errötete noch
tiefer: "Ach Gott, die sind gewiß verbrannt! Sie lagen in meinem
Zimmer!" Signe hatte sich nach ihr umgewandt; der Propst blickte sie von
der Seite durchdringend an. "Wozu brauchst Du denn Wäscheleinen?" Sein
Atem flog; er konnte kaum sprechen. Petra sah ihn an; sein furchtbarer
Ernst machte ihr beinahe Angst; im nächsten Augenblick jedoch reizte er
sie zum Lachen. Ein paar Sekunden kämpfte sie dagegen an, aber als sie
ihn dann noch einmal ansah, brach sie in ein so herzhaftes Gelächter
aus, daß sie überhaupt nicht mehr aufhören konnte; von bösem Gewissen
war darin so wenig wie in einem rieselnden Bach. Signe hörte das am
Klang und schnellte vom Sofa auf: "Was ist denn? Was ist denn?" Petra
wandte sich ab, lachte, hüpfte, duckte sich und wollte zur Tür hinaus.
Aber Signe vertrat ihr den Weg: "Was ist es, Petra? So rede doch!" Petra
versteckte sich hinter ihr, als wolle sie sich ganz verkriechen, lachte
aber immer weiter, ganz maßlos. Nein, so benimmt sich die Schuld nicht,
das wurde doch auch jetzt dem Propst klar. Und er, der noch eben auf dem
Sprung gewesen war, sich in ein Toben der Wut hineinzusteigern, stürzte
sich statt dessen kopfüber ins Lachen; und Signe mit ihm. Nichts in der
Welt ist so ansteckend, wie Lachen, und vor allem ein Lachen, das so
ganz unfaßlich ist. Die vergeblichen Versuche, die bald der Propst, bald
Signe machten, zu ergründen, worüber sie eigentlich lachten, steigerte
die Heiterkeit bis ins Ausgelassene. Die Magd, die noch immer wartete,
fing zuletzt ebenfalls an, mitzuwiehern; sie hatte das sonderbare
Grubenlachen, das immer wie ein Aus-der-Tiefe-Emporwinden und -Keuchen
klingt; und da sie selber fühlte, daß es nicht recht unter so feine
Möbel und Menschen paßte, machte sie, daß sie zur Tür hinauskam, um in
der Küche erst recht loszuplatzen. Natürlich steckte sie die draußen
auch an; bald wälzte sich eine wahre Sturmflut von Gelächter auch zur
Küche heraus, in der man noch weniger wußte, worüber man eigentlich
lachte, und das entfachte wiederum das Gelächter im Zimmer aufs neue.

Schließlich, als alle schon ganz krank vor Lachen waren, machte Signe
einen letzten Versuch, endlich hinter die Ursache dieser Heiterkeit zu
kommen. "Jetzt aber mußt Du's mir sagen!" rief sie und hielt Petra bei
den Händen fest. "Nicht um alles in der Welt!"--"Ach Du, ich weiß schon,
was es ist!" rief Signe wieder. Petra sah sie an und schrie auf; aber
Signe rief: "Und Vater weiß es auch!" Diesmal schrie Petra nicht mehr;
sie brüllte und riß sich los, kam auch glücklich bis zur Tür; aber da
erwischte Signe sie wieder. Petra drehte sich um, um mit ihr zu ringen;
sie wollte fort, um jeden Preis. Sie lachte, während sie miteinander
kämpften; aber an ihren Wimpern hingen Tränen. Da ließ Signe sie los.
Petra stürzte hinaus, Signe hinter ihr drein, und beide verschwanden in
Signes Zimmer. Dort fiel Signe Petra um den Hals, und die umschlang sie
mit beiden Armen. "O Gott, so wißt Ihr es?" flüsterte sie. Und Signe
flüsterte zurück: "Ja, wir waren oben mit dem Großknecht; er hat Dich
gesehen. Und wir haben die Strickleiter gefunden!" Abermaliges
Aufschreien und abermalige Flucht; aber diesmal bloß in die Sofaecke, wo
sie sich versteckte; gleich war Signe bei ihr, und sich halb über sie
neigend, berichtete sie Petra flüsternd von der ganzen Entdeckungsreise
samt ihren brenzlichen Folgen. Was sie vor kurzem noch Tränen der Angst
gekostet hatte, erschien ihr jetzt so komisch, daß sie es voller Humor
erzählte. Petra hörte, hielt sich die Ohren zu, blickte auf und
versteckte sich wieder. Als Signe fertig war und beide wieder im Dunkeln
nebeneinandersaßen, flüsterte Petra: "Weißt Du, was ich gemacht hab'?...
Ich kann unmöglich schon um zehn Uhr, wenn wir auf unser Zimmer gehen,
schlafen; dazu hat das, was wir gelesen haben, noch viel zu viel Macht
über mich. Und so lern' ich es auswendig; alles, was mir am besten
gefällt. Ganze Szenen kann ich auswendig; und die sag' ich ganz für mich
laut her. Als wir 'Romeo und Julia' lasen, da hatte ich das Gefühl, als
gäb' es überhaupt auf der ganzen Welt nichts Schöneres; rein toll und
verrückt war ich ... ich _mußte_ die Sache mit der Strickleiter
probieren; nie ist mir vorher der Gedanke gekommen, daß man an einer
Strickleiter auf- und abklettern kann. Ich erwischte ein paar
Wäscheleinen... Und dabei steht der Spitzbub unten und guckt mir zu!...
Ja, es ist gar nicht zum Lachen, Du! Schrecklich unweiblich ist es. Ich
bleib' überhaupt mein Lebtag ein Junge! Und natürlich bin ich morgen das
Gespött der ganzen Nachbarschaft!" Aber Signe, die aufs neue in einen
Lachkrampf geraten war, fiel mit Küssen und Streicheln über sie her und
stürzte dann davon: "Das muß ich Vater erzählen!"--"Bist Du verrückt,
Signe?" Und so kamen sie, eine nach der andern, wieder ins Zimmer
gestürmt, wie sie hinausgestürzt waren. Fast rannten sie den Propst über
den Haufen, der gerade hinaus wollte, um zu sehen, was aus den beiden
geworden war. Signe fing zu erzählen an, Petra schrie auf und stürzte
wieder hinaus, wobei ihr dann einfiel, daß sie gerade hätte bleiben
müssen, um Signe am Erzählen zu verhindern. Also wollte sie wieder
hinein; aber der Propst hielt die Tür zu. Keine Möglichkeit, sie zu
öffnen. Sie trommelte mit beiden Fäusten dagegen, sie sang, sie
trampelte mit den Füßen, um Signe zu übertäuben, die nur umso lauter
sprach; und als der Propst endlich alles gehört und ebenso herzlich und
lustig wie Signe über diese neue Methode, Klassiker zu lesen, gelacht
hatte, machte er die Tür auf; aber nun rannte Petra davon.

Nach dem Abendessen, zu dem Petra sich wieder eingestellt hatte, und bei
dem sie vom Propst reichlich geneckt worden war, sollte sie zur Strafe
alles aufsagen, was sie auswendig konnte. Und da zeigte es sich, daß
sie wirklich alle die berühmtesten Szenen kannte; nicht bloß eine Rolle
darin, sondern alle. Sie sagte sie her, als ob sie sie abläse; manchmal
war es, als wolle sie Feuer fangen; aber sofort dämpfte sie es wieder.
Kaum merkte das der Propst, als er auch schon mehr Ausdruck verlangte;
aber sie wurde nur immer scheuer. Stundenlang ging das so weiter; sie
konnte alle komischen Szenen und alle tragischen, neckische und
ernsthafte. Ihr Gedächtnis war zum Bewundern und zum Lachen; sie selber
lachte mit und verlangte, man solle sie nur weiter examinieren.

"Man könnte wirklich wünschen, die armen Schauspieler hätten bloß den
zehnten Teil Deines Gedächtnisses!" sagte Signe.--"Gott verhüte, daß sie
je Schauspielerin wird!" versetzte der Propst und wurde plötzlich ernst.
"Aber, Vater! Wie kannst Du glauben, daß Petra an so was denkt!"
erwiderte Signe lachend. "Ich kam bloß zufällig darauf, weil ich immer
wieder gefunden habe, daß ein Mensch, der von Jugend auf sozusagen
aufwächst mit der Poesie seiner Sprache, nie das Verlangen hat, zur
Bühne zu gehen. Während einer, der nie viel gewußt hat von Poesie, bis
er erwachsen ist, dafür schwärmt. Die so ganz plötzlich erwachte
Sehnsucht ist es, die ihn verführt."--"Gewiß ist das wahr", versetzte
der Propst. "Ein wirklich gebildeter Mensch geht wohl selten zur
Bühne."--"Und noch seltener ein poetisch Gebildeter."--"Freilich. Und
wenn es geschieht, so spielt irgendein Mangel an Charakter mit, der
Eitelkeit und Leichtsinn die Oberhand gewinnen läßt. Ich habe viele
Schauspieler gekannt, in meiner Studienzeit und auf Reisen; aber einen
Schauspieler, der ein echt christliches Leben geführt hätte, den hat
wohl noch kein Mensch gesehen. Zur Religion hingezogen können sie sich
fühlen; das hab' ich selbst erlebt. Aber es ist in ihrem Beruf zu viel
Unruhiges, Aufreibendes; sie können sich nicht konzentrieren, auch wenn
sie schon längst die Bühne verlassen haben. So oft ich auch mit einem
darüber gesprochen habe--jeder hat es zugegeben und es beklagt; aber
gleich darauf hieß es: Wir müssen uns eben damit trösten, daß wir auch
nicht schlimmer sind als wer weiß wie viele andere! Bloß, daß man das
einen schlechten Trost nennen muß. Ein Leben, das sich nach keiner
Richtung hin auf den Christen in uns aufbaut, das ist ein sündiges
Leben.--Der Herr helfe ihnen und bewahre jedes reine Herz vor ihnen!"

       *       *       *       *       *

Am Tag darauf, es war Sonnabend, war der Propst wie gewöhnlich schon vor
sieben Uhr auf, machte seine Morgenrunde zu seinen Arbeitern und noch
ein bißchen weiter hinaus und kam heim, als es eben hell werden wollte.
Da sah er, gerade als er am Hause vorbei in den Hof einbiegen wollte, an
der Erde etwas wie ein aufgeschlagenes Schreibheft, das man
wahrscheinlich gestern aus Petras Fenster geworfen und nicht wieder
gefunden hatte, weil es dieselbe Farbe hatte wie der Schnee. Er hob das
Heft auf und ging damit in sein Studierzimmer. Als er es
auseinanderklappte, um es zu trocknen, sah er, daß es ein
verabschiedetes französisches Aufsatzheft war, in das jetzt Verse
geschrieben waren. Es fiel ihm gar nicht ein, die Verse zu lesen; da
fiel sein Blick auf das Wort "Schauspielerin", das an allen Ecken und
Enden, kreuz und quer geschrieben stand,--auch in den Versen stand es
da. Er setzte sich ordentlich hin, um sich die Sache genauer anzusehen.
Nach allerhand Ansätzen und durchstrichenen Zeilen fand er folgende
Reimerei, die trotz vieler Verbesserungen zu entziffern war:

    Eines, du Trauter, bekenn' ich dir still,
    Und das ist, was ich werden will.
    Schauspielerin, das möcht' ich werden,
    Zeigen der Welt in Wort und Gebärden
    Möcht' ich die Frau, wie sie lacht vor Spott,
    Leidet und liebt und betet zu Gott,
    Wie sie ist, wenn sie reizend blickt,
    Wie sie ist, wenn in Sünde verstrickt.
    Vater im Himmel, ach, hilf mir zu werden,
    Was mein einziger Wunsch auf Erden!

Und ein bißchen weiter unten:

    Darf ich denn, o Gott, nicht sein dein eigen?
    Willst du nicht Erhörung mir bezeigen?

Dann, wahrscheinlich als Randglosse zu einer Dichtung, die sie vor ein
paar Monaten gelesen hatten:

    O, zu gehn nach Elfenweise,
      Elfenweise,
    Mondenschein und Nebelkreise,
      Nebelkreise,
    Vorwärts huschen, rückwärts rauschen,
      Rückwärts rauschen,
    Töten den, der sucht zu lauschen,
      Sucht zu lauschen--
    Nein, 's war' sündhaft, lirum, larum, la!

Und nach unzähligen Änderungen, Streichungen, Kritzeleien und Noten:

      Hopsasa,--hopsasa,
    Tanzen mit allen, doch niemals gefangen!
      Tralala,--tralala,
    Stets Nummer eins, doch an niemandem hangen.

Dann, deutlich und sauber, folgender Brief:



  Mein Herzens-Heinrich!

Deucht Dich nicht, daß Du und ich die Weisesten sind in der ganzen
Comoedia? Wohl tuet man uns großen Verdruß an, hat aber nichts zu sagen.
Ich _engrassiere_ Dich, mich morgen abend auf die mascarade zu führen;
denn ich war noch niemals auf solcher, und mich verlangt nach einer
rechten Narretei; hier im Hause ist es gar still und trübselig!

Du bist ein rechter Schelm, Heinrich--wo schwärmst Du wieder umher?
Ach, hier sitzt einsam

  Deine Pernille.



Endlich stand da, mit großen Buchstaben, deutlich und mehrmals
wiederholt, folgende Strophe, die sie irgendwo aufgestöbert haben mußte
und hatte auswendig lernen wollen:

    Ach, dem Großen gilt mein Drängen;
    Schier die Brust will mir's zersprengen.
    Höchstes Denken kühn zu wagen,
    Kraft, um's kraftvoll vorzutragen,
    Die verborgnen Quellen finden,
    Balder lösen, Loke binden--
    Dies in deiner Gnade gib
    Du, der mir verlieh den Trieb!

Noch vieles andere stand da; aber der Propst las nicht weiter.

Also um Schauspielerin zu werden, war sie in sein Haus gekommen und
hatte sich von seiner Tochter unterrichten lassen. Um dieses heimlichen
Zieles willen hatte sie Abend für Abend so begierig gelauscht und
nachher selber auswendig gelernt. Zum besten gehabt hatte Petra sie die
ganze Zeit. Noch gestern, da sie ihnen alles zu offenbaren schien, hatte
sie etwas verheimlicht; während sie am herzlichsten lachte, hatte sie
gelogen.

Und dieses heimliche Ziel! Was der Propst so oft in ihrer Gegenwart
verdammt hatte, schmückte sie zu einem göttlichen Beruf aus und wagte,
Gott um seinen Segen dazu zu bitten! Ein Leben voller Äußerlichkeit und
Eitelkeit, voll Eifersucht und Leidenschaft, voll Trägheit und
Sinnlichkeit, voll Lüge und zunehmender Charakterlosigkeit, das alle
Geier umkreisten wie ein Aas,--einem solchen Leben sich zu weihen, das
war ihr Sehnen, das ihr Gebet zu Gott! Und dazu sollten er und sein Kind
ihr verholfen haben, hier, in ihrem stillen Pfarrhause, unter der
strengen Obhut einer erweckten Gemeinde.

Als Signe eintrat, klar, leicht wie der Wintermorgen, um dem Vater
guten Tag zu sagen, fand sie das Studierzimmer ganz voll Rauch. War dies
schon immer ein Zeichen von Gemütsverstimmung, so war es das doppelt so
früh am Morgen. Er sagte auch kein Wort, sondern gab ihr nur das Heft.
Sie sah sogleich, daß es Petra gehörte. Die Erinnerung an den Verdacht
und den Kummer von gestern abend durchzuckte sie; sie mochte gar nicht
hineinsehen; ihr Herz klopfte so heftig, daß sie sich setzen mußte. Doch
dasselbe Wort, das der Propst zuerst wahrgenommen hatte, fiel auch ihr
auf, sprang auch ihr in die Augen; sie mußte näher hinsehen; und dann
las sie. Ihr erstes Gefühl war Scham, nicht für Petra, sondern weil der
Vater das auch gelesen hatte.

Bald aber empfand sie die tiefe Demütigung, die darin liegt, sich von
jemand, den man lieb hat, getäuscht zu sehen. Einen Augenblick will uns
der Mensch, der das fertig gebracht hat, größer, klüger, erfinderischer
als wir erscheinen, ja, er streift geradezu ans Geheimnisvolle. Bald
aber sammelt sich die Seele wieder in Empörung; die Ehrlichkeit gewinnt
Macht durch Kräfte, die, wenn auch unsichtbar, doch nicht geheimnisvoll
sind; man fühlt in sich die Stärke, mit einem Schlag hundert kleinliche
Ausflüchte zu zermalmen; man _verachtet_ das, wodurch man sich eben,
noch gedemütigt fühlte. Drin im Wohnzimmer hatte Petra sich ans Klavier
gesetzt, und eben hörte man sie singen:

    Auf ist der Tag und die Freude entbrannt,
    Und des Mißmuts Wolkenburg stürmisch berannt,
    Über den glühenden Bergen im Klaren
    Lagern in Zelten des Lichtkönigs Scharen.
    "Auf nun! Auf nun!" Vogel im Hag,
    "Auf!" was singen und jubeln mag,
    Auf zum Licht, meine Hoffnung!

Dann jagte es wie ein Sturm übers Klavier, und mitten heraus brauste ein
zweites Lied:

      Gut ist dein Rat!
      Doch auf lockendem Pfad
      Treib' ich mein Boot hinaus
      In der Brandung Gebraus.
    Und führt auch die Fahrt durch des Todes Tor--
    Laßt mich kosten, was nie ich gekostet zuvor.

      Nicht bloß zum Spiel
      Such' ich mein Ziel,--
      Will mit Sturmwogen ringen--
      Will das Weltmeer bezwingen--
    Will sehn, wie der Kiel sich zur Seite legt--
    Muß versuchen, wie weit und wie lang er mich trägt!

Nein! Jetzt wurde es dem Propst zu bunt! Er riß im Vorbeigehen Signe das
Heft aus der Hand; er stürmte nach der Tür; und diesmal hielt sie ihn
nicht zurück. Er fuhr wie ein Pfeil auf Petra los, schleuderte das Heft
vor sie hin aufs Klavier, machte Kehrt und rannte durchs ganze Zimmer
auf und ab. Als er wieder umdrehte, war sie aufgestanden. Sie hielt das
Heft an die Brust gepreßt und sah sich mit verstörten Blicken nach allen
Seiten um. Er blieb vor ihr stehen, um ihr klaren Wein einzuschenken;
aber sein Zorn, die Erbitterung, daß er über zwei Jahre lang sich von
diesem verschlagenen jungen Ding hatte mißbrauchen lassen, und vor allem
darüber, daß sie sein eigenes, warmherziges, hingebendes Kind zum besten
gehabt hatte, empörte ihn so, daß er nicht gleich Worte fand. Und als er
sie endlich fand, da fühlte er selber, daß sie zu hart waren. Als er
noch einmal durchs Zimmer gestürmt war und ihr wieder gegenüber stand,
mit blutrotem Gesicht, da wandte er ihr einfach den Rücken und ging ohne
eine Silbe zu sagen in sein Studierzimmer zurück. Als er hinkam, war
Signe fort.

Den ganzen Tag blieb jedes auf seinem Zimmer. Der Propst aß allein zu
Mittag; keins der Mädchen erschien. Petra hielt sich im Zimmer der
Wirtschafterin auf, das man ihr nach dem Brand vorläufig angewiesen
hatte. Vergebens hatte sie Signe überall gesucht, um ihr alles zu
erklären; Signe schien überhaupt gar nicht im Hause zu sein.

Petra fühlte--sie stand vor einer Entscheidung. Ihres Lebens
heimlichster Gedanke war ihr entrissen, und man wollte sich einen
Einfluß erzwingen, den sie nicht dulden konnte. Sie fühlte selbst am
besten--wenn sie dies ihr Lebensziel aufgab, so war sie allen Winden des
Zufalls preisgegeben. Sie konnte froh sein mit den Fröhlichen,
vertrauensvoll mit den Vertrauenden; immer und überall sicher,--aber
alles nur kraft jenes geheimen Ziels: einmal all das zu erreichen, dem
ihre Fähigkeiten in heißem Sehnen entgegenwuchsen. Sich noch einmal
jemand anvertrauen, nach jenem ersten, mißglückten Versuch in
Bergen--nein, das konnte sie nicht, nicht einmal Ödegaard; sie mußte es
allein in sich tragen, bis es so stark geworden war, daß es jedem
Zweifel standzuhalten vermochte.

Aber jetzt war alles anders geworden. Unablässig stand das feuerrote
Gesicht des Propstes vor ihrem aufgeschreckten Gewissen. Jetzt galt es,
sich zu retten! Sie suchte Signe, immer hastiger, immer aufgeregter;
aber schon war es Nachmittag, und immer noch war Signe nicht da. Je
weiter ein Mensch, den wir suchen, sich uns entzieht, desto mehr
vergrößern wir uns selbst die Ursache der Trennung; und so kam es, daß
ihr endlich klar wurde: es war ein Verrat gewesen an Signe, ihre
Freundschaft heimlich zu etwas zu mißbrauchen, was Signe für eine große
Sünde hielt. Gott, der Allwissende, war ihr Zeuge, daß eine solche
Auffassung der Dinge ihr bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen
war. Wie eine große Sünderin kam sie sich vor.

Genau wie damals zu Hause fühlte sie sich wie zerschmettert und hatte
doch noch kurz vorher überhaupt keine Ahnung davon gehabt! Daß dies
Entsetzliche sich wiederholen konnte, daß sie noch keinen Schritt
weitergekommen war, das steigerte ihre unsichere Angst bis zum Grausen.
Aber in dem Maß, wie ihre eigene Schuld wuchs, wuchs das Bild Signes an
Seelenreinheit und großherziger Hingebung. Ja, Signe hatte in Wahrheit
glühende Kohlen auf ihr Haupt gesammelt. Am liebsten hätte sie sich ihr
zu Füßen geworfen, sie angerufen, sie angebettelt, hätte nicht
abgelassen mit Flehen, bis Signe ihr wieder einen einzigen guten Blick
geschenkt!

Es war dunkel geworden. Jetzt _mußte_ Signe doch endlich wieder da sein,
wo sie auch sonst gewesen war! Petra lief hinunter, durch den Gang im
Flügel, wo Signes Zimmer lag; die Tür war verriegelt. Also mußte sie
drin sein! Ihr Herz klopfte, während sie nochmals die Klinke
niederdrückte und bettelte: "Signe! Ich muß mit Dir reden! Ich halt' es
nicht aus, Signe!"--Im Zimmer kein Laut. Petra bückte sich, horchte,
klopfte. "Signe, Signe! Wenn Du wüßtest, wie unglücklich ich
bin!"--Keine Antwort. Langes Horchen. Nichts. Wenn man lang gar keine
Antwort erhält, so fängt man zuletzt zu zweifeln an, ob überhaupt jemand
da ist, selbst wenn man es weiß; und wenn es dazu noch dunkel ist, so
wird man noch ängstlich dabei. "Signe! Signe! Bist Du da? So hab' doch
Erbarmen! Antworte doch!--Signe!" Es war und blieb still. Sie begann zu
zittern und zu frösteln. Da ging die Küchentür auf mit einem breiten
Lichtstreifen; leichte lustige Schritte liefen über den Hof. Das gab ihr
einen Plan ein. Sie wollte ebenfalls auf den Hof, wollte auf den
Vorsprung an der Steinmauer klettern, wo der Seitenflügel lag, und dann
auf diesem Sims entlang um das ganze Gebäude gehen bis auf die andere
Seite, wo es sehr hoch war. Und dann wollte sie in Signes Zimmer
hineingucken!

Es war ein klarer Sternenabend; Berge und Häuser standen in scharfen
Umrissen; sonst war nichts zu sehen; nur diese Umrisse. Der Schnee
schimmerte; die dunkeln Pfade zwischendurch hoben seine Helle nur noch
schärfer hervor. Von der Landstraße klang Schlittengeläut; das eilige
Sausen, der Glanz wirkten ermunternd; Petra sprang auf den Sims. Sie
wollte sich an den vorstehenden Balken der Holzverkleidung festhalten;
aber sie verlor das Gleichgewicht und fiel wieder herunter. Jetzt holte
sie eine leere Tonne und rollte sie an die Mauer, stieg hinauf und von
der Tonne auf den Sims. Dort kroch sie auf Händen und Füßen ruckweise
weiter, jedesmal etwa ein Viertelmeter. Es gehörten die starken Finger
einer starken Hand dazu, um sich festzuhalten; denn die Balken sprangen
kaum einen Zoll vor. Auch hatte sie Angst, man könne sie entdecken; denn
natürlich würde man das gleich wieder mit der Strickleiter in Verbindung
bringen. Wenn sie bloß erst von der Seite, die auf den Hof hinausging,
weg und auf der Querwand war! Aber als sie endlich dort anlangte, drohte
neue Gefahr: die Fenster waren nicht verhangen, und sie mußte sich
ducken, während sie, in steter Angst zu fallen, vor den Fenstern
vorüberkroch. An der Längswand wurde es immer höher; darunter, die ganze
Mauer entlang, stand eine Stachelbeerhecke, die sie jedenfalls aufnehmen
würde, wenn sie fiel. Aber sie hatte keine Angst mehr. Ihre Finger
brannten, ihre Sehnen zitterten, der ganze Körper bebte; aber sie
kletterte weiter. Jetzt nur noch ein paar Schritte und das Fenster war
erreicht. Bei Signe brannte kein Licht, und der Vorhang war nicht
herabgelassen. Der Mond schien voll ins Zimmer--sie mußte bis in den
äußersten Winkel sehen können! Auch das gab ihr neuen Mut. Sie erreichte
den Fenstersims, konnte sich endlich mit der Hand fest anklammern und
ausruhen; denn nun, da sie am Ziel war, fing ihr Herz so heftig zu
klopfen an, daß es ihr fast den Atem benahm. Aber je länger sie
zauderte, desto schlimmer wurde es; also hieß es kurzen Prozeß
machen... Und so beugte sie sich rasch entschlossen in voller Höhe
gegen das Fenster. Ein gellender Schrei aus dem Zimmer war die Antwort.
Signe hatte in der Sofaecke gesessen; jetzt stand sie mit einem Satz
mitten im Zimmer, wehrte die grauenhafte Erscheinung in wildem Entsetzen
ab und flüchtete. Diese Gestalt vor dem Fenster im Schein des Monds,
diese rücksichtslose, widerwärtige Derbheit, das Gesicht, scharf vom
Mond umrissen, erhitzt, funkelnd,--Petra begriff selbst mit
Blitzesschnelle, daß ihr unglückseliger Einfall Signe nichts als Abscheu
hatte einjagen können, ja, daß fortan ihr Bild vielleicht immer ein
Schreckgespenst bleiben würde für Signe. Sie verlor das Bewußtsein und
fiel mit einem durchdringenden Schrei hinunter. Die Leute im Hause waren
auf Signes Ruf herbeigestürzt, hatten jedoch niemand gefunden. Da hörten
sie wieder einen solchen Schrei; der ganze Hof lief zusammen, man
suchte, man rief, ohne etwas zu finden; es war ein bloßer Zufall, daß
der Propst aus Signes Fenster hinausblickte und im Mondschein Petra in
den Büschen liegen sah. Eine große Angst überkam alle. Es kostete Mühe,
sie von den Dornen loszumachen und hinaufzutragen. Man brachte sie in
Signes Zimmer, weil die Stube der Wirtschafterin nicht geheizt war; man
zog sie aus und brachte sie zu Bett, man wusch ihr Hals und Hände, die
tüchtig zerkratzt waren, während wieder andere es recht warm und hell
und behaglich im Zimmer machten. Als sie wieder zu sich gekommen war und
sich umsah, bat sie, man möge sie allein lassen. Die ruhige
Behaglichkeit des Zimmers, das feine Weiß, womit Fenster,
Toilettentisch, Bett und Stühle behängt waren, mahnten unendlich
wehtuend an Signe. Petra dachte an ihre reine Lieblichkeit, ihre stille
Stimme, die einen so milchweißen Klang hatte, ihr feines Gefühl für die
Denkart anderer, ihre weiche Güte. Und all das hatte sie selbst jetzt
verscherzt. Bald mußte sie wieder aus diesem Zimmer, wie wohl überhaupt
aus dem Hause. Und dann--wohin? Zum drittenmal wird man mich nicht von
der Landstraße auflesen, und selbst wenn es geschähe--sie selber wollte
nicht mehr. Es würde ja doch nur wieder dasselbe Ende nehmen. Kein
Mensch konnte Zutrauen zu ihr fassen; was auch der Grund sein mochte ...
sie fühlte, es war so. Sie war ja auch noch keinen Schritt weiter
gekommen; nie würde sie überhaupt einen Schritt weiter kommen. Denn
ohne das Vertrauen der Menschen ging es nicht. Oh, wie sie betete, wie
sie weinte! Sie wälzte und wand sich in ihrer Seelenqual, bis sie ganz
erschöpft war und einschlief.

Und im Schlaf wurde sofort alles schneeweiß und allmählich auch seltsam
hoch. Nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Höhe und ein so lichtes
Funkeln von Millionen Sternen gesehen.



Zehntes Kapitel


Noch als sie aufwachte, war sie dort oben; die Gedanken des Tages, die
sofort auf sie einstürmten, wollten nach, wurden aber eingefangen und
fortgetragen von etwas, das die ganze Luft erfüllte--von dem
Glockengeläut des Sonntagmorgens. Sie sprang auf und zog sich an, holte
sich aus der Speisekammer etwas Frühstück, packte sich warm ein und
machte sich eilig auf den Weg,--so gedürstet nach Gottes Wort hatte sie
noch nie! Als sie hinkam, hatte der Gottesdienst gerade angefangen, und
die Tür war verschlossen; es war ein kalter Tag, und die Finger
erstarrten ihr, als sie den Schlüssel anfaßte und umdrehte. Der Pfarrer
stand gerade am Altar, sie blieb an der Tür stehen, bis er fertig war
und der Küster ihm das Meßgewand abgenommen hatte; dann ging sie hinüber
nach dem sogenannten Bischofsstuhl, der im Chor stand und mit Vorhängen
versehen war. Der eigentliche Pfarrstuhl lag auf der Empore; wollte man
aber aus irgendeinem Grunde lieber versteckt und allein sitzen, so nahm
man seine Zuflucht zu dem Bischofsstuhl. Als sie gerade hineinschlüpfen
wollte, sah sie Signe schon darin sitzen, in der äußersten Ecke. Sie
trat einen Schritt zurück, aber gerade da drehte der Propst sich um, um
vom Altar an ihr vorbei in die Sakristei zu gehen; sie ging eilig wieder
in den Stuhl hinein und setzte sich ganz hinten in eine Ecke; Signe
hatte ihren Schleier heruntergelassen. Das tat Petra weh. Sie schaute
über die Gemeinde hin: in hohem Holzgestühl saßen rechts die Männer,
links die Frauen eng nebeneinander; ihr Atem lag wie zitternder Nebel
über ihnen, an den Fenstern war das Eis zolldick; die plump geschnitzten
Holzstatuen, der schleppende, eintönige Gesang, die vermummten
Menschen--das alles harmonierte miteinander; es war hart und unnahbar;
ihr fiel der Eindruck ein, den die Natur an jenem Nachmittage, als sie
Bergen verließ, auf sie gemacht hatte; sie war auch hier nur ein
furchtsamer Wanderer.

Der Propst bestieg die Kanzel; auch er machte ein strenges Gesicht. Er
betete: Führe uns nicht in Versuchung! Wir wissen, daß alle Gaben, die
Gott uns verliehen hat, eine Versuchung bergen; er möge gnädig sein und
uns nicht über unsere Kraft versuchen; wir sollen nie vergessen, ihn
darum zu bitten; denn nur, wenn wir unsere Fähigkeiten ihm unterordnen,
gereichen sie uns zum Heil. Die Predigt behandelte dieses Thema weiter,
indem sie von unserer doppelten Lebensaufgabe ausging, daß erstens ein
jeder seinen Lebensberuf da ausfüllen müsse, wohin ihn seine Fähigkeiten
und seine Verhältnisse gestellt hätten,--und zweitens, daß man
Christentum heranbilden müsse in sich selbst und in denen, die unserer
Obhut anvertraut seien. Man müsse vorsichtig sein in der Wahl seines
Lebensberufs, denn es gebe leider Berufe, die in sich selbst sündig
seien, es gebe auch welche, die uns zur Sünde werden könnten, weil sie
entweder nicht für uns paßten, oder doch unseren bösen Gelüsten
allzusehr entgegenkämen. Weiter: so gewiß ein jeder versuchen müsse,
nach seinen Fähigkeiten zu wählen, so gewiß könne eine solche Wahl, auch
wenn sie richtig und gut sei, uns doch zur Versuchung werden, wenn wir,
weil der Beruf uns zusage, unsere ganze Zeit und unsere ganzen Gedanken
in seinen Dienst stellten. Das Christentum in uns dürfe nicht
vernachlässigt werden, so wenig wie unsere Elternpflichten gegen unsere
Kinder. Wir müßten uns in uns selbst konzentrieren können, damit der
Heilige Geist ständig in uns wirke. Wir müßten die gute Saat des
Christentums in unsere Kinder pflanzen und sie pflegen können. Es gebe
keine Pflicht, keinen Vorwand, der uns hiervon zu befreien vermöchte,
auch wenn die Gelegenheit abgewartet werden müsse.

Und dann ging er weiter,--ging auf die Berufe derer ein, die da saßen,
ging in ihre Häuser, behandelte ihre Verhältnisse, ihre Ansichten. Dann
führte er Beispiele aus anderen Lebensbedingungen an, aus höheren
Wirkungskreisen, die ihre Streiflichter hierherwarfen. Der Propst war
allen, die ihn im täglichen Leben kannten, ganz fremd von dem Augenblick
an, da er auf der Kanzel auftauchte. Auch in seinem Äußern war er
anders; sein verschlossenes, energisches Gesicht hatte sich geöffnet und
ließ die Flut der Gedanken durchscheinen; sein Auge war lebhaft, es
schaute fest und zielbewußt und brachte erhabene Kunde; all das Zottige,
das wie zusammengerollt in seiner Natur lag, trat jetzt hervor gleich
der Mähne eines Löwen; seine Stimme rollte wie ein langgezogener Donner
dahin oder in kurzen, heftigen Wendungen, sank zuweilen auch einmal zu
sanften Tönen herab, aber nur, um gleich wieder die Höhe zu erklimmen.
Er konnte im Grunde nur in einem großen Räume reden, und wenn er für
seine Gedanken die Unendlichkeit hatte; denn seine Stimme hatte keinen
Wohllaut, bis sie laut sprach, sein Gesicht keine Klarheit, seine
Gedanken keine treffende Deutlichkeit, bis sie in Feuer gerieten. Nicht
als ob er das Thema dann erst gefunden hätte; nein, so gewiß wie der
Schmerz große Schätze in diese Seele zusammengetragen hatte, so gewiß
hatten das auch die Gedanken getan; er war ein strenger, verschlossener
Arbeiter. Aber er war nicht immer gerüstet, er konnte im Gespräch keine
Gedanken prägen; er mußte allein das Wort haben, mußte wenigstens auf
und ab laufen können. Ein Wortgefecht mit ihm anzufangen, kam fast einem
Überfall auf einen Wehrlosen gleich, war aber doch gefährlich; denn
seine Überzeugung stand sofort und mit solcher Heftigkeit fest, daß er
keine Zeit hatte, sie zu begründen; zwang man ihn doch dazu, so konnte
zweierlei geschehen: entweder er übersprühte seinen Gegner so, daß dem
Gegner ganz bange werden konnte, oder er schwieg eigensinnig, weil er
sich selbst nicht traute. Keiner war leichter zum Schweigen zu bringen
als dieser energische, beredte Mann.

Petra war erzittert, als der Propst sein Gebet begonnen, denn sie
fühlte, woher er es genommen hatte. Je weiter er im Text kam, desto
näher rückte er ihr; sie kroch in sich zusammen, und sie sah, wie Signe
dasselbe tat. Aber unbarmherzig legte der Gewaltige los; der Löwe war
auf Beute aus; sie kam sich wie von allen Seiten verfolgt, wie umzingelt
und eingefangen vor,--aber was in Strenge angepackt wurde, hielt die
Hand des Erbarmens milde fest. Es war, als werde sie--ohne ein Wort der
Verdammung--von der allgütigen Liebe in den Arm genommen. Und da betete
sie und weinte, und sie hörte Signe dasselbe tun und hatte sie lieb
deswegen!

Als der Propst von seinem Thron der Wahrheit herunterkam, um sich in die
Sakristei zu begeben, lag noch der Glanz der Begegnung mit dem Höchsten
auf seinem Gesicht. Seine Augen fielen forschend gerade auf Petra, aber
als sie ihn groß ansah, da glitt ein Strahl von Milde zu ihr hin; im
Weitergehen blickte er rasch nach der Ecke, wo seine Tochter saß.

Signe erhob sich gleich darauf; den Schleier hatte sie vorm Gesicht, so
daß Petra nicht zu folgen wagte. Deshalb ging sie später. Aber heute
saßen sie wieder alle drei bei Tisch; der Propst sprach ab und zu, Signe
aber war scheu. Sobald der Propst, der augenscheinlich die Rede auf das
Vorgefallene bringen wollte, die leiseste Andeutung machte, wich Signe
so schüchtern und zart aus, daß der Propst an ihre Mutter erinnert
wurde,--er verstummte und wurde allmählich schwermütig. Dazu gehörte
sehr wenig.

Nun gibt es nichts Peinlicheres als einen mißglückten
Versöhnungsversuch. Man stand auf, ohne sich in die Augen blicken und
sich gesegnete Mahlzeit wünschen zu können. Im Wohnzimmer wurde die
Stimmung schließlich so gedrückt, daß sie alle drei gern hinausgegangen
wären,--aber niemand mochte zuerst gehen;--Petra für ihr Teil hatte das
Gefühl: wenn sie jetzt gehe, so gehe sie für immer. Sie konnte Signe
nicht wiedersehen, wenn sie sie nicht liebhaben durfte; sie konnte es
nicht ertragen, den Propst traurig zu sehen um ihretwillen. Aber mußte
sie fort, dann ohne Abschied; denn wie hätte sie von diesen Menschen
Abschied nehmen können? Schon der Gedanke peitschte sie in eine Erregung
hinein, die sie nur mit äußerster Anstrengung zurückzuhalten vermochte.

Jede Minute, die eine solche drückende Stille verlängert, in der wir
aufeinander warten, macht sie unerträglicher. Man kann sich nicht
rühren, weil man fühlt, es wird bemerkt; jeder Seufzer ist zu hören; man
hört sogar, wenn einer ganz ruhig ist; denn das hört sich an wie Härte.
Man kommt in Spannung, weil nichts gesagt wird, und man zittert davor,
daß etwas gesagt werden wird.

Jeder fühlte, dieser Augenblick komme nie wieder. Die Mauern, die man
zwischen sich aufbaut, wachsen, unsere eigene Schuld wächst, die der
andern wächst auch, wächst mit jedem Atemzuge; bald sind wir
verzweifelt, bald empört; denn wer sich so gegen uns benimmt, ist
unbarmherzig, ist schlecht; wir ertragen es nicht, wir können es ihm
nicht verzeihen,--Petra hielt es nicht länger aus, entweder mußte sie
aufschreien oder davonlaufen!

Da klang Schlittengeläut auf der Straße; bald sah man einen Mann im
Wolfspelz auf einem Rennschlitten, auf dem hinten der Postillon saß, am
Garten vorbei und in den Hof hineinsausen.--Alle atmeten erleichtert auf
und lauschten der Erlösung entgegen! Sie hörten den Ankömmling auf dem
Flur, wo er die Reisestiefel und den Pelz ablegte und mit dem Mädchen
sprach, das ihm behilflich war; der Propst stand auf, um ihm
entgegenzugehen,--kehrte aber wieder um, weil er die beiden Mädchen
nicht allein lassen wollte;--wieder sprach der Fremde auf dem Flur,
jetzt schon mehr in der Nähe, so daß beim Klang dieser Stimme alle drei
aufsahen, Petra aber sich erhob und die Augen auf die Tür heftete.--Es
klopfte;--"herein!" sagte der Propst aufgeregt,--ein Mann mit einem
lichten Gesicht und einer Brille stand in der Tür, Petra stieß einen
Schrei aus und sank wieder auf ihren Stuhl:--das war ja Ödegaard.

Er kam dem Propst und Signe nicht unerwartet; man hatte auf sein Kommen
zu Weihnachten gerechnet, obwohl niemand Petra etwas davon gesagt hatte;
aber daß er gerade jetzt kam, war eine Fügung des Schicksals,--das
empfanden sie alle.

Petra sah und hörte nichts, bis er vor ihr stand und ihre Hand gefaßt
hatte. Er hielt sie lange in seiner, sagte aber kein Wort, auch sie
nicht; sie konnte nicht einmal aufstehen. Aber während sie ihn
anschaute, liefen ihr zwei Tränen die Backen herunter. Er war sehr blaß,
sonst aber ganz ruhig und gütig; er zog seine Hand wieder zurück und
ging dann durch das Zimmer auf Signe zu, die sich zwischen den Blumen
ihrer Mutter in der äußersten Fensterecke verkrochen hatte.

Petra sehnte sich, allein zu sein; deshalb zog sie sich zurück. Signe
hatte im Hause zu tun, so daß sich der Propst mit Ödegaard in sein
Arbeitszimmer zu einem Glase Wein setzen konnte, das dem Reisenden not
tat. Hier erfuhr er in Kürze, was die letzten Tage gebracht hatten; er
wurde sehr nachdenklich, äußerte sich aber nicht darüber. Sie wurden
übrigens auf seltsame Weise unterbrochen.

       *       *       *       *       *

Am Fenster kamen zwei Frauen und drei Männer vorbei, je einer hinter dem
andern, und kaum sah der Propst sie, als er aufsprang: "Da sind sie
wieder!--Jetzt heißt's Geduld haben."--Herein kamen zuerst die Frauen,
dann die Männer, langsam und schweigend. Sie stellten sich an der Wand
unter dem Bücherregal auf, gerade gegenüber dem Sofa, auf dem Ödegaard
saß. Der Propst setzte ihnen Stühle hin und holte noch ein paar aus dem
andern Zimmer; sie setzten sich auch alle mit Ausnahme eines städtisch
gekleideten jungen Menschen, der dankte und sich mit einem etwas
trotzigen Gesicht, beide Hände in den Hosentaschen, an die Tür lehnte.
Nach einer langen Pause, während der Propst seine Pfeife stopfte und
Ödegaard, der nicht rauchte, die Leute sich näher betrachtete, begann
schließlich eine blasse, blonde Frau von vielleicht vierzig Jahren das
Gespräch. Ihre Stirn war sehr schmal, ihre Augen groß, aber scheu; sie
wußten nicht recht, wo sie hinsehen sollten. Sie sagte: "Der Herr
Pfarrer hat heute solch schöne Predigt gehalten; sie paßte so gut zu
unsern Gedanken;--denn wir auf dem Hof haben letzthin viel von der
Versuchung geredet."--Sie seufzte; ein Mann mit einem etwas kurz
geratenen Untergesicht und einem großen, breiten Oberkopf seufzte auch:
"Herr, bewache unsere Wege! Wende meine Augen ab, daß sie nicht auf
eitle Dinge schauen!"--Und Else, dieselbe, die zuerst gesprochen hatte,
seufzte wieder und sagte: "Herr, wie soll ein junges Menschenkind seinen
Pfad rein halten, daß es wandelt nach Deinem Worte?"--Das klang in ihrem
Munde etwas seltsam, denn sie war nicht mehr jung. Ein Mann in mittleren
Jahren aber, der den Kopf schief hielt und sich in einem fort hin und
her wiegte, wobei er seine Augenlider nie ganz aufschlug, sagte wie im
Halbschlaf:

    "Jedwedem, dem der Name Christ
    Durch Jesu Tod gegeben,
    Dem folget Satans Trug und List
    Wohl durch sein ganzes Leben."

Der Propst kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, daß dies bloß die
Einleitung war; deshalb wartete er, als sei nichts gesagt worden, obwohl
wieder eine lange Pause eintrat, die nur von Seufzern unterbrochen
wurde.

Eine kleine Frau, die noch kleiner dadurch wurde, daß sie gebückt dasaß,
und die in so unglaublich viele Tücher eingemummt war, daß sie wie ein
Bündel aussah--ihr Gesicht war völlig verdeckt--fing jetzt an, auf ihrem
Stuhl hin und herzurutschen, und gab schließlich ein paar "Hm, hm!" von
sich. Sofort schrak die blonde Frau auf und sagte: "Auf dem Öyhof ist
jetzt Schluß mit allem Spiel und Tanz;--aber----" sie hielt wieder inne,
Lars dagegen, der Mann mit dem großen Oberkopf und der kurzen unteren
Gesichtshälfte, fuhr fort: "--aber einer, der Spielmann Hans, der will
nicht Schluß machen."--Als auch Lars über das weitere nachgrübelte, kam
der junge Mensch ihm zu Hilfe: "Denn er weiß, daß auch der Herr Propst
ein Instrument hat, nach dem hier im Pfarrhaus getanzt und gesungen
wird."--"Das kann für ihn wohl keine größere Sünde sein als für den
Herrn Propst", sagte Lars.--"Es liegt so, daß das Spielen beim Herrn
Propst die andern in Versuchung führt", sagte Else behutsam, wie um
ihnen vorwärts zu helfen. Der junge Mensch aber fügte kräftiger hinzu:
"Es ärgert die Unmündigen, wie geschrieben steht: Wer aber ärgert dieser
Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein
Mühlstein an seinen Hals gehängt, und er ersäufet würde im Meer, da es
am tiefsten ist." Und Lars löste ihn ab: "Unser Anliegen an Dich ist
also, daß Du Dein Instrument forttust oder es verbrennst, damit es nicht
zum Ärgernis wird--"--"Für Deine Pfarrkinder", fügte der junge Mensch
hinzu.

Der Propst dampfte und paffte und sagte schließlich in dem sichtbaren
Bemühen, seine Ruhe zu bewahren: "Mir ist dies Spiel keine Versuchung,
mir ist es eine Erquickung und eine Befreiung.--Nun wißt Ihr aber, daß
alles, was unsern Geist frei machen kann, uns empfänglicher und
verständnisvoller macht; deshalb glaube ich ganz gewiß, daß diese Musik
mir eine Hilfe ist."--"Und ich weiß, es gibt Pfarrer, die nach Pauli
Wort trotzdem darauf verzichten würden, wenn ihre Pfarrkinder sie darum
bäten", sagte der junge Mensch.--"Vielleicht habe ich früher seine Worte
auch in diesem Sinne aufgefaßt," antwortete der Propst, "aber jetzt
nicht mehr. Man kann wohl auf eine Gewohnheit oder auf einen Genuß
verzichten; aber man soll sich hüten, einseitig und beschränkt zu werden
mit den Einseitigen und Beschränkten. Ich handle dadurch nicht allein
unrecht an mir selbst, sondern auch an den Menschen, denen ich ein
Beispiel geben soll; denn ich gebe ihnen ja ein falsches Beispiel, ein
Beispiel gegen meine Überzeugung." Der Propst brachte selten außerhalb
seiner Kanzel eine so lange Auseinandersetzung zustande. Er fügte hinzu:
"Ich werde mein Instrument nicht weggeben und nicht verbrennen; ich will
es noch oft hören, weil ich oft das Bedürfnis danach habe, und ich
möchte wünschen, daß auch Ihr bisweilen in aller Unschuld Euren Geist
freimachtet durch Gesang, durch Spiel und Tanz; denn ich halte das für
gut und richtig."

Der junge Mensch beugte den Kopf zur Seite, "Pfui!" er spuckte aus.

Der Propst wurde blutrot im Gesicht, und es entstand eine Pause. Da
setzte der Hin- und Herwiegende mit lauter Stimme ein:

    "O Herr, wie schwach ist dieser Leib,
    Denn nur mit Angst und Zagen
    Kann arm und reich, kann Mann und Weib
    Sein Kreuz geduldig tragen.
    Denn Fleisch und Blut gebrechlich sind,
    Das müssen wir alle sagen."--

Und dann Lars mit sanfter Stimme: "Also Du sagst, Spiel und Tanz sei
richtig,--na!----Also es ist richtig, den Satan durch die Sinne
aufzuwecken, na!--Also das sagt unser Herr Pfarrer,--na, dann wissen wir
es ja!----Na, also er sagt, alles, was in Müßiggang und Sinnlichkeit
geschieht, ist zur Erlösung und zur Hilfe da,----alles, was einen in
Versuchung führt, ist richtig!"--Jetzt mischte sich aber Ödegaard ein,
denn er sah dem Propst an, daß die Sache schief gehen würde: "Sag' mal,
guter Mann, was führt uns denn nicht in Versuchung?"

Alle sahen dahin, woher diese sicheren, schneidigen Worte kamen. Die
Frage an sich war so unerwartet, daß Lars im Handumdrehen nicht wußte,
was er antworten sollte, auch die andern nicht. Da klang es wie aus
einem Brunnen oder aus einem Keller heraus: "Das ist die Arbeit."--Die
Stimme kam von den vielen Tüchern her; es war Randi, die zum erstenmal
auch ein Wort sagte. Ein triumphierendes Schmunzeln zog über Lars'
kurzes Untergesicht, die blonde Frau blickte zuversichtlich zu ihr hin,
selbst der junge Mensch an der Tür verlor für einen Augenblick die
spöttische Wölbung der Lippen. Ödegaard war es klar, daß dies das Haupt
sein mußte, trotzdem es nicht zu sehen war. Er wandte sich deshalb an
sie: "Wie muß denn die Arbeit beschaffen sein, damit sie uns nicht in
Versuchung führt?" Sie wollte hierauf nicht antworten; der junge Mensch
aber entgegnete: "Der Fluch lautet: im Schweiße Deines Angesichts sollst
Du Dein Brot essen; sie soll aber Schweiß und Mühe bringen."--"Und außer
Schweiß und Mühe nichts? Zum Beispiel keinen Vorteil?"--Hierauf wollte
auch er nicht antworten; aber nun fühlte sich das kurze Untergesicht
berufen: "Doch, soviel Vorteil wie möglich."--"Aber dann muß doch auch
in der Arbeit eine Versuchung liegen, nämlich die Lockspeise eines zu
großen Vorteils." Bei dieser Umzingelung kam Entsatz aus der Tiefe: "So
ist es der Vorteil, der uns versucht, und nicht die Arbeit."---"Ja, aber
was will das sagen, wenn die Arbeit um des Vorteils willen übertrieben
wird?" Sie verkroch sich wieder; Lars aber wagte sich heraus: "Was heißt
die Arbeit übertreiben?"--"Na, wenn sie Dich zu einem Tier macht, wenn
sie Dich in Sklaverei bringt."--"Sklaverei muß sein", sagte der, der den
Schweiß des Angesichts haben wollte.--"Aber kann Sklaverei zu Gott
führen?"--"Arbeit ist Gottesdienst!" rief Lars.--"Kannst Du das von
Deiner ganzen Arbeit sagen?" Lars schwieg.--"Nein, sei vernünftig und
gib mir zu, daß um des Vorteils willen die Arbeit so übertrieben werden
kann, _als ob wir nur dafür lebten_. Also liegt auch in der Arbeit eine
Versuchung."--"Ja, eine Versuchung liegt in allem, Kinder,--eine
Versuchung liegt in allem!" entschied jetzt der Propst, indem er
aufstand und, als wolle er der Sache ein Ende machen, seine Pfeife
ausklopfte. In den vielen Umschlagtüchern seufzte es, aber eine Antwort
kam nicht.

"Seht," begann Ödegaard wieder,--und der Propst stopfte sich eine neue
Pfeife,--"wenn nun die Arbeit einen Vorteil, das heißt Frucht bringt, so
haben wir doch wohl das Recht, diese Frucht zu genießen? Wenn sie uns
Reichtum bringt, haben wir doch wohl das Recht, diesen Reichtum zu
genießen?"--Das erregte großes Bedenken; einer blickte den andern an.
"Ich will antworten, während Ihr darüber nachdenkt", sagte er. "Gott hat
uns die Möglichkeit gelassen, seinen Fluch in Segen zu verwandeln; denn
er selbst leitete die Patriarchen und sein ganzes Volk zum Genuß des
Reichtums an."--"Die Apostel durften nichts besitzen", warf der junge
Mensch siegessicher ein.--"Ja, das stimmt; denn die wollte er über alle
menschlichen Lebensbedingungen stellen, damit sie nur Gott schauen
sollten;--sie waren berufen!"--"Wir sind alle berufen!"--"Aber nicht im
gleichen Sinne; bist Du zum Apostel berufen?"--Der junge Mensch wurde
leichenblaß, seine Augen unter der Stirnmauer verdüsterten sich; er
mußte seinen Grund haben, sich das zu Herzen zu nehmen.

"Aber der Reiche soll auch arbeiten", meinte Lars; "denn Arbeit ist ein
Gebot."--"Gewiß soll er das, wenn er auch andere Mittel und andere
Aufgaben hat; jeder hat seine. Aber sag', soll der Mensch unaufhörlich
arbeiten?"--"Er soll auch beten", fiel die blonde Frau ein und faltete
die Hände, als komme ihr jetzt zum Bewußtsein, daß sie es zu lange
versäumt habe.--"Also: immer wenn ein Mensch nicht arbeitet, soll er
beten?--Kann ein Mensch das?--Was wäre das für ein Beten, und was wäre
das für ein Arbeiten?--Soll er nicht auch ausruhen?"--"Wir sollen erst
ausruhen, wenn wir nicht mehr können; dann werden wir nicht von bösen
Gedanken versucht,--ja, dann werden wir nicht in Versuchung geführt!"
sagte Eise wieder, und der Psalmist fiel ein:

    "So gehet ein, ihr Müden,
    In Jesu süßen Frieden,
    Die Arbeit war so groß.
    Die Zeit ist nicht mehr weit,
    Da man für euch bereit't
    Ein Bettlein in der Erde Schoß!"----

"Still, Erik, und hör' zu," sagte der Propst. Ödegaard aber zog jetzt
die Schlinge zusammen: "Seht Ihr, die Arbeit trägt ihre Frucht und
braucht ihre Rast. Nun aber ist meine Ansicht von Geselligkeit, von Sang
und Spiel und dergleichen, daß sie nicht nur eine süße Frucht der Arbeit
sind, sondern daß sie zugleich auch dem Geist eine erquickende Muße
bieten."

Hier entstand eine Bewegung im Lager; alle sahen zu Randi hin, denn
jetzt mußten die Haupttruppen heranrücken; sie wackelte und wackelte und
schließlich kam es langsam und still heraus: "Weltlicher Sang und Spiel
und Tanz sind keine Muße, denn das entfacht das Fleisch zu sündiger
Begierde. Eine Frucht der Arbeit kann auch wohl so etwas nicht sein, das
die Arbeit vergeudet und das verweichlicht."--"Ja, in so etwas liegt
eine große Versuchung!" sagte die blonde Frau seufzend. Dabei fiel Erik
der Vers ein:

    "Mit Schmerz erkennen wir,
    Daß ständig wachsen hier
    Die Laster und Begierden,
    Geschmückt gleich Tugendzierden,
    Die leise uns umringen
    Und sich zum Himmel schwingen--"

"Sei still, Erik!" sagte der Propst; "Du verwirrst uns nur."--"Ach ja,
das mag wohl sein", sagte Erik und fing wieder an:

    "Wenn euch mit heuchlerischem Sinn
    Ein anderer will führen hin
    Zum breiten, glatten Sündenpfad,
    Den wählt euch nicht als Kamerad----"

"Nun hör' aber auf, Erik!--Das Lied ist ja recht schön, aber alles zu
seiner Zeit und am rechten Ort."--"Ja, ja, Herr Pfarrer, das
stimmt,--alles zu seiner Zeit und am rechten Ort:

    "Schenk' jede Stunde heute
    Dem Höchsten früh und spät
    Ein jeder Herzschlag läute
    Wie Glocken zum Gebet--"

"Nein, nein, Erik, dann würde ja auch das Gebet zur Versuchung; Du
müßtest Katholik werden und ins Kloster gehen!"--"Gott behüte!" sagte
Erik und riß die Augen weit auf, machte sie dann wieder zu und fing an:

    "Wie Staub und Schlacken zu echtem Gold
    Ist kathol'sch--"

"Hör' mal, Erik, wenn Du nicht ruhig sein kannst, so geh gefälligst mit
dem Rest hinaus.--Wo waren wir denn stehen geblieben?" Ödegaard aber
hatte mit großem Behagen Erik angehört und wußte es nicht mehr. Da kam
es friedlich aus den vielen Tüchern heraus: "Ich sagte, es könne doch
keine Muße und keine Frucht der Arbeit in etwas sein, das--"--"Jetzt
erinnere ich mich: das eine Versuchung in sich trägt,--und dann kam Erik
und bewies uns, daß auch im Gebet eine Versuchung liegen kann.--Wir
wollen also überlegen, was jene Dinge sonst für Folgen haben können.
Ist Euch aufgefallen, daß fröhliche Menschen besser arbeiten als
schwermütige? Woher kommt das?"

Lars merkte, worauf das hinausging, und sagte deshalb: "Fröhlich macht
der Glaube."--"Ja, wenn es ein heller Glaube ist; aber weißt Du nicht,
daß der Glaube so finster machen kann, daß die Welt um uns her zu einem
Zuchthause wird?"

Die blonde Frau seufzte unaufhörlich, so daß die vielen Tücher dadurch
in Bewegung kamen; Lars blickte sie auch scharf an, und da schwieg
sie.--Ödegaard fuhr fort: "Ein ewiges Einerlei, sei es Arbeit, Gebet
oder Vergnügen, macht dumm und finster. Du kannst den Acker umgraben,
daß Du zu einem Tier wirst, beten, bis Du ein Gewohnheitsmönch bist,
spielen, bis Du eine schlappe Spielpuppe bist. Aber mische es einmal!
Der Wechsel stärkt Sinn und Gedanken; dabei gedeiht Deine Arbeit, und
Dein Glaube wird licht."--"Wir wollen uns also jetzt aufs Fröhlichsein
verlegen!" sagte der junge Mensch und lachte.--"Ja, dann würdest Du für
Dein Teil eine Gemeinschaft mit andern Menschen finden; denn erst in der
Freude sieht man das Gute bei andern und liebt es. Man kann aber Gott
nur lieben, wenn man seinen Nächsten liebt."

Da nicht sogleich ein Widerspruch erfolgte, versuchte Ödegaard zum
zweitenmal die Schlinge zusammenzuziehen und sagte: "Die Dinge, die
_freimachen_, also daß der Heilige Geist in uns wirken kann,--denn in
den Gefesselten kann er nicht wirken,--die Dinge, die uns helfen, müssen
einen Segen in sich tragen,--und das tun diese Dinge." Der Propst stand
auf, er hatte seine Pfeife schon wieder auszuklopfen.

In der Pause, die jetzt folgte, und in der kein Seufzer zu hören war,
merkte man, wie die vielen Tücher sich abmühten, und schließlich hörte
man ein zaghaftes: "Es steht geschrieben: Was Du aber tust, das tu zu
Gottes Ehre;--sind aber weltlicher Gesang, Spiel und Tanz zu Gottes
Ehre?"

"Ohne weiteres nicht;--aber können wir dieselbe Frage nicht beim Essen,
beim Schlafen, beim Anziehen stellen? Und doch _müssen_ wir das alles
tun. Es kann also nur gemeint sein, daß man nichts tun soll, was Sünde
ist."--"Ja, ist das denn aber keine Sünde?"

Zum erstenmal wurde Ödegaard ein bißchen ungeduldig. Er beschränkte sich
deshalb darauf, zu sagen: "Wir lesen in der Bibel, daß Gesang, Spiel und
Tanz Brauch waren."--"Ja, zu Gottes Ehre."--"Nun ja, zu Gottes Ehre.
Aber daß die Juden immer und in allem den Namen Gottes im Munde führten,
geschah aus dem Grunde, weil sie wie Kinder die Dinge noch nicht
eingeteilt hatten. Den Kindern ist jeder fremde Mensch, der Mann",--auf
die Frage des Kindes: "Woher kommt dies, woher kommt das?' antworten wir
immer dasselbe: 'von Gott'; aber als Erwachsene Erwachsenen gegenüber
nennen wir zugleich das Zwischenglied, wir nennen nicht bloß den Geber,
Gott. So kann zum Beispiel ein schönes Lied von Gott handeln oder zu
Gott führen, auch wenn Gottes Name nicht genannt ist; denn gar vieles
führt zu ihm hin, wenn auch nicht auf dem direkten Wege. Unser Tanz,
wenn in Wahrheit gesunde, unschuldige Menschen ihre Freude an ihm haben,
preist--wenn auch nicht direkt--ihn, der uns die Gesundheit schenkte,
und der das Kind in uns liebt."

"Merkt Euch das, merkt Euch das!" sagte der Propst; er war sich klar,
daß er lange Zeit diese Dinge mißverstanden und sie andern falsch
ausgelegt hatte.

Lars aber hatte lange nachdenklich dagesessen. Jetzt war er fertig. Das
Samenkorn hatte sich von der hohen Stirn zu dem kurzen, knorrigen
Untergesicht herabgesenkt; hier war es ausgedroschen und gemahlen worden
und kam jetzt heraus: "All die Märchen und Erzählungen und Geschichten,
all die Gedichte und das erfundene Zeug, wie es heutzutage die Bücher
füllt,--ist das auch erlaubt? Steht nicht geschrieben: Jedes Wort, das
aus Deinem Munde gehet, sei Wahrheit?"

"Es freut mich, daß Du darauf kommst.--Siehst Du, mit den Gedanken ist
es genau wie mit dem Hause, in dem Du wohnst. Wäre es so eng, daß Du
kaum mit dem Kopf hineinkönntest und nur eben die Beine ausstrecken, so
müßtest Du es auch wohl ausbauen. Und die Dichtung erhebt die Gedanken
und baut sie aus. Wäre das Maß der Gedanken, das über das
Allernotwendigste hinausgeht, Lüge, so würden bald auch die
allernotwendigsten Gedanken Lüge werden. Sie würden Dich so einklemmen
in Dein Erdenhaus, daß Du nie die Ewigkeit erreichtest, und doch geht
Dein Weg dahin, und die Gedanken sollten Dich im Glauben dahin
führen."--"Aber etwas Erdichtetes ist doch etwas, was nicht gewesen ist,
und dann ist es doch Lüge?" sagte Randi nachdenklich.--"Nein, es zeigt
uns oft eine größere Wahrheit, als die Dinge, die wir sehen", antwortete
Ödegaard. Jetzt blickten ihn alle zweifelnd an, und der junge Mensch
warf ein: "Ich habe bis jetzt nicht gewußt, daß in den Sagen von Askelad
mehr Wahrheit ist, als in dem, was ich mit meinen Augen sehe!"--Alle
lachten leise.--"So sage mir, ob Du immer den Zusammenhang dessen
begreifst, was Du vor Augen siehst?"--"Ich bin wohl nicht gelehrt
genug?"--"Oh, ein Gelehrter begreift ihn gewiß noch viel weniger! Ich
meine nämlich solche Dinge des täglichen Lebens, die uns Kummer und
Herzeleid machen, und über die wir grübeln, bis wir schwarz werden, wie
man so sagt. Kommt so etwas nicht vor?"--Er antwortete nicht; aus den
vielen Tüchern heraus aber ertönte es in tiefem Ernst: "Doch, sehr
oft."--"Wenn Du nun aber eine erfundene Geschichte hörtest, die Deiner
eigenen so gliche, daß Du Deine Geschichte verständest, wenn Du die
andere hörtest? Würdest Du von der Geschichte, die Dir Deine eigene klar
macht, die Dir den Trost und die Festigung gibt, die im Verständnis
liegen,--nicht sagen, die Geschichte habe für Dich größere Wahrheit als
Deine eigene?" Die blonde Frau sagte: "Ich habe einmal eine Geschichte
gelesen, die mir über einen großen Kummer so hinweggeholfen hat, daß
das, was mich bisher so bedrückt hatte, mir fast eine Freude wurde." Aus
den Tüchern heraus erscholl ein Räuspern;--"ja, es ist doch wahr", fügte
sie ängstlich hinzu.

Der junge Mensch aber wollte es nicht zugeben: "Können die Sagen von
Askelad einem Menschen zum Trost gereichen?"--"Nun, je nachdem. Der
Humor hat große Macht, und jene Sagen zeigen lustig, daß einer, von dem
die Welt am wenigsten hält, oft am weitesten kommt,--daß alles dem
beisteht, der selbst guten Muts ist, und daß der Mann vorwärts kommt,
der es von ganzem Herzen will. Meinst Du nicht, es ist für viele Kinder
gut, wenn sie daran erinnert werden, und für viele Erwachsene
auch?"--"Aber es ist doch Aberglauben, wenn man an den Teufel und an
Hexerei glaubt."--"Wer hat gesagt, daß Du daran glauben sollst? Das ist
Bilderschrift."--"Aber es ist uns verboten, Bilder und Zeichen zu
gebrauchen, weil jeglicher Schein dem Teufel zugehört."--"So; wo steht
das?"--"In der Bibel."--Hier fiel der Propst ein: "Nein, das ist ein
Mißverständnis; denn die Bibel gebraucht selbst Bilder."--Alle blickten
zu ihm auf. "Sie gebraucht auf jeder Seite Bilder, wie das überhaupt den
morgenländischen Völkern eigen ist. Wir haben selbst auch Bilder in
unserer Kirche, wir haben Bilder in unserer Sprache, in Holz, auf
Leinwand, in Stein, und wir können uns die Gottheit nur durch Bilder
vorstellen. Nicht genug damit: Jesus wendet Bilder an; hat Gott der Herr
selbst nicht mancherlei Gestalt angenommen, wenn er sich den Propheten
offenbarte? Kam er nicht in Gestalt eines Wanderers zu Abraham nach
Mamre und aß mit ihm an seinem Tisch? Kann aber die Gottheit mancherlei
Gestalten annehmen und Bilder gebrauchen, so können die Menschen es
auch."--Man mußte ihm beipflichten. Ödegaard aber stand auf und schlug
den Propst leicht auf die Schulter: "Schönen Dank, da haben Sie eben
ganz prächtig aus der Bibel bewiesen, daß das Schauspiel zulässig
ist!"--Der Propst blieb erschrocken stehen: der Rauch, den er im Munde
hatte, quoll ganz von selbst langsam heraus.

Ödegaard ging dann durch die Stube auf die Frau mit den vielen
Umschlagtüchern zu und bückte sich, um eine Spur ihres Gesichts zu
entdecken, allein vergeblich. "Möchtest Du noch mehr wissen?" fragte er;
"denn Du scheinst über dies und jenes nachgedacht zu haben."--"O Gott
sei mir gnädig, ich denke wohl nicht immer das richtige."--"Ja,--in der
ersten Zeit nach der Gnade der Bekehrung ist man so erfüllt von diesem
Wunder, daß einem alles andere zwecklos und unrichtig erscheint. Man ist
wie ein Liebhaber, der nur nach seiner Geliebten Sehnsucht hat."--"Ja,
aber sieh die ersten Christen an, die sollen uns doch ein Beispiel
sein."--"Nein, ihre strengen Lebensbedingungen mitten unter den Heiden
sind nicht mehr die unseren; wir haben andere Aufgaben, wir müssen das
Christentum in unserem heutigen Leben unterbringen."--"Aber im Alten
Testament stehen so viele Worte, die dem, was Du sagst, widersprechen",
sagte der junge Mensch zum erstenmal ohne Bitterkeit.--"Ja, denn jene
Worte sind jetzt tot, sie sind abgeschafft', wie der Apostel Paulus
sagt: _Welcher auch uns tüchtig gemacht hat, das Amt zu führen des Neuen
Testaments; nicht des Buchstabens, sondern des Geistes_,--und weiter:
_Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit_. Und: _Ich habe es
alles Macht_, sagt Paulus weiter, doch er fügt hinzu: Es frommt aber
nicht alles.--Nun sind wir so glücklich, das Leben eines Mannes vor
Augen zu haben, das uns zeigt, was Paulus gemeint hat. Luthers Leben.
Von Luther glaubt Ihr doch, daß er ein guter, aufgeklärter Christ war?"
Ja, das glauben sie.--"Luthers Glaube war ein lichter Glaube, es war der
Glaube des Neuen Testamentes! Er hatte von dem finsteren Glauben die
Ansicht, dahinter liege der Teufel am liebsten auf der Lauer. Er hatte
von der Furcht vor der Versuchung die Ansicht, daß der am wenigsten
versucht wird, der sich am wenigsten fürchtet. Er nutzte alle Gaben,
die Gott ihm gegeben hatte, auch die Fähigkeit, sich zu freuen, er nahm
das Leben als Ganzes. Wollt Ihr Beispiele? Der fromme Melanchthon
schrieb einmal so eifrig an einer Verteidigung der reinen Lehre, daß er
sich die Zeit zu den Mahlzeiten nicht gönnte. Da nahm Luther ihm die
Feder aus der Hand. 'Man dient Gott nicht allein durch Arbeit,' sagte
er, 'sondern auch durch Ruhe und Erholung; deshalb hat Gott das dritte
Gebot gegeben und den Sabbat eingesetzt,' Und weiter: Luther wandte in
seiner Rede viele Bilder an, scherzhafte und ernste durcheinander, und
er steckte voll von guten, oft sehr lustigen Einfallen. Er übersetzte
auch alte, schöne Volkssagen in seine Muttersprache und sagt in der
Vorrede, daß er nächst der Bibel kaum bessere Ermahnungen kenne als
diese. Er spielte, wie Ihr vielleicht wißt, die Laute, und sang mit
seinen Kindern und seinen Freunden,--nicht bloß Choräle, nein, auch
alte, fröhliche Lieder; er liebte Gesellschaftsspiele, spielte Schach
und ließ die Jugend in seinem Hause tanzen; er verlangte nur, daß alles
in Zucht und Ehren geschehe. Dies hat ein alter, treuherziger Schüler
Luthers, nämlich der Pfarrer Johann Mathesius, aufgezeichnet und seinen
Pfarrkindern von der Kanzel herab erzählt. Er betete, er möge ihnen die
Wege weisen,--und wir wollen nun das gleiche beten!"

Der Propst stand auf: "Liebe Freunde, jetzt wollen wir es für heute
genug sein lassen!" Alle erhoben sich. "Hier ist manches Wort zur
Aufklärung gesprochen worden; möge Gott seinen Segen zu dieser Aussaat
geben!--Liebe Freunde, Ihr wohnt an abgelegenen Stätten; Ihr wohnt hoch
oben auf den Höhen, wo der Frost das Korn häufiger mäht als die Sichel.
Solche Einöden sollte man wieder den Sagen und dem weidenden Vieh
überlassen. Das geistige Leben gedeiht spärlich da oben und wird
kümmerlich wie die Kräuter. Das Vorurteil drückt auf das Leben wie die
Berge, unter denen es heranwächst; sie werfen ihre Schatten darauf und
treten trennend dazwischen. Der Herr sammle, der Herr erleuchte
Euch!--Ich danke Euch für heute, meine Freunde! Auch mir hat dieser Tag
zu größerer Klarheit verhelfen." Er gab jedem von ihnen die Hand, und
selbst der junge Mensch streckte ihm seine Hand freundlich hin, ohne
jedoch aufzublicken.

"Ihr müßt über die Berge;--wann kommt Ihr denn nach Hause?" fragte der
Propst, als sie gehen wollten.--"Ach, in der Nacht wohl," antwortete
Lars; "es hat sich jetzt viel Schnee angesammelt, und wo der fortgeweht
ist, liegt Höckereis."--"Ja, liebe Freunde, es ist aller Ehren wert,
unter solchen Umständen zur Kirche zu kommen. Möget Ihr jetzt auf dem
Wege nicht zu Schaden kommen!"--Erik antwortete leise:

    "Ist Gott für mich, so trete
    Gleich alles wider mich,
    So oft ich ruf und bete,
    Weicht alles hinter sich!"

"Das stimmt, Erik,--diesmal hast Du's getroffen!" "Ja, wartet mal",
sagte Ödegaard, als sie sich zum Gehen wandten; "es ist nicht zu
verwundern, daß Ihr mich nicht kennt; aber ich dürfte auf den Ödhöfen
doch wohl Verwandte haben." Alle wandten sich nach ihm um, selbst der
Propst, der es wohl gewußt, aber völlig vergessen hatte. "Ich heiße Hans
Ödegaard, der Sohn von Knut Hansen Ödegaard, dem Propst, der damals mit
dem Ränzel auf dem Rücken von Euch fortzog."--Da klang es aus den vielen
Tüchern heraus: "Herr Gott,--das ist ja mein Bruder."--Sie waren alle
stehen geblieben, aber keiner wußte, was er sagen sollte. Schließlich
fragte Ödegaard: "Also bin ich damals, wo ich als kleiner Bursch Vater
hinaufbegleitete, bei Dir gewesen?"--"Ja, bei mir."--"Und eine Zeitlang
auch bei mir", sagte Lars; "Dein Vater ist mein Schwesterkind."--Randi
aber sagte wehmütig: "Also Du bist der kleine Hans;--ja, ja, die Zeit
vergeht."--"Wie geht es Eise?" fragte Ödegaard.--"Dies ist Eise", sagte
Randi und zeigte auf die blonde Frau.--"Du bist Eise!" rief er. "Du
hattest damals einen Liebeskummer; Du wolltest den Dorfspielmann haben;
hast Du ihn gekriegt?" Niemand antwortete. Obwohl es schon dämmerig war,
sah er, wie Eise sehr rot wurde, und wie die Männer zur Seite oder zu
Boden blickten,--ausgenommen der junge Mensch, der Eise fest ansah.
Ödegaard merkte, daß er etwas Törichtes gefragt hatte; der Propst kam
ihm zu Hilfe: "Nein, der Spielmann Hans ist unverheiratet geblieben;
Eise hat Lars' Sohn bekommen; aber jetzt ist sie wieder frei, sie ist
Witwe."--Wieder wurde sie glühend rot, der junge Mensch sah es und
lächelte spöttisch.

Randi aber sagte: "Ja, Du hast wohl weite Reisen gemacht? Du hast viel
gelernt, wie ich gehört habe."--"Ja, bis jetzt habe ich studiert oder
bin gereist, aber nun will ich im Lande bleiben und mich nützlich
machen."--"Ach ja, so geht's--manche reisen weit und kommen zum Licht
und zur Gelehrsamkeit; andere kleben an der Scholle." Und Lars fügte
hinzu: "Die heimische Erde ist oft schwer zu brechen. Bringt sie aber
einen Mann hervor, der Hilfe leisten kann, so zieht er von
dannen."--"Der Beruf ist verschieden; jeder muß dem seinen folgen",
sagte der Propst.--"Mit unsers Herrgotts Hilfe wird schon Arbeit mehrend
zu Arbeit kommen", sagte Ödegaard; "meines Vaters Wirksamkeit wird Euch
vielleicht auch noch einmal zugute kommen, so Gott will."--"Ach ja, das
mag wohl sein", sagte Randi sanft; "aber das Warten fällt oft schwer;
denn es dauert so lange."

Sie schieden; der Propst stellte sich an das eine, Ödegaard an das
andere Fenster, um ihnen nachzuschauen; denn jetzt mußten sie über die
Berge; der junge Mensch ging hinterher. Ödegaard erfuhr, er stamme aus
der Stadt, wo er alles mögliche getrieben habe, doch immer mit den
Leuten in Streit geraten sei. Er glaubte sich zu etwas Großem berufen,
vielleicht zum Apostel, war aber seltsamerweise auf den Ödhöfen hängen
geblieben,--manche meinten aus Liebe zu Eise. Er war ein Feuerkopf, der
viele Enttäuschungen erlebt hatte und dessen noch mehr harrten.

Sie kamen jetzt auf dem Berge zum Vorschein; das Dach des Kuhstalls
verdeckte sie nicht mehr. Sie arbeiteten sich mühselig empor,
verschwanden hinter Bäumen und kamen wieder heraus, immer höher und
höher. Es führte kein Weg durch den tiefen Schnee, die Bäume waren die
Wegweiser in der Wüste, und zur Seite zeigten die Firnen ihnen die
Richtung nach ihrer Wohnstätte.

Drinnen aus der Stube aber kamen ein paar trillernde Akkorde und dann:

    Mein Lied ist dem Frühling ergeben,
    Bevor er erwachte zum Leben.
    Mein Lied ist dem Frühling ergeben,
    Wie Sehnsucht ihn sehnet herbei,
    Da schließen ein Bündnis die zwei,
    Zu locken die Sonne zum Siege,
    Damit ihr der Winter erliege,
    Das Murmeln der Bäche zu wecken,
    Damit sie im Chor ihn erschrecken
    Zu bannen ihn flugs aus den Lüften
    Mit stetigen Blumen duften.--
    Mein Lied ist dem Frühling ergeben!



Elftes Kapitel


Seit diesem Tage war der Propst sehr wenig mit den andern zusammen;
teils nahm ihn das Weihnachtsfest in Anspruch, teils konnte er nicht zur
Klarheit kommen, ob das Schauspiel den Christen erlaubt sei oder nicht;
sowie sich Petra nur sehen ließ, wurde er unruhig.

Während der Propst so in seinem Arbeitszimmer saß, seine Predigten oder
eine christliche Ethik vor sich, saß Ödegaard bei den jungen Mädchen,
zwischen denen er ständig Vergleiche ziehen mußte. Petra sprühte und
war, sich nie gleich; wer ihr folgen wollte, wurde wie bei einem Buch in
steter Spannung gehalten. Signe dagegen war so wohltuend in ihrer
gleichmäßigen Innigkeit; ihre Bewegungen waren nie überraschend; denn
sie spiegelten ihr Wesen wieder. Petras Stimme konnte jede Färbung
annehmen, grelle und weiche, und jeden Stärkegrad. Signes Stimme hatte
einen eigenen Wohllaut, war aber nicht wechselnd,--außer für den Vater,
der meisterlich die Nuancen unterscheiden konnte. Petra blieb bei einer
Sache; war sie bei mehr Dingen, so geschah's, um zu beobachten, nicht um
zu helfen. Signe hatte auf alles und auf alle ein Auge und verteilte
sich, ohne daß man es merkte. Sprach Ödegaard mit Petra über Signe, so
hörte er eine hoffnungslos Liebende klagen, sprach er aber mit Signe
über Petra, so wurde sie ziemlich einsilbig. Miteinander plauderten die
Mädchen häufig und ungezwungen; aber immer nur über Gleichgültiges.

Er hatte gegen Signe große Verpflichtungen; denn ihr verdankte er das,
was er "seinen neuen Menschen" nannte. Der erste Brief, den er in seinem
großen Schmerz von Signe bekam, hatte ihm wie eine weiche Hand über die
Stirn gestrichen. So schonend erzählte sie, Petra sei zu ihnen gekommen,
mißverstanden und mißhandelt. So fein war ihre Auslegung, daß dies
zufällige Kommen wie eine Fügung Gottes erschien, "weil nichts
zerbrechen soll", ihm klang es wie fernes Locken aus einem Walde, wenn
man noch steht und über den Weg nachsinnt, den man gehen soll.

Signes Briefe folgten ihm überall, wohin er reiste; sie waren der Faden,
der ihn hielt. Jede ihrer Zeilen hatte den Zweck, Petra direkt in seine
Arme zu führen, und doch erreichte sie gerade das Gegenteil; denn Petras
Künstlernatur trat ihm durch diese Briefe klar vor Augen; den
Mittelpunkt ihrer Begabung, den er selbst vergebens gesucht, hatte Signe
unbewußt stets vor Augen, und sowie er das einsah, sah er auch ihren und
seinen Irrtum ein und wurde gewissermaßen ein neuer Mensch dadurch.

Er hütete sich wohl, Signe von dem zu schreiben, was ihre Briefe ihn
gelehrt hatten. Das erste Wort durfte nicht von Petras Umgebung kommen,
sondern von ihr selbst, damit nichts überstürzt werde. Aber von dem
Augenblick an, da ihm dies klar geworden war, hatte er auch Petra in
einem neuen Licht gesehen. Natürlich: diese ewig sich jagenden Impulse,
von denen jeder einzelne voll empfunden war, alle aber in einem großen
Widerspruch zueinander standen, das mußte ja der Anfang eines
Künstlertums sein. Es hieß also, dies alles zu einer starken
Wesenseinheit zu sammeln; sonst würde alles Stückwerk und ihr Leben
selbst nur Kunst. Also: nicht zu früh hinein in die Bahn! Solange wie
möglich schweigen, ja Widerstand.

Von all dem ganz erfüllt, merkte er selbst nicht, daß Petra wieder
unausgesetzt seine Seele beschäftigte,--diesmal jedoch mit einem fremden
Ziel. Er nahm die Kunst um sich herum aufs Korn, besonders aber die
Künstler und unter ihnen vor allem die Schauspieler. Er sah vieles, was
einen Christenmenschen abschrecken mußte. Er sah die ungeheuren
Mißstände. Aber sah er dasselbe nicht überall, sah er es nicht auch in
der Kirche? Weil da hohle Pfaffen standen, nannte man ganz dasselbe groß
und ewig. Wenn das Streben nach Wahrheit, das überall sich regte, im
Leben und in der Dichtung Macht bekam,--konnte es dann nicht auch bis
zum Theater vordringen?

Er war allmählich seiner Sache sicher geworden. Mit großer Freude sah er
aus Signes Briefen, daß Petra sich sehr heranbildete und daß Signe die
rechte war, ihr dabei zu helfen. Jetzt war er gekommen, um diesen
Schutzgeist, der selbst nicht wußte, was er ihm gewesen war, zu sehen
und ihm zu danken.

Aber er war auch gekommen, um Petra wiederzusehen. Wie weit war sie
vorgeschritten? Das Wort war ausgesprochen, er konnte also offen mit ihr
darüber reden; das war ihnen auch beiden willkommen; dann brauchten sie
ja doch nicht von der Vergangenheit zu sprechen.

Indessen, sie wurden bald durch Gäste aus der Stadt gestört, gebetene
und ungebetene! Die Dinge standen da aber schon so, daß ein einziger,
wohlgenutzter Zufall Klarheit bringen konnte,--und dazu verhalfen die
Gäste. Es wurde nämlich eine große Gesellschaft veranstaltet, und auf
dieser Gesellschaft, gleich nach Tisch, als die Herren im Arbeitszimmer
saßen, kam das Gespräch auf die Schauspielkunst; denn ein Stiftskaplan
hatte auf dem Schreibtisch eine christliche Ethik aufgeschlagen gesehen
und war auf das entsetzliche Wort "Schauspiel" gestoßen. Es entspann
sich ein heftiges Wortgefecht, und mitten hinein kam der Propst, der
nicht mit bei Tisch hatte sein können, weil er zu einem Kranken gerufen
worden; er war sehr ernst gestimmt, er aß nicht, er nahm auch nicht an
dem Gespräch teil, aber er stopfte seine Pfeife und hörte zu. Sowie
Ödegaard merkte, daß der Propst still da saß und dem Gespräch folgte,
mischte er sich hinein, versuchte aber lange vergeblich, Zusammenhang in
die Sache zu bringen; denn der Stiftskaplan hatte die Angewohnheit, so
oft ein Glied in der Beweiskette geknüpft werden sollte, zu rufen: "Ich
leugne!" (er wollte nicht sagen: verleugne), und dann mußte das, was
beweisen sollte, erst selbst bewiesen werden; es ging infolgedessen
rückwärts; man war vom Schauspiel schon auf die Schiffahrt gekommen und
wollte, um in der Schiffahrt einen Beweis führen zu können, eben zum
Ackerbau übergehen.

Nun, da ernannte Ödegaard den Propst zum Wortführer. Außer ihm waren
noch einige Pfarrer anwesend, sowie der Kapitän, ein kleiner
schwarzhaariger Mann mit einem riesigen Bauch und ein paar kleinen
Beinen darunter, die wie Trommelschlägel wirbelten. Ödegaard erteilte
dem Stiftskaplan das Wort, damit er alles vorbringen könne, was er gegen
das Schauspiel einzuwenden habe. Der Stiftskaplan nahm das Wort:

"Schon rechtschaffene Heiden waren gegen das Schauspiel wie Plato und
Aristoteles, weil es die Sitten verderbe. Sokrates sah sich freilich ab
und zu ein Schauspiel an, will aber jemand daraus den Schluß ziehen,
daß er es billigte, so leugne ich das, denn man muß vieles sehen, was
einem nicht gefällt. Die ersten Christen wurden eindringlich vor dem
Schauspiel gewarnt, siehe Tertullian! Seitdem das Schauspiel in neuerer
Zeit wieder aufgelebt ist, haben ernste Christen dagegen gesprochen und
geschrieben. Ich nenne Namen wie Spener und Francke; ich nenne einen
christlichen Ethiker wie Schwarz, ich nenne Schleiermacher. ('Hört,
hört!' rief der Kapitän, denn diesen Namen kannte er.) Die letzten
beiden räumen die Zulässigkeit dramatischer Dichtung ein, Schleiermacher
ist sogar der Ansicht, in Privatgesellschaften dürfe von Dilettanten
eine gute Dichtung aufgeführt werden; er verurteilt aber den
Schauspielerberuf. Der Stand der Schauspieler hat für einen Christen so
mannigfaltige Versuchungen, daß er ihn meiden soll.---Aber ist es nicht
auch für die Zuschauer eine Versuchung? Von erdichtetem Leiden gerührt,
von erdichtetem Tugendheldentum erhoben zu werden, dessen man sich beim
Lesen leichter erwehren kann, verlockt zu dem Glauben, man selbst sei
das, was man sieht; das schwächt den Willen, die Arbeit an sich selbst,
das zieht uns herab zu Hörlust, Schaulust und Phantasterei. Habe ich
nicht recht? Wer ist hauptsächlich in der Komödie zu finden?
Müßiggänger, die sich unterhalten wollen, Wollüstige, die aufgereizt,
Eitle, die selbst gesehen werden wollen, Phantasten, die aus dem
wirklichen Leben, mit dem sie's nicht aufzunehmen wagen,
hierherflüchten. Sünde hinter dem Vorhang, Sünde vor dem Vorhang! Ich
habe nie einen ernsthaften Christen anders reden hören!"

Der Kapitän: "Da kann einem ja angst und bange vor einem selbst werden.
Bin ich immer, wenn ich in der Komödie war, in so einer Wolfshöhle
gewesen, dann soll der Teufel--"--"Pfui, Herr Kapitän", sagte ein
kleines Mädchen, das mit ins Zimmer geschlüpft war; "Du darfst nicht
fluchen, denn sonst kommst Du in die Hölle!"--"Ja, mein Kind,
natürlich, natürlich."--Ödegaard aber nahm das Wort:

"Plato hatte gegen die Dichtung dieselben Einwendungen wie gegen das
Schauspiel, und die Ansicht des Aristoteles steht nicht fest. Ich lasse
diese beiden also aus dem Spiel. Die ersten Christen aber taten gut
daran, sich den heidnischen Schauspielen fernzuhalten,--sie übergeh' ich
ebenfalls. Daß ernsthafte Christen in neuerer Zeit ihre Bedenken auch
gegen die Schauspiele gehabt haben, die christliche Stoffe behandeln,
kann ich verstehen; ich habe selbst Bedenken gehabt. Aber wenn man
zugibt, daß dem Dichter erlaubt sein soll, ein Drama zu schreiben, dann
muß dem Schauspieler auch erlaubt sein, es zu spielen. Denn was tut der
Dichter beim Schreiben anders, als daß er es spielt,--in seinen
Gedanken, feurig, mit Lust, und 'wer ein Weib ansieht ihrer zu begehren'
usw.--Ihr kennt Christi eigene Worte. Wenn Schleiermacher sagt, das
Drama dürfe nur privatim und von Ungeübten gespielt werden, dann sagt
er, daß die Gaben, die wir von Gott bekommen haben, vernachlässigt
werden sollen, während es doch Gottes Wille ist, daß sie zur
größtmöglichen Vollkommenheit gebracht werden; denn dazu haben wir sie
erhalten. Wir alle schauspielern tagtäglich, indem wir andere nachmachen
oder im Scherz oder Ernst eine fremde Meinung annehmen. Die Sache
überwiegt bei einzelnen Menschen alle andern, und da möchte ich doch
sehen, wenn man es unterließe, dies Talent zu pflegen, ob sich nicht
bald von selbst herausstellen würde, daß gerade in der Unterlassung die
Sünde liegt. Denn wer seinem Beruf nicht nachgeht, wird untauglich zu
andern Dingen, wird unredlich, wankelmütig,--kurz, fällt allen
Versuchungen viel leichter zur Beute, als wenn er seinem Berufe folgt.
Wo die Arbeit und die Freude daran zusammenfallen, wird manche
Versuchung ausgeschaltet.--Aber, mag man sagen, der Beruf ist an sich
voller Versuchungen. Ja, darüber läßt sich streiten. Für mich liegt in
dem Beruf die größte Versuchung, der einem den Glauben vorspiegelt, man
sei selbst gerecht, weil man Kunde bringt von dem Allgerechten,--den
Glauben, man selbst sei gläubig, weil man zu dem Glauben anderer redet,
oder deutlicher: für mich liegt in dem Priesterberuf die größte
Versuchung." (Großer Lärm: Ich leugne! Richtig! Ich leugne! Stimmt!
Ruhe!) Der Kapitän: "Das habe ich noch nie gehört, daß die Pfarrer
schlimmer sind als die Schauspieler!" Gelächter und Rufe von allen
Seiten: "Nein, das hat er nicht gesagt." Der Kapitän: "Doch, zum
Teufel--"--"Aber, Herr Kapitän, jetzt kommt der Teufel gleich!"--"Gut,
mein Kind, schon gut!" Ödegaard nahm den Faden wieder auf: "All die
Versuchung, sich vom Augenblick hinreißen zu lassen, in Hörlust und
Phantasterei herabzusinken, ohne Arbeit an sich das Leben von
Tugendhelden zu seinem eigenen zu machen, all das ist wahrhaftig auch in
der Kirche zu finden!" (Derselbe fürchterliche Lärm.)

Die Damen aber konnten diesen wiederholten Lärm nicht hören, ohne dabei
sein zu wollen. Jetzt wurde die Tür geöffnet. Ödegaard sah Petra
zwischen den andern stehen und sagte mit lauterer Stimme: "Freilich gibt
es Schauspieler, die sich auf der Bühne rühren lassen und von dort in
die Kirche rennen und sich da auch rühren lassen,--und doch schlecht
bleiben. Freilich gibt es Schauspieler, die hohle Sprachrohre sind, die
sonst im Leben zu nichts zu gebrauchen gewesen wären, in diesem Beruf
sich aber doch wenigstens als Sprachrohr nützlich machen. Aber meist ist
es so, daß die Schauspieler gleich den Seeleuten oft in den bittersten
Nöten stecken,--denn die Augenblicke vor dem Auftreten können
entsetzlich sein!--und daß sie oft zu einem Werkzeug Gottes berufen
sind, so oft dem Unerwarteten, dem Großen gegenüberstehen, daß sie in
ihrem Herzen eine Furcht und eine Sehnsucht tragen, ein großes Gefühl
des eigenen Unwertes, und wir wissen, daß Christus zu den Zöllnern und
zu den reuigen Sünderinnen am liebsten kam. Ich gebe ihnen keinen
Freibrief; wirklich, je größer die Aufgabe ist, die sie meines Erachtens
im Lande haben,--was auch daraus erhellt, daß in einem Volke nicht viele
große Schauspieler auf einmal leben!--desto größere Schuld laden sie auf
sich, wenn ihr Wirken sie zur Gehässigkeit hinreißt oder sie in einen
schlappen Leichtsinn hineinschleudert. Aber gleichwie es keinen
Schauspieler gibt, der nicht aus einer Reihe von Enttäuschungen gelernt
hat, wie nichtssagend Beifall und Schmeichelei sind, obwohl die meisten
sich den Anschein geben, als glaubten sie daran,--so sehen wir wohl ihre
Fehltritte und ihre Schwächen, aber wir kennen nicht ihr Verhältnis zu
ihnen, und darauf kommt es doch an."

Viele meldeten sich zum Wort, sie fingen auch alle zugleich zu reden an,
aber:

"Ich mag wohl vierzehn Jahre gewesen sein--" klang es vom Klavier her,
und alles strömte ins andere Zimmer; denn Signe sang, und Signes
schwedische Volkslieder waren das entzückendste, was man sich denken
konnte. Ein Lied folgte dem andern, und als nun diese schönsten
Volkslieder der Welt, die treulich Kunde bringen von der Seele eines
großen Volkes, alle in erwartungsvolle Weihestimmung versetzt hatten, da
stand Ödegaard auf und bat Petra, ein Gedicht vorzutragen. Sie mußte
darauf vorbereitet sein, denn sie wurde feuerrot. Aber sie trat sogleich
vor, obwohl sie so zitterte, daß sie sich an einer Stuhllehne festhalten
mußte, dann wurde sie leichenblaß und fing an:

    Ihm ward nicht verstattet, zu fahren hinaus;
    Sein Vater war alt, seine Mutter war schwach,
    Und die Wirtschaft ward größer allgemach:--
    "Was brauchen ihn Wikingerfahrten zu scheren?
    Hier hat er, was immer sein Herz kann begehren."

    Doch der Bursch sah sehnend die Wolken fliehn,
    Sah reisige Recken zur Walstatt ziehn;
    Und sehnend gewahrt' er im Sonnenstrahl
    Den König in seinem prangenden Saal.
    Er stand, er vergaß der täglichen Pflichten,
    Er stand und gedachte der alten Geschichten.

    Ein Morgen kam, wo die Flucht er ergriff
    Zur äußersten Klippe, zum offenen Meer,
    Zu schaun auf das Spiel um Strand und Riff,
    Zu lauschen dem Dröhnen der Brandung umher.
    Es war ein Tag in des Lenzes Beginn,
    Wo der Sturmwind ruft übers Land dahin:
    Du sollst nicht mehr schlafend im Eise stocken!--
    Da mußt' ihn ein Bild zum Wagnis verlocken.

    Da lag ein Langschiff in stahlgrauer Bucht,
    Ausruhend von feindlicher Stürme Wucht.
    Die Segel gerefft vor Anker lag's,
    Schien aber sich wenig zu freuen des Tags;
    Denn die Segel zuckten, der Mast war gebogen,
    Und den schaukelnden Bug umschäumten die Wogen.

    Man gönnte sich kurze Rast an Bord;
    Wer grade nicht schmauste, der schlummerte dort.
    Da hörten sie rufen herab von den Klippen--
    Fast klang's wie ein Wort von des Wahnsinns Lippen--:
    "Ist keinem auf haushohen Wogen geheuer,
    Mich drängt es danach;--drum gebt mir das Steuer!"

    Empor zu dem Berghang blickten ein paar;
    Sonst wandte sich keiner herum von der Schar,
    Und keiner ließ sich die Eßlust rauben.
    Da fiel ein Stein; zwei mußten dran glauben.

    Auf sprang man von Deck; die Schüsseln waren
    Im Nu verschwunden, die Waffen erhoben;
    Es schwirrten die Pfeile;--jedoch der droben
    Stand ruhig und sagte mit festem Gebaren:
    "Hauptmann, magst willig dein Schiff du mir geben
    Oder drum kämpfen auf Tod und Leben?"

    Für Scherz nur nahm es der wilde Hauf,
    Ein Pfeilschuß war die Antwort darauf.
    Der traf ihn nicht. Er sagte gelassen:
    "Noch will mich des Todes Haus nicht fassen.
    Du, der die sämtlichen Meere durchpflügte,
    Kannst dorthin gehn oder heim dich trollen.
    Was immer sich deiner Herrschaft fügte,
    Muß mein sein; denn jetzt begann mein Wollen.
    Du sammeltest mir zu Nutz und Frommen!
    Man wartet auf mich; meine Zeit ist gekommen."

    Stolz lachte der andre in klirrenden Waffen:
    "Ernennt dich dein Sehnsuchtstraum zum Sieger,
    Sollst Frieden du haben. Komm, sei mein Krieger!"--
    "Ich kann nicht; ich bin zum Hauptmann geschaffen.
    Mich weist mein Weg, als Herrscher zu schalten;
    Das Neue kann nimmer gehorchen dem Alten."

    Vergeblich nach Antwort sein Ohr sich spannte.
    Da sprang er hinunter die Felsenkante:
    "Ihr Helden, am Hauptmann ist es, zu zeigen,
    Wem Walvater siegverleihend erschienen.
    Dem Sieger sollen die Mannen sich neigen.
    Schmach denen, die nicht dem Größten dienen!"

    Der Hauptmann erglühte vor Zorn; vom Schiff
    Ins Wasser sprang er und schwamm zum Lande:
    Der andere lief hinab zum Strande
    Und zog ihn herauf mit markigem Griff.

    Der Hauptmann sah ihm ins Aug', und klar
    Erkannt' er, wie hohen Sinnes er war.
    "Werft schnell ihm herüber die fehlenden Waffen,"
    So rief er zum Schiff. "Wirst Sieg du erraffen,
    Dir reichte das Schwert, kannst du dann sagen,
    Er selber, den du damit erschlagen."
    Und am Bergfuß strafften im Kampf sich die Glieder;
    Auf jeglichen Streich folgt' ächzendes Dröhnen.
    Vom Meer scholl zornig des Drachen Stöhnen;
    Bald sank sein Hauptmann getroffen darnieder.

    Ein Schrei zum eisgrauen Felsen klang,
    Von Steven zu Steven hinab in die Fluten
    Stürmten die Mannen in Rachegluten
    Und standen bald oben am Klippenhang.
    Da hob der Gefallene, schon am Rand
    Des Todes, gebietend noch einmal die Hand:
    "Ein Mann muß fallen vorm Lebensreste!
    Denn groß soll enden ein Heldengesang.
    Nehmt ihn zum Hauptmann; er ist der Beste!"

    Da ward ihm für immer Schweigen geboten;
    Die Recken umringten einen Toten.
    An Odins Tisch war bereitet sein Platz;
    Vorm Scheiden wies er den rechten Ersatz.

    Der neue Hauptmann säumte mit nichten.
    Er trat auf den Stein und sprach mit Bedacht:
    "Erst sollt ihr dem Helden ein Grabmal errichten,
    Des Großen gedenkend, das er vollbracht.
    Doch gilt's noch vor Abend die Ruder zu stemmen:
    Der Tod darf die Reise des Lebens nicht hemmen."

    Und das Mal ward gebaut und die Segel gezogen,
    Bald schwankte der Drache auf zackigen Wogen.
    Zu ihm auf der Toteninsel zieht
    Zurück übers Meer ein Weihelied,
    Ein Willkommgruß für den jungen Streiter;
    Kühn steuernd führt er das Fahrzeug weiter.

    Doch als er die Heimatküste berührt,
    Wo alle sich hastig am Strande scharen,
    Um staunenden Blicks den Mann zu gewahren,
    Der Oegers seestarkes Schiff nun führt,--
    Fällt rötlich der Abendsonne Strahl
    Auf Segel und Schiff und den Helden zumal.

    Er steuert so mutig, daß rings im Rund
    Sie angstvoll rufen: "Er geht zu Grund!"
    Er lenkt das Schiff in den wildesten Braus,
    Hinlächelnd zu ihnen: "Darf jetzt ich hinaus?"

Das Gedicht wurde mit bebender Stimme, feierlich und ohne eine Spur von
Ziererei vorgetragen. Alle standen da, als sei zwischen ihnen ein hoher,
hoher Lichtstrahl aus der Erde hervorgebrochen im Regenbogenglanz.
Keiner sprach, keiner rührte sich;--der Kapitän aber konnte es nicht
lange aushaken, er sprang auf, schnaufte, reckte sich und sagte: "Ja,
ich weiß nicht, wie es Euch andern ergeht; aber wenn ich auf die Art
angefaßt werde, dann muß ich, der Teufel hol's--"--"Herr Kapitän, nun
hast Du wieder geflucht", sagte das kleine Mädchen und drohte ihm mit
dem Finger; "nun kommt der Teufel gleich und holt Dich!"--"Ja, das ist
mir ganz egal, Kind, laß ihn nur kommen, denn jetzt muß ich, hol's der
Teufel, ein patriotisch Lied hören!" Ohne weiteres setzte sich Signe ans
Klavier, und die frohe Gesellschaft sang:

      Ich will schützen mein Land,
      Ich will bauen mein Land,
    Will es lieben in meinem Gebet, meinem Kind,
      Will ihm mehren die Macht,
      Will es wissen bewacht
    Bis hinaus zu dem Fischer in Wellen und Wind.

      Hier ist Sonne genug,
      Hier ist Saatgrund genug,
    Wenn nur uns es, nur uns es an Liebe nicht fehlt.
      Hier ist schöpfrischer Drang,
      Der des Werkeltags Gang,
    Wenn wir einig ihm folgen, beschwingt und beseelt.

      Wir befuhren das Meer
      Und die Ströme umher,
    In den Landen rings ragt manch normannischer Turm.
    Doch noch weiter fliegt heut
      Unser Banner und beut
    Seine purpurne Brust immer stärkerem Sturm.

      Und noch vor uns liegt viel;
      Denn wir haben ein Ziel,
    Und dies Ziel ist der Tag, der drei Stämme verschweißt.
      Was du tust, sei ein Zoll
      An ein heiliges Soll,
    Sei ein Quell in den Strom, der die Dämme zerreißt.

      Diese Scholle ist mein
      Und wird teuer mir sein,
    Wie sie's ist, wie sie's war, so in Drangsal wie Glück.
      Und wie sie uns geliebt,
      Diese Heimat, so gibt
    Unser dankbares Herz ihr nun Liebe zurück.

Signe stand vom Klavier auf, trat auf Petra zu, legte den Arm um sie und
zog sie in das Arbeitszimmer, wo weiter niemand war.--"Petra, wir wollen
wieder Freunde sein!"----"O Signe, endlich verzeihst Du mir!"--"Jetzt
kann ich alles tun, was ich soll! Petra, liebst Du Ödegaard
nicht?"----"O Gott, Signe!"--"Petra, das habe ich vom ersten Tage an
geglaubt,--und ich habe gedacht, er sei jetzt endlich gekommen,
um------bei allem, was ich seit zweieinhalb Jahren für Euch gedacht und
getan habe, habe ich dies vor Augen gehabt, und Vater hat es auch
geglaubt; er hat jetzt sicher auch mit Ödegaard darüber
gesprochen."--"Aber, Signe--!"--"Schscht!" sie legte die Hand auf den
Mund und lief aus dem Zimmer; man hatte sie gerufen; man wollte zu Tisch
gehen.

Bei der Abendtafel gab es Wein, weil der Propst beim Mittagessen nicht
zugegen gewesen war. Aber der Propst, der die ganze Zeit über sehr ernst
und sehr still gewesen war, saß auch jetzt da, als sei außer ihm kein
Mensch im Zimmer, bis man von Tisch aufstehen wollte. Da schlug er an
sein Glas und sagte: "Ich habe eine Verlobung zu verkünden!"--Alle
blickten zu den jungen Mädchen hin, die nebeneinander saßen, und die
beiden wären vor Schreck fast vom Stuhl gefallen.

"Ich habe eine Verlobung zu verkünden", fing der Propst wieder an, als
werde es ihm schwer, in Fluß zu kommen. "Ich will zugeben, daß sie mir
im Anfang nicht nach dem Herzen gewesen ist";--alle Gäste blickten
Ödegaard in großer Verblüffung an; diese Verblüffung wuchs ins
Grenzenlose, als er ganz ruhig dasaß und den Propst ansah. "Ich dachte,
offen gestanden, er sei ihrer nicht würdig."--Jetzt wurden die Gäste so
verlegen, daß niemand mehr aufzusehen wagte, und da die jungen Mädchen
das schon lange nicht mehr gewagt hatten, so konnte der Propst nur noch
zu einem einzigen Gesicht sprechen, zu Ödegaards, der freilich mit der
größten Seelenruhe zuhörte. "Aber jetzt," fuhr der Propst fort, "jetzt,
da ich ihn näher kennen gelernt habe, ist es so gekommen, daß ich nicht
weiß, ob sie seiner würdig ist, so groß erscheint er mir jetzt; denn es
ist der Künstlerberuf, die erhabene Schauspielkunst, und die Braut ist
meine Pflegetochter Petra, mein geliebtes Kind; möge es Euch gut ergehen
miteinander! Ich zittere um Euch, aber was Gott zusammengefügt, das soll
der Mensch nicht scheiden. Gott sei mit Dir, meine Tochter!" Sie war im
Nu bei ihm und lag an seiner Brust.

Da keiner sich wieder hinsetzte, so verließ die ganze Gesellschaft
natürlich die Tafel. Petra aber ging auf Ödegaard zu, der gleich mit ihr
in die äußerste Fensternische trat; er hatte ihr etwas zu sagen, aber
sie kam ihm zuvor: "Ihnen verdanke ich alles!"--"Nein, Petra; ich bin
Dir ein treuer Bruder gewesen; es war eine große Sünde von mir, daß ich
Dir mehr sein wollte; denn wäre es geschehen, dann wäre Deine ganze
Laufbahn vernichtet worden."--"Ödegaard!"--Sie hatten sich die Hände
gereicht, sahen sich aber nicht an; nach einer Weile ließ er sie los und
ging. Sie aber sank auf einen Stuhl und weinte.

Am Tage darauf reiste Ödegaard ab.

       *       *       *       *       *

Gegen den Frühling erhielt Petra einen großen Brief mit einem mächtigen
Amtssiegel; sie bekam ordentlich Furcht und brachte ihn dem Propst, der
ihn öffnete und las. Er war von dem Amtsvorsteher ihrer Heimatstadt und
lautete:

"Pedro Ohlsen, der gestern mit Tode abgegangen ist, hat ein Testament
folgenden Wortlauts hinterlassen:

'Alles, was sich nach meinem Tode vorfindet und genau aufgezeichnet ist
in dem Kontobuch, das in der blauen Truhe liegt, die in meinem Zimmer im
Hause von Gunlaug, der Tochter Aamunds am Berge, steht, und zu der eben
diese Gunlaug den Schlüssel hat, wie sie allein auch über alles Bescheid
weiß,--hinterlasse ich hiermit, sofern Gunlaug, Tochter Aamunds, ihre
Zustimmung dazu gibt, die sie nicht geben kann, wenn sie nicht zuläßt,
daß eine Bedingung, die ich daran geknüpft habe und welche sie allein,
die die einzige ist, die sie kennt, erfüllen kann, erfüllt wird--der
Jungfrau Petra, der Tochter der erwähnten Gunlaug, der Tochter Aamunds,
das heißt, wenn Jungfer Petra es nicht für unter ihrer Würde hält, sich
eines alten, kranken Mannes zu erinnern, dem sie viel Gutes erwiesen
hat, obwohl sie nichts davon wußte, was sie ja auch nicht konnte, und
dessen einzige Freude in seinen letzten Lebensjahren sie gewesen ist,
wofür er ihr auch einmal eine kleine Freude hat machen wollen, die sie
nicht verschmähen möge. Gott sei mir armen Sünder gnädig!

  Pedro Ohlsen'

und ich erlaube mir die Anfrage, ob Sie selbst sich deswegen an Ihre
Mutter wenden wollen, oder ob ich es tun soll."

Die nächste Post brachte einen Brief von der Mutter, den Propst Ödegaard
geschrieben hatte, der einzige, dem sie sich anzuvertrauen gewagt hatte;
darin stand, daß sie ihre Zustimmung gebe und die Bedingung erfülle,
Petra mitzuteilen, wer Pedro war.

Die Nachricht und das Geld versetzten sie in eine eigene Stimmung; es
schien, als komme jetzt alles ins Gleichgewicht; es war eine Mahnung
mehr, abzureisen.

Also für ihr Künstlertum hatte der alte Per Ohlsen sich auf Hochzeiten
und bei Tanzereien sein erstes Geld zusammengefiedelt, dafür hatten er,
sein Sohn und sein Enkel sich auf alle Art gemüht und geplagt. Die Summe
war nicht groß, aber sie reichte aus, Petra ein Stück weiter in die Welt
hineinzutragen und damit auch schneller vorwärts.

Hell wie die Sonne aber stieg der Gedanke in ihr auf, jetzt könne ihre
Mutter zu ihr kommen, jetzt könne sie tagtäglich ihrer Mutter Freude
bereiten,--sie könne ihr alles vergelten! Sie schrieb an jedem Posttag
einen langen Brief an sie und konnte kaum die Antwort erwarten. Als sie
kam, brachte sie eine große Enttäuschung; denn Gunlaug dankte ihr,
meinte aber, "jeder bleibe am besten für sich". Da versprach der Propst
zu schreiben, und als Gunlaug dessen Brief bekam, da konnte sie es nicht
länger bei sich behalten, sie mußte ihren Matrosen und ihren andern
Bekannten erzählen, aus ihrer Tochter werde etwas Großes, und sie wolle
sie zu sich nehmen. Dadurch wurde die Angelegenheit zu einer ziemlich
brennenden Frage; sie wurde am Hafen und auf den Schiffen und in allen
Küchen erörtert. Gunlaug, die bis dahin ihre Tochter nie erwähnt hatte,
sprach jetzt von nichts anderem als von "meiner Tochter Petra", wie auch
die andern fortan über nichts anderes mehr mit ihr sprachen.

Aber als Petras Abreise schon bevorstand, hatte Gunlaug noch immer keine
Nachricht gegeben, worüber ihre Tochter sehr betrübt war. Dagegen
versprachen ihr der Propst und Signe feierlich, beide hinzukommen, wenn
sie zum erstenmal auftreten würde.

       *       *       *       *       *

Der Schnee auf den Bergen begann zu schmelzen, auf den Feldern
schimmerte es grün. Das Leben, das zu Beginn des Frühlings in den
Bergtälern erwacht, ist mächtig, wie die Sehnsucht mächtig war; die
Menschen werden flinker, die Arbeit geht leichter von der Hand, die
Wanderlust schaut über die Berge hinweg. Aber obwohl Petra sich
hinaussehnte, hatte sie doch nie diese Stätte und alle Dinge so lieb
gehabt wie jetzt, da sie von ihnen Abschied nehmen mußte; ja, es war
ihr, als habe sie alles bis dahin gering geschätzt, weil sie es erst
jetzt verstand. Nur noch wenige Tage blieben ihr; sie ging mit Signe
überall herum und sagte allen und allem Lebewohl,--zumal den Stätten,
die ihnen zusammen lieb geworden waren. Da erzählte ihnen ein Bauer,
Ödegaard sei oben auf den Öyhöfen und beabsichtige, sie aufzusuchen. Die
Mädchen wurden beide ganz verlegen und stellten ihre Ausgänge ein.

Doch als Ödegaard kam, war er so sonnig und fröhlich, wie man ihn nie
zuvor gesehen hatte. Er war mit dem Vorhaben ins Dorf gekommen, eine
Volkshochschule zu gründen und sie in der ersten Zeit, bis er einen
passenden Lehrer gefunden habe, selbst zu leiten; später wollte er noch
mancherlei anderes ins Werk setzen. Auf die Weise, sagte er, bezahle er
etwas von der Schuld seines Vaters an das Dorf ab, und sein Vater habe
versprochen, zu ihm zu ziehen, sobald das Haus fertig sei. Der Propst
wie Signe freuten sich ungeheuer über diese Nachbarschaft; Petra auch,
aber es befremdete sie doch, daß er sich gerade jetzt hier ansiedelte,
wo sie fortging.

Der Propst wünschte, daß sie am Tage vor Petras Abreise zusammen das
heilige Abendmahl nähmen. Dadurch breitete sich eine stille
Feierlichkeit über die letzten Tage, und wenn sie zusammen sprachen,
taten sie es halblaut. Im Schein dieser Stimmung redete alles, was Petra
zum letztenmal ansah, eine gar ernste Sprache zu ihr. Alles Erlebte
mußte noch einmal durchdacht werden; sie hielt große Abrechnung, denn
bis jetzt hatte sie nie zurück, nur immer vorwärts geschaut. Jetzt
rückte alles zusammen, von der Kindheit an bis heute; wieder ertönten
die ersten lockenden spanischen Lieder, all die Verirrungen einer
verworrenen Sehnsucht, die ihre Kindheit und ihre Jugend in ihr
aufgespeichert hatten, nahm sie sich vor, Stück für Stück, wie man alte
Kostüme anprobiert. Vergaß sie eins, so erinnerte irgend etwas in ihrer
Umgebung sie gleich daran; denn beim Anblick dieses oder jenes
Gegenstandes hatte sie einmal an irgend etwas gedacht, und fortan waren
Gegenstand und Gedanke eins geworden. Besonders das Klavier brachte
überwältigend viele Erinnerungen. Sie blieb daran sitzen, ohne doch den
Mut zu haben, die Tasten anzurühren, und spielte Signe, so konnte sie es
kaum im Zimmer aushalten. Sie war auch am liebsten allein; Ödegaard und
Signe verstanden das und hielten sich zurück; alle Leute sahen sie mit
wehmütiger Freundlichkeit an, und der Propst ging in diesen Tagen nie an
ihr vorbei, ohne ihr übers Haar zu streichen.

Endlich kam der Tag. Es war ein halbklarer, gedämpfter Tag; es taute auf
den Bergen und grünte auf den Äckern. Die vier blieben jeder auf seinem
Zimmer, bis die Stunde kam, da sie zusammen zur Kirche gehen sollten.
Außer ihnen waren nur der Küster und ein fremder Pfarrer zugegen; der
Propst wollte selbst das heilige Abendmahl nehmen; zugleich aber wollte
er die Predigt halten, denn er hatte der Scheidenden besonders ein paar
Worte zu sagen. Er sprach so, wie wenn sie an einem Heiligen Abend oder
einem Geburtstag daheim bei Tisch säßen. Es werde sich bald
herausstellen, meinte er, ob die Zeit, die sie heute mit einem Gebet um
Gnade abschließe, einen Grundstein gelegt habe. Kein Mensch sei ganz er
selbst, bis er zu seinem richtigen Wirken gekommen sei. Es sei ein Beruf
der Verkündigung, der ihr geworden sei, und wer die Wahrheit bringe und
sich selber dessen wert erhalte, der ernte die reichsten und dauerndsten
Früchte. Gott bediene sich ganz gewiß oft auch der Unwürdigen, so gewiß
wie wir im höheren Sinne alle unwürdig seien; er bediene sich unserer
Sehnsucht. Aber es gebe eine Verkündigung, die kein Mensch aus seiner
Sehnsucht allein schöpfen könne, und die wolle sie doch wohl zu
erreichen trachten; alle müßten danach streben, das Höchste zu
erreichen. Er bat sie, zu ihnen zurückzukehren, denn das sei der Sinn
einer Gemeinde, daß Gemeinschaft im Glauben helfe und stärke. Wenn sie
fehlgreife, werde sie hier Barmherzigkeit finden, und wenn sie selbst
nicht wisse, daß sie vom Wege abgekommen sei, so würden sie ihr das in
aller Güte sagen dürfen.

Sie gingen nach der heiligen Handlung zusammen heimwärts, so wie sie
gekommen waren; den Rest des Tages aber verbrachte jeder für sich. Nur
Petra und Signe waren abends lange auf Petras Zimmer zusammen.

Für den nächsten Morgen war die Abreise angesetzt. Bei der letzten
Mahlzeit nahm der Propst sehr zärtlich von ihr Abschied. Er sei mit
ihrem Freunde einig darin, sagte er, daß sie so beginnen müsse, wie sie
nun einmal sei, und allein beginnen. In dem Kampf, der ihr bevorstehe,
werde sie erfahren, wie gut es tue zu wissen, daß da irgendwo ein paar
Menschen beieinander säßen, auf die sie sich verlassen könnte. Schon mit
Bestimmtheit zu wissen, daß sie beständig für sie beteten,--das allein
würde schon helfen, werde sie sehen!--Nach den Abschiedsworten an Petra
bot er Ödegaard einen Willkommengruß. "In Liebe zu einem Menschen
vereint zu sein, sei die schönste Einleitung, einander zu lieben." Der
Propst dachte bei diesem Trinkspruch ganz gewiß nicht an das, was bei
diesen Worten erst Signe und dann Petra erröten ließ; ob auch Ödegaard
errötete, wußten sie nicht, denn keine wagte ihn anzusehen.

Aber als die Pferde vor der Tür standen und die drei Freunde das junge
Mädchen und alle Mägde und Knechte den Wagen umringten, da flüsterte
Petra, als sie Signe zum letztenmal umarmte: "Ich weiß, ich werde bald
eine große Neuigkeit von Euch hören; Gott segne Euch!"

Eine Stunde später zeigten ihr nur noch die weißen Gipfel, wo die Stätte
war.



Zwölftes Kapitel


Eines Abends, kurz vor Weihnachten, war das Theater der Hauptstadt
ausverkauft; eine neue Schauspielerin sollte auftreten, von der alles
mögliche erzählt wurde. Aus dem Volke stammend--ihre Mutter sei eine
arme Fischerfrau--sei sie mit Unterstützung anderer, denen ihre
Fähigkeiten aufgefallen seien, jetzt soweit gediehen und solle zu den
größten Hoffnungen berechtigen. Das Publikum tuschelte sich, bis der
Vorhang aufging, mancherlei in die Ohren. Sie solle eine schreckliche
Range und, seit sie erwachsen war, mit sechs Leuten auf einmal verlobt
gewesen sein, und das ein halbes Jahr lang durchgeführt haben. Sie habe
unter polizeilichem Schutz aus ihrem Heimatsort geleitet werden müssen,
weil um ihretwillen die Stadt in hellen Aufruhr geraten sei; es sei
merkwürdig, daß die Direktion eine solche Person auftreten lasse. Andere
behaupteten, es sei kein Körnchen Wahrheit daran; sie sei von ihrem
zehnten Jahre an bei einer stillen Pfarrerfamilie im Stifte Bergen
erzogen worden; sie sei ein gebildetes, liebenswürdiges Mädchen, sie
kennten sie genau, sie müsse ein unvergleichliches Talent haben; sie sei
doch so hübsch.

Es gab aber Leute, die mehr wußten. Zunächst der über das ganze Land
bekannte Fischgrossist--Yngve Vold. Er war ganz zufällig auf einer
Geschäftsreise hier; man sagte freilich, die glutvolle Spanierin, mit
der er verheiratet war, mache ihm zu Hause die Hölle so heiß, daß er nur
reise, um sich abzukühlen. Heut hatte er sich die größte Loge des
Theaters genommen und seine zufälligen Tischgenossen aus dem Hotel
eingeladen, sich mal "was ganz Höllisches" anzusehen. Er war in
glänzender Stimmung, bis er--war er das denn wirklich?--in einer Loge
des zweiten Ranges, inmitten einer ganzen Schiffsmannschaft,--nein!
doch!--ja natürlich, das war Gunnar Ask! Gunnar Ask, der mit dem Gelde
seiner Mutter Eigentümer und Kapitän der "Norwegischen Verfassung"
geworden war, hatte bei der Ausfahrt aus dem Fjord neben einem Schiff
hergesegelt, das den Namen "Dänische Verfassung" führte; da kam es
Gunnar vor, als wolle dies Schiff ihn überholen, und das konnte doch
nicht gut angehen; er hißte alle Segel, die er hatte, es krachte in der
alten Verfassung, und die Folge war, daß er, um so lange wie möglich den
Wind auszunützen, das Fahrzeug an einer ganz ungeeigneten Stelle auf
Grund rannte. Jetzt lag er unfreiwillig in der Stadt, während "Die
norwegische Verfassung" geflickt wurde. Er hatte in der Stadt eines
Tages Petra getroffen, die hinter ihm herkam und diesmal und später auch
so lieb und nett zu ihm war, daß er nicht nur seinen Groll vergaß,
sondern sich selbst das größte Hornvieh nannte, das aus ihrer
gemeinsamen Vaterstadt je hervorgegangen sei, weil er sich habe
einbilden können, er habe ein Mädchen wie die Petra verdient. Er hatte
heute für seine ganze Schiffsmannschaft Billets zu erhöhten Preisen
gekauft und saß nun da mit dem stillen Vorsatz, sie zwischen jedem Akt
zu traktieren, und die Matrosen, die alle aus Petras Heimatstadt und in
der Wirtschaft ihrer Mutter, diesem Paradies auf Erden, wohlgelitten
waren, empfanden Petras Ehre als ihre eigene und nahmen sich gegenseitig
das Versprechen ab, so zu klatschen, wie kein Mensch es je gehört habe.

Unten im Parkett aber sah man das harte, dichte Haar des Propstes. Er
saß in aller Gemütsruhe da; er hatte ihre Sache einem Höheren
anvertraut. Neben ihm saß Signe, jetzt Signe Ödegaard. Ihr Mann, sie und
Petra waren gerade von einer dreimonatlichen Auslandsreise
zurückgekommen; sie sah sehr glücklich aus und saß und lächelte zu
Ödegaard hinüber; denn zwischen ihnen saß eine alte Frau mit
schlohweißem Haar, das wie eine Krone über dem braunen Gesicht lag. Sie
überragte alle Umsitzenden, sie konnte vom ganzen Hause gesehen werden,
und bald waren auch alle Gläser auf sie gerichtet; denn man sagte, dies
sei die Mutter der jungen Schauspielerin. Sie, die einen männlichen
Namen führte, machte auch jetzt einen so gewaltigen Eindruck, daß sie
ein Licht des Friedens auf die Tochter warf. Junge Menschen sind voller
Erwartung; sie haben den Glauben an die Urkräfte ihrer Natur, und der
Anblick dieser Mutter weckte den Glauben.

Sie selbst sah nichts und niemand; was das alles für Geschichten waren,
kümmerte sie wenig; sie wollte bloß gern mit dabei sein, um zu wissen,
ob die Leute gut gegen ihre Tochter seien oder nicht.

Jetzt mußte es gleich beginnen; das Geplauder erstarb in einer Spannung,
die nach und nach alle erfaßte und sie gütig stimmte.

Mit einem starken Paukenschlag, mit Trommeln und Hörnern zugleich setzte
die Ouvertüre ein. Adam Oehlenschlägers "Axel und Valborg" wurde
gegeben, und Petra hatte selbst um diese Ouvertüre gebeten. Sie saß
hinter einer Kulisse und hörte zu. Vor dem Vorhang aber saß der kleine
Teil ihrer Landsleute, den das Haus fassen konnte, voll Sorge um sie,
wie immer vor einem Anfang, der uns erwartungsvoll macht, weil er einen
köstlichen Besitz offenbaren soll. Es war, als müsse jeder von ihnen
selbst vor die Rampe; in solchen Augenblicken steigen viele Gebete
empor, auch aus Herzen, die sonst selten beten.

Die Ouvertüre ebbte ab; Friede breitete sich über die Harmonien,
allmählich verschmolzen sie wie im Sonnenschein. Die Ouvertüre war zu
Ende, eine bange Stille trat ein.


Und der Vorhang ging auf.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Gesammelte Werke in fünf Bänden — 1. Band" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home