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Title: Die Last
Author: Engel, Georg, 1866-1931
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Last" ***


                                Die Last

                                Roman von
                               Georg Engel


                              Ullstein & Co
                              Berlin • Wien



                                                Motto:

                              Nicht an einer Person hängen bleiben: und
                              sei sie die geliebteste – jede Person ist
                              ein Gefängnis, auch ein Winkel.

                              – – Nicht an einem Mitleiden hängen
                              bleiben: und gälte es höheren Menschen, in
                              deren seltne Marter und Hilflosigkeit uns
                              ein Zufall hat blicken lassen.

                                                       Friedr. Nietzsche



Erstes Buch.

I.


Es war Tag geworden.

Noch immer rieselte der Regen und troff an den kleinen Fenstern der
Krankenstube herunter. Bleigraues Licht stahl sich zögernd durch die
Gardinen und mischte sich mit dem Schein der Lampe, die auch jetzt noch
vor dem Bette brannte.

Auf dem großen Bauerngutshof erwachte einiges Leben. Man hörte zuweilen
ein dumpfes Aufbrüllen der Kühe, und dazwischen das vereinzelte Rufen
der Knechte. Doch klang alles gedämpft, als fürchte man, die Kranke zu
stören.

Etwas Totes, Gedrücktes lag über dem Gehöft; und je mehr das trübe
Sonnenlicht vorrückte, in desto größere Lautlosigkeit verfiel das
Anwesen.

In dem weiten, zur ebenen Erde gelegenen Zimmer wurde ein schwacher Ruf
laut. Kränklich, hohl, gebrochen, ein wenig gereizt klang er, aber so
leise die Stimme auch flüsterte, sofort fuhr aus dem ledernen Sessel
neben dem Bette ein Mann von mächtiger, imposanter Gestalt auf, rieb
sich ein wenig die Augen, strich ein paarmal energisch über seine
dicken, kurzgeschorenen Haare und legte dann seine Finger behutsam auf
die Hand der leidenden Frau.

»Na, Elsing,« forschte er aufmunternd, wobei er seine Stimme soviel als
möglich herabdämpfte, »geht’s ein bißchen besser?«

Statt einer Antwort rang die Angeredete die Hände und vergrub ihr
Antlitz in die Kissen: »Du lieber Gott,« stöhnte sie leise, und es war
beinahe, als ob aus dem weißen Linnen ein Schluchzen dränge.

Der Mann ließ seine Hand aufs Knie sinken und starrte auf den hellen,
sandbestreuten Estrich der Stube.

Plötzlich warf sich das junge Weib herum und forschte hastig: »Du bist
wohl eingeschlafen, Wilms?«

Seltsam, – neidisch fast schien die Frage.

»Ja, ich bin ein wenig eingenickt,« gab der Gatte zu. Und wieder konnte
man leise Entschuldigung aus den Worten hören. »Ich sitz’ ja nun auch
bald die vierte Nacht so,« murmelte er halb für sich.

Es wurde still.

Aus der Ecke nur tönte das schwere Tick-tack einer unförmlichen
Kastenuhr, und zuweilen knirschte der Sand unter dem Stiefel des Mannes.

Die Leidende seufzte und schien die rechte Lage nicht finden zu können.
Endlich streckte sie sich und blickte in das trostlose Grau des
Regentages hinaus.

Welche Traurigkeit dort draußen und hier drinnen.

Gegen die Fenster stäubte der Regen, Hagelkörner schlugen scharf gegen
die Scheiben, und über die Wangen der Liegenden floß eine Träne.

»Lösch’ die Lampe aus, Wilms,« bat sie, »meine Augen – es tut mir weh.«

Er schraubte das Licht herunter, sofort sah es in der Stube noch fahler
aus.

»Armes Weib,« murmelte er, »armes Weib.« Er strich über ihre Haare und
richtete sich langsam auf. Dann schritt er zur Tür. – Aber er sollte
nicht hinausgelangen.

»Wilms.«

Sein Weib hatte sich aufgerafft. »Du sollst nicht fort,« rief sie
angstvoll, »ich kann nicht allein bleiben – mich friert, wenn du draußen
bist!«

»Elsing – unsere Wirtschaft leidet darunter – ich muß –«

»Ja, ja – die Wirtschaft – immer die Wirtschaft,« stieß die Kranke
hervor und fiel erschöpft in ihre Kissen zurück, »und ich liege hier in
meinem Elend – zwei Jahre – zwei ganze Jahre schon, und keiner hilft
mir, keiner, zur Last falle ich jedem – auch dir –«

»Elsing, ich –«

»Ja, auch dir,« fuhr sie atemlos fort, »ich merk’ das sehr wohl – du
hast nur Mitleid für mich – nur Mitleid. Und wir haben uns doch aus
Liebe geheiratet.«

Er war zögernd an ihr Bett getreten und plötzlich umschlang sie seinen
Hals: »O Gott – o Gott, ich bin wohl sehr häßlich geworden?« forschte
sie, am ganzen Leibe zitternd. »Nicht wahr, gesteh’s nur ganz offen.«

»Elsing,« – die Stimme des Mannes zitterte leicht. Er hatte sich auf den
Bettrand gesetzt und ließ ein paar Strähnen ihrer langen, blonden Haare
durch seine Finger gleiten. »Elsing,« beteuerte er dann, »für mich bist
du noch so schön, wie in der ersten Stunde – sieh doch bloß deine
langen, weichen Flechten – und der kleine Mund und die lieben, blauen
Augen – alles so hübsch, mein armes Kind.«

Es mußte ihn doch übermannt haben, denn er schloß sein Weib in beide
Arme und küßte es zärtlich auf die Lippen. Die Kranke schmiegte sich
befriedigt an seine Brust und für einen Augenblick schien sie beglückt
und hoffnungsfreudig. Wenigstens wandte sie sich bald auf die Seite und
forderte ihn mit ihrer erregten Stimme auf: »Wilms, gib mir die Bibel
von dem Tisch – so, und nun geh – geh nur und schlag ein Auge auf die
Wirtschaft – es muß ja doch sein.«

Da ging der Mann schwerfällig hinaus; allein als sich die Tür
geschlossen hatte, blieb er stehen und lauschte zurück.

Und trübe schüttelte er den Kopf. – Mit welch fieberhafter,
leidenschaftlicher Glut sein Weib dort drinnen las. Sie sang beinahe; –
ekstatisch, wie berauscht tönten die heiligen Worte:

›Und siehe, ein Weib, das zwölf Jahre siech war, trat zu ihm und rührete
seines Kleides Saum an.

Da wandte sich Jesus um und sahe sie und sprach: Sei getrost, meine
Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und das Weib ward gesund zur
selbigen Stunde.‹

»Und ward gesund zur selbigen Stunde,« wiederholte es drinnen, wie
verzückt. Dann einen Moment Stille, aber plötzlich mit herzzerreißendem
Schluchzen: »O Gott – und ward gesund – lieber – lieber – Gott.«



II.


Als Wilms auf den Hof heraustrat, atmete er tief auf. Hier wehte doch
frische Luft, hier beengte ihn die Hitze der Krankenstube nicht mehr,
und erfrischend rieselte der Regen auf sein entblößtes Haupt.

Merkwürdig. – Er hatte doch schon so oft mitten auf seinem Gehöft
gestanden, aber heute befiel ihn zum erstenmal der Gedanke, daß all sein
Hab, Häuser und Scheunen, Ställe und Gerätschaften, Menschen und Vieh
wie von einem drückenden Traum befangen wären.

Es zerfiel und zerbröckelte alles, es wurde morsch und verging. – Und er
selbst?

Erschreckt fuhr er auf.

Drüben in dem Strohdach der Kornscheuer klaffte eine beträchtliche
Spalte. Ungehindert floß der Regen hindurch und machte ihm die
Wintersaat faulen. Keiner meldete ihm den Schaden, er selbst hatte ihn
nicht bemerkt.

Früher war er als der werktätigste Landwirt Vorpommerns bekannt
gewesen; er allein wußte, wie durch Zauber, dem fetten Boden dreifach
die goldigen, Nahrung bringenden Körner abzugewinnen; jetzt stand es
anders. – Es ging bergab mit ihm.

Ein Lastwagen lag in einer Ecke des Hofes auf drei Rädern. Das vierte
gebrochen daneben. – Ob man nach dem Stellmacher geschickt hatte?

Gerade schlich ein Knecht hinter dem Gefährt träge dahin, Wilms rief ihn
laut an; aber der Mann wußte von nichts, und schon wollte ihn der
Landwirt mit einem kräftigen Fluch zurechtweisen, da dachte er an die
Kranke, und beinahe flüsternd befahl er dem Manne, den Stellmacher zu
holen.

Der Knecht trottete davon, und Wilms setzte seine grobe Mütze auf und
schritt schwerfällig die Landstraße entlang. Zu beiden Seiten dehnten
sich seine Felder.

Auf das braunschollige Ackerland rauschte hörbar der Regen, und nur
allmählich vermochte der Landwirt seine Leute zu erkennen, so dicht
wogte der schwere Nebel um sie herum. Grau und gespenstig tauchten
Männer und Frauen aus den Wolken hervor, und verschwanden bald wieder,
als hätte sie der Boden eingesogen.

»Wie steht’s mit den Kartoffeln, Karl?« fragte Wilms endlich einen
jungen, flachsköpfigen Burschen, der tiefgebückt die gesammelten Knollen
in einen Korb warf.

»Der Herr weiß ja – der Regen – es dauert schon zu lang.«

»Ja, ja« – Wilms ballte die Fäuste, und in sein ernstes, ehrliches
Antlitz gruben sich tiefe Falten. Wie er sich jetzt langsam und ermüdet
auf einen eisernen Pflug niederließ, der auf dem kotigen Acker herumlag,
da hätte man ihn für einen alten, gebrochenen Mann halten können. Und er
zählte doch erst zweiunddreißig Jahre und stand in der Blüte der Kraft.

Und die Nebel krochen um ihn herum, formten sich, ballten sich, und es
war, als ob sie ein häßliches, graues Weib bildeten, zahnlos, mit
wackelndem Kopf – eine dürre Vettel, wohlbekannt allen Bedrückten – die
Not, die grinsende Not, und sie hinkte auf ihn zu und streichelte ihn.

Er sank immer tiefer in sich zusammen und ließ seine Leute schaffen, was
sie wollten.

Da klang Wagengerassel die Landstraße herab. Ein elendes, ächzendes
Gefährt näherte sich, und herab stieg ein wohlbeleibter Mann mit grauem
Stoppelbart, und in den Stoppeln saß ein sehr rotes, verschwollenes
Gesicht, aus dem ein Paar wässerige Äuglein und eine Hakennase lustig
hervorlugten. Der Ankömmling hieß »Herr Rosenblüt«, klimperte im
Augenblick mit einer dicken goldenen Kette und war der Kompagnon einer
in dem Landstädtchen Grimmen sehr angesehenen Viehexportfirma. – Ein
gesetzter, umgänglicher Mann.

Heute zeigte sich der Viehhändler indes sehr aufgeregt. Er schritt
gleich auf den Landmann zu und pflanzte sich prustend und atemholend vor
ihm auf.

»Herr Wilms,« begann er unvermittelt und fuchtelte mit seinem Stock hin
und her. »Was soll das heißen? – Was ist denn geschehen – bei Ihnen zu
Haus? Als ich vorbeigefahren bin ...«

»Doch nicht meine Frau?« stammelte Wilms und sprang auf – »nicht wahr? –
So sagen Sie’s doch,« wiederholte der unglückliche Mann heiser.

»Nein, nein, nicht Ihre Frau – ich meine bloß – – es ist da einer von
den Blauen, von den Gerichtsvollziehern. Na kommen Sie schnell auf
meinen Wagen« – und leise setzte er hinzu: »Was wollen Sie erst einen
Aufstand vor Ihren Leuten machen? Beeilen Sie sich, Herr Wilms.« Bald
knarrte und ächzte das Fuhrwerk auf Wilms’ Gehöft zu, und Herr
Rosenblüt saß neben dem Besitzer und starrte ihm ängstlich ins Gesicht,
bis sie den Wirtschaftshof erreicht hatten.

Hier hielt der Wagen, und der Bauer sprang herab und blickte sich scheu
um.

Mitten auf dem Platze stand der Gerichtsvollzieher von Grimmen und
unterhandelte laut und barsch mit Jochen, dem Pferdeknecht, der von Zeit
zu Zeit einen ängstlichen Blick auf die Fenster der Krankenstube warf
und den Beamten zu bitten schien, leiser zu verfahren.

Alle Leute des Anwesens waren an diese Rücksicht auf die leidende Frau
gewöhnt; ein lautes Wort, mitten in der dumpfen Stille, war unerhört,
erschreckte alle förmlich.

»Da is uns’ Herr,« sagte der Knecht endlich erleichtert, als er des
Bauern und seines Begleiters ansichtig wurde. Wilms kam schwerfällig
näher, seine Gestalt sank immer mehr zusammen, als ob auf seinem Nacken
sichtbarlich eine allzu schwere Last gelegt sei, und auf der Stirn
perlten große Tropfen. Mit flüsternder, heiserer Stimme bat er den
Beamten, mit ihm in die nächste Scheuer zu kommen. – Nur nicht hier –
hier könnte man die Kranke stören, sie dürfte ja von nichts wissen; das
könnte ihr den Rest geben. »Ich bitt’ Sie, kommen Sie mit mir – ein
paar Schritte.«

Jedoch der Gerichtsvollzieher hielt das für überflüssige Zeitvergeudung.
Er knöpfte seinen Rock auf, nahm ein gestempeltes Papier heraus, das er
prüfend überflog, und während er sich dazu wohlgefällig und amtswürdig
seinen militärischen Schnurrbart strich, las er trocken vor: »Beauftragt
vom Grafen Brachwitz auf Boltenhagen – Zahlung der rückständigen Pacht
vom 1. April – 3600 Mark – – nicht eingegangen – hm – vorzunehmende
Zwangspfändung.«

»Was? Vom April sind Sie dem Grafen noch schuldig?« warf der Viehhändler
dazwischen.

Der Gerichtsvollzieher faltete das Blatt wieder zusammen und pflanzte
sich vor dem Besitzer auf:

»Können Sie zahlen, Herr Wilms?« fragte er prompt.

»Nein.«

»Na, dann muß ich anfangen. Nehmen Sie’s nicht übel.«

»Aber – wenn Sie mir nur – nur bis morgen Zeit lassen wollten,« stöhnte
Wilms und legte sich die Hand vor die Stirn. »Nur bis morgen – ich
könnte mich ja noch an jemanden wenden. – Ich hatte in der letzten Zeit
mit meiner Frau so viel – aber es ist doch vielleicht noch möglich.«

»Tut mir leid – strenge Ordre.« Der Gerichtsvollzieher knöpfte dabei
seinen Rock zu und wandte sich an den Knecht.

»Wollen gleich mit dem Vieh anfangen,« befahl er kurz. »Wo haben Sie die
Schweine?«

»Dann zeig dem Herrn, Jochen.« Wilms hatte es tonlos gesprochen und
wandte sich jetzt schnell ab. Selbst dem Viehhändler hatte er nicht mehr
die Hand zum Abschiede gereicht. Er ging langsam in das Wohnhaus und
trat in das Zimmer seines Weibes.



III.


Wie er sie verlassen, ebenso lag Else noch jetzt. Mit der linken Hand
hatte sie die Bibel umklammert, die rechte fingerte nervös an der Wand,
und ihre krankhaft leuchtenden Augen waren auf das Fenster gerichtet.
Die ungewohnte Bewegung auf dem Hof, das Knarren der Torflügel, das
jetzt laut werdende Grunzen der Schweine, alles störte sie. Sie war ganz
aufgeregt, und als Wilms sich neben ihr Bett setzte, forschte sie
atemlos nach dem Grund all dieses Lärms. – – Ja der Grund –

Durfte ihr der Mann die wahre Ursache verraten? Konnte er gestehen, daß
man jetzt den besten Teil seines Besitztums forttriebe, daß andere
Trümmer bald folgen, und alle Pfosten seines Hauses um ihn
zusammenbrechen würden, um ihn, den starken, kräftigen Mann, der nun
schon seit Jahren, wie gelähmt, an dieses Bett geschmiedet war, so fest,
daß alle Bewegungsfähigkeit gehemmt schien? – Merkwürdig, ihm war es,
als wäre sein Weib gesünder, als er; und er selbst gebrochen,
ausgezehrt, kraftlos, ein toter Mann, der in dem großen Lehnstuhl hockte
und vor sich hinstarrte.

»Was hantieren sie denn dort draußen so laut?« klagte das Weib und
klappte nervös mit dem Deckel der Bibel – »soll denn gar nicht ein
bißchen Rücksicht auf mich genommen werden, Wilms?«

Der Landmann raffte sich zusammen. Nur schonen die arme Frau, war sein
einziger Gedanke. – Der Gedanke, der ihm die Not ins Haus gerufen.

»I, Elsing, das wird wohl bald wieder aufhören.«

»Ja, aber was machen sie denn?«

»Ach, Rosenblüt ist bloß da und – und kauft mir Vieh ab.«

»Der Jude?« rief die Kranke und richtete sich auf. – »Sieh – sieh da,«
stotterte sie und zeigte gerade aus, »da steht er vor dem Fenster – und
guckt hinein, gerade auf mein Bett.« Entsetzt fiel sie zurück und zog
die Decke hoch, so daß sie nicht mehr bemerken konnte, wie Rosenblüt mit
allerlei Grimassen ihren Mann hinauswinkte. »Wilms, ich kann den Juden
einmal nicht leiden – was hast du auch immer mit ihm. Immerfort was. Der
Herr Pastor sagt auch, daß du dich zuviel mit ihm abgibst.«

»Still, Elsing, ich hab’ schon manch gutes Stück Geld an dem Mann
verdient.«

»Ach wo – die betrügen ja alle. Du verstehst bloß die Wirtschaft nicht.«
– Das war ein böses Wort.

Wilms zuckte zusammen und griff nach seiner Brust. Draußen winkte Herr
Rosenblüt immer energischer.

»Ich muß jetzt aber doch einen Augenblick auf den Hof, Elsing,«
ermunterte sich der Mann endlich.

»Schon wieder?«

Sie warf ihm einen flehenden Blick zu und ergriff seine Hand: »Du bist
ja eben erst hereingekommen. – Und dann – mir ist immer so wohl, wenn du
bei mir bist, sobald du mich aber allein läßt, dann überfällt mich
wieder die schreckliche Angst – du weißt ja – als ob mir was auf der
Brust säße« – sie keuchte – »nicht wahr, du bleibst?«

Er blieb und sank ohne eine Antwort in dem hohen Lehnstuhl zusammen. Das
war das Bild seines Lebens. – Die Last zog an ihm und zog ihn abwärts.

Jetzt sprach und fragte sie immer hastiger weiter. Wie es mit der
Wirtschaft stünde? – Doch gut? Und der Pastor hätte ihr eine Annonce
gebracht, in der ein beweglicher Krankenstuhl nicht allzu teuer
angepriesen würde. 150 Mk. »Nicht wahr, das ist nicht zu viel? – Das
erübrigst du doch für deine Frau? Du hast mich doch lieb? Nicht wahr?« –
Und dann kamen die Erinnerungen. Wie sie noch frisch und gesund in ihrem
Hauswesen herumgesprungen wäre, und wie furchtbar verliebt Wilms sich
als junger Ehemann gebärdete. Hinter jeder Tür, wo es die Leute nicht
sehen konnten, hätte er um einen Kuß gebettelt. »Ach, küsse mich noch
einmal so. – Ich bin doch eigentlich noch so jung.«

Halb betäubt sank sein Haupt an ihre Brust. Er war so zerschmettert, daß
er für nichts mehr das volle Verständnis besaß.

Da wurde an die Tür geklopft. Erst leise, dann energisch, und
schließlich trat Herr Rosenblüt ins Zimmer und blickte sich verdutzt in
der Krankenstube um. Die dumpfe Luft und das Bild der beiden sich
umschlungen haltenden Gatten ließ ihn einen Moment verstummen, eine Art
Rührung zuckte in den Zügen des Händlers auf, dann aber drängte die Zeit
gar zu gewaltig, und er räusperte sich stark: »Guten Morgen – Frau Wilms
– ich bitte um Entschuldigung – wie geht es Ihnen? – aber es ist die
höchste Zeit, Herr Wilms – ich muß mit Ihnen reden, jetzt sofort. Der
Kerl ruiniert Ihnen ja die ganze Wirtschaft.«

Die fremde Stimme traf Else wie ein Schuß.

»Großer Gott, wer ist das?« stammelte die Kranke, als sie den
Eindringling, der ihr eine linkische Verbeugung machte, gewahrte, und
über ihr Gesicht flutete eine brennende Röte: »Was will er hier? –
Wilms, mein Zimmer ist doch nicht zu Geschäften da? Warum gehst du mit
dem Herrn nicht in die Wohnstube?«

Es war ein unfreundlicher Gruß, und Herr Rosenblüt stand wie
angedonnert. Erst als Wilms ihn unter den Arm faßte und begütigend
aufforderte, ihm zu folgen, hatte sich der Händler soweit gefaßt, daß er
energisch den Hut schwenken und gereizt auffahren konnte:

»Wozu? Da kann ich ja auch gehen. Adieu auch, Herr Wilms, empfehle mich
Ihnen, verehrte Frau.« Aber Wilms ließ ihn nicht, und mit vielen Bitten
und Entschuldigungen schob er ihn durch eine braunlackierte Tür, in
deren Mitte ein großes, ovales, durch eine Gardine verdecktes
Guckfensterchen angebracht war, aus dem Zimmer. In der Wohnstube standen
einfache grüne Ripsmöbel, gestickte Deckchen prangten auf dem Sofa, und
mitten durch die Zimmerdecke zog sich ein großer, tapetenüberklebter
Balken. Hier fiel Wilms in einen der Polsterstühle nieder, stützte
seinen Kopf in die Hand und fragte endlich den Geschäftsfreund nach
dessen Begehr, aber es klang alles so zerstreut, so fern und tonlos, als
ob der Geist des Mannes auf düsteren Irrpfaden wandele. Und dieses
Gebrochensein, dieses vollständige Einschlafen einer ehemals großen
Kraft erschütterte den andern. Mitleidig halb, und halb furchtsam, trat
er auf ihn zu. Dann berührte er mit seinem Stock die Schulter des
Sitzenden, und während er ihm nun unaufhörlich leise auf die Achsel
schlug, redete er eindringlich auf ihn ein. Es war ein langer Vortrag,
aber Wilms hörte nur eins heraus, und das war etwas Hoffnungsfreudiges,
mitten in seiner trostlosen Nacht, ein Frührotschimmer, ein
aufblitzendes Licht. – Herr Rosenblüt war über die Pfändung empört. –
Der Beamte hätte gewiß das Doppelte des Werts aus der Wirtschaft
gezogen, die schönsten Stücke Vieh, ohne die der Besitzer gar nicht
weiter existieren konnte. Seine Entrüstung war zu ehrlich, es sprudelte
nur so aus ihm. – »Was soll das heißen? – Daran verdient der Graf ja ein
Heidengeld? – Die besten Tiere – Kunststück. – Wilms, wissen Sie was?
Ich zahle Ihnen die 3600 Mark, und Sie stellen mir dafür die
gepfändeten Stücke beiseite. Und wenn Sie in acht Tagen die Summe nicht
an mich zurückerstatten können, dann, nun dann gehört alles mir. – Das
ist ’ne Spekulation. – Ich bin ein Geschäftsmann – das ist ’n Geschäft –
wollen Sie?«

»Ja, ja.« O, es war ja dem Verschmachtenden, als hätte ihm eine
freundliche Hand einen Trunk kalten Wassers nach staubiger Wanderung
gereicht. Er fühlte förmlich, wie ihn etwas erfrischend, wohlig
durchrieselte. Langsam stand er auf und reckte sich. – Acht Tage Zeit –
noch eine ganze Woche? – Ja, bis dahin mußte ja Rettung kommen, irgend
woher, gleichviel, jedenfalls war vorläufig die entsetzlichste Last von
seiner Seele gewälzt. Tief atmete er auf, seine Brust hob und senkte
sich rasch.

»Ja, alter Freund, natürlich, ich nehme es an, mit tausend Freuden,
geben Sie her.«

Der Händler jedoch hielt noch einen Augenblick mißtrauisch inne.

»Herr Wilms, nehmen Sie mir’s nicht übel, ich habe noch eine Bedingung.«

»Ach wohl wegen der Zinsen?«

»Bewahre – das wird sich schon finden, versteht sich, Zinsen auch. Nein,
es betrifft etwas anderes, aber das sag’ ich Ihnen später. Jetzt gehen
Sie raus, und machen Sie Ihre Sache mit dem Blutsauger da draußen ab. –
Vorwärts.«

Damit zählte er eine Anzahl Kassenscheine auf den Tisch. Wilms griff
danach und schritt ohne ein weiteres Wort auf den Hof hinaus, wo der
Vollzugsbeamte in dem Viehstall sein Werk gerade beendet hatte.

In wenigen Minuten hielt der Überraschte die fragliche Summe in der
Hand, schrieb noch im Stehen eine Quittung, schüttelte Wilms die Hand,
sprang auf seinen Wagen und rasselte vom Hof herunter.

Das Werk eines Augenblicks, es war alles wie ein verfließender, böser
Traum. Wilms und Rosenblüt standen unter dem morschen Tor und blickten
dem entschwindenden Gefährt nach. Als es jedoch hinter dem Tannenschlag
in einer Senkung der Chaussee untergetaucht war, pflanzte sich der
Händler vor seinem ernsten Geschäftsfreund auf, steckte die eine Hand in
die Tasche und klapperte mit seinem Stock an den Stangen des Zaunes hin
und her.

»Hören Sie mal, alter Freund,« begann er endlich unruhig und spie vor
sich hin. »Jetzt will ich Ihnen auch sagen, was ich von Ihnen verlange.
Wenn ich um mein Geld unbesorgt sein soll, dann müssen Sie sich wieder
ausschließlich um Ihre Wirtschaft kümmern. – Und das können Sie nur,
wenn Sie sich bei Ihrer Frau eine Vertretung anschaffen. ’ne Pflegerin,
oder so was Ähnliches. Es gibt ja Krankenschwestern genug. Auch kann ich
mich ja mal in Grimmen danach umsehen.«

Wilms strich mit der Hand über die Stirn. Das, was er eben vernommen,
klang wie eine eherne Anklage in ihm fort. »Ja, ja,« murmelte er halb
für sich, »ich habe ja auch schon daran gedacht – aber es geht doch
nicht.«

»Geht nicht?«

Herr Rosenblüt fing an, sich zu ärgern.

»Ja, warum denn nicht?«

»Weil meine Frau keine Fremde im Hause dulden will. – Ich muß ihr den
Willen tun, dem armen, gequälten Weib.«

»Zum Teufel, dann lassen Sie doch eine Verwandte kommen. – Und ja –
hören Sie mal« –

Der Redende richtete sich plötzlich auf und schlug dem Hofbesitzer
energisch auf die Schulter – »Donnerwetter, da fällt mir etwas ein.
Wilms, Ihre kleine Schwägerin ist ja vor ein paar Tagen aus Stralsund
zurückgekommen. Ich sah sie gerade aus dem Wagen steigen, als sie in
das Haus Ihres Schwiegervaters ging. Ein strammes Ding, so groß« – Herr
Rosenblüt zeigte eine gigantische Höhe – »die nehmen Sie sich – die wird
hier schon Ordnung schaffen. Na, und wenn Sie wollen, will ich selbst in
Grimmen mit dem Alten ein paar Worte reden. – Na also?«

Wilms war gepackt. Fest starrte er den Händler mit seinen überbuschten,
blauen Augen an und sann nach. Zwar kannte er die jüngere Schwester
seiner Frau kaum. Als er damals um Else freite, war die kleine Hedwig
ein sechzehnjähriges, schweigsames scheues Mädchen gewesen, dem er nicht
viel Beachtung geschenkt hatte. Ja, er besann sich, daß ihr eigentümlich
lauerndes, verschlossenes Wesen ihn manchmal verdrossen, aber doch – –
der praktische Händler hatte offenbar das Rechte getroffen.

Gegen ihre Schwester konnte Else nichts einwenden. Und vor allen Dingen:
er wurde frei, frei und unbehindert für sein mühseliges Gewerbe. – Noch
einen Augenblick schwankte er, noch einmal überflog er kurz das Fenster
der Krankenstube, dann erklärte er dem Händler entschlossen, daß er
seinen Rat befolgen würde. Noch heute sollte ein Brief an den
Schwiegervater des Landmanns, den alten Rendanten Schröder zu Grimmen,
abgehen.

»Bravo! – ein Mann ein Wort, Herr Wilms,« mahnte der Kaufmann dringend,
als er seinen harrenden Wagen bestieg, »nicht wahr?«

Der Angeredete nickte mit dem gewaltigen Haupt:

»Seien Sie unbesorgt, Herr Rosenblüt.«

»Und wenn ich wiederkomm’, sieht es hier anders aus,« rief der
Scheidende zurück, dann ein Händedruck, und auch der zweite Wagen rollte
davon.

Wilms aber stand mitten auf der Landstraße und sah ihm nach.

Eine seltsame, beklommene Freudigkeit befiel ihn. Und langsam und
sinnend schritt er in sein Haus zurück.



IV.


Es war an einem Sonntag.

Der Regen hatte aufgehört. Ein frischer Wind fuhr über die herbstlichen
Felder. Weit und mächtig spannte sich der blaue Himmel aus, und über
Baum und Strauch, Weg und Steg lag heller Sonnenschein.

Von der Stationsuhr des winzigen Sekundärbahnhofs von Boltenhagen schlug
es elf. – Um diese Stunde mußte Wilms’ junge Schwägerin eintreffen.

Hinter dem Bretterverschlag, welcher den Warteraum vorstellte, obwohl er
vollständig unbedeckt war und mitten auf freiem Felde lag, hielt der
Pächter bereits seit einer Viertelstunde mit einem bequemen Korbwagen
und blickte nachdenklich auf die glänzenden Schienen, die im
Sonnenlichte gleißten und funkelten.

Er dachte daran, ob ihm auf dem eisernen Wege wohl etwas Gutes entgegen
rollen würde? Ob er in Hedwig jene Stütze und Hilfe finden könnte, die
er suchte? – Merkwürdig, so oft er an das Mädchen dachte, befiel ihn
wieder dasselbe unangenehme Gefühl, das sie ihm als Kind bereits
eingeflößt. – – Aber sie konnte sich doch in der Zwischenzeit geändert
haben. Zwei Jahre bewirkten ja viel, und sie hatte gewiß in der
Stralsunder Pension sich außerordentlich vervollkommnet. Natürlich, es
war lächerlich, immerfort an dieser instinktiven Abneigung
herumzugrübeln.

Nein, er wollte – – –

Ein eleganter Jagdwagen fuhr in diesem Augenblick vor und schreckte den
Landmann aus seinen Betrachtungen auf. Gravitätisch stieg der Kutscher
in einer reichen, silberüberladenen Livree vom Bock, und Wilms erkannte,
daß sein Gutsherr Graf Brachwitz, derselbe, der so streng auf die
Eintreibung des Pachtgeldes bestanden, ebenfalls einen Gast erwarten
müsse. Jedoch der Landmann war nicht neugierig, der Kutscher schritt
vornehm an ihm vorüber, und um dieselbe Zeit verkündete ein rasches
Keuchen und Prusten das Nahen des Zuges. Mit einem Sprung war Wilms an
den Schienen, die Bahnhofsglocke erklang, langsam und kreischend hielten
ein paar Waggons mitten auf dem freien Felde an. Und da – aus einem
Coupé sprang rasch und elastisch eine schlanke und dabei doch voll und
kräftig gewachsene Mädchengestalt heraus, sah sich um, und hatte mit
einem, einzigen, klaren, zielbewußten Blick den Wartenden erkannt.

»Schwager.«

Wilms horchte auf. Die Stimme tönte so frisch und hell, so
willenskräftig, beinahe, als wenn sie das Befehlen gewohnt wäre. –
Seltsam, das Mädchen war auch zweiter Klasse gefahren; das war ja eine
Dame. Und als er nun endlich vor ihr stand, ihr die Hand
entgegenstreckte und ein paar ungeschickte Begrüßungsworte
hervorbrachte, da leuchteten ein paar große, braune Augen erst einen
Moment forschend in die seinen hinauf, dann reichte sie ihm unbefangen
den Mund, und mit einer gewissen peinlichen Beklemmung mußte sich der
große ungeschickte Mann herabbeugen, um die roten Lippen einer ihm
beinahe fremden Person zu küssen. Eine fröstelnde, unangenehme
Empfindung beschlich ihn dabei. – Und diese vornehme Gestalt sollte bei
ihm die Wirtschaft führen? – Rasch nahm er ihr eine kleine Handtasche
ab, und wollte sie eben zu seinem Wagen geleiten, als er plötzlich von
einem jungen Herrn im Jagdkostüm angesprochen wurde, der sich ihm
lachend in den Weg stellte.

»Halt, Herr Wilms, nicht so schnell – na, Mensch, kennen Sie Ihre alten
Freunde nicht mehr?« Dabei lüftete der Jäger vor Hedwig höflich die
grüne Mütze, während er sich seine Doppelflinte gewandt an einem Riemen
über die Schulter warf. Wie er so dastand, bildete er den Typus eines
hübschen, jungen, eleganten Aristokraten, mit seinem schwarzen
Schnurrbärtchen in dem braunen Gesicht, und mit dem lässigen,
kraftbewußten Wesen seiner Kaste. Hinter ihm verharrte ein
Livreebedienter mit abgezogenem Hut, und an den Taschen des jungen Herrn
schnupperte ein brauner Jagdhund herum.

»Herr Fritz – Herr Graf« – fuhr Wilms heraus.

»Ach was,« schnitt der Weidmann ab und schüttelte dem Pächter
wohlwollend die Hand: »Sagen Sie, wie Sie Lust haben. Hier draußen
kommt’s ja doch nicht drauf an. – Habe nämlich quittieren müssen – Papas
Wunsch, verstehen Sie? Damit ich auf dem Gut vernünftig werden soll. Als
wenn ich nicht schon so vernünftig wäre, daß es einen Hund jammern
könnte,« setzte er hinzu und wandte sich wieder an Wilms’ Begleiterin.

»Gnädiges Fräulein besinnen sich wohl nicht mehr auf mich?« fuhr er
liebenswürdig fort. »Auch nicht auf den Pensionsball, wo ich das Glück
hatte, mehrfach bevorzugter Tänzer zu sein – wirklich nicht? –
Allerdings, wenn man so belagert wird.« Und wieder lüftete er freundlich
die Mütze. – »Sind Sie denn mit Herrn Wilms bekannt, verwandt,
verschwägert, oder wie ist das?«

»Jawohl, ich bin die Schwägerin des Herrn,« gab das Mädchen höflich zu,
und doch hörte der Landmann wieder einen kühlen abweisenden Ton heraus,
der sich mehr für eine Komtesse, als für die Tochter des Rendanten
Schröder aus Grimmen schickte. Auch der junge Graf starrte ihr einen
Augenblick betreten ins Gesicht, dann schien er plötzlich an der
Unterhaltung keinen Gefallen mehr zu finden, denn er sah sich, ohne auf
das Mädchen weiter Rücksicht zu nehmen, nach seinem Bedienten um, und
forderte, indem er eine Zigarre in den Mund steckte, mit undeutlichem
Murmeln Feuer.

»Gut – brennt schon – na, auf Wiedersehen, Wilms – (er vergaß beiläufig
das ›Herr‹) habe die Ehre, mein Fräulein – heda, Hektor.« Er pfiff dem
Hunde, grüßte leichthin und sprang auf den Wagen, dessen Zügel er
ergriff. Hinter ihn setzte sich der Kutscher, und mit elegantem,
unhörbarem Rollen flog das Gefährt davon.

Da, wo die Chaussee in den Tannenschlag abbog, blickte sich der Jäger
noch einmal um und spähte scharf zurück. Hedwig, die bereits neben Wilms
auf dem Korbwagen Platz genommen hatte, bemerkte es, ein keckes,
spöttisches Lächeln flog um ihre frischen Lippen, immer heimlich von dem
Landmann beobachtet, der in sich gekehrt neben ihr saß und kutschierte.
Scheu blickte er manchmal von der Seite auf sie hin. Wie kam das junge
Mädchen zu solchen Bekanntschaften? – Sie schien den jungen Herrn doch
besser zu kennen, als sie zugeben wollte? Und weshalb behandelte sie ihn
so von oben herab? Wilms seufzte tief auf. Nein, das war nicht die
Person, die er brauchte, damit sie Else pflegen und ihm selbst in der
Wirtschaft helfen sollte. Sein erster instinktiver Widerwille war
berechtigt gewesen. Wie sie jetzt neben ihm saß, die schlanke Figur ein
wenig vornüber geneigt, die großen, braunen Augen durstig in die sonnige
Ferne gerichtet, die Lippen geöffnet, als tränke sie die einströmende
Luft, so war sie ihm ein zu feines, ein zu fremdes Wesen.

»Mein Gott, was wird Else dazu sagen?« dachte er bekümmert. »Und was sie
für einen Hut trägt, was für Handschuhe?«

Heftig schlug er auf die Pferde ein, wie einer, der etwas Unangenehmes
rasch zu Ende bringen will, und im scharfen Trab rollte das Gefährt
dahin, ohne daß Hedwig das eingetretene Stillschweigen unterbrochen
hätte.

Nur einmal fragte sie beinahe gleichgültig, immer die Augen in die Weite
gerichtet: »Ist Else noch so hübsch, wie sie war?«

Wilms biß sich auf die Lippen, die Zügel in seiner Hand lockerten sich
unwillkürlich.

Hatte er recht vernommen? Ihre frische, klare Stimme tönte genau so
kühl, so obenhin, so völlig uninteressiert, als hätte ihre Frage einer
ganz nebensächlichen Person gegolten.

Und das war die Schwester, die sich nach seinem armen gequälten Weibe
erkundigte?

»Ja,« fuhr er rauh heraus, »gerade noch so hübsch – genau so – –
allerdings spazieren gehen kann sie nicht mehr und sich putzen.«

Anklagend und beleidigt klangen die wenigen Worte, und Hedwig richtete
zum erstenmal ihren Blick forschend auf ihren Schwager. Sie schien
verwundert und warf ein wenig die Lippen auf. Und beinahe mit
absichtlicher Herbheit setzte sie hinzu: »Die lange Krankheit hat wohl
viel Geld gekostet?«

Wilms schwoll der Unmut bis an die Kehle. Wie ein Wütender hieb er auf
die Tiere ein, im gestreckten Galopp ging’s weiter.

Die beiden sprachen nicht mehr miteinander. Im ungemütlichen Schweigen
durchfuhren sie das Dorf, bis sie endlich auf dem Pachthof anlangten.

Verträumt, verfallen, lautlos wie immer lag er da. Und diese Todesstille
lockte Hedwig das erste Wort ab.

»Merkwürdig,« murmelte sie befangen, als Wilms ihr zum Herabsteigen die
Hand bot, »das hätt’ ich mir anders gedacht. Ist es hier immer so
lautlos?«

»Ja, mein Kind, immer. Aus Rücksicht für Else. Und dann ist auch heute
Sonntag.«

»Ja, so – so, so,« wiederholte sie in sich gekehrt. Wilms sah, daß sie
noch einmal mit einem ihrer langen, klaren Blicke das Anwesen überflog.
Dann strich sie sich über die Stirn und äußerte rasch und dringend, als
ob sie dem Anblick entfliehen wollte: »Komm – gehen wir zur Schwester.«



V.


Der Nachmittag war im Verdämmern. Auf dem Hof webten bereits graue
Schatten und krochen an den Wänden der Scheunen empor, aber in dem
Krankenzimmer brannte eine große schöne Stehlampe, ein Hochzeitsgeschenk,
das noch nie benutzt war, und das jetzt eine strahlende, gemütliche
Helle verbreitete.

»Hier muß es doppelt licht sein,« hatte die jüngere Schwester gemeint
und dann die Staatslampe einfach von der Glasservante heruntergenommen
und sie instand gesetzt.

Still und zufrieden lag die Kranke jetzt in ihrem Bett und sah mit
blinzelnden Augen in die Lichtstrahlen hinein, während sie die Hand der
Schwester, die neben dem Lager saß, mit ihren schmalen Fingern fest
umspannt hielt.

In der Mitte der Stube, vor dem großen Tisch, hatte Wilms Platz genommen
und beugte sich eifrig über ein Wirtschaftsbuch, das seit vielen Monaten
vernachlässigt war. Nur langsam und schwerfällig vermochte der große
Mann zu rechnen, aber es tat ihm schon unsäglich wohl, endlich einmal
Klarheit in seine Verhältnisse bringen zu können. So mühte er sich fort,
und nur von Zeit zu Zeit hob er das Haupt und lauschte zu den beiden
Frauen hinüber.

Dort drüben las Hedwig der Kranken vor. Seltsam, nicht aus der Bibel.
Die neue Pflegerin hatte sofort erklärt, es sei nicht zweckmäßig, einer
Leidenden etwas vorzutragen, was diese beinahe auswendig wisse und zudem
auch ihre Gedanken stets auf Tod und Vergänglichkeit hinweise. – Nein,
etwas Neues, Heitres müsse gewählt werden, und sofort war sie in ihr
Dachstübchen hinaufgeeilt, um das Versprochene zu bringen. – Als sie
nach einiger Zeit zurückkehrte, hatte sie auch die Kleidung gewechselt.
– Ein schwarzes Gewand legte sich einfach und straff um den schlanken
Körper und ließ sie noch kräftiger und selbstbewußter als bisher
erscheinen. Lächelnd setzte sie sich an das Lager und begann vorzulesen.
Es war die von einem modernen, schwedischen Satyriker verfaßte
Geschichte eines jungen Mädchens, das mit zwei Liebhabern zugleich
tändelt, um schließlich eine Geldheirat einzugehen, in die sie als
einzige Aussteuer die beiden Verlassenen als Hausfreunde mit
hineinbringt.

Else verstand die Anspielungen wohl nicht recht. – Sie hatte sich in
ihren Kissen aufgerichtet und folgte den feinen Spöttereien mit
befriedigter Verwunderung. Zuweilen huschte sogar ein schwaches Lächeln
über ihr blasses Gesicht.

Wie lange hatte Wilms solch ein freundliches Zeichen herbeigesehnt, und
jetzt schien die Ärmste ihr Leiden beinahe vergessen zu haben.

Unwillkürlich verfing sich auch der Landmann in den liebenswürdigen
Worten, die von Hedwigs Lippen so frisch und hell hinabströmten. Er
stützte das Haupt und sah aufmerksam zu ihr hinüber. – Und doch –
während er mit Behagen auf ihren lebendigen Vortrag hörte, nagte sich
leise wieder jene unerklärliche Abneigung gegen das Mädchen in sein
ehrliches Gemüt hinein, die er nicht bannen konnte, die ihn förmlich
verfolgte.

Schon wie sie dasaß, tief in ihren Stuhl zurückgelehnt, daß alle Formen
des jugendfrischen Leibes einen Kampf gegen das einengende Gewand
führten, so ungebunden, so ohne Rücksicht auf ihn, als ob er gar nicht
vorhanden wäre, den Kopf zur Seite geneigt und auf ihren Zügen all jenen
wechselnden, prickelnden Spott, wie wenn sich auf dem feinen Gesicht der
Inhalt des Buches wiederspiegele, – das gehörte alles nicht hierher,
nicht in die pommersche Krankenstube hinein, das war etwas Unreines,
Unerträgliches. – Und jetzt empfand er auch, wie frech und unpassend das
war, was sie las.

Die Röte stieg ihm in die Stirn. Schwerfällig erhob er sich, ging
mehrmals im Zimmer auf und ab, und räusperte sich endlich stark:

»Wollen wir jetzt nicht mit Lesen aufhören?« Und da geschah das
Unerwartete.

»Nein,« – Else fröstelte und schüttelte unwillig den Kopf: »Du mußt auch
immer stören,« beklagte sie sich. – »Laß uns doch unser Vergnügen. Ich
bin ja so froh, daß ich endlich ein wenig Abwechslung finde.« – Und
wieder drückte sie der Schwester die Hand.

Das auch noch.

Etwas Unverständliches murmelte der Pächter vor sich hin, heftig wollte
er erwidern, aber die Gewohnheit, sein Weib unter allen Umständen zu
schonen, war stärker. Mühsam bezwang er den aufsteigenden Zorn und
verließ mit starken Schritten das Zimmer.

Als er die Tür schloß, hörte er das Mädchen wieder laut und fröhlich
weiterlesen.

Ein paar Stunden lief er draußen in der Dunkelheit umher, immer die
gerade Chaussee entlang, und suchte seinen Unmut abzuschütteln.

Gleich am ersten Tage brachte sie ihm Unruhe und Unfrieden ins Haus. Er
hatte es ja voraus gewußt. – Das Mädchen paßte eben nicht in den
beschränkten Kreis. Ob es nicht das beste wäre, sie wieder zum Gehen zu
veranlassen? – Er seufzte – – das durfte man leider nicht wagen. – Und
dann, wie gleichgültig und verächtlich sie ihn selbst behandelte. Das
Achselzucken und das über ihn Fortsprechen. Er galt dem Fräulein eben
nur als »Bauer«.

»Ha – ha!« Unvermittelt blieb der Pächter stehen und atmete tief auf. –
Ihn bedrückten ja ganz andere Sorgen, als dieses fremde Mädchen. Wie
konnte er es nur einen Augenblick vergessen?

Die Schuldenlast – die entsetzliche Schuld. Acht Tage Frist hatte er, in
dieser Zeit mußte er 1200 Taler schaffen, sonst gehörte sein ganzes
Inventar dem Juden. Aber woher? – woher?

Laut stöhnte er auf, und so heftig packte ihn wieder die Verzweiflung,
daß er eine Pappel der Chaussee umklammerte und den starken Stamm
schüttelte und stieß, bis eine Wolke dürrer Blätter auf ihn herunter
raschelte.

Ein kalter Nachtwind strich durch die Zweige, alles war dunkel und
still. Nur die raschen Blätter dort oben begannen wieder durcheinander
zu rauschen.

War das nicht, als ob ein Mensch spräche?

Hedwigs Stimme – deutlich vernahm er sie wieder in der Höhe lesen,
lachen und kichern.

Der Einsame zuckte zusammen und horchte um sich. – Ja, es war etwas
krank in ihm, es schmerzte ihn in der Brust. Und blitzartig durchfuhr
ihn das Bewußtsein, daß die kranke Frau zu Hause, die er so
leidenschaftlich, so tief, so gramerfüllt liebte, ihn zum Schwächling
gemacht, daß dieses blasse, abgezehrte Weib seine Kraft gestohlen, daß
es täglich sein Blut aussauge, um davon selbst das Dasein zu fristen,
genau wie jener gespenstische Vogel, von dem er als Knabe gelernt, daß
er den Verfallenen die Adern aufbeiße.

»Gott schütz’ mich – Elsing – Elsing, was ist mir nur?« stammelte Wilms
und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn – »nach Hause – nach
Hause.«

Er lief, er stürmte dahin, bis er mit keuchender Brust den öden,
schlummernden Hof erreicht hatte. Auf den Zehen schlich er dann durch
den Flur und öffnete geräuschlos das Zimmer.

Ein Nachtlicht brannte auf dem Tisch. Aus dem Halbdunkel, aus dem die
unruhigen Atemzüge der Kranken herauszitterten, erhob sich eine schlanke
Gestalt und kam unhörbar auf den Eindringling zu.

Jetzt stand Hedwig vor ihm. Sie legte die Finger auf die Lippen und
raunte kurz:

»Sie schläft – ich werde heute bei ihr wachen.«

»Du?«

»Ja.«

»Du? Nein, das – das will ich nicht.«

Das Mädchen beugte sich plötzlich vor, daß er ihren Atem fühlte.

»Und warum nicht?«

Trotz der Dunkelheit trafen sich ihre Blicke und blieben erstaunt und
fragend aneinander hängen. Da rollte die Uhr; die Liegende regte sich,
und dann – Wilms trat zurück und murmelte müde:

»Meinetwegen.«

Damit schloß er die Tür, um sich draußen leise über die knarrende Treppe
nach jener Kammer unter dem Strohdach zurechtzutasten, wo er schon oft
genächtigt hatte.

Und so gleichgültig und abgespannt fühlte er sich, daß er sich selbst
gar nicht die Frage vorlegte, warum er dem Mädchen nachgegeben.

Oben in der kahlen, weißgetünchten Stube entkleidete er sich schnell,
und bald lag er ausgestreckt in dem hohen Bett, ohne jedoch die ersehnte
Ruhe finden zu können.

Die niedrige Decke drückte ihn beinahe auf den Kopf, und immer wieder
hob er das Haupt und lauschte auf das Ächzen und Pfeifen des Windes, der
klagend über das Dach strich.

Es klang ebenfalls wie das Stöhnen eines gefolterten, riesenhaften
Leibes.



VI.


Die zehnte Stunde des Vormittags war bereits angebrochen, als Hedwig in
die Stube trat, die sie kurz vorher verlassen, ein modernes Hütchen auf
dem braunen Haar, und über der Taille ein elegantes, offenes Jackett,
das ihren vollendeten Wuchs erst recht hervorhob.

Sie streifte sich Handschuhe auf und spähte dabei aufmerksam zum Fenster
hinaus, wie nach dem Stand des Wetters.

»Du willst fort?« forschte die Kranke mit leisem Vorwurf, während eine
Wolke über ihre Stirn flog, denn die Bedauernswerte hatte bereits die
feste Überzeugung gewonnen, daß sie sich in Gegenwart ihrer Schwester
wohler befinde.

»Ja,« versetzte die Jüngere aufatmend und ohne die verborgene Rüge
sonderlich zu beachten: »Es ist heute so frisch draußen – wirklich
prachtvoll – überall ziehen Sommerfäden – sieh nur – und hier drinnen –«
sie vollendete nicht, sondern setzte rasch hinzu: »Ich bin das Wachen
doch wohl noch nicht so recht gewohnt – und dir geht es ja heute besser
– da will ich einmal einen Gang durch eure Wirtschaft machen. In einer
Stunde bin ich wieder zurück.«

»Aber Hedwig, wenn ich so allein –«

»Ich bringe dir auch was Schönes mit,« schnitt die andere lächelnd ab
und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Seufzend richtete sich die Verlassene auf und blickte sehnsüchtig durch
die Fensterscheiben der schlanken Mädchengestalt nach, die draußen
bereits ohne sonderliche Eile mit leichten kräftigen Bewegungen über den
Hof schritt.

»Wer doch auch so –,« flüsterte die Kranke endlich, »einmal noch, nur
einmal – –« Krampfhaft faltete sie die Hände, und ihre Seele hob sich
wieder in jenem einen brünstigen Gebete zu Gott.

Unterdessen hatte Hedwig den Hof durchmessen. Wer sie so sah, mit dem
eleganten, dünnen Sonnenschirm in der Hand, und ihrer modernen Kleidung,
der hätte kaum geglaubt, daß den braunen, blitzenden Augen dieser jungen
Dame nicht der kleinste Schaden im Strohdach einer Scheune entging.

Sie bemerkte alles. Auch für das Geringfügigste in diesem schweigenden
Gehöft schien sie ein Interesse zu empfinden.

Vor dem offnen Kuhstall, aus dem ein warmer Dunst herausschlug, hockte
auf einem Prellstein ein alter, verwitterter Mann, ein greises, dürres,
zahnloses Menschenkind, das kopfwackelnd dasaß und sich zu sonnen
schien. Neben ihm, auf dem Holzpantoffel des Alten stand ein zerzauster
Rabe auf einem Bein und war gleichfalls in den allgemeinen bleiernen
Schlaf versunken, der wie verwunschen die gesamte kleine Besitzung
umfangen hielt.

»Alterchen,« rief Hedwig, als sie ihn erreicht hatte, und stampfte
leicht mit ihrem Schirm auf den Boden: »Warum sieht der Hof so schmutzig
aus?«

»He?« grunzte der Alte und hob nach Art der Schwerhörigen das Ohr. Dabei
blinzelten seine erloschenen, blöden Augen in das frische, blühende
Mädchengesicht empor, und der zahnlose Mund begann zu kauen.

Das junge, kräftige Leben da vor ihm gefiel ihm augenscheinlich nicht.
Auch redete sie ihn mit zu wenig Hochachtung an, denn der alte Krischan
aß schon seit Menschengedenken auf dem Hof das Gnadenbrot und stand
außerdem im Rufe dunkler lichtscheuer Künste. Der Rabe galt dabei als
eine Art dienender böser Geist oder mindestens doch als Bundesgenosse
zu allerlei schwarzen Taten.

»Schnell – nehmt einen Besen und fegt einmal ordentlich aus,« rief
plötzlich das schöne Mädchen dringend dazwischen. Ihr war es, als könnte
man damit alles Häßliche und Kranke, was sie hier vorgefunden, mit
starker Hand hinauskehren.

Der Alte regte sich nicht.

Sie stieß ihn an.

Da zog ein leises Grinsen über das verrunzelte Gesicht, der Mund hob an
zu schmunzeln, und ohne sich von der Stelle zu rühren, keuchte er heiser
zur Antwort:

»Arbeiten? – ne, vörbi – all lang vörbi – ne, ne, min Döchting, wenn Sei
hier wat utkihren willen, denn mötens sülwst dauhn.«

»Und Sie, was treiben Sie hier?« rief Hedwig scharf dagegen. Durch ihren
Körper zuckte es. Die schlaffe Faulheit des Alten empörte sie.

»Ick? – ick töw [Fußnote: warte] ups Starwen.«

»Aufs Sterben?«

Unwillkürlich erblaßte die Angreiferin und trat zurück. Der Alte warf
ihr einen schielenden bösen Blick nach, und der Rabe erhob sich
plötzlich und schlug krächzend und hackend mit den Flügeln nach ihr.

Es war, als ob sich die alte Zeit in diesem Gehöft gegen sie wehren
wollte.

Allein der neue Ankömmling war nicht von der Art, sich von derlei
unklaren Vorstellungen lange beeinflussen zu lassen.

Stolz hob sie das Haupt und ließ kühl die Worte fallen: »Ich werde mit
meinem Schwager über Sie sprechen.«

Im nächsten Augenblick wandte sie sich und eilte grußlos auf die
Landstraße hinaus.

Wie frisch und hell war es hier draußen. Über ihr das unendliche,
leuchtende Blau, vor ihr Felder und Äcker, grüne und braune Flächen, die
einen noch im reifen Schmuck der Spätsaat, die andern bereits wieder
umgepflügt, dazwischen kleine, helle Wässerchen, wie Silberbänder auf
einem bunten Tuch, Duft und Dämmer und blauneblige Wälder in der Ferne,
und über alles hinweg der über den Boden flüsternde Frühwind, der einen
kräftigen Erdgeruch mit sich führte.

Hedwig sog ihn tief ein. Der kleine Zwischenfall mit dem Alten war
bereits vergessen. Hurtig setzte sie über den Graben der Landstraße und
schlug den ersten besten Feldweg ein, der quer über ein Stoppelfeld
führte, auf welchem in unsicherer Weite ein paar dunkle Punkte auf und
ab schwankten.

Wie einsam es hier überall war. Nur eine Schar Krähen hüpfte auf dem
abgemähten Boden umher, und bei einer Biegung sah sie auf einem wilden
Dornbusch einen zierlichen, bunten Stieglitz sitzen, der im Sonnenschein
sein kräftiges Liedchen sang. Sonst webte über allem eine heilige
wohltuende Ruhe.

Hedwig blieb stehen und ließ ihren Blick weit umherschweifen.

Also hier sollte sie fortan ihre Tage verbringen? So allein, so
ausgesetzt unter fremden Menschen? Denn ihr herber Verstand sagte ihr,
daß auch Else ihr eine Fremde bleiben würde, eine Bedauernswerte, für
die sie sich höchstens ein unangenehmes Gefühl des Mitleids würde
abzwingen können.

Und die lautlose Einsamkeit fing an, sie zu bedrücken.

Wie etwas Schattenhaftes flog es über die Heide, kam auf sie zu und
quälte und ängstigte sie.

Sie dachte an ihren letzten Aufenthalt in der Stralsunder Pension und
zusammenzuckend empfand sie wieder jenes eine Ereignis, vor dem ihr
bisheriges Leben zusammengebrochen war, jene eine entsetzliche Stunde,
an der alle ihre Gedanken sich festgesogen hatten, so fest, daß ihr
Körper eigentlich halb träumend herumwandelte, beinahe getrennt von
einer leitenden Seele. Und sie fühlte wieder, daß sie etwas in ihrem
Leben vergessen müßte, und daß diese weite Ödnis ringsumher vielleicht
jene stumpfe Ergebenheit in ihr erzeugen könnte, nach der sie sich
sehnte.

Und merkwürdig. – Noch sann sie diesen dunklen fernen Traum, da erweckte
sie etwas. – Ein flüchtender Hase streifte ihren Weg, fuhr vor ihr
zurück und setzte dann seitwärts über das Feld.

Das Mädchen lachte plötzlich hell auf.

Das frische, selbstbewußte Lachen eines kräftigen Menschen. Was brauchte
sie sich in solchen Hirngespinsten zu verfangen? Es war ja alles
vorüber, bald überhaupt nicht mehr gewesen, nur eine seltsame
verflatternde Erinnerung. Erhobenen Hauptes eilte sie weiter; ab und zu
schlug sie mit dem Sonnenschirm spielend an die den Weg begrenzenden
Büsche, und dann verweilte sie wieder, um sich von dem säuselnden Wind
die Wangen kühlen zu lassen.

So war sie in einen Hohlweg geraten. Fast in Manneshöhe über ihr erhob
sich zu beiden Seiten das Feld. An den Abhängen blühten noch wilde
Rosen, ganze rotbraune Bündel von Erika sproßten dort empor, und hier
und da nickten violette Glockenblumen dazwischen.

Gedankenlos pflückte das Mädchen einen Strauß, vielleicht für die eigene
Brust bestimmt, vielleicht für Else, da hörte sie unvermutet hoch über
sich Stimmen laut werden und einen Wortwechsel sich entspinnen.

Und jetzt erkannte sie auch, wer dort sprach. Es war Wilms, den seine
Tagelöhner um eine rückständige Schuld zu mahnen schienen.

Vier bis fünf Männer redeten dort oben durcheinander.

»Leute, ich hab’ euch doch gegeben, was ich hatte – nun geduldet euch
noch die paar Tage – ihr wißt ja, was ich inzwischen selbst alles
durchmachen mußte – eine kleine Weile, dann ist ja alles wieder ins
gleiche gebracht. – Nicht wahr?«

»Ja Herr, wir haben ja auch Vertrauen zu Sie, aber bei uns zu Haus
sieht’s auch man mager aus.«

»I ne wir wollen Ihnen nicht drängen ne – dat tun wir nich –«

»Ne Herr Wilms, Sie sind ja auch immer gut zu uns gewesen, und werden’s
woll jetzt allein nich so haben, – bloß Frau und Kinners –«

»Man kann sie doch nich hungern lassen, Herr.«

Einen Augenblick trat Stille ein. Die Männer schienen stehen geblieben
zu sein, und die Lauscherin vernahm wieder, wie der Wind durch das
Heidekraut strich. Dann sagte der Pächter mit seiner tiefen treuherzigen
Stimme: »Kommt morgen abend zu mir, Leute, dann sollt ihr bestimmt euer
Geld bekommen – so oder so.« Und in festerem Tone setzte er hinzu: »Und
jetzt geht wieder an eure Arbeit.«

»Na, dann bedanken wir uns auch vielmals, Herr. Adjüs!«

»Guten Morgen.«

Man hörte, wie sich die Tagelöhner entfernten, und etwas später bemerkte
Hedwig, daß schwere Tritte den Hohlweg herabknirschten.

Jetzt mußte er kommen. Unwillkürlich trat das Mädchen hinter den
Dornenbusch zurück, als wollte sie den Nahenden ungestört vorüberlassen.

Auch der Pächter hatte keine Ahnung von der Nähe eines fremden Wesens,
das ihn und seine Qual erforschen könnte, sonst würde er sicherlich
schnell vorübergeschritten sein; so aber hielt er an der tiefsten Stelle
des Weges an, senkte den Kopf auf die Brust und preßte mit einer müden,
schlaffen Bewegung die Hand gegen die Stirn.

Es lag soviel Müdigkeit darin, soviel verschlossenes Weh.

Jedoch kein Stöhnen quoll über die geschlossenen Lippen, lautlos, ohne
Wort verharrte die große Gestalt, es war ein Trauern, das man mit sich
und mit Gott allein abmacht, versteckt und geschützt durch die
Einsamkeit.

Kein fremdes Auge darf dergleichen erspähen.

Mit ihren kühlen, scharfen Blicken hatte Wilms’ Schwägerin dies alles
erfaßt, nun sah sie, wie sich der Pächter die graue Forstjoppe strammer
zog, die Inspektormütze zurechtrückte und festen Schrittes weiterging.

Gott sei Dank. Es war auch besser so.

Bald mußte er verschwunden sein.

Und doch – ihr Geschick zwang sie plötzlich, sich fast gegen ihren
Willen in das Schicksal dieses Mannes einzumischen.

Schon hatte er die höher gelegene Ebene erreicht.

Ein Stein löste sich von der Böschung, wo das Mädchen stand, und rollte
mit Gepolter in den Hohlweg hinab.

Wilms wandte sich ruckartig zurück.

Täuschte er sich denn nicht? Das junge, elegant gekleidete Weib dort
unten war wirklich – ja es war Hedwig, sie mußte ihn schon früher
überrascht haben.

Die Züge des Pächters verzerrten sich, etwas Brutales stieg in ihnen
auf, und die Äderchen in seinen Augen wurden blutig.

»Wie kommst du dorthin?«

»Ich?« – sie schlenkerte nachlässig den Schirm und kam näher – »ich ging
ein bißchen spazieren.«

»Warum bliebst du denn nicht bei Else?«

»Weil ich es nicht länger aushielt – das Wachen, glaube ich, hat mich zu
sehr angestrengt.«

Wilms brach los: »Und nun gehst du hier so – so – was machst du denn
eigentlich hier?«

Er hatte sich vorgebeugt, seine Lippen bebten.

Aber in dem Mädchen war plötzlich etwas geweckt, etwas vor dem sie sich
selbst graute, und an das sie vorhin so stark gedacht hatte.

Ganz nahe trat sie an den aufgeregten Mann heran und warf ihm einen
einzigen Blick zu: »Ich sagte ja, ich gehe spazieren,« kam es scharf und
trotzig hervor.

Ihre Fäuste in dem zarten Glacéleder ballten sich, ihr Körper zuckte.

Im Moment glich sie einer Katze, die sich zum Sprung anschickt. Aus
ihren blitzenden Augen leuchtete die Lust, mit ihrem Bedränger zu
ringen. Brust an Brust. Um irgend etwas Unerkanntes – Kostbares – um
sich selbst.

Das alles war dem rohen, gutmütigen Bauer so neu, so unfaßbar, daß er
das im Zorn bebende Geschöpf vor ihm minutenlang kopfschüttelnd
anstarrte.

»Was willst du eigentlich von mir?« murmelte er endlich verständnislos.

»Ich?«

Sie erwachte plötzlich wie aus einem wohltuenden Traume und eine
brennende Röte jagte über ihre Züge.

Beide starrten sich noch immer, wie aus allen Himmeln gefallen, an.
Langsam ließ das Mädchen den erhobenen Schirm niedergleiten und richtete
sich straff auf.

Ein verächtlicher Zug flog um ihre frischen Lippen.

Es war wohl ihr Schicksal, überall mit den Männern im wirklichen,
körperlichen Kampfe streiten zu müssen. Dieser da schien ihr wenigstens
nicht gefährlich.

»Ich wollte einmal mit dir über deine Verhältnisse sprechen,« begann sie
kurz und herb.

Er stand so groß und kräftig, und doch so ungeschickt vor ihr.

O, wie sie es reizte, diesen ungebärdigen Riesen ihre Macht fühlen zu
lassen.

»Über meine Verhältnisse?« wiederholte der Pächter, kalter Schweiß trat
ihm auf die Stirn.

»Da hast du also vorhin alles mit angehört, wirklich alles?«

»Ja, ich weiß, daß du dich in Geldverlegenheit befindest.«

Eine Sekunde noch dauerte das peinliche Schweigen, die Brust des Mannes
hob und senkte sich, als wollte sie etwas von sich abwälzen, den Kopf
schob er stierartig vor, die Zähne knirschten mechanisch übereinander.

Dann stürzte es aus ihm heraus.

»Und du – – was hast du dich da rein zu mischen, du freche Dirn? – – –
Was geht dich das alles überhaupt an? Nein, nein, du mußt fort, – aus
dem Haus – heute noch.«

Schrie und brüllte er dem Mädchen wirklich all diese Schmähungen ins
Gesicht? Nein, ach nein, matt und schmerzhaft stachen ihm die Worte nur
durchs Gehirn, über die halbgeöffneten Lippen aber quoll dumpf und
heiser:

»Was geht dich das an? – Was soll das alles? Wozu drängst du dich in
meine Angelegenheiten? Was?«

»Wozu? – Weil ich mir Klarheit über die Menschen verschaffen will, bei
denen ich von jetzt an leben soll.«

»Willst – du denn wirklich bei uns bleiben? – Hedwig – aber – aber du –
du paßt ja gar nicht hierher, du taugst nicht in so viel Traurigkeit –
du solltest lieber wieder gehen.«

Unwillkürlich hatten beide den Weg von neuem aufgenommen und schritten
nebeneinander über die leere Heide.

Der Mann in sich zusammengesunken, das Mädchen schlank aufgerichtet und
geschmeidig, von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick auf den Begleiter
heftend.

Und wieder sagte er eindringlich vor sich hin: »Ja, ja, du solltest
gehen.«

Da faßte Hedwig seinen Arm und legte den ihrigen hinein.

Es waren die Bewegung und die Manier, wie sie sie drüben in der
aristokratischen Tanzstunde in der alten Hansastadt gelernt hatte.

Stirnrunzelnd ließ es Wilms geschehen, innerlich jedoch empörte ihn dies
elegante Gebaren, obgleich es sich leicht und anmutig genug ausnahm.

»Schwager, hast du eigentlich etwas gegen mich?« fragte sie plötzlich
und ließ ihre klugen braunen Augen fest auf ihm ruhen.

Ihr Arm drückte noch gegen den seinen, so daß sie sein Erschrecken
merken mußte. Den ehrlichen Mann brachte die Lüge, die nun gebraucht
werden sollte, in gänzliche Verwirrung.

»Ich – nein, – was denkst du, – ich habe nichts gegen dich.«

»Und Else?«

»Meine arme Frau wohl auch nichts – bloß –«

Er stockte und über seine offnen Züge breitete sich wieder jene große
Verlegenheit.

»Bloß – nun also?«

»Nun, du bist uns wohl nur zu sehr überlegen« – stammelte er. »Du hast
soviel Bildung genossen – drüben in der feinen Pension – Else und ich,
wir sind doch nur einfache Leute. Und dann meine schmalen Einkünfte, du
hast es ja selbst gehört, das wird dir doch auf die Dauer nicht
gefallen.«

Sie schmiegte sich an ihn, bis er fast ihre weichen Glieder fühlen
konnte, und flüsterte rasch und mit einem Ausdruck der Teilnahme: »Aber
ich möchte ja so gern meine Kräfte für euch einsetzen, ich bin stark,
Schwager, und möchte euch gern helfen.«

»Wirklich?« fuhr er auf und wandte sich voll zu ihr. »Das willst du in
der Tat?«

Sie nickte und sah ihn ernst an. »Und wieder ein bißchen Ruhe und
Gemütlichkeit bei euch verbreiten. Das fehlt doch bei dir?«

Der Pächter entgegnete nichts, aber er seufzte tief auf und schaute in
sich gekehrt auf den Waldessaum, dem sie jetzt zustrebten.

Hedwig aber hing sich fester an ihn und fuhr interessiert fort:

»Früher warst du doch selbst gewiß viel heiterer?«

»Ja früher« – wiederholte der Landmann, tief Atem holend – »früher – da
mag’s wohl so gewesen sein. Damals waren wir noch guter Dinge. Da ging
ich auch oft mit Else über das Feld – –«

»Wie jetzt?« warf sie rasch dazwischen.

Wilms ließ einen scheuen Blick über sie fortgleiten und löste seinen Arm
ungeschickt von dem ihren. »Ja, mein Kind, beinahe so,« äußerte er
gedrückt. Und nach einer Pause setzte er fast abfällig hinzu: »Du siehst
ihr eigentlich gar nicht ähnlich.«

»Nein,« bestätigte seine Begleiterin.

Es klang scharf und herb.

Wortlos schlugen die beiden nebeneinander den Waldpfad ein.

Es war ein weitgedehntes Kieferngehölz, mit regelmäßig ausgehauenen
Wegen, die schnurgerade wie schmale Chausseen den Wald durchschnitten
und sich in Dämmerung zu verlieren schienen.

Die Wipfel der Bäume waren in helles Sonnenlicht getaucht und wiegten
sich in dem leisen Luftzug hin und her. Ein starker Harzgeruch entquoll
den Stämmen. Von fern hörte man das eintönige Geräusch der fällenden
Axt. Und laut und stark schrie ein Häher in der Luft.

Die beiden einander so fremden Menschen waren schon weit in den
einsamen, schlummernden Wald eingedrungen, da begann Hedwig unvermutet
von neuem das Gespräch. Ihre Gestalt richtete sich dabei auf, die
dunklen Augenbrauen hatten sich zusammengezogen, ihr ganzes Wesen schien
von einem festen Entschluß beherrscht zu sein.

»Wohin gehst du jetzt?« forschte sie kurz.

Und gerade diesen Ton konnte der Landmann nicht vertragen. Mißmutig
schüttelte er den Kopf und schien nichts vernommen zu haben.

Sie blieb plötzlich stehen.

Er wandte sich unwillig zurück und winkte, aber sie rührte sich nicht
von der Stelle.

In dem enganliegenden Jäckchen, dem modischen Hut und ihrem blühenden
Gesicht darunter, nahm sie sich seltsam aus zwischen den hohen, uralten
Kiefern.

»Wohin du gehst, möchte ich wissen?«

Und merkwürdig, ihr Blick traf so fest und ernst den seinen, sie standen
sich wieder so dicht gegenüber, daß es dem Manne peinlich wurde.

»Zum Förster,« gab er nach, und unwillkürlich murmelte er hinzu: »Ich
will ihm Heu verkaufen.«

»Du brauchst das Geld wohl für die Tagelöhner von vorhin. Nicht wahr?«

Wie sie das riet. Wie praktisch das Mädchen dachte, es tat dem leidenden
Manne ordentlich wohl, daß sie das Rechte getroffen.

»Ja, ja,« brachte er voller Angst hervor, »wenn er es nur kaufen
möchte.«

Um die frischen, etwas aufgeworfenen Lippen des Mädchens glitt ein
hochmütiger Zug. »Er wird schon,« entgegnete sie bestimmt, »hat er eine
Frau?«

»Ja, jung verheiratet.«

»Gut, dann werde ich mitgehen und die Frau zu bestimmen suchen.

»Ach ja, Hedwig, das wäre – sehr schön – von dir –« stotterte er mit
niedergeschlagenen Augen.

Ein heißes Gefühl stieg in ihm auf, etwas wie Dankbarkeit, etwas wie die
Lust, sich anzuschließen an ein Wesen, das ihm helfen wollte. Und doch
– große Schweißtropfen der Scham perlten ihm dabei auf der Stirn. Sie
bemerkte es und bat ihn, ihr den Weg zu zeigen. Ohne Widerspruch ließ er
es geschehen, daß sie ihren Arm unter den seinen legte, und eilte mit
ihr dann stürmisch in ungewöhnlicher Hast vorwärts.

Ihre Kleider flatterten dabei, durch ihre Wangen ebbte das Blut, er sah
sie an und merkte, wie ihre Brust sich beschleunigt hob, ihr Atem
strömte ihm frisch entgegen.

Oh, sie war vielleicht doch die treue Gehilfin, die er suchte, die
Schwester seines armen, geliebten Weibes, die ihm Trost bringen wollte.

Wie jugendfrisch und kräftig sie war.

»Hedwig, du fragtest vorhin – – –«

»Nach deinen Verhältnissen, ja.«

»Ich – ich – Hedwig – wenn ich nur Vertrauen – –«

Und dann wurde die Sehnsucht, sich mitzuteilen, übermächtig. Er vergaß,
wer sie war, er ergriff ihre Hand, wie die eines anderen Mannes, und mit
stammelnden stockenden Worten, dann aber mit dem tiefen Gemüt dieser
verschlossenen Seele offenbarte er sich, entlastete er sich von dem
überschweren Druck, schüttete er all sein Weh vor dem schönen Mädchen
aus.

Und wahrlich, sie war schön.

Denn während er sprach, hob sich ihre Gestalt, ihre Glieder schienen
sich zu dehnen, üppiger zu werden, und während er von der rückständigen
Pacht erzählte, von der achttägigen Frist, die ihm der Handelsmann in
Grimmen gelassen, von seiner vollständigen Zerrüttung, da war es, als ob
sie mit gieriger Lust all diese Mühsal auf ihre Schultern zöge, um sie
fortan allein und ungebeugt zu tragen. Als Wilms geendet hatte, sah er
sie an und erschrak.

Ihre Augen hingen an den seinen. Im Feuer seiner Erzählung hatte er sie
an sich gepreßt, als ob er sie umfangen wollte.

Entsetzt, erwachend, fuhr er zurück.

»Dort – dort ist das Forsthaus,« stammelte er.



VII.


Wieder brannte die große Staatslampe in dem weiten Wohnzimmer des
Pächters. Und es war wirklich schon gemütlicher geworden.

Ein eiskalter Regen hatte sich draußen eingestellt, und während man
sonst in dieser Übergangszeit frierend und schauernd seine Zeit
verbrachte, knisterte jetzt ein lustiges Feuer in dem mächtigen
Kachelofen, und ließ von Zeit zu Zeit das wohltuende Geräusch der
berstenden und knackenden Holzklötze vernehmen.

Hedwig, lachend über die Beschränktheit, welche mit der Heizung
kalendermäßig erst beginnen will, wenn der erste Schnee fällt, hatte
selbst dem alten Kachel-Patriarchen die erste reichliche Nahrung
zugeführt, und jetzt saß die Kranke in einem gewaltigen Lehnstuhl mit
Decken eingehüllt davor, wärmte sich, und wartete auf die Wiederkehr von
Mann und Schwester, die gemeinsam zum Pastor des großen Dorfes gewandert
waren, um den Geistlichen mit Familie zu einem Besuch in das Haus des
Pächters abzuholen. Auch der Förster mit seiner Frau wollte
herüberkommen. Hedwig hatte darauf bestanden, denn um jeden Preis
gedachte sie, Menschen und Geselligkeit in dies verödete Heim
zurückzuführen.

So saß die Leidende und hielt oft die Hand vor das zuckende Feuer, bis
sie ihr Blut durch die Haut hindurchschimmern sah.

Eine wohlige Wärme durchströmte sie. Beinahe hätte sie sich behaglich
gefühlt. – Wenn sie nur nicht so verlassen und einsam geblieben wäre.

Wozu mußten auch die beiden gemeinsam gehen? Hedwig allein hätte doch
auch genügt. Aber Wilms hatte sie durchaus in dem Wetter nicht
unbegleitet aufbrechen lassen wollen – »es schicke sich nicht,« hatte er
geäußert, und nun waren sie schon über eine Stunde fort.

Die Uhr schlug.

Die Kranke wurde immer ungeduldiger. Mägde und Knechte kümmerten sich
nicht um sie. Seit langer Zeit zum erstenmal wurde im Hause flott
gearbeitet; der Pächter hatte mit Hedwigs Hilfe eine Molkerei
eingerichtet. Heute war die dazu nötige Maschine aus Stralsund
eingetroffen, welche ein Freund des Mädchens auf Kredit geliefert, und
das Gesinde setzte sie gegenwärtig instand.

Else konnte deutlich das Lachen und Schwatzen der Leute vernehmen.

Nicht einmal eine Klingel war ihr zur Hand, mit der sie vielleicht hätte
läuten können.

Ganz verlassen – ohne jede fremde Hilfe.

Sie begann sich zu ängstigen.

Wilms könnte doch wirklich längst zurück sein. Das war doch
rücksichtslos von ihm und namentlich ihr, der Verzärtelten, etwas völlig
Ungewohntes.

Leise begann sie zu stöhnen und rückte in dem Sessel hin und her – dann
hielt sie wieder die Hand vor die Glut und lauschte.

Draußen prasselte gleichmäßig der Regen hernieder. Man hörte förmlich
die Blasen platzen – – aber plötzlich, die Kranke horchte angestrengt,
ein rascher, dumpfer Hufschlag tönte dazwischen, dann kam etwas auf den
Hof gesprengt – – ein Pferd wieherte hell und anhaltend – ein kurzer
Stimmwechsel – –

Und es wurde an die Tür geklopft. Rasch und energisch, und ehe die
überraschte Frau sich noch besinnen konnte, trat ein junger Mann in
Joppe und Reithosen in die Stube und machte ihr an der Schwelle eine
kurze liebenswürdige Verbeugung.

Die Sporen klirrten dabei hell an den hohen Stiefeln, und von der
Lodenjoppe troff das Wasser herunter.

»Pardon,« begann er und zog ein wenig befangen die Mütze – »ich weiß, es
ist eine große Freiheit, daß ich hier gleich die ganze Landstraße mit
hineinbringe. Nicht wahr? – Treffe ich Herrn Wilms wohl zu Hause?«

»Nein – nein – leider« – Else machte vergebliche Anstrengungen, sich zu
erheben – »mein Mann und meine Schwester sind fort – aber wer – – mit
wem habe ich denn –?«

Und wieder versuchte sie, sich auf den kraftlosen Füßen aufzurichten,
wurde jedoch durch das höfliche und doch zwanglose Nähertreten des
Reiters daran verhindert.

»Oh« – meinte er gutmütig, während er bedauernd den Kopf schüttelte –
»ich hörte schon, Sie seien nicht wohl, liebe Frau, und nun tut es mir
doppelt leid, daß ich Sie so erschrecken muß. – Aber dieses
niederträchtige Wetter draußen – Sie sehen ja, ich bin durchnäßt, wie
eine Morchel – und da dacht’ ich, Herr Wilms würde mich wohl ein
Stündchen bei sich aufnehmen. – Ich bin nämlich der Graf Brachwitz, der
Sohn natürlich – Ihr Mann kennt mich ganz genau – vielleicht haben auch
Sie schon von mir gehört – – ist’s wirklich erlaubt? Sie sind zu
liebenswürdig.«

Damit zog er sich den von Else angebotenen Stuhl ganz in die Nähe der
Kranken, musterte sie halb teilnahmsvoll, halb verlegen und streckte
dann die Hand befriedigt dem mächtigen Ofenfeuer entgegen.

»Prachtvoll,« äußerte er behaglich und zog den einen mächtigen
Stulpenstiefel auf das Knie herauf, wobei er sich trotzdem leicht gegen
die Hausfrau verneigte: »Habe ich wirklich Ihre gütige Erlaubnis, auf
Herrn Wilms zu warten, bis er wieder kommt, oder der Regen aufhört? –
Oder falle ich Ihnen lästig?«

»O – bewahre,« hüstelte die Kranke.

Und sie sprach die Wahrheit. Der vornehme Besuch, der sie, ohne daß sie
es recht empfand, so höflich und dabei doch etwas von oben herab
behandelte, schmeichelte und imponierte ihr auf das äußerste. Noch nie
hatte die Grafenfamilie in der Umgegend jemals Besuche abgestattet, und
jetzt saß wie durch ein Wunder der junge, jugendschöne Aristokrat vor
ihr und bemühte sich, ihr allerlei Artigkeiten zu sagen.

Er hörte Elses Krankengeschichte geduldig an und lächelte nur ein wenig
suffisant, als Else ihm mitteilte, daß sie als Mädchen stets gesund
gewesen, und ihr Leiden erst in der Ehe begonnen habe.

»So? – hm« – der junge Graf streichelte sich den Bart und nickte weise:
»Ja, ja, verehrte Frau, das Heiraten. – Ich bin auch prinzipiell
dagegen. Wenn es nur ein anderes Mittel gäbe, zu einem Majoratsherrn zu
gelangen, dächte ich gar nicht daran. Ich habe überhaupt etwas Solides
in meiner Natur. Nicht wahr, das sieht man mir an? – hm« – – – er schlug
mit seiner Reitpeitsche, die er noch in der Hand hielt, lässig gegen ein
Stuhlbein und begann sich ein wenig ungeduldig im Zimmer umzusehen.
Augenscheinlich fing ihm das Tete-a-tete mit der Kranken an langweilig
zu werden.

»Würden der Herr Graf vielleicht irgendeine Erfrischung zu sich nehmen
wollen?«

»Nein – nein – bewahre – lassen Sie sich nur nicht stören – wir plaudern
ja hier ganz vorzüglich. Hm – ein recht gemütliches Zimmer – ein bißchen
groß – – ja – sitzen Sie oft so allein? Mir ist es doch, als wenn ich
neulich eine Verwandte von Ihnen am Bahnhof getroffen hätte. Oder schon
wieder abgefahren?«

»Wirklich, der Herr Graf haben das bemerkt? Nein, meine Schwester
Hedwig ist noch hier und wird überhaupt lange Zeit bei uns bleiben.«

»So? Na da mache ich Ihnen mein Kompliment, eine außergewöhnlich hübsche
junge Dame – also, Ihre Schwester? – Na ja, die Ähnlichkeit ist
unverkennbar« – hier verbeugte sich der Reiter wieder mit jener
verbindlichen Art, die ihn unbewußt so prächtig kleidete. – »Ein
Fräulein Schröder, das sich jetzt längere Zeit in Stralsund aufhielt –
nicht wahr?«

»Das wissen Sie ebenfalls?« flüsterte die Kranke, sichtlich
geschmeichelt.

Es fiel ihr nicht auf, daß der Aristokrat seinen Kopf vom Feuer
zurückwandte, in das er bisher eifrig hineingestarrt, um seine scharfen
blitzenden Augen minutenlang forschend auf ihr eingefallenes, blasses
Antlitz zu richten, als ob er in ihr etwas Verborgenes, Geheimnisvolles
suchen wolle. – Dann aber schien er befriedigt zu sein. »Ja, ja« – fuhr
er gleichgültig fort: »Wir kennen uns – oberflächlich natürlich nur,
denn solch zartes Pensionsfräulein wird mit einem Offizier nicht gerne
zusammengebracht – das können Sie sich doch denken.«

»Ach – der Herr Graf scherzen nur –«

»Durchaus nicht – man erzählt die schauderhaftesten Geschichten von mir
– – na hier wird es ja auch bald losgehen und – –«

Er unterbrach sich, stand auf und lauschte: »Hören Sie? – Dort draußen
fährt ein Wagen über die Chaussee – zwei feste Traber übrigens, jetzt
lenken sie über die Brücke – das dürften wohl Ihr Mann und Fräulein
Schwester sein.«

»Ja wahrscheinlich, und sie bringen Pastors gleich mit.«

»So? Das kleine Pastorenfräulein hat sich gut entwickelt, seit ich es
nicht mehr gesehen habe. Sehr nett. Ein bißchen blaß, englisch
Teegesicht, aber man muß auch damit vorlieb nehmen.«

Else rückte in ihrem Stuhl hin und her. Ein unbestimmtes Gefühl sagte
ihr, daß ihr Gast einen Ton gegen sie anschlug, der sich nicht paßte.

»Und die Försterfamilie kommt heute ebenfalls,« brachte sie rasch
hervor, während ihre glänzenden Augen sich ungeduldig auf die Tür
richteten, durch die die Erwarteten im nächsten Augenblick eintreten
mußten. »Ich erhalte heute zum erstenmal Besuch, Herr Graf – seit – seit
langer Zeit.«

»Ach das freut mich in Ihrem Interesse wirklich ganz außerordentlich,«
meinte der Reiter und schritt langsam ans Fenster, ohne auf den langen
Seufzer der Kranken die geringste Rücksicht zu nehmen. »Also der Herr
Förster ebenfalls mit Gemahlin,« murmelte er dabei vor sich hin, und bei
sich dachte er noch: »Merkwürdig, wie mir das Herz schlägt. – Ich habe
doch Angst, diesem Mädchen wieder entgegenzutreten.«

       *       *       *       *       *

Die erste Begrüßung war vorüber. Die beiden Damen der Pastorenfamilie
waren bereits auf das mächtige, schwarze Ledersofa plaziert hinter dem
gewaltigen, runden Tisch und warfen von dort aus erstaunte Blicke auf
den Grafen Brachwitz; der Geistliche selbst, ein kleines gebücktes,
weißhaariges Männchen, das durchaus nicht zu seiner hageren, übergroßen
Ehehälfte zu passen schien, sprach über Elses Stuhl gebeugt der Kranken
jene Trostesworte zu, die er bei seinen häufigen Besuchen mit denselben
Worten fast mechanisch wiederholte. Aber auch er zwinkerte unter seinen
Brillengläsern verdutzt zu dem Reiter hinüber, als könne er sich dessen
Anwesenheit nicht erklären, und Wilms stand bei seinem vornehmen Gast in
der Fensternische, schüttelte ihm befangen die Hand und verwickelte ihn
in allerlei landwirtschaftliche Fragen, ohne sich innerlich jedoch von
der ängstlichen Vorstellung lösen zu können, was dieser Besuch wohl
bedeute.

So vergingen die ersten Minuten des Beisammenseins. Bis die Kranke
endlich fragte: »Wo bleibt denn Hedwig?« Alle hatten das Mädchen mit
hereintreten sehen, aber dann mußte sie sich gleich wieder entfernt
haben.

»Vielleicht ordnet sie noch in der Küche etwas an,« entschuldigte Wilms.
Aber wieder mußte er auf den jungen Brachwitz sehen, der unruhig neben
ihm verharrte.

»So? In der Küche?« warf dieser hin. »Dann erscheint wohl bald die
Aufwartung. Vermutlich ein tüchtiges Glas Glühwein bei der Nässe draußen
und der famose Landschinken, den Sie hier besitzen – na ängstigen Sie
sich nicht, Herr Wilms, ich drücke mich sofort, den ungebetenen Gast
werden Sie los.«

»Aber Sie werden uns doch die Ehre schenken und erst eine Kleinigkeit zu
sich nehmen, Herr Graf,« drängte die Kranke mit schwacher Stimme von
ihrem Stuhl aus.

»Sie wollen mich also wirklich mit durchfüttern, verehrte Frau? –
Abgemacht – dann bleibe ich. – Na, lieber Pastor, besinnen Sie sich
noch, wie Sie mich konfirmiert haben? Seitdem haben wir uns selten
gesehen. Fräulein Paula ist inzwischen eine Dame geworden. – Guten
Abend, mein liebes Fräulein – alle Wetter, ich wage gar nicht mehr ›Du‹
zu sagen. Oder darf ich es doch noch?«

So sagte der Edelmann jedem etwas Angenehmes, lachte und plauderte und
hatte sich überraschend schnell die Neigung der Anwesenden gewonnen.

Endlich erschien auch die Försterfamilie. Der Förster, eine herkulische
Gestalt mit langem, fuchsrotem Bart, dröhnender Stimme, großer
Gutmütigkeit und voller Kriegserinnerungen. Ein behäbiger Vierziger. Die
Försterin, eine schlanke, üppige Erscheinung mit tiefblauen,
gefährlichen Augen, einem wunderbar weißen, frischen Teint, und
beständiger Neigung zur Fröhlichkeit. Ein schönes Weib, das in naiver
Koketterie gefallen wollte.

Man stellte die Stühle um den Tisch. Zwei Mägde deckten frisches Linnen
darüber, Wilms schob den Lehnstuhl der Kranken heran und brachte auch
einen Sitz für Hedwig herbei.

Wo sie nur bleiben mochte?

»Ist denn das Fräulein noch in der Küche?« fragte er zum Schluß eine der
Mägde.

»Nein, Herr, das Fräulein is oben in ihr Zimmer.«

»Wilms, dann hole sie doch bitte herunter,« forderte ihn Else erregt
auf und fingerte krampfhaft auf der Tischplatte herum. »Warum hält sie
uns so lange auf? Ich versteh’ das gar nicht – der Herr Graf kennt sie
doch auch.«

»Gewiß,« unterbrach der junge Brachwitz seine Unterhaltung mit der
Försterin, »und ich würde mich aufrichtig freuen, unsre flüchtige
Bekanntschaft wieder anzuknüpfen.«

»So geh doch,« drängte die Kranke erregt.

Da ging der Landmann zögernd hinaus und stieg wieder die schmale Treppe
hinan, die unter das Dach führte. Neben der Kammer, die er selbst seit
der Krankheit seiner Frau bewohnte, lag das Zimmerchen, das man Hedwig
eingeräumt hatte. Unsicher tastete er sich in dem dunklen Gang zurecht.
Ihre Tür stand offen.

Es war so seltsam still dort drinnen.

Sollte sie auch hier nicht zu finden sein?

Es wurde ihm so beklommen, eine peinigende Furcht bedrückte den großen
Mann, das Mädchen könnte sich heimlich entfernt haben.

Er sagte sich zwar gleich, daß er sie nicht vermissen würde, aber es lag
hier etwas Verstecktes, Geheimnisvolles in der Luft, das ihm den Atem
benahm.

Fürchtete er wirklich so sehr ihre Flucht?

Sein Herz klopfte, zögernd trat er näher.

In dem kleinen, kahlen Raum verbreitete ein Lichtstümpfchen einige
Helle. Dunkle Schatten kämpften gegen die schwachen Lichtwellen. Das
Fenster stand offen. In dem Luftzug zuckte das kleine Flämmchen auf und
ab. Ein Bett war zu sehen, ein eleganter Lederkoffer, ein Waschtisch,
ein Schrank, zwei Rohrstühle, sonst nichts. Vor dem Fenster aber ragte
die Gestalt der Bewohnerin auf.

Sie mußte sich eben gewaschen, oder Haupt und Brust im Wasser gekühlt
haben, denn sie umklammerte noch mit entblößten Armen das Fensterkreuz
und lehnte regungslos in den kalten Regen hinaus, den man dumpf und
eintönig auf den Blechbeschlag spritzen hörte.

Arm und Nacken weiß und rosig, als wäre ein verwunschenes, wunderschönes
Marmorbild lebendig geworden. Deutlich sah der Pächter, daß die feine
Haut vor Frost schauderte, und doch gab sie sich unbeweglich der Kälte
preis, als wäre ein Übermaß von Glut und Lebenstrotz in ihr.

Wilms wollte zurücktreten, allein er fand sich wie festgewurzelt. O, wie
unrein erschien ihm das Bild, unpassend, widerwärtig, und doch konnte er
der eigenen Erstarrung kein Ende bereiten, immer mußte er hinblicken,
während Haß, Abneigung, Bewunderung, und ein fernes, verabscheutes
Verlangen in seinem ehrlichen Gemüt durcheinander irrten.

Ja, ähnlich hatte Else ausgesehen – damals in den Stunden des Glücks –
aber doch entfernt nicht so sicher, so stolz, so seltsam in ihrer
Schönheit.

Seine Lippen bebten.

Der Frost begann ihn ebenso zu schütteln, wie das schöne Geschöpf dort
drinnen.

Da schlug der Wind die Tür zu. Krachend fuhr sie ins Schloß. Das ganze
Haus hallte. Und Wilms taumelte auf und raffte sich empor.

»Wie Else über den Knall zusammengefahren sein wird – das arme Weib,« –
war sein erster, unwilliger Gedanke, – dann wartete er noch ein paar
Minuten, klopfte schließlich laut an die Tür und überschritt auf ein
verwundertes »Herein« die Schwelle. Hedwig nestelte noch an ihrer
schwarzen Taille und machte eben die letzten Knöpfe zu. – Langsam wandte
sie ihm den Rücken und fragte rasch über ihre Schulter fort.

»Warum kommst du hier herauf? Geht es Else etwa wieder schlechter?«

»Nein, Gottlob nicht, ich soll dich hinunterholen.«

»Mich? – Ja, ich wollte mich erst ein wenig säubern nach dem
schmutzigen Weg von vorhin. Du siehst ja. – Sind denn unsere Gäste schon
alle versammelt?«

»Ja, es sind alle da. Auch der Förster. Er will mir das Heu abkaufen,
Gott sei Dank. Du hast also bei der Frau deinen Willen durchgesetzt, ich
danke dir dafür, mein Kind. Und – und Herr von Brachwitz befindet sich
ebenfalls unten. Du hast ihn wohl schon vorhin bemerkt?«

»Ja, ich sah ihn.«

»Sag’ einmal – Hedwig – gehört denn der Herr zu deinen Freunden?«

»Nein.«

»Also bloß solch eine flüchtige Bekanntschaft?«

»Ja – nein – das heißt, ich kenne ihn näher.«

»Sieh – ich will mich nicht ’rein mischen – es geht mich ja nichts an –
aber – er hat dir wohl drüben den Hof gemacht? Nicht?«

»Auch das.«

Das Mädchen wandte sich jetzt langsam, so daß der Pächter voll in ihr
eigentümlich blasses Antlitz blicken konnte, und maß ihn forschend mit
ihren braunen, spähenden Augen. »Aber weshalb fragst du?« fuhr sie
langsam fort, »besucht er euch denn sonst nicht?«

»Nein – nie.«

»Nie?«

Über die Gestalt der Fragenden lief ein Zittern, die dunklen Augen in
dem blassen Gesicht brannten in unterdrückter, schmerzlicher Glut.

Schweigend trat sie vor einen schmalen Hängespiegel, zog ihre straff
sitzende Taille zurecht und strich über ihr bräunliches, glänzendes
Haar.

Wilms, der ebenfalls seinen Blick auf das Glas wenden mußte, sah, wie
die vollen blühenden Lippen des jungen Weibes zuckten, wie ihre weißen
Zähne sich hineingruben, und sich über das ganze Antlitz wieder jener
lächelnde, trotzige, wildbegehrliche Zug verbreitete, den der Pächter in
seiner verständnislosen Befangenheit nicht begriff, über den er
nachgrübelte, und der ihn anwiderte.

»Hedwig« – – murmelte er unwillkürlich.

»Ja, Schwager,« antwortete sie leise.

Er schritt zur Tür und wandte sich verlegen hin und her.

»Ich glaube,« stieß er heiser hervor, »er kommt deinetwegen.«

Die Sprache versagte dem kräftigen Manne.

Ohne daß er es wußte, packte ihn grenzenlose, tiefe Scham, daß er sich
in die Herzensangelegenheiten dieses Mädchen drängen wollte, und doch –
eine zehrende Neugier nagte in seiner Brust weiter, wie weit die
Beziehungen der beiden wohl gediehen seien, ob überhaupt von einem
innigen Gefühl gesprochen werden könnte – oder ob – das Blut stieg ihm
dabei in die Stirn – ob sich etwas Unreines, Gemeines hineinmische.

»Nicht wahr,« wiederholte er, »er kommt wohl deinetwegen?«

»Meinetwegen?« sprach sie gedankenverloren nach.

Ein Windstoß fegte plötzlich zum Fenster hinein. Klirrend warf er die
Scheiben gegeneinander und blies das Lichtstümpfchen auf dem Tisch aus,
so daß völlige Dunkelheit entstand.

Der Pächter hörte, wie Hedwig tief aufatmete. Dann trat sie zu ihm auf
die Schwelle und sagte, während sie beide aus dem finsteren Raum
hinausschritten, mit ihrer gewöhnlichen Bestimmtheit:

»Lassen wir doch den Grafen. – Er ist eine häßliche Erinnerung für mich,
die ich gern abschütteln möchte. – Übrigens« – lachte sie leicht –
»brauchst du dir dabei gar nichts Besonderes zu denken, Schwager – eine
ganz alltägliche Dummheit. – –«

Sie unterbrach sich und klagte über die dicke Finsternis, die Gang und
Treppe einhülle. Mühsam tasteten sie sich zurecht. Beide dicht
beieinander. Ihr Kleid streifte seinen Fuß und es war ihm, als wenn eine
wohltuende Wärme von ihr ausströme.

Da stieß sie einen leichten Schrei aus.

Auf dem obersten Absatz der Treppe hatte sie fehlgetreten und griff nach
dem Arm des Mannes, was er erschrocken duldete. So stiegen sie hinab.
Langsam, als ob sie tiefen Gedanken nachhingen.

Erst als das Öllämpchen des Flures ihre Gesichter matt erhellte, kehrte
sie sich ihrem Schwager voll zu und meinte mit der alten unbeirrten Ruhe
und ihrer klaren Stimme: »Es trifft sich aber doch gut, daß Herr von
Brachwitz dich einmal besucht. Nach allem, was du mir gesagt hast, wird
es doch notwendig sein, mit ihm über eine Herabsetzung der Pacht
ernsthaft Rücksprache zu nehmen.«

Das schlug Wilms wie eine schwere Keule gegen die Stirn. – »Ja, ja,«
stotterte er und neigte schwerfällig den Kopf. – Seine Schuldenlast, die
ganze Zerfahrenheit seiner Besitzung, die kranke Frau dort drinnen,
Mißernte und die hohe Pacht – alles zusammen stürzte plötzlich wieder
auf ihn ein und legte sich eisern, klammerfest um sein banges Herz.

Not, Sorge, Krankheit standen wieder auf dem ziegelsteingepflasterten
Flur, bereit, den Herabsteigenden zu empfangen. Dort oben in Hedwigs
Kammer hatte er gar nicht an diese seine grauen Gäste gedacht.

Leise stöhnend, ließ er das Mädchen an sich vorüberschreiten und folgte
ihr dann schweren Trittes.

Als sie das Wohnzimmer öffnete, hatten sich seine müden, schleppenden
Gedanken wieder so völlig verschoben, daß er im Rücken Hedwigs mit
mattem Erstaunen darüber nachdachte, wie scharf das schwarze Sammetband,
das sie um den Hals gelegt hatte, von der weißen Haut seiner Schwägerin
abstach.

»Wie sich die beiden wohl begrüßen werden?« grübelte er noch, dann
strömte ihnen die Helle des erleuchteten Zimmers entgegen.



VIII.


»Ha, ha, ganz ausgezeichnet – ganz ausgezeichnet« schrie der Förster
Eltze, streckte seine Beine von sich und goß seiner Frau mit kühnem
Schwung neuen Rheinwein ins Glas: »Hier, Annchen – stoß mit dem Herrn
Grafen an – – Ihr Wohlsein, Herr Graf – ganz großartig – wahrhaftig. So
was von Dressur von einem Hunde ist noch gar nicht dagewesen. – Nicht
wahr, Anning, nicht wahr, Frau Pastorin? – Liebesbriefe unter das
Hundehalsband zu binden, und dann von dem Köter in die Mädchenpension
tragen zu lassen, ha, ha, ha, zu komische Idee, zu ko – –«

Er verschluckte sich, wurde kirschrot im Gesicht und der winzige Pastor
Schirmer, der neben ihm saß, mußte dem Riesen auf den Rücken klopfen:

»Lieber Freund, beruhigen Sie sich doch,« fistelte der Geistliche und
schickte einen unruhigen Blick zu Gattin und Tochter hinüber, von denen
die letztere sich weit über den Tisch lehnte, um den keck vorgetragenen
Geschichtchen des jungen Brachwitz mit heißen Wangen zu lauschen.

Alle Schüchternheit des Landgänschens war verflogen.

Auch die Förstersfrau folgte lächelnd den Anekdoten des jungen
Aristokraten.

»Mein Gott« – schoß es dem verwirrten Pastor durch das zitternde
Greisenköpfchen. »Die Weiber – die Weiber – gar nicht auszustudieren –
Die Förster Eltze und meine Paula, die frömmsten aus meiner Gemeinde,
jeden Sonntag in der Kirche, dazu noch eine Erbauungsstunde – und nun
dieses Benehmen, sobald ihnen der erste hübsche, junge Mensch über den
Weg läuft.«

»Ha, ha, was die Mädchen wohl für Gesichter gemacht haben mögen, als der
Köter kam,« grunzte der Förster von neuem und reckte eine Faust in die
Höhe.

Der Landedelmann, der neben Elses Krankenstuhl saß und ihr gutmütig von
Zeit zu Zeit allerlei kleine Dienste erwies, entzündete jetzt mit
Erlaubnis der Hausfrau eine seiner eigenen feinen Zigarren, und warf,
sich zurücklehnend, gespannt und erwartend dazwischen:

»Na, lieber Eltze, das wird uns am besten Fräulein Hedwig, – Fräulein
Schröder,« verbesserte er sich – »sagen können. Denn sie hat sich ja
auch in dieser Pension befunden.«

»Was, das ist Ihre Pension, Fräulein Hedwig?« rief Paula Schirmer
lebhaft dazwischen.

Und der Förster schrie schallend: »Donnerwetter, unser schönes Fräulein
Hedwig war auch eine von den Kötermamsells? – Na, wie war’s denn?«

»Kennen sich denn die Herrschaften schon von früher?« forschten jetzt
auch gespannt die beiden verheirateten Frauen wie aus einem Munde.

Alles sah auf Hedwig.

Sie hatte neben Wilms Platz genommen und, mit der Bewirtung beschäftigt,
sich bis dahin wenig an der Unterhaltung beteiligt.

»Was sie jetzt wohl antworten wird?« dachte der Pächter in seinem
dumpfen Hinbrüten. Von seinen Sorgen zu Boden gedrückt, und in seiner
Brust ein bohrendes Angstgefühl, hatte er bis jetzt auf die Tischplatte
gestarrt, und nur manchmal sah er auf sein blasses, angestrengtes Weib
herüber, scheu und mißtrauisch, als ob er auf einem Verbrechen ertappt
wäre.

Was hatte sich nur in seinem Gewissen geändert?

O, es war nur die Angst, die entsetzliche Furcht um seine Existenz,
überredete sich der unglückliche Mann selbst.

»Weiter nichts – gewiß – gar nichts weiter.«

»Kennen sich denn die Herrschaften schon von früher?« tönte es in seine
Gedanken hinein. – Was sie jetzt wohl antworten würde?

Und ohne Erregung, klangvoll und ruhig gab Hedwig zurück, obwohl sie den
Grafen zum erstenmal fest ansah:

»O ja – der Herr Leutnant besuchte ja oft die Bälle unserer Pension. Ich
selbst habe sogar einmal einen seiner Briefe dem großen Hunde
abgebunden.«

Leicht, kalt, liebenswürdig hatte sie das alles hingeworfen, jetzt erhob
sie sich mit ihrer tadellosen Haltung, um dem Pastor einen Teller mit
Kuchen und Früchten zu präsentieren. Sie war eine vollkommene Dame.

»Bitte, Herr Pastor – nicht ein Pfefferkuchen gefällig? – Nein? – Nun
dann aber einen Apfel, – ich werde ihn gleich schälen – Sie erlauben.«

In der Gesellschaft war eine peinliche Stille entstanden. Selbst die
Wangen der Kranken, die solange teilnahmslos in ihrem Stuhle gelegen
hatte, färbten sich hektisch rot; mit heftigem, unvorsichtigem Tonfall
flüsterte sie kurzatmig und gereizt:

»Einen Brief vom Herrn Grafen an dich? – Hedwig, das ist doch nur
Scherz, nicht wahr? – Sag’ das doch den Herrschaften.«

Ja, sie waren alle sehr begierig, dies zu wissen. Die Försterin, deren
tiefblaue Nixenaugen vor Neugier strahlten und leuchteten; die Pastorin,
die wie ein Pfahl dasaß und alles in hohem Grade unmoralisch fand; und
die dumme, kleine, dralle Paula, die es gar nicht erwarten konnte, in
solche Heimlichkeiten einzudringen.

Ach, sie fand Hedwig »süß« und »wundervoll«.

Aber der junge Brachwitz ließ die Aufgerufene zu keiner Antwort kommen:

»Ein Scherz?« wiederholte er dringend, indem er Hedwig aufmerksam
betrachtete. »Ja, leider wurde es von den jungen Damen nur als Scherz
aufgefaßt, obgleich es mir verteufelt bittrer Ernst war. Warum übrigens
nicht? – Ich war jung und hatte mich in ein paar von den allerliebsten
Pensionärinnen wirklich verliebt. Wissen Sie noch, Fräulein Hedwig?«

Hedwig wurde plötzlich sehr blaß, der Pächter bemerkte, wie ihre Hand
sich unwillkürlich öffnete und zuckend wieder schloß, aber äußerlich
erwiderte sie gelassen, während sie den Hahn der Teemaschine drehte:
»Gewiß – Sie machten es uns ja oft recht deutlich, Herr Graf« –

»Gleich in ein paar?« echote die Pastorin, die Worte des Grafen
wiederholend, leise und entrüstet. Die Unterhaltung des jungen Herrn
begann allen sichtlich zu mißfallen.

Und wieder trat eine lange, drückende Pause ein, die keiner zu
unterbrechen wagte. Es wurde sehr ungemütlich. Else fing vor
Verlegenheit an zu zittern. Wenn der Graf nur gegangen wäre. Aber er
blieb und begann jede Bewegung ihrer Schwester zu verfolgen.

Was das nur bedeutete?

Die Kranke regte sich so auf, daß ihre Zähne leise zusammenschlugen. Sie
merkte, daß sie fieberte, aber mit letzter Kraft hielt sie sich
aufrecht.

Auch die Blicke ihres Mannes hingen so sonderbar an Hedwig. Erst jetzt
fiel ihr das auf.

Ob die beiden Männer von dem Mädchen irgend etwas wußten?

Aber was?

Und die beiden verheirateten Frauen flüsterten miteinander so leise.

Worüber?

Vor den Augen der Gepeinigten flimmerte es, ein langer stechender
Schmerz durchschnitt sie.

»Gott im Himmel – Hedwig,« ächzte sie halblaut, um nur irgend etwas zu
sagen, »ich möchte – du solltest – etwas singen – so lange habe ich
nichts gehört.« Sie schauerte zusammen.

Alle riefen Beifall. Der Förster, der dem Rheinwein zu stark
zugesprochen hatte, schwankte nach dem alten Klavier, das in der Ecke
stand, und trug grunzend zwei Lichter herbei. Paula Schirmer sorgte für
einen Stuhl, und Hedwig erhob sich willig, um aus dem guten Zimmer die
Noten zu holen.

In dem Nebenraum herrschte Dunkelheit.

Sofort ergriff der junge Brachwitz, der das Mädchen nicht mehr aus den
Augen gelassen, einen der Leuchter und folgte Hedwig galant mit dem
Lichte.

Und wie von selbst fiel die Tür hinter beiden ins Schloß.

Und jetzt sah der Edelmann, wie das schöne Mädchen über dem
Notenschränkchen gebückt stand und suchte.

Voll und reif boten sich die edlen Linien dieses jugendlichen
Frauenleibes dar, in ihren Wangen strömte das Blut, über den braunen
Haaren schienen im Schimmer des Lichts knisternde Goldfunken zu tanzen,
und Brachwitz sauste und summte das Blut ungestüm in den Adern, ebenso
unbezähmbar wie damals, als er das halbe Verbrechen, die grenzenlose
Roheit gegen sie verübt hatte.

Wieder konnte er dem weichen, trotzigen Zauber, den dieses Weib
ausströmte, jener schweigenden, üppigen Verlockung nicht widerstehen.

Und die aufkochende, jede Vernunft überschäumende Tollheit machte ihn
völlig besinnungslos.

»Hedwig,« flüsterte er, in seiner Spannung erzitternd, und griff keck
nach ihrer Schulter: »Antworten Sie mir doch endlich. – Können Sie denn
die Dummheit von damals nicht vergessen?«

Wie langsam und schwerfällig sie sich aufrichtete! Und jetzt bemerkte
Brachwitz mit Schrecken, welch eine Veränderung in ihrem Antlitz
vorging. Starre Marmorblässe jagte das eben noch so prangende Rot, alles
an ihr schien so gelähmt, so unbeweglich, nur die großen Augen richteten
sich haßerfüllt, und doch mit flammendem, unausgesprochen begehrlichem
Feuer auf den Bedränger, so daß der Reiter verwirrt und schwankend die
Hand von ihrer Schulter gleiten ließ.

War das Zorn, war es Sehnsucht, was ihm da entgegensprühte?

»Liebe Hedwig, wenn – –«

»Still – ich will das nicht –« befahl sie flüsternd und heiser.

»Aber Sie wissen ja nicht – –«

Jedoch unvermittelt unterbrach er sich und trat zurück.

Was war das?

Mit einer einzigen Bewegung glitt sie auf ihn zu, ganz dicht stand sie
vor ihm, ihr Mund verzog sich, die Lippen bebten lechzend, als ob sie
ihn küssen oder ihm die Zähne ins Fleisch schlagen wolle. Jede Fiber
zuckte und zitterte in dem schönen Gesicht, und ohne Überlegung,
zusammenhanglos, sich die Hände vor die Augen schlagend, stieß sie
hervor: »Nein, Sie wissen nicht – Sie – Sie wissen nicht, was Sie aus
mir gemacht haben – Sie – –«

»Was denn?« flüsterte Brachwitz verlegen.

Als sie seine Stimme vernahm, fuhr das Mädchen auf, wie wenn sie
plötzlich erst zum Bewußtsein ihrer Lage käme.

Wortlos, keiner Bewegung mächtig, starrte sie ihn an.

Was hatte sie nur vorgebracht? – Hatte sie ihm etwa das dunkle, häßliche
Geheimnis verraten, das ihre Seele, ihr Denken seit jenem einen Tag
befleckte und verdarb? Das ängstlich behütete, das aussätzige Geheimnis,
das ihr heimlich Schrecken und Entsetzen einflößte?

Hedwig fühlte, daß sie dieses wortlose Gegenüberstehen nicht lange würde
ertragen können, daß irgend etwas Schreckliches, Ungeahntes eintreten
müßte.

Er begann wieder zu lächeln.

Jenes gutmütige, frech zutrauliche Lächeln, das sie schon damals wehrlos
gemacht.

Ihre Brust flog. O! wenn doch jetzt jemand in das einsame Zimmer treten,
oder wenn sie Mut genug besitzen möchte, den Bedränger zur Seite zu
werfen. Aber nichts regte sich.

Und er hatte die Verwegenheit, seine Augen mit dem heißen Ausdruck des
künftigen, sicheren Besitzes in die ihren zu tauchen, ein Verführer, der
seiner erprobten Macht sicher ist, und jetzt setzte er langsam das Licht
aus der Hand. Hedwig staunte ihn an.

»Was nun wohl folgen wird?« dachte sie dumpf. Aber da – Gott sei Dank,
sie hatte es ja erwartet, da ging endlich, endlich die Tür, Wilms große
Gestalt stand plötzlich neben den beiden, und mit warmer Dankbarkeit
hörte das Mädchen, wie ihr Schwager nach einer unangenehmen Pause
unsicher und gepreßt zu dem Grafen sagte, er wolle mit ihm ein paar
Worte ungestört über die Pachtverhältnisse sprechen. Der junge Herr
solle es nicht übel nehmen. – Gott sei Dank, diese entsetzliche Minute
war vorüber. Von da an geschah alles in wilder Hast. Jeder von den drei
Menschen in der frostigen Stube schien das Geheimnis der anderen zu
ahnen. Man sprach und rechtete, ohne innerlich bei der Sache zu sein.
Der Pächter bat um Herabsetzung seiner Lasten, der Graf zuckte
widerwillig die Achseln und meinte, daß das alles Sache seines Vaters
wäre. Schließlich kam man überein, daß der Pächter in den nächsten Tagen
den alten Gutsherrn persönlich aufsuchen solle. Vielleicht könnte auch
Hedwig die Vermittlung übernehmen, da der alte Brachwitz gegen Wilms zu
schlecht gestimmt sei.

Hedwig?

Beide Männer schwiegen wie auf Verabredung und blickten sonderbar auf
sie hin.

Wollte man sie herausfordern?

»Ja, ja, ich komme,« nickte sie halb geistesabwesend und doch ihre alte
Kraft zusammenraffend.

Und dann empfand Hedwig alles Spätere gleichsam wie durch einen dicken
Nebel hindurch.

Wie man wieder in das große Zimmer zurückgekehrt war. Wie sie dann am
Klavier gestanden, und, von Paula Schirmer begleitet, das Heinesche Lied
gesungen:

    »Täglich ging die wunderschöne
    Sultanstochter auf und nieder
    Um die Abendzeit am Springbrunn,
    Wo die weißen Wasser plätschern.«

Wie es dann so still um sie her geworden und plötzlich ein wildes
Durcheinander entstanden war. Else hatte schon längst zitternd und aller
Kräfte beraubt dagesessen, beim Schluß des Liedes stieß sie vor
Anstrengung bewußtlos einen klagenden Ruf aus und sank ohnmächtig
zusammen.

Hedwig erinnerte sich noch, wie blaß und leichenhaft schön ihr das
Antlitz der Schwester erschienen war. Scheu und hastig waren dann die
Gäste enteilt, Wilms und das Mädchen hatten die Ohnmächtige entkleidet
und, als sie wieder den ersten Seufzer von sich gab, zu Bett gebracht.

Auf einem Sofa, neben dem Krankenlager, schlief Hedwig diese Nacht Hand
in Hand mit der Schwester, die ihre Finger wie ein trostspendendes
Amulett umspannt hielt.



IX.


Am nächsten Morgen ganz in der Frühe kam der Arzt. Es war der
Kreisphysikus aus Grimmen, der die Leidende allwöchentlich besuchte und
als Freund des alten Rendanten die beiden Schwestern seit ihrer Kindheit
kannte.

Ein kleiner, fetter, fröhlicher Herr, behaftet mit einem unförmlichen
Bauch, einem verwitterten roten Weintrinkergesicht und mit einer
burschikosen Neigung zu allen hübschen Mädchen und Frauen, trotzdem er
in seiner eigenen Familie deren bereits eine stattliche Anzahl besaß.

Schon bei seinem Eintritt begrüßte der kleine Dr. Rumpf die Anwesenden
mit einem lauten: »Morgen, Kindtings; na, wie geht’s?« stiefelte mitten
in das große Zimmer hinein und blieb dort ein wenig verwundert stehen.

In dem Bett lag die Kranke so unbeweglich und weiß, als wenn sie bereits
verschieden wäre. Und der Mann, sowie das junge Mädchen am Kopf- und
Fußende schienen gleichfalls schon viele Stunden an dem Lager zu
wachen.

Das stimmte den Arzt doch bedenklich.

Als aber Else langsam und begrüßend die abgezehrte Hand gegen ihn
ausstreckte, ermannte sich Dr. Rumpf, schritt schnell an das Bett und
küßte seiner Patientin zuvörderst zärtlich die Hand.

Sein stachliger, weißer Knebelbart kratzte dabei die Ärmste, daß sie das
Gesicht vor Schmerz verzog.

»Schlimmer, mein Kindting?« fragte er teilnehmend, ohne sich um die
andern zu kümmern, »schlimmer?« Damit entblößte er ungeniert die Brust
der Kranken, horchte aufmerksam herum und schüttelte endlich den Kopf.

Wenn der Physikus so sehr zärtlich wurde, so galt es immer für ein
schlechtes Zeichen.

»Herr Doktor,« hauchte die Liegende kaum hörbar, »steht es sehr trostlos
mit mir? – Sagen Sie es – sagen Sie es, bitte,« wiederholte sie
dringend, »ich bin ja auf alles gefaßt.«

»So? gefaßt? ja, ja, mein Liebchen,« murmelte der Doktor achtlos und
bewegte im Selbstgespräch die Lippen. »Raus,« schloß er plötzlich sein
Nachdenken und machte den beiden anderen eine energische Bewegung mit
dem Kopf, daß sie sich entfernen sollten.

Wilms und Hedwig begaben sich in das niedrige frostige Wohnzimmer mit
den grünen Ripsmöbeln.

Matt und in sich versunken lehnte das Mädchen hier auf dem Sofa, über
das noch immer der graue Leinwandbezug gezogen war, während Wilms
schweigend durch das einzige Fenster auf den Hühnerhof hinausblickte.

Seit dem gestrigen Abend hatten die beiden noch kein Wort miteinander
gewechselt.

Ein seltsames Schweigen herrschte wieder zwischen ihnen.

Eine lange, bange Viertelstunde verstrich.

Dann trat der Physikus endlich breitbeinig herein und schloß die Tür
hinter sich zu.

»Nun, Herr Doktor?« fragte Wilms dumpf, der sich im selben Augenblick
zurückgewendet hatte. Aus den grob gemeißelten Zügen des Mannes sprach
arbeitende, zurückgedämmte Angst, die ihm die Augen stier aus den Höhlen
heraustrieb und sich auch Hedwig mitteilte. Aber sonderbar! Als sie
ihren Blick flüchtig über den zitternden Riesen fortgleiten ließ, da
drang zugleich ein spöttisches Mitleid gegen diesen besorgten Gatten in
ihr Denken.

Mitten in ihrer Spannung lächelte sie spöttisch.

»Können Sie mir denn nicht ein bißchen Trost schenken?« stammelte der
Pächter von neuem. »Ich kann’s ja gar nicht mehr mit ansehen.«

»Trost? – hm ja.« – Der Physikus ließ seinen dicken Leib schwerfällig in
einen Polsterstuhl fallen und streichelte Hedwig, die sich erhoben
hatte, freundlich die Hand.

»Na, Kindchen, immer hübsch artig hier draußen?«

»Ich will Ihnen was sagen, lieber Wilms,« fuhr er dann ganz ernsthaft
fort, »das Unterleibsleiden Ihrer Frau hat sich verschlimmert.«

»Großer Gott – das – das hätt’ ich nicht erwartet.«

Der Pächter murmelte es in stumpfer Verzweiflung und lehnte sich, nach
Atem ringend, an die Wand. Und nach einer Weile brachte er hervor: »Das
ertragen wir nicht, sie nicht, und ich nicht.«

»Armer Kerl,« murmelte der Physikus und schüttelte bedenklich den Kopf,
»leider werden sich jetzt noch Krampfanfälle einstellen – ich hab’ mir’s
längst gedacht, längst. Und dann – –«

»Und dann?« unterbrach ihn Hedwig heftig und scharf und trat
aufgerichtet vor den Arzt hin. »Nun muß doch etwas Energisches
geschehen, lieber Herr Doktor. Man kann es doch nicht einfach so
fortgehen lassen. Wollen Sie es nicht mit einer Operation versuchen?«

In ihrer Heftigkeit stampfte sie leicht mit dem Fuß und preßte die Hände
gegeneinander.

»Eine Operation?« knurrte der Physikus in sich hinein. Er schüttelte den
Kopf, erhob sich ächzend und begann eine Wanderung durch die Stube. So
oft er dabei an dem Landmann vorüberkam, drehte er ein bißchen an dessen
Rockknöpfen; streifte er dagegen an Hedwig, so nickte er ihr in seinem
Selbstgespräch gedankenlos zu.

Endlich blieb er stehen und, indem er sich befriedigt den weißen
Stoppelbart rieb, als wenn dieser hauptsächlich an der Entwickelung
vorzüglicher Gedanken beteiligt wäre, gab er laut und bestimmt sein
Urteil ab: »Nein, keine Operation; aber sie muß in ein Solbad – ja, ja –
ganz recht – und zwar sofort, denn es ist die allerhöchste Zeit.«

»In ein Bad?« wiederholte Wilms verwirrt, während er sich langsam über
die Stirn strich.

Und ihm fiel wieder die unselige Schuld ein, die uneingelöste, und wie
ihm beinahe alles fehlte, um nur die Haushaltung zu bestreiten. Die
Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, nur mit schwerer Zunge konnte
er einwerfen: »Aber – aber die Mittel dazu werden wohl sehr große sein?«

»Ja, billig ist’s nicht,« meinte Dr. Rumpf und sah den Pächter
teilnehmend an: »Also morgen schreibe ich Ihnen, wohin Ihre Frau zu
gehen hat.«

Damit verabschiedete er sich, ergriff seinen Stock, schüttelte Wilms die
Hand und wollte eben dem Mädchen väterlich galant die Fingerspitzen
küssen, als er ordentlich erschreckt von ihr zurückfuhr und mit lautem
Ruf aus seiner Brusttasche einen mehrfach versiegelten Brief
hervorbrachte. »Das hätte ich beinahe vergessen,« strafte er sich
selbst, »Kindchen, hier – dein Vater hat es mir mitgegeben. – Es ist
Geld drinnen, und er sagte mir, daß du es bereits erwartest. Ei, das
wäre ja eine schöne Geschichte geworden. Was? Na, adieu, Kindting.«
Damit schritt Dr. Rumpf breitbeinig und ehrwürdig zur Türe hinaus und
fuhr geradeswegs zur Försterin, deren zarte Haut noch am Abend allerlei
Kratzabzeichen aufwies, die des Physici Stoppelbart und seine
Heilmethode jedesmal hinterließen. – – –

In der ungemütlichen »guten Stube« des Pachthauses blieben die zwei
Menschen allein.

Beide sahen sich an, der Landmann scheu und mit Herzklopfen, das Mädchen
fest und beinahe auffordernd, als erwarte sie, der Schwager möchte sie
nun fragen, warum sie sich das Geld habe nachsenden lassen.

Bezeichnend drückte sie den Brief gegen ihre Brust und ließ ihre braunen
Augen ermunternd an den seinen hängen, jedoch Wilms schwieg und biß die
Lippen fest zusammen.

Eine Demütigung sollte nun folgen – »nur kein Geld von ihr – nur das
nicht«, fuhr es ihm durch den Sinn, und er raffte sich auf und wollte
hinausgehen.

Da tönte aus dem Krankenzimmer eine schwache, röchelnde Stimme
dazwischen.

»Wilms – Hedwig – kommt zu mir.«

Beide erschraken.

Es klang so fern, so geisterhaft.

Nun mußte es geschehen.

Ehe es sich Wilms versah, stand Hedwig dicht vor dem Landmann, und
bewußt und als gäbe es keinen Widerspruch, drückte sie ihm mit einem
festen Blick den Brief in die Hand.

Er schob ihn zurück, als ob das Papier zwischen seinen Fingern beißendes
Feuer würde, aber heftig, zornig stieß das Mädchen das Dargebotene noch
einmal von sich.

»Kommt doch zu mir,« klagte es abermals von drinnen, »weshalb bleibt
ihr so lange?«

»Hedwig – was soll ich damit?« stammelte Wilms, auf den Brief weisend.

»Schnell! – Es sind 5000 Mark – ein Drittel meines Erbteils – Wilms,
damit mußt du dir helfen und dann Elses Reise bezahlen, hörst du?«

»Ich kann nicht – ich darf ja nicht, Hedwig.«

»Warum nicht?«

»Weil – weil – –« er fand keine Antwort und hielt nur, wie von Ekel
erfaßt, das Geld weit von sich.

»Willst du gerade mir nicht verpflichtet sein?«

»Ja,« stöhnte er.

»Und aus welchem Grunde?«

»Weil – –«

Dem Bauern flimmerte es vor den Augen, die Kehle war ihm wie
zugeschnürt. O, er fühlte deutlich, daß er das Geld nicht nehmen dürfe,
weil dieses Mädchen, das so blühend, so kräftig vor ihm stand, weil
dieses schöne fremde Weib sich in sein Denken geschoben hatte, sündhaft
und abscheuerregend und dennoch etwas Unerkanntes in ihm erweckend, das
sich qualvoll und erfrischend zugleich in ihm emporhob.

»Und wenn ich dich so recht darum bitte?« drängte Hedwig einfach und
legte ihm vertrauensvoll die Hand auf die Schulter.

Beide blickten sich eine Sekunde lang an.

Da war es wieder. Da brach es wieder aus ihm hervor. Wilms zitterte am
ganzen Körper, tausend widersprechende Stimmen schrien in ihm
durcheinander.

»Schlag sie nieder,« reizten die einen.

»Hast du nicht lange genug ein Weib entbehrt?« flüsterten die andern,
»umarm’ sie, küss’ sie.«

»Großer Gott, was machst du aus mir, Hedwig?« stieß er tonlos hervor.
»Ich darf ja nicht!«

»Und Elsen willst du nicht helfen?« bat sie von neuem. Noch niemals
hatte sie so sanft zu ihm gesprochen.

Aus dem Krankenzimmer drang ein matter, ersterbender Laut.

Da preßte Wilms plötzlich mit seiner brutalen Riesenkraft ihre beiden
Hände in die seinen, die noch den Brief umschlossen, und näherte sein
Haupt dem ihren, als ob er dem Mädchen etwas zuraunen wollte. Aber kein
Wort ging über seine Lippen, er sah sie nur an, und erst nach geraumer
Zeit drang es stückweise hervor: »Ich nehm’ es ja – wenn du es willst –
denn du bist gut – ja du bist gut.«

Es war wie ein geheimes Einverständnis über beide gekommen. Und jetzt
lächelte sie ihn auch frisch und freimütig an, als sie ihn bat, nach
seiner Wirtschaft zu sehen, denn sie selbst würde Else alles, was über
die bevorstehende Reise beschlossen sei, schonend und ruhig mitteilen.

Er nickte und wandte sich langsam ab. Aber noch an der Tür streckte er
ihr in überwallendem Gefühl zum zweitenmal die Hand entgegen.

Hedwig stand noch immer und lächelte.

»Geh nur.«

»Ja, ja,« murmelte Wilms wie im Traum, und mit einem langen Blick: »Du
bist gut.«



X.


Am Nachmittag waren die beiden Schwestern allein. Wilms war in die Stadt
gefahren, um Herrn Rosenblüt das vorgeschossene Geld zurückzuzahlen.

Es war gerade der achte Tag.

Und so waren die beiden Frauen auf sich selbst angewiesen. Bewegungslos
lag die Kranke in ihrem Bett, vor sich die Bibel, auf deren Deckel sie
leise hin- und herkratzte, und starrte apathisch auf den Hof hinaus, der
sich bereits in Dämmerung hüllte.

Hedwig hatte bis dahin munter und emsig an einer eleganten
Seidenstickerei gearbeitet, jetzt aber ließ sie sich ebenfalls am
Fenster nieder, und den Kopf auf die Hand gestützt, träumte sie nun,
leise eine Melodie summend, in den sinkenden Tag hinaus.

Dunkelrot ging die Sonne hinter der Scheune zur Rüste. Einen Augenblick
lang war das ganze Zimmer in magischen Glanz getaucht, selbst das
Antlitz der Kranken strahlte in wunderbarer Pracht.

»Wie schön du bist, Hedwig,« murmelte die Liegende, als ihr Blick die
Schwester traf, auf deren goldbraunen Haaren die Lichter purpurn, wie in
Verklärung spielten. Und gleich darauf wimmerte sie: »Gott – so war ich
auch einmal, und nun elend, gelähmt, immer auf fremde Leute angewiesen.«

»Jesus Christus,« schrie sie plötzlich in ekstatischer Glut und hob die
abgemagerten Hände in die leuchtende Höhe, daß sie wie mit Blut befleckt
erschienen. »Nimm mich doch zu dir, mach doch ein Ende mit mir elendem
Krüppel – ich ertrag’s ja nicht länger, wenn ich andere sehe, so schön,
so jung, und ich – – ach, in dem Bade wird’s ja auch nicht besser
werden.«

Hedwig rührte sich nicht.

Die Kranke starrte ängstlich nach ihr hin und schien sie etwas fragen zu
wollen, aber nur ihre Brust hob sich etwas flüchtiger als sonst.

Da schlich der alte Krischan, der zahnlose, taube Greis, ins Zimmer,
legte mit seiner zitternden Hand ein Zeitungsblatt auf den Tisch, und
entfernte sich wortlos, wie er erschienen war.

Seit Hedwig auf dem Pachthof weilte, wurde ihr aus der Stadt eine
Zeitung nachgesandt; und eilfertig erhob sich das Mädchen deshalb, um
die Lampe zu entzünden und einen Blick in das Blatt werfen zu können.

»Hedwig,« rief die Kranke mit zitternder Stimme dazwischen, als das
Mädchen bereits ruhig ein paar Minuten im Schein der Lampe die
Tagesereignisse verfolgt hatte. Dabei war der Leserin allerdings
entgangen, wie ihre Schwester keinen Blick von ihr verwandt hatte,
obgleich sie sich erregt hin und her warf.

»Willst du jetzt schon deine Medizin nehmen?« fragte die Gerufene
willig, indem sie die Zeitung hinlegte.

»Nein, mein Kind, noch nicht – ich möchte, – setze dich doch her zu mir
ans Bett, – – Wenn ich nun doch in das Bad soll, dann werden wir ja
nicht mehr lange so sitzen.«

Schweigend folgte Hedwig dem Wunsch der Schwester und setzte sich auf
einen Korblehnstuhl, der zu Häupten des Bettes stand.

Die Kranke kauerte sich mit ihrem Kopf ganz in die Nähe der Schwester,
ergriff schließlich Hedwigs Hand und legte sie sich auf die Brust.

Deutlich fühlte das Mädchen, wie keuchend und rasch der Atem ging.

Eine Zeitlang verharrte sie so, als jedoch nach einer Weile die Jüngere
von neuem nach der Medizinflasche griff, schüttelte Else nervös den Kopf
und fragte überstürzt, als ob ihr dies schon lange auf der Seele
gelegen hätte:

»Hedwig, ich wollte dich einmal fragen, gefällt es dir denn bei uns?«

Es lag etwas so Ängstliches im Ton der armen Frau, daß Hedwig unruhig
wurde.

»Gewiß,« gab sie rasch zurück, »überdies kam ich doch auch nur, um dich
zu pflegen –«

Die Kranke richtete sich mühsam auf: »Und was denkst du – von Wilms?«
fuhr sie hastig fort, ohne auf das eben Gehörte einzugehen.

Hedwig erschrak. Sie wußte selbst nicht warum. Unwillkürlich mußte sie
sich gerade jetzt daran erinnern, wie eisern fest Wilms heute vormittag
ihre Hände umklammert hatte. Dem starken Mädchen wurde plötzlich das
Alleinsein mit der aufgeregten Kranken drückend und unheimlich.

»Kannst du ihn leiden?« forschte die letztere dringender, und umschlang
in ihrer sitzenden Stellung den Hals der Schwester.

»O ja« – murmelte diese verwirrt – »dein Mann macht einen braven,
rechtschaffenen Eindruck. Und vor allen Dingen scheint er um dich so
aufrichtig besorgt.«

»Glaubst du?« seufzte die Kranke erleichtert auf. – Dann drückte sie
sich erregter an die Schwester, so daß ihre Wange an der Hedwigs ruhte.

Schaudernd empfand die Jüngere die Berührung der feuchten
fiebergeschüttelten Haut, ja ein leiser Widerwille beschlich sie, als
sie von der Kranken jetzt heiß und zärtlich auf die Wange geküßt wurde.

»Ja, Gottlob,« raunte die Ärmste dabei dicht vor dem Ohr der Schwester.
»Er liebt mich noch immer. – Aber – aber – o Gott, Hedwig, ich will dir
etwas anvertrauen. Sieh, wenn ich dich sehe, so schön und gesund, gerade
wie ich jetzt auch sein könnte, wenn ich mir unsere fröhliche Jugendzeit
vorstelle, dann ist es mir manchmal, als ob ich Wilms – o Gott –
verzeih’ mir die Sünde, rechne es mir nicht an, aus mir spricht ja nur
das Elend« – wimmerte sie dazwischen – »Hedwig, dann ist es mir
manchmal, als ob ich meinen Mann haßte, – hörst du? – der mich zu
alledem gemacht hat. Bitter und giftig, wie ich noch nie einen Menschen
gehaßt habe. Und dabei – ach, du kannst es ja nicht verstehen – dabei
sehne ich mich ja so nach ihm, dabei muß ich immer an die ersten Monate
unserer Ehe denken, wo ich so glücklich bei ihm war und wir uns
herzten,« sie zuckte zusammen und riß die glänzenden Augen weit auf.

»Nein – nein – nein – ach, du mein Gott, was sag’ ich nur alles – das
ist ja alles Todsünde – Hedwig, glaube kein Wort davon, ich fiebere –
höre nicht darauf.«

Und unvermittelt hob sie laut an zu beten; wirr durcheinander, mit den
Worten des Psalms:

    »Herr Gott, mein Heiland, wie schreie ich Tag und Nacht vor dir.
    Du hast mich in die Grube hinuntergeleget in die Finsternis.
    Wirst du unter den Toten nicht endlich ein Wunder tun? –
    Erbarm’ dich meiner – Sela – Sela.«

Nach diesem Ausbruch fiel sie, wie ein lebloser Stein, schwer und dumpf
in ihre Kissen zurück, und blieb mit langsam verlöschenden Augen liegen.

Kalt durchfröstelt, und doch voller Widerwillen gegen diese ekstatische
Art flößte Hedwig der Erschöpften, welche die Zähne krampfartig
zusammenbiß, einige Tropfen der beruhigenden Medizin ein. Dann wischte
sie ihr den Schweiß von der Stirn, was die Leidende alles mit denselben
erstarrten, ausdruckslosen Zügen geschehen ließ.

Fast eine Stunde verrann so.

Kein Laut regte sich mehr in dem großen Zimmer. Traulich dämmernd, wie
immer, verbreitete die große Stehlampe ihr Licht, und Hedwig saß an dem
Bett und sah scheu auf die Frau hin, die ihren Mann als den Zerstörer
ihrer Gesundheit haßte und sich zugleich nach ihm sehnte in einer
wilden, unreinen Leidenschaft.

»Unrein?«

Mit schwachem Lächeln zuckte die Pflegerin die Achseln und lenkte ihre
Gedanken wieder auf sich selbst und jene eine Begebenheit zurück, wo
zuerst ein Mann ihren Lebensweg gekreuzt hatte. Nur trat ihr dabei, so
sehr sie sich auch Mühe gab, nicht der freche Brachwitz vor Augen –
nein, seltsam – beinahe lächerlich – immer fort, und je länger desto
deutlicher, drang der starke Wilms auf sie ein, faßte sie an beiden
Armen und beugte sich über sie, immer gewaltsamer – mit seinem ehrlichen
Gesicht, das doch so roh und zornig blicken konnte. O, es war ein so
schmerzhaftes, unselig-frohes Gefühl. – – Und sie sagte sich in ihrem
Hinträumen, daß alles nur der Nachklang von Elses Erzählung wäre, und
sie stellte sich vor, wie warm und weich ihre Schwester wohl an Wilms
Halse gehangen hätte, und dennoch – und dennoch – die Ahnung wurde immer
deutlicher, bis sie sich schaudernd aufraffte und sich schüttelte.

Verwirrt strich sie ihr braunes Haar zurecht.

Aus der großen Kastenuhr schlug es achtmal.

»So spät schon? – Wo Wilms nur bleiben mochte?« Und wieder erschrak sie
darüber, daß sie ihn erwarte.

Da – sie fuhr auf.

Sprach ihr zur Seite nicht etwas?

»Ach, mir ist viel besser,« flüsterte die Kranke leise sich regend und
legte ihre feuchte Hand wieder auf die der Schwester: »Du bist auch so
still und sanft, mein süßes Heting.«

Wohl eine Stunde hatte die Ärmste vor Ermattung in tiefem Schlummer
gelegen, jetzt erhob sie sich müde und zerschlagen und blickte sich
dumpf im Zimmer um.

»Ist Wilms noch nicht zurück?«

»Nein, noch nicht.«

»Wo fuhr er denn hin?«

»Nach Grimmen.«

»So?« murmelte die Kranke in sich zusammensinkend – »Erzählte er dir
das?« Und nach einiger Zeit setzte sie gleichgültig hinzu: »Er hat wohl
viel Vertrauen zu dir?«

»Ja, ich denke.«

Die Kranke nahm von Hedwigs Hand ihre Medizin, das Mädchen schlug ihr
die Kissen zurecht, sodaß sich die Leidende besänftigt und ruhiger als
bisher ausstrecken konnte.

Dann lag sie und blickte ihrer schönen Schwester mehrere Minuten lang
unausgesetzt und grübelnd ins Gesicht. Hedwig schoß das Blut in die
Wangen.

Sie wußte selbst nicht warum.

»Wünschst du etwas?« forschte sie rasch.

»Nein, nein, nichts. Komm, mein Liebling, ich will dich etwas fragen –
Ich bin doch deine Schwester, und du bist nun erwachsen – Sieh, da
möcht’ ich gern wissen, mein Heting, – du darfst es mir aber nicht übel
nehmen – ob du – was du dort drüben so in der Pension erlebt hast?«

Es klang ein wenig ängstlich, aber doch mehr zudringlich und neugierig.

Statt einer Antwort lehnte sich Hedwig tief in ihren Lehnstuhl zurück
und schloß die Augen. – Es war ihr, als senke sich die Decke des
niedrigen Zimmers immer tiefer auf sie herab, als fehle es ihr an Luft,
als wäre alles zu eng und öde auf diesem weltverlassenen Pachthofe. –
Was wollte nur die Schwester mit dieser albernen Frage? – Wieviel
Spießbürgerlichkeit lag darin. Was ging sie das alles an?

»Ah, jetzt verstehe ich dich,« sagte sie endlich mit ihrer klaren
Stimme. »Du denkst an das, was Graf Brachwitz gestern erzählte.«

Sie zog dabei die Arme hinter das Haupt und schaukelte mit dem Stuhl
leise hin und her.

»Ja, ja,« pflichtete Else bei, »das geht mir gar nicht aus dem Kopf. Und
daß gerade die beiden Frauen dabei waren. Es klang alles so dunkel,
Hedwig, sag’ mir doch, mein Liebling, was hattest du mit dem Grafen?«

»Was ich mit ihm hatte?«

»Ja – du mußt mich recht verstehen – – ach, es regt mich so auf und jagt
mir soviel Angst ein – – du bist ja auch noch so unerfahren – – diese
schreckliche Unruhe hat mich seit gestern vollständig niedergeworfen. –
Wir haben doch beide keine Mutter mehr, Hedwig, und da bin ich –«

»Was ich mit ihm hatte?«

Über das Antlitz der Jüngeren glitt ein kaltes, merkwürdiges Lächeln,
das wohl dem häßlichen Ausdruck galt, welchen die Kranke gewählt hatte.
Dann dehnte sie ihre volle, im Sessel ruhende Gestalt und schüttelte den
Kopf, als wollte sie damit das Gespräch ein für allemal abschneiden.

»Hedwig, peinige mich nicht,« rief die Kranke plötzlich mit spitzer,
gereizter Stimme. »Was hattest du mit ihm?«

Die Jüngere wollte aufstehen. Die Gewöhnlichkeit des Ausdruckes stach
sie geradezu, aber die Schwüle, die von dieser abgezehrten Frau ausging,
die dumpfe Schwere, die bereits den kräftigen Wilms zermürbt hatte,
preßte auch sie in ihren Stuhl zurück.

»Willst du mir keine Antwort geben?«

»Ja,« antwortete Hedwig.

»Nun also – ich bitte dich.«

»Ganz einfach, Else. – Der Graf ist, wie du weißt, ein Lebemann –«

»O Gott – und?«

»Du hörtest ja gestern. Deshalb drängte er sich, weil er viele hübsche
Mädchen dort vermutete, in unsre Pension ein und versuchte dann allerlei
lockere Tändeleien anzuknüpfen.«

»Aber mit dir – Hedwig – mit dir?«

»Mit mir?«

»Ja.«

Ein rascher Atemzug wurde hörbar. Der prachtvolle, junge Leib dieses
schönen Weibes wand sich, als ob er eine schmerzhafte Berührung
empfände, ein Schauer rieselte beinahe sichtbarlich über sie hin, dann
aber stürzte es rasch und wie gehetzt über ihre Lippen:

»Er hat einmal versucht, mich gewaltsam zu küssen – weiter nichts.«

»Weiter nichts?«

Zuvörderst ein langer befriedigter Seufzer der gesättigten Neugier. Dann
raffte sich die Kranke mühsam auf und blickte die schlanke,
zurückgelehnte Gestalt der Schwester mit furchtsamen, vor Erstaunen,
Neid und Bewunderung glühenden Augen an.

»Ja,« schoß es ihr durch die krankhaft erregten Sinne, während sie
beinahe gierig nach dieser frischen Jugend hinstarrte, »ja sie ist
verführerisch schön, dieses hingestreckte Ding mit den lichtbraunen,
goldfunkelnden Haaren.« Und mit heftig erwachender Neigung überflog sie
die blühende Gesichtsfarbe der Schwester, entzückte sich an dem
verschleierten Leuchten und Blitzen der Augen und empfand, wie vornehm
das straffe schwarze Kleid die ganze Gestalt umschloß.

»Heting, mein süßes Kind,« stammelte sie und überdeckte unvermutet die
Hand der Überraschten mit brennenden Küssen. Eine irre, praktische
Hoffnung dämmerte dabei in ihr auf: »Liebt dich denn der Graf so sehr?«

Hedwig zuckte zusammen und wurde sehr blaß.

Else bemerkte es.

»Laß das,« erwiderte die Jüngere endlich herb, erhob sich und schritt
rasch bis zum Tisch, um an der Lampe zu schrauben.

»Nein?« rief Else entsetzt, »ja aber aus welchem Grunde?«

»Er ist einfach frech gewesen.«

»Frech? – Großer Gott – Hedwig, dreh’ dich doch um – dann – dann
durftest du ja hier gar nicht mit ihm zusammentreffen – wenn ich das
gewußt hätt’ – – Du hast dich doch damals gewehrt? Nicht wahr?«

»Ja,« flog es halblaut vom Tisch herüber.

Es klang wie von zusammengepreßten Lippen.

»Hedwig, du sollst dich umdrehen. – Ich will dich sehen können,« schrie
die Kranke mit durchdringender Stimme.

Und in demselben Augenblick wendete sich das Mädchen, und die Leidende,
so erschöpft sie war, sah voller Verwunderung, wie Hedwig, die
Medizinflasche in der Hand, mit ihrem sicheren, selbstbewußten Ausdruck
und achselzuckend auf das Bett zuschritt.

»Heting, mein Liebling,« flüsterte sie, »beruhige mich doch. Weiter ist
zwischen euch nichts vorgefallen?«

»Nichts,« entgegnete die andere, die Augenbrauen zusammenziehend.
»Siehst du, daß du doch diese ganze dumme Geschichte viel zu ernst
nimmst? Hier trink’ deine Medizin.«

»Nein, laß noch – Heting – wirklich weiter nichts? – Weiter nichts?«

War es möglich?

Die Kranke schluchzte, flehte, bettelte plötzlich halb besinnungslos um
eine Entgegnung und hob ihren mageren Körper weit in die Höhe.

Eine Pause entstand.

Die Gefragte blickte starr auf sie hin. Dann glitt von neuem ein
verächtliches Zucken um die aufgeworfenen Mädchenlippen und kurz und
gereizt kam die Antwort: »Ich bitte dich, gib dich nun zur Ruhe. Was
soll denn noch alles vorgefallen sein? – Komm’, Else, du mußt deine
Medizin nehmen.«

So endete dieses Gespräch. Die Krankheit trat wieder in ihre Rechte. Es
wurde spät. Jeder Laut auf dem Gute erstarb, und noch immer war Wilms
nicht heimgekehrt. Erst als die große Kastenuhr bereits die elfte Stunde
gemeldet hatte, hörten die beiden Schwestern seinen Wagen durch den
Torweg rollen.

»Wo ist Hedwig?« fragte Wilms noch unter der Tür. Aber er forschte
vergeblich.

Beim ersten Geräusch war Hedwig bereits aufgesprungen, hatte die
Schwester auf die Stirn geküßt und war dann sofort in ihre Kammer
hinaufgestiegen.

»Schon zu Bett,« entgegnete die Kranke matt, und es fiel ihr nicht auf,
daß der Pächter, der heute so frisch und froh und stattlich wie selten
aussah, zuerst nach dem Mädchen gefragt hatte.

Und siehe – eine Stunde später, da war der frohe Schein von seiner Stirn
verschwunden.

Zusammengeduckt saß der große Mann in dem Lehnstuhl, welchen Hedwig
vorhin verlassen, und lauschte gedankenlos auf die raschen, röchelnden
Atemzüge seines Weibes. Es war ganz dunkel ringsumher. Nur aus einem
Glase flackerte ein auf Öl schwimmendes Nachtlichtchen heraus.

Und der Mann saß und dachte an das, was ihm sein armes Weib eben
anvertraut hatte.

»Geküßt hatte sie der junge, lebenstrotzende Mensch?«

Es war eine grobe Beleidigung – auch für den Landmann. Aber das fühlte
er nicht.

Er nickte und hockte und das Herz drückte ihm etwas weh und wund.

»Ob sie sich wohl gewehrt hat?« dachte er müde.

Ein Ächzen seines Weibes schob sich dazwischen. Er beugte sich leise zu
ihr hinüber und fuhr ihr beruhigend mit seiner groben Hand über Wange
und Hals.

Und dabei irrten seine Gedanken wieder zu dem jungen Geschöpf, das dort
oben unter dem Dach schlummerte, ebenso wie hier sein Weib, und das sich
vielleicht sehnte und verlangend die weißen Arme nach dem Verführer
ausstreckte.

Halb betäubt vor Müdigkeit sank sein mächtiges Haupt endlich schwer auf
die Kissen, so daß Else davon erwachte und zärtlich ihre Arme um seinen
Nacken schlang.

Und mit irrer Sehnsucht und verlöschendem Bewußtsein preßte er seine
Lippen auf den abgezehrten Arm der Bedauernswerten und stöhnte in
verzweifelter Seelenqual tief und markerschütternd auf.

       *       *       *       *       *

Aber als die Wünsche des unglücklichen Mannes scheu in das
Dachkämmerchen drangen, wo er das schönere jüngere Weib auf seinem Lager
ruhend vermutete, da hatte er recht geahnt, beinahe wie wenn sein
geistiges Auge die Mauern hätte durchdringen können.

Da lag sie, vor Lebensglut und Herzensangst zitternd, und streckte die
weißen Arme aus. Aber nicht nach dem Verführer, nein, nach etwas
anderem, Unbekannten, das sie nicht nennen konnte.

Der Schlaf wollte sich nicht einstellen, unruhig, schauernd, sich selbst
unerklärlich, warf sie sich herum, stützte den Kopf in die weichen Hände
und schaute regungslos durch das kleine Fensterchen zum Sternenhimmel
empor. Über das Strohdach, dicht über ihr säuselte der Nachtwind. Sie
hörte das heimliche Geräusch, wenn er mit den losen Halmen spielte, und
ihr war es, als schlüge wieder die heiße, glühende Stimme des jungen,
frechen Edelmannes an ihr Ohr. Ihre Brust ging auf und ab. Und da – da
stieg es wieder herauf – da sah sie von neuem das ganze Bild jener
unseligen Stunde vor sich, deren Einzelheiten sie vorhin ihrer Schwester
so sorglich verborgen hatte.

Da fand sie sich wieder in dem kleinen Pensionsstübchen, ein vor
Überraschung und Angst gelähmtes Geschöpf, das von dem liebestollen
Eindringling mit Küssen überdeckt wird, – das vor Scham nur leise Bitten
hervorstammeln und um Schonung flehen kann, und das, nachdem einmal die
Binde roh von seinen Augen gerissen ist, sich wehrt, – wehrt mit
verzweifelter, glühender, endlich siegreicher Kraft gegen einen
Angriff, von dem sie ahnt, daß er ihr etwas Kostbares, Höchstes rauben
muß! Großer Gott, was ist seitdem aus ihr geworden? – Was!! Sie wirft
sich nieder und preßt ihr Gesicht in die Kissen. Seitdem ringt sie ja
täglich so. Nicht mit dem einen, nein, mit allen, allen. Sie schleicht
sich in ihrer Vorstellung an diese Rohen, Verhaßten heran, wie das
hungrige Meer dort drüben nahe der Insel, das gegen die Felsblöcke
schlägt und donnert, und das die Steine zu sich herabziehen will, um sie
zu küssen, zu umarmen und zu ersäufen.

»Großer Gott!« – Sie will beten. Aber sie kann nicht beten. Sie verlacht
ja den geoffenbarten Glauben. Das hat sie auch drüben gelernt von ein
paar schwedischen Mitschülerinnen, welche ihr all jene Bücher geborgt
haben, die wie Sturmwind Nebel und Wolken verjagen, aber auch das Meer
der Leidenschaft immer wilder in die Höhe peitschen.

Jetzt schäumt’s und brandet’s. Hui, der Sturm pfeift.

Großer Gott – Großer Gott.

Und dann stößt sie die Decken von sich, daß der Mond ihre weißen Glieder
küßt, und weint bitterlich.

Frühlingsschauer!



Zweites Buch.

I.


Wilmshus liegt versunken im tiefen Schnee. Zeitig ist der Winter
hereingebrochen und hat den öden Pachthof völlig verschneit. Und doch
regt sich Leben in der weltabgeschiedenen Besitzung. Seit die Kranke,
von Hedwig begleitet, in dem fernen Solbad weilt, ist der lastende
Zauber von der Wirtschaft gewichen.

Lichter Rauch steigt aus dem Schornstein in die blaue, kalte Luft, Wilms
steht mit seinen großen Transtiefeln, das Wams bis an den Hals
zugeknöpft, frisch und rüstig auf dem Hof und läßt die Scheunen
ausbessern, Viehzucht und Molkerei gedeihen, überall Tätigkeit in dem
einsamen Winkel, Spuren künftigen, rückkehrenden Wohlstandes.

Da klingelt ein Schlitten auf der Landstraße heran. Vielstimmiges
Hundegebell wird laut, und da hält auch schon der unförmige Kasten und
enthüllt seine seltsam gemischte Ladung. Es sind der junge Graf
Brachwitz und Förster Eltze, welche zur Jagd fahren, mit dem Pastor
Schirmer, der Wilms aufsuchen will, und deshalb allein aussteigt.

»Ho, ho – Wilms, hier heran, – hier heran,« brüllt inzwischen der
gutmütige Förster, während er mit seinen Riesenfäusten, die in
kolossalen Pelzhandschuhen stecken, aus Leibeskräften winkt, und als
Wilms an den Schlitten tritt, um den jungen Edelmann befangen und
einsilbig zu begrüßen, wird dem Pächter von dem Weidmann ein großes
Paket unter den Arm geschoben.

»Hier, Wilms – von meiner Frau. – Ein paar Würste und so was. Na schon
gut. – Bei Ihnen als Strohwitwer wird ja diesmal davon wenig zu spüren
sein, was?«

»Ja, sagen Sie mal, lieber Nachbar,« wirft der junge Brachwitz
dazwischen, der in seinem pelzbesetzten Jagdkostüm zurücklehnt und eine
Zigarre raucht. »Wie geht es eigentlich Ihrer Frau? – Gute Nachrichten?«

Einsilbig erzählt der Pächter, daß er kürzlich von seiner Schwägerin
einen Brief erhalten, wonach der Zustand der Kranken sich schon etwas
gebessert hätte.

»Nun, da gratuliere ich Ihnen von Herzen, lieber Herr Wilms,« entgegnet
der Graf aufmerksam, und nachdem er dem Pächter eine Zigarre angeboten,
erkundigt er sich leichthin:

»Ihr Fräulein Schwägerin kommt ja wohl in Kürze wieder hierher zurück?«

Wilms Antlitz verfinstert sich. Er nickt bloß.

»Und wann, wenn ich fragen darf?«

»Das ist unbestimmt,« sagt der Landmann düster, und tritt dem Schlitten
etwas näher.

»So, so,« der Graf mißt den kräftigen Pächter von oben bis unten, wobei
er unwillkürlich an das Gewehr greift, dann gibt er dem Kutscher
lächelnd das Zeichen zum Weiterfahren, nicht jedoch, ohne vorher mit
großer Höflichkeit die Hoffnung ausgesprochen zu haben, den Pächter bald
wieder begrüßen zu können.

»Vorwärts.«

Der Schlitten fliegt davon.

       *       *       *       *       *

Pastor Schirmer blieb über den Kaffee da.

In dem großen Zimmer, in dem noch immer das Krankenbett wie eine düstere
Mahnung stand, dampfte in großen altfränkischen Schalen der braune Trank
auf dem Tische, und die beiden Herren saßen gemütlich dahinter und
plauderten.

Die Hofarbeit war vollendet, das Tagewerk vollbracht, nun konnte der
emsige Landmann der Ruhe pflegen. Man steckte zwei große, lange Pfeifen
an, die Wilms in den Krankheitsjahren unbenutzt im Schrank verborgen
hatte, und in kurzer Zeit hatten die beiden Herren, jeder behaglich im
Sofa zurückgelehnt, mächtige blaue Wolken um sich verbreitet.

Ein süßer, angenehmer Tabaksduft füllte die Stube.

»Ja, ja,« sprach der Landmann nachdenklich vor sich hin, »meine arme
Frau konnte den Geruch nicht vertragen, er verursachte ihr Hustenreiz
und ich – –« kam es unwillkürlich heraus, »hab’ ihn dabei so gern.«

»Lieber Freund, man muß sich eben fügen,« paffte der kleine Pastor und
nahm einen Schluck Kaffee, »ja, muß sich fügen. Darin besteht
schließlich unser ganzes Christentum. – Was ich sagen wollte – – Ihre
liebe Frau – – – Sie bangen sich doch wohl schon sehr nach ihr?«

Wilms nickte und rauchte in langen Zügen weiter.

Ja, es fehlte ihm etwas, er sehnte sich nach irgend etwas, sein Haus
erschien ihm jetzt oft so leer und freudlos, und dennoch zog sich sein
Herz vor Furcht zusammen, wenn er an Elses Rückkehr dachte. Sein
jetziges einsames Dasein schien ihm dann erträglicher. Wenn er nur
dieses schmerzliche Sehnsuchtsgefühl aus seiner Brust hätte verbannen
können. Es galt ja doch bloß seinem Weibe. Nur ihr.

»Freilich, solch ewiges Leid,« murmelte der kleine Pastor mit seiner
dünnen Stimme weiter, »das schließt die Menschen wie mit eisernen
Ketten aneinander, nicht wahr?«

»Ewiges – Leid,« wiederholte der andere mechanisch und blickte starr auf
das Bett hinüber. »Ja, Sie haben recht, Herr Pastor.« Eine Zeitlang
schwiegen die beiden Freunde und hingen ihren Gedanken nach.

Die Pfeifen glimmten, draußen fiel Schnee, es war behaglich warm im
Zimmer.

So merkten sie nicht, daß sich inzwischen die Tür leise geöffnet und der
dicke Kreisphysikus Dr. Rumpf unbemerkt hereingetreten war. In seinem
Pelz, in Pelzmütze und derben Wasserstiefeln sah er wie ein borstiges
Ungeheuer aus. »’n Abend, Kindtings, ’n Abend,« ächzte er.

Kaum hatte Wilms seinen muntern Gast erfreut seiner zottigen Hüllen
beraubt, so warf sich der Physikus pustend neben dem Pastor auf einen
Lehnstuhl nieder, nahm dem Geistlichen einfach die Tasse weg, trank dann
mehrere Schalen des heißen Getränks und schien endlich erwärmt zu sein.

»Verdammter Frost,« schnaufte er zuletzt und schlug sich befriedigt auf
seinen Kugelbauch. »Komme hier bloß ’raus, Wilms, um Ihnen zu erzählen,
daß ich einen Brief vom Anstaltsarzt in Inowrazlaw erhalten habe.«

»Nun, was denn, Herr Doktor, was gibt es denn?« rief der Landmann
aufgeschreckt und sprang auf.

»Na, es geht ganz leidlich, schreibt er. Sehen Sie, ich hab’s gleich
gesagt. Nun soll sie nur noch an größere Selbständigkeit gewöhnt werden,
und deshalb schickt er Ihre Schwägerin nach Hause. In diesen Tagen sogar
schon. – Ein reizendes Ding übrigens, die kleine Hete, was?« schmunzelte
der Physikus plötzlich über das ganze Gesicht und kratzte in seinem
Stoppelbart; »ich freue mich ordentlich darauf, daß wir sie bald wieder
nach Grimmen bekommen.«

Wilms blieb stehen. »Nach Grimmen?« wiederholte er schwerfällig. »Geht
denn – Hedwig zu meinem Schwiegervater zurück?«

»Na, vermutlich doch; oder haben Sie sie hier nötig, Wilms?«

»Ich?«

Eine Unruhe befiel den starken Mann, er strich mit seiner Hand über die
kurzgeschorenen Haare, dann äußerte er auffallend hart und abweisend:
»Nein, ich nicht.«

»Na, sehen Sie,« sagte der Physikus gemütlich. Dann klopfte er mit der
Hand auf den Tisch. »Vorwärts, meine Herren, jetzt machen wir ein
Skätchen; Karten hab’ ich bei mir, und Sie stecken die Lampe an,
Wilms.«

»Lieber Doktor, das viele Kartenspielen halte ich für – – –« wollte
Pastor Schirmer kleinlaut einwenden, aber der Physikus schlug noch
energischer auf den Tisch und knurrte: »Ach Unsinn, machen Sie weiter
keine Umstände, Pastor, – und solange Sie gewinnen, ist Ihre liebe Frau
mit allem einverstanden. – Wer gibt? – Na also – Wilms, bringen Sie die
Lampe – Tourné, Pastor? Solettchen auch? Na dann Eichel. Raus mit den
Triümphern, meine Herren, – Wilms, die Lampe blakt – was gibt’s Neues,
Pastor?«

In bester Eintracht spielten die Herren fort.

Nur Wilms, der sonst ein vorzüglicher Spieler war, beging einen Fehler
nach dem andern, zuletzt störte er sogar offenbar die Pläne seines
Partners.

Der Pastor legte sanft die Karten auf den Tisch.

»Na hören Sie mal, Wilms« – sagte er bedenklich, »so was ist noch gar
nicht dagewesen – haben die Treffzehn blank und werfen Sie mir nicht
’rein?«

»Ja, und ziehen dem geistlichen Herrn das Geld aus der Tasche?« schrie
der Physikus.

»Worüber grübeln Sie denn immerfort? Müssen auch nicht zu viel an Ihre
Frau denken.«

An seine Frau? Ja, er grübelte und quälte sich und sann – – aber die
Hände mit den Karten begannen ihm vor Schreck zu zittern, bleischwer
fiel es ihm aufs Herz, er dachte ja gar nicht an sein unglückliches
Weib, all seine Erinnerung galt der Jüngeren, diesem herrlichen jungen
Geschöpfe, dessen Bild er nicht bannen konnte, das er immer wieder sah,
weiß und rosig, so wie damals als sie ihre junge Schönheit dem Regen
preisgab. Den Sinn verwirrte es ihm noch.

Und sie wollte zu ihrem Vater zurückkehren, und nicht zu ihm, nicht in
dies Haus, das so leer war?

Die Herren spielten weiter. Noch ein paar Stunden, dann trennte man
sich.

       *       *       *       *       *

Einige Tage verstrichen, emsig wurde geschafft, nur mit der Molkerei,
die Wilms mit Hedwig eingerichtet, wollte es nicht mehr glücken. Hier
fehlte die anordnende, weibliche Hand.

»Wenn das Fräulein man wieder da wär,« klagte die Obermagd eines Tages
dem Landmann.

»Sie geht zu ihrem Vater,« dachte Wilms trübe. »Was kümmern wir sie.«

Ernst und verschlossen ging er seitdem umher. Der Schnee fiel draußen
immer dichter und legte sich wie ein weißer Wall um das Gehöft.

Dadurch wurde es wieder so still und einsam, wie je zuvor. Ein Tag nach
dem andern verfloß. In der Landwirtschaft gab es jetzt nichts mehr zu
wirken. Schweigend saß der Pächter oft stundenlang am Fenster, blickte
über den verschneiten Hof und wartete, ob ihm nicht der Landbriefträger
ein Lebenszeichen von den beiden Frauen bringen würde.

Aber nichts von alledem geschah.

Und allmählich verfiel er wieder in sein düsteres Hinbrüten; der große
Mann mit den kurzgeschorenen, blonden Haaren verbrachte dann ganze
Stunden im Zimmer. Er wanderte auf und ab, sah dabei auf das reinlich
zugedeckte Krankenlager seines Weibes, oder nahm ihre Bibel in die Hand
und starrte interesselos hinein, während er sich an die von ihr mit
Vorliebe gebrauchten Gebete erinnerte.

Dann begann er einige der Verse nachzusprechen und schüttelte sich
zuweilen plötzlich, als ob ihn etwas Widerliches überliefe. Oft auch
nahm er ein Bild von der Spiegelkommode, das Else als Braut darstellte,
um es lange und aufmerksam zu betrachten. Wie blond sich ihre Zöpfe
damals ums Haupt ringelten. – Wie ähnlich sie zu jener Zeit Hedwig
gewesen! Rasch stellte er bei solcher Gelegenheit die Photographie
wieder an ihren Platz und lief auf den Hof hinaus, wo er mit seinen
Leuten schalt und haderte.

Sie wunderten sich über den Herrn. So hatte man ihn selten gesehen.

Und noch immer langte die erwünschte Nachricht nicht an.

Da endlich, eines Morgens, – Wilms saß noch beim Kaffee – da schlich der
taube Krischan in die Stube, schielte seinen Herrn an und legte
schweigend einen Brief auf den Tisch.

Wilms klopfte das Herz. Mit zitternden Fingern erbrach er das Schreiben,
nachdem sich der Alte entfernt hatte, aber es war nur ein gedrucktes
Formular, das eine Einladung zu einer ländlichen Versammlung enthielt,
die der ältere Graf Brachwitz einberief.

Wilms warf den Fetzen achtlos auf die Erde und seufzte tief auf. Er
interessierte sich nicht für Politik.

»Jawoll,« meinte der Förster, der nachmittags im Vorbeigehen vorsprach,
indem er das Zirkular bemerkte. »Der Graf will sich ja in den Reichstag
wählen lassen. Dazu soll hier ein Verein gegründet werden. Zur Hebung
der Sittlichkeit auf dem Lande. Na ja, alter Freund, es soll ja bei uns
auch ganz doll zugehen. – Die verdammten Weibsbilder – haben Sie’s nicht
auch schon bemerkt, Wilms? Kaum hat man mal eine für die Hofarbeit in
Lohn genommen – pardauz muß man sie wieder entlassen. – Is da was los
mit so ner Person. – Ne – die Sittlichkeit, – weiß der Deuwel – man kann
den Frauenzimmern nicht trauen.«

Er kraute sich hinter den Ohren. »Da soll ja neulich auch was mit einer
Verheirateten vorgekommen sein, – warten Sie mal – es war sogar ’ne
Adlige hier in der Nähe. Aber lachen Sie mich nicht aus, ich glaub’s
nicht, weil bei Eheleuten ’ne zu große Portion Schlechtigkeit dazu
gehört – Pfui Deuwel, kann ich bloß sagen.«

Wilms blickte den gutmütigen Riesen starr an. Seine Lippen bewegten
sich, aber er erwiderte kein Wort.

»Na guten Morgen, Wilms, wie geht’s Ihrer Frau?«

»Besser.«

»Und Ihrer Schwägerin?«

Wilms rührte sich nicht: »Darüber weiß ich nichts.«

»Na, denn Adieu!«

»Adieu auch, Eltze.«

Aber lange noch, während er über seinen Wirtschaftsbüchern rechnete und
schrieb, tönte es vor seinen Ohren:

»Bei Eheleuten gehört eine zu große Schlechtigkeit dazu.«

Der Schweiß perlte ihm auf der Stirn. Die Zahlen vor ihm fingen an zu
tanzen. – Wenn er nur Kraft finden könnte, sich gegen die bösen Gedanken
zu wehren. Aber da nagte und biß schon wieder solch tückischer Einfall.
»Bei Eheleuten« hieß es – Ja, aber war er denn eigentlich verheiratet?
Besaß er denn ein Weib? – – – oder hatte Gott der Allmächtige nicht eine
Scheidewand zwischen ihnen aufgerichtet?

»Nur das nicht,« stöhnte er, »nur das nicht. Nur nicht diese
entsetzlichen, verzweifelten Anklagen.« Und er vergrub sich von neuem in
seine Papiere und arbeitete, bis die Lampe zu verlöschen drohte.

       *       *       *       *       *

Am nächsten Tage erhielt er abermals ein gleichlautendes Zirkular.
Zugleich erschien bei ihm der Inspektor Grothe aus Boltenhagen, ein
großer, breitschultriger Mann, der das Hauptgut des Grafen Brachwitz
bewirtschaftete. Er sollte den Pächter noch besonders zu der Versammlung
einladen.

»Nein, ich komm nicht,« entgegnete Wilms, während sich der Inspektor in
der großen Stube den Schnee abschüttelte, und der Abgesandte räusperte
sich zufrieden und meinte: »Da haben Sie auch recht.«

»Na, wieso, Herr Grothe, es handelt sich doch eigentlich um einen guten
Zweck.«

»Schönen guten Zweck,« brummte der andre, indem er den Mund verzog:
»Sittlichkeit – da soll sich der Graf man zuerst um seinen Sohn kümmern.
Aber da werden alle Dirns auf dem Hofe unsicher gemacht, daß es eine
Schande ist, und dann soll so’n Verein gegründet werden.«

Sobald der Pächter den Namen des jungen Brachwitz vernahm, stieg ihm
langsam das Blut in die Schläfen, so daß er kaum dem anderen seine
Bewegung verbergen konnte. »Lassen Sie man, Grothe,« schnitt er kurz ab,
»ich hör’ so was nicht gern.«

»I – ich sag ja auch gar nichts gegen den jungen Mann. – Is sogar ein
ganz netter, liebenswürdiger Mensch. Und es is ’ne wahre Dummheit vom
Alten, daß er den Jungen nicht bei’s Militär gelassen. Hier in der
Wirtschaft versteht das natürlich nichts, und weiß das nichts – und
verfällt auf lauter Dummheiten. – Die Förstersfrau kann ihn ja auch
nicht los werden,« setzte er leiser hinzu, »aber sie soll ihm ja neulich
gehörig die Tür gewiesen haben.«

Wilms konnte nicht länger zuhören.

»Herr Grothe – ich muß jetzt – ich hab noch notwendig was zu tun –
Grüßen Sie den Herrn Grafen, und – ja ich werd’ woll auch kommen.«

»Na schön,« verabschiedete sich der Inspektor. »Geht’s Ihrer lieben Frau
gut?«

»Ja, ich danke.«

Sie schüttelten sich die Hände, und der Abgesandte des Grafen ritt
langsam vom Hof herunter.

       *       *       *       *       *

Aber der Besuch hatte seine Folge.

In der langen Zeit, in der sich Wilms in dem schneeverwehten Gehöft so
einsam fühlte und mit all seinen sehnsüchtigen Gedanken an der fernen
Hedwig hing, da hatte er alles vergessen, was er von ihr zu wissen
glaubte, da war sie ihm als die reine, herbe unerreichbar hohe Jungfrau
erschienen. Jetzt, als ihm das wilde Treiben des Junkers geschildert
wurde, da erhoben die häßlichen Zweifel abermals ihr Haupt, da erwachte
er wieder zur Wirklichkeit, ein kräftiges Gefühl der Verachtung gegen
sich selbst regte sich in ihm, und mit aller Macht suchte er die
häßliche aufkeimende Neigung abzuschütteln.

Zehnmal des Tages las er jetzt die wenigen Zeilen, die ihm Else bereits
wöchentlich schreiben konnte, fuhr dann mit seiner rauhen Hand zärtlich
über das Papier, und legte es schließlich in das Paket, in dem er die
Briefe aus der Brautzeit bewahrte.

»Mein Elsing – sie wird nun bald ganz gesund sein – und dann werden wir
mit Gottes Hilfe wieder glücklich – ach so glücklich, wie damals, eh’
die schwere Zeit begann.« Er seufzte. »Wenn sie doch erst da wär.«

       *       *       *       *       *

Immer mehr rückte der Winter vor. Es ging stark auf Weihnachten. Wilms
merkte, daß seine Leute kleine Geschenke für ihre Familien einkauften.

Das bewegte ihm das Herz. Wieder mußte er an sein fernes Weib denken.

»Soll ich für den Herrn auch ’ne schöne Tann’ putzen?« fragte die
Obermagd.

Es klang wie Mitgefühl aus den wenigen Worten, als sie auf den einsamen
Mann blickte.

Wilms dankte.

»Ne, laß man, Dörthe – für mich allein. – Es hat keinen Zweck.«

Aber nachmittags ließ er den Schlitten anspannen und fuhr zur Stadt. Er
wollte Else etwas kaufen, seinem armen, langsam gesundenden Weibe eine
Freude bereiten.

Über die verschneite, dunkle Landstraße klingelte er endlich in Grimmen
ein und wählte bei dem einzigen Juwelier des Städtchens ein kleines
goldnes Herz an einer dünnen Kette.

Er stand dabei, als man seinen Namen »Wilms« in das Gold eingrub.

Mit der Poesie einfacher Naturen wollte er damit dartun, daß sein ganzes
Herz auf ewig seinem Weibe gehöre. In dem Gasthof, in welchem er seinen
Schlitten eingestellt hatte, saß er noch eine Weile bei einem Glase Grog
und plauderte mit dem Wirt in der dunkelbraun verräucherten Gaststube.
Der Pächter erfuhr, daß sein Schwiegervater, der alte Rendant Schröder,
noch allabendlich die Honoratiorenstube besuche.

»Hedwig ist wohl noch nicht zurück?« erkundigte sich der Landmann
leichthin.

Der Wirt mit dem grünen Sammetmützchen verneinte. Da bezahlte Wilms und
brach auf.

Es war dunkel und kalt auf dem Heimweg. Der Wind strich scharf über den
offenen Schlitten und warf dem Landmann spitze Eisnadeln ins Gesicht.
Eine Sehnsucht nach einer warmen, gemütlichen Stube beschlich ihn, wo
ein helles Feuer brannte, und eine liebe weibliche Hand dem Eintretenden
den dick beschneiten Pelz abnahm.

Die Luft wurde immer schneidender. Hochoben flimmerten ein paar
frostige Sterne. Wilms fror. Manchmal konnte er bei einzelnen
freistehenden Häusern, an denen sie vorbeiflogen, in die trüb
erleuchteten Stuben blicken. Da sah man schon Christbäume, welche
geschmückt wurden. Im Hauptgut Boltenhagen klangen Kirchenglocken durch
die Nacht. Hohl und feierlich läuteten sie das Fest ein. Vorboten der
großen Freude.

Wilms faßte unwillkürlich an die Brusttasche, in der das Päckchen mit
dem Goldherz verborgen war, und trieb seinen Kutscher zu größerer Eile
an.

Die Glockentöne verklangen, wieder Schnee, Dunkelheit, Landstraße und
weißes Feld – halb erlahmt vor Nässe und Kälte langten Mensch und Vieh
endlich auf dem Pachtgut Wilmshus an und fuhren in den einsamen, von
dickem Schneewall umgebenen Hof.

Rings lag alles in Dunkelheit gehüllt. Nur hinter den herabgelassenen
Rouleaux der großen Stube leuchtete Licht.

»Hübsch von Dörthe,« dachte Wilms, während er über den Flur schritt,
»die Dirn hat Mitleid mit mir.«

Er öffnete gleichgültig, zuckte zusammen und blieb starr und groß unter
den Pfosten stehen.



II.


Dicht vor ihm stand Hedwig in ihrem einfachen, schwarzen Kleid und
streckte ihm mit froher Herzlichkeit die Hand entgegen. Ein anmutiges
Lächeln umspielte dabei ihr blühendes Antlitz. »Na, Schwager,« neckte
sie leicht, »der neue Gast gefällt dir wohl nicht?«

In dem Ofen brannte ein flackerndes Feuer, in der hellen, durchwärmten
Stube weilte ein liebes, reizendes Geschöpf, bereit, den großen Mann von
seinem schweren Pelze zu befreien; es war alles so, wie er es sich
gedacht hatte.

Aber den ungeschickten Mann würgte es zuerst, als ob von unsichtbarer
Hand seine Kehle zusammengepreßt würde. – Halb religiöse Vorstellungen
durchflogen ihn, wie er sie als Knabe gehegt, oder von Else angenommen
hatte.

Sie war da.

Die Versuchung war wieder da.

All die Angst, die er ihretwegen in der langen Zeit erduldet, stürzte in
seine Erinnerung und wandelte seinen Gegengruß, als er sich endlich
aufraffte, zu einem unverständlichen Murmeln.

»Hedwig – – willkommen – du –«

Dann bemerkte er, daß sie ihm noch immer die Hand entgegenhielt, und
preßte sie unbeholfen zwischen seinen Fingern.

»O –« sie verzog schmerzhaft den Mund.

Von seinem Pelz troff das Eiswasser auf ihr Kleid.

Er entschuldigte sich und wurde verlegen, als sie ihm beim Ausziehen
behilflich war.

Der Tisch war weiß gedeckt, ein heißer Grog dampfte schon, alles war für
ein schmackhaftes Abendbrot zubereitet. Sogar die beiden Servietten
waren in anmutige Falten gelegt. Man konnte merken, daß diesmal eine
Frau von guter Erziehung den Tisch besorgt hatte.

Verblüfft musterte Wilms diese Anstalten.

Es kam ihm alles so überraschend, er konnte sich so gar nicht in den
neuen Zustand finden. Ungelenk nötigte er endlich den Gast auf das Sofa
und setzte sich dem Mädchen auf einem Stuhl gegenüber.

Lächelnd über seine Verlegenheit wollte ihm Hedwig einige Speisen
vorlegen, jedoch er hielt plötzlich ihre schon erhobene Hand fest und
begann ungestüm zu fragen:

»Noch nicht – noch nicht – vor allen Dingen, wie geht es meiner Frau?«

Das Mädchen nickte ermunternd: »Gut – überhaupt überraschend – so gut,
daß sie schon in acht Tagen hier eintreffen wird.«

»Was? Gott sei Dank,« murmelte Wilms. »Kann sie denn schon gehen?«

»Ja, zwar noch auf einen Stock gestützt, aber es wird mit jedem Tag
besser.«

»Und du, Hedwig?« stockte er und sah sie wieder so verständnislos an,
daß sie in ein fröhliches Gelächter ausbrach.

»Du willst fragen, was ich nun eigentlich hier bei dir will?« begann sie
endlich.

»Ja, – das heißt – –«

»Kannst du dir’s wirklich nicht denken? Was seid ihr Männer doch
schwerfällig. – Vorausgeschickt bin ich – aufräumen soll ich, das
Unterste zu oberst kehren, damit Else alles fein sauber vorfindet. Nicht
wahr, Schwager, das gefällt dir nicht?«

»Mir? Warum?«

»Weil du ein so grämliches Gesicht dazu machst.«

»Bewahre, Hedwig – du weißt doch, daß du uns immer willkommen bist.«

»Wirklich?«

Er schlug die Augen nieder und begann zu essen.

Sie dagegen nippte nur von allem und erzählte ihm unaufhörlich von Else
und beschrieb alle Einzelheiten ihres Aufenthalts. Die halb polnische
Stadt, die Anstalt, den Arzt, die andern Kranken, alle Einrichtungen,
die Bäder, und das Ganze so nüchtern und verständlich, daß Wilms längst
Messer und Gabel hingelegt hatte, um ihr mit lebhafter Spannung zu
lauschen.

Von Zeit zu Zeit goß sie ihm den angenehm erwärmenden Trank ein und
lächelte liebenswürdig, wenn er ihr zaghaft zutrank.

Plötzlich trat dennoch eine Beklemmung zwischen beiden ein. Hedwig hatte
aufgehört zu erzählen und lehnte sich in die Sofaecke zurück, da die
Reise sie wahrscheinlich ermüdet hatte. Auch Wilms hielt eine Scheu
davon ab, jetzt irgend etwas Gleichgültiges vorzubringen.

Er blickte mehrfach rasch zu ihr hinüber, beobachtete dann das
verglimmende Ofenfeuer, faltete umständlich die Serviette, und sah von
neuem unruhig auf das junge Mädchen hin.

Sie träumte an ihm vorbei, den Kopf in die Hand gestützt, schien sie an
etwas Fernes zu denken.

Der Pächter wurde unruhig.

»Hedwig,« räusperte er sich halblaut.

»Ja, Schwager.«

Sofort richtete sich das Mädchen auf und drückte flüchtig beide Hände
gegen die Schläfen, als wollte sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den
Fragenden lenken.

»Warst du noch gar nicht in der Stadt bei deinem Vater?«

»Nein, ich bin direkt hierher gefahren.«

»Sofort hierher?« wiederholte Wilms. Eine peinliche Verstimmung stieg in
ihm auf. Was konnte sie nur in dem menschenverlassenen, verschneiten
Gehöft suchen? Hastig gedachte er weiter zu fragen, wie jedoch sein
Blick ihre ruhigen, braunen Augen traf, verstummte er wieder und kratzte
verlegen auf dem Tisch hin und her.

Eine Zeitlang blieb es still.

Aber gerade dieses ruhige Beisammensein konnte Wilms nicht ertragen.
Etwas quälte und marterte ihn dabei grenzenlos.

»Hedwig,« fing er mit Überwindung plötzlich an und zum erstenmal wendete
er ihr ganz sein ehrliches Gesicht zu. »Es muß mal zwischen uns zur
Sprache kommen. Es liegt mir schon zu lange auf dem Herzen. – Weshalb
bist du eigentlich – ich – mein Kind – ich meine, warum bist du
eigentlich so gut zu uns?«

»Gut?«

»Sieh, Heting, erst hast du mir eine Summe deines Erbteils geborgt, und
ich hab mir damit helfen können. Das hätt’ mir schon kein anderer getan,
– nein, laß – ich muß es mal sagen, auch meine Frau hast du gepflegt, um
die es nur wenige aushalten konnten. Und nu – nu kommst du wieder
hierher zurück, in diese Einsamkeit, und willst uns wieder helfen und
unterstützen und aufrichten, und das alles soll ich mir gefallen lassen,
ohne eigentlich zu wissen, warum du das alles tust; ich kann’s mir ja
gar nicht erklären, du paßt ja zu so was gar nicht, du bist ja wie eine
vornehme, junge Dame, warum bestehst du also darauf?«

Das letzte rief der große Mann in einem heftigen, beinahe unglücklichen
Ton.

Statt einer Antwort erhob sich Hedwig. Ihre Wangen erblaßten etwas, aber
sonst strömte ihr Wesen unveränderlich jene ernste Ruhe aus, die ihr
eigentümlich war. Langsam schritt sie zum Ofen, wärmte sich die Hände,
durchmaß dann mit gesenktem Haupt mehrmals das Zimmer, als ob sie
nachdenke, und blieb endlich an dem Tisch stehen, wo sie ihre Finger auf
die Glocke der Lampe legte, daß Wilms das Blut hindurchrinnen sah.

Ihre schlanke Gestalt stand dicht neben seinem Stuhl, er konnte das
Webemuster ihres Kleides erkennen.

Unwillkürlich wandte er den Kopf fort.

»Siehst du, Schwager,« hob sie nach schwerer Pause klar und bedacht an
zu sprechen, immer den Blick auf ihre durchleuchteten Finger gerichtet:
»Ich habe auch schon darüber nachgesonnen, warum ich so gern hierher
zurückkam in eure Einsamkeit.«

»Gern?« unterbrach sie der Pächter erstaunt.

»Ja, ich kam gern,« fuhr sie hastiger fort, »gerade weil es hier so
still ist. – Mir ist diese Stille Bedürfnis. – Ich verabscheute schon
als Kind alles Unruhige und Geräuschvolle. Aber das ist nicht der
Hauptgrund,« setzte sie sinnend hinzu: »ich kam wohl zumeist
deinetwegen, Schwager.«

»Meinetwegen?« schreckte Wilms auf. Aber es war alles so
leidenschaftslos, so überlegt und ohne eine Spur von Zärtlichkeit
hingesprochen, daß der Pächter fühlte, er müßte ihre Worte falsch
aufgefaßt haben.

Jedoch das Blut war ihm bis in die Augen geschossen, er scharrte
ungeduldig mit den Füßen und blickte erregt zu ihr auf.

»Ja, Hedwig, wie meinst du denn das?« murmelte er.

Sie zog langsam die Hände von dem Glase zurück und ließ sich wieder auf
das Sofa nieder.

»Ich sagte mir, du bist durch unsere Familie unglücklich geworden,
Wilms.«

»Das bin ich nicht.«

»Das bist du doch, Schwager. Bist du nicht, wie jeder andere Mann, eine
Ehe eingegangen, um eine Häuslichkeit zu besitzen? – Nun, und hast du
sie gefunden? – Nein, das ging dir alles durch die lange Krankheit
verloren – und auch jetzt, Schwager, – ich muß es dir sagen, mit vielem
Schmerz, glaub’ mir das – auch jetzt wird dir meine arme Schwester
dieses Glück nicht schaffen können.«

»Nicht schaffen können?« echote Wilms entsetzt. Eiseskälte durchströmte
ihn, wie vorhin, als er auf dem Schlitten saß.

Im Moment haßte er das Mädchen, welches ihm das alles so schonungslos
enthüllte.

»Und warum nicht, Hedwig?« flüsterte er.

»Weil mir der Arzt bei meiner Abreise vertraute,« schloß Hedwig leise,
als wenn sie ihn nicht noch mehr erregen wollte, »daß Else nach wie vor
aufs äußerste geschont werden muß, und daß sie nie wieder als eine
Gesunde, sondern stets nur wie eine Kranke behandelt werden darf – du
armer Mann.«

Ein leises Stöhnen unterbrach sie.

»Sieh,« beendete sie hastig, indem sie auffallend die Farbe wechselte,
»und da stand es bei mir fest, daß ich hier vielleicht den Wirkungskreis
aufnehmen könnte, den meine Schwester nicht ausfüllen wird, damit du
wenigstens nicht allzuviel entbehrst, der du schon so viel gelitten.«

»Und da wolltest du – –?« stammelte er.

Er begriff es nicht.

»Ja, ich sehne mich nach einer ruhigen, gleichmäßigen Beschäftigung.«

»Aber – aber willst du denn nicht heiraten?« fuhr es ihm heraus. Er
schämte sich, als er es sagte.

Sie schlug die Augen nieder und zuckte die Achseln: »Schwerlich,«
erwiderte sie gleichgültig. »Ich habe als Tochter eines kleinen Beamten
den törichten Wunsch nach besserer Erziehung gehegt, aber –« – sie
zögerte und wurde zum erstenmal unruhig – »das ist mir wohl nicht zum
Heile ausgeschlagen. Und deshalb wird auch kaum jemand kommen, dem ich
gefalle, und der zu mir paßt.«

»O Hedwig, doch – doch –« widersprach Wilms gedankenlos, – »du bist ja
schön und klug, das wird sich schon finden.« Aber während er es sprach,
mußte er plötzlich widerwillig daran denken, daß diese vollen, roten
Lippen schon stürmisch und sündhaft geküßt worden seien.

Das verdarb ihm den Abend vollends.

Auch Hedwig schwieg. Sie ruhte wie erschöpft in ihrer Sofaecke. – Nur
als er äußerte, daß sie schön und klug sei, traf ihn ein kurzer,
erstaunter Blick. Dann schlug sie wieder müde die Augen nieder.

So saßen sie noch eine Stunde zusammen und sprachen über alles, was in
der Umgegend in der Zwischenzeit geschehen sei. Eingehend erkundigte
sich Hedwig nach den Wirtschaftsverhältnissen.

Er gab über alles genau Auskunft.

Dann schlug die Uhr in dem Kasten zehn, und Hedwig erhob sich.

Wilms empfand, daß er gehen müsse.

Er stand sofort auf.

»Noch eins,« sagte er, »hier hast du die Schlüssel.«

Er nahm aus einem Körbchen, das auf dem Nähtisch am Fenster stand, ein
Schlüsselbund und händigte es seiner Schwägerin ein.

Achtlos empfing das Mädchen die klirrenden Dinger und hing sie sich in
den Gürtel, aber Wilms beschlich ein schmerzliches Gefühl dabei, daß
Elsens Befugnisse damit gleichermaßen auf ihre Schwester übergingen.
Sie erschien ihm auch nicht mehr so schön, wie früher.

Dann reichten sie sich die Hände und wünschten sich »Gute Nacht«.

»Schläfst du hier?« fragte Wilms.

»Ja, in Elses Bett.«

»Nun, gute Nacht.«

»Gute Nacht, Schwager.«

       *       *       *       *       *

Wilms betrat seine Dachkammer. Auf dem Tisch brannte ein Licht, darunter
lag ein großes Kuvert, das Elses Aufschrift trug.

Hastig zerriß Wilms den Umschlag. Drinnen fand er ein Bild und einen
Zettel mit den wenigen Worten:


    »Lieber, guter, einziger Mann!

    Wie gern möchte ich das Fest mit Dir feiern, denn mir ist so sehr
    bange nach Dir, aber bald, bald, wenn es Gott so fügt, bin ich
    wieder bei Dir.

    Mit tausend innigen Küssen

    Deine arme Else.«


Wilms griff nach dem Bilde.

Auf einem Polsterstuhl saß die Kranke, das schmale Gesicht mit den
großen Augen ein wenig vornüber geneigt. Neben ihr Hedwig, schlank
aufgerichtet, der vollendete Wuchs zum Greifen deutlich, als wenn
Gesundheit und Verfall gegen einander kontrastieren sollten.

Der Pächter schauerte, als er es sah.

Auf dem Antlitz des Mädchens ruhte ein so sicherer, triumphierender
Schein.

Freut sie sich, daß sie leben wird, und die Schwester dem Tode zuwankt?
dachte Wilms erschüttert.

In der Kammer war nicht geheizt. Ein Frösteln durchlief den Einsamen vom
Kopf bis zu den Füßen. Mit Abscheu, als ob die Photographie Hedwig
allein darstelle, warf er das Bild von sich auf den Tisch und suchte
müde und zerbrochen sein Lager auf.

Bald erlosch das Licht.



III.


Am frühen Morgen, als Wilms aufstand, hörte er, wie seine Schwägerin den
Mägden im Hausflur schon etwas auftrug.

Er sah auf die Uhr. Es war erst sechs. Und noch stockfinster.

Das lockte ihm den Seufzer ab: »Ach, wenn Else das doch auch vermöchte.«

Eine Viertelstunde später, er hatte sich kaum völlig angekleidet,
brachte ihm Dörthe Kaffee und Frühstück. Der Landmann erstaunte.

»Soll ich denn hier oben frühstücken?« fragte er.

»Ja, Herr, das Fräulein hat schon unten getrunken.«

»Na, wie sie will. Es is gut.«

Die Obermagd ging.

Wilms saß eine Weile allein und wunderte sich, mit welcher Willenskraft
Hedwig ihre neue Aufgabe gleich erfaßte.

Dann fuhr er sich mit der groben Hand unwillig über die Stirn.

Immerfort zwang ihn das Mädchen, sich mit ihr zu beschäftigen. Aber er
wollte ihr an Regsamkeit nicht nachstehen. Er hatte ja einige wichtige
Geschäfte in der Nähe abzuwickeln, und deshalb wollte er fortreiten,
damit er erst gegen Mittag wieder zurückzukehren brauchte.

»Möglichst wenig mit ihr zusammen sein,« dachte er.

Mit diesem Entschluß trat er an das kleine Kammerfenster und sah auf den
schneebedeckten Hof herunter.

In einem steinernen Seitengebäude hörte er viele weibliche Stimmen
durcheinander sprechen, lachen und plaudern. Es war die Molkerei, die
solange auf Hedwig geharrt hatte.

»Sollte sie schon unten sein?« dachte er verwundert.

Als er etwas später über den Hof schritt, um sich im Stall sein Pferd zu
satteln, machte er den Umweg am Seitenhaus vorbei und warf einen raschen
Blick in den von einer Lampe erleuchteten, ziegelsteingepflasterten
Raum.

Richtig – umgeben von ihren Mägden sah er Hedwig vor einem großen Fasse
stehen und mit ihren jugendlichen Kräften den großen Klüngel heben und
wieder herunterstampfen. Beifällig murmelten die Mägde und versuchten,
es ihr an zwei anderen Fässern nachzuahmen.

Sie hatte sich von Dörthe eine gewöhnliche Arbeitsbluse geborgt, an der
die Ärmel fehlten, und nun sah der Pächter, wie ihre vollen Arme vor
Anstrengung sich röteten. Ihr Atem umdampfte sie in der kalten Küche wie
eine Wolke.

Dem Lauscher fiel wieder jener Abend ein, als er sie allein in ihrer
Kammer getroffen, und augenblicklich war seine Freude an dem
arbeitsfrohen Bild wie fortgescheucht.

Widerwillig murmelte er etwas vor sich hin, schlug dann mit Geräusch die
Stalltür auf und ritt nach einiger Zeit grußlos vom Hof herunter. Als er
sich auf der Landstraße noch einmal umwandte, glaubte er Hedwig unter
der Tür des Seitenhauses zu erkennen, die ihm nachblickte.

       *       *       *       *       *

»Was ißt der Herr gerne?« befragte Hedwig die Obermagd, ehe sie die
Molkerei verließ.

Dörthe sann nach. Dann gab sie Kartoffelsuppe an. »Und der Herr hat
gestern selbst einen Hasen geschossen. Der hängt noch.«

Hedwig war zufrieden. Sie wollte selbst alles zubereiten. Der taube
Krischan wurde ins Dorf nach allerlei Zutaten zum Krämer geschickt.

Er hinkte unlustig vom Hof herunter.

Bewundernd lugten die Obermagd und ihre Untergebenen dem Mädchen nach,
als sie eilig dem Hause zuschritt.

»Die versteht’s,« urteilte Dörthe, »schade, daß die Frau nich auch so
is.«

Den ganzen Vormittag über revidierte Hedwig das Haus vom Keller bis
unter das Dach. Mit Elsens Schlüsseln öffnete sie alle Schränke, zählte
nach und legte zurecht, als ob alles ihr gehöre. Ihre Wangen röteten
sich dabei vor Vergnügen. Sie erschien sich wie eine Hausfrau, die für
Mann und Heim zu sorgen hat.

Dann waltete sie in der Küche. Zuletzt gab sie Dörthe den Auftrag, eine
kleine Tanne schlagen zu lassen.

»Ja, aber Fräulen,« meinte die Magd bedenklich, »der Herr will aber
keine.«

»Warum denn nicht?«

»Er sagte, weil er so allein is. – Und – dann – unsre Frau fehlt auch.«

»Sagte er das?«

»Ja, so ähnlich sagte er woll.«

Das Mädchen sah einen Augenblick zu Boden. Dann entschied sie lächelnd:
»Ich bin ja da – höre, Dörthe, es muß eine recht schöne Tanne sein. –
Haben wir etwas zum Putzen?«

»Ne, Fräulen, daß ich nich wüßte.«

»Nun, dann machen wir es uns heute selbst. – Und für euch auch,« setzte
sie hinzu. »Christian soll buntes Papier holen.«

»Sie is zu nett,« sprach die Obermagd dankbar hinter ihr her.

       *       *       *       *       *

Wilms merkte bei Tisch, daß gerade seine Lieblingsspeisen gewählt seien,
und als er sich in seiner ruhigen Weise dafür bedankte, glitt ein
heiteres, selbstzufriedenes Lächeln über Hedwigs schönes Gesicht.

Es bereitete ihr Freude, für die Bedürfnisse eines Menschen sorgen zu
dürfen, und namentlich für diesen großen, unbeholfenen Mann, dem das
Schicksal schon so grausam mitgespielt hatte.

Freundlich plauderten sie wieder über allerlei. Das Mädchen erzählte von
ihren Erfahrungen bei der Molkerei. Wilms sagte ihr, daß er ihre Kraft
und Energie bewundere. Dann berichtete er von den Geschäften, die er
vormittags betrieben.

Es kam ihm ganz selbstverständlich vor, daß er dergleichen mit Hedwig
bespräche. Ja, er glaubte, daß ihm noch einmal so gute Eingebungen
kämen, wenn sie ihn mit ihren klugen, aufmunternden Augen dazu
anblickte.

Nach Tisch führte er sie in den Pferdestall. Hedwig riet ihm dringend,
einige von den Tieren zu verkaufen. Es war in den nächsten Tagen gerade
Pferdemarkt in Grimmen, und Wilms gestand, daß er selbst etwas Ähnliches
geplant habe.

Dann trennten sie sich.

Als der Landmann zum Kaffee erschien, fand er ihren Platz leer. Er
fragte mehrfach nach ihr, endlich erfuhr er von Dörthe, die ein
geheimnisvolles Gesicht aufsetzte, daß das Fräulein beschäftigt wäre.

Wilms verstand das nicht und trank mit einem merkwürdigen Gefühl seinen
Kaffee allein.

Er wollte sich nicht eingestehen, daß er ihre stets dienstbereite
Gesellschaft vermisse.

Zum Abendbrot dagegen erschien Hedwig wieder und zeigte sich so
aufgeräumt und heiter wie selten. Sie erzählte allerhand lustige
Geschichten und Witze und brachte Wilms oft zum Lachen.

Wenn sie etwas Anzügliches vorbrachte, dann sah ihr Gesicht so reizend
aus, um ihren vollen Mund zuckte dann oft ein so feiner,
liebenswürdig-frecher Zug, daß ihr Gegenüber unwillkürlich mitlachen
mußte.

Und so fremd dem Landmann zuerst dies alles war, so stark fühlte er sich
bald davon angemutet. Auch er besaß eine Art derben, tiefen Humors, und
es dauerte nicht lange, so ging der Pächter gemütlich auf ihre Scherze
ein.

Gelassen nickte er, wenn sie ihn mit seiner groben Unbehilflichkeit
neckte.

Nur als er seine große Pfeife in Brand setzte und ein paar mächtige
Dampfstöße herausjagte, verzog sie die Brauen.

Wilms hörte auf. »Stört es dich?« fragte er bedauernd.

Ungern hätte er auf dieses Vergnügen verzichtet. »Sollte sie etwa
dieselbe Abneigung dagegen empfinden wie meine arme Else?« dachte er ein
wenig verstimmt. Allein Hedwig zog ihr parfümiertes Taschentuch hervor
und während sie sich Luft zufächelte, äußerte sie leichthin: »Bis morgen
darfst du so rauchen, lieber Wilms, aber länger nicht.«

»Bis morgen?« dachte Wilms verwundert.

Er verstand sie wieder nicht.

Ferne, langhinhallende Töne mischten sich in ihr Gespräch. Von der
Kirche des Hauptgutes, die fast eine Viertelstunde entfernt lag,
begannen wiederum die Glocken zu läuten, zum letztenmal vor dem Fest.

Wie ein feiner, verträumter Silberton zog es durch die Luft. Hedwig
erhob sich. Sie trat ans Fenster und zog den Vorhang fort.

Draußen weißer, blinkender Schnee, die graue Luft ganz erfüllt von
großen Flocken, die langsam und schwer herabfielen. Wie erstarrt
schienen die weichen Daunen manchmal im leeren Raum festhalten zu
wollen.

Als sie so in das Gestöber hineinblickte, beschlich das Mädchen eine
stille Wehmut: »Morgen ist Weihnachten,« sagte sie leise. Nichts regte
sich hinter ihr. Keine Antwort wurde laut. Langsam wendete sie sich
zurück.

Am Tisch saß Wilms, den schweren Kopf auf die Hand gestützt, und
betrachtete das kleine Goldherz, das er vor kurzem gekauft. Eine Träne
war auf das Gold gerollt, gerade auf seinen Namen, der dort eingraviert
stand.

Jetzt sah er auf:

»In acht Tagen ist sie wieder bei uns,« sagte er weich, als ob er seine
schwere Empfindung zurückdrängen wollte.

»Else?« fragte das Mädchen rasch.

»Ja. – Komm, Hedwig – ich will ihr dieses Herz zum Fest schicken. Wir
wollen es einpacken.«

Das Mädchen richtete sich auf. Langsam schritt sie zum Tisch, langsam
wog sie das kleine Herz in der Hand. Erst als sie den eingeprägten Namen
bemerkte, blickte sie ihrem Schwager, der sich ebenfalls erhoben hatte,
fest und nachdenklich in die gutmütigen Augen.

»Sie wird sich freuen,« sagte sie schwer und nachdrücklich.

Das Kästchen wurde verschnürt, Wilms schrieb die Adresse, Hedwig trug
ihm Licht und Siegellack hinzu. Er drückte das Petschaft darauf.

Mit seltsam starren Blicken verfolgte sie sein Tun. Ein Atom von dem
flüssigen Siegellack fiel auf ihre Hand und lag auf der weißen Fläche,
wie ein runder Blutstropfen.

»O« – rief Wilms erschreckt, »ich habe dir weh getan.«

»Mir?«

Sie hatte kaum etwas gemerkt.

»Es brennt nicht mehr,« beruhigte sie den Landmann abwehrend.

Gleich darauf nickte sie ihm freundlich zu und ging zur Tür. – Dabei sah
sie wohl nicht, daß er ihr die Hand entgegengestreckt hatte, wie er es
immer tat, wenn er ihr »Gute Nacht« bot.

Die Tür schloß sich, bevor sie seinen Wunsch vernehmen konnte. Befremdet
blickte ihr der Pächter nach. Dann ging er noch lange in dem großen
Zimmer auf und nieder, bis er endlich unter das Fenster trat, genau
dort, wo Hedwig vorhin gestanden hatte.

Und ebenso, wie sie, spähte er in das lautlose Schneetreiben hinein, er
drückte die Stirn an das eisige Glas und regte sich nicht. Dachte er an
sein fernes Weib?

Er stellte sich vor, wie sie sich das goldene Herzchen um den weißen
abgemagerten Hals schlingen würde, aber während er sich es ausmalte,
wurde draußen das Getriebe immer stürmischer, die Flocken wirbelten und
balgten sich immer toller – das verwirrte seine Gedanken.

»Was wohl Hedwig sagen würde,« raunte etwas in ihm, »wenn ich ihr morgen
das dünne Kettchen um den Nacken legen würde?« Er wollte den Gedanken
abschütteln, aber im Geist beugte er sich und küßte sie auf diesen
weißen, blühenden Nacken. Und immer heißer und toller braute seine
Phantasie. »Ob sie dann wohl die Arme um ihn schlingen und ihren roten
Mund zu ihm erheben würde, wie ein liebendes Weib, das sich an den Mann
schmiegt?«

Ein irres Lächeln umspielte seine Lippen.

Plötzlich fuhr er auf und brach in ein gewaltsames, schmerzliches
Stöhnen aus:

»Jesus Christus – nicht in Versuchung,« stammelte er, »o Gott, nicht in
Versuchung.«

Wie im Krampf faltete er die Hände.

Und draußen klangen noch immer die Glocken, bim – bum – bim – bum,
feierlich leise, wie Gesang mahnender Geister, welche die Botschaft vom
Heiland auch in dies verlassene, im Schnee versunkene Gehöft trugen.



IV.


So war das Fest herangekommen.

Schon am Nachmittag bat Hedwig den Pächter, er möchte das große
Wohnzimmer verlassen. Irgend etwas Geheimnisvolles bereite sich vor.

Mürrisch und verdrießlich, wie er sich sonst nie gegen das Mädchen
betragen hatte, ging Wilms hierauf aus der Stube, ohne ein Wort und
indem er es vermied, sie anzusehen. Jedoch mitten in den Vorbereitungen
für den Heiligen Abend fiel Hedwig dies Benehmen nicht sonderlich auf,
sie rief ihre getreue Dörthe und arbeitete mit ihr hinter verschlossenen
Türen.

Unterdessen saß Wilms in seiner Kammer und schrieb an Else einen Brief.
Heiß und dringend flehte er sein Weib an, zurückzukehren, sobald es ihre
Gesundheit nur irgendwie gestatte. Er freue sich auf ihre Rückkehr, wie
auf ein Fest. Überall fehle sie ihm. Alles erinnerte ihn an sie. Ach,
wenn sie doch erst da wäre. – Ganz am Schluß erwähnte er auch Hedwig.
Sie führe das Hauswesen zu seiner Zufriedenheit, aber sein armes,
geliebtes Weib könne sie natürlich doch nicht ersetzen. Er stockte, da
er es schrieb. Das Blut sauste und summte durch alle seine Adern.
»Gelogen – gelogen,« tönte es deutlich vor seinen Ohren. Hastig schloß
er das Schreiben, und saß dann stundenlang in dem immer dunkler
werdenden Raum.

Er wußte, daß Hedwig unten einen Christbaum schmücke. Für seine Leute
natürlich, suchte er sich einzureden. Jedoch gleichviel. Bald würde sie
nach ihm schicken, damit er teilnehmen solle an der allgemeinen, großen
Freude. »Und er sollte dann mit ihr zusammen unter den flimmernden
Lichtern stehen?« grübelte er, »und dann allein sein mit dem Mädchen,
während der Baum seinen kräftigen Tannengeruch verbreitete und die
Flämmchen darauf hell und aufrecht in die Höhe züngelten? Würden dann
nicht die aufreizenden Gedanken wiederkehren, die ihn gestern bis zum
Wahnsinn gepeinigt? – Nein, nein – nur das nicht mehr. – Wie wäre es,
wenn er sich still aus dem Hause schliche und den Abend wo anders
zubrächte, vielleicht beim Pastor?«

Wie gehetzt erhob er sich, warf seinen Mantel um und tappte leise über
die dunkle Treppe nach unten. Er durchschritt den Hausflur, da öffnete
sich die Tür des großen Zimmers, eine Gestalt trat heraus.

Wilms fuhr zusammen und blieb unwillkürlich stehen. Die Dunkelheit
verhinderte ein Erkennen.

Unsicher näherte sich Hedwig dem Schweigenden.

»Du willst noch ausgehen, Schwager?«

»Ja.«

»Jetzt?«

»Ja, ich hab’ noch einen notwendigen Gang.«

»Aber doch jetzt nicht,« drängte das Mädchen und faßte leicht seinen
Mantel. »Ich wollte dich ja gerade holen; Wilms, du wirst uns doch am
Heiligen Abend nicht allein lassen?«

Der Pächter wand sich hin und her, je mehr sie ihn bat, desto qualvoller
glaubte er sich gefoltert: »Mir macht das ja aber alles keine Freude,
Hedwig,« brachte er hervor. »Mich peinigt das geradezu.«

»O – nein, nein,« widersprach sie und ergriff seine Hand.

Das verwirrte ihn immer heftiger.

»Hedwig, ich kann’s nicht mehr mit ansehen, wenn andere sich freuen und
ich allein davon ausgeschlossen sein soll. Laß mich lieber fort, mein
Kind, ich will –«

Aber sie hielt ihn noch. Fest lag ihre Hand in der seinen.

»Dazu bist du ja viel zu gut,« sagte sie weich und mitleidig, wie
selten ein Mensch zu dem Unglücklichen gesprochen. »Willst du mir denn
auch die ganze Freude rauben?«

»Dir auch?«

»Ja natürlich – für dich haben wir doch den Baum geputzt.« Immer noch
ruhte ihre Hand in der seinigen, jedoch mit der anderen riß sie jetzt
hastig die Tür auf.

Ein breiter, strahlender Lichtschein fiel auf den dunklen Flur und
übergoß das eng beieinanderstehende Paar mit seiner Helle.

Groß, dunkelgrün, mit weithin reichenden Zweigen stand der Tannenbaum
mitten in der Stube, bunte Papierketten ringelten sich von Ast zu Ast,
unzählige Wachskerzen flimmerten, und hinter ihm harrten die Leute des
Gehöfts, Männer und Frauen, alle sonntäglich gekleidet, daß der Herr des
Hauses das Fest mit ihnen begehen solle. Ganz vorn vor dem Baum aber
hatte Hedwig zwei kleine Mädchen aufgestellt, Kinder, die Hofleuten
gehörten. Sie hielten rote Papierrosen in den Händen und sangen mit
schwachen Stimmen ein Liedchen, das mit den Worten schloß:

»Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Als sie ausgesungen hatten und Wilms in den Lichterglanz hineinsah und
in die erwartungsvoll-feierlichen Gesichter seiner Leute, da hielt er
sich nicht länger, er legte langsam die Hand vor die Augen und weinte
bitterlich.

Und die Hofleute nickten einander zu und stießen sich heimlich an, als
wüßten sie, was ihren Herrn bedrücke.

Aber nur wenige Sekunden ließ sich Wilms so übermannen. Dann richtete er
sich auf und sah auf das Mädchen, das alles nur für ihn angeordnet
hatte. Das Licht flutete über ihre braunen Haare, ihre großen Augen
hingen fest und fragend an den seinigen. Sie stand noch immer dicht
neben ihm.

»Ich dank’ dir, Hedwig,« sagte er einfach und preßte ihre Hand mit
verzweiflungsvoller Glut. »So schön haben wir in Wilmshus Weihnachten
noch nie gefeiert.« Er ließ sie voranschreiten und folgte ihr dann in
die Stube.

Freudig erregt saß der Pächter nachher in seiner Sofaecke und verfolgte
Hedwig, wie sie jedem der Hofangehörigen ein kleines Geldgeschenk
überreichte, das Wilms für seine Leute bestimmt hatte, und für sich
selbst außerdem noch eine Aufmerksamkeit hinzufügte. Dörthe bekam eine
Schürze, der alte Krischan einen Tabaksbeutel, die beiden kleinen
Mädchen küßte Hedwig und band ihnen seidene Halstücher um.

Hierauf allgemeines Knixen und Handschütteln.

»Ich dank’ auch, Herr – schönen Dank auch, Fräulen – ne es is auch gar
zu viel – so was hätt’ ich mich nich vermutet – Herrje und was die
Leinwand schön is.«

Damit entfernten sich die Leute und Hedwig ging mit ihnen.

Wieder saß der Pächter allein und blickte träumerisch in die ruhig
brennenden Lichter hinüber.

Da flog die Tür noch einmal auf: »Julklapp,« rief es und dann noch
zweimal »Julklapp – Julklapp.«

Drei Pakete polterten in das Zimmer, und da nur Hedwig so frisch und
hell rufen konnte, so wußte der Landmann, daß die drei Geschenke für ihn
bestimmt seien. Er wartete, ob Hedwig nicht wieder zurückkehren würde,
aber als er allein blieb, öffnete er die Schachteln. In der ersten fand
er eine Kiste feiner Zigarren, sodann eine Meerschaumspitze, in der
letzten endlich einen ledernen Bilderrahmen, auf dem mit Seide ein Kranz
blauer Veilchen gestickt war. Ein Zettel war mit einer Stecknadel daran
befestigt, darauf stand »von Else«.

War es möglich?

Behutsam nahm der Landmann den Rahmen in die Hand. Und diesen
wundervollen leuchtenden Kranz sollte sein armes Weib mit ihren
zitternden Fingern hergestellt haben? Ein Zweifel beschlich ihn.

Aber wer sonst?

Hinter ihm näherte sich etwas, ein leises Knistern wurde hörbar, Wilms
kehrte sich um und sah in das liebenswürdige Gesicht Hedwigs.

Er hob die Stickerei in die Höhe und fragte erregt: »Wirklich von Else?«

Ein Schatten flog über die Stirn des Mädchens, aber sie bejahte. Allein
den Ungläubigen überzeugte sie nicht.

»Hedwig – ich glaub’s nicht – Else hat ja so feine Arbeit gar nicht
gelernt – nicht wahr – du – von dir?«

Wieder schüttelte sie leise das Haupt.

»So sag’s doch,« rief er dringend.

Endlich gab sie es zu: »Nun ja, es ist von mir,« gestand sie, »Else
wollte dir gern etwas Derartiges anfertigen, aber sie vermochte es noch
nicht. Da habe ich es übernommen.«

»Also auch von dir?« murmelte der Pächter mit zitternder Stimme. Eine
Weile stand er in Gedanken versunken unter dem leuchtenden Baum; ohne
ein Wort des Dankes zu sprechen. »Und ich,« überlegte er bei sich, »ich
habe gar nicht daran gedacht, diesem lieben, reizenden Geschöpf eine
kleine Freude zu bereiten. Mit leeren Händen steh’ ich vor ihr, als
gehörte sie gar nicht in mein Haus! Während sie –«

Es überlief ihn heiß und kalt. Vor Beschämung wagte er gar nicht die
Augen zu erheben. Langsam und beklommen drängte es sich über seine
Lippen.

»Und die Zigarren und die Spitze, Hedwig, von wem sind die?«

Aus ihren Augen sprühte ein spitzbübischer Funke, um ihren Mund flog ein
schelmischer Zug. – Die seltsame Unbehilflichkeit des Mannes ergötzte
sie.

»Von wem sie sind? – Wer weiß?«

Sie zuckte die Achseln, aber als sein verstörtes Antlitz sie darüber
belehrte, daß er sich härmte und litt, tat es ihr leid, diese
verschlossene Natur, deren tiefes Gemüt sie immer stärker und gewaltiger
anzog, verletzt zu haben.

Die Lichter brannten noch immer, es war so gemütlich im Zimmer, tiefe
Stille umgab die beiden.

Wilms fuhr auf. Er hatte in seinem Hinbrüten nicht bemerkt, wie das
schöne Mädchen, nachdem sie lange auf ein Dankeswort geharrt, sich
enttäuscht abgewendet und an das Klavier gesetzt hatte.

Sie spielte jetzt. Ganz leise klang unter ihren Fingern ein altes
Kinderlied, das sie variierte und umbildete.

»Schlaf, Kindchen, schlaf.«

Der Bauer horchte hoch auf. Wie weich das tönte, wie wenn eine Mutter
ihr unruhiges Kind einwiegt. Ja, und dasselbe hatte ja auch seine Mutter
ihm vorgesungen. Eine arme Fischersfrau in der Katenhütte am Strand. Ach
er sehnte sich so nach Ruhe, sein Herz war müde und wollte schlafen, so
traumlos wie damals in Mutters Schoß.

Hedwig spielte immer ernster und gewaltiger. Alle Saiten brausten, wie
ein Choral tönte es jetzt, das alte Lied.

Der Pächter schauerte, unwillkürlich fiel sein Blick auf einen einfachen
Silberring, den er seiner sterbenden Mutter vom Finger gezogen und
seitdem an der Uhrkette trug. Verstohlen küßte er den Reif und trat
hinter Hedwigs Stuhl.

Und das Brausen und Donnern löste sich, der gewaltige Orgelton verlor
sich in der Ferne, wie ein süßer, gestammelter Kindergruß klang es aus.

Noch spielte sie die letzten ersterbenden Töne, da fühlte sie, wie
Wilms seine Hand auf ihr Haupt legte und leise ihr Haar streichelte. –
Sachte, sachte, eine scheue, zaghafte Liebkosung.

Sofort brach das Spiel ab, aber sie hob die langen Wimpern nicht auf.

Noch einmal fuhr er ihr leicht über die Flechten, dann – ihr stockte das
Herz – dann fühlte sie, wie er ihre Hand ergriff und sanft einen
silbernen Ring an ihren Finger schob.

»Da, Heting,« sprach er weich, »du hast so schön gespielt – ich schenk’
ihn dir – er is von meiner Mutter.«

Sie zuckte krampfhaft zusammen, blickte mit ihren braunen, ernsten Augen
zu ihm empor und wollte etwas erwidern, aber die Zunge war ihr wie
gelähmt. Nur eine düsterrote Glut stieg ihr langsam über Hals und
Wangen.

Da wurde plötzlich seine Hand, die noch liebkosend auf ihren Haaren
ruhte, drückend und schwer, als ob sie sich in Eisen verwandele.

Hedwig hätte aufschreien mögen, so schmerzte es sie.

»Was ist dir, Schwager?«

Oh, es bedeutete nur eine Kleinigkeit, fast gar nichts; es war nur
unheimlich, die hervorquillenden Augen zu sehen, die unverwandt auf das
Bett starrten. Ganz zufällig war der Blick des Pächters über das
reinlich zugedeckte Lager geglitten und da, – da wurde eben seine Hand
so schwer, als würde sie Eisen.

In dem Bett lag Else, schattenhaft, abgemagert, blaß und streckte die
Arme nach dem Manne aus, der ihre Schwester streichelte.

»Wilms,« rief Hedwig entsetzt und sprang auf. Ihre kräftige Stimme
verscheuchte den Spuk.

»Ja, ja – Hedwig – willst du etwas?«

»Um Gottes willen, Schwager – was ist dir? – fühlst du dich krank?«

»Nein – ich? bewahre – mir war nur so – seltsam. – Ich glaubte – es ist
lächerlich – mir kam es vor, als läge Else mit einemmal dort drüben in
ihrem Bett,« murmelte er einfach, und doch mit hervorbrechendem inneren
Entsetzen.

»Else?« stammelte das Mädchen.

Beide starrten sich an, beide versuchten ein Lächeln zu erzwingen, aber
die Furcht schüttelte sie, wie wenn ein kaltes, graues Gespenst zwischen
ihnen stände.

Das war das erstemal, daß es sie auseinander trieb.

Der Landmann faßte sich zuerst. »Wollen ein Ende für heute machen,«
ermannte er sich kurz – »es ist schon spät – gute Nacht, mein Kind.«

Sie reichten sich wie immer die Hände. Die Finger des Mädchens waren
eiskalt. Dann trat Wilms an den Baum und löschte die Lichter aus.

Es wurde immer dunkler und dunkler, gleichgültig sah Hedwig zu, wie ein
Flämmchen nach dem anderen unter seinen Fingern erstarb, zuletzt
brannten nur noch die Kerzen zu beiden Seiten des Instrumentes.

»Gute Nacht,« murmelte Wilms noch einmal, dann hatte er das Zimmer
hastig verlassen.

Hedwig war es, als müßte sie ihm nacheilen, sich in seine Arme werfen
und Schutz suchen, Hilfe gegen die Traumgestalt dort in dem Bette, das
auch sie jetzt aufnehmen sollte.

Wenn sie das Phantom dann ebenfalls bemerkte, wenn es neben ihr läge und
sie mit dürren, weißen Armen umfing, um sie zu würgen!

»Warum?«

»Weil du denselben Mann begehrst, der mir gehört – mir.«

Einen leisen Angstschrei stieß Hedwig aus.

»Gib mir den Ring,« klagte es neben ihr weiter. »Er gebührt dir nicht!«

»Licht – Licht.«

Mit zitternden Händen entzündete Hedwig die große Stehlampe und blickte
sich um. Rings lag alles friedlich und still, alles in den traulichen
Schein der Lampe getaucht. Jetzt lächelte Hedwig und setzte sich an den
Tisch, aber es war ein müdes, herzzerreißendes Lächeln, und als das
Mädchen den Reif an ihrem Finger fühlte, war es ihr, als ob er sie
stäche.

»Weißes Silber bedeutet Tränen, sagen die Leute,« dachte sie.

Ermattet schritt sie wieder zum Klavier und ließ noch einmal die Finger
über die Tasten eilen. Leise drangen die Töne durch das Haus, und Wilms,
der oben in seinem Bett den Kopf gegen die Wand preßte und den Schlummer
herbeiflehte – ihn umschmeichelte plötzlich die liebe, alte Melodie, das
Lied, mit dem ihn seine Mutter schon eingesungen hatte:

»Schlaf, Kindchen, schlaf.«

Aber es hatte seine Zauberwirkung verloren. Er fand keine Ruhe mehr,
sondern dachte unausgesetzt an das wunderbare, schöne Weib, dem er den
Silberring geschenkt.

So endete der Weihnachtsabend in Wilmshus.



V.


»Komm, Hedwig – willst du nicht mit in die Kirche?« fragte am nächsten
Morgen der Pächter, indem er im Sonntagsrock, das Gesangbuch unter dem
Arm, in das Wohnzimmer trat, in welchem Hedwig vor dem Fenster saß und
las.

Die Gefragte blickte auf. Sie sah heute abgespannt und blaß aus, und
auch der Pächter mißfiel ihr in seinem langen, schwarzen Gehrock. Die
Tracht ließ ihn altfränkisch, kleinbürgerlich erscheinen. – Früher, in
dem Pensionat würde Hedwig über eine solche Figur gelacht haben.

Was war nur aus ihr geworden?

»Guten Morgen, Hedwig, willst du mich nicht in die Kirche begleiten?«
wiederholte der Landmann dringender. Ihm erschien der Kirchgang am
ersten Feiertag als selbstverständlich.

Hedwig schwieg, drehte an dem Reif, den er ihr gestern geschenkt, und
lehnte dann seine Aufforderung mit kurzen Worten ab.

»Du willst nicht?« stotterte Wilms, als wenn er es nicht glauben könne.

Das Mädchen tippte auf ihr Buch und schüttelte den Kopf. »Geh nur
allein, Schwager. In der Kirche ist es mir zu voll. Die vielen Leute
stören mich dort.«

»Stören dich?«

»Auch kann ich keine vorgeschriebenen Gebete absagen, weißt du, der
Gott, an den ich glaube, der kümmert sich um das Singen gar nicht.«

Verständnislos, mit weitaufgerissenen Augen starrte sie der Pächter an.
Eine tiefe Trauer zog allmählich über sein ehrliches Gesicht. – Sie war
so schön, wenn sie so heftig sprach, der kleine volle Mund zuckte so
trotzig dabei. Schwer seufzte der Landmann auf und erwiderte kleinlaut:

»Ich hab’ dir das Gesangbuch meiner Frau mitgebracht – – ich wußte ja
nicht, daß du – daß du so gesonnen bist – – und also –« er drehte das
kleine Buch hin und her, »du begleitest mich also nicht?«

Es sprach soviel schwermütige Bitte daraus, daß Hedwigs Herz
unwillkürlich schneller schlug. Aber ein Blick auf den altväterlichen
Bratenrock und das abgegriffene Gebetbuch stimmte sie wieder um.

Ihre heftig brennende Neigung kam ihr plötzlich wie ein Traum vor. Nach
Liebe sehnte sie sich, nach Sturm und Trotz gegen den Mann, nach irgend
etwas, was sie noch nicht kannte, – und nun dieser schwarzgekleidete,
unbehilfliche Mann mit seiner Atmosphäre von dumpfer Kirchenluft.

Sie erwachte förmlich. Die Stunde in dem Pensionsstübchen fiel ihr ein,
– und – –

»Nein, ich gehe nicht,« entschied sie entschlossen.

Wilms nickte und ließ noch einmal seine blauen Augen voll auf ihr ruhen.
»Wie du willst. – Dann ruh’ dich hier aus, Heting. Und wenn ich
wiederkomm’, singst du wieder so schön wie gestern.«

Er konnte ihr Erröten nicht mehr wahrnehmen, ebenso wenig wie die
heftige Bewegung, als wenn sie ihn dennoch zurückhalten wolle.

Langsam schritt er über den Hof in den klaren Wintertag hinein, während
das Mädchen ihm durch das Fenster ernst und düster nachschaute.

In der Kirche von Boltenhagen, zwischen den hohen Eichenstühlen blieb
ein Platz neben Wilms frei. Hier hatte Else früher gesessen, und der
Pächter hatte es sich reizend ausgemalt, heute am hohen Festtag diesen
Raum von Hedwig eingenommen zu sehen.

Wie silberhell würde ihre Stimme, die ihm gestern abend das ganze Herz
gerührt hatte, wohl geklungen haben, wenn sie beide zusammen, Haupt an
Haupt, aus dem kleinen Büchlein die Psalmen verfolgt hätten. Und nun
– – – die Orgel rauschte, die Gemeinde stimmte ein, aber Wilms Lippen
bewegten sich nur mechanisch, er dachte immerfort an das schöne, junge
Geschöpf daheim, das an dem Christenglauben keine Freude fand.

Er wunderte sich, warum er nicht ungehalten auf sie sein konnte, warum
sich nicht zwischen dem Frommen und ihr, der Gottlosen, eine noch höhere
Scheidewand aufrichte – aber seltsam, auch ihn erbaute heute der Dienst
des Herrn nicht, keine Tröstung fand er in den Worten des kleinen Pastor
Schirmer, immer wieder beschäftigten sich seine Gedanken mit dem
Mädchen, er empfand eine heftige Sehnsucht nach ihr und verstand es
nicht, warum er nicht bei ihr geblieben sei. Und doch brauste die Orgel
so herrlich und doch feierte man die Geburt des Herrn.

Er entsetzte sich. Er dachte schon ganz mit ihren Gedanken. Er besaß
auch keinen Gott mehr, nur ein Weib, das er umfassen und küssen und
immer wieder küssen wollte, sein Heiland war ein Mädchen, das ihn
fortlockte, fort zu Lust und Leben und Arbeit.

»Wirf die Last von dir,« zuckte es durch seine Sinne.

Hatte es der Pastor gesprochen? – War es ein Bibelwort? – Er wußte es
nicht.

       *       *       *       *       *

Als Wilms seine Schwägerin verlassen hatte, war Hedwig noch einige Zeit
regungslos am Fenster sitzen geblieben. Bald betrachtete sie den
schmalen, silbernen Reif an ihrem Finger, bald sah sie sich erstaunt in
dem weiten Zimmer um, als begriffe sie gar nicht, wer sie hierher
versetzt hätte. Ihr war plötzlich alles zu eng und dumpf. Die
entsetzliche Angst von gestern drückte noch auf ihr Gemüt, ihr dämmerte
es, als wäre sie bis jetzt von einem häßlichen Zauberschlaf umsponnen
worden.

»Luft – Licht.«

Sie spähte an sich herunter. Das einfache, schwarze Kleid kam ihr
ärmlich vor.

Was war nur in der Zwischenzeit aus ihr geworden? Draußen blitzte und
funkelte die Landschaft. – Die dickbeschneiten Bäume der Straße sahen
wie ungeheure, weiße Korallen aus.

Das Mädchen befiel ein ungestümer, heißer Drang, dort draußen
hinzustürmen, sich auszutummeln, ihre frische, schwellende Kraft zu
betätigen. Ja, sie wollte ebenfalls das Fest begehen. Es war ja ein
kleiner winziger Schlitten im Hause. Den selbst lenken und dann
hinfliegen auf der glatten Bahn, das würde sie wieder gesund machen.

Kaum gedacht, war sie in ihr enges, kleidsames Pelzjäckchen geschlüpft,
hatte sich ihr keckes Barett aufgesetzt und lief jetzt über den
einsamen, menschenverlassenen Hof.

»Ich glaube, ich bin ganz allein in diesem frommen Hause.«

Jedoch sie täuschte sich.

Vor dem Stall saß der alte Krischan, der Zauberer des Hofes, und
zitterte vor Frost oder vor Schwäche. Neben ihm hielt der Rabe seinen
beständigen Schlaf und zitterte ebenfalls.

Hedwig war dieses Paar von Anfang an unsympathisch.

»Alterchen,« befahl sie, »holen Sie mir mal den Schlitten aus dem Stall
und das braune Handpferd dazu.«

Der Alte erwachte aus seinem Schlummer und grinste sie an.

»Willen dat Fräulen utführen?« hustete er.

»Ja, und nun schnell.«

Allein der Greis hatte nicht gehört, oder wollte den Befehl nicht
ausführen. Langsam schlich er zur Seite und schüttelte den Kopf.

Das Mädchen blickte ihn an: »Was soll das heißen? Haben Sie mich denn
nicht verstanden?«

Der Alte schüttelte wieder und steckte die Hände in die Hosentaschen.
Dann begann er von neuem zu zittern, wie ein Knochengerüst, das im Winde
klappert.

Ein widerwärtiger Anblick.

Hedwig stieg das Blut ins Gesicht, sie trat dicht an den häßlichen Alten
heran und sagte scharf und bestimmt:

»Christian, es wird Zeit, daß Sie vom Hof herunter und in das
Gemeindehaus kommen. – Verstehen Sie mich? Hier können Sie nichts mehr
leisten, dort dagegen können Sie sich ausruhen. – Mein Schwager wird Sie
beköstigen. Wollen Sie?«

Ganz genau hatte der Alte verstanden. Er zitterte, kaute weiter und
murmelte gelassen:

»Ick bliew hier. Se sünd nich de Fru. Se hewwen hier nix tau seggen.«

»Was?« entgegnete Hedwig erblassend, »das wird sich finden.« Mit
schnellem Atem betrat sie den Stall, wo sie einen Hofjungen fand, der
sein flachsblondes Haupt an die Krippe lehnte und eingeschlafen war. Sie
rief ihn an und mit seiner Hilfe war der kleine, blaue Schlitten bald
herausgehoben und mit dem schönen braunen Pferde bespannt.

Hedwig setzte sich hinein.

»Aber der Kutscher is in die Kirche,« meinte der Junge.

»Schadet nicht – ich fahre allein – adieu!«

Sie hieb mit der Peitsche zu, der Braune, ein Renner mit halbenglischem
Blut, machte einen Seitensprung und flog mit ihr vom Hofe herunter.

Windschnell ging es über die weiße Landstraße. Die kleinen
Schlittenglocken klangen und klingelten, ringsum war keine Menschenseele
zu erspähen, alle hatten die Kirche aufgesucht, nur sie, sie allein
genoß jetzt die weiße, blitzende Landschaft.

Wie ihre Wangen sich röteten, wie die Augen vor Lust und Freude
blitzten. Die letzten, dumpfen Wochen waren vergessen, das war wieder
die Hedwig von ehemals.

Als sie bei der Kirche von Boltenhagen vorbeiglitt, kamen die Gläubigen
gerade heraus, der ganze Platz wimmelte von festlich gekleideten Männern
und Frauen. Ihr war es auch, als hätte sie auf der Portaltreppe ihren
Schwager erkannt, der in seinem langen, schwarzen Rock und seinem
wolligen Zylinder auf den Stufen stand und nach dem Gespann hinübersah.

Hui! Ein neuer Schlag traf den Braunen, so daß das kleine Gefährt wie
ein Gedanke vorüberschoß. Sie wollte einmal allein sein, alles
vergessen, alles abschütteln.

»War sie’s? – War sie’s nicht?« dachte Wilms und strengte seine Augen
aufs äußerste an. »Nein, sie hat ja auch versprochen, mich zu erwarten,«
beruhigte er sich dann. Die Sehnsucht von vorhin ergriff ihn immer
heftiger. Mächtig schritt er aus, um heimzugelangen.

Währenddem war Hedwig auf freies Feld gelangt. Wie ein ungeheures,
erstarrtes Meer dehnte es sich zu beiden Seiten der Chaussee, die
Grenzbüsche und die kleinen eisbereiften Tannenschläge schienen enorme
Sturzwellen, die in der Höhe festgebannt waren. Nur leichte
Schaumflocken trieb der Wind manchmal ab.

Tief aufatmend fuhr Hedwig dahin und gönnte ihrem dampfenden Braunen
jetzt größere Ruhe. Und Schritt vor Schritt, manchmal mit lautem
Wiehern, zog das Tier den Schlitten durch den tiefen Schnee, wohl zwei
Meilen Wegs, bis sie ein winziges an der Landstraße liegendes Gasthaus
erreicht hatten, das man in dortiger Gegend »Krug« nennt.

Hier warf das Mädchen dem Braunen eine Decke über, stieg ab und betrat
die niedrige weißgetünchte Gaststube. Ein kolossaler Kachelofen
verbreitete hier eine enorme Hitze. Ein derber, weißgescheuerter
Kieferntisch stand vor dem Fenster, ein paar ungefüge Stühle davor,
sonst bildeten nur noch ein schwarzes, fettglänzendes Ledersofa und
mehrere Öldruckbilder, welche glückliche Familienszenen darstellten, das
Meublement der verlassenen Gaststube.

Und verödet blieb sie noch eine Weile. Hätte nicht eine unsichtbare
Klingel bei Hedwigs Eintritt hell geläutet, die Krugwirte würden
überhaupt nichts von ihrem Besuch erfahren haben.

So jedoch erschien nach einiger Zeit ein kleines blasses Weib, an deren
Röcken sich zwei Kinder festklammerten, während es ein drittes, einen
Säugling, auf dem Arm trug, und versprach, auf Hedwigs Wunsch, ein Glas
Milch zu bringen.

Hedwig ließ sich an dem weißgescheuerten Tisch nieder, streifte sich die
Handschuhe ab und sah durch das kleine pappgeflickte Fenster der
Gaststube auf das blinkende Feld hinüber.

Draußen stand ihr Brauner, schüttelte sich und wieherte laut.

Das gab ihren Gedanken die Richtung.

»Am besten wär’s,« überlegte sie sich, »ich bestieg wieder den
Schlitten, und dann rasch, weit fort von hier in die Stadt und von dort
wieder weiter, viel weiter, wo ich nichts mehr höre von alledem, was ich
hier zurückgelassen. O, es wäre so gut, wenn ich jetzt ginge, bevor – ja
bevor irgend etwas Schlechtes sich ereignet. Denn kommen wird es. Ich
weiß nicht weshalb, aber es ist alles so ungesund in Wilmshus, so
ansteckend, ich wünschte, ich wäre nie dort eingekehrt. – Warum mir das
heut wohl gerade einfällt?«

Sie stützte den Kopf in beide Hände und saß eine Zeitlang regungslos.
Das eiserne Blech vor dem Ofen knackte und bog sich regelmäßig hin und
her. Durch den Hausflur schallten streitende Stimmen hinein. Hinten auf
dem Hof des Hauses schienen mehrere Männer miteinander zu sprechen.

Das Mädchen regte sich. Sie war also nicht allein hier? Auch brachte die
Krugwirtin das Verlangte noch immer nicht. Sie wurde ungeduldig. Endlich
erschien das blasse Weib wieder und stellte einen Seidel frische Milch
vor ihrem Gast nieder. Hedwig erkundigte sich, ob sie noch andere Gäste
beherberge.

»Nein, Fräulein, mein Mann hat bloß Besuch. Wir woll’n Pferd verkaufen.«

Damit ging sie wieder hinaus.

Aber während Hedwig an dem Glase nippte, wurde draußen wiederum die
Flurtür geöffnet, und das Mädchen hörte eine kräftige Männerstimme
sprechen.

Sie griff nach ihren Handschuhen und horchte. Allein sie vernahm nichts
mehr. Das laute Gespräch hatte sich wieder verloren. Dennoch wurde sie
von einer merkwürdigen Unruhe ergriffen. Sie wollte aufbrechen. Rasch
schritt sie zur Tür und rief die Wirtin: die erschien auch
bereitwilligst mit ihrem Säugling auf dem Arm und wischte mit einem Tuch
den Tisch sauber.

»Nun, ist das Pferd schon verkauft?« fragte Hedwig.

»Ja, sie sind woll schon einig.«

»Wer ist denn der Käufer?«

»Je, ich kenn’ ihm auch nich. Mein Mann sagt ja woll ›Herr Graf‹ zu
ihm.«

»Graf?« stotterte die andere erblassend, »vielleicht Graf Brachwitz?«

»Ja, so kann er woll heißen,« antwortete die Wirtin gleichgültig und
trocknete sich die Hand ab, um die Bezahlung entgegenzunehmen.

»Hier, liebe Frau, hier haben Sie – – hier haben Sie.« Hedwigs
Bewegungen wurden immer hastiger. Vergeblich durchwühlte sie ihre
Taschen, ohne jedoch ihr Portemonnaie finden zu können. Wahrscheinlich
hatte sie bei ihrer eiligen Ausfahrt überhaupt vergessen, Geld zu sich
zu stecken.

»Na, das schad’t ja nich,« tröstete die Krugwirtin verwundert, »das
Fräulein schickt mich’s dann.«

»Ja, ja, ich schicke es Ihnen.«

Nur noch das Barett aufgesetzt, das sie abgelegt hatte, und sie konnte
hinauseilen. Mit hastigen Fingern rückte sie es sich zurecht, da
schallten Tritte den Flur entlang, und gleichzeitig sah Hedwig durch das
Fenster, wie der Krugwirt ein gesatteltes Reitpferd dicht neben ihren
Schlitten hinausführte.

Jetzt hoffte das Mädchen nur noch, daß der Mann, dem das Roß dort
draußen gehörte, an der geschlossenen Tür der Gaststube vorübergehen
würde. Aber das Schicksal wollte es anders. Die Tür wurde aufgemacht,
ein schlanker Mann, in grauem Wams und Pelzmütze, guckte herein und rief
gutmütig:

»Sie, Frau Wirtin, ich hab’ doch noch die paar Taler zugelegt – wir sind
jetzt einig. Aber wehe Ihnen, wenn’s nicht wirklich eine Whalebonestute
ist. – Na, guten – – –«

»Morgen,« wollte er sagen, indessen mitten im Wort fiel sein Blick auf
die Dame, die ihm zuvor den Rücken wandte, deren Gestalt ihm aber so
einzig vorkam, daß er sie sofort erkannte. Da erblaßte auch er und
verlor die Herrschaft über sich. Allerlei Entschlüsse fuhren ihm wild
durcheinander. Sollte er nicht lieber einfach aufbrechen? Oder wollte er
es doch noch einmal wagen, vor das schöne Mädchen, das er so beleidigt
hatte, hinzutreten?

Wenn sie ihm nun vor der Krugwirtin die Tür wies?

Er starrte ungewiß auf sie hin und merkte, daß über ihre abgewandte
Figur ein Zittern lief, als wenn sie ebenfalls mit sich kämpfe.
Plötzlich kehrte sie sich hastig um. »Wie gesagt, ich habe das Geld
vergessen – ja, ich – ich schicke es Ihnen aber, liebe Frau,« brachte
sie verworren hervor, um nur irgend etwas zu äußern, und schritt rasch
auf die Tür zu, auf deren Schwelle ihr Bedränger von ehemals noch immer
verharrte.

Sie blickte nicht auf. Jedoch in ihrer ganzen Art drückte sich soviel
Trotz, Kraft und Selbstbewußtsein aus, sie war in ihrer Verwirrung so
eigenartig schön, daß Brachwitz vollkommen überwältigt zurücktrat und
die Mütze vom Kopf riß.

»Guten Morgen,« murmelte er mit einer respektvollen Verbeugung, während
sie an ihm vorüberschritt.

Sie neigte unmerklich das Haupt, und flog dann auf die Landstraße
hinaus. Dort hatte der Krugwirt ihrem Braunen einen Futtertrog
umgehängt, und hielt nun den Rappen seines vornehmen Gastes, so daß er
dem Mädchen nicht behilflich sein konnte, ihr Tier von der umgehängten
Blechbüchse wieder zu befreien.

Sie stampfte vor Ungeduld mit den Füßen, in der Eile überhastete sie
alles. Auch die Decke konnte sie nicht schnell genug zusammenfalten.

Am liebsten wäre sie zu Fuß durch den Schnee davongerannt.

Der junge Graf Brachwitz stand unterdessen auf den niedrigen Stufen des
Gasthauses und beobachtete das Treiben des Mädchens eine Zeitlang
gespannt. Dann strich er unmutig seinen Schnurrbart. Es tat ihm ehrlich
leid, daß Hedwig eine so schlechte Meinung von ihm hatte, und er
verwünschte sein ungestümes Blut, das ihn damals zu dem offenbaren
Frevel gegen sie getrieben. Entschlossen sprang er zu Hedwigs Braunem,
nahm unbeirrt von ihrem Zurückweichen dem Tiere den Trog ab, dann
faltete er die Decke und trat höflich an den Schlitten, den Hedwig
inzwischen ratlos bestiegen hatte.

»Darf ich die Decke hier hereinlegen?« murmelte er kleinlaut.

Sie nickte und wandte sich ab, als er ihr den wollenen Fries leicht
über die Füße warf.

»Keinen Kutscher?« fragte er dann erstaunt, während er ihr die Zügel in
die Hände gab.

»Nein,« versetzte sie fest, »ich fahre selbst.«

Sie hob die Peitsche.

Allein bevor der Braune anzog, war Brachwitz auf die Schwelle des
Schlittens getreten. »Ich möchte Sie bitten – gnädiges Fräulein, daß Sie
mir die Zügel überlassen,« bat er leise und verwirrt.

Der Ton war ehrlich, die Anrede ehrerbietig.

Hedwig wandte ihre großen, braunen Augen auf den hübschen Menschen. Ihr
Blick war seltsam. Es schien, als wollte sie sein ganzes Wesen lesen.
Und nach kurzer Frist sagte sie kurz und herb, jedoch mit zitternder
Stimme:

»Treten Sie dort herunter, Herr von Brachwitz, ich muß Ihre Begleitung
bestimmt ablehnen. – Ein für allemal.«

»Ein für allemal?« wiederholte er.

»Vorwärts!«

Wiederum hob sie die Peitsche, aber die Hand des Grafen legte sich sanft
auf den Griff.

Hedwig fuhr zusammen und richtete sich schwer atmend auf.

»Liebes Fräulein,« bat er dringend, »ich bitte Sie – bitte Sie von
Herzen – hören Sie mich doch nur ein paar Minuten an. Sie wissen ja gar
nicht, wieviel mir daran liegt, mich vor Ihnen zu – – nun ja, zu
rechtfertigen. Darf ich denn nicht, wenn Sie mich nicht bei sich im
Schlitten dulden wollen, wenigstens nebenher gehen, natürlich nur so
lange es Ihnen gefällt, langsam zu fahren? – Ich möchte doch gar zu gern
Ihre Verzeihung erhalten, darf ich?«

Er ergriff die Zügel seines Pferdes, und da Hedwig nichts antwortete, so
hielt er es für Zustimmung und schämte sich nicht, zu Fuß neben dem
langsam gleitenden Schlitten herzuschreiten und sein Tier mit sich zu
führen.

Hedwig selbst kam es wie eine Art Bußwanderung vor, als wenn der junge
Mann, der sie so beleidigt hatte, sich allein demütigen wollte. Mit
Interesse blickte sie auf ihn hin. In demselben Moment aber fiel ihr
ein, wie heiß und wahnsinnig dieser fremde Mensch sie schon einmal
geküßt hatte. Das empörte sie plötzlich wieder so ungestüm, daß sie der
Szene ein Ende zu machen beschloß.

»Was wollen Sie also von mir?« forschte sie hart.

»Endlich Ihre Verzeihung erlangen,« erwiderte der Graf treuherzig. –
»Ich schäme mich aufrichtig, daß ich so häßlich gegen Sie gehandelt
habe; Fräulein Hedwig – gnädiges Fräulein, wollen Sie mir nicht die
Versicherung geben, daß Sie mir nicht mehr zürnen?«

»Ja, das will ich. Aber unter der Bedingung, daß damit unsere
Unterredung zu Ende ist, und sich unsere Wege nie mehr kreuzen.«

»Nie mehr?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Das wissen Sie doch – weil es zwecklos wäre, Herr Graf.«

Sein dunkles Gesicht färbte sich höher, er sah sie voll an und empfand
wieder ihre Schönheit. Leicht seufzte er auf und legte die eine Hand auf
die Lehne des Schlittens.

»Sie haben recht,« gab er endlich in sich gekehrt zu, und über seine
frischen, offnen Züge legte sich ein Schatten. »Ach, Unsinn, Fräulein
Hedwig, ich muß es Ihnen einmal sagen, wir wollen ehrlich miteinander
handeln. Es ist tatsächlich zwecklos. Obgleich ich Ihnen wirklich gut
war – nein, werden Sie mir nicht böse, Ihnen war ich wirklich gut, wenn
ich Sie auch in meiner Tollheit geradezu mißhandelt habe, ich
unterschätzte Sie vielleicht – – aber das ist es nicht allein –«

»Nun, aber?« fragte das Mädchen hastig. Ihr Herz klopfte. Unvermittelt
blitzte es ihr auf, als ob dieser junge Aristokrat, der ihr eben so
treuherzig seine Liebe gestand, die Hände ausstrecken würde, um sie vor
dem Fall zu bewahren, den sie ahnte. »Nun, aber?« kam es zitternd über
ihre Lippen. »Was wollen Sie mir noch mitteilen?«

Sie wußte jetzt, sie liebte ihn nicht, aber sie wollte gerettet werden.

»Aber,« murmelte er widerwillig und riß an dem Zügel seines Pferdes –
»man hat mich da vorige Woche in der Hauptstadt verlobt.«

»Sie?«

Sie rief es beinahe entsetzt. Alles Blut entwich ihren Wangen. Und doch
durchschauerte sie es nur deshalb so kalt, weil sie sich jetzt vom
Schicksal zum Untergang bestimmt hielt.

»Und wer ist Ihre Braut?« wollte sie stammeln, aber in demselben
Augenblick hatte sie ihrem Braunen mit voller Wucht die Peitsche
versetzt, das Tier zuckte in die Höhe und raste dann in voller Wut mit
dem Schlitten die schneebedeckte Chaussee herunter. Kaum hörte sie
noch, was ihr überraschter Begleiter ihr nachrief.

Mit aller Kraft riß und zerrte sie an den Zügeln, jedoch sie hatte ganz
die Gewalt über das schäumende Tier verloren. Wie jagende Traumbilder
schossen Bäume, Häuser und Menschen an ihr vorüber, die vorübersausende
Luft nahm ihr den Atem.

       *       *       *       *       *

In dem Pachthaus hatte der Landmann die Gesuchte nicht gefunden. Er
fragte den alten Krischan. Der zuckte die Achseln und wies auf die
Landstraße hinaus.

»Da is sie fortgefahren, Krischan?« forschte Wilms betroffen – »allein?
Saß sie nicht im Schlitten?«

Der Alte nickte und schlotterte weiter.

»Fort?« murmelte Wilms, während er in sein Haus zurückschritt. Und er
hatte sich so gefreut, mit ihr zusammen zu sein. Das einsame große
Zimmer schien ihm ohne sie unwirtlich. Als das Mädchen nach einer Stunde
nicht zurückgekehrt war, warf er sich in seine gewöhnliche Joppe, band
den Hofhund los und wanderte die Landstraße nach Boltenhagen zu.

In dem harten Schnee sah man noch die Schlittengleise, in denen sie
gefahren war. Wilms Herz zog sich zusammen. Da er das Mädchen jetzt
schon entbehrte, wie sollte es werden, wenn sie ihn gänzlich verließ,
sobald sein Weib zurückgekehrt war?

Kurz vor Boltenhagen hörte er etwas über die Chaussee klingeln. Der
ferne Punkt, den er wahrnahm, wurde größer und größer, schon vernahm er
das Schnaufen und Keuchen des gereizten Pferdes.

Er sprang zur Seite.

»Halt!« rief er mit harter Stimme den Anstürmenden entgegen.

Hedwig sah ihn, hörte ihn, aber dem Durchbrenner konnte und wollte sie
keinen Einhalt tun. Nur vorbei, nur nicht gefragt werden, nur weiter
sich austoben können, hart begleitet von der Gefahr.

Schon waren sie nahe.

»Halt,« schrie Wilms noch einmal.

Sein ganzer Kopf rötete sich. Er hielt dieses Vorübersausen für
beabsichtigt, um ihm zu entgehen. Schon heute früh war sie an der Kirche
so vor ihm entflohen.

»Ich bin’s, Hedwig,« brüllte er noch einmal.

Keine Antwort.

Immer näher.

Da erhebt sich das Rohe, Gewaltsame in dem Bauern. Er springt vor, seine
gutmütigen Augen drohen, ein mächtiger Faustschlag trifft das Pferd vor
die Stirn, daß es hoch in die Höhe steigt. Der Schlitten wird
umgeschleudert und das Mädchen schlägt hart in den Schnee, wo es mit
weitaufgerissenen Augen liegen bleibt, als hätte sie der Blitz
getroffen.

»Wilms,« murmelt sie betäubt.

Er hob sie auf, und noch halb über sie gebeugt, gurgelte er heiser vor
Aufregung: »Hedwig, dir is doch nichts? Sag’ doch, Heting, dir is doch
nichts?«

Er wußte gar nicht, was er getan hatte.

»Nein, nein – Wilms, ich will nach Hause.«

»Ja, wir wollen nach Hause, Heting,« brachte er bestürzt heraus, »komm’,
ich heb’ dich in den Schlitten.« Und während er das Mädchen in das
wieder aufgerichtete Gefährt niederließ, befühlte und betastete er sie
ängstlich, ob sie auch keinen Schaden genommen hätte.

»Heting, sag’ mir bloß, wo bist du denn gewesen?«

Allein sie saß wie erstarrt.

»Frag’ mich jetzt nicht – ich will nach Haus.«

»Wie du willst, dann will ich dich jetzt auch nicht fragen,« gab er
sofort nach. »Aber nicht wahr, Heting, dir fehlt doch nichts?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann kommt es bloß vom Schreck,« tröstete er sich und sie. Er nahm
neben ihr Platz, ergriff die Zügel, und der gebändigte Braune begann
folgsam im Trabe zu laufen.

Kein Wort wurde mehr zwischen den beiden gewechselt. Gedankenlos saß
Hedwig neben dem Pächter und hörte auf das Läuten der Glöckchen. Nur
einmal stieg ihr schwache Verwunderung auf, warum jetzt das Tier jeder
Bewegung des Lenkers folge, das vorher so wild gewesen.

Verstohlen blickte sie auf den Mann an ihrer Seite und merkte, daß seine
Augen gleichfalls auf ihr hafteten, voller Angst.

Er sah jetzt ganz anders aus, wie vorhin, als er das Pferd
zurückgeschlagen hatte.

Als sie daran dachte, zuckte sie zusammen, als habe sie selbst der
Faustschlag getroffen.

Was sollte daraus noch werden?

Es war ihr, als hätte er damit auch sie gebändigt.



VI.


Und die Erkenntnis, daß sie langsam unterlag, rührte ihr ganzes Wesen
auf.

Kaum waren sie in dem Pachthause angelangt, so setzte sich Hedwig völlig
erschöpft in eine Sofaecke und begann plötzlich heftig zu schluchzen.
Wilms sah bestürzt, daß all ihre Glieder bebten und zitterten wie
Grashalme, über die der Sturm rauscht.

»Heting – liebes Heting,« murmelte er und fuhr ihr unbeholfen über das
Haar. – »Bist du krank? – Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?«

Immer heftiger flossen ihre Tränen. Wie ein plötzlicher Regenhusch, der
das Gewitter anzeigt.

»Heting, das kann ich nicht mit ansehen. Bist noch böse auf mich von
vorhin?«

Er meinte, weil er sie so roh aus dem Schlitten gestürzt.

»O nein.«

Sie schüttelte den Kopf und drückte krampfhaft seine Hand.

»Wilms – ich bitte dich, Schwager,« flüsterte sie dringend. »Geh’ jetzt
hinaus und laß mich allein – ganz allein – nicht wahr, du tust mir den
Gefallen?«

»Natürlich, Heting, ich tu’ ja alles, was du willst,« erwiderte der
Landmann. »Bloß sag’ mir noch, bist du vielleicht ungehalten, weil ich
heute ohne dich in die Kirche ging? Sieh, wenn du es nicht für recht
hältst, dann will ich ja überhaupt nicht mehr hingehen.«

Sie machte nur eine stumme Bewegung der Verneinung, und der Pächter
schritt schwer und erschüttert hinaus. Kaum hatte er die Tür hinter sich
geschlossen, so erhob sich Hedwig und warf sich vollkommen durchrüttelt
und kraftlos vor Elses Bett in die Knie, wo sie ihren Kopf in die Kissen
grub.

»Schwester – Schwester,« murmelte sie halb betäubt vor Seelenangst.

Unterdessen schritt Wilms in dumpfer Verzweiflung auf dem Hof hin und
her. Und immer wieder richteten sich seine überbuschten Augen auf das
Fenster, hinter dem früher seine kranke Frau gelegen hatte und ihm Qual
bereitete. Jetzt spähte er nach der gesunden Schwester.

Er griff nach seiner Stirn und wunderte sich.

Unter ihm lag noch immer die Erde fest und bebte nicht, über ihm
schwamm der Schneehimmel und spie keine Feuerballen aus, um ihn herum
ragten Haus und Scheunen festgefügt wie sonst, und doch brütete der
Mann, der nicht mehr in die Kirche gehen wollte, über eine der Todsünden
nach.

»Gedankensünden,« hatte der Pastor einmal gesagt, »Gedankensünden.«

Es sollte noch schlimmer kommen.

Der kleine Hofjunge trat auf ihn zu und händigte ihm einen Brief aus. Er
enthielt eine Einladung für den heutigen Abend zur Försterfamilie. Die
Försterin hatte ihn selbst mit zierlicher Handschrift geschrieben.

Als Wilms zur Mittagszeit in das Wohnzimmer trat, fand er seine junge
Schwägerin am Nähtisch emsig mit einem Brief beschäftigt.

»An wen schreibst du, Heting?« fragte er zaghaft.

Sie blickte mit trübem Lächeln zu ihm auf. »An Else,« antwortete sie
stockend.

Der Pächter stutzte. »An meine Frau?« wiederholte er düster und blickte
zu Boden.

»Ja, ich frage sie an, wann sie wiederkommt.« Sie senkte dabei das
Haupt, schrieb noch ein paar Zeilen und übergab Wilms dann den
geschlossenen Brief zur Besorgung.

Eine drückende Stille trat ein, wie sie jetzt immer entstand, wenn der
Entfernten zwischen beiden Erwähnung geschah.

»Wann sie wiederkommt,« dachte der Landmann mutlos. Er reckte sich. »Ist
dir bange nach ihr, Heting?«

Es sollte gleichgültig klingen, aber seine tiefe Stimme bebte leicht.

Zitternd wandte sich das Mädchen ab und antwortete nicht.

»Nur von etwas anderem sprechen,« dachte Wilms, »von etwas anderem.« Da
erwähnte er die Einladung, die er eben erhalten. Natürlich würde Hedwig
ablehnen, glaubte er; auffallend war ja ihre Blässe, und sie hatte noch
eben über ihr Befinden geklagt. Aber zu seinem Erstaunen rief sie
erregt: »Ja, wir wollen hin. Warte, ich kleide mich gleich um.«

Kopfschüttelnd blieb er zurück.

Schon nach dem Kaffee fuhren sie vom Hof herunter in demselben
Schlitten, den Hedwig heute vormittag benutzt hatte.

In dem gemütlichen Försterhäuschen mitten im Walde ging es hoch her.
Vielstimmiger Gesang, Geigen- und Trompetenklang empfingen sie schon
bei ihrer Ankunft. Der Förster hatte von der benachbarten Akademie
mehrere Forsteleven, selbst einen Assessor eingeladen. Der hatte seine
Geige mitgebracht zur Verschönerung des Festes. Auch des Pastors
Töchterlein war da.

In einer der braungetäfelten Stuben mit den vielen Hirschgeweihen
brannte noch der Tannenbaum. Darunter saß das blonde Töchterchen der
Forstleute in seinem Wägelchen und streckte die Arme nach den Lichtern
aus.

Hedwig nahm das Kind in die Höhe und küßte es. Als sie sich umwandte,
stand Wilms hinter ihr, dessen Augen mit besonderem Ausdruck auf ihr
ruhten.

Er hatte sich in tiefster Seele gedacht: »Warum gehört mir dieses schöne
Weib nicht und dieses Kind?« Langsam fuhr er sich über die Stirn und
ging zu den Männern.

Es wurde spät.

Der Abend verfloß in lauter Fröhlichkeit.

Hedwig wurde von den jungen Leuten der Hof gemacht, Paula Schirmer
schmiegte sich an sie, sie mußte singen. Zum Schluß spielte der
Forstassessor zum Tanz auf. Da war es selbstverständlich, daß das
Mädchen von einem Arm in den andern flog. Nur Wilms stand ernsthaft
beiseite, er hielt es für unpassend zu tanzen, solange sein Weib fern in
der Klinik weilte.

Stirnrunzelnd überkam es ihn, als ob seine Jugend in Trauer verfließe.
Und wie anmutig Hedwig tanzte, sie lenkte aller Augen auf sich, nur zu
wild erschienen ihm manchmal ihre Bewegungen, es lag dann etwas Rasendes
darin.

Er schüttelte den Kopf.

»Hören Sie auf, Fräulein Hedwig,« mahnte auch die Försterin, »sonst wird
es zuviel.«

Sie zog das Mädchen mit sich fort und stäubte ihr in ihrem Schlafzimmer
etwas Kölnisches Wasser ins erhitzte Gesicht.

»Wie geht es Ihrer Schwester?« fragte sie dabei.

»Das weiß ich nicht,« versetzte Hedwig geistesabwesend.

Die Försterin starrte sie an. Sie merkte, daß die Erregung ihres jungen
Besuches unnatürlich sei. Jedoch sie glaubte die rechte Spur gefunden zu
haben.

»Wissen Sie schon, daß sich der junge Graf Brachwitz verlobt hat?«
forschte sie gespannt.

»Ja, ich hörte schon davon,« nickte Hedwig gleichgültig und wollte
wieder zu den andern.

Die Försterin verstand nicht, was sie aus ihr machen sollte. Sie hielt
das Mädchen am Arm fest und klopfte ihr fast mütterlich die Wangen. Eine
Regung des Mitleids überkam sie für dies schöne, fiebernde Geschöpf.
Wenigstens einen guten Rat wollte sie ihr erteilen, geschöpft aus den
Erfahrungen einer reifen Frau. Und ganz ehrlich und aufrichtig kam es
heraus: »Fräulein Hedwig, ich wollte schon immer einmal mit Ihnen
darüber sprechen. Bleiben Sie nicht mehr lange allein mit Ihrem Schwager
in Wilmshus. – Hören Sie?«

»Warum?« wandte sich Hedwig ruckartig um.

Sie war leichenblaß geworden, nur die braunen Augen glänzten und
funkelten wie feurige Kohlen.

»Weil,« fuhr die Frau eindringlich fort, »die Lästerzungen in der
Umgegend sich schon darüber aufhalten. Ich rate Ihnen gut, wenn auch
nichts daran ist, gehen Sie dem Gerede lieber doch aus dem Wege.«

Da raffte sich Hedwig auf, alles Blut schoß ihr zum Herzen, es war ihr
so weh, daß sie laut hätte schreien mögen, denn sie fühlte, daß sie
jetzt den Scheideweg erreicht habe.

»Liebe Frau Annchen,« sprach sie dennoch straff aufgerichtet, obwohl die
vollen Lippen in dem bleichen Gesicht bebten, so daß ihr Gegenüber nur
mit Mühe ihre Worte verstand. »Solch müßiges Geschwätz ist mir
gleichgültig. Ich tue das, was ich für recht halte, und scheue niemand.«

Damit riß sie sich heftig los und ging in der großen Stube mitten durch
die Fröhlichen hindurch, gerade auf Wilms zu, um ihn zum Tanz
aufzufordern.

Die Försterin wurde rot vor Unwillen, als sie es sah, und flüsterte
aufgeregt mit ihrem Manne.

»Heting,« sprach Wilms betreten, »ich möchte nicht gern. Solange Else
fort ist – –«

Sie achtete nicht darauf. »Komm, Schwager, – wenn ich dich bitte?«

Dabei sah sie ihn an mit ihren fieberigen Augen so heiß, so flehend, als
ob er ihr damit das Leben retten könnte, als ob ihr ganzes Dasein an
diesem einen Tanze hing.

Da schlug es auch über ihm zusammen. Weib – Ruf – die Furcht vor dem
Gerede, alles ging unter in dem einen Wunsche, dieses lebenstrotzende
Wesen einmal umschlingen und forttragen zu dürfen.

Er packte sie, gewaltsam, verzweiflungsvoll, als wollte er sie an seiner
Brust zerpressen.

»Bravo,« riefen der Forstassessor wie die Eleven und ließen ihre
Instrumente noch lauter jubeln. Und unter Geigenspiel und
Trompetenklang schwenkte er sie herum, schwer, wuchtig, als ob es sich
um Leben und Tod handele.

Er sah auf sie herab.

Ihr Gesicht war schmerzverzogen, ihr Atem ging stöhnend, wie wenn sie
mit jedem Schritt über spitze Messer dahinglitte, und doch lag sie eng
und voll in seinen Armen, daß er gänzlich die Besinnung verlor.

»Süßes, liebes, Heting,« flüsterte er.

Sie zuckte zusammen und schloß die Augen.

Da war auch der Tanz zu Ende, sie trennten sich hastig und kamen erst
wieder zusammen, als man aufbrach.

»Adschö auch.«

»Auf Wiedersehen.«

Die Förstersleute versprachen bald auf Wilmshus vorzusprechen. »Wenn
Ihre Frau erst zurück ist, Wilms,« meinte der Förster, »das ist doch
jetzt bald.«

»Ja, das ist bald,« bestätigte Wilms überstürzt, »das ist bald.«

Wieder saßen sie im Schlitten, der Landmann hatte ein Tuch um das
Mädchen geschlagen, daß man fast nichts von ihr sah. Dann ging es durch
den nächtigen Wald, in dem die Schlittenglocken seltsam wiedertönten.

»Kling-ling – Kling-ling.«

Hedwigs Haupt neigte sich leicht gegen seine Schulter. Ihr war so
bleischwer in allen Gliedern, der Schlaf schien sie erdrücken zu wollen.
Wie im Traum zog es ihr durch den Sinn, daß sie mit diesem Mann nicht
länger allein in einem Hause bleiben solle. Aber die silbernen Schellen
verscheuchten den Spuk gleich wieder:

»Kling-ling – Kling-ling.«

In dem dunklen Gehöft zu Wilmshus war keine Menschenseele zu erspähen.
Schwärzer als anderswo lag die Nacht auf diesem Ort. Fürsorglich hob der
Landmann seine Schwägerin aus dem Gefährt und sie duldete es, obwohl sie
fühlte, wie seine Arme zitterten. Da erleuchtete sich die Nacht. Aus dem
Hause schlürfte etwas heran, der alte Krischan schlich heraus, seinen
Herrn zu empfangen, eine Stallaterne warf einen breiten Schein über den
Hof. Da machte sich Hedwig ungestüm frei.

Erst auf dem dunklen Flur vor der Tür des Wohnzimmers, wo sie in Elses
Bett schlief, erreichte der Pächter seine Begleiterin noch einmal.

Rabenschwärze herrschte hier.

Zaghaft ergriff er ihre Hand und drängte sich scheu an sie.

»Heting,« flüsterte er leise und berührte furchtsam ihre Schulter.

»Wilms, versprich mir was.«

»Alles, Heting, was du willst.«

»Dann soll Christian aus dem Hause und ins Altenheim.«

»Ja, dann soll er fort,« wiederholte Wilms ohne Überlegung. Halb betäubt
beugte er sich zu ihr hinab.

Und derselbe schlürfende Greis, den sie eben verleugnet hatten, bewahrte
die beiden, die nicht mehr gerettet sein wollten, zum letzten Male.

An der Schwelle klapperten seine hölzernen Pantoffeln, in den Flur ergoß
sich matter Lichtschimmer, eben als Hedwig, die gegen die Tür lehnte,
fühlte, daß der Boden unter ihr zittere und schwanke und daß sie in jene
Arme stürzen würde, die nach ihr tasteten.

»Gute Nacht, Wilms,« stotterte sie auffahrend.

»Ach, gute Nacht, Heting,« klagte der Pächter und starrte sinnlos auf
die Tür, die sich rasch hinter ihr schloß.

Der Alte war unterdes vorüber geschlichen und hatte seine Schlafstelle
aufgesucht. Stille, webende, undurchdringliche Nacht umgab den Einsamen
wieder.

Er horchte und lauschte.

Kein Laut regte sich mehr, alles schlief, nur er stand noch wie ein Dieb
und wollte stehlen.

Dort drinnen also, dort drinnen.

Er wußte, es war unverschlossen.

Die grobe, arbeitsgewohnte Hand reckte sich aus nach der Klinke, aber
über dem Messing, in der Luft blieb sie, wie auf einer unsichtbaren
Mauer, liegen.

Das vermochte er nicht. Das wagte er nicht. Der Frost schüttelte ihn,
daß ihm die Zähne klapperten. Er schlug die Hände vors Gesicht und stieg
wie vernichtet und zerbrochen in seine Kammer hinauf.

Er hatte einen schlimmen Traum.

Da sah er sein Weib auf der Totenbahre liegen, gelb und wächsern. Sie
war endlich gestorben. Fröhlich tönten Geigen und Trompeten dazu, und er
selbst hatte Hedwig im Arm und tanzte jauchzend mit ihr um den Sarg
herum und küßte sie auf den Mund. Die Leiche aber lag im Brautkleid und
öffnete die Augen und Pastor Schirmer predigte über ihr: »Wirf die Last
von dir. Sei mutig.«

Er wälzte sich im Schweiß und schrie so laut auf, daß er erwachte.



VII.


So war der Winter hingeschwunden.

Der Schnee schmolz. Frühlingsstürme bogen und peitschten die Pappeln der
Landstraße, in allen Lachen spiegelte sich blendender Sonnenschein, an
den Birkenbüschen begann es grün zu schimmern, und an einem frischen
Morgen vernahm Hedwig, die barhäuptig auf dem Hof stand, rauschenden
Flügelschlag vor ihren Ohren, so daß sie danach ausschauen mußte.

Mit lautem Gezirp umkreisten die Hausschwalben das Dach und suchten ihr
Nest.

Das Mädchen, das ganz sonnenüberglänzt dastand, legte die Hand vor die
Augen und blickte hinauf. Ja, es wurde wahr, der Frühling zog wieder ins
Land. Sie wohnte nun bald ein Jahr in diesem Gehöft.

Und noch immer war Else nicht zurückgekehrt.

Von Woche zu Woche zog es sich hin. Immer trat wieder etwas dazwischen,
Monate wurden daraus. Wenn Hedwig dem Pächter nicht noch einmal von
ihrem Erbteil vorgestreckt hätte, er hätte die Pension der letzten
Wochen nicht bestreiten können. Zumal er jetzt alles Vorhandene zur
Saatzeit brauchte. Das zog ihm die Stirn oft sorgenvoll in Falten, aber
Hedwig hatte ihm die Summe aufgedrängt, ungeduldig, stürmisch. Da hatte
er sie genommen. Sie gehörten ja zusammen, das Gedächtnis an Else wurde
jetzt seltener. Zwar langten wöchentlich Briefe von der Kranken an, die
von einer immer fortschreitenden Besserung berichteten, doch diese
Mahnungen hatten das Schreckhafte verloren und schienen aus unbestimmter
Ferne zu stammen. Elses Gestalt wurde ihnen allmählich unpersönlich und
verfloß.

Dafür hatten sie sich gegenseitig immer enger aneinander angeschlossen.
Wilms blickte auf die stillen Wintertage als auf die glücklichsten
seines Lebens zurück. Ja, er hatte wieder ein Heim, in das er beseeligt
zurückeilte. Alles war wieder fest, gemütlich, geordnet. Auch hatte er
die Wintermußestunden benutzt, um von ihr zu lernen. Da hatten sie
zusammen unter der großen Stehlampe gesessen und die modernen Bücher
gelesen, die Hedwig kommen ließ. Selbst seine politischen Ansichten
wurden durch sie geklärt. Und allmählich begann er mit anderen Augen auf
Nahes und Fernes zu blicken. Die sklavische Gottesfurcht, die in dem
Höchsten einen Schergen sieht, einen kleinlichen Späher und Topfgucker,
entschwand ihm, erst zaghaft und scheu, bald aber sicherer fing er an,
nach dem Muster der Geliebten für sich selbst Gutes und Böses zu
unterscheiden. Der schüchterne Mann erwachte, er erhob sich wie aus
einer Gruft und sah sich erstaunt in der Welt um. Frische Luft wehte
überall, dem Starken gehörte überall auch das Recht.

Ja, der Krankendunst war aus seinem Heim herausgezogen.

Und Hedwig liebte ihren Schüler. In dem reichen Geben und sich Mitteilen
vergaß sie, daß sie sich nach ihm sehnte. Ihre verschwenderische Natur
fand Befriedigung.

Oft auch kam Besuch zu ihnen. Einmal die Förstersleute mit ihren Eleven,
dann Pastor Schirmer mit seiner Tochter, zuweilen auch der Inspektor von
Boltenhagen, sehr oft der schmeerbäuchige Kreisphysikus aus Grimmen. Nur
die Frau Pastorin hielt sich zurück. Hedwig fragte nicht nach ihr und
suchte nach keinem Grunde.

Dann wurde musiziert und gesungen, häufig auch getanzt oder ernsthafte
Gespräche geführt, und alle fühlten sich von dem klugen, liebenswürdigen
Mädchen angeregt. Wilms wurde allmählich stolz auf sie.

Ihr Widersacher, der taube Krischan, war vom Hofe entfernt worden. Das
hatte sich jedoch nicht so glatt abgewickelt und war jetzt die Ursache
zu vielem Verdruß.

»Wat soll ick?« hatte der Greis gefragt, als Wilms ihm seinen Entschluß
ein wenig zögernd eröffnete. »Wo soll ick hen?« Dabei hob er das taube
Ohr empor und wackelte kraftlos mit dem Kopfe.

»Ins Altenheim. Da wirst du’s gut haben.«

»Ne,« hauchte der Alte und kaute widerwärtig mit dem stoppelbewachsenen
Kinn: »Ick bünn nu all’ fifuntwintig Johr up dit Flag. – De Fru hett mi
verspraken, dat ick hier starwen künn.«

Wilms wurde ungeduldig. »Meine Frau is aber jetzt fort,« rief er heftig.

»Sei ward äwer wedderkamen,« grinste der Alte und lachte kauend.

Das war dem Landmann zuviel. Hedwig hatte auch darin recht. Es wurde dem
Tauben kurz und entschieden ein Termin zum Abzug gestellt.

Gelassen hörte der Greis die Entscheidung an.

Aber als der Tag herangekommen war, war der Alte nirgends zu finden.
Knechte und Mägde suchten ihn im ganzen Hause vergeblich, auch seine
Schlafstelle war leer, schon munkelten die Leute, daß der Alte, den
niemand leiden konnte, in den Teich gesprungen sei. Da entdeckte Dörthe,
die Obermagd, ein Zeichen. Sie hörte über sich krächzendes
Rabengeschrei, und als sie aufblickte, sah sie, wie der zerzauste Vogel
des Vermißten in die offene Luke des Heubodens flog.

Da fanden sie ihn. In dem tiefsten Winkel, verborgen im warmen Heu, lag
er und wehrte sich halb blödsinnig gegen die Knechte. Ein Gensdarm
brachte ihn und seine Habseligkeiten endlich vom Hof herunter und
lieferte beides im Altenheim ab. Dort wurde er krank und man dachte an
seinen Tod. Allein in wenigen Tagen erholte er sich bei der guten Pflege
und unter der Obhut der Ärzte. Und bald sah man ihn täglich die
Landstraße hinunterschlottern, bis nach Wilmshus, wo er sich auf einen
Grabenstein setzte und ins Gehöft hineinstarrte.

Das konnte ihm niemand verwehren, die Straße war frei. Wenn Hedwig
vorüberkam, schüttelte er sich und grinste in sich hinein.

»Er wird mir noch mal das Haus über dem Kopf anstecken,« murmelte Wilms
einmal ingrimmig.

Hedwig redete ihm das aus.

Auf dem Schlosse zu Boltenhagen war in der Zwischenzeit ein großes Fest
gefeiert worden. Die Braut des jungen Herrn hatte dem alten Grafen
einen Besuch abgestattet. Hedwig sah sie vorüberfahren, und der
Bräutigam, der neben der Erwählten saß, hatte sie ernst und ehrerbietig
gegrüßt. Er wandte sich noch einmal nach ihr um. Am Abend sprühte ein
prächtiges Feuerwerk herüber. Leuchtkugeln und Raketen zischten durch
die winterstille Luft, und Wilms, der neben Hedwig am Fenster lehnte,
kehrte sich ihr beklommen zu, wie wenn er ihre Augen ergründen wollte.
Aber sie lächelte wehmütig und sah ihn groß und ehrlich an. Da beruhigte
sich der Ängstliche wieder.

Wer nach langer Armut Reichtum erlangt, wird ein Geizhals und fürchtet
das Gewonnene wieder zu verlieren.

Das Schönste aber, was Hedwig dem öden Besitztum gewonnen hatte, war der
Garten hinter dem Hause. Zur Saatzeit, wo Wilms meistenteils auf seinen
Feldern weilte, hatte sie mit Dörthe von der jahrelangen Verwilderung
Besitz ergriffen. Beete wurden gegraben, mit heimischen, wie
ausländischen Blumensaaten bepflanzt, Gänge abgesteckt, Rasenteppiche
angelegt. Der riesige Apfelbaum in der Mitte ward beschnitten, die
verwilderten Johannis- und Stachelbeerhecken zu ordentlichen Grenzen
gerundet, das schwierigste aber mit den zerstreuten Fliederbäumchen
vorgenommen. Hedwig ließ eine dünne Laube zurechtschlagen und die
Stämmchen rings herumsetzen. Der gute Gärtner im Himmel gab seinen Segen
dazu, er ließ seinerseits in linden Nächten warmen Regen träufeln, und
als die Störche auf dem Schindeldach des Pachthauses erschienen, da
hatten sich die Zweige zusammengeschlossen, da bildeten weiße und blaue
Fliederbüsche ein duftendes Dach, und an hellen Mondscheinabenden sahen
die Zugeflogenen den Pächter und seine junge Begleiterin in der Laube
sitzen und hörten, wie sie beide zusammen heitere und traurige Weisen
sangen.

Solche Töne waren hier selten vernommen worden.

Der Flieder streute seine Blüten über sie, und vom blühenden Apfelbaum
quoll ein wundervoller Duft herüber, der Storchvater klapperte im Traum
leise dazwischen. Den beiden Menschenkindern aber unten klopfte das Herz
heiß und voll und sie schwiegen noch immer.

       *       *       *       *       *

Es war an einem Maienabend. Wilms, Hedwig und der kleine Pastor Schirmer
saßen in der Fliederlaube und schwatzten über dies und das. Ein
Windlicht leuchtete auf dem Tisch. Die Luft ging so sacht, daß selbst
der winzige geistliche Herr mit seinen spärlichen Silberlocken
barhäuptig saß.

Da knirschte ein starker Schritt den Gang entlang. Ein paar Zweige
wurden zurückgeschoben, die mächtige Gestalt des Försters wurde
sichtbar.

»’n Abend meine Herrschaften,« rief er fröhlich und schüttelte allen die
Hand. »Sie haben hier ein schönes Plätzchen – wahrhaftig. – ’n Abend
Fräulein Hedwig, Ihnen bring’ ich was ganz Besonderes mit –« er
schnalzte mit der Zunge – »hier.«

Dabei reichte er dem Mädchen ein starkes Bündel grüner Kräuter herüber.
Die strömten einen würzigen Duft aus.

»Waldmeister?« sprach Hedwig überrascht.

»Richtig – meine Frau hat ihn selbst gepflückt. Er blüht in diesem Jahr
so prächtig, daß – –«

»Daß man ihn nicht umkommen lassen darf,« ergänzte die junge Wirtin
anmutig, »wie wär’s, Herr Forstmeister, wenn wir gleich eine Bowle
zusammen brauten? Sie haben doch nichts dagegen?«

»Dagegen?« schrie der Weidmann und sah sich so triumphierend um, als
hätte er eben ein gutes Werk zustande gebracht. »Deshalb habe ich ihn ja
gerade zu mir gesteckt. Und mit Ihnen in der Küche, Fräulein Hedwig? –
Herrje, wenn meine Frau das wüßte, daß ich mich jetzt noch mit Kochen
abgebe. Aber das soll auch ein Schlückchen werden, passen Sie mal auf,
Herr Pastor, was da rauskommt.«

Die andern riefen Beifall. Und nach kurzer Zeit erschien Hedwig wieder
mit einer großen Terrine, hinter ihr der Förster, der noch eine Flasche
Rheinwein unter dem Arm trug. »Wenn’s zu dünn sein sollte,« erklärte er
augenblinzelnd.

Aber es war nicht zu dünn.

Sie ließen die Gläser klingen, rötlich spiegelte sich das Windlicht in
dem gelben Naß, fein läutete der silberne Ton in die Maiennacht hinaus.

»Schön,« rief der Förster und legte sich befriedigt die Hände auf den
Leib, »sehr schön.«

»Ich dank’ dir, Heting,« sprach Wilms mit einem langen bewundernden
Blick und hob das Glas.

Und der kleine Pastor leckte sich die Lippen und nickte nachdenklich
lächelnd: »Die Bibel hat einen Trinkspruch dafür, meine Freunde,« sagte
er vor sich hin und faltete die Hände um das Glas. »Psalm 65 – 11, 12
und 14.«

»Jawohl,« sagte der Förster beifällig, »sehr schön.« Er hielt bereits
beim dritten Becher und man wußte nicht, ob er den passenden Vers oder
Hedwigs gelungene Bowle so sehr bewundere. Dann zog er ein Päckchen der
Stralsunder Fabrik hervor und sprach halb bittend, halb verschämt: »Ein
Skätchen?«

Und ohne abzuwarten fuhr er fort: »Wilms gibt.«

Lächelnd griffen die Herren zu den Karten, die Zigarren wurden
entzündet, und bald fielen die bekannten Worte:

»Tourné? – Solo? – Pastor, zeigen Sie mir Ihre Karten nicht.«

Hedwig schritt leise aus der Laube hinaus. Langsam wandelte sie im
Garten herum, der Mond stand voll am Himmel und beleuchtete die schmalen
Pfade. An einem blühenden Rotdorn wandte sich das Mädchen und blickte in
die helle Laube zurück. Da saßen die drei unter den weißen und blauen
Fliederbüschen, schlürften den guten Wein und spielten munter fort.

Es nahm sich aus wie ein Bild der Behaglichkeit.

»Und das hast du geschaffen,« wollte es in Hedwig auftönen, aber sie
sprach es nicht aus, nur ein Gefühl der Ruhe und des Stolzes überkam
sie.

Unhörbar öffnete sie die Gartentür, ging leise über den schweigenden
Hof, bis sie die Einfahrt an der Landstraße erreicht hatte.

Hier war sie vor einem Jahr zuerst eingefahren. Vieles hatte sich
seitdem geändert.

Ausruhend blickte sie die Landstraße hinunter. Dort atmete alles
tiefste Stille, zwischen den Stämmen der Pappeln spann sich blaugraue
Dämmerung, nur die Grillen in dem Graben zirpten ohne Unterlaß.

Da tönte ein fernes Rollen dazwischen. Es wurde wieder still, aber dann
– von einer Biegung der Chaussee hörte man deutlich Peitschenklang und
das Nahen eines Wagens. Ein paar Laternen blitzten auf.

Hedwig trat zurück. Kam das Gefährt nicht aus Boltenhagen? Wohin ging so
spät noch eine Equipage? Sollte in der gräflichen Familie jemand krank
geworden sein?

Die Chaise hielt an, gerade vor der Einfahrt des Gehöftes, wo das
Mädchen stand.

Hedwig begann das Herz zu schlagen.

Aus dem Lederverschlag streckte sich ein unförmlicher Kopf heraus und
eine belegte Stimme rief: »Fräulein Schröder? Sind Sie’s, Fräulein
Schröder? Ich bin’s, Rosenblüt aus Grimmen, Sie wissen schon, ein guter
Freund von Ihrem Herrn Vater.«

Hedwig trat an den Schlag heran und reichte dem Geschäftsmann die Hand.
Verwundert fragte sie, ob er denn aus der Stadt eine Bestellung an sie
hätte.

Der Händler wiegte den Kopf: »Wissen Sie’s denn noch nicht? Das heißt
wieso sollen Sie’s wissen?« wiederholte er sich selbst. »Da hab’ ich
heut den Kreisarzt getroffen, Rumpf – behandelt mir auch wegen mein
Steinleiden, macht ümmer faule Witze, sagt ümmer ›Se müssen’s aushalten
Herr Rosenblüt, Sie sind eben ’n steinreicher Mann.‹«

»Ja, aber Herr Rosenblüt – –«

Der Händler besann sich: »Da hat mir der Kreisarzt aufgetragen, Ihnen
’ne Überraschung zu machen. Nu, wissen Sie’s noch immer nicht? Ihre Frau
Schwester ist zurück – bei Ihrem Herrn Vater – und morgen wird sie hier
ankommen.«

»Wer ist zurück?« fragte Hedwig ganz leise.

»Nu, die Frau Wilms. Und aussehen soll se, ich sag’ Ihnen, so gesund,
wie Sie und ich. Kann mir denken. Es ist ne große Freude für Sie. Na,
grüßen Sie mir den Herrn Wilms – ich lass’ ihm gratulieren. – Gute
Nacht, Fräulein Schröder.«

»Ich danke Ihnen auch bestens,« sagte Hedwig und reichte ihm die Hand.

Der Wagen rollte weiter.

»E seltsam ruhiges Mädchen,« dachte der Händler, während er sich in die
Kissen zurückdrückte. »Sie bleibt sich immer gleich – in Freud und
Leid.«

Hedwig ging langsam über den Hof zurück und betrat wieder den Garten.
Lange stand sie hinter der erleuchteten Laube und zupfte gedankenlos
einen Zweig des weißen Flieders ab. Drinnen hatten die Herren die Karten
zusammengeschoben, sie stießen noch einmal zum Abschied mit den Gläsern
an und der Förster reckte sich, strich das gewonnene Geld ein und summte
vor sich hin:

    »Im Wald und auf der Heide,
    Da such ich meine Freude.
    Ich bin ein Jägersmann,
    Ich bin ein Jägersmann.«

Fröhlich klang die Weise in die Nacht hinaus. Und der kleine Pastor, der
nicht viel vertragen konnte, schob seinen Arm unter den des Sängers und
murmelte undeutlich:

»Lieber Freund – Sie – Sie begleiten mich nach Hause, nicht wahr?«

»Natürlich – wird besorgt werden, Herr Pastor,« lachte der Förster mit
einem Seitenblick, »wird alles pünktlich abgeliefert. Gute Nacht, Wilms,
grüß die kleine Hedwig. Ein famoses Ding. Donnerwetter, wenn ich jung
wär – wenn ich jung wär –«

»Gute Nacht.«

Die beiden Herren zogen ab, Wilms gab ihnen bis zur Einfahrt das Geleit,
und noch auf der Chaussee konnte man den Förster das Jägerlied singen
hören.

Heiter begab sich Wilms in den Garten zurück. Als er in die Laube trat,
fand er Hedwig dort, die am Tisch saß und den Kopf in die Hand stützte.

Er stockte.

»Heting, du? – Ich glaubte, du wärst schon zu Bett gegangen?«

»Nein, Wilms, ich wollte dich noch erwarten.«

»Wirklich? – Das ist schön. – Na, da komm, Heting, wir trinken noch ein
letztes Glas zusammen. – Wir haben ja heut noch gar nicht zusammen
angestoßen. – Willst du?«

Er setzte sich ihr gegenüber und schob ein volles Glas vor sie hin, aber
sie verhielt sich so regungslos, sie hatte das Haupt so trübe gesenkt,
daß Wilms sie befremdet anstarrte.

»Heting, du bist doch nicht etwa krank?« stotterte er.

»Nein, nein, Schwager –« sie richtete sich auf und lächelte ein wenig.
»Ich habe dir sogar etwas sehr Gutes mitzuteilen.«

»Sehr Gutes? – Und dabei siehst du so traurig aus?«

»Traurig?« entgegnete sie verwirrt, und plötzlich überzog eine tiefe
Blässe ihr Gesicht. Wilms sah, wie ihre Hände sich zitternd bewegten.
»Die Frühlingsluft wohl – ich habe Kopfschmerzen – ich freue mich auch
so sehr – Wilms, Else ist nach Grimmen zurückgekommen und morgen trifft
sie hier ein.«

Der Landmann ließ sein Glas niedersinken und tat einen tiefen Atemzug.

Da erzählte sie ihm alles. »Und,« schloß sie unsicher, »sie soll ganz
hergestellt sein. – Gottlob.« Aber sie vermied es, ihn anzublicken.

Wilms regte sich. »Gottlob,« murmelte er mechanisch. Dann reckte er
sich, legte sich die Hand vor die Stirn und schritt wortlos in den
Garten hinein. Seine Gestalt bückte sich dabei, als ob er etwas trüge.

Nach einiger Zeit kehrte er langsam zurück. In seinem Gesicht zuckte es,
wie er seinen Platz ihr gegenüber wieder einnahm. Die gutmütigen blauen
Augen schienen ganz überbuscht. Er reckte die Hand aus und ergriff die
ihrige.

»Ich dank’ dir auch für alles, Heting, was du an mir getan hast,« sprach
er mit zitternder Stimme und umklammerte krampfhaft ihre Finger, »auch
dafür, Heting, daß du wieder ein bißchen Zufriedenheit in mein Haus
gebracht hast. – Ich hab’ mich so wohl gefühlt –« murmelte er leise und
aus seinem Auge drang ein großer, schwerer Tropfen hervor: »Gott geb’s,
daß alles so bleibt.«

Da senkte Hedwig ihr Haupt auf seine Hand hernieder und blieb unbewegt
so liegen, daß er ihre goldbraunen Flechten im flüchtigen Glanz des
Windlichtes schimmern sah. Ihre Stirn brannte auf seiner Haut.

Die Brust des Mannes hob sich immer mühsamer. Sanft zog er seine Hand
zurück.

»Wollen’s uns nich noch schwerer machen, Heting,« sagte er mit
Aufbietung aller Kräfte. »Es is ja so nich leicht. – Komm, Heting,
wollen darauf anstoßen, daß wir immer gute Freunde bleiben, so wie
heut.«

Langsam erhob sie sich. Schlank und aufrecht stand sie vor ihm, als sie
das Glas ergriff, aber ihre Augen hingen an den seinen, so dringend, so
unabwendbar, so gewaltig ernst, daß er beinahe davor erschrak.

Die Bibel hat ein Wort für diese Liebe: »Feurig, wie die Flamme des
Herrn und stark, wie der Tod.«

Die Gläser klangen zusammen, sie sahen sich noch einmal in die Augen,
dann reichten sie sich die Hände und gingen schweigend in das Pachthaus
zurück.



VIII.


»Willkommen« stand über der Haustür geschrieben, und grüne Guirlanden
mit roten und weißen Gartenblumen schmückten die Pfosten, als die Herrin
des Hauses zum erstenmal wieder über die Schwelle von Wilmshus schritt.

Wilms und Hedwig hatten sie gemeinsam vom Bahnhof abgeholt.

»Ach, wie schön habt ihr alles für mich gemacht,« flüsterte Else erregt,
als sie an der Hand ihres Mannes den Flur betrat, und warf sich an seine
Brust.

»O Gott, wie danke ich dir, daß du mich das noch erleben ließest. –
Erwartet mich der Pastor nicht hier?« setzte sie begierig hinzu.

»Nein, mein Kind,« entgegnete Wilms, »ich dachte, wir wollten zuerst
unter uns sein.«

Else nickte: »Ja, du hast recht. Kommt nur schnell in die Stube.« Und
als sie in das große Wohnzimmer eingetreten waren, wo bereits ein
festlicher, mit Blumen geschmückter Tisch ihrer harrte, da umarmte sie
ihre Schwester und küßte sie stürmisch auf den Mund:

»Liebes Heting, das kommt von dir. Nein, wie freue ich mich, daß ich
wieder in meinem eigenen Heim bin. Und noch dazu wieder ganz erholt.« –
Sie stellte sich vor den Spiegel und nahm sich den Hut ab. »Nicht wahr,
Wilms,« fuhr sie hastig fort, »man merkt mir doch gar nichts mehr an?
Ich sehe beinahe wieder so aus, wie zu unserer Hochzeit? – Oder findest
du nicht?«

»Ja, mein Kind,« antwortete Wilms gedrückt, »du hast dich sehr – sehr
erholt.«

Hedwig und er warfen sich dabei einen Blick zu. Beide bemerkten, wie
hektisch rot ihre Wangen gefärbt waren und welch tiefe, blaue Ringe die
Augen der Heimgekehrten umränderten. Ihre Gestalt war leicht nach vorn
geneigt und auch die Schultern vornüber gezogen. Und doch ließ das
schmale Gesichtchen noch immer Spuren einstiger Schönheit erkennen.

Unterdessen hatte Else sich wieder zu ihrem Manne gekehrt, sie legte ihm
beide Hände auf die Brust und rief zwischen Lachen und Weinen:

»Freust du dich denn gar nicht, Wilms, daß ich wieder da bin? Du bist
ja so still.«

Zärtlich hob sie den Mund zu ihm empor und schloß die Augen, als Wilms
sich schwer und wortlos zu ihr niederbeugte. Aber während er es tat,
streifte sein Blick ängstlich die Jüngere. Schweigend wandte sich Hedwig
zum Fenster.

»Und nun wollen wir zu Tisch gehen,« rief Else. »Ihr sollt mal sehen,
wieviel ich jetzt essen kann. Nicht mehr so wie früher.«

Mit diesen Worten ließ sie sich auf das Sofa nieder, wo Hedwig sonst bei
Tisch gesessen hatte, und zog Wilms neben sich.

Die Schwester mußte ihr gegenüber auf einem Stuhl Platz nehmen.

Dann teilte sie selbst in eifriger Geschäftigkeit die Speisen aus, ja
die Heimgekehrte schien an einem Tage alles wieder einholen zu wollen,
was sie in jahrelanger Krankheit in der Wirtschaft verabsäumt hatte. Zum
mindesten wünschte sie dem Gatten ihre frischgewonnene Kraft zu zeigen,
damit er sich daran erfreue.

Und dann begann sie ihre Erlebnisse in der Klinik zu erzählen.

Wilms Stirn verdüsterte sich immer mehr.

Seit Monden schon hatte ihn bei seinem Verkehr mit Hedwig nicht mehr die
leiseste Andeutung daran erinnert, daß sein Heim einmal einem Lazarett
geglichen, in dem nur über Ärzte, Krankheit und Medikamente verhandelt
worden war. Jetzt, während Else umständlich ihre überstandenen Leiden
beschrieb, erhob sich förmlich wieder jener laue Krankheits- und
Verwesungsgeruch, der jahrelang seine Sinne niedergedrückt hatte.

Hilfesuchend sah er auf Hedwig, aber das Mädchen schien aufmerksam
zuzuhören und auch seine Abneigung nicht zu teilen. Das verdarb ihm das
erste Mittagsmahl vollständig. Nur zum Schein hielt er noch Messer und
Gabel in der Hand, ja er dankte Gott, als seine Frau, die trotz ihres
gerühmten Appetites von allem nur flüchtig genippt hatte, endlich die
Tafel aufhob.

»Weißt du, Heting,« sagte sie zur Schwester und klopfte ihr beim
Aufstehen mütterlich die Wange: »Du siehst blaß aus. Gewiß hast du dich
in der letzten Zeit hier überanstrengt. Aber jetzt soll das alles anders
werden. Ach, Wilms, wie glücklich bin ich darüber, daß ich jetzt selbst
wieder alles in die Hand nehmen werde. Und paßt nur auf, wie rasch ich
mich wieder hineinfinde. Dann will ich dich auch ordentlich pflegen,
mein kleines Heting.«

Die Angeredete lächelte wehmütig, und wieder trafen sich ihre und des
Landmanns Augen in einem langen, vielsagenden Blick.

Es war bereits das drittemal, daß sie so stumm und traurig miteinander
sprachen.

Bedrückt und nicht fähig, sich länger zu beherrschen, riß sich endlich
Wilms los. Er verabschiedete sich von seiner Frau, um aufs Feld zu
gehen, die Saat weiter zu beaufsichtigen.

Aber das alte Spiel wiederholte sich, Else haschte rasch nach seiner
Hand.

»Wilms, du willst mich jetzt schon allein lassen?« rief sie mit leisem
Ton des Unmuts, »gleich den ersten Tag, wo ich hier bin?«

Dabei wurden ihre Wangen glühend rot, mit den Zähnen nagte sie an der
Unterlippe. »Das wirst du doch nicht tun, nicht wahr?«

Hier schon war es ersichtlich, daß die Halbgenesene eine Aufregung oder
gar einen Streit nicht würde ertragen können.

Der Landmann blieb stehen.

Das also war seine Zukunft? Sollte er wieder gefesselt werden, daß er
der daherfahrenden Not abermals gebunden und widerstandslos überliefert
war?

Die Angst um seine Existenz, die ihn schon einmal erfüllt hatte, und die
erst seit kurzem gebannt war, von jenem stillen, schweigenden Mädchen
dort, das lähmende Entsetzen wollte ihn von neuem erfassen. Aber nur
einen Augenblick, dann richtete sich der große Mann entschlossen auf,
bereit, endlich, endlich seine Manneswürde gegenüber der Krankheit zu
behaupten.

Jedoch er sollte zu keinem unvorsichtigen Wort gelangen. Hedwig hatte in
seinen Mienen die heftige Bewegung gelesen und rasch eilte sie, ihm zu
helfen.

»Elsing,« erklärte sie mit ihrer freundlichen, aber doch so stolzen
Bestimmtheit, als wenn ein Widerspruch von vornherein ausgeschlossen
wäre, und legte ihr leicht die Hand auf den Arm: »Dein Mann hat für uns
gar keine Zeit weiter, du mußt ihn schon gehen lassen. Es steht zu viel
Geldverlust auf dem Spiel, wenn er in diesen Monaten aufgehalten wird.«

Die Kranke warf der Schwester einen überraschten Blick zu:

»So?« sprach sie dann, noch immer ein wenig spitz, »du scheinst hier ja
schon viel in der Landwirtschaft gelernt zu haben, Hedwig?«

Allein ganz unvermittelt gab sie nach und winkte lächelnd mit der Hand,
daß er sich entfernen solle.

»Geh nur, Wilms – geh. Ihr habt ja recht. Es ist ja wahr. Mir ist es
nur, als ob ich mich jetzt gar nicht von euch trennen könnte – aber geh
nur.«

Da ging Wilms schwerfällig und bedrückt hinaus. Und als er langsam über
seine Felder schritt, auf denen geharkt und gesät wurde, da war ihm weh
zumute, viel schlimmer als damals, als sein Weib auf dem Krankenlager
gelegen. Wie sollte das enden?

Mitten in seiner schweren Arbeit tanzte ihm alles durcheinander. Hedwigs
fragende Augen, ihr herrlicher Wuchs, ihre roten Lippen und daneben
wieder das zarte, nervöse Bild der Heimgekehrten, das sich zärtlich an
ihn schmiegte, um ihn zu küssen.

Er schauderte zusammen, rings lag heißer Sonnendunst auf der Erde, und
doch war es ihm, als hätte eben etwas Kaltes seinen Mund berührt. Ein
heftiger, körperlicher Widerwille beschlich ihn, als er sich an die
Liebkosungen seines Weibes erinnerte.

»Nein – nein – Gott schütz’ mich – bewahr mich davor. – Das darf ich ja
nicht denken – Karl, Jochen,« rief er laut seinen Leuten zu.

Er wollte Menschen um sich haben, um die Gespenster mitten in der
Sonnenglut zu scheuchen.

       *       *       *       *       *

Inzwischen waren die beiden Schwestern allein.

Hedwig riet der Kranken, sie solle sich jetzt etwas niederlegen, allein
Else wollte davon nichts wissen, obwohl ihre Bewegungen seit Wilms
Fortgange sichtlich matter geworden waren.

»Nein, nein, Heting,« lehnte sie hastig ab, »glaub’ mir, das hab’ ich
jetzt nicht mehr nötig. Wir wollen jetzt lieber die Wirtschaft ein
bißchen durchmustern, vor allen Dingen meine Schränke. Darauf freue ich
mich schon wochenlang. Hast du sie auch hübsch in Ordnung gehalten?«

Die andere bejahte leidend und schloß im Wohnzimmer einen Wäscheschrank
auf, aber Else ging das alles zu langsam. In der Hast riß sie der
Jüngeren das Schlüsselbund aus der Hand und lief damit von einem Schrank
zum andern. Überall sah sie hinein. Dann hing sie sich die Schlüssel in
den Gürtel.

»Ich möchte sie jetzt doch lieber wieder selbst behalten,« erklärte sie
Hedwig mit vor Vergnügen gerötetem Gesicht. »Von jetzt an werde ich ja
wieder alles allein beaufsichtigen.« Und sie küßte ihre Schwester
stürmisch auf die Wange: »Nicht wahr, Heting, du freust dich doch
darüber?«

Die Jüngere nickte ernst. Ein wehmütiges Lächeln spielte um ihre Lippen,
als die klappernden Dinger wieder den Gürtel ihrer Schwester schmückten.

Jetzt war sie also abgesetzt, sie kam sich überflüssig vor. Mutlos
blickte sie zu Boden. Dagegen gab es keinen Kampf. Der Aufenthalt im
Zimmer wurde ihr drückend.

»Komm, Else,« nahm sie sich zusammen, »ich habe noch eine Überraschung
für dich. Komm mit.«

Sie gedachte der Heimgekehrten den Platz zu zeigen, der früher mit
wildem Gestrüpp bedeckt gewesen und sich nun unter Hedwigs Hand in einen
blühenden Garten verwandelt hatte.

Sie schritten dorthin.

Und Elses Entzücken war zuerst ganz aufrichtig. Still und selig schlang
sie den Arm um Hedwigs Schulter, und so saßen die beiden Schwestern in
der blühenden Fliederlaube und träumten in den sinkenden, rosigen Tag
hinaus.

Hedwig erinnerte sich an den vergangenen Abend. In ihrem Ohr klang der
silberne Ton wieder, wie gestern, als sich ihr Glas mit dem des
Landmanns berührt hatte.

So würde fortan Else mit ihrem Mann hier sitzen, dachte das Mädchen, sie
aber würde gehen. Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und sah über
die Stachelbeerhecken fort auf die angrenzende weite grüne Wiese hin,
auf der zahllose Schmetterlinge im letzten Abendsonnenschein
herumgaukelten.

»Du bist so still?« fragte Else.

In demselben Augenblick kehrte Wilms zurück. Er freute sich darüber, die
beiden Frauen an der liebgewordenen Stätte zu finden, und erzählte Else,
wie oft sie hier schon gemütlich gespeist hätten. Zum Schluß bat er, daß
auch heute an dieser Gewohnheit festgehalten werde.

Else sah erstaunt zu dem vor ihr Stehenden auf.

»Hier?« fragte sie verwundert. »Aber hier wird es doch bald zu kühl?«

»Bewahre, Elsing,« widerlegte Wilms, »wir haben ja gestern erst mit
Hedwig hier gesessen, sogar bis spät in die Nacht hinein.«

»So?« entgegnete Else gedehnt. Eine leichte Wolke zog über ihre Stirn,
die Falten um ihren Mund prägten sich etwas schärfer aus, es war nur
eine ganz leise Andeutung von Verstimmung und ebenso schnell wieder
entschwunden, wie sie entstanden war.

Noch war kein Argwohn in der Leidenden erwacht.

»Dann habt ihr euch ja in meiner Abwesenheit ganz gut unterhalten,«
meinte sie achselzuckend.

Sie lächelte dabei, wie wenn sie das Ganze für einen Scherz hielte, und
liebkoste die Hand ihrer Schwester. Gleich darauf aber verzog sie die
Schultern.

Eben war die Sonne hinter rotglühenden Streifen verschwunden, ein laues
Lüftchen strich über die Wiesen.

»Mir wird doch zu kalt,« sagte Else matt und erhob sich rasch, »und ich
denke, wir wollen deshalb lieber im Zimmer essen. Dafür sind wir ja auch
alle drei wieder zusammen.«

Sofort erhoben sich auch die andern. Der Wille der Kranken war mächtiger
als ihre eigenen Neigungen. Sitte und Gewohnheit geboten immer dieselbe
rücksichtsvolle Unterordnung.

Sorglich legte ihr Hedwig ein Tuch um die Schultern, Else nahm den Arm
der Jüngeren, und nach all der selbst auferlegten Anstrengung dieses
Tages wandelte sie matt und müde neben der jugendfrischen Führerin her.

Wilms folgte ihnen.

Finster sah er auf die beiden so verschiedenen Gestalten, aber er wagte
keinen Vergleich mehr. Nur am Ausgang des Gartens wandte er sich noch
einmal nach der blühenden Fliederlaube zurück. Ein schwerer Duft wehte
herüber.

»Auch das vorbei,« murmelte Wilms. Verstört riß er sich los. Die
Lebensfreude entfloh von ihm, wie ein vorbeipfeifender Vogel, und der
düstere Geist der Verzweiflung beschattete ihn wieder mit seinen dunklen
Fledermausflügeln.



IX.


Am nächsten Morgen erschien der dicke Kreisphysikus.

Aus seinem äußeren Gebaren konnte man schwer enträtseln, was er von dem
Zustand der Pächterfrau hielt. Er küßte ihr zwar ein paarmal die
Fingerspitzen, aber doch mit Zurückhaltung.

Das war ein seltsames Zeichen, denn Patienten, an denen der beleibte
alte Dr. Rumpf Freude erlebte, beehrte er mit seiner stürmischsten
Zärtlichkeit.

Bei Else jedoch benahm er sich beinahe mitleidig. Er streichelte ihr
nach der Untersuchung das feine blonde Haar aus der Stirn und sagte
begütigend wie zu einem kleinen Kinde:

»Na, es macht sich ja. Aber schonen, mein Kinding, immer hübsch schonen.
Nur recht still, das ist die Hauptsache.«

Damit begab er sich in den Garten, wo Wilms und Hedwig seiner schon
harrten.

»Ja,« meinte er dort mit leisem Kopfschütteln, »es ist ja zum Stillstand
gekommen bei Ihrer Frau, lieber Wilms – wollen ’s Beste hoffen. Aber
keine Aufregungen, hören Sie, davor müssen Sie sie in acht nehmen, ich
sage es Ihnen ausdrücklich, eine Erregung wäre das reine Gift für die
Kranke.«

Als der Physikus kurz nachher vom Hofe heruntergefahren war, blieben der
Pächter und das Mädchen noch einen Augenblick nebeneinander im Garten
stehen.

Tiefe Niedergeschlagenheit malte sich in den ehrlichen Zügen des
Landmanns.

»Heting,« begann er endlich heiser, während er sich scheu umblickte, und
seine Brust hob sich so gewaltsam, als ob er unter Bergesschwere seufze:
»Es ist schrecklich, was mir fortwährend im Kopf herumgeht, aber nicht
wahr, du wirst keinen Abscheu vor mir bekommen? Heting,« er ergriff ihre
Hand und keuchend flüsterte er weiter, als ob’s ein Geheimnis wäre: »Ich
kann das Ungewisse nicht mehr ertragen, es geht über meine Kräfte. Ich
wünschte, es wäre so oder so, biegen oder brechen, entweder sie würde
gesund, oder – sie ginge von uns.«

Dabei stierte er erhobenen Hauptes verzweifelt in den blauen Himmel
hinauf, wie wenn er von dort oben eine tröstende Antwort erwarte.

Aber nichts regte sich, nur der Wind führte Wiesenduft in den Garten
hinein.

Wilms preßte plötzlich mit beiden Händen seinen mächtigen Kopf und
stöhnte laut auf: »Großer Gott – wie kann ich nur an so was denken? – –
Ich bin ja woll selbst schon wahnsinnig geworden – schon wahnsinnig,«
wiederholte er tonlos.

»Warum soll man nicht einen Wunsch hegen?« sprach Hedwig verloren vor
sich hin.

Sie hatte bis jetzt wie ein weißes Marmorbild den Jammer des Mannes, den
sie glücklich machen wollte, mitangesehen, jedoch während sie das letzte
sprach, erweiterten sich ihre großen Augen schreckhaft weit. Regungslos
starrte sie in die Ferne. Etwas Rotes, Blutendes flimmerte ihr dort
undeutlich entgegen, ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und als sie Wilms
noch einmal anblickte, wurde sie leichenblaß.

Entsetzen.

Sie mußte etwas Gräßliches erschaut haben.

Grußlos gingen die beiden auseinander. Bald darauf betrat Wilms das
Wohnzimmer, um sich von seinem Weibe zu verabschieden. Munter und emsig
fand er Else an ihrem Nähtisch sitzen, eifrig damit beschäftigt,
Leinenzeug zusammenzusticheln.

»Wo ist Hedwig?« fragte sie rasch bei seinem Eintritt und hob ihre
hellen Augen.

Wilms stutzte: »Wahrscheinlich in der Küche,« gab er unbeholfen zurück.
Er log. Etwas Unerkanntes, Dunkles zwang ihn dazu.

Sein Weib ließ ihre Arbeit langsam in den Schoß sinken und sah ihn an.
Eben hatte ihr Dörthe, die Obermagd, erzählt, daß sich Hedwig mit dem
Herrn im Garten erginge. Und doch sagte er, daß er mit ihrer Schwester
nicht zusammengetroffen wäre?

Sie atmete rasch, ihre Finger erzitterten ein wenig, in der Hast stach
sie sich mit der Nadel, daß ein kleiner Blutstropfen hervorquoll.

Wilms wollte ihr rasch sein Taschentuch herumwinden. Sie wehrte ihn ab:

»Laß das. – Es macht nichts,« sagte sie fest, obwohl ihre schwache
Stimme leise zitterte. Dann wandte sie sich und schaute eine Zeitlang
still zum Fenster hinaus. Als sie ihrem Mann ihr Antlitz wieder
zukehrte, hatte es seinen alten Ausdruck zurückgewonnen, nur ihre Augen
blickten nachdenklich und grübelnd vor sich hin.

»Adieu Wilms,« sagte sie etwas gezwungen, und nachdem sie sich noch die
Hände gereicht hatten, bat sie ihren Gatten: »Schick’ mir doch Christian
einmal herein. Er soll eine Einladung zu Pastors tragen.«

Wilms stand bereits an der Tür. Er wurde verlegen. »Wen soll ich – –?«
fragte er zögernd.

»Nun den alten Christian.«

»Ach so den – – ja – den – Elsing – den hab’ ich entlassen.«

Wilms wußte, daß er Unrecht auf sich geladen hatte, er hatte den Alten
fortgejagt aus Liebe zu dem schönen Weibe, vor deren Kammer er damals
gestanden. Der Mann hatte ein Menschenalter auf dem Hofe gedient. Der
Schweiß brach ihm aus der Stirn, in seiner Befangenheit scharrte er mit
den Stiefeln auf dem sandbestreuten Estrich der Stube hin und her und
wagte die Augen nicht zu seinem Weibe zu erheben. Aber Else saß zuerst
ganz stumm. »Du hast den alten Christian entlassen?« murmelte sie
endlich ungläubig. »Im Ernst?«

Der Pächter nickte.

Die Kranke fuhr auf: »Aber weißt du denn nicht, daß ich dem Alten
versprochen hatte, er könne hier sein Leben beschließen!« rief sie
entrüstet.

In heftigem Unmut warf sie ihr Leinenzeug von sich und preßte beide
Hände an die Schläfen. Die Augen, die sich immer dunkler umränderten,
begannen krankhaft zu leuchten.

Auch Wilms bemerkte es. Angsterfüllt trat er näher: »Du sollst dich doch
nicht aufregen, Elsing,« bat er atemlos. »Hörst du, mein Kind, nicht
deswegen.«

Allein Elses Geduld war erschöpft. Ein Tränenstrom brach hervor, sie
schleuderte die Schere auf den Fußboden, daß sie klirrte, und war ganz
fassungslos.

»Ich will endlich wissen, was hier hinter meinem Rücken vorgegangen
ist?« rief sie empört, obgleich sie nach Luft rang. »Warum hast du denn
nur den alten Mann entfernt, wie?«

»Weil er sich ausverschämt benommen hat.«

»Gegen dich?«

Da kam die Frage. Wilms stotterte. Das Blut stieg ihm zu Kopfe.

»Gegen mich – Elsing? – Nein, das gerade nicht.«

»Gegen wen denn?«

»Gegen – gegen deine Schwester – gegen Hedwig.«

Else zuckte schmerzhaft zusammen. Dann schnellte sie empor und machte
ein paar widerspruchsvolle Bewegungen.

»Und da hat Hedwig wohl auch verlangt,« schluchzte sie wütend, »daß er
fort soll? – Nicht wahr?«

Jedoch gerade der Ausbruch ihres Zornes verstockte den Landmann. Über
der Nase zogen sich bei ihm ein paar tiefe Falten zusammen:

»Natürlich,« gab er langsam zurück, »auf Hedwigs Wunsch hab’ ich’s dann
getan.«

Da verlor die Leidende allen Halt.

»Aber sie hat hier nichts zu wünschen,« schrie sie jetzt gänzlich
sinnlos. »Was geht dich überhaupt meine Schwester an, während du doch
ganz genau wußtest, daß ich nie und nimmer meine Einwilligung zu dieser
Entlassung geben würde? – Sag mir bloß, was geht dich dabei Hedwig an?«

Sie wollte noch weiter klagen, aber plötzlich brach sie ab, und ihr
Blick richtete sich verwirrt auf ihren Mann.

Was ging so schnell mit ihm vor?

Er sah sie groß an, der ungelenke Riese, als ob er dieses schwache
Frauenbild zum erstenmal sähe. Die Fäuste ballten und öffneten sich
wieder, seltsam schwer ging die Brust.

»Elsing,« kam es dumpf heraus, indem er schwerfällig auf sie zutrat –
»nu is es genug – nu will ich nichts weiter davon hören, du bist krank,
das halt ich dir zugut.«

Wuchtig und nachdrücklich wie nie hatte er gesprochen. Es klang hart
und herb, als ob Steine aufeinander geworfen werden.

Kopfnickend schritt er dann zur Tür. Jedoch eh’ er sie erreicht hatte,
schwankte plötzlich sein Weib auf ihn zu, um mit ihren schwachen Armen
seine Brust zu umklammern:

»Wilms, ich weiß ja nicht, was ich spreche,« stammelte sie halb
ohnmächtig, und in dem blassen Gesicht schlossen sich müde die Augen,
»ich – ich – ach Gott, ich tu’ ja alles aus Liebe zu dir. – Glaubst du
das denn nicht?«

Kraftlos lag sie in seinen Armen, Wilms mußte sie aufheben.

»Ja, ja, das glaub’ ich,« murmelte er durch das eine Wort verwandelt und
bezwungen – »du arme Dirn – komm, Elsing.«

Er trug sie zum Sofa und bettete sie sanft hinauf.

Wie er sich aber zu ihr niederbeugte, warf sie die Arme um seinen Hals
und hob ihre Lippen stürmisch zu den seinen.

»Nicht wahr, du bist wieder gut?« lächelte sie.

»Ja, ja, Elsing.«

Ein heißer Kuß brannte auf seinem Munde. Dann befand er sich draußen
und schritt gebeugter, als je zuvor, seinen Feldern zu.

In einer Furche lag ein Schmetterling, der von einem Sandklos getroffen
war. Mitleidslos stampfte ihn der Landmann mit schwerem Stiefel in die
Erde.

»Dir is wohl,« sprach er rauh.

       *       *       *       *       *

Und dieselbe Hedwig, auf welche die Kranke eben anfing neidisch zu
werden, trat zur Türe herein und brachte der völlig erschöpft Liegenden
eine Tasse Bouillon. Das rührte die Leidende und stimmte sie um. Zwar
flossen noch immer Tränen aus ihren Augen, aber sie zog dennoch das
schöne blühende Mädchen zu sich nieder und streichelte zärtlich sein
braunes, goldig schimmerndes Haar. »Nicht wahr, Heting,« flüsterte sie
kaum vernehmbar, »du bist nicht schlecht zu mir, nicht wahr?« Und sie
hob das Gesicht der Schwester empor und forschte in ihren dunklen,
sprechenden Augen: »Nein, nein, du wirst mir nicht weh tun,« setzte sie
getröstet hinzu.

Später, als Hedwig sie schon wieder verlassen hatte, nahm die Leidende,
die da glaubte genesen zu sein, die Bibel und versuchte, ihre bösen
Gedanken durch die heiligen Worte zu bemeistern. Jedoch verständnislos
überflog sie die breiten Zeilen, und ihre Lippen murmelten allerlei
abgebrochene Laute, die nicht hierher gehörten. Zerstreut erhob sie sich
endlich und schritt mehrmals unsicher durch das weite Zimmer.

»Weshalb er mich wohl belogen hat?« sann sie, ohne eine Antwort finden
zu können. Müde und abgespannt lehnte sie endlich am Fenster und blickte
auf den Hof hinaus, über dem warmer Sonnenschein lag.

Da wurde sie aufmerksam. Welch eine Gestalt saß dort draußen auf dem
Prellstein vor dem Tor? Ein schlotterndes abgelebtes Menschenkind hockte
dort und richtete seine erloschenen Augen unverwandt auf das Gehöft.

Die Spähende beugte sich vor. Das war ja der alte Krischan? Eine
merkwürdige Freude befiel die Leidende. Sie fragte sich nicht, ob es
passend sei, mit dem entlassenen Knecht zu verkehren, hastig, mit
fieberischer Eile lief sie auf ihn zu und berührte seine Schulter.

Mühsam hob der Greis das nickende Haupt, und als er die Frau in dem
einfachen, grauen Kleide erkannte, lief ein schwaches Lächeln über die
vertrockneten Lippen.

Für Else war er stets ein treuer Kettenhund gewesen.

»Arm’ Fru,« sagte er und strich mit seiner welken, zitternden Hand an
ihrem Arm herunter. »Arm’ Fru.«

Das war die Begrüßung.

»Nein, nein,« rief Else laut, damit er sie verstände. »Ich bin nicht
mehr krank, Krischan, ich fühle mich viel wohler.«

»Arm’ Fru,« nickte der Alte unverändert, beinahe mitleidig.

Else erschrak. Was meinte der Taube damit? Ohne Überlegung, mit jähem
Erröten fragte sie ihn, warum er ihre Schwester denn beleidigt hätte?

»Ick?« flüsterte der Alte und hob das Kinn. Dann raffte er sich auf und
keuchte der Wartenden etwas ins Ohr.

Ein paar Worte nur, aber Else taumelte zurück und wurde schneeweiß. Nur
ein paar helle, rote Flecken glühten auf ihren Wangen.

»Du lügst, Krischan,« schrie sie auf. »Das ist nicht wahr.«

Allein der Greis verstand das unglückliche Weib nicht, oder ließ sich
nicht stören. Denn von neuem streichelte er mit seiner Knochenhand über
ihren Arm und brachte mit Anstrengung hervor:

»Arm’ Fru – ne, ne, ick heww’s sülwst seihn, as sei tausamen in’n
Schlidden seten hewwen. De beiden täuben [Fußnote: warten] nu all
ungedüllig.«

»Warten?« stöhnte die Ärmste schwach. Alles drehte sich vor ihr. Sie
mußte sich an die Mauer der Einfahrt lehnen.

»Dat Sei, min arm’ Fru, starwen süllen. Se luren all up den Dod von de
Fru. Dann willen sei sick friegen.«

Ein herzzerreißender Schrei, schrill, kreischend gellte über die
Landstraße und wurde von den Mauern des Pachthauses zurückgeworfen.

Die Gepeinigte glaubte zu ersticken, eine eisige Hand griff nach ihrer
Kehle, das Gesicht des Krüppels tanzte wie hundert Fratzen um sie herum.
Noch gurgelte sie etwas.

»Hilfe – – Hilfe.«

Dann ein dumpfer Fall.

»Arm’ Fru,« ächzte der greise Knecht und beugte sich zu ihr hinab, »arm’
Kinding, sei hed di ümbracht, de anner Dirn.«

       *       *       *       *       *

Aber Else war nicht gestorben.

»Klang das nicht wie ein Hilferuf?« fragte Hedwig die Obermagd, mit der
sie gemeinsam in der Molkerei weilte. Auch Dörthe hatte den schrillen
Ruf vernommen. Als sie nachforschten, fanden sie die Herrin des Hauses
unter dem Unkraut des Grabenbords hingestreckt, weiß wie eine
zertrümmerte Statue, die, in Schmutz und Unrat, der Vergessenheit
anheimgefallen.

Ein zerschlagenes Menschenbild.

Beim Fall hatte sie einen Stein gestreift, eine blutige Narbe zog sich
davon über die Stirn.

Da warf sich das schöne Mädchen in die Knie. Ihr Mund öffnete sich:

»Ist – sie tot – Dörthe?«

Die Magd schrie auf. »Ne, ne, Fräulein, sie bewegt sich ja – heben Sie
ihr den Kopf.«

»Ja, ja – sie lebt,« wiederholte Hedwig erwachend.

Gottlob, was eben vor ihren Ohren gesaust und gebraust hatte, war nicht
wahr. – Sie hatte ihr wohl den Tod gewünscht, aber das war im
Fiebertraum, in einer Vision geschehen. – Sie lebte ja – sie lebte –
Gott sei Dank. Jetzt waren es nur Gedanken gewesen, schlimme Gedanken,
aber kraftlos – großer Gott – sie lebte ja.

Mit starken Armen umfaßte sie den starren, zuckenden Leib und trug ihn,
wankend und zitternd unter der Last, zum Erstaunen der Magd allein, ohne
Hilfe in das große Zimmer. Dort entkleidete sie die Schwester und
bettete sie auf das Lager, das die Hausherrin wieder aufnahm in seine
weißen Kissen.

Ja, die Kranke kehrte zurück in die linnene Gruft.

Ob für immer?

»Nein, dann gab es ja noch die feuchte, die schwarze Ruhestätte, auf der
Blumen blühen,« dachte Hedwig, die wie früher an dem Bett saß und auf
die sich regenden Atemzüge der Kranken lauschte. Und diese Behausung
hatte sie der Schwester gewünscht, grübelte sie weiter, um allein den
Mann zu besitzen, dessen Herz ihr schon gehörte, den sie erzogen,
gebildet, veredelt hatte, und der sich nach ihr sehnte, wie nach der
Erlösung. Der morsche Körper dort sollte im Grabe liegen, und der junge
blühende Leib bei dem geliebten Manne. Sie fuhr auf und blickte nach der
Kranken hin. Inzwischen hatte sie ihre ganze Kraft und Besonnenheit
zurückgewonnen. Sah das wächserne, bleiche Gesicht der Leidenden nicht
schon aus, wie das einer Leiche? – Ja, Hedwig war sich jetzt völlig
klar. Die Kranke unten – sie selbst oben. Das war das Rechte, keine
Sünde, es zu wünschen, nur der Lauf der Natur.

Leise erhob sie sich, um durch das Fenster auf die Landstraße
hinauszuspähen; ob Wilms und der Arzt noch nicht kämen, nach denen sie
sofort geschickt hatte. Dabei mußte sie an dem langen Mahagonispiegel
vorüber. Unwillkürlich blieb sie vor ihm stehen und zog sich die Taille
zurecht.

Das Glas zeigte ein wunderschönes, zur Reife strebendes Weib, ganz dazu
geboren, um zu wirken, zu schaffen und glücklich zu machen. Sie lächelte
schwermütig, als sie sich musterte. Noch sah sie hinein, da befremdete
sie etwas. Auch das Bett hinter ihr spiegelte sich in der Scheibe und
jetzt – täuschte sie sich? nein, die Kissen bewegten sich, die magere
Gestalt richtete sich auf, und ein paar umflorte, düster umschleierte
Augen starrten nach ihr hin.

»Hed – wig,« stöhnte etwas.

Die Gerufene flog zu Else hin und ergriff ihre Hand, die Kranke schaute
sie gläsern an, als suche sie sich zu besinnen.

»Wie komm’ ich hierher?« flüsterte sie und befühlte angsterfüllt die
Kissen des Bettes.

Plötzlich schob sie sich an Hedwigs Brust, stieß jedoch plötzlich die
Schwester mit heftigstem Abscheu von sich.

»Else, ich bin es ja,« rief Hedwig befremdet, »erkennst du mich denn
nicht?«

Allein die Bedauernswerte schien schon zu phantasieren. Sie wälzte sich
stöhnend herum und bedeckte ihre Augen mit einem Kissen, wie wenn sie
dem Anblick der Schwester entfliehen wollte.

»Ja, ich erkenne dich,« wimmerte sie mit so schriller Stimme, daß es die
Jüngere wie mit spitzen Nadeln durchdrang. »Du hast dich hier
eingeschlichen, um mir mein Glück zu stehlen. – Du wartest nur auf
meinen Tod! – – Aber ich sterbe noch nicht – ich mache dir nicht Platz –
ich will leben – hörst du, ich will leben!«

Hedwig verstand, um was es sich handelte. Kalt rann es ihr über den
Rücken hinab. Immer den Blick auf das schluchzende, schmerzzerwühlte
Weib gerichtet, tastete sie sich rückwärts zum Tisch und umklammerte
dort fest die Kante. Auch sie mußte sich halten. Alles schwankte und
fiel in ihr, aber während des Hinstarrens biß sie noch immer die Zähne
trotzig zusammen.

Nie war sie so schön, wie in diesem stummen Ringen mit der Sterbenden.

Da raffte sich die Fiebernde nochmals auf und krallte beide Fäuste nach
der Schwester. Der höchste Paroxysmus war erreicht. Hedwig grauste.
Gespenstisch sah die Verfallene mit dem schwarzen Schatten im Gesicht
bereits aus, als ob eine Tote noch die Fäuste schüttele.

»Geh’ mir aus den Augen,« kreischte das arme Weib – »fort – fort – ich
will dich nicht sehen – du willst mich vergiften –! – Meinen Mann hast
du auch verführt, – heut nacht warst du bei ihm – ich weiß alles – Jesus
Christus, Ehebrecherin du! – Jesus – Erbarmen.« Dann ein langes Röcheln,
und sie fiel ohnmächtig auf ihr Lager zurück.

In demselben Moment betrat Wilms das Zimmer.



X.


Ein sanfter Maientag ging zur Rüste.

Am Horizont lösten sich prachtvolle Farben ab. Ein Spiel von Gelb,
Tiefblau und Rot wogte durcheinander, und durch die Äste der
Fliederlaube fielen die letzten rötlichen Lichter. Ein leises Lüftchen
wehte durch den Garten, sonst atmete alles Beruhigung und Abendstille.

Aber zu dieser friedlichen Umgebung paßte schlecht die wilde Bewegung,
die in dem Pachthause ausgebrochen war.

Scheu und lautlos wie früher schlichen Knechte und Mägde umher, die
Türangeln wurden eingeölt, damit sie die Kranke nicht durch Knarren
störten, alles im Hause hüllte sich wieder in Schweigen, eine dumpfe,
düstere Feierlichkeit drückte abermals auf Menschen und Gehöft herab.

Am Abend war der Kreisphysikus eingetroffen und weilte jetzt allein in
dem großen Wohnzimmer. Immer stiller wurde es im Haus, nur zuweilen
hörte man einen schrillen Wehruf aus der Krankenstube.

In der Fliederlaube aber saßen zwei schweigsame Menschen, die fuhren
zusammen, wenn solch ein klagender Laut heraustönte, und hielten den
Atem an, ob er sich nicht wiederhole.

Immer heimlicher und dämmernder wurde es um sie herum, hinter Baum und
Strauch quollen lichte, weiße Nebel hervor, und die beiden verängsteten
Menschen konnten kaum noch ihre Züge erkennen.

»Heting, nun geh zu meiner Frau,« forderte endlich der Pächter
undeutlich, indem er noch tiefer in den Schatten der Laube rückte, »und
sieh dich um, warum der Doktor gar nicht zurückkommt.«

Damit sank die große Gestalt wieder in sich zusammen und brütete so
verloren vor sich hin, daß der Landmann nicht bemerkte, wie Hedwig
seinem Wunsch nicht Folge leistete, sondern still neben ihm sitzen
blieb.

Endlich strich sie sich das Haar aus der Stirn. Das gewahrte Wilms.

»Hedwig, wolltest du nicht – –?«

»Nein, Schwager, ich gehe nicht zu deiner Frau.«

»Du – gehst nicht?«

»Nein – nicht – bitte, Wilms – laß mich nicht mehr hinein.«

»Ja – aber – Heting, warum denn?«

»Weil – weil ich mich vor ihr fürchte,« kam es bebend über ihre Lippen.

Der Pächter starrte sie an – verständnislos – und faßte sich an den
Kopf.

Noch wußte der Hofpächter ja nicht, was sich heute morgen zwischen den
beiden Schwestern abgespielt hatte. Schweigend hatte Hedwig alles in
sich verschlossen; der zartfühlende, weichherzige Mann brauchte es ja
nicht zu erfahren, daß sie entdeckt seien, daß ihre heimliche Sehnsucht,
die sich noch niemals geäußert, die noch Wunsch war ohne Erfüllung, daß
diese bereits belauert und verflucht sei von der Scheidenden, die sie
nun bald nicht mehr stören würde.

Alles wollte sie kalt und stolz von ihm fernhalten, um selbst zu harren
und zu lauern, bis die Erlösung endlich da wäre – der Anfang des Glücks.

Aber jetzt – jetzt, wenn die wilden Wehlaute herausdrangen bis in den
stillen Garten, dann ertrug sie es nicht. Dann schreckte sie zusammen
und zitterte. Wie Eis lag es ihr ums Herz. War sie wirklich schuld, daß
ein Menschenleben dort drinnen scheiden mußte? Hatte sie wirklich eine
Verzweifelte in den Tod getrieben?

Wieder schlug ein Schmerzensschrei an ihr Ohr.

Das überwältigte sie, dem war sie nicht gewachsen, alles schrie in ihr
nach Trost – Ruhe – Verzeihung.

Ein Wort der Liebe entbehrte sie, ein einziges Wort von dem Manne, dem
sie ihre Jugend schenken wollte, dem sie sich hingeben wollte,
bedingungslos, jetzt, wo es auch immer sei, weil er sie mit seiner
dumpfen Hilflosigkeit von Anfang an betört hatte.

Aber der Pächter saß verstört da und regte sich nicht.

Da ließ Hedwig mutlos die Hände in den Schoß sinken und verzweifelt
murmelte sie:

»Ich wünschte, ich wäre es, die sich zur ewigen Ruhe legen könnte, und
bei euch bliebe alles beim alten. – Ich stürbe so gern.«

Aber der Tod hatte noch keine Gewalt über sie, das Leben schlug vielmehr
brausend über ihr zusammen.

Wilms packte krampfhaft ihre Hand: »Du – Heting?« stammelte er, »nein,
nein – nur nicht du – das könnt’ ich nicht ertragen – nur du nicht – wir
wollen ja zusammen bleiben.« Er umklammerte sie und drückte sie an sich.

Und dann war es plötzlich da, was sich seit Monden näher und näher
geschlichen hatte.

Ohne Übergang fühlte sie seine zuckenden Lippen auf den ihren, sie
schlang ihre Arme um den gewaltigen Nacken des Mannes und unter
schmerzhaften Küssen merkte sie, wie seine Tränen ihr Gesicht netzten.
Auch sie schluchzte. Als ob sie sich trösten wollten, lagen sie einander
in den Armen.

Es war kein freudiges Finden.

       *       *       *       *       *

In dem weiten, ungemütlichen Wohnzimmer war es inzwischen stiller
geworden. Der dicke Kreisphysikus hatte seine Untersuchung beendet und
die Schwerleidende schonend befragt, durch was sie denn so plötzlich in
Erregung versetzt worden wäre. Lange hatte das matte Weib seinem Drängen
widerstanden, endlich jedoch, als der alte Herr sie gar so väterlich und
gut in die Arme nahm, faßte sie sich ein Herz, und wie ein kleines Kind
an den alten Freund geschmiegt, flüsterte sie ihm stockend und weinend
ihre entsetzliche Entdeckung zu.

»O, Gott, das hätt’ ich nicht geglaubt – aber es ist wahr, Herr Doktor,
Krischan hat es selbst gesehen.«

Der alte Arzt schüttelte den Kopf und redete ihr aus voller Überzeugung
solche Vermutungen aus. »Ach, Unsinn – mein Kinding – Gesindegeklätsch.«

»Wirklich?« hauchte sie schwach. Aus ihren Augen brach ein
Hoffnungsstrahl.

»Selbstverständlich – da kenn’ ich die beiden zu gut.«

»Ach, ja,« flüsterte die Liegende dankbar, dann hob sie den müden Blick
zur Decke empor, auf welche die brennende Lampe ihren gelben Kreis warf,
und drückte dem Physikus zum Schluß die Hand, »ich glaube es ja auch
nicht,« sagte sie mit zuckenden Lippen, »nein, ich glaub’ es nicht –
glaub’ es nicht.«

Wilms trat ein.

Sein Weib lächelte ihn an und bewegte die Lippen. Jedoch es war
unverständlich, was sie verlangte.

Der Arzt beugte sich über sie.

»Wilms, Ihre Frau wünscht auch ihre Schwester zu sehen,« erklärte er
sodann und begab sich selbst in den Garten, um das Mädchen zu holen. In
der Laube traf er sie. Es herrschte schon Finsternis.

»Nach mir verlangt Else?« sprach Hedwig verwirrt, aber den langjährigen
Freund durfte sie die Unruhe, die in ihr stürmte, nicht merken lassen.
»Ja, wir wollen zu ihr.«

Welch ein Gang. Noch brannten die ersten Küsse auf ihrem Munde, noch
wußte sie nicht, wie das alles möglich war, und was nun folgen sollte.

»Wird sie noch lange leiden?« forschte sie atemlos.

Ob der kleine Physikus den nachzitternden Wunsch aus dieser Frage
herausgehört hatte? Vor dem Hausflur blieb er stehen und strich ihr
gedankenvoll über die welligen Haare.

»Ja, sie kann noch sehr lange leiden,« gab er halblaut zurück, »und
deshalb – Heting, ich glaube, es wäre gut, wenn du jetzt dauernd von
hier fortgingst.«

»Ich?« Sie erschrak; – wußte er schon etwas?

»Der Aufenthalt hier ist dir nicht gut bekommen. Du kamst hier als eine
Dame an, und – ich weiß nicht, aber du hast hier draußen etwas Hartes,
Bäuerisches angenommen, und – es wäre wirklich für alle gut, verstehst
du,« brach er ab, »wenn du zu deinem Vater zurückgingst.«

Keine Antwort.

Starr und groß blickte das Mädchen durch die Dunkelheit zu dem alten
Freunde hinüber. Es war ihr zumute, als sollte sie ihm jetzt um den Hals
stürzen, um ihm all ihre peinigenden Gedanken, die gierig um den Tod der
eigenen Schwester herumflatterten, zu beichten und anzuvertrauen. Aber
noch war ihre Kraft nicht erschöpft.

Sie faßte sich und gab dem Doktor ruhig zur Antwort: »Es ist vor allen
Dingen meine Pflicht, hierzubleiben, solange Else mich nötig hat. – Ich
danke Ihnen aber für Ihren Ratschlag,« setzte sie beklommen hinzu,
während sie schon durch den Flur schritten.

»Es war gut gemeint,« sprach der kleine Physikus nachdrücklich.

Die Ansicht über die Unschuld des Mädchens stand nicht mehr so
felsenfest bei ihm. Er maß seine Begleiterin mit einem mißtrauischen
Blick.

Sie traten ein.

An dem Bette der Kranken saß Wilms, das Haupt mit den kurzgeschorenen
blonden Haaren tief auf die Brust gesenkt. Er hob es auch nicht, als er
den Schritt des Mädchens hörte. Seine große Hand ruhte in der seines
Weibes.

Die Trostesworte des Arztes mußten der Hingestreckten Linderung
verschafft haben, denn sie lag jetzt still und nickte Hedwig eifrig zu,
näher heranzukommen.

Die Jüngere gehorchte. Dabei empfand sie, daß die Blicke der Kranken sie
durchdrangen, und obwohl es ihr schien, als ob der silberne Ring, den
ihr Wilms geschenkt hatte, jetzt an ihrem Finger weißglühend würde, und
trotzdem sie glaubte, ihre Lippen würden nun von selbst die heimlichen
Küsse bekennen, so bezwang sie sich dennoch und sah die Kranke groß und
ruhig an.

Nur ihre Brust hob sich ängstlich. Die Blicke der beiden Schwestern
trafen sich, und als Else in diese stillen, braunen Augen hineinsah,
schien sie Beruhigung zu schöpfen. Wenigstens zog sie Hedwig bis auf den
Bettrand nieder und streichelte ihr stumm die Wange. Aber im
Niederbeugen streifte Hedwigs Gewand den sitzenden Wilms. Ein Schlag
durchzuckte das junge, aufgeregte Weib. Wieder war ein Moment gekommen,
wo sie sich beinahe über die Leidende geworfen hätte, um die Last von
sich zu werfen und all ihre Schuld zu gestehen. Aber der Aufbruch des
Arztes drängte sich zwischen ihre Gedanken. Nachdem der Physikus dem
Pächter noch einige Verhaltungsmaßregeln erteilt hatte, verabschiedete
sich der treue Hausfreund, und bald verkündete ein leises Rollen, daß er
vom Hofe heruntergefahren sei.

Die drei bedrückten und beladenen Menschen blieben allein. Tiefes,
anhaltendes Schweigen herrschte, nur zuweilen knirschte der Sand auf dem
Fußboden, oder die Uhr in dem Kasten regte sich und schlug. Die Kranke
lag und hatte die Augen geschlossen, aber unter den gesenkten Wimpern
lenkte sie heimlich ihren Blick von Wilms auf Hedwig und von dem Mädchen
wieder spähend auf den Mann.

Doch ihrem Argwohn wurde keine Nahrung zugeführt.

Die beiden saßen sich gegenüber, als wären sie sich völlig fremd und
gleichgültig.

»Sollte der alte Knecht nur aus Haß gesprochen haben?« dachte Else
erleichtert, »ach, wenn das doch wahr wäre.« Eine lange Zeit verging. Da
bemerkte Else, die nach Art der Kranken nervös mit dem kleinen Goldherz
auf ihrer Brust spielte, wie ihre Schwester sich hinüberbeugte, als
wünsche sie mit dem gänzlich in sich versunkenen Manne zu reden.

»Nein – nein.« Das wollte die Leidende nicht. Mitten in ihrer Qual wurde
sie eifersüchtig auf die junge Schönheit, die so ruhig auf dem Bettrand
saß in ihrem weißen, mit Rosenknöspchen gemusterten Kleide, das leicht
und knapp am Körper herunterfloß.

Wie voll sie erblüht war. – Nein, nein, sie sollte mit Wilms nicht
reden. Else wollte allein sein mit ihrem Manne. Und jetzt fiel ihr auch
auf, wie sonderbar Hedwig das Goldherz betrachtete. Das flößte der
Kranken Furcht ein.

»Das Herz – ist – ein Andenken – von Wilms,« brachte sie mit
Anstrengung hervor, indem sie das winzige Kleinod küßte, »und nun,
Hedwig – geh’ schlafen. – Wilms soll heut bei mir bleiben – ich – ich
will allein sein mit – meinem Manne – hörst du?«

Es war so bezeichnend gesprochen und von so unverkennbarer Abneigung
begleitet, daß Hedwig sich rasch erhob und ohne ein weiteres Wort aus
der dumpfen Krankenstube hinauseilte. Kaum war sie draußen, so atmete
sie erleichtert auf und flog in ihr Kämmerchen empor, das sie seit Elses
Rückkunft wieder bewohnte.

Dort oben entzündete sie Licht, öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus
und sog den warmen betäubenden Nachtduft ein, der von Wiesen und Äckern
herüberquoll.

»Wie lange mag sie wohl noch leben?« ging es wieder ungeduldig durch
ihre Sinne. Sie harrte jetzt schon wie eine Verzweifelte. Und während
sie bereits halb entkleidet auf ihrem Bette kniete, streckte sie noch
einmal sehnend die Arme aus, als wollte sie jemand umfangen,
unauflöslich an ihrer Brust verstricken. Glut und Begehren schwemmten
alle Angst fort. Wild, ohne alle Eindämmung, lag sie im Bette und
lauschte, ob nicht Wilms kommen würde, ihr das Abscheiden der
Verfallenen zu melden.

Ein längstvergessener Liedvers fiel ihr ein. Den summte sie in ihrer
Aufregung vor sich hin:

    »Der schwarze Reiter hält vorm Haus.
    Komm’ feine Frau zu mir heraus,
    Ein Hemd genügt – mußt eilen,
    Daß ich vom ersten Morgenstrahl
    Zurück bin über See und Tal;
    Wir reiten viele Meilen.«

Aber der schwarze Reiter hielt noch nicht vor dem Pachthof, das
Stundenglas rann noch weiter.

       *       *       *       *       *

Es schlug eins.

Die Kranke regte sich. Mit feuchter Hand hielt sie noch immer die Rechte
des Gatten umspannt. »Wilms,« flüsterte sie heiser.

Aufgescheucht fuhr der Pächter empor. In seiner Betäubung hatte er dem
Schlummer nachgegeben und merkte erst jetzt, daß die erloschnen Augen
seiner Frau schon lange stumpf und starr auf ihm ruhen mußten.

»Was willst du, Elsing?«

»Ich glaube – es geht bald – mit mir zu Ende,« röchelte sein Weib, und
es klang, als ob ihr der Tod bereits auf der Brust säße.

»Elsing – um Gottes willen – bist du denn kränker geworden?«

»Ja, ich glaub’ wohl. – Wilms – ich dank’ dir auch für alle Liebe – – –
nur zuletzt – aber sag’ mir die Wahrheit; du hast mich nie belogen: –
Wenn ich nun gestorben bin – willst – willst du dann Hedwig heiraten?«

Es war schon, wie wenn die Stimme von jenseits des Grabes dränge, der
Pächter umklammerte die Lehne seines Stuhls, er konnte kein Wort
hervorbringen, die Zunge klebte ihm am Gaumen, seiner selbst kaum
mächtig, schüttelte er nur den Kopf, während das Bild der immer mehr
sich verfärbenden Frau seine ganze Seele gefangen nahm.

Langsam hob die Scheidende den Finger und bewegte ihn, wie man einem
kleinen Kinde droht. Dann winkte sie ihm, er solle sich über sie beugen,
und während sie den plumpen Mann mit verendender Leidenschaft küßte,
flüsterte sie ihm vernehmlich zu: »Hör’ auf mich – Hedwig ist nichts für
dich – ihr paßt nicht zusammen, – weil – ach, weil sie viel mehr ist
als du – und erinnere dich, mein armer Mann – erinnerst du dich nicht –
was ich dir – von Hedwig und dem Grafen damals erzählte –« Ein
befriedigtes Lächeln spielte kaum merklich um die Lippen der Liegenden,
diese letzte Rache schien ihr wohlzutun, namentlich als sie empfand, daß
ihr Mann getroffen zusammenzuckte. Noch einmal öffnete sie die Augen, um
dies Bild voll zu genießen, dann hauchte sie noch: »Sie ist nicht rein –
nicht so, wie ich – wie ich – – wie – –«

Die Worte verklangen im Wesenlosen, eine neue Ohnmacht nahm sie hinweg,
und nur auf Momente erwachte die Gequälte wieder und schrie laut auf.
Kaltes Entsetzen hatte Wilms gepackt, nein, er vermochte es nicht mehr,
mit der Ringenden allein zu bleiben. Er sprang zur Tür und schallend
rief er durch das Haus: »Hedwig – Hedwig.«

Schlaflos lag das Mädchen noch oben in ihrer Kammer, denn sie erwartete
ja etwas Ähnliches, daß Wilms ihr ein Zeichen geben würde.

Ob das schon das Ende war?

Eine nie gefühlte Lust durchdrang sie, ein schauerlich schöner Zustand,
und doch klopfte ihr Herz wie eine Glocke, und die Angst übergoß sie mit
schüttelndem Frost. Es war ihr, als fühlte sie Todeswehen um sich, als
flöhe die Seele der Geschiedenen eben an ihr vorbei.

»Hedwig – Hedwig.«

Es klang so flehentlich. Notdürftig hüllte sie sich in Kleider und fuhr
lautlos die Treppe hinab. Am untersten Absatz stand Wilms und starrte
hinauf.

»Ist sie nun tot?« fragte Hedwig, sich gänzlich vergessend.

Der Landmann schüttelte den Kopf, jedoch er begriff sie wohl nicht.

»Noch nicht,« gab er tonlos zurück – »aber ich kann nicht mehr mit ihr
allein bleiben, – komm’ rein.« Er öffnete und ließ das Mädchen
voranschreiten. Dann setzten sie sich dicht nebeneinander an das Fenster
und sahen wortlos zu dem gefolterten Körper hinüber, der nicht leben und
nicht sterben konnte. Dieses jammervolle Bild konnte die Jüngere nicht
ertragen. Instinktiv, und nur ihrem stärksten Trieb folgend, überall
einzugreifen, nahm sie das Fläschchen mit dem giftigen Beruhigungsmittel,
und ließ die Tropfen in den Löffel herabträufeln. Mechanisch zählte
Wilms mit. – Fünf – sechs – sieben.« Das Mädchen setzte ab und flößte
der Leidenden den Trank ein, wonach sie bald einem bleiernen Schlaf
anheimfiel.

Aber Wilms Gedanken flogen weiter. Wär’s ein Verbrechen gewesen, wenn
man der Kranken die ganze Flasche gereicht hätte? grübelte er. Dann
hätte sie endlich die Erlösung gefunden, sie wäre eingeschlummert, um
nicht mehr aufzuwachen, und Ruhe wäre in das Haus eingezogen und
Frieden.

Ein scheuer Seitenblick streifte das Mädchen, das müde neben ihm saß,
und jetzt merkte der Pächter erst, wie fest sie sich an ihn lehnte, um
keinen Blick von der Ruhenden zu verwenden. Merkwürdig – Hedwigs Lippen
bewegten sich leise, es war, als ob sie die Atemzüge der Schwester
zähle. Und in diesen Minuten der Stille sah auch der Pächter, daß sie
nur locker und leicht bekleidet war, überall schimmerte ihm ihre
Schönheit entgegen. Er bedeckte die Augen mit der Hand, um es nicht zu
beachten, aber er sah es doch. Die Frau, die sich dort immer tiefer in
den Schlaf hineinwiegte, war im Augenblick, als ob sie schon versunken
und vergessen wäre.

Leise und weich schmiegte sich Hedwig an ihn, als ob sie einschlummern
wollte.

Beide Schwestern waren müde, sehr müde.

Wilms wurde immer seltsamer zumute. Da wurde leise an der Haustür
geklopft.

Als der Pächter öffnete, sah er draußen in der klaren, sternenhellen
Nacht Pastor Schirmer im vollen Ornat stehen, nach welchem Wilms auf
der Sterbenden Wunsch geschickt hatte.

Schweigend führte er den späten Gast ins Wohnzimmer. Der Geistliche
mußte irgendwo im Vorüberwandern einen Zweig blühend roten Rotdorns
abgepflückt haben. Den legte er als letzte Gabe auf das weiße Linnen.
Dann wurde das Kruzifix vor das Bett gerückt, die Lichter angesteckt,
und das zitternde Männchen wollte der Schlummertrunkenen die
Sterbesakramente spenden. Jedoch still und starr lag die Wegbereite und
hörte nichts von dem, was sie sonst leidenschaftlich in sich aufgenommen
hätte. Aber die Gebete, die der Geistliche statt der heiligen Handlung
vor sich hinmurmelte, waren doch nicht in den Wind gesprochen. Wenn es
der einen Schwester auch verloren ging, die jüngere und schönere folgte
seit langer Zeit zum erstenmal einer kirchlichen Handlung mit
zurückgehaltenem Atem und brennenden Augen.

Es war ihr, als wären dies die Hochzeitsweisen, die für sie und den Mann
neben ihr gehalten würden – dicht neben dem Lager der Scheidenden.

»Amen, – Amen,« schloß der Priester.

»Amen,« wiederholte Hedwig fest und mutig.

Der Pastor wollte allein bei Else bleiben, und so gingen die beiden
andern still hinaus. Vor der Tür verharrten sie noch einen Augenblick
und lauschten zurück. Drinnen hörten sie, wie der Priester mit lauter,
erregter Stimme Gebete aufsagte.

Dann trennten sie sich, ohne sich die Hand zu reichen, ja, ohne Gruß. So
hoch war schon die Spannung zwischen ihnen gestiegen, daß sie sich
nichts mehr zu sagen hatten.

Es war nur noch ein Hindrängen.

Müde und gleichgültig suchte Hedwig ihr Lager auf, und Wilms wachte in
der dunklen guten Stube neben Elsens Zimmer die bange, traurige Nacht
durch.

Drinnen sang das zitternde, greise Männchen immer hingebungsvoller, und
was ärztliche Kunst nie vermocht hätte, das geschah hier.

Else schlug plötzlich die müden Augen auf, und ein seliges Lächeln
verbreitete sich über ihr ganzes Gesicht. Das Tiefste in ihrem Leben war
getroffen und klang jetzt aus. Ja, sie wollte wie ein Kind Gottes, wie
eine Fromme sterben. Mit unsäglicher Mühe richtete sie sich auf und
klammerte sich vor Freude weinend an den Geistlichen: »Sie – sind – es,
Herr Pastor?« hauchte sie, »o, wie schön – – dann ist mir wohl – o, so
wohl –«

Und sie legte ihren Kopf andächtig gegen das weiße Greisenhaupt, und
während sie durch das Fenster zu den hellflimmernden Sternen hinaufsah,
sang sie ganz leise mit ersterbender Stimme das Auferstehungslied mit:

    »O selig, der das Heil erwirbt,
    Der in dem Herrn, dem Mittler stirbt!
    O selig, wer, vom Laufe matt,
    Die Gottesstadt,
    Die droben ist, gefunden hat.

    Nun, Tor des Friedens öffne dich:
    Hinein! Hier schließt die Wallfahrt sich.
    Ihr Schlafenden im Friedensreich,
    Gönnt allzugleich
    Auch mir ein Räumlein neben euch.«

Im dunklen Nebenzimmer saß ein Mann und hörte alles, was sich drinnen
begab. – Wehmut, Verzweiflung, Leidenschaft stiegen in ihm auf, ein
krampfhaftes Schluchzen drängte sich in seine Kehle; bebend, überwältigt
faltete er die Hände und stammelte das nach, was zu ihm hereinschallte.

Er wußte nicht mehr, was er betete.



XI.


Der letzte Morgen für die Kranke brach an.

Pastor Schirmer, der gutmütige, greise Geistliche, hatte seinem
Pfarrkind versprochen, bei ihm auszuhalten, und so fand das einströmende
Tageslicht die blonde Frau in einem tiefen Schlaf, aus dem sie erquickt
erwachte. Zu seinem Erstaunen erfuhr der Pastor, daß die Leidende sich
wohler fühle. Nur das, was sie sprach, erschien ihm gereizt, wirr,
unzusammenhängend, auch funkelten die Augen unruhig über alle
Gegenstände im Zimmer umher. Ihre mageren Finger befanden sich in
beständiger Bewegung und kratzten auf der Bettdecke auf und ab.

»Hedwig – soll kommen – und mich kämmen – und waschen,« verlangte die
Kranke dann, »und soll – einen Spiegel mitbringen.«

Der Geistliche schüttelte besorgt das Haupt, aber er schickte doch nach
dem Mädchen hinauf, um sich dann selbst mit herzlichen Worten zu
verabschieden.

Wilms trat leise in das Wohnzimmer, jedoch sein Weib beachtete ihn gar
nicht und erst, als er ihr scheu »Guten Morgen, Elsing« bot, lächelte
sie sanft und sah vor sich nieder. Sie schien sich mit ihren Gedanken
kurz nach ihrer Hochzeit zu befinden, denn sie flüsterte verschämt:

»Wenn ich – ein Kind bekomm’, – und es – wird ein Mädchen, dann – soll
Hedwig – Pate stehen. – – Ist Hedwig noch nicht da?«

Und immer in tiefen Gedanken löste sie ihr Haar, nahm es nach vorn und
wickelte eine Strähne um ihren Finger. Als Hedwig endlich erschien,
blickten sich die beiden Schwestern einen Moment lang seltsam an. Else
sanft und glückselig lächelnd, die Jüngere hingegen erschrak und konnte
sich das Bild nicht erklären.

»Komm’, Heting,« flüsterte die Kranke, die von allen Schmerzen befreit
schien, »waschen und – kämmen – das viele Haar drückt mich auf den Kopf
– hast du auch so weiches Haar? – Sieh mal, ich kann mich ganz drin
einwickeln – Wilms freute sich immer damit – – – Heting« – hier herzte
sie die jüngere Schwester zärtlich und streichelte ihr die Wange, »wenn
du seine Frau bist, mußt du es auch immer aufmachen. – Dann küßt er
es. –« – Und während sie mit ihrem fahlen Gesicht in den Spiegel sah,
summte sie:

    »Ihr Schlafenden im Friedensreich
    Gönnt allzugleich
    Auch mir ein Räumlein neben euch.«

Aber es war eine Tanzmelodie, wonach sie sang, und sie machte ihrem
Spiegelbild ein neckisches Gesicht, als ob sie sich sehr schön fände.

Kalt durchschauert blickten die beiden anderen auf sie hin. Dies war das
Furchtbarste, was sie mit der Leidenden bis jetzt durchgemacht hatten.

Hedwig erfüllte mit leichter Hand alle Wünsche der Kranken, bis die
Schwester plötzlich zusammenfuhr, um das Mädchen starr anzublicken.

Sie hatte etwas entdeckt.

Dann schaute sie wieder auf Hedwigs Finger hinunter, um endlich von
neuem ihre funkelnden Augen über ihre Pflegerin gleiten zu lassen.

Einen Moment sann sie nach.

»Heting,« begann sie mit singender Stimme, »was trägst du da für einen
Ring? – sieh mal, von Silber – den wollte mein Mann mir ja immer
schenken, und nun hat er ihn dir gegeben – – sieh mal – bist du nun
seine Braut?«

»Else – laß meinen Finger – es tut mir weh.«

»Bist du seine Braut? – Komm’, Heting, ich will dir was sagen,« sie
beugte sich herab und kreischte plötzlich mit schneidender Stimme:
»Ehebrecherin!« – Ehe der entsetzte Mann das Mädchen noch von den
umklammernden Griffen befreien konnte, führte die Rasende die Hand
Hedwigs zum Munde und biß, wie laut die Vergewaltigte auch schrie, in
den Ringfinger hinein und kratzte sie und zerrte sie an den Haaren.

»Hilfe – Hilfe,« rief Wilms. Mit einem Sprung war er am Bett, hob das
Mädchen hoch in die Höhe und schleppte die Halbbetäubte ins Nebenzimmer
hinein. Sie zitterte am ganzen Leibe und schlang schluchzend und Hilfe
flehend die Arme um seinen Hals.

Da vergaß sich Wilms.

Er raffte das Mädchen, das er noch immer trug, an sich und voll wehen
Mitleids preßte er ihr wütende Küsse auf Mund, Stirn und Hände, als
müsse er alles gut machen, was eben an der Mißhandelten verschuldet war.

»Heting, mein liebes Heting – großer Gott – wenn’s nur schon vorüber
wär’.«

Und seinem Wunsch sollte Erfüllung werden. Ein seltsam verröchelnder
Laut tönte hinter ihnen auf, Else war, als man ihr die Jüngere geraubt
hatte, ihrem kranken, delirierenden Gehirn nachgebend, aus dem Bett
gesprungen, hatte mit nackten Füßen die anstoßende Tür erreicht und
geöffnet.

Da sah sie das Bild und hörte die Küsse.

Langsam legte sie ihren Arm an das kalte Holz, machte mit der andern
Hand eine matte Bewegung in die Luft hinein, und neigte darauf ihr Haupt
wie müde, gegen den erhobenen Arm zurück.

Und sie hatte auch genug geschaut.

Ein Röcheln, ein schwerer, dumpfer Fall, die Augen schlossen sich, und
im weißen Hemde lag eine Leiche auf dem Estrich.

»Elsing – sie stirbt.«

Keine Antwort.

Da schleuderte der Landmann das Mädchen von sich und stierte wie
geistesabwesend auf die starre Hülle seines Weibes herab.

In der Kastenuhr schlug es die zehnte Morgenstunde, ein Pferd wieherte
gerade im Stall.

Der schwarze Reiter hatte die feine Frau im weißen Hemde geholt und
jagte donnernd mit ihr über die Brücke, die in die Ewigkeit
hinüberführt.

       *       *       *       *       *

Es war nach dem Begräbnis.

Die Leidtragenden hatten sich entfernt, und nun wollte sich auch der
Rendant Schröder, der Vater der beiden Schwestern, verabschieden. Er sah
der Verstorbenen sehr ähnlich, der alte Herr, trotz seines würdigen,
schwarzen Gehrocks, des militärisch gescheitelten schneeweißen Haars,
und der winzigen Ordensrosette im Knopfloch. Traurig ging er auf Wilms
zu, der teilnahmslos in der Sofaecke saß, und drückte ihm schwermütig
die Hand: »Gott hat Schweres über uns verhängt,« sagte er unsicher, »wir
müssen uns aber in seinen Willen fügen, mein Sohn – ich hätt’ auch nicht
geglaubt, daß ich das noch erleben würde.«

Damit zog er ein weißes Taschentuch und weinte bitterlich hinein.
Allmählich ermannte er sich und wandte sich an Hedwig, die
schwarzgekleidet am Fenster saß und träumerisch über den Hof fort auf
die sonnige Landstraße hinausblickte.

»Komm, Heting, mein Wagen hält schon draußen, deine Sachen können dir
nachgeschickt werden. Ich will jetzt wenigstens meine Einzige um mich
haben.«

Sie sollte fort?

Eine lähmende Verwunderung erfüllte das Mädchen; an diese Möglichkeit
hatte sie gar nicht gedacht. – Und doch, es war ja so natürlich, sie
konnte doch vor den Augen der Welt nicht allein mit dem Mann im öden
Pachthof bleiben.

Sie erhob sich. Unterstützung heischend, sah sie zu Wilms herüber.

Aber der rührte sich nicht. Er empfand nicht, wie schön sie war, immer
mit demselben unbeweglichen Gesicht saß er geduckt in seiner Ecke und
sah schweigend und gleichgültig vor sich hin. Mit der gleichen Miene
hatte er in den letzten Tagen alles an sich vorüberziehen lassen. Den
Sarg, die Leiche, die brennenden Lichter, die singenden Dorfkinder, den
alten würdigen gebeugten Vater, die in die Gruft polternden Erdschollen,
nichts hatte dieses stumpfe, gelassene Schweigen zu brechen vermocht.

Aber jetzt – jetzt, wo man ihm die Geliebte entreißen wollte – da
erwartete Hedwig, und ihre Augen begannen immer sehnsuchtsvoller zu
leuchten – jetzt mußte er doch alle Erinnerungen von sich werfen, um
sich das Weib seiner Wahl nicht nehmen zu lassen.

O, sie war ja überzeugt, nun würde er aufflammen, nun – – sie horchte
und wartete, allein immer dasselbe Schweigen.

Sie scharrte ungeduldig mit dem Fuß.

»Wilms,« sagte sie leise.

Jedoch der Mann in der Ecke bewegte sich gar nicht, düstere Bilder
mußten vor seiner Seele stehen, denn er wandte den Kopf und starrte auf
die Stelle, wo Else im weißen Hemde gelegen hatte. Dann schauerte er
zusammen.

»Komm, Heting,« drängte der Vater. »Es wird nun Zeit, wenn wir noch vor
Abend zurück sein wollen.«

Der alte Herr griff nach seinem Hut und sah sich noch einmal still und
betrübt in dem weiten Zimmer um, wo seine Tochter gestorben war.

Da tat das Mädchen einen tiefen Atemzug, ihre ganze Gestalt reckte sich:
»Vater,« entgegnete sie rasch und bestimmt, »ich kann dich jetzt nicht
begleiten, ich muß noch etwa eine Woche hier bleiben, weil ich Wilms
versprochen habe, ihm alles in der Wirtschaft zu zählen und instand zu
setzen, was durch Elses Krankheit in Unordnung geraten ist. Aber dann« –
und wieder atmete sie seltsam schwer – »dann komm’ ich dir nach.«

Der Rendant stutzte. »Eine Woche noch?« wiederholte er verlegen und
putzte an seinem Zylinder. »So? – Mein Sohn,« kehrte er sich fragend zu
dem Landmann, »wäre es dir lieber, wenn Hedwig noch – noch hier bliebe?
Ja?« Er wartete noch eine Weile, und da Wilms ihn augenscheinlich gar
nicht gehört hatte, mußte er dieses Schweigen wohl für Zustimmung
halten, denn er fuhr langsam und bedenklich fort: »Nun, wenn du es
verlangst – natürlich – du hast ja auch einen so großen Verlust
erlitten, daß du dich gewiß ein bißchen nach Gesellschaft sehnst, na,
dann kann ja Hedwig auch noch acht Tage hier bleiben, ich habe nichts
dagegen – obwohl, hm, ja, ich wünschte nur, du würdest mit der Zeit ein
wenig ruhiger – und – nun adieu, Wilms – und daß wir uns zu besserer
Gelegenheit wiedersehen, mein Sohn. Immer Kopf oben – hörst du?«

Hier schwankte die Stimme des alten Beamten doch bedenklich, er kehrte
sich rasch ab, und bald nachher fuhr er als der letzte Leidtragende von
dannen.

Hedwig und der Pächter befanden sich wieder allein.

In den ersten Stunden konnte Hedwig ihr Herz klopfen hören, so hell und
erwartungsvoll pochte es. »Was nun wohl folgen würde?« dachte sie. – Der
Weg war frei, die Last abgeschüttelt, versunken, endlich gab es nichts
Trennendes mehr zwischen ihnen, und mit verzehrender Gewalt verlangte es
sie danach, daß der starke Mann sie nun in die Arme nehmen und sie
küssen und wiegen sollte, noch zärtlicher und glühender, als vor wenig
Tagen, da Else darüber gestorben war.

Aber der Tag verfloß, ohne daß der stille Mann von ihr etwas verlangte
oder begehrte; schweigend nahm er die Mahlzeiten ein, stumpf und
trübsinnig brach er des Abends auf, um sich in seine Kammer hinauf zu
begeben.

Er hatte während der langen Zeit nicht ein Wort mit dem Mädchen
gewechselt. Wie ein Alp bedrückte es bereits ihre Brust.

Schon befand sich die große gebeugte Gestalt an der Tür, da rief ihn
Hedwig atemlos an.

»Wilms.«

Er blieb stehen, hob aber nicht den Blick.

»Willst du – willst du morgen nicht auf deine Felder gehen?«

Der Landmann nickte gleichgültig und legte die Hand auf die Türklinke.

Jetzt würde er verschwinden.

Es war die höchste Zeit.

»Wilms – willst du nicht noch hier bleiben?«

Ein scheuer Blick streifte das schöne Geschöpf, dann irrte er an ihr
vorüber und fiel auf das große zugedeckte Bett, das einst die Heimstätte
der Kranken gebildet.

Eine mächtige Bewegung lief durch den riesenhaften, ungelenken Körper,
man sah ihm an, daß er sich beherrschen und bezwingen wollte, dann aber
schlug Wilms beide Hände vors Gesicht, und ein halblautes, ersticktes
Stöhnen drang zu der Erschreckten hinüber.

Es war das wilde Schluchzen eines verzweifelten Menschen, eine
erschütternde, trostlose Selbstanklage.

Im nächsten Moment war der Pächter hinter der Tür verschwunden, und die
Zurückbleibende vernahm nur noch, wie seine Tritte auf der knarrenden
Treppe verhallten.

Da stand sie und starrte mit bangem Entsetzen auf die leere Pforte.

War es wirklich Wahrheit? – Sie befand sich jetzt allein? Der Mann, den
sie erheben, befreien, glücklich machen wollte, dem sie mit weichen
Händen unter Küssen die Schmerzenslast von den wunden Schultern zu
nehmen gedachte, der flüchtete vor ihr? Der würdigte sie keines Wortes?

Sie sah sich im weiten, hellerleuchteten Zimmer um.

Nein, nein, an Schatten, an wiederkehrende Geister, die die Stätten der
Sünde umschweben, glaubte sie ja nicht. Wilms war nur überreizt, unter
ihrer Pflege würde ihm die Gesundheit schon wiederkehren, und die Lust
am Leben, und die Lust an ihr.

Trotzig zog sie das Goldherz aus ihrem Kleide, das sie der Toten mit
fester Hand abgenommen, und las mit ihren roten zitternden Lippen den
Namen »Wilms«.

Dann entkleidete sie sich, und ohne Furcht, mit einem seltsamen, fast
übermütigen Lächeln, suchte sie ihr Lager auf und beschloß, von Wilms zu
träumen.

Nein, nein, der Schatten war beschworen, Gespenster kehren nicht wieder,
die Toten stören die Lebenden nicht, getrost bettete sie ihr Haupt auf
den weißen Arm, und im Traum, der sie zu dem geliebten Manne führte,
lächelte sie wieder ihr stolzes, verführerisches Lächeln.



XII.


Am nächsten Tag feierte man Christi Himmelfahrt.

Zum erstenmal saßen Wilms und Hedwig in der Fliederlaube beim Kaffee.

Schwüle, dumpfig-warme Luft strich über die Erde, Bäume und Blumen
standen regungslos, als sähen sie furchtsam zu den grauen Wolken empor,
die sich dort oben zu gewaltigen schwarzen Bergen zusammenballten, die
Hofschwalben umkreisten die Scheunen in schrägem, niedrigem Flug, dumpfe
Gewitterstille ließ Menschen und Vieh verstummen, nur die Heuschrecken
und Frösche auf der Wiese summten und quakten lauter als je.

Und still und schwül türmte sich auch etwas zwischen den beiden Menschen
auf, die lautlos einander in der Laube gegenüber saßen. Geschäftig und
leidenschaftlich für ihn besorgt, hatte Hedwig dem Pächter alles
bereitet und zurecht gemacht, er hatte auch manchmal wie zum Dank mit
dem Kopf genickt, jetzt aber brütete er wieder, das Haupt in die Hand
gestützt, düster in das brauende Unwetter hinein, das wie an ungeheuren
schwarzen Seilen bereits vom Himmel herunterhing. Schon klatschten
einzelne, schwere Tropfen von der Höhe auf den Rasen.

Da erhob sich der Landmann, und Hedwig vernahm, wie er nach dem Kutscher
rief, zugleich bemerkte sie auch, daß vor der Einfahrt bereits das
Korbfuhrwerk wartete.

»Willst du fortfahren?« begann sie befangen.

Wilms nickte.

»Geschäftlich?«

Wieder neigte der Pächter schwerfällig das Haupt.

»Wirst du lange fort bleiben, Wilms?«

Noch immer suchten die Augen des Mannes scheu den Boden, aber zum
erstenmal seit Tagen erteilte er doch eine Antwort. Gepreßt kam es
heraus: »Ja, es kann woll – ein paar Tage dauern.«

Da freute sich das Mädchen, daß sie die erste war, die wieder seine
Stimme vernahm, und im überwallenden Gefühl streckte sie ihm beide Hände
entgegen, um sich von ihm zu verabschieden.

Aber er rührte ihre Finger nicht an. Düster stand der große Mann vor
ihr. Wohl blieben seine überbuschten Augen groß und starr an ihrer
rosigen Haut haften, wie wenn sie sich von dem Anblick nicht trennen
könnten, als er aber scheu den Kopf hob, da umfaßte er das Mädchen mit
einem so jammervollen, so verängsteten und geistig zerrütteten Ausdruck,
seine breiten Lippen zitterten derartig krampfhaft, daß das Mädchen in
jähem Entsetzen zurückbebte.

Ein kalter Schrecken rann durch alle ihre Glieder.

Sah sie nicht, daß der gequälte Mann mehrfach ansetzte, als wollte er
dennoch ihre Hand ergreifen, um bald darauf seine Rechte wieder sinken
zu lassen?

Was hinderte ihn nur?

Etwas Unsichtbares, Unerklärliches mußte sich regelmäßig vor ihm
erheben, und mit einem plötzlichen Entschluß riß er sich jäh von dem
Mädchen los und lief, ohne ein weiteres Wort, wie gehetzt zu seinem
Wagen.

Die Peitsche knallte, die Pferde zogen an, und bald hörte die
Zurückbleibende, wie der Wagen davonrollte.

Matt lehnte sie sich an die Wand der Laube und sah abgespannt in den
grauumzogenen Himmel hinauf, von dem der Gewitterregen noch immer nicht
auf das lechzende Land niederrauschen wollte.

»Das also ist das Ende?« dachte sie. Sie griff sich an die Stirn und
fuhr auf. Ihre ganze Umgebung schien ihr plötzlich so fremd; wie konnte
sie nur in diesem öden, verwunschenen Gehöft so lange gesäumt und
geharrt haben, sie, die doch mit ganz anderen Hoffnungen in die Welt
hinausgetreten war?

Ein langes blendendes Leuchten ging über den Horizont, ein dumpfes
fernes Murren schob sich dazwischen, und ein kurzer Regenguß pfiff über
das Land.

Die Bäume schüttelten sich und richteten sich auf. Auf Blättern und
Halmen perlten große Tropfen.

Aber auch Hedwig war aufs neue erfrischt, sie hatte ihre Schwäche
überwunden. – Spielend dehnte sie ihre Gestalt und schritt mit ihrem
kräftigen Gang in die Wirtschaftsgebäude, um ruhig und sicher, wie
früher, das Gesinde zu leiten und in Wilms Abwesenheit die Geschäfte des
kleinen Gutes zu besorgen.

»Nimm die leeren Säcke dort vor dem Fenster fort, Dörthe,« ordnete sie
mit ihrer frischen Stimme an.

»Ja Fräulen, die liegen man noch da, damit die sel’ge Frau nich durch
das Wagengerassel gestört werden sollt.«

»Nun ja – aber meine Schwester braucht sie jetzt nicht mehr, wir aber
könnten die Säcke vielleicht noch nötig haben.«

Die Leute gehorchten ihr. Unbedingte Ordnung und widerspruchsloser
Gehorsam waren in das Gehöft eingekehrt.

Und Hedwig selbst hatte ihre ganze Sicherheit zurückgewonnen.

Sie wußte jetzt, daß über Wilms der finstere Geist der Schwermut
schwebe, daß die Tote dennoch aus dem Grabe auferstanden sei, um
unversöhnt die beiden, die nach einander verlangten, auseinander zu
scheuchen. Aber sie scheute die Frau im weißen Hemde nicht. Die Lebende
war vor ihr gewichen, und deshalb wollte sie alle Kraft einsetzen, um
auch den blutlosen Schatten aus dem Hause zu jagen.

Draußen schlugen harte Tropfen gegen das Wirtschaftsgebäude, aus den
grauen Nebelwänden rollte und polterte es dumpf heran.

Eine zischende Windsbraut wirbelte über das Gehöft.

       *       *       *       *       *

Wilms fuhr die Landstraße entlang. Sein Ziel waren ein paar große Güter
in der Umgegend von Greifswald. Als er an der Kirche von Boltenhagen
vorüberkam, schallte Orgelklang und Gesang heraus, so daß er aus seiner
Versunkenheit aufgestört wurde.

Er wunderte sich.

»Jochen, was is heut für ein Tag?« fragte er seinen Kutscher.

»Ja Herr, weiten Se dat nich? Hüt hewwen wi ja unsen Herrn Christ sin
Himmelfahrt.«

Wilms faßte sich an den Kopf.

Hatte er denn alle Zeitrechnung verloren, daß er von dem hohem Festtag
gar nichts wußte? Früher hatte er an diesem Tage stets neben Else im
eichenen Kirchenstuhl gesessen und andächtig mitgesungen. – Seitdem aber
Hedwig auf dem Gehöft wirkte – – – nein, nein, er wollte nicht weiter
denken.

Rasch sprang er vom Wagen herab und schritt hastig über die Treppen in
das Gotteshaus hinein.

Vielleicht wohnte hier doch das Heil, vielleicht konnte hier die
unselige, feige Angst von ihm genommen werden.

Die Kirche war gedrängt voll. Eben schwieg die Orgel, und der kleine
Pastor Schirmer begann von der Kanzel zu predigen. Rührend und beweglich
schilderte er die Leiden und göttliche Sanftmut des Gottessohnes, und
wie er nach seiner Auferstehung den Jüngern, die ihn nicht kannten, in
seinem weißen Gewande am See Tiberias erschienen sei, um sie den
gesegneten Fischzug tun zu lassen.

»Und seine Gestalt war wie der Blitz, und sein Kleid weiß wie der
Schnee.«

Da zuckte Wilms, der auf der hintersten Bank Platz genommen hatte,
erbleichend zusammen. Das Wahnbild, das ihm vorschwebte, trat wieder vor
seine Augen, es wurde schwarz vor ihm, Kirche und Menschen drehten sich
im Kreise.

Die stürmische Angst jagte ihn von dannen.

Nur hinaus – in die Luft – ins Freie, daß er atmen konnte. Schwankend
erhob er sich.

Allein der Eintritt des Pächters war von seinen Nachbarn bemerkt worden.
Leise flüsterten sie sich zu, wie elend, krank und abgezehrt der
Landmann aussehe, und Förster Eltze, der in seiner Nähe gesessen, folgte
ihm hinaus.

Und gerade als der nach Luft Ringende seinen Wagen erreicht hatte,
ergriff der gutmütige Riese die Hand des Pächters und hielt ihn zurück.

»Wilms, sind Sie krank?«

Der Pächter starrte den andern an.

»Ja – Eltze – ich kann – in der Nacht nich mehr schlafen.«

»Ach, Unsinn, alter Freund, warum denn nicht?«

»Weil – weil meine Frau immer bei mir is.«

»Wilms – um Gottes willen – alter Freund, das reden Sie sich bloß ein.«

Der Pächter zuckte die Achseln, und während er sein Gefährt bestieg,
antwortete er wehmütig: »Das kann woll sein,« dann grüßte er den Förster
noch kurz, und im nächsten Moment rollte das Fuhrwerk in das graue
Unwetter hinein.

»Jochen, gib auf den Herrn Obacht,« rief Eltze voller Besorgnis den
Abfahrenden nach.

Und er hatte recht mit seiner Warnung, der gutmütige Weidmann.

Der finstere Geist, der den Unglücklichen mit seinen schwarzen Fittichen
beschattete, senkte sich immer tiefer auf sein Opfer herab, so daß die
Nacht noch düsterer in ihm wurde.

Am Himmel zuckte und leuchtete es, in langen Linien schossen die
schmalen Feuerstreifen dahin, aus den dunklen Wolkengründen heraus
rollte der Donner und hallte verendend über die weite Ebene.

So waren die Reisenden an einen unbeträchtlichen Landsee gelangt, der
mit einem Wasserarm die Chaussee unterbrach, so daß sie an dieser Stelle
überbrückt war.

Aus Binsen und Schilf, die das unbewegte Wasser umgaben, quollen feuchte
graue Dünste empor, fahl und farblos lag die Fläche, nur an der Brücke
erhoben sich ein paar verkrüppelte Silberweiden.

Eben rasselte das Gefährt über das morsche Holz, als Wilms Blick
gleichgültig über den schweigenden See schweifte.

Aber dann – der Pächter richtete sich auf und stierte auf das jenseitige
Ufer hinüber.

Er mußte etwas Furchtbares erschauen, denn kalter Fieberschweiß brach
ihm aus allen Poren, mit der Hand umfaßte er die Schulter seines
Knechtes.

»Jochen,« schrie er, »kehr’ um.«

»Herr – Herr Jesus – wat is denn?«

»Jochen – Jochen – kehr’ um.«

Der Kutscher begann am ganzen Leibe zu zittern:

»Herr, Se sünd woll krank? Wat is denn dor äwern See? – Seggen Se mi’s
doch – ick fürcht mi.«

Aber der Landmann brachte kein Wort hervor. Mit weit aufgerissenen Augen
starrte er über die graue Fläche, denn der düstere Geist, der über ihm
war, malte ein entsetzliches Bild.

Dort drüben stand eine weibliche Gestalt, ihr Hemd war »weiß wie der
Schnee«, ihre Augen funkelten wie grelle Blitze, und über ihr entlud
sich schmetternd ein krachender Donnerschlag.

Da begann es dem Knecht vor dem hinstarrenden Manne zu grausen, mit
aller Kraft warf er die Pferde herum und jagte unter prasselndem Regen
mit seinem ohnmächtigen Insassen den Weg, den er gekommen, wieder
zurück.

       *       *       *       *       *

Zwei lange, bange Wochen verstrichen, dann konnte der Pächter das große
Bett in der Wohnstube, an dem Hedwig Tag und Nacht gewacht hatte,
verlassen.

Es schnitt allen ins Herz, als sich der ehemals so riesenhafte Mann
kraftlos reckte und sich mit einem wehmütig lächelnden Blick im Spiegel
beschaute.

»Na, Wilms, nu frische Luft,« rief der dicke Dr. Rumpf – »und dann,
Kinding, die Fenster auf und was Ordentliches für den Magen – – paar
Buddeln Rotspohn, und Hauptsache: raus, raus!«

Und am Arm des Physikus ließ sich Wilms in den Garten leiten, in dem
jetzt die Linden blühten und einen erquickenden, würzigen Duft
verbreiteten.

»Ach, hier ist es schön,« sagte der Landmann, als er in der Laube saß,
bewundernd, »komm, Heting – und Sie auch, Herr Doktor, wir wollen noch
ein bißchen zusammenbleiben.«

Die beiden andern warfen sich einen bedeutsamen Blick zu und gedachten
ihn durch ein harmloses Gespräch ein wenig aufzumuntern, jedoch der
Pächter ließ sie nicht zu Worte kommen.

Er war so gesprächig, wie seit vielen Jahren nicht. Alles, womit ihn die
Natur umgab, erinnerte ihn an Begebenheiten aus seiner Jugend, aus
seinen Lehrjahren und erweckte auch das Andenken an seine Mutter.

»Trägst du noch den Ring, Heting? – Nicht wahr, den wirst du doch immer
in Ehren halten? Weißt du noch – am Weihnachtsabend?«

Nur Else erwähnte er nicht. Es schien, als ob das Grab sie nun doch
festhalte, als ob die Erde sich endlich dauernd über ihr geschlossen
hatte.

Als der Physikus nach einiger Zeit seinen Wagen bestieg, folgte ihm
Hedwig und fragte rasch und verzweifelt:

»Nun, Herr Doktor, nun?«

»Ja, was soll ich sagen? – Ernährung, mein Kind, Ernährung. Das ist das
allereinzigste Mittel.«

»Ja aber, Herr Doktor, er ißt ja fast gar nichts.«

»Heting,« sprach der Physikus ernst und strich dem Mädchen über die
heiße Stirn, »jetzt hängt alles von dir ab, verstehst du?«

»Nein.«

»Der Mann ist seelisch krank,« sagte der Doktor langsam, indem er ihr
fest in die Augen sah, »verstehst du jetzt, warum alles von dir
abhängt?«

Da wurde das Mädchen blaß und wieder dunkelrot und sah vor dem alten
Freunde zu Boden.

Sie verstand ihn.

»Und morgen komm’ ich wieder,« rief der Physikus in anderem Ton, küßte
seiner jungen Freundin im Vorübergehen die Hand und fuhr vom Hofe
herunter.

Mit glühenden Wangen lief Hedwig in den Garten, jetzt wußte sie es, was
der erfahrene Arzt verlangte, sie sollte den geliebten Mann verlassen. –
Sie – sie selbst hielt man für die Ursache, daß er nicht zur Ruhe kommen
könnte; war es möglich, daß ihre Gegenwart ihn quälte und peinigte? –
Glaubte er sich wirklich sündenbeladen, weil er ihr blühendes Leben der
Todverfallenen vorgezogen? – Die Tote siegte, die Tote ging im Hause
umher, die Tote behauptete den Platz an seiner Seite. – Nein, so konnte
sie sich nicht verscheuchen lassen. – Schmeichelnd setzte sie sich neben
Wilms, und als er sie musternd anlächelte, schlang sie ihre weichen Arme
um den abgezehrten Mann, und flüsterte mit ihrer angsterfüllten bebenden
Stimme: »Wilms, ich liebe dich ja so sehr, nicht wahr, jetzt wirst du
auch wieder gesund werden?«

Und wie ihre Lippen sich auf die seinen legten, da war es ihm, als ob
ein köstlicher, erfrischender Heiltrank in ihn hinüberströme, der alle
seine Glieder mit einer wohltuenden Schlaffheit erfüllte, so daß er sein
Haupt müde an ihre Brust lehnte und dort zu schlummern strebte.

»Ja, Heting,« murmelte er erquickt, »nun werden wir bald sehr glücklich
sein.«

»Und nicht wahr, an Else erinnerst du dich nicht mehr so wie damals?«

»Nein, nein, Heting – laß das – an meine Frau denke ich nich mehr – will
nich mehr – nur du.«

Waren es die Lindenblüten, die der leise Wind von den Zweigen
schaukelte, war es Hedwigs Nähe, der müde Mann schlummerte an ihrer
atmenden Brust wie ein beruhigtes Kind sanft und sicher ein.

Eine Schwarzdrossel nistete oben in der Krone der Linde. Die sang das
Schlummerlied.

Aber in dem Mädchen zehrte und bohrte der Gedanke an die verlangte
Trennung weiter.

       *       *       *       *       *

Ein andermal sah der Kranke aufmerksam und nachdenklich auf Hedwigs
stolzen, weißen Hals, von dem sich ein schmales, goldenes Kettchen
abhob.

»Heting, trägst du da nicht – – –?«

»Ja, Elsens Goldherz.«

»Das besitzt du?«

»Ja, ich hab’ es ihr abgenommen.«

Der Pächter stützte das Haupt und blickte sinnend vor sich hin.

»Mir is es doch lieb,« sagte er endlich, »daß sie es nicht mitgenommen
hat in die Erde. – Mir wär’ es dann immer gewesen, als wär mein Herz mit
begraben. – So aber liegt es bei dir.«

Dann streckte er die Arme aus und zog sie an sich. Und beide klammerten
sich aneinander, als ob sie Schutz suchten vor dem weißen Schatten, der
unerbittlich durch das Haus ging.

Und als sie sich immer leidenschaftlicher in seine Arme schmiegte, da
ging es wie ein Beben durch den kranken Körper. »Heting – Heting,«
stammelte er, »ich werd’ – wohl nie wieder ganz glücklich werden.«

Da fröstelte das liebeglühende Mädchen zusammen und verstand ihn.

       *       *       *       *       *

Wilms Seelenzustand wurde immer trübsinniger. Oft, wenn Hedwig
unvermutet zur Tür hereintrat, dann traf sie ihn, wie er starr auf die
Schwelle hinblickte, auf der einst Else entseelt dahingesunken, und wenn
sie dann auf ihn zuflog, um ihn durch ihre Liebe zu ermuntern, dann kam
ein Ausdruck von Furcht in seine Augen, als wenn ihn ihre Zärtlichkeit
quäle.

Und einmal rang er sich schwer die Worte ab: »Heting, küß mich nich so –
mir is es immer, als wenn Else zusäh.«

Da zuckte das Mädchen zusammen, und so oft sie sich ihm in den nächsten
Tagen näherte, immer glaubte sie etwas Kaltes, Frostiges zu spüren, das
an ihr vorbei strich.

Sie faßte sich an die Stirn und begann schmerzlich zu lächeln. Sie fing
an, an Gespenster zu glauben.

Mit der Zeit begann der Kranke auch Elses Namen immer häufiger in seine
Reden zu mischen. Bald erinnerte er sich an Worte seiner Frau, bald an
allerlei Eigentümlichkeiten, und eines Tages, beim Mittagbrot, merkte
Hedwig, daß sie der Pächter mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen
beobachtete:

»Was hast du denn, Wilms?«

»Du – du siehst – ihr doch sehr ähnlich,« stammelte der Landmann
fassungslos und ließ Messer und Gabel aus seiner Hand klirren.

Und am Nachmittag nahm Hedwig aus der Nebenstube wahr, daß Wilms,
anstatt zu schlafen, bitterlich vor sich hin schluchzte.

Dagegen vermochte sie nichts. Die Tote siegte.

Ihr wunderbarer, prachtvoller Körper blühte neben ihm, und der Kranke
koste und scherzte mit der Verwesten.

       *       *       *       *       *

»Onkel Doktor,« weinte Hedwig vor sich hin, als sie mit dem weißbärtigen
Physikus, den sie hatte holen lassen, in der Laube saß, »was soll ich
dagegen tun?«

Sie hatte dem alten Freunde alles gebeichtet, was sie seit dem einen
Jahre auf diesem Gehöft erlebt hatte.

»Was du tun sollst?« fragte der alte Herr und legte die beiden Hände des
jungen, fiebernden Geschöpfes in die seinen. »Heting, mein Kind, ich
hab’ dich lieb und habe Wilms lieb, und deshalb sag’ ich, du mußt fort.«

Sie starrte ihn mit ihren großen, braunen Augen an, und der Physikus
fühlte an ihren Händen, wie das Blut in den Adern hämmerte und schoß.

»Still, Kind, still,« sagte er, »du willst ihn doch nicht zugrunde
richten, und sieh, so oft er dich anblickt, immer wird er in dir die
Ursache sehen, die die Verstorbene in den Tod getrieben. – Nein, nein,
mein Kind, bleib ruhig, ich weiß ja, du liebst ihn sehr, aber eben
deshalb, Heting, bitt’ ich dich, befrei’ den armen Kerl von all’ den
bösen Erinnerungen. Glaub mir, so lange du hier bleibst, bleibt auch die
Tote bei ihm. – Nicht wahr, das hast du doch selbst schon bemerkt?«

Hedwig senkte das Haupt, aber sie nickte leise. Dann sah sie mit
sehnsüchtigem Blick auf den blühenden Garten hinaus, auf die anstoßende,
saftige Wiese, auf die fernen Äcker, auf denen sonnendurchleuchteter
Staub dahinzog.

Überall hatte sie hier gewirkt und geschafft. Ordnung und Wohlstand
hatte sie zurückgezwungen. Das hatte die Tote doch nicht vermocht.

Unter ihren Tränen zog ein trotziges Lächeln über das blasse Gesicht.

»Nun, Heting,« fragte der Physikus und stand auf: »Weißt du nun, was du
zu tun hast?«

Sie nahm noch immer das Bild der blühenden Felder in sich auf, mit
bebender Brust sog sie die frische Landluft in sich ein. Ja, sie hatte
alles für eine glückliche Zukunft vorbereitet, aber einwandern sollte
sie nicht in das gelobte Land.

»Heting?« fragte der Arzt dringender.

»Sehen Sie, Herr Doktor,« rief das Mädchen, indem sie mit der Hand nach
dem schönen Gut zeigte: »Diese Saat habe ich bestellt, sehen Sie dort
drüben die grünen Halme? Aber ernten mag sie ein anderer,« flüsterte sie
mit erstickter Stimme.

Da streichelte der alte Herr dem jungen Geschöpf die welligen braunen
Haare aus der heißen Stirn, nahm sie in seine Arme, und während ihr
Schluchzen zu ihm heraufdrang, sagte er wie zu einem kleinen Kinde:

»Recht – recht – du bist ein tapferes, kleines Ding, es wird auch alles
wieder gut.«

       *       *       *       *       *

»Heting,« sagte Wilms an einem der nächsten Tage, als sie nach dem
Kaffee in der Wohnstube zusammen saßen, »du bist ja so vornehm
angezogen, willst du ausfahren?«

Das Mädchen sah ihn lange und ernsthaft an, als wollte sie sich jeden
seiner Züge einprägen, dann schüttelte sie trübe lächelnd das Haupt,
aber sie wandte sich ab und ließ ihren Blick lange auf dem Hof ruhen
und sah grüßend zu den Pappeln der Landstraße hinüber.

Nach einer Weile kehrte sie dem gebeugten Mann ihr schönes Gesicht zu
und fragte einfach und doch voll verschlossenen Wehs:

»Wilms, hast du mich wirklich ein bißchen liebgewonnen?«

»Wie kannst du nur so fragen, Heting.«

»Und mehr – mehr als Else?«

»Ich bitt’ dich, Kind – daran mußt du nicht rühren – laß sie doch
ruhen.«

Er verzog die Stirn und schüttelte matt den Kopf.

»Bist du mir böse?« rief Hedwig plötzlich leidenschaftlich, und während
sie sich vor dem Stuhl des gebeugten Mannes in die Knie warf, umschlang
sie den Kranken und hob sich selbst zu ihm empor: »Nicht wahr, du bist
nicht böse auf mich?« flüsterte sie mit schwankender Stimme und
schmiegte sich an ihn, »ich habe doch alles bloß aus Liebe zu dir getan,
das weißt du doch, Wilms?«

Der Landmann wurde gerührt. »Ja, mein Kinding, ja,« sprach er liebevoll
und streichelte ihr das goldglänzende, braune Haar.

Da stand Hedwig langsam auf und sah sich noch einmal aufmerksam in der
Stube um. Dann schritt sie rasch zum Klavier, um Wilms, wie sie das um
diese Zeit schon gewöhnt war, etwas vorzuspielen. Müde und erschlafft,
wie er war, wiegten ihn die Töne noch immer am leichtesten in den
ersehnten Schlummer.

»Was soll ich spielen?«

»Ganz gleich, es is ja alles schön.«

»Nein, was du gern hast.«

»Nun, dann das von Weihnachten, du weißt ja, Heting.«

Sie schloß die Augen, ein süßer Schauer durchfuhr sie zum letztenmal.
Und dann spielte sie das alte Volkslied, das schon so unendlich viel
Müde eingesungen.

Draußen rollte ein Wagen auf der Chaussee heran, Hedwigs Herz klopfte
zum Zerspringen, aber sie ließ sich nichts merken und spielte tapfer den
alten Sang, so leise und wehmütig und klagend, daß dem Kranken, der doch
nicht wußte, was ihm bevorstand, die Tränen in die Augen traten.

Und er schlummerte wirklich sanft und lächelnd ein, während das
Abschiedslied leise austönte. Als er erwachte, war das Zimmer leer.
Alles war still, nur von der Landstraße hörte man dumpfen Hufschlag und
das Rollen eines enteilenden Gefährts.

       *       *       *       *       *

Der Förster hatte Hedwig in seinem Wagen zur Bahn gebracht, und sah zu
ihr bewundernd in das Coupé hinauf.

Feurig und blutrot ging am Himmel die Sonne zur Rüste, davon mochte das
Mädchen so rosig übergossen sein, als sie zum Fenster hinaus nach der
Gegend spähte, wo Wilmshus lag.

Aber das Gehöft war längst hinter dem Tannenschlag versunken, und
merkwürdig, wie Hedwig jetzt am Fenster lehnte, war sie wieder die
vornehme, junge Dame, die vor mehr als einem Jahr an dieser Stelle
angekommen war.

Sie begriff sich selbst nicht; seit der öde Pachthof hinter ihr
verschwunden war, strömte ihr frischere Luft entgegen, ihr war es, als
hätte sie selbst ein Jahr lang siech gelegen und sollte jetzt zum
erstenmal wieder in die lachende, sonnenfunkelnde Welt hinaus.

»Wohin gehen Sie jetzt, Fräulein Hedwig?« fragte der Förster.

»Ich weiß nicht. – Überall, wo es für mich etwas zu tun und zu schaffen
gibt. – Die Welt ist groß.«

»Da haben Sie recht. – Und kommen Sie vielleicht bald hierher wieder
zurück?«

»Auch das kann sein. Wir Menschen wissen ja nie, was die nächste Stunde
bringt.«

Die Glocke klang. – Der Förster schwenkte seinen grünen Hut.

»Grüßen Sie Wilms,« rief Hedwig mit hervorbrechenden Tränen.

Der Zug bewegte sich, und rascher und rascher fuhr er in die rotgoldene
Abendglut hinein.

Hedwig sah nicht mehr zurück.



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Der Reiter auf dem Regenbogen. Roman.
Der verbotene Rausch. Heitere Novellen.
Zauberin Circe. Berliner Liebesroman.
Die Furcht vor dem Weibe. Roman.
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Sommernachtstraum – Carmen, zwei Hefte – Der Evangelimann – Brahms-Heft
– Cavalleria rusticana – Fra Diavolo – Margarethe, zwei Hefte – Die
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[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
Grundlage der um 1910 bei Ullstein erschienenen Ausgabe erstellt. Die
nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem
Originaltext vorgenommenen Korrekturen.

p 008: »Wie steht’s mit den Kartoffeln, Korl?« -> Karl
p 009: öffnende Anführungszeichen ergänzt: sprang auf – »nicht wahr?
p 119: Förster Elze -> Eltze
p 148: Dörte -> Dörthe
p 150: schließende Anführungszeichen ergänzt: Der hängt noch.«
p 240: Komma entfernt: Else zuckte schmerzhaft zusammen,. ]



[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the Ullstein
edition, published around 1910. The table below lists all corrections
applied to the original text.

p 008: »Wie steht’s mit den Kartoffeln, Korl?« -> Karl
p 009: added opening quotes: sprang auf – »nicht wahr?
p 119: Förster Elze -> Eltze
p 148: Dörte -> Dörthe
p 150: added closing quotes: Der hängt noch.«
p 240: removed comma: Else zuckte schmerzhaft zusammen,. ]





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