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Title: An heiligen Wassern - Roman aus dem schweizerischen Hochgebirge
Author: Heer, Jakob Christoph, 1859-1925
Language: German
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Anmerkungen zur Transkription:

   Die Originalausgabe enthält einige Druckfehler und
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   % umschließt im Original in Antiquaschrift gesetzten Text.
   [vz] steht für den Buchstaben "kleines z mit Hatschek".



AN HEILIGEN WASSERN

Roman aus dem schweizerischen Hochgebirge

von

J. C. Heer



[Illustration: An heiligen Wassern]



51.-54. Auflage


[Illustration]


Stuttgart und Berlin 1910
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger

Alle Rechte vorbehalten



I.


Dörfer und Flecken, selbst eine kleine Stadt, deren Wahrzeichen zwei
altersgraue Ruinen auf kahlem Felsen sind, erheben sich mit südlichen
Silhouetten am Strom, der seine grauen Wellen aus dem Hochgebirge wälzt.

Im Thalwind erzittern die schlanken Ruten der Silberweiden und die
Blätter der Pappeln, welche die Wasser säumen, über die Hütten neigen
sich der Kastanien- und der Feigenbaum, die Rebe klettert über das
Gestein, das Land ist licht und üppig, als wär's der Traum eines
italienischen Malers.

Von Stelle zu Stelle aber schaut durch grüne Waldeinschnitte ein fernes,
in sonniger Schönheit aufleuchtendes Schneehaupt in die Stromlandschaft
und erinnert den Wanderer, daß er just da im Hochgebirge geht, wo es
seine Zinken und Zacken am höchsten erhebt.

Emsige Wildwasser, die aus dunklen Schluchten hervorbrechen, reden von
stillen Seitenthälern, die hinter träumenden Lärchenwäldern versteckt
bis an die ewigen Gletscher reichen.

Fast unvermittelt berühren sich in dieser Gegend Nord und Süd.

Vom alten Flecken Hospel, auf den ein graues Schloß niederschaut, führt
eine schmale, doch fahrbare Straße in eines dieser Seitenthäler, in das
vier Stunden lange Glotterthal, aus dessen Hintergrund die Krone, eines
der erhabensten Bergbilder des Landes, mit dem Licht ihrer Firnen bis
zum Strome herniedergrüßt.

Ein heißer, brümelnder Junimittag. Auf dem Glotterweg, der sich zuerst
in manchen Kehren durch die Weinbergterrassen von Hospel windet, fährt
ein leichter Leiterwagen langsam bergan. Der Mann, der neben ihm geht,
ein halb sonntäglich gekleideter Vierziger, der für einen Gebirgsbauern
zu vornehm aussieht, trägt im glattrasierten Gesicht, das ein dunkler
Filz überschattet, und in der ganzen Erscheinung doch das Wesen der
Gebirgsbewohner dieser Gegend: hünenhafte Kraft, Ruhe und eine gewisse
Verschlagenheit.

»Guten Tag, Presi,« rufen die Frauen, die mit umgeschlagenen roten
Tüchern im Sonnenbrand der Reben stehen. »Wohl, wohl, das langt wieder
eine Weile!« Und sie deuten lachend auf das Fäßchen, das auf einer
Strohunterlage im Wägelchen liegt.

»Ja, es thut's!« erwiderte er den Gruß kurz, doch mit freundlichem Wort.
Er bläst die Rauchwolken einer Zigarre in die Luft und tätschelt den
Hals des Tieres: »Kleiner, es geht bergan, wehre dich, am Schmelzwerk
wartet die Galta auf dich, wehre dich.«

Als habe das struppige zähe Pferd Verständnis für seine Zurede, reißt es
mit jeder Liebkosung stärker an den Strängen, aber von Zeit zu Zeit
nötigt es der steile ausgewaschene Weg, mit dem Wägelchen stille zu
stehen und Atem zu schöpfen. Dann fliegt ein Zug der Ungeduld über das
Gesicht des Mannes, doch er faßt sich, legt einen Stein unter das Rad
und wartet ruhig, bis das Tier von selber den mühsamen Zug wieder
aufnimmt.

Langsam geht die Fahrt, doch wer ins Glotterthal fuhrwerkt, ist sich
dessen gewöhnt.

»Am Schmelzwerk wartet die Galta auf dich,« wiederholt der Führer. Aber
von Hospel bis zum Schmelzwerk sind es drei Stunden zu Fuß, mit dem
Fuhrwerk noch mehr, und dann ist es noch eine Stunde nach dem Dorfe St.
Peter, das weltverloren unter den Firnfeldern der Krone liegt.

Der Weg windet sich, wenn er die Rebberge von Hospel verlassen hat, in
eine Felsenschlucht, über der alte Föhren ihre blaugrünen Schirme
halten, dann berührt er in dem sich weitenden Thal die Dörfer Fegunden
und Tremis, die mit sonngedunkelten Holzhäusern auf grüner Wiesenhalde
liegen, und wird eben.

Tief unter ihm gischtet der Fluß in der Felsenschlucht, die altersgrauen
Lärchen neigen sich darüber und schwanken im Luftzug, Bergnelken hangen
über die Ränder und verzieren den Abgrund mit blühendem Rot.

Nur das Rauschen der Glotter und das gleichförmige Ticktack der
Merkhämmer einer großen Wasserleitung, die in entlegener Höhe
dahinführt, unterbrechen die Stille des Thales.

Die Leitung heißt das »helige Wasser«[1] und befruchtet die
sonnenglühenden Weingärten, die Aecker und Wiesen Hospels und der fünf
Dörfer, die um den Flecken liegen.

  [1] _helig_ ist die ältere Sprachform für »heilig«.

Wenn man drei Stunden bergauf und ebenhin über schmale Mattenstreifen
gegangen ist, kommt man zu der alten verwitterten Kapelle der Lieben
Frau, wo der Weg auf einem vielhundertjährigen vermoosten Brückenbogen
über die Schlucht nach dem Schmelzwerk St. Peter hinüberspringt.

Um die halb zerfallenen Gebäude des ehemaligen Bergwerkes dehnt sich des
Teufels Garten.

Auf Hügeln alter verglaster Schlacken blüht der rote Mohn, die
Königskerze reckt ihre goldigen Blütenschäfte, das Singrün spinnt seine
blauen Blumenketten um die Scherben, allerlei blühender Wust und viele
Brennesseln wuchern zwischen ihnen empor, stahlblaue Fliegen und
Schmetterlinge gaukeln über die wilde Pracht.

An einem verkrüppelten Ahorn stand an jenem Nachmittage, wo Peter
Waldisch, der Präsident von St. Peter, durchs Thal fuhr, eine Mauleselin
angebunden. Sie schüttelte den Kopf, scharrte mit dem linken Vorderfuß
und erhob trotz dem Schatten, den ihr die Ruine spendete, von Zeit zu
Zeit ein klägliches Geschrei. Dann tauchte aus der wilden Ueppigkeit der
bunt bekränzte Schwarzkopf eines Mädchens auf, das auf den bloßen
braunen Armen ein übermächtiges Bündel von Blumen trug. »Ich komme,
Galta, ich komme,« rief sie dem Tier begütigend zu, dann verschwand die
ganze Gestalt wieder in den Wogen des Sommerwustes, bis sie so viel
Blumen an die Brust drückte, als ihr Arm fassen konnte. Da watete sie
endlich aus der Wirrnis. Ihr kurzes Röckchen schützte sie nur bis wenig
unter die Kniee, aber gewandt wie ein Wiesel wich sie den vielen
Brennesselbüschen aus, die ihre nackten Füße und Waden bedrohten. Eine
lebendig gewordene Bronzefigur, Gesicht, Arme, Füße sonnengebräunt, war
sie fast so wild wie die Wildnis, die sie durchschritt, im Kopf standen
ein paar feurige Augen, wie die einer Zigeunerin; doch sah man dem
Mädchen gleich an, daß es kein Bauernkind war, dafür war alles an ihr zu
zart und zu fein.

Sie eilte mit leichten Füßen über die Brücke zu der alten Kapelle,
kniete nieder und steckte ihre Blumen in das hölzerne Vorgitter des
kleinen Gotteshauses, so daß es bekränzt war wie für ein Fest.

»Das wird die Mutter Gottes freuen!« sagte sie, ihr Werk betrachtend.

Plötzlich horchte sie neugierig und verwundert in die blaue warme Luft.
Ein Rollen wie von fernem Gewitter ging durch die Stille des
Nachmittags. Es war Lawinendonner, den die Luft von den Bergen
herniedertrug. Am schmalen Himmelsband über dem Thal waren weiße
Föhnstriche hingeweht, die Schläge der Frühsommerlawinen und kleinen
Gletscherbrüche lebhafter denn sonst.

Jetzt blickte sie von der Kapelle den Weg hinab und legte die Hand zum
Schutz gegen die brennende Sonne über die dunklen Augen.

Der Vater kam noch nicht, dafür zwei Kinder mit Tragkraxen, beide mit
Bergstöcken in der Hand.

»Vroni! Josi!« Mit lebhaftem Ausbruch der Freude sprang sie ihnen
entgegen.

»Hast schwer, Vroni? Hast schwer, Josi? Hättet ihr die Last meinem Vater
auf das Wägelchen gegeben, er ist heute nach Hospel gefahren, ich
erwarte ihn hier mit Vorspann.«

Josi schüttelte nur den Kopf. Die beiden Geschwister stellten ihre
Kraxen auf die hölzerne Bank vor der Kapelle, wischten sich den Schweiß
aus der Stirn und setzten sich gelassen hin. Binia, die Blumensucherin,
betrachtete die beiden wohlgefällig. Vroni, unter deren niedrigem altem
Strohhut das Goldhaar hervorquoll und in glänzenden Fäden um die
geröteten Wangen flog, war nur ein Jahr, Josi, der kräftige Bursch, der
einen ähnlichen Hut trug, zwei Jahre älter als sie. Und sie war zwölf.

»Sechzig Pfund hab' ich,« sagte Josi, die Beine schlenkernd, an denen
die schwergenagelten Holzschuhe klapperten, »die Vroni hat vierzig, ob
so viel Mehl wohl reicht bis zur Ernte?«

»Es wird schon langen müssen, aber dann wird's gut, das Aeckerchen trägt
dieses Jahr viel Korn,« erwiderte Vroni hausmütterlich froh.

Da ging wieder ein langhallender Donner durch die Ruhe des Thales. Josi
sprang auf: »Ja, es ist doch wahr. Die Wildleutlaue geht wieder los!
Sieben Jahr ist der Gletscher zurückgegangen und sieben Jahr gewachsen,
das letzte Jahr war ein schlechter Sommer und jetzt ist ein guter -- da
bricht der Eissturz los!«

Binia ließ die Schwarzaugen funkeln, Vroni mahnte ab: »Sage nichts
Sündiges, schau' doch in die Kapelle, wie viel Marterkreuze von denen an
den Wänden stehen, die in die Felsen haben steigen müssen, wenn das
helige Wasser von der Wildleutlawine zerstört worden ist.«

Die Kinder warfen einen schaudernden Blick in die Dämmerung der Kapelle.
Ihre Wände waren mit hölzernen und eisernen Täfelchen ganz bedeckt, auf
denen die Namen von Verunglückten und fromme Sprüche standen.

»O, wie traurig,« sagte Vroni, »da ist es kein Wunder, wenn die Leute
bei uns nicht so laut singen und lachen mögen, wie draußen im großen
Thal und alle so still und ernst sind.«

Aber die anderen hatten keine Lust, ihren Betrachtungen zu folgen.

»Du, Vroni, erzähl' uns doch wieder einmal die Geschichte von den
heligen Wassern, du erzählst sie so schön,« schmeichelte Binia, indem
sie sich flink zwischen die Geschwister drängte und an die Freundin
schmiegte.

»Das ist eine lange Geschichte,« warf Vroni ein, es war aber, als gehe
von den dunklen Augen Binias ein Zwang auf sie, sie lächelte und
streckte die rote Schürze zurecht: »Ja, nun so, wir kommen schon noch
heim.«

Von ihrer Mutter hatte Vroni den Ruf einer geschickten Erzählerin
überkommen. Ihre blauen Augen gingen träumerisch ins Weite, sie
überlegte, faltete die Hände über dem Knie und begann: »Also, das ist so
lange her, daß es nirgends in den Büchern aufgeschrieben steht. Da gab
es neben uns rechten Leuten im Glotterthal noch Wildmännlein und
Wildweiblein, die in den Wäldern wohnten. Es geschah nun, daß einer von
den rechten Hirten ein Wildmädchen Namens Gabrisa, das mächtig schön
war, lieb gewann. Ihr dunkles Haar reichte bis auf den Boden, ihr
Gesicht war weiß und ihre Stimme tönte wie Glockenspiel. Allein ihrem
Geliebten mißfiel es, daß sie jedesmal, wenn Vollmond war, zu den
Ihrigen in den Wald verschwand. Einmal brachte er nun am Tag vor dem
Vollmond Wein von Hospel herauf. 'Trink, Gabrisa,' sagte er. 'Ist das
güldenes Wasser?' fragte sie, denn sie kannte den Wein nicht. Und er
antwortete: 'Ja, das ist güldenes Wasser.' Da trank Gabrisa und der Wein
schmeckte ihr gut. Als sie in den Wald eilen wollte, trugen sie die Füße
nicht, sie schwankte, fiel und schlief ein; als sie aber erwachte,
sprang sie in den Wald, wandte sich noch einmal nach dem Geliebten um
und sang ihm mit ihrer schönen Stimme zu:

    'Güldenes Wasser, das macht mir Pyn,
    Ich darf nit mehr dine Liebste syn!'

Das Mädchen war verschwunden. Aus Zorn über den Schimpf, der Gabrisa und
damit sie alle getroffen, bannten die Wildleute die Wolken, daß sie ihr
Naß nicht mehr über Hospel und die fünf Dörfer ausleeren konnten, wo der
Wein, den sie getrunken hatte, gewachsen war. Die Rebberge verdorrten,
Aecker und Wiesen standen ab, es trat eine große Hungersnot und ein
großes Sterben ein, das nicht mehr aufhören wollte.«

Die Erzählerin ruhte einen Augenblick, als ob sie sich sammeln wollte,
sie war so mit sich selbst beschäftigt, daß sie nicht sah, wie Josi, ihr
Bruder, die Augen unverwandt auf das blumenbekränzte Haupt Binias
geheftet hielt, auch diese selbst spürte es nicht, denn sie hatte ihre
Lebhaftigkeit gebändigt und hing mit ihren Blicken an Vroni.

Ehe diese den Faden ihrer Geschichte wieder aufnehmen konnte, schrie
Galta, das arme Vieh, das die Kinder ganz vergessen hatten, so stark,
daß die pflichtvergessene Binia aufsprang und über die Brücke zu ihr
hinübereilte.

Da sagte Josi unvermittelt, als hätte er von der Geschichte seiner
Schwester gar nichts gehört: »Bini ist aber ein schönes Mädchen!«

Vroni sah den Bruder erstaunt an, erst nach einer Weile antwortete sie:
»Siehst du das erst jetzt, das habe ich schon lange gewußt.«

Ihre Gedanken blieben bei der Erzählung haften, die Hände im Schoß,
spann sie die Geschichte weiter und merkte nicht einmal, wie nun auch
Josi sich leise von ihr weg über die Brücke zu Binia hinüberschlich.

»Umsonst flehten die Hospeler die Wildleute an, daß sie den Bann lösen.
Sie antworteten: 'Das können wir nicht mehr, denn was geschehen, ist
geschehen und der Fluch gilt ewig. Als die 'trockenen Dörfer' sollt ihr
bekannt sein im Land zu aller Warnung.' Und sie sprangen in den Wald.

Zu jener Zeit nun kamen die Venediger ins Glotterthal, gründeten das
Schmelzwerk und gruben Blei- und Silbererz, das sie verschmolzen, bis
das pure Metall in die Kannen rieselte.

Für ihre Feuer, die nie ausgingen, brauchten sie gewaltig viel Holz. Als
sie aber den Arvenwald zwischen der Brücke und dem Dorf zu schlagen
anfingen, gerieten die Wildleute in große Angst, es würde die Zeit
kommen, wo sie nicht mehr genug süße Zirbelnüsse, ihren liebsten
Leckerbissen, fänden. Sie berieten lange hin und her, wie sie die Leute
von St. Peter bewegen könnten, ihnen ein großes Stück Wald zu schenken.
Eines Nachts erschien Gabrisa am Lager ihres ehemaligen Geliebten,
lächelte und sagte: 'Ich will dich und alle in St. Peter reich machen
mit güldenem Wasser, das ihr gerne trinket, so ihr uns Wildleuten den
Wald an der Thalhalde zwischen dem Dorf und der Kapelle schenkt, wo die
Zirbeln wachsen. Saget denen zu Hospel, daß wir Wasser auf ihre
verdorrten Reben, Felder und Wiesen führen wollen, wenn sie euch
gutwillig ein Dritteil ihrer Weinberge geben.

    'Uns Wilden den Wald, euch Zahmen den Wyn,
    Das söll treulich und ewig gehalten syn!'

Gabrisa verschwand. Schon lange hätten die von St. Peter gern Weinberge
gehabt, aber die Reben wachsen nicht, wo die Gletscher sind. Darum ging
ihnen, was Gabrisa sagte, zu Herzen, sie redeten mit den Hospelern und
den fünf Dörfern; mürbe von der langen Not, traten diese dem Handel bei,
denn ihre Reben waren wertlos geworden. Wie Gabrisa gesagt, kam der
Vertrag zu stande und wurde beim Bildhaus von Tremis von den Abgesandten
der Wildleute und der Dörfer beschworen.

Nur wunderte man sich, wie die Wildleute das Wasser in die hohen
Weinberge tragen oder führen werden, doch wußte man, daß sie in vielen
Künsten erfahren waren.«

Erst jetzt merkte Vroni, daß sie auch vom Bruder im Stiche gelassen
worden war. Was verschlug's? Er hatte ja die Geschichte schon oft von
der Mutter gehört, die sie so schön wie niemand anders zu erzählen
verstand. Als sie nun die treulosen Zuhörer suchen ging, bot sich ihr
ein überraschender Anblick.

Zur Seite der Ruine, wo die Mauleselin Galta stand, lag Binia auf dem
Haufen Grünfutter, den sie oder Josi dem Tier vorgeworfen hatte. Das
wilde Kind lachte mit seinen schwarzen Augen und seinen weißen Zähnen
den Burschen an und er hielt vor ihr stehend einen Strohhalm voll roter
glänzender Erdbeeren, die ersten des Jahres.

»Mund auf und Augen zu!« sagte er zu der Daliegenden, die lustig zu ihm
emporschielte.

»Aber nichts Wüstes hineinthun!« bat sie.

»Was denkst auch, Bineli,« lachte Josi.

Da schloß Binia die Augen zu, öffnete den Mund und Josi zog die roten
Erdbeeren lächelnd vom Halm und steckte dem Kinde eine um die andere
zwischen die roten Lippen. Plötzlich aber besann er sich anders, statt
einer Beere drückte er ihr einen Kuß auf den frischen Mund.

Binia wollte zappeln, Vroni wollte rufen, das sei das Spiel zu weit
getrieben, aber beide lähmte die Ueberraschung.

%»Deus benedicat vos!«% klang tief und feierlich eine Männerstimme aus
dem Innern der Ruine, ein schwarzbärtiges hageres Gesicht schaute durch
ein kleines Gitterfenster der Mauer auf die Kinder.

»Der letzköpfige Pfaff!« schrieen sie wie aus einem Munde, ein großer
Schrecken war ihnen in die Glieder gefahren. Binia schirrte das Maultier
los, Josi und Vroni eilten nach der Kapelle zu ihren Kraxen, stülpten
die an einem Baum hängenden Hüte auf den Kopf und alle drei wollten
ihrer Wege gehen.

Als sie sich aber auf der Brücke eben wieder begegneten und hastig
aneinander vorübereilen wollten, trat der Mann von vorhin schlarpend aus
der Ruine und mitten unter sie. Er war barhaupt, an den Füßen trug er
Holzsohlen, um die dunkle rauhe Kutte schlang sich ein weißer Strick,
von dem ein Rosenkranz niederhing. Ganz verwildert sah der bärtige
Einsiedler aus, in dessen bleichem Gesicht zwei unstete Augen loderten.

%»Pax vobiscum!«% grüßte er sie. »Du bist Binia, die Tochter des Presi!
Du bist Josua, der Sohn des Wildheuers! Kniet nieder ihr zwei!«

Er machte dazu mit seinen mageren Händen eine so feierliche Bewegung,
daß die bekränzte Binia unwillkürlich gehorchte und auf die Brücke
niederkniete.

Verwirrt folgte der Bursche.

Da legte er ihnen die Hände auf die glühenden Häupter und sagte tief und
getragen: »So wahr ich Kaplan Johannes heiße, liebet euch untereinander,
Josi und Binia.«

Er murmelte über ihnen einen langen lateinischen Spruch wie ein Gebet.

Vroni, welche die stille Zuschauerin war, kam das, was Kaplan Johannes
that, unheimlich und schrecklich vor. Ihre Augen irrten hilfesuchend
thalauf, thalab, doch wagte die Zitternde keinen Einspruch, dafür kam
ihr das Gewand des Mannes zu heilig vor. Zuletzt sagte sie gepreßt: »Wir
müssen ja gehen!«

»So geht!« grollte die Baßstimme des Kaplans, er schleuderte Vroni einen
zornigen Blick zu, machte das Zeichen des Segens über den zweien und
lief über die Brücke. Bald bimmelte das Glöckchen der Kapelle Vesper
durchs Thal, aber die Kinder knieten bei den Klängen nicht, wie sie's
gewohnt waren, nieder. Ohne sich zu grüßen, liefen sie hastig und mit
roten Köpfen auseinander, Binia mit dem Tier über die Brücke thalaus,
Josi und Vroni, mit ihren Holzschuhen klappernd, die Kraxe auf dem
Rücken, den Stutz empor, der mit seinem Zickzack gleich hinter dem
Schmelzwerk beginnt und nach St. Peter führt.

Da ragen, vom Weg nur durch die schreckliche, trichterartige Schlucht
der Glotter getrennt, die Weißen Bretter, drei senkrechte und glatte
Felswände, die aus der Tiefe der Schlucht wie weiße unbeschriebene
Tafeln bis zum Gletscher und ewigen Schnee des Glottergrates ansteigen.
Zwischen den drei Wänden ziehen sich zwei tiefe wilde Graben, in denen
sich ausgewitterte Felsen, Klippen und Türme erheben, ebenfalls bis in
die Höhe ewigen Winters, sie heißen die Wildleutfurren. In halber Höhe
aber geht wie eine dunkle Linie die Leitung der heligen Wasser quer über
die Felsen. Ein Rad, das oben klopft, sagt den Leuten im Thal, daß die
Wasser ruhig die furchtbare Strecke fließen.

Schweigend waren die Geschwister eine Weile gegangen, da lehnte Josi die
Kraxe an die Halde, die den Weg säumt, und schaute gespannt zu der
Leitung empor.

Nein, höher noch hinauf, zu dem blauschillernden Gletscher, der mit
einer Last reinen weißen Firnenschnees über die Wände hinausragte. An
seinem Rand stoben immer kleine weiße Rauchwolken auf, ein Rieseln und
Schäumen, wie das von Wasserfällen ging durch die Wildleutfurren
abwärts, verlor sich in ihren Klüften und knatternder Widerhall der
kleinen Lawinen füllte das Thal.

»Hast du das auch schon gesehen?« fragte Josi.

»Nein,« antwortete Vroni kurz und beklommen.

»Eben darum kommt die Wildleutlaue. In den letzten Wintern ist mehr
Schnee auf den Gletscher gefallen, als die Sommer haben zu schmelzen
vermögen; der Gletscher ist gewachsen, er tritt über die Felsen hinaus,
man sieht ihn, wo man ihn vorher nicht hat sehen können. Jetzt, wo es
heiß wird, schmilzt der Schnee, das Wasser fließt in das hervorstehende
Eis; die Last wird zu groß, der Gletscherbruch kommt, die Wildleutlaue!«

»Ums Himmels willen, Josi, laß uns gehen!«

»O, dem Weg schadet es nichts; wenn die Luft beim Sturz nicht so sausen
würde, so könnten wir da ruhig zusehen, Eis und Schnee stürzen in die
Schlucht, die ist ja groß. Aber es ist wegen der heligen Wasser!«

Vroni war unbekümmert um den Bruder, der ihr alles mit großen Worten
vortrug, aufgestanden, er folgte, in einer halben Stunde hatten sie den
Stutz, die Schlucht und die Weißen Bretter hinter sich, vor ihnen lag
auf dem sanften Oval des ebenen Thalhintergrundes ihr Heimatdorf, St.
Peter, das rings von hohen Bergen umsäumt ist.

Einen Augenblick schauten die Geschwister, die das letzte Wegstück
schweigend zurückgelegt hatten, über die weißen Windungen des Sträßchens
am Stutz hinab und nach dem Teufelsgarten zurück. »Lug' dort, Bini!«
rief Josi. Das wilde Kind hatte sich hinter der Kapelle auf das Maultier
geschwungen und sprengte nun, eben noch unterscheidbar, wie ein
fliegender Schatten über die schmalen Matten des Thales gegen Tremis
hinab. Vroni sah es wohl, wie sich das treuherzige Gesicht Josis
verklärte, als er noch einen Schein der Gestalt erhaschen konnte.

Ueber ihr frohmütiges Antlitz flog ein Schatten.

»Du, Josi, was der Kaplan Johannes gethan hat, das ist schrecklich. Er
hat dir und Binia den bösen Segen gegeben. Jetzt, wenn ihr auch
wolltet, könnten du und Binia nie ein Paar werden.«

Josi lachte trocken.

»Er ist kein Gottesmann,« fuhr Vroni fort, »er ist ein Teufelsmann. Die
Mutter sagt's. Er ist nur ein davongelaufener Klosterschüler, er darf
niemand die Beichte abnehmen; die Leute nennen ihn nur Kaplan, weil
früher, zu Bergwerkszeiten, die Kapelle der Lieben Frau eine Kaplanei
gewesen ist.«

Josi hatte das Bedürfnis zu widersprechen.

»Aber hat er auf den Alpen mit seinen Tränken und Sprüchen nicht schon
manchmal krankes Vieh gesund gemacht? Denk' nur an die zwölf Stücke des
Bäliälplers. Sie hatten die Klauenseuche und man wollte sie schon töten,
da segnete sie Johannes und sie wurden in drei Tagen gesund.«

»Ja -- und dafür starben dem Bäliälpler drei Wochen nachher die beiden
schönen Kinder, die bis dahin kerngesund gewesen waren; er und seine
Frau, die früher glücklich zusammen lebten, haben jetzt nichts als Zank
und Streit, er ist wild über sie, weil sie den letzköpfigen Pfaffen ohne
sein Wissen in den Stall geführt hat, und immer sitzt er zornig und
traurig im Wirtshaus.«

»Die Kinder sind vielleicht auch sonst gestorben,« versetzte Josi kühl.
»Wir lassen den Kaplan nie in unseren Stall, haben wir deswegen weniger
Unglück mit dem Vieh als andere Leute? Nein, im ganzen Dorfe haben wir
am meisten. Drei Jahre hintereinander haben wir Jungvieh aufgezogen, es
wuchs und gedieh auf das schönste, aber jedesmal, wenn's bald hätte
verkauft werden können, ist's umgestanden. Die Loba, die der Vater am
Samstag verkauft hat, ist seit vier Jahren das erste Stück, das geraten
ist.«

»Die Loba!« -- Vroni bückte sich tiefer unter ihrer Last; die Thränen,
die sie vergossen hatte, als der Händler das schöne liebe Rind
davongeführt hatte, drohten wieder zu kommen. Sie wurde traurig und
still.

»Du erzählst der Mutter nichts von Kaplan Johannes, gelt, Vroni,«
versetzte Josi schmeichelnd, als sie durch die mit großen
Pflastersteinen besetzte Straße von St. Peter schritten. »Nein, gelt, du
sagst nichts!«

»Ei, wie Josi betteln kann.« Das Gesicht Vronis hatte sich gehellt.
»Wenn du dich nie mehr mit dem Kaplan einlässest, will ich still sein.«

Sie schritten durch die lose Reihe gebräunter Holzhäuser, Ställe und
Städel[2], die das Dorf bilden. Als sie am Gasthaus zum Bären
vorbeikamen, einem alten, massiven Steinbau gegenüber der Kirche, die
sich auf einem Felsenhügelchen erhebt, öffnete sich ein Fenster und eine
Männerstimme rief: »Vroni! -- Josi!«

  [2] _Stadel_, schweizerdeutscher Ausdruck für Heuschuppen.

»Der Vater!«

Freundlich reichte ihnen der bärtige Wildheuer ein Glas voll Wein: »Ihr
werdet wohl Durst haben!«

Vroni nippte nur, Josi aber nahm einen tapferen Schluck.

»Sagt der Mutter, es könne, bis ich heimkomme, etwas später werden, als
ich gemeint habe, der Presi ist nach Hospel gegangen und ich muß ihn
erwarten.«

So der Vater. Die Kinder verabschiedeten sich, schlugen einen Seitenweg
ein, der durch Kartoffel- und Roggenäckerchen an den sonnigen Hang
hinüberführt, wo die Maiensässen[3] und Alpweiden der Leute von St.
Peter liegen.

  [3] _Maiensässen_ sind Berghäuser zwischen den Dörfern und den
      Alpweiden, sie bilden beim sommerlichen Zug der Sennen und des
      Viehs auf die Hochweiden den Zwischenaufenthalt, wo gewöhnlich im
      Mai mehrere Wochen geruht wird.

Da stand unter einem Felsblock ihr kleines Haus, auf dessen
steinbeschwerten Schindeln eine große Steinbrech blühte, jene Blume, von
der die Sage der Aelpler behauptet, daß sie nur auf den Dächern wachse,
unter denen der Friede wohne. Freundlich schauten die kleinen Fenster,
vor denen Stöcke roter Geranien prangten, gegen das Dorf.

»Ja, die Wildheuerfränzi versteht sich auf Blumen.« So sprach man im
Dorf. »Blumen und Geschichten sind ihr Sonnenschein.«

Erschöpft ließ Vroni die Kraxe auf die Bank vor dem Felsblock sinken,
auch Josi stellte die seine mit einem Ausruf der Erleichterung ab.

Unter der Thüre erschien die Mutter, die Wildheuerfränzi, selbst in
ihren abgetragenen Kleidern eine hübsche Frau, von kräftigem Wuchs,
vollem, üppigem dunklem Haar, offenen Zügen und jenen großen, blauen,
vielsagenden Augen, die Vroni von ihr geerbt hatte.

»Da seid ihr ja,« sagte sie erfreut, Josi aber rief: »Mutter, eine
Neuigkeit, die Wildleutlawine kommt!«

Eine geraume Weile später sah man den Presi mit seinem Fuhrwerk gegen
das Dorf fahren.



II.


Der Gasthof zum Bären war ein Altertum des Dorfes St. Peter. Die
Ueberlieferung berichtete, das aristokratische Haus sei, als noch ein
Saumweg über die damals weniger vergletscherten Berge nach Welschland
geführt habe, eine Sust, eine Warenniederlage, gewesen, wo die Maultiere
gewechselt wurden. Man erzählte sich, die Knappen des Bergwerkes hätten,
wenn sie ihr Silber und Blei über die Berge nach Welschland führten oder
von dort mit dem Erlös zurückkamen, im Bären hart gezecht, aus silbernen
Bechern getrunken, mit silbernen Kugeln gekegelt und manchmal sommerlang
fröhliche Italienerinnen als Spielgefährtinnen in dem Haus einquartiert.

Nur als Nachklang lebte die Erinnerung an diese üppigen Zeiten in St.
Peter fort, das Leben ging jetzt in Haus und Dorf den gemessenen stillen
Gang der einsamen Alpendörfer. Seit zwei- oder dreihundert Jahren stand
das Bergwerk still; so glänzend, wie es die Sage schilderte, mochte das
Knappenleben nie gewesen sein. Das Schmelzhaus war eine Ruine und der
alte Paßweg nach Welschland mit seinem Verkehr war verschollen, an den
Erzreichtum der Gegend erinnerten nur noch die schönen Drusen und
Gesteinsblüten, die man da und dort als Schmuck hinter den Fenstern der
Wohnungen sah.

Für den vielhundertjährigen Bestand des Bären aber sprachen seine
massive Bauart und die Jagdtrophäen, die am Dachgebälk befestigt waren:
gebleichte Steinbock- und Wolfsschädel, besonders ein eingetrocknetes
mumienhaftes Bärenhaupt, das als Wahrzeichen des Hauses an einer Kette
gegen die Thüre und die Freitreppe hinunterhing, die mit schönem
eisernem Geländer zum Eingang emporführte. Die weißgrauen Zähne des
Hauptes waren vermorscht und verwittert; die Jagdzeichen reichten wohl
bis in die Zeit der Venediger zurück, denn so lange schon gab es im
Glotterthal weder Bär noch Wolf, und seit dem Anfang dieses Jahrhunderts
sind auf den Felsen und Firnfeldern der Krone die Steinböcke
ausgestorben.

Ueber dem Fenster neben der Treppe prangte als eine neuere Zuthat am
alten Bau die Inschrift »Postbureau St. Peter« und der eidgenössische
Postschild.

Die stattlichen Wirtschaftsräume des Bären befanden sich im ersten
Stock; helles Arvengetäfel, aus dem die dunkeln Astringe wie Augen
schauten, und alte geschnitzte Wappenzier an den Decken fesselten den
Eintretenden. Der Hauptschmuck der großen Stube war ein alter Leuchter,
der ein Meerweibchen darstellte, dessen Leib in ein Hirschgeweih
auslief.

Am Eichentisch unter dem Leuchter saßen der Bärenwirt Peter Waldisch und
Hans Zuensteinen, der Garde[4].

  [4] _Garde_ (französisch %garde%, Hüter) nennt man in den Thälern, wo
      »Wässerwasserfuhren« bestehen, dasjenige Gemeinderatsmitglied, das
      die Aufsicht über die Wasserleitung hat.

Sie prüften das Fäßchen Eigengewächs, das jener gestern in Hospel
draußen geholt hatte.

»Wie Feuer, meiner Treu!« sagte der rauhbärtige Garde, das eine Auge
zukneifend und durch das erhobene Glas blinzelnd, in dem der Weißwein
sonngolden erglänzte -- »aber, aber, Presi,« seine Stimme wurde
plötzlich sehr ernst, »die Abmachung mit Seppi Blatter ist nichts. Wenn
der ganze übrige Gemeinderat dafür ist, so bin ich dagegen. Man dürfte
ja Fränzi, Vroni und Josi nicht mehr ins Auge sehen. Sagt mir einmal
ehrlich, wie stark hat bei seiner Unterschrift der Hospeler die Hand
geführt?«

Der Presi und Bärenwirt, der den rauhen untersetzten Garden um
Kopfeslänge überragte und neben ihm wie ein rechter Bauernaristokrat
erschien, lächelte verlegen und rückte auf dem Stuhl.

»Wollt Ihr lieber das Los entscheiden lassen?« fragte er lauernd.

Der Garde knurrte wieder, nach einer Weile fragte er aufs neue: »War
Seppi nüchtern?«

»Man macht keinen Handel, es ist ein Glas Wein zur Ermutigung dabei. Ich
war grad in guter Laune, ich ließ ein paar Flaschen Hospeler fließen,
Seppi aber war ziemlich nüchtern.«

Der Garde schüttelte bedächtig den Kopf, in den starken Furchen seines
breiten Gesichtes spiegelte sich Mißbilligung und Sorge, erst nach einer
Weile sagte er: »Das Ding ist nichts.«

Dem Presi lag augenscheinlich daran, dem Gespräch eine andere Wendung zu
geben, lachend rief er: »Zum Wohl, Garde!« Und als nun die Gläser
zusammenklingelten, fuhr er fort: »Warum ich gestern so hellauf war,
Seppi Blatter, Bälzi und dem Bäliälpler ein Glas vom guten Hospeler
schenkte, will ich Euch verraten. Es ist eine Ueberraschung --. Ich
führe wieder eine Wirtin in den Bären.«

Da sprang der schwerfällige Garde auf: »Was Ihr meldet, Presi! Wer
ists?« Die ehrliche Neugier stand ihm im Gesicht.

»Unter vier Augen und nur zu Euch -- Frau Cresenz, die Schwester des
Kreuzwirtes in Hospel. Wir haben die Angelegenheit gestern ins reine
gebracht.«

»Ich wünsche Euch Glück,« sprach der Garde feierlich und schüttelte dem
Wirt kräftig die Hand. Dann setzte er sich und knurrte in einem Ton vor
sich hin, der nicht entscheiden ließ, ob darin eine Zustimmung oder
Mißbilligung liege.

»Was sagt Ihr dazu?« fragte der Presi.

»Cresenz wird dem Bären schon wohl anstehen, sie hat sich als Witwe gut
erhalten, ist mit ihren fünfunddreißig Jahren eine hübsche Frau, sauber
und flink, sie versteht das Wirten und den Umgang mit den Leuten wie
keine andere, hat einen tadellosen Ruf, kurz, ich meine, Ihr führt eine
geschickte Frau ins Haus. Aber --«

Der Garde stockte.

»Aber?« -- wiederholte der Presi.

»Cresenz ist aus einem so großen Gasthof und an das Fremdenleben so
gewöhnt, daß es ihr hier bei uns hinten, wo doch nur Bauern und Alpleute
sind, langweilig wird.«

Der Bärenwirt lachte: »Falsch, Garde, falsch! -- Dafür ist gesorgt. Ein
schönes Stück wird schon sein, Bini zu ziehen. Das Kind ist verwildert;
denkt nur, gestern kam sie mir barfuß bis nach Tremis entgegen, es hat
mich geschämt vor den Leuten. Ich habe keine Zeit, mich mit ihr
abzugeben, die kropfige Susi, das Keifweib, wird nicht Herr über sie,
fahre ich aber einmal mit einem Donnerwetter dazwischen, so schilt sie
mich frank einen Rabenvater.«

Die beiden Männer lachten herzlich -- es schien, der Streit von vorhin
sei in lauter Freundschaft aufgelöst.

Da räusperte sich der Garde: »Haltet, wenn Ihr jetzt eine frische,
hübsche Frau bekommt, nur die Beth selig in Ehren und gutem Andenken.«

Das Gesicht des Bärenwirts verfinsterte sich.

»Aber das gebt Ihr doch zu,« sagte er mürrisch, »Frau Cresenz wird eine
bessere Wirtin als die arme selige Beth.«

»Alle Leute im Dorf haben sie geliebt und verehrt, nur Ihr nicht. Sie
war eine Frau wie ein Engel, sie hat nur das Unglück gehabt, da sie
Euern hochfahrenden Plänen nicht hat folgen können und nicht hat wollen.
Sie war eine, wie wir alle im Dorfe sind: einfach und fromm, stets auf
den Frieden im Leben und die Seligkeit im Himmel bedacht, Ihr aber
gleicht von jeher mehr den Leuten draußen in der Welt, hastig und
unruhig seid Ihr immer voll Pläne, habt Ihr immer eine ganze Menge Dinge
umzutreiben. Da wird Euch allerdings Cresenz besser verstehen als Beth!«

Der Presi lächelte überlegen: »Handel und Wandel, mein' ich, giebt dem
Leben das Salz und« -- er klopfte dabei auf den Tisch -- »mit Frau
Cresenz wage ich es. Der Bären soll ein Fremdengasthof werden, ich
nehm's mit dem Pfarrer und euch allen auf.«

»Presi!« Das Blut war dem Garden in den Kopf geschossen. »Presi, das
thut Ihr nicht!«

»Ihr werdet's schon erleben.« Die Augen des Bärenwirtes blitzten
übermütig und unternehmungslustig.

»Der Pfarrer wird Euch von der Kanzel angreifen und alle werden mit ihm
gegen Euch sein!«

»Der hochwürdige Herr soll das Geistliche besorgen, das Weltliche
besorgen wir schon.« Der Presi lachte und fuhr dann fort: »Ich will Euch
verraten, warum er keine Fremden will. Es sind jetzt vierzig Jahre, daß
er nach St. Peter gekommen ist. Da stieg über die Schneelücke herunter
der erste Fremde, ein berühmter Naturforscher, der mit seinen Führern
die Krone erklettert hatte. Die Leute von St. Peter erstaunten darüber
so sehr, daß sie den Pfarrer riefen. 'Vielleicht sind's Gespenster!'
sagte er und ordnete eine Prozession an, damit man ihnen entgegenziehe.
Als der Bergsteiger, seine Führer und Träger kamen, spritzte er ihnen
Weihwasser entgegen und schrie: %'Apage, apage, Satanas!'% Auf dieses
Zeichen trieben die von St. Peter die Fremden um das Dorf herum und
jagten sie den Stutz abwärts. Glaubt, Garde, wegen der Schande von
damals will der Pfarrer nichts von Fremden wissen, er fürchtet, die
Geschichte, wegen der wir von St. Peter in den Büchern als ein rauhes
und dummes Volk verschrieen sind, werde dadurch frisch!«

Der Garde hatte sich beruhigt: »Der Pfarrer ist gegen den
Fremdenverkehr, weil er von ihm das Verderben des Dorfes fürchtet. Er
hat recht. In Grenseln, wo jetzt auch zwei Gasthöfe sind, hat erst
diesen Frühling ein Mädchen, das im einen diente, ein Uneheliches
bekommen. Denkt die Schande!«

»Ja, aber die Forellen aus meiner Fischenz in der Glotter und den
Hospeler aus meinen Bergen würde ich gern etwas besser verkaufen, als es
bis jetzt geschehen ist.«

»Werdet nicht zum Fluch von St. Peter, Presi, dafür hat Euch wahrlich
die Gemeinde Euer Amt nicht gegeben. -- Ich muß jetzt von etwas
sprechen, wovon man eigentlich nicht reden soll, so wunderbar heilig ist
es. Hat je eine Lawine das Dorf St. Peter getroffen? Nie! Und doch
wohnen wir unter den Firnfeldern der Krone und sie hätten freien Weg.«

»Ich weiß schon, wohin Ihr zielt, aber ich bin nicht abergläubisch; die
armen Seelen kommen in die Hölle, nicht auf die Gletscher. Das sagt ja
der Pfarrer selbst,« höhnte der Wirt, »der wird's wissen!«

In diesem Augenblick schaute ein etwa fünfzehnjähriger Junge blöd durch
die halbgeöffnete Thüre.

»Nur hinein, Eusebi!« Lustig schob Binia den ungelenken schwächlichen
Burschen mit beiden Händen vom Flur in die Stube.

»Was willst, Eusebi?« fragte der Garde freundlich.

»S--s--sollst h--h--heim--k--k--ommen, V--v--vater. Ei-- ein R--rind ist
k--k--kr--rank auf d--d--er Alp.«

Der Stotterer schämte sich seines Uebels, er wußte nicht wohin blicken.

»Sei nur ruhig, Eusebi, ich komme!« Der Garde stand auf und der Presi
gab ihm bis auf die Freitreppe das Geleit.

Dort säumten die Männer noch einen Augenblick.

»Also wir müssen auf alles gefaßt sein, die Wildleutlaue kann jede
Stunde gehen,« sagte der Presi ernst.{1}

»Ja, aber noch einmal gesagt, die Machenschaft mit Seppi Blatter ist
nichts,« erwiderte der Garde. »Im übrigen hoffe ich, daß ich bei der
Wassertröstung[5] das Amt niederlegen kann. Ich bin der Geschichte
satt.«

  [5] _Wassertröstungen_ nennt man die Gemeindeversammlungen, in denen
      Beschlüsse über die Wasserleitungen gefaßt werden.

»Das nicht, das nicht; über Seppi Blatter aber reden wir im
Gemeinderat.«

Die Männer schüttelten sich die Hände.

»Nichts für ungut!« sagte der Garde, »ich rede frei von der Leber,
anders hab' ich's nicht gelernt.«

Binia aber rief: »Nicht wahr, Eusebi darf noch bei mir bleiben.«

»Gewiß,« lächelte der Garde wohlgefällig, »ich habe nichts lieber, als
wenn er bei anderer Jugend ist.« Da riß die wilde Binia den scheuen
Jungen mit sich.

Der Garde, der ganz aus Eisen zusammengesetzt schien, ging langsamen
Schrittes durch die kleinen Aecker zur Hütte des Wildheuers Seppi
Blatter. Er hatte schwer zu denken und wiegte den mächtigen Kopf: Was
für ein merkwürdiger Mann ist doch der Presi! St. Peter ist zu klein für
seine rastlose Betriebsamkeit. In allem hat er die Hand. Er hat seine
Schuldscheine auf Aeckerchen und Alpen, er beherrscht als Vermittler
zwischen den Sennen und den fremden Händlern den Käse- und Viehhandel,
er ist Posthalter und hat damit den Einblick in allen Verkehr und nun
will er noch Fremdenwirt werden.

Dazu die schlechte voreilige Anbändelei mit Seppi Blatter! -- Was hat er
für einen Zweck dabei? Keinen! Eine Laune ist's, ein Stück sträflichen
Uebermutes.

Da war er bei der Hütte angekommen.

»He, fleißige Vroni, wo ist der Vater?«

Vroni saß auf dem moosüberwachsenen Block, der das Häuschen schirmte,
sie flocht mit flinken Fingern an einem jener Strohbänder, woraus die
Glotterthalerinnen die zierlichen Hüte machen, die sie tragen. Nebenbei
überwachte sie die drei Ziegen, die, mit den Schellen klingelnd,
zwischen hohen roten Enzianen und blauem Eisenhut sich ihr Futter
naschten.

»Vater, Mutter und Josi wildheuen an den Bockjeplanken; kann ich dem
Vater etwas ausrichten, Pate?«

»Er soll unter Licht[6] bei mir vorbeikommen. Guten Abend, artiges
Kind --«

  [6] _unter Licht_, schweizerdeutsch, »in der Dämmerung«.

Damit stoffelte[7] er den Berg hinan. Vroni hatte aber von ihm einen
Blick aufgefangen, der ihr zu denken gab. In seiner Freundlichkeit war
ein sorglicher Ton gewesen, der ihr in den Ohren nachklang.

  [7] _stoffeln_, schwerfällig gehen.

Wie gestern rollte auch heute in einem fort Lawinendonner in stärkeren
und schwächeren Schlägen vom Gebirg, und plötzlich fiel ihr der Vater
ein. Sie wußte nicht warum. Doch! Er war am Morgen so blaß gewesen, er
hatte gesagt, er habe die ganze Nacht kein Auge geschlossen wegen des
Donners.

Vroni bemerkte es in ihrem Sinnen nicht, daß eine behende Gestalt wie
ein Wiesel über die Felsen hinaufgeklettert kam, sie erschrak
ordentlich, als Binia ihren Arm um sie schlang. Und dann sah sie den
scheuen Eusebi unten stehen.

»Komm, Sebi, komm!« Er kletterte, setzte sich zutraulich zu den zwei
Mädchen, seine Augen glänzten in stiller Freude. »Vroni und Bini wissen,
daß ich nicht so einfältig bin, wie die Leute meinen,« dachte er.

»Vroni, wie geht die Geschichte von den heligen Wassern weiter, mir hat
die ganze Nacht von der Wildfrau Gabrisa geträumt, sie war aber nicht
schwarz, sondern blond wie du!« scherzte Binia.

Vroni lachte, dann mahnte sie: »Du, von Josi darfst du keinen Kuß mehr
bekommen!«

Eusebi riß die Augen auf: »K--k--kuß,« stammelte er verwundert.

»So!« Lustig stellte Binia die weißen Zähne. »Erzähle jetzt nur, Vroni.
Josis Kuß war ja nur Spiel.«

Da legte Vroni, wie sie es gewohnt war, die Hände über das Knie und sah
in die Weite: »Ich fange jetzt gleich an, wo ich gestern zu überdenken
aufgehört habe, ich mag das Gleiche nicht zweimal sagen.«

»O, das macht mir und Sebi nichts, wenn du nur erzählst,« versicherte
Binia.

Da begann Vroni:

»Man wunderte sich, wie die Wildleute Wasser in die Weinberge
hinaufführen oder tragen werden und viele Leute gingen nach Hospel
hinaus, um es selber zu sehen. Die Wildleute fingen aber bei St. Peter
zu arbeiten an, sie hieben Bäume um und höhlten die dicken Stämme fast
ganz aus, so daß breite und tiefe Kännel entstanden. Den ersten legten
sie an das Gletscherthor, aus dem die Glotter ins Thal läuft, und dann
viele Hunderte daran, den Anfang des einen in das Ende des anderen,
immer fast eben hin. Von Zeit zu Zeit prüften sie, ob das Wasser
hindurchfließe, und wenn es lief, so tanzten sie vor Freude und
klatschten in die Hände. 'Alleweil sanft, alleweil sanft,' riefen sie
sich zu, und da ihnen der Boden des Thales zu rasch abwärts ging, zogen
sie die Kännel den Berg entlang, so daß sie viel höher als der Thalboden
zu liegen kamen und sich hoch am Berg dahinwanden. Die Thalleute
wunderten sich, daß sich die Wildleute so viel Mühe gaben, sie wußten
nicht, was werden solle. Die Wildleute aber riefen:

    'Sunneschyn, ja Sunneschyn
    Macht die ruchen[8] Wasser fyn!'

  [8] _ruch_, rauh.

»Wo ein Baum stand, der die Kännel beschattet hätte, fällten sie ihn. So
zogen sie die Leitung der Sonnenseite des Thales entlang und hoch durch
ihren eigenen Wald zwischen dem Dorf und dem Schmelzwerk, wo jetzt die
Weißen Bretter sind:

    'Durefüehren, durefüehren,
    Zirble[9] aber nit anrüehren!'

  [9] _Zirble_, Zirbelbaum, Arve.

»So riefen sie sich ängstlich zu. Den Leuten kam es seltsam vor, daß die
Wasserleitung im Wildmannliwald am Schatten gehen sollte, sie aber
sagten:

    'E Wurzen[10] git dem Berg den Halt
    Und wenn sie bricht, so fallt der Wald!'

  [10] _E Wurzen git_, eine Wurzel giebt.

»So bauten sie die Kännel, viele Kirchtürme hoch über Hospel kam das
Wasser in die Weinberge, und vom langen Lauf an der Sonne war es ganz
warm.

»'Aber es ist ja trüb, was sollen wir mit trübem Wasser anfangen?'
murrten die Weinbergleute. Die Wildleute jedoch tanzten wie närrisch um
die fertige Leitung und mahnten:

    'Trüebe Wasser, güldige Wyn!
    Grabend Gräben, lassend's yn!'

»Die Leute folgten dem Rat, sie gruben Furchen zu den verdorrten
Weinstöcken und siehe, die Reben grünten und trieben Schosse, wo ein
Tröpflein hinkam, sproßte das Gras, die Bäume schlugen aus. Das ganze
Land um Hospel wurde schön wie ein Garten und prangte in Fruchtbarkeit.

»Die Leute standen da, die Eltern zeigten das Wunder den abgemagerten
Kindern, die Greise weinten vor Freude und streckten die Hände ins
Wasser, daß sie merken, wie es riesele.

»Da rief einer: 'O du heliges Wasser', und alle antworteten: 'Ja,
heliges Wasser, heliges Wasser!' Seither hat man die Leitung nie anders
genannt.

»Die Dörfer des Thales, St. Peter, Tremis und Fegunden, und alle jene,
die von dem Ueberfluß der Hospeler Wasser erhielten, traten zu einer
Landsgemeinde zusammen. Sie beschworen, daß niemand das helige Wasser
letzen oder damit Vergeudung treiben dürfe, sie setzten Verbannung oder
Tod darauf, sie legten das Landbuch an, in dem jedes Grundstück
aufgezeichnet und ihm das Maß des Wassers bestimmt ist, das ihm zur
Tages- oder Nachtzeit zugeleitet werden darf, sie bestellten beeidigte
Wächter, die nachsahen, daß keiner zu viel und keiner zu wenig vom Segen
erhielt. Und alle drei Jahre legten die Leute den Finger auf das
Landbuch, daß sie ewig halten, was darin stehe. Von da an hatten die
von St. Peter Reben, die Wildleute aber zogen sich wieder tief in den
Wald zurück.«

Während Vroni so sprach, schien es, als bewegten sich den steilen
Alpenweg hinab drei Bündel. Zuerst waren sie nur wie dunkle Punkte
gewesen, aber jetzt wurden sie größer und größer. Ihre Träger sah man
nicht, aber die Erzählerin jubelte, sich selber unterbrechend, doch:
»Sie kommen, schaut, wie viel Heu sie haben. Es ist das erste des
Jahres.«

»Bis sie da sind, erzähle noch ein wenig, Vroni, es ist alles schön, was
du sagst,« schmeichelte Binia. Selbst der blöde Sebi nickte.

Vroni, das sah man ihren glänzenden Augen an, war im Zug:

»Das dauerte lange, lange Zeit. Die Menschen kamen auf die Welt und
starben, niemand wußte mehr etwas anderes, als daß die heligen Wasser
Jahr um Jahr Segen und Fruchtbarkeit spendeten. Unterdessen betrieben
die Venediger den Bergbau, sie lebten üppig und in Freuden, das
fröhliche Leben ging im Bären nie aus. Die von St. Peter wurden durch
den Wein, den sie an den Bergen von Hospel pflanzten und den Knappen
verkauften, sehr reich. Allein es kam die Zeit, wo die Bergleute alles
Holz, das an den Thalseiten wuchs, für ihre Feuer abgeschlagen hatten,
und wegen der Lawinen und Steinschläge wuchs das neue nur langsam nach.
Der Holzmangel war groß. Der Wald der Wildleute aber, der so nahe am
Schmelzwerk lag, stand in Schönheit und Pracht. Da boten die Venediger
denen von St. Peter so viel lötiges Silber, als sie in sieben Wochen
gewannen, wenn sie diesen Wald schlagen dürfen. Da man schon lange
keinen Wildmann mehr gesehen hatte und die Leute glaubten, die Wildleute
seien gestorben oder fortgewandert, so verkauften sie den Forst, der
nicht ihnen gehörte, und die Venediger schlugen ihn. Manchmal, wenn die
Bergknappen die Axt in einen der Bäume hackten, erscholl aber aus dem
Wald ein Klagen, wie wenn Kinder weinen würden, und aus den Gebüschen
hörte man das Geräusch der fliehenden Wildleute. Als die Knappen die Axt
an die älteste Arve legten, überpurzelte der mächtige Baum, es klirrte,
wie wenn im Boden eine Kette reißen würde, und ein Wildmannli, das
erschreckt forteilte, rief:

    'Untrü, Untrü, du machst großes Weh,
    Jetzt hebt[11] der Wald am Berg nit meh!'

  [11] _hebt_ = hält.

»Das war der letzte Wildmann.«

Vroni brach ab. Die Wildheuer, der Vater, die Mutter und Josi, mit ihren
Lasten waren herangekommen. Sie warfen ihre Bündel ab, streiften die
weißleinenen Kapuzen zurück, die ihre Köpfe vor dem Heustaub schützten,
und wuschen sich am Brunnen, der neben der Hütte summt, die erhitzten
Gesichter und die Hände.

Vroni, die fast den ganzen Tag einsam gewesen war, begrüßte die
Ankömmlinge mit lebhafter Freude, aber sie dauerte nur einen Augenblick.
Warum zog sich die Stirne des Vaters so finster zusammen, als er Binias
ansichtig wurde, was war das für ein fremder, schmerzlicher Zug, der
über das braune Gesicht bis in den blonden Bart hineinzuckte?

Plötzlich schrie er wie aus wilder Qual heraus Binia an: »Fort mit dir,
du Schlechthundekind!«

Die Erschrockene und Verwirrte, die das böse Wort wie ein Blitz aus
heiterem Himmel traf, stand einen Augenblick fassungslos, dann flüchtete
sie so schnell wie eine Gemse. Hinter ihr drein Eusebi, der aber weit
zurückblieb.

Fränzi und die Kinder standen verdutzt; erschreckt, vorwurfsvoll sagte
die Frau: »Seppi, Seppi! bist du letzköpfig geworden? Die Binia hat dir
ja nichts gethan!«

Der verstörte Mann gab keine Antwort, er setzte sich auf den
Dengelstein, mit verbissener Wut begann er die Sicheln zu rüsten, als ob
sie in Stücke gehen müssen.

Fränzi ging beleidigt ins Haus, Vroni standen die hellen Thränen der
Kränkung in den Augen, Josi machte sich mit dem Heu zu schaffen, damit
seine tiefe Verlegenheit nicht zu auffällig sei.

»Vater, der Garde hat gesagt, Ihr sollt heute abend noch zu ihm kommen!«
wagte Vroni schüchtern zu melden.

Da schnob Seppi Blatter: »Hole der, welcher hinkt, den Garden mit dem
Presi!«

Weinend lief Vroni davon. Mutter und Kinder verstanden den Vater nicht
mehr. Den ganzen Tag war er einsilbig gewesen und hatte gebrütet. Und
jetzt war er so sinnlos wild, er, der Mann, der sonst immer von stiller
Gemütsheiterkeit war und gern einen Scherz machte, wenn ihn die Sorgen
nicht zu stark drückten.

Etwas mußte gestern abend im Bären vorgefallen sein.

Aber was? -- Wenn er es nicht freiwillig sagte, erfuhren es Mutter und
Kinder nicht. Das wußten sie schon.

Als die Haushaltung in der kleinen Stube beim Abendbrot, bei
Wegwartekaffee, schwarzem hartem Roggenbrot und Käse, um den Tisch saß,
wollte Josi das Gespräch auf die Wildleutlaue bringen, aber da donnerte
ihn der Vater mit einem »Halt 's Maul!« an.

Und als Fränzi sanft mahnte, er möchte doch zum Garden gehen, sagte er
ganz traurig: »Ich bin todmüde -- gute Nacht, alle zusammen.«

Beklommen ging der Haushalt zur Ruhe und die harte Tagesarbeit brachte
Josi wenigstens bald den Schlaf.

Er wurde furchtbar daraus geweckt. Ihm war im Traum, als rüttelte der
Wind am Haus, als knackte das Schindeldach -- er wurde munter -- das
Getöse dauerte fort, die Balken knarrten, die Ziegen im Stall begannen
zu meckern. Im Dorf bellten die Hunde und von weit her hörte er das Vieh
plärren. Er schlich sich erschrocken zur Luke, die von seinem Dachgemach
ins Freie ging. Der Himmel über den Bergen war sternklar, aber vom Stutz
herauf schwebte es wie ein grauer Nebel und die Luft wogte. Feiner
Schneestaub begann zu rieseln, die Gegend verfinsterte sich.

Da wußte er es: Die Wildleutlaue an den Weißen Brettern ist gegangen.

Jetzt fingen die Glocken zu läuten an, wie es Brauch ist in St. Peter,
wenn eine Lawine, ein Gewitter oder ein Brand im Thale wütet. »Betet,
betet!« läuteten sie.

Halb angekleidet stieg Josi in die Stube hinunter.

Welch ein Anblick! Die Mutter saß totenblaß auf einem Stuhl, vor ihr auf
dem Boden kniete, barfuß und nur halb bekleidet, der Vater, das Haupt in
ihren Schoß geneigt, seine sehnigen Hände um die ihrigen geschlungen.

Der gewaltige Mann stöhnte, schluchzte und rang nach Worten, daß es
einen Stein hätte erbarmen müssen.

Vroni saß am Tisch vorgelehnt, durch die Hände, mit denen sie das
Gesicht bedeckt hielt, drangen die Thränen, ihre junge Brust bebte vor
Leid.

»Was giebt's?« fragte Josi; als er aber von keiner Seite Antwort
erhielt, fingen vor Angst auch ihm die Glieder an zu zittern, die Zähne
zu klappern.

Da kam's aus der Brust des Vaters, als würde ihm das Herz abgedreht und
sich im Leib auch eine Lawine lösen:

»O Fränzi -- liebe Fränzi -- ich habe es versprochen -- ich muß an die
Weißen Bretter steigen.«

Ein Schrei drang aus der Hütte in die Nacht, er kam von Vroni. Die
Mutter saß entgeistert, sie hatte willenlos ihre Hände aus denen des
Vaters gelöst und strich ihm über den Scheitel. Sie flüsterte immer nur:
»Mein armer Seppi -- mein armer Seppi! Das also ist's, warum du nicht
hast reden können. Gott! Gott!«

Ihr Streicheln und ihre Worte beruhigten den Knieenden, so daß er, wenn
auch nur stoßweise, sprechen konnte.

»Ich habe dem Presi die drei Zinslein für das Aeckerchen bringen wollen.
Der Bäliälpler mit der krummen Nase hockte da -- der Wildheuer Bälzi mit
den wässerigen Augen und dem schwarzen Bocksbart. -- Wir haben um eine
Maß[12] gehäkelt[13]. -- Ich habe beide über den Tisch gezogen. -- Da
fingen sie an zu necken und zu hänseln. -- Ich sei wohl stark, aber doch
ein Hasenherz und wage mich nicht, wie sie, auf die Kronenplanken. Ich
höre eine Weile zu und sage nichts. Da kommt endlich der Presi und redet
von der Wildleutlaue. Er lacht, er spricht so drum her, es könnte einer
ein schönes Stück Geld verdienen, wenn er die Gemeinde nicht zum Los
kommen lasse. Ich meine, es geht auf Bälzi. 'Hast ja acht Kinder, laß
dich auf den Handel nicht ein!' sage ich.

  [12] Die _Maß_ ist das ehemalige schweizerische Einheitsmaß für
       Flüssigkeiten. Sie faßt anderthalb Liter.

  [13] _Häkeln_, so viel wie Fingerziehen, ein beliebtes Kraftspiel der
       Aelpler.

»'He, es wird einer an die Bretter steigen müssen,' machte der Presi
unwirsch, 'er braucht ja nicht grad in die Ewigkeit zu fallen.' Ein Wort
giebt das andere. Plötzlich sagt er zu mir: 'Wenn einer noch drei
Zinslein schuldig ist, braucht er den Mund nicht so weit aufzumachen,
wie du, Seppi; gescheiter wär's, du stiegst an die Weißen Bretter.'

»Ich bin wie vom Donner getroffen, ich rolle das Geld aus dem Sack auf
den Tisch, da höhnt er: 'Eben, eben, hast die Loba verkauft. Wenn ich's
schon nicht hätte erfahren sollen, so weiß ich's. Hättest mir wohl
vorher einen Deut thun können.' Ich darauf: 'Es darf doch noch einer
sein Rind verkaufen, ohne daß so und so viel Franken in den Fingern des
Presi bleiben.'

»Da schlägt er auf den Tisch, brüllt, es sei traurig, wenn einer an der
Zahlung von vierhundert Franken sechs Jahre herumzerre. Und er kündigt
mir den Brief auf Martini.

»Ich habe immer gehofft, er werde wieder gut zu mir, er ist sonst nicht
ungrad und wir sind alte Schul- und Militärkameraden, drum bin ich in
der Stube sitzen geblieben. Er ist auch wieder artig geworden, man
redet, man trinkt, da lacht er auf einmal: 'Wage den Streich, Seppi,
steige an die Weißen Bretter. Auf deinem Aeckerchen, das für vierhundert
Franken verschrieben ist, steht noch eine Schuld von hundertachtzig
Franken. Ich will nicht der Presi sein, wenn die Gemeinde dir nicht den
Brief abnimmt, sofern du die heligen Wasser wieder herstellst; sage ja,
und ich übernehm's auf meine Verantwortung, ich gebe dir gleich den
Vertrag. Die Genehmigung durch die Gemeinde bleibt vorbehalten. Soll ich
schreiben?'

»'Nein, nein,' schreie ich und kann fast nicht reden, 'kennst du das
Vaterunser: Und führe mich nicht in Versuchung!'

»'Ho,' meint er, 'es ist ein schöner Verdienst, du kannst an einem Tag
nicht mehr gewinnen. Du verdienst nicht so viel in einem Jahr. Und wenn
ich das Briefchen kündige, kommst du auch in Verlegenheit.'

»'Ein dummer Teufel bist,' sagte Bälzi.

»Ich trinke, die anderen lachen: 'Den Schlotter hast, aber keinen Mut!'
Da habe ich den Wein im Kopf gespürt, ich habe auf einmal den Acker
deutlich vor mir gesehen, wie er schuldenfrei voll Aehren steht. -- Hin
und her hat es mich gezerrt, daß mir ganz taumelig geworden ist. -- Der
Presi schreibt, die anderen zwei schwatzen auf mich ein, ich sehe
nichts, ich höre nichts. -- Da liegen die Scheine vor mir, der Presi
sagt: 'Du mußt unterschreiben, -- entweder den Empfang der Kündigung
oder den Vertrag, daß du an die Bretter gehst.'

»Ich nehme die Kündigung, da schreit Bälzi: 'Du Großhans, wo willst du
zu Martini hundertachtzig Franken hernehmen? Da hast den anderen
Schein!'

»Mir ist schwarz worden vor den Augen -- ich habe nicht mehr gesehen,
was ich unterschrieb -- als der Presi den einen Vertrag eingesteckt
hat, habe ich es gewußt, was ich gethan.

»Da ist die Sünde!« Der bleiche Mann zog aus der offenen Weste ein
zerknittertes Papier hervor und warf es auf den Tisch. Dann neigte er
sein Haupt in den Schoß seines Weibes.

Lautes Weinen erfüllte die Hütte; mit dem rauschenden Kienspanlicht, das
seinen flackernden Schein über die Gruppe des Elends warf, kämpfte das
Morgenrot.



III.


Die Wildleutlaue ist gegangen!

In der Nacht schon standen die Leute in Gruppen vor den Häusern des
Bergdorfes, redeten miteinander, und als der Morgen kam, dachte niemand
ans Tagewerk.

Im Bären saßen schon Gäste. Ihre Zahl wuchs, als die, welche an den
Stutz hinausgegangen waren, um die Größe der Verwüstung zu sehen,
zurückkehrten. Sie brachten den Bericht, den man erwartete: die Lawine
hatte die Leitung der heligen Wasser von den Weißen Brettern
hinuntergefegt und den Abgrund der Glotter mit Eis und Schnee gefüllt.

Also ist heute Wassertröstung! Die Bauern erzählten sich die Schrecken
der Nacht: Die Scheiben klirrten, die Luft sprengte die Thüren auf, die
Betten wackelten, die Kinder schrieen, die Frauen riefen zu den
Heiligen.

Die alten Sagen von den heligen Wassern hatten freien Lauf. Binia, die
der Lärm aus dem Bett geschreckt hatte, und wie ein aufgescheuchter
Vogel verwirrt und übernächtig von einem Gemach des Hauses zum anderen
flatterte und überall fortgeschickt wurde, hätte in der großen
Wirtsstube nur zu horchen brauchen, um den Rest der Geschichte zu
vernehmen, den ihr Vroni schuldig geblieben war.

Nachdem die Venediger den Wildleutewald geschlagen hatten, kam an der
Stelle, wo die große Arve gestürzt war, ein weißer Fleck, der Felsen,
zum Vorschein und glänzte, als ob dort ein Stück Schnee nicht
weggegangen wäre. Mit jedem Gewitter und jeder Schneeschmelze wurde der
unheimliche Fleck größer, die Weißen Bretter wuchsen gespenstisch aus
dem dunklen Erdreich, die Wasser wühlten die Furren[14], schlechte Jahre
machten die Gletscher groß und eines Tages wischte ein Gletscherbruch
die Kännel der heligen Wasser, deren Befestigung immer schwieriger
wurde, in die Glotter hinab.

  [14] _Furre_ = Furche, Runse, Steilschlucht.

Man sah darin die Strafe der Wildleute und nannte den Eisbruch -- die
Wildleutlawine!

Als die Wasser gebrochen waren, kehrte in Hospel und in den Dörfern
wieder Dürre und Mangel ein. Der Zorn der Bewohner des großen Thales
wandte sich gegen die Venediger und die Leute von St. Peter, da sie
schuld an dem Unglück seien. Die Dörfer forderten sie durch Boten auf,
daß sie die Leitung wieder herstellen, doch wagte es niemand, an die
senkrechten Weißen Bretter hinaufzusteigen, Kännel darüber hinzuführen
und sie zu befestigen. Da stellten die Hospeler und die Dörfer im Thal
bei Tremis Wachen auf, sie ließen niemand weder nach St. Peter hinein,
noch von dort nach Hospel hinaus. »Unglück über uns!« klagten die von
St. Peter, aus Mangel zogen die Venediger über die Schneelücke ab, das
Bergwerk zerfiel und die Füchse wohnten in den Stollen. Die Not wurde
immer größer, denn die kleinen Aeckerchen, welche die Leute um das Dorf
hin anlegten, gaben nicht genug Brot, es fehlte das Holz und viele
Bewohner erfroren im Winter. Der Pfarrer erlag der Seuche, die im Dorfe
herrschte, niemand verkündete mehr das Wort Gottes. Da sagten die von
St. Peter. »Ehe wir gottlos werden wie die wilden Tiere, ehe unsere
Kinder ins Leben treten ohne Taufe, die Söhne und Töchter heiraten ohne
Trauung, die Greise sterben ohne Beichte und Sakrament, wollen wir uns
mit Gewalt den Thalweg erzwingen.« Mit Sensen und Gabeln fielen die
Männer und Frauen von St. Peter über die Wachen bei Tremis und töteten
sie, aber in der zweiten größeren Schlacht, die beim Bildhaus an der
Gemeindegrenze von St. Peter und Tremis geschlagen wurde, erlagen sie.
Die Krieger aus dem großen Thal drangen bis ins Dorf vor, raubten und
plünderten und die Bewohner mußten sich ihnen auf Gnade und Ungnade
ergeben.

Da kam ein großes Versprechen zu stande, das für ewige Zeiten ins
Landrecht aufgenommen wurde. Die von St. Peter sollen die heligen Wasser
an den Weißen Brettern vorüberführen und sie vom Gletscher an bis zum
Bildhaus bei Tremis unterhalten, wie es das gemeinsame Wohl forderte,
dafür sollen sie ungehindert aus dem Thale verkehren können und ihre
Weinberge zurückerhalten, die vorderen Dörfer aber sollen die Leitung
von der Brücke an besorgen und Friede immerdar währen.

Jetzt wußten die von St. Peter, daß ihnen nichts anderes übrig blieb,
als die heligen Wasser, sollte es auch alle Bürger kosten, an den Weißen
Brettern vorüberzuleiten. Sie bestimmten, daß das Los unter ihnen
entscheide, wer von ihnen die großen Eisenringe, in die man die Kännel
hängen wollte, hoch an den gräßlichen Felsen befestigen müsse. Des
Losens war kein Ende, einer nach dem andern stieg hinauf, schon waren
sieben gefallen, das Wehklagen des Dorfes füllte das Thal, und viele,
die das Los noch verschont hatte, wanderten heimlich mit ihren
Haushaltungen über die Schneeberge aus. Da war ein Ehrloser, Matthys Jul
mit Namen, der zu Hospel an einer Kette im Gefängnis lag, weil er einen
andern Mann im Zorn erschlagen hatte. Er anerbot sich, die Leitung
herzustellen, wenn er dadurch seine Freiheit und Ehre wiedererlange. Man
führte ihn an die Weißen Bretter und siehe da -- ihm gelang es, die
Reifen festzumachen und die Kännel zu legen. Die Merkhämmer klopften,
das Wasser floß nach langem Unterbruch wieder fröhlich durchs Thal; da
wurde beschworen, daß jede Blutschuld gesühnt sei, wenn der Thäter die
heligen Wasser an den Weißen Brettern aus dem Verderben rette.

Alle zweimal sieben Jahre, bald ein paar Sommer früher, bald ein paar
Sommer später, saust die Wildleutlaue über die Weißen Bretter herunter
und zerstört die Wasserfuhre, immer muß dann ein Mann auf Leben und
Sterben an die Felsen emporsteigen, daß er die Kännel wieder füge, und
geheimnisvoll waltet, wenn sich kein Freiwilliger meldet, darüber das
Los.

Als vielhundertjährige, durch Brauch und Sitte, ja sogar durch die
kirchlichen Anschauungen geweihte unablösbare Fron liegt die
Instandhaltung der heligen Wasser auf dem Dorf, der milde Segenspender
von Hospel ist der Drache von St. Peter, der die blühende Mannschaft des
Dorfes verschlingt. Dunkle Sagen melden von manchem Opfer, das
unfreiwillig an die Weißen Bretter emporgezwungen worden ist; mit den
Ueberlieferungen, die von den Unglücksfällen berichteten, welche an den
schrecklichen Wänden geschehen sind, könnte man ein Buch füllen.

Auf einer der vielen Gedenktafeln im grauen Kirchlein an der Brücke, das
einst den fröhlichen Bergknappen als Gotteshaus diente, sagt eine
Inschrift, die auch schon halb verblaßt ist, kurz und schwer: »Welche
Trauer! Der Totfäll' ist kein End'!«

Sollen die Opfer überhaupt nie enden? -- Die Sage tröstete, einst würde
ein Liebespaar St. Peter von der Blutfron an den heligen Wassern
erlösen, aber eine Jungfrau müsse darüber sterben. Wann? -- Ja, wohl
erst, wenn sich die andere Sage erfüllte, daß auf den Bergen, auf denen
jetzt die großen Gletscher liegen, Rosengärten blühen, der kreisende
Adler sich des fallenden Zickleins erbarmt und es der Mutter bringt.

Heute ist Wassertröstung -- Losgemeinde. Nur scheu und verstohlen wagt
sich die Frage, die auf allen Herzen brennt, hervor: Wer wird an die
Weißen Bretter steigen müssen? -- Das Los -- das blinde Los, wen
trifft's? -- Sie liegt wie ein Alpdruck auf den Gemütern, denn keiner
weiß, ob nicht er aus der alten silbergetriebenen Urne des Dorfes, die
noch an die Bergwerksherrlichkeit erinnert, sich die Verdammnis ziehen
wird, als Bürger von St. Peter den Gang auf Leben und Sterben zu wagen.
Er -- oder wenn nicht er, sein Vater, sein Sohn oder sein Bruder. Auf
jedem Herzen liegt die Furcht und gräßliche Spannung. Da ist kein
Unterschied zwischen arm und reich, wer zwischen zwanzig und sechzig
Jahren und im Besitze der bürgerlichen Ehren steht, der muß dem Rufe
folgen, wenn er aus der Losurne an ihn ergeht.

Auf die erste Nachmittagsstunde, nachdem die heligen Wasser gebrochen
waren, sollten die Bürger zur Losgemeinde einberufen werden. So
forderten es die alten Satzungen. Vom Fall der Lawine an bis zur Loswahl
standen in St. Peter alle Rechtshandlungen, die sich nicht auf die
heligen Wasser bezogen, Kauf, Verkauf, Taufe, Hochzeit und Begräbnis
still. Beim Ehrenverlust durfte niemand das Thal verlassen, alle hatten
dem Klang der Glocken zu folgen, die vom Mittag an eine Stunde lang zur
Wassertröstung läuteten. Die Satzungen drängten auf rasches Handeln, und
das war gewiß besser als die lange Ungewißheit; um so furchtbarer aber
lasteten die kurzen Morgenstunden auf dem Dorfe, denn noch war die
Abmachung zwischen dem Presi und Seppi Blatter nur wenigen bekannt, und
die schwiegen.

Die einen, die im Bären saßen, stierten trübsinnig in das Glas und der
Wein mundete ihnen nicht, die anderen tranken und johlten dazu.

St. Peter, das stille Dorf, wo die Leute kaum zu lachen und zu reden
wagten, war heute laut und lebendig, der Hälfte der Bewohner hatte die
Furcht und Spannung die Zunge gelöst.

»Hört! -- hört!« Alle drängten sich um den Tisch, wo der bocksbärtige
Bälzi beim Schnaps hockte und prahlerisch wiederholte: »Ich weiß, was
ich weiß -- es kommt nicht zum Losen. Es meldet sich einer.« Allein er
blieb bei dunklen Andeutungen -- enttäuscht wandten sich die anderen von
ihm ab: »Er ist ein unzuverlässiger Lump. Gebt nichts auf den!«

Doch hatte sich's schon einigemal zugetragen, daß sich unverhofft und in
den bittersten Nöten ein Freiwilliger für die gefahrvolle Arbeit
meldete. Im Anfang des Jahrhunderts ein armer, braver Knecht, der
umsonst beim harten Vater um die Hand der Meisterstochter gebeten hatte.
Er legte die Kännel, und die Gemeinde trat für ihn als Freiwerber ein.
Im Jahre 1819 fiel ein Freiwilliger, der geglaubt hatte, seinem toten
Vater, der wandeln mußte, die Ruhe zu verschaffen. Und nachdem zweimal
das Los gewählt, hatte sich vor vierzehn Jahren Hans Zuensteinen
freiwillig als Helfer gestellt; sein Gang war die Lösung eines Gelübdes,
das er für die glückliche Errettung seines Weibes aus dreitägigen Nöten
bei der Geburt Eusebis gethan hatte.

Darauf hatte man ihm das Ehrenamt des Garden verliehen, das er
musterhaft verwaltete.

Wunderbar wäre also nicht, wenn auch jetzt wieder einer, von den
geheimen Mächten des Lebens getrieben, aufstehen und den Bann von der
Gemeinde nehmen würde.

Susi, die alte Trottel von Haushälterin, und Mägde aus dem Dorf
besorgten die Wirtschaft, der Presi ließ sich seit einer halben Stunde
nicht blicken, aber wenn die Gäste gehorcht hätten, so hätten sie seine
schweren Schritte durch die Decke über sich gehört.

»Gott's Maria und Sankt Peter -- Räusche haben wir alle gehabt.« --
Jetzt stand er im Selbstgespräch still und stützte sich auf den Tisch.
»Ich muß hinter sich machen.« Er nahm ein beschriebenes Blatt Papier, er
that, als wolle er es zerreißen. Er legte es aber wieder hin. »Was
angefangen ist, muß man vollenden.« Er lief und wiederholte: »Dumm« --
»dumm« -- »dumm.«

Der Mann kämpfte gegen sich selbst, daß ihm die hellen Schweißtropfen
auf der Stirne standen. Er hatte nichts Großes gegen Seppi Blatter; der
war ein geplagter Mann, der mit seinem Fleiß ein besseres Fortkommen
verdient hätte, und der Verkauf des Rindes war nicht von Wichtigkeit.
Man durfte als Presi nicht kleinlich sein. Der ganze Handel war ein
Streich des Uebermutes gewesen, in seiner Anheiterung hatte er, gereizt
von Seppis Widerstand, prüfen wollen, ob er ihn nicht doch herumbringe.
Ja, wenn die Sache zwischen ihm und Seppi geblieben wäre, dann hätte er
schon rückwärts krebsen können, aber der Bäliälpler wußte davon, Bälzi
-- und der Garde. Ohne den offenen oder heimlichen Spott dieser
herauszufordern, ging's nicht ab. Nun -- und ob! Wieder griff er nach
dem Papier.

Da klopfte es. Der krummmäulige, bogennasige Bäliälpler, der vorher ein
rechter Mann gewesen war, aber seit dem Tod seiner zwei schönen Kinder
den Halt verloren hatte, trat ein. Er zog den Hut: »Presi, mich drückt's
-- in die Geschichte will ich nicht gesponnen sein. Ich habe nichts
gesehen und nichts gehört. Ich habe einen Rausch gehabt.«

»Das war doch nur ein zu weit getriebener Scherz!« erwiderte der Presi
heiter; »natürlich kann Seppi nicht behaftet werden, wir müssen halt
losen!«

Er hatte sich im Augenblick entschieden, der Bäliälpler schien ihm wie
ein Helfer der Vernunft und er begleitete ihn wie aus Dankbarkeit zur
Thüre. Da hörte er Binias glockenhelle Stimme:

»Nein, nein, alte Susi, zu Fränzi lasse ich mich nicht schicken, Seppi
Blatter ist ein wüster Mann, der hat mir 'Schlechthundekind' zugerufen
und mich fortgejagt.«

Der Presi traute seinen Sinnen nicht -- horchte -- schnob: »Binia,
daher!« und zog das Kind, das, nichts Gutes ahnend, flüchten wollte, in
sein Zimmer.

»Wie hat dich Seppi Blatter genannt?« -- Die Kleine schwieg. Da rüttelte
er sie zornrot und wiederholte keuchend die Frage.

»Schlechthundekind,« weinte die Kleine leis.

»Schlechthundekind! Schlechthundekind! Schlechthundekind! Seppi, du mußt
ans Brett!«

Wie ein wildes Tier lief der Presi hin und her, er stampfte, daß man es
in der Stube unten hörte. Binia erspähte die Gelegenheit, um aus dem
Zimmer zu wischen, wagte sich aber nicht an dem tobenden Manne vorbei,
kletterte die kleine Ofentreppe empor, und als der Falldeckel, der auf
den Estrich führte, wohl weil er durch Gerümpel verstellt war, dem Druck
ihrer kleinen Hände nicht nachgab, verkroch sie sich in ihrer Angst auf
den Specksteinofen.

Da pochte es.

»Herein! -- Ihr, Fränzi Blatter? Was wollt Ihr?«

Der wilde Mann meisterte seinen Zorn -- er schob ihr einen Stuhl hin.

Fränzi war eine arme Wildheuerin, aber die Bauern, die ihresgleichen
nicht aus dem Wege gingen, wurden kleinmütig vor ihr. Schon ihre
Erzählkunst, die sie an langen Winterabenden im Kreise der Dörfer übte,
gaben ihr etwas Geheimnisvolles, man betrachtete sie wie eine, die mehr
erlebt hat, mehr weiß, mehr denkt, mehr fühlt als die andern. Ob sie
gleich die Spuren schwerer Arbeit an sich trug, so war sie doch ein
Weib, dem der Wiederschein dessen, was sie reich in der Seele lebte, in
Augen und Angesicht lag und einen eigenartigen Reiz verlieh. Und vor
allem war sie eine rechtschaffene Frau.

Der Presi und sie maßen sich einen Augenblick, sie den Gegner in
Bescheidenheit und tiefer Trauer.

»Gebt mir das gemeine Papier zurück, Presi!« sagte sie, indem sie ihn
mit ihren großen blauen Augen ruhig, fast freundlich anblickte.

»Geschrieben ist geschrieben, Fränzi!« In barschem und bedauerndem Ton
sprach es der Presi.

»Ihr besteht auf einer erschlichenen Unterschrift -- -- du bestehst
darauf, Peter!«

Der Presi zuckte zusammen und krümmte sich, als sie ihn duzte, sein
Gesicht wurde fahl. Eine Welt voll schöner und peinigender Erinnerungen
stand in ihm auf.

»Peter! Es sind sechzehn Jahr', da hast du in der Nacht an mein
Fensterchen gepocht. Du hast in meinem Kämmerchen geweint und auf den
Knieen gefleht: 'Fränzi, erhöre mich, ich bin verloren, wenn du mich
nicht rettest, ich bin im Streit vom Vater gegangen, ich habe keinen
guten Menschen als dich!' Wir verlobten uns heimlich und sechs Wochen
warst du mir gut. Dann söhntest du dich mit dem Vater aus und nahmst auf
sein Drängen Beth. Du warst treulos gegen mich, treuloser gegen sie,
denn du hast sie nicht geliebt.«

»Wozu das, Fränzi?« sagte der Presi dumpf und hilflos vor der Würde des
Weibes, das vor ihm saß.

»Weil ich meinte, ich habe mit dem unendlichen Leid, das du mir damals
zufügtest, das Recht erworben, daß du meinen Mann und mein Haus in
Ehren haltest und ihnen unnötig nichts Leides anthuest.«

Der Presi schluckte: »Ihr Frauen versteht nichts von dem -- und Fränzi
-- ich muß mein Geld und die Gemeinde einen Mann haben. Keiner ist wie
Seppi für das Werk geeignet. Es geschieht ihm auch nichts dabei!«

»Ich will dir sagen, warum Seppi gehen muß. Du hast es ihm nie
verziehen, daß er mein Mann geworden ist. Du wolltest mich, das arme
Mädchen, nicht mehr für dich, aber du gönntest mich auch keinem anderen.
Wie David den Urias in den Krieg geschickt hat, schickst du Seppi an die
Weißen Bretter -- nicht daß du mich, das schon fast alte Weib, mehr
möchtest, aber du hassest ihn!«

So sprach Fränzi mit ihrer tiefen und schönen Stimme.

Der Presi zitterte und mußte sich halten. Zog ihm Fränzi Schleier von
den Augen? -- Ja! Vorgestern, wie er als Frischverlobter von Hospel
gegangen war, da war auf dem langen Weg die alte Zeit an ihm
vorübergezogen. Beth hatte er nicht geliebt, in Frau Cresenz war er auch
nicht recht verliebt, er nahm sie, weil sie eine tüchtige Wirtin war,
die sechs heimlichen Wochen mit Fränzi waren sein einziges sonniges,
großes Liebesglück gewesen. Er, Tölpel, hatte das jahrzehntelange Glück,
das vor ihm lag, verscherzt. Und dann hatte der Wildheuersepp, was er
selbst verloren, gefunden. Aus diesem Gefühl war er Seppi aufsässig
gewesen. -- Seit Fränzi gesprochen, wußte er es.

»Gieb mir den Vertrag, Peter!« sagte Fränzi gütig.

Er reckte sich, zauderte, dann donnerte er: »Ich lasse mein Kind von
euch nicht Schlechthundekind nennen!«

Fränzi fuhr zusammen: »Peter, vergieb Seppi, er hat in seiner Qual nicht
gewußt, was er sagte!«

Sie war aufgestanden, sie hatte seine Hände ergriffen, sie sank vor ihm
in die Kniee, umklammerte seine Fäuste: »Peter, Peter, sei barmherzig!«

Seltsam! -- In ihrer wilden Erschütterung gefiel ihm Fränzi wieder -- er
mißtraute aber der Empfindung -- er fürchtete eine Uebereilung -- darum
war er hart gegen sie. Er schleuderte sie röchelnd von sich: »Das
Greinen und Betteln kann ich schon gar nicht leiden. -- -- Und das
'Schlechthundekind' muß gestraft sein!«

Als er sie von sich stieß, löste sich Fränzis prächtiges dunkles Haar,
mit fliegender Brust stand sie einige Schritte entfernt vor ihm; die
Leidenschaft hatte sie um zehn Jahre verjüngt, aber ihre Stimme
zitterte.

»Wenn nicht um meinet- und meiner Kinder willen, so sei's um deinet- und
Binias willen -- sei barmherzig gegen dich selbst -- und gegen dein
Kind!«

Der Presi blickte das leidenschaftliche Weib begehrerisch an, wüste Züge
entstellten sein Gesicht und gaben ihm einen tierischen Ausdruck; die
Augen traten hervor und funkelten. Mit erstickter Stimme sagte er:
»Fränzi -- ich will alles wieder gut machen, Fränzi -- -- aber gieb mir
einen Kuß -- wie einst!«

Sie starrte ihn verständnislos an; dann fragte sie allen Ernstes: »Bist
du wahnsinnig geworden, Peter, -- ich habe ja einen Mann und Kinder!«

»Dann geh'!« knirschte er.

»Ich gehe, aber noch einmal: mache das Böse gut -- sonst -- Peter -- bei
der seligen Beth -- die vom Himmel auf dich sieht -- bei den armen
Seelen, die im Eise stehen -- es kommt ein Schaden über dein Kind -- und
Beth -- das weißt du -- hat auf dem Totbett gesagt, ich möchte dich
mahnen, wenn Unglück für Binia im Verzuge sei. Peter, Peter, richte dich
nicht selbst!«

»Seit wann bist du unter die Bußpfaffen gegangen, Fränzi?« Und mit
steigender, kreischender Stimme schrie er: »Jetzt mache, daß du
fortkommst, sonst --«

Er hob den Stuhl zum Schlage gegen Fränzi.

Da wich sie der Gewalt des Wütenden.

In der Aufregung des Gesprächs hatten die beiden nicht bemerkt, wie zwei
dunkle, glühende Kinderaugen, wie ein blasses, schmerzentstelltes
Kindergesicht in fiebernder Spannung zwischen den Vorhängen des Ofens
hervor jedem ihrer Worte gefolgt waren.

Als Fränzi gegangen war, sank der Presi auf einen Stuhl, hielt den Kopf
mit der Hand und stöhnte: »Daß ich nie gelernt habe, rückwärts zu
krebsen -- daß ich diesen harten Kopf nicht brechen kann. Fränzi, du
hast mehr als recht, -- mit sehenden Augen renne ich ins Unglück.« --
Seine Lippen zuckten im Selbstgespräch.

Da kam Susi: »Presi, die Gemeinderäte sind da -- es ist alles für die
Sitzung bereit.«

Er warf einen Blick ins Freie.

Rings von den Bergen herab stiegen die Sennen auf ihren Maultieren, sie
trugen das sonntägliche Gewand, viele waren von ihren Angehörigen
begleitet, die ebenfalls ritten, so daß jede Familie eine schöne Gruppe
bildete. Aber zur vollen Wirkung des Bildes fehlte die Farbenpracht der
Trachten, die an weltlich festlichen Tagen dem Glotterthaler Völklein
eigen ist. Man sah nur das schlichte Kirchenkleid, die Männer trugen
die dunklen Kittel ohne den Schmuck der Seidenstickereien, den schwarzen
Filz ohne Blumen, die Frauen hatten über die Büste dunkle Brusttücher
gekreuzt und an den Hüten flatterten die Bänder in gedämpften Farben.
Manche drehten im Reiten den Rosenkranz, kein Juchschrei tönte durch die
Berge; von weitem sah man, daß die Leute nicht lachen mochten und das
Wort im Herzen verschlossen. Wozu reden? Jeder und jede wußte, was die
Gedanken des anderen bewegte; wer einmal im Scherz gesagt hatte, er
würde den Gang an die Weißen Bretter wagen, trug heute ein doppelt
bekümmertes Sündergesicht zur Schau. In feierlicher Ruhe strömte das
Volk von allen Seiten ins Dorf und an den Häusern standen einzelne
Maultiere angebunden, besonders viele an der langen Stange vor dem
Bären.

Im letzten Augenblick sah der Presi den Garden mit Seppi Blatter kommen,
beide waren sehr ernst und feierlich. Der Garde schien größer als sonst,
er trug seine Amtstracht, einen Hut mit wallenden blauschillernden
Hahnenfedern, das Schwert am Gurt, die Binde am Arm.

Da ging der Presi, mit sich selbst noch in Streit, wie er das Zünglein
der Wage schwenken wolle, aus seiner Stube in die schwere Sitzung.

Früh am Morgen war der Garde in die Wohnung Seppi Blatters gekommen und
hatte ihn in all seinem Kleinmut gefunden. »Begleitet mich zur Schau,
wie die Lawine gegangen ist, und ob nicht noch Nachbrüche zu fürchten
sind,« redete er ihm zu. Seppi that es wohl, daß sich in dieser Stunde
jemand um ihn kümmerte. Der Garde drang auf dem Weg in den Wildheuer,
daß er erzähle, wie der Vertrag mit dem Presi zu stande gekommen sei.
Als er den Verlauf gehört hatte, zog er ein paar Banknoten aus der
Brieftasche: »Da, Seppi, noch vor der Losgemeinde gehst du zum Presi und
tilgst den Brief. Ich werde dir kein harter Gläubiger sein. Wenn er
Haken macht, bin ich da! Die Geschichte ist nichts!«

Seppi, der gemeint hatte, kein Mensch auf der Welt sei ihm mehr gut,
glaubte an ein Wunder. Alle Zerschlagenheit, die er zu Hause am Leib
gespürt, war in Lebenslust verwandelt. Schon das Kommen des Garden hatte
ihn aufgerichtet, das Angebot stimmte ihn fröhlich. »Darf ich es auch
annehmen?« fragte er glückselig, dann jubelte es in ihm: »Frei -- frei!«
Seine Zunge war gelöst, der sonst stille Mann sprudelte die Worte nur so
heraus: »O, Garde, glaubt nicht, daß es mir an Mut fehlt, an die Weißen
Bretter zu steigen, ich bin ja als Wildheuer häufig genug am Seil
gehangen und weiß wohl, daß mein Leben Tag um Tag an einem Faden hängt,
aber ich habe es nicht verwinden können, daß ich auf eine so mißliche
Art in die Pflicht gekommen bin, grad wie die Maus in die Falle -- und
ich habe es der Fränzi nicht sagen dürfen -- gekrümmt und geklemmt hat
es mich -- sie ist ein so himmelgutes Weib.«

Die Männer waren auf die Unglücksstelle gekommen, mit dem Fernrohr
musterte der Garde die Zerstörungen an der Leitung, die Abbruchstelle
des Gletschers, und wohl eine Stunde lang tauschten die beiden ihre
Beobachtungen. »Es ist wie vor vierzehn Jahren, die Kännel sind alle
weg, ein weiterer Abbruch aber nicht zu fürchten.« Der Garde begann
behaglich aus seinen großen Erinnerungen zu erzählen, was jede Stelle
an den Weißen Brettern und in den Wildleutfurren für besondere
Schwierigkeiten habe und mit welchen Vorteilen man sie am besten
überwinde. Da wurde Seppi ganz still, sein braunes Gesicht rot und
röter. »Garde!« schrie er plötzlich, als sprengte es ihm die Brust, »ich
steige an die Weißen Bretter. Freiwillig gehe ich.«

Der Garde maß ihn lange mit durchdringendem Blick; dann sagte er langsam
und tief: »Gut, so geht! Ihr sagt's im Anblick der Gefahr, also ist's
Euch ernst.«

»Weiß Gott!« bestätigte Seppi. Der Garde reichte ihm die Hand: »Fränzis
und Eurer Kinder wegen sollte ich Euch zurückhalten, aber die Fron liegt
einmal auf der Gemeinde, und da hat der Presi recht, es ist keiner, der
das Werk eher zu stande brächte als Ihr; Gott, der es Euch eingegeben
hat, hinaufzusteigen, wird Euch schützen. Es liegt ein Segen auf der
freiwilligen That -- ich habe es erfahren.«

Stumm gingen die Männer ins Dorf zurück, der Garde sagte: »Jetzt laßt
mich mit der Fränzi sprechen, wartet.«

Sie war eben vom Presi zurückgekehrt, schweigend und mit gefalteten
Händen hörte sie die Rede des Garden.

In herzzerbrechendem Ton sagte sie: »Wohl, wenn ihn Gott berufen hat, so
darf ich ihm nicht in den Arm fallen. Es wird schon ein Glück darauf
sein!«

Der Garde erwiderte bewegt: »Ich danke Euch, Fränzi, -- ich bin amtsmüde
-- ich lege heute die Stelle im Gemeinderat nieder, -- Seppi Blatter mag
der neue Garde werden.«

»O, Garde!«

Aber Hans Zuensteinen war schon gegangen. -- --

Die Glocken erklangen, das Volk sammelte sich auf dem Kirchhof, der im
Nelkenschmuck rot erglüht war.

Die Männer hatten die Hüte gezogen und standen in Gruppen, einzelne auch
mit Weib und Kind an den Gräbern Eigener, über welchen die Blumen
wogten. Wie war allen wohl, die im heiligen Boden ruhten. Aber auch in
ihr Leben hatte die Wildleutlawine die bangen Tage gebracht. War eine
Familie im Dorf, die in der Folge der Geschlechter nie ein Opfer der
heligen Wasser zu beweinen gehabt? -- Kaum eine!

Endlich verstummten die Glocken, die Männer nahmen Abschied von den
Ihrigen -- Seppi, der soeben gekommen war, sprach mit Fränzi und den
Kindern -- und wären die anderen nicht ganz im eigenen Kummer gefangen
gewesen, so hätte ihnen die fahle, schmerzzerrissene Gruppe schon die
Lösung eines Geheimnisses gebracht.

So blieben die Dörfler alle in dunkler Furcht und gräßlicher Spannung.
Nur Bälzi, der wein- und schnapsselig unter seinen bleichen Würmern
stand, hatte das Bild gesehen und lachte blöd.

Vom Bären herüber bewegte sich der Zug des Gemeinderates, vor ihm her
trug der Weibel, der angedöselt war, so daß der Zweispitz auf seinem
Kopfe schwankte, die silberne Losurne.

Hinter dem kleinen Zug schloß sich die Kirchenthüre.

Da warfen sich die Frauen und Kinder auf die Kniee, ins blühende Gras;
das Gesicht gegen die Kirche gewendet, sandten sie die
leidenschaftlichen Fürbitten für die Ihrigen zum Himmel, ihr heißes
Murmeln schwoll wie Windesrauschen an und ab. Manche weinten, dicht an
die Mütter drängten sich die Kinder, die noch kaum wußten, was ihre
lallenden Gebete sollten.

Fränzi, Vroni und Josi lagen mitten unter den anderen auf den Knieen und
ihre Thränen strömten reichlich. Nahe bei ihnen kniete Eusebi, das
flammende Beten der drei bewegte ihn so, daß er seine Stotterzunge
vergaß und mit Vroni im Gleichtakt seine Bitten in den Himmel
hinaufschickte.

Am weißen Kirchturme, der eine etwas plumpe Nachahmung eines
italienischen Campanile war, schlich der Uhrzeiger mit tödlicher
Langsamkeit, so langsam, daß einmal eine Stimme schrie: »Die Uhr geht
nicht!« -- Aber sie ging. »Erst eine halbe Stunde tagen sie!« jammerten
die Weiber.

Plötzlich schrie die Frau des Fenkenälplers auf: »Ich halt's nicht mehr
aus,« sie sprang an die Kirchenthüre, sie rüttelte am Schloß, sie schlug
wie besessen die Fäuste auf die Füllung der Thüre. Umsonst, die Männer
hatten sich eingesperrt.

Noch eine halbe Stunde! -- Drei Weiber zugleich poltern an die Thür des
Gotteshauses, ein anderes liegt ohnmächtig in den Nelken, die Gebete
rauschen nicht mehr, sie rasen zum Himmel.

Da knarrt das Schloß -- der Weibel tritt hervor. -- Tödliche Stille --
»Seppi Blatter hat sich freiwillig gestellt!« -- Lautes Weinen bildet
die Auslösung der Spannung.

Aus der Kirche ergießt sich die dunkle Schar der Männer. Die Weiber
stürzen schreiend auf sie zu und umhalsen sie: »Jetzt wollen wir wieder
friedlich zusammen leben und arbeiten! -- nie wollen wir zanken!« Und
der Bäliälpler und sein Weib, die einander nicht mehr leiden mochten,
versöhnen sich.

Bälzi schreit: »Es lebe Seppi Blatter, der neue Garde!« und schwenkt den
Hut.

Jetzt kommt Seppi Blatter selber, totenblaß, doch hoch aufgerichtet.

»Vater!« -- ruft Josi und hält ihn umschlungen, »ein Held will ich sein
wie du -- ich gehe mit dir.«

»Du bleibst bei der Mutter!« sagt Seppi bewegt. Fränzi ist an seine
Brust gesunken, sie schluchzt, als drehe sich ihr das Herz in der Brust.

»Du himmelgutes Weib!« Er küßt ihr dunkles schwellendes Haar. »Kommt --
kommt!«

Dicht aneinandergedrängt bewegt sich das Vierblatt von Eltern und
Kindern am Bären vorbei.

Die Leute ziehen vor ihm ehrfürchtig die Hüte. Auf der Freitreppe steht
der Presi. Wie er Seppi Blatter sieht, schwankt er ins Haus. Ihm ist
nicht gut. Die Ueberraschung, daß das Aeckerchen bezahlt worden ist und
Seppi Blatter freiwillig an die Bretter steigt, hat ihm einen großen
Stoß gegeben.

Jetzt wallt das Volk in den Bären. Dem Schrecken darf ein Trunk im
stillen folgen. Laut sein ist nicht schicklich, aber in gedämpftem
Gespräch stoßen die Dörfler mit den Gläsern an:

»Auf Seppi Blatter, den Freiwilligen, mögen ihm Gott und die Heiligen
fröhliche Wiederkehr schenken!«



IV.


Gegen Abend kam Hans Zuensteinen feierlich in die Wohnung Seppi
Blatters. In stummer Fassung saß die Haushaltung da, Frau Fränzi wie ein
Marterbild, Vroni mit den Thränen kämpfend, Josi voll Neugier und
freudiger Zuversicht.

»Seppi Blatter,« sagte der Garde, »es ist alles geordnet, die bestellte
Mannschaft mit den Reifen und den Känneln nach dem Glottergrat
unterwegs. Sie übernachten in der oberen Balm[15], die Führung der
Posten übernehme ich selbst, wie's in meiner Pflicht liegt, und was von
uns aus zu Euerm Dienste gethan werden kann, wird treulich und
gewissenhaft besorgt. Und so Gott und die Heiligen wollen, Seppi
Blatter, daß Ihr gesund zurückkommt, so gehen also der Gardenhut,
Schwert und Binde in Eure Hand. Es sind Ehrenzeichen, die ich nicht
jedem abtreten würde. Euch aber schon und gern. Vierzehn Jahre war ich
auf dem Posten, fast zu lange, und ich habe Arbeit genug auf Acker und
Maiensäße und im Weinberg.«

  [15] _Balm_ bedeutet eine Stelle, wo der Felsen des Gebirgs überhängt.

Seppi Blatter errötete. Als Garde war er und sein Haushalt jeder Not
überhoben, aber bescheiden sagte er: »Ich werde das Amt wohl nicht
versehen können, ich habe schon die Hände, aber nicht den Kopf dafür.«

»Der findet sich schon, wenn Ihr einmal dabei seid -- im übrigen ist's
im Gemeinderat gut gegangen. Es wäre ungeschickt gewesen, wenn der
Vertrag der Losgemeinde hätte vorgelegt werden müssen. So sieht es
besser aus, auch für Euch, noch mehr für den Presi und dient dem
allgemeinen Frieden. Der Presi hat sich mit Euch einfach verrannt, aber,
wie er ist, wenn die vorderen Räder des Wagens in den Kot gefahren sind,
so hat er die Gnade nicht, 'Hüst' zu rufen. Nein, wenn die heilige
Jungfrau mit der ewigen Seligkeit auf dem Wagen säße, die Hinterräder
müssen auch hinein. Aber gewohlt hat's ihm, wie ein anderer an die
Deichsel gestanden ist und kehrt gemacht hat.«

»Ihr, Garde!«

»Mich haben die hundertachtzig Franken nicht gereut. Nur eins. Ueber
diese Vertragsgeschichte muß Gras wachsen. Es ist wegen des Presi. Wenn
sie bekannt würde, so wäre sie ein Fleck auf seiner Ehre. Ihr werdet,
wenn Ihr einmal als Garde mit ihm zu verkehren habt, sehen, daß er gar
nicht so ungrad, nicht so hart ist, wie er scheint, obgleich ihn von
Zeit zu Zeit der Teufel reitet und dann nichts mit ihm anzufangen ist.«

Der Garde stand auf: »Also um ein Uhr.«

Als Seppi und Fränzi Blatter ihm das Geleit unter die Hausthüre gaben,
blies der Senn auf der Fenkenalp durch seinen Milchtrichter den
Heligen-Wasser-Segen:

    »Die heligen Wasser behüte uns, Gott,
    Behütet sie, ihr lieben Heiligen!
    Sankt Peter nimm den Schlüssel zur Hand,
    Thu' auf dem Seppi Blatter die Wand,
    Führ' den Seppi auf dem bösen Weg,
    Schließ' seinen Fuß fest an den Steg,
    Du hast den Schlüssel und Gottes Gewalt,
    Sorg', daß der Seppi Blatter nit fallt!
    Die heligen Wasser behüte uns Gott,
    Und ihr liebe Heilige alle!«

Das klang und wogte durch die geröteten Berge, die den Wiederhall
zurückwarfen, als sängen Himmel und Erde. Und Fränzi umarmte ihren Mann.

Rückblickend sagte der Garde, der schon einige Schritte gegangen: »Wenn
Ihr ein paar Stunden schlafen könnt, Blatter, so thut es!«

Und als er den anderen aus Hörweite gegangen war, knurrte er: »Das
Wetter ist entsetzlich schön, kein Wölkchen am Himmel.« -- --

Mitternacht! Das Glöckchen von St. Peter läutet. Jetzt wissen die
Bewohner, die vom Schrecken des Tages ausruhen, daß der Pfarrer und der
Mesner mit den Sakramenten zu Seppi Blatter gehen. Nichts drängt die
Gefahr, die an den Weißen Brettern lauert, so brennend vor die Augen,
wie die Thatsache, daß selbst die allbarmherzige hoffnungsreiche Kirche
den halb verloren giebt, der an die Felsen steigt.

Sie reicht ihm ihre Tröstungen.

Der Priester spricht zu Seppi Blatter: »Du hast gebeichtet und den Leib
des Herrn gegessen. Du gehörst nicht mehr dieser Welt, lege ab die
irdischen Gedanken und sinne auf deine Seligkeit. Giebt dich Gott in
seiner grenzenlosen Güte der Erde zurück, so dank' es ihm ewiglich.«

Da pocht es ans Fenster. Josi, der hinausblickt, sieht drei große gelbe
Augen, die gegen das Haus leuchten, die Windlichter für den Marsch durch
den dunklen Wald. Er sieht ein Trüppchen Männer.

»Vater, ich will mit dir gehen!« fleht er.

»Bist ein thörichter Bub[16].« Rauh sagt es Seppi Blatter. Josi weiß, es
ist nicht böse gemeint, aber die Thränen treten ihm in die Augen.

  [16] _Bube_, schweizerdeutsch, so viel wie Knabe ohne die
       Nebenbedeutung des Verächtlichen, die das Wort im
       Schriftdeutschen angenommen hat.

Da pocht es zum zweitenmal scheu wie vorhin, als fehle denen draußen der
Mut, stark zu klopfen.

Lautes Weinen erhebt sich in der Stube -- unter der Thür erscheint der
Garde, er zieht das dicke Nürnberger-Ei aus der Tasche. »Im Augenblick
ist es eins!«

Garde und Pfarrer ziehen sich zurück, die Haushaltung Blatter ist
allein. Geduldig warten die Männer, da kommt vom Kirchturme herüber der
schwere scharfe Einsschlag.

Seppi Blatter tritt unter die Hausthüre: »Ich bin bereit!« Fest und
mannhaft soll es klingen, aber es rasselt, daß es den Männern schier die
Brust zerreißt. Die Windlichter verschwinden gegen den dunkeln,
schauernden Alpenwald empor, sie sind nur noch winzige gelbe Punkte.

Halberstickte Stimmen rufen in die Nacht: »Vater, behüt' dich Gott,
Vater!« -- Und hoch aus dem Wald kommt noch einmal seine Stimme zurück.

»Er jauchzt, er hat Mut!« versetzt Josi mitten in Thränen.

»Fränzi! hat er geschrieen -- der Mutter hat er gerufen!« Vroni will's
sagen, aber sie kann nicht sprechen vor Weh.

Fränzi und die beiden Kinder sitzen in der Stube, gelähmt und stumm --
sie weinen nicht mehr -- sie starren vor sich hin.

Der alte Pfarrer hockt auf der Bank nebenan, den Mesner hat er
fortgeschickt. Der flackernde Kienspan beleuchtet die Strähnen weißen
Haares und die hundert feinen Fältchen seines bäuerlich ehrwürdigen
Gesichts. Er kann Fränzi jetzt nicht verlassen, aber er schweigt. Wozu
reden?

Mit gesenkten Lidern, die mageren Hände ineinander gekrampft, sinnt er.
Indem er die Menge schwerer Gänge überdenkt, die ihm die Pflicht in
vierzig Jahren überbunden, geht sein eigenes Leben in traumhaften
Bildern an ihm vorbei. Er hat gekämpft und gelitten. Als er im
Uebereifer des unerfahrenen Vikars den fremden Naturforscher für einen
Abgesandten des Teufels genommen hatte, da regnete es Hohn auf ihn und
bitter erkannte er, daß man, um als Pfarrer durchzukommen, von der Welt
ebenso viel wissen muß, wie vom Himmel und der Hölle. Aus der Stadt, wo
der Gelehrte hauste, der ihn mit einer übertriebenen Schilderung der
Ankunft in St. Peter der Lächerlichkeit preisgab, ließ er Bücher kommen.
Er las sie und wurde irre am Glauben. In der Verzweiflung verbrannte er
die Schriften, bei dem alten Amtsbruder in Hospel suchte er Hilfe,
kehrte in den Glauben zurück und seit dreißig Jahren war er von inneren
Anfechtungen frei. Er pflegte sein Amt, wie ihm von oben geboten war,
nur mit einem Zusatz: dem Teufel- und Dämonenglauben, der ihn so
genarrt, war er abhold, ebenso dem Aberglauben. Wo gab es dessen mehr
als im Glotterthal? Er kränkte sich, daß seine Herde fast stärker als an
die Heilswahrheiten der christlichen Religion an Vorstellungen
festhielt, die heidnischen Ursprungs waren, so an der hartnäckigen
Einbildung, daß die Abgestorbenen zur Sündenreinigung nicht ins
Fegefeuer, sondern in den Schnee der Gletscher kommen, er ärgerte sich
am Totenkult, der zu St. Peter in tiefer Heimlichkeit blühte, und an
Johannes, dem falschen Kaplan, der, indem er sich an die Weiber hielt,
das Dorf in einen immer tieferen Aberglauben stieß.

Das war sein Schmerz noch in alten Tagen, wo er doch gelernt hatte,
Leute und Leben zu nehmen, wie sie sind, und, wenn ihm etwas über die
Leber kroch, sich zu seinem Bienenstand zurückzuziehen.

Vroni war mit einer Thräne an der Wimper eingeschlafen, die Schrecken
der gestrigen und heutigen Nacht forderten Auslösung.

Josi weckte den Pfarrer aus seinem Brüten: »Es tagt, jetzt sind sie
schon über dem Wald.«

Der Pfarrer erwiderte: »Um sechs Uhr ist Heligen-Wasser-Prozession, wenn
es euch recht ist, so gehe ich jetzt heim.«

Da hob Fränzi das schmerzlich verträumte Haupt: »O geht nur. Ich will
wachen, ihr aber, Kinder, müßt noch etwas ruhen!« Sie brachte die in
einen bleiernen Schlummer gesunkene Vroni zur Ruhe.

Sie aber wachte.

Der Morgen war empfindlich kühl, der Himmel rein, die Felsen der Krone
standen wie die Mauern eines Münsters, ihre Firnen funkelten wie
frischgegossenes Silber, im Thal hing der Tau an Baum und Strauch. Ueber
den Stutz herauf erklang das Glöcklein der Lieben Frau an der Brücke.

Die Windungen des Stutzes hinab bewegt sich die Wallfahrt. Die alte
Kirchenfahne, auf der St. Peter mit dem Schlüssel etwas ungeschickt
hingemalt ist, knistert leise. Der Mesner führt sie. Die weißen kurzen
Ueberhemden der paar Kreuzträger schimmern. Unter einem vom Alter
gelblich angelaufenen Himmel, der sich mit dem stahlblauen Firmament
nicht messen kann, und beim Zug über den Stutz hinunter manchmal
bedenklich schief zu stehen kommt, schreitet der Pfarrer. Er trägt das
Barett und ein langes Chorhemd, er schwingt den Rosenkranz und betet der
Gemeinde mit lauter Stimme vor. Die vier Stangen des Thronhimmels werden
vom Presi und drei Gemeinderäten gehalten, denn wenn jener schon ein
verdächtiger Sohn der Kirche ist, erfüllt er aus Klugheit alles
treulich, was sie nach Sitte und Brauch von ihm fordert. Hinter dem
Thronhimmel trippelt die Jugend mit hellen Stimmen, unter ihr Josi,
Vroni, Eusebi und die zierliche Binia, die mit ihren dunklen Augen
verfahren in die Welt blickt, dann die Frauen und Männer.

So geht die Wallfahrt immer, wenn ein Mann an die Weißen Bretter steigen
muß.

Wie die Teilnehmer die Felsen sehen können, spähen alle einen Augenblick
dort hinauf, aber an den hellschimmernden Wänden ist noch nichts weiter
zu entdecken, als daß die Kännel fehlen. Das Wasser der Glotter hat sich
durch die schauerlichen Eistrümmer gefressen, die in der Schlucht
liegen, und einzelne der niedergefegten Kännel ragen aus ihnen hervor.

Die Prozession zieht am Schmelzwerk vorbei über die Brücke zur Kapelle
und kniet vor ihr nieder, aber die Gebete rauschen nicht so heiß wie
gestern um die Dorfkirche. Es handelt sich heute nicht um den eigenen
Mann, sondern um Wildheuer Seppi Blatter. Gewiß ist die Fürbitte für ihn
heilige Pflicht, aber bis sein Werk gethan ist, bis das Glöcklein
aufhört zu bimmeln und zu mahnen, kann man den Himmel noch genug
anrufen.

Die Männer gehen oder schleichen sich hinweg und zurück gegen den Stutz,
die Knaben folgen dem Beispiel, nach einiger Zeit besteht die Gruppe der
Betenden vor der Kapelle nur noch aus einem Häufchen Weiber, die um
Fränzi knieen, die Neugierigen aber sammeln sich im Teufelsgarten, oder
etwas höher am Schmelzberg, und starren an die Weißen Bretter hinauf.

Der Presi trägt eine rote Fahne, seitwärts von den Weißen Brettern
schimmert auch eine solche, eine dritte vermag man auf der mittleren
Spitze der Felsen zu erkennen.

»Der Garde hält sie!« Josi, der, die Hände in den Hosensäcken geballt,
unter den Männern steht, hat Zutrauen zu ihm.

Sonst sieht man noch nichts. Da regt sich die oberste Fahne. Es schwebt
etwas von oben die gräßlichen Felswände hinab, das wie ein Strohhalm
aussieht, der an Bindfäden hängt. »Sie sind am Werk!« Strohhalm um
Strohhalm senkt sich aus der Höhe, manchmal bleibt einer zu hoch,
manchmal kommt einer zu tief. Der Presi schwingt je nachdem die Fahne,
bald stark abwärts, bald fest aufwärts, und wenn sich die Halme
verschoben haben, so schwenkt er die Fahne seitwärts. Oft entsteht
Unordnung in den Halmen, dann schweben sie auf die Fahnenzeichen wieder
aufwärts und kommen hübsch hinunter. Auf dem ersten Strohhalm bewegt
sich ein kleines drolliges Wesen.

»Das ist der Vater!« denkt Josi und freut sich, daß er solch einen Vater
hat. Die Augen des Knaben sind flehentlich auf den Glottermüller, der
das Gemeindefernrohr in den Händen hält, gerichtet.

»Darfst einmal durchgucken!« quiekt der kahlköpfige Müller, der eine
Stimme wie ein Weib hat, »schau nur, wenn ihr das Mehl schon lieber in
Hospel holt als bei mir.«

Jetzt hält es Josi! Durch das Glas scheinen die Bindfaden Seile, die
Strohhalme Kännel, auf einem davon steht ein Mann. Man kann sein Gesicht
nicht erkennen, aber man sieht jede Bewegung der Glieder, durch das Rohr
scheint alles nah und man erkennt erst recht, was für fürchterliche
Felsen die Weißen Bretter sind. Bis in alle Höhen keine Planke, nirgends
eine Rinne, wo ein Büschel Gras hervorwachsen könnte. Senkrecht sind
sie, kahl und nackt, entsetzlich glatt und hart. Nur in den
Wildleutfurren ist weiches Gestein, da ragen wie von Geistern gesetzt
die Klippen und Türme des harten Felsens, während der weichere Stein im
Laufe der Jahrhunderte abgewittert ist.

Das alles sieht Josi mit klugem Auge, aber nun strecken sich die Hände
anderer nach dem Glas. Er reicht es weiter. Das Bild seines Vaters hat
er fest gefaßt, seiner Lebtag wird es ihm in Erinnerung bleiben, wie
der Mann dort oben zwischen Himmel und Erde auf den schwankenden Känneln
steht und sich von einem zum anderen schwingt. Immer deutlicher wird
übrigens auch ohne das Fernrohr seine Gestalt, sie tritt aus dem
Schatten, den der Schmelzberg bis jetzt auf die Wand geworfen hat, in
die Sonne, die auf die Weißen Bretter zu leuchten beginnt. Der Vater
prüft die gewaltigen eisernen Kloben, die Matthias Jul so fest in die
Felsen vermörtelt, verkeilt und verankert hat, daß sie jetzt noch
Jahrhunderte halten werden. Sie sind alle gut. Viele der leichten
eisernen Reife, die durch die kurzen verdickten Enden der Kloben gehen,
sind von der Gewalt der Lawine zerrissen und müssen ersetzt werden,
manche haben nicht gelitten, sondern die Kännel sind einfach aus ihnen
herausgeschleudert worden. Mit einer Stange, an der ein eiserner Haken
ist, holt Seppi die neuen Schlaufen ein, die an einem Seil an der Wand
herniederhangen. Das Einpassen in die Kloben geht leicht, die
Nietenköpfe des einen Endes passen in die Löcher des anderen Endes, mit
einem einzigen Griffe schließen sich die Reife. Im Lauf der Zeiten hat
man manche Vorteile gelernt, die Bearbeitung des Eisens und die
Handgriffe beim Legen der Leitung sind eine besondere Wissenschaft der
Leute von St. Peter, ein Stück bäuerlicher Ingenieurkunst. Und dafür,
daß immer ein genügender Vorrat von Seilen, Känneln und Schlaufen da
ist, sorgt der Garde; in Dingen, die das helige Wasser angehen, giebt es
keine Knauserei und keinen Widerspruch.

Die Stunden wandern und die Spannung der Zuschauer ermattet. Seppi
Blatter arbeitet sicher. Von Zeit zu Zeit erneuert das Glöcklein der
Kapelle sein Bimmeln, es mahnt. »Betet, betet für den Mann, der einsam
an den Felsen schwebt!« Bis am Abend darf die gemeinsame Fürbitte nicht
aufhören. Die Frauen, die auch heraufgeschlichen sind, um an die Weißen
Bretter zu sehen, eilen wieder zur Kapelle, einzelne Männer folgen: »Man
darf nicht nachlässig sein in einer so ernsten Angelegenheit, wegen
Seppi Blatter nicht und wegen seiner selbst nicht; man könnte einen
Schaden auflesen, wenn man nicht aus vollem Herzen für ihn fleht.«

Der Presi, der die Signalfahne seit einiger Zeit dem Glottermüller
übergeben hat, hält scharfe Ordnung; er jagt die müßigen Weiber zur
Kapelle hinunter: »Plärrt doch lieber, als Maulaffen feilzuhalten!« Den
Männern, die auch jetzt ihr Pfeifchen anstecken wollen, schnauzt er zu:
»Himmelsakrament, wer denkt ans Nebeln, solang einer da oben hängt!« und
Bälzi, der das Rauchen doch nicht läßt, schlägt er die Pfeife aus dem
Mund.

Binia steht etwas verloren zwischen den Leuten. Sie ist nicht so behend
wie sonst und ihr Gesichtchen blaß. Die dunklen Augen schauen auf den
Teufelsgarten. Das ist nicht mehr der wilde unberührte Blumenjubel der
letzten Tage. Die Männer haben ihn mit ihren schweren Schuhen
niedergetreten, die Mädchen haben ihn abgerauft, die Buben haben den
Königskerzen die Köpfe abgeschlagen und wälzen sich jetzt scherzend auf
der verdorbenen Pracht.

Binia sieht Josi, Josi sieht sie; aber die beiden Kinder, die sich so
gut waren, wissen nichts mehr miteinander anzufangen -- es ist etwas
zwischen ihnen, das vorgestern noch nicht war.

»Bini, was machst auch für ein barmherziges Gesicht?« Sie schrickt
zusammen. Der Vater! Freundlich sagt er: »Du wirst gar verbrannt in der
glühenden Sonne, geh ein bißchen an den Schatten!«

Folgsamer als je gehorcht sie. Sie wandelt zur Ruine hinüber. Dort
stehen und sitzen Männer, der Kaplan Johannes, Bälzi, der Gemeindeweibel
und andere. Die Schnapsflasche geht in der Runde, die Männer essen einen
Imbiß von der Hand, sie plaudern und lassen sich's wohl sein und sehen
die Augen Binias nicht.

»Heut' giebt's keine Tafel zu malen, Kaplan, Seppi schafft gut,« sagt
der Weibel, der einen großen schönen Bart, aber einen schielenden Blick
hat.

»Macht nichts -- ich bin nicht gern der Unglücksrabe,« antwortete der
Kaplan mit seiner hohlen Stimme.

»Ich glaube beim Eid, Seppi Blatter fällt -- die elende Hitze -- und
erst dort oben -- man wird da unten dumm, dort oben aber wird einer
verrückt -- die Männer, die stürzen, thun's, weil sie vom Sonnenstich
wahnsinnig geworden sind.« Bälzi nahm einen Schluck.

»St. Jörg und einundzwanzig, das wär' ein Unglück -- die Frau und die
zwei Kinder!« So der Weibel.

Bälzi darauf: »Der Presi bekäme auch einen Schuh voll!«

»Wieso?« fragt Peter Thugi, der ein rechter Mann und der Aelteste einer
weitverzweigten Familie ist.

Bälzi erwidert: »Das glauben doch nur Kinder, daß Seppi Blatter
freiwillig an die Bretter gegangen ist. Man hat der Gemeinde Sand in die
Augen gestreut. Ist's nicht wahr, Weibel?«

Dieser zwinkert zustimmend mit den Augen, aber er schweigt.

Bälzi, dessen Blick vom Schnaps etwas verglast ist, lacht. »Der Presi
hat mir die Pfeife zerschlagen, auf die Garibaldi gemalt ist. Sie war
noch vom Vater selig. Aber jetzt schone ich ihn auch nicht mehr.«

Er erzählt den Lauschenden das Gespräch im Bären: »Und ich will ein
brennender Mann werden, wenn's nicht wahr ist, er hat dem schlafenden
Seppi Blatter die Feder in die Hand gesteckt und sie ihm geführt.«

Die Umstehenden fahren zurück. »Kaplan, was sagt Ihr dazu?«

Der Schwarze antwortet, da -- ein gellender Schrei.

»Gott's ewiger Hagel, des Presis Kind!« So rufen sich die Männer in
peinlicher Ueberraschung zu. Das Mädchen, das hinter einem abgestürzten
Mauerteil gekauert ist, springt wie besessen davon, es eilt am Vater
vorbei, es keucht den Stutz empor, es rennt ins Dorf zurück.

Wie der Presi nach ein paar Stunden nach Binia fragt, da sagt man ihm:
»Sie ist heim zu Susi!« Da schüttelt er das Haupt und seufzt: »Sie ist
dieser Tage so seltsam.«

Damit, was Bälzi über die Hitze sagte, hatte er recht.

Die Sonne! die Sonne! Die Luft im Thal zwispert, von den Weißen Brettern
herunter kommt ein so heißer Strom, daß ihn selbst die erfrischenden
Schwäle, die aus der Schlucht aufsteigen, nicht zu kühlen vermögen. Wie
Blei fließt er in die Glieder, wie Spinnweb legt er sich um die
ermattenden Sinne.

Der Mann, der über dem versammelten Dorf zwischen Himmel und Erde
schwebt, steht im wachsenden Brand des Juninachmittags. Die
Sonnenstrahlen liegen so auf den Weißen Brettern, daß die Augen
schmerzen, wenn man eine Weile hinsieht. Sie flimmern, als sehe man, wie
Licht und Hitze aus den Felsen strömen.

Ja, bei bedecktem Himmel könnte Seppi Blatter sein Werk wohl vollenden,
aber in dieser mörderischen Glut, die Augen und Gehirn sengt. Der
Sonnenstich!

Man sieht, daß er leidet. Seit einiger Zeit hat er die Kapuze seines
Hirtenhemdes zum Schutze vor der Sonne um den Kopf gezogen. Die
Aufregung wächst, die Frauen vor der Kapelle beten lauter. »Er kann's
nicht vollenden,« hört man. »O, Seppi ist zäh,« antworten andere.

Jetzt ist die Arbeit soweit gediehen, daß Seppi mit dem Einlegen der
Kännel beginnen kann. Immer noch schweben sie, einer um den anderen,
viele Kirchtürme hoch, herab, und einen um den anderen stößt Seppi
Blatter, auf ihm stehend, in die Reifen, löst die Seile der
eingehängten, schwingt sich zum folgenden, und an den Felsen zeichnet
die wieder erstehende Leitung eine dunkle Linie. Oft aber verzögert sich
das Werk. Die sinkenden Kännel verfangen sich in den Seilen der
nächsten, dann löst sie auf ein Zeichen aus dem Thal ein Zug aus der
Höhe aus, und wenn sich ein Kännel befreit, schwankt das ganze Werk, als
müsse es den Mann dort oben herunterschütteln wie einen Apfel vom
sturmgerüttelten Baum. Oder Seppi Blatter löst die Kännel, die sich
verfangen haben und sich in seinem Bereich befinden, selber aus, dann
fliegen sie von der Felswand ab in die freie Luft und wieder schief
zurück, daß er sich blitzschnell ducken muß, damit sie ihn nicht durch
einen Schlag an den Kopf von seinem schmalen Stande werfen.

Manchmal bei einem der entsetzlichen Schauspiele wagen die Zuschauer,
die doch des Schreckens gewöhnte Bergleute sind, nicht zu atmen, die
meisten Frauen, die das Schwanken des Gerüstes sehen, fliehen entsetzt
zu der Kapelle zurück.

Selbst die harten Männer erliegen der furchtbaren Spannung. »Presi, gebt
doch das Zeichen zum Abbruch. Morgen ist wieder ein Tag!«

Aber die Mehrheit ist der Ansicht, man solle, wenn Seppi Blatter nicht
selber den Abbruch wünsche, in Gottes Namen mit dem Werk fortfahren, es
sei auch mißlich, die Mannschaft auf dem Glottergrat im Freien
übernachten zu lassen.

Dann und wann ruht Seppi Blatter eine Weile und stärkt sich an Speise
und Trank. Besonders lang um vier Uhr des Nachmittags, ehe er die
Führung der Leitung durch die größere Wildleutfurre in Angriff nimmt.

Josi, der vom frühen Morgen nicht von seiner Stelle gewichen ist, ist
ins Gras gesunken und verbirgt sein Gesicht darin. Das starre
Hinaufsehen, die Hitze, das Entsetzen! Der Taumel hatte sich seiner
bemächtigt, ihm ist, glühendes Eisen senge sein Hirn, ruhelos wälzte er
sich.

Fränzi und Vroni, die fast ununterbrochen vor dem Muttergottesbild
gekniet sind, sehen das Leiden des Knaben und erbarmen sich seiner,
obgleich das ihre nicht kleiner ist.

Eusebi, der scheue Stotterer, steht in der Nähe und schaut mitleidig auf
ihn.

Seine Mutter, die stolze Gardin, will ihn mit zur Kapelle nehmen: »Man
würde meinen, du gehörtest auch der Wildheuerin Fränzi!« Der blöde
Knabe sagt: »L--l--os[17], M--m--mutter, ich w--w--will da--da
bl--bleiben!«{2}

  [17] »_Los_!« -- schweizerdeutsch, »Höre!«

Sie läßt ihn, sie kann gegen ihn nicht hart sein, obschon es sie gerade
heute ärgert, daß sie so ein häßliches Kind hat und die anderen so
blühende Jugend. Eben Fränzi.

Seppi Blatter ist wieder an der Arbeit. In der großen Wildleutfurre! An
einem Seil schwingt er sich mit mächtigem Satz in das Innere der
schrecklichen Kluft und hängt an ihren Klippen. Fahnenzeichen! --
Mehrere Kännel senken sich in die Schlucht und schweben frei. Und mit
mächtigem Schwunge holt er jeden einzelnen ein. Er verschwindet damit im
Innern der Kluft, wo man seine Thätigkeit nicht sehen kann. Kännel um
Kännel zieht er ein, jetzt wird die wachsende Leitung am Rand der
Schlucht wieder sichtbar, das Fürchterlichste ist gethan. Aber je
länger, je unsicherer werden Seppis Schwünge, zwei-, dreimal sieht man
ihn ansetzen, bis er das Ziel erreicht.

Sechs Uhr! Erfrischende Kühle strömt durchs Thal, lebhafte Bewegung ist
unter dem Volk.

Seppi Blatter hat über die ganzen Weißen Bretter hin die Kännel gelegt,
der Rest, der ihm zu thun bleibt, ist leicht.

Da stupft Eusebi den daliegenden Josi: »Sch--sch--schau!
f--f--fer--fertig!«

Josi schnellt auf, lächelt verträumt, sucht mit seinen rotgeschwollenen
Augen die Höhe und sieht, wie der Vater eben das zierliche Wasserrad
einsetzt, das den Merkhammer hebt und auf ein Brett fallen läßt, so daß
sein Schlag das ganze Thal durchtönt.

Ein Fahnenzeichen gegen den Stutz empor, Männer, die am Eingang der
Leitung stehen, öffnen die heligen Wasser. In wenigen Augenblicken
werden sie durch die neuen Kännel fließen. Bald wird der Merkhammer das
erste Zeichen geben.

Eine ungeheure Spannung hat sich des Völkleins bemächtigt, vor der
Kapelle kniet niemand mehr als die Wildheuerin Fränzi und Vroni.

»Wollt Ihr's nicht hören?« fragt eine Nachbarin, aber so lange Seppi an
den Weißen Brettern ist, darf man in der Fürbitte nicht müde werden. Und
Fränzi und Vroni beten.

Da horch: »Tick tack, tick tack.« Mit wachsender Schnelligkeit kommt's
aus der Höhe, der Merkhammer schlägt, andere Hämmer, die weiterhin in
die Leitung einschaltet sind, erheben ihr Spiel, das Echo ist erwacht,
das Thal hat seine Musik wieder, eine einförmige Musik, die doch wie ein
Psalm in die Ohren klingt. Sie bedeutet Erlösung aus dem Schrecken,
Segen und Fruchtbarkeit.

Wie der Müller berauscht vor Freude aufhorcht, wenn nach langer
Trockenheit sein Rad wieder klappert, so lauschen die Leute von St.
Peter dem Hackbrettspiel der heligen Wasser und drücken sich vor Freude
die Hände.

»Ja, Seppi Blatter ist ein Mann! -- Es lebe der neue Garde!«

Der alte Pfarrer hebt segnend sein Kreuz gegen die wiederhergestellte
Leitung empor, das Glöcklein, das einen Augenblick zu bimmeln aufgehört
hat, setzt wieder ein, es ruft zum Dankgottesdienst, und die Berge
leuchten, vom Abendrot umspielt, wie Lichter der Andacht.

Am schönsten leuchtet Josis Gesicht!

Hoch an den Weißen Brettern sind nur noch zwei oder drei Stricke zu
lösen und die Arbeit, die gefahrvolle, ist glücklich gethan. Bald wird
man auf den Felsentafeln nur noch die Linie der Kännel sehen.

Der Gottesdienst geht seinen Weg, da gellt ein einzelner Schrei:
»Seppi!«

Der Schrei verzehn- und verhundertfacht sich -- ein dunkler Körper fällt
und wird größer im Fallen, er gleitet wie ein Schatten die Weißen
Bretter hinab.

Seppi Blatter ist am Ende seines Werkes abgestürzt. Der Gottesdienst
schweigt.

Josi ist brüllend wie ein Stier aufgesprungen und will sich in die
Glotter stürzen, in der sein Vater vor seinem Blick verschwunden ist. Da
halten ihn im letzten Augenblick starke Arme zurück. »Gottloser Bub!« Er
beißt, er kratzt, er schlägt um sich, aber die junge Kraft erlahmt,
röchelnd liegt der Knabe im Gras.

Was war die Ursache des Sturzes? -- Hunderte haben hinaufgeblickt, aber
wenige wissen etwas Sicheres zu sagen. Der Glottermüller, der wieder das
Fernrohr geführt hat, versichert, Seppi habe bis zum letzten Augenblick
frei stehend gearbeitet, da schwankte er, faßte das Seil, das ihn in die
Höhe ziehen sollte, es senkte sich ein wenig, er ließ es los, im
gleichen Augenblicke aber wurde es von der Mannschaft, die den Ruck
Seppis für ein Zeichen genommen, in die Höhe gezogen, die Schleife am
Ende des Taues legte sich dabei um das Bein, das er in die Luft gestellt
hatte, die Arme des müden Mannes suchten den oberen Teil des Strickes
zu spät, da schleuderte ihn das steigende Seil, das ihn am Fuß gepackt
hatte, in die Tiefe.

Von allen, die Zeugen des Unfalls gewesen waren, war keiner so blaß wie
der Presi.

Der Schein an den Bergen war erloschen, nur noch die letzten Streifen
der Abendröte beleuchteten die traurige Heimkehr der Leute von St.
Peter. Sie führten eine an Gott und Menschen irre Familie in ihrer
Mitte, und im Schimmer der Mitternachtssterne kam ein zweiter dunkler
Zug, dem Kaplan Johannes mit einem Kienspanfeuer, das auf einer Pfanne
brannte, den Weg erleuchtete.

Dieser Zug trug die Leiche Seppi Blatters, des Helden der heligen
Wasser.



V.


Die Wasser rauschten und die Merkhämmer schlugen.

Mit herzlicher Teilnahme wurde Seppi Blatter bestattet. Vom Morgen an
stand der Sarg neben der Thüre des Häuschens, wo der Verunglückte mit
den Seinen friedlich gewohnt hatte. Auf dem Totenbaum lag der Federhut,
das Schwert und die Binde des Garden. Ein silberner Becher stand auf dem
Sarg. Als die Leidtragenden kamen, hob ihn jeder, trank einen kräftigen
Schluck und sprach: »Lebe wohl, Seppi Blatter, möge es dir wohl thun in
der Ewigkeit!« Und wenn zwei oder drei aus dem Becher getrunken hatten,
so füllte ihn der Weibel wieder mit goldenem Hospeler nach.

O, man durfte sich den Hospeler schon mit andächtigen Sinnen zu Gemüte
führen. Die Begierde nach eigenem Wein hatte St. Peter in die Fron der
heligen Wasser gebracht. Im Feuer des Trunkes kreiste das Blut der
Gestürzten.

Als der Presi erschien und zum Becher griff, schielten alle mit
verhaltener Neugier nach ihm. Sie meinten, es müßte sich etwas
Besonderes begeben. Aber der stolze, kraftvolle Mann hob den Becher mit
Würde und fester Hand und trat mit ruhiger Gelassenheit in ihren Kreis.

Der Garde war viel bewegter; die nervige eiserne Hand bebte, als er
Seppi Blatter Lebewohl sagte. Ihm war, er müsse sich die grauen Haare
zerraufen, weil er ihn nicht von seinem plötzlichen Entschluß
zurückgehalten hatte.

Man brachte die Gedenktafel, die Kaplan Johannes im Auftrag der Gemeinde
gemalt hatte, und legte sie auch auf den Totenbaum. In frischen Farben
leuchtete die Inschrift:

»An den heligen Wassern ist bei Reparatur erfahlen und wohl versehen mit
den hl. Sakramenten gleich tot gewesen der ehrsame Seppi Blatter von St.
Peter. Gewählt worden zum Garden. Hat aber nicht angetretten. Sein
Lebenslauf ist 40 Jahr und 7 Tag. %R. I. P.%

    Mein lieber Freund, ich bitte dich,
    Geh nicht vorbei und bett' für mich.«

Jetzt trug man Seppi Blatter zu Grabe. Als sich die Gemeinde vom
Kirchhof verlief, gingen nur wenige, die an der Beerdigung teilgenommen
hatten, in den Bären. Dem Presi war's recht. Er wollte noch nach Hospel
hinausreiten und sattelte eben das Maultier. Er hatte plötzlich das
Bedürfnis, Frau Cresenz recht bald als Hausfrau in den Bären zu führen.
Mit der alten Susi war's nicht mehr gethan, ihr Kropf wurde ihr je
länger je hinderlicher bei der Arbeit, sie pfiff daraus wie eine
ungeschmierte Säge und ob sie fast nicht zu Atem kam, keifte sie
gleichwohl an einem Stück.

Er wollte mit Cresenz über den Hochzeitstag reden.

»Susi, wo steckt denn Bini wieder?« rief der Presi.

»Sie hat sich wieder irgendwo versteckt. Verhext ist das Kind --
verhext!« jammerte Susi, »und sie war sonst ein so liebes, artiges
Vögelchen, das den ganzen Tag gehüpft ist. Wer hat es ihm nur angethan?«

»Ihr seid ein Kalb; Susi, bringt mir Binia nicht mit dem Hexenzeug ins
Geschwätz, sonst seid Ihr den letzten Tag im Haus!«

Damit ritt der Presi davon, Susi heulte: »Nichts mehr sagen darf man,
nichts! Wie ein Schuhlumpen ist man geachtet. Gewiß bleib' ich nur wegen
des Kindes.«

Schon ein paar Tage aber versteht sie Binia nicht mehr. Seit der
Wassertröstung sitzt das Mädchen irgendwo in einem Winkel des Hauses,
immer da, wo man sie nicht sucht, zerrt mit den Fingern der einen Hand
an den Fingern der anderen, beißt in die Fingerspitzen und starrt mit
den großen dunklen Augen ins Leere, wie wenn sie etwas sehen würde, was
nicht ist, etwas Grauenhaftes, Entsetzliches! Susi hatte sie mit der
Wallfahrt zur Lieben Frau an der Brücke geschickt, aber am Mittag kam
das Kind in der warmen Sonne schlotternd zurückgelaufen, nicht in die
Stube, nein, es rannte die Treppen hinauf bis unter das Dach. Als Susi
es suchen ging, da saß es mitten unter altem Gerümpel des Estrichs,
einen zerlumpten Rock seiner Mutter selig um das eigene Kleid gelegt. Es
wimmerte leise, leise. Nur etwas verstand Susi, was das Kind immer
wieder vor sich her stammelte:

»Die Hand wird ihm aus dem Grab wachsen!«

»Sage, Vögelchen, du unglückliches, wem wird die Hand aus dem Grab
wachsen. Wer sagt es?«

Da warf die Kleine das Köpfchen mit dem ganzen Jähzorn zurück, den sie
vom Presi geerbt hat: »Susi, das ist schlecht von dir, daß du horchst,
was ich rede.« Sie fürchtete sich vor dem Kind; es war, als wolle es
wie ein wildes Tier aufspringen und sie zerreißen.

Binia, die nicht schlief, hörte am Abend spät noch auf dem Flur von dem
schrecklichen Ausgang des Tages reden. Im Hemd kam sie in die Küche
gelaufen, klammerte sich an Susi und schrie: »{3}Verzeih mir, Susi, --
bleibe bei mir -- ich fürchte mich -- ich fürchte mich gräßlich.«

Da wachte die Magd am Bett der Kleinen. Als Binia die Augen schon einige
Zeit geschlossen hatte, schlug sie sie wieder auf und flüsterte: »Wenn
mich der Seppi Blatter schon 'Schlechthundekind' gerufen hat, so muß
ich, wenn ich groß bin, Josi Blatter doch heiraten.«

Die entsetzte Susi schmeichelte: »Schlafe, schlafe, Schäfchen; wenn du
groß und ein schönes Mädchen sein wirst, kommen um dich viele Burschen
fragen.«

Drauf Binia: »Ich liebe aber nur Josi. Weil der Vater Fränzi nicht
genommen hat, muß ich halt den Josi nehmen.«

Seither war Susi überzeugt, das Kind sei besprochen und verhext.

Dem wollte sie schon auf den Grund kommen. Als der Presi fortgeritten
und die letzten Gäste gegangen waren, suchte sie das Kind. In seinem
Kämmerchen kniete es am Bett.

Sie war wohlwollend zu ihm. Es aber stellte sehr sonderbare Fragen: »Du,
Susi, hat mein Vater meine Mutter stark lieb gehabt?« -- Wie kam es auf
diese Frage? Seit drei Jahren war die selige Beth tot. Als das Kind in
sie drang, antwortete Susi: »Natürlich, du Närrchen, hat der Vater die
Mutter lieb gehabt.«

Das Kind fuhr mit dem Köpfchen aus dem Kissen, richtete mit
unaussprechlicher Verachtung die Augen auf sie: »Du lügst, Susi, er hat
sie gar nicht geliebt. Ich frage dich nichts mehr!«

Susi ging im Bewußtsein, daß sie gelogen habe, schamrot aus dem
Kämmerlein.

Aber die Neugier trieb sie zu Binia zurück. Sie fuhr das Kind barsch an:
»Binia, wer hat dich besprochen -- du bist besessen.«

»Laß mich,« schreit Binia, »ich bin krank -- geh!«

Susi läßt sich nicht abweisen: »Der Kaplan Johannes schlarpt eben mit
dem Bettelsack durchs Dorf, der soll dich heilen. Ich rufe ihn!«

»Nein, -- nein« -- kreischt die Kleine und zittert am ganzen Leib, und
wie Susi eine Bewegung gegen die Thüre macht, fällt sie ihr um die
Kniee.

»Ums Himmels willen rufe den Kaplan nicht.«

Susi drauf: »Gelt, der ist's, der dich besprochen hat! Jetzt haben wir's
schon -- dich und Josi. Ist Josi bei dir gewesen?«

»Ja, wir sind auf der Brücke gekniet -- das war aber nur Scherz. -- --
Nein, dir, erzähl' ich's nicht, du lügst und bist so dumm.«

Und das Kind hat wieder den Trotzkopf aufgesetzt.

Da bekreuzt sich die abergläubische Magd und geht: »Aber dem Presi darf
man nichts sagen -- nichts!«

Wie sie fort ist, schluchzt und röchelt Binia. Niemand hat ihr etwas zu
leide gethan, sie hat nur gehört, was Fränzi und der Vater geredet, sie
hat nur gehört, was Kaplan Johannes zu den anderen Männern sagte: »Die
Hand wird ihm aus dem Grabe wachsen.«

Alles das ist aber so schrecklich für ihr kleines, feuriges Herz. Sie
hat gemeint, einen so trefflichen Mann wie ihren Vater gebe es nicht
mehr. Ob er sie schon manchmal anschnauzte, war sie stolz gewesen auf
ihn, sie hatte ihn so unendlich lieb und wenn er nur einmal ein wenig
freundlich mit ihr redete, -- o, dann hätte sie am liebsten die kleinen
Arme um seinen Hals geschlungen und ihn vor Freude und Seligkeit in die
Wange gebissen. Und jetzt weiß sie so Entsetzliches von ihm. Er hat die
tote Mutter nicht geliebt, er hat Fränzi einen Kuß geben wollen, der
Schämdichnicht.

Dann das Gräßliche, wie die Unterschrift Seppi Blatters entstanden ist,
die Unterschrift, wegen der dem Vater die Hand aus dem Grab wachsen
soll!

Das ist zu viel für ihr Köpfchen, es hämmert darin, als sollte es
zerspringen. Ja, ja, die Fränzi hat recht, es ist ein Unsegen auf sie
gekommen. Darüber möchte sie mit jemand reden, aber nicht mit Susi, die
lügt, weil sie ihr alles ausreden will. An eine liebe Brust möchte sie
sich lehnen und weinen. Sie denkt an Fränzi, die mit ihrer Mutter gut
befreundet gewesen ist, Fränzi hat auch sie lieb, Fränzi lügt nicht. Ja,
mit Fränzi will sie reden.

Aber sie darf nicht zu Fränzi gehen! Warum nicht? Sie weiß es im
Wirrwarr ihrer Gedanken nicht, es ist ihr aber, wie wenn Blut und Feuer
zwischen ihr und Fränzi, zwischen ihr, Vroni und Josi lägen.

Und aus dem Gefühl tiefer Hilflosigkeit schreit sie: »Mutter -- Mutter
-- liebe tote Mutter!« -- --

Mit einigem Herzklopfen ritt der Presi auf seinem Wege nach Hospel über
die Unglücksstätte, sein kluger Verstand sagte ihm wohl, die
Kaufbriefgeschichte sei damit, daß an den Weißen Brettern der Hammer
wieder töne, noch nicht erledigt. War er mit Blindheit geschlagen
gewesen, daß er die tolle Angelegenheit nicht sofort am anderen Morgen
geordnet hatte?

Nun zuckte und wühlte sie im Dorf, er hatte es aus den verlegenen Mienen
der Männer gelesen, die an der Beerdigung Seppi Blatters teilnahmen.

Er schwitzte -- er sehnte sich nach Hospel, die Welt schien ihm dort
freier -- hier legte sich etwas wie Zentnerlast auf die Brust -- es war
zum Ersticken. Gut, daß er jetzt die Weißen Bretter, den Teufelsgarten
mit den zertretenen Blumen, das Schmelzwerk und die Kapelle hinter sich
hatte.

Der hundertstimmige Schrei beim Sturz Seppi Blatters gellte ihm noch in
den Ohren.

»Ta-ta-ta. Ich bin der Presi!« denkt er.

Er kommt in das Kreuz nach Hospel, aber Frau Cresenz zeigt sich gar
nicht und der stolze Kreuzwirt, der behäbigste Gastwirt am Weg von der
Stadt bis zum Hochpaß, sein zukünftiger Schwager, empfängt ihn frostig.

»Was hast, Kreuzwirt, warum magst mir nicht recht die Ehre geben?«

»Von dir läuft ja die Schande auf allen Straßen. Und Seppi Blatter ist
so ein braver Mann gewesen. Ist's wahr, daß du ihm, wie er betrunken
gewesen ist und geschlafen hat, die Feder geführt hast?«

Da schlägt der Presi die Faust auf den Tisch, springt auf: »Vor Gericht
müssen mir die räudigen Hunde -- Wer hat's gesagt?«

»Von rechtschaffenen Leuten ist's hier im Kreuz verhandelt worden,
aber, daß ich dir die Namen nenne, giebt's nicht.«

»Es ist eine elende Verleumdung. Horch, Joch, wie's zugegangen ist. Man
hat einen Mann haben müssen, mit dem Losen ist's gar eine mißliche
Sache.« Der Presi erzählte und schloß mit der Frage: »Was sprichst
jetzt?«

»Ich sage, daß die Geschichte nicht sauber ist! Geplagt hast du Seppi,
das giebst ja selber zu. Wo hast du dir das Herz hergenommen, ihn grad
an dem Tag, wo du dich mit der Cresenz verlobt hast, mit dem Kaufbrief
zu kreuzigen? Das gefällt uns nicht. Wenn du Seppi Blatter die
hundertachtzig Franken aus Anlaß deiner Verlobung geschenkt hättest, so
hätte es mich und die Cresenz gefreut. Man hätte dann aus dir etwas
Glück gespürt. Jetzt aber kränkt sich Cresenz.«

Der Presi wurde ganz klein -- das traf. Er wußte wohl, daß er sonst der
Gescheitere war als der vornehme hohle Kreuzwirt. Aber jetzt hatte der
recht! Und er murrte verlegen und stoßweise.

Der Kreuzwirt fuhr fort: »Warum fragst du nicht, wo sie bleibt? Weil du
dich schämst, weil du weißt: es ist ein Schandfleck auf deiner Ehre!«

»Ein Schandfleck auf meiner Ehre!« wiederholte der Presi. Sein Gesicht
war blutleer und seine Hand langte mechanisch nach dem
Zündhölzchenstein.

»Laß den Stein liegen,« sagte der Kreuzwirt ruhig, »es ist jetzt genug
an Gewaltthätigkeit. Cresenz aber will sich besinnen, ob sie Bärenwirtin
von St. Peter werden will. Sie schreibt dir darüber in den nächsten
Tagen.«

Als der Presi heimritt, kam er sich vor wie ein vom Hagelwetter
erschlagener Baum. Die Wut über die Verleumdung tötete ihn fast. »Die
schlechten Hunde -- die elenden Tröpfe -- -- Ist die Wahrheit nicht
genug?« stammelte er vor sich hin.

Er sah die blauen, großen, vorwurfsvollen Augen Fränzis, die schönen und
guten Augen. O, wie er sie jetzt haßte!

Schweißgebadet ritt er durch die Dämmerung. Jetzt sah er Seppi Blatter,
aber nicht den geringen Wildheuer, der gequält am Wirtstisch saß. Nein,
den Wasserstreiter, der freiwillig an die Bretter gestiegen war. Der
schaute ihn herausfordernd an, immer als hätte er die Frage auf den
Lippen: »Presi, wollen wir zusammen einen Hosenlupf[18] machen?«

  [18] _Hosenlupf_, ein beliebter Ringkampf der Aelpler.

»Ich hab's nicht durchgezwungen -- das weißt -- bist ja selber
gegangen,« schnauzte der Presi.

Und als ob er mit einem anderen im Zwiegespräch wäre, sagte er nach
einer Weile: »Ja, das gebe ich zu -- ich habe dich geplagt -- es ist
dumm gegangen an jenem Abend.«

Bei der Kapelle stieg er nicht ab, um ein Gebet zu verrichten, wie es
die fromme Sitte heischt; er sah die frische Tafel Seppis, die während
seines Aufenthaltes zu Hospel in das kleine Gotteshaus gestellt worden
war, ihre Goldfarbe glänzte frisch -- frech, dachte der Presi und im
Vorbeireiten rief er: »Daß du mich nicht gar zu stark klemmst, Seppi
Blatter, sonst --! Weißt, ein wenig leid' ich's schon, hab's auch
verdient -- aber wenn du mich zu stark schuhriegelst -- du weißt,
Fränzi, Vroni und Josi sind noch nicht in der Ewigkeit.«

»Halt 's Maul, räudiger Pfaff!« schrie er, als er am Schmelzwerk
vorüberjagte und den Kaplan Johannes singen hörte. Unaufhaltsam
vorwärts, den Stutz hinauf drängte er das arme Tier mit seinen Flüchen
und kam früher, als ihn jemand erwartet hatte, nach Haus.

Im Bären saß tiefbekümmert der Garde. Er wartete nicht lang mit seinem
Bericht. Das Amt war auf ihn zurückgefallen -- für einstweilen, hatte
man im Gemeinderat gesagt -- das bedeutete aber in St. Peter für
Lebzeiten.

»Presi, ich hab's zum Guten leiten wollen, aber die Sache steht bös. Die
Geschichte der Unterschrift Seppis geht vertrüdelt und verdreht durchs
Dorf. Es sind darum auch keine Leute im Bären.«

»Die Gemeinde wird nicht die ganze Zeit saufen müssen, ich verlange es
gar nicht,« höhnte der Presi, »wenn sie wildeln und wüst thun wollen
über mich, so ist es mir schon lieber, sie erledigen es draußen, als mir
unter der Nase. Das könnte unlustig werden.«

»Möchtet Ihr in diesen Tagen nicht einmal die Fränzi aufsuchen und mit
ihr im guten reden?«

»Damit die Leute mit den Fingern auf mich weisen und sagen: 'Den hat das
Gewissen gedrückt!'«

»Wir haben jetzt gewiß allen Anlaß, gegen den Haushalt rücksichtsvoll zu
sein.«

»Aber ich nicht -- ich nicht! Lieber werde ich ein brünniger Mann[19].«
Der Presi wischte sich den Schweiß, der immer noch auf seiner Stirn
perlte, er war so müde wie lange nicht mehr. »Ueber diese Geschichte
wird schon Gras wachsen!«

  [19] _Brünniger Mann_, in der Volksvorstellung ein Mann, der nach
       seinem Tod des Nachts brennend umherwandelt.

»Lange keines,« knurrte der Garde, stand auf und ging. --

»Endlich Ruhe.« -- Auf der Straße verlor sich der schwere Schritt des
Garden und der Presi stützte den Kopf in beide Hände und ließ
nachdenklich die Lider auf die Augen fallen.

Aber er brachte das Bild nicht weg. »O, es ist entsetzlich, einen Mann
einen ganzen Tag kämpfen zu sehen -- das geht nicht fort. -- Du bist ein
schlechter Hund, Seppi Blatter, daß du mir das angethan hast und, wie du
schon fertig warst, noch herunterflogst.«

Der Presi ging in seine Kammer. -- --

Ueber den Unglücksfall an den heligen Wassern und die ihn begleitenden
Umstände wuchs lange kein Gras. Durch alle Gespräche zitterte der
Nachhall, weniger die Klage um Seppi Blatter selbst, als die Neugier,
wie er veranlaßt worden sei, an die Weißen Bretter zu steigen. Allein
nachdem es einige Wochen bös über den Presi gegangen war, so daß er es
für gut fand, mit den Leuten so herzbeweglich artig zu reden, wie nur er
es verstand, schlug die Stimmung um. Die Geschichte sei vielleicht doch
nicht so schlimm. Bälzi habe sie im Anfang nur aus Wut so ehrenrührig
für den Presi erzählt, und er sei ja ein ganz unzuverlässiger Mensch,
der Presi aber sei, wenn er die Laune habe, ganz gutherzig und habe
schon manchem, der sich nicht mehr zu raten und sich zu retten wußte,
aus der Klemme geholfen. »Und,« gaben die Leute zu, »er ist halt doch
der Gescheiteste unter uns allen.«

Am meisten Beruhigung fanden die von Sankt Peter in der Sommerarbeit,
die sie schwer ins Joch schlug und sie auf Aecker, Alpen und in die
Weinberge zerstreute.

Der Stimmungsumschlag erstreckte sich bis nach Hospel. Von Frau Cresenz
kam eines Tages ein Briefchen und am folgenden Tag ritt sie, vom
Kreuzwirt begleitet, den Silberschild der Hospelertracht vor der Brust,
das kokette Filzhütchen auf dem Haupt, vor den Bären.

Der Presi empfing den Kreuzwirt und seine Schwester nicht zu freundlich,
denn die Beleidigung vom letzten Besuch saß ihm noch wie ein Dorn im
Fleisch, aber mit einem Scherzwort zog Frau Cresenz den Stachel heraus,
und gegen liebenswürdige Frauen war der sonst unbeugsame Mann
nachgiebig.

Und Frau Cresenz war hübsch. Aus ihrem vom Ritt leichtgeröteten Gesicht
schauten muntere graue Augen, sie hatte kluge und angenehme Züge, eine
kühle Sprechweise und war in ihren Bewegungen, obgleich ihr Körper fast
zu stattlich war, von unleugbarer Anmut.

»Die steht dem Bären wohl an,« schmunzelte der Presi in sich hinein und
zeigte den beiden das Haus.

»Ja, da muß vieles anders und ordentlicher werden, da gehört wirklich
wieder eine Hausmutter hin.« Und die hübsche Frau Cresenz lächelt dem
Presi gutmütig verständnisvoll zu.

Etwas beschämt sagt er: »Wir haben bis jetzt halt nur ein
Bauernwirtshaus geführt. Das muß natürlich für die Fremden alles anders
eingerichtet sein!«

Als die drei die Treppe aufwärts in den zweiten Stock stiegen, trat die
alte Susi, die Röstpfanne, aus der der Kaffeeduft aufstieg, in den
runzeligen Händen, neugierig unter die Küchenthüre und sah ihnen nach.
Da machte Frau Cresenz am Geländer der Treppe einen Fingerstrich und
zeigte den Staub hinter dem Rücken des Presi dem Kreuzwirt.

Nun war die Alte teufelswild und faustete hinter der kleinen
Gesellschaft her: »Nein, bei der bleibe ich nicht.«

Der Presi hatte mit seinen Gästen den Estrich erreicht. Plötzlich
ertönte schallendes Gelächter der Frau Cresenz. Aus einem von allerlei
Gerümpel gebildeten Winkel starren sie zwei große Kinderaugen an, ein
ängstliches Gesicht schaut aus einem alten zerrissenen Tuch, das
malerisch über den Kopf geworfen ist.

»Ist das Binia? Ach, das Kind habe ich ganz vergessen. -- Komm, du
artiger Fratz.« -- Die Kleine sieht die Augen des Vaters aufmunternd auf
sich gerichtet und kriecht hervor. Da reißt ihr Frau Cresenz lachend das
Tuch ab: »So, jetzt siehst du menschenähnlich aus, nun gieb mir die
Hand.«

Sie sagt es mit kühler Freundlichkeit, aber der erschrockene scheue
Wildling rennt an ihr vorbei und wirbelt die Treppe hinunter. Die alte
Susi ruft ihr zu: »Hast die neue Mutter gesehen, die hochmütige?«

»Die neue Mutter!« Nun muß sie auch darüber denken. Und das kleine
Köpfchen brennt doch schon von allem anderen, worüber ihm niemand
Auskunft giebt. Der Vater hat mit der Frau so lieb geredet. Nie, nie hat
er so mit der seligen Mutter gesprochen und auch nicht mit ihr. Doch,
aber es ist schon so lange her. Sie schleicht sich auf den Zehenspitzen
in ihr Kämmerchen empor. Denken -- denken will sie.

Gegen Abend hört sie die Fremden fortreiten, das fröhliche Lebewohl, das
der Vater Frau Cresenz zugerufen hat, tönt ihr in die Ohren. Ihr aber
thut der Kopf so weh, ihre Zähne klappern, sie kriecht ins Bett.

Da hört sie die Tritte des Vaters. Gewiß kommt er sie zu züchtigen.

Sie mochte seine Absicht erraten haben, aber in den Zorn mengte sich die
Vatersorge. Binia war zwar immer ein eigenartiges Kind gewesen, oft
nachdenklich, oft ausgelassen lustig, aber seit einiger Zeit war sie so
blaß und scheu und allen ein Rätsel.

Wäre er abergläubisch gewesen, er hätte geglaubt, die Drohung der Fränzi
sei schon in Erfüllung gegangen, Unsegen sei auf dem Kinde.

Wie er sie nun am hellen Tag mit gläsernen Augen im Bette liegen sah,
entwaffnete die Sorge den letzten Zorn.

Er setzte sich ans Lager, nahm die fiebernde Hand der Kleinen ganz
vorsichtig in seine Pratze und als sie, sich von ihm abwendend, leis
wimmerte, legte er ihr die andere Hand auf das seidenweiche dunkle Haar.
Das Kind zuckte zusammen.

»Was machst du für Streiche, liebe Maus? Du hast eine heiße Stirn, bist
ja ganz krank. -- Binia -- Gemslein -- liebes Gemslein, schau mich
einmal an.«

Sorge und Bangigkeit sprachen aus seinem Ton.

Als das Kind die sanften und lieben Worte des rauhen Vaters hörte, die
es wie ein Klang aus fernem schönem Traum umwarben, überließ es ihm das
heiße Händchen, das es ihm hatte entziehen wollen, und halb freudig,
halb ängstlich blinzelte es mit den großen Augen nach ihm.

»Hast du mich nicht mehr lieb, Bini?«

»O doch -- doch -- Vater,« klang das feine Stimmchen, »aber -- --« Sie
schauerte.

»Rede nur, Maus!«

»Ich habe dich so viel zu fragen. Thust du mir nichts, wenn ich etwas
frage?« Der zarte Körper zitterte.

»Nein, frage nur -- bist ja meine Maus!«

»Warum bist du auch so lieb und gut jetzt, Vater?« Das tönte so fein und
scheu und ein bleiches Lächeln flog über die Lippen des Kindes.

»Ich habe dich ja immer lieb gehabt, Gemslein. Weißt nicht mehr, wie ich
dich auf dem Arm getragen habe? Und weißt noch, wie ich dir manchen Kram
von Hospel mitgebracht habe?«

An diesen Gedanken spann das Kind weiter.

»Ja, die Mutter und ich haben jedesmal auf dich gewartet, bis du am
Abend heimkamst. Und dann hast du mich noch ein wenig auf die Kniee
genommen und ich habe darauf reiten dürfen. Die Mutter hat mich dann zu
Bett gebracht und hat meine Hand genommen wie du jetzt und wir haben
gebetet: 'Lieber Gott, lieber Herr Jesus Christus! Erhalte den lieben
Vater gesund.' Und dann hat sie die Kissen an mein Köpfchen gedrückt:
'Schlaf, schlaf, du liebes Engelchen.' Und manchmal ist eine Thräne auf
meine Wange gefallen, aber am Morgen, wenn ich sie gesucht habe, war sie
fort.«

Rührend, als ob das fiebernde Kind gegen das Weinen kämpfte, klang das
Stimmchen, der Presi hatte den Kopf gesenkt, und als er nichts
antwortete, fuhr das Kind fort:

»Seit die Mutter tot ist, besucht sie mich jede Nacht. O, sie ist so
schön, sie ist ganz weiß und hat Flügel an den Schultern. Und wenn sie
sieht, daß ich ihr altes Sonntagsbrusttuch bei mir im Bett habe, so
lächelt sie wunderschön. Nur das Tuch muß ich haben, dann kommt sie. --
Aber, Vater, warum hat die Mutter auch so viel geweint, als sie lebte?«

Der Presi war unruhig geworden, die Zärtlichkeit des Fiebergeplauders
regte ihn auf.

Das Mündchen aber lief und lief: »Wie ist es schön gewesen, als ich noch
klein war. Josi und Vroni sind immer gekommen, er hat mich dann auf dem
Rücken getragen, und dafür hast du ihnen Kirschen vom Baum gerissen.«

»Was hast vorhin fragen wollen, Bini?« unterbrach der Vater barsch das
plaudernde Kind.

»Thust du mir nichts?«

»Dumme Maus, du!« Sein Ton war wieder freundlich.

Die Augen des Kindes öffneten sich -- es richtete sich im Bettchen halb
auf und zitternd, traumhaft kam's:

»Du, Vater, wenn ich groß bin, darf ich dann die Frau Josi Blatters
werden?«

Da verzerrte sich das Gesicht des Presi. -- Der Zug hoffnungsvollen
Zutrauens auf dem fiebergeröteten Kindergesicht erlosch, es stopfte den
Mund mit dem gekrümmten Finger, die Augen wurden schreckhaft groß, und
seine Gedanken taumelten nach einem Rettungsanker -- es schlang das
Aermchen um den Vater, es schrie:

»Ich hab' nicht das sagen wollen, Vater -- nein -- ich habe fragen
wollen: Ist es wahr, daß dir die Hand aus dem Grab wachsen wird?«

Da verglasen sich auch die Blicke des Presi, er ächzt -- und ächzt.
Plötzlich brüllt er: »Wer sagt das? -- Sagt es Fränzi?«

Vor Furcht weiß das Kind nicht mehr, was es sprechen soll, was es
spricht.

»Fränzi -- Vroni -- nein -- Josi -- oder nein --« Es will weiter reden.

Aber der Presi schlägt ein so schauerliches Lachen an, wie wenn etwas in
ihm risse. Das Kind schweigt.

»Und den willst du heiraten! -- Da also packst du mich, toter Seppi
Blatter. Deinem Buben will ich's eintränken.«

Er faustet sinnlos gegen die Wände: »Jetzt wollen wir sehen, ob ein
lebendiger Presi nicht über einen toten Wildheuer Meister wird.« Er will
sein krankes Kind schlagen, aber es hat sich tief unter die Decke
verkrochen und hält sie mit krampfhaften Händen fest.

Unter der Thür steht Susi, die irgend etwas berichten will; und schlägt
die Hände über dem Kopf zusammen.

Der Presi schwankt aus der Kammer.

Ein Riß war von dieser Stunde zwischen Vater und Kind. Binia lag einige
Tage krank, der Presi kümmerte sich nicht um sie; als sie mit blassen
Wänglein wieder in der Stube erschien, übersah er sie und vermied lange
Wochen sie anzureden, als er es endlich wieder that, da war es nur in
Gegenwart Dritter und seine Worte beschränkten sich auf kurze Befehle
und gleichgültige Dinge.

Daran änderte auch die Hochzeit mit Frau Cresenz, die im Herbst
stattfand, wenig.



VI.


St. Peter ruht mit seinen Holzhäusern halb versunken im Schnee, wie die
Federkissen eines Brautfuders liegt er auf den Dächern, die Glotter
gurgelt unter dem Eis. Am Mittag stechende Sonne, blauer Himmel, ein
Licht von den Bergen, daß man die Hand über die Augen decken muß,
triefende Dächer und sonnenwarme Luft, des Nachts bittere Kälte, so daß
der Schnee im Flimmern der Sterne wie Millionen erbarmungslose
Glassplitterchen funkelt.

Die Lichter leuchten freundlich aus den kleinen Fenstern ebenhin in den
Schnee. Von Haus zu Haus huscht es und eilt es. Bursche und Mädchen,
jung und alt sitzen um die Lewatöllampe zusammen, die Frauen spinnen den
Flachs, die Mädchen flechten mit raschen Fingern Strohbänder und nähen
Hüte, die Männer schnitzen an Holzschuhböden herum und nebeln mit den
Pfeifen.

Man redet nicht viel, die von St. Peter sitzen gern still und feierlich
im Kreis. Am häufigsten noch hört man das Weib des Fenkenälplers, das
von Zeit zu Zeit von ihrem Mann einen Zug aus der Tabakspfeife bettelt.

»Fenkenälpler, kauft der Vre doch ein artiges Klöbchen,« lacht der
krummmäulige Bäliälpler. »Wenn die Weiber rauchen, so schadet's dem
Hausfrieden nichts -- das meine raucht jetzt auch schon ins siebente
Jahr.«

»Es ist halt doch nicht schön,« meinte die fröhliche Bertha Thugi, eine
Neunzehnjährige, die neben ihrem jüngeren Bruder Peter, dem Enkel des
alten Peter Thugi, sitzt, »daß bei uns so viele Weiber rauchen wie
Kamine. Mir gefallen Fränzi und die Gardin -- sie rauchen nicht.«

»Jetzt will die das Rauchen der Weiber abschaffen, wie die neue
Bärenwirtin den Schnaps.«

Die fromme, geizige Glottermüllerin, die den Mühlknecht hungern läßt,
mault: »Recht ist's. Zuerst haben die Männer gar nicht gewußt, wie die
neue Frau Presi genug rühmen. Schön und leutselig sei sie. Jetzt hat
man's. Nicht einmal ein Gläschen Gebranntes mag sie ums gute Geld den
Leuten gönnen. Sie meint wohl, in St. Peter seien alle vergüldet wie der
Presi.«

Der Bäliälpler mit der Bogennase und dem krummen Maul aber brummt: »Was
mir gar nicht gefällt, sind die Handwerksleute von Hospel, die jetzt die
ganze Zeit im Bären lärmen. Er war doch von jeher ein schönes Haus. Aber
wißt ihr? Fremde Weltleute, Deutschländer, Franzosen, Englische und
Hispaniolen, wie's seit ein paar Jahren zu Grenseln, Serbig und im
Oberland sommers über hat, sollen mit ihren Weibern, Hunden und Katzen
in den Bären kommen und darein sitzen. Was meint ihr? Wozu ist an der
Straße eine Thür ausgebrochen worden und wird eine Stube gemacht? In
diese Truhe können die von St. Peter hocken und oben, wo wir bis jetzt
gesessen sind, in der schönen großen Stube, rutschen die fremden
Maulaffen herum, die den Unterschied zwischen einem Gemsbock und einem
Kalb nicht kennen.«

»Protestieren soll man! -- Aber die Gemeinderäte, der Garde ausgenommen,
haben's wie unsere Maultiere, sie machen so.« Der glatzköpfige
Glottermüller, der eine Stimme hat wie ein Weib, aber selbst schon lange
gern Gemeinderat geworden wäre, nickt mit dem Kopf, bis alles lacht. Und
plötzlich ruft er, daß alle aufblicken:

»Die Gemeinde soll man anfragen, ob wir Fremde in St. Peter dulden
wollen oder nicht. Das behaupte ich.« Wichtig blickt er um sich.

»Der Pfarrer ist dagegen. Eine Todsünde sei's, Fremde nach St. Peter zu
rufen. Anstecken mit großen Fehlern und Sünden würden sie uns und
Schaden bringen an der heiligen Religion.«

So der Bockjeälpler, der zwischen dem Reden immer schnalzt.

»Hört! -- hört!«

»Es ist nicht bloß deswegen!« meint der alte großbärtige Peter Thugi,
der bisher fleißig an seinen Löffeln und Kellen herumgeschnitzt, den
Abend noch kein Wörtchen gesagt hat und mit seiner tiefen Stimme sehr
langsam spricht, »es ist wegen der Dinge, von denen man nicht unnötig
reden soll -- wegen der armen Seelen!«

Das Wort bringt eine merkwürdige Bewegung hervor.

Alle Arbeit ruht, schweigend und feierlich schaut man nach dem alten
Manne und wer raucht, legt die Pfeife weg.

»Wenn nur Fränzi da wäre,« fährt er fort, »sie könnte es besser erzählen
als ich, wie an den Firnen der Krone tausendmal tausend abgeschiedene
Seelen im Eise stehen und sehnsüchtig auf ihre Erlösung warten. Um ihre
Gebete zu verrichten, brauchen sie Frieden und Ruhe. Vom Thal herauf
mögen sie nichts hören als das heilige Glockengeläute. Lachen,
leichtfertiges Reden und großer Lärm thut ihnen weh. Namentlich
beleidigt es sie, wenn die Leute neugierig auf die Gletscher und Firnen
steigen. 'So weit die Welt grün ist, ist Lebendigenland, wo sie weiß
ist, ist Totenland.' Das haben sie schon manchem Gemsjäger gesagt, der
sein Tier ins weiße Revier verfolgte. Wenn nun aber die Fremden, die
nichts von den armen Seelen wissen, alle Tag tanzen und Sonntag machen?
Ich will's euch sagen: Es kommt ein mächtiges Unglück über St. Peter.«

Der Erzähler schweigt; alle erwarten, daß er wieder beginne -- niemand
redet, der Bäliälpler nur mahnt: »Erzählt, Peter Thugi!«

Da fährt Peter Thugi geheimnisvoll fort:

»Es hat eine Zeit gegeben, wo es in St. Peter so weltlich zuging, wie es
wieder geschehen wird, wenn die Leute aus den Weltländern kommen. Alle
Tage waren Lustbarkeiten, sündiges Reden und Wollust. Das war, als noch
die Knappen im Schmelzwerk saßen. Da hat im Bären jeden Abend eine Musik
aufgespielt und immer war mit lustigen Weibsbildern Juhe und Juheien.
Als nun die von St. Peter, die solche Weltlichkeit duldeten, zu
Pfingsten in die Kirche kamen, saßen in den vordersten Bänken auf der
Weiberseite zwölf weiße Vorstehbräute[20], die niemand erkannte. Wie der
Gottesdienst vorüber war, schritten sie hinauf durch die Alpen zu den
Firnen der Krone. Vor einer Hütte, die jetzt schon lang nicht mehr
steht, begegneten sie dem frommen Sennen Sämi, der nicht mehr gehen
konnte und auf der Bank bei der Thüre saß. Da fragten sie ihn ängstlich,
ob wohl die Leute von St. Peter aus ihren betrübten und traurigen
Gesichtern gemerkt haben, warum sie zur Kirche gekommen seien. Der alte
Sämi spürte aus ihrem Ton, daß es etwas sehr Ernstes sei und meinte, ihm
können sie es schon verraten. Sie seien arme Seelen von der Krone,
antworteten sie, und haben die von St. Peter warnen wollen, daß sie das
tolle Leben im Dorf nicht länger dulden. Wenn sie es aber weiter litten,
so würde St. Peter von Lawinen verschüttet, denn die vielen tausend
armen Seelen, die jetzt mit ihren Leibern dem Firn Halt geben, würden
auswandern und dann stürze der Schnee der Krone aufs Dorf. Sie hätten
auf ihre Bitten die Erlaubnis bekommen, daß sie die von St. Peter warnen
dürfen, er möge es ihnen sagen, wenn es die Leute sonst nicht gemerkt
haben. Sie dürfen doch nie mehr kommen und die Mahnung gelte für ewig.
Erleichtert gingen die armen Seelen ihres Weges und sangen vor Freude,
daß sie die Botschaft einem so braven Manne wie Sämi hatten ausrichten
können. Sämi aber schickte Bericht ins Dorf über das merkwürdige
Erlebnis, und siehe da -- alle die in der Kirche gewesen, erkannten die
Vorstehbräute. Es waren gestorbene Mädchen von St. Peter. Die Leute
trieben die Musikanten und die leichten Weibsbilder fort, und seither
weiß man in unserem Dorf, was geschieht, wenn Wohlleben und Ueppigkeit
wieder kommen.«

  [20] _Vorstehbräute_, Kommunikantinnen.

Der Kreis der andächtigen Zuhörer und Zuhörerinnen schauderte.

»Der Presi bringt noch über uns alle gleiches Unglück wie über Seppi
Blatter!« unterbrach die böse Zunge des Glottermüllers das Schweigen.

»Pst!« klang eine Weiberstimme aus dem Hintergrund durch den blauen
Tabaksnebel, »Bälzi weiß, wie der Presi den Leuten ein Schloß an den
Mund legt, die etwas wider ihn sagen.«

Die Gesellschaft hätte lieber noch mehr Geschichten von den Toten gehört
und neigte nicht mehr zum Schwatzen.

Bertha Thugi, die von der Erzählung ihres Großvaters bewegt war, meinte:
»Laßt uns doch die Wildheuerfränzi holen, sie weiß alle Geschichten des
Gebirges, die von den Lebendigen sowohl wie die von den Toten, sie weiß
die Ueberlieferungen und Sagen, sie hat manchmal bis um die Mitternacht
erzählt, so daß alle zitterten und man fast nicht mehr heimgehen
durfte.«

»Fränzi ist aber nie ungebeten erschienen, sie hat aus ihrem Erzählen
immer eine Kunst gemacht, die geehrt sein wollte. Und jetzt lehnt sie
alles Erzählen ab. Sie habe keine Lust mehr zum Reden. Ich verstehe es
nach dem großen Unglück wohl.«

So der alte Peter Thugi, und schweigend lichtet sich allmählich der
Kreis, die Totensagen summen in den Köpfen, die Sagen Fränzis.

Würdig erträgt sie den Tod ihres Mannes. Als er stürzte, hatte sich ihr
wohl ein Schrei entrungen, ein entsetzlicher Schrei, als müßten auch ihr
Leib und Seele auseinanderbrechen. Und in den ersten Tagen lebte sie in
dumpfem Brüten dahin. Dann aber erhob sie sich plötzlich und ging an
ihre Arbeit wie sonst. Niemand hat sie je weinen gesehen, niemand je
klagen gehört. Nur die Strähnen gebleichten Haares in der dunklen Fülle
verrieten, daß sie gelitten hatte. Den Schmerz hatte sie in den
unergründlichen Tiefen des Glaubens begraben.

»Vroni und Josi, tragt niemand etwas nach, es hat im Leiden und Sterben
eures Vaters eine höhere Hand gewaltet, und grübeln ist sündhaft.« So
mahnte sie, wenn die Kinder vor Beelendung über den Tod des Vaters fast
zerflossen.

Ihrem kleinen Haushalt ging es seit dem schrecklichen Ende Seppi
Blatters nicht schlechter als zu seinen Lebzeiten. Es war, als hätte das
Unglück des Vaters Josi, den vierzehnjährigen, mit einem Schlage um
viele Jahre gereift. Das freundliche Knabengesicht mit den klugen
dunklen Augen war ernst und trotzig geworden, um ein Lächeln gab der
früher gesprächige Bursche nicht viel, menschenscheu vermied er das
Dorf. Ohne daß ihm jemand die Notwendigkeit klar gemacht hätte,
schleppte er im Lauf des Sommers genug Wildheu von den Planken, um die
paar Ziegen durch den Winter zu bringen, so daß die Mutter manchmal
mahnte: »Ueberthu dich nicht, du zäher Bub.«

Der Acker hatte reichlich Frucht getragen. Als man Anfang Winter das
Korn im großen Backofen des Garden gleich fürs ganze Jahr verbuk, da
ergab es so viel große Laibe, daß die Kinder bis zur nächsten Ernte
nicht nach Hospel hinauszuwandern brauchten, um Mehl zu holen.

Das war gut, woher das Geld nehmen?

Es waren drollige Mahlzeiten, die Mutter und Kinder hielten. Josi, der
die Stelle des Hausvaters übernommen hatte, zertrümmerte mit Hammer und
Hackmesser das vom langen Liegen steinharte Brot. Die dunklen Splitter
stoben nur so davon, und ebenso stoben sie vom Käse, den noch der Vater
bereitet hatte. Vroni fing die Brocken auf, indem sie die offenen Arme
ausbreitete, und lachend knusperten die Kinder an den braunen Stücken,
die dem Gestein des Gebirges zum Verwechseln glichen.

»Beiße dir keinen Zahn aus, Vroni!« scherzte Josi. Dann wies sie ihm
ihre Perlenreihe zwischen kirschroten Lippen, er zeigte als Antwort sein
blitzblankes Gebiß und zum Schluß der Mahlzeit nahm er die Tessel, einen
Holzstab, der auf dem Tisch lag, und schnitzte einen Kerb hinein, bald
auf Vronis, bald auf seiner, bald auf der Mutter Seite, damit man wisse,
wer das Tischgebet verrichtet hatte.

Ein kleines, inniges Glück, dem die Trauer, die es durchbebte, Bestand
verbürgte. So hätte man den Haushalt Fränzis nennen mögen. Die
Geschichten, die sie nicht mehr in die Kreise der Burschen und Mädchen
tragen mochte, erzählte sie Josi und Vroni. Dann geschah es wohl, daß
Josi müde vom Tag einschlief, während Vroni gespannten Ohres lauschte.

Oft sangen die drei das einzige Lied, zu dem sie eine Melodie wußten,
den einzigen weltlichen Gesang, den es im Glotterthal gab. Fränzi hatte
ihn zur Zeit, als sie mit Seppi selig verlobt war, auf dem Markt zu
Hospel von einem fahrenden Spielmann gehört und gekauft. Sie nannte ihn
»das Kirchhoflied«. Der Sang lautete:

      »Es liegt das Dorf im Abendstrahle,
    Die Berge glühen Dom an Dom,
    Im Frieden steh'n des Kirchhofs Male,
    In wilden Wellen rauscht der Strom
    An ihm dahin zur weiten See,
    Wie klingt die Flut vor Wanderweh!

      Das Steingenelk, die Königskerzen
    Erblüh'n voll Pracht im heiligen Rund,
    Sie steigen aus gebroch'nen Herzen
    Und jede Blume ist ein Mund.
    O, wie das weint, o, wie das lacht,
    Dem Flüstern horcht die Sommernacht!

      Des Dorfes Abgeschied'ne reden,
    Es reden toter Bursch und Braut,
    Man kennt und nennt im Ringe jeden --
    Da klagt ein Knöspchen frischbetaut:
    'Wir sind im Thal -- nur einer fehlt,
    O, wie sich der in Heimweh quält.'

      Gebräunter Bursch ist fortgezogen,
    Den Mund so rot, den Blick so hell,
    Dahin mit Wellen und mit Wogen
    Gewandert ist der Frohgesell,
    Doch, als er stand an blauer See,
    Da schrie sein Herz nach Berg und Schnee.

      Du armer Knabe! Schlaf am Meere!
    Sieh, Gottes sind so Flut wie Firn,
    Sieh, Gottes sind die Sternenheere,
    Er schickt den Tropfen, der die Stirn
    Mit frischem Gletschergruß umspült,
    Der dir das heiße Heimweh kühlt!«

Hatte Vroni ihr Kämmerlein aufgesucht, so hörte sie die Mutter noch eine
Weile in der Stube hantieren. Das letzte war immer, daß Fränzi die Thüre
oder ein Fensterchen öffnete und irgend einen Bissen auf den Tisch
stellte. Wenn am Morgen die Kinder kamen, waren die Fenster
verschlossen, der Bissen verschwunden.

»Wozu das, Mutter?« fragte Vroni ahnungsvoll.

»Für die armen Seelen, für den Vater, wenn er unter ihnen ist.«

»Der Vater ist ja mit den heiligen Sakramenten in den Tod gegangen.«

»Wer ist sicher, daß er an den heligen Wassern nicht doch noch etwas
gedacht oder gethan hat, was er büßen muß. Ein Tag hat tausendmal
tausend Augenblicke und in jedem können wir zur armen Seele werden. Gäbe
es sonst so viele Abgeschiedene, die in die Gletscher eingefroren sind,
daß man nicht über das Eis gehen kann, ohne daß man ihnen auf die
Häupter tritt? Die Krone ist voll Wehklagen der Frierenden, in den
Gletscherspalten hört man sie weinen und diejenigen, die hoch auf den
Bergen armen Seelen begegnet sind, werden nimmer froh, sie verlieren das
Lachen und die roten Wangen. Ihr habt Abrahämi nicht mehr gekannt. Er
war ein Gemsjäger. Einmal, als er hinter einem Felsblock auf eine Gemse
lauerte, sah er plötzlich zwei arme Seelen. Die eine kämmte ihr welliges
Haar, die andere sang, denn beide waren bald erlöst und freuten sich der
warmen Sonne. Es waren vornehme Mailänderinnen, die in ihrem Leben vor
vieler Weltfreude vergessen hatten, Armen Gutes zu thun. Sie erzählten
Abrahämi ihr verfehltes Leben so beweglich und ihre Schönheit war so
groß, daß er vor Mitleid und Liebe fast verging. Sie baten ihn, er möge
im Thale nicht erzählen, daß sie so schwer büßen, denn es könnte sonst
die Nachricht davon bis nach Mailand zu ihren Verwandten gelangen, und
das wäre ihnen nicht lieb. Als aber Abrahämi, der Gemsjäger, ins Thal
kam, konnte er es nicht verschweigen, was für schöne Frauen er auf dem
Gletscher gesehen habe. Da wurden seine Füße und seine Zunge lahm und
viele Jahre saß er so auf dem Dengelstein vor seinem Hause und schaute
in Sehnsucht nach den Firnen der Krone, ob er die schönen Frauen nicht
erspähen möchte. Eines Tages flogen zwei schneeweiße Tauben über das
Thal. Das waren die erlösten Seelen. Abrahämi mochte wieder aufstehen
und reden, doch lachen hat er nie mehr mögen, sondern immer gesagt:
'Kränkt keine arme Seele.'«

So erzählte Fränzi und in Vroni erklangen die Glocken des Glaubens, daß
ihr ganzes Wesen erfüllt würde mit den Ahnungen der Sage. Und war Josi
trotzig und finster, so blühte in ihrem frischen, von blondem Haar
umspielten Gesicht stillinniges Leben auf.

Wenn in der Nacht der Wind durch die Felsen weinte, die weißen Nebel am
mondbeschienenen Berghang schwebten, dann glaubte auch sie die Züge
jener Toten zu sehen, die von den Gletschern ins Thal steigen und es
durchwandeln.

»Mutter, aber haben sie schon am Brot oder an der Milch gerührt?«

»Nein, Vroni, die armen Seelen essen nicht und trinken nicht; wenn sie
nur den guten Willen sehen, so sind sie schon satt und freuen sich, daß
sie nicht vergessen sind, denn nichts auf der Welt thut ihnen so weh,
wie wenn niemand ihrer gedenkt.«

Einmal, als Vroni schon schlief, kam über den hohen flimmernden Schnee
wahrhaftig eine arme Seele durch die Nacht geschwebt und gewandelt, eine
leichte, schlanke Kindergestalt, doch stieg sie nicht den Alpweg herab,
sondern huschte herüber von der schlafenden Kirche, die ihren Turm
gespenstisch in die nächtliche Winterlandschaft reckte.

Fränzi erschrak. Wenn man eine arme Seele sieht, soll man nicht
neugierig sein, es kann sie kränken. Sie zog sich vor der Wandelnden
tief in ihr Stübchen zurück und betete den Segen.

Da horch! Vor dem Fensterspalt bittet und bettelt ein süßes, feines
Stimmchen: »Fränzi, liebe Fränzi. Darf ich zu Euch hereinkommen?«

Einen Augenblick staunt Fränzi, dann sagt sie überrascht: »Weiß Gott,
das ist Binia!« Sie öffnet die Thüre und zieht das schlotternde Kind,
das zum Schutz vor der grimmigen Kälte den Kirchenmantel der seligen
Beth um die Glieder geschlagen hat, in das Stübchen.

»Ums Himmels willen, Bini, was willst du bei dem harten Frost und bald
um Mitternacht. Hat es im Bären ein Unglück gegeben?«

Da lächelt Binia leise und schalkhaft, setzt sich dicht zu Fränzi auf
die Bank, nimmt mit einer scheuen Liebkosung ihre Hand, schlägt den
Blick nieder und sagt: »Nein, im Bären schläft alles, nur ich habe noch
gewacht und an mein seliges Mütterchen gedacht. Wie ich den Schlaf nicht
habe finden können, bin ich still aufgestanden, die Treppe
hinuntergetappt, durch das Fenster des Untergadens[21] hinausgeklettert
und bin zu Euch gekommen.«

  [21] _Untergaden_, schweizerdeutsch, Vorratskammer im Erdgeschoß.

»O Gott und alle Heiligen! Nicht einmal recht angezogen bist du,
könntest dir ja den Tod holen in dieser Nacht. Warum kommst auch nicht
am schönen Tag?«

Da verzieht sich das Gesichtchen des Kindes schmerzlich, zögernd sagt
es: »Ich meine, der Vater hätte es nicht gern, wenn er's wüßte. Und ich
weiß nicht, habt Ihr's gern, wenn ich zu Euch komme und Vroni und Josi?
Ich habe Euch vieles zu fragen, Fränzi.«

»Närrchen, du liebes, warum sollten wir uns nicht freuen, wenn du
kommst?« Fränzi fuhr dem schüchternen Kinde liebkosend durchs dunkle
fliegende Seidenhaar. »Aber wenn's dein Vater nicht gern hat, so ist's
doch gescheiter, du gehst gleich wieder heim.«

Da glitt das Kind hinab von seinem Sitz zu den Füßen Fränzis, umschlang
ihre Kniee und flehte weinerlich: »Nein, Fränzi, nein, sterben müßt' ich
und den Kopf würde es mir zersprengen, wenn ich jetzt nicht mit Euch
reden könnte.«

»Nun, so laß es heraus, was so in dem armen Köpfchen brennt, daß es gar
nicht mehr schlafen kann,« sagte Fränzi mild und zog Binia zu sich
empor.

Es war aber, als blieben die Worte der Kleinen im Halse stecken.

»Ist's denn etwas so Schreckliches, Bini?«

»O Fränzi, wie Ihr an der Wassertröstung so ernst mit meinem Vater auf
seiner Stube geredet habt, da saß ich auf dem Ofen, ich habe alles
gesehen und gehört.«

Wunderfein erbebte das Stimmchen.

Nun war's an Fränzi, zu erbleichen. Sie sah das Kind nicht mehr, sie sah
nur das furchtbare Erlebnis jener Stunde -- entgeistert blickte sie vor
sich hin. Sie bat: »Kind, armes Unglücksvögelchen, rede, -- rede! Gott
und die Heiligen mögen mir helfen, daß ich dir recht Antwort stehe.
Vielleicht ist's gut, daß du gekommen bist.«

Da rann das Geständnis des gepreßten und geklemmten Kinderherzens, erst
scheu und zögernd, gleichsam nur in Tropfen hervor, strömte dann heiß
und leidenschaftlich und unter vielen Thränen. Nur von Josi sagte Binia
nichts, sonst alles.

»Du süßer, lieber Vogel, so böse Dinge klopfen in deinem Herzchen.«

Fränzi hatte genug zu thun, um ein klein wenig Ordnung in die verwirrte
Kinderseele zu bringen. Sie löste Binia alle Fragen auf, nur eine konnte
sie ihr nicht lösen: Wie es möglich ist, daß ein Kind Vater und Mutter
gleich heiß liebt, daß der Vater die Mutter aber nicht gut leiden mag.

»Ihr seid sicher, daß dem Vater die Hand nicht aus dem Grabe wachsen
wird, wie der wüste Kaplan gesagt hat?«

Feierlich nahm Fränzi die Hand des Kindes und ihre Augen begegneten dem
dunklen Sternenpaar Binias: »Ja. Nicht die böse Unterschrift hat meinen
seligen Seppi an die Weißen Bretter geführt, als ein Freiwilliger ist er
gegangen. Es hat sich alles gewandt und dein Vater ist unschuldig an
seinem Tod.«

Binia dankte mit einem innigen Aufleuchten des Blicks: »Es ist kein
Unsegen auf mir?«

»Deine selige Mutter wacht vom Himmel über dir und jede Nacht bin auch
ich in Gedanken bei dir.«

Da küßte Binia die arbeitsharten Hände der mütterlichen Trösterin mit
brennendem Mund.

Noch hatte das neugierige Kind viele Fragen, die Antwort forderten.

»Ihr denkt, der Vater habe mich doch lieb? -- O, Fränzi, wenn Ihr
wüßtet, wie ich ihn liebe.«

»Natürlich, du kleine Ungläubige -- jeder Vater hat in seinem Herzen ein
Plätzchen für sein Kind, und wenn es zu tiefinnerst versteckt wäre! Sei
liebevoll und demütig gegen den Vater; auf Kindern, die gegen ihre
Eltern ehrfürchtig sind, steht die Verheißung, daß es ihnen wohl
ergehe.«

»Ich demütig -- das ist schwer. -- Wohl, wohl, ich will demütig sein!«
flüsterte Binia mit feinem Stimmchen und gesenkten Lidern, »aber --«

»Was für Rätsel hast du denn noch, du grüblerisches Kind?«

»Ich habe jetzt zwei Mütter, eine tote, die mir lieb über alles ist --
und eine lebendige. Wie soll ich's da halten? Kränke ich die tote nicht,
wenn ich gut zu der lebendigen bin?«

»Richte in deinem Herzen einen Altar auf für die tote, schmücke ihn mit
Blumen der Liebe; der lebendigen aber diene als gutes Kind, denn, Binia
-- Frau Cresenz ist eine wackere Frau.«

Binia schwieg mit gesenktem Kopf.

Da drang von der Kirche herüber der Einuhrschlag, er mahnte Fränzi an
die schwere Stunde, wo Seppi für immer Abschied genommen hatte.

»Und nun sollte ich auch dich herzlich um etwas bitten, Vögelchen. In
grenzenlosem Leid hat dich der selige Seppi beschimpft. Vergieb ihm,
Binia!«

Statt jeder Antwort preßte das Kind das Köpfchen an die Brust der Frau,
nicht anders, als wäre sie die Mutter.

»O, Fränzi, ich höre Euer Herz -- das ist so ein liebes, warmes Herz.«

»Ja, aber jetzt geh' -- jetzt geh', du Nachtwandlerin, ich kann dein
Bleiben nicht mehr verantworten.« Als Fränzi schon die Thüre
aufschließen wollte, bettelte Binia: »Zeigt mir doch noch Vroni, wie sie
schläft -- o, wie manchmal hat's mich an der ganzen Seele und am ganzen
Leib zu ihr gezogen.«

Fränzi lächelte, sie führte die Bettlerin zu Vronis Lager, und Binia
preßte einen Kuß auf die roten Wangen der Freundin, die tief atmend auf
den gelösten Strähnen ihres Goldhaares ruhte.

Die Schlafende regte sich, leise traten die beiden nächtlichen
Besucherinnen aus dem Kämmerchen zurück.

»Willst Josi auch noch sehen?«

»Ja, gern,« hauchte Binia und eine Blutwelle ergoß sich über ihr feines
Gesichtchen. Sie stiegen die schmale Treppe empor. Im Licht, das Fränzi
durch die Finger auf den Schläfer fallen ließ, sah Binia die Furche der
Willenskraft, die sich von der Stirne zur Nase Josis zog und das junge
Gesicht schon halb männlich erscheinen ließ. »Aber schön,« dachte Binia
bei sich selber, »ist Josi doch, so schlank, so braun.«

Da fiel ihr plötzlich schwer aufs Gewissen, wie sie den arglosen
Schläfer wider ihren Willen, doch ohne die Fähigkeit, den Widerruf
vorzubringen, bei ihrem Vater verleumdet hatte; sie zitterte und sagte
kleinlaut: »Fränzi, ich muß gehen! Ich dank' Euch tausendmal, liebe
Fränzi.«

Und über den mondbeschienenen Schnee lief Binia flink wie eine Gemse dem
unter schweren Winterlasten seufzenden Dorfe zu.

»Ob ich's wohl noch erleben und sehen werde, wohin dich dein Weg führt,
du Kind mit den vielfragenden Augen und dem Rätselherzchen?« Mit diesem
Gedanken sah Fränzi der schlanken Gestalt nach, die in den schweren
nächtlichen Schlagschatten der Häuser verschwand.

Als Vroni am nächsten Morgen sich zu Tische setzte, erzählte sie mit
strahlendem Gesicht, sie habe so lebhaft von Binia geträumt, wie wenn
sie selber bei ihr am Bett gestanden hätte. Mutter Fränzi lächelte, sie
weihte die Kinder so stark in das Geheimnis des nächtlichen Besuches
ein, als sie für gut fand. Josi aber sagte: »Das ist mir alles
gleichgültig, wenn mir die Giftkröte nur nie mehr über den Weg läuft.«

Vroni lachte und drohte mit dem Finger: »Josi, Josi, ich erzähle es der
Mutter, was draußen im Teufelsgarten geschehen ist.«

Mit zornrotem Gesicht stand er auf: »Ich will nichts mehr wissen vom
Kind eines schlechten Hundes, dem Vater selig bin ich's schuldig.« Er
schlug die Thüre ins Schloß und ging die Ziegen füttern. Fränzi war
neugierig, was draußen im Teufelsgarten geschehen sei, als ihr aber
Vroni gebeichtet hatte, sagte sie kein Wort.

Die Geschichte machte ihr einige Tage schwer.

Für Vroni blieb der unerwartete nächtliche Besuch Binias das große
freudige Ereignis des Winters, sie hoffte, die Freundin würde wieder
kommen, und erwartete sie mit wachenden Augen Abend für Abend.

Binia kam aber nie wieder, Vroni und die Mutter bemerkten es jedoch
wohl, wie sie manchmal aus der Ferne sehnsüchtig nach ihnen und ihrem
Häuschen blickte, wie sie dann aber die Angst, sie würde vom Vater
bemerkt, fortjagte.

Um Josi stand's nicht gut.

Wenn er Holz im Walde sammelte, so setzte er sich oft auf die fertige
Bürde, stützte den Kopf in die beiden Hände und im winterlichen Walde,
der unter der Schneelast knackte, zogen mit furchtbarer Lebendigkeit die
Bilder noch einmal vorüber, wie sein Vater an den Weißen Brettern
gelitten hatte und gestorben war. Der Gram um den Vater machte ihn je
länger je mehr zu einem düsteren Groller. Der verbissene Arbeiter war
zuweilen hart und grob gegen Vroni, finster gegen die Mutter, und das
kleine, innige Glück des Haushaltes erhielt durch ihn manchen Stoß.

»Sie sind alle, alle schuld, die von St. Peter, am meisten der Presi,«
grollte er.

Eines Tages ging er doch durchs Dorf und stand plötzlich vor dem
verhaßten Mann. Da schrie der Presi ihn an. »Wie darfst du dich noch
unter rechten Leuten zeigen, du Lausbub, du!« Jetzt war Josi im Innern
mit dem Presi und mit denen von St. Peter fertig.

»Besser ungerecht leiden als ungerecht thun,« erwiderte Fränzi mit einem
tiefen Seufzer, als der Bursche sein Erlebnis unter Thränen des Zorns
berichtete.

Allein er gab sich damit nicht zufrieden, er hatte einen furchtbaren Haß
gegen den Presi gefaßt.

»Anzünden! den Bären anzünden,« brüllte es in der Brust des
Schwerbeleidigten, der Gedanke setzte sich darin fest, daß, wie gräßlich
es sei, der Bären eines Tages verbrennen müsse.

Aber Binia! -- Bah, Binia! -- Warum sollte er den Bären nicht anzünden?

Oft warf er die Zündhölzchen, die er mitgenommen hatte, um im Wald ein
Feuer anzumachen, mit zitternden Fingern von sich. Aber die Furcht, daß
er eines Tages das Entsetzliche doch thun würde, quälte ihn.

Hätte Josi mit kühlem Blut geurteilt, so würde er sich gestanden haben,
daß die Leute von St. Peter den Groll nicht verdienten, den er auf sie
warf. Sie erwiesen der verwaisten Familie jene Achtung und jenes stille
Wohlwollen, das würdig ertragenes Unglück überall findet, sie vergaßen
es nicht, daß Seppi Blatter im Gemeindedienst gefallen war, und hätte es
dessen bedurft, so würde Fränzi immer die Hilfe gefunden haben, die
notwendig gewesen wäre, den kleinen Haushalt aufrecht zu erhalten.

Zuweilen streckte der Garde das hünenhafte Haupt mit einem freundlichen
Gruß in die Thüre. Er war seit dem Tode Seppi Blatters Vormund der
Kinder, redete aber Fränzi nichts in die täglichen Hantierungen, sondern
ging mit zufriedenem Knurren, einem besonderen Gruß an sein Patenkind
Vroni und mit dem Bewußtsein davon, daß da Vogtmühen[22] überflüssig
seien.

  [22] _Vogt_, schweizerdeutsch, Vormund. Vögtling, Mündel.

Ein fast täglicher Gast im Haus Fränzis war der stille, blöde Eusebi,
der die Gewohnheit hatte, sich auf einen Schemel zu setzen, nichts zu
sagen, mit ein paar Hölzern zu spielen und zu hören, was geplaudert
wurde. Da saß der fünfzehnjährige Schwachkopf unbeweglich, aber bei
jedem freundlichen Wort ging ein Aufleuchten über sein Gesicht. Vroni
und Josi mochten ihn wohl leiden, ja jene liebte ihn schwesterlich.

Eines Tages zog sie ihre alte Schulschiefertafel heraus und malte mit
ihm Buchstaben. Und siehe da, die kleine freundliche Schulmeisterin
brachte den armen Jungen, der wegen Blödsinn die Schule nicht hatte
besuchen können, zum Schreiben.

»Eusebi, komm nur fleißig zu uns, dann lehre ich dich alles, was ich
selber kann, wir lautieren und stellen Redeübungen an, bis du nicht mehr
stotterst.«

»Bist ein liebes V--vroneli,« stackelte er.

Einmal, als Josi den beiden lange zugesehen und zugehört hatte, sagte
er: »Mutter, die Vroni bringt den Eusebi zuwege. Ganze Sätze redet er
mit ihr und stößt nirgends mehr an.«

»Geb's Gott!« antwortete Fränzi.

Auch Binia erhielt einen Spielgefährten ins Haus.

Thöni Grieg war der achtzehnjährige Neffe der Frau Cresenz und des
Kreuzwirts in Hospel. Er hatte bis dahin das Kollegium in der Stadt
besucht, und wäre es nach der Ansicht seiner nächsten Verwandten
gegangen, so hätte er Jurist werden müssen. Er hatte aber das Pech, daß
er wegen loser Streiche von der Schule gewiesen wurde. Da beschloß man
im Familienrat, ihn Frau Cresenz und dem Schwager Präsidenten zur
weiteren Erziehung und Ausbildung zu übergeben. Der Aufenthalt im
abgelegenen St. Peter sollte eine empfindliche Strafe für ihn sein, die
Hand des Presi war hart genug, den Jungen im Zaum zu halten, und dabei
hatte er im Bären doch Gelegenheit, den Hotel-, den Fremden- und
Postdienst kennen zu lernen.

Der Presi machte zuerst ein schiefes Gesicht zu dem Erzieheramt, das ihm
seine neue Verwandtschaft zudachte, aber um Frau Cresenz willen biß er
in den sauern Apfel.

Und siehe da, als Thöni kam, erwiesen sich alle Befürchtungen und jedes
Mißtrauen als ungerechtfertigt.

Der »schöne Thöni«, der »lustige Thöni«. Bald klangen die Worte durchs
Dorf. Er war ein schlank gewachsener, sauberer, anstelliger Bursche, der
immer gut gekleidet ging, städtische Manieren zur Schau trug und lebhaft
und drollig zu plaudern wußte.

»Was hast du denn gemacht, Thöni, daß sie dich aus dem Kollegium gejagt
haben?«

»Gewiß nicht viel, Herr Präsident. Heimlich Bier getrunken, wenn ich
Durst hatte, mit ein paar anderen dem Zeichenlehrer eine Katzenmusik
gebracht und am gleichen Abend vor der Wohnung des Professors des
Französischen, der ein schönes Töchterlein hat, ein bißchen gesungen.«

Mit der offenherzigsten Miene der Welt machte Thöni sein Bekenntnis.

»Donnerwetter, erst achtzehnjährig und schon die Mädchen ansingen! Wohl,
wohl, du kannst es mit der Zeit auf einen grünen Zweig bringen.«

Der Presi lachte laut, doch wohlwollend, denn er war selbst ein feuriger
Bursche gewesen.

Als großer achtzehnjähriger Herr übersah Thöni zuerst die
dreizehnjährige Binia halb, dann entdeckte er, daß sie ein allerliebstes
Gesichtchen habe, er spürte ihr rasches, heißblütiges Naturell heraus,
und wenn ihn niemand beobachtete, reizte er das Kind zu seiner
Unterhaltung auf das heftigste.

»Du Wildkatze, weise mir deine blanken Zähne!« Binia wehrte sich tapfer.
»O, die sind viel zu gut, als daß ich sie einem fortgejagten Kollegianer
zeigen würde.«

»Du giftige Katze!« Und der Bursche langte mit der Hand aus, als ob er
dem Mädchen eine Ohrfeige versetzen wollte, aber das ließ er klugerweise
bleiben.

Ueber ihrem Zank stieg von Hospel herauf der Frühling ins Thal, die
Lawinen krachten und gingen durch die gewohnten Runsen. Das Spiel der
Klappern an den heligen Wassern, das winters über geruht hatte, erwachte
nach einem Frühlingsgang des Garden wieder und in St. Peter stritten die
Leute immer noch und heftiger, ob man die Fremden ins Thal kommen lassen
wolle oder nicht.

Der Pfarrer predigte dagegen, der Garde sprach dem Presi ins Gewissen,
unbeirrt ging er seinen Weg; während man stritt, kam der Sommer, und es
erschienen, vom Kreuzwirt in Hospel dahin gewiesen, die ersten Fremden
im Bären von St. Peter.

Die armen Seelen gaben kein Zeichen und die der Krone stürzten nicht
aufs Dorf.



VII.


»Das Dörfchen unter dem Donner der Lawinen.« -- »Das unberührte Idyll,
aus dem noch keine Kellnerserviette die Poesie gestäubt hat.« -- »Das
Thal des altertümlichen Volkslebens und der originellen Sitten.«

Die Schlagwörter flogen nur so. Wie aus einem Taubenschlag flatterten
aus dem Bären mit jedem Morgen Gäste und Gästinnen durch das Dorf auf
die Maiensässen und die Alpweiden und mit Blumen beladen am Abend
zurück. Jeder kam sich wie ein kleiner Columbus vor, jede wie eine
Columbussin, die Glücklichen vergaßen ganz, daß sie der Kreuzwirt von
Hospel nach St. Peter gewiesen hatte, und genossen unbeeinträchtigte
Entdeckerfreuden. Wie hatte man die Krone, diesen kühnen und gewaltigen
Hochbau des Gebirges, so lang übersehen können? Und die schlanke,
zierliche Nadel des Bockje, auf dessen Spitze eine Tiergestalt zu ruhen
schien, nach der Volkssage ein Steinbock, der auf der Flucht vor dem
Jäger auf die Spitze geraten und, als er nicht weiter konnte,
versteinert war. Und dann das Dorf St. Peter mit den geheimnisvollen
alten Zeichen und Runen an den Holzhäusern, mit den Scheunen und
Städeln, die auf gemauerten Steinsäulen ruhten, so daß es beinahe wie
ein aus alter Zeit übriggebliebener Pfahlbau aussah.

Nicht zuletzt liebten die Gäste den Bären, das Urbild eines alten
schönen Bergwirtshauses, befreundeten sie sich mit der immer
liebenswürdigen Bärenwirtin, bewunderten sie den Bärenwirt, die
hünenhafte Prachterscheinung eines Bergbewohners, einen Mann, der, wie
eng sein Gesichtskreis sein mochte, von fast bedrückender Gewalt des
Wesens war. Wer eines Führers bedurfte, nahm den lustigen Thöni mit,
der, gefällig und kurzweilig, sich an das Wesen eines jeden anschmiegte
und als ein fröhlicher Junge von einer gewissen Bildung auch das
Wohlwollen der Frauen genoß.

»Hier ist es schön, entzückend schön,« schwärmten die Sommerfrischler
und flüsterten sich zu: »Nur nicht ausbringen, was für ein Dorado wir
gefunden haben, kennt erst die Welt St. Peter, dann seht nach, was im
Bären die Forellen kosten.«

Weniger zufrieden waren die Dörfler.

Zuerst staunte man billig über die Weltleute, dann sagte man: »Wozu die
Fremden? Zwar sind die Firnen und Gletscher der Krone noch nicht
gefallen. Aber was noch kommen wird, weiß man nicht. Und man hat, seit
die Welt steht, im Glotterthal zu essen gehabt, ohne ungebetene Gäste.«

Ueberall streckten die Sommerfrischler die Köpfe durch Fenster und
Thüren, sie erkundigten sich nach Dingen, die niemand etwas angingen als
die von St. Peter selbst. Die fremden aufgeputzten Weiber glaubten den
Frauen des Dorfes gute Ratschläge über Wohnungslüftung und Kinderpflege
geben zu sollen, sie zuckten zu manchen Dingen, die sie sahen, die
Schultern und liefen durch die Aecker und Maiensässen, als ob das Land
im Glotterthal herrenlos wäre.

Ein rotwangiger Springinsfeld, der sich kleidete wie ein Bajazz bei den
Buden, die man an den Märkten zu Hospel sieht, stellte sich mit seinem
Eisbeil vor ein paar Frauen, die auf dem Acker arbeiteten, und fragte:
»Na, sagen's 'mal, wo sind denn die schönen Sennen und Sennerinnen, die
vom Morgen bis zum Abend auf den Bergen stehen, die Hüte schwenken,
jauchzen und jodeln, und ihre Schweizerlieder singen?«

»Meint Ihr, wir seien solche Narren!« antworteten die Weiber, »werken
müssen wir, daß die Rippen auseinanderbrechen möchten. Aber hudlig[23]
sind wir nicht.«

  [23] _hudlig_, schweizerdeutsch, so viel wie ehrlos, sittlich
       geringwertig, bettelhaft.

»Ja, die Fremden sind ein verrücktes Volk,« meinte der Fenkenälpler, die
dicke Bäliälplerin aber jammerte und zürnte: »Was mir geschehen ist!
Kommt, wie ich an nichts denke und meiner Wege gehe, so eine
Nichtsnutzin auf mich zu und sagt: 'Frau, Ihr raucht einen bösen
Knaster, Ihr verderbt die reine Alpenluft -- legt doch lieber die Pfeife
weg -- es schickt sich an uns Frauen ja gar nicht, daß wir Pfeifen
rauchen.' Da habe ich aber -- reine Alpenluft hin und reine Alpenluft
her -- ihr zu leid so genebelt, als ob die Hasen backen[24] würden.«

  [24] »_Die Hasen backen_«, sagt das Volk, wenn nach langem starkem
       Regen die Nebel aus den Wäldern steigen.

»Tausendmal recht habt Ihr gehabt,« erwiderte der Fenkenälpler. »In St.
Peter sind wir noch Meister -- und wir lassen die Fremden ja im Frieden
herumkalbern!«

Schlimmer noch. Die Weiber von St. Peter wollten nicht mehr in den
Leinenhosen, die sie sonst sommers über zur Arbeit trugen, durchs Dorf
auf Alpe und Feld gehen. Die Fremden schauen sie so neugierig an und
lachen über das Kleid, klagten sie.

»Wenn ich einmal einen lachen sehe, bekommt er Ohrfeigen,« quiekte der
Glottermüller.

Der Presi aber rieb sich im Herbst die Hände: »Ta-ta-ta, das
Fremdenwesen geht gut. -- Schwager Kreuzwirt, ich danke Euch.«

Die Dörfler mochten schimpfen, er war hellauf, wie seit Jahren nicht
mehr; er schlang den Arm um die Hüfte der stattlichen Frau Cresenz: »Gut
ging's!« Sie streifte seinen Arm ab und lachte: »Ihr seid doch kein
Jüngling mehr, Präsident.«

Das Ehepaar redete sich mit »Ihr« an, die Frau nannte ihren Eheherrn
auch nie »Presi«, sondern »Präsident« und die Gäste waren noch
höflicher. Sie riefen ihn »Herr Präsident«. Das klang ihm freilich
schöner in die Ohren als das dörfliche »Presi«.

Manchmal ärgerte er sich, wenn Frau Cresenz wie heute so kühl war,
manchmal aber schmeichelte er ihr erst recht.

»Etwas Klügeres als Euch zu heiraten, hätte ich nicht thun können. Ihr
seid die Wirtin, wie sie im Buche steht, Ihr seid freundlich mit allen
Gästen, doch mit keinem zu viel, Ihr führt ein gutes Hausregiment. Aber
wißt, ein bißchen zärtlicher hätte ich Euch schon gern. Habt Ihr denn
gar nichts vom Thöni, hinter dem muß man ja immer mit dem Donnerwetter
her sein, daß er nicht beständig an den Schürzen der Mägde hängt.«

»Nein, ich mag das Scharwenzeln und Thörichtthun nicht leiden. Das habe
ich schon meinem seligen Ersten immer gesagt.«

»Mir aber geht's merkwürdig!« erwiderte der Presi fast ernst. »Die Beth
selig hat mich manchmal mit ihren braunen Augen so barmherzig angeschaut
und still gebettelt, ich möchte ihr etwas Liebes sagen oder mit der Hand
übers Haar fahren, oder sie nur ein bißchen schlimm ansehen. Ich aber
habe es nicht übers Herz gebracht. Doch jetzt möchte ich gern -- und
jetzt wollt Ihr nicht.«

Frau Cresenz, der kühlen Frau, wurde es bei solchen Gesprächen
unbehaglich zu Mute, etwas hilflos sagte sie: »Ich schaue doch immer zum
Frieden.«

»Ihr seid recht, Ihr seid mehr als recht, Präsidentin. Wenn ich nur
denke, wie Ihr Bini gezogen habt, den verlotterten Wildfang.«

»Sagt, Präsident, das bleibt aber eine sonderbare Geschichte, wie das
Kind sich plötzlich bekehrt hat. Wißt Ihr noch, es war in der Nacht kurz
vor Neujahr, als ich immer behauptet habe, es habe gegeistert im Haus.
Da kam am Morgen die Wildkatze geschlichen. 'Ich will Euch jetzt Mutter
nennen und ganz artig sein.' Und sie schmeichelte um mich wie ein
Kätzchen. 'Hast dein Trotzherz gebrochen?' fragte ich. Da wird sie rot
und sagt: 'Ja -- die selige Mutter hat halt mit mir geredet und
gewünscht, daß ich Euch folge.'«

»Ja, wenn die Beth selig dem Kind gute Gedanken giebt, so laßt sie nur
durchs Haus wandeln,« lachte der Presi.

»Ich glaube selber, Bini sei enthext.«

Das Gesicht des Presi verfinsterte sich: »Präsidentin, redet nicht so
dumm.«

»He,« sagte Frau Cresenz verlegen, »die alte Susi lag mir, ehe sie zu
ihren Verwandten nach Tremis zog, immer im Ohr, Bini sei vom Kaplan
Johannes besprochen -- ich solle sie von einem Kapuziner entzaubern
lassen. Und ich habe es selber geglaubt, weil sie die erste Zeit gar so
bösartig gewesen ist.«

Der gute Humor des Presi war verdorben.

»Aber Ihr mögt ihr ja selber nicht recht ein gutes Wort gönnen,« warf
Frau Cresenz beklommen ein.

»Das ist etwas anderes,« schnauzte der Presi, »aber ich leide es nicht,
daß man Bini zu einem Hexlein stempelt.« Er stand auf und machte einen
Gang durchs Haus von zu unterst bis zu oberst.

Seine Gedanken waren beim letzköpfigen Pfaffen, der Binia besprochen
haben sollte. Er mochte den Halbnarren trotz dem thörichten Gerede nicht
übel leiden.

Kaplan Johannes, der in St. Peter nur so zugelaufen war, wie in einem
Hause sich etwa ein herrenloser Hund oder eine Katze einnistet, war
schlauer als die Dörfler allesamt. Er hatte sich die durch die Fremden
veränderten Verhältnisse rasch zu nutze gemacht. Er lief etwas weniger
den Bauern- und Alpweibern nach, er tauschte für seinen Kräuterthee, der
gegen das Doggeli[25] schützen, Kreuzschmerzen vertreiben und das
Lungenfieber heben solle, etwas seltener Brot, Käse und Speck ein, dafür
begann er am Wege beim Schmelzwerk einen kleinen Mineralienhandel und
verkaufte den Gästen die glitzernden Siebensachen von Krystallen und
Erzen, die man im Gebirge um St. Peter findet, zu ansehnlichen Preisen.

  [25] _Doggeli_, schweizerdeutsch, Alpdrücken.

»Woher er sie nur hat?« fragte sich der Presi. Und dann sagte er sich:
»Gelegentlich muß man ihn doch fortschaffen. Am Abend gröhlt und plärrt
der Narr im Schmelzwerk, daß nach Einbruch der Nacht kein Mensch mehr
den ohnehin verrufenen Weg zu gehen wagt. Auch laufen von ihm immer
erfundene oder wahre Geschichten, daß er an die Weiber ungebührliche
Zumutungen stelle. Ein widriger, unheimlicher{4} Geselle ist er schon,
und die häufigen Anfälle von Fallsucht, die er hat, machen ihn nicht
angenehmer. Es ist übrigens, als könne er sie selbst künstlich
hervorrufen, sie pflegen ihn zu überfallen, wenn ihm jemand eine Gabe
verweigert, und bloß um das schreckliche Bild nicht in der Stube zu
haben, schenken ihm manche Leute, was er begehrt. Der Bäliälpler hat
freilich ein besseres Mittel erfunden. Er hatte den letzköpfigen
Pfaffen, als er schäumte und zappelte, mit kaltem Wasser überschüttet.
Da war der Narr heulend davongelaufen und nie wieder gekommen.

»Ba! Warum den schriftenlosen Vagabunden forttreiben. Die Gemeinde hängt
daran, daß jemand bei der Lieben Frau an der Brücke die üblichen
Glockenzeichen giebt, dazu ist Johannes gut genug. Und der Pfarrer, der
gegen den Fremdenverkehr gepredigt hat, muß auch seinen Pfahl im
Fleische haben, das ist lustig!«

So dachte der Presi. Wie er vom Keller auf den Estrich gelangt war, kam
ihm Binia nachgelaufen: »Vater, der Garde ist da.« Nun ging ein Zug der
Ueberraschung und ehrlicher Freude über seine eherne Stirne und um
seinen willensstarken Mund. Er hatte sich schon lange heimlich gekränkt,
daß der Garde, seit Sommerfrischler kamen, den Bären mied. Ohne den
Garden aber, den einzigen Mann im Dorfe, den er aus Herzensgrund
achtete, konnte er fast nicht leben.

Nun grüßte er ihn in der großen Stube rasch und herzlich.

»Ich mag mich halt im Sommer nicht unter die Fremden setzen,« knurrte
der breite, schwerfällige Freund, »und in das neumodische geringe
Stübchen ebener Erde müßtet Ihr mich schon erst später einmal tot
hineintragen, lebendig gehe ich nicht über seine Schwelle.«

»Wir wollen wieder einmal anstoßen wie früher, nehmt die Welt, wie sie
ist,« lachte der Presi. »Zum Wohl, Garde!«

»Presi,« und der Garde blinzelte belustigt, »Ihr versteht es, gutes
Wetter zu machen.«

Nun waren die beiden Männer im Zug. Als das Gespräch eine Weile
gegangen, murrte der Garde:

»Ich geb's ja gern zu, daß unter den Fremden viele ehrbare und
rechtschaffene Leute sind, es wäre traurig, wenn's anders wäre, aber es
bleibt halt dabei, die Fremden verstehen uns nicht, wir sie nicht. Seit
sie kommen, ist eine verborgene Unruhe im Dorf, niemand weiß, wo hinaus
es will.«

»Ta-ta-ta. Wo hinaus?« eiferte der Bärenwirt. »Daß sich die Leute an sie
gewöhnen -- in Grenseln und Serbig haben sie auch zuerst die Hände
hinter den Gästen geballt, jetzt aber stehen sie an allen Straßen,
verkaufen ihnen Edelweiß, tuten auf dem Alphorn und juheien sie an.«

»Eben, eben,« zürnte der Garde, »sie sind hudlig geworden. Presi -- ich
habe ruhiges Blut, aber das erste Mädchen in St. Peter, das sich an den
Weg stellt und die Fremden ansingt, nehme ich bei den Zöpfen, führe es
zu seiner Mutter, und der sage ich alle Schande. So lang ich lebe, darf
unsere Gemeinde nicht hudlig werden.«

Er schlug mit seiner Faust auf den Tisch.

»Aber, Garde, ich will ja das auch nicht,« besänftigte der Bärenwirt.

»Es kommt halt von selbst, ob Ihr wollt oder nicht -- aber das glaube
ich auch,« der alte eiserne Sprecher lachte grimmig, »ehe das Dorf
hudlig wird« -- eine Flamme schoß aus seinen Augen -- »ehe das Dorf
hudlig wird, geschehen böse Dinge -- giebt es Aufruhr und Unglück.«

»Seid doch kein Rabenvogel! Die Leute finden ja mit der Zeit durch die
Fremden einen schönen Verdienst.«

Der Garde schüttelte den Kopf, langsam und feierlich sagte er: »Ihr
kennt unser Völklein. Das paktiert nicht, das schweigt, das seufzt und
schimpft im stillen, das ballt die Fäuste im Sack, das besinnt sich
siebenmalsiebenmal, das betet, duldet und trägt, -- aber wenn's ihm
zuletzt aus der Seele in die Knochen fährt, -- dann würde ich mich
lieber vor hundert wütende Bullen stellen als vor die Gemeinde.«

Dem Presi war nicht wohl bei dieser Rede, der Garde aber fuhr in seiner
feierlichen Art fort:

»Denkt Euch, es gehe einmal einer von den unseren, bestochen durchs
Geld, mit einem Fremden auf die Krone. Was geschieht? In einer Nacht
brennt ihm die Hütte nieder. Entweder es kommt nicht aus, wer der
Brandstifter ist, dann trägt die Gemeinde die Schande. Oder er kommt aus
und die Landjäger holen ihn. Dann, Presi, würde ich um den Bären Sorge
tragen.«

»Garde, malt den Teufel nicht an die Wand, ich ertrage es nicht.« Der
Presi war hastig geworden und verwarf aufstehend die Arme. »Keiner würde
dem Bären etwas zu leide thun -- keiner -- als etwa der Lausbub der
Fränzi.«

»Die gottlose Rede nehmt zurück. -- Josi ist ja so ein ehrbarer Bursche.
Das habe ich aber schon lange gemerkt, daß Ihr Gift auf ihn habt. Jetzt
frage ich als Vogt des Buben: Was habt Ihr wider ihn?«

Der Garde stellte sich vor den Presi, aber auch diesem leuchtete es bös
auf im Gesicht: »Der? -- Wißt Ihr, was der über mich gesagt hat? -- Die
Hand müsse mir aus dem Grab wachsen! So wagt er sich an Leute von Amt
und Ehre.«

»Wann? wo? zu wem hat er's gesagt?«

»Zu Binia hat er's gesagt.«

Der Garde wiegte den schweren Kopf. »Bini lügt nicht. Ich will dem
Donnerhagel das Hirn säubern.«

Mit zündelrotem Kopf lief er davon. Binia, die durchs Haus strich, hatte
auf das laute Wesen der Männer in der Küche das Schiebefenster gegen die
Stube geöffnet, um neugierig zu hören, was denn los sei.

Jetzt war sie unglücklich, wie ein aus dem Nest gefallener Vogel:
»Mutter -- Mutter -- selige Mutter.«

Ihre Hände verkrampften sich ineinander, ihre Augen wurden groß.

Was hatte sie in einem Augenblick der Verwirrung Josi Schreckliches
angethan!

Wenn sie der Vater einmal wieder mit der vollen Lichtfülle seiner Blicke
ansah, dann peitschte sie der Gedanke, sie müsse vor ihm niedersinken
und sprechen: »Vater, sei doch nicht so thöricht, daß du einem Kind,
was es im Fieber geredet, glaubst. Es hat gelogen, gräßlich gelogen, in
seiner Verwirrung. Nicht Josi Blatter, nein, der Kaplan Johannes hat das
Entsetzliche gesagt! Und ich glaube es nicht -- gewiß Gott, glaube ich
es nicht.«

O, sie erinnerte sich wohl, was sie damals in ihren großen Schmerzen
ihrer Krankheit gefaselt hatte. Die Erinnerung daran brannte sie wie
höllisches Feuer, aber jedesmal war der Entschluß zum Bekenntnis erst im
Werden, wenn der Blick des Vaters schon wieder eisig und vernichtend wie
sonst geworden war.

Er verzieh ihr jene Fieberbeichte nie.

Hätte sie die Erinnerung an das, was sie über Josi gesagt hatte, nicht
immer gebrannt, so wäre sie beinahe ein glückliches Persönchen gewesen.

Wie anders war's jetzt als damals, da sie die Verzweiflung durch die
Mitternacht und den hohen Schnee zu Fränzi gejagt hatte. Sie hatte das
trotzige Köpfchen gebändigt, nur hin und wieder ging noch ihr wildes
Blut mit ihr durch, erlag sie noch den Anfällen schmerzlichen Grübelns.
Ihrer seligen Mutter hatte sie, wie Fränzi ihr geraten, einen Altar im
Herzen errichtet, der neuen gehorchte sie, ohne tiefgründige Liebe zwar,
aber doch in herzlicher Achtung.

Oft hatte sie das Heimweh nach Fränzi, ihr feuriges Herz glühte in
ehrfürchtiger Liebe für sie. Die hätte sie gern zur Mutter gehabt. Aber
wegen des Vaters wagte sie nie mehr einen Besuch bei ihr.

Klagen wollte sie nicht.

Die immer gemütliche kühle Frau Cresenz, der Lächeln und Lachen
Lebensberuf war, die kaum mehr wußte, daß sie lächelte und lachte, war
freundlich gegen sie. Sie sorgte namentlich, daß sie in Gebärde und
Bewegung, in Redensart und Kleid so vor die Gäste trat, wie es sich nach
ihrer Meinung für das Bärentöchterlein von St. Peter schickte.

Es kamen aber immer wieder Augenblicke, wo Frau Cresenz die Kraft
versagte. Wenn Binia ihr dunkles Augenpaar groß und fragend in die Welt
stellte, schalt sie: »Kind, schau doch anders, es wird einem angst und
bang vor deinen sonderbaren Lichtern. Wohl, wohl, die sind dazu
angethan, einmal das Mannsvolk verrückt zu machen.«

Binia war es manchmal, als möge die Stiefmutter sie wegen ihrer Augen
nicht leiden, aber noch unartiger war Frau Cresenz, wenn sie über kleine
Herzensangelegenheiten mit ihr reden wollte.

»Dummes Kind, sprich nicht so geheimnisvoll -- es ist gar nicht nötig,
daß man alles in der Welt erkernt und ergrübelt, es ist sogar ungesund
-- recht thun, freundlich sein mit den Leuten, hie und da auch, wenn's
einem nicht drum ist, damit kommt man durchs Leben.«

Wenn die neue Mutter so redete, schnürte es Binia die Brust zusammen.
»Freundlich sein, wenn's einem nicht drum ist. Das versteh' ich nicht.«
Traurig schüttelte sie das Köpfchen. Diese Kunst besaß aber die
Stiefmutter, gerade darum konnte sie dieselbe nicht von Herzen lieben.
Sie spürte, es war nichts Tiefes, Kernhaftes in dieser glatten,
liebenswürdigen Frau.

Da gefiel ihr der Vater in seiner rauhen Wildheit doch viel mehr. In ihm
lag, das spürte auch sie, eine übermächtige, ungezügelte, wahre Kraft.
Er schleuderte die Beleidigungen ohne Besinnen hin, es war fast niemand
im Dorf, den er mit einem raschen Wort nicht schon tödlich verletzt
hatte, aber ein voller freundlicher Blick aus seinen dunklen Augen, ein
gutes Wort -- und alle, die ihn haßten, waren entwaffnet.

Und wie die Fremden von ihm sprachen. Sie hörte immer noch den ernsten
alten Doktor, der so eifrig mit seinem Nachbar plauderte, daß er nicht
merkte, wie sie mit einem Gericht herzutrat:

»Eine so gewaltige Gestalt wie der Herr Präsident, glaube ich, ist fast
eine Ueberlast für ein Dorf wie St. Peter. Den hätte die Geschichte
brauchen können, um einen großen Bauernführer aus ihm zu schnitzen.«

Eines schnitt Binia wie ein Messer ins Herz, nämlich wenn der Vater mit
den fremden Frauen und Kindern redete. Wie klang das lieb und gütig, wie
war er aufmerksam gegen sie. Die Kleinen und die Backfische hingen an
ihm und einmal hörte sie eine fremde schöne Tochter sagen: »Mama, der
Herr Präsident ist doch der herrlichste Mann, den wir auf unseren Reisen
kennen gelernt haben.«

Da entglitt ihr der Früchteteller, mit dem sie zudienend um die Tafel
schritt.

Sie sah, wie der Vater höhnisch die Schulter zuckte. -- Am Abend betete
sie: »O Mutter -- Mutter -- sage ihm doch einmal im Traum, wie heiß ihn
mein Herzchen liebt.«

Es lag Segen auf ihrem glühenden Wunsch. Nicht von heute auf morgen,
aber von Sommer zu Sommer.

Binia wuchs und blühte auf, die Fremden hatten die helle Freude an der
feinen klugen Vierzehn-, dann Fünfzehnjährigen.

Wie schön war das Leben! Sie hörte es gerne, wenn die Gäste über
allerlei plauderten und urteilten. Wie weit und groß mußte die Welt über
Hospel hinaus sein. Sie wunderte sich manchmal, wie artig die vornehmen
und gescheiten Leute zu ihr waren, besonders junge Mädchen, die nach St.
Peter kamen und ihr so lieb wurden, daß ihr das Wasser in die Augen
schoß, wenn sie am Ende des Sommers wieder weggingen. Was aber
schwatzten die klugen Männer Thörichtes zusammen. »Sie alpige Rose[26],
Sie sonderbares Herzensmädchen mit dem leichten, schwebenden Gang, haben
Sie eigentlich Ihre Augen grad in der Hölle und Ihr Lächeln im Himmel
geholt?«

  [26] _Alpige Rose_, eine Art Heckenrose, die in den Bergthälern
       wächst.

Binia fühlte es aber wohl: Wie die Gäste so freundlich zu ihr wurden,
wandte sich ihr auch die Liebe des Vaters in neuer Wärme zu und er wurde
heimlich stolz auf sie.

Er kniff sie manchmal in die Wange: »Bini, fröhlicher Vogel, hast du
mich lieb?«

»O Vater!« -- Stirn und Wangen glühten wie Pfirsiche, ein heiliger
Strahl des Glücks kam aus ihren dunklen Sternen und ihre schlanken Arme
umklammerten ihn, bis er mit herzgewinnendem Lächeln und glänzenden
Augen sagte: »Geh, thue deine Arbeit! Bist ein Mädchen wie von den
Tauben zusammengetragen.«

Jetzt hätte sie es ihm schon verraten können, daß er über Josi ganz
falsch berichtet sei. Eine dunkle Gewalt hielt sie indessen zurück, die
Furcht, daß sie, sobald sie den Namen des guten Jungen ausspreche, die
Liebe des Vaters wieder verscherze. Er war so furchtbar heftig. Und mit
angstvollem Herzen schwieg sie, die Zeit der Verstimmung war zu
schmerzlich gewesen.

Sie verwunderte sich, als der Garde einmal mitten in der Fremdenzeit in
den Bären gestoffelt kam, ernst und zornig, wie ihr schien.

Eine Weile saß er mit dem Vater zusammen, sie hörte aber nur die Worte:
»Wenn Euch das Gewissen schlägt, so macht den bösen Schimpf rasch gut --
ich glaube -- ich glaube -- die Fränzi lebt nicht mehr lang.«

Elend wie noch nie eilte sie fort. Sie beobachtete in den folgenden
Tagen den Vater. Er war still und trübselig, und am anderen kam sie
gerade dazu, wie die Mutter zu ihm sagte: »Ihr hättet die arme Frau wohl
ruhig ihres Weges gehen lassen können, die ganze Gemeinde ist wild über
Euch. Wozu ihr wüste Namen nachrufen?« Worauf der Vater nur dumpf
erwiderte: »Sie hat mich halt auch einmal schwer beleidigt.«

Wie abscheulich er ist! Binia that das Herz weh, sie weinte im stillen,
sie wußte, daß der Vater nur so böse gegen Fränzi war, weil er sich vor
ihr schämte.

Ihr Frohsinn litt aber nicht nur unter dem herzlichen Erbarmen mit
Fränzi, der lieben guten, unter den Selbstvorwürfen wegen Josi, sondern
auch aus Aerger über Thöni, der mit allen Mägden anbändelte und Späße
trieb, ihre Verachtung aber mit allerlei Zänkereien erwiderte.

Er bekam als Fremdenführer bald einen Mitbewerber. Bälzi, der Wildheuer
mit dem Ziegenbart, der zuerst am meisten über die Fremden geschimpft
hatte, fand, daß das Spazieren mit den Sommergästen eine weniger
anstrengende und gefährliche Arbeit sei als das Mähen des herrenlosen
Grases auf schwindliger Felsenplanke. Wie häufig ereignete es sich, daß
ein spielendes Windchen das kaum getrocknete Heu wie eine kleine Wolke
aufhob und auf Nimmerwiedersehen über alle Berge trug. Er kaufte sich
ein neues Wams, ein Seil und einen Gletscherpickel. Damit stolzierte er
vor dem Bären auf und ab, bot sich den Fremden als Führer an, und wenn
ihn einer fragte, ob er auch schon auf der Spitze der Krone gestanden
habe, sagte er im Brustton des Biedermannes: »Aber Herr, die kenne ich
ja so gut wie die Westentasche, in der ich die Zündhölzchen trage.«

Es war aber ein ausdrücklicher Befehl des Presi, daß man die Fremden
abhalte, auf die Krone zu steigen. Er war fast unnötig. Die Gäste sahen
es dem Salonbergführer Thöni und dem schlotterigen Bälzi wohl an, daß
man sich ihnen nicht für so gefahrvolle Bergbesteigungen anvertrauen
durfte.

Doch tauchten in der Sommergesellschaft oft Fremde mit dem vermessenen
Wunsche auf, die Krone zu erklettern.

Thöni war im Anfang mit dem ungebetenen Partner nicht zufrieden, aber
schon im zweiten und namentlich im dritten Sommer zeigte es sich, daß
beide Beschäftigung genug fanden, besonders da Thöni auch sonst, das
eine Mal durch die Post, die während des Sommers einen lebhaften Verkehr
und jetzt einen Telegraphen besaß, das andere Mal durch die
Maultiertreiberei und die Lebensmittelzufuhr von Hospel nach St. Peter
in Anspruch genommen war.

Der Presi billigte die neue Beschäftigung Bälzis stillschweigend, er
sagte den anderen: »Seht ihr's, man braucht nur zuzugreifen wie der
Kaplan Johannes und Bälzi, dann hat jeder durch den Fremdenverkehr
seinen angenehmen Verdienst.«

Die halsstarrigen Bauern und Aelpler waren aber nicht zu überreden, nur
murrend, schwer und langsam gewöhnten sie sich daran, solange die
Sommergäste da waren, die Amtsgeschäfte, den Vieh- und Käsehandel mit
dem Presi im unteren Stübchen zu besorgen.

Bälzi ging es einmal schlecht. Aus Rache, daß er sich in den Dienst der
Fremden gestellt, bereiteten ihm die schwärmenden Nachtburschen ein
kaltes Bad in der Glotter.

Aber auch manche Vorurteile gegen die Sommerfrischler verschwanden im
Laufe der drei Jahre, die sie nun schon ins Thal kamen.

Einzelnen Dörflern begann der Zustand zu behagen, es war im Bergthal
entschieden kurzweiliger geworden, und unter den Gästen, die erschienen,
gab es Leute, die sich ehrlich bemühten, sich mit ihnen auf einen
freundlichen Fuß zu setzen und die eigenartigen Verhältnisse des Thales
zu begreifen. Für solche Gäste hatten, soweit sie ihr Mißtrauen gegen
die Fremden ablegen konnten, auch manche von St. Peter einiges
Verständnis. Sogar der Pfarrer eiferte minder gegen sie, als er sah, daß
es unter ihnen kenntnisreiche Bienenfreunde gab, die der Zeidlerei im
Hochthal eine warme Wißbegier entgegen brachten, und die Damen bei ihm
die Leinensäcklein voll weißen Alpenhonigs, die unter den Fenstern des
Pfarrhauses hingen, kauften und mit großem Ruhm über seine Güte
wiederkamen.

Sommer um Sommer wuchs die Zahl der Gäste.

In der That! Wie viel bot dem das Glotterthal, der nicht nur für die
Felsendome und Firnen der Krone, sondern auch für das Volksleben ein
offenes Auge und Herz besaß. Da lebte ein Völkchen, das zwar nicht die
Hirtenunschuld zeigte, die manche Schwärmer in den abgelegenen
Alpenthälern suchen, ein Völklein, bei dem es so stark menschelte wie
überall in der Welt, das aber doch einige besondere Eigenschaften hatte.
Diese Bauern und Aelpler behalfen sich in allen Dingen selbst. Unter
ihnen gab es keine Handwerker. Maurer, Zimmermann, Schindler und
Dachdecker, Schneider und Schuster war jeder sich selbst. Den Lein und
die Wolle, in die man sich kleidete, zog, bleichte, spann und wob man
selbst; das Brot schmeichelte man, wenn es nicht in einem Jahr ging, in
zweien den steinichten Aeckerchen ab und ob sich die hellgoldenen
Roggenähren kaum recht aus dem Boden reckten, sie gaben ein
schmackhaftes dunkelbraunes Brot, und ein Schluck Hospeler darauf war
Gottes Wohlthat. Brot und Wein schmeckten auch den Fremden.

Der Presi lachte, arbeitete und es ging ihm gut. Bevor aber die Fremden
zum viertenmal kamen, verbreitete sich im Dorfe die Nachricht, daß
Fränzi todkrank sei.

Noch einmal sah Binia die mütterliche Freundin, aber sie lag schon mit
spindeldürren Händen zu Bett und war blaß wie der Tod. Lieb und gut
freilich war sie zu ihr wie immer: »Binia, liebes Kind, ich sterbe mit
dem heißen Wunsch, daß du glücklich werdest.«

Wie entsetzlich wütete aber der Vater, als er vernahm, daß Frau Cresenz,
die immer eine gewisse Teilnahme für die Witwe des zu Tode gestürzten
Wildheuers bewiesen hatte, sie heimlich mit ein paar Flaschen guten
Weines zu Fränzi geschickt hatte: »Gottes Donnerwetter! Daß sie mit dem
Lotterbuben wieder anbändeln kann!«

Mißtrauisch beobachtete er sie.

Als Fränzi bald darauf starb, verschwamm vor den Augen Binias die Welt,
sie dachte: »Jetzt nehmen die Engel Gottes die Notenblätter zur Hand und
singen zu ihrer Ankunft im Himmel.«

Der Tod der armen Frau versetzte den Vater in gärende Aufregung. Man
spürte es: Entsetzlich neu standen die Dinge, die sich vor vier Jahren
zugetragen, vor ihm -- der Abend mit Seppi Blatter -- die Unterredung
mit Fränzi -- Seppis Sturz an den Weißen Brettern -- das kranke Kind mit
seinen tollen Worten.

Und in der Nacht nach Fränzis Tod hatte der Presi einen furchtbaren
Traum.

Mit wunderbarer Deutlichkeit sah er den jungen Josi Blatter und Binia
hoch an den Weißen Brettern. Er fragte seine Tochter: »Wie kommst auch
du da hinauf?« Da stand plötzlich ein Dritter vor ihm und hob das
Grabscheit Seppi Blatters über den beiden zu wuchtigem Schlag. Statt der
richtigen Inschrift aber lautete der Spruch auf dem Täfelchen des
Scheites: »Was für die heligen Wasser verbrochen worden ist, wird an den
heligen Wassern gesühnt.« Und unter dem Schlag des Scheites blutete
Binia.

Das war der Traum! Er wollte rufen: »Thut Binia nichts! Ich habe Seppi
Blatter nicht hinaufgeschickt.« Da erwachte er schweißtriefend in dem
Augenblick, als der Postbote, der alle Woche dreimal in der Morgenfrühe
mit den Postsachen nach Hospel ritt und sie am Abend von dort
zurückbrachte, an die noch geschlossene Hausthür pochte.

Nur ein einfältiges, widerwärtiges Träumlein! Der Presi war nicht
abergläubisch, als nun aber Binia in der zwingenden Anmut ihrer sechzehn
Jahre, frisch, mit leuchtenden Kinderaugen unter dunklen Wimpern, einen
warmen »Guten Tag, Vater!« auf den Lippen, in die Stube schwebte, da riß
er sie stürmisch in seine Arme, und als er unter der knospenden
Mädchenfülle das rasche Pochen ihres heißen Herzens fühlte,
durchrieselte ihn die Angst.

»Binia, lieber, lieber Vogel, versprich es mir, daß du nie, nie mit Josi
Blatter zusammenhältst, in deinem ganzen Leben nie!«

Sie brach an seiner Brust in Thränen aus: »O Vater, ich hab' es dir
schon lange bekennen wollen, Josi Blatter ist ein ehrbarer Bub. Er hat
das, was Ihr meint, gar nicht gesagt. Gewiß Gott im Himmel nicht!«

Er stutzte -- er starrte sie an -- er riß sie mit der ganzen Gewalt
seines Armes von seiner Brust hinweg, daß die leichte Gestalt an die
Wand taumelte.

Und entsetzt kreischte er: »Schon so weit bist du, Seppi Blatter, daß
mein Kind für deinen Buben lügt?!«



VIII.


Das Haus des Garden, das gleich am Eingang des Dorfes, etwas abseits vom
Thalweg, gegen den Glottergrat hinausschaut, ist nächst dem Bären das
stattlichste von St. Peter. Außer einer Grundmauer aber, auf der die
unterste Reihe kleiner heller Fenster ruht, ist kein Stein an dem Bau.
Ein ländliches, sonnenverbranntes Holzhaus, auf einem Brett über den
Fenstern ein halb Dutzend goldener Immenstöcke, dann wieder Fenster im
braunen, von der Sonne zerrissenen Gebälk und gleich darüber das
steinbeschwerte, an den Enden durch Sparren fest aufs Gebälk geklammerte
Schindeldach. So steht es da. Das glühende Rot der Nelkenbüsche wächst
aus Töpfchen und Kistchen vor seinen Fenstern, verblaßte Malereien
schmücken seine Holzfelder, zwei gekreuzte Schwerter, das Hauszeichen
der Zuensteinen, Winkel, Triangeln, Kreuze und Bundhaken, die den
Aelplern in einer Art Geheimschrift die Gerechtsame des Hauses an Weide
und Wasser verurkunden, auch ineinandergeschobene Dreiecke, Schlüssel
und Feuerschlangen, die der Bauherr vor hundert Jahren mit schlichter
Kunst hingemalt hat, damit keine bösen Geister den Eintritt in die
Heimstätte finden.

Die Sorge, die nicht nach Schutzbildern fragt, ist aber unvermutet ins
Haus getreten. Vor ein paar Wochen hat bei Ausbesserungsarbeiten an den
heligen Wassern ein fallendes faules Holzstück den Garden am Kopf leicht
verletzt, und vor wenigen Tagen ist aus der Wunde, die schon geheilt
schien, die Gesichtsrose entstanden. Mit einem unförmlich verschwollenen
Kopf, ein Tuch um die Stirne geschlagen, mit rot unterlaufenen Augen,
wälzt sich der arme Mann und stöhnt: »Grad jetzt bei der vielen Arbeit
-- und grad jetzt, wo Fränzi gestorben ist! Wohl, wohl, die werden im
Gemeinderat schön mit den Kindern wirtschaften. Nicht einmal die letzte
Ehre habe ich ihr geben können.«

»Alter, fahre doch nicht so im Bett hin und her,« jammert die Gardin,
die hochgewachsene Frau mit dem verschwiegenen herben Gesicht, und
frischt das Tuch mit Wasser an. »Es sind ja noch vier Gemeinderäte. Die
können die Geschäfte auch einmal besorgen.«

»Das macht alles der Presi -- und der hat immer einen Zahn auf Fränzi
und ihre Haushaltung gehabt.« -- -- Einen Augenblick schlummert der
Garde, dann fängt er wieder an: »Du, Frau, wie ist Fränzi eigentlich
gestorben?«

»Wie Vroni erzählt hat, die fast nicht hat reden können vor Schluchzen,
leicht und schön.«

»Die Frau -- sie war ja erst ein bißchen über vierzig -- ist leicht
gestorben, sagst du -- leicht von ihren Kindern weg?« stöhnt der Garde
verwundert.

»Ich meine, wie einmal das Schlimmste überwunden gewesen ist. Am Morgen,
bevor sie gestorben ist, hat sie zu den Kindern gesagt: 'Mich hat der
Vater beim Namen gerufen, jetzt glaube ich auf meine Seligkeit, daß ich
sterben muß.' Eine Predigt hat sie ihnen gehalten, da steht ihr die
Sprache still, Josi holt den Pfarrer, sie nimmt die Sakramente, sie
schaut ruhig vor sich hin und ist wie ein Licht erlöscht.«

Einen Augenblick herrscht Ruhe. Da schlägt die Uhr im Arvengehäuse mit
langsamen hellen Tönen Fünf.

»Schlafe jetzt, Alter,« mahnt die Gardin, »denke, wie's Fränzi gegangen
ist, sie hat sich im vorigen Winter bei der Armseelenwacht erkältet, hat
nicht dazu gesehen, da ist der große Husten gekommen, der sie gelegt
hat.«

Der Garde aber ächzt und stöhnt lauter. »Eben jetzt beginnt im Bären die
Gemeinderatssitzung, die über das Los Josis und Vronis entscheidet. Du,
Frau, Vroni wollen wir zu uns nehmen. Sie hat's um Eusebi verdient. --
Die ganze Schule hat sie mit ihm nachgeholt. Und sie ist mein
Patenkind.«

Die Gardin, die stolze Frau kämpft innerlich, sie will nicht Ja sagen,
aber den schwerkranken Mann noch weniger mit einem Nein aufregen.

Zum Glück schlummert er, während er auf Antwort wartet, ein. -- --

Nachdem Fränzi gestorben war, schickte der Presi den Schreiber als
Stellvertreter des erkrankten Garden in die Wohnung der Waisen. Dieser
verrichtete bei der toten Fränzi, die in den abgemagerten Händen einen
Blumenstrauß hielt, ein Gebet, gab den Kindern ein paar kühle Trostworte
und sagte ihnen, sie möchten am Tag nach dem Leichenbegängnis abends
fünf Uhr im oberen Bärenstübchen erscheinen, damit der Gemeinderat mit
ihnen über ihre Zukunft rede. Dann verständigte der Presi die
Gemeinderäte, daß sie zu der anberaumten Sitzung erscheinen. Es kam
aber, wie er ausgerechnet hatte. Die Gardin schickte Bericht, ihr Mann
liege tief im Bett, man dürfe mit ihm kaum von der Angelegenheit
sprechen. Der Armenpfleger war mit einem Trupp Vieh ins Welschland
hinübergegangen und kam erst in vier oder fünf Tagen zurück. Der
Gutsverwalter, der eben das Wasser in seinen Weinbergen zu Hospel
besorgte, erklärte sich im vornherein mit den Beschlüssen, die gefaßt
würden, einverstanden, und der Kirchenvogt meldete, die Stunde sei für
ihn so ungeschickt, daß er vielleicht erst etwas später kommen könne.
Die anderen sollen nur anfangen mit den Bauern zu verhandeln, die Lust
hätten, Josi und Vroni in ihren Dienst zu nehmen.

Im Stübchen saßen um fünf Uhr abends nur der Presi und der Schreiber,
ein kleiner, alter, kahlköpfiger Mann mit großer Hornbrille,
ausgemergeltem knochigem Gesicht und spindeldürren langen Fingern.

»He, Schreiber, ist das wieder eine Sitzung. Kein Gemeinderat ist da!«

»Fränzi hätte aber auch nicht zu einer ungeschickteren Zeit sterben
können,« erwiderte der Schreiber pfiffig, »jetzt, wo niemand weiß, wie
der Arbeit wehren.«

»Ja, meint Ihr, die Geschichte komme mir gelegen, so grad, wo die ersten
Gäste eintreffen!«

»Ihr nehmt's eben ernst mit dem Amt, Presi!«

Der Geschmeichelte murrte: »Ja, und des Teufels Dank habe ich auch. Ich
mach's, und wenn die Sache gethan ist, geht das Schimpfen los und ganz
Sankt Peter brüllt, ich sei ein gewaltthätiger und eigenmächtiger
Sarras.«

Beide lachten, dann fragte der Schreiber: »Hätte man über die Kinder
nicht eine Steigerung abhalten sollen?«

»So, damit die Leute sagen, der Presi suche immer nur Gelegenheiten, daß
im Bären fleißig getrunken werde. Ich weiß schon, was man über mich
redet. Und dann? Wer käme zu dieser strengen Werkzeit an eine Gant? Die
Kinder Fränzis sind, denk' ich, auch nicht so begehrt. Im übrigen,
Schreiber, könnt Ihr wieder gehen, ins Protokoll setzt einfach, ich
hätte Vroni aus Liebe und Barmherzigkeit zu mir ins Haus genommen und
Josi habe der Gemeinderat als Knecht zu dem früheren Wildheuer und
jetzigen Bergführer Bälzi gegeben.«

»Zu Bälzi!« Dem Schreiber fiel die Hornbrille von der Nase.

Der Presi lächelte überlegen.

»Ihr könnt eine Bemerkung in dem Sinn dazu setzen, Bälzi sei der
einzige, der sich um Josi beworben habe, und da er in der letzten Zeit
ein ordentlicher Mann geworden sei, so habe der Gemeinderat aus Mitleid
für seine große Familie ein mildes Werk gethan und ihm den Buben auf
Zusehen hin, wenigstens aber über den Sommer, als Knecht zum Wildheuen
gegeben. So, jetzt könnt Ihr gehen, ich habe mit den Kindern besonders
zu reden, schickt mir zuerst den Buben herein!«

Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln packte der Schreiber seine
Sachen zusammen.

Draußen im Flur saßen die Geschwister in ihren abgestorbenen
Sonntagsgewändchen. Vor ihnen stand Bälzi und redete, die Hände lebhaft
verwerfend, auf Josi ein, der mit zusammengezogenen Brauen verächtlich
von ihm wegschaute und ihm kein Wort erwiderte. Vroni hatte verweinte
Augen.

Jetzt stand Josi vor dem Presi, der überrascht war, was für eine
finstere Festigkeit im Gesicht des Achtzehnjährigen lag. Neugierig glitt
sein prüfender Blick über den Burschen und dann ließ er ihn, ohne ihn
anzureden, noch eine Weile stehen, indem er gegen das Fenster blickte.

»Der Bursche,« dachte er, »ist in seiner Schlankheit und Kraft, mit dem
braunen, gescheiten Gesicht, mit den Blitzaugen verdammt hübsch. Es
giebt kein wirksameres Mittel, die Gedanken Binias, ohne daß sie eine
Ahnung hat, von ihm abzubringen, als daß sie ihn recht niedrig und in
schlechter Gesellschaft sieht -- grad mit Bälzi. So viel guten Sinn hat
das Kind.«

»Herr Presi,« unterbrach Josi, der wie auf feurigen Kohlen stand, die
Ueberlegungen des Bärenwirtes, »Vroni und ich haben gemeint, wenn wir
nur in dem Häuschen bleiben könnten, wir wollten schon --«

»Thorheiten,« schnitt ihm der Presi das Wort ab und maß ihn mit dem
Ausdruck des höchsten Unwillens, »warte, bis ich dich etwas frage, und
ein Bursch wie du, Josi, der über mich und andre die größten
Gemeinheiten sagt, muß einen Meister haben.«

Mit glühendem Haß betrachtete er den sauberen Jungen.

Josi standen die Flammen der Entrüstung im Gesicht: »Herr Presi, ich
weiß schon, was Ihr meint, die Mutter selig und der Garde haben mich
darüber zur Rede gestellt, aber es ist, weiß Gott, nicht wahr! Ich habe
es nicht gesagt.«

»Soll ich dir jemand gegenüberstellen, der's gehört hat?« erwiderte der
Presi mit kalter Verachtung. -- »Binia hat's gehört, wie du es im
Schmelzwerk draußen gesagt hast,« fügte er nach einem Augenblick der
Ueberlegung bei.

»Bini. -- Bini! -- -- Laßt Bini auf die Stube kommen!« Josi zitterte vor
Zorn am ganzen Leib.

»Es nützt nichts mehr, es ist vom Gemeinderat schon entschieden, daß du
zu Bälzi gehst.«

Der Presi rief im gleichen Augenblick Bälzi in die Stube und hielt nun
beiden eine donnernde Rede, wie sie sich als Herr und Knecht miteinander
zu vertragen haben. Mit einer Handbewegung entließ er sie. Vroni kam an
die Reihe und freundlich gewährte der Presi dem verschüchterten Kind die
Bitte, daß sie erst dem Garden Lebewohl sagen gehe, ehe sie als Magd in
den Bären trete. »Ich lasse ihm gute Besserung wünschen und werde ihn in
den nächsten Tagen besuchen.«

Josi, der starke Josi, hatte, als er mit Bälzi die Treppe hinunterging,
vor Zorn und Schrecken die Thränen in den Augen, ihm war, als habe man
ihm mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen. Bälzi aber sagte gutmütig:
»Greine doch nicht, wir wollen lieber einen Schoppen zusammen trinken
und auf gute Freundschaft anstoßen, ich will dir gewiß kein strenger
Meister sein.« Josi trank nicht. Als er vom Wirtstisch aufschaute, stand
Binia mit einem Ausdruck grenzenlosen Mitleides unter der Thüre, fast
als wolle sie auf ihn zueilen, aber er sah vor eigenem Leid ihre tiefe
Bewegung nicht. Dumpf und mit erstickter Stimme rief er: »Du Giftkröte,
wie hast du so über mich lügen können!«

»Josi!« Mit einem Schrei des Entsetzens rannte Binia davon.

Vor der Thüre nahmen die Geschwister herzbeklemmenden Abschied
voneinander. »Rede mit dem Garden!« mahnte und tröstete Vroni, »er meint
es gewiß gut mit dir.« Josi schüttelte aber traurig den Kopf; seit ihn
der Garde wegen der Verleumdung des Presi scharf angefahren, hatte er
auch zu ihm das Zutrauen verloren. Geheimnisvoll sagte er: »Sieh, Vroni,
ich weiß schon, was ich thun werde.«

Bälzi drängte. Stolz wie ein Hahn führte er seinen Knecht, den ersten,
den er hatte, durch das Dorf, Josi aber ließ den Kopf hängen, er schämte
sich seines Meisters.

Vroni berichtete dem ungeduldigen Garden.

»Kind, du gehst nicht als Küchenhelferin in den Bären,« keuchte er,
»tritt in die andere Stube, ich halt's nicht mehr aus im Bett.«

Sie hörte, wie er in einer Wut aus den Federn sprang.

Einige Augenblicke später stand er zum Ausgehen gerüstet vor ihr. Aber
wie? Durch schmale Spalte nur schauten seine rotunterlaufenen Augen, das
hochgeschwollene Gesicht glänzte, aus den Blasen auf den Wangen floß das
Wasser in den Bart und die Lippen waren aufgerissen.

»Garde,« sagte Vroni bestürzt, »wollt Ihr nicht warten, bis die Gardin
kommt?«

Jammernd eilte diese zu dem schwankenden Manne und mahnte, er wütete
aber immer zu: »So geht's nicht in St. Peter, das leide ich nicht, bei
meiner Seligkeit leide ich es nicht. Presi, ich glaube es selber, die
Tatze muß dir aus dem Grab wachsen. -- Du bleibst bei uns, Vroni, du
gehst nicht in den Bären!« Liebkosend fuhr er ihr durchs blonde Haar.

»O Pate,« lächelte das Kind aus allem Elend und die blauen Träumeraugen
ruhten voll innigen Vertrauens auf dem entstellten Gesicht, dann wandte
sie sich fragend an die Gardin.

Allein die hatte für nichts Gedanken, als ihren Mann zurück ins Bett zu
bringen, sie hielt ihm in ihrer Not den Spiegel vor das Gesicht. Er fuhr
erschrocken zurück. »Teufel, so sehe ich aus -- da kann ich allerdings
nicht ins Dorf gehen. Nun, ein paar Tage mag es Josi schon bei Bälzi
aushalten.«

Die Aufregung hatte dem Kranken geschadet, er verwirrte sich, er
kommandierte im Bett unaufhörlich wie am Glottergrat, als Seppi Blatter
an den Weißen Brettern stand: »Drei Fuß nachgeben!« -- »Links anhalten!«
-- »Zu viel!« -- »Etwas rechts!« -- »So ist's recht!« -- Zwischenhinein
schimpfte er auf den Presi, dann fragte er wieder: »Ist Vroni wirklich
da -- bringe sie doch herein, wenn sie da ist.« Mit Seufzen schickte
sich die Gardin in den Zuwachs, den ihr Haus erfuhr.

Als am anderen Tag der Presi durch Thöni eine Nachfrage wegen Vroni
schickte, erwiderte der Garde: »Sagt dem Presi, der Teufel werde ihn
holen, bevor Vroni in seine Küche kommt.«

Thöni machte ein langes Gesicht und der Presi fügte sich.

In seiner schweren und langwierigen Krankheit ließ sich der Garde die
nötigen Dienste am willigsten von Vroni gefallen, die ihn mit ihrer
sonnigen Heiterkeit am meisten beruhigte.

Sie hatte ihr schönes Heim.

Ein Zug der Bedächtigkeit ging durch alles, was im Haus des Garden
gesprochen und gethan wurde; es war, als sei auch in der Woche ein
Abglanz vom Sonntag darin, und wenn die Sonne durch die Fenster schien,
sich im blanken Kupfer- und Zinngeschirr spiegelte, war es Vroni
feierlich zu Mut. Die Bäuerin, der Großknecht Meinrad, der Viehbub Bonzi
und die Magd Resi, alle arbeiteten fleißig, doch ohne Hast; während der
Garde krank lag, wurden Felder und Vieh grad so gut besorgt, wie wenn er
mithelfend hätte beim Werk sein können.

Eusebi hatte zum Verdruß seiner Mutter eine stille närrische Freude, daß
nun Vroni im Hause weilte, er ging dem Mädchen auf Schritt und Tritt
nach, sah ihm bei seinen Hantierungen zu und half ihm dabei.

Und was sagte der Garde in einem der fieberfreien Augenblicke, die jetzt
glücklicherweise wieder kamen, zu seiner Frau, die noch nicht recht
wußte, wie sich zu dem hereingeschneiten Gast stellen?

»Ich finde, daß Vroni dem Haus wohl ansteht, es ist immer, als scheine
die Sonne darein, wenn doch nur ihr helles Haar glänzt.«

An Vroni aber zehrte der heimliche Kummer um Josi. Sie wußte, was es
hieß, bei Bälzi Knecht zu sein. Harte Arbeit an den Flühen, Aufbruch im
Morgengrauen, Heimkehr in der Abenddämmerung und -- was schlimmer war --
wenig Brot, viel Schelte, dazu das Beispiel eines schlechten Haushaltes,
in dem häufig gestritten wurde. Denn einen wetterwendischeren Menschen
als Bälzi gab es nicht. Er konnte in einem Augenblick die Freundlichkeit
selbst sein, im nächsten aber ein Teufel an Bosheit. Dann flogen nicht
nur die Worte, sondern was ihm in die Hände geriet. Und Josi, der
starke, trotzige, ließ sich gewiß keine Prügel gefallen. Entweder gab's
Händel, oder Josi verdarb in guter Freundschaft mit Bälzi.

Ungefähr wie Vroni dachte Binia.

Der wilde, schmerzvolle Zuruf des unglücklichen Burschen hatte sie
geschüttelt und gerüttelt.

Vor ihrem Bett kniete sie am Abend: »Mutter -- Mutter -- ich bin schuld,
daß es Josi so schlecht geht -- Mutter, sage mir, wie kann ich das große
Unrecht wieder gut machen? -- Mutter, muß ich dem Vater folgen und gar
nicht mehr mit Josi reden?«

Wie sie aber auch das brennende Köpfchen quälte, kam doch kein kluger
Gedanke darein.

Sie wußte nur eins. Seit Josi keine Mutter mehr hatte, stand er ihrem
Herzen noch näher. Sie meinte immer, sie sollte ihm Fränzi ersetzen, und
sie war voll Liebe und Barmherzigkeit für ihn.

Sie klammerte sich an den alten Glauben, daß es Kindern, deren Vater an
den heligen Wassern gefallen ist, besonders gut gehe, und ließ ihre
Augen leuchten: »Er wird schon einmal sehen, daß ich keine Giftkröte
bin!«



IX.


»So geht's zu in St. Peter. Man will nicht mehr für die Hinterlassenen
derer einstehen, die im Gemeindewerk gefallen sind. Wie wohl wäre es
einem wohlhabenden Bauern angestanden, wenn er Josi zu sich genommen
hätte, nicht als Knechtlein, sondern als Sohn, wie der Garde Vroni als
Tochter. Lest in den alten Protokollen, wie man für die Kinder derer,
die an den heligen Wassern gestürzt sind, stets besonders gut gesorgt
hat. Und sie wurden Leute, daß es eine Freude war. Jetzt aber kommt ein
neuer Brauch. Auf einen bösen Handel legt man einen bösen Handel, man
giebt den Buben rechtschaffener Eltern einem Lumpen. Was wird Josi bei
Bälzi? Ein Halunke! Und was hat die Gemeinde davon? Die Schande!«

»Ich hätte ihn auch genommen, der Haushalt Blatter ist immer arbeitsam
gewesen.«

»Einen Gotteslohn hätte man dabei verdient. Wahrhaftig, man schämt sich,
wenn man denkt, daß der selige Seppi und die selige Fränzi vom Himmel
herunter auf die von St. Peter schauen.«

So schwirrte das Gespräch.

Die Gemeinderäte, die ihre Pflicht versäumt hatten, ließen die Köpfe
hängen und kratzten sich hinter den Ohren, der Presi aber hielt sich an
das Haus voll Fremder und vermied den Verkehr mit den Dörflern.

Er hatte auch seinen Verdruß.

Bälzi, sein Schützling, war mit dem Bergführerberuf auf eine wenig
ehrenvolle Art zu Ende gekommen. Ein Gast vermißte sein Taschenmesser,
er sah es einige Tage später im Besitze Bälzis, der ihn auf einer
kleinen Gletscherwanderung begleitet hatte; der Gast behauptete, sich
deutlich zu erinnern, daß er es bei einem Imbiß am Rand des Eises habe
liegen lassen. Bälzi hätte es ihm einfach zurückgeben können, aber er
wurde frech und verlangte einen Finderlohn. Da kam's zum Bruch, und der
Presi hatte die Vorwürfe seiner Gäste, die nichts mehr von Bälzi wissen
wollten.

Bald aber war es am Presi, zu lachen.

Bälzi meldete ihm durch seine Aelteste, Josi Blatter sei aus dem Dienst
gelaufen, sie hätten zusammen ein Unwort gehabt.

»Nun wird der Bursche kommen und man wird ihm einen neuen Dienst suchen
müssen.«

Josi Blatter stellte sich aber weder dem Vormund noch den Behörden.
Niemand wußte, wo er war, niemand wurde aus ihm klug.

Das Gerücht verbreitete sich, er treibe sich auf den Alpen umher. Aber
wovon lebte er? Die Leute sagten: »Er zieht den Kühen und Ziegen
heimlich die Milch aus dem Euter.«

Der Presi höhnte: »Da seht Ihr den Tagedieb, von dem Ihr mit so viel
Erbarmen geredet habt. Ich habe den gekannt.«

Niemand wagte mehr den Buben zu verteidigen.

Allein die Stimmung im Dorf war auch dem Presi nicht günstig. Manchmal
schien es wohl, man würde sich an die Fremden gewöhnen, aber die Gäste,
die wieder ins Thal gekommen waren, thaten und redeten so manches, was
denen von St. Peter bis auf die Knochen ging.

Da war ein dicker Gast, der wie ein Fäßchen daherkugelte und stets mit
den Leuten reden wollte, den sie aber in seiner fremden Mundart nur das
dritte Wort verstanden. Als er auf den Feldern um das Dorf die Histen,
die Holzgerüste sah, an denen die Bauern im Herbst ihren Roggen zum
Ausreifen aufzuhängen pflegen, fragte er spöttisch: »Hat man denn in St.
Peter so viel Diebe, Schelme und Mörder, daß man alle die Galgen
braucht?«

Nun lief das Wort. Von Scherz und Humor wußten die Dörfler nicht viel,
ihr Leben war Arbeit und Andacht. »Wir einen Galgen? -- Mörder? -- Seit
Matthys Jul hat im Glotterthal kein Mensch einen anderen getötet. Und
Diebe? -- Wer schließt des Nachts die Thüre? Kein{5} Haus als der Bären
hat ein Schloß mit Schlüssel. Seit Menschengedenken ist kein Diebstahl
vorgekommen; die Briefe, die Päcklein und Wertsachen, die es zu besorgen
giebt, legt man einfach an den Weg. Hat jemand schon daran gerührt als
der Postbote, der sie aufnimmt und nach Hospel trägt? Aber die Fremden
wollen uns andere Sitten bringen! Merkt ihr, was für ein neues Leben
anfängt? Bälzi hat ein Messer gestohlen, und Josi Blatter ist Aufrührer
geworden, es kann schon so kommen, daß wir einen Galgen brauchen.«

»O, der Fremde hat gewiß nur gescherzt.«

»Dann hat er das heilige Brot beleidigt! Wer darf über die Histen, die
es reifen, spaßen?«

Bald beleidigte irgend einer die heligen Wasser.

»Man kann nicht schlafen, wenn der Wind thalherauf weht. Das tattert die
ganze Nacht. Geben Sie doch der verfluchten Klapperschlange etwas zu
fressen, daß das arme Vieh nicht weiter so hungerleidig schättert,«
sagte ein anderer.

Die heligen Wasser, an denen so viele wackere Männer zu Tod gefallen
sind, die einen Flecken und fünf Dörfer erhalten und ernähren, eine
hungerleidige Schlange!

Die von St. Peter bekreuzten sich. »Sünde über Sünde.«

»Und die heilige Religion beleidigen sie!«

Denn durch die Mägde war es bekannt geworden, daß manche Gäste im Bären
auch am Freitag Fleisch essen. Der Presi und die Frau Presi gaben es
also zu.

»Merkt ihr, wenn wir solche Dinge dulden, so kommt Gottes Züchtigung
über uns. Unsere Buben können nicht mehr recht thun -- seht Josi
Blatter! Und er hat doch so rechtschaffene Eltern gehabt. Hudlig müssen
wir durch die neue Zeit zuletzt alle werden.«

Vom Gemeinderat ging die Weisung, jedermann, der Josi Blatter antreffe,
möge ihn auffordern, daß er sich der Behörde stelle.

»Josi Blatter, der Rebell,« dann kurzweg »der Rebell«. So sprach man in
St. Peter. Sein Umhertreiben erregte Aufsehen und Aergernis. Man war es
nicht gewöhnt, daß die jungen Leute sich dem Gehorsam der Behörden, der
Kirche und der Dorfschaft entzogen. Dazu gesellte sich die Furcht vor
Diebstahl. Aber weder die Sennen, die von den Alpen kamen, noch die
Dörfler wußten die Spur einer Entwendung zu melden. Es konnte den
Rebellen auch niemand auffordern, zurückzukehren, denn man sah ihn immer
nur von ferne, meist an den hohen Felsen über den Alpen, ja viele
glaubten, es sei überhaupt ein müßiges Gerede, daß er sich noch in der
Gegend aufhalte. Aber heute war es ein Dörfler, morgen einer der
kühneren Fremden, die hoch an den Flühen, wo Grünland und Weißland sich
scheiden, einen verdächtigen Jungen gesehen haben wollten.

»Wir gehen nicht aus, man weiß nicht, was einem der geheimnisvolle
Vagant anthäte!« meinten die Furchtsameren, und unter den ängstlichen
Gästen kam St. Peter zum großen Aerger des Presi in den Ruf der
Unsicherheit.

Ein Diebstahl -- eine Verurteilung -- dann wäre Josi Blatter für sein
Lebtag im Thal gerichtet und alles zu Ende. Gefängnis nahmen die zu St.
Peter furchtbar ernst, es genügten die roten Epauletten eines
Landjägers, der alle paar Jahre einmal ins Thal kam, um die
Bewohnerschaft in Aufregung zu versetzen.

Gegen Ende des Sommers erwartete der Presi den Rebellen des Diebstahls
überführen zu können. Die Sonne schien noch warm, die Glotter aber,
deren Wasser stark zurückgegangen war, floß klarer als sonst. Nun
glaubte er Anzeichen dafür zu haben, daß aus seiner Fischenz
nächtlicherweile Forellen gestohlen würden. Thöni und ein paar Mann
legten sich in den Hinterhalt. Um Mitternacht watschelte es in dem
Glotterbach, eine Gestalt bückte sich und langte mit den Händen in die
Forellenverstecke, man faßte den Dieb -- Bälzi!

Ganz St. Peter lachte, daß der Presi seinen ehemaligen Schützling
gefangen hatte, sogar mehr, als wenn der Rebell verhaftet worden wäre,
denn die Mißgunst gegen den Presi war größer als der Aerger über den
unbotmäßigen Jungen.

Am meisten litt Vroni. Ihre letzte Hoffnung, daß Josi wieder auf gute
Wege komme, war wie Aprilschnee geschmolzen, der Garde wollte nichts
mehr von ihm hören, er war wütend auf sein Mündel. Nicht, weil Josi
seinem Meister entlaufen war, das fand er fast selbstverständlich, aber
weil er sich seinem Vormund nicht gestellt hatte. Von Zeit zu Zeit
fragte er Vroni im Ton des Verhörs, ob ihr Josi noch nie ein Zeichen
seiner Anwesenheit gegeben.

Das war's ja eben, was sie am tiefsten kränkte -- er hatte sie
vergessen.

Sie horchte fleißig in die Nacht, ob sie ihn nicht ums Haus streichen
höre, aber was sie erlauschte, war immer nur das Klagen des Windes in
den Felsen.

Hatte er wohl das Thal verlassen und war ohne Abschied über Hospel
hinaus in die weite Welt gegangen, wie jener Bursche im Kirchhoflied?
Hinweg vom Grab des Vaters und der Mutter.

    »Gebräunter Bursch ist fortgezogen,
    Den Mund so frisch, den Blick so hell
    Dahin mit Wellen und mit Wogen
    Gewandert ist der Frohgesell.«

Oder war er einsam irgendwo auf den Bergen verunglückt? -- Sie hoffte es
fast, denn ein toter Bruder wäre ihr lieber gewesen als einer, der in
Unehren lebt. O, was mochten die Mutter und der brave Vater in ihrer
Abgeschiedenheit von Josi denken.

Oft fielen die Thränen um ihn auf das Armseelenmahl, das sie für die
Toten rüstete. Und doch ging es ihr gut. Die stolze Gardin sprach zwar
von oben herab zu ihr, behandelte sie, wenn es der Garde nicht sah, wie
eine Magd und predigte ihr Bescheidenheit.

»Ich bin ja gewiß bescheiden,« dachte sie dann, »wenn ich nur im Haus
bleiben darf.«

Wenn sie aber besonders niedrige Dienste verrichtete, wenn sie die
Jauchetanse an den Rücken hängte oder den Mist der Schweine aus dem
Stall zog, dann knurrte der breite Garde: »Du darfst das nicht thun,
Vroni; laß das den anderen!«

Eusebi freute sich darüber unbändig und begann den Vater nachzuahmen,
indem er sie von den rauhesten Arbeiten zurückhielt, die Gardin aber
schmollte: »Herrgott, ist Vroni, weil sie blondes Haar und ein sauberes
Gesichtchen hat, denn eine Prinzeß?«

»Die ist mehr als eine Prinzeß, Gardin; merkst du nicht, daß uns Gott
das Mädchen eigens zum Trost ins Haus geschickt hat? Sieh dein
Schmerzenskind, den Eusebi, an. Denke, wie er noch vor zwei Jahren war
und wie er jetzt ist. Stottert er noch? Läßt er die Glieder noch so
elend hängen? -- Nein, es ist eine Freude, wie der Bursche alles
nachholt, was er in sechzehn Jahren versäumt hat.« So mahnte der Garde
voll Vaterglück.

»Meinst du, es freue mich nicht auch?« fragte seine Frau, »meinst du, es
freue das Mutterherz nicht am meisten -- warum bin ich denn so viel
gewallfahrtet für Eusebi!«

»Deine Wallfahrten in Ehren, dem Burschen aber haben nichts als
Geschwister gefehlt; doch hätten ihn sechs Brüder und sechs Schwestern
nicht so geweckt wie die einzige stille Vroni.«

»Nun -- nun -- ich lasse ja sie gelten, wenn sie nur nicht einen so
geringen Bruder hätte.«

»Daran ist der Presi schuld!«

So tauschten Garde und Gardin ihre Meinungen.

Nicht so bald, wie er es zu Vroni gesagt hatte, sondern erst gegen den
Herbst hin kam der Presi zu dem langsam genesenden Freunde auf Besuch.
Binia begleitete ihn. Aber zwischen den beiden Männern war nichts als
Streit und Zank.

»Wenn der Bursche hinter die genagelte Thür in der Stadt kommt, wenn St.
Peter diese Schande hat oder wenn er, wie's den Anschein hat, verhungert
an den Bergen modert, so liegt's auf Eurem Gewissen, Presi. Ich hätte
mit dem Peitschenstiel auf Euch losgehen mögen, als Ihr den Waisenbuben
zu Bälzi gabt.«

Da fuhr der Presi auf: »Gott's Donnerhagel! So ist mir noch niemand
gekommen! Garde -- Garde! -- Wißt Ihr noch, was der Lumpenhund gesagt
hat?«

»Ihr seid der Presi, seid doch erhaben über ödes Geschwätz. Und nun
wollen wir Binia fragen, ob er' s wirklich gesagt hat!«

Binia, die sich in der Küche bei Vroni leise nach dem verschwundenen
Josi erkundigte, kam auf den Ruf des Presi hochrot vor die entzweiten
Männer, und auf ihre Frage funkelte der Mut der Verzweiflung in ihren
Sammetaugen, ihre Nasenflügel und Lippen bebten.

»Vater! -- Vater! -- er hat's nicht gesagt -- ich schwör's Euch noch
einmal wie am Tag nach Fränzis Tod -- er hat's nicht gesagt -- sondern
der Kaplan Johannes.«

Ihre Stimme klang wie ein zersprungenes Glöckchen, sie stand da wie eine
kleine Märtyrerin.

»Wie am Tag nach Fränzis Tod,« wiederholte der Garde und sah den Presi
mit zusammengezogenen Brauen scharf an.

Da wurde der Presi bleich vor Scham und Zorn. »Hast du auch nicht
gesagt, du wolltest Josi heiraten?« Er stammelte es mehr, als daß er es
sprach.

»Wohl, in meiner Verwirrung habe ich so viel geschwatzt, was ich nicht
hätte sagen sollen.« Angstvoll und entschlossen zugleich sprach Binia,
der Presi aber warf ihr einen Blick zu, als wolle er sie zu Boden
schmettern.

»Hinaus mit dir und heute nicht mehr unter meine Augen!«

»Was für einen Mut hat das Kind,« knurrte der Garde beruhigend, als sich
Binia geflüchtet hatte, »Presi, tragt dem Mädchen Sorge.«

»Dem Kaplan will ich zünden!« schnob der Presi.

Das kurze Gespräch hatte dem Garden ein Licht aufgesteckt. Darum also
haßte der Presi Josi so grimmig, weil Binia ein Auge auf den hübschen
Burschen geworfen hatte. Er wiegte, als der Presi gegangen war, den
Kopf.

»Kinder -- Kinder! -- Aber sie wachsen wie die Tannen und die Tannen
sprengen mit den Wurzeln den Fels. Grad so die Jugend mit ihrer Liebe,
es muß nur eine echte sein!« Zwischen Binia und Josi lag allerdings
nicht nur ein Fels, sondern ein Berg. Und aus Josi wurde der Garde nicht
klug. War der Bursche wirklich so empfindlich, daß er wegen eines
unverdienten Donnerwetters seinen Vormund verleugnete?

Da steckte ihm Vroni ein zweites Licht auf. Das sanfte Kind beichtete
aus freien Stücken, doch als ob sie sich für ihren Bruder tief in die
Erde schämen müsse: »Denkt, Pate, heute ging der Kaplan mit seinem
Bettelsack am Haus vorbei, und als er mich sah, kam er und sagte, Josi
lasse mich grüßen. Es gehe ihm wie einem Herrn.«

Der Garde wußte jetzt, woher Kaplan Johannes die Mineralien für seinen
Sommerhandel bezog.

Der Herbst kam, die Fremden reisten von St. Peter{6} fort, mit
klingendem Spiel zog das Vieh von den Bergen, voran die mit Enzianen
geschmückte Meisterkuh. Jetzt mußte sich Josi, wenn er noch lebte,
zeigen. Dem Winter, dem furchtbaren Höhenwinter würde er nicht trotzen,
der würde ihn schon zu den Menschen zwingen, da verließen ja selbst die
armen Seelen die Höhen, über die der Wind hinpfiff, und schlichen sich
nachts in die Häuser, und die ausgehungerten Gemstiere kamen zu den
Städeln und schnupperten nach dem aufgespeicherten Heu.

In der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen gab Josi bestimmte Kunde
seiner Anwesenheit. Auf den Gräbern seiner Eltern lagen am Morgen
Bergastern und standen Kerzen, und die hatte Vroni nicht hingethan.

Sie entzündete sie und es waren ihr zwei Hoffnungsflammen.

Was litt sie um Josi immer noch! Wo sie ging und stand, flüsterten die
Leute: »Die Schwester des Rebellen!« und jetzt fragten sie: »Woher hat
er das Geld gehabt für die Kerzen?« Andere trösteten wohl: »Man
sieht's, daß er nicht verstockt ist, die Geschichte seines Vaters hat
ihm nur den Kopf zerrüttet und der Presi hat ihn mit seiner Schärfe ganz
um den Verstand gebracht.« Doch das war ein schlechter Trost.

Der erste Schnee fiel, grimmige Kälte trat ein, Josi erschien nicht als
reumütiger Sünder im Dorf. Da waren die Leute überzeugt, daß er nun doch
verhungert sei, und erwarteten, daß man im Frühling sein Gerippe in
irgend einer Alphütte finden werde.

Kaplan Johannes, den der Garde einmal zur Rede stellte, gab zu, daß Josi
eine Weile für ihn Krystalle gesucht habe, aber jetzt sei er, so
versicherte er, ohne Ziel in die Welt gewandert.

Das war nicht glaubwürdig, wer in St. Peter geboren ist, geht nicht von
St. Peter fort, eher war Josi aus Mangel gestorben.

»Aber vielleicht hat ihn das Kirchhoflied verführt!« seufzte Vroni.

Der Presi kratzte sich im Haar: der Bube, der lieber verdarb als sich
ergab, kam ihm unheimlich vor. »Der ist noch zehnmal stärker als sein
Vater,« dachte er mit nagendem Verdruß.

Und in den Abendgesellschaften der Dörfler lief dem toten Josi zu Ehren
wieder die alte Kaufbriefgeschichte mit allerlei Verzierungen.

Josi aber lebte -- elender freilich als ein Tier -- er lebte hart am
Weg, auf dem die von St. Peter gingen.

Das war sein und des letzköpfigen Pfaffen Geheimnis.

Schon zu Lebzeiten der Mutter, damals, als die ersten Fremden gekommen
waren, hatte ihm Kaplan Johannes aufgelauert und ihn jammernd gebeten,
ihm Krystalle und Erze zu verschaffen, damit er sie, zu Pulver
verstampft, in seine Arzneien mischen könne. »Ja, freilich,« lachte
Josi, der vom Vater her die Fundorte der Mineralien, die man im Dorfe
nicht mehr als Spielzeug schätzte, an den Flühen des Bockje und der
Krone kannte. Und er brachte dem Kaplan hübsche Stücke, auf denen
Tautropfen saßen, die klar wie Thränen sind, blühendes Gestein, wie er
es grad beim Wildheuen erreichen konnte. %»Gracia et benedictio tibi«%,
sprach der Einsiedler mit seiner hohlen tiefen Stimme und gab ihm einen
funkelnden Franken. Seither blühte in tiefer Heimlichkeit vor der Mutter
und Vroni ein kleiner Handel zwischen den beiden. Nicht, daß der Kaplan
nun Josi für jeden quellklaren Quarz, für jeden braungoldenen Diamanten
der Zinkblende, für jeden Brocken, auf dem die grauglänzenden zierlichen
Blätter des Wasserbleis saßen, ein Geldstück gegeben hätte, meist
bezahlte er, wenn er die Stücke mit gierigem Blick in den Sack gesteckt
hatte, mit Segenswünschen und geheimnisvollen Andeutungen, er würde ihn
einmal zu großem Glück führen. Darüber lachte der trockene Bursche, und
als er sah, daß ihn der Kaplan betrog und die Drusen verkaufte, stellte
er die Lieferungen ein.

Allein der Laurer ließ ihn nicht mehr los. Als Josi den ganzen Groll und
Grimm gegen den Presi und das Dorf im Herzen, von Bälzi, der ihn nach
hartem Tagewerk hatte schlagen wollen, fortgelaufen war, hatte ihn der
Kaplan, der in der Dämmerung mit dem Bettelsack von den Alpen kam, am
Fuß einer graubärtigen Wetterlärche überrascht.

Der grinsende Pfaffe, der ihm die tiefste Teilnahme vorspiegelte,
entlockte der tobenden Brust des Flüchtlings eine Beichte, die nicht
vollständiger hätte sein können. Alles Elend, aller Haß einer von einem
schweren Unglück zerschmetterten und mißhandelten Seele lag frei vor dem
Schwarzen.

»Sei kein Thor, Josi; stelle dich doch dem Garden nicht, suche mir
lieber Krystalle, ich will für deinen Unterhalt sorgen. Hier oder wo wir
verabreden, treffe ich dich jeden Tag,« überredete der Kaplan den
verirrten Jungen, und von dieser Stunde an bestand eine Art Herzensbund
zwischen ihnen.

Furcht und Trotz halfen den Ratschlägen des Kaplans, am folgenden Tag
wurde Josi Strahler. Von den Felsen der Krone, wo sich sonst niemand
hinwagt, brachte er dem Kaplan die dunklen Morione, vom Bockje die
klaren Edelkrystalle, vom Schmelzberg die wunderfeinen Strahlen des
Grauspießglanzes und die zierlichen Eisenrosen, die im Stahlschimmer
leuchten. Immer trug er die Leiter bei sich, die ihm früher zum
Wildheuen gedient, unermüdlich kletterte er zu den Rissen, Höhlen und
Kammern der Felswände empor. Es gab aber Tage, oft mehrere
hintereinander, an denen sich Krystalle und Erze wie durch einen Zauber
vor ihm versteckten, an denen er wohl mit zerschrundenen, aber leeren
Händen zu Kaplan Johannes kam. Doch dieser blieb gütig, prophezeite ihm
in geheimnisvollen Formeln reiche Ernte am nächsten Tage, schüttelte
alles, was der Bettelsack Eßbares enthielt, vor dem Heißhunger des
Burschen aus, streichelte ihn und sprach ihm freundlich zu, als wolle er
ihn für die große Einsamkeit, in der er lebte, entschädigen, und
manchmal war Josi, der unheimliche Kaplan habe ihn leidenschaftlich
lieb.

Aber das Heimweh kam. »Vroni! -- Vroni!« brüllte es in der Brust Josis,
und wenn er tief unter sich einen Menschen über die grüne Alpe gehen
sah, so hätte er hinabeilen und ihn umarmen mögen -- o, alle von St.
Peter, nur den Presi nicht.

Kaplan Johannes sah das Heimweh, ein eigentümliches Lächeln ging über
sein finsteres Gesicht: »Josi, es ist ein Landjäger im Dorf, der es vor
dir bewachen muß; denke dir, Bälzis Weib hat vor dem Garden beschworen,
daß du im Schlaf gesagt hast, du zündest den Bären und St. Peter an.
Wegen Ungehorsam gegen die Behörden und Drohung auf Brandstiftung will
man dich verhaften, und jede Nacht stehen ein paar Häscher um das Haus
des Garden im Hinterhalt, denn man denkt, du kommest am ehesten dorthin,
weil du Vroni sehen möchtest. Also hüte dich! Und noch eins! Rühre
keinen Halm auf den Alpen an, sonst giebt es eine Treibjagd auf dich und
die höchsten Felsen retten dich nicht; sei vorsichtig, Josi. Ich füttere
dich ja, Rabe, selbst wenn ich für mich keinen Bissen habe.«

Josi erblaßte -- zitterte -- also so weit war er: die Landjäger suchten
ihn.

In seinem Schuldbewußtsein durchschaute er die Lüge des Kaplans vom Weib
Bälzis, das ihn verraten haben solle, nicht recht, er erinnerte sich nur
halb, daß er selbst bei der tollen Beichte unter der Wetterlärche etwas
vom Bärenanzünden gesagt hatte. Aber nur in der gräßlichsten Erregung.

Nein! -- nein! -- Mochte ihn der Presi hängen lassen, eine
Brandstiftung that er dem Andenken seiner Eltern nicht zu leid.

Bald erhielt er die Bestätigung dessen, was der Kaplan gesagt hatte, aus
unverdächtiger Quelle. Er traf unvermutet und so, daß er nicht mehr
ausweichen konnte, auf den Viehknecht des Bockjeälplers: »Fort, Rebell,«
lachte der gutmütig rohe Mensch rauh und laut, »fünfzig Franken erhält,
wer dich lebend oder tot ins Dorf bringt,« doch so, als ob er selber die
fünfzig Franken nicht verdienen wollte.

Von diesem Tag an hielt sich Josi allen unsichtbar und lebte in den
höchsten Flühen.

Was er litt! -- Die Nächte, die entsetzlichen Nächte, während deren er
irgendwo auf einer Planke lag, mit ihrem ehernen Schweigen und ihrer
Einsamkeit! Tief unten winkten die Lichter von St. Peter wie ein
Häuflein Sterne und riefen: »Komm, komm!« Und jeder leise Glockenklang,
den die Luft zu ihm emportrug, schmeichelte: »Komm, komm!« Vroni nie
sehen -- nie auf den Kirchhof treten, wo Vater und Mutter begraben sind
-- nie in der Dorfkirche beten. Jedes Stück Vieh, das er sah, entlockte
ihm fast Thränen, vorsichtig lief er hinzu, streichelte es, küßte es und
redete lieb mit ihm. »Gelt, wenn du ins Thal kommst, grüßest du mir
Vroni!«

Im gräßlichen Alleinsein wurde Josi beinahe Philosoph. Er liebte seine
Krystalle, die wunder- und geheimnisvollen Blumen des Gesteins: »Warum
müßt ihr so schön aus der Erde wachsen, du wie ein Röschen, du wie eine
Thräne, die ein Engel vom Himmel hat fallen lassen, und du wie ein
Haufen Spieße für den Ameisenkrieg. Wer hat dich gemessen und
gezirkelt, du kantiger Edelkrystall, wer hat dich mit Rauch gefüllt und
die Haarsträhnen durch dich gezogen, du schöner Topas, und dich öden
weißen Stein mit Granatkörnern bestreut wie die Mutter selig am
Dreikönigstage die Brotmänner mit Wachholderbeeren?«

O Wunder! Selbst die Krystalle drängen sich wie Bruder und Schwester
zusammen, sie suchen ihre Gespielen und auf manchem Stein stehen so
viele, groß und klein, wie wenn sich am Sonntag die Dörfler auf dem
Kirchhof zum stillen Plaudern sammeln.

Nur er war einsam.

Mitten in seinem Elend ahnte er aber, daß alles in der Welt zum Schönen
drängt, daß auch der Mensch leiden und sich öffnen muß, wie der harte
Fels, der Krystalle zeugt. Wie ein Fels wollte er werden, wenn er wieder
einmal als ehrlicher Bursch unter den Menschen wäre, Krystalle guter
Thaten zeugen, alles Rechte würde er thun, was Brauch und Sitte, was die
Vorgesetzten forderten, selbst Dienste bei Bälzi.

Doch jetzt nicht ins Gefängnis, lieber sterben!

Der Winter naht! Seit die Fremden fort sind und er keine Mineralien mehr
verkaufen kann, ist der Kaplan mürrisch gegen ihn, er bringt ihm das
Essen unregelmäßig und oft zu wenig. Da weiß es Josi plötzlich: Er ist
der Gefangene dieses halbverrückten und schlechten Mannes, Johannes hat
ihn dort unter der Wetterlärche verführt, daß es keine Rettung mehr
giebt. Und ein grimmiger Haß gegen den Kaplan zuckt auf in seiner Brust.

Er kann es auf den Alpen nicht mehr aushalten vor Kälte. Ein Ausweg!
Fort von St. Peter, fort, wie der Bursch beim Kirchhoflied. Sterben
macht nichts, nur nicht ehrlos eingesperrt werden. In der grauenden
Frühe des Tages Allerheiligen läuft er, am Schmelzwerk vorbei, wo Kaplan
Johannes haust, das Thal hinaus. »Lebe wohl, seliger Vater, -- lebe
wohl, selige Mutter, -- und du, liebe Vroni, mit den schönen blauen
Augen.«

Wie er nach Tremis kommt, tummeln sich schon Kinder auf der Straße, sie
springen vor ihm schreiend davon: »Ein wilder Mann -- ein wilder Mann!«
Da fällt es ihm ein: Er kann nicht in die Welt, sein dunkles Haar hängt
ihm in Strähnen über die Wangen, seine Kleider sind Fetzen, die Schuhe
zerlöchert, als ein Landstreicher würde er aufgegriffen. Auf das
Geschrei der Kinder streckt ein altes kropfiges Weib den Kopf aus dem
Fenster, Susi aus dem Bären. Sie erkennt ihn und nun regt sich doch in
ihr das Mitleid und die Neugier. Sie ruft ihn herein.

Sie hat schon von seinem Rebellentum gehört; indem sie ihm den Kaffee
einschenkt, den er gierig trinkt, fragt sie ihn hundert Dinge.

»Ist es wahr, daß du mit Bini verhext und besprochen bist?«

Das behagliche Stübchen und der warme Trunk im Leib stimmen Josi ganz
weich: »O, Susi, ich habe gewiß andere Sorgen -- ich möchte wieder ein
rechter Mensch werden. Seht, morgen ist Allerseelen, und ich bin so arm,
daß ich für meinen seligen Vater und die selige Mutter nicht einmal zwei
Kerzchen kaufen kann.«

Die tiefe Trauer, die seine Stimme durchbebte, sein elendes Aussehen und
seine Verwilderung weckten das Erbarmen Susis, sie schenkte ihm zwei
Wachskerzen und redete ihm mit ihrer pfeifenden Stimme mütterlich zu,
daß er sich dem Garden stelle, es gehe ihm gewiß nicht so böse.

»Ich will's thun, Susi.« Aber wie er über die verlassenen Alpen des
Schmelzberges, auf denen die letzten Sonnenlichter des Jahres spielen,
die letzten Blumen blühen, mit weitem Umweg nach St. Peter geht, kämpft
er wieder.

Erst tief in der Nacht schleicht er sich ins Dorf. Er kniet zwischen den
Kreuzen an den Gräbern der Eltern nieder, er steckt die Kerzen und
Astern auf die Hügel. Da kommt der Nachtwächter singend vom Oberdorf. Es
ist der breite Brummbaß des Fenkenälplers, der in der Kehrfolge der
Bürger den Dienst hat. Er möhnt:

    »Es ist nicht unsere Gerechtigkeit,
    Daß Gott uns so viel Gut's erzeigt,
    Es ist seine Gnade und Güte,
    Ihr lieben Heiligen schützt uns vor Gefahr,
    Vor Brand und Laue besonderbar,
    Und dann, ihr Lieben, bitten wir noch,
    Sperrt den Rebellen endlich ins Loch!«

Der letzte Zusatz ist eine freie Erfindung des Sängers. Josi aber
schreit: »Hörst du' s, Vater -- hörst du's, Mutter, so geht es mir! --
Ich lasse mich aber nicht einsperren!«

In wildem Weh brüllt er es und rauft das Kirchhofgras, als wolle er
hinabflüchten zu den Toten.

»Das alles haben der Presi und Binia über mich gebracht.«

Schon sieht er, wie man ihn gefesselt durch das Dorf führt, auf der
Freitreppe steht der Bärenwirt mit einem Hohnlächeln.

Da geht es ihm wie dem Fuchs, der vom Hunger gepeitscht, in die Falle
kriecht, von der er weiß, daß sie ihn verderben wird -- er flieht vom
Dorf zu Kaplan Johannes, den er doch haßt wie den Tod.

Mit einem höllischen Lächeln gewährte der Letzköpfige dem Ausreißer
Schutz und Obdach in der Ruine. Den einzigen noch überdachten Raum
bewohnte der Einsiedler selbst. Da brach durch ein vergittertes Fenster
das Licht herein. Grad neben dem Viereck, das es auf den Boden
zeichnete, war das Lager des Schwarzen, ein Sack voll jener langen
Flechten, die wie riesige graue Bärte von den Aesten der alten
Lärchenbäume fluten, gegenüber der Thüre ein dreiteiliger Altar, den ein
Totenschädel schmückte, davor ein Betschemel. Und von der Decke hing
eine Ampel, in der ein Lichtfunke brannte.

Sonst war das Gemach leer.

Hinter ihm war ein zweites, ein niedriges Gewölbe, in das man nur
halbgebückt kriechen konnte, wohl, wie die rotgebrannten Steine vermuten
ließen, ein großer alter Ofenraum.

In diesen Verschlag wies Johannes seinen Gast. Da war Josi vor jeder
Entdeckung sicher. Niemand wagte sich in die Zelle des unheimlichen
Kaplans; wenn je nach Wochen einmal ein Weiblein ins Schmelzwerk kam, um
ihn zu einer kranken Kuh zu holen, so pochte es draußen schüchtern an,
dann trat der Einsiedler heraus, gab ihr mit seiner Grabesstimme den
Segen und ging mit ihr.

Er war gewiß ein unheimlicher Kauz, der Kaplan Johannes mit dem fahlen
Gesicht und den lodernden Augen. Vor seinem Altar sang er oft Lieder,
die stark weltlich klangen, sobald aber, das glaubte Josi zu bemerken,
Leute des Weges zogen, ging er mit wenigen Modulationen in einen frommen
Gesang über, wie man ihn am Altar der Dorfkirche hörte.

Am Abend, wenn der Weg einsam war, sprach Johannes oft laut mit sich
selbst, schnitt Grimassen, verwarf die Arme, geriet in einen Taumel und
vergaß, daß Josi da war.

»Die Mauer war hoch,« erzählte er klagend, »aber der Kastanienbaum war
höher. Johannes saß darunter und lernte. Er lernte Tag und Nacht. Einmal
aber im Herbst erzitterte der Kastanienbaum über seinem Haupt. Was
zitterst du? Da legte Johannes das Buch nieder und stieg auf den Baum.
Ein Ast ragte weit über die Mauer, vom Garten in einen Hof, der Ast
schwankte. Johannes schaute über die Mauer. Da sah er Graziella, die
Kastanien schüttelte. Sie hatte braune Arme und braune Augen und lachte
über den Klosterschüler. Eines Tages aber sagte sie: 'Wenn du mich lieb
hast, Johannes, steige nur vom Baum.' An der Mauer küßten sie sich.
Mehrmals. Als das Laub fiel, rüttelte Graziella wieder am Ast und lockte
-- die Falsche. Der Schüler kletterte am Kastanienbaum über die Mauer,
sie gab ihm einen Kuß, und dann warfen die Klosterbrüder ihn nieder --
und dann« -- seine Stimme hob sich zu einem klagenden, wiehernden Geheul
-- »sie haben mich im Gefängnis mit kaltem Wasser begossen -- sie haben
sich vergriffen an mir, daß ich nicht mehr Johannes bin.«

Er langte wie ein Wahnsinniger nach dem Kopf und hielt den Leib, als ob
er Schmerzen hätte.

Josi graute es bei diesen Selbstgesprächen des Kaplans, schrecklicher
war es ihm aber, wenn Johannes ihn zu peinigen begann.

Immer wieder kam er auf jenen Kuß zu sprechen, den er im Teufelsgarten
Binia gegeben.

Ob er sie noch liebe? Ob er begehre, sie wieder zu küssen? Ob er sie
einmal nackend sehen wolle? Er könne ihm mit einem Alräunchen dazu
helfen. Er wisse, wo ein Alraun wachse, wie man die Wurzel ziehe und
schneide, daß daraus ein kleines wunderthätiges Männchen werde.

Schamlos redete der Kaplan.

Josi schoß dann das Blut in die Wangen und er preßte die Fäuste an die
Ohren -- o, es war schön gewesen hoch oben in der Einsamkeit des
Gebirges, das Gift dieses Elenden war entsetzlicher als sie.

»Wann zündest du den Bären an? -- Du mußt es thun, solange keine Gäste
da sind, die Sünde wäre sonst zu groß. Heute ist eine so finstere Nacht,
willst du denen in St. Peter nicht etwas hell machen?«

»Ihr seid ein Teufel, Johannes!« Da lachte der Kaplan widerwärtig: »Ich
glaube manchmal selbst, daß ich der Satan bin, aber dich habe ich lieb,
bleicher Knabe. Komm an mein Herz, Söhnchen!«

Oft schien die Rede des Kaplans nicht nur Hohn, sondern als hange er mit
der ganzen Seele an Josi, denn gerade wenn ihr Vorrat am kleinsten war,
nötigte er ihn zu tapferem Essen und litt selber Hunger.

»Im Sommer aber mußt du mir wieder Krystalle suchen, du mußt mein treuer
Sohn sein, du gehörst jetzt zu mir, nicht zu denen von St. Peter -- aber
-- aber -- Knabe, wenn du mich verraten würdest, ich tötete dich.«

Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und murmelte mit seiner
hohlen Stimme lateinische Verwünschungen.

»Nur noch einmal die sonnige Vroni mit dem fliegenden Goldhaar sehen,
nur noch einmal sie mit ihrer Glockenstimme reden hören.« Müde und
traurig war Josi und ihn ekelte vor dem Kaplan.

Aber er hatte den Mut nicht, zu Vroni zu gehen.

Oft froren er und Johannes in der schlechtgeschützten Ruine. Der Wind,
der durch die Mauern blies, verjagte die Wärme des offenen Feuers, und
wahrscheinlich wäre Josi, der nie wie der Pfaffe in warme Bauernstuben
kam, vor Langeweile, Abscheu und Elend gestorben, hätte er nicht auf den
Rat des Kaplans, der darin Schätze vermutete, das alte Bergwerk zu
durchforschen angefangen.

Die Entdeckungswanderungen gaben seinem Trübsinn eine Ableitung und die
Tiefen des Bergwerks schützten besser vor der Kälte als jedes Herdfeuer.

Josi lächelte zwar zu den Hoffnungen des Kaplans, daß er Silbererz
finden werde, ungläubig, aber er wühlte sich mit großem Eifer durch das
Gewirre von Gängen, Gesenken, Stollen und Weitungen. Eine mühsame
Arbeit! Viele Gänge waren eingestürzt, in anderen tropfte das Wasser und
bildete kleine Teiche, die Luft war dumpf und feucht. Oft löschte ein
Tropfen seine Kerze aus, dann hatte er Arbeit genug, sich in Stunden
beklemmender Angst wieder durch die Finsternis ans Tageslicht zu tappen.
Wenn er wenigstens Erz gefunden hätte! Aber die Stollen waren wüst und
leer. Nein, endlich entdeckte er einen Schacht mit zuckerkörnigem
Bleiglanz, der nach den Ueberlieferungen von St. Peter am meisten
Silber enthielt. Ein alter Venediger hatte dabei seinen Schlegel und
sein Brecheisen stehen lassen. Damit machte er das Erz los und hatte
reiche Ernte. Er häufte den Reichtum für Kaplan Johannes, der wie er
selbst den Silbergehalt des Erzes weit überschätzte, und über dem
Tagewerk im Dunkel des Berges verfloß die Zeit.

Als aber der Schnee zu schmelzen begann, der Frühling an den sonnigen
Berglehnen die ersten Blüten hervorlockte, war Josi so elend zu Mut, daß
der Gedanke, eines Tages aufgegriffen zu werden, alle Schrecken verlor.
Die Lust, auf die Berge zu steigen, war ihm vergangen. Er war wund am
Herzen und an den Füßen.

Oft saß er im Teufelsgarten, kaum verborgen vor denen, die des Weges
gingen, ließ die Sonne auf den Rücken scheinen und horchte auf das
einförmige Klappern an den Weißen Brettern.

Er dachte an seinen Vater, an das große Unglück, aber er hatte gegen
niemand einen Groll mehr, kaum gegen den Presi, ihm war alles
gleichgültig.

Warum hatten ihn die Leute nicht in die Glotter springen lassen?

Einmal schlief er an der warmen Sonne ein; da war ihm, er rieche
Veilchen, nein, eine Mücke krieche ihm durch den Flaum der Oberlippe, er
wollte die Hand erheben, aber sie sank ihm bleiern zurück.

Schon eine Weile betrachtete Binia, die wie einst dem Vater
entgegengeritten war, den Schläfer. Zuerst mit mächtigem Erschrecken.
Auch sie hatte geglaubt, Josi sei tot. Aber der Sitzende, wenn er auch
bleich wie ein Toter war, atmete tief und ruhig. Wie namenlos arm war er
in seinen Lumpen und Fetzen, durch die der bloße Körper schimmerte.
Zwischen dem Filz der langen Haare floß das wässerige Blut offener
Wunden und die Frostbeulen an den bloßen Füßen schwärten. Sie schluchzte
vor Mitleid. Aber die Freude, daß sie den toten Josi lebendig fand, war
stärker als die Trauer über sein Elend. Als sie ein paar Läuse lustig
durch sein Haar spazieren sah, stutzte sie, dann kam mitten aus dem
tiefsten Mitleid der Schalk zum Durchbruch, sie strich ihm mit dem
Veilchensträußchen, das sie sich gesucht hatte, leicht unter der Nase
hin und lächelte, als seine Hand sich regte, aber wieder sank.

Noch einmal wiederholte sie das Spiel. Da schoß er taumelnd auf. Er that
einen Schrei: »Binia!« Dann aber maß er sie mit einem finsteren,
verächtlichen Blick und wollte gehen.

»Schau mich doch nicht so böse an, Josi,« bettelte sie mit feinem,
sanftem Stimmchen, indem sie bis in die dunklen Haare errötete und den
Blick wie eine Schuldige senkte.

»Was willst du? Ich habe nichts mit dir zu thun,« erwiderte er mit
dunklem Groll.

»O, ich freue mich, daß du noch am Leben bist, Josi, gewiß freue ich
mich.«

Das tönte so lieb, so hingebend, daß er nun doch aufhorchte. Er erhob
sich und setzte sich in einiger Entfernung von Binia auf einen Stein.

Zu nahe bei ihr wollte er nicht sein. Wie war sie schön geworden in den
paar Monaten, da er sie nicht gesehen! Wie ein Engel, dachte er. Die
Röte der Hagrose prangte duftig auf ihren Wangen, die großen, dunklen
Augen hatten die gleiche Lebhaftigkeit wie früher, und doch war noch
etwas hinzugekommen, was früher nicht darin war. Etwas Sanftes, etwas
unsäglich Liebes, Trauliches. Wie barmherzig sie ihn ansah. Sein letzter
Trotz zerschmolz wie Schnee an der Sonne. Und alles, was Kaplan Johannes
Häßliches gesagt hatte, war vor ihrer Reinheit und Schönheit aus seinem
Gedächtnis entschwunden. Aber er schämte sich wegen seines Aussehens, er
war ganz scheu.

Sie fanden den ungezwungenen Ton von ehemals nicht wieder. »Wie groß ist
Josi geworden,« dachte Binia, »er ist ja beinahe ein junger Mann,« und
beide sahen sich verlegen an.

»Wie geht es Vroni?« stotterte Josi.

»Ihr geht es gut. Hast du sie nicht am Sonntag hier vorbeireiten sehen?«
fragte Binia. »Der Garde, die Gardin, Eusebi und Vroni sind zu einer
Taufe nach Hospel geritten. Sie trug die Tracht, das Hütchen mit den
langen Seidenbändern und ein buntes, seidenes Brusttuch, dazu Geschmeide
wie eine Bauerntochter. Wie unsäglich glücklich wird sie sein, wenn sie
hört, daß du lebst!«

»Wie eine Bauerntochter,« dachte Josi. Er aber war arm wie jener
Lazarus, von dem einmal der Pfarrer gesprochen hatte.

»Was sprechen die Leute von mir. -- Sagen sie, ich sei ein Halunke?« Er
lächelte bitter.

Binia schwieg purpurrot.

»O, sage es nur, ich weiß es schon -- aber weißt, wer mich dazu gemacht
hat?«

Binia senkte den zierlichen Kopf. Nach einer langen Pause hauchte sie
kaum hörbar und in zitternder Scham: »Mein Vater.«

»Ja, dein Vater!« bestätigte Josi vorwurfsvoll.

Ihr stürzten die Thränen aus den Augen, mit einer raschen Wendung kniete
sie vor ihm.

»O Josi! -- Josi! -- Ich weiß, daß ich an allem schuld bin. Aber -- o
Josi -- wenn du keinen Fetzen auf dem Leib hättest und noch zehnmal mehr
Läuse auf dem Kopf, ich liebte dich doch!«

Ihre molligen kleinen Hände umspannten seine ausgemergelten Finger, sie
sah ihn so rührend demütig an und ihre Stimme bebte wie ein Glöckchen:
»Ich habe ohne Absicht über dich gelogen -- ich war so krank -- aber ich
will gewiß alles an dir gut machen, Josi!«

Ihre Lippen berührten seine Hände, ihre Thränen liefen durch seine
Finger, er wollte reden, aber er schluchzte nur: »Bini -- Bini, wie lieb
bist du mit mir.« Der wunderbare erste Gruß aus einer Welt, die er
verloren hatte, ging über seine Kräfte.

Da verzerrte sich Binias Gesicht: »Va --«

Ein Peitschenhieb sauste durch die Luft -- das Blut strömte über die
Wangen Josis.

Vor den beiden stand furchtbar der Presi. Sie hatten das Kommen seines
Wagens überhört, er hatte das Vorspanntier ohne Hüterin getroffen und
Binia gesucht.

Einen Augenblick waltete die Ruhe grenzenloser Ueberraschung.

Binia starrte entgeistert auf das blutüberströmte Haupt Josis. Da riß
sie der Presi hinweg.



X.


Was man in St. Peter erlebte!

Vor einigen Tagen war es gewesen. Da hatte der Pfarrer, der zwischen Tag
und Nacht von Hospel kam, im Teufelsgarten ein unheimliches Stöhnen
gehört. Er war ihm als Diener des Herrn, der den Satan nicht zu fürchten
hat, nachgegangen und hatte Josi Blatter, den Rebellen, gefunden, den
man verhungert und erfroren glaubte. Er hatte Anzeige beim Garden, dem
Vormund des Burschen, gemacht, und dieser den schwerkranken,
blutrünstigen Jungen, der vor Entkräftung nicht mehr gehen konnte, mit
einem Wägelchen in seine Wohnung geholt.

Und gestern war ein neues Ereignis gekommen. Der Presi hatte, ohne daß
er vorher mit einem Menschen davon gesprochen hätte, fast heimlich und
über Nacht Binia aus dem Dorf fortgeschafft. Wohin? -- Die Bärenwirtin
erzählte den Dörflern, die es hören wollten, sie sei in eine
Erziehungsanstalt verreist, wo sie die fremden Sprachen lerne, die man
im Verkehr mit den Sommerfrischlern brauche.

»Es ist aber doch seltsam,« sagten die Leute, und sie ergingen sich in
allerlei Mutmaßungen, doch ohne die Ursache der plötzlichen Reise zu
ergründen.

Und heute hatte der Gemeinderat einstimmig beschlossen, daß Kaplan
Johannes den Gemeindebann verlassen müsse, da er einem minderjährigen
jungen Menschen Unterschlauf gegeben und in der Auflehnung gegen die
Behörden unterstützt habe.

Der Pfaffe schlug ein lautes Gejammer an und eilte in alle Häuser, wo er
auf Gehör rechnen konnte. »O, der meineidige Rebell. Wem als mir hat es
St. Peter zu danken, daß das Dorf noch steht. Ich schwöre es, er hat es
an allen vier Ecken anzünden wollen, nur mit den höchsten Formeln habe
ich ihm die Hände binden können. Aber wißt, wißt: Durch den Rebellen
Josi Blatter wird früher oder später ein Unglück, wie noch keines erlebt
worden ist, über das Glotterthal kommen. Ein Alraun hat es mir im
Spiegel gezeigt: Die Kirchhofkreuze hat man in St. Peter ausgerissen und
die ganze Gemeinde hat geschrieen: 'Laßt uns den Uebelthäter
erschlagen!' Und der Bären lag in Schutt und Asche.«

Die Zähne der Weiber klapperten, doch die gruseligen Erzählungen
retteten den Kaplan nicht. Gerade die ruhigeren Bürger drangen darauf,
daß er jetzt mit fester Hand aus dem Thal vertrieben würde: »Er macht
das Dorf verrückt,« sagten sie, »denn die Weiber glauben ihm.« Der
Presi, der sich selber zürnte, daß er Johannes zu lange hatte gewähren
lassen, schickte kurzerhand ein paar Mann nach dem Schmelzwerk, die das
Gerümpel des Kaplans aus der Ruine warfen und sie so weit abbrachen, daß
sie sich nicht mehr zur bescheidensten Wohnstätte eignete.

Dafür war besonders der Pfarrer dem Presi dankbar -- jetzt, in alten
Tagen, konnte er ungestört das Wort Gottes säen, der böse Feind, der
immer das Unkraut des Aberglaubens dazwischen gestreut hatte, war
vertrieben. Zum Dank dafür richtete der alte Priester, der es sonst für
klüger hielt, sich nicht unmittelbar in die Angelegenheit der Bauern zu
mischen, am Sonntag ein kräftiges Wort an seine Herde und bat darin, daß
man sich des wiedergefundenen Josi Blatter, der in aller Verirrung
nichts Böses gethan, in Liebe erbarme.

Die einen hingen nun an Kaplan Johannes, die anderen am Pfarrer.

Inzwischen genas Josi.

Eines Tages spürte er das Gesicht Vronis über sich und er hatte einen
wunderschönen Traum: Er, Vroni, die Mutter und Binia saßen auf dem
Felsen über dem Haus, sie sangen: »Du armer Knabe, schlaf am Meere,« und
die goldenen Schwingen der Abendluft brachten ein leises Echo von den
Bergen zurück. Plötzlich aber fing es an zu regnen, die heiße Erde
kühlte sich, die Blumen erhoben die Häupter, die ganze Welt trank das
köstliche Naß. Der Regen kam aber nicht vom Himmel, es waren Thränen
Vronis!

Ja, sie fielen auf seine Wange. Er erwachte, sah Vroni, lächelte, dann
fielen ihm die Augen müde wieder zu und er träumte weiter.

Als ein wackerer Mann hatte sich der Garde des verlorenen Sohnes
erbarmt, der wiedergefunden war. Er schlachtete zwar kein Kalb zu seinen
Ehren, aber er beruhigte die Gardin, die über den unerwarteten
Familienzuwachs ungehalten war.

»Hätte Fränzi zehn Kinder gehabt, ich glaube, du würdest mir alle zehn
an den Tisch bringen -- sind wir eigentlich das Waisenhaus von St.
Peter?«

Sie war kein unbarmherziges, sondern ein zu Wohlthaten für andere
geneigtes Weib, das keinen Vorwurf der Härte auf sich kommen ließ, aber
Josi litt sie nicht wohl. Seit man ihn gereinigt und ihm das Haar
geschnitten hatte, war er in aller Verelendung, mit seinem blutroten
vernarbenden Riß über die Wange, der hübschere Bursche als Eusebi. Und
doch hätte sie auf der Welt nichts Lieberes gehabt als einen eigenen
schönen Sohn, als ein ganzes Haus voll schmucker Kinder, Knaben und
Mädchen. Heimlich neidete sie nicht nur alle Frauen, die hübsche Kinder
besaßen, sondern auch der Anblick fremder schöner Jugend bereitete ihr
Herzeleid.

»Aber Frau, siehst du nicht, wie Eusebi wächst und erwacht? Nimm den
Segen nicht mit unchristlicher Rede von ihm. Ich habe eine Hoffnung, die
ist so groß, daß ich sie nicht verraten darf,« mahnte der Garde.

»Thun wir nicht genug an Vroni?« fragte die Frau.

»Was genug ist, weiß der Herrgott -- ich meine, bis er wieder ganz
gesund ist, bleibt der arme Bursche da.«

Murrend fügte sich die stolze Garden.

Vor dem Haus saß Josi auf dem Dengelstein, er sonnte die sich
kräftigenden Glieder und ein unsägliches Glück summte in seinem Kopf.
Der Garde hatte sehr ernst und väterlich mit ihm geredet. Alles hatte er
ihm bekennen müssen, was er das Jahr lang als Rebell erlebt hatte. Dann
hatte er ihm in die Hand versprochen, daß er sein Leben lang nie mehr
mit Kaplan Johannes verkehre und dem Presi nichts nachtragen wolle.

»Nein -- nein,« versicherte Josi, er war ja überglücklich, daß er durch
den Streich des Presi wieder unter die rechten Menschen gekommen war.

So viel war der grausame Hieb schon wert.

Da schlarpte der letzköpfige Pfaffe heran und redete dem Burschen, der
in einem hübschen Kleid aus einem alten Sonntagsgewand des Garden
steckte, schmeichelnd zu: »Du liebes Söhnchen, komme mit mir -- bei
Fegunden baue ich eine Einsiedelei -- du bist es mir für den Winter
schuldig, daß du mir sommersüber Krystalle suchst. Im Herbst will ich
dich loslassen.«

»Gebt Euch keine Mühe, Johannes, mit Euch bin ich fertig,« erwiderte
Josi, den Blick verachtungsvoll von seinem Peiniger wendend.

Da wütete der Schwarze gräßlich: »O du räudiges Schaf -- du Lügner -- du
teuflischer Judas. -- Deinetwegen werde ich aus St. Peter vertrieben --
Du Satansaas! -- du vom Teufel Gezeichneter -- du ekliger Dämon! -- ich
weiß es, du liebst den Balg des Presi noch, aber auf des Teufels
Großmutter reite ich, wenn ihr die Hände nacheinander streckt, zwischen
euch; meine weiße Seele werfe ich dafür hin, daß ihr nie zusammenkommt.«

Josi lächelte über die Ohnmacht des Tobenden: »Thut, so wüst Ihr wollt,
ich glaube nicht an Eure schwarze Kunst.«

Mit entsetzlichen Flüchen ging der Kaplan. Josi lächelte immer noch
verträumt in sich hinein. In die Schläfrigkeit der Genesung gaukelten
die lieblichsten Bilder: Binia und Vroni! -- Vroni und Binia! Es war
ihm, als habe die Begegnung mit Binia im Teufelsgarten allen seinen
Gedanken eine andere Richtung gegeben, sein Wesen mit Licht übergossen.

Wie ein Engel war sie in den dunklen Kreis seines Elends getreten, er
schämte sich, daß er sie so viele Jahre in seinem Herzen nie anders als
die »Giftkröte« genannt hatte. Er sann allerlei schöne Namen aus für
sie. Glich sie nicht jenem leuchtenden Krystall, den man Tautropfen
nennt?

»Tautröpfchen, Tautröpfchen, du liebes, wo bist du jetzt?«

In seiner Brust brannte das Mitleid mit der, die seinetwegen aus dem
Thale hatte gehen müssen.

Der Garde hatte ihn zwar eindringlich gemahnt, daß er sich jeden
Gedanken an Binia aus dem Kopf schlage, das sei überspanntes Zeug, aber
ihm klang es immer in den Ohren: »Wenn du keinen Fetzen auf dem Leib
hättest und noch zehnmal mehr Läuse auf dem Kopf -- o Josi -- ich liebte
dich doch.« Das rauschte wie Orgelton durch seine Sinne; wenn es auch
der Garde nicht ausdrücklich gewünscht hätte, so hätte er es schon um
Binia gethan: er sagte keinem Menschen, woher der häßliche rote Strich
auf seiner Wange kam.

Dafür mußte er es freilich dulden, daß ihn jeder, der des Weges ging,
mit neugieriger Scheu betrachtete und die Leute von St. Peter es
einander zuraunten: »Seht, der Kaplan Johannes hat doch recht, der
Teufel hat den Rebellen gezeichnet, damit er ihn kennt, wenn er ihn
holen kann.«

Die Geschichte machte dem Garden schwerer{7} als Josi selbst. Mit
gelassener Ruhe suchte er für den Burschen bei rechtschaffenen Leuten
einen neuen Dienst, erhielt aber überall ausweichenden Bescheid: »Ja,
als er zu Bälzi kam, hätten wir ihn auch genommen, aber jetzt --man weiß
nicht, was er in dem Jahr aufgelesen hat und einem ins Haus bringen
würde. Und hat er nicht St. Peter anzünden wollen?«

Doch forderte wenigstens niemand mehr, daß man ihn ins Gefängnis werfe.
Den breiten, schwerfälligen Garden aber hielt das Dorf für einen
gutmütigen Narren.

Der obdachlos gewordene Kaplan Johannes ging erst aus der Gemeinde, als
man ihn bei knappstem Futter einige Tage eingesperrt hatte. Sein
Abschied waren gräßliche Flüche auf den Presi: »Holt der Satan nicht
ihn,« schwor er mit rollenden Augen, »so holt er sein Kind.«

Der Presi hatte aber genug Arbeit mit den Fremden, die wieder nach St.
Peter kamen und mit fröhlichem Lachen durch das Bergthal schweiften --
Schweizer, Deutsche, Franzosen und -- der erste Engländer. Auf diesen
war er besonders stolz, erst die Engländer gaben seiner Meinung nach
einer Sommerfrische die Vornehmheit, die man sich wünschte.

Ein Lord war nun freilich George Lemmy nicht, aber -- was fast
ebensoviel bedeutete -- ein Ingenieur der britischen Regierung in
Indien.

Er war bergsteigermäßig gekleidet, trug Nagelschuhe, grünwollene
Strümpfe mit gewürfeltem Muster, graue Kniehosen, graue Jacke und grünen
Filz. Er war ein Dreißiger mit blondem, kurzgeschnittenem, zugespitztem
Bart, gelblichem, ausgemergeltem Gesicht, prachtvollen Zähnen, ein Mann
von beinahe schwächlichem Körperbau, aber von überraschender Energie des
grauen Auges und der Haltung. Er wußte immer genau, was er wollte, und
setzte es mit einer gewissen Schärfe durch. Und als der Presi die
wissenschaftlichen Apparate sah, die sich George{8} Lemmy nachführen
ließ, galt es ihm für ausgemacht, daß er ein Besonderer sei.

»Nun, Herr Bärenwirt, hätte ich gern einen vertrauenswürdigen Mann oder
Burschen, der nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, als Träger und
Begleiter.« Der Engländer sprach sein Deutsch gut, wenn auch mit stark
englischer Betonung.

Der Presi stellte ihm den lustigen Thöni Grieg zur Verfügung. George
Lemmy pfiff eine Melodie vor sich her und maß den Burschen mit einem
scharfen Blick: »Well, ich will ihn prüfen!« Aber am dritten Tag kam er
wieder: »Ich mag Thöni nicht, er schwatzt mir zu viel, er ist
eingebildet wie ein Hahn und schwindelt, daß die ganze Geographie dieser
Gegend ins Wanken kommt.«

Da machte der Presi ein langes Gesicht: Was verstand der frisch
angekommene Engländer von der Gegend? Er wagte einige Einwendungen, man
sei mit Thöni bis jetzt immer zufrieden gewesen, der Ingenieur aber
schlug seine Karten auf und erklärte dem Presi die Aufschneidereien
Thönis mit Heftigkeit.

Der Presi stand und that so, als ob er auch etwas von den Karten
verstände, und seufzte verlegen.

»Ich will mir selbst einen Mann suchen.« Damit klappte der Ingenieur die
Karten zusammen. Er hatte sich beim Presi in einen großen Respekt
gesetzt, Thöni aber, der sonst so aufgeblasene junge Herr, schlich herum
wie ein gezüchtigter Hund. Er wußte es schon, wie oft er die Fremden mit
den tollsten Angaben beschwindelt hatte. Jetzt war er an den Unrechten
geraten. Und der Presi sah's kommen: Sein erster Engländer fand in St.
Peter keinen, der mit ihm ging -- er reiste wieder ab.

Nein, nach einer Stunde kehrte der Ingenieur zurück, pfiff vor sich her
und lachte befriedigt: »Ich habe ihn schon -- habe ihn schon« -- und
rief Josi Blatter, der etwas zögerte, vor dem Presi zu erscheinen,
lustig zu: »Komm, zeige dich, Boy!«

»Teufel auch,« knirschte der Bärenwirt leis, und als er die rote Narbe
auf der Wange des Burschen sah, ging ihm doch ein Stich durch die Brust.

»Josi, ist der Garde auch einverstanden, daß Ihr Bergführer werdet?«

Josi war über zweierlei verwundert, über den freundlichen Ton, den der
Presi anschlug, und darüber, daß er ihn mit »Ihr« anredete. Er stotterte
es beinahe: »Ja, ich finde halt sonst nichts zu thun.«

So war's! Mit schwerem Herzen hatte der Garde, als die Augen des Jungen
hoffnungsvoll aufflammten, eingewilligt, daß er mit dem Fremden gehe.
Nur aus bitterer Verlegenheit, nur weil sich niemand des Burschen
annehmen wollte, weil die Gardin stets über den ungebetenen Kostgänger
murrte, obgleich der kaum Wiedergenesene überall tüchtig zugriff, wo er
etwas zu thun sah.

»Was denkt das Dorf? -- Wohl, er, er, der Garde, helfe mit am
Hudligwerden!«

Als der Presi den Bescheid des Garden hörte, lächelte er sonderbar
befriedigt, aber Josis Gesicht verfinsterte sich, er erriet, was sein
Gegner dachte, und der Engländer mit den stechend klugen Augen merkte,
daß die beiden übers Kreuz standen. Lustig sagte er: »Bitte, besorgen
Sie meinem Boy ein Nest, er kann, wo er bis jetzt gewohnt hat, nicht
bleiben. Haben Sie im Bären einen Schlupf für ihn?«

Das war nun dem Presi doch zu viel. Er ging zu den armen Leuten, die in
Josis Vaterhaus wohnten, und mietete dort für den Burschen das
Dachkämmerchen, in dem er zu Lebzeiten seiner Eltern geschlafen hatte.
Ein saurer Gang, aber der Presi wollte es mit dem Garden, der das
Häuschen und den Acker verwaltete, nicht ganz verderben und der grollte
ihm wegen Josi schwer.

Als er zurückkam, meinte Thöni eifersüchtig: »Ihr werdet es doch nicht
zugeben, daß der Rebell Führer wird!«

Da schnauzte ihn der Presi an: »Ich glaube, daß der eher auf einen
grünen Zweig kommt als du.«

Thöni hatte seine Schwächen. Das wußten nicht nur der Bärenwirt und
seine Frau, sondern bald auch die Gäste. Die Damen, die in der
Sommerfrische waren, trieben häufig ihren heimlichen Ulk mit dem
fröhlichen Jungen, indem sie seine kleinstädtische Galanterie
herausforderten und dann mit ihrem Spott über ihn fielen.

Das brachte den Wirtsleuten manchen stillen Aerger und oft donnerte der
Presi: »Herrgott, Thöni, so ziehe doch einmal die Bubenschuhe aus. Du
bist ja der Narr aller.«

Dann stellte sich der schöne Thöni einige Tage beinahe hochmütig gegen
die Fremden, aber er erlag ihren Schelmereien immer wieder.

Jetzt merkte er erst, wie wild der Presi über seinen Mißerfolg bei dem
Engländer war, und nachdem er zuerst mit dem größten Hohn auf Josi
Blatter gesehen, haßte er ihn. Eines nur ließ ihn den Engländer leicht
verschmerzen, die Lasten, die er dem Rebellen zu tragen aufbürdete!

Jeden Morgen erwartete Josi seinen Ingenieur und schleppte ihm die
Instrumente, insbesondere den photographischen Apparat, nach. George
Lemmy photographierte, indem er dazu fortwährend pfiff, Berge, Häuser,
Bäume, Viehgruppen, spielende Kinder. Selten aber sprach er ein
überflüssiges oder gar ein freundliches Wort zu seinem Gehilfen, doch
gab es in seinem Verkehr so viel Neues zu sehen, daß Josi das Leben
überaus kurzweilig erschien. Er lernte die Instrumente handhaben und die
Furcht, sein Herr würde ihn eines Tages entlassen, verschwand vor dem
beglückenden Gefühl, daß er ihm nützlich sei.

Freilich, hart genug ließ es ihm der Ingenieur werden, doch just, wenn
er mit den letzten Kräften noch aushielt, indem er an die guten Vorsätze
dachte, die er in der Einsamkeit seines Rebellentums gefaßt hatte,
lächelte sein Herr: »Boy, ich glaube, wir arbeiten gut zusammen.«

George Lemmy war einer von denen, die mit sich selbst und anderen erst
zufrieden sind, wenn sie von der Mühe des Tages am Abend
zusammenbrechen.

Eines Tages drohten ihm die von St. Peter, sie würden ihm die
Bildermaschine zusammenschlagen, wenn er sie und ihre Häuser damit nicht
unbehelligt ließe; nun war er wütend über die »Pfahlbauern«, wie er sie
nannte, und sein Zorn wuchs noch, als der Presi, der »Oberpfahlbauer«,
erklärte, er könne ihn nicht schützen, man müsse die von St. Peter
nehmen, wie sie seien.

Abreisen! -- Allein George Lemmy war verliebt in das Glotterthal und
wandte nun seine Aufmerksamkeit den heligen Wassern zu. Ihretwegen war
er ja eigentlich ins Thal gewandert.

Er war von Bräggen im Oberland nach Hospel gekommen und hatte dort
zufällig ein überraschendes Volksbild erlebt. Ein Ausrufer gab unter
Trommelschlag den Leuten, die aus der Kirche strömten, bekannt, daß die
Versteigerung eines »Baches« stattfinde. Neugierig schaute er zu, wie
sich die Bauern in ihren halbleinenen Hosen und roten Westen sammelten,
wie die Frauen, Mädchen und Buben sich in ihren malerischen Trachten an
die blumenumsponnene Kirchhofmauer lehnten, auf der Straße der
Präsident, der Garde und der Schreiber von Hospel Stellung nahmen und
einen von den hundert Fäden, in die sich die heligen Wasser beim Flecken
teilen, für den Sommer versteigerten. Sie schlugen ihn dem
Meistbietenden zu, der damit das Recht erlangte, den Faden Woche um
Woche während drei Tagen zu benutzen. Jedes Angebot malte der Schreiber
mit großen Zahlen an ein Scheunenthor, damit jedermann ein klares Bild
vom Gang der Steigerung erhalte, und aus dem Eifer, mit dem die Bauern
boten, spürte der Ingenieur, wie wichtig ihnen der Besitz des Wassers
sei. Bei der Gasttafel sprach er mit dem Kreuzwirt darüber: »Warum
versteigert man das Wasser nur für die ersten Tage der Woche?« -- »Nach
einem alten Gesetz gehört es Donnerstag, Freitag und Samstag jedermann,
also den Armen.« Und sie redeten von den heligen Wassern so lange, bis
den Ingenieur eine große Neugierde dafür gefaßt hatte.

Jetzt studierte er sie. Er maß und photographierte ihren Einlaß am
Gletscher, folgte den Känneln, bestimmte an vielen Stellen zwischen St.
Peter und Hospel die Wärme des Wassers, merkte sich die Gefälle, die
Wassermengen, die durchflossen, verpfropfte zahlreiche Wasserproben und
zeichnete draußen in den Reben von Hospel die geeichten eisernen
Schaufeln und Scheiben, mit denen die Winzer die Verteilung des Wassers
besorgen.

Josi verstand nicht alles und sah den Zweck nicht für alles ein, was der
Ingenieur that, aber er spitzte die Ohren und hörte es gerne, wenn
George Lemmy über die heligen Wasser sprach.

Der Engländer forschte nach hundert kleinen Dingen, und wenn ihn die
anderen Gäste foppend fragten, ob er denn nicht mehr von der großen
Klapperschlange loskomme, antwortete er lachend: »Lassen Sie mich. Sie
ist ein merkwürdiges Stück Bauerngenie, ein Riesenlaboratorium der
Natur. Hier meine chemischen Ergebnisse: Die Leitung führt in ihren
Wassern jede Woche hundert Zentner Schlamm, darunter zehn Pfund reine
Phosphorsäure, sieben Pfund Kali und hundertfünfzehn Pfund Bittererde.
Stattliche Düngerfabrik, was? Und der analytischen Wertung entspricht
die praktische Erfahrung. Drüben am Hochpaß haben Sie die
Wässerwasserfuhre der Lissa. Als vor zwanzig Jahren ein Erdbeben sie auf
weite Strecken zerstörte, konnte, wie amtlich belegt ist, die
Berggemeinde Zuenzirbeln bald nur noch fünfzig Stück Vieh erhalten,
während vorher zweihundert reichliche Weide auf ihrem Gebiet gefunden.
So giebt es genug Nachweise, daß die sonnenwarmen Gletscherwasser den
Ertrag des Bodens verdrei- und verfünffachen. Lassen Sie also die
Heligen ruhig klappern -- ich erwäge sogar ernsthaft, ob ich der
britischen Regierung nicht vorschlagen will, daß sie vom Himalaja
herunter in benachbarte Distrikte Indiens ähnliche Leitungen baue.«

Wörter, die Josi nie zuvor gehört, schwirrten ihm im Verkehr mit dem
Ingenieur um den Kopf und die heligen Wasser schienen ihm, seit sich
George Lemmy damit beschäftigte, selber viel wunderbarer als je zuvor.

Eines Tages schritt er mit George Lemmy den schwindligen Weg über die
Kännel an den Weißen Brettern, und mit Staunen sahen Einheimische und
Fremde die beiden Akrobaten an den schimmernden Wänden.

Josi war es ein unvergeßlicher Tag. Als er an der Stelle stand, wo sein
Vater gestürzt war, pochte sein Herz in der Brust, und als sie in der
Mitte des schrecklichen Pfades, das in leichten Dunst getauchte Thal
tief unter sich, eine Viertelstunde ruhten, da ging ihm der Mund über
und er erzählte dem Ingenieur das Leiden und Sterben des Vaters.

George Lemmy sagte auffallend wenig dazu, er war und blieb der trockene
Engländer. Aber Josi fühlte doch seinen Blick der Teilnahme. Erst als
sie aufstanden, meinte Lemmy fast scherzhaft: »Josi, neunzehnjähriger
Boy, werde Ingenieur und führe die Leitung sicher durch die Felsen. Es
giebt jetzt in unserer Wissenschaft Mittel genug, daß man auch diese
Schlange zähmt. Nicht wahr, das wäre ein Streich für die Pfahlbauer von
St. Peter, wenn es keine Wasserfron mehr gäbe.«

Ein jähes Feuer flammte aus den Augen Josis.

Er schwieg, aber vor Erregung konnte er auf der zweiten Hälfte des
schmalen Weges fast nicht gehen.

Als sie am Abend ins Dorf zurückkamen, schlang Vroni die Arme um den
Bruder: »O, was die Leute sagen! Weil du unnötig über die Kännel an den
Weißen Brettern gegangen bist, so habest du für die nächste
Wassertröstung das Los auf dich gezogen.«

Da lächelte Josi kühl geheimnisvoll: »Die Leute sagen, wenn der Tag lang
ist, viele Thorheiten -- aber ich glaube selbst, daß ich einmal wie
unser Vater selig an die Weißen Bretter steigen muß.«

Vroni sah ihn erbebend an: »Josi, du bist früher ein so artiger lieber
Bub gewesen, und jetzt bist du ein so Besonderer worden, so ein
Geheimnisvoller, daß es mir bald wie den anderen Leuten geht, daß ich
dich zu scheuen und zu fürchten anfange.«

»Sei nicht so närrisch, Vroneli,« schmeichelte Josi und blickte zufällig
nach den Firnen der Krone.

»Am Ende gehst auch noch dort hinauf, wo die armen Seelen hausen! Josi!
Versprich es mir, daß du es nicht thust. Denke an den seligen Vater,
denke an die selige Mutter!«

Je inniger das Mädchen flehte, um so finsterer zog der Bruder das
Gesicht: »Alle Tage denke ich an sie, aber wenn George Lemmy es wünscht,
so gehe ich mit ihm auch auf die Krone. In jedem folge ich ihm.«

»Dann stürzest du dich ins Unglück,« jammerte das Mädchen. Josi aber
schritt mit einem nachdenklichen Lächeln in sein Nachtquartier.

»Was man doch um einen so lieben Bruder für Kummer hat!« Vronis schöne
blaue Augen wurden trüb. Als indessen der Anteil des fremden Ingenieurs
auch stark für die Sagen erwachte, die um die heligen Wasser gingen, und
ihn Josi, der im Erzählen nicht besonders gewandt war, zu ihr führte,
da hatte sie ihre helle Freude an dem aufmerksamen Zuhörer.

Bei Vroni saß der Fremde an der vollen Quelle. Dem Bruder zuliebe
besiegte sie die Scheu vor ihm, und dem Ingenieur gefiel das blonde
schöne Mädchen, das seine Geschichten in der vollklingenden alten
Sprache des Thales erzählte, ausnehmend gut.

Er behandelte es mit Auszeichnung. »Ein Brigante wie du bist, hat so ein
Edelweiß zur Schwester!« scherzte er zu Josi.

»Und also fügt es Brauch und Gesetz,« erzählte sie mit errötenden
Wangen, die Hände über das Knie geschlagen, »wenn ein Jungknabe ein
Mädchen lieb hat und will mit ihm ein eigenes Feuer machen, so mag er
sich beim Garden melden, daß er ihm einen Sommer lang in der Bestellung
der heligen Wasser zudiene und in der Wasserpflicht erfahren in den
Stand des Hausvaters trete.

»Wenn ein Jungknabe, der Knechtlein oder sonst geringen Standes ist, ein
Mädchen liebt und es vom Vater nicht erlangen kann, mag er die Liebe dem
Garden darlegen und glaubhaft darthun, daß die Jungfrau einer Seele mit
ihm sei, und legt er vor dem Garden und der Gemeinde das Gelübde ab, daß
er beim nächsten Leitungsbruch an die Weißen Bretter steige, so soll der
Gemeinderat Freiwerber für ihn werden. Will aber der Vater des Mädchens
nicht einwilligen, so sollen die Nachtbuben und wer will unstrafbar den
Lauf haben, ihn und sein Haus zu verhöhnen und dem Werber zu helfen, bis
der Vater die Jungfrau dem Jungknaben giebt.«

Josi brannte das Gesicht, unruhig vor innerer Bewegung hörte er zu,
obgleich er die Satzungen schon kannte.

Vroni sah es wohl. »Wegen Binia,« dachte sie.

Die Freude des Ingenieurs an Josi wuchs und er befreundete sich auch mit
dem Garden.

Eines Tages erfuhren die Geschwister aus dem Gespräch der beiden, wer
George Lemmy eigentlich sei. Er habe zuerst, erzählte er, an einer
Hochschule in England, dann zwei Jahre in der deutschen Schweiz studiert
und auf sommerlichen Exkursionen die Bergwelt lieb gewonnen. Später sei
er nach Indien gegangen, wo schon sein Vater Kolonialbeamter gewesen,
und dort baue er im Auftrag der Regierung Straßen und Eisenbahnen. Das
Klima sei aber unzuträglich, und nachdem er fünf Jahre in dem heißen
Land gearbeitet habe, sei er genötigt gewesen, längeren Urlaub zu
nehmen. Den Sommer verbringe er jetzt im Gebirge, doch nicht bloß, um
die Schönheiten des Landes zu genießen, sondern auch um einen oder zwei
tüchtige Bergführer anzuwerben. Er brauche die Leute als Pioniere beim
Bau von Straßen, die man bedürfe, um die kleinen wilden Gebirgsvölker,
welche die indische Nordgrenze unsicher machen, besser bekämpfen zu
können. Ein Führer, den er von früher her kenne, sei schon geworben,
Felix Indergand zu Bräggen, und im Herbst wollen sie gemeinsam nach
Indien reisen.

»Felix Indergand kenne ich von manchem Markt, das ist ein
rechtschaffener und einsichtiger Mann,« sagte der Garde. »Da habt Ihr
einen Tüchtigen geworben.«

»Und wenn ich nun auch den zweiten hätte,« antwortete Lemmy.

Josi taumelten die Sinne, Tag und Nacht dachte er nichts anderes, als ob
wohl George Lemmy nicht ihn einladen würde, mit ihm nach Indien zu
gehen. Was würde er dann thun? Ein freudiges »Ja!« würde er ihm
zujubeln. St. Peter war für ihn doch kein Boden mehr und kein Glück. Was
sollte er im Dorf beginnen, wenn der Ingenieur wieder abgereist war?

Vroni ahnte die Pläne des Bruders. Als Josi eines Tages freudvoll zu ihr
gestürmt kam, fragte sie erschreckt: »Hat dich Lemmy nach Indien
angeworben, daß du so rote Wangen hast?«

»Nein,« erzählte er hastig, »aber weißt du, wo Binia ist, ich weiß es!
Der Knecht des Fenkenälplers war mit einer Viehherde im Welschland. Da
hat er sie gesehen, wie sie mitten unter Klosterschülerinnen ging. Das
Kloster heißt Santa Maria del Lago und liegt an einem schönen See.
Denke, er hat mit ihr geredet, aber es war eine Nonne dabei -- Bini läßt
dich und mich grüßen!«

Josis Augen strahlten, der Gruß war für ihn eine Welt voll Sonne.

Nun hoffte Vroni, der Gedanke an Binia werde Josi in St. Peter
zurückhalten, aber -- blieb er, so stieg er wohl bei der nächsten besten
Gelegenheit für Binia an die Weißen Bretter und fiel wie der Vater zu
Tode.

Die Kunde, daß Binia im Kloster Santa Maria del Lago jenseits des
Hochpasses sei, erregte im Dorf große Verwunderung, namentlich als man
von Hospel aus erfuhr, die besondere Thätigkeit der Nonnen der frommen
Anstalt sei die Besserung solcher Mädchen aus wohlhabenden Familien, die
sich irgend einen leichtsinnigen Streich hatten zu schulden kommen
lassen oder auf deren Lebenswandel ein Makel lag. Fast mit Schaudern
sprach man von den grausamen Mitteln, welche die frommen Damen
anwenden, um ihre wilden Zöglinge zu zähmen, die Dunkelzelle, das
genagelte Scheit, auf das die Sünderinnen so und so viel Stunden knieen
müßten, den Hunger, das Nichtschlafenlassen, das Bespritzen mit kaltem
Wasser.

Um so mehr erregte der Aufenthalt Binias an diesem Ort Aufsehen in St.
Peter. »Was hat sie verbrochen?« -- Darüber grübelte man, und dann löste
die alte Susi in Tremis den erstaunten Dörflern den Knoten: »Binia und
Josi Blatter haben vom Kaplan Johannes den bösen Segen empfangen, daß
sie nicht voneinander lassen können. Jetzt wird sie im Kloster enthext.«

Da man nichts Besseres wußte, so glaubte man der Erzählung der Alten. Um
so mehr, als der Kaplan, der von seinem Fuchsbau an der Berghalde von
Fegunden aus immer etwa heimlich nach St. Peter kam, die Thatsache nicht
in Abrede stellte, sondern nur geheimnisvoll lächelte und die lodernden
Augen vielsagend spielen ließ.

Nun sah man den Rebellen, der auf einer Wange das Zeichen des Teufels
trug, erst recht mit scheelen Blicken an.

Dem Presi lag es schief, daß der Aufenthalt Binias bekannt geworden war,
ein Schatten fiel damit auf die Hausehre, obgleich es um das Kloster
nicht so schlimm stand, wie die Dörfler erzählten. Wäre er nur den
Warnungen des Kreuzwirtes in Hospel gefolgt! Von Anfang Sommer bis jetzt
war in quälender Gleichförmigkeit die Frage: »Wo ist denn Ihre alpige
Rose, Ihr Herzensmädchen?« Tage um Tage, Stunde um Stunde wiedergekehrt.
Dazu Ausdrücke des Bedauerns, die man nur mit Lügen beantworten konnte.
Und ihm selbst fehlte sie, die zärtliche Maus, das Vögelchen mit den
dunklen Augen, in denen eine so wunderliche Welt schimmerte. Die
Berichte der Priorin von Santa Maria del Lago über Binia lauteten auch
nicht sonderlich. Sie bete alle Tage zwei Stunden mit einer Schwester
für ihre Besserung, aber das Kind sei klug wie eine Schlange, so weit es
ohne Strafe durchschlüpfen könne, sei es immer bereit, sich über die
Nonnen lustig zu machen. Und im Hintergrund der Briefe versteckt sah der
Presi einen frommen Drachen, der auf eine Novize lauerte wie der Teufel
auf eine Seele.

Nein -- nein, siebenmal nein! Keine Braut des Himmels wollte er, nein,
er selber wollte sich freuen an seinem lieben Vogel, an dem zärtlichen
Kind.

Eher als den Nonnen gäbe er sie Josi Blatter, dem Rebellen.

Aus Empörung über die sonderbare Liebeserklärung, deren Zeuge er im
Teufelsgarten gewesen war, hatte er Binia in der Meinung fortgeschafft,
daß sie das siebzehnjährige Köpfchen schon breche, wenn sie den
furchtbaren Ernst seines Willens sehe. Das war wohl nötig, denn Binia
und Josi Blatter kamen jetzt in das Alter, wo der Ernst des Lebens
beginnt.

Dieser verfluchte Rebell! Er, den man schon tot gesagt hatte, lebte so
gesund. Jeder andere wäre in dem furchtbaren Jahr der Einsamkeit zu
Grunde gegangen, aber gerade er nicht, sondern er ging jetzt so
tröstlich mit seinem Engländer, als hätte er nie etwas anderes gethan.
Und merkwürdig, dachte der Presi, von dem Peitschenhieb, den er auf
seine Wange geführt, weiß im Dorf kein Mensch ein Wort. Der Bursche
schwieg auf alle Fragen, woher die Narbe komme, wie das Grab, und
ertrug es mit lachendem Mund, wenn die Leute sagten, der Hinkende habe
einen Hufstreich in sein Gesicht geführt.

Dieses Benehmen verwirrte den Presi. Ihm war manchmal, er müsse Händel
mit dem Burschen anfangen, der schlank und gerade wie ein Bolz
heranwuchs, das Nächstliegende mit klugem Auge erfaßte, seine
Tagesarbeit mit zäher Ausdauer that und sich sonst nicht um die Welt
scherte. Den könnte man, dachte er, töten und begraben, am Morgen aber
stände er wieder da in blühender Lebendigkeit und schaute, wenig redend,
doch alles überlegend, mit seinem gescheiten Gesicht um sich.

Ausnehmend gut gefiel Josi der Frau Cresenz. »Merkt Ihr nicht,
Präsident, daß das einer ist, der einmal euch allen in St. Peter über
den Kopf wächst? Ich würde den alten Span, an dem nichts ist, ruhen
lassen und zöge den Vorteil gegen mich. Stellt Josi Blatter als Führer
ein, wir machen Staat mit ihm.«

»So, Präsidentin!« donnerte darauf der Bärenwirt, »dürfen mir die Gäste
nicht mehr selber sagen, was sie für thörichte Wünsche aushecken -- müßt
Ihr ihnen als Fürsprecher dienen? Gott's Wetter, da wird kein Heu dürr.
Wo habt Ihr den Verstand?«

Eines Tages aber entstand in St. Peter ein großer Auflauf von
Einheimischen und Fremden. Auf der Spitze der Krone sah man zwei
schwarze Punkte -- zwei Bergsteiger! »Der Engländer und der Rebell,«
rieten die Leute gleich, »es sind gewiß keine anderen.« Was im Thal an
Fernrohren aufzutreiben war, richtete sich auf den in erhabener
Einsamkeit schwebenden Gipfel des reinen Firns. Seit vor fünfunddreißig
Jahren jener Naturforscher ins Thal gekommen und von der Krone über die
Schneelücke nach St. Peter niedergestiegen war, hatte niemand mehr die
wunderbare Spitze betreten. Von den Schleiern der Armenseelensage
geheiligt schien sie den Menschen nichts weiter zu sein als ein
göttlicher Altar des Lichtes, auf dem der Morgen und der Abend ihre
Fackeln anzündeten, die Sterne in bleicher Mitternacht ruhten und arme
Seelen sich büßend auf die Freuden des Paradieses vorbereiteten.

Jetzt war der Bann gebrochen. Die Fremden jubelten, sie schwangen den
Kühnen zum Gruß mächtige Tücher und sahen durch die Ferngläser, wie die
zwei Männchen auf der Spitze die Grüße erwiderten. »Ein patenter
Bursche, dieser Boy des Ingenieurs!« widerhallte es im Bären.

Die Frauen von St. Peter aber jammerten und die Männer tobten: »Jetzt
ziehen die armen Seelen aus, das Dorf muß untergehen, wäre doch der
Rebell im letzten Winter erfroren, der bringt Unglück über das ganze
Thal.«

Die furchtbare Erregung wuchs, einzelne, die meinten, die Strafe des
Himmels breche sofort herein, rüsteten ihre Siebensachen zum Auszug,
andere stürmten zur Kirche: »Läutet die heiligen Glocken, damit die
armen Seelen bleiben.«

Der Pfarrer, der nicht an die Abgeschiedenen im Eise glaubte, erhob
Einsprache -- umsonst -- die Glockenklänge rauschten durchs Thal und
vermehrten die Verwirrung.

»Haben die von St. Peter schon wieder einen Heiligen zu verehren, den
niemand kennt als sie?«

So fragten die Fremden verwundert, der Presi und Frau Cresenz aber gaben
ausweichenden Bescheid.

Vroni weinte herzlich: »Nun ist er doch gegangen!«

Als die beiden Bergsteiger in der Abenddämmerung todmüde, aber mit
erhobenen Häuptern in das Dorf schritten, da ballten sich die Fäuste und
die Zurufe der erzürnten Dörfler schwirrten an Josis Ohr: »Du
Teufelshund -- wärst du doch im letzten Winter beim Kaplan verreckt!«

Und hinter den Häuserecken hervor flogen die Steine um die Köpfe der
beiden.

Der Presi und der Garde gingen ihnen entgegen, beruhigten die
schimpfenden Aelpler und Bauern, und ihrem Ansehen gelang es, die
Tollkühnen, ohne daß sich die von St. Peter an ihnen vergriffen, in den
Bären zu führen.

Da bereiteten die Gäste, die eben an der Tafel saßen, den Bergsteigern
einen begeisterten Empfang -- besonders Josi.

George Lemmy nahm den Vorfall von der fröhlichsten Seite, mit dem Humor
seiner Rase fand er, es sei merk- und denkwürdig, ein solches Abenteuer
erlebt zu haben.

»Bub! -- Unglücksbub! -- was hast du angestellt? -- du bist ja deines
Lebens nicht mehr sicher im Dorf, komm morgen zu mir, wir wollen
beraten, was zu thun ist,« knurrte der Garde und ging, nachdem er noch
mit dem Presi abgeredet hatte, daß Josi zur größeren Sicherheit im Bären
schlafe, mit tiefbekümmertem Gesicht.

Seine Worte klangen Josi, obgleich ihn die Kletterei fast zu Tode
erschöpft, die ganze Nacht in den Ohren wie die Posaunen des Gerichts.

»Vater -- Mutter,« jammerte er in sich hinein, »was habe ich thun
können, als mit meinem Herrn gehen.« Mit zerschlagenen Gliedern und
matten Sinnen erschien er am Morgen vor dem Ingenieur.

»Ich komme mit dir zum Garden!« lachte der gutgelaunt.

Der Presi sah, auf der Freitreppe stehend, den beiden nach. Er wollte
sich wegen der kühnen Bergbesteigung in einen großen Zorn auf Josi
Blatter hineinreden, aber es gelang ihm nicht, der Mut des Burschen
zwang ihn zu heimlicher Hochachtung vor ihm und er dachte an das Wort
der Frau Cresenz: »Das ist einer, der euch allen in St. Peter über den
Kopf wächst,« er dachte an Binia -- und seufzte.

Am Nachmittag kam der Garde in den Bären und saß mit dem Presi lange im
oberen Stübchen.

»Ich habe mit dem Pfarrer geredet,« berichtete der Garde, »er will die
Leute, indem er von Haus zu Haus geht, zur Ruhe mahnen und am Sonntag
einen Spruch, daß der Glaube an die armen Seelen im Eis eine wahrer
Frömmigkeit widersprechende Thorheit sei, in die Predigt flechten. Ich
aber mache mir eine Todsünde daraus, daß ich Josi mit dem Ingenieur habe
gehen lassen.«

»Er ist ein Satan, der Rebell,« lachte der Presi, »ich fürchte, er ist
bald nicht mehr zu bändigen -- das kommt, weil Ihr ihn immer beschützt.«

»O, ich habe ihm heute vor dem Ingenieur das Kapitel verlesen wie noch
nie, aber nicht mit gutem Gewissen, Ihr und ich, wir sind verantwortlich
für ihn und sein Thun. -- Ihr von lange her -- ich, seit ich ihm
gestattet habe, daß er mit George Lemmy gehe. -- Im übrigen giebt es
eine Aenderung im Leben Josi Blatters -- ladet auf den nächsten
passenden Tag den Gemeinderat ein. -- George Lemmy, der Ingenieur, will
ihn mit nach Indien nehmen. Wie ich den Burschen so recht in die Zange
gefaßt habe, hat mich der Engländer lachend unterbrochen: 'Unnötige
Mühe!' eine Lobrede auf Josi gehalten und bestimmt erklärt: 'Ich nehme
ihn mit mir!'«

»Nach Indien!« Der Presi schoß auf. Hundert Gedanken kreuzten sich in
seinem Kopf, am vernehmlichsten der: »Endlich von einem Alpdruck
erlöst!«

Er beruhigte sich aber und sagte: »Das will doch erwogen sein!«

»Lemmy hat mir versprochen, daß er einen rechtschaffenen Mann aus ihm
mache -- einen Ingenieur, so weit es Josis geringe Schulbildung erlaubt
-- und, ich weiß nicht warum, ich habe ein seltsames Zutrauen zu dem
Manne. Ich reise übrigens morgen eigens nach Bräggen, um mit Felix
Indergand zu reden, der auch mit Lemmy über das große Wasser geht.
Schlaflos legt mich die Geschichte, aber nach allem, was geschehen ist,
kann Josi nicht in St. Peter bleiben.«

»Das stimmt, das stimmt!« erwiderte der Presi kühl, »es ist ein
verdammter Streich, den uns die beiden gespielt haben. Im übrigen, wie
sind die Bedingungen? Muß die Gemeinde etwas für ihn zahlen?«

»Nichts! Es ist freie Hin- und Rückfahrt verabredet, Josi muß wenigstens
drei Jahre bleiben und wird von Lemmy gehalten wie jeder andere, der
unter seiner Führung steht.« --

»So -- sonst hätte ich vielleicht einen Beitrag dran gethan!« --

Der Garde sah ihn mit einem Blick an, der ungefähr sagte: »So steht es
also um dein Gewissen, Presi!«

Als er gegangen war, schritt der Presi schwer auf und ab: »Heimkommen,
Binia! -- Die Luft ist rein. -- Seppi Blatter, wir wollen dafür sorgen,
daß dein Spiel verloren ist!« -- Dann stutzte er: »Dieser Josi Blatter
-- der stirbt in Indien nicht. -- Der kommt eines Tages wieder heim --
und dann ist die Not um Binia größer als jetzt. -- Das Kind muß jung
heiraten.«

Nicht lange, und die Nachricht, daß Josi mit seinem Engländer in ein
fernes Land gehe, flog durchs Dorf. Man kränkte sich sonst in St. Peter,
wenn, was bei Jahrzehnten nicht vorkam, ein junger Bürger in die Fremde
zog. Nach der Meinung der Dörfler war es doch nirgends auf der Welt so
schön, lebte es sich so gut wie zu St. Peter. Und man betrachtete jeden
als einen Verlorenen, der sich außer Landes begab. Josi Blatter, den
Rebellen, aber ließ man gern ziehen. Die Kunde von seiner bevorstehenden
Abreise beruhigte die Leute, und die Gäste des Bären, die genußfreudige,
vom schlichten frommen Sinn der Dörfler durch eine Welt anderer
Anschauungen geschiedene Gesellschaft falterte unangefochten wie sonst
durch Dorf und Feld, auf dem bereits die Herbstblumen zu blühen
begannen.

Von dem Sturm, der bei der ersten Besteigung der Krone das eingeborene
St. Peter bewegt hatte, hatten sie kaum Kenntnis erlangt.

Aus dem großen Thal kamen ein paar junge Bergsteiger, die von der
überraschenden Besteigung der Krone gehört hatten, und wollten sie mit
Josi Blatter wiederholen. Er aber wies sie ab.

Thöni indessen, der an dem Tag, wo die beiden den Gipfel der Krone
erstiegen hatten, in Hospel gewesen war und nach seiner Rückkehr mehr
vom Ruhm der Gäste als von der drohenden Haltung der Bauern reden gehört
hatte, wurmte die Eifersucht auf den Rebellen bis ins Mark.

Er ließ sich heimlich von den jungen Steigern als Führer mieten. Als ob
er mit den Ehrgeizigen nur einen größeren Spaziergang auf den Gletscher,
aus dem die Glotter fließt, unternehmen wollte, ging er mit ihnen in der
Morgenfrühe weg. Erst am Nachmittag sah man erstaunt eine kleine Kolonne
auf dem unteren Firn der Krone. »Die Wahnsinnigen gehen auf einem
überhängenden Schneeflügel!« riefen plötzlich Stimmen, und man hatte es
kaum bemerkt, so brachen die fünf durch die Wächte. Zum Glück kollerten
sie nicht sehr tief einer Wand entlang, aber nun saßen sie auf einer
Felsenplanke, von der kein Ausweg zu sehen war. Sie schwenkten Tücher,
daß man sie holen möge.

Und sicher war eins: Mußte das arme Fünfblatt dort über Nacht bleiben,
so erfror es.

Der Presi wütete über Thöni, er sammelte dann eine Hilfskarawane, und
die von St. Peter ließen sich, obgleich sie sich über den neuen Frevel
wie über den ersten empörten und ihre Schadenfreude nicht verbargen,
sofort herbei, die Rettung der Gesellschaft zu versuchen. Denn wo
Menschenleben in Gefahr schwebten, waren sie, wie alle Leute der Berge
sind: sie kannten nur die Pflicht der Hilfe.

Josi war in fiebernder Erregung: »Darf ich sie holen? Sie erfrieren, bis
die Mannschaft oben ist,« fragte er den Ingenieur.

»Well, hole die Unglückseligen, Boy.« Und George Lemmy war, indem er die
Hände in die Hosentaschen steckte und ein Liedchen pfiff, selber
neugierig, wie der Bursche nun vorgehen würde.

Eine -- zwei -- drei Stunden! -- Man sieht ihn! Wo scheinbar nur glatte
Wände sind, klettert der ehemalige Wildheuerbub wie ein Kaminfeger durch
Felsenrisse, eilt über schmale Kanten, ist wieder in einem Riß und
klettert aufwärts!

Ein Dutzend Fernrohre folgen ihm. -- Noch eine Stunde -- die
Hilfskarawane ist erst auf den oberen Alpen -- da schwingt sich Josi auf
das Band, wo die fünf armen Knaben sitzen.

Er hört die Jubelrufe aus dem Thale nicht, er weiß nur, daß er eilen
muß, die Leute zu bergen, denn St. Peter liegt schon im tiefen blauen
Schatten, nur noch an den Spitzen glänzt die Sonne.

»Du lausiger Rebell, dich haben wir nicht gerufen,« empfängt ihn Thöni.

»Grieg, seid artig, sonst lass' ich Euch beim Eid über Nacht da oben
hocken,« erwidert Josi.

Die von Thöni Schlechtgeführten danken ihm überschwenglich, einer weint
vor Freude. Josi mahnt: »Nur Mut! -- gangbarer Fels und Schutt ist nicht
weit, aber ein Umweg ist nötig.«

Er kennt die Gegend genau, er hat über der Planke manchen Tautropfen
gebrochen, er löst auch jetzt einen, den sein geübter Blick in einer
kleinen Höhle entdeckt hat, und steckt ihn wie zum Andenken in die
Westentasche.

»Aufpassen!« ruft er. Die Lotserei beginnt, sie geht im Bogen und
Zickzack bergauf, bergab, den greifbaren Vorsprüngen entlang. Er würde
den halsbrecherischen Weg in einer Viertelstunde machen, aber er muß den
Ermüdeten und von jedem Selbstvertrauen Verlassenen die Füße einstellen,
die Handgriffe zeigen, die mutlos werdenden Zurückgebliebenen nachholen,
einen um den anderen am Seil herunterlassen, eine Stunde fieberhafter
Anstrengung vergeht, und sie sind noch nicht am Ziel -- die Nacht ist
gesunken -- aber jetzt! -- endlich! -- endlich hat die Gesellschaft ein
sanftes Geröllfeld erreicht -- Josi will jauchzen, er kann es nicht vor
Erschöpfung. Heiser nur sagt er: »Ihr seid auch da, Grieg!«

Thöni spürt aber kaum den sicheren Boden, so fährt er Josi an: »Du
hättest uns nicht zu holen brauchen, du Laushund, ich wäre schon
losgekommen. Den Schimpf machen wir einmal handgreiflich aus!«

»Gut, Ihr könnt Euch nur melden!«

Um drei Uhr des Morgens kamen Josi, die Geretteten und die Hilfskolonne
im Dorfe an. Einheimische und Fremde wachten. Unter der Thüre des Bären,
wo ihm der Presi mit einem Ausdruck aufrichtiger herzlicher Achtung
entgegentrat und beide Hände reichte, brach er, den Jubel der
Glückwünschenden in den Ohren, zusammen.

Kaum hatte er sich am Morgen erholt, als ihn der Presi in jene Stube
rufen ließ, wo sie sich nach dem Tod der Mutter gegenüber gestanden
hatten. Als der mißtrauisch dreinblickende Bursche eintrat, empfing ihn
der Bärenwirt fast feierlich. Er stand auf, stützte die Linke auf das
Pult und reichte ihm die Rechte: »Setzen wir uns! Ich bekenne, daß ich
Euch eine Weile unterschätzt habe, Blatter, sonst hätte ich Euch nicht
zu Bälzi gethan. Zunächst danke ich Euch, daß Ihr die fünf geholt habt.
Die Rettung ist ein Ehrenblatt für Euch.«

Josi wurde feuerrot und verlegen, er stand bei dem Lob des Presi wie auf
Nadeln. Der Mann, der so mit Wärme und Achtung zu ihm sprach, war der,
der ihm die Peitsche ins Gesicht geschlagen. Er war aber auch Binias
Vater. Die Gedanken spannen sich ineinander und verwirrten ihn.

»Ihr wollt also jetzt mit George Lemmy nach Indien. Das ist ein
abenteuerlicher Plan. Der Gemeinderat hat indes einstimmig beschlossen,
daß man Euch kein Hindernis in den Weg legen will. Im Frühling werdet
Ihr ja volljährig und dann seid Ihr ohnehin der Vormundschaft
entlassen.«

Der Presi stand auf und langte in ein Pultfach: »Wenn man ins Leben
geht, dann ist es von besonderer Wichtigkeit, daß man die Freiheit, sich
zu wenden und zu kehren hat. Die besitzt man nur mit Geld. Ich möchte
Euch einen Reisepfennig mitgeben. -- Ihr seht, wenn ich gebe, bin ich
nicht klein!«

Er reichte Josi etliche Blätter Banknoten. Der junge Mann fuhr auf, er
wollte reden, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Nur ein
seltsames »Herr Presi!« würgte er hervor.

So viel Geld hatte er natürlich noch nie beisammen gesehen, dachte der
Presi, mißverstand seine Bewegung und hielt sie für Gier.

»Ich will keinen Dank, die Blätter sind für das Herunterholen der
Jungen, es ist Rechnung und Gegenrechnung -- nehmt sie herzhaft.«

Eine verwirrende Liebenswürdigkeit lag in seinem Ton.

»Ich will noch einmal so viel zulegen, Blatter. Gebt mir nur das
Versprechen in die Hand -- daß Ihr -- wenn Ihr je aus Indien zurückkehrt
-- mit Binia nichts zu schaffen haben wollt. -- -- Es kann nicht sein --
es darf nicht sein. -- Ich sage es Euch in heiligem Ernst: Ich leide es
nicht -- ich leide es nicht.«

Düster und trotzig waren seine letzten Worte.

Nun aber brach Josi los: »Herr Presi, glaubt Ihr, daß ich meinen Vater
schände? Um wie viel weniger Geld habt Ihr ihn in jener Nacht
gekreuzigt, daß er an die Weißen Bretter steige. Ihr meint, ich nehme je
einen Rappen[27] an aus Eurer Hand?«

  [27] _Rappen_, schweizerdeutsch, so viel wie ein Centime.

Etwas Ergreifendes, Rührendes lag im Zorn des Burschen, eine durch
Bescheidenheit gezügelte heiße Entrüstung.

Seppi Blatter und Fränzi in einem, ein verdammt schöner Bursche, dachte
der Presi.

»Und Binia?« fragte er mit einem leisen Seufzer, schon halb verstimmt.

In den Augen Josis loderte es, er keuchte: »Herr Presi, ich bin kein
Hudel. Behaltet das Geld, ich behalte mir das Recht, das Mädchen um
seine Hand zu fragen, das mir am besten gefällt. Und im Glotterthal
ist's ja noch so: Keine Jungfrau steht so hoch, ein ehrbarer Bursch darf
um ihre Hand anhalten.«

Seine Stimme bebte, der Presi lachte scharf: »Gewiß darf er darum
anhalten -- es kommt aber nicht aufs Fragen, sondern auf den Bescheid
an, den er erhält. -- -- Wollt Ihr das Geld, Blatter?«

Das letzte sprach er mit hartem, höhnischem Klang.

»Nein, Herr Presi!«

Das tönte nicht herausfordernd, aber als wären die Worte von Granit.

»Du Steckgrind -- ein Rebell bist und bleibst du!« -- Der Presi schrie
es. -- »Mit dir habe ich es gut gemeint. Ich habe wollen Frieden
zwischen mir und dir machen -- du bist aber ein Thor -- ein
wahnsinniger, verstockter Thor -- -- he, du und Binia? -- Wo nimmt auch
so ein Fötzel das Recht her, an so etwas zu denken?«

»Herr Presi, in drei Jahren wollen wir wieder zusammen reden, helf' mir
der Himmel, daß Ihr mich dann nicht mehr so verachten könnt.«

Josi sagte es bescheiden -- doch das Wort war Oel ins Feuer.

»Gottes Heilige hören es -- die Tatze soll mir eher aus dem Grabe
wachsen, eher soll ein Traum, den ich einmal gehabt habe, in Erfüllung
gehen und Binia von einem Gespenst erschlagen werden -- als daß ihr zwei
zusammenkommt.«

»Ihr redet entsetzlich!« Helle Thränen liefen Josi über die braunen
Wangen. »Lebt wohl, Herr Presi!«

»Dich mögen in Indien die Königstiger fressen!«

Er donnerte es dem Forttaumelnden nach -- --

»Ihr redet entsetzlich!« Dem Presi klang der Ausruf Josis im Ohre fort,
es lag darin etwas so Wundes, wie wenn ein Tier aus tiefsten Nöten
schreit. Aus sich selber wiederholte er: »Ich redete entsetzlich!« Ihm
war, er müsse Josi zurückrufen, er müsse ihm noch etwas sagen. Ein
seltsamer Einfall kam ihm. Er wollte zu George Lemmy sprechen: »Laßt
mir Josi Blatter da -- er paßt mir als Bergführer.« Eine sonderbare
Empfindung durchrieselte ihn. Er könnte, war ihm, den schönen,
gescheiten, rechtschaffenen, heimlich stolzen Burschen unendlich lieb
haben -- lieb wie einen Sohn, -- er staunte, wie ihm der Gedanke
angeflogen kam -- er sperrte sich wütend dagegen -- er zitterte -- er
schwitzte und schnaufte.

»Ich muß noch einmal mit ihm reden! -- Seppi Blatter -- Fränzi. -- Habt
ihr Gewalt über mein Herz?«

Nach drei Tagen aber sammelte sich in der Morgenfrühe ein Häuflein
Dörfler vor dem Bären, um Josi Blatter, den Abenteurer, abreisen zu
sehen. Der Bärenwirt stand auf der Freitreppe und winkte, wie ein Wirt
winkt, wenn ein so angesehener Gast wie George Lemmy geht. --

»Jetzt habe ich doch nicht mit ihm geredet.« Seit einer Weile saß der
Presi, den Kopf stützend, am Tisch. Und wütender über sich selbst als
über Josi, murmelte er:

»Binia erschlagen -- nein -- nein -- das ist Wahnsinn.«

Bei sich selbst war er überzeugt, daß Josi Blatter in drei Jahren als
Freier vor ihm stünde.

»Nun wohl -- dann Gewalt gegen Gewalt.«

Da kam Thöni: »Ich führe das Gepäck des Engländers nach Hospel!«

»Gut -- doch noch etwas! Der Schwager Kreuzwirt fährt Ende dieser Woche
oder Anfang der nächsten über den Hochpaß. Ich lasse ihn um den großen
Gefallen ersuchen, daß er Binia aus dem Kloster heimbringt.«

Als Thöni gegangen war, lächelte der Presi glücklich: »Binia -- wenn du
schon an dem Burschen hängst und thöricht bist wie alle Weiber -- mein
lieber Herzensvogel bist du doch!«



XI.


»Josi Blatter bleibt ein verkehrter und geheimnisvoller Kerl bis ans
Ende,« sagten die zu St. Peter, als sie sahen, daß er mit seinem
Engländer das Glotterthal nicht auf dem Weg über Tremis, Fegunden und
Hospel verließ, den doch alle ordentlichen Menschen gingen, sondern sich
mit ihm vom Haus des Garden über die unwegsame Schneelücke wandte.

An der Grenze zwischen Weltland und Weißland erhebt sich ein altes
verwittertes Holzkreuz, bei dem die Hirten sommers über ihren
Sonntagsdienst halten. Bis dorthin, wo man eben noch die Kirche in der
tiefen Thalspalte sieht, begleitete Vroni ihren Bruder, bei dem Kreuz
knieten die Geschwister nieder und verrichteten zum Abschied eine
gemeinsame Andacht.

Mit Thränen in den Augen blickte Vroni Josi nach. Als sie aber immer
noch ihr Tüchlein schwenkte, da stapfte er schon unentwegt mit seinem
Herrn in die große wilde Gebirgseinsamkeit hinein.

Ernst, doch unverzagt hatte er die letzten Tage verlebt. Sie aber war
vor Schmerzen vergangen: den Vater, die Mutter hatte sie schon verloren
-- und nun verlor sie auch den Bruder. Sie konnte nicht glauben, daß er
je wieder nach St. Peter komme. In ihrem Kopf und in ihrem Herzen summte
das Kirchhoflied:

    »Und als er stand an blauer See,
    Da schrie sein Herz nach Berg und Schnee.«

Sterben wird er vor Heimweh!

Während seine sanfte Schwester mit den großen Blauaugen in Thränen
träumte, was doch so ein lieber Bruder für ein böser Mensch sei, schritt
Josi tapfer in die Zukunft und mit seinem Herrn quer über Gletscher und
Hochgebirge. Drüben in einer kleinen Stadt wollten sie Felix Indergand,
der in einigen Tagen nachzukommen versprochen hatte, erwarten und dann
von Genua aus die große Reise nach Indien antreten.

Ein herrliches Wandern. Die Luft war blau und herbstlich still. Aus der
Höhe ertönte der Ruf der Zugvögel. Die vom Sommer ausgelaugten und
ausgewitterten Gletscher lagen wie riesige Leichen da. Wenn es wahr
wäre, was die Sage behauptet, wenn die Venediger wirklich bei ihrer
Säumerei über die Schneelücke in Stürmen und Wettern Ladungen Silbers
verloren hatten, so würde man sie jetzt wohl finden können.

Doch Josi dachte an etwas anderes. Konnte er nach Indien gehen, ohne zu
Binia, die er für ewig verloren hatte, lebewohl gesagt zu haben?

Unter einem überhängenden Felsen, bei den Resten alter Jägerfeuer
übernachteten sie. »Brigante, solche Nächte unter freiem Himmel wird es
auch bei unserer Arbeit in Indien genug geben, nur ist es dann nicht so
still wie hier, sondern die wilden Tiere schreien und brüllen ringsum!«

Allein als George Lemmy nachsah, schlief Josi schon.

Am Morgen standen sie auf einem mächtigen Firngrat, einem
wunderherrlichen silbernen Wall, wo der Himmel so nahe schien, als
könnte man den dunkelblauen Teppich mit der Hand streicheln. »Boy, wo
ist jetzt das Glotterthal?«

Im gewaltigen Eisland, das sich gegen Norden dehnte, war ein kleiner
dunkler Streifen wie ein Nebelchen sichtbar. Da konnte es Josi kaum
fassen, daß er sein ganzes bisheriges Leben in der schwarzen Spalte
zugebracht habe.

Dort saß Vroni.

Wie sonnig lag die Erde! Weithin dehnte sich im Süden unter ihnen, wo
die Berge ausgingen, geheimnisvolle Bläue. Ist das wohl das Meer? dachte
Josi. Da wies ihn George Lemmy auf weiße Flecken, die in der Bläue
schwammen, und sagte: »Das sind die italienischen Städte.«

Am folgenden Tag wanderten sie einem lebendigen klaren Wasser entlang
durch eine grüne Berglandschaft und kamen auf die schöne Straße, die vom
Hochpaß herniederführt.

George Lemmy aber hinkte, er war beim Abstieg durch den Wald über eine
Wurzel gestrauchelt und hatte den Fuß leicht verstaucht.

Im ersten Dorf nahmen sie ein Wägelchen und fuhren durch den goldenen
Abend.

Kirchen, Klöster und Schlösser hoben ihre Türme aus Kastanienhainen und
in der Ferne schimmerte eine Stadt. Fröhliches Volk in bunten Trachten
kam ihnen entgegen, Landleute, die vom Markt heimzogen, riefen ihnen den
Gruß in einer fremden Sprache zu.

Der Kutscher, der wohl an Fremde gewöhnt war, wies mit der Peitsche
nach allen Sehenswürdigkeiten und erklärte den beiden in mangelhaftem
Deutsch ihre Namen und Bedeutung.

Jetzt blitzte ihnen ein blauer See entgegen.

Auf einem felsigen Vorsprung erhob sich ein Kloster aus mächtigen
Bäumen, unter denen ein Zickzackweg zu dem großen alten Bau
hinaufführte. An weißen Kapellen vorbei, die den Weg schmückten, sah man
das von Epheu umrankte Thor und durch die Bäume, die reichlich Frucht
trugen, blitzte neben dem Kloster der See.

»Das sehr berühmte Kloster Santa Maria del Lago mit den
dreihundertjährigen Pinien,« erklärte der Fuhrmann.

Da überzwirbelte dem starken Josi das Herz.

Gleich hinter dem Hügel, auf dem das Kloster steht, lag die Stadt, und
vor einem kleinen netten Gasthof hielt nach der Weisung George Lemmys
das Fuhrwerk an. Da übernachteten sie.

Als Josi am Morgen nach George Lemmy sah, lachte dieser: »Josi,
Brigante! Ich bin also zum Ruhen verdonnert, der Fuß ist elend
geschwollen. Ich fürchte aber, daß du ein schlechter Krankenwärter bist,
darum bleibe mir ein gutes Stück, mehr als dieses Zimmer lang ist, vom
Leib. Die Wirtin wird dich unten füttern, doch strecke alle Tage den
Kopf einmal herein. Da hast du etwas Klingendes in die leere Weste und
hörst du: Wein, Wurst und Brot bestellt man hier zu Lande mit den
Worten: %Preg' un po' de vin u e un cu de gin com pan!%

Und nun versuche einmal, wie sich' s auf eigenen Füßen geht.«

Josi war glücklich. Einige Tage frei. Und er war jetzt so nah bei
Binia! Aber die Welt war ihm so fremd, daß er kaum wagte, sich zu
rühren. Durfte er zu dem Kloster hingehen und nach Binia fragen? Nein,
nein! Der Knecht hatte es schon thun dürfen, denn er war ein alter
stoppelbärtiger Mann ohne alles Verdächtige. Ihm aber würde alle Welt es
ansehen, daß ihn die Liebe zu Binia hingetrieben.

Lange schaute er den Handwerkern zu, die unter den Bögen der Häuser das
Kupfer schmiedeten, das Leder klopften und das Holz bearbeiteten. Ein
Schneider, der die Brille tief auf die Nase gerückt hatte, sang beim
Flicken alter Kleider. Da fiel Josi das Kirchhoflied ein, das er mit der
Mutter, mit Vroni und Binia gesungen, aber freilich, wenn er an den
Presi dachte, war ihm nicht ums Singen.

Eine Weile später strich er doch um das Klostergut und sang:

    »Das Steingenelk, die Königskerzen
    Erblühn voll Pracht im heil'gen Rund,
    Sie steigen aus gebrochnen Herzen
    Und jede Blume ist ein Mund!«

Da horch! Wie er gegen den See hinkommt, antwortet jenseits der
epheuumsponnenen Klostermauer eine silberne Stimme mit der gleichen
Melodie.

    »O wie das weint, o wie das lacht,
    Dem Flüstern horcht die Sommernacht!«

Nur einige Takte, dann bricht das Lied ab. -- Er hört eine keifende
Frauenstimme, dann helles Lachen von jungen Mädchen.

Er rennt davon.

Binia hat ihm geantwortet. Wer sollte sonst Worte und Melodie kennen?
In der fremden Welt hat er ihre Stimme gehört. Es wird ihm feierlich zu
Mut. Gewiß wird er sie auch sehen.

Aber, wie er so überlegte, wurde er ganz traurig. Was nützte es, sie zu
sehen? Er wußte ja jetzt bestimmt und fest, daß sie nie zusammenkommen
würden. Ihm war, der gräßliche Wunsch im Mund des Presi, Binia möge eher
durch eine fremde Hand fallen, als daß sie mit ihm durchs Leben gehe,
habe allen Segen, der auf seiner Liebe zu Binia ruhen könnte,
hinweggenommen!

Und doch war, seit er ihre Stimme gehört, sein ganzes Wesen in einem
Aufruhr der Hoffnung. -- Binia sehen! sie sehen!

Am Abend wandte er sich an den Wirt, der einen großen weißen Schurz über
seine leutselige Seele und seinen dicken Bauch gespannt hatte und vom
Viehhändlerverkehr her etwas Deutsch radebrechte. Er fragte ihn, ob die
Klosterschülerinnen in die Stadt zur Kirche kämen.

Nein, antwortete der Gastwirt, sie hätten eine eigene Kirche, die
Klosterfrauen kämen nur an hohen Festen in die Stadt, aber sie besuchen
mit den naschhaften Mädchen oft den Markt. Morgen sei es Donnerstag, ja,
da kämen sie wahrscheinlich. Er möge um acht Uhr dort sein, wenn er die
Verwandte sehen wolle, aber ansprechen dürfe er sie nicht, dazu müsse er
sich schon im Kloster selbst anmelden.

»Die Verwandte!« Josi lächelte ein wenig über die Vorstellung des
Wirtes.

Am Morgen war er früh auf dem Markt. Als es acht Uhr schlug, entdeckte
er die kleine Klosterschule, einige Nonnen führten die Schar Mädchen,
die mit braunen und blonden Zöpfen einherwandelten und ihre Blicke
neugierig über die Menge der auf dem Markt gehäuften Früchte warfen.

Binia war die Zierlichste und Schönste unter ihnen -- so schön, daß er
sie kaum ansehen durfte. Sie errötete, sie fuhr ein wenig zusammen, als
sie ihn bemerkte, dann schaute sie auf die andere Seite und hielt sich
dicht an die Schar der übrigen. Sie sandte keinen Blick zurück.

»Jetzt sieht sie mich nicht einmal an,« dachte Josi, und schämte sich,
daß er sich so fest eingebildet hatte, Binia liebe ihn sterblich.

Er war enttäuscht, er wagte es nicht, der dutzendköpfigen Gesellschaft,
die sich in eine Gasse verlor, zu folgen. Unruhig und verlegen schaute
er in das bunte fremde Gewühl der Käufer und Verkäufer. Sollte er
bleiben, sollte er gehen? Eine Viertelstunde, da drückte ihm ein blasser
Junge, der einen Bündel Schuhe über die Schultern gehängt hatte, einen
Papierstreifen in die Hand. Der Knabe erwartete ein Trinkgeld und ging
erbost über Josi, der vor lauter Neugier das Geben vergaß, mit einem
%»Brutto Tedesc«% davon.

»Um elf Uhr vor der kleinen Pforte am See. Binia.« Josi hatte genug
Arbeit, die paar Worte zu entziffern, das Blatt zitterte in seinen
Händen. »Wohl, wohl sie liebt mich,« jauchzte es in ihm.

Wie lange es nicht elf Uhr wurde!

Pochenden Herzens stand er vor dem Pförtchen unter einem Kastanienbaum,
der seine Aeste in die Flut senkte. Da bimmelte das Glöcklein im
Kloster; während es noch tönte, ging die kleine Thür in der Epheumauer
auf.

Im hellen Sommergewand, im Bergerehut, gerade so leicht und flüchtig
wie einst, huschte Binia hervor, eine Gärtnerin hob warnend den Finger
auf und rief ihr etwas wie eine Mahnung nach, dann schloß sich das
Pförtchen wieder.

Man sah, wie Binia das Herzchen flog. »Josi, wie kommst du auch da her?«
rief sie.

Eine ziemlich verlegene Begegnung. Ihm glüht der Kopf, er weiß nichts zu
sagen.

Binia ist so schön, daß er es kaum wagt, ihr die Hand zu geben, und wie
er die weichen Finger in den seinen hält, da ist ihm, er halte einen
jungen Vogel, dessen Brust er schlagen fühlt.

Auch Binia ist verlegen. Sie verdeckt es, indem sie hastig erzählt, sie
sei vom Markt, ehe es eine Aufseherin bemerkte, unter dem Vorwand, sie
bedürfe neuer Schuhe, in eine Werkstätte geschlüpft, habe dort die Zeile
geschrieben und nach der Heimkehr die Gärtnerin bestochen.

Nun lachte sie schelmisch auf, faßte Josi bei der Hand und zog den
Willenlosen von der Klostermauer hinweg unter den Bäumen hindurch, bis
sie an eine kleine stille Bucht kamen, wo eine Quelle in den See lief.
Dort stand sie mit ihm still.

»Gelt, das ist schön hier, Josi,« sagte sie, »der See und die weißen
Segel und der Duft um die Berge, aber im Kloster ist's häßlich!«

Traurig erwiderte Josi: »O Binia, ich gehe jetzt in die weite Welt --
ich gehe nach Indien. Noch einmal aber habe ich dich sehen wollen. --
Grad wie ein Engel bist du ja gegen mich gewesen im Teufelsgarten und
weißt nicht, wie du mir dort in meiner unsäglichen Schmach wohlgethan
hast! -- Also lebe wohl, Bineli -- ich wünsche dir tausendmal Glück und
alles Gute!«

Er streckte ihr die Hand entgegen.

Binia machte ein sehr betrübtes und rührendes Schmollmündchen, das
bebte, als wollte es weinen:

»Aber Josi.«

Da hörten sie aus der Ferne nach ihr rufen. Plötzlich blitzte es in
ihren Augen auf, sie hob sich auf die Zehenspitzen, sie legte die
Handmuschel an den Mund, als wollte sie laut Antwort geben, sie lächelte
aber nur: »Ich komme nicht!«

Josi war ganz verwundert: »Binia!«

»O, Euphemia, die alte Gärtnerin, wird sich schon herauslügen, daß ihr
nichts geschieht. Du glaubst gar nicht, Josi, wie hinter diesen Mauern
alle gut lügen können. Ich allein kann's nicht -- ich bin zu ungeschickt
dazu.«

Binia machte ein halb lustiges, halb verzweifeltes Gesicht, hielt den
Fingerknöchel an die weißen Zähne und schaute den Burschen mit ihren
dunklen Lichtern ganz komisch an. -- »Josi,« schmeichelte sie, »weil du
da bist, mag ich nicht stillsitzen, mir zappeln die Füße, heute wollen
wir zusammen durch Luft und Sonne laufen, bis das Abendrot scheint. Ich
dürste nach ein bißchen Freiheit. Ich habe einen Brief vom Vater
bekommen, daß mich morgen der Kreuzwirt von Hospel abholt, und ich
wieder nach St. Peter zurückkehren kann. Da können mir, wenn ich ihnen
auswische, die heiligen Frauen nicht mehr viel thun. O glaube mir, Josi,
das sind furchtbar grausame Weiber!«

Ein Zittern lief durch Binias schlanke Gestalt.

»Komm, Josi, wir wandern, ich kann jetzt gewiß nicht grad wieder ins
Kloster hinein!«

Sie zog ihn mit. -- Die Liebe zu Binia und der Trotz gegen den Presi
besiegten seine Vorsätze. Still wie Flüchtlinge gingen sie eine Weile
durch Bäume und Gesträuch, dann dem See entlang, dann planlos bergauf.
Sie entdeckten bald, daß man sie nicht verfolge, auf der Höhe stieß
Binia einen Jauchzer aus und sie setzte sich.

»Josi, es ist so schön von dir, daß du gekommen bist. Niemand stört uns
in dieser fremden, sonnigen Welt. Ach, wie garstig, man sieht deine
Narbe immer noch!«

Mit feiner, liebkosender Hand glitt Binia darüber hin, er sah das Licht
rosig durch ihr kleines Ohr schimmern, die Spitzen ihres dunklen
Seidenhaares berührten sein Gesicht und der Pfirsichflaum der Wange
streifte ihn.

Er verging fast vor Seligkeit, aber die jubelnden Stimmen des Glückes
vermochten die Sorge nicht ganz zu übertönen. »Du, Binia,« hob er etwas
beklommen wieder an, »es ist mir gar nicht recht.« --

»Was bist du für ein schöner Bursch geworden, Josi,« unterbrach sie ihn,
»berichte mir von daheim -- ich bin so neugierig.«

Während er erzählte, gingen die feinsten Spiele über ihr Gesicht, es
wurde fröhlicher und fröhlicher -- als er ihr schilderte, wie er Thöni
von der Planke geholt hatte, klatschte sie in die Hände: »Josi, das ist
herrlich -- ich möchte dir gern etwas Liebes anthun, aber ich weiß nicht
was!« Und mit demütiger Stimme: »Ich weiß nicht, warum ich dich so lieb
habe, Josi.«

»Sieh, grad so geht es mir mit dir, Bini!«

»Das ist merkwürdig,« erwiderte sie träumerisch und ihre Stimme wurde
wieder hoch und fein. »Am Wassertröstungsmorgen, als ich sah, wie deine
Mutter wegen meines Vaters litt, da war's, als stände plötzlich in
meiner Brust mit feurigen Buchstaben: 'Ich liebe Josi!' Und als der
Vater mißverstand, was ich im Fieber redete, als er dich haßte, da wurde
die Liebe nur größer; als er dich zu Bälzi als Knecht gab, da wuchs sie,
als du Rebell wurdest, da starb ich fast, und als dich mein Vater
schlug, da wußte ich's wohl: 'Jetzt rinnt das Blut Josis um mich, jetzt
kann ich ihn nicht mehr lassen, selbst um meine Seligkeit nicht! Und so
ist's mit mir: Würdest du sagen: 'Steige auf jenen Schneeberg', so würde
ich steigen, bis ich vor Müdigkeit umsänke, und würdest du befehlen:
'Schwimme über diesen See', so würde ich mit meinen Armen rudern, bis --
du ziehst so ein finsteres Gesicht, Josi -- ich bin ganz unglücklich --
du denkst gewiß, es sei schlecht von mir, daß ich mit dir gehe, obgleich
es mein Vater nicht gern hat -- aber ich habe dich halt so lieb!«

Sie senkte ihr Gesicht schalkhaft und schämig.

»O Binia,« antwortete er, »du hast recht -- ich will mich mit dir an dem
schönen Tag freuen -- es ist vielleicht der einzige, den wir erleben.«

Sie gingen weithin über die sonnigen Hügel mit den prangenden
Herbstfarben, aber eine leise jugendliche Scheu schritt noch zwischen
ihnen, die manches, was sie sagen wollten, zurückhielt. Um so mehr
redeten ihre Augen. Immer und immer wieder betrachtete eins verstohlen
das andere.

Vor sich an einer Höhe sahen sie in die welkenden Bäume hineingespannt
die Netze eines Vogelstellers. Neugierig wie Kinder liefen sie hinzu und
beschauten die malerisch hängenden Garne. Ein halbes Dutzend Amseln hing
mit todesbangen Blicken darin. Binia zog einen Vogel um den anderen
vorsichtig heraus, betrachtete lächelnd jedes Tierchen, preßte ihm einen
Kuß auf den Schnabel und gab ihm die Freiheit. Die Vögel flatterten erst
ängstlich, spürten dann die Befreiung, flogen in die Höhe und freudiges
Geschrei stieg aus dem reinen Blau auf die Erde zurück.

Josi staunte Binia nur an: »Du herrliches Kind! Wenn aber der Mann käme,
dem diese Vögel gehören!«

»O, ich habe den Nonnen manchmal den Spaß verdorben, und sie haben die
Thäterin nie erwischt. Ich hätte mich auch für ein glückliches
Vogelherzchen die ganze Woche einsperren lassen. -- -- Josi« -- ihre
Finger berührten seine Hand -- »vielleicht bin ich auch einmal so ein
armes Schelmchen -- und dann kommt jemand Barmherziger und löst mich.«

Ein Strahl ihres dunklen Auges traf ihn, ihr Mund aber lächelte
herzgewinnend.

»Bini, ich habe mir schon fast den Kopf zerbrochen, wie wir trotz dem
großen Zorn deines Vaters zusammenkommen könnten,« stammelte Josi. »Und
ich weiß es -- es bleibt mir nichts anders übrig, als daß ich für unsere
Liebe an die Weißen Bretter steige.«

Da lehnte sie ihr Köpfchen schluchzend an seine Brust: »Das willst du
für mich thun, Josi! Nein -- nein. -- Das darfst du nicht. -- Du würdest
fallen, wie dein Vater gefallen ist. -- Und denke an meinen Vater -- ich
habe ihn, wenn er auch manchmal wüst und böse ist, doch so stark lieb;
ich möchte nicht, daß die Nachtbuben kämen, um dem Gemeinderat im Werben
zu helfen, und die rasselnden Ketten um das Haus schleiften und riefen:
'Presi, gebt die Binia heraus!' Ich glaube, da würde er auch erst recht
wild über dich.«

Sie sah ihn hilflos an.

»Binia, so thöricht bin ich nicht. Ich plane es anders! Kein Mensch weiß
es, was ich thun will, dir aber, liebes Bineli, will ich es verraten. --
In drei Jahren komme ich wieder heim, dann will ich St. Peter aus der
Blutfron an den Weißen Brettern befreien. Um zu lernen, wie ich's
angreifen muß, gehe ich mit George Lemmy nach Indien.«

»Josi! -- Du willst St. Peter aus der Blutfron befreien.« -- Ein
überirdischer Glanz lag in ihren Augen und das Wort tönte wie ein
Schrei. Sie schaute ihn staunend an, sie preßte seine Hände. »Josi,
kannst du das? -- Josi, ich glaube, das hat dir Gott eingegeben. -- Ich
halte dich nicht zurück -- nein, lieber Josi, thu's -- thu's! -- Meine
Gedanken sind mit dir, wenn du an den Brettern schaffen wirst.«

Weiter, weiter führte sie die Sonne unter Kastanienbäumen dahin, die
ihre stachlichten Früchte auf den Boden fallen ließen. Tief unter ihnen
gegen den See hin jauchzten die Winzer in den Reben.

Sie sahen aber das Leuchten der Natur nicht, sie hatten zu viel von
Brust zu Brust zu tauschen.

Binia glühte für Josis Plan.

»Josi, jetzt weiß ich, warum ich dich so lieb habe. Du hast halt ein
großes, mutiges Herz -- und als ich es noch nicht wußte, habe ich es
doch schon geahnt, denn es strahlt aus deinen Augen. Und jetzt ist mir,
ein Thor habe sich vor uns aufgethan, durch das unsere Liebe hinaus in
den Frühling wandern kann. Es kommt alles, alles gut! Sieh, nur ein
festes Vertrauen braucht es, dann werden zuletzt alle Träume und Wunder
wahr -- auch das unserer Liebe und unseres Glücks. Gewiß ist mein Vater
der erste, der dich mit Freuden empfängt, wenn du die Blutfron von St.
Peter nimmst. Er hat Sinn für alles Große.«

»Bini, wenn du so redest, so fange ich selber wieder zu glauben und zu
hoffen an -- du liebes, liebes Kind.« Er schlang den Arm um ihre Hüfte
und so wanderten sie in heiligem Glück.

»Das ist ein herrlicher Tag,« jubelte Binia.

Auch Josi schwamm in stiller Seligkeit. Der Gedanke an den Fluch des
Presi verschwand vor der blühenden Wirklichkeit. So schön hatte er sich
das Leben nie gedacht. Wie das nur kam, daß er so allein mit Binia durch
die lachende Welt wandern durfte? Womit hatte er es nur verdient? Rein
wie der milde blaue Herbsthimmel erschien ihm sein Leben, es war ihm,
als müßte es nun immer so bleiben und als stände nun die Zeit über ihm
und Binia stille.

Wie lange ist so ein glücklicher Tag!

Unvermerkt lenkten sie ihre Schritte abwärts, und mit freundlichem Zuruf
grüßte Binia das bunte Völklein der Winzer, dieses reichte ihnen dafür
Trauben und Pfirsiche über Mauern und Häge und lachte dem wandernden
Pärchen zu. Und wenn sie aus den Blicken der Erntenden waren, schob
eines dem anderen scherzend die Beeren in den Mund.

»Ich habe gar nicht gemeint, Josi, daß du so lieb und artig sein
könntest,« lachte Binia.

Als sie zu einer weinumrankten Osteria kamen, wo man die Aussicht auf
den Spiegel des Sees frei genießt, setzten sie sich auf eine Bank im
Garten. Die Wirtin, eine freundliche alte Frau, fragte, ob sie etwas zu
essen und zu trinken wünschen.

Als aber der Wein und das Essen vor ihnen stand, da nippten sie nur an
den Gläsern. Die Wirtin schaute ihnen etwas betrübt zu und versicherte
sie, daß die Speisen gut seien. Da langte Binia keck zu und legte ein
paar Schnitten des rötlichen Fleisches in den Teller Josis. Sie selber
möge nichts. Und sie plauderte mit der Wirtin.

Josi, der von der Unterhaltung nichts verstand, sah, wie Binia plötzlich
erglühte.

Als die Wirtin gegangen war, fragte er Binia, warum sie so rot geworden
sei.

Sie senkte, aufs neue errötend, das Köpfchen, schlug die Augen auf und
lächelte kaum merkbar: »Wenn ich's nur sagen dürfte -- sie -- hat
gefragt -- ob wir Brautleute seien.«

Da übergossen sich auch Josis Wangen mit dunklem Rot und seine Narbe
trat deutlich hervor. Zögernd fragte er: »Was hast du ihr geantwortet?«

»Es hat mich halt so schön angemutet, da habe ich 'Ja' gesagt.« Sie
flüsterte es mit feiner Stimme, sie lehnte sich zurück, daß er sie nicht
sehen konnte, sie schmiegte sich so an ihn, daß ihr weiches Haar, das
sich um die Schläfen wand, sein Ohr berührte und umschlang mit ihrem Arm
seinen Arm.

»Hätte ich es nicht thun sollen, Josi?«

Da suchten sich ihre Hände, und als sie sich gefunden hatten, flüsterte
sie: »Jetzt sind wir aber auch wirklich Brautleute.«

Josis Augen strahlten.

Da trat die Wirtin wieder zu ihnen. Von einem noch blühenden Stock
schnitt sie die Rosen und gab sie Binia mit einem Glückwunsch. Binia
steckte die Knospen an die Brust und nun drängte sie zum Fortgehen. Sie
wollte mit Josi allein sein.

Das erste Stück Weges gingen sie schweigend. Da sagte Binia wie im
Traum: »Ringe haben wir noch nicht!«

»Ich habe dir aber ein Andenken, Bineli -- einen Tautropfen von der
Krone. 'Tautropfen' habe ich dich immer genannt, wenn ich an dich
dachte, Bineli.«

»Das ist lieb,« sagte sie leuchtenden Blicks. »Ich möchte gern ein
Tautropfen sein, so rein, so frisch, so sonnenvoll, damit ich dir immer
gefalle, Josi. Ich habe ein Kettelchen mit einer Kapsel von meiner
Mutter selig, darein lege ich den Tropfen. Dann ruht er gewiß an einer
treuen Brust. -- Ich gebe dir diesen Mädchenreif -- er ist zu klein für
deinen Finger. -- Aber trag ihn auf dir. -- Küsse ihn jede Nacht und
denke an mich.«

Sie schmiegte sich zärtlich an ihn, er küßte sie auf die Schläfe.

Da küßte sie ihn auf den Mund -- er sie wieder.

Auf dem See lag ein weicher Abend und hüllte die Welt in Licht und
goldigen Duft. Binia sah in süßer Träumerei vor sich hin. »In drei
Jahren kommst du wieder, Josi. Und ich will dir treu warten und dann
alle Tage hinaus gegen den Stutz schauen, ob du gegangen kommst.«

In der Dämmerung erreichten sie die Nähe der Stadt wieder. Binia war
still. Die lange Wanderung hatte sie müde gemacht und ihre tolle
Entweichung aus dem Kloster lag nun doch schwer auf ihren Gedanken.

»Was wird man dir anthun, arme Bini?«

Sie zwang sich zu einem Lächeln: »Auf einem kantigen Scheit werde ich
neben der Nonne knieen müssen, welche die Nachtwache hat, und beten.«

»O, du armes Kind,« erwiderte Josi voll tiefen Mitleides.

»Nein, ich bin reich, ich denke dann immer an dich und an den langen
schönen Tag.«

Wie mild und innig das von ihren Lippen floß. Josi wußte nicht, sollte
er jauchzen vor Glück oder weinen, daß sie seinetwegen in so grausame
Strafe kam.

Am mondbeglänzten See betrachteten sie die kleinen Heiligtümer noch
einmal.

»Jetzt sind wir verlobt,« hauchte Binia, »jetzt bin ich deine Braut.«

Sie umarmten sich. Binia weinte vor Ergriffenheit, aber sie waren nun in
die Nähe des Klosteraufganges gekommen und plötzlich drückte sie Josi
heftig die Hand und küßte ihn leidenschaftlich: »Lebewohl, lieber,
lieber Josi, wir sehen uns gewiß wieder und es kommt alles gut.«

Dann riß sie sich los, kam nach ein paar Schritten noch einmal zurück:
»Josi!« Ein schmerzlicher Schrei aus blassem Gesicht, und dann
verschwand die flüchtige Gestalt im dunklen Laubengang. Josi stand und
starrte in die Dunkelheit, dann hörte er den schrillen Anschlag der
Klosterglocke. Als Binia nach einiger Zeit nicht wiederkam, da riß auch
er sich von der Stelle los.

Wachte er oder träumte er? Er küßte das Ringlein Binias, er dachte so
innig, so heiß an sie, die jetzt um ihn litt. Aber auch der Fluch des
Presi peinigte ihn wieder.

Als er am anderen Tag den Kopf ins Zimmer George Lemmys steckte, rief
dieser lustig: »Boy, der Fuß ist schon fast besser -- Felix Indergand
ist da -- morgen reisen wir!«

Da trat Indergand, der starke, kräftige Mann mit dem offenen Gesicht,
unter die Thüre: »Blatter, eben ist der Kreuzwirt von Hospel mit seiner
Nichte aus der Stadt gefahren.«

Mit nassen Augen ging Josi in einen Winkel und faltete die Hände: »An
die Weißen Bretter für Binia!« dachte er. »Was man im Namen der heligen
Wasser thut, das muß unabwendbar geschehen. Ich will's glauben wie die
zu St. Peter und dem Himmel mit einer That für den schönen Tag danken.«



XII.


Im Bären ist es, seit die Fremden fort sind, sonntäglich still. Der
Presi sitzt in der großen Stube am Tisch unter dem Meerweibchen, raucht
seine Zigarre und erwartet den Garden.

Draußen im Flur hört er Binias Stimme. »Wie sie schön singt!«

Der Presi hat eine aufrichtige Freude über die Wiederkehr Binias. Nicht
bloß weil damit ein böser, übereilter Streich gut gemacht ist, sondern
weil der Anblick des Mädchens sein Herz erquickt. Seine Augen bleiben,
so oft er es sieht, an dem Kinde hängen. Sie ist zwischen Siebzehn und
Achtzehn und der Aufenthalt auf Santa Maria del Lago hat ihr nicht im
geringsten geschadet. Sie ist frisch und schön, sie ist größer geworden,
die Gesichtsfarbe heller, aber sie ist kein Dorfmädchen, dafür sind ihre
Glieder zu zart. An der ganzen lieben Gestalt sieht man eigentlich
nichts als die Augen, die unter den langen Wimpern so groß und dunkel
sind, die so lebendig leuchten, daß einem darüber ganz warm ums Herz
wird.

Frau Cresenz hat gesagt, Binia habe die Augen von ihm, vom Presi, sie
sei überhaupt sein Ebenbild, aber nur so, wie ein feines junges
Tännchen einer Wettertanne gleiche.

Ueber diesen schmeichelhaften Vergleich lächelt er jetzt. Binia singt.

»Wenn sie nur nicht immer dieses häßliche Kirchhoflied singen würde,«
denkt er. »Aber es ist das einzige Lied, das sie kennt. Und das beste,
sie singt. Sie hat es seit dem Tod der seligen Beth nie mehr gethan. Ihr
Gesang beweist, daß ihr die Abreise Josi Blatters gleichgültig ist. Ja,
das Kind wird schon noch vernünftig, die Luft ist jetzt rein. Es ist
gut, daß ich mit dem Burschen nicht mehr geredet habe.«

Das Lied Binias bricht ab. Sie hat draußen ein kleines Wortgefecht mit
Thöni. Sie zanken sich wie ehedem.

Da kommt der Bursche in die Stube: »Es ist da ein Brief für Euch,
Präsident!« Und geht.

Der Presi liest, über sein vergnügtes Gesicht fliegen die Schatten
tiefer und tiefer, vom Vergnügen sieht man keine Spur mehr -- nur
zuckende Wetter.

»Gott's Donnerhagel, daß ich es an dem Tage nicht merkte, wo sie über
die Schneelücke gingen. -- Ein Telegramm -- sie hätte im Kloster bleiben
müssen. Ah -- ah -- eigens bereitgestellt habe ich sie ihm. O, was bin
ich für ein Kalb!« So führt er mit rotem Kopf das Selbstgespräch und
knirscht vor Wut.

In dem Augenblick, wo der Presi so ächzt, tritt der Garde mit schwerem
Tritt in die Stube und sieht die Verwüstung in seinem Gesicht.

»Was giebt's, Presi?« Da reichte ihm dieser nur den Brief der Priorin
von Santa Maria del Lago. Draußen hatte Binia ihren Gesang wieder
aufgenommen.

Als der Garde den Brief zusammenfaltete und ruhig auf den Tisch legte,
stöhnte der Presi: »He, das ist eine schöne Geschichte -- wenn man da
nicht verrückt wird. -- Ich schaffe das Kind wegen dem Rebellen fort,
daß sie einander aus den Augen sind, ich meine, es sei alles gut, und
biete den beiden die Gelegenheit, daß sie einen ganzen Tag ungestört
miteinander herumludern können. Das wird schön zu- und hergegangen sein
-- der lausige Blatter -- und mein Kind!«

Er preßte die Pratze an die Stirne.

»Schämt Euch, Presi! Ihr kennt Euer Kind -- ich kenne Josi. Da ist gewiß
weniger geschehen, als wenn die Bursche und Mädchen in Hospel draußen
auf dem Tanzplatz sind. Rechte Liebe ist ehrfürchtig, eines für das
andere.«

»Das ist keine rechte, das ist eine schlechte. Ich mag halt den
Wildheuerbuben nicht leiden.«

Da legte der Garde die schwere Hand auf die seines Freundes und Gegners.

»Hört, Presi! Im Frühjahr vor einem Jahr, damals, als Fränzi starb, habe
ich mehr aus Zorn über Euch als aus Barmherzigkeit Vroni zu mir
genommen. Und seither ist sie uns zum Segen und Sonnenschein geworden,
daß wir nicht mehr leben könnten ohne sie!«

»Ja, das weiß das ganze Dorf, daß Ihr als alter Knabe verliebt seid in
das Jüngferchen. Sie ist auch ein artiges Kind. Ihr hättet es mir wohl
in den Bären geben können.«

Mit einem höhnischen Lächeln sagt es der Presi. Der Garde aber fuhr in
ehrlicher Entrüstung los: »Verliebt. -- Presi, schaut, wie viel graue
Haare ich habe im Bart. Wißt Ihr, wie die gekommen sind? Die stammen
von Eusebi und meinem Weib. Schier hintersinnt hat es sich, daß der
Bube, für den sie so viel gelitten hat und für den ich an die Weißen
Bretter gestiegen bin, als ein Blödling aufgewachsen ist. Wir haben
keine wahre Lebensfreude gehabt, der Bub hat nicht erwachen wollen und
die Gardin hat sich halb zu Tode gekränkt, daß ihr just so einer als
einziger beschieden war. Als er fünfzehn gewesen ist, hat er immer noch
nur blöde zugeschaut, wie die anderen gearbeitet haben, und hat mit den
Steinchen gespielt. Meint, Presi, das hat mir und der Gardin ins Herz
geschnitten, wir haben oft den ganzen Tag gar nicht zusammen reden
mögen. Jetzt aber, seit Vroni da ist, ist er wie ausgewechselt. Fröhlich
sichelt er neben ihr oder hält mit den Knechten die Mahd, die schwachen
Arme sind stark geworden, er stottert kaum mehr und hat Freude am Reden.
Das Herz geht mir auf, wenn ich daran denke. Lacht nur, aber es ist, wie
wenn ein Wunder des Glückes über den Burschen gegangen wäre.«

Der Presi streckte dem Garden hell und lustig auflachend die Hand hin:
»Ich verstehe Euch schon, ich wünsche Euch Glück zur Schwiegertochter.
Ich hätte einen anderen Geschmack gehabt, Garde.«

Einen Augenblick verwirrte der Spott des Presi den Garden, dann
erwiderte er ruhig: »Ich wollte gern, das Mädchen, das artige, gute,
nähme Eusebi, ich darf es ihm nicht zumuten -- nein -- nein -- ich
dränge sie nicht zusammen. Die zwei müssen sich von selber finden.«

Als er den Hohn sah, der über das sauber rasierte Gesicht des Presi
spielte, versetzte er barsch: »Ich gebe Vroni, auch wenn sie Eusebi
nicht nimmt, eine Aussteuer, wie sie in St. Peter keine Bauerntochter
bekommt, ich wünsche nur, daß sie noch ein paar Jährchen bei uns
bleibt.«

»Ihr werdet ihr schon etwas Rechtes geben müssen, Ihr erzieht ja das
Kind, als wär's vom Herrenhaus zu Hospel. Ist's denn richtig, daß sie
eine eigene Mauleselin besitzt?«

»Wohl, wohl, die besitzt sie. Ihr werdet sehen, wie schön sie auf der
Blanka zur Weinlese reitet!«

»Nun, wenn Armeleutekinder so verzogen werden, so kann's in St. Peter
gut kommen!«

»Presi, seid doch still! -- Eure Fremden verderben das Thal, da wäre
viel zu reden. Jetzt hat der Glottermüller auch eine Wirtschaft
aufgethan. Das böse Beispiel.«

»Ja, was ist denn an Vroni Besonderes,« lenkte der Presi ab, »daß Ihr
dem Kinde ein Maultier geschenkt habt.«

»Es ist etwas geschehen, was ich nicht habe erwarten dürfen, Presi.
Gerade wie Josi fortgereist ist, bin ich mit Eusebi an die
Militäreinschreibung zu Hospel geritten. Fast gezittert habe ich vor dem
Tag und gefürchtet, Eusebi werde vor Scham, daß man ihn nicht zum
Militär nehme, wieder ein Blöder. Ich sitze während der Prüfung der
Rekruten im Kreuz und mache mir trübe Gedanken. Da kommt Eusebi früher
als ich ihn erwartet geeilt. 'Vater,' jauchzt er, 'man hat mich
angenommen.' Er zittert vor Seligkeit, daß er das Glas nicht halten
kann, das ich ihm biete. Und ich kann nicht 'zum Wohlsein, Soldat!'
sagen, so hat mich die Freude, die ich nicht habe zeigen wollen,
gedrückt und gewürgt. 'Weißt, Vater,' erzählt er, 'wie mich so einer
mit Augengläsern angesehen hat, ist mir immer gewesen, Vroni stehe
hinter mir und sage mir das, was ich antworten solle.' Ich aber denke
jetzt immer nur: 'Eusebi ist Soldat, er ist kein Blöder mehr!' Ihr
hättet mir das schönste Heimwesen im Glotterthal schenken können, so
gefreut hätte es mich nicht. Da meint Eusebi: 'Darf ich Vroni nicht ein
Krämlein bringen?' -- 'Allerwegen,' antworte ich, 'deine Schulmeisterin
muß einen Kram haben,' ich gehe zum Maultierhändler Imahorn in Hospel
und von vierzehn Stuten kaufe ich die schönste, und wie wir heimkommen,
sage ich: 'Die ist für dich, Vroni, weil Eusebi zum Militär angenommen
worden ist!' Einem anderen, Presi, aber habe ich auch gedankt, ich habe
zweihundert Franken ins Spendgut von St. Peter gelegt, und bin noch
heute aus Vaterfreude in Vroni und in unseren Herrgott vernarrt.«

Der Presi wiegte bei der warmen Rede des Garden spöttisch das Haupt,
aber seine Stimmung war eine bessere geworden. Auf den Brief der Priorin
deutend, murrte er: »Und nun meint Ihr -- das ist doch Eurer Rede
Sinn --, daß ich Josi auch auf einen Esel setzen soll? Die zwei
achtbarsten Männer von St. Peter die Schwiegerväter der Wildheuerkinder
und so eine Art Gegenschwäher!«

Mit lachendem Hohn stieß er sein Glas an das des Garden. »Sagt ehrlich,
wenn es Eusebi so tagt im oberen Stübchen, was wär's mit ihm und Binia?
Der Bund zwischen zwei ehrenwerten Familien wäre doch eine andere Freude
als nur eine Verwandtschaft durch die Wildheuerkinder.«

Man wußte nicht recht, war es Scherz oder Ernst, so eigentümlich sprach
er es, der Garde aber schüttelte den mächtigen Kopf: »Etwas langsam ist
halt Eusebi immer noch, Binia aber, das Prachtkind, ist ein rasches,
heftiges Blut. Das paßt wohl nicht zusammen.«

»Aber zum Rebellen, der sich in den Bergen herumtreibt, paßt die
Rebellin, die aus dem Kloster läuft -- -- nicht wahr, Garde,« sagte der
Presi halb höhnisch, halb lustig.

»Ho!« erwiderte sein Gastfreund, »ich meine, Josi Blatter wäre mir an
Eurer Statt so lieb wie Thöni Grieg.«

»Ta-ta-ta, wie kommt Ihr auf Thöni Grieg! Er und Binia verkehren ja wie
Hund und Katze. Jetzt will ich aber doch die Vagantin einvernehmen. Bini
-- Bini!« -- Er stand auf und rief es durch die Thüre.

Das Mädchen, das mit seinem Gesang aufgehört hatte, als die beiden
Männer laut geworden waren, erschien, nichts ahnend, mit
freudestrahlendem Gesicht.

»Da lies diesen Brief,« sagte der Presi streng. Ein Blick Binias in das
Schreiben, sie wurde dunkelrot und zitterte.

»Was habt ihr an dem Tag gethan? -- rede nur, der Garde darf es auch
hören.« Es klang nicht eben bös, wie es der Presi sagte.

Binia stutzte einen Augenblick, ihre Röte ging in Totenblässe über. Sie
warf sich vor ihm auf die Kniee, umschlang die seinen und hauchte leise,
doch fein und klar: »Vater, ich darf's fast nicht sagen, wie ungehorsam
wir gewesen sind. -- Josi und ich haben uns -- verlobt.«

Der Presi sprang auf, nahm sein Glas und warf es neben die Knieende auf
den Boden, daß es in hundert Stücke zersplitterte.

»Und ihr meint, ich sei der Narr im Spiel!« keucht er heiser, taumelt
und will mit den Fäusten auf sie los, aber der Garde hält ihn: »Laßt sie
ausreden!« und wie der Presi sich nicht setzt, umspannt er ihn mit
seinen eisernen Armen und drückt ihn auf den Stuhl. »Hockt ab, Presi,
und hört. Dann sprecht!«

Binia wollte sich flüchten. »Bleibe, Kind!« knurrte sie der Garde an.

Der Presi schnaubte und zischte: »Der Hund! der Hund! Wie wagt er sich
an dich? He, schöne Augen hast du ihm gemacht, du!«

Wie ein Marmorbild stand Binia mit dem Rücken an der Wand, an die sie
hingetaumelt war, nur die wogende Brust und die bebenden Nasenflügel
verrieten das pulsierende Leben.

»Vater -- tötet mich -- aber ich sage es! -- Ihr seid mit Fränzi verlobt
gewesen, Ihr habt sie ohne Grund verlassen; ich aber muß an Josi gut
machen, was Ihr an ihr bös gemacht habt. Das hat mir die selige Mutter
eingegeben; ich liebe Josi, Vater, ich kann sterben, aber ich lasse ihn
nicht, ich habe alles gehört, was Ihr am Wassertröstungstag mit der
Fränzi geredet habt. Da ist mir die Liebe gekommen.«

Wie merkwürdig die feine verhaltene Stimme klang, ein Singen war es,
mehr als ein Reden, ein sonderbares Singen, wie wenn der Wind durch die
Waldwipfel streift, ein Ton, als flüstere er aus schweigender Höhe.

Die Stimme brach, die Unglückliche schwankte und tappte der Wand entlang
gegen die Thüre.

»Du --«

Von schaumbedeckten Lippen zischte das gräßliche Wort, das Wort, das ein
reines Mädchen tötet.

»Presi! Ihr habt Euch vergangen!« stößt der Garde mit einem Blick
hervor, als wolle er sich auf ihn stürzen.

Der Presi röchelte. Plötzlich schoß er auf und faustete. Dann sank er
entkräftet auf einen Stuhl -- ächzte -- und nach einer Weile stöhnte er
wirr: »Jetzt ist es klar. -- Fränzi -- das hat mich immer gewundert,
wohin das Kind an jenem Morgen aus meiner Stube verschwunden ist. -- --
Bini -- Bini. -- -- Seppi Blatter -- Fränzi -- ihr seid grausam gegen
mich!«

Der Presi schwieg, nur die Lippen zitterten. Erst als seine Wut in eine
weinerliche Wehmut überging, die dem gewaltigen Mann fast komisch stand,
sagte der Garde feierlich: »Ich will Euch eine Geschichte erzählen, ich
habe sie von Fränzi.«

Der Presi krümmte sich unter dem Namen.

»Hört, Presi! Auf der Burg zu Hospel saß ein Ritter. Seine Tochter
liebte einen Knappen. Zornig darüber ließ der Vater den Jüngling über
den Felsen, auf dem die Burg stand, werfen, die Jungfrau aber stürzte
sich aus Verzweiflung in den Strom. Bald darauf machte der Ritter eine
Bußfahrt nach Rom. Als er über den Gletscher kam, da standen im Eis weit
voneinander die armen Seelen der Liebenden. Sein Töchterlein lächelte.
Da fragte der Ritter: 'Warum lächelst du, Kind, während du doch so
frierst?' Sie antwortete: 'O Vater, siehst du nicht, daß ich und mein
Liebster bald beisammen sind?' Er sah zwischen ihnen nur das weite
harte Eis. Als er aber nach drei Jahren zurückkehrte, da waren die armen
Seelen einander so nahe gekommen, daß sie sich mit den Händen
erreichten. Bestürzt darüber, daß das Eis barmherziger war als er und
nachgab, bereute er seine Härte bitterlich. Da hörte er eines Tages eine
Stimme vom Berg: 'Vater, trauere nicht mehr!' Da wußte er, daß die große
Liebe das Eis ganz überwunden hatte und die armen Seelen dicht beisammen
standen.«

»Wozu das?« fragte der Presi dumpf. »An die armen Seelen glaube ich
nicht!«

»So -- meinetwegen -- aber glaubt Ihr, Ihr seid stärker als der Ritter
von Hospel? -- Ihr seid stärker als der Gletscher?«

Der Presi stöhnte.

»Josi und Binia,« fuhr der Garde mit getragener Stimme fort, »es giebt
kein schöneres Paar im Glotterthale, aber auch nicht zwei so wilde
Herzen wie sie.«

»Ich mag aber nicht der Narr sein im Spiel,« stöhnte der Presi in wehem
Zorn, -- »ich will nicht, daß mein Kind nur so über mich
hinwegschreitet. -- Das verzeihe ich Bini nie!«

»O Presi, das Verzeihen werdet Ihr schon lernen. Ich an Eurer Stelle
würde auf ein schönes Alter denken. Wenn Ihr aber den Kopf zu stark
setzt, so seht zu! Dann kommt der Tag, wo Ihr auf den Knieen zur Lieben
Frau an der Brücke rutschen würdet, wenn Ihr Bini nur Josi geben könntet
und sie friedlich wüßtet. Gönnt ihnen beizeiten ein grünes Plätzchen zum
Glück, sonst steigen auch sie auf die Berge und halten dort oben wie der
Knappe und das Fräulein Hochzeit als schuldige Seelen.«

»Ihr meint an den Weißen Brettern!«

Der Presi sprach es mit stieren Augen. Er zitterte und sein Gesicht
hatte sich verzerrt.

»Was sagt Ihr?« fragte der Garde überrascht.

»O Garde -- es ist nur ein schrecklicher Traum, aber er ängstigt mich.
Ich habe Binia mit blutendem Haupt neben dem jungen Blatter an den
Weißen Brettern gesehen.«

»Herrgott im Himmel, was sagt Ihr, Presi? Das herrliche Kind, wie nicht
alle hundert Jahre eins im Berglande wächst, stand blutend an den Weißen
Brettern?«

»Ja, mein Kind, meine Bini, die ich so unendlich liebe und die mich so
elend macht.«

Und die Wehmut überwog den Zorn.

»Presi! Träume sind Schäume, sagt man, der Traum aber kommt aus dem
Gewissen -- es steht böse darin -- macht Ordnung -- an Seppi Blatter, an
Fränzi habt Ihr es verbrochen -- macht es am Sohn gut -- spürt Ihr
nicht, wie das Schicksal Josis und Binias Zug um Zug über Euch ist. --
Merkt Ihr es nicht, Presi? -- Macht Ordnung!«

Wie Hammerschläge fallen die Worte des Garden auf die Brust des Presi.
Er bebt, er schwitzt.

»Wohl, ich merk' es -- ich merk' es, Garde, sonst hätte mir das meine
Binia nicht angethan -- ich hätte den Josi Blatter nicht nach Indien
gehen lassen sollen. -- O Garde! -- Mir ist, ich könnte ihn lieb haben.«

Wie aus gebrochenem Leib stöhnte es der Presi.

Schon glaubte der Garde ihn gewonnen zu haben. Da trat Frau Cresenz in
die Stube und wischte die Scherben des zerschmetterten Glases zusammen.
Ohne daß sie recht wußte, was vorgefallen war, jammerte sie: »Das Kind
ist halt ganz der Vater, das kann man nicht ändern, das sind zwei harte
Köpfe.« Und dann wandte sie sich an den Presi und tröstete ihn mit
fraulicher Milde, aber mit Worten, die nicht tief geholt waren und nicht
tief gingen.

Der Garde hätte viel darum gegeben, die Frau wäre nicht gekommen oder
wenigstens rasch wieder gegangen, als sie aber blieb, da wurde er über
die Störung wild und ging selbst.

»Sie ist eine wohlmeinende und rechtschaffene Frau, aber das Weib, die
Mutter von unergründlich tiefem Herzen, das an diesen Posten gehört, ist
sie nicht.«

So knurrte er, als er über die steinerne Treppe hinunterschritt.

Als er am anderen Tag mit dem Presi reden wollte, war dieser hart wie
Glas, die beiden gewaltigen Männer, die sich sonst so gut verstanden
hatten, überwarfen sich und der Verkehr von Haus zu Haus hörte auf. Nur
Vroni und Binia sahen sich noch zuweilen.

»Bini ist eine Spinnerin geworden!«

So sagten die Leute von St. Peter und streckten dabei den Zeigefinger
gegen die Stirn. Man munkelte, sie sei im Kloster Madonna del Lago
mißhandelt worden. Um den bösen Segen, den sie und Josi von Kaplan
Johannes empfangen haben, zu vertreiben, hätten ihr die Nonnen jede
Nacht unter Gebet so viel Wasser, Tropfen um Tropfen, auf das Haupt
gespritzt, daß mit dem bösen Segen auch ein Stück guter Seele von ihr
gewichen sei. Und das suche und suche sie in Gedanken.

Die thörichten Leute! Binia war allerdings, nachdem sie aus dem Kloster
gekommen, eine Weile blaß und wankte wie ein Schatten einher, aber nicht
die Nonnen hatten sie, den lustigen Wildling von ehemals, zu der
Schweigerin gemacht, die, wieviel in ihr lebte, der Welt nichts als die
großen dunklen Augen wies.

Ein einziges, gräßliches Wort des Vaters!

Und jetzt warb er nicht um sie wie einst -- er setzte sich nicht an ihr
Bett, er flüsterte nicht: »Meine Maus -- mein Gemslein.« Er sagte nicht:
»Du lieber, lieber Vogel.« Jetzt war auch keine Fränzi mehr da, die ihr
zu mitternächtiger Stunde das wirre Köpfchen zurechtsetzte.

Droben in ihrem Kämmerlein schluchzte sie: »Mutter -- liebe tote Mutter:
Es ist schrecklich -- wie mich der Vater verachtet. -- Und er ist doch
so ein herrlicher Mann. -- Und Josi muß ich halt lieben.«

Manchmal wußte sie nicht, war es die Empörung gegen den Vater, war es
die Liebe zu ihm, die stärker in ihr wüteten. Ein Blick -- ein
herzliches Wort -- sie wäre jubelnd an seine Brust geeilt. Aber sein Ton
blieb kalt wie das Eis der Gletscher, sein sonnenhelles Auge wurde,
sobald er sie erblickte, lauernd und mißgünstig. Und das entsetzliche
Wort, das er ihr entgegengeschleudert -- das saß!

Allein es ist nun wunderbar! In einem jungen Herzen kann die Hoffnung
nie sterben. Dazu muß der Mensch alt sein -- alt -- alt! Mißhandelt ein
junges Herz, zerbrecht es. Ein Sonnenstrahl, und lächelnd liest es seine
Scherben auf, streicht mit zitternder Hand darüber, und es ist fast das
feurige Herz von zuvor.

Wie ein Tännling ist die Jugend. Ein Stein saust aus der Höhe und
schlägt ihm die Kerze ab, die er so lustig in das Spiel der Winde erhob.
Was thut der arme Tännling? -- Er richtet ein Zweiglein gerade auf, das
wächst emsig Tag und Nacht und wird zur Kerze, und kaum der Forstmann
erkennt noch, daß der Tanne einmal die Krone abgeschlagen war. Aber eine
junge, kerngesunde Tanne muß es sein, sonst bringt sie das Wunder nicht
zu stande.

Binia war eine junge, kerngesunde Tanne.

Sie wurde die stille Wohlthäterin des Dorfes und übte ihren Herzensberuf
mit der Frische und Wärme der Jugend. Sie guckte mit einem guten Lächeln
in die Hütten, wo ein Weib, wo Kinder krank lagen, und plauderte Liebes
mit ihnen. Sie gewann die Herzen und versöhnte. Wenn sie fort war, lag
eine Blume auf dem Bett oder es klang ein Wort nach, das Glück
verbreitete -- und ihre größte Kunst -- sie wußte jedem das, was er
bedurfte, so zu geben, daß es kein Almosen war.

»Redet einmal mit Binia, die weiß schon Rat,« sprach man im Dorf, »sie
hat noch das bessere Herz als die selige Beth.«

Und seltsam! Der Presi ließ sie gewähren. Wie der Name Josi Blatter, so
schwand auch die tolle Besprechungsgeschichte aus den Gesprächen der
Leute von St. Peter, sie sagten nur:

»Wie ein Engel geht sie durchs Thal.«

Unter den Gästen war niemand, der sie nicht liebte. Manche junge
vornehme Töchter stellten sich wie Schwestern zu ihr: »Binia, Sie liebes
gescheites Bergkind, wenn wir Sie nur mit in die Stadt nehmen könnten,
man bekommt ja ein heißes Heimweh nach Ihnen.«

Einer aber verging fast vor Eifersucht, wenn ein junger Herr der alpigen
Rose ein Röslein schenkte.

Thöni Grieg!

Die schmähliche Versteigung an der Krone, die ihn dem Gelächter des
Dorfes preisgegeben hatte, war der Anlaß, daß er nacheinander die
Bubenschuhe, zuerst den einen, dann den anderen, ausgezogen hatte. Und
nach dem großen Donnerwetter von damals stellte sich der Presi besser
als je zu ihm.

Thöni besorgt die Post, die im Sommer wichtig genug war, gewissenhaft,
ebenso die Zufuhr der Lebensmittel von Hospel und war den Fremden im
Haus durch sein fröhliches Temperament ein angenehmer Gesellschafter.

Mit Binia aber zankte er sich immer noch. Und wie!

»Mache ein anderes Gesicht gegen mich, du Wildkatze mit den
Teufelsaugen!«

»Thöni, schäme dich doch, dich hat man ja von den Kronenplanken holen
müssen.«

»Ich würde schweigen, wenn ich wegen einem Rebellen in Santa Maria del
Lago versorgt gewesen wäre.«

Wütend lief Binia davon. Sie wußte wohl, daß ihr der Vater mit Santa
Maria del Lago einen Schimpf angethan hatte -- einen Schimpf, den sie
erst verdient hatte, als sie mit Josi in die prangende herbstliche Welt
hinausgelaufen war. Aber sonderbar, der Tag glänzte wie ein Stern in
ihren Gedanken, sie lächelte jedesmal verträumt, wenn sie seiner
gedachte.

Doch wenn sie dann vor sich hin staunte, so fuhr Thöni wie ein wildes
Tier dazwischen.

»Jetzt denkst du schon wieder an den lausigen Rebellen. Ich töte ihn,
wenn er je wieder nach St. Peter kommt. Binia, jetzt gieb mir einmal
ein gutes Wort -- oder -- oder --«

Ein verzehrender Blick traf sie. Eines Tages wußte sie es: Hinter seinen
Beleidigungen stand die wütende Eifersucht.

Sie fürchtete Thöni und er merkte es.

»O, ich thue dir nichts,« sagte er vorwurfsvoll, »aber wenn du nicht
anders zu mir wirst, so stelle ich an mir selbst ein Unglück an.«

»Thöni,« erwiderte sie kühl, »wenn du das nur über die Lippen bringst,
so ist es kein Schade für dich. Du machst ja jetzt Bälzis Kind den Hof.«

»O, nur aus Verzweiflung, daß du, statt mit mir lieb zu sein, mich
kratzen möchtest.«

»Dann wollt' ich aber sie nicht sein!« spottete Binia.

Sie gab ihm kein gutes Wort.

Zwischen Thöni und Bälzis Aeltester, die im Bären Magd geworden war, kam
es so weit, daß Frau Cresenz, um den Unwillen der Gäste gegen die
Liebeleien zu beschwichtigen, das sonst anstellige Mädchen mitten im
Sommer entlassen mußte. Jeden Abend, oft noch sehr spät, lief er aus dem
Haus, man munkelte, zu ihr.

Es geschah aber heimlich und hinter dem Rücken des Presi, und Frau
Cresenz schwieg, sie fürchtete die Händel.

So ging der Sommer.

Da machte Binia in den letzten Tagen zufällig eine merkwürdige
Erfahrung. Ein alter ehrbarer Schweizermann, der ihr sehr streng
geschienen hatte, den sie aber doch liebte, sagte Abschied nehmend zum
Vater: »Schön ist's im Glotterthal -- und ein Meitli[28] habt Ihr
schon, Herr Präsident, daß man noch einmal jung werden möchte!«

  [28] _Meitli_, schweizerdeutsch, so viel wie Mädchen, Tochter.

Nun horchte sie mit pochender Brust auf die Antwort des Vaters.

»Ja, meint Ihr, ich habe den Vogel nicht auch lieb? -- Für wen rackere
ich mich denn? Ich hätte den Mut für das Vielerlei des Geschäftes nicht
ohne das sonnige Kind!«

Das sagte der Vater, der ihr nie ein warmes Wort, einen vollen
rückhaltslosen Blick gab.

Sie mußte an sich halten, daß sie nicht laut aufjauchzte, sie rannte und
sprang wie ein Reh und die Gäste fragten: »Haben Sie denn Sonntag in den
Augen, Binia?«

»Ja freilich, das Leben ist halt schön!« lachte sie und fort war das
Reh.

»Ist das eine liebe Hexe -- eine herzbezwingende Gestalt,« redeten die
Gäste hinter ihr.

Es war im Herbst, der Vater zählte mehrere Rollen Silber und Gold -- er
schmunzelte, er lachte, er trank Hospeler dazu. Dann redete er irgend
etwas mit Frau Cresenz, die ihn bald wieder verließ, und plötzlich sah
Binia, wie er vor sich hin faustete: »Sie ist ein Affe -- sie ist ein
verdammter Affe. -- Die selige Beth hat doch nicht immer Ja gesagt,«
hörte sie ihn murmeln.

Binia kannte den Vater genau. Er konnte den Widerspruch nicht leiden,
aber wenn ihm von Zeit zu Zeit niemand ernsthaft widersprach, so war es
ihm auch nicht wohl. Und daß er der toten Mutter ehrenvoll gedachte,
freute sie tausendmal.

Heute war der Vater entschieden verstimmt über Frau Cresenz. »Der Affe!
Niemand hat man, mit dem man ein vernünftiges Wort reden kann, als
Thöni.«

»Als Thöni!« Binia glühten die Wangen vor Eifersucht, sie hob sich auf
die Zehenspitzen und von rückwärts, so daß der Vater sie nicht sehen
konnte, lief sie auf ihn zu, schlang die leichten Arme um ihn und
drückte ihren frischen roten Mund mit süßem Kuß auf seinen Mund. »Kind!
-- Binia! -- Was willst?« -- Der Presi war ganz erschrocken.

Sie lächelte ihn an, fröhlich und schmerzlich zugleich, flehentlich und
hoffnungsvoll.

»Kehre mir das Herz nicht um mit deinem Lachen -- ich ertrage es nicht.«
Der Presi sagte es unsicher.

»Wohl, wohl, umkehren möcht' ich's dir, Vater, ich möchte die Liebe
darin sehen! Vater -- ich halte es auch nicht mehr aus, ohne daß du ein
bißchen lieb mit mir bist.«

Da war der harte Presi überwunden, es ging ein glückliches Lächeln über
sein eben noch finsteres Gesicht. Und er nahm ihre beiden Hände: »Ja,
Vogel, ich muß mit dir reden. -- Du bist ja jetzt in einem Alter, wo man
keinen Tag sicher ist, wenn ein junger Mann den fröhlichen Finken
einfangen will. -- Kind, ich habe nur dich und wünsche, daß du glücklich
werdest. Ich gebe dir die Wahl frei und will dir nicht einreden, wen du
heiraten sollst, das ist ganz deine Angelegenheit.«

Mit rotem Köpfchen saß Binia da -- sie schluckte, als wollte sie etwas
sagen.

Ein mißtrauischer Blick des Vaters, dann sagte er streng: »Es giebt
einen Namen, der in unserem Haus nicht mehr ausgesprochen wird.
Verstehst du! -- Im übrigen habe ich dir die Jugendthorheit verziehen.«
-- --

Binia steht sinnend in ihrer Kammer.

Zwei Jahre noch -- dann kommt Josi -- er kommt wie ein Held -- er tritt
mit einer That vor das Volk, so gewaltig, wie noch keine im Bergland
geschehen ist -- er erlöst St. Peter von der Blutfron an den Weißen
Brettern und alle jubeln: »Josi Blatter ist größer als Matthys Jul.«

Und er besiegt den Vater.

So lang will sie tapfer kämpfen, den Vater nicht reizen, aber Josi treu
sein im Herzen.

Und unter Thränen lächelnd küßte sie den Tautropfen, den er ihr gegeben
hat.



XIII.


»Pate! -- Ein Brief von Josi! Er ist gesund, es geht ihm gut.« Mit
strahlendem Gesicht jubelt es die sonst zur Stille geneigte Vroni und
hält den in großen ungefügen Buchstaben gemalten Brief in zitternden
Händen. »Hört, wie er lautet:

»Liebes Schwesterlein! Ich will Dir auch wieder einmal berichten, wie's
mir geht. Es geht mir gut und George Lemmy ist recht mit mir, aber
scharf und vom Schaffen klöpft[29] mir schier der Rücken. Das ist
gesund. Wir sind jetzt an einem Berg, der heißt Himalaja. Die Stadt
heißt Srinigar, aber wir sind nicht darin. Wir machen eine Straße.
Liebes Vroneli, Du wirst denken, ich schreibe nicht schön. Das kommt vom
Felsensprengen und Du mußt nicht lachen. Thue Dich gar nicht kümmern
wegen mir. Bet und denk an die Mutter selig. -- Und an den Vater selig,
was ich auch thue. Es ist dann noch etwas wegen der Binia, aber sie hat
es Dir gewiß schon erzählt. Und wenn ich in der Nacht zwei Sternlein
beisammen sehe, so sage ich: 'Du liebes Bineli -- du liebes Vroneli'.
Ich muß manchmal in den Hemdärmel beißen, sonst würde ich brüllen[30].
Der Indergand vertreibt mir etwa das Heimweh. Das Papier ist aus. Ich
lasse das Bineli tausendmal grüßen, Dich auch, den Eusebi und alle. Und
ich komme dann schon wieder heim. Schreibe mir recht bald. Dein treuer
Bruder Josi. Die Adresse steht auf dem Umschlag.«

  [29] _klöpft_, schweizerdeutsch, so viel wie »bricht«.

  [30] _brüllen_, schweizerdeutsch, »heftig weinen«.

Noch am gleichen Tag schrieb Vroni einen viel größeren Brief, als sie
empfangen, an Josi. Wie in ihrer Hand die Feder gut lief!

Aber über eine Stelle hinweg wollte sie nicht gehen, auf diese fielen
ein paar Tropfen, die den schönen Brief fast verdarben.

Die unglückselige Liebe zu Binia! Sie wollte dem Bruder nichts
Betrübliches schreiben, aber sie wußte schon, daß aus dieser Liebe
nichts Gutes entstehen konnte. Binia war fast noch die Schlimmere als
Josi. Auch jetzt kam sie gelaufen und bat und bettelte, daß sie den
Brief lesen dürfe. Als sie ihren Namen darin sah, wurde sie ganz
überstellig und tanzte mit Vroni. Und unter den Brief Vronis schrieb
sie:

»Tausendmal geliebter Josi! Denke nur immer an die zuckenden Vögel von
Santa Maria del Lago und lasse die Hoffnung nicht fahren. Sie haben
schon den Tod gesehen, und nun fliegen sie doch über Land und Meer. In
herzlicher Liebe und Treue. Dein Bineli.«

Vroni sah den Gruß mit Schmerzen, der trotzige Mut Binias, die doch mehr
einer wehrlosen Blume als einer Kämpferin glich, kam ihr wie eine
Vermessenheit vor.

Von diesem Kummer abgesehen, ging es Vroni gut.

Wenn sie am Sonntagmorgen mit dem Garden, der Gardin und Eusebi im
Glotterhütchen, unter dem die zwei blonden Zöpfe niederhingen, mit
blauen lachenden Augen, das hellseidene gefranste Brusttuch über die
junge Fülle gekreuzt, das silberbeschlagene Betbuch und den
Rosmarinstrauß in den Händen, sittig die Kirchentreppe zum Kirchhof
hinaufschritt, so flüsterten die Leute: »Wenn nichts Ungeschicktes
dazwischen kommt, so giebt die keine Wildheuerin.«

Am hübschesten aber war die Zwanzigjährige wohl, wenn sie mit Rechen und
Gabel frisch und gesund im Morgentau über die Wiesen schritt. Etwas vom
stillen Wesen der Gardenfamilie war auf sie übergegangen, ein rasches
Vorwärts, ein lautes Thun war nicht ihre Sache, aber was sie in Ruhe
that, ging ihr mühelos und anmutig von der Hand. Und wo sie in stillem
Frohsinn mitwerkte, lief allen alles leicht, die Knechte sogar sagten
es.

Und sie selber wünschte sich nichts Schöneres, als das wandernde
Sommerleben der Bauernleute von St. Peter. Für ein paar Tage ritt man,
das Notwendigste zum Unterhalt mitnehmend, nach Hospel in die Reben, wo
jeder Bauer von St. Peter ein kleines Haus besaß, dann hielt man sich
einige Tage auf der Maiensässe auf, um dort das Vieh grasen zu lassen
oder zu heuen, wieder etwas später arbeitete man auf dem Acker beim Dorf
und am Sonntag ritt die Familie auf die Alpen zu Besuch.

Da saß der ganze Haushalt mit den Knechten vor der Hütte, die Glocken
des Viehes klangen friedlich in die tiefe Stille und die Enzianen
standen wie im Gebet.

»Vroni, erzähle eine Geschichte,« sagte das eine Mal der Garde, das
andere Mal die Gardin, selbst Bonzi, der Viehknecht, war ein dankbarer
Zuhörer, und mancher, der des Weges kam, setzte sich auch hinzu, Vronis
Glockenspiel hatte bald eine kleine Gemeinde, darunter junge hübsche
Burschen, die sich nicht bloß wegen der Geschichten in den Kreis
drängten.

»Sie ist halt grad wie die Fränzi selig, darum hält sie der Garde so in
Ehren.«

So sprach man im Dorfe, und niemand war Vroni gram, die Burschen aber
waren ihr gut.

»Frau,« sagte der Garde, »wir müssen uns entscheiden. Es geht um das
Mädchen wie um frisches Brot. Vor vierzehn Tagen hat der Fenkenälpler
gefragt, ob sein Aeltester am Sonntag zum Mittagessen kommen dürfe. Er
würde Vroni gern einen Antrag machen. Heute ist der alte Peter Thugi
gekommen und hat so eindringlich gebeten, wir möchten sie dem jungen
Peter geben, er sei ein so guter und ehrbarer Mann. Ich habe aber beiden
abgewinkt.«

»Hättest du doch lieber zugesagt,« schmollte die Gardin, »Vroni setzt
sich sonst noch in den Kopf, sie bekomme Eusebi.«

»Geschehe nichts Schlimmeres!« erwiderte der Garde.

»Und ich meine, es wäre jetzt, wo Eusebi im Militärdienst ist, gerade
die rechte Gelegenheit, daß wir Vroni aus dem Haus bringen, natürlich in
allen Ehren. Ich habe nichts gegen sie -- es geht mir nur so stark gegen
das Herz, daß unser einziger ein Wildheuermädchen nehmen soll. Hätte ich
drei Buben, so könnte einer schon Vroni nehmen -- aber der einzige. Wir
sollten doch auch auf eine gute Verwandtschaft sehen! Und Eusebi ist so
zuweg, daß er überall anfragen darf.«

»Das thätest du deinem Buben zuleide, daß du Vroni in seiner Abwesenheit
gehen ließest. -- Nein, Gardin, Vroni bleibt da!«

Mit Festigkeit erklärte es der Garde.

Frisch und lebensfroh kam Eusebi vom Dienst zurück. »Vater, ich habe
mich furchtbar zusammennehmen müssen, daß ich immer nachgekommen bin,
aber es ist gut gegangen.« Das spürte man Eusebi an. Er erzählte seine
Erlebnisse so hellauf, wie ihn noch nie jemand gesehen.

»Ja, aber Eusebi,« lachte der Garde, »bei uns giebt's auch Neuigkeiten.
Vroni bleibt wohl nicht mehr lang da, die Burschen im Dorf gucken sich
fast die Augen aus nach ihr, und zwei, die ich nicht verraten will,
haben sich schon als Freier gemeldet.«

Vroni, die dabei stand, als der Garde so redete, glühte wie eine Rose
auf: »Ich will aber keinen, ich bleibe bei euch, Garde. Und wer wollte
sich auch im Ernst um mich kümmern? Es ist mir am wohlsten, wenn ich
ledig bleibe.«

Schön war sie in ihrer tiefen Verlegenheit, wie sie, das Haupt gesenkt,
mit zitternden Fingern an den Haften ihres Mieders nestelte.

Eusebi aber riß an seinem Schnurrbärtchen, daß es ihm in den zuckenden
Fingern geblieben wäre, wär's nicht so fest angewachsen gewesen. Wie
unvorsichtig war es, denn der blonde Schnurrbart machte sein Gesicht
beinahe hübsch!

Am Abend überraschte die Gardin ihren Sohn, wie er bei Vroni am
Herdfeuer in der Küche stand und das Blondhaar des abwehrenden Mädchens
zu streicheln versuchte und immer wiederholte: »Gelt, liebe Vroni, es
ist dir doch nicht ernst, daß du ledig bleiben willst?«

Halb freute, halb ärgerte sich die Gardin. Nein, das war nicht mehr der
scheue, blöde Eusebi. Mit einem Scheit jagte sie ihn aus der Küche und
Vroni hielt sie eine Predigt.

Der erwachende Eusebi warb aber so freimütig um Vroni, daß ihre Stellung
zwischen Sohn und Mutter immer schwieriger wurde und sie Mühe hatte,
sich in den Augen der Gardin untadelig zu benehmen.

Bald aber überschattete ein trauriges Ereignis das im Hause aufblühende
sanfte Liebesspiel.

Mehr als ein halbes Jahr, nachdem Vroni ihren Brief mit dem Zusatz von
Binia an Josi geschickt hatte, mitten im tiefen Winter, kam das
Schreiben, mit vielen Stempeln bedeckt, an zwei Stellen etwas
durchschnitten, an sie zurück und auf der Rückseite stand: %»Addressee
died in the cholera-hospital at Srinigar.«% Diensteifrig hatte Thöni
schon die Uebersetzung auf den Umschlag gefügt: »Der Adressat ist im
Cholerahospital zu Srinigar gestorben.« Darunter stand irgend ein
Stempel.

Vroni hielt die Botschaft noch in den bebenden Händen, da kam schon
Binia in aufgeregter Hast dahergeeilt; »Vroni, liebe Vroni, gelt, das
ist nicht wahr, er lebt!«

Vroni aber, die, ihrer Sinne nicht mächtig, auf einen Schemel gesunken
war, rief immer nur, daß sich die Wände hätten erbarmen mögen: »Es ist
halt nach dem Kirchhoflied gegangen, Josi, mein Herzensbruder, ist tot
-- o, als er ging, habe ich es gewußt, daß er sterben würde!«

Die großen dunklen Augen Binias erweiterten sich schreckhaft.

Das bereitwillige Eingehen auf die Todesbotschaft und der Zusammenbruch
Vronis erschütterten sie mehr als die erste Nachricht, um ihren Mund
zuckte das Weinen, sie wankte hinaus in die Winterdämmerung. »Es ist
nicht wahr! -- Diejenigen, die gelobt haben, für die heligen Wasser an
die Weißen Bretter zu steigen, können ja nicht krank werden und nicht
sterben, bis ihr Gelübde erfüllt ist.«

Im Volksglauben suchte sie Trost.

Zuerst mißtraute auch der Garde und das ganze Dorf der Todesbotschaft.
Hatte man Josi Blatter nicht schon einmal für tot gehalten und dann war
er doch wieder lebendig zum Vorschein gekommen!

»Hat er sich gemeldet?« fragte man Vroni. »Nein, das nicht -- ich habe
nichts gesehen und nichts gehört.«

»Dann lebt er, dem nächsten Verwandten muß sich ein Sterbender melden,
und ginge sein Weg über das weite Meer. Vor zwei Jahren hat sich in
Tremis einer, der in Amerika gestorben ist, seinem Bruder angezeigt.«

Allein die Tröstungen des Volksglaubens hielten nicht stand vor der
herben Wirklichkeit. Der Garde nahm den Brief bei der ersten Gelegenheit
mit in die Stadt und legte ihn der Post vor. Da versicherte man ihn, die
Stempel seien echt, das Schreiben sei durchschnitten, weil es auf der
Rückkehr aus dem Choleragebiet geräuchert worden sei, und die Cholera
sei eine Krankheit, die den gesundesten Mann in einer Stunde wegblase.

Der Garde erbat sich aus Bräggen die Adresse Indergands; als sie
anlangte, schrieb er an den Kameraden Josis, Vroni sandte noch einmal
einen Brief an Josis eigene Adresse, es kamen aber keine Antworten, ja
nicht einmal mehr die Briefe zurück, auch das große amtliche Schreiben
nicht, mit dem sich der Gemeinderat von St. Peter an den schweizerischen
Konsul in Kalkutta wandte, und unter Angabe der näheren Umstände um
einen Totenschein für Blatter ersuchte.

Unterdessen war man schon wieder in den Sommer gekommen, und Vroni sagte
die Totengebete für den Bruder her, und das Schönste deuchte sie immer
das Kirchhoflied:

    »Du armer Knabe! Schlaf am Meere!
    Sieh, Gottes sind so Flut wie Firn,
    Sieh, Gottes sind die Sternenheere,
    Er schickt ein Tröpfchen, das die Stirn
    Mit frischem Gletschergruß umspült
    Und dir das heiße Heimweh kühlt!«

Die tiefe Trauer des Mädchens hielt auch im Dorf das Andenken an Josi
Blatter noch eine Weile rege.

In einer seltsamen Gewitterbeleuchtung erschien den Dörflern das kurze
Leben Josis. Sein Vater war zu Tode gestürzt, durch die Schuld des Presi
war der Bursche auf einen bösen Weg gekommen, er hatte zuletzt die armen
Seelen beleidigt, aber schlecht war Josi doch eigentlich nie gewesen,
großmütig hatte er sogar sich selbst für die fünf Verstiegenen in die
Schanze geschlagen.

»Ueber den Presi aber, der dieses junge Leben zu Grunde gerichtet hat,
wird es kommen!«

Das flüsterte stetig durchs Dorf.

Niemand bewies Vroni so herzliche Teilnahme wie Eusebi, und die Gardin
wurde darüber eifersüchtig auf sie. Als eines Tages, just wie der Garde
und Eusebi auf der Alp waren, eine leidende Fremde, die in Vronis blauen
Augen das tiefe Gemüt entdeckt hatte, das Mädchen als Begleiterin
anstellen wollte, riet die Gardin Vroni dringend zu: »Du bekommst es
gewiß besser als bei uns -- du wirst vielleicht in ein paar Jahren
schon eine reiche Erbin!«

Da stürzten Vroni die Thränen hervor. Das war ein Blitz aus heiterem
Himmel. Vor ihrem Bett im Kämmerlein kniete sie und schluchzte
herzzerbrechend und stundenlang.

Sie merkte es nicht, wie die Männer heimkamen, wie Eusebi, er, der
Langsame, die Treppe heraufstürmte, wie er etwas schüchtern die Thür
öffnete und in das Kämmerchen trat, sie spürte es erst, als er immer
noch etwas scheu ihr weiches blondes Haar streichelte und sagte: »Vroni,
weine nicht.«

»O Eusebi, ich soll fort -- und ich kann nicht. Es ist mir ja nirgends
wohl als bei euch!«

»Sei ruhig, Vroni, ich habe dich ja lieb,« tröstete er herzlich.

Da blickte sie mitten aus den Thränen einen Augenblick sonnig und
gläubig auf, aber nur einen Augenblick:

»Eusebi, rede nicht so -- du weißt, ich bin ein armes Mädchen, obwohl
ihr mich wie eine Tochter gehalten habt. Es ist besser, ich gehe.«

Da rannte Eusebi aus der Kammer: »Mutter, wenn Vroni fortgeht, so gehe
ich auch.«

»Sei kein Narr, Eusebi,« sagte diese überlegen und kühl, »hat je ein
Bauer ein Wildheuerkind geheiratet?«

Eusebi tobte und stürmte in die Stube: »Hast du's gehört, Vater -- Vroni
geht fort.«

Der Garde saß breit am Tisch und stützte den Kopf in beide Fäuste:
»Thorheiten -- Thorheiten,« murmelte er vor sich hin.

Da jagte Eusebi, der lebendig geworden, wieder fort, hinauf in sein
eigenes Kämmerlein, kam aber bald zurück und die Bäuerin schlug die
Hände zusammen.

»Seit wann trägt man das Sonntagsgewand zum Werktagsfeierabend?«
spottete sie.

»Ich trag' es, weil ich jetzt fortgehe, Mutter -- mit Vroni zusammen
suche ich einen Dienst.«

Die Gardin kannte ihren zahmen Eusebi nicht mehr, seine Augen blitzten
nur so. Da nahm sie ein Scheit, drohte dem schnurrbärtigen Sohn und rief
zornig: »Auf der Stelle legst du das Sonntaggewändchen ab, du, -- du --«

Eusebi hatte das Scheit, das die Mutter hochhielt, ergriffen, mit einem
Ruck warf er es weit weg: »Mutter, so geht es nicht mehr!«

Da schrie die Gardin in die Stube: »Alter, hörst du nichts. Eusebi will
mir nicht mehr folgen. O, der Lümmel -- der Lümmel!«

»Nein, beim Eid folge ich Euch nicht mehr,« trotzte Eusebi, »ich gehe
jetzt mit Vroni.«

»Das ist der Segen und der Sonnenschein, von dem der Alte immer geredet
hat. -- Einen ungeratenen Buben habe ich jetzt durch sie -- Garde --
Garde -- bist du taub geworden, warum hilfst du mir nicht?« Und sie riß
ihm die eine Armstütze vom dicken grauen Haupt hinweg.

Da merkt sie erst, wie der Garde so stark, daß er es nicht mehr
verhalten mochte, vor sich hin lachte.

»Was ist auch das, du lachst!« Sie war verwirrt und wütend.

»Ich lache, weil der Eusebi ein Mann geworden ist. Ich kann dir nicht
sagen, wie gut er mir jetzt gefällt.«

Die großgewachsene Gardin wurde ganz zahm, ernüchtert grollte sie: »O,
ihr wüsten Männer!«

In dem Augenblick kam Vroni sonntäglich gerüstet und schluchzte: »Nur
danken möcht' ich euch für alles Liebe und Gute, aber Streit soll es
meinet -- --« Ihre Stimme erstickte.

»So lebe wohl, liebes Vroneli,« sagte der Garde, nicht traurig, sondern
gemütlich, »Eusebi wird schon recht zu dir schauen.«

Die Gardin war starr.

Und Eusebi sagte tief bewegt: »Also lebet wohl, ich habe halt Vroni zu
lieb, ich gehe jetzt mit ihr -- behüte dich Gott, Vater -- behüte dich
Gott, Mutter!«

Als er nun aber Vroni, die, gerüttelt von Leid, die Stube schon
verlassen hatte, folgte, da rief die Gardin ihrem Manne zu: »Du
Rabenvater, deinen Einzigen lässest du nur so in die Fremde gehen --
wenn er jetzt ein armes Knechtlein wird -- der Sohn des Garden von St.
Peter.«

Sie weinte aus heißem mütterlichem Herzen und der Garde knurrte: »Man
muß ihm halt dann und wann einen Napoleon[31] schicken.«

  [31] _Napoleon_, ein Zwanzigfrankenstück.

Da eilte die Gardin unter die Hausthüre und schrie aus Leibeskräften:
»Eusebi -- lieber Eusebi -- komm zurück.«

Die beiden Flüchtlinge waren noch nicht weit gegangen, denn Vroni suchte
Eusebi durchaus zu bereden, daß er zu den Eltern zurückkehre, sie wolle
kein Glück auf einen Streit bauen. Vor dem Disput mit Vroni aber hörte
Eusebi die Mutter nicht rufen.

Nun schritt das junge Paar vorwärts.

Da schrie die Gardin in ihrer Herzensangst: »Vroni! -- liebes Vroneli --
kehr um!« und wirr durcheinander: »Vroni -- Eusebi -- Vroneli -- Eusebi,
ums Himmels willen -- kommt doch wieder!«

Da stutzten die Flüchtlinge, und jetzt ertönte hinter der Mutter der
fröhliche Ruf des Vaters: »Kommt jetzt nur wieder!«

Eusebi zog sein Mädchen mit einem Juchschrei zurück; halb noch ergrimmt,
halb gerührt wischte die Gardin die Thränen ab und grollte dem Garden:
»Ich habe nicht gemeint, daß du ernster Mann in deinen alten Tagen noch
so ein Erzschalk sein könntest, aber drei sind stärker als eines, ich
merke es und will mit euch in Liebe auskommen. Gieb sie nur zusammen.«

Vroni lag an der Brust des Garden und der neigte sich auf sie und küßte
sie. »Du warst immer mein Kind, jetzt bist du's erst recht, du sanfte,
stille Wunderthäterin, die meinen Eusebi aus einem Thoren zu einem
ganzen Manne gemacht hat.«

Die Gardin streckte Vroni die Hand hin und schluchzte:

»In mein Herz kann ich fast niemand einlassen, das ist so herb, aber
jetzt, Vroni, bist du drinnen -- nenne mich Mutter und eine gute Mutter
will ich dir sein!«

In die Wohnung des Garden flutete das Abendgold. Feierlich bewegt stand
der Alte, den funkelnden Zinnteller in der Hand. Er brach einen Bissen
Käse wie ein Felsklötzchen und schenkte braungoldenen Hospeler in ein
einziges Glas.

»Nehmet, esset und trinket!« Er reichte die Hälfte des Bissens, der ein
einziges Stück gewesen war, Eusebi, die andere Hälfte Vroni und bot
ihnen das Glas.

»Eusebius Zuensteinen und Veronika Blatter. Ich verlobe euch nach dem
alten Brauch des Thales. Ihr kennt den nicht, der den Käse bereitet, und
den nicht, der den Wein gekeltert hat. Väter haben es vor mehr als
hundert Jahren gethan und sie haben nicht gewußt, für wen. Also sollt
auch ihr thun, damit kein Geschlecht ohne den Segen der vorangegangenen
sei. Die Ahnen segnen euch und wünschen euch Glück. Eusebi, Hochzeiter!
-- Vroni, -- Braut!«

»Amen!« sprach die Gardin, die mit gefalteten Händen hinter den
Liebenden stand.



XIV.


%»Died in the cholera-hospital at Srinigar!«% Thöni jubelte das Wort wie
Siegesbotschaft durch das Haus. Der Presi sah vergnügt in das Spiel der
Schneeflocken, die dicht und schwer herniederwirbelten.

Da zog es doch plötzlich wie ein Seufzer durch seine Brust: »Ich hätte
Josi Blatter in St. Peter zurückhalten sollen!«

Wie er es wider Willen dachte, schritt vor dem Fenster Kaplan Johannes
durch das Schneegestöber und wies ihm eine drohende Grimasse.

Die plötzliche Erscheinung des Halbverrückten, der seit seiner
Vertreibung einen dämonischen Haß auf ihn und Binia warf, peinigte den
Presi, ohne daß er wußte warum, wie Schicksalsdrohung. Es giebt aber
einen Helfer in der Freude und einen Sorgenbrecher im Leid.

Die trostlose Binia überraschte den Vater und Thöni, die zusammen vom
besten Hospeler zechten. Da stieß der schon lallende Vater sein Glas ins
Leere: »Zum Wohl, Seppi Blatter -- hörst du, dein Bub' ist gestorben.
-- Was willst du jetzt noch?« Er lachte hellauf.

Thöni, der nüchterner war, folgte dem Beispiel: »Josi Blatter, du
Laushund. -- Ja so, da ist Binia. -- Komm, trinke auch eins auf deinen
toten Schatz!«

»Schändet die Toten nicht.« Mit dem gellenden Ruf sprang sie zu den
beiden Männern und wischte die vor ihnen stehenden Flaschen und Gläser
mit leichtem Arm vom Tisch.

»Josi lebt -- er lebt!« bebte ihre Stimme. »Ihr könntet ihm sonst nicht
zum Wohlsein trinken. Der Blitz vom Himmel würde in den Bären fahren!«

»Binia, wenn du so wild bist, bist du teufelsschön,« lallte Thöni.

Der Vater wollte über ihre Keckheit wüten, aber es ging nicht mehr wohl
an. Am anderen und in den folgenden Tagen sagte er kein Wort, er war
stillverdrießlich, und das war ein Zeichen, daß er sich selbst grollte.

Seit Binias empörtem Ruf: »Er lebt!« glaubte auch er nicht mehr, daß
Josi Blatter tot sei. Nein, der stand ja immer wieder auf, wenn er schon
begraben war. Um so stärker jedoch bekräftigte der Presi die
Todesnachricht, wenn andere Leute darein Zweifel setzten: »Ta-ta-ta!«
sagte er, »es giebt auf der Welt nichts Zuverlässigeres als die
englische Post!«

Unterdessen begann eine seltsame Zeit für Binia. Sie mußte an ein Wort
der alten thörichten Susi denken: »Schlafe, schlafe, Schäfchen, wenn du
groß und ein schönes Mädchen sein wirst, kommen um dich viele Burschen
fragen.«

Darauf hatte sie erwidert: »Ich liebe aber nur Josi.«

Nun war beides in Erfüllung gegangen: viele Freier kamen, und sie liebte
nur Josi.

Gegen den Vater hatte sie Gewissensbisse. Sie fühlte sich ihm heiß
verpflichtet, daß er sie nicht zwingen wollte, irgend einem jungen
Manne, der ihm gerade gefiel, die Hand zu reichen. Das war ein großes
Zugeständnis. Für Josi jedoch wollte sie die Liebe aller Freier
ausschlagen, darüber würde er kommen. Die Todesnachricht auf dem Brief
war gewiß ein Irrtum.

Der erste Freier war ein ungeschlachter Holzhändler aus dem Oberland.
Als er sich mit ein paar Schoppen Hospeler Mut getrunken hatte, stieß er
sie mit dem Ellenbogen in die Seite: »He, Kind, luge einmal meine
Geldkatze an -- was meinst -- wollen wir einander heiraten? -- Ich bin
halt keiner von denen, die lange 'ich bitte und ich bete' stammeln und
Küsse betteln -- dummes Zeug -- gerade recht geheiratet muß sein.«

»Wenn's nur so geht, ist leicht ledig bleiben,« lachte Binia.

Der Presi war es zufrieden, daß sie den ersten, die nach ihrer Hand
trachteten, Körbe gab, denn es schien ihm nicht vornehm, daß ein Mädchen
gleich auf einen, der ihm freundlich thut, mit offenen Armen zueilt, und
er hatte den Vogel doch am liebsten im Haus. Der Gedanke, sich einmal
von Binia trennen zu müssen, fiel ihm schwer.

Doch in St. Peter hätte kein junger Mann so recht den Mut gehabt, der
Schwiegersohn des gefürchteten Presi zu werden. Binia allein hielt den
alten freundschaftlichen Verkehr mit dem Dorfe noch aufrecht. Und sie
war mehr die Freundin der Armen und Gedrückten, als der wohlhabenden
Haushaltungen mit heiratsfähigen Söhnen.

»Vater, gebt mir noch zwanzig Franken -- ich habe keinen Rappen mehr.«
Sie wußte so drollig zu betteln.

»Ich spare -- und du verschwendest -- will wieder einer eine Geiß
kaufen?«

»Ja, aber wer, sag' ich dir halt nicht --«

Der Presi, der nicht geizig war, lachte und gab ihr den Betrag. Was
verschlug es? Es ging ja auch viel Geld ein. Und es mußte ein leidliches
Verhältnis mit dem Dorf unterhalten sein.

Die von St. Peter schauten beinahe teilnahmlos zu, wie die Touristen mit
ihren Bergstöcken durch die Gegend klapperten. Besteigungen der Krone
fanden jetzt jeden Sommer mehreremal, ja häufig statt und der Bären war
ein echtes, rechtes Bergsteigerquartier geworden.

Gegen den Presi aber, der diese neue Zeit gebracht hatte, herrschte ein
dumpfer Groll. Die Dörfler fühlten sich in St. Peter wie nicht mehr zu
Hause, und wenn die Bauern auch viel Milch und allerlei anderes zu
erhöhten Preisen in den Bären verkaufen konnten, so sprachen sie doch am
liebsten von der alten Zeit, wo der Sommer in ruhigen Prächten durch das
Thal gegangen war.

Thöni diente nicht mehr als Bergführer, er war in allen Dingen die
rechte Hand des Presi. An seiner Stelle geleiteten jetzt Führer von
Serbig und Grenseln, Leute, die gemerkt hatten, daß auch in St. Peter
ein schönes Stück Geld zu verdienen sei, die Touristen auf die Berge.

Mit Schrecken sah Binia die wachsende Freundschaft zwischen dem Vater
und Thöni.

Thöni war, so vornehm er sich gab, eigentlich doch ein recht gemeiner
Kerl. Wenn er einen freien Augenblick hatte, stand er unten vor dem Haus
bei den Führern und unter vielem Lachen redeten sie miteinander wüste
Dinge.

Dann fuhr der Vater wohl mit einem »Gott's Sterndonnerwetter, Thöni!«
dazwischen. -- Wenn er ihm aber in seiner handfesten Art das Kapitel
verlesen hatte, so ging alles langehin wieder glatt und gut, er hatte
seine Freude an dem jungen Mann, der sich gewählt wie ein Fremder
kleidete, den wohlgepflegten Schnurrbart kühn in die Welt stellte und
seine vielen Geschäfte mit spielender Leichtigkeit erledigte.

Und wie wußte Thöni dem Vater zu Willen zu sein und sich seinen Launen
anzupassen! Darin war er unübertrefflich.

Wie eine Hornisse aber schoß er durch das Haus, wenn er in irgend einem
Gast einen Freier für Binia witterte. Und sie kamen immer zahlreicher,
die Freier; aus dem Unter- und Oberland kamen die reichen Händler, die
jungen Hotelbesitzer, und unter den Gästen waren nicht wenige, die für
Binia schwärmten.

Der Vogel aber entschlüpfte. In Binias ganzem Wesen lag wie in ihrem
schlanken Leib die Kraft stählerner Geschmeidigkeit und stählernen
Widerstandes. Wo sie ein echtes Gefühl spürte, da lohnte sie es wohl mit
einem Blick, daß der Freier meinte, er habe in seinem Leben noch nichts
Süßeres gesehen, aber durch alles, was sie that und ließ, klang es bald
schelmisch, bald traurig: »Seht ihr nicht, daß ich frei sein will? --
Was zwingt ihr mich, es euch zu sagen?« Wer ihr mit zudringlichen
Huldigungen zu nahe trat, den blitzte sie mit einem Blick oder einem
Wort nieder, daß er sich schämte und zahm wurde wie ein kleines
Maultier.

Jetzt lächelte aber der Vater nicht mehr, wenn sie einen Freier
zurückwies. Mißtrauisch und grimmig loderte es aus seinen Augen. »Kind,«
stieß er hervor, »wenn du meinst, du könnest mich narren!« Und der Zorn
zuckte um seine Brauen.

Frau Cresenz tröstete dann auf ihre Art.

»Was sich zankt, das liebt sich,« meinte sie mit kühlem Lächeln. »Ihr
werdet sehen, das Blatt zwischen Thöni und Binia wendet sich. Nur sich
nicht einmischen und nicht drängen.«

Dem Presi kam eine Verbindung zwischen Thöni und Binia selber nicht mehr
so unsinnig vor wie damals, als er den Garden wegen des sonderbaren
Gedankens ausgelacht hatte.

Das Kind blieb dann doch in St. Peter. Sie zu zwingen hatte er aber das
Herz nicht. Sie war ja noch so jung.

Die Zeit schritt, der Tag kam, wo Eusebi und Vroni, das glückliche Paar,
Hochzeit hielten.

So ein schönes Fest hatte man in St. Peter noch kaum erlebt. Ein junger
Verwandter der Gardenfamilie und Binia führten das Brautpaar, und wie
lieblich war Vroni mit der niedlichen kleinen Krone auf dem blonden
Haupt, wie hübsch der einst so häßliche Eusebi, wie sah man es ihm an,
daß das Glück den Menschen verschönt.

Ans Glück dachte Binia am Morgen nach der Hochzeit, da donnerte sie der
Vater an: »He, das Wildheuerkind ist am Ziel! Aber deinem Spiel schaue
ich jetzt nicht mehr zu. -- Meinst du, du dürfest um den toten Rebellen
noch ein paar Jahre greinen. -- Nichts da! Wenn du jetzt deinem Vater
nach vielem Leid eine Freude bereiten willst, so zankst du dich mit
Thöni nicht mehr, sondern überlegst ernstlich, ob du nicht im Frieden
seine Frau werden könntest. Ich habe einen schönen Plan und daran hänge
ich. Der Bären ist für unsere Gäste zu klein geworden, ich baue drüben
gegen die Maiensässen hin ein Chalet im Berneroberländerstil, daß es
mit seinen Balkonen ganz St. Peter überscheint. Und nun meine ich, wenn
Thöni Direktor und du Frau Direktor des Hotels zur 'Krone' würdest, so
wäre für dich gesorgt und ich könnte mein Haupt ruhig niederlegen.
Thöni,« fuhr er fort, »ist aus guter Familie, er versteht das Geschäft
und ich habe ihn mit der Zeit und namentlich in diesem Jahr lieb
gewonnen -- er ist lenksam und hört auf mich.«

Das letzte sagte der Presi mit besonderem Nachdruck.

Binia sah den Vater nur noch durch Thränen.

»O, Vater,« stöhnte sie, »mir thun Kopf und Herz weh. -- -- Baue doch
lieber nicht. -- Denke an die Leute von St. Peter, die uns jetzt schon
wegen der Fremden im Bären grollen.«

»Ho, mit denen von St. Peter nehme ich es auf,« erwiderte er hart und es
blitzte so bös aus seinen Augen, daß sie verstummte.

Thöni zankte, wütete, schmeichelte, er weinte vor ihr. »O Bini -- Bini,«
suchte er sie zu überreden, »wir hätten's so schön zusammen!«

»Thöni, ich nehme den, der mich freut, aber nicht einen, der schon mit
so vielen Mädchen gelaufen ist.«

Sie sagte es ernst und bekümmert -- sie hatte eine geheime Furcht vor
ihm.

Doch war die Zeit da, wo Josi nach seinem Versprechen hätte zurückkehren
müssen. Sie war in fieberischer Erregung, sie stand stundenlang am
Fenster und schaute auf die Straße in den Herbstsonnenschein, später
schaute sie in die Schneeflocken und am strahlenden Dreikönigstag sah
sie, wie die Kinder ihre Häspel mit den drei papiernen Sternen drehten
und hörte ihren Ruf:

    »Die heiligen drei Könige mit ihrem Stern,
    Sie kommen von fern und suchen den Herrn!«

So hatte sie als kleines Mädchen neben Josi den Windhaspel getragen und
sich innig gefreut, wenn die drei Rosen, die gewöhnlich nicht spielen
wollten, liefen.

Kein Brief kam an Vroni -- kein Lebenszeichen von Josi -- er kam nicht
und kam nicht. Und zum Neubau fällte man das Holz.

Ja, wenn ihr dummes Köpfchen nur einsehen wollte, daß Josi gestorben
ist. Mit Entsetzen gestand sie es sich: Sie sah sein liebes, offenes
Gesicht nicht mehr so klar wie einst. Ihr war, leise und langsam senke
sich ein feiner Nebel zwischen ihm und ihr und sein Bild weiche in die
Ferne. Sie streckte die Arme aus nach ihm: »Josi, zeige mir deine
schwieligen Hände -- ich kann sie mir nicht mehr so recht vorstellen. --
Josi, lache mit deinem trockenen und doch so herzinnigen Lachen, es
klingt mir nicht mehr deutlich im Ohr. Mutter! -- Mutter! -- Hilf mir,
daß ich nicht wanke!«

Und ein Wunder geschah! Für viele Wochen gab Thöni Grieg manchmal sein
wildes, eifersüchtiges Drängen auf, er schwieg, nur in seinen Augen lag
etwas Unerklärliches, etwas wie Haß und Drohung.

Er war nicht mehr der schöne Thöni, der lustige Thöni, er war ein
reizbarer, übellauniger Herr mit einem aufgedunsenen rötlichen Gesicht.
Sobald der Vater aus dem Haus gegangen war, wurde er nachlässig und
grob, er kam alle paar Augenblicke aus der Poststube und schenkte sich
Wein ein. Ein paarmal fanden Frau Cresenz oder Binia auch in der Ablage
geleerte Flaschen. Und auf ihre Vorhalte grollte er: »Was hat das
Weibervolk im Bureau zu thun, was geht euch die Poststube an?«

Binia aber liebte die Post, besonders das Telegraphieren, so viel als
möglich besorgte sie mit flinken Fingern die Depeschen selbst.

»Das ist langweilig,« sagte sie vorwurfsvoll, »daß du immer die
Schlüssel ziehst. Früher wußte ich alles, was auf der Post ging -- hast
du so eine Lumpenordnung, daß man nicht mehr hineinsehen darf?«

»Eben, gerade Ordnung habe ich, du Wildkatze,« höhnte er.

»Dann mache doch die Sendungen bereit, die noch liegen!«

»Ich gehe jetzt Revolverschießen,« trotzte er

»Wozu brauchst du einen Revolver?«

»Er ist für solche, die nach St. Peter kommen, aber nicht hergehören,«
lachte er seltsam.

Binia kam ein fürchterlicher Verdacht, aber sie wagte ihn kaum zu
denken. »Nein, so bodenlos schlecht ist Thöni doch nicht,« beruhigte sie
sich selbst.

Im übrigen schoß er, wenn er ausging, nicht immer mit dem Revolver,
sondern saß ebenso häufig im Wirtschäftchen des Glottermüllers oder bei
irgend einem hübschen Mädchen.

Frau Cresenz und Binia, Gäste und Dorf sahen es, der schöne Thöni, der
lustige Thöni, hatte einen Wurm, die einen sagten im Kopf, die anderen
im Leib.

Zuletzt sah es auch der Presi: »Thöni, du gefällst mir nicht mehr --
weiß der Kuckuck, was du hast und was mit dir ist.«

»Ich meine, man sollte jetzt einmal bauen, das Holz liegt schon lange
genug,« gab Thöni mürrisch zurück.

»Natürlich wir bauen jetzt,« antwortete der Presi fest.

Als man den ersten Spatenstich führte, rief er Binia auf seine Stube. Er
streifte sie mit forschendem, sorgenvollem Blick; dann hob er an:
»Binia, du verlobst dich jetzt mit Thöni, spätestens im Frühjahr
heiratet ihr. Ich habe dir Zeit gegeben, eine Wahl nach deinem Sinn zu
treffen, du hast sie verwirkt. Jetzt befehle ich dir!«

Binia stand totenblaß; mutlos und verschüchtert wagte sie keinen
Widerspruch.

Man baute, aber im schlechtesten Zeichen. Die Werkleute brachten die
»Krone« nicht vorwärts. Als hätte Gott selbst einen Zorn darauf, regnete
und wetterte es im Glotterthal den ganzen Sommer durch und der Presi
eilte in hundert Nöten zwischen dem Bären und der Baustelle hin und her.
Zum erstenmal, seit Fremde nach St. Peter kamen, füllte sich der Bären
nicht. Und er wünschte das Trüpplein von Sommerfrischlern, das da war,
wieder nach Hospel zurück und weiter. »Herr Präsident,« fragten sie Tag
um Tag und jede Stunde, »glauben Sie, wir bekommen bald schönes Wetter?«
-- »Ich weiß es nicht. In hundert Jahren kann der Sommer ja auch im
Glotterthal einmal herzlich schlecht sein.« Mit verhaltener Wut sagte er
es. Die Maulaffen! Wer litt mehr unter dem schlechten Wetter als er.

Und zum erstenmal waren die Fremden mit dem Bären nicht zufrieden. »Der
Herr Präsident ist mürrisch,« klagten sie, »Herr Grieg, der früher so
jovial war, unaufmerksam und grob. Frau Cresenz lächelt so seelenlos wie
ein Automat. Und Binia, die alpige Rose, hat alle Schelmerei verloren
oder dann zuckt sie so heftig und seltsam heraus, daß es wie ein Lachen
im Fieber ist.«

Die Freier blieben aus. Nur einer wandte sich noch an sie, ein junger
stiller Gelehrter.

Er hatte ihr die paar Blumen gebracht, die trotz dem schlechten Wetter
an den Bergen gewachsen waren, aber sonst eine große Zurückhaltung gegen
sie beobachtet. Am Abend, bevor er abreiste, erst nahm er ihre Hand:
»Fräulein Waldisch -- Binia,« sagte er tief bewegt, »diese Hand ist zu
klein und zu mollig für Ihr rauhes Bergthal. -- Kommen Sie mit mir in
die Stadt -- ich liebe Sie -- werden Sie meine Braut -- meine herzliebe
Frau.« -- --

Es war so ein gediegener Mann und redete so warm.

Binia wurde dunkelrot und ihre Hand zitterte: »Herr Doktor!« Sie senkte
das Köpfchen. »Ich passe nicht in die Stadt, ich kann ja kaum recht
lesen und schreiben und bin ein schlichtes Bergkind.«

Da drang er heiß in sie: »O Binia! für mich ist das genug -- ich bin
selbst ein einfacher Mann. Was Sie an Wissen nicht haben, das ersetzen
Sie mir hundertmal mit Ihrer sonnigen Natürlichkeit, mit Ihrem klugen
Auge, mit der Wärme Ihres Gemütes. Ich habe eine liebe alte Mutter
daheim -- sie ist auch schlicht und kann keine überbildete Tochter
brauchen.«

Bei dem Wort »Mutter« begann Binia zu schluchzen. Eine Mutter! In ihrem
Leben noch einmal eine Mutter. Das war ein stürmischer Angriff.

»Die oberflächlichen Leute meinen,« fuhr der junge Mann fort, »Sie seien
nur ein überaus gescheites, allerliebstes Naturkind, aber ich will es
Ihnen sagen: Sie sind ein großes, liebeheischendes, heißes Herz -- und
wenn ich Sie verstanden habe, wenn Sie es sind, Binia, so gehen Sie um
Ihres eigenen Glücks willen nicht kalt an mir vorbei. Darf ich mit dem
Herrn Präsidenten reden?«

Wie die Männerstimme zitterte!

»Nein -- nein -- Herr Doktor, nein,« erwiderte sie angstvoll, »ich ehre
Sie -- ich will Ihnen ein Geheimnis verraten -- ich bin verlobt.« -- --

Da ging der junge Mann in tiefer Trauer. Er schrieb ihr aber später:
»Ich weiß, was ich verloren habe, Sie einzige -- tausend-, tausendmal
Glück!«

Ueber diesen Brief weinte sie bitterlich. Sie wußte es, sie hätte froh
werden können mit dem Manne. Und, seine Hand wäre Rettung vor Thöni
Grieg gewesen.

Wozu diese wahnsinnige Treue für Josi? Das fünfte Jahr erfüllte sich
jetzt bald, daß er fortgegangen war.

Tiefen Kummer bereitete ihr die durch das schlechte Sommerwetter
entstandene Stimmung im Dorf.

Wenn man nur mit dem Vater reden, ihn warnen dürfte, aber er ist wie ein
Pulverfaß. Man darf nicht an ihm rühren. Alles muß sich vor ihm drücken.
Thöni -- Frau Cresenz -- am meisten sie selbst: »Bini,« donnert er sie
an, »Gott's Hagel -- ich mache das Wetter nicht, lasse mich mit den
Kälbern im Dorf in Ruh'.«

»Binia,« sagten die von St. Peter, »Ihr seid ja lieb und gut, aber wir
wollen nichts aus dem Bären, es klebt Unglück daran,« und einige Weiber
erklärten es frei heraus: »Kommt uns nicht mehr ins Haus. Wenn Ihr schon
so lieb lächeln und reden könnt, mit Euren dunklen Augen seid Ihr doch
eine Hexe und der Bären ist das Unglück von St. Peter.«

Eine furchtbare Zeit war gekommen. Immer lagen Nebel an den Bergen; wenn
die Sonne am Morgen auch ein wenig schien, so donnerten am Nachmittag
doch wieder die Gewitter, und wenn sich die Wolken ein wenig lichteten,
sah man neue Runsen an den Bergen. Die oberen Alpen wurden spät
schneefrei, ehe das Gras gewachsen war, deckte sie schon wieder Schnee,
ein früher Reif vernichtete die Ernte und am Glottergrat rückte der
Gletscher vor. Die Wildleutlaue rüstete sich!

Not herrschte bei Menschen und Vieh, ein Angstgefühl legte sich über das
Dorf, als dürfe es nie mehr auf bessere Zeiten hoffen, und der gräßliche
Kaplan Johannes, der wieder von Fegunden heraufgekommen war, verließ St.
Peter nicht mehr.

Binia wußte es. Dieser Wahnsinnige lebte fast nur von dem Haß gegen den
Vater, der ihn vor Jahren hatte aus der Gemeinde treiben lassen. Er
wühlte und hetzte im Dorf mit den dunkelsten Künsten des Aberglaubens.
Entsetzlicher noch! Der böse Narr hatte seine Begierde auf sie geworfen.
Sie fürchtete ihn wie die Taube den Habicht; seit er ihr letzthin
zugerufen: »Jungfer, merkt Ihr, wie mein Korn reif wird?« zitterte sie
vor ihm und ahnte schwere Ereignisse.

Gewiß trieb der dämonische Kaplan die von St. Peter zu einer thörichten
That, um in einer Stunde der Verwirrung seine düstere Seele an den
Bildern erfüllter Rache zu ergötzen.

Ein ungeheuer peinlicher Vorfall, von dem zum Glück der Vater selbst
nichts erfuhr, trat dazu.

Eine fremde vornehme Dame, die mit ihrem Hund hergekommen war,
verlangte, daß man das Tier wie einen Gast bediene. Thöni, der Thor,
der sich in das Gesicht der Dame vergaffte, gab es zu, allerdings nur in
einem besonderen Zimmer. Die Mägde hatten zu dem Hund »Guten Tag, Herr
Walo!« zu sagen, wenn er auf den Stuhl sprang, ihm ein weißes Tuch
vorzubinden und dann je auf besonderem Teller fünf Gerichte vorzulegen,
zuletzt wie zu einem Gast zu sprechen: »Wünschen wohl gespeist zu haben,
Herr Walo!« und die Dame überwachte die Bedienung ihres Viehes.

Mit flammendem Gesicht schaffte Binia Ordnung, aber die Mägde
schwatzten, und nun lief die Geschichte im Dorf.

»Jetzt, wo wir und unser Vieh Mangel leiden,« staunten die Leute
entsetzt.

Kaplan Johannes trug die Erzählung von Haus zu Haus: »Merkt ihr,« fragte
er, »aus dem Wetter nichts? Geht nach Hospel, dort sind sie froh über
den Regen, der dann und wann fällt. Merkt ihr nichts?«

»Wohl, wohl!« erwiderten die Dörfler, »die armen Seelen wollen die
todsündige Völlerei im Bären nicht, sie wollen den Neubau nicht, die
Zwingburg, die uns hudlig machen soll. In den fürchterlichen Wettern
geben sie uns ihre Zeichen.«

»Wir sind ja schon hudlig,« antworteten andere ingrimmig: »die drei
Kleinsten Bälzis stehen am Weg und strecken den Fremden die Hände um
Almosen hin. Die Haushaltung hat nichts zu beißen und zu brechen. Und
noch viele müssen vor Elend auch zu betteln anfangen. Das ist das Werk
des Presi.«

Der Garde mahnte zur Ruhe, der Pfarrer predigte gegen den Aberglauben
und wies seiner Herde in Chroniken nach, daß es auch früher schon so
schlimme Jahre gegeben habe.

Die Dörfler aber schrieen ihm zu: »Pfarrer, Ihr hütet die heilige
Religion nicht. Wißt ihr es nicht? Der Presi will in dem Neubau heimlich
eine Kapelle für die Ungläubigen einrichten, wie eine zu Grenseln steht,
und wenn Ihr nicht helft, müssen wir selbst Ordnung schaffen. Wir sind
nicht gewaltthätig und den Fremden wollen wir nichts thun, aber
wenigstens den Neubau dulden wir nicht.«

»Man muß mit dem Presi in Güte reden!« meinten einige Ruhige, wie der
Fenken- und der Bockjeälpler.

»Wenn wir das thun,« erwiderten aber die anderen, »sind wir verloren. --
Er ist ein alter Fuchs, er weiß schon, wie er zu sprechen hat, daß
keiner von uns mehr etwas sagen kann.«

Der Glottermüller hatte mit seinem Wirtschäftchen gute Zeiten, aber auch
in den eigenen Stuben sammelten sich da und dort die Dörfler.

»Wir müssen es hinter den Garden stecken,« meinten sie, »er kommt dem
Presi am ehesten bei. Der Glottermüller muß mit ihm gehen. Der Kaplan
Johannes auch.«

Der Garde seufzte, als Bauer um Bauer in seine Wohnung kam und ihm
zuredete, daß er Vermittler zwischen der Gemeinde und dem Presi werde.
»Ich bin nicht mehr sein Freund!« erklärte er. -- »Aber Ihr seid der
Garde!« drangen sie in ihn. -- »Dann gehe ich allein,« sagte er. --
»Nein, wenigstens einer muß mit,« erwiderten sie, »damit der Presi
spürt, daß es Ernst gilt.«

Nach gewaltigem Sträuben fügte sich der Garde in den sauren Gang und
darein, daß der Glottermüller ihn begleite.

Es war im Herbst und nach vielen Wochen der Verdüsterung stand der
Himmel in reinem Blau, nur hingen an der Krone so drohende Wächten, wie
man sie niemals zuvor gesehen. Durch das Dorf flog es von Mund zu Mund:
»Schaut, seit die Fremden fort sind, ist der Himmel uns wieder
wohlgesinnt.«

Würdig empfing der Presi die beiden Abgesandten von St. Peter, würdevoll
wie ein König antwortete er ihnen, sich mit der Hand auf sein Pult
stützend: »Ihr Männer von St. Peter. Meint ihr, daß ich die Gemeinde
weniger lieb habe als ihr? -- Aber in einer thörichten Sache lasse ich
mich nicht von euch zwingen. Wir sind alle freie Männer. Wir beugen uns
vor nichts als vor den Ueberlieferungen unserer Väter und den Gesetzen
des Landes. Ueberlieferung und Gesetz ist aber, daß jeder bei uns frei
bauen darf, wie er will. Ich habe kein minderes Recht als ihr, der Bären
und die Krone stehen unter dem Schutz des Gesetzes, der das Eigentum
heiligt. Wer daran rührt, ist dem Gericht verfallen. Nicht anders ist es
mit den Fremden, die ins Thal kommen. Sie sind nicht, wie ihr meint,
vogelfrei, sie stehen unter dem Schirm mächtiger Verträge. Wehe dem, der
die verletzt! Und also habe ich eine gerechte Sache, wenn ich ein neues
Haus aufschließe und Gäste darein führe, und ich will es euch beweisen,
daß ich euerm ungerechten Verlangen nicht nachkomme. Thöni -- Binia!«

»Presi, seid barmherzig,« bat der Garde, »sonst gerät die Gemeinde ins
Unglück. Was Ihr sagt, ist wohl wahr -- aber es ist nicht gut -- es ist
nicht gut.«

Scheu kam Binia geschlichen, sie konnte den Garden fast nicht ansehen,
Thöni aber erschien wie ein großer Herr.

»Thöni Grieg und Binia Waldisch,« wandte sich der Presi stolz und
feierlich an die beiden, »vor der Gemeinde St. Peter verlobe ich euch,
auf daß ihr in Frieden und Glück das neuerbaute Haus zur Krone führt.
Binia, hole mir Bissen und Wein, daß ich sie euch reiche.«

Sie zitterte. Wie im Verscheiden sagte sie: »Nein -- ich kann nicht,
Vater.«

Da wurde er kreideweiß: »Du Elende!« knirschte er mit einem
entsetzlichen Blick der Wut, »vor der Gemeinde machst du mich zu
Schanden -- möge Gott dich dafür schlagen!«

Der Glottermüller verlor seine Haltung und quiekte mit seiner hohen
Weiberstimme: »Das ist ja abscheulich! Ich gehe, lebt wohl!«

»Ja,« bebte die Stimme des Presi, »sagt es dem Dorfe nur, was für eine
Ungeratene ich zum Kinde habe.«

Da nahm der Garde die Hand des Presi und mit Thränen in den Augen sprach
er: »Gewaltthat auf Gewaltthat! -- Sünde auf Sünde -- Presi! alter
Freund -- muß ich es wirklich erleben, daß Ihr Euch selbst, Euer Kind,
Euer Haus, das ganze Dorf zusammenschlagt!«

»Was, alter Freund?« erwiderte der Bärenwirt kalt und hohnvoll, »einer,
der es mit den Kälbern hält, -- ein Tropf seid Ihr, Garde!«

»Alte Männer schlagen sich nicht. -- Ihr schlagt Euch selbst.«

Der Garde keuchte es, er ging und in einer Ecke lag Binia, das Häuflein
Unglück.

Am anderen Tag aber flog die Kunde von Mund zu Mund: »Nun hat sich Binia
doch mit Thöni Grieg verlobt.« Schreckliche Gerüchte waren im Umlauf.
Drei Stunden sei der Presi auf dem Boden gelegen und habe mit Armen und
Beinen ausgeschlagen. »Ich kann nicht mehr leben. Mein Kind hat mich vor
der Gemeinde zu Schanden gemacht.« Da habe sich Binia auf ihn geworfen
und verzweifelt gerufen: »Vater -- lebe! -- ich will Thöni nehmen!«

Der Presi hatte den Sieg über sein Kind und die Abgeordneten
davongetragen, aber der Bären lag in Acht und Bann, furchtbare Erregung
und Empörung gegen ihn herrschte im Dorf.

So kommt der Winter, ein verkehrter Winter! Es fällt viel Schnee, aber
er hält nicht. Die Lawinen donnern Tag um Tag und ihre Luftstöße
erschüttern die Hütten. Jetzt tritt endlich bittere Kälte ein. Da
geschieht ein schreckliches Wunder. Eine Windsbraut fährt über die
Krone, sie wirbelt den Firnenschnee wie Gewitterwolken auf, die Wolken
verfinstern das Thal, sie sausen herab, sie drehen sich und prasseln
aufs Dorf. -- Die Glocken läuten.

»Wohl denen, die tot sind,« schreien die Leute. »St. Peter geht unter --
die armen Seelen ziehen aus -- für die Zeit, die uns bleibt, haben wir
noch genug zu essen, und daß unser armes Vieh an Seuchen stirbt, kann
nichts mehr schaden.«

Da schleicht ein Wort heimlich durch das geängstigte St. Peter, das Wort
»Ahorn!« Wo sich zweie treffen, redet der eine geheimnisvoll von hundert
Dingen, bis er unauffällig das Wort »Ahorn« ins Gespräch mengen kann.
»Ahorn!« erwidert der Angeredete feierlich. Außer dem Garden, den man
immer noch einer alten Freundschaft für den Presi verdächtig hält, dem
Pfarrer und einigen anderen, denen man nicht traut, ist ganz St. Peter
in einem geheimen Bund, dessen Mitglieder sich im Wort »Ahorn« erkennen.
Wer die Losung spricht, weiß es: Im Namen der armen Seelen muß der
Bären, das Sündenhaus, fallen und der Neubau zerstört werden. Es giebt
sonst keine Rettung für das Dorf. Wen das schreckliche Los trifft, der
muß den Bären und die Krone anzünden. Sonst ihm selbst »Ahorn«. Es giebt
keinen Verräter im Bergland. Sonst auch ihm »Ahorn«. Wer es aber thut,
der soll, auch wenn er dem Gericht in die Hände fällt, in der Gemeinde
nicht ehrlos sein, sondern alle anderen sollen für seinen Haushalt
einstehen.

Was die von St. Peter thun wollen, ist aber so fürchterlich, daß sie
selber davor zurückbeben. Sie losen noch nicht, erst zu äußerst soll es
geschehen -- gerade ehe die Fremden wieder erscheinen.

»Ahorn« und Wildleutlaue! So kommt der Frühling.

Der Presi und Thöni sind nach Hospel geritten. Am offenen Fenster steht
im Abendsonnenschein Binia und träumt. Ihre Wänglein sind bleich, die
Augen noch dunkler und größer als früher. Auf dem Kirchhof sprießt das
erste flaumige Grün und auf dem Kirschbaum, der sich bräutlich schmückt,
flötet eine Amsel.

Eine Amsel. -- Sie denkt an Santa Maria del Lago. -- Jetzt ist sie
selbst der gefangene Vogel, aber keine barmherzige Hand kommt und
schneidet sie aus dem Netz.

Josi, dessen Bild ihr so gräßlich entschwebt ist, steht wieder in
Klarheit vor ihr.

Die Reue wütet in ihrer Seele. In einer augenblicklichen Wallung des
kindlichen Gefühls hat sie dem Vater das Opfer gebracht, daß sie sich
mit Thöni verlobte. Ist der Vater des Opfers wert? -- Nein, wie könnte
er sonst die Freundschaft mit Thöni halten, dem Schuft.

Und der Vater ist ein Thor. Die Gier Thönis wehrte sie ab, da kam er
gerade, allerdings nicht ganz nüchtern, dazu. Thöni ließ sie los, da
lachte der Vater glückselig. »Haltet euch nur, Kinder, vor mir braucht
ihr nicht so scheu zu thun.« Und Thöni überredet den Vater, heimlich sei
sie gar nicht leid zu ihm. Sie aber hat es noch nie dazu gebracht, Thöni
nur den kleinen Finger zu strecken oder sich eine Berührung von ihm
gefallen zu lassen. Allein an den mißverstandenen Augenblick, an Thönis
Vorspiegelungen klammert sich der Vater und betäubt sein schlechtes
Gewissen.

Ob er nun glücklich ist? -- Nein, er ist ein armer, armer Mann! Er fällt
aus den Kleidern, er beginnt zu ergrauen, er lächelt wohl darüber, daß
kein Mensch den Bären betritt, aber der Haß des Dorfes peinigt ihn, die
Beleidigung, die er dem Garden angethan hat, tötet ihn fast.

Er könnte ein herrlicher Mann sein, das Dorf würde an ihm hangen, aber
die Welt mag sterben, er setzt seinen eigenen Willen durch.

Und sie -- und sie -- dieses viel zu starken Vaters Kind -- sie ist
schwach geworden -- nach unsäglicher Treue doch treulos.

Wie sie als Kind gethan, wenn sie hilflos war, beißt sie in die Finger
und schaut mit großen traurigen Augen in die sonnige Frühlingswelt.

Da rennen Leute die Straße daher und kreischen: »Es ist ein Toter
auferstanden -- Josi Blatter, der Rebell!«

Sie schreit auf -- sie fällt in die Kniee, sie flüstert: »Er lebt!« und
vor ihr versinkt die Welt.



XV.


Geheimnisvoll, wie er gegangen war, kam Josi Blatter!

Durch den Donner der Lawinen, durch den rauschenden Föhnsturm des Märzen
schritt er am Spätnachmittag von der Schneelücke herunter.

Lange bevor er St. Peter erreichte, hatte man im Dorf den einsamen
Wanderer bemerkt. »Ein Mann, ein Tier oder ein Gespenst!« rieten die
Leute und waren eher geneigt, an etwas Wunderbares als an etwas
Natürliches zu glauben. Was für ein Christ konnte um diese Zeit der
höchsten Gefahr über die Schneelücke steigen, an der selbst im
Hochsommer hundertfache Gefahren lauern. Der Wanderer aber schritt
unentwegt näher und sprach zu den verwundert Spähenden und Harrenden:
»Grüß euch Gott,« gerade wie es die zu St. Peter sprechen.

»Alle Heiligen. -- Das ist Josi Blatter -- das ist der Rebell!« Die
Frauen und Kinder bekreuzten sich, man hörte ängstliche Stimmen: »Ist er
lebendig oder tot?« und die abergläubisch Erschrockenen fuhren zurück.

Er mußte wohl lebendig sein, wie er in Nagelschuhen, den Rucksack über
die Schultern gehängt, den eisenbeschlagenen Bergstock in starker Hand,
so fest und gelassen kam. Es war, als wolle er gerade zum Kirchhof
gehen, und in scheuer Entfernung folgten ihm die Dörfler: »Der ist jetzt
ein schöner Mann geworden!« meinten einige. Er aber wandte sich um.
»Bäliälplerin, wißt Ihr, welche Nummer das Grabscheit meiner seligen
Schwester Vroni hat? Ich möchte für sie beten.«

Alle, die es hörten, schrieen auf und wichen zurück. Der junge Peter
Thugi nur grüßte ihn herzlich: »Josi, was denkst du? Deine Schwester
Vroni ist nicht gestorben, sie ist ganz gesund, tritt nur ins Haus des
Garden.«

Josi wankten die Kniee; als ob er stürzen wolle, pflanzte er sich an den
Bergstock. Er konnte nicht reden.

Jetzt sind sie vor der Wohnung des Garden. »Lebe wohl, Josi!« sagt Peter
Thugi. Der murmelt aber nur finster: »Warum hat mir der Garde das
gethan?«

»Josi Blatter, der Rebell, ist auferstanden!« tönt es wie Feuerruf durch
das Dorf, halb St. Peter sammelt sich vor der Wohnung des Garden.

Er sitzt mit der spinnenden Vroni in der Stube. Da sieht er den Auflauf.
Im gleichen Augenblick pocht es an der Thüre und Vroni öffnet.

»Josi! -- Alle Heiligen -- Josi!« Mit blutleeren Wangen weicht sie
zurück -- dann stürzt sie wieder vorwärts und umhalst ihn jubelnd und
weinend. »Du lebst, Josi, -- du lebst!« Allein der Ankömmling bleibt an
der Schwelle stehen, stellt den Bergstock nicht an die Wand, legt den
Rucksack nicht ab, und als der Garde ihm entgegengeht und sagt: »Komm
doch herein, Josi,« da bleibt er noch wie angewurzelt unter der Thüre.
»Ja, darf ich?« fragt er gedrückt. »Lange eng machen will ich euch
nicht. Ich weiß jetzt, daß ich überzählig bin.«

Finster und wankend steht er an der Thüre: »Ehe ich eintrete,« preßt er
hervor, »muß ich doch fragen, wie Ihr mir habt so einen Brief schreiben
können, Garde. Vroni lebt und ist nicht tot! -- O Vroneli, du lebst --
du lebst!« Er will sie umarmen, aber sie tritt zurück und schlägt die
Hände über dem Kopf zusammen.

»Mutter Gottes, was Josi redet,« jammert sie. »Ich gestorben und der
Vater einen Brief? -- Josi, hat dir die fremde Welt das Hirn verrückt?«
Ihre Augen nehmen einen schreckhaften Ausdruck an.

Der erste, der sich in der grenzenlosen Verwirrung faßt, ist der Garde:
»So komm doch herein, Josi,« redet er ihm freundlich zu, »wir wollen
über alles im Frieden reden. Vroni, jetzt hole zu essen und zu trinken,
mit dem Wiederfortgehen drängt es gewiß nicht, Josi.«

Der sitzt nun am Tisch und schluchzt in die Hände: »Vroni lebt!«

Der Garde ist tief erschüttert. »Ein Brief -- ein Brief! sagst du,
Josi.« Er langt in ein Schubfach des Buffert. »Da ist auch ein Brief,
aus dem wir nicht klug geworden sind.« Josi schaut auf -- er dreht und
dreht den Brief in zitternden Händen. »Vor vier Jahren! Da war ich
allerdings in der Gegend von Srinigar! Vor zweien noch. Auch die Cholera
war dort. Ein paar hundert hat man alle Tage verscharrt. Es ist
abscheulich drauf und drunter gegangen. Da hat mich vielleicht die Post
nicht gleich gefunden und hat geglaubt, ich liege auf dem Karren. Solche
Dinge sind in der großen Verwirrung vorgekommen, viele Angestellte der
Post sind gestorben, es hat neue gegeben, und die waren nicht immer
zuverlässig. So ist ein Irrtum denkbar.« Er wirft einen Blick in den
Brief: »Und Binia hat das Wort von den Vögeln geschrieben: 'Laß die
Hoffnung nicht fahren.'« Er erbebt.

Vroni ist mit dem Hospeler, dem Brot und Rauchfleisch zurück, sie deckt
den Tisch mit weißem Linnen und der Garde sagt, indem er dem jungen
Manne noch einmal die Hand schüttelt: »Josi, gottwillkommen, ich merke
schon, es ist viel aufzuklären.«

Die Geschwister, von denen eines geglaubt, das andere sei tot, umarmen
sich wieder und wieder: »Josi, du lebst« -- »Du lebst auch, Vroni!«

Plötzlich sagt Josi: »Aber wie so lange kein Brief gekommen ist, hab'
ich doch wieder einen gesandt. Darauf ist Euer Brief, Garde, gekommen,
und ich habe Euch noch zweimal geschrieben, aber keine Antwort erhalten.
Ich verstehe die Welt nicht mehr.« Er langt in die Brusttasche. »Da ist
Euer Brief, Garde!«

Der Garde liest, wird bleich, wird rot und wieder bleich: »Nicht selig
werden will ich, wenn ich das geschrieben habe, so gotteslästerliche
Dinge -- schau! -- schau! -- Vroni!«

Und sie liest:

»Lieber Vögtling Josi! In gar großer Betrübnis melden wir Dir, daß das
gute, liebe Vroneli nach langem Leiden gestorben ist. Eine Kuh hat es im
Winter sehr unbarmherzig auf das Herz geschlagen. Es hat sich zu unserem
großen Leidwesen legen müssen und nimmer mögen genesen. Aber Deinen
Brief hat es noch mit mageren Händchen gehalten und sich noch auf dem
Todbett daran gefreut. Es ist so traurig, daß ich nicht alles schreiben
mag. Auch sonst geschieht nichts Gutes in St. Peter. Du hast damit, daß
Du auf die Krone gingest, ein großes Unglück angestellt. Kein Frieden,
keine Ruhe ist mehr in der Gemeinde! Sei froh, daß Du fort bist! Die
Bini hält in vierzehn Tagen Hochzeit mit Thöni Grieg. Wer hätte gedacht,
daß sie den Fötzel nehme! Aber der Presi hat es halt wollen. Und das
Vroneli hat noch am Tag, wo es gestorben ist, gesagt, es sei ihm recht,
daß es die Hochzeit nicht mehr erlebe, es hätte keine Freude daran wegen
Dir. Es hat Dich noch tausendmal grüßen lassen. Du sollst für die Selige
beten. Lebe wohl, Josi, und tröste Dich! Auf Wiedersehen kann ich nicht
sagen, denn Du wirst jetzt wohl nie mehr nach St. Peter kommen. Hans
Zuensteinen, Garde.«

Vroni schaudert vor Entsetzen. Der Garde läuft wütend hin und her:
»Merkst du nicht, wer den Brief geschrieben hat, Vroni?« Er nimmt ihn
wieder. »Gerade meine Buchstaben sind es im Anfang, aber zuletzt sind es
andere.« Er wühlt mit zitternden Händen im Buffert. »Da ist noch etwas
Geschriebenes von Thöni Grieg. -- Da schau, schau! -- Da am Ende hat es
von seinen Buchstaben -- du unseliger Hund! -- Thöni, du unseliger Hund.
-- Und du nennst dich nur Fötzel -- und bist so ein Schuft!«

Josi schluchzt: »Ich habe nicht auf die Buchstaben gesehen, mich hat der
Brief halt gerade so angetönt, als ob er von Euch wäre -- ich habe so
viele Thränen darauf vergossen. Thöni -- das hast du mir gethan! -- Und
Bini ist gewiß auch nicht sein Weib.«

Da öffnet sich die Thüre ein wenig, man hört draußen Eusebis gedämpfte
Stimme. »Schau nur schnell, Bini -- er ist wirklich und wahrhaftig da --
aber zittere nicht so!«

Ein Schrei, wie wenn eine Saite sich zerfasert und springt: »Josi!«
Binia fällt an der Schwelle nieder, sie stößt gegen die Thüre und diese
öffnet sich breit.

Josi macht eine taumelnde Bewegung gegen Binia. »Bineli!« schreit er in
seliger Freude, aber er fährt zurück, tonlos stammelt er: »Sie trägt
doch einen Ring!« Er ruft: »Geh fort, Bini, geh fort -- ich halte es
nicht aus -- ich kann dich nicht ansehen -- -- fort, fort -- Frau Thöni
Grieg!«

Eine Welt voll Elend liegt in den abgerissenen Worten. Vroni müht sich
um die Gestürzte und begleitet sie aus dem Haus.

Der Garde nimmt Eusebi beim Rockärmel: »Wie hast du auch Bini
hereinbringen können,« knurrt er wild.

»Wir haben Sägeträmmel in der Glotter geflößt, da kommt ein Bub Bälzis
gesprungen: 'Josi Blatter ist wieder in St. Peter!' Ich renne heim, wie
ich vor das Haus komme, stehen die Leute da -- mitten unter ihnen wie
eine arme gestorbene Seele Binia. Sie nimmt meine Hände. 'Ich komme
gerade von daheim, ist es wahr, ist Josi da?' Ein Stein hätte sich ihrer
erbarmen müssen. Und gebettelt hat sie: 'Laß mich nur durch die
Thürspalte lugen wie er jetzt ist.' Ihr hättet auch nicht widerstehen
können, Vater!«

Der Garde knurrt wieder etwas, Eusebi hört es nicht mehr. Er hat sich zu
Josi gewandt: »Josi -- Schwager -- lieber Schwager.«

»Ja so -- du bist es, Eusebi!« stammelt Josi. »Dich habe ich nicht
gleich wieder erkannt. Was bist auch für ein Mann geworden -- und ich
habe dich immer noch im Gedächtnis gehabt, wie du so ein blöder Bub
gewesen bist!«

»Schwager!« wiederholt Eusebi.

»Wie rufst du mir! -- 'Schwager?' -- das ist eine spaßige Welt.«

»Du weißt noch nicht, daß Vroneli meine Frau ist -- meine liebe, herzige
Frau.«

»Eusebi, was sagst -- Vroni, deine Frau!« Josi stürzt von einer
Ueberraschung in die andere.

»Und du weißt noch nicht,« sagt Eusebi, »daß wir ein so liebes, herziges
Kind haben, komm und beschau's!«

Der Glückliche zieht den von allem Neuen auf den Kopf geschlagenen Josi
in die Nebenstube: »Siehst, da liegt es und schläft und weiß nicht, daß
du gekommen bist. Es ist jährig, und weil es gesund ist, so schläft es
bei allem Lärm.«

»Wie heißt es?« fragt Josi.

»Joseli heißt es wie du und dir zu Ehren.«

»Joseli heißt es und mir zu Ehren,« wiederholt er wie in tiefem Traum.

Der Kleine in seinem Bettchen wimmert, erwacht; wie er den Vater sieht,
streckt er lachend die Aermchen, und Eusebi nimmt den Kleinen liebkosend
auf den Arm: »Joseli!«

»Schwager!« sagt er, »wie mich das freut -- wie mich das freut, daß du
wiedergekommen bist. Vroni hat so viel getrauert um dich, jetzt mein'
ich, ist sie dann erst recht glücklich mit mir, weißt, das ist eine
Frau, wie die Fränzi selig, wie deine Mutter -- o so himmelgut.«

Wie die beiden Männer wieder in die Wohnstube treten, ist Vroni, die
junge Frau, eben von der Begleitung Binias zurückgekehrt und auf einen
Stuhl gesunken. Mit gefalteten Händen spricht sie: »Bini ist
heimgegangen -- aber was jetzt geschieht, weiß Gott!«

Da kommt die Gardin mit den Knechten und Vroni ist glücklich, wie die
Mutter Josi herzlich begegnet: »Tausend, was für ein schöner Mann Ihr
seid! Einen so braunen Bart! So freie Augen! Hochgewachsen und stark.
Und die häßliche Narbe sieht man nicht mehr.« Sie schüttete einen ganzen
Korb voll neugieriger Fragen vor ihm aus.

Der Garde sagt aber ernst: »Ich gehe noch ins Dorf, es muß in der ersten
Frühe ein zuverlässiger Bote nach Hospel auf die Post! Schweigt zunächst
über die Briefe, St. Peter ist schon halb toll, wird noch das Verbrechen
Thönis bekannt, so haben wir den offenen Aufruhr gegen den Bären.« Er
geht und die unaufschiebbaren Abendarbeiten, welche Eusebi und die
Gardin in Anspruch nehmen, fügen es, daß die Geschwister allein sind.

Leise sänftigen sich die Wogen des überraschenden Wiedersehens.

Josi sitzt am Tisch und weint still vor sich hin. Der Sturm hat ihn
überwältigt.

Da streichelt ihn Vroni und fragt: »Wie hast auch den Heimweg wieder
gefunden, Josi, nach mehr als fünf Jahren?«

Mit geröteten Augen schaut er auf: »Ich will es dir nur bekennen,«
erzählt er, »ich wäre nicht wieder gekommen, hätte mich Felix Indergand
nicht mit Gewalt zurückgeschleppt. Wie zwei Brüder haben wir zusammen
gelebt. Wenn ich fast umgekommen bin vor Weh, daß du gestorben seiest,
und Binia an mir so schlecht gewesen ist, so hat er manchmal meine Hand
genommen und so warm geredet, daß ich ganz tröstlich geworden bin. 'Was
willst im fremden Land freudlos leben?' sagte der gute Felix, 'kreuzige
dich nicht so stark, Untreu' ist schon vielen geschehen.' Und wenn ich
von dir, Vroni, erzählt habe, sagte er: 'Gerade so ist die Beate, mein
liebes Schwesterkind zu Bräggen.' Und er meint, ich soll sie um ihre
Hand fragen. Er drängte mich. Und nun, Vroni, gab ich ihm ein
Versprechen, das mich reut, aber wenn man keinen lieben Menschen auf
dieser Welt mehr zu haben meint, thut man einem guten Freunde viel zu
Gefallen. Jedes Jahr am Fridolinstag fährt das Mädchen von Bräggen in
die Stadt zu seinem alten Oheim, dem Chorherrn Fridolin Indergand, um
ihm als Patenkind Glück zu wünschen. Also auch morgen. Und ich muß
ohnehin in die Stadt gehen, um nachzusehen, ob mein Geldlein richtig auf
die Bank angewiesen worden ist. Da kann ich sie sehen, ohne daß sie vom
Plan weiß. Sie muß in Hospel übernachten. Doch ist mir so sonderbar! Ich
hätte schon vor drei Tagen in St. Peter sein können, aber ich meinte:
'Nur geschwind beten auf den Gräbern und durch das Dorf laufen.' -- Und,
Vroni, um die Beate kümmere ich mich nicht -- ich kann nicht -- sieh,
wer von Bini ein Reiflein hat, der hat keine andere mehr lieb! Immerhin
will ich dem Freund das Versprechen halten.«

So berichtete Josi.

»Schon morgen willst du wieder fort, Josi, Herzensbruder? Sei nicht so
bitter, glaube mir, Binia hat gräßlich um dich gelitten. Sie ist zu der
Verlobung mit Grieg gezwungen worden.« Und in fliegenden Zügen schildert
ihm Vroni die Ereignisse der Zeit.

»Sie hat gräßlich gelitten um mich.« Tonlos sagt es Josi und weint.

»Daß ich auch so flennen muß,« stammelt er, »es ist ja eine Schande,
wenn ein Mann greint, aber ich kann mich nicht wehren -- ich flenne vor
Freude, weil es dir so gut gegangen ist, Vroni, -- wer hätte gedacht,
daß Eusebi so ein Mann, wer hätte gedacht, daß wir die nächsten
Verwandten des Garden würden -- ich flenne, weil dein Kind Joseli heißt
-- weil ich wieder in St. Peter bin, wo Vater und Mutter begraben sind.
Ich weine aus Wut über Thöni Grieg, erschlagen könnte ich ihn vor Grimm
-- ich weine, weil es mir das Herz vertrüdelt und bricht, daß ich Bini
wiedergesehen habe. -- Und schmerzenreich ist sie gewesen um mich, sagst
du, schmerzenreich und ist jetzt doch Thönis Braut!«

Josi hat alle Fassung verloren.

Da kommt der Garde zurück. Wie er hört, daß Josi schon am Morgen in die
Stadt gehen will und von dem Versprechen erfährt, das er Indergand
gegeben, seufzt er erleichtert auf. Er setzt sich Josi gegenüber und
nimmt seine Hand. »Ich meine,« sagt er herzlich, »ich sei auch dein
Vater, Josi, und will offen mit dir reden. Wie du zu Bini standest, weiß
ich und der Herrgott, der ins Herz sieht, weiß ebenso gut, wie schwer es
mir wird, ihr ein Leid anzuthun. Daß du aber morgen die Beate Indergand
sehen willst, das ist des Himmels Wink. Kämpfe, kämpfe, Josi, gegen dein
Herz! Es wird jetzt schon eine Aenderung im Bären geben, Thöni Grieg
kann nicht in St. Peter bleiben, ich könnte mich nicht zähmen, wenn ich
ihn träfe, den unseligen Hund. Was da aber komme, Josi, hüte dich vor
Binia! Der Bären wankt. Zu maßlos hat der Presi gewütet. Ein
Volksgericht bereitet sich vor, wie es in alten Zeiten gegeben hat --
und, lieber Josi, ich möchte dich, wenn der Bären gestürzt ist, nicht
unter den blutenden Opfern finden. Darum, um Gottes willen, Hand weg von
Binia. So wenig zu ihr wie zu den Feinden des Presi -- mein Haus soll
rein bleiben von Schuld -- und wenn dir die Beate ein wenig gefällt, so
sei freundlich zu ihr. Es ist Gottes Hilfe zu deiner Rettung.«

»O, wäre Bini nur nicht verlobt,« stöhnt Josi, »ich holte sie jauchzend
mitten aus der Wut derer von St. Peter, aber ich kann nicht der
Nachgänger Thöni Griegs sein -- nein, beim Himmel nicht -- und nicht mit
einem Stecklein könnte ich sie mehr anlangen.«

»Josi, geh' zur Ruhe,« mahnt Vroni, »du bebst ja am ganzen Leib -- du
bist krank.«

Josi steht auf.

»Noch eins, Josi,« sagt der Garde, »so schwer es dir und mir fallen mag
-- gegen das Dorf wollen wir über Thönis That schweigen und wenigstens
jetzt auch noch nicht vor Gericht klagen. Die Wildleutlawine hat sich
gerüstet und das ist immer eine schwere Zeit -- ein Wort von uns, und
sie kann den Bären mit den heligen Wassern zusammenschlagen. Gieb mir
die Hand darauf, Josi, daß du ruhig bist.«

Stumm reichen sich die Männer die Hände, zuletzt sagt der Garde: »Mit
dem Presi will ich aber morgen doch reden -- nicht seinetwegen -- aber
wegen des armen Dorfes.«

Zum erstenmal schlief Josi wieder in der Heimat, doch wirre Träume
quälten ihn, am meisten der, Binia schwebe in irgend einer großen
Gefahr und rufe mit ihrem Vogelstimmchen: »Josi -- Josi -- ich bitte
dich -- hilf mir.« Schreiende Amseln flogen die ganze Nacht um ihn und
einmal war ihm, jetzt sei wirklich eine an die Kammerscheiben
geschossen. Er wollte aufstehen, aber mit bleiernen Gliedern blieb er
liegen. Im ersten Grauen des Morgens sah er ganz bestimmt etwas Weißes
vor seinem Fenster. Er stand auf. Ein Briefchen, durch das ein Faden
gezogen war, hing am Fensterhaken.

»Bini!« schrie er.

Sie schrieb: »Ich muß mich vor Dir rechtfertigen, sonst sterbe ich. Bei
dem schönen, unvergeßlichen Tag von Santa Maria del Lago, sei heute um
Mitternacht im Teufelsgarten. Dein unglücklicher Vogel Binia.«

Josi biß sich auf die Lippen und sein Gesicht verfinsterte sich.
»Thorheiten, Bini,« flüsterte er, und beim frühen Morgenessen sagte er
zu Vroni: »Schwesterlein, ich habe es mir überlegt. Ich muß wieder in
die Fremde. Je bälder je besser. Am Sonntag noch wollen wir miteinander
zur Kirche gehen, dann reise ich wieder ab.«

Und seltsam! Vroni war über seine Rede wohl traurig, das Wasser trat ihr
in die Augen, aber sie widersprach ihm nicht.

Sie dachte an Binia und ihre ahnungsreiche Seele witterte Gefahr für
Josi.

Er zögerte und zögerte fortzugehen, er scherzte noch mit Joseli, der
erwacht war, und dann war es immer, als wolle er noch etwas sagen oder
fragen.

»Du kommst gewiß zu spät,« mahnte Vroni.

Jetzt endlich ging er, er ging den erinnerungs- und schmerzenreichen
Weg über den Stutz hinunter, am Teufelsgarten und am Schmelzwerk vorbei.

Als er zu den Weißen Brettern aufschaute, erschrak er. Es rieselte weiß
in den Wildleutfurren und knatterte in einem fort. »Gerade wie damals,«
dachte er, »als ich mit Vroni Mehl holen ging. Aber so früh im Jahre!«

Er dachte an den Vater -- er dachte an seinen eigenen großen Plan, als
ein zweiter und stärkerer Matthys Jul und für Binia die heligen Wasser
den sicheren Weg durch die Felsen zu führen und St. Peter aus der
Blutfron zu lösen.

In seinen sehnigen Armen zuckte das Leben, ein wunderbarer Anreiz lag in
dem Gedanken.

Bah -- Bini ist für ihn verloren -- er will wieder fort, die in St.
Peter mögen selber sehen, wie sie mit den heligen Wassern fertig werden.

Im Teufelsgarten dufteten die ersten Veilchen. Eine wunderliche Stunde
kam ihm ins Gedächtnis.

»O Binia! -- Binia!« seufzte er.

Er hatte nicht den Mut gehabt, Vroni zu Binia zu schicken und ihr sagen
zu lassen, sie möchte von dem Stelldichein abstehen. Ein Wort, wenn auch
nur zu Vroni, wäre ihm doch wie ein schnöder Verrat am geliebten Bild
erschienen.

»Glaube mir, sie hat gräßlich um dich gelitten -- sie ist zur Verlobung
mit Thöni gezwungen worden.« Die Worte Vronis klangen ihm in den Ohren.
Und Binia ist in Gefahr.

»Ich kann sie aber doch nicht treffen -- sie ist die Braut Thöni
Griegs,« murmelte er, und der Gedanke an Binia und an die Warnung des
Garden quälte ihn so, daß er im reinen Frühlingstag vor Weh fast starb.
Da kam ihm Kaplan Johannes entgegen. Der Schwarze mit dem Bettelsack
stutzte einen Augenblick -- dann schlug er ein höllisches widriges
Lachen an. »Guten Tag, Söhnchen! -- Bist du wieder da, du undankbares
Aas!«

»Schweige, Pfaff!« Und Josi machte eine drohende Bewegung mit seinem
Stock.

Ein entsetzlicher Haß loderte aus den Augen des Verrückten, Josi aber
hatte eine sonderbare Empfindung: »Wie wenn mir einer Gift angeworfen
hätte.«

In Tremis streckte die alte verkrümmte Susi ihren Kopf aus dem Fenster.
»Je, je,« lachte sie verwundert, »der zweimal verloren gegangene Rebell!
-- Jetzt seht Ihr aber schön aus. Bini muß jetzt wohl den Thöni fahren
lassen. Hä-hä hä!«

»Haltet Euer altes Maul!« rief er ihr verdrossen zu, er eilte vorwärts
und kam in Hospel eben recht auf die Post.

Der Wagen rollte das große Thal entlang. Ein betagtes Ehepaar und ein
junges Mädchen teilten sich mit Josi in den Raum des offenen Gefährtes.
Das Mädchen glich Vroni und war blond wie sie. Er hörte bald, daß sie
erst in Hospel eingestiegen sei, wo sie übernachtet habe. Die drei
sprachen dann aber wieder von gleichgültigen Dingen, namentlich vom
Segen der heligen Wasser zu Hospel und den fünf Dörfern, wo ihr erster
lauer Strom die Aprikosen- und Pfirsichblüten geöffnet hatte.

»Ihr seid von Bräggen,« wandte sich Josi höflich an das Mädchen, »sagt,
ist Felix Indergand gut heimgekommen von seiner weiten Reise?«

»Vorgestern,« antwortete sie frisch, »kennt Ihr ihn?«

»Freilich, freilich, warum nicht. Wir waren in Indien zusammen, wir
haben uns erst vor wenigen Tagen getrennt.«

»Da seid Ihr Josi Blatter von St. Peter im Glotterthal?«

Zwei hübsche Augen richteten sich auf ihn, ein herzliches Lächeln
umspielte die Lippen des Mädchens.

»Felix,« fuhr sie fort, »hat uns viel von Euch erzählt, er sagte, ohne
Euch hätte er es niemals ausgehalten in dem fremden Land, aber wenn er
fast vergangen sei vor Heimweh, dann habet Ihr ihn immer so lieb
angesehen mit Euren braunen Augen.«

Sie lächelte wieder und betrachtete Josi, der unter ihren Blicken
unruhig wurde.

Himmel, dachte er, das ist wirklich ein frisches liebes Mädchen.

Bei einem der nächsten Dörfer stiegen die alten Leute aus -- die Jugend
fuhr bis in die Nähe der Stadt allein durch den Frühling und plauderte.

Beate Indergand war Waise, ein stattliches Bauernheimwesen lastete auf
ihr und ihrer Mutter, und wenn Josi nicht zu viel in ihre Worte legte,
so dachte sie ernstlich, sich männliche Hilfe zu suchen.

»Ja, in Bräggen,« scherzte er, »giebt es gewiß Bursche genug, die gern
zu Euch in den Dienst treten, zu so einer Jungfrau wie Ihr, Beate.«

»Seid doch still,« antwortete sie, »die Bursche bei uns lungern lieber
vor den Gasthöfen herum.«

Da stellte sich Josi, wie wenn er Lust hätte, bei ihr als Knecht
einzutreten.

»Ach, geht,« sagte sie errötend, »so ein gescheiter, schöner Mann wie
Ihr, der in Indien Aufseher gewesen ist, wird doch nicht Knecht, das
könnte ich gar nicht leiden.«

Und sie sah ihn so sonderbar fröhlich und gütig, mit so viel Achtung an,
daß er ganz verwirrt wurde.

»Kommt aber,« sprach sie, »nur sonst bald einmal nach Bräggen, Felix
wird eine große Freude haben und Euch alles bieten. Wir lassen Euch dann
selbstverständlich ein paar Tage nicht los.«

Sie blinzelte ihn freundlich an, dann sagte sie: »Ja, etwas muß ich Euch
noch erzählen. Wie ich gestern mit der Post im Kreuz zu Hospel
angekommen bin, saßen zwei Männer von St. Peter da, der Präsident und
ein jüngerer Herr, Thöni haben sie ihn genannt. Ich frage sie, ob Ihr
schon daheim seid. Da sagt der Präsident: 'Der ist ja gestorben!' der
jüngere aber wird grün und gelb wie eine Leiche und wiederholt auf
spaßige Art: 'Ja, der ist gestorben!' Jetzt bin ich eifrig geworden und
habe erzählt, was ich von Felix über Euch wußte: wie Ihr, obgleich noch
so jung, geachtet und angesehen und Aufseher über mehr als hundert
Arbeiter gewesen seid und gute Zeugnisse bekommen habt, worin steht, daß
man Euch wieder an einen guten Posten stellen wird, wenn Ihr Euch wieder
meldet. Die haben Mund und Augen aufgesperrt, der Präsident hat vor
Schlucken nichts sagen können als: 'So -- so -- -- Josi Blatter -- so --
so!' Der jüngere aber hat die Gläser nur so gestürzt. Es war ganz
sonderbar. Da hat aber der Kreuzwirt auf einmal gesagt: 'Die Maultiere
sind bereit -- reitet heim, ihr habt ja eine große Neuigkeit zu
bringen.'«

»So lieb habt Ihr von mir geredet,« dankte Josi, seine Wangen glühten,
er versprach den Besuch zu Bräggen und nahm ihre Hand. »Ihr seid so ein
artiges Mädchen!«

»Ihr gefallt mir auch gut -- ich bin sonst nicht von der Art, daß einer
nur meine Hand nehmen darf, sondern recht wählerisch,« lächelte sie.

Da hielt die Postkutsche im letzten Dorf, ein Mann stieg ein, und weil
Josi und Beate nichts Gleichgültiges sprechen wollten, so wurden beide
still.

Es wäre gewiß ein schöner Traum: Ein freundliches Gut im grünen
Oberland, darauf gesegnete Arbeit, das Lachen eines so jungen sonnigen
Weibes wie Beate, am Feierabend das Geplauder des liebsten Freundes, der
in schweren Jahren genug Proben wankloser Treue abgelegt hat, und dazu
den Frieden der Heimat.

Josi weiß es. Aber er ist kaum allein, so bereut er das Versprechen,
nach Bräggen zu kommen, bitterlich. Es wäre ein Unrecht an der sonnigen,
arglosen Beate, wenn er ihr Liebe heuchelte, während er doch ein anderes
Bild im Herzen trägt: Binia, das feurige Herz, die mutvolle Seele. Da
giebt es keine Rettung.

Indem er sich Beate vorzustellen sucht, sieht er immer Binia, ihr
glänzendes Augenpaar, die frischen Lippen, das rosige Ohr und er geht
mit ihr am Gestade von Santa Maria del Lago.

Wie einen Diebstahl an ihr empfindet er jedes gute Wort, das er Beate
gegeben hat.

»Felix, ich kann dir nicht helfen!« sagt er für sich, und dann: »Bini!
-- Bini! -- Ich komme, wenn es das Leben kostete, in den Teufelsgarten
-- ich muß deine dunklen Augen sehen -- deinen Ruf 'Josi' hören. --
Dann aber fort, wieder zu George Lemmy nach Indien -- morgen schon fort
-- trotz Garde, Vroni und Joseli -- fort -- fort! ein einsamer
heimatloser Mann.

»Wie gern wäre ich für dich an die Weißen Bretter gestiegen, aber -- o
Bineli -- weil du mit Grieg gegangen bist, habe ich den Mut nicht
mehr.«



XVI.


Einen Tag zurück.

Binia ist vom Haus des Garden wieder daheim. Mit verkrampften Händen
sitzt sie am Rand des Bettes. Die dunkle Flut ihrer Haare ist ihr zu
beiden Seiten niedergeglitten, zwei brennende Augen schauen zwischen den
Strähnen hervor. Das Gesicht ist starr und blaß wie ein Steinbildnis,
aber im Blick funkelt das Leben, strömt die Leidenschaft. Sie stößt
einen Ton hervor, wie ein kleines Kind, das seufzt. Es beben die Lippen:
»Er ist gekommen wie ein Held -- er ist schön wie ein Held!«

Dann wimmert sie und beißt sich die Fingerknöchel wund. »Wie hat er mich
genannt? -- Frau Thöni Grieg!« Das Wort brennt sie wie eine Hölle im
Herzen! »Es ist nicht wahr. Nein. In Ewigkeit nein. -- Ich werde es
nicht.«

Sie schleudert den Reifen weit von sich.

Sie wankt zum Schrank, sie nimmt aus einer kleinen bemalten Truhe ein
goldenes Kettchen, sie öffnet die Kapsel die daran hängt, und ein
Tautropfen glänzt. Sie küßt ihn mit glühenden Lippen und sagt: »Wie ein
Tautropfen so frisch, so rein, so sonnenvoll habe ich wollen sein, damit
ich dir immer gefalle, Josi.«

Die Stimme erbebt zart und fein. Da merkt sie erst, daß ihr die Haare
niedergefallen sind. Sie tritt vor den Spiegel und ordnet sie. Und nun
lächelt sie doch. Sie ist wohl blaß und ihre Wänglein sind schmal, aber
ihre gewölbte Stirn ist rein -- und die Lippen sind rein.

Und sie stammelt: »Das Herz ist rein! -- Und er liebt mich noch -- ich
habe es ihm angesehen -- ich will demütig sein gegen ihn -- o, so
demütig -- und wenn er mich nicht mehr will --«

Ein Schrei!

Und nun staunt sie wieder: »Wenn der Vater nicht will, wenn Thöni nicht
will. Sie wollen nicht!«

Kämpfen, kämpfen will sie jetzt um Josi bis ans Ende -- gegen Thöni --
gegen den Vater -- gegen die ganze Welt. Nein, um das einzige große
Glück ihrer Liebe darf sie sich nicht betrügen lassen.

Und wenn sie Josi fortjagt, so will sie zu ihm hinkriechen und betteln:
»Dulde mich bei dir!«

Sie sinnt und nach einer Weile tönt wieder ihr kleiner Schrei.

In den fliegenden Gedanken hat sie etwas Sonderbares gehört und gesehen;
die Leute haben gesagt, Josi habe geglaubt, Vroni sei tot. Und auf dem
Tisch des Garden lagen zwei Briefe. -- Ein alter Verdacht zuckt auf:
»Warum hat Thöni die Postschlüssel immer abgezogen?« Ist sie
hellseherisch geworden aus langer, unbegreiflicher Blindheit?

»In verbrecherischer Weise hat sich Thöni zwischen mich und Josi
gestellt.«

Mit einem Schlag hat sie die sichere Ueberzeugung gewonnen.

»Ja, jetzt Kampf!« Ihre Augen flammen auf, alles an ihr lebt und bebt.
»Du wirst sehen, Vater, du armer, in einen Verbrecher vernarrter Thor,
wie ich Thöni liebe.«

Mit fieberglühendem Köpfchen schwankt sie hinab in die Postablage. Sie
hat die Hand am Telegraphenapparat: »Postdirektion. In St. Peter ist ein
Postverbrechen geschehen. Ich bitte um Untersuchung. Binia Waldisch.« Da
läßt sie die Hand sinken -- der Schrecken lähmt sie. Der Vater ist der
Posthalter, nicht Thöni. Hat je ein Kind seinen Vater den Gerichten
ausgeliefert?

Wie mit Wasser begossen schleicht sie davon. Sie weiß ja nicht einmal,
ob ihr brennender Verdacht gerechtfertigt ist. Und nun noch ein
furchtbarer Gedanke: »Wenn der Vater in seinem wilden Haß auf Josi der
Anstifter der Briefunterschlagungen wäre?«

»Schäme dich, Binia,« flüstert sie, »so ist er nicht. -- Unerhörte
Gewaltthaten haben dir sein Bild verdunkelt, aber du mußt ihm nur in die
Augen sehen, in die lieben und schönen Augen, dann siehst du einen
gewaltigen Mann, der sich eher würde zerbrechen lassen, als daß er mit
Absicht und wissentlich bei einer Schlechtigkeit mithülfe. -- Er ist das
Opfer -- armer, armer Vater!«

Ehe es Morgen wird, will sie hinter den Geheimnissen Thönis sein.

Sie sieht, wie ihr die Blicke der Frau Cresenz mißtrauisch folgen -- sie
geht in ihre Kammer -- -- sie liest den Ring Thönis knirschend auf --
aber sie bringt ihn nicht mehr an den Finger -- sie läßt ihn in die
Tasche gleiten.

»Mutter,« flüstert sie, »jetzt sollte dein armes Kind klug sein wie eine
Schlange.«

Sie steigt in die große Wohnstube hinab -- sie näht -- aber die Nadeln
brechen und der Faden reißt. Und dennoch denkt sie: »Wie ich heucheln
gelernt habe! Nähen -- und das Herz zerspringt.«

Sie denkt an alles, was sie mit Josi gemeinsam erlebt hat. Sie sieht die
Bilder, als schaue sie in einen Guckkasten: den kleinen Buben, der das
wilde Kind herumträgt -- den Kuß im Teufelsgarten -- den schlafenden
Josi, den sie mit Fränzi beschaut -- Josi, das Knechtlein, das
zerschmettert mit Bälzi geht -- Josi, der unter dem Peitschenhieb des
Vaters blutet -- Josi, der zu Madonna del Lago erwartungsvoll vor der
Gartenpforte steht.

Wie hat sie auch nur einen Augenblick vor dem Zorn des Vaters schwanken,
einen Augenblick glauben können, Josi sei tot.

Da kommen die Männer heim.

»Hole mir Wein, Bini, ich habe noch einen verdammten Durst,« johlt
Thöni, -- »schau mich nicht so verächtlich an, Bini, und so seltsam. So,
schwillt dir der Kamm wieder, weil der Rebell und Halunke da ist. Es
nützt dir nichts. -- Am Sonntag muß der Pfarrer unsere Ehe verkündigen!«

»Ins Bett mit dir, Thöni,« keucht und donnert der Presi, der müde und
elend auf einen Stuhl gesunken ist.

»Von Euch laß ich mich nicht mehr so anfahren, Presi,« mault Thöni unter
der Thür zurück, »wenn ich im Kot bin, so seid Ihr auch drin.«

»Geh jetzt,« sagt der Presi matt, »schlafe den Rausch aus. Gelt, Bini,
du machst keine Thorheiten wegen des Rebellen!« Thöni schwankt ohne
»Gute Nacht« fort.

Sie antwortet dem Vater nicht. Das Linnen, an dem sie arbeitet, ist ihr
vom Schoß geglitten. Sie hat das letzte Wort Thönis anders gefaßt als
der Vater -- für sie ist es ein Schuldbekenntnis, daß an Josi ein
Verbrechen geschehen sei.

»Ich gehe jetzt auch zu Bett, es ist mir nicht recht wohl. Gute Nacht,
Binia.« Der Vater sagt es so gütig, wie er seit langem nicht mehr
geredet hat, aber tiefbekümmert, als hätte er etwas Schweres erlebt.

Binia schläft nicht.

Mitten in der Nacht wandelt sie barfuß und gespensterhaft durch das
Haus. Leicht gekleidet schleicht sie von ihrer Kammer durch den Gang zu
Thönis Zimmer. Sie lauscht eine Weile an der Thüre. Der drinnen
schnarcht laut. Sie öffnet die Kammer, läuft auf den bloßen Zehen zu
Thönis Kleidern und zieht daraus den Schlüsselbund, er klirrt leise, der
Schläfer wendet sich auf die Seite, sie huscht in den Mondschatten, aber
einen Augenblick später schnarcht er weiter, sie huscht zurück durch
Gang und Treppen abwärts bis zur Postablage.

Sie entzündet Licht, schließt Pult und Truhen auf und findet, was sie
sucht, in einer kleinen Schublade -- Briefe -- die Notschreie Josis um
sein totes Schwesterlein und um sie.

Sie küßt sie -- ihre Augen blitzen -- ein bleiches Lächeln geht über ihr
Gesicht. »Darum hast du so viel trinken müssen, Thöni, du Schuft! Aber
ein Narr bist du wie alle, die Schlechtes thun. Sonst hättest du die
Briefe vernichtet.« Aus der Ferne hört sie den gleichförmigen Gesang des
Wächters, der mit seinem Spieß taktmäßig auf das Straßenpflaster
schlägt. Sie löscht das Licht aus, bis er vorübergegangen ist.

Dann entzündet sie es wieder. Ein jubelndes Triumphgefühl steigt in ihr
auf -- sie will am Morgen die Briefe dem Vater vorlegen -- Thöni ist
geschlagen, das Feld für Josi frei. -- Und vor Josi will sie sich
rechtfertigen -- so bald als möglich.

Sie schreibt in fliegender Hast ein paar Zeilen, die ihn in den
Teufelsgarten bestellen, steigt durch den Untergaden ins Freie und hängt
den Brief mit Hilfe einer Stange, einer Nadel und eines Fadens an die
Haken des Fensters, hinter dem Josi schlafen muß, und kehrt leis zurück.

Alles was sie thut, thut sie wie im Traum -- sie ist ihrer Sinne nicht
mächtig, so hämmert die Brust -- sie taumelt durchs Haus, sie tritt
wieder in Thönis Zimmer, sie steckt den Schlüssel in seine Kleider, sie
betrachtet einen Augenblick den Schläfer, sie hebt die geballte Faust:
»Josi hast du gemartert und schläfst so gut.«

In ihren Augen funkelt der Haß, sie flüstert: »Weiß Gott, ich könnte
Judith sein.«

Fort eilt sie und nun ist ihr doch, sie höre etwas. -- Das Entsetzen
rüttelt sie -- sie hat den Vater seufzen gehört -- aber sie hat nicht
gewagt, sich umzusehen. War es nur Einbildung der gespannten Sinne, daß
er unter der Thür seiner Kammer stand?

Wie eine Bildsäule lehnt sie noch im Morgenrot mit gefalteten Händen an
ihrem Bett, blaß und aufgeregt, aber in furchtbarer Entschlossenheit.

Sie muß mit dem Vater reden -- rasch -- rasch.

Am Morgen aber meldet Frau Cresenz, der Vater sei krank, und wie Binia
doch zu ihm heraufsteigen will, da fleht jene, daß sie ihm Ruhe gönne.

Daran hätte sich Binia nicht gekehrt, es handelte sich jetzt gewiß um
mehr als Ruhe, aber -- ihr selber liegen die Erregungen der Nacht wie
Blei in den Gliedern -- sie hätte die Kraft nicht, mit dem Vater zu
reden, wie sie müßte -- sie könnte nur weinen.

»Wohl, wohl,« meint Frau Cresenz, »das wird eine heitere Wirtschaft auf
den Sommer, der Präsident ächzt, du bist so zitterig wie Espenlaub und
von Thöni mag ich schon gar nicht reden -- der war heute früh wie eine
Leiche -- die Post hat er nicht besorgt -- er hockt schon wieder beim
Glottermüller und säuft. -- Und ich überlege, ob ich nicht fortlaufen
will.« -- --

Der Presi sitzt in seiner Stube im Lehnstuhl und stöhnt: »So viel Elend!
-- Die Dörfler drohen mit Aufruhr -- der Garde ist wild über mich -- die
Wildleutlaue steht in Sicht -- und nun ist auch der Rebell wieder da --
der unheimliche Rebell, von dem man nicht weiß, woher er in allen Dingen
seine Stärke hat.«

Wie sonderbar hat er es im Kreuz zu Hospel vernommen, daß der zurück
ist. Die Bräggerin plauderte so harmlos, als ob sie nichts merke. Thöni
aber stürzte Glas auf Glas und in seinem Rausch sagte er auf dem
Heimritt immer nur, er werde den Rebellen töten.

Er hat sich an der letzköpfigen Aufregung Thönis geärgert -- er konnte
nicht schlafen vor Verdruß. -- Da -- da -- hört er eine Thür gehen -- er
streckt den Kopf aus dem Schlafgemach -- -- Binia schleicht
leichtgekleidet und barfuß aus Thönis Kammer und huscht hinüber, wo sie
und die Mägde schlafen -- Bini -- seine Bini. -- Ist's möglich -- sie in
der Nacht bei Thöni -- sie, die sich immer gegen ihn gewehrt und
gesperrt hat -- sie, das wilde und doch so keusche Blut ist so wohlfeil
geworden.

Er ächzt -- er stöhnt. -- Es ist unfaßbar, daß Binia zu Thöni gegangen
sei, aber was das Auge sieht, glaubt das Herz. Er hat gestern abend
einen Groll gegen ihn gefaßt -- und die Wahrheit -- er hat schon lange
etwas gegen ihn. Wie, wenn Thöni doch nicht der rechte Schwiegersohn
wäre? Es ist ihm furchtbar zu Mute. Er hat mit der Verlobung das Dorf
schlagen wollen, nun ist ihm, er habe sich selber und Binia geschlagen.
Das arme Kind -- der liebe, lose Vogel -- ob ihm nun die Wiederkehr Josi
Blatters nicht das Herz bricht. Und in heißen Stößen spürt der Presi,
wie er Binia liebt, die arme Maus, die sich mit Thöni vergessen hat. --
Er möchte sie schlagen vor Wut, er möchte vor ihr niederknieen: »Bini,
meine einzige, sage es deinem alten Vater, was er gesehen hat, sei nicht
wahr.« Aber er kann das Kind nicht rufen. Vor eigener Scham. Sein Herz
klagt ihn schreiend an: »Ich habe sie mißhandelt. Und der Mensch ist wie
ein Pferd. Das edelste Tier wird, wenn es genug Schläge bekommen hat,
störrisch und stürzt sich in den Abgrund.«

So ist Binia gestürzt, sein herrliches Kind -- sein ist die Schuld -- er
darf ihr nicht mehr in die Augen sehen.

»Möge dich Gott schlagen,« hat er einmal gesagt -- und Gott hat sie
geschlagen.

Es ist schrecklich. -- Eine Umkehr giebt es nicht mehr, nur Eile vor dem
Rebellen. Am Sonntag muß der Pfarrer die Ehe Thönis und Binias
verkündigen. Ein Glück ist in diesem grenzenlosen Elend: Binia weiß
jetzt, daß das Spiel mit Josi Blatter aus ist -- das ist vorbei!

Es ist ein furchtbar bleiches Lächeln der Genugthuung, das um die Lippen
des Presi spielt.

Josi Blatter bringt er nicht aus dem Kopf. Er ist in Ehren und mit guten
Zeugnissen aus der weiten Welt zurückgekehrt. -- -- Ja, er ist halt
Fränzis Sohn, das ist seine geheimnisvolle Kraft.

Der Presi keucht und schwitzt. Da pocht es, Frau Cresenz bringt ihm
einen Brief, den der Viehhüter Bonzi abgegeben hat. Er trägt die
knorrige Schrift des Garden.

Der Presi ahnt nichts Gutes, erst als Frau Cresenz gegangen ist, öffnet
er das Schreiben.

»Presi!« schreibt der Garde, »ich laufe Euch nicht nach, aber wenn Ihr
zu mir kommen wolltet, so hätte ich Ernstes mit Euch zu reden. Ich habe
die Beweise in den Händen, daß Thöni Grieg an Josi Blatter einen
gottlosen Brief geschrieben, die Schrift gefälscht und das Schreiben mit
meinem Namen mißbräuchlich unterzeichnet hat. Ferner besitze ich von der
Post in Hospel die Bescheinigung, daß zwei eingeschriebene Briefe,
darunter der des Gemeinderates an den Konsul in Kalkutta, im Postbuch
nicht vermerkt und also nicht durch Hospel gegangen sind. Thöni Grieg
hat also diese und andere unterschlagen. Ich hoffe, daß Ihr nicht
Mitwisser des Verbrechens seid.«

Der Presi liest den Brief nicht zu Ende -- er neigt das blasse Haupt auf
die Seite -- seine Hände zucken -- er will aufstehen -- es geht nicht
-- mit vorgelegten Armen läßt er den Kopf fallen. -- Aus der Brust des
Gerichteten stöhnt es, wie wenn eine gewaltige Eiche sich zum Falle
rüstet.

Der Sturz einer Eiche. Wer das Bild einmal gesehen hat, vergißt es nie!
Es seufzen tief unter der Erde die Wurzelgrüfte, es bebt die Krone, die
Vögel flattern schreiend heraus, die Käfer kriechen aus der Rinde und
rennen davon, quiekend würgt es in den Stammfasern, als ob sich
Jahrhunderte trennen, es ist ein Knistern und Brechen, ein
geheimnisvolles Raunen von Abschiedsstimmen -- das Fallen einer Eiche
ist eine ganze Schlacht.

Eine würgende, ächzende Schlacht ist in dieser Stunde das Leben des
Presi.

Er zweifelt nicht. Er wütet nicht, aber sein leises Zittern ist
schrecklicher als ein lauter Ausbruch der Wut.

Wenn die Eiche vor dem Falle erbebt, so sagen die Holzleute: »Der Baum
redet!«

Der Presi redet.

Mit zuckenden Lippen murmelt er: »Nein, Garde. -- Gott weiß es -- ich
bin unschuldig -- Bini -- Vogel -- meine Ehre und deine Ehre durch einen
Schuft dahin.«

Sein Wort klingt wie eine sanfte, feierliche Knabenstimme. Die dünnen
spärlichen Thränen des Alters rinnen über seine Wangen. Er merkt es
erst, wie sie auf seine Hände fallen. Die Thränen beelenden ihn noch
mehr. Sechsundzwanzig Jahre hat er nicht geweint. Er hat es beim Tode
der Beth nicht gethan, sondern das letzte Mal, als er Fränzi um ihre
Hand bat.

»Fränzi. -- Seppi Blatter,« stöhnt er, »erbarmet euch meiner -- ich gebe
nach!«

»Ich gebe nach -- ich will hinter sich machen -- zuerst mit Bini. -- --
Ja, wenn es ginge! Aber sie ist aus Thönis Kammer gekommen!«

Und das Wort Thönis: »Wenn ich im Kot bin, seid Ihr auch drin,« tönt in
seinem Ohr wie die Posaune des Gerichts.

Da murmelt er in seinen wilden Schmerzen: »Für den Rebellen thut sie es
schon noch,« doch er hat es kaum gesagt, so rauft er sich das Haar:
»Nein -- nein -- das gilt nicht -- das habe ich nicht gedacht.« Er zuckt
in der gräßlichen Furcht, daß dieser eine schlechte Gedanke schon wieder
ein neues Verhängnis zeitige, und die Stunde ist da, von der der Garde
gesprochen hat. »Auf den Knieen würdet Ihr zur Lieben Frau an der Brücke
rutschen, wenn Ihr Bini nur dem Josi geben könntet und Ihr sie friedlich
wüßtet.«

Die Stunde ist da -- sie ist gekommen wie ein Dieb über Nacht.

O, wie der wilde Presi zahm ist und betet.

Ein schönes Alter. -- Nein, kein schönes Alter. -- Binias Augen reden:
Vater, warum hast du mich in die Hand eines Schuftes gezwungen und ich
hätte glücklich sein können mit Josi Blatter, der ehrenvoll aus der
Fremde heimgekommen ist.

»Frieden. -- Frieden! --«

Wieder sinkt sein Kopf. Er sieht es nicht, wie Frau Cresenz angstvoll
kommt und geht. Er weiß nicht, wie viele Stunden er in brütender
Vernichtung sitzt, er hört es nicht, wie der wachsende Föhnsturm pfeift
und an den Fenstern rüttelt.

Sein Leib ist lahm, seine Glieder sind gebrochen, endlich aber steht er
schwankend auf, er nimmt Rock und Hut und steigt die Treppe hinab. »Wo
ist Bini?« fragt er Frau Cresenz. Er leidet furchtbare Angst um das Kind
-- es ist ihm, es schwebe in drohender Lebensgefahr -- und doch, nein,
er möchte sie nicht sehen -- er schämt sich vor Binia und für sie.

»Sie hat so stark den Föhn im Kopf -- sie hat nicht mehr stehen können
-- sie ist in ihre Kammer gegangen,« jammert Frau Cresenz. »Um tausend
Gotteswillen redet jetzt nicht mit ihr.«

»Föhn im Kopf,« grollt der Presi dumpf -- »ich gehe jetzt zum Garden --
und ich hoffe, daß mir Thöni nicht begegnet -- sonst muß er sterben.«

Das letzte sagt der Presi so fest, wie es ein Richter sagen würde.

Frau Cresenz schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: »Was giebt es
auch, Präsident, was giebt es?«

Da schleudert er ihr den Brief des Garden vor die Füße und geht.

Allein in der Dämmerung geht er nicht gleich zum Garden, er schwankt,
ohne zu wissen, was er thut, hinüber zum Neubau, steht eine Weile davor,
schüttelt den Kopf und wendet sich wieder zum Gehen.

Da hört er plötzlich ein gräßliches Lachen. Kaplan Johannes mit dem
Bettelsack steht neben ihm. »Herr Presi, merkt Ihr es nicht, es kommt
ein Wetter. Geht doch lieber zum Glottermüller, dort zahlt einer Wein,
so viel man will, und erzählt den Leuten lustige und traurige
Geschichten aus dem Bären von St. Peter.«

»Du räudiger Pfaff!« schreit der Presi, er stürzt sich auf den Kaplan
und mißhandelt ihn. Unter heulenden Flüchen flüchtet der Letzköpfige,
er droht: »Ich will doch einmal mit Eurer Tochter tanzen!«

Das andere versteht der Presi nicht.

»Zu allem Elend den Hohn. Aber warum sollte man mich nicht auslachen,
mich, den alten Thor, der sein Kind in die Arme eines Verbrechers
gezwungen hat. Und der Schuft hockt noch in St. Peter? Eine Axt will ich
nehmen und ihn erschlagen.«

Er schwankt nun aber doch zum Garden, zu dem schwer beleidigten
ehemaligen Freund. Bitter wie noch kein Gang in seinem Leben wird ihm
der Besuch. »Garde,« keucht er, »verzeiht mir, und Josi Blatter lasse
ich danken, daß er nicht klagt.«

Mehr würgt er nicht hervor, der Garde will ihm die Beweise vorlegen,
aber ein Blick, und der Presi nimmt plötzlich den Hut und stürmt fort.

Beim Garden hat er das Glück gesehen, das innige Familienglück um Vroni,
in seinem Haus aber wütet das Unglück.

Er stürmt durch die Nacht. Wer nicht ein Dörfler ist, fände jetzt den
Weg nicht. Der Föhnsturm singt an den Felsen ringsum, er stöhnt, er
jauchzt und die Wolken hangen so tief ins Thal, daß sie das Dorf fast
erdrücken. Ferne Lawinen donnern, es regnet in starken einzelnen
Tropfen. Jeder Regentropfen thut dem Presi im brennenden Gesichte wohl.

Zuletzt kommt er doch wieder heim; der wirre Mann ächzt: »Präsidentin,
ich muß zu Bett -- ich glaube, es ist meine letzte Nacht -- ich habe
mein Herz gewendet -- aber ich weiß schon -- es kommt noch mehr -- es
kommt noch mehr.« Gräßliche Furcht rüttelt ihn.

Früh schon ist der Bären dunkel. Einige Stunden später steht im
Wettersturm ein Mann vor dem unglücklichen Haus, und wie es elf Uhr
schlägt, öffnet er die Thüre.

»Bist du es, Thöni?« kreischt Frau Cresenz, die ihn trotz dem Sturme
gehört hat, angstvoll. Keine Antwort. Da rennt sie halb angekleidet die
Treppe hinunter, Thöni kommt aber schon wieder aus der Postablage und
eilt ins Freie.

»Thöni, was thust du?« schreit sie angstvoll.

»Lebt wohl, Tante, Frau Präsident,« ruft er. »Nach der Postkasse fragt
nicht -- ich gehe nach Amerika -- und der Revolver ist für Verfolger
geladen.«

»Er geht den rechten Weg,« knirscht der machtlose Presi, der sich ans
Fenster geschleppt hat.

Eine Nacht ist eingefallen, wie man sie im Bergland selten erlebt.

Der Föhn fährt in Stößen von den Gipfeln, heiß im einen Augenblick, im
nächsten bis ins Mark erkältend. Die Wolken jagen sich, stieben schwarz
und schwer über die Hausdächer dahin, die Blitze erleuchten das Thal
taghell, die schäumenden Wasser der Glotter erglänzen. Dann ist wieder
pechschwarze Nacht. Jetzt spielen die Feuerflammen um die Krone, der
Firn funkelt und leuchtet. Unaufhörlich knattert der Schnee- und
Eisbruch im Gebirg, an den Bergwänden verfängt sich der schmetternde
Donner, rollt und grollt, das Krachen der frischen Schläge wird
verstärkt durch den Wiederhall der vorangehenden und rings im Gebirg
sind die Runsen los. Die Berge wanken, es ist, als ob, was tausend Jahre
fest und starr gewesen ist, plötzlich lebendig würde und wandern müsse.
Es ist ein Bild wie Weltuntergang!

Die Wetterglocken von St. Peter wimmern durch den Aufruhr der Elemente.

In allen Häusern brennt Licht, um den Tisch sammeln sich bleiche
Gesichter, in den Händen der Beter beben die Kruzifixe, und selbst die
Gottlosen falten die Hände und seufzen: »Herr! -- Herr!« --

»Es ist eine Totennacht,« flüstern die Aelpler. In dieser Nacht steht
nach uralter Sage ein geheimnisvolles, im Bergland begrabenes Kriegsvolk
auf und zieht zur Heimat. Da darf niemand ins Freie blicken, denn wer
die Reiter sieht, wird vor Schrecken siech:

    Es donnern die reitenden Boten:
    »Gebt Raum für das irrende Heer,
    Es fahren, die Goten, die toten,
    Vom Bergland ans heilige Meer.«

    Frau Hulder auf leuchtendem Schimmel
    Sprengt jauchzend den Reitern voran,
    Sie ziehn auf der Erde, am Himmel;
    Sie kämpfen und brechen sich Bahn.

    Von reisigen Vätern und Söhnen,
    Wallt klirrend der Heerzug durchs Thal, --
    Die Trommeln, die Hörner erdröhnen --
    Sie reiten in brennender Qual.

    Schaut -- allen die fahren und fliegen,
    Strömt aus den Wunden das Blut,
    Die weinenden Mütter, sie wiegen
    Im Arm die erschlagene Brut.

    So reiten und ziehen die Goten,
    Der schallende Hornruf ergellt:
    »Hu-hoi, hu-hoi! Wir Toten
    Sind Herren der lachenden Welt.«

In dieser Nacht schwitzt der Presi Blut: »Es kommt noch mehr -- es kommt
noch mehr!«

Ja, Herr Presi, es kommt noch mehr.

In dieser Nacht stehen im Teufelsgarten eng aneinander geschmiegt zwei
Liebende. Und zärtlich spricht der junge Mann: »Bini, weil ich dich rein
erfinde wie einen Tautropfen, will ich das große Gelübde meiner Jugend
halten.«

»Josi« -- es tönt wie ein kleiner Schrei, »Josi, mein Held!« Sie umarmen
sich, sie küssen sich, sie flüstern es einander selig zu, daß es kein
Leben mehr giebt als eines im anderen.

In dieser Nacht flieht ein Mann, den das schlechte Gewissen jagt,
thalaus.

Wie er am Teufelsgarten vorbeirennen will, zuckt eine Blitzschlange
durch die Glotterschlucht und erleuchtet sie taghell. Er sieht das
engverschlungene Paar. Aus dem Revolver blitzen die Schüsse, die Kugeln
zischen. Die Schlucht wird dunkel, am Glottergrat kracht es und ein
gewaltiger Donner erstickt die Stimmen eines Kampfes, der im
Teufelsgarten wütet, und übertönt den Sturz eines Mannes, der in der
Glotterschlucht versinkt.

Im ersten Morgengrauen geht das Liebespaar blaß und eng aneinander
geschmiegt den Stutz empor und der Mann flüstert dem bebenden Mädchen
zu: »Arme Bini -- das habe ich nicht gewollt -- so elend müssen wir sein
-- nun mag uns Gott helfen.«

Wie er es sagt, schießt johlend Kaplan Johannes am Wegrand auf.

»Hoho! -- Rebell und Hexe,« lacht er drohend, »ich komme auch an eure
Hochzeit.«

Und während des Männerkampfes im Teufelsgarten ist die Wildleutlawine
gegangen.



XVII.


Die Wildleutlawine ist gegangen! -- Man hat es in dem Aufruhr der
Elemente zu St. Peter kaum bemerkt, aber der Morgen bringt die
erschreckende Kunde. -- Und heute ist Wassertröstung -- Losgemeinde! Ein
Mann muß auf Leben und Sterben an die Weißen Bretter steigen und
geheimnisvoll waltet das Los.

Der Sturm der Nacht hat sich gesänftigt, der Himmel hat sich gereinigt,
mit unschuldigem Kinderlächeln schaut er auf die Welt, und der Föhn, der
gewaltige Geselle, schmeichelt um die ergrünenden Berghalden wie ein
verliebter Bursch, der von seinem Mädchen Blumen bettelt.

Die goldenen Primelsterne leuchten auf den Matten, die Enzianen öffnen
die blauen Augen.

Die von St. Peter achten es nicht, die Sorge hält ihre Augen. Der Tag
entwickelt die alten Bilder! Aus der Runde reiten die Bauern auf ihren
Maultieren zur Kirche, sie tragen die dunkle Tracht und die Frauen und
Töchter drehen im Reiten den Rosenkranz. Finster feierliche Ruhe waltet,
tiefer als je an einer Wassertröstung. Da und dort grollt es flüsternd:
»Schon nach elf Jahren. Merkt Ihr es!« Und die dumpfe Antwort lautet:
»Ahorn!« Durch die ganze Gemeinde schleicht das Wort: »In zwölf Wochen
spätestens sollen Bären und Krone brennen.«

Wie einsam steht der Bären, das schöne alte Wirtshaus! An die Stangen
vor ihm bindet kein Bauer sein Maultier an. Frau Cresenz tritt ein
paarmal angstvoll unter die Thüre, aber die Ziehenden reiten grußlos
vorbei und stellen die Tiere vor die Häuser der Verwandten oder vor die
Glottermühle.

Verfemt ist der Bären! Nein! Wie die Glocken zu läuten anheben,
schreitet wie ehemals der Gemeinderat in würdigem Zug die Freitreppe
hernieder, voran der Weibel mit der silbernen Losurne, dann der Presi
und der Garde, der den Federnhut, das Schwert und die Binde trägt.

Die Männer sind von der Wichtigkeit ihres Amtes ganz durchdrungen. Der
kurze Garde ist frisch, aus dem grauen Bart schauen gesunde rote Wangen,
die klugen und guten Augen unter den buschigen Brauen sind hell. Der
Presi jedoch, der wohl um den Kopf größer ist, schaut abgezehrt aus, und
die paar mächtigen Furchen im glatten Gesicht scheinen noch länger, noch
tiefer geschnitten. Man würde glauben, er wäre von den beiden der
ältere, wie er aber so mit den anderen geht, muß jeder, der ihn sieht,
denken: »Er ist halt doch der Presi!«

Als letzte fast treten Josi und Eusebi, die sich von Vroni verabschiedet
haben, in die Kirche, jener ruhig, aber bleich. Die Neugier der Dörfler,
die nach ihm sehen, ist ihm zuwider.

Mit einem seltsamen sorgenden Blick begleitet Vroni den Bruder.

Er hat kein Wort von Beate Indergand erzählt, blaß, müde und stumm ist
er im Lauf des Vormittags heimgekommen.

»Jetzt geht er am Ende noch als Freiwilliger an die Weißen Bretter,«
denkt Vroni. »Kaum ist so ein lieber Bruder da, hat man schon wieder
seine Qual um ihn.«

Der Weibel riegelt die Thüre vor den Weibern zu, die betend und jammernd
im Kirchhof knieen. Mitten unter ihnen kniet totenfahl Binia.

Ein Zittern läuft durch ihren Körper, mit der schmalen Hand stützt sie
sich auf die Erde des Kirchhofs -- auf den Staub der Dahingegangenen.

-- Sie zuckt. -- Todesgedanken und sie ist noch so jung. Aber was ist
nicht im Teufelsgarten Entsetzliches geschehen? -- Und steht dort nicht
lächelnd der gräßliche Kaplan?

In der Kirche hat sich der Gemeinderat um den altertümlichen Altar
gestellt und der Presi spricht das Heligen-Wasser-Gebet. In den
geschnitzten Stühlen harren hundertundsiebzehn Bürger, den dunklen Filz
vor dem Gesichte, und beten es mit. Nun sinken die Hüte und wie aus Erz
gegossen, ein feierliches Antlitz am anderen, stehen die Männer. Durch
die gelben, roten, blauen und grünen Scherben, welche die
Heiligenfiguren in den Fenstern zusammensetzen, fallen die farbigen
Bündel der Sonne in den golddurchsponnenen Raum und zeichnen dem einen
ein gelbes, dem anderen ein rotes, blaues oder grünes Mal auf das Kleid,
und von draußen rauschen die brünstigen Gebete der Frauen.

Nun redet der Presi und jeder spürt es, so schön, so warm und
eindringlich hat er noch nie gesprochen. Jeder denkt: »Es ist ein
Elend, daß man diesem Manne ein Leid anthun muß. Wie spricht er
furchtlos in die Hundertundsiebzehn, unter denen kaum einer ist, der ihn
nicht grimmig haßt. Wie wenn er es nicht wüßte, so frei steht er da. Und
doch weiß er es, er hat gewiß eine Ahnung vom Ahornbund. Nur nachgeben
kann er nicht. Darum muß man den Bären verderben.«

Jetzt verkündet er die alten Satzungen und fragt, ob sich niemand
freiwillig meldet.

»So ein Knechtlein wäre oder sonst einer geringen Standes, der liebt ein
Mädchen und der Vater will es nicht zugeben, so mag er sich melden, an
die Weißen Bretter steigen für seine Liebe und der Gemeinderat wird ihm
Freiwerber sein!«

Schweigen.

»So einer wäre, der hätte heimliche oder offenbare Schuld, will aber die
heligen Wasser richten, mag er frei vortreten, und wenn er an die Weißen
Bretter steigt, so soll ihm, was er vergangen hat, nicht mehr angesehen
sein, als es unsere Altvordern dem Matthys Jul angesehen haben. Gar
nicht. Der Gemeinderat mag dann vor Gericht den Brauch des Thales
darlegen und im Namen der Gemeinde um seine Freiheit bitten.«

Schweigen! Der gräßliche Sturz Seppi Blatters lebt noch zu frisch in der
Erinnerung aller. Hätten die Gemeinderäte aber vom Altar nach Josi
Blatter geblickt, so hätten sie wohl gesehen, wie er den kalten Schweiß
von der Stirne strich.

»So lasset uns denn losen,« spricht der Presi. »Nach alter Sitte ist 77
die Loszahl. Will es jemand anders oder soll es gelten?«

Schweigen! Jeder der Männer hebt seinen Filz vor den Mund, das Summen
des Vaterunsers füllt den Raum.

Der Presi hebt den Losbecher, spricht sein Gebet darüber, verschließt
ihn mit dem silbernen Deckel, rüttelt ihn und wendet ihn dreimal
feierlich. Das Gleiche thun der Garde und die folgenden Mitglieder des
Gemeinderates, und der letzte, der es thut, stellt den Becher wieder auf
den Altar.

Der Presi spricht mit lauter klarer Stimme: »In Gottes, in Jesu Christi,
in der Jungfrau Maria, in St. Peters und aller Heiligen Namen -- so
wollen wir losen.« Und er hebt den Deckel der Urne ab.

Da formt sich bankweise der Zug zum Altar. Mann hinter Mann schreiten
sie feierlich heran, die von St. Peter, nur die Alten und Bresthaften
bleiben zurück. Am Altar thut jeder einen Stoßseufzer, langt in die
Urne, und von den Stufen hinunter bewegt sich der Zug zurück in die
Stühle. Dort betet jeder wieder in seinen Hut und öffnet sein Los. Den
letzten Gliedern der Gemeinde folgt der Gemeinderat, und das letzte Los
nimmt der Presi selbst.

Langsam und feierlich vollendet sich die Zeremonie, kaum mit einem Laut
verrät sich die grenzenlose Spannung, die über der Gemeinde liegt, denn
es gilt als ein Zeichen der Schwäche, sich hastig oder neugierig zu
zeigen, oder Freude zu äußern, wenn die schreckliche Zahl glücklich
vorbeigegangen ist.

Doch leuchtet jetzt manches Auge mutiger.

»In Gottes, in Jesu Christi, in der heiligen Jungfrau Maria, in St.
Peters und aller Heiligen Namen, der, den das Los getroffen hat, mag
stehen bleiben.«

Alle anderen setzen sich, nur der junge Peter Thugi ragt einsam aus
ihnen. Jede Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen.

»Peter Thugi, habt Ihr das Los?« fragt der Presi feierlich.

»Ja,« sagt der junge Mann, es klingt wie ein Schluchzer. Seine junge
Frau ist ihm kürzlich gestorben, er steht mit zwei Kindern und dem alten
Großvater allein, ist aber sonst fast mit dem ganzen Dorf verwandt und
nicht mittellos.

In einen seltsamen klagenden Laut löst sich das Erbarmen der Männer aus.

Ein feierlicher Augenblick.

Da schnellt Josi Blatter aus der Menge auf: »Presi und Gemeinderat, darf
ich reden?« fragt er bewegt.

»Sprecht, Blatter,« sagt der Presi, indem er den jungen Mann neugierig,
doch mit warmer Achtung mißt.

Josi errötet und verwirrt sich unter den vielen Blicken, die verwundert
und mißtrauisch auf ihn gerichtet sind.

Will er an die Stelle Peter Thugis treten?

Er schluckt ein paarmal; unsicher zuerst, dann immer fester redet er:

»Herr Presi, ihr Gemeinderäte und Bürger von St. Peter! Obwohl ich nur
ein schlichter Mann und erst vor wenigen Tagen aus der Fremde
zurückgekehrt bin, wage ich es, zu euch zu sprechen. Meiner Lebtag hat
es mich beelendet, wie mein Vater selig an den Weißen Brettern gefallen
ist. Ich bin in der Fremde Felsensprenger gewesen, und wenn ihr es
zugebt und mir die nötige Hilfe leistet, so will ich von jetzt an bis
zum Allerheiligentag für die heligen Wasser eine Leitung durch die
Felsen der Weißen Bretter führen, daß alle Kännel überflüssig sind, und
die Blutfron von St. Peter lösen. Es ist die Erfüllung eines Gelübdes
für ein großes Glück, das ich erlebt habe, und ich thue es ohne Lohn.«

Mächtige Bewegung. Man hört dumpfes Murren: »Was er sagt, kann niemand
thun!« und halblaute Rufe: »Prahler! -- Großhans! -- Gotteslästerer!«
Der Presi aber donnert: »Laßt ihn reden. -- Josi Blatter, Ihr habt das
Wort.«

»Es giebt jetzt ein weißes Pulver,« fährt Josi fort, »das ist wohl
hundertmal stärker an Gewalt als das schwarze und heißt Dynamit. Man
sprengt damit die Wege für die Eisenbahnen durch die Berge, und wenn ihr
euch draußen in der Welt erkundigen wollt, so werdet ihr erfahren, daß
damit Werke errichtet worden sind, gegen die ein Gang durch die Weißen
Bretter nur ein Spiel ist.«

Der Bockjeälpler ruft: »Einen Tunnel habe ich auch schon gesehen.«
Andere Stimmen sagen: »Hört -- vielleicht hat der Plan doch Hände und
Füße,« wieder andere grollen: »Nichts Neues in St. Peter, wir haben am
Alten genug.« Dritte drängen: »Nur reden,« und vierte mahnen drohend:
»Nein, abhocken, Rebell.«

So schwirren die Rufe.

Da mahnt der Garde: »Er hat das Wort vom Presi!«

Der Bockjeälpler ruft: »Aber er kommt nicht durch die Wildleutfurren!«

Josi Blatter fährt fort: »Durch die Wildleutfurren baue ich eine Mauer,
setze den Kanal darauf, darüber ein stark steiles Dach aus den dicksten
Balken, darüber ein zweites wasserdichtes aus Steinplatten, die ich mit
Zement, einem gelben Pulver, verbinde. Ich lehne das Dach dicht an die
Felsen der Furren, die ich ein gutes Stück empor so verbauen will, daß
die Lawine keinen Angriff findet, wenn sie kommt, und daß sie machtlos
über die Steinplatten niederpoltern muß. Trägt man zu dem Werk ein wenig
Sorge, so hält es tausend Jahre.«

»Hm -- es scheint, er versteht etwas!« -- »Laßt euch nicht ein, das ist
Aufruhr und Todsünde.« -- »Er ist noch der alte Rebell,« verwirren sich
die Stimmen.

Eine unbeschreibliche Erregung herrscht in der Kirche, das Klopfen der
geängstigten Frauen, das durch die schwere Thüre dringt, vermehrt sie.

Josi kann vor dem Lärm um ihn nicht weiter reden, fast hoffnungslos
sitzt er ab.

Da reckt sich der Presi machtvoll, mit funkelnden Augen und mit
glührotem Kopf vor der Gemeinde auf. »Ihr Männer von St. Peter,« spricht
er mit zwingendem Klang der Stimme, »wir wollen das Angebot Josi
Blatters nicht leicht nehmen. Er hat von den Ingenieuren der englischen
Regierung in Indien gute Zeugnisse erhalten, er war der Kopf einer
Abteilung von über hundert Mann. Und die Engländer sind ein tüchtiges
Volk. Prüft also das großherzige Anerbieten, es handelt sich, wenn das
Werk gerät, um eine wunderbare Wohlthat für uns, unsere Kinder und
Kindeskinder. Weil aber die Angelegenheit so wichtig ist, so meine ich,
die Gemeinde sollte eine Abordnung in die Stadt schicken und beim
Regierungsrat fragen, was vom Plan Josi Blatters zu halten sei. Ohne ihn
können wir nicht vorwärts gehen, er müßte auch zwischen uns und den
äußeren Gemeinden vermitteln, daß die heligen Wasser einen Sommer lang
stillstehen dürfen. Wir wollen aber rasch handeln, damit wir in acht
Tagen wieder Gemeinde halten und entscheiden können, ob wir das Werk
annehmen oder nicht. Ich weiß, daß ihr mir alle grollt, aber Gott im
Himmel weiß es auch: Wenn ich schon nicht immer eure Ansichten teile,
habe ich es doch immer gut mit St. Peter gemeint. Ich will das Amt, das
ich zwanzig Jahr bekleide, vor euerm Groll in der Maigemeinde
niederlegen. -- Folgt nur jetzt noch einmal meinem Rat. Nehmt das
Angebot Josi Blatters ernst, ich bitte euch herzlich darum.«

Mit hinreißender Wärme, mit strahlendem Auge, zuletzt mit einer
Bescheidenheit, die die Herzen bezwang, hat der Presi geredet und alle
verwirrt. Ist das der hochmütige Mann, der dem Dorf den harten
höhnischen Bescheid gegeben hat?

Sein Auge sucht Josi Blatter -- ein kleines, unendlich schönes Lächeln
geht um seinen Mund -- ein Lächeln, bei dem Josi ist, es schmelze der
Haß aller Jahre hinweg.

Er ist wonnig bestürzt über den Blick.

Nun aber hält der Glottermüller mit seiner hohen Weiberstimme auch eine
Rede: »Nur nichts Neues. Die Wasserfron ist St. Peter von Gott
auferlegt, daß wir nicht übermütig werden in Bosheit. Josi Blatter ist
ein Aufrührer und bleibt ein Aufrührer, und wie früher gegen das Dorf,
wendet er sich jetzt gegen Gott und seinen Himmel. Ich sage: Nichts
Neues! -- Keine Abordnung!«

»Nichts Neues! -- Keine Abordnung!« fielen einige ein, andere riefen:
»Fort mit der Blutfron!«

Peter Thugi saß da wie ein Gerichteter, dem man das Leben zu schenken im
Begriffe steht.

Mit Hilfe seiner großen Verwandtschaft beschloß die Gemeinde, die
Abordnung an den Regierungsrat zu schicken, und bestellte sie aus dem
Glottermüller, zwei weiteren Anhängern des Alten, dem Garden und dem
Bockjeälpler, der halb an Josi Blatter glaubte. Den Presi aber überging
die Gemeinde in der Wahl.

Bis die Abordnung über die Antwort der Regierung Bericht erstatte, solle
Peter Thugi bei seinem Los behaftet sein.

Ein Krieg hätte das Dorf nicht mehr aufregen können als der erstaunliche
Ausgang der Losgemeinde.

»Der Presi,« höhnten einige grimmig, »hat uns mit seiner
schlangengescheiten Zunge wieder einmal erwischt. Hütet euch.«

»Daß Josi Blatter mit seinem Gelübde gerade auf die Zeit zurückgekehrt
ist, wo die Wildleutlawine gegangen ist, bedeutet etwas -- ein großes
Glück oder ein noch größeres Unglück,« meinten andere.

Nach der Losgemeinde hat Eusebi noch einen Gang zu machen. Vroni wandelt
mit Josi durch das ergrünende Feld und schaut den schweigsamen Bruder
mit ihren blauen treuen Augen traurig, doch mit grenzenloser Bewunderung
an.

»Josi,« sagt sie, »du bist also der Mann, der uns geweissagt ist in den
alten Heligen-Wasser-Sagen, die da melden: Es wird einer kommen, der
stärker ist als Matthys Jul, und wird St. Peter von der Blutfron an den
Weißen Brettern erlösen. Du bist also der Mann, Josi!«

»Ich hoffe es!« erwidert er mit einem bleichen Lächeln.

»O Josi,« versetzt sie, »es ist schwer, dieses Mannes Schwester zu sein
-- -- und in den alten Sagen steht auch, es müsse eine Jungfrau über dem
Werke sterben.«

Er zuckt heftig zusammen, er schlingt den Arm um die Hüfte Vronis. »Ich
weiß nur, daß ich mein Gelübde erfüllen muß,« sagt er ernst, »es ist für
Binia, dafür, daß sie rein und treu geblieben ist. Und wenn es sein muß,
sterben wir beide für das Werk, aber gewiß nicht eines allein.«

Da sieht Vroni das grüne Feld nicht mehr, durch das Peter Thugi, der vom
Los Getroffene, mit seinen Kleinen kommt. Er spricht zu ihnen: »Seht,
das ist der Mann, der euren Vater retten wird;« er wendet sich zu den
Geschwistern: »O Josi -- könnte ich es dir einmal danken, was du an
diesen Kleinen thun willst.«

»Siehst du, Vroni,« sagt Josi bewegt, »und ich kann nicht glauben, daß
ein Segen zuletzt in einem Unglück endet. -- Wenn es aber wäre -- so
thue ich doch, was ich muß.«



XVIII.


Der Presi sitzt im Bären auf seinem Zimmer, aber es ist nicht der Presi,
der das Zünglein der Wage wie schon oft in der Gemeindeversammlung mit
hinreißendem Wort geschwenkt hat, er ist ein alter gebrochener Mann.
»Seppi Blatter -- Fränzi,« stöhnt er, »seid ihr jetzt mit mir zufrieden?
-- Ob das Herz entzwei kracht, ich habe mich gewendet -- ich habe für
euern Josi geredet -- ich will noch mehr thun, ich will ihm zu seinem
Werk helfen -- ich will Frieden -- Frieden -- mit euch und eurem Sohne
Josi -- den ich geschlagen habe -- den ich achte und liebe.«

Seit er den jungen Mann gesehen hat, wie er sich in Bescheidenheit
erhob, wie er mutig und mutiger redete, faßt er es nicht mehr, wie er
Josi Blatter jemals hat gram sein können. Sein Plan ist groß. Wie er ist
noch keiner im Bergland aufgestanden. Josi und Binia! Wenn's sein könnte
-- aber -- -- er brütet wieder.

Da schwankt Binia zu ihm herein, blaß, müd und auf den schmalen Wänglein
doch einen Schimmer des Glücks.

O, sie ist rührend schön, die blasse Binia.

Sie nimmt die Hand des Vaters in ihre Händchen: »Vater, ich danke dir,
daß du für Josi eingestanden bist.« Ein schmerzliches Lächeln geht über
ihr bleiches Antlitz.

»Du liebst ihn noch, Vogel, Herzensvogel -- gelt, ich kann für dich --
und für Josi Blatter viel thun.« Sein Haupt zittert, sie sinkt vor ihm
nieder -- er streichelt ihren Scheitel: »Kind -- ich möchte Frieden
machen. -- Bini -- ich möchte noch einmal glücklich sein -- und wenn es
nur ein Jährchen wäre. -- Bini, ich wollte, deine Mutter lebte noch.
Beth, mein guter Engel. -- Ich wäre mit ihr nicht so weit gekommen und
das Hintersichkrebsen wäre nicht so schwer. -- Josi Blatter ist ein Mann
wie ein Held -- ich will für ihn kämpfen. Wenn mich die von St. Peter
schon nicht in die Abordnung gewählt haben, so gehe ich doch für ihn in
die Stadt, und ob das Dorf mich haßt, so bin ich vor der Regierung noch
der Presi von St. Peter. -- Soll ich gehen, Kind?«

»Ja, Vater, ja.«

Herzzerbrechend weint die knieende Binia.

»Bini -- Gemslein,« hebt der Presi wieder an, »ich kann deine blassen
Wangen nicht mehr sehen -- sie töten mich -- Bini, bekomme rote Wänglein
-- laß die Geschichte von Thöni nur erst still werden -- dann nimm in
Gottes Namen Josi -- ich habe ihn lieb -- und lache wieder einmal mit
deinem glücklichen Kinderlachen.«

Binia zuckt und windet sich in Qualen des Glücks -- und des Elends.
Wahnsinnig küßt sie die Hände des Vaters und dann schaut sie ihn an so
rührend, so hoffnungslos. Und ihr Stimmchen bebt wundersam: »Vater, es
ist zum Kinderlachen zu spät!«

Da wird er in gräßlicher Angst plötzlich wieder der alte, böse Presi. Er
zischt sie an: »Zu spät -- Bini, du hast wohl können so eine Komödie
machen, bis du dich zu Thöni gefunden hast. Du bist ja doch zu weit mit
ihm gekommen.«

»Nein --. Vater -- nein!« Es tönt wie ein zersprungenes Glöcklein.

»Warum bist du denn so blaß -- so hinfällig? -- Ich habe es ja selber
gesehen, wie du aus seiner Kammer gekommen bist.«

Binia wimmert nur, etwas Schweres schließt ihr den Mund. -- Sie schwankt
empor, sie tappt davon wie eine Trunkene.

Sie ist in ihrer Kammer, sie kniet an ihrem Bett: »Mutter -- Mutter --
es ist entsetzlich -- das glaubt der Vater -- ich hätte mich mit Thöni
vergangen! -- Und ich darf ihm die Wahrheit nicht sagen, warum ich mein
Kinderlachen verloren habe. Er würde daran sterben.«

Und sie wimmert, wie der Engel wimmerte, den man aus dem Himmel stieß.

»Mutter -- Mutter -- wie sind wir unglücklich. -- Aber gelt, Mutter,
liebe Mutter, Josis Werk kann uns erlösen -- er, der so viele erlöst,
kann auch uns befreien. Ich bin an allem schuld. -- Und den gräßlichen
Vorwurf des Vaters muß ich tragen -- Mutter -- um des Vaters selber
willen -- hilf mir schweigen.«

Was Binia noch sonst sagt, ist stammelndes Gebet.

Der Presi aber ist noch nicht zu Ende mit seinem Zorn, die furchtbare
Angst um Binia erzeugt seine Wut immer neu. Er rennt hinunter zu Frau
Cresenz, er donnert sie an: »Was sagt Ihr eigentlich zu der Geschichte
von den Briefen -- was sagt Ihr zu dem elenden Gesichtchen meiner Bini?
-- Wohl, wohl, Ihr habt mir mit Eurem Neffen einen saubern Schuft ins
Haus gebracht. -- He, Frau Cresenz -- gestupst und getrieben habt Ihr
Tag und Nacht an mir, daß ich Bini dem Thöni gebe -- und er hat mich
getrieben, daß ich den verfluchten Neubau angefangen habe.«

Frau Cresenz, die kühle und geduldige Frau, wischt sich, wie er nicht
aufhört zu wüten, mit der Schürze die Thränen ab: »Präsident,« sagt sie
entrüstet, »ungerecht bleibt Ihr, bis Ihr sterbt! Ich habe auf Thöni,
den Speivogel, gar nicht viel gehalten. Denkt aber an den Wintertag, an
dem Ihr mit Thöni, aus Freude darüber, daß Blatter tot sei, wie toll
getrunken und die Gläser miteinander ins Leere gestoßen habt: 'Zum Wohl,
Seppi Blatter, zum Wohl, Josi Blatter, du Laushund.' Habt Ihr da nicht
geahnt, daß es ein Unglück giebt?«

»Schweigt!« schreit der Presi entsetzt, ihm ist, als zünde ihm jemand
mit einer Fackel ins Gesicht; er ist seiner Zunge nicht mächtig, er
würde sonst Frau Cresenz nicht so lange haben reden lassen.

»Als die Todesnachricht falsch war,« fährt sie fort, »und Blatter wieder
schrieb, da hat der Thor, der euch alles von den Augen absah, gemeint,
es sei euch ein Gefallen, wenn Blatter tot bliebe. Er hat den ersten
Brief unterschlagen, dann hat er nicht mehr rückwärts können, hat falsch
geschrieben und es ist gekommen, wie's gekommen ist. Daß er ein Schelm
und fremd geworden ist, daran seid Ihr schuld.«

Plötzlich versteht der Presi die Handlungsweise Thönis.

Er taumelt fort, er holt im Untergaden einen mächtigen Karst, rennt
damit in der beginnenden Dämmerung durch das Dorf, und erschrocken
sehen es die von St. Peter.

»Was hat der Presi?« fragen sie, »was will er mit seiner Hacke?«

Er eilt zum Neubau, der bis zum ersten Stockwerk gediehen ist. Mit
wuchtigem Arm schlägt er die Zinken in Mauer und Balken, er reißt vom
Werk, um dessen willen er das Dorf bis ins Mark beleidigt hat, so viel
ein, als seiner Wut nachgiebt, er lebt in der wilden Gier, alles zu
vernichten, was ihn an den unseligen Thöni mahnt. Aus scheuer Entfernung
sehen ihm die maßlos erstaunten Dörfler zu. »Er ist letzköpfig
geworden!« meinen die einen, die anderen: »Nein, seht, er hat doch ein
Herz für uns.« Wie er sich beobachtet spürt, stutzt er, dann ruft er den
Nähertretenden zu: »Nehmt von dem verfluchten Holz, so viel ihr wollt,
verbrennt es. Sagt es den armen Leuten, daß sie's holen mögen. Bringt
eure Aexte und Kärste, helft mir!«

Der Garde kommt und streckt dem Presi die Hand hin: »Presi, etwas
Besseres habt Ihr in Euerm Leben nie gethan!«

»Gewendet habe ich mich, Garde,« sagt er und die Dörfler staunen.

»Der Presi hat sich gewendet.« -- Wenige lächeln, es ist kein Spott oder
Hohn im Dorf, offen oder heimlich ist ihm jedes Herz dankbar. Wie er den
Karst auf den Schultern mit dem Garden durch die Frühlingsnacht
heimwärts schreitet, lüften die Dörfler, die unter den Thüren stehen,
achtungsvoll die Hüte vor ihrem Presi.

»Man kann vielleicht den entsetzlichen Ahornbund abschütteln,« flüstern
sie einander zu, »und für St. Peter kommt wieder eine bessere Zeit.«

Und die Frühlingssterne, die zu schimmern beginnen, sehen den
zertrümmerten Bau, der nie ein Haus geworden ist.

Seltsam! -- Seit langen Jahren geht durch die Brust des Presi ein Hauch
des Friedens -- er wütet nicht mehr, nur eine heiße Wehmut um Binia
schleicht noch durch sein Herz.

»Wie -- wenn Josi Blatter sie so stark liebte, daß er sie trotz allem,
was vorgefallen ist, doch zu Ehren annähme!« -- Um Binias willen muß er
Josi Blatter den Weg zu seinem Werke leicht machen und den noch
zögernden Garden überredet er mit dem Feuer eines Jünglings von der
Ausführbarkeit des Befreiungswerkes, das Josi plant.

Ohne daß er es weiß, hat er dafür schon das Beste gethan.

Die Dörfler sagen: »Wenn das Wunder möglich ist, daß der Neubau des
Presi durch seine Hand zergeht, so ist auch das andere möglich, daß Josi
Blatters Plan gut ist.«

Das schwer erschütterte Vertrauen in die Zukunft erwacht wieder in dem
geängstigten Dorf.

Es sind so wunderliche Zeitläufte in St. Peter, daß man sich aus dem
Verschwinden Thöni Griegs nicht viel macht. Vor ein paar Jahren hat er
schon gesagt, er gehe nach Amerika, gestern hat er es beim Glottermüller
mit dem Zusatz wiederholt, es sei in der Umgebung des Presi nicht mehr
auszuhalten. Jetzt ist er halt gegangen, und Binia wird froh sein.

Einige Tage später durchfliegt eine neue Kunde das Dorf und nimmt alle
Teilnahme so gefangen, daß die von St. Peter vor Spannung nicht mehr
arbeiten mögen.

Die Regierung ist mächtig für den Plan Josi Blatters eingenommen, der
ihn selbst den Herren dargelegt hat.

Vor etwa vierzig Jahren ist einmal ein Regierungsrat nach St. Peter
gekommen und hat der Einweihung einer Kirchenfahne beigewohnt. Seither
hat man in der Stadt das stille St. Peter vergessen. Nun erlebt es das
Dorf, daß zur zweiten Wassertröstung zwei Regierungräte auf einmal
kommen. Die liebenswürdigen, gescheiten Herren verstehen besser zu reden
als der glatzhäuptige Glottermüller, der quiekende Unglücksrabe.

»Josi Blatter, der großherzige Mann,« sagen sie, »soll sein Gelübde
lösen, die Leitung nach den neuen technischen Grundsätzen bauen und
treulich sollen ihm Staat und Gemeinde helfen. Der Staat liefert ihm die
Spreng- und Baumittel, die Gemeinde mag sich zu den Hilfstagewerken
verpflichten, die nötig sind.«

»Ja, wenn die Regierung dafür einsteht,« meinen die von St. Peter, »so
ist der Plan gewiß gut,« und freudig zeichnen die Bauern ihre Tagewerke.

Umsonst ruft der letzköpfige Kaplan sein »Wehe -- wehe -- wehe!« durchs
Dorf, ihm antwortet der jubelnde Ruf: »Ab mit der Blutfron -- ab -- ab!
-- es lebe Josi Blatter, der Felsensprenger! Das Werk ist für uns,
unsere Kinder und Kindeskinder.«

Eine gute That! -- Sie ist selbst heiliges Wasser, das befruchtet. Die
Unglückstafeln an den Weißen Brettern werden verrosten, die Losgemeinde
wird eine Sage sein, frei giebt man die heligen Wasser in der Kinder, in
der Enkel Hand.

Und der »Ahornbund« liegt am Boden.

Josi hat die Herren aus der Stadt in den Bären begleiten müssen, aber
jetzt sind sie fort.

Zum erstenmal, seit sie vom Teufelsgarten kamen, sehen sich die
Liebenden wieder. Es ist ein schweres Wiedersehen!

Aber nun steht Binia doch so selig, so demütig in Josis Arm -- und er
küßt ihren Scheitel: »Bineli -- mein Bineli.« Und »Josi« antwortet sie.

Sie vergessen einen Herzschlag lang eine blutende Wunde -- sie sind am
Ziel. Ihre stille Verlobung von Santa Maria del Lago gilt wieder und er
geht jetzt an das Werk seiner Dankbarkeit, auf dem ihre heißen
Segenswünsche ruhen.

Aber dann freilich ist noch eine That nötig, die fast schwerer als die
Befreiung St. Peters von der Blutfron ist, die Selbsterlösung aus einem
Schein der Schuld, den ein übermächtiges Verhängnis auf sie geladen hat.

Nur wie ein ferner Stern, der blinkt, steht jenseits der großen Dinge
vor ihnen das Glück.

Einen Herzschlag lang atmen sie auf, sie hoffen und ihre Augen glänzen
ineinander.

Da kommt der Presi, sieht es -- sieht es -- er lächelt ihnen glücklich
und mit seinem herzinnigsten Lachen zu, er meint ein Wunder zu erleben
-- er schwankt, ob er noch an das glauben will, was er doch mit eigenen
Augen gesehen hat, daß Binia aus der Kammer Thönis trat.

Einen Blick hat sie Josi gegeben so voll Wärme, voll Treue, voll
Reinheit und Unschuld, wie ihn nur das Mädchen findet, das sich in
seiner Liebe treu, rein und unschuldig weiß.

Diese Entdeckung blitzt wie Sonne ins Vaterherz.

Josi ist an sein Werk gegangen, dem er nun bis zur Vollendung mehr
gehört als der Welt.

Da nimmt der Presi die Hand seines Kindes: »Bini -- Vogel -- Gemslein,«
dringt er in sie, »jetzt darfst du's deinem Vater schon sagen: Hast du
Thöni wirklich nie gern gehabt?«

»Du thust mir furchtbar weh, Vater!« antwortet sie schamvoll, »glaubst
du, ich dürfte einem so herrlichen Mann wie meinem Josi in die Augen
sehen, wenn ich mich nicht treu wüßte, meinem Josi, der nur aus
Dankbarkeit gegen den Himmel an die Weißen Bretter geht, weil er mich
trotz allem Gegenschein treu erfunden hat.« Und im Sturm der Wallung
kann sie nicht mehr schweigen. »Als du mich aus Thönis Kammer kommen
sahst, habe ich nur die Schlüssel geholt, um mich der Briefe zu
bemächtigen, die er unterschlagen hat, -- da sind sie.«

Sie reißt die Notschreie Josis aus dem Mieder, legt sie vor den Vater
und will sich flüchten. Er aber zieht sie an seine Brust: »Vogel --
Herzensvogel -- und das hast du nicht gewagt, mir zu sagen, und hast
mich in der verzehrenden Angst gelassen -- du Grausame. -- Aber jetzt
rote Wänglein, Kind!«

Binia ist, das Herz zerspringe ihr, sie müsse dem Vater mehr und alles
verraten, sie müsse ihm jetzt auch sagen: »Vater, uns ist ein Unglück
geschehen, hilf uns in entsetzlicher Not,« aber das unendliche Glück,
das in seinen Augen strahlt, schließt ihr den Mund.

»O Bini -- Bini,« lacht und jubelt der Presi. »Aus Beelendung über dich
bin ich so rückwärts gekrebst -- gezittert und gebetet habe ich, daß
Josi sich doch deiner erbarmen möge. -- Und nun ist das Wunder
geschehen, daß das Kind besser ist, als der Vater erhoffte. Jetzt will
ich auf ein schönes, ruhiges Alter mit dir und Josi denken. -- Ich mag
die Unruhe nicht mehr -- ich gebe das Fremdenwesen auf!«

Der Presi spricht es in einem Taumel des Glücks. Aber Binia weint
bitterlich -- sie schluchzt vor Leid: »O Vater, sobald Josi sein Werk
vollendet hat, so wollen wir mit ihm von St. Peter fort in ein fernes
Land ziehen, und dort will ich dein graues Haupt hüten und pflegen.«

Leidenschaftlich stößt sie es hervor.

»Ein sonderbarer Gedanke, Kind. Hat ihn dir Josi eingegeben?« fragt er
ernst und erstaunt.

»Nein, Vater, ich mir selbst!« bebt ihr Mund.

»Was denkst du,« spricht er nach einigem Besinnen, »ich kann nicht fort
von St. Peter. Wer so lange in St. Peter gelebt hat wie ich, muß in St.
Peter sterben.« --

Da schaut sie ihn in unendlicher Hilflosigkeit an und geht.

»Sie ist ein merkwürdiges Kind, jetzt wie früher,« denkt der Presi, aber
er ist selig über das Bekenntnis, das sie ihm abgelegt hat. Er baut
Pläne des Glücks für Binia, für Josi, für sich. Er ist beinahe wieder
der alte Feuerkopf.

Und er schüttelt den Kopf: »Wie ich so lange habe ein Narr sein und Josi
widerstehen können!«

»Präsident,« meint Frau Cresenz, »wir sollten doch langsam auf unsere
Vorbereitungen für den Sommer denken, wenn Ihr die Krone aufgegeben
habt, so werden wir um so mehr zum Bären sehen müssen.«

Er lacht sie nur seltsam an und sagt: »Ja, Präsidentin, ich gehe morgen
nach Hospel hinaus zu Malermeister Serbiger. Er muß mir eine große Tafel
malen, auf der steht: 'Pension und Hotel zum Bären in St. Peter sind
geschlossen', und die Tafel lasse ich auf zwei hohe Pfähle am Eingang
des Glotterwegs aufstellen. Auch schicke ich einen gedruckten Brief an
alle früheren Gäste, daß ich das Fremdenwesen aus Altersrücksichten
aufgegeben habe.«

Sprachlos schlägt Frau Cresenz die Hände über dem Kopf zusammen, dann
aber jammert sie: »Wenn Ihr das thut, so gehe ich aus dem Haus -- ich
bin es nicht anders gewöhnt, als daß ich im Sommer eine Pension leite --
und bedenkt doch, Präsident, wie man Euch, wenn Ihr jetzt dem Dorf so
stark nachgebt, auslachen wird.«

»Gott's Donner, Präsidentin,« zürnt er, »ob ein paar Kälber lachen oder
nicht, darauf kommt es mir nicht an, aber Euer Neffe, Herr Thöni, hat
mir das Sommerleben verleidet -- ich will jetzt ein wenig glücklich
sein.« -- --

Frau Cresenz aber ist unglücklich -- eines Tages erscheint der Kreuzwirt
von Hospel im Bären, die Männer rechnen im Frieden die Reingewinne aus
den Büchern des Gasthofes während der zehn letzten Jahre aus, ein
Drittel der Summe zahlt der Presi Frau Cresenz in Banknoten vor und legt
aus eigenen Stücken noch tausend Franken darauf: »Da, Präsidentin, ist
Euer Anteil.«

Die Großmut in Dingen des Geldes gefällt dem Kreuzwirt. »Schwager,« sagt
er, »es thut mir leid, daß es so ungeschickt hat gehen müssen. Wäre ich
bei den Hospelern gewesen, die den Zigarren rauchenden Thöni hoch auf
der Post über den Paß haben fahren sehen, hätte ich ihn heruntergelangt
und ihm eine Tracht Ohrfeigen mit nach Amerika gegeben, dem Lausbuben,
der seinen nächsten Verwandten nicht einmal ein Lebewohl und 'Es ist mir
leid' gesagt hat.«

Binia, die den Rechnenden eben noch eine Erfrischung bringt, muß sich an
der Stuhllehne des Vaters halten.

»Thöni über den Paß gefahren!« staunt sie. Ja, ist denn das schreckliche
Erlebnis im Teufelsgarten, das ihr Tag und Nacht mit fürchterlicher
Deutlichkeit vor den Sinnen steht, nur ein böser Traum?

Herzlich dankt sie der Stiefmutter, die nie hart gegen sie gewesen ist,
und der Kreuzwirt und Frau Cresenz reiten gerade so vom Bären, wie sie
vor elf Jahren zugeritten sind.

Eine ziemlich friedliche Ehe, die auf ein gemeinsames blühendes Geschäft
aufgebaut worden ist, hat ein friedliches Ende gefunden.

Der Presi ist wieder da angekommen, wo er vor elf Jahren stand, der
Bären ist wieder ein Dorfwirtshaus -- mit Binia und einer Magd haust er
allein.

Aber er ist es zufrieden, er spürt nichts von Heimweh nach dem lebhaften
Treiben der früheren Sommer, nach dem kühlen Lächeln der Frau Cresenz,
er lebt ganz in Binia, dem wiedergefundenen Kinde.

Und der Bären ist nicht öde. Aus der weiten Umgegend kommen Leute, die
von dem Wunderwerk gehört haben, das an den Weißen Brettern im
Glotterthal ausgeführt wird. Sie reden bei ihrem Schoppen Kluges und
Thörichtes darüber. Thun sie das letztere, dann zuckt es um die Brauen
des Presi: »Ta-ta-ta, wenn jemand von einer Sache nichts versteht, so
soll er nicht darüber sprechen, letzte Woche sind die Ingenieure der
Regierung dagewesen, sie sagen, das Werk sei vortrefflich.«

Auch die Dörfler kommen wieder in den Bären, wie eine ferne drückende
Sage liegt der »Ahorn« hinter ihnen; sie begegnen dem Presi mit jener
Hochachtung, die das beschämte Unrecht für den Gegner hat, der edel
nachgiebt, sie freuen sich über den Sommer, der wie einst in friedlichen
Prächten ins Thal zieht.

Der Garde und der Presi, die wieder versöhnten Freunde, sprechen mit
wahrer Erhebung von Josis Werk.

In der größeren Wildleutfurre ist die Mauer schon erstellt, die Leitung
darauf gelegt, das Schutzdach aus Holz und Stein gebaut, die Furre
selbst hochhin ausgeebnet und in der kleineren Wildleutfurre geht die
Arbeit auch bald zu Ende. An einem Kranseil, das vom Glotterweg bis in
die entlegene Höhe der heligen Wasser reicht, steigen Hilfsarbeiter,
schweben die Hölzer, die Deckplatten, die Zementsäcke zu Josi, dem
Befreier, empor.

Dynamitfuhre um Dynamitfuhre kommt und Josi baut jetzt den Wasserweg
durch die Weißen Bretter selbst. Er ist von der Sonne braun gesengt, er
ist abgezehrt von der Arbeit, aber er liebt die Mühe und die große
beständige Lebensgefahr, die sein Werk mit sich bringt. Wer um
Sonnenaufgang von St. Peter nach Hospel geht, hört sein Hämmern in der
fernen Höhe, wer gegen Sonnenuntergang von dort zurückkehrt, hört es
noch. Wenn das Ave-Maria-Glöcklein von St. Peter verklungen ist, wenn
das letzte Sonnenrot an den Firnen zergeht, dann hallen seine
Sprengschüsse durch das Thal. Im Wiederhall ertönen die Bergwände;
heraus, herein durch das Gebirge rollt das Echo, und wenn man es schon
lange gestorben glaubt, erwacht es noch einmal grollend in einem fernen
Schlund des Gebirges.

»Zum Wohl, Garde, trinken wir eins auf Josi!« lacht der Bärenwirt.

»Presi, jetzt werdet Ihr wohl keine bösen Träume mehr haben,« erwidert
der Garde froh.

»Nein, ich fasse es nicht mehr, wie ich mich einmal über ein dummes
Träumchen habe ängstigen können,« sagt der Presi, um den eine ganz neue
Welt gesponnen ist. »Ich zähle im Kalender die Tage bis zu
Allerheiligen, bis im Bären Hochzeitsleben jauchzt.«

Ein hoffnungsvolles Lächeln geht über das Gesicht des Presi. Wie der
Garde aber nach Hause stoffelt, seufzt er und ist nachdenklich. Auch er
zählt die Tage bis Allerheiligen, aber aus einem anderen Grund.

Mehr denn zehn Jahre hat der Presi gewütet in Gewaltsamkeit und
Ungerechtigkeit wie ein Uebermensch. Eines Tages nun fällt ihm ein,
glücklich zu sein. Aber steht die Vergangenheit nicht drohend hinter
diesem Glück? Und um den Liebesbund Josis und Binias schwebt auch etwas
so Uebermenschliches, um diese rührende Hingabe, um diese hohe Treue von
langen Jahren her. Kommen wohl Josi und Binia, das herrliche Paar, wie
noch keines im Bergland gewachsen ist, ein Held der That und eine Heldin
der Treue, zum Ziel?

So fragt sich der Garde sorgenvoll und traut dem Dorffrieden nicht.

Josis Werk ist zu schwer, zu wuchtig für das kleine St. Peter. Wohl hat
es, als die Regierung seinen Plan gutgeheißen hat, Josi zugejauchzt, und
wenn einzelne Gegner wie der Glottermüller übrig blieben, so schwiegen
sie. Aber seit dem Tag, da die von der Regierung gesandte Dynamitfuhre
kam, regte sich im Volk wieder abergläubische Furcht. Alle, selbst die
Frauen, eilten damals hinaus in den Teufelsgarten, um den Pulverwagen zu
sehen. Das von vier Gendarmen bewachte Fuhrwerk, das eine schwarze Fahne
mit der Aufschrift »Dynamit« trug, erschreckte sie aber. Es sei ein
mächtiger Sarg gewesen, jammerten sie, umsonst erklärten die
militärpflichtigen Männer, es sei ein Militärcaisson, die Vorstellung
des Sarges ist geblieben. Und ein Sarg bedeutet Unglück.

Die Weiber wollten nicht mehr zugeben, daß die Männer, Brüder und Söhne
die zugesagten Arbeiten leisten, einzelne Bürger zahlen die
versprochenen Tagewerke in Geld, andere bleiben einfach aus, die Hilfe,
die Josi braucht, fehlt.

Er stand mit seinem so glücklich begonnenen Werk allein und in der
großen Verlegenheit erbat sich der Gemeinderat Ersatz von der Regierung.
Unter der Führung eines Aufsehers kam wirklich eine Schar Hilfsarbeiter
ins Thal und richtete sich im Schmelzwerk wohnlich ein, aber die
Kolonne, die hell und dunkel gestreifte Kleider trug und in der es
verwegene, rohe Gesichter genug gab, gefiel denen von St. Peter nicht.

Das Wort »Zuchthaussträflinge« flog durch das Dorf, es erzeugte einen
Sturm der Furcht und Erbitterung, denn Sitte war es bis jetzt gewesen,
daß an den heligen Wassern nur rühren durfte, wer in bürgerlichen
Rechten und Ehren stand, und selbst der bedächtige und nüchterne Garde
wurde zornig über den Schimpf, den die Regierung den heligen Wassern
durch die Entsendung der Sträflingskolonne angethan. Der Gemeinderat
ersuchte die Herren um die Zurückziehung der Mannschaft. Die Sträflinge
verließen das Glotterthal, dafür berichtete die Regierung zurück, die
von St. Peter mögen nun selber zuschauen, wie sie mit dem Werk an den
Weißen Brettern fertig würden.

Als der Bescheid im Dorf bekannt wurde, war man gewaltig empört: »Das
sind die Herren, die so schön haben reden können -- jetzt wollen sie
nichts mehr wissen von dem Verbrechen, das an den Weißen Brettern
begangen wird.«

Ueber das Dynamit, das Josi bei seinen Sprengungen brauchte, kamen immer
entsetzlichere Gerüchte in Umlauf.

Eine Spur »Teufelssalz«, so groß wie eine Prise, sei so stark, daß man
damit einen ganzen Berg in den Himmel sprengen könne, die Königs- und
Fürstenmörder brauchen es, aber bevor es einer anwenden könne, müsse er
schon einen Menschen umgebracht haben, sonst würde ihm das Salz die
Hände durchfressen. Josi Blatter jedoch -- das haben einige zuverlässige
Männer gesehen -- ist so gefeit, daß er die Patronen in den Säcken und
Taschen seines Kleides herumträgt, ohne daß ihm das mindeste geschieht.

Also muß auch er jemand getötet haben.

Das Gewand voll Teufelssalz, so sagen die Dörfler, steigt er am Sonntag
von den heligen Wassern hernieder nach St. Peter -- und bis auf wenige
haben sie alle ein Grauen vor dem gelassenen Mann, der sich um sie nicht
kümmert.

Sein erstes ist ein »guter Tag« in dem Bären, dann geht er, den
Bräuchen des Thales treu, zur Kirche, nach dem Gottesdienst zum Garden
und Vroni und bleibt bei ihnen in den Nachmittag hinein. Allein eine
Hoffnung Vronis geht nicht in Erfüllung. Sie hat gemeint, er würde ihr
nun viele merkwürdige Dinge aus dem Wunderland Indien erzählen, aber es
ist, als wäre das Schweigen der Einsamkeit, in der er die Woche lang
arbeitet, auf ihn übergegangen, nur sein Blick ist warm, sein trockenes
Lächeln herzinnig wie immer, und gegenüber allen Sorgen des Garden um
das Werk bewahrt er eine stille, freudige Zuversicht. »Auch ohne
Hilfsarbeiter,« versichert er, »werde ich es auf Allerheiligen
vollenden.« Am liebsten spielt und scherzt er mit Joseli, man sieht es,
das Büblein ist ihm lieb, und wenn Vroni den beiden zuschaut, dann
erkennt sie in Josi, dem unheimlich starken Mann, den tröstlichen Knaben
wieder, mit dem sie und Binia die Jugend durchlacht und durchspielt
haben.

Am Nachmittag geht Josi in den Bären zu Binia.

Bebendes Glück! -- Ohne diese Stunden müßte Binia sterben wie ein Vogel
ohne Sonne und Luft. O, wie ist der Vater lieb zu Josi, wie verstehen
sich die beiden Männer gut, der alte Feuerkopf und der junge ruhige
Mann.

Der Presi ist noch viel stärker für Josi als je für Thöni unglückseligen
Angedenkens eingenommen. Die beste Flasche aus dem Keller und der beste
Bissen aus der Küche des Bären wandern mit Bonzi, dem Viehhüter, der
Vronis ländliches Essen auf die Arbeitsstätte Josis schafft, zu den
heligen Wassern empor. Und bei jeder Sendung des Vaters liegt ein Wort
von Binia!

»Herzlieber Josi! -- Es hat manchmal Zeiten gegeben, wo ich mir den Kopf
zerbrach, wozu denn die ungestüme, thörichte Bini auf der Welt sei? --
Jetzt aber weiß ich es. Um den herrlichsten Mann im Bergland ein wenig
glücklich zu machen. Wenn es kein Mensch weiß, so zerspringt mein Herz
doch schier vor Stolz, daß du wegen der tollen, unnützen Bini die
Blutfron von St. Peter nimmst. Wenn ich schon gestorben bin, so denk'
ich es doch noch: Josi hat es für mich gethan. Und ich weiß es, du bist
stark, so stark, daß du auch uns erlösest. Lieber Josi, du thust nichts,
wobei nicht mein Herz und meine Seele wären!«

Von ihm kam zwar kein Brief zurück, aber wenn es dunkel geworden war,
sah man in einem der Felsenfenster, die Josi von seinem Tunnel her gegen
das Thal geöffnet hatte, ein Licht.

Das bedeutet: »Gute Nacht, liebe Bini!« Und wenn das Licht schon lang
verschwunden ist, so steht sie noch am Fenster, staunt in die Stille und
denkt mit gefalteten Händen an Josi.

Was im Teufelsgarten geschehen ist, kommt ihr nicht mehr so gräßlich
vor, daß sie deswegen nicht ein wenig lächeln dürfte, wenn sie an Josi
denkt. Es ist kein Verbrechen, es ist nicht einmal eine That des Zorns,
es ist nur ein Unglück geschehen. Welche Mäßigung hat Josi in dem
entsetzlichen Kampf bewiesen, wie übermenschlich ruhig ist er darin
geblieben. Sie hat sich vor ihm gerechtfertigt, sie steht selig in
seinem Arm. Da zuckt ein langer Blitz auf und ab, in überirdischem Licht
erglänzen die Firnen des Glottergrats und vor ihnen steht Thöni. Die
Kugeln seines Revolvers zischen um ihre Köpfe. Sie schreit. Im gleichen
Augenblick aber hat Josi auch schon die Waffe aus Thönis Hand auf den
Weg geschlagen. Dann liegt Dunkelheit in der Schlucht. Wie aber wieder
eine Blitzrute durch das Thal fährt, ist Thöni in der Macht Josis, der
ihm die Arme eisern umklammert hält. »Grieg,« ruft er, »sei vernünftig
und laß uns in Ruhe, du weißt, daß ich ältere Rechte auf Binia habe als
du. Ich klage wegen der Briefe nicht gegen dich, aber gieb Frieden.« Und
sie kniet vor dem gefesselten Burschen, sie fleht: »Thöni, um Gottes
willen, mache dich und uns nicht unglücklich!« Er faucht eine Weile
unter Josis überlegener Kraft, dann stöhnt er: »Laßt los, laßt los,
Blatter, -- ich gebe nach!« Da giebt ihn Josi frei, der Unglückliche
rafft im Fliehen seinen Revolver auf, er eilt über die Brücke, aber wie
sie noch stehen, kehrt er mit der frisch geladenen Waffe zurück und
schießt wahnsinnig in die Finsternis. Ein Blitz -- Dunkelheit. Josi eilt
auf Thöni los, der will fliehen, wieder ein Blitz, da rennt der
Flüchtling quer über die Straße und der Irrende versinkt vor ihren Augen
in die Glotterschlucht. Aus unglücklichem Herzen schreit Josi: »Grieg,
kann ich Euch helfen, wo seid Ihr?« Keine Antwort -- die Wildleutlaue
geht -- sie erleben einen langen, langen Augenblick, wo sie meinen, das
Weltende sei da. Und wie sie ihrer Sinne wieder mächtig sind, suchen sie
voll Verzweiflung Thöni -- können aber keine Spur mehr von ihm
entdecken. Ein Unglück ist geschehen, aber kein Verbrechen! -- Es ist an
Josi nichts Ungerechtes -- es war nur so gräßlich zu sehen, wie Thöni
versank.

Josi war in jenem grauenden Morgen ganz untröstlich. Er wollte den Fall
anzeigen, dann besann er sich wieder. »Zuerst kommt das Gelübde -- dann
das Recht der Menschen.«

So ist's gegangen. Warum sollten sie nicht doch noch glücklich werden
können -- ihre Gewissen sind rein. Aber fort -- fort von St. Peter. Hier
kommen sie vor dem Schrecken jener Nacht doch nie mehr zur Ruhe. In der
Fremde aber ist es schon möglich, daß sie ihr Kinderlachen wiederfindet.

Mit vorsichtigem Wort tippt sie Tag um Tag am Vater, daß er den Bären
verkaufe, daß er mit ihr und Josi in die Ferne ziehe: »Alles hier mahnt
mich an Thöni,« redet sie ihm mit flehenden Augen zu, »aber ich
verspreche es dir, Vater, draußen will ich wieder lachen wie ein Kind
und glücklich -- o so glücklich sein!«

Und seltsam! -- Die Furcht vor Thöni wirkt ansteckend auf den Presi, ihm
ist, er müsse dem Geflohenen noch ein Opfer bringen, er beginnt sich den
Verkauf des Bären zu überlegen, und während der Bann der schrecklichen
Nacht langsam von Binia weicht, schleicht es sich langsam, aber mit
aller Macht ins Bewußtsein des Presi, daß er mit Thöni noch nicht fertig
ist.

Manchmal ist es Binia, sie müsse den Vater über das schreckliche
Ereignis der Wetternacht ins Vertrauen ziehen, aber dann hat sie wieder
das sonderbare Gefühl, sie würde ihm die letzte Ruhe rauben, er weiß es
ja nicht, daß sie, getrieben von der Uebergewalt einer grenzenlosen
Liebe, die selbst die Toten nicht fürchtet, draußen im Teufelsgarten
gewesen ist.

Einmal, als Josi wiederkam, brachte er die überraschende Kunde mit, daß
sein Werk zu mehr als zwei Dritteln vollendet sei und man jetzt auf der
näheren Seite ohne Gefahr in den Felsengang eintreten und durch die
Felsen der ersten zwei Bretter und über die Wildleutfurren wandeln
könne.

Da gab ihm Bini einen glühenden Kuß: und ihr kleiner Schrei: »Josi, mein
Held!« verriet ihre Freude über die Meldung.

Sie und der Vater beschlossen, Josi am anderen Tag an den Weißen
Brettern einen Besuch zu machen.

Da klangen die Kirchenglocken.

Als sie aber mit gesenktem Köpfchen, das Betbuch, das weiße Tüchlein und
den Rosmarinzweig in den Händen, sittsam die Kirchhoftreppe
emporschritt, wichen links und rechts die Frauen zurück: »Das
Teufelsmädchen -- das dem Rebellen den Daumen hält!«

Der überraschten Binia entglitt das Betbuch und es fiel zu Boden.

»Seht ihr es, daß sie eine Teufelin ist, sie kann das Betbuch nicht mehr
halten,« riefen die Weiber.

Vroni hob der Erschrockenen das silberbeschlagene Büchlein auf: »Binia,
ich bleibe bei dir!«

Weiter ging Binia den Dornenweg, doch jetzt erhobenen Hauptes, mit
glühenden Wangen, blitzenden Augen. »Vroni,« sagte sie, »gehe von mir,
es könnte auch dir schaden.«

Sie tritt in die Kirche, sie will sich in die kleine Bank setzen, wo das
Wappen der seligen Mutter, ein Steinbock, gemalt ist. Da tritt die
Glottermüllerin, das häßliche, scheinheilige Weib, vor sie, speit mit
zahnlosem Mund vor ihr aus, weist mit dem Zeigefinger auf den nassen
Fleck am Boden und sagt: »Das bannt -- darüber hinaus kommst du nicht,
Hexe!«

Und richtig, Binia weicht zurück.

»He, seht,« schreit die Glottermüllerin, »sie ist eine Teufelin -- ja,
sie hält dem Rebellen an den Weißen Brettern wirklich und wahrhaftig den
Hexendaumen.«

Da ist Josi plötzlich an Binias Seite. Ihm ist es nicht besser ergangen.
Die Männer haben die Fäuste gegen ihn geballt. Nun reicht er ihr vor der
ganzen Gemeinde die Hand: »Komm, Binia, wir gehen wieder,« und den Kopf
zurückwerfend, sagt er: »Schämt euch, ihr Unvernünftigen von St. Peter!«

Damit wendet sich das Paar.

Am Altar steht aber schon, das weiße Heilandskreuz auf der dunklen
Soutane, der greise Pfarrer. Er erhebt das kleine Handkruzifix, tritt
schwankend vor und spricht mit der gebrechlichen, meckernden Stimme und
dem wackelnden Kopfe des hohen Alters:

»Josi Blatter und Binia Waldisch, im Namen Gottes und aller Heiligen,
bleibet! Ich schütze euch mit dem heiligen Kreuz. Ihr aber von St.
Peter, hütet euch. In euern Hütten und Häusern geht ein alter
heidnischer Teufelsglaube um, der nach Opfern schreit, ihr seid eine
unchristliche räudige Rotte geworden und gehorcht dem Baalspfaffen
Johannes mehr als der heiligen Kirche. Ich, euer rechtmäßiger Pfarrer,
sage euch: Wenn ihr, ihr Tollen von St. Peter, nicht aufhört mit eurer
Bosheit, so lege ich die Siegel der Kirche an dieses Gotteshaus, an eure
Glocken, ich verweigere euch die Sakramente und ein christliches Grab,
leben und sterben sollt ihr wie das wilde Getier. Wer von euch am
Aberglauben hängen bleiben will, verlasse jetzt gleich das Gotteshaus.«

In seinen Stuhl zurückgesunken erwartete der alte Priester, seine
Gebete murmelnd, die Wirkung seiner Worte, doch auf der Seite der Männer
sah er nichts als finsteren Trotz, auf der Seite der Frauen herrschte
das Heulen der Furcht. Erst nach einer Weile begann er, noch zitternd
vor Erregung, den Gottesdienst.

Als der Presi hörte, was für einen Schimpf man seinen Kindern zugefügt
hatte, wütete und tobte er gegen das Dorf wie in alter Zeit: »Keiner
außer dem Garden bekommt im Bären mehr einen Trunk, von heute an ist er
kein Wirtshaus mehr!« Dem Pfarrer aber, seinem ehemaligen Feind, ging er
mannlich danken.

Am anderen Tag stieg er, den grünen Asersack[32] an der knorrigen Hand,
mit Binia hinauf durch die Alpen, wo das Vieh zum Abzug rüstete. Es war
ein sonniger und klarer Tag, Binia hatte wieder rote Wänglein, ihr
glückliches Kinderlachen erwachte für einen Augenblick wieder und
läutete über die Enzianen dahin und im Arm trug sie die Bergastern, um
das Werk Josis zu schmücken.

  [32] _Asersack_, schweizerdeutsch, Sack für den Mundvorrat.

Der Presi baute Luftschlösser. Ja, den Bären will er verkaufen auf die
Zeit, wo Josi sein Gelübde gelöst hat, seine Kapitalien flüssig machen
und dann dem Zug des Glückes und der Liebe folgen. »Josi,« sagt er zu
Binia, »wird in der weiten Welt schon ein schönes Plätzchen für uns
wissen. Unter dem thörichten Volk von St. Peter ist es mir verleidet.«

Sie erreichten die Höhe der heligen Wasser, sie standen am Eingang der
Weißen Bretter, wo die trübe Flut, die aus dem Hintergrund des Thales
kam, durch einen Kännel abgelenkt in eine Runse floß und in lustigen
Bächlein in die blauen Tiefen des Glotterthals niederschäumte.

Mit heiligem Schauer betrat Binia den Felsengang Josis, der sich
mannshoch wölbte, und der Presi betrachtete das Werk in Bewunderung.
Anderthalb Fuß breit und einen Fuß tief zog sich am Grund des Stollens
der neue Wässerwassergraben dahin, neben ihm ein genügend breiter
erhöhter Felsenweg für den Garden, die Wände waren mit Hammer und Meißel
ausgeglichen und die Risse des Gesteins mit Zement ausgegossen. Da und
dort fiel durch ein Felsenfenster ein Bündel Tageslicht in das stille,
halbdunkle Gestein. Nun schritten sie unter dem Balkendach der
Wildleutfurre, weiter durch das mittlere Weiße Brett, wieder über die
Wildleutfurre -- da sieh -- da horch -- im Dunkel vor ihnen glüht ein
roter Lichtfunke und tönt Hammerschlag. An das Gestein hingeknäuelt
arbeitet Josi im Schein der Grubenlampe.

Ein kleiner Ruf Binias -- er läßt das Werkzeug fallen: »Bini -- meine
Bini -- Vater gottwillkommen!«

Die schöne, feine Bini hat Josi zu Ehren ihr bestes Kleid angezogen, sie
steht, in den Händen den Strohhut, um den sie zum Schutz ein weißes
Tüchlein geschlagen hat, demütig erglühend vor dem bestaubten
Felsensprenger, der im schlechtesten Gewand bei der Arbeit ist.

»Da errichtest du wirklich ein Werk der Wohlfahrt für die Ewigkeit,
Josi,« grüßt der Presi im Vaterstolz.

Ein paar Stunden weilt der freundliche Besuch in der sonnigen Höhe. Am
Eingang des Felsenkanals sitzen die Liebenden mit dem Presi, der sein
Reisesäcklein auspackt, und die Gläser der dreie klingen auf glückliche
Vollendung des Werkes zusammen.

Ueber das Glotterthal sind die blauen Schleier des Nachmittags
hingegossen, die Bergwelt mit ihren Firnen steht weit im Kreise still
und feierlich in Verklärung da, Haupt an Haupt, Firn an Firn, am
erhabensten die Krone.

»Josi,« flüstert Binia und ihr weiches dunkles Haar streift ihn, »heute
ist es schön wie zu Santa Maria del Lago -- es ist so schön, daß man vor
Glück sterben könnte.«

Da rollt es von der Krone dumpf -- ein seltsames Zeichen im Herbst, wo
sonst die Gletscher friedlich sind. Aber man lebt eben in einem Jahr, wo
die Natur ausgleicht, was der vorausgegangene schlechte Sommer zu viel
an Schnee auf das Gebirge gehäuft hat. Darum schaffen und donnern die
Gletscher bis spät ins Jahr hinein.

Glückselig steigen Vater und Tochter von der Leitung, von dem Werk, wie
es sonst keines im Berglande giebt, durch den Abendnebelflor des
Herbstes zu Thal und hören noch den jauchzenden Nachruf Josis. Den
anderen Tag ist der Presi draußen in Hospel und unterhandelt mit dem
Kreuzwirt, der bei der Ausrechnung mit Frau Cresenz ein gieriges Auge
auf den Bären geworfen hat und im eigenen Vorteil den Fremdenverkehr im
Glotterthal aufrecht erhalten will, am dritten geht er in die Stadt und
tritt mit starken Einschlägen alle Kapitalbriefe gegen Bargeld an die
Bank ab.

Inzwischen erlebt aber Binia etwas, was der Mutigen beinahe die letzte
Hoffnung raubt.

Die Magd kommt weinend gelaufen, sie macht das Kreuz vor ihr und sagt:
»Ihr seid eine Hexe und haltet es mit dem Teufel -- ich gehe jetzt
gleich aus dem Haus.«

»Aber Cleophi, seid nicht närrisch!« Und Binia lächelt ihr gütig zu.

»Wohl, wohl, Ihr seid eine Teufelin -- der Kaplan und selbst die alte
Susi in Tremis sagten es und Kinder haben ja im Teufelsgarten den Ring
Eures ehemaligen Verlobten gefunden, den Ring, mit dem Ihr Euch in der
Totennacht dem Satan angelobt habt. Kaplan Johannes geht mit ihm durchs
Dorf, alles weiß es: Es scheint nur, daß Euer Liebster das Werk an den
Weißen Brettern selber baue, er schafft aber nicht, er thut nur so am
Tag, und in der Nacht baut es der Teufel. Dafür müßt Ihr mit dem Satan
siebenmal um das Bockje reiten.«

»Geht, Cleophi, geht -- da ist Euer Lohn.«

Totenblaß steht Binia. Sie hat bei dem Kampf im Teufelsgarten Thöni den
Ring vor die Füße geworfen. Jetzt ist er in den Händen des gräßlichen
Kaplans, und nun ist er ein neues Mittel für den Verrückten, gegen sie
zu hetzen. Und wird man nicht, wie man den Ring gefunden hat, Thöni
finden?

Sie beißt hilflos in die Fingerknöchel: »Warum hat uns denn der Himmel
vor den Kugeln Thönis bewahrt, wenn Josi und ich an einem Schein von
Schuld und am Aberglauben des Dorfes sterben sollen?«

Der Garde, der mit Peter Thugi das Wasserrad, das in die Leitung
eingeschaltet werden soll, auf den Berg schaffte, hat Josi das
Versprechen abgenommen, daß er die paar Wochen, die noch zur Vollendung
nötig sind, an den Weißen Brettern bleibe. Er kommt nicht mehr zu Thal.
Auch der Garde ist im tiefsten Herzen überzeugt, daß Josis Werk gut ist,
aber er kennt die furchtbare Empörung im Dorf. Wo er zum Guten redet,
begegnet er höhnischem, kaltem Lächeln und drohendem Schweigen, die
Gemeinde horcht nur noch auf den bösen verrückten Kaplan Johannes.

Eine Weile hat ihr allerdings die wohlgemeinte Warnung und Drohung des
Pfarrers Zügel angelegt, aber jetzt knurren die Dörfler: »Der Alte wagt
es nicht, uns die Kirche zu verschließen, wir wollen ihn schon
meistern,« und die Weiber hangen an Kaplan Johannes. »Er hat ein
besseres Herz für uns als der Pfarrer, der nichts von unseren alten
heiligen Sagen wissen will.« Und wenn ein Halbvernünftiger noch den
Einwurf erhebt, man wolle doch nicht so stark zu einem Verrückten
halten, sonst komme man gewiß an ein böses Ziel, antworten die anderen:
»Kaplan Johannes ist schon närrisch, aber gerade denen, die Gott etwas
geschlagen hat, giebt er dafür besondere Weisheiten. Der Kaplan Johannes
sieht und weiß mehr als sieben Pfarrer.«

Er hat gute Zeiten, sein Bettelsack ist immer voll, wo er geht, rufen
die Weiber: »Kommt doch ein wenig zu uns herein, Johannes!« Klagt ein
Bauer: »Meine Kühe fressen nicht mehr und geben keine Milch,« so
antwortet Johannes: »Merkt Ihr es, merkt Ihr es! Das kommt vom
Teufelssalz. Das ganze Thal riecht nach Schwefel.« Nun spüren auch die
Dörfler den Geruch. In irgend einem Haus ist eine schwere Geburt. »Seht
Ihr,« flüstern es die Frauen einander zu, »die Kinder können nicht mehr
zur Welt kommen. Das rührt vom Sprengen her!«

Die von St. Peter spüren es kaum, wie der Kaplan ein Netz des
Aberglaubens um sie zieht.

Und plötzlich geht die feste Sage unter denen von St. Peter, es sei eine
weiße arme Seele durch das Dorf gewandelt und habe dreimal gerufen:

    »O weh, o weh -- am Teufelssalz
    Stirbt dieser Tage Jung's und Alt's!«

So in drei Nächten!

Und warum rollen die Gletscher im Herbst, wo sie doch sonst schweigen?
Das bedeutet: »Am letzten Weinmonat geht St. Peter mit Menschen und Vieh
unter. In dem Augenblick, wo der Wasserhammer der neuen Leitung
einsetzt, verlassen die erzürnten armen Seelen die Krone, die Firnen
fallen mit so schrecklichem Donner auf das Dorf, daß das bloße Hören
schon tötet!«

Drei Männer nur noch, der Presi, der Garde und der Pfarrer, und einige
stille, wie Eusebi und Peter Thugi, glauben an Josis Werk.

Die Regierung hat sich übrigens auch nicht ganz von dem Werk
zurückgezogen, wie sie drohte, sie meldet, sie hoffe, die Leute von St.
Peter haben sich, da das Werk einen so erfreulichen Fortgang nehme,
wegen des Dynamites beruhigt, und lade den Gemeinderat ein, auf den Tag
der Vollendung, den letzten Weinmonat, ein hübsches Gemeindefestchen zu
Ehren Josi Blatters zu veranstalten. Sie wolle sich dabei vertreten
lassen und ersuche Josi Blatter, daß er die letzten rettenden Schüsse
auf diesen Tag verspare, an dem man, während im Thal die Glocken läuten,
in feierlicher Prozession an die Weißen Bretter ziehen wolle.

Dazu schütteln der Garde und der Presi wehmütig und ungläubig die
greisen Häupter, aber es ist gut, wenn auf diesen Tag jemand von der
Regierung kommt -- vielleicht ist dann ein Mann der Staatsgewalt am
nötigsten -- es wird der Tag sein, wo in St. Peter der Aufruhr
losbricht, denn so sind die Leute des Thales -- sie warten in der
Voraussetzung, daß doch irgend noch ein Ereignis geschehen und ihre That
überflüssig machen könnte, den letzten Augenblick zum Handeln ab.

Aber dann -- --

In diesen Tagen der äußersten Spannung, die durch die Stille des Dorfes
noch unheimlicher wurde, sagte der Presi einmal zu Binia: »Der Garde hat
mich gefragt, wie denn dein Ring, der jetzt denen im Dorf so viel zu
reden giebt, in den Teufelsgarten gekommen sei. Ich habe geantwortet, du
habest ihn Thöni zurückgegeben und er habe ihn wohl auf der Flucht
fortgeworfen. Ist es so?«

Ahnungslos fragt der Presi, Binia aber schwankt vor Entsetzen. Sie wagt
es nicht mehr, dem Vater das gräßliche Geheimnis länger vorzuenthalten.
Jeder der schönen Herbsttage, die kommen und gehen, vermehrt die Gefahr,
daß Thönis Leiche gefunden werde, denn die Wasser der Glotter fließen
immer spärlicher und immer klarer, und der arme Vater darf doch nicht
ungerüstet von der Entdeckung der Leiche überrascht werden.

Zögernd legte sie, die Hände gefaltet, die Augen auf den Boden geheftet,
mit leiser und feiner Stimme die furchtbare Beichte ab. Als sie erzählt,
wie sie Josi in den Teufelsgarten bestellt habe und dann heimlich durch
die Wetternacht dort hinausgegangen sei, da lodern die Augen des Presi
noch einmal in alter Zornglut auf und mit böser Stimme sagt er: »Gott's
Donner! Du giebst es mir recht zu schmecken, daß du immer ein Trotzkopf
gegen deinen Vater gewesen bist. Da kommt ja eine höllische Geschichte
aus.«

Binia nimmt seine Hand, sie beichtet mit dem Mut der Verzweiflung.
Plötzlich wird der rote Kopf des Presi blaß. Weil sie vor ihm in die
Kniee sinkt und schreit:

»So ist's gegangen! verzeihe mir, Vater -- verzeihe mir!« da zieht er
sie mit zitternden Armen empor und preßt die leichte, schöne Gestalt
seines Kindes stürmisch an seine breite Brust.

»Bini -- arme Bini,« stöhnt er, »da ist nichts zu verzeihen -- du bist
den Weg gegangen, den du hast gehen müssen, und es ist geschehen, was
hat geschehen müssen. -- Es ist Schicksal -- --«

Seine Stimme bricht schluchzend ab und plötzlich fühlt Binia, wie zwei
warme Thränen über die Wangen des Mannes rollen, den sie nie zuvor hat
weinen gesehen. In mächtiger Bewegung halten sich Vater und Kind
umschlungen, eine Stille waltete in dem Gemach, als ginge ein Engel auf
leisen Sohlen an den zweien vorbei.

So halten sie sich in Glück und Elend lange, lange.

Das Leben des Presi hat durch die Beichte Binias einen Stoß erhalten wie
noch nie.

Er findet den Mut nicht, in der gräßlichen Angelegenheit irgend etwas zu
thun. Er klammert sich an die Hoffnung, Thönis Leiche würde schon
deswegen nicht gefunden, weil sie niemand suche. Ein halbes Jahr ist
jetzt vorüber, seit die That geschehen ist, und niemand kümmert sich um
Thöni mehr. Ist es nicht bei Unglücksfällen schon häufig genug
vorgekommen, daß man mit dem größten Eifer die Leichen solcher, die in
die Glotter gestürzt sind, nicht mehr hat finden können? Entweder lagen
sie in den Schlünden der Schlucht verborgen oder der mächtige
Wasserschwall des Sommers hatte sie weiter geschwemmt und in den Strom
hinausgeführt. So mochte es auch mit der Leiche Thönis gegangen sein.

Viel mehr als die Angst vor einer Entdeckung quälen den Presi die
Erinnerungen an Thöni, das Bewußtsein, daß er die Verantwortung für das
unglückliche Leben trägt.

»Thöni, der mir alles von den Augen absah, hat gemeint, es sei mir ein
Gefallen, wenn Josi tot bliebe. Er hat den ersten Brief unterschlagen,
dann hat er nicht mehr rückwärts gehen können, hat falsch geschrieben,
und es ist gekommen, wie's hat kommen müssen. Daß er ein Schelm und
fremd geworden ist, daran bin ich schuld.«

Das tönt ihm unaufhörlich durch die Sinne.

Das Schrecklichste aber! Er glaubt nicht daran, daß Thöni selber in die
Glotter gelaufen sei. Es klingt so unglaubwürdig. Sein Kind redet es
sich nur so ein, um nicht in dem Gedanken, sie liebe einen Totschläger,
umzukommen -- -- aber der Presi wagt es nicht, sie noch einmal darüber
zu fragen -- nein -- nein -- er zittert nur davor, eines Tages könnte in
Josi doch die Selbstanklage erwachen, wie sie in seiner Brust erwacht
ist, und es würde die zwei, die nicht ohne einander leben können,
trennen.

Ein Fluch des Unglücks ginge dann von ihm und seinen Gewaltthaten noch
in das folgende Geschlecht hinein.

Das sinnt der Presi in entsetzlicher Furcht. Er glaubt nicht mehr an ein
schönes Alter, aber wenn er die dunklen Augen Binias traurig auf sich
gerichtet sieht, so lächelt er sie mit seinem wärmsten Lächeln an, hebt
den gebeugten Rücken und meint vor ihr verbergen zu können, wie rasch er
zusammenfällt und aus den Kleidern schwindet.

O, es ist rührend, wie sich der alte Mann zu verstellen sucht, daß Binia
nicht sehe, wie er hoffnungslos leidet.

Hoffnungslos! -- Nein, wenn er sein herrliches Kind sich anschaut, wie
es mutig und geduldig seine Leiden trägt, wie es auf Josi wie auf einen
Felsen baut, glaubt und harrt, dann ist auch ihm, der Held der heligen
Wasser sei so stark, daß er selbst das Ereignis in der Glotterschlucht
besiege.

Um den Vater müht sich Binia treu und hingebungsvoll, sie sinnt Tag und
Nacht nur darüber, wie sie den Gram von seiner Stirne scheuche.

»Kind -- Herzensvogel,« sagt er, »wie bist du mit deinem Vater lieb.«

Seine Auswanderungspläne hat er aufgegeben -- in St. Peter hat er
gelebt, in St. Peter will er sterben -- steigt Josi von seinem Werk
herunter, so wird er ihm sagen: »Nimm meine Binia -- schenke ihr Glück,
viel Glück -- zieht fort -- mein Segen begleitet euch -- ich aber
erwarte mein letztes Stündlein in St. Peter.«

In drei Tagen wird Josi kommen, aber niemand wagt auch nur das
bescheidenste Festchen vorzubereiten. Der Handel um den Bären stockt.
Aus Scheu vor Frau Cresenz, aus der Furcht vor dem eigenen Gewissen, aus
Sorge, es könnte in seiner Abwesenheit Binia ein Leid geschehen, wagt es
der Presi nicht mehr, nach Hospel hinauszugehen. Die ganze blinde Wut
des Volksaberglaubens hat sich auf das arme Kind geworfen, sie erfährt
Beleidigungen, wo sie geht und wo sie steht, und die Dörfler schlagen
das Kreuz und speien vor ihr.

Der Verkauf des Bären würde die Aufregung im Dorf noch steigern.

Er hat einen furchtbaren Groll auf die von St. Peter, aber ändern kann
er an der entsetzlichen Lage nichts, er vertraut nur auf die heilige
Scheu, die denn doch jeder im Dorfe hat, ein Leben anzutasten. Nein, das
thun sie nicht, obwohl sie entsetzlich sind in ihrem drohenden
Schweigen.

Was geschehen mag, er wird noch einmal als Presi auf seinem Posten
stehen -- und so stark sein, daß er sie bändigt. -- --

Ja, Presi, Ihr werdet Euch schon noch einmal auf den Posten stellen
müssen -- in St. Peter stehen die Dinge bös.



XIX.


Ein neuer Ahornbund ist entstanden, furchtbarer als der erste, so
furchtbar, daß ihn niemand auszuführen wagt und jeder zittert vor dem
Los, das ihn treffen könnte.

Ehe der Hammer an den Weißen Brettern schlägt, muß zur Rettung St.
Peters ein Mord begangen sein. Josi Blatter, der sich gegen den Himmel
gewendet hat, muß fallen, die armen Seelen auf der Krone müssen versöhnt
werden.

In der Nacht halten die Männer seitab vom Dorf unter Wetterlärchen ihre
ernsten Beratungen. Leichten Herzens thun sie den Schritt nicht, jeder
ist ganz durchdrungen von dem Gedanken, was für eine schreckliche That
ein Mord ist. Seit Matthys Jul, der fern im Dämmerschein der Sage steht,
hat im Glotterthale kein Mann einen anderen getötet. Es ist aber doch
besser, es falle nur einer, nur Josi Blatter, der Rebell, als daß das
ganze Dorf untergehe.

Nicht Josi Blatter ist der Retter von St. Peter, sondern der ist es, der
ihn erschlägt.

Man kann ihn aber nicht erschlagen, er ist droben in den Felsen, er
steht in einem schmalen Gang, in dem nur ein Mann auf einmal gehen kann,
und er ist Herr des Teufelssalzes, er ist mit dem Satan im Bund, und
wenn Hunderte gegen ihn streiten, so überwältigt er sie mit einer
einzigen Patrone, die er nach dem nächsten Stein schleudert.

Die Männer stehen ratlos. Nur noch zwei Tage, dann wird der Hammer von
den Weißen Brettern schlagen.

Seit man Binias Ring gefunden hat, ist Kaplan Johannes dem Schicksal
Thönis auf der Spur. Warum sind Josi Blatter und Binia Waldisch in der
Wetternacht über den Stutz heraufgekommen, in der Nacht, wo Thöni Grieg
geflohen ist? Warum haben seine Verwandten in Hospel nie die geringste
Nachricht von ihm bekommen? Er klettert Tag um Tag an den Felsenufern
der Glotter und späht in die Wasser.

Heute hat Johannes in einem Felsenschlund beim Bildhaus an der Grenze
von Tremis, in dem das Wasser quirlt und brodelt, etwas auftauchen
sehen, was ein Bein und ein Schuh sein könnte -- nein, was ein Bein und
ein Schuh ist.

Wie die Männer von ihren heimlichen Beratungen heimkommen, herrscht
unter den Weibern schon Wehklagen: es stehe einer außerhalb der Brücke
in der Glotter, er strecke den Arm gegen die Weißen Bretter und stöhne
immer nur: »Der dort oben -- der dort oben« -- und hinterher seufzte er:
»Und Binia Waldisch!«

Abergläubisches Entsetzen füllt das Dorf. Es ist kein Schlaf in St.
Peter -- nur Beten und Gejammer: »Warum haben wir den Bau an den Weißen
Brettern zugegeben, warum haben wir uns durch den Presi verführen
lassen?« Und dazu die dumpfe Antwort: »Auf ihn und sein Kind mag es
kommen.«

In der Nacht sinkt ein dichter kalter Nebel ins Thal, ehe der Tag
dämmert, klopft der Mesner schreckensbleich an die Thüren: »Ich kann
nicht zur Frühmesse läuten, es steht einer in weißem Gewand an der
Kirchenthüre!«

Mit ihren Laternen gehen die Dörfler in festgeschlossener Schar zum
Gotteshaus.

Es steht keiner an der Kirchenthüre, aber ein großer Zettel klebt daran,
sie lesen ihn mit Entsetzen und die Frauen fahren kreischend zurück.

»Gerechte Bürger von St. Peter!« heißt es auf dem Blatt. »Ich, Thöni
Grieg, klage es euch. Aus den Wassern der Glotter schreie ich seit dem
Fridolinstag um ein ehrliches Begräbnis in geweihter Erde, während mein
Blut sündig an den Weißen Brettern vermauert wird. Ihr kennt meine
Mörder. Begrabt mich und schafft Gerechtigkeit. Die armen Seelen wissen,
was ich leide, und ziehen aus.«

Das Dorf ist ratlos, das Grauen liegt allen in den Gliedern, einer raunt
es dem anderen zu: »Wenn die Toten zu schreiben anfangen, dann ist es
Zeit, daß wir handeln.«

Da schlarpt Kaplan Johannes mit lodernden Augen heran. »Seht ihr, die
Toten reden! Was wollt ihr mehr? Ich will euch etwas sagen, aber die
Zunge soll dem verdorren, der Satan soll dem ins Blut fahren, der mich
verrät. Bevor ihr den Mord am Rebellen sühnen könnt, müßt ihr Binia
Waldisch, die Teufelin, schlagen; erst wenn sie im Blute liegt, ist er
schwach und leicht zu bewältigen. Wozu der Schrecken, wozu das Erbarmen?
Lest, wie sie Thöni getötet und sein Blut nach der Stadt gebracht haben,
damit man das Teufelssalz hat bereiten können. Die erste Schuldige ist
Binia Waldisch, die Tochter des Presi; sie müßt ihr schlagen, sonst geht
St. Peter unter.«

Die Männer schaudern: »Das thun wir, so wahr uns Gott helfe, nicht. Mann
gegen Mann, so ist's in den alten Zeiten gehalten worden, aber eine
Jungfrau tötet, selbst wenn sie eine Teufelin wäre, keiner. Eher mag St.
Peter untergehen.«

Da rollt der Gletscher.

»Hört ihr's -- St. Peter geht unter!« wehklagen die Frauen, und der
Kaplan lächelt: »Ihr könnt die Hexe mit weltlichen Waffen nicht
umbringen, die heiligen Grabkreuze müßt ihr aus der Erde reißen und sie
damit schlagen.«

»Johannes,« grollen die Männer und ballen gegen ihn die Fäuste, »seid
Ihr der Satan, der uns ins Unglück bringen will? Eine Jungfrau mit
Grabkreuzen erschlagen! Das ist unerhört im Bergland. Thäten wir das
unseren heiligen Toten zu leid, daß wir ihre stillen Gräber schänden, so
geschähe es uns gerecht, wenn unser alter Pfarrer uns das Gotteshaus
verschlösse und die Glocken bannte. Dann müßten wir ja auch zu Grunde
gehen, es giebt ja genug Meldungen im Gebirge, wie Dörfer vergangen
sind, denen die Kirche den Segen entzogen hat. Die Weiber sind
unfruchtbar geworden, der Sohn hat das Beil gegen den Vater erhoben, wie
die Wölfe haben sich die Bewohner zerrissen und die letzten sich in
Verzweiflung über die Felsen gestürzt. Kaplan -- Ihr wollt uns zu Grunde
richten -- seht Euch vor, wenn Ihr uns schlecht ratet, so seid Ihr der
erste, den wir erschlagen.«

Da hat der Kaplan einen Anfall der Fallsucht, wie er ihn selbst
hervorrufen kann. Er stürzt, er zuckt, er schäumt, er schreit.

»Er ist seiner selbst nicht mehr mächtig, jetzt redet Gott aus ihm,«
mahnt der Glottermüller und streckt die gefalteten Hände zum Himmel. Was
aber Johannes spricht, ist entsetzlich: »Thöni Grieg -- du mußt
aufstehen, sie müssen einen Toten zeugen hören, daß St. Peter
untergeht.«

Ja, wenn ein Toter aufersteht, wenn Thöni Grieg in der Glotter liegt, so
wollen sie dem Kaplan glauben und das Entsetzliche thun, Binia Waldisch,
die Mörderin, erschlagen.

Während aber die Dörfler auf dem Kirchhof noch beraten, ertönt der Ruf:
»Der Pfarrer kommt -- der Pfarrer!«

Da springt der Kaplan auf: »Er will euch überreden. -- Eilt an die
Glotter und seht. -- Vor dem Bildhaus zu Tremis schwimmt Thöni Grieg in
der Schlucht.«

Halb in Groll, halb in Furcht und Scham flieht die Gemeinde vor ihrem
Pfarrer. Er liest den Anschlag an der Kirchenthüre, sein weißes Haupt
zittert, er stammelt: »Jetzt muß ich Wort halten!« Weinend schleicht der
alte trostlose Mann ins Pfarrhaus zurück. »Sie haben sich dem
Baalspfaffen ergeben, sie haben sich von der heiligen Kirche gewandt,
wohlan, so muß ich mein Wort halten.«



XX.


Mann, Weib und Kind sind durch die Nebel des kalten Herbstmorgens, der
schon an den Winter mahnt, über den Stutz hinab thalaus geeilt, aber
Kaplan Johannes ist nicht mehr bei ihnen.

Sie mögen Thöni Grieg selbst suchen, das Entsetzen wird um so größer
sein, wenn sie ihn finden.

Der Garde weilt beim Presi: »Binia retten, was auch geschehen sei, auf
eine blutige That darf keine blutige That folgen. Und die Gier des
Verrückten trachtet nach dem Kind. Gebt sie in meine Obhut -- Presi
-- ich bürge für sie. -- Aber rasch -- rasch --«

Der Presi spürt die bittere Not der Stunde: »Wohin wollt Ihr mit ihr,
Garde?«

»Ich geleite sie auf den Berg, daß sie zu Josi gehe. Dort ist sie
sicher; wenn er will, kommt keine Maus in seinen Gang, und bis am Morgen
ist auch schon Mannschaft zum Schutz beider an den Weißen Brettern.
-- Presi, telegraphiert in die äußeren Gemeinden um Hilfe.«

Der Presi will es thun -- er kommt kreideweiß aus der Postablage zurück
-- der Draht ist abgeschnitten.

»Dann holt Eusebi die Mannschaften -- ein paar Stunden später sind sie
doch da -- nur ein Verbrechen darf nicht geschehen -- eher mögen unsere
Häuser zerstört werden.«

In dem sonst so schwerfälligen Garden lebt und bebt alles, die klugen
und guten Augen unter den buschigen Brauen sprühen Feuer, er ist wieder
jung.

»Ja, zu Josi!« klingt das Stimmchen der erschrockenen Binia fein und
traumhaft und ihre Finger spielen, ohne daß sie es weiß, mit dem
Tautropfen, den sie aus der Kapsel des Halskettchens geholt hat. »Komm
mit mir, Vater, es ist mir so angst um dich, wir wollen uns nicht
trennen.«

Sie kniet vor ihm, er aber antwortet fast streng: »Heute gehört der
Presi in die Gemeinde, das weißt du, Kind!« Dann in überströmendem
Gefühl: »Geh, Binia! -- Auf Wiedersehen, Herzensvogel -- grüße mir
Josi.« Er reißt sie an seine Brust: »Liebe Bini -- sollte es anders
kommen -- sollte ich morgen nicht mehr leben -- doch wenn nur du lebst
-- ich habe einmal einen sonderbaren Traum gehabt -- aber ich glaube
nicht mehr daran -- geh zu Josi -- geh in Gottes Namen.«

Mit sanfter Gewalt löst der Garde die schluchzende Binia aus den Armen
des Vaters: »Ich will dich führen, Binia! -- Komm -- komm.«

Vater und Kind nehmen Abschied wie für die Ewigkeit.

Der Garde führt Binia im kalten, dichten Nebel durchs öde Dorf gegen die
Alpen empor. Er redet herzlich zu der Schwankenden, die doch tapfer
geblieben ist: »Und nun, Binia,« fragt er, »was für eine Bewandtnis hat
es mit der furchtbaren Anklage, die gegen dich und Josi erhoben
wird --«

Da beichtet sie dem alten Freund, wie sie dem Vater gebeichtet hat.

»Binia!« sagt der Garde stillstehend und faßt ihre beiden Hände: »Jemand
anders als du könnte es mir nicht vorgeben, daß der betrunkene Thöni
selber in die Glotter gelaufen ist -- aber wenn es einen Menschen giebt,
dem ich glaube, so bist du es, denn du hast, wo andere gestrauchelt
wären, immer den Mut der Wahrheit besessen.«

Sie sehen sich in die Augen, der Garde und Binia. O, sie hat es wohl
gefühlt, daß der Vater ihrer Erzählung nicht ganz vertraute, und nun ist
sie endlich glücklich, daß wenigstens der Garde sie in ihrem tiefen
Elend versteht.

Noch zuckt ein Strahl der Hoffnung, daß alles gut kommen werde, durch
ihre Brust, da aber taucht Kaplan Johannes gespenstisch aus dem Nebel
auf und lacht sein gräßlichstes Lachen: »Wir tanzen doch, Jungfrau --
wir tanzen an den Weißen Brettern!«

Irrsinnige Gier lodert in seinen Blicken.

Ehe der Garde sich auf ihn stürzen kann, verschwindet er so rasch, wie
er aufgetaucht ist, im Nebel.

Binia zittert und der Garde muß sie wohl oder übel noch ein gutes Stück
begleiten.

Da dringt das helle Tageslicht durch das Grau -- es liegt unter ihnen --
eine blasse Sonne scheint durch weiße Wolken -- über das Gebirge ziehen
dunklere Streifen und Bänke her -- es rüstet zum Schneien -- aber in der
Felsenhöhe winkt der sichere Hort.

»Fürchte dich nicht, Binia,« mahnt der Garde, »gewiß geht eher St. Peter
unter, als daß deinem Haupt ein Leid geschieht.«

Hoch oben trennen sie sich. -- Binia geht langsam, Schritt für Schritt,
sie steigt in die falbe, schweigende Einöde -- sie ist auf der Flucht --
ihre Lippen zittern: »Zu Josi!«

Einen Augenblick noch sah ihr der Garde nach, dann wendete er sich in
Selbstvorwürfen: »Der Mensch meint, er mache ein Ding gut, und er macht
es böse. -- Es wäre in diesem Augenblick viel wert, wenn das Dorf wüßte,
was für ein Verbrechen Thöni Grieg an Josi begangen hat.« -- --

Eusebi ist auf dem Weg nach Hilfe und der Garde eilt zu den Dörflern
hinaus, die die Leiche in der Glotter suchen. Vielleicht bringt er sie
im letzten Augenblick zur Vernunft.

Im Bären aber kämpft ein alter, einsamer Mann, er kämpft wie der
angeschossene Adler, der jäher als je zuvor gegen den Himmel steigt. Er
kämpft wie die Forelle an der Angel, die auf den Grund des Wassers
schießt und sich in Schlamm und Kies verbohrt. Aber der Adler fällt
rauschend in die Hochgebirgstannen, die Forelle verliert die Kraft und
muß aufwärts steigen.

Der Presi weiß es: er ist der Adler -- er ist die Forelle -- seine
Stunde ist da.

Er sitzt und betet -- er blickt über sein Leben -- er sieht alle seine
Missethaten gegen Fränzi und Seppi Blatter -- gegen die selige Beth --
gegen Josi -- gegen Binia -- und er hat Thöni auf dem Gewissen. Eine
furchtbare Angst um Binia überfällt ihn. Sie ist wohl sicher in Josis
Felsenwerk -- aber er hätte sie nicht gehen lassen sollen -- in seiner
grenzenlosen Verlassenheit gewinnt der alte Traum Macht über ihn -- und
er weiß jetzt, wer der dritte ist, der am Haupt seines Kindes rühren
wird -- es ist der schreckliche Kaplan, der den Haß gegen ihn und eine
verbrecherische Leidenschaft für das Kind in einer Blutthat ertränken
möchte.

Er sollte jetzt der Presi sein -- er sollte handeln -- sollte reden --
aber die Kraft versagt. -- Das Dorf ist totenstill -- er weiß nicht, was
draußen an der Glotter geschieht -- wie Binia ihr Ziel erreicht. -- Die
Furcht lähmt ihn und kein Mensch kümmert sich um ihn.

Doch, die bebende Vroni steckt den Kopf herein und harrt den langen Tag
als Samariterin bei ihm aus.

Sie kommen so furchtbar lange nicht, die den toten Thöni bringen.
Mittag. -- Abend. -- Da naht endlich der traurige Zug, in dessen Mitte
die Leiche auf einer Bahre liegt.

Die Männer des Gebirges haben die Hüte gezogen, finster und gemessen
schreiten sie und reden nichts.

Noch einmal ist ihr furchtbarer Entschluß, den sie nur im höchsten
Taumel des Schreckens faßten, erschüttert worden.

Denn der Garde hat geredet, er hat allen, die sehen wollten, den
falschen, entsetzlichen Brief Thönis gezeigt, und das Mitleid mit dem,
der in der Glotter lag, ist dahin. -- Hätte ihn Josi erschlagen, man
könnte nichts dawider haben.

Nein, sie können Binia nichts thun -- selbst das entstellte Gesicht
Thönis, den man unter unendlichen Mühen aus den Tiefen der Glotter
geholt hat, giebt ihnen den Mut nicht mehr.

Da ziehen die Sprengschüsse Josis lang hinhallend durch das Gebirge und
die Donnerschläge von den Weißen Brettern jagen die Furcht neu in die
vom Totenfund erregten Herzen, die wie unter dem Bann einer höheren
Fügung stehen. Morgen schlägt der Hammer -- morgen fallen die Lawinen
von der Krone -- morgen geht St. Peter unter.

Die Fäuste ballen sich, die Blicke steigen drohend gegen die Felsen
empor. »Der braucht wohl noch zu sprengen,« knirschen die Männer, »in
dieser Nacht muß doch noch das Gericht ergehen.«

Wohin mit der Leiche? -- Auf den Kirchhof. Die Bahre steht. Um sie
knieen im sinkenden Abend die Dörfler.

Von der Freitreppe des Bären schreitet im Sonntagsstaat würdig und
feierlich der Presi, der den schrecklichen Anfall vom Morgen überwunden
hat. Zitternd, doch hochaufgerichtet steigt er langsam zum Kirchhof
empor und scheu geben die Dörfler Raum.

Er zieht den Hut, tritt an die Bahre und nimmt die schneeweiße Hand des
Ertrunkenen. Ruhig spricht er, so daß es alle hören können: »Thöni
Grieg, du weißt es, daß ich dich erschlagen habe, daß Josi und Binia
unschuldig sind. -- Garde und Gemeinde, ich ergebe mich euch als der
Mörder Thöni Griegs!«

So spricht der Presi!

Was er erwartet, erfüllt sich aber nicht. Das Volk stürzt sich nicht auf
ihn, sondern stutzt in Verwirrung und Hohngelächter erschallt ringsum.
Die Rede des Garden und des Presi widersprechen sich. -- Der Garde
schluchzt laut auf: »O Presi, was habt Ihr gesagt!« Er fällt seinem
Freund an die Brust.

Ein unbeschreiblicher Aufruhr entsteht. Die Dörfler schreien: »Sie
spielen Komödie -- der Garde draußen, der Presi hier -- sie lügen --
Josi Blatter und Binia Waldisch sind die Mörder. -- Die Führer der
Gemeinde sind auch des Teufels und mit ihnen gegen uns verschworen.«

Zu diesem Aufruhr kommt von der Kirchenthüre herüber ein zweiter -- ein
entsetzliches Geschrei: »Wehe St. Peter -- wehe -- wehe -- wir sind
exkommuniziert.«

Ein Blitz, der in den Kirchhof gefahren wäre, hätte die Verwirrung nicht
vermehren können.

Wo am Morgen die Schrift des Kaplans hing, klebt eine andere. Der
Pfarrer{9} schreibt:

»An die räudige heidnische Rotte von St. Peter. Im Namen der heiligen
Kirche sind die Siegel an dieses Gotteshaus gelegt. Wer sie bricht, der
sei einem Selbstmörder gleich geachtet, wer am Strang der Glocke zieht,
den soll die Religion nicht lossprechen in seinem Sterben, und wer in
der heiligen Erde wühlt, soll selbst kein geweihtes Grab finden. Das
soll so lang gelten, als ihr nicht mit dem rechtmäßigen Pfarrer Frieden
macht und von dem Baalspfaffen Johannes und seinem Teufelsglauben laßt!«

Darunter steht das Pfarramtssiegel. -- Die Leiche Thöni Griegs ist über
dem Schrecken, den die neue Botschaft erregt, vergessen. Man sucht den
Pfarrer, man findet ihn nicht, in aller Heimlichkeit hat der alte
gekränkte Mann das Thal verlassen, einige, die an der Glotter standen,
haben ihn sogar gesehen.

Da liegt ein Toter, der begraben sein sollte, und übermorgen ist
Allerheiligen -- dann Allerseelen! Kirche und Kirchhof aber sind
gesperrt.

Nun rüttelt und schüttelt das Entsetzen ein ganzes Dorf.

»Die Regierung hat uns ins Elend geführt, unsere alten Vorsteher lügen
uns an, die Kirche giebt uns auf -- und alles kommt vom Rebellen und der
Hexe -- den Mördern. -- Gut, wenn man will, daß wir wilde Tiere werden,
so wollen wir wilde Tiere sein und uns unseres Lebens wehren -- der
Rebell und die Hexe müssen sterben.«

So rasen die von St. Peter.

Der Presi schwankt, wie er sieht, daß seine Selbstaufopferung nichts
hilft, davon -- die Dörfler beachten es im Aufruhr kaum -- der Garde
will reden -- aber ihm antwortet der hundertstimmige Ruf kreischender
Weiber und tobender Männer: »Wir wollen nichts mehr von euch -- ihr seid
alle Verräter.«

Die neblige Herbstnacht ist hereingesunken -- das Grauen wächst.

Da schwingt sich Kaplan Johannes mit einer qualmenden Kienfackel auf die
Bahre und beleuchtet das zerwaschene Gesicht des Toten; der Ruf läuft
durch die dunklen Gruppen: »Wir haben niemand mehr, der sich unser
erbarmt, als Johannes -- Kaplan, führt uns -- sagt uns, was sollen wir
thun?«

Der Schwarze lächelt höllisch: »Erschlagt die Teufelin und den Rebellen
-- sie ist bei ihm an den Weißen Brettern, ich öffne euch den Weg.«

Da ruft der alte greise Peter Thugi: »Ergebt euch nicht in die Gewalt
des Schwarzen -- ihr werdet es bereuen.«

Im gleichen Augenblick aber ertönt ein seltsames klirrendes Geräusch
durch den Kirchhof. Alle erschaudern. Wahnsinnige Weiber haben die
ersten Kreuze ausgerissen. Die Männer knirschen dumpf: »Jetzt können wir
nicht mehr zurück -- vorwärts also -- wir müssen Totschläger sein!«

Das vom Entsetzen gerüttelte Dorf rüstet sich zum schrecklichen Auszug
an die Weißen Bretter, die Grabkreuze klirren durch die Nacht. Hinter
Kaplan Johannes, der das Kreuz Seppi Blatters an sich gerissen hat und
den Weg mit seiner Kienfackel beleuchtet, zieht die heulende, betende
Schar, die sich der Hölle ergeben hat. Sie hat aber das Dorf kaum
verlassen, da röten sich die nächtlichen Nebel und schon rennen die
Ausziehenden schreiend zurück: »Es brennt in St. Peter. -- Feurio! --
Feurio!«

Die unbestimmt in die Nebel flutende, wogende, wachsende Glut reißt alle
ins Dorf zurück. -- »Vielleicht ist es unser Haus -- vielleicht ist es
unser Vieh, das verbrennt,« jammern sie; es scheint durch die
schwelenden Nebel, als stehe das ganze Dorf in Flammen.

Fluchend sieht es der Kaplan, wie seine Herde die Kreuze von sich wirft
und zu ihren Häusern rennt.

Wie die Erschrockenen aber zurückkommen, brennt der Bären, steigen die
Lohen schon prasselnd durch das Dach in die Nebel empor. Der Bären, das
alte schöne Haus, der Stolz von St. Peter, das Wahrzeichen des Dorfes,
brennt. Sie stehen erschüttert davor -- und ihre erste Eingebung ist:
retten -- helfen, -- das Gewissen für die bürgerliche Pflicht erwacht.

Wie aber einige zur Kirche hinauf eilen und die Sturmglocken ziehen
wollen, prallen sie wieder an die Siegel des Pfarrers. Es brennt und
man darf nicht läuten.

Die Verzweiflung packt das Dorf. -- Die Leiche Thöni Griegs, die noch
auf dem Kirchhof steht, steigert das Entsetzen. Das Brandlicht fliegt
über sie und giebt den Zügen einen Schein des Lebens. -- --

»Wer hat den Bären angezündet?« -- »Ein Voreiliger vom Ahorn!« So redet
ihnen das schlechte Gewissen ein. »Wo ist der Presi? Wenn er im Haus
verbrennte?« -- Einige Beherzte steigen in den Bau, er ist nicht darin.

Da predigt von der Kirchhofmauer herunter der schwarze Kaplan, der
schrecklich im Schein der Flammen steht, mit seiner hohlen Grabesstimme:
»Meine fromme Gemeinde. Dich rufen heiligere Pflichten -- wir müssen
Teufelstöter sein -- folgt ihr mir, so wird zu Allerheiligen ein
erlösendes Wunder für alle geschehen, die mit mir sind -- folgt ihr mir
nicht, so seid ihr um Mitternacht schon in der Gewalt des Feindes -- der
Presi ist auf dem besten Tier nach Hospel geritten und bietet die
äußeren Dörfer gegen uns auf. Er hat das Haus angezündet, um uns
aufzuhalten.«

Das erste glauben die Dörfler, das letzte nicht, denn zu sehr hat der
Presi sein schönes Heim geliebt.

Das Entsetzen steigt. -- Mord und Feuersbrunst in der Gemeinde -- und
morgen militärische Besetzung oder Untergang. -- Dazu den Zorn und die
Strafen der Kirche.

Der Brand, dem man nicht wehrt, wirft seine rauschenden Funkengarben auf
das Dorf, Frauen und Kinder flehen die Männer auf den Knieen an, daß sie
das Dorf retten, der Garde mahnt mit Thränen in den Augen zur Vernunft.

Endlich, endlich arbeitet die Feuerspritze, er kommandiert,
Wasserstrahlen fliegen auf die Kirche und die nächsten Häuser. Die Nacht
ist windstill, die riesige Lohe des Bären verfließt wie eine feurige
Wolke im Nebel, die gewaltigen Mauern halten stand, aber aus den
berstenden Fenstern zischen die Flammen und zerstören die alten
Jagdtrophäen am Dachgebälk und prasselnd fällt das graue Bärenhaupt auf
die Straße und zersplittert.

Aus dem Erdgeschoß ist einiges gerettet worden und nun schreit Bälzi:
»Der Wein! der Wein! Laßt uns doch den Wein holen!«

Er dringt mit einigen Burschen in den Keller, sie wälzen die Fässer auf
die Straße, und da man sich wegen der steigenden Hitze zurückziehen muß,
zum Kirchhof hinauf.

Die Flaschen, Krüge, Becher und Gläser kreisen.

»Wenn doch St. Peter untergehen muß,« gröhlen die Männer, »so wollen wir
noch trinken. Zum Wohl -- zum Wohl!«

Ein gräßliches Bild! Der Brand nimmt schon ab, die Gefahr für das Dorf
ist vorbei, der Bären ist ein riesiger glühender Ofen, auf dem Kirchhof
aber beraten die Trunkenen zwischen betenden Frauen und schreienden
Kindern, was sie jetzt anfangen wollen.

Einen Augenblick ist es, als siege die Vernunft, der Garde und noch
einige haben sich auf den Kaplan geworfen, haben ihn gefesselt und
wollten den Tobenden abführen.

Da fliegt eine Nachricht herbei, die den letzten Funken der Besinnung
löscht: »Wir sind verraten. -- Die wehrfähige Mannschaft der vorderen
Dörfer ist im Anzug -- sie sind schon an der Brücke -- sie helfen dem
Rebellen -- sie sind gegen die von St. Peter.«

Die Bestürzten bitten, drohen, sie kämpfen, sie machen den gebundenen
Kaplan Johannes mit Gewalt frei: »Er allein kann uns jetzt helfen!«
rufen sie. Er aber schreit, das Grabkreuz Seppi Blatters wieder
ergreifend: »Vertraut mir, ihr Frommen. -- Zu Allerheiligen erlöse ich
euch alle -- denn ich bin nicht Kaplan Johannes, wie ihr meint --
sondern ich bin St. Peter, euer Schutzpatron, ich richte unter euch
meine Kirche ein -- und wer in den Himmel kommen will, folgt mir!«

Der helle Wahnsinn steht in den Augen des Schrecklichen, der sein
Grabkreuz schwingt -- die Hälfte der Dörfler weicht über die
Gotteslästerung entsetzt von ihm zurück: »Wir haben uns einem Narren
ergeben!« stammeln sie.

Zwanzig, dreißig Frauen aber, die noch in Furcht und Entsetzen an ihn
glauben, scharen sich um ihn, eine Zahl Männer ahmen das Beispiel nach,
doch viele unter ihnen verhalten sich schweigsam und drohend: »Wir gehen
mit,« knurren sie finster, »denn nach allem, was sich ereignet hat,
können wir nicht mehr zurück, aber wenn er uns ins Unglück führt, ist er
der erste, der fallen muß.« -- --

Siegesgewiß lächelt der wahnsinnige Kaplan: »Kommt, kommt, ihr Getreuen
-- an den Weißen Brettern wird sich das Glück der Gemeinde erfüllen.«

»Auch Ihr, Peter Thugi?« -- Der Garde, der den Mut verloren hat, sagt es
traurig und vorwurfsvoll. --

»Garde,« erwidert der junge Mann, »wenn Josi oder Binia ein Härchen
gekrümmt wird, so kehre ich nicht zurück zu meinen Kleinen -- mich
schämt das Leben an, wenn er untergehen soll, der mich gerettet hat!«

Der Zug der Verzweiflung zieht, während es leise zu schneien beginnt, in
die Nacht.

Umsonst hat der Garde noch einmal geredet -- jetzt sitzt er still in
seiner Wohnung und weint über seine verirrte Gemeinde.

Vroni steht tröstend bei ihm, aber ihr ist todesangst um Binia. Die alte
Sage!

Eusebi kommt so lange mit der Hilfe nicht.

Da horch! Gleichmäßige, taktfeste Schritte von Männern schallen von der
Straße, die sich mit dem Flaum des fallenden Schnees bedeckt. In guter
Ordnung rückt die waffenfähige Mannschaft der äußeren Dörfer in St.
Peter ein, die Befehle tönen ruhig durch die Nacht, im Haus des Garden
atmet man auf aus grimmiger Not.

»Wo ist mein Mann, Eusebi Zuensteinen?« fragt Vroni die Ankommenden.

»Mit dem ersten Zug der Unsrigen ist er vor dem Dorf an die Weißen
Bretter empor geschwenkt. -- Josi Blatter darf nichts geschehen,«
antworten die Männer.

Draußen im Lande weiß man es: Das Werk Josi Blatters ist gut. Mit denen
von St. Peter aber, die man schon lange als harte, abergläubische Köpfe
kennt, muß man scharf rechnen, sie haben mit dem, was heute geschehen
ist, die Ehre des ganzen Berglandes beleidigt.

Daß Josi Blatter, der Held der heligen Wasser, ein Mörder sei, will
niemand glauben; daß die von St. Peter sich unter die Anführung des
verrückten Kaplans stellten, den man als einen gemeingefährlichen
Vagabunden kennt, daß sie nach dem Leben eines durch seine
Rechtschaffenheit und Schönheit bekannten Mädchens trachten, erfüllt die
Mannschaft mit solcher Wut, daß die Führer Mühe haben, sie von
unüberlegten Thaten gegen die Dörfler zurückzuhalten.

Morgen wird aber ja schon die gerichtliche Untersuchung walten, bis in
die Stadt ist man durch Eusebi und den Pfarrer über den Plan derer von
St. Peter unterrichtet und empört.

Wenn den zwei Liebenden ein Leid geschähe, wehe dann dem Dorf.

Nun aber sind die Männer enttäuscht -- in St. Peter brennen nur wenige
Lichter -- wo sie eintreten, treffen sie nur betende Frauen -- aber
keinen Mann, der Auskunft über die Ereignisse des Tages gäbe.

Endlich greifen sie einen auf -- den betrunkenen Bälzi, der in seinem
Rausch den schrecklichen Ahornbund verrät. Sie sperren den Gefesselten
in die Gemeindescheune.

Da bringen einige von jenen, die mit Eusebi an die Weißen Bretter
emporgestiegen sind, auf einer Notbahre von Tannenreisern einen Mann.
Die erste falsche Nachricht sagt, es sei Josi Blatter, der erschlagen
worden sei, aber es ist der Presi, der machtlos röchelt.

»Wohin mit ihm?« fragen die Träger. -- »In mein Haus,« erwidert der
erschütterte Garde, und wie er in das Gesicht seines Freundes blickt, da
weiß er, daß er einen vor sich hat, der nicht mehr lange leben wird.

Auf dem Weg zu seinen Kindern ist der Presi hilflos zusammengesunken.

Da liegt er nun in der Kammer des Garden, aber er kann nicht sterben:
»Mein Traum,« stöhnt er, »mein entsetzlicher Traum -- dazu die alte
Sage, daß eine Jungfrau bluten muß, ehe St. Peter von der Wasserfron
erlöst ist. Garde, seht Ihr nicht -- meine arme Bini blutet.«

In schrecklichen Gesichtern lebt der Sterbende.

»Ich kann nicht selig werden, es sei denn, ich wisse meine Bini mit Josi
glücklich und daß er unschuldig ist. Nur kein Fluch von mir in ein
folgendes Geschlecht. -- Seppi Blatter -- Fränzi -- macht es mir nicht
zu streng.«

Der Garde hält die Hand des Bebenden, selbst ein unglücklicher Mann,
fühlt er verzehrendes Mitleid mit ihm und tröstet: »O Presi -- es leben
allerdings mächtige Wahrheiten in den alten Sagen, in Träumen wohnt
tiefer Sinn, aber glaubt, eine Vatertreue, wie die Eure, vermag die
verhängten Schicksale zu brechen. Es wird Euch vor Gott groß angesehen
sein, daß Ihr Euer Kind in dem Augenblick, wo Ihr seiner bedurftet,
dahin ziehen ließet, wo seine Sicherheit und sein Glück liegen, -- daß
Ihr die Folgen einer unglücklichen Stunde vor dem erregten Volk selber
tragen wolltet, -- daß Ihr Eure letzte Kraft dahin wandtet, wo Ihr
glaubtet, Eure Kinder hätten Eures Schutzes nötig. Presi, gebt die
Hoffnung nicht auf.«

So tröstet der treue Freund feierlich und unablässig und zitternd horcht
der Presi.

Der Garde, der es spürt, wie das Leben seines Freundes schwinden will,
sagt: »Ihr habt mehr gethan -- um sie zu retten, habt Ihr das Haus, das
Euch lieb war wie Euer Leben, in Brand gesteckt. Bekennt es nur!«

Aber der Sterbende verzerrt sein Gesicht und knirscht.

Mit tiefem Kummer sieht es der Garde: Sein Freund ist noch der alte
Presi. Er würde, wenn er seine Kinder nicht mehr sähe, mit einem
schrecklichen Geheimnis ins Grab steigen und auf St. Peter den Verdacht
der Brandstiftung ruhen lassen.

»Bekennt Ihr,« fragt der Garde, »wenn Josi und Binia unversehrt durch
diese Thüre treten?«

Da schluchzt der Presi, aber er schweigt.

»Josi und Binia sind unschuldig -- es kann ihnen nichts geschehen --
jetzt nicht und vor Gericht nicht -- ich werde mit ihnen kämpfen -- sie
müssen glücklich werden, die so viel gelitten haben!«

So mahnt und tröstet der Garde, und aus seiner vollen Brust strömt der
Glaube in die Brust des Presi über, ergebungs- und hoffnungsvoll
erwartet er, während seine Pulse schon schwächer und schwächer gehen,
die Botschaft von den Weißen Brettern.

Ehe er weiß, wie es sich an den heligen Wassern entschieden hat, kann er
nicht sterben.



XXI.


»Zu Josi!« Durch die letzten Bergastern, durch die öden herbstfalben
Weiden schwankt Binia langsam empor -- empor -- sie folgt, ohne daß sie
es weiß, dem Weg, den sie mit dem Vater gegangen ist. Oft steht sie
still, dann greift ihr Fuß, indem sie flüstert: »Zu Josi!« wieder
mechanisch aus. Dann blickt sie wieder zurück in die Nebel: »Vater --
Vater!« Die Kindesliebe zieht sie zurück. Doch sie geht wieder vorwärts.
Alle ihre Regungen sind aber fast nur Traum und die Stimmen sonniger
Vergangenheit reden lauter in ihr als die Gegenwart.

Zu viel hat sie gelitten und leidet sie noch. Da erreicht sie die
Stelle, wo die heligen Wasser vom Geröll auf die Weißen Bretter
übergehen. Ein seltsamer Gedanke kommt ihr: In ihrem Schutz kann mir und
Josi nichts geschehen! -- Aber die alte Sage -- sie bebt. Wird sie für
Josis Werk sterben müssen?

Sie wandelt durch den Felsengang, da glänzt tief im Hintergrund ein
Licht.

»Josi!« Er meißelt am Boden hingekniet und sieht sie nicht. »Josi!«
schreit sie.

Er fährt auf und läßt den Hammer fallen. »Bini!« Er umarmt sie. Im
flackernden Grubenlicht sieht er nicht, wie bleich sie ist.

»Bini -- dich hat in dieser Stunde Gott zu mir geführt. Engel -- du
kommst, um mein Werk zu segnen -- die Leitung vollendet sich. -- Schau!
-- Durch dieses Bohrloch blitzt von drüben schon der Tag.«

In seinem abgezehrten Gesicht sieht sie eine fast überirdische Freude,
sie schluchzt: »Josi, der Kaplan Johannes hat in der Glotter Thöni Grieg
gefunden -- mein Leben ist im Dorf verwirkt -- meine letzte Zuflucht
bist du.«

Sie legt ihre kleinen Hände in seine großen arbeitsharten und neigt ihr
Köpfchen auf seine Schulter und weint bitterlich.

Da küßt er sie auf den Scheitel: »Sei ruhig, liebes Bineli -- du weißt
es, ich habe Thöni Grieg nicht zu fürchten -- mit uns ist die Wahrheit
-- sei nicht so traurig; wie du einst zu mir, so sage ich heute zu dir:
Glaube, vertraue -- das Glück wird doch noch wahr.«

Er steht vor ihr im Vollgefühl des vollendeten Werkes. Und nun ertönt
ihr kleiner Schrei: »Josi, mein Held!«

Binia geht es wundersam -- Bei Josi, dem starken Manne, der ihr milde
zulächelt, sinkt alles Schwere, was sie erlebt hat, wie ein wüster
schwerer Traum von ihr. Ihr ist, an seiner Seite könnte sie einem ganzen
Schwarm von Feinden entgegengehen, und selbst wenn alle so gräßlich wie
Kaplan Johannes wären, würde ihr kein Leid geschehen.

Mit glänzenden Augen schaut sie Josi an.

»Hast du Mut, Bini?« lächelt er. »Zeige es mir. -- Ich wäre glücklich,
wenn du mit deiner lieben Hand die letzten Schüsse entzünden wolltest.
Das wäre mir ein größeres Fest, als wenn morgen die Regierung nach St.
Peter käme und mich unter Glockengeläute vom Berg holte. -- Wozu das? --
Für dich ist's ja gebaut und gethan! -- Weihe es, Binia!« -- --

Sein ermunternder Blick ruht auf ihr. Er schiebt die Patronen in die
Löcher und setzt die Zünder auf. »Hier und hier -- hier und hier -- da
und da.«

Demütig und mutig nimmt sie die Lunte und legt sie an die Zünder, die
leise zu summen beginnen.

»Zurück, so weit ich dich führe, und sei stark, Bini.«

Josi zählt. -- »Jetzt.« -- Es kracht. -- Ein Donnerwetter geht durch die
Felsen, als ob das ganze Gebirge stürzen müsse -- jauchzend reicht Josi
Binia die Hand: »Gott segne den neuen Lauf der heligen Wasser -- die
Blutfron ist gelöst!«

Ueber das Nebelmeer unter ihnen rollt der Hall und rollt zurück. -- Der
Rauch zieht an ihnen vorbei und durch das Thor herein, das sich geöffnet
hat, glänzt ein Schein des Abendrotes, das über Tremis steht.

Mit wuchtigen Hieben glättet Josi die Stelle. Doch nach einiger Zeit
sagt er zu dem Mädchen, das am Rand des Wassergrabens kauert und ihm
bewundernd zuschaut: »Für heute Feierabend -- Bini -- dir zu Ehren.«

Da wird sie wieder etwas ängstlich: »O, Josi! -- wir sollten fliehen. --
Wir sind selbst hier oben nicht sicher -- es ist mir, es geschehe
Schreckliches in St. Peter!«

Sie drängt sich schmeichelnd und Schutz suchend an den strahlenden Mann.

»Fliehen! -- Ich fürchte mich nicht vor denen von St. Peter. Und den
Vater verlassen wir nicht, Bini.«

»O mein Vater, -- mein armer Vater! -- Nein -- gelt, lieber Josi, wir
verlassen ihn nicht! -- Wir wollen wieder zu ihm niedersteigen,« fleht
sie.

»Sieh, Bini,« antwortet er tröstlich, »wir haben einen geraden Weg, den
müssen wir gehen: Bevor die Wasser laufen, scheiden wir nicht von den
Weißen Brettern -- bevor wir wissen, ob der Vater nicht doch mit uns
kommen will, gehen wir nicht von St. Peter -- und bevor ich mich nicht
vor dem Gericht von jedem Verdacht wegen Thöni Grieg gereinigt habe,
wirst du nicht mein Weib -- dann aber Glück zu, mein herzlieber, reiner
Tautropfen.«

Weich und demütig erwidert sie: »Dein Weg ist mein Weg, Josi!«

In weltferner Einsamkeit hoch über den Menschen halten sie Feierabend.
Ueber dem grauen Nebel der Tiefe, der wie ein See in die Berge gegossen
liegt, geht der Tag zur Rüste, sie sehen nicht und hören nicht, wie
unter ihnen in St. Peter der Aufruhr braust, sie sehen auch die Sterne
nicht, denn Schneewolken ziehen schwerer und schwerer über das Gebirg --
zwischen lauter Wolken sind sie mit ihrer Liebe allein.

Josi hat von lange her eine Felsennische heimelig eingerichtet, da
flackert jetzt ein Feuer, die Milch, die der pflichttreue Bonzi wie
sonst heraufgeschafft hat, siedet im Topf; auf einem Teppich, der über
eine Felsenbank gelegt ist, sitzt das Paar Wange an Wange und in der
stillen Felsenheimlichkeit vergißt es die armseligen Menschen, die sich
in den Qualen des Aberglaubens winden, und nichts bleibt ihnen bewußt
als ihre starke Liebe. Alle Stürme sind zur Stille gekommen, die Seelen
der Gehetzten ruhen in seligem Traum.

»Josi,« erbebt die Stimme Binias fein und weich, »eine alte Sage geht,
daß über der Befreiung St. Peters aus der Blutfron eine Jungfrau sterben
muß -- sie hat mir meinen Gang zu dir schwer gemacht -- aber jetzt ist
mir, es wäre mir leicht, das Leben für dich und dein Werk hinzugeben!«

Und in unendlicher Treue hangen ihre Augen an ihm.

»Rede nicht so --, Bini,« erwidert er sanft, »nein, wir wandern ins
Leben -- du und ich -- und wir wollen unserer Liebe im Frieden froh
werden und schaffen, bis es Abend ist!«

»Ins Leben!« wiederholt sie traumhaft.

Er streichelt ihr dunkles Haar, müde läßt sie das Köpfchen an seine
Brust sinken, lange Leiden fordern Auslösung, und sorglich bettet er die
in einen bleiernen Schlaf Versunkene in die Felsenecke. -- Das Feuerchen
flackert und beleuchtet zwei Friedliche. --

Etwas Sonderbares weckt Josi aus seinem halben Schlummer. Ihm fehlt in
der Morgenfrühe das leise Klingen der Glocke von St. Peter, und
plötzlich erinnert er sich, daß er es auch am Abend nicht gehört hat.
Nun wird er doch unruhig. Ist in St. Peter so Schlimmes geschehen, daß
der alte Pfarrer seine Drohung wahr gemacht hat?

Besorgt zündet er in das Gesicht der schlafenden Binia. Sie lächelt
innig im Traum und von ihren Lippen zittern die Worte: »Die Vögel, sie
fliegen über Land und Meer.«

»Schlafe, armes Kind, das so viel erduldet hat, schlafe -- das Rauschen
der Wasser, das Schlagen des Hammers mag dich wecken.« Er geht leise
davon, er schreitet sein Werk ab, im Schein der Lampe legt er da und
dort noch Hand an, er setzt am äußeren Ende der Leitung das kleine
zierliche Wasserrad ein, das den Merkhammer treiben soll.

Es schneit ruhig und feierlich, die Flocken fallen leis und weich ins
Morgengrauen und tiefe Stille waltet ringsum. Da ist ihm doch, er höre
Stimmen aus der Tiefe und klirrende Töne -- aber so unbestimmt, daß er
nicht klug daraus wird, was er hört.

Er wandert rasch, die ruhig schlafende Binia im Vorbeigehen betrachtend,
das ganze Werk zurück -- er lenkt den Auslaufkännel am Eingang der
Felsen vom Abgrund zurück und hinein in die neue Leitung.

Eilig strömen die Wasser.

Da horch! -- Stimmen schwellen im Schneegestöber -- eine Schar
Gestalten, die -- sonderbar genug -- Grabkreuze tragen -- Männer und
Weiber tauchen gespenstisch in den Flocken auf -- er erkennt den
schwarzen Kaplan -- er hört die hohe Stimme des Glottermüllers: »Wir
müssen sie totschlagen, ehe das Rad geht -- vorwärts!«

Josi stellt sich ruhig einige Schritte vor dem Eingang seines Werkes
auf, aber seine Hand langt in die Tasche und seine Augen funkeln.

Die Schar steht vor ihm.

»Halt -- oder ich sprenge euch alle samt und sonders in die Luft.«
Hochaufgerichtet, eine Dynamitpatrone in der erhobenen Hand, donnert er
es ihnen entgegen. -- Die Männer stutzen, aber Kaplan Johannes ruft:
»Die heiligen Kreuze sind stärker als das teuflische Salz!« -- Und er
will mit dem erhobenen schweren Grabkreuz in wahnsinniger Wut auf Josi
los.

Da geschieht etwas Entsetzliches.

Aus dem Felsengang stürzt Binia -- sie stürmt an Josi vorbei -- sie
läuft unter das erhobene Kreuz des Kaplans -- sie schreit flehentlich:
»Schlagt mich, Kaplan -- aber tötet meinen Josi nicht.«

Schon saust das Kreuz gegen das junge schöne Haupt hernieder und »Josi!«
schreit Binia in Todesnot.

Da sinkt der Kaplan selbst.

Er stöhnt unter den Fäusten Peter Thugis, der ihn im letzten Augenblick
niedergerissen hat.

Einige der verdutzten Männer machen Miene, dem Schwarzen zu helfen, aber
jetzt ist Josi neben der in die Kniee gesunkenen blassen Binia, er hält
in finsterer Entschlossenheit die Patrone hoch und sein funkelnder Blick
hat den Stein schon erspäht, an den er sie schleudern könnte.

»Die Waffen weg, oder ihr fliegt!« schreit er.

Ein furchtbarer Augenblick, ein Mann gegen einen Schwarm -- einzelne der
Gestalten tauchen, wie Gespenster verschwinden, in das Schneegestöber
zurück. -- Die schwarzen Kreuze und Scheiter fallen in den weißen,
reinen Schnee.

Nur der Glottermüller mit einem kleinen Häuflein steht noch, aber sie
wagen keine That.

Da horch -- der Hammer schlägt -- er schlägt rasch und rascher, laut und
lauter -- und rings im Gebirgskreis bleibt es still -- die Lawinen
fallen nicht -- es schneit nur leise und feierlich. -- Die letzten
Kreuze sinken -- aus der Tiefe tönt der Ruf: »Josi, wir kommen -- Josi,
halte aus -- die Hilfe ist da!« -- Es ist Eusebi, der ruft. -- Und durch
den Schnee blitzen schon Waffen und Wehr.

Wie Peter Thugi die erlösenden Zurufe hört, läßt seine Faust etwas von
dem sich windenden Kaplan. Der kann entfliehen und springt in gewaltigen
Sätzen bergwärts. Hinter ihm die letzten Kreuzträger.

Um Josi, der die halb ohnmächtige Binia im Arm hält, und Peter Thugi,
den Freund, steht die Entsatzmannschaft, und Eusebi Zuensteinen vergießt
die hellen Thränen der Freude, daß sein Schwager gerettet ist.

Josi dankt Peter auf den Knieen für die rettende That.

»Wer sollte es besser wissen, Josi,« erwidert Thugi, »was du für St.
Peter gethan hast, als ich.«

Andächtig horchen die hundert Männer dem Schlagen des Hammers und
schütteln Josi und Binia die Hand.

Ein sonderbarer Zug bewegt sich in dem fallenden Schnee thalwärts. -- In
der Mitte geht Josi, nicht wie ein Held, sondern wie ein Geschlagener --
er weiß es, er muß mit Binia an ein Sterbebett treten. Und Binia
schluchzt herzzerbrechend. Aber daß sie noch gehen kann, ist ein Wunder.

Wer ist der größere, Josi, der die Blutfron von St. Peter genommen hat,
oder der Presi, der Vater, der bis in den Tod für sein Kind gekämpft
hat?

Ja, ja, arme Bini, ruhige Jahre werden dir nun wohl thun, denn zuletzt
verliert auch der Stahl seine Biegsamkeit und bricht.

Sie sehen den verwüsteten Bären; Josi ist bereit, noch heute den
Gerichtsbeamten, die schon eingerückt sind, Rede und Antwort zu stehen.

Das Paar tritt in die Wohnung des Garden -- es sinkt an das Bett des
Presi.

Man hat ihm die Fenster öffnen müssen, damit er das Schlagen des neuen
Hammers an den Weißen Brettern hört. Seitdem ist er ruhig und nun
richtet er sich auf vom Lager. Er schluchzt -- die dünnen Thränen
fließen über seine abgehärmten Wangen. -- »Seppi Blatter -- Fränzi --
ihr habt mir's nicht zu streng gemacht. -- -- Und Josi, wenn du wegen
Thöni Grieg etwas auf dem Gewissen hast, -- so nehme ich es dir ab.«

Da antwortet Josi: »Nein, Vater, ich bin frei von Schuld. Thöni Grieg
ist zehn Schritt vor mir gestürzt.«

»Garde, ich habe den Bären angezündet,« spricht der Presi laut, dann
murmelt er: »Und St. Peter habe ich lieb gehabt. -- Seid glücklich --
Josi -- Bini.« Einen Blick unsäglicher Liebe noch wendet er auf das Paar
-- er sinkt zurück und der Todesengel schwebt durch das Haus.



XXII.


Ein Trauerspiel im Bergland. Was die von St. Peter gethan haben,
erscheint dem Bergvolke selbst, erscheint der Welt unbegreiflich. Das
Dorf wollte den schlagen, der ihm die größte Wohlthat erwiesen hat, den
es mit Ehren wie seinen Erlöser feiern sollte. Unbegreiflich? -- Als ob
der Wechselruf »Hosianna!« und »Kreuziget ihn!« nicht die Jahrhunderte
herab durch die Blätter der Geschichte jauchzte und klagte. Als ob es
nicht bis in die blühende Gegenwart hinein der Beispiele genug gäbe, wo
nicht nur ein kleines, weltfernes Dorf, sondern große mächtige,
gebildete Völker sich unter dem Druck eines Zwangsgedankens verwirren
und eine Weile den Weg der Vernunft nicht finden können. Als ob die
Gestalt des bösen Narren, des Kaplans Johannes, der hetzend die dunklen
Regungen der Volksseele mißbraucht, nicht überall auf der Lauer stehe,
um seinen Bettelsack aus der allgemeinen Verirrung zu füllen und seine
nächtliche Seele in den Bildern des Schreckens schwelgen zu lassen. --
--

In bebender Zerknirschung liegt St. Peter.

Jahrhunderte hat sein Völklein unter dem Donner der Lawinen friedlich
und still gelebt, Geschlecht um Geschlecht hat mannlich getragen, was
eine übermächtige Natur an Gefahren und blutenden Opfern über sein
Dasein verhängte. Im Schoß des stillen Lebens blühten innige Sitten und
Bräuche, die Wunderblume der Sage hielt ihre Kelche offen und atmete
ihre Düfte aus. Da führte ein Feuerkopf die Unruhe, die Hast einer neuen
Zeit in die Enge des Thales, in die Schmalheit der Volksanschauungen.
Die Dörfler sahen, was Eltern und Altvordern groß und heilig gegolten,
von einem Schwarm leichter Menschen, der kein Verständnis für ihr
eigenartiges Fühlen besaß, mißachtet, in den Stimmen der Lawinen hörten
die Geängstigten den Zorn des Himmels reden. Und siehe da -- die
Wunderblume der Sage vergiftete ihren Duft. In Fleisch und Knochen
schlich sich, von einem geheimnisvollen Narren vertragen, das Fieber des
Aberglaubens.

Die Stimmung ist vorbereitet. -- Da geschieht das Unfaßbare, daß einer
vom Dorf das Verhängnis lösen will, das wie Gottes Züchtigung darüber
schwebt -- da ereignet sich das Schreckliche, daß ein verborgener Mord,
so glaubt das Völklein, ans Tageslicht kommt -- eine tragische Folge der
Umstände schaltet alle Hemmungen der Vernunft aus.

So hat das Entsetzliche geschehen können! -- --

Zwei Abgesandte der Regierung sind da; der Hammer an der rettenden
Leitung schlägt, von einem Fest zur Einweihung des Werkes spricht
niemand.

Eine unheimliche Stille brütet über St. Peter. Mächtiger als die ernsten
Patrouillen, die das Dorf auf und ab schreiten, spricht es in die
Gewissen, daß das schöne alte Haus zum Bären in schwarzen Ruinen aus der
weißen feierlichen Schneelandschaft ragt. St. Peter ist ohne den Bären
nicht mehr St. Peter.

Wer hat die Flamme hineingeworfen? -- In der Gemeindescheune halten die
herbeigeeilten Gerichtsbehörden an einem Tisch die Verhöre, zu denen
ihnen der Verrat Bälzis die Unterlagen bietet. Mit finsteren, trotzigen
Mienen kommt Bauer um Bauer und antwortet auf die Fragen. Daß er Kreuze
aus dem Kirchhof ausgerissen hat, giebt jeder zu. Den Ahornbund aber
verrät keiner. Und keiner nennt den Brandstifter, die
Untersuchungsbeamten aber bestehen darauf, daß es irgend einer vom Bunde
sei, und halten den Verdacht auf den Presi für eine Ausflucht. Sie
fassen einen heißen Groll gegen das verstockte Dorf und drohen mit
langen Einquartierungen auf Kosten der Gemeinde.

Da tritt erschüttert der Garde herein: »Ich kann euch die Untersuchung
erleichtern. Keiner von denen, die ihr verhört habt, hat den Bären
angezündet. Das hat ein Vater für sein Kind gethan. Ich sage es euch im
Auftrage des Presi Peter Waldisch, der soeben gestorben ist.«

O, die da sitzen und die Not eines Dorfes schreiben, sie haben den Presi
schon gekannt, den gewaltthätigen Mann, der, die anderen alle um
Haupteslänge überragend, nie klein gewesen in seinem Zorn, aber auch so
groß in seiner Liebe, daß ihm die That wohl zuzutrauen ist.

Sie sprechen bewegt: »Immer war er der Presi -- sich selbst getreu bis
in den Tod -- in der Enge der Berge, wo der gewaltige Mann überall
anstieß, hat er werden müssen, wie er war -- in der Welt aber wäre er
nach Kopf und Herz ein Großer geworden -- denn Kernholz, aus dem das
Volk seine starken Führer schnitzt, war an ihm von der Sohle bis zum
Scheitel.«

Während sie noch flüsternd dem toten Presi ihr Kränzlein winden, tritt
Josi Blatter an den Tisch und wünscht wegen Thöni Grieg verhört zu
werden. Ruhig und fest erzählt er den Hergang im Teufelsgarten, ruhig
und fest antwortet er auf die Kreuz- und Querfragen, die Gesichter der
Untersuchenden, die zuerst wohlwollend auf den Helden der heligen Wasser
blickten, werden ernst. Die Darstellung klingt unglaubwürdig.

»Ihr besteht darauf, daß es nicht Totschlag in Notwehr war?«

»Ich bestehe darauf.«

»Ihr habt das Werk an den Weißen Brettern nicht zur Sühne gebaut?«

»Nein, meiner Braut Binia Waldisch zu Ehren.«

»Ihr verzichtet auf die altgebräuchliche Rechtswohlthat, die seit
Matthys Jul denen zugebilligt wird, die für die heligen Wasser an die
Weißen Bretter steigen?«

»Ich verzichte!«

Josi steht -- es geht nicht anders -- unter der Anklage, in Notwehr
Thöni Grieg erschlagen zu haben -- aber wenigstens so hart sind die
Männer des Gerichtes nicht, daß sie ihm eine Haft auferlegen. Sein
Ehrenwort, sich der Untersuchung immer zur Verfügung zu halten, genügt.

Kaplan Johannes ist nicht zurückgekehrt. Von seinen eigenen Anhängern
zuletzt in die Enge getrieben, hat er sich auf die Felsen geflüchtet,
die vom Neuschnee schlüpfrig waren, er ist gestürzt und erst im Frühjahr
hat man seinen zerschmetterten Leichnam in einem Abgrund gefunden.

Während der Untersuchung über die Vorfälle in St. Peter, die mehrere
Tage in Anspruch nimmt, ist der alte Pfarrer zurückgekommen und hat
seine Siegel von der Kirche genommen. St. Peter kann seine Toten
begraben, heute in aller Stille Thöni Grieg, morgen in herzlicher Trauer
den Presi, der den Dörflern nie bewunderungswürdiger schien als in
seinem Tod. Man hat die Kreuze und Scheiter des Kirchhofs gesammelt und
wieder in die Gräber gesteckt. Der Pfarrer hat sie neu geweiht, und wie
nun die Glocken zum Begräbnis des Presi wieder erklingen, da geht ein
aufschluchzendes Weinen der Zerknirschung, doch auch neue Lebenshoffnung
durch das Dorf.

Am Schluß der Grabpredigt sagt der alte Pfarrer: »Ich weiß, daß auch ich
schuldig bin und euch nicht hätte verlassen sollen, und vor den Behörden
der Kirche will ich für euch um ein gnädiges Urteil bitten. Ich lasse
euch als Vermächtnis meiner Amtsthätigkeit, die ich niederlege, die
Schlüssel zum Gotteshaus und den Glocken zurück. Hoffentlich für ewig.
-- Eine junge starke Kraft möge euch besser führen, als es mir altem
kraftlosen Manne gelungen ist!« -- --

Langsam schreitet der Prozeß, es ist, als könne sich das arme Dorf nicht
mehr erheben aus seiner Schande, als müsse es daran zu Grunde gehen.

Wie aber vor dem Volk des Berglandes die Gestalten Josi Blatters und
Thöni Griegs durch die Untersuchung in immer schärferen Umrissen
erscheinen, wie der gefälschte Brief Thönis bekannt wird, wie man den
Leidensgang und die hohe Treue der Liebenden erfährt, da fliegen ihnen
alle Herzen zu, der gerechte Sinn des Volkes erwacht. »Selbst wenn er
eine That des Zornes begangen hätte,« spricht das Volk, »müßte er
freigesprochen werden, sie wäre Gottes Gericht über den Schuft.«

Es ist aber keine That des Zornes geschehen. -- Und für Josi und Binia
spricht mit glühendem Feuer der Garde, der Ehrenmann des Dorfes, der in
aller Verwirrung wie ein Fels des Rechtes dagestanden ist.

Tausend Umstände zeugen für das Paar.

Im Winter noch steigt Josi ein paarmal zu seinem Werk empor, prüft es,
vollendet noch da und dort etwas -- sobald er aber das gerichtliche
Verfahren hinter sich hat, will er mit Binia über das Meer ziehen und in
einem fernen Erdenwinkel Glück und Vergessen suchen.

Eines Tages aber erhält er den Besuch seines Freundes Felix Indergand.
Der spricht nicht mehr von Beate, dagegen redet er Josi herzlich zu:
»Ziehe nicht fort, Josi! -- Siehe, wer zwischen den Bergen geboren ist,
findet nur zwischen den Bergen das volle Lebensglück. Wir beide haben es
erfahren, wie öde und leer das Herz in der Fremde bleibt, das deckt alle
Liebe nicht zu. Thue es deiner herrlichen Braut nicht an, das Bergkind
würde in der Ferne rasch welken. Komm, wenn du doch nicht zu St. Peter
bleiben magst, zu uns ins grüne Oberland, ich will ein Gütchen für dich
erhandeln. Dort lebe in meiner Nähe und sei glücklich mit deinem Weib.«

Josi geht die warme Rede seines Freundes zu Herzen -- er willigt ein.

Endlich, wie schon die ersten Frühlingsblumen blühen, ist der
Gerichtstag für ihn und die von St. Peter da, das Landvolk ist wie an
einem Markttag auf der Fahrt in die Stadt.

Die Tribünen des Gerichtssaales sind gefüllt und zweimal entsteht eine
mächtige Bewegung unter den Zuschauern.

Das erste Mal, wie eine hoheitsvolle jugendliche Gestalt in tiefer
Trauer als Zeugin vor die Schranken tritt. Manchmal, wenn ihre Liebe zu
Josi vor der Menge zur Sprache kommt, erbebt sie, Blutwelle um Blutwelle
geht über das feine Gesicht und hilflos fragt sie: »Ja, muß ich das auch
sagen?« Auf manche harmlose Fragen antwortet sie in so heißer Scham,
dann mit einem blitzenden Wahrheitsmut, daß die Schauer der
Ergriffenheit durch den Zuschauerraum gehen.

»Der Garde von St. Peter hat recht,« flüstert sich die Menge zu, »Binia
Waldisch kann keine Unwahrheit sagen!«

Und dann, wie ein eben eingetroffener Brief aus Indien zur Verlesung
kommt:

»Josi Blatter, über den Sie mich gerichtlich anfragen, hat sich in fünf
Jahren als ein Mann ohne das geringste Falsch bewährt. Er ist so fest
und treu wie Ihre Berge, und die wanken nicht. Sie würden eine Schmach
auf Ihr Land laden, wenn Sie ihm nicht vollen Glauben schenken und einen
Makel auf ihm ruhen ließen. George Lemmy, Oberingenieur der britischen
Regierung in Indien.«

Ein Stündchen später ist der volle Freispruch da.

Ein kleiner, schluchzender Schrei bebt durch den Saal: »Josi, mein
Held,« und Hunderte schluchzen mit und ein Jubelruf pflanzt sich fort
durch die Straßen der Stadt.

»So geht ihr nun ins Oberland, ihr Vielgeprüften!« sagt der Garde, der
mit Vroni und Eusebi dem Paar die Hände reicht, »wenn zwei glücklich
werden können auf dieser wandelbaren Erde -- so seid ihr es, ihr heißen
Herzen von unwandelbarer Treue.« --

Auch St. Peter hat keinen bösen Tag.

Die Richter wissen, daß es jetzt nicht gilt, das arme, verirrte, von
einem Wahnsinnigen verführte Dorf, für das der alte ehrwürdige Garde mit
Thränen in den Augen bittet, noch tiefer in Unglück und Schande zu
drücken, sondern zu beruhigen und zu versöhnen, sie legen leichte
Strafen auf die Grabschänder, und willig tragen die Dörfler das
verhängte Maß. -- --

Wie ein reinigendes Gewitter haben der »böse Tag« und seine Folgen auf
die von St. Peter gewirkt. Ein Jahrhundert ruhiger Entwickelung hätte
die Sinnesart des Völkleins nicht so geändert und geweckt wie der Sturm.

Und sonderbar, wie sich das Urteil über den toten Presi gewendet hat.
Seinen einst so verhaßten Namen nennt man in St. Peter in glühender
Ehrfurcht. Vor dem frommen Glauben der Bergleute hat nicht Peter Thugi,
der jüngere, im letzten Augenblick den Schlag des Kaplans vom Haupt
Binias gewandt. Nein, aus dem alten Fluch, daß eine Jungfrau über der
Befreiung St. Peters von der Wasserfron an den Weißen Brettern sterben
müsse, hat sie die Aufopferung des Presi gerettet; indem er selber in
den Tod ging, schützte er das Leben seines Kindes und bewahrte das Dorf
vor noch entsetzlicherem Unglück.

Als ein Held erlösender Vatertreue steht er im Gedächtnis des
Berglandes.

Sogar sein Werk, die Einführung des Fremdenverkehrs in das Thal, ist
nicht untergegangen. Ein Jahr stand der Bären als eine Ruine da. Dann
kam denen von St. Peter die Ruine und die Ruhe der Sommer, die man so
geliebt hatte, wie eine Anklage vor. Die Gemeinde wünschte, daß das Haus
von einem tüchtigen Wirt wieder aufgebaut würde. Die Fremden falterten
darauf wie einst durch das Glotterthal und die Bevölkerung hat nichts
wider sie einzuwenden.

Von den alten Sagen spricht niemand mehr gern, wie man die schönen einst
geliebt hat, verabscheut man sie.

In einem Thal des Oberlandes aber lebt ein junges Ehepaar in halber
Verborgenheit und tiefem Frieden.

Nach einigen Jahren indes findet doch ein kleiner Zug von Männern, an
ihrer Spitze Hans Zuensteinen, der alte Garde, und der jüngere Thugi,
der neue Garde, den Weg in den Winkel des Glücks.

Die Männer drehen vor Josi Blatter und seiner schönen jungen Frau
verlegen die Hüte und der alte Garde spricht: »Josi Blatter, es ist
vieles anders geworden in unserem Dorf, aber den rechten Frieden und die
rechte Freudigkeit haben wir noch nicht. Es ist uns, St. Peter sei noch
nicht ganz aufgerichtet, so lange du und Binia uns fehlen. Wir wissen,
daß dein Werk gut ist, die Gemeinde will dich in Ehren halten und zum
Zeichen haben dich gestern die hundertzwanzig Bürger von St. Peter
einstimmig zu ihrem Presi gewählt. Denn ich bin alt und den Aemtern
nicht mehr gewachsen. Wir brauchen einen starken, aufrechten Mann. Josi,
versage uns die Freude und Ehre nicht!«

Die anderen bestätigen die warme Rede: »So ist es, wir bitten dich.«

Josi will antworten, aber er kann nicht -- er geht zur Thüre hinaus --
in einer stillen Ecke schluchzt er: »Hört ihr es, Vater -- Mutter --
ich, euer verachteter Bub, Presi von St. Peter.« -- Wie er sich aber
gefaßt hat und den Männern sein »Nein« entgegenbringen will, da fällt
ihm Binia um den Hals: »Josi, ja, wir wollen nach St. Peter
zurückkehren, dessen Kinder wir sind und wo die Gräber der Eltern
liegen. Ich stelle mich zu den Männern.«

Mit einem Jawort ziehen sie.

In St. Peter waltet Josi Blatter seit vielen Jahren als Presi in Stärke
und Weisheit. Das Dorf hat sich vollends aus seiner Schande erhoben, es
blüht unter seiner Führung und unter dem Segen des guten Beispiels, das
die feine Binia den Frauen von St. Peter giebt.

Die Blutfron an den Weißen Brettern, der Lostag, die Schreckensarbeit
des Kännellegens tönt einem jungen Geschlecht wie eine Sage ins Ohr und
langsam verrosten in der Kapelle zur Lieben Frau die Unglückstafeln. Das
Werk Josis hat sich bewährt. Die Wildleutlaue mag donnernd gehen, die
heligen Wasser fließen, sie rauschen und spenden Segen.



Druck der
Union Deutsche Verlagsgesellschaft
in Stuttgart



Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger
Stuttgart und Berlin


Geh. = Geheftet, Lnbd. = Leinenband, Ledbd. = Lederband, Hlbfrzbd. =
Halbfranzband

_Althof, Paul_ (Alice Gurschner), Die wunderbare Brücke und andere
        Geschichten                          Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
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_Andreas-Salomé, Lou_, Fenitschka -- Eine Ausschweifung.
        Zwei Erzählungen                     Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
--"-- Ma. Ein Porträt. 4. Aufl.              Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
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--"-- Aus fremder Seele. 2. Aufl.            Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--
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_Anzengruber, Ludwig_, Letzte Dorfgänge.
        2. Aufl.                             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Wolken und Sunn'schein. 5. Aufl.       Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
_Arminius, W._, Der Weg zur Erkenntnis. Roman
                                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
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        10. u. 11. Aufl.                     Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
_Böhlau, Helene_, Salin Kaliske. Novellen.
        2. Aufl.                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Boy-Ed, Ida_, Die säende Hand. Roman.
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_Dove, A._, Caracosa. Roman. 2 Bände.
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_Ebner-Eschenbach, Marie v._, Bo[vz]ena. Erzähl.
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_Franzos, K. E._, Der Gott des alten Doktors.
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_Fulda, L._, Lebensfragmente. Novellen.
        3. Aufl.                             Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--
_Gleichen-Rußwurm, A. v._, Vergeltung. Roman
                                             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
_Grasberger, H._, Aus der ewigen Stadt. Novellen
                                             Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.20
_Grimm, Herman_, Unüberwindliche Mächte. Roman. 2 Bände.
        3. Aufl.                      Geh. M. 8.--, in 2 Lnbdn. M. 10.--
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_Grisebach, Ed._, Kin-ku-ki-kuan. Chines. Novellenbuch
                                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Haushofer, Max_, Geschichten zwischen Diesseits und Jenseits.
        Ein moderner Totentanz. 2. Aufl.     Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
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_Heer, J. C._, Joggeli. Geschichte e. Jugend.
        16. u. 17. Aufl.                     Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Der König der Bernina. Roman.
        51.-55. Aufl.                        Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Der König der Bernina. Roman.
        50. (Jubil.-) Aufl. Mit Porträt      Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Laubgewind. Roman. 33.-36. Aufl.       Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Felix Notvest. Roman. 17.-20. Aufl.    Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
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        51.-54. Aufl.                        Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
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_Herzog, Rudolf_, Der Abenteurer. Roman. Mit Porträt.
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        2.-4. Aufl.                          Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Himmlische u. irdische Liebe u. a. Novellen.
        2. Aufl.                             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
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--"-- Marthas Briefe an Maria. 2. Aufl.      Geh. M. 1.--, Lnbd. M. 2.--
--"-- Melusine und andere Novellen. 5. Aufl. Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Menschen und Schicksale. Charakterbilder.
        2.-4. Aufl.                          Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Merlin. Roman. 6. u. 7. Aufl.          Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
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        5. u. 6. Aufl.                       Geh. M. 2.40, Lnbd. M. 3.40
--"-- Moralische Unmöglichkeiten u. a. Nov.
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        3. Aufl.                             Geh. M. 5.--, Lnbd. M. 6.--
--"-- Vroni und andere Novellen              Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Weihnachtsgeschichten. 4. Aufl.        Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Unvergeßbare Worte u. a. Novellen.
        5. Aufl.                             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Xaverl und andere Novellen             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
_Hillern, Wilhelmine v._, Der Gewaltigste.
        4. Aufl.                             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- 's Reis am Weg. 3. Aufl.               Geh. M. 1.50, Lnbd. M. 2.50
--"-- Ein Sklave der Freiheit. Roman.
        3. Aufl.                             Geh. M. 5.--, Lnbd. M. 6.--
--"-- Ein alter Streit. Roman. 3. Aufl.      Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Hobrecht, Max_, Von der Ostgrenze. Drei Nov.
                                             Geh. M. 5.--, Lnbd. M. 6.20
_Höcker, Paul Oskar_, Väterchen. Roman       Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Hofe, Ernst v._, Sehnsucht. Roman           Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Hoffmann, Hans_, Bozener Märchen. 2. Aufl.                Lnbd. M. 3.50
--"-- Ostseemärchen. 2. Aufl.                              Lnbd. M. 4.--
_Holm, Adolf_, Holsteinische Gewächse        Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--
--"-- Köst und Kinnerbeer. Und sowat mehr. Zwei Erzählungen
                                                           Lnbd. M. 2.40
_Hopfen, Hans_, Der letzte Hieb. 5. Aufl.    Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
_Huch, Ricarda_, Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren. Roman.
        9. u. 10. Aufl.                      Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
Jugenderinnerungen eines alten Mannes, s. _Kügelgen_
_Junghans, Sophie_, Schwertlilie. Roman.
        2. Aufl.                             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
_Kaiser, Isabelle_, Seine Majestät! Novellen Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
--"-- Wenn die Sonne untergeht. Novellen.
        3. Aufl.                             Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
_Keller, Gottfried_, Der grüne Heinrich. Roman. 3 Bände.
        56.-60. Aufl.   Geh. M. 9.--, Lnbd. M. 11.40, Hlbfrzbd. M. 15.--
--"-- Martin Salander. Roman.
        39-43. Aufl.      Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 3.80, Hlbfrzbd. M. 5.--
--"-- Die Leute von Seldwyla. 2 Bände.
        64.-68. Aufl.    Geh. M. 6.--, Lnbd. M. 7.60, Hlbfrzbd. M. 10.--
--"-- Züricher Novellen.
        58.-62. Aufl.     Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 3.80, Hlbfrzbd. M. 5.--
--"-- Das Sinngedicht. Novellen. Sieben Legenden.
        50.-54. Aufl.     Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 3.80, Hlbfrzbd. M. 5.--
--"-- Sieben Legenden. Miniatur-Ausg.
        7. Aufl.                             Geh. M. 2.30, Lnbd. M. 3.--
--"-- Romeo und Julia auf dem Dorfe. Erzählung. Miniatur-Ausg.
        7. Aufl.                             Geh. M. 2.30, Lnbd. M. 3.--
_Kossak, Marg._, Krone des Lebens. Nord. Novellen
                                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Kügelgen, Wilhelm v._, Jugenderinnerungen eines alten Mannes.
        Original-Ausg. 25. Aufl.             Geh. M. 1.80, Lnbd. M. 2.40
_Kurz, Isolde_, Unsere Carlotta. Erzählung   Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--
--"-- Italienische Erzählungen                             Lnbd. M. 5.50
--"-- Frutti di Mare. Zwei Erzählungen       Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--
--"-- Genesung. Sein Todfeind. Gedankenschuld. Drei Erzählungen
                                             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Lebensfluten. Novellen. 2. Aufl.       Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Florentiner Novellen. 4. u. 5. Aufl.   Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Phantasieen und Märchen                              Lnbd. M. 3.--
--"-- Die Stadt des Lebens. Schilderungen aus der florentinischen
        Renaissance. 5. u. 6. Aufl.
        Mit 16 Abbildungen                   Geh. M. 5.--, Lnbd. M. 6.50
_Laistner, Ludwig_, Novellen aus alter Zeit  Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
_Langmann, Philipp_, Realistische Erzählungen
                                             Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--
--"-- Leben und Musik. Roman                 Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Ein junger Mann von 1895 u. and. Novellen
                                             Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--
--"-- Verflogene Rufe. Novellen              Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
_Lilienfein, Heinrich_, Ideale des Teufels. Eine boshafte Kulturfahrt
                                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Lindau, Paul_, Die blaue Laterne. Berliner Roman. 2 Bände.
        5. u. 6. Aufl.                  Geh. M. 6.--, in 1 Lnbd. M. 7.50
--"-- Arme Mädchen. Roman. 10. Aufl.         Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Spitzen. Roman. 9. u. 10. Aufl.        Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Der Zug nach dem Westen. Roman.
        11. Aufl.                            Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
_Mauthner, Fritz_, Hypatia. Roman. 2. Aufl.  Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Aus dem Märchenbuch der Wahrheit. Fabeln und Gedichte in Prosa.
        2. Aufl. von »_Lügenohr_«            Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Meyer-Förster, Wilh._, Eldena. Roman.
        2. Aufl.                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Meyerhof-Hildeck, Leonie_, Das Ewig-Lebendige. Roman.
        2. Aufl.                             Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
--"-- Töchter der Zeit. Münchner Roman       Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Muellenbach, E._ (Lenbach), Abseits. Erzählungen
                                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Aphrodite und andere Novellen          Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Vom heißen Stein. Roman                Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Niessen-Deiters, Leonore_, Leute mit und ohne Frack. Erzählungen und
        Skizzen.
        Buchschmuck von _Hans Deiters_       Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Im Liebesfalle. Buchschmuck von _Hans Deiters_
                                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Mitmenschen. Buchschmuck von _Hans Deiters_
                                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Olfers, Marie v._, Neue Novellen            Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Die Vernunftheirat und andere Novellen Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Pantenius, Th. H._, Kurländische Geschichten.
        2. Tsd.                              Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Petri, Julius_, Pater peccavi! Roman        Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_du Prel, Karl_, Das Kreuz am Ferner.
        3. Aufl.                             Geh. M. 5.--, Lnbd. M. 6.--
_Proelß, Joh._, Bilderstürmer! Roman.
        2. Aufl.                             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
_Raberti, Rubert_, Immaculata. Roman. 2 Bde.
                                      Geh. M. 8.--, in 2 Lnbdn. M. 10.--
_Redwitz, O. v._, Haus Wartenberg. Roman.
        7. Aufl.                             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Hymen. Ein Roman. 5. Aufl.             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
_Riehl, W. H._, Aus der Ecke. Novellen.
        5. Aufl.                             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Am Feierabend. Sechs Novellen.
        4. Aufl.                             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Geschichten aus alter Zeit. 1. Reihe.
        3. Aufl.                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Geschichten aus alter Zeit. 2. Reihe.
        3. Aufl.                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Lebensrätsel. Fünf Novellen. 4. Aufl.  Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Ein ganzer Mann. Roman. 4. Aufl.       Geh. M. 6.--, Lnbd. M. 7.--
--"-- Kulturgeschichtliche Novellen.
        6. Aufl.                             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Neues Novellenbuch.
        3. Aufl. (6. Abdruck)                Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
_Roquette, Otto_, Das Buchstabierbuch der Leidenschaft. Roman. 2 Bände
                                        Geh. M. 4.--, in 1 Lnbd. M. 5.--
_Saitschick, R._, Aus der Tiefe. Ein Lebensbuch
                                             Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--
_Seidel, Heinrich_, Leberecht Hühnchen. Gesamtausgabe.
        7. Aufl. (36.-40. Tsd.)              Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Vorstadtgeschichten. Gesamtausgabe. 1. Reihe.
        2. Aufl. (4. u. 5. Tsd.)             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Vorstadtgeschichten. Gesamtausgabe. 2. Reihe
                                             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Heimatgeschichten. Gesamtausgabe. 1. Reihe.
        2. Aufl. (3. Tsd.)                   Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Heimatgeschichten. Gesamtausgabe. 2. Reihe
                                             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Phantasiestücke. Gesamtausgabe         Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Von Perlin nach Berlin. Aus meinem Leben. Gesamtausgabe
                                             Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Reinhard Flemmings Abenteuer zu Wasser und zu Lande. 3 Bände.
        9. Tsd.                        Geh. je M. 3.--, Lnbd. je M. 4.--
--"-- Wintermärchen. 2 Bände. 4. Tsd.  Geh. je M. 3.--, Lnbd. je M. 4.--
--"-- Ludolf Marcipanis und anderes. Aus dem Nachlasse herausg.
        von _H. W. Seidel_. 2. Tsd.          Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Skowronnek, R._, Der Bruchhof. Roman.
        3. Aufl.                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Stegemann, Hermann_, Der Gebieter. Roman    Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
--"-- Stille Wasser. Roman                   Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Stratz, Rudolph_, Alt-Heidelberg, du Feine ... Roman einer Studentin.
        9. u. 10. Aufl.                      Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Buch der Liebe. Sechs Novellen.
        3. Aufl.                             Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
--"-- Die ewige Burg. Roman. 5. Aufl.        Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Für Dich. Roman. 16.-20. Aufl.         Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Ich harr' des Glücks. Novellen.
        4. Aufl.                             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Gib mir die Hand. Roman. 6.-9. Aufl.   Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Herzblut. Roman. 13.-15. Aufl.         Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Der du von dem Himmel bist. Roman.
        6. u. 7. Aufl.                       Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Die törichte Jungfrau. Roman. 5. Aufl. Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Der arme Konrad. Roman. 4. Aufl.       Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Montblanc. Roman. 6. u. 7. Aufl.       Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Du bist die Ruh'. Roman. 6.-8. Aufl.   Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Der weiße Tod. Roman aus der Gletscherwelt.
        16.-18. Aufl.                        Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Es war ein Traum. Berl. Novellen.
        5. Aufl.                             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Die letzte Wahl. Roman. 4. Aufl.       Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
_Sudermann, Hermann_, Es war. Roman.
        47.-49. Aufl.     Geh. M. 5.--, Lnbd. M. 6.--, Hlbfrzbd. M. 6.50
--"-- Geschwister. Zwei Novellen.
        30.-34. Aufl.     Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50, Hlbfrzbd. M. 5.--
--"-- Jolanthes Hochzeit. Erzählung.
        28.-30. Aufl.     Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--, Hlbfrzbd. M. 3.50
--"-- Der Katzensteg. Rom.
        76.-80. Aufl.     Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50, Hlbfrzbd. M. 5.--
--"-- Das Hohe Lied. Rom.
        51.-55. Aufl.     Geh. M. 5.--, Lnbd. M. 6.--, Hlbfrzbd. M. 7.--
--"-- Frau Sorge. Roman. 116.-125. Aufl. Mit Jugendbildnis
                          Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50, Hlbfrzbd. M. 5.--
--"-- Frau Sorge. Roman. 100. (Jubil.-) Aufl. Mit Porträt.
        Buchschmuck von _J. B. Eissarz_      Geh. M. 5.--, Lnbd. M. 6.--
--"-- Im Zwielicht. Zwanglose Geschichten.
        33. u. 34. Aufl.  Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--, Hlbfrzbd. M. 3.50
_Telmann, Konrad_, Trinacria                 Geb. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
_Trojan, Johannes_, Das Wustrower Königsschießen u. a. Humoresken.
        2. u. 3. verm. Aufl.                 Geh. M. 2.--, Lnbd. M. 3.--
_Voß, Richard_, Alpentragödie. Roman aus dem Engadin.
        5. u. 6. Aufl.                       Geh. M. 4.50, Lnbd. M. 5.50
--"-- Römische Dorfgeschichten. 4. Aufl.     Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Du mein Italien! Aus meinem römischen Leben.
        2. u. 3. Aufl.                       Geh. M. 4.50, Lnbd. M. 5.50
--"-- Richards Junge (Der Schönheitssucher). Roman.
        3. Aufl.                             Geh. M. 5.--, Lnbd. M. 6.--
_Widmann, J. V._, Touristennovellen          Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
_Wilbrandt, Adolf_, Adams Söhne. Roman.
        3. Aufl.                             Geh. M. 4.50, Lnbd. M. 5.50
--"-- Das lebende Bild u. a. Geschichten.
        3. Aufl.                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Dämonen u. andere Geschichten.
        3. u. 4. Aufl.                       Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Der Dornenweg. Roman. 4. Aufl.         Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Erika. Das Kind. Erzählungen. 3. Aufl. Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Fesseln. Roman. 3. Aufl.               Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Feuerblumen. Roman. 3. Aufl.           Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Franz. Roman. 3. Aufl.                 Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Die glückliche Frau. Roman. 4. Aufl.   Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Fridolins heimliche Ehe. 4. Aufl.      Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
--"-- Schleichendes Gift. Roman. 3. Aufl.    Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Hermann Ifinger. Roman. 6. Aufl.       Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Irma. Roman. 3. Aufl.                  Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Hildegard Mahlmann. Roman. 4. Aufl.    Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Ein Mecklenburger. Roman. 3. Aufl.     Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Meister Amor. Roman. 3. Aufl.          Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Novellen                               Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- %Opus 23% u. andere Geschichten.
        1. u. 2. Aufl.                       Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Die Osterinsel. Roman. 5. Aufl.        Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Vater Robinson. Roman. 3. Aufl.        Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Familie Roland. Roman. 3. Aufl.        Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Die Rothenburger. Roman. 8. Aufl.      Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Der Sänger. Roman. 4. Aufl.            Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Die Schwestern. Roman. 2. u. 3. Aufl.  Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Sommerfäden. Roman. 2. u. 3. Aufl.     Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Am Strom der Zeit. Roman.
        2. u. 3. Aufl.                       Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Vater und Sohn u. andere Geschichten.
        2. Aufl.                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Villa Maria. Roman. 3. Aufl.           Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Große Zeiten u. andere Geschichten.
        3. Aufl.                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
_Wildenbruch, E. v._, Schwester-Seele. Roman.
        18. u. 19. Aufl.                     Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
_Worms, C._, Aus roter Dämmerung. 2. Aufl.   Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
--"-- Du bist mein. Zeitroman. 2. Aufl.      Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Erdkinder. Roman. 4. Aufl.             Geh. M. 3.50, Lnbd. M. 4.50
--"-- Die Stillen im Lande. Drei Erzähl.
        2. Aufl.                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--
--"-- Thoms friert. Roman. 2. Aufl.          Geh. M. 4.--, Lnbd. M. 5.--
--"-- Überschwemmung. Eine balt. Gesch.
        2. Aufl.                             Geh. M. 2.50, Lnbd. M. 3.50
_Zimmermann, M. G._, Tante Eulalia's Romfahrt
                                             Geh. M. 3.--, Lnbd. M. 4.--


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Korrekturen und Anmerkungen zur Transkription:

  1. Fehlender Punkt im Original.

  2. Im Original wird an dieser Stelle Euesbis Stottern durch
     Trennstriche angezeigt; hier und im Weiteren in doppelte
     Bindestriche umgeändert.

  3. Fehlendes Anführungszeichen im Originaltext.

  4. Im Originaltext "umheimlicher", korrigiert zu "unheimlicher".

  5. Im Originaltext "kein", korrigiert zu "Kein".

  6. Überflüssiges Komma im Originaltext; gelöscht.

  7. Nach "schwerer" scheint "zu schaffen" zu fehlen.

  8. Im Originaltext "Georg", korrigiert zu "George".

  9. Im Originaltext "Pfarerr", korrigiert zu "Pfarrer".





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