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Title: Eine vornehme Frau
Author: Heiberg, Hermann, 1840-1910
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Eine vornehme Frau" ***


Eine vornehme Frau.

von

Hermann Heiberg.


1886



Seiner theuren Mutter,

Asta, geb. Gräfin von Baudissin

gewidmet.



Große, kleine Städte!

Wir sind in einer mittleren Stadt von kaum zwanzigtausend Einwohnern,
immer noch winzig genug, daß alles, was nicht diente, hämmerte oder
ackerte, eine große Familie bildete, in der man sich kannte und sich
miteinander befaßte.

Und doch trennte sich die gebildete Gesellschaft in verschiedene
Klassen: und wie stets und überall hielt die eine sich aus besserem Teig
gebacken als die andere.

Als der Krieg von 1866 beendet war, empfing die nunmehr preußische Stadt
eine Garnison; es wurden, neben Infanterie, einige Schwadronen Husaren
nach C. verlegt. Aber die Offiziersfamilien sonderten sich, zumal da sie
noch Fremdlinge waren, gänzlich ab, und nur zu den höheren Beamten und
dem Adel nahmen sie diejenige Fühlung, welche ihnen gleichsam
vorgeschrieben war. Im übrigen konnte die Bürgerschaft mit der
stehenden Einquartierung wohl zufrieden sein, denn unter den Husaren
befanden sich wohlhabende, sogar reiche Leute, welche das Geld nicht in
die Schublade versteckten.

Die neuen Verhältnisse waren dem Städtchen günstig. Der Geschäftsgeist
regte sich, und besonders die Bautätigkeit erwachte. Die Bürger
verdienten Geld und fanden sich rascher in die neuen Dinge, als man
erwartet hatte.

Und so verging die Zeit mit ihrem Wechsel, und so lebte die
Einwohnerschaft mit ihrem Spott, ihrer Neugierde und ihrem Gerede über
ihre Nebenmenschen wie allerorten in dieser unvollkommenen Welt.

Eines Tages ward die Stadt C. durch eine Annonce überrascht, welche sich
in dem täglich erscheinenden Blättchen, scharf umrändert und groß
gedruckt, auf der letzten Seite befand: „Gesucht sofort eine große
Wohnung von zwölf bis fünfzehn Zimmern mit Stallung und Nebengelassen.
Eventuell wird auf ein ganzes Haus reflektiert. Man beliebe sich--“
u.s.w.

Die Neugierde, welche sich zunächst an den Stammtischen der Ressourcen
kundgab, ward nicht sogleich befriedigt. Selbst der Redakteur der
C.schen Zeitung wußte keine Auskunft zu geben. Endlich lösten sich die
Zweifel. Einer der Husarenoffiziere war vor einiger Zeit versetzt
worden, und in dem Wohnungssuchenden entdeckte man den neuen
Rittmeister.

Zu gleicher Zeit verbreiteten sich allerlei Gerüchte über die
Ankömmlinge, welche geeignet waren, die Gemüter zu beschäftigen. Von ihm
wurde behauptet, daß er zwar ein vollendeter Kavalier und ein gerechter
Vorgesetzter sei, aber von einer so finsteren Schwermut beherrscht
werde, daß er den Umgang mit Menschen ängstlich meide, während man ihr
neben großer frappanter Schönheit Verschwendungs- und Vergnügungssucht,
ja sogar einen leichtfertigen Lebenswandel nachsagte. Erhebliche
Erbschaften sollten schon durch ihre Finger geglitten sein, und es ward
als ein Glück bezeichnet, daß sich der übrigens große Reichtum des
Grafen auf unantastbare Fideikommißkapitalien stütze. Die Frau Gräfin
gliche, hieß es, einer heißbrennenden Sonne, vor welcher der eisigste
und umfangreichste Goldhügel zerschmelzen müsse.

In jedem Fall war man sehr gespannt auf die neue Bekanntschaft, und in
Offizierskreisen ward eifrig überlegt, welche Stellung man zu einer Frau
einnehmen solle, der ein solcher Ruf voranging.

Sehr angenehm ward von diesem Wechsel ein Bauunternehmer berührt, der
eine von einem parkähnlichen Garten umschlossene große Villa gleich vor
der Stadt besaß und nun um einen hohen Preis einem Mieter fand. Der
Graf ließ sich Zeichnungen und genaue Beschreibungen einsenden und
bewilligte eine ganz erhebliche Summe zur Verschönerung der inneren,
ursprünglich für einfachere Ansprüche berechneten Räume.

So wurden beispielsweise sämtliche Gesellschaftszimmer in mattgrüner und
blauer Seide tapeziert, und das ganze Haus erhielt einen genau im Muster
übereinstimmenden, hellen Teppich in Flur und sämtlichen Gemächern. Aber
auch sonst wurden Veränderungen getroffen, welche das Besitztum zu einem
fast fürstlichen Aufenthalt umwandelten. Die Thüren mußten
ebenholzdunkel gemalt und mit Arabesken in Gold versehen werden. Die
Öfen wichen zum Teil Kaminen aus schwarzem oder rotem Marmor, und die
Außenwände der Villa wurden durch eine zartgraue Ölfarbe verschönt,
wodurch sich das „Schlößchen“ reizend von den umgebenden grünen Bäumen
abhob.

Geradezu Bewunderung erregten aber die Pferdeställe. Es erschien zum
Zweck ihres Ausbaues ein Lieferant aus Berlin, der rasch alles ausmaß
und in kürzester Zeit das Innere derartigen Veränderungen unterwarf, daß
die Einwohner von C., und unter ihnen besonders alle Sportfreunde,
neugierig herbeigeeilt kamen, um diesen Musterstall in Marmor, Mahagoni
und Gußeisen in Augenschein zu nehmen. Es hieß, die ganze Einrichtung
sei auf einer der letzten Weltausstellungen prämiiert worden. Und dann
trafen endlich auch die Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände ein.

Der Tapezierer berichtete Wunderdinge von den Gemälden, Bildern,
ausgelegten Schränken, Bronzen und sonstigen kostbaren Kunstsachen. Die
Portièren und Gardinen waren meistens aus geblümtem chinesischem
Seidenstoff gefertigt, und kein Tisch, kein Stuhl befand sich in der
Sendung, der nicht hätte als ein Musterstück gelten können. Aber--und
das erfüllte den Handwerksmeister mit gerechtem Erstaunen--fast nichts
war heil und ganz, mit Ausnahme der ohne Zweifel dem Gebrauch des Grafen
dienenden Möbel. Eine solche Beschädigung konnte nicht durch den Umzug
entstanden sein, sie war sicher das Ergebnis einer grenzenlosen
Unordnung und Vernachlässigung.

Auf geschehene Meldung und Anfrage erfolgte keine Antwort, wohl aber
erschien nach einigen Tagen der Haushofmeister, ein hagerer, ernst
dreinblickender Mann, der erklärte, daß die gräfliche Familie ihm auf
dem Fuße folge und jetzt keine Zeit mehr für Reparaturen vorhanden sei.
Diese müßten später vorgenommen werden.

An einem Maitage des Jahres 1867 traf die Familie ein. In ihrem Gefolge
befand sich eine große Dienerschaft und neben zahlreichen edlen Pferden,
auch ein paar herrliche Hunde, die beim Abladen der schier unzähligen
Koffer einen gewaltigen Lärm anstimmten und von der graziösen Frau, die
mit sechs schlanken Kindern dem Wagen entstieg, wie nach langer Trennung
gehätschelt und geliebkost wurden. Sie vergaß darüber das Haus und den
Eintritt, bis sie die Augen aufschlug und bei dem Anblick der Villa und
des Parkes ihrer frohen Überraschung in lebhafter Weise Ausdruck
verlieh. Dabei redete sie auch ihre Dienerschaft an und ermunterte
diese, in ihre Bewunderung einzustimmen.

Währenddessen war der Rittmeister in das Haus getreten und rief aus
einem Fenster des Hochparterre ungeduldig und streng:

„Ange, komm nun doch und kümmere Dich um die Kinder!“

Etwas Eigenartigeres als diese konnte man nicht sehen. Eins war schöner
als das andere. Alle waren blond, aber das Haar hatte jenen goldig
schimmernden Anhauch und die Körperhaut jene unnachahmliche Farbe,
welche wir an den Menschen des Nordens im Gegensatz zu den Bewohnern des
Südens bewundern. Wie schon ein Sonnenstrahl seine Spuren auf dem
Milchweiß der Blonden zurückläßt, so flammt auch sichtbarer, und durch
den rosenfarbenen Schimmer reizvoller, das Blut durch die Wangen dieser
von der Natur bevorzugten Geschöpfe.

Wenn Mutter und Kinder beisammen standen, konnte man sie für Geschwister
halten. Frau von Clairefort glich einem menschgewordenen Engel; sie trug
mit Recht ihren Namen. Und sie ging auch mit ihren Kindern um, als sei
sie selbst noch ein unselbständiges Wesen. Sie blickte sie erstaunt und
in ein plötzliches lächeln ausbrechend an, sie tummele sich mit ihnen
und lag spielend auf dem Teppich, auf welchem auch die Hunde
umhersprangen. Fehlte dies oder das, so riß sie wohl ein Tüchelchen von
ihrem vornehm gebauten Hals, statt das fehlende Garderobestück
herbeizuholen; und wenn die Kinder sie küßten und um Freiheit bettelten,
statt nach der Anweisung der Gouvernante an die Schularbeiten zu gehen,
lief sie gar mit ihnen fort und versteckte sich und jene vor den
drohenden Stirnfalten der Erzieherin.

Morgens ruhte sie mit der ganzen herbeigeeilten Schar in einem
spitzenbedeckten Bett und ließ sich umhalsen und hätscheln. Es war, als
ob der eben erwachte Frühling seine Kinder um sich versammelt habe. Was
so bezaubernd wirkte, war der naive, unbewußte Liebreiz aller dieser
zartgearteten Menschen, und doch war die Gräfin Ange so stählern
abgehärtet, ward so wenig beeinflußt von jedweder Anstrengung, daß sie
den Schlaf fast wie eine überflüssige Gewohnheit an sich herantreten
ließ.

Wo sie erschien, ward alles hell, denn ihr süßes Gesicht, ihre klugen
Augen, ihre anmutigen Gebärden, ihr silberhelles Lachen und ihre durch
keine Künstelei beeinflußte lebhafte Fröhlichkeit riß die Umgebung fort.
Und doch war's niemals eine närrische Laune, von der sie sich leiten
ließ, und ihr nicht erst durch Grübeln geweckter Verstand kleidete jeden
Gedanken in eine graziöse Form. Ihr Ernst war so tiefsinnig und ihr
Urteil über Menschen und Dinge oft so zutreffend, daß man es nicht für
möglich hielt, dieselbe Frau habe eben mit kindlich-hilfloser Naivetät
die tausend Unarten ihrer kleinen Schar ertragen, sich zuletzt machtlos
in einen Winkel vergraben und bitterlich ausgeweint.

„Bitte, bitte, sei artig, Carlitos,“ flehte sie, und trotzig warf
Carlitos den stolzen Kopf in den Nacken und beging dieselbe Unart. Aber
zornig gegen ihre Engelschar konnte sie überhaupt nicht werden, viel
weniger hatte sich ihre Hand jemals zum Schlage gegen diese erhoben,
obgleich Ange mit ihrem starken, gestählten Handgelenk das wildeste
Pferd zu zähmen imstande war. Reiten und Fahren war Ange Claireforts
Leidenschaft. Sie hatte den edelsten Renner im Stall, und nicht minder
zärtlich klopfte sie den Hals von „Blitz“, ihrem Lieblingspferd, als die
schlanken Glieder ihrer beiden Windhunde.--

Carlitos, der Älteste, war ein wilder, schlanker Bursche mit vielen
impertinenten Sommersprossen auf der feingeschnittenen Nase und mit
dunklem, gleichsam boshaft leuchtendem Haar in rotem Schimmer. Dann
kamen Zwillinge, zwei Mädchen von einer solchen sanften Schönheit und so
mädchenhaft in der Erscheinung, daß die Menschen auf der Gasse
stillstanden, um ihnen nachzuschauen.

Diesen folgten wieder zwei Knaben. Sie hatten lange, in der Mitte
gescheitelte goldblonde Haare, waren tannenschlank gewachsen, lebhaft,
ausgelassen, aber doch voll Herzensgüte und schüchtern gegen Fremde.
Wenn sie bisweilen mit ihren vornehmen Gesichtern so scheu
dreinblickten, ward man unwillkürlich an die Söhne Eduards erinnert.

Die kleine Ange war das Ebenbild der Mutter, nur erschien sie fast noch
graziöser. Eine Elfengestalt, dabei träumerisch, für sich, und mit jenem
vorwurfsvoll-ernsten Ausblick, der zögern läßt, sich solchen Kindern zu
nähern.

Nach vier Wochen redete man in C. von nichts anderem als von dem Grafen
Clairefort und seiner schönen Gemahlin. Die bösen Reden waren
verstummt, nachdem man sie ein einiges Mal gesehen hatte. Der Graf
entsprach dem Bilde, das man sich von ihm gemacht hatte. Er war nur noch
zurückhaltender, als er geschildert ward. Man fand einen äußerst
aristokratischen, wortkargen, aber im Verkehr mit den feinsten Manieren
ausstatteten Mann, der es mit seinen militärischen Obliegenheiten so
streng nahm, daß diese Strenge an Härte streifte. Natürlich zerbrach
sich auch alle Welt den Kopf, wie wohl zwei so verschieden geartete
Menschen miteinander lebten. Stärkere Gegensätze waren nicht denkbar. Er
ein ernster, pedantischer, kränklicher Mann, dem sich zu nähern,
Überwindung kostete, und der in seinen Gedanken, Anschauungen und
Lebensgewohnheiten völlig von dem Durchschnitt der Menschen abwich. Sie
dagegen ein frisches, gesundes, liebenswürdiges, ein naiv-kluges
Geschöpf, mit einem hinreißenden Temperament und einer nicht minder
hinreißenden, ja gefährlichen Schönheit; dazu sorglos, ganz von dem
Eindruck des Augenblicks beherrscht und oft spottend allen Regeln der
eingebürgerten Sitte.

Wenn sie etwas besonders anregte oder beschäftigte, wenn sie zum
Beispiel ausreiten wollte, vergaß sie alles. Da gab's keine Innehaltung
einer Zusage oder Verabredung. Da schwiegen alle gewöhnlichen
häuslichen Pflichten, da verfingen nicht die strengen Mienen des
Grafen. Sie flog ihm an den Hals und herzte ihn.--„Laß, laß,
Schatz!--Sei gut, gieb mir meinen Willen.--Du weißt ja doch, daß Du mir
nichts abschlägst.--Weshalb mich quälen?--Nein?--Du versagst mir die
kleine Freude?--Dann küsse ich Dich niemals mehr auf Deine treuen Hände,
auf Deinen verschwiegenen Mund!“--Und ehe er sich's versah, ehe er es
hindern konnte, schlang sie sich zu ihm empor und liebkoste seine Wange.

Oft mußten die Kinder helfen, diese wilden, zarten, sanftmütigen
Geschöpfe in ihrem seltsamen Gemisch. Und sie thaten alles, was sie
wünschte; immer nahmen sie für ihre Mama Partei und umringten den
bleichen ernsten Mann, bis sich zuletzt ein Lächeln um den geschlossenen
Mund stahl. Und dieses Lächeln war Zustimmung.

„Wenn Du wüßtest, wie schön Du bist, wenn Du lächelst,“ sagte Ange oft:
„warum bist Du doch immer so ernst, so bärbeißig, Lieber! Bin ich nicht
um Dich, Ange Clairefort, geborene Butin, Herrin auf Schwarzensee und
Dürenfort?“ Dazu lachte sie und stolzierte, ihm Kußhände zuwerfend und
hinter sich schauend, als ob sie ihre Schleppe betrachte, von dannen. Er
neigte dann schwermütig das Haupt und zog sich in seine Gemächer zurück.
Oft war's, als ob der strenge Soldat sich vor dem Kinderlärm und der
ausgelassenen Unart seiner Umgebung flüchte, als ob jeder Nerv in ihm
zucke, ihm Ruhe und Einsamkeit allein wohlthue.

In der That hatten Claireforts schon viel Herzeleid erfahren. Sie
verloren beide früh ihre Eltern und standen ohne Verwandte in der Welt.
Des Rittmeisters Stammvorfahr, ein Franzose, war nach Deutschland
übergesiedelt, um seiner Gemahlin, einer Rheinländerin, zu folgen, und
die Butins, wenn auch seit Menschengedenken in deutschen Gauen ansässig,
stammten ebenfalls aus französischem Blut. Gerade als Clairefort um die
alleinstehende, blutjunge Baronin von Butin anhielt, starb ihr
bisheriger Vormund, und dies veranlaßte die später Mündigwerdende, die
Gutsbesitzungen zu veräußern; den Erlös brachte sie ihrem Manne als
Mitgift in die Ehe.

Claireforts hatten ihre Besuche gemacht und empfingen solche. Es nahm
sehr für sie ein, daß sie ihre Visiten nicht auf den vornehmeren und
engeren Kreis beschränkten, in welchem die übrigen Familien verkehrten;
sie gaben auch ihre Karten bei den angesehenen Einwohnern der Stadt ab
und entzückten durch ihre Liebenswürdigkeit alle Welt, mit der sie in
Berührung traten. Besonders lebhaft aber entwickelte sich der Verkehr
zwischen den unverheirateten Offizieren der Garnison und den
Neuangekommenen. Nach wenigen Wochen waren diese fast tägliche Gäste der
Villa, in der stets ein Frühstückstisch bereit stand und in der
man--auch unangemeldet--immer eine vortreffliche Tafel mit auserlesenen
Weinen fand. Es vollzog sich dort alles wie durch Zauberhand geschaffen,
und doch war Ange die denkbar schlechteste Hausfrau.

Aber Ernst Tibet, der Kammerdiener, sorgte für alles. Dieser
Haushofmeister war ein Mustermensch. So unruhig und wenig umsichtig, so
ungleich und lebendig die Gräfin, ebenso ernst, besonnen und zuverlässig
war Tibet, ein Mann mit angeborener Würde und höflicher Zuvorkommenheit
zugleich.

„Tibet, bester, goldener Tibet, was beginnen wir? Eben haben sich zehn
Personen angesagt! Die Uhr ist zwei! Um fünf wollen wir speisen!“

„Es wird alles nach Ihren Wünschen sein, Frau Gräfin,“ erwidert Tibet,
verbeugt sich und geht seiner Arbeit nach.

Und wenn Tibet das sagt, dann kann wohl eine kleine Welt einstürzen,
aber wenn sie nicht einstürzt, ist alles auf die Minute, wie er
versprochen.

Seltsamerweise bekümmerte sich auch der Graf nicht um das Haus, wenig
auch um die Kinder, ebensowenig um seine schöne Ange. Man fragte sich
oft, was eigentlich ihn beschäftige, wofür er sich interessiere, welche
Gedanken hinter seiner hohen Stirn auf- und abwandern möchten. Niemand
vermochte darauf eine zutreffende Antwort zu geben. Es blieb ihm außer
seiner dienstlichen Beschäftigung noch viel Zeit, aber man fand ihn
weder häufig lesend noch schreibend. Er saß meistens zurückgelehnt in
einem alten Erbstuhl des fünfzehnten Jahrhunderts, der vor seinem
Schreibtisch stand, stäubte die Bücher und die vielen kleinen
Nippesgegenstände ab, rauchte, erhob sich wohl einmal, griff sich, wie
um einen Schmerz zu bannen, an den Kopf, schaute in den blühenden Garten
und grübelte weiter über etwas, was keiner zu ergründen vermochte.

Tibet war jeden Tag eine Stunde, oft länger bei ihm. Er legte Rechnungen
vor, holte sich Anweisungen, empfing Geld, brachte solches, mußte auch
wohl Briefe schreiben, Telegramme besorgen und Gänge machen, über die er
nie Auskunft gab. Tibet war alles in allem, auch bei dem Grafen, und
niemandem begegnete dieser so höflich wie seinem Kammerdiener, wenn er
auch ihm gegenüber die Formen beiseite ließ.

Unter den Offizieren, die im Clairefortschen Hause verkehrten, befand
sich ein Rittmeister mit Namen von Teut. Alle Welt war erstaunt, daß
dieser allem Familienverkehr abholde, nur seinem Dienst, dem
Pferdesport, der Jagd und starken Gelagen geneigte, keineswegs mehr
junge Mann das Haus des Grafen aufgesucht hatte. Ange war die
Veranlagung gewesen. Bei einem Diner, welches der Oberst gab, zwang sie
ihn, sich mit ihr zu beschäftigen, wies ihm scherzend nach, daß sie vom
Urgroßvater her ein wenig verwandt seien, und fesselte ihn in solchem
Maße, daß er beim Nachhausegehen gegen seine Umgebung in die Worte
ausbrach: „Schön wie eine Rose, klug wie ein Pferd, naiv wie ein Kind,
zudem eine Dame--ein vollendetes Geschöpf!“

Von Teut war ein seltsamer, unberechenbarer Mensch im Verkehr, aber nach
übereinstimmendem Urteil ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Sein
Reichtum erlaubte ihm die Ausübung der kostspieligsten Liebhabereien. Zu
diesen gehörten vor allem Jagd und Pferde. Und dieser Umstand genügte
allein schon, sich Ange Clairefort zu nähern.

Oft schlug er eine Kleinigkeit ab, war unduldsam gegen seine Umgebung,
und dann, wenn ihn Laune oder Herzensdrang trieben, verschenkte er große
Summen. So hatte er einmal einem Kellner im Kasino, der sich
selbständig machen und heiraten wollte, ein nicht unbedeutendes Kapital
darlehensweise überlassen, und als der erste kleine Weltbürger erschien
und jener ihn als Pate einlud, sandte er ihm den quittierten
Schuldschein und schrieb darunter:

„Axel von Teut sendet Axel Dorn diese Patengabe und hofft, daß er einst
ein braver Bürger und--kommt Zeit und Anlaß--auch ein treuer
Königssoldat sein wird.“

Als dies bekannt wurde, sah sich Teut mit Bittschriften überschüttet. Da
las man eines Tages in der Zeitung:

„Fortan lasse ich alle Bitt- und Bettelbriefe uneröffnet zurückgehen.
Man spare sich die Mühe! Wer meint, ich säh's ihnen nicht an, irrt sich.
Eine solche Übung, wie ich sie habe, macht erfahren.

Baron von Teut-Eder,

Rittmeister und Eskadronschef.“

       *       *       *       *       *

Beim Oberst war eine große Fête angesagt. Ange begann auch heute mit
ihrer Toilette zu einer Zeit, in der andere Frauen bereits die
Handschuhe knöpfen und das Kopftuch um das Haar schlingen. Das kannte
Clairefort, seit ihm das schöne Fräulein von Butin das Jawort gegeben,
und das ertrug er mit jener Resignation, die entweder einer starken
Selbstbeherrschung entspringt oder die sich zuletzt in das
Unvermeidliche machtlos fügen muß.

„Ange, bist Du bereit? Schon seit einer viertel Stunde wartet der
Wagen!“ rief der Rittmeister und klopfte ungeduldig an die Thür.

„Gleich, gleich, bester Carlos!“ schmeichelte Ange zurück, huschte
freilich erst in diesem Augenblick aus ihrem Hauskleid und steckte, da
sie das unruhige Auf und Ab ihres erzürnten Tyrannen hörte, auf einen
Augenblick das Köpfchen durch die Öffnung, um ihn mit einem ihrer
bezaubernden Blicke zu beruhigen.

Das Gemach, in welchem Ange ihre Toilette machte, glich bezüglich des
hastigen und bunten Durcheinander dem Ankleidegemach einer
Bühnenkünstlerin. Hier waren Schubladen geöffnet, in denen die
Gegenstände wild durcheinander geworfen waren, dort lagen auf Diwan und
Stühlen Ballkleider und Spitzenröcke. Wenige Minuten hatten hingereicht,
um hier und in die Garderobenschränke eine heillose Verwirrung zu
bringen. Aber immer war diese lebhafte, unruhige und der
Zeiteinteilungen spottende Frau in ihrer Erscheinung gleich reizend. Wo
war der Künstler, um diesen feingeschnittenen Kopf mit dem tief auf die
Schultern herabgefallenen Seidenhaar zu malen, diese zarte, in den
Formen vollendete Fülle, dieses entzückende Weiß des Nackens, der Arme,
der Hände, vornehmlich aber diesen wahrhaft bezaubernden Körperwuchs mit
seinen vornehmen Linien?

Bei der Hast, mit der Ange selbst Hand an die Toilette legte oder ihre
Umgebung anwies, röteten sich ihre Wangen, die feinen Nasenflügel
vibrierten und ihre Kinderhände zupften, zerrten und knöpften an den
durchsichtigen, spitzenbesetzten Gewändern umher, als ob tausend
unruhige Funken aus ihren Fingern sprühten.

Während ihr Haar geflochten ward, saß sie vor dem Trumeau, öffnete den
Mund, betrachtete mit kindlicher Neugier die untadelhaften Reihen ihrer
unter dem Rosarot hervorschimmernden Zähne und lachte in den Spiegel
hinein oder neigte mit leisem Aufschrei das Köpfchen vor dem
ungeschickten Strich des Kammes in dem widerspenstigen Haar. Und dabei
erschienen auch Füßchen, die einem Kinde anzugehören schienen und die
nun von der Jungfer mit seidenen Schuhen bekleidet wurden.

Als Ange endlich auch in das kostbare pfirsichfarbene Kleid eingespannt
war, als sie durch das Zimmer schritt und die einer Königin würdige
Schleppe hinter ihr herrauschte, als endlich alle die Perlen und
Diamanten in ihrem Haar und an ihrer Brust, die blitzenden Agraffen an
dem Stoffe befestigt waren, sahen selbst die Dienerinnen mit einem Blick
der Bewunderung auf das Kunstwerk, das unter ihren Händen entstanden
war.

„Sieht's gut aus? Sitzt die Taille?“ fragte Ange naiv, und ein
glückliches Lächeln flog über ihr Gesicht, als jene lebhaft bestätigten,
was sie zu hören wünschte.

„Ange, Ange!“ klopfte es nun abermals. „Die Uhr ist halb neun, und Du
bist noch nicht--“

„Ich bin fertig, lange fertig, Carlos! Ich warte ja auf Dich!“ rief sie,
blinzelte den Frauen bei ihrer unschuldigen Lüge lächelnd zu und öffnete
die Thür.

Aber nun kamen noch die Kinder, die doch eigentlich im Bett liegen
sollten. Jorinde weinte und Ben stand mürrisch da. Allerlei Wünsche
wurden laut.

„Gewiß, gewiß, sei ruhig, mein Liebling! Ja, ja, Carlitos!--Ah, mein
Riechfläschchen und der Fächer, Maria!--Wie, was? Ja, gleich!“

Sie eilte fort und suchte in irgend einer Schublade nach den Bonbons und
Leckereien, mit denen sie ihre ungeduldige Schar zu beruhigen pflegte.

„Nehmen Sie die Schleppe, Rosa!--Ich komme ja, ich komme, Carlos, geh
nur voraus!“

Nun mußten die Kinder noch einmal umarmt und geküßt werden. Ein
Handschuhknopf war abgesprungen, auch eine Naht beim hastigen Anziehen
gerissen. „Schnell ein anderes Paar! Im Schubfach links! Fleischfarbene,
Maria, fleischfarbene! Hörst Du?“

Ange eilte hinab. „Endlich!“ sagte Carlos. „Vorwärts!“

Der Diener, die Hand am Hute, schlug den Wagen zu und schwang sich auf
den Bock.

„Halt! halt--noch einen Augenblick!“ rief Ange und klopfte ungestüm an
die Scheiben. Die Jungfer kam atemlos mit den Handschuhen. „Zu Befehl,
Frau Gräfin!“

So, nun raste endlich der Wagen mit dem Grafen und Ange davon, und die
Dienerschaft wandte sich ins Haus zurück. Auf dem Flur, auf der Treppe
wehte noch der Duft ihrer Gewänder. In allen Zimmern brannten die
Kandelaber--überall die Spuren ihrer lebhaften Unruhe. Die Kinder
schmollten, daß sie nun, weniger rücksichtsvoll angehalten als vorher,
ins Bett getrieben wurden: und ins heiße, schwüle, von Parfüm erfüllte
Ankleidezimmer der Gebieterin, in dem ein halb Dutzend goldene und
silberne Leuchter entzündet waren, in welchem die geöffneten
Schmuckkästchen mit all ihren zurückgebliebenen Herrlichkeiten achtlos
umherstanden und in dem die Luft, die eine schöne, vornehme Frau
ausatmet, wie ein unsichtbarer Hauch die Gegenstände zu umhüllen
schien, traten die Frauen, um alles an seinen Platz zu bringen.--

Unwillkürlich verstummte das laute Gespräch in den Sälen, unwillkürlich
traten die Reihen der Gäste zurück und unwillkürlich mußten auch die
eifersüchtigsten Frauen emporblicken, als die Gräfin Ange von Clairefort
an der Seite ihres Mannes die Räume in dem Hause des Obersten betrat. Es
giebt Frauen, deren Erscheinung in der Gesellschaft wirkt, als ob
plötzlich ein Schwan mit lautem Flügelschlag vorüberrauscht.

Ange war nach wenigen Minuten umgeben und umschwirrt von der halben
Gesellschaft. Nein, von der ganzen Gesellschaft! Denn diejenigen, die
sich ihr nicht näherten, fanden nur nicht den Mut, der schönen,
strahlenden Frau auszudrücken was sie bei ihrem Anblick empfanden. Immer
birgt die Gesellschaft Zaghafte; sie werden nie aussterben; sie bleiben
und gleichen Kindern, welche nur nach wiederholter Ermunterung ein
Händchen reichen.

Ange hörte, daß man allein auf sie gewartet habe. Sie rief ein
bedauerndes „O! o!“ huschte zu der Frau des Obersten und stellte ihr
durch die bezaubernde Art ihrer Abbitte rasch die gesunkene
Gesellschaftslaune wieder her. Und da sie in der Zerstreuung den ersten
Tanz nicht vergeben hatte und dies zu ihrer freudigen Überraschung
bemerkte, schlüpfte sie durch die sich drängenden und sich
arrangierenden Paare bis zum Gastgeber und legte sanft den Arm in den
seinigen.

„Gnädige Frau?!“

„Den ersten Tanz habe ich wohl ein dutzendmal abgeschlagen, Herr Oberst,
da ich ihn für Sie bestimmt hatte. O, ich bitte, kein Refus! Es ist ja
eine Polonaise.“ schmeichelte sie und zog den nur leise Widerstrebenden
mit sich fort.

Selten mischte sich Ange in die Reihen der Tanzenden, ohne daß die
pausierenden Paare ihr zuschauten. Man mußte sie ansehen, denn eine
Grazie schien sich unter die Menschen gemischt zu haben.

Nichts Anmutigeres konnte es geben, als sie einen Walzer tanzen zu
sehen, wenn das ihr eigene, halb verlegene, halb glückliche Lächeln über
die sanften Züge flog und sie das Köpfchen zur Seite neigte. Es lag in
dieser Zurückhaltung gleichsam eine Andeutung, daß sie sich zwar jeder
Laune ihres Tänzers füge, doch nur dem Zwange folgend, ihm erlaube, den
schlanken Leib zu umfassen. Sobald sie sich aber aus dem Arm ihres
Kavaliers gelöst hatte, verschwand diese fast mädchenhafte
Schüchternheit, und ihr lebhaftes Temperament riß sie wieder fort. Sie
schwatzte, lachte und zeigte ein schelmisches Gesicht, sie nickte und
hörte mit neugieriger Aufmerksamkeit zu.

Beim Souper richteten sich abermals aller Augen auf Ange. Eine feine
Blässe war auf ihr Gesicht getreten. Der wunderbare Abstand der dunklen
Augen und Augenbrauen gegen das Goldblond ihres Seidenhaares wirkte
neben dem mattseidenen, an dem Ausschnitt mit echten weißen Spitzen
besetzten Kleide so überraschend schön, daß man den Blick nicht von ihr
zu wenden vermochte. Und dabei funkelten und blitzten die Steine an Hals
und Ohren, und oft zitterte ein wahrer Sprühregen aus den Diamanten, mit
denen ihr Haupt geschmückt war.

Die Menschen fühlten sich geehrt und beglückt, wenn Ange sie mit ihren
treublickenden Augen ansah, und ihre Bescheidenheit machte es unmöglich,
daß häßliche Regungen der Mißgunst neben ihr emporstiegen.

Nach Aufhebung der Tafel, nachdem der Champagner Ange ganz in ein
fröhliches, nur von der Lust beherrschtes Kind verwandelt hatte, als die
ersten Takte eines stürmischen Galopps vom Saale herüberklangen, hielt
es sie nicht mehr neben dem Gastgeber, und mit einem seine Verzeihung
einholenden Blick entschlüpfte sie, um einem jüngeren Kavalier zu
folgen.

Einmal riß eine Perlenschnur, und die kostbaren Schätze rollten unter
die Tanzenden. Ein kleines Vermögen stand auf dem Spiel, Ange jedoch
lachte und nahm mit entschuldigendem Dank entgegen, was eifrig Suchende
gefunden hatten und ihr überreichten.

Wiederholt drängte der Rittmeister zum Aufbruch. Aber die Offiziere
umstürmten die reizende Frau, und sie bat wie ein junges Mädchen, das
zum erstenmal den Ball besucht, um Aufschub. Während sie davoneilte,
guckte sie ihn über ihre Schulter an und holte sich durch bittende
Blicke sein nachträgliches Jawort ein.

Und als sie endlich zurückkehrte und er, die zerrissenen Spitzen der
Schleppe betrachtend, kopfschüttelnd dreinschaute, streifte sie rasch zu
seiner Beruhigung die Handschuhe ab, lehnte sich mit einem: „Nicht
schelten! Gut sein! Carlitos, bitte!“ an ihn und bettelte so lange, bis
er ihr noch die kleine Abkühlungspause zugestand.

Von der Bewegung beim Tanzen war ihr Haar ein wenig gelockert und ein
feines Strähnchen auf die Stirn gefallen, auch einige prachtvolle Rosen,
die an ihrer Brust saßen und einen blitzenden Diamant umschlossen,
hatten sich entblättert. Ihr Atem glühte, ihre Brust hob und senkte sich
unter der zarten Seide, und während der Fächer in heftiger Bewegung
war, neigte sie den Körper mit jener elastischen Biegsamkeit, die
Frauen so verführerisch macht.

„Nein, komm, komm, Ange.“ drängte Carlos, von ihrer Schönheit
hingerissen und nur von dem einzigen Gedanken beherrscht, sie den
zudringlichen Blicken ihrer Bewunderer zu entreißen. Sein Auge ruhte mit
einem eifersüchtig verlangenden Ausdruck auf ihr, und sie erwiderte
seinen Blick mit jenen träumerischen Augen, mit denen sie ihm einst ihre
Liebe verraten hatte.

„Ach, es war himmlisch! Ich habe mich prachtvoll amüsiert! Schade, daß
es schon vorüber ist!“ seufzte die junge Frau, als sie, nach Hause
zurückgekehrt, sich in sanfter Erschöpfung in einen Sessel zurücklehnte.
„Aber Du, Armer, hast Dich gelangweilt! Nicht so, Carlos?“

Sie sah ihn zärtlich an. Er schüttelte schwermütig das Haupt und sagte:

„Nicht doch, Ange!“ Und nach einer Weile flüsterte er leise: „Hast Du
mich noch lieb, Ange?“

Da stand sie auf und flog ihm an den Hals.

       *       *       *       *       *

Acht Monate waren vergangen. Teut war ein täglicher Gast im
Clairefortschen Hause geworden, verkehrte mit Frau Ange und der Familie,
als ob er sie von Kindesbeinen an kenne, und schien überhaupt von
Claireforts fortan unzertrennlich. Dieser engere Verkehr führte mit
sich, daß er bald in alle Verhältnisse eingeweiht wurde, und daß man
ihn, da er neben seiner Einsicht eine entschiedene Art an den Tag legte,
auch häufig um Rat fragte. Aber er nahm sich in seiner ehrlichen und
derben Weise auch die Erlaubnis, zu tadeln.

„Schlecht, mordschlecht erziehen Sie die kleine Gesellschaft!“ rief er
Ange kopfschüttelnd zu, wenn die Kinderschar--ungezogen und
trotzköpfig--ihren Höllenlärm anstimmte, die Möbel mit Stöcken und
Peitschen bearbeitete und gar auf dem Teppich des Wohnzimmers mit Sand
wirtschaftete. Die Dienerschaft war machtlos, denn sie fand keine
Unterstützung bei der Gräfin. Entweder erließ sie Verbote, deren
Zurücknahme sie sich im nächsten Moment wieder abbetteln ließ, oder sie
tröstete Jorinde und Erna, wenn diese von der Gouvernante eine Strafe
erhalten hatten.

Nun war eben das Mobiliar--ein Gemach nach dem anderen--neu aufgeputzt,
zum Teil mit kostbaren Stoffen überzogen, alles mit einem wahrhaft
verschwenderischen Luxus hergestellt worden, und schon zeigten sich
deutliche Spuren von übermütigen Gewaltthätigkeiten. Der Graf war
mehrmals in einen heftigen Zorn ausgebrochen, hatte Ange ihren Mangel an
Ordnungsliebe und ihre grenzenlose Schwäche gegen die Kinder in den
härtesten Worten vorgeworfen. Hin und wieder rief er den schnell
liebgewonnenen Freund und Vertrauten zum Zeugen an, wie unvernünftig,
wie unverständig seine Frau sei und wie ihn ihre Eigenschaften mit den
Rückwirkungen auf die Kleinen zum Tadel reizen müßten.

Einmal brach es ungestüm aus ihm heraus, als Teut seine Bewunderung über
Ange ausdrückte. „Ja, Freund,“ rief er, „Sie sind nicht mit ihr
verheiratet! Sie erfreuen sich an dem Guten, das sie Ihnen
entgegenträgt, und schütteln das Unbequeme leicht ab, um so leichter,
als Sie nur indirekt davon berührt werden! Ich aber lebe täglich,
stündlich mit ihr, ich kämpfe seit Jahren gegen ihre Schwächen ohne
Erfolg und habe doch für alles die Verantwortung zu tragen! Ange würde
jedes Jahr eine Million verschenken, wenn sie dieselbe zur Verfügung
hätte, und eine ganze Weltordnung in Verwirrung bringen, wenn sie über
den Wolken herrschte! Jeder ruft mir entgegen: Welch ein reizvolles
Geschöpf! und jeden Tag werde auch ich entwaffnet durch den Zauber
ihrer Liebenswürdigkeit. Aber sie bringt vermöge ihrer untilgbaren,
durch eine grenzenlos verkehrte Erziehung hervorgerufenen Fehler den
ruhigsten, besonnensten und geduldigsten Mann zur Verzweiflung. Die
größten und besten Eigenschaften eines Menschen verwandeln sich in das
Gegenteil, wenn ihnen das Maß fehlt. Sanftmut und Liebenswürdigkeit
sinken zur Charakterlosigkeit herab, Herzensgüte wird Thorheit, Geist
und Verstand streifen an Insanie und je schöner die Hülle, desto größer
der Schmerz, daß sich unter so vollendeten Formen ein so ungeordneter
Geist verbirgt.“

„Sie übertreiben, Clairefort!“ rief Teut warm. „Ihre Frau ist ein Engel!
Ihre Fehler sind nicht so schlimmer Art; ja, ich behaupte, sie sind auch
Tugenden! Weint sie nicht wie ein Kind, wenn man ihr vom Unglück
berichtet, möchte sie nicht stets helfen? Hilft sie nicht? Ist sie nicht
rührend besorgt um ihre Kinder und sitzt sie nicht wie jüngst, als
Carlitos krank war, Tag und Nacht an ihrem Bett? Ist sie nicht stets
liebevoll gegen Sie, Clairefort, sieht sie nicht zu Ihnen empor wie zu
einem Höhergearteten und nimmt jeden Tadel, jedes Scheltwort ohne Murren
entgegen? Ist sie nicht ohne Beispiel selbstlos? Verlangt sie je etwas
für sich? Ist es nicht nur immer der Gedanke an andere, der ihre
Entschlüsse bestimmt? Sah man je ein so glückliches Gemisch von
natürlichem Verstand und Herzensgüte?--Ja, sie ist sorglos, kannte nie
eine Einschränkung, weiß nichts von materiellen Sorgen, giebt mit vollen
Händen, oft vielleicht unverständig--“

Hier unterbrach Clairefort den Sprechenden, und indem er ihn mit einem
Blick anschaute, durch den man eine vertrauensvolle Äußerung einzuleiten
und sich Verschwiegenheit zu sichern pflegt, sagte er:

„Nein, nein! Immer, immer unverständig! Maßlos, Freund! Ihre
Verschwendung ist grenzenlos. Wie soll das überhaupt werden? Unter uns:
Wenn das meine Frau noch einige Jahre so forttreibt, bin ich ruiniert.
Schon lange war ich gezwungen, mein Kapital anzugreifen.“

Teut schwieg. Was er hörte, überraschte und beunruhigte ihn aufs
höchste. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, weshalb der
Mann, wenn die Dinge so lagen, sein Hauswesen, seine Geselligkeit nicht
einschränke, die zahllose, meist überflüssige Dienerschaft nicht
entlasse und Ange, die ihrer Eigenart nach auch in einfacheren
Verhältnissen zufrieden leben würde, die Gelegenheit nähme, so thöricht
zu wirtschaften. Aber er fand sich doch nicht berechtigt, dergleichen
auszusprechen, und während seines Schwankens kam ihm Clairefort zuvor:

„Ich weiß, was Sie mir erwidern werden, Teut,“ hob er, unter der
Bestätigung seiner Gedanken wiederholt das Haupt bewegend, an. „Sie
meinen, ich sei nicht minder schuld als Ange. Wir könnten uns anders
einrichten und dadurch Einnahmen und Ausgaben in das richtige
Gleichgewicht bringen. Auch Tibet drängt mich seit Jahr und Tag, aber
dann--dann--“

Er hielt inne. Ein ängstlich unschlüssiger Ausdruck trat in seine
Mienen, und nur mit Überwindung lösten sich die Worte aus seinem Munde:

„Sehen Sie! Es wird Ihnen rätselhaft erscheinen,“ fuhr er endlich
abgerissen und in Pausen sprechend, fort. „Ich liebe meine Frau
grenzenlos. Ich fürchte dann--ich fürchte--daß sie sich mir entfremden
könnte. Eine unbeschreibliche Angst überfällt mich, ich könnte ihre
Liebe einmal verlieren--durch einen Wandel der Verhältnisse. Ich sinne
selbst ratlos darüber nach, was in meiner Seele vorgeht. Tausend
Gedanken bestürmen mich. Oft habe ich schon gedacht: Wenn sie doch
einmal das Leben so liebt--ich möchte es ihr erhalten--ihre Fröhlichkeit
ist doch lauter Sonnenschein;--und dann--dann--möchte ich, daß sie der
Himmel früh zu sich nähme, damit sie Sorge und Kummer nie kennen lernt.
Aber kann man eines geliebten Menschen Tod wünschen? Das ist doch
unfaßbar. Ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Ich möchte ändern und
vermag es nicht--vermag es durchaus nicht. Die Schwächen, die meiner
Liebe entspringen, sind größer als meine bessere Einsicht.“

Teut saß stumm und schaute vor sich nieder, denn neben ihm seufzte der
Mann in tiefer Bewegung auf.--Welch ein Einblick in das Seelenleben
eines Menschen. Voll Klarheit, ja voll Ungeduld und Tadel über
unhaltbare Zustände, und doch aus eifersüchtiger angstvoller Liebe zu
schwach, um beizeiten ein zweifellos hereinbrechendes Unglück von sich,
seinem Weibe und seinen Kindern abzuwenden?!

Einmal zuckte Teut unbehaglich zusammen, denn plötzlich stieg die
Zukunft vor ihm auf. Die unabweisbaren Folgen solcher Verhältnisse
traten unheimlich vor seine Seele. Vielleicht war ihm in dem
Clairefortschen Hause eine große, undankbare Aufgabe beschieden, und
jene Selbstliebe, die Unbequemes von sich stößt und nur unbehelligt
genießen will, behielt die Oberhand. Was scherten ihn am Ende die
fremden Menschen, dieser Mann mit seiner Unschlüssigkeit, seiner
Melancholie und seinem ehelichen Unbehagen, diese in den Tag lebende
Frau mit ihrer Unerfahrenheit und ihrem sorglosen Lebenswandel?

Aber das war nur eine schnell vorübergehende Regung. Er sprang auf,
faßte Claireforts Hand und sagte:

„Und trotz alledem muß geschehen, was Sie für Recht erkennen, lieber
Clairefort! Ich bin bereit, Ihnen zu helfen, soweit es in meinen Kräften
steht. Soll ich einmal mit Frau Ange reden?“

Bei diesem Anerbieten bohrte sich ein eigentümlicher Blick aus den Augen
des Grafen auf den Sprechenden. Aber zum Glück bemerkte Teut ihn nicht,
und als die Männer nach längerer Auseinandersetzung schieden, ging jener
unter dem Eindruck, daß Clairefort, selbst machtlos zum Handeln, die
dargebotene Hand aufs dankbarste ergriffen habe.

Wohlan denn! Teut war beiden näher getreten als kaum anderen Menschen je
zuvor; er liebte Ange und die Kinder, die deshalb ein Recht auf ihn
gewonnen hatten. Er wollte handeln--handeln wie ein Mann, aber auch wie
ein kluger, besonnener Mann!

       *       *       *       *       *

Seit Stunden ging Teut in seinem Zimmer auf und ab. Immer neue Gedanken
durchkreuzten sein Gehirn. Oft warf er sich in einen Stuhl, schlug nach
seiner Gewohnheit, wenn ihn etwas erregte, heftig mit den Hacken seiner
Reitstiefel aneinander und strich lebhaft seinen langen, blonden
Schnurrbart. Die Backenknochen seines stark markierten, mageren
Gesichtes traten scharf hervor, und fortwährend ließ er das Glas, das in
seinem linken Auge steckte, fallen, um es im nächsten Augenblick wieder
an seinen Platz zu schieben. Wenn dies, der neueren Zeit angehörende
Monocle nicht sein Gesicht verunziert, und wenn er nicht den Husarenrock
getragen hätte, würde man geglaubt haben, einen Ritter früherer Zeiten
vor sich zu sehen. Diese hohe, wettergebräunte und schon etwas stark
gefurchte Stirn, diese blitzenden, unheimlich kühnen Augen, dieser
sarkastische Mund und dieser halbschlanke, große, starke, geschmeidige
Körper erinnerten an die Gestalt eines Recken vergangener Jahrhunderte.

„Der Teufel werde klug aus der Geschichte!“ murmelte er, endlich sein
Sinnen unterbrechend, griff in eine Kiste mit schweren Cigarren,
entzündete eine, verschluckte den Rauch und stieß ihn in einer mächtigen
Säule wieder von sich.

In diesem Augenblick öffnete sein Diener Jamp die Thür und überreichte
die Rechnung eines Blumenhändlers in Höhe von einigen hundert Thalern.
Es war der aufgesummte Betrag für die frischblühenden Bouquets, welche
Ange ausnahmslos jeden Tag in ihren Zimmern fand. Teut prüfte, zog das
Schubfach und fügte der Zahlung ein reichliches Trinkgeld bei. Nun
schloß sich wieder die Thür und nun waren auch Teuts Gedanken wieder bei
Ange. Er rief sich die letzte Unterredung mit Clairefort ins Gedächtnis
zurück und alles das, was vorhergegangen war. Oft erschien ihm wie ein
Traum, was er in den letzten zehn Monaten erlebt, vornehmlich das, was
er an sich selbst erfahren hatte.

Als jüngerer Offizier, kurz bevor ihm das Vermögen seines Vaters und
seiner Geschwister zugefallen war, hatte er um ein junges Mädchen aus
bürgerlichem Stande geworben und seine Heiratspläne unter Umständen
aufgeben müssen, die ihm das weibliche Geschlecht verächtlich gemacht
hatten. Er sah fortan in den Frauen nur ein Spielzeug, fast weniger als
das.

Nun war er Ange Clairefort begegnet und liebte sie nach acht Tagen mit
einer brennenden Leidenschaft.

Wenige Tage nach dem erwähnten Gespräch ritt er mit Ange aus. Es war ein
wundervoller Herbsttag, einer jener Tage, an denen Frühling und Sommer
noch einmal auf die verlangende Erde zurückzueilen und alle ihre
Schönheit reifer und gemilderter zugleich über die Welt auszuströmen
scheinen.

Die Sonne funkelte in den Bäumen, verwandelte mattes Gelb in glänzendes
Gold und braune Blätter in goldkupfernes Metall. Die ganze Natur
durchströmte sie mit einer durchsichtigen Helle, mit einer Klarheit, als
sei jedes unreine Stäubchen von erfrischenden Lüften fortgeweht, und als
seien diese selbst herabgestiegen aus kühlen, stillen Himmelshöhen.

Teut war kein Mensch, der sich jemals in Gefühlsäußerungen erging. Er
empfand alles Schöne und Gute, aber es lag nicht in seiner Natur oder es
fehlte ihm der Drang, seine Empfindungen in Worte zu übersetzen.

Anders Ange. Die sanften Farben auf ihren Wangen glühten, sie sog die
Luft ein, hielt das seit einer Viertelstunde rasch dahintrabende Pferd
an und warf einen fragenden Blick auf ihren Begleiter. Sie hatten,
seitdem sie das Haus verlassen, kein Wort gewechselt. Niemals war Teut
so stumm gewesen wie heute.

„Drüben!“ sagte er und zeigte auf ein kleines unter den Bäumen
verstecktes Häuschen. Er hielt nicht, wie Ange, sein Pferd an.

„Weiterreiten?“ fragte sie, als ob sie ihn nicht verstanden. Sie ärgerte
sich über seine formlose Art, die sie ihm schon häufig im stillen
vorgeworfen hatte. Teut nickte, ohne etwas hinzuzufügen.

So erreichten sie beide--Ange in einer etwas unbehaglichen Stimmung--das
Wirtshaus. Ehe der Stallknecht herbeieilen konnte, war Teut
herabgesprungen und hatte Ange vom Pferde gehoben. Es war, als ob
Christophorus das Jesukindlein über den Fluß tragen wolle. Wie ein
zartes Püppchen lag sie ihm im Arm, und wie ein Riese setzte er sie
nieder.

„Drüben ist eine herrliche Aussicht. Wollen wir gehen?“ fragte er artig
und reichte ihr den Arm.

Aber sie dankte, schürzte das Reitkleid und schritt neben ihm durch
einen linksseitig einbiegenden, mit Bäumen besetzten Weg. Nach wenigen
Augenblicken berührten sie eine Kirche und einen Gottesacker. Es sah
recht verwildert dort aus. Aus der zerbrochenen eisernen Einfriedigung
hingen Schlingpflanzen in den Farben des Herbstes, und Unkraut wucherte
auf den Gräbern. Dann stiegen sie eine leichte Anhöhe empor und
schritten auf einen Eichenwald zu. Kleines, kurzes Gebüsch drängte sich
über den Fußpfad, es ging unregelmäßig bergauf, bergab.

Endlich umfing sie der Herbstwald und die Kühle. Hier glänzte es hell
durch die Bäume; lange, wundervolle Lichtstreifen lagen auf dem grünen
Erdboden. Dort flimmerte es im dichteren Gebüsch, als ob kleine
versteckte Sonnen vergeblich hervorzubrechen versuchten, und einmal, bei
einem Durchblick zur Rechten, schauten sie in einen verlassenen,
gänzlich abgeschlossenen, mit Gras dicht bewachsenen Feldweg, auf dem
die Einsamkeit einen märchenhaften Schlaf zu träumen schien. Aber sie
schritten weiter, erreichten endlich eine Bank auf einer von
blätterreichen Eichen umstandenen Anhöhe, und sahen nun meilenweit ins
Land.

Es ging ein sanftes Jubilieren durch die blaue, durchsichtige Luft. Die
letzten Vögel zwitscherten, und riesige Lichtströme warf die Sonne über
Wiesen, Felder und ferne Wälder. Hier und dort glitzerten Streifen eines
in malerischen Windungen auftauchenden Flusses zwischen den sanft
dahingestreckten Matten, als ob plötzlich die Erde ausgebrochen sei und
flüssiges Silber seine Bahn suche.

Ange ward gedrängt, ihrem Entzücken Ausdruck zu geben, aber ihr
Begleiter war scheinbar noch ebenso mißmutig wie vorher.

„In welch schlechter Laune haben Sie mich heute begleitet?“ hob sie an
und richtete ihren lebhaften Blick auf sein unbewegliches Gesicht.

„Nein!“ erwiderte er. „Aber ich habe einiges auf dem Herzen, und
hier“--er lud sie zum Sitzen ein--„will ich Ihnen einmal sagen, wozu
bisher stets der rechte Augenblick gefehlt hat.“

Die feine Röte auf Anges Gesicht wich einer leichten Blässe. Ein halb
zaghafter, halb ungeduldiger Ausdruck stahl sich in ihre Mienen, und
sie faßte die Reitgerte fester. Aber sie überwand sich und sagte
ungezwungen:

„Wohlan, setzen wir uns und erzählen Sie mir etwas. Aber nichts, nichts
Unangenehmes heute, lieber Teut. Ein andermal. Ich bin fröhlich; weshalb
mir das nehmen? O, ich bin glücklich hier in dieser schönen Welt.
Bitte!“

Teut zuckte zusammen. Immer, wenn sie in diesem zärtlichen und bittenden
Tone sprach, zögerte er, ihr auch nur durch tadelnden Blick eine
Verstimmung zu bereiten. Wieviel besser verstand er jetzt Claireforts
Zaudern als ehedem! Dieses unschuldsvolle Kind mit seiner sorglosen
Fröhlichkeit und seiner Freude am Leben erschien ihm wie ein eben aus
der Hand des Schöpfers hervorgegangenes Kunstwerk. Und diesen reinen
Spiegel sollte er trüben, gar zersplittern? Aber einmal mußte es doch
geschehen. Er strich wiederholt den Schnurrbart und sagte endlich:

„Liebe Frau Ange! Hören Sie zu. Ich bitte Sie bei unserer Freundschaft
darum.“

Etwas ganz Besonderes mußte es doch sein. In Anges Gesicht trat ein
hilfloser Ausdruck, und ein eigener Glanz schimmerte in ihren sanften
Augen.

„Ich höre!“ sagte sie leise und legte die Hände ineinander.

„Sehen Sie, liebe Ange--Darf ich Sie so nennen?“ Er wandte sich zu ihr,
sah sie fragend an und über sein edles, männliches Gesicht flog ein
hinreißender Zug von Herzensgüte. Und sie nickte mit einer Miene und
bejahte mit einem Blicke, als ob sie ein Engel sei, der einem Sünder
Gottes Verzeihung überbringe.

„Wir kennen uns nun schon fast ein Jahr. Durch Sie hat sich mein Leben
fast ganz verändert. Ich hatte bereits von allem Abschied genommen, was
Haus und Familie heißt, und mich in die Rolle eines alten Junggesellen
hineingefunden. Meine dienstliche Beschäftigung, der Umgang mit den
Kameraden, die Befriedigung allerlei berechtigter und unberechtigter
Passionen, nach Umständen einmal ein Stück ungehinderter Freiheit--ich
könnte ja ganz ein freier Mann sein und meinen Neigungen leben, aber ich
fühle Pflichten in mir gegen mein Vaterland und meinen König--genügte
mir. Da sah ich Sie, Ange; und weshalb sollte ich es verhehlen--ich
liebte Sie bei unserer ersten Begegnung und werde Sie lieben, solange
ein Atem in mir ist.“

Er sah sie nicht an, während er sprach.

Wenn er emporgeschaut hätte, würde er bemerkt haben, daß sie wie
träumend ins Land und in die Ferne schaute; aber er würde auch in ihrem
Angesicht gelesen haben, wie sie alle seine Worte verschlang und wie
die letzten sie erbeben machten.

Ein feuchter Glanz verdunkelte auf Augenblicke ihre Augensterne, und
versteckt strichen ihre kleinen Finger über die Wimpern.

„Aber weil ich Ihnen so gut bin--Sie wie ein Bruder und Freund liebe,“
fuhr Teut fort, „muß ich Ihnen etwas sagen, was Ihr Glück betrifft.“ Und
nun sprach er in langer Rede auf sie ein. Er tadelte und tröstete, er
forderte und flehte. Er teilte ihr Carlos' Worte an jenem Tage mit,
klärte sie über ihre Verhältnisse auf und ließ das Bild einer düsteren,
vielleicht durch ihre Handlungsweise heraufbeschworenen Zukunft vor ihr
Auge treten. Atemlos horchte sie auf und erbebte. Welch drohende,
vernichtende Wolken hingen über ihrem ahnungslosen Haupt! Nachdem er
geendet, saß sie lange stumm und sprach kein Wort. Aber als dann aus
seinem Munde ihr Name drang: „Liebe Ange, liebe Freundin, zürnen Sie
mir?“ da überwältigte sie ihr Gefühl und sie neigte das Haupt und
schluchzte.

Er wagte es: er strich sanft über ihr Haar; er that, als ob er nichts
anderes fühle als Mitleid, nichts anderes geben wolle als Trost, und
doch bedurfte er seiner ganzen Kraft, um sie nicht in dem Ausbruch
unterdrückter Leidenschaft ans Herz zu ziehen.

       *       *       *       *       *

Am nächsten Tage nach diesem Ausflug traten Clairefort und Teut nach
Tisch--es waren heute ausnahmsweise nur drei Gedecke, da die Kinder
früher speisten--in des ersteren Gemach.

Clairefort schien düsterer als je, es war während der Tafel, bei welcher
Tibet mit seinem geräuschlosen Schritt bedient hatte, fast keine Silbe
über seine Lippen gekommen, und Ange--noch unter dem Eindruck der
jüngsten Unterredung--verhielt sich ebenso einsilbig.

In dem matt erleuchteten, dunkel tapezierten Zimmer kam es Teut heute
fast unheimlich vor. Seltsam schaute der Marmorkopf einer Venus aus dem
Dunkel hervor, und düster starrten ihm die Arabesken aus dem Teppich
entgegen, der den Fußboden bedeckte.

Eine Weile saßen beide Männer rauchend und ohne zu reden, nebeneinander.
Jedem lagen Worte auf der Zunge, keiner wollte zuerst sprechen. Endlich
sagte Clairefort tonlos:

„Sie haben gestern mit Ange gesprochen, Teut?“

Der Angeredete nickte, ohne etwas zu erwidern.

Clairefort wiederholte nun seine Frage.

„Ja,“ sagte Teut, „ich habe mit Ihrer Frau geredet.“

„Was sagte sie, bitte?“

Ohne auf diese Frage unmittelbar zu antworten, entgegnete Teut: „Hat
sie Ihnen keine Mitteilung gemacht?“

„Nun--ja und nein! Sie sprach sehr unzusammenhängend. Sie hing sich an
meinen Hals, weinte und rief: ‚Ich will mich bessern, Carlos!‘ Ich
vermutete, daß diese Äußerung aus dem Gespräch mit Ihnen hervorgegangen
sei. Gesagt hat mir Ange nichts.“

Teut horchte auf.--Wie rührend! Welch eine liebenswürdige Reue lag in
diesen paar Worten!

„Gut! Warten wir also ab, Clairefort!“

„Ja--“ sagte dieser gedehnt und offenbar unbefriedigt.

Jetzt sah Teut Clairefort versteckt ins Auge. Ein verdrossener, nervöser
Zug lag auf seinem Gesicht. Plötzlich stieg in Teut ein beunruhigender
Gedanke auf. War Clairefort eifersüchtig? Was stand ihm und Ange bevor,
wenn seine Vermutung sich betätigte? Und zugleich überfiel ihn ein
gefährlicher Drang, diesen Verdacht zu lösen und zu bekämpfen. Er wollte
Vertrauen, er wollte für Freundschaft und Hingebung nicht Mißtrauen,
Verstimmung--vielleicht weit Schlimmeres noch.

„Clairefort--!“ hob er durch die peinvolle Stille an. „Clairefort, ich
bin Ihr Freund! Sie hatten wohl nie einen aufrichtigeren Freund!
Glauben Sie das?“

Clairefort erhob den Blick und sah Teut verlegen an.

„Ja, lieber Teut! Weshalb fragen, weshalb--beteuern Sie?“

Der letzte Satz kam zögernd hervor. Die Worte verfehlten auch ihre
Wirkung nicht, denn Teut sagte abweisend:

„Ich beteuerte nichts! Ich wollte Ihnen nur einmal, ein einziges Mal,
nachdem Sie mir ein Vertrauen schenkten, das man höchstens etwa seinem
Bruder in ähnlichen Verhältnissen zuwendet, sagen, daß Sie--was immer
sich ereignen könnte--darauf rechnen dürfen, daß ich Ihr wirklicher
Freund bin und stets als ein solcher handeln werde. Verstehen wir uns
jetzt?“

„Ja,“ nickte Clairefort; er schien aber keineswegs überzeugt.

Teut sprang auf. Er trat auf Clairefort zu und faßte seine Hand. „Armer
Clairefort,“ sagte er. „Ich bedauere Sie aus tiefster Seele, um so mehr,
weil ich verstehen kann, was Sie bedrängt. Aber niemals begegnete ein
Mensch einem anderen mit ungerechterem Mißtrauen. Und nun noch einen
Rat, bevor wir heute scheiden. Erleichtern Sie Ihrer Frau die
Entschlüsse. Handeln Sie, Clairefort, und seien Sie dabei ein Mann und
ein wohlwollender Freund zugleich. Verstehen Sie?“

Clairefort antwortete nichts. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner
Brust. Teut wandte sich zur Thür. Als er eben das Zimmer verlassen
wollte, erhob sich ersterer rasch, berührte Teuts Schulter und sagte
leise:

„Verzeihung, Teut! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!“

Die Erinnerung an diesen Vorfall beschäftigte Teuts Gedanken. Aber doch
begriff er eins nicht, und deshalb grübelte er hin und her.

Ange hatte ihm erklärt, die Sorgen ihres Mannes seien sicher
ungerechtfertigte. Schon seine Mutter habe unter dem Wahne gelebt, sie
könne nicht auskommen und sei doch im Besitz eines ungewöhnlich großen
Vermögens gewesen. Dies wäre eine Krankheit aller Claireforts. Es sei
ungenau, behauptete sie, daß die Zinsen nicht genügten, um alle Ausgaben
zu bestreiten. Sie glaube im Gegenteil zu wissen, daß Tibet
vierteljährliche Überschüsse, von denen ganze Familien bequem würden
leben können, zum Banquier trage. Auch habe sie selbst ein völlig
unberührtes, nach ihrem Tode den Kindern zufallendes Vermögen, das
ausreiche, eine Familie mit größeren Ansprüchen zu befriedigen.
Trotzdem gebe sie aber zu, daß ihr Aufwand ein großer sei, daß sie
vieles verschwende, und daß es verständig sei, alles einschränken.

Sie bat Teut, da ihr Mann Geldverhältnisse, wer weiß aus welchen
Gründen, niemals gegen sie berühre, ihn auszuforschen und ihr zu
berichten. Sie könne, fügte sie hinzu, auch Tibet fragen, aber dieser
sei in solchem Punkte stets verschlossen. Zudem erachte sie es als nicht
angemessen, einen Untergebenen zwischen sich und ihren Gemahl zu
stellen.

Bei der nächsten Begegnung zwischen Clairefort und Teut nahm sich
letzterer vor, diesen Punkt schon deshalb durch eine Frage aufzuklären,
weil alle Maßnahmen danach zu treffen waren. Falls Clairefort die
Wahrheit gesprochen, mußte Teut, um nicht auf halbem Wege stehen zu
bleiben, auf sofortige Einschränkungen dringen, und diese konnten doch,
wie die Dinge lagen, nur von Ange ausgehen.

An einem der nächsten Tage, an welchem Clairefort Teut in der alten
herzlichen Weise begegnete, knüpfte letzterer an diesen Zwischenfall an
und sagte:

„Sie haben mich, Clairefort, in Ihre intimsten Verhältnisse eingeweiht.
Ich habe nicht nach den Gründen gefragt. Entweder war es die Folge jenes
natürlichen Dranges, der uns in schweren Nöten zur Mitteilung treibt,
oder Sie erkannten Ihre Machtlosigkeit und fühlten das Bedürfnis, sich
einer Freundeshilfe zu bedienen. Gleichviel! Sie schenkten mir Ihr
Vertrauen, und ich gab Ihnen mein Wort, dieses nach bestem Vermögen zu
rechtfertigen. Unter solchen Umständen ist nun aber völlige Offenheit
eine unbedingte Notwendigkeit.“

In Claireforts Augen blitzte es bei dieser Anrede auf. Eine seltsame
Spannung malte sich in seinen Zügen; offenbar mißdeutete oder
überschätzte er den Sinn der Worte. Teut verstand nicht, was Clairefort
beunruhigte, aber um so mehr beeilte er sich, fortzufahren:

„Eines ist noch der Aufklärung bedürftig,“ sagte er in gelassenem Tone,
„und ich bitte meine Frage nicht als eine ungerechtfertigte Einmischung
zu betrachten. Ange behauptet, daß Sie nur eine übertriebene Sorge
beherrsche, daß Ihre und ihre eigenen Renten so groß seien, daß jährlich
erhebliche Überschüsse aus den Zinsen zurückgelegt werden könnten.“

„Nun,“ rief Clairefort, offenbar erleichtert, aber immerhin erregt, und
in dieser Erregung nur den letzten Äußerungen Teuts Gehör schenkend,
„ich denke, daß wir keine Kinder sind! Es ist, wie ich Ihnen sagte. Mein
Ehrenwort darauf,--das ich indes nur erhärtend hinzufüge, weil die
Behauptung meiner Frau der meinigen gegenübersteht. Durch den Sturz
eines Bankhauses habe ich große Summen verloren, wodurch mein Vermögen
ganz außerordentlich zusammengeschmolzen ist. Das weiß auch Ange, denke
ich--“

„Nein! Sie weiß gar nichts! Aber gut,“ sagte Teut, „wenn dem so ist,
dann werde ich mit Ihrer Erlaubnis handeln!“

       *       *       *       *       *

Kurze Zeit darauf hatte Teut Gelegenheit, noch einmal mit Ange zu
sprechen. Ein Vorfall, der nur allzu bezeichnend für sie war, gab dazu
Veranlassung. Er trat am Spätnachmittag ins Haus und fand sie bei der
Besichtigung eines seidenen Kleides, das sie gerade der Jungfer mit den
Worten zurückgab: „Nein, auch das geht nicht. Ich werde mir dann für das
Fest ein neues machen lassen und heute noch ausfahren, um den Stoff
auszusuchen.“

„Ich störe wohl, Frau Gräfin--“ hob Teut, rücksichtsvoll ins Zimmer
tretend, an.

Sie schüttelte ihren Kinderkopf, raffte errötend und verlegen allerlei
auf den Stühlen umherliegende Garderobengegenstände auf, schob sie der
Kammerjungfer über den Arm und hieß sie und Erna, welche eben, die Thür
sperrweit offen lassend, ins Zimmer gestürmt kam, gehen.

„Nein, halt! Warten Sie, Charlotte!“ unterbrach sie aber doch ihren
Befehl. „Der Herr Rittmeister mag entscheiden.“

Die Jungfer that, wie ihr gesagt wurde. Sie legte die Kleider auf einen
Stuhl und suchte unter den überreichen Ballroben eine hervor, die sie
ihrer ungeduldig wartenden Herrin überreichte.

„Ich verstehe von Kleidern gar nichts,“ sagte Teut schroff. Es störte
ihn, daß Ange in Gegenwart der Zofe mit ihm dergleichen Dinge besprechen
wollte.

Ange sah ihn mißmutig an, wollte etwas erwidern, unterdrückte aber die
Entgegnung.

Inzwischen nahm Erna eines der Kleider an sich, fuhr mit den Armen
hinein, schob die Schleppe mit den Füßen ungeschickt hin und her, so daß
sie diese mit den bestäubten Schuhen berührte, und rief endlich laut:
„Mama, Mama, sieh einmal!“

„Aber Erna, Erna!“ flehte Ange und eilte erschrocken hinzu. Das Kind
aber hob den seidenen Rock empor, lief rasch davon und rief: „Das müssen
Jorinde und Ange sehen! Nein, nein, ich gebe es nicht!“

Ange ließ denn auch das Kind gehen und machte der Zofe ein Zeichen,
nachzueilen.

Als sie zu Teut emporblickte, begegnete sie seiner mißbilligenden
Miene. „Unverbesserlich sind Sie, liebe Gräfin,“ sagte er und schüttelte
den Kopf.

„Nicht schelten!“ bettelte sie und sah ihn mit ihrem bezaubernden Blicke
an. „Aber doch ernsthaft raten! Sehen Sie, liebster Teut, das ist mein
bestes Kleid, und darin kann ich doch den Ball nicht besuchen, nicht
wahr?“

Allerdings: das Kleid war unverantwortlich behandelt. Die Spitzen, mit
denen man es besetzt hatte, waren zerrissen; die Schleppe war besudelt,
an der Taille fehlten Knöpfe. Im übrigen war der Stoff eine mit
anmutigen Blumenbouquets durchwirkte weiße Seide, einer Königin würdig.

„Man könnte die Robe einer geschickten Schneiderin übergeben, sie mit
neuen Spitzen garnieren und säubern lassen,“ sagte Teut phlegmatisch. Er
war selbst erstaunt über den Umfang seiner Kenntnisse und über seine
praktischen Ratschläge.

„Nein, nein!“ sagte Ange, als ob es sich um ein Puppenkostüm handle.
„Hier ist ja sogar ein großes Loch!“ und sie zeigte ihm den Rock, in
welchem übrigens nur die Naht hinten seitlich eingerissen war.

„Kann genäht werden!“ entschied Teut mit seiner stoischen Ruhe.

„Ach, mit Ihnen über Toilette sprechen! Kommen Sie, Teut! Wir haben
wundervolle Melonen erhalten. Der Frühstückstisch ist gedeckt.“

„Nein,“ sagte er, „erst muß ich Sie sprechen. Heute ist die erste
Lektion.“

Sie sah ihn mit ihrem naiven Blick an, dann glitt ein ungeduldiger
Ausdruck über ihr Gesicht.

„Wieder eine Waldpredigt! Nein, heute mag ich nicht; weshalb quälen Sie
mich! Ach, wie war ich sonst glücklich! Nun stehen Sie neben mir wie ein
Schulmeister; ich bin doch kein Kind mehr!“

„Doch, ja,“ sagte Teut kurz. Und dann weicher: „Sie sind ein Kind, ein
liebes, reizvolles Kind. Aber nun kommen Sie! Lassen Sie uns noch einmal
reden!“

Er stand auf und schloß die Thür. Ange graute bei diesen Vorbereitungen.

„Zuerst, liebe Freundin--bitte, setzen Sie sich doch mir gegenüber, dort
in den Fauteuil“ (sie that es schmollend und zerpflückte eine spät
erblühte weiße Rose, deren Blätter sie auf den Teppich fallen
ließ)--„ein sehr ernstes Wort! Ich habe mit Clairefort gesprochen; es
ist, wie er sagt. Sie besitzen heute nur einen Teil Ihres beiderseitigen
Vermögens.“

Er hielt einen Augenblick inne und beobachtete die Wirkung seiner Worte.

„Und wie ist dies zugegangen?“ fragte Ange mehr neugierig als
erschrocken.

„Ein Banquier, bei dem Clairefort seine Papiere niedergelegt hatte,
mußte seine Zahlungen einstellen. Es ging dort alles verloren.“

„Der arme, arme Clairefort! Ist er sehr betrübt?“ hob sie besorgt an.
Sie forschte ängstlich in Teuts Angesicht; sie dachte nur an ihren Mann,
wie er die Sache aufgenommen, in welcher Stimmung er sei. Ob sie gehen
solle, um ihn zu trösten, ihm zu sagen, daß sie auch fortan sparsamer
sein wolle. Es bliebe dann gewiß noch genug, schloß sie.

„Ja, das ist es. Nun sehen Sie doch ein, daß Sie ganz anders leben
müssen, daß Sie den großen, überflüssigen Hausstand einschränken, die
Kinder regelmäßig in die Schule schicken und sich sorgsamer um Ihre
Wirtschaft bekümmern müssen!“ sagte Teut ernst.

Sie nickte wie ein Kind, das gescholten wird, das voll guter Vorsätze
ist, zerknirscht anhört, was es verbrochen hat, bis Natur und Freiheit,
bis Spiel und Tändelei alles wieder verwischen.

„Das erste wird sein, daß wir auch Tibet ins Vertrauen ziehen. Wir
werden überlegen müssen, wer von der Dienerschaft bleiben kann, welche
Ausgaben überflüssig sind, wie die Geselligkeit zu beschränken, wie
Fuhrwerk und Pferde drunten--“

„Meine himmlischen Pferde auch?“ rief Ange „Und gar die Hunde? Müssen
wir ein anderes Haus, eine andere Wohnung beziehen? Ach, Teut, sagen
Sie, ist's denn so schlimm? Besitzen wir nichts, gar nichts mehr?
Sprechen Sie ein Trostwort!“

Mit tränendem Blick sah sie zu ihm empor und erwartete zitternd seine
Antwort.

Umfang und Bedeutung der eingetretenen Verhältnisse überschätzte sie nun
so sehr, daß sie sich, wie ihre weiteren Fragen ergaben, schon in einem
kleinen, beschränkten Häuschen sah und mit Ängsten an ihre Kinder
dachte, die dadurch Entbehrungen erleiden würden. Teut erkannte besorgt,
welchen Eindruck seine Worte hervorgerufen, welche Schreckbilder er
unbeabsichtigt heraufbeschworen hatte.

„Sie sollen nichts entbehren, liebe Freundin!“ beruhigte er, hingerissen
von Anges Anmut, von ihrem bei alten diesen Erörterungen hervortretenden
selbstlosen Wesen, und strich in heftiger Bewegung den Schnurrbart.
„Nichts, meine teure Freundin! Ich stehe dafür! Nur Überflüssiges,
Thörichtes wollen wir beseitigen. Schon um der Kinder willen werden
wir--“ Er betonte die Worte und stockte.

Sie schaute ihn an. Was lag alles in diesen guten, klugen Augen, die
sich mit solcher Innigkeit auf sie richteten. Und da riß es sie fort;
sie schnellte empor und umschlang den tröstenden Freund in stürmischer
Freude mit ihren Armen.

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür; beide flogen auseinander.
Clairefort aber, der sich zeigte, sagte mit einem eisigen Blick: „Ach,
ich störe wohl?“

„Carlos, Carlos!“ rief Ange, ahnend, daß sich etwas Furchtbares ereignen
würde, und stürmte dem Fortgegangenen nach. Teut aber schlug heftig mit
den Hacken der Reiterstiefel zusammen und seufzte einige Male tief auf.

       *       *       *       *       *

„Wann kann ich die Ehre haben, Sie zu sprechen?

von Clairefort.“

„Bitte, kommen Sie rasch!

Ange.“

Teut blickte gedankenvoll auf zwei Blättchen, die er empfangen hatte und
die diese Worte enthielten. Seit einigen Tagen war er nicht zu
Claireforts zurückgekehrt; nun war geschehen, was er hatte kommen sehen.

Er übersetzte sich die Worte seiner Freunde in seine Sprache.
„Rechtfertigen Sie sich!“ lauteten diese.--„Eilen Sie, ich bin sehr
unglücklich und bedarf Ihres Trostes!“ deutete er sich jene.

Lange Zeit saß Teut grübelnd da und ließ alles, was geschehen war, noch
einmal an seinem Geist vorübergehen. Hin und wieder erhob er den Blick,
und dieser haftete mechanisch an den vielen Gegenständen, die seine
Gemächer ausfüllten. In einem genialen Durcheinander sah man die
widersprechendsten Dinge. Auf einem seidenbezogenen Sessel lag ein
neuer, ungebrauchter Sattel, an den Wänden zur Linken hingen, flankiert
von ausgestopften Vogel- und anderen Tierköpfen, Pistolen, Säbel und
sonstige alte und neue Waffen. Die rechte Wandseite nahm ein übergroßes,
wundervoll ausgeführtes Frauenbrustbild in der zarten Manier Angelika
Kaufmanns ein; daneben waren in unregelmäßigen Abständen Photographieen,
zahlreiche Kupferstiche und Lithographieen aufgehängt, teils Porträts,
teils Jagd- und Reiterbilder: hier ein Sturz vom Pferde beim Rennen,
dort rote Röcke mit Trara hinter dem fliehenden Wild im Walde.

Auf den Tischen lagen Berge von Handschuhen, vertrocknete Blumen,
aufgerufene Kartons und Jagdutensilien. Auf einem chinesischen Kästchen
erhob sich eine Bronzefigur Napoleons I. mit verschränkten Armen. Ihm
zur Seite stand eine halbnackte, zum Sprung ins Bad bereite
Frauengestalt aus weißem Marmor. Auf einer an den Tisch gerückten
Etagère lagen in merkwürdiger Ordnung zahlreiche Cigarrenetuis: viele
mit Wappen in Silber oder Elfenbein; auch kostbar gebundene Bücher;
daneben erhoben sich einige Medaillonbilder auf zierlichen
Gestellen--und all diese Gegenstände beherrschte eine weißschimmernde
marmorne Klytia mit dem schwermütig sanften Blick. Auf dem grünen
Teppich, der das ganze Zimmer bedeckte, war vor einem Schreibtisch das
riesige Fell eines Eisbären ausgebreitet, und den ersteren bedeckten
zahlreiche Schriften, Papier, aufgeschnittene Bücher und
Schreibmaterialien, die sich um eine alte französische Uhr gruppierten,
welche hier Platz gefunden hatte. Und ringsum saubere hellpolierte oder
tiefschwarze Möbel; auch einige primitiv gearbeitete, aber praktisch
eingerichtete Schränke, aus deren geöffneten Schubladen Rehposten,
Patronen und Pulversäcke hervorschauten. Endlich stand in der Mitte des
Zimmers ein mit einem Tigerfell behangener Chaiselongue, der aber selten
benutzt zu werden schien, denn eine ganze kleine Bibliothek war hier
aufgeschichtet.

Früher hatte Teut täglich viele Stunden in seiner Wohnung zugebracht. Er
blätterte in den Journalen, las die neuesten deutschen und französischen
Romane, empfing Billetdoux und beantwortete sie, schraubte wohl mit
zufriedenem Lächeln einen Flintenlauf vom Kolben oder drückte an dem
Schloß und freute sich der schönen Ciselierungen am Rohr. Oder er
richtete im Nebengemach, im Eßzimmer, ein Abendessen, bereitete selbst
die Bowle und stand in lederner Hausjoppe neben Flaschen und Gläsern.
Aber alles hatte seinen Reiz verloren. Jede Stunde, die er nicht im
Dienst war, floh er die Räume und eilte zu Ange.

Aber noch mehr. Die rechte Freude am Dasein war dahin; es gab nur noch
Kämpfe, Sorgen, Selbstüberwindungen, um ein gegebenes Wort zu erfüllen.
Ihr guter Geist wollte er ja fortan auf Erden sein, das hatte er
geschworen--ihr Freund--ihr stumm verzichtender Verehrer.--

„Kleine Ange, kleine liebe Ange,“ flüsterte der Mann und grub die Zähne
in die Lippen, um seiner innerlichen Erregung Herr zu werden. „Nun
beginnt der große Roman--der Roman unseres Lebens!“

       *       *       *       *       *

Teut beantwortete beide Briefe zugleich. Ange schrieb er:

„Auch von Carlos erhielt ich einige Zeilen. Der kurze formelle Inhalt
läßt mich schließen, daß es sich um nichts Gutes handelt! Ich komme
bestimmt heut abend. Dann sieht Sie

Ihr getreuer Teut.“

Dem Freunde aber sandte er nur seine Karte und schrieb:

„Ich besuche Sie kurz vor der Theestunde in Ihrem Zimmer.

v.T.“

Als aber der Nachmittag kam, änderte Teut seinen Entschluß. Es fiel ihm
ein, daß er den Kameraden versprochen hatte, abends den Besuch eines
Freundes im Kasino zu feiern. Er ging deshalb früher zu Claireforts. Als
er die Wohnung erreichte, stieg er, in Gedanken verloren und ohne sich
umzusehen, die Treppe empor. Er wünschte, obgleich er das Richtige zu
vermuten glaubte, zunächst von Ange zu erfahren, was vorgefallen sei,
und dann Clairefort aufzusuchen. Zu seiner Überraschung fand er alle
Thüren offen und weder jemanden im Empfangssalon noch in Anges
Gemächern, überall aber eine große Unordnung.

Hier stand das Schaukelpferd eines der Knaben, dort hing, neben
fortgeworfenem Spielzeug, eine Puppe mit gesenktem Kopf und schlaffen
Armen rückwärts über einem Stuhlpolster. Auf dem Tisch des Wohngemaches
lagen Kinderhüte und der hastig abgestreifte Paletot eines der Kinder.
In Anges Schreibtisch war eine Schublade aufgezogen, und eine Sammlung
von zartgefärbten Handschuhen lag in wilder Unordnung durcheinander.
Einer hing mit schlaffen Fingern über den Rand des Schubfaches hinaus.

Teut schritt weiter bis an die Kinderzimmer. Er fand auch hier
niemanden, aber ein ähnliches Durcheinander.

Die Wohnung machte den Eindruck, als ob eine Familie in fliegender Hast,
vor einer Gefahr flüchtend und alles im Stiche lassend, davongeeilt sei.
Kopfschüttelnd ging Teut weiter und trat gegenüber in Claireforts
Privatgemach. Er klopfte. Keine Antwort. Er öffnete behutsam. Hier fand
er es wie stets: dieselbe peinlich-übertriebene Ordnung, derselbe
düstere Ernst, derselbe Mangel an freundlichen, belebenden Eindrücken.
Keine Blume, keine lebhaften Bilder! Ein Hauch von Schwermut lag über
dem Gemach ausgebreitet und nur allzu deutlich drückte sich in den
Räumen der Charakter seines Bewohners aus.

Natürlich that auch die Dienerschaft, unter solchem Beispiel und keine
strenge Hand über sich fühlend, was sie wollte. Nirgends ein männliches
oder ein weibliches Wesen, das nach dem Fortgang der Herrschaft die
Thüren geschlossen und in den Zimmern Ordnung geschaffen hätte.

Teut wandte sich zurück, und während er noch überlegte, ob er nach Hause
zurückkehren oder warten solle, bis die offenbar auf einer Ausfahrt
begriffene Familie wiederkommen werde, hörte er Schritte. Er horchte auf
und trat einen Augenblick beiseite. Es war Tibet, der geschäftig
ausräumte, hier sich nach einem Spielzeug, dort nach einem
Kleidungsstück bückte und ordnend die Hand an Tisch und Stühle legte.
Ja, Tibet, Tibet! Er übernahm die Pflichten aller.

„Die Herrschaften sind aus gefahren?“ fragte Teut, nun hervortretend und
den Kammerdiener begrüßend.

„Jawohl, Herr Baron. Frau Gräfin macht Besuche mit den Kindern; der Herr
Graf ist schon früher fortgeritten.“ Er sprach in seiner gewohnten
ehrerbietigen Weise und schob eine Puppe, die er gerade in der Hand
hatte, verlegen hinter sich.

Teut nickte und ließ sich nieder. Es kam ihm sehr gelegen, den
Vertrauten des Hauses einmal allein zu treffen, und er beschloß, ein
Gespräch mit ihm anzuknüpfen.

„Wie lange sind Sie eigentlich schon in der gräflichen Familie, Tibet?“

„Seit meinem fünfundzwanzigsten Jahre,“ erwiderte dieser mit einem
melancholischen Anflug in der Stimme.

„Im Hause der Familie Butin oder bei Claireforts?“

„Bei Claireforts.“

„Und Sie hatten nie eine andere Beschäftigung oder Tätigkeit?“

„Doch, Herr Baron!“

„Und welche?“

„Ich wollte mich ursprünglich dem Kaufmannsstande widmen.“

„So so! Hatten Ihre Eltern schon Beziehungen zu der Familie?“

„Nein, Herr Baron.“

„Sie sind wohl schon ein guter Vierziger, Tibet?“

„Ja, Herr Baron.“

Nein--ja, Herr Baron! Auch im Verfolg des Gespräches gab er diese
einsilbigen Antworten. Dieser Mensch sprach nur, wenn man ihn fragte,
und dann lediglich das Notwendigste. Teut beschloß, es anders
anzufangen, und indem er in bekannter Weise die Stiefelhacken
zusammenschlug und den Schnurrbart drehte, sagte er mit starker
Betonung.

„Tibet!“

„Herr Baron!“

„Ich weiß, daß Sie eine große Anhänglichkeit an den Herrn Grafen und
besonders auch an die Frau Gräfin haben. Sie wissen zugleich, daß ich
ein aufrichtiger Freund der Familie bin. Nicht wahr, Sie glauben das?“

Statt zu antworten, sah Tibet Teut einen Augenblick mit höchster
Befremdung an. „Ja, ich verehre die Frau Gräfin wie niemand sonst.“ Die
zweite Frage überging er.

„Gut. So dachte ich. Aber zu mir haben Sie wenig Vertrauen, Tibet, nicht
wahr?“ lächelte Teut.

„Ich verstehe nicht, Herr Baron.“ Tibet schlug verlegen die Augen zu
Boden.

„Sie verstehen recht gut. Sprechen wir einmal offen miteinander.“

Tibet stand noch immer mit der Puppe in der Hand, die wie gelähmt Arme
und Beine hängen ließ. Wenn man diesen großen, hageren, ernsthaft
dreinschauenden Mann in der dunklen Kleidung so dastehen sah, mußte man
unwillkürlich lächeln.

Als Teut die letzten Worte sprach, überfiel Tibet--man sah es
deutlich--ein starkes Unbehagen. Zuletzt malten sich eine gewisse
Abwehr, ja Trotz in seinen Mienen.

„Also, Tibet,“ fuhr Teut unbekümmert fort, „ohne Umschweife! Hier im
Hause ist nicht alles, wie es sein soll. Die Gräfin weiß keine
Wirtschaft zu führen, der Graf leidet darunter--nicht nur in seiner
Schatulle. Sie wissen das alles.--Das muß anders werden. Beide wünschen
es auch, aber die Gräfin versteht es nicht zu ändern, und den Grafen
halten andere Gründe zurück. Ich möchte bei Zeiten etwas verhindern, was
sonst unabänderlich scheint. Wollen Sie mir helfen?“

„Ich?“ fragte Tibet kurz, starrköpfig und fast aus der Rolle des
Untergebenen fallend. „Ich bin ein Diener! Wie dürfte ich wagen, mich in
die Angelegenheiten meiner Herrschaft zu mischen?“

„Sie sind kein Diener hier im Hause, sondern ein Freund, zudem ein
braver, ehrlicher Mann, Tibet. Versprechen Sie mir, um dieser
Freundschaft willen, die Sie für die Familie hegen, mein treuer
Verbündeter zu werden!“

Einige Augenblicke stand Tibet unbeweglich; die Puppe war jetzt so tief
herabgesunken, daß die kleinen lackledernen Schuhe mit Kreuzbändern den
Fußboden berührten. Endlich sagte er aufschauend:

„Herr Baron, ich will es mir überlegen. Ich danke Ihnen für Ihre gute
Meinung. Gestatten Sie mir indessen jetzt--Ah, da kommen die
Herrschaften bereits!“

Und offenbar erleichtert und mit einer entschuldigenden Bewegung eilte
er ans Fenster, guckte rasch hier- und dorthin und entfernte sich
endlich, alle Siebensachen unter den Arm raffend, durch die nach dem
Ausgang führende Thür.

Teut sah nach der Uhr. Es war Tischzeit geworden und für seine Absichten
somit zu spät. Während er noch zauderte, trat Clairefort von der
entgegengesetzten Seite in den Salon, blickte überrascht auf, als er
Teut in dem Stuhl sitzend fand, schritt förmlich auf ihn zu und sagte
gezwungen:

„Ah, ich glaubte Sie erst heut abend erwarten zu dürfen! Aber wenn es
Ihnen gefällig ist--Zugleich meinen Dank für Ihre Artigkeit. Ich wäre
natürlich zu Ihnen--“

„Bitte, bitte!“ erwiderte Teut in seiner kurzen Weise. „Ich bin ja Ihr
täglicher Gast! Weshalb wollten Sie sich zu mir bemühen? Ich stehe also
ganz zu Ihrer Verfügung.“

Mit diesen Worten machte er einige Schritte, Clairefort zu folgen. Aber
zu gleicher Zeit öffnete sich auch die Thür und Ange, in einem reizenden
Promenadenkostüm, das goldene Haar rückwärts in zwei nachlässige Knoten
geschlungen, die Wangen von der kalten Luft sanft gerötet, das Gesicht
ganz umrahmt von einem kleinen, rosaseidenen Hütchen, trat rasch und
lebhaft ins Zimmer. Ihr folgte die Schar ihrer Engel, eins schöner;
graziöser und vornehmer als das andere. In der That ein entzückender
Anblick.

Des Grafen nicht achtend, ganz beschäftigt mit dem Bilde, das sich ihm
bot, eilte ihr Teut entgegen, und sie begrüßten sich mit einer
Herzlichkeit, als ob sie eine lange Zeit getrennt gewesen wären.

Aber in demselben Augenblick und während die Kinder Teut jubelnd
umringten, veränderten sich Anges Züge und erhielten einen furchtsamen
Ausdruck.

Da stand der Graf, finster, bleich, und biß sich auf die Lippen. Da
stand er, der Herr des Hauses und weder Frau noch Kinder näherten sich
ihm. Aber alle umringten ihn--ihn, den Hausfreund, dem auch er sein
größtes Vertrauen geschenkt und den er doch in diesem Augenblick mehr
haßte als den Tod.

„Wartet mit dem Essen!“ sagte Clairefort, seinen Unmut schlecht
verbergend, und machte eine Bewegung gegen Teut, ihm zu folgen.
Letzterer sah noch Anges erbleichendes Gesicht und warf ihr einen
beruhigenden Blick zu. Dann schloß sich hinter beiden Männern die Thür.

Als sie Platz genommen, knöpfte Clairefort den Rock auf und holte tief
Atem. Teut aber sagte nachlässig und mit einem Anflug von Ungeduld:
„Nun, was steht zu Diensten, Clairefort?“

Durch diesen Ton war jener schon halb entwaffnet; jedenfalls fand er
nicht gleich das Wort. Und als er es noch immer nicht fand und, um es zu
gewinnen, aufstand und das Fenster öffnete, obgleich von draußen der
Spätherbstnachmittag kühl ins Zimmer drang, erhob sich Teut und sagte:

„Nun, Clairefort, dann will ich zuerst sprechen. Sie wünschen abermals
über Ihre Frau mit mir zu reden, oder richtiger über Ihre Frau und mich,
und Sie wollen mir sagen, daß es besser ist, wenn alles beim alten
bleibt, ja noch mehr, daß Sie mich mehr aus der Entfernung schätzen als
in Ihrer Nähe und deshalb--nein, ich bitte, lieber Clairefort, wir
wollen einmal deutsch sprechen!--und deshalb wünschen, daß ich meine
Besuche einstelle. Sie sind in blinder, thörichter Eifersucht befangen
und zeigen dadurch, wie wenig Sie den Charakter Ihrer edlen Frau zu
schätzen wissen, wie gering Sie auch von mir denken. Aber da ich Ihnen
nachfühlen kann, ja heute mich ganz hineinzuversetzen vermag, weshalb es
Ihnen schwer wird, zu thun, was Sie als recht befunden, was auszuführen
aber eine heilige Pflicht ist gegen Ihre Familie, gegen Ihr künftiges
Wohlergehen, deshalb sagte ich als Freund, der Ihre Frau wie eine
Schwester liebt und der Ihnen warm und herzlich zugethan ist: ‚ich will
Dir helfen. Lasse mich handeln, und wenn's gelungen ist, dann heiße mich
meinethalben gehen.‘ So wollte ich es, so dachte ich es! Sie,
Clairefort, zweifelten schon bei dem ersten Schritt, den ich that, wie
mir scheinen will, an meiner Aufrichtigkeit und an der Reinheit meiner
Gesinnungen. Als Ihre Frau mir dankte und es in ihrem kindlichen Herzen
überströmte, standen Sie da wie ein zorniger Brigant und kämpften nur
mühsam Ihre Leidenschaft nieder. Und nun noch eins! Jederzeit bin ich
für Ihre Frau auf der Welt--für sie und ihre Kinder! Aber ich bitte Sie
auch um derentwillen, unterdrücken Sie so falsche, durch nichts
gerechtfertigte Regungen! Habe ich durch meine Rede unangenehme
Empfindungen geweckt, habe ich Ihnen gar wehe gethan, Clairefort, so
sehen Sie mir dies nach! Vergessen Sie! Es mußte Klarheit zwischen uns
sein! So, und jetzt lassen Sie mich gehen. Ich wünsche noch, Ihrer Frau
zu sagen, daß wir uns als Männer ausgesprochen haben. Ich wünsche es,
weil ich den furchtsamen Blick in ihrem lieben Gesicht beobachtete und
sie niemals leiden sehen möchte, wo immer es in meiner Macht steht, dies
zu verhindern.“

Clairefort hatte das Fenster wieder geschlossen. Er stand, das Gesicht
der Scheibe zugewendet, bewegungslos. Einigemal hatte es in seinem
Körper gezuckt, mehreremal ballte er die Faust--aber er hatte kein Wort
entgegnet und sprach auch jetzt nicht. Als Teut sich zur Thür wandte,
als sich in seinem langsamen Schritt nicht Zwang, wohl aber die
Erwartung einer Erwiderung von jener Seite ausdrückte, kehrte sich
Clairefort zu ihm.

Es war feucht in seinen Augen, ein unsagbarer Schmerz irrte um seine
zuckenden Mundwinkel, und er sah Teut mit einem so hilflosen Blicke an,
daß dieser auf ihn zueilte und ihm die Hand drückte.--

War nun endlich alles im alten Geleise? Teut war darüber nicht im
klaren. Ange aber schmiegte sich ängstlich und fragend an den Freund,
als er ihr Gemach betrat. Sobald er aber auf ihre hastigen Fragen mit
jener vertrauenerweckenden Ruhe antwortete, die ihn so anziehend machte,
entwichen die ernsten Schatten auf ihrem Gesicht, wiederbelebte Hoffnung
verschönte ihre Züge und in ihrem unzerstörbaren Sanguinismus glaubte
sie schon wieder das Beste.

„Sie bleiben heute nicht zu Tisch, Teut? Wann kommen Sie? Wann reiten
wir aus? Sie sind doch morgen bei dem Diner? Sehen wir uns noch?“ So
fragte sie und so schien bereits alles wieder verwischt, was sie noch
eben so zaghaft berührt hatte.

       *       *       *       *       *

Die Zeit war vergangen.

Teut hatte durchgesetzt, was er wollte. Der größte Teil der Dienerschaft
wurde entfernt. In das Hauswesen, in Küche und Keller kam eine andere
Ordnung, in die Erziehung der Kinder ein anderer Geist. Die neue
Gouvernante erhielt die gemessensten Befehle und empfing Vollmachten,
die verhinderten, daß das frühere planlose Treiben fortgesetzt wurde.

Unter dem Vorgeben, daß ein trauriges Familienereignis verbiete,
Gesellschaften mitzumachen und in gewohnter Weise Besuch im Hause zu
empfangen, ward auch diese kostspielige Seite des bisherigen Lebens
einschränkt, und Ange mußte sich dazu verstehen, mit einer streng
begrenzten Summe die eigene Toilette und die ihrer Kinder zu bestreiten.
Das alles schaute sie mit harter Nüchternheit an; die Schule des Lebens
schlägt ihre Pfade nicht durch blühende Büsche, sie fordert Entbehrungen
und Kämpfe.

„Wo sind die Kinder?“ fragte Ange, und die Antwort hieß: „Sie lernen,
sie haben Unterricht.“ Wenn sie den Kopf in die Thür steckte, sah sie
das strenge, unbewegliche Gesicht der neuen Gouvernante und oft genug
ein Thränlein in den Augen ihrer Lieblinge. Die Befriedigung
augenblicklicher Neigungen stieß auf Schwierigkeiten. Wenn sie Einkäufe
gemacht hatte und die Rechnung vorgelegt wurde, gab es Szenen mit
Carlos. Er sandte den Diener ohne Geld zurück und dieser stand ratlos
da. Tibet lief mit bedrückter Miene hin und her, und durch die offene
Thür sah Ange den wartenden Boten, der nicht befriedigt wurde, und die
betroffenen Gesichter ihrer Umgebung, die ihre stummen Bemerkungen
machten.

„Konrad soll anspannen!“ befahl sie, und wenn sie zum Ausfahren
gerüstet, hinabsteigen wollte, stand statt des Wagens der Kutscher vor
ihr und erklärte, das eine Pferd sei krank. Ange fragte nicht, weshalb
man statt der Schimmel nicht die Braunen anspanne; die Braunen waren
verkauft worden.

Wenn es ihr plötzlich durch den Kopf fuhr, wie früher Freunde um sich zu
versammeln, schüttelte Carlos den Kopf, und statt des reich beladenen
Frühstückstisches, welcher für gern gesehene Gäste immer bereit gewesen
war, standen nun kleine Brotschnittchen neben einer bereits
angebrochenen Flasche Wein auf der sauber gedeckten, aber kargen Tafel.

Nichts durfte mehr angeschrieben werden. Tibet erklärte, lediglich Geld
für die täglichen Bedürfnisse zu haben und besondere Ausgaben nur nach
Rücksprache mit dem Grafen bestreiten zu können.

Drunten in Küche und Stall begegnete man mürrischen Mienen. Teils
wirkte die Kündigung nach, teils verglich man die alten Zeiten mit den
neuen und fand sich enttäuscht. Die reichlichen Trinkgelder, welche die
Gäste bei dem täglichen Verkehr und nach den vielen Gesellschaften in
die Hände der Dienerschaft hatten gleiten lassen, blieben jetzt aus.

Die Familie Clairefort ward von ihrer eigenen Umgebung hämisch und
tadelnd beschwatzt, und an die plötzlichen Veränderungen und
Einschränkungen knüpften sich zudem die übertriebenen Vermutungen.

Bisweilen wandte sich Ange in ihrer Ratlosigkeit an Carlos und bat ihn,
in einigen Dingen nachzugeben. Sie schilderte ihm die vielen kleinen
Ungelegenheiten, berichtete von diesem und jenem und forderte Abhilfe.
Wenn sie dann so eindringlich auf ihn einsprach und mit ihrer
bezaubernden Art durchzusetzen versuchte, was sie wünschte, gab er wohl
nach; ja einigemal brauste er sogar auf, und böse Worte gegen Teut
entschlüpften ihm.

Aber nur, wenn Erinnerungen an frühere Zeiten seinen Stolz weckten, wenn
er Teuts Hand allzu deutlich zu erkennen glaubte, dann überfiel ihn ein
eigensinniger Widerstand, und die Eifersucht verführte ihn zu falschen
Deutungen. Es erfolgten dann Auseinandersetzungen mit dem Rittmeister,
der aber stets ruhig blieb und immer wieder auf die festen Abmachungen
verwies, welche von Anbeginn vereinbart waren.

Anges Klagen entstanden freilich immer nur aus Hilflosigkeit; sie dachte
niemals an sich. Wenn aber das Schluchzen der Kinder über die ihnen
geraubte Freiheit an ihr Ohr schlug, verließen sie alte guten Vorsätze.
Oft flüchtete sie sich mit ihrem Kummer in ein entfernteres Gemach und
weinte sich dort aus. Es gab Augenblicke, wo sie hätte Teut hassen
können.

Aber dieser feste Charakter ließ sich nicht beirren. Es schien, als ob
er unempfindlich sei gegen jeden Angriff, jeden Vorwurf und Tadel. In
seiner kurzen, bestimmten Art verteidigte er seinen Standpunkt, ließ
sich nicht überreden und nicht überzeugen, und nur einmal, als es ihm
gar zu arg wurde, riß er an dem langen Schnurrbart und rief:

„Entweder--oder! Ich habe Euer beiderseitiges Wort! Reut es Euch,
macht's nach Eurem Behagen!“

Freilich sah Teut auch, nachdem er alles geordnet, daß die Fröhlichkeit
ihren. Auszug aus dem Hause gehalten hatte. Clairefort ward ernster,
mißmutiger, unzugänglicher als je, und Ange, der leichtbeschwingte
Vogel, der Freiheit und Bewegung, Licht und Luft um sich fühlen mußte,
ließ die Flügel hängen. Einigemal griff sich Teut an die Stirn und
überlegte, ob er auch recht gehandelt habe. Allerdings, verständige
Verhältnisse waren geschaffen, aber alles schien in dem Hause geknickt.
Die Kinder, diese frischen, ungebundenen und zärtlichen Geschöpfe,
schlichen eingeschüchtert und befangen umher. Die Zucht in den
Schulstunden, die Arbeiten, die sie außer diesen beschäftigten, der
jetzt fehlende fröhliche Trost, den sie früher bei Mama Ange fanden,
machte sie verdrossen und verschlossen, und es zeigte sich, daß sie der
Geist der Mutter beherrsche, der nun einmal nur im hellen Sonnenlicht
und in der Freiheit gedeihen konnte. Und die Rückwirkung blieb auch bei
Teut trotz äußerer Unempfindlichkeit nicht aus. Mit Wehmut sah er, wie
ernst Ange geworden war und wie sie sich nach dem alten, zwanglosen
Leben zurücksehnte. Selten noch tönte ihr helles, herzliches Lachen
durch die Räume.

Einmal fand er sie weinend unter den Kindern sitzen und sich mühend,
ihnen bei ihren Arbeiten zu helfen. Kein heiterer Zug glitt über ihr
Gesicht, als Teut sich näherte, und die wohlerzogenen Kleinen erhoben
sich, gaben ihre Händchen und machten ihre Knixe, statt wie früher
stürmisch auf ihn zuzueilen und ihn zu umschlingen.

Jeden Tag sandte Teut das frische Bouquet, jeden Tag nahm es Ange
entgegen, aber sie hatte keine Freude mehr daran. „Ach, schicken Sie
doch nicht die schönen Blumen, Teut; sie verwelken ja doch--und es ist
überflüssig--und kostspielig--“

Sie wandte sich ab und suchte ihre Thränen zu verbergen.

„Ange! Ange!“ rief Teut. „Das von Ihnen? Sagen Sie mir, was Sie
bekümmert, weshalb Sie so hart, so ungerecht gegen mich sind?“

„Schaffen Sie die Gouvernante aus dem Hause; ich hasse die Person!“ rief
Ange in furchtbarer Erregung. „Aber bald, bald, sonst passiert ein
Unglück! Sie vergiftet meine süßen Kinder mit ihrer Strenge, ihrer
Pedanterie und ihrer scheinheiligen Christenlehre. Sehen Sie doch--was
man aus ihnen gemacht hat? Ist das noch mein feuriger Carlitos, sind das
meine Erna und Jorinde; und die beiden besten Kinder, Ben und Fred? Was
ist aus ihnen geworden? Ange habe ich ihr schon entzogen! Sie hat das
kleine Geschöpf mit einem Lineal geschlagen! O, ich erwürge diese Person
nächstens!“

„Ange, Ange, beruhigen Sie sich! Vieles kann ja nach Ihren Wünschen
geschehen! Carlos wird gewiß gutheißen, was Sie verständigerweise
anordnen.“

„Er? Der? Sitzt er nicht auf seinem Zimmer und grübelt den ganzen Tag?
Sehen wir ihn anders als bei den Mahlzeiten? Ist er noch mein bester,
heißgeliebter Mann?--Ein verdrießlicher Hypochonder, ein rauher,
abwehrender Mensch hockt drüben, der an nichts Freude hat--nicht
einmal“--jetzt traf bitterliches Schluchzen Teuts Ohr--„an seiner
Familie, an seinen Kindern! O, wie grenzenlos unglücklich bin ich! Wo
ist die alte, gute Zeit geblieben! Unser Haus ist ja eine Totengruft
geworden!“

Unter heftiger Bewegung hörte Teut das alles an. Trug er denn die
Schuld? Hatte er das alles heraufbeschworen?--Vielleicht! Er erkannte,
daß meistens nur die Not selbst zur Lehrmeisterin der Menschen wird. Er
hatte eingegriffen in die Pläne des Schicksals. Statt aus dem Regen den
Sonnenschein von neuem hervorbrechen zu lassen, hatte er diesem zu
frühzeitig ein Dach gebaut, und ein Dach, welches das goldene Licht
verscheuchte.

       *       *       *       *       *

Teut saß in seinem Zimmer und arbeitete. Seit Stunden war er nicht vom
Schreibtisch gewichen, und einige Male lehnte er sich zurück und blickte
sinnend und verloren die Pinselstriche der flüchtigen Malerei zählend,
zur Decke empor. Die letzten Vorgänge hatten einen tiefen Eindruck auf
ihn gemacht. Er litt mit seiner geliebten Ange und verstand alles und
sann, wie ihr zu helfen sei. Aber konnte er ihr die sorglose
Fröhlichkeit zurückgeben? Konnte er sie wieder jung machen? Was sie
innerlich litt, übertrug sich auf ihre Erscheinung. Schon begann sich
etwas von dem holden Zauber zu lösen, der sie vor Jahren so
unwiderstehlich gemacht hatte.

Und dann sagte er sich doch, daß nicht die veränderte Lebensweise schuld
sein könne, sondern ganz andere Dinge Ange beschäftigen müßten. Ja, das
war es! Sie war nicht glücklich in ihrer Ehe, und den Ersatz, welchen
sie früher in ihren Kindern fand, entbehrte sie jetzt doppelt, da man
sie ihr halb genommen hatte. Aber das letztere konnte doch wieder ins
rechte Geleis gebracht werden. Ein Wechsel in der Persönlichkeit, die
den Unterricht erteilte, war schnell zu bewerkstelligen. Es brauchte
nicht alles wie bisher auf die Spitze getrieben zu werden: es gab auch
freundliche Ermahnungen statt rücksichtslose Strenge, und es handelte
sich nicht um Lernen und Wissen allein. Der gute Mittelweg war auch hier
der richtige, und indem man diesen einschlug, würde wiederkehren, wonach
Ange verlangte. Eines stand fest in Teut: auch jetzt mußte er
eingreifen, da Clairefort zu keiner Initiative zu bewegen war.

Wie oft hatte Ange geklagt, daß sie nicht auszukommen vermöge, wie sehr
sie sich einschränken müsse. Clairefort blieb bei alledem taub. Aus ihm
war jetzt ein ängstlicher Sparer, ein Geizhals geworden.

„Kann ich Sie heute einmal ruhig sprechen? Sind Sie zu hören aufgelegt,
liebe Ange?“ fragte Teut an einem der nächsten Tage. Sie nickte und
legte die Hände in den Schoß. Seltsam! Teut bemerkte, daß sie sich
vernachlässigte, keinen sonderlichen Wert mehr auf ihr Äußeres legte:
auf Blumen und Schmuck wie früher.

Auch heute sah sie unvorteilhaft aus. Das graue Hauskleid stand ihr
nicht eben gut, und das wundervolle Haar saß versteckt unter einer
Haube, die sie um viele Jahre älter machte.

„Ich wollte Ihnen nach unserem letzten Gespräch eine Bitte vorlegen,“
fuhr Teut fort. „Ich habe viel über das nachgedacht, was Sie mir gesagt
haben.“

Sie neigte das Haupt, ohne Ausdruck in ihrem stillen Gesicht.

„Ich höre, daß Carlos seinen Abschied nehmen will, daß er ihn nehmen
muß--“

„Wie?“ unterbrach ihn Ange ängstlich.

„Ja! Sein Zustand--sein hartnäckiges Nervenleiden macht ihm die Ausübung
seiner militärischen Pflichten unmöglich. Besser denn, bei Zeiten die
anstrengende Thätigkeit einstellen. Aber--dadurch wird sich--Ihre
Einnahme noch mehr verkleinern, Ange--“

„Ja gewiß!“ sagte sie tonlos.

„Da wollte ich denn--“--er zögerte, riß an seinem Schnurrbart und eine
seltsame Röte trat auf seine starken Backenknochen--„Sie bitten, Ange.
daß Sie mich wie einen Bruder ansehen mögen, daß Sie--ich weiß nicht, ob
Sie mich verstehen, Ange--daß wenn Sie etwa einmal einen Wunsch
haben--etwa für die Kinder einen Wunsch haben sollten--wenn--wenn--Sie
hören nicht, Ange?“

„O, o!“ hauchte die junge Frau. „Nicht weiter!“ Ihre Stimme versagte vor
Rührung; sie vermochte nicht zu sprechen, und sie trocknete die Thränen
mit dem Tüchelchen, das sie hervorgezogen hatte.

„Doch, doch,“ sagte Teut weich und ergriff ihre Hand, ihre kleine Hand,
die so schmal und krank heute aussah. Aber weiter wagte er nicht zu
sprechen; es trat eine längere Pause ein. Die Dinge ringsum erschienen
noch ernster, stummer als sonst. Es wehte ein Hauch von trostloser Öde
durch das Haus, in dem das Lachen erstorben war.

„Und die Gouvernante? die Gouvernante? Schicken wir sie fort?“
flüsterte Ange zaghaft. Sie dachte nicht an sich: immer waren es die
Kinder, mit denen sie sich in ihren Gedanken beschäftigte.

„Gewiß, gewiß!“ betätigte Teut lebhaft. „Noch heute spreche ich mit
Carlos! Alles, alles soll sich nach Ihren Wünschen gestalten! Alles, was
Sie, meine teure Ange, wieder fröhlich--und glücklich machen kann!“

„Ein Gott, kein Mensch sind Sie!“ tönte es von Anges Lippen. Sie verbarg
ihr Gesicht in den Händen und schluchzte.

Teut stand auf und trat ihr näher. Sie erhob den Blick--einen Blick, in
dem der Abglanz ihrer Seele sich spiegelte, einen Blick, in dem der Mann
alles fand, was er je zu hoffen gewünscht, und alles, was im Austausch
Liebe gegen Liebe zu geben vermag!

Es war vorauszusehen, daß von dem, was sich im Laufe der Zeit in der
Clairefortschen Familie zugetragen hatte, mancherlei hinausdrang, und
daß die öffentliche Meinung sich begierig und mit wenig Wohlwollen
eines Gegenstandes bemächtigte, der zu so verschiedenen Deutungen Anlaß
gab.

In erster Linie ward das Verhältnis Teuts zu Frau Ange besprochen,
und es fand kaum ein mündlicher Austausch in den C.schen
Gesellschaftskreisen statt, ohne daß die holde Frau mit bösen Nachreden
überschüttet ward. Wie der Sturm rücksichtslos über ein in seinem
unschuldigen weißen Blütenschmuck stehendes Bäumchen dahinwütet, so
zerpflückte man Anges Ehre und guten Ruf. Da der Graf, hieß es, ein
bedauernswerter, durch sein Nervenleiden kaum mehr zurechnungsfähiger
Mann wäre, sei es nicht zu verwundern, daß das empörende Treiben
ungeahndet unter seinen Augen sich vollziehe. Auch könne man es einem
lebenslustigen, unverheirateten Husarenrittmeister nicht verübeln, wenn
er die süßen Früchte, welche eine so verführerische und gefallsüchtige
Frau ihm darbiete, nicht zurückweise. Ärgererregend genug sei es, daß er
nicht einmal die gewöhnlichen Rücksichten beobachte und das Verhältnis
so offen zu Tage treten lasse; aber auch das werde durch ihr
exzentrisches und leichtfertiges Wesen eher entschuldigt.

In dieser und ähnlicher Weise erging sich die Gesellschaft in ihrem
Urteil und hielt es--selbst nur allzu erprobt in Dingen, die man jenen
unterzuschieben sich unterfing--für unmöglich, daß Menschen etwas
anderes verbinden könne als eine strafbare Leidenschaft.

Aber man blieb dabei nicht stehen. Die Vermögensverhältnisse Claireforts
wurden gleichfalls einer Beurteilung unterzogen. Es sei nichts mit dem
großen Reichtum! Nur der maßlosen Verschwendungssucht der Frau
widerstandslos nachgebend, habe Clairefort die Villa in solcher
luxuriösen Weise herrichten lassen und einen Aufwand gutgeheißen, der
jeder Beschreibung spotte.

Nun sei der Rückschlag bereits eingetreten. Niemand wolle mehr Kredit
geben; ja, man habe den Dienstboten, welche man entlassen mußte, kaum
den Lohn zahlen können. Des Grafen schwermütiges Leiden sei auf diese
mit täglicher Sorge verknüpften Verhältnisse zurückzuführen, und wenn
von seinem Abschied die Rede, so sei dieser wohl kein freiwilliger.

Ah, und diese Kinder! Habe man jemals eine unverantwortlichere Erziehung
erlebt? Wie die Affen wandelten sie einher und erregten Ärger bei alt
und jung durch ihre Geziertheit und ihr hochmütiges Auftreten. Zuletzt
gedachte man auch noch des geheimnisvollen Verhältnisses zwischen Tibet
und dem Grafen und bezeichnete den Kammerdiener als einen gefährlichen
Menschen, der im Trüben fische und das sonderbar erscheinende
Vertrauen, das man ihm schenke, lediglich zu seinem Vorteil ausbeute.

Bisher war Teut nichts von allen diesen Dingen zu Ohren gekommen. Es lag
auch in der Natur der Sache, daß man gegen ihn Verhältnisse nicht
berührte, in denen er selbst eine so hervortretende Rolle spielte.

Inzwischen aber ereignete sich etwas, das ihm über die Anschauungen der
Menge die Augen öffnete und was nicht ohne Rückwirkung auf ihn selbst
blieb. Die Offiziere verkehrten häufig in der Familie eines Herrn von
Ink, eines Gutsbesitzers, der vor längeren Jahren, bei Gelegenheit einer
zweiten Heirat, seinen Besitz verkauft und eine Übersiedelung in die
Stadt bewirkt hatte. Er war ein mehr als harmloser Mensch, der niemandem
sonderlich gefiel, aber auch niemandem im Wege stand. Seine Gattin
dagegen gehörte zu jenen Frauen, deren rücksichtsloser Egoismus und
deren mit einem bedeutenden Verstand verbundene Thatkraft oftmals
bedauern lassen, daß ihnen nicht eine andere Stellung und ein anderer
Wirkungskreis in der Welt angewiesen ist.

Frau Olga konnte nur hassen oder lieben; richtiger gesagt: nur hassen
oder die Menschen sich dienstbar machen, denn sie besaß neben einem
übertriebenen Hochmut, wenig Herz und zertrat ohne Bedenken, was sich
ihr hindernd in den Weg stellte. Es war indessen bei allen diesen
Eigenschaften bezeichnend, daß sie gegen Menschen, die eine Stellung in
der Gesellschaft einnahmen, sich von einer geschmeidigen Höflichkeit
zeigte und nicht ruhte, bis es ihr gelang, in einen engeren Verkehr mit
ihnen zu treten.

Ihr Hauswesen war musterhaft geordnet; man amüsierte sich gut in dem
Inkschen Hause. Frau Olga befolgte eine weise Lehre, die so wenigen
bekannt ist und jedenfalls selten befolgt wird. Sie betrachtete den Gast
wie einen Vogel, der sich nach seiner Neigung hier oder dort unter den
Baum flüchtet, nascht, zwitschert und nach Geschmack und Laune wieder
davonfliegt.

Der Verkehr mit dem sprichwörtlich reichen Rittmeister Baron von
Teut-Eder war seit Jahren für Frau Olga eine unerfüllte Hoffnung
geblieben. Alle ihre Versuche, ihn heranzuziehen, scheiterten an seiner
höflichen, aber entschiedenen Abwehr. Dies reizte Frau von Ink um so
mehr, als Widerstand in solchen Fällen den Wert erhöht. Überdies besaß
sie drei Töchter, von denen eine aus der ersten Ehe ihres Gatten
stammte.

Klara von Ink, ein blasses, äußerst graziöses, aber nicht mehr ganz
junges Mädchen, sah man häufig mit verweinten Augen. Zwei Menschen
konnten sich nicht ehrlicher hassen als Mutter und Stieftochter, aber
selten fand man auch zwei so verschiedene Charaktern.

Klara war eine offene, aufrichtige, allem Schein abgeneigte Natur,
während die Tiefen der Seele einer Frau Olga noch niemand ergründet
hatte. Natürlich wünschte Frau von Ink ihre beiden recht hübschen Kinder
zu verheiraten, aber nicht minder lag ihr daran, sich endlich Klaras zu
entledigen. Teut war eine überaus glänzende Partie. Beide paßten im
Alter zusammen, und aus dieser Verbindung konnten sich ebensoviele
Annehmlichkeiten entwickeln, wie jetzt Mißhelligkeiten an der
Tagesordnung waren. Im übrigen würde Frau Olga auch ihrer Tochter
gleichen Namens oder der hübschen Eva nichts in den Weg gestellt haben,
obgleich der Rittmeister fast deren Vater hätte sein können.

Ink und Teut hatten sich neuerdings bei einem Pferdehandel berührt.
Daraus entwickelte sich eine mehrfache Begegnung, die mit sich führte,
daß Herr von Ink den Rittmeister eines Vormittags in sein Haus
einzutreten und ihn an dem eben servierten Frühstück teil zu nehmen bat.
Teut konnte sich dem nicht entziehen, und nun hatte die ehrsüchtige Frau
endlich ihren Wunsch erreicht! Bevor der Gast Abschied nahm, mußte er
wohl oder übel noch eine Einladung zu einem unmittelbar bevorstehenden
Diner annehmen. Welch ein Triumph für Frau Olga, die sicher eine der
gewohnheitsmäßigen Absagen im letzten Augenblick gefürchtet hatte, als
der vielbesprochene Baron wirklich zu der festgesetzten Stunde eintraf
und damit dauernd für das Inksche Haus gewonnen zu sein schien. Aber
auch noch einen anderen längst verfolgten Plan hoffte Frau Olga durch
die Annäherung an den Rittmeister zu erreichen. Auch Claireforts
gehörten zu den Personen, mit denen es ihr nicht gelungen war, in nähere
Berührung zu treten, und nun fand sie eine bequeme und, wie sie
vermeinte, sichere Anknüpfung durch Teut. Die gräfliche Familie einmal
bei sich zu sehen, einen Blick in das dortige Hauswesen werfen zu können
oder gar mit Claireforts dauernd zu verkehren, gehörte zu jenen
sehnsüchtigen Wünschen, deren Erfüllung sie kaum zu hoffen gewagt.

Schon bei dem Mittagessen--Teut hatte als letzter eingetretener Gast die
Ehre, die Frau des Hauses zu führen--brachte Olga das Gespräch auf
Claireforts, aber dieser wich geschickt aus. Er erzählte kurz und
bedauernd, daß es seinem Freunde körperlich und geistig schlecht gehe,
daß die Frau Gräfin sich infolgedessen mehr und mehr von aller
Geselligkeit habe zurückziehen müssen und im übrigen die vollendetste
Frau unter Gottes Sonne sei. Er ließ auch einiges über seine Person und
seine Verhältnisse fallen und erwähnte, daß die Verwaltung seiner
Besitztümer durch fremde Hand manche Unzuträglichkeiten mit sich führe.
Er sei aber, wie er hinzufügte, ein Gewohnheitsmensch und zudem ein
eingereichter Soldat, der nur sein Handwerk, seine Pferde und die Jagd
liebe und dabei doch so bequem werde, daß er beispielsweise eine
Einladung seines Vetters zu einem auf acht Tage berechneten Feste auf
dessen Gütern ausgeschlagen habe.

Nur eins hätte ihn bestimmen können, seines Verwandten Aufforderung
Folge zu leisten, und zwar der Wunsch, darauf hinzuwirken, daß dieser
unverbesserliche Junggeselle nun endlich heirate.

„Ah, das sagen Sie?“ rief Frau von Ink, von diesem Gespräch besonders
gefesselt, „Sie, der Sie ja fast ein Weiberfeind sind, das heißt--mit
einer Ausnahme,“ fügte sie lächelnd hinzu.

„Ich bestreite dies entschieden, gnädige Frau,“ erwiderte Teut, ohne den
Schlußsatz zu beachten. „Ich verehre die Frauen wie alles Schöne auf der
Welt, aber ich habe kein Glück und kein Geschick im Verkehr mit ihnen.
Zudem--je älter man wird--“

„Sie sprechen von Alter!?“

Teut nickte. „Gewiß, wie hoch schätzen Sie mich, gnädige Frau?“

„Nun, jedenfalls sind Sie in dem besten--im Heiratsalter. Was, liebes
Kind?“ unterbrach sie sich entschuldigend, als plötzlich Eva hinter
ihren Stuhl trat und eine Frage an sie richtete.

Teut schob sich artig zurück, während die Damen einige Worte
austauschten, und zugleich beobachtete er Olgas Tochter genauer. Eva
glich einer wilden Rose in ihrer Erscheinung: sie war in der That sehr
hübsch, aber das Gesicht war geistlos.

„Ich bitte um Verzeihung!“ wandte sich Frau Olga wieder zu ihrem Gast.

„Ein schönes junges Mädchen,“ sagte Teut verbindlich und von einer
gewissen Absicht beherrscht. „Sie haben hier gleich einen Beweis, daß es
unmöglich ist, die Frauen nicht zu verehren.“

Frau Olga sah mit einem Anflug angenehmer Überraschung den Sprechenden
an. Hatte sie recht gehört? Sie wußte von Teut, daß er wohl Derbheiten,
aber selten Artigkeiten zu sagen pflegte.

„Ah, Sie Spötter!“ erwiderte sie, in der Absicht, mehr zu hören. Teut
aber lächelte und schwieg. Es gefiel ihm, sie in Zweifel zu lassen.
Endlich sagte er:

„Ihre beiden Jüngsten--Zwillinge, wenn ich nicht irre?--sind gleich
liebreizend. Das ist sehr schlimm.“

„Schlimm? Wie so? selbst unter der Voraussetzung der Richtigkeit Ihrer
schmeichelhaften Behauptung.“

„Nun schlimm insofern, gnädige Frau! als doch niemand beide Damen zu
heiraten vermag, und weil eine von ihnen zu wählen, neben der höchsten
Befriedigung des Besitzes zugleich den höchsten Schmerz über einen
sicheren Verlust hervorrufen würde.“

„Ich vermute, Sie wollen ein wenig Spott treiben,“ sagte Frau Olga.
„Überhaupt--und damit zugleich ein offenes Bekenntnis--, nachdem ich
endlich das Glück habe, Sie näher kennen lernen zu dürfen, finde ich
doch die Bestätigung dessen, was man mir so oft erzählt hat.“

„Nur eine Bestätigung?“ scherzte Teut. „Ich hatte gehofft, daß meine
Person die Beschreibung weit überträfe, denn ich bin überzeugt, Sie
finden nur Gutes.“

„Wer weiß! Sie sind der erste Mann, der mir im Leben begegnet ist, vor
dessen Sarkasmus ich mich fürchte.“

Dergleichen halbe Artigkeiten und halben Tadel enthaltende Äußerungen
liebte Frau Olga. Sie hatte unzählige bereit, wenn sie jemanden fesseln
wollte.

Zu ihrem Erstaunen sagte Teut ernst:

„Es liegt vielleicht etwas Berechtigtes darin, gnädige Frau. Ich bin ein
so ehrlicher Hasser der gesellschaftlichen Lüge und Vergeltung, daß ich
rücksichtslos meine Meinung, oft genug meinen Abscheu dagegen
ausspreche. Und natürlich, jeder, der nicht mit Komödie spielt, wird
naturgemäß gefürchtet.“

Frau Olga kam in eine etwas unbequeme Stimmung; es war ja fast
undenkbar, daß ein Mann von so guter Erziehung wie Teut diese Bemerkung
gegen sie persönlich zugespitzt hatte, aber andererseits konnte sie kaum
anders, als diese auf sich beziehen.

Es lag auch in ihrer Art, dergleichen nicht zu übergehen, denn ihre
Klugheit verließ sie nur allzu häufig, wenn ihre Empfindlichkeit oder
ihre Eitelkeit verletzt wurden. Sie entgegnete deshalb in einem recht
schroffen Tone:

„Nein, meine Furcht stützt sich auf etwas anderes, Herr Rittmeister. Was
Sie hervorheben, könnte ja in unserem Verkehr überhaupt keinen Anlaß zu
einer solchen geben!“

„Natürlich,“ sagte Teut ernsthaft, ließ aber einen infam ironischen Zug
um seine Mundwinkel spielen. „Und bitte, weiter, meine Gnädige?“

Frau Olga hob in einiger Erregung das Glas empor, das Teut eben gefüllt
hatte, trank es hastig aus und erwiderte, mühsam ihren Unmut
versteckend:

„Ich liebe die Gradheit und Offenheit wie Sie. Diese kann mich nur mit
Respekt erfüllen und wird mir nie Unbehagen einflößen. Aber Ihre--“ Sie
stockte.

„Nun, gnädige Frau?“

„Ah, gleichviel!“ machte Olga und zuckte die Achseln.

„Wie, meine gnädige Frau,“ sagte Teut in einem verbindlichen Tone und
doch mit demselben teuflischen Lächeln, „Sie laden mich in Ihr sonst so
unvergleichliches Haus und wollen mich auf die Folter spannen? Ist das
christlich? Ich bitte--wenn nicht etwas Bedenkliches für mich die Folge
sein soll--“

„Ja, ja! Das ist es! Sie sind boshaft! Sie sind's auch jetzt! Das ist
eine Eigenschaft, die mir allerdings Furcht einflößt, ja, die ich hasse,
denn es giebt gegen diese keine Waffen.“

In diesem Augenblick schlug Herr von Ink ans Glas und brachte eine
seiner gewöhnlichen geistlosen Gesundheiten aus.

Auch das reizte Frau Olga.

„Sehr, sehr hübsch!“ warf Teut hin und bewegte den Kopf.

Frau Olga hätte ihn mit dem silbernen Fischmesser töten können.

Nach dem Diner ging man in den Garten und nahm den Kaffee. Sodann wurde
ein Ausflug zu Pferde und Wagen geplant.

Vor dem Inkschen Hause hielten bereits die Stallknechte mit den
Reitpferden, und die Kutscher warteten auf dem Bock.

Teut, der meistens in einem zierlich gebauten, für zwei Personen
berechneten Wagen kutschierte und dessen langgeschweifte, dunkelschwarze
Renner ihm allseitig beneidet wurden, bot Frau Olga den Platz in seinem
Wagen an. Sie war sehr glücklich über diese Auszeichnung, um so mehr,
als bisher nur Frau Ange Clairefort eine solche genossen, freilich so
oft genossen hatte, daß der verleumdungssüchtige Mund der Stadt dies
Fuhrwerk schon mit einem Spottnamen belegt hatte.

Der Nachmittag war herrlich. Man hatte mit Rücksicht auf den Ausflug
früher gespeist, und es winkten angenehme Stunden.

Als alles sich passend zusammengefunden hatte, gab Rittmeister von Zirp,
der häufigste Gast des Hauses, ein nicht ganz übler, aber wegen seiner
unbedachtsamen Schwätzereien Teut nicht allzu sympathischer Kamerad,
das Zeichen zum Aufbruch, und die lustige Kavalkade setzte sich in
Bewegung.

Schon bei der Abfahrt hatte sich viel Volk zusammengefunden, das die
Kutscher in ihren bunten Livreen und die prächtigen Reitpferde
anstaunte. Allen voran fuhr Teut mit Frau Olga. Seine Renner flogen
dahin, und in der That war es begreiflich, daß die Augen der Einwohner
sich besonders auf dieses Gefährt richteten. War man doch gewohnt, nur
Ange an der Seite des Rittmeisters zu sehen, während jetzt die nicht
minder viel besprochene Frau von Ink neben dem bizarren Rittmeister
dahinkutschierte.

Mit einer großen Spannung sah Olga dem Augenblick entgegen, wo sie an
der Clairefortschen Villa vorbeifahren würden. Ob Teut wohl
hinüberschauen, ob wohl zufällig die Gräfin auf dem Balkon oder im
Garten sein werde? Olgas Triumph über die viel beneidete Frau wäre ein
vollendeter gewesen! Aber als sie die Villa erreichten, lag das Haus
inmitten seines herrlichen Parkes wie ausgestorben. Nicht einmal eins
der Kinder, auch niemand von der Dienerschaft war sichtbar.

Plötzlich machten die Pferde--gewohnt, hier zu halten--eine rasche
Seitenbewegung, und Olga ergriff unwillkürlich Teuts Arm, indem sie
einen leisen Schrei ausstieß.

„Was ist, meine Gnädige?“ fragte Teut kurz und wandte den Blick in
raschem Wechsel von der Villa zu den Tieren und von diesen zu ihr.

Olga erklärte entschuldigend, und der Wagen eilte weiter.

„Sie scheinen etwas ängstlich zu sein! Wünschen Sie, daß ich langsamer
fahre?“ fuhr er fort und zog die Zügel an.

Olga verneinte, obgleich das Gegenteil der Fall war.

„Neben einem so vollendeten Pferdelenker kann man keine Furcht
empfinden,“ sagte sie, in ihren schmeichelnden Ton zurückfallend; aber
sie bereite, gerade dieses Wort gebraucht zu haben, denn Teut fiel ein
und rief lachend:

„Ah, also auf dem Bock bin ich nicht gefährlich, gnädige Frau? Wenn Sie
sich nur nicht täuschen werden!“

Nach einigen Zwischengesprächen brachte Olga nochmals die Rede auf Ange.
Sie wollte durchaus etwas Näheres über sie aus seinem Munde hören.

„Frau von Clairefort ist wohl eine treffliche Reiterin und soll, wie ich
höre, selbst mit Vieren erstaunlich sicher fahren?“

„Allerdings, sie sucht ihresgleichen!“ erwiderte Teut, kurz abbrechend,
machte Olga--mit der Peitsche in die Ferne weisend--auf einen hübschen
Punkt aufmerksam und erging sich über diesen und die Umgegend in
lebhafte Lobeserhebungen.

Olga verstand. Er wollte nicht von Claireforts sprechen. Es ärgerte sie,
daß er diese Menschen gleichsam wie seine Domäne betrachtete und durch
Sein Ausweichen den Abstand andeuten zu wollen schien, der zwischen ihr
und Ange lag.

Sie beschloß aber doch noch einen Versuch zu machen. Vielleicht stand
sie auch nur unter einem Vorurteil! Sie nahm letzteres an, weil sie es
wünschte.

„Es interessiert mich sehr, etwas über Frau von Clairefort zu erfahren,“
begann sie. „Ich erinnere mich nicht, jemals einer so schönen und
interessanten Frau begegnet zu sein, und würde es als eine Bevorzugung
ansehen, ihr einmal persönlich näher treten zu dürfen. Sie soll
neuerdings sehr ernst geworden sein und sich fast ausschließlich der
Erziehung ihrer Kinder widmen? Übrigens, welch eine Schar von
entzückenden Geschöpfen!“

Teut fiel bei diesen Worten Anges Trauer und alles das wieder ein, was
ihn so lebhaft beschäftigte. Auch reizte ihn die etwas zudringliche Art
Olgas, nachdem er hinlänglich an den Tag gelegt hatte, daß er über
seine Freunde nicht sprechen wollte. Er sagte deshalb, ganz entsprechend
seiner Art:

„Meine Freunde haben ihren Umgang aus vorher schon erwähnten Gründen
wesentlich eingeschränkt und leben sehr zurückgezogen. Ich würde sonst
mit Vergnügen bereit sein, der Frau Gräfin Ihre Wünsche zu übermitteln,
gnädige Frau, und bin überzeugt, daß Sie bestätigt finden würden, was
ich Ihnen bereits bei Tisch über die Familie mitteilte. Überdies ist es
möglich, daß uns Claireforts verlassen werden, sobald der Graf seinen
Abschied genommen hat.“

„Nimmt er seinen Abschied?“ fragte Olga, zugleich durch eine Bewegung
ihren Dank für Teuts Bereitwilligkeit ausdrückend. „Ich denke, man giebt
ihn dem Herrn Grafen.“

„Wer sagt das?“ fuhr Teut auf und lenkte mit rascher Biegung in einen
Seitenpfad.

„Nun, ich hörte so, Herr Rittmeister. Ich bin indes durch den Ton Ihrer
Frage belehrt und bitte um Verzeihung. Übrigens zirkulieren über die
Clairefortsche Familie so viele widersprechende Nachrichten und sie
bildet so oft den Gegenstand des Gespräches, daß es schwer ist, sich ein
einigermaßen zutreffendes Bild von derselben zu entwerfen.“

Teut horchte gespannt auf. Beide Hände waren beschäftigt; nur allzu gern
hätte er seinen Schnurrbart gedreht. „Wie? Meine ruhig lebenden,
liebenswürdigen Freunde werden so viel besprochen? Es ist das erste Mal,
daß ich dies höre. Nun, ich denke, man kann nur Gutes von ihnen sagen,
gnädige Frau,“ entgegnete er mit gezwungener Sorglosigkeit.

Olga schwieg. Da sie ihre Pläne vereitelt sah, wollte sie wenigstens
ihre kleine Frauenrache.

Teut ließ die Pferde im Schritt gehen, sah mit einem nicht
mißzuverstehenden Blick seine Begleiterin an und sagte:

„Sie schweigen, meine gnädige Frau. Ich bitte da Sie selbst das Thema
berührten.“

Nun gut! dachte Olga und fuhr laut fort: „Setzt es Sie in Verwunderung,
daß man über eine Dame spricht, die so abweichende Gewohnheiten hat wie
Frau von Clairefort, die reitet und selbst auf dem Bock sitzt, die so
schön und so lebhaft ist, deren Mann sich vor der Welt mit seinem
geheimnisvollen Kammerdiener verschließt, und der mit einem so
ungewöhnlichen Aufwande sein Hauswesen einrichtete, um plötzlich man
sagt so--eine fast ängstliche Sparsamkeit einzuführen?“

Olga brach ab. Was sie sagte, war nicht verletzend, aber sie wußte, daß
jedes Wort Teut kränken mußte.

„Sie sprachen noch nicht von mir. Ich gehöre doch auch zu den
Gegenständen dieser sehr überflüssigen Betrachtungen des verehrlichen
Publikums. Wollen Sie nicht die Güte haben, nun auch die Ansichten über
mich beizufügen,“ erwiderte Teut, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ich glaube nur die Thatsachen, aus denen Urteile und Ansichten sich
folgern, wiedergegeben zu haben, Herr Rittmeister.“

„Ganz recht, meine Gnädige. Und die Thatsachen, die sich auf mich
beziehen?“

„Sie sind täglicher Gast im Hause und erscheinen öffentlich stets neben
Frau von Clairefort--“

„Allerdings, und weiter, wenn ich bitten darf?“

„Nun, deshalb glaubt das Publikum ein Recht zu haben, Bemerkungen zu
machen, die freilich und natürlich jeder Unbefangene verdammt.“

„Ah, vortrefflich! Und zu diesen Unbefangenen gehören auch Sie, gnädige
Frau, und der Intimus Ihres Hauses, Herr von Zirp?“

Der Ton, in dem Teut diese Worte sprach, war allerdings impertinent, ja
beleidigend; aber der Blick, mit dem Olga erwiderte, gab nichts nach.

Das Gespräch verstummte, und unter einer recht peinlichen Stimmung
legten beide den übrigen Teil des Weges zurück. Vor Teut war ein Vorhang
zurückgezogen, dessen Hintergrund ihn erschreckte. Er biß sich auf die
Lippen und knirschte mit den Zähnen. Diesen Engel hatte man zu
verdächtigen gewagt, und eine Frau wie seine Begleiterin fand eine
boshafte Freude an der Wiedergabe solchen Geschwätzes.

Teut durchschaute Olga nur zu gut. Da er ihr die Aussicht genommen, mit
Ange in Berührung zu treten, ließ sie die Maske fallen und zeigte ihr
wahres Gesicht--

Ärger und Reue wühlten in ihr. Sie fühlte, daß sie durch dieses Gespräch
alles verloren hatte. Ihr entging vielleicht sogar das, was sie mit
etwas mehr Selbstbeherrschung sich hätte erhalten können: der künftige
Umgang mit dem für sie doch allzu interessanten Rittmeister.

Und diese Einsicht, aber auch die Hoffnung, daß er vielleicht vergessen
könne, veranlaßte sie, zuerst wieder das Wort zu ergreifen und in
möglichst unbefangener Weise gleichgültige Gesprächsgegenstände zu
berühren. Es ward ihr dies erleichtert, da man inzwischen nahe dem Ziele
war, und einige Herren, darunter mehrere von Teuts Kameraden,
herangaloppierend, sich dem Wagen näherten.

„Wir fürchteten schon, daß Herr Rittmeister von Teut Sie zu entführen
gedenke, gnädige Frau!“ rief einer von ihnen, ein junger Assessor. „Sie
waren uns gänzlich entrückt, und wir haben Mühe gehabt, Sie einzuholen.
Aber da kommen auch die übrigen,“ fuhr er fort, und in der That stob
eine Wolke auf, in deren grauem Staubnebel man Pferdeköpfe, blitzende
Knöpfe und blanke Uniformen erkannte.

Teut, der an alles dachte, hatte seinen Reitknecht vorausgesandt. Als
man am Bestimmungsort eintraf, stand dieser schon wartend da und nahm
das Gefährt in Empfang.

Während Teut Olga vom Wagen hob, drückte sie ihm leicht die Hand und
flüsterte: „Sie sind verstimmt, Herr Rittmeister. Unsere gute, eben
begonnene Freundschaft hat doch keinen Stoß erlitten? Ich hoffe es
nicht.“

Teut aber sagte: „Sie hatten doch recht mit Ihrer Befürchtung, meine
gnädige Frau. Ich nehme den halben Zweifel, den ich bei Tisch aussprach,
jetzt ganz zurück.“

Nach diesen Worten verbeugte er sich artig und ließ Olga betroffen und
nach einer Deutung seiner Worte suchend, stehen.

Wie sehr deren Laune durch diesen Zwischenfall gelitten hatte, davon
erhielt Klara einen nachdrücklichen Beweis, die, einer guten Regung
folgend, auf sie zugeeilt kam, und sich nach ihrem Befinden erkundigte.
Ohne ihr darauf zu antworten oder gar zu danken, herrschte Olga sie an:

„Mein Gott, wie Dir nur wieder der Hut sitzt und wie Du Dein Kleid
zugerichtet hast! Sieh nur! Wie ein Harfenmädchen siehst Du aus! Geh und
ordne Deine Toilette!“

Und unmittelbar nach diesen in einem empörenden Ton gesprochenen Worten
wandte sie sich mit ihrem liebenswürdigen Lächeln zu einem der Herren,
der an sie herantrat und ihr den Arm bot.

Klara stand einen Augenblick leichenblaß. Ihre Augen füllten sich mit
Thränen des Zorns, und ihr Gesicht glühte vor Erregung.

Die Gesellschaft nahm nach einem kurzen Spaziergang, dessen Ziel ein
hübsches Wäldchen gewesen war, das Abendessen auf einer Terrasse ein,
welche einen zu dem Wirtshause gehörenden Garten begrenzte. Links- und
rechtsseitig von derselben zog sich die Landstraße hin, und geradezu
schaute man auf den Fluß.

Es war in der That ein außerordentlich schöner Punkt. Langsam zogen, von
der Abenddämmerung schon halb verschlungen, große Segelfahrzeuge
vorüber, die, aus der Flut geheimnisvoll auftauchend, einem Traumbilde
anzugehören, nicht aber die Vermittler harten Tagewerkes zu sein
schienen.

Aber drüben sah man auf der stahlgrauen, vom zarten, rötlichen
Abendsonnenschein umrahmten Wasserfläche die größeren Segelfahrzeuge
wie abgelöst von der spiegelstillen Flut, und die zwischen ihnen hin-
und herirrenden kleineren Böte erhöhten durch den Gegensatz die
majestätische Ruhe ihrer Erscheinung.

Im Nachtschlaf ruhten schon die Wälder, von drüben erscholl friedlicher
Gesang, mitunter ertönte auch ein helles Hallo über das Wasser; und vom
jenseitigen Ufer, an dem die glitzernden Lichter der Wirtshäuser
aufblitzten, drang einmal leise Militärmusik herüber.

Und über all diesem: über der silbernen Stahlflut, über den stummen
Gebüschen, über den traumselig dahingleitenden Fahrzeugen, über den
Menschen mit ihren ernsten oder sorglosen Gedanken, schwamm der Mond am
blaudunklen Himmel und sandte sein weltdurchleuchtendes, geisterhaftes
Licht herab.

Im ganzen weiten Umkreis eine einzige gewaltige, schneeweiße Wolke mit
Riesenfangarmen und Flügeln, unmittelbar über der Mondscheibe schwebend,
gebannt, unbeweglich, gleichsam im Schönheitszauber erstarrt.

Teut stand an dem Rande der Brüstung und überschaute die Landschaft.
Auch die übrigen hatten sich erhoben, denn nun rasselte es über der
nahen Brücke, und in überschnellem Lauf flog ein Wagen dahin. Deutlich
waren Menschen und Dinge noch erkennbar.

Und dann plötzlich erscholl aus Kindermund der laute und jubelnde Ruf:
„Onkel Axel! Onkel Axel!“ und aus dem vorübereilenden Wagen winkten
Händchen, und eine schöne junge Frau, die den Wagen lenkte, nickte
lebhaft, und neigte, die Gesellschaft bemerkend, mit verlegener
Artigkeit das Haupt. Es war Ange, die, von einem ihrer Ausflüge
heimkehrend, jetzt rasch nach Hause drängte.

Wie sie so dasaß mit dem vornehmen, auf den feinen Schultern ruhenden
Kopf, umweht von dem weißen Schleier, der in die Abendluft
hinausflatterte, so leicht und graziös in der Erscheinung und doch so
fest und sicher die Zügel der raschen und ungeduldigen Pferde regierend,
mußte sie die Blicke der Menschen fesseln. In wenigen Sekunden jedoch
war sie den Nachschauenden entschwunden, und unwillkürlich wandten sich
aller Augen auf Teut.

Es gab wohl niemanden in der Gesellschaft, den nicht der gleiche Gedanke
beherrschte, und einer von ihnen gab diesem auch Ausdruck. Es war der
Assessor, der mit zudringlicher Vertraulichkeit an Teut herantrat und
leicht hinwarf:

„Da war ja Ihre kleine, entzückende Gräfin, Herr Rittmeister--“

Aber er sprach nicht aus, denn Teut wandte sich mit seinem
starkknochigen Gnugesicht zu ihm, und indem er den Sprechenden mit einem
Blicke musterte, vor dem jener unwillkürlich den seinigen zu Boden
senkte, sagte er mit schneidender Zurückweisung:

„Da war die Frau Gräfin Ange von Clairefort, mein Herr! Der von Ihnen
beliebte Ausdruck war respektwidrig und äußerst unpassend! Sie werden
die Güte haben, sich dies für kommende Fälle zu merken!“

Und dann drehte er dem gemaßregelten Assessor den Rücken und ging auf
Klara von Ink zu, mit der er sich, ohne die übrige Gesellschaft für den
Rest des Abends sonderlich zu beachten, ausschließlich beschäftigte.

Auch bot er, den Augenblick erspähend, wo Olga einen Platz neben Baron
von Zirp wählte, jener seinen Wagen an und kutschierte, seinen
Reitknecht hinter sich, eilend in die Stadt zurück. Seine Verabschiedung
von Inks war überaus höflich, aber förmlich. Auch lehnte es Teut ab, an
diesem Abend der Aufforderung seiner Kameraden zum weiteren
Beisammenbleiben zu folgen.

Als der Wächter die Morgenstunde abrief, saß er, die Hand an die Stirn
gestützt, noch immer grübeln in seinem juchtenduftenden Arbeitszimmer.
Ein wilder Kampf von Empfindungen, der in seiner Brust tobte, raubte ihm
Ruhe und Schlaf.

       *       *       *       *       *

Ange ward, als sie dem Wagen entstieg und ihre kleine Schar von der
Dienerschaft herabgehoben wurde, von dem ernsten Ausdruck überrascht,
der sich in Tibets dienen widerspiegelte. Er stand, wie immer, wenn sie
zurückkehrte, vorn auf dem Treppenausbau der Villa und öffnete
ehrerbietig die Thür.

„Was ist?“ fragte sie ängstlich und hieß ihn durch ihre lebhaften
Gebärden rascher sprechen, als es seine Gewohnheit war.

„Carlitos hat heute nachmittag einen heftigen Anfall von Ohnmacht und
Erbrechen gehabt; wir haben ihn gleich ins Bett gebracht, Frau Gräfin.“

Ange schrie auf und flog die Stufen empor.

„War der Arzt schon da? Ist der Graf in seinem Zimmer?“ redete sie
hastig im Vorübereilen die Kammerjungfer an, ohne die Antwort
abzuwarten. Sie durcheilte die Wohnräume und erreichte das Kinderzimmer.
Hinter ihr schoß wie immer der Strom der Kleinen, die rasch abgezogenen
Kleider und Hüte in den Händen und achtlos nach sich schleifend.

„Stille, stille, süße Kinder! Unser Carlitos ist nicht wohl!“ dämpfte
sie, als jene ins Gemach stürmten. Sie saß bereits an dem Bett ihres
Knaben und ließ die Hand auf seiner heißen Stirn ruhen. „Wachst Du, mein
Carlitos?“ flüsterte sie und neigte sich zu ihm herab.

Er wachte nicht und er schlief nichts; er wälzte sich unruhig hin und
her, und die Hände erglühten in trockener Fieberhitze. Ange übergab die
lebhafte Jorinde und die übrigen Kinder der eintretenden Jungfer und
hieß sie ins Speisezimmer hinübergehen. Sie selbst eilte, nachdem sie
kühle Tücher über Carlitos' Stirn gelegt, zunächst in das Zimmer ihres
Mannes.

Der Graf saß--ein schmerzerweckender Anblick--in seinem großen Stuhl und
hatte den Kopf in die Hände vergraben. Die Vorhänge waren fest
zugezogen, die mit einem grünen Schirm umgebene Lampe verbreitete ein
mattes, schwermütiges Licht, und eine atembeengende Luft erfüllte das
Gemach. Dazu die unheimliche Stille und diese peinliche, den Dingen ihr
fröhliches Gesicht raubende Ordnung. Ange erschien der dumpfe Raum wie
eine Gruft; unwillkürlich schrak sie zusammen. Und kein Lebenszeichen
von ihm, als sie die Thür öffnete. Er war entweder eingeschlafen oder
eine Erschöpfung hatte ihn in einen halbwachen, willenlosen Zustand
versetzt.

„Lieber Carlos!“ sagte Ange weich und trat an den Stuhl, in dem die
große gebrochene Gestalt ruhte.

„Du wünschest?“ fragte eine tiefe Stimme.

„Weißt Du denn nicht, daß unser Carlitos krank ist? Ich komme, Dich zu
fragen, was der Arzt gesagt hat. Ich bin in großer Sorge.“

Er neigte langsam und müde den Kopf zur Bestätigung.

„Es ist bis jetzt alles geschehen, was er angeordnet hat. Ich war bei
unserem Knaben. Er schläft. Der Doktor meint, man müsse die Nacht
abwarten, es würden vielleicht kalte Bäder nötig sein.“

„Und was ist es?“ fragte Ange äußerlich ruhig, innerlich von einer
unbeschreiblichen Angst verzehrt.

„Ich weiß es nicht,“ sagte Clairefort tonlos und ließ das Haupt wieder
in die gestützte Rechte zurückfallen.

Sie sank neben ihm herab und ergriff die schlaff herabhängende Linke.
„Mein Carlos!“ hauchte sie leise und innig.

Er gab den Druck sanft zurück, aber er hob sie nicht auf, und für
Augenblicke schien es in dem Gemach wie ausgestorben. Nur ein leises
Schluchzen war vernehmbar, das aus Anges bedrängter Seele emporstieg.
Sie wußten beide, um was es sich handelte, weshalb sie neben ihm
hingesunken war und weinte.

War das derselbe Mann, der einst um Ange von Butins Hand geworben, der
kräftige Mann, aus dessen Augen das Leben blitzte?

Wie hatte man Ange ihr Glück geneidet! Er hatte sie umworben wie kaum
ein Mann ein Weib zuvor. Ihr Lächeln, ihr sanfter Blick berauschten ihn,
ihre Fröhlichkeit riß auch ihn mit fort, und jede noch so thörichte
Hoffnung auf eine ewige Dauer des Glückes teilte er mit ihr.

Und wie Carlitos geboren ward und später Jorinde und Erna--hatte er
nicht im ungestümen Freudentaumel das Haus mit Blumen schmücken lassen,
seine Umgebung beschenkt und täglich stundenlang dankerfüllt an ihrem
Bett gesessen? Und ähnlich war's noch, als die beiden schönen Knaben zur
Welt kamen. Er plante mit Ange, was sie dermaleinst werden sollten, wie
er für ihre, für der übrigen Zukunft sorgen könne.

Bei der Geburt der kleinen Ange hatte sich schon manches anders
gestaltet. Clairefort war nicht mehr so herzlich, so teilnehmend: andere
Dinge beschäftigten ihn.

Es schien, als ob ihn etwas heftig bedrücke, als ob ein schwerer Kummer
an ihm nage. Die Rückkehr zu einer heiteren, sorgloseren Stimmung war
immer nur eine vorübergehende, und sie war stets mit einem sichtlichen
Zwang verbunden. Und dann wurde er immer finsterer, immer wortkarger,
immer ausweichender, lebte nur für sich, schalt wohl einmal in heftigem
Zorn, aber flüchtete sich doch wieder in seine Einsamkeit.

Bei der Übersiedelung nach C. ergriff ihn scheinbar noch einmal die alte
Freude am Leben. Er überschüttete Ange mit Zärtlichkeit, lauschte ihre
Wünsche ab und sprach von einem neuen Leben in neuen Verhältnissen. Auch
verkehrte er nicht mehr so abgeschlossen und geheimnisvoll mit Tibet.

Aber bald war's wieder wie ehedem, ja schlimmer, denn der alte Kummer
schien ihn von neuem zu bedrücken, und auch die Eifersucht verzehrte
ihn. Und doch suchte er sein Weib nicht an sich heranzuziehen, und nur
vorübergehend war er verständigen Auseinandersetzungen zugänglich.
Allmählich ward er leidend die nervösen Beschwerden nahmen zu. Der Arzt
hatte es ausgesprochen, es war nicht zu verbergen: ein unheilbares
Rückenmarkleiden zehrte an ihm. Zuletzt kam er um seinen Abschied ein.

Nun saß er da; kein Mann, kein Soldat, kein Reitersmann mehr, gebrochen,
ein lebensmüder Greis, leise oder laut in Schmerzen wimmernd.

Aber nicht körperliche Leiden hatten allein ihn gelähmt. Er hatte
geklagt über jede Ausgabe und doch nicht die Kraft gehabt, etwas zu
ändern, oder etwas zu verweigern.

Ja, gewiß, auch die Sorgen quälten und verfolgten ihn.

Und neben diesem gedachte Ange Teuts. Welch ein Mann, welch ein Freund!
Wie er eingegriffen hatte in die Verhältnisse, wie er alles so wohl
gestaltet, und wie mürrisch ihm Carlos gedankt hatte.

Was sollte nur werden! Wie traurig, wie trostlos starrte der Frau das
Leben und die Zukunft entgegen! Heute war sie, von Teut wiederholt
ermuntert, einmal wieder hinausgefahren und hatte sich hineingeträumt
für Stunden in die alten sorglosen Zeiten.

Ihre Gedanken wurden aber durch die Erinnerung an Carlitos unterbrochen.

„Carlos, mein Carlos!“ flüsterte sie. „Ich leide entsetzlich, weil ich
weiß, daß Du leidest. Sag, Carlos“--sie stockte; sie drückte seine Hand
und legte ihr Köpfchen an seine Schulter--„liebst Du mich noch?“

„O Ange--Ange!“ preßte der Mann hervor. „Ob ich Dich liebe?“

Plötzlich wandte er sich mit mühsamer, aber rascher Bewegung zu ihr,
umfaßte sie mit seinen Armen, hob sie empor und bedeckte ihr Gesicht
mit Küssen und--mit Thränen.

„Sag mir, was Dich beunruhigt, mein Carlos, was Dich bedrückt neben
Deiner Krankheit, um die ich Tag und Nacht sorge,“ hob Ange endlich an
und schmiegte sich fester an die Brust ihres Mannes.

Clairefort zitterte, als ob er an ein Verbrechen erinnert werde. Sie
fühlte es. Ein drängendes, unerklärlich angstvolles Gefühl jagte durch
ihr Inneres.

Aber er stand ihr nicht Rede, selbst jetzt nicht, wo ihre Seelen in
Liebe und Zärtlichkeit zusammenschmolzen, selbst jetzt nicht, wo das
Höchste sie ergriff, was Menschenbrust zu durchdringen vermag.

Sie war zu vornehm geartet, etwas erzwingen zu wollen, was ihr nicht
freiwillig gewährt wurde. Und um ihn nicht im Zweifel zu lassen,
flüsterte sie besänftigend:

„Nicht Neugierde läßt mich bitten, mein einziger teurer Carlos, nur
Sorge--Sorge--um Dich--“

Die letzten Worte wurden erdrückt durch ihr Schluchzen. Er aber seufzte,
von Seelenschmerz gefoltert, tief auf, und nun sein Haupt an ihrer Brust
bergend wie ein Kind, hauchte er: „O Ange, Ange, Du Engel--nicht nur dem
Namen nach ein Engel!“

Nachdem Ange ihren Mann verlassen hatte, beherrschte sie nur der einzige
Gedanke, wie sie ihrem Kinde helfen könne. Sie ordnete an, daß noch
einmal zum Doktor gesandt werde, und widerrief es doch wieder, weil er
kaum vor einer Stunde das Haus verlassen hatte. Sie befahl, anzuspannen,
um zu ihm zu fahren, und doch sandte sie den Wagen wieder fort. Endlich
beschloß sie noch einen anderen Arzt zu Rate zu ziehen und dies bei
jenem am nächsten Tage durch ihre Angst und Sorge zu entschuldigen. Sie
schrieb auch wirklich ein Billet, und ein Diener mußte damit forteilen;
aber er kam unverrichtet Sache zurück, da jener aufs Land gerufen war.

Nun endlich wandte sie sich mit ihren Gedanken zu Teut.

Konnte sie den Freund in so später Abendstunde zu sich bitten?

Sie hockte an dem Bett des Knaben und betrachtete jede seiner
Bewegungen. Ach, wenn sie ihm doch nicht nachgegeben hätte, als er
darauf bestand, zurückzubleiben, um in dem nahgelegenen Weiher zu
fischen! Dort konnten giftige Dünste emporgestiegen sein--er mochte sich
heftig erkältet haben--oder ihm war gar ein Unfall zugestoßen, den er
verschwiegen hatte. So ging es in ihr auf und ab. Immer von neuem kühlte
sie des Knaben Stirn, rückte ihm das Kopfkissen, horchte, lauschte auf
seine Atemzüge und war zärtlich und ängstlich um ihn besorgt.

Aber die Krankheit nahm nach Mitternacht einen heftigeren Charakter an.
Carlitos wollte aus dem Bett und sprach wirre Dinge.

Er kämpfte mit ihr, während sie ihm weinend widerstand.

„Ach, sei doch ruhig, mein lieber Carlitos, ich flehe Dich an! Siehst Du
nicht, daß Deine Mama bei Dir ist! Bitte, bitte, Carlitos, bleibe liegen
und rege Dich nicht auf!“

Aber er kannte sie schon nicht mehr, er raste in heftigem Fieber.

In Todesängsten zog Ange die Schnur. Tibet erschien. Er saß geduldig
wartend im Nebenzimmer. „Gehen Sie, gehen Sie und sehen Sie, ob der Graf
noch wacht. Wenn er kommen kann, bitten Sie ihn zu mir; sollte er aber
ruhen--“ Jetzt rührte sich der Knabe wieder und schlug um sich.

„O Tibet, Tibet, mein Kind! Nein, nein, hören Sie! Eilen Sie! Man soll
eine Wanne bringen, Eiswasser und dann--Ich danke Ihnen im voraus,
Tibet! Eilen Sie zu Herrn von Teut, sagen Sie ihm, ich ließe ihn
flehentlich bitten, zu kommen! Nicht wahr, der Doktor sagte, man solle,
wenn das Fieber schlimmer werde, ihn kalt begießen? Ah, und die Fenster
sind geschlossen! Wir müssen sie öffnen! Ich hörte, Luft, frische Luft
sei vor allem nötig!“

Und Tibet eilte fort, und die Frau war wieder allein mit ihrer Sorge
und Angst.

Teut war erschienen, hatte getröstet und hatte geholfen. Er setzte den
Kleinen in die Wanne und tropfte Wasser aus großen Schwämmen über das
heißglühende Haupt; er hob ihn vom Lager und bettete ihn von neuem; er
ordnete an, daß die übrigen Kinder in andere Gemächer geschafft wurden,
und bewirkte durch seine Fürsorge, daß Carlitos gegen Morgen in einen
ruhigeren Schlaf versank.

Aber war es, daß gegen dieses Rasen des Fiebers keine menschliche Hilfe
etwas vermochte, oder daß das unerforschliche Schicksal es bestimmt
hatte--das Herz dieser holden Frau sollte brechen. Nach zeitweiliger
Besserung tobte die Krankheit nur noch heftiger, und was man mit allen
Mitteln zu bannen suchte, schien sich lediglich zu verstärken.

Die Ärzte suchten zu trösten, aber das Kind war verloren. Nach
mehrtägigem Ringen fielen des Knaben Wangen ein, eine seltsame Farbe
bedeckte sein Gesicht, trocken wurde Stirn und Hände, aus dem Munde
drang ein Hauch, vor dem Ange erbebte, und endlich--es ging ein Schrei
durch das Krankenzimmer--erlosch der Herzschlag des Kindes.

       *       *       *       *       *

„Teut,“ sagte Ange, die in einem Zimmer nach Garten gebettet war
und--einem Marmorbild vergleichbar, das Thränen vergießt--jedes
menschliche Mitleid wachrufen mußte, einige Tage später, „eine Bitte
habe ich an Sie, wenn mein süßer Knabe--“--hier brach die Stimme und
verlor sich in ein so verzehrendes Schluchzen, daß des starken Mannes
Inneres erbebte--„wenn morgen Carlitos begraben wird, lassen Sie Lux und
Lady Anna den Totenwagen ziehen. Wissen Sie noch, Teut, wie Carlitos die
Tiere liebte? Sie zu besitzen, war sein höchster Wunsch. Er wollte ganz
werden wie Sie, Teut. Alles, was Sie thaten, was Sie besaßen, war
unnachahmlich. Nicht wahr, Sie haben ihn auch geliebt--?“

Thränen erstickten von neuem ihre Stimme.

Teut wandte sich ab und trat ans Fenster. Ja, ihr Wunsch sollte erfüllt
werden, aber es bedurfte dazu einer Vorbereitung, vor der Teut einen
Augenblick zurückschreckte. Diese wilden Geschöpfe gingen in keinem
bedächtigen Trauerschritt; sie mußten gejagt, erschöpft werden, um
sanften Schrittes des Knaben sterbliche Überreste an den Totenacker zu
führen. „Es giebt nichts, was ich Ihnen verweigern würde, Ange,“ sagte
Teut bewegt und reichte der blassen Kranken die Hand. „Ich gehe jetzt,
um alles vorzubereiten.“

Er riß sich gewaltsam von ihr los, besuchte Clairefort, der ganz
gebrochen daniederlag, und eilte nach Hause. Hier traf er noch einige
auf das Begräbnis bezügliche Anordnungen, und dann ließ er anspannen.
Seine zwei Diener mußten sich auf den Rücksitz setzen und nun verließ er
die Stadt.

Im Carriere jagte Teut über die Landstraßen, fuhr die ganze Nacht,
erbarmungslos auf die Tiere einhauend, und als sie endlich
zurückkehrten, als Lux und Lady Anna standen, zitterten sie wie in
Fieberschauern und keuchten wie gemarterte Schlachtrufe. Ein Geschirr,
mit weißen Rosen, Lilien und Kamelien völlig übersät, war bereits
eingetroffen. Es ward Lux und Lady Anna angelegt, und sie selbst vor den
dunklen Trauerwagen gespannt, von dem unzählige Rosenbüschel in
denselben Farben herabhingen oder zu Blumenkronen aufgebunden waren.

So erreichte Teut, von Scharen Neugieriger gefolgt, die Villa.

Im Hause roch es scharf und unheimlich nach Lebensblumen und Lorbeer,
zudem erfüllte eine betäubende Luft alle Räume, denn Kränze und
schleifenverzierte Bouquets lagen berghoch in den Vorzimmern.

Endlich war der Augenblick gekommen. Man hob den mit Blüten und
Blättern überschütteten Sarg empor und trug ihn hinab.

Teut führte Clairefort und Ange, die jetzt thränenlos vor Schmerz, mit
irrem Blick, an seinem Arme hing, ans Fenster, öffnete es und ließ sie
hinausschauen.

In diesem Augenblick ertönte in sanften Akkorden ein Trauermarsch,
langgezogen, schmerzvoll und jeden Anwesenden bis ins Herz rührend.

Und dann sah Ange auf Teuts Lieblingspferde, die mit gesenkten Köpfen,
gleichsam mittrauernd und mitempfindend, dastanden und deren schwarze
Leiber von den weißen Abschiedsblumen umwunden waren, die Teut seinem
kleinen Freunde Carlitos mit auf den Weg gab.

„Carlitos, Carlitos--mein einziger süßer Knabe!--O Carlos! Teut--Teut!“
brach es aus Ange hervor, und in den ersterbenden Blick mischte sich ein
Ausdruck dankbarer Hingebung, der Teut für alles belohnen konnte.

Endlich überließen die Männer Ange den Händen der Frauen und schlossen
sich den in Trauerkleidern harrenden Geschwistern des Verdorbenen an.
Wie sie schön waren mit ihren seinen, blassen Gesichtern und mit ihrem
goldenen Haar, und vor allem, wie rührend die kleine Ange aussah, die
hinter dem Sarge einherschritt.

Es war, als sei die Mutter noch einmal jung geworden, nun aber kein
menschliches Gebilde mehr, sondern ein herabgestiegener Engel mit jenem
schwermütigen Verzicht in den ernsten Zügen, welche wir in den
Heiligenbildern großer Meister bewundern.

Als die Klänge der Musik in der Ferne verhallt, als die letzten dunklen
Gestalten Anges Blick entrückt waren, als nun Wirklichkeit geworden,
wogegen sich die Gedanken und Empfindungen der Frau in überqualvollen
Tag- und Nachstunden aufgelehnt hatten, da schoß auch der Schmerz noch
einmal empor, stieß seine brennenden Zungen in das Herz der geprüften
Frau und bewirkte, daß sie mit einem dumpfen Schrei zu Boden fiel.

So fand Tibet, der im Nebenzimmer, bleich wie ein Verurteilter, den
Vorgängen draußen mit dem Blick gefolgt war und nun erschrocken
herbeieilte, seine schöne, arme, geliebte Herrin.

Wenige Wochen waren vergangen. Teut saß in dem Clairefortschen
Wohnzimmer und hatte die kleine Ange auf dem Schoß. Das Kind spielte mit
einer silbernen Kette, die aus dem Waffenrock hervorschaute, und zerrte
zuletzt daran. Schon oft hatte Ange auf das geheimnisvolle Ticken
gelauscht, nun trieb sie heute abermals die Neugierde. „Warte,“ sagte
Teut gutmütig, löste die Uhr und legte sie in die zarte Hand des holden
kleinen Mädchens.

„Carlitos hatte auch eine Uhr,“ hob Ange an, während sie mit den
Fingerspitzen auf das Glas tupfte. Und zu Teut aufblickend, fuhr sie
fort: „Hat er sie mitgenommen? Ist sie auch beim lieben Gott?“

Als Teut nicht gleich antwortete, glitt sie ihm vom Schoß und rief
lebhaft: „Danach muß ich Mama fragen!“

Er aber hielt sie fest und zog sie abermals an sich.

„Bleib, Ange. Mama schläft. Wir dürfen sie nicht stören. Ich will Dir
alles erzählen: Nein, mein Liebling, seine Uhr hat Carlitos nicht
mitgenommen. Die hat Dein Papa. Vielleicht, wenn Du erwachsen bist,
erhältst Du sie.“

„Die ist ja viel zu groß! Das ist ja eine Herrenuhr!“ rief Ange mit
abweisender Wichtigkeit; „Mama hat mir eine kleine versprochen--eine
ganz kleine, wie Bella ihre--“

„Bella? Wer ist Bella?“

„Das ist doch meine große Puppe.“

„Ach, verzeih, Ange, daß ich das nicht wußte.“

„Soll ich sie holen?“ nickte das Kind lebhaft. Und ohne Antwort
abzuwarten, lief sie fort und kam gleich zurück.

„Es geht jetzt nicht, Onkel,“ erklärte sie ernsthaft, „Bella schläft.“

„So? Sie schläft? Kannst Du sie nicht wecken? Bitte, bringe sie, damit
ich sie kennen lerne.“

Ange schüttelte den reizenden Kopf, aber in das bleiche Gesichtchen
stahl sich ein schelmischer Ausdruck.

„Da ist sie ja! Da ist sie ja! Und Du hast gar nichts gemerkt!“ jubelte
sie, zog das hinter dem Rücken versteckte Püppchen hervor und legte es
ihm in die Arme. „Ist sie hübsch, Onkel?“

„Sehr hübsch, Ange.“

„Ich habe noch eine, aber--“

„Nun?“

„Ben hat ihr ein Auge eingestoßen und auch die Nase.“

„Da muß ich Dir wohl eine neue schenken, Ange?“

Die Kleine schüttelte den Kopf.

„Nein? Weshalb nicht?“

„Mama sagt, Du schenktest uns schon so viel. Wir dürften Dich nie mehr
um etwas bitten.“

„So, das sagt Mama? Aber Du hast ja nicht gebeten, Ange. Ich habe sie
Dir ja angeboten.“

Einen Augenblick sann das Kind und dachte nach, dann nickte es lebhaft:

„Ja, eine recht große, die auch schlafen kann und ein seidenes Kleid
hat, Onkel Axel. Schenkst Du sie mir bald--heute?“

„Ich will sehen, Ange. Aber mir fällt etwas ein. Wenn ich Dir nun eine
Puppe bringe und den übrigen keine?“

„Die andern spielen ja gar nicht mehr mit Puppen!“ rief Ange, Teuts
Unwissenheit mit höchster Verachtung strafend.

„Ganz recht! Aber sie möchten gewiß etwas anderes haben, was ihnen
Freude macht. Erna wünscht sich vielleicht einen seidenen Sonnenschirm,
Jorinde einen neuen Hut, und Ben und Fred möchten gerne kleine Ponys
haben.“

„Ja, ja, Onkel Axel,“ rief Ange stürmisch, „schenk ihnen Ponys, dann
können wir zusammen ausfahren--“ Aber sie unterbrach sich ebenso rasch:
„Nein, Onkel, es geht doch nicht. Mama will ja nicht, daß Du uns etwas
schenkst. Papa erlaubt es nicht.“

Teut horchte auf.

„Er fragte Mama, woher sie ihr Geld hätte. Mama weinte und sagte, daß Du
uns Geld geschenkt hättest. Da wurde Papa so böse, daß wir auch alle
weinten und hinausgehen mußten. Mama darf nichts von Dir nehmen, Onkel.
Nein, Onkel, schenke Ben und Fred keine Ponys. Papa nimmt sie ihnen doch
weg, und sie werden bestraft. Aber ich will Papa bitten, ob Du mir eine
Puppe schenken darfst. Ja, Onkel? Mama soll ihn bitten.“

Teut antwortete nicht. Es schwirrte ihm noch in den Ohren, was das Kind
gesprochen, und seine Gedanken waren weit ab.

„Onkel Axel, Onkel Axel! Hörst Du denn gar nicht?“

„Ja, mein liebes Kind,“ flüsterte Teut, wie aus einem Traum erwachend.
„Du wirst Deine Puppe erhalten.“

Ange klatschte in die Hände und sprang von ihm fort.

       *       *       *       *       *

Am selben Tage in der Nachmittagsstunde öffnete Jamp die Wohnstubenthür
seines Herrn und meldete den Rittmeister von Zirp.

„Ah, Zirp! Willkommen! Nehmen Sie Platz!“

„Ich störe doch nicht?“

„Keineswegs--bitte! hier Cigarren.“

Nach wenigen Augenblicken saßen sich die beiden Herren gegenüber.

„Ich komme,“ hob Zirp an, „Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten,
Teut.“

„Bitte, wenn es in meiner Macht steht--“

„Also, ohne Einleitungen. Ich brauche fünftausend Mark, die ich
augenblicklich nicht habe, die ich aber durch Bürgschaft erhalten kann.
Ich wollte Sie nun bitten, liebster Teut, daß Sie--“

„Bürgschaften übernehme ich nie,“ erwiderte Teut. „Ich habe meinem Vater
einen Schwur geleistet, mich niemals in der Weise zu verpflichten. Also
dieser Fall ist ausgeschlossen.“

„Fatal! Ich brauche das Geld bereits morgen und weiß es sonst nicht
anzuschaffen.“

„Hm, bis morgen--?“ sagte Teut nachdenklich. Und nach einer Pause:
„Entschuldigen Sie die Frage, wie die Sache sich so auf die Stunde hat
zuspitzen können? Es wird gar nicht möglich sein, Ihnen so rasch zu
dienen.“

Teut schlug mit den Hacken zusammen, und in Zirps Mienen malte sich
einige Verlegenheit. Er streifte die Asche von der Cigarre auf den
Fußboden ab und benutzte dann mit einem nachträglichen „Pardon!“ den
bereit gestellten Aschbecher.

„Bitte, bitte!“ schob Teut phlegmatisch ein.

„Hören Sie, lieber Teut,“ begann Zirp mit gezwungenem Anlauf, „ich will
offen reden. Ich habe Wechsel ausgestellt, die bereits gestern fällig
waren. Ich hoffte sie auf die Stunde bezahlen zu können. Allein meine
Schwester, auf die ich sicher rechnete, hat mir mein Ansuchen
abgelehnt.“

Er hielt inne, aber Teut kam ihm nicht zu Hilfe. Eine peinliche Pause
trat ein.

„Wohl,“ sagte Teut endlich und strich den langen Schnurrbart; „ich
begreife. Aber was ich durchaus nicht verstehe“--Zirp fand diesen
hochmütigen Ton, dieses etwas schulmeisterliche Wesen Teuts ganz
unerträglich--„wie wollen Sie denn nach der üblichen Frist von drei
Monaten zahlen?“

Zirp biß sich auf die Lippen und knipste abermals die Asche auf den
Teppich.

„Können Sie eine Garantie geben, daß Sie um jene Zeit die
Schwierigkeiten zu beseitigen vermögen?“

„Gewiß, gewiß!“ erwiderte Zirp leichtfertig.

„Und diese wäre?“ fuhr Teut unerbittlich fort.

„Nun, meine Schwester wird sich breitschlagen lassen--“

„Hm! Aber wenn Sie sich nun doch in dieser Annahme irren?“

„Ah, das ist ja nicht denkbar! Sie muß ja--“

„Sie muß? Weshalb? Entschuldigen Sie--“

„Nun es steht doch alles auf dem Spiel, wenn ich nicht zahle. Sie
kennen ja die Konsequenzen.“

Zirp wagte während der Schlußworte das Auge nicht emporzuschlagen.

Teut sah ihn an und schüttelte den Kopf; dann sagte er in einem milden
Ton:

„Zirp! Sie waren bisher leichtsinnig. Ich schätzte Sie aber als
Ehrenmann. Wäre es nicht besser, Sie beugten bei Zeiten einer
Katastrophe vor, die mir bei dieser Sachlage unausbleiblich erscheint?“

Zirp hatte sich erhoben und ordnete auf der Etagère Teuts zahlreiche
Cigarrentaschen. Halb gärte es in ihm auf, halb packte ihn die bessere
Einsicht. Endlich sagte er: „Ich sehe, daß Sie mir nicht helfen wollen.
Bitte--“ unterbrach er seine Rede, als Teut eine Bewegung machte, „ich
mache Ihnen daraus keinen Vorwurf. Da Sie aber in bester Absicht
gesprochen haben--ohne Zweifel--wie soll ich mit Ihren Ratschlägen und
Hindeutungen auf die Zukunft morgen meine Verpflichtungen erfüllen?“

Ohne eine unmittelbare Antwort zu geben, sagte Teut, sich gegen die
Fensterbank lehnend und einen Siegelring an seiner kräftigen Hand
drehend:

„Wer ist der Inhaber des Wechsels und wieviel sind Sie wirklich darauf
schuldig?“

„Matt hat das Papier in Händen,“ ertönte es kleinlaut.

„Ich dachte es mir! Und wie viel empfingen Sie darauf?“

„Dreitausend Mark hat mir der Schuft gegeben.“

Teut sann einen Augenblick nach. Dann erhob er den Blick, sah Zirp
freundlich an und sagte kurz entschlossen:

„Gut, dreitausend Mark und einen guten Zins über den landesüblichen will
ich Matt zahlen, auch selbst den Kerl vornehmen und alles für Sie
ordnen--“

„O Teut, lieber, braver Freund!“

„Halt, Zirp! Ich habe eine Bedingung: Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß
Sie nicht mehr spielen und nie mehr Wechsel unterzeichnen.“

Zirp machte eine zustimmende Bewegung.

„Nein, nein, nicht so rasch! Besinnen Sie sich wohl!--Ferner: Sie
beantworten mir eine Frage, wahrheitsgetreu, ohne Rückhalt, als
Kavalier.“

Zirp horchte gespannt auf. Des Sprechenden Stimme klang
verändert--ernster, fast drohend.

„Ich bitte, sprechen Sie, Teut.“

„Nein, Zirp, erst antworten Sie mir, ob Sie meine Bitte erfüllen wollen.
Was ich von Ihnen fordere, ist nichts, was Sie mit Ihren Grundsätzen in
Konflikt bringen kann, denn derjenige, der gut genug ist, in intimsten
Privatangelegenheiten als Freund zu helfen, ist wohl so viel wert wie
diejenigen, bei denen der Antragsteller die Stunden seiner Langenweile
vertreibt. Also?“

„Gut! Obgleich mir Ihre Rede unverständlich ist und obgleich ich fast
erschreckt bin durch den feierlichen Ton--ich gebe Ihnen hiermit mein
Ehrenwort, daß ich Ihre Frage nach bestem Wissen, wahrheitsgetreu,
beantworten werde.“

„Nun,“ hob Teut an, „dann frage ich Sie: Hat jemals jemand behauptet,
daß--die Gräfin Ange--Clairefort--meine--Geliebte--sei?“ Teut stieß die
Worte zögernd, in Absätzen hervor. In scharfer Abgrenzung markierten
sich die Linien seines mageren Gesichtes und seine Mundwinkel zuckten.
Zugleich schob er das Monocle ins Auge und schien Zirp mit seinen
Blicken durchbohren zu wollen.

„Sie schweigen?“ drang es heiser aus Teuts Munde. „Gut! Das ist auch
eine Antwort. Ich danke Ihnen. Rechnen Sie auf mich; aber“--und ein so
drohender Ernst malte sich auf des Rittmeisters Zügen, daß Zirp
unwillkürlich zusammenschrak--„ich rechne auch auf Sie, daß Sie in
Zukunft Ihre Reitpeitsche jedem ins Gesicht schlagen, der es wagen
sollte, diese edle Frau auch nur durch eine Miene zu verdächtigen!“

Für Augenblicke war es stumm zwischen beiden Männern. Teut hatte sich
abgewandt und schaute auf die Gasse. Endlich trat Zirp näher und ergriff
dessen Hand.

„Teut, welch ein Mensch sind Sie! Unter Tausenden ist nicht
Ihresgleichen. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich eingedenk sein werde
dieser Stunde und mich Ihnen bewähren werde als Freund. Dank, nochmals
Dank! Ich gehe jetzt. Adieu----.“ Zirp wartete. Keine Bewegung, keine
Antwort.

Erst nach geraumer Zeit veränderte der Mann, dem ein so braves Herz
unter des Königs Rock schlug, seine Stellung, und mit einem Blick, in
dem sich widerspiegelte das Leiden seiner Seele, drückte er jenem die
Hand und bat ihn durch eine Bewegung, das Zimmer zu verlassen.--

Vierzehn Tage später empfing Teut von Zirp die Anzeige, daß dieser sich
mit Eva von Ink verlobt habe. Anfänglich starrte Teut das Billet
überrascht an und schüttelte den Kopf, bald aber ergriff er die Feder
und schrieb unter Beifügung des inzwischen eingelösten Wechsels die
nachfolgenden Worte:

„Lieber Freund! Ich gratuliere. Sie haben den Weg eingeschlagen, der
Ihnen die Ausführung Ihrer Entschlüsse zu einem neuen Leben
erleichtert, ja, wie ich hoffe, sichert! Bravo deshalb!

Stets Ihr

Axel von Teut-Eder.“

Auch der Familie Ink sandte Teut seine Glückwünsche, aber einen Besuch
machte er nicht.

       *       *       *       *       *

Der Sommer 1870 war gekommen, der Krieg zwischen Deutschland und
Frankreich stand vor der Thür. Eine ungeheure Erregung hatte alle
Gemüter ergriffen, und auch in C. sprach man von nichts anderem als von
diesem drohenden, in alle Verhältnisse eingreifenden Ereignis. Begierig
lasen die Männer die Zeitungen, eine Nachricht überholte die andere, und
in den militärischen Kreisen herrschte fieberhafte Spannung über die zu
erwartenden Marschordres.

„Ist's wahr, ist's möglich?“ rief Ange und eilte Teut entgegen, der sich
sogleich zu seinen Freunden begab. „Haben Sie schon Befehl zum Ausrücken
erhalten? Wann? Wohin geht's? O, kommen Sie! Carlos ist in großer
Ungeduld, Sie zu sehen und zu sprechen.“ Und sie zog ihn mit sich fort
in ihres Mannes Gemach.

Clairefort war kaum wiederzuerkennen. Die drei Jahre, seitdem er nach
C. versetzt war, hatten ihn völlig verändert. Sein Blick war unheimlich
starr, ein schwarzer Bart umrahmte sein Gesicht, und die mageren Finger
zuckten in nervöser Erregung. Er bewegte sich unsicher, hielt sich
meistens an den Möbeln fest und schritt auch dann mit jenen willenlosen
Bewegungen einher, an denen man die Rückenmarkleidenden erkennt. Durch
übermäßigen Gebrauch narkotischer Mittel hatte er seinen Zustand nicht
gebessert, und oft glich er, wenn er aus dem künstlichen Schlaf
erwachte, einem Geisteskranken.

Heute war er klarer; er hob sich in seinem neuerdings für ihn
angefertigten Krankenstuhl empor und richtete einen fragenden Blick auf
den Eintretenden.

„Schon etwas Neues, Teut? Wann geht's fort? Ah, und ich liege hier, ein
ohnmächtiger Kranker, und muß zusehen.“

Ange tröstete mitleidig und verwies auf Besserung, freilich ohne es
selbst zu glauben. Teut nickte ernst und gab Antwort auf diese und
spätere Fragen.

„Ich denke, wir werden übermorgen C. verlassen“, sagte er. „Dem Oberst
ist nur mitgeteilt, daß wir uns bis dahin marschfertig halten sollen.
Eine bestimmte Ordre ist noch nicht eingetroffen.“

„Schon übermorgen,“ rief Ange erschrocken, ließ die Arme sinken, die
noch eben auf der hohen Lehne des Krankenstuhls geruht hatten, und legte
die Hand aufs Herz. Auch Clairefort wiederholte dieselben Worte, aber
wie ein Abwesender, der mit seinen Gedanken weit fort ist.

„Bitte, Ange,“ hob er endlich mit sichtlicher Überwindung an, „verlasse
uns jetzt. Ich habe etwas mit Teut zu besprechen.“

Ange sah das ernste Gesicht der beiden Männer und wandte sich gehorsam
zum Gehen. Teuts Mienen blieben unbeweglich: vergeblich suchte sie
seinen Blick.

Nachdem sie das Gemach verlassen hatte, fiel Clairefort zurück und
bedeckte das Gesicht mit den Händen.

„Sie sind bewegt! Was ist Ihnen, Clairefort?“ begann Teut, einen Stuhl
herbeirückend und des Freundes Schulter berührend. „Sie wünschen mir
etwas zu sagen? Ich höre, Clairefort.“

Er hielt inne und erwartete, daß jener das Wort ergreifen werde. Als
Clairefort stumm blieb, fuhr er fort:

„Reden Sie! Was es auch sei, es fällt in den tiefsten Brunnen! Teilen
Sie sich dem Freunde mit, der alles verstehen, und alles--“

„Verzeihen kann?“ ergänzte der Kranke, richtete sich plötzlich empor
und sah Teut mit einem flehenden Blicke an.

„Ja,“ sagte Teut, „der alles verzeihen kann.“

Endlich beim Abschied, vielleicht beim Nimmerwiedersehen löste sich
Claireforts Zunge. Wie lange hatte Teut ein Vertrauen herbeigesehnt, das
unter den gegebenen Verhältnissen so natürlich war. Immer hatte
Clairefort geschwiegen. Oft schien er einen Anlauf nehmen zu wollen, um
sein Inneres zu öffnen, um abzustoßen, was ihn bedrückte, aber stets
hatte sich sein Mund wieder geschlossen.

„Wohlan, es sei!“ begann Clairefort. „Es drängt mich, Ihnen heute zu
sagen, was mich quält, Teut. Wer weiß, ob Sie mich noch lebend finden,
wenn Sie zurückkehren. Hoffen wir es nicht, daß ich inzwischen
davongehe, nehmen wir aber an, daß wir uns das letzte Mal
gegenüberstehen. Vergeben. Sie mir auch--“ Clairefort stockte und holte
mühsam Atem--„wenn ich Ihnen so oft wehe gethan habe, Sie durch
Empfindlichkeiten, durch eifersüchtige Regungen, durch ein falsches
Ehrgefühl kränke. Rechnen Sie, wenn es Ihnen möglich ist, ein wenig mit
meinem Zustand, den ich selbst in seiner Bedeutung und seinem Umfang
nicht kannte. Ich bin ein willenloser, schwankender Mensch geworden.
Ach, Freund--“ Clairefort unterbrach sich, Schweißtropfen traten auf
seine Stirn, und die Hände irrten unruhig umher--„ich habe mich
unsühnbar vergangen gegen meine Frau und--meine Kinder--“ Er hielt inne,
und auf seinem Gesicht malte sich eine furchtbare Angst. Er wollte
weiter reden, aber vermochte es nicht.

Teut sprach sanft auf ihn ein: „Erholen Sie sich, Clairefort. Und
nochmals: Fürchten Sie keinen Tadel! Was es auch sei, vertrauen Sie sich
mir an.“

„Nun denn--“ ächzte jener und griff krampfhaft nach des Freundes Hand.
„Nun denn--hören Sie. Ich habe--ich habe--nein, ich vermag Ihnen das
Verbrechen--meine Schande nicht aufzudecken! Und doch möchte ich nichts
verschweigen einem Manne, der wie keiner mein Vertrauen verdient, der es
fordern kann, dem ich schon lange mich hätte eröffnen folgen, zu dem ich
aber nicht sprach, weil die Scham mich erdrückte.“

Teut hörte mit angstvoller Spannung zu. Was würde er hören? Schande,
Verbrechen? Vergeblich sann er hin und her.

„Seien Sie ein Mann, Clairefort. Raffen Sie sich auf. Wir sind hier zu
zweien. Es bedarf keiner Versicherung, daß nie eine Silbe über meine
Lippen kommen wird.“

„Nun denn, Teut, ich habe--unser ganzes Vermögen, das Vermögen meiner
Frau, mein eigenes, das meiner Kinder--an der Börse verspielt,“
zitterte es aus des Kranken Munde. „Wir leben schon seit Jahresfrist von
dem letzten durch Tibet ohne mein Wissen geretteten Kapital--und stehen
in wenigen Wochen vor dem--vor dem Nichts--dem ich--ich--“

Der Mann fiel zusammen wie ein Scheit, das im Ofen zu Asche verglommen,
plötzlich sich ablöst.

Teut wurde leichenblaß; es krallte sich um sein Inneres Schmerz und
Empörung zugleich. Was er hörte, war mehr als entsetzlich. Das konnte
ein Mann thun einem solchen Wesen, solchen Kindern? Er biß sich auf die
Lippen und sprang empor. Aber nur einen Augenblicke dann lichtete sich
in der Brust dieses seltenen Menschen der Funke edler Gesinnung, und
lodernd schoß die Liebe empor für sie, der er geschworen, ein Freund zu
sein fürs ganze Leben.

„Clairefort,“ sprach er, „wir erörterten nur einmal Geldangelegenheiten,
und es soll heute das letzte Mal sein. Fürchten Sie nichts. Anders wird
Ihr Leben sich zwar gestalten, aber Sie werden nicht darben. Axel von
Teut meint es ernst mit Freundschaft und Gelöbnissen. Diese Versicherung
sei Ihnen genug. Was geschehen, was hinter uns liegt, werde nie wieder
zwischen uns berührt. Nur eine Bitte spreche ich aus: Sichern Sie mir
zu, daß Ange nie erfahren wird, wie Ihr Vermögen zerronnen, noch
weniger, daß es gänzlich dahin ist. Verschweigen Sie namentlich die
Rolle, welche fortan der Freund übernimmt. Ich gelte von heute als
Verwalter Ihrer Einkünfte und als der Vormund Ihrer Kinder. Sind Sie
einverstanden?“

Clairefort hob sich empor. Seine Knie schlotterten, seine Augen glänzten
überirdisch, aber indem er die Arme ausstreckte, um sich an des Freundes
Brust zu werfen, glitt er aus und fiel schwerfällig auf den Teppich.

Teut beugte sich herab und horchte an seinem Herzen. Es schlug. Rasch
eilte er zur Klingel. Gleich darauf trat Ange, von Tibet gefolgt, ins
Zimmer.

„Beruhigen Sie sich, Gräfin,“ sagte Teut besänftigend. „Es ist nichts
Schlimmes. Bringen wir Carlos ins Bett. Nur eine Ohnmacht. Er fühlte
sich so schwach. Es wird vorübergehen.“

Ange forschte angstvoll in den ernsten Mienen des Sprechenden, während
Tibet seinen Herrn aufrichtete und sorgsam zu betten suchte.

Nichts! Nur einmal sah er sie an, und in seinem Auge blitzte die alte,
mit Trauer vermischte Zärtlichkeit.

Und dann kam der Abschied. Es war an einem Spätnachmittage. Ange war im
Begriff, in den Garten hinabzusteigen, um die abgekühlte Luft zu
genießen und nach den Kindern zu sehen. Jorinde und Ben schaukelten
unter den schon dunkle Schatten werfenden Buchen in der Hängematte, und
Fred und Erna holten Gießkannen herbei, um den Blumen ihrer Beete Wasser
zu geben. Aus den Gebüschen, aus dem Erdreich quoll ein sanfter Duft,
denn der Tau reizte die zarten Nerven der Bäume und Gräser. Bevor Ange
die letzten Treppenstufen erreicht hatte, öffnete sich die Thür und Teut
trat ihr entgegen. Sie sah an seinem Blick, daß er komme, um lebewohl zu
sagen.

„Ich gehe zu Carlos hinauf,“ sagte Teut, „falls Sie in den Garten
wollen, werde ich Sie später dort aussuchen. Noch diesen Abend verlassen
wir die Stadt.“

Ange lehnte sich an das Geländer und legte die Hand auf die Brust.

„Also wirklich?“ Sie sah ihn mit einem ihrer stillen Blicke an, und er
suchte ihre Augen mit einem Ausdruck, in dem sich nur zu deutlich
widerspiegelte, was ihn bewegte.

„Werden Sie mitunter meiner gedenken, Ange?“

Sie antwortete nicht, sie neigte nur leise das Haupt. Wie schön sie
gerade heute war! Ein eng anschließendes schwarzes Kleid umspannte
ihren Leib, und zwei weiße Rosen schmückten ihre Brust. Um den Kopf
hatte sie ein leichtes Tuch geschlagen, unter dem das zarte Gold ihres
Haares hervorschaute. Und in dem Blauweiß ihrer Augen schwammen jene
sanften und doch so dunkel blitzenden Sterne, welche kein Mann vergaß,
wenn er sie einmal gesehen hatte. Während sie so vor ihm stand und das
leichte Haupt auf die Hand stützte, fielen die reichen Spitzen des
Gewandes zurück, und ein Arm von tadellosem Ebenmaß ward sichtbar. Ihre
Gestalt schien in diesem Augenblicke frei in der Luft zu schweben, bei
der unnachahmlichen Grazie ihrer Erscheinung von der Erde abgelöst zu
sein.

„Liebe Ange!“ flüsterte Teut, von ihrem Anblick hingerissen, und trat
einige Schritte vorwärts.

Sie aber glitt langsam die Stufen hinab und bat ihn durch eine Bewegung,
ihr zu folgen.

Sie umschritten, ungesehen von den Kindern, das Haus und bogen in einen
stillen Laubgang ein. Die untergegangene Sonne webte noch mit schwachen
Lichtern in der Ferne; hier war es fast dunkel.

Wortkarg gingen sie nebeneinander her; beiden stockte die Sprache. Als
sie zum zweitenmal den Weg maßen, schlug der Ruf eines der Kinder an ihr
Ohr. „Mama Ange! Mama Ange! Wo bist du?“

Nun ergriff er hastig ihre Hand, legte seinen Arm um ihren Leib, und
indem sie es duldete, fühlte er, daß eine Sekunde ihr Haupt an seiner
Brust ruhte.

„Dank, Dank für alles, Teut! Auf Wiedersehen!“ schluchzte sie und riß
sich von ihm los. „O Ange, Ange, meine liebe Freundin! Vergessen Sie
mich nicht!“ flüsterte der Mann und hielt die aus dem Dunkel wie eine
Lichterscheinung hervortretende Gestalt zurück.

„Niemals, niemals, Teut!“ preßte sie unter Thränen hervor. „Doch
nun--die Kinder rufen!“

Sie traten aus den sie umgebenden Bäumen heraus. Im Grase zirpte es
leise, ein Vogel flatterte schlaftrunken in den Zweigen. Drüben schien
die Sonne ganz versunken; der Tag war zur Ruhe gegangen, und ihre Hände
lösten sich.

       *       *       *       *       *

„Lieber Teut!

Gottlob, daß Ihr Brief kam. Sie haben mich aus einer unsagbaren Angst
befreit. Jetzt weiß ich, daß Sie am Leben und gesund sind; nun tritt
alles übrige in den Hintergrund. Ich schreibe auch gleich, um Ihnen an
den Tag zu legen, wie sehr meine Gedanken bei Ihnen sind.

Lassen Sie mich vorerst erzählen, wie es bei uns geht. Carlos' Zustand
ist derselbe hilflose, aber er ist zeitweise heiterer und mitteilsamer.
Ich war sehr gerührt, als er vorgestern die Kinder zu sich kommen ließ,
sie liebkoste und sich mit ihnen beschäftigte. Das ist seit Jahr und Tag
nicht mehr der Fall gewesen.

Sie glauben aber auch nicht, wie artig die kleine Schar ist und welche
Fortschritte sie macht.

Ben und Fred gehen nun ins Gymnasium und stolzieren sehr wichtig mit
ihren Schulranzen einher. Mit Fräulein Elise, der Gouvernante, geht es
fortdauernd gut. Sie ist eine liebenswürdige, gutherzige Dame, und die
Mädchen zeigen ihr auch täglich, wie lieb sie dieselbe haben.

Es wird Sie freuen, lieber, vortrefflicher Freund, daß Carlos jetzt auch
nicht mehr so übertrieben sparsam ist. Seit Ihrem Fortgang hat er für
den Haushalt zugelegt, und auch Tibet hat mehr zur Verfügung als in dem
letzten halben Jahre. Ich hatte schreckliche, peinliche Verpflichtungen
bei Handwerkern und in meiner Umgebung--schelten Sie nur nichts ich
verstand es ja bisher so schlecht, lerne es aber gewiß noch einmal ganz
gut--, die nun alle bezahlt sind. Welch ein köstliches Gefühl, keine
Schulden zu haben!

Die Villa behalten wir einstweilen, da die Miete ermäßigt ist. Carlos
stellte dem Besitzer die Alternative, abzulassen oder der Kündigung
gewärtig zu sein.

Sehen Sie, so ist es bei uns. Wäre mein teurer Carlos nicht so krank,
lebte Carlitos noch und wären Sie nicht fort, Sie mein lieber, treuer
Teut, ich würde sagen, daß wir vollkommen glücklich sind!

Ich bekam neulich, auf Empfehlung von Fräulein Elise, die Briefe der
Madame de Sévigné an ihre Tochter in die Hand. Welch ein Genuß! Jede
Mutter sollte lesen, was diese weltkluge und feinfühlende Frau
geschrieben hat, und suchen, es sich zu eigen zu machen.

Noch eins. Jorinde spielt jetzt wirklich allerliebst Klavier, und
neulich hatte sie mit Fred ein kleines vierhändiges Stück zu Carlos'
Geburtstag eingeübt, das großen Erfolg hatte. Elise war sehr stolz, und
ich habe ihr--das werden Sie, Bärbeißiger, nun wieder höchst
unvernünftig finden--eines meiner seidenen Kleider geschenkt.

Ich komme ja doch nicht mehr in die Gesellschaft, habe auch, ehrlich
bekannt, wenig Verlangen danach.

Neulich hat Frau von Ink mir einen Besuch gemacht. Ich begegnete
Fräulein Eva, der Braut, und nahm sie mit mir. Ich finde es doch sehr
artig, daß sie sich persönlich bedankt hat. Ich weiß, Sie mögen die Dame
nicht, gestehe aber, daß ich sie sehr liebenswürdig finde, und daß ich
den Eindruck habe, sie meine es gut mit mir.

Nein! nein! höre ich Sie sprechen. Nun, wenn Sie kommen, können wir ja
den Verkehr wieder einschlafen lassen.

Fred läßt Ihnen sagen, Sie möchten ihm einen französischen Tschako
mitbringen. Werden Sie es nicht vergessen? Ange umarmt Sie zärtlich.
Eben kommt sie herbeigelaufen und will Bonbons. Sie erhält aber keine.
Onkel Axel möchte französische Bonbons schicken! meint sie.

Heute will ich meines Carlitos' Grab besuchen, Teut; ich lege auch in
Ihrem Namen eine Blume darauf nieder.

Und nun leben Sie wohl, Sie Einziger, Bester, und schreiben Sie bald
wieder und Gutes Ihrer Sie herzlich grüßenden und dankbaren

Ange von Clairefort.

Ach, wenn doch der schreckliche Krieg erst beendet wäre!“

Als Teut diese Zeilen empfangen hatte, schrieb er einen Feldpostbrief,
welcher an seinen Banquier in Berlin gerichtet war. Dieser Brief, von
dessen Inhalt Ange später Kenntnis erhielt, möge hier Platz finden.

„Geehrter Herr!

Kurz vor meiner Abreise von C. ersuchte ich Sie monatlich die Summe von
tausend Mark an die Adresse des Bankhauses Danz u. Co. in C. abzuführen
und demselben mitzuteilen, daß dieser Betrag gegen die eigenhändige
Quittung des Grafen Carlos von Clairefort und die Gegenzeichnung des
Empfangnehmenden Ernst Tibet auszufolgen sei.

Ich bitte, und zwar vom ersten des kommenden Monats ab, diesen Betrag um
fünfhundert Mark zu erhöhen, also fortan fünfzehnhundert Mark zur
Begleichung einer Schuld an den Herrn Grafen Clairefort zu zahlen. Wegen
der an mich zu sendenden Monatsraten bleibt es bei den früheren
Bestimmungen.

Ich ersuche Sie zugleich, sich umzusehen, ob die beiden großen Posten
von je dreihunderttausend Mark nicht in Zukunft zu fünf Prozent in
zweiten Hypotheken unterzubringen wären. Ich denke, es giebt dergleichen
sichere Anlagen, und ich könnte meine Einnahmen erhöhen. Da ich in der
Folge vom Zinsenkapital nicht mehr zurücklegen kann, muß ich mich etwas
einzurichten suchen.

Dem dortigen Hilfskomitee für die Verwundeten wollen Sie unter A.v.E.
gefälligst fünftausend Mark überweisen.

Ich sage Ihnen im voraus meinen Dank und erbitte Ihre baldigen
Mitteilungen.

Baron von Teut-Eder,

Rittmeister und Eskadronchef.“

       *       *       *       *       *

Die beiden Briefe, nach ihrem Inhalt bezeichnend für Ange und Teut,
wurden im September geschrieben, aber bereits zwei Monate später trat im
Clairefortschen Hause ein so folgenschweres Ereignis ein, daß alles für
die Familie in Frage gestellt schien.

Als sich Ange eines Morgens in das Zimmer ihres Mannes begab, um sich
ihrer Gewohnheit gemäß, nach seinem Befinden zu erkundigen, schlug ihr
eine unerträgliche Hitze entgegen, und sie fand ihn nicht wie sonst
bereits an seinem Schreibtische sitzen. Wenn Clairefort starke Schmerzen
in der Nacht fürchtete, pflegte er häufig noch spät abends von Tibet
heizen zu lassen, denn nur allzuoft verursachte ihm sein Zustand
Schlaflosigkeit.

Als Ange ins Gemach spähte, fand sie zu ihrem Schrecken, den Nachttisch
umgeworfen; Glaser, Leuchter und Flaschen waren herabgestürzt und
bedeckten Fußboden und Teppich. Clairefort selbst aber lag--das Haupt
nach unten und mit den Füßen das Kopfkissen berührend--neben der
zurückgeschlagenen Schlafdecke wie ein Lebloser hingestreckt.

Ange flog ans Bett und horchte auf ihres Mannes Atem. Sein Herz schlug
so leise, daß sie es kaum zu hören vermochte, und sein Aussehen war so
verändert, daß sie--jetzt todesgeängstigt--die Schnur zog.

„Was ist geschehen? Was ist geschehen, Tibet?“ rief sie, als dieser
näher trat. „Waren Sie noch in der Nacht bei dem Grafen? Sehen Sie, wie
schrecklich er aussieht! Sein Herzschlag geht leise! Ich ängstige mich
namenlos!“

Tibet warf einen betroffenen Blick umher und näherte sich seinem Herrn.

„Ich möchte glauben, daß der Herr Graf wohl ein sehr starkes
Schlafpulver zu sich genommen hat,“ erklärte er beruhigend. „Während
heftiger Träume mag er um sich geschlagen und zufällig den Tisch berührt
haben. Das ist früher auch schon vorgekommen.“

„Ach, der Arme!“ sagte Ange mitleidig. „Gewiß hatte er wieder seine
furchtbaren Schmerzen. Und meinen Sie, daß er schläft, daß keine Gefahr
vorhanden ist, Tibet?“

„Nein, Frau Gräfin, dürfen sich beruhigen.“

Nach dieser Versicherung traten beide ins Wohngemach.

„Glauben Sie nicht,“ fragte Ange nach einer Pause und dämpfte ihre
Stimme, „daß diese starken Schlafmittel sehr schädliche Nachwirkungen
haben?“

„Ja, Frau Gräfin,“ erwiderte Tibet; „aber viel schlimmer sind noch--“

Er unterbrach sich mit einem Gesichtsausdruck, als ob das letzte Wort
ihm nur entschlüpft sei.

Als Ange sah, daß ihr etwas verheimlicht werden sollte, stieg ihre
Angst.

„Nicht doch, nicht doch! Sie wollen mir etwas verschweigen. Ich will und
muß es aber wissen. Ach Tibet! War es überhaupt gut, daß Sie nie
mitteilsam gegen mich waren? Wer weiß, ob nicht manches hier im Hause
anders stände!“

Sie strich sich mit der schmalen Hand über die thränenden Augen.

„Reden Sie, ich beschwöre Sie!“ fuhr sie fort, als er noch immer
schwieg. „Was ist noch schlimmer? und welche Heimlichkeiten haben Sie
mit meinem Gemahl schon seit Jahren?“

„Ach, Frau Gräfin--“ stotterte Tibet und sah Ange bittend an. „Es ist
nichts, gewiß nicht!“

„Ist es denn Neugierde, die mich veranlaßt, Sie zu fragen?“ sagte Ange
mit sanftem Ernst und blickte Tibet traurig an. „Ist es nicht die Sorge
für meinen geliebten Mann! Ach, ach! wie viele thränenvolle Stunden habe
ich schon um seinetwillen gehabt!“

Tibet hatte ganz die Fassung verloren. Er stand da wie jemand, der sich
eines schweren Vergebens schuldig fühlt und aus Scham und Verzweiflung
kein Wort findet. Endlich raffte er sich auf und sagte:

„Verzeihen Sie mir, Frau Gräfin. In allem, was ich that, folgte ich dem
Befehl des Herrn Grafen. Wenn ich unrecht that--ich that gewiß unrecht
gegen Sie--o, so vergeben Sie es mir!“

„Nun wohl! Lassen wir Vergangenes! Aber was ist jetzt?“ drängte Ange.
„Sprechen Sie endlich.“

Tibet sah mit scheuem Blick nach der Thür und flüsterte leise: „Schon
seit reichlich einem Jahr nimmt der Herr Graf überaus starke Dosen
Morphium zu sich. Niemand weiß es. Er befahl mir unbedingte
Verschwiegenheit. Auch gegen Sie verbot er, darüber zu sprechen.“

Ange bewegte traurig das Haupt: plötzlich aber schrak sie auf.

„Barmherziger Himmel! Sollte ihm doch bereits etwas zugestoßen sein?“

Sie eilte von Tibet fort, wandte sich ins Nebenzimmer und stieß,
hineinblickend, einen Schrei aus.

Clairefort saß wachend aufrecht im Bett. Er sah Ange mit stieren Augen
an und schien sie doch nicht zu sehen. Unzusammenhängende Worte glitten
über seine Lippen.

„Carlos, Carlos, mein geliebter Carlos!“ rief Ange, flog an sein Lager
und ergriff seine Hand.

„Sag, was ist Dir? O, komme zu Dir! Es ist Ange, Deine Ange! Hörst Du
sie nicht?“

Er nickte wie ein Abwesender. Offenbar ward er nicht Herr der ihn
bedrückenden Vorstellungen, und um sie zu verscheuchen, glitt er
wiederholt mit den kranken Händen über Stirn und Haar.

Ange heftete mit zerrissenem Herzen die Augen auf ihren Mann. Auch Tibet
war tief erschüttert durch diesen Anblick.

„Wünschest Du das Frühstück, Carlos? Soll ich nicht die Fenster öffnen
und frische Luft hereinlassen? Willst Du aufstehen--Dich in Deinen Stuhl
setzen? Sprich Lieber! Was hast Du? Ach, ach!“

Nichts! Er schien nicht zu hören, und sie sank wie zerknickt neben ihm
nieder.

Immer starrte er geradeaus, griff sich an die Stirn und suchte mit
vergeblicher Anstrengung seinen Geist zu ordnen.

Jetzt erhob sich Ange und riß die Fenster auf.

„O, ich ersticke in dieser Luft! Sie muß auch Dir schädlich sein! Komm,
laß Dich mit Wasser benetzen. Tibet helfen Sie! Wir wollen den Grafen
drinnen in dem luftigen Zimmer betten.“

Aber Clairefort fiel, ehe sie ihn berührten, schwerfällig zurück, schloß
die Augen und blieb bewußtlos liegen. Es hatten ihn abermals der Schlaf
oder eine Ohnmacht befallen.

Nun eilte Tibet zu dem Arzt, und inzwischen saß Ange wie eine
Verzweifelte an dem Bett des Kranken.

Nach einer Weile kamen die Kinder, die ihre Mama vergeblich beim
Frühstück erwartet hatten. Es schnitt Ange durch die Seele, als sie so
fröhlich und ahnungslos hereinstürmten. Noch lag die feine Röte einer
gesund verbrachten Nacht auf ihren Wangen, noch umströmte sie in ihren
sauberen hellen Morgenkleidern jene aufquellende Frische, die namentlich
Kinder nach dem Schlafe wie ein unsichtbarer Hauch umwebt.

„Mama, Mama, wo bleibst Du denn?“ rief die kleine Ange und stand da und
sah so schön aus, als ob eine zarte Blüte eben vom Baum geschwebt sei.

Aber sie schraken zurück, als sie den kummervollen Ausdruck in Anges
Augen bemerkten, als sie mit ihrem Instinkt begriffen, daß ihrem Papa
etwas zugestoßen sein müsse.

„Geht, geht, lieben Kinder!“ sagte Ange sanft und traurig wie damals,
als den kleinen Carlitos das furchtbare Fieber erfaßt hatte. „Papa ist
sehr krank. Ich muß noch bei ihm bleiben. Ich komme bald! Frühstückt nur
allein--und--dann eilt euch. Ben, Fred, ist's nicht schon Zeit für die
Schule?“

Sie nickten gehorsam und schlichen auf den Zehen davon.

Und doch war dies nur ein trauriges Vorspiel zu dem noch traurigeren
Ende.

Zwar erholte sich Clairefort, und einige Zeit schien er sogar wieder
geistig frischer und körperlich gesunder, aber dann erfaßte ihn von
neuem eine wortkarge teilnahmlose Schwermut. Er wollte niemanden sehen
und sandte selbst Tibet fort, der neuerdings bei ihm nachts gewacht
hatte.

„Nein, nein, gehen Sie! Seit lange hatten Sie keinen ordentlichen
Schlaf, Tibet. Ich fühle mich heute ganz wohl und bedarf Ihrer nicht
mehr,“ beschied er ihn eines Abends und bestand auf seinem Willen.

Als Tibet sich entfernt hatte--ein ungewöhnlich freundlicher Blick traf
ihn heute aus Claireforts Auge--, setzte sich dieser an seinen
Schreibtisch und arbeitete mehrere Stunden. Endlich erhob er sich mühsam
und trat, sich an Tisch und Stühlen vorwärts tastend, an den Spiegel. Er
blickte hinein und schrak vor seinem eigenen Bilde zurück. Es machte ihn
sogar ängstlich, denn er schaute sich furchtsam um, und ein Schauer flog
über seinen Körper.

„Sterben!“ flüsterte er. „Ja dann fallen alle Gespenster, weichen alle
Schmerzen und sind alle Seelenqualen vorüber.“

Auf dem Wege zu seinem Schlafgemach blieb er noch einmal zaudernd
stehen.

Nur allzu lang ist oft die Brücke! Ein einziger plötzlicher Gedanke,
irgend eine liebe oder peinliche Erinnerung verknüpft den Menschen von
neuem mit dem Leben, und der grauenhafte, blitzartig oder allmählich
entstandene Entschluß wird doch zu Nichte.

Clairefort ließ sich aufs Bett nieder und griff mit zitternden Händen
tief unter die Decke. Bei dieser Bewegung setzten unerwartet die
Schmerzen wieder an, und wimmernd hielt er inne. Aber bald begann er von
neuem, fand endlich, was er hier verborgen hielt, und stellte es auf
den Tisch. Es waren zwei Flaschen mit verschiedenem Inhalt.

„Dies wird sicher genügen, um nicht wieder aufzuwachen,“ murmelte er.
Aber doch verging noch eine lange Zeit, ehe er sich zum Sterben rüstete.
Seine Gedanken flogen hin und her wie Herbstvögel; oft traten ihm
Thränen ins Auge. Einmal schleppte er sich in sein Wohngemach zurück,
öffnete den Schreibtisch und nahm Anges Bild hervor. Es war zur Zeit
ihrer Verlobung gemalt.

„Ach, wie schön, wie schön!“ flüsterte der Mann und bedeckte das Glas
mit Küssen. „Und Dich soll ich verlassen? Und Euch, Euch, Ihr süßen
Kinder--“

Es packte ihn die Angst und die Scham, furchtbare Schauer jagten durch
seine Seele. Kalter Schweiß brach hervor auf seiner Stirn. Was wurde aus
ihnen? Welch ein erbärmlicher, gewissenloser Mensch war er! Er wollte
davongehen, und nicht einmal für das Nächstliegende, ja vielleicht nicht
einmal für sein eigenes Totenhemd war gesorgt.

Aber halt! War da nicht ein Geräusch auf dem Korridor?

Hastig verschloß Clairefort das Porträt, als sei's ein Vergehen, es zu
betrachten. Er lauschte herzklopfend--schlich wie ein Dieb an seine
eigene Thür. Aber es war nichts.

Nun nahm er seinen Platz wieder ein und lehnte sich zurück. Konnte er
noch gesund, schmerzensfrei werden?

Nein, jetzt niemals mehr! Ohne Morphium vermochte er überhaupt ferner
nicht zu leben. Was that er noch auf der Welt? Seine Pflicht, die
Pflicht gegen die Seinigen hielt ihn! Nein, auch die konnte ihn nicht
ans Leben fesseln. Er war ja ein Nichts. Er war nur eine Last--nur ein--

Es übermannte ihn die Seelenqual: er schluchzte und erschrak vor den
Tönen, die sich seiner eigenen Brust entrangen. Er war nur ein Hindernis
für Anges Glück. Fort denn, je schneller, desto besser!--Teut! Teut! Da
kam ihm der Gedanke an ihn. Welch ein Mensch! Er würde sie nicht
verlassen. Nein, sicher nicht! Gut, also sterben--

Was Clairefort noch zu sagen hat, befindet sich in den Blättern
aufgezeichnet, welche Ange morgen finden wird.

Aber wenn er nun nicht stirbt, wenn es nicht gelingt, wie jüngst? Er
bewegt den Kopf. Wohl, er wird das Schriftstück unter sein Kopfkissen
legen, nicht auf den Tisch. Wacht er abermals auf, dann bleibt seine
Absicht verborgen.

Während er sich an sein Bett wendet, ziehen noch einmal die letzten
Jahre an ihm vorüber. Wie er zum erstenmal gespielt und ihn dann der
Teufel erfaßt hat, wie er vom Glück begünstigt wird und dann doch alles
wieder verliert. Und immer von neuem verliert! Wie er innehalten will
und doch sich überredet, er werde den Verlust zurückerobern,
endlich--ein Verzweifelter--die größten Summen einsetzt, um abermals
betrogen zu werden und zuletzt sich sogar am fremden Eigentum vergreift!
Das Vermögen seiner Frau, seiner Kinder opfert er auch noch dem
wahnsinnigen Gelüste!

Die Decke auf dem kleinen Nachttisch hat sich verschoben. Clairefort
zupft daran. Noch im letzten Augenblicks beherrscht ihn der kleinste
Gewohnheitsdrang.

Er legte sich nieder, macht fast pedantisch alle Vorbereitungen,
zittert, setzt erst das eine Glas an, greift dann zum anderen--

Nun sinkt er zurück----

       *       *       *       *       *

Noch während Carlos' sterbliche Überreste in der Villa standen, warf
Ange einen Blick in die zurückgelassenen Blätter. Sie las den Inhalt in
der zweiten beginnenden Nacht, und die Gespenster des Entsetzens drangen
auf sie ein.

Sie zerknitterte die Schriftstücke in ihrer Hand, sprang empor und rief
nach Tibet. Ernst, bleich, ahnend, was vorgefallen, erschien der Mann
und blieb wie angewurzelt an der Thür stehen.

„Tibet! Tibet!“ schrie Ange, blaß, abgehärmt und kaum wiederzuerkennen
durch die Wirkungen ihres maßlosen Schmerzes. „Das alles wußten Sie seit
langen Jahren und Sie schwiegen? Dem allen waren Sie ein Helfer und
kannten und liebten doch meine Kinder? O Mensch, sprechen Sie, damit ich
wenigstens einen Grund finde, Ihnen zu verzeihen! Nicht verloren durch
Ungemach, alles was wir besaßen--nein, durch Spiel--durch Spiel! Man
sitzt über Menschen zu Gericht, tötet sie, wenn sie, von der
Leidenschaft fortgerissen, einen andern morden!--Ist Leidenschaft denn
Vernunft, und kann man richten, wo die Vernunft fehlte? Aber wie ahndet
ein Gott ein so furchtbares Verbrechen?--Wie er es ahndet? An dem Glück
Lebendiger, indem er die Unschuldigen ins Verderben zieht! Kinder,
reine, arglose Geschöpfe müssen dafür büßen!--Was hier geschehen, sucht
seinesgleichen; Ich las wohl Schreckliches, wie Menschen sich gegen
Menschen versündigten; ich hörte von Mord, Gift, Verrat, Folter. Ist
eine solche Handlungsweise nicht herzloser, unmenschlicher? Ein
Familienvater, der weiß, daß ihn Gott mit zehrender Krankheit
geschlagen, spielt--spielt auch dann noch ohne Anlaß, ohne Not,
vergreift sich an fremdem Eigentum und wagt das letzte um eines Vorteils
willen, der ihn um keinen Schatten glücklicher machen konnte. Zuletzt
giebt er sich den Tod--ein Selbstmörder!--Ein Selbstmörder?--O leise,
leise, daß es niemand hört! Verbrennen wir diese Schande! Rasch,
Tibet!--Und doch, nein! Es ist ja von seiner Hand, das letzte von ihm,
welcher der Vater meiner Kinder war, den ich so unsagbar liebte, der
litt, in Schmerzen sich wand!--Nein, nein, vergessen Sie, was ich sagte!
Ich sprach irre. Mit meinem Herzen hatte es nichts zu thun. Ich weiß,
wie er gelitten hat. Kein Mensch starb unter solchen Qualen, keinen
Menschen gab es, den der Tod bei Lebzeiten schon so marterte!--Aber was
soll nun werden? Hier, hier steht's. Ein rätselhafter Satz: ‚Und dennoch
ist für Deine Zukunft gesorgt, Ange. Ich glaube es. Dieser Glaube, diese
Hoffnung erleichtert mir den Tod. Ich darf nicht reden. Ein Schwur
verbietet es. Frage Tibet, ihn bindet kein Gelöbnis.‘--Nun, so reden
Sie, Tibet! Was ist's? Um meiner armen Kinder willen flehe ich Sie an!
Sprechen Sie! Ach! ach!“

Ange sank in einen Stuhl neben dem Tische nieder, auf dem Carlos'
furchtbares Vermächtnis lag, und weinte so herzerbarmend, daß dem Manne,
der das alles stumm angehört hatte, bei diesem Jammer das Herz
zerschmolz.

Als Tibet immer noch nicht antwortete, schoß Ange empor:

„Sprechen Sie!“ rief sie. „Ich fordere es bei dem Andenken des
Unglücklichen! Ich fordere es für die Unmündigen! Ich erbitte es--um
meinetwillen--“

Ihre Stimme versagte.

„O, beruhigen Sie sich, Frau Gräfin!“ zitterte es aus Tibets Munde. „Ich
will sprechen, da Sie es verlangen, und ich schwöre Ihnen bei dem Gott,
an den ich glaube, daß ich unschuldig bin! Ich habe in all den Jahren
den Grafen angefleht, von dem unseligen Spiel zu lassen. Ich habe ihm
sogar in dem Gedanken an Sie und die Kinder einmal einen Gewinn
verheimlicht, bis die Not--“--er stockte, und Ange sah ihn fragend und
furchtsam an--„bis die Not mich zwang. Wir hatten nichts mehr zum Leben.
Mit diesem Betrage bestritt ich im letzten halben Jahre die Ausgaben
bis, bis--“

Ange unterbrach ihn nicht; sie saß wie erstarrt.

„Ein Eid band mir die Zunge. Ich verdanke ja alles dem Herrn Grafen. Ich
durfte nicht reden und litt mehr darunter, als Worte zu beschreiben
vermögen, Frau Gräfin; glauben Sie mir! O, vernichten Sie mich nicht
ganz, indem Sie mir Ihr Wohlwollen entziehen!“

„Gut, gut! Weiter!“ drängte Ange leichenblaß und in steigender Erregung.
„Und das Geheimnis? Ich will alles wissen. Auch das Schrecklichste kann
mich nicht mehr erschüttern, und ist es ein Trost, eine
Erleichterung--nun, um so besser.“

Noch zögerte Tibet; die Zunge war ihm wie gelähmt. Seine Knie
schlotterten. Er wußte, was er hervorrief. Er hörte schon den Schrei der
Empörung von ihren Lippen.

„Mensch,“ rief Ange und ballte die kleinen Hände in furchtbarer
Erregung, „machen Sie nun ein Ende! Ich bin ein Weib, zarter, schwacher
geartet, auch nicht vertraut mit Hinterlist und Lügen--“

„O, Frau Gräfin!“ ächzte Tibet bei diesen Worten. Eine fahle Blässe flog
über sein Gesicht.

Sie begriff, wie tief sie ihn verwundet. Sie sah es und streckte ihm die
Hand entgegen. Sie wußte nicht mehr, was sie sprach. Sie bat es ihm ab,
und ein Schimmer dankbarer Freude flog über seine Züge.

„Nun denn--“ sagte Tibet kurz und ohne Betonung, „wir leben bereits seit
Ausbruch des Krieges von der Güte des Herrn von Teut. Ich habe monatlich
tausend Mark, später fünfzehnhundert Mark bei einem hiesigen Bankhaus
für unseren Unterhalt erhoben.“

Ja, nun schrie allerdings die Frau auf, daß die Gegenstände umher zu
erbeben schienen. Es hallte durch das ganze Haus, drang in den kleinsten
Raum.

„Carlos! Carlos!“ rang es sich aus Anges Brust. Er mußte in seinem
Totenschrein aufwachen bei diesem Schrei, denn er umfaßte eine Welt von
Empörung, Schmerz und Scham. Derselbe Mann, der Teut durch Eifersucht
verwundet, durch Mißtrauen gekränkt, noch jüngst durch hochmütige
Zurückweisung von Geschenken verletzt hatte, nahm Wohlthaten in solchem
Umfange und verwies im Sterben, im Selbstmord auf die Hochherzigkeit
dieses Freundes.

Für Augenblicke war es totenstill in dem Zimmer. Ange brach zusammen,
und Tibet stand wie eine Bildsäule. Endlich erhob sie den Blick und
winkte ihm, das Gemach zu verlassen.

Bevor Anges Gatte draußen auf dem Kirchhof neben dem kleinen Carlitos
bestattet wurde, trat Ange noch einmal an sein Totenlager. Die Vorhänge
des nach dem Garten gehenden Zimmers waren herabgelassen, und eine
erstickende Luft benahm ihr fast den Atem.

Nun sah sie ihn zum letztenmal: in einer Stunde sollte der Sarg
geschlossen werden. Er glich kaum einem Abgeschiedenen. Ruhe lag auf
seinen Zügen, und um die Mundwinkel spielte jetzt im Tode jenes milde
Lächeln, das Ange für so manchen ernsten Blick und so manche mürrische
Miene während seiner Lebenszeit entschädigt hatte.

„Vergieb, Carlos!“ flüsterte sie und berührte mit ihrer Hand die weiße
Stirn des Toten. Und in ihren Gedanken fuhr sie, das Auge auf ihn
gerichtet, fort: „Im ersten Schmerz bäumte ich mich gegen Dich auf. Ich
saß über Dir zu Gericht und vergaß, daß ich allein an allem schuld bin.
In den Blättern, die Du mir hinterlassen hast, steht auf jeder Seite,
wie sehr Du mich liebtest und wie Deine Gedanken sich immer damit
beschäftigten, daß ich nichts entbehren möge von dem, womit Du mich seit
unserer Ehe umgeben hattest. Ja, ja, mein Geliebter, Du wolltest unseren
Besitz vermehren--nicht aus eitler Gewinnsucht, nein, für mich, damit
ich ein Wohlleben nicht einschränken brauchte, in dem Du mich allein
glücklich wähntest. Du irrtest, Carlos! Ich nahm alles, weil ich es
fand, weil Du mir nie einen Zwang, eine Beschränkung auferlegtest. Ich
wäre nicht minder glücklich gewesen in bescheidenen Verhältnissen, denn
Deine Liebe, der Besitz unserer Kinder war mein Glück. Ja, vergieb mir,
daß ich nicht selbst erkannte, wie thöricht mein Leben war, daß ich
nicht aus den mich umgebenden Erscheinungen Vergleiche zog und eine
Lebensweise änderte, die schon die tausendfältige Not anderer verbietet.
Aber, Carlos, begehrte ich auch für meine Person viel, Du hast mir
verziehen, weil ich es nicht besser verstand. Hier, hier schwöre ich Dir
in dieser Stunde, mein Carlos, daß ich denen, die Gott mir erhalten hat,
eine treue, sorgsame Mutter sein will und--vermag ich es--sie erziehen
werde zu braven, tüchtigen, einfachen Menschen. O, wie graut mir heute
vor dem Reichtum. Alles, was mich umgiebt, ekelt mich an. Es sind die
Bilder des Scheins, der Lüge, der Überhebung.“

Ange sank schluchzend an dem Sarge nieder. Jetzt kamen ihr wieder die
Gedanken, die sie bald nach ihres Gatten Tode beherrscht hatten: Was
ward aus ihren unmündigen Kindern? Es war begreiflich, daß ein so
seelenvolles Wesen wie Ange Clairefort mitten im Schmerz Betrachtungen
über ihre Zukunft und die Handlungsweise ihres Mannes angestellt hatte,
weil ihr Denken und Fühlen zu eng mit ihren Kindern verwachsen war. So
war auch ihre Empörung, so waren auch die Ausbrüche ihrer Verzweiflung
nichts anderes als ein Ausfluß ihrer Liebe, und nur zu bald wichen diese
Erregungen einem sanfteren Schmerz, in welchem sie alle Schuld von dem
Toten abzuwälzen suchte.

Es wäre unnatürlich gewesen, wenn sich Anges Gedanken nicht auch zu Teut
gewendet hätten, wenn nicht die Hoffnung in ihr emporgestiegen wäre, er
werde sie nicht verlassen, jetzt, wo die Sorge sich an sie heranwälzte.

Aber in diese Hoffnung mischten sich Angst und Scham. Jetzt, vielleicht
in diesem Augenblick, war Teut schon nicht mehr unter den Lebenden. Sie
zitterte bei diesem Gedanken, aber sie schüttelte sich auch in
seelischer Qual, wenn sie überdachte, daß sie fortan allein auf seine
Wohlthaten würde angewiesen sein.

Ihr Stolz bäumte sich auf; sie faßte die wirrsten Entschlüsse, bis sie
nach langen Irrgängen der Überlegung immer wieder zu der entsetzlichen
Einsicht zurückkehrte: Es bleibt entweder nur die Wohlthätigkeit fremder
Menschen, damit Deine Kinder leben können, damit sie nicht darben und
vergehen, damit sie erzogen werden, um brauchbare Mitglieder der
menschlichen Gesellschaft zu werden, oder--

Ja, da kamen andere furchtbare Gedanken, die sich in ihrem Gehirn
festbrannten, die geboren wurden aus Hilflosigkeit und Verzweiflung. Wie
wäre es, wenn sie mit ihren Kindern dem folgte, der hier im Sarge lag?
Was stand den Armen bevor! Demütigung, Entbehrung, Not--gar Schande.

Sie hörte sie klagen und weinen. Sie scharten sich um ihre Mama. Sie
bettelten um die ihnen jetzt entzogenen notwendigen Dinge, sie wollen
ihre unschuldigen Liebhabereien, sie kamen, damit ihre kleinen Herzen
getröstet wurden.

Und die Menschen! Wie sie zischelten und mit den Fingern zeigten, wie
sie sich abwandten und gar hämisch frohlockten, daß diese übermütige,
verwöhnte Frau die Bitterkeit des Lebens nun auch endlich kostete wie
sie selbst.

Ah, wie das alles ihre Seele marterte! Ja, lieber sollte sie ihre
Kinder, sich selbst töten----

Aber ein Herz wie das ihre mußte schon bei dem bloßen Gedanken an den
Tod ihrer Kinder erstarren.

Nein! nein! Entsetzlich! Lieber Not leiden, ja betteln, als ihren süßen
Geschöpfen auch nur ein Haar krümmen! Und Sterben war nicht eine Sache
des Willens; zum Selbstmord gehörten tausend Dinge, die sie nicht
verstand und bei deren Vorstellung ihr grauste.

„Barmherziger Schöpfer, vergieb! Vergieb auch Du mir, mein Carlos, diese
gräßlichen, unreinen Gedanken!“ betete Ange, faltete die Hände und
atmete, aus dem Schauder ihrer Vorstellungen befreit, erleichtert auf.

Sie besaß so kostbaren Schmuck, daß sie durch dessen Verwertung noch
eine Zeit lang ohne Wohlthaten leben konnte. Diese Überlegung war ihr
gekommen in der letzten schlaflosen Nacht und erleichterte ihr
wenigstens die nächsten Sorgen.

Bevor Ange, durch die Handwerker aufgestört, das Zimmer verließ, brachen
doch noch einmal die Thränen unaufhaltsam hervor. Sie rief eilend die
Kinder, ließ sie niederknien und betete mit ihnen.

„Hattet Ihr ihn lieb, Euren Papa?“ schluchzte sie.

Die Kinder nickten ängstlich und scharten sich mit den feinen blassen
Gesichtern um die Mama.

Als sie sich endlich zur Thür wandten, schmiegte sich die kleine Ange an
ihre Mutter und sagte: „Wird Papa auch so hübsch begraben wie Carlitos?“

Bei dieser Frage zuckte Ange zusammen.

„Nein, Ange, nein! Onkel Axel ist ja nicht da.“

„Kommt er denn nicht?“

Ange antwortete nicht; sie bewegte nur das Haupt und zog hastig die
Kleinen mit sich fort, die nun zum letztenmal das bleiche Gesicht ihres
Papas gesehen hatten.

       *       *       *       *       *

Während noch der Graf über der Erde stand, war ein Brief von Frau von
Ink an Ange eingelaufen.

„Ich muß es Ihnen aussprechen, gnädige Gräfin“--schrieb Olga--„wie sehr
ich schon bei dem Tode Ihres herrlichen Knaben mit Ihnen fühlte und wie
mich heute Ihr Schicksal bewegt! Ein Fremder vermag gegenüber einer
solchen Trauer nichts. Das barmherzigste und mitleidigste Wort muß ohne
Wirkung verhallen, weil die Besänftigung des Schmerzes nicht abhängig
ist von äußerlichen Einflüssen, sondern in dem Menschen selbst sich
reisen muß durch die allheilende Zeit. Und unter dieser Erwägung,
gnädige und hochverehrte Frau, wird vielleicht auch meine aus
aufrichtigster Teilnahme hervorgehende Bitte wirkungslos sein, daß Sie
sich Ihrem Kummer nicht allzusehr hingeben mögen und daß Sie sich der
Hoffnung nicht verschließen, daß auch für Sie wieder lebensfrohere Tage
zurückkehren werden. Ich wünsche es von ganzem Herzen und würde überaus
glücklich sein, wenn Sie mir gestatten wollten, Ihnen bald einmal
mündlich mein Beileid ausdrücken zu dürfen. Glauben Sie, ich bitte, an
das herzliche Mitgefühl und die verehrungsvolle Freundschaft Ihrer sehr
ergebenen

Olga von Ink.“

Ange fand in der Aufregung, Unruhe und Sorge der ersten Tage keine Zeit,
diesen Brief zu beantworten. Sie ward aber an das Schreiben erinnert,
als bald nach dem Begräbnis--es war der Erste des neuen Monats--Tibet
sich ihr mit unschlüssiger Miene näherte und erklärte, daß das Bankhaus
weitere Zahlungen verweigere. Es habe, berichtete dieser, den bestimmten
Auftrag, nur gegen die eigenhändige Quittung des Grafen zu zahlen.
Er--der Banquier--wisse ja selbst nicht, aus welcher Quelle jene Summen
flössen, und müsse deshalb jedenfalls erst nähere Weisungen
rücksichtlich der weiteren Ordnung der Angelegenheit abwarten. Daraus
ergebe sich alles übrige.

Ange verlor auf Augenblicke gänzlich die Fassung. Schon der zustimmende
Entschluß, Tibet wie bisher den Monatsbetrag erheben zu lassen, war ihr
namenlos schwer geworden. Zweimal rief sie ihn, als er sich schon die
Treppe hinabwandte, schamerfüllt zurück. Erst des umsichtigen Beraters
Auseinandersetzungen über die unbedingte Notwendigkeit: die Bestreitung
der durch den Todesfall hervorgerufenen Ausgaben, die täglichen
Bedürfnisse des Haushaltes, die fällige Miete, die Kinder, die
Dienstboten, endlich dessen beschwichtigender Hinweis, daß dieser Betrag
aus irgend welchem Erlös ihres Eigentums zurückerstattet werden könne,
schlugen Anges zitternde Bedenken nieder, und stumm nickend, hatte sie
ihn endlich gehen lassen.

Und nun wurden alle diese ihrer feinen Seele entsprungenen Qualen doch
noch weit mehr vergrößert durch--das Nichts.

Tibet kam mit leeren Händen!

Teut schreiben, ihn bitten, Geld anzuweisen, das vermochte Ange nicht.
Sie wies diesen Gedanken als völlig ausgeschlossen zurück.

Jetzt erinnerte sie sich wieder ihres Schmuckes. Bei dieser Überlegung
ängstigte sie es aber, daß Tibet ihn ausbieten, in C. ausbieten, wenige
Tage nach Carlos' Begräbnis denselben veräußern solle. Nein, auch das
gewann Ange nicht über sich.

Endlich erhob sie den Blick zu dem Manne, der mit der ernsten und
bekümmerten Miene vor ihr stand, und sagte: „Was raten Sie, jetzt zu
thun, Tibet?“

„Frau Gräfin,“ stieß dieser heraus, „wollen Sie mir nicht zürnen? Ich
wüßte wenigstens vorläufig für das Drängendste Hilfe, wenn Sie diese
annehmen wollten. Verzeihen Sie, wenn ich mich unbescheiden
aufdränge--ich habe ein kleines Kapital gespart, darf ich dieses--“

„O braver Mensch!“ rief Ange gerührt; aber sogleich verbesserte sie
sich: „Nein, Tibet, nein! Auch Sie noch der Ungewißheit preisgeben?
Niemals! Ich darf Ihr Anerbieten nicht annehmen!“

„Sie können mir ja den Vorschuß später zurückgeben, Frau Gräfin,“
beharrte Tibet stockend. „Es ist ja Ihr eigen Geld--ich empfing es von
Ihnen--ich verdanke es Ihrer Güte.“

Ange, zwar ergriffen von Tibets selbstlosem Zureden, aber, ihrer
Veranlagung entsprechend, gerade deshalb von ihrem Gefühl lediglich
beherrscht, hörte nicht auf seine Worte. Sie schüttelte den Kopf und
zeigte in ihren Mienen ein deutliches Nein.

In diesem Augenblick meldete einer der Diener, daß Frau von Ink
vorgefahren sei und um die Erlaubnis bitte, der Frau Gräfin aufwarten zu
dürfen.

War dies nicht ein Fingerzeig des Himmels? Ange schwankte unschlüssig;
endlich neigte sie den Kopf und der Diener eilte fort.

Gleich darauf hörte sie auch schon, wie Olga in ihrer ungestümen, etwas
plumpen Weise den Wagenschlag hinter sich zuwarf und die Treppen der
Villa hinaufeilte. Und nun trat sie, von Tibet gemeldet, ins Zimmer,
umarmte Ange mit allen Zeichen der Betrübnis und setzte sich ihr mit dem
Ausdruck aufrichtigster Teilnahme gegenüber. Dabei streifte ihr Blick
das Gemach, und die kleinen Unordnungen blieben ihr nicht verborgen.

Nach einem längeren Austausch über den Verlauf der Krankheit und die
letzten kummervollen Tage nahm Olga das Wort und sagte:

„Und nun noch eins, Frau Gräfin. Sollte ich Ihnen in etwas dienen
können, bitte, verfügen Sie ganz über mich. Ich versichere Sie, daß ich
außerordentlich glücklich sein würde, wenn ich Ihnen in irgend einer
Weise meine Freundschaft und Teilnahme an den Tag legen könnte!“

Ange, der es in ihrer angstvollen Lage und angesichts von so viel
Herzlichkeit schon auf den Lippen gezuckt hatte, vorzutragen, was sie
beschäftigte, atmete erleichtert auf und nahm sogleich das Wort:

„Sie kommen mir in Ihrer Güte zuvor, gnädige Frau: ich danke Ihnen von
ganzem Herzen. Ich hätte allerdings wohl eine große Bitte--“ Sie
stockte.

Olga horchte auf. Diese Gesprächswendung berührte sie aufs angenehmste.
Was konnte Ange Großes wünschen, und wie hoch würde eine Frau wie diese
ihr den geringsten Dienst anrechnen!

Auch die Rückwirkungen auf Teut überlegte sie rasch. Noch immer hoffte
Olga auf einen Ausgleich mit dem Rittmeister, und in dem geheimsten
Schubfach ihres Innern nicht nur auf diesen, sondern, zuguterletzt auch
auf eine bedeutungsvolle Anknüpfung zwischen ihm und einer ihrer
Töchter.

„Sprechen Sie, sprechen Sie, gnädige Frau--Ich bitte!“ rief Olga lebhaft
nach Anges Worten.

Und nun setzte Ange dieser kaltherzigen, nur von ihren eigenen
Interessen beherrschten Frau in ziemlich unzusammenhängender und
unklarer Weise auseinander, daß sie durch den plötzlichen Tod ihres
Gatten in peinlichste Verlegenheit geraten und vorübergehend einer
größeren Summe Geldes benötigt sei.

„Arme Gräfin! Auch das noch! Die kleinlichen Nebensorgen bei so großem
Schmerz und Kummer!“ rief Olga mit vortrefflich gespieltem Ausdruck der
Teilnahme in den Mienen, in Wirklichkeit erfaßt von einer mit
Schadenfreude vermochten äußerten Befremdung. „Ja wie ist da zu helfen?
Offenheit gegen Offenheit, liebe Frau Gräfin! Wir haben allerdings ein
aus unserem Gutsverkauf hervorgegangenes, recht ansehnliches Vermögen,
aber alles, das weiß ich, ist unkündbar festgelegt für eine lange Reihe
von Jahren, und die Summe, deren Sie bedürfen--Sie nannten fünftausend
Mark, wenn ich recht verstand? Nicht wahr, Frau Gräfin? Ja, ja, ganz
richtig!--ist etwa der fünfte Teil unserer ganzen Zinseneinnahme im
Jahre.“ Diese Redewendung--ein feiner Dolchstoß--war absichtlich. „Zudem
habe ich persönlich gar keine Verfügung; meinen Mann müßte ich schon ins
Vertrauen ziehen.“

Ange hatte in ihrer Unerfahrenheit nur von ihren Verlegenheiten und von
deren Abhilfe gesprochen. Über die Rückzahlung ließ sie nichts fallen,
diese war ja in ihren Augen selbstverständlich, aber so unterblieb
dasjenige, was für Olga natürlich die Hauptsache war. Die letztere war
sogar überzeugt, daß Ange diesen Punkt nur in ihrer Erregung und in
ihrer Naivetät nicht berührt hatte, aber sie hütete sich, selbst eine
Brücke zu schlagen, die ihr eine Ablehnung erschwerte. Obgleich sie
deshalb entschlossen war, nicht einmal mit ihrem Manne die Möglichkeit
einer Hilfe in Überlegung zu ziehen, fügte sie doch hinzu:

„Wenn Sie gestatten, werde ich also mit Ink sprechen und alles thun, was
in meinen Kräften steht--natürlich--selbstverständlich, liebe Frau
Gräfin! Aus diesem Grunde aber will ich mich auch gleich wieder
empfehlen. Ich möchte bald etwas Gutes melden, da ich den
unerträglichen Zustand begreife, in welchem Sie sich befinden. Würde es
möglicherweise in einigen Tagen früh genug sein?“ fuhr sie heuchlerisch
fort. „Ja? Nun gut. Ich denke sicher, es wird sich machen! Mein Mann ist
ja so teilnehmend und gut, daß ich ihn zu überreden hoffe, wenn es
irgend möglich ist.“

Ange, die schon alles gewonnen glaubte, dankte mit gerührten Worten.
Besonders beglückt aber war sie, als ihr Olga beim Abschied die Hand
drückte und die Worte zuflüsterte: „In jedem Fall, wie sich auch die
Dinge gestalten“ (hier deckte sich Olga nicht nur den Rückzug, sondern
vergoldete diesen auch noch durch eine Äußerung, deren Wirkung auf Ange
sie richtig berechnete) „seien Sie versichert, daß niemand von dieser
Angelegenheit etwas erfahren wird, daß sie bei mir unter einem stummen
Munde ruhen bleibt.“

Nach diesen Worten und nach einer abermaligen zärtlichen Umarmung ging
sie.

An demselben Abend hatte Ange bereits eine von vielen schönen Worten
umrankte Ablehnung, und um dieselbe Stunde fand eine Unterredung
zwischen ihr und Tibet statt. Sie verhehlte ihm weder den Inhalt von
Olgas Brief, noch die jetzt in ihr emporsteigende Befürchtung, daß jene
nicht verschwiegen sein werde. Sie bewegte sich in leisen Hoffnungen,
daß ihr Tibet in diesem Punkt nicht recht geben werde, aber er nickte
zustimmend und sagte:

„Frau Gräfin, wenn Sie nur das nicht gethan hätten! Morgen wird's die
ganze Stadt wissen!“

Ange erschrak. Was sie beängstigte, bestätigte Tibet mit kalter
Einsicht. Ihr Stolz bäumte sich auf, und eine angstvolle Scheu vor den
Menschen bemächtigte sich ihrer. Nun würde auch ihre Umgebung, ihre
Dienerschaft bald darum wissen, daß sie in ihrem fürstlich
eingerichteten Hause eine Bettlerin sei. Sie sah schon die Mienen derer,
die bald geschmeidige Katzen, bald fletschende Wölfe sind, je nachdem
sie glauben oder fürchten, es könne ihnen des Teufels bestlockender
Köder werden oder entgehen.

Und nun kam Ange in ihrer Ratlosigkeit auf die Verwertung der Diamanten
zu sprechen, und Tibet widerriet lebhaft.

Es ist eine eigentümliche, sich stets wiederholende Erscheinung, daß
einfache Leute den Verlust geringfügiger Dinge in solchen Lebenslagen
schwerer empfinden als irgend etwas anderes. Das Unglück selbst
entlockt ihnen nicht so viele Thränen als die Aussicht, sich von
gewissem Tand trennen zu müssen. Die Pfändung einer Uhr, einer Kette,
eines Medaillons, ja oft eines blitzenden Küchengeräts raubt ihnen den
letzten Trost und versetzt sie in einen Zustand heftiger Gemütserregung.
Ebenso erging es Tibet, bei dem überdies noch die gleichsam ins Blut
übergegangene Ehrfurcht vor den Personen und Dingen, unter denen er
gleichsam aufgewachsen, mitwirkte.

Er war außer sich, als Ange ihre Absicht zu erkennen gab, und bot in
fast demütiger Weise von neuem seine Ersparnisse an.

Aber in Ange kämpfte edle Vorsicht mit der Scheu, sich ihrem Diener zu
verpflichten. Sie wies Tibets Anerbieten abermals aufs entschiedenste
zurück.

Tibet schlug nun vor, wenigstens den Verkauf nicht in C., sondern in
einer anderen Stadt zu bewirken. Es sei kaum einmal wahrscheinlich, daß
am Orte jemand eine so große Summe dafür hergeben oder darauf anleihen
werde. Den Schmuck lediglich zu verpfänden, empfahl Tibet zudem
dringend, immer in der Hoffnung, dieser könne Ange doch noch gerettet
werden.

Ange nahm seinen endlichen Vorschlag, nach Frankfurt zu reisen, lebhaft
auf. Sie eilte fort, kam zurück und öffnete ihr Schmuckkästchen.

Als es aus Auswählen ging, ward's ihr schwer. Nicht der Verlust der
Juwelen ließ sie zaudern, aber es schien ihr wie eine Entheiligung,
fortzugeben, woran sich so viele teure Erinnerungen knüpften.

„Hier, hier!“ rief sie indessen schnell wieder gefaßt. „Ich weiß, daß
diese Perlen Tausende wert sind. Wie kann ich fragen? Ich muß an meine
Kinder denken, an die Pflichten, die ich gegen meine Umgebung habe,
solange sie zu fordern hat. Alles andere ist nebensächlich.“

Nun machten sie sich daran, den Wert des Schmuckes abzuschätzen.

„Und wenn das dahin ist?“ zuckte es in Ange auf. „Wenn das dahin, was
dann?“

Immer wieder packte sie ein angstvolles Grauen vor der Zukunft, immer
wieder mußte sie sich zurückrufen, daß das alles Wahrheit, keine
Vorstellung, kein Roman sei, den eine lebhafte Phantasie sich ausgedacht
hatte. Nein! nein! Carlos war tot; sie blieb zurück mit fünf lebendigen
Geschöpfen und besaß außer diesen Kleinodien und ihrer Einrichtung
nichts!

       *       *       *       *       *

Einige Tage nach diesem Zwischenfall--es war am Spätabend und die
Kinder ruhten bereits--überreichte der Diener Ange ein Telegramm. Die
Gouvernante, die noch eben an ihrer Seite gesessen, hatte das Zimmer
verlassen, und da Ange allein war, gab sie sich ganz ihren Gedanken hin.
Im Kamin brannte ein lebhaftes Feuer, das einen hellen Schein und
zugleich wohlthuende Wärme in dem Gemach verbreitete. Draußen aber fuhr
ein rücksichtsloser Sturm durch die Bäume und rüttelte den hohen Schnee,
der die Erde bedeckte, aus seiner Ruhe auf.

Ange öffnete hastig die Depesche, und mit einem leisen Schrei sank sie
zurück.

„Auch das noch!“ glitt es von ihren Lippen.

„Bin wegen Diebstahlsverdacht verhaftet. Wertsachen sind mit Beschlag
belegt. Frau Gräfin persönliches Erscheinen hier auf dem
Kriminal-Kommissariat möglichst bald erforderlich. Bedaure unendlich
hervorgerufene Unruhe.

Gehorsamst Tibet.“

„Auch das noch!“ wiederholte Ange noch einmal und blickte wie eine
Irrsinnige ins Leere. Es schien mit den Prüfungen erst der Anfang
gemacht; immer Neues ballte sich zusammen, um die gequälte Frau zu
ängstigen, zu verwirren und völlig mutlos zu machen.

Als Ange damals Olgas Billet empfangen hatte, saß sie wie erstarrt. Aber
zunächst waren es nicht die dadurch wieder emporsteigenden Geldsorgen,
die sie beunruhigten, sondern es jagten Scham und Enttäuschung und neben
diesen die Gefühle bitterer Reue durch ihre Seele. Sie sah Teut vor
sich, der ernst und vorwurfsvoll den Kopf schüttelte und ihr zurief:
„Sie haben wieder Ihren Verstand spazieren geschickt und sich mit Ihrem
Gemütsdrang auf den Weg gemacht. Warnte ich Sie nicht vor dieser Frau?
Das alles hätte ich Ihnen vorherigen können, und unnötig, ja, zu Ihrem
Schaden haben Sie sich bloß gestellt. Frau von Inks Gutherzigkeit ist
nur Maske, und überall, wenn das Unglück in die Hinterpforte schleicht,
ist die Welt plötzlich von Menschen ausgestorben.“

Als die Gouvernante zurückkehrte, verbarg Ange die Depesche, schützte
Müdigkeit vor und zog sich zurück. In ihrem Zimmer angekommen, sank sie
in einen Stuhl und weinte sich aus.

„O Carlos, Carlos! Wer sang mir an meiner Wiege von so viel Herzeleid!“
flüsterte Ange. „Bin ich ein so schwacher Mensch, daß die Angst Tag und
Nacht durch mein Inneres jagt, daß ich nicht mehr lachen,
daß--ach--ach--“--hier brachen die Thränen durch die zarten Finger--„daß
der Anblick meiner Kinder mich nicht mehr zu trösten vermag?“

Sie ergriff die Lampe und wandte sich in das Zimmer ihres Mannes.

Der eigentümliche Duft, der stets die Räume durchweht hatte, erfüllte
sie auch heute noch. Carlos saß nicht mehr in dem hohen Stuhl. Ringsum
die Spuren eines lebenden, nun für immer dahingegangenen Menschen.
Geradlinig wie sonst standen die Bücher in den Regalen. Im
unverschobenen Winkel lag die Schreibmappe. Hier hing sein Säbel, die
Militärmütze, dort standen noch seine Reiterstiefel, und drüben lagen
die weißledernen Handschuhe, die er abgestreift hatte, als er des Königs
Rock auszog.

Von einer unheimlichen Angst erfaßt, drehte Ange den Schlüssel zu
Carlos' Schlafgemach ab. Ihr war plötzlich, als ob der Tote in der Thür
erschienen sei und nicht mitleidig, nein, ernst und vorwurfsvoll sie
angeblickt habe. Weilte sein Geist noch in den Räumen, wirkte sein Wesen
noch nach, das fieberhaft und reizbar jeden Eintritt abgewehrt hatte?

Ange suchte sich zu fassen und öffnete die Schubladen des
Schreibtisches.

Ein plötzlicher unerklärlicher Drang hatte sie hierher getrieben. Noch
einmal mußte sie die Aufzeichnungen durchblättern, die er ihr
hinterlassen. Sie wußte, daß sie nichts darin finden werde als neuen
Anreiz für ihren Schmerz; aber ein ruheloses Gefühl durchhastete sie,
seine Schriftzüge zu lesen, an seinem Mitleid Trost zu finden.

Ja das war es! Sie sehnte sich nach Trost, weil sie keinen Menschen auf
der Welt hatte, an dessen Brust sie sich werfen und ausweinen konnte.
Einen gab es doch! Ja, er wog alle übrigen auf: aber er war fern, kam
vielleicht nie zurück.

Ange sann nach, ehe sie zu lesen begann.

Wie abergläubische Menschen ein Buch aufschlagen und nach der Auslegung
eines zufällig gefundenen Wortes ihren Entschluß fassen, so tastete Ange
in Carlos' Nachlaß nach einem erlösenden Ausdruck. Tiefer
zurückgeschoben, fand sie, beim Ausräumen, noch einige Blätter, die sie
bisher nicht beachtet hatte. Sie waren durchstrichen, offenbar
ausgesondert und zum Vernichten beiseite gelegt. Sie griff hastig danach
und begann zu lesen.

Das Schriftstück datierte noch aus der Zeit ihrer ersten Liebe und war
viele Jahre vor ihrer Übersiedelung nach C. geschrieben.

In diesem Augenblick glaubte Ange einen Ruf zu vernehmen. Kam er aus dem
Schlafgemach der Knaben drüben? Ängstlich lauschte sie--ja unheimlich
ward ihr--aber er wiederholte sich nicht. Stumm war die Nacht.

„Für meine teure Ange, wenn ich einmal gestorben sein werde. Ich
schreibe diese Worte unter dem Eindruck, daß mir nur kurz zu leben
bestimmt ist. Ich habe keinen thatsächlichen Anhalt dafür, es beherrscht
mich aber ein ahnendes Gefühl. Heute ist ein Mensch frisch und
thatkräftig, morgen ist er dahin. Auch ein böser Zufall kann uns
plötzlich abrufen.

„Sieh, Ange, da drängt es mich, Dir an dieser Stelle noch einmal mein
Herz zu öffnen und Dir zu sagen, wie unbeschreiblich ich Dich geliebt
habe. Als ich Dich zum erstenmal sah, hielt ich es nicht für möglich,
daß ein so holdes Wesen wie Du, mich vor allen anderen auswählen könne,
und als ich es endlich aus Deinem Munde hörte, schwankte ich zwischen
Furcht und Glückseligkeit. Weshalb? Weil mich ein trauriges Vorgefühl
beherrschte. Ich fühlte, daß ich Dir nie würde etwas abschlagen können,
und doch hatte ich, da Du ein unerfahrenes Kind warst, die Aufgabe,
Dich für das Leben zu erziehen, Dich zu leiten und zu belehren.

„Weißt Du, Ange, daß ich mich mitunter ins Freie geflüchtet habe in
zitternder Angst, wenn Dir das Geringste zugestoßen war. Ich bin im
Schlachtgetümmel gestanden, die Kugeln haben um meinen Kopf gepfiffen,
und ich habe, das Zeichen zum Angriff gebend, empfindungslos mich in den
Kampf gestürzt; ich kenne auch keine Furcht vor greifbaren Dingen, aber
ich bebte bei dem Gedanken, daß Du littest, daß ich Dich durch dieses
Leiden verlieren könne.

„Wenn ich einmal mürrisch gegen Dich gewesen war, folterten mich
Vorwürfe, und ein heißer Drang, Dich zu versöhnen, Dir von neuem
Liebesbeweise zu geben, quoll in mir auf. Freilich unterließ ich sie.
Ich habe diesen Zwiespalt nie begriffen.

„Deine Schönheit, Dein Liebreiz, Deine unbeschreibliche Herzensgüte
ängstigten mich. Ich fühlte, daß Du einst darunter leiden und daß wir
beide dadurch zu Grunde gelten müßten.

„Ich zittere bei dem Gedanken, daß ich früher aus der Welt gehen werde
als Du, aber nur deshalb, Ange, meine teure Ange--glaube mir--, weil ich
weiß, daß Du, so gut auch altes bestellt sein mag, niemals verstehen
wirst, Dich einzurichten und--gänzlich unbekannt mit dem Wert des
Geldes--vermöge Deines unbesonnenen Dranges, aller Welt zu helfen, immer
nur auf das Geben, nie auf eine Beschränkung bedacht sein wirst.

„Ich dachte darüber nach, unser Vermögen so festzusetzen und durch
fremde Hand so für Dich verwalten zu lassen, daß Dir unübersteigbare
Schranken in Deinen Ausgaben auferlegt werden würden. Aber abgesehen
davon, daß die Wirkung dieser Vorsicht dennoch eine zweifelhafte sein
kann, widersteht es mir auch, Dich in solcher Weise zu bevormunden. Ich
beschwöre Dich aber bei der Liebe und bei dem Glück unserer Kinder, sieh
Dich um in der Welt und traue nicht jedermann. Wo Dein Herz am lautesten
spricht, sei am vorsichtigsten.

„Aber noch mehr! Thue Du, was ich unterlasse. Berate Dich mit unserem
Anwalt und gieb ihm zu erkennen, was ich als Wunsch Dir hier
ausgesprochen habe. Hörst Du, Ange? Willst Du diese Bitte ansehen als
meinen letzten Willen, ihn ausführen als einen Akt der Pietät gegen
mich?

„Ich hoffe, unser Vermögen noch so zu vermehren, daß selbst die größten
Ansprüche zu befriedigen sein werden. Vielleicht, wenn Du diese Worte
liest, ist es mir bereits gelungen. Tibet wird Dir alles vorlegen. Ihm
kannst Du ganz vertrauen. Ich habe ihn erprobt und fand ihn bewährt in
allen Verhältnissen, ja selbst unter Versuchungen, denen andere kaum
widerstanden haben würden. Ich bitte Dich, daß Du Dich seines
verständigen Rates, seiner Hilfe bedienst, wenn ich nicht mehr unter
Euch sein werde, und namentlich hoffe ich, daß Du ihn niemals von Deiner
Seite läßt, es sei denn, daß er selbst zu gehen begehren sollte.
Betrachte ihn nicht als einen Diener, als einen Untergeordneten. Sein
Herz ist von Gold, sein Verstand--obgleich in der großen Welt nicht
gestählt--kühl und besonnen. Bedenke ihn auch einst reichlich!

„Du findest in unserem Testament, wie ich wünsche, daß er für alle mir
geleisteten Dienste belohnt werden soll.

„Ange, Ange! Wenn ich mir vorstelle, Du könntest je unglücklich sein aus
Herzenskummer, aus Sorge! Wenn ich daran denke, es könnte Dich eine böse
Krankheit erfassen und Du müßtest mit täglichen Schmerzen kämpfen! Ich
bitte das Schicksal, alles von Dir abzuwenden.“

Anges Augen flossen über; sie beugte sich über die Blätter und stützte
das Haupt.

Aus Liebe hatte er gefehlt; diese Aufzeichnungen erhärteten es nur allzu
überzeugend. Nun war auch das letzte verwischt, was in ihrem Herzen sich
noch in Zweifeln hätte bewegen können. Nichts blieb zurück als sanfte
Trauer und Schmerz des Mitleides.

Mochte die Welt Carlos schmähen, sie wußte ihn frei von Schuld; eine
nicht minder große traf sie selbst, und ihre Kinder wollte sie lehren,
sein Andenken hoch zu halten für alle Zeiten.

Und Tibet? Wohlan! Ange mußte handeln! Am nächsten Tage beschloß sie
abzureisen, um ihn aus seiner peinlichen Lage zu befreien.

       *       *       *       *       *

Ange erhob sich am nächsten Morgen ihrer Reisevorbereitungen wegen schon
in aller Frühe. Einer der Diener mußte forteilen, sich nach dem Abgang
der Züge zu erkundigen, und die Jungfer ward herbeigerufen, die
Garderobe einzupacken. Während Ange noch den sie umringenden Kindern
Antwort erteilte, sich auch beschwatzen ließ, den Knaben wegen ihrer
Abreise die Schule zu erlassen, ja überlegte, ob sie nicht etwa die
kleine Ange mitnehmen solle, die ihr diese Bitte unter zärtlichen
Schmeichelworten vortrug, fiel ihr plötzlich ein, daß sie vielleicht
nicht einmal genügend Geld für die Eisenbahnfahrt habe. Sie eilte in ihr
Kabinet, öffnete den Schreibtisch und zählte mit fiebernder Hast, was
noch vorhanden sei. Bis zum letzten Augenblick war sie gewohnt gewesen,
daß Tibet alle Geldangelegenheiten besorgte. Es fiel ihr jetzt sogar ein
und es bedrückte sie, daß sie diesem nicht einmal das Reisegeld
eingehändigt habe. Sie würde in der Folge fast nichts ihr eigen nennen!
Nur diese Thatsache in ihrer Allgemeinheit und in ihrem nüchternen
Schrecken waren in ihr hasten geblieben. Was augenblicklich nötig war,
was sie noch in ihrem Besitz fand, darüber hatte sie nicht nachgedacht.

Als nun Ange ihren Schreibtisch durchsuchte, fand sie nur noch drei
kleine Goldstücke. Völlig enttäuscht, ließ sie die Arme sinken und
beugte mutlos das Haupt.

„Darf ich denn mitreisen, Mama?“ schmeichelte in diesem Augenblick eine
Stimme. Es war die kleine Ange, welche ihr leise nachgeeilt war und sich
nun bittend an sie drängte.

„Ach, nein, nein, mein Liebling!“ rief Ange, aus ihrer Ratlosigkeit
aufgeweckt. „Ich weiß selbst noch nicht einmal, ob ich heute fortkomme.
Laß mich jetzt, süße Ange. Geh hinüber; ich bin gleich bei Euch.“

Die Kleine schlich verdrießlich und weinend von dannen und nur zu
fühlbar ward Ange durch die Frage des Kindes erinnert, wie heute alles
anders sei, denn ehedem!

Was sollte nun geschehen?

Tibet war in einer Lage, aus welcher die Pflicht gebot, ihn so rasch wie
möglich zu befreien. Ange durfte keinen Augenblick zögern, und nun ward
sie doch aus solchen Gründen vielleicht am Reisen verhindert!

Und was sollte sie ihrer Umgebung sagen, wenn sie etwa alle Vorkehrungen
wieder aufhob?

Nach der abschlägigen Antwort von Olga, bei der Befürchtung, alle Welt
vermute, wisse bereits um ihre Lage, vermeinte sie, sich durch das
Nebensächlichste bloßzustellen und unliebsamen Vermutungen Nahrung zu
geben.

War es denn Wirklichkeit? Sie besaß nicht einmal mehr die genügenden
Mittel, eine kleine Reise anzutreten, und doch war sie rings umgeben von
Luxus und erhob noch immer den Anspruch auf einen großen Haushalt?

Dieser Schein, diese Widersinnigkeit erhöhten Anges bedrückte Stimmung;
dazu trat ihre Unkenntnis menschlicher Verhältnisse. Brauchte sie für
die Reise nach Frankfurt das Dreifache oder Fünffache, was sie besaß?
Sie wußte es nicht. Sie war schon so scheu und unsicher geworden, daß
sie nicht nach den Kosten der Fahrt zu fragen wagte, weil sie fürchtete,
dies werde auffallen.

Auch die Mittel und Zwecke nach ihrer Bedeutung verwechselte sie
bereits. So überlegte sie, ob sie noch das Recht habe, in einem Coupé
erster oder zweiter Klasse zu fahren. Nein! Wer nichts besaß, hatte die
Pflicht sich einzuschränken. Sie durfte nur das billigste Billet kaufen.

Aber sie sollte an den Bahnhof eilen in ihrem eigenen Wagen, gefolgt von
einem Diener, zurücklassend einen solchen Haushalt, und einen Sitz neben
rauchenden, vielleicht trunkenen Männern einnehmen in einem ungeheizten
Coupé? Sie, die vornehme Dame, in dem kostbaren Reisemantel, der ein
kleines Vermögen gekostet halte?

Ah! der Pelz kostete Hunderte, und sie sorgte um einen Bruchteil, wollte
um diesen fast verzweifeln? Hatte er einen so großen Wert, weshalb ihn
nicht veräußern?

Das war es ja eben! Sie war machtlos zum Handeln, jetzt wenigstens in
diesen ersten Tagen. Immer wieder diese Gegensätze von Wahrheit und
Schein!

„Carlos, Carlos!“ schrie Ange auf. Noch einmal stieg das Gefühl der
Bitterkeit empor, freilich um in dieser sanften Seele ebenso schnell
wieder zu verlöschen.

Zuletzt ward Ange noch von einem anderen unruhigen Gedanken beherrscht.
Wenn sie nicht zurückkehrte! Wenn jemand ihres Gatten Papiere fand, sie
las und der Welt offenbar ward, er habe Hand an sich selbst gelegt--?

Höher als alles stand doch die Pflicht, seinen Namen über das Grab hoch
zu halten. Sie beschloß, seine Aufzeichnungen zu vernichten, und ihre
Pietät ließ sie doch wieder mit der Ausführung zaudern.

So stand das arme Weib, in der Hand die wenigen Goldstücke und das Herz
voller Zweifel, Sorgen und Ängsten. Sie befand sich in einem Zustande
des grausamsten Kampfes. Ihre gute Natur lehnte sich auf gegen die
geheimen Flüsterstimmen ihres inneren, welche ihr zuriefen: Sprich
irgend eine Lüge und Du wirst Dich aus Deiner Sorge befreien!

Immer wieder durchkreuzten ihre Gedanken die Frage: Wo schaffst Du Dir
Geld? Und immer wieder antwortete das geschäftige Teufelchen: Meide die
Wahrheit, umgehe, verschweige sie und verbirg Deine Not unter einer
sorglosen Miene.

Und diese flüsternde Stimme hatte nicht ganz unrecht. Olgas Brief gab
den Beweis. Einmal beschloß Ange, sich der Gouvernante anzuvertrauen,
aber sie verwarf diesen Plan wie alle anderen. Lügen, verheimlichen
konnte sie nicht: offen alles darzulegen, verbot ihr nach den
gewonnenen Erfahrungen die Klugheit.

Inzwischen kehrte der Diener zurück und meldete, daß der Zug um die
Mittagszeit abginge. Es fehlten noch einige Stunden. Schon wollte er
sich nach Erledigung seines Auftrages entfernen, als Ange gleichgültig
hinwarf:

„Wissen Sie zufällig den Preis des Billets, Philipp?“

Der Diener bejahte, indem er in einem Kursbuch nachschlug, das er
gekauft hatte und Ange einhändigte.

Wie bezeichnend war es!

Während er suchte, beunruhigte Ange der Gedanke, daß dieses Büchlein
noch bezahlt werden müsse, daß der Diener den Betrag verauslagt habe.

Nun nannte dieser den Fahrpreis für die erste Klasse.

„Und die zweite?“ fragte Ange obenhin, indem sie in ihren Gedanken die
genannte Summe hastig mit ihrem kleinen Besitz verglich. „Gut, ich danke
Ihnen.“

Der Diener verbeugte sich und ging. Es war Ange beinah ein Trost, daß
jener als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, daß sie die erste
Klasse wählen werde. Noch schien ihre Umgebung von den gänzlich
veränderten Verhältnissen nichts zu wissen.

Und das Geld, das Ange besaß, reichte. Freilich, es blieb nichts im
Hause zurück, aber in zwei Tagen war ja auch sicher alles geschehen! So
beruhigte sie sich und beschloß zu reisen. Sie gab die letzten
Anordnungen, redete der kleinen Ange so lange begütigend zu, bis diese
sich zufrieden gab, und fuhr endlich zur festgesetzten Stunde an den
Bahnhof. Die Kinder bestiegen mit ihr den Wagen und wurden wie stets,
wenn sie erschienen, von den Menschen neugierig beobachtet.

Da stand die Gouvernante; in ehrerbietiger Entfernung auch ein Teil der
Dienerschaft; vor dem Portal hielt die offene Kalesche, geschmückt mit
dem gräflichen Wappen; auf dem Bock saß der Kutscher in der prächtigen
Livree, das Coupé bestieg die schöne, vornehme Frau in dem wundervollen
Pelz. Kein Wunder, daß der einzelne den Abstand zwischen sich und jener
abwog. Gewiß, sie war doch eine beneidenswerte Frau! Wenn sie auch
Herzeleid gehabt hatte, sie kämpfte doch nicht mit den täglichen
Nadelstichen des Lebens. Sie saß wenigstens in ihren prachtvollen Räumen
in Fülle und Wohlleben, war in ganz anderen Verhältnissen als jene, die
umherstanden!

Und nun Umarmungen und Lebewohl! Ein heißes Thränlein funkelte in Anges
Auge. Und noch ein Abschiedskuß, und noch einer. Jetzt pfiff die
Lokomotive. „Adieu, adieu! Seid folgsam und artig, süßen Kinder!“ Ein
weißes Tüchlein flatterte noch eine Weile aus dem Coupé. Nun war Mama
Ange abgereist.

       *       *       *       *       *

Ange blieb allein, und die Fahrt verlief rasch. Ihre Gedanken waren so
lebendig, daß sie kaum bemerkte, was um sie her vorging. Vornehmlich
beschäftigte sie sich mit Teut. Sie hatte ihm in kurzen Worten
geschrieben und ihn gebeten, daß er ihr gleich antworten möge. Wenn sie
doch erst einen Brief von ihm in Händen halten, wenn seine Trostworte.
wenn sein Mitgefühl sie berühren würden!

Es beängstigte sie, daß er so lange nichts hatte von sich hören lassen.
Freilich, die Truppen zogen von Ort zu Ort, Kämpfe wurden ausgekämpft,
Schlachten wurden geschlagen; wo blieb Zeit und Ruhe selbst für die
wichtigsten Dinge!

Wie oft überfiel Ange ein heftiges Verlangen nach ihm! Sie sehnte sich
nach seinem Blick, nach seinem Wort. Wo er wirkte, fügten sich die Dinge
von selbst. Ein unbeschreibliches Gefühl der Sicherheit hatte sie stets
durchdrungen, wenn Teut in ihrer Nähe war und ihr ratend zur Seite
stand.

Und dann richteten sich abwechselnd ihre Gedanken auf Tibet und die
Kinder. Die Dinge, die jenen betrafen, so peinlicher Natur sie waren,
beunruhigten sie weniger, aber es beschäftigte ihre Gedanken, ob ihnen
nichts zustoßen werde. Ben sollte den Magen schonen, Erna hatte Medizin
zu nehmen, fand sie abschreckend bitter, und nur ihre Mama vermochte sie
bisher zu überzeugen, daß diese ihr notwendig sei. Und die Schularbeiten
der Knaben, und der Kummer der kleinen Ange! Ob sie sich wohl beruhigt
haben würde? Wie bitterlich hatte sie am Bahnhof geweint.

Einigemal warf Ange den Blick aus dem Fenster und ließ die schon halb
unter dem Dämmerlicht verblassenden Dinge an sich vorüberziehen. Ein
unruhiges, stürmisches Wetter mit Schneetreiben war aufgekommen und
legte seine Himmelsflocken dicht und erbarmungslos auf die Landschaft
ringsum. Hier tauchten im raschen Fluge Dörfer, Städte, ein einzelnes
Haus, dort ein Feuerfunken in die Luft sendender Fabrikschornstein
empor; dann kleine, wie verlorene Posten in der Schnee-Einöde
erscheinende Wärterhäuschen, scharf begrenzte Telegraphendrähte, bald
sich neigend, bald emporstrebend zu den glockengezierten Stützen,
blitzartig wie dunkle Erdfäden sichtbar werdend und verschwindend. Und
jetzt wieder flaches, endloses, schneebedecktes Land, aus dem ein
einzelner entblätterter Baum wie ein roh entkleidetes Wahrzeichen der
Jahreszeit melancholisch sich abzeichnete. Und fort, immer fort in
rasender Eile, stundenlang, bis dem schrillen Pfiff der Lokomotive das
Stöhnen der Bremse folgte, und sowohl die Szenerie draußen, wie auch das
tobende Geräusch des dahinstürmenden Zuges seinen Charakter veränderte:
Jetzt hohle, wie unterirdisch klingende Schläge, hervorgerufen durch
einige düster aufstrebende, auf den Nebengeleisen flehende
Eisenbahnwagen; kleine rote und grüne Lichter, wie unheimliche
Erdgeister, allmählich hellere Luft, als Reflex des auftauchenden Lebens
in Häusern und Hütten, und dann ein letzter kurzer Schrei der
Lokomotive, nochmals kreischendes Bremsen und endlich Stillstand und
Ruhe.

Und jetzt Rufe, eilende Schritte, lautes Sprechen, das Rasseln der
Postpacketwagen, Auf- und Zuschlagen von Thüren, und um die Coupéfenster
zugleich ein pfeifendes Sausen aus der sturmdurchwehten Bahnhofshalle.

Dann ging's abermals wie auf einem von Furien gepeitschten, lebenden
Ungetüm hinaus in den Sturm, in den Schnee und in die Nacht. Und wieder
dieselben oder ähnliche Bilder: Reihen von ungleichen Häusern,
weißglitzernde Dächer, Hunderte von Lichtern, lange, von spärlicher
Helle beschienene, verlassene Gassen, aus der umnebelten Luft wie
erstarrt emporragende Kirchtürme, wieder Güterwagen, eine einzelne wie
ein Dämon mit roten Feueraugen vorbeisausende Lokomotive--ein Ruck, noch
ein rücksichtsloser Ruck an den Weichen, und nun endlich ein
gleichmäßiges, jagendes, keuchendes, stoßendes Stampfen des
dahinfliegenden Kurierzuges.

Nach einstündiger Fahrt hielt der Zug wiederum eine Minute. Die Thür in
Anges Coupé ward aufgerissen. Es schien eine der letzten Stationen vor
Frankfurt zu sein. Rasche Worte erfolgten zwischen einem in hastigem
Laufe herbeieilenden Passagier und dem Schaffner. „Schnell hier! Es ist
höchste Zeit--“

Ein Pfiff des Zugführers--ein Schlag;--ein Herr stieg ein, noch ein
Pfiff der Lokomotive, und nun brauste der Zug von neuem davon.

Der Fremde, scheinbar den besseren Ständen angehörend, grüßte Ange
flüchtig und schien anfangs, trotz der schwachen Beleuchtung, ganz in
die Lektüre einer Zeitung vertieft. Allmählich aber begann er seine
Blicke auf Ange zu richten und sie endlich in einer so zudringlichen
Weise zu betrachten, daß sie dies lebhaft beunruhigte. Der Mann sah
unheimlich aus. Er trug einen dunklen Knebelbart, hatte suchende Augen,
jene Augen, die eine furchtbare, stumme Sprache reden, und neben
gewählter Kleidung eine bis an den Hals zugeknöpfte scharfrote
Sammetweste mit weißen Knöpfen. Ange vermochte sich nicht zu erklären,
weshalb ihr gerade diese Weste ein so unheimliches Gefühl einjagte.

Endlich brach der Mann das Schweigen und fragte in französischer
Sprache, ob ihr wohl--sie möge verzeihen--ein Hôtel in Frankfurt bekannt
wäre. Er sei fremd und habe versäumt, sich zu erkundigen. Ange verneinte
und gab, wenn auch höflich, durch ihre Miene zu verstehen, daß sie
keinerlei Gespräch anzuknüpfen wünsche.

„Werden Sie auch in Frankfurt übernachten, gnädiges Fräulein?“ begann
der Fremde trotzdem von neuem.

„Vielleicht--mein Herr!“ und Ange wandte zur größeren Erhärtung ihrer
entschiedenen Abwehr den Blick gegen das Fenster und schaute hinaus.

Der Fremde verharrte eine Zeitlang unschlüssig, nahm aber dann noch
einmal das Wort und machte eine mit feinem Spott vermischte
Entschuldigung. Zugleich veränderte er den Platz und suchte in
verletzender Zudringlichkeit Anges Aufmerksamkeit zu erregen.

Ange erbebte, aber sie beschränkte sich diesmal auf einen einzigen
Blick, durch welchen sie den Fremden an seinen Platz zurückzuweisen
suchte.

In der That schien der Mann endlich belehrt zu sein; er schwieg.

Nun drückte sich Ange mit geschlossenen Augen in die Ecke des Sitzes.
Aber noch durch die Lider sah sie in ihrer aufzeigenden Angst die rote
Weste und die funkelnden Augen des Fremden vor sich. Von draußen ertönte
das hastende Geräusch der dahinfliegenden Wagen; einmal ein kurzer Pfiff
der Lokomotive; nun jagte ein anderer Zug, von Frankfurt kommend, über
die Schienen. Wie die wilde Jagd raste und stob er mit kurzem, sausendem
Gezisch, den Sturmwind im Rücken, an ihnen vorüber. Dann trat das
frühere regelmäßige Geräusch wieder ein.

„Mein gnädiges Fräulein! Ich bitte, mein gnädiges Fräulein!“ drang nun
die Stimme des Fremden in halb bittendem, halb zudringlichem Tone an
Anges Ohr.

„Mein Herr, ich muß dringend ersuchen, daß Sie mich nicht ferner
belästigen! Sie haben eine Dame vor sich! Noch einmal, zum letztenmal;
ich habe bereits deutlich gezeigt, daß ich keine Konversation wünsche.“

Aber der Fremde rührte sich nicht von der Stelle. Ange schien ihm in
ihrem Zorn nur noch reizvoller.

„Wie kann man sich so erregen, so ungehalten sein!“ begann er abermals
kopfschüttelnd, suchte Anges Augen, rückte näher und tastete unter
weiteren besänftigenden Worten sogar nach ihrer Hand. Eine heiße
leidenschaftliche Hand streifte in der That während einer Sekunde Anges
Rechte.

„Mein Herr, mir fehlen die Worte für Ihr Benehmen! Ich befehle Ihnen,
sich sofort zurückzuziehen!“ rief Ange, flog empor und richtete ihre
schlanke, in die dunklen Trauerkleider gehüllte Gestalt so gebietend vor
dem Manne auf, daß er zurückprallte. „Wenn Ihr besseres Gefühl nicht von
selbst erwacht, wenn Sie Ihre empörenden Zudringlichkeiten nicht
einstellen, werde ich die Zugleine ziehen! Ich thue es bei Gott jetzt,
sogleich--“

Als der Fremde trotz der Entwaffnung, die sich in seinen Mienen
widerspiegelte, dieser Aufforderung dennoch nicht folgte, faßte Ange den
Riemen, riß das Fenster auf und rief, während sie nach der Leine
tastete, in das Dunkel hinaus nach Hilfe.

Die schwarze Nacht schielte mit ihrem mitleidlosen Gesicht in den
schwach erleuchteten Raum, Flocken ihres weißen Totenbettes wirbelten in
das Coupé, kalte, eisige Zugluft drängte sich hinein.

Jetzt pfiff die Lokomotive; der schwarze, mit tausend unsichtbaren
Atomen geschwängerte Rauch warf seinen stinkenden Atem ins Coupé, drang
mit der eisigen Luft in Anges Kehle und tötete jeden Laut. Vorwärts!
vorwärts! Der Zug raste dahin! Was scheren den stummen Zeiger an der
großen Zeituhr menschliche Vorgänge, gar der Schrei eines geängstigten
Menschenkindes, was die Laune eines Zudringlichen?

Zum Glück für Ange hatte der Zug nun bereits das Frankfurter Weichbild
erreicht. Der Fremde machte sich hastig mit seinen Sachen zu schaffen,
und Ange wandte sich, noch atemlos vor Aufregung, ins Coupé zurück.
Wenige Augenblicke und der letzte Pfiff ertönte. Die Wagen hielten, die
Thüren wurden aufgemacht, der Fremde sprang mit kurzem, scheuem Gruß
eilend hinaus, so eilend, daß Ange ihn in der nächsten Sekunde aus den
Augen verlor, und sie selbst verließ, noch unter den Nachwirkungen der
Schrecken, die über ihr geschwebt, den unheimlichen Raum und fuhr in die
Stadt.

       *       *       *       *       *

Als Ange nach einer Nacht voll aufregender Träume und Beunruhigungen zu
einer Überlegung der Aufgaben des Tages gelangte und zunächst sich
erinnerte, daß sie sich einige Geldmittel verschaffen müsse, saß sie
lange grübelnd da und vermochte sich nicht zu einem Entschlusse
aufzuraffen. Nur wer sich in einer Lebenslage jemals befunden hat, in
der das Notwendigste nicht allein fehlt, sondern auch der Blick in die
Zukunft das Traurigste vor Augen stellt, wird den Zustand von
Mutlosigkeit und Unsicherheit begreifen, in welchem sie sich befand.

Die Rückwirkung der Aufregung des verflogenen Abends, die Geldsorge, die
dadurch hervorgerufenen Eindrücke, namentlich das Gefühl, etwas anderes
zu scheinen, als die Umgebung voraussetzte, die fremde Stadt, die
bevorstehende polizeiliche Vernehmung--dies alles übte eine solche
Wirkung auf Ange aus, daß sie, zum Fortgang schon gerüstet, auf der
Treppe noch einmal umkehrte, sich in ihr Zimmer zurückbegab, und weinend
nach Fassung rang.

Und diese ward ihr endlich! Ja, noch mehr. Was bisher zu keinem Ausdruck
gelangt war, weil der richtige Prüfstein fehlte, gestaltete sich
allmählich klar und kräftig in ihrem Inneren. Sie gedachte ihrer Kinder,
und bei der Erinnerung an diese stärkte sich ihr Pflichtgefühl. Der
Adel ihrer Seele half ihr zu einem unabänderlichen Entschluß und zu
einem festen Willen. Nun zeigte sich, daß sie aus einem besseren Holz
geschnitten war als der Durchschnitt derer, die in der Welt
umherwandeln.

Kein Rückblick mehr auf frühere sorglose Zeiten, keine Vergleiche!
Geradeaus wollte sie ihr Auge richten! Ein heiliger Ernst durchdrang
sie: jener sittliche Ernst bemächtigte sich ihrer, ohne den niemand
wagen darf, auf den Kampfplatz des Lebens zu treten, mit dem aber jeder
ein Feld sich eröffnet, dessen Enden ohne Grenzen zu sein scheinen.

Ange beschloß, zunächst einen Wagen zu nehmen und nach einem
Pelzgeschäft zu fahren; von dort wollte sie sich ins Polizeigebäude
begeben. Nachdem sie Erkundigungen bei dem Portier eingezogen--sie wurde
rot bei ihrer Frage--, fuhr sie ab.

Kaum zehn Minuten später betrat sie das Magazin und legte den Mantel,
den sie im Wagen abgezogen hatte, dem Käufer, einem jungen Menschen mit
einer verdrießlichen Geschäftsmiene, vor.

„Ich bin auf der Reise. Dieser Pelz ist mir überflüssig, ich wünsche ihn
zu veräußern. Wollen Sie die Güte haben, ihn zu prüfen und einen Preis
zu nennen?“

Der Angeredete schob das kostbare Stück hin und her, nickte und sagte
endlich: „Ich glaube, daß wir den Mantel erwerben würden. Aber der Chef
ist augenblicklich verreist. Wollen Sie ihn nicht bis übermorgen zur
Verfügung halten? Ich kann den Handel allein nicht abschließen!“

Ange erwiderte, daß dies nicht möglich sei, und bat um eine andere
Adresse. Nachdem eine mürrische Antwort erfolgt war, entfernte sie sich.

Ange fuhr durch eine Reihe weitläufiger Straßen und Gassen, bevor sie
ihr Ziel erreichte. Die großen Geschäftshäuser mit ihren geschmückten
Läden türmten sich vor ihr auf. Sie sah die eilenden Fuhrwerke und
Menschen, blickte in den Dunst und Wirrwarr des Verkehrs und ward hier
angezogen, dort abgestoßen von den Bildern des geräuschvollen Lebens.
Aber diese Eindrücke gingen gleichsam nur wie ein Schatten neben den
Gedanken einher, die sie beschäftigten.

Und da plötzlich tauchte beim Hinausschauen eine Gestalt vor ihr auf,
die sie kannte. Im Fluge des Vorüberfahrens sah Ange ihren
Reisegefährten; sie bemerkte auch während weniger Sekunden die
Dreieckzipfelchen seiner roten Weste unter dem zugeknöpften Rock. Der
Mensch hatte Frankfurt also nicht verlassen! Doch gleichviel; wirkte
auch die Erinnerung auf sie und ließ diese ein angstvolles Unbehagen in
ihr emporsteigen--das war glücklich überwunden. Jetzt, in der belebten
Stadt empfand sie keinerlei Furcht.

Endlich hielt der Wagen. Aber hier war nicht, was Ange suchte. Sie
befand sich in einer kleinen Gasse und begriff nur zu bald, daß der
Kutscher sie falsch verstanden habe. Ange sah auf die Uhr; es war schon
spät. Unter raschem Entschluß befahl sie, nach dem Polizeigebäude zu
fahren. Sie wollte den Wagen warten lassen, auf ihrer Rückkehr den
Mantel veräußern, und dann den Mann ablohnen.

„Warten Sie!“ sagte Ange, nachdem das Polizeigebäude erreicht war. Und
in einer unzeitigen Ehrlichkeit fügte sie hinzu: „Es kann etwas lange
dauern.“

„Dann lohnen Sie mich ab!“ rief der Kutscher. „Mein Pferd geht schon
seit gestern abend; ich möchte ausspannen.“

Ange erschrak. „Ich habe kein kleines Geld--“

„Ich werde wechseln gehen,“ wandte der Mann ein und sprang vom Bock.

„Nein, nein, warten Sie!“ erklärte Ange, eilte rasch an die Thür und
schnitt somit alle weiteren Fragen ab, die ihr Ungelegenheiten bereiten
konnten. Das Geld, das sie in C. zu sich gesteckt, hatte eben für die
Reise gereicht; sie vermochte den Kutscher nicht einmal zu bezahlen.

Nachdem Ange von dem Portier verständigt worden war, betrat sie das
Zimmer des Kriminalkommissarius. Einer der dort anwesenden Beamten wußte
nicht genau Bescheid, der Vorsteher war nicht anwesend. Es blieb Ange
die Wahl zu warten oder wieder zurückzukehren. Sie schwankte.

Bevor sie sich zum Gehen entschloß, fragte sie nach Tibet, und nach
einigem Hin- und Herreden empfing sie den Bescheid, der Inkulpat sei in
Haft, und es sei nicht möglich und gestattet, ihn zu sehen oder zu
sprechen.

Der Beamte, der höflich, wenn auch kurz Auskunft erteilt hatte, sah
befremdet empor, als Ange, in Gedanken verloren, vor sich hinstarrte.
Nun raffte sie sich auf und erklärte, in einigen Stunden wieder anfragen
zu wollen.

In der Thür wandte sie sich noch einmal um. „Ich bitte, dem Herrn
Kommissar bei seiner Rückkehr meine Karte übergeben zu wollen und zu
melden, daß ich mich eingefunden habe.“

Der Beamte schielte auf die Adresse, nickte gleichgültig und sah auf
seine Arbeit.

„Adieu!“

Dieser Gruß ward kaum erwidert. So ging Ange.

Ins Hôtel zurückgekehrt, ließ sie den Kutscher ablohnen und machte sich
nach etwas Ruhe und Erholung abermals nach dem Polizeibureau auf den
Weg.

Als sie nach längerem Warten endlich vorgelassen wurde, stand sie einem
ernsten Mann mit forschendem Blick gegenüber, und es entspann sich ein
längeres Gespräch.

„Ich komme, Herr Kommissar, wegen meines am vorgestrigen Tage
verhafteten Dieners Ernst Tibet.“

„Ich habe die Ehre, die Frau Gräfin von--“ Der Beamte suchte nach Anges
Namen, bat sie mit einer höflichen Bewegung, Platz zu nehmen, griff
hinter sich nach einem Aktenfascikel, blätterte darin und neigte
zustimmend den Kopf, als jene inzwischen das Wort „Clairefort“ selbst
hinzufügte.

„Ganz recht! Der Verhaftete beruft sich auf die Zeugenschaft der Frau
Gräfin Ange von Clairefort, geborenen Baronin von Butin, Gemahlin des
verstorbenen Rittmeisters Carlos von Clairefort. Ist dies richtig,
gnädige Frau!“ Der Kommissar erhob fragend den Blick.

Ange verbeugte sich.

„Die Vorgänge, die Umstände, welche die Verhaftung des Ernst Tibet
herbeiführten, sind Ihnen bekannt, gnädige Frau?--Nein?--Ich werde Ihnen
dann zunächst das Protokoll vorlesen. Indes, eine Vorfrage: Vermögen
Sie sich zu legitimieren? Ich bitte um Ihre Papiere.“

Ange wußte bei den mehrfach und gleichzeitig gestellten Fragen nicht
unmittelbar zu antworten; von allen blieb die letztere in ihr hasten.
„Legitimation? Ich verstehe nicht, Herr Kommissar!“

„Es würde ein amtlich beglaubigtes Schriftstück aus C., etwa von dem
dortigen Polizeimeister, genügen.--Sie haben kein solches?--Vielleicht
können Sie sich durch eine hiesige Persönlichkeit rekognoszieren
lassen.--Auch nicht?--Hm, das erschwert allerdings die Angelegenheit.“

In Anges Mienen trat ein Ausdruck von Enttäuschung und Unruhe zugleich,
und da ein Kriminalkommissarius wie ein Luchs auf der Lauer liegt und
jede verdächtige Bewegung beobachtet, auch niemals annimmt, daß ihm die
Wahrheit gesagt wird, sondern stets das Gegenteil vermutet, so sprachen
diese Dinge nicht eben zu Anges gunsten.

„Eine Legitimation ist durchaus erforderlich, gnädige Frau,“ fuhr der
Beamte achselzuckend fort. Die Schwierigkeiten, die sich unvermutet
erhoben, ängstigten Ange. Sie sah ihr Gegenüber einen Moment ratlos an.

„Ich müßte schon nach C. zurückreisen, Herr Kommissar. Ich weiß keinen
anderen Weg. Hier kenne ich niemanden. Giebt's keine Möglichkeit? Ich
bitte freundlichst um Ihren Rat.“

Der Beamte machte eine zweifelnde Bewegung, und in seinem Gesicht malte
sich nichts, was Ange hätte ermutigen können.

„Ich glaube allerdings, es wird nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie
an Ort und Stelle--“

„Aber bedenken Sie, Herr Kommissar, ich bin gestern in aller Eile
abgereist, nun wieder zurück und abermals hierher!“

„Allerdings eine mißliche Aufgabe, gnädige Frau. Aber woher soll ich die
Überzeugung nehmen, daß ich die Ehre habe, mit der Frau Gräfin von
Clairefort zu sprechen? Die ganze Angelegenheit macht, ich muß es Ihnen
offen bekennen, einen wenig vertrauenerweckenden Eindruck. Der Inkulpat
hat sich äußerst verdächtig benommen. Nachdem er die sehr wertvollen,
wie ich hier berichtet finde, auf eine ganz ungewöhnlich große Summe
abgeschätzten Diamanten anfänglich als sein Eigentum bezeichnet hatte,
zog er später diese Aussage zurück und weigerte sich, den Namen seines
Auftraggebers zu nennen. Der Juwelier mußte Verdacht schöpfen und war in
der That selbst die Veranlassung, daß die Verhaftung erfolgte. Was ist
denn Ihnen über den Fall bekannt, gnädige Frau?“

Ange berichtete, was sie wußte. Sie erzählte, daß sie ein Telegramm und
in diesem die Aufforderung erhalten habe, sofort nach Frankfurt zu
eilen. Und während sie das erörterte, kam ihr, wie ihr schien, eine
zutreffende Bemerkung.

„Daß ich die Gräfin von Clairefort bin, Herr Kommissar,“ fuhr sie fort,
„mag genügend daraus erhellen, daß nur ich die ohne Zweifel mit Ihrer
Genehmigung abgesandte Depesche empfangen konnte und solche auch in der
That erhielt. Wollte der Verhaftete eine andere Persönlichkeit
einschieben, welche Möglichkeit Sie anzunehmen scheinen, so mußte er
entweder diese zugleich benachrichtigen oder sich in der Zwischenzeit
mit mir in Verbindung setzen. Wie sollte das geschehen sein? Ich
erkläre, daß ich die Gräfin von Clairefort bin, daß ich meinen Diener
beauftragt habe, meine Diamanten zu veräußern, und daß er nur aus
Delikatesse meinen Namen verschwieg. Die Umstände, welche ihn dazu
veranlaßten, sind so trauriger Art“--Ange stockte und senkte das
Auge--„daß Sie darin nur etwas Selbstverständliches finden würden, Herr
Kommissar, wenn Ihnen solche bekannt wären.“

Der Beamte sah Anges Bewegung und legte ihr durch einige artige Worte
seine Teilnahme an den Tag. Dann aber nahm er zu dem Gegenstand selbst
Stellung und sagte:

„Was Sie als untrüglichen Nachweis anführen, meine gnädige Frau, ist für
mich keiner. Ich bitte, nur den einen Fall ins Auge zu fassen, und ein
solcher ist unzähligemal vorgekommen. Was kann bei solchen Gelegenheiten
nicht alles vorbedacht und abgesprochen sein! Stößt dem Schwindler oder
Dieb eine Ungelegenheit zu, bezeichnet er als Entlastungszeugen eine mit
ihm im Bunde stehende Persönlichkeit, die sich also im vorliegenden Fall
etwa--Frau von Clairefort nennt. Diese erscheint, macht ihre Aussagen,
und der gemeinsame, an einer dritten Person ausgeführte Diebstahl--wer
weiß wo; in Paris, Madrid oder sonst in der Welt!--bleibt nicht nur
unentdeckt, sondern die Komplicen ziehen noch mit triumphierender Miene
ab.--Ohne Zweifel verhält sich das alles in diesem Falle nicht, wie ich
hier dargelegt habe, aber bedenken Sie, daß es doch möglich sein könnte
und welche Verantwortung auf mir lastet. Meine vielen Geschäfte
gestatten mir im allgemeinen nicht, mich mit Zeugen in Erörterungen über
Eventualitäten einzuladen. Ich gehe streng nach meinen Vorschriften.
Wird erfüllt, was ich gesetzlich zu verlangen habe, schreite ich an die
Prüfung und entscheide. Legitimieren Sie sich, und ich werde Ihre
Aussagen protokollieren, diese mit denen des Tibet vergleichen, Sie
beide konfrontieren und, wenn ich die Überzeugung gewinne, daß ein
falscher Verdacht vorliegt, mit größter Genugthuung Ihren Diener
entlassen und Sie in den Besitz Ihres Eigentums setzen.“

Ange ließ mutlos den Kopf sinken.

„Also es giebt gar keinen--gar keinen Ausweg, Herr Kommissar?“ fragte
sie und sah ihn mit feuchten Augen an. „Bedenken Sie gütigst! Ich, eine
einzelne Dame! Noch stehe ich unter den Nachwirkungen einer so ernsten
Trauer, mein Gatte ist eben gestorben. Ich reiße mich von allem los und
eile hierher; nun soll ich nochmals zurück! Und dazu die
Peinlichkeit, in dieser Angelegenheit mit den Ortsbehörden zu
verhandeln!--Diamantendiebstahl! Verhaftung! Das alles klingt, als ob
wirklich ein Vergehen vorläge, und doch ist alles so korrekt wie nur
möglich. Ich bitte, ich flehe Sie an, helfen Sie mir! Ich schwöre Ihnen
zu, daß ich die Wahrheit rede! Sehe ich aus wie eine Betrügerin? Ihr
scharfer Blick muß es erraten, daß ich die volle Wahrheit rede!“

Der Beamte sann einen Augenblick nach, dann sagte er:

„Meinen persönlichen Empfindungen darf ich nicht folgen. Diese sprechen
zu Ihren gunsten, gnädige Frau--ich bitte, beruhigen Sie sich.“ (Ange
brach in Thränen aus.) „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: ich werde
an den Polizeimeister in C. telegraphieren. Vermag dieser zu
recherchieren, daß Sie in C. wohnen, gestern abgereist sind--wann,
bitte, mit welchem Zug?--Sehr wohl!--auch Ihr Signalement und dasjenige
Ihres Dieners beizufügen--würden Sie endlich das Original der Depesche
mir einhändigen können, welche Sie von Ihrem Diener empfingen, so wäre
ich hinreichend gedeckt und verspreche Ihnen eine rasche Untersuchung
und Erledigung.“

Ange atmete erleichtert auf.

„Wann darf ich also wieder erscheinen, Herr Kommissar?“

„Ich denke, übermorgen vormittag werde ich im Besitz alles dessen sein,
was erforderlich ist.“

„Nicht früher?“ warf Ange enttäuscht ein.

„Ich glaube nicht, daß es möglich sein wird.“

„Und darf ich meinen Diener sprechen?“

„Ich bedaure, gnädige Frau--“

„Aber er könnte doch benachrichtigt werden, daß ich hier bin und daß
alles eingeleitet ist! Sie würden mich sehr verbinden. Der arme Mensch
wird in einer entsetzlichen Unruhe sein, und Sie begreifen, daß ich ihn
daraus befreien möchte.“

„Diese Bitte will ich auf Ihren besonderen Wunsch erfüllen, gnädige
Frau.“

Der Kommissar klingelte.

„Ich danke Ihnen für diese besondere Rücksicht, Mein Herr,“ sagte Ange,
stark betonend.

Der Beamte neigte höflich den Kopf und erhob sich. „Also auf übermorgen
zehn Uhr. Ich stehe dann zu Diensten. Ich empfehle mich Ihnen, gnädige
Frau.“

Eine stumme Verbeugung, nochmals ein Dankeswort, dann war Ange draußen.

„Nach der Pelzhandlung von M.!“

„Straße? Nummer?“

Ange antwortete, stieg ein und der Wagen rollte fort. Nach zehn Minuten
befand sie sich an Ort und Stelle. Sie brachte ihr Anliegen vor und
wartete voll Ungeduld auf die Entscheidung. Diese erfolgte erst nach
längerer Zeit.

„Wir haben im ganzen nicht viel Neigung zum Kauf, obgleich der Pelz sehr
schön ist,“ sagte der Händler, welcher sich mit seiner Umgebung beraten
hatte. „Für derartige Ware haben wir hier so gut wie keine Verwendung.
Indessen, wollen Sie ihn mit achtzig Thalern abgeben, kann das Geschäft
gemacht werden.“

Seit Wochen hatte sich Ange nicht so glücklich gefühlt. Sie hätte
aufjauchzen können in der Erleichterung ihrer Seele. Achtzig Thaler! Sie
hatte zwar mehr erwartet, da der Pelz mehrere Hunderte gekostet hatte,
aber sie empfing Geld--überhaupt Geld, und--dann fand sich alles andere.

Ange nickte, that noch eine Frage wegen Rückkaufs, empfing den Betrag
und entfernte sich.

Nach einer Abwesenheit von fast zwei Stunden kehrte sie nun abermals ins
Hôtel zurück.

       *       *       *       *       *

Wer das Leben beobachtet, wird finden, daß diejenigen das höchste
Ansehen genießen, welche allezeit den Kopf über das Herz stellen, und in
der That sind diese Menschen die eigentlichen Erhalter unserer sozialen
Verhältnisse. Was sollte heute aus einer Welt werden, in der die
Menschen nach den idealen Vorschriften einer biblischen Bergpredigt
handeln wollten?

Anders steht es mit dem Glück solcher Personen. Die tausendfachen Reize,
welche den Gemütsmenschen zu teil werden--und mögen diese auch nur
bestehen in dem Wechsel zwischen Erfolg und Enttäuschung--entgehen
ihnen. Der Gemütsmensch genießt jede Sekunde, der Verstandesmensch
entbehrt oft alles. Jener befindet sich bis zum Grabe in einem
köstlichen Rausche, dieser--oft ohne wesentlichen Kampf mit der
Außenwelt, der Illusionen bar, lernt den eigentlichen Zauber des Lebens
gar nicht kennen.

Ange hatte den furchtbaren Ernst ihrer Lage begriffen, und der feste
Entschluß, ein neues, auf Pflichttreue beruhendes Leben zu beginnen, war
stark und lebendig in ihr geworden; aber ihre lebensfrohe Weltanschauung
und ihre sorglose Unerfahrenheit gewannen doch leicht wieder die
Oberhand und verführten sie, mehr dem Impuls des Augenblicks zu folgen,
als das Ende der Dinge ins Auge zu fassen. Gestärkt durch neue
Hoffnungen und im Besitz einiger Mittel, verwischten sich vorübergehend
die Eindrücke der letzten Tage, und mit dem halbbewußten Anreiz, sich
ihre glückliche Stimmung zu erhalten, durchschritt sie nach dem
eingenommenen Mittagessen die Hauptstraßen, guckte in die Läden und
betrachtete mit naiver Freude alles, was sich neues ihrem Auge bot.

Die schönen Gegenstände, welche in den Schaufenstern ausgebreitet lagen,
reizten ihre Kauflust. Was ihr gefiel, hatte sie bisher stets
erhalten--sich erbeten oder selbst gekauft; niemals fand sie den
geringsten Widerstand. Nun fielen ihr die Kinder ein! Statt eines Tages
würde sie viele Tage fortbleiben! Dafür mußten ihre Lieblinge doch in
etwas entschädigt werden!

Unter diesem Gefühlsdrange betrat sie ein Magazin und wählte aus: da
war etwas für die kleine Ange, hier etwas für Jorinde und Fred, und da
keines der Kinder bevorzugt werden durfte, kaufte sie auch einige
hübsche Überflüssigkeiten für Ben und Erna.

Als der Verkäufer die Rechnung summierte, erschrak Ange. Aber dann
stellte sie sich die Freude und den Jubel der Kleinen vor, gedachte
nochmals der mancherlei Entbehrungen, welche sie durch ihre Abwesenheit
erleiden würden, und befahl ohne Zaudern, die Gegenstände abzusenden.

Und dennoch tauchte, als sie draußen zum Nachdenken gelangte, ein
bekanntes ernstes und tadelndes Gesicht vor ihr auf; ja sie hörte eine
Stimme, die sie sanft schalt und ihr zurief: „Niemals wirst Du die
Erfahrungen des Lebens Dir zu nutze machen! Immer wissender wirst Du
werden, nicht weiser!“ Es war Teut, der auch diesmal vor ihrem inneren
Auge erschien.

Ange erschrak vor sich selbst. Selbsterkenntnis war ihr gekommen,
seitdem sie Teut kennen gelernt, Entschlüsse waren in ihr gereift,
nachdem Carlos davongegangen und sie in Not zurückgelassen hatte, aber
der Gang durch die Schule des Lebens war noch zu kurz, um seine volle
Wirkung zu üben.

Den Rest des Tages benutzte sie, um an die Kinder und nochmals an Teut
zu schreiben. In ihrem ersten Briefe an ihn hatte sie nur Kunde gegeben
von Carlos' plötzlichem Tode; nun bat sie den Freund, ihr in ihrer Lage
zu raten. Mit ihrem Zartgefühl zauderte sie lange, die Zukunft zu
berühren. War in diesem Falle Rat erbitten nicht gleichbedeutend mit
einem Anspruch auf Teuts erneuerte opferthätige Freundschaft?

Dennoch schrieb Ange.

Nachdem sie aber die Feder aus der Hand gelegt, nochmals alles überlesen
hatte, und nun den Brief einfalten wollte, stiegen plötzlich Stolz und
Scham wie heiße Feuer in ihr empor. Sie zauderte, und aus diesem Zaudern
entstand ein unabänderlicher Entschluß. Ange zerriß, was sie dem Papier
anvertraut, und warf's in den Kamin.

Es war ein qualvoller, heftiger Widerstreit, der sich in ihrem Inneren
erhob. Hier winkten Sorglosigkeit, Fülle vielleicht, mindestens aber
alles, was ihre Kinder schützen würde vor der Grausamkeit des Lebens.
Dort, in der Zukunft, lagen harte Arbeit, Entbehrung und alle die
entsetzlichen Begleiter dieser Quälhexe des Daseins.

Und dennoch, und dennoch! Schon die bisherigen Wohlthaten Teuts
brannten wie glühendes Eisen auf ihrer Seele. Und diese noch
vermehren?--Niemals! Um keinen Preis! Es war jetzt, wie's war! Etwas
blieb! Darben würde sie nicht, wenn sie alles veräußerte. Am besten, sie
floh vor dem Freunde für immer, um so mehr, weil sie ihn liebte und weil
diese Liebe sie zu einer nachgiebigen Schwäche hinreißen konnte, die sie
sicher bereuen würde.

       *       *       *       *       *

Vier Tage nach dem eben Erzählten saßen sich Ange und Tibet in einem
Zimmer des Hotel de Russie gegenüber.

Letzterer war am Tage vorher aus der Haft entlassen worden, und hatte
Anges Eigentum zurückerhalten. Eben hatte er, der Aufforderung seiner
Herrin folgend, Platz genommen und sich einer ehrerbietigen Haltung
entäußert, die unter den bestehenden Verhältnissen auch als etwas
Nebensächliches erscheinen mußte.

„Endlich, endlich, mein guter, braver Tibet!“ sagte Ange und reichte dem
treuen Menschen die Hand. „Und nun berichten Sie! Ist alles gut
verlaufen? Wieviel haben Sie empfangen?“

Über Tibets Gesicht flog ein zufriedenes Lächeln; er griff in die
Seitentaschen seines Rockes und legte Ange ein Papier vor, das diese
zwar neugierig betrachtete, aber ohne Verständnis wieder aus der Hand
gleiten ließ.

„Es ist ein Check auf die Firma Erlanger, Frau Gräfin.
Fünfundfünfzigtausend Mark haben wir erhalten.“

„Wie? Fünfundfünfzigtausend Mark? Viel; nicht, Tibet?“ rief Ange naiv
und voller Freude.

„Ich glaube, daß wir mehr bekommen hätten, Frau Gräfin, wenn--“

„Wenn?“

„Die Frau Gräfin wünschten eine rasche Erledigung. Wenn ich das Angebot
in scheinbar längere Überlegung gezogen hätte, würde möglicherweise ein
größerer Preis erzielt worden sein!“

„Vielleicht, vielleicht, Tibet! Aber unter den gegebenen
Verhältnissen--“

„Wenn die Frau Gräfin meine Bitte erfüllt haben würden, wenn ich
vorläufig hätte eintreten dürfen--“

„Nun kommen Sie schon wieder mit den alten Dingen! Ist's denn nicht gut
so? Fünfundfünfzigtausend Mark! Das ist weit über meine Erwartung!
Wieviel meinen Sie, Tibet, daß die Veräußerung meiner Einrichtung
bringen wird? Hatte der Graf versichert? Wissen Sie etwas darüber?“

„Es ist eine sehr große Summe, Frau Gräfin. Ich erinnere mich nicht
genau, wieviel es gewesen ist. Allein die Gemälde im Salon haben einen
bedeutenden Wert.“

„Ah, so daß ich doch nicht ganz eine arme Kirchenmaus sein werde! Wie
hoch belaufen sich unsere Schulden, die rückständigen Zahlungen der
letzten Zeit?“

„Sie sind nicht unbedeutend, Frau Gräfin. Aber falls Frau Gräfin, was
ich nicht hoffe, die Einrichtung veräußern, wird wohl gewiß das Doppelte
von dem herauskommen, was ich heute für die Diamanten erzielt habe.“

„Also viel, Tibet, sehr viel! Nehmen wir an, daß mir hunderttausend Mark
bleiben--werde ich diese wohl behalten, nachdem die Schulden, auch
diejenigen an Baron von Teut, abgetragen sind?--Ja?--Sie wissen
nicht?--Nun, nehmen wir an, daß mir so viel bliebe--wieviel Zinsen giebt
das vom Kapital?“

„Viertausend Mark, wenn dieses sicher angelegt werden soll, Frau
Gräfin.“

„Viertausend Mark--und damit sollten wir uns in einer kleinen Stadt
nicht bescheiden einrichten können? Wie glücklich bin ich, daß
wenigstens das meinen Kindern erhalten bleibt!“

Tibet seufzte. Er schien Anges Hoffnungen keineswegs zu teilen.

„Nun. Sie Zweifler, was ist denn jetzt wieder?“

„Der Herr Baron wird sicher nicht leiden, daß die Frau Gräfin Ihre
Einrichtung verkaufen. Schon wegen der Diamanten werde ich einen
schweren Stand mit ihm haben.“

Aber Tibet bereute, was er gesprochen hatte, denn die Frau, die ihm
gegenüber saß, sagte in einem völlig veränderten und keinen Widerspruch
duldenden Ton:

„Was hat Herr von Teut mit diesen Angelegenheiten zu thun? Ist er mein
Vormund? Ich wünsche durchaus keine Einmischungen in meine
Geldangelegenheiten von seiner Seite. Und damit Sie es wissen, ein für
allemal wissen, Tibet: ich verbiete Ihnen, ohne meinen Willen und meine
Zustimmung dem Baron irgendwelche Mitteilungen über meine Verhältnisse
zu machen. Ja, noch mehr. Wenn ich C., was unmittelbar geschehen wird,
verlasse, darf er meinen Aufenthalt nicht erfahren. Ich würde
irgendwelche Äußerung von Ihrer Seite, die ohne meine Genehmigung
geschieht, als eine Indiskretion, ja als einen Treubruch ansehen, und
Sie würden meine Freundschaft verlieren, die Sie heute in so hohem Grade
besitzen.“

„Frau Gräfin--“

„Und überall und zur Klarstellung über das, was ich unabänderlich
beschlossen, Tibet,“ fuhr Ange, ohne Tibets Einwand zu beachten, in
einer diesem Mann gegenüber vielleicht ungeeigneten, aber ihrer Natur
entsprechenden Offenheit fort, „merken Sie sich folgendes: Sie werden es
verstehen, und ich sage es Ihnen, weil wir uns in diesem Augenblicke
nicht gegenübersitzen als Herrin und Diener, sondern als zwei durch
lange Jahre und nun auch durch ein trauriges Schicksal verknüpfte
Personen. Es giebt niemanden auf der Welt, den ich so hoch schätze wie
den Baron von Teut; er ist mein bester, mein treuester Freund, wie Sie,
Tibet, es meinem verdorbenen Gemahl gewesen sind. Aber die Dauer der
Freundschaft ist fast immer bedingt durch Gleichartigkeit der
Lebensverhältnisse. Da diese sich verändert haben, so könnte unser
bisheriges gutes Einvernehmen Schaden leiden, und um unter allen
Umständen solches zu verhüten, will ich ihn in Zukunft meiden. Ich kenne
ihn. Seine freigebige Hand kann sich nicht schließen, ich aber will
keine Wohlthaten empfangen, und wenn ich hungern sollte! Daraus ergiebt
sich alles. Auch wir müssen uns trennen, mein braver Tibet! Ich vermag
Ihnen nichts zu bieten und darf Sie nicht zurückhalten, sich ein anderes
sicheres Brot zu suchen.“

„Wie--auch mich wollen Sie von sich stoßen, Frau Gräfin?“ rief Tibet.

„Ich will Sie nicht von mir stoßen! Ach, Tibet, ich trenne mich nur
allzu schwer von Ihnen. Aber gestehen Sie selbst! Meine Einnahme wird in
der Folge gering sein, meine Familie ist zahlreich; ich kann Sie nicht
belohnen, wie ich es möchte. Ja, noch mehr: ich kann Ihnen überhaupt
nicht--“

„Ich wünsche auch gar nichts, Frau Gräfin. Ich bitte nur, bei Ihnen und
den Kindern bleiben zu dürfen, die mir ans Herz gewachsen sind.“ Den
Schlußsatz sprach Tibet, dieser unverbesserliche Egoist, nicht ohne
Berechnung. Und er täuschte sich auch nicht bezüglich der Wirkung seiner
Worte.

Immer, wenn die Kinder in Frage kamen, ward Ange wieder schwach oder
schwankend. Sie hingen voll Zärtlichkeit an dem alten Diener des Hauses.
Sie stellte sich vor, wie gut er stets mit ihnen gewesen, wie er ihre
Schwächen kannte und wie günstig er sie stets beeinflußt hatte; ja,
welche Entbehrung eintreten werde, wenn er nicht mehr in ihrer Nähe sein
würde.

Ange schüttelte denn auch nur den Kopf; sie bewegte ihn wie jemand, der
nicht nein und nicht ja zu sagen vermag.

Aber endlich gewann doch das Vernünftige wieder die Oberhand, und sie
sagte:

„Und dennoch nein--nein, Tibet. Sie sind nicht mehr jung--wollen Sie die
besten Ihnen noch bleibenden Jahre sich verkümmern, gar mit der Aussicht
in eine Abhängigkeit treten, welche sicher ein sorgenfreies Alter
abschneidet?“

„Dafür ist gesorgt, Frau Gräfin. Ich habe ein kleines Kapital, wie Sie
aus meinem bescheidenen Anerbieten bereits erfahren haben. Ich strebe
nicht nach Geld! Lassen Sie mich wenigstens vorläufig bei Ihnen bleiben!
Die nächste Zeit erfordert so viel! Zuerst werde ich die ganze
Abwickelung in C. besorgen müssen, dann kommt der Umzug, die
Neueinrichtung, die Eingewöhnung in die neuen Verhältnisse. Das
erfordert gewiß ein Jahr, in dem ich mich Ihnen nützlich machen kann.“

Ange sah dem trefflichen Menschen ins Auge, und eine Thräne der Rührung
stahl sich in ihr eigenes.

„Gut, unter einer Bedingung, Tibet!“ entschied sie, während sie ihre
Empfindungen zurückdrängte „Sie versprechen mir, daß Sie meine vorher
geäußerten Wünsche erfüllen, daß Sie dem Baron von Teut--“

Tibet hatte bei den ersten Worten dankbar das Haupt geneigt, jetzt trat
ein unverkennbarer Ausdruck der Unruhe in seine Züge.

„Nun, Tibet?“ unterbrach sich Ange.

„Darf ich offen sprechen, Frau Gräfin?“

Ange nickte, ergriff einen kleinen Gegenstand, der auf dem Tische lag,
rollte ihn in ihrer Hand auf und ab und horchte mit einem Anflug von
Spannung auf.

„Ich gab Herrn Baron von Teut beim Abschied mein Wort, Frau Gräfin, ihm
von allem Mitteilung zu machen, was die gräfliche Familie anbeträfe. Ich
meine,“ setzte er schnell auf einen stolzen Blick aus Anges Augen hinzu,
„ihm sogleich Nachricht zu geben, wenn bei den einmal begehenden
Verhältnissen Ungelegenheiten eintreten sollten. Ich versprach es nach
einigem Zaudern, denn früher--damals, als der Herr Baron zuerst ins
Hauswesen eingriff--hatte ich jede derartige Zumutung abgelehnt. Nun
wußte ich sicher, daß ich etwas Gutes, Ihnen nur Nützliches damit
bewirken könne, und sagte zu, was er von mir wünschte. Aber noch etwas
anderes, Frau Gräfin: der Herr Baron ist, soviel ich weiß, von dem
seligen Herrn Grafen zum Vormund der Kinder eingesetzt, und derselbe hat
ihm auch Vollmacht gegeben, Ihre Vermögensangelegenheiten selbständig in
die Hand zu nehmen. Haben Sie nichts in dem letzten Willen des Herrn
Grafen--in seinem Testament gefunden?“

„Ah!“ murmelte Ange erregt und wie abwesend vor sich hinstarrend.

„Und zudem, Frau Gräfin,“--fuhr Tibet, Mut gewinnend, fort--„welchen
Nutzen wird es haben, wenn Sie alles verkaufen? Sie bedürfen doch einer
Einrichtung, auch an einem anderen Ort! Und glauben die Frau Gräfin
nicht, daß der Herr Baron bald ausfindig machen wird, wo Sie sich
aufhalten, und wird er nicht--“

Ange erhob sich und ging unruhig im Zimmer auf und ab.

Sie rückte an den mit Plüsch bezogenen Stühlen, zupfte an der Tischdecke
und stieß mit dem kleinen Füßchen ein Schnitzelchen Papier unter das
Sofa.

„Nein!“ sagte sie und richtete sich empor. „Ich weiß nichts von diesem
letzten Willen meines Gemahls, und ich fand nichts Derartiges unter
seinen Papieren. Wozu sollte das auch dienen? Bin ich nicht selbst der
natürliche Vormund meiner Kinder?“ Und nach kurzer Pause fuhr sie, in
ihren naiven Ton zurückfallend, fort: „Müßte ich mich denn fügen, wenn
wirklich ein solches Abkommen vorhanden wäre?“

„Ohne Zweifel, Frau Gräfin.“

„Nun, dann mag es sein! Mag der Vormund raten, aber--“

Ange fiel in den Sessel zurück und bewegte in starker Erregung den Kopf.
Was sie eben gesprochen, hatte sich unwillkürlich hervorgedrängt. Es war
nichts, was an Tibet gerichtet war. Er verstand dies auch, denn er
schwieg taktvoll.

„Meine Kinder sollen“--hob Ange von neuem an--„etwas Tüchtiges lernen,
und wenn es ein Handwerk ist. Je früher sie leistungsfähige Menschen
werden, desto eher werden sie sich ihr Brot verdienen können. Darauf
wird sich meine Sorge richten müssen. Freilich, für die Mädchen ist es
schwer!

Ich werde sehen, was sie zu begreifen und später nützlich zu verwerten
vermögen. Das ist mein Plan und mein unumstößlicher Entschluß. Wo ich in
Ehren mir Erleichterungen verschaffen kann--Erleichterungen, die man
Unbemittelten in den Schulen durch Stipendien in ähnlichen Fällen
gewährt, werde ich sie suchen. Komme ich in die Lage, ein Darlehen zu
nehmen, so werde ich das als ein Geschäft betrachten--kurz, Tibet, ich
gehe meinen eigenen geraden Weg, und nichts, nichts wird mich davon
zurückbringen oder abhalten!“

„Gewiß, gewiß, Frau Gräfin,“ bestätigte Tibet einlenkend und voll
Staunens. War das dieselbe Frau, die er seit so vielen Jahren in fast
hilfloser Weise sich hatte bewegen sehen, die immer wie ein
unerfahrenes, von jedem Impuls getriebenes Wesen gehandelt, die selbst
einem Teut seiner Zeit das um ihrer Kinder willen abgebettelt, was sie
doch als recht und vernünftig erkannt hatte!?

Er machte, von der Entschiedenheit ihres Wesens betroffen, auch
fernerhin keinen Einwand mehr, verneigte sich nur stumm und bat, ihn
wegen der Reisevorbereitungen zu entlassen.--

Die Nachwirkung der vorhergegangenen Aufregung trat erst später bei Ange
ein. Zunächst hielt sie noch die Sehnsucht nach den Kindern, dann die
freudige Erwartung des Wiedersehens aufrecht.

Als der Zug sich am Tage der Rückkehr C. näherte, als Ange sich
vorstellte, alle ihre Lieblinge am Bahnhofe wiederzusehen, klopfte ihr
das Herz so gewaltig, daß ihr fast der Atem stockte: und als endlich das
Ziel erreicht war, als die Kinder ihre Händchen ausstreckten und sie
beim Aussteigen küssend und jubelnd umringten, da erschien Ange alles,
was vorgegangen, geringfügig gegen diesen Augenblick des Glücks.

       *       *       *       *       *

Ange hatte bereits auf der Rückfahrt noch einmal mit Tibet überlegt,
welche Schritte für die Zukunft einzuschlagen seien. Sie blieb dabei,
ihren Haushalt aufzulösen und C. zu verlassen; Tibet sollte nicht nur
mit dem Besitzer der Villa wegen einer früheren Auflösung des
Mietvertrages sprechen, sondern auch die Dienerschaft sofort entlassen.
Das sämtliche entbehrliche Mobiliar, Pferde und Wagen, alle Kunst- und
Luxusgegenstände wollte Ange veräußern und sich mit dem Erlös aus diesen
und anderen zu verkaufenden Gegenständen in eine kleine Stadt
zurückziehen. Über den Ort hatte sie sich noch nicht schlüssig gemacht.
Jeder Tag, an welchem der kostspielige Haushalt fortdauerte, schmälerte
das Kapital, das Ange unter Berücksichtigung der noch zu lösenden
Verpflichtungen endlich verbleiben konnte.

Eine Stütze fand sie in dem Polizeimeister von C., dem sie gleich nach
ihrer Rückkehr einen Besuch machte, um ihm für seine erfolgreiche Hilfe
zu danken. Er riet ihr, vor der öffentlichen Veräußerung der Einrichtung
abzurufen, und versprach, mit Rat und That beizustehen. Auch überlegte
er in einer längeren Unterredung mit ihr den Wohnort und gab Ange
Ratschläge, die ihr bei ihrer Unerfahrenheit von großem Nutzen waren.

Anges Entschlüsse wurden auch nicht erschüttert, als nun an einem
Morgen endlich zwei Briefe einliefen, von denen einer von Teut selbst
mit zitternder Hand geschrieben war und die Worte enthielt: „Heute nur
mein innigstes Beileid, liebe Ange; Carlos' Tod hat mich aufs tiefste
ergriffen. Ich bin voll Sorge daß ich nicht jetzt bei Ihnen sein kann,
um Sie zu trösten und Ihnen helfend zur Seite zu stehen. Aber ich liege
schwerverwundet darnieder und--“

Hier brach das Schreiben ab, dem nur noch ein undeutliches A.v.T. später
hinzugefügt war.

Der zweite Brief, der von Teuts Diener Jamp abgefaßt und einige Tage
später abgesandt war, teilte im Auftrage des Herrn Rittmeisters mit, daß
die Geschäftsangelegenheiten geordnet werden würden, daß der Herr
Rittmeister neuerdings einen Rückfall gehabt habe, daß der Herr
Rittmeister den Kindern Grüße sende und daß der Herr Rittmeister
ausführlicher schreiben werde, sobald er nur wieder bei Kräften sei.

Ja, einige Tage später kam noch ein Schreiben, das folgendermaßen
lautete:

„Frau Gräfin werden verzeihen, wenn ich nochmals schreibe, indem Herr
Rittmeister neulich stark phantasierten, und sollte ich heute Frau
Gräfin schreiben, daß ich nach Herrn Rittmeisters Verwalter geschrieben
hätte, alles für Frau Gräfin auf Schloß Eder in Bereitschaft zu setzen,
und Frau Gräfin so gut sein möchten, dahin abzureisen, aber Herrn
Verwalter vorher in ergebende Kenntnis zu setzen, wann Frau Gräfin
einträfen.

Herr Rittmeister raten Frau Gräfin nichts zu unternehmen, zu thun, bis
Herr Rittmeister wieder gesund sind, aber bald abzureisen.

In Ehrerbietung und Gehorsamkeit

Jamp.“

Als Ange diesen Brief gelesen hatte, überwältigte sie ihr Gefühl;
Teilnahme und Rührung kämpften in ihrem Inneren. „Ich wußte es ja, ich
wußte es ja,“ murmelte sie, „Du unvergleichlicher Freund würdest meiner
gedenken, selbst in eigener Not. Im größten Körperschmerz, im Fieber,
vielleicht nur auf Minuten mit klarem Bewußtsein, hattest Du Gedanken
für mich und rafftest Dich um meinetwillen auf. O, Du Trefflicher,
Unvergleichlicher!“

Und nun drängte Tibet noch einmal, Teuts Rat zu befolgen, nichts zu
verkaufen, nur die Dienerschaft zu entlassen und höchstens die
überflüssigen Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände bis auf
spätere Entscheidung zu verpacken und beiseite zu stellen.

Aber Ange Clairefort hatte zu Furchtbares erfahren, um noch an äußeren
Dingen zu hängen.

Nicht nur die einschneidenden Gegensätze: die Gefahren des Reichtums,
des sorglosen Genießens, die Wandelbarkeit des Glückes, die
Vereinsamung, die den Unglücklichen trifft, hafteten in ihrem
Inneren--auch der Adel ihrer Gesinnung widersetzte sich, heute noch
etwas anderes zu scheinen, als sie war. Sie wußte ja, was sie besaß, und
die Ehre gebot, fortan alles abzuweisen, was Luxus und Wohlleben hieß.

„Kommt, Kinder,“ sagte sie an demselben Abend zu ihren Kleinen, die sie
umringten und die sie heute bei der Erinnerung an frühere Zeiten: an
Carlos' Tod und Teuts schwere Krankheit in ihrer überströmenden
Empfindung so oft, und scheinbar ohne Anlaß an die Brust gedrückt hatte.
„Bevor ihr einschlaft, faltet die Hände und betet recht inbrünstig zum
lieben Gott, daß er Onkel Axel bald gesund machen möge. Er ist im Kriege
verwundet, liegt gefährlich krank und bedarf Eurer kindlichen Fürbitte.“

       *       *       *       *       *

Einige Tage nach der Frankfurter Reise saß Tibet um die Abendzeit eifrig
schreibend in seinem Zimmer. Man hätte ihn auf den ersten Blick kaum
wiedererkannt. In dem Hausrock, welchen er gegen den schwarzen Frack
vertauscht hatte, den er allezeit zu tragen pflegte, wirkte seine
Erscheinung ganz fremdartig.

Aber die peinliche Ordnung in dem wohnlichen Gemach stand im Einklang zu
dem bedächtig arbeitenden Manne mit dem hageren glatten Gesicht, in dem
sich Ernst und Nachdenken spiegelten. Langsam, oft innehaltend und
überlegend, schrieb er nieder, was durch seine Gedanken ging.

Als er seine Arbeit beendet hatte, waren es viele Stunden nach
Mitternacht geworden. Nun las er noch einmal den Brief durch, und fügte
hier und dort ein Tüttelchen und ein fehlendes Komma hinzu. Das lange,
sorgfältig verfaßte Schreiben war an Teut gerichtet und lautete in
überraschend glatter Form, wie folgt:

„Hochzuverehrender Herr Baron!

Ihrem Befehl und meiner Zusage entsprechend, verfehle ich nicht, Ihnen
heute Nachgehendes ganz gehorsamst zu melden:

Ich sende voraus, daß mich unliebsame Zwischenfälle und Abhaltungen
zögern ließen, Ihnen früher Bericht zu erstatten. Ich fürchte, und noch
jetzt stehe ich unter diesem Eindruck, daß Ihnen entweder mein Schreiben
vorenthalten werden würde oder daß sein Inhalt Ihnen eine schädliche
Aufregung bringen könnte.

Ich muß aber mein Bedenken niederschlagen wegen der eingetretenen
Umstände und gebe mich der Hoffnung hin, daß ich für alle Beteiligten
das Richtige erwähle, wenn ich meine Zeilen an Sie absende. Ich befinde
mich zudem in einem Zustande des Zweifels, der mich solchergestalt
bedrückt, daß ich gleichzeitig auch um meinetwillen Ihnen die
Verhältnisse darlegen muß.

Als Sie, gnädiger Herr, C. verließen, trat ich gewissermaßen in Ihre
Dienste, und Sie nahmen mir das Wort ab, in dieser Stellung nur das
Beste für meine Herrschaft, die gräfliche Familie, im Auge zu behalten.
Sie gaben mir genaue Instruktionen und banden mich durch mein Wort, daß
unser eigentliches Verhältnis, wenn es mir gestattet sein darf, diesen
Ausdruck zu gebrauchen, ein Geheimnis zwischen uns bleibe.

Unter den Gesichtspunkten, unter denen Sie mich mit Ihrem Vertrauen
beehrten, glaubte ich nicht nur nichts Unrechtes zu thun, sondern gerade
wie ein gewissenhafter Freund gegen die gräfliche Familie zu handeln.

Ich nehme mir die Freiheit, dies zu rekapitulieren, weil die
eingetretenen Umstände entweder neue Instruktionen erforderlich machen
oder ich meines Wortes entbunden werden muß.

Wenn ich nun zunächst über die Vorgänge seit dem Tode des Herrn Grafen
zu berichten mir gestatte, so bitte ich von vornherein zu verzeihen, daß
ich Dinge berühre, über die auszulassen, mir im Grunde nicht beikommt.
Aber nur durch Erwähnung dieser werden Sie, gnädiger Herr, einen
richtigen Einblick in die gegenwärtige Lage gewinnen und mir zweckmäßige
Befehle erteilen können.

In meinen ersten beiden Schreiben hatte ich die Ehre zu melden, daß der
Herr Graf ohne Zweifel durch tödlich starke Dosen Morphium und Chloral
seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe.

Sodann berichtete ich, daß das Bankhaus die Zahlungen an uns
eingestellt. Ich weiß nicht, ob Ihnen das zweite Schreiben zugegangen
ist. Die Frau Gräfin befanden sich in einem sehr traurigen Zustande, der
zwischen heftigem Schmerz und Ausbrüchen des Vorwurfs gegen den
verstorbenen Herrn Grafen und mich selbst wechselte. Den Höhepunkt
erreichte die Erregung der Frau Gräfin, als ich--ich bitte, mich deshalb
nicht zu verdammen--derselben Mitteilung machen mußte, wie die
gegenwärtige Vermögenslage sei, und welche Stellung Sie, gnädiger Herr,
zu dieser bereits eingenommen hätten.

Frau Gräfin befahlen mir zu sprechen; ich stand bei Stillschweigen vor
der Wahl einer falschen Beurteilung, Ungnade und Entlassung.

Es handelte sich um Geld; wir hatten keines. Ich mußte also die
monatliche Rate einfordern und mich rechtfertigen, als ich wegen
ungenügender Quittung mit leeren Händen zurückkehrte. Die Hergabe meiner
kleinen Ersparnisse wies die Frau Gräfin wiederholt schroff zurück.

Nach allem wenden Sie, gnädiger Herr, verstehen, daß einer Erklärung gar
nicht auszuweichen war. Trotz all meiner Vorstellungen bestand Frau
Gräfin nach Einblick in ihre trostlosen Verhältnisse auf Veräußerungen
ihrer Diamanten und sonstigen Schmuckgegenstände.

Ich gelange nun zu demjenigen Punkt, bei dessen Erwähnung ich Ihre
Nachsicht, gnädiger Herr, einholen muß: die Frau Gräfin erklärte mir auf
das bestimmteste, daß sie ihren Hausstand aufzulösen wünschte und aus
dem Erlöse ihrer überflüssigen Wertgegenstände gesonnen sei, neben den
übrigen Verpflichtungen in erster Linie diejenigen gegen den Herrn Baron
abzulösen.

Die Frau Gräfin äußerte, daß diese Vorschüsse sie im höchsten Maße
bedrückten, und daß sie lieber Not leiden wolle, als irgend welche
Darlehen oder gar Freundesgaben aus Ihrer Hand fernerhin empfangen. Das
Freundschaftsverhältnis zu Ihnen, gnädiger Herr, das unter den
bisherigen gleichen Lebensverhältnissen ein so gutes gewesen sei, könne
Schaden leiden, und Frau Gräfin zögen es daher vor, sich Ihrer
freundschaftlichen Hilfe (da diese ohne Zweifel auf Ratschläge sich
nicht beschränken werde) nicht mehr zu bedienen, sondern sogar Ihnen in
Zukunft fern zu bleiben. Die Frau Gräfin, die C. verlassen und nach
einem kleinen, noch nicht feststehenden Orte übersiedeln will, um sich
dort mit den ihr bleibenden Mitteln einzurichten, stellten sogar das
Ansinnen an mich, Ihnen nicht zu verraten, wohin sie gehen werde, und
nehmen als selbstverständlich an, daß ich Ihnen auch sonst keinerlei
Mitteilungen zukommen lassen würde.

Da Frau Gräfin sich so sehr gegen alles, was sich ihrem Entschlusse
entgegenstellen könnte, auflehnt, bin ich völlig machtlos. Um die
erwähnten Pläne auszuführen, bleibt ja allerdings nichts anderes übrig,
als den gegenwärtigen Besitz zu Geld zu machen. Ich schätze die
Zinseneinnahme in Zukunft auf kaum viertausend Mark, welches einem baren
Kapital von hunderttausend Mark entsprechen würde.

Was befehlen Sie nun, gnädiger Herr?

Soll ich scheinbar den Verkauf zulassen und etwa das Ganze ohne Wissen
der Frau Gräfin für des Herrn Baron Rechnung ankaufen? In solchem Falle
ist schnelle Instruktion erforderlich. Ferner: Wie soll ich mich in
Zukunft verhalten? Darf ich noch mit dem Herrn Baron korrespondieren?
Soll ich nach der Neuordnung aller Verhältnisse den Dienst bei der Frau
Gräfin verlassen?

Wenn ich die letztere Frage aufwerfe, so bitte ich diese nicht
mißzuverstehen. Ich habe mich gegen die Frau Gräfin bereit erklärt, ohne
Entschädigung zu bleiben, und würde mich nur entfernen, wenn der Herr
Baron darin etwas Zweckmäßiges für die Frau Gräfin erkennen würden. Mir
ist dies zur Zeit allerdings als vorteilhaft nicht ersichtlich.

In jedem Falle werden Sie, gnädiger Herr, gewiß verstehen, daß ich kein
doppeltes Spiel treiben kann und mich eines wirklichen Vertrauensbruches
schuldig machen würde, wenn unsere Verabredungen ganz in der bisherigen
Weise bestehen bleiben.

Sofern es meine Befugnis nicht überschreitet, möchte ich mir den
gehorsamen Vorschlag gestatten, daß ich bei der Frau Gräfin ausharre,
aber nichts thue, was mit den Entschließungen der Frau Gräfin in
Widerspruch gerät, und somit nur in dem Sinne zur Verfügung des Herrn
Baron bleibe, daß ich nach besten Kräften über das Wohlergehen der
Familie wache. Wenn ich die Hand dazu biete, das Eigentum der Frau
Gräfin für Rechnung des Herrn Baron zu erwerben, so glaube ich, dadurch
nicht unehrlich gegen die Frau Gräfin zu handeln.

Nochmals bitte ich um Verzeihung, meine Befugnisse durch Darlegung
persönlicher Anschauungen und durch die Berührung intimer Verhältnisse
überschritten zu haben, und hoffe im übrigen, daß der gnädige Herr aus
meinen Darlegungen ein richtiges Bild zu gewinnen vermögen.

Ich empfehle mich dem ferneren Wohlwollen und der Nachsicht des gnädigen
Herrn und erwarte weitere Befehle.

Ganz gehorsamst

Tibet,

Kammerdiener.“

Bereits am nächsten Morgen begann Ange mit den Vorbereitungen zu ihrem
Umzuge und ward bei diesen von Tibet eifrigst unterstützt. Es galt eine
Auswahl unter denjenigen Gegenständen zu treffen, welche veräußert
werden und welche der künftigen Wohnungseinrichtung dienen sollten. Zu
diesem Zwecke wurden zunächst einige Räume leer gemacht, und nun begann
das Wählen. Claireforts Zimmer beschloß Ange zu behalten, ebenso wurden
die Möbel aus dem Zimmer der Kinder für den ferneren Gebrauch
zurückgestellt. Dazu kamen noch die Kücheneinrichtungen und all
derjenige Hausrat, durch den sich eine Wohnung in bescheidener Weise
vervollständigt.

Tibet war plötzlich ganz gefügig und erhob nicht einen einzigen Einwand.
Er fertigte eine genaue Liste für den Auktionator an und machte mit
Hilfe der noch vorhandenen Dienerschaft eine so übersichtliche
Aufstellung, daß schon nach wenigen Tagen die Arbeit im wesentlichen
beendet war.

Sodann beriet er mit Ange, wie alles übrige abzuwickeln sei, verhandelte
mit dem Hausbesitzer und mit dem Personal, einigte sich mit jenem,
entließ dieses sogleich bis auf eins der Mädchen, welches in Anges
Diensten zu bleiben wünschte, und beglich auch alle Rechnungen, welche
zu bezahlen waren. Es erübrigte nun nur noch die Summe, welche die
Familie von Teut empfangen hatte, und bevor Tibet diese zu dem Banquier
trug, hatte er noch eine Unterredung mit Ange, in welcher auch der
zukünftige Wohnort zur Erörterung gelangte.

Ange war nicht minder thätig gewesen, wenn auch alles nach ihrer
besonderen Art geschah. Sofern sich in den hohen Bergen von unnützen
Kleinigkeiten und Firlefanzereien etwas befand, das der Kinder Verlangen
reizte und das sie wieder hervorzogen, konnte Ange ihren Bitten nicht
widerstehen und packte es in die ohnehin schon mit vielen
Überflüssigkeiten belasteten Koffer.

Bisweilen hielt sie inne und vergaß, was sie eben beschäftigt hatte. Bei
diesem und jenem Gegenstand kamen ihr Erinnerungen, die ihre Gedanken
ganz in Anspruch nahmen, und Vergleiche stiegen auf zwischen heute und
früher. Da stahlen sich denn häufig Thränen ins Auge, und mutlos ließ
sie die Arme sinken.

Oft wunderte sie sich, daß alles so glatt verlief, daß niemand Einspruch
erhob, wenn sie etwas anordnete. Früher handelten andere für sie, sie
ließ sich belehren und befolgte zweckmäßige Ratschläge. Ange hatte es
als selbstverständlich angesehen, daß sie die Dinge nicht verstand und
daß ihre Umgebung für sie handelte. Jetzt fiel ihr plötzlich ein, wie
schwer es doch eigentlich sei, praktisch einzugreifen, und fast wunderte
sie sich, daß sie so ruhig und besonnen in Frankfurt aufgetreten sei.
Also, sie vermochte es doch! Daran richtete sich denn ihr gesunkener Mut
wieder auf.

Gewiß, wenn erst alles in dem neuen Geleise sein werde, würde sie
vorsichtig überlegen, nicht mehr nach plötzlichen Impulsen handeln,
sich's vernünftig und sparsam einrichten und auch das Kleine achten. Ihr
Kopf war voll von Plänen und guten Vorsätzen, und ihre Zuversicht wuchs,
bis dann die Kinder mit ihren berechtigten und unberechtigten
Bedürfnissen vor ihr auftauchten und sie vorübergehend doch voll Zweifel
in die Zukunft blickte.

„Nun, mein lieber Tibet!“ sagte Ange und ließ sich in Carlos' Zimmer,
das gegenwärtig als Wohngemach diente, ermüdet und abgespannt in einen
Sessel gleiten. „Haben Sie auch die Zahlung an Herrn Baron von Teut
bereits geleistet oder müssen wir diese verschieben, bis die Auktion
stattgefunden hat?“

„Wenn Frau Gräfin wirklich meinen, daß auch dieser Betrag--“

„Wenn--Tibet!--Dieser Betrag steht in erster, in gleicher Linie mit
allen übrigen! Natürlich! Darüber habe ich Ihnen meine Ansicht bereits
wiederholt ausgesprochen. Ich komme nur auf diesen Gegenstand zurück,
weil die Summe hoch ist und ich nicht weiß, ob gegenwärtig schon unsere
Mittel reichen.“

„Allerdings, Frau Gräfin, es scheint durchaus ratsam, daß wir warten. Um
so mehr möchte ich dies vorschlagen, weil gerade Umzug und
Neueinrichtung viel größere Summen verschlingen werden, als wir in
vorläufige Berechnung gezogen haben. Unser Bestand schmolz schon
gewaltig zusammen--ganz gewaltig.“

„Nun wohl! Wir haben aber keine Schulden mehr? Alles ist bezahlt?--Welch
ein Wort!“

„Ganz recht, Frau Gräfin! Indessen--“

„Nun?“

„Es wird mir recht schwer--ich möchte die Frau Gräfin nicht entmutigen,
aber ich fürchte, wir behalten bei weitem nicht die ursprünglich
gedachte Summe, aus deren Zinsen Sie sich einrichten müssen. Ich bin
besorgt, Frau Gräfin, und muß deshalb die Frage in Ihrem Interesse
nochmals anregen, ob es nicht doch zu überlegen sein würde, die
Vorschüsse des Herr Baron einstweilen auf sich beruhen zu lassen.“

Auf Anges Gesicht malten sich Schrecken und Enttäuschung zugleich. Nach
einer kurzen Pause fragte sie, und aus dieser Frage klang der Zwang
hervor, den sie sich anthun mußte:

„Wie hoch beläuft sich--doch noch--der Betrag, welchen wir Herrn Baron
von Teut schulden?“

Tibet gab Antwort.

„Das ist sehr viel!“ sagte sie kaum hörbar und ganz mit ihren Gedanken
beschäftigt.

„Vielleicht der fünfte Teil alles dessen, was Ihnen bleibt, Frau
Gräfin.“

„Und wieviel glauben Sie, Tibet, daß mir im schlechtesten,
allerschlechtesten Falle an Zinsen werden könnte?“

„Ich erlaubte mir, Frau Gräfin, schon auf der Reise auseinandersetzen,
daß bei wirklich sicherer Geldanlage nur auf einen Zins von vier Prozent
gerechnet werden darf.“

„Und Sie meinen wirklich, das ursprünglich angenommene Kapital würde mir
nicht einmal bleiben?“

„Ich fürchte, nein, Frau Gräfin--wenn Herr von Teut bezahlt werden soll!
Die Frau Gräfin können nach den vorgelegten Quittungen selbst
berechnen.“

Ange konnte eigentlich nicht berechnen, aber sie nickte und schwieg.

„Wieviel braucht wohl im Durchschnitt eine gebildete Familie mit fünf
Kindern unter bescheidenen Verhältnissen, Tibet?“ hob sie nach einer
kleinen Pause an.

Mit der Beantwortung dieser Frage fielen alle Illusionen, welche Ange
sich bisher gemacht hatte. Tibet litt bei diesen Gesprächen. Vielleicht
fühlte er sogar noch tiefer als Ange den Schmerz, die Enttäuschung,
obgleich er scheinbar so teilnahmlos die Wahrheit ans Licht zu ziehen
bemüht war. Er gewann es auch nicht über sich, der mut- und
trostbedürftigen und mit so guten Vorsätzen ihr neues Leben beginnenden
Frau den Vorhang ganz hinwegzuziehen. Er umging ihre Frage und
erwiderte:

„Es kommt ja sehr auf die Stadt an, ob das Leben teuer oder billig ist.
In kleinen Städten gestaltet sich alles besser.“

„Es ist wohl fast ein Unterschied um die Hälfte?“ fiel Ange hoffend und
lebhaft ihre eigenen Worte bestätigend, ein.

„Ich möchte es glauben, Frau Gräfin.“

„Ich weiß nicht, wie ich's richtig mache, Tibet. Nur so viel ist mir
klar, daß ich keinen ruhigen Tag, keine ruhige Stunde haben werde, wenn
ich Schulden besitze, wenn namentlich--“ sie stockte und fuhr dann fast
heftig fort: „Wir müssen Herrn von Teut zahlen, was er meinem Gatten
geborgt hat, sobald die Dinge hier geordnet sind; wie's auch immer sein
mag! Werde ich weniger besitzen, werde ich doch das unvergleichliche
Bewußtsein haben, niemandem mehr verpflichtet zu sein!“

Und nach dieser vorläufig alle Gegeneinwendungen abschneidenden
Entscheidung verbeugte sich Tibet und brachte das Gespräch auf Umzug und
Wohnort.

„Haben die Frau Gräfin schon eine Entscheidung getroffen? Bleibt es
Eisenach, wozu der Herr Polizeimeister geraten?“

Ange bestätigte.

„Es würde sich dann wohl empfehlen, daß ich zunächst dahin abreise, um
eine Wohnung zu mieten, und dann wieder zurückkehre, um hier den Verkauf
des Mobiliars zu beaufsichtigen. Ich weiß nun aber nicht, ob ich der
Frau Gräfin Wünsche bezüglich dieser treffen werde. Vielleicht
entschließen Sie sich, die Reise ebenfalls anzutreten.“

Das Gespräch wurde unterbrochen, weil die beiden Knaben herbeigeeilt
kamen, die draußen auf der Straße gespielt hatten. Ihre Mienen waren
betroffen, und Ben kam zorngerötet ins Zimmer gelaufen.

„Was ist? Was habt Ihr?“ fragte Ange besorgt.

„Der--der--Karl von drüben--vom Krämer sagt, daß--“ hob Ben an.

„Wir haben uns gestritten; er stieß, ich stand Ben bei!“ fiel Fred ein.

„Nun?“

„Er sagte, wir wären schöne Grafen. Mama hätte nicht mal die Rechnung
bezahlt. Sein Vater könnte kein Geld kriegen und die anderen auch
nicht--“

„Er schimpfte; er brauchte Ausdrücke von uns--na, ich hab's ihm
gegeben!“ ergänzte Ben.

Ange sah Tibet fragend an, und Blässe trat auf ihre Wangen. Tibet
verstand und nahm rasch das Wort:

„Es ist alles--das letzte schon gestern bezahlt, Frau Gräfin!“

„Ah!“ riefen beide Knaben zu gleicher Zeit, und ihre Blicke flammten.
„Dem wollen wir's geben!“

„Nicht so, nicht so, Kinder!“ rief Ange angstvoll, aber suchte sich in
Gegenwart der Knaben zu fassen. „Laßt den Streit! Geht ruhig Eures Weges
und meidet die Nachbarskinder. Hört Ihr? Ihr hörtet, daß er die
Unwahrheit sprach. Und nun geht! Ich habe noch mit Tibet zu sprechen.“

Die Knaben entfernten sich gehorsam, aber noch erregt und lebhaft
sprechend.

„Es wird Zeit, daß ich fortkomme,“ rief Ange. „Je eher, je besser; es
brennt der Boden unter mir. Was die Menschen wohl alles reden! Wie sie
sich mit uns beschäftigen! Schon bei dem Gedanken steigt mir das Blut in
die Schläfen.--Wann können Sie reisen, Tibet?“

„Heute--Morgen, Frau Gräfin--“

„Gut, also morgen! Sie werden eine Wohnung wählen und rasch
zurückkehren. Wollte Gott, ich säße schon an einem anderen Ort und fände
endlich Ruhe und--“ Ange brach in heftige Thränen aus.

„Es wird alles gut werden, Frau Gräfin! Gewiß, gewiß! Sie sollten sich
durch dergleichen Dinge nicht aufregen!“ besänftigte Tibet, heftete
einen besorgten Blick auf seine Gebieterin und suchte bescheiden ihr
Auge, um in diesem zu lesen, daß seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt
hätten. Wirklich stahl sich ein Lächeln um Anges Mund bei Tibets
Worten; es war aber ein trauriges Lächeln.

       *       *       *       *       *

Nach den vorerwähnten Ereignissen war reichlich ein halbes Jahr
verflossen, als an einem warmen Juniabend des Jahres 187- zwei Männer in
dem kleinen Gärtchen saßen, welches zu dem sogenannten Sommerhause des
Hotels „Zur Rose“ in Wiesbaden gehört.

Auf dem im Freien gedeckten Tische standen die Reste eines reichlichen
Abendessens, und eben hatte der Kellner ein Licht gebracht, mit dem die
Cigarren entzündet worden waren.

„Hm, hm,“ sagte der Major von Teut--denn er war es--zu dem ihm
gegenübersitzenden Manne und blies den Rauch einer starken Cigarre nach
seiner Gewohnheit durch die Nase. „Das klingt ja alles so gut und
doch wieder auch so ernst, wie ich's mir gedacht habe. Aber
vielleicht--zunächst--wer weiß--war's auch besser so!?--Was haben Sie
denn der Gräfin über Ihre Reise gesagt? Wie haben Sie diese begründet?“

„Ich gab vor, daß ich die Meinigen besuchen wolle.“

„Ah! Sie haben Familie, Tibet? Das ist mir ja ganz neu! Auch der
verstorbene Graf und die Gräfin haben mir nie davon gesprochen.“

„Sie wußten auch davon nichts, gnädiger Herr.“

Teut wollte diesen Gegenstand offenbar des näheren berühren, denn er
blickte fragend empor. Aber ein anderer Gedanke überholte, was sich ihm
eben aufgedrängt hatte. Er sagte abbrechend: „So, so--Aber noch eins!
Wie haben Sie es angefangen, daß die Gräfin nichts von all den kleinen
Hinterlisten gemerkt hat? Glaubt sie, daß ihre Einnahme bisher immer
reichte, und daß sie lediglich durch ihre Sparsamkeit alles gut gemacht
hat?“

Über das immer noch bleiche Gesicht des Sprechenden flog ein fragendes
Lächeln, und er strich den Schnurrbart in sichtlicher Spannung.

„Allerdings, aber es hat mancherlei Künste gekostet, gnädiger Herr!“
entgegnen Tibet, und in der Erinnerung des falschen Spiels, das er
getrieben, sichtlich bedrückt. „Anfänglich, damals, als Sie auf meinen
Brief antworteten und mir Verhaltungsmaßregeln gaben, war ich
zweifelhaft, ob's möglich sein werde, diese auszuführen. Ich mußte mir
erst alles zurechtlegen und förmlich ausklügeln, wie ich dem Argwohn der
Frau Gräfin begegnen könne. Wenn ich Einkäufe machte, erklärte ich, die
Waren seien im Preise gesunken, und die Frau Gräfin sah mich dann groß
an und machte ein zufriedenes Gesicht. Im Anfang freilich wollte sie
überhaupt nichts von dergleichen hören. Ich erlaubte mir den Vorschlag,
daß ich wie früher die Wirtschaft besorgen dürfe, und that dies
insbesondere, weil ich dann alles ohne Schwierigkeit einrichten konnte.
Aber darauf wollte die Frau Gräfin nicht eingehen. Sie müsse die Dinge
selbst übersehen, meinte sie, sonst könne sie nicht wirtschaften lernen.
Mit der Miete hätte sich bald alles verraten. Ich machte, des gnädigen
Herrn Befehl folgend, dem Wirte Mitteilung, daß er von uns nur die
Hälfte erhalten, daß das übrige anderweitig berichtigt werden würde. Ich
nahm ihm das Versprechen ab, gegen die Frau Gräfin Stillschweigen zu
beobachten und auch seine Umgebung zu verständigen. Eines Morgens nun
unterhielt sich die Frau Gräfin mit einem Einwohner, und bei dieser
Gelegenheit war von den Wohnungen in Eisenach die Rede. Da äußerte
dieser die unsere sei nicht billig, während die Frau Gräfin gerade ihrem
Erstaunen Ausdruck gab, wie preiswürdig dieselbe sei. Ein Wort gab das
andere. Endlich ward ich herbeigerufen und bestätigte die Aussagen
meiner Herrin. Als jener sich entfernt hatte, betrachtete mich die Frau
Gräfin bereits mit einigem Mißtrauen und brach endlich in die Worte
aus: ‚Haben Sie gehört? Er hat vor uns dies Haus bewohnt und das
Doppelte bezahlt. Wie ist es möglich, Tibet, daß Sie die Villa um die
Hälfte mieten konnten?‘--‚Die Frau Gräfin haben ja den Mietskontrakt in
Händen,‘ erwiderte ich, als ob ich den eigentlichen Sinn dieser
Nachfrage gar nicht verstanden hätte. Kopfschüttelnd ging die Frau
Gräfin davon. Schon fürchtete ich, daß alles würde entdeckt werden.“

„Und das Schulgeld?“ fragte Teut, der mit größter Aufmerksamkeit
zugehört hatte. „Wie haben Sie das gemacht?“

„Ich habe gleich das ganze Semester bezahlt und der Frau Gräfin
gesagt--“--Tibet hielt inne, dunkle Schamröte färbte seine Wangen--„daß
der Direktor auf meine Vorstellung dasselbe erlassen habe.“

„Und das glaubte die Gräfin?“

„Vorläufig ja, Herr Baron. Aber ich zittere doch jeden Tag, daß es ans
Licht kommt, und dann--“

„Und Steuern?“ fragte Teut und konnte sich des Lächelns nicht erwehren,
weil er wie ein Beichtvater alle Vergehen aus dem armen Sünder
herausholte.

„Die habe ich gar nicht erwähnt! Davon hat die Frau Gräfin keine Ahnung.
Ich fing den Steuerboten ab und--“

„Und drohten ihm mit allen Folterqualen der Hölle, wenn er noch einmal
erscheine?“ schaltete Teut mit gutmütigem Spotte ein.

„Ja, Herr Baron, Sie können wohl scherzen.“ sagte Tibet, nun wieder von
dem Ernst und der Verantwortlichkeit seiner Aufgabe erfaßt. „Aber Sie
mögen mir glauben, daß die Dinge sich nicht so freundlich abspielen
werden, wenn die Frau Gräfin jemals erfahren sollte, was wir gethan
haben.“

Teut trank seinen Wein und wollte, um einer aufsteigenden Empfindung
Herr zu werden, die Stiefelhacken zusammenschlagen. Aber es war nur eine
Bewegung. Mit einem leisen Anflug von Schmerz hielt er inne. Nicht ohne
Grund! Das eine, das linke Bein fehlte, er hatte es im Kriege eingebüßt.

„Aber die Kinder?“ fragte Teut nach einer Pause. „Wie geht's denen?
Entwickeln sie sich gut? Sind sie fleißig?“

Tibet nickte. „Gewiß, gnädiger Herr! Wir helfen beide, die Frau Gräfin
und ich, bei den Schularbeiten.“

„Ist die kleine Ange hübsch geworden, Tibet? Sie versprach sehr schön zu
werden!“

Tibet betätigte lebhaft. „Ange ist ein sehr schönes Kind, gnädiger Herr,
und so klug, daß es mich oft fast ängstlich macht. In der kurzen Zeit
von einem halben Jahre spielt sie schon kleine Stücke auf dem Klavier
und ist so sicher dabei, daß man erstaunen muß.“

„So, so! Wer unterrichtet sie denn?“

„Die Frau Gräfin selbst, Herr Baron! Jeden Nachmittag erhält Ange
Unterricht von der Frau Gräfin, und Erna und Jorinde müssen ebenfalls
täglich bei ihr üben. Sie machen alle gute Fortschritte.“

Teut machte eine Bewegung, er murmelte auch etwas vor sich hin, das
Tibet nicht verstand. „Wie ist denn Eure Tageseinteilung, Tibet? Die
Frau Gräfin muß ja sehr in Anspruch genommen sein. Sie hat doch Mädchen
zur Hilfe?“

„Nur eins, Herr Baron! Aber die wurde uns gleich schwer krank und mußte
wochenlang das Bett hüten. Da hat die Frau Gräfin selbst morgens Kaffee
gemacht, die Stuben geräumt, die Kinder angezogen und in die Schule
befördert. Die Frau Gräfin ist überhaupt von morgens früh bis abends
spät unausgesetzt in der Wirtschaft und um die Kinder beschäftigt.“

Teut murmelte wieder etwas.

„Ah! herrliches Weib!“ glaubte Tibet zu hören.

„Und Sie, Tibet?“ fragte Teut dann kurz und mit einem scheinbaren
Vorwurf, während in sein Auge ein silbernes Pünktlein trat.

„Ich, ich?“ erwiderte Tibet arglos und verlegen zugleich. „Ich habe
morgens alle die Stiefel geputzt, die--die--gröbere Arbeit in den
Schlafstuben besorgt und der Kinder Betten gemacht und--und auch gekocht
während der Zeit. Kochen kann die Frau Gräfin nicht; aber sie lernt es
schon ganz gut. Neulich hatten wir zwei Gerichte, die sie ganz allein
zubereitet hatte. Ihre Augen glänzten, als es den Kindern so gut
schmeckte. Die Frau Gräfin war so glücklich, daß sie im Zimmer
herumtanzte.“

„Aber Freund!“ schaltete Teut scheinbar tadelnd ein. „Weshalb haben Sie
denn damals nicht eine Hilfe genommen?“

„Die Frau Gräfin wollte es durchaus nicht, gnädiger Herr! Sie meinte, es
sei der beste Weg, alles zu lernen. Freilich, ich folgte auch nichts
thun--aber ich habe sie sogar überrascht und in einer Nacht mit Hilfe
einer Frau die Wäsche besorgt. Die Alte hat die Garderobengegenstände
vorgenommen, ich machte mich an Servietten und Tischzeug. Gegen Morgen
haben wir aufgehängt, jeder sein Teil.“

„Allen Respekt!“ murmelte Teut, trank in hastigen Zügen und schenkte von
neuem aus der Flasche ein. „In der That, über alles Lob erhaben! Aber
das muß doch anders werden!“ Und nach einer Pause: „Wenn ich nur einen
Weg wüßte--“

Tibet hatte nur halb gehört, aber doch genug, um zu verstehen. Er nahm
sich, in der Sorge um seine Herrin, die Erlaubnis einzufallen, und
sagte:

„Wenn der Herr Baron mir gestatten wollten, einen Vorschlag zu machen?“

Teut bewegte den stolzen Kopf und sagte in seiner kurzen, unhöflich
klingenden Weise:

„Nun, was soll's?“

Tibet ward durch diesen Ton eingeschüchtert. Er fürchtete, sich eine
Vertraulichkeit angemaßt zu haben, die ihm nicht zukam. Takt und
Vorsicht riefen ihm zu, sich in den bisherigen Grenzen zu halten. Er
entgegnete deshalb rasch:

„O, es war doch nichts, gnädiger Herr--“

Teut blickte auf und sah, daß Tibet mit dem Ausdruck einer gewissen
Enttäuschung vor ihm saß. Er verstand und bereute seine Schroffheit.

Ohne auf den Gegenstand zurückzukommen, dessen Berührung von jener Seite
ihm nach den wunderbaren seelischen Schwankungen, denen jeder, selbst
der beste und vorurteilsfreiere Mensch, unterworfen ist, plötzlich
widerstrebt hatte, sagte er:

„Eine Angelegenheit will ich doch heute gleich berühren, Tibet. Mein
Zustand verhinderte mich, Ihnen das bisher zu schreiben:

Vom Ersten des nächsten Monats sind Sie bei mir für Lebenszeit als
Sekretär engagiert. Es werden Ihnen monatlich dreihundert Mark von
meinem Rendanten ausbezahlt werden. Alle Ihre Auslagen seit vorigem Jahr
werden Sie mir baldigst aufgeben, und auch das Honorar für die
verflossene Zeit werde ich ordnen. Sind Sie damit einverstanden, Tibet?“

„Herr Baron!--Gnädiger Herr!“ rief Tibet. Er erhob sich und neigte in
seiner überströmenden Empfindung das Gesicht auf die Hand des Mannes,
der seine Worte mit einem Blick begleitet hatte, in dem sich die ganze
Fülle seines unvergleichlichen Herzens widerspiegelte.

„Aber Waschen und Kochen ist nun vorbei! Das paßt nicht für den Sekretär
und Vertrauten des Herrn von Teut-Eder, nicht wahr? Und nun wollen wir
morgen weiter reden, Tibet! Es wird kühl, ich muß ins Haus, Jamp, Jamp!“
rief er mit seiner schneidigen Stimme, und dieser eilte herbei, um ihn
ins Gartenhaus zu geleiten.

Nachtfalter und weiße Sommermotten irrten durch die warme Luft. Drüben
zirpte es in dem dunklen Garten, und aus dem Rasen drang der sanfte
erdige Geruch des Sommers. Im Hôtel zur Rose aber blitzten Lichter
durchs ganze Haus, und durch die Abendstille ertönte noch einmal
verspätetes Lachen sich haschender Kinder. Eine Zeit lang stand Tibet
wie träumend da. Endlich warf er den Blick gen Himmel, und eine Thräne
stahl sich in die ernsten Augen des Mannes.

Er gedachte seines zerstörten Lebensglückes und der Menschen, die er
liebte--seiner schon ein halbes Jahr nach der Trauung unheilbar
erkrankten Frau, seiner Mutter, seiner Schwester--, aber das Naß, das in
seine Augen trat, entquoll diesmal der unbeschreiblichen Empfindung, daß
nun sicher für die Zukunft jener gesorgt sei.

       *       *       *       *       *

Tibet wurde am nächsten Morgen zu Teut zum Frühstück befohlen und fand
den Major, umgeben von tausend Siebensachen, die auf Tischen und Stühlen
umherlagen, bereits eifrig schreibend. Er trug einen kurzen, seidenen
Hausrock, und um den offenen Hals war lose ein weißes Tuch von demselben
Stoff geschlungen. Aus den Ärmeln guckte eine feine Batistmanschette
hervor, und sein Fuß steckte in einem roten ledernen Schuh.

„Guten Morgen, Herr Sekretär!“ rief Teut, ohne sich umzuwenden. „Bitte,
nehmen Sie Platz! Gut geschlafen?“

Tibet bejahte. „Darf ich mich erkundigen, wie der Herr Baron geruht
haben?“

„Ah--nicht zum besten, Tibet! Die verteufelte Sache beschäftigt mich
allzusehr. Wie Ameisen laufen die Gedanken in meinem Kopfe herum. Aber
ich glaube jetzt einen Ausweg gefunden zu haben.“ Hier wandte sich der
Major um, sah, daß Tibet noch immer stand, und unterbrach seinen Satz
durch die wiederholte Aufforderung, einen Stuhl zu nehmen.

„Also, wie ich schon gestern sagte, Tibet, so geht die Sache auf die
Länge doch nicht!“ hob Teut an, humpelte durchs Zimmer, winkte dem
herbeieilenden Tibet ab, klingelte, gab dem eintretenden Jamp einen
Befehl und ließ sich dann an dem Frühstückstisch nieder.

Mit inniger Teilnahme sah Tibet, wie unbehilflich der bisher so
kernfeste, kräftige Mann mit dem künstlichen Bein sich bewegte und
welche Spuren Strapazen und Krankheit auf seinem Angesicht
zurückgelassen hatten.

„Bedienen Sie sich!--Also, Tibet, so geht's nicht. Aus diesem Grunde bat
ich Sie auch, mich hier zu besuchen. Sie sollen mit der Gräfin sprechen;
ich habe einen Plan, dem sie hoffentlich beipflichten wird. Die
Sommerferien sind vor der Thür, die Gräfin wird gewiß wünschen, ihren
Kleinen ein Vergnügen zu bereiten und selbst sich ein wenig nach all
den Aufregungen und Sorgen zu zerstreuen. Ich werde sie einladen, auf
Schloß Eder diese Wochen zuzubringen, und will meiner Cousine, der
Gräfin Aspern, schreiben, dort die Honneurs zu machen. Ich werde dann
vielleicht auch--später--nachkommen und bei dieser Gelegenheit
auszuführen suchen, was ich seit dem Tode des Grafen in mir herumtrage.
Was meinen Sie dazu, Tibet?“

„Vortrefflich, Herr Baron! Aber ich fürchte, daß die Frau Gräfin dieser
Einladung ein entschiedenes Nein entgegenstellen wird. Wir haben so oft
über diese Dinge gesprochen--alles war fruchtlos. Die Frau Gräfin
geht--darf ich mich ganz offen äußern, Herr Baron?“--Teut erhob den
Kopf, nickte und trennte die eben mit dem silbernen Löffel zerschlagene
Schale von einem Ei.--„Die Frau Gräfin geht davon aus, daß der gnädige
Herr sie beeinflussen will, Wohnort und jetzige Lebensweise zu ändern.
Dagegen sträubt sie sich--der Herr Baron kennen die Gründe--zum Teil
wenigstens--“

„Hm--zum Teil?“ fragte Teut. „Ist's noch etwas anderes, als was Sie mir
mitteilten und was ich bei dem Charakter der Gräfin auch wohl verstanden
habe?“

Tibet zuckte die Schultern nur machte die Miene eines Menschen, der
wohl sprechen möchte, aber sich's doch nicht getraut.

„Nun?“ forschte Teut ungeduldig. Aber dann in einen anderen Ton
übergehend sagte er: „Ein für allemal, Tibet! Ich nannte Sie gestern
meinen Vertrauten, aber noch mehr, ich betrachte Sie als meinen Freund!
Sprechen Sie, was es auch sei! Das Schicksal, das Wohlergehen dieser
Frau beschäftigt mich mehr als mein eigenes. Der Zweck, ja der ganze
Zweck meines Lebens ist, sie glücklich zu machen. Ich versprach's dem
Grafen beim Abschied, und viel früher hatte ich mir's selbst
zugeschworen. Das alles wissen Sie am besten. Also, weshalb hinterm
Berge halten, wo diesem Vorhaben genützt werden kann!?--Ah!“ fuhr Teut
seufzend und stark betonend fort und lehnte sich zurück. „Ich sollte nur
kein Krüppel sein! Wir säßen nicht hier und berieten! Nur dieser Umstand
hat verhindert, daß ich--alles wäre lange--“ Er fuhr sich mit der Hand
über das Gesicht, und ein Ausdruck von tiefer Trauer blieb in seinen
Zügen haften.

„Nun, Herr Baron,“ sagte Tibet, rasch den Rest des Frühstücksbrötchens
hinabschluckend und seinem Herrn ins Auge schauend, „wenn ich denn
sprechen darf, wie mir's ums Herz ist?--Ich meine--ich meine--die Frau
Gräfin hat--eine--tiefe Neigung zu dem gnädigen Herrn, und darin ist
alles zu suchen! Wenn die Frau Gräfin sich so scheu zurückzieht,
so--so--“

Tibet spähte ängstlich auf Teuts Angesicht, während er sprach. Trotz
aller Ermunterung stand er unter dem Eindruck, dies, eben dies hätte er
niemals ansprechen dürfen.

Teut hatte sich gerade erhoben, um sich eine Cigarre zu holen. Nach
Tibets Worten blieb er am Fenster stehen und schaute lange wortlos
hinaus.

Als er sich wieder umwandte, blickte er Tibet mit freundlichem Ernst ins
Auge und schüttelte den Kopf. „Sie täuschen sich, Tibet! Täuschen sich
gewiß! Und wenn nicht--wenn nicht--Nein, solche Gedanken habe ich
begraben ein für allemal--“

Nun ging er abermals ans Fenster und ließ gewaltige Rauchwolken der
angezündeten Cigarre durchs Zimmer schweben. Der eindringende
Sonnenstrahl fing sie auf und verwandelte sie in lichtes Blau. Eine
lange Pause trat ein, ohne daß eine Silbe gesprochen ward.

„Ah! ja!“ rief dann Teut plötzlich. „Es muß so sein! Hören Sie mich an,
Tibet! Machen Sie also der Gräfin den Vorschlag auf mein Anerbieten
einzugehen. Sie wissen ja, wie und wo am besten einzusetzen ist.
Stecken Sie sich hinter die Kinder! Wenn diese betteln, daß ihr Wunsch
erfüllt wird, kann sie nicht widerstehen! Und wenn die Gräfin auf den
leidigen Punkt kommt--Sie wissen--meine gefürchtete offene Hand und
dergleichen Thorheiten mehr--so sagen Sie ihr--ja, so sagen Sie ihr, was
Sie wollen, aber in allen Fällen, daß ich ihr verspräche, niemals diesen
Punkt zu berühren, viel weniger ihren Absichten entgegen zu handeln.“

„Zu Befehl, Herr Baron! Ich hoffe, Ihrem Vertrauen Ehre zu machen. Ich
werde mein möglichstes thun.--Nur eins! Wenn ich diesen Auftrag erhalte,
muß ich eingestehen, daß ich Sie gesehen habe, und das wird den Argwohn
der Frau Gräfin wecken. Je scheinbar unvorbereiteter ich das vortrage,
um so besser ist es!“

„Nun, im Flunkern haben Sie ja schon gute Übung, Tibet!“ lächelte Teut
und suchte doch durch seine Miene den auf Tibet hervorgerufenen Eindruck
zu verwischen. „Ich denke, Sie müßten schon sagen, Ihre Angehörigen
wohnten hier in der Gegend, und zufällig hätten Sie mich getroffen. Wo
wohnen denn eigentlich die Ihrigen?“

Tibet nannte den Ort.

„Ah--in M.! Sind Sie auch dort geboren?“

„Ja, Herr Baron.“

„Und lebt Ihr Vater noch?“

„Nein, Herr Baron.“

„Ihre Mutter ist Witwe?“

„Ja, Herr Baron--“

Teut unterbrach Tibet lächelnd und sagte, sich eines Gesprächs
erinnernd, das er einst im Clairefortschen Hause mit demselben Manne
geführt, der jetzt so einsilbig Antwort ereilte: „Ganz wie
damals:--ja--nein, Herr Baron!--antworten Sie mir, Tibet. Aber ich will
gar nicht in Ihre Geheimnisse dringen. Nur mein Interesse für Ihre
Person ließ mich fragen.“

„Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, Herr Baron. Mich leitete etwas
anderes. Was ich über die Meinigen mitzuteilen habe, ist sehr wenig
erfreulicher Natur. Ich habe nie darüber geredet, schon deshalb nicht,
weil meine Person dabei eine nicht gleichgültige Rolle spielt.“

„In der That,“ sagte Teut teilnehmend, „geht es den Ihrigen schlecht?
Haben Sie etwa noch unversorgte Geschwister?“

„Ich habe“--hier stockte Tibet eine Weile--„eine arme kranke Frau,
unheilbar krank und gelähmt seit der ersten Zeit unserer Ehe, die mir
ein kurzes Glück gewährte; sie lebt bei meiner Mutter und meiner
Schwester, die sie pflegt, gnädiger Herr. Auch meine Mutter war schon
völlig gelähmt, als mein Vater, der als Musiker sein Brot verdiente,
starb. Vermögen war keins vorhanden bei seinem Tode. Ich hatte
ursprünglich das Gymnasium bis zur Aufnahme in die Prima besucht und
wurde dann--wie ich früher schon mitzuteilen mir erlaubte--Kaufmann. Ich
hatte aber darin kein Glück, es wollte mir nicht gelingen, vorwärts zu
kommen. Die dringende eigene Not und die meiner Angehörigen, die ganz
auf mich angewiesen waren, bestimmte mich, die Stellung eines
Haushofmeisters bei dem Herrn Grafen von Clairefort anzunehmen, die ich
seit so vielen Jahren bekleidet habe. Ich mußte verdienen, gleichviel in
welcher Lebensstellung, und hier fand ich, was ich suchte. Während
dieser Zeit habe ich die Meinigen ernährt, ja mir selbst ein wenig
sparen können für meine späteren Tage. Was ich empfand, gnädiger Herr,
als Sie mir gestern die Aussicht eröffneten, fürs Leben an Ihrer Seite
bleiben zu dürfen, vermag ich nicht zu sagen. Und Sie werden nach dieser
Darlegung auch verstehen, welche Sorge von mir genommen ist. Ich bin ja
nun sicher, daß die Meinigen--“ In dem hageren Gesicht stieg's bei
diesen Worten auf, wie wenn der Sonnenschein plötzlich durch dunkle
Wolken bricht, und die Rührung übermannte den Mann so sehr, daß er sich
abwandte.

„Wie? Alle die Jahre haben Ihre Frau, Ihre Mutter und Schwester
lediglich von Ihrem Fleiß gelebt?“ sagte Teut voll bewundernden
Erstaunens. „Braver Mann! Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen! Ich schätze
es um so höher, weil selbst Ihre engsten Freunde von diesen Dingen
nichts wußten. Es bleibt wahr: Die echten Perlen liegen versteckt in den
Muscheln tief auf dem Meeresgrund! Man muß sie mühsam hervorholen. Eine
echte Perle ist solche Pflichterfüllung und den Ruhm nicht an den
breiten Weg stellen! Sie üben sie um ihrer selbst willen, in der Stille,
ohne Geräusch. Das heißt ein Christ sein! Hier meine Hand, Sie braver
Mensch! Ich bitte jetzt um Ihre Freundschaft! Ich biete sie Ihnen nicht
mehr an!“

Tibet richtete sich bei diesen Worten in seiner ganzen Größe empor; ein
ungewöhnlicher Glanz trat in seine Augen, und über sein Angesicht flog
der Widerschein eines Sturmes von Empfindungen.

„O, zu viel! Zu viel, gnädiger Herr!“ rief er in jenem Rausche, der nur
die Brust solcher Menschen zu durchdringen vermag. „Mit diesem Worte
habe ich nicht umsonst gelebt! Mit diesem Tage werde ich ein anderer in
dieser Welt und die Welt eine andere für mich! Aber mit diesem Worte,
gnädiger Herr, haben Sie auch Ernst Tibet zu Ihrem Schatten gemacht für
alle Tage und Stunden seines Lebens! Was ich bin und habe für die
Zukunft, gehört Ihnen!“

       *       *       *       *       *

Es war Morgenzeit. Ange öffnete voll Ungeduld einen Brief, den sie
soeben erhalten hatte. Derselbe war von Tibet, welcher mitteilte, daß er
an dem heutigen Tage zurückkehren werde. Als Ange dies mittags den
Kindern kundgab, faßten sie einstimmig den Beschluß, ihn vom Bahnhof
abzuholen. Nun standen sie erwartungsvoll da und schauten über den
Perron hinaus. Als der Zug endlich näher kam, drängten sie sich
zusammen, und waren voll Ungeduld, den Langersehnten zu begrüßen.

„Tibet! Tibet! Hier!“ riefen sie und stürmten auf den Ankömmling zu, der
sich gerührt zu ihnen hinabbeugte und ihre Liebkosungen entgegennahm.
Alle griffen zugleich nach seiner Hand, um einen besonderen Vorzug zu
genießen, bis endlich Jorinde und Ange sich seine Rechte und Linke
eroberten.

Tibets erste Frage galt der Mama, und diese ward zufriedenstellend
beantwortet. Mama Ange ginge es gut; sie habe auch an den Bahnhof
kommen wollen, sei aber abgehalten worden. Dann setzte sich die kleine
Schar, Tibet in der Mitte, in Bewegung.--

An demselben Abend saßen sich Herrin und Diener im Wohnzimmer gegenüber.

Tibet erzählte, wie's ihm auf der Reise ergangen sei, und Ange hörte
freundlich und aufmerksam zu.

„Auch den Herrn Major von Teut habe ich gesehen und gesprochen,“ warf
Tibet in unbefangenem Tone hin, nachdem er den ersten Bericht erstattet
hatte. „Er läßt sich der Frau Gräfin aufs angelegentlichste empfehlen.“

Ange blickte im höchsten Grade befremdet empor. „Wie? Sie haben Herrn
von Teut gesehen, Tibet? Wann? Wo? Und ganz zufällig?“

Tibet nickte und erzählte eine Geschichte, die er sich unterwegs zurecht
gelegt hatte.

„Und geht's ihm besser? Geht's ihm wieder gut?“ fuhr Ange zögernd fort.

Tibet betätigte und wollte schon, froh, daß die Dinge sich so günstig
gefügt hatten, fortfahren. Aber entweder wünschte Ange das Gespräch
nicht fortzusetzen oder sie wollte Zeit gewinnen. Sie brach ab und kam
auf allerlei häusliche Angelegenheiten.

Inzwischen grübelte Tibet, wie er die Dinge nach seinen Wünschen
einrichten könne, und sagte endlich, eine kleine Pause benutzend,
ziemlich unvermittelt:

„Ich habe auch einen Auftrag an die Frau Gräfin von dem Herrn Baron
auszurichten. Ich vergaß vorher--“

Ange sah Tibet fest ins Auge, aber sie hinderte ihn nicht am
Weitersprechen. Nur ein kurzes: „Nun?“ glitt von ihren Lippen.

„Zunächst läßt sich der Herr Baron für den Brief der Frau Gräfin recht
sehr bedanken. Er würde denselben schon beantwortet haben, wenn er nicht
wünschte, der Frau Gräfin mündlich--“

Tibet hielt inne; er fürchtete nun sicher eine Unterbrechung. Aber zu
seiner Überraschung sagte Ange nichts, nur ihr Blick blieb noch ebenso
ernst, ja, so eigentümlich auf ihm haften, daß er unwillkürlich die
Augen niederschlagen mußte. Er raffte sich aber auf und fuhr fort:

„Der Herr Baron hofft in einigen Wochen wieder so weit hergestellt zu
sein, daß er Wiesbaden verlassen kann. Er will dann nach Eder reisen und
auf dieser Reise die Frau Gräfin gern in Eisenach begrüßen.“

„Und was sagten Sie dazu, Tibet?“ fragte Ange kalt.

„Ich--ich--Frau Gräfin--“ Er sprach nicht aus. Einen Augenblick
schwiegen beide: nur Anges fleißige Nadel, die auf-und abflog,
unterbrach die Stille. In dem Gemache stand ein runder Tisch, der von
einer Lampe erhellt ward. Ringsum befanden sich die Möbel, welche einst
in Carlos' Zimmer Platz gefunden hatten. Dieselben Bilder schmückten die
Wände; selbst die kleinen Nippessachen von damals standen auf dem
Schreibtisch. Plötzlich legte Ange die Arbeit aus der Hand, und sagte,
dem Manne, der ihr gegenübersaß, forschend ins Auge schauend:

„Tibet!“

„Frau Gräfin?“

„Was soll ich von Ihnen denken? Sie haben Herrn Baron von Teut gesehen
und einen solchen Auftrag übernommen? Ich werde irre an Ihnen. Ich muß
es Ihnen aussprechen. Also war's doch wie ich vermutete. Hinter meinem
Rücken! Also war's doch, wie ich fürchtete, als Sie mir von einer
notwendigen Reise sprachen!“

„Frau Gräfin--ich bitte--ich verstehe nicht--“

„Sie verstehen ganz gut, Tibet! Mehr noch. Sie waren befangen, als Sie
in unserem Gespräch auf diesen Gegenstand kamen, und da ich nicht arglos
war, beobachtete ich Sie.“

Ange stützte schwermütig den Kopf und schien für Augenblicke ganz mit
anderen Gedanken beschäftigt. Sie hörte nichts von Tibets Beteuerungen,
nichts von seiner geläufigen Rede, durch die er ihr das Mißtrauen zu
nehmen suchte. Erst als er zu einem anderen Mittel griff, sie seinen
Plänen gefügiger zu machen, und plötzlich sagte: „Sehr, sehr verändert
hat sich doch der Herr Baron. Sie wissen, Frau Gräfin, das Traurige noch
gar nicht. Ich gelangte noch nicht dazu, dies Ihnen mitzuteilen. Der
Herr Baron hat das linke Bein im Kriege verloren!“ überwogen Teilnahme
und Sorge alle anderen Gedanken.

„Wie? was?“ rief Ange erregt, ließ die Arbeit fallen, erhob sich von
ihrem Stuhl und blickte Tibet mit allen Zeichen der Bestürzung an.
„Amputiert? Das Bein verloren?“

Tibet atmete erleichtert auf.

„Mein armer, armer Freund!“ flüsterte Ange vor sich hin. „Ist er sehr
ernst, sehr bedrückt deshalb, Tibet? Sie sagen, er habe so leidend
ausgesehen? O, und das wußte ich nicht einmal! Das verschwieg er mir.
Ich möchte zu ihm eilen, ihn trösten, ihn pflegen--“

Aber sie unterbrach sich ebenso rasch, setzte sich wieder und ergriff
still und wortlos die eben fallen gelassene Arbeit.

„Erzählen Sie weiter, Tibet. Berichten Sie mir, was Herr von Teut Ihnen
gesagt hat,“ hob sie dann gelassen an. „Natürlich verlangt es mich
Näheres zu erfahren.“

„Zu Befehl, Frau Gräfin. Ich fand den Herrn Baron sehr wortkarg und
offenbar tief verstimmt. Er äußerte die Absicht, sich ganz von allem
zurückzuziehen, fortan in Eder zu wohnen und jeden Verkehr einstellen.
Welche Stimmung den Herrn Baron beherrschte“--nun hielt Tibet es an der
Zeit, seine Pläne auszuführen, und er that es mit zitterndem
Herzen--„mögen Frau Gräfin daraus erkennen, daß, als zufällig in einem
Gespräch zwischen dem Herrn Baron und einem dort anwesenden Freunde die
Rede auf des letzteren bevorstehende Heirat kam und derselbe den Herrn
Baron scherzend auf Gleiches hinwies, dieser sagte: ‚Lieber Freund, das
war längst und ist jetzt erst recht für alte Zeiten begraben! Nichts
blüht mir noch auf Erden, selbst meine besten Freunde habe ich--ohne
meine Schuld, ich darf es sagen--verloren!‘“

Tibet schwieg und wartete. Weiße Rosen brachen hervor auf Anges Wangen.
Eine Blässe färbte diese, vor der Tibet erschrak. War er zu weit
gegangen, hatte er zu rasch, zu unvermittelt gehandelt. Gewiß, so
schien es, denn Ange sagte bitter: „Galt mir die letzte Bemerkung,
Tibet? Nur das wünsche ich noch zu wissen.“

Der Mann schwieg.

„Nun?“ wiederholte sie hart.

„Ich glaube--ich weiß nicht, Frau Gräfin.“

„Und was sagen Sie zu alle dem, Tibet?“

Plötzlich brachen die Thränen unter Anges Wimpern hervor; ihre Augen
verschleierten sich, und jener zaghafte Ausdruck trat in ihre Mienen,
der das Gesicht von Kindern und Erwachsenen gleich rührend verändert.

Tibet wollte reden, aber Ange schüttelte den Kopf und wehrte ihm ab.
„Ich habe schon zu viel heute abend gehört,“ sagte sie kurz und in
seltsamer Weise abbrechend. „Wir sprechen morgen weiter. Gute Nacht.“

Noch stand der Mann eine Weile; er hoffte, Ange würde wenigstens noch
einmal emporblicken. Nichts! Nun verbeugte er sich und ging.

Sobald Tibet das Zimmer verlassen hatte, sprang Ange auf und durchmaß
den Raum mit erregten Schritten. Ihre Gestalt hatte trotz der
Anstrengungen des letzten Jahres an reizvoller Fülle gewonnen. Die Züge
ihres Gesichtes waren ausdrucksvoller geworden ihre dunklen gesättigten
Augen hatten eine eigene Glut und jenen rätselhaften, halb
schmachtenden, halb in sich gekehrten Ausdruck, der uns so
unwiderstehlich zu Frauen hinzieht. Noch immer wirkte ihre Erscheinung
überraschend, noch immer war sie eine blendend schöne Frau. Wie es in
ihrem Innern gärte nach diesen Mitteilungen! Jene Liebe, die sich noch
unter dem Schmerz um einen teuren Verdorbenen in zartem Empfinden gegen
eine andere auflehnt, jene tiefe wahre Liebe, die ihre Neigung ängstlich
verbirgt, jene stolze Liebe, die fürchtet, sie könne nicht um ihrer
selbst willen begehrt werden, durchdrang das Herz der Frau--und nun war
alles vernichtet, was doch hoffend in dem tiefsten Winkel ihrer Seele
geschlummert hatte. Denn es giebt Wünsche, die der Mensch aus besserer
Einsicht zurückdrängt bis zum letzten Atemzug--Wünsche auch, von denen
er weiß, daß sie sich nie erfüllen können, aber die doch beglücken, so
lange ein Wahrscheinlichkeitsschimmer bleibt.

Teut ein Krüppel! Teut des Trostes, vielleicht noch der Pflege
bedürftig; Teut abwehrend gegen alles, was sonst Menschen mit Menschen
verbindet; Teut voll Verbitterung. Teut--die Liebe, den Besitz eines
Weibes ein für allemal von sich weisend im mißmutigen Verzichten!

Und sie stieß ihn von sich, wo sie ihm vielleicht ersetzen konnte,
wonach sein Herz verlangte; sie erfüllte--vielleicht in falschem
Stolze--nicht einmal die Pflichten dankbarer Freundschaft!?

Ange verlor den Faden für den richtigen Maßstab dessen, was Recht und
Pflicht geboten.

Was sollte sie thun? Ehre, Stolz, Scham und Liebe kämpften in ihr und
ließen sie zu keinem Entschluß gelangen. Einmal hatte sie alles
zurückgedrängt, nur ein Gedanke beherrschte sie: Wie's auch kommen,
wie's auch sein mochte, sie mußte an seiner Seite stehen, solange sie
ihn unglücklich, zweifelnd und zagend wußte.

Schon glaubte sie klar zu sein und den Kampf überwunden zu haben. Aber
dann nahm doch wieder die angstvolle Befürchtung von ihr Besitz, Teut
könne jetzt gerade zu dem Schlusse gelangen, sie suche nur nach einem
Vorwand, sich ihm zu nähern. Diese Annäherung könne als eine stumme
Werbung von ihrer Seite erscheinen, sie sei noch die alte leichtfertige,
nur dem Genuß lebende und nach plötzlichen Eingebungen handelnde Frau
von ehedem, dasselbe nur von halben Pflichten erfüllte Wesen ohne rechte
Grundsätze, festen Willen und Thatkraft.

Und dann würde in diesem Falle an sie herantreten, was sie zurückweisen
wollte um jeden Preis: die Mildtätigkeit aus seiner Hand. Sie, gerade
sie hatte doch einen so großen, ja vielleicht allen Anteil an der
entsetzlichen Nacktheit der Dinge nach Carlos' Tode, und Teut war es
gewesen, der sie gewarnt und dessen Warnung sie nur ein halbes Ohr
geschenkt; er hatte in der Not geholfen und kam nun wieder und mußte
helfen, weil sie es nicht verstand, sich einzurichten, immer gleich
thöricht und unbeholfen dem Leben gegenüberstand. Scham und Stolz, auch
Quellen falscher Scham, falschen Stolzes brachen wieder in ihr auf und
ließen sie, wie bisher so oft, den rechten Weg verfehlen.

       *       *       *       *       *

Am folgenden Vormittage fand sich für Tibet keine Gelegenheit, abermals
mit Ange zu sprechen. Er forschte auf ihrem Gesicht, ob das Gespräch des
vorhergehenden Abends böse Nachwirkungen zurückgelassen habe, und in der
That schien es ihm, als ob ihr Blick ernster als sonst, ihr Morgengruß
nicht so warm sei, wie er stets gewesen. Er war voll Ungeduld, mit ihr
zu sprechen, um so mehr, als er bisher nur die Vorbereitungen für den
Auftrag getroffen hatte, der ihm von Teut geworden war.

Nachmittags gab Ange einer Bitte der Kinder nach, mit ihnen einen
Spaziergang zu unternehmen. Sie verständigte Tibet, daß sie zum
Abendbrot zurückkehren werde, und machte sich mit ihren Lieblingen auf
den Weg zur Wartburg.

Ange sehnte sich selbst hinaus; in der freien Natur hoffte sie besser
der sie bestürmenden Gedanken Herr zu werden und zu irgend einem
Entschlusse zu gelangen, der Teut wenigstens bewies, daß sie ihm nicht
teilnahmlos gegenüberstand.

Niemals war ihr der Sommer so schön erschienen wie in diesem Jahre. Die
Bäume standen in blütenschwerer Fülle, und als sie den Weg zur Wartburg
hinaufstiegen, hemmte sie immer von neuem ihre Schritte, um ihre Blicke
ringsum auf die Gegend zu werfen, oder bei Lichtpunkten auf das vor
ihnen liegende Thal hinabzuschauen.

Ange wohnte vor der Stadt in einer von ihrem Auslugepunkte linksseitig
belegenen kleinen Villa. Auch heute ruhten die Kinder nicht eher, als
bis die unter dem Grün hervorschimmernden weißen Mauern herausgesucht
und alle Einzelheiten festgestellt worden waren.

Als sie die Burg fast erreicht hatten, streiften sie bei einer
Wegwendung einen älteren Herrn, vor dem Ben und Fred eilfertig die Mütze
zogen und der freundlich dankte. Bei dieser Gelegenheit entglitt jenem
der Spazierstock, und die Kinder eilten herzu, um denselben aufzuheben.

„Dank, liebe Kinder! Ah, Ben und Fred Clairefort!“ sagte er. „Seid Ihr
alle kleine Claireforts?“ fuhr er fort und lüftete, gegen Ange gewendet,
den Hut und verbeugte sich artig.

„Es ist unser Herr Direktor, Mama,“ flüsterte Fred und forderte Ange
durch Zeichen und Geberden auf, stehen zu bleiben.

Inzwischen war der Herr selbst schon näher getreten und sagte mit
ausnehmender Höflichkeit:

„Ich habe wohl die Ehre, der Frau Gräfin von Clairefort
gegenüberstehen?“

Ange bejahte, und bald entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, dem die
Kinder, nach kleiner Menschen Art, neugierig und mit halb offenem Munde
zuhörten. Als aber auf die beiden Knaben die Rede kam, ihres Fleißes und
ihrer Fortschritte gedacht ward, verscheuchte Ange sie durch einen
Blick, und sie traten beiseite. Beim endlichen Abschied drängte es sie,
dem Direktor noch einige Worte zu sagen.

„Ich habe Ihnen schon schriftlich meinen Dank ausgesprochen für die
große Güte, die Sie mir erwiesen haben, Herr Direktor. Gestatten Sie,
daß ich Ihnen diesen für Ihre Befürwortung und die mir dadurch
entstandene Erleichterung auch mündlich wiederhole.“

Der Direktor blickte überrascht empor, und da er offenbar nicht
verstand, worauf Ange hinzielte, zuckte er unter einigen darauf
bezüglichen Worten die Achseln.

„Ich bitte, gnädige Frau, ich verstehe nicht ganz. Meine
Befürwortung?--Ihr Brief?--Ich habe keinen solchen erhalten.“

„Ich spreche von der Erlassung des Schulgeldes für meine Knaben, Herr
Direktor; Sie erinnern sich, daß Sie die Freundlichkeit hatten--“

„Hier liegt wohl ein Irrtum vor, gnädige Frau,“ berichtigte jener mit
höflicher Wendung. „Es ist nach dieser Richtung von Ihnen nie ein Antrag
gestellt worden, wenigstens mir nicht zugekommen, Frau Gräfin. Wohl aber
hat Ihr Bevollmächtigter seiner Zeit das Schulgeld auf Ihren besonderen
Wunsch für das ganze Semester berichtigt.“

Ange war so verwirrt, daß sie im ersten Augenblick nicht zu sprechen
vermochte; die Röte höchster Verlegenheit stieg ihr in die Wangen. Dann
aber brach sie mit einem gezwungenen Lächeln und wie unter plötzlichem
Besinnen das Gespräch ab und sagte: „Ach, ganz recht. Es war
allerdings--ein--Irrtum meinerseits!“

Noch wenige Sekunden, dann war der Direktor auf dem der Stadt
zugewendeten Wege verschwunden und Ange mit ihren Kindern auf dem
Weitermarsche nach der Burg.

Dieser Zwischenfall weckte in Anges Innerem ein solches Heer von
widerstreitenden Empfindungen, daß sie zerstreut und völlig wortlos
neben ihrer kleinen Schar einherschritt.

Das gestrige Gespräch mit Tibet und nun diese Eröffnung! Was würde sie
alles erfahren! Sie konnte es nicht erwarten, nach Hause zurückzukehren,
und nur die Rücksicht auf die Kinder veranlaßt sie, den Spaziergang
fortzusetzen.--

Nach dem Abendbrot--die Kleinen waren früh ins Bett geschickt--ersuchte
Ange Tibet unter dem Vorwande zu bleiben, daß sie noch einige Fragen an
ihn zu richten habe. Auf Tibet hatte es den ganzen Tag wie eine schwere
Last gelegen, und einmal hatte er es schon verwünscht, Teuts Auftrag
übernommen zu haben. Dennoch ergriff er nach einem kurzen Vorgespräch
zuerst wieder das Wort in dieser Angelegenheit.

„Ich wollte gestern noch hinzufügen,“ begann er, und suchte eine
unbefangene Miene anzunehmen, „daß der Herr Baron der Frau Gräfin den
Vorschlag macht, die Sommerferien auf Schloß Eder zuzubringen. Der Herr
Baron ging namentlich davon aus, daß dies den Kindern Freude machen
werde.“ Tibet forschte in Anges Gesicht. „Und auch der Gräfin sei, wie
der Herr Baron meinte, Luftveränderung und Ruhe nach den Aufregungen
und Anstrengungen sicher außerordentlich förderlich. Der Herr Baron
bittet die Frau Gräfin dringend, diese Einladung annehmen zu wollen.“

„Tibet!“ sagte Ange, schüttelte den Kopf und sah den Mann mit demselben
vorwurfsvollen Blick an wie am gestrigen Tage.

„Frau Gräfin?“

„Was hatten Sie mir versprochen? Was hielten Sie selbst, nach meinen
Auseinanderlegen und Ihrer damaligen Miene nach zu deuten, für richtig?
deshalb schenkte ich Ihnen mein Vertrauen--ein Vertrauen, das sich nicht
auf oberflächliche Erklärungen beschränkte, sondern auch die Gründe
entwickelte? Nur einem Freunde öffnet man sein Herz, wie ich es gethan.
Sie haben mich hintergangen, Sie haben gegen meinen Willen gehandelt,
Sie haben mich betrogen. Und da Sie mich betrogen haben, verliere ich
den Glauben an die Menschheit. Ich glaube nichts--nichts mehr!“

Bei den letzten Worten erhob sich Ange, die in steigender Erregung
gesprochen hatte, trat an ihren Schreibtisch und blieb dort abgewendet
und von ihren Gefühlen überwältigt, stehen.

Tibet war blaß geworden und zerrte an den Knöpfen seines Rockes. Er
wollte sprechen, aber er vermochte es nicht.

„Ihre Anschuldigungen, Frau Gräfin, sind so schwere,“ stieß er endlich
heraus, „daß ich vergeblich nach Worten ringe. Um mich verteidigen zu
können, bitte ich, mir nähere Aufklärungen geben zu wollen. Was habe ich
gethan, um Vertrauen und Freundschaft zu verlieren? Ja, es ist wahr, ich
habe einen Auftrag von dem Herrn Baron entgegengenommen, und ich habe
nicht gezögert, mich desselben zu entledigen, weil der Vorschlag nach
meiner unmaßgeblichen Ansicht ein guter, der Frau Gräfin und den Kindern
ein nützlicher war. Daß aber die Frau Gräfin daraus--“

„Ach, reden wir endlich deutsch! Gehen wir nicht ferner um das Wesen der
Sache herum!“ fiel Ange Tibet heftig in die Rede. „Sie wissen so gut wie
ich, worin der Schwerpunkt liegt! Sie sind sich wohl bewußt, weshalb ich
erregt, erschreckt, empört bin! Werfen Sie die Maske endlich ab, Tibet,
seien Sie wenigstens jetzt ehrlich und gestehen Sie, daß Sie Teuts Agent
sind, daß Sie von ihm Verhaltungsmaßregeln empfingen in Angelegenheiten,
die ich abzuweisen suchte mit allen Mitteln, in Angelegenheiten, welche
hervorgingen aus zartester Empfindung und deshalb von Ihnen hätten
geachtet werden sollen als etwas Heiliges! Ja, ja, jetzt glaubt man mir
das alles bieten zu können! Hätten Sie gewagt, gegen meine Befehle,
gegen meine Bitten zu handeln, als ich noch die gebietende, von Reichtum
umgebene Frau von Clairefort war? Nein, sicher nein! Aber nun, da ich
arm, verlassen und durch die Verhältnisse gedemütigt bin, glauben Sie
das Recht einer Bevormundung gewonnen zu haben, meinen Sie, mir Ihre
unzarten Dienstleistungen aufdrängen zu dürfen--“ Sie hörte Tibets
raschen Atem, sah sein erregtes Gesicht und fuhr doch fort: „Also
richtig war meine Ahnung und allzusehr traf ein, was ich fürchtete,
obgleich ich mir schon vorwarf, diese Dinge zu viel und zu oft berührt
zu haben! Nun erfahren Sie es nochmals, obgleich es das A und O aller
meiner Gespräche war, die ich mit Ihnen pflog: nicht als etwas Gutes,
Dankenswertes sehe ich das alles an, sondern als etwas Unwürdiges,
Beleidigendes!--Ehrlos--ja, ehrlos handelten Sie, wenn Sie mich gegen
meinen Wunsch und Befehl nach Ihren eigenen kleinlichen Auffassungen zu
messen sich erdreisteten und danach handelten!“

„Frau Gräfin! Frau Gräfin!“ drang's aus Tibets Munde, und wie einst, als
Carlos gestorben war und ihn Anges beleidigte Worte trafen, stand er
bebend am ganzen Leibe. „Ehrlos--sagen Sie? Ehrlos?--Nun, dann darf ich
in der Folge Ihre Schwelle nicht mehr berühren! In dies reine Haus darf
kein Ehrloser treten!“

„Nein, nein, Sie haben recht!“ rief Ange außer sich in gekränktem Stolz
und in der Verzweiflung ihrer vernichteten Liebe. „Gehen Sie! Gehen Sie!
Ich will versuchen, Ihnen zu verzeihen im Gedenken des vielen Guten, das
ich von Ihnen empfing. Auch das in der Erregung gesprochene Wort nehme
ich zurück. Aber unseres Beisammenbleibens ist nicht mehr! Gehen Sie!“
Nach diesen Worten wandte sie sich von ihm ab und wollte, nicht mehr
Herrin ihrer Gefühle, das Zimmer verlassen.

„Ich thue, was Sie befehlen!“ flüsterte Tibet. „Wie sehr Sie mir aber
unrecht thaten, Frau Gräfin--“

„Wie--unrecht?“ rief sie, nochmals zurücktretend, und reckte ihre
schlanke Gestalt hoch empor. „Unrecht?“ wiederholte sie. Ihre feinen
Nasenflügel vibrierten und ihre Augen blitzten. „Trieben Sie Ihre
zudringliche und bevormundende Dienstfertigkeit nicht so weit, daß ich
heute wie eine Närrin vor dem Direktor des Gymnasiums stand? Ich dankte
ihm für seine Güte gegen die Knaben. Solche Güte anzunehmen, schämte ich
mich nicht, denn es ist der Staat, der den Bedrängten einen Teil der
Pflichten abnimmt, die ihnen obliegen, um ihre Kinder zu tüchtigen
Menschen heranzubilden. Er thut damit nur etwas Weises. Sie vermögen es
ihm einst zu lohnen, indem sie gute Bürger werden. Wissen Sie, was er
erwiderte? Daß er weder eine Eingabe noch einen Dankesbrief von meiner
Hand empfangen! Nun, was sagen Sie dazu?--Sie unterschlugen Eingabe und
Brief, Sie belogen mich, während ich Ihnen Hab und Gut hingab in
grenzenlosem Vertrauen, ja mehr noch, mich Ihnen sogar anvertraute in
Dingen, die schwer, wohl nie über die Lippen eines Weibes dringen,
selbst unter gleichen Verhältnissen. Nun, Tibet, sind Sie der Agent des
Herrn Baron von Teut?--Einmal wenigstens seien Sie wahr!“

Tibet schüttelte sich, als ob er die Flamme, die in seiner Brust
emporstieg, auslöschen, als ob er die übermenschliche Erregung, die
jeden Nerv pulsieren machte, abstreifen könne. Und dann drang es heiser
aus seinem Munde: „Und doch waren meine Gedanken rein, meine Absichten
die besten, meine Handlungsweise selbstlos; und doch war alles--so
falsch die Mittel sein mochten--das Ergebnis meiner unbegrenzten Hingabe
an Ihre Person. Das sagt Ihnen, Frau Gräfin, Ernst Tibet, der sich heute
für immer von Ihnen verabschiedet.“

Er sprach's und verließ das Zimmer. Ange stand da, wie ein weißer Stein.
Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Sie hörte, wie der Mann auf sein
Zimmer ging. Sie sah durch die Mauern, daß er sich eilte, seine Sachen
zu packen. Eine wahnsinnige Angst erfaßte sie; sie hätte aufschreien und
ihm nachstürzen mögen, und doch hielten sie die nachwirkende
Empörung--und das einmal gesprochene Wort zurück.--Nun ging auch er, der
letzte, den sie hatte und der doch--sie wußte es--ein Freund war, wie
außer Teut seinesgleichen nicht zu finden auf dieser liebeleeren Welt.

       *       *       *       *       *

Umfang und volle Bedeutung dessen, was geschehen war, stieg vor Ange
erst in den nachfolgenden Tagen auf. Auch die Reue blieb nicht aus, aber
Ange erstickte diese Regung. Ein Mensch, der für seine Überzeugung
kämpft, für den giebt's kein Rechts und kein Links. Nur ein einziger
gerader Pfad ist vorgezeichnet. So war es auch hier. Sprach ihr Herz zu
gunsten Tibets, so verwischte doch ihr stolzes, beleidigtes Gefühl
wieder die versöhnlichen Regungen. Das waren keine bloßen Worte gewesen,
die sie einst in Frankfurt gesprochen und deren Inhalt sie ihm später so
oft wiederholt hatte. Sie wollte, sie mußte den Weg gehen, welchen sie
ihm bezeichnet hatte. Ihr besseres Ich, ihr Ehrgefühl hatten
gesprochen, und diesen mußte sie folgen.

Vielleicht--es mochte sein--hatte sie die Dinge zu sehr auf die Spitze
getrieben, ließ ihrem verletzten Stolze zu sehr die Zügel schießen. Aber
lag nicht gerade in dieser Form, ihr Erleichterungen zu verschaffen,
etwas von jener leis spöttelnden Bevormundung, welcher sie sich
entziehen, zu der sie gerade Teut Recht und Veranlassung hatte nehmen
wollen?----So blieb in ihr haften, wogegen sich doch im Grunde ihr Herz
und ihr Verstand auflehnten, und sie tötete die mahnende Stimme ihres
Innern, die ihr sogar zurannte, daß ihre Handlungsweise gegen Tibet den
Grundsätzen hochherziger Gesinnung schon deshalb nicht entsprach, weil
sie ihn--sie mußte es eingestehen--zugleich schuldlos für die
Enttäuschungen ihrer Liebe hatte büßen lassen.

Schon am nächsten Tage traf ein vollkommen geschäftlich gehaltenes
Schreiben von Tibet ein, in welchem er die genaueren Angaben machte über
alles, was seither seiner Sorge anvertraut gewesen war und jetzt Ange
allein obliegen sollte. Insbesondere machte er ihr über ihre
Geldangelegenheiten Mitteilung und gab in höflich gemessener Form
Ratschläge, indem er auf den bisher von ihm beobachteten Gebrauch
hinwies. Um sie vor ferneren Enttäuschungen zu bewahren, bekannte er in
diesem Briefe, welche Ausgaben er ohne ihr Zuthun bestritten hatte, und
fügte endlich hinzu, daß er im Auftrage des Barons von Teut gehandelt
habe. Eine Angabe über die Höhe derjenigen Summe, mit welcher letzterer
für Ange eingetreten war, gab er aber nicht, und sie beeilte sich
deshalb--unter welchen Empfindungen ist leicht zu bemessen--ihn
schriftlich zu ersuchen, ihr sofort darüber eine Nachricht zukommen zu
lassen. Am Schluß des Tibetschen Briefes hieß es:

„Frau Gräfin werden über die Zwischenfälle heute nicht anders, aber
ruhiger denken, das ist meine sehnliche Hoffnung. Und da auch ich den
Dingen nach der gestrigen Unterredung mit veränderten Ansichten
gegenüberstehe, so mag es mir mit Rücksicht auf die jahrelangen
Beziehungen, die ich zu der Frau Gräfin pflegen durfte und in deren
Verlauf die gnädige Frau mir so oft ein Lob und ein freundliches Wort zu
erteilen geruhten, gestattet sein, zu sagen: daß ich tief bereue und
stets wiederkehren werde, sobald mich die Frau Gräfin rufen. Wenn diesem
Rufe hinzugefügt sein wird, daß die Frau Gräfin mir vergeben haben--ich
bitte Gott, daß dieser Tag mir noch einmal werden wird--, dann bin ich
entschädigt für alles, was auch mir Schweres, Ernstes und Sorgenvolles
in meinem Leben begegnete und das mich doch nicht hinderte, meine
höchste Lebensaufgabe darin zu erkennen, der Frau Gräfin und Ihrer
Familie ein bescheidener, wahrer, wenn auch in den Mitteln häufig
irrender Freund zu sein.

Ich bitte gehorsamst, die gräflichen Kinder grüßen zu wollen, denen ich
nicht einmal ein Lebewohl sagen konnte u.s.w.“

Ange las diesen Brief in tiefster Bewegung. Was hätte sie darum gegeben,
wenn die Dinge, die sich enthüllt hatten, nicht geschehen wären.

Plötzlich lag ihr Leben vor ihr wie eine endlos zu durchschreitende
Wüste, und doch fühlte sie jetzt schon, daß sie erlahmte. Ihr Herz
erbebte, obgleich sie kaum den Fuß über die Grenzen gesetzt hatte. Aber
sie raffte sich auf zum ernsten Tagewerk, und ruhige Überlegung gewann
die Oberhand.

Ange begann zu rechnen. Zum erstenmal in ihrem Leben beschäftigte sich
Ange von Clairefort mit Zahlen. Bis spät in die Nacht, wenn die Kinder
schon schliefen, schrieb und summierte sie, stellte fest und strich
wieder aus, fügte hinzu und kürzte von neuem. Und sie ward gewahr, was
jedem sich offenbart, der mit diesen unerbittlichen Ausrufungs- und
Fragezeichen zu kämpfen hat. Auch ihr erschienen alle Einnahmeposten
wie Quecksilberkügelchen, die man fassen zu können wähnt, und die dann
plötzlich in bisher unsichtbare Poren verschwinden, während die
Ausgabesummen zudringlich emporschießen, wachsen und sich vermehren.

Als Ange zum erstenmal alles zusammengestellt hatte und, glücklich
aufatmend, zu dem Resultat gelangt war, es werde gehen, da fiel ihr
plötzlich ein, daß Schulgeld und Steuern noch fehlten, daß der Feuerung
für den Winter, ihrer eigenen Garderobe, der Abzahlung an Teut nicht
gedacht sei, daß die unvorhergesehenen Ausgaben--und sei's auch nur eine
Gabe der Wohlthätigkeit--nicht mit vorgesehen wären.

Nun ging's abermals ans Rechnen, aber die Zahlen waren wenig biegsam und
trotzten allem Beschönigen. Und mit diesem Unvorhergesehenen war's nicht
einmal am Ende! Wenn--wenn--Krankheit kam? Arzt, Apotheker--das
Vielerlei, was zu einer sorgfältigen Pflege gehört! Ange sann und
plante. Wo konnte noch gespart werden? Gab's nicht einen Posten, der
überflüssig erschien?--Nein, nein!--Und wenn sie nun selbst krank ward,
wenn sie gar--Was wurde aus den Kindern? Konnte sie nicht sterben? War's
nicht erste, vornehmste Pflicht, an diesen Fall zu denken? Mußte sie
nicht ihr Leben versichern?--Aber woher nehmen? Da fiel's wieder wie
Regenschauer auf ihre Seele, da raunte ihr eine fürchterlich nüchterne
Stimme zu, daß selbst der beste, ehrlichste Anfang doch nur ein
schlechtes Ende haben könne. Sie vermochte mit ihrem kleinen Zinskapital
nicht alles zu bestreiten. Es war unmöglich, unmöglich!

Aber Ange erstarkte in ihrem Pflichtgefühl und in ihrer Liebe zu den
Kindern und beschloß zu handeln. Sie schrieb an den Direktor des
Gymnasiums und bat um Nachlaß des Schulgeldes, indem sie begründete,
worauf sie schon einmal hingedeutet hatte. Wegen einer Ermäßigung der
Steuern befragte sie an einem der kommenden Tage ihren Nachbar um Rat.
Sie empfand keine Scham dabei, während sie doch ehedem schon gezittert
hatte, ihr Diener könne bemerken, daß ihr das Geld zur Reise fehle. Sie
schüttelte verwundert den Kopf, als sie dieser Zeit gedachte; ja, sie
begriff heute nicht, daß ihr das Eingeständnis ihrer bedrängten Lage
jemals schwer geworden sei.

Und nun begann in der Folge der wirkliche Lebenskampf. Welche
Auseinandersetzungen mit den Kindern, wenn sie nach alter Gewohnheit
irgend etwas begehrten, das ihnen die Laune eingab!

„Nein, nein!“ sagte Ange.

„Weshalb nicht, Mama?“

„Weil ich es nicht will; weil es überflüssig ist.“

Die kleine Ange, bisher ohne eine Entbehrung, schielte dann wohl zum
Einholen eines beipflichtenden Lächelns wegen dieser unerwarteten Worte
zu den älteren Geschwistern hinüber. Aber sie fand kein Echo für ihren
kindlichen Unverstand. Jene fühlten mit ihrem Instinkt, daß die Sache
durchaus nichts Komisches habe.

       *       *       *       *       *

Das erste, was Ange nach Tibets Fortgang überlegte und in der Folge auch
zur Ausführung brachte, war eine noch strengere Tageseinteilung als
bisher. Sie stand in aller Frühe auf und sorgte, daß die Kinder
Frühstück erhielten und in die Schule gelangten.

Während die Magd Einkäufe machte und nach diesen an die Vorbereitung für
das Mittagessen ging, besorgte Ange die übrige Hausarbeit.

Gleich nach Tisch begannen die Arbeitsstunden für die Kinder. Ange
suchte den Knaben sowohl behilflich zu sein wie den Mädchen und gab den
letzteren auch täglich den von Tibet erwähnten Musikunterricht.

Wenn die Witterung es erlaubte, ward ein gemeinsamer Spaziergang
unternommen, und den Rest des Tages beschäftigte sich Ange mit dem
Vielerlei, was zu einer Wirtschaft gehört: dem Ausbessern der Kleider,
mit Handarbeit und ihrem kleinen Rechnungswesen.

Alle ihre Gedanken waren auf die Kinder gerichtet. Aus den
Schulbibliotheken wurden Bücher herbeigeholt, und abwechselnd las eines
der Kinder abends vor. Die sich daran knüpfenden Fragen beantwortete
Ange nach bestem Können, und wenn dieses nicht ausreichte, griff sie zu
Hilfsmitteln, die sich unter Carlos' Nachlaß befanden, und saß dann--ein
Kind unter Kindern--und suchte auch sich neugierig zu belehren.

Jeden Wunsch, der in ihren Lieblingen aufstieg, hörte sie an, und
überlegte vorher, ob er erfüllbar sei. Sie hatte sich zum Grundsatz
gemacht, nie gleich ja zu sagen, sondern sich erst Bedenkzeit
auszubitten. Wenn sie dann--wie meistens--eine abschlägige Antwort
erteilte, begann wohl ein: „Warum nicht, Mama? Bitte!“ und ein Betteln
und Drängen, dem sie nur schwer zu widerstehen vermochte. Die Kinder
hatten so viele Grunde wie draußen Blüten auf den Bäumen, und wo diese
fehlten, schmeichelten sie und machten Angriffe auf Anges schwaches
Herz. Aber sie blieb fest, wenn es auch heiß in ihrem Inneren aufstieg.
Ben stand ihr stets zur Seite und wehrte die übrigen ab. Er hatte viel
Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Carlitos. Der Knabe war voll
Herzensgüte, er besaß Charakter, und für seine Jahre überraschte er
durch die Reise seines Urteils und das Gesetzte seines Wesens. Dabei war
er voll Aufopferung für seine Mutter, die er zärtlich liebte. Sobald es
ihr galt, war ihm keine Arbeit zu schlecht oder zu schwer; wenn keiner
Zeit hatte--er hatte sie stets. Er half ihr, selbst bei Küchenarbeit,
und lief fort, wenn etwas rasch besorgt werden mußte.

Der Knabe fühlte nicht mehr instinktiv, sondern war sich bewußt, wie die
Dinge lagen, und sein Herz trieb ihn, seiner Mutter die täglichen
Beschwerden zu erleichtern.

Das alles aber trat nur zum Vorschein im Hause. Draußen war der Knabe
ein völlig anderer. Vor allen übrigen besaß er einen brennenden Ehrgeiz.
Jeden Tag berichtete er, was in der Schule geschehen, wie ihm Recht oder
Unrecht geworden, und er überlegte, wie er es anzufangen habe, auf den
Sprossen seiner Sturmleiter weiter emporzusteigen.

Und alles stand ihm gut; er konnte nicht anders sein, wie er war. Wenn
aber einmal ein Lächeln über sein hübsches Gesicht glitt oder gar seine
Augen tiefere Empfindungen widerspiegelten, dann war der so schön, daß
er einem Maler hätte Modell stehen können.

„Wie heißt Du?“

„Graf Benno von Clairefort.“

Nie nannte er sich anders, aber seltsamerweise rief dies selbst bei
Erwachsenen kein Lächeln hervor.

       *       *       *       *       *

Bisweilen schien Ange altes, was früher gewesen, wie ein Traum, und in
diesem Bilde ihrer Vorstellungen tauchte immer von neuem Teut auf. Wer
ihr einstmals gesagt hätte, sie werde ihn ängstlich fliehen, und deshalb
fliehen, weil er Wort gehalten in allem, was er ihr damals in besseren
Tagen im Walde versprochen, und welches doch das Höchste war, was ein
Mensch dem anderen gewähren konnte--den würde sie einen unverständigen
Thoren gescholten haben. Und doch war's kein Traumbild. Sie war heute
vielleicht von ihm getrennt--fürs ganze Leben! Würde er, nach der
bisherigen Beurteilung ihrer Person, ihre Haltung nicht als eine
Weiberlaune deuten? Sie sah ihn vor sich--das überlegene Lächeln
umspielte seinen Mund, er schüttelte über solche Kindereien den Kopf.
Hatte er gar recht?

Und dann kam's wieder über sie eines Tages in dem grübelnden Suchen
nach dem Rechten, in der ängstlichen Besorgnis, den verletzt zu haben,
dem sie so viel verdankte und der nun stumm blieb, als ob er unter die
Toten gegangen.

Sie beschloß, ihm zu schreiben und ihren Standpunkt zu verteidigen. Aber
mitten darin hielt sie wieder inne.

Was sie auch schrieb, sie konnte seine Gedanken nicht beeinflussen.
Vielleicht betrachtete er den Inhalt ihres Briefes nur als Vorwand ihrer
veränderten Gesinnung. Und war's nicht auch begreiflich, natürlich, daß
sich nun auch sein Stolz regte? War er einer von denen, die sich anderen
zudringlich nähern? Nein! Und da er ihr nicht mit denselben Gefühlen
gegenüberstand--sie wußte es nun aus Tibets Munde--, hatte er ihr
Andenken vielleicht ausgelöscht--ausgelöscht für immer?

Und nun sollte sie das erste Wort geben, in ihm den Eindruck
hervorrufen, endlich sei sie durch Lebensnot und Sorge, gedrängt auch
von ihrer alten Natur, doch gekommen und habe erbeten, was sie einst so
schroff zurückgewiesen? Nimmermehr! Vorbei war's mit all den Hoffnungen,
die sich an frühere Zeiten knüpften! Es gab nur einen Lichtstrahl: das
Glück der Kinder, und in diesem allein mußte sie ihr eigenes suchen.
Somit unterblieb das Schreiben.

Aus dem schwankenden Herbst schritt allmählich der Winter mit
rücksichtslosen Schritten hervor, stäubte, des Widerstandes nicht
achtend und seines Rechtes sicher, mit Schneewirbeln über die Landschaft
und schlug die ganze Natur in seine weißen Decken ein.

Aber mit dem Winter traten auch die Sorgen wie weiße Gespenster an Ange
heran. Als sie von ihrem Bankhause die Quartalszinsen erhielt und einen
Überschlag machte, was noch zu bezahlen und was nötig war, bis das neue
Jahr erschien, sah sie, daß ihr jetzt schon fast nichts mehr blieb. Ange
hatte trotz äußerster Sparsamkeit kleine Schulden machen müssen, und die
von Tibet gemeldete erschrecklich hohe Summe, welche Teut in dem ersten
halben Jahre zu ihrem Haushalt beigesteuert hatte, ragte noch drohend
über dem übrigen empor. Gerade diese zu tilgen, beschäftigte immer aufs
neue, zulegt fast ausschließlich Anges Gedanken. Schon machte sie sich
Vorwürfe, daß sie nicht früher abgezahlt hatte. Teut triumphierte
vielleicht, daß sie so eilfertig und trotzig darnach begehrt--und nun
doch alles still war.

Sie beschloß--es war ein falscher Entschluß--ihren Nachbar, einen
kleinen, mit einer Haushälterin lebenden Kapitalisten--um eine größere
Summe darlehnsweise zu bitten und solche Teut sogleich einzusenden.

Als sie schon auf dem Wege war, flüsterte ihr eine besonnene Stimme zu,
daß ein einziges Goldstück als Abtrag genügen werde, um sich vor sich
selbst und vor Teut zu rechtfertigen. Aber mit leiser Eitelkeit
vermischter Stolz überwog, was bessere Einsicht ihr zurannte, und sie
zog die Klingel und betrat das Haus.

Es giebt Wohnungen, denen eine kalte Luft entströmt, selbst zur
Sommerszeit. Frostiges Selbstbehagen, das einen engen, abwehrenden Kreis
um sich zieht, die übrige Welt nur sieht, sie nur anhört und sich nur
mit ihr beschäftigt, sofern diese keinerlei Ansprüche erhebt,
durchdringt die Bewohner und wirkt so erkaltend, daß es sich selbst den
toten Dingen mitzuteilen scheint.

Als Ange den Flur beschritt, überfiel sie jene Zaghaftigkeit, welche
fast immer den allzu raschen Vorstellungen unserer Phantasie zu folgen
pflegt.

Auf dem großen Flur standen zwei in peinlicher Sauberkeit gehaltene, in
Eichenholzfarbe gemalte Schränke, die den Eintretenden schon kalt
anstarrten. Und sonst nichts ringsum: kein Spiegel, keine Stühle, keine
Kleiderhaken, keine Uhr. Was eine rasche Hand etwa stehlen konnte, war
weislich entfernt. Ein kalter, übersauberer, abgeschlossener Raum, in
dem die Klingel impertinent laut nachtönte! Nun klopfte Ange.

„Ah, Frau Gräfin!“ sagte die Gesellschafterin artig. Es war eine alte
Dame in einem einfachen dunklen Kleide und mit einer weißen Mütze auf
dem Kopf. „Bitte, Herr Putz ist zugegen.“

Putz hatte nichts in der Welt zu thun; er schwatzte überaus gern, sprach
eigentlich nur von sich und stand trotz seines Egoismus und der
Langenweile, die er ausströmte--lediglich im Raterteilen war er ein
Verschwender--unter dem Eindruck, der Verkehr und Umgang mit ihm sei für
andere ein ungewöhnlicher Vorzug. Daß er nur seinen Neigungen dabei
folgte, lediglich sich selbst die Zeit vertrieb, und daß durch den
Verkehr irgend eine Gegenseitigkeit erwachse, diese Gedanken kamen nie
in seinen Kopf.

Während Ange sich umschaute, hatte sie beim Anblick der Personen und der
altbekannten Dinge plötzlich die Überzeugung, ihre Bitte werde ihr
abgeschlagen werden. War's doch Putz, den sie bereits in ihre
Verhältnisse einen Einblick hatte thun lassen, indem sie ihn um Auskunft
wegen Ermäßigung der Steuern gebeten. Es war ihr unfaßlich, daß sie das
nicht vorher bedacht, und sie schalt ihren Mangel an Überlegung nun, da
es zu spät war.

Ange fand übrigens nicht so rasch Gelegenheit dem Alten vorzutragen,
was sie beschäftigte. Die Gesellschafterin war ein unliebsamer Zeuge,
und selbst, als diese einmal fortging, fand sich kein Anknüpfungspunkt.

So wurden denn gleichgültige Gesprächsgegenstände berührt, und Ange
empfand doppeltes Unbehagen an der Unterhaltung, da sie ihre Absicht
nicht auszuführen vermochte.

Plötzlich sagte Putz: „Nun, haben Sie Nachricht von der Steuerbehörde,
Frau Gräfin? Ich wollte schon immer fragen.“

Ange bejahte. Sie berichtete, daß man sie aufgefordert habe, ihre
Anträge nachweislich zu belegen, und daß dann eine nochmalige Prüfung
stattfinden solle. Vorläufig müsse die Summe gezahlt werden, zu der sie
eingeschätzt sei.

„Ganz recht, ganz recht! So, so!“ sagte der Alte, und nach kurzer Pause
fuhr er fort: „Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein könnte, Frau
Gräfin--recht gern, mit größtem Vergnügen!“

Die Gesellschafterin war noch nicht zurückgekehrt. Diese freundlichen
Worte ermutigten Ange. Nun, so konnte es denn sein! Plötzlich war sie
wieder voller Hoffnungen.

„Ich danke Ihnen sehr, Herr Putz. Ich wollte auch noch in einer anderen
Sache Ihren Rat oder vielmehr Ihre Hilfe erbitten.“

„Bitte, bitte, Frau Gräfin!“ Der Alte war immer neugierig. Das Gespräch
hatte schon etwas geschleppt, nun ward es wieder anziehend.

„Also, Herr Nachbar, ich möchte Sie fragen, ob Sie mir wohl zwölfhundert
Mark würden leihen wollen, die ich nach und nach abzahlen könnte. Ich,
ich--“ Ange stockte.

„Bitte, Frau Gräfin!“ Putz wollte alles hören. Es fiel ihm nicht ein,
auf dergleichen Dinge einzugehen, aber hören wollte er. Anges Vertrauen
wuchs.

„Ich habe,“ fuhr sie geläufiger fort, „eine einzige alte Schuld, die
mich zwar nicht drückt, durchaus nicht drückt--ich meine, derentwegen
ich nicht gedrängt werde, die ich aber aus anderen Gründen--“

„Hm, ich begreife,“ sagte Putz. Und als Ange nicht gleich fortfuhr,
fügte er, seine Neugierde nur schlecht unterdrückend, hinzu: „Von einem
Verwandten wahrscheinlich?“

„Nein, nicht von einem Verwandten; ich habe überhaupt nicht einen
einzigen Verwandten auf der Welt, weder von seiten meiner Eltern noch
von seiten meines Gatten.“ Wie unvorsichtig war diese Offenherzigkeit!
Ange sah es ein--zu spät. Ihr war plötzlich, als ob sie Olga von Ink
gegenübersäße, und all ihre Hoffnungen sanken in einen tiefen Brunnen.
„Ich habe das Geld von--von--“ Nun stand Ange sogar vor dem Namen; sie
sollte vor diesem Menschen Teuts Namen aussprechen! Wohin war sie
geraten! Sie suchte und griff in ihrer Ratlosigkeit zu einer Unwahrheit,
vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben, wo es sich um ernste Dinge
handelte. „Von Herrn Tibet,“ platzte sie heraus.

„Ah so!“ sagte Putz, offenbar aufs höchste überrascht, und zog die
Augenbrauen über die listigen Augen. „Von Herrn Tibet? Er ist fort,
nicht wahr? Kehrt er überhaupt nicht zu Ihnen zurück?“

Ange bereute, was sie gesagt; wie bereute sie überhaupt jetzt, daß sie
gesprochen! Es wurde ihr klar, daß der Mann nur seine Neugierde
befriedigen wolle und daß der Gegenstand ihn nicht im geringsten
interessiere.

Sie war nun auf demselben Punkt angelangt, von dem sie in richtiger
Erkenntnis ausgegangen. Sie hatte endlich wirklich die Enttäuschung,
nach der sie verlangt hatte.

„Nein, er kehrt nicht zurück,“ sagte sie kurz abweisend. „Aber, um
wieder auf die Sache zu kommen: wie ist es, Herr Putz, würden Sie mir
die Hand bieten?“

Auskosten mußte Ange die Enttäuschung bis auf den Grund.

„Ich kann nicht, Frau Gräfin, mit dem besten Willen kann ich nicht!
Aber--Sie gestatten, daß ich ein freundschaftliches Wort hinzufüge und
meine Ansicht ausspreche. So sehr ich begreife, daß man seinem
Dienstboten kein Geld schuldig bleiben möchte--“

Ange unterbrach den Sprechenden und sagte stolz: „Sie gebrauchten den
Ausdruck Dienstbote! Das ist durchaus nicht zutreffend! Tibet war der
Sekretär und Bevollmächtigte meines Gatten und zugleich Haushofmeister
in unserem früheren großen Hauswesen. Er folgte mir aus Freundschaft,
nachdem meine Lage sich verändert hatte.“

„Ah, ah, ganz wohl! Dann steht die Sache ja sehr günstig. Erlauben Sie
einem erfahrenen Mann, Frau Gräfin! Selbst wenn ich Ihnen dienen könnte,
würde ich mir den Vorschlag erlauben, daß Sie dort Stundung erbitten und
lieber den alten Gläubiger behalten, trotz etwaiger Peinlichkeiten. Geld
ist Geld! Wer's giebt, will Sicherheit, und--und--“

„Sie haben recht!“ fiel Ange fast übereilig ein. „Sprechen wir nicht
weiter davon! Nur eins zu meiner Rechtfertigung! Ich ging davon aus, daß
es Ihnen nicht unbequem sein werde, und da völlige Sicherheit in meiner
Person liegt--“

„Natürlich, natürlich, Frau Gräfin! Ich würde Ihnen das Geld auf bloßen
Schuldschein geben--selbstverständlich!“

       *       *       *       *       *

Nachdem vier Wochen vergangen waren, fand sich Ange fast völlig von Geld
entblößt, und sie sann und sann, auf welche Weise sie sich helfen könne.
Auch der Nachbar kam ihr wieder in den Sinn. Gewiß, wenn sie nicht ihrer
thörichten Eingebung gefolgt wäre--von ihm hätte sie eine kleine
Aushilfssumme bereitwillig erhalten. Ob er sie jetzt noch geben würde?
Vielleicht! Aber die Scham überwog den Drang der Not, und sie gab den
Gedanken auf.

Einmal überlegte sie auch, an das Bankhaus zu schreiben und um einen
Vorschuß auf das Januarquartalsgeld zu bitten. Daß dergleichen von ihr
versucht werden könne, war ihr bisher nicht einmal in den Sinn gekommen.
Nun weckte die Sorge praktische Gedanken. Aber auch diesen Plan ließ sie
wieder fallen.

Der Jahresanfang erforderte so viel, daß sie schon nicht wußte, wie
auskommen. Schaffte sie jetzt Hilfe, so entbehrte sie in der Folge. Das
war nur ein schwacher Notbehelf, und vielleicht gelang's nicht einmal,
und sie bereute später den Schritt.

Mit einemmal türmte sich wieder vor ihr auf, wie schwer, wie ganz
unmöglich es sein werde, mit ihren geringen Mitteln auszukommen, und zu
dieser Einsicht schlich sich ein anderer Gedanke, der sie so ängstlich
peinigte, daß ihr die Röte in die Wangen stieg. Hatte sie überhaupt ein
Recht gehabt, ihren Nachbar um Geld in solcher Höhe anzugehen? War's
nicht leichtsinnig gewesen und mußte sie sich nicht schämen, daß sie so
stolz auf ihre Person als Sicherheit hingewiesen hatte?--

Eines Abends machte sich Ben, nachdem die übrigen Kinder bereits zur
Ruhe gegangen waren, im Wohnzimmer zu thun. Ange nähte an der kleinen
Ange Schulmappe, an der ein Riemen sich gelöst hatte. Die Nadel war zu
fein, es ward ihr schwer.

Plötzlich setzte sich der Knabe ihr gegenüber, blieb einen Augenblick
stumm und begann dann mit einem eigentümlichen Ton in der Stimme:

„Du, Mama, weshalb ist eigentlich Tibet fortgegangen? Du erzähltest
neulich, ihr hättet ein Zerwürfnis gehabt; war es etwas--etwas mit
Geld?“

Ange neigte den Kopf; dann sagte sie: „Ja, ja, Ben, das verstehst Du
nicht.“

„Doch, Mama. Wollte er Geld von Dir haben und konntest Du es ihm nicht
geben?“

„Nein, Ben, es war umgekehrt.“

„Umgekehrt--wie? Wolltest Du Geld von ihm--“

„Du verstehst falsch, Ben. Er wollte--er gab mir Geld--das heißt--Nein,
das ist auch nicht richtig. Ich weigerte mich, von ihm--etwas
anzunehmen, und deshalb--“

Des Knaben Pupillen erweiterten sich, und es jagte über sein Gesicht.

„Er wollte Dir Geld geben, und weil Du es nicht nehmen wolltest, ging
Tibet fort?“

„Nein, Ben, ich hieß ihn gehen. Aber ich wiederhole, daß ich Dir das
nicht erzählen, nicht erklären kann.“

„Doch, Mama!“ sagte Ben fest. „Erzähle mir alles, bitte. Ich bin nicht
mehr ruhig, wenn ich nicht alles weiß. War Papa nicht sehr reich? Hat er
all sein Geld verloren?“

Ange nickte.

„Hat Tibet damit zu thun?“

„Nein, Ben. Papa war allerdings sehr reich, verlor aber sein Geld in dem
Bestreben, es für Euch noch zu vermehren. Als er starb, war nichts mehr
da.“

„Nichts? Das war unrecht. Das war--“ Der Knabe unterbrach und bezwang
sich. „Ah, und nun wollte Tibet Dir helfen, und Du wolltest nichts
nehmen, und--“

„Ja, ja, so ähnlich war es, mein lieber Junge. Aber noch einmal: Du
vermagst den inneren Zusammenhang nicht zu verstehen, frage mich nicht
weiter.“

„Er meinte es doch aber gut, Mama!“

Ange senkte den Kopf.

„Bist Du ihm böse? Werdet Ihr Euch nicht wieder vertragen?“

„Ich weiß es nicht, mein guter Ben. Ich glaube es nicht--“

„Und weshalb? Nur, weil--“

Abermals bewegte Ange sanft zustimmend das Haupt.

„O, hab ich Dich lieb!“ stieß der Knabe hervor und umhalste seine
Mutter. „Wenn ich doch erst groß wäre und--und--“

Kraft und Eroberungslust blitzten in seinen Augen. Wenn's an ihm gelegen
hätte, er würde seine liebe Mama auf die Arme genommen und durch das
Gewühl der Welt getragen haben.

Als sie ihn nach einer zärtlichen Umarmung entließ und er schon mit
einem „Gute Nacht!“ in der Thür stand, überflog sein Auge noch einmal
ihre Gestalt. Er kehrte zurück, umfaßte sie stürmisch und flüsterte:

„Bitte, arbeite nicht zu lange. Ich schlafe nicht ein, bevor Du zu Bett
gehst. Ja, Mama?“

Welche heiße Liebe blitzte aus beider Augen! Nun schlüpfte er fort und
suchte sein Lager auf.

       *       *       *       *       *

Das war ein Winter. Seit Tagen lag ein starrer, unbeweglicher Schnee auf
der Landschaft, und die Luft trug jenes liebeleere Grau, bei dessen
Anblick uns schon fröstelt und schaudert. Dazu kam ein rücksichtsloser,
Mark und Bein durchkältender Ostwind, der seinen Hauch durch die
festverschlossenen Thüren jagte und aller Abwehr in den Häusern
Widerstand entgegensetzte.

Die Kinder kamen mittags, von Frost und Kälte geschüttelt, nach Hause,
und da die in dem oberen Teil der Villa gelegenen Schlafgemächer nicht
geheizt wurden, war morgens das Wasser in den Krügen kegelspitz
gefroren, und nur ein Fingernagel vermochte die Arabesken des Eises zu
durchdringen, mit dem die Fenster beschlagen waren.

Die Feuerung war schon wieder verbraucht. Die Magd meldete, daß sie die
letzten Körbe vom Boden herabgeholt habe. Fred kam nach Hause und hatte
sich auf dem Eise beschädigt. Die Beinkleider waren auf dem Knie
geplatzt, und Ange schalt und suchte unter dem Vorrat nach anderen. Was
aber der Knabe an Garderobe besaß, war zu leicht, und so mußte Ange nach
dem Schneider senden, um sie ausbessern zu lassen, da sie solche Arbeit
nicht verstand. Das war am Ende nichts, aber oft sind's eher die kleinen
Verdrießlichkeiten, die uns das Leben erschweren, als die großen.

Über Ernas Winterhut hatten die Mädchen in der Schule allerlei Spott
getrieben. Der gehöre wohl ihrer Mama oder sei aus einer
Komödiantengarderobe? so berichtete sie aufgeregt. „Freue Dich, daß Du
einen Hut hast, mein Kind: er ist heil und sauber. Laß die Kinder
reden.“

Aber wenn Ange dies auch sagte, schnitt es ihr doch ins Herz. Es war
allerdings ein Hut, den sie selbst abgelegt hatte, und das Kind sah
seltsam darin aus. Einen anderen kaufen? Nein! Sie hatte nicht einmal
Geld, Feuerung zu bestellen, die so bitter nötig war.

Im Anfang hatten die Kinder noch alle hübsche, ja äußerst kleidsame
Gewänder. Die beiden Mädchen sahen so zierlich und vornehm aus, daß die
Menschen sich nach ihnen umschauten. Aber inzwischen war so vieles
schadhaft geworden und nicht erneuert. Die kleine Ange trug zum
erstenmal auf den Knieen gestopfte Strümpfe und zog das Kleid herunter,
das dadurch doch nicht länger ward und nichts verbarg.

Die Kopfbedeckungen der Knaben waren reichlich abgenutzt, und Kragen und
Manschetten mußten länger dienen als früher. Bisweilen drang's Ange mit
Messern durch die Brust, wenn sie das Aussehen ihrer Lieblinge mit dem
anderer Kinder verglich.

An einem dieser Abende saß Ange unthätig an ihrem gewohnten Arbeitsbuch
und stützte voller Kummer und Sorge das Haupt. Sie dachte aber nicht
einmal an die Gegenwart, sie beschäftigte sich mit der Zukunft. Sie
mußte rasch die jetzige Wohnung aufgeben, sie war zu teuer. Auch konnten
die Mädchen so kostspielige Schulen ferner nicht mehr besuchen. Die
guten Kleider, die Ange noch besaß, waren besser zu verkaufen oder für
die Kinder zu ändern. Ja, das alles mußte--mußte geschehen! Nur wenn sie
die bisherigen Ausgaben um die Hälfte einschränkte, dann konnte sie
auskommen.

„Du bist wieder so betrübt“ flüsterte Ben, seine Mutter sanft
umschlingend. Die übrigen Geschwister waren noch anwesend; immer scheute
sich der Knabe, seine Gefühle vor ihnen zu zeigen. Gerade hustete
Jorinde ängstlich auf und draußen pfiff und tobte es um die lose
befestigten Fensterladen.

„Nein, nein!“ erwiderte Ange, vor den Tönen zusammenschauernd. „Geh ins
Bett, mein süßes Kind.--Und ich komme gleich nach und bringe Dir einen
heißen Trank,“ fuhr sie, zu Jorinde gewendet, fort, die aufgestanden war
und sich an sie schmiegte.

„Es ist so kalt oben; ich fürchte mich auch. Soll Erna nicht auch zu
Bett gehen, Mama?“

Es war so kalt! Und Ange konnte nicht heizen. Während der letzten Tage
hatte sie eine völlige Apathie erfaßt; die Dinge mußten sich durch
irgend etwas ändern;--wie, das wußte sie nicht; sie that auch nichts
dafür. Aber es konnte sich doch nichts ändern, ohne daß sie handelte.

„Ich will Dir, solange es noch so kalt ist, das Bett drinnen auf dem
Sofa einrichten,“ entschied Ange. „Ja, ja, mein liebes Kind, es ist zu
frostig oben, es ist nicht gut für Deine Brust. Wir müssen sehen, wie
wir's machen.“

In diesem Augenblick entstand ein Streit zwischen den Geschwistern. Fred
neckte die beiden Mädchen, Ange weinte und Erna schrie auf, als er die
Hand gegen sie erhob. Bisher hatte Ben stumm neben seiner Mutter
gesessen. Er hörte alles und es grub sich in ihn ein. Er sprang empor
und fuhr gegen seinen Bruder auf. Er packte ihn an die Brust und
schüttelte ihn wie eine Katze, die sich einer Maus bemächtigt hat. Unter
der seelischen Erregung, unter dem Mitgefühl für seine Mutter, unter dem
Leid um seine kranke Schwester ging es zehrend durch sein Inneres. Nun
hatte ihn die Empörung erfaßt, daß der leichtfertige Ruhestörer selbst
jetzt keine Rücksicht nahm.

„Ben! Ben!“ rief Ange voller Schrecken und mischte sich unter die
kämpfenden Knaben. Fred hatte seinen Bruder in die Haare gefaßt und
suchte ihn unter keuchendem Atem herabzuziehen.

„O, Du! Du! Kannst Du nicht einen Augenblick Rücksicht nehmen? Ich
wollte Dir schon lange eine Lektion geben! Nein, lass' mich, lass' mich,
Mama!“ trotzte Ben gegen Anges Befehl und Mahnung auf. „Er hat es
verdient! Er ist es gar nicht wert, daß Du ihn so lieb hast!“

Und nun lagen beide auf der Erde, und Ben schlug seinen Bruder in
besinnungsloser Wut auf Kopf und Schultern. Und die kleine Ange weinte
geängstigt, die Kranke hustete und Erna stand voll Mitgefühl da und
faltete ratlos die Hände. So wüteten Krankheit, Sorge und Unfriede im
Hause.

„Auch das noch!“ seufzte Ange wie verzweifelt und ließ sich in ihren
Stuhl fallen. „O Ben, Fred! Daß ihr mir auch noch solchen Kummer
macht!“ Sie weinte und schluchzte.

Es giebt Augenblicke, in denen alles tot und trostlos um den Menschen
ist; in denen seine Seele weint, und ihm traurig ist zum Sterben.

Die Knaben hatten sich erhoben und ordneten ihre Kleider. Ihr hastiger
Atem ging durchs Gemach; ihre Glieder bebten unter der Erregung. Als Ben
aber seiner Mutter Stimme hörte, als die gerechte Anklage sein Ohr traf,
zog plötzlich jähe Blässe über sein Gesicht; er stürzte hinaus, eilte im
Dunklen auf sein Zimmer, warf sich ins Bett und vergrub das weinende
Antlitz in die Kissen.

Als endlich der Schlaf ihn übermannen wollte, als nach wühlenden
Gedanken und nagenden Vorwürfen die Erschlaffung eintrat, blitzte in dem
kalten, von dem Silberweiß des Winters umrahmten Gemach plötzlich ein
Licht auf, und fast wie eine überirdische, aber trostreiche Erscheinung
trat zu ihm seine Mutter mit den tiefen dunklen Augen und dem blassen
zarten Gesicht. Eine sauste Hand legte sich auf seinen Kopf, und weiche
Wangen schmiegten sich zärtlich an die seinigen.

„Du Trotzkopf!“ sagte sie und sah ihm in die Augen. „Nun schlaf' Dich
aus und--Ben, thu's mir zuliebe--vertrag' Dich morgen mit Deinem Bruder
und gieb ihm das erste Wort!“

Er zögerte, aber er nickte doch, da sie es wollte.

„Ich weiß, ich weiß, Du ängstigst Dich um mich; um meinetwegen erhobst
Du die Hand gegen ihn,“ flüsterte Ange bewegt. „Aber es war nicht recht,
Ben! Du thust's nicht wieder, Ben, mein Ben?“

Und da schlangen sich seine Knabenarme um ihren Nacken. Weinend und
schluchzend hing er an ihrem Halse und bereute, daß er aus Liebe gefehlt
hatte.

       *       *       *       *       *

Ange entschloß sich nach schwersten Kämpfen, an einem der nachfolgenden
Tage nun doch mit ihrem Nachbar zu sprechen und ihn um etwas Geld
anzugehen. Sie wußte keinen Rat mehr, war am Ende mit der geringfügigen
Summe, welche ihr geblieben war, und stand vor einer Not, vor welcher
alle Bedenken schweigen mußten.

Sie schrieb an Putz zu diesem Zwecke einen kurzen Brief, in welchem sie
die Bitte aussprach, sie wegen einer dringenden Angelegenheit bei seinem
gewohnten Morgenspaziergang durch einen Besuch erfreuen zu wollen.

„Nun, verehrte Frau Gräfin, da bin ich,“ sagte er, stieß den Schnee von
den Füßen und trat in das Wohnzimmer.

Ange stand noch in einer weißen Schürze, und ihre Hand hielt ein
Wischtuch und einen Staubwedel, mit welchem sie Winkel und Ecken
gesäubert hatte. Ben, der nun auch wie Jorinde wegen eingetretener
Erkältung das Zimmer hüten mußte, befand sich im Nebengemach. Er trat
bei des Nachbars Erscheinen einen Augenblick hervor, verbeugte sich
höflich und zog dann leise die Thür an. Nun war Ange mit Putz allein.

„Bitte, nehmen Sie Platz, lieber Herr Nachbar,“ sagte sie etwas
verlegen, streifte die Schürze ab, strich über die erregte Stirn und
holte einen Stuhl herbei, um sich ihm gegenüber zu setzen.

„Wollen Sie nicht im Sofa--“

„Nein, bitte, bitte, ich sitze hier sehr gut. Muß auch gleich wieder
fort,“ erwiderte er kurz, legte während des Sprechens die Hände auf den
Knopf seines Spazierstockes und richtete sein noch von der Kälte
umwehtes, aus dem hohen Pelz herausschauendes listiges Gesicht auf Ange.
„Sie schrieben mir, daß Sie mich zu sprechen wünschten, Frau Gräfin.“

„Ja, Herr Putz, und ich habe zunächst um Entschuldigung zu bitten, daß
ich Sie bemüht habe, statt zu Ihnen zu kommen.“

„Das hat ja nichts auf sich,“ erwiderte er ebenso kurz und fuhr mit
einem Anflug von Ungeduld fort: „Nun also, Frau Gräfin, bitte--“

„Ich sprach neulich mit Ihnen über eine Geldsache, Herr Putz. Sie hatten
die Güte, mir Ihren Rat zu erteilen, und ich fand bei näherer
Überlegung, daß Sie recht hatten,“ begann Ange rücksichtsvoll. „Heute
handelt es sich um Ähnliches, aber um etwas--“ Ange hielt mitten im
Sprechen inne, erhob sich, ging an ihren Schreibtisch und nahm ein
Geldbriefkouvert heraus. „Sehen Sie, Herr Putz, das ist die letzte
Geldsendung, welche ich am ersten Oktober empfing. Es sind Zinsen, die
ich vierteljährlich erhalte. Ich komme bis Neujahr nicht aus--ich hatte
viele unerwartete Ausgaben gerade in den letzten Tagen. Da wollte ich
Sie nun freundlich bitten, Herr Putz, daß Sie die große Güte haben
möchten, mir bis Januar mit einer Summe auszuhelfen.“

Ange hielt zaghaft inne und blickte den Mann an, der wie eine
Brunnenfigur vor ihr saß und keine Miene verzog.

Er schielte auf das Kouvert, das Ange auf den Tisch gelegt hatte, sah
nur zu genau, that aber, als ob er gleichgültig hinüberblinzele, und
sagte dann kalt:

„Ja, ja, kann's mir wohl denken--würde auch wohl gefällig sein, Frau
Gräfin. Ich will aber gleich bemerken, daß ich vor Neujahr auch sehr,
sehr knapp bin. Ich erhalte Anfang Januar--gerade wie Sie--mein Geld,
und jetzt, gegen Ende des Monats und um das Fest herum, ist's fast
unmöglich! Wieviel brauchen Sie denn?“

Ange nannte eine beträchtlich geringere Summe, als sie vor diesen in
einem so wenig ermunternden Tone gesprochenen Worten hatte erbitten
wollen.

Putz schien nach einem festen Grundsatz zu handeln, denn er sagte ohne
Besinnen einfallend:

„Ich bedauere, Ihnen nur die Hälfte vorschießen zu können, Frau Gräfin.
Schon das macht mir sogar Ungelegenheiten. Wie gesagt--“

„Ah!“ machte Ange nur allzu enttäuscht. Was er ihr bot, war neben der
Bestreitung dringendster Ausgaben kaum ausreichend für die nächsten acht
Tage, und bis Weihnachten waren noch fast drei Wochen.

„Und wann gebrauchen Sie das Geld? Heute schon?“ nahm Putz das Wort und
erhob sich, ohne Anges sichtliche Unruhe zu beachten.

Und wie immer der Ertrinkende nach dem Strohhalm greift, so griff auch
Ange nach dem Geringen, das sich ihr bot, nahm dankend an, versprach die
prompte Rückgabe im Januar und unterschrieb einen Schuldschein, den Putz
sogleich ausfertigte.

Auch den Betrag erhielt sie sofort aus einer Brieftasche, die Putz in
der Seitentasche seines Rockes bei sich führte. Er schien sich auf die
Sache vorbereitet zu haben. Weshalb hatte sie ihn sprechen wollen? Doch
sicherlich um Geld! Natürlich! Was er, ohne ihre Wünsche zu kennen,
geben wollte, war schon vorher von ihm überlegt worden.

Während Ange und Putz noch einige Worte austauschten, erschien in der
verbindenden Thür die schlanke Gestalt von Ben, der altes gehört hatte.
Ein Ausdruck zorniger Erregung malte sich in seinen Zügen, aber auch
Schmerz, Scham und Mitleid spiegelten sich auf dem Angesicht des stolz
erhobenen Kopfes. Nun wandte sich Ange zurück, und der Knabe verschwand
rasch, bevor sie seiner gewahr wurde.

Nach kaum acht Tagen hatte Ange freilich noch Feuerung im Hause, aber
sonst lagen die Dinge ebenso, fast schlimmer als vordem. Von dem Drange
getrieben, achselzuckenden Mienen vorzubeugen, machte sie der
Nachbarschaft größere Abzahlungen, als sie ursprünglich vorgesehen
hatte, und erfuhr dabei, was jeder täglich beobachten kann, daß Geld der
fahnenflüchtigste Geselle ist, der je einem Kriegsherrn diente.

Aber nun kam das Weihnachtsfest immer näher, an dem sogar jeder
Tagelöhner seinen Kindern eine Freude zu bereiten suchte. Ange hatte
für die Kinder nichts eingekauft, aber diese arbeiteten eifrig und
versteckt an Geschenken für sie und erinnerten sie dadurch immer von
neuem, daß sie auch Überraschungen von ihr erwarteten.

Selbst Fred war fleißig mit Gummi und Radiermesser bei einer Zeichnung
beschäftigt, geschickter allerdings mit diesen, als mit Bleifeder und
Kreide. Er war einmal ein flüchtiger kleiner Geselle.

       *       *       *       *       *

Es war einige Tage vor dem heiligen Feste und um die Abendzeit. Ein
starker Schneefall hatte die Gegend in starre, bleiche Gewänder gefüllt.
Von. Mondlicht umflossen, ragte die Wartburg wie ein von Geistern
bewohntes Schloß unter den weißbedeckten Wäldern hervor. Ringsum in den
Villen aber glitzerten hinter den Scheiben kleine unruhige Lichter, die
seltsam, fast unheimlich abstachen gegen, die schweigsame, aller
lebendigen Farben entkleidete Natur.

Es mochte gegen zehn Uhr abends sein, als ein großer kräftiger Mann, der
sich soeben auf offener Landstraße von seinem ihn offenbar über Ort und
Gelegenheit orientierenden Gefährten getrennt hatte, mit langsam
schwerfälligen Bewegungen die Höhe hinaufstieg, auf der das Häuschen
lag, welches Ange bewohnte. Je näher er seinem Ziele kam, desto
bedächtiger wurden seine Schritte. Einigemal hielt er inne und schaute
spähend um sich. Aber nirgends zeigte sich etwas Lebendiges: die Gegend
war wie ausgestorben.

Endlich erreichte er das Haus, in welchem noch Licht war, klinkte leise
eine kleine Pforte auf und wandte sich mit vorsichtigen Bewegungen
rechtzeitig in den Garten. Vor dem nach diesem herausschauenden Fenster
war kein Vorhang herabgelassen, es gestattete ungehinderten Einblick.

Der Mann--es war Teut--dämpfte seinen raschen Atem, blieb stehen und
schaute lange und unverwandt ins Innere des Gemaches. Oftmals griff er
sich in tiefer Bewegung an die Brust und einmal traten silberfunkelnde
Tropfen der Rührung in seine Augen über das, was er erblickte.

Ange saß, das Gesicht ihm zugewandt, an dem Tisch, der mitten im
Wohnzimmer stand, und betrachtete prüfend ein Kleidungsstück, das vor
ihr auf dem Tische lag. Teut erkannte es als ein Militärbeinkleid, das
Clairefort gehört haben mochte. Die bleiche Frau prüfte und maß, indem
sie das kürzere Gewand eines der Knaben dagegen hielt.

Nachdem sie nach einigem Hin und Her zu einem Entschluß gelangt war,
trennte sie die Nähte auseinander, breitete jeden Teil für sich aus,
legte das Knabenbeinkleid darüber, schnitt mit vorsichtiger Hand das
erstere danach zurecht und nähte dann die einzelnen Teile zusammen. Ohne
auch nur ein einziges Mal aufzuschauen, saß sie über die Arbeit gebückt,
und nur einmal ließ sie die Nadel ruhen, lehnte sich zurück, hob das
neue Gewand empor und zupfte an dem Stoff.

Nun vermochte ihr Teut voll ins Angesicht zu schauen, und fiebernd flog
es durch seine Brust, als ihr liebes, zärtliches und blasses Gesicht vor
ihm aufstieg.

Einmal war's ihm, als ob sie seiner ansichtig geworden sei, denn
plötzlich wandte sie mit verändertem, ängstlichem, gleichsam gebanntem
Blick ihr Auge gegen das Fenster, hinter dem er lauschte. Er trat
unwillkürlich zurück und spähte aus dem tieferen Dunkel ins Gemach.

Hatte sie ihn gesehen?--Nein! Vielleicht war's einer jener seltsamen
Ahnungsschauer, die uns erfassen können, wenn auch diejenigen weit von
uns sind, mit denen wir uns--in blitzartiger Erinnerung--beschäftigen.

Später stützte Ange den Kopf, starrte sinnend vor sich hin, griff dann
nach einem Bleistift und machte sich auf einem Blättchen Papier
allerlei Notizen. Offenbar beschäftigte sie sich mit ihren Kindern,
vielleicht stellte sie noch einmal deren Wünsche für Weihnachten
zusammen. Und dann begab sie sich abermals voll Eifer an die Arbeit,
rührte fleißig die Hand und machte nur Pausen, um die Nähte mit dem
Fingernagel nachzuglätten.

Wer sie heute so sah und einst gekannt hatte! Ein Gefühl heißer Rührung
mußte emporsteigen und sich in Bewunderung verwandeln.

Einmal über das andere strich Teut in starker Erregung den Schnurrbart.
Wie lange stand er nun schon da, und doch flog ihm die Zeit wie eilende
Sekunden. Es waren lebhafte Gedanken, die ihn beschäftigten. Er sah, was
vor sich ging, und sah's doch nicht; denn während er den Blick
hineintauchte, gingen zahlreiche Gedanken durch seinen Kopf.

Und nun bewegte Ange in leisem Frost den Oberkörper und fuhr, die Nadel
falten lassend, wiederholt über die sinkenden Lider. Sie starrte vor
sich hin, sann und grübelte, bis endlich die Müdigkeit sie überwand und
ihre Augen sich schlossen. Einmal blinzelte sie noch kämpfend auf, dann
sank das Haupt tiefer und tiefer, und endlich saß sie regungslos da. Sie
war eingeschlummert.

„Ange, Ange,“ murmelte der Mann in heftiger Bewegung, richtete noch
einmal einen langen Blick auf die Schlummernde und verließ nun
vorsichtig und fast erschreckt durch seine eigenen Schritte auf dem
hartgefrorenen, knarrenden Erdboden den Ort, an welchem er gesehen, was
eine stumme, aber so beredte Sprache geredet hatte.

       *       *       *       *       *

Am folgenden Vormittage schlich Ange--sie hatte durch Zufall erfahren,
wo sie gegen Pfand ein Darlehen erhalten konnte--mit zagendem Herzen ins
Versatzamt und verschaffte sich das Geld, dessen sie so dringend
benötigt war. Sie hatte unter anderem ihre goldene Uhr--ein kostbares
Stück--hingegeben und befand sich durch den dafür erhaltenen hohen
Betrag sogar in der Lage, ihrem Nachbar die vorgeschossene Summe
zurückzahlen zu können. Sein zögernd gewährter Dienst brannte ihr wie
Feuer auf der Seele, und sie fand keine Ruhe, bis sie die Summe in seine
Hände zurückgelegt hatte.

„Wer seine Schulden bezahlt, verbessert sein Vermögen,“ sagte Putz, ohne
eine Befremdung über den früher innegehaltenen Termin an den Tag zu
legen, und entließ auch Ange ohne Nachfrage oder Angebot für andere
Fälle.

An demselben Nachmittag machte Ange sich auf den Weg, um Einkäufe zu
machen, und Ben, der ihr Helfer und Vertrauter in allen Dingen geworden
war, mußte sie begleiten. Als sie ziemlich wortkarg neben ihm
herschritt, schmiegte er sich zärtlich an sie, und als sie ihm seine
Besorgnisse durch eine fröhliche Miene zu nehmen suchte, sah er sie mit
seinen tiefen Augen an und drückte ihren Arm fester, den sie gefaßt
hatte, als sei er ihr kleiner Kavalier.

Als Ange unterwegs noch einmal alles überrechnete und mit einem: „Du
armer Kerl wirst wenig oder nichts erhalten!“ bedauernde Worte gegen
ihren Liebling fallen ließ, sagte der Knabe:

„Ich will gar nichts, ich brauche nichts, Mama!“

„Du bekommst auch wirklich nichts, mein lieber Junge, sei ohne Furcht!“
betätigte sie mitleidig. „Was ich Dir zugedacht habe, ist etwas, das Du
dringend nötig hast und was ich Dir gern besser gegönnt hätte!“

Am nächsten, dem letzten Abend vor dem Feste, wollten Ange und Ben den
Baum ausputzen. Heute saß sie noch mit fleißiger Hand und arbeitete an
einem wollenen Halstuch für Jorinde, der es besser ging, die aber
geschont und vor kalter Luft in acht genommen werden mußte.

Anges Gesicht war etwas fröhlicher; ein stiller, sanfter Zug lag in
ihren dienen. Was sie erreicht hatte, erfüllte sie wenigstens
vorübergehend mit einer glücklichen Befriedigung, und nur eins drängte
sich schwermütig in ihre Gedanken: daß das Fest ohne Tibet gefeiert
werden müsse. Sie gedachte auch Carlos', ihres Mannes, aber vornehmlich
trat Teut in ihre Gedanken. Sie seufzte tief auf. Eine verzehrende
Sehnsucht erfaßte sie nach ihm. Sie verlangte nach seiner festen Stimme,
nach seinem Blick, nach seiner Teilnahme, nach seiner--Liebe.

Ange sah nach der Uhr. Es schlug gerade zehn. Noch wollte sie
aufbleiben, länger als gestern, wo sie zu ihrem Leidwesen dem Schlaf
erlegen war.

Und gerade in diesem Augenblick vernahm sie draußen ein Geräusch an der
Thür, und im nächsten wurde auch die Klingel gezogen. Überrascht,
erschreckt wandte sie den Blick ins Freie. Das Mädchen war schon zur
Ruhe gegangen, die Kinder schliefen. Sie begriff nicht, wer noch so spät
Einlaß begehren könne.

Statt auf den Flur zu gehen, trat sie ans Fenster und spähte behutsam
hinaus. Aber wie von einem Blitz getroffen fuhr sie zurück, denn als sie
den Vorhang verschob, sah sie unmittelbar neben der Mauer einen Mann,
von dessen Gestalt sie nur die Umrisse zu erkennen vermochte, dessen
Züge ihr aber in der Dunkelheit verschleiert blieben. Einen Augenblick!
Dann faßte sie sich, drückte, ihre Erregung zu dämpfen, die Hand aufs
Herz und fragte kurz mit künstlicher Fassung: „Wer ist da und was wird
gewünscht?“

„Liebe Gräfin! Liebe Freundin! Ich bin's, Teut! Erschrecken Sie nicht!
Soeben bin ich angekommen. Ich muß Sie durchaus sprechen. Bitte, öffnen
Sie. Verzeihen Sie dieses späte Eindringen.“

Teut--so plötzlich--ohne Anzeige--in später Nacht?--Ange verlor den
Atem, fast die Besinnung. Es war seine Stimme, dieselbe Stimme, die sie
so lange nicht gehört und bei deren Klang ihr Herz zu zerspringen
drohte.

Noch einmal schaute sie hinaus, dann überwog ihr ahnendes Gefühl
Bedenken und Furcht. Mit einem leisen, zitternden: „Ich komme--ich mache
auf!“ trat sie hinaus und öffnete.

Ja, es war Teut! Mit einem unterdrückten Schrei, totenblaß--und als er
nun auf sie zutrat und ihre Hand ergriff--mit dem brennenden Rot der
Erregung übergossen, stand sie da und war keines Wortes mächtig. Aber
als sie nun das Zimmer erreicht hatten, als das Licht über seine Züge
fiel, als die hohe, kräftige Gestalt vor ihr auftauchte, als dieser
ernste und doch so gütige Blick aus seinen Augen sie traf, da folgte sie
der unwillkürlichen Bewegung seiner Hände, trat zu ihm heran und lag
plötzlich sanft weinend an seiner Brust.

Einige Augenblicke verharrten die beiden Menschen in jener stummen,
inneren Bewegung, in der jeder Gedanke hinabtaucht in eine einzige
Empfindung und in der Worte zu Thränen werden.

Dann aber faßte er sie und lehnte sie sanft in einen Stuhl, beugte sich
über sie und schaute ihr lange in die Augen.

„Das alles konnten Sie thun und ganz vergessen, daß Axel von Teut nur
einen Lebenszweck auf dieser Welt hatte: Sie glücklich zu machen? Aber
ich komme nicht, zu hadern, sondern Ihnen zu sagen, daß ich meiner
Unruhe nicht mehr Herr wurde und meine fiebernden Gedanken sich
zusammendrängten in dem einzigen Wunsche: Sie endlich wiederzusehen! Und
nun hören Sie mich an und unterbrechen Sie mich nicht. Wollen Sie?“

Leise zustimmend bewegte Ange das Haupt.

„Nehmen, lesen Sie zuvörderst, um Ihnen den Anlaß meines plötzlichen
Kommens zu erklären,“ fuhr Teut fort und entfaltete einen Brief. „Oder
nein! Lassen Sie mich,“ unterbrach er sich und begann, Anges Zustimmung
durch einen sanften Blick einholend:

„Lieber Onkel Axel!“ Ange horchte erschreckt auf bei dieser Einleitung.
Eine Ahnung des Zusammenhanges stieg in ihr empor und wurde schon zur
halben Gewißheit.

„Sei nicht böse, wenn ich Dir heute schreibe. Nicht einmal genau weiß
ich Deine Adresse. Ich habe in der letzten Zeit so viel geweint um meine
Mama und kann nicht mehr ansehen, daß sie so traurig ist. Lieber Onkel
Axel! Mama hat so viele Sorgen; ganz gewiß. Tibet ist nicht mehr bei
uns. Ich weiß weshalb. Wenn Du kommst, erzähle ich Dir alles. Und Du
wirst kommen, bald, bald, wenn ich Dich bitte. Nicht wahr, lieber Onkel?
Gewiß würde ich Dir dies nicht schreiben, aber ich muß es thun. Schreibe
mir, bitte, und adressiere an meinen Schulkameraden, den Tertianer Carl
von Trock in Eisenach. Er wird mir den Brief geben. Niemals aber darf
Mama von meinem Brief an Dich wissen. Du sagst es ihr nicht? Bitte,
lieber Onkel! Und nun grüßt Dich Dein Dich liebender

Benno von Clairefort.

Begreifen Sie jetzt, liebe Freundin? Gewiß, Sie verstehen, und ich habe
nun endlich erreicht, wonach ich verlangt habe seit Carlos' Tode, was
mein Recht war, aus einer Zusammengehörigkeit zwischen uns, wie
menschliche Beziehungen sie kaum wieder aufzuweisen haben. Lassen Sie
mich von vorn beginnen, damit ich Ihnen erkläre, wie alles sich so
gestalten mußte. Lassen Sie mich auch deshalb zurückgreifen, um Ihnen zu
beweisen, daß es nichts gegeben hat, was ich in Ihrer Handlungsweise
nicht verstand, nicht ehrte.“ Und mit bewegter Stimme rief er das
Geschehene in ihr Gedächtnis zurück.

„O, wehren Sie mir nicht!“ sagte er, als er ihre Erschütterung sah.
„Weinen Sie nicht! Sind es noch Thränen des Zorns oder Thränen der
Versöhnung? Ist's gar--darf ich es hoffen?--ein Beweis, daß ich Ihnen in
diesem Augenblick die Genugthuung gab, nach der Sie verlangten? Ja, Frau
Ange?--Ich danke Ihnen.--Und nun hören Sie weiter!“

Teut machte eine kurze Pause, und dann sagte er, behutsam seine Worte
abwägend und mit einer Zartheit, wie sie nur ihm eigen:

„Ich habe mir folgendes gedacht, liebe Frau Ange: Sie überlegen, ob wir
nicht an einem Orte gemeinsam wohnen können und uns--als alte
Freunde--täglich sehen; ja, durch unseren Verkehr uns das Glück
verschaffen, was uns neben dem Wohlergehen Ihrer Kinder noch auf Erden
beschieden sein kann. Wenn ich sage ‚uns‘, so verzeihen Sie dieses Wort;
ich hätte nur von mir sprechen sollen. Ich habe keinen anderen Wunsch,
als in Ihrer Nähe zu leben und Ihnen zu zeigen, wie sehr ich Ihnen
zugethan bin. Fürchten Sie keine aufdringliche Freundschaft, Ange, ich
verspreche Ihnen, daß ich Ihre Ansichten und Absichten ehren werde wie
ein Gottesgebot. Stimmen Sie zu! Ist es nicht thöricht, daß wir, die wir
schon zueinander gehörten, als wir uns zum erstenmal begegneten, uns
voneinander abschließen wie Feinde? Sind wir nicht Freunde? Gingen Sie,
wenn auch begreiflicherweise bei den furchtbaren Gegensätzen Ihres
Lebens--nicht zu--weit, nicht zu sehr ins Extrem? Ist es nicht auch eine
Größe, nehmen zu können? Mißverstehen Sie mich nicht! Wenn ich sprach,
wünschte ich nur von den natürlichen Rechten der Freundschaft ein Wort
fallen zu lassen; nicht einen Vorwurf wollte ich Ihnen machen, liebe
Freundin. Mich zu entschuldigen wünschte ich. Ich ließ mich hinreißen
von dem unbeschreiblichen Glück, das den Geber durchdringt--ich fehlte;
aber Sie gaben nicht einen Finger, um mir dieses Glück zu gönnen.--Ich
habe nichts mehr zu sagen.--Nun, liebe Frau Ange, was meinen Sie?“

Er stand auf und faßte ihre beiden Hände, er suchte ihre verschleierten
Augen und drängte sich mit seiner Seele zu der ihrigen. Und als dann
plötzlich so viele Tropfen unter ihren Wimpern zuckten, da wußte er,
daß sie vergeben hatte, daß alles zwischen ihnen war wie ehedem.

       *       *       *       *       *

Bevor Teut sich an dem eben geschilderten Abend von Ange trennte,
erwirkte er auch Verzeihung für Tibet, der seit seiner Trennung von Ange
bei ihm in Eder sich aufgehalten und ihn auch nach Eisenach begleitet
hatte.

Ange aber schloß kein Ange in dieser Nacht. So unvorhergesehen, so
plötzlich war alles über sie gekommen, so mit einem Schlage waren alle
Dinge verändert, daß sie sich wiederholt an die Stirn griff; ob's denn
auch Wahrheit und kein Traum sei. Haltende, brennende Ströme jagten
durch ihr Inneres. Die stille Liebe zu Teut hatte sich durch das
Wiedersehen in einen drängenden, stürmischen Frühling verwandelt. Er war
an ihrer Seite und sie sollte ihn vielleicht wieder verlieren?

Als Ange am nächsten Morgen ihren Kindern mitteilte, Onkel Axel und
Tibet seien wieder da und würden an dem Weihnachtsfest teilnehmen,
erscholl lauter Jubel durchs Haus. Ben drängte sich an seine Mutter, als
sie allein war, und forschte in ihren Augen. „O ja, ja, Du bist wieder
fröhlich! Ich sehe es!“ preßte er heraus und umhalste sie. Sie aber
legte die Hand auf sein Haupt und sah ihm forschend ins flammende Auge.

„Wußtest Du gar nichts von Onkel Axels Kommen? Gar nichts?“ Ben bewegte
stumm den Kopf und preßte die Lippen aufeinander. Und dann schoß
plötzlich brennende Röte über sein Gesicht und mit raschem Anlauf
drückte er seine Mama noch einmal an sich. „Nicht böse sein!“ flüsterte
er und verschloß unter Küssen ihren Mund.

Einen rührenden Anblick bot es, als Tibet am Mittag zum erstenmal wieder
die Schwelle des Hauses betrat. Ange war in der Küche, als der Jubel zu
ihr drang. Als sie sich ihm näherte, machte er eine tiefe, unsichere
Verbeugung und wartete, wie seine Herrin ihm begegnen würde.

„Willkommen, Tibet!“ sagte Ange, trat auf ihn zu und legte tiefbewegt
ihre Hand in die seinige. „Alles ist vergessen. Und“--hier brach es aus
ihren Augen so heftig heraus, daß sich die Kinder unwillkürlich
zurückzogen--„vergeben Sie--auch mir!“

„O, Frau Gräfin! Frau Gräfin!“ stotterte der Mann und neigte das Haupt.

Und der Festabend kam; Ange war aufgeblüht in ihrem Glück. Sanfte Rosen
lagen auf ihren Wangen und ihre Augen glänzten, als hätten
Diamanttropfen Sonnenstrahlen aufgesogen.

Sie trug dasselbe Kleid--sie hatte es bewahrt und nun hervorgesucht--,
das damals ihre Gestalt umschloß, als Teut Abschied nahm und in den
Krieg zog.

Auch eine vollblühende Rose hatte sie sich zu verschaffen gewußt, die
nun ausgebrochen an ihrer Brust lag wie ein Symbol ihrer reiferen
Schönheit.

Teut war wie gebannt, als sie ihm gegenüber trat. Für ihn hatte sie sich
geschmückt, und der zarte Duft der Blüte drang berauschend auf ihn ein.

Ihm war's, als ob sie mit ihrer blendenden Erscheinung nicht in diesen
Raum gehöre, ihm plötzlich gegenüberträte wie damals in der Villa, und
alles sei wie ehedem.

Und nun wirkten auch alle anderen Dinge bestrickend auf ihn. Mit welcher
anmutigen Sicherheit waltete sie im Hause, wie gut, aber wie verständig
war sie mit ihren Kindern; das Zuviel, das leichte „Ja“ waren
abgestreift. Das Irrelose, Bewegliche, Hastige in ihrem Wesen war
gewichen, ein sanfter Ernst umgab sie, der sie verschönte.

Und mit welcher zarten Rücksicht begegnete sie ihm selbst, mit welchem
Takt wußte sie den Ausgleich zu finden zwischen dem Vergangenen und
Heute. Alles, was jemals in ihm emporgestiegen war, ward zur brennenden
Flamme. Saß er ihr auch ernst und mit besonnenem Ausdruck gegenüber, so
schlug doch bebend sein Herz; richtete er auch nur einen stillen Blick
auf sie, so hämmerten doch seine Pulse, und einmal ballte er,
abgewendet, die starken Hände und riß sich zurück aus der
überwältigenden Qual, die ihm die Brust einschnürte.

Und doch konnte, durfte er nicht sprechen, und wenn seine Seele sich
auch teilte und wenn sein Verzicht sein Lebensglück vernichtete.

Einmal kamen die Kinder während des Abends ins Nebenzimmer und Tibet
folgte ihnen. Da trat Teut an Ange heran.

„Wie schön sind Sie, Frau Ange!“ sagte er, ergriff ihre Hand und sah sie
mit seinen tiefen, guten Augen an. Ange errötete wie ein furchtsames
Mädchen, und ihre Handflächen bebten in den seinen.

„Und wie gut, wie trefflich sind Sie, liebe Freundin!“ fuhr er leiser
fort und suchte ihren Blick.

Er sprach's, und die Frau neben ihm zitterte. Nun kam Ben; sie wichen
von einander. In dem bleichen Angesicht des Knaben blitzte es auf. Er
sah überrascht auf seine Mutter und auf Teut. Ahnte ihm etwas? Einen
Augenblick stand er wie erschrocken, dann aber glühte es in seinen
dunklen Augen, und mit einer unwillkürlichen raschen Bewegung--gab's
ihm ein Gott ein, oder wußte er selbst nicht, was er that?--eilte er auf
beide zu, ergriff ihre Hände und neigte sein blondes Haupt auf diese
herab.

„O, wie ich Euch lieb habe!“ drang es aus des Knaben Brust. Und da
beugten sich auch unwillkürlich Ange und Teut hernieder und berührten
gleichzeitig des Knaben Scheitel.

Aber auch ihre Wangen stahlen sich aneinander, und der Liebesgott ließ
zwei Flammen emporsteigen, die zusammenschlugen in feuriger Lohe.

Derselbe Gedanke durchzog ihr Inneres: die Vorsehung war's, die ihre
Hände durch den Knaben verband, durch den stolzen, herrlichen Knaben mit
seiner heißen Seele. Diese legte ihre Hände in einander für immerdar.

Am Tannenbaum nebenan brannten noch die Lichter. Der feine Duft der
Nadeln und des Wachses durchwehten den Raum in ihrer belebenden
Mischung. Es war ja Weihnacht--Weihnacht, das Fest der Freude! Drinnen
ertönte das fröhliche Lachen der Kinder, dazwischen ertönte Tibets
rauhere, aber gütige Stimme.

Und da waren auch die beiden Menschen, die schon so lange füreinander
bestimmt waren, nicht mehr mächtig ihrer Gefühle.

Wie ein Sturmwind brauste es durch Teuts Brust, wie ein Kind hob er Ange
empor, und sie umschlangen sich mit ihren Armen, um sich zu halten fürs
ganze Leben.





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