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Title: Grevinde
Author: Heiberg, Hermann, 1840-1910
Language: German
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Grevinde

Roman

von Hermann Heiberg


Berlin



Endlich, nach langer, heißstaubiger Fahrt hielt die Postkutsche, und
mit den rauh betonten Worten:

„Hier geht's nach Schloß Rankholm —“ öffnete der Schwager den
Wagenschlag und bedeutete einem darin sitzenden Herrn, daß er ansteigen
müsse. Und während dieser, ein junger, vornehm ansehender Mann seiner
Aufforderung folgte, wandte sich derselbe Postillon zu dem Gepäckkasten,
riß des Reisenden Koffer heraus, stieß ihn unsanft auf den Erdboden und
ließ ihn dort liegen.

Und als der Fahrgast, Graf Axel Dehn, ein Wort über Wegrichtung und
Weiterbeförderung seines Gepäcks hinwarf, setzte er statt zu antworten,
die Finger an den Mund und ließ in der Richtung eines von Knicken
eingefaßten Seitenweges dreimal hintereinander einen scharfschrillen
Pfiff ertönen.

Alsbald erschien ein alter, gebückt gehender Mann oben an der Biegung
des Pfades, erhob mit phlegmatischer Bewegung die Hand zum Zeichen, daß
er gehört habe, und näherte sich mit derselben Gemächlichkeit dem
seiner Wartenden.

„Denne Mand besorger alt —“ warf der sich nunmehr erst wieder zu Worten
anfragende mundfaule Rosselenker hin, nickte obenhin und schritt mit
einem mürrischen Ausdruck das ihm gebotene Trinkgeld wegsteckend, dem
Wagen mit den beiden Braunen zu. Alsdann schwang er sich abermals auf
den Bock und hieb, nunmehr taktmäßig mit der Peitsche ausholend, auf die
dann auch rasch im Staub der Landstraße verschwindenden Gäule ein.

„Wie weit ist's noch nach dem Schloß?“ warf Graf Dehn, während sich der
Alte, nach ehrerbietiger Verneigung, den schweren Koffer auf die
Schultern packte, hin.

„Saa omtrent ti Minuter!“ (So ungefähr zehn Minuten) gab der Alte, in
auffallend plattem Dänisch sprechend, zurück.

Und dann setzen sie sich in Bewegung, und je mehr sie sich dem zwischen
mächtigen Parkbäumen hervorschimmernden Rankholmer Schloß näherten,
desto unfreier wurde dem jungen Fremden zu Mute.

Schon als Knabe hatte er von seinen Eltern von dieser großen, dänischen
Besitzung vernommen und jedesmal mit einem Gefühl der Beklemmung
zugehört. So viel Absonderliches und Unheimliches hatte sich in den
dunklen Prachtsälen, den verschwiegenen Kemenaten, den dickwandigen
Turmzimmern und Fremdengemächern, aber auch auf den versteckten Treppen
dieses seit Jahrhunderten bestehenden und allezeit in dem Besitz der
Grafen Lavard befindlich gewesenen Schlosses abgespielt! Ein wild
trotziges Geschlecht hatte dort gehaust, um Erbschaften, Geld und schöne
Frauen Ränke geschmiedet und sich nicht selten ingrimmig angefeindet.

Die Frau des nunmehrigen alleinigen Besitzers, des Grafen Lavard, war
eine Französin aus vornehmem Geschlecht! Er hatte die sehr begüterte
Vikomtesse von Verdeuil bei seiner Anwesenheit in Paris auf einem Balle
beim dänischen Gesandten vor zwanzig Jahren als fünfzehnjähriges Mädchen
kennen gelernt, und sie war ihm, mit einem schwermütigem Verzicht auf
die unvergleichbaren Reize ihrer Heimat, hierher in die einsame
nordische Welt gefolgt.

Lavards besaßen zwei Töchter, Imgjor und Lucile, von denen sich die
erstere, etwas ältere, zur Zeit auf Rankholm aufhielt, während sich
Lucile gegenwärtig auf Reisen befand.

Graf Dehns Vater und Graf Lavard hatten einst zusammen bei den dänischen
Dragonern in Kopenhagen gestanden, aber ihren Abschied genommen, nachdem
sie beide gelegentlich einer Urlaubsreise die ihren Augen und Herzen
genehmen Frauen gefunden.

Graf Dehn war eine Ehe mit einer Baronesse von Berg eingegangen. Mit ihr
hatte er reiche Güter in der Lausitz geerbt und war infolgedessen nicht
nur aus dem dänischen Unterthanenverbande ausgeschieden, sondern auch
dorthin übergesiedelt. Immer waren jedoch die beiden Freunde in
Verbindung geblieben, und nun eben ging der junge Graf Axel von Dehn,
der einzige Nachkomme dieser Familie, nach Rankholm zur Brautschau. — 
Mitten in der Einsamkeit lag das mächtige Schloß. Nur ein zu der
Herrschaft gehörendes, in einer Thalmulde malerisch hingestrecktes Dorf,
mit Namen Kneedeholm, teilte diese stille Abgeschlossenheit von der Welt
und der großen Heerstraße.

Noch bevor die beiden Wanderer in die zu dem Schloß führende Allee
eintraten, nahm Graf Dehn das Wort und richtete einige Fragen an seinen
Führer. Und da er's geschickt begann, empfing er, wenn auch knappe, doch
allerlei für ihn wertvolle Mitteilungen aus dem Munde des Alten.

Und unter solchen lebhaften Reden gelangten sie dann an das Kastell, das
seine Front einem mächtigen, freien Platz zuwandte.

Da aber dieser und das Gebäude ringsum von hohen, laubreichen Bäumen und
dichtem Gebüsch umschlossen waren, erschien's dem Auge, als ob Rankholm
— wie ein Dornröschenschloß — mitten in einem Walde liege.

Freilich war's anders! Aus den Hinterfenstern schaute man durch den zu
solchem Zwecke gelichteten Park ins Thal hinab, und da lag in
malerischer Schönheit und in solcher Nähe, daß man bei hellem Wetter die
Häuser, Wege und Menschen aus den Schloßfenstern genau zu erkennen
vermochte, das Dorf Kneedeholm mit seiner schlanken Kirche, seinen
reichen Bauerhäusern und einem alten romantisch gebauten Jagdschloß vor
einem.

Einen überwältigenden Eindruck empfing Graf Dehn, als er nach
Ueberschreiten der Schloßbrücke, die auf einen peinlich sauber
gepflasterten Vorhof führte, durch das mächtige, von zwei Steinernen
Löwen flankierte Portal in das Innere eintrat.

Er befand sich auf einem großen, in der Mitte durch einen sprudelnden
Neptunbrunnen geschmückten und von den Mauern des stolzen Gebäudes
eingeschlossenen Innenhof.

Zu Seiten einer im Mittelbau befindlichen, mit dem Wappen der Grafen
Lavard gezierten Rampe — eine Faust, die einen Dolch hielt, zückte ihn
gegen einen sich wild anlehnenden Geier — strebten mächtige Säulen
empor.

Auf ihnen erhoben sich Marmorgestalten aus der Antike, und zu ihren
Füßen streckten zwei Tiger aus Bronze ihre Leiber und Tatzen aufs
Pflaster aus.

Und zwischen diesen mit Vorsprungtürmen, zahlreichen hohen
Eingangspforten, bogenförmigen, von Epheu und Schlinggewächsen
umzingelten Fenstern und Altanen geschmückten Mauerwänden herrschte eine
lautlose, gleichsam furchterregende Stille. Sie wurde nur jetzt
unterbrochen durch das Geräusch einer sich öffnenden Thür im
Portierhause, der sich der Alte soeben genähert hatte, um den Gast beim
Pförtner anzumelden.

Nachdem das geschehen, verabschiedete er sich, nach Empfang eines
reichlich bemessenen Trinkgeldes, mit still verbindlicher Miene, und der
Pförtner, ein ebenfalls gebückt einhergehender Alter, stellte sich
entblößten Hauptes vor dem Fremden auf und zog, nachdem er gehört, wer
er sei, wiederholt kräftig an einer Schelle.

Laut und zudringlich, ja, schreckhaft tönte sie über den einsamen Hof,
und im Nu erschien der Haushofmeister in einem schwarzen Frack oben auf
der Schloßtreppe, eilte die Stufen hinab und geleitete den Grafen mit
einer Ehrerbietung, wie sie nur Königen dargebracht zu werden pflegt, in
das Schloß.

„Nein, es ist kein Brief eingetroffen, sonst würde jedenfalls Fuhrwerk
am Bahnhof oder am Wege gewesen und ohne Zweifel der Herr Graf selbst
zum Empfang des gnädigen Herrn, der schon seit mehreren Tagen erwartet
wurde, erschienen sein,“ erklärte der Haushofmeister Frederik, als
welcher er sich, unter bescheidener Verneigung, dem Grafen vorstellte.

Und der Graf sei nicht zu Hause, auch die Komtesse Imgjor sei nicht
anwesend. Aber die gnädige Frau befänden sich in ihren Gemächern. Er
bitte, daß der gnädige Herr geruhen möge, in seine Zimmer einzutreten,
er werde inzwischen dessen Ankunft der Herrschaft zu melden sich
beeilen.

Unter solchen Erklärungen schritt der Haushofmeister, ein hagerer Mann
mit grauschwarz meliertem Haar und ernsten, überaus vertrauenerweckenden
Mienen, neben dem Grafen Dehn die große Freitreppe im Innern empor und
führte ihn hinten links durch einen durch zahlreiche Familiengemälde
etwas verdunkelten, hohen und langen Korridor. Am Ende desselben
befanden sich die für den Gast bestimmten Räume.

Und gleichzeitig erschienen auch schon zwei rotlivrierte Lakaien und
luden des Grafen Gepäck ab, und nachdem dies geschehen, entfernte sich
Frederik unter ehrerbietiger Verneigung.

Die Gemächer waren ebenso reich, wie geschmackvoll und bequem
eingerichtet.

Blaue, venetianische Seidentapeten bedeckten die Wände, helle,
sanftgeblümte Fußteppiche den Fußboden und dunkle Möbel fesselten das
Auge.

Auch boten die Räume einen Ausblick auf die Gärten, den Park und das
Dorf, das gleich einem Zauberbilde in dieses entzückende Tableau hinein
geschoben schien.

Nach einer Viertelstunde, nach Auspacken und Ordnen der Toilette,
erschien auch schon Frederik wieder, verbeugte sich mit der ihm eigenen
natürlichen Würde und meldete, daß die gnädige Frau sehr glücklich sei,
den Herrn Grafen empfangen zu dürfen. Sie würde schon gleich diese
Botschaft gesandt haben, wenn sie nicht geglaubt hätte, daß ihm eine
Pause der Erholung angenehm sein werde.

Sie durchschritten denselben Korridor, machten einen kurzen Halt auf dem
mit mächtigen Jagdbildern geschmückten, in weißem Marmor getäfelten Flur
und nahmen den Weg durch einen großen, mit grünseidenen Tapeten,
schmalen, hohen Spiegeln und seidenen Polstermöbeln ausgestatteten Saal.

Und nachdem sie diesen verlassen und noch zwei daranstoßende
Prunkgemächer durchmessen, traten sie in einen kleineren Gartensalon,
der mit verschwenderischer Pracht eingerichtet war. An diesen stieß
wieder ein zweifenstriges Kabinett, und in ihm lag, umgeben von
französischen Möbeln, blühenden Blumen, Statuetten und Bequemlichkeiten,
auf einem hellen, seidenbezogenen Divan die Gräfin Lucile Lavard.

Sie hatte braunes Haar, braune Augen und ebensolche Wimpern. Ueber einer
geschmeidigen Figur hob sich eine volle Büste, und die Formen und die
Linien ihres Körpers zeigten überhaupt jene üppigeren Reize, durch die
sich die gesättigte Fülle einer verheirateten Frau von der sprossenden
Schönheit junger Mädchen unterscheidet.

Als sie des Grafen ansichtig wurde, erhob sie sich mit dem ruhig
ausgeglichenen Wesen einer Huldigungen gewohnten Frau, und reichte ihm
gleichzeitig mit einem so bezaubernden Ausdruck und einem so
bestrickenden Lächeln die Hand, daß sich der sympathische Eindruck ihres
jede Wirkung verschmähenden, liebenswürdig einfachen Wesens nur noch
erhöhte.

„Ich bin wirklich sehr unglücklich, daß niemand zu Ihrem Empfange da
war, lieber Herr Graf —“ stieß sie heraus. „Aber Sie haben schon von
Frederik gehört, daß wir wirklich nicht schuld sind. Lassen Sie mich in
jedem Falle hoffen, daß sich die Ihnen dadurch gewordenen ungünstigen
Eindrücke inzwischen bereits wieder verwischt haben!“

Freilich trat nach diesen Einleitungsworten ein anderer Ausdruck in ihre
Züge, ein abwartender, etwas forschender.

Auch sprach sie, nachdem er ihr geantwortet, auch kavaliermäßig den Arm
geboten und sie gebeten hatte, die frühere bequeme Lage wieder
einzunehmen, fast ein wenig schroff:

„Nein, nein, ich danke! Ich habe genug geruht. Auch möchte ich mich nach
Ihren Wünschen erkundigen. Sie werden flau sein, lieber Herr Graf. Wir
speisen erst in einigen Stunden. Darf ich Ihnen nicht irgend etwas
anbieten? Vielleicht nehmen Sie ein wenig alten Portwein und scharfen
Käse?“

Und als Graf Dehn erklärte, keinen Hunger zu haben, hörte sie nicht
einmal hin, zog vielmehr an einer breiten, seidenen Glockenschnur und
hieß einem sogleich durch die Korridorthür eintretenden Diener das von
ihr Erwähnte bringen.

„Es ist besser, Sie genießen etwas, lieber Herr Graf. Die Zunge wird
freier, das Gemüt belebter, wenn man eine gewisse Nüchternheit verbannt.
Ich möchte, daß Sie sich gleich heimisch, behaglich fühlen. Ich kenne
die Indisposition nach einer Reise. Niemals ist eine Erfrischung
angebrachter —“

„Schon Ihre wenigen gütigen Worte haben alles Unbehagliche verscheucht,
gnädigste Gräfin. In der That, man kann liebenswürdiger, herzlicher
nicht empfangen werden. Mir ist, als ob ich schon jahrelang das Glück
gehabt hätte, Sie zu kennen —“

„Ich freue mich, daß Sie so sprechen, Graf Dehn. Aber mit derselben
Offenheit: Sie gehören zu jenen Menschen, bei deren Anblick man den
Eindruck empfängt, man könne nie enttäuscht werden, bei welcher
Gelegenheit man immer die Hand nach Ihnen ausstreckt. Werden Sie nicht
sehr geliebt von Ihrer Umgebung, von Ihren Freunden — von den Frauen?
Gewiß, gewiß, Sie sind ein Sonnenkind! Und hoffen wir, daß wir noch weit
engere Freundschaft schließen —“ fügte sie mit einer Anspielung auf die
Zwecke seines Kommens hinzu und lud ihn zugleich durch eine
liebenswürdige Geste ein, sich des inzwischen gebrachten Frühstücks zu
bedienen.

„Bringen Sie auch Champagner und die Florentiner Krystallgläser! Vite!“
befahl sie dem Diener, ließ sich neben dem Grafen nieder, schenkte ihm
ein und goß sich, als nach wenigen Minuten Champagner erschien, selbst
das kühl sprudelnde Getränk in das ungewöhnlich geformte, unten und oben
schmale, in der Mitte sanft ausgebogene und hier hellgold, sonst aber
krystallhell schimmernde Glas und setzte es an die Lippen.

Aber auch Axels Glas hatte sie gefüllt, und als sie das ihrige abermals
voll gegossen, stieß sie mit ihm an und sagte:

„Nehmen wir uns vor, daß wir die kommenden Tage besonders vergnügt
zusammen verleben wollen. An mir soll's nicht fehlen, lieber Graf.
Rankholm ist sehr schön, aber die Einsamkeit tötet doch bisweilen die
Lebensgeister. Es ist eine wahre Wohlthat, wenn uns jemand besucht. Die
ländliche Bevölkerung gleicht einer Familie von Schnecken. Auch die
meisten Gebildeten haben Bleikugeln in ihren Seelen, Köpfen und Beinen.
Natürlich, ich habe Dienstboten, die Feuerwerkskörper in sich bergen. —
Sie werden nichts von der Langsamkeit der Jüten bei ihnen finden.
Anfangs versuchte ich es mit hiesigen, aber gab's bald auf. Brave
Menschen, ehrlich, gutherzig, aber strafbar phlegmatisch und von einem
Trotz, wenn sie einmal ihren Kopf aussetzen, der an Starrheit grenzt.
Ach, lieber Graf, wie ist das Dasein zu ertragen, wenn man es so
ernsthaft nimmt, wenn man immer daran denkt, was kommt darnach, statt
die Lebenslust zu pflegen, sich für sie geistig und körperlichen
schmücken!“

„Es fehlt den meisten leider dazu die Veranlagung, Frau Gräfin. Besäße
die Welt Ihr Temperament, Ihre Gesundheit, Ihre Schönheit und Ihren
Reichtum, würde sie schon Ihren Lehren folgen. — Zum Leben im feineren
Sinne gehört wenigstens Geist und Temperament: die besitzen nur
Auserwählte.“

„Ich freue mich, daß Sie nicht, wie alle, lediglich die günstigen
materiellen Verhältnisse als Bedingung hervorheben. Es beweist eine
geringe Erfahrung und wenig Erhabenheit des Geistes, wenn man vermeint,
es könne uns der durch den Reichtum herbeigeführte Genuß mit dem Dasein
versöhnen. Ich möchte das Gegenteil behaupten. Man muß etwas entbehren,
man muß noch etwas Verlangen und Sehnsucht empfinden, nicht nach dem
Unbestimmten, das nie Erfüllung findet, sondern nach den kleinen
Freuden, die uns durch die Natur, durch Eindrücke, durch den Verkehr mit
Menschen, durch Thätigkeit, durch unsere behaglichen Reflexionen, unsere
Wünsche und Erwartungen, endlich auch durch die Fähigkeit werden, immer
eine stille Hoffnung in unseren Herzen zu pflegen —“

Und als Graf Dehn, der diesen Ausführungen mit starker Beipflichtung
zugenickt hatte, bei den letzten Worten fragend das Auge erhob, schloß
die Gräfin:

„Ja, es ist die Wahrheit: Wir können ohne irgend eine stete, starke
Hoffnung nicht glücklich sein.“

Sie wurden in ihrem Gespräch unterbrochen, weil plötzlich in der nach
dem Korridor führenden Thür die Gestalt eines jungen Mädchens erschien.

Der Ausdruck in ihren Zügen war gemessen, aber eine solche Fülle zarter
Schönheit war über ihrem ganzen Wesen ausgegossen, daß der Gedanke
emporstieg, hier habe die Natur alles zusammengemischt, was sie nur
immer einem lebendigen Geschöpf an Bevorzugungen zu verleihen vermöge.

Trotz der fröhlichen Jahreszeit war sie schwarz gekleidet; auch ein
dunkler Spitzenschleier umhüllte ihren von rotbraunen Haaren umflossenen
Kopf, und rasch zog sie die Umhüllung von diesem herab.

Nach der durch die Gräfin herbeigeführten Vorstellung, verschönte
vorübergehend ein freundlicher Ausdruck ihren reizend geschnittenen
Mund, dem zwar ebenso rasch wieder ein solcher stolzer Kälte wich. Auch
wandte sie sich nach einigen, flüchtig an ihre Mutter gerichteten Worten
und nach einer steif gemessenen Verneigung gegen den Gast, derselben
Thür, durch die sie eingetreten, wieder zu und war seinen Augen
entschwunden, bevor er sich noch von der bezwingenden Gewalt des
Eindrucks ihrer Erscheinung zu lösen vermochte.

Und seltsam! Die Gräfin gab zu diesem ausfallenden Verhalten keine
Erklärung.

Sie sah nur Graf Dehn mit einem eigentümlich forschenden Blick an und
zog, als er zu einer Frage anheben wollte, mit einer Miene die
Schultern, als ob sie ihm durch diese stumme Geberde eine Antwort
erteilen, ihn aber zugleich ersuchen wollte, sich mit dieser Erwiderung
zu begnügen.

Sie erhob sich jedoch nunmehr und sagte:

„Trinken wir das letzte Glas, lieber Graf, auf die Erfüllung unserer
Hoffnungen, gleichviel, welche sie sein mögen. Und nun, ich bitte,
kommen Sie, Sie müssen unseren Garten und unseren Park bewundern —“

Und nachdem auf ihr Zeichen ein Kammermädchen erschienen war und beider
Garderobe gebracht hatte, schritt sie ihm, einen weißseidenen
Sonnenschirm über sich, seidengraue, bis über die Arme fallende
Handschuhe an den Händen und ein grauseidenes, zartes Tuch mit langen,
schneeweißen Seidenfranzen um die Schultern geschlungen, von dem
hochgelegenen freien Balkon herab in den Garten voran. —

Noch vor Tisch erschien Graf Lavard in Axels Gemächern. Er klopfte kurz
und stark an die Thür, trat mit einem gleichsam von ihm ausstrahlenden
Freimut auf den Sohn seines besten Jugendfreundes zu, sah ihm
liebenswürdig in die Augen und schüttelte ihm mit jener lebhaft
höflichen Herzlichkeit die Hand, welche den Dänen und den Franzosen
gemeinsam eigen ist.

Er bot eine überaus vornehme, aber auffallende Erscheinung. Auf einem
geschmeidigen, noch jugendlichen Körper saß ein mit weißem Haar
bedeckter, kurzglatt geschorener Kopf, auch der Schnurrbart war weiß,
während die Farbe des Angesichts nicht spurenweise, wie bei anderen
Menschen, gerötete Farben, sondern ein über und über gesund gerötetes,
feuriges Kolorit zeigte. Und alles, was er trug und wie er's trug, paßte
zu seiner Persönlichkeit. Ueber Lackstiefeln saßen kreideweiße
Gamaschen, auch die Weste war aus weißem Stoff, während den übrigen
Körper ein loser, grauer, sogenannter englischer Anzug umschloß. In der
That, ein schönes, vornehmes Geschlecht, diese Lavards! Graf Dehn fühlte
sich fast ein wenig herabgedrückt neben diesen überall von den
Erscheinungen ungewöhnlichen Reichtums umgebenen Menschen.

„Ich habe,“ hub er an, „meinen Freund den alten Grafen Knut, und den
Doktor unten aus unserm Dorf Kneedeholm zu Tisch geladen. — Ist Ihnen
hoffentlich nicht unangenehm, lieber Graf Dehn?

O nein, o nein, ich weiß! Gleich am ersten Tage mag man nicht gleich von
zu vielen Eindrücken bestürmt werden. Haben Sie Imgjor schon gesehen? —
So — so — Hm vortrefflich! — Ich sprach meine Frau nur flüchtig. Also,
auf Wiedersehen in einer Viertelstunde!“

Und dann ging er, Axel warmherzig zunickend, und dieser, die Brust voll
von unruhigen Erwartungen blieb allein. —

Das Speisegemach in Rankholm lag zu Seiten des großen Empfangssalons,
welcher wegen seiner Spiegelwände der Spiegelsaal genannt wurde. Als
Axel von dem in einem tadellosen Frack und weißer Binde steckenden
Frederik zunächst in den ersteren geleitet wurde, fand er die
Herrschaften schon versammelt.

Die Gräfin, die ihm gleich liebenswürdig zunickte, befand sich in einem
Gespräch mit dem Grafen Knut, einem kleinen, starken, beweglichen Herrn
mit hinkendem Bein und tiefer Schmarre in dem sehr ausdrucksvollen,
dänisch geschnittenen Gesicht.

Graf Lavard unterhielt sich dagegen mit dem jungen Doktor Prestö, einem
Mann, der wie ein Korpsbursch aussah und durch die dunklen Farben seines
Angesichts und durch das tiefe Schwarz seines Haares eher einem
Italiener, als einem Bewohner des Nordens glich.

Imgjor endlich stand vor einem großen, reich vergoldeten Käfig und
beschäftigte sich mit einem prachtvollen, buntgefiederten Papagei, den
sie zärtlich verhätschelte und der auch ihr sehr zugethan zu sein
schien.

Sogleich fand die allgemeine Vorstellung und ein lebhafter Wortaustausch
zwischen Axel und dem Grafen Knut statt, und nur Imgjor blieb nach steif
formeller Verneigung neben dem Bauer stehen und trat erst von diesem
zurück, als Frederik die Flügelthüren zu dem Speisegemach und der dort
aufgehellten, in Krystall und Silber strahlenden Tafel aufstieß.

Graf Knut führte die Gräfin, der Graf gab einer noch eben
hinzugetretenen, als Imgjors Lehrerin vorgestellten, älteren Hausdame
den Arm, und Axel erhielt seinen Platz zwischen Imgjor und dem Doktor
Prestö, in der Art, daß er und die übrigen, mit Ausnahme von Imgjor, für
die an dem unteren Ende der Tafel ein Kouvert gedeckt war, einander
gegenübersaßen.

Das Gespräch wurde zunächst so ausschließlich von der Gräfin in Anspruch
genommen, daß die anderen zu einer Einzelkonversation keine Gelegenheit
fanden. Erst später gelang es Axel, sich mit Imgjor zu beschäftigen und
mit dem Doktor eine Unterhaltung anzuknüpfen. Allerdings zeigte dieser
eine ähnliche unhöfliche Zürückhaltung wie Imgjor.

Es giebt junge Leute, die ohne ein zu Tage tretendes Bestreben, sich
vordrängen zu wollen, mit einer Geschlossenheit und Sicherheit des
Wesens auftreten, als ob alle Geheim- und Weisheitsbücher der Welt schon
vor ihnen aufschlagen gewesen seien. Ein solcher Mensch war der Doktor.
Er gab sich Axel gegenüber sehr unbiegsam und nichts weniger als
zuvorkommend. Von seinem mit bürgerlichem Hochmut gepaarten Selbstgefühl
wurde Axel in solcher Weise abgestoßen, daß er es sehr bald ablehnte,
seinen Nachbar überhaupt noch zu beachten. Er redete ihn nicht mehr an
und hörte auch nicht mehr zu, wenn jener sprach. Allerdings kehrte
Prestö auch eine ziemlich unpersönliche Art gegen Imgjor hervor. Er
sprach zwar sehr viel mit ihr, aber über Gegenstände, die sonst nur
zwischen Männern erörtert werden. Er machte ihr in keiner Weise den Hof,
legte vielmehr an den Tag, daß ein Prestö gerade so viel Beachtung in
der Welt verdiene und dasselbe Recht auf Selbstgefühl besitze, wie die
Familie Lavard auf Schloß Rankholm. Und Imgjor hörte ihm zu, als ob ein
Evangelium von seinen Lippen flösse; sie richtete ihre Augen und
Gedanken so ausschließlich auf ihn und wich Axel so geflissentlich aus,
daß dieser zuletzt wie ein Freitischschüler neben ihnen saß.

Allerdings hielt das nicht lange an. Graf Dehn verband mit Geist und
sehr großer Gewandtheit eine starke Initiative, und sie und seine
Menschenkenntnis gaben ihm stets die Mittel an die Hand, sich, wenn er
es wollte, zum Herrn der Situation zu machen. Und so geschah's auch
heute.

Im Nu wußte er an der anderen Seite des Tisches das Gespräch an sich zu
ziehen und entwickelte einen so anziehenden, von den Beifallsbezeugungen
jener begleiteten Redefluß, daß auch Prestö und Imgjor zum Zuhören
gezwungen wurden.

Er erzählte mit packendem Humor von einer Jagd in der Lausitz und
charakterisierte die Personen, die dabei zugegen gewesen, mit solcher
Meisterschaft, daß ihm Graf Lavard und Graf Knut unter lebhaftem
Gelächter und mit sehr beifälligen Mienen zutranken.

Aber Axel benutzte auch diese Gelegenheit, um dem Doktor Prestö einen
Denkzettel zu geben.

Indem er Prestö lediglich einen anderen Namen beilegte, entwarf er ein
so sprechendes Bild von dessen äußeren Erscheinung, seinem Auftreten und
Wesen und führte solche Kolbenschläge gegen dessen Ueberhebung und
Erziehungsmangel, daß die Hausdame, Fräulein Merville, die offenbar
Axels Abneigung gegen Prestö teilte, zunächst mit einem Ausdruck
höchsten Erschreckens, dann aber mit einem solchen höchster Befriedigung
die Lippen verzog.

Nicht weniger schien die Gräfin durch diese Abfertigung angemutet.
Nachdem sie anfangs mit einer Miene des Zweifels, ob die Betreibung nur
zufällig auf Prestö passe oder ob Axel jenen bewußt charakterisiere,
zugehört, erschien in der Folge etwas in ihren Zügen, das Axel nicht nur
über ihre Meinungen bezüglich Prestös belehrte, sondern die auch sagten,
daß sie ihm deshalb durchaus nicht gram sei.

Anders aber Imgjor, in der es sichtlich vor Aufregung kochte.

Ganz abweichend von ihrer bisherigen stummen Gleichgültigkeit gegen die
Vorgänge ihrer Umgebung, brach sie das Schweigen und mischte sich
in das Gespräch, indem sie nicht nur spöttisch Zweifel an der
Wahrscheinlichkeit der von Axel erzählten Vorgänge äußerte, sondern auch
zum offenen Angriff vorging. „Die Personen, die Sie uns schilderten,
Herr Graf, sind, wie ich es garnicht bezweifle, wirklich lebende
Menschen, und Sie erreichen Ihren Zweck, zu beweisen, daß Sie scharf zu
beobachten verstehen. Aber Sie beweisen auch, daß Sie besser in fremde
Spiegel zu schauen vermögen, als in den eigenen. Letzterer schafft
nachsichtige Urteile. Diejenigen, die sich anmaßen, über andere den Stab
zu brechen, vergessen allzu oft bei ihren Vorträgen, daß sich den
Zuhörern eine nicht zu ihrem Vorteil ausfallende Betrachtung über ihre
Einseitigkeit aufdrängt —“

„Sie haben vollkommen recht, gnädigste Komtesse —“ entgegnete Axel auf
diese herausfordernde Rede mit vollendeter Höflichkeit. „Nur glaube ich,
daß ich diese Unvollkommenheit, oder, wie Sie liebenswürdig äußern,
diese Einseitigkeit, mit fast allen meinen Mitbrüdern und Mitschwestern
teile. — Nur eine Ausnahme giebt's — ich spreche nicht, um Komplimente
zu sagen, gnädigste Komtesse — und diese fand ich hier auf Schloß
Rankholm. Sie sind's! Sie geben jedem, was ihm zukommt und gelangen
sicher stets zu gerechten, wenn auch nicht immer völlig milde klingenden
Richtersprüchen!“

Der Eindruck dieser Rede war ein sehr verschiedener.

Imgjors Wangen bedeckten sich mit der Blässe des Zorns. Die schwarzen
Augen in ihrem bleichen Angesicht mit dem braunrötlichen Haar funkelten
unheimlich. Der Doktor aber, zugleich erregt an einem Brotkügelchen
knetend, riß den Mund jähzornig zur Seite. Die anderen standen vorläufig
noch unter dem Eindruck, daß es sich vielmehr um eine scharf zugespitzte
Neckerei handelte, als daß jene sich bekämpfen wollten.

Der Graf äußerte sich auch in diesem Sinne, indem er hinwarf:

„So, Imgjor! Nun weißt du, aus welchen Himmelshöhen du zu uns
hinabgestiegen bist. Werde noch etwas milder und du kannst einst als
Heilige verehrt werden!“

Und die Gräfin warf Axel einen ihrer forschenden Blicke zu, einen jener,
durch den sie zugleich verriet, daß ihr Interesse für Axel sich immer
mehr steigerte.

Wie sehr übrigens diese Zurückweisung Imgjor getroffen hatte, bewies ihr
ferneres Verhalten bei Tisch. Sie hörte zwar auch ferner dem zu, was ihr
der Doktor vortrug, aber ihre Gedanken waren offenbar nur halb oder gar
nicht bei der Sache. Sie sann sichtlich über einen Racheakt nach und
mußte doch ihren heißen Drang bezähmen, weil sie Axel auf diese höfliche
Abfertigung nicht beizukommen vermochte.

Aber nicht ein einziges Mal richtete sie das Antlitz ihm zu, und ebenso
verharrte der Doktor in einer feindselig stummen Abwehr. Axel wußte sich
auch in der Folge lediglich den übrigen zuzuwenden, blieb bis zum
Tafelschluß in einer lebhaften Konversation mit jenen und entging
dadurch der Pflicht, Höflichkeitsakte gegen Imgjor zu üben, und irgend
welche Notiz von seinem Gegenüber zu nehmen.

Nach Tisch empfahl sich der Doktor, indem er Krankenbesuche vorschützte,
und auch Imgjor verschwand. Erst beim Thee, den sie zu bereiten hatte,
erschien sie wieder.

Sie hatte aus irgend einer Laune nunmehr wieder ein schwarzes Kleid
angelegt und sah in diesem mit ihrem bleichen, kaltstummen Gesicht wie
eine trotzige Büßerin aus.

„Wo warst du, Imgjor?“ forschte die Gräfin, die mit den drei Herren nach
Tisch einen Spaziergang im Park unternommen, später eine Partie Boston
gespielt und diese jetzt eben beendigt hatte.

„Ich bin nach Mönkegjor durch den Wald geritten —“ gab Imgjor kurz
zurück.

Als sich Axel noch vor dem Schlafengehen und allgemeinen Aufbruch Imgjor
näherte — sie saß mit einem Buch für sich in einer durch eine Hängelampe
erleuchteten Ecke des Kabinetts — und sie fragte, welche Lektüre sie so
sehr beschäftige, entgegnete sie tonlos und ohne seinen auf das Buch
gerichteten Bewegungen zu entsprechen und es ihm zur Prüfung anzubieten:

„Ich lese Geist in der Natur von Oersted —“

„Und eine so schwere Lektüre fesselt Sie?“

„Mich fesselt alles, was mich über die einseitige Enge des Daseins zu
erheben vermag!“

„Sie betonen Ihre Worte so stark! Haben Sie bereits so unerfreuliche
Erfahrungen gemacht, Komtesse?“

Aber sie gab auf diese Frage keine Antwort. Sie zuckte nur die Achseln.
— Aber deshalb trieb's ihn, die Schranke gewaltsam zu durchbrechen, die
sie trennte.

Sanft sprechend, sagte er:

„Ich würde gern Ihre Freundschaft erringen, Komtesse! Aber Sie weichen
mir schroff aus, Sie gebrauchen sogar Waffen gegen mich. Ich sinne über
die Gründe nach, die Sie so handeln lassen. Giebt's keinen Weg, der uns
zusammenführen könnte?“

Aber was er erhoffte, ward ihm nicht.

Indem sie ihn kalt und unbeugsam anblickte, sagte sie kurz und hart im
Ton:

„Nein, keinen, Graf Dehn!“

Nach diesen Worten benutzte sie einen Anruf von Fräulein Merville,
machte eine kühl entschuldigende Geste, stand auf und entfernte sich
rasch.

Er aber schaute ihr nach, umfing mit seinen Blicken ihre Psychegestalt,
seufzte auf und trat zu den übrigen zurück.

Die Herren waren eben im Nebenzimmer beschäftigt, die Gräfin aber, die
zu einer Handarbeit gegriffen, erhob bei seiner Annäherung den Kopf und
sagte mit liebenswürdiger Milde:

„Ja, leicht ist, lieber Graf, diese Festung nicht zu nehmen. Wären wir
beide in gleichem Alter, wäre es Ihnen bequemer geworden!“

„Ich besitze also Ihr Wohlwollen, verehrteste Frau Gräfin? Darf ich Ihre
Worte so deuten?“ stieß Axel heraus.

„Ja, Graf Dehn!“ Sie sprachs und streckte ihm gütig die Hand entgegen.

Und Axel ergriff sie und drückte einen festen Kuß auf die weiße, weiche
Fläche, die unter der Berührung seiner Lippen leicht zu beben schien.

       *       *       *       *       *

Als Axel am nächsten Vormittage der Gräfin nach dem zweiten Frühstück im
Park Gesellschaft leistete, erklärte er ihr nach einer vorsichtigen
Einleitung, daß Imgjor einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn
hervorgerufen habe, daß er aber eine Werbung als gänzlich aussichtslos
ansehen müsse.

Mit größter Offenherzigkeit erzählte er ihr von dem, was ihm begegnet
war, und was er dabei empfunden hatte, auch verschwieg er ihr nicht, daß
er bereits am gestrigen Abend einen Anlauf genommen und dabei eine
Antwort empfangen, der an schroffer Deutlichkeit nichts gefehlt habe.

Die Gräfin hatte seinem Bericht wohl mit steigendem Interesse, aber
doch ohne Befremden, zugehört.

Nachdem er den letzten Satz gesprochen, sagte sie:

„Ah, das war schade! Das ist übel. Hätten wir uns früher gesprochen! Ich
durfte, ich konnte ja nicht reden, durfte Ihnen keinen Wink geben, ohne
mich eines Mangels an Zartgefühl schuldig zu machen. Nachdem Sie aber
die Initiative ergriffen, mir erklärt haben, daß Sie sich für Imgjor
interessieren, möchte ich Ihnen folgendes sagen:

Sie wäre von selbst gekommen, wenn Sie die Taktik, die Sie gestern bei
Tische beobachteten, fortgesetzt hätten. Man muß sie gar nicht beachten.
Sie kommt schließlich immer, wenn es sich um wertvolle Menschen handelt.
Aber ihr Mißtrauen, daß man sie um ihres Geldes willen umwirbt, ist so
groß, daß sie von vornherein gegen alle jungen Leute die schroffste
Seite hervorkehrt. Erst nach Wochen, vielleicht nach Monaten, hätten Sie
ihr ein warmes Wort sagen müssen, dann wäre es nicht nur wahrscheinlich,
sondern sicher auf einen fruchtbaren Boden gefallen.“

„Und Sie fürchten, daß ich nun keine Aussichten mehr habe, Frau Gräfin?“

„Ich traue Ihnen sehr viel zu. Sie besitzen goldene Schlüssel, lieber
Graf. Sie öffnen, ich glaube es, die verschlossensten Herzen. Hoffen wir
also —“

„Ich danke Ihnen, Frau Gräfin, und ich bitte, entwerfen Sie mir ein Bild
von ihrer Tochter. Ich möchte es mit demjenigen vergleichen, das sich in
mir gebildet hat, ich möchte mich berichtigen, sofern es nötig. Ich
werde leichter den Kampf aufnehmen, wenn ich weiß, mit welchem Gegner
ich zu thun habe.“

Die Gräfin nickte, beugte sich ein wenig vor und sagte stark betonend:

„Sie ist ein besonderer Mensch. Sie ist absolut wahr, besitzt sehr viel
Charakter, ein trotziges Unabhängigkeitsgefühl und eine seltene
Objektivität. Jedem Adligen begegnet sie mit Mißtrauen, obschon sie
stolzer ist als irgend ein Lavard und ein Verdeuil, die je lebten. Wo
sie einmal liebt, besitzt sie die Treue eines Kindes und die
Opferfreudigkeit eines Engels.“

„Also ist sie wirklich das, was ich vermutete —“ stieß Graf Axel erfreut
heraus.

„Ich danke Ihnen, Frau Gräfin. Wahrlich, also ein Kleinod, nicht nur
schöner als fast irgend ein Weib, sondern innerlich von edelster Art,
ein nur der Glätte bedürfender Diamant —“

„Sie finden Imgjor so schön?“ fiel die Gräfin ein.

„Ja, gnädige Gräfin! Ich sah nie etwas gleiches, weder auf Bildern, noch
im Leben, und ich glaube auch, einem schöneren weiblichen Wesen kaum je
wieder begegnen zu können —“

„Dann müssen Sie Lucile kennen lernen! Nun, sie kommt ja nächstens. Da
können Sie sich entscheiden!“

Axel machte eine Verneigung, dann sagte er:

„Können, wollen Sie mir also — ich bitte, noch einmal auf Komtesse
Imgjor zurückkommen zu dürfen — bei meiner Werbung behilflich sein, Frau
Gräfin?“

„Natürlich! Doch auf meine Weise und erst, wenn Sie sich wirklich
entschieden haben. Es muß die Bekanntschaft mit Lucile vorangehen. Und
eins ist gleich zu sagen, da ich Sie bereits als einen vertrauenswerten
Freund betrachte: direkt kann ich Ihnen bei Imgjor nicht helfen!“

„Darf ich den Grund wissen?“

Der Gräfin Züge veränderten sich durch einen Ausdruck von düsterem
Ernst. Dann sprach sie in einem sanft gekränkten Ton:

„Mich — mich — meidet sie eher, denn daß sie mich sucht —“

„Wie, Frau Gräfin? Imgjor — Sie — Ich bitte — erklären Sie —?“

Aber was er noch sagen und was sie ihm vielleicht erwidern wollte, wurde
nicht gesprochen, weil sich gerade der Graf näherte und ihnen schon aus
der Ferne in dänischer Sprache einige Worte hinüberrief.

„Hesterne staae beredt!“ (Die Pferde stehen bereit!)

Und da es sich um einen Reitausflug nach dem Gehölz von Mönkegjor
handelte, verabschiedeten sie sich sehr bald von der Gräfin und nahmen
den Weg vorn vors Schloß, woselbst der Reitknecht mit den beiden weißen
Hengsten ihrer wartete. —

       *       *       *       *       *

Der Rest der Woche und die Hälfte der folgenden verliefen Graf Axel
sehr rasch, ja, die Tage flogen förmlich dahin. Bald nahm ihn die Gräfin
gefangen, indem sie mit ihm in langen Gesprächen auf weitausgedehnten
Spaziergängen philosophierte oder ihn zu einer Partie Schach heranzog.
Zu anderer Zeit mußte er dem Grafen in seine mit vielen interessanten
Dingen angefüllten Gemächer folgen oder Wagen und Reitausflüge mit ihm
und dem Grafen Knut unternehmen. Dazwischen lagen die Mahlzeiten mit
ihren Leckerbissen, Weinen und anregenden Gesprächen.

Graf Knut — ein früherer dänischer Reiteroberst — besaß im Dorf,
abseits, ein höchst malerisch belegenes Herrenhaus mit Garten und Park,
das er nebst einem nicht unbedeutenden Kapital von einer verstorbenen
Tante geerbt hatte.

Er führte ein sorgenfreies, äußerst behagliches Leben und gehörte zu
jenen Menschen, die schon durch ihre bloße Anwesenheit eine angenehme
Atmosphäre um sich verbreiten. Er war ein sehr konzilianter, maßvoll
veranlagter Mann, der in allen die Menschheit beschäftigenden Fragen
jederzeit einen vermittelnden Standpunkt einnahm und zudem stets
aufgelegt war, sich an den Abwechslungen, die ihm dargeboten wurden, zu
beteiligen.

Nicht nur das zu der ungeheuren Herrschaft gehörende Gebiet: die
Vorwerke, die Fischteiche, die Waldungen und die Förstereien wurden
während dieser Woche durchmessen und in Augenschein genommen, sondern
auch das eigentliche Gut mit all' seinen Einzelheiten und das zu dessen
Füßen hingelagerte Kneedeholm.

Dem Prediger, dem Ortsvorsteher und Apotheker, aber auch, aus Gründen
kluger Ueberlegung, dem Doktor Prestö, stattete Axel Besuche ab, und
wenn der Abend kam, wurde geplaudert, musiziert, etwas vorgelesen oder
eine Partie gemacht.

An all' diesem nahm Imgjor garnicht teil oder sie gab nur die Zuhörerin
ab. Entweder hielt sie sich für sich auf ihrem Zimmer auf oder sie
durchschweifte, allein oder von einem Reitknecht gefolgt, zu Pferde die
Umgegend. Auch machte sie viele Spaziergänge ins Dorf, besuchte hier die
Bauern und fühlte sich unter ihnen offenbar am glücklichsten.

Und daß sie sich so absonderte, ward von ihrer Umgebung als so
selbstverständlich angesehen, daß sie auch jetzt bei des Grafen
Anwesenheit zu einer Aenderung ihres Verhaltens garnicht angefordert
wurde.

Der Graf schien auf demselben Standpunkt wie seine Gemahlin zu stehen.

Eine Annäherung zwischen ihr und Axel mußte sich nach und nach ergeben.
Jeder Zwang war von Uebel.

Am Freitag der folgenden Woche traf endlich Lucile ein.

Alle fuhren ihr in einem mit zwei schwarzen und zwei weißen Rennern
bespannten, offenen Gefährt bis zur Landstraße entgegen. Sie kam mit der
Post, ebenso wie Graf Dehn; sie hatte es so gewollt.

Komtesse Lucile Lavard war eine ungemein schlanke Dame mit einer
außerordentlich vornehmen Haltung. Ihr Gesicht besaß eine vollendete
Regelmäßigkeit; sie glich einer edlen Römerin, die den Schönheitspreis
davongetragen. Die Nase war leicht gebogen, die schwarzen Augen glühten
in einem dunklen Feuer, die Lippen waren sein geschnitten. Gleich der
Abendröte Anhauch lagen sauste Farben auf den weichen Wangen, und ihre
Zähne blitzten in dem Weiß der Fischgräte.

Die Gräfin hatte recht, sie war blendend schön und zugleich von einer
Liebenswürdigkeit, die etwas wahrhaft Bestrickendes besaß. —

Als man das Schloß erreicht hatte, zog sich Axel absichtlich zurück und
wanderte ins Dorf.

Mitten in diesem lag, zurückgelehnt, der Besitz des Grafen Kunt, ein
zweistöckiges, schneeweiß angestrichenes Haus mitten unter Grün und
Tannen.

Er fand den Besitzer in seinem Garten bei den Blumen, und nachdem ein im
Hause eingenommenes Glas Wein und eine Zigarre bereits die Gemütlichkeit
erhöht hatten, unternahmen sie zusammen einen Spaziergang durch den sehr
ausgedehnten, mit stattlichen Gehöften und Bauerhäusern, aber auch mit
vielen ärmlichen Katen besetzten Ort. Bei dieser Gelegenheit ließ sich
Axel möglichst viel von Lavards und auch von Lucile erzählen.

Graf Knut berichtete, daß Lucile vor anderthalb Jahren mit einem
französischen Gesandtschaftsattaché in Kopenhagen, dem jungen Marquis
von Rebullion, verlobt gewesen sei und diese Verbindung wieder gelöst
habe.

Dem wäre es zuzuschreiben, daß sie seither keine Ehe eingegangen sei.

Er bezeichnete sie als ein vollendetes Mädchen, sie besitze aber einen
unbeugsamen Standesstolz.

Während sie noch sprachen, kam Doktor Prestö vorüber, machte eine
Bewegung, als ob er stehen bleiben wolle, besann sich aber und grüßte
den Grafen mit großer Artigkeit, Axel aber mit steifer Gemessenheit. Es
geschah, obschon Prestö Axels Besuch noch nicht erwidert hatte.

„Ein recht unangenehmer Mensch!“ warf Axel hin.

Graf Knut bewegte stumm die Schultern.

„Sie scheinen meine Auffassung nicht zu teilen?“

„Man muß den Zusammenhang der Dinge kennen, um ein gerechtes Urteil zu
fällen —“ entgegnete Graf Knut. „Prestös Eltern fanden unter dem Druck
eines maßlos hochmütigen und gegen seine Untergebenen rücksichtslos
harten Gutsherrn, des Grafen Vedelsborg auf Bornholm. Prestös Vater war
dort Guts-Inspektor. So sog der Sohn den Haß gegen den tyrannischen
Gutsherrn seit seiner Kindheit in sich ein. Prestö ist völlig mittellos;
die unvermögenden Eltern sind lange gestorben; nur durch eisernen Fleiß,
Stipendien und Stundengeben hat er sein Studium ermöglicht. Durch solche
Thaten, durch solches Ringen um die Existenz bilden sich Charaktere,
allerdings selten liebenswürdige, eher einseitige und selbstsüchtige.
Als unser alter Doktor vor sechs Monaten starb, gab ich die
Veranlassung, daß sich Prestö hier niederließ. Ich interessierte mich
von jeher für die Eltern. Gewiß, seine Manieren lassen recht sehr zu
wünschen übrig, ich gestehe das zu. Auch gären in ihm die Ideen der
neuen Zeit. Ich bedaure diese Richtung. Aber — was will man machen?
Wechsel regiert die Welt, und mit ihm treten neue Anschauungen und
Erscheinungen zu Tage. Wir — die Gutsherren — haben die gute Zeit
gehabt, nun wollen auch die Bauern einmal leben!“

„Ah, nun verstehe ich! Deshalb Imgjors Eintreten für ihn! Sie begegnen
sich in ihren Anschauungen. Jetzt ist mir alles klar. Nun weiß ich, wer
meinem Werben um sie entgegengeht.“

„Sie interessieren sich für die Komtesse Imgjor, Herr Graf?“

„Ich gestehe es — außerordentlich! Ich habe auch des Grafen und der
Gräfin Beifall für meine Pläne. Bisher glaubte ich nur gegen Vorurteile
zu kämpfen. Nun bin ich überzeugt, daß ich in Prestö meinen eigentlichen
Widersacher zu suchen habe. Gewiß, sie lieben sich!“

„Vielleicht doch _nicht_ —“ betonte der Graf, auf das Gespräch ohne
Umschweife eingehend. „Daß Imgjor Interesse für ihn besitzt, will mich
wohl auch bedünken. Aber er für sie? Er war schon als Student verlobt
und ist es, soviel ich weiß, noch —“

„Ah welch' eine gute Nachricht! Erzählen Sie, ich bitte!“ fiel Axel
lebhaft ein und zog den alten Herrn über das Dorfgebiet hinaus. —

Am folgenden Tage, nach dem zweiten Frühstück, wußte es Axel so
einzurichten, daß er mit Lucile im Garten auf- und abwandelte. Der Graf
hatte wegen seiner Geschäfte auf eins der Vorwerke fahren müssen, die
Gräfin — eine selten vorkommende Erscheinung — mußte wegen einer
Migräne das Zimmer hüten.

Lucile war, in Vertretung ihrer Mama, beim Frühstück sehr liebenswürdig
um Axel bemüht gewesen. Sie besaß ähnliche Eigenschaften wie ihre
Mutter. Mit Verstand und Geist verband sie große Lebhaftigkeit. Wie sie
sonst zu beurteilen sei, mußte er erst ergründen.

Es giebt Frauen, die bei aller sonstigen Beweglichkeit eine stolze
Prüderei hervorkehren, sobald ein Mann eine über das Konventionelle
hinausgehende Annäherung wagt.

Zu einer engeren Berührung im ersteren Sinne gehört nach ihrer
Auffassung die Prüfung eines halben Menschenalters, und Artigkeiten, die
ein Interesse verraten, weisen sie mit einer verletzenden Schroffheit
zurück.

Der Graf hatte recht: zu diesen schien Lucile zu gehören.

Lucile sprach mit Vorliebe über ihren Aufenthalt in den großen Städten
und ihren Verkehr mit den Personen der bevorzugten Stände. Es geschah
das aber in einer Weise, die keinerlei Absichtlichkeit durchschimmern
ließ; sie behandelte die Dinge als etwas naturgemäß zu ihr gehöriges.
Aber es ging aus allem hervor, daß sie Umgang und Beziehungen zu solchen
Personen über alles stellte, daß das Leben in diesen Kreisen mit dem
Interesse für Toilette, Korsos, Jagden, Pferde und geräuschvolle
Geselligkeiten ihr Eldorado war. Und dieses Hervorkehren und dieses
Wertlegen auf Dinge, die Axel als minderwertige ansah, reizte ihn und
verführte ihn zu starkem Widerspruch.

„Was Sie besonders anzuziehen scheint, Komtesse, stößt mich geradezu ab
—“ warf er, herabsetzend im Tone, hin.

Und mit einem „So, so! Ja, der Geschmack ist eben ein verschiedener —“
antwortete sie darauf.

Statt daß Lucile, wie Axel erwartet hatte, ein Erstaunen darüber an den
Tag legte, daß er, der doch zu diesem Kreise gehörte, einen solchen
abweichenden Geschmack bekundete, schien sie das hinzunehmen, wie das
Zwitschern eines Vögelchens, das über ihnen in den Zweigen huschte.

Sie rechnete mit dem, was einmal vorhanden war; sie entwickelte keinen
Eifer darüber, daß es mit ihren Neigungen nicht übereinstimmte.

Während sie sich eben wieder dem Schloß näherten, in dem sie ein
Waffenzimmer besichtigen wollten, von dem beim Frühstück die Rede
gewesen war, sagte er:

„Sie ziehen also wohl jedenfalls die Stadt dem Lande vor. Sie finden
wahrscheinlich gar keinen Geschmack an dem einförmig-stillen Leben auf
Rankholm, Komtesse?“

Statt einzutreten — eben hatten sie eine Pforte im Souterrain erreicht,
durch die man von hinten ins Schloß gelangen konnte — blieb sie stehen,
richtete den Blick geradeaus und sagte, zunächst durch eine Kopfbewegung
seinen Worten begegnend:

„Nein, ich bin hier sehr gern. Im Sommer ist mir die Stadt nichts. Aber
— ich spreche offen — ich finde die Personen hier wenig anziehend. Wäre
nicht mein Vater —“ Sie hielt inne und während sie die Lippen schloß,
reckte sie den schlanken Hals rückwärts, wie jemand, der einer starken
Empfindung Herr zu werden versucht.

Nun wurde Axel aufmerksam.

Scheinbar arglos sprechend, fiel er ein:

„Ja, Ihre Eltern, Ihr Herr Papa, Ihre Frau Mama, die müssen jedermann
fesseln!“

„Meine Mutter —?“ Lucile zog die Schultern, und in ihren Zügen erschien
ein eigentümlicher Ausdruck. Doch sprach sie nicht aus, was sie dachte,
und offenbar empfand sie Reue, daß sie sich so weit vergessen hatte.

Auch suchte sie den von ihr hervorgerufenen Eindruck rasch wieder zu
verwischen, indem sie sagte:

„Ich wollte betonen, daß ich mit meinem Vater besser hamoniere als mit
Mama und Imgjor“ — Und plötzlich abschweifend:

„Wie finden Sie Imgjor?“

„Bezaubernd!“

„So —!? Ja, das ist ein Mädchen, um das alle Männer werben. Es
geschieht, weil sie ihnen nicht einen Finger giebt. Solche strecken
ganze Scharen zu ihren Füßen.“

Dann schwieg sie. Als sie aber oben in das Waffenzimmer getreten waren
und sich hier, nach Besichtigung der Gegenstände, noch einmal
niedergelassen hatten, sagte Lucile Lavard:

„Ich gehe gern hier hinauf, weil meine Vorstellungen rege werden. Ich
wollte, ich hätte damals leben können, als noch Rankholm der Mittelpunkt
der vornehmen Welt war, als noch unsere Vorfahren Gesandte,
Staatsminister und Feldmarschälle waren, als sie die Herrscher Dänemarks
wochenlang zum Besuch bei sich sahen!“

„Sie sind offenbar sehr ehrgeizig, Komtesse! — Sie sind aus dem alten
Lavardschen Blut.“

„Ja, ich bin ehrgeizig, Sie haben recht, Graf Dehn! Ich leugne es nicht.
Ich lege Wert auf meinen Stamm, auf unser Ansehen und unsern Reichtum.
Ich bin aber —“ hier lächelte Lucile Lavard mit einem liebenswürdig
anschmiegenden Lächeln — „durchaus nicht so äußerlich, wie Sie glauben
mögen. Ja, ja, ich hab's schon bemerkt, Herr Graf, daß Sie mich recht
abfällig beurteilen. — Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie ich denke! Ich
wünsche mich auszusprechen, da ich Sie bereits zu uns zähle: Ich
überhebe mich über niemanden, das wäre eine Beschränktheit. Gott gab mir
objektiven Verstand. Aber ich leugne nicht, daß ich, je höher die
Verfeinerung der Sitten und je vornehmer, sorgloser die
Lebensverhältnisse sind, um so größeren Geschmack an den Menschen und
Verhältnissen finde. Das Leben mit den gesellschaftlich Auserwählten ist
mir Bedürfnis, ich teile durchweg ihre Interessen und Neigungen.
Freilich unterscheide ich stark. Der Oberflächlichkeit gehe ich
möglichst aus dem Wege; die Männer, die unthätig nur in den Tag hinein
leben, verabscheue ich. Finde ich Verstand, Streben, Geist und wahrhaft
kavaliermäßige Eigenschaften, so suche ich eine Annäherung. Mein Ziel
ist das Bündnis mit einem Mitglied der höchsten Stände. Eine Lavard hat
das Recht, ihre Hand nach einer Fürstenkrone auszustrecken. Und wenn ich
das erreicht habe, so will ich mir Beachtung erwerben durch die Pflege
der Künste und Wissenschaften, durch Wohlthun, durch die Förderung alles
dessen, was im wahren Sinne wertvoll und sittlich ist. So denke ich mir
mein künftiges Leben, dahin geht mein Ehrgeiz.“

Axel hatte ihr aufmerksam zugehört, und so sehr wuchs durch die
Verminderung seiner Vorurteile ihre Persönlichkeit in seinen Augen, daß
er sich zu einer eifersüchtigen Regung fortreißen ließ.

„Wahrlich, ich bewundere Sie, Komtesse!“ stieß er heraus. „Aber ich
empfinde einen starken Schmerz um die, welche mit keiner Krone im Wappen
zur Welt kamen und deshalb nicht einmal Ihre Fingerspitzen berühren
dürfen.“

Sie sah ihn an, und ein reizvoll gütiges Lächeln umspielte ihren Mund.
Dann sagte sie:

„Sie dürfen es, Graf Dehn! Auch dahin wollte ich noch Ihre
Voraussetzungen berichtigen. Ich bin nicht stolz oder gar hochmütig in
Ihrem Sinne. Ich hab' etwas Selbstgefühl, weil ich mir bewußt bin, daß
ich stets vernünftig zu handeln suchte, weil ich Grundsätze habe und dem
Besseren — wenn auch nur in meiner Weise — ehrlich nachstrebe. Aber
glauben Sie es mir, ich bin für meine Leute ein guter Kamerad. Ihnen
will und werde ich es jederzeit sein, wenn Sie mich brauchen können.“

„Ah, welche Musik für mein Ohr, gnädigste Komtesse! So sprach auch Ihre
Frau Mama.

„Ich danke Ihnen, danke Ihnen von Herzen! Ich bitte Ihre Hand zum
Zeichen meiner Verehrung berühren zu dürfen!“

Ein stiller, freundlicher Blick traf ihn, während sie gewahrte, worum er
bat, ein Blick, ähnlich wie der, welcher in den Augen ihrer Mutter
bisweilen erschien. Voll Nachdenken über diese Frauen, die sich so offen
gaben und in denen allen sich doch etwas Rätselhaftes verbarg, stieg
Graf Axel an der Seite Luciles wieder in die unteren Räume hinab. —

Nach dem Frühstück am folgenden Tage wurde über eine, einem geplanten
größeren Fest noch vorherzugehende, kleine Abendfête beraten.

Man wollte Lucile nach ihrer langen Abwesenheit Gelegenheit geben, mit
den gesellschaftsfähigen Personen in Kneedeholm und einigen der höheren
Gutsangestellten ein Wiedersehen zu feiern. Ueber das Erscheinen der
letzteren, des Pastors Nielsen und des Apothekers war man sich einig.
Die Hinzuziehung des Doktor Prestö stieß auf Schwierigkeiten.

„Wenn's nicht Graf Knut gewesen, würde ich mich in diesen Ersatz für
unsern alten, vortrefflichen Doktor Kröde nicht so willig gefügt haben
—“ warf die Gräfin hin.

„Der Prestö ist mir eigentlich sehr unsympathisch, er besitzt gar keine
Lebensart, und sollte ich krank werden, würde mich sein Kommen eher
beschweren, als erleichtern!“

„Ja, Manieren hat er wenig, oder eigentlich keine —“ bestätigte der
Graf. „Er ist ein selbstbewußter Herr, und, wie der Gutsförster schon
neulich behauptete, sicherlich ein fanatischer Bauernfreund. Gestern
erhielt ich auch wieder eine Probe von seiner alles bekrittelnden Art.
Als ich beim alten Peder Ohlsen vorsprach, fand ich ihn dort mit der
kleinen Sine beschäftigt, und als ich ihn fragte, was ihr fehle, zuckte
er, ohne mich überhaupt zu begrüßen, die Achseln und sagte: „Sie hat
sich den Magen mit Obst vollgepfropft, und statt ihr einen Finger in den
Hals zu stecken, schickt man nach dem Arzt, als ob's ans Sterben ginge!“
Und auf eine vermittelnde Aeußerung von meiner Seite, die nämlich, daß
der Laie doch den Zustand des Patienten nicht beurteilen könne,
entgegnete er in seiner belehrenden Art: „Ja, man sollte die Bauern zu
selbständigem Denken erziehen. Statt dessen wird womöglich ihre Dummheit
noch gefördert. Der Schulmeister hier im Dorfe macht tiefe Katzenbuckel
vor der Gutsherrschaft, er ist nichts anderes als ein Streber, der
längst hätte wieder zurückgeschickt werden müssen.“

Graf Axel hatte während dieser Erörterung absichtlich seine Blicke auf
Imgjor gerichtet. Schon bei ihrer Mutter Einwände war ein Ausdruck der
Auflehnung in ihre Züge getreten. Axel sah's an ihren Mienen. Nun hielt
sie's nicht mehr. Indem sie das Buch, auf das sie trotz des Gespräches
ihre Augen geheftet, in den Schoß gleiten ließ, fiel sie mit deutlicher
Gereiztheit im Tone ein:

„Der Doktor Prestö hat doch ganz recht, Papa. Markholm ist ein
widerwärtiger Augendiener und ein Schulmeister zum Erbarmen. Nichts,
nichts weiß die Jugend. Und daß man einen Arzt um jeden Quark bemüht,
ist doch in der That ein Mangel an praktischer Schulung. Prestö ist eine
tüchtige, energische Natur mit vielen neuen, wahrhaft reformierenden
Ideen.“

„Ja, ja — reformierende Ideen! Das ist das glückselige Schlagwort, das
einst nicht nur die Gutshäuser, sondern auch die Hütten der Bauern
zertrümmern wird!“ fiel Lucile erregt ein. „Solche Menschen, wie dieser
Doktor einer zu sein scheint, sind ein wahres Unglück. Sie wollen alles
verbessern. Sie müssen des Schöpfers Weisheit, die auf eine besonnene,
nicht überstürzende Entwickelung aller Dinge im Natur- und Menschenleben
hinausgeht, übertrumpfen. Im Grunde aber lauert hinter diesen
Weltverbesserern nichts anderes als die ewig sich wiederholende
Unzufriedenheit des Subjekts mit seinem Schicksal oder eine grenzenlose
Eitelkeit. Nicht die Sache — einige unpraktische Schwärmer abgerechnet —
leitet sie, sondern ihre Person. Innerster Ingrimm darüber, daß sie in
den Thälern marschieren müssen, statt auf den Gipfeln zu stehen, wo
ihnen das Schicksal nun einmal keinen Platz eingeräumt, ist das Motiv
ihrer Handlungen. Ging's Jahre und Jahre so und in Frieden, wird's auch
mit allmählichen, aus den Erfordernissen herauswachsenden Umgestaltungen
so gehen, ohne daß der Herr Doktor den Bauern, dem Lehrer und Papa
schulmeisterliche Unterweisungen erteilt.“

Imgjors Augen sprühten, während Lucile sprach.

Ihre weißen Hände fieberten, sie ballten sich in ihrem Schoß, und sie
konnte es nicht erwarten, ihrer Schwester zu antworten.

Aber statt ihrer wußte die Gräfin, die Lucile durch ihre Mienen bereits
zugestimmt hatte, rasch das Wort zu nehmen.

„Ja, ich teile vollkommen deine Ansicht, Lucile. Und ich glaube, wir
alle! Was meinen Sie, Graf Dehn? Wie finden Sie unsern neuen Aeskulap?“

„Ich beurteile ihn milder, nachdem ich näheres über ihn durch den Grafen
Knut vernahm. Aber ich muß — ich gestehe es — meiner Objektivität stark
aufhelfen. Wenn ich meinen Geschmack sprechen lasse, sage ich: Dieser
junge Mann besitzt weder äußere noch innere Erziehung. Er sollte erst
einmal bei sich beginnen, bevor er über andere schulmeisternd urteilt
oder gar gegen ältere Leute den Präceptor spielt.

Vielleicht wird seine künftige Frau — ich höre vom Grafen Knut, daß er
mit einer Kopenhagenerin verlobt ist — vorteilhaft auf ihn einwirken,
sie und der Einfluß so verstandesreicher und humaner Personen, wie dies
Schloß sie birgt.“

Graf Dehn richtete nach diesen Worten einen gespannten Blick auf Imgjor.
Er wünschte den Eindruck seiner letzten Rede auf sie zu beobachten. In
der That schien sie etwas beunruhigt, aber es war offenbar nicht
Enttäuschung, die ihre Wangen verfärbte, sondern etwas anderes, das sie
trieb, sich zu entfernen.

Sie fingierte einen sie plötzlich überfallenden Hustenanfall, stand auf,
drückte die Hand auf die arbeitende Brust und verließ, als ob sie die
Anwesenden von der lästigen Störung befreien wolle, das Zimmer.

Aber eben die Zweifel über das, was in Imgjor vorging, veranlaßte Axel
für des Doktors Erscheinen an dem geplanten Besuchsabend einzutreten. Es
lag ihm daran, Prestö und Imgjor noch einmal beisammen zu beobachten, um
daraus seine Schlüsse zu ziehen und darnach seine künftige
Handlungsweise einzurichten.

Er betonte der Gräfin gegenüber, daß eine Umgehung des Doktors bei einer
Gelegenheit, wo alle übrigen eingeladen würden, eine allzu stark
hervortretende Zurücksetzung an sich trage. Wenn Prestö auch zur Kritik
stark herausfordere, so habe er sich doch gegen die Familie bisher
eigentlich nichts zu Schulden kommen lassen. Er wage deshalb zu bitten,
daß man ihn hinzuziehe.

„Ihr Wunsch entscheidet, lieber Graf!“ erklärte Graf Lavard verbindlich,
und die beiden Damen neigten nicht weniger bereitwillig den Kopf, nun,
da es sich um die Bitte des Gastes handelte.

Als Axel eine Stunde vor dem Diner sein Zimmer betrat, um Toilette zu
machen, fand er auf seinem Schreibtisch eine Karte von Prestö, erfuhr
aber durch seine an Frederik gerichtete Frage, daß niemand den Doktor im
Schloß gesehen habe.

„Er wird hinten durchs Haus eingetreten sein, Frederik —“

Der Angeredete schüttelte den Kopf.

„Es kann keiner unbemerkt eintreten. Ich war fortwährend unten
beschäftigt, und oben hat Christian heute den Dienst.“

„Es liegt mir daran, zu wissen, wann der Doktor hier war. Vielleicht
weiß der Portier auf dem Schloßhof von des Doktors Hiersein. Bitte,
fragen Sie ihn und Christian! Es liegt mir daran —“

Aber Frederik kehrte mit dem Bescheide zurück, daß Doktor Prestö während
des Tages Rankholm nicht besucht habe. Es mußte also jemand im Schloß
die Karte in des Grafen Zimmer gelegt haben, und es mußte während des
Reitausfluges geschehen sein, den Axel mit dem Grafen zwischen dem
zweiten Frühstück und dieser Stunde unternommen hatte. Vor Verlassen des
Schlosses war Axel noch in seinen Räumen gewesen und hatte keine Karte
gefunden.

Nachdem Axel den Kammerdiener entlassen und zur Vermeidung falscher
Auffassungen noch vorher hingeworfen hatte, daß es sich nur um eine
kleine, lustige Wette handle, und daß er nur deshalb nachgefragt habe,
kam ihm bei fernerem Grübeln über diesen Fall plötzlich die Idee, daß —
Imgjor in seinem Zimmer gewesen, daß sie die Ueberbringerin der Karte
war.

Man hatte Prestö Mangel an Lebensart vorgeworfen, man hatte ihn
überhaupt aufs schärfste verurteilt, und er, Axel, war der einzige
gewesen, der ihm das Wort geredet. So war die nachträgliche
Aufmerksamkeit vielleicht der Dank, und Imgjor, die sich schon einmal
als Prestös Verteidigerin aufgeworfen, hatte dem Doktor möglicherweise
einen Wink gegeben.

Und wenn Axel in solcher Annahme das rechte traf, so waren diese beiden
Menschen also im stillen mit einander einig. Freundschaft macht
erfinderisch, wie Not.

Als Axel den Weg in den Speisesaal nahm, war er überzeugt, daß sich die
Dinge so verhielten, und er beschloß, nicht zu ruhen, bis er über Imgjor
und Prestö völlige Klarheit gewonnen. —

Indessen fand er bei Tisch keine Gelegenheit, Imgjor zu beobachten.
Lucile erklärte kurz vor dem Niedersitzen, daß ihre Schwester nicht
erscheinen werde. Sie sei bei ihr im Zimmer gewesen, und Imgjor habe
erklärt, daß sie sich unwohl fühle und bis zum Abend das Bett hüten
müsse. Es sei nichts Erhebliches, sie wünsche nur zu ruhen und habe
keinen Appetit.

Da man Axel bereits so sehr zu der Familie rechnete, daß in seiner
Gegenwart alles Vorkommende besprochen wurde, so nahmen der Graf, die
Gräfin und Lucile auch heute keinen Anstand, sich über Imgjor zu äußern.

„Sie wird immer unzugänglicher und geht immer mehr ihren Kapricen nach
—“ warf die Gräfin hin. „Du müßtest einmal energisch mit ihr reden,
Lavard! Sie sollte sich doch wenigstens anders verhalten, wenn wir Gäste
haben.“

Der Graf nickte.

„Wenn sie nicht zugleich ein solcher Engel für die Kranken und Armen auf
der Herrschaft wäre, hätte ich ihr schon ihre fortwährenden
Entfernungen verboten. Das ist's ja! Man kann ihr eigentlich keinen
anderen Vorwurf machen, als daß sie sich für sich hält und ihren
besonderen Neigungen nachgeht.“

„Es schickt sich doch wirklich nicht, daß sie fortwährend
umherflankiert, mit den Bauern und oft mit den Knechten verkehrt.
Gestern wurde sie, wie ich weiß, im Dorfwirtshaus gesehen, wo sie ihre
bauernfreundlichen Ansichten zum Besten gegeben hat,“ fiel Lucile ein.

„Wer hat dir das mitgeteilt?“ rief der Graf nunmehr in erheblicher
Erregung.

„Vom Gutsförster von Kilde hörte ich es, Papa.“

„Da siehst du's, Lavard! Es geht wirklich nicht mehr. Sie rührt uns das
ohnehin aufsässige Bauernvolk noch mehr auf. Und der Doktor agitiert
auch schon seit seiner Niederlassung im Dorf. Du weißt doch, daß Pastor
Nielsen ganz außer sich darüber ist, welche Ideen er vor den Bauern
entwickelt. Greife ein! Sprich morgen mit dem Doktor und stelle ihm die
Wahl, sich solcher Dinge streng zu enthalten oder seinen Stab wieder in
die Hand zu nehmen!“

Graf Lavard nickte.

„Ja, es soll geschehen. Nur morgen geht's nicht. Er ist unser Gast; da
wäre es unzart, ihm grade Vorhaltungen zu machen.“

„Und Imgjor?“ fiel Lucile ein.

„Willst du ihr nicht auch gebieten, daß sie ihre Besuche in den
Wirtshäusern einstellt? Nächstens erscheint das Bauernvolk auf dem
Schloßhof und stellt dir Forderungen, und wenn du sie nicht erfüllst,
stecken sie uns das Dach über dem Kopfe an!“

„Na, na — Ihr seht allzu schwarz! Ich bewege mich doch auch unter ihnen
— ich kenne sie —“

„Es mag sein, Lavard! Aber daß hier vom Schloß aus durch unsere eigene
Tochter die neuen Ideen gefördert werden, daß sie indirekt gegen ihre
eigene Familie zum Widerstand aufreizt, geht doch wahrlich nicht mehr —“

„Ich bin derselben Ansicht, Papa, und willst du gründlich vorgehen, so
schicke Imgjor einmal fort. Und bevor sie zurückkehrt, gieb dem Monsieur
Prestö auch den Laufpaß!“

„Warum so lange warten, Lucile?“ fiel die Gräfin ein. „Will er sich
nicht fügen, mag er auch gehen, gleich —“

Lucile zog die Lippen. — Sie zögerte noch eine Weile, dann sagte sie und
warf zugleich einen stillen Blick auf Axel:

„Ich riet nicht ohne Absicht so, wie ich riet, liebe Mama. Denn wisset,
beide, alle: Seit der Scene gestern habe ich die feste Ueberzeugung, daß
Imgjor völlig unter dem Einfluß Prestös steht. Als ich vorher mit ihr
sprach und auf sie einredete, Graf Dehns halber sie ermahnte, sich mehr
zu Hause zu halten, liebenswürdiger, entgegenkommender sich zu geben und
den ganzen, sich nicht für sie schickenden Verkehr drunten aufzugeben,
entwickelte sie geradezu erstaunliche Ansichten. Wir gerieten aufs
heftigste aneinander. Sie warf mir Beschränktheit, Hochmut und
lächerlichen Adelsstolz vor. — Die Zeiten seien vorüber, wo man sich so
geben dürfe wie ich. Sie, Imgjor, würde, wenn es an ihr läge, den Adel
abthun, das Schloß verlassen und sich ganz den armen, geknechteten
Bauern widmen. Es müßte in ganz Dänemark von Männern und Frauen der
besseren Stände das Veredelungs- und Samariterwerk für die niedere
Klasse, für die Armen und Elenden, ins Werk gesetzt werden. Zu diesem
Zwecke sei das Land in Distrikte einzuteilen, und in diesen habe dann
die Wirksamkeit der Brüder und Schwestern des neuen Vereins zu beginnen.
Volksprediger sollten Vorträge halten, um Menschenliebe,
Pflichterfüllung und ein von allem ceremoniellen Beiwerk befreites
Christentum zu predigen. Der Arbeitslosigkeit, Not und Krankheit solle
Einhalt gethan werden, es sei durch Errichtung von öffentlichen
Versorgungs- und Krankenanstalten in jedem Ort, sowie durch öffentliche
Speisehäuser überall den Armen zu helfen und damit den Forderungen der
Neuzeit gerecht zu werden.“

„Wie? Mit solchen Dingen beschäftigt sie sich? Das alles hat sie dir
erklärt?“ fielen beide Lavards ein, und auch Axel erhob mit nicht
geringerem Erstaunen das Haupt.

„Ja, das und noch anderes! Man könnte einen gelehrten Vortrag daraus
machen.“

Nachdem Lucile geendigt hatte, verharrten die Anwesenden zunächst in
Schweigen. Was sie gehört hatten, beschäftigte sie ausschließlich.

„Ach ja, nun verstehe ich auch vieles —“ nahm sinnend die Gräfin wieder
das Wort. „Wahrhaftig es ist höchste Zeit zum Einschreiten,“ fuhr sie,
gegen ihren Mann gewendet, fort, — „wenn wir nicht einen großen Affront
erleben sollen. Du mußt deine Rechte üben und noch im Beginn durch
geeignete Mittel zu mildern oder auszumerzen suchen, was sich in ihr für
sie selbst Verderbliches festgesetzt hat. — Was sagen Sie, Graf Dehn,
was sagen Sie? Hätten Sie das gedacht, das in Imgjor gesucht?“

Axel bewegte die Schultern und sagte: „Was die Komtesse will, ehrt sie
und hebt sie in meinen Augen! Aber allerdings glaube ich auch, daß sie
starke Enttäuschungen erleben und sehr unglücklich werden wird, wenn's
keine Mittel giebt, ihr schönes Menschentum auf ein richtiges Maß
herabzumindern.“

Er wollte noch mehr sprechen, aber nun öffnete eben Frederik, den die
Gräfin beim Beginn der Unterredung für eine Zeit lang abgewinkt hatte,
von neuem die Thür und brachte, von Christian und einem anderen Lakaien
gefolgt, die dampfenden Schüsseln des nun folgenden Ganges.

Er hob die silbernen Deckel ab, und ein auf portugiesische Art
bereiteter, gebratener Fisch aus dem Teiche des Gutsgebiets mit einer
dazu gehörenden duftenden Sauce verbreitete einen so köstlichen Hauch,
daß die Sinne für diesen Leckerbissen das Interesse für Imgjors
Umgestaltungsideen vorläufig verschlangen.

       *       *       *       *       *

Als Graf Dehn am folgenden Vormittag zwischen dem ersten und zweiten
Frühstück von einem Spaziergang aus dem Park heimkehrte, hörte er in der
Gegend des Schlosses ein lautes Wimmern und bemerkte, als er
nachforschte, Hektor, den Hund von Imgjor, mit mühsam hinkenden
Bewegungen dem hinteren Eingang zustreben.

Aber bevor der Hund noch die Thür erreicht hatte, verließen ihn die
Kräfte; er blieb, vor Schmerzen wimmernd, liegen und erfüllte mit seinen
Wehlauten die Luft.

Rasch eilte Graf Dehn herbei, spähte nach, was dem armen Geschöpf fehlte
und sah, daß nicht nur die eine Pfote gebrochen, sondern daß dem Tier
auch noch das eine Auge derart verletzt war, daß nur noch eine blutige
Höhlung unter der Stirn klaffte.

Und während Graf Dehn noch sorgend um das Tier bemüht war, erschien,
durch die Klagetöne von oben herbeigelockt, Komtesse Imgjor, erkannte,
nach einem Graf Dehn gespendeten, flüchtig höflichen Gruß, was
vorgefallen war, und erging sich, ihren Liebling liebevoll streichelnd
und tröstend, in aufgeregten Worten über das Geschehene. Aber sie nickte
auch erkenntlich, als Dehn sich bereit erklärte, Wasser, Schwamm und
Leinewand herbeizuholen, und hob, nachdem dies herbeigeschafft und das
Tier verbunden war, solches zur Bettung im Schloß auf ihre eigenen Arme.

„Bitte, begleiten Sie mich und öffnen Sie mir die Thüren!“ bat sie. „Ich
will ihn in mein eigenes Zimmer bringen, ihn dort selbst pflegen,“ fügte
sie, sich zu dem ihr dankbar die Hand leckenden Hunde liebevoll
herabbeugend, hinzu.

Imgjors Gemächer befanden sich in der ersten Etage in einem Vorbau, der
in Form eines Turmes die linke, äußerste Zwischenecke des Schlosses
flankierte. Man konnte sie vom Hofe aus, aber auch von demselben
Korridor erreichen, in dem sich Graf Dehns Zimmer befanden.

Unmittelbar neben dem Eingang zu seinen Gemächern führte eine Treppe
zunächst zu einem halbrunden Flur empor, und auf diesen mündete die vom
Hofe emporstrebende Wendeltreppe.

Graf Dehn hatte lange schon das lebhaftere Verlangen gespürt, einmal
einen Blick in die Räume zu werfen, in denen das seine Gedanken und
seine Sinne so ausschließlich beschäftigende junge Mädchen wohnte. Nun
sollte ihm das werden, und mit einer gewissen Hast folgte er Imgjor und
ihrer Bürde.

Sie ging aber nicht ins Schloß, sondern wählte den Weg, der über den Hof
und von dort hinauf zu ihrer Wohnung führte.

„Bitte, hier!“ unterwies sie Axel, als sie oben angekommen waren, und
zeigte auf einen verborgenen Winkel, in dem an einem verdeckt
angebrachten Haken ein Schlüssel hing.

Und Graf Dehn beeilte sich, ihrem Befehl zu entsprechen. Er öffnete das
Gemach.

Es war aber erst ein einen Blick auf den inneren Schloßhof gewährendes
Vorzimmer mit Tapetenthüren und altmodischen Möbeln.

Die eigentlichen beiden Wohnstuben befanden sich nach der Parkseite.
Graf Dehn war völlig benommen von der reizvollen Eigenart des ersten
Gemaches, das Imgjor als ihr Wohnzimmer bezeichnete.

Ein großer Tisch, bedeckt mit Büchern und allerlei kostbaren
Gebrauchsgegenständen, stand in der Mitte. Ihn umgaben eine Anzahl
kleiner Sofas, die mit rosenroten, blumendurchwirkten Seidenstoffen
bezogen waren, und ebensolche Divans standen zwischen den das Zimmer
füllenden schneeweiß und goldfarbigen Rokokomöbeln.

Auch eine reiche Bibliothek in kostbaren Einbänden befand sich in der
einen Wandseite, und sie ward halb beschützt von einem weißseidenen
Vorhang. Blumen und Vogelkäfige standen in den tiefen Fenstern, und
prachtvolle, rosaseidene Gardinen fielen, um besser Licht zu lassen,
ungerafft von oben bis auf den Fußboden herab.

„Wie feenhaft wohnen Sie hier, Komtesse!“ nahm Graf Dehn das Wort,
nachdem Imgjor das Tier nebenan in ihrem Schlafgemach gebettet hatte und
nun, rasch zurückkehrend, ihm wieder gegenüberstand.

„Ja, viel zu schön! — Wer hat ein Recht, derartig sich einzurichten,
wenn in der Welt so viele arme Geschöpfe darben —“ entgegnen sie herb im
Ton. „Ich lerne den Luxus immer mehr hassen. Wäre nicht der die Seele
belebende, schöne Ausblick, könnte ich nicht in mein geliebtes Thal und
ins Dorf hinabschauen, wäre ich schon ausgezogen und hätte mir Räume
gesucht, die mich an Einfachheit und Entsagung gewöhnen —“ Und dann kurz
abbrechend, nachdem sie ihm nochmals ihren Dank wiederholt hatte, sagte
sie: „Sie können gleich rechts die Treppe hinuntergehen, um Ihre Zimmer
zu erreichen. Wir sind sozusagen Nachbarn, das heißt Nachbarn von oben
und unten —“

Hierauf neigte sie mit gewohnter, kaum gemilderter Ausdruckslosigkeit
den Kopf und begab sich — Axel hörte es, während er die Thür hinter sich
schloß — eilends wieder zu dem kranken Tiere in ihr Schlafgemach.

Aber diese Sicherheit, nicht beobachtet zu werden, veranlaßte Graf Dehn,
nicht so gleich das Vorzimmer zu verlassen, sondern sich noch einen
Augenblick darin umzuschauen, ja, sogar die Klinke einer der beiden
Tapetenthüren zu berühren.

Da nach seiner Berechnung die Wände des Gemachs zugleich die Außenmauern
des Turms bilden mußten, war er sehr neugierig, zu erfahren, wohin die
Eingänge führten.

Zu seiner Ueberraschung gab das von ihm geprüfte Schloß nach, und vor
ihm lag eine dunkle Treppe.

Das beschäftigte ihn dermaßen, daß er, — unten in seinen Gemächern
angelangt, — alle Wände untersuchte. Aber er fand nichts. Wahrscheinlich
führte diese in die dicke Mauer eingelassene, geheime Treppe in den
Garten hinab, und auffallend war's nur, daß die Thür unverschlossen war,
daß sie also noch gebraucht wurde. —

Daß übrigens Imgjor ihre Stellung zu Axel nicht verändern wollte, zeigte
sich schon an demselben Tage sowohl bei Tisch, wie beim Abendessen. Sie
begegnete Graf Dehn, trotz dieses sie enger verknüpfenden Vorfalles,
mit derselben kühlen Gemessenheit wie bisher, und als von dem Hunde die
Rede war, erwähnte sie seiner Hilfeleistung mit keiner Silbe.

Die beiden folgenden Tage boten wiederum allerlei Abwechslungen, durch
die Graf Dehns Gedanken vorübergehend von Imgjor abgelenkt wurden.

Er machte mit dem Grafen, der Gräfin und Lucile und mit diesen allein,
da Imgjor heftige Migräne vorschützte, eine Wagenpartie nach einem der
umliegenden Güter, wohin die Herrschaften schon zum Frühstück geladen
waren, und am folgenden Tage fuhr er mit dem Grafen Knut und dem Herrn
des Hauses in das zwei Meilen entlegene Städtchen Oerebye, woselbst sie
an einem Diner bei einem Herrn von Kjärholm teilnehmen sollten.

Am letzten Abend vor der angesetzten Gesellschaft hatten sich der Graf,
Lucile und Imgjor früher zurückgezogen. Graf Lavard fühlte sich durch
eine Erkältung beschwert, und Lucile und Imgjor hatten sich, über starke
Müdigkeit klagend, schon bald nach Aufhebung der Tafel in ihre Gemächer
begeben.

Nur Graf Dehn blieb, durch eine Partie Schach gefesselt, neben der
Gräfin sitzen.

Sie sei noch durchaus nicht schläfrig, sie bitte, ihr Gesellschaft zu
leisten, hatte sie erklärt.

Nachdem Graf Dehn als Sieger aus dem Kampfe hervorgegangen war, lehnte
sie sich zurück, sah ihn mit dem ihr eigenen forschenden Blick an und
warf plötzlich unvermittelt hin:

„Nun, wie sieht's, Graf Dehn? Wer gefällt Ihnen besser, Lucile oder
Imgjor? Nicht wahr, Lucile ist ungewöhnlich schön?“

Graf Dehn bejahte stumm, dann sagte er:

„Um die Komtesse Lucile zu werben, würde, selbst wenn man meinen möchte,
ohne sie nicht leben zu können, zwecklos sein. Sie wird niemals einen
Mann meiner Art heiraten.“

Die Gräfin schärfte erst das Auge in einer Art, als ob sie in des
Sprechers Inneres dringen wolle. Dann sagte sie stark betonend:

„Ist Ihrer Antwort zu entnehmen, daß Ihnen auch Lucile gefährlich werden
könnte?“

„Ich kann nur jüngst Gesagtes wiederholen, Frau Gräfin. Ich liebe
Komtesse Imgjor leidenschaftlich. Noch will ich einige Zeit prüfen, ich
will nicht so leichten Kaufes meine Wünsche begraben. Ist's aber
entschieden, werde ich Rankholm verlassen. Ich würde mich innerlich
verzehren, sollte ich ferner aussichtslos neben ihr hergehen.“

„Seltsam!“ stieß die Gräfin heraus. „Was die Männer haben können, das
verschmähen sie. Nur das Unerreichbare hat Reize für sie —“

„Sie meinen —?“ setzte Graf Dehn an; — stockte aber, weil er der Gräfin
Auge begegnete.

Sie sah ihn mit einem Blick an, der ihn befangen machte, und der
Widerschein seiner Verwirrung spiegelte sich in seinen Mienen. „Ah — Sie
Kind — Sie gutes Kind!“ warf sie überlegen, aber nicht ungütig hin.

Doch gab sie sich unmittelbar darauf wieder mit der sonstigen Geradheit
ihres Wesens.

„Lucile will hoch hinaus, gewiß! Aber sie wird doch nie einen Mann
heiraten, den sie nicht liebt“ — fügte sie, an Axels vordem hingeworfene
Aeußerungen anknüpfend, hinzu. — „Und deshalb glaube ich auch, daß sie
ihre unfruchtbaren Pläne aufgeben und sicher einen anderen ehrenwerten
Mann aus einem weniger bevorzugten Stande heiraten würde.

Daß Lucile sich für Sie interessiert, weiß ich. Aber Sie — Sie —
empfinden nichts für sie —?“

Nun erschien ein überaus forschender Ausdruck in ihren Zügen.

„Ja, Frau Gräfin —“ entgegnete Graf Dehn halb ernst, halb leicht im Ton,
um dem Gespräch einen möglichst unbefangenen Charakter zu verleihen —
„ich müßte ein Stein sein, wenn ich nicht ein so vollendetes, junges
Mädchen, wenn ich nicht jede Tochter einer Gräfin Lavard anbetete. Aber
es steigt ein Wunsch nach ihrem Besitz nicht auf, weil mich, ich
wiederhole es, Komtesse Imgjor ganz gefangen nimmt. Komtesse Lucile hat
mir überdies rückhaltlos erklärt, sie werde nur einem Manne die Hand
reichen, der eine Fürstenkrone im Wappen führt.“

„Haben meine Töchter —“ stieß die Gräfin, die nachdenklich zugehört,
stark betonend heraus, „Ihnen gegenüber ein Urteil über mich gefällt?“

Graf Dehn sah befremdet empor.

„Ich bitte, sprechen Sie, Graf Dehn! Ich bin Ihnen für ein offenes Wort
dankbar. — Ich werde dann auch reden, nicht heute, aber ein andermal —“

„Da Sie mich fragen — ja, Frau Gräfin! Es scheint mir bei aller
Verehrung eine kleine Einschränkung vorhanden zu sein. Ich habe schon
darüber gegrübelt, wie es möglich ist, Sie nicht schwärmerisch zu lieben
—“

Die Gräfin sah eine Weile still vor sich hin. Dann sagte sie mit einem
Seufzer:

„Glücklich der, welcher im Familienleben das findet, was er erwartet.
Wenige sind ganz glücklich! Würden die Eheakten einmal hervorgeholt,
statt der Vergessenheit übergeben zu werden, würde man erstaunen, wie
oft Frauen gelitten haben, wie groß ihre Seelen waren!“

Graf Dehn richtete einen gespannten Blick auf die Gräfin, die durch
diese Worte die Aufdeckung eines Familiengeheimnisses vorbereitete.

Aber heute vernahm er nichts mehr. Mit einem sanften gütigen Ausdruck
bot sie ihm zum Abschied die Hand und begab sich, ihm noch einmal
freundlich zunickend, in ihre Gemächer. —

       *       *       *       *       *

Als sich Graf Dehn am folgenden Vormittag nach Imgjor erkundigte, wurde
ihm von Frederik gesagt, daß sie schon früh und zwar, wie er zu hören
geglaubt habe, nach dem Mönkegjorer Gehölz fortgeritten sei.

Das veranlaßte Axel, sich ebenfalls ein Reitpferd zu bestellen und, des
Weges kundig, dieselbe Richtung einzuklagen. Dem schönen Mädchen
möglichst oft zu begegnen, sie durch einen häufigen Verkehr allmählich
von ihren Vorurteilen zu heilen, endlich ihre Freundschaft zu gewinnen,
lag in seinem Plan.

Zwar hatte die Gräfin geäußert, daß man sie gehen lassen müsse, sie
komme dann zuletzt ganz von selbst; aber er wollte es doch auf seine
Weise versuchen. Wie konnte er warten, bis sie ihm auch nur einige
Beachtung schenkte!

An dem heutigen Morgen beherrschte ihn zudem die Vorstellung, daß sie
nicht nur fortgeritten sei, um sich eine Abwechslung zu verschaffen,
sondern daß sie irgend etwas vorhabe, das sie zu verbergen wünschte.
Vielleicht hing es mit dem Doktor Prestö zusammen. —

Er hielt auch, als er zunächst durch das Dorf trabte, einen Augenblick
vor des Arztes Hause still, um sich unter irgend einem Vorwande nach
Prestö zu erkundigen.

Eine unbestimmte Ahnung sagte ihm, daß er abwesend sein werde.

Anfänglich war sein Rufen vergeblich. Es erschien niemand, und schon
wollte er sich zum Absteigen bequemen.

Dann aber öffnete Prestös Wirtschafterin, eine einfache, alte Frau aus
einem der umliegenden Dörfer, die Hausthür und gab auf Graf Dehns Frage
Antwort.

„Der Doktor sei vor reichlich einer halben Stunde nach Oerebye geritten.
Er kehre wahrscheinlich erst gegen den Spätnachmittag zurück,“ erklärte
sie.

„Nach Oerebye? Besitzt der Herr Doktor dort auch Praxis?“

„Nein — das nicht. Ich hab' etwas von einer Bauernversammlung gehört,
wo er dabei sein will. Ich weiß es aber nicht genau. Kann ich etwas
bestellen?“

„Nein, ich danke! Es liegt nichts Besonderes vor. Sie brauchen nicht
einmal zu sagen, daß ich mich nach ihm erkundigt habe.“

Hierauf nickte die Alte zustimmend, und Graf Dehn setzte seinem Tier
wieder die Sporen in die Weichen.

Oerebye und der große Forst Mönkegjor lagen in derselben Wegrichtung.

Nachdem Graf Dehn diesen, scharf trabend, nach Verlauf einer halben
Stunde erreicht hatte, durcheilte er ihn von einem Ende zum anderen,
hielt auch auf einem mitten im Gehölz auf einer Anhöhe befindlichen
Pavillon an und sah sich hier nach Imgjor um. Aber es war nichts von ihr
zu bemerken, und er nahm daher, rasch entschlossen, die Richtung nach
Oerebye.

Freilich konnte er, wenn er seinen Ritt soweit ausdehnte, nicht zum
Frühstück in Rankholm zurück sein. Aber das ungeduldige Verlangen,
festzustellen, ob wirklich Imgjor und der Doktor beisammen seien, ließ
das in ihm aufsteigende Bedenken, ohne Entschuldigung fortzubleiben,
rasch zurückdrängen.

Unterwegs, während er dahin galoppierte, bestürmten ihn seine Gedanken.

War's nicht im Grunde eine Thorheit, sich auf ein Mädchen zu
kaprizieren, das ihm so entschieden auswich?

Und war's, wenn er wirklich ihre Zuneigung gewann, wünschens- und
lohnenswert, ein weibliches Wesen solcher Art an sich zu fesseln? Er
hatte sich eine ganz andere Vorstellung von der jungen Dame gemacht, von
welcher ihm sein Vater gesprochen.

Er hatte ein mit Schönheit: Sanftmut und Liebenswürdigkeit verbindendes
junges Mädchen zu finden erwartet und sah sich einer fanatischen
Vertreterin der neuen Ideen gegenüber.

Und dann redeten doch wieder andere Stimmen, und sie flüsterten ihm zu,
daß Nummern überall zu finden seien, daß er es hier mit einem
charakterstarken und trotz aller Schroffheit warm fühlenden,
edeldenkenden Wesen zu thun habe. Von einem solchen bevorzugt, gar
auserwählt zu werden, erschien ihm des Ringens wert.

Und diese Vorstellung gab dann seinen Gedanken wieder eine andere
Richtung.

In Oerebye angelangt, hielt Graf Dehn vor demselben Gasthofe, in dem er
kurz vorher mit Imgjors Vater und dem Grafen Knut eingekehrt war, und
schon während des Eintritts in die gemütlichen Vorräume des Gebäudes
warf er die Frage hin, ob jemand aus Schloß Rankholm anwesend sei.

Der sorgfältig rasierte, höfliche Oberkellner nickte bejahend.

„Ja wohl, Herr Graf. Komtesse von Luvard ist vor einer halben Stunde
angekommen.“

„So — so!?“ fiel Axel lebhaft ein. „Und — und — ist sie im Hotel?“

„Nein, Herr Graf! Sie ist auch nach dem Landhof gegangen —“

„Nach dem Landhof? Was ist das?“

„Der Landhof ist ein öffentliches Lokal. Um ein Uhr spricht da der
Volksredner Jens Uesholm. Sämtliche Einwohner und Bauern der Umgegend
sind hingelaufen —“

„In der That? Ist man diesen Lehren hier so zugeneigt? Und die
Landarbeiter? Werden sie dabei sein? Die haben doch sicher um diese Zeit
keine Erlaubnis von ihren Gutsherren —?“

„Sie haben sie sich genommen, Herr Graf. Die Sache ist schon lange im
Gange. Das giebt überhaupt gewiß noch ein böses Nachspiel —“

Diese Auskunft bestimmte Axel, nach rasch eingenommenen Imbiß den Weg
nach dem Landhof zu nehmen.

Nun war's auch zweifellos: — Prestö und Imgjor — beide würden dort
anwesend sein! —

Der Landhof lag mitten in der Stadt, aber nicht unmittelbar an der
Hauptstraßenlinie. Man mußte eine große Allee durchmessen, um das auf
einer sanft emporsteigenden Anhöhe belegene, eine weite Umschau bietende
Vergnügungslokal zu erreichen.

Es war auch ersichtlich, daß die Einwohner etwas Besonderes dahinzog.

Dicht gedrängte Gruppen von Bürgern, Bauern und Feldarbeitern bewegten
sich durch den Baumgang, alle waren in Eile, und aus der Umgegend kam
noch fortwährend neuer Zuzug.

Axel beschloß, sich einen Platz drinnen zu suchen, auf dem er möglichst
unbeachtet zuschauen konnte. Da er aber der Gelegenheit unkundig war,
redete er einen älteren Bürger in dänischer Sprache an und erkundigte
sich nach der inneren Einrichtung des Landhofes.

Da war ihm dann die Auskunft sehr erwünscht, daß sich eine große
Gallerie rings um den Saal ziehe, und daß man sie durch einen
vorhandenen, gesonderten Eingang betreten könne.

Und so machte er es. Unter der Führung seines Begleiters, eines ehrsamen
Klempnermeisters, betrat er die Gallerie und fand bald einen Platz, von
dem aus er den Redner ins Auge fassen und die Zuhörerschaft genügend
übersehen konnte.

Vorläufig wogte unten noch alles durcheinander. Menschen drängten sich,
Stühle wurden eingeschoben. Das Geräusch lebhaften Schwatzens erfüllte
den Raum; nur der Redner selbst war noch nicht sichtbar.

Aber endlich erschien er, von dem brausenden Zuruf der Versammelten
empfangen, und sprach mit einer lauten, wohlklingenden Stimme über das
von ihm angekündigte Thema.

Und was er sagte, machte Eindruck, weil er seine Worte geschickt zu
wählen wußte, weil er niemals den ruhigen Ton verließ, und weil er mit
solcher Ueberzeugung von der Berechtigung der Forderungen und von der
zweifellosen endlichen Erreichung des zu erstrebenden Zieles sprach, daß
er die Zuhörerschaft völlig in seinen Bann schlug.

Zum Schluß entwickelte er, was zunächst zu geschehen habe, und eben das
deckte sich genau mit dem Inhalt des Gespräches, das zwischen Imgjor und
Lucile stattgefunden hatte.

Nachdem der Redner, ein Mann mit blondhellem Bart, tiefliegenden,
dunklen Augen und blassen Zügen, unter nicht endenwollendem Beifall der
Versammelten seine Ansprache beendet hatte, erklärte ein Bauer, der als
Präsident der Versammlung vorstand, daß nunmehr die Redefreiheit
eröffnet sei und daß zunächst Herr Doktor Prestö aus Kneedeholm das Wort
nehmen werde.

Und Prestö bestieg — aus einer Seitenloge tretend, woselbst nunmehr Graf
Dehn auch Imgjor entdeckte — so gleich die Rednerbühne und hielt unter
dem lautlosen Aufhorchen der Menge ebenfalls einen Vortrag.

Und Imgjor, die Graf Dehn fortdauernd scharf beobachtete, folgte diesem
mit funkelnden Augen und mit gespanntester Miene. Sie hing gleichsam an
seinem Munde, sie verschlang seine Worte.

Prestö sprach über den Landadel, und sein Vortrag zündete deshalb noch
mehr, weil er aus dem Munde eines Mannes kam, der selbst unter ihm
lebte.

Nachdem er denselben Vorschlägen, die Jens Uesholm gemacht, das Wort
geredet und die Inscenierung solcher werkthätigen Reformen noch des
Näheren beleuchtet hatte, trat er zurück und begab sich unter dem
Jubelruf der Arbeiter und Landbevölkerung auf seinen Platz zurück.

Hatte es schon bisher in Graf Dehn gegärt, hatte er sich förmlich
zurückhalten müssen, das Wort zu verlangen und Uesholms Ausführungen
entgegenzutreten, durch seine Auslassungen das Erreichbare von dem
absolut Unverständigen und deshalb Unerreichbaren zu scheiden, so glühte
es ihm jetzt in den Adern, Prestö heimzuführen.

Es hielt ihn auch nicht. Völlig unbekümmert um das teils neugierige,
teils feindselige Mustern derjenigen, durch deren Reihen er sich
drängte, trat er vor den von ihm vorher ins Auge gefaßten Präsidenten
und ersuchte diesen, ihm das Wort erteilen zu wollen.

Des Dänischen war er so gut Herr wie des Deutschen und Französischen.
Dennoch leitete er die ihm von dem Leiter der Versammlung gewährte Rede
mit einer Entschuldigung ein, wenn er sich etwas unvollkommen ausdrücken
werde.

Er wolle, hub er an, sprechen über die Gefahren, einen Himmel zu
eröffnen, statt als Mensch beim Irdischen zu bleiben. Bei allem, was der
Vernunftbegabte thue, müsse er sich nach seiner Mutter, der Erde,
richten. Sie müsse ihm ein Vorbild sein und bleiben. Sie lehre ihn zwar
auch täglich und stündlich das Bestreben nach Ausgleich und einer immer
höheren Vervollkommnung, aber auch fortwährend das ewige Gesetz des
Rechtes des Stärkeren und Begabteren über den von der Natur minder
Bevorzugten. Er stelle sich mit den Vorrednern auf denselben Standpunkt,
daß werkthätiges Christentum zu üben, nicht nur jedermanns Pflicht,
sondern daß es auch weise sei, da alle im Grunde nur einer großen, durch
gemeinsame Interessen verbundenen Familie angehörten. Insofern seien
die Vorschläge, die gemacht worden, wertvoll und deren teilweise
Ausführung durchaus wünschenswert. Aber eben dabei müsse es sein
Bewenden haben, und auch dieses Bessere sei in einer ruhigen Weise zu
erstreben. Das Geschlecht, das heute lebe, ergehe sich in einem völligen
Irrtum, wenn es glaube, daß es zu etwas anderem berufen sei, als
zunächst Opfer zu bringen. Die Resultate würden erst, weil sie nur
allmählich reifen könnten, den späteren Generationen zu gute kommen
können. Und nochmals weise er auf die Natur hin, wenn er vor jeder
Ueberstürzung warne. Brauche sie, die große Zauberin, nicht auch für
alles Zeit und Vorsicht? Bedürfe nicht jedes Blatt am Baume Licht, Sonne
und Regen? Würde es nicht durch Stürme und Kälte, also durch Gewalt,
vernichtet? Eine Perspektive zu eröffnen, wie es der erste Redner
gethan, sei ein Unrecht. Er verheiße etwas, das eben mit dem Hinblick
auf sie, deren Sein und Wesen den Menschen die Gesetze für ihr Thun
vorschreibe, unerreichbar sei. Der Staat der völlig Gleichberechtigten
werde nach einem Tage zerfließen. Der Adler herrsche in der Natur über
den Sperber. Bei den Menschen habe die höhere Intelligenz und das
kräftigere Ringen der Vorwärtsstrebenden das Uebergewicht über den
Trägen. Wie denn? Solle der Fleißige und Rührige das Ergebnis seiner
Anstrengungen den Müßigen in den Schoß werfen? Er werde sich bedanken!
Der Fleißige besitze Ehrgeiz und habe den Drang nach Erfolg, Fortkommen
und nach gesondertem Besitz. — „Meine Freunde! Wenn ihr heute eine
Erbschaft macht, oder wenn ihr durch Erfindung, die euch Jahre lang
beschäftigte, ein großes Vermögen erwerben könnt, wollt ihr das ohne
weiteres hingeben, wollt ihr euch mit einem Tausendstel begnügen? Nein,
das wollt ihr nicht, und niemand wird's euch verdenken, daß ihr euch
dessen weigert. Die Zukunft, eine bessere, liegt nur in der Pflege der
Vervollkommnung des sittlichen Menschen, in der Hebung der Schulen, in
der Ausübung einer Religion, die zu Thaten der Pflicht und Thaten der
Liebe und Duldsamkeit gegen die Mitmenschen auffordert. Wo war heute
hier von Nächstenliebe die Rede? Nirgend! Selbst die Befürwortung der
Förderung des Humanismus und der Wohlfahrt in Gestalt von
Arbeitsstätten, Krankenhäusern, Nächtigungsanstalten, öffentlichen
Speisehäusern, Unfallentschädigungen und Altersversorgungen ward nur aus
dem Gesichtspunkt einer Forderungsberechtigung an den Geldbeutel der
Gutsherrn erörtert! Was aus dieser Klasse der Gesellschaft wird, ist
Herrn Doktor Prestö gleichgiltig. Sie mag untergehen. Ja, Freunde, seid
ihr Heilige? Nehmt ihr nicht auch einmal ein Gläschen mehr? Seid ihr
allezeit voll Christentum gegen eure Umgebung? Liegt ihr nicht auch
lieber auf einem weichen Bett als auf Steinen? Wird einer von euch das
Anerbieten abschlagen, mehr zu werden und mehr zu verdienen, und ist er
nicht auch ein Streber in seiner Art, in solcher Art, daß er sich
möglichst gut betten will? Sprecht ihr allezeit die Wahrheit? Erfüllt
euch niemals der Neid gegen eure Nachbarn? Seid ihr nicht ebenso
hochmütig wie die sogenannten Großen? Hand aufs Herz! Haltet ihr euch
nicht für besser, als sie? Habt ihr nicht euren Bauernstolz? Ein Unglück
für das Volk ist ein Redner wie der Herr Doktor Prestö. Er möchte euch —
ich muß es seiner Rede entnehmen — am liebsten anführen, damit alles
vernichtet werde, die Güter und die Bauerngehöfte dazu! Ja, was dann?
Die Einöde bietet doch nichts als Hunger und Jammer und Elend! Und wie
will der Bauer und Feldarbeiter leben, wenn er den Gutsherrn in den
Brunnen versenkt? Ihr könnt alles kaufen für Geld. Aber wenn ihr keines
habt, und wenn ihr dem Staat die Möglichkeit nehmt, durch den
Wechselverkehr zwischen Angebot und Nachfrage die Lebensfrage und somit
die Existenzfrage zu regeln — was erblüht euch dann Gutes? Elend — Elend
ist euer Loos! Was uns heute der Staat Schützendes und Förderndes
bietet, ist ein Ergebnis des Ringens der Jahrhunderte. Allmählich hat
sich die Erkenntnis des Zweckmäßigen entwickelt. Wir müssen säen, die
Saat behüten, indem wir das Unkraut von der Frucht scheiden, und müssen
zur rechten Zeit ernten. Nur _eine_ verständige Volkswirtschaftslehre
giebt es: Daß jeder durch strenge Pflichterfüllung seinen Teil zum
Allgemeinbesten beiträgt, daß wir unsere engeren Aufgaben darin
erkennen, unsere Kinder zu tüchtigen Menschen zu erziehen, sie sowohl
etwas Ausreichendes lernen lassen, als auch sie anzuweisen suchen,
solches fürs Leben praktisch und möglichst günstig zu verwerten, damit
sie dadurch und lediglich dadurch befähigt werden, möglichst sichere
materielle Vorteile zu erzielen; daß wir uns fühlen als größere und
kleinere Glieder eines Ganzen; daß wir endlich stets alle erst vor
unserer eigenen Thür fegen und dann erst den Besen in die Hand nehmen,
um unseres Nachbars Schwelle zu säubern! Und so schließe ich: Laßt euch
nicht bethören durch Hinweise auf Paradiese, die sich nie eröffnen, die
sich nie eröffnen _können_! Bleibt auf der Erde und helfet, daß schon
durch gutes Beispiel euern Kindern und Kindeskindern das werde, was zu
erstreben möglich ist! Eines schickt sich nicht für alle. Den Sieg, den
materiellen und moralischen, trägt allezeit der davon, der einfach,
tüchtig und weise ist, der etwas im besten Sinne, im Umfang seiner
Kräfte — leistet!“

Graf Dehn hatte nach Beendigung seiner, von eisigem Schweigen
begleiteten Rede große Mühe, den Saal zu verlassen.

Niemand machte ihm bei seinem Versuch, durchzudringen, gutwillig Platz;
jeder zeigte vielmehr feindselige Mienen, oder drängte ihn wie zufällig
zur Seite, in der Art, daß er zweimal fast gestolpert und hingestürzt
wäre. Aber er wußte seine Erregung darüber zu bemeistern, er that, als
ob er's nicht bemerke.

Draußen angelangt, stieg er rasch die Anhöhe hinab und begab sich auf
direktem Wege ins Wirtshaus. Und hier angekommen, ließ er sogleich
satteln, berichtigte seine Rechnung und ritt, rasch trabend, nach
Rankholm zurück.

Zartsinn hielt ihn ab, vorher noch eine Begegnung mit Imgjor
herbeizuführen, auch wünschte er dem Doktor, der ihm noch widerwärtiger
geworden, unter allen Umständen auszuweichen.

Er hatte ihn genau beobachtet. Diesen Menschen verzehrte ein wilder
Fanatismus. Die Begierde, sich zu rächen an der Gesellschaftsklasse, von
der einst ein Mitglied seine Eltern in die Fesseln der Abhängigkeit
geschlagen, durchglühte ihn allein. Und neben dem Rachegefühl verzehrte
ihn der Ehrgeiz.

Er wollte herrschen, und daß er als Herrscher einen Stab aus Eisen
schwingen, daß er ein weit größerer Tyrann sein würde, als jener, gegen
den er schon während seiner Knabenzeit Haß und Verachtung eingesogen,
bewies seine schroffe Ueberhebung, seine kaltherzige Art.

Und diesem Menschen wollte sich Imgjor mit ihrer, wenn auch äußerlich
rauhen, doch von lauterer Menschenliebe erfüllten Brust zueignen! —

Als Axel ein halbes Stündchen vor Tisch nach Rankholm zurückkehrte,
berichtete ihm Frederik, daß die Herrschaften sich wegen seines
Fortbleibens bereits beunruhigt hätten. Er würde sogleich melden, daß
der Herr Graf eingetroffen sei. Von Imgjor war nicht die Rede. Offenbar
hatte man sich bei ihr an solche Unregelmäßigkeiten gewöhnt.

Bei Tisch berichtete Graf Dehn über die Geschehnisse in Oerebye.

Er gab den Inhalt der vermiedenen Reden wieder, verschwieg aber in
vornehmer Gesinnung sowohl Imgjors als auch des Doktors Anwesenheit. Es
widerstrebte ihm, trotz seiner heftigen Abneigung gegen Prestö, den
Angeber zu spielen. Die Herrschaften mochten selbst den Zeitungen einen
Bericht über die Vorkommnisse entnehmen; und gar Imgjor ohne Not in ein
ungünstiges Licht zu stellen, widersprach vollends seiner Stellung zu
ihr.

Während noch Graf Dehn sprach, öffnete sich die Thür, und Imgjor trat
mit dem ihr eigenen, sich gleichsam starrköpfig gegen die eigene
Schönheit auflehnenden Ausdruck ins Gemach.

Sie sprach eine kurze Entschuldigung aus, sich verspätet zu haben, und
suchte den Blicken und den Fragen ihrer Umgebung zunächst dadurch
auszuweichen, daß sie dem ihr unmittelbar darauf von der Dienerschaft
servierten Vorgericht mit hungrigem Eifer zusprach.

Und nur ganz allgemein hatte sie bei ihrem Eintritt das Haupt zum Gruß
geneigt. Nichts deutete in ihrem Verhalten darauf hin, daß sie kurz
vorher mit dem Gast des Hauses unter so ungewöhnlichen Umständen an
einem fremden Orte zusammengetroffen war.

Aber schöner als je erschien sie dem Manne, dem sie fortgesetzt mit
solcher Nichtachtung begegnete.

Dieses Uebermaß von finsterer Verschlossenheit, verbunden mit Reizen,
wie verschwenderischer die Natur sie nicht austeilen kann, machte sie
für ihn unwiderstehlich; gerade diese Kälte entflammte sein Inneres nur
noch mehr.

Er schaute mehrmals verhohlen zu ihr hinüber, während nun das Gespräch
einen regelmäßigen Fortgang nahm, oder auch von den Anwesenden eifrig
den Speisen zugesprochen wurde.

Heute lag auf ihren Wangen ein zartes Rot, ein fast fieberhaftes, das
die Erregung zufolge der heutigen Erlebnisse darauf zurückgelassen
hatte. In ihren Augen aber glühte ein stilles, dunkles Feuer, jenes der
Begeisterung für die Ideale, welche ihre Brust erfüllten.

Dabei waren ihre Körperlinien so unschuldig, ihre Erscheinung und ihr
ganzes Wesen so jungfräulich, so unnahbar, ihr Wuchs so edel, die
kleinen Hände trotz der zarten Farben so fest, so energisch gebildet.
Mit ihrem schlichten, auf die weiße Stirn fallenden rotblonden Haar
glich sie einem mit höchster Schönheitsvollendung geschmückten Weibe.

Und dieser überwältigende Eindruck ihrer gesamten Erscheinung machte
Axel nachdenklich und schweigsam, so völlig anders, daß Lucile, die
gleich beide argwöhnisch beobachtet hatte, nunmehr wiederholt auf ihre
Schwerer einredete.

„Wo warst du, Imgjor? Bist du die ganze Zeit unterwegs gewesen?“ warf
sie forschend hin.

Imgjor erwiderte mit einem kurzen, tonlosen Ja. Da eben von Frederik
eine Pastete herumgereicht wurde, nahm sie die Gelegenheit wahr, sich
den Anschein zu geben, als ob sie das Auffüllen dieses Leckerbissens auf
ihren Teller zu ausschließlich beschäftige.

„Willst du keinen Fisch vorher?“ fiel nun die Gräfin ein, da eben einer
der Diener mit diesem Gericht zur nachträglichen Darreichung erschien.

„Nein, ich danke! — Ich habe sehr wenig Hunger —“

Und zu jenem, der sich ihr inzwischen ehrerbietig genähert, mit der ihr
eigenen, steten Freundlichkeit gegen Untergebene: „Vielen Dank,
Christian! — Ich nehme nicht —“

Nun trat eine Pause ein. Alle waren mit sich beschäftigt, und die Herren
tranken auf des Grafen Aufforderung einen von Frederik soeben
eingeschenkten alten, besonders vorzüglichen Rotwein.

Dann sagte die Gräfin: „Nun, Imgjor? Wo warst du also den ganzen Morgen?
Lucile fragte dich, und du antwortetest nicht.“

Wie aus einem Traume erwachend, erhob Imgjor, die kaum von der Pastete
gekostet, den Kopf, sammelte sich aber, verfinsterte die Stirn und sagte
in einem launenhaft ungeduldigen Ton: „Ich bin doch kein Schulkind mehr,
das man fortwährend examinieren muß, Mama! Deshalb gab ich Lucile keine
Antwort —“

„Nun ja! Aber wo warst du? Jetzt frage ich dich!“

Imgjor zog mit einer Geberde der Auflehnung die Schultern und spreizte
die Lippen, entgegnen aber nichts. Eine Lüge widerstrebte ihr, jedoch zu
bekennen, worum es sich handelte, — gewann sie nicht über sich.

„Nun, antworte doch, wenn deine Mutter mit dir spricht!“ herrschte jetzt
heftig, ungeduldig der Graf. Imgjors zu Tage tretender Trotz nahm alle
und auch ihn gegen sie ein, und nur Fräulein Merville — Axel sah's — auf
Imgjors Seite.

In ihrem Angesicht erschien ein unruhiger, besorgter Ausdruck.

„Bitte! Rede doch — gieb keinen Anlaß zum Verdruß!“ stand in ihrem auf
Imgjor gerichteten Blick geschrieben, während sich in Luciles Mienen
Unwille und jene stolze Auflehnung bemerkbar machte, das ihre Schönheit
zwar beeinträchtigte, aber die Majestät ihrer Erscheinung jederzeit hob.

Was jedoch die Anwesenden erwarteten, geschah auch jetzt nicht.

Zuerst erschien ein hilfloser Ausdruck in Imgjors Kindergesicht. Dann
schob sie den Teller und die Serviette zurück, erhob sich und verließ,
während sie durch Zusammenbeißen der Zähne ihre Bewegung und auch die
aus ihren Augen strömenden Thränen vergeblich zu bannen suchte, das
Zimmer.

Offenbar erlag sie einer durch die Gewalt der starken Eindrücke des
Tages hervorgerufenen, krankhaften Abspannung der Nerven, und nicht
Trotz und böser Wille, sondern diese Unfreiheit und die Auflehnung
dagegen, daß man ihr in Gegenwart des Gastes und der Dienerschaft so
begegnete, ließen sie so handeln.

Wenn Graf Dehn vordem durch Schweigen für sie Partei genommen, so
geschah's jetzt mit Worten.

Er wollte als ihr guter Freund handeln, wie sie ihm auch begegnen
mochte.

Im Saal des Landhofes hatten sich einmal während seiner Rede ihre Blicke
getroffen, und beide hatten sich, wie ertappt, abgewendet. Aber eben
diese Beachtung von ihrer Seite hatte Axel belehrt, daß sie ihm
gegenüber nicht völlig gefühllos war.

„Komtesse Imgjor ist offenbar nicht wohl —“ hub er in einem
versöhnlichem Tone an. „Ich sah, während Komtesse Imgjor die Suppe aß,
daß sie mehreremals auffallend die Farbe wechselte —“

„So — so — In der That?“ fiel der Graf, der offenbar seine Schroffheit
bereits bereute, mit gutherziger Unbequemung ein.

Und als Axel den Blick auf die übrigen richtete, begegnete er in dem
Angesicht des Fräulein Merville einem dankbaren Ausdruck, während in den
Zügen der Gräfin ein unbiegsamer, in denen Luciles ein solcher von
höchstem Unwillen haftete.

Freilich wich er in Luciles Antlitz sogleich. Er verwandelte sich,
während sie erst einen tiefen, träumerischen Blick auf den Gast
richtete, in einen Axel zugewendeten still hingebenden.

Graf Dehn entging das nicht, und er wurde davon so stark berührt, daß
sich seine Gedanken eine Weile ganz auf Lucile richteten.

Aber ebenso rasch schüttelte er den Kopf, und ein erneuter Blick auf sie
betätigte auch eine von ihm offenbar nur genährte Illusion.

Umsomehr aber beschäftigten sich seine Gedanken mit Imgjor.

Er würde eine Welt darum gegeben haben, sie jetzt sprechen, mit seinen
Augen in ihre Seele einmal hinabtauchen zu können.

Die Stunden zwischen dem Essen und dem kleinen Feste nahm sich Graf Dehn
vor, allein in seinem Gemächern zuzubringen. Er erklärte, daß er Briefe
schreiben müsse, und man erhob auch keinen Widerspruch. Auch die
übrigen schienen von demselben Verlangen beherrscht zu werden, sich zu
vereinsamen.

Als Axel sein Wohngemach betrat und, bevor er sich niederließ, arglos
Umschau hielt, fand er auf seinem Schreibtisch ein kleines, mit goldenen
Linien umrändertes Kouvert. Er griff hastig danach, und da ihm ein
unbestimmtes Gefühl sagte, daß es mit Imgjor zusammenhänge, öffnete er
es in fiebernder Spannung. In der That fand er einige Worte von ihrer
Hand.

Aber freilich brachten sie nicht, was er ersehnt, was er fast gehofft
hatte.

Auf einer zierlichen Karte standen die Worte: „Ich wiederhole, es giebt
keinen Weg, der uns zusammenführen kann. So lassen Sie mich! Ich bitte,
ich beschwöre Sie! Für Ihre Diskretion meinen Dank. I.“

So war also doch nichts gewonnen! Axel ließ sich entmutigt in seinen
Sessel sinken und saß lange, abwesend, seinen Gedanken hingegeben.

Stark benommen und nichts weniger als zu einem Zusammensein mit Menschen
aufgelegt, nahm er sodann in späterer Stunde die Meldung Frederiks
entgegen, daß die Gäste im Anzuge seien.

Soeben hätten sie den Schloßhof überschritten.

„Und Doktor Prestö? Ist er auch dabei, Frederik?“

„Jawohl, Herr Graf, er ist schon im Flur, Cristian ist ihm behilflich —“

„Ich danke Ihnen. Ich werde sogleich erscheinen —“ Axel sprach's
zerstreut und machte sich, mechanisch handelnd, an seine Toilette.

Da die Anwesenden im Schloß schon eine Anzahl von Personen ausmachten,
so war's nicht zu verwundern, daß der Empfangssalon stark gefüllt war.

Es hatten sich alle höheren Beamten mit ihren Damen eingefunden, der
Oberverwalter, der Verwalter, der Vorwerk-Inspektor, der Oberförster mit
seinen zwei Unterbeamten, die Herren aus der Kanzlei und der Kasse, der
Intendant und die Schreiber, des Grafen Sekretär und zudem die
Honoratioren aus dem Dorfe.

Es wurde zunächst Thee herumgereicht. Dann musizierten Lucile und die
Pastorin, und eine Verwandte des Apothekers aus Kopenhagen sang mit
einer gutgeschulten, sympathischen Stimme.

Das nahm, einschließlich der Empfangsgespräche, denen die Gräfin mit
vollendetem Geschick einen warmherzigen Charakter zu verleihen wußte,
eine kleine Stunde in Anspruch. Dann wurde das Zeichen zum Tischgang
gegeben.

Der Pastor, als ältester und würdigster Herr, führte die Gräfin und der
Graf die Gemahlin des ersteren. Im übrigen wählte, der hier herrschenden
Sitte entsprechend, jeder Herr seine Dame selbst, und allezeit fügten
sich, trotz dieser Uneingeschränktheit, die Dinge den Verhältnissen
angemessen.

Jeder wußte von selbst, auf welchen Platz er gehörte. Ihn leiteten
Gewohnheit und natürliches Taktgefühl. Ein gleiches galt von der Wahl
der Damen selbst.

Axel hatte, schnell entschlossen, Lucile den Arm geboten. Sie sah ihn
überrascht fragend, aber auch sichtlich angenehm berührt an, und
lächelte mit einem feinen, überlegenen Lächeln.

„Wie, Herr Graf? Eine Lucile, wo es eine Imgjor giebt?“ neckte sie. Und
er, während er an der in Silber und Krystall funkelnden Tafel Platz
nahm: „Darauf darf ich entgegnen, Komtesse: es überraschen und beschämen
den Grafen Dehn so gütige Worte umsomehr, als so zahlreiche Mitglieder
aus Fürstengeschlechtern nach Rankholm hinüberschauen!“

„Ah, das war nicht hübsch! Das war boshaft, Graf Dehn —“ entgegnete
Lucile. „Sie lohnen mir meine Offenherzigkeit mit Spott! Glauben Sie,
daß ich keinen Wert auf die Erstarkung unserer Freundschaft lege?“

„Ja, ich fühle es, und es macht mich überaus stolz und glücklich,
Komtesse!“ fiel Axel, den leichten Ton verlassend, ein. „Heute
namentlich thut mir Güte und Wärme doppelt wohl, da sich — Sie sprachen
von Ihrem Fräulein Schwester — bereits mein Schicksal entschieden hat.“

„Wie? — Es ist etwas geschehen? Ah — ahnte mir's doch!“ Lucile sprach's
stark betonend und lehnte mit der ihr eigenen, kurz abweisenden Art eine
Schüssel ab, die eben einer der Diener beim Anbieten zwischen sie und
ihren Nachbar schieben wollte.

„O ich bitte, erzählen Sie mir!“ fuhr sie fort und warf zugleich einen
Blick zu ihrer Schwester hinüber, die neben Prestö saß und trotz
eifrigen Redens eben mit gespanntem Ausdruck zu ihnen beiden
hinüberschaute.

Axel hob die Schultern und lächelte schwermütig.

„Erlassen Sie mir Einzelheiten, Komtesse! Die Sache hat ein Vorspiel,
über das ich noch nicht sprechen, worüber ich auch Ihnen gegenüber mich
nicht eher auslassen möchte, bis die Geschehnisse von anderer Seite zu
Ihnen gedrungen sind. Nur soviel: Komtesse Imgjor hat mir heute die
wiederholte Erklärung gegeben, daß uns keinerlei Wege zusammenführen
könnten!“

Zuerst blitzte es nach diesen Worten in Luciles Angesicht auf. Dann aber
wurden ihre Mienen wieder ernst, und indem sie Graf Dehn mit einem sanft
gelassenen Ausdruck ansah, sagte sie:

„Natürlich vermag ich ohne den Zusammenhang der Dinge keine zutreffende
Meinung abzugeben. Aber daß solche Erklärungen meiner Schwester oft
gerade das Gegenteil bedeuten, kann ich Sie versichern. Jeder hat seine
Art. Sie hat die ihrige. Börne, der deutsche Denker, sagt einmal:
Ernsthafte Frauen gleichen leeren Koffern mit sieben Schlössern. Ich
möchte von meiner Schwester sagen, sie gehört zu jener Gattung von
weiblichen Wesen, von denen man behaupten könnte: Hinter den Eisbergen
ihrer Mienen lodern tausend heiße Flammen —“

„Wie? Sie glauben —?“

Lucile nickte.

„Einen Fall nehme ich aus. Hat sie bereits die ebenso große
Unbesonnenheit wie Geschmacklosigkeit begangen, sich mit dem Plebejer
drüben zu verloben, so ist natürlich nichts zu machen.“

„Ich möchte das als höchst wahrscheinlich annehmen, Komtesse —“

„Ein mehr als schrecklicher Gedanke, Graf Dehn! Worauf stützen Sie Ihre
Eindrücke, wenn ich bitten darf?“

Graf Dehn zögerte erst, dann kam ihm ein Entschluß, und er sagte:

„Für einen in seinem Geist und Gemüt beschwerten Menschen giebt's kein
größeres Labsal, als sich aussprechen zu können, einen Vertrauten zu
besitzen, dem er rückhaltlos über alles zu berichten vermag, was ihn
beschäftigt.

Dieser Umstand und die Sicherheit, daß meine Eröffnungen Komtesse Imgjor
nützlich sein können — ich gestatte mir, später zu sagen, in welcher
Weise ich mir das vorstelle — lassen mich unter der Bitte vorläufiger
Verschwiegenheit reden!“

Nach dieser Einleitung erzählte Graf Dehn Lucile alles, was geschehen
war, und schloß mit den Worten:

„Sie äußerten sich jüngst über die Möglichkeit, daß Ihr Fräulein
Schwester Rankholm verließe — dringen Sie gleich — ich bitte — darauf,
damit sie von Prestö getrennt wird, und auch darauf, daß man ihn, sobald
sie zurückkehrt, nicht mehr hier findet!“

„Ja, ja“ — Lucile, die mit größter Spannung zugehört und namentlich bei
der Schilderung dessen, was Graf Dehn selbst im Landhof gesprochen, mit
lebhaftem Ausdruck ausgehorcht hatte, nun sinnend zurück.

„Wenn es nur nicht zu spät ist! Ich fürchte nach dem, was Sie mir gesagt
haben, allerdings, daß sie schon die Thorheit begangen hat. Und ist's
der Fall, dann giebt's keine Schlösser und Ketten, keine Länder und
Entfernungen, die sie von ihm und ihren Entschlüssen trennen würden.
Selbst ein nachträgliches Erkennen seiner Unwürdigkeit würde sie
abhalten, ihr einmal gegebenes Wort zu brechen; die allerschwersten, die
größten Selbstaufopferungen mit sich führenden Pflichten würde sie auf
sich nehmen.“

„Eine Hoffnung besteht vielleicht noch, Komtesse!“ fiel Axel ein.

„Sie erinnern sich, daß Graf Knut mir erzählte, Prestö sei verlobt. So
hat doch vielleicht nur die gemeinsame Sache sie zusammengeführt.“

„Ja, sie hat sich ihm ursprünglich wohl nur deshalb genähert,“ — betonte
Lucile — „ihn aber — glauben Sie es — bestimmt ihr Geld und die
Befriedigung seiner maßlosen Eitelkeit. Um derentwillen wird er ein
bereits eingegangenes Verlöbnis zu Imgjors Gunsten lösen. Ich halte den
Menschen zu allem fähig, sofern es sich um die Erlangung von Macht und
Besitz handelt —“

„Ich beurteile Prestö ebenfalls ungünstig, er ist mir zugleich namenlos
unsympathisch. Aber das möchte ich doch nicht unterschreiben. Für
unehrenhaft, für einen Schurken halte ich ihn nicht. Er ist ein krasser
Egoist und Fanatiker, aber —“

„Ja, ja, das ist ja eben Ihre rührende Art! Obschon Ihnen die Natur
einen so scharfen Verstand verlieh, obschon Sie einen starken Spürsinn
besitzen, bewahren Sie sich doch ein vertrauendes Herz und glauben an
die Menschen! Und eben solche wie Sie, in solcher Mischung, giebt's
wenige. Wo ist die rechte Harmonie zwischen Verstand und Gemüt, zwischen
strengen Grundfarben und Koncilianz?“

„Sie beschämen mich, Komtesse —“

„Ich sage, wie ich es meine, Graf Dehn. Und wäre Imgjor nicht krank, —
ihre überspannten Ideen sind krankhafter Natur — so wäre sie die Rechte
für einen Mann, wie Sie es sind. — Ach, meine Mutter hat viel
verschuldet! Sie — sie — hat Imgjor durch eine übergroße Strenge in den
Kindheitsjahren in diese Welt des Widerstandes getrieben —“

„Wie? Das sagen Sie, Komtesse? Schon einmal deuteten Sie auf dergleichen
hin! Wie schmerzlich ist es mir, daß Sie an einer, in meinen Augen so
seltenen Frau, wie Ihre Mama es ist, nicht alles zu loben vermögen, daß
Sie sie nicht blindlings lieben —“

Lucile bewegte die Schultern, deren vollendete Formen durch ein tadellos
sitzendes Gewand aus zarter grüner Seide noch mehr gehoben wurden. Auch
zog sie die ausdrucksvollen Lippen und sagte stark betonend:

„Doch, ich liebe meine Mutter zärtlich. Aber gerade, weil ich sie so
sehr liebe, möchte ich sie als höchstes Ideal betrachten können. Es
liegt etwas vor, das ich nicht verstehe. Ich spreche nicht allein über
Mamas Haltung Imgjor gegenüber —“

In diesem Augenblick schlug Graf Lavard ans Glas, um einen Toast auf die
Gäste auszubringen. Dadurch wurde Lucile in ihrer Rede unterbrochen.
Ueberdies bemerkten beide, daß man sie beobachtete. Infolge dessen
richteten sie ihre Blicke mit unabgewendeter Aufmerksamkeit auf den
Sprechenden, und nur einmal warf Graf Dehn das Auge auf seine Umgebung.
Und als dies dann auf Imgjor fiel, sah er erst, daß Prestö ihr etwas
zuflüsterte, und dann, daß sie ihm rasch mit einem ihrer süßen Blicke
antwortete, einem jener Blicke, in denen das ganze bestrickende Wesen
ihrer tiefen, anschmiegenden Seele zum Ausdruck gelangte.

Aber eine noch stärkere Bestätigung seiner schwermütigen Vermutungen
empfing Graf Dehn, als er kurz vor Schluß des Festes, ohne es zu wollen,
Zeuge eines Gespräches zwischen ihr und Prestö wurde.

Als er den von allen und auch von ihm inzwischen betretenen Park auf
Augenblicke verließ, um sich eine Cigarre aus dem neben dem Speisegemach
befindlichen Rauchzimmer zu holen, sah er in ersterem Imgjor und Prestö
einander zärtlich die Hände schütteln und hörte das junge Mädchen
deutlich sagen:

„Also, bitte, übermorgen Abend!“ zugleich aber traten beide, Axel
bemerkend, verwirrt zurück. Imgjor wandte sich der Gartenseite zu und
der Doktor, der ohnehin während dieser Stunden Axel fortdauernd
hochmütig ausgewichen war, verbeugte sich kurz mit eisiger Förmlichkeit
gegen ihn und verließ das Gemach.

„Ja, Herr Doktor Prestö ist soeben zu einem Kranken gerufen. Er
begegnete mir hier gerade beim Fortgehen —“ erklärte Imgjor, als sich
Axel ihr mit kavaliermäßiger Artigkeit anschloß und, um überhaupt etwas
zu reden, die Frage aufwarf, ob Prestö die Gesellschaft bereits
verlassen wolle.

Aber einer Erörterung über das, was unausgesprochen zwischen ihnen lag
und einen so bedeutungsvollen Inhalt besaß, wußte sie dadurch
auszuweichen, daß sie, als er eben zu weiteren Worten anheben wollte,
von ihrem Hunde zu sprechen begann.

Und das geschah mit einer so unbefangenen Miene, daß Graf Dehn überhaupt
die Möglichkeit abgeschnitten wurde, ein anderes Thema zu berühren. Auch
neigte sie, nachdem sie die Treppen zum Garten hinabgestiegen waren,
kurz verbindlich das Haupt und gesellte sich zu der gerade ihnen
entgegenschreitenden Nichte des Pastors. —

       *       *       *       *       *

Am nächstfolgenden Tage wurden die Bewohner von Rankholm durch die sehr
unerfreuliche Botschaft überrascht, daß im Dorfe das Scharlachfieber
ausgebrochen und daß bereits zwei Dutzend Personen, Große und Kleine,
davon ergriffen seien.

Der Graf erzählte davon beim zweiten Frühstück und ermahnte die
Tischgenossen, den Verkehr mit den Dorfbewohnern vorsichtig zu meiden.
Es wurde sogar überlegt, ob nicht der sonst stets erfolgende
Kirchenbesuch für den bevorstehenden Sonntag ausgesetzt werden solle.

Der Graf befürwortete ein Fortbleiben; die übrigen schlossen sich ihm
stillschweigend an, und nur Imgjor gab keine Meinung ab.

„Nun, Kind — hast du gehört? Halte dich also vom Dorf fern!“ warf die
Gräfin mit einem auf ihre Tochter gerichteten, auffordernden Blick hin.

Imgjor bewegte den Kopf.

„In die Kirche werde ich auch nicht gehen. Aber ins Dorf möchte ich
jetzt gleich und möchte mich umsehen, ob ich nicht helfen, vielleicht
als Krankenpflegerin mich nützlich machen kann.“

„Du wirfst das nicht thun, unter keinen Umständen! Ich wünsche es nicht
—“ entschied die Gräfin.

„Willst du mich denn hindern, ein gutes Werk zu thun, Mama? Welchen Wert
hat alle Religion, wenn sie mit keinen Thaten verbunden ist?“

„Du hast —“ entgegnete die Gräfin — „nicht nur auf den Drang, zu helfen,
den ich gewiß nicht tadle, Rücksicht zu nehmen, sondern auf die ganze
Familie und sämtliche übrigen Mitbewohner von Rankholm.

Scharlach ist so ansteckend, daß es geradezu Leichtsinn wäre, sich
unnötig mitten in die Gefahr zu begeben. —“

„Unnötig, Mama? Sollen wir uns nicht der Armen und Notleidenden
annehmen?“

„Ja, ja, Imgjor! In solchen Antworten liegen deine Phantastereien. Die
Beschäftigung mit dem Idealsten in der Welt kann verderblich statt
segensreich wirken, wenn es eine verkehrte Hand zu ungeeigneter Zeit ins
Praktische zu übertragen sucht.

Wie nun, wenn wir dich gewähren lassen und alle hier von einer
Ansteckung befallen werden, wenn gar die Krankheit einen tötlichen
Ausgang nimmt? Meinst du, daß die vom Dorfe heraufeilen werden, um uns
zu pflegen, selbst wenn wir verkündeten, wir erwarteten, daß sie es thun
möchten? Keiner, der Pastor ausgenommen, der stillschweigend mit seinem
Amt solche Samariterpflichten gegen die Gemeinde übernommen hat, wird
auch nur auf den Gedanken geraten. Und darin steckt's! Fortwährend wird
von den Bauern der Anspruch an Opferwilligkeit von unserer Seite
erhoben, und nach Kräften wird diesem Anspruch von den besser Gesinnten
entsprochen. Aber wer hilft dem Gutsherrn, wenn er der Hilfe bedarf,
wenn er etwa gar verarmt? Er wird vergeblich die Hände ausstrecken. Du
solltest endlich deine Vernunft gebrauchen, statt solchen Gefühlsideen
blindlings Gefolgschaft zu leisten. Stehen wir dir denn näher oder die
in Kneedeholm? Ja, wenn's wirklich erforderlich wäre! Aber im Dorf haben
sie Menschen und Kräfte genug, sich gegenseitig auszuhelfen!“

„Ich kann ja in Kneedeholm bleiben, bis alles sich gewendet hat, Mama.
So bringe ich euch in keine Gefahr —“ fiel Imgjor, ohne dem von ihrer
Mutter allgemein Gesprochenen eine Antwort zu erteilen, mit trotziger
Beharrlichkeit ein.

„Nein!“ erklärte nun auch der Graf, bevor die Gräfin zu weiterer Rede
anzuheben vermochte. „Auch ich verbiete dir das Betreten des Dorfes für
die nächste Zeit, schon deshalb weil ich nicht wünsche, daß du ferner
mit Prestö in Berührung gelangst, und das wäre bei solcher Thätigkeit
unvermeidlich. Eben lese ich in der ‚Orebye Tidende‘, was der Monsieur
dort vorgestern in einer Versammlung meiner Bauern zusammengesprochen
hat. Es ist ja die vollkommene Aufreizung gegen den Landadel. Schon
heute würde ich ihn zur Rede gestellt haben, wenn nicht unten die
Epidemie ausgebrochen wäre. Ist sie aber beseitigt, so mag er gehen. Ich
will ihn hier nicht mehr haben!“

„Kannst du ihn gehen heißen, Papa? Er steht doch nicht in deinem Dienst!
Er kann doch seine Thätigkeit aufnehmen, wo er will. Höchstens als Arzt
fürs Schloß kannst du ihn abschaffen —“

„Die Entscheidung darüber wirst du mir gefälligst überlassen, meine
Liebe! Ich habe deine Belehrungen nicht erbeten und erkläre sie für
völlig unpassend. Aber da aus ihnen und aus deiner fortwährenden
straffen Parteinahme für diesen Herrn sich nur noch mehr erhärtet,
welches Gift es für dich ist, mit ihm in Beziehungen zu bleiben — ihm,
gerade ihm, haben wir offenbar deine Bauernfreundlichkeit auf Kosten des
Wohlergehens deiner eigenen Familie zu verdanken — so erscheint mir der
Zeitpunkt gekommen, daß du einmal Rankholm verläßt und in Verhältnisse
gelangst, die dich solchen Beeinflussungen gründlich entziehen. — Nicht
wahr, du bist auch neulich in Oerebye gewesen?“

Imgjor sah ihren Vater fest und ohne eine Miene zu verziehen an; nur in
den Augen zitterte etwas, das auf die Regungen ihres Innern Schlüsse
ziehen ließ. Aber sie antwortete nicht.

„Ich las Ihre ausgezeichnete Rede, für die ich Ihnen noch aus vollem
Herzen danken wollte, lieber Graf Dehn —“ fuhr der Graf, ohne auf einer
besonderen Bestätigung der an seine Tochter gerichteten Frage zu
beharren, zu Axel gewendet fort: „Sie vermögen Auskunft zu geben, ob
meine Tochter dort war —?“

„Nein, Herr Graf! Ich vermag darüber nichts zu sagen. Aber ich danke
Ihnen für Ihr gütiges Lob. Ich bin sehr glücklich, daß Ihnen die
Ausführungen, zu denen ich infolge der Rede des Doktor Prestö gedrängt
wurde, gefallen haben.“

In Imgjors Angesicht zuckte es bei Axels Worten auf, aber sie lohnte ihm
seine Ritterlichkeit auch nicht einmal durch einen Blick.

Wohl aber reckte sie plötzlich den Oberkörper empor und sagte mit großer
Entschiedenheit im Ton: „Ich werde nachher auf dein Zimmer kommen, Papa.
Ich bitte, daß du es erlaubst. Dort werde ich dir auf alles Antwort
geben. Jetzt, jetzt gestatte, daß ich mich entferne.“

Nach diesen Sätzen richtete sie sich, die Serviette von sich streifend,
empor und war bereits an der Thür, bevor der Graf sie zu hindern
vermochte. Aber sie hatte nicht mit der Gräfin gerechnet.

„Ich möchte dich jetzt gleich sprechen, Imgjor! Bleibe!“ befahl sie.

„Ich wünsche an der Unterredung teilzunehmen. Ohnehin ist es Zeit,
aufzustehen. Sie gestatten, lieber Graf Dehn! Und es ist dir recht,
Lavard?“ fügte die Gräfin biegsam im Ton hinzu und wußte den anfangs
etwas zögernden Grafen zur Beipflichtung zu veranlassen.

Infolge dessen erhoben sich alle; und alle richteten jetzt den Blick auf
Imgjor. Sie aber stand wie ein Marmorbild an der Thür und erst, als ihre
Mutter eine Bewegung machte, durch die sie ihren Befehl wiederholte,
schoß etwas in ihre Augen, das den unheimlichen Glanz eines unbeugsamen
Willens besaß.

Alsdann reichten jene, mit Ausnahme von Imgjor, dem Grafen Dehn
vertraulich die Hand und verließen das Gemach, und nur Lucile, die
begierig nach dem Zeitungsblatt gegriffen hatte, das der Graf, ihr Papa,
bei seiner Rede aus der Tasche gezogen, blieb noch im Zimmer.

„Ich kann es kaum erwarten, zu lesen, wie Sie dem widerwärtigen Menschen
entgegengetreten sind, Graf Dehn!“ begann sie. „Und wie finden Sie
Imgjors Benehmen?“ fuhr sie fort. „Ist es nicht unerhört, in welcher
Weise sie die Rücksichten gegen ihre eigene Familie bei Seite schieben
will? Ich muß sagen, ich stehe ganz auf Mamas Seite. Und es geschieht ja
auch nun ohne unsere Einwirkung das, was Sie als erforderlich
bezeichneten. Imgjor wird — ich hoffe, daß Papa darauf besteht —
Rankholm verlassen. Was wird nun aber aus Ihnen, lieber Graf! Werden Sie
es allein mit uns aushalten können?“

„Sie wissen, wie ich über Sie alle denke, wie sehr ich Sie alle schätze
und verehre, Komtesse. Das ist meine Antwort. Aber etwas anderes drängt
sich mir auf. Wohin wird man Ihr Fräulein Schwester schicken? Soll sie
Nutzen haben von einer Entfernung, muß sie in keine Umgebung gelangen,
wo man ihr schroff entgegentritt. Man muß ihr mit Güte begegnen und
versuchen, sie allmählich von dem Unwert ihrer übertriebenen Ideen zu
überzeugen.“

„Ja, Sie haben Recht, Graf Dehn. Was raten Sie?“

Ich kenne Ihre Beziehungen nicht, Komtesse. Ich wüßte aber ein Haus, wo
—“

„Nun?“

„Bei meinen Eltern in Dresden. Sie würden die Komtesse mit Freuden
aufnehmen!“

In Luciles Angesicht, die wohl aus besserer Ueberzeugung schroff gegen
ihre Schwester auftreten konnte, sie aber trotzdem zärtlich liebte,
blitzte es auf.

„Ja, ja! Das wäre eine Idee, eine vortreffliche!“ stieß sie heraus.
„Gleich will ich mit den Eltern darüber sprechen, wenn wirklich den
Ihrigen ein solcher Plan genehm sein würde.“

„Meine Eltern werden sehr glücklich sein —“ entgegnete Axel, „wenn Sie
ihnen Gelegenheit geben, ihre freundschaftlichen Empfindungen zu
bethätigen. Darüber besteht kein Zweifel. — Aber ob Komtesse Imgjor
damit einverstanden sein wird, ist mir sehr zweifelhaft, Komtesse. Ich
fürchte, sie wird sich weigern, bei der Familie desjenigen
Gastfreundschaft entgegenzunehmen, gegen den sie so unzweideutige
Beweise ihrer Abneigung an den Tag legt. Ich fürchte sogar, daß sie mich
seit den letzten Vorgängen haßt —“

Lucile schüttelte diesmal nur sanft den Kopf und sah Axel mit einem
Ausdruck an, als ob sie sich über die tiefere Bedeutung des von ihm
Gesagten unterrichten müsse. Und dann noch einmal, aber sie entgegnete
nichts.

       *       *       *       *       *

Daß Imgjor zu dem Doktor Prestö hielt, hatte die Versammlung in Oerebye
und hatten die übrigen früheren und neueren Vorgänge bewiesen. Aber ob
ein Liebesverhältnis zwischen ihnen bestand, war noch nicht aufgeklärt.
Dieser Umstand ließ Graf Dehn alle seine Gedanken darauf richten, wie er
es anstellen könne, sich darüber eine Gewißheit zu verschaffen.

Da er Zeuge der Verabredung zwischen Imgjor und Prestö gewesen, hatte er
hin und her überlegt, wo diese Zusammenkunft wohl stattfinden werde, und
immer wieder war er zu dem Ergebnis gelangt, daß der von ihm entdeckte
Gang im Turm, dessen Aus- und Einmündung er in der Folge nachgespürt,
dabei eine Rolle spiele.

In der nach dem Garten gerichteten Seite dieses Zwischenbaues befand
sich eine kleine, von Epheu umrankte, offenbar sonst seit
Menschengedenken nicht mehr geöffnete Thür. Sie führte sicher zu dem
Vorzimmer von Imgjors Räumen; von hier ging die dort mündende, zwischen
der dicken, mit Lichtspalten versehene Mauer eingefügte Treppe aus.

Und dieser Teil der Turmseite selbst war hinter dichtem Gebüsch
verborgen; niemand achtete auf diesen verdeckten Winkel.

Auch Axel würde schwerlich jemals dorthin einen Blick geworfen haben,
wenn er nicht von solchen Voraussetzungen ausgegangen wäre.

Vom Dorf zweigte sich außer dem Fahrwege ein Pfad über die Wiese nach
dem Gutsgebiet ab. Ihn benutzten die Fußgänger von Kneedeholm und die
von Rankholm vorzugsweise. Er führte direkt auf den neben dem Schloß zur
Rechten liegenden Arbeitsgutshof. Hier befanden sich die Wohnhäuser der
Beamten, und ihn umkränzten in weitem Umfange die Gebäude der Meierei,
die Kuh-, Pferde- und Schafställe, die Brauerei, das Dampfmaschinenhaus,
die Remisen für die Herrschafts- und Arbeitswagen und die Häuser für die
zahlreichen Arbeiterschaften.

Auf diesem Hof, hinter einer gleich den Eingang flankierenden Scheune,
beschloß Graf Dehn abends zunächst Posto zu fassen, um Prestös Ankunft
zu beobachten und dessen Schritte zu verfolgen.

Es gab nur diesen einen, direkt zum Park führenden Weg, und falls Prestö
überhaupt kam, mußte er ihn einschlagen.

Zwischen dem Frühstück und dem Tischgang machte Graf Dehn mit dem Grafen
einen längeren Spazierritt. Letzterer sprach bei dieser Gelegenheit wohl
auch über Imgjor, aber er äußerte nichts über Inhalt und Verlauf der
Unterredung mit ihr. Es machte Axel den Eindruck, als ob Imgjor ein
Schweigen über ihre Angelegenheiten gefordert habe.

„Wir sprechen noch näher darüber!“ hatte der Graf geschlossen. „Ich
komme mit Ihrer Erlaubnis auch noch auf das von Ihnen meiner Tochter
Lucile gemachte gütige Anerbieten zurück. Ich möchte vor entscheidenden
Schritten erst einmal die Klarheit besitzen, die ich bisher nicht
gewonnen habe.

Auf dem Plan steht auch, daß wir alle Rankholm verlassen und einige
Zeit, etwa vier bis sechs Wochen, nach Kopenhagen übersiedeln. Sie
wissen, daß wir dort ein eigenes Palais besitzen.

Natürlich — Sie begleiten uns! Sie bleiben unser Gast! Nur unter der
Bedingung verlassen wir Rankholm.“

Später kam der Graf auf die Versammlung in Oerebye zu sprechen.

„Jeder Gutsherr —“ erklärte er — „muß seinen Herd und sein Eigentum
schützen. Thun das alle, halten sie eben so fest zusammen, wie
diejenigen, die übertriebene Forderungen erheben, so wird die
gegenwärtige Bauernbewegung auf ein verständiges Maß herabgedrückt
werden. Den Schutz erkenne ich in der rücksichtslosen Entfernung aller
Ruhestörer, der Erhaltung geordneter Zustände, in einem möglichsten
Entgegenkommen gegen diejenigen, die uns mit verständigen Vorschlägen
zur Verbesserung der Lage der Bauern und Landarbeiter gegenübertreten —“

Diese Worte bewiesen, daß Graf Knut in seinem gelegentlich gefällten
Urteil über den Grafen recht hatte. Nur dessen ungemessene, in
besinnungslosen Jähzorn ausartende Heftigkeit hatte er getadelt.

„Die Lavards sind alle besonders. Sie besitzen eine Starke Eigenart!“
hatte er geäußert. „Bei den meisten überwiegt Genialität und Energie,
bei anderen neben hoher Intelligenz starke Erregbarkeit und Hang zum
luxuriösen Wohlleben. Den hat der Graf lange abgestreift, aber das
leicht erregte Blut wird ihm bleiben bis zum Tode, und das hat ihm und
anderen schon viel Herzeleid gebracht.“

Imgjor erschien nicht bei Tisch. Dagegen hatte sich Graf Knut
eingestellt und wegen der immer stärker um sich greifenden Epidemie im
Dorfe eine länger andauernde Gastfreundschaft erbeten.

Er regte, wie immer, durch seine gute Laune und seine frische
Lebendigkeit die Gesellschaft an, und da auch Graf Dehn gewohnheitsmäßig
einen lebhaften Geist entfaltete, verflossen die Stunden bis zur
Schlafzeit in der angenehmsten Weise. Nach Tisch, nach einer längeren
Promenade im Park, setzte sich die Gräfin mit dem Grafen Dehn an den
Schachtisch, und die beiden Herren spielten eine Partie Pikett. Bei
dieser Gelegenheit brach jene das von ihr bis dahin beobachtete
Schweigen und erzählte Axel, daß Imgjor die Forderung gestellt habe, daß
ihr ihr Erbteil ausgezahlt und völlige Bewegungsfreiheit eingeräumt
werde.

„Sie sollen morgen alles und noch anderes erfahren —“ sagte sie. „Mein
Mann könnte hören, was ich spreche. Er wünscht, daß die Dinge
einstweilen nicht berührt werden —“ schloß sie mit gedämpfter Stimme.

Zu einer Gegenrede, namentlich zu einer Frage, ob Imgjor engere
Beziehungen zu Prestö eingeräumt habe, vermochte Graf Dehn nicht zu
gelangen.

Zum Thee erschien Imgjor, und auch an dem heutigen Abend trug sie — Axel
schob's diesmal auf die bevorstehende Zusammenkunft mit Prestö, für
welche helle Gewänder nicht geeignet waren, — ein dunkles Kleid. Sie sah
wieder anbetungswert schön aus und kehrte gegen den Grafen Knut ein
neckisch anschmiegendes Wesen heraus.

Zum erstenmal sang sie auf Graf Knuts wiederholte, dringende Bitte
einige Lieder. Graf Dehn befand sich, während er ihren Vorträgen
lauschte, in einer Art von Verzauberung. Sein Ich lag in ihren Banden.
Etwas Aehnliches, die Seele Bewegendes, Ergreifenderes konnte man nicht
hören.

Alle Register, das Gemüt zu rühren und dem Ohr die höchsten,
einschmeichelndsten Wohllaute darzubieten, standen ihr zur Verfügung.
Man jauchzte und weinte mit ihr.

Und wie niemals in ihrem Thun und Wesen das Bestreben zum Ausdruck
gelangte, sich irgendwie besonders zur Geltung zu bringen, durch die ihr
von der Natur zuerteilten Gaben Beifall oder gar Bewunderung
einzuernten, so war's auch heute. Sie war frei von jeder Eitelkeit.
Jedem Spiegel ging sie vorüber. Sich besonders zu schmücken, mußte sie
jedesmal aufgefordert werden, und doch besaß sie, wie Lucile geäußert
hatte, Gewänder, die Königinnen tragen konnten. Sie war mit ihrem
blendenden Hals, ihren schneeigen Armen, ihrer Psychebüste, ihrem
vollendeten Wuchs und ihrer vornehmen Haltung ein Wunderwerk der Natur.

Und sie so zu sehen, stand Axel in den nächsten Tagen auf Rankholm
bevor.

Die Gräfin hatte darauf bestanden, daß der von ihr geplante Ball noch
vor der Abreise nach Kopenhagen Stattfinde. Schon am nächsten Morgen
sollten die Einladungen erfolgen und die Antworten durch abzusendende
Stafetten gleich eingeholt werden.

„Noch eins! Ich bitte recht sehr, Komtesse!“ drängte Graf Knut, nachdem
Imgjor zwei Lieder gesungen hatte. „Singen Sie gütigst zum Schluß noch
mein Lieblingslied!“ —

„Ihr Lieblingslied? Ich weiß nicht — Welches ist's, Herr Graf?“ gab
Imgjor erst zögernd, dann, durch seine Blicke willfährig gemacht,
zurück. Und „Ach ja — gewiß — ich weiß jetzt!“ fügte sie dann äußerst
bereitwillig hinzu, bat Lucile, sie zu begleiten, und sang nun ein
kleines, in meinem ungestümen Tempo sich bewegendes andalusisches Lied:

  „Einmal möcht', daß die Traumgedanken
  Sich verwandelten in Wirklichkeit!
  Einmal möcht' ich aus den Schranken
  Eingeh'n in die Seligkeit!
  
  Seligkeit sind deine Lippen!
  Seligkeit ist deine Brust!
  Schenk, o Gott, der durst'gen Seele,
  _Einmal_ diese trunk'ne Lust!“

Imgjor trug diese Verse mit einer solchen Verve des Ausdrucks vor, in
ihren Augen erschien ein solch' überirdisches Feuer und ihr geöffneter
Mund atmete eine solche verzehrende Sehnsucht, daß Graf Dehn, dem heiße
Ströme durch die Glieder jagten, dabei an Luciles Worte erinnert ward.
Sie hatte gesagt, daß hinter Imgjors kalt gemessenem Wesen heiße Flammen
verborgen seien. Aber als sie dann wieder mit ihrem stumm verschlossenen
Wesen vom Piano zurücktrat und gleich darauf gute Nacht sagte, Graf
Knuts lautem Lob mit einer sanft bescheidenen Miene und von Graf Dehns
stummer Bewunderung keine Notiz nahm, ergriffen ihn doch wieder Zweifel,
ob sie bei diesem Vortrage wirklich Gleiches auch empfunden habe. Sie
stellte sich offenbar nur in den Dienst ihrer Aufgabe. Ihre Gedanken und
Sinne richteten sich sicher auf etwas ganz anderes. Ihr Inneres
durchrieselte keine Leidenschaft für Prestö, sondern sie erfüllte jene
Märtyrerliebe zur Menschheit, die sich selbst ans Kreuz schlägt. Alles,
wenn's auch vielleicht einmal in ihr aufflammte, dämmte sie, diesem
Dienst geweiht, zurück. Aber um so mehr verzehrte Graf Dehn das
Verlangen, nun endlich Gewißheit zu erlangen. Sobald es irgend
schicklich erschien, schützte er Kopfschmerzen und Müdigkeit vor und
empfahl sich.

Nachdem er sich in seinen Gemächern möglichst dunkel gekleidet, benutzte
er einen ihm alle Zeit zu Gebote stehenden Schlüssel zur Hauptthür des
Schlosses, betrat den Hof und den diesen und die Gärten verbindenden
offenen Durchgang, versicherte sich, daß in Imgjors Zimmern noch Licht
brannte, und begab sich zunächst zu der hinter den Bosketts befindlichen
Turmpforte. Als er jedoch die Hand auf den Drücker legte, gab dieser
nicht nach. Er schloß daraus, daß Prestö noch nicht eingetroffen sei und
eilte nun vorsichtig zur Rechten auf den Arbeitshof. Er lag in einem
gleichsam geisterhaften Dunkel. Eben hatte sich der Mond, der bis dahin
ein schwaches Licht verbreitet hatte, hinter schwarze Wolkenmassen
geschoben. Aber Graf Dehn wurde dadurch nicht gehindert. Er kannte den
Weg und betrat alsbald die Eckgrenze des Hofes und des Fußpfades, der
hier in das Thal hinabführte.

Bevor er hinter der großen Scheune Posto faßte, spähte er noch einmal
vorsichtig in das Dorf hinab.

Aber vorläufig vernahm und sah er nichts. Auch drunten lag die Welt in
einem mystisch unheimlichen Dunkel und in jenem Schweigen, das häufig
einer gewaltigen Aufregung in der Natur voranzugehen pflegt. —

       *       *       *       *       *

Fast eine halbe Stunde stand Graf Dehn auf seinem Beobachtungsposten,
ohne daß etwas geschah. Er hörte die Uhr vom Schlosse zehn schlagen, und
später dröhnte eintönig auch der einzelne Schlag, der den ferneren
Verlauf einer Viertelstunde verkündete, zu ihm herüber. —

Aber dann rührte sich etwas, jedoch nicht von der Dorfgegend her,
sondern auf dem Hofe.

Von der Gartenseite her drang das Geräusch von Schritten an sein Ohr.
Anfänglich nahm Graf Dehn an, daß es der Wächter sei. Es beunruhigte ihn
dessen Kommen insofern, als der ihn begleitende Hund sehr wachsam war.
Aber es war nicht der Wächter, der sich dem versteckt Harrenden näherte,
sondern die Umrisse einer weiblichen Erscheinung tauchten vor den Augen
des mit seinen Blicken die Dunkelheit durchdringenden Mannes auf.

Und keinem Zweifel unterlag's — es war Imgjor, die, sicher beunruhigt
durch Prestös langes Fortbleiben, ihre Gemächer verlassen und sich in
die Nacht hinausgewagt hatte.

Ein heißes Feuer loderte in dem Manne auf. Er hatte Mühe, sein
klopfendes Herz zu bezwingen, als sie nun demselben Orte zuschritt, an
dem er sich befand, zuletzt sogar — nur eine Armlänge von ihm entfernt —
ihre Bewegungen hemmte und unbeweglich stehen blieb.

Eine Welt, Himmel und Erde, wären sie sein gewesen, hätte er darum
gegeben, wenn sie, die da unruhig ins Thal hinab spähte, um seinetwillen
sich durch die Nacht geschlichen, um seinetwillen hier verharrt und
sehnsüchtig aufgeseufzt hätte.

Einmal schien's, als ob sie sich anschicken wolle, ins Dorf
hinabzusteigen. Aber sie besann sich, wanderte hin und her und holte nur
mehreremal, von Unruhe übermannt, tief Atem. Aber auch ein Hüsteln, das
sie vergeblich zu dämpfen suchte, befiel sie. Offenbar von der Nachtluft
unsanft berührt, zog sie das Tuch, das sie um ihre Glieder geschlungen,
fester um sich, und rascher wurden ihre Schritte.

Aber nun befiel auch Axel ein Kehlkitzel.

Trotz heftigen Widerstands löste sich ein Laut aus seiner Brust, und
Imgjor wich — er sah's von seinem Versteck aus — angstvoll erschrocken
zurück. Aber nur für Sekunden. Dann leuchteten ihre funkelnden Augen
durch die Nacht und richteten sich furchtlos spähend dahin, woher der
Ton zu ihr gedrungen.

Schon glaubte sich Graf Dehn entdeckt und blitzschnell überlegte er, ob
er sich ihrem Gesichtskreis durch ein rasches Entfernen entziehen oder
sich zu erkennen geben solle, als zu seiner glücklichen Befriedigung
fast gleichzeitig ein Geräusch — das Geräusch der Schritte einer eilig
den Berg hinaufklimmenden Person — beider Ohr traf, und gleich darauf
auch schon Prestö mit hastig gedämpfter Stimme auf die ihm rasch
Entgegeneilende einsprach:

„Bist du's, Imgjor? Ah, Gottlob! Schon war ich in großer Sorge. Wie
steht's, meine Imgjor? Habe Dank, daß du hergekommen bist! Aber ich
vermochte nicht früher zu kommen, bis jetzt war ich bei Kranken und
Sterbenden —“

Andere Worte, die er sprach, verschlangen die Nacht und die Entfernung.
Einem übereinstimmenden Antrieb folgend, nahmen beide den Weg gegenüber
zu den Wirtschaftsgebäuden, und unter dem Schutz ihrer dunklen Mauern
und Dächer schritten sie dem Schloßgarten zu. Und Graf Dehn folgte ihnen
in angemessenem Abstand, und als sie sich in seiner Laube niederließen,
wußte er sich hinzuschleichen, um zu hören, was sie redeten.

Aus ihrer Unterhaltung ging hervor, daß Imgjor einwilligen wollte,
Prestö anzugehören, wenn zweierlei Bedingungen sich erfüllten. Er sollte
sich ganz in den Dienst der neuen Sache stellen, und er sollte ihr
nachweisen, daß seine jetzige Braut selbst die Beziehungen zwischen ihm
und ihr lösen wolle.

„Immer wieder muß ich es dir sagen, daß ich trotz meiner Liebe ein
anderes Glück nicht zerstören will. Um solchen Preis will ich
verzichten, muß ich entsagen! Ich würde nie froh werden können. Aus
Schlechtem kann nichts Gutes entstehen. —“

Und immer von neuem Beteuerungen von seiner Seite, daß sie ihm glauben
möge. Besondere Beweise beizubringen, sei unmöglich, weil seine frühere
Braut überhaupt nicht mehr schreibe und frühere Zuschriften von ihrer
Hand im Zorn von ihm vernichtet seien.

„Ich bin frei, Imgjor! Glaube mir doch! Was willst du mehr? Sie ist
meiner Liebe nicht wert. Ich hatte sie schon aufgegeben, bevor wir uns
fanden —“

„Lass' mich sie selbst sprechen! Höre ich aus ihrem Munde, daß sie dich
frei giebt, gleichviel aus welchem Grunde, gehöre ich dir! — Ich darf,
ich kann nicht anders, mein Freund! Es ist gegen meine Natur —“

Und dann wieder er. Er wisse nicht, ob jene sich überhaupt noch in
Kopenhagen aufhalte. Sie habe die Absicht gehabt, als Erzieherin nach
Lyon zu gehen. Sie sei sicher schon dort. Er wisse ihre Adresse nicht
und könne, da sie keinen Anhang habe, solche nicht ermitteln.

„So lass' mich an sie schreiben. Wir werden ihren Wohnort durch die
Polizei feststellen können —“

„Glaubst du mir denn nicht, Imgjor? Du kränkst mich durch dein Mißtrauen
—“

„Ich glaube, daß du mich liebst und daß du mich mehr liebst als jene.
Aber im Beginn unserer Bekanntschaft sprachst du von dem Mädchen in
einem anderen Sinne und thatest einer zwischen euch eingetretenen
Entfremdung keiner Erwähnung. Diese Thatsache besteht, und daraus leite
ich ab, daß du doch vielleicht auf falschem Wege bist, nicht aus
verwerflichen Gründen, vielmehr unter dem Einfluß deiner Liebe zu mir,
welche dir die Dinge in einem für dich günstigen Lichte erscheinen läßt.
Weshalb scheust du die Probe? Willst du mit Unrecht beginnen? Muß dir
nicht auch an Klarheit liegen, mein teurer Freund?“

„Dich kann die rechte Liebe zu mir nicht beseelen, wenn du mich einer
Schlechtigkeit für fähig hältst, Imgjor! Ich sag' es noch einmal: Ich
kann und will jene nicht, und ich habe aus ihren Briefen die
Ueberzeugung gewonnen, daß sie auch nur noch Zwang an mich fesselt.“

„Siehst du also, mein Freund, du besitzest keine unbedingte Sicherheit!
Lasse uns diese erwerben, und wir werden unsern Bund schließen. Will ich
denn etwas anderes, als unser volles Glück, erstrebe ich etwas anderes,
als daß wir es in unserer Liebe und in der Hingabe an unsere Ziele
finden?“

So und ähnlich gingen die Worte zwischen ihnen hin und her, und nach
Beendigung dieses Gesprächs, das mit derselben wiederholten Forderung
Imgjors ausklang, erzählte Prestö von der im Dorf um sich greifenden
Epidemie. Er betonte, daß es richtiger sei, den Ort zu meiden. Größte
Vorsicht sei erforderlich. Er, der Arzt, habe die Krankheit früher
gehabt und sei deshalb immun, aber sie, Imgjor, möge — so edelmütig ihre
Absichten auch seien — sich keiner Gefahr aussetzen.

Auf ein weiteres Horchen verzichtete Graf Dehn. Was er wissen wollte,
hatte er soeben vernommen. Zeuge ihrer Zärtlichkeit zu sein, vermochte
er nicht. Er litt ohnehin namenlos, als Prestö sie in trunkener
Leidenschaft an sich zog und sie sich mit einem stöhnenden, halb
hingebenden, halb bangherzigen Laut an ihn schmiegte. Das Innere voll
Erregung kehrte er durch den Garten nach dem Schlosse zurück.

       *       *       *       *       *

Der nächste Tag brachte Axel abermals eine große, mit peinlichen
Eindrücken verbundene Ueberraschung. Als er mittags nach einem
Spaziergang sein Zimmer betrat, fand er wiederum einen Brief von Imgjors
Hand auf seinem Schreibtisch. Er lautete:

„Noch einmal rufe ich den Kavalier in Ihnen an, Graf Dehn! Ich bitte,
verlassen Sie Rankholm oder befreien Sie mich von dem unerträglichen
Druck Ihrer zwecklosen und unerbetenen Observationen. Ich wiederhole
damit eine schon früher ausgesprochene Bitte!“

Lange wanderte Graf Dehn nach dem Lesen dieses Schriftstückes auf und ab
und erging sich sowohl in Vorstellungen über die Umstände, die seine
Entdeckung herbeigeführt haben konnten, als auch in Gedanken über dieses
ihn täglich mehr fesselnde und doch für ihn verlorene, junge Geschöpf.

Ein Roman spielte sich zwischen ihnen ab, in dem beide Teile ohne
mündlichen Austausch und persönlichen Verkehr handelten und einer Lösung
zustrebten.

Aber vorläufig stand eine solche noch in weiter Ferne.

Graf Dehn wollte nicht weichen und nicht verzichten. Er wollte dem
Mädchen, das mit scharfer Logik den Kern aus den Dingen zu ziehen, und
was sie zu sagen hatte, mit solcher lakonischen, von allem überflüssigem
Beiwerk befreiten Kürze von sich zu geben wußte, den Beweis liefern, daß
der von ihr begehrte Mann nichts anderes sei — jetzt stimmte er Luciles
Auffassung bei — als ein kaltherziger Selbstling, ein zugleich so
dünkelhafter Mensch, daß er sogar die ihm zu Gebote stehende
Verstellungskunst, sofern sie nicht seinen Götzen, Macht und Geld, zu
dienen hatte, verschmähte.

Nach längerer, sorgfältiger Ueberlegung schrieb Graf Dehn die
nachfolgenden Zeilen an Imgjor:

„Gewähren Sie mir mit Ihrem großen, guten Herzen, das sich nur mir
gegenüber so kaltherzig versteckt, dennoch die Erlaubnis, noch einige
Zeit in ihrer Nähe weilen zu dürfen! Meine Liebe und meine Bewunderung
für Sie erhalten in mir den Drang, Sie vor einem Fehlgriff zu behüten,
den Sie zu begehen im Begriff stehen. Ich wage zu sagen: Mißtrauen Sie
dem Charakter und den Beweggründen des Mannes, an den Sie, ein so
vollendetes Wesen, alle Ihre reichen Schätze verschwenden wollen, aufs
äußerste! Rechnen Sie mit der Erfahrung und der Menschenkenntnis dessen,
der Ihr wahrhafter Freund ist, der auf seine eigenen Hoffnungen
verzichtet, Sie aber wenigstens glücklich wissen möchte! Ziehen Sie,
wenn Sie ein Zusammengehen mit mir zu diesem Zwecke ablehnen,
wenigstens, ich bitte, Graf Knut zu Rate! A.D.“

Dieses Schreiben trug Axel selbst zu Imgjors Gemächern hinauf. Er
hoffte, ihre Zimmer offen zu finden. Aber sie waren verschlossen, und
der Schlüssel hing nicht mehr auf dem Haken von damals.

Noch im Zögern, wie er es beginnen sollte, ihr das Billet zu
übermitteln, hörte er Schritte auf der Treppe, und da es keinen Ausweg
gab, nahm er kurz entschlossen seine Zuflucht zu einer Portiere, hinter
der er sich verbarg.

Es widerstrebte ihm ein solches Verstecken, aber die Vorstellung, hier
angetroffen zu werden, machte ihm das Blut heiß.

Gleich darauf erschien einer der Diener des Schlosses, der sonst nur im
Souterrain beschäftigt war, und klopfte, während er einen Brief aus der
Tasche zog, an Imgjors Thür. Und noch einmal, da ihm keine Antwort
wurde, und nun schon unschlüssig um sich spähend. Zuletzt schob er,
rasch überlegend, mit kräftigem Nachdruck das Schreiben durch die
Thürspalte, und nachdem das geschehen, stieg er vorsichtig wieder die
Treppe hinab. Das war also der Mann, der auch ihm, Axel, die Briefe von
Imgjor aufs Zimmer legte! Und das eben von ihm besorgte Schreiben war —
Axel zweifelte nicht daran — von Prestö!

Während Graf Dehn noch so überlegte, trat er hinter seinem Versteck
hervor, machte es mit seinem Brief wie der Diener und nahm auch, wie
der, lautlos den Weg in sein Zimmer zurück. Sehr begierig war er, wie
ihm Imgjor bei Tisch begegnen werde. Freilich, er konnte es sich mit
Sicherheit vorhersagen. Sie verband es, wenn sie mußte, ihre Gefühle
meisterhaft zu verbergen.

Bei Tisch ereignete sich nichts Besonderes. Es wurde vom Grafen über die
Scharlachepidemie in Kneedeholm gesprochen. Dann wurde über das
bevorstehende Fest geredet und zulegt wurde auch der Reise nach
Kopenhagen und zugleich stets in dem Sinne Erwähnung gethan, daß es
Lavards als selbstverständlich betrachteten, daß Graf Knut und Graf Dehn
sich ihnen anschließen würden.

Imgjor war ernst und für sich wie immer, sie gab aber durch ihr
Verhalten keinen Anlaß zu irgend welcher Verstimmung. Graf Dehn
begegnete sie — wie er es vorausgesetzt hatte — mit der gewohnten
völligen Unpersönlichkeit in Blick und Wesen.

Erst nach Tisch fand Axel Gelegenheit, die Gräfin zu sprechen. Sie
ergänzte, selbst damit beginnend, ihren jüngsten Bericht durch die
Mitteilung, daß Imgjor auf die Frage ihres Vaters, ob sie Beziehungen zu
Prestö unterhalte, erwidert habe, es sei möglich, daß sich ernste
Beziehungen zwischen ihnen entwickeln würden. Vorderhand tausche sie mit
ihm, dem sie Sympathie, Vertrauen und freundschaftliche Gefühle
entgegentrage, nur ihre gemeinsamen Ideen aus.

„Und was erwiderten Sie beide, gnädigste Gräfin?“

„Wir erklärten ihr, daß wir nicht nur niemals einer Verbindung zwischen
ihr und dem fatalen Menschen zustimmen, sondern alles thun würden, um
ihn — wie es schon gesagt sei — sobald wie möglich aus dem Gutsgebiet zu
entfernen.“

„Und dann? Was sagte Ihr Fräulein Tochter hierzu?“

„Dann eben forderte sie ihr Erbteil und ihre Freiheit. Sie schlug, da
ihre Ansichten mit den unsrigen nicht mehr zusammenstimmten, eine
friedliche Trennung vor. Als mein Mann sie fragte, ob sie denn gar kein
Zusammenhangsgefühl für die Ihrigen leite, entgegnete sie: Gewiß! Aber
ich muß mein großes Ziel verfolgen; ihm gegenüber bin ich gezwungen,
diesen Regungen meines Herzens zu gebieten. Ich gehöre der Menschheit im
großen an, nicht im einzelnen. Ich bin hier ein nutzloser Esser, der
weder befriedigt und erfreut, noch selbst glücklich ist.“

„Sie wolle,“ schaltete ich ein, „aber doch nicht auf eine Verbindung
mit Prestö verzichten, mit einem Manne, von dem jeder ihr sage, daß er
nichts weniger als ideale, sondern nur selbstsüchtige Gedanken verfolge,
der sie sicher, wenn der erste Rausch verflogen, grenzenlos unglücklich
machen werde. Dieses Kleben an einer einzelnen unwürdigen
Persönlichkeit, zumal auf Kosten der natürlichen Rücksichten gegen die
Ihrigen, widerstreite doch den von ihr ausgesprochenen Grundsätzen
durchaus.“

„Und diese Logik entwaffnete sie nicht, Frau Gräfin?“

„Nein. Sie erklärte, daß kein Widerspruch vorhanden sei, weil sich für
sie in Prestö der Träger der neuen Ideen verkörpere. Zu ihm ziehe sie
die übereinstimmende Ueberzeugung, aber auch der Wunsch nach einem
kräftigen Halt und einer männlichen Unterstützung für ihre Pläne. Ihre
Herzensempfindungen kämen erst in zweiter Linie in Betracht. Würde sich
herausstellen, daß sie sich nicht angehören könnten, würde sie zu
verzichten wissen. Eine Entscheidung darüber erstrebe sie. Wenn sie sich
entschlösse, ihn zu heiraten, bäte sie um gutwillige Zustimmung von
unserer Seite. Wenn nicht, müsse sie ohne diese handeln. Ihr Gewissen
spreche sie von jedem Pflichtmangel frei. Sie sei kein lebloser
Gegenstand, kein Ding, über das man ein ganzes oder beschränktes
Verfügungsrecht besitze.“

       *       *       *       *       *

Die nächstfolgenden Tage der Woche verliefen ohne besondere
Zwischenfälle. Das bevorstehende Fest nahm die Gedanken und die
Thätigkeit der Gräfin fast ganz und die des Grafen kaum minder in
Anspruch. Auch Lucile war wenig zu haben, da sie sich mit
Ueberraschungen für den Ball trug. Nur abends wurde, wie gewöhnlich,
eine Partie Boston, Pikett oder Schach gespielt, auch fanden gemeinsame
Gesprächsaustausche über die die Gesellschaft berührenden Einzelheiten
statt.

Es trafen Zusagen und Absagen ein, und für letztere mußte noch im
letzten Augenblick Ersatz geschaffen werden.

Da ging's ans Ueberlegen, welche Form einer nachträglichen Einladung die
schicklichste und zugleich erfolgreichste sein werde. Auch ließen
Lieferanten die Küche im Stich. Der Koch hatte seine Not geklagt, und
die Damen mußten noch Depeschen und Zuschriften entwerfen, welche
reitende Boten zu besorgen hatten.

Als am Vorabend des Balltages eine gemeinsame Beratung wegen der
Tischordnung stattfand, stellten sich allerlei Schwierigkeiten heraus.
Diesmal saßen alle Anwesenden, auch Imgjor, um den im Wohnzimmer
befindlichen runden Sofatisch und hörten dem Grafen zu, der einen mit
sämtlichen Plätzen versehenen Entwurf vor sich hatte.

Es fehlten Herren, und es blieb nichts anderes übrig, als noch einige
von den Gutsbeamten nachträglich hinzuzuziehen.

Aber das war dem Grafen durchaus nicht recht, und da ihn gerade
Kleinigkeiten sehr aufbringen konnten, so ergriff ihn auch an diesem
Abend eine Starke Reizbarkeit. Er machte seinem Unmut über die ganze
Sache in einem wenig rücksichtsvollen Ton Luft.

„Nichts klappt, und ich sehe schon kommen, daß wir statt Vergnügen
überreichlichen Verdruß von der ganzen Fête haben werden!“ stieß er
heraus. „Gleich war ich gegen diese Ueberhastung. Was eilte denn die
Sache so sehr? Solche Affairen kann man nicht über's Knie brechen. Nun
haben wir's!“

„Aber, lieber Lavard, die Dinge sind doch mit etwas gutem Willen leicht
zu arrangieren!“ fiel die Gräfin besänftigend ein. „Wir laden noch den
Oberverwalter, den Oberförster, den Inspektor und den Gutsförster ein.
Dann sind wir in Ordnung.“

„Ja, ja. Aber das ist mir höchst fatal! Erst sind sie nicht gut genug.
Nun werden sie herbeikommandiert. Die Leute denken doch nach, sie haben
ihr Ehrgefühl. Aber du mußt ja immer plötzliche Launen plötzlich
befriedigen, Lucile!“

Erst schwieg die Gräfin; sie erblaßte und schob den Kopf wortlos zurück.
Dann sagte sie in sanftem Ton:

„Lucile kam doch früher zurück, weil wir diesen Ball geben wollten. Wir
waren uns darüber einig, daß wir ihn bei den vielen Verpflichtungen, die
wir haben, nicht länger aufschieben könnten. Als du die Reise nach
Kopenhagen anregtest, beschlossen wir gemeinsam, rasch noch die
Einladungen ergehen zu lassen. Der Vorwurf trifft mich also in keiner
Weise, Lavard.“

Von der Richtigkeit des Gesagten betroffen, schwieg der Graf. Aber sein
Mißmut wurde nicht gehoben, sondern verstärkte sich gerade durch diese
Einwände so sehr, daß er nach einem Gegenstande suchte, auf den er
seinen Mißmut ablenken konnte. Und da ihn Imgjors zu Tage tretende
Gleichgültigkeit während dieser Beratungen schon mit starkem Aerger
erfüllt hatte, da er wußte, daß sie all' dergleichen Festlichkeiten
mißbilligte und infolgedessen laut oder stumm über ihnen zu Gericht zu
sitzen sich herausnahm, so wendete er sich, seiner Gemahlin zugleich
indirekt eine Antwort erteilend, an seine Tochter und sagte:

„Na ja, es bleibt ja dann nichts anderes übrig, und du, Imgjor, kannst
dann morgen vormittag gleich die Herren ohne ihre Frauen unter passender
Erklärung einladen!“

Der zornige Mann verschaffte sich durch diese Worte einerseits die
Vorbefriedigung über die Antwort, die Imgjor erteilen und durch die er
sie als Partnerin gegen seine Frau gewinnen würde, andererseits fand er
Gelegenheit, das Feuer des in ihm glimmenden Vulkans über sie selbst
auszuschütten.

Es verlief auch alles, wie er es erwartet hatte.

„Ich halte es für unmöglich, daß wir die Herren ohne ihre Frauen
auffordern!“ entgegnete sie. „Eine nachträgliche, in guter Form
vorgebrachte Einladung an die Familien werden sie nicht übel deuten. Daß
aber die Männer bloß als Figursäulen an der Tafel sitzen sollen, werden
sie sehr übel vermerken. Bei der ohnehin herrschenden gärenden Stimmung,
auch in diesen Kreisen, möchte ich dringend abra —“

„Du hast gar keine Lehren und Anweisungen zu erteilen, sondern zu thun,
was ich dir sage!“ fuhr's aus des Grafen Munde. „Wenn's richtig gemacht,
wenn darauf hingewiesen wird, daß wir keinen Platz haben, daß durch eine
gleichzeitige Invitation der Frauen unser Zweck nicht erreicht, sondern
die Situation noch verschlimmert wird, werden meine Beamten, denen ich
stets mit Güte begegne, die mir Dank schulden und durchaus kein Recht
besitzen, sich in einer gärenden Stimmung zu befinden, schon die
notwendige Rücksicht üben. Nebenbei wird das wieder eine der zahlreichen
thörichten Vorstellungen sein, mit denen du deinen Kopf anfüllst, statt
dich der näheren Pflicht zu erinnern, die du gegen deine Eltern und
deine Umgebung hast, Pflichten, die in Liebenswürdigkeit, Fügsamkeit,
Erleichterung ihrer Bürden, Teilnahme an ihrem Thun und Handeln bestehen
sollten! So, das merke dir!“

Imgjor biß die Zähne zusammen, und man sah's, sie hätte am liebsten
einmal voll ausgeholt. Aber noch bezwang sie sich. Sie sagte nur:

„Du äußertest doch gegen Mama gerade dieselben Bedenken wie ich, Papa.
Ich begreife deshalb nicht, daß ich nun für etwas getad —“

„Zum Weiter, schweige jetzt und füge dich oder verlasse das Zimmer!“ —
sprühte der Graf. „Ich wünsche nicht von dir im Sprechen kontrolliert zu
werden, ich wünsche keine Lehren zu empfangen. Ich wiederhole früher
Gesagtes: Ich habe grade genug!

Und es sei dir bei dieser Gelegenheit gleich einmal notifiziert: Wenn
du nicht den Beziehungen zu dem Menschen da unten in Kneedeholm nunmehr
ein für allemal ein Ende machst, wenn du nicht abläßt von all' dem
Unsinn der Volksbeglückung, der zu keinem anderen Resultat führen wird,
als daß meine Bauern hier oben in Rankholm tafeln und Champagner
trinken, wir aber alle vor den Pflug gespannt werden, so —“

„Deine Bauern sind Menschen, die dieselben Rechte auf Wohlfahrt und
Glück besitzen wie wir, Papa,“ fiel Imgjor unerschrocken ein. „Und wenn
du es wünschest, so gehe ich nur zu gern. Es deckt sich ja genau mit dem
dir jüngst vorgetragenen Ersuchen —“

„Imgjor — ich warne dich —“ rief der Graf, sprang empor und fiel fast
über seine Tochter her. Der Jähzorn hatte ihn wieder einmal bis zur
Besinnungslosigkeit gepackt, und nur durch ein rasches Dazwischentreten
der Gräfin, die Imgjor schützend in ihre Arme nahm, ward Uebles
verhütet.

Auch Lucile, wenn schon in heftigstem Gegensatz zu ihrer Schwester,
legte ihre Hand auf des Grafen Arm und bat durch Mienen und Worte, daß
er sich besänftigen möge.

„Laßt mich!“ rief der Mann und löste sich unsanft von seiner Frau. „Wenn
ich bedenke, daß dieses Mädchen meinen Namen trägt, daß ich das
hinnehmen soll, ohne die Unverschämtheit zu züchtigen!“ Und: „Weißt du,
wer du bist?“ fügte er hinzu, und seine Mienen entstellten sich noch
mehr.

Aber in diesem Moment flog die Gräfin abermals auf ihren Mann zu, faßte
ihn, der offenbar etwas sprechen wollte, was niemals enthüllt werden
durfte, und verschloß ihm mit der Rechten den Mund.

Und nachdem das geschehen, wandte sie sich zu Imgjor, nahm sie in ihre
Arme und redete besänftigend mit gedämpfter Stimme, auf sie ein. Man
sah's, sie beschwor ihre Tochter, nachzugeben, aber man sah auch, daß es
etwas war, wogegen sich ihrer Tochter heiße Seele mit trotziger Gewalt
aufbäumte.

„Thu's mir zu Liebe, Imgjor! Küsse ihm die Hand und bitte um Verzeihung,
daß du dich vergaßest —“ mahnte sie bittend.

Schon wollte Imgjor nachgeben. Ihr gutes Herz, durch diese liebevolle
Begegnung bezwungen, schien die Oberhand zu gewinnen, als der Graf, der
widerstrebend sich gefügt und zähneknirschend auf und abgegangen war,
bei den letzten Worten der Gräfin abermals von seinem Jähzorn erfaßt
wurde.

„Nein, nein, Lucile, ich will's nicht in dieser Form! Sie soll kommen
und feierliche Zusagen geben für alles, was ich schon erwähnte. Sie soll
schwören, sich mit dem aufrührischen Bauernvolk da unten nie wieder
abzugeben, die Beschäftigung mit den albernen Phantastereien abzuthun,
sich ihrer Familie zu erinnern, sich ihr zu widmen, wieder die Kirche zu
besuchen, den einfältigen Glauben ihrer Kinderjahre zurückzugewinnen,
ein bescheidenes, fügsames Mädchen zu werden, statt eine Führerin des
Aufruhrs, des Unglaubens und der Sittenverachtung!“

„Auch das wird kommen mit der Zeit, Lavard. Nimm heut' fürlieb mit ihrer
Buße für die Geschehnisse des Abends. Ich bitte — ich bitte — und,
Imgjor, hörst du nicht? — Noch einmal — thu's _mir_ zu Liebe, beuge dich
vor deinem Vater, mein liebes Kind!“

Nun schwankte Imgjor abermals. Dann aber sagte sie, sich hoheitsvoll
aufrichtend:

„Nein, ich kann's nicht, Mama, und ich thu's nicht. Nur die Form kann
ich bedauern, wenn ich in ihr wirklich fehlte. Alles andere entspricht
meiner innersten Ueberzeugung und ich bin kein Schilfrohr, das jeder
Wind bewegt. Ich bin ich! Ich bin Imgjor Lavard! —“

Aber wenn bisher die Anwesenden bei den Erörterungen nur von
unbehaglichen Empfindungen beherrscht worden waren, so stockte ihnen
nunmehr das Blut.

Wild, sprungbereit, in einer Wut, die etwas Unmenschliches an sich
hatte, stürzte der Mann auf seine Tochter zu, faßte ihre Handgelenke,
preßte das todesbleiche Geschöpf auf die Erde herab und hauchte:

„Ja, eine Lavard! Aber — und nun sollst du es wissen — geboren von einer
Mutter, die, eine Jungfrau, ihrer Sitte und Ehre vergebend, ihren Körper
einem Kunstreiter verkaufte, einem Manne von dunkler Herkunft und
niedrigsten Gesinnungen. Aus Mitleid habe ich dich zu dem erhoben, was
du bist. Du bist nicht mein Kind. Ich habe dich als solches nur
adoptiert. Nicht meines, nicht das edle Blut der Lavards, auf das du
trotzest, fließt in deinen Adern, sondern das Zigeunerblut eines
unehrlichen Landstreichers! Und so sollst du es haben! Ich stoße dich
von mir, da du trotz aller Liebe, Zärtlichkeit und Ermahnung kein Reis
sein willst an dem Stamm meines Geschlechts, gar gegen mich, gegen
deinen Wohlthäter und Beschützer die Flinte und die Brandfackel
ergreifen willst! Geh! Geh! Lauf' in die Welt! Thu', was du willst! Aber
rechne nicht mehr auf uns und auf keinerlei Erbe, und wäre es ein
Bettel! Ich bin für dich, du bist für mich gestorben!“

Er stieß sie von sich. Imgjor aber erhob sich rasch und eilte hinaus. —

       *       *       *       *       *

Der Eindruck dieser Vorgänge übte auf die Zurückbleibenden eine
beispiellose Wirkung aus. Die Gräfin war erschüttert, verwirrt und
bedrängt, daß ihr Gemahl das seit ihrer Ehe bewahrte Geheimnis in
solcher Weise und bei solcher Gelegenheit gelüftet hatte, und er selbst
erhielt bereits so viel Besinnung zurück, daß ihn ein reuevoller Aerger
ergriff, sich und sein Pflegekind mit dieser Rücksichtslosigkeit vor
fremden Zeugen preisgegeben zu haben.

Graf Knut und Fräulein Merville empfanden ein Mitleid für Imgjor, und
Graf Dehn und Lucile waren vorläufig überhaupt nicht imstande, sich von
den Eindrücken der Ueberraschung zu erholen.

Zunächst entfernte sich, taktvoll handelnd, Fräulein Merville.

Nach ihr brach Graf Knut auf, nachdem er den beiden Ehegatten lediglich
stumm die Hand gedrückt hatte.

Auch Graf Dehn wollte sich nach des Grafen Fortgang zurückziehen. Schon
erhob er sich und richtete einen bescheidenen Abschiedsblick auf die
beiden Damen. Aber beide hielten ihn durch den Ausdruck ihrer Mienen
zurück.

„Bitte, bleiben Sie, lieber Graf! Wir wollen gemeinsam beraten. Sie
gehören zu uns!“ stieß dann die Gräfin, warmherzig im Ton heraus.

„Nicht wahr, Lavard?“

Und als er zwar nichts erwiderte, aber, obschon finster vor sich
hinstarrend, auch nicht widersprach, fuhr sie fort:

„Nachdem du ruhiger geworden bist, Lavard, wirst du mir erlauben, Imgjor
aufzusuchen und ihr mitzuteilen, daß du ihr nochmals Zeit zum Ueberlegen
giebst! Ich bitte dich, thu's! Indem du in solcher Art das Geheimnis
ihrer Geburt enthülltest, statt ihr in ruhiger Stunde und in völligem
Einvernehmen so Wichtiges zu eröffnen, hast du sie, fürchte ich, um so
mehr in ihren Plänen bestärkt —“

Und einschmeichelnd, da sie sah, daß der Zeitpunkt, ihm solche
Vorhaltungen zu machen, zu früh gewählt:

„Nein, nein, Lavard! Ich wollte dir nichts Unangenehmes sagen. Aber
meine Bitte erfülle! Ich darf Imgjor beruhigen?“

Dennoch fiel die Antwort auf diese verständige Rede anders aus, als die
Gräfin, die ihres Mannes raschen Zorn kannte, aber auch auf seine ebenso
rasche Versöhnlichkeit bauen zu können gehofft, erwartet hatte.

Nachdem er sich wortlos erhoben und zunächst mit langen Schritten das
Zimmer durchmessen hatte, sagte er in einem festen Ton:

„Nein, Lucile, ich wünsche Imgjor nicht mehr entgegenzukommen. Ist sie
bereit, von dem Menschen da und ihren Thorheiten Valet zu sagen, will
ich trotz meiner beleidigten Gefühle vergeben. Sonst bleibt's bei meinen
Worten! Es wird mir wahrlich nicht leicht — und die Gründe brauche ich
nicht darzulegen — mich von diesem meinem Adoptivkind loszusagen. Ich
gedenke auch der Welt, der man nicht unnötig Schauspiele bieten soll.
Aber ich kann, darf und will nicht anders handeln. War ich aus falscher
Liebe oder an anderen in meinem Naturell begründeten Motiven oft schwach
in meinem Leben, in diesem Fall bleibe ich fest!

Sie geht und wird ihres Erbes verlustig, wenn sie sich nicht fügt! Von
Dingen, wie sie uns solche in der letzten Unterredung vortrug, ist nicht
mehr die Rede!“

„Gut, so werde ich mich also zu ihr begeben und in diesem Sinne mit ihr
sprechen.“

Unter diesen Worten erhob sich die Gräfin und verließ das Gemach.

„Verzeihen Sie!“ hub Graf Lavard nach seiner Gemahlin Entfernung an und
streckte Graf Dehn die Hand mit einem freimütigen Ausdruck entgegen.
„Ich hätte gewünscht, daß Ihnen andere Eindrücke auf Rankholm geworden
wären, und ich beklage, daß Sie mich in meiner Schwäche gesehen. Aber
wir Menschen bleiben abhängig von unserm Blut. Jeder hat einen kleineren
oder größeren Defekt in seinem Charakter.“

Graf Dehn drückte Lavard stumm die Rechte, Lucile aber, durch die
Selbstentäußerung ihres Vaters bezwungen, eilte gerührt auf ihn zu,
umschlang ihn und küßte ihn zärtlich auf die Wangen. —

Nach Verlauf von zehn Minuten trat die Gräfin bereits wieder ins Zimmer.
Sie war bleich und erregt, und ihre Mienen verkündeten nichts Gutes.

„Nun, liebe Mama? Wie ist's geworden?“ stieß Lucile heraus und richtete
mit besorgter Miene den Blick auf ihre Mutter.

„Ich habe Imgjor garnicht sprechen, wenigstens keine Antwort erhalten
können,“ erklärte die Gräfin und ließ sich, sichtlich erschöpft, in
einen Sessel gleiten. „Imgjor hat heftiges Fieber. Ihr Körper brannte
förmlich, als ich bei ihr eintrat, und nun eben überkam sie ein sehr
starker Schüttelfrost. Sie hatte sich bereits ins Bett gelegt, als
Fräulein Merville sie aufsuchte. So habe ich mich denn auf Trost und
zweckmäßige Anordnungen beschränken müssen. Fräulein Merville wird die
Nacht bei ihr bleiben. Jedenfalls aber muß ein Arzt kommen. Wie soll's
nun werden, Lavard?“ „Ah —“ stieß der Graf, von neuem stark erregt,
heraus, und die Adern schwollen ihm in dem roten Gesicht an. — „Da haben
wir's! Natürlich ist sie doch im Dorf gewesen, und was wir voraussagten,
ist geschehen. Sie hat das Scharlach ins Schloß gebracht! Wahrlich,
unverantwortlich, strafwürdig hat sie gehandelt an sich — und an uns! Da
ist gleich ein Beweis von dem jüngst Gesagten: Das Beste in einer
ungeschickten Hand kann zum Verderben werden. Und ich füge hinzu: Das
Ungünstige, weise verwertet, kann zum Segen gereichen. Ja — welcher
Doktor? Jedenfalls soll kein Prestö jemals diese Schwelle wieder
betreten. Andreas soll sofort nach Oerebye kutschieren. Klingele,
Lucile, nach Frederik! Gleich soll er fort. Ich schreibe ein paar Zeilen
an den Physikus Mangor in Oerebye.“

Und Frederik erschien, empfing ein Billet, das der Graf in dem Kabinett
seiner Frau entworfen hatte, und eilte damit fort.

Und nachdem das erledigt war, richteten die Anwesenden ihre Gedanken auf
das Kommende. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit unter solchen Umständen
den Ball abzuhalten, wurde erörtert. Zuletzt wurde beschlossen, die
Entscheidung von der Erklärung des Doktor Mangor abhängig zu machen.

War er dagegen, so sollte in der Frühe alles Personal auf dem Guts- und
Arbeitshof entboten werden, um den Eingeladenen abzusagen. — Freilich,
ein umständliches vielleicht nicht einmal völlig erfolgreiches Vorhaben.

Es waren nicht nur Gäste vom Lande, sondern auch aus den umliegenden
Städten geladen. Im linken Flügel, der an Imgjors Turmgemächer stieß,
waren alle Fremdenzimmer bereits in Stand gesetzt, und auch die unteren
rechtzeitig — oben befanden sich die Festsäle, in denen getafelt und
getanzt werden sollte — waren hergerichtet.

Einhundertfünfzig Personen hatten Einladungen empfangen, und schon
wehten von den Türmen die Lavardschen Fahnen in den blutroten Farben,
inmitten das Familienwappen: die Faust mit dem Dolch, gezückt gegen
einen wild sich auflehnenden Geier!

       *       *       *       *       *

Diesmal war's noch gut verlaufen. Imgjor war nicht vom Scharlach
ergriffen worden. Mangor, der noch in später Stunde erschienen war,
hatte erklärt, daß es sich nur um eine starke, aber ungefährliche
Verstimmung des Magens handle. Die Komtesse werde bei genügender Ruhe
bereits im Laufe des kommenden Tages die Unpäßlichkeit abgeschüttelt
haben.

Und wie der Befreiung von einer schweren Sorge allezeit eine um so
Stärkere seelische Aufrichtung zu folgen pflegt, so war's auch hier. Dem
Grafen verlieh die Sicherheit, daß das Gespenst der Epidemie vom
Schlosse abgewendet war, daß er nicht nötig hatte, seinen Gästen
abzusagen, und daß somit auch Mühen und Kosten nicht umsonst gewesen,
eine gehobene Stimmung, und in dieser gab er den Bitten der Gräfin zu
einer Auseinandersetzung mit Imgjor nach.

Nachdem Lucile und Fräulein Merville um die Mittagszeit gemeldet hatten,
daß Imgjor bereits wieder aufgestanden sei, begab sich die Gräfin zu
ihr aufs Zimmer, und in Axels Gegenwart wiederholte sie dann später
diesem und den übrigen die von dem jungen Mädchen erteilte Antwort.

Sie wolle eine Unterredung mit Prestö möglichst bald herbeizuführen
suchen und, nachdem diese stattgefunden, ihren Eltern eine Antwort
geben. Sie bäte, ihr diese Frist noch zu gewähren, um jenem gegenüber
nicht wortbrüchig zu werden.

Werde sie, um nicht das Glück eines anderen Mädchens zu zerstören, auf
Prestö verzichten müssen, so würde sie nochmals die Bitte aussprechen,
Rankholm verlassen und sich ihren Wirkungskreis suchen zu dürfen. Sie
wolle sich eine Samariterthätigkeit suchen, sofern ihr ein Werk im
Großen nicht zu gelingen vermöge.

Sie schwöre dem Vater zu, daß sie ihm keine Schande machen werde. Sie
bäte, ihr zu verzeihen, wenn sie in der Form gefehlt habe, und auch
deshalb daß sie keine andere Antwort zu erteilen vermöge.

Endlich hatte sie auf den dringenden Wunsch ihrer Pflegemutter zugesagt,
daß sie heute bei dem Feste erscheinen werde.

Alle Anwesenden befanden sich nun in einer starken Spannung, wie sich
der Graf zu dieser Erklärung Imgjors verhalten werde.

Gerechterweise mußte man zugestehen, daß ihre Erklärung verständig und
maßvoll war, daß sie, wenn sie sich nicht selbst verleugnen wollte, eine
andere garnicht geben konnte.

Nach einer geraumen Frist, in welcher der Graf nachgedacht, sagte er:
„Ich gebe jetzt nur die Erlaubnis, daß sie bis zu einer Entscheidung
über ihre Beziehungen zu Prestö unter gleichen Verhältnissen wie bisher
in Rankholm bleibt, aber es ist selbstverständlich, daß sie sich während
dieser Zeit des Verkehrs mit meinen aufsässigen Bauern enthält. Kommt
noch etwas vor, dann geht sie sofort!“

Als sich Axel später mit der Gräfin allein befand, teilte sie ihm mit,
daß Imgjor ursprünglich keineswegs in einer solchen versöhnlichen Art
gesprochen, daß sie, die Gräfin, aus Klugheit vieles verschwiegen und
ihrem Gatten nur das gesagt habe, was sie Imgjor teils nach schweren
Kämpfen abgerungen, teils noch zu erreichen hoffe. — Nur Auflehnung
gegen ihren Pflegevater habe Raum in ihr gehabt, ihr, ihrer
Pflegemutter, aber habe sie unter dem Dankgefühl für deren Verhalten in
den rührendsten Worten alle Schroffheiten, deren sie sich im Laufe der
Jahre schuldig gemacht, abgebeten.

„Der Zufall hat Ihnen, lieber Graf,“ — schloß sie ihre Rede — „enthüllt,
was ich Ihnen nach einer voranzugehenden, sorgfältigen Prüfung Ihrer
Vertrauenswürdigkeit eröffnen wollte, deshalb eröffnen wollte, damit Sie
erkennen möchten, in wie weit meine Kinder zu Vorwürfen gegen mich
berechtigt waren. — Es ist aber noch nicht alles. Das übrige sollen Sie
später aus meinem Munde vernehmen.“

Graf Dehn lohnte diese Worte mit lebhaftem Dank, dann sagte er,
gedrängt, noch mehr zu hören: „Ich bitte, wie faßt Komtesse Imgjor die
Enthüllung ihrer Geburt auf? Darüber äußerten Sie nichts, Frau Gräfin!“

„Sie hat sich darüber nur kurz ausgelassen: Ihre Erregung beziehe sich
auf das Unrecht ihres Vaters, solche Dinge in solcher Form vor fremden
Zeugen auszusprechen.

Ehe ich meinen Vater oder meine Mutter verdamme — äußerte sie — muß ich
wissen, wie ihr Lebensgang war, wer sie zu dem machte, was sie wurden.
Meinem Pflegevater bin ich unauslöschlichen Dank schuldig, weil er mich
nicht dem Elend und dem Zufall preisgegeben, sondern mich gehalten hat
als sein rechtes Kind. Und eben diese Dankbarkeit veranlaßt mich, mich
dir zu fügen, fürder ihm gute Worte zu geben. Diese Dankbarkeit hat mich
abgehalten, sogleich und für immer Rankholm zu verlassen. Ich wünsche in
allen meinen Handlungen möglichst gerecht zu sein, auch mich
unterzuordnen, sofern das, was gefordert wird, nicht mit meinen
Ueberzeugungen und Grundsätzen in Widerstreit steht.“ —

Und dann kam der Nachmittag, und mit ihm erfolgte das Anfahren der Gäste
im Schloßhof von Rankholm.

War das Gut in Stille und Einsamkeit ein unvergleichlich idyllischer
Erdenfleck, so hatte es sich nun in ein buntes Zauberbild verwandelt.

Von allen Zinnen wehten die roten Lavardschen Fahnen. Im Hofe vollzog
sich ein endlos wechselndes Durcheinander von herbeieilenden
Staatskarossen, Fuhrwerken und Landkutschen. Der Treppenaufgang war
geschmückt mit Rosenguirlanden, und da der Abend bereits im Nahen war,
flimmerten hinter allen Fenstern des mächtigen Baues hunderte und
aberhunderte von Lichtern. Und strahlendes Flammenlicht ergoß sich
später von den Kandelabern neben der Freitreppe über den ganzen Hof, und
in einem Glanzmeer schwammen die Eingänge, die Gesellschaftsgemächer und
großen Festsäle im Hauptgebäude und in den Flügeln.

Aber auch unten in den Souterrains, wo auf den großen Herden die Speisen
dampften und schmorten, war alles voll eifrigen Lebens. Ein Heer von
weißgekleideten Köchen, buntlivrierten Dienern und Lakaien flog hin und
her, treppauf, treppab, und mischte sich unter die in ihren kostbaren
Toiletten und glänzenden Uniformen erschienenen, in den Empfangsräumen
auf und ab wogenden, laut und lebhaft schwatzenden und lachenden Gäste,
bis dann der Haushofmeister Frederik das Zeichen zum Tischgang gab und
sich sämtliche fünfundsiebzig Paare in Bewegung setzten.

So tafelte und trank man nur in Fürstenhäusern! Ein solcher Glanz und
Prunk war entfaltet, daß selbst Axel, der sich bereits an den Ueberfluß
von Rankholm gewöhnt hatte, des Erstaunens und der Verwunderung voll
war. Tafelgeschirr stand auf den Tischen, das ganze Vermögen gekostet
hatte. — Silber, aber auch Gold überall! Selbst die Gabeln und die
Griffe der Messer blitzten in solchem edlem Metall.

Massive Vasen und andere kunstreiche, kostbare Schaustücke mit Blumen
aus den Treibhäusern gefüllt, waren zahlreich verteilt, und silberne
Champagnerkühler, jedesmal für zwei Personen, fanden, das zischende,
unruhige Naß in goldumränderten Flaschen bergend, neben dem wundervoll
geschliffenen Krystall und Glas, das den Weinen zu dienen hatte, die bei
jedem Gang besonders gereicht wurden.

Die Damen Lavard trugen Geschmeide von Diamanten und Perlen, die einen
schier unschätzbaren Wert besaßen, und zudem waren sie die Königinnen
des Festes.

Die Schönste war Imgjor, die Tochter des Kunstreiters.

Zum erstenmal sah Graf Dehn ihren reizenden Hals. Es konnte keine
gleichen Schönheitslinien, keine vollendeteren Farben geben. Sie
wetteiferten mit dem Marmorglanz der runden, weißen Arme.

Und dazu das braunrote, sich in ungeduldigem Wachstum aufbäumende Haar,
dazu die dunkelbewimperten Augen, dazu der Körper mit seinen
schwellenden Formen, die entzückenden Hände, die schneeigen Zähne, die
von einem stürmisch pulsierenden Rot durchglühten, kleinen Ohren! Und
wenn sie lächelte — dieses hinreißende, eine unbekannte Welt von
Klugheit und Güte verheißende Lächeln!

Und neben ihr saß, trotz seiner gegen ihre Eltern erhobenen Einwände,
Graf Dehn.

Gleich, als er ihr den Arm geboten, hatte er eine ihrer Enttäuschung
begegnende Erklärung gegeben.

„Es war der Wunsch des Herrn Grafen, daß ich Sie führen sollte,
Komtesse! Ich bat um Ihretwillen, davon abzusehen. Es geschah, weil ich
mein Möglichstes thun wollte, um Ihrem gegen mich geäußerten Wunsch zu
entsprechen. Vielleicht bezwingen Sie dieses eine Mal Ihre Abneigung, so
lange in meiner Nähe sein zu müssen. Ich verspreche Ihnen, daß ich
versuchen werde, Ihr Ohr durch meine Worte in keiner Weise zu
verletzen.“

Schon während Graf Dehn gesprochen, hatte Imgjor den Oberkörper
zusammengeschoben und die Lippen auf einandergepreßt, als ob sie nur so
ihrer Empfindungen Herr zu werden vermöge. Aber als er dann mit einem
sanft versöhnlichen Ausdruck in ihren Zügen forschte, so eine Antwort zu
erheischen suchte, hob sie stolz das Auge zu ihm empor, sah ihn kalt an
und senkte dann wieder die Wimpern mit einer Miene wie jemand, der, weil
des anderen Gefangener, machtlos sich zu fügen hat.

Zunächst verhielt sich Graf Dehn auf diese stumme Abwehr ebenfalls
wortlos. Aber als von der Dienerschaft bereits die Suppe gereicht worden
war, und nun Imgjor, ohne sie zu berühren, auch ferner in finsterem
Schweigen dasaß, hielt's ihn nicht länger. Zorn und Auflehnung über ihre
Kälte übermannten ihn.

„Sie haben mich nicht einmal einer Antwort gewürdigt, Komtesse Lavard,“
hub er an, nachdem er nach vorangegangener Frage, ob er einschenken
dürfe, ihr Glas gefüllt hatte.

„Wahrlich! Wenn ich nicht so vieles von Ihnen gesehen, jetzt wieder sich
meine Meinung über Sie so vorteilhaft verstärkt hätte, ich könnte
glauben, es sei doch eines wenigstens bei Ihnen Maske — nämlich, daß
Sie ein Herz besitzen. Was that ich Ihnen? Wie begegnen Sie mir, der ich
doch der Gast Ihres Hauses bin? Wie vergelten Sie mir das, was Sie
selbst als vergeltungswert bezeichneten? Es mag Ihnen wenig vornehm
erscheinen, daß ich erwähne, wie sehr ich für Sie stets eintrat, wie
viel ich beigetragen habe, die vorhandenen Gegensätze zu mildern, auch
jetzt den Dingen einen möglichst friedlichen Charakter zu verleihen. Ich
thue es aber, weil ich Ihnen beweisen möchte, daß ich Ihr zu Thaten
bereiter Freund bin. Gewiß, Sie haben mir deutlich an den Tag gelegt,
daß Sie mich verabscheuen, Sie haben mir sogar die Schwelle des
Schlosses gewiesen — aber es drängt sich mir die Frage auf, mit welchem
Recht nach solchem Verhalten von meiner Seite? Ehrerbietung, Rücksicht
und Freundschaft habe ich Ihnen ununterbrochen entgegengetragen!
Erlauben Sie mir ein freies Wort: Sie wollen eine ganze Menschheit
beglücken und besitzen nicht einmal die Fähigkeit, sich einem einzelnen
Menschen in soweit anzubequemen, daß Sie die Gesellschaftssitten zu
beobachten vermögen, aus trotziger Voreingenommenheit, aus Zorn, daß ich
den Doktor Prestö als das hinstellte, was er ist —“

„Nun, was ist er denn?“ fiel Imgjor, deren Büste unter dem
freigeschnittenen Ballkleide in eine stürmisch tobende Bewegung geraten
war, also, daß sie schier den Saum des Gewandes zu sprengen drohte, mit
funkelnden Augen heraus.

„Er ist ein kalter, berechnender Egoist, den nicht Liebe zur Menschheit,
sondern nur Rachsucht erfüllt, der einer anderen, der er sein Wort
verpfändet, lediglich deshalb einen Absagebrief erteilt, um die reiche
und vornehme Erbin heimzuführen. Daß letzteres sich so verhält, klang
durch seine Worte, die ich vernahm in jener Nacht. Nur Sie, in Ihrer
blinden Liebe, entraten der Fähigkeit, ihn zu durchschauen, ihm, wie
sonst den Menschen, ins Herz zu blicken und es auf seinen wahrhaftigen
Wert zu prüfen.“

„Ich bestreite jede Ihrer Behauptungen, Herr Graf Dehn. Und wenig
vornehm ist es in der That — Sie mögen es hören! — zu horchen, und
ebenso unkavaliermäßig, auf bloße Eindrücke hin einen Ehrenmann derartig
zu verdächtigen. Und da Sie es wissen wollen: Meine Abneigung gegen Sie
leitet sich uns der Thatsache her, daß, im Gegensatz zu Ihrem
Selbstlobe, mit Ihrem Eintritt in Rankholm sich alles, was mir Freude
und Hoffnung war und was mir Erfüllung schien, in Leid verwandelt hat.
Sie haben von vorneherein gegen Herrn Doktor Prestö Front gemacht,
deshalb gleich ohne Zwang und Not den Gast herabgesetzt, weil er anders
geartet als Sie, sich anders gab als Sie, weil er sich Ihrer
hochgeborenen Erhabenheit nicht unterordnete, weil er gleich an den Tag
legte, daß es für ihn nur Menschen, keine Bauern und keinen Landadel
giebt, weil Sie herausfühlten, daß ich ihm gut war, daß ich ihn Ihnen
vorzog. Und dann haben sich die Meinungen meiner Familie täglich mehr
gegen ihn gekehrt. Früher fand man ihn wohl etwas schroff, aber man
lobte sein kräftiges Selbstgefühl! Man schätzte es hoch, weil es
Charakter und Männlichkeit verriet. Stets stand er voran, wenn es sich
um Einladungen in unser Haus handelte. Als Arzt wußten ihn alle nicht
genug zu loben, und man gewährte mir auch ohne Einschränkungen den
freien Verkehr mit diesem aufgeklärten und zielbewußten Manne. Heute
würde mein Pflegevater ihn am liebsten töten; meine Pflegemutter und
Lucile hassen ihn. Ihnen habe ich es zu verdanken, daß ich plötzlich
eine Ausgestoßene, Enterbte bin, während ich meinen mir zukommenden
Besitz in den Dienst der großen Sache stellen wollte, in den Dienst der
Veredelung und Aushilfe der Armen und Elenden. So, nun wissen Sie,
weshalb ich den Augenblick verwünsche, in dem Sie über die Schwelle
traten, weshalb ich Sie wegen Ihrer unerbetenen Eingriffe in unsere
Familienangelegenheiten zu hassen ein Recht habe! — Und daß Sie, mein
Herr Graf, heute, nach alledem, noch den Mut und das Wohlgefallen
besitzen, an meiner Seite Platz zu nehmen, beweist mir, daß Sie zwar
sehr viel Selbstgefühl, aber minder Zartsinn besitzen, wenig von dem,
dessen Sie sich selbst so beredt rühmen!“

Graf Dehn war weiß geworden wie das Leinen der Serviette, die er in
seiner Hand zerknitterte.

Das war eine Freiheit der Rede, die neben ihrem ungerechten Inhalt, der
völlig falschen Auslegung, ja Umkehrung der Dinge, eine Maßlosigkeit
enthielt, vor der ein Kavalier einer Dame gegenüber verstummen mußte.
Indem Graf Dehn alles zusammenfaßte, was ihm an Kraft und
Selbstbeherrschung zu Gebote stand, auch zu einem ruhigen Ton und zu
äußerster Sachlichkeit sich zwang, obschon die vor Erregung zitternde
Stimme fast versagen wollte, entgegnete er:

„Es wird eine Zeit kommen, Komtesse Lavard, in der sie erkennen werden,
wie richtig meine Urteile über die in Betracht kommende Person waren.
Sie werden auch, ich weiß es, die unverdiente, ungeheure Kränkung die
Sie mir eben zugefügt haben, abbitten. Ihr gerechtes Herz wird Sie dazu
drängen! — Doch lassen wir ruhen, was ich nur gezwungen berührte, und
nur eine Frage gestatten Sie mir noch an Sie zu richten: Wollen Sie mir
eine Unterredung gewähren, wenn sich herausstellt, daß der Mann, dem Sie
im Begriff sind, Ihr Lebensglück zu opfern, Sie täuschte?“

„Weshalb —? Welchen Zweck soll das haben?“

„Liegt Ihnen nicht daran, Komtesse, etwaiges Unrecht gegen mich gut zu
machen? Ist es nicht doch möglich, daß Sie mich und mein Thun falsch
beurteilen? Ist's dann nicht eine natürliche Pflicht, mir eine
Genugthuung zu gewähren? Sie wollen eine Priesterin der Wahrheit, der
Güte, der Gerechtigkeit, der Menschenliebe sein und wollen schon beim
erstenmal stolpern, wo Sie die Probe auf Ihr Ich zu bestehen haben?“

Imgjor biß erst die Zähne zusammen, dann sagte sie: „Wohlan, ich bin
bereit, Sie zu hören, wenn sich das vollzieht, was Sie hoffen — was Sie
aus dieser Hoffnung sogar zur Gewißheit erheben. Sie wird Ihnen zwar nie
werden, und wenn doch, so werde ich, das sei gesagt, nie Ihre Freundin
werden, geschweige mehr —“

„Also, wenn Prestö sie betrog, in diesen heilig ernsten Stunden Sie
betrog, so bleibt er immer doch ein Gott und ich ein Unwürdiger,
Komtesse?“

Imgjor reckte den Oberkörper, und in ihrem in der Erregung sich
unwillkürlich öffnenden Munde blitzten die Zähne. Dann sagte sie heftig,
und er hörte, wie sie mit ihrem mit dem weißen Seidenschuh bekleideten
Fuß ungeduldig den Fußboden berührte:

„Ich wiederhole Ihnen, Herr Graf, daß Prestö mich nicht betrügen wird,
daß er ein Ehrenmann, daß er ein anderer Mann ist als die, welche sich
anmaßen, über ihn zu Gericht zu sitzen!“

„Wohlan, Komtesse! Wenn Sie so reden, so steht Meinung gegen Meinung!
Ich behaupte, daß der Mann innerlich in demselben Augenblick von Ihnen
abfallen wird, wo er erfährt, daß Sie nicht die Tochter des Grafen, daß
Sie aus Rankholm verbannt und enterbt sind. Und da Sie nun, trotz aller
meiner fügsamen Bitten, den Frieden mir abschlagen, so will ich fürder
gegen diesen Mann rücksichtslos kämpfen! Ich will Sie kurieren, jetzt
kurieren gegen Ihren Willen!“

Diesmal entgegnete Imgjor nichts. Sie vermochte es nicht, weil plötzlich
eine Blutwelle ihrem Munde entströmte. Die Serviette, die sie zum Munde
führte, wurde von einem unheimlichen Rot gefärbt. Schrecken ergriff die
Umsitzenden, und ehe noch Graf Dehn helfen, sich um sie bemühen oder gar
am Aufstehen hindern konnte, hatte sie den Saal verlassen.

       *       *       *       *       *

Lange waren die Klänge der Violinen, der Flöten, und Baßgeigen
verklungen. Seit einer Stunde waren sogar die Lichter in dem mächtigen
Rankholmer Schloß mit all' seinen zahlreichen Räumen erloschen, und
alles lag in einem tiefen, festen Schlaf. Nur zwei Personen wachten
noch, sie fanden keinen Schlaf, und er floh sie, weil eine der anderen
unruhvoll gedachte. Freilich geschah's mit sehr verschiedenen
Empfindungen.

Imgjor haßte nunmehr den Mann, der in ihr Leben und in ihre Pläne einen
solchen Eingriff gethan. Sie haßte ihn, obschon ihr vorurteilfreies Ich
ihr zuflüsterte, daß sie ein Unrecht begehe. Als er damals in Oerebye
die Rede gehalten, hatte sie bei sich gedacht, welch' ein wertvoller
Mann er sei. Aber sie wollte ihm schon deshalb keine Gefolgschaft
leisten, weil sie — wie sie sich vorredete — nichts Halbes, sondern
etwas Ganzes erstreben mußte. Ueberdies lag sie in dem Banne Prestös,
der sie mit den stärksten Fäden an sich zog, sie so fesselte, daß sie
nicht zu entrinnen vermochte. Der Sohn des Unterdrückten, der, gleich
ihr, aufräumen wollte mit dem Unrecht, gehörte zu ihr, und nun, nachdem
sie vernommen, daß sie selbst von jenen abstammte, welche die Armut
treibt, ihr Brot zu suchen, wo und wie sie es finden, fühlte sie sich
zwiefach mit Prestö verknüpft, hundertfältig mit ihm verbunden.

Voll ingrimmiger Auflehnung biß sie die Zähne zusammen, als sie sich in
diesen Stunden der Nacht der letzten Worte ihres Gegners erinnerte.

Er würde im Fall Prestö mitteilen, wer sie sei, ihn wissen lassen, daß
ihr Erbe in Gefahr stehe, sicher ihr verloren ginge, wenn sie ihm,
Prestö folge.

Sie zitterte vor der Wirkung seiner Ausladungen aus denselben Gründen,
die sie veranlaßt hatten, an Prestö die Forderung zu stellen, ihr die
Beweise zu geben, daß er — ohne Zwang und Unrecht — frei sei.

Ihr Verstand und die Klarheit ihres Geistes fanden auf gleicher Stufe
mit der Tiefe und der Güte ihres Herzens, die sie trieben, sich
selbstlos in den Dienst der Unterdrückten zu stellen.

Einmal, als sie sich vorstellte, Graf Dehn könnte wirklich Recht
behalten, geriet sie in eine solche Aufregung, daß ihr Herz in
stürmischer Aufwallung pochte.

Wenn auch Prestö einer der Millionen Durchschnittskreaturen, wenn auch
er einer der erbärmlichen Nützlichkeitsmenschen war, wenn wirklich nur
ihr Stand, ihre Schönheit und ihr großer Reichtum ihn hatte reden und
gar als Schurken gegen seine Braut handeln lassen, dann — dann —!

Sie atmete tief, tief auf, und ihre Rechte ballte sich, als ob sie eine
Waffe fasse.

Sie wußte nicht, was geschehen werde — ihr grauste vor sich selbst.

Unter solchen starken seelischen Erregungen und Kämpfen, denen sich die
irrenden Gedanken über ihre Geburt unruhvoll hinzugesellten, tastete der
Tag mit noch müdem Licht an die Scheiben der Fenster und mahnte sie an
Zeit, Umstände und die noch zu erfüllenden Aufgaben.

Sich rasch aufraffend, rückte sie sich an den Schreibtisch, stützte,
noch einmal ihre Gedanken sammelnd, das Haupt und schrieb sodann mit
fester Hand einen langen Brief erregten Inhalts an Prestö, in welchem
sie ihn am Schluß ersuchte, nur auf das zu hören, was sie ihm selbst
mitteilen werde, legte dieses Schreiben im Flur in eine versteckte Ecke,
aus welcher der von ihr insgeheim beauftragte Diener jeden Morgen in der
Frühe vorhandene Briefe an sich zu nehmen und sogleich zu besorgen
hatte, und schlüpfte alsdann in ihr Bett.

Und als eben gerade das Gesinde sich wieder unten im Hause zu rühren
begann, fand sie endlich die Ruhe, nach welcher der erschöpfte Körper
verlangte. —

Anders Axel.

Durch sein Gehirn wälzten sich die Vorstellungen über Geschehenes und
Künftiges, und lediglich die Ueberlegung, auf welche Weise er das
ausführen könne, was er sich nunmehr als fiel vorgesetzt hatte,
beschäftigte seine Gedanken.

Er wollte sich vorläufig von der Familie Lavard nicht trennen, Prestö
als den entlarven, der er nach den von ihm in jener Nacht gewonnenen,
nunmehr mit Luciles Behauptungen übereinstimmenden Ansichten war, und
Imgjor nicht nur zu heilen, sondern mit ihrer Familie vollständig
auszusöhnen suchen. — Ob ein Preis ihm zufiel, mußte sich finden. Seine
Liebe und sein überzeugungsstarker Sinn ließen ihn nicht verzweifeln.

       *       *       *       *       *

Die kommenden Tage verflossen den Rankholmer Schloßbewohnern unter
allerlei Vorbereitungen zu der Kopenhagener Reise. Auch erledigte der
Graf dringliche Gutsgeschäfte mit seinen Beamten und wies unter anderem
auch Unterstützungen für die von der Epidemie noch immer gleich hart
betroffene, ärmere Dorfbevölkerung an. Gegenwärtig gab es kaum ein Haus
mehr in Kneedeholm, in dem sich nicht Schwerkranke befanden oder Tote
täglich hinausgetragen wurden. Der Pastor kam Tag und Nacht kaum mehr
zur Ruhe, da er Sterbende zu trösten, geistliche Handlungen vorzunehmen
und nach den Bedrängten zu sehen hatte.

Und nicht minder war Doktor Prestö beschäftigt. Wenn er einen der
Betroffenen eben verlassen hatte, rief ihn die Pflicht schon wieder zu
gleichem Zwecke ins Nebenhaus, und so fort. Ueberall Sterbende,
Schwerkranke oder der Genesung Entgegengehende, die der Aufsicht
bedurften.

Aber jegliches, was er that, geschah in einer kurzen, schroffen,
gefühllosen Art. So kam es nicht selten vor, daß er die Boten der
Erkrankten mit dem barschen Bescheide abfertigte, sie müßten warten, er
sei auch nur ein Mensch, der einen Kopf und zwei Arme habe.

Ein engeres Zusammenwirken zwischen ihm und seinem ausgesprochenen
Gegner, dem Pastor Nielsen, fand nicht statt. Sie bewegten bloß das
Haupt, wenn sie sich begegneten, und bedienten sich der
Zwischenpersonen, wenn sie sich etwas mitteilen mußten.

Unter den geizigen und körperlichen Anspannungen war Prestö zu einer
Förderung seiner Verlobungspläne mit Imgjor, die eine Reise nach
Kopenhagen erforderlich machten, gar nicht gelangt, und wenn schon
dieser Umstand seine Laune zu der allerschlechtesten gemacht hatte, so
war seine Stimmung durch die Vorfälle der letzten Tage seine geradezu
feindselige geworden.

Er behandelte in seiner Verstimmung die Kranken sehr rücksichtslos, sie
mußten büßen, worunter er litt.

Plötzlich war alles über den Haufen geworfen. Die Mitteilungen, die ihm
von Imgjor geworden, hatten einen geradezu niederschmetternden Eindruck
auf ihn gemacht. Imgjor war die Tochter irgend eines Abenteurers und
keine Lavard; sie war bedroht mit dem Verlust alles dessen, was gerade
eine bestrickende Wirkung auf ihn ausgeübt hatte.

So lange Imgjor der Glanz ihres ungeheuren Reichtums umgab, war's dem
Manne nicht schwer geworden, sein Gewissen zu beschwichtigen. Um solchen
Lohn glaubte er sich berechtigt, jener, die sein Wort hatte, einen
endgiltigen Absagebrief zu schreiben.

Um der hohen Ziele willen, die Imgjor im Auge hatte, heiligte der Zweck
die Mittel!

Nun aber stoppte er plötzlich wie ein vor ein Hindernis gestellter
Reiter. Alle bisherigen Beschwichtigungen verfingen nicht mehr, er sann
vielmehr, wie er sich, wenn Graf Lavard seine Drohungen wirklich wahr
machte, wieder von Imgjor zurückziehen könne.

Selbst die Schönheit Imgjors, die ihn gereizt und zeitweilig seine Sinne
bereits zur höchsten Leidenschaftlichkeit angefacht hatten, sank nunmehr
zu einem Nichts herab.

Ihren Enthusiasmus für die große Sache, der er nur aus
Selbstsuchtsgründen und rachsüchtigen Trieben Vorschub geleistet, die er
in ihrem Sinne als Thorheit bespöttelt hatte, belegte er nunmehr mit der
Bezeichnung einer Verrücktheit. Der Gedanke, sie ohne materiellen
Einsatz von ihrer Seite zu heiraten, gar ihren Schwärmereien
Gefolgschaft zu leisten, statt zu raffen, durch Geld und dadurch
gewonnene Macht zu herrschen, schuf eine solche Auflehnung in ihm, daß
er bereits überlegt hatte, ob er nicht ohne alle Versuche, den Grafen
Lavard umzustimmen, der Sache ein Ende machen und Imgjor erklären solle,
er könne nun doch die von ihr geforderten Beweise nicht beibringen.

Freilich bedurfte es jetzt, da sie vor der Enterbung stand, eines klugen
Verhaltens. Vorläufig mußte er sich geben, wie bisher, mußte er in
Imgjor den Eindruck erhalten, daß seine Gesinnungen in keiner Weise
erschüttert seien. Ungleich regten sich neben diesen Erwägungen auch
wieder Gefühle eines ingrimmigen Verdrusses, so plötzlich um alle
glänzenden Hoffnungen betrogen werden zu sollen. Eine durch den Eintritt
wiedergekehrter, grenzenloser Habsucht hervorgerufene Unruhe
bemächtigte sich des Mannes, die ihn nach Mitteln suchen ließ, wie er
dennoch zum Ziele zu gelangen vermöge.

Unter solchem Schwanken fiel ihm sein Gönner, Graf Knut ein. Vielleicht
konnte es möglich sein, wenigstens einen Teil des Vermögens, sofern
dessen Höhe der Mühe eines Kampfes wert sein würde, dem Grafen
abzuringen.

Und da Prestö diese Pläne schließlich zum Entschluß erhob, so zögerte er
auch keinen Augenblick mit deren Ausführung.

Einerseits richtete er ein Schreiben an Imgjor, in dem er sie um eine
abermalige Unterredung ersuchte, und andererseits bat er den Grafen Knut
in einem eilig beförderten Briefe, ihm eine solche nachmittags gewähren
zu wollen.

Ohne Antwort zu empfangen, nähme er an, daß ihm der Graf diese
Vergünstigung gewähren wolle.

Und von dem Eingang dieses Schreibens erzählte Graf Knut, des Grafen und
der Gräfin Meinung einholend, in Gegenwart von Axel und Lucile nach dem
zweiten Frühstück, und alle Teile wurden darüber einig, daß der Graf
diesem Ersuchen Folge leiten müsse. Man wolle hören, was Prestö zu sagen
habe.

Alles, was einer Klärung der Angelegenheit dienlich sei, dürfe nicht von
der Hand gewiesen werden. Aber während noch dies stetig wieder in den
Vordergrund tretende, die Gemüter beschäftigende Thema behandelt ward,
regte sich ein neuer Gedanke in Axel, und ihn zur Ausführung zu bringen,
dadurch seinen geheimen Plänen Vorschub zu leisten, erfüllte ihn
solchergestalt, daß er das Herannahen der nächsten Stunden kaum
erwarten konnte.

Sobald sich die Gelegenheit bot, begab er sich in seine Gemächer und
dann später, nachdem die dritte Stunde geschlagen, vom Arbeitshofe aus
ins Dorf hinab.

Da Graf Dehn als Kind die drunten wütende Krankheit bereits überstanden
hatte, beschlichen ihn keine Bedenken. Zudem wollte er ein Haus
betreten, an das die Epidemie sich wenigstens bisher nicht herangewagt
hatte. Er wollte versuchen, von Prestös Wirtschafterin den Namen der
Braut ihres Herrn in Erfahrung zu bringen.

Es war nicht undenkbar, daß ihr, die seine Briefe besorgte, dieser und
der Aufenthaltsort der Dame bekannt waren.

Als Graf Dehn durchs Dorf schritt, fiel ihm auf, wie menschenleer es
war. Wie ausgestorben schien's. Nirgends ein rauchender Schornstein,
nirgends jemand auf der Dorfstraße oder auf den Höfen.

Nur einmal bemerkte er ein tiefgebeugtes, altes Mütterchen, das aus
einem Bauernhause heraustrat und ein Gefäß an der Pumpe ausspülte. Und
nicht einmal emporschauend, schritt sie sogleich und in einer Art
zurück, die ihr beschäftigtes Gemüt verriet.

Und noch ein menschliches Wesen, der Postbote, kam ihm später und gerade
dann entgegen, als er die Wohnung des Doktors erreicht hatte.

Den ehrerbietigen Gruß des Mannes erwidernd, entfuhr Axel unwillkürlich
die Frage nach Briefen fürs Schloß. Er empfing auch solche für die
Herrschaften, sah überdies Posteingänge für Prestö in der Hand des
Angestellten und trat, nachdem er solche ebenfalls abzugeben sich
erboten, in Prestös Haus ein.

Da war alles still. Er suchte sich bemerkbar zu machen, und als dies
erfolglos blieb, wandte er sich dem hinteren Ausgang in der Hoffnung zu,
die Alte entweder auf dem Hofe oder im Garten zu finden. Und da er
dadurch verhindert wurde, sich weiter ins Innere der Wohnung zu begeben,
steckte er, mechanisch handelnd, vorläufig die Postsachen in seine
Rocktasche.

Und dann erspähte er hinten im Garten die alte Frau, welche beim
Kartoffelaufnehmen beschäftigt war, und näherte sich ihr.

Nachdem sie sich bei seinem Anblick aus ihrer gebückten Stellung
erhoben, die erdigen Hände an der Arbeitsschürze abgewischt und ihn
freundlich begrüßt hatte, sagte Graf Dehn, gleich ohne Einleitung aufs
Ziel steuernd:

„Ich komme mit einer Frage, gute Frau Madsen: Können Sie mir vielleicht
sagen, wie des Herrn Doktor Prestös Braut heißt? Sie haben gewiß
bisweilen Briefe nach dem Postkasten am Wirtshaus unten im Dorf getragen
und kennen ihren Namen —“

„Seine Braut? Ja, das weiß ich nicht. Aber er schreibt allerdings ab und
zu an ein Fräulein. Sie heißt — sie heißt — Ingeborg Jensen.“

„Hm — Danke! Und die Adresse? Es handelt sich um eine kleine
Ueberraschung vom Schloß, deshalb frage ich bloß —“

„Adresse? Adresse? Ja, da kann ich mich allerdings nicht darauf
besinnen. Aber sie wohnt bei einen Etatsrat Estrup in Kopenhagen. Das
steht mit drauf.“

„So, so, schön! Das genügt, meine gute Frau Madsen. Und sagen Sie dem
Doktor gar nicht, daß ich gefragt habe, daß ich hier war! Es ist wegen
der Ueberraschung. Sie verstehen?“

Und die Alte nickte, und nachdem ihr Axel ein Geldstück in die Hand
gedrückt und sie noch einiges über den Gesundheitszustand im Dorf
gefragt hatte, nahm er Abschied.

Als er die Straße hinabschritt, klopfte ihm ungestüm das Herz, und als
er wieder in sein Zimmer gelangt war, schrieb er zur Sicherheit sogleich
auf, was er erkundet hatte. Bei dieser Beschäftigung kam ihm auch die
Erinnerung an die Briefschaften, die er dem Postboten abgenommen, und
dabei zugleich, daß er nun doch vergessen hatte, die für Prestö
bestimmten Eingänge an die Alte abzuliefern.

Er zog eilig alles aus der Tasche, legte die Briefschaften für Lavards
für sich und schob das mit einem Bindfaden verknüpfte Bündel Zeitungen
für Prestö bei Seite. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich, daß auch
Briefe vorhanden waren, und als Graf Dehn solche zur besseren Bergung
berührte, sah er, daß auf der Rückseite der Name Ingeborg Jensen als
Absenderin vermerkt war.

Und da zitterten des Mannes Hände, und seine Brust hob sich in heftiger
Erregung.

Wie nun, wenn er sie um des Zweckes willen öffnete und ihren Inhalt las?

Aber ein Briefgeheimnis verletzen, dadurch abermals Imgjor einen Anlaß
geben, ihn einer unkavaliermäßigen Handlung zu zeihen?

Und doch war ihm durch diesen Zufall das Mittel in die Hand gegeben, mit
einem Schlage völlige Klarheit in die Verhältnisse zu bringen.

Axel hatte die Abrede getroffen, mit Lucile zwischen vier und sechs Uhr
eine Spazierfahrt nach einem der südlich gelegenen Vorwerke zu
unternehmen.

Er sah nach der Uhr. Die Zeit war gekommen. Er mußte sich hinaufbegeben.

Noch in solchem inneren Zwiespalt befangen, begab er sich, vorher die
Briefe in seiner Brusttasche bergend, zu Lucile, bestieg mit ihr das
beide bereits erwartende Gefährt und kutschierte, es selbst lenkend, aus
dem Schloßhof hinaus.

Und als sie dann jenen Weg erreicht hatten, den Axel damals bei seiner
Ankunft beschritten, trat plötzlich Imgjor aus dem Hause desselben Alten
heraus, der Axel an jenem Mittag das Gepäck getragen hatte. Ein kalter
Blick traf beide, als sie sie freundlich vom Wagen herab grüßten.

Nach dem Ball hatte sich Imgjor nicht mehr unten sehen lassen. Sie nahm
die Mahlzeiten in ihrem Zimmer ein, sie war gegenwärtig mit einer im
Gewahrsam befindlichen, ihres Schicksals wartenden Persönlichkeit zu
vergleichen.

Auch an jenem Abend war sie, zum Verdruß all' der jungen Herren, die sie
wie Planeten umkreisten und um ihre Gunst zu werben suchten, nicht
wieder zum Vorschein gekommen.

„Wenn ich mir diese ganze Angelegenheit überdenke,“ hub Lucile an,
„will's mir nicht wie Wirklichkeit, sondern wie ein Roman erscheinen.
Meine Schwester ist nicht meiner Mutter Kind! Mein Vater führt die
Entlarvung ihrer Geburt herbei! Ich sehe die Möglichkeit, Imgjor
wirklich zu verlieren, sie hinausgehen zu sehen in die Welt als
Predigerin des Umsturzes, zugleich als Frau eines Prestö, eines
rachsüchtigen Fanatikers, eines Unwürdigen! Heute zweifeln Sie doch auch
nicht mehr daran, daß der Mensch ein solcher ist, Graf Dehn?“

Zunächst wich Axel Luciles Fragen noch aus. Er wünschte einen anderen,
ruhigeren Ort zu erreichen, um Lucile Mitteilungen zu machen. Erst als
sie das Vorwerk erreicht hatten und sie hier in einen altmodisch
bestellten, hinter dem Wirtschaftshaus befindlichen Garten traten, sagte
er nach schicklicher Einleitung:

„Ich möchte Ihnen etwas sagen, Komtesse! Ich möchte Sie bitten, mir zu
raten —“

Und dann eine von Ulmen eingefaßte Höhe besteigend und Lucile zum
Niedersitzen auf einer hier befindlichen Bank auffordernd, berichtete er
ihr, nachtragend, nicht nur von dem Gespräch, das zwischen ihm und
Imgjor am Ballabend stattgefunden hatte, sondern auch von dem, was heute
im Dorf geschehen war.

Seinem Vortrage hörte Lucile mit größter Spannung zu, und währenddessen
verrieten ihre Mienen nichts anderes, als ein sachliches Interesse.

Als Graf Dehn aber die Frage aufwarf, ob es zur möglichen
Wiedergewinnung und Umkehr Imgjors nicht Pflicht sei, den Inhalt der
Briefe zu untersuchen, schüttelte sie den Kopf mit einer Miene, in der
ausgedrückt war, daß sie den bloßen Gedanken schon nicht begreifen
könne.

Aber noch etwas anderes kam in einem deutlich erregten, Luciles
sonstigem ausgeglichenem Wesen nicht entsprechendem Tone zum Vorschein.

„Sind Sie denn noch immer nicht kuriert, Graf Dehn? Ich sollte denken,
daß Ihnen nach solchen Erklärungen doch der Geschmack vergehen und —
pardon — Ihr Selbstgefühl Sie zurückhalten sollte, um meine Schwester zu
werben! Sie wissen, wie ich über Imgjor, die ich auch ferner als mir
zugehörig ansehe, denke. Mein Urteil über sie hat sich nicht verändert
und kann sich nicht ändern, aber daß Sie beide nach all' diesen
Vorgängen nicht für einander passen, daß Sie ebenso unglücklich werden
würden, wie sie es mit Prestö sicher wird, erscheint mir ganz
zweifellos.“

Graf Dehn wurde durch diese Sprache sehr betroffen, so betroffen, daß er
nicht einmal zu einem ausgleichenden, seine Empfindungen klarstellenden
Gegenwort gelangte.

Was er sich bei früherer Gelegenheit wieder aus dem Sinn geschlagen, war
in ihm diesmal zur Gewißheit geworden: Ein eifersüchtiges Interesse für
seine Person hatte Lucile sprechen lassen! Aber er sagte sich auch, daß
er eine große Thorheit begangen habe, sie abermals in seine Pläne
einzuweihen, ja, daß er, da es geschehen, fortan auf Rankholm — ohne
Luciles Freundschaft — einen unhaltbaren Stand haben werde.

Unter solchen Gedanken suchte Graf Dehn vergeblich nach einem Ausgleich.

Seiner Neigung und seinen Entschlüssen untreu zu werden, weil ein
anderes weibliches Wesen ihn deshalb verurteilte, konnte nicht einmal
Gegenstand seiner Ueberlegung sein.

Freilich hatte sich auch inzwischen wieder in Lucile eine Wandlung
vollzogen.

Sie, die Stolze, die ihre Hand nur nach einer Fürstenkrone hatte
ausstrecken wollen, bereute, sich so vergessen, sich so vor ihm
bloßgestellt zu haben. Sie mußte deshalb darauf bedacht sein, ihm so
rasch wie möglich die Eindrücke zu nehmen, die sie aus ihrer von ihrem
Herzen gedrängten Unvorsicht in ihm hervorgerufen hatte. Niemals sollte
er ein Recht haben, zu glauben oder gar zu behaupten, daß sie sich ihm
genähert, durch ihre Haltung um ihn geworben habe. Mit diesem
Augenblick, den er nicht benutzt hatte, ihr wenigstens einen Brosamen zu
gewähren, erstickte sie mit ganzer Kraft ein für allemal ihre Gefühle
für ihn, zwang sie sich, ihrer Natur aber auch insofern zu gebieten, als
sie ungerechte oder gar feindliche Gesinnungen gegen den Mann, der sie
verschmäht hatte, nicht aufkommen lassen wollte.

Infolgedessen sagte sie, sich zu äußerster Sachlichkeit auch im Ton
zwingend:

„Mißverstehen Sie mich nicht, Graf Dehn! Wir würden an sich alle sehr
glücklich sein, wenn Sie uns durch eine Verbindung mit Imgjor so nahe
wie möglich rückten, wenn unseren bereits vorhandenen, warmen
Beziehungen noch dieser Stempel aufgedrückt würde. Ich habe Sie nur in
ihrem Interesse warnen wollen, nicht einem Phantom nachzujagen. Wenn
Imgjor Ihnen dennoch ein Jawort geben würde, Sie vor schweren
Enttäuschungen zu behüten. Ich will trotz meiner Ansichten, wenn Sie es
wünschen, dennoch Ihre Verbündete sein. Nur stehen Sie davon ab, in
solcher Weise den Knoten lösen zu wollen! Das, eben das würde eine
Imgjor mit ihrem sein ausgeprägten Gerechtigkeitssinn Ihnen nie
verzeihen. Es ziert Sie nicht. Nur einen Weg gäbe es — und daß wir ihn
beschritten haben, müßte ein unverbrüchliches Geheimnis zwischen uns
bleiben. Wir könnten Imgjor die Briefe zustellen. Sie mag dann thun, was
ihr gutdünkt.“

Durch diese Worte wurde Graf Dehnaufs angenehmste berührt. Während er
sich schon der kummervollen Befürchtung hingegeben hatte, daß sie ihm
seine Zurückhaltung mit Feindseligkeit lohnen werde, baute sie Brücken
zu ihm, die von neuem von ihrer Klugheit, ihrem Takt, ihrer Erziehung
und ihrer vornehmen Gesinnung Zeugnis ablegten.

Aber deshalb ward er auch gedrängt, nichts Unklares mehr zwischen
ihnen bestehen zu lassen, auch seinerseits zu festen, guten
Freundschaftsbeziehungen durch offene Bekenntnisse beizutragen.

„Ich danke Ihnen, danke Ihnen von ganzem Herzen, Komtesse,“ hub er an.

„Und gestatten Sie, daß ich auf alles, was Sie berührt haben, eine
freimütige Antwort erteile. Unter normalen Verhältnissen würde mir
wahrlich niemals auch nur der Gedanke kommen, ein Schriftgeheimnis zu
verletzen. Ich betrachte es, gleich Ihnen, als ein Vergehen. Aber wir
dürfen, wo es sich um die Wohlfahrt eines uns nahegehenden Menschen
handelt, um ein Wesen, daß wir in dem Sinne lieben, daß wir unser
eigenes Leben ihm opfern würden, Anschauungen und Bedenken, die sich uns
sonst durch unsere Grundsätze aufdrängen, nicht aufkommen lassen. Wie im
Kriege niemand die äußerste List verwerflich finden wird, um den Feind
zu bezwingen, so giebt's Lebensverhältnisse, wo Gewohnheitsanschauungen
zurücktreten müssen.

Ein Mann wird ein junges Mädchen nicht plötzlich umfangen und an sich
pressen. Aber wenn es ins Wasser stürzt und die Fluten über ihm
zusammenschlagen, hat der Retter das Recht zu einer solchen Berührung.

Also die Umstände entscheiden über die Handlungen. Die Dinge sind eben
das, wozu jene sie machen und was wir durch unsere Auffassungen in sie
hineinlegen.

Ich sage das alles, weil ich gerade von Ihnen — die meinem Herzen nach
Imgjor am nächsten unter den Frauen auf der Welt steht — verzeihen Sie
mir diese offene Sprache! — nicht falsch beurteilt werden will.

Und dann noch eins: Mich treiben mein Mitgefühl und meine Pflicht. Sie
stehen mir über der Sicherheit, dadurch gerade alles, was ich wünsche,
begraben zu müssen.

Mein Herz zittert schon, wenn ich denke, daß dieses schöne, edle, nur
falsch beratene Mädchen unglücklich werden, daß sie einst weinen und
schluchzen, daß ihre Seele in Nöten liegen könnte, daß ihr wirklich die
fürchterliche Enttäuschung würde, die ich fürchte. Ein Mensch, wie
Prestö, wird sein Weib, wenn es sich ihm nicht willenlos unterordnet,
knechten, gar mißhandeln! Ich stelle mir vor, daß er solches thun
könnte, und mein Inneres schwillt unruhvoll auf in grenzenloser Sorge
und Mitleid um sie. Ich kann's nicht ändern. Ich liebe sie mit heißer
Zärtlichkeit, und eben diese meine Liebe läßt mich handeln. Ich danke
Ihnen im übrigen für Ihre Zustimmung. Vielleicht können wir die Briefe
in ein Kouvert stecken, es mit verstellter Hand überschreiben und Imgjor
zustellen.“

Aber Lucile bewegte bei diesem Vorschlag die Schultern und zeigte eine
zweifelnde Miene. Er gefiel ihr nicht.

„Nein, ich möchte anders raten, lieber Graf,“ hub sie an. „Was Sie
vorschlagen, kann einen Verdacht auf Personen lenken, die
gänzlich unschuldig sind. Das Verfahren kann auch dem Postboten
Unannehmlichkeiten bereiten. Ich meine so: Ich gehe zu meiner Schwester,
sage ihr, daß Briefe für Prestö mit in unsere Post geraten seien, und
überlasse es ihr, durch Oeffnen ihr Schicksal zu entscheiden oder sich
zu bescheiden. Freilich ist auch das nicht ganz der Wahrheit
entsprechend, aber wir handeln so am ehrlichsten.“

„Ja, so ist es gut, so ist's noch besser, Komtesse! Auch dafür danke
ich Ihnen!“ stieß Graf Dehn belebt und einen Blick ehrerbietiger
Bewunderung auf das junge Mädchen richtend, heraus.

„Immer entscheiden Frauen richtig!“

Ungleich beugte sich Graf Dehn auf Luciles Hand herab und drückte einen
Kuß darauf. Und Lucile schoß, obschon sie dagegen kämpfte, ein Blutstrom
in die Wangen, und sie zitterte heftig.

Sie liebte den Mann, und sie litt, weil er sie verschmähte, schwere
Qualen.

       *       *       *       *       *

Wieder saßen sie alle abends im Schlosse Rankholm beisammen, und
abermals war von nichts anderem die Rede als von Imgjor.

Und jetzt beschäftigte sie ausschließlich der Inhalt der Unterredung,
die zwischen dem Grafen Knut und Prestö stattgefunden hatte. Jetzt eben
erhob sich nach sehr lebhaften Erörterungen Graf Lavard und sagte,
zugleich diese Gelegenheit zu einem Bekenntnis ergreifend:

„Gewiß! Als ich neulich Imgjor in solcher Weise begegnete, riß mich der
Zorn hin, und im Zorn traf noch niemand das Rechte. Aber ich erkläre
auch jetzt aufs Entschiedenste nochmals, daß ich auf meinen Bedingungen
beharre. Also das, lieber Graf, ist meine, durch nichts zu
erschütternde Antwort. Und Herrn Prestö nochmals oder jemals überhaupt
wieder zu empfangen, lehne ich definitiv ab! Und nun, liebe Merville,
bemühen Sie sich zu Komtesse Imgjor hinauf und bitten Sie sie, zu
erscheinen. Sie soll hören, was ich zu erwidern habe, und ich will nun
gleich ihr letztes Wort vernehmen —“

Aber jetzt erlaubte sich Graf Dehn auf den Grafen einzusprechen.

Indem er sich der vollen Kunst seiner Gewandtheit bediente, bat er ihn
inständig, heute noch keine Entscheidung zu treffen, Imgjor noch eine
größere Frist zu gewähren. Er wisse, daß erst in diesen Tagen Imgjor
Aufklärungen über das Verhältnis Prestös zu seiner bisherigen Braut
empfangen werde. Imgjor sei deshalb noch gar nicht in der Lage, eine
bejahende oder verneinende Antwort zu erteilen. Und zum Grafen Knut
gewendet, den immer noch ein Interesse für Prestö beherrschte, und der
solches auch bei dieser Gelegenheit an den Tag gelegt, fragte er:

„Hat Ihnen Prestö nicht auch dergleichen gesagt, Herr Graf? Oder hat er
behauptet, daß seine Beziehungen zu seiner Braut völlig gelöst seien?“

„Nein und ja,“ entgegnete der Graf. „Es war dies der einzige Punkt, der
mich etwas stutzig machte. Er entgegnete auf meine Frage, ob er Komtesse
Imgjor unter allen Umständen heiraten wolle, daß er darauf heute nicht
antworten könne. Ohne Zustimmung der Eltern sie aus dem Hause zu reißen,
widerstrebe doch seinem Empfinden —“

„Ah — ah — oder vielmehr seiner habsüchtigen Seele!“ fiel Graf Dehn
verächtlich ein.

„Also eine Hinterthür läßt er sich doch offen! Wahrlich, Sie handeln
lediglich in Komtesse Imgjors Interesse, wenn Sie, ihr jeden
Vermögensanspruch verweigern zu wollen, vorgeben, Herr Graf —“ hier
wandte sich Axel an den Hausherrn. „Ich möchte jetzt beinahe einen Eid
darauf ablegen, daß Prestö selbst zurücktritt.“

       *       *       *       *       *

Im Rankholmer Schloß lagen, wie früher erwähnt, die dem täglichen
Gebrauch dienenden Gesellschaftsgemächer nach der Parkseite hinaus. Im
Flügel zur Linken, wo im Zwischenturm Imgjor wohnte, dehnten sich die
Festräume, und im Flügel rechts, ebenfalls mit dem Ausblick nach
Kneedeholm, befanden sich die Privatzimmer des Grafen.

Als Lucile in der Absicht, Imgjor die Briefe von Prestös Braut
einzuhändigen, vor dem Abendessen aus ihrem Zimmer trat, gab ihr der ihr
begegnende Frederik auf ihre Frage, ob sich die Komtesse auf ihrem
Zimmer befinde, die Antwort, daß sie nach Tisch das Schloß verlassen
habe und noch nicht zurückgekehrt sei. Aber während Lucile nach
Frederiks Entfernung noch unschlüssig dastand, tauchte gerade Imgjor,
welche die Haupttreppe von der Schloßhofseite her emporgestiegen war,
auf dem Flur auf. Sie begrüßte Lucile durch eine kurze Verneigung des
Kopfes, wandte sich dann aber sogleich, ohne Anrede, dem Korridor zu.

„Ich möchte dich gern sprechen, Imgjor!“ hub Lucile, sich Imgjor
nähernd, an.

„Wenn's dir genehm ist, treten wir in mein Zimmer — Ich bitte —!“

„Was ist denn?“ fiel ihr Imgjor in einem müden Ton in die Rede. „Willst
du mich auch belehren, Lucile? Es ist besser, du stehst davon ab! Ich
kann dir und euch allen jetzt keine Antwort erteilen. Jedes Sprechen ist
nutzlos. Heute werde ich Prestö sehen, und von dem Ausfall seiner
Erklärungen ist die abhängig, welche ich euch geben werde.“ — Und dann
in einem veränderten Ton: „Ach — glaube mir, Lucile — ich leide! Ich
nehme die Dinge nicht leicht, ich bestehe einen schweren Kampf. Aber ich
kann doch nicht anders!“

Und dann brach sie in ein stilles Weinen aus — auch lehnte sie sich
plötzlich — des Ortes nicht achtend — an Luciles Brust.

„Komm, Imgjor, meine Imgjor! Nicht hier! Tritt zu mir herein! Wir wollen
dort weitem reden. Ah — ah — wie du fassungslos bist! Arme, liebe
Seele!“

Unter solchem Zuspruch zog Lucile Imgjor ins Wohngemach, hieß sie dort
sich ans Fenster setzen, rückte gleichfalls einen Stuhl herbei, ergriff
der noch immer heftig Schluchzenden Hände, hielt sie fest und sah ihr
liebevoll in die Augen.

„Ich bitte dich —“ redete sie auf sie ein — „sprich dich einmal
ordentlich aus! Sieh mich an als deinen besten Freund! Wahrlich,
Imgjor, ich denke nichts anderes als dein Glück. Aber sei gerecht! Thust
du nicht selbst alles, um es zu verscherzen?“

„Ich muß so handeln, wie meine Natur es verlangt, Lucile! Ja, wenn's
etwas Schlechtes wäre! Ich will aber doch nur Gutes. Und daß ich den
Doktor liebe, kann ich dafür? Man folgt seinem Trieb und Herzen, und
soviel man auch Vernunft zu Hilfe nimmt, man vermag ihrer Gewalt nicht
zu widerstehen. Was ich will, sagte ich dir: Ich will Prestö nochmals
auffordern, mir die Beweise zu geben, daß er frei ist. Ich will ihn
fragen, ob er auch dann zu mir halten will, wenn mich Papa verläßt. — In
allen Fällen reise ich, wenn er es erlaubt, mit euch nach Kopenhagen.
Wer weiß, ob sich mein Schicksal nicht bereits heute entscheidet. Ich
bin — plötzlich — selbst — irre — geworden. — Vielleicht liebt er mich
gar nicht — wollte er nur mein Geld — wie all' die anderen —“

Abermals brach die Stimme, abermals kürzten Thränen aus den Augen des
schönen Mädchens.

Die Rinde, die sich um ihr Herz gelegt hatte, war geborsten.

Nun, in diesem Augenblick glich sie einem bedrückten Kinde, das ganz
Gefühl ist, das nach Trost und Hilfe sehnsüchtig verlangend die Hände
ausstreckt. Die Starrheit, der Trotz, der unbeugsame Wille waren
gebrochen.

Und da schien denn Lucile der Augenblick gekommen, um mit ihren Plänen
hervorzutreten.

Indem sie Imgjor zärtlich in die Arme nahm, sagte sie:

„Höre, Imgjor, was ich dir sagen wollte, und lasse mich dir
wiederholen, wie wir alle übereinstimmend denken: Papa wird dir
keinerlei Hindernis in den Weg legen, auch in Ankunft dein edles
Menschentum zu bethätigen. Er will nur nicht, daß du dich in den Dienst
jener Beglückungsideen stellst, die er und die alle Ruhigdenkenden als
verderbliche betrachten. Von Prestö haben wir sämtlich, auf unsere
Eindrücke gestützt — ich wiederhole dir's — die ungünstigste Meinung.
Die Unterredung zwischen ihm und Graf Knut ist resultatlos verlaufen.
Papa will sich auf nichts einlassen. Dich nun also zu überzeugen, daß
Prestö deiner nicht wert, halten wir für unsere Pflicht und Aufgabe.
Unsere Liebe diktiert unsere Schritte. Ich bin zufällig in den Besitz
von Zuschriften gelangt, die Prestös Braut an ihren Verlobten gerichtet
hat. Sie sind durch den Briefträger zwischen unsere Postsachen geraten.
Das junge Mädchen heißt doch Ingeborg Jensen, nicht wahr?“

„Ja — ja — gewiß! Allerdings! Und du hast diese Briefe? Und du hast sie
gelesen?“

„Nein, Imgjor, ich habe sie nicht geöffnet. Ich fand sie, wie gesagt,
und nahm sie an mich und behielt sie, da ich den Namen Ingeborg Jensen
aus Kopenhagen als Absenderin darauf vermerkt fand. Auch das trifft zu,
nicht wahr? Sie ist doch in Kopenhagen?“

Imgjor rückte den Oberkörper und nickte. Ihre Hände aber griffen, indem
sie die Frage Luciles stumm bestätigte, nach den Schriftstücken. —

„Sieh', Imgjor, wenn du sie öffnet, so wirst du erfahren, wie die Dinge
liegen; du wirst wissen, ob Prestö dich täuschte — oder ob er wenigstens
in diesem Punkte ehrlich war. Ich rate: Lies sie und darnach entscheide!
Mir ahnt es — diese Probe wird dich heilen!“

Zunächst gab Imgjor keine Antwort. Nur Laute der Erregung drangen aus
ihrem Munde.

„Also doch — doch — in Kopenhagen, und mir sagte er —“ stieß sie gegen
ihren Willen heraus. Dann prüfte sie, ihre Thränen trocknend, das
Kouvert und den Absendervermerk und sagte nach kurzem Nachdenken fest:
„Nein, Lucile, niemals werde ich fremde Briefe öffnen! Wenn ich mich
solcher Mittel bediene, bin ich der Freundschaft eines Ehrenmannes nicht
wert. Ich halte Prestö auch jetzt noch für einen solchen, wenn er auch
vielleicht um seiner Liebe, um der höheren Zwecke willen, mir mehr
beschwichtigende, als wahre Erklärungen gegeben hat. Vielleicht wußte
er's selbst nicht besser; vielleicht glaubte er, daß seine Braut nicht
mehr in Kopenhagen sei.

Aber ich will etwas anderes thun: Ich will ihn auffordern, die Briefe in
meiner Gegenwart zu öffnen und mir vorzulesen.

Ist er der, für den ich ihn halte, entspricht ihr Inhalt dem, was ich
voraussetze, so wird er keinen Augenblick zögern, meiner Aufforderung zu
entsprechen. — Sträubt er sich aber — nun so —“ Sie unterbrach sich,
richtete den Blick geradeaus und schluchzte:

„O, lieber Gott, erlöse mich doch von diesen fürchterlichen Zweifeln!
Zeige mir den rechten Weg!“

Und wieder innehaltend und Lucile mit einem traurigen Blick anschauend,
sagte sie:

„Nicht wahr, Lucile, du liebst den Grafen Dehn? Ich bitte dich, schenke
mir dein Vertrauen, sei auch du so aufrichtig, wie ich es in dieser
Stunde gegen dich gewesen bin!“

„Weshalb befragst du mich darum, Imgjor?“

„Weil ich diesen Mann niemals heiraten werde, ihn aber doch für so
wertvoll halte, daß ich ihn dir von ganzem Herzen gönne. Nähere dich
ihm, suche sein Herz! Ich will dir dadurch helfen, daß ich entweder
Prestös Gattin werde oder mich euch für immer entziehe. Mir bleibt dann
ein anderer, herrlicherer Bräutigam. Mein Bräutigam soll —“ hier flammte
des Mädchens Auge begeistert auf — „auch ferner die leidende Menschheit
sein! Kann ich nicht im Großen wirken, so will ich ein Freund, ein
Retter, ein Helfer der verschämten Armen, der vielen Elenden und Kranken
werden. Ich will zu denen mich begeben, von denen ich ausging. War mein
Vater ein Mann aus dem Volke, sank er, — einer von den Tausenden, welche
Elend und verkehrte Erziehung auf Abwege führten —, so will ich
versuchen, meine gleich bedrängten Mitmenschen vor Gleichem zu bewahren,
will als Kind meiner Eltern in solcher Weise ihre Fehler nach Kräften
sühnen. Ich weiß, der gerechte und barmherzige Schöpfer wird mir
zulächeln, wird meine That mit Erfolg krönen! Und ich bitte dich,
Lucile, gieb mir Antwort auf meine Frage: Liebst du Axel Dehn —?“

Einen Augenblick zögerte Lucile noch. Sie schob den Kopf zurück und
drängte die Lippen zusammen. Dann sagte sie:

„Nun wohlan, Imgjor: Ja, ich liebte ihn! Aber er hat mich nicht gewollt,
mich gar zurückgewiesen. Und das vergißt eine Lavard nie! Verschmähst du
ihn — ich habe seit dem heutigen Tage für immer auf ihn verzichtet —“

Imgjor sah Lucile an und forschte in deren verschlossenen Zügen.

Blässe war auf ihre eigenen Wangen getreten. Es blieb unentschieden, was
sie dachte, wie die Worte Luciles auf sie gewirkt hatten. Bevor sie sich
aber trennten, umarmte sie ihre Schwester in heftiger Bewegung, neigte
sich zu ihr und küßte sie wie ein Mensch, den das Uebermaß des Gefühls
verhindert, zu reden.

       *       *       *       *       *

Am nächsten Spätnachmittage empfing Imgjor, im Einverständnis mit ihrer
Mutter, den Doktor Prestö im Wegwärterhäuschen.

Heute eilte sie ihm nicht entgegen. Sie saß, das Haupt auf die Hand
gestützt, am offenen Fenster und starrte hinaus. Einer bemerkte sie,
Graf Dehn. Wissend, daß heute die Zusammenkunft mit Prestö stattfinden
werde, hatte er sich nach einem vorhergegangenen Spaziergang dahin
begeben, und sah Imgjor dort sitzen. —

Prestös Eintritt entriß sie ihren trüben Gedanken. Unruhig ging's durch
ihre Glieder, ihr Herz klopfte stürmisch. Sie wußte es, daß jetzt die
Entscheidung kommen würde.

Aber in Prestö war bereits alles gefestigt. Das unbedacht geschlossene
Bündnis wieder zu lösen, beschäftigte ihn allein.

Graf Knut hatte ihm einen Brief gesandt. Durch dessen Inhalt war er
belehrt worden, daß Imgjor nichts zu erwarten habe, daß ihm die Zukunft,
hielt er an ihr fest, eine unerträgliche Last aufbürden werde.

In solcher inneren Verfassung hatten beider Mienen etwas äußerst
Unfreies. Prestö knüpfte sogleich an die Zeilen des Grafen Knut an. Er
erzählte ihr, was sie schon von Lucile wußte, und gab sich sehr
bedrückt.

„Was ist uns Geld und Gut, wenn wir einigen Herzens sind, Erik!“ fiel
Imgjor ein.

„Gewiß, den großen Zielen, die wir verfolgen wollen, ist ein Hemmschuh
angelegt. Aber es bleibt uns das lebendige Wort für die Sache, dadurch
für das große Werk zu wirken, es zu fördern!“

„Wirst du aber gegen den Willen der Deinigen dich aufraffen können,
Imgjor? Wird dir nicht die Reue kommen? Alle Brücken brichst du hinter
dir ab! Hier in Kneedeholm können wir nicht bleiben. Ich muß erst einen
neuen Wirkungskreis suchen, wieder einen Erwerb finden. Dann erst können
wir an eine Verbindung denken. Was willst du in der Zwischenzeit
beginnen? Wir sollen beide leben! Ich bin ohne Mittel! Deshalb betonte
ich die Notwendigkeit, deinen Adoptivvater wenigstens zur Herausgabe
eines Bruchteils seines Vermögens zu bewegen. Nach des Grafen Knut
Bericht wird er sich dazu nicht verstehen. Was aber soll dann werden?“

Imgjor hatte Prestö mit starrem Ausdruck zugehört. So kalt, so nüchtern,
so voller Bedenken hatte er gesprochen, so gefühllos das alles
vorgebracht! So ganz anders hatte nun, da sie ein armes Geschöpf war,
ärmer als irgend eine Bauerstochter in Kneedeholm, seine Rede gelautet!
Statt der bisherigen stürmischen Worte, statt des zärtlichen Flehens,
statt der Beteuerungen und Bitten, ihm zu folgen, ihm zu glauben und zu
vertrauen, alles leicht zu nehmen, nur ihr künftiges Glück und die
großen Ziele ins Auge zu fassen — saß nun ein feiger Schwächling ihr
gegenüber. Ach, noch weit mehr! Und diese furchtbare Erkenntnis trieb
ihr das Blut gegen das ohnehin erregte Herz.

Jedes Wort hatte die Absicht verraten, sie so rasch wie möglich wieder
von sich abzuthun, rückgängig zu machen, was er hundertfältig beteuert
hatte.

Dennoch beschloß sie, zu ihrer völligen Heilung den Becher auszukosten.

Sie sprach, sich zur Fassung und zu einem freundlichen Gleichmut
zwingend:

„Ich denke anders als du, Erik! Liebe kennt keine Berge und Abgründe.
Sie überwindet alles. Ich würde jegliches geduldig auf mich nehmen,
wüßte ich mir dadurch den Sieg zu erringen. Aber du bist nicht frei, es
sei denn, daß der Inhalt dieser Briefe —“ hierbei zog sie die
Zuschriften seiner Braut hervor — „Klarheit in deine Angelegenheit
bringt.“

Nachdem sie dies vorausgesandt, auch gleich eine Erklärung hinzugefügt
hatte, auf welche Weise sie in den Besitz der Schriftstücke gelangt sei,
bat sie ihn, sie zu öffnen und den Inhalt vorzulesen.

Mit Augen, die nur zu deutlich seine ungeheure Verwirrung verrieten, sah
Prestö auf die beiden Briefe. Aber ebenso rasch umspielte ein
verächtlich überlegener Zug seine Lippen.

„Das ist gar nicht Ingeborgs Handschrift. Sicher hat ein Schuft irgend
ein Bubenstück ersonnen, darauf berechnet, deine Meinung über mich irre
zu führen! Und ein sehr plumpes ist es zudem, da diese Briefe von
Kopenhagen adressiert sind, während meine Braut, wie ich dir sagte, gar
nicht mehr dort ist, sondern sich irgendwo in Frankreich befindet.“

Im ersten Augenblick wurde Imgjor bei dieser sicheren Sprache stutzig.
In ihrem Herzen wollte es noch einmal aufkeimen; der niederschmetternde
Eindruck seiner kühlen Sprache von vorhin wich, eine selige Hoffnung
bemächtigte sich ihrer. Aber dann sah sie ihm wieder ins Angesicht, und
was sie darin erblickte, das belehrte sie ebenso rasch eines anderen.

Er öffnete, da er sich durch ein Erheben unbeobachteter glaubte, mit
derselben Unruhe, die sie vorher an ihm wahrgenommen, einen der Briefe,
und sie sah in seinen Zügen ein jähes Erschrecken schon beim Lesen der
ersten Zeilen.

Und da kam ihr ein Entschluß!

Durch eine zutraulich gelassene Miene von ihm die Erlaubnis zum Studium
des Schreibens erzwingend, löste sie das Kouvert, nahm das mehrere
Seiten umfassende Schriftstück heraus und durchflog den Inhalt.

Und als sie dann die Lektüre beendet hatte und in demselben Augenblick
Prestö, die Komödie fortsetzend, in Worten der Empörung über den Grafen
Dehn ausbrach, sprang Imgjor, ihrer Empfindungen nicht mehr Herr, empor
und richtete einen von Verachtung erfüllten Blick auf den Mann.

„Genug, genug! Nicht noch mehr des fürchterlichen Spiels der Lüge und
der Vernichtung meines Herzens!“ brach's aus ihrem Munde hervor. „Füge
der Schändlichkeit der doppelten Untreue, der Berechnung und unlauteren
Gesinnung, füge der Entwürdigung deiner selbst nicht noch eine neue
hinzu! — Wisse denn: Diese Briefe sind keine Fälschungen! Den Betrug,
die Verworfenheit begingst du, indem du ihre Echtheit leugnetest! Das,
was hier geschrieben steht, was durch die Thränen eines fürchterlichen
Schmerzes fast verwischt wurde, ist das unverfälschte Produkt der
Zuckungen einer verratenen Seele. Dennoch hätte ich dir das vergeben,
dennoch wäre ich friedlich von dir geschieden, dennoch wärest du ohne
Vergeltung durchs Leben gegangen, wenn du nicht jetzt, in dieser heilig
ernsten Stunde, mit solcher Larve mich zu betrügen, auf andere einen
Verdacht zu werfen gesucht hättest. Das war die Handlung einer
niedrigen, erbärmlichen Natur. Das und deine zögernde, bedenkliche
Sprache von vorhin, beweisen mir, daß du nichts anderes warst und bist,
als ein berechnender Egoist, ein Komödiant, daß du alles und jegliches,
Liebe für mich und Enthusiasmus für die großen Ideen nur heucheltest, um
mein Geld an dich zu bringen! So, und nun gehe! Was dir werden soll,
werde ich überlegen! Nach deinem Verhalten werde ich das Maß abmessen!“

Aber was Imgjor erwartete, geschah nicht.

Statt Erschütterung oder gar Zorn an den Tag zu legen, bewegte Prestö
den Kopf und machte eine Miene, als ob eine arme, kranke Irre soeben
geredet habe.

„Wenn Sie glauben, daß Sie sich in mir getäuscht haben, Komtesse Lavard,
so bin ich noch weit mehr enttäuscht. Auf bloße Eindrücke hin fällen Sie
Urteile und bedienen sich gegen einen Ehrenmann einer Sprache, die, wäre
sie aus dem Munde eines Mannes gedrungen, nur hätte durch den Degen die
verdiente Zurückweisung erfahren können. Ich hielt Sie für ein edles
Wesen. Ihre gelegentlichen Schroffheiten betrachtete ich als das
Unvermögen, der Entrüstung über die die Welt erfüllenden
Ungerechtigkeiten Herr zu werden, als ein Ergebnis Ihres zielbewußten,
von Grundsätzen getragenen Charakters. Was soll mir im ehelichen
Zusammenleben werden, wenn Sie jetzt schon eine solche Sprache führen,
wenn Sie so wenig Ihr Ich zu beherrschen vermögen? Ich wiederhole, daß
diese Briefe nicht von meiner ehemaligen Braut geschrieben wurden. Ich
erhebe dafür die Hand zum Schwur. Das sage ich nicht zu meiner
Rechtfertigung — ich habe mich nicht zu rechtfertigen — sondern um
meinen Entschluß zu begründen, dennoch auf Ihre Hand zu verzichten. Die
Stellungnahme des Herrn Grafen macht ohnehin — ich wiederhole früher
Gesagtes — vor der Hand eine Verbindung unmöglich. Wenn ich alle
Stationen mit Ihnen auch durchmessen wollte, ich sehe, daß wir scheitern
müssen, weil die Macht, der Einfluß und das Geld, jene Gewalten, die ich
hasse und seit meiner Jugend schon bekämpft habe, zu mächtig sind. Diese
Scene aber hat mich belehrt, daß Sie eine andere sind, als ich mir
gedacht habe. Ohne Vertrauen, ohne Mäßigung ist ein Bündnis ein Unding.
Es war eine Prüfung, es war ein Versuch, der gegen Sie ausschlug. —
Leben Sie wohl! Ich trage Ihnen nichts nach. Sollten Sie aber auf Ihren
leidenschaftlichen Vergeltungsplänen beharren, so darf ich Ihnen ins
Gedächtnis zurückrufen, daß ich kein Knabe bin, daß ich mit einem
irregeführten weiblichen Wesen leicht fertig werde!“

Nach diesen Worten wollte sich Prestö entfernen. Aber sie, die ihm
zugehört und dagestanden, als ob sich ihr Körper in Stein verwandelt
habe, sagte nach tiefem Atemholen:

„Waren diese Briefe nicht von Ihrer Braut, so sind Sie von dem Vergehen
dieser Vorspiegelung entlastet! Ich glaube Ihnen aber nicht und werde
forschen. Eine andere Hand mag sie geschrieben haben, der Inhalt stammt
von ihr. Behalte ich aber recht, spielten Sie auch diese Komödie, die
mit Liebesschwüren begann, auf Lüge sich weiter baute, und die Sie nun,
weil meine Armut Sie enttäuschte, noch eben wieder in plumpester Art
erneuerten, indem Sie sich den Mantel der Unschuld umhängten und die
plötzliche Erkenntnis meines Unwertes als Vorwand nahmen — so will ich
Gott anflehen, daß Sie Ihre Strafe dafür finden mögen! So, und nun
ersuche ich Sie, sich zu entfernen! Dies ist mein Gebiet und mein Heim!
Noch heute schließe ich gegen Sie meine Thür und mein Herz. Sie haben
alle Rechte an Imgjor, genannt Imgjor Lavard, verloren, aus diesem Spiel
davongetragen nur ihre Verachtung und — waren Sie ganz ein Schurke —
ihren Haß!“

So endete Imgjor, die Hand ausstreckend; und er, der Mann, der noch vor
wenigen Tagen erklärt hatte, daß nie einer ein weibliches Wesen so
selbstlos geliebt habe, daß ihm das Leben nichtig und wertlos ohne
ihren Besitz sei, verließ, kalt verächtlich auf sie herabblickend, das
Gemach. —

       *       *       *       *       *

Da Imgjor in den letzten Tagen ihrer Familie fern geblieben war,
erschien's nicht auffallend, daß sie sich auch an dem dieser aufregenden
Scene folgenden Tage zurückhielt.

Sie war erst gegen Morgen in einen durch seelische Erschöpfung
geförderten langen, bleiernen Schlaf gesunken, und als sie um die
Mittagsstunde erwachte, war ihr Gemach erfüllt von leuchtendem
Herbstsonnenschein.

Aber mit dem Wiedereintritt in die Welt der Wirklichkeit stürmten auch
die schweren Gedanken auf sie ein, und von der Erinnerung an das am
vergangenen Tage Geschehene überwältigt, starrte sie vor sich hin.

So war denn nun das Band zwischen ihr und jenem Manne dennoch und
endgiltig zerrissen; so hatte doch der recht behalten, der sich gegen
ihren Willen in ihr Leben gedrängt hatte! Noch mehr: Alle hatten recht
behalten, und so rasch hatte sich die Prüfung der Unwürdigkeit Prestös
vollzogen, daß zunächst nur der schamvolle Gedanke sie beherrschte,
ihrer Umgebung die Thatsache zu verheimlichen.

Plötzlich war alles anders geworden.

Die Enthüllung ihrer Geburt hatte sie belehrt, daß sie geringere Rechte
besaß als Lucile, in der sie eine Schwester zu sehen sich gewöhnt hatte.
Plötzlich war sie eine nur Geduldete da, wo sie bisher das Lavardsche
Scepter geschwungen.

Ihrer Pflegemutter hatte sie sich demütig unterzuordnen, statt ihr wie
bisher mit stummer oder offener Auflehnung zu begegnen. Da sie sich
verdeutlicht hatte, mit welcher Selbstentäußerung diese an ihr, dem
Adoptivkinde, gehandelt, verwandelte sich ihre Minderachtung in
Hingebung und Bewunderung. Aber gerade aus all diesen Ursachen und weil
sie ein heftiges Unmutsgefühl gegen ihren Pflegevater ergriffen, deshalb
sich ihrer bemächtigt hatte, weil sie sich sagte, daß er einer Lucile
niemals so hart, so grausam begegnet sein würde, daß nur _ihr_ das
geworden, weil er sie als eine Halbwürdige betrachtete — verstärkte
sich in ihr der Entschluß einer Trennung von den Ihrigen.

Zudem vermochte sie sich durch eine andauernde Entfernung von der
Familie der Gefahr zu entziehen, dem Werben des Grafen Dehn dennoch zu
unterliegen. Ihr Stolz verbot ihr, ihm je zu zeigen, daß sie etwas für
ihn empfand. Sie wollte eine Liebe zu dem nicht aufkommen lassen, der
sie sein Uebergewicht in solcher Weise hatte fühlen lassen.

Auch war ihre Begeisterung für die große Sache trotz der gemachten
Erfahrungen nicht vermindert. Diese Erfahrungen mußten sie, wie sie sich
sagte, nur von neuem belehren, wie sehr den Besitzenden zu mißtrauen
sei.

Die Armen und Elenden würden sie niemals enttäuschen, und wenn doch, so
verdienten sie lediglich Mitleid, weil ihnen die Erziehung nicht wie
jenen geworden, weil ein zarteres Empfinden ihnen erst eingeflößt werden
müßte.

Sie wollte in ihren Pflegevater dringen, ihr eine Freiheit zu gewähren,
in der sie wenigstens im Kleinen ihre Menschenliebe zu bethätigen
vermochte, sie wollte ihn zwingen, sie abzulösen von Verhältnissen, die
ihrer Natur zuwiderliefen. Sie wollte nicht in Prunkgemächern wohnen,
sie wollte keine Genüsse, keine kostbaren Gewänder und Vergnügungen. Sie
wollte überhaupt keinen Ueberfluß, sondern ein auf Arbeit und
hilfreiches Menschentum gerichtetes Leben. Sie erstrebte Beschäftigung
mit edlen Dingen, mit der Natur und den feineren Regungen des
Menschengeistes.

Und Kopenhagen, die Großstadt, erschien ihr als der rechte Ort dafür.

Dort wollte sie wohnen, um es zunächst kennen zu lernen, und dazu war
jetzt, wo die Abreise vor der Thür stand, die beste Gelegenheit geboten.
Zuvor aber wollte sie noch völlige Klarheit über das zu erlangen suchen,
was zwischen der Gegenwart und der für sie dunklen Vergangenheit lag.

Unter solchen Erwägungen wurde geklopft, und Lucile trat zu ihr ins
Wohngemach.

„Nun, meine liebe Imgjor,“ hub Lucile an und umarmte ihre Schwester
sanft, „wie ist's verlaufen? Lasse uns unser Vertrauen fortsetzen! Mache
mich glücklich und sage mir, daß du Prestö nach Einsicht in die Briefe
den Bescheid erteilst hast, den wir alle herbeisehnen!“

In Imgjor erhob sich bei diesen Worten ein schwerer, innerer Kampf.

Sie sollte von ihrem Thron herabsteigen, sie sollte gestehen, daß ihre
Menschenkenntnis nur allzu winzig, daß ihr stolzes Selbstgefühl nur
allzu unberechtigt gewesen.

Sich seiner selbst zu entäußern, sich seiner Hoheit um der bloßen
Wahrheit, statt um eines Vorteils willen, zu entkleiden, erfordert einen
starken, sittlichen Fond, ein besonders stark entwickeltes Rechtsgefühl.

Imgjor fand das, was ihrer zwiefältigen Natur entsprach. Sie gab der
Wahrheit die Ehre und wahrte ihren Stolz.

Zunächst überwältigte sie allerdings ein machtvolles Gefühl.

Sie warf sich wie jüngst, einem Kinde gleich, an die Brust ihrer
Halbschwester und brach in ein anhaltendes Schluchzen aus.

Dann schob sie den Körper zurück und sagte: „Aus irgend einem Grunde
habe ich mich für eine Lösung meiner Beziehungen zu Prestö entschieden.
Erweise mir darin deine Liebe, Lucile, daß du mich nach den Gründen
nicht fragst. Sei eine Fürbitterin bei deinen Eltern, die auch mir
Eltern waren, daß auch sie die Angelegenheit nicht ferner mehr berühren.
Hilf mir, teure Lucile, daß meine Bitten erhört werden! Ich habe mehr
denn je die Sehnsucht, Rankholm zu verlassen und mich irgendwo, fern von
hier, nützlich zu machen. Will dein Vater mir zu solchen Zwecken keine
Mittel zur Verfügung stellen, so möge er mir wenigstens das gewähren,
was er bisher für meine Ausbildung aufwendete. Fräulein Merville hat
ohnehin die Absicht, in ihre Heimat zurückzukehren. So möge er mir die
für sie verausgabte Summe bewilligen und dieser etwa noch so viel
hinzufügen, daß ich auf eigenen Füßen zu stehen vermag!“

Lucile, die mit glücklichen Mienen zugehört hatte, nickte rasch und
bereitwillig.

„Ich will alles thun, Imgjor! Ich will schon deshalb und in weit
größerem Umfange deine Wünsche befürworten, weil ich hoffe, daß dieser
Austritt ins Leben dich gänzlich heilen wird, daß du einsehen wirst, daß
es kein undankbareres Geschäft giebt, als seine Nebenmenschen ohne ihre
Anforderung glücklich machen zu wollen. Also, das möge dich nicht
bekümmern, Imgjor, und wenn du sonst noch —“

„Ja, noch etwas, Lucile: Bitte deinen Vater, daß er mir die Aufklärungen
über meine Geburt nicht vorenthält. Ich muß jetzt alles wissen —“

Lucile versprach auch das. Dann warf sie zögernd hin:

„Und Graf Dehn, was wird's mit ihm?“

Imgjor preßte die Lippen zusammen. In ihren Augen erschien ein Ausdruck
von Schmerz und Trotz, durch dessen Einwirkung sich die Lider
unwillkürlich schlossen. Und dann sprach sie in einem unbeugsam kalten
Ton:

„Sage ihm, daß ich auch ferner darauf verzichten muß, in eine engere
Berührung mit ihm zu treten und daß eher über Nacht das Rankholmer
Schloß im Walde von Mönkhorst emporsteigt, als daß ich sein Weib werde!“

       *       *       *       *       *

Ueber zwei Jahre waren seit diesen Ereignissen verflossen, als an einem
kalten, nebligen Märzmorgen eine wie eine barmherzige Schwester
gekleidete junge Dame den Weg in die Kopenhagener Vorstadt Oesterbro
nahm. In ihren Augen lag jener Verzicht auf irdisches Glück, jene milde
Ruhe und sanfte Ergebung, die nur in den Gesichtern derer beobachten,
welche sich dem Werke der Barmherzigkeit gewidmet und vielleicht die
Hoffnung auf das, was ein Frauenherz bis zu einem gewissen Alter noch
erfüllt, zwar nicht völlig aufgegeben haben, deren Erfüllung aber mit
den gleichen Augen betrachten, mit denen der Erfahrene irgend einem
Zufall vertraut.

Sie können so existieren; sie finden Befriedigung in der
Pflichterfüllung, sie sehen die dankbaren Blicke der Kranken auf sich
gerichtet, sie finden den köstlichsten Lohn, der einem Menschen durch
seine Thätigkeitstreue werden kann, in der Wiedergenesung ihrer
Pflegebefohlenen. —

Vor einem alten, großen Dreieckhause mit vielen kümmerlichen Fenstern
und schiefen Mauern hemmte sie den Schritt, bog in einen neben diesem
befindlichen Gang ein und öffnete die Thür eines hinten auf dem
schmutzigen Hofe befindlichen Nebenhäuschens.

Seine Räume bestanden aus einer winzigen Vorder- und Hinterstube, die
einem alten Ehepaar als Wohn-, Schlafzimmer und Küche dienten. Vorn in
dem Wohnzimmer, das nichts anderes enthielt, als ein paar karge Vorhänge
vor den Fenstern, einen Tisch, eine Kommode, einen Ofen und einen alten
Lehnstuhl, saß in letzterem eine erblindete, alte, hilflose Frau, und
jetzt eben verdunkelte ein solcher erstickender Petroleumdampf das
Gemach, daß Imgjor Lavard, wie sie auch ferner noch vor der Welt hieß,
unwillkürlich zurückprallte.

„Um's Himmelswillen, Frau Ohlsen, was haben Sie denn gemacht?“ stieß
Imgjor beunruhigt heraus. Gleichzeitig öffnete sie die Fenster und ließ
frische Luft hereindringen.

„Was ist denn? Was ist denn?“ tönte der Alten Stimme zurück.

„Merken Sie es nicht? Das Zimmer ist voll Rauch. Sie hätten ja ersticken
können!“

„Ich hab' mir was Warmes gemacht. Ich fror so schrecklich. Ich hab' dann
die Maschine wohl zu hoch geschraubt —“

Imgjor nickte, obschon die Blinde sie nicht sehen konnte. Sie ließ auch
diesen Gesprächsgegenstand fallen und fragte mit gewohnter Milde:

„Nun, wie geht's heute, Frau Ohlsen? Haben Sie besser geschlafen?“

„Ein bischen, Fräulein. Heute morgen hab' ich aber wieder so
schreckliche Schmerzen in den Füßen.“

„So werde ich sie wieder einmal einreiben, arme Alte! Nachher, wenn ich
fertig bin, mache ich mich daran!“

Nach diesen Worten entledigte sie sich ihres Hutes und Umhanges und
begab sich gleich einer Dienstmagd an das Reinigen der Wohnung. Sie
fegte aus, sie machte im Schlafzimmer die Betten, sie spülte Geschirr in
der Küche aus. Das alles mußte täglich eine fremde Hand besorgen. Die
blinde Frau konnte nichts thun, da sie, abgesehen von ihrem
Sehunvermögen, ihre Glieder nicht zu bewegen vermochte, und der Mann,
der früh fortging und spät von der Arbeit zurückkehrte, sank, da ihm die
Kräfte für mehr schon fehlten, gleich erschöpft auf sein Lager.

Seit zweiundzwanzig Jahren war die Frau blind. Während dieser Zeit
hatte er für sich und sie nur so viel verdient, daß sie sich notdürftig
hatten satt essen können. Und zu der Blindheit während dieser Jahre
kamen fortdauernd schwere Krankheiten, die Pflege und Aufwartung, die
Arzt und Apotheke erforderlich gemacht hatten. Seit zweiundzwanzig
Jahren war die Alte kaum je aus dem Häuschen gekommen, hatte nichts
anderes gekannt, als Entbehrungen und Schmerzen.

Als Imgjor zum erstenmal in dieses Elend eingegriffen hatte, war die
Wohnung durch Schmutz und Unrat förmlich verpestet gewesen. Die Leute
hatten auf faulendem Stroh gelegen, fast kein Gegenstand war ganz
gewesen. Erst neuerdings hatte Imgjor die alte Frau aus einer
Lungenentzündung herausgepflegt, und was diese Krankheit erforderte, aus
ihren Mitteln hergegeben. —

Nachdem Imgjor ihr tägliches Werk vollbracht hatte, sagte sie:

„Frau Ohlsen, ich habe jetzt gerade mehr Zeit. Ich will Ihnen nun jeden
Spätnachmittag etwas vorlesen. Wollen Sie es hören?“

„O gewiß, mein liebes, gutes Fräulein,“ entgegnete die alte Frau mit
dankbarer Betonung. „Was ist es denn?“

„Etwas Ernsthaftes, Gutes, Frau Ohlsen. Sie werden gewiß Vergnügen daran
finden —“

„Ja, danke, danke, liebes Fräulein. Wie gut sind Sie gegen mich! Gott,
wenn ich so denke, wie Sie uns geholfen und immer wieder geholfen, mich
arme, hilflose Person in meiner Krankheit gewartet und gepflegt haben,
dann möchte ich schon glauben —“

„Nun, meine gute Alte?“

„Daß Sie gar kein Mensch, daß Sie ein Engel sind, von Gott in die Welt
gesandt, um die Menschen glücklich zu machen.“

„Ach nein! Ich bin kein Engel, meine gute Alte,“ entgegnete Imgjor mit
einem trüben Lächeln. „Ich bin ein Mensch wie Sie. Das eben befähigt
mich ja, Sie zu verstehen, Ihnen ein wenig zu helfen. Nur wer eigenes
Leid erfahren hat, vermag mit seinen leidenden Mitmenschen zu fühlen.
Und so, wie Sie, giebt es viele Kranke und Bedürftige in dieser großen
Stadt, denen, weil sie noch nicht ganz mittellos, noch nicht ganz elend
und verlassen sind, keine öffentliche Unterstützung und keine
Krankenpflege zu teil wird. Ich bin immer der Meinung gewesen, daß es
die Aufgabe sei, das Traurige durch rechtzeitiges Eingreifen abzuwenden.

Wahrhaftig, wenn unseren Vorstandsdamen so zu handeln gelehrt würde,
dann würden die Armen- und Krankenhäuser nicht so überfüllt sein, wie
sie es sind; es würden weniger Menschen zu Verbrechern und Selbstmördern
werden; das allgemeine Elend würde weniger groß sein. Da giebt es ein
weites, brach liegendes Feld für eine erfolgreiche Betätigung der
Nächstenliebe.

Und dieses Arbeitsfeld habe ich für mich erwählt. Ich suche zu helfen,
wo ich kann und so weit es in meinen Kräften steht. Des Elends ist ja so
viel auf Erden!“

„Ja, ja, liebes Fräulein. Wenn sie alle so dächten und so handelten,
wie Sie! Aber so — Na, es muß aber auch ein schönes Gefühl für Sie sein,
so geliebt zu werden und so viel Dank zu ernten.“

„Dank?“ entgegnete Imgjor bitter im Ton. „Ich habe ihn nie erwartet und
kaum gefunden, wohl aber Undank, Neid, Mißgunst und üble Nachrede. So
habe ich mich allmählich äußerlich zu einer kühlen Haltung gezwungen, zu
einer fast rauhen Art. Ich unterdrücke die Regungen meines Herzens, mein
Mitleid, die Rührung und die Thränen über die häufig entsetzliche Not.
Ich thue es schon deshalb, weil die Menschen solche Weichheit garnicht
verstehen. Wenn ich nur nicht auch noch verunglimpft werde, wenn sich
der Undank nur nicht in noch Schlimmeres verwandelt, bin ich schon froh.
Eben jetzt ist wieder etwas geschehen, was die gemeine Gesinnung mancher
Personen zu Tage treten läßt, etwas, das auch in mir den Entschluß zur
Reise gebracht hat, diesmal meiner Empörung Ausdruck zu verleihen.“

Nach diesen fast ebensosehr an sich selbst gerichteten Worten und nach
Ausführung der von ihr versprochenen Hilfsleistung verabschiedete sich
Imgjor von der Alten und nahm den Weg in einen anderen Teil der
Vorstadt. Dort wohnte eine Witwe, eine Wäscherin, mit ihrer Tochter,
welche letztere unter Imgjors Pflege viele Wochen im Krankenhause
gelegen und sich für deren Aufopferung dadurch bedankt hatte, daß sie
einen empörende Verleumdungen gegen Imgjor enthaltenden Brief an den
Hauptarzt gerichtet hatte.

Nachdem Imgjor zwanzig Minuten gegangen war, gelangte sie an eine
unsaubere, von vielen kleinen Kindern bevölkerte und zum teil noch
unbebaute Straße. In der Mitte der Gasse — einem zurückliegenden, von
einem großen Garten umschlossenen Hause gegenüber — befand sich eine
Branntweintaberne, und an diese lehnte sich ein kleines, verfallenes,
auch noch aus früherer Zeit stammendes Gebäude, in dem die Witwe Holm
mit ihrer Tochter und einer Stieftochter wohnte.

Der Unfriede zwischen Imgjor und Thora Holm, der früheren Kranken, war
dadurch entstanden, daß jene auf das herz- und gemütlose Geschöpf, das
seiner Stiefschwester sehr roh begegnet war, bessernd einzuwirken
gesucht hatte. Auch als Thora das Hospital verlassen, hatte Imgjor sie
nochmals eindringlichst vermahnt, ihrer alten Mutter fortan eine bessere
Tochter zu sein, zu arbeiten und ordentlich zu werden. Die Leute litten
Not, und Imgjor hatte ihren Ermahnungen die Erklärung hinzugefügt, daß
sie nur dann materiell etwas für sie thun wolle, wenn Thora für die
Erfüllung der gestellten Forderungen Beweise geliefert habe.

„Die Grevinde,“ wie Imgjor von der gesamten Bevölkerung in Kopenhagen
schlichtweg genannt wurde, war wegen ihrer Wohlthätigkeit bekannt, und
selten wendete sich jemand an sie, ohne Hilfe zu erhalten.

Der Ingrimm, daß Imgjor ihr die Wahrheit gesagt, der Aerger, in ihrer
Erwartung auf eine Unterstützung getäuscht worden zu sein, hatten Thora
Holm zu der Denunciation veranlaßt. Daß sie und keine andere das
Schriftstück abgefaßt hatte, war erwiesen. Es störte Imgjor, daß sie den
Hauptarzt, mit dem sie um diese Zeit hier ein Zusammentreffen verabredet
hatte, noch nicht erblickte. In seiner Gegenwart wollte sie die Person
zwingen, ihre Perfidien zurückzunehmen und um Verzeihung zu bitten.

Aber während sie noch unschlüssig verharrte, drangen aus dem offenen
Hause der Witwe jammernde Wehrufe. So markerschütternd trafen die Laute
Imgjors Ohr, daß sie förmlich zusammenfuhr. Indessen beendete dieses
Erschrecken auch ihr Zögern. Blitzschnell eilte sie vorwärts, betrat das
Haus und wurde hier Zeuge einer wahrhaft entsetzlichen Scene.

Die Frau, ein starkknochiges, rothaariges Weib, und Thora, in einem
schlumpigen Rock, mißhandelten im Flur die Stieftochter der Frau.

Während Thora die Unglückliche mit der einen Hand an den Haaren gepackt
hielt und ihr mit der anderen in unbarmherziger Rohheit den Kopf
bearbeitete, bediente sich das alte Weib einer ledernen Riemenpeitsche
und brachte ihrem Stiefkinde auf diese Weise blutige Striemen auf dem
ohnehin verletzten Körper bei.

Im Nu war Imgjor unter ihnen, riß der Alten den Arm herab, stieß Thora
zur Seite und stellte sich, nachdem das mit ebenso großer Kraft wie
Furchtlosigkeit geschehen war, mit drohend gebieterischer Miene vor den
beiden Megären auf.

„Ah, ihr Furien!“ entrang es sich ihrer vor Empörung keuchenden Brust.

In demselben Augenblick eilten auch schon von dem Geschrei
herbeigezogen, Gäste aus der Taberne herbei, und diese drängten, von
Imgjor laut und energisch ermuntert, die sich eben zum Kampfe gegen die
Verteidigerin rüstenden, sich wie tobsüchtig geberdenden Weiber hinten
in den Flur zurück.

„Die Grevinde! Die Grevinde!“ hatten die Hereindrängenden einander
zugerufen und sie nahmen auch in der Folge gegen die Holm und ihre
Tochter Partei.

Freilich geschah's nicht aus irgend welchem Mitleid für die Mißhandelte,
auch nicht aus einer Abneigung gegen die beiden Holms, sondern lediglich
unter dem Gesichtspunkt, daß ihnen ihr Eintreten nicht unbelohnt bleiben
würde.

Aber es wurde Imgjor auch noch andere Hilfe. Den Knäul teilend, erschien
der Arzt, Doktor Stede, und hinter ihm tauchte der in diesem Viertel
stationierte Polizeiofficiant auf.

Im Nu erfolgte dann auch eine Verständigung zwischen jenen und Imgjor,
und ebenso rasch machte sich letztere zur Herrin der Situation.

„Ich danke euch, Leute, daß ihr mir beigestanden habt. Und hier, hier
ist Geld! Teilt es euch —“ rief sie, einen dänischen Speciesthaler dem
mitanwesenden Wirt übergebend. „Aber nun entfernt euch! Ich habe etwas
mit der Familie zu verhandeln, was nicht für eure Ohren ist.“

Und das Kind, das sich zitternd neben ihr aufgerichtet, mitleidig an
sich ziehend und dann dem Polizeiofficianten zum Schutz übergebend,
befahl sie der Wäscherin und ihrer Tochter, ins Wohngemach zu treten.

Trotz ihrer feindseligen Mienen mußten sie sich fügen, und nachdem sie
sich aufgestellt, ergriff Imgjor das Wort und hielt der Verleumderin
ihre Infamien vor.

„Sie haben die Wahl —“ schloß Imgjor — „alles als erfunden zu bezeichnen
und mich hier vor diesem Herrn um Verzeihung zu bitten, oder gleich dem
Polizisten zu folgen. Auch auf Verhaftung Ihrer Mutter wegen Mißhandlung
der Tochter werde ich dringen. Also reden Sie! Daß Sie den Brief
geschrieben, hat Ihr früherer Verlobter, der Wärter Vessel, ausgesagt —
—“

Das Mädchen, eine üppige Blondine, preßte die Lippen zusammen, verzerrte
den Mund und antwortete nicht. Auch die Mutter verharrte in trotziger
Auflehnung.

„Niemand hat ein Recht, in mein Haus zu dringen und sich in meine
Angelegenheiten zu mischen!“ erklärte sie. Sie habe Verhöre nur vor
Richtern zu bestehen, und deren Untersuchungen würden ergeben, daß ihre
Tochter den Brief nicht geschrieben, daß sie zur Züchtigung ihrer
Stieftochter berechtigt gewesen, weil diese sie in frecher Art bestohlen
habe.

Der Schlußsatz wurde allerdings durch Widerspruchsworte unterbrochen,
die sich aus dem Munde des weinenden Kindes lösten.

Sie habe nichts genommen. Sie sei unschuldig! Aber Thora, die sie
beschuldigt, sei's gewesen. Sie habe gesehen, wie diese die Kommode
geöffnet und das Geld herausgenommen habe.

Freilich folgte dieser Rede wiederum ein maßloser Wutausbruch von Seiten
der Schwester. Sie flog auf das Kind zu und erhob unter Schimpfworten
die Faust gegen deren Angesicht. Nur durch ein Dazwischentreten des
Polizisten ward eine abermalige Züchtigung verhindert.

Aber gerade dieser Zwischenfall verschlechterte die Sache der Familie
Holm.

Dem Polizeiofficianten, einem energischen Mann, riß die Geduld. Er
befahl Ruhe und sofortigen Frieden und die von der Komtesse geforderte
Erklärung.

„Widersprechen Sie nicht, thun Sie, was von Ihnen verlangt wird! Sonst
nehme ich Sie und Ihre Mutter sofort mit. Sie stehen schon lange auf dem
Kerbholz wegen anderer Sachen!“

Nun änderte die Alte plötzlich ihre Haltung.

Nach allerlei Redensarten gab sie zu, daß sie wohl etwas zu heftig
gewesen sei, und was Thora anbelange, so könne die sich ja nun mal
garnicht im Zaum halten. So sei es wohl möglich, daß sie sich habe
verleiten lassen, einen solchen Brief zu schreiben, und wenn sie es
gethan habe, so solle so etwas nicht wieder vorkommen. Die Komtesse möge
Gnade für Recht ergehen lassen —

„So sagen Sie: Ich habe die Komtesse Lavard zu Unrecht beschuldigt. Ich
nehme alles zurück, bereue und bitte, mir zu vergeben!“ stieß Imgjor,
ihre Blicke auf das gemeine Geschöpf richtend, heraus.

Noch kämpfte die Person, dann aber, von ihrer Mutter nunmehr durch
Blicke und Worte ermuntert sprach sie eine halblaute Entschuldigung.

In Imgjor aber regte sich das Gefühl der Empörung in vollstem Umfange.

Das war also die Menschheit, der sie sich opferte! Faulheit, roheste
Leidenschaft und Mangel an Dankgefühl und jeder besseren Regung traten
ihr nur zu oft entgegen, und hier eben hatte sie wieder ein solches
Beispiel vor Augen.

Waren da nicht erst ganz andere Aufgaben zu lösen? Mußte nicht erst mit
einer inneren Erziehung begonnen werden?

Nachdem sie zum Einverständnis, daß sie befriedigt sei, stumm das Haupt
bewegt, sagte sie, zu der Alten gewendet:

„Ich werde Ihre Stieftochter mitnehmen! Ich will sie prüfen, und ist sie
so viel wert, wie ich hoffe, so will ich künftig für sie sorgen.“

Nach diesen Worten erfaßte sie des selig aufhorchen den Kindes Hand und
richtete einen auffordernden Blick zum Gehen auf den sich ihr
ehrerbietig zur Verfügung stellenden Arzt.

Und im Nu knixte und dienerte das faule, alte Weib. Nun wußte sie nicht
genug die Tugenden des Stiefkindes zu rühmen. Sie sagte zu allem ja,
machte sich auch noch im letzten Augenblick schmeichelnd an Imgjor heran
und bat, ihre fürchterliche Not klagend, um Unterstützung. Sie küßte den
Saum des Kleides der Komtesse, als diese unter der Erklärung, sie sage
nicht nein, müsse aber Zuwendungen von ihrer und ihrer Tochter
künftigen Haltung abhängig machen, mit den übrigen das Haus verließ.

Als der Nachmittag gekommen war, saß Imgjor schon wieder in dem kleinen
Zimmer der Blinden, las ihr nach ihrer Zusage zum erstenmal vor und war
glücklich, als sie sah, daß jene ihr voll Interesse zuhörte.

       *       *       *       *       *

Es war am folgenden Vormittag um die elfte Stunde, als Imgjor die Räume
des großen Kopenhagener Krankenhauses und zunächst das Gemach des
dirigierenden Arztes betrat, um mit ihm Rücksprache wegen einer Kranken
zu nehmen.

Nachdem das geschehen, sagte Doktor Stede, ein Mann mit ernsten Zügen
und einem milden Ausdruck in den von einer goldenen Brille beschatteten
Augen:

„Sie wollen uns, wie ich höre, Ihre wertvolle Hilfe im Krankenhause
entziehen, Komtesse? Haben die letzten Vorfälle Anlaß dazu gegeben?“

„Nein! Wie kommen Sie zu dieser Vermutung Herr Doktor?“

„Eine unserer Schwestern, Elise, hatte davon gehört und sprach mir davon
—“

„Elise hat schon häufig Gerüchte über mich verbreitet, die erfunden
waren, Herr Doktor. Ich muß ihr sehr im Wege stehen. Und doch trete ich
ihr nirgends in den Weg — Wahrlich, dieses Treiben —“

Imgjor sprach's mit starker Auflehnung im Ton, fuhr aber, ihre Erregung
ebenso rasch wieder abstreifend, gelassen fort:

„In der nächsten Zeit werde ich nicht so häufig kommen können, Herr
Doktor. Meine Familie trifft heute ein und wird einige Zeit im
Rankholmer Palais Wohnung nehmen. Ich vermag mich ihr nicht ganz zu
entziehen. Ueberdies hat sich meine Schwerer verlobt, und es werden
einige kleine Feste stattfinden, an denen meine Angehörigen wünschen,
daß ich teilnehme —“

„Ich bedaure natürlich außerordentlich, daß wir Sie entbehren müssen,
aber ich freue mich, daß Sie sich einmal Ruhe gönnen, Komtesse. Es wird
Ihnen eine solche Ablösung sehr gut thun.“

Imgjors Lippen umspielte ein trauriges Lächeln.

„Nein, Herr Doktor, für mich wäre es weit besser, wenn ich dort keine
Ablenkung fände. Vielleicht wäre es sogar das Richtigste, daß ich
Kopenhagen ganz verließe —“

„Wie? Also Sie tragen sich doch mit solchen Gedanken? Die ganze Stadt
würde es als einen unersetzlichen Verlust betrachten, wenn der Engel
unter den Menschen, wenn die Komtesse Lavard Kopenhagen verließe.

Haben Sie den Artikel gelesen, der soeben über Sie in einer deutschen
Zeitung erschienen ist? Die Berlinske Tidende hat ihn heut' morgen in
einer Uebersetzung gebracht.“

„Ein Artikel über mich?“ fragte Imgjor betroffen. „Was enthält er? Dem
Sinne Ihrer Worte nach zu urteilen, nichts Ungünstiges, aber jedenfalls
eine Unschicklichkeit. Wie wenig giebt meine Thätigkeit Anlaß, darüber
etwas und noch dazu öffentlich zu sagen!“

„Sie sind allzu bescheiden, Komtesse — Die ungewöhnliche Erscheinung,
daß sich ein Mitglied der höheren Stände in solcher Weise freiwillig
seiner Bequemlichkeit entäußert, ist für die Welt Grund genug, sich
damit zu beschäftigen. Darf ich Ihnen den Artikel besorgen?“

„Ich danke, nein, Herr Doktor! Es ist besser, daß ich dergleichen
garnicht lese. Es macht mir nur noch mehr Gedanken. Ich habe deren schon
so viele und solche, die mich nicht erheben —“

„Sie sind noch so jung, Komtesse, und Sie sind schon so ernst, so trübe
in Ihrem Sinn?“

„Ich bin es, aber nur insofern, als ich die ungeheure Schwierigkeit
erkenne, mein Vorhaben in Thaten umzusetzen. Ich möchte gern im Großen
wirken und sehe, daß ich schon im Kleinen überall stolpere.“

„Und was wäre, wenn die Frage gestattet ist, Ihr Ideal? Welche Absichten
verfolgen Sie?“

„Ich möchte helfen, die Menge von dem Druck der allgemeinen Not zu
befreien und das Los der arbeitenden Klasse gründlich zu verbessern.“

„So bekennen Sie sich also auch zu den sogenannten „neuen“ Ideen? Sie
überraschen mich!“

„Kann ein gerechter, guter Mensch, kann ein wahrhaft christlicher Mensch
anders denken, Herr Doktor?“

„Nein und ja, Komtesse. Die Ziele sind zu weit gesteckt.

Man soll nur Mögliches erstreben wollen, nur Dinge, die sich mit den
Vorgängen in der Natur decken. Wir sind ihre Produkte, sie ist unsere
Lehrerin, sie bietet uns alle Beispiele für unsere Handlungen.“

„Schon einmal hörte ich fast ganz dieselben Worte. Seltsam —“ Imgjor
ließ das Haupt sinken und starrte träumerisch vor sich hin. Aber da in
diesem Augenblick geklopft ward, wurden die Sprechenden unterbrochen.

Der Doktor richtete noch einige verbindliche Worte an Imgjor, und sie
selbst lenkte, nachdem sie ihm leicht und unbefangen die Hand gereicht,
ihre Schritte in einen der Siechensäle.

In diesem befanden sich Kranke, deren spezielle Sorge Imgjor übernommen
hatte. Augenblicklich waren es solche, die sich bereits in der Besserung
befanden. Dann schlief Imgjor in ihrer Wohnung, erschien auch nur zwei
oder dreimal am Tage.

Nur in schweren Fällen blieb sie ganz im Hospital und übernahm auch die
Nachtwache. Ihr Verhältnis zum Krankenhaus war ein durchaus
freiwilliges, während die übrigen Schwestern sich streng an die
Hausvorschriften zu halten hatten.

Auf dem Korridor begegnete Imgjor der Schwester, die von ihr behauptet
hatte, daß sie ihre Thätigkeit hier aufgeben wolle.

Imgjor neigte ernst das Haupt zum Gruße; jene erwiderte die Höflichkeit
kalt und wollte ohne Wortaustausch vorüberschreiten.

Nun hielt Imgjor sie auf und redete sie an.

„Ich bitte, Fräulein, einen Augenblick. Ich höre soeben, daß Sie
abermals eine Erfindung über mich ausgestreut haben. Ich muß wirklich
sehr dringend bitten, daß Sie sich mit Ihren eigenen Angelegenheiten
beschäftigen. Ich schließe aus Ihrer Lästersucht eine Starke Mißgunst.
Daß sie in Ihnen emporsteigt, vermögen Sie wohl nicht zu ändern, aber
ich sollte meinen, Sie müßten sich äußerlich im Zaum zu halten wissen,
und jedenfalls — ich wiederhole meine Worte — wünsche ich von Ihren
eifersüchtigen Launen nicht ferner berührt zu werden.“

„Ich eifersüchtig auf Sie?! Nun, da wären Sie wirklich die letzte,
Fräulein von Lavard! Und was liegt denn vor? Mir ist erzählt, daß Sie
hier keine Schwesterdienste mehr versehen wollen! Ich wüßte nicht, daß
darin etwas Ehrenrühriges liegt. Sie nehmen einen Ton an, als ob ich
Ihnen wunder was angethan hätte und ich muß Sie meinerseits noch
dringender ersuchen, daß Sie ihn ändern. Sie sind nicht meine
Vorgesetzte —“

„Sie wissen sehr gut, daß ich mit meinen Vorwürfen recht habe. Ihre
Heuchelei verschlimmert nur noch das Geschehene. Sie haben mich schon
wiederholt verleumdet, man hat es mir unaufgefordert, voll Empörung
mitgeteilt. Schwieg' ich trotzdem, so war's die Verachtung über solches
Geschwätz. Jetzt will ich aber ein Ende haben! Man könnte wirklich
glauben, es sei eine Spur von Wahrheit darin. Auch gestern habe ich ein
Exempel statuiert, und ich werde damit fortfahren!“

Die Züge der Schwester Elise verzogen sich hämisch.

„Sie sprechen, als ob Sie ein Oberstaatsanwalt seien. Ich sage Ihnen
nochmals, daß Sie sich mit Ihrem Eifer an eine falsche Adresse wenden.

Ich habe auch besseres zu thun, als mich mit Ihnen zu beschäftigen. Ich
habe andere Gegenstände für meine Gedanken, als die Komödiantin Fräulein
Lavard!“

„Ah! Wie niedrig! Und Sie wollen eine Dame sein. Sie gehören zum Adel
des Landes und würdigen Ihre eigene Standesgenossin herab, indem Sie ihr
solche Dinge sagen, indem Sie geflissentlich sogar ihren Namen
entstellen? Ich bin weder Fräulein Lavard, noch Fräulein von Lavard,
sondern für Sie und jedermann Komtesse Lavard!“

„Nun dann sind Sie auch nichts Besonderes, umsoweniger, als die Spatzen
von den Dächern pfeifen, daß Ihre Mutter nichts anderes war, als eine
Dir —“

Aber die Schwester Elise kam nicht weiter. Blitzschnell erhob Imgjor,
von Schmerz und Entrüstung übermannt, die Hand, sie zitterte für
Sekunden in der Luft. Und dann standen die beiden Gegnerinnen einander
gegenüber, als ob nur der Tod über das Schicksal des einen oder anderen
entscheiden könne. In demselben Augenblicke aber erschien zufällig die
Oberin, und die Schwester Elise stürzte so gleich auf diese zu und goß
einen Schwall von Verleumdungen und lügnerischen Anschuldigungen über
Imgjor und deren Benehmen aus.

Und wiederum gab Imgjor mit stolzer Ruhe Antwort und forderte nach
Erörterung des Vorgefallenen die Entfernung der Schwerer Elise.
Anderfalls werde sie gehen!

„Ich darf Sie ersuchen, ins Konferenzzimmer zu treten. Wir werden dort
weiter und in Ruhe reden! Ich muß erst klarer in der Sache sehen, ehe
ich meine Entscheidung treffe, Komtesse Lavard!“ entgegnete die Oberin,
die nichts lieber wünschte, als daß die ihr sehr unbequeme Imgjor, die
keinerlei Mängel durchgehen ließ, vielmehr stets Unregelmäßigkeiten und
Pflichtversäumnisse zur Anzeige brachte, das Krankenhaus verließ.

„Warum noch reden!“ betonte Imgjor kalt. „Es unterliegt doch keinem
Zweifel, wer ein Recht hat, sich zu beklagen!

Ich muß darauf bestehen, daß endlich die Sumpfquellen verstopft werden,
aus denen die Verleumdungen gegen mich fließen. — Klagen über Fräulein
Elise erheben sich von allen Seiten und auch in anderer Richtung. —

Anfangs der Woche hat sie der Witwe Romö, aus bloßer persönlicher
Antipathie, die Hilfe verweigert. Es wäre wohl nicht so schlimm, hat sie
gesagt! Die arme Person hat einen bedenklichen Rückfall davon bekommen!
Sind solche Vorkommnisse in einem Krankenhaus erhört?“

„Nun ja, nun ja — es soll alles untersucht werden. Im übrigen will ich
niemanden hindern, seinen Weg zu gehen —“ stieß, statt auf diese Rede
einzulenken, die Oberin äußerst gereizt heraus. „Ich darf Sie also nicht
erwarten, Komtesse?“

„Nein! Ich muß darauf verzichten, Frau Oberin —“ entgegnete Imgjor,
verbeugte sich gemessen, und ging, ohne die giftsprühende Schwester
Elise eines Blickes zu würdigen, von dannen. —

       *       *       *       *       *

Das Rankholmer Palais lag, von einem auf Marmorpostamenten ruhenden,
vergoldeten Gitter umschlossen, mitten in der Adelstraße. Ein
prachtvoller, weißschimmernder Bau mit hoher Aufgangstreppe tauchte
hinter einem großen Vorplatz mit grünem Rasen auf. Zwischen ihnen
befanden sich gepflasterte Fahrwege, und zu Seiten befanden sich die
Stallungen und eine Reitbahn.

Am Abend des nächstfolgenden Tages, an dem sich die vorstehend
geschilderten Scenen abgespielt hatten, war das Palais von oben bis
unten hell erleuchtet. Es schwamm gleichsam in einem Lichtmeer. Von den
mächtigen Treppenkandelabern floß das Licht auf den Vorgarten herab, und
ein zahlreiches Publikum hatte sich auf der Straße aufgestellt, um der
Einfahrt der zahlreichen Equipagen mit ihren livrierten Kutschern und
Dienern beizuwohnen.

An achtzig Personen aus den vornehmsten Kreisen waren Einladungen von
dem Grafen Lavard und seiner Gemahlin ergangen. Es galt, den Bräutigam
von Lucile, den Marquis Armand de Curbière de Ramillon der Gesellschaft
vorzustellen. In Berlin hatte Lucile ihn als Attaché der französischen
Gesandtschaft in einer Hofgesellschaft kennen gelernt, und bei einem
Besuch, den der Marquis der Familie in Rankholm abgestattet, war die
Verlobung zwischen ihnen erfolgt.

Es fehlten noch zehn Minuten vor dem Tischgang, Schon hatte Frederik
wiederholt forschend die Zahl der Gäste gemustert.

Es ließen noch warten der Stadtkommandant, General Baron von Berling,
und — Komtesse Imgjor, die auf das dringende Ersuchen des Grafen ihr
Erscheinen zugesagt hatte.

In verschiedene Gruppen verteilt, standen die Gäste schwatzend umher.
Neben Lucile und neben dem Marquis von Curbière, dem Musterbilde eines
vornehmen, ritterlichen Mannes, stand der Premierminister Graf Niels von
Rosenberg.

Er war klein und korpulent, hatte eine schiefe Schulter und einen
buckligen Rücken, besaß aber einen so ungewöhnlichen Verstand, und aus
seinen grünen Augen sprühte es so streng und gebieterisch, daß sich
unwillkürlich Hoch und Niedrig vor ihm bückten.

Ein leises und lautes „Ah!“ der Bewunderung entrang sich dem Munde der
Gäste, als dann endlich auch Imgjor, gefolgt von dem General von
Berling, einem Mann, der einem spanischen Granden glich und dessen
Brust die Orden kaum fassen konnte, in den Hauptsaal trat.

Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid, dessen eine Hälfte, die linke,
aus zartgefärbter rosenroter, die andere aus schneeweißer Seide bestand.

Um den Hals, dessen schwanenweiße Farbe das Auge entzückte, lag ein Reif
von Diamanten, aus dessen Mitte ein Opal seine roten, blauen und grünen
Blitze schoß; ein ebensolcher Schmuck umschloß die Arme. Das
braunrötliche Haar war empireartig frisiert, und eine durchsichtige,
zarte Randspitze umgab da, wo ihre schneeige Brust sich hob und senkte,
den Saum des ihren vollendet gewachsenen Körper fest und schlank
umfließenden Seidenleibchens.

Als sich Imgjor nach Begrüßung ihrer Eltern und der sich zu ihr
drängenden Gäste nach Lucile und dem Marquis umsah — der Zufall hatte es
gefügt, daß sie den Bräutigam ihrer Schwerer bisher verfehlt hatte —
löste sich gerade Curbière aus der vorhin beschriebenen Gruppe und eilte
mit lebhaften Mienen auf Imgjor zu.

Er stutzte. Ersichtlich ging etwas Ungewöhnliches in dem Innern des
Mannes vor, als er dieses schier unnahbar schöne Geschöpf vor sich sah,
und als sie ihm mit ihrem süßen, zuvorkommenden Blick die Hand
entgegenstreckte.

„Ah! Wie schön Sie sind — Psyche und Juno streiten um den Preis!“
sprang's in höchster Ueberraschung, in französischer Sprache, aus des
gewandten Mannes Munde.

Er war völlig benommen und wurde enttäuscht, als Imgjor in der
gewohnten Auflehnung gegen ihre Schönheit und gegen Artigkeiten einen
gleichgültig verdrossenen Ausdruck in ihren Zügen erscheinen ließ.

„Ah! Sie machen mir solche Komplimente und nennen das größte Juwel Ihr
Eigentum, das Dänemark besitzt?“ sprach sie dann, den Ausdruck des
Mißfallens in ihren Zügen absichtlich noch verstärkend.

Jählings kam's über sie, daß sich der Mann für sie interessiere, sich
ihr zuwendete, sich verlor, obschon er Lucile angehörte. Es war etwas in
seinen Augen aufgeblitzt, das sie ängstigte und dessen Wiederholung sie
durch schroffe Begegnung verhindern wollte. Aber Curbière war ihr
gewachsen. Er fand sich rasch wieder.

Während seinen Mund ein überlegenes Lächeln umspielte, sagte er mit
rascher, kavaliermäßiger Gewandtheit:

„Wie? Sie spielen den Lehrmeister gegen mich aus, Komtesse! Sie vermuten
wohl einen jener Bekehrungsbedürftigen, mit denen Sie sich draußen
beschäftigen. Ich sollte meinen, ich hätte am ehesten da ein Recht zur
Aeußerung der Bewunderung und glaubte am wenigsten da mißverstanden zu
werden, wo es sich um die Schwester meiner Braut handelt!“

„Wie sollte es —“ entgegnete Imgjor unbiegsam — „einem Weltmann wie
Ihnen nicht gelingen, das Uebergewicht zu behalten, gar dem anderen zu
beweisen, daß seine Rede eine Ungeschicklichkeit gewesen sei, Herr
Marquis!“

„Sie halten es also nicht für denkbar, daß Sie sich irren, daß das, was
Sie als eine Ablenkung meiner Gefühle für Lucile bezeichnen wollen — so
ist's doch, Komtesse? — lediglich ein Ausbruch meines stark entwickelten
Schönheitssinns war?

Glauben Sie mir das, Komtesse! Ich bitte darum! — Wenn Sie aber trotz
alledem doch vermeinen, ich sei eines Tadels benötigt, so haben Sie mich
jedenfalls überaus schnell kuriert. Sie haben es verstanden, in mir die
Freude an Ihrem inneren Menschen genügend herabzumindern.“

Nun sah Imgjor betroffen empor. Und als sie dann dem ernst gemessenen
Ausdruck in den Augen ihres künftigen Verwandten begegnete, streckte sie
ihm, von einem raschen Impuls getrieben, die Hand entgegen und sagte mit
dem schönen, bezwingenden, allen Lavards eigenen Freimut in Blick und
Mienen:

„Wohlan! Nach dieser Klärung wollen wir keine mißvergnügten Gegner,
sondern wahrhaft gute Freunde sein! That ich Ihnen Unrecht, verzeihen
Sie mir!

Also, ich bitte, Herr Marquis, ich bitte, lieber Armand!“ schloß sie mit
einem noch bezaubernderen Ausdruck.

Und von dieser ehrlichen Liebenswürdigkeit bezwungen, beugte sich Armand
de Curbière auf Imgjor Lavards Hand herab, küßte sie ehrerbietig und
sagte, obgleich sich ihnen in diesem Augenblick Lucile näherte und schon
von fern eifersüchtig hinüberschaute, laut und mit einem tief
verinnerlichten Blick auf die Schwester seiner Braut:

„Ich danke Ihnen, teure Imgjor! Ich danke Ihnen aus vollem Herzen! Ich
werde Ihnen diesen Augenblick nie vergessen.“

Und nun gab auch Frederik endlich das Zeichen zum Tischgang.

Alle Anwesenden setzten sich in Bewegung, und bald saß die glänzende
Gesellschaft in dem theegrünen Speisesaal, der sich als Hauptzierde des
Palais in einem Flügel des Gebäudes befand, bei köstlich duftenden
Speisen und seltenen Weinen beisammen.

Während des Tafelns warf Lucile, zu ihrem Verlobten gewendet, hin:

„Sieh' einmal, wie Imgjor entzückend ansieht und wie lebhaft sie sich
mit dem jungen Grafen Kilde unterhält.“

Ach, wenn sie sich doch endlich einmal verliebte und damit auch ihren
Menschenbeglückungskittel abthun würde!“

„Ist's möglich! Imgjor hat sich noch für niemanden interessiert?“

„Doch, einmal! Aber das war nur ein Flämmchen, welches ebenso rasch
verglomm, wie's emporgelodert war. Auch spielten andere Dinge mit —“

„Und wer war der Bevorzugte? Wie hieß der Mann, der jedenfalls einen
ganz superben Geschmack besaß?“

„Es war irgend einer! Der Name ist gleichgültig. Es war einer, der ihr
vormachte, daß er auf nichts Anderes sinne, als die Welt von den Fesseln
der Ungleichheit zu befreien. Er verschwand dann und soll sich jetzt in
Amerika aufhalten.“

„Aber Imgjor ist doch sicherlich von Hunderten umschwärmt worden.“

„Ja, fast von allen Männern. Nur einer war ihrer wert. Ein vorzüglicher
Mann: Graf Dehn. Aber auch er zog sich aus ihrem Sonnenkreis fort, wenn
auch aus anderen Gründen. Er liebte sie über alles und wußte sich nur
durch eine Weltreise von seiner Schwermut zu erlösen. Es ist derselbe,
der, wie du auf Rankholm hörtest, demnächst von Italien zurückkehrt und
uns besuchen will —“

„Ah!? Der Lausitzer Graf! Und wirklich ein so vollendeter Mann?“

„Ja, der liebenswertere, vornehmste Mensch, den ich außer dem Marquis
von Curbière kennen gelernt habe.“

„Sehr verbunden, Komtesse Lavard! Aber wissen Sie, daß ich leicht
eifersüchtig zu werden vermag?“ warf Curbière liebenswürdig neckend hin.

Lucile spitzte erst lachend den Mund, dann sagte sie ernst:

„Aber weder in diesem noch in irgend einem anderen Falle wirst du je
dazu Ursache haben! Bleibst du mir ein treuer Kamerad, so hast du bei
mir auf Felsen gebaut. Wir Lavards —“

In diesem Augenblick wurde Luciles Aufmerksamkeit auf ihre Mutter
gelenkt, die so lebhaft mit einem der jungen, zu ihrer Rechten sitzenden
Prinzen des Königlichen Hauses sprach, daß die Laute volltönend zu
ihnen herüberdrangen.

Sie unterbrach deshalb ihre Rede, und Curbière sagte:

„Wie jung, wie schön ist noch deine Mutter! Lucile. Es ist ein Mirakulum
in solchem Alter —“

„Ja, und wie man sie lieben und achten muß!“ fiel Lucile ein. „Ich habe
erst vor einigen Jahren erfahren, welch' eine große, edle Seele sie
besitzt. Sie hatte eine schwere Versuchung zu bestehen, und hat sich
unvergleichlich bewährt.“

Curbière hörte gespannt zu, dann sagte er unvermittelt:

„Und so fest seid Ihr alle? Auch Imgjor?“

Lucile drehte sich rasch zu ihrem Verlobten um. Ohne daß sie sich
Rechenschaft zu geben vermochte, berührten sie seine Worte.

„Weshalb fragst du?“ stieß sie heraus.

„Nun, wie man eben fragt. Aus keinem besonderen Grunde —“

Und da er sah, daß ihre Wangen eine leichte Blässe überzogen hatte,
erhob er das Champagnerglas, stieß mit ihr an und fuhr neckend, mit
zärtlichem Ausdruck fort:

„Also auch meine stolze Königin kann eifersüchtig werden!? Dann sind wir
also quitt, meine liebe, wunderschöne Lucile Lavard!“

       *       *       *       *       *

Eine Lavardsche Equipage hatte eben Imgjor — es war halb drei Uhr
morgens — vor dem Hause das sie seit ihrem Kopenhagener Aufenthalt
bewohnte, abgesetzt. Stumm und ehrerbietig war Robert seiner früheren
jungen Herrin beim Aussteigen behilflich gewesen, und nun schleppte sich
das junge Mädchen, die Brust voll von den widerstreitendsten
Empfindungen, die Treppe hinauf.

Der Prinz und Curbière hatten wiederholt mit ihr getanzt und sich beide
außerordentlich eingehend mit ihr beschäftigt.

Der Prinz war ein Mann von Geist und feinen Manieren, aber nicht ohne
starken Cynismus, Curbière dagegen ein Kavalier von seltener
Gewandtheit, auserwähltem Geschmack und neben scharfem Verstande von
einer Unbefangenheit in der Beurteilung menschlicher Dinge, die Imgjor
in Erstaunen versetzt und außerordentlich angezogen hatte.

Er war ein ganz anderer als der übrige Schwarm der Männer. Lucile hatte
wohl gewußt, was sie gethan hatte! Er ähnelte dem Grafen Dehn, demselben
den sie, Imgjor, aus Trotz und Stolz von sich gewiesen.

Ein schwerer Kampf vollzog sich gegenwärtig in Imgjors Innern.

Ein Wesen von Fleisch und Blut, war auch ihr Herz einmal wieder in
Bewegung geraten! Und gerade der Mann hatte Eindruck auf sie gemacht,
der seine Hand vergeben und den sie — Scham, Reue und Auflehnung gegen
sich selbst flogen in heißen Schauern durch ihre Seele — wegen seiner
Schwärmerei für eine andere so scharf zu tadeln sich unterfangen hatte.

Was sie an ihm so streng gerügt hatte, war nun ihr eigen Teil geworden.
Sie beschäftigte sich in ihren Gedanken mit dem Verlobten ihrer
Schwester.

Allerdings gelangte sie zu einem anderen Ergebnis, als sie sich
vorstellte, sie hätte Curbières Gattin werden können. Dann schob sich
doch die Gewalt des Grafen Dehn in ihre Vorstellungen. Sie erkannte, daß
nur die gewaltsam herabgedrückte Leidenschaft für ihn sich geregt, daß
sie zu Curbière das mit jenem Uebereinstimmende im Wesen hingezogen, daß
ihr Herz unwillkürlich — ihr unbewußt — Nahrung suchend, nach diesem
Ersatz gegriffen habe.

Aber diese Probe hatte sie zugleich belehrt, daß sie sich von den Räumen
der Paläste fern halten mußte. Die Schmeicheleien, die den Sinnen
gebotenen Reize, die parfümierte Atmosphäre wirkten auf sie.

Reine Gedanken, und durch sie die Wiedererlangung der Ruhe ihrer Seele,
mußte sie zurückerlangen.

Hatte sie nicht selbst darauf bestanden, daß man ihr eine Freiheit
eingeräumt, wie sie jetzt sie besaß? Sie war ihr unter schwersten
Kämpfen geworden. Sie hatte geschworen, auf die Liebe eines Mannes zu
verzichten, jedenfalls niemals einem Axel Dehn den Triumph zu gönnen,
das Eingeständnis ihrer Liebe zu hören.

Würde sie sich nicht dem höhnischen Lächeln der wahrsagenden
Besserwisser preisgeben, wenn sie plötzlich ihren Vorfällen wieder
untreu wurde, gar von dem Schauplatz ihrer Thätigkeit zurücktrat?

Sprach man doch in ganz Dänemark von Grevinde Lavard! Man hatte sie
schon mit der heiligen Elisabeth in Deutschland verglichen. Und ihrer
armen, verdorbenen Mutter hatte sie einen stummen Schwur geleistet, sich
der unglücklichen, den Verfluchungen ausgesetzten Frauen anzunehmen!
Sollte sie ihn brechen? Nein, niemals!

Sie preßte gewaltsam alles in sich nieder, was ihre Entschlüsse wankend
machen konnte.

Und zu all' diesen Vorstellungen gesellte sich heute wieder auch die
Erinnerung an Prestö.

Noch einmal war Imgjor ihm begegnet, damals, als sie zur bleibenden
Uebersiedelung nach Kopenhagen unterwegs gewesen.

Sie hatte ihn mit einem jungen Mädchen, sicherlich seiner Braut, auf der
die beiden dänischen Inseln verbindenden Korsörer Fähre gesehen, und da
er sie nicht einmal gegrüßt hatte, waren die Gefühle der Empörung, des
Schmerzes und der Gedanke, jedermann vor diesem gefährlichen Menschen zu
warnen, wieder in ihr aufgestiegen.

Aber gerade das Mädchen an seinem Arm war als ein Engel zwischen ihn und
sie getreten. Ihr Erscheinen hatte alle rachsüchtigen Regungen in Imgjor
erstickt. Ingeborg Jensen hatte ihr damals geschrieben, hatte sie
beschworen, ihrem Verlobten zu vergeben, und ihren flehenden Worten war
Imgjor mit ihrem weichen Herzen erlegen. —

Fast eine Stunde hatte Imgjor schon, in solche Gedanken verloren,
dagesessen. Die Geschmeide hatte sie abgethan, das Kleid von ihrem
Körper gelöst. Sie glich, als ihr Blick zufällig in den Spiegel fiel,
einer marmornen Psyche.

Und bevor sie ihr Lager aufsuchte, ergriff sie ein dänisches Buch, das
auf ihrem Tisch lag.

„Was ist Glück?“ lautete der Titel.

Was ist Glück? Ja, was war Glück? Pflichtübung führte es zunächst
herbei. Aber Pflichterfüllung war auch ein dehnbarer Begriff. Mit
Pflichterfüllung verband sich starke Selbstentäußerung — und sie brachte
Kämpfe, die aber machten doch nicht glücklich! War sie denn überhaupt
glücklich?

Sie schüttelte wehmütig den Kopf.

Nein! Es hatten die Recht behalten, deren Weisheit sie bespöttelt hatte.

Wo herrschte die größte Vernunft? Ihre Erfahrung hatte ihr darauf die
Antwort erteilt: Bei denjenigen, welche die Dinge dieser Welt nicht mit
Ungestüm anfassen, sondern mit besonnener Vernunft, die, ohne daß sie
stumm oder laut darüber philosophieren, wissen und daran festhalten, daß
Zeit und Umstände Mitordner der Dinge sind; die den guten Mittelweg
einschlagen, ihn stetig beschreiten, wenn auch auf den Nebenwegen noch
so viele Harfen mit süßklingenden Tönen locken; die endlich vom Tage und
von den Stunden nicht mehr begehren, als sie nach Lage der Dinge
herzugeben vermögen und wofür sie, die Fordernden, aufnahmefähig sind.

Sie aber, Imgjor, jagte unruhig einem von allen Vernünftigen als
Phantom bezeichneten Ziele nach, erntete keinen Dank, wohl aber meistens
das Gegenteil. Die Empfänger ihrer Wohlthaten hatten ihr schon oft
erklärt, daß man sie ja nicht gerufen, daß sie sich aufgedrängt habe,
daß man ohne sie auch und besser fertig geworden wäre!

Dann hatte sie sich hingesetzt und wie ein Kind — und immer noch ein
solches an mangelnder Erfahrung — bitterlich geweint.

Ja, wie anders war die Welt der Vorstellungen und die der Wirklichkeit!
Curbière hatte ihr gesagt, und aus jedem Wort hatte sie Axel Dehn
sprechen zu hören vermeint:

„Wir leiden an drei Krankheiten: der einst den Frauen nachgesagten,
jetzt der Männerwelt anhaftenden Eitelkeit, der Verbesserungs- und
gegenseitigen Bevormundungssucht.

Die schlimmsten Verderber unserer heutigen Zustände sind diejenigen,
welche, statt der Zeit ein allmähliches Reisen der Dinge anheimzugeben,
sich zu Staatsverbesserern aufwerfen, den Eitelkeitsspiegel zur
Betrachtung ihrer ungeheuren Weisheit und Bedeutung allezeit in der
Tasche tragen, fast ausnahmslos aus diesem Grunde auch nur handeln,
selbstgefällig, erhobenen Hauptes, reden, reden und wieder reden,
begründen und Resolutionen fassen.

Wir besitzen die Mittel zur Verbesserung unserer Lage in nächster Nähe.
Aber wir stecken so sehr im Sumpf unserer Selbstsucht, gepaart mit
Verweichlichung und Genußsucht, daß wir durch künstliche Mittel ein
Gleichgewicht erzwingen wollen. Zu einer Gesundung unserer Zustände
können wir nur gelangen, wenn wir alle zu einfachen, natürlichen
Verhältnissen zurückkehren, wenn jeder streng in seinem Wirkungskreise
seine Pflicht erfüllt, erst sorgsam sein Haus bestellt und dann auch dem
Nachbar hilfreich die Hand bietet, und wieder letzterer dem nächsten,
also, daß jeder geduldig, wachsam und treu der Last sich fügt, die
schwer oder minder schwer auf seinen Schultern ruht; wenn endlich die
sozial Bedrohten von den Gegnern einer ruhigen Entwickelung der Dinge,
nämlich den Sozialdemokraten, die Kunst der Einigkeit und
Opferfreudigkeit erlernen, fest und unzerreißbar sich zusammenscharen
und handeln, sobald Umstürzler die begehende Ordnung untergraben wollen.

Jedem Menschen gab die Natur, wie dem Tiere, die Werkzeuge zum Kampf um
seine Existenz mit.

Sie soll er zunächst gebrauchen, nicht nach fremder, künstlicher Hilfe
sich umschauen.

Auf Beistand von Seeschiffen rechnen, wenn man auf Auen in Kähnen fährt,
ist das Beginnen von Thoren.

Was war es denn, so fragte sich Imgjor, was sich immer wieder in ihrer
Seele regte und dennoch Lehren und Erfahrungen beiseite schob? Sie fand
keine Antwort darauf.

       *       *       *       *       *

Als sich Imgjor am nächsten Tage spät erhob und nach Erledigung einiger
häuslichen Pflichten an ihren Schreibtisch ging, fand sie zu ihrer
Bestürzung, daß sie bestohlen worden war.

Es fehlten mehrere hundert Kronen, die sie beiseite gelegt hatte, um
einen beim Zoll angestellten, schwer heimgesuchten Familienvater zu
unterstützen.

Der Diebstahl mußte während ihrer Abwesenheit am gestrigen Abend
vollführt worden sein, und da nur ihr Aufwartemädchen ihre Zimmer
betreten konnte, so mußte sie die Diebin sein.

Dies regte Imgjor abermals außerordentlich auf, besonders deshalb, weil
sie diesem Dienstboten und deren Eltern sehr viele Wohlthaten erwiesen
und somit Dankbarkeit, wenigstens Treue von ihr erwartet hatte.

Aber sie fand auch in ihrem Briefkasten, den sie gewohnheitsmäßig nach
beendetem Frühstück öffnete, einen Brief, dessen Inhalt sie namenlos
erregte.

Das Schreiben lautete:

„Nichts anderes trieb dich aus den vergoldeten Zimmern in Rankholm fort,
als deine Sucht, dich breit zu machen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf
dich zu lenken. Und weshalb? Um deinen kleinlichen Ehrgeiz zu
befriedigen, damit man von dir spricht, schreibt, kurz — etwas aus dir
macht, die du doch selbst nichts bist. Du meinst, man durchschaue dich
nicht. Aber die Welt hat scharfe Augen. Die eine Hälfte bespöttelt und
belacht deine Narrheiten, die andere, die der Eingeweihten, geht mit dem
Gedanken um, dem Grafen Lavard mitzuteilen, wie sein Name durch dich
verunehrt wird.

Solche Emanzipierte wie du gehören in eine Korrektionsanstalt. Du die
Welt reformieren? Du der Not und dem Elend ein Ende machen? Stille
deinen eigenen Jammer! Denn man weiß es, du hast genug mit dir zu thun,
und man weiß auch — warum! Also mache ein Ende mit der Komödie und mit
den bezahlten Zeitungsartikeln, die auf deine Verherrlichung abgesehen
sind!

Kehre dahin zurück, woher du gekommen bist, ehe du notgedrungen die
Flucht ergreifen mußt!“

Imgjor saß während einer längeren Zeit wie gelähmt da. Das war die
stärkste Infamie, die ihr bisher geworden. Und wenn's auch vielleicht
aus derselben Quelle stammte, aus der ihr die übrigen Kränkungen
gekommen waren, so wurden doch durch solche Wahrscheinlichkeit ihre
unruhvollen Vorstellungen nicht beseitigt.

Die Augen wurden ihr durch dieses Schriftstück völlig geöffnet. So
urteilte also die Masse; solche Motive schob sie ihr unter!

Und das war so entsetzlich, daß sie sich hätte in diesem Augenblick tief
in die Erde verkriechen und nie wieder zum Vorschein kommen mögen.

Fort, fort, nur fort aus Kopenhagen mit seinem Undank, seiner Mißgunst
und Niederträchtigkeit! Zurück nach Rankholm, wo die weißen Tauben um
die hohen Türme der Einsamkeit flatterten, wo Ruhe, sanfter Friede
herrschten, wo es kein widerwärtiges Jagen und Haschen nach Geld und
Stellung, wo es noch einfache Verhältnisse gab; wo man ohne erst Anhöhen
vor der Stadt zu gewinnen, die Sonne in ihrer unschuldigen, hehren
Schönheit aufsteigen und niedersinken sah, wo der Mond die stillen Wege
versilberte, auf denen sie, ein glückliches, von den Wirren der Welt
unberührtes Kind, einhergewandelt war! Ah! Das Brüllen der Rinder, das
Wiehern der Pferde, die reinen Laute des Landes, die anheimelnden Düfte,
der kräftige Erdgeruch; ihr Zimmer oben im Turm, mit einer Aussicht in
eine Welt, die nicht schöner gedacht werden konnte, in der Menschen
wohnten, gute, treuherzige, dankbare, keine schlechten wie hier! —

Aber auch dieser Sturm ihres Innern ging vorüber, und Imgjor gelangte zu
anderen, zu den alten Entschlüssen.

Sie wollte fortfahren, in die Häuser der Armen zu gehen, und trotz aller
Anfeindungen versuchen, nicht in dem zu erlahmen, was sie sich einmal
als Lebensaufgabe gewählt hatte. Am nächsten Tage wollte sie in
Sommerlyst einem Vortrage beiwohnen, den ein aus Schweden
herübergekommener Reformator Kollund, ein früherer Geistlicher, halten
würde. Ja, dazu war sie entschlossen! —

Es war am folgenden Abend. Schon seit einer Stunde hatte Kollund, der
einstige Geistliche und jetzt den neuen Ideen mit feurigem Eifer
huldigende Wanderprediger seinen Vortrag beendet, hatte der stets nach
solchen Verheißungen hungernden Welt erklärt, daß Christus im Grunde
nichts anderes gewollt, als was sie selber jetzt in größerer
Gemeinschaft anstrebten. Auch er habe gesprochen: „Kommet her zu mir
alle, die ihr mühselig und beladen seid!“ und nur durch praktisches
Christentum seien die Not und das Elend aus der Welt zu schaffen. Seine
Worte hatten Imgjor deshalb noch mehr ergriffen als alle diejenigen
seiner Vorgänger, weil sie von dem reinsten Enthusiasmus getragen und
weil sie von jener Selbstlosigkeit durchhaucht schienen, die ihr selber
eigen war. So sehr hatte sie das bleiche Erlöserangesicht des Redners
angezogen, daß sie auch nach Beendigung des Vortrages in Sommerlyst
blieb. Sie hatte sich ihm vorgestellt und ihm gesagt, wer sie sei. Und
dann war sie mit ihm in eine Laube des Gartens getreten und hatte hier,
umfächelt von den sanften Lüften der Frühlingsnacht, ihre Gedanken mit
ihm ausgetauscht.

Sie sei im Begriff, zu erlahmen, hatte sie ihm, unter den Eindrücken der
letzten acht Tage, mit einer Offenherzigkeit gestanden, als ob sie ihn
lange Jahre gekannt, ihm schon immerdar ihr Vertrauen geschenkt habe.

Und der Mann, ein unerschütterlich Ueberzeugter, hatte das Haupt mit
einer Miene bewegt, als ob er nicht zu hören brauche, als ob er ohnehin
wisse, was in ihrer Seele sich vollziehe.

„Mir ging es wie Ihnen, Komtesse,“ erklärte er. „Ich habe wohl
hundertmal alles wieder beiseitewerfen, habe verzagen wollen.

Ich habe so viel Undank und so viele Nichtswürdigkeiten erfahren, daß
ich im Zorn aufgeschrieen und in die Worte ausgebrochen bin:

„So helft euch selbst! Ihr verdient es nicht, daß ein ehrliches
Menschenkind auch nur einen einzigen Schritt für euch thut! Ihr seid
Riesen im Nehmen, im Empfangen und in der Selbstsucht, und kleiner als
Ameisen in der Erkenntnis dessen, was ihr euch selbst schuldig seid,
welche Dankpflichten ihr denjenigen zollt, die sich in eure Dienste
stellen!

Mit dem Essen wächst euer Appetit bis ins Ungemessene. Ihr fordert
zuletzt, wo ihr zu bitten habt.

Vor Monaten blieb eine Frau, der ich täglich Nahrungsmittel gespendet,
plötzlich aus. Als ich ihr begegnete und sie fragte, weshalb sie nicht
mehr komme, erwiderte sie mir in einem geringschätzenden Ton:

Es sei ihr das Essen bei mir nicht mehr gut genug. Sie verkehre jetzt in
dem Hause eines Großkaufmanns und empfange dort andere, sehr viel
bessere Speise.

Ich hatte auf der Zunge, ihr zuzurufen:

„Sie soll dir _nicht_ werden, du Unverschämte! Ich werde jenem melden,
welch' eine Unwürdige du bist!“

Aber ich gedachte des Elends, das dann vielleicht wieder eintreten
würde, und verwandelte Zorn in Milde. Ich sprach auf sie ein und hielt
ihr vor, auf welchem verkehrten Wege sie sei. Denn das ist unsere
Aufgabe! Nicht zürnen, gar rächen, vielmehr vergeben, anleiten, durch
sittliche Förderung des einzelnen Samen streuen für eine allmählich
aufgehende, kräftige Frucht. Und glauben Sie:

So niederträchtig die Welt sich oft durchweg giebt, so ungerecht, so
einseitig, sie meist urteilt, so birgt sie doch auch Edeldenkende. Es
giebt ein sich an Wahrheit und Wirklichkeit haltendes Urteil, und das
und das Eintreten jener Gerechten wird am Ende siegen.

Im allgemeinen hat die Welt einen sehr feinen Orientierungssinn, sie
weiß sehr wohl zwischen den Wertvollen und Wertlosen zu unterscheiden. —

Harren Sie also aus! Schon leuchtet der Name der Grevinde Lavard durch
die nordischen Lande. Daß sie Anfechtungen zu bestehen hat, daß man sie
entweder eine Närrin oder eitle Abenteuerin schilt, das ist ein Los, das
sie mit allen teilt, denen ein höherer Geistesflug innewohnt, die sich
nicht damit begnügen, blos zu sein.“

Imgjor hatte dem Redner mit Begeisterung zugehört. Sie fing jedes Wort,
das über seine Lippen ging, wie ein Evangelium auf. So schön, so
verklärt waren seine Züge! Ueber der bleichen Stirn hing, gleichsam als
Kennzeichen der Gleichgiltigkeit gegen alles Aeußerliche, eine Locke des
schwarzen Haares, in seinen dunklen Augen glühte das Feuer der
Ueberzeugung, und über ein krankes Hüsteln, das seine Rede unterbrach,
sprach er mit jener milden Ergebenheit, die den Märtyrern eigen.

„Ich schaffe, so lange ich es vermag. Will der Schöpfer, daß ich
aufhöre, so wird er seine Gründe haben, und einen anderen, Befähigteren,
Stärkeren senden.“

Jetzt, in seiner Nähe, unter seinem Einfluß lehnte sich Imgjor wieder
einmal gegen die nüchterne Ueberlegenheit eines Axel Dehn, eines
Marquis von Curbière auf.

Es war sehr bequem, zu sprechen, wie sie es thaten.

Allmählich würde, nach ihren Worten und Ansichten, vom steten Regen der
Zeit benetzt, der Felsen der zu großen Ungleichheiten zerbröckeln! Aber
eben der Regen sollte wirken, damit auf dem Platze, wo das Gestein
ruhte, fruchtbares Land sich aufthue! Selbst wollten sie sich nicht
rühren, die Muskeln nicht anstrengen!

In ihm, dem Prediger Kollund, saß das, was einem Christus, einen Mahomed
den Stab in die Hand gedrückt. Er war der berufene Vorkämpfer für die
neue Lehre. Endlich hatte sie ihn gefunden.

Nachdem Imgjor mit Kollund verabredet hatte, daß sie sich noch einmal
wiedertreffen wollten, nahm sie allein den Weg von Sommerlyst zu Fuß
zurück. Ihre Wohnung lag in der Nähe des Rosenberger Schlosses in der
Kronprinzeßgade.

Als sie nach einer sie stark beschwerenden Wanderung an die Ecke dieser
und der Gothergade angelangt war, trat plötzlich ein junger Mensch auf
sie zu und redete in sehr zudringlicher Weise auf sie ein. Und als sie
ihm durch rasches Forteilen zu entrinnen suchte, war er ebenso schnell
nochmals an ihrer Seite, wiederholte, die menschenleere Gegend
benutzend, seine Anträge, und umfaßte, trotz Imgjors äußerstem
Widerstand, ihren Leib.

„Sie sind doch Grevinde!“ flüsterte er, sie fester und fester an sich
ziehend. „So gewähren Sie doch einem armen, sehnsüchtigen Menschen auch
einmal eine glückliche Stunde. Andere dürfen es! Warum wollen Sie es mir
versagen? Ach, wie schön Sie sind! Ich sah Sie mit Kollund sitzen. Der
Glückliche!

Ich bitte, mein süßes Kind — komm mit — komm mit auf die Bank! Laß uns
plaudern. Höre, wer ich bin, und wisse, ich bin deiner wert!“

Imgjor fehlte der Atem und es versagten ihr die Worte. Sie wollte
schreien, Hilfe rufen und vermochte es nicht. Mit ungeheurer Kraft hob
er sie empor, trug sie in das Innere des Parkes und verschwand mit der
Halbohnmächtigen unter den Bäumen.

       *       *       *       *       *

Im Rankholmer Palais saß in seinem dreifenstrigen durch den Anstrich
sanfter Pfirsichfarben reizvoll gehobenen und mit alten Ovenschen
Gemälden und seltenen nordischen Möbeln geschmückten Arbeitsgemach Graf
Peder Lavard und rauchte aus einer kostbaren Meerschaumpfeife. Dem
silberbeschlagenen Kopf entstiegen in blauen Ringen emporschwebende,
einen verführerischen Duft verbreitende Wölkchen, und ein Ausdruck
ausnehmender Behaglichkeit haftete in den Zügen des Besitzers des
Schlosses.

Ihm gegenüber, in einen hohen Sessel aus dem sechszehnten Jahrhundert
zurückgelehnt, plauderte der Marquis von Curbière, der heute einen
schneeweißen Anzug aus einem Pariser Magazin trug, und nun eben eine
kleine, dünne Cigarette durch rasche Berührung mit einer brennenden
Wachskerze entzündet hatte.

Die Herren unterhielten sich über eine am kommenden Tage bei Hofe
Stattfindende Festivität, zu der, mit Ausnahme von Imgjor, sowohl die
Familie Lavard, wie auch der Marquis, nach vorangegangener Einzeichnung
seines Namens in das in dem königlichen Vorzimmer ausgelegte Meldebuch,
Einladungen empfangen hatten.

Und eben, daß man Imgjor ausgeschlossen, daß man, wie stets, von ihr gar
keine Notiz genommen hatte, brachte das oft erörterte Thema ihrer
Emanzipation von neuem in Fluß, ließ die Herren überlegen, durch welche
Mittel man sie endlich von ihren Abenteuerlichkeiten kurieren könne.
Umsomehr beschäftigte sich die Familie mit Imgjor, als einige Vorfälle
der letzten Zeit auch ihren Namen wieder in sehr unliebsamer Weise in
die Oeffentlichkeit gebracht hatten.

Immer stand Graf Lavard unter der Befürchtung, daß seinen guten
Beziehungen zum Hofe durch Imgjors Verhalten ein Abbruch geschehen
könne. In den Zeitungen war mitgeteilt worden, daß der frühere
Geistliche Kollund in Sommerlyst einen von Tausenden besuchten Vortrag
gehalten und daß die bekannte Grevinde Lavard demselben nicht nur von
Anfang bis zu Ende beigewohnt und ihm sehr lebhaft Beifall gezollt,
sondern auch noch mit dem Redner später lange Nachtstunden allein
konferiert habe.

Und am nächsten Tage hatten dieselben Zeitungen zu erzählen gewußt, daß
ein Anfall auf die Komtesse verübt sei.

Nach jenem Vortragsabend sei sie unvorsichtigerweise allein nach Hause
geschritten und, in der Nähe des Rosenborger Parkes angelangt, von einem
Strolch, dessen Familie sie viele Wohlthaten erwiesen habe, überfallen
und übel zugerichtet worden. Sie liege an einem Nervenfieber darnieder
und werde von einer barmherzigen Schwester gepflegt. Auch ihre
Angehörigen weilten täglich an ihrem Lager.

Seit dieser Zeit waren drei Wochen vergangen. Imgjor war wieder
aufgestanden und hatte sich erholt.

Bei einem Fest beim Premierminister, dem die königliche Familie
beigewohnt hatte, war zwar der König dem Grafen und seinen Angehörigen
sehr gnädig begegnet, aber es waren doch auch zum erstenmale Worte
gefallen, die seine Ansichten über die junge Gräfin Lavard sehr deutlich
hatten zu Tage treten lassen.

„Ich bedaure, lieber Graf, daß die Komtesse von einem solchen Unfall
betroffen worden ist. Aber ich würde es nicht nur in ihrem, sondern eben
so sehr im Interesse der Familie halten, wenn sie sich solchen
Extravaganzen nicht aussetzte, überhaupt ihrem Enthusiasmus einige Zügel
anlegte. Der Polizeipräfekt meldet mir, daß nun auch sie einen
öffentlichen Vortrag zu halten die Absicht hat. Suchen Sie das mit allen
Mitteln zu verhindern. Ich rechne darauf. Dergleichen paßt sich nicht
für das Mitglied einer dänischen Adelsfamilie. Wo kommen wir hin, wenn
von dort schon solche Beispiele ausgehen!“

Während die Anwesenden noch sprachen, meldete Frederik, daß Komtesse
Imgjor soeben ins Schloß getreten wäre, zudem benachrichtigte er die
Herrschaften, daß das zweite Frühstück serviert sei.

Unmittelbar darauf trat auch schon Imgjor ins Zimmer, schritt mit der
Miene sanfter Unterordnung auf ihren Pflegevater zu und reichte dem
Marquis mit jenem süßen Blick die Hand, den sie allen denen gönnte, die
sie lieb hatte. Aber auch Lucile erschien, und da war's, als ob nun erst
die volle Schönheit die Welt erhelle.

Sie glich der Versinnbildlichung des eben eingezogenen blühenden
Sommers! Ein weißes, seidenes Gewand umschloß ihren Körper, eine gelbe
und eine weiße Rose saßen in ihrem nach Empire-Art hochfrisierten Haar.
Sonst trug sie keinen Schmuck.

„Ah, wie schön du heute wieder aussiehst, meine Lucile!“ flüsterte
Curbière, voll Bewunderung seine Braut umarmend.

Und während er sie noch mit anderen schmeichelnden Worten überschüttete,
sprach der Graf, seiner Tochter Imgjor mit liebenswürdiger
Zuthunlichkeit den Arm reichend, auf diese ein.

„Ich möchte dich nachher sprechen, Imgjor. Nach dem Frühstück, ehe du
das Palais wieder verläßt, gehen wir noch einmal zu mir hinüber —“

Die Gräfin warf ihr beim Eintritt in den Speisesaal, wohin sie sich
inzwischen begeben, einen von einem vertraulichen Lächeln begleiteten,
guten Blick zu, auch umarmte sie Imgjor bevor sie sich an der Tafel
niederließ.

Es wurde ein zu unternehmender Wagen- und Reitausflug nach Skodsborg
besprochen. Die Herrschaften wollten auf der Rückkehr in Klampenborg
speisen. Imgjor wurde von den Ihrigen ebenfalls aufgefordert, wich aber
aus.

„Stimmen Sie doch zu, schöne Schwägerin!“ ermunterte sie Curbière
liebenswürdig. „Lassen Sie einmal die Kittelleute für sich selbst
sorgen! Erinnern Sie sich, wie sie Ihnen jüngst begegneten, und
vergessen Sie nicht, daß Sie auch Pflichten gegen die Ihrigen haben.“

„Ich würde sehr gern teilnehmen“ — entgegnete Imgjor, bei der Hitze die
Aermel ihres Kleides etwas zurückgreifend und so ihren reizenden Arm
freigebend — „aber ich will in diesen Tagen einen öffentlichen Vortrag
halten, und da brauche ich alle meine Zeit äußerst notwendig.“

„So halten Sie ihn nicht! Das Sternbild des Bären wird nicht vom Himmel
herabfallen, wenn die Welt sich dessen entraten muß. Glauben Sie denn
wirklich, daß dergleichen einen praktischen Nutzen hat?“

„Ich hoffe es, lieber Armand.“

„Und welchen?“

„Daß die Menschen zum Nachdenken gelangen.“

„Aber wir haben ja die vielen Orte, die stillen Kämmerlein und
lauschigen Plätze in der Einsamkeit der Gottesnatur, wo die
Erdenbewohner selbst dergleichen üben können! Wir haben zudem all' die
Kirchen und die vielen Prediger —“

Imgjor zog die Schultern.

„Liegt nicht eigentlich eine Vermessenheit darin, fortwährend andere
belehren zu wollen, Imgjor?“ fuhr er fort. „Wär's nicht besser, jeder
verwendete seine Zeit auf sich? Jeder hat's dringend nötig! Ich
wiederhole früher Gesagtes.“

„Ja, darin liegt etwas! Ueberhaupt haben Sie wohl von ihrem Standpunkt
aus auch recht. Ich kann aber nicht anders, als nach meiner Natur
handeln. Ist's nicht schon viel wert, wenn es mir gelingt, einige
Mißgeleitete umzuwandeln?“

„Das ist — pardon! — die stete Rede aller derer, die es für erforderlich
halten, die Menschen fortwährend auf Tod und Sterben und Buße
hinzuweisen, anstatt sie das Leben lieben zu lehren, sie zur
Lebensfreudigkeit anzuhalten, ihnen ein heiteres, sorgloses Gemüt zu
verschaffen, sie dadurch zu stählen, dem Dasein zu begegnen, so dem
Schöpfer wohlgefällig zu sein. Nichts Widersinnigeres als das
Asketentum, nichts, was Gottes Absichten weniger entspricht! Er schuf
die Sonne und die Helle zum Gedeihen der Welt, uns zur Freude und zum
fröhlichen Genießen. Und wir? Wir verwandeln seine schöne Erde in ein
Jammerthal, durch das wir gezwungen hindurchgehen müssen, in einen
Kerker, in dem wir lebenslänglich zu schmachten verurteilt sind. Wie
kleinlich machen wir den großen Geist. Wie sehr beweisen wir durch
unsere Auffassung von der Gottheit, wie wenig wir jemals über sie
nachgedacht, geschweige ihr innerstes, jedes Geschöpf mit grenzenloser
Liebe, Güte und Nachsicht umfassendes Wesen ergründet haben. Verdammen
wir nicht den Lehrer, der immer nur danach ausschaut, ob die Kinder
fehlen, ihnen ihre Bewegungen beschneidet, sie stetig in solche Fesseln
spannt, die der Natur des freigeborenen Geschöpfes widerstreben; der
fortwährend mit Strafen und Vergeltung droht, der ihnen immer nur
zuruft: „Bedenket, daß der Zeugnistag erscheint!“ Und so fort und so
fort bis zum Abgang? Und nun behängen wir gar das erhabene Wesen mit
solchen Eigenschaften! Wahrlich, man weiß nicht, ob man über solche
Verblendung weinen, oder ob man sich gegen solche Anmaßung der Auslegung
des göttlichen Wesens empören soll!“

„Sie sprechen —“ entgegnete Imgjor voll Begeisterung, „für eine
Neugestaltung unserer religiösen Anschauungen. Der geistig höher
Stehende gelangt, und sicher mit Recht, zu solchen. Wir haben es aber
mit der breiten Masse zu thun, die an dem Alten hängt und für welche die
Lehre von Himmel und Verdammnis geeigneter ist. Was ich vorhabe, ist ja
auch etwas anderes. Ich will reden über die Gleichberechtigung der
Menschen zum Zweck eines glücklicheren Erdenlebens, über die Mittel, das
Los der Armen zu verbessern, über die Pflicht der Großen, dazu nach
Kräften beizutragen! Ich will praktische Religion predigen!“

„Ich möchte, daß du diesen öffentlichen Vortrag nicht hieltest, ja, ich
wünsche unter allen Umständen, daß es unterbleibt, Imgjor!“ fiel nun der
Graf ein. Er that's, nachdem eben die Dienerschaft das Zimmer verlassen
hatte.

„Der König sprach mich in diesen Tagen darauf an, daß du dergleichen
vorhabest. Er forderte von meiner Loyalität, daß ich es dir verbieten
möge.“

„Deine Loyalität sollte dich eher bestimmen, mir beizupflichten, lieber
Papa!“ fiel Imgjor ein. „Ich predige nicht den Umsturz; ich will nur auf
Grund des Bestehenden reformieren. Und je eher und besser uns das
gelingt, um so sicherer werden sich gerechte Fürsten ihr angestammtes
Erbteil bewahren.“

„Wir wollen uns gegenseitig keine Kathedervorträge halten, Imgjor. Du
kennst meine Ansichten und in diesem speziellen Falle jetzt meinen
unbedingten Willen. Da ich dir in so vielem nachgab, darf ich wohl auch
auf einen Gegendienst rechnen. Ich erwarte, daß du noch heute die
Schritte unternimmst, deinen Vortrag rückgängig zu machen. Ich werde
dagegen dafür sorgen, daß die Zeitungen eine berichtigende Notiz
bringen.“

„Das kann nicht sein,“ erklärte Imgjor. „Sage dem König, daß ich fürder
nicht mehr öffentlich sprechen will. Diese Abrede aber vermag ich nicht
mehr rückgängig zu machen — unmöglich!“

„Was heißt: kann — unmöglich, wenn ich es erbitte, wenn ich es wünsche,
wenn ich es will?“ rief der Graf, dem, wie so oft, jählings die Geduld
riß. Er sprang empor und schlug mit einer Heftigkeit auf den Tisch, daß
die Gläser zitterten. „Welch' grenzenloser Egoismus, immer nur das Ich
sprechen zu lassen, niemals sich erinnern zu wollen, daß es Dankgefühle,
daß es Familienrücksichten giebt! Hast du noch nicht genug? Willst du
abermals Scenen, wie die im Rosenborger Park, sich wiederholen lassen,
deren noch böseres Ende nur ein gnädiger Zufall verhinderte? Findest du
gar Lust daran, dich solchen dich entwürdigenden Dingen auszusetzen, da
du dich nun abermals öffentlich, wie eine Harfenspielerin, dem
allgemeinen Anglotzen preisgeben willst? Wahrlich, es scheint fast so!
Eitelkeit, Eitelkeit bisher! Und nun gar die Sucht nach Beifall auf
Kosten der weiblichen Würde!“

„O, halt! Halt!“ rief das in ihrem Innern tief betroffene junge
Geschöpf. Sie flog, ihre Gestalt straff emporreckend, vom Stuhl und
richtete herausfordernde Blicke auf den Grafen. „Daß du das sagst — mir
—“

Aber wie einst, schnitt er ihr die Worte ab, sprang auf sie zu, packte
ihre Handgelenke und rief, während ihm ein heißsprühender Atem aus der
Brust quoll: „Ja, das sage ich dir, ich, der Graf Lavard! Willst du dich
meinem Willen nun fügen? Willst du erklären, daß du von dem Vortrage
abstehst? Noch einmal nein, oder —“

Aber jetzt hielt es auch Curbière, der bisher bleichen Angesichts
dagesessen und nur durch seine Mienen an den Tag gelegt hatte, was er
bei dieser Scene empfand, nicht länger. Blitzschnell war er an beider
Seite, richtete einen bittenden Blick auf den Grafen und suchte ihm
Imgjor mit sanfter Bewegung zu entreißen.

Aber auf den bis zur Raserei entflammten Mann übte dieses kavaliermäßige
Dazwischentreten gerade den entgegengesetzten Eindruck.

„In meine häuslichen Angelegenheiten erbitte ich keine Einmischungen!
Ich muß aufs dringendste bitten!“ stieß er in einem schroff
entschiedenen Tone heraus, schob auch die Gräfin, die zu vermitteln
suchte, kurz und rauh zur Seite und faßte Imgjors Handgelenke nur noch
fester.

Aber nun wußte Imgjor selbst das Schauspiel zu beenden. Indem sie sich
mit einer plötzlichen Bewegung befreite, sodann an die Thür eilte und
hier, um sich einen ungefährdeten Abgang zu sichern, mit der Linken die
Klinke faßte, sagte sie:

„Ich kann nicht, Papa! Ich kann nicht, weil ich nicht alleiniger Herr
meiner Handlungen bin, weil ich mein Wort gab. Aber ich will mich in
anderer Weise dir fügen. Ich verzichte von heute an auf alle Rechte, wie
immer sie heißen mögen, auf die Rechte, deinen Namen zu tragen und auf
materielle! Ich werde mich fortan nennen, wie mein Vater hieß. So wirst
du befreit von der, die dir doch nur Schande macht, so streifst du die
Verantwortung für ihre Handlungen von dir ab. Verzeih' mir! Ich bitte
dich flehentlich! Nie werde ich vergessen, was du, was ihr alle Gutes an
mir gethan! Aber ich kann nicht anders. Jeder hat seine Eigenart und
besitzt ein Recht darauf. Auch ich muß meiner Natur folgen — Adieu!
Adieu! Nochmals Adieu! Vergebt mir!“

Nach diesen Worten verließ sie mit einem entschlossenen Blick das
Gemach.

       *       *       *       *       *

In einem Hinterzimmer des Wirtshauses in der Nähe des Tivoli saß an
demselben Abend der Wanderprediger Kollund mit Imgjor Lavard. Sie hatte
ihm geschrieben, daß sie ihn sprechen wolle, und er hatte geantwortet,
daß er sich am Abend, nach einem Vortrage in der Umgegend, zu ihrer
Verfügung halte.

Nun eben hatte er den Kellner gerufen und Speisen und Getränk gefordert,
während sie, nach ihren Wünschen befragt, ihn nur eine Flasche
Selterwasser zu bringen ersuchte.

Sie besaß weder Hunger noch Durst. Ihr verlangte lediglich nach
Aussprache, nach Förderung ihrer während des Tages zu immer stärkerer
Reise gelangten Pläne. Sie wollte, wie er, das Land durchziehen, aber
sie wollte sich nicht mit Vorträgen begnügen, sondern mit allen Mitteln
dahin wirken, daß in jeder Stadt, in jedem Flecken und jedem Dorfe ein
Wohlfahrtsverein begründet werde.

Diese sollten sich als Aufgabe stellen, eben das ins Leben zu rufen, was
sie einst mit Prestö geplant hatte.

Da sie sich nun der Fesseln entledigt, da sie keine Rücksichten auf ihre
Familie mehr zu nehmen hatte, wollte sie wieder die größeren Ideen zu
verwirklichen suchen.

Vielleicht würde Kollund ihr Partner werden, vielleicht fand sie bei
diesem, von den reinsten Absichten erfüllten Volksfreunde eine
Unterstützung ihrer selbstlosen Bestrebungen.

Er hörte ihr auch, ohne sie zu unterbrechen, zu. Seine Augen hingen an
den ihrigen, als ob ihn eine Verzauberung ergriffen habe. Seine mageren
Hände griffen immer wieder nach der Flasche. Oft holte er tief Atem. So
beschwert schien er, daß sie einigemale besorgt fragte, ob ihn etwas
schmerze.

„Nein, nein, nichts, gnädige Komtesse. Ich bitte, fahren Sie fort!“

Bisweilen schien's auch während des Zuhörens, als ob er in eine Art
Verzückung geriete, als ob er sich durch ihre Rede so in die Welt der
Wirklichkeit hineinversetzt habe, daß ihm schon alles Thatsache geworden
sei.

Und das Ende war, daß er ihr begeistert zustimmte, sich bereit erklärte,
fortan mit ihr gemeinsam die Lande durchziehen und ihre von ihm
gutgeheißenen Pläne ins Werk setzen zu wollen.

„Sehen Sie, Komtesse! Mir fehlten ja nur die Mittel, die Sie besitzen!
Ich mußte mich auf meine Ansprachen beschränken. Von dem Entree, das ich
erziele, soll ich leben und muß ich meine Reisen bestreiten. Sie haben
die vollen Kassen. Sie können sogar noch austeilen. Unter solchen
Voraussetzungen und Eindrücken strömen die Menschen herbei. Da rechnet
es sich auch die bessere Gesellschaft zur Ehre an, zu erscheinen. Ihr
Name, Ihre Stellung und Ihr Reichtum ziehen. Denn Sie müssen es wissen,
schließlich kommt's ja doch bei fast allen nur auf zweierlei an, auf
Befriedigung der Eitelkeit und auf Erreichung von Vorteilen. Von der
Sache selbst Durchdrungene giebt's kaum ein Dutzend auf eine Million!“

„Wie? Das sagen Sie, Herr Kollund?“ stieß Imgjor in starker Enttäuschung
heraus. „Ach! Das drückt mich tief herab. Und lassen Sie mich es Ihnen
gleich sagen, daß Sie sich irren, wenn Sie meinen, ich sei noch reich,
ich könne irgend etwas austeilen. Ich besitze nichts, da ich mich mit
meiner Familie völlig überworfen habe! Wenn ich meinen Schmuck verkaufe
— das meiste gab ich schon hin — bleibt mir höchstens die Möglichkeit,
noch einige Zeit zu leben!“

Schon bei den ersten Worten Imgjors war in die Züge des Mannes ein
Ausdruck von Mattigkeit getreten. Beim Schluß ihrer Erklärungen hielt er
schon gar nicht mehr mit seinen veränderten Gedanken und Anschauungen
zurück, zog die Lippen und schüttelte das Haupt.

„Wenn die Dinge so stehen, Komtesse, ist — ist — garnichts zu machen!
Ich ging natürlich von ganz anderen Voraussetzungen aus. Bei solcher
Sachlage kann ich Ihnen nicht die geringsten Erfolge Ihrer Vorhaben
versprechen. Wir würden uns nur gegenseitig im Wege stehen. Jetzt vermag
ich allein zu existieren; in der Folge würden wir nicht das tägliche
Brot haben. Ist denn wirklich alles dahin? Ist keine Aussicht, daß Sie
sich mit Ihrer Familie wieder einigen?“

„Nein,“ erwiderte Imgjor kalt, mit einem solchen eisigen Ausdruck, daß
der Mann, der sich schon allen möglichen Träumen von Liebesglück und
Erdenschätzen hingegeben hatte, nunmehr einer völligen Ernüchterung
erlag.

Im Nu verschwand der bestrickende Zauber, den Imgjor auf ihn ausgeübt
hatte.

Aber auch Imgjor erlitt entsetzliche Qualen der Enttäuschung, doppelte,
da sie sich nicht nur in ihren Hoffnungen auf diesen Mann als Mithelfer
ihrer großen Pläne getäuscht fand, sondern auch durch ihn so
rücksichtslos belehrt worden war, wie nutzlos alles Mühen ohne
materielle Mittel sein werde. Sie hatte sich dem unbestimmten Gefühl
hingegeben, daß dieser edle Enthusiast die Herbeischaffung solcher
freudig auf seine Schultern nehmen, daß er dazu auch leicht imstande
sein werde. Sie, die immer aus dem Vollen geschöpft, die stets die Hand
hatte aufthun können, hatte sich trotz des täglichen Einblicks in die
Lebensnot der Menschheit auch in dieser Richtung eine Illusionswelt
aufgebaut.

Und abermals hatte sie ebenso vorschnell, wie unweise gehandelt! Anstatt
vorher zu prüfen, die Folgen ihres Vorhabens zu überlegen, hatte sie
ihre Erwartungen ohne weiteres zu Thatsachen erhoben und war nun gleich
bei den ersten Schritten, die sie unternommen, bis zum Fallen
gestolpert.

Jetzt stand sie — in furchtbarer Klarheit kam's über sie — wirklich dem
„Nichts“ gegenüber. Und sie hatte sich, wenn sie ehrlich überlegte,
während ihrer nun fast zwei und einhalbjährigen Thätigkeit draußen in
der Welt kaum einen Freund, sondern nur Feindschaft erworben.

Die Freunde, die einzigen, die sie vorher besessen, hatte sie eben in
ihrem stolzen Uebereifer von sich gestoßen. Ihren Widersachern wollte
sie sich offenen Auges zugesellen und abermals mit schweren Kränkungen
und schnödem Undank verbundene Lasten übernehmen. War darin ein Sinn?
Hatte sie noch nicht Erfahrungen genug gesammelt? War's noch nicht
genügend erwiesen, daß ihre Umgebung in allem Recht gehabt?

Und eben aus diesen gegen sich selbst gerichteten Ueberlegungen entstand
jählings eine um so größere Abneigung gegen denselben Mann, dem sie noch
beim Beginn des Gespräches gleichkam ihr ganzes Ich hatte verschreiben
wollen, den sie als den plötzlich ihr erstandenen Erlöser betrachtet
hatte. Sie konnte es nicht erwarten, die Beziehungen zu ihm abzubrechen,
auch ihm die Erklärung zu geben, daß sie keinen öffentlichen Vortrag
halten wolle.

Sie nahm deshalb kurz und schroff das Wort und sagte:

„Unser Gespräch hat mich belehrt, daß wir nicht, wie ich hoffte und
glaubte, zu einander passen, Herr Kollund. Ich bin infolgedessen auch zu
dem Entschluß gelangt, übermorgen nicht zu sprechen. Ich bitte also, die
Ankündigung zurückzuziehen. Ich muß es definitiv ablehnen, öffentlich
aufzutreten!“

Der Mann nickte beipflichtend, ohne sich im geringsten zu ereifern.

„Ich würde,“ hub er mit unangenehm wirkender Ruhe an, „dann nur um den
Ersatz der Kosten bitten, Geldmittel für die Inserate in den Zeitungen,
für das Lokal, für die Personen, die ich zu bezahlen habe, und für die
Ausfälle an Einnahmen.“

„Welche Personen, welche Ausfälle an Einnahmen? Ich bitte!“

„Nun, die Stimmung machen, die mit einem Teller zum Sammeln herumgehen
sollten.“

„Stimmung machen, sammeln? Für was und für wen?“

„Wie Sie fragen, Gnädige! In solchen Versammlungen braucht man eine
Claque, und die muß man bezahlen. Die Sammlung wird für meine
Bedürfnisse aufgebracht — Ich soll doch leben — ich soll doch etwas
zurücklegen —“

„Gewiß, ersteres sicher! Und Sie lassen das erklären, oder Sie sagen es
selbst?“

Der Mann schüttelte den Kopf.

„Nein! Das geht nicht. Dann kommt fast nichts ein! Die Beträge müssen
als Agitationsausgaben für die große Sache bezeichnet werden.“

„Glaubt man Ihnen denn das? Fragt man nicht, wer das Geld verwaltet, wo
es bleibt?“

„Nein. Ich bin der Verfechter der großen Idee. So ist auch am besten
angelegt.“

„Hm — hm — aber das ist doch alles nicht ehrlich, Herr Kollund, das
heißt doch nur an sich denken.“

„Vielleicht! Aber es geht nicht anders, meine Gnädigste. Mit
Sentimentalitäten kann man das Leben nicht anpacken. Man muß, um
durchzuringen, zu den Grundsätzen der Heiligung der Mittel greifen.“

„O nein, nein! Nie würde ich dazu meine Hand bieten. Verwerflich finde
ich solches Ausnützen des Vertrauens, schwindlerisch eine solche
Vertuschung der Wahrheit!“

„Sie sind eben noch sehr jung, meine Gnädigste! Sie meinen, daß sich
hier die Welt anders bewähren soll, als sonst allezeit. Und deshalb
erwarten Sie es, weil Ihre Absichten lauter sind, weil der Gegenstand
Ihnen groß und erhaben däucht. Ach, wie bald, wie gründlich werden Sie
belehrt werden! Die Kreatur bleibt sich in allen Lebensverhältnissen
gleich. Hier, hier erst recht muß man sehr klug sein und klug handeln,
um die Zwecke, die man im Auge hat, zu erreichen.“

„Nun, so mag es sein! Ich will Ihnen nicht widersprechen,“ stieß Imgjor,
ihre Empörung nur schwer dämpfend, heraus, „aber ich will jedenfalls
meinen Geldbeutel dazu nicht öffnen! Ich gebe das, was das Lokal und die
Annoncen kosten, ich gebe Ihnen eine Entschädigung dafür, daß Sie Ihre
Zeit mir nutzlos geopfert haben. Sie mögen dann verfahren, wie Sie es zu
verantworten vermögen. Ich will kein Hehler dieses Verrats und dieser
Unehre sein!“

„Ich sehe Ihnen Ihre Worte nach, Komtesse, weil ich Ihrer Unerfahrenheit
Rechnung trage, und wünsche nun auch meinerseits diesen Teil des
Gespräches zu beendigen. Ich bitte nun nur fragen zu dürfen, wann ich
mir den Betrag holen darf?“

„Wieviel verlangen Sie?“

„Mit fünfhundert Kronen denke ich zu reichen —“

„Fünfhundert Kronen? Unmöglich! Ich habe kaum so viel, wenn ich mein
Eigentum veräußere!“

„So geben Sie vierhundert. Ich will mich einzurichten, denen, die zu
fordern haben, abzudingen suchen. Diese Summe muß ich aber bereits
morgen Mittag von Ihrer Güte erbitten, wenn nicht für Sie sehr
unliebsame Zeitungserörterungen die Folge dein sollen. Diese würden auch
Ihrer Familie wohl wenig angenehm sein!“

„Gut!“ hauchte Imgjor, die weißen Zähne zusammenbeißend. „Sie sollen das
Geld um zwölf Uhr bei mir finden. Aber schicken Sie darnach. Mit Ihnen
möchte ich nicht ferner verhandeln —“

Nach diesen Worten reckte sie sich rasch empor, warf eine halbe Krone
für den Kellner auf den Tisch, griff nach Hut und Umhang und war schon
mit äußerst gemessener Kopfneigung verschwunden, ehe der Mann auch nur
Zeit hatte, ihr beim Anziehen des Mantels behilflich zu sein. —

       *       *       *       *       *

Nachdem Imgjor ihre Wohnung betreten hatte, schritt sie mit einer
gewissen Hast an den Briefkasten. Sie erwartete, einen Brief von ihrer
Pflegemutter oder von Lucile zu finden. Sie hoffte es, während sie noch
bei ihrem Fortgange überlegt hatte, wie sie sich den Versuchen der
Ihrigen, ihren Sinn umzustimmen, zu entziehen vermögen werde.

Sie fand auch ein Schreiben und zwei Karten, aber sie waren nicht von
den Lavards geschrieben.

Die eine Karte war von dem Marquis de Curbière, die andere von dem
Hospitalarzt Doktor Kropp. Das Schreiben aber trug die ihr bekannte
Handschrift des Direktors des Krankenhauses, Doktor Stede, der seinem
lebhaften Bedauern darüber Ausdruck gab, daß Imgjor nicht mehr in das
Hospital zurückkehren wolle. Er teilte ihr überdies mit, daß Doktor
Kropp von dort ebenfalls seinen Abschied genommen und sie besuchen
werde, um ihr eine Bitte vorzutragen.

Einen Augenblick vertiefte sich Imgjor nach Lesen dieser Zeilen in ein
stilles Nachdenken, dann griff sie nochmals nach den beiden Karten.

Und da fand sie beim Umwenden auf der Rückseite der vom Doktor Kropp
abgelegten die mit Bleistift geschriebenen Worte:

„Bitte, Ihnen morgen vormittag gegen zwölf Uhr wieder aufwarten zu
dürfen —“ und auf derjenigen des Marquis de Curbière die Notiz:

„Bedaure außerordentlich, Sie nicht getroffen zu haben! Wann darf ich
Sie sprechen?“

Da in diesem Augenblick das neue, von Imgjor statt der diebischen Dirne
angenommene Mädchen, das Stiefkind der Witwe Holm, Gebine Holm, ins
Zimmer trat, und nach ihren Befehlen fragte, wurden Imgjors Gedanken von
ihren eigenen Angelegenheiten abgelenkt.

Sie hatte dem Kinde versprochen, für sein Fortkommen zu sorgen, und
besaß nun selbst nichts!

Das beschäftigte Imgjor so sehr, daß sie erst Ruhe fand, als sie sich
vorstellte, sie könne das junge Ding in Rankholm unterbringen.

Und dadurch wieder in ihren Vorstellungen gehoben, richtete sie einige
bisher verschobene Fragen an Gebine.

„War jemand da, während ich fort war, Kind?“ warf sie hin.

„Ja, gnädige Komtesse! Ein Mann wollte Sie sprechen —“

„Ein Mann oder ein Herr? — Wie sah er aus?“

„Es war — glaube ich — ein Matrose. — Ich fürchtete mich —“

Imgjor schrak heftig zusammen. Sie dachte an den Ueberfall, und
unwillkürlich brachte sie den Besuch mit diesem Geschehnis in
Verbindung. Als Imgjor in jener Nacht endlich die Kraft gewonnen, zu
schreien, waren zwei zufällig nicht weit vom Parkeingang befindliche
Nachtwächter herbeigeeilt und hatten den Strolch verscheucht. Er hatte
ihr aber noch zugerufen, daß er sie von neuem zu treffen wissen werde.

„Wie sah er denn aus, Gebine? War's ein großer, starker dunkler Mann?“
forschte Imgjor stark erregt.

Gebine nickte.

„Ja! Er hatte ein rotes Tuch um den Hals.“

Imgjor fuhr zusammen. So war's also derselbe! Ein rotbraunes Tuch hatte
jener in der Nacht getragen.

„Und was sagtest du, Gebine?“

„Ich sagte, Komtesse wären verreist. Sie kämen heut' Abend mit einem
Herrn zurück, mit einem Rittmeister.“

„Weshalb sagtest du das? Wie kamst du darauf?“ Imgjor sprach's
verwundert.

Das Kind richtete einen ängstlichen Blick auf ihre Gebieterin. Sie
antwortete nicht.

„Nun? Sprich! Weshalb sprachst du von einem Rittmeister?“

„Ja — ich — hatte so schreckliche Angst — Er guckte mich so sonderbar an
— und da, da dachte ich, wenn ich das sagte, dann würde er nicht
wiederkommen, würde er Komtesse nicht belästigen.“

Imgjor sagte zunächst nichts. Sie überlegte, ob sie Gebine schelten oder
ihr für ihre Fürsorge ein Lob spenden sollte. Jedenfalls hatte sie es
gut gemeint, hatte sie sehr fürsorglich gehandelt.

Endlich glaubte sie, das Rechte gefunden zu haben. Sie sprach: „In
diesem Fall war deine Unwahrheit nützlich, Gebine. In der Not mag eine
solche einmal erlaubt sein. Sonst aber mußt du dich strengster Wahrheit
befleißigen. Nichts ist so verabscheuenswert wie die Lüge! Aus ihr
entspringen alle anderen Laster. — Und noch eine Frage: Was äußerte der
Mann, als du dies sagtest?“

„Er fragte, wie lange der Rittmeister bliebe, und wer er wäre.“

„Und du? du? Was — entgegnetest du, Gebine?“

„Ich sagte — ich sagte — daß es Ihr Bräutigam wäre —“

„Aber das war ja abermals eine Lüge!“ stieß Imgjor nun zornig heraus.

„Was sind das alles für Erfindungen — für Phantasien! — Ich bin außer
mir, Gebine! Das macht mich sehr betrübt. Hast du mich auch schon
belogen? Oft? — Heraus mit der Sprache! Du sagtest gestern, ich hätte
dir nur eine halbe Krone gegeben, als du vom Krämer wiederkamst. Ich
hätte mich geirrt. Sprich! Und ich warne dich, etwas anderes zu sagen,
als die Wahrheit! War's doch eine ganze Krone? Hast du die andere Hälfte
in die Tasche gesteckt?“

„O nein — nein — ganz gewiß nicht, Komtesse! Ich habe der Komtesse immer
nur die Wahrheit gesagt. — Der Kaufmann schickte mich gleich wieder weg.
Ich hatte das Geld in Papier gewickelt — ich hatte es gar nicht
nachgesehen —“

„Kann ich dir glauben, Gebine? Sieh', Kind, wenn du mich betrogen hast —
ich werde mich erkundigen — mußt du gleich zu deiner Stiefmutter zurück.
Und wenn du es später thust, ziehe ich meine Hand unwiderruflich wieder
von dir zurück.“

Und zurücksinkend, weil von all den Eindrücken überwältigt, flüsterte
Imgjor: „O welche Einblicke in das Innere der Menschen, — täglich,
stündlich! Wo sind die wahrhaft Reinen, Guten?“ Und dann rief sie das
Kind heran und sprach:

„Gewiß, ein Beispiel, wie du es im Hause hattest, Gebine, macht schlecht
und entschuldigt dich eher! Aber da dir das Unterscheidungsvermögen noch
nicht abhanden gekommen ist, so sage ich dir und wisse und glaube es:
Nur aus dem Guten vermag Gutes zu ersprießen! Eine Weile mag's gehen,
aber es kommt die Zeit, wo du dafür schwer büßen mußt, wo dich tiefe
Reue ergreift, wo du alles hergeben möchtest, um Geschehenes ungeschehen
zu machen! So — und nun gehe zu Bett! Weine nicht mehr! Nein, nein, ich
bin dir nicht böse.“

Und Gebine ging. Imgjor Lavards Gedanken aber wanderten, während sie
noch dasaß, nach Rankholm, und ihr war's abermals jetzt, als ob dort ein
Eden, ein unvergleichliches Paradies sei — in der großen Welt aber —
eine Hölle —

       *       *       *       *       *

Am kommenden Tage verließ Imgjor schon ihre Wohnung und ging ihren
Obliegenheiten nach.

Sie besuchte einige Kranke und Rekonvalescenten, sprach in dem Hause
einer Witwe vor, die eine gelähmte Tochter besaß, welche auf Imgjors
Kosten in ein deutsches Kurbad gesandt worden war, empfing Nachrichten
über diese, die sie erfreuten, nahm auch die Dankworte der stotternden
Frau entgegen und machte sich sodann nach ihrem Bankgeschäft auf den
Weg, um daselbst die für Kollund erforderliche Summe zu holen.

Sie hatte augenblicklich dort nicht einmal ein Guthaben mehr, aber sie
wußte, daß man ihr eine nicht zu groß bemessene Summe auch ohne ein
solches aushändigen werde.

Auf dem Wege dorthin erblickte sie — und das Herz wollte ihr stille
stehen — jenen Menschen, welcher sie in der mehrerwähnten Nacht
überfallen hatte. Er wandte sich von einem Buchladen, vor dessen
Schaufenster er gestanden, gerade wieder der Gasse zu, und nur durch
einen Zufall wurde verhindert, daß er Imgjor gewahrte. Seine
Aufmerksamkeit ward durch eine Equipage, deren Pferde scheu geworden,
abgelenkt.

Diesen Zufall benutzte Imgjor, sich seinen Blicken zu entziehen.

Sie schlüpfte rasch in ein offenstehendes Tabakgeschäft, trat gleich zu
einem tiefer im Fond befindlichen Kommis und wollte eben ein Pfund Tabak
für den alten Ohlsen, den Mann der Blinden, einhandeln, als nun auch
zufällig Doktor Kropp den Laden betrat.

Sehr überrascht, aber mit gewohnter Ehrerbietung sprach er auf Imgjor
ein, und als sie beide den Handel erledigt hatten, bat er um die
Erlaubnis, sich ihr anschließen zu dürfen.

Und Imgjor nickte bereitwillig, schritt mit ihm bis zur Landmannsbank,
woselbst er auf sie wartete, und legte alsdann in seiner Begleitung den
Weg nach ihrer Wohnung zurück.

Immer drehte sich das Gespräch um die Vorgänge im Hospital, und Doktor
Kropp berichtete über die Gründe seines Rücktritts, die wesentlich auch
die ihrigen gewesen.

Zuletzt gelangte er — eben hatten sie die Ecke der Gotersgade erreicht
und wandten sich in stillschweigender Uebereinstimmung dem botanischen
Garten zu — auf seine eigenen, von Stede bereits berührten
Angelegenheiten.

„Ich möchte,“ hub er an und richtete einen etwas verlegenen Blick aus
den schwarzen Augen seines dunkelgefärbten, schmalen und etwas mageren
Gesichtes auf Imgjor, „mich bei Ihnen erkundigen, ob wohl in der
Grafschaft Ihres Herrn Vaters eine Landpraxis frei sein würde. Ich sehne
mich aus dem hiesigen Wirrwar heraus, und ich komme darauf, weil mir vor
Jahren ein früherer Universitätsbekannter, ein Herr Doktor Prestö,
mitteilte, daß eine solche in dem von ihm zu verlassenen Dorfe
Kneedeholm zu haben sein werde.

Wahrscheinlich hat sich inzwischen längst dort wieder ein Arzt
niedergelassen, aber ich wollte mich doch vergewissern und im Fall um
Ihre gütige Unterstützung bitten, Komtesse!“

„Die würde Ihnen auch, soweit meine Kräfte reichen, sehr gern zu
Diensten stehen, Herr Doktor. Aber wir haben, wie sie richtig vermuten,
in Kneedeholm einen Arzt, und für zwei reicht die Praxis nicht aus.

Wohl aber weiß ich, daß der schon bejahrte Physikus in der nahe
gelegenen Stadt Oerebye der Thätigkeit müde ist und sich gern mit einem
Nachfolger einigen würde. Vielleicht wäre das etwas für Sie?“

„Gewiß und um so besser! Ich danke Ihnen verbindlichst, Komtesse! Dürfte
ich nach dieser Richtung auf Ihren gütigen Beistand rechnen? Würde mich
vielleicht Ihr Herr Vater — auf Ihre Empfehlungen gestützt — mit einer
solchen an den Physikus zu versehen die Liebenswürdigkeit haben?“

Imgjors Züge veränderten sich. Sie überlegte, ob sie Kropp von den
inzwischen eingetretenen Vorfällen in ihrer Familie Mitteilung machen
solle.

Sie schwankte aber schon deshalb, weil sie sich vor einer abermaligen
Enttäuschung fürchtete.

Die furchtbaren Erfahrungen der letzten Zeit hatten ihr Mißtrauen gegen
jedermann eingeflößt.

Sie hielt es nicht für unmöglich, daß auch Kropp seine Haltung ändern
werde, wenn sie ihm erklärte, daß sie plötzlich ein armes, des Ansehens,
ihres vornehmen Namens und Reichtums beraubtes Wesen sei.

Aber weil doch wieder ein trotziges Verlangen in ihr saß, mit allem
aufzuräumen, zu wissen, was Weizen und was Spreu sei, entschloß sie sich
schließlich gerade zu einer rückhaltslosen Eröffnung.

„Meine eigene Empfehlung steht Ihnen jederzeit zur Verfügung, Herr
Doktor,“ begann sie. „Eine solche von meinem Vater vermag ich Ihnen aber
leider nicht zu verschaffen. Ich bin gänzlich mit ihm auseinander. Ich
lege sogar meinen Namen ab und werde fortan einen anderen tragen. Noch
einige Wochen, und ich gehe für immer von hier fort! Wohin, weiß ich
noch nicht. Es wird sich ein Ort finden, wo ich mir mein Brot werde
verdienen können.“

„Wie? In der That?“ stieß Kropp in höchster Ueberraschung, aber zugleich
mit einem Ausdruck heraus, der bewies, daß sich etwas anderes, daß sich
eine glückselige Hoffnung in ihm regte.

„Ich bitte, ich bitte, schenken Sie mir Ihr Vertrauen! Erzählen Sie mir,
wie das alles gekommen ist!“ drängte er, während sie sich auf einer vor
dem kleinen See befindlichen Bank niederließen.

Ehrliches Mitgefühl erfüllte ihn, Sorge und Teilnahme ließen ihn
sprechen.

Und Imgjor wollte ihm auch Antwort erteilen, aber da es in diesem
Augenblick bereits zwölf vom Kirchturm schlug, wurde sie daran erinnert,
daß sie um diese Zeit Kollund das Geld einzuhändigen habe. Sie erhob
sich deshalb sogleich wieder und gab Kropp die Erklärung, daß sie fort
müsse, daß ihr jetzt die Zeit fehle. Auch am Nachmittag vermöge sie ihn,
wegen ihrer Verpflichtungen gegen eine erblindete Frau, nicht zu
empfangen, aber später am Abend, in ihrer Wohnung, wollte sie ihm gern
alles mitteilen.

Bei den letzten Worten kamen ihr zwar Bedenken.

Ihr fiel unruhvoll auf die Seele, daß Kropps Besuch bei ihr falsch
ausgelegt werden könnte, daß sich daraus neue Anschuldigungen entwickeln
könnten, denen sie unter allen Umständen vorbeugen wollte.

Und als sich dann, während sie dahin schritten, weitere Erörterungen
entwickelten, als Kropp erfuhr, welche Bewandtnis es mit Kollund und mit
der Blinden habe, als sich herausstellte, daß Imgjor lediglich aus
Mitleid der Alten die Wohnung täglich reinige und ihr vorlese, stand er
plötzlich still und richtete einen bewundernden Blick auf das junge
Mädchen an seiner Seite.

„Ah, welch' ein edles, selbstloses Wesen sind Sie, Komtesse! Wahrlich,
man sucht Ihresgleichen vergebens! Aber wie vertrauensvoll sind Sie auch
noch! Nicht einen Oer dürfen Sie dem Betrüger Kollund geben. Es ist ja
alles erlogen! Die Umstände benutzt er, um Ihnen Geld aus der Tasche zu
locken. Ich bitte Sie dringend, geben Sie mir die Sache in die Hand. Ich
werde dem Schwindler seinen Standpunkt klar machen, ich werde ihn
veranlagen, auf jeden Schilling zu verzichten! Für bessere Zwecke, für
nützlichere, für sich selbst, teure, verehrte Komtesse, bewahren Sie Ihr
Geld! Nun, was meinen Sie? Darf ich Ihr Anwalt sein?“

„Ich gab mein Wort, Herr Doktor! Selbst wenn Sie Recht haben — es ist
vielleicht möglich — darf, kann ich es doch nicht brechen.“

„Gewiß! Sie sind sogar dazu verpflichtet, solchen Schwindlern nicht noch
die Wege zu ebnen! Wollen Sie glauben, daß derselbe Mensch sich mir
verkauft, wenn ich ihm heute im Auftrage eines Konsortiums den Antrag
Stelle, an anderen Orten Dänemarks Vorträge im entgegengesetzten Sinn zu
halten? Natürlich! Gold muß die Lockspeife sein!“

„O nein, nein, für so erbärmlich, für so niederträchtig halte ich ihn
nicht! Sie gehen zu weit!“ rief Imgjor. „Von dem, was er lehrt, ist er
überzeugt!“

„Es ist mir leider nicht möglich, Ihnen durch eine anzustellende Probe
den Beweis der Richtigkeit meiner Behauptungen zu liefern, Komtesse. Es
fehlen mir die Mittel. Aber ich bitte nochmals, daß Sie mir Ihre Sache
zur Erledigung anvertrauen! Sagen Sie ihm, oder wenn ein Bote kommt,
diesem, ein befreundeter Herr werde Herrn Kollund zur Erledigung der
Angelegenheit besuchen. Ich bringe Ihnen alles in Ordnung, verlassen
Sie sich darauf! Nur das Lokal, wenn solches wirklich bezahlt werden
muß, und die Kosten für die Inserate werde ich ihm vergüten, und er wird
sich damit zufrieden geben. Aus seiner sicher erfolgenden
Verzichtleistung werden Sie schon erkennen, welch' Geisteskind er ist.“

„Nun wohlan! Ja — ich will! Ich danke Ihnen! Gelingt es Ihnen, so soll
das Geld denen zukommen, von denen ich weiß, daß sie dessen bedürftig
sind. Und nun auf Wiedersehen! Gegen sieben Uhr erwarte ich Sie in
meiner Wohnung. Wir werden dann alles besprechen, was noch der
Erledigung harrt.“

Nach diesen Worten nahm Imgjor von ihrem Begleiter — eben waren sie an
ihrer Wohnung angelangt — mit einem freundlichen Blick Abschied.

       *       *       *       *       *

Oben angekommen, sah sie einen fremden Mann im Flur stehen, und Gebine
erklärte sogleich, daß er von Kollund komme. Nachdem er verständigt
worden war und sich entfernt hatte, begab sich Imgjor in ihr Zimmer, um
einige Zeilen an Curbière zu schreiben, und als sie den Brief eben
beendigt hatte, erschien Gebine und meldete, daß ein ihr unbekannter
Herr sie zu sprechen wünsche.

„Frage erst nach seinem Namen!“ entschied Imgjor, von einer angenehmen
Ahnung erfaßt. Sie sah forschend empor, als Gebine mit einer Karte in
der Hand wieder ins Zimmer trat. Auch griff sie mit hastiger Hand
danach, fand den Namen, den sie erwartet hatte, und nickte zum Zeichen
ihres Einverständnisses, den Besuch empfangen zu wollen, mit dem Kopfe.

Und dann, wenige Augenblicke später, trat Curbière zu ihr ins Zimmer,
küßte ihr ehrerbietig die Hand und erklärte, daß er gekommen sei, um von
ihr Abschied zu nehmen. Sein Vater sei plötzlich gestorben, er,
Curbière, müsse noch diesen Abend Kopenhagen verlassen, habe aber nicht
fortgehen wollen, ohne Imgjor noch einmal gesehen und gesprochen zu
haben.

„Lavards verlassen infolge des Trauerfalles morgen abend ebenfalls
Kopenhagen und kehrten nach Rankholm zurück,“ schloß der Marquis.

„Bevor sie gehen, möchte Lucile Sie, liebe Imgjor, sprechen, möchte mit
Ihnen überlegen, ob nicht doch noch ein Weg zum Frieden zu finden ist.
Allerdings — den Vortrag dürfen Sie nicht halten. Treten Sie heut' Abend
öffentlich auf, ist der Graf entschlossen, sich unweigerlich von Ihnen
loszusagen, und dies auch öffentlich bekannt zu geben! Ich bitte, daß
Sie darin nachgeben, ja, ich beschwöre Sie, teure Imgjor, bringen Sie
Ihrer Familie zu Liebe dieses Opfer!“

Zunächst gab Imgjor keine Antwort, es war ihr vorerst Bedürfnis, mit
Curbière über den Tod seines Vaters zu sprechen. Sie ließ sich
ausführlich von ihm erzählen, hörte aufmerksam zu und drückte ihm voll
Teilnahme die Hand, als ihn zuletzt eine weiche Stimmung ergriff, als er
in bewegten Worten betonte, daß er mit dessen Tode das bisher Beste auf
der Welt verloren habe, was er sein eigen genannt hätte.

„Sie haben Lucile dafür gefunden, lieber Armand! So war das Schicksal
schon vorher mitleidig für Sie bedacht, Ihnen für das, was es Ihnen
nehmen mußte, einen Ersatz zu gewähren.“

Curbière bewegte stumm das Haupt, dann sah er Imgjor mit einem tiefem,
alle seine Gedanken und Sinne auf sie richtenden Blick an und sprach ein
kurzes, zerstreutes: „Gewiß — allerdings!“

„Ich habe Ihnen noch eine Antwort zu geben,“ lenkte Imgjor rasch und
umsichtig ab. „Den Vortrag werde ich nicht halten; man hat mich
unerwartet meines Wortes entbunden. Also beruhigen Sie meinen Vater!
Aber, lieber Freund, ich werde auch keine Lavard wieder werden. Es sei
denn —“

„Nun, Imgjor?“ Curbière sprach's gespannt.

„Daß ich allem entsage, und für immer nach Rankholm zurückkehre. Und
eben das vermag ich nicht, so sehr ich meine Pflegeeltern zu verehren
Anlaß habe, und so sehr ich es liebe und mich nach jedem Plätzchen
sehne, wo ich als Kind glücklich war. Ich kann eben nicht im Ueberfluß
und ich kann nicht ohne Hingabe an meine Mitmenschen leben!“

„Wollen Sie denn in Kopenhagen bleiben, Imgjor?“

„Nein — hier haben mir Verleumdung und Mißgunst den Aufenthalt unmöglich
gemacht. Ich wüßte nur einen Ort, wohin ich paßte —“

„Und der wäre?“

„Ich möchte nach Paris. Da, glaube ich, würde ich in Thaten umsetzen
können, was mir als Ideal vorschwebt. Dort ist der Boden für mich, und
finde ich solche, die gleich mir denken!“

Im ersten Augenblick belebten sich Curbières Augen. Sie sprach mit
solcher Begeisterung von seiner Vaterstadt, von Paris! Das schmeichelte
ihm. Aber ebenso rasch gewannen andere Gedanken die Oberhand. Alles war
verloren, wenn er ihr nicht gerade diese Idee ausredete! Er wußte, daß
sie dort nicht nur nichts erreichen, sondern sicher untergehen würde. In
diesem Sinne sprach er auf sie ein. Nachdem er alle ihre Einwendungen
überzeugend widerlegt hatte, schloß er: „Und wollen Sie uns ein Opfer
bringen, sich selbst auch Ihrem eigenen Ich zurückgeben, so heiraten Sie
den Grafen Dehn! Ich verschwieg Ihnen sein Kommen. Er ist gestern
eingetroffen und kehrt morgen abend mit den Ihrigen nach Rankholm
zurück. Daß er Sie noch mit der alten Leidenschaft liebt, weiß ich.“

Imgjor hatte mit Leichenblässe im Angesicht die letzten Worte vernommen,
auch hatten ihre Hände unwillkürlich nach einem Stützpunkt gegriffen. Da
war nun wieder ein neuer Ansturm auf ihr Inneres, nun kam auch noch
diese Versuchung!

Aber kurz war nur ihr Kampf. Prestö hatte sie geliebt, weil sie gehofft
hatte, durch ihn ihre Ideale verwirklichen zu können. Axel Dehn liebte
sie mit der Stärke jener Liebe, die aus Achtung entspringt. Ein
lebhaftes Interesse für den Franzosen war in ihr aufgestiegen, weil er
neben seiner weltmännischen Erziehung wiederholt an den Tag gelegt
hatte, daß er ein Mann von Verstand und Geist war, und daß er zugleich
ein edles Herz besaß. Aber Prestö hatte sie inzwischen hassen gelernt,
Graf Axel Dehn wollte sie nicht lieben — und Curbière gehörte ihrer
Schwester an! So war alles entschieden. Indem sie Curbière mit einem
Blick ansah, durch den sie schon voraussandte, daß sie sich nur mit der
ernsten Seite dieses ernsten Gegenstandes beschäftigte, sagte sie: „Ich
vermag nicht zu beurteilen, ob Sie den richtigen Weg wählten. Es wäre ja
auch möglich gewesen, daß Sie durch solche Offenherzigkeit gerade das
Gegenteil bewirkt hätten! Sie haben mir zu allem, was ich zu tragen
habe, noch etwas Schweres aufgebürdet. Sie haben aber meine Freundschaft
angerufen, und das soll nicht umsonst geschehen sein, Armand! Ich
verzichte darauf, nach Paris zu gehen, aber Ihre Bitte, den Grafen Dehn
zu heiraten, vermag ich nicht zu erfüllen. Ich werde nie heiraten, weder
ihn, noch einen anderen!“

Bei diesen Worten sah sie ihn mit einem so unbeugsamen Ausdruck an, daß
der Mann fernere Versuche, sie umzustimmen, ausgab. Noch einen
Händedruck tauschten sie beide mit den Gedanken reiner Seelen. Dann ging
er. Sie aber sank, während das Geräusch seiner Schritte auf der Treppe
verklang, in tiefem innerem Verstummen zurück.

       *       *       *       *       *

Am Nachmittag bestieg Imgjor einen Tramwaywagen und begab sich nach der
Wohnung der alten Frau Ohlsen. Es war ihr, dort angekommen, schon
auffallend, daß sie eine Anzahl Frauen und Männer, lebhaft sprechend,
auf dem Hofe fand, und sie erschrak nicht wenig, als ihr auf ihre Frage,
ob etwas geschehen sei, erwidert wurde, daß den Alten in der Frühe der
Schlag gerührt habe.

Durch Zufall habe man es entdeckt, habe auch die Alte davon Kenntnis
erhalten. Sie habe geglaubt, daß er schon fortgegangen sei, als sie
einen schweren Fall in der Küche gehört. Imgjors erster Gedanke bei
diesem Unglück war die Ueberlegung, was jetzt als der hilflosen Witwe
werden solle. Nun waren ihr durch diesen Tod die Neben-Hilfsmittel zum
Leben ganz entzogen. Und von dieser Erwägung richteten sich ihre
Vorstellungen auf das Nächstliegende. Der Mann mußte beerdigt werden.
Sie gab einem zu solchen Zwecke von ihr bezahlten Mann Auftrag, sich
sogleich fortzubegeben, um eine Leichenwäscherin zu bestellen und einen
Tischler zur Anmessung des Sarges herbeizurufen. Und nachdem das
geschehen war, trat sie zu der Alten, sprach sanfte Trostworte und
erklärte ihr möglichst schonend, daß sie nunmehr in das Armenfrauenhaus
übersiedeln müsse. Auch eröffnete sie ihr, daß sie, Imgjor, demnächst
Kopenhagen verlassen würde und persönlich in keiner Weise mehr für sie
zu sorgen im stande sei.

Und die Blinde beugte das Haupt wie unter einem Schlage, während Thränen
aus ihren lichtlosen Augen tropften. Noch begab sich Imgjor dann in die
Küche um nach dem Toten zu sehen. Freilich, was sich ihr bot, war
erschütternd. Kalt, steif und unbeweglich lag der alte Mann auf dem
Fußboden. Ihn zu betten, war erforderlich. Und solches veranlaßte Imgjor
durch die Nachbarn, und nachdem auch das geschehen, erklärte sie der
alten Frau, ihr für die nächsten Tage eine Hilfe schicken zu wollen. Sie
beschloß, ihr Gebine zu senden. Auch ihre Ueberführung in das
Armenfrauenhaus zu betreiben, versprach sie ihr nochmals, und nachdem
die Alte dazu mit tief gerührten Gefühlen genickt, nahm Imgjor von ihr
Abschied.

„Adieu, Adieu, Frau Ohlsen! Tragen Sie, was Gott Ihnen schickte, mit
Geduld! Viele haben es noch weit schwerer —“

Und die Alte nickte abermals, während sie Imgjors Hände mit ihren
mageren Fingern fest umklammerte.

„Gott segne Sie, Komtesse!“ schluchzte sie. „Ich werde immer an Sie
denken, und noch mit meinem letzten Atemzuge werde ich Segen auf Sie,
als einen menschlichen Engel, herabflehen!“

Imgjors Augen wurden naß. Alle Mühsalen, aller Undank waren vergessen,
den sie von anderen erfahren hatte, um dieser einen willen, in deren
geprüftem Herzen noch Gottvertrauen, noch edle Empfindungen, noch
Dankgefühle Platz hatten. Dann, mit einem letzten Händedruck, sagte sie:
„Geld und mein Mädchen werde ich Ihnen schicken. So ist für alles
gesorgt. Adieu! Adieu! Gott schütze Sie, meine gute Alte!“

Und: „Adieu! Adieu!“ schluchzte die Alte, aus derem verdunkeltem Dasein
mit Imgjor der letzte matte Lichtschimmer schwand.

Imgjor aber richtete, hinaustretend, das Auge nach oben. Sie fand sich
mit ihrem immer wieder vertrauenden Herzen und mit ihrem heißen Drange
nach Liebesthaten von neuem gehoben. Es gab doch noch Empfängliche, doch
noch Dankbare. So überlegte sie abermals.

Nachdem sich Imgjor eben abends in ihrem Wohngemach eingerichtet hatte,
wurde an der Klingel gezogen, und Doktor Kropp erschien, um
verabredetermaßen über seinen Besuch bei Kollund Bericht abzustatten.
Und Imgjor trat ihm mit nicht geringer Spannung entgegen und that schon,
bevor er noch Platz genommen, eine Frage nach dem Ergebnis.

„Anfangs wies er meine Forderung auf einen Verzicht schroff zurück,“
entgegnete der Doktor, Platz nehmend. „Er wolle,“ erklärte er, „mit
Ihnen selbst reden und Sie an Ihr gegebenes Wort erinnern. Dieselben
Unwahrheiten, die er gegen Sie vorgebracht hatte, erneuerte er; er nahm
den Mund sogar noch voller. Erst als ich erklärte, daß ich in einer der
Kopenhagener Zeitungen veröffentlichen würde, welchen Charakter die
Forderungen hätten, die er an Sie, gnädigste Komtesse, in dieser
Angelegenheit gestellt habe, gab er, sich krümmend, nach. Aber eine Flut
von Anschuldigungen folgte sowohl gegen Sie, wie gegen mich, bevor ich
ihm, nach einer nochmaligen, gründlichen Abfertigung den Rücken kehrte.“

„Ah — also wirklich!“ stieß Imgjor, von tiefem Abscheu ergriffen,
heraus. Dann reichte sie Kropp bewegt die Hand, sprach ihm ihren Dank
aus und händigte ihm die Summe ein, die er Kollund bezahlt hatte. Zum
Schluß bat sie ihn, noch so lange zu verweilen, bis sie ihm eine Tasse
Thee bereitet habe. Sie umging es, daß er sie sonst noch sprechen
wollte, weil ihr Zeit und Ort doch nicht geeignet schienen. Im Grunde
hoffte sie, daß er ihre Aufforderung ablehnen werde. Aber er, der
überhaupt keine anderen Gedanken hatte als sie, der überdies nichts
erwarten konnte zu erfahren, durch welche Umstände sie ihres Reichtums
und ihres Namens verlustig gegangen war, stimmte dankend zu, und saß
noch neben ihr, als schon die Uhr vom Kirchturm die zehnte Stunde
verkündet hatte. Dann aber drängte sie ihn selbst zum Gehen, und als er
dann noch eine mitleidige Frage that, was sie denn nun beginnen, wohin
sie sich wenden wolle, sagte sie: „Eine Woche brauche ich beinah' noch,
um hier alles zu ordnen, um auch von denen Abschied zu nehmen, die mir
im Laufe dieser Jahre näher getreten sind. Dann will ich irgendwo eine
Stelle als Schwester in einem Krankenhause im Norden oder auch im
südlichen Deutschland suchen. Was dann später geschieht, müssen Zeit und
Gelegenheit lehren. Immer hoffe ich noch, daß ich Gleichgesinnte,
Ehrliche und zugleich Begüterte finde, die sich mit mir zur
Verwirklichung von Reformen im Großen verbinden. Die Mißerfolge, die
traurigen Erfahrungen, die mir unter den Armen wurden, dürfen mich nicht
abschrecken. Auch in meinen Kreisen giebt's wertvolle und minderwertige
Personen. Ist die Masse auch roh, so ist sie doch bildungsfähig. Man muß
sie nur auf den rechten Weg leiten.“

„Können Sie sich denn nicht vorstellen, daß es auch fruchtbringend ist,
im Kleinen zu wirken, gnädigste Komtesse?“ wandte Kropp vermittelnd ein.

„Gewiß, Herr Doktor! Auf Rankholm, der großen Besitzung meines Vaters,
suchte ich den Armen und Leidenden ein hilfreicher Freund zu sein. Aber
dort war es das Wohlleben in der Familie, der Luxus, der mich umgab, die
mich anwiderten. Auch andere Verhältnisse trieben mich fort, und nun —
ich erzählte Ihnen ja alles — hat sich ja überhaupt die Trennung
zwischen mir und den Meinigen vollzogen. Ich muß mich jetzt treiben
lassen — mir bleibt keine Wahl.“

„Doch, doch, Komtesse! — Es giebt sehr viele, die namenlos glücklich
sein würden, wenn sie ihr Schicksal mit dem Ihrigen verbinden dürften!
Auch ich gehöre zu ihnen —“ schloß Kropp feurig und einen liebewarmen
Blick auf Imgjor richtend. „Ich liebte Sie von dem ersten Augenblick an,
Komtesse! Ihre Stellung, Ihr Ansehen, Ihr Name ließen mich verschweigen,
was ich für Sie empfand. Wie konnte, durfte ich wagen, um die Hand einer
Gräfin Lavard zu werben? Heute aber, wo Sie sich selbst zu
meinesgleichen gemacht, fasse ich den Mut, zu sagen: Werden Sie mein!
Lassen Sie uns zusammen einen Ort suchen, wo wir uns und der
Allgemeinheit leben, wo wir in bescheidenerer und guter Weise das zum
Ausdruck bringen können, was Sie edelmütig anheben. Sie haben mich
kennen gelernt. Sie wissen, daß ich nicht zu den Wortmachern gehöre, daß
ich Vernünftiges redlich erstrebe. So bin ich Ihrer vielleicht nicht
unwert, so darf ich vielleicht hoffen, daß ich auch Ihnen nicht ganz
gleichgiltig bin —“

„Nein, Sie sind mir nicht gleichgiltig, ich achte Sie hoch, lieber Herr
Doktor!“ fiel ihm Imgjor, die erst mit gesenkten Wimpern, dann sich mit
offenen Augen ihm zugewendet und zugehört hatte, in die Rede. „Aber ich
kann — so schmerzlich mir diese Antwort ist — die Ihrige nicht werden.
Ich will überhaupt nicht heiraten. Ich liebte einmal und wurde
grenzenlos betrogen. Da that ich einen Schwur, einem Manne niemals
wieder die Hand zum Bunde zu bieten.“

„Ist nicht aber das Leben da, um aus ihm zu lernen, Komtesse? Lehrten
Sie nicht Ihre Erfahrungen, wie hohl die große Masse ist, wie wenig
glücklich eine Beschäftigung mit ihr macht, wie nur ein treues Streben
im kleineren Kreise beglückt — und lehrt es nicht, daß das eben auch das
Richtige ist? Wer herrschen, reformieren will, braucht Macht und zehnmal
Macht, durch die er allein die Massen zu bezwingen vermag. Und wiederum:
Wenn Sie in die Weltgeschichte blicken, wie wenige konnten diese Stärke
und Fülle richtig anwenden, und wie Geringes haben sie, waren ihre
Absichten noch so ehrlich, erreicht! Sie besitzen diese Macht schon
deshalb nicht, weil Sie über keine Mittel mehr verfügen, Komtesse!
Lassen Sie ab von dem Greifen nach Sternen! Wo immer sich in engeren
Kreisen die Menschen zu Liebeswerken zusammenthun, da wird's etwas. Aus
diesem Wirken resultieren die großen Errungenschaften der Humanität, die
praktischen Ergebnisse eines richtig verstandenen Christentums! Und noch
ein anderer Gesichtspunkt! Will nicht jeder glücklich sein, so lange ihm
ein Dasein beschieden? Befriedigt Sie denn wirklich dieses Aufgehen ins
Allgemeine? Was haben Sie erreicht? Man spottet Ihrer als einer
Ueberspannten! Keiner dankt's Ihnen! Wo die Fähigkeit vorhanden wäre,
den Wert Ihrer Bestrebungen zu erkennen, macht sich der Neid breit,
sicher die Oberflächlichkeit, die schon deshalb die Dinge verurteilt,
weil sie selbst keinen Geschmack daran findet, oder sie zu untersuchen
zu träge ist. Habe ich nicht recht, Komtesse?“ schloß Kropp, als Imgjor
nichts erwiderte, als sie, in tiefes Nachdenken versunken, vor sich
hinstarrte. Sie kämpfte, wie neuerdings schon wiederholt. Für Sekunden
flog's ihr durch den Sinn, daß er die Wahrheit getroffen, und daß er der
Mann sei, durch den sie sich und andere glücklich machen könne. Aber wie
kleine Einwirkungen häufig ein schon hoch aufgerichtetes Gebäude zum
Fallen bringen können, so war's hier. Als ihr Blick während des Sinnens
auf ihren Schreibtisch und dabei auf ein Bild von Rankholm fiel, trat
ihr plötzlich alles dort Geschehene und trat ihr auch wieder Graf Axel
Dehn ins Gedächtnis. Und das entschied. Da sie diesem ein „Nein“ gesagt,
wollte, durfte sie auch Kropp kein Jawort geben. So lehnte sie abermals
ab, und so schied mit ihm wieder ein Freund und ein Mann aus ihrem
Leben, der ihr von Herzen zugethan war und der es gut mit ihr meinte.

       *       *       *       *       *

Im Rankholmer Palais hielt man Familienrat und dessen Gegenstand war,
wie so oft, Imgjor.

Nur ein Mittel gab's, von dessen Anwendung Lucile und die Gräfin noch
etwas erwarteten. Sie schöpften aus dem Umstande, daß in dem damaligen
Gespräch der Geschwister in Rankholm ohne Zweifel ein starkes Interesse
Imgjors für Axel zum Ausdruck gelangt war, die Hoffnung, er, Axel, werde
durch einen klugen Anlauf vielleicht doch noch ihr Herz in einem für ihn
günstigen Sinne rühren können. Daß in ihm die alten Gefühle nicht
erloschen seien, hatte er gleich bei der ersten zwischen ihm und den
Damen stattgefundenen Unterredung erklärt. Er hatte geäußert, daß ihn
eine grenzenlose Sehnsucht beherrsche, sobald wie möglich in Imgjors
Nähe zu gelangen. Und dieser Drang hatte sich bis ins Ungemessene
verstärkt, als Lucile ihm nun auch — alle Bedenken, die sie früher mit
Rücksicht auf sich selbst abgehalten — eröffnet hatte, was in jener
Unterhaltung für ihn zu Tage getreten war.

Graf Dehn hatte die Neigung der Familie, den Aufenthalt in Kopenhagen
noch um etwas zu verlängern, mit allen Mitteln zu befestigen und durch
Unterredungen mit dem Grafen auch dessen Widerstand gegen seine
Pflegetochter wesentlich zu mildern gewußt. Er hatte in förmlicher Weise
um Imgjors Hand bei dem Grafen angehalten und von ihm die Erlaubnis
erwirkt, nach seinem Ermessen die Schritte zu thun.

Zunächst verabredete er mit Lucile, die sich seinen Plänen mit
liebenswürdigem Eifer widmete, die nun, nachdem ihr Herz durch einen
anderen Mann, den sie hingebend liebte, ausgefüllt war — alle Bedenken
und eifersüchtigen Regungen abgestreift hatte, daß sie Imgjor sogleich
besuchen und ihr unter besonderer Begründung die Bitte vorlegen solle,
Axel empfangen zu wollen. Lucile ging auch sogleich ans Werk.

Sie ließ sich, vorher noch einige die Trauer angehende Besorgungen
erledigend, in der Lavardschen Equipage nach Imgjors Wohnung fahren und
fand ihre Schwester in der vordem erwähnten Gemütsverfinsterung an ihrem
Arbeitstisch.

Als die durch Gebines Anmeldung aus ihrem dumpfen Sinnen
Emporschreckende Lucile vor sich sah, legte sie die Feder rasch und
verlegen bei Seite, auch schob sie ihr Tagebuch, in das sie etwas
hineingeschrieben, unter andere Papiere. Freilich erlitt der Schwertern
Begegnung sogleich wieder eine Unterbrechung. Man schickte nach Imgjor,
und diese eilte unter sanftem Ausdruck ihrer Schwerer Zustimmung
erbittend, über die Straße an das Krankenbett einer armen Frau.

Und weil Imgjor ein längere Weile fortblieb, griff Lucile nach einem auf
dem Tisch liegenden Buch und fand in diesem einige von Imgjors Hand
herrührende, offenbar für das Tagebuch bestimmte, zufällig hier
hineingeratene Niederschriften, die ihr Interesse fesselten. Sie
lauteten: „Eine einzige That des Edelmuts und eine einzige
Unvorsichtigkeit sind genügend, um einem Menschen für immer bei der
Menge den Stempel seines Wertes oder seines Unwertes aufzudrücken.
Vielleicht verdienten sie beides nicht. Zu allem gehört Glück, aber auch
dazu, für etwas anderes zu gelten, als man ist.“

Und noch eine Betrachtung hatte Imgjor auf die andere Seite geschrieben,
die Lucile las, bevor ihre Schwester wieder ins Zimmer trat: „Gehemmte
Liebe gleicht einem vergeblich nach einer Flamme ringendem Feuer. Wie
dort unter kämpfendem Rauch, unheimlichem Schwelen und Qualmen der
Gegenstand zu Asche verglimmt, so hier allmählich unter dumpfen Qualen
die Seele.“

Gleich darauf trat Imgjor wieder ins Gemach.

„Ich komme,“ hub Lucile an und richtete einen liebenswürdigen Blick auf
ihre Schwester, „um dich um etwas zu bitten: Graf Dehn möchte dich
sprechen! Er beruft sich darauf, daß du ihm einst eine Unterredung
zugefügt habest, und daß er, da er von diese keinen Gebrauch gemacht,
noch Anrechte auf deine Zuvorkommenheit besitze. Wann willst du ihn
empfangen, liebe Imgjor?“

Zunächst fuhr Imgjor zusammen, und ihre Wangen verfärbten sich. Wie von
einer schweren Denklast bedruckt, senkten sich ihre Augenlider, und die
Finger griffen, unter dem Druck der Erregung, in die Handflächen.

„Wann wünscht Graf Dehn die Unterredung?“ warf sie tonlos hin. „Und wo?“

„Nun — bei dir — oder besser — bei uns!“

Imgjor schüttelte den Kopf.

„Was habe ich noch bei Euch zu thun, Lucile? Wir haben uns doch für alle
Zeiten auseinandergesetzt.“

„Nur du hast es Imgjor! Nachdem du von deinem Eigensinn, öffentlich zu
sprechen, Abstand genommen, ist Papa wieder versöhnlich gestimmt. Du
wirst ihm sogar ganz die Alte sein, wenn —“

„Ja, ich weiß: Wenn ich allem — allem entsage! — Ach, Lucile —“ setzte
das seelisch tief bedrückte, junge Mädchen an, brach in Schluchzen aus
und fiel, wie damals in Rankholm, von ihren Gefühlen übermannt, neben
ihrer Schwester nieder. Und hier blieb sie liegen, und erst als Lucile
mit rührender Güte immer von neuem auf sie einsprach, erhob sie sich und
fand wieder Halt und Fähigkeit zum Sprechen.

„Du zeihst mich des Mangels an Liebe zu Euch!“ stieß Imgjor heraus,
hielt in der Beklemmung den Atem an und ließ ihn dann langsam wieder der
Brust entweichen.

„Und doch schwöre ich dir, daß ich Euch allen die die größten Opfer
bringen würde, die ein Mensch zu bieten vermag, daß ich Euch über alles
liebe! Wie viele Nächte habe ich durchgeweint, daß ich so beschaffen,
daß ich nicht bin, wie Ihr wünscht! Ach, könnte ich diesen Drang nach
Höherem, Befreiendem, könnte ich dies Allgemeingefühl für meine
Schwestern und Brüder in der Welt aus meiner Brust reißen, mich, wie
andere, in engeren Grenzen glücklich fühlen, dort für meine Art volle
Befriedigung finden, ich würde Gott auf den Knieen danken! In solchem
Sinne — ich bitte — Lucile — fasse mein Naturell auf und so mühe dich,
den Eltern immer wieder mein Wesen zu erklären. Denket, daß der Schöpfer
_Euch_ so erschaffen hätte! Dann werdet Ihr mich leichter begreifen.“ —

„Ja — ich will's, meine liebe, arme Imgjor! Aber nun, ich bitte, erteile
mir eine Antwort für Graf Dehn —“

„Da ich ihm mein Wort gab, will ich es halten, Lucile! Nur weiß ich
nicht, wo es geschehen kann! Er muß also warten oder hierherkommen. Wann
wollt Ihr reisen?“

„Die Trauer macht es erforderlich, daß wir wieder nach Rankholm
übersiedeln. Nur um deinetwillen haben wir unsere Abschiedsvisiten noch
aufgeschoben. Wir möchten den Kondolenzbesuchen entgehen, mit denen man
schon beginnt. Auch andere Gründe sprechen dafür, nachdem Curbière
abgereist ist. Nur Graf Dehn will seinen Aufenthalt noch einige Zeit
ausdehnen und dann — nach der Lausitz zurückkehren. Er hat die Absicht,
jetzt das Gut, das ihm sein Onkel vererbt hat, selbst zu übernehmen.“

„Was will er denn noch hier?“ Imgjor sprach's mit ihrer alten
Schroffheit.

Statt zu antworten, griff Lucile nach dem Schriftstück, das sie in dem
Buch gefunden, und sagte: „Lasse mich dir als Erwiderung vorlesen, was
du geschrieben hast, Imgjor!“

Und Lucile las: „Gehemmte Liebe gleicht einem vergeblich nach einer
Flamme ringenden Feuer. Wie dort unter kämpfendem Schwelen, unheimlichem
Rauch und Qualmen, der Gegenstand zu Asche verbrennt, so hier unter
dumpfen Qualen allmählich die — Seele.“

Imgjor schloß erst die Augen. Blässe zog über ihre Wangen. Dann neigte
sie das Haupt, reichte ihrer Schwester still die Hand und sagte: „Also
morgen Mittag, Lucile, erwarte ich des Grafen Besuch. Wir werden dann
für immer einen Abschluß erhalten.“

Lucile sah erschrocken empor. Einen so düsteren Klang hatten die Worte.
Aber als sie in Imgjors Zügen forschte und dort einen Ausdruck sanfter
Ergebung begegnete, zerstreuten sich ihre Gedanken.

Noch wenige Sekunden, dann hatten sich beide getrennt.

       *       *       *       *       *

In einer herzklopfenden Erregung stieg am folgenden Mittag Graf Dehn zu
der von Imgjor angesetzten Zeit die Treppe zu deren Wohnung empor. Er
sah auch gleich die, nach der sein Herz verlangte.

Als er ihre Hand ergriff und sie tiefbewegt an seine Lippen zog, flog
ein Zittern durch des jungen Mädchens Körper, und zunächst fehlten ihr
die Worte.

Aber da sie nicht weich werden, da sie diesem Gespräch den Charakter
nehmen wollte, den Graf Dehn ihm zu geben beabsichtigte, sagte sie mit
sanfter Unterordnung im Ton:

„Ich bitte Sie inständig, Graf Dehn, mir dieses Wiedersehen nicht zu
erschweren, mir es vielmehr zu erleichtern! Ich bin durch eine
Krankenpflege meiner Kräfte so sehr beraubt, daß ich nicht fähig bin —“
Hier stockte sie, ihre Hände griffen nach der Lehne eines Stuhles und
fernere Worte versagten.

Und der Mann, tief ergriffen, wollte sie stützen. Aber sie gewann dann
doch ihre Kraft zurück und sagte, während sie ihn durch eine Bewegung
ersuchte, ihr gegenüber Platz zu nehmen, nunmehr fest:

„Ich bitte, sagen Sie mir, was Sie zu mir führt! Ich weiß, die
Höflichkeit, — die Rücksicht, die man dem Mitglied einer befreundeten
Familie erweist, in erster Linie. Aber es ist noch etwas anderes. Ich
entnahm es Luciles Worten. Ich werde Ihnen aufmerksam zuhören und
glücklich sein, ich versichere Sie, wenn ich Ihnen — falls Sie einen
Wunsch haben — solchen erfüllen kann! Ich vergaß nie und werde niemals
vergessen, was ich Ihnen zu danken habe. Ich war damals krank und blind.
Ich war deshalb namenlos ungerecht gegen Sie, Graf Dehn, obschon meine
Achtung vor Ihrem Charakter stets dieselbe war. Schon nach der Richtung
habe ich sehr viel gut zu machen, vielleicht so viel, daß ich die Schuld
nie abtragen kann. Nehmen Sie dieses Eingeständnis und die Bitte, mir zu
verzeihen, entgegen! Und nun? Ich höre!“

Nach diesen Worten sprach Graf Dehn in langer Rede, kam zurück auf die
Vorgänge in Rankholm, erörterte, mit stetem Hinweis auf sie, Imgjor, die
Gründe, weshalb er sich auf Reisen begeben, erklärte, daß er keinen Tag
verlebt, ohne ihrer gedacht zu haben, und daß er nun, von Sehnsucht
getrieben, sie wieder zu sehen, hierher, nach Kopenhagen, gereist sei.

„Ich vermag nur einmal zu lieben, Komtesse. Sie liebte ich seit der
ersten Begegnung. Ich werde auch nie einem anderen Mädchen mein Herz
schenken. Das alles wollte ich Ihnen sagen und Sie fragen, ob Sie mir
nicht ein wenig gut sein könnten! Ich wollte Sie bitten, mir auf meine
Besitzung zu folgen, um ein Glück zu finden, das in gegenseitiger
Uebereinstimmung wurzelt und in Thaten der Nächstenliebe einen
wesentlichen Teil seine Befriedigung findet. In jedem Fall — ich bitte,
ich beschwöre Sie — entsagen Sie Ihren jetzigen Plänen! Begnügen Sie
sich mit den Erfahrungen, die Sie einsammelten, die Sie belehrt haben
müssen, daß nicht wir die Welt regieren können, sondern nur ein Werkzeug
sind, um in gemessenen Grenzen bei der Ordnung der Dinge mitzuwirken.
Thuen Sie es auch um Ihren Eltern, die Ihre Rücksicht so sehr verdienen,
— zu beweisen, daß Sie nicht undankbar sind.

Ihr Pflegevater — es ist ersichtlich — wird sich innerlich und
körperlich aufreiben, wenn Sie eine mit solchen Ungelegenheiten für Sie
und die Familie verbundene öffentliche Wirksamkeit fortsetzen. Auch die
Gräfin leidet unter diesen Verhältnissen mehr, als sie es ausspricht.
Nur die Furcht, als Stiefmutter parteilich zu erscheinen, hält sie ab,
sich anders zu geben, und stärker auf Sie, Komtesse, einzuwirken!
Wahrlich, wir könnten alle von ihr lernen!“

Imgjor hatte aufmerksam zugehört. Nicht einmal war ein abweisender, oder
spröder Ausdruck in ihre Züge getreten. Sie hatte seine Worte mit einer
Miene aufgenommen, als ob ein Freund ihr von seinen Leiden erzähle,
sanft sinnend und denkend, wie sie sich dazu verhalten solle.

Sie streckte ihm auch mit einem rührenden Blick die Hand hin, drückte
die seinige fest, und sagte:

„Ich wußte, Graf Dehn, daß Sie gerade so sprechen würden. Deshalb wird
es mir leicht, Ihnen gleich und ruhig zu antworten. In erster Linie
nochmals Dank! Wenn die Achtung von Ihrer Person sich noch erhöhen
könnte — ich spreche nicht von einer Zuneigung in anderem Sinne, und Sie
werden gleich verstehen, aus welchen Gründen ich es unterlassen muß — so
hätten Sie Ihren Worten keinen Inhalt erteilen können, der meine
Empfindungen für Sie stärker zu erhöhen imstande gewesen wäre! Meine
Antwort aber lautet: Ich will noch einen Versuch machen, mich auf eigene
Füße zu stellen. Gelingt er, muß ich mir selbst treu bleiben. Ich kann
nicht anders. Verzeihen Sie mir. Mein Entschluß ist unbeugsam!“

Und er fügte sich auf ihre Rede, obschon sie ihm schier das Herz
zermalmte. Und dann sprach er: „Wohlan denn! Ich habe dann nur den
innigen Wunsch, daß sich verwirklichen wird, was Sie soeben
ausgesprochen haben! Mögen Sie einen Wirkungskreis finden, der Sie
befriedigt, der Sie wahrhaft glücklich macht! Leben Sie wohl — Komtesse
— Imgjor — Imgjor — teure Imgjor“ —

Und dann geschah doch etwas.

Sie brach in Thränen aus, und er zog sie an sich, und einen Augenblick
lag sie ohne ihren Willen an seiner Brust. Und dann, zum Bewußtsein
zurückgekehrt, machte sie sich hastig los und bat sanft, aber fest im
Ton: „Gehen Sie! Ich bitte! Gehen Sie!“

Noch einen letzten, tief verinnerlichten Blick gönnte sie ihm, dann that
er, wie sie wünschte.

Nachdem er aber gegangen war, sank sie in ihren Sessel zurück und
überdachte voll schwerer Wehmut, was geschehen war. Eines fiel ihr bei
der Betrachtung besonders beklemmend auf die Seele, obgleich sie gerade
das als nebensächlich hinzustellen, sich zwingen wollte.

Sie war demnächst ohne Mittel zum Leben! Der Graf hatte — vielleicht, um
sie dadurch eher gefügig zu machen — die sonst am ersten des Monats ihr
stets überwiesene Summe nicht mehr gesandt. Sie hatte ja deren Empfang
auch abgelehnt. Sie konnte ihm nicht einmal einen Vorwurf machen! Ihre
Pretiosen und ihre seidenen Gewänder zu verkaufen, widerstrebte ihr,
weil sie fürchtete, sich dadurch bloßzustellen. Und wenn beides dahin
war, so nannte sie nichts mehr ihr Eigentum! Die Sorge schuf bereits
Vorsicht und Ueberlegungen, die ihr früher fremd gewesen waren. Die
Begräbniskosten für den Mann der alten Ohlsen, die inzwischen durch
Imgjors Bemühungen in einem Frauenarmenhaus untergebracht worden war,
hatten das Geringe, was sie noch besaß, bis auf ganz weniges
geschmälert, und die Bank mußte überdies noch befriedigt werden.

Täglich kamen, wie bisher, Listen mit Aufforderungen zur Beihilfe für
gute Zwecke.

Konnte sie die jetzt abweisen? Sie vermochte es nicht; es widersprach
ihrem stets auf Geben bedachten Herzen.

Auch die Miete für die Wohnung war noch zu berichtigen. Man forderte
Steuern von ihr.

Der Tag und die Stunde waren abzusehen, wo sie zuletzt vor dem — nichts
stand! Eine angstvolle Unruhe überkam sie. Man würde sie am Ende auch
noch in anderer Weise falsch beurteilen! Die Zeitungen würden gar
verkünden, sie habe wegen Schulden Kopenhagen verlassen. So sei sie
eigentlich nichts anderes als eine, die habe von sich reden machen
wollen!

Und eben diese Lebenssorgen drängten zum erstenmal die Gedanken an die
Ideale, die ihre Brust noch eben wieder erfüllten und deren
Verwirklichung sie erstreben zu wollen, erklärt hatte, völlig zurück!
Der Trieb der Selbsterhaltung gelangte zu seinem Recht. Sie erkannte
plötzlich, welchen Wert der Besitz, welchen Wert das Geld hatte, und wie
früher flüchtig, so stellten sich jetzt dauernde Vergleiche ein zwischen
dem Gewesenen, und dem, was ihr geworden! Aber nicht genug mit diesem
Ansturm auf ihr Inneres: Graf Dehn war wieder da! Und sie hatte ihn,
obschon sie ihn liebte mit der ganzen Kraft ihrer Seele, für immer von
sich gestoßen!

Eine grenzenlose Reue überkam sie. Nur ihr Stolz regte sich noch.

Mit welchem Selbstgefühl hatte sie geredet! Wie an einer Mauer waren
alle seine verständigen, rührenden, flehenden Bitten zerschellt. Und wie
schwach war doch der Faden gewesen, an dem ihre Festigkeit gehangen!

Jedes Menschenherz war — so überlegte Imgjor — zu rühren, wenn nur der
Rechte kam und es richtig angesprochen wurde.

Nun sehnte sie sich fort, nun kamen ihr doch die Erinnerungen an
Rankholm.

Rankholm! Rankholm! Das war das Paradies ihrer Jugend! — Eine namenlose
Sehnsucht ergriff ihr Inneres jetzt. Erst nach einem todestraurigen
Sinnen raffte sie sich empor, fand sie die alte Kraft ihrer Seele, ihr
Pflichtgefühl und ihren opferfreudigen Sinn zurück, und trat mit der
gewohnten Selbstlosigkeit an das Bett ihrer Kranken. — — —

       *       *       *       *       *

Am folgenden morgen empfingen Imgjors immer sich in gleicher Richtung
bewegenden Gedanken durch den Inhalt eines mit der Post eingegangenen
Briefes eine Ablenkung.

Eine Dame der vornehmen Gesellschaft, eine Baronin von Kliff, mit der
Imgjor wiederholt bei Bestrebungen für wohlthätige Zwecke in Berührung
gelangt war, bat sie in sehr dringender Weise, sich um die Mittagszeit
in ihrem Palais einfinden zu wollen, um dort einer Sitzung zu Zwecken
der Begründung eines dänischen Mädchenheims beizuwohnen. In diesem
sollten der Schule entwachsene, junge, weibliche Personen zu
Dienstmädchen herangebildet, es sollte ihnen in allem Unterricht erteilt
werden, was für Küche und Hauswesen erforderlich war. Auch Handarbeit
und Schneidern wollte man sie lehren und insbesondere auch moralisch auf
sie einzuwirken suchen.

Die Baronin beabsichtigte durch dieses Heim denen die Hand zu bieten,
welche infolge ihrer mangelhaften Ausbildung keine Beschäftigung finden
konnten und deshalb der Gefahr ausgesetzt waren, sittlich zu verkommen.
Und gerade deshalb ward Imgjors Interesse auf's lebhaftere angefacht.

Im Palais traf sie die Damen, mit denen sie während der
Jahre ihres Aufenthaltes in der Residenz wiederholt in
Wohlthätigkeitsangelegenheiten zusammengetroffen war, fast sämtlich
beisammen, wich deren ihre Person betreffenden Fragen möglich aus, nahm
aber größten Anteil an den Verhandlungen und trat, etwa drei Stunden
später, reichlich erschöpft, und sich schon vor dem Palais von den
übrigen trennend, den Rückweg an.

Als Imgjor die Ecke der Tordenskoldsstraße passierte, drang aus einem
offenen Schusterkeller ein jammervolles Schreien hervor, und als sie,
mitleidig beunruhigt, nachforschte, sah sie unten einen Menschen, der in
unbarmherziger Wut eine zu Boden geworfene Frau mit einem Lederriemen
prügelte.

In Sekundenschnelle wechselte nun die Scenerie. Imgjor sprang
blitzschnell die Treppe hinab, riß mit kühn erfolgreichem Ruck den Mann
zur Seite, befreite dadurch die Frau und schleuderte dem rohen Peiniger
entrüstete Worte entgegen: Ob er sich nicht schäme, sich so gegen die
Schwächere und Wehrlose zu vergehen?

Aber alles kam anders, als sie es erwartet hatte. Da durch ihr
Eingreifen das ohnehin neugierig zusammengelaufene Volk draußen sich
noch zudringlicher geberdete und, dicht gedrängt, den Erfolg
beobachtete, ergriff das Weib plötzlich ein weit größerer Ingrimm gegen
jene draußen und gegen Imgjor, denn gegen den Mann.

Statt „Grevinde“ durch Haltung und Worte Dank an den Tag zu legen,
reckte sie sich zornsprühend empor, fragte, ob es sie etwas angehe, wenn
sie sich von ihrem Mann prügeln lassen wolle und unterstützte diese
herausfordernden Worte durch eine auf die offene Thür gerichtete Geste,
welcher der dadurch versöhnte Hausherr sich beeilte, noch einen
besonderen, fast thätlichen Nachdruck, zu verleihen.

Als Imgjor infolgedessen die Treppe hinauf flüchtete, stieß sie auf
diejenigen Personen, welche zur besseren Beobachtung des interessanten
Schauspiels bereits einen Teil der Treppenstufen besetzt hatten. Und
während das geschah und die Ehegatten, zur völligen Abwehr gegen die
Leute draußen, die Thür verrammelten, drängten die hinteren Reihen des
Mobs nach vorn und die der Thür zunächst Stehenden rückwärts. Und
dadurch kam Imgjor zu Fall und erlitt durch Drängen, Stoßen und Treten,
trotz ihrer Weh- und Abwehrrufe, so schwere Verletzungen, daß sie nach
Räumung der Treppe durch die Polizei wie tot hinweg getragen wurde. Mit
noch anderen Verwundeten ward sie nach dem Hospital des Doktor Stede
geschafft, und eine halbe Stunde später stand mit tief bedenklicher
Miene an ihrem eigenen Krankenlager derselbe Mann, mit dem sie so oft an
das Bett der Leidenden und Sterbenden getreten war.

       *       *       *       *       *

Der Herbst, der wundervolle nordische Herbst, war seit Wochen
erschienen, und mit seinen stahlhellen Lüften, seiner Farbenpracht in
den Wäldern, seinem scharfen Erdgeruch und seinen unvergleichlichen
Abendsonnenniedergängen auch in Rankholm eingezogen.

Wenn sich in der Frühe die ersten Lichtströme über die Erde ergossen,
schwammen Schloß, Park und Gärten in einem blauseidenen Dunst. Wenn aber
der Kampf zwischen der siegreichen Himmelskönigin und den zarten Nebeln
durch ein plötzliches Oeffnen aller goldenes Licht bergenden Portale
entschieden war, dann lagen Rankholm und Kneedeholm in einem Sonnenbade
von solcher unermeßlicher Schönheit, daß die Gegend alle Reize der drei
Jahreszeiten: die grüne Pracht des lebensprühenden Frühlings, die Fülle
des blütenschweren Sommers und die krystallhelle Klarheit des
farbenleuchtenden Herbstes in sich zu bergen schien.

Und alles war wie ehedem.

In ihrem mit all den herrlichen Dingen angefüllten Kabinett ruhte bei
geöffnetem Fenster auf dem Sofa die Gräfin Lavard und las in einem Buch.
In seinem geräumigen Arbeitsgemach war, wie sonst, der Graf eifrig mit
seinen Beamten beschäftigt, Lucile hielt sich, an Curbière schreibend,
in ihren Gemächern auf, und wie immer webten in dem, von Epheu umrankten
Mauern eingeschlossenen Schloßhof jene sanften Hausgeister, die von dem
Streit und Getümmel draußen in der Welt nichts wußten.

Auch Graf Dehns schlanke Gestalt tauchte, wie damals, in den Wegen des
Parkes auf, und nun eben richtete er die Schritte dem Schloßdurchgang
zu, trat ins Innere, begab sich in seine Zimmer, und von dort, nach
Ordnung seiner Toilette, zu der Gräfin.

Einige freie Stunden lagen vor ihnen, und sie wollte die Gräfin heute
benutzen, um Axel einen Einblick in die Vergangenheit zu verschaffen.
Sie wollte, daß es geschah, bevor Imgjor kam, die nach einer langen,
schweren Krankheit so viel Kräfte zurückgewonnen hatte, daß sie in
Begleitung des Doktor Stede eine Reise nach Rankholm zu unternehmen
vermochte. Hier wollte sie versuchen, ihre Gesundheit völlig
zurückzugewinnen.

Stillschweigend war das alte Verhältnis zwischen ihnen wieder
eingetreten. Solche Not und solche Trübsal, wie sie über Imgjor
gekommen, — führten von selbst einen Ausgleich herbei.

Wiederholt hatten Lavards an dem Krankenbett Imgjors gestanden, und sie
hatte ihre Besinnung erst ganz allmählich zurückgewonnen.

„Willst du nach Rankholm kommen, um dich dort ganz zu erholen, Imgjor?
Papa schickt dir einen herzlichen Gruß und bittet darum —“ hatte Lucile
eines morgens gesagt, und der Kranken waren die Thränen der Rührung aus
den Augen gestürzt. —

Nachdem die Gräfin sich zurechtgerückt und einen ihrer gewohnten
forschenden Blicke auf Graf Dehn geworfen, sagte sie:

„Ich werde mich kurz fassen, Graf Dehn, weit kürzer, als es ursprünglich
meine Absicht war. Das Wesentlichste: Imgjors Herkunft, wurde Ihnen
schon durch einen Zufall enthüllt. Ich komme nur auf meine Zusage und
Ihren Wunsch zurück, weil ich von Ihnen, den ich wie meinen Sohn
betrachte, so beurteilt werden will, wie ich dazu ein Recht besitze. Ich
will's aber auch, damit Sie meines Mannes Handlungsweise, richtig
würdigen.

Endlich spreche ich auch, weil ich die Hoffnung hege, daß Sie diejenigen
aufklären, denen ich keine Mitteilungen zu geben vermag. Stolz und
Zartsinn verbieten mir, über solche Dinge mit meinen Töchtern zu reden.
Es könnte scheinen, als ob ich mich verteidigen wolle.

Zur Einleitung —“ hier zog die Gräfin aus ihrem goldumränderten Nähkorb
ein kostbar umrahmtes Pastellbild hervor — „betrachten Sie sich dieses
Porträt. Sie werden dann leichter verstehen, wie mein Mann dazu
gelangte, sich in Leonie Monier zu verlieben, und welche Kämpfe ich mit
meinem Ich zu bestehen hatte —“

Graf Dehn griff nach dem Gebotenen und unwillkürlich entglitt seinem
Munde ein Laut bewundernden Entzückens.

Imgjor wars, aber in noch höherer Vollendung. Ein so süßes, engelhaftes
Lächeln umspielte den Mund des Bildes, aber auch ein solcher
schmachtender Glutblick drang aus den Augen, daß man sich von dem
Anschauen nicht zu trennen vermochte. In ihrem Kostüm erinnerte sie an
die Watteauschen Rokokobilder. Ein langes Mieder, verziert mit
Rosenbändern, hob ihre überaus zarte Figur. Um ihren vollendet
gebildeten, bis zum Ellbogen freien Arm schlang sich ein schwarzer
Sammetstreifen, und in ihrem hochfrisierten Haar saßen neben Blumen
kleine blaßblaue Schleifen. Alles aber wurde übertroffen durch die
Pracht ihrer schneeigen Büste, die blendenden Farben, den durchsichtig
weißen Schmelz ihrer Zähne und die kleinen, zum Liebkosen geschaffenen
Hände.

„Nicht wahr? Sie war schön? Man kann etwas gleiches nicht sehen —“ stieß
die Gräfin in neidloser Bewunderung heraus.

„Und ich kann hinzufügen: sie war wirklich noch schöner. Man lag, wenn
sie sprach und lächelte, im Bann ihrer bestrickenden Reize, und nicht
der Tochter eines gascognischen Glasschleifers die sie war, glich sie,
sondern dem Mitglied einer auf Thronen fixenden Familie.

Aber sie war nicht allein wegen ihrer Schönheit gefährlich, sondern
ebensosehr wegen des seltsamen Gemisches ihres Wesens. Herzensgüte,
Trotz, liebenswürdige Naivetät und schlaue Berechnung saßen zugleich in
ihr und gelangten, den Umständen nach, zum Ausdruck.

Man hätte sie küssen und sie ohrfeigen mögen, einmal wegen ihrer
bezaubernden Liebenswürdigkeit, und dann wieder wegen ihres kaltherzigen
Starrsinns.

Doch nun hören Sie, wie alles verlief.

Ich lernte meinen Mann, der damals der französischen Gesandtschaft
attachiert war, in dem Hause des russischen Fürsten Betzkoy kennen,
verliebte mich gleich sterblich in ihn und wurde schon nach vier Wochen
unserer ersten Begegnung seine Braut.

Meine Eltern waren überaus glücklich über diese Verbindung, und meine
Verwandte, der Vicomte von Choisseuile und seine Frau luden uns zu einem
mehrwöchentlichen Aufenthalt auf ihrem in der Nähe von Paris
befindlichen Landsitz ein.

Hier verlebten wir in dem ersten Rausch unserer leidenschaftlichen Liebe
seelige Tage, durchschweiften zu Wagen und zu Pferde die Umgegend,
machten oder erneuerten die Bekanntschaft angesehener und interessanter
Personen, welche sich ebenfalls um diese Zeit auf ihre in dieser Gegend
belegenen Güter zurückgezogen hatten, fanden aber auch die beste
Gelegenheit, unsere Charakter zu prüfen, ihnen gegenseitig gerecht zu
werden, und uns immer mehr ineinander hineinzuleben. Mir wurde klar, daß
Lavard ein leicht entzündliches Herz besaß, und daß ich infolgedessen
nicht die erste sei, der er sich genähert.

Er sprach auch mit voller Offenheit über früheres. Er betrachtete mich
nicht als eine prüde Vestalin, sondern als das, was ich wirklich war:
ein mit den wirklichen Lebensverhältnissen vertrautes weibliches Wesen,
das sehr wohl wußte, daß Männer und oft auch Frauen Versuchungen
unterworfen sind und meist schon etwas erlebt haben, wenn sie an den
Altar treten.

Als ich eines Tages mit Lavard unter der Linde in dem Garten eines zu
dem Besitz gehörenden Pachthofes saß, wo wir, nach unserm anstrengenden
Ritt, eines kleinen Imbisses wartend, plauderten, unterbrach er
plötzlich das Gesprächsthema, sah mich ungewöhnlich zärtlich an, faßte
meine Hände und sagte:

„Ich habe eine Bitte an dich, eine große Bitte, Lucile! Willst du sie
mir gewähren?“

„Gewiß, mein teurer Freund, wenn ich es vermag —“ entgegnete ich ohne
Besinnen.

„Du sprichst das ja so leicht aus, Lucile! Ich fordere etwas Großes,
sehr Großes! Es gehört eine opferstarke Liebe dazu!“

„Um so besser vermag ich dir zu beweisen, wie gut ich dir bin, Lavard —
sprich also — natürlich, ein ritterlicher Mann, wie du, wird von einem
Mädchen nichts verlangen, was ihren weiblichen Empfindungen
widerstreitet —“

Ich weiß nicht, wie ich in meiner Entgegnung zu dieser Einschränkung
gelangte. Jedenfalls hatte sie die Wirkung, daß Lavard trotz meiner
wiederholten Aufforderungen, nun doch nicht redete.

Und so blieb's, und ich dachte auch schon gar nicht mehr an seinen, wie
ich angenommen hatte, launenhaften Einfall, als er eines vormittags,
kurz vor unserer Rückkehr nach Paris, im Park des Schlosses hinter den
Boskets vor mir niederfiel und mich beschwor, ihm zu gewähren, worum er
mich ersuchen werde.

Und da er so erregt war, da sein ganzes Wesen eine solche Spannung
verriet, insbesondere aber, weil es mich drängte, ihm zu beweisen, wie
sehr ich ihn liebte, sprach ich, ohne vorher zu hören, ein unbedingtes
ja!

„Was es auch sein mag, Lavard! Ich werde deinen Wunsch erfüllen. Ich
schwöre es dir!“

Nun schnellte er empor, umfaßte mich mit schmeichelnder Zärtlichkeit,
zeigte mir dann dieses, eben dieses von Ihnen bewunderte Bild, und
sagte:

„Diese weibliche Person, Leonie Monier, eine Nähterin der Vorstadt St.
Antoinne, war vor wenigen Monaten noch das, was du mir heute bist,
Lucile —

Du begreifst, daß ich mich in sie verlieben konnte! Ich sage, daß ich
die Beziehungen zu ihr wieder gelöst habe, weil ihr Charakter ein
Zusammenleben unmöglich macht. Ich würde sie sonst trotz ihres einfachen
Standes und anderer Umstände vielleicht geheiratet haben.

Es liegen die Dinge nun, wie folgt:

Sie erklärt mir, dann gutwillig ihrer Rechte auf mich sich begeben zu
wollen, wenn du dich entschließest, sie zu empfangen und ihr eine noch
zu erörternde bindende Zusicherung zu geben.

Natürlich! Sie vermag nichts gegen mich zu unternehmen.

Mich treibt mein Ich, mich veranlaßt die Erinnerung an die Tage, die ich
glücklich mit ihr verlebte, aber mich veranlaßt auch ein bestimmter
Umstand, derselbe, welcher mit ihrer an dich zu richtenden Bitte
zusammenhängt: alles zu thun, was eine freundliche Lösung unserer
Beziehungen herbeizuführen vermag!“

„Wohlan, sprich, Lavard. Ich werde hören!“

„Nun denn, Lucile! Leonie Monier ist dieser Tage Mutter eines Kindes
geworden. Sie verlangt von uns — und deshalb will sie dich sprechen —
die Auferziehung ihres Kindes und die Sorge für dieses bis zu einem
gewissen Zeitpunkt. Dann soll's wieder ihr Eigentum sein, oder wir
sollen ihr's für eine namhafte Summe abkaufen —“

„Ah — ah — welch ein berechnender Handel, und gar mit dem eigenen Kinde!
Hinter diesen engelhaften Zügen sucht man etwas anderes! Und alles hätte
ich eher erwartet, als dies. Du erhebst einen Anspruch an mich, zu dem
eine starke Selbstverleugnung gehört, Lavard. Und was wird sonst noch
folgen?“ rief ich, meine Erregung nicht verbergend.

Lavard bewegte die Schultern.

„Die Dinge liegen nicht so ungünstig! Sie ist nicht schlecht. Aber
lassen wir das jetzt, und überlasse auch die Erledigung der materiellen
Dinge mir, Lucile. Gewähre nur zunächst, warum sie dich bittet —“

Ich zögerte. Dann sagte ich:

„Eines habe ich gewährt, ich versprach die Erfüllung eines Wunsches. Du
stellst aber jetzt noch andere, sehr weittragende Forderungen an mich.

Du willst gewiß, daß ich dieses Kind, als unseres annehme — es nach
außen so hinstelle —“

„Ja, Lucile! Wir gehen für die Zeit eines Jahres oder länger auf
Reisen. Wenn wir zurückkehren, erklären wir, daß wir unterwegs dies Kind
gefunden und in unsere Obhut genommen haben, daß Mitleid unsere
Triebfeder war — für alles übrige wollen wir die Zeit sorgen lassen.“

„Warum stellst du eine so schwere Forderung an meine Liebe, Lavard?
Lasse das Kind von anderen aufziehen. Durch sie wird — durch deinen
Reichtum unterstützt — dasselbe erreicht. Der Mutter kann's doch nur um
das Wohl ihres Kindes zu thun sein. Da sie mittellos und einen
leichtsinnigen Charakter besitzt, will sie das Kind vor doppelten
Fährnissen behüten. Das verstehe ich! Aber weshalb ein so ungeheures
Opfer von mir? Oder ist's dein eigenes Kind?“

„Ja und nein, Lucile! Eben das ist's! Sie, Leonie, behauptet es, obschon
sie auch Beziehungen zu einem anderen, einem Jongleur hatte. Nun weißt
du alles, nun verstehst du alles. Sei deshalb so hochherzig, wie ich
dich schätze. Ist's mein eigenes Fleisch und Blut, dann habe ich
unabwendbare Pflichten!“

Diese Worte entschieden, ich empfing nicht nur die junge Frau, sondern
ich war auch später einige Zeit in ihrer Nähe. Wir trafen sie in dem
französischen Seebade Trouville, wohin sie Lavard zur Kräftigung ihrer
Gesundheit gesandt hatte.

Während dieser Zeit lernte ich sie nicht lieben, aber doch ihre guten
Eigenschaften schätzen; auch gab ich ihr das Versprechen, das sie
verlangte.

Wenig später — das Aufgebot hatte bereits bald nach unserer Verlobung
Stattgefunden — wurden wir in der Madeleine getraut, unternahmen darauf
eine fast fünfviertel Jahre andauernde Reise, und begaben uns alsdann,
mit dem kleinen, inzwischen anderweitig in Kost gegebenen, und nun in
unsere Hände gelangten Kinde nach Rankholm.

Wir verfuhren auch unseren Bekannten gegenüber, wie wir es besprochen
hatten. Im ganzen wurde wenig nach dem Kinde gefragt. Nach wenigen
Monaten war überhaupt nicht mehr von dessen Ursprung die Rede und
allmählich sah man es als unser eigenes, als Erstgeborenes an.

So war also gelungen, was meines Mannes Wunsch gewesen, und ich muß
gestehen, daß er mir in den zwölf Jahren, während welcher Zeit wir von
der Mutter niemals wieder hörten, täglich seine Erkenntlichkeit in
rührendster Weise an den Tag legte.

Dann aber erschien plötzlich, fast ohne vorherige Anmeldung,
Mademoiselle Monier, um ihr Kind zurückzufordern, und nun begannen die
Kämpfe zwischen uns dreien.

Es ist mir wie heute! Ich war im Begriff über den Schloßhof zu
schreiten, als ein Wagen vorfuhr, auch ertönte gleich darauf schon das
Läuten der Glocke am Portierhause. Ich aber nahm rasch den Weg in das
Schloß, betrat meine Gemächer, wartete hier und überließ es meinem Mann,
Frau von Etienne, wie sie sich nach unserer Abrede nennen sollte, zu
empfangen.

Auch noch anderes war zwischen mir und Lavard abgemacht. Sie sollte
womöglich noch an demselben Tage Rankholm wieder verlassen und sich
nach Oerebye begeben. Dort wollte Lavard mit ihr verhandeln. Ihr
vorzuenthalten, ihre Tochter schon vorher zu sehen, konnten wir nicht
über uns gewinnen, aber es sollte lediglich aus der Entfernung
geschehen. Eine eigentliche Annäherung sollte nicht stattfinden. Wir
wollten sie bewegen, daß sie uns Imgjor gegen ein ferneres Jahresgehalt
und gegen eine einmalige Abfindungssumme für immer überlasse. Lucile
hatten wir schon in der Frühe zu Freunden nach Taxholm gesandt. Sie
sollte von diesem Besuch überhaupt keine Kunde erhalten. Imgjor bewohnte
damals mit ihrer Erzieherin dieselben Räume, die sie jetzt inne hat, und
nur hatten angeordnet, daß sie beide bei Tisch nicht erscheinen sollten.

Dies war nicht auffallend, da solches häufiger geschah. Ich hielt Imgjor
überhaupt streng, weil ich immer ihrer Mutter Charakter im Auge hatte,
weil ich immer darauf bedacht sein mußte, des Kindes sehr stark
ausgeprägten Drang nach Selbständigkeit zu dämpfen.

Diese meine große Strenge hat Lucile, weil sie eine ungerechte
Ungleichheit der Behandlung darin erkannte, Ihnen gegenüber getadelt,
Graf Dehn. Sie that es eben, weil sie meine Beweggründe nicht kannte. —

Doch nun zurück zu dem plötzlich erschienenen Besuch.

Ueber eine Stunde verhandelte mein Mann mit Madame Etienne, ehe er sie
mir in meine Gemächer brachte.

Als Frederik ihr Kommen meldete, klopfte mir das Herz. Ohnehin erregt,
beschäftigte mich dieses lange Beisammensein meines Mannes mit seiner
ehemaligen Freundin, nicht wenig. Mir ahnte auch, daß sie
Schwierigkeiten erhob, unsere Wünsche zu erfüllen. Sicher weigerte sie
sich, uns ihre Tochter zu lassen, machte die Gewährung von unerfüllbaren
Forderungen abhängig. Wie berechnend sie war, hatte sie hinreichend
früher bewiesen.

Ich hatte aber Imgjor wegen ihrer trefflichen Eigenschaften so lieb
gewonnen, daß ich sie wie mein eigenes Kind liebte. Auch leitete mich
bei dem Verlangen, sie bei uns zu behalten, die Ueberlegung, daß ihre
Entfernung den Anlaß zu unliebsamen Redereien geben werde. Wir hassen es
beide, uns in den Mund der Menge zu bringen.

Endlich wollten wir auch mit dieser Angelegenheit einmal ein Ende haben.
Ich wünschte insbesondere, daß Lavard dem Einfluß dieser Person, die,
wie ich stets erfuhr, in all den Jahren noch mit ihm korrespondiert
hatte, für immer entzogen werde.

Mein Erstaunen maß sich sodann mit meiner Abneigung, als sie mir
gegenübertrat.

Sie war zwar noch immer blendend schön, aber sie besaß nichts von dem
Wesen einer anständigen Frau, einer wirklichen Dame. Sie war das
vollendete Bild einer Halbwelt-Circe. Ihr Kostüm war übertrieben modern,
stark parfümiert, und lächerlich kostbar. Ihre Arme waren mit Schmuck
behangen, und hinter ihrem sanft schmachtenden Lächeln verbarg sich
etwas, das den Weltkundigen nicht täuschte.

Und wirklich besaß sie keine echte Empfindung, ihr Gemüt war verdorrt,
sie war nichts anderes, als eine kalt berechnende Kokette.

Es wäre somit ein Vergehen gewesen, ihr Imgjor auszuliefern.

Aber sie von diesem Gedanken abzubringen, war noch die geringste
Schwierigkeit. Der große Reichtum meines Mannes konnte noch größere
Ansprüche befriedigen, als sie sie erhob und auf deren Erzielung es ihr
überhaupt nur ankam. Aber sie hatte schon gleich am ersten Tage Lavard
wieder in solche Fesseln zu schlagen gewußt, daß er völlig Wachs in
ihrer Hand geworden war.

Er bestritt in heftigen Worten die Berechtigung meiner abfälligen
Kritik. Er fand es, da sie es nicht wollte, völlig überflüssig, daß sie
nach Oerebye übersiedelte Er verlangte von mir, daß ich sie wochenlang
auf Rankholm behalten solle. Sie habe Anrechte auf unsere
Gastfreundschaft und unsere Rücksicht; man müsse der Mutter für eine
zeitlang ihr Kind gönnen.

Entsetzliche Tage verlebte ich. Lucile, der ich in der Erregung nicht
mehr gedacht hatte, kehrte wieder zurück. Imgjor näherte sich der
schönen und sie umschmeichelnden Madame Etienne, der Gattin des Baron
von Etienne in Brüssel, als welche sie sich auch Imgjor im
Einverständnis mit meinem Manne vorgestellt hatte.

Zuletzt war mein Entschluß gefaßt.

In einer Scene, der Lucile zufällig beiwohnte, erklärte ich Lavard, mich
von ihm trennen und zu meiner Familie zurückkehren zu wollen, wenn die
Fremde nicht innerhalb achtundvierzig Stunden das Haus verlasse.

Lucile führte, weil ihr Vater ihr beipflichtete, mein Verhalten auf
Eifersucht zurück. Sie nahm für ihren Papa Partei, schalt mich des
Mangels an Liebe und des Mangels an Duldsamkeit, und ich litt zehnfach,
da ich meinem Kinde nicht eröffnen konnte, wie die Dinge standen.

Endlich siegte ich. Ich siegte dadurch, daß ich eine Nacht mit dem
fremden Weibe rang. Sie wohnte damals in den Gemächern, die jetzt meine
Tochter Lucile inne hat. Mir ist's in der Erinnerung wie heute. Der Tag
war grau, kalt und nebelig, so unfreundlich, daß man sich nicht einmal
zu einem Spaziergang in den Park hinauswagen mochte.

Wir waren deshalb mehr denn sonst und bereits vor dem Frühstück auf
einander angewiesen, und dieses engere Beisammensein benutzte Madame
Etienne, um allerlei bisher von mir verhinderte Vertraulichkeiten
zwischen sich und den Kindern herbeizuführen.

Sie gab sich besonders mit ihnen ab, holte verschiedene wertvolle
Gegenstände aus ihren Koffern heraus, die sie ihnen, trotz deren
bescheidenen Abwehr, aufdrängte und forderte sie zuletzt gar auf, sie du
und Tante zu nennen.

Die Mädchen nahmen dieses als eine Bevorzugung hingestellte Anerbieten
natürlich an. Und dies du machte beide natürlich freier gegen den Gast,
namentlich die jüngere Lucile. Infolgedessen ließ diese auch eine
Aeußerung fallen, die sie sonst sicher nicht gemacht haben würde. Sie
wies, und schon lange hatte ich dies kommen sehen und mich davor
gefürchtet, auf die große Aehnlichkeit zwischen Madame und Imgjor hin.

„Ihr seht wie Schwestern aus!“ betonte sie lebhaft und richtete auch
ihre zu meiner Zustimmung auffordernden Blicke auf uns.

In Madame Etiennes Gesicht leuchtete es auf. Ich sah's. Alles, was sie
irgendwie mit uns in eine nähere Beziehung zu bringen vermochte, danach
griff sie begierig!

Sie wollte nicht nur die größten materiellen Vorteile daraus ziehen, daß
sich ihre Tochter bei uns befand, sondern sie strebte, — ihrer
abenteuerlichen Eitelkeit entsprechend — auch danach, neben uns eine
gleichberechtigte Rolle zu spielen.

Auf ihre Tochter war sie bald maßlos eitel und überlegte dann, ob sie
sie doch nicht mit sich nehmen solle, oder sie zeigte eine nicht
verhüllte, heftige Eifersucht. Dann ergriff sie, — man sah's — ein durch
die Einsicht in ihre eigene Unwürdigkeit noch mehr geförderter Ingrimm
gegen ihr eigenes Kind. Dessen reiner Sinn, dessen fester Charakter,
dessen ungewöhnliche Wahrheitsliebe, dessen Abscheu gegen nichtssagende
Redensarten, aber auch dessen zutage tretendes Mißtrauen gegen ihre
aufdringlichen Liebenswürdigkeiten, schufen einen Aerger in ihr, den sie
nicht bezähmen konnte.

Und eben dieses Gemisch von Gefühlen und Stimmungen, aber vielleicht
auch die Erwägung, daß es ihren Zwecken förderlich sei, uns in steter
Unruhe zu halten, verleiteten Madame Etienne an diesem Tage, Luciles
Aeußerungen aufzunehmen, statt mit einem flüchtigen Wort darüber
fortzugehen.

Sie sagte überlegen lächelnd:

„So, findest du das? Nun, wer weiß, ob die Etiennes und die Lavards
nicht, ohne es zu wissen, verwandt sind, — ob sich solches nicht, wenn
wir einmal gründlich nachforschen, — herausstellen würde —“

Mein Mann warf ihr einen erschrockenen, und weil er in ihren Banden lag,
flehenden Blick zu. Auch nahm er rasch das Wort und wußte ein anderes
Thema zu berühren.

Nach Tisch, während wir des Kaffes im Salon warteten, machte sich Madame
Etienne an Imgjor heran, prüfte eine Handarbeit, mit der sie beschäftigt
war, lobte die Sorgfalt der Ausführung und fragte sie, ob sie nicht Lust
habe, sie einmal in Paris, wo sie fürder wohnen werde, zu besuchen. Sie
habe dort ein sehr schönes Haus, und sicher würde sich Imgjor
vortrefflich in der Stadt des Vergnügens amüsieren.

Es folgte dann noch eine Beschreibung der Räume und der kostbaren
Einrichtung, und überhaupt war sie bemüht, Imgjor einen möglichst
großartigen Eindruck von ihren Einkünften und ihrer gesellschaftlichen
Stellung beizubringen.

Sie bewies, indem sie diese Mittel anwendete, Imgjors Zuneigung zu
gewinnen, allerdings eine sehr geringe Fähigkeit, Charaktere zu
beurteilen. Es war mir unbegreiflich, daß sie nicht erkannt hatte, daß
dergleichen für dieses ernste, reife und in seinem innersten Wesen
einfach geartete Wesen gar kein Lockmittel sein werde.

Reichtum und Wohlleben umgaben Imgjor, aber reizten sie durchaus nicht.
Ihre Pflicht stellte sie stets über das Vergnügen, und auch die Freuden
des Daseins suchte sie lediglich im Verkehr mit der Natur, mit guten,
treuherzigen Menschen, in der Pflege geistiger Dinge und im Verkehr mit
Tieren, mit Vögeln, Pferden und Hunden, die sie zärtlich liebte und
pflegte.

Tanzen, Kokettieren, den Großen nachzumachen, früh schon die Dame zu
spielen, sich sinnliche Aufregungen zu verschaffen und den nichtigen
Vergnügungen nachzujagen, hatte für Imgjor keinen Reiz.

Und demgemäß antwortete sie auch.

„Nein, nein, gnädige Frau. Ich bleibe lieber hier in der Heimat!“
entgegnete sie nach ihrer Art, kurz und ohne für die durch diese
Einladung zum Ausdruck gelangte Artigkeit einen besonderen Dank an den
Tag zu legen. Auch ließ sie absichtlich das „du“ und die „Tante“ dabei
außer acht. —

„Meinst du denn nicht, daß es für dich vorteilhaft wäre, neues zu sehen,
zu lernen, dich zu vervollkommnen, zu erkennen, daß es noch eine andere
größere Welt giebt, als das Pünktchen Rankholm! Hältst du dich bereits
für vollendet?“ warf die Frau, hämisch im Ton, hin.

Sie vermochte ihren Aerger über diese Unbiegsamkeit, über diese
offenkundig hervortretende Gleichgiltigkeit gegen ihre Person nicht zu
bezähmen.

Schier bersten aber wollte sie, als Imgjor, sich äußerlich sanft
fügend, und nur die Schultern bewegend, einer Antwort auswich.

Sie warf schroff gereizt hin:

„Nun, Kind! Antworte! Hältst du dich für so vollkommen?“

„Nein, gewiß nicht, gnädige Frau. Aber ich möchte Reisen nur in
Begleitung meiner Eltern unternehmen. Wenn sie nicht dabei sind, wenn
ich mit ihnen nicht zusammen genießen darf, haben sie keinen Reiz für
mich!“

Diese Erwiderung klang aus dem Munde einer Dreizehnjährigen recht
altklug. Sie war nicht artig, aber Inhalt und Form waren zur Belehrung
über die Stellung, welche Imgjor ihrer Mutter gegenüber einnahm und
einzunehmen entschlossen war, weise gewählt. Diese ihre Antwort traf
auch Madame dergestalt, daß sie alle Klugheit außer acht lassend, mit
boshaft funkelnden Augen herausstieß: „Na ja! Dann mache, wenn du alles
besser weißt, wie du's willst!“ Worauf sie dann Imgjor sitzen ließ, sich
mit einer gemacht gleichgiltigen Miene zu mir, und als dann grade mein
Mann in den Salon trat, mit schmeichelnder Liebenswürdigkeit an ihn
wandte und zu einer Partie Schach aufforderte.

Und was ich, obschon ich mir nichts merken ließ, dann sah, das gab mir,
neben der Ueberlegung, daß es keine bessere Gelegenheit geben konnte,
die Stimmung der Mutter gegen ihr Kind zu unserm Vorteil auszunutzen,
den Entschluß, noch an diesem Tage mit den Dingen unter allen Umständen
aufzuräumen.

Mit meinem Manne war sie wie eine Braut. Sie sah ihn fortwährend
zärtlich an, umschmeichelte ihn, und suchte ihn überhaupt immer mehr in
ihre Netze zu ziehen. Auf mich, auf die Kinder, die ich dann auch
möglichst bald fortsandte, auf Graf Knut, der zum Plaudern gekommen,
nahm sie gar keine Rücksicht.

Sie folgte einerseits rücksichtslos ihren eitlen Plänen, nämlich den
Mann, der einst ihr erlegen, abermals dauernd in Fesseln zu schlagen,
und andererseits ihrem rachsüchtigen Bestreben, mir möglichst
unangenehme Empfindungen zu bereiten.

Da ich die Antwort, die Imgjor ihr gegeben, nicht gerügt hatte, wußte
sie mich einverstanden. Das genügte, um den schon in ihr lodernden,
heftigen Ingrimm gegen mich noch mehr anzufachen.

Nachdem endlich, nach Verlauf peinlicher Abendstunden, die Uhr elf
geworden, Graf Knut sich empfohlen, und auch jene sich zum Aufbruch zu
rüsten anschickten, erklärte ich, noch ausbleiben und Briefe schreiben
zu wollen.

Mein Mann erhob auch keinen Widerspruch, befahl der herbeigerufenen
Kammerjungfer, Madame Etienne in ihre Gemächer zu geleiten, und begab
sich, — mir in der gereizten Stimmung, die ihn während dieser Zeit
stetig beherrschte, nur eine kühle, gute Nacht wünschend, — ebenfalls in
seine Räume.

Ich aber that nicht, wie ich vorgegeben hatte, sondern warf mich aufs
Horchen, und sobald ich hörte, daß die Jungfer sich wieder aus Madames
Gemächern entfernt, ich auch abgewartet, daß Frederik die Lichter im
Flur und auf den Korridoren gelöscht hatte, entzündete ich eine
Wachskerze, schritt an die Thür meiner Widersacherin und klopfte.

Ein lebhaftes: „Wer ist da?“ erfolgte.

„Ich, Lucile, bin's! Bitte, öffnen Sie!“ gab ich zurück.

„Ah! Sie, liebe Gräfin! Ich komme gleich —“

Und so geschah's. Ich fand sie halb angekleidet, forderte sie auf, mir
Gehör zu schenken, und setzte mich alsbald ihr gegenüber. —

Alles, was ich auf dem Herzen hatte, sagte ich, nicht gehässig, aber
entschieden, klar und knapp. Ich betonte, was wir gewollt, was geworden,
wie sie sich dazu verhalten habe, was sie ohne Zweifel beabsichtigte,
wie sie meinen Gatten wieder umgarnen wolle und welche beleidigende
Rolle gegen mich, und welche aussichtslose gegen ihre Tochter sie
spiele. —

Ich deckte ihr rücksichtslos ihr Inneres auf, baute ihr aber wiederum
auch Brücken, indem ich sie durch ihre verlorene Jugend zu entschuldigen
strebte.

Aber ich nahm auch von der Thatsache, daß sie ihres Kindes Herz schon im
Voraus verloren habe und es bei ihrer Veranlagung, ihren
Lebensgewohnheiten und Anschauungen nie gewinnen werde, nichts zurück.
Sodann bot ich ihr, vorher noch betonend, daß ich eher sie oder mich
töten, als daß ich es — schon um der Kinder willen leiden werde —, daß
mein Mann zu ihr zurückkehre, eine erhebliche Geldsumme für ihren
Verzicht auf Imgjor und ihre Nimmerwiederkehr an.

Noch zögerte sie, sie erging sich in einen Schwall von Worten, in denen
sie sich als eine Heilige, und mich als eine ebenso klein Veranlagte,
wie thöricht eifersüchtig Geartete hinzustellen suchte. Zuletzt aber,
als ich ihr einen großen Teil des von mir in die Ehe gebrachten
Vermögens anbot, unterlag sie ihrer Habgier. Die ungeheure Summe löschte
alle wirklichen und komödienhaften Regungen in ihrer Seele wie mit einem
Regenguß aus. Sie nahm auch die von mir als erforderlich hingestellten
Nebenbedingungen ohne Einwand an. Ich erklärte, ihr die Hälfte gleich
anweisen, den Rest aber, von dem ihr die Nutznießung der Zinsen werden
solle, erst nach einer Prüfung von zehn Jahren auszahlen zu wollen. Wenn
sie sich während dieser Zeit ein einzigesmal meinem Mann oder ihrer
Tochter ohne meine Zustimmung wieder nähere, gehe sie desselben
verlustig.

Schon am nächsten Tage verließen wir zusammen Rankholm, und begaben uns
nach der holsteinischen Stadt Rendsburg. Hier ließ ich nach genauer
Information einen Rechtsanwalt einen Vertrag in französischer Sprache
entwerfen, der alle Punkte feststellte, welche zwischen uns vereinbart
waren.

Nachdem dieser in zwei Exemplaren ausgefertigt war, unterschrieben wir
ihn beide, reichten uns wie zwei kühle Geschäftsleute die Hand und
fuhren am folgenden Morgen, — jeder den Abend allein im Hotel
zubringend, — unseren verschiedenen Zielen zu.

Sie reiste, selig befriedigt, ohne den geringsten Schmerz um ihr Kind,
nach Paris zurück, und ich trat am Spätnachmittag meinem Manne in
Rankholm wieder gegenüber.

Ich fand zu meiner glücklichen Befriedigung keinen Zürnenden, sondern
einen durchaus sanft Gestimmten. Er schloß mich unter der Versicherung
seiner alten Empfindungen und seines schrankenlosen Dankes für mein
energisches Verfahren zärtlich in die Arme, erklärte, daß er schon am
Morgen nach Madames Abreise wieder zur Besinnung zurückgekehrt und jetzt
förmlich wie erlöst sei.

Der Zauber war gewichen. Geradezu dämonisch hatte sie ihn umstrickt. Als
ein schwer Kranker war er in diesen Wochen umhergegangen, und als ein
Neugeborener atmete er auf, als dieses ekle Parfüm, als dieses Girren
und Werben, als diese auf seine Sinne berechnenden Künste auf ihn nicht
mehr wirkten.

So, lieber Graf, das ist in großen Zügen der Bericht, aus dem Sie
ersehen werden, daß Menschen allezeit Menschen bleiben, irren, sich
gegen ihre Freunde und die Verhältnisse auflehnen, sich aber wieder
besinnen und je nach dem Wert ihres Ich einen zufriedenen Zustand
zurückzugewinnen vermögen. Auch ich habe mir mein Glück suchen müssen,
und ich habe es gefunden, weil ich das Gute erstrebte für ihn, Lavard,
für das Kind, das ich wahrhaft liebte, und für mich selbst!

Mein Schlußwort soll sein:

Möchte es Ihnen nun gelingen, dieses treffliche, wenn auch zeitweise
irregeleitete Mädchen heimzuführen, ihr das Glück zu verschaffen, was
wir ihr alle sehnsüchtig wünschen!“

Graf Dehn hatte mit außerordentlicher Spannung und mit steigender
Bewunderung den Ausführungen der Gräfin zugehört. Als sie die letzten
Worte gesprochen, beugte er sich auf ihre Hand herab und drückte einen
Kuß darauf.

„Ihnen, Frau Gräfin, nahe bleiben zu dürfen, ist fast so viel, wie der
Wert, einer Imgjor Gatte zu werden —“ stieß er warmherzig heraus.

Er suchte bei diesen Worten ihr Auge und sie gab ihm den Blick mit dem
alten vertieften Ausdruck, der ihr eigen war, zurück.

Und nun wußte er auch ihr Wesen zu deuten, das ihm so oft rätselhaft
erschienen war. Die Erfahrungen des Lebens hatten ihr Vorsicht
auferlegt. So empfing ihr Blick etwas Spürendes, ein Bestreben, das
Innere ihrer Nebenmenschen erst zu durchdringen, bevor sie ihnen ihre
Zuneigung und ihr Vertrauen schenkte.

       *       *       *       *       *

In einem Gehölz, das sich an den Rankholmer Park anlehnte, befand sich
neben einer Höhe ein kleiner Thalkessel, und in diesem lag einsam,
idyllisch, umschlossen von hohen, grünen Fichten auf der einen Seite,
und umzingelt von Buchen, Eichen und dichtem Gebüsch auf der anderen,
ein blauer, stiller See. Libellen umschwärmten ihn, und tausend andere,
die Wonnen des Daseins genießende, geflügelte kleine Geschöpfe führten
schwebende Tänze über seinem silberklaren Spiegel aus. Aber auch eine
entzückende Flora hatte hier eine Heimstätte gefunden. Immer neue
Gebilde und Farben entdeckte das Auge, und süße Düfte berauschten die
Sinne derer, die sich auf den, an den Ufern befindlichen, mit zierlich
durchbrochenen Rücksitzen versehenen Waldbänken niederließen.

Zur Linken erhob sich ein hoher, von Epheu anmutig umsponnener
Granitstein, auf dessen glatt polierter Fläche zahlreiche Namen in
deutscher und lateinischer Schrift eingegraben waren, Namen, deren
Inhaber sich hier auf diesem Platze im Laufe der Zeiten niedergelassen
oder mit ihren Herzen gefunden hatten.

Gleichsam ein Zauber zog die jeweiligen Bewohner des Schlosses hierher,
und ein ähnlicher, heftiger Drang, der Drang nach Vereinsamung leitete
auch die Schritte des Grafen Axel Dehn, der nun eben — es war um die
Nachmittagsstunde — aus dem Gehölz hervortrat und sich einer der Bänke
näherte. Seine Gedanken waren so ausschließlich auf einen Punkt
gerichtet, daß er mit bewußten Sinnen keinen Eindruck in sich aufnahm,
daß seine Augen alle die Schönheiten, die ihn umgaben, nur mechanisch
aufsogen.

Imgjor hatte sich angemeldet und war nun doch nicht gekommen, auch
fehlte jede Nachricht von ihr. Den ganzen Mittag hatte sich das Gespräch
darum gedreht, zulegt war man zu der Meinung gelangt, daß sie am Abend,
den letzten Zug von Norden benutzend, eintreffen würde.

Unerfüllte Sehnsucht macht krank. Von der Höhe der Erwartung
herabgestürzt zu werden, völlig in Ungewißheit zu schweben, ist für die
stärksten Naturen ein qualvoller Zustand.

Um der grenzenlosen Unruhe leichter Herr zu werden, war Graf Dehn die
Treppe zu Imgjors Zimmer hinaufgestiegen. Wie damals hing, obschon
sorgsame Hände die Räume für die Kommende neuerdings in Stand gesetzt
hatten, der Schlüssel an dem versteckten Haken hinter der Thür. Graf
Dehn wagte ihn herabzunehmen und die Gemächer zu öffnen.

Herbstsonnenschein ruhte auf all' den reizenden, unberührten
Gegenständen, auf den Möbeln und zahlreichen Kleinigkeiten, den
seidenbezogenen Sesseln, und den seidenen Vorhängen. Ein eigener Duft
von eingeschlossener Luft und Blumen wirkte berauschend auf die Sinne,
ein berückender Duft von Imgjors Wesen, einer, der ihren Kleidern meist
entströmt war, haftete noch in den Räumen. Und zu Seiten standen die
Flügelthüren zu demselben Gemach offen, in das sie damals ihren kranken
Hund gebettet hatte. Graf Dehn richtete, sehnsüchtig angezogen, auch in
dieses einen raschen Blick. Die Tapeten befanden aus rosendurchwirkter
Seide, die Polsterstühle waren mit weißem Rips bezogen, und alle übrigen
Möbel trugen eine blitzend weiße, mit zarten Goldlinien geschmückte
Farbe.

Das Heim einer Prinzessin, aber auch das Heim eines sinnereinen,
weiblichen Wesens! Nur über dem Ruhelager eines solchen konnte so viel
saubere, gleichsam unschuldige Schönheit ausgebreitet sein. Und daneben
ein schlanker, von der Decke bis zur Erde reichender Spiegel in weißer
Umrahmung und eine Toilette, umzingelt von Gardinen und Spitzen auf
rosenfarbenem Hintergrunde. Und als Graf Dehn aus dem Fenster schaute,
lag der Park und lag Kneedeholm vor ihm wie ein Paradies, und hinter
ihnen blaute der Horizont, und über allem lag ein stillseliger Friede.

War's möglich, daß irgend jemand, noch dazu ein junges, lebensfrohes
Mädchen, das alles freiwillig aufgegeben hatte, um in schlaflosen
Nächten neben in Schmerzen stöhnenden Kranken zu wachen, Wunden zu
verbinden, in schmutzige Hütten zu kriechen, Arme und Elende zu pflegen,
sich zu gemeinen Dienten zu erniedrigen und den Undank der Masse auf
seine Schultern zu nehmen?

Wonach Millionen mit den Händen begierig greifen würden, nach einem
solchen Wohlleben, einer solchen Heimstätte, einer solchen Welt des
Reichtums, der glücklichen Beschaulichkeit und erquicklichen
Abwechslung, — das alles hatte sie mit ihrem selbstlosen Herzen als
unnützen Tand von sich geworfen!

Und doch liebte sie die Genüsse: die Natur, die Musik, die schönen
Künste, doch saß sie beseeligt auf ihrem Renner und durchflog die
Gegend, faßte, selbst kutschierend, die Zügel und durchmaß das
Gutsgebiet mit seinen herrlichen Wäldern, Auen und Seen!

„O, Imgjor, Imgjor, du rätselhafte Seele, du edles, nun doch betrogenes,
aus dem Weltgetriebe verbittert und krank zurückkehrendes Herz!“

Und niederknieend in diesen, für ihn heiligen Räumen, flüsterte der
Mann: „Gieb ihr, gütiger Gott, ich flehe dich an, die Ruhe ihres Innern
und ihre Gesundheit zurück! Schaffe ihr auch ein frohes Genügen hier,
die Freude am Menschentum im Kleinen, die Einsicht, daß zwar der
Vernunftbegabte den Sinn auf die Sterne richten, aber danach nicht
thöricht greifen soll!“ —

Während Graf Dehn jetzt hier auf der Bank saß und die Erinnerungen an
die letzte Begegnung zwischen sich und Imgjor an seinem Geiste
vorüberziehen ließ, überlegte er die Möglichkeit eines Erfolges seiner
Werbung oder einer endgiltigen Enttäuschung.

Imgjor Lavard war stillschweigend ausgesöhnt mit den Ihrigen. Alles
wartete ihrer bis auf den Grafen Knut drunten im Dorf und den mit
gewohnter Ehrerbietung und Dienstfertigkeit einherschreitenden Frederik.

Die Vögel konnte keine Willkommenskonzerte anstimmen, sie waren schon
gen Süden gezogen, aber die Lavardschen Fahnen wehten von den Zinnen,
und von Oerebye war eine Kapelle bestellt, die Imgjor am ersten
Frühmorgen vom Park aus durch sanfte Töne begrüßen sollte.

Und kam sie nun als eine Geheilte, eine Sehnsüchtige, Friedensuchende,
oder war doch wieder etwas in ihr aufgequollen, das sie mit der großen
Welt in Verbindung hielt?! Niemand wußte es in Rankholm, und auch Graf
Dehn wußte keine Schlüsse auf ihr Herz zu ziehen. —

Langsam wanderte er nach dem Schloß zurück. Jetzt sah er, was um ihn her
vorging.

Als er aus dem Gehölz heraustrat und sich umblickte, ging die Sonne eben
zur Rüste und warf solche zauberischen Lichter auf Wald, Wiesen und
Felder, daß er wie gebannt stillstand. Vom Dorf her tönte das
Kirchenglöcklein durch die Stille, fröhliches, einmaliges Hundegebell
erklang, und auch das sehnsüchtige Brüllen nach Hause wandernder Rinder
schlug an sein Ohr.

Das waren die Laute des Landes!

Erst um die Dämmerstunde gelangte er wieder in das Schloß.

Als er das Innere betrat, war's ihm auffallend, daß Frederik und zwei
der Diener an Gepäckstücken vor der großen Treppe beschäftigt waren und
daß die Thür zur Halle offen stand. —

„Wer ist's, Portier? Die Komtesse?“.

„Ja! Zu Befehl, Herr Graf!“

Axel flog die Stufen empor. Sie schon da und er nicht anwesend!

Sturmschnell betrat er die Hintergemächer. Lautes Sprechen drang aus
dem Kabinett der Gräfin, demselben, das er damals bei dem ersten Besuch
mit klopfendem Herzen betreten hatte.

Und wieder klopfte es heute aus anderen Gründen so ungestüm, daß ihm
plötzlich die Kraft fehlte, jetzt, in diesem Augenblick — Imgjor
gegenüberzutreten.

Leise schlich er sich wieder aus dem Zimmer fort, eilte in seine
Gemächer, riß die Fenster auf und holte tief, tief Atem.

So verharrte er wohl zehn Minuten.

Und dann hörte er Geräusch auf der Treppe, Luciles und Imgjors Stimmen,
und dann sagte die letztere:

„Nein, nein — danke, liebste Lucile! Ich habe ja alles; auch bei
Kofferauspacken brauche ich keine Hilfe — in fünf Minuten bin ich wieder
bei euch. — Lasse nur anrichten, daß Papa nicht länger zu warten
braucht!“

Und nun Schritte — ihre Schritte empor!

Ah, wie ihm das Herz hämmerte, — wie die Glieder flogen, wie ihn alles
zu ihr hintrieb!

Und als sie dann im Begriff stand, den vor seinen Räumen sich dehnender
Vorflur zu betreten, und nun eben emporeilen wollte, öffnete er die
Thür, zog ihre Gewalt mit seinen sehnsüchtigen Augen an sich und —
stürzte an ihr nieder.

„Imgjor! Imgjor!“ bracht aus der heißarbeitenden Brust. Im Nu hatte er
sie umschlungen und geleitete sie in sein Gemach.

Und als sie dann dort einander in die Augen schauten und ihm die Worte:
„Liebst du mich, Imgjor?“ aus der trunkenen Brust zitterten, da riß sie
ihn an sich.

„Ach — du fragst — teurer Mann! Hier, hier, dein Kind, deine Demut,
deine bezwungene Liebe! Hier deine Imgjor, geheilt, zurückgegeben der
Vernunft und dem, den sie liebte, trotz aller Auflehnung und aller
Schroffheiten beim ersten Sehen!“

Und der berauschte Mann stöhnte auf und zog das blasse, schöne Geschöpf
an das Fenster.

„Hier vor Gottes unvergänglicher Natur schwöre ich dir, daß ich dich zu
beglücken suchen werde, wie kein Mann je ein Weib zuvor! Und ist's denn
wirklich Wahrheit? Du bist es selbst, du kehrst bekehrt zurück, du,
Imgjor Lavard?“

„Ja, mein Freund! Bewahrheitet hat sich an mir des Dichters Wort:

  Wie Ueberfüllung strenge Fasten zeugt,
  So wird die Freiheit, ohne Maß gebraucht,
  In Zwang verkehrt!

Hier in diesem Eden der Schönheit und des Friedens, hier bei denen,
deren hohen Wert ich erst durch die Erfahrungen und Vergleiche erkannte,
wollen wir leben, wirken und streben, wollen wir uns — und anderen
leben! Und nun küsse mich noch einmal, und dann will ich vor dir
niederknieen und deine Hände voll Dank berühren, daß du einen solchen
Reichtum an Nachsicht und Geduld mit deiner — deiner Imgjor gehabt!“

Und sie that, nachdem er sie umschlungen, wie sie gesprochen, und dann
hob er sie empor und trug sie auf den Armen zu ihren Gemächern empor. —





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